UNIVERSITY OF ILLINOIS
LIBRARY
Volume
Book
Ja 09-20M
V
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
HERAUSGEGEBEN
O.v.Angerer, Cti. Bäumler, O.v.Bollinger,
München. 'Freiburg i.B. München
VON
H. Curschmann, H.Helferich, W.v.Leube, 6. Merkel, J.v. Michel, F.Penzoldt, H.v. Ranke, B. Spatz, F.v.Winckel,
Leipzig Kiel Würzburg. Nürnberg. Berlin. Erlangen. München. München. München.
REDIGIERT
HOFRAT DB- BERNHARD SPATZ
PRAKT. ARZT
¥
ß
LIII. JAHRGANG.
II. Hälfte (Juli— Dezember).
MÜNCHEN
VERLAG VON J. F. LEHMANN
1906
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umtang von durchschnittlich 6—7 Bogen. •» Preis der einzelnen
Nummer 80 » Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
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MÜNCHENER
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Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
0. ¥. Angerer, CUäumler, O.v.Bollinpr, H. Curschmann, B. Helfend), Bl.t. Lenke, G. Berkel, J. v. Michel, F. Benzol, Q. t. Ranke, B. Spatz, F.v.Winckel,
München Freihnrir i. B. München. Leipzig. Kiel. Würzburg. Nürnberg. Berlin. Erlangen. München. München. München.
No. 27. 3. Juli 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang.
Originalsen.
Aus der psychiatrischen Klinik zu Halle a. S.
Symptome der Stirnhirnerkrankung.*)
Von Prof. G. Anton in Halle a. S.
Die Krankheiten des Stirnhirns beschäftigen nicht nur den
Psychiater. Dieser Gehirnteil nimmt 30 — 40 Proz. vom Ge¬
samtgewichte des Grosshirns (Vorderhirnes) ein. Vermöge
seiner Lage ist er besonders häufig der Angriffspunkt trau¬
matischer Verletzungen; sehr häufig betreffen in unserer Zeit
des grenzenlosen Industrialismus die Folgen der Berufsunfälle
^gerade diesen Hirnteil, sei es durch direkte Verletzung, sei es
^durch die Folgen des Contrecoups.
Aber auch infektiöse Prozesse treten vielfach hier ein,
besonders von der Nase, vom Gesichte, von der Orbita. Der
Verlauf der Venen prädestiniert eine solche Uebertragung.
Auch die intrakraniellen Verhältnisse der Blutversorgung
scheinen Erschwerung der Venenentleerung, Ernährungs¬
störungen, Entzündungen und Entartungen hier zu begünstigen.
Die Venen der gewölbten Aussenseite des Stirnhirnes ergiessen
sich in das Sammelbecken des Sinus longitudinalis in einer
Stromrichtung, welche senkrecht oder sogar entgegengesetzt
zum Blute der Hauptvene gerichtet ist (Mot t). Nach
K o 1 i s k o ist die Arterie, welche das Ganglion des Stirnhirnes,
d. h. den Kopf des Streifenhügels versorgt, ein dünnes, langes
Gefäss mit rückläufigem Blutstrom, in welchem statistisch häu¬
fig Erweichungen verursacht werden. Weiterhin ist es be¬
kannt, dass zahlreiche Entwicklungsstörungen des
Gehirnes gerade durch Verkümmerung des Frontalhirnes sich
bemerkbar machen. Dies ist z. B. beim Mikrocephalen und
vielen Idiotieformen eine erwiesene Tatsache. Nach Flech¬
sig ist auch an den vordersten Gehirnteilen die Markumhüllung
der Leitungsbahnen am spätesten fertig gestellt. Es bestände
demnach also längere Zeit die Möglichkeit, dass gerade dieser
Elirnteil noch in der vollen Entwicklung gestört wird. Viel¬
fach wird auch die begründete Vermutung gehegt, dass in den
Stoffwechselkrisen der Geschlechtsreife (13. bis 20. Jahr) die
supponierte chronische Vergiftung sich am wirksamsten hier
entfaltet.
Ich will hier keine genaue anatomische Beschreibung
geben und mich nur beschränken auf die Umgrenzung des
Stirnhirns. Dasselbe reicht beim Menschen nach derzeitigem
Uebereinkommen (vom äusseren Stirnpol aus gerechnet) bis
zur Zentralfurche, au der medialen Seite bildet der aufsteigende
Ast des Sulcus calloso marginalis die hintere Grenze; an der
Basis markiert das Ende der Stamm der S y 1 v i sehen Furche.
Das Stirnhirn gehört mit zu den variabelsten Hirnteilen, so
dass an der Konvexität 3 — 5 Windungszüge unterschieden
werden (Benedict, G i a c o m i n i, E b e r s t a 1 1 e r).
Die Funktionen und die Krankheitssym-
p. toine des Stirnhirnes werden auch in den neueren
und kompetenteren Lehrbüchern verschiedenfältig und ab¬
weichend geschildert. Bei der Uebersicht der bezüglichen
Tatsachen darf ich die Region der Zentral Windungen deshalb
übergehen, weil diesbezüglich zumeist Uebereinstimmung
*) Frei nach einem Vortrage mit Demonstrationen im Verein
der Aerzte zu Halle a. S.
No. 27.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
herrscht; dies lässt sich leider nicht aussagen bezüglich der
vorderen Stirnhirngegend, der Regio praefrontalis.
Zunächst darf als vielfach anerkannt und bestätigt angeführt
werden, dass der Fuss der ersten (oberen) Stirnwiridung, auch
% dieser Randwindung eine Innervationsstelle für die Rumpf-
muskeln darstellt. Nach Munk ist diese Innervation der
Rumpfmuskeln bis zum Stirnpol reichend und im Stirnhirn
weiter verbreitet. Die Experimente an höheren Affen haben
weiterhin mit Sicherheit ergeben, dass am Fusse der ersten
und zweiten Stirnwindung, auch an der dritten Stirnwindung
ausgelöst werden Kopfwendungen nach der entgegengesetz¬
ten Seite, weiterhin Kopf- und Augenbewegungen nach der
anderen Seite, endlich aber Augenbewegungen für sich
(Bevor und H o r s 1 e y u. a.). So weit in gedrängter Kürze
die Tierversuche.
Auch beim Menschen wurden bestätigende Befunde er¬
hoben. Allerdings betreffen die bezüglichen Erfahrungen
grossenteils Gehirngeschwülste und diese sind deswegen nicht
einwandsfreie Beweismittel, weil sie nicht nur mechanisch und
zirkulatorisch, sondern auch durch ihren andersartigen Stoff¬
wechsel eine Giftwirkung und Irritationen hervorbringen
können, welche Wirkungen sich auch auf entfernte Elirnteile
erstrecken. Im allgemeinen präsentieren sich die Stirnhirn¬
erkrankungen beim Menschen mit folgenden Körpersym¬
ptomen: Störung der Körperbalance beim Aufrechtstehen,
Schwanken und Ataxien wie bei Kleinhirnerkrankungen, Er¬
schwerung der Kopfwendung und der Augenablenkung nach
der entgegengesetzten Seite; bei einer traumatischen
Verletzung sah ich auch zwangsartige Ablenkung des
Kopfes und der Augen nach der entgegengesetzten
Seite. Häufig ist bei aufrechtem Stehen der Körper
nach der entgegengesetzten Seite überhängend. In ein¬
zelnen Fällen trat als Frühsymptom Erbrechen auf. Der
Verlauf der Geruchsnerven an der Basis des Stirnhirnes lässt
im vorhinein erwarten, dass die Erkrankungen an der orbitalen
Fläche mit einseitiger Geruchlosigkeit einhergehen. Diese
Anosmie wird in der Tat besonders nach traumatischen
Krankheiten des Stirnhirnes öfter eruiert — noch häufiger aber
übersehen.
Alle genannten Symptome, mit Ausnahme des letzten, aber
können auch bei Fortdauer der Krankheit nach relativ kurzer
Zeit wieder verschwinden. Es darf hier schon ausgesagt wer¬
den, dass gerade bei Erkrankungen des Stirnhirnes der häufige
Ersatz der Funktion zum Teil durch das andere Stirnhirn sicher¬
gestellt ist. Die beiden Stirnhirnanteile stellen eben funktionell
vielfach e i n paariges, d. i. vielfach gemeinsam fungierendes
Organ dar.
Dergestalt drängte nicht nur das Bedürfnis der Psycho¬
logen sondern auch das praktisch ärztliche Bedürfnis lebhaft
dazu, auch die psychischen Symptome der Stirnhirn-
erk rankungen beim Menschen ausfindig zu machen. Für die
linke Stirnhirnhemisphäre ist dies seit den Arbeiten von Dax,
B r o c a, Bastian, Kussmaul, W e r n i c k e u. a. teil¬
weise gelungen. Wir wissen derzeit, dass bei Verletzung des
Fusses der linken unteren Stirnwindung motorische Aphasie
auf tritt ; d. h. Verlust der Bewegungsvorstellungen der Sprache,
der Verlust des Vermögens, die sonst beweglichen Sprach-
organe zur Sprachbildmig zu innervieren; damit einhergehend
Verlust des Schreibens trotz erhaltener Beweglichkeit der
' • l
i Q
>90 MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ No. 27.
ilände und Finger, Verlust des Lautlesens, • endlich aber ist
diese Herderkranknng auch mit merklicher Einbusse des Ver¬
ständnisses für Worte (D e j e r i n e) begleitet.
Damit aber ist noch keine Symptomatik gegeben für die
Erkrankung der vordersten und der mittleren P ar -
t i e n des Stirnhirnes. Auch blieben noch unerwähnt die Er¬
krankungssymptome des rechten Stirnhirnes mit Aus¬
nahme der Rumpf-Nacken-Blickinnervation.
Es besteht kein Zweifel, dass ausgebreitete Erkrankungen
daselbst vielfach unerkannt geblieben sind; kein Zweifel auch,
dass bei Verletzungen mehrere Dekagramm des Stirnhirnes
verspritzt oder abgetragen wurden, ohne dass nachher die
ärztliche Kunst Ausfallssymptome nachweisen konnte; in der
Literatur finden sich sogar Fälle, wo Abszesse jahrelang un¬
erkannt im Stirnhirn getragen wurden. Solche negative Fälle
finden sich in Monakows Gehirnpathologie mitgeteilt.
Hat also das Stirnhirn, dieses viel diskutierte Organ, diese
vornehme Distinktion des Menschenhirnes, dem so kompetente
Forscher wie Longet, Meynert, Hitzig, Bianchi,
Flechsig u. a. die psychischen Höchstleistungen des Men¬
schen zuschrieben, keine andere Funktion als Rumpf, Nacken,
Augen zu wenden und zu innervieren und so die aufrechte Kör-
prbalance zu ermöglichen? Zum Teil hat Meynert darauf
schon eine Antwort gegeben. Der aufrechte Gang ist
zunächst in der Tat von einschneidender Bedeutung für die
Entwicklung und Artung der menschlichen Geistesfunktionen,
denn mit dem aufrechten Gange, mit der Entfernung vom Erd¬
boden treten die Geruchsleistungen in den Hintergrund, die
Orientierung durch das Gesicht nimmt grössere Bedeutung
ein. Hände und Arme werden frei vom Ganggeschäfte, von der
Lokomotion. Mit Bau und Innervation der Hände beginnt
nach einmütigem Urteil der Anthropologen die Kulturgeschichte
der Menschheit. Es liegt also in der Tat in der Innervation des
aufrechten Ganges zunächst eine Vorbedingung für die kom¬
pliziertere, das ist für die geistige Arbeit des Menschen! Doch
kehren wir zur rein ärztlichen Symptomatik zurück.
Es besteht kein Zweifel, dass die geschilderten Körper¬
symptome bei Stirnhirnerkrankung vielfach zusammenfallen mit
jenen bei K 1 e i n h i r n h e r d e n. Es ist auch Tatsache, dass
bei Zerstörungen eines Vorderhirnes auch das anderseitige
Kleinhirn atrophiert. Auch die Anatomie zeigt uns gerade beim
Menschen eine sehr ausgiebige Verknüpfung des Stirnhirnes mit
der Brücke und dem Kleinhirne (fronto-zerebellares Bündel des
Hirnschenkelfusses). Durch welche Bahnen das Kleinhirn ver¬
mittelst des Sehhügels, also mittelst der Haubenbahn, mit dem
Stirnhirn im Konnexe steht, ist anatomisch direkt noch nicht
klargestellt. Wohl aber ist eine solche Verbindung nicht zu
bezweifeln. Dies in Kürze die Gründe, die uns seinerzeit ver-
anlassten (Zin-gerle, Stirnhirn, Graz 1902), im Stirnhirne
eine Zentralstelle des Grosshirnes für das
Kleinhirn anzunehmen. Da es andererseits sicher
steht, dass im Kleinhirn allerdings indirekt die Labyrinthnerven,
das ist der Nervus vestibularis zur Entfaltung und reflektori¬
schen Verbindung gelangt, so ist damit gegeben, dass es der
Gleichgewichtsnerv ist, welcher nach unserer Auffassung we¬
nigstens in einzelnen Teilen des Stirnhirnes seine Zentralstation
findet. Dies in ähnlicher Weise wie der Nervus acusticus
(Nervus cochlearis) vertreten ist im Schläfelappen und der
Sehnerv im Hinterhauptshirn.
M. H. ! Zu dem bisherigen ist noch viel zu bemerken. Es
besteht für keinen Gehirnneurologen ein Zweifel, dass mit der
Konstatierung der Zentralstellen für einzelne motorische und
sensorische Funktionen nur ein kleiner Teil jener Funk¬
tionen erörtert ist, welche im Grosshirn sich abspielen. Schon
die Anatomie sagt es, dass ja nur der kleinste Teil der Bahnen
daselbst es ist, welcher die zentralsten Stationen mit den nie¬
deren Nervenetappen und mit der Peripherie verbindet (Pro¬
jektionssystem). Der grösste Teil der Bestandteile dient den
intrazerebralen Funktionen; sowie die einzelnen Empfindungen
nur Rohmateriale sind, aus denen der Mensch das ganze Welt¬
bild sich selbst zu schaffen hat, so ist auch mit der bisherigen
Zentrenlehre erst ein elementarer Anfang zum Verständnis der
komplizierten psychischen Funktionen geschehen, besser ge¬
sagt zum Verständnis der Lokalisation der Gehirnkrankheiten.
In der Tat haben die Tierexperimentatoren und die For¬
scher am Krankenbette im letzten Jahrzehnt immer deutlicher
empfunden, dass für die ürosshirnfunktionen mit den Ent¬
deckungen von Sinneszentren allein kein Auslangen zu finden
ist. Schon Munk sah sich genötigt, „in den einzelnen Zentren
nur wirksame Bestandteile einer Summe von Sphären, eines
Aggregates aller Sinnessphären zu sehen“, durch deren Konnex,
durch deren Zusammenarbeit die psychischen Leisiungen er¬
möglicht werden. Auch Luciani gelangte zur Vorstellung,
dass die Ränder der Sinnessphären Übereinandergreifen und
dass sich im Gehirn mehrsinnige Regionen bilden. Achn-
licli hat Exil er unterschieden ein Sinneszentrum als End¬
station und ein relatives Rindenfeld, das ist ein solches, das
mit anderen Rindenstellen in Tätigkeitsverband tritt. Auf
Grund scharfer Analyse einzelner Sprachstörungen musste auch
Wernicke sogen. transkortikaleRindenleistun-
gen annehmen, das sind solche Funktionen, die sich über das
jeweilige Zentrum hinaus im Verbände mit anderen Rinden¬
funktionen aufbauen. Kurzum die klinische Untersuchung nö¬
tigte zur Annahme von Gehirnstationen für noch kompliziertere
Leistungen, sagen wir zur Annahme einer den einzelnen Sinnes¬
zentren superponierten Rindentätigkeit .
Von ganz anderen Forschungszielen geleitet ist F 1 c c h -
s i g mit seiner Methode der Markscheidenverfolgung, also ent¬
wicklungsgeschichtlich und anatomisch zum Ergebnis gelangt,
dass es Rindengebiete gibt, welche keinen oder nur einen ge¬
ringeren Zusammenhang mit den niederen Nervenstationen
aufweisen. Diese Stationen, welche also ganze Rindengebiete
miteinander zu assoziieren haben (nicht Rinde mit Peripherie),
benannte Flechsig als Assoziationszentren. Nach seinen
Forschungen sollen diese Zentren später als die Sinneszentren
fertiggestellt sein, d. h. sie erhalten später ihre markhaltigen
Fasern. Zum Teile wurde diesen Angaben durch Monakow
und 0. V o g t widersprochen. Diesen Assoziationszen¬
tren werden von Flechsig im höheren Masse die Be¬
ziehungen zu den psychischen Funktionen zugeschrieben; er
nannte sie deshalb auch „psychische Zentren“.
Trotz der vielfachen Polemiken, welche diese Forschungs¬
wege zieren, lässt sich also aussagen, dass wenigstens die Ge¬
dankenrichtungen nicht weit auseinandergingen. Ein derartiges
Assoziationszentrum (psychisches Zentrum) nun hat Flech¬
sig in die vorderen Teile des konvexen und medialen Stirn¬
hirnes verlegt.
Es steht also im vorhinein zu erwarten, dass Erkrankungen
des Stirnhirnes nicht nur durch die geschilderten Körpersymp-
tome in der Rumpf-, Nacken- und Augeninnervation, sondern
in einer Kombination dieser Symptome mit
gleichzeitigen psychischen Störungen sich zu
erkennen geben.
Auch hierin ist ja insoferne Einmütigkeit zu konstatieren,
als die Mehrzahl der Forscher bei Verletzung des Stirnhirnes
(beiderseits) evidente psychische Störungen als konstante
Folge angeben. Hiebei muss desgleichen vorausgeschickt wer¬
den, dass die Erfahrungen über den Verlauf eine ausgiebige
Supplierung, eine vikariierende Funktion durch den freige¬
bliebenen oder minder verletzten Stirnlappen der anderen Seite
mit Recht annehmen lassen. Es ist ja ein Gesetz, dass kompli¬
ziertere Funktionen des Gehirnes im allgemeinen ausgiebiger
kompensiert werden als dies bei Zerstörungen der peripheren
und einfachen Nervenstationen der Fall ist.
Die Fragestellung ist also folgendermassen reduziert:
Haben die psychischen Reiz- und Ausfallserscheinungen bei
Verletzungen des Stirnhirnes an und für sich ein charak¬
teristisches Gepräge, welches die Störungen erkenn¬
bar abhebt von den Folgen der Herderkrankungen anderer
Grosshirnteile?
Ich darf hier kurz einschieben, dass wir bei den Herd¬
erkrankungen anderer Rindengebiete z. B. des Schläfelappens,
des Hinterhaupthirnes, des Parietalhirnes, in der Tat neben den
entsprechenden Körpersymptomen auch charakteristische, um¬
schriebene psychische Ausfallserscheinungen feststellen kön¬
nen, z. B. die Worttaubheit, die Seelenblindheit, Verlust der
optischen Phantasie, Verlust der Orientierung u. a.
Ja es ist geradezu durch Analogieschluss im vorhinein zu
erwarten, dass auch der präfrontale Hirnteil bei einseitiger
oder beiderseitiger Verletzung eigenartige psychische Symp¬
tome einstens erkennen lassen wird. Dafür spricht schon der
Bau des Stirnhirnes, welcher den anderen Grosshirnteilen ana-
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
129
log' ist. In aller Kürze darf ich hier einiger neuerer namhafter
Autoren gedenken.
Hitzig fand bekanntlich den Stirnlappen zum Teile un¬
erregbar und er sah in dem Stirnhirne das Organ für jene
Leistung, welche als das abstrakte Denken bezeichnet wird.
Er eruierte übrigens auch einen Tätigkeitsverband dieses Hirn¬
teiles mit der Sehsphäre. Seinen Ergebnissen und Schlüssen
kam auch der berühmte englische Experimentator D. Fer-
r i e r sehr nahe. Das Gleiche lässt sich aussagen von den
mehrfachen Untersuchungen des Italieners Bianchi. Nach
seiner Analyse ist an den Stirnlappen gebunden eine kom¬
pliziertere Synthese, die physiologische Fusion der einfachen
Gefühle, aus denen die höchsten menschlichen Gefühle ent¬
stehen. Die verschiedenen Vorgänge von sensorischen und
motorischen Rindenbezirken werden durch die koordinatori-
sche Tätigkeit des Stirnlappens gewissermassen zu höheren
Einheiten fusioniert; auf die Art wird Persönlichkeit und Be¬
wusstsein über das rein sensorielle hinaus aufgebaut. Wie
F e r r i e r vertritt er die Ansicht, dass die willkürliche
Aufmerksamkeit von der Intaktheit des Stirnlappens
abhängt.
Bei W. W u n d t lesen wir in allen Auflagen seines Lehr¬
buches die Annahme, dass in der Stirnhirnregion die Träger
derjenigen physiologischen Vorgänge sich finden, welche die
aktive A perzeption der Sinnesvorstellungen begleiten.
Es darf hier auch bemerkt werden, dass W. Wundt auch
eine psychische Tätigkeitsform der Aperzeption schildert,
welche auf den Gedankenablauf hemmend, ordnend, Richtung
gebend Einfluss übt. Endlich kommen wir wieder auf F 1 e c h-
s i g zurück, welcher aus der erwähnten Annahme von Asso¬
ziationszentren andererseits aus der engen Verbindung des
Präfrontalhirnes mit der grossen Körperfühlsphäre sich fol¬
gende Auffassung zurechtlegt: Im Stirnlappen sind die wesent¬
lichen Komponenten des Persönlichkeitsbewusstseins auch für
die höheren ethischen Gefühle und Regulatoren für die Hand¬
lungsimpulse vertreten.
In letzter Zeit (Münch. Kongress 1906) hat E. Hartman n
auf Grund einer genauen klinischen Untersuchung und späterer
Durchforschung der Gehirnschnitte beim Menschen folgende
Annahme formuliert: Man hätte demnach in den vorderen Asso¬
ziationsstätten des Stirnhirnes u. a. ein Rindengebiet zu er¬
blicken, welches die aus der Vorarbeit niederer Stationen der
Motilität im Gehirn einlangenden Impulse verknüpft mit dem
aus den einzelnen kortikalen Sinnessphären gebildeten kinä-
sthetischen Material und analog der B r o c a sehen Windung
bestimmenden Einfluss auf Anregung und Ablauf der Bewe¬
gungen auf die Tätigkeit der Extremitätenzone der Zentral¬
windungen nimmt.
Was nun die klinische Diagnostik betrifft, so muss im vor¬
hinein zugestanden werden, dass dieselbe mit den sicheren Er¬
gebnissen beträchtlich nachhinkt. Wir besitzen noch nicht eine
konstante, d. h. stets wiederkehrende Symptomenkette, welche
als spezifische psychische Zeichen von Erkrankung des Stirn¬
hirnes im Sinne Monakows zu gelten hat. Die Tumoren
des Stirnhirnes, welche in der Literatur am häufigsten sich
finden, sind, wie erwähnt, nur mit der grössten Reserve zu ver¬
werten. Allerdings fand Schuster in seiner gründlichen
Zusammenstellung, dass die Stirnhirntumoren in 80 Proz. psy¬
chische Störungen herverriefen, während andere Regionen
des Grosshirnes rund 52 bis 66 Proz. von Psychosen be¬
gleitet waren. Diese Zahl hält aber aus gewichtigen Gründen
der Autor selbst nicht für beweiskräftig dafür, dass Stirnhirn¬
tumoren in rascher und in charakteristischer Weise Psychose
hervorrufen. Hierbei muss wohl jeder einzelne Fall für sich
durchdacht werden, da die statistische Methode allein versagt.
Ich kann über 3 Fälle von beiderseitiger Stirnhirnerkrankung
berichten, bei denen der Stirnhirnbalken frühzeitig mit ergriffen
war; alle 3 verliefen mit frühzeitiger Charakterveränderung
und später unter dem täuschenden Bilde der Paralysis pro¬
gressiva. Es darf jetzt schon ausgesagt werden, dass die
klinische Unterscheidung zwischen solchen Tumoren und der
Dementia paralytica mitunter nur mittels des Augenspiegels
getroffen werden kann. Es ist ja kein Zweifel, dass bei der
Paralysis progressiva, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch
prävalent das beiderseitige Stirnhirn erkrankt ist, sodass die
Symptome beiderseitiger Stirnhirnerkrankung hier wenigstens
in Zukunft herausgesucht werden können.
Wir können also heute schon sagen : die psychischen
Krankheitssignale bei beiderseitiger Stirn-
hirnerkrankung sind denen der Paralysis pro¬
gressiva ähnlich.
Die •örtlichen Erweichungen im Stirnhirne, wie sie
bei Gefässverkalkung oder bei Syphilis sich finden, sind deshalb
schwer verwertbar, weil der Gehirngefässbaum gleichzeitig
auch an anderen Stellen erkrankt ist.
Von den Traumen des Stirnhirnes kommen wohl nur
für das Studium der örtlichen Symptome die ganz zirkum¬
skripten Verletzungen ohne schwere Erschütterung in Betracht.
Diese führen erfahrungsgemäss häufig zu epileptischen Symp¬
tomen, dies wohl wegen der Nähe der motorischen Zentral¬
stationen. Es sind also vielfach die Erkrankungssymptome
dieser umschriebenen Verletzungen durch Epilepsie und epi¬
leptische Psychosen kompliziert. Für die Symptomatik
der Stirnhirn r e i z u n g ist also wenigstens in diesem Sinne
die Nähe der motorischen Zentren zweifellos belangreich. Auch
hierin ist die Aehnlichkeit mit der Paralyse evident; die
Neigung zu Krampfanfällen, zu Ohnmächten, zu transitorischen
Psychosen — sind für beide Krankheiten charakteristisch. Auch
die Abänderung der Persönlichkeit bei Fortdauer der senso¬
rischen Funktionen findet sich bei Paralyse und auch bei fron-
togener Epilepsie; letztere ist aber nur in wenig Fällen unter¬
scheidbar von den übrigen Formen der Epilepsie mit Psychose.
Ich resümiere mit einzelnen diagnostischen Thesen:
1. Das menschliche Stirnhirn (Präfrontalhirn) ist ein paa¬
riges Organ; die Stirnanteile sind vielfach wieder mit einem
paarigen Organe, dem Kleinhirn verbunden; in diesen Organen
findet eine Supplierung und Kompensation der Herderkrankung
besonders häufig statt; deshalb sind die Ausfallssymptome aus¬
giebiger verwischt als bei anderen Grosshirnanteilen, oder nur
als quantitative Abnahme der Leistung er¬
kennbar.
2. Von den Symptomen, die körperlich evident werden,
sind namhaft zu machen: die Störung der Körperbalance beim
Aufrechtstehen und Gehen, ähnlich wie bei Kleinhirnerkran¬
kung; ausserdem Abänderung des Gangtypus und der Haltung
(Hypotonie).
Auch an den oberen Extremitäten scheint die „höhere Ko¬
ordination“ der Bewegungen gestört, insbesondere die richtige
Aufeinanderfolge derselben, das Zusammenfassen einzelner Be¬
wegungsakte zu einer komplexeren Vorrichtung (wie bei Pa¬
ralyse).
Die Nähe der motorischen Region bewirkt häufige Kom¬
plikation mit Paresen oder Krämpfen, sowie mit motorischer
Aphasie. Bei Herderkrankung des orbitalen Stirnhirnes ist
A n o s m i e (gleichzeitig oder beiderseitig) für die örtliche Dia¬
gnostik von Bedeutung (die Erkrankung des Septum pelluci-
dum scheint dieses Symptom nicht zu geben).
Bei einseitiger Stirnhirnerkrankung sind
wohl charakterisierende psychische Sym¬
ptome noch nicht eruiert. Die beiderseitigen
Stirnhirnerkrankungen mit Beteiligung des Balkens
scheinen eine psychische Symptomatik hervorzurufen, die der
Paralyse sehr nahe steht.
In vielen Fällen wird die Diagnose erst durch die Kom¬
bination der obigen Körpersymptome mit diversen psy¬
chischen Störungen ermöglicht; letztere hängen nicht allein
von der Oertlichkeit, sondern von der Art und vom Verlaufs¬
tempo und von der Intensität der Herderkrankung ab.
Aus der medizinischen Poliklinik und dem Herz-Jesu-Hospital
in Bonn.
Zur Kenntnis der Achylie des Wagens.*)
Von H. L e o in Bonn.
Unsere Kenntnis der Achylia gastrica ist noch so jungen
Datums (denn die erste klinische Beobachtung von Ewald1)
liegt gerade 20 Jahre zurück) und weist noch so viele Lücken
•) Nach einem Vortrag, angekündigt für den XX III. Kongress
für innere Medizin in München.
T Berl. klin. Wochenschr. 1886, No. 32.
r
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
auf, trotz der zahlreichen, besonders durch die Publikationen
von Einhorn2) und M a r t i u s 3) angeregten Arbeiten über
diesen Gegenstand, dass es wohl berechtigt erscheinen wird,
dass ich sie zum Thema einer Besprechung gewählt habe;
einer Besprechung, in welcher ich auf Grund meiner Er¬
fahrungen einen Ueberblick über mehrere besonders wichtige
Punkte geben will, ohne irgendwie den Anspruch auf eine
Erschöpfung der Materie zu machen.
Zunächst ein Wort über das Vorkommen der Affektion.
Die neueren Autoren stimmen, im Gegensatz zu früheren An¬
nahmen, darin überein, dass die Achylie keineswegs zu den
Seltenheiten zu rechnen ist. Ich kann dem nur beistimmen
und muss sie sogar für eine der häufigeren chronischen Magen¬
krankheiten erklären, denn es vergeht kaum eine Woche, in
der nicht ein neuer Fall zur Beobachtung kommt. Die ent¬
gegengesetzte Funktionsanomalie, nämlich typisch schwere
Hyperchlorhydrie, ist nach meinen Erfahrungen eher seltener
zu konstatieren. Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass die
Untersuchung des Mageninhaltes bei Achylie stets ein eindeu¬
tiges Resultat gibt (neutrale oder höchstens schwach sauere
Reaktion mit einer Azidität von 4 — 8 mit Phenophthalein bei
Ausheberung 1 Stunde nach Probefrühstück), während die
Hyperazidität durch vermehrte Flüssigkeitsausscheidung oder
andere Umstände verschleiert sein kann.
Es ist nicht ganz leicht, die Ursache der jetzt zu kon¬
statierenden Häufigkeit resp. früheren Seltenheit des Magen¬
saftschwundes zu verstehen.
Ich halte es keineswegs für unwahrscheinlich, dass diese
Ursache wenigstens zum Teil darin begründet ist, dass die
Krankheit in der letzten Zeit wirklich häufiger geworden ist.
Denn trotz Zunahme unserer Kenntnis der Funktion des Magens
und wichtiger Aufschlüsse, die wir daraus für eine rationelle
Gestaltung der Diätetik gewonnen haben, können wir
keineswegs behaupten, dass der Magen heutzutage
weniger Schädigungen ausgesetzt ist als früher. Im
Gegenteil wird ihm infolge gesteigerter und raffinierter An¬
sprüche an Lebensgenuss oft genug weit mehr zugemutet, als
es noch vor einigen Dezennien der Fall war. Ich brauche
nur darauf hinzuweisen, dass die Sitte, eiskalte Getränke in
mehr oder weniger grossen Quantitäten zu gemessen, eine
sogenannte Errungenschaft der Neuzeit ist. Dass das aber,
zumal wenn es bei leerem Magen geschieht, für diesen nicht
gleichgültig sein kann, darf wohl nicht bezweifelt werden. Es
ist vielmehr anzunehmen, dass hierdurch oft genug chron. ent¬
zündliche Prozesse der Magenschleimhaut erzeugt und damit
der Grund für eine auf atrophierender Gastritis beruhende
Achylie gelegt wird.
Aber fortdauernde Diätfehler hat es immer gegeben, sodass
dieser Grund allein die jetzt zu konstatierende Häufigkeit der
Achylie nicht erklärt. Es bleibt also nichts anderes übrig, als
ausserdem anzunehmen, dass man die Affektion früher oft über¬
sehen ‘hat. Dass man das konnte, würde schon allein, auch
wenn man es nicht direkt wüsste, beweisen, dass die Krank¬
heitserscheinungen der Achylie in vielen Fällen — speziell
was subjektive Magenbeschwerden betrifft — wenn überhaupt
vorhanden, nicht sehr prägnanter Art sind, sodass die Unter¬
suchung des Mageninhaltes häufig nicht von vornherein in¬
diziert erscheint.
Dieser Umstand führt uns so recht klar die Bedeutung
der Funktionspriifung des Magens vor Augen. Wenn ich auch
selbstverständlich nicht so weit gehe, dass ich bei jedem Pa¬
tienten oder auch nur bei jedem Magenkranken die Einführung
des Magenschlauches für angebracht, geschweige denn für not¬
wendig halte, so sollte doch in zweifelhaften Fällen mehr als
es bisher in der allgemeinen ärztlichen Praxis üblich ist, eine
genaue Funktionsprüfung des Magens vorgenommen werden.
Bekanntlich machen sich neuerdings wieder Bestrebungen
geltend, die Funktionsprüfung des Magens unter Umgehung
der Mageninhaltsuntersuchung vorzunehmen. Ich erwähne hier
nur die auf den A. Schmidt sehen Beobachtungen basierende
Sahli sehe Desmoidreaktion. Diese Methode hat nicht nur
den Vorzug, dass sie empfindliche Patienten vor der Ein-
2) Medical Record 1892. Arch. f. Verdauungskrankh. 1896, Bd. I,
S. 158 etc.
3) F. M a r t i u s und 0. Lubarsch: Achylia gastrica. 1897.
führung der Schlundsonde verschont, sondern sie soll uns vor
allem einen Aufschluss über die Verdauung im Magen selbst
geben. Und ich kann in Uebereinstimmung mit Sahli4) selbst
und mit anderen Nachuntersuchern (E i c h 1 e r 5 *, K ü h n f>) u. A.)
bestätigen, dass sie das im allgemeinen tut. Man darf aber
nicht erwarten, dass Mageninhaltsuntersuchung und Desmoid¬
reaktion immer insofern übereinstimmende Werte geben, als
negativer Ausfall der Reaktion stets parallel geht mit Fehlen
und positiver Ausfall mit Vorhandensein von freier HCl im
Mageninhalt (s. K ü h n 1. c.). Sahli7) hat das selbst von
vornherein betont.
Das erstere Moment — dass trotz normaler Sekretion des
Magens die Reaktion negativ ausfallen kann infolge von abnorm
schneller Entleerung des Magens oder aus anderen Gründen —
setzt den Wert der Methode zweifellos herab. Denn wir
bleiben infolgedessen im Unklaren über die Ursache der in¬
suffizienten Magenverdauung und müssen stets zu deren Auf¬
klärung die Mageninhaltsuntersuchung heranziehen.
Anders aber verhält es sich mit dem positiven Ausfall der
Reaktion trotz Fehlen von HCl in dem herausbeförderten Ma¬
geninhalt. Ich habe dieses Verhalten auch, und zwar auch zu¬
weilen bei sogen. Achylie des Magens, beobachtet. Dieses Ver¬
halten beeinträchtigt keineswegs den Wert der Methode. Im
Gegenteil, es illustriert ihre Bedeutung. Denn der positive Aus¬
fall der Reaktion beweist mit Sicherheit, dass eine Verdauung
des Bindegewebes, die nur unter dem Einfluss von Pepsin
lind HCl vor sich gehen kann, stattgefunden hat. Es muss
also in solchem Falle trotz neutraler oder nur schwach sauerer
Reaktion und Fehlen von HCl im Mageninhalt sauerer Magen¬
saft abgeschieden worden sein, der durch die Ingesta neutrali¬
siert, zum Teil aber auch zur Verdauung des Katguts benutzt
worden ist. Meine unten mitgeteilten Beobachtungen geben
hierfür weiteren Aufschluss.
Ich betrachte daher die Sahli sehe Methode trotz der
Einwände von Einhorn 7*) und Alexander und S c h le¬
sin ge r 7**) als eine wertvolle Bereicherung unserer diagno¬
stischen Hilfsmittel, welche die Mageninhaltsuntersuchung zwar
keineswegs ersetzen, aber in wirksamer Weise unterstützen
kann.
Ihrer allgemeinen Verwertbarkeit steht vorläufig noch der
Umstand hindernd im Wege, dass die Beutelchen jedesmal
frisch angefertigt werden müssen 8), was höchst lästig ist und
ihre gleichmässige Beschaffenheit nicht gewährleistet. Ich
habe nun gefunden, dass sie sich in Glyzerin unbegrenzt lange
halten, sodass sie in dieser Weise im Handel vertrieben wer¬
den können. Hierüber werde ich demnächst an anderer Stelle
berichten.
Ich wende mich nunmehr der Frage zu, ob es sich
bei der sogen. Achylie wirklich um ein völ¬
liges Versiegen der Magensaftsekretion han¬
delt. Hierbei muss zunächst darauf hingewiesen werden,
dass das Fehlen freier Säure und selbst neutrale Reaktion des
Mageninhaltes nicht beweist, dass nicht eine, wenn auch nur
geringfügige Sekretion von Salzsäure stattgefunden hat, die
durch die ingesta neutralisiert worden ist.
Dass eine völlige Neutralisation der HCl bei geringfügiger
HCI-Produktion und starker Bindungsfähigkeit der Nahrung so¬
gar die Regel ist, das habe ich bereits vor langer Zeit in einer
ausführlichen Arbeit 9) am Mageninhalte der Säuglinge be¬
wiesen. Ich fand, dass freie HCl hier normalerweise fehlt oder
höchstens kurz vor der Entleerung des Magens nachweisbar
wird, und dass dies veranlasst wird durch die Eigenschaft der
Milch, grosse Mengen von HCl zu neutralisieren. In diesen
Fällen erschloss ich aus dem Nachweis von Pepton und Pro¬
peptonen in dem herausbeförderten Mageninhalte, dass eine
Eiweissverdauung und somit eine Sekretion von sauerem
4) Korrespondenzbl. f. Schweizer Aerzte 1905, No. 8.
5) Berl. klin. Wochenschr. 1905, No. 48.
ö) Miinch. med. Wochenschr. 1905, No. 50.
7) 1. c. Separatabdruck S. 16 u. 17.
7 *) Deutsch, med. Wochenschr. 1906 S. 793.
7**) Ebenda 1906 S. 872.
s) Kühn (1. c.) gibt an, die Beutelchen in trockenem Zustande
haltbar gemacht zu haben, ohne über die Art der Präparierung eine
Mitteilung zu machen.
B) Berl. klin. Wochenschr. 1888, S. 981.
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1293
HCl-haltigen Magensafte stattgefunden haben musste. Bei der
Achylie ging ich auf anderem, ebenfalls indirektem Wege, durch
Untersuchung auf Fermente resp. Profermente (s. u.) vor und
konnte auch hier wiederholt feststellen, dass trotz neutraler
oder nur schwach sauerer Reaktion des herausbeförderten
Mageninhaltes Salzsäure sezerniert worden war.
In betreff des Vorkommens von Pepsin im Mageninhalt bei
Achylie weichen die Angaben der einzelnen Autoren insofern
voneinander ab, als die einen häufiger, die anderen seltener die
Gegenwart von Pepsin bei Abwesenheit von HCl konstatieren
konnten, während sie von anderen stets vermisst wurde. Ich
verzichte auf nähere Literaturangaben, indem ich darauf hin-
weise, dass die erwähnten Differenzen wohl vorwiegend auf
die Verschiedenheit der angewandten Untersuchungsmethoden
zu beziehen sind.
Was meine Erfahrungen betrifft, so fehlte Pepsin resp.
Pepsinogen in keinem der zahlreichen von mir untersuchten
Fälle von Achylie. Freilich gelang mir der Nachweis des Fer¬
mentes nicht mittels der Mett sehen Methode, die vielmehr,
wie ich in Uebereinstimmung mit anderen Autoren bestätigen
kann, stets negativ ausfiel. Ich unterlasse es hier, auf die oft
ventilierte Frage einzugehen, inwieweit diese Methode zur
quantitativen Bestimmung des relativen Pepsingehaltes brauch¬
bar ist. Zum qualitativen Nachweis grösserer Pepsinmengen
ist sie ja zweifellos sehr geeignet, unbrauchbar aber, wenn es
darauf ankommt, die Anwesenheit kleinerer Pepsinmengen
nachzuweisen oder auszuschliessen.
Es ist erstaunlich, dass sich die Methode auch für diesen
Zweck so hat einbürgern können, trotzdem man doch immer
wusste, dass koaguliertes Hühnereiweiss ein schlechter In¬
dikator für Pepsin ist. Als solcher ist immer noch das Fibrin
ausschlaggebend und wir erreichen mit der altbewährten ein¬
fachen Methode (Fibrinflocke mit dem angesäuerten Magen¬
inhalt, zugleich Kontrollprobe nur mit HCl) mehr als mit
anderen, komplizierteren Massnahmen. Ich will darum diesen
letzteren keineswegs ihren Wert absprechen und kann auf
Grund ausgedehnter Versuche besonders die Aziditätszunahme
des Verdauungsgemisches, welche von V o 1 h a r d 10) als
Grundlage der von ihm ausgearbeiteten Methode benutzt
wurde, als wichtiges und scharfes Reagens auf stattgehabte
Pepsin Wirkung sehr empfehlen.
Für den vorliegenden Zweck bedurfte ich dessen nicht.
Denn die mit dem angesäuerten Mageninhalt versehene Fibrin¬
flocke liess nach 4 sttindigem Aufenthalt im Brütofen stets die
Folgen einer stattgehabten Pepsinwirkung erkennen. Zuweilen
war sie dann bereits völlig aufgelöst oder löste sich beim Um¬
schütteln. Häufig war sie nur in einzelne Flocken zerfallen oder
zerfiel erst beim Umschütteln. Stets war sie nach 24 Stunden
aufgelöst. Durch vorherige Behandlung mit verdünnter Soda¬
lösung wurde die peptische Wirksamkeit des Mageninhaltes
meist merklich herabgesetzt, wenn auch nicht zum Verschwin¬
den gebracht. Es war also auch Propepsin vorhanden.
Was das Lab betrifft, so konnte ich es in einer nicht ge¬
ringen Zahl von Fällen im Filtrat des Mageninhaltes durch
typische Labgerinnung der damit versetzten Milch nachweisen,
auch erwies sich in diesen Fällen die getrunkene und nach
K — LS Stunde ausgeheberte Milch als geronnen. Häufiger
allerdings fand ich in Uebereinstimmung mit den von zahl¬
reichen anderen Autoren gemachten Beobachtungen, dass die
nach dieser Zeit aus dem Magen herausbeförderte Milch nicht
geronnen war und dass ungekochte Milch (10 ccm) mit Magen¬
inhalt (1 ccm) versetzt, selbst bei mehrstündigem Aufenthalt
im Brütofen nicht gerann. Trotzdem war auch in diesen Fällen
ausnahmslos Lab, wenn auch nur in Spuren vorhanden. Dies
ergab sich daraus, dass die mit CaCL-Lösung (5 Tropfen einer
50 proz. Lösung) versetzte gekochte Milch (10 ccm) mit Magen¬
inhalt (1 ccm) im Brütofen stets typische Labgerinnung ergab,
während die Kontrollprobe ungeronnen blieb.
Dass durch das CaCL nicht Labzymogen angezeigt wird,
wie man früher annahm, sondern Spuren des Enzyms nach¬
weisbar werden, konnte ich in Uebereinstimmung mit L ö r -
eher* 11) dadurch beweisen, dass in den letzteren Fällen der
10) Münch, med. Wochenschr. 1904.
11 ) Pflügers Arch. 1898, Bd. 69, S. 189.
mit HCl behandelte Mageninhalt selbst ungekochte Milch nicht
zum Gerinnen brachte.
Da die Fermente aus den Profermenten durch Einwirkung
von HCl entstehen, so ist durch deren Vorkommen auch be¬
wiesen, dass der Magen, trotz Fehlen von HCl im Magen¬
inhalt, HCl abgeschieden hat 12).
In den letztgenannten Fällen, wo die Labgerinnung nur bei
CaCL-Zusatz eintrat, kann es sich nur um minimale Spuren
von HCl gehandelt haben. In den ersteren Fällen aber muss
die durch Neutralisation der Ingesta verschwundene HC1-
Menge beträchtlicher gewesen sein.
Wenn ich nur meine eigenen Erfahrungen sprechen lassen
wollte, so würde ich aus dem von mir bei allen Fällen aus¬
nahmslos konstatierten Vorkommen der Fermente und der
daraus sich ergebenden HCl-Sekretion schliessen, dass es eine
Achylie im strengen Sinne des Wortes nicht gibt. Doch will
ich die Möglichkeit eines derartigen Vorkommnisses nicht
leugnen, wenn ich sie auch bisher nicht als erwiesen ansehen
kann. Uebrigens handelt es sich bei dem nachweisbaren Sekret
meist nur um so geringe Mengen, dass man trotzdem berech¬
tigt ist, von einem Magensaftschwund zu reden.
In diesem Sinne spricht auch der von v. Tabora13) und
mir u) nachgewiesene auffallend hohe Phosphatgehalt
des Mageninhaltes bei Achylie, der hier ausnahmslos den
grösseren Teil der Gesamtazidität repräsentiert, während er
normalerweise und bei Hyperchlorhydrie nur einen sehr
kleinen Teil ausmacht. Eine Erklärung für dies auffallende Ver¬
halten fehlte bisher. Ich bin der Meinung, dass man es einfach
auf die fehlende Saftsekretion zurückführen muss. Die Phos¬
phate des Mageninhaltes entstammen lediglich der Nahrung.
Bei normaler oder erhöhter Saftsekretion wird infolgedessen
ihre Lösung entsprechend verdünnt und es muss daher ihr Ge¬
halt ein niedriger sein. Bei Achylie dagegen fehlt diese Ver¬
dünnung oder ist nur geringfügig, so dass der Phosphatgehalt
dem der zugeführten Nahrung entspricht.
Damit stimmt auch die von M a r t i u s (1. c.) gemachte
Beobachtung überein, dass das spezifische Gewicht von in den
Magen gegossenen Suppen gleich bleibt oder sich nur wenig
ändert, während freilich Strauss15) und Roth in ihren
Fällen trotz Achylie Sekretion von Wasser konstatierten.
Dass das Magenparenchym bei der Achylie nicht absolut
untätig ist, ergibt sich für die meisten Fälle auch aus der
Fermentausscheidung durch den Urin.
Bekanntlich hat Matth es16) nachgewdesen, dass die zu¬
erst von Brücke im Harn konstatierten Verdauungsfermente
in der Tat die resorbierten Abscheidungsprodukte des Magens
sind, indem er zeigte, dass sie nach Exstirpation des Magens
aus dem Harn verschwinden. Wenn nun die sekretorische
Iätigkeit des Magens bei der Achylie wirklich vollständig
sistiert, so müssten auch die Verdauungsfermente im Harn
fehlen, ebenso wie wenn der Magen nicht vorhanden ist.
In der Tat haben D. Gerhardt 17) u. a. die Abwesenheit des
Pepsins im Harn bei Achylie nachgewiesen, während andere
Autoren (Boas, K 1 e m p e r e r, Gans, Bendersky u. a.)
zu wechselnden Resultaten gelangten. Ich selbst habe auch
bei mehreren Fällen von Achylie Pepsin und Lab konstant ver¬
misst. Lab, und zwar auch das Zymogen, fehlte überhaupt
meistens. Pepsin dagegen konnte ich in der Mehrzahl der Fälle
mit Sicherheit nachweisen.
Widersprechen muss ich der Behauptung von Fried¬
berger 1S) und T r o 1 1 e r 1S), dass wenig Pepsin im Harn ganz
allgemein parallel gehe einer geringen Pepsinproduktion durch
den Magen und dass daher die Pepsinverarmung des Harns
1J) Wir haben also in dem Nachweis der Fermente im Magen¬
inhalt ein einfaches Mittel, um festzustellen, ob trotz Fehlen von HCl
im Mageninhalt bei nur schwach saurer oder neutraler Reaktion des¬
selben eine Sekretion von HCl stattgefunden hat. Fehlen die Fer¬
mente bei Vorhandensein der Profermente, so spricht das für ein
völliges Versiegen der HCl-Sekretion.
13) Zeitschr. f. klin. Med. 1905, Bd. 57, S. 377.
1,1 ) Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 31.
1S) Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 37, S. 186.
“) Arch. f. experim. Path. u. Pharm. 1903, Bd. 49, S. 107.
17) Berk klin. Wochenschr. 1898, No. 35.
1S) Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 65.
19) Arch. f. Verdauungskrankh. 1899, Bd. V, S. 151.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
1294
eine diagnostische Bedeutung beanspruchen könne. Dass dem
nicht so ist, habe ich bereits vor langer Zeit festgestellt 20), und
begnüge mich hier mit dem Hinweis, dass ich wiederholt im
Harn bei Achylie eine Pepsinausscheidung gefunden habe, die
nicht geringer als bei Gesunden war. Ja, ich fand sogar in
einem Falle von Hyperchlorhydrie völliges Fehlen von Pepsin
und Lab im Harn.
Auch der Gedanke, aus dem Fehlen oder Vorhandensein
von Pepsin im Harn vielleicht ein Unterscheidungsmerkmal
rein funktioneller und durch organische Veränderungen be¬
dingter Achylie zu gewinnen, führte zu keinem Ergebnis. Denn
das Pepsin fehlte sowohl bei mehreren leichten Fällen, wie
auch in einem Falle von perniziöser Anämie, bei dem die
Sektion Atrophie der Magenschleimhaut ergab.
In theoretischer Beziehung sind die mitgeteilten Fermentunter¬
suchungen nicht ohne Bedeutung, weil sie einen Beitrag zu der Frage
geben, ob Pepsin und Lab, entsprechend der Annahme von Paw-
1 o w identisch sind oder nicht.
Die Untersuchung des Mageninhaltes hat in der Beziehung gegen
meine Erwartung keinen Anhalt ergeben, da ich auch bei Achylie stets
Pepsin und Lab resp. deren Vorstufen im Mageninhalt nachweisen
konnte. Anders liegt die Sache beim Urin. Hier fand ich wiederholt,
wie erwähnt (ebenso Boas, Klemperer u. a.), Fehlen der Lab¬
wirkung trotz Anwesenheit von Pepsin. Ich bemerke, dass sich ein
gleiches Verhalten nicht selten auch bei normalem Urin zeigt.
Man könnte zur Erklärung dieses Befundes daran denken, dass
das Ausbleiben der Labgerinnung nur eine Folge des geringfügigen
Ouantums von Ferment war, welches gerade noch für eine peptische
Wirkung ausreichte. Dem widerspricht aber der Umstand, dass die
peptische Wirkung in diesen Fällen nicht geringer war als in anderen,
wo zugleich Labwirkung erfolgte. Das mitgeteilte Verhalten darf
daher wohl als weiteres Beweismoment gegen die Identität von Pepsin
und Lab angesehen werden.
Mit einigen Worten möchte ich auf den eigentlichen Grund¬
charakter der Achylie eingehen.
Bekanntlich hat Einhorn (1. c.) die Ansicht aus¬
gesprochen, dass es Fälle von Magensaftschwund gibt, welche
nicht durch eine anatomisch greifbare Erkrankung des Drüsen¬
apparates (Gastritis, Atrophie, Karzinom) bedingt sind, sondern
welche eine rein funktionelle, nach seiner Annahme nervöse,
Störung der Sekretion darstellen. Martins (1. c.) hat diese
Anschauung dann modifiziert, indem er die Achylia gastrica
Simplex als angeborene oder auf dem Boden ursprünglicher An¬
lage entwickelte Sekretionsschwäche von der Achylie bei
Atrophie resp. Gastritis abtrennt. Allerdings nimmt er an, dass
wohl häufig ein Uebergang beider Formen stattfinde .
Diese von Martins in eingehender Weise entwickelte
Lehre hat offenbar sehr viele Anhänger gefunden, was u. a.
daraus hervorgeht, dass die rein funktionelle Achylie Auf¬
nahme in alle Lehrbücher gefunden hat. Das ist ja auch sehr
verständlich, denn sie befreit uns aus dem Dilemma, bei Per¬
sonen, deren subjektives und objektives Befinden häufig so gut
wie gar keine Schädigung darbietet ausser dem Magensaft¬
schwund, eine schwere organische Erkrankung des Magens
annehmen zu müssen.
Wir dürfen uns aber andererseits nicht verhehlen, dass
ihr auch gewichtige Bedenken entgegenstehen. L. K u 1 1 n e r 21)
hat darauf in einer eingehenden Arbeit hingewiesen, und vor
allem ist es Knud F a b e r 22) gewesen, der auf Grund eines
ausserordentlich grossen klinischen und anatomischen Materials
sich gegen das Vorkommen einer Achylie ohne organische Er¬
krankung des Magens ausgesprochen hat.
Dass es rein funktionelle Störungen der Sekretion bei nor¬
maler Beschaffenheit des Magenparenchyms gibt, ist eine zu
bekannte Tatsache, als dass es nötig wäre, noch ein Wort
darüber zu verlieren. Bickel hat das ja auch noch jüngst
in exakter Weise dargetan. Aber bei den alltäglichen Altera¬
tionen der Sekretion, die wir bei völlig Gesunden oder Nervösen
besonders infolge von psychischen Affekten oder toxischen Ein¬
wirkungen beobachten können, handelt es sich, speziell im
ersteren Falle, um vorübergehende Zustände, Die Achylia
gastrica jedoch ist (dafür sprechen meine Erfahrungen ebenso
20) Verhandl. d. Kongr. f. innere Med. 1888, S. 368.
'•') Zeitschr. f. klin. Med. 1902, Bd. 45, S. 1.
■-) Hospitalstidende 1906, No. 1. Ref. Münch, ined. Wochenschr.
1906, No. 17, S. 833. Siehe ausserdem Zeitschr. f. klin. Med. 1900,
Bd. 40, S. 98. Arch. f. Verdauungskrankh. 1904, Bd. 10, S. 1. Berl.
klin, Wochenschr. 1905, No. 44 a.
wie die der anderen Autoren) in der Regel (s. u.) eine irrepa¬
rable Erkrankung. Ich habe bisher keinen geheilten Fall ge¬
sehen.
Dass eine derartig unveränderlich starre Affektion, wie sie
von M a r t i u s zutreffend bezeichnet wird, als reine Funktions¬
anomalie ohne anatomische Veränderung bestehen soll, ist
schon an sich schwer verständlich, zumal keineswegs hyste¬
rische oder sonstig nervöse Personen besonders disponiert er¬
scheinen. Aber abgesehen davon fehlen uns diagnostische
Kriterien, denn die von M a r t i u s angeführten Momente (rela¬
tiv gute Gesundheit der Patienten und der Nachweis normaler
Schleimhautfetzen in der Spülflüssigkeit) reichen nicht aus, um
gastritische resp. atrophische Prozesse der Schleimhaut intra
vitam mit Sicherheit ausschliessen zu können.
Dem ersteren Moment widersprechen u. a. die bekannten
Stoffwechselversuche v. Noordens und die Erfahrung, dass
auch bei durch Atrophie der Magenschleimhaut bedingter
Achylie jahrelang Gleichbleiben des Körpergewichts und rela¬
tives Wohlbefinden bestehen kann.
Was die normalen Schleimhautfetzen betrifft, so kann ich
die bezügliche Angabe von M a r t i u s vollkommen bestätigen.
Auch ich habe sie wiederholt bei Achylie nachweisen können.
Ich stimme aber mit anderen Autoren darin überein, dass ihre
Anwesenheit nicht eine Intaktheit der gesamten Schleimhaut be¬
weist. So habe ich sie wiederholt bei einem Falle konstatieren
können, der seinem ganzen Verlauf nach als fortschreitende
chronische Gastritis gedeutet werden muss. Der jetzt 62 jährige
Patient befindet sich seit 3 Jahren in meiner Behandlung. An¬
fangs bestand bei ihm nur Subazidität (G.-A. 25 — 35) mit meist
positiver Günzburg scher Reaktion und reichlichen Schleim¬
massen im Spülwasser und erst allmählich bildete sich völlige
Achylie aus, die gegenwärtig unverändert besteht. Der all¬
mählich fortschreitende Verlauf und die reichlichen, dem Magen
entstammenden Schleimmassen lassen die Diagnose Gastritis
gesichert erscheinen. Trotzdem erwiesen sich die mehrmals
dem Spülwasser beigemengten Schleimhautfetzen bei der
mikroskopischen Untersuchung (R i b b e r t) als völlig normal.
• Im gleichen Sinne sprechen die zahlreichen Befunde bei Sek¬
tionen von Achylikern, welche beweisen, dass die atrophischen
Prozesse keineswegs immer die gesamte Magenschleimhaut
oetreffen, sondern meist mehr oder weniger grosse Partien
freizulassen pflege, wie ich es selbst kürzlich bei der Sektion
eines Falles beobachtet habe.
Man könnte ja freilich versucht sein, gerade diese letztere
Tatsache als ein Beweismoment dafür anzuführen, dass Achylie
bestehen kann, trotzdem normales Magenparenchym vorhan¬
den ist. Dazu ist aber doch zu bemerken, dass unsere Kennt¬
nisse des Baues und der Funktion des Magenparenchyms nicht
so weit entwickelt sind, dass wir eine abnorme Beschaffenheit
trotz normalen Aussehens ausschliessen können. Und da liegt
es denn doch näher, anzunehmen, dass auch die unversehrt
erscheinenden Drüsenzellen bei partieller Atrophie bereits durch
den benachbarten pathologischen Prozess in Mitleidenschaft ge¬
zogen sind.
Eine besondere Stellung nehmen die wenigen bisher publi¬
zierten Fälle ein, bei denen die Achylie sich wieder völlig ver¬
loren hat. So viel mir bekannt ist, handelt es sich dabei nur
um einen Fall von B u r d o c h 23) und mehrere Fälle von Ein¬
horn 24). Hier 25) könnte es sich möglicherweise um rein
funktionelle Störungen gehandelt haben, freilich nicht um eine
angeborene Funktionsschwäche, von der man kaum annehmen
kann, dass sie bei Patienten im Alter von 23 — 52 Jahren plötz¬
lich verschwindet. Jedenfalls kann nicht Atrophie der Schleim¬
haut die Ursache der Achylie gewesen sein. Wohl aber kann
es sich um chronische Gastritis ohne Atrophie gehandelt haben,
denn wir verdanken Knud Fab er26) den Nachweis, dass die
die Achylie bedingende Gastritis keineswegs zur Atrophie
führen muss, und es ist sehr wohl denkbar, dass eine der¬
artige Gastritis sich wieder verlieren kann.
~'J) Philad. Med. Journ. 1901, p. 1251. Ref. in Arch. f. Verdauungs-
krankh., Bd. VII, S. 297.
24) Arch. f. Verdauungskrankh. 1896, Bd. II, S. 158 und 1903,
Bd. IX, S. 147.
25) Auch Wegele (Therapie der Magen- etc. Krankheiten 1905,
S. 221) gibt kurz an, ausgeheilte Fälle gesehen zu haben.
2ft) Berl. klin. Wochenschr. 1905, No. 44 a.
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1295
Wenn ich somit auch nicht die Möglichkeit des Vorkom¬
mens von Achylie ohne anatomische Veränderung des Magens
absolut leugnen will, so fehlt doch bisher ein sicherer Beweis
dafür, und wir sind im konkreten Falle nicht in der Lage, eine
derartige Affektion intra vitam zu diagnostizieren, auch selbst
dann nicht, wenn sie nur vorübergehend auftritt.
Unter den Symptomen der Achylie sind besonders be¬
merkenswert die Magenschmerzen und die Anoma¬
lien des Stuhlgangs.
Die ersteren sind, wie ich in Uebereinstimung mit früheren
Beobachtern konstatieren kann, wenn überhaupt vorhanden,
meist nur geringfügig und äussern sich nicht selten nur ln
einem Brennen oder Druckgefühl. Häufig fehlt auch dies voll¬
ständig. Doch kommen auch, worauf Boas27) bereits vor
Jahren hingewiesen und was auch Martin sJS) schon mitge¬
teilt hat, starke Schmerzanfälle vor, und Einhorn29) hat dann
neuerdings die merkwürdige Tatsache hervorgehoben, dass es
Fälle von Achylie gibt, deren Krankheitsbild, speziell die dazu
gehörigen Schmerzanfälle nach dem Essen, völlig dem der
Hyperazidität gleichen. Ich habe vor einiger Zeit einen der¬
artigen Fall veröffentlicht30) und muss jetzt inUebereinstimmung
mit Boas31) bekennen, dass derartige Fälle häufiger, als ich
früher gedacht habe, Vorkommen. Meine frühere Annahme,
dass die hochgradigen Schmerzanfälle auf das Vorhandensein
von Schleimhauterosionen neben der chronischen Gastritis hin¬
wiesen, scheint mir auch heute noch plausibel, zumal Boas
(1. c.) in derartigen Fällen mehrfach okkulte Blutungen in
Mageninhalt und Fäzes nachweisen konnte.
Ein von allen Autoren als Begleiterscheinung resp. Folge |
der Achylie beschriebenes Symptom ist schwere chronische |
Diarrhoe. Dass sie häufig vorkommt, kann ich auch nach
meinen Erfahrungen bestätigen. Keineswegs aber, dass sie, !
wie man nach einigen Publikationen annehmen könnte, die ,
Regel bildet, oder selbst nur in der Mehrzahl der Fälle sich
zeigt. Viel häufiger ist der Stuhlgang regelmässig, und ausser
alternierender Diarrhöe und Verstopfung sieht man — was
übrigens auch von anderen Autoren (Boas 32), Einhorn 33),
Martins 34), F a b e r 35) berichtet wird — in einer nicht ge¬
ringen Zahl von Fällen hartnäckigste, jahrelang bestehende
Obstipation. Wenn ich meine Fälle darauf durchsehe, so finde
ich sie etwa ebenso oft wie Diarrhoe (F a b e r beobachtete
sie nur im Verhältnis von 2 : 8). Der Stuhl wird dabei ganz
auffallend hart, er besteht meist aus mehreren knolligen, kon¬
krementartigen, steinharten Gebilden.
So paradox es bei oberflächlicher Beobachtung klingt,
zwei so heterogene Vorgänge wie Diarrhöe und Verstopfung
aus derselben natürlich indirekten Ursache herzuleiten, so wer¬
den wir nicht umhin können, in diesem Falle die Achylie als
solche zu beschuldigen. Ob es sich dabei um Differenzen in
der Darmflora handelt, entsprechend dem von v. T a b o r a 3,i)
für die Diarrhoe erhobenen Befund, oder um mehr mechanische
Folgen des Saftschwundes, muss ich vorläufig unentschieden
lassen.
In Betreff der Behandlung der Obstipation möchte ich eines
Mittels gedenken, welches mir wiederholt ausserordentlich gute
Dienste geleistet hat, nämlich des von A. Schmidt37) em¬
pfohlenen Regulins. Wir haben das Mittel überhaupt im Laufe
des vergangenen Semesters bei einer grösseren Zahl von Pa¬
tienten mit Obstipation verschiedenster Art angewandt und
mehrfach entschieden günstige Wirkung beobachtet, wo andere
Mittel versagt hatten. Freilich blieb ebenso oft trotz grosser
Dosen von Regulin eine Wirkung völlig aus. Das widerspricht
keineswegs den Angaben von A. Schmidt, der auch nur
27) Miinch. med. Wochenschr. 1837. No. 42.
2S) I. c., S. 51.
29 ) Arch. f. Verdauungskrankh. 1901, Bd. 7, S. 23.
30) Therapie d. Qegenw. 1904, H. 12.
31) Ebenda 1905, S. 45.
32) Boas: Diagnostik und Therapie der Magenkrankheiten,
II. Th., 1901, S. 291.
33) Arch. f. Verdauungskrankh. 1897, Bd. III, S. 139.
34 ) 1. c. S. 53 und. 55.
33 ) Rei. Münch, med. Wochensclir. 1906, S. 834.
3,u) Münch^, med. Wochenschr. 1904, No. 20.
37) Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 41.
35) Therapie der Gegenwart 1904, No. 12.
bei etwa seiner Fälle einen Erfolg sah, und harmoniert an¬
dererseits mit der Anschauung, dass sehr verschiedene Ur¬
sachen die Veranlassung zu Stuhlverstopfung geben können.
Dass das Regulin gerade bei mehreren Fällen von Achylie
seine Schuldigkeit tat, wo man doch annehmen sollte, dass
schon genügend unverdauter Ballast im Darminhalt sich be¬
findet, erklärt sich daraus, dass das Agar-Agar nicht nur durch
seine Unverdaulichkeit, sondern vor allem dadurch wirkt, dass
es sich mit Wasser vollsaugt, und infolgedessen den Kot
weicher und schlüpfriger macht. Naturgemäss muss das Mittel
Tag für Tag eingenommen werden, da es nur symptomatisch
wirkt, und ich habe 3 Patienten mit Achylie, die dasselbe seit
Oktober vorigen Jahres täglich mit Erfolg gebrauchen und
bei denen sich, sobald sie es fortlassen, wieder die alten Be¬
schwerden einstellen. Uebrigens erweist sich das Extrakt,
cascar. sagradae in den kleinen Dosen, in denen es in dem
Regulin enthalten ist, wirkungslos gegenüber der Obstipatio bei
Achylie.
Auch das von A. Schmidt empfohlene Paraffinum
liquid., welches als Pararegulin im Handel ist, hat sich mir
in mehreren Fällen bewährt. Bei einem Patienten mit Achylie
wirkte es noch besser als Regulin. Der Kot, der seit 15 Jahren
stets aus einzelnen harten Knollen bestanden hatte, erhielt
weiche, salbenartige Beschaffenheit.
Natürlich müssen die Mittel ununterbrochen gebraucht wer¬
den, und da ist ihr hoher Preis leider sehr zu bedauern.
Was die sonstige Therapie bei Achylie betrifft, so kenne ich
kein Mittel, um die einmal erloschene Sekretion wieder anzu¬
fachen. Die Achylie unterscheidet sich darin von blosser Sub¬
azidität resp. der sie veranlassenden Gastritis, welche wir
oft genug unter geeigneten Massnahmen, spez. Irrigationen mit
Argentum nitricum wieder zur Norm, ja sogar zu gesteigerter
Sekretion führen können.
Wir müssen uns also bei der Achylie im Wesentlichen
darauf beschränken, die fehlende Funktion des Magens so weit
als möglich zu ersetzen. Ausser der möglichst feinen Zer¬
kleinerung der Speisen dient diesem Zweck in erster Linie die
mit Pepsin zu verschreibende HCl. Von dem auch empfohlenen
Pankreatin mit Soda habe ich dagegen gar keinen Erfolg ge¬
sehen.
Ich benutze die Gelegenheit, um wiederum 38) eine Lanze
zu brechen für die freilich früher überschätzte, bei jedem Ma¬
genleiden häufig kritiklos verordnete HCl, der gegenüber man
seit einiger Zeit vielfach in das andere Extrem verfällt, indem
man ihr jede Wirkung abspricht oder sie nur auf Suggestion
zurückführt.
Das ist entschieden zu weit gegangen. Wo bei Achylie
dyspeptische Beschwerden bestehen, werden sie nicht selten,
ebenso wie wirkliche Schmerzen in der Magengegend günstig
beeinflusst. Ja ich habe mehrere Patienten mit Achylie, die be¬
haupten, ohne die Pepsinsalzsäure (Acid. mur. dil. 10,0, Pepsin,
sicc. 10,0, Aq. destill. ad 50,0 MDS. zu jeder Mahlzeit 1 Thee-
löffel auf 1 Weinglas Wasser) nicht existieren zu können.
Dass es sich hierbei nicht um blosse Suggestivwirkung
handelt, darf man auch daraus entnehmen, dass wiederholt,
wenn auch keineswegs immer, die vorher stets negative Des-
moidreaktion während des Gebrauches der Pepsinsalzsäure
positiv ausfiel. Inwieweit die Beobachtung von Weiden¬
bau m 39), dass durch die- Aufnahme von HCl die Produktion
von Pepsin und Lab bei Achylie angeregt wird, hierbei eine
Rolle gespielt hat, lasse ich dahingestellt sein.
Aus der medizinischen Poliklinik zu Jena.
Zur Therapie der Oesophagusstenosen.* *)
Von Prof. D. Gerhardt.
Die Therapie der Oesophagusstenosen besteht in der Regel
zunächst in dem Bestreben, möglichst lange durch Beschrän¬
kung auf flüssige Kost das Schluckvermögen zu erhalten, dann
aber, wenn auch Füssigkeiten Schwierigkeit machen, in metho¬
discher Sondenbehandlung, allenfalls in Einlegen von Dauer-
3;1) Ebenda 1902, S. 30q.
*) Nach einem am 31.’ Mai in der meqizinischen Sektion des
med. nat. Vereins gehaltenen Vortrag.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
296
kanülen, Applikation von Nährklysmen, bei günstig liegenden
Fällen in der Anlegung von Magenfisteln.
Die folgenden Ausführungen sollen darauf hinweisen, dass
es noch auf andere, einfache Weise gelingen kann, das Schluck-
vermögen wesentlich zu bessern, nämlich durch regelmässige
Verabreichung von Morphium.
Als Paradigma diene zunächst folgender Fall.
Ein -44 jähr. Wirt klagt seit 8 Wochen über Schluckbeschwerden;
vor 6 Wochen trat in drei kurz aufeinander folgenden Schüben hef¬
tiges Blutbrechen ein; nach Angabe des Patienten sollen etwa 3 Liter
entleert worden sein. Seitdem bestand fast völliges Unvermögen,
zu schlucken. Pat. magerte rasch ab, er verlor im Laufe von
3 Wochen (seit Beginn der Beschwerden) 15 kg. wog allerdings
immer noch 85 kg. Als ich den Patienten zuerst sah, ca. 8 Tage
nach der Hämatemese, war die Schluckstörung so hochgradig, dass
zur Bewältigung eines Schluckes Wasser fast 2 Minuten notwendig
waren; es war ein überaus bemitleidenswertes Bild, den Pat., der
dabei heftige Schmerzen im Innern des Brustkorbes empfand, immer
wiederholte Schluckanstrengungen machen zu sehen.
Die Untersuchung ergab an Rachen, Kehlkopf, 1 horax und Hals-
lymphdrüsen nichts besonderes, die Leber ca. 2 Finger unter den
Rippen deutlich fühlbar, glatt, ziemlich hart, Milzspitze eben am
Rippenbogen zu fühlen, kein Aszites, kein Caput Medusae; der Er¬
nährungszustand immer noch recht gut, beträchtlicher Panniculus
adiposus.
Die Verordnung bestand in Morphiumtropfen flproz. Lösung,
3 mal täglich vor Nahrungsaufnahme 15 Tropfen zu schlucken) und
der (zunächst scheinbar kaum erst nötigen) Anempfehlung rein
flüssiger Nahrung.
Pat. empfand unmittelbar nach den Morphiumtropfen sehr
wesentliche Erleichterung. Während er vorher kaum mehr Wasser
hatte schlucken können, vermochte er bereits am nächsten Tag tassen¬
weise Milch zu trinken und fühlte sich bald so sicher des Erfolges
der Therapie, dass er nach 3 Tagen bereits etwas Spinat zu schlucken
versuchte. Dabei traten wieder stärkere Beschwerden auf; nach
stärkerer Morphiumdose (20 Tropfen pro dosi) und strikter Be¬
schränkung auf flüssige Kost bald wieder Besserung.
Das Körpergewicht nahm in der ersten Woche der Beobachtung
noch um 1,5 kg ab, in der zweiten, wo das Schluckvermögen sich
weiter besserte, um Vs kg zu, ist dann 2 Wochen lang gleich geblieben
und dann wieder um Vs kg gestiegen.
Pat. nahm in der ersten Zeit regelmässig 3 mal täglich je 3/ 4 bis
1 cg Morphium, reduzierte dann diese Menge auf 1 — 2 Dosen und
liess es schliesslich meist ganz weg, nahm nur, wenn er wieder
stärkere Beschwerden spürte, jeden 2. oder 3. Tag 15 Tropfen. Er
kann jetzt eine Tasse Milch oder ein rohes Ei beschwerdelos schlucken,
bringt auch dünnbreiige Suppen hinunter, mehr hat er seiner Speise¬
röhre bisher nicht zugemutet. Dabei fühlt er sich sehr viel wohler
als früher, kann ohne Beschwerden Treppen steigen, auch 2 — 3 km
lange Wege zu Fuss gehen, hilft einigermassen in seiner Wirtschaft
mit, während er vor der Morphiumperiode zu schwach war, um das
Bett zu verlassen.
Ob es sich bei diesem Patienten um ein Oesophaguskarzi¬
nom oder um Varixbildung bei Leberzirrhose oder etwa um
ein Ulcus rotundum oesophagi handelt, ist zurzeit kaum zu ent¬
scheiden. Die Kombination von massiger Blutung mit tast¬
barer Leber und Milz und der seitherige günstige Verlauf
sprechen zwar für Blutung aus Varizen, anderseits begannen
Schluckbeschwerden und Abmagerung schon wochenlang vor
der Blutung, die Stenose war und ist noch stärker als man
sie bei Varizen erwarten sollte, und schliesslich sind, worauf
Hampel n *) hinwies, interkurrente reichliche Blutungen auch
bei Karzinomen kein ganz seltenes Ereignis.
Liegt der Fall somit auch diagnostisch noch nicht klar,2) so
demonstriert er um so deutlicher den Nutzen der eingeschla¬
genen Therapie:
Die Schluckstörung war hier eine nahezu totale; jede Son¬
dierung verbot sich wegen der vorangegangenen Blutung.
Wollte man nicht sofort zur Gastrostomie schreiten oder den
unsicheren Versuch der absoluten Rektalernährung machen,
dann blieb in der Tat nur die Verabreichung von Narkoticis
übrig. Diese Therapie hat hier ganz auffallend rasch das
Schluckvermögen soweit wiederhergestellt, dass der Patient
flüssige Nahrung in ausreichender Menge wieder aufnehmen
konnte und bald an Körpergewicht wieder zunahm. Die Mor¬
phiumtherapie hat sich hier nicht nur als ein Mittel gegen den
0 Petersb. med. Wochenschr. 1903.
2) Anm. b. d. Korrektur: Der Verlauf bestätigte die Befürchtung,
dass Karzinom vorliege; Pat. erlag 4 Wochen später einer durch
Perforation des Neoplasmas in die Lunge entstandenen Lungen¬
gangrän.
bei Schluckversuchen entstehenden Schmerz sondern auch als
ein Mittel gegen die Stenose selbst erwiesen.
Ich habe diese Morphiumtherapie der Oesophagusstenosen
als Assistent an der Naunyn sehen Klinik gelernt und habe
dort an vielen Fällen ihren Nutzen sehen können. Wenn der
Erfolg auch nicht immer so eklatant war wie in dem beschrie¬
benen Fall, so sind doch recht häufig die Beschwerden soweit
gebessert worden, dass die Nahrungsaufnahme wieder leidlich
möglich wurde. Eine Anzahl von Patienten mit Oesophagus¬
karzinom sind auf diese Weise wesentlich gebessert worden.
Diese günstige Einwirkung des Morphiums auf das
Schluckvermögen erklärt sich augenscheinlich durch Ausschal¬
tung eines Krampfes der Oesophagusmuskulatur an der Stelle
der Striktur. Wie ein Geschwür am Pylorus, eine Rhagade
am Anus reflektorisch einen festen Krampf des entsprechenden
Schliessmuskels unterhalten kann, so löst offenbar die Ulzera-
tionsfläche im Oesophagus leicht eine tonische Kontraktur der
umgebenden Muskulatur aus, und diese Kontraktion des Mus¬
kels trägt wesentlich dazu bei, die Verengerung des Lumens
bis zur fast völligen Undurchgängigkeit zu steigern. Gelingt
es, diesen Muskelkrampf zu beseitigen, dann ist unter günstigen
Umständen das Haupthindernis für das Schluckvermögen ent¬
fernt.
Begreiflicherweise wird diese Morphiumwirkung versagen
in jenen Fällen, wo die Tumormassen an sich eine absolute
Verengerung oder Verlegung des Lumens bedingen. Nach den
Erfahrungen an der Strassburger Klinik, die ich durch poli¬
klinische Beobachtungen in Erlangen und Jena bis jetzt be¬
stätigt gefunden habe, sind solche Fälle aber, soweit es sich
um eigentliche Oesophaguskarzinome handelt, selten. Anders
ist dies Verhältnis bei Kardiatumoren, die die Einmündungs¬
stelle des Oesophagus verlegen; hier scheint es sich häufiger
um mechanische Verengerung durch Tumormassen zu handeln,
wenigstens versagt hier die Morphiumtherapie weit häufiger
als bei eigentlichen Speiseröhrengeschwülsten.
Die Tatsache, dass ein Muskelkrampf die Ursache dafür
abgeben kann, dass eine Oesophagusverengerung zum voll¬
ständigen Oesophagusverschluss wird, wurde gut demonstriert
durch einen auf der Strassburger Klinik beobachteten Fall von
Narbenverengerung. Bei einer jungen Patientin, die Salzsäure
geschluckt hatte, kam es im Lauf von 4 — 5 Wochen zu einer
ständig zunehmenden Erschwerung des Schluckens, die schliess¬
lich ziemlich rasch zu völliger Unmöglichkeit zu schlucken
führt. Die Patientin wurde zum Zwecke der Gastrotomie
auf die chirurgische Klinik verlegt; dort wollte man vor der
Operation den Ernährungszustand womöglich etwas heben,
und verabreichte der Patientin 2 Tage lang Nährklysmen. Nach
diesen 2 Tagen konnte sie zu ihrem eigenen Erstaunen wieder
Flüssigkeiten schlucken. Hier war offenbar durch die Fern¬
haltung aller Nahrungsaufnahme per os der Reiz der vorbei¬
passierenden oder liegenbleibenden Speisen auf die Geschwürs¬
fläche ausgeschaltet, und damit war der Oesophaguskrampf
und mit ihm die totale Schluckstörung behoben.
Wenn man bei den Autopsien die unregelmässig buchtigen
Ulzerationen der Oesophaguskarzinome betrachtet, wird man
leicht eine gewisse Scheu empfinden, bei solchen Fällen intra
vitam mit feinen Sonden die Passage erzwingen zu wollen.
Die Gefahr, in dem zerfallenden Karzinomgewebe falsche Wege
zu machen, erscheint recht gross. Wie oft tatsächlich durch
Sondierungsversuche Anlass zu Mediastinalerkrankung oder
weiterhin zu Perforation in Bronchien, Lunge, Trachea, Pleura
gegeben wird, ist schwer festzustellen; diese Gefahr wird von
den Autoren ganz verschieden beurteilt. Dass cs aber für viele
Fälle recht gut wäre, wenn man die Dilatationsversuche und
die Sondenfütterung durch bessere, blandere Methoden er¬
setzen könnte, wird wohl von allen Autoren zugegeben werden.
Ich glaube, dass die Morphiumtherapie geeignet ist, als ein
solches Mittel zu gelten, und dass ihr mehr Verbreitung in der
Praxis gebührt, als sie bis jetzt besitzt. In der Naunyn sehen
Klinik hat sie tatsächlich bei den meisten Fällen von Oeso¬
phaguskarzinom die Sondenbehandlung ersetzt. Ob man das
Morphium, wie es an der Klinik üblich war, subkutan, oder
ob man es in Tropfenform per os gibt, scheint ohne grosse
Bedeutung; wesentlich ist, dass man es kurze Zeit, 10 bis
15 Minuten, vor den Mahlzeiten verabreicht, und wesentlich
3. Juli 1906.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1297
ist ferner, dass man diese Mahlzeiten so gestaltet, dass sie
ihrerseits den Geschwürsgrund möglichst wenig reizen, d. h.
dass man die Versuche, von flüssiger zu breiiger oder gar
zu noch konsistenterer Kost überzugehen, möglichst lange
hinausschiebt.
Die scheinbar naheliegende Gefahr, durch regelmässige
Zufuhr relativ grosser Morphiumdosen dem Organismus' der in
der Ernährung meist heruntergekommenen Patienten zu scha¬
den und ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit durch
das Narkotikum noch stärker zu beeinträchtigen, erweist sich
fast immer als unbegründet. Merkwürdigerweise ertragen die
Leute das Morphium auffallend gut. Ein 56 jähriger Patient
mit hochgradiger Oesophagusstenose und totaler linksseitiger
Stimmbandlähmung, der zurzeit in der Behandlung der Poli¬
klinik steht, verrichtet tags über seinen Dienst als Forst¬
aufseher, trotzdem er 3 mal täglich je % cg Morphium schluckt.
Dieser Patient konnte, als er sich vor 2 Wochen zuerst vor¬
stellte, auch Flüssigkeiten nur mit Schwierigkeit schlucken; nach
Morphiumgebrauch besserte sich das Schluckvermögen prompt derart,
dass er selbst Brot und weiche Wurst ohne Anstand hinabbrachte.
Als nach 1 Woche seine Tropfen aufgebraucht waren, erschien er
eines Nachmittags und berichtete, er habe am Morgen Wurst zu
schlucken gesucht, dabei sei ihm ein Stückchen stecken geblieben und
seitdem gehe nichts mehr hinab. Bei Sondierung wurde ein bohnen¬
grosses Stück teils herausgewürgt, teils mit der Sonde heraus¬
befördert. Noch alsbald nach der Sondierung konnte Pat, einen
Schluck Wasser nur mit Mühe hinunterbringen; am nächsten Tag ging
das Schlucken nach Morphium wieder ganz gut, Pat. konnte wieder
flüssige und breiige Kost geniessen und stellte sich nach 1 Woche mit
1 kg Gewichtszunahme wieder vor.
Bei diesem Fall ist besonders bemerkenswert, dass er nur
über die Erschwerung des Schluckens, keinerlei Schmerzen bei
den Schluckversuchen zu klagen hatte. Die Besserung nach
Morphium lässt sich also hier sicher nicht etwa darauf zurück¬
führen, dass der Patient aus Scheu vor Schmerz keine Schluck¬
versuche gemacht hätte und nach dem Narkotikum unbefan¬
gener hätte schlucken können.
Dass man auch recht lange Zeit hindurch die Morphium¬
behandlung der karzinonratösen Oesophagusstriktur durch¬
führen kann, zeigte uns im vorigen Jahr folgender Fall:
Ein 59 jähr. Patient hatte seit Januar 1904 Schluckbeschwerden.
Als er ein Jahr später die Poliklinik aufsuchte, konnte er kaum
flüssige Nahrung hinabbringen. Es gelang, die Stenose, die 25 cm
unterhalb der Zahnreihe sass, mit dünnen Sonden zu passieren, und
bei wiederholter Sondierung besserte sich das Schluckvermögen so
weit, dass der Patient wieder breiige Kost geniessen konnte; er nahm
dabei im Verlaufe eines halben Jahres um 9 kg ab. Um die Mitte des
Sommers, machte die Sondierung Schwierigkeit, Pat. erhielt jetzt
Morphiumtropfen und er hielt sich mit dieser Medikation noch bei
leidlichem Befinden, allerdings unter weiterer Gewichtsabnahme um
5 kg, bis November, wo er einer (laut Sektionsbericht nicht durch
Perforation, sondern durch Aspiration entstandenen) Lungengangrän
erlag.
In den Lehr- und Handbüchern wird die Morphiumthera¬
pie der Oesophagusstenosen entweder gar nicht oder nur als
Mittel zur Bekämpfung des Schmerzes empfohlen. Die an¬
geführten Fälle demonstrieren gut, dass sie sehr viel leistungs¬
fähiger ist, dass sie eine, bei malignen Fällen allerdings nur
symptomatische, aber für die Praxis recht brauchbare Be¬
handlungsweise der Stenose selbst darstellt.
Aus dem Frauenspitale Basel-Stadt.
Zur Frage der Katgutsterilisation.
Von Otto v. Herff.
Eine sehr wichtige Frage für jeden Arzt ist jene nach der
Art und Weise, Katgut keimfrei zu machen — die grossen
Nachteile der Seide, des Zwirns sind ja allbekannt! Sicher
keimfreies Katgut erhält man durch Erhitzen in K u m o 1, ent¬
sprechend der Vorschrift von K r ö n i g, zumal es, wie weiter
unten gezeigt werden wird, auch sonst Vorteile darbietet.
Katgut gibt aber einen sehr guten Nährboden für Spaltpilze ab.
So lässt sich die Möglichkeit nicht bestreiten, dass Kumolkatgut
in Wunden nachträglich von Keimen überfallen wird, und zu
Stichkanaleiterungen usw. Veranlassung gibt.
Um eine solche Möglichkeit tunlichst zu vermeiden, er¬
scheint es daher sicherer und vorteilhafter, Katgut zu benützen,
das eine gewisse Menge Antiseptikum besitzt und daher einem
No. 27.
nachträglichen Einwandern von Spaltpilzen besser Widerstand
leistet, dieses wenigstens so lange aufhält, bis die Wunden ge¬
schützt sind.
Ein solches völlig keimfreies und dabei keimtötendes Kat¬
gut wird durch Kochen in Sublimatalkohol erhalten. Am ein¬
fachsten und bequemsten lässt sich diese Methode mit dem
handlichen Schäffer sehen Apparate ausführen. Bei sehr
grosser eigener Erfahrung in der Sterilisation von Katgut, da
ich selbe über 10 Jahre besorgt habe, habe ich mich von der
Sicherheit dieser Methode ausgiebigst überzeugt. Katgut oder
Seidenfäden, die mit sehr widerstandsfähigen Sporen von Kar¬
toffel- und Erdbazillen, die ein Kochen in Sublimatwasser
1 : 1000 aushielten, durchwachsen waren, wurden in dem
Schäffer sehen Apparat sicher keimfrei. Selbst nach weit¬
gehender Auffaserung der Fäden und selbstverständlich nach
Entfernung des Sublimates gingen keinerlei Kulturen auf. Die
Keimfreiheit des Sublimatalkoholkatguts nach Schäffer
ist gleich sicher wie jene, die mit Kumol erhalten wird. Eine
nachträgliche Infektion ist bei Aufbewahrung in 1 : 1000 95 0 Su¬
blimatalkohol vollständig ausgeschlossen, was bei trockenem
Kumolkatgut nicht gilt. Einfacher und für kleinere Verhält¬
nisse, insbesondere für den Hausarzt bei weitem bequemer, ist
die Jodierung des Katguts, wie solches meines Wissens
zuerst von C 1 a u d i u s empfohlen wurde.
Neuerdings ist die Joddurchtränkung des Katgut durch
Schmidt verbessert worden. Hierzu wird eine besondere
patentierte Jodlösung, die unter dem Namen „Katgutjod“
von der Firma Carl B i 1 1 m a n n in Mannheim in den Handel
gebracht wird, empfohlen. Meine bisherigen Erfahrungen mit
Jodkatgut, die sich auf 2% Jahre auf der geburtshilflichen Ab¬
teilung, allerdings erst auf K Jahr auf der gynäkologischen
Abteilung, wo durchweg nur mit Katgut unterbunden wird,
erstrecken, sind bislang sehr zufriedenstellend gewesen.
Ich nahm während dieser Zeit Veranlassung, das Katgut
näher auf seine physikalischen Eigenschaften zu prüfen.
Diese Untersuchungen (das Katgut wurde durchweg von
D r o n k e - Köln bezogen) erstreckten sich sowohl auf Zug¬
festigkeit, diese berechnet auf Kilogramm, als auf
Dehnung, diese an 18 cm langen Fäden gemessen und in
Prozenten wiedergegeben. Sie wurden in verdankenswerte-
ster Weise von der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt
am Schweizerischen Polytechnikum in Zürich vorgenommen.
Sie erheben daher Anspruch auf vollkommene Zuverlässigkeit.
Je nach der Dicke der Fäden — es wurden dünne und dicke
Nummern zu den Versuchen gebraucht — aber auch je nach
der Güte des einzelnen Fadens traten Schwankungen in den
Ergebnissen auf, die zum Teil recht beträchtlich sind. Es können
hier nicht alle die einzelnen Versuche, im ganzen rund 300 Ein¬
zelversuche, wiedergegeben werden, zumal es ja vollständig
genügt, das Wesentliche dieser Untersuchungen mitzuteilen,
wie es beistehende Uebersicht zeigt.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Die Festigkeit wird durch alle Mittel, Jod, Sublimat und
vor allem durch Wasser, durch Kochen sowohl in Kumol wie
in Wasser (Formolkatgut) geschädigt, dieses lässt sich daher
zurzeit nicht vermeiden. Die Dehnung wird in erster Linie
durch Wasser gesteigert. Uebrigens ist eine Zunahme der
Dehnung an sich sehr erwünscht, weil damit eine Abnahme der
Sprödigkeit der Fäden erreicht wird, die nicht nur das Knüpfen
erleichtert, sondern die vor allem die Fäden weniger leicht ein-
reissen lässt. Müssen doch die Spinnereien stets für einen
gewissen Feuchtigkeitsgehalt ihrer Fäden besorgt sein! Indes
hat dieses auch seine Grenzen. Eine Zunahme der Dehnung um
50 Proz. und mehr macht das Knüpfen der Katgutfäden un¬
sicher.
Aus diesen Untersuchungen geht hervor, dass jene Kol¬
legen, die keimfreies einfaches Katgut anwenden wollen, Kumol¬
katgut wählen müssen. Wird keimfreies und gleichzeitig keim¬
tötendes Katgut vorgezogen, so ist Jodkatgut nach
Schmidt-Billmann in wässriger oder in alkoholischer
Lösung, jedenfalls aber in 95 proz. Alkohol aufbewahrt, vor¬
zuziehen, zumal dieses auch in bezug auf Festigkeitsabnahme
dem Kumolkatgut überlegen ist. Ich kenne keine Zu¬
bereitungsweise — und ich habe fast’ alle
durchversucht — die bei solcher Einfachheit
2
1298
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
Katgutuntersuchungen auf
Zugfestigkeit
Dehnung an 18 cm
nach Kilogramm
langen Fäden in
berechnet
Prozente gegeben
Rohkatgut von Dronke, bezogen
je nach Dicke der Fäden . . .
J\3
Cn
l
OC
15,5 -23,8
Art der Zubereitung des
Katguts
Abnahme
Proz.
Mittel
Proz.
Zunah me
Proz.
Mittel
Proz.
Kumolkatgut, von Dronke-Köln
zubereitet .
19,8—25,3
22,5
0,3—27,7
14,0
Silberkatgut, hergestellt durch
achttägiges Einlegen in einer
1 Proz. wässrigen Lösung von
Aktol (Argentum lacticum),
Aussetzen dem Lichte und Auf¬
bewahren in Alkohol .
21,0-27,3
24,0
56,2—67,6
61,4
Sublimatkatgut, dargest. durch
Kochen in 5: 1000 85 proz. Sub¬
limatalkohol mit demS c h ä f f e r-
schen Apparat, Aufbewahren in
1 : 1000 96 proz. Alkohol . . .
8,4—36,8
20,04
6,8—17,6
9.0
Jodkatgutnach Claudius, zu¬
bereitet durch achttägiges Ein¬
legen in einer Lösung von 0,5 g
Jod, 2,5 g Kalii jodati, in 100 g
Aqua destillata, Aufbewahren
in Alkohol .
14,0—33,9
25,0
17,3—63,5
38,7
Jodkatgut nach Schmidt-
B i 1 1 m a n n , hergestellt durch
achttägiges Einlegen in einer
5 proz. wässerigen Lösung von
„Katgut jod“, aufbewahrt in
dieser Lösung .
21,9-31,3
23,0
19,6—47,1
29,3
Jodkatgut nach Schmidt-
Billmann, in gleicher Weise
mit wässeriger 5 proz. Katgut-
lösung sterilisiert, jedoch in
96 proz. Alkohol aufbewahrt . .
14,1-17,7
15,3
10,5—18,1
15,0
Jo'dkatgut nach Schmidt-
Billmann, jedoch zubereitet
in 5 proz. alkohol. Katgutjod-
lösung u. aufbewahrt2in'96proz.
Alkohol .
17,1-23,0
17,2
0,7—15,3
9.0
Jodkatgut von Billmann
hergestellt und trocken verkauft
11,4-25,6
15,6
14,1—15,5
15,0
gemacht hatte, wurden an der Freiburger Universitäts-Frauen¬
klinik Messversuche an skelettierten Becken, an der Lebenden
und an der Leiche angestellt, die die Brauchbarkeit der By-
1 i c k i sehen Messmethode durch ausreichende Zahlen und ein¬
wandsfreie Kontrolluntersuchungen erwiesen haben. Die Re¬
sultate dieser Versuche und die im Interesse der Genauigkeit
und Gefahrlosigkeit der Messung vorgenommenen Abänderun¬
gen der B y 1 i c k i sehen Instrumente habe ich seinerzeit im
Freiburger ärztlichen Verein 2) bekannt gegeben. Aus den
zahlreichen Nachfragen und den in der Literatur berichteten
Anwendungen glaube ich erkennen zu können, dass die in¬
strumenteile direkte Messung der Conjugata obstetrica wegen
ihrer grossen Bedeutung für die Lehre vom engen Becken in
weiteren Kreisen Beachtung und Anhang gefunden hat.
Trotzdem habe ich schon damals unumwunden erklärt,
dass die neue Methode nur eine Etappe auf dem Wege zum
Ziel bedeuten könne.
Das vollständige, zur Messung nötige Besteck besteht aus
16 kleinen, an Länge um V4 cm von einander differierenden Metallmess¬
stäbchen, die auf drei übereinander zu stellenden Metallplatten mon¬
tiert und in einem Holzetui untergebracht sind, wie Skizze I es ver-
in der Herstellung ein solch widerstands¬
fähiges Katgut liefert.
Für den Hausarzt, wie bei geringem Bedarf, ist auch das
trockene Jodkatgut, wie es die Firma Carl B i 1 1 m a n n in
Mannheim in den Handel bringt, dem Kumolkatgut D r o n k e s
schon wegen seiner antiseptischen Kraft ganz gewiss vor¬
zuziehen.
Zusatz während der Korrektur. Seit kurzer Zeit wird
von Rosenberg in Berlin ein Katgut in den Handel gebracht, das
nach den Angaben Karewskys mit Alkohol sorgfältig keimfrei
gemacht in den Handel gebracht wird. Aufbewahrt wird es in be¬
sonderen Glastuben. Eigene Erfahrungen besitze ich nicht damit,
doch scheint es für den Hausarzt recht brauchbar zu sein, soferne
er ein angebrochenes Glas in einem mit Alkohol angefüllten dick¬
wandigen Reagensrohre aufhebt, um allenfalsige Reste nicht weg¬
werfen zu müssen.
Aus der Freiburger Universitäts-Frauenklinik (Direktor: Prof.
Dr. K r ö n i g).
Eine einfache Messung.
Dr. C. J. G a u s s, Assistent der Klinik.
Solange uns Mittel und Wege fehlen, die Wehenkraft, die
Grösse des kindlichen Kopfes und die Weite des mütterlichen
Beckens in ihrem Verhältnis zu einander exakt zu erkennen,
solange wird die instrumenteile direkte Messung der Con¬
jugata obstetrica die vornehmste Methode bleiben, den Grad
der Beckenverengung und ihren wahrscheinlichen Einfluss auf
den Geburtsverlauf festzustellen.
Nachdem B y 1 i c k i von neuem eindringlich auf den
Wert der instrumenteilen direkten Messung der Conjugata
obstetrica durch Publikation seiner Winkelhebel1) aufmerksam
Fig. 1.
anschaulicht. Nach Preis und Umfang konnte man daher leider nicht
erwarten, dass das Besteck über den Rahmen der Kliniken und Lehr¬
institute hinaus eine weitergehende Bedeutung für die Geburtshilfe
des praktischen Arztes und Spezialisten gewinnen würde; die Not¬
wendigkeit einer mehrfachen Einführung der Messstäbchen in die
Vagina bedeutete zudem, auch bei guter Technik, immerhin noch eine
unangenehm empfundene Belästigung der Patientin.
Alle diese Ueberlegungen haben mich veranlasst, weiter zu
arbeiten an dem bisher ungelösten Problem eines verstellbaren
inneren Beckenmessers, der es durch zweckentsprechende
Konstruktion ermöglicht, jede Conjugata obstetrica zwischen
6 und 11 cm einfach und exakt zu messen.
Mir war klar, dass die an anderem Orte genau festgelegten
Prinzipien einer genauen Messmethode auch für das neue In¬
strument grundlegend bleiben mussten: das Ansetzen des
Beckenmessers soll unter allen Umständen an der Hinterwand
der Symphyse stattfinden; erst dann darf die Spitze des In¬
strumentes den anderen Pol der zu messenden Linie, das Pro¬
montorium, zu ereichen suchen.
Nach vielem Hind- und Herüberlegen, Konstruieren und Ex¬
perimentieren — wobei mich die Firma Fischer in Freiburg
in der entgegenkommendsten und uneigennützigsten Weise
unterstützte — kam ich über eine grössere Anzahl wieder
verlassener Modelle zu einem Instrument, das ich nach
ausreichender praktischer Prüfung glaube der Oeffentlichkeit
übergeben zu dürfen. Ich verdanke es dem Interesse meines
Chef Prof. K r ö n i g für eine exakte innere Beckenmessung,
dass ich die von anderer Seite angegebenen, demselben Zweck
dienenden Beckenmesser noch während meiner Konstruktions¬
versuche praktisch erproben und die daraus gewonnenen Er¬
fahrungen für mich nutzbar machen konnte. Ich kam, was die
0 Monatsschr. f. Geburtsh. u. Gynäk., Bd. XX.
2) Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gynäkol., Bd. 54, H. 1.
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1299
Beckenmesser von Forssner und S o 1 o r i j anbetrifft, zu
dem Resultat, dass man mit beiden die Conjugata obstetrica
zwar mehr oder weniger bequem messen kann, dabei aber
aus technischen Gründen diejenige Gleichmässigkeit der Mes¬
sung vermisst, die die Vorbedingung wissenschaftlicher Exakt¬
heit ist. Mit der Frage der Exaktheit aber steht und fällt jede
instrumentale Messung.3 4)
Instrument.
Mein neuer Beckenmesser besteht, wie in Skizze 2 und 3 zu er¬
kennen ist, aus zwei Hauptteilen; beide ineinandergefiigt zeigen ein
dem modifizierten Bylickischen Winkelhebel ähnliches Aussehen. W
Fig. 2. Fig. 3.
Teil I ist ein winklig abgebogener Metallstab, dessen eines Ende
den zum Handhaben bestimmten Griff trägt, dessen entgegenliegendes
Ende die zum Ansetzen an die hintere Symphysenwand bestimmte
kolbige, in der Mitte sattelartig vertiefte Anschwellung zeigt.
Teil II ist ein dem ursprünglichen Bylickischen Winkelhebel
ähnlich gebogener bajonettartiger Metallstab, der vorn in eine kol¬
bige Endauftreibung ausläuft, hinten in einem Ring endigt.
Beide Hauptteile können so zusammengesetzt werden, dass der
Winkelhebel in einer dem horizontalen Schenkel des Griffteiles ein¬
gelassenen Führungsrinne läuft, in der er durch eine federnde
Klammer gleitfähig fixiert wird.
Eine kleine, seitlich angebrachte Stellschraube dient dazu, den
Winkelhebel in jeder beliebigen Stellung gegen die Gleitrinne fest¬
zustellen.
Die am Ringende des Winkelhebels angebrachte Skala ermöglicht
es, die jeweilige Entfernung der Winkelhebelspitze von dem Sym¬
physenende des Griffteiles bis auf 1/s cm genau abzulesen.
Technik.
Die Anwendungsweise ergibt sich aus der Schilderung und Be¬
trachtung des Instrumentes. Sie lehnt sich im Grunde an die von mir
anderorts eingehend beschriebene Handhabung der modifizierten
Winkelhebel eng an; in Rücksicht auf einige technische Vorschriften,
die für den neuen Beckenmesser besonders zu beachten sind, will ich
sie kurz an dieser Stelle wiederholen.
Fig. 4.
3) Nachtrag bei der Korrektur. Einen, ganz kürzlich
von Faust in No. 22 des Zentralbl. f. Gyn. veröffentlichten, inneren
Beckenmesser habe ich ebenfalls an einer Reihe von Patientinnen
erprobt; meinen darauf beruhenden theoretischen und praktischen
Bedenken habe ich in No. 26 des Zentralbl. f. Gyn. Ausdruck gegeben.
4) Käuflich bei Instrumentenmacher Fischer in Freiburg i. Br.
Unter Führung zweier Finger der touchiernden Hand wird der
Beckenmesser auf die am meisten prominierende Stelle der hinteren
Symphysenwand aufgesetzt, wobei der für Druck sehr empfindliche
Urethralwulst leicht zur Seite gedrängt wird. Skizze 4 illustriert
diesen Akt der Messung.
Während nun die äussere Hand das Instrument durch stetigen
Zug gegen die Symphyse fixiert, verlassen die beiden inneren Finger
ihren bisherigen Ort und markieren den am weitesten in die Becken¬
höhle hineinragenden Punkt des Promontoriums.
Erst dann schiebt der in den Ring gelegte Daumen der äusseren
Hand den Winkelhebel langsam vorwärts, um mit seinem kolbigen
Ende das Promontorium an der von den touchierenden Fingern be-
zeichneten Stelle zu treffen. Indem der Winkelhebel jetzt mit
mässigem Druck gegen das Promonotorium angedrückt wird, liest man
an der Skala die Länge der Conjugata obstetrica, deren Endpole das
Instrument jetzt berührt, ab. Skizze 5 zeigt die während dieses Mess¬
akts von Instrument und Hand eingenommene Stellung.
Nachdem der Winkelhebel durch den äusseren Daumen gegen die
Symphyse zurückgezogen ist, wird die Messung noch ein- bis zweimal
genau nach Vorschrift wiederholt. Die inneren Finger sollen dabei
jedesmal wieder die richtige Lage der beiden Messpole des Becken-
messers kontrollieren, da andernfalls grosse Differenzen zwischen den
verschiedenen Messungen entstehen können. Nur wenn die Kontroll-
messungen übereinstimmende Zahlen ergeben, darf die Conjugata
obstetrica als einwandsfrei gemessen angesehen werden.
Nach den mir bisher zur Verfügung stehenden Erfahrungen
gelingt eine gleichmässige, exakte Messung mit dem Instrument
immer, vorausgesetzt, dass die in Betracht kommenden Fehler¬
quellen nach Möglichkeit ausgeschaltet werden.
Es ist daher notwendig, diese genau zu besprechen.
Fehlerquellen.
Die Hauptschwierigkeit in der Handhabung des Becken¬
messers besteht anfangs darin, zwei einander im Prinzip ent¬
gegengesetzte Bewegungen mit einer Hand ausführen zu
müssen.
Die das Instrument haltende äussere Hand soll den Griff¬
teil durch sagittalen Rückzug gegen die Symphyse fixieren und
zugleich mit dem Daumen den Winkelhebel gegen das Pro¬
montorium zu schieben unter Anwendung einer dem Grad der
Beckenneigung nach wechselnden Hebung oder Senkung des
Handgriffes. Dabei passiert es leicht, dass man in dem Be¬
streben, das Promontorium zu erreichen, mit dem gegen die
Symphyse gerichteten Rückzug nachlässt und dadurch die enge
Fühlung mit dem prominentesten Teil ihrer Hinter wand ver¬
liert. Oder man zieht zu stark gegen die Symphyse und
rutscht von dem höchsten Punkt des Knorpels nach unten zu
ab. Skizze 6 soll veranschaulichen, was diese fehlerhafte Tech-
Fig. 6.
nik zur Folge hat; der Fehler ist um so grösser, je höher die
Symphyse und je grösser der obere Symphysenwinkel ist.
2*
1300
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
Drei weitere Fehlerquellen sind von der Anwendung der
modifizierten Winkelhebel her bekannt. Sie beruhen auf einer
fehlerhaften Markierung der an Symphyse und Promontorium
in Betracht kommenden Messpunkte. Ein falsches Aufsetzen
des Symphysenteiles ist leicht zu vermeiden, zumal die an
ihrem kolbigvcrdickten Ende angebrachte Einsattlung ein seit¬
liches Abrutschen verhindern soll.
Etwas schwieriger liegen die Verhältnisse am Promon¬
torium. Bleibt man nämlich mit der touchierenden Hand nicht
genau in der medianen Sagittallinie, so kann es passieren, dass
die Spitze des Winkelhebels einen seitlich vom Gipfel des
Promontorium gelegenen Punkt trifft, wodurch der durch
Skizze 7 illustrierte Fehler entsteht.
r/fi
Fig. 7.
Endlich kommt es vor, dass man — vor allem, wenn sich
schon ein Segment des vorliegenden Kopfes eingestellt hat —
eine unter dem wirklichen Promontorium gelegene Stelle für
den richtigen Messpunkt hält. Skizze 8 erklärt den daraus
resultierenden Messfehler. Ich habe gefunden, dass es be¬
sonders anfangs gewisse Schwierigkeiten macht, mit dem
Beckenmesser so aq.f das Promontorium zu „zielen“, dass seine
Spitze weder nach rechts oder links, nach oben oder unten
von ihm abirrt. Erfahrung in der Deutung enger Becken und
Uebung in der Messtechnik helfen auch über diese Klippen
hinweg; es ist selbstverständlich, dass die Grundlage jeder
— also auch der instrumenteilen — inneren Beckenmessung in
einer genauen Austastung des Beckens mit der Feststellung
der für die Messung in Betracht kommenden Messpunkte
besteht.
Sind alle diese Fehler sorgfältig vermieden, so kann nur
noch ein Umstand Differenzen in den Messresultaten ver¬
schiedener Untersucher hervorrufen: das Subjektive der
Druckstärke, mit der der Winkelhebel gegen das Promontorium
gepresst wird. Nun kann man zwar sagen, dass die Weich¬
teile des Beckenkanals unter der Geburt ebenfalls einer durch¬
aus verschieden starken Kompression ausgesetzt sind und dass
im letzten Grunde doch wohl die durch grösstmögliche
Quetschung gewonnene Conjugata obstetrica in Betracht käme.
Das ist ein Trugschluss, weil man mit wechselnder Wehen¬
kraft und unterschiedlicher Konfigurationsfähigkeit des Kopfes
zu rechnen hat.
Es müsste also für die Grösse der Conjugata obstetrica
an der Lebenden ein Mittelmass der Weichteilkompression an¬
genommen werden, mit der man als einem unveränderlichen
Wert rechnen könnte.
Dieses Mittelmass ist bei den B y 1 i c k i sehen Winkel-
liebeln gegeben: dasjenige Messstäbchen, das noch gerade am
Promontorium, dieses fühlbar tangierend, in der medianen
Sagittallinie vorbeigeführt werden kann, gibt die Grösse der
Conjugata obstetrica an. Ich muss zugeben, dass in dieser Hin¬
sicht eine Vereinfachung der Bylickischen zahlreichen Winkel¬
hebel in ein einziges verstellbares Instrument eine Verschlech¬
terung bedeuten würde; das starre Messstäbchen passt zwischen
Promontorium und Symphyse entweder hinein oder nicht hin¬
ein, während mein neuer, für kleine und grosse Conjugatae ob-
stetricae anwendbarer Beckenmesser immer noch individuelle
Schwankungen zulässt, die je nach der Stärke der ausgeübten
Weichteilkompression bis zu gut X- cm betragen können.
Auch diese Fehlerquelle war aus der Welt zu schaffen. An
der linken Seite des die Gleitrinne enthaltenden Griffteiles ist
— wie oben erwähnt — eine kleine Stellschraube angebracht,
mit der man den Winkelhebel gegen seine Führungsrinne in
jeder beliebigen Stelle fixieren kann. Hat die mit einem mitt¬
leren Druck ausgeführte Messung nun z. B. eine Conjugata
obstetrica von 9 cm ergeben, so drückt der äussere Daumen
oder Zeigefinger auf den Hebel dieser Stellschraube und macht
den bisher verstellbaren Beckenmesser dadurch zu einem
starren Instrument, das nunmehr genau wie ein B y 1 i c k i -
scher Winkelhebel angewandt werden kann.
Ergibt die jetzt nach bekannter Vorschrift ausgeführte
Messung, dass die langsam gegen das Promontorium zu empor¬
gehebelte Spitze dieses nicht tangiert, sondern sich unter ihm
verfängt, so war der vorhin aufgewandte Druck gegen das
Promontorium zu stark und der für die Conjugata obstetrica
gefundene Wert zu gross. Nach Lösung der Stellschraube wird
das Instrument versuchsweise von neuem auf 8X cm, dann
eventuell auf 8% cm und schliesslich auf 8 5/s cm fixiert, womit
dann die Grösse der Conjugata obstetrica definitiv fest¬
gelegt ist.
Alle diese Manipulationen lassen sich schnell und spielend
mit der äusseren Hand ausführen, ohne dass Instrument und
touchierende Hand aus der Vagina herausgenommen werden
müssten. /
Als Beleg für meine Ausführungen füge ich hier eine Reihe
der mit dem neuen Beckenmesser gewonnenen Messresultate
kurz an. Ich schicke folgendes erklärend voraus.
Die Messungen wurden ausgeführt von Chef und Assistenten der
Klinik, die irgendwelche praktische Erfahrung in der Handhabung des
Instrumentes bis dahin nicht besassen, es durchweg also zum ersten
Male in der Hand hatten.
Als Grundlage für die Richtigkeit der Messungen benutzte ich
verschiedene Methoden. Ich kontrollierte mich entweder durch
eigene oder durch fremde Nachmessungen oder endlich durch eine
Messung mit den früheren Winkelhebeln, die nach meinen auf
diesem Spezialgebiet gemachten Erfahrungen eine exakte Festlegung
der Conjugata obstetrica bis auf XU cm ermöglicht. Wo nicht nach
Bylicki kontrolliert wurde, galt die häufigst gefundene Zahl als
der richtige Wert.
Das Messresultat wurde immer von einer zweiten Person ab¬
gelesen, nachdem der Messende selbst erklärt hatte, dass das Instru¬
ment richtig eingestellt sei; auf diese Weise blieb eine event. un¬
absichtliche Schönfärbung der gefundenen Messzahlen absolut aus¬
geschlossen.
Die verschiedenen Messangaben (Vs, Vi, Vs) erklären sich da¬
durch, dass mein Instrument anfänglich nur eine Vt cm-Skala trug;
wegen der häufig dazwischen gefundenen Werte zeigte sich dann bald
eine feinere Einteilung in Vs cm als nötig.
E i n Messprotokoll ist absichtlich weggelassen, da es sich erst
beim Vergleichen der um ca. 1 cm differierenden Ergebnisse heraus¬
stellte, dass es sich um ein doppeltes Promontorium handelte; ein Teil
der Untersucher hatte nach dem oberen, ein Teil nach dem unteren
Promontorium „gezielt“.
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Kontrolle durch wiederholte eigene Messung.
So.
8
8
8
Rie.
974
974
91 '4
Li.
77/ 8
77/s
8
Her.
974
974
974
Am.
10
10
10
Kie.
974
974
974
Kontrolle durch Messungen nach Bylicki.
Rei.
974
974
9V4
91/4
Pro.
8
8
8
8
Le.
97a
97*
94/2
94/2
Gie.
83/4
9
87/s
87/s
Ke.
974
974
94/4
94/4
Ge.
974
9S/8
93/8
93/8
Kontrolle durch eigene und fremde Messungen.
Q a u s s
s
c h u 1 z
e
Wei.
94/2
94/2
94/2
94/2
94/2
9‘/2
Ge.
93/4
93/4
91/2
94/3
94 3
9'/3
Do.
974
94/4
94/2
94/2
9'/2
93/4
Schi.
974
94/4
9
94/8
9'/s
91/4
Ja.
972
91/2
94/2
94/2
972
9'/2
Rei.
9
9
9
87/s
9
9
Bui.
974
94/4
94/4
94/4
94/3
94/4
Su.
83/4
83/4
83/4
8’/2
87«
84/2
Fi.
83/4
83/4
83/4
83/4
83/4
83/4
Ru.
94/4
94/4
94/2
94/2
94/2
94/2
Schl.
84/2
84/2
84/2
84/2
8 2/s
81/2
Do.
Krönig
8l/4
8‘ 3
84/4
Penkert
84/4
8*/4
874
Eichmever
84/4
84/4
84/4
Molina
874
84/4
874
Schweitzer
81/4
84/4
81/4
Schulze
774
73/4
72/3
Gauss
774
8
8
Zahlen beweisen.
Schluss.
Die Bedeutung der wenigen differenten Messresultate für
die Beurteilung der Gebrauchsfähigkeit meines Beckenmessers
wird erheblich abgeschwächt durch den Umstand, dass sie
durch Messungen von völlig uneingeübten Personen gewonnen
wurden; die Bedeutung der zum Teil auffällig gleichmässigen
Ergebnisse wird durch den gleichen Umstand um ein erheb¬
liches erhöht. Technisch geübte Untersucher müssen mit dem
Instrument absolut exakte Resultate erzielen.
Damit glaube ich, dass die instrumenteile direkte Messung
der Conjugata obstetrica den Grund der Einfachheit und Exakt¬
heit erreicht hat, der überhaupt zu erreichen möglich ist. Man
darf daher wohl der berechtigten Hoffnung Ausdruck geben,
dass die fast nur auf der Conjugata diagonalis beruhende
Beckenmessung definitiv verlassen werden wird. Es kann
nicht ausdrücklich und häufig genug gesagt werden, wie trü¬
gerisch und unzuverlässlich dies leider noch fast allgemein
übliche Verfahren ist. Die Conjugata diagonalis kann über¬
haupt als eine digital exakt messbare Grösse nicht angesehen
werden. Henkel5) berichtet, dass die Untersuchungsresul¬
tate verschiedener, geübter Geburtshelfer bei ein und derselben
Frau häufig um bis 1 cm differierten; ja sogar „dieselben
Untersucher, die unbewusst dieselbe Frau bei verschiedenen
Entbindungen untersucht haben, konnten nicht immer dieselben
Resultate in das Protokoll eintragen“.
Auf einen so schwankenden Untergrund sind wir gewohnt
noch weiter zu bauen, indem wir die Conjugata obstetrica durch
einen gewissen Abzug von dem für die Conjugata diagonalis
gefundenen Wert berechnen. Es ist bekannt, innerhalb wie
weiter Grenzen diese für die Grösse des Abzuges aufgestellten
Berechnungen schwanken. Wegen der enormen Wichtigkeit
dieser Frage für die Lehre vom engen Becken seien hier noch
einmal einige interessante Zahlen in tabellarischer Uebersicht
5) Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gynäkol., Bd. 50, H. 1.
1301
angeführt, die die Grösse des von Meistern ihres Faches für
die Conjugata obstetrica berechneten Abzuges angeben.
Leroy . 0,6
Jacquemier . 0,6 — 0,9
Pajot . 1,0
Cazeuz . 0,6 — 1,1
Nägele . 1,3— 1,7
Depaul . 1,5
Maygrier . 1,8— 2,0
Spiegelberg . 1,5— 2,0
Schroeder . 1,75-2,0
Fritsch . 1,0 — 2,0
Skutsch . 1,5— 2,9
Crede . 0 — 3,0
Schon daraus geht hervor, wohin wir mit dem mancher¬
orts üblichen, schematischen Abzug von 2 cm kommen.
In einer früheren Publikation hatte ich gefunden, dass ich
auf diese Weise unter 27 Beckenmessungen
ohne jeden Messfehler in . 15,4 Proz.
mit Fehlern bis zu 0,5 cm in . . . 50,0 „
„ „ von 0,6 bis 1 cm in . . 30,8 „
„ „ über 1 cm in . 3,8 „
gemessen haben würde.
Ich habe es mir nicht versagen können, eine neue kleine
Blütenlese in einer Gegenüberstellung von 100 durch mich
digital gemessenen Conjugatae diagonales und den dazu ge¬
hörigen instrumenteil festgelegten Conjugatae obstetricae hin¬
zuzufügen. Wenn ich in diesen 100 Beckenmessungen den
prinzipiellen Abzug von 2 cm machte, so würde ich, ver¬
glichen mit dem wahren Werte, die Conjugata obstetrica
ohne Messfehler (d. h. bis zu 1/4 cm) in 23 Proz.
mit Fehlern von A/4 bis 72 cm in . . . 25 „
„ „ „ 1/2 » 1 „ in . . . 23 ,,
„ „ über 1 cm in . 29 „
der 100 Fälle gemessen haben. Das will sagen, dass ich in
mindestens 52 Proz. aller Geburten mit engem Becken schwere
diagnostische Irrtümer begangen haben würde, die ebenso
schwere therapeutische Fehlgriffe hätten zur Folge haben
können.
Wie weit ein individuelles Abwägen der für die wahre
Grösse des Abzuges ins Gewicht fallenden Faktoren diese folge¬
schweren Irrtümer hätte verhüten können, wage ich nicht zu
entscheiden. Da selbst hochentwickelte manuelle Technik und
weitgehende praktische Erfahrung, wie sie zur richtigen Ein¬
schätzung so schwieriger Befunde nötig sind, noch irreführen
können, so ist von einer solchen, durch subjektive Schätzung
gewonnenen Conjugata obstetrica für die Allgemeinheit nicht
viel zu erwarten.
Damit fällt das ganze, bisher fast allgemein anerkannte,
auf der Grösse der Conjugata diagonalis gegründete System
in sich zusammen. Die instrumentelle direkte
Messung der Conjugata obstetrica allein ist
imstande, das Fundament für eine objektive
Beckenmessung und eine allgemein gültige
Lehre vom engen Becken zu bilden, solange
wir die anderen inneren Masse in ein wands¬
freier Weise nicht feststellen können.
Mein neuer Beckenmesser vereint in sich die Vorteile eines
exakt arbeitenden, leicht handlichen und preiswerten Instru¬
ments, das den klinischen Instituten, dem geburtshilflichen
Spezialisten und dem praktischen Arzt in gleichem Masse zu
dienen bestimmt ist.
Aus der Kgl. Universitätspoliklinik für Hautkrankheiten zu
Halle a/S.
Ueber den Nachweis der Spirochaete pallida bei
tertiärer Syphilis.
Von Dr. Egon Tomasczewski.
Im März 1905 erschien die erste Mitteilung über Spiro¬
chaete pallida von Schaudinn und Hoffman n. Seit¬
dem ist schon eine fast unübersehbare Zahl von Arbeiten über
diesen Gegenstand erschienen. Wir dürfen heute die Spiro¬
chaete pallida als einen konstanten Befund in allen primären
und sekundären Veränderungen der erworbenen (vielleicht mit
Ausnahme der malignen Formen), in sämtlichen erkrankten
Organen der kongenitalen Lues des Menschen, sowie in allen
primären und sekundären Affektionen der experimentellen
Syphilis der Affen betrachten. Dagegen fehlte bisher ihr Nach¬
weis in den tertiären Formen dieser Krankheit. Mit seltener
Uebereinstimmung haben sich alle Autoren in diesem Sinne
ausgesprochen. Die vereinzelten Fälle mit positivem Spiro-
1302
MÜENcHeNER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
chätenbefund bei tertiärer Syphilis von Spitzer1 2 3), Rille
und Volke r o d t ■), D u d g e o rr‘) waren in ihrer Deutung
nicht überzeugend genug, um gegenüber den zahlreichen,
durchgängig negativen Befunden aller anderen Autoren als be¬
weisend gelten zu können. Man hat ihnen daher wohl auch
nicht die Beachtung geschenkt, die sie vielleicht doch be¬
anspruchen dürfen.
Seit Anfang dieses Jahres habe ich eingehende Unter¬
suchungen tertiärer Luesaffektionen gemacht
und in 5 von 10 Fällen Spirochaetae pallidae
nachweisen können4).
ball 1. E. Sch. 27 Jahre. Infektion Ende 1902, Primär- und Sekun¬
därerscheinungen; wiederholt Rezidive, wiederholt Quecksilberkuren.
Die jetzigen Erscheinungen bestehen seit 4 Wochen. Autnahme am
14. X. 19Uö. Ausgebreitete grösstenteils ulzerierte tuberoserpiginöse
Syphilide am Kopi, Lais, rectiten Unterarm und linken (Jbersctienkel,
die unter JK und Lg-injektionen nach einigen Wochen heilten. Von
je zwei Stellen des Lalses und Uberarmes Präparate gemacht; in
allen vereinzelte Spirochaetae pallidae.
ball 11. M. L. 25 Jahre. Infektion vor 5 Jahren. Damals Primär-
und Sekundärerscheinungen. Lg-Einreibungskur. Vor 1 Jahr üumma
des linken Unterschenkels, das unter JK rasch heilte. Die jetzigen
Erscheinungen bestehen seit 3 Wochen. Aufnahme am 12. 1. 1906.
Am linken Unterschenkel zwei isolierte kirschgrosse Uunimen mit
dünner, noch intakter Lautdecke. Wandgewebe abgekratzt; in zwei
Präparaten einige Spirochaetae pallidae. Unter JK rascher Rückgang
der Atfektionen.
ball 111. E. H. 26 Jahre. Infektion vor 8 Jahren. Damals Er¬
scheinungen im Lalse und Laaraustall, Lg-Einreibungskur. Später
wegen wiederholter Rezidive Quecksilbereinreibungs-, Pillen- und
Injektionskuren, zuletzt vor 3 Jaiiren. Jetzige Affektion besteht seit
V2 Jahre. Autnahme am 2. 111. 1906. Tuberoserpiginöses Syphilid der
rechten Lohlhand, die radiale Lälfte einnehmend; die Lautdecke
grösstenteils intakt, zum Teil hyperkeratotisch; nur an einigen Stellen
mit Krusten bedeckte Ulzerationen. Von zwei Stellen je ein Präparat
gemacht; in beiden einige Spirochaetae pallidae,
ball IV. L. W. 50 Jahre. Anamnestisch keine Luesinfektion,
brau gesund; ein Sohn, 22 Jahre alt, gesund, beginn der jetzigen
Anektion Weihnachten 1905. Aufnahme am 31. 111. 1906. Geschlos¬
sene gummöse Infiltration der Nasenwurzel, angrenzenden Stirn- und
Wangenpartie. Unter JK rasche Besserung. Drei Präparate gemacht;
nur in einem einige Spirochäten gefunden.
ball V. P. N. 33 Jahre. Infektion Anfang 1902. Damals Pri¬
märaffekt, später Laarausfall; im Krankenhaus nur 2 Vis Wochen.
Lg-Einreibungskur. Seitdem keinerlei Erscheinungen, keine Jod¬
oder Lg-Medikation. Ende 1905 traten Geschwüre an den Beinen,
der Stirn, dem Stamm, zuletzt auch am linken Arm auf. Aufnahme
am 1. V. 1906. An den genannten Stellen teils schon abgeheilte, teils
frischere, zum 'teil ulzerierte tuberoserpiginöse Syphilide. Je zwei
Präparate von der Stirn und dem linken Arm gemacht; nur in je
einem Präparate beider Stellen einige Spirochäten gefunden. Unter
JK rasche Besserung.
Das Untersuchungsmaterial wurde bei den geschlossenen
Affektionen aus der Wand, bei den offenen aus dem noch von
intakter Haut bedeckten Randinfiltrat unter aseptischen Kau-
telen entnommen, in dünnster Schicht auf neue, gut gereinigte
Objektträger ausgestrichen, in absolutem Alkohol 10 Minuten
fixiert, 24 Stunden in frischer Giemsalösung (1:20) gefärbt und
mit verschiebbarem Objekttisch von Z e i s s durchgesehen.
Die erste Spirochäte wurde oft erst nach 6 — 10 Stunden gefun¬
den und auch die Auffindung weiterer Exemplare erforderte
noch stundenlange Untersuchung. Wiederholt habe ich ein¬
zelne Präparate systematisch durchmustert, ohne eine einzige
Spirochäte finden zu können. Die bisherigen negativen Be¬
funde erklären sich danach ganz natürlich.
Die gefundenen Spirochäten hatten die für die Giemsa-
fäibung charakteristische zarte Rotfärbung; in Zahl und Art
ihrer Windungen und Fadenbreite entsprachen sie durchaus
den Spirochaetae pallidae sekundärer Affektionen; und endlich
wurde bei einzelnen Exemplaren bei Anwendung stärkster Ver-
grösserung (2000) noch ein vorher unsichtbar gebliebener, leicht
gewundener Fortsatz sichtbar, wie ihn die Spirochaete pallida
in Giemsapräparaten häufig aufweist. Zur weiteren Sicherung
der Diagnose habe ich dann noch folgendes Verfahren an-
1) Spitzer, Wiener kjin. W. 1905 S. 822.
2) Rille und Volkerodt, Münch, med. W. 1905 No. 34.
3) D u d g e 0 n, Lancet No. 4306.
4) Wie ich aus der soeben erschienenen Publikation von Dou-
trclepont und Grouven (Deutsche med. W. 1906 No. 23) ersehe, ist
auch diesen Autoren der Nachweis der Spirochaete pallida in 4 Fällen
tertiärer Lues gelungen.
gewendet. Die Präparate mit positivem Spirochätenbefund
wurden nach Alkoholentfärbung für kurze Zeit in verdünnte
Karbolfuchsinlösung gebracht. Mit Hilfe des Nonius und genau
vorher aufgezeichneter Gesichtsfelder (bei schwacher und star¬
ker Vergrösserung) liess sich nun feststellen, dass die als
Spirochäten angesprochenen Gebilde sich nicht tingiert hatten.
Nach nochmaliger Entfärbung und erneuter Giemsafärbung
kamen sie wieder zum Vorschein, hatten aber einen überaus
zarten bläulichroten Ton.
Nach alledem handelt es sich bei den beschriebenen For¬
men um Spirochaetae pallidae. Dies scheint mir in theo¬
retischer Hinsicht von gewisser Bedeutung. Bisher neigten
viele Autoren zu der Annahme, die Spirochaete pallida sei nur
eine Erscheinungsform in dem Entwicklungskreis des Syphilis¬
erregers. Diese Anschauung fand in der Differenz der syphi¬
litischen Früh- und Spätformen einerseits, dem positiven Be¬
fund von Spirochäten in den sekundären, dem negativen in
den tertiären Affektionen andererseits eine gewisse Stütze.
Völlig von der Hand zu weisen ist dieser Gedankengang ja auch
jetzt noch nicht, nur erscheint er mir nicht mehr notwendig.
Der Nachweis der Spirochaete pallida in allen Stadien der
Lues ist erbracht; und irgendwelche zwingenden Gründe für
eine genetische Trennung der Früh- und Spätformen bestehen
nicht, weder in klinischer noch in pathologisch-anatomischer
Hinsicht, wie Jadassohn schon vor vielen Jahren über¬
zeugend ausgeführt. Zudem steht die ausserordentlich geringe
Zahl der Spirochäten bei tertiärer Lues in bestem Einklang mit
den experimentellen Ergebnissen von Finger-Land¬
steiner und N e i s s e r, wonach das Syphilisvirus in den
tertiären Produkten nur in geringsten Mengen vorhanden sein
kann.
Praktisch-diagnostische Bedeutung besitzt der Nachweis
der Spirochaete pallida für diese Form der Syphilis wohl kaum;
dazu ist derselbe zu schwierig, zeitraubend und, wie die grosse
Zahl negativer Fälle zeigt, auch zu unsicher. Ganz anders
liegen dagegen die Verhältnisse bei den primären und sekun¬
dären Affektionen der Lues. Nach meinen eigenen, jetzt schon
sehr ausgedehnten Erfahrungen kann darüber nicht der ge¬
ringste Zweifel bestehen. Namentlich bei Sklerosen ist bei
geeigneter Materialentnahme und einiger Uebung die Spiro¬
chaete pallida fast stets sehr leicht und schnell nachzuweisen.
In etwa 100 Primäraffekten habe ich nach 1 — 2 stündiger
Giemsafärbung im Durchschnitt nach 5 — 10 Minuten, oft schon
nach wenigen Sekunden regelmässig einige sichere Pallidae
gefunden. Es ist mir auch in einer grösseren Reihe von kli¬
nisch noch zweifelhaften Fällen gelungen, im Ausstrichpräparat
Spirochaetae pallidae zu finden; und regelmässig bestätigte der
weitere klinische Verlauf die mikroskopische Diagnose. Wir
besitzen demnach im gefärbten Ausstrichpräparat, namentlich
für die Diagnose des Primäraffektes ein wertvolles und rasch
zum Ziel führendes Hilfsmittel.
Aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-St. Georg.
Ueber den diagnostischen Wert des Spirochäten¬
nachweises bei Lues congenita.*)
Von Dr. M. S i m m o n d s, Prosektor.
Nachdem sich im Laufe der letzten Monate die Mit¬
teilungen über den Nachweis der Spirochaeta pallida in den
Organen der an kongenitaler Syphilis verstorbenen Säuglinge
und Föten weiter gemehrt haben, tritt nun an den patholo¬
gischen Anatomen die Frage heran, in welchem Umfang die
neue Untersuchungsmethode für seine Diagnosenstellung ver¬
wertet werden darf. Die Frage ist um so wichtiger, da wir ja
bisweilen nach dem anatomischen und histologischen Befund
allein die für den Kliniker eminent wichtige Entscheidung, ob
kongenitale Syphilis bei einem Fötus oder Säugling vorliegt,
nicht mit Sicherheit zu fällen vermögen.
Für die Beurteilung der diagnostischen Verwertbarkeit des
Spirochätenbefundes in solchen Fällen schien es mir vor Allem
geboten, Kontrolluntersuchungen in grösserer Zahl systematisch
anzustellen. Das ist wohl auch von anderer Seite schon ge-
*) Nach einem im ärztlichen Verein Hamburg gehaltenen Vor¬
trag.
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
i3Ö3
schellen, genauere Angaben habe ich indes nicht finden kön¬
nen. Und doch ist gerade hier eine exakte Berichterstattung
recht wünschenswert
Meine Kontrolluntersuchungen erstreckten sich zunächst
auf acht mazerierte Föten von 18 bis 44 cm Körper¬
länge. In keinem Falle war Syphilis vorausge¬
setzt. Das Resultat war, trotzdem ich stets zahlreiche Or¬
gane nach der L e v a d i t i - Methode prüfte, ausnahmslos ein
negatives.
Weitere Kontrolluntersuchungen betrafen zehn Säug¬
linge, bei denen weder klinisch noch anatomisch
Zeichen von Syphilis konstatiert wurden. Die Kinder
standen im Alter von 1 Tag bis 13 Monaten und waren an
Lebensschwäche, Enteritis, Pneumonie, Volvulus, Atrophie,
Tuberkulose verstorben. Auch hier ergaben gleiche Prüfungen
nur negative Resultate.
Eine dritte Gruppe betrifft vier Fälle, in welchen
Syphiliserkrankung der Mutter vorlag, kli¬
nisch indes Lues congenita nicht festgestellt
wurde. Es handelte sich hier um Kinder von 2, 5 und 8 Mo¬
naten, welche an Diphtherie, an Pneumonie, an Miliartuberku¬
lose verstorben waren. Der vierte Fall betraf einen 3 monat¬
lichen Fötus, der im Uterus einer an Hirnlues verstorbenen
Frau angetroffen wurde. Auch hier war nichts von Spi¬
rochäten zu finden.
Insgesamt waren also in 22 Fällen, die
weder intra vitam noch bei der Autopsie Zei¬
chen von Syphilis congenita aufwiesen, aus¬
nahmslos Spirochäten vermisst worden.
Hierzu kommen noch weitere 4 F ä 1 1 e, in welchen
zwar intra vitam an Lues congenita gedacht
worden war, der anatomische und mikrosko¬
pische Befund indes die Diagnose nicht be¬
stätigte. Es waren Kinder im Alter von 7 Wochen bis 10
Monate. Eines hatte an Keratomalazie, ein anderes an Glas¬
körpervereiterung, ein drittes an Pemphigus, ein viertes an
einem unklaren Exanthem gelitten. Das eine war einer Lepto-
meningitis, die übrigen Pneumonien erlegen. In keinem
der Fälle habe ich, trotz sorgfältigen Suchens in möglichst
vielen Organen, Spirochäten auffinden können.
Die angeführten 26 Fälle dürften genügen, um den Schluss
zu ziehen, dass dort, wo Syphilis congenita nicht
vorliegt, Spirochäten in den Organen von
Säuglingen und Föten, auch bei vorgeschrit¬
tener Mazeration nicht an zu treffen sind.
Im Gegensatz zu diesen ausnahmslos negativen, will ich
nun über meine positiven Spirochätenbefunde berichten.
Ich habe vier mazerierte Föten syphiliti¬
scher Herkunft untersucht. Sie waren 37 bis 44 cm lang,
alle in weit vorgeschrittener Mazeration. Nur an einem der¬
selben konnte ich mit Sicherheit noch eine Osteochondritis
syphilitica konstatieren; die inneren Organe waren für eine
anatomische Diagnose nicht mehr zu verwerten. Ich habe
nun in diesen Fällen mit Ausnahme eines, in welchem mir nur
4 Organstücke zur Verfügung standen, jedesmal 20 — 30 ver¬
schiedene Organe mit Hilfe der Levaditimethode untersucht.
Das Ergebnis war ausnahmslos ein positives.
In Haut, Knochen, Muskeln, Hirn, Rückenmark, Lunge, Herz,
Thymus, Schilddrüse, Leber, Pankreas, Milz, Niere, Magen,
Darm, Nebenniere, Hoden, Ovarium, Uterus, Prostata, Harn¬
blase, Drüsen, Blut — kurzum überall waren die Spirochäten
in mehr oder minder grosser Zahl zu finden. Sehr reichlich
waren sie stets in Milz, Pankreas und Nebennieren, a m
dichtesten aber in der Leber und in der Darm¬
wand.
Im Darm fand ich sie regelmässig in enormen Mengen
teils zwischen den Epithelien und in den Drüsen, teils in der
Muskularis parallel zu deren Fasern gelagert. Vor allem aber
überraschte mich ihre Anwesenheit im Mekonium. Hier
lagen sie nicht etwa in einzelnen Exemplaren, sondern zu dicken
Büscheln und Klumpen vereinigt, die schon bei schwacher
Vergrösserung als schwarze Herde auffielen. Sie waren hier
so dicht miteinander verfilzt, dass man oft erst bei genauerer
Betrachtung die Zusammensetzung der Klumpen aus zahllosen
Spirochäten erkennen konnte. Neben gut ausgebildeten Exem¬
plaren fanden sich an solchen Stellen auch massenhaft Frag¬
mente von Spirochäten.
DiesesgehäufteAuftretenvonSpirochäten
im Mekonium weist darauf hin, dass wohl eine
reichlicheAusscheidung derselben durch den
Darm stattfindet. Für den Kliniker ergibt sich daraus
die Aufforderung in Fällen von Syphilis congenita auch die
Darmentleerungen auf Spirochäten zu prüfen.
Im Darm sowohl wie in der Leber und in anderen Or¬
ganen fand ich die Spirochäten teils frei im Zwischengewebe,
teils in den Zellen selbst. Mit Vorliebe waren sie in Zügen
um kleine Gefässe herum gruppiert. Mehrfach fand ich sie
aber auch innerhalb der Gefässe selbst.
In zwei der Fälle konnte ich auch Plazenta und Nabel¬
schnur prüfen. In der letzteren fand ich beide Male, wenn
auch in sehr geringer Zahl, Spirochäten, in der Plazenta konnte
ich dieselben nur einmal und nach langem Suchen auffinden.
Bei meinen Untersuchungen über Lues congenita
beiSä uglingen war ich hauptsächlich auf ältere Präparate
angewiesen. Ich habe einmal alle hierher gehörigen Paraffin¬
blöcke wieder aufgelöst und die Gewebsstiicke nachträglich
versilbert, dann habe ich von den durchweg in Kaiserling-
lösung konservierten Präparaten unserer Sammlung Stückchen
herausgeschnitten und nach 24 stiindigem Auswaschen in Mes¬
sendem Wasser mit Höllensteinlösung behandelt. Trotzdem
manche Organe bereits 6 bis 8 Jahre in der stark Kali aceticum-
haltigen Lösung gelegen hatten, war die Färbung der Spiro¬
chäten meist eine befriedigende. In fünf Fällen freilich, in
welchen trotz der makroskopisch wie mikroskopisch festge¬
stellten Diagnose, der Nachweis jener Gebilde misslang, mag
der negative Ausfall wohl durch die unzweckmässige Konser¬
vierung veranlasst worden sein. In zwölf anderen
Fällen von Lues congenita hingegen gelang
es regelmässig, die Spriochaeten in den Or¬
ganen aufzufinden.
Eine Aufzählung der einzelnen Fälle — das älteste war
18 Monate, das jüngste Kind 4 Stunden alt — kann ich er¬
sparen. Regelmässig fanden sich die Spirochä¬
ten am reichlichsten in den erkrankten Or¬
ganen. War nur ein Teil eines Organs — so bei Lungen,
Leber, Nebennierengummen — verändert, so waren die Ge¬
bilde entweder auf diese Partie beschränkt oder in anderen
Teilen des betreffenden Organs nur spärlich vorhanden. Bei
der syphilitischen Osteochondritis waren die
Spirochaeten nur in der Knorpelknochen¬
grenze und in dem benachbarten Periost er¬
kennbar.
Im Gegensatz zu den mazerierten Föten, deren Organe
meist gleichmässig von grossen Mengen Spirochäten durch¬
setzt waren, beherbergten die syphilitischen Säuglinge also
vorwiegend nur in erkrankten Organen und im Durchschnitt
in geringerer Menge die Gebilde. Man könnte daher
vermuten, dass in den totfaulen Früchten eine
postmortale Anreicherung der Spirochäten
stattfindet.
Eine besondere Erwähnung verdient ein Fall, in welchem
eine beginnende s yphilitische Myokarditis vorlag.
Es war das Kind einer syphilitischen Puella, das 4 Stunden
gelebt hatte. Bei der Autopsie fand ich eine frische Blutung
in der Peritonealhöhle, punktförmige Hämorrhagien der serö¬
sen Haut, eine fibröse Hepatitis und eine ausgesprochene Osteo¬
chondritis. In der Tat liessen sich auch in der Leber wie in
der Knorpelknochengrenze Spirochäten in mässiger Zahl er¬
kennen, in Milz und Nebenniere fehlten sie. Bei der Sektion
war mir eine eigentümliche fleckige Beschaffenheit des Herz¬
fleisches aufgefallen, die mich veranlasste, das Organ aufzu¬
bewahren. Mikroskopisch war die Querstreifung durchweg
gut erkennbar, dagegen fanden sich im Septum ventriculorum
zahlreiche kleinste zirkumskripte Infiltrate. In Levaditiprä-
paraten aus dem Septum fand ich nun Spirochäten in enormen
Mengen zwischen den Muskelfasern, während sie in Schnitten
aus dem übrigen Herzen ganz fehlten oder nur ganz vereinzelt
anzutreffen waren. Innerhalb der Infiltrate selbst fehlten die
Spirochäten ganz, erst in der Nachbarschaft derselben waren
sie zu finden. Weiterhin waren aber die Spirochäten auch in
1304
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
kleinen Venen, speziell an der Basis des rechten Ventrikels,
z. T. sehr reichlich im Blut vorhanden. Nach diesem Befunde
würde es sich also um eine zirkumskripte syphili¬
tische Erkrankung des Ventrikelseptum han¬
deln mit massenhaftem Auftreten von Spiro¬
chäten an der erkrankten Stelle. Von hier aus dürften die
Gebilde dann sekundärin dieHerz venen gelangt
sein.
Besonders reichlich war die Zahl der Spiro¬
chäten in syphilitischen Pneumonien. Die Ge¬
bilde lagen teils in den Septen der Alveolen, teils im Exsudat
der Höhlungen. Es liess sich hier schon erkennen, wie sie
vielfach im Innern von Leukozyten und Epithe-
1 i e n gelagert waren. In den zerfallen Gummen lagen sie
oft in Herden, die neben gut erhaltenen Exemplaren Trümmer
derselben enthielten, deren Herkunft nicht sofort zu er¬
kennen war.
Ein Wort noch über die Technik. Die Levaditimethöde
liefert bei vorsichtiger Handhabung treffliche Resultate. Ver¬
gleichende Versuche haben mir gezeigt, dass man die Zeit der
Silberimprägnation sehr wohl abkürzen kann. Hat man es eilig,
so kann man schon 24 Stunden nach der Autopsie ein fertiges
Spirochätenpräparat liefern. Eine langsamere Vorbereitung ist
indes sicher vorzuziehen. Als Unterfärbung bediene ich mich
jetzt nach verschiedenen anderen Versuchen einer wässerigen
Safraninlösung mit kurzer Pikrineinwirkung (5 Min. Safranin¬
färbung, 1 Min. Spiritus, 2 Sekunden wässriges Pikrin, dann
Spiritus bis die rote Farbe fast verschwunden ist, Bergamotöl,
Balsam). In so behandelten Präparaten hat man gute Kon¬
traste. Die Kerne sind schön rot, das Protoplasma gelb, die
Spirochäten tiefschwarz gefärbt.
Auf Grund der mitgeteilten Untersuchungen und der bis¬
herigen Veröffentlichungen komme ich zum Schluss, dass der
Spirochätennachweis in den Organen von Fö¬
ten und Säuglingen völlig genügt, um die Sy¬
philisdiagnose zu rechtfertigen. Ein nega¬
tiver Befund würde bei mazerierten F rüchten
mitgrosserWahrscheinlichkeitSyphilisaus-
sch Hessen lassen, bei Säuglingen hingegen
wäre ein negativer Befund nur mit Vorsicht
zu verwerten.
Aus der städt. Irrenanstalt Breslau (Primärarzt: Dr. Hahn).
Einseitige Temperatursteigerung in der gelähmten
Körperhälfte bei zerebraler Herderkrankung.
Von Dr. F. Chotzen.
Halbseitige Temperatursteigerungen infolge zerebraler Pro¬
zesse 'sind am Menschen bisher nur ganz vereinzelt beobachtet
worden, und ihr Zustandekommen ist noch so wenig geklärt, dass
jeder Einzellfall als Bereicherung der Kasuistik von Bedeutung
ist. Die nachstehende Beobachtung zeigt eine solche mit vaso¬
motorischen Störungen einhergehende Temperatursteigerung in
der gelähmten Seite, welche bei einem schon mehrere Wochen
bestehenden Erweichungsherde einige Tage vor dem Tode
eintrat:
Adolf H., Stationsassistent a. D., geb. 1843, aufgen. 8. VII. 05.
Vater an Schlaganfall gestorben. 4 Kinder klein gestorben, es
leben keine. Kein Trauma, kein Potus. Vor 8 Jahren Schlaganfall.
Linksseitige Lähmung aber ohne Bewusstseinsverlust, nach 2 — 3
Wochen wieder hergestellt. Seit 2 Jahren zunehmend kurzatmiger
geworden. Geistig rege geblieben. 5. VII. a. c. nachts neuer Anfall.
Sprach undeutlich, ging schlecht. Wurde allmählich benommener,
rechtsseitig gelähmt. Wurde unruhig, phantasierte, daher aus dem
Krankenhaus, in die Anstalt verlegt.
Benommen zu Bett, liegt auf der r. Seite, diese ist schlaff ge¬
lähmt. Sehnen- und Hautreflexe fehlen r. R. Anästhesie und Anal¬
gesie. Babinsky r. + 1. — . L. fehlen Patellar- und Achillessehnenreflexe.
R. Ptosis; Parese d. r. VI. Pupillen eng, r. > 1., beide lichtstarr,
Augenhintergrund normal. Pat. ist unsauber. Kommt Aufforde¬
rungen nicht nach. Macht mit der linken Hand zeitweilig einige
Greifbewegungen. Bei der Untersuchung wehrt er sich, schimpft mit
lallender unverständlicher Sprache. Starkes Emphysen, Bronchitis.
Herztöne leise und dumpf. Puls unregelmässig, mittelvoll, 100. Ar¬
teriosklerose. Schluckt schlecht. 12. VII. Noch immer benommen.
Zuweilen leicht delirant. Beginnt aber auf mimische Aufforderungen
zu reagieren. Versteht nichts, hört jedoch. Zunge weicht nach r.
R. Hemianopsie. Pupillen R./L. jetzt +. 14. VII. Benommenheit
lässt nach. Auf opt. Eindrücke reagiert Pat. jetzt ganz gut. Sprach¬
verständnis ist völlig aufgehoben, auch Nachsprechen. Spricht selbst
viel, ganze Sätze vollkommen richtig, daneben aber auch verbale
und syllabäre Paraphasie. Die Lähmung des Beines ist nicht mehr
vollständig, es gelingt mitunter Flexion des Unter- und Oberschenkels.
Reflexe sind wiedergekehrt. Patellarreflexe r. > 1. Babinsky r. +
1. — . Schluckt wieder gut. Emotionelle Inkontinenz. 20. VII. Läh¬
mung bessert sich weiter. Sehnenreflexe r. stärker als 1. Gegenstände
werden nicht benannt, aber 1. einfache richtig gebraucht. Leicht para-
phasischer Rededrang, delirant. Oft unsauber. 4. VIII. Anfalls¬
weise schwerere Benommenheit unter hoher Temperatursteigerung.
Oberflächlicher Dekubitus. 18. VIII. Benommener, unzugänglicher.
25. VIII. Dauernd im Halbschlaf, spricht ganz verwaschen, undeutlich.
Schluckt schlecht. Dyspnoe, beschleunigte, mühsame Atmung,
schlechter Puls. R. Seite wird nicht mehr bewegt. Heute fällt auf,
dass die ganze r. Seite gerötet ist und sich heiss anfühlt, während
die linke kühl und blass ist. Temperatur in der Achselhöhle r. 38,2.
1. 35,5. Die Rötung ist nach einiger Zeit verschwunden, dagegen
bleibt die Hautwärme für das Gefühl deutlich verschieden. 30. VIII.
Wurde immer schwächer, Puls kleiner. Die Temperaturen blieben
dauernd ungleich, r. höher. Heute Morgen Exitus.
Die Temperaturen waren seit dem 20. VIII. folgende:
L.
R.
20.
m.
36,4
a.
36,7
21.
m.
35,0
a.
35,0
22.
m.
35,0
a.
37,1
23.
m.
37,3
a.
35,3
24.
m.
35,4
•
a.
37,9
25.
m.
37,7
a.
35,5
38,2
26.
m.
37,0
38,2
a.
35,5
38,0
27.
m.
36,7
38,4
a.
37,0
38,6
28.
m.
36,8
9
a.
36,4
36,8
29.
m.
35,0
35,6
a.
35,4
37,4
versehentlich nicht notiert.
Sektion des Gehirns: Gewicht 1300 g. Starker Hydrocephalus
ext. Trübung und Verdickung der Pia. Starke Arteriosklerose der
basalen Arterien, die mit Blutgerinnesl gefüllt sind. L. hinter
der hinteren Zentralwindung ein grosser gelber Erweichungs¬
herd der den ganzen unteren Scheitellappen einnimmt, auf
den hinteren Teil der 1. und 2. Schläfenwindung und der
Insel übergeht und bis in den Hinterhauptslappen hineinreicht. Nach
vorn davon, nur durch eine dünne gefässreiche Haut getrennt, liegt in
dem Mark der hinteren Zentral- und der Supramarginalwindung ein
Gewebsspalt, der unter der Rinde etwa 1 — U/2 cm breit beginnt und
sich verschmälernd quer durch das Mark hinüberzieht, um 2 — 3 mm
über dem hinteren Teil des Corpus Striatum, nahe an der Ventrikel¬
wand zu enden. Der erstere grosse Herd erstreckt sich keilförmig
in das Mark hinein, bleibt vorn einige Millimeter von der Ventrikel¬
wand entfernt, erreicht sie aber an seinem hinteren Ende fast, durch¬
bricht also das untere Längsbündel und die Sehstrahlung. Der Herd
ist überall unregelmässig, nicht scharf begrenzt, von schmutzig¬
grauer Farbe. Ein älterer zystöser Herd durchsetzt auf der r. Seite
den ganzen Kopf des Schweifkerns und setzt sich nach hinten mit
kleinen Zystchen durch den vorderen Schenkel der inneren Kapsel
nach dem Linsenkern hin fort. Ventrikel nur wenig erweitert. Makro¬
skopisch sonst keine Erweichungen zu erkennen, aber überall weite
Gefässlücken, besonders in beiden Linsenkernen.
Während also der Kranke nach der anfänglichen Erholung
wieder schwächer und benommener wurde, trat unter auffallen¬
der Rötung eine auch für das Gefühl deutliche Erhöhung der
Temperatur der Haut der ganzen gelähmten Körperhälfte ein
zu Fiebergraden von 38,2 — 38,6, in der Achselhöhle gemessen,
wobei die Differenz mit der anderen Seite 2,0 0 — 2,5 0 betrug.
Am 4. Tage sank die Temperatur ab, stieg dann noch einmal
um 2 0 gegenüber links an. Am nächsten Tage erfolgte der
Exitus. Die Ursache der einseitigen Wärmesteigerung ist in
diesem Falle nicht leicht zu erkennen, weil in beiden Hirn¬
hälften Herde an Oertlichkeiten sich finden, die mit der Wärme¬
regulierung in Verbindung gebracht werden und weil die Tem¬
peratursteigerung dem Eintritt der Gehirnschädigung erst lange
nachfolgt.
Aber die Erklärung für eine derartige Temperaturdiffe¬
renz ist überhaupt noch nicht genau bekannt. Im Tierexperi¬
ment fand man, dass Reizungen des Corpus Striatum, und zwar
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1305
sowohl am Kopf, als in der Mitte seines medialen Randes, ebenso
auch des Talamus opticus, hohe, aber meist vorübergehende
Temperatursteigerungen und Hautrötung auf der gegenüber¬
liegenden Seite zur Folge haben. Q Dieselbe Wirkung hatten
Exstirpationen der Hirnrinde in den motorischen Regionen
(L a n d o i s u. a.* 2)
Pathologische Beobachtungen an Menschen scheinen eben¬
falls für eine Mitwirkung der basalen Ganglien als auch der
Hirnrinde für eine vasomotorische und thermische Störung in
der Gegenseite zu sprechen. Die Hirnrindenherde hatten aber
verschiedenen Sitz, so bei einem Falle Schüllers3) in der
der Zentralwindung angrenzenden Partie der 2. Hirnwindung.
In einem Falle Kaisers4) im Gyrus supramarginalis (daneben
bestand aber noch ein Herd im Corp. striat., den K. selbst für
den ursächlichen hält). In unserem Falle betrifft die Rindenzer-
stürung wieder den Gyrus supramarginalis, ausserdem die an¬
grenzende Angular- und die hinteren Teile der Insel und Tem¬
poralwindungen (daneben ein Herd im Mark der hinteren Zen¬
tralwindung). Ott5) verlegt nach pathologischen Erfahrungen
ebenfalls die wärmeregulierenden Zentren ausser in Thalamus
opt. und Corpus striat., um die Rolandosche Furche, in
Stirnlappen und um den hinteren Teil der S y 1 v i sehen Grube,
in Schläfen- und Hinterhauptslappen. Bei Herden im Corpus
striat. haben Nothnagel, H o r s 1 e y, White u. a. 6) Tem¬
peraturerhöhungen der Gegenseite beobachtet, und auf dem
diesjährigen Kongress der französischen Neurologen und Psy¬
chiater zu Rennes wurde ein Fall von Par hon und Pa¬
pi n i a n 7 *) mitgeteilt, in dem sie die Temperatursteigerung auf
einen Herd im Thalamus opticus zurückführen wollen. Aller¬
dings war die Schädigung hier nicht auf den Thalamus opt.
beschränkt, wie sie auch nach Monakow in den vorer¬
wähnten Beobachtungen nicht auf das Corptf striat. beschränkt
gewesen sein soll. Die thermischen Bahnen aber gehen nach
Nothnagel jedenfalls durch die innere Kapsel. In vielen
Fällen sinkt die Temperatur nach anfänglicher Steigerung in
der gelähmten Körperhälfte, wie Monakow*) mitteilt, um
1 — 1,5°, und zwar sowohl bei Sitz des Herdes am Corp. striat.
(H o r s 1 e y) als im Thalamus opt. (H e n s c h e n).
Diese Befunde sind einheitlich, etwa als Reiz- und Hem¬
mungswirkungen auf ein regulierendes Zentrum nicht zu er¬
klären,9) zumal auch dauernde Temperaturerhöhungen bei alten
Herden beobachtet sind.
So bestand in dem, auf dem französischen Neurologen¬
kongress mitgeteilten Falle, der Herd schon mehrere Jahre.
Die Differenz betrug hier 0,5 — 1 °, in dem Fall Kaisers blieben
neben einer Temperatursteigerung von allerdings nur 0,1 — 0,15 ü
die vasomotorischen Störungen ebenfalls längere Zeit bestehen.
Man kann diese doch wohl nicht ebenso erklären als die rasch
vorübergehenden Steigerungen, welche den Eintritt einer Lä¬
sion begleiten.
In unserem Falle handelt es sich wohl um eine solche,
wenigstens ging die Temperatur am 4. Tage wieder herunter,
wenn sie auch dann noch über der der anderen Seite blieb und
vor dem bald eintretenden Tode noch einmal erheblich über
sie hinausging (2 °). Auf der der gelähmten Seite gegenüber¬
liegenden Hirnhälfte war hier kein Herd in den basalen Gang¬
lien, wohl aber war eine der Rindenstellen, die Ott für Tem¬
peraturerhöhung verantwortlich macht, in die Erweichung ein¬
begriffen, nämlich die in der hinteren Umgrenzung der S y 1 v i-
schen Grube. Ausserdem war noch ein Herd im Mark der
hinteren Zentralwindung. Diese Herde bestanden aber
schon mehrere Wochen, als die Temperaturerhöhung ein¬
trat. Man könnte nun vielleicht an einen anderen Zusammen¬
hang denken. In der rechten Hirnhälfte fand sich ein älterer
P Nagel: Handbuch der Physiologie 1905.
2) Landois: Lehrbuch der Physiologie 1905.
3) Schiiller: Ueber Temperaturdifferenz beider Körperhälften
infolge bestimmter Verletzungen des Gehirns. Aerztl. Zentralanzeiger,
Wien 1894. Ref. Neurolog. Zentralbl. 1895.
4) Kaiser: Ueber eine halbseitige vasomotorische Störung
zentralen Ursprungs. Neurolog. Zentralbl. 1895.
5) Ott: Heat centres in man. Brain XI. Zit. nach Kays er:
1. c. und D e j e r i n e (Semiologie etc.).
°) Siehe v. Monakow: Gehirnpathologie, 1905.
7) Ref. im Journ. de Neurologie IX, 1905.
s) v. Monakow 1. c.
No. 27.
Herd im Kopf des Corp. striat., wohl die Ursache des
ersten in der Anamnese erwähnten linken Schlaganfalles. Wie
wir oben gehört haben, sind bei solchem Sitz Herabsetzungen
der Temperatur auf der gegenüberliegenden Seite beobachtet
worden. Vielleicht, wenn hier ein wärmeregulierendes Zen¬
trum zerstört wurde, war hier die Temperatur der linken Seite
insofern die abweichende, als sie bei einer aus einer allge¬
meinen Ursache entstehenden Temperatursteigerung zurück¬
blieb? Die Bronchitis und dem Tode vorausgegangene Hypo¬
stasen in der Lunge können das Fieber veranlasst haben. In¬
dessen hat der Kranke schon vorher hohe Temperaturen ge¬
zeigt und da immer links gemessen wurde, hat also die linke
Seite mitgefiebert; auch entspricht der Eintritt der Temperatur¬
erhöhung und ihr Ablauf den im Experiment beobachteten, so-
dass man auch hier eher eine direkte Ursache wird annehmen
müssen. Bei der Lungenaffektion wäre ein regelmässiges
Fieber bis zum Tode wahrscheinlicher. Reizungen infolge
fortschreitender Degenerationen oder reaktiver Vorgänge von
den erweichten Stellen aus, etwa von dem bis 2 — 3 mm an das
Corp. striat. heranreichenden Herdzipfel, müssten früher Sym¬
ptome gemacht haben.
Dagegen stimmt zeitlich zu dem Eintritt der Temperatur¬
steigerung ein Befund, den wir noch nicht erwähnt haben. Die
üefässverstopfung erwies sich nämlich bei mikroskopischer
Untersuchung als eine echte Thrombenbildung, die einige Tage
alt sein musste. Die linke Art. foss. Sylv. war völlig, die rechte
noch nicht ganz verlegt. In dem Corp. Striatum sind alle Ge-
fässe durch einen gemischten Thrombus links völlig ausgefüllt,
rechts nicht vollkommen. Sehr weite Gewebslücken um die
Gefässe, reichliche Anhäufung kolloider Schollen, insbesondere
um die Gefässe herum und Fettkörnchenzellen in den einzelnen
Faserbündeln zeigen die regressiven Veränderungen an, die
auch links hochgradiger sind, als rechts.
Vielleicht hat also hier ein plötzlicher völliger Verschluss
der Gefässe den Reiz abgegeben, den im Experiment der Nadel¬
stich setzte und man könnte demnach die Quelle der Störung
auch hier ins linke Corp. Striatum verlegen. Rechts entstand
vielleicht bei der Ausbreitung der Thrombose der Verschluss
allmählicher und nicht so vollständiger. Vielleicht aber ist
dabei doch der alte Herd im Kopf des rechten Corpus Striatum
nicht ohne Bedeutung. Wenn solche Herde die Wärmeregu¬
lierung stören, so wäre es von Interesse auch in alten Fällen
von Hemiplegie, insbesondere während fieberhafter Erkran¬
kungen die Temperaturen beider Körperhälften zu vergleichen,
vielleicht würden sich noch weitere einschlägige Fälle finden.
In Fällen, wie der hier angeführte, wo die höchste ge¬
messene Temperatur nur 38,6° betrug, also eine Temperatur,
wie sie in der Aorta normal ist, könnte die ganze Störung nur
als vasomotorische angesehen werden, da es denkbar ist, dass
durch veränderte Zirkulationsverhältnisse und gesteigerte
Wärmeabgabe durch die Gefässe die Temperatur der Haut der
des Körperinnern angenähert werden könnte. Allerdings be¬
dürfte dann die starke Differenz der Temperatur der anderen
Achselhöhle mit dieser Innentemperatur wieder einer Er¬
klärung. Bei höherer Steigerung aber müsste man doch eine
vermehrte Wärmebildung annehmen.
Den Ort dieser könnte man in solchen Fällen dann wohl
nur in den Muskeln suchen, denn eine nicht halbseitige Quelle,
wie etwa die grossen Unterleibsdrüsen, brauchte für diese
Verteilung doch auch noch die vasomotorische Störung, und
es wäre dabei noch weniger verständlich, dass auf dem Blut¬
wege kein Ausgleich zwischen beiden Seiten stattfindet
nach dem bestimmten Verhältnis zwischen Bluttempera¬
tur und Temperatur der Haut. Eine schlaffe Lähmung der
Muskulatur wie im vorliegenden Fall, braucht nicht gegen diese
Annahme zu sprechen, denn es könnten auch in gelähmten Mus¬
keln lebhaftere Stoffwechselprozesse vor sich gehen, wozu
die veränderten Zirkulationsverhältnisse vielleicht gerade den
Anstoss geben.
Für die Ueberlassung der Krankengeschichte sage ich
meinem verehrten Chef, Herrn Primärarzt Dr. Hahn, meinen
ergebensten Dank.
9) Es wurden darum je nachdem die Wärmeproduktion anregende
und hemmende Zentren angenommen, s. N a g e 1 1. c.
3
306
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
Ganglienzelle und Nervenfaser.*)
Von Prof. Dr. Alfred Kohn in Prag.
I.
Als die wesentlichen Bestandteile des Nervensystems gel¬
ten Ganglienzelle und Nervenfaser. So kompliziert auch die
Textur einzelner Teile sein mag, sie muss sich schliesslich
immer wieder in zusammengehörige Ganglienzellen-Nerven-
fasergruppen auflösen lassen. Denn Ganglienzelle und
Nervenfaser gehören stets zusammen. Wir dür¬
fen es als das wichtigste Attribut der Ganglienzelle bezeichnen,
dass sie mit nervösen Fasern in direkter Verbindung steht,
und das Dasein der Nervenfasern ist wiederum an voran¬
gehende Ganglienanlagen geknüpft.
Das Verhältnis von Ganglienzelle und Nervenfaser in allen
seinen Beziehungen aufzuklären ist bisher noch nicht geglückt.
Da aber gerade in der Gegenwart ein lebhafter Meinungskampf
im Zuge ist, dürfte eine schärfere Beleuchtung der einschlägi¬
gen Fragen am Platze sein.
Am besten werden wir uns bei der Darstellung von der
geschichtlichen Entwicklung unserer Kenntnisse auf diesem Ge¬
biete leiten lassen. So wird man am leichtesten darüber be¬
lehrt, wie manche der als unumstössliche Wahrheit vorge¬
tragenen Lehrmeinungen bei strengerer Prüfung ihrer Grund¬
lagen viel von ihrer Glaubwürdigkeit verlieren.
II.
Die Ganglienzellen wurden von Ehrenberg im Jahre
1833 in den Ganglienknoten aufgefunden, ungefähr 50 Jahre
später, als F o n t a n a die Nervenfasern in den Nerven
entdeckt hatte. Ueber eine Beziehung der Zellen zu den
Fasern machte man sich damals noch keine Gedanken. Denn
erst nach der Begründung der Zellenlehre durch Schleiden
und Schwann (1838 — 39) wurden die Ganglienkugeln als
Zellen erkannt.
Diese Zellen liess man ruhig zwischen den Fasern liegen,
bis genauere Untersuchungen Fortsätze an ihnen zutage för¬
derten und endlich Remak, Hannover, Helmholt z,
Koelliker (1840 — 44) die wichtige Entdeckung machten,
dass Ganglienzelle und Nervenfaser in direk¬
ter kontinuierlicher Verbindung stehen, dass die
Nervenfasern gleichsam langgestreckte Fortsätze der Gan¬
glienzellen seien.
Man pflegte dies auch so auszudrücken, dass man sagte,
die Nervenfasern nehmen ihren Ursprung von der Ganglien¬
zelle. Dabei dachte man aber keineswegs an einen genetischen
Ursprung. Es war nur ein Bild, wenn man die Nervenfaser
einem vom Körper der Ganglienzelle abgehenden fadenförmi¬
gen Fortsatze verglich.
Denn ganz im Gegenteile zweifelte damals niemand daran,
dass die Nervenfaser aus einer Reihe eigener Zellen aufgebaut
werde, die nach ihrem Entdecker bis heute „S chwann sehe
Zellen“ genannt werden.
III.
Erst später, im Jahre 1857, wurde von Bidder und
Ku p f f e r behauptet, dass die motorischen Nervenfasern als
kernlose Fäserchen von den Ganglienzellen des Vorderhorns
entspringen. Sie begründeten die bis heute gelehrte Aus¬
läufertheorie, welche besagt: Die Nervenfaser entbehrt
jeglicher Selbständigkeit; in ihrer ganzen Länge ist sie nichts
anderes als ein langgestreckter Fortsatz einer einzigen Ur¬
sprungszelle, ein fadenförmig ausgewachsenes Stück Ganglien¬
zelle.
Mit diesen Anschauungen standen die Erfahrungen der
Pathologie in bestem Einklänge. Um dieselbe Zeit hatte
Waller zeigen können, dass ein von seinen Ganglienzellen
abgetrennter Nerv zugrunde geht, und dass eine Wiederher¬
stellung nur wieder von den Ganglienzellen aus ermöglicht
werden könne.
Die Beobachtungen der Embryologen und Pathologen er¬
gänzten und befestigten einander derart, dass die „Ausläufer¬
*) Nach einem Vortrage, welcher am 26. Januar 1906 im „Verein
deutscher Aerzte“ in Prag gehalten wurde. Da nur eine möglichst
übersichtliche Darstellung der gegenwärtigen Hauptfragen beabsich¬
tigt war. sind genauere Literaturangaben fast gänzlich weggeblieben.
lehre“ bald zu einem unumstösslichen Lehrsatz wurde. Was
wäre auch natürlicher, als dass ein von seinem Mutterleibe los¬
gelöstes Zellstück zugrunde geht? Die Degeneration der von
der Ganglienzelle abgetrennten Nervenfaser erschien als der
zwingende Beweis für ihre Unselbständigkeit, für ihre Un¬
fähigkeit zur selbständigen Lebenserhaltung — für die Richtig¬
keit der Lehre, dass die Nervenfaser nur ein Zellstück, ein lang¬
gestreckter Fortsatz der Ganglienzelle sei.
Einige Jahre später konnte His zeigen, dass auch die
sensiblen Nervenfasern — in analoger Weise wie die
motorischen aus den Vorderhornzellen — als Ausläufer der
Spinalganglienzellen entstehen.
Am klarsten aber wurde die Ausläuferlehre illustriert durch
die von G o 1 g i (seit 1875) in die Untersuchung des Nerven¬
systems eingeführten Methoden.
Da sah man endlich mit verblüffender Deutlichkeit, wie
aus der embryonalen Ganglienzelle die Nerven¬
faser allmählich weiter und weiter wächst, und wie die fertige
Ganglienzelle mit all ihrer reichen Verzweigung eigentlich
immer ein scharf begrenztes, einheitliches In¬
dividuum darstellt. Das Zentrum dieses Individuums bildet
der Zellkörper, von welchem einerseits das dichte Astwerk der
Dendriten abgeht und andererseits der wenig verzweigte
Achsenzylinder der Nervenfaser. Aber alle Fortsätze sind
deutlich begrenzt, alle setzen sich gegen die Nachbarelemente
scharf ab, jede Ganglienzelle mit allen ihren Ausläufern wahrt
strengstens ihren abgeschlossenen, individuellen Charakter.
Noch ein Vorzug schien die Golgibilder auszuzeichnen.
In den bestgelungenen Präparaten war alles nebensächliche
Beiwerk beseitigt, nur das Wesentliche in grosser Klarheit
herausgehoben. Von Kernen und Schwann sehen Zellen sah
man nichts. So kam es, dass die Bilder der zentralen Nerven¬
fasern — welche* S c h w a n n sehe Zellen nicht besitzen —
und die der peripheren Nervenfasern — an denen man sie nicht
sah • — erfreuliche Uebereinstiinmung darboten. Nun konnte
man endlich an drastischen Belegen zeigen, dass sich alle
Nervenfasern, zentrale wie periphere, gleich verhalten, dass
sie alle nur Fortsätze von Ganglienzellen seien und nach län¬
gerem oder kürzerem Verlaufe in ganz charakteristischer Weise
endigen.
In wunderbarer Stetigkeit hat sich die Ausläufertheorie
entwickelt. Selten noch konnte sich eine Lehre auf so über¬
zeugende Bilder stützen, auf eine solche Uebereinstiinmung
morphologischer, physiologischer und klinischer Unter¬
suchungsresultate.
Als darum Waldeyerim Jahre 1891 die Summe der ge¬
wonnenen Erfahrungen zog, da brauchte seine „Neuronen¬
lehre“ gar nicht erst um Anerkennung zu ringen. Sie fand
schon eine grosse Schar unbedingter Anhänger vor, die gerne
die von W a 1 d e y e r sehr präzis formulierte Lehre annahmen,
deren Hauptsätze folgende sind:
Das Nervensystem besteht aus zahlreichen, untereinander
anatomisch wie genetisch nicht zusammenhängenden Nerven-
einheiten (Neuronen). Jedes Neuron setzt sich zusammen aus
drei Stücken: der Nervenzelle, der Nervenfaser und dem Faser¬
bäumchen (Endbäumchen).
Nur wenige Jahre trennen uns von der Blütezeit dieser
Lehre, und heute sehen wir sie von vielen Seiten angegriffen
und bekämpft.
IV.
Der Kernpunkt der Neuronenlehre lässt sich in dem Satze
zusammenfassen: das Nervensystem baut sich im wesentlichen
aus scharf getrennten Zellindividuen auf.
Ist das wahr und erwiesen? Ist die Nervenfaser wirk¬
lich nur ein unselbständiges Zellstück und sind die einzelnen
nervösen Elemente wirklich durch besondere Endapparate von
einander geschieden? Das eine wie das andere wird mit ge¬
wichtigen Gründen bestritten.
Gegen die Trennung der nervösen Elemente wendet sich
die von v. A p ä t h y und B e t h e neubelebte Fibrillen-
t h e o r i e, als deren Begründer Max S c h u 1 1 z e anzusehen
ist. Dass Ganglienzelle und Nervenfaser fibrilläre Struktur zei¬
gen, dass an die Fibrillen die spezifische Leistung der Nerven-
elemente geknüpft sein soll, widerspricht an sich nicht der
Neuronenlehre. Wohl aber der Umstand, dass solche Fibrillen
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1307
eine kontinuierliche Verbindung der nervösen Ele¬
mente über die scheinbaren Endigungen hinaus herstellen sollen.
Die Frage ist noch unentschieden. Die Fibrillenbilder sind
den früheren Golgibildern jedenfalls weit überlegen; aber die
schwierige Frage nach der Kontinuität der nervösen Elemente
vermochte man trotzdem noch nicht einwandsfrei zu lösen.
Mit Sicherheit aber liess sich doch zeigen, dass die früher be¬
glaubigten Bilder der Endbäumchen, auf Grund deren die
Trennung der nervösen Elemente als ein Hauptsatz in die
Nenronenlehre aufgenommen worden war, vielfach nur Trug¬
bilder einer unvollkommenen Methodik waren. Wenn also
auch die Fibrillenlehre die Kontinuität der nervösen Elemente
derzeit noch nicht sicher erweisen konnte, so hat sie doch der
Neuronenlehre die tatsächliche Grundlage für die Annahme ge¬
trennter Nerveneinheiten entzogen.
V.
Wie steht es nun mit der Hauptfrage? Ist die Nervenfaser
ein unselbständiger Zellteil, entsteht sie lediglich als Fort-
satzeinerGanglienzelle? Gegen diese Annahme, die
bis vor kurzem als unumstössliche Wahrheit gelehrt wurde,
sind die schwersten Bedenken laut geworden.
In der Bahn aller peripheren Nerven sind von der ersten
Entwicklung an spezifische Zellen enthalten, die von embryo¬
nalen Ganglienzellen abstammen, sich durch Teilung ver¬
mehren, dauernd im Bereiche des Nerven verbleiben und
schliesslich seine sog. Schwann sehen Zellen erzeugen.
Demnach sind die Schwann sehen Zellen gar nicht Binde¬
gewebszellen, wie man früher fast allgemein lehrte, sondern
nervöse Elemente (S. Mayer, 1873), Nervenfaserzellen,
Neurozyten. Dieser Satz gilt heutzutage nahezu unbestritten
und ist selbst von K o e 1 1 i k e r, der ihn bis an sein Lebens¬
ende bekämpfte, in einer nachgelassenen Schrift anerkannt
worden. Solche Zellen - — die Neurozyten — bilden in Früh¬
stadien der Entwicklung Nervenbahnen in Form zusammen¬
hängender, synzytialer Z e 1 1 k e 1 1 e n. Am schönsten hat
v. Kupffer (1891) in seiner Untersuchung über die Ent¬
wicklung des Nervensystems von Petromyzon Planeri solche
Zellketten dargestellt. Mit Leichtigkeit lassen sie sich aber
auch in den wachsenden embryonalen Hautnerven von Amphi¬
bien (Koelliker, Raffael e, 0. Schnitze) und Säuge¬
tieren zur Anschauung bringen.
Diese Zellverbände sollen sich nach der Meinung zahl¬
reicher Autoren — Balfour, Beard, Dohr n, v. Kupf¬
fer, Bethe, 0. Schultze- — durch innere Differenzierung
zu den fertigen Nervenfasern umgestalten.
Das aber bestreiten die Anhänger der Neuronenlehre aufs
heftigste. Die einen leugnen die Zellketten ganz und gar, die
anderen behaupten, dass sie nur die Leitbahn für die von der
Ganglienzelle auswachsenden Achsenzylinder bilden, dass also
der wesentliche Bestandteil der Nervenfaser trotz alledem nur
ein Ausläufer der Ganglienzelle sei und die früher vorhandene
Zellkette nur untergeordnete Elemente, Scheidenzellen,
liefere.
Eine derartige Annahme steht mit allen Erfahrungen der
Histogenese in unvereinbarem Widerspruche.
In den Geweben mit fibrillärer Struktur (Bindegewebe,
quergestreifte Muskelfasern) tritt die fibrilläre Substanz
innerhalb des Protoplasmas der Bildungs¬
zellen als lokales Differenzierungsprodukt in Erscheinung.
Die Bildungszellen verlieren dabei oft ihren individuellen
Charakter, die Kerne liegen schliesslich in undifferenzierten
Protoplasmaresten innerhalb der fibrillären Substanz verstreut
(wie in den quergestreiften Muskelfasern der Amphibien) oder
an ihrer Oberfläche, unter der einscheidenden Hülle (wie zu¬
meist in den quergestreiften Muskelfasern der Säugetiere). Die
Entstehung der fibrillären (alloplastischen, dynamo¬
plastischen, funktionellen) Strukturen ist also immer an das
Protoplasma der Bildungszellen geknüpft. Ihre Zunahme
innerhalb des Zellbereichs erfolgt auf Kosten der Bildungs¬
zelle, darüber hinaus auf dem Wege der mitotischen Neu¬
bildung von Zellen, welche wiederum gleichartige Diffe¬
renzierungsprodukte erzeugen, die zur kontinuierlichen Ver¬
längerung der bereits vorhandenen dienen.
Aber ganz unhaltbar erscheint die Annahme, dass von einer
einzigen Zelle aus die differenzierte Substanz als
solche, ohne Vermittlung des Protoplasmas und ohne die
Mitbeteiligung stets neugebildeter Zellen, fortschreitend
zu unglaublicher Länge auswachsen sollte. Auch in der Form,
dass die Verbindung zwischen Neuroblast und Endorgan sehr
frühzeitig hergestellt sein und die differenzierte Substanz durch
selbständiges intussuszeptionelles Wachs¬
tum— ohne die Mitwirkung von eingeschalteten, zelligen
protoplasmatischen Zwischengliedern — ihre enorme Länge er¬
reichen sollte, ist die Ausläuferlehre nicht sehr überzeugend.
Solange sie nicht zwingende Beweise beibringen kann, wird
man der Zellkettenlehre, die mit unseren gegenwärtigen An¬
schauungen über Wachstum und Differenzierung besser in Ein¬
klang steht, den Vorzug geben. Wie wenig beweisende Kraft
aber der Ausläuferlehre innewohnt, geht am klarsten aus dem
Umstande hervor, dass ihr Begründer (1857), v. K u p f f e r, sich
im Jahre 1891 rückhaltlos zur Zellkettenlehre bekannte.
Wohl scheinen die Nervenfäserchen von der Ganglienzelle
auszugehen. Das lässt sich aber ungezwungen so erklären,
dass die fibrilläre Differenzierung von den älteren zu den jün¬
geren Elementen, also im allgemeinen vom Zentrum gegen die
Peripherie fortschreitet. Wenn man z. B. im sprossenden Haut¬
nerven, innerhalb der einzelnen, noch protoplasmatischen
Fasern Kerne sieht, die sich teilen und so die Verlängerung des
Zellsynzytiums anbahnen, das sich alsbald fibrillär differenziert,
wird kein Unvoreingenommener zweifeln, dass es diese Zellen
sind, welche die Nervenfasern aufbauen, und dass die fibrilläre
Struktur durch innere Differenzierung dieser Bauelemente zu¬
stande kommt.
Gegen die Versuche, die Zellketten nur als eine Leit-
bahn für die auswachsenden Achsenzylinder anzusehen, aus
deren Elementen bloss Scheidenzellen hervorgehen sollen,
spricht insbesondere auch der Umstand, dass die Neurozyten
(Schwann sehe Zellen) des embryonalen Nerven nach
meinen Untersuchungen auch die Anlagen der sym¬
pathischen Ganglien bilden. Man wird den Elementen,
welche den Grundstock für das gesamte sympathische Ner¬
vensystem beistellen, nicht mehr — unbewiesenen überlieferten
Vorstellungen zuliebe — in den zerebrospinalen Nerven die
untergeordnete Rolle von Scheidenzellen zuweisen dürfen.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass man die Kern¬
losigkeit der zentralen Nervenfasern immer als
einen Haupttrumpf gegen die Zellkettenlehre ausspielt. Man
darf aber die vorgebrachten Ansichten über die peripheren
Nerven nicht aus dem Grunde ablehnen, weil sie für die zen¬
tralen nicht passen. Zwischen zentralen und peripheren mark¬
haltigen Nervenfasern besteht trotz der auffallenden Aehnlich-
keit ein für unsere Kenntnisse unausgleichbarer Gegensatz.
Ueber die Entwicklung der zentralen Fasern wissen wir fast
gar nichts. Aber man kann doch sagen, dass ein etwa ab¬
weichender Entwicklungsmodus doch nur eine Teilerscheinung
wäre des auch sonst gegensätzlichen biologischen Verhaltens.
Ich verweise nur auf die wunderbare Regenerationsfähigkeit
der peripheren und auf die bekannte Regenerationsunfähig¬
keit zentraler markhaltiger Nervenfasern.
Im übrigen unterliegt es gewiss keinem Zweifel, dass die
Zellkettenlehre noch sehr des Ausbaues bedarf. Viele wichtige
Fragen sind noch ungelöst. Wenn man auch annehmen darf,
dass die Zellketten die Bildungszellen der Nervenfasern
darstellen, aus welchen im Laufe der Entwicklung zweifellos
die sog. Schwann sehen Zellen der peripheren Nervenfasern
hervorgehen, so ist doch der genauere Vorgang dieser Um¬
wandlungen bis jetzt nicht hinreichend aufgeklärt.
Aber im grossen und ganzen stellt sich die Zellkettenlehre
der Ausläuferlehre mit Aussicht auf Erfolg gegenüber und bringt
die genetische Grundlage der Neuronenlehre ins
Wanken. Die peripheren Nervenfasern erscheinen dann nicht
mehr als langgestreckte Zellfortsätze, sondern als das Bildungs¬
produkt ganzer Zellreihen, an deren Anfang die Ganglienzellen
stehen.
VI.
Warum aber, könnte man mit vollem Rechte fragen, gehen
dann die peripheren Nerven zugrunde, wenn sie von ihren zu¬
gehörigen Ganglienzellen abgetrennt werden? Wenn sie in
Wirklichkeit nicht blosse Zellfortsätze sind, so sollten sie doch
I auch zu selbständiger Lebenserhaltung befähigt sein. Das sind
3*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
>08
sie auch. Der periphere Nerv lebt nicht minder selbständig als
die anderen Gewebe und entnimmt die hierzu notwendigen
Stoffe seinen Blutgefässen. Wie für alle Gewebe ist aber auch
für den Nerven die F u n k t i o n, die sich immer wiederholende
spezifische Tätigkeit, notwendig für die Erhaltung seiner be¬
sonderen differenzierten Struktur, und eben für diese funktio¬
neile Inanspruchnahme der Nervenfaser ist ihre Verbindung
mit der Ganglienzelle eine unerlässliche Vorbedingung.
Was geschieht mit dem von seinen Ganglien¬
zellen abgetrennten peripheren Nerven? Geht
er wirklich zugrunde?
Die Markscheiden schwinden, die Achsenzylinder schwin¬
den, aber der Nerv als Ganzes schwindet nicht. Seine ur¬
sprünglichen Bildungszellen (Neurozyten) — die sog.
Schwan nschen Zellen — sie bauen wiederum durch Teilung
und Wachstum neue Fasern auf, und schliesslich kommt —
wie neuerdings auch M a r g u 1 i e s zeigen konnte — ein sehr
regelmässig angeordnetes Fasergewebe zustande, ganz spe¬
zifischer Art, das nach seiner Entstehung aus Nervenele-
menten und seinem besonderen Baue nur als Nerven¬
gewebe gedeutet werden kann. Es ist fötalen Nerven zu
vergleichen, die noch der Markscheiden entbehren und der
elektrischen Erregbarkeit — ein unfertiges Nervenfasergewebe,
dem zur vollkommenen Ausbildung die funktionelle Inanspruch¬
nahme fehlt. Kann diese durch Wiederherstellung einer lei¬
tenden Verbindung mit der Ganglienzelle neuerdings erfolgen,
so vollzieht sich alsbald die Umwandlung des peripheren Ner-
venstumpfes zu einem morphologisch und physiologisch voll¬
wertigen Nerven (Neumann, 1868). Aus dem autonom
regenerierten anatomischen Substrat wird der
funktionierende, fibrillär differenzierte, mark¬
haltige, elektrisch erregbare Nerv.
Dass es ohne neuerliche Verbindung mit der Ganglienzelle
nicht zu vollständiger Regeneration des Nerven kommt,
ist seit Waller durch hundertfältige Versuche erhärtet wor¬
den ; dass es aber, wie B e t h e und mit ihm Raima nn, Bar¬
furth u. A. behaupten, auch zu vollständiger auto¬
gen erRegeneration kommen kann, ist nicht undenkbar,
trotz des entschiedenen Widerspruches der Gegner (Münzer
und Fischer, Lugaro, Cajal u. A.). Scheinbar spielt
dabei der Grad der funktionellen Zentralisierung,
die Abhängigkeit vom Zentralnervensystem, welche im Laufe
der individuellen Entwicklung immer schärfer hervortritt, eine
wichtige Rolle. So kann man sich z. B. vorstellen, dass trotz
weitgehender Zerstörung oder Verbildung des Rückenmarks
im embryonalen Leben die entsprechenden Nerven ihre
vererbte Entwicklung und Differenzierung weiter fortsetzen
könnten. Bei der relativen Unfertigkeit, in welcher manche
Geschöpfe zur Welt kommen — wie wenig Herrschaft über
ihre Glieder besitzen neugeborene Menschen, Katzen, Hunde
im Vergleich zu eben ausgeschiüpften Enten oder Hühnchen - —
wäre es immerhin möglich, dass abgetrennte periphere Nerven
auch noch bei Neugeborenen rein autonom durch
Selbstdifferenzierung ihre vollkommene Ausbildung erlangen. Je
weiter die Entwicklung des Tieres fortschreitet, je ausge¬
sprochener die Herrschaft des Zentralnervensystems über die
Nerven und ihre Erfolgsorgane wird, je straffer die funktionelle
Zentralisierung sich gestaltet, desto abhängiger wird die Er¬
haltung der besonderen Struktur der peripheren Teile von der
Verbindung mit dem Zentrum. Beim entwickelten Tiere, das
die vollkommene Herrschaft über seine Glieder besitzt, wird
Durchschneidung der Extremitätennerven immer vorüber¬
gehend Degeneration (Entdifferenzierung) nach sich ziehen, und
das in der Folge autonom wieder aufgebaute Material wird
ohne Wiederherstellung der Verbindung mit der Ganglienzelle
dauernd der charakteristischenn (funktionellen) Differenzierung
ermangeln.
Irrig aber ist der weitverbreitete Glaube, dass ein dauernd
abgetrennter peripherer Nervenstumpf zugrunde gehe. Er wird
von seinen Bildungszellen, den Neurozyten, soweit wieder auf¬
gebaut, dass ihn der Chirurg noch nach Jahren als wohl¬
charakterisiertes Gebilde aufzufinden vermag. Man gebe ihm
durch Wiederherstellung der Verbindung mit der Ganglien¬
zelle Gelegenheit zur funktionellen Inanspruchnahme, und er
wird seine spezifische Prägung wiedererlangen.
Die unerschöpfliche autonome Regenerationsfähigkeit des
peripheren Nerven mag überraschend erscheinen. Aber ge¬
wiss ist sie nicht ohne Analogie und jedenfalls weit verständ¬
licher als die Annahme, dass der degenerierte periphere Nerv
durch Auswachsen von der Ganglienzelle her
neugebildet werden soll. Ganz abgesehen davon, dass die
fertig entwickelte Ganglienzelle, welche man für die Regene¬
ration in Anspruch nimmt, ein ganz anderes Gebilde darstellt,
als jener embryonale Neuroblast, aus dem die Nervenfaser bei
ihrer ersten Entwicklung hervorgesprosst sein soll, muss man
sich doch die Frage vorlegen: Wie kommt es denn, dass die
Ganglienzellen so unermüdlich für den Wiederersatz der peri¬
pheren Nerven aufkommen und dass sie gar nichts tun,
um einen Defekt zentraler Fasern zu ersetzen? Es bleibt
kaum ein anderer Ausweg, als die Schwan n sehen Zellen
— die Neurozyten — für die Regenerationsfähigkeit des peri¬
pheren und ihr Fehlen für die Regenerationsunfähigkeit des
zentralen Nerven verantwortlich zu machen. Dann gelten aber
auch dieselben Gründe, die dafür sprechen, dass diese Zellen
während der Entwicklung nicht bloss ein Leitband für den
auswachsenden Nerven, sondern den Nerven selbst bil¬
den, in gleichem Masse für die Rolle, die sie bei der Re¬
generation spielen. Dabei darf man sich allerdings nicht ver¬
hehlen, dass sich die Regeneration unter anderen Umständen
und sicherlich nicht in ganz derselben Weise abspielt. wie die
primäre Entwicklung.
Einen wichtigen Beweis für die Autonomie des
peripheren Nerven liefert auch die Teratologie.
Man findet in Fällen von Amyelie periphere — motorische
und sensible - — Nerven ohne das zugehörige Rückenmark. Das
beweist nichts für die selbständige Entstehung dieser Nerven,
meint Ko eil ik er (1905); denn zur Zeit der Entwicklung
der peripheren Nerven könnte das zentrale Nervensystem noch
vorhanden gewesen und erst später geschwunden sein. Das
ist gewiss richtig. Aber warum sind dann die Nerven nicht
auch geschwunden, wie sie doch müssten, wenn sie nichts an¬
deres als Fortsätze der Ganglienzellen wären, unbefähigt zu
selbständiger Lebenserhaltung? Ihr Vorhandensein beweist,
dass die verbreitete Auffassung über die Degeneration und Re¬
generation der abgetrennten peripheren Nervenfasern einer
Korrektur bedarf. Der dauernd abgetrennte periphere Nerv
verharrt nicht in einem degenerierten, sondern in einem u n -
vollkommen regenerierten Zustande. Diese auto¬
nome Regeneration erweist aber seine Selbständigkeit, seine
genetische Unabhängigkeit von der Ganglienzelle. Funktionell
allerdings ist er mit seiner Ganglienzelle verknüpft. Das gilt
aber nicht nur für ihn, das gilt auch für den Muskel, für die
Erfolgsorgane der Nerven überhaupt. Sie alle btissen ihre
funktionelle Prägung ein, wenn sie durch Unterbrechung der
Leitung ausser Funktion gesetzt werden, sie gewinnen ihre
spezifische Struktur wieder, wenn die wiederhergestellte Lei¬
tung ihre funktionelle Inanspruchnahme rechtzeitig ermöglicht.
VII.
Die Neuronenlehre steht nicht mehr so unanfechtbar da,
wie sie einst erschien. Mit grosser Schärfe wurden ihre Schwä¬
chen namentlich von N i s s 1 blossgelegt. Alle Versuche, sie
zu retten, ändern wesentliche Züge ihres ursprünglichen Cha¬
rakters. Sie kann nicht mehr (als der zutreffende Ausdruck
der allgemeinen Anschauung über das Verhältnis von Ganglien¬
zelle und Nervenfaser ausgegeben werden. Einzellige
Entstehung der Nervenfasern und scharfe anatomi¬
sche Treu n u n g (Kontakt) der Nerveneinheiten waren ihre
wichtigsten Attribute. Ihre genetische Grundlage wird durch
die Zellketten lehre erschüttert, gegen die Annahme der
Diskontinuität der nervösen Elemente wendet sich die Fi¬
brillenlehre.
Der Rückschlag konnte auch nicht ausbleiben. Es musste
sich rächen, dass man sich mit solcher Ausschliesslichkeit von
Golgibildern hatte beeinflussen lassen. Alles organische Ge¬
schehen ist doch an Veränderungen der lebendigen Sub¬
stanz gebunden. Aber von Protoplasma und Kern, von
Teilung und Differenzierung sah man in solchen Präparaten
nichts. Die sonst so vortreffliche Methode war unbrauchbar
für das Studium der Entwicklung und der inneren Struktur
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1309
der Nervenclemente. Diese Einsicht dringt allmählig durch und
beginnt ihre Früchte zu tragen.
Trotz aller noch recht fühlbaren Schwankungen und
Schwebungen steuern wir einer neuen Auffassung über den
elementaren Aufbau des Nervensystems zu, deren wesentlicher
Inhalt sich etwa in folgenden Sätzen zusammenfassen lässt.
Die erste Anlage des Nervensystems ist rein zellig. D i e
Anlage der Nervenzellen geht der Entwick¬
lung der Nervenfasern voran. Ohne Ganglienzellen
kommen Nervenfasern nicht zur Entwicklung.
Die peripheren Nervenfasern sind vielzellige Gebilde.
Ihre wesentlichen Bestandteile sind Differenzierungsprodukte
einer ganzen Zellreihe,, an deren einem Pole eine besonders
ausgezeichnete Zelle — die Ganglienzelle — - steht.
Ganglienzelle und Nervenfaser stehen von allem Anfang an
und bleiben dauernd in anatomischer Kontinuität,
aber sie gehören nicht zu einem gemeinsamen Zellindividuum
zusammen. Sie sind keine genetischen '/Zellein-
h e i t e n, sondern zu funktionellen Einheiten ver¬
bundene vielzellige Gebilde, die sich mit besonderen Erfolgs¬
organen zu funktionellen Systemen vereinigen können. So
stellen motorische Ganglienzelle, Nervenfaser und querge¬
streifte Muskelfaser ein funktionelles System (erster Ord¬
nung) dar.
Die Integrität der Teile des Systems ist von dem unver-
sehrtenZusam menhang des ganzen Systems abhängig.
Die Ganglienzelle, ohne welche die einzelnen Systeme ihrer
notwendigen Verbindungen untereinander beraubt wären,
nimmt eine dominierende Stellung ein. Abgetrennt von der
Ganglienzelle sind die peripheren Teile des Systems ausser
Funktion gesetzt und verlieren ihre spezifische Struktur.
Aber auch an der übergeordneten Ganglienzelle geht die
Trennung von den peripheren Teilen nicht spurlos vorüber.
Ist sie ihrer Erfolgsorgane dauernd verlustig geworden, so geht
auch sie, wenn auch langsam, dem Verfalle entgegen.
So wesentlich alle die angeführten Wandlungen der letzten
Zeit der Morphologie erscheinen mögen, für die Phy¬
siologie sind keine unmittelbaren Folgen von ihnen zu er¬
warten. Unizelluläre Entstehung und blosser Kontakt — multi¬
zelluläre Entstehung und Diskontinuität können vorläufig die
Vorstellungen der Physiologen und Neurologen nicht wesent¬
lich beeinflussen. Denn immer war es das Bild funktio¬
neller Einheiten, das ihre Auffassung leitete.
Funktionelle Einheiten galten ihnen als Neuronen. Die
funktionellen Einheiten bleiben aber unangetastet und könnten
schliesslich auch, um den populären Namen zu erhalten, fürder¬
hin Neuronen genannt werden.
Das Chromosaccharometer, ein neuer Apparat zur
/ quantitativen Zuckerbestimmung im Urin.
Von Ernst B e n d i x und Alfred Schiften hei m.
Während die ärztliche Praxis für die quantitative Eiweiss¬
bestimmung im Urin in Esbachs Albuminimeter einen hand¬
lichen und billigen Apparat von genügender Genauigkeit be¬
sitzt, fehlt es bislang an einer dieselben Vorteile besitzenden
Methode der quantitativen Zuckerbestimmung. Es ist wohl
kaum nötig, zu betonen, dass die üblichen Methoden,
die Zuckertitration nach Fehling-Soxhlet und die
jodometrische Methode, nach Lehman n, dadurch, dass
sie eine umfängliche Apparatur, eine gewisse Technik
und relativ reichlich Zeit und Reagentien verlangen, so
wenig für weitere Kreise in Betracht kommen, wie
die Polarisationsbestimmung, deren Anwendung durch den
teuren Preis der Polarisationsapparate beschränkt wird. Es
bliebe noch die Gärungsprobe mittels des Einhorn sehen
und L o h n s t e i n sehen Saccharometers; auch diese konnte
sich nicht so einbürgern, wie das Albuminimeter, wohl darum,
weil sie einen Vorrat frischer Hefe verlangt, von gewissen
Temperaturen abhängig ist und kein schnelles Resultat
zu liefern vermag.
Die Versuche, kolorimetrische Zuckerbestimmungen zu
finden, führten bisher für die Zuckerbestimmung im Urine zu
keinem befriedigenden Resultat. Nach manchen vergeblichen
Bemühungen ist es uns nun gelungen, eine kolorimetrische
Methode auszuarbeiten, welche für die Praxis genügend genaue
Werte gibt. Allerdings kann sich deren Genauigkeit nicht
messen mit der Polarisation oder der exakten Titration; wohl
aber gibt sie wie das Albuminimeter annähernde Werte. Die
Fehlermengen betragen in der Regel wenige Dezigramme, über¬
schreiten jedoch bei einiger Uebung niemals 0,5 Proz. Es ist
klar, dass derartige Fehler für die Beurteilung eines Diabetes¬
falles und für die Therapie höchst unwesentlich sind.
Zur Ausführung der Bestimmung konstruierten wir einen
kleinen Apparat, den wir „Ohromo-Sacch'arometer Rapid“ nennen1).
Der Vorteil desselben liegt neben seiner Billigkeit vor allem darin,
dass jeder Arzt imstande ist, ohne irgend welche technische Vor¬
kenntnisse in wenigen Minuten die Höhe der Zuckerausscheidung an¬
nähernd festzustellen. Natürlich muss zuvor, wie bei jeder anderen
quantitativen Zuckerbestimmung, durch die gewöhnlichen qualitativen
Zuckerproben (Tr ommer, Nylander) die Anwesenheit von
Traubenzucker im Urin festgestellt worden sein.
Das Prinzip des Apparates, der nebenan abgebildet ist, beruht
auf der kolorimetrischen Verwertung der M o ore sehen Zuckerprobe.
Die Handhabung des Ohromo-Saccharometers, welcher aus einem
Standardröhrchen, dessen Farbe der Braunfärbung eines mit gleichen
Teilen Natronlauge gekochten 1 proz. Zuckerurins entspricht, einem
graduierten Reagenzglas, einer 5 ccm enthaltenden Pipette und einem
Stativ besteht, wozu noch eine 10 — 15 proz. Kali- oder Natronlauge
vorrätig zu halten ist, geschieht folgendermassen:
1. Man prüfe den zu untersuchenden Urin auf Vorbandensein von
Traubenzucker.
2. Man mische gleiche Teile des zuckerhaltigen Urins und 10 bis
15 proz. Kali- oder Natronlauge, koche das Gemisch 1 — 2 Minuten
und lasse abkühlen.
3. Mit der nun mehr oder weniger braun gefärbten Flüssigkeit
wird das kalibrierte Glas bis zur Marke 5 = 1 Proz. aufgefüllt und die
Farbe mit derjenigen des Standardröhrchens verglichen. Ist dieselbe
gleich oder heller, so beträgt der Zuckergehalt 1 Proz. oder weniger.
Ist sie aber dunkler, so wird mit der beigegebenen Pipette so lange
mit Wasser verdünnt, bis die Farbe derjenigen des Standardröhrchens
gleichkommt. Alsdann wird unter guter Durchmischung tropfenweise
weiter Wasser zugeführt, so lange noch die Farbe mit derjenigen
der Standardlösung gleichbleibt resp. bis sie eben anfängt, heller zu
werden. Der Flüssigkeitsstand, an der Graduierung abgelesen, gibt
direkt den Zuckergehalt in Prozenten an.
Bleibt die Flüssigkeit trotz Verdünnung bis zur obersten Marke
dunkler als die Standardlösung, so enthält der Urin mehr als 5 Proz.
Zucker. In diesem Fall muss vor dem Kochen mit Lauge der Urin
mit Wasser auf die Hälfte verdünnt werden. Mit der so erhaltenen
Flüssigkeit wird die Bestimmung, wie beschrieben, ausgeführt. Der
abgelesene Wert mit 2 multpliziert, ergibt den Zuckergehalt des ver¬
dünnten Urins.
Zu bemerken ist, dass Urinfarbstoffe an sich die Bestimmung
nicht beeinträchtigen; es gehört ja überhaupt zu den grössten Selten¬
heiten, dass ein ausgesprochen diabetischer Urin dunkel gefärbt ist.
Dagegen können Farbstoffe, die ihre Herkunft Arzneimitteln ver¬
danken, vor allem Phenolphthaleinpräparate, wie Purgatin etc., diese
Bestimmung ebenso beeinträchtigen, wie alle anderen Reaktionen.
Es muss also darauf gesehen werden, dass der zu untersuchende
Urin frei von künstlichen Farbstoffen ist.
Das Chromosaccharometer ist von Herrn Dr. Bernhard
Kerkhoff2) unter Vergleich mit den durch Polarisation lind
Gärung gewonnenen Resultaten auf seine Brauchbarkeit nach¬
geprüft worden. Die Differenzen waren dabei minimale und die
Fehlergrenzen lagen nie höher als 0,3 Proz. Dabei konnte man
1) Das Chromosaccharometer „Rapid“ wird von dem Schweizer
Medinal- und Sanitätsgesdhäft A.-G. Hausmann in St. Gallen
(Schweiz) hergestellt und verkauft. Preis des gesamten Apparates
M. 7.20 oder Fr. 9.50.
2) Inaug.-Dissert. Göttingen 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
1310
den Zucker auch in eiweisshaltigen Urinen, ohne vorher zu ent-
eiweissen, genau bestimmen. Betreffs der an hellen, dunklen
und eiweisshaltigen Urinen, denen Traubenzucker zugesetzt
war, gewonnenen Resultate sei auf die genannte Arbeit ver¬
wiesen. Wir wollen daraus nur einige von Diabetikern er¬
haltene Zahlen anführen:
u
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Gärung
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+
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2.
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—
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—
4.
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—
+
+
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4,6
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—
4-
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—
+
+
10.
5,2
4,8
5,2
4,8
—
—
4-
+
14.
4,8
4,8
4,8
4,6
—
—
4-
+
18.
6,2
6,0
5,8
6,4
+
+
+
4-
20.
5,6
5,2 — 5,4
—
5,4
+
—
1.
0,6— 0,8
0,8
0,8
—
—
—
Tab. F.
2.
3,2
3,0— 3,2
—
3,2
—
—
—
—
3.
2,6
2,5
2,4
2,8
—
—
—
—
4.
1,8
1,6
2,0
1,8
—
—
—
—
5.
4,4
4,2— 4,4
3,6
—
—
—
—
6.
4,6
4,2 — 4,4*
—
4,2
—
—
—
—
* No. 6 e
■nthält vi
el Eiw
eiss.
Nach diesen Untersuchungen kann man wohl sagen, dass
die Bestimmung mit dem Chromosaccharometer an Genauig¬
keit die Gärungsbestimmung beinahe übertrifft und dass sie bei
gleichzeitiger Anwesenheit linksdrehender Substanzen im Urine
(ß-Oxybuttersäure) auch den durch Polarisation gewonnenen
Werten an Genauigkeit überlegen ist. DieEntfernungvonEiweiss
ist nicht nötig und auch die Eigenfarbe des Harns und eine event.
Trübung erwiesen sich nur wenig oder fast gar nicht störend.
Vorhandene Phosphate senken sich schnell zu Boden und haben
sogar noch den Vorteil, dass sie die Harnfarbstoffe zum Teil
mit sich reissen, die Karamelfarbe dagegen nicht oder fast gar
nicht. Die Zeit, welche die Bestimmung erfordert, ist eine
äusserst geringe und beträgt bei einiger Uebung 3 — 4 Minuten.
Mit dem Chromosaccharometer kann nur die Bestimmung
von Traubenzucker im Urin vorgenommen werden. Andere
Zuckerarten, z. B. Milchzucker, lassen sich damit nicht auf
exakte Weise quantitativ nachweisen.
Alles in allem sind wir der Ansicht, dass unser Chromo¬
saccharometer allen anderen bisherigen, vom Praktiker an¬
gewandten Zuckerbestimmungsmethoden zu mindesten gleich¬
wertige Resultate gibt und dass er infolge seiner schnellen und
leichten Handbarkeit, sowie seines billigen Anschaffungs¬
preises ganz entschiedene Vorteile besitzt, welche ihn be¬
fähigen, vor allem auch dem Praktiker schätzbare Dienste zu
leisten.
Die Behandlung der „Stiele“ bei gynäkologischen
Operationen.
Von A. Th eil h ab er.
Herr v. Stubenrauch (s. diese Wochenschrift No. 19, pag.
1210, Juni 1906) meint, meine These, dass bei gynäkologischen Ope¬
rationen in der Bauchhöhle die Infektion meist an den Stielen, i. e.
an den Lig. latis beginnt, sei längst bekannt. Dem gegenüber kon¬
statiere ich, dass keiner der von mir befragten Chirurgen und Gy¬
näkologen eine Publikation kennt, in der dieser Satz enthalten ist.
Herr v. Stubenrauch sagte mir später, dieser Satz sei „selbst¬
verständlich“. Selbstverständlich ist dieser Satz nicht, denn
meist befinden sich doch in der Bauchhöhle noch andere Wunden
als an den Lig. latis (durchschnittene Bauchdecken, gelöste Adhä¬
sionen, häufig durchschnittener Douglas, durchschnittene Excavatio
vesicouterina etc.)
Die Ueberkleidung verwundeter Stellen in der Bauchhöhle mit¬
telst Peritoneum wird von mir, wo möglich, angewandt. Bei kurzen
„vorläufigen“ Mitteilungen pflegt man keinen Wert darauf zu legen,
Bekanntes anzuführen. Dass die „Peritonisierung“ nicht immer vor
Infektion schützt, zeigen die Statistiken der besten gynäkologischen
Operateure. Bezüglich vieler Details verweise ich auf meine später
erscheinende ausführliche Abhandlung über Peritonitis, auch über die
Vor- und Nachteile der einzelnen Antiseptika bei der Behandlung
des Stiels. Ist der Stiel, wie bei nahezu allen „Kolpotomien“ und
bei vielen abdominalen gynäkologischen Operationen vor der Unter¬
bindung eventriert, so kann man ihn energisch auch mit „reizen¬
den“ Antiseptizis desinfizieren. Befand er sich bei der Ligierung noch
in der Bauchhöhle, so habe ich die Stelle, wo er ligiert werden
sollte, energisch mit 3 proz. Borsäurelösung oder mit Salizylsäure¬
lösung abgerieben.
Die mehrmalige Desinfektion der Hände während der Operation
ist doch verschieden von der prinzipiellen nochmaligen Desinfektion
der Hände, der Tupfer, der Instrumente und des Stieles vor Unter¬
bindung der Lig. lata.
Aus der psychiatrischen Klinik zu München.
Die klinischen Besonderheiten der Seelenstörungen
unserer Grossstadtbevölkerung.
Von Privatdozent Dr. Robert Gaupp.
(Schluss.)
Die mannigfaltigen Krankheitsformen, die Kraepelin vor¬
läufig noch unter dem Sammelnamen „Dementia prae-
c o x“ zusammenfasst, kehren in der Grossstadt in gleicher
Weise wieder wie in den Landesanstalten; wesentliche Ver¬
schiedenheiten vermochte ich nicht festzustellen. Vielleicht
sind die nach dem 35. Jahr einsetzenden chro¬
nisch-paranoiden Erkrankungen, die der Mag-
n a n sehen Paranoia completa entsprechen und die man
wohl von der Katatonie wird abtrennen müssen, hier häufiger
als in Heidelberg; sie sind namentlich beim weiblichen Ge¬
schlecht hier oft beobachtet worden. Natürlich kommen in
eine Grossstadtklinik mehr leichte Fälle von Dementia praecox,
kurzdauernde Erregungen katatonischer Art mit relativ guter
Prognose für den augenblicklichen Anfall. Von 102 männ¬
lichen Fällen sind nur noch 56 heute in Anstaltsbehandlung;
nur 58 können heute noch als ganz ungeheilt bezeichnet wer¬
den; von 22 konnte die weitere Entwicklung leider nicht fest¬
gestellt werden, 9 wurden bei Nachfrage als gebessert, 11 sogar
als geheilt bezeichnet. Aehnlich lauten die Zahlen bei den
Frauen. Von 123 sind 20 noch sicher ungeheilt, 65 noch in An¬
stalten, 4 gestorben; 19 gelten als „gebessert“, 16 als „ge¬
heilt“; bei 14 blieb der weitere Verlauf uns bis jetzt trotz ange-
stellter Nachforschungen unbekannt. Es erscheint also die
Prognose bei nur kurzer Beobachtungszeit besser als sie nach
unseren Heidelberger Erfahrungen tatsächlich ist; wenn wir
bedenken, wie schwer bei dem fluktuierenden Publikum unserer
Gressstädte das weitere Schicksal der Kranken im Auge be¬
halten werden kann, so lässt sich wohl ohne Uebertreibung
sagen : die K r a e p e 1 i n sehe Lehre von der Dementia praecox
wäre niemals mit gleicher Bestimmtheit formuliert worden,
wenn Kraepelin immer unter den für derartige Fra¬
gen ganz ungünstigen Verhältnissen Mün¬
ch e n s zu arbeiten gehabt hätte; die Zahl der Fälle mit unbe¬
kanntem Verlauf wäre eine zu grosse gewesen. Für die grossen
Fragen der Systematik der Geistesstörungen sind die Grosa-
stadtverhältnisse überhaupt weniger günstig als die einer
Landesanstalt.
Es ist ohne weiteres verständlich, dass in eine Gross¬
stadtklinik mit freien Aufnahmen mehr psychische Er¬
krankungen auf dem Boden der Arterioskle¬
rose, des Seniums, mehr organische Hirner¬
krankungen aufgenommen werden. Damit zieht das in¬
teressante Gebiete der Aphasieen, Asymbolieen,
Apraxieen ein, das eine ländliche Anstalt selten sieht und
dessen Erforschung ja auch hauptsächlich in den Irrenanstalten
unserer Grosstädte zu Hause ist.
Eine gleiche Vermehrung erfährt sodann in der städtischen
stalt das Gebiet der symptomatischen Störungen
bei körperlichen Leiden, die infektiösen Deli¬
rien, die urämischen Zustände, die deliranten
Erregungen bei Hirn leiden, Fälle, die meistens aus
den benachbarten chirurgischen oder internen Kliniken, bezw.
Krankenhäusern überwiesen werden. Leider sind derartige
symptomatische Psychosen bisher nur relativ selten bei uns
eingebracht worden, jedenfalls viel seltener, als der Häufigkeit
dieser Störungen entspricht. Es liegt dies zum Teil an äusseren
I Verhältnissen. Eines unserer grossen Krankenhäuser ist von
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1311
unserer Klinik sehr weit entfernt. Das Interessante der Zu¬
stände hält bisweilen die inneren Kliniker und Chirurgen ab,
sie aus der Hand zu geben; endlich sind auch bisweilen die
körperlichen Symptome so vorherrschend, dass sie die Be¬
handlung im chirurgischen oder internen Krankenhaus gebie¬
terisch fordern. Immerhin hoffen wir, dass wir allmählich immer
mehr dieser wissenschaftlich so überaus wichtigen Fälle zu¬
gewiesen erhalten werden.
Die Zahl der unklaren Fälle wächst natürlich
je kürzer die Beobachtungszeit ist, und so haben wir
eine stattliche Zahl von Kranken aus der Klinik ziehen
lassen müssen, ohne dass es uns möglich gewesen wäre,
sie klinisch aufzuklären. Hierher gehören z. B. psychische
Störungen bei Basedow, bei Fleischvergiftung, bei infektiösen
Erkrankungen, komplizierte Demenzzustände bei organischen
Hirnleiden, deliriöse Erkrankungen nach Hitzschlag, Spät¬
epilepsien dunkler Aetiologie, kurzdauernde ängstliche Er¬
regungen und Depressionszustände ohne eigentliche ge¬
schlossene Psychose, atypische Paralysen, soweit sie nicht
nachher anatomisch untersucht und aufgeklärt werden konnten.
In diagnostischer Beziehung finden wir bei dem Gross¬
stadtmaterial die bekannten Schwierigkeiten der Unterschei¬
dung von psychogenen und epileptischen Anfällen und Zu¬
ständen, Schwierigkeiten, die namentlich bei den durch Alkohol
ausgelösten Erregungen sehr gross sein können. Im Gegensatz
zu der von K r a e p e 1 i n bisher vertretenen Meinung, dass der
sogenannte pathologische Rausch immer eine epileptische Grund¬
lage habe, möchte ich der Ansicht Ausdruck geben, dass bei
Psychopathen und Hysterischen durch Alkohol Erregungs¬
zustände und Angstanfälle ausgelöst werden können, die von
den epileptisch bedingten Zuständen noch nicht sicher unter¬
schieden werden können.
Von besonderem Interesse ist weiterhin die Beobachtung,
dass typisch hysterische Symptome, wie psychogene Krampf¬
anfälle, nicht selten bei komplizierteren psychotischen Bildern
als passagere Erscheinungen auftreten und so augenfällig sein
können, dass nach ihnen dem ganzen Krankheitsbild der
Name hysterische Psychose gegeben wird. Nicht so selten
lehrt aber der weitere Entwicklungsgang der Psychose, dass
es sich dabei nur um, wenn man so will degenerative Bei¬
mischungen zu manisch-depressiven Anfällen oder um psy¬
chogene Symptomenkomplexe bei progressiven Psychosen
handelt. Im ersteren Falle sehen wir dann die hysterischen
Anfälle etc. völlig an die Zeit der Psychose gebunden, während
nach Heilung der Manie oder der Depression alle diese Symp¬
tome wie weggewischt sind. Bei der Dementia praecox treten
die psychogenen Bilder mit dem weiteren Fortschritt der
Krankheit zurück. Diese Tatsache, auf die ja Kraepelin
immer hingewiesen und die Nissl vor einigen Jahren in
einer Abhandlung in wohl zu radikaler Weise urgiert hat, wird
gerade am Grossstadtmaterial mit seinem stärkeren degene-
rativen Einschlag deutlicher vor Augen geführt.
Je mehr bei einem Kranken das individuelle Moment seiner
psychopathischen Eigenart noch im zeitlich abgegrenzten
Krankheitsprozess zur Geltung kommt, desto auffälliger weicht
das Krankheitsbild vom Schema des Lehrbuchs ab, und in
dieser Beziehung schafft zweifellos das psychologisch dif¬
ferenziertere Grossstadtpublikum nach manchen Richtungen
mehr Schwierigkeiten. Die Unterscheidung zwischen kata¬
tonischer und manischer Erregung, zwischen hysterischem
Dämmerzustand und beginnender Dementia praecox, zwischen
Manie und Hysterie ist uns nicht immer leicht geworden und
bisweilen zeigte uns die weitere Entwicklung, dass wir eine
Fehldiagnose gestellt hatten.
Wer die Häufigkeit der tatsächlich hysterischen Er¬
krankungen in unseren Grossstadtkliniken sieht, ist viel¬
leicht geneigt, hier einen wesentlichen Unterschied zwischen
Stadt und Land zu vermuten. Wir nehmen hier in einem Jahr
mehr Fälle von Hysterie auf, als eine Landesirrenstalt in Jahr¬
zehnten. Lauenburg z. B. hat in 15 Jahren nur 7 männliche
und 28 weibliche Hysterien verpflegt, München in einem Jahre
39 Männer und 70 Frauen. Allein auch dieser Unterschied
verdankt nur der Verschiedenheit der Aufnahmeverhältnisse
seine Entstehung. Es zeigt sich nämlich, dass weitaus die
Mehrzahl der Aufgenommenen vom flachen
Lande stammt; von den 70 hysterischen Frauen bezw.
Mädchen sind nur 10 geborene Münchener; von den 60 ledigen
sind 32 Dienstmädchen, die vom Lande hereinkamen, um durch
Dienen ihr Brot zu erwerben; nur 4 sind Arbeiterinnen, 1 Lad¬
nerin, 3 Näherinnen, 8 Kellnerinnen. Es ist also gerade bei der
Hysterie der Prozentsatz der vom Land Hereingekommenen
ein besonders grosser. Das stimmt ja auch zu unseren son¬
stigen Erfahrungen; die Hysterie ist im Unterschied von
den anderen degenerativen Erkrankungen keine sw egs ein
Produkt komplizierter Kultur Verhältnisse,
wie sie die Grossstadt schafft, sondern sie findet sich, nament¬
lich in der Form der C h a r c o t sehen grande Hysterie,
mit Vorliebe bei der weiblichen Landbevölkerung.
Noch nach einer anderen Richtung ist unser Hysteriematerial
lehrreich. Weitaus die Mehrzahl aller aufgenom¬
menen Hysterischen gehört dem kindlichen und
dem jugendlichen Alter bis zu 25 Jahren an. Ich gebe
die Zahlen hier: Im Jahr 1905 wurden in die Münchener
Klinik 39 männliche und 70 weibliche Hysterische aufge¬
nommen. Ihr Alter bei der Aufnahme (nicht beim ersten Aus¬
bruch der Krankheit, der bei der Mehrzahl schon weiter zu¬
rückliegt!) war:
Unter 10 Jahren
Zwischen 10 und 20 „
„ 20 „ 25 „
„ 25 „ 30 „
„ 30 „ 40 „
„ 40 „ 50
Ueber 50 „
1
21
5
4
5
3
1
Knabe
männliche, 25 weibliche Kranke
11
11
11
11
20
16
3
3
1
11
11
11
11
11
11
11
11
11
11
Woher kommt dieses Ueberwiegen der Jugendlichen?
Bei der Epilepsie und den Psychopathen z. B. ist der Alters¬
aufbau ein ganz anderer. Von 42 männlichen und 50 weib¬
lichen Psychopathen waren in Summa nur 27 unter 25 Jahren,
54 standen zwischen dem 26. und 40. Lebensjahr, 31 waren
über 40 Jahre alt. Aehnlich lauten die Zahlen bei den Epilep¬
tischen. Wir müssen zunächst darüber klar werden, warum
die Hysterischen zu uns gebracht werden. Es zeigt sich, dass
es fast immer Anfälle mit Bewusstseinstrübung,
also die grande Hysterie und ferner Dämmerzustände
sind, die den Anlass zur Aufnahme geben. Es ist bemerkens¬
wert, wie häufig schwere und lange dauernde Dämmerzu¬
stände hier zur Beobachtung kommen; wir haben bisweilen
unter 50 — 60 Frauen 3 — 4 solcher Fälle.
Auffällig ist, dass in Frankfurt hysterische Psychosen bei
männlichen Individuen viel öfter beobachtet wurden, als bei
weiblichen; auf 74 Männer in den Jahren 1898 — 1905 kamen
nur 26 Frauen, während bei der einfachen Hysterie und der
Hysteroepilepsie die beiden Geschlechter gleich stark ver¬
treten waren (73:72). Woher dieser Unterschied kommt, ist
mir nicht klar geworden. Offenbar ist die weibliche Hysterie
in Frankfurt seltener als hier, wo wir in einem Jahr mehr
Hysterische aufnahmen als in Frankfurt in 3 Jahren. Vielleicht
ist in Frankfurt die Landbevölkerung schwächer vertreten als
in München. Doch kann dieses nicht der Hauptgrund sein. In
Dresden sind die hysterischen Psychosen offenbar seltener,
(1903 nur 3 Fälle!) als in München.
Wir sehen also, das eine exquisit endogene Erkrankung, bei
der die abnorme Veranlagung das Wesentliche ist, speziell in
einem bestimmten Lebensalter schwerere Symptome schafft,
die zur Anstaltsbehandlung führen. Beim männlichen Ge¬
schlecht handelt es sich zum Teil um ganz jugendliche Per¬
sonen (um 14 Jahre herum), zum Teil um etwas ältere (15 — 25),
bei denen ein Alkoholexzess einen Anfall oder eine Erregung
ausgelöst hat, ähnlich wie dies bei der Epilepsie sehr oft ge¬
schieht. Die Häufigkeit der schweren Hysterie im Pubertäts¬
alter bei einer geistig oft etwas beschränkten, vom Lande stam¬
menden Bevölkerung berechtigt zu der Annahme, dass diese
Anfallshysterie, die wir bei älteren Personen dann nur noch
selten antreffen, eine eigenartige Erkrankung ist, die im allge¬
meinen mit Vorliebe bei einer gewissen geistigen Un¬
reife u n d E n g e, einer Labilität der Stimmung,
einer jugendlichen Neigung zu heftigen motori¬
schen Entladungen auftritt, dass ferner die Pubertät
mit ihrer gesteigerten Affekterregbarkeit ein besonders gün¬
stiger Boden für diese Form hysterischer Dissoziation ist. Es
ist aber auch, mit der Möglichkeit zu rechnen, dass manche der
1312
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
langdauernden Dämmerzustände junger Mädchen, die wir zur
Hysterie zu zählen pflegen, in Wirklichkeit etwas andersartige,
wenn auch psychogen bedingte Erkrankungen sind. Denn
wenn wir in der hysterischen Veranlagung das Wesentliche
der Hysterie erblicken und allen anderen Einflüssen nur die Be¬
deutung auslösender Momente zusprechen, so bleibt es recht
schwer verständlich, dass Kranke, die schon mit 15 — 20 Jahren
so schwere Bilder bieten, später nach Abschluss der Pubertät
nur noch selten gleich ernste Krankheitsäusserungen zeigen.
Verzweifelte Fälle von Hysterie, die in der Klinik aller Be¬
handlung spotten und denen wegen ihrer scheinbar charaktero-
logischen degencrativen Eigenschaften eine ganz schlechte Pro¬
gnose gestellt wird, sind eines schönen Tages gesund oder
wenigstens soweit geheilt, dass sie draussen leben und ihrem
Berufe nachgehen können. Ich glaube, es lohnt sich wirklich,
einmal diesen Dingen genauer nachzugehen.
Eine andere Gruppe krankhafter Veranlagungen — wir
nennen sie mehr bequem als richtig die Psychopathen —
zeigt nicht das gleiche Ueberwiegen des jugendlichen Alters.
Diese Kategorie von pathologischen Persönlich¬
keiten kommt sehr häufig in die Grossstadtkliniken, während
sie den Landesanstalten fast ganz fehlt. Den Anlass gibt nicht
selten ihre Alkoholintoleranz, die sie schon auf mässige Ex¬
zesse mit Erregungen, pathologischen Räuschen reagieren
lässt. Klinisch ist diese Krankheitskategorie bekanntlich un¬
geheuer mannigfaltig; in ihnen spiegelt sich das degenerative
Element unserer Grossstädte am deutlichsten. Zwei Spiel¬
arten sind mir hier besonders aufgefallen; einmal der
schlaffe energieloseTypus mit labilen Affekten, dem
Aufgehen in Stimmungen, der Gemütsweichheit, Haltlosigkeit,
und sodann die ethisch Defekten, die Fälle von moral
insanity, bei denen sich nicht selten einzelne psychogene Sym¬
ptome hinzugesellen. Dagegen sind die schwer hypo¬
chondrischen Formen, die z. B. in Württemberg sehr
häufig zu finden sind, mir hier seltener zu Gesicht gekommen.
Noch nach einer anderen Seite ist unser Grossstadtmaterial
hier recht lehrreich. Es herrscht hier die ganz vernünftige
Sitte, Personen, die draussen erfolglose Selbstmordver¬
suche gemacht haben, ohne weiteres in die Klinik zu bringen,
damit man hier sehe, ob sie vielleicht krank seien. So wird
es uns möglich, einen tieferen Einblick in die wahren Ur¬
sachen des Selbstmords zu tun. Das ist ja der
schwache Punkt aller Selbstmordstatistiken, dass sie über die
wahren Ursachen des Selbstmordes, so weit sie individueller
Art sind, nichts Brauchbares mitteilen, so wertvoll sie sonst für
die Erfassung des Problems sind. Alle die amtlich oder in Zei¬
tungen mitgeteilten Ursachen und Motive entspringen unreinen
Quellen; Ursachen und Motive werden stets verwechselt und
so kommt den Zahlen keinerlei Wert zu. Diese Lücke gilt es
durch sorgfältige Einzeluntersuchungen aus¬
zufüllen. Dazu eignet sich unser Material sehr gut. Ich habe
deshalb von Anfang an meine Aufmerksamkeit dieser ganzen
Aufgabe zugewandt und hoffe, bald darüber ausführlicher be¬
richten zu können. Hier sei nur das eine erwähnt, dass nach
den bisher gemachten Erfahrungen an allen wegen Selbstmord¬
versuchs eingelieferten Personen (85) meine Vermutung von der
meistens pathologischen Grundlage der Tat
berechtigt erscheint. Unter allen untersuchten Personen war
nur eine, bei der die Untersuchung nichts Krankhaftes erkennen
Hess; in 25 Proz. geschah die Tat in ausgesprochener Psychose,
bei der Mehrzahl aber handelt es sich um psychopathische,
hysterische oder alkoholisierte Menschen, die unter dem Ein¬
fluss relativ geringer Erlebnisse, nicht selten auch unter
der Wirkung des die Impulsivität steigernden Alkohols, in mass-
lose Affekterregung geraten und dem Impuls zur Selbstver¬
nichtung hemmungslos nachgeben. Vor allem ist eine solche
Untersuchung deshalb von grossem Werte, weil sie zeigt, wie
wenig die angegebenen Motive die wahren Gründe der Hand¬
lung sind.
Alkoholisten, Psychopathen, Epileptiker, Paralytiker,
Hysterische, organisch Hirnkranke und symptomatische De¬
lirien — das waren die hauptsächlichsten psychischen Stö¬
rungen, die nach Häufigkeit und Form von dem Material der
ländlichen Anstalten abweichen. Noch ist Einiges hinzu¬
zufügen. Die diagnostischen Schwierigkeiten machen sich
auch noch nach der Seite hin bemerkbar, dass den be¬
kannten Krankheitsformen fremdartige Züge beigemischt
sind. Hierher rechne ich die schon oben erwähnten
hysterisch aussehenden Bilder bei Katatonischen und
Zirkulären, die leicht zur Fehldiagnose Hysterie verleiten.
Das psychisch mehr differenzierte Grossstadtpublikum zeigt in
der Psychose häufiger Bilder, die vom Schema des Lehrbuchs
erheblich abweichen. Die Unterscheidung zwischen degenera-
tiver konstitutioneller Depression und Melancholie ist oft recht
schwierig, die ,, Mischzustände“ schaffen äusserst komplizierte
Zustandsbilder. Die leichtere Aufnahme bringt mehr Fälle mit
wenig ausgesprochenen Symptomen, die anamnestischen Daten
sind in der Grossstadt schwerer zu beschaffen, weil viel mehr
Kranke von ihren Familien getrennt für sich allein leben.
Es braucht nicht betont zu werden, dass eine Klinik mit
zahlreichen Aufnahmen, geringem Bestand, also raschem
Wechsel der Kranken, andere therapeutische Aufgaben
hat, als eine ländliche Anstalt. Die Behandlung mit prolon¬
gierten Bädern hat sich auch hier in München als sehr
wertvoll erwiesen. Als die Münchener Klinik gebaut wurde, hat
ihr damaliger Chef in Erinnerung an manche Erfahrung, die er
mit der rauflustigen Bevölkerung von Oberbayern in der Kreis¬
irrenanstalt machte, die Schaffung zahlreicher, zum Teil sehr
fester Zellen vorgesehen. Die Erfahrung hat uns bisher gezeigt,
dass es hier trotz der vielen Schwerberauschten, der erregten
Epileptiker und anderer schwieriger Kranker im allgemeinen
sehr wohl möglich ist, ohne Isolierung auszukommen und zwar
ohne nennenswerte Unzuträglichkeiten für das Personal, ja so¬
gar bei Stationierung von weiblichem Pflegepersonal auf allen,
selbst den unruhigen Männerabteilungen. Wir können also
wohl sagen, dass sich die Badebehandlung auch weiterhin als
ein grosser Fortschritt erwiesen hat, wenn sie auch natürlich
nicht alle Schwierigkeiten beseitigt, die bei Ansammlung zahl¬
reicher erregter Kranker nie und nimmer zu beseitigen sind.
Frühe Entlassungen noch nicht geheilter Kranker finden
in München sehr häufig statt. Unsere bisherigen Erfahrungen
bestätigen die Richtigkeit der Anschauungen Bleulers über
diesen Punkt.
Die Zwecklosigkeit unserer derzeitigen Alkoholisten-
behandlung hat K r a e p e 1 i n in No. 16 der Münch, ined.
Wochenschr. 1906 eingehend dargelegt, ich kann also von diesem
Punkte hier Abstand nehmen. Dagegen möchte ich noch mit
einigen Worten betonen, wie schlecht heute für die Grenz¬
gebiete der Psychopathen, der Hysterischen, der Degeneres
gesorgt ist; sie passen weder in die Kliniken oder Stadtasyle
noch in die eigentlichen Irrenanstalten. Je mehr in einer Klinik
wie in der unseren die Zahl der Alkoholisten, Paralytiker, De¬
generes, Epileptiker etc. anwächst, desto mehr wird man sich
der trostlosen Aufgabe, als ein ungeeigneter Aufenthalts- und
Bewahrungort zu dienen, bewusst. Diese therapeutische Rat¬
losigkeit ist eine Schattenseite der Tätigkeit an den städtischen
Asylen.
In forensischer Beziehung zeichnet sich das Gross¬
stadtmaterial namentlich durch die Häufigkeit der Alkohol-
delikte aus; die Entscheidung, ob einfacher Rausch oder
pathologischer Rausch, ist eine häufige und recht unerquick¬
liche Aufgabe. Der derzeitige unhaltbare Zustand bei der Be¬
urteilung und namentlich der Behandlung der Alkoholdelikte
tritt uns hier in seiner ganzen Unzweckmässigkeit vor Augen.
Interessanter in wissenschaftlicher Beziehung sind die bunt¬
scheckigen Formen der Degeneres, deren kriminelle Neigungen
das Grossstadtmaterial besonders häufig vor Augen führt.
Fälle von Moral insanity, oft mit hysterischen, psychopathi¬
schen oder epileptoiden Zügen kombiniert, sind hier keineswegs
selten. Sie eignen sich natürlich zur Verpflegung in der Klinik
durchaus nicht.
Endlich haben wir hier in der Grossstadt auch sehr viele
Kranke mit traumatischen Neurosen; die verzweifelten
Fälle werden mit besonderer Vorliebe unserer Klinik zur Be¬
gutachtung überwiesen und wir haben bei Erledigung dieser
Aufgabe immer wieder mit den gleichen Schwierigkeiten zu
kämpfen, die allgemein bekannt sind und die in letzter
Linie ihre Hauptursache darin haben, dass wir noch keine
objektiven Methoden zur Feststellung psychischer Schwäche¬
zustände und funktioneller Ausfallserscheinungen besitzen.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1313
3. Juli 1906.
Dazu kommt, dass in den grossen Städten politische Verhetzung
bisweilen ihren für den Arbeiter ungünstigen Einfluss geltend
macht. Ausserdem verdienen hervorgehoben zu werden: die
Häufigkeit der Kombination von Unfallneurose mit frühzeitiger
Arteriosklerose, der Nachweis einer traumatisch entstandenen
Alkoholintoleranz, die arbeitsschädlichen Wirkungen des chro¬
nischen Alkoholismus bei Rentenempfängern.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Vergleich zwi¬
schen dem Krankenmaterial der Qrossstadt und des flachen
Landes zeigt im wesentlichen Verschiedenheiten, die in
der Verschiedenheit der Aufnahmebestimmungen und in der
Notwendigkeit der Versorgung öffentlich störender Elemente
wurzeln; weit geringer ist das Ergebnis hinsichtlich des Ein¬
flusses des grossstädtischen Lebens auf die Erzeugung
neuer Krankheitsformen. Diese Tatsache wird ohne
weiteres verständlich, wenn man erfährt, dass nach unseren
Münchener statistischen Berechnungen n u r 20 b i s 25 P r o z.
der Aufgenommenen eigentliche Grossstadt¬
kinder sind. 75—80 Proz. sind nicht in München geboren,
nur wenige stammen aus anderen Qrossstädten, weitaus
die grösste Zahl kommt vom Lande. Woher
das rührt, vermag ich nicht zu sagen, weil ich noch nicht fest¬
stellen konnte, wie viel Prozent der erwachsenen Einwohner
Münchens überhaupt geborene Münchener sind. Sollten sich
hier ganz andere Zahlenwerte ergeben, so wäre dies vielleicht
ein Fingerzeig dafür, dass die Grossstadt gerade für die, die
nicht in ihr aufgewachsen sind, besonders gefährlich werden
kann. Doch kann der Zusammenhang auch ein ganz anderer
sein. Jedenfalls sind diese statistischen Tatsachen geeignet,
in allen Fragen der vergleichenden Psychiatrie
zur grössten Vorsicht zu mahnen.
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Allerlei Erfahrungen über das praktische Jahr.
Von Dr. Leo Jacobsohn - Berlin.
Die Frage, in wiefern ein Bedürfnis für das praktische Jahr vor¬
liegt, bildet bis heute bei Theoretikern und Praktikern einen Gegen¬
stand lebhafter Kontroversen. Das praktische Jahr ist bekanntlich
durch den Erlass des Bundesrates vom 28. Mai 1901 in Deutschland
eingeführt und sollte auf alle Kandidaten Anwendung finden, welche
die ärztliche Prüfung nicht spätestens bis zum 1. Oktober 1903 be¬
standen hätten. Gleichzeitig wurde auch bekannt gegeben, dass eine
teilweise oder völlige Befreiung von der Ableistung des praktischen
Jahres nur in Berücksichtigung persönlich zwingender Verhältnisse
erfolgen könne, doch nicht über den 1. Oktober 1908 hinaus. Ich
will an dieser Stelle nicht noch einmal auf die Härte zu sprechen
kommen, mit der man unbekümmert um die Interessen der Beteiligten
einem Gesetze eine quasi rückwirkende Kraft verliehen hat — hier¬
über ist ja seiner Zeit genügend in der Tagespresse diskutiert worden
und auch im Reichstage kam gelegentlich die Frage zur Sprache —
immerhin dürfte es von Interesse sein, zu erfahren, wie die betr. Be¬
hörden in praxi mit den Befreiungsversuchen verfahren sind. Zu¬
nächst sehen wir, dass weder die Bundesregierungen noch das
Reichsamt des Innern sich an den Termin des 1. Oktober 1903 ge¬
halten haben, vielmehr bis gegen Ende des Jahres 1904 in der Regel
ohne weiteres Dispens vom praktischen Jahre erteilten. Erst anfangs
1905 ging man zu einer rigoroseren Durchführung der bestehenden
Verordnungen über; Befreiungen fanden nach wie vor statt, aber in
wesentlich geringerem Masse. Nach welchen Grundsätzen, von per¬
sönlich zwingenden Verhältnissen abgesehen, hierbei die massgeben¬
den Behörden verfahren sind — den Eindruck haben wenigstens alle
Beteiligten empfangen — ist schwer zu erkennen. Unter den gleichen
Bedingungen wurden teils Befreiungen vorgenommen, teils versagt,
wofür sich aus der Praxis eine Reihe von Beispielen anführen Hesse.
Auch hat es sich gezeigt, dass persönliches Können, wissenschaftliche
oder praktische Leistungen hierbei gar nicht in Betracht kamen.
Fragen wir uns, was hat der Praktikant während des vorge¬
schriebenen Jahres zu tun, so gibt uns der § 59 des bundesratlichen
Erlasses die Antwort: Der Kandidat hat sich ein Jahr lang an einer
hierzu ermächtigten Anstalt des deutschen Reiches unter Aufsicht und
Anleitung des Direktors oder ärztlichen Leiters als Praktikant zu
beschäftigen etc. etc. Wie steht es hiermit in der Praxis? Hier tritt
uns wenigstens in grösseren Krankenanstalten nicht selten die Tat¬
sache entgegen, dass die betr. ärztlichen Leiter teils aus Mangel an
Zeit, teils aus Mangel an Interesse an der neuen Institution des
praktischen Jahres den ihrer Leitung unterstellten Praktikanten nicht
das genügende Interesse entgegenbringen, sodass man in diesem
Falle kaum von einer persönlichen Aufsicht und Anleitung sprechen
kann. Der Praktikant wird nach Erledigung der erforderlichen For¬
malitäten einem Assistenten zuerteilt, von dessen Einsicht und Be¬
fähigung seine weitere Ausbildung im wesentlichen abhängt. Kann
man es unter diesen Umständen dem Praktikanten verdenken, wenn
er seinerseits das obligatorische Jahr als notwendiges Uebel be¬
trachtet und es versucht, mit dem minimalsten Aufwande von Ar¬
beitskraft den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden und
nebenbei sich nach Neigung und Befähigung auszubilden? Hierzu
findet sich genügend Gelegenheit. So besteht in Berlin eine ermächtigte
Poliklinik, mit einer täglichen Beschäftigungsdauer von 2 Stunden.
Absolviert hier der Praktikant sein ganzes Jahr — und hierzu ist er
berechtigt — so hat er Anspruch auf Erteilung der Approbation, was
er sonst tut, hängt von seinem guten Willen ab. Einem in einer der
letzten Nummern der Münch, med. Wochenschr. erschienenen Inserat
zufolge scheinen in München ähnliche Verhältnisse zu bestehen.
Jenes Inserat betrifft einen Medizinalpraktikanten, der jeden zweiten
Tag frei ist und freiwillig sich nach passender Nebenbeschäftigung
bei einem Arzt umsieht.*) Es ist also auch hier in das Belieben des
betr. Kandidaten gestellt, wie weit er praktischen Nutzen von dem
obligatorischen Jahre hat.
So sieht — oder kann wenigstens — das vielgerühmte praktische
Jahr bei näherer Betrachtung aussehen.
Mangels einheitlicher Bestimmungen sind die Funktionen der
Praktikanten in den verschiedenen Städten und auch in den ver¬
schiedenen Anstalten desselben Ortes wesentlich verschieden.
Während der Praktikant hier im grossen ganzen die Stellung eines
Famulus einnimmt — seine Tätigkeit besteht im wesentlichen im
Schreiben von Krankengeschichten und Nachuntersuchen von Pa¬
tienten — hat er dort eine selbständigere Stellung, bisweilen wird
ihm auch die Leitung einer Station oder die Vertretung eines Assi¬
stenten übertragen. Nicht so selten werden auch Assistentenstellen
in kleineren Städten ausgeboten, die durch Praktikanten besetzt
werden können. Mit einem Worte, der weiteste Spielraum der
praktischen Vorbildung für den ärztlichen Beruf.
Was die rechtliche Stellung des Medizinalpraktikanten betrifft, •
so zeigt sich hier eine vollkommene Lücke in den bestehenden b'e~
Stimmungen. Im allgemeinen kann man die rechtliche Stellung des
Medizinalpraktikanten dahin charakterisieren, dass er die Rechte des
Studierenden verloren hat, ohne dafür die Rechte des Arztes zu be¬
sitzen. Den Behörden steht er in mehr als einer Hinsicht als recht¬
loses Objekt gegenüber. Auffallend ist das gänzliche Fehlen von
Urlaubsbestimmungen. In diesem Punkte ist dem Belieben des je¬
weiligen Vorgesetzten der weiteste Spielraum gelassen. Als Ge¬
wohnheitsrecht — wenn man überhaupt heute hiervon sprechen darf
hat sich eine durchschnittlich 2 — 3 wöchentliche Urlaubszeit er¬
geben. Je nach Gutdünken ist man in dieser Hinsicht rigoroser oder
freigiebiger; mir ist ein Fall bekannt, in dem eine 2 monatliche Ur¬
laubszeit gewährt wurde. Wieder andere Vorgesetzte halten sich
mangels positiver Bestimmungen überhaupt nicht für berechtigt,
irgend welchen Urlaub zu gewähren, und schlagen jedes bezügliche
Gesuch rundweg ab oder verlangen ein ärztliches Attest über die
Notwendigkeit einer Erholungspause. Hiermit komme ich auf einen
Punkt zu sprechen, der ebenfalls in dem bundesratlichen Erlass nicht
vorgesehen ist, ich meine den Fall, dass ein Praktikant während der
Ableistung des praktischen Jahres erkrankt. Gilt Krankheit als force
majeure, muss der Praktikant die durch Krankheit bedingte Ver¬
säumnis ganz oder teilweise nachholen usw.? Auch hier eine voll¬
kommene Lücke in den betr. Bestimmungen! Eine Regelung der
Urlaubszeit erscheint unter diesen Umständen durchaus geboten.
Da der Praktikant noch nicht die Rechte eines Arztes hat, wird
man es ihm nicht verdenken können, wenn er auf die Rechte des
Studierenden nicht ganz verzichten will. So hätte er wohl ein An¬
recht auf alle die Vorteile und Vergünstigungen, die der Student als
Lernender — und hierzu rechnet man doch den Medizinalpraktikanten
— geniesst. Tch denke hierbei zunächst an die Vergünstigungen bei
Besuch von Theatern, Konzerten und anderen künstlerischen oder
■wissenschaftlichen Veranstaltungen, ferner an die Ermässigungen
beim Abonnement wissenschaftlicher Zeitschriften u. dergl. mehr.
Zu dem letzten Punkt haben allerdings schon einige deutsche Zeit¬
schriften Stellung genommen, die dem Medizinalpraktikanten die
studentischen Ermässigungen gewähren. Wie der Student im Krank¬
heitsfälle einen Rückhalt an der akademischen Krankenkasse findet,
kann auch der Medizinalpraktikant, der nur ausnahmsweise über ein
höchst bescheidenes Einkommen verfügt, mit Fug und Recht eine
ähnliche Krankenversorgung für sich in Anspruch nehmen. Viel¬
leicht Hesse sich dieses Ziel durch Angliederung der geforderten In¬
stitution an die bestehenden akademischen Krankenkassen erreichen!
Nach § 59 der Verordnung über das praktische Jahr ist dem
Kandidaten in der Regel ein mehr als zweimaliger Wechsel der von
ihm selbst gewählten Anstalt nicht erlaubt. Der Sinn dieses Para¬
graphen ist wohl klar, es soll dem Praktikanten die Gelegenheit ge¬
nommen werden, durch häufigeren Wechsel der Beschäftigung seine
Kräfte zu zersplittern. In praxi ist aber dieser Paragraph ganz be¬
langlos, da er eben nur den mehr als zweimaligen Wechsel der An-
*) Wie ich sehe, hat indes ein Artikel in No. 20 dieser Zeit¬
schrift Stellung zu dem Inserat des betr. Praktikanten genommen
und sich auch mit anderen Missständen des praktischen Jahres be¬
schäftigt.
1314
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
stalt vorsieht und nicht den der Beschäftigung. Da die grösseren
Krankenhäuser häufig 3 — 4 verschiedene Abteilungen haben, aus denen
sich jene „Anstalt“ zusammensetzt, so ist der Fall wenigstens denk¬
bar, dass ein Praktikant bei zweimaligem Wechsel der Anstalt eine
ganze Reihe differenter Beschäftigungsarten durchläuft, was gewiss
nicht im Sinne der betr. Bestimmung liegt.
Wenig glücklich ist der Absatz des § 63 gefasst, in dem es
heisst, der Praktikant habe während des praktischen Jahres zwei
öffentlichen Impf- und ebenso vielen Wiederimpfterminen beizu¬
wohnen. Was unter „beiwohnen“ zu verstehen ist, ob praktische
Teilnahme bei den betr. Impfungen oder nur Anwesenheit an den¬
selben, ist nicht ohne weiteres zu ersehen. Wie sich herausgestellt
hat, ist tatsächlich nur die Anwesenheit der Praktikanten an den
beiden vorgeschriebenen Terminen notwendig. Erinnern wir uns,
dass jeder Mediziner einen obligatorischen Impfkurs durchgemacht
hat, so ist schwer zu verstehen, worin der Wert des betr. Para¬
graphen zu suchen ist.
Ein Ministerialerlass vom September v. J. bestimmt, dass der
Praktikant bis zur Hälfte des praktischen Jahres sich an einem
medizinisch-wissenschaftlichen Institut beschäftigen kann. Was gilt
nun als medizinisch-wissenschaftliches Institut? Die pathologisch¬
anatomische Abteilung eines grösseren Krankenhauses? Das ist ganz
Auffassungssache. Die Direktionen der städtischen Krankenhäuser
zu Berlin waren geneigt, die betr. Institute als Unterabteilungen eines
für die Aufnahme von Praktikanten ermächtigten Krankenhauses zu
betrachten und trugen folglich auch keine Bedenken, mehrere Prak¬
tikanten den betr. Abteilungen zuzuteilen, während die Praktikanten
ihrerseits sich in dem guten Glauben befanden, bis auf die für die
Behandlung innerer Erkrankungen vorgeschriebene Zeit sich be¬
liebig lange auf der Pathologischen Abteilung beschäftigen zu können.
Erst eine private Anfrage eines Praktikanten an das Ministerium
brachte hier Klarheit. Dem betr. Kandidaten wurde die Antwort
zuteil, dass er sein praktisches Jahr bis zur Hälfte am genannten
Institut ableisten könne, vorausgesetzt, dass er den Nachweis führe,
dass er zurzeit der einzige Praktikant sei. Die Vorgesetzte Behörde
hat somit jenes Institut als wissenschaftliches Institut anerkannt.
Gleichzeitig mussten die anderen Herren, die schon einige Zeit an
jenem Institut gearbeitet hatten, beim Ministerium zwecks An¬
rechnung der bereits absolvierten Praktikantenzeit vorstellig werden,
da sie den nachträglich geführten Nachweis des einzigen Kandidaten
naturgemäss nicht führen konnten. — Derartige Szenen wiederholen
sich in anderem Gewände tagtäglich und es ist die allgemeine Auf¬
fassung der Medizinalpraktikanten, dass man während des praktischen
Jahres vor Ueberraschungen nicht sicher sei.
Zum Schlüsse noch die Bemerkung, dass das praktische Jahr
durch die in einem Falle vierwöchentliche Verzögerung bis zur Er¬
teilung der Approbation nicht selten eine unliebsame Verlängerung
erfährt. Eine Beschleunigung des Verfahrens oder die möglichst
baldige Ausstellung einer Interimsbescheinigung wäre für den Fall
einer Niederlassung oder Bewerbung um vakante Stellen sehr er¬
wünscht.
Werfen wir einen Rückblick auf das Ganze und fragen wir uns,
was hat man bis heute mit dem praktischen Jahre erreicht, so ist bis
jetzt das einzige Positive eine Erschwerung des medizinischen Stu¬
diums sowie eine entsprechende Abnahme in der Zahl der Medizin¬
studierenden. Tatsächlich fällt es schon heute selbst grösseren
Krankenhäusern und anderen medizinischen Instituten schwer, die
entsprechende Anzahl von Volontären heranzuziehen. Gleichzeitig
wird die Abnahme des Angebotes von Arbeitskräften zu einer erhöhten
Bewertung ärztlicher Arbeit führen, eine Tatsache, die sich heute eben
bemerkbar macht, deren ganze wirtschaftliche Bedeutung aber erst
späteren Generationen zugute kommen wird.
Die Institution des praktischen Jahres ist noch zu neu, als dass
schon heute ein abschliessendes Urteil über seine Vorteile und Nach¬
teile möglich wäre. Aber noch manche Missstände müssen be¬
seitigt, manche Reformen durchgeführt werden, bis das praktische
Jahr die Hoffnungen, die man sich für die praktische Ausbildung des
Mediziners von ihm versprach, erfüllen wird.
Referate und Bücheranzeigen.
E. Schwalbe: Die Morphologie der Missbildungen des
Menschen und der Tiere. Ein Lehrbuch für Morphologen, Phy¬
siologen, praktische Aerzte und Studierende. I. Teil: Allge¬
meine Missbildungslehre (Teratologie). Eine Ein¬
führung in das Studium der abnormen Entwicklung. Mit 1 Tafel
und 165 Abbildungen im Text. Jena, Verlag von Gustav
Fischer, 1906. Preis 6 M.
Seit dem bekannten Werken Ahlfelds (1882) ist über
die Missbildungen in der deutschen Literatur kein ähnliches,
die gesamten Missbildungen zusammenfassendes Werk mehr
erschienen. Bei den grossen Fortschritten, welche seit dieser
Zeit insbesondere auf dem Gebiete der Entwicklungsgeschichte
und der Entwicklungsmechanik gemacht worden sind und
welche ein tieferes Verständnis auch für das Zustandekommen
vieler Missbildungen ermöglichen, musste das Fehlen einer
dem jetzigen Stande unseres Wissens entsprechenden und er¬
schöpfenden Darstellung der Missbildungen mehr und mehr
als eine recht empfindliche Lücke sich geltend machen.
Schwalbe hat sich nun der ebenso dankenswerten, als
freilich auch schwierigen Aufgabe unterzogen, diese Lücke aus¬
zufüllen und es darf wohl schon jetzt aus dem vorliegenden
I. Teil des Werkes, welches übrigens weit über den Rahmen
eines Lehrbuches hinausgeht, geschlossen werden, dass Schw.
diese Aufgabe in ganz vorzüglicher Weise gelöst hat.
Der I. Teil des auf breiter Basis angelegten Werkes be¬
handelt die allgemeine Missbildungslehre. Aus demselben sind
besonders die Kapitel über experimentelle Entwicklungsge¬
schichte und experimentelle Teratologie, über Regeneration,
über Entstehungszeit der Missbildungen und formale Genese,
sowie über Keimversprengung und Keimausschaltung von her¬
vorragendem Interesse. In letzterem Kapitel finden auch die
Beziehungen der Missbildungen zu den Geschwülsten eine
überaus klare und anregende Darstellung, wobei die verschie¬
denen Theorien über die Entstehung der Geschwülste einer
kurzen kritischen Betrachtung unterworfen werden.
Die zahlreichen in den Text eingefügten vortrefflichen
Abbildungen, welche zum Teil nach photographischen Original¬
aufnahmen hergestellt sind, erleichtern sehr wesentlich das
Verständnis auch von schwierigen Vorgängen und kompli¬
zierteren Formen.
Das schöne Werk, von welchem hoffentlich auch der
II. Band bald seiner Vollendung entgegengehen wird, ist den
Lehrern des Verfassers, Julius Arnold und Gustav Schwalbe
gewidmet.
Die Ausstattung des Werkes ist, wie ja von der Ver¬
lagshandlung nicht anders zu erwarten ist, eine musterhafte.
G. Hauser.
Kehr: Die interne und chirurgische Behandlung der Gal¬
lensteinkrankheit. München, 1906, Lehmann, Preis 4 Mark.
Der bekannte Halberstädter Chirurg gibt in dem vorliegen¬
den, im Kaiserin-Fried rich-Haus gehaltenen, Vortrage eine
übersichtliche Darstellung der Lehre von der Gallensteinkrank¬
heit, wie sie nicht zum wenigstens durch seine und anderer
Chirurgen wertvolle Arbeiten in den letzten 20 Jahren aus¬
gebildet worden ist. Kelirs eigene Erfahrungen beziehen
sich zur Zeit auf 1111 Gallensteinlaparotomien, und da ist ge¬
wiss keiner mehr berufen wie er, über den gegenseitigen Wert
der inneren und chirurgischen Behandlung dieses wichtigen
Leidens zu sprechen. Dass Kehr in keiner Weise der aus¬
schliessliche Operateur ist, als welcher er von manchen ange¬
sehen wird, beweist der Umstand, dass er seit dem Jahre 1890
unter 3000 Gallensteinkranken, die zu ihm kamen, nur 1108
operiert hat, und 1892 Kranke ohne Operation mit ausschliess¬
lich internen Vorschriften wieder entlassen hat.
So nimmt die innere Behandlung auch in diesem Buche
einen erheblichen Platz ein,, ein Vorzug, der das Buch anderen
Lehrbüchern gegenüber für den Praktiker besonders wertvoll
macht. Ref. kann es sich versagen, auf den reichen Inhalt
näher einzugehen. Erwähnt sei nur, dass Kehr es sich nicht
hat verdriessen lassen, auch die Kurpfuscher mit kräftigen
Worten abzufertigen. K r e c k e.
Dr. Otto Naegeli: Nervenleiden und Nervenschmerzen,
ihre Behandlung und Heilung durch Handgriffe. Mit 22 Ab¬
bildungen im Text. Dritte teilweise nmgearbeitete und ver¬
mehrte Ausgabe. Verlag von Gustav Fischer, Jena 1906.
160 Seiten. Preis 2 Mark.
Der Autor behauptet durch einzelne Griffe, die er ausführ¬
lich beschreibt, wie durch Kopfstützgriff, Kopfstreckgriff,
Zungenbeingriff usw. nicht nur Nervenleiden, sondern
auch andere Erkrankungen wie Angina, Keuchhusten, Magen¬
katarrh u. a. m. erfolgreich zu behandeln. Wie sehr die neue
Methode, die schliesslich nichts anderes ist als eine Art von
Massage, von ihrem Erfinder überschätzt wird, mag daraus
entnommen werden, dass er behauptet, durch sie u. a. auch bei
Delirien und Halluzinationen wesentliche Besserung erzielt zu
haben. (Bei Geschmackstäuschungen ist durch Dehnung der
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Zunge nach vorne und seitlich manchmal sofortige Umstim¬
mung zu erzielen ! Gehörshalluzinationen werden mit „Kopf¬
erschütterung“ behandelt.“) Von einer gewissen Naivität zeugt
es, wenn N a e g e 1 i den Rat gibt, beim Schnupfen, sobald sich
die ersten Anzeichen einstellen, „durch Ausquetschen der knor¬
peligen Nasenteile die Mikroben möglichst rasch und energisch
zu entfernen zu suchen“. Auch die Halsentzündung wird nach
N. durch Massage der Tonsillen (kreisförmige und streichende
Touren der Mandeln) erfolgreich behandelt. Wenn das vor¬
liegende Buch, das „für Aerzte und Laien“ geschrieben ist, eine
dritte Auflage erleben konnte, so ist es nur dadurch verständ¬
lich, dass es viel von Laien gekauft wird und das ist bedauer¬
lich, denn bei ihnen kann es nur Schaden anrichten. Der
Referent hält es für seine Pflicht, die Aerzte vor der An¬
schaffung und Lektüre des Buches, also vor Verschwendung
von Geld und Zeit zu warnen.
L. R. Müller- Augsburg.
L. R ü t i m e y e r - Basel: Ueber die geographische Ver¬
breitung und die Diagnose des Ulcus ventriculi rotundum, mit
besonderer Berücksichtigung des chemischen Verhaltens des
Magensaftes und der okkulten Blutungen. Ein Beitrag zum
regionären klinischen Verhalten des Magengeschwürs. Wies¬
baden, J. F. Bergmann, 1906. Preis 3.60 M.
Die Häufigkeit des Magengeschwürs ist erheblichen re¬
gionären Schwankungen unterworfen. In Dänemark beträgt
es 16 Proz. aller inneren Krankheiten. In Deutschland nimmt
es von Norden nach Süden ab; höchste Ziffer 8,5 Proz. (Kiel),
niederste 1,5 Proz. (München). In der Schweiz finden sich
Schwankungen zwischen 0,3 Proz. (Genf) und 2,1 Proz. (Bern).
Sehr selten ist Ulcus ventriculi in Russland; auch in Nord¬
amerika beträgt es nur 1,3 Proz., dagegen 5 Proz. in England.
Unter den 200 Fällen des Verfassers wurde in 71 Proz.
Bluterbrechen oder Blutstühle beobachtet. Der Prüfung des
epigastrischen Druckpunktes mit dem Algesimeter misst er
im Gegensatz zu anderen Untersuchern besonders bei Frauen
erhöhte Bedeutung zu. Hyperazidität resp. Hyperchlorhydrie
fand sich in 42 Proz. resp. 37 Proz. der Fälle und zwar pro¬
zentual häufiger bei Männern. Okkultes Blut liess sich unter
35 Fällen in 51 Proz. nachweisen (27 Fälle von Magenkarzinom
zeigten ohne Ausnahme = 100 Proz. positiven Blutbefund).
Die vom Verfasser mitgeteilten Ergebnisse, denen sich noch
weitere Untersuchungen über Pepsingehalt, Motilität und Blut¬
befund anschliessen, werden in Vergleich gesetzt zu den zahl¬
reichen andern veröffentlichten Beobachtungsreihen.
In verdienstvoller Weise gewährt diese mühevolle Zu¬
sammenstellung einen Einblick in die örtlich so verschiedenen
klinischen Züge des Magengeschwürs.
F. P e r u t z - München.
Graefe-Saemisch: Handbuch der gesamten Augen¬
heilkunde. Zweite, neu bearbeitete Auflage. 102. Lieferung.
Leipzig, W. E n g e 1 m a n n, 1906.
Der den Inhalt dieser Lieferung bildende Abriss der Brillen¬
kunde von E. H. Oppenheimer gibt eine vortreffliche
Uebersicht über den gegenwärtigen Stand der Brillenkunde und
führt uns mit Unterstützung vieler (66) guter und sehr instruk¬
tiver Abbildungen in die Kenntnis der Fabrikation der Brille,
des Materials und Baues derselben, sowie des Klemmers,
Monocles, Leseglases, der Vorhänger, Lorgnette und Lurette
ein. Ferner wird die zweckmässige Verwendung der ver¬
schiedenen Arten von Brillen, die Anpassung und richtige Stel¬
lung der Augengläser, mit besonderer Berücksichtigung des
Geschäftsbetriebs der Detailoptiker besprochen. Mit diesem
Nachtrag II zum 2. Teil, IV. Bandes des Gesamtwerkes, welcher
im Kapitel III die augenärztlichen Heilmittel bespricht, ist einem
für den Augenarzt längst gefühlten Bedürfnis entgegen -
gekommen und kann Ref. die Anschaffung des Einzelabdruckes
zum Preise von 3 M. wärmstens empfehlen. S e g g e 1.
v. Ziems sens Rezepttaschenbuch für Klinik und Praxis.
Achte, mit Berücksichtigung der deutschen Arzneitaxe 1905
neubearbeitete Auflage von Prof. H. Rieder- München. Un¬
ter Mitwirkung von Dr. A. Neger. Leipzig, Verlag von
Georg Thieme. 1905.
1315
Die vorliegende 8. Auflage des bekanntlich seit Jahren
wohleingeführten Rezepttaschenbuches, das aber nicht, wie sein
fast zu bescheidener Titel erwarten liesse, nur eine Sammlung
von Rezepten beherbergt, sondern in kurzer Form auch reich¬
haltige Bemerkungen zur Diätetik, sowie mancherlei Balneo-
logisches bringt, hat im Allgemeinen die frühere Einteilung des
Stoffes beibehalten. Wie zahlreich angestellte Stichproben er¬
geben, ist die neue Auflage einer sorgfältigen Durchsicht unter¬
zogen worden, die manches Antiquierte ausmerzte und dafür
Neues, mit Kritik Ausgewähltes einfügte. Hinzugekommen ist
ein neuer Abschnitt über Mittel zum Gurgeln und Mundspülen,
sowie zu vaginalen Spülungen. Von der Legion der neuen
Arzneimittel ist nichts aufgenommen, das sich nicht schon ein
ziemlich sicheres Bürgerrecht erworben hat, wie z. B. die
neuen Arsenpräparate, das Adrenalin, Anästhesin, Agurin,
Digalen, Duotal, Epikarin etc. Für die nächste Auflage wäre
neben den übrigen neuen Seren vielleicht auch das Pollantin
erwähnenswert, dann die viel gebrauchte Verwendung des
Protargol in Form von Bougies, die Verwendung des Arg. col-
loidale in Gestalt von Klysmen, im Kapitel der Intoxikationen
die Chromsäurevergiftung. Wir brauchen das ungemein
brauchbare und zuverlässige Werkchen der Aufmerksamkeit
der Praktiker wohl kaum besonders zu empfehlen.
Grass mann - München.
Neueste Journalliteratur.
Zeitschrift für klinische Medizin. 59. Bd. 1. Heft.
1 ) H. F 1 e s c h und A. Schossberger: Diagnose und Patho¬
genese der im Kindesalter häufigsten Form der Concretio pericardii
cum corde. (Aus dem Stefanie-Kinderspitale in Ofen-Pest.)
Die Vetfasser beschreiben 11 Fälle von Perikardialverwachsung,
von denen bei 4 durch die Autopsie die Diagnose bestätigt wurde; bei
weiteren 4 unterstützte die anlässlich der T a 1 m a sehen Operation
vorgenommene Inspektion der Bauchhöhle die Diagnose; bei den Te¬
stierenden 3 Fällen wurde auf Grund der analogen Symptome die
Lnagnose gestellt. Der Symptomenkomplex des eigenartigen Krank¬
heitsbildes ist charakterisiert durch hochgradigen isolierten Aszites,
pastöses Gesicht, zyanotische Lippen und Lebervergrösserung, wo¬
bei ausser dem kleinwelligen, etwas beschleunigten Puls kein ein-
ziges Symptom auf das Herz deutet. Tierexperimente, von denen
diejenigen mit Resektion der 5. linken Rippe zwischen der Para-
sternal- und Mammillarlinie behufs Freilegung des Perikards und
nachfolgender Injektion von 1,5—3 ccm Jodtinktur in den Peri-
kardialsack erfolgreich waren, ergaben, dass die Concretio pericardii
cum corde an und für sich ohne Hinzutritt anderer Momente beim
Hunde einen isolierten Aszites, also eine reine Pfortaderstauung kar¬
dialen Ursprungs hervorzurufen vermag. Wesshalb die kardiale
Stauung bei dieser Affektion in konsequenter Weise in dieser Form
auftiitt, kann vorläufig bloss durch Annahmen erklärt werden.
„ D W. P.r edtetschensky - Moskau : Ueber die Struktur und
die diagnostische Bedeutung der Curschmann sehen Spiralen
beim Asthma bronchiale.
Pie vom Verfasser angewendete Färbemethode ist folgende: Auf
Objektträgern werden durch Andrücken des Deckglases die Spiralen
in möglichst dünner Schicht verteilt, dann werden nach Abziehen des
Deckglases die Präparate an der Luft trocken gemacht, in Methyl¬
alkohol 3—5 Minuten gehärtet, wieder an der Luft getrocknet und
dann in einer Lösung der Reuter sehen Farbe (30 Tropfen auf
10 ccm Aqu. dest.) oder der G i e m s a sehen Farbe (10 Tropfen auf
10 ccm Aqu. dest.) 30 — 50 Minuten gefärbt, dann mit destilliertem
Wasser abgespült, mit Deckglas bedeckt; wenn die Ränder desselben
mit Vaselin bestrichen werden, halten sich die Präparate mehrere
läge; der Zentralfaden ist dunkelblau gefärbt, um ihn herum sind
dünne, ebenfalls blau gefärbte Fasern gelagert, deren Enden un¬
mittelbar in langgestreckte gewundene Leukozyten übergehen, mit
blauem Kern und roten eosinophilen Körnchen. Es können so 3 Arten
von Spiralen unterschieden werden: breite Spiralen ohne Zentral¬
faden, typische Spiralen mit Zentralfaden und isolierte Zentralfäden,
welche sich bei 500 facher Vergrösserung in ein Büschel äusserst
dünner, blau gefärbter, stark gewundener Fasern auflösen, welche
aus Muzin bestehen und deren Herkunft aus Zellen nirgends nach¬
zuweisen ist; ausserdem kommen Uebergangsformen vor; die Spi¬
elen stellen demnach ein Klümpchen schleimigen oder schleiinig-
eiti igen Sputums dar, welches stark in die Länge gezogen und
mehimals um seine Längsachse gedreht ist. Künstlich konnte der
Verfasser Spiralen aus dem schleimig-eitrigen Auswurf verschiedener
Kranker darstellen durch Ausziehen zäher Klümpchen desselben mit
der Pinzette und Drehung um die Längsachse. Die natürlichen Spi¬
ralen entstehen dadurch, dass die durch einen feinen pendelförmigen
Laden an der Bronchialwand hängenden Schleimflocken bei jeder In-
und Exspiration längs der Bronchialwand sich halb rollend, halb
wälzend hin und her bewegen und dadurch um die Achse des Fadens
gedreht und ausgezogen werden. Die asthmatischen Anfälle ver-
grössern durch die forcierten Atembewegungen die Zahl der Spiralen,
1316
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
einzelne Spiralen können aber auch ohne forcierte Atembewegunsen
entstehen. Nicht die Spiralen sind demnach charakteristisch für das
Asthma; sondern das Sekret, aus dem die Spiralen entstehen. Aus
den eosinophilen Zellen entstehen später Charcot-Leyden sehe
Kristalle.
3) L. Hofbauer - Wien: Ursachen der Disposition der Lungen¬
spitzen für Tuberkulose.
Der Verfasser kommt bei seinen Untersuchungen zu folgenden
Resultaten. Die stärkere Empfänglichkeit der Lungenspitzen für
Tuberkulose erklärt sich aus den physiologischen Verhältnissen der¬
selben. In den kaudalen Teilen der Lungen haben starke respira¬
torische Druckschwankungen statt, während diese in den kranialen
Teilen nur geringe Grade erreichen, in den Spitzen fast Null betragen.
Diese Druckschwankungen veranlassen Förderung der Blut- und
Lymphversorgung, ihr Wegfall in den Lungenspitzen bedingt daher
schlechtere Durchblutung und Ernährung. Die mangelhafte Atmung
bewirkt also durch die konsekutive schlechtere Ernährung des Ge¬
webes, nicht aber durch leichteres Absetzen, bezw. erschwerte Ex¬
pektoration eingeatmeter Keime, wie bisher angenommen wurde, die
Disposition der Lungenspitzen für Tuberkulose.
4) A. Fischer: Ueber eine Massenerkrankung an Botulismus
infolge Genusses verdorbener Bohnenkonserven. (Aus dem städt.
Krankenhause in Darmstadt.)
Die 7 von dem Verfasser im Krankenhause beobachteten Falle
der Massenvergiftung, welche im ganzen 21 Fälle, darunter 11 töd¬
liche umfasste, boten folgende Symptome dar. Störungen der äusseren
Augenmuskeln, hauptsächlich Ptosis, Abduzensparese, Störungen der
assoziierten Bewegungen mit nystagmischen Zuckungen; von Stö¬
rungen der inneren Augenmuskulatur: Akkommodationsparese,
während echte Mydriasis mit Pupillenstarre niemals beobachtet
wurde; dann bulbäre Störungen; Tod durch Stillstand der Atmung;
andeutungsweise Alteration der Sekretion; Schwäche bis Lähmung
der gesamten motorischen Sphäre, symmetrisches Auftreten dei
Innervationsstörungen; dagegen blieb Sensibilität, Sinnestätigkeit und
ürosshirntätigkeit frei; Fieber und Magendarmstörungen fehlten.
6 der Krankenhauspatienten starben. Aus den Resten des Bohnen¬
salates, die in einem Ascheneimer gefunden wurden, konnte der
van Ermengem sehe Bacill. botulin. gezüchtet werden. Dafür,
dass es sich um ein Toxin handelte, sprach die zwischen 24 und
48 Stunden dauernde Inkubationszeit. Der Bohnensalat war mit
Rahm angemacht und hatte einen widerlichen Geruch, während die
eben aus der Büchse entnommenen Bohnen anscheinend gut waren.
Durch Kochen wurde, wie eine zufällige Beobachtung ergab, das
Gift zerstört. Wahrscheinlich hafteten die Keime den Bohnen vom
Felde her von dem zur Düngung verwendeten Schweinekot an.
5) A. S i m o n s - Berlin: Bemerkungen zur Sigmoiditis.
Zu einem kurzen Referate nicht geeignet.
6) W. P 1 ö n i e s - Wiesbaden. Die Reizerscheinungen des Mun¬
des, das Verhalten des Appetites und die Heisshungererscheinungen
bei den Erosionen und Geschwüren des Magens.
Zu einem kurzen Referate nicht geeignet.
7) F. Moritz: Ueber die Bestimmung der sog. wahren Herz¬
grösse mittels Röntgenstrahlen.
Der Verfasser zeigt, dass die Einwände, welche Quttmann
gegen die Exaktheit der Orthodiagraphie machte, nicht stichhaltig
sind; speziell bei Aufnahmen in liegender Stellung betragen die Diffe¬
renzen zwischen den Resultaten zweier geübter Untersucher in
93 Prozent nicht mehr als 3 mm. Wenn die Anzahl von Markierungs¬
punkten reichlich ist, so ist auch bei schwer aufzunehmenden
Objekten, wie an tief im Zwerchfellschatten versenkten Fierzen, die
Uebereinstimmung der von verschiedenen Beobachtern herrührenden
Orthodiagramme, welche durch Konstruktion der mittleren Linie ge¬
wonnen werden, eine sehr gute.
8) Fritz Meyer und W. Neu mann: Ueber hämorrhagische
Diathese bei Typhus abdominalis. (Aus der I. med. Klinik in Berlin.)
Kasuistische Mitteilung. Zu einem kurzen Referate nicht ge¬
eignet. Linde mann- München.
Zeitschrift für Heilkunde. Herausgegeben von Chiari
in Prag. XXVII. Bd. (Neue Folge, VII. Bd.) Jahrg. 1906,
Heft 5.
1) Erben: Klinische und chemische Beiträge zur Lehre von
der exsudativen Perikarditis. (Aus der .1 a k s c h sehen Klinik in
Prag.) (Schluss.)
Umfangreiche Arbeit, teils kasuistische Beiträge, teils Be¬
sprechung der ganzen Symptomatologie der Perikarditis. Zum Re¬
ferat nicht geeignet.
2) Zörkendörfer: Experimentelle Untersuchungen über die
Wirkung der Sulfatquelien. (Aus dem balneologisch-hygienischen
Institut in Marienbad.)
Harnanalysen bei Kurgästen, sowie ein Tierversuch ergaben
eine wesentliche Erhöhung der Schwefelsäureausscheidung bei Ge¬
brauch der Marienbader Wässer, im Widerspruch mit einer früheren,
rein hypothetischen Annahme S e e g e n s.
3) H ö d 1 m o s e r: Beobachtungen über Febris recurrens an den
während der Jahre 1902, 1903 und 1904 im bosnisch-herzegowinischen
Landesspitale behandelten Fällen, nebst Bemerkungen über die Ver¬
breitung der Krankheit im Lande. (Aus dem Landesspital in Serajevo.)
Verfasser hat bei den jetzt im Rückgang befindlichen Epidemien
von Febris recurrens in Bosnien reiche Erfahrungen gesammelt, die
er in dieser Arbeit nicderlegt. Befallen wurden wie überall fast nur
die ärmeren Klassen. Verfasser hält die von Tiktiu und Kar¬
lin s k y geäusserte Vermutung für wahrscheinlich, wonach der
Wanze die Rolle eines Zwischenwirtes für die Rekurrensspirille zu¬
fällt. Bändel- Nürnberg.
Archiv für klinische Chirurgie. 79. Band, 4. Heft. Berlin,
Hirschwald, 1906.
30) Schaefer - Berlin, Svenson - St. Petersburg und v o n
derOsten-Sacken - Odessa: Ueber die Wirkung der japanischen
Kriegswaffen im mandschurischen Feldzuge. Eine Studie auf Grund
statistischer Untersuchungen in die Front zurückgekehrter russischer
Verwundeter.
Um ein Bill von der Wirkung der japanischen Kriegswaffen zu
bekommen, haben die Verf. bei einem Teile der russischen Armee und
zwar bei drei Armeekorps, alle in die Front zurückgekehrten Ver¬
wundeten untersucht und über die Resultate genaue Zählkarten auf¬
gestellt, im ganzen über 7000. Das Material wurde ergänzt durch
Verlustlisten der Truppenteile, die über die Verluste in jeder ein¬
zelnen Schlacht, die Gefechtsstärken, die Summe des nachgesandten
Ersatzes und den Ausgang der Verwundungen orientierten. Nament¬
liche Verlustlisten der Offizierkorps der drei Armeekorps und tabel¬
larische Zusammenstellungen der Divisionslazarette gaben noch Aus¬
kunft über die Zahl der in den einzelnen Schlachten behandelten Ver¬
wundeten, die Verteilung der tödlichen und nicht tödlichen Ver¬
wundungen auf die einzelnen Körpergegenden und Waffenarten und
über den Umfang der operativen Tätigkeit auf den Hauptverband¬
plätzen.
In dem hier vorliegenden ersten Teile der Arbeit bespricht
Schaefer zunächst das statistische Material, dessen Zahlen er mit
den entsprechenden Angaben aus den letzten Kriegen, vor allem dem
von 1870 71, vergleicht. Einzeln bearbeitet sind: Die Verluste in den
einzelnen Schlachten, die Gesamtverluste einzelner Truppen und
Truppenverbände, die Verluste der Offiziere, die Mortalität der Ver¬
wundungen, die Wiederherstellung der Dienstfähigkeit, die Wirkung
der einzelnen Waffenarten, die Verteilung der Wunden auf die Körper¬
gegenden, und die Tätigkeit der Divisionslazarette. Die Ergebnisse
seiner Untersuchungen fasst Sch. folgendermassen zusammen: 1. Die
Verluste, bezogen auf die Gefechtsstärke, sind bei den russischen
Truppen zwar hohe gewesen, aber doch nicht so hohe, wie man viel¬
fach angenommen hat, und im allgemeinen nicht höhere, als irn Kriege
1870/71 auf deutscher Seite. 2. Die Gefährdung des einzelnen Mannes
durch das feindliche Feuer ist bei den untersuchten Armeekorps unge¬
wöhnlich gross gewesen, aber nur deshalb, weil diese Armeekorps
unverhältnismässig oft ins Feuer gekommen sind. 3. Der Prozentsatz
der sofort tödlichen Verwundungen scheint gegen früher keine Stei¬
gerung erfahren zu haben. 4. Der Prozentsatz der nachträglich ihren
Wunden erlegenen ist wahrscheinlich kleiner gewesen, als in irgend
einem Feldzuge zuvor. 5. Die Wundheilung erfolgte in der Regel so
schnell und vollständig, dass ein sehr grosser Teil der Verwundeten
schon in wenigen Wochen wieder dienstfähig geworden ist. 6. Die
Wirkung der Artillerie war durchaus keine so geringe, wie vielfach
behauptet worden ist, und jedenfalls erheblich grösser, als 1870/71.
Die einzelne Artillerieverwundung ist im Durchschnitt nicht schwerer,
sondern eher leichter, als die Verwundung durch Handfeuerwaffen.
7. Bei dem allgemeinen Charakter der Verwundungen waren operative
Eingriffe und im besonderen blutstillende Operationen auf den Ver¬
bandplätzen nur in verschwindendem Umfange notwendig.
31) G r o s s - Bremen: Die Lymphangiekfasie der Leiste und
andere Folgeerscheinungen der Lymphstauung. (Klinisch-experimen¬
telle Studie, ausgehend von der französischen Lehre der Adeno-
lymphozele.) Schluss der II. Arbeit.
Zu kurzem Referat nicht geeignet.
33) Putti: Die primären Muskelangiotne als Ursache von De¬
formitäten. (Istituto ortopedico „Rizzoli“ in Bologna.)
P. schildert zwei Fälle von primärem Angiom der Muskulatur
und beschreibt ausführlich den histologischen Befund. In dem einen
Falle war der Gastroknemius der Sitz des Tumors, während in dem
zweiten Falle ausser dem Gastroknemius auch noch der ülutaeus
maximus befallen war. Bei beiden war es durch den Untergang der
Muskulatur und Retraktion im Gebiete der betreffenden Muskeln zur
Ausbildung einer Deformität und zwar zur Spitzfussstellung des
Fusses gekommen; bei dem zweiten Falle ausserdem noch zu einer
Aussenrotation und Abduktion im Hüftgelenk. Die Exstirpation der
Tumoren mit Verlängerung der Achillessehnen nach Bayer führte
zur vollständigen Heilung.
35) Hammers ch lag- Schlau; Behandlung der Trigeminus¬
neuralgie mit Perosmiumsäure. Ursachen der Rezidive und deren
Verhütung.
H. hat 9 schwere Fälle von Trigeminusneuralgie mit Injektionen
von Perosmiumsäure behandelt und in einem Falle Besserung, in allen
anderen Fällen aber eine vollkommene Beseitigung der Schmerzen
auf die Dauer von 4 Monaten bis zu 4 Jahren erzielt. Die Technik be¬
stand in der Injektion von 1 ccm einer 1 proz. Osmiumsäurelösung in
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1317
das Foramen infraorbitale bezw. mentale und in die Umgebung: des¬
selben. Die Wirkung trat meist erst einige Tage nach der Injektion
ein, mehrmals musste die Injektion auch 2 — 3 mal wiederholt werden.
1 H. empfiehlt auf Qrund dieser sehr günstigen Erfahrungen bei allen
Neuralgien zuerst einen Versuch mit der Osmiumbehandlung zu
machen und erst in zweiter Linie die Extraktion nach T h i e r s c h
vorzunehmen.
Zur Verhütung der Rezidive nach Nervenextraktion rät H., den
sorgfältig ausgekratzten Knochenkanal durch eine Paraffinplombe zu
verschliessen.
37) B r e n n e r - Linz: Radikaloperationen bei Leistenhernien.
Vortrag auf der Naturforscherversammlung in Meran. Referat
s. d. Wochenschrift 1905, pg. 1951.
39) Donati: Ueber die akute und subakute „Osteomyelitis“
der Wirbelsäule. (Chirurgische Klinik in Turin.)
D. bespricht an der Hand von 56 aus der Literatur zusammen¬
gestellten Fällen und einer eigenen Beobachtung die Anatomie und
Klinik der Wirbelosteomyelitis. Der Sitz der Affektion war 9 mal
der Halsabschnitt, 1 mal der Halsbrustabschnitt, 18 mal der Brust¬
abschnitt, 2 mal der Brustlendenabschnitt und 26 mal der Lenden¬
abschnitt der Wirbelsäule; meist war nur ein Wirbel befallen. Auf
den Wirbelbogen entfielen 66 Proz. der Fälle, auf den Körper 25 Proz.
und in 9 Proz. lag diffuse Osteomyelitis des Wirbels vor. Am häu¬
figsten ist die akute Form, deren Verlauf ausserordentlich stürmisch
sein kann; ihre Prognose ist sehr trübe, 24 Todesfälle unter 45 Fällen.
Die subakute Form ist viel seltener (9 Fälle), geht aber meist in Hei¬
lung aus (1 Todesfall).
Die Osteomyelitis des Wirbelbogens findet sich meist im Brust¬
oder im Brustlendenteil, weniger häufig in der Lendenregion, am
seltensten in der Halsregion. Meist ist nur ein Teil des Wirbelbogens
erkrankt, am häufigsten der Dornfortsatz, seltener Bogenschenkel
und Querfortsätze. Der Abszess breitet sich gewöhnlich nach hinten
aus und gelangt unter die Haut, kann sich aber auch nach vorne aus¬
breiten und in den Rückgratkanal eindringen; die Beteiligung des
periduralen Gewebes fand sich 15 mal unter 37 Fällen. Ausnahms¬
weise breitet sich der Abszess auch längs der Psoasscheide und auf
die Fossa iliaca aus. Eine Deformität der Wirbelsäule wird im Ge¬
folge der Bogenosteomyelitis nicht häufig beobachtet; häufiger ist ein
Uebergreifen des Prozesses auf Pleura und Lungen; pyaemische Er¬
scheinungen sind selten. Der Verlauf der Osteomyelitis des Wirbel¬
bogens war 8 mal subakut, mit einem Todesfall, 29 mal akut mit 12
Todesfällen, davon war die Todesursache 6 mal durch das Eindringen
des Eiters in den Wirbelkanal gegeben. Bei diesen Fällen waren
stets die Bogenschenkel von der Erkrankung befallen.
Die Osteomyelitis des Wirbelkörpers ist eine viel schwerere
Erkrankung. Sie verläuft fast immer akut und häufig unter dem Bilde
der Pyämie ohne nachweisbare Lokalisation; ihre Mortalität beträgt
78 Proz. Sie befällt mit Vorliebe die Lendenwirbel. Eindringen des
Eitei s in den Rückgratskanal kommt bei der Körperosteomyelitis
eben so häufig vor wie bei der Bogenosteomyelitis; andere Aus¬
breitungswege sind die Psoasscheide, der praevertebrale und der
peripleurale Raum, und die langen Rückenmuskeln. Bei den seltenen
in Heilung ausgehenden Fällen kann die Zerstörung eines Wirbel¬
körpers zur Ausbildung eines Gibbus führen. Die Lokalisation der
Osteomyelitis in den einzelnen Abschnitten der Wirbelsäule bedingt
einige Besondeiheiten; bei der Halswirbelosteomvelitis kommt es
manchmal zum Uebergreifen des Prozesses auf die "Schädelhöhle und
zur Meningitis; auch Neuralgien am Kopfe werden beobachtet. Dia¬
gnostisch sind die Retropharyngealabszesse zu beachten. Bei der
Brustwirbelosteomyelitis sind retropleurale Abszesse und Einbruch
in die Pleurahöhlen bemerkenswert. Bei der Lendenwirbelosteomye¬
litis muss man immer an die Möglichkeit von Abszessen im M.
psoas und in den Darmbeingruben denken. Häufig sind auch Schmerz¬
ausstrahlungen nach dem Bauche hin, sogar Meteorismus und Druck¬
empfindlichkeit des Bauches kommen vor. Die nervösen Kompli¬
kationen stehen mehr mit dem befallenen Wirbelteile als mit dem
befallenen Abschnitte der Wirbelsäule in Zusammenhang; sie sind
am häufigsten in der Halswirbelsäule.
. V- Stubenrauch-München; Ueber plastische Anasfonioseri
zwischen Gallenwegen und Magendarmkanal zur Heilung der kom¬
pletten äusseren Gallenfistel.
34) C o 1 m e r s - Leipzig: Erfahrungen über die Therapie be
Schussfrakturen der Extremitäten.
36) H e n 1 e - Dortmund: Ueber Kriegsverletzungen der peri-
phenschen Nerven,
38) Gäbe 11: Ueber Herzschussverletzungen, mit Demon¬
stration eines durch Herz- und Lungennaht geheilten Falles von Herz-
und Lungenschuss. (Chirurgische Klinik in Kiel.)
i i?) D°b e r a u e r: Ueber die Todesursache bei akuter Pan¬
kreatitis. (Chirurgische Klinik in Prag.)
Vortrag auf dem 35. Chirurgenkongress.
41) Kleinere Mitteilungen. S c h a c h n e r - Louisville:
Ligaturkasten, Operationstisch und Operationskleid.
Siehe die Abbildungen im Original.
H e i n e k e - Leipzig.
Beiträge zur klinischen Chirurgie, red. von P. v. Bruns.
48. Band, 3. Heft. Tübingen, Lau pp, 1906.
E. Brüning (aus dem Freiburger Diakonissenhause): Ein Bei¬
trag zur Diagnose und Operation der hochsitzenden Mastdarmkarzi-
nome. B. teilt den Fall eines durch abdomino-sakrale Operation trotz
anfänglicher schwerer Störungen in der Funktion der Blase und des
Mastdarms mit guter Kontinenz geheilten Patienten mit und wägt im
Anschluss daran die Vor- und Nachteile der sogen, kombinierten Me¬
thoden gegeneinander ab, nämlich 1. der sogen, französischen Methode
(G a u d i e r, One n u), die in der primären Anlegung eines definitiven
Anus praeternat. an der Flexur, Mobilisierung des primären Darmendes
von oben und nach temporärem Verschluss der Bauchhöhle in Ex¬
stirpation des ganzen peripheren Endes mit samt Analteil besteht.
2. der abdomino-sakralen Resektion (M a u n s e 1), sog. „englischen
Methode: Ausgiebiger Mobilisierung der Flexur und des Rektum von
Laparotomie aus und alsdann Invagination des Tumors und Vorziehen
vor den After, Resektion, zirkuläre Darmnaht und Reposition (zuerst
von T r e n d e 1 e n b u r g am Lebenden ausgeführt). 3. der abdomino-
sakralen Resektion (Kraske): Mobilisation des Rektum und der
Flexur per laparotomiam und dann Resektion des Tumors und Darm¬
naht auf sakralem Weg. — Nach Zusammenstellung von 72 kom¬
binierten Operationen verteilt sich die erhaltene hohe Mortalität auf
1. 45 Proz., 2. 66,6 Proz., 3. 52 Proz. B. bespricht besonders die
3. Methode näher, bei der er den abdominalen medianen Schnitt vom
Nabel nach der Symphyse wegen der geringen Gefahr der nachträg¬
lichen Bruchbildung vorzieht, eine nicht zu nahe dem Darm zu effek-
tuierende Abtrennung des Mesokolon und Mesosygmoid. empfiehlt (um
nicht die reichlich anastomosierenden Randgefässe zu schädigen) und
vor zu starker Spannung, als den Kollateralkreislauf gefährdend warnt,
auch partielle Drainage von oben für vorteilhaft resp. sicher hält;
er sieht die Indikation zur kombinierten Operation vor allem in hohem
Sitz des Tumors, höher hinaufreichenden erkrankten Lymphdriisen,
Verwachsungen des Tumors hoch oben am Promontorium oder mit
Darmschlingen.
Aus der Breslauer Klinik gibt Rud. R o e h r i c h t klinische Be¬
obachtungen über Glykosurie nach Aethernarkosen unter Mitteilung
entsprechender Tabellen, 12 Proz. positive Fälle, die näher analysiert
werden. Länge der Narkose und Aetherverbrauch scheinen nicht
in die Wagschale zu fallen. Bezüglich der Frage, wie die Glykosurie
ausgelöst wird, kommen chemische und mechanische Einwirkung
(aufs Blut und Nervensystem) und ihre Kombination in Betracht,
event. ist auch eine individuelle Disposition anzunehmen.
Aus der Ofen-Pester Klinik berichtet Karl Borszehy über
offene Leberverletzungen unter Mitteilung eines Falles von Stichwunde
und einer Schusswunde aus Prof. Reczeys Klinik; er betont, bei
der Operation grosse Nadel und dicken Faden zu wählen und selben
in gehörigen Entfernung von der Wunde durchzuführen und teilt die
Resultate über das Verhalten verschiedenen Nahtmaterials bei Tier¬
experimenten mit.
Der gleiche Autor berichtet über Verletzungen des Zwerchfells,
des Magens und der Bauchspeicheldrüse und teilt mehrere betr. Fälle
mit. Wenn mit dem Zwerchfell auch Bauchorgane verletzt sind (bei
Schüssen fast ausnahmslos), wird man nur selten die Laparotomie ver¬
meiden können; bei Verletzungen des Magens, des Kolon und der
Milz ist diese nicht zu entbehren; ist nur Omentum in der Brusthöhle
prolabiert, so kann Reposition und Naht event. von der Brusthöhle
aus erfolgen. Auch ein Fall isolierter Verletzung des Pankreas wird
mitgeteilt, der zeigt, dass bei leerem Magen und kleinem linken Leber¬
lappen dies Organ allein verletzt werden kann.
Aus der gleichen Klinik bespricht Paul Kuzmik einen Fall
spontaner Magen-Bauchwandfistel bei Lues und F. v. Verebely
die Komplikationen der Bruchoperation durch den Wurmfortsatz.
Unter Mitteilung einer Reihe betr. Fälle hält V. den in den Bruch ge¬
langten freien, gesunden Wurmfortsatz ohne Gefahren reponibel,
bei Symptomen chronischer Entzündung oder wenn er aus¬
gesprochenen Fremdkörper enthält, ist seine Entfernung anzuraten;
die in die Bruchwand eingebettete oder mit adhärente Appendix ist
(auch wenn sie sonst intakt) unbedingt zu entfernen. Die vom Wurm¬
fortsatz ausgehenden extrasakkulären Entzündungen sind zu versehen
und nach deren Heilung die Eröffnung des Bruchsackes und die Ex¬
stirpation des Wurmfortsatzes indiziert. Bei intrasakkulären Kompli¬
kationen ist mit der Befreiung der Strangulation und Ausrämung des
entzündeten Herdes gleichzeitig die Exstirpation der Appendix an¬
gezeigt (event. sogar mittels Herniolaparotomie). Der gleiche Autor
berichtet im Anschluss an einen betr. Fall aus der gleichen Klinik
über das Myelom und fasst die Resultate seiner Untersuchungen über
diese Geschwulstform dahin zusammen, dass die primären (myelo¬
genen) Geschwülste des Knochenmarkes vom Bindegewebsgerüste,
den Endothelzellen und dem Lymphgewebe ausgehen können, das
Myelom als eine selbständige Geschwulstgattung anzusehen ist und
den gleichen Rang mit anderen Geschwulstgattungen (Myom, Gliom,
Neurom, Epitheliom) hat, die Pseudoleukämie und das Lymphosarkom
der Knochen (2 Grenzwerte, die es zurzeit umfasst) hält v. V. für un¬
richtige Bezeichnungen. Im einheitlichen Begriffe des Myeloms könne
man (der polymorphen Struktur des Knochenmarks entsprechend)
nach gewissen Standpunkten gruppierbare Modifikationen unter-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
>1»
scheiden. Die klinische Erscheinung des Myeloms ist sehr mannig¬
faltig und noch nicht genügend fixiert.
Aus dem städtischen Krankenhaus in Frankfurt bespricht
Amberger die postoperativen Bauclibriiche und konstatiert
an dem Material von insgesamt 181 Fällen 13,3 Proz. Hernien
und zwar für die Fälle mit 2 etagiger Naht 16 Proz. bis die mit
3 etagiger Naht 5,5 Proz.; Körperbeschaffenheit, Alter und Geschlecht
scheinen für die Hernienbildung nicht sehr wesentlich, eher die Schnitt¬
führung. Bezüglich dieser ergeben die Fälle mit Schnitt parallel dem
Lig. Poup. 19,3 Proz. die Schnitte nach Le n na n der 17,5, die Mittel¬
linieneinschnitte 9 Proz., die parallel dem Rippenbogen 8,5 Proz. Her¬
nien; A. kommt nach seinen Tabellen zu dem Ergebnis, dass er keinen
Grund sieht, in das Verdammungsurteil der med. Laparotomie einzu¬
stimmen. Von grosser Bedeutung für die Entstehung von Hernien sind
die Drainierung und eventuell Wundkomplikationen; gelingt es, einen
nicht drainierten Fall p. prim, zur Heilung zu bringen, so hat man
fast die absolute Sicherheit, dass Patient später von Bauchbruch ver¬
schont bleibt (gleichgültig wie gross der Schnitt und wie er gelegen),
alle Hernien betreffen drainierte Fälle oder solche mit Eiterung;
Drainage über 14 Tage lang ergab 35 Proz. Hernien. In der Be¬
schränkung der Drainagedauer, im Fernhalten jeder Schädlichkeit,
die zur Bauchdeckeneiterung führen kann (exakte Blutstillung, pein¬
lichste Asepsis) sieht A. die Möglichkeit, die Hernienfälle zu ver¬
meiden. Bei langer Drainage empfiehlt er, von der mehretagigen Se¬
kundärnaht nach entsprechender Anfrischung der Schichten) zur
Verhütung von Hernien Gebrauch zu machen.
Aus der Heidelberger Klinik bespricht Ludw. Arnsperger
die chirurgische Bedeutung des Ikterus (zugleich ein Beitrag zur
Pathologie und Chirurgie der tiefen Gallenwege), er sucht u. a. an
der Hand einer grossen Reihe interessanter Krankengeschichten der
Czerny sehen Klinik die Frage zu beantworten, ob es mit Hilfe
der heutigen Diagnostik möglich, die schweren von den leichteren
Ikterusfällen zu unterscheiden und eine Prognose des operativen Ein¬
griffs zu differenzieren, er bespricht zunächst die Ikterusfälle infolge
von Funktionsstörungen der Leberzellen, teilt u. a. einen Fall von
Icterus gravis auf luetischer Basis, Fälle von Pylephlebitis nach Appen¬
dizitis mit. Bei der weitaus grossen Mehrzahl der Fälle von mecha¬
nischem Ikterus ist derselbe auf Gallensteine zurückzuführen, doch
lässt sich entzündlicher von dem ree! lithogenen Ikterus unterscheiden.
Als 2. Gruppe der Ikterusfälle infolge mechanischer Hindernisse be¬
spricht A. die Fälle, bei denen keine Steine, auch keine maligne Er¬
krankung, sondern chronische Verlegung des Lumens der Gallengänge
durch entzündliches Exsudat, Spulwürmer, chronische Entzündung des
Pankreaskopfes, Aneurysma der Arteria hepatica bedingt ist. Die
з. Gruppe des mechanischen Ikterus umfasst die bei malignen Neu¬
bildungen der Leber, Gallenwege des Duodenums, bei denen der
Ikterus allmählich schmerzlos eintritt, dauernd und progressiv ist,
и. a. wird das klinische Bild der Karzinome der Papilla Vateri be¬
sprochen, der klinische Begriff der Cholämie, die Bedeutung der Unter¬
suchung des Blutes, spez. die Kryoskopie erwähnt und die Operationen
an den tiefen Gallenwegen aus dem Zeiträume 1901 — 1904 analysiert;
auf 63 Fälle von Choledochussteinen berechnen sich 15,5 Proz. Mor¬
talität. Zum Schluss stellt A. die Resultate seiner Arbeit dahingehend
zusammen, dass es 1. Fälle von Ikterus ohne mechanische Behinderung
des Gallenabflusses gibt, die man auf eine Funktionsstörung der Leber
beziehen muss, die primär sein oder zu jedem mechanischen Ikterus
hinzutreten kann und die Prognose jeden operativen Eingriffes sehr
ungünstig macht, dass 2. eine sichere Erkennung dieses Icterus gravis
zurzeit nicht möglich, wenn auch aus den Untersuchungen von Urin
und Blut zusammen mit dem klinischen Befund die Diagnose in
manchen Fällen zu stellen, dass 3. die Schwere eines Ikterus seiner
Dauer und Intensität nicht parallel geht, vielmehr von der Wider¬
standskraft des Körpers gegen die resorbierten toxischen Gallenbestand¬
teile abhängt. Die Normalmethode bei der Gallensteinerkrankung der
tieferen Gallenwege ist die Choledochotomie mit nachfolgender Drai¬
nage des Hepatikus, wobei die Gallenblase je nach der Schwere ihrer
Erkrankung exstirpiert oder suspendiert und drainiert werden kann; die
radikale Entfernung aller Steine ist bei länger bestehenden Chole¬
dochussteinen sehr schwierig und empfiehlt sich daher, bei chroni¬
schem Choledochusverschluss die Steine sobald als möglich zu
operieren. Choledochussteine ohne Ikterus sind häufiger als bisher
angenommen wurde.
S. Löwen stein bespricht aus der gleichen Klinik den ätio¬
logischen Zusammenhang zwischen akutem einmaligem Trauma und
Sarkom und stellt das stattliche Material von 131 Fällen traumatischer
Sarkome aus der Literatur und der Heidelberger Klinik zusammen.
Für die Heidelberger Klinik findet er 4 Proz. der Sarkome nach einem
einmaligen Trauma. Das weibliche Geschlecht erscheint mehr be¬
troffen, besonders im Stadium der Pubertät und des Klimakteriums.
A. Schambacher berichtet aus der Strassburger Klinik über
die ganglienähnliche Geschwulst des Nerv, peroneus und teilt zwei
den von C u s t o d i s beschriebenen Fällen ganz gleichartige Fälle mit.
M. K ä h 1 e r berichtet aus der gleichen Klinik über eine eigen¬
tümliche Form von traumatischer Darmverengerung.
A. G r o h e bespricht aus der Würzburger Klinik eine Ab¬
sprengung eines kleinen Stückes vom rechten Femurkopi bei einem
4 Vs jährigen Kinde (mit Röntgenogramm).
R. Rubesch teilt aus der Prager Klinik 2 Fälle von
fibromatöser Elephantiasis mit histologischem Befund der exzidierten
Hautstücke mit.
M. v. Brun n gibt aus der Tübinger Klinik einen Beitrag zur
Elephantiasis neuromatosa und berichtet über einen Fall, der in ge¬
wisser Hinsicht ein Analogon des 1. Rubesch sehen Falles (bezüg¬
lich der Lappenelephantiasis), der aber gleichzeitig ein Nackenneurom
und multiple terminale Neurome erkennen lässt, und teilt 2 weitere
Fälle von Lappenelephantiasis mit terminalen Neuromen und Pigment-
flecken (im einen noch mit zahlreichen Pigmentnävis und abnormer
Behaarung als Nebenbefund) mit. Sehr.
Zentralblatt für Chirurgie. 1906. No. 32 u. 24.
No. 23. E. T a v e 1 - Bern; Eine neue Methode der Gastrostomie.
T. empfiehlt zur palliativen Behandlung der Oesophagusstriktur
eine Methode, die seiner Ansicht nach bloss den Nachteil hat, dass sie
etwas länger dauert, als die andere, und die gegenüber den Methoden
von W i t z e 1, Marwedel, Kader, Küster den Vorzug hat,
dass sich der Kanal nicht verengt und dass nicht eine Fixation des
Magens an der Bauchwand zurückbieibt. T. verbindet den Magen
mit der Haut mittels einer ausgeschalteten, mit ihrem Mesenterium
im Zusammenhang belassenen Darmschlinge, er hat das Verfahren
experimentell an 3 Hunden studiert und nachdem er sich hierbei von
dem guten Resultat überzeugt, die Operation in einem Fall am Men¬
schen mit vorzüglichem Erfolg ausgeführt. Er sieht einen besonderen
Vorteil darin, dass der Kanal auch für kräftigere Sonde durchgängig
wird, somit Ernährung mit dickem Brei gut möglich ist.
F. W e n d e 1 - Magdeburg: Zur Technik der Darmvereinigung.
W. beschreibt einen besonderen Darmknopf, bei dem er zu er¬
reichen suchte, dass bei der Zusammenfügung der Knopfhälften die
Schnittfläche des Darmes in den inneren Raum zwischen Aussenrand
des Knopfes und seinen inneren Zylinder hineingerät, dadurch Sicher¬
heit bezüglich der Infektion gewährleistet ist. Siehe Abbildung.
(Erhältlich von der Firma Holzhauer, Marburg.)
No. 24. Fr. M a n g o 1 d t - Dresden : Ueber die Bedeutung des
Bruit de pot feie am Abdomen.
Nach M. handelt es sich, wo das Geräusch des gesprungenen
Topfes (Schettern) am Abdomen beobachtet wird, um abnorme Flüs¬
sigkeitsansammlung und Luftgehalt des Darms in Verbindung mit
Bewegung desselben. Nach Blinddarmentzündung beobachtete M.
es mehrmals bei Abszesshölilen hinter dem Coekum und Colon ascen-
deus und erklärt es dadurch, dass diese Teile gegen die Bauchwand
gedrängt und beengt werden, während vermehrte Exsudation in die¬
selben stattfindet. M. hält das Geräusch für Abszesshöhlen hinter
dem Coekum für pathognomonisch und sah es nie bei präcoekalen
Abszessen.
C. H o f m a n n - Kalk-Köln: Der Unterschied zwischen der
Beckenbodenplastik und der Dammplastik mit Rücksicht auf den Rek¬
talprolaps.
Nach H. kommt dem Damm keine Bedeutung für die Erhaltung der
Lage des Rektums zu. Verengung und Verkürzung des Anus bezw.
Rektums kann und darf keineswegs das Ziel einer rationellen Becken¬
bodenplastik sein, Ziel und Zweck derselben ist die Wiederherstellung
und Verlängerung des fleischigen Teiles des Beckenbodens zwischen
Steissbeinspitze und Anus. Nach weiteren, erfolgreich operierten
Fällen hält H. die Richtigkeit aller Voraussetzungen der Becken¬
bodenplastik für erwiesen und erklärt sie für ein rationelles und
anatomisch begründetes Vorgehen in der Behandlung des Rektal¬
prolapses. Sehr.
Archiv für Orthopädie, Mechanotherapie und Unfall¬
chirurgie. IV. Bd. 3. Heft.
Motschmann - Zürich ; Kasuistische Beiträge zur Kenntnis
der Osteomalazie, unter besonderer Berücksichtigung der Deformi¬
täten der Wirbelsäule und des Sternums.
Verfasser gibt die Krankengeschichten von 5 Fällen, die klinisch
das gleiche Bild boten. In 4 derselben handelte es sich um echte
Osteomalazie, im letzten um multiple Knochenkarzinose. Nach Be¬
sprechung der über die Entstehung der Osteomalazie aufgestellten
Theorien sowie der Therapie beschreibt M. die Ergebnisse der ana¬
tomischen Untersuchung dreier der Osteomalaziefälle sowie des
Karzinomfalles, speziell in bezug auf das Verhalten der Wirbelsäule
und des Sternums. Es bestand in allen Fällen eine mehr oder weni¬
ger ausgesprochene S-förmige Biegung des erweichten Sternums, die
Verfasser durch Zug des Pectoralis minor als akzessorischen Atem¬
muskels bei der bestehenden Dyspnoe erklärt. Die an den Wirbel¬
körpern und Rippen vorhandenen Verbildungen entsprechen im
grossen und ganzen denen der habituellen Skoliose, nur besteht auf
der Konkavseite der Keilwirbel eine buckelige Vorwölbung statt der
Einsenkung. Die Wirbel sind bikonvex und erinnern in ihrer Form
an Fischwirbel.
Cr am er -Köln: Ein Fall von angeborenem Defekt mehrerer
Röhrenknochen der oberen Extremität.
Schilderung eines Falles von Defekt des Humerus und des
radialen Teils des Unterarms und der Hand, die Verfasser auf Grund
der Röntgenbilder als atypischen Strahldefekt klassifiziert. Ein
zweiter ähnlicher Fall wird im Anschluss daran kurz beschrieben.
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1319
Lotheissen - Wien : Die traumatischen Hernien.
Verfasser bespricht zunächst die echten traumatischen Hernien,
bei denen alle Teile (Bruchpforte, Sack und Inhalt) durch ein Trauma
an irgend einer Stelle der Bauchwand gebildet werden oder wenig¬
stens die Bildung des Sackes und der Austritt des Inhalts durch
traumatische Vergrösserung präformierter Oeffnungen verursacht
• wird. Als Trauma kommt im allgemeinen nur die Einwirkung
stumpfer Gewalt an der betreffenden Stelle in Frage. In allen Fällen
muss der Bruch binnen kurzer Zeit nach dem Unfall nachgewiesen
werden, was mit Sicherheit nur durch Autopsie möglich ist. Im
Gegensatz zu diesen traumatischen Hernien, die immer direkte Brüche
sind, stehen die Unfallbrüche speziell der Inguinalgegend, die durch
einen Unfall, der geeignet ist, den intraabdominellen Druck zu er¬
höhen, an den vorhandenen Oeffnungen zum Austritt gebracht wer¬
den. Breitbasige Gestalt des Bruchsackes spricht für traumatische
Entstehung, länglich schmale Bruchsäcke sind präformiert. Bei echt
traumatischen Hernien fehlen gewöhnlich stärkere Schmerzen und
Kollapserscheinungen, da die schmerzhafte Dehnung des parietalen
Peritoneums nicht direkt beim Unfall eintritt, sondern allmählich er¬
folgt, während beim Unfallbruch die Zerrung des Peritoneums, die
beim Austritt des Bruches an der Pforte stattfindet, erhebliche
Schmerzen macht. Die Therapie bietet keine Besonderheiten,
Kollaps deutet auf Komplikationen hin und erfordert dementsprechend
sofortiges Eingreifen. Entschädigung ist sowohl bei traumatischen
Hernien wie bei Unfallbrüchen zu gewähren.
E h e b a 1 d - Halle. Der isolierte subkutane Kahnbeinbruch im
Handgelenk auf Grund von 17 beobachteten Fällen.
Verfasser weist darauf hin, dass diese Fraktur doch bei weitem
häufiger sei, als man vor der Entdeckung der Röntgenstrahlen an¬
genommen habe, dass hinter mancher Distorsion des Handgelenks
ein Kahnbeinbruch stecke. Die Verletzung, die nicht selten mit
Radiusfraktur kompliziert ist, erfolgt meistens durch indirekte Ge¬
walt (Fall auf die Hand). Der Mechanismus kann ein recht ver¬
schiedener sein. Da der Bruchspalt meistens intrakapsulär durch die
Mitte des Knochens verläuft, sowie wegen der häufig eintretenden
Dislokation der Fragmente, bleibt die Konsolidation des Bruches fast
immer aus. Ausser dem genau lokalisierten Druckschmerz, sowie
der Einschränkung der Dorsalflexion ergibt die Röntgenphotographie
die Diagnose. Sowohl Inmobilisierung wie frühzeitige rnediko-
mechanische Behandlung ergeben keine günstigen Resultate, wes¬
wegen Verf. die operative Entfernung des proximalen Fragmentes
empfiehlt. Das früher von den Anatomen beschriebene Os naviculare
bipartitum erklärt E. mit grosser Wahrscheinlichkeit als Folge einer
Fraktur, nicht als angeboren.
E c k s t e i n - Berlin : Eine neue Methode zur Herstellung von
/ Fussabdrücken.
Der von Probst- Berlin erfundene und vertriebene Apparat
besteht aus einer in Rahmen gespannten dünnen Gummiplatte,' deren
Unterseite durch ein Stempelkissen mit Farbe versehen wird und
dann durch das Auftreten des Patienten auf ein Blatt Papier, welches
an die Stelle des Farbkissens gebracht wird, einen Abdruck erzeugt.
Ottendorff - Heidelberg.
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. LVII. Band.
3. Heft. Stuttgart, F. Enk e, 1906.
1) Koblanck: Ueber Pemphigus neonatorum.
Bericht über einen Fall von angeborenem einfachen Pem¬
phigus. Das Kind wurde mit Blasen am Rumpf und an den Oberarmen
geboren. Eigentümlich sah die Haut des Gesichtes und des Schädels
aus, sie war bläulichrot und Spuren eingetrockneter Blasen waren
deutlich. Im Anschluss an diesen Fall publiziert Verf. das Ergebnis
einer vor 10 Jahren angestellten ätiologischen Forschung. Die bak¬
teriologische Untersuchung des Blaseninhaltes ergab die Anwesenheit
des Staphylokokkus aureus. Die Infektion erfolgt durch mechanisches
Hineinpressen in die zarte Kinderhaut.
2) S e e g e r t - Berlin: Verlauf und Ausbreitung der Infektion
beim septischen Abortus.
Verf. gibt eine wertvolle und interessante statistische Bearbeitung
des Materials der Ols hausen sehen Klinik im letzten Dezennium.
Ungefähr 450 Frauen wurden nach einer fieberhaften Fehlgeburt auf¬
genommen, von denen 94 starben. Ein grosser Unterschied ist zwi¬
schen solchen fieberhaften Aborten zu machen, bei denen es sich
um eine reine Saprämie handelt, und solchen, bei denen es sich um
septische Vorgänge handelt. Zu letzteren gehören die Fälle reiner
Sepsis bezw. Sepsis im engeren Sinne. Von diesen zu trennen sind
die Fälle, in denen es nach Perforation des Uterus zu einem jauchen¬
den, abgekapselten Hämatom gekommen ist. Von besonderer Be¬
deutung für das Auftreten einer deletären Endocarditis maligna ist
das längere Zurückbleiben von jauchenden Plazentarresten. Ein
weiteres Kontingent stellen die Fälle von thrombophlebitischer Form
der Sepsis. Den grossen Rest bilden die lymphangitischen Formen der
septischen Allgemeininfektion und der septischen Peritonitis.
3) E. S c h r o e d e r - Königsberg: Eine ossifizierte Zyste des
Ovariums.
Der beschriebene Fall stellt ein Unikum dar. Es fand sich ein
hühnereigrosser, sehr harter Tumor, der sich beim Durchsägen und
bei der weiteren histologischen Untersuchung als Ovarialzyste mit
umfangreicher, zusammenhängender Knochenneubildung in der ganzen
Wand erwies.
4) Ris sman n - Osnabrück : Zur Pubiotomie.
Besprechung von operationstechnischen Fragen an der Hand von
3 selbst operierten Fällen und Kritik der bisherigen Publikationen.
R. verwirft das „subkutane1- Vorgehen, macht einen Sagittalschnitt
zur Schonung der Muskeln, um auch beim Sägen durch den ein¬
geführten Finger ungewollte Verletzungen zu verhüten. Die ent¬
standene Wunde wird in bestimmter Weise mit Hilfe eines eigenen
Instrumentes drainiert. Während des geburtshilflichen Eingriffs macht
er einen festen Beckenverband, auf den er im Wochenbett verzichtet.
Früh wird mit Bewegungen begonnen und den Wöchnerinnen das
Aufstehen erlaubt.
5) Oeri-Basel: Ueber Epithelmetaplasie am Uterus, besonders
an Polypen.
Ausgehend von einem zur Untersuchung vorliegenden Uterus¬
polyp studierte Verfasser die ganze Metaplasiefrage des weiblichen
Genitalsystems einschliesslich der Metaplasie bei UterusKarzinom. Die
durch zaldreiche Illustrationen ausgezeichnete exakte Arbeit, die sich
auf dem Studium von Serienschnitten aufbaut, eignet sich nicht zum
kurzen Referat.
6) Sitzenfrey - Prag: Ueber epitheliale Bildungen der Ly mph -
gefässe und Lymphräume in Beckenlymphknoten bei Uteruskarzinom
und bei karzinomfreien, entzündlichen Adnexerkrankungen.
Die Untersuchungsergebnisse bestätigen die Lehre Robert
Meyers, wonach die epithelialen Schläuche als Lymphgefässe bezw.
als Lymphräume zu betrachten sind, deren Endothelien epitheliale Gestalt
angenommen haben. Von Interesse ist die Tatsache, das in sämtlichen
Karzinomfällen die Adnexe und das Beckenbauchfell chronisch-ent¬
zündliche Veränderungen aufweisen. Gar nicht selten brachten die
epithelialen Schläuche karzinomähnliche Bildungen hervor. Es er¬
hellt daraus die Notwendigkeit der Reihenschnittuntersuchung der
Lymphknoten. Und doch finden sich ohne sonstige Stigmata für
Karzinom diese karzinomähnlichen Stellen. Aus diesen epithelialen
Schläuchen und Zysten können sich wahre Neubildungen entwickeln,
z. B. die in ihrer Aetiologie dunklen retroperitonealen Flimmerepithel¬
zysten und die Lymphangioepitheliome. Die karzinomverdächtigen
Bildungen in den karzinomfreien Fällen können als letzte Vorstufen
für die Entstehung maligner Tumoren betrachtet werden und geben
ein Beispiel dafür ab, wie durch den von einem chronischen Ent¬
zündungsherde ausgehenden Reiz in den regionären Lymphknoten die
Vorbedingungen für Geschwulstbildung geschaffen werden.
Werner- Hamburg.
Hegars Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie.
Bd. XI, Heft 1. Leipzig, G. Th i eine. 1906.
Hugo S e 1 1 h e i m - Freiburg i. B.: Die Beziehungen des Geburts¬
kanals und des Geburtsobjektes zur Geburtsmechanik.
Die bemerkenswerte und umfangreiche Arbeit S.s umfasst drei
Teile: I. der Geburtskanal, II. das Geburtsobjekt und III. die mecha¬
nische Erklärung der Rotation durch das Zusammenwirken der
Biegung des Geburtskanals mit der ungleichmässigen Biegsamkeit der
Fruchtwalze durch allgemeinen Inhaltsdruck, Inhaltsgewichtsdruck
und konzentrierten Druck getriebenen Maschinen. Im ersten Teile
behandelt S. speziell das knöcherne Becken und seine Weichteile im
Zustande der Ruhe und die Bildung des Geburtskanals, den Ein¬
fluss der Knochen und Weichteile, des Kindes, der Kopfgrösse, der
Biegsamkeit der Halswirbelsäule und der Wehentätigkeit. Im zwei¬
ten Teile werden dann die physikalischen Eigenschaften des Kindes
im Zustand der Ruhe — Kopf, Wirbelsäule, Gelenke, typische Hal¬
tung der Frucht im Uterus, Widerstandsfähigkeit der Frucht — und
die Mechanik des Kindes unter der Geburt abgehandelt — Haltungs¬
veränderungen der Frucht im Durchtrittsschlauch, Bildung der
„Fruchtwalze“, die durch die Geburtshaltung bedingten Verände¬
rungen der physikalischen Eigenschaften des Geburtsobjektes, Be¬
anspruchung der Fruchtwalze auf Biegung im Knie des Geburtskanals,
Deviationsspannungen und Verhältnis der Haltungsspannung zur De¬
viationsspannung. Dies nur eine kleine Angabe aus dem an neuen Ge¬
danken überaus reichen Inhalt der Arbeit; was S. im einzelnen, ge¬
stützt auf grosse anatomische Kenntnisse, logische Schlussfolge¬
rungen, Modelle und hochinteressante Experimente, bringt, muss im
Original nachgelesen werden; als besonders neu und bemerkenswert
müssen die schönen Röntgenuntersuchungen hervorgehoben werden.
O. R o i t h - Heidelberg: Welche Schädigungen ihres Gefäss- und
Nervenapparates verträgt die Blase ohne Nachteil?
Nach einer einleitenden anatomischen Studie über die Gefässe
und Nerven der Blase bespricht R. die mit den üblichen Operations¬
methoden verbundenen Gefäss- und Nervenverletzungen, die infolge
von Operationen auftretenden Innervationsstörungen, die mögliche
anatomische und physiologische Erklärung derselben und ihre Kom¬
pensation. Tierversuche zeigen, dass die Blase die weitestgehenden
Schädigungen ihres Nerven- und Gefässapparates ohne Beeinflussung
der Funktion übersteht.
H. Zimmermann - Strassburg i. E.: Ein Fall von indirekter
traumatischer Ruptur der Plazenta.
Der Fall betraf eine 26 jährige IV. Gravida, die nach einem
4 — 5 m tiefen Sprung umgekippt und mit der Gesässgegend gegen
einen grossen Baustein gefallen war. Bald nachher Wehen und sub-
1320
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
kutaner Bluterguss an Damm und Vagina; ebenso massiger Abgang
von dunklem Blut aus der Scheide; dann Geburt eines frischtoten
Kindes und der Plazenta, die am Rande einen 4 cm klaffenden Riss
der Nachgeburtssubstanz zeigt, der auf der maternen Seite 3 cm,
auf der fötalen 5 cm lang ist und sich in den Eihäuten noch weiter
fortsetzt.
E. Guhl -Zürich: Ein durch Osteoarthritis deformans juvenilis
trichterförmig verengtes Becken.
Das Becken fand sich bei einer 36 jährigen Virgo. Beschreibung
von 8 ähnlichen Fällen aus der Literatur, von denen 5 sich beim weib¬
lichen, 3 beim männlichen Geschlecht fanden. Bei der Jungfrau von
Zürich wurde dann, nachdem sie „ein Verhältnis eingegangen“, die
Sectio caesarea nach P o r r o gemacht.
G. Schickele - Strassburg i. E.: Einige Ausbildungen der
Tube, angeborenen und erworbenen Ursprungs.
Verschiedene Anomalien. V o g e 1 - Aachen.
Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd. V. No. 2. Ma
1906.
•4) A. S c h i 1 1 e r - Karlsruhe: Kasuistische Mitteilungen.
I. Fall: Vaccine generalisata bei 3 Geschwistern. Herbei¬
führung der Ernährung an der Mutterbrust, 30 Tage port partum.
II. Fall: Gonorrhöe, Polyarthritis acuta gonorrhoica matris
post partum. Ophthalmoblenorrhöe. Polyarthritis acuta gonorrhoica
neonati.
5) Emil Reiss : Zur Lehre von der Intoleranz mancher Säuglinge
gegen Kuhmilch. (Aus dem städtischen Elisabeth-Krankenhaus zu
Aachen.)
Den von Schlossmann und Finkeistein vor einiger Zeit
beschriebenenen Fällen schwerer kollapsartiger Erscheinungen beim
Uebergang einzelner Brustkinder zur Kuhmilchnahrung wird eine
neue Beobachtung hinzugefügt. R. glaubt weder, dass das Eiweiss
der Kuhmilch für sich allein die schädigende Wirkung ausgeübt hat,
noch dass bakterielle Vorgänge direkt im Spiele waren, vielmehr dass
aus zwei an sich unschädlichen Komponenten (mit der „artfremden“
Nahrung eingeführte Stoffe plus in dem kranken Verdauungskanal des
Kindes befindlichen Substanzen) bei ihrem Zusammentreffen im Ver¬
dauungskanal des Kindes ein Körper von hochgradiger 'Giftigkeit ent¬
standen ist. Nicht nur das „artfremde“ des Eiweisses, sondern auch
das „artfremde“ der Nahrung sei dabei von untergeordneter Be¬
deutung. (Diese Erklärung ist sicher noch viel weniger befriedigend
wie die bisherigen, denn sie setzt an Stelle des schuldigen X gleich
zwei hypothetische Unbekannte. D. Ref.)
6) Albert Uff enheimer: Die medizinische Psychologie mit
Bezug auf Behandlung und Erziehung der angeboren Schwach¬
sinnigen.
Referat über den Giessener Kurs. Vergleiche diese Zeitschrift
1906, No. 21.
Albert Uffenheimer - München.
Virchows Archiv. Bd. 182. H. 3.
19) J. Kirchner: Paraffininjektionen in menschliche Gewebe.
Eine histologische Studie. (Pathol. Institut zu Berlin.)
Die histologischen Untersuchungen, die im Originale einzusehen
sind, zeigen, dass das injizierte Paraffin nicht im Gewebe abgekapselt
wird, also unverändert liegen bleibt, sondern dass es resorbiert und
organisiert wird. Es entsteht schliesslich eine schrumpfende Narbe.
Daher sind alle therapeutischen Voraussetzungen hinfällig.
20) R. Zipkin: Hyalinähnliche kollagene Kugeln als Produkte
epithelialer Zellen in malignen Strumen. (Pathol. Institut zu Bern.)
Die Ergebnisse der Arbeit, deren Inhalt der Titel im wesent¬
lichen angibt, sind bereits in dieser Wochenschrift im Berichte über
die Naturforscherversammlung in Meran (Patholog. Gesellschaft) re¬
feriert.
21) S. Fuss: Der Greisenbogen. (Patholog. Institut in Halle.)
Nach den Untersuchungen des Verf. ist der Greisenbogen gänz¬
lich verschieden vom Lidspaltenfleck, über welchen Fuss im vor¬
letzten Hefte dieses Archivs berichtete. Die Arbeit bestätigt sonst
frühere Angaben anderer Autoren.
22) G. Swart: Vier Fälle von pathologischer Blutbildung bei
Kindern. (Ban tische Krankheit? Syphilis?) (Patholog. Institut
zu Marburg.)
Bei einem Neugeborenen und drei Kindern aus dem 1. bezw.
2. Lebensjahre, welche klinisch das Bild der Milz- resp. Leber¬
schwellung, starke Anämie, in 2 Fällen mit Aszites kombiniert, dar¬
boten, fand sich in Leber und Milz, ferner auch in Nieren, Lymph¬
knoten und Knochenmark eine abnorme Persistenz oft sehr aus¬
gedehnter fötaler Blutbildungsherde (die darin vorkommenden Zellen
werden in der Arbeit genauer beschrieben). Bemerkenswert ist, dass
in sämtlichen Beobachtungen sowohl klinisch wie anatomisch jede
Zeichen von Syphilis fehlten. Nach Ansicht des Verf. ist aber trotz¬
dem die Möglichkeit nicht auszuschliessen, dass in diesen Fällen von
Anaemia splenica bei Kindern im frühesten Lebensalter die Syphilis
eine Rolle spielt, deren Giftwirkung sich ausschliesslich in einer ab¬
normen Reizung des der fötalen Entwicklungsperiode eigentümlichen
Inimatopoetischen Systems äussert.
23) Elbe: Die Nieren- und Darmveränderungen bei der Sublimat-
vergiftung des Kaninchens in ihrer Abhängigkeit vom Gefässnerven-
system. (Patholog. Institut zu Rostock.)
Die Arbeit ist nicht zu kurzem Referat geeignet.
24) M. Gredig: Ueber eine Entwicklungsstörung im Kleinhirn
in einem Falle von Spina bifida iumbosacralis. (Patholog. Institut zu
Heidelberg.)
Bei einem 10 Tage alten Kinde war das Kleinhirn durch eine
tiefe Furche an der oberen Fläche in die beiden Hemisphären geteilt.
Der Montikulus war nicht vorhanden. Die Ergebnisse der histo¬
logischen Untersuchung eignen sich nicht zum kurzen Referate und
müssen daher in der Arbeit nachgelesen werden.
25) Kleine Mitteilung:
Al. Bittorf: Ein Beitrag zur Lehre von der Entstehung von
Höhlen im Rückenmark und über symptomlose Hydromyelie. (Med.
Poliklinik zu Leipzig.)
Angeborene Hydromelie bei einem 12 jährigen, an Diabetes mel¬
litus erkrankten Knaben. Im obersten Brustmark fand sich eine 5 mm
im Durchmesser haltende Höhle. Nach den Untersuchungen liegt eine
Entwicklungsstörung vor. Schridde - Marburg.
Archiv für Hygiene. 57. Bd. Heft I u. II. 1906.
Heft 1. 1) Adolf Reitz: Bakteriologische Untersuchungen mit
der Stuttgarter Atarkt- und Handelsbutter.
Von 100 Butterproben, welche mittels des Tierexperimentes
untersucht wurden, fanden sich 8,5 Proz. mit Tuberkelbazillen be¬
haftet. Die Butterproben stammten aus 90 verschiedenen Bezugs¬
quellen. Der Nachweis von Tuberkelbazillen auf Heyden-Agar¬
platten gelang in keinem Falle, auch Tuberkelbazillen aus den Tier¬
organen der an Tuberkelbazillen eingegangenen Meerschweinchen
konnte in keinem Falle isoliert werden. Verf. zieht bei Butter¬
untersuchungen die Injektion der zu untersuchenden Butter in der
Muskulatur des Hinterschenkels bei Meerschweinchen der Injektion
in der Bauchhöhle vor.
2) H. Thiele und Kurt Wolf: Ueber die Abtötung von Bak¬
terien durch Licht.
Es sollte nachgewiesen werden: 1. ob die Abtötung der Bak¬
terien durch Licht direkt oder indirekt zustande kommt, insbesondere
ob gewisse Oxydationsprodukte (Wasserstoffsuperoxyd) dabei nach¬
weisbar sind, und ob die Sauerstoffgegenwart von Einfluss ist;
2. welche Lichtquellen die Bakterien abzutöten vermögen. Mittels
einer einwandfreien Versuchsanordnung konnte nachgewiesen werden,
dass bei der Abtötung der Bakterien durch Licht ein indirekter
Einfluss des Lichtes durch Oxydation des Wassers
nicht nachweisbar ist, die Abtötung erfolgte lediglich durch die Licht¬
strahlen. Durch weitere Versuche gelang es auch direkt die bak¬
terienschädigende Wirkung des Lichtes zu zeigen und zwar bei Be¬
nutzung von tiefblau gefärbtem Steinsalz, welches ein sehr günstiges
Ultraviolettfilter darstellt. Als Lichtquelle diente eine Quarzqueck¬
silberbogenlampe.
3) M. Ficker: Ueber den Einfluss der Erschöpfung auf die
Keimdiirchlässigkeit des Intestinaitraktus.
Die Versuchsanordnung war so, dass Hunde in einer Tretmühle
eine bestimmte Arbeit leisten mussten, bis sie erschöpft waren; sie be¬
kamen rohes Fleisch und verschiedene Bakterienkulturen dazuge¬
mischt. Nach der Arbeitsleistung wurden sie sofort entblutet und auf
Bakterien innerhalb der Organe abgesucht. Es wurden Keime in
Niere, Leber, Mesenterialdrüsen und Blut nachgewiesen, besonders
reichlich in den Mesenterialdrüsen. Eine Kombination von Nahrungs¬
entziehung und Ermüdung begünstigt den Uebertritt von Darm¬
bakterien ausserordentlich. Weitere Versuche über das bakteri¬
zide Vermögen des Hundeserums ergaben, dass das Serum
auch des äusserst erschöpften Tieres an bakterizider Wirkung nichts
verloren hat, im Gegenteil, es gehört zur Regel, dass das Serum nach
der Tretmühlenarbeit des Tieres sogar stärker bakterientötend wirkt
als vorher.
Heft 2. 1) Heinrich Kayser - Strassburg: Ueber Vergleiche der
Bildung von Antikörpern bei Menschen und Tieren (insbesondere
Gruppenagglutininen).
Die Untersuchungsergebnisse gipfeln darin, dass das Verhältnis
von der Haupt- zur Partialagglutininstärke weniger abhängt von Be¬
sonderheiten der Typhusbazillenmassen, als von der Individuali¬
tät des Rezeptorenapparates im agglutininerzeu¬
genden Organismus. Es würden damit die unendlich vielen
Widersprüche, die bei dem Agglutinieren der der Typhus-Koligtuppe
angehörenden Vertreter zutage getreten sind, sich lösen lassen. In
erster Linie wurden diese Tatsachen vom Verfasser beim Typhus und
Paratyphus klargelegt.
2) Hermann W a 1 b a u m - Göttingen: Die Gesundheitsschädlich¬
keit der schwefligen Säure und ihre Verbindungen, unter besonderer
Berücksichtigung der freien schwefligen Säure.
Verf. stellte sich die Aufgabe, zu untersuchen 1. die Wirkungen
der freien schwefligen Säure; 2. die Wirkungen der Schwefligsäure¬
ionen; 3. unter welchen Bedingungen aus den Schwefligsäurever¬
bindungen freie schweflige Säure entstehen und ihre Wirkung zum
Ausdruck bringen kann. Die Wirkungen wurden an Tieren und
Menschen erforscht. Es zeigte sich, dass die wässrige Lösung der
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1321
freien schwefligen Säure ebenso wie diese selbst, eine heftig reizende,
die Gewebe schädigende Substanz ist. Noch bei 0,1 Proz. treten
anatomisch nachweisbare Reizerscheinungen am Katzendarm und
-magen auf. Beim Menschen treten subjektive Symptome schon bei
noch kleineren Gaben hervor. Ausserdem werden die Flimmerzellen
von einer 0,006 proz. Lösung abgetötet. Die schwefligsauren Salze
wirken einmal als zentral lähmendes Gift nach der Resorption, dann
aber auch noch lokal reizend, besonders unter dem Einfluss der
Magensalzsäure. Nach den gemachten Beobachtungen erscheint die
in den mit schwefliger Säure behandelten Aepfeln zulässige Menge
zu hoch gegriffen. Sie sollten nur bis 10 mg auf 100 g enthalten
dürfen.
3) F. P e t e r s - Berlin: Die Wirkung des Kondenswassers aus
menschlicher Atemluft und aus Verbrennungsgasen einiger Leucht¬
materialien auf das isolierte Froschherz.
Verf. studierte die viel bestrittene Frage der Giftigkeit der Ex¬
spirationsluft des Menschen am Froschherz. Es zeigte sich, dass
das Kondenswasser der Exspirationsluft das isolierte Froschherz in
seiner Tätigkeit schwächt, wenn auch nur in geringem Grade. Die
Ursache ist noch nicht ermittelt, weder Kohlensäure, noch Ammoniak,
noch Kohlenoxyd kamen als solche in Frage. Für weitere Studien
wäre eine Isolierung des noch unbekannten Körpers durchaus er¬
wünscht. Auch das Kondenswasser von einer Petroleumlampe und
das Produkt verschiedener Brennersysteme wirkten änhlich schädigend.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten. 53. Bd.
3. Heft, 1906.
1) Ernst B r e z i n a - Wien: Die Donau vom Leopoldsberge bis
Fressburg, die Abwässer der Stadt Wien und deren Schicksal nach
ihrer Einmündung in den Strom.
Nach kritischer Würdigung aller Untersuchungsergebnisse und
der bestehenden Verhältnisse kommt Verfasser zu dem Schluss, dass
die Einleitung der Abwässer der Stadt Wien in die Donau von hygie¬
nischer Seite nicht zu beanstanden sei. Der Strom sei so wasser¬
reich, dass er auch bei niederem Wasserstande den ihm zugeführten
Unrat sehr stark verdünne und auch bei weiterer Vergrösserung
Wiens aufnehmen könne. Das eine Bedenken, welches Verfasser
wegen des Aussehens und Geruches der eingeleiteten Abwasser¬
mengen hat, lässt sich nach seiner Meinung leicht durch geeignete
Vorrichtungen zum Zurückhalten der Schwimm- und Schwebestoffe
und durch Einleiten der Abwässer in verschiedenen entsprechend ver¬
teilten Mündungen heben.
2) Hammer schmi dt-Gnesen: Diphtheriebazillen im Eiter.
Ein Fall von Diphteriebazillenbefund in einer Eiterblase am
Finger eines Soldaten, der Diphtherie überstanden hatte.
3) Ernst Sauerbeck - Basel : Nachtrag zu meiner Studie :
„Ueber die Histologie der experimentellen Trypanosomiasis.
Verfasser fand, gleich wie Prowacek, in polynukleären
Leukozyten aus dem Knochenmark des Meerschweinchens Reste von
1 rypanosomen, im Gegensatz zu der Annahme, dass derartig grosse
Parasiten nur von mononukleären Zellen aufgenommen würden.
4) Julius C i t r o n - Berlin : Die Immunisierung gegen die Bak¬
terien der Hogcholera (Schweinepest) mit Hilfe von Bakterien¬
extrakten.
Es gelingt mit Hilfe von Bakterienextrakten mit Sicherheit, die
empfindlichsten Tiere gegen eine schwere Infektionsform von
Schweinepest aktiv zu immunisieren, wodurch gleichzeitig ein stär¬
kerer Schutz verliehen wird, als durch die bisherigen Immunisierungs¬
methoden. Im Gegensatz dazu ist eine Immunisierung mit den aus¬
gelaugten Bakterienrückständen unmöglich.
5) J. W. J o b 1 i n g - Berlin : Ueber den Einfluss erhöhter Tem¬
peraturen auf das Agglutinationsphänomen.
Die Angaben von P o r g e s, dass die Erhitzung von Typhus¬
bazillen auf 70 — 80°, ebenso die Erhitzung einiger anderer Bakterien
die Agglutinabilität schwer schädigt, dass aber die Agglutinabilität
dieser Bakterien, wenn sie längere Zeit auf 100° erhitzt werden,
wiederum stark erhöht wird, konnte bestätigt werden. Die Er¬
klärung für diese Tatsache geht dahin, dass die Hitzewirkung sich
nicht auf die spezifischen, bei der Agglutination in Betracht kommen¬
den, Substanzen, sondern sich auf rein physiokalische Momente er¬
streckt. R. O. Neu m ann - Heidelberg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 26.
1) E. L e s s e r - Berlin : Die Stellung der Dermatologie in der
Medizin.
Rede, gehalten zur Eröffnung der neuen Universitätsklinik für
Haut- und Geschlechtskrankheiten.
2) H. Oppenheim und M. Borchardt - Berlin : Ueber
2 Fälle von erfolgreich operierter Rückenmarkshautgeschwulst.
Referat hierüber vergl. S. 1182 der Münch, med. Wochenschr.
1906.
3) C. A. E w a 1 d - Berlin : Leukämie ohne leukämisches Blut?
E. gibt die Krankengeschichte eines Falles, in welchem eine
starke Oligozythämie ohne Vermehrung der Leukozyten vorhanden
war. Die anatomische Diagnose lautete bei bestehender Hyperplasie
der Milz, lymphomatösen Infiltraten der Leber und Nieren, himbeer-
gelee-artigem Knochenmark auf „Leukämie?“. Am ähnlichsten schien
die Beobachtung den Fällen von atypischer myeloider Leukämie, wie
E. in der eingehenden Epikrise auseinandersetzt.
4) K a m m a n n - Hamburg : Das Heufieber und seine Serum¬
behandlung.
Der Artikel wendet sich in der Hauptsache gegen die in jüngster
Zeit von Wolff betreff des obigen Themas vorgebrachten Anschau¬
ungen und beschäftigt sich zunächst mit dem Nachweis der Toxin¬
natur des Pollengiftes. Aus einer Reihe von Versuchen und prak¬
tischen Ergebnissen steht unzweifelhaft fest, dass das Pollentoxalbu¬
min zu den echten Toxinen zu rechnen ist und dass man es beim Heu¬
fieberserum mit einem reinen Antitoxin zu tun hat. Ueber die zu¬
grundeliegenden Versuche muss das Original verglichen werden.
Die Resultate der Pollantinbehandlung sind auch nach einer neuen
Statistik, welche sich auf 287 Fälle bezieht, recht gute, indem in
ca. 65 Proz. ausgezeichnete Ergebnisse erzielt wurden und nur in
7 Proz. kein Erfolg zu verzeichnen war. Die Herstellung des Mittels
„Graminol“ beruht auf einer unrichtigen theoretischen Voraussetzung,
es steht in keiner Beziehung zum Heufieberantitoxin und kann daher
auch nicht die gleichen Wirkungen entfalten wie das Pollantin.
5) S. J a c o b y - Berlin : Die Gonorrhöebehandlung mit Stau¬
ungshyperämie.
Beschreibung und Abbildung einer für die Saugung eingerichteten
Art Hohlsonde, welche in die Urethra eingeführt wird.
6) L. K u 1 1 n e r - Berlin: Zur Diagnose des Magenkarzinoms.
Diagnostischer Wert ist zu legen auf einen brüsken Beginn der
Erkrankung, auf die progrediente Verschlechterung des Appetits, hie
und da auf hartnäckiges Hautjucken, auf übelriechendes fauliges Auf-
stossen, sehr wichtig ist natürlich die Prüfung der Sekretion und
Motilität des Magens. Das Versiegen der Salzsäureproduktion ist
kein spezifisches Zeichen des Magenkrebses, der positive Milchsäure¬
befund bleibt von der grössten diagnostischen Bedeutung, das Ver¬
halten der Fermente ist für die Diagnose des Sitzes der Neubildung
von Wert. Die motorische Funktion leidet oft in hohem Grade. Sehr
wichtig ist der Befund von geringen Mengen Blut und Eiter oder von
Eiter und Schleim im nüchternen Magen. Auffinden von Geschwulst¬
partikelchen ist natürlich ausschlaggebend, aber kommt nicht häufig
vor, bedeutungsvoll ist das Vorkommen von Amöben und Flagellaten
im Mageninhalt. Konstantes Fehlen von Blut im Mageninhalt und in
den Fäzes spricht mit Wahrscheinlichkeit gegen das Vorliegen eines
Magenkrebses. Bei Karzinom der kleinen Kurvatur kommt öfter
eine linksseitige Pleuritis zur Beobachtung. Wichtig sind die che¬
mischen Untersuchungsmethoden zur Feststellung des Ueberganges
eines Ulcus in das Karzinom, endlich die röntgenologischen Ver¬
fahren. G r a s s m a n n - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 25
1) A s c h o f f - Marburg: Ist eine chronische Entzündung des
Wurmfortsatzes die Vorbedingung für den akuten Anfall?
Verf. nimmt Stellung zu einigen neueren Arbeiten und verteidigt
seinen früheren Standpunkt: die bei fast der Hälfte aller Menschen
gefundenen Stenosen und Atresien seien nur das Zeichen einer aus¬
geheilten Entzündung in einem sonst gesunden Wurmfortsatz; es
sei dagegen nicht erwiesen, dass sich die akuten Anfälle aus einer bei
fast allen Menschen bestehenden chronischen obliterierenden Epi-
typhlitis entwickeln.
2) Schiefferdecker - Bonn : Ueber einen Fall von rudi¬
mentärem grossen Netz und über die Bedeutung des Netzes.
Bei einem kräftigen 50 jährigen Mann fehlten die vom Kolon
herabhängende Netzschürze sowie die Appendices epiploicae. Verf.
sieht im Netz nicht ein Haftorgan für Eingeweide, sondern betrachtet
es — ausser als Füllsel — als Regulationsorgan für die Blutmenge
der Eingeweide, als serogeneratives Organ, event. auch als phago-
zytopoetisches und so der Desinfektion dienendes Schutzorgan. Die
Ursache, warum sich das Netz auch an unverwundete, in der Er¬
nährung gestörte Organe (Milz) anlegt und verklebt, sucht Verf. in
Fibrinausscheidung an der Oberfläche dieser Organe.
3) R o s e n h e i m - Berlin: Die Behandlung der chronischen
Darmkatarrhe (Schluss)). Klinischer Vortrag.
4) F. R o s e n b e r g e r - Heidelberg: Ueber Zuckerausscheidung
im Urin bei kruppöser Pneumonie.
Verf. bemerkte, dass bei akuten Infektionskrankheiten bisweilen
vorübergehend Kohlehydrate, teilweise noch nicht näher bestimm¬
barer Natur, ausgeschieden werden, ohne dass eine äussere oder
innere Ursache (trübe Schwellung des Pankreas?) deutlich erkenn¬
bar wäre.
5) A. Kowarski - Berlin: Eine vereinfachte Methode zur quan¬
titativen Bestimmung der Harnsäure im Harn. Vereinfachte Methode
nach H o p k i n bezw. T u n n i c 1 i f und Rosen stein.
Statt Filtrierens wird das Sediment mittels Zentrifuge ausge¬
schleudert.
6) H. R i e s e - Britz b. Berlin: Operationen an den Samenblasen.
Verf. führte bei 7 Patienten (6 Tuberkulöse) die hohe Kastration
mit Exstirpation der Samenblasen und von Teilen der Prostata aus;
er empfiehlt den Eingriff nur für schwere Fälle und bevorzugt den
queren Dammschnitt.
7) A. S t r a u s s - Barmen: Ueber Perforation bei Ausschabung
der Harnblase.
1322
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 21.
S. äussert sich zu dem kürzlich von Stern an gleicher Stelle
veröffentlichen Fall.
8) M. B e n e d i k t - Wien: Zur Theorie der typischen Degene¬
rationskrankheiten des Nervensystems.
Verf. wendet sich mit Edinger gegen die Intoxikationstheorie;
die Aetiologie sei meist eine sehr komplizierte Gleichung; die Grund¬
gesetze der Biomechanik der Zelle seien mehr zu berücksichtigen,
wie näher ausgeführt wird.
R. Grashey - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 25. 1) Th. Escherich- Wien : Die Verwendung der Pyo-
zyanase bei der Behandlung der epidemischen Säuglingsgrippe und
der Meningitis cerebrospinalis.
Während die Anwendung der Pyozyanase bei Rachendiphtherie
nicht zu besonders günstigen Ergebnissen führte, konnte in Fällen von
Grippe durch das Einträufeln von 5 Tropfen des proteolytischen
Enzyms in die Nase ein promptes Verschwinden des Pfeiffer¬
schen Mikrokokkus aus dem Sekret erzielt werden. E. machte auch
Versuche, die Pyozyanase in den Rückenmarkskanal in Fällen von
Zerebrospinalmeningitis einzuspritzen. Eine sichere Abtötung der
Meningokokken gelang auf diesem Wege jedoch nicht, auch in früh
und energisch behandelten Fällen konnte der tödliche Ausgang nicht
verhindert werden; doch konnte durch eine lokale Behandlung des
Nasenrachenraums ein Verschwinden auch der Meningokokken aus
dem Nasensekret erreicht werden, was in prophylaktischer Hinsicht
von grosser Bedeutung erscheint.
2) L. Jehle-Wien: lieber das Entstehen der Genickstarre¬
epidemie.
Durch seine Beobachtungen und Untersuchungen in Orlau (österr.
Schlesien) kam J. zu der Annahme, dass nur die Erwachsenen als
Zwischenträger die Weiterverbreitung der Erkrankung verschulden,
indem sie die im Nasen- und Rachensekret bei ihnen vorhandenen
Keime in ihren Wohnungen zerstreuen und auf diesem Wege die Kin¬
der infizieren, während die Uebertragung von Kind zu Kind zu den
grössten Seltenheiten gehört. Die Gruben der Bergwerke spielen für
die Genickstarre eine analoge Rolle, wie die Schule für die übrigen
Infektionskrankheiten.
3) A. Pick: Ueber motorisch bedingte Mikrographie.
Mitteilung der Krankengeschichte eines neuen Falles von Mikro¬
graphie bei einem 36 jährigen luetischen Kranken. Dem ganzen lag
das Krankheitsbild von syphilitischer Gefässaffektion und Basal¬
meningitis zugrunde. Epikrise des Falles, besonders mit Rücksicht
auf die Lokalisierung des Symptoms der Mikrographie.
4) R. Dörr- Wien: Ueber Aggressine.
Nicht zu kurzem Auszug geeignet.
5) R. Stegmann und G. J u s t - Karlsruhe i. B.: Die Wirkung
der Baden-Badener Thermen vom Standpunkte ihrer Radioaktivität.
Wird radioaktives Wasser getrunken, so verlassen jedenfalls
keine grösseren Mengen der aufgenommenen Emanation den Körper
auf dem Wege der Ausscheidung durch die Nieren, dagegen enthält
die ausgeatmete Luft die Emanation in grösserer Menge. Letztere
geht, wie nachgewiesen werden kann, vom Magen, wie vom Darme
aus in die Blutbahn über und gelangt so in die Lunge. Auch bei
einem Bad in radioaktivem Wasser gelangt Emanation in den Kör¬
per. Es muss angenommen werden, dass die Aufnahme der letzteren
bei verschiedenen Krankheiten in der eintretenden Heilwirkung be¬
rücksichtigt werden muss, z. B. bei Gicht, Leukämie, Malaria, Syphilis.
6) G. Nespor - Pola: Beitrag zur Behandlung akuter Eiterungen
und Verletzungen mit Phenolkampher (Chlumsky).
Verfasser hat Panaritien, Abszesse, Furunkel, frische Wunden,
Brandwunden, im ganzen 60 Fälle, mit Phenolkampher behandelt,
und war mit den Erfolgen vollkommen zufrieden. Die Mischung be¬
steht aus 30 Karbolsäure, 60 Kampher, 10 absoluten Alkohol. Eine
Reizwirkung trat nur höchst selten ein.
Grassmann - München.
Englische Literatur.
W. B. W a r r i n g t o n: Einige Fälle von chronischer Versteifung
der Wirbelsäule. (Med. Chronicle, März 1906.)
Verf. gibt die Krankengeschichten einiger Fälle (einmal Bruder
und Schwester). Er glaubt nicht, dass man berechtigt ist (Bechterew,
Marie etc.) eine eigene Krankheit bei diesen Fällen anzunehmen.
Sind nervöse Erscheinungen vorhanden, so sind diese meist sekun¬
därer Natur. Therapeutisch empfiehlt er Massage und Hydrotherapie,
doch ist die Prognose sehr zweifelhaft.
Fr. D. Boyd und Jean Robertson: Die Ernährung per
rectum. (Scottish Med. and Surgical Journal, März 1906.)
Die Arbeit enthält die Ergebnisse zahlreicher Versuche, die die
Verf. angestellt haben, um nachzuweisen, inwiefern die Ernährung per
rectum die gewöhnliche Ernährung ersetzen kann. Sie sind zu dem
Schlüsse gekommen, dass die Ernährung per rectum eine Unter¬
ernährung schlimmster Art darstellt und dass es nie gelingt, einen
geschwächten Kranken durch sie in die Höhe zu bringen. Es ist dies
von Bedeutung, da man noch zuweilen versucht, Kranke mit Magen¬
oder Speiseröhrenkrebsen vor der Operation durch rektale Ernährung
in einen günstigeren Ernährungszustand zu bringen. Dies gelingt nie.
Gar nicht haben sich die Leube sehen Fleisch- und Pankreas¬
klysmen bewährt. Am besten benutzt man zur rektalen Ernährung
nur Kohlehydrate und Fette und zwar reine Dextrose, die ausge¬
zeichnet ausgenutzt wird, und Eigelb. Verfasser empfehlen als ein
gutes Nährklystier 2 Eigelb, 30,0 reine Dextrose, 0,5 Kochsalz und
300 ccm pankreatisierte Milch. Ein solches Klystier enthält etwa
300 Kalorien. Man kann unter günstigen Verhältnissen hoffen, dass
etwa Vs resorbiert wird. Man muss den Darm täglich gründlich mit
Kochsalz ausspiilen und die Klystiere mit Hilfe eines Darmrohres und
Trichters sehr vorsichtig einlaufen lassen. Bei Reizbarkeit des
Darmes kann man etwas Morphium zusetzen. Man soll nicht mehr als
250 bis 300 ccm auf einmal geben und das Klystier 6 stündlich wieder¬
holen. Es ist noch zu bemerken, dass der Magen bei rektaler Er¬
nährung nicht ganz ruhig gestellt wird, da das Klystier die Magen¬
sekretion anregt.
George C h i e n e: Stovain als spinales und lokales Anästhetikum.
(lbid.)
Verf. hat in 14 Fällen eine spinale Anästhesierung mit Stovain
versucht, ln 2 Fällen gelang es ihm nicht, den Spinalkanal zu treffen,
einmal traf er zwar den Kanal, doch es verstopfte sich die Nadel und
er konnte keinen Tropfen einspritzen. Trotzdem erkrankte diese
Patientin einige Tage später an schwerem okzipitalem Kopfschmerz
und spinaler Neuralgie. In 3 weiteren Fällen musste noch Chloroform
gegeben werden, weil die eingespritzte Menge zu gering war. Es
wurde stets wenig Chloroform verbraucht, ln den übrigen 8 Fällen
war die Anästhesie vollkommen. Von Nebenwirkungen wurde einmal
spinale Neuralgie und einmal Kopfschmerz beobachtet. Als lokales
Anästhetikum empfiehlt es sich besonders Stovain mit Adrenalin zu
verwenden, doch hat es keinerlei Vorzüge vor dem Eukain Beta.
Hautgangrän sah Verf. nie bei Stovain.
W. Ford Robertson: Die Pathologie der Dementia para-
lytica. (Ibid.)
Verf. glaubt, dass die Syphilis den Körper nur vorbereitet, nicht
aber Tabes oder Dementia paralytica erzeugt. Als Erreger der
Dementia sieht er einen diphtheroiden Bazillus an, den er in den
meisten Fällen der Krankheit im Verdauungs- oder Respirationstraktus
fand und den er bei allen Fällen von vorgeschrittener Paralyse
in dem Urogenitalappr rat nachweisen konnte. Diese Bazillen konnten
in Reinkultur gezüchtet werden. Bringt man sie mit lebendem Blut
zusammen, so zerfallen sie rasch, nachdem sie von den polymorpho-
nukleären Leukozyten aufgenornmen wurden. Derartige Zerfalls¬
produkte finden sich nun stets im Blute und der Zerebrospinalflüssig¬
keit lebender Paralytiker und zwar besonders während des kon¬
gestiven Stadiums. Lebende Bazillen konnten aus dem Blute und der
Lumbalflüssigkeit gewonnen werden, zerfallene fanden sich in Gehirn¬
schnitten, in den Gefässwänden und in den weichen Hirnhäuten. Aus
dem Urin lassen sich stets zerfallene und oft lebende Bazillen dar¬
stellen und züchten. Tierexperimente mit den Reinkulturen dieser
diphtheroiden Bazillen führten zu Erscheinungen, die denen bei Para¬
lyse beobachteten glichen. Die Uebertragung der Bazillen findet von
Mensch zu Mensch statt und zwar durch Schleimhautverletzungen.
Im Körper erzeugen die Bazillen eine Toxämie. Aehnliche Be¬
obachtungen wurden bei Tabes gemacht.
W. H. Wynn: Zur Frage der Säuglingsernährung. (Birming¬
ham Medical Review. März 1906.)
Nach kurzer Besprechung der üblichen Ersatzmittel für die
Muttermilch empfiehlt Verf. die von Poynton angegebene Methode,
die Kuhmilch durch Zusatz von Natr. citricum leichter verdaulich zu
machen. Meist hat man sich ja bemüht, durch Verdünnungen und
Zusätze zur Kuhmilch eine Flüssigkeit zu schaffen, die in ihrem Ver¬
hältnis von Kasein zu Albumin der Muttermilch möglichst ähnlich ist.
Poynton verzichtet darauf und versucht nur die Kuhmilch dadurch
verdaulicher zu machen, dass er die Gerinnung weniger fest gestaltet.
Er empfiehlt 1 Gran Natr. citr. auf 1 Unze Milch. Die dann ent¬
stehende Gerinnung ist ganz flockig und leicht. Ist diese Milch immer
noch schwer verdaulich, so kann man die 2 — 3 fache Menge von Natr.
citr. zusetzen. Der Wasserzusatz zur Milch richtet sich in üblicher
Weise nach dem Alter des Kindes. Verf. hat bei 69 Fällen sehr gute
Erfahrungen mit dieser Methode gemacht, die noch den Vorzug
grosser Billigkeit hat. Man kann viel konzentriertere Milch geben und
vermeidet die Gefahr der Rachitis und des Skorbuts, deren Entstehung
mit dem Gebrauche von Patentnahrungsmitteln so eng verknüpft ist.
W. Allan Jamieson: Die Behandlung des Ekzems. (Edinburgh
Medical Journ., März 1906.)
Verf. bekämpft in dieser Arbeit die in England weit verbreitete
Ansicht, dass das Ekzem eine Manifestation der Gicht sei. Er emp¬
fiehlt gute, gemischte Kost, verbietet Thee und stärkere Alkoholika,
sowie starkes Rauchen. Grosses Gewicht legt er auf Landaufenthalt
und reichliche frische Luft. Von internen Heilmitteln hält er nichts,
Arsenik verwirft er ganz. Das Ekzem ist vorwiegend eine lokale Er¬
krankung und muss lokal behandelt werden. Reinlichkeit, Beruhi¬
gung und später vorsichtige Stimulation sind die grossen Heilfaktoren.
Es kann hier nicht die ganze Arbeit referiert werden, doch sei er¬
wähnt, dass Verf. zur Stimulation folgende Salbe warm empfiehlt:
Hydrarg. ammoniat., Hydrarg. sulphur. nigr. aa 10 g, Sulph. praecip.
Vz Drachme, Kampher 4 g und Vaselin 1 Unze. Im Anfang der Ekzem-
3. Juli 1906.
muenchener medizinische Wochenschrift.
behandlung werden besonders Stärkekataplasmen empfohlen, die be¬
ruhigen und die Krusten vorzüglich aufweichen.
George H. Hamilton: Die Behandlung der Patellarfraktur
durch Quernaht. (Ibid.)
Verf. hat seit einigen Jahren alle Fälle von Patellarfraktur ge¬
näht und die anderen Behandlungsmethoden ganz aufgegeben. Er
empfiehlt mit Handschuhen und nur mit einem Assistenten zu ope¬
rieren. Die Operation soll so schnell wie möglich zu Ende geführt
werden. Es operiert mit einem Lappenschnitt, dringt zwischen den
Fragmenten in das Gelenk ein und entfernt die Blutgerinnsel durch
trockene Tupfer; jede Spülung vermeidet er. Nach 8 Tagen wird
der Verband abgenommen, nach 14 Tagen dürfen die Kranken gehen
und werden angehalten, das Knie vorsichtig zu beugen. 16 auf¬
einanderfolgende Fälle, die so behandelt wurden, heilten ganz glatt
und wurden völlig wieder arbeitsfähig; sie können alle das Knie
rechtwinklig beugen. (Verf. erwähnt in dieser Arbeit die Arbeit des
Ref. aus dem Jahre 1895. Ich möchte hinzufügen, dass ich auch jetzt
noch ältere Leute sowie Fälle, bei denen mir die Operation aus irgend
einem Grunde nicht angezeigt erscheint, nach der damals beschrie¬
benen Methode behandle. Ich lasse die Leute am Tage nach der Ver¬
letzung aufstehen und ohne jeden Verband herumgehen, sie werden
vom ersten Tage an massiert und elektrisiert und habe ich in etwa
25—30 Fällen auf diese Weise sehr gute Endresultate erhalten. In
anderen Fällen habe ich genäht und einer meiner Fälle, ein junger
Akrobat, macht jeden Abend den doppelten Saltomortale ohne Anlauf
aus dem Stand, gewiss ein Beweis, dass er arbeitsfähig ist. Ich glaube
aber, dass man die Fälle nicht nach einer Schablone behandeln soll,
sondern dass man individualisieren muss, und für den praktischen
Arzt, der nicht sorgfältig geschulter Chirurg ist und nicht über die
Hilfsmittel eines Hospitales verfügt, wird es eine sehr gefährliche
Sache sein, eine Kniescheibe zu nähen, während er in der Massage¬
behandlung eine Methode hat, die in der Mehrzahl der Fälle über¬
raschend gute Resultate giebt. Ref.)
Peter Horrocks: Die moderne Geburtshilfe. (Brit. Med.
Journal, 10. März 1906.)
Wer noch zweifelt, dass die englische Geburtshilfe sehr im
Argen liegt, der lese die Arbeit. Dem Ref. scheint es festzustehen,
dass die englische Sitte, zu jeder Geburt von vornherein einen Arzt
hinzuzuziehen, für viele Unglücksfälle verantwortlich zu machen ist.
Die Zahl der Todesfälle ist seit Einführung der Narkose und der Anti¬
sepsis eher gestiegen als gefallen und zwar liegt das daran, dass der
Arzt so rasch wie möglich die Geburt beendet sehen will, um seinem
übrigen Beruf nachgehen zu können; die Narkose und die Antisepsis,
die er meist nur sehr unvollkommen beherrscht, wiegen ihn in falsche
Sicherheit, und er legt sobald wie möglich die Zange an. Horrocks
wendet sich dann auch scharf gegen diese Unsitte und verlangt vom
Arzte, dass er die Kreissende in Ruhe lässt. Verf. verlangt, dass der
Arzt bei Beginn der Wehen eine Untersuchung per vaginam vornimmt,
nachdem er sich und die Vulva sorgfältig desinfiziert hat. Eine
weitere Untersuchung ist in der Mehrzahl der Fälle unnötig, ja schäd¬
lich. Er verwirft die in England zur Regel gewordene Sitte oder
vielmehr Unsitte, im zweiten Stadium der Geburt Chloroform zu
geben. Den Dammschutz verwirft er ebenfalls, er glaubt, dass man
damit mehr schadet als nützt. Das Kind soll erst nach 5 Minuten
abgenabelt werden. Man beobachte dann den Puls der Mutter und
die sichtbare Blutung. Ist der Puls 80 — 90, die Blutung gering, so
ist es völlig überflüssig, den Uterus zu befühlen oder gar zu kneten.
Man überlasse das dritte Stadium ruhig der Natur, der Crede sehe
Handgriff ist völlig überflüssig. Der Leib soll nach der Geburt nicht
gewickelt werden; auch verbietet Verf. das schablonenmässige Ein¬
träufeln von Silbersalzen in die Augen des Kindes. (Es dürfte keinem
Zweifel unterliegen, dass Verf. absolutes Abwarten mehr Nutzen bringt
als die Polypragmasie so vieler Aerzte; immerhin kann man auch
das Nichtstun übertreiben. Ref.)
Thomas W i 1 s o n: Die Frühdiagnose des Uteruskrebses. (Ibid.)
Im allgemeinen ist die Zahl der operablen Uteruskrebse in Eng¬
land äussert klein, sie schwankt bei den einzelnen Operateuren zwi¬
schen 6 und 16 Proz. Es liegt dies zum grossen Teil an der Unwissen¬
heit der Frauen, die meist erst dann einen Arzt konsultieren, wenn
es zu spät ist, zum Teil aber untersuchen auch die praktischen Aerzte
zu selten und zu oberflächlich. Verf. verlangt, dass das Publikum und
die Hausärzte immer wieder auf die Notwendigkeit einer möglichst
frühzeitigen Untersuchung aufmerksam gemacht werden. Die Unter¬
suchung wird am besten mit Hilfe des Mikroskopes gemacht.
George G e d d e s: Die Behandlung der okzipito-posterioren Lage,
(jbid.)
Diese Lage ist häufig. Bei Multiparen fand Verf. sie in 10,5 Proz.,
bei Pnmiparen in 20,8 Proz. aller Fälle. In England fand er 25, in
Schottland nur 15 Proz. dieser Lage bei allen Erstgebärenden. Verf.
glaubt, dass dies darauf beruht, dass in England die Mütter viel länger
arbeiten als in Schottland. Die Bauchpresse rotiert dann das Hinter¬
haupt nach hinten. Therapeutisch empfiehlt Verf., abzuwarten, die
Natur rotiei t gewöhnlich von selbst den Kopf. Die Zange ist zu ver¬
meiden.
A. S. G r ii n b a u m und Ralph D. Smedley: Die Uebertragung
der Syphilis auf Affen. (Brit. Med. Journal, 17. März 1906.)
1323
Die Verfasser impften einem Schimpansen den Saft eines frisch
exzidierten harten Schankers ein. Am 16. Tage traten die ersten
Zeichen der Infektion auf. Die Spirochaete pallida konnte aber trotz
sorgfältigsten Suchens erst am 37. Tage nach der Inokulation aus dem
harten Schanker des Affens gewonnen werden. Die Verfasser sind
mit weiteren Versuchen beschäftigt.
W. H. Thompson: Die Nierentätigkeit während der Narkose.
(Ibid.)
Bericht über eine grosse Reihe sorgfältig durchgeführter Ver¬
suche. Im Beginn der Chloroformnarkose ist die Urinmenge häufig
vermehrt, während der tiefen Betäubung ist die Urinmenge stets sehr
vermindert oder die Urinsekretion hört überhaupt ganz auf. Nach
Aufhören der Narkose tritt eine vermehrte Urinsekretion, oft bis auf
das Vierfache auf; das Maximum tritt etwa 3 Stunden nach der Nar¬
kose auf. Die Gesamtstickstoffmenge ist verringert und zwar noch
mehr als der verminderten Urinmenge entspricht. Der während der
Chloroformnarkose ausgeschiedene Harn ist stets dünner als der nor¬
male; es scheint, als ob das Chloroform nicht nur die Blutdurch-
strömung des Glomerulus herabsetze, sondern auch die Ausscheidung
der festen Harnbestandteile (was die B o w m a n sehe Theorie stützen
würde). Trotz hohen Blutdruckes kann die Nierensekretion fast ver¬
sagen. Bei langer Narkose mit starker Verringerung der Harnmenge
treten viele Leukozyten in die Harnkanälchen über. Während und
nach der Chloroformnarkose ist die Ausscheidung der Chloride ver¬
mehrt. In einem geringen Prozentsatz der Fälle tritt Albuminurie
auf. Reduzierende Substanzen mit Ausnahme der Glukose sind meist
während und nach der Chloroformnarkose vermehrt im Urin zu
finden.
W. J. McCar die: Aethylchlorid als allgemeines Anästhetikum.
(Ibid.)
Verf. empfiehlt das Aethylchlorid im Beginn der Aethernarkose
zur Einleitung derselben zu geben und es rasch mit steigenden Mengen
von Aether zu mischen. Ferner kann man es für kurze Narkosen geben,
wenn Gas nicht zu beschaffen ist oder eine tiefere Narkose als Gas¬
narkose erwünscht ist. Kurze gynäkologische Operationen, geburts¬
hilfliche Eingriffe, Augenoperationen und vor allem Entfernungen von
Tonsillen und adenoiden Wucherungen lassen sich sehr gut unter
Aethyinarkose vornehmen. Von 9711 Narkosen, die Verf. zusammen¬
stellte, endeten 4 tödlich, 3 im Spital auf 9020 Narkosen und 1 in der
Privatpraxis auf 700 Narkosen. Er selbst sah bei 2000 eigenen Fällen
keine üblen Nebenwirkungen, ln England hat man mehr Todesfälle
als auf dem Festlande beobachet und führt Verf. dies darauf zurück,
dass das Mittel in England von einer fest anliegenden Maske ge¬
geben wird. Er selbst empfiehlt deshalb, die Maske zu lüften und
öfters etwas Luft einathmen zu lassen. Bei Kindern ist das Chlor¬
äthyl besonders wirksam und ungefährlich.
James Sherren: Die Verteilung und Heilung peripherer
Nerven beim Menschen. (Lancet 17. und 24. März 1906.)
Verfasser konnte am London Hospital 175 Fälle von Nervenver¬
letzung beobachten und auf dieses grosse Material stützt sich diese
wichtige Arbeit, die leider nur kurz referiert werden kann, aber jedem
Chirurgen zum genauen Studium empfohlen werden kann. Verf.
weist darauf hin, dass weder die anatomische Präparation noch die
Durchschneidung eines Nerven uns genaue Auskunft über seinen
Verbreitungsbezirk geben kann. Die Durchschneidung zeigt uns nur
die Region, welche der durchschnittene Nerv allein versorgt, sie
sagt uns aber nichts über die weit grössere Region, die er in Ge¬
meinschaft mit anderen Nerven versorgt. Den ganzen Verbreitungs¬
bezirk können wir nur kennen lernen, wenn wir die Sensibilität
studieren, die nach Durchschneidung der Nerven der Umgebung noch
übrig bleibt. Sie stimmt überein mit der Zone der Hyperalgesie, die
bei Reizung des Nervenstammes entsteht. Verf. beschreibt dann
seine Beobachtungen an Verletzungen der wichtigsten Nerven. Der
Medianus gibt Sensibilität für einen Nadelstich teils allein, teils mit
anderen Nerven der ganzen Handfläche mit Ausnahme eines schmalen
Streifens am ulnaren Rande. Am Handrücken versorgt er den Zeige¬
finger, Mittelfinger, meistens den Ringfinger und die Endphalage
des Daumens. Will man die nach Nervenverletzungen entstehenden
Lähmungen studieren, so muss man sich sehr davor hüten, die Be¬
wegungen der betroffenen Teile mit den Kontraktionen der Muskeln
zu verwechseln durch deren Tätigkeit diese Bewegungen für ge¬
wöhnlich ausgelöst werden. Es werden nämlich viele Bewegungen
durch andere Muskeln ersetzt und nur genauestes Fühlen der Kon¬
traktion der einzelnen Muskeln kann vor Täuschungen schützen. Tiefe
Durchtrennung des Medianus lähmt den abduktor und opponens
pollicis, sowie den oberflächlichen Kopf des flexor brevis pollicis und
die zwei äusseren Lumbrikales. Eine Durchtrennung des Nerven in
der Höhe des Ellenbogens erzeugt eine geringere Lähmung als man
erwarten sollte; die Lähmung betrifft besonders den Zeige- und
Mittelfinger sowie den Daumen. Bei Besprechung des Nervus ulnaris
erwähnt Verf. die höchst interessanten Fälle, bei denen viele (bis zu
27 Jahren) Jahre nach einer Ellenbogenverletzung allmählich Ausfall¬
erscheinungen im Ulnarisgebiete auftreten. (Refer. operierte vor
kurzem einen solchen Fall. Die Zeichen der Ulnarislähmung traten
11 Jahre nach einer Fraktur auf. Bei der Operation war der Ulnaris
nirgends in Kallus eingebettet, er war aber in der Ausdehnung von
2—2% cm bindegewebig entartet, dieses Stück wurde reseziert.) Es
1324
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
ist für den Verlust der Hautsensibilität ganz gleichgültig, ob der Nerv
am Handgelenk oder in der Achsel durchtrennt wird; die tiefere
Sensibilität geht allerdings bei höherer Verletzung des Nerven auf
weitere Strecken verloren. Die Haut wird gefühllos über beiden
Flächen des kleinen und dem halben Ringfinger sowie über den ent¬
sprechenden Teilen des Handrückens und des Handtellers. Es würde
zu weit führen, hier alles zu referieren, was Verf. über die anderen
Nerven sagt, auch müssen zum besseren Verständnis die beigefügten
Tafeln studiert werden. Man kann sagen, dass in der oberen Ex¬
tremität Durchtrennung eines Nerven die oberflächliche Hautsensibi¬
lität auf einem grösseren Umkreise lähmt als die Sensibilität gegen
einen Stich oder tiefen Druck; diese letztere kann über dem ganzen
befallenen Teil erhalten bleiben. Durchtrennung des ganzen Plexus
erzeugt einen gleichgrossen Verlust der Sensibilität gegen ober¬
flächliche Berührung und Nadelstiche, die tiefe Sensibilität ist aber
auch hier zum Teil erhalten. Sind mehrere hintere Wurzeln durch¬
trennt, so ist die Empfindung auf Nadelstiche auf einen weit grösseren
Umkreis gelähmt als auf leichte oberflächliche Berührung. Ist ein
Nerv völlig durchtrennt, so kann Heilung eintreten, wenn die Enden
nahe aneinander liegen, meist ist die Heilung aber unvollkommen,
wenn nicht genäht wird. Die Wiederherstellung der Sensibilität er¬
folgt in 3 Stadien. Stets beruht die Wiederherstellung der Funktion
auf Regeneration der Nervenfasern. War vor der sekundären Naht
schon eine leichte Wiederherstellung der Sensibilität eingetreten, so
wurde diese durch die Anfrischung und Naht temporär wieder zer¬
stört und es trat derselbe Zustand ein wie sofort nach der Verletzung.
4 — 12 Wochen nach der Naht beginnt die Sensibilität wieder zu er¬
scheinen; 4 — 12 Monate später kann ein Nadelstich überall gefühlt
werden; während dieser Zeit bleibt die Region, in der leichte ober¬
flächliche Berührungen nicht gefühlt werden, ebenso ausgedehnt als
zuvor, erst nach 6 Monaten beginnt hier eine Besserung und etwa
nach 12 — 18 Monaten werden diese Reize wieder normal empfunden.
Im dritten Stadium der Heilung lernt der Kranke wieder zu lokali¬
sieren, erst wenn die Probe mit dem Aesthesiometer auf beiden Seiten
gleiche Resultate ergibt kann man von völliger Heilung sprechen.
Die Entfernung von der Peripherie, in der ein Nerv durchtrennt ist,
beeinflusst nicht die Zeit, in der das erste Stadium der Heilung be¬
ginnt, wohl aber beginnt bei mehr zentralwärts durchschnittenen
Nerven das zweite Stadium später und die ganze Heilungsdauer ist
beträchtlich verlängert. Verf. leugnet, dass es möglich ist, dass nach
primärer Naht jemals die Funktion sich sofort wieder herstellen kann
wie es von N e 1 a t o n und anderen behauptet werde, alle diese
Fälle beruhen auf ungenauen Beobachtungen. Er selbst sah bei 37
Fällen von primärer Naht nie etwas, was auf sofortige Wiederherstellung
der Leitung hätte schliessen lassen. Die Prognose nach der pri¬
mären Naht ist im allgemeinen gut und es kann vollständige Heilung
eintreten, so dass zwischen beiden Seiten durchaus kein Unterschied
mehr nachzuweisen ist. 7 Fälle von Naht des Ulnaris waren nach
2 Jahren völlig geheilt, von 6 Fällen von Naht des Medianus kamen
3 zu völliger Heilung. Bei 16 Fällen primärer Naht verschiedener
anderer Nerven war die Muskelfunktion nach 1 Jahr bei alten völlig
normal; bei 11 war völlige sensible Heilung eingetreten, 5 waren aut
dem Wege zur Heilung. Verf. beobachtete ferner 14 Fälle von se¬
kundärer Naht ohne Eiterung, die Sensibilität kehrte in keinem Falle
vor dem 30. Tage nach der Operation oft aber erst nach 30 Wochen
und mehr zurück. Vollkommene Heilung trat auch bei langer Be¬
obachtungsdauer in keinem von Verf. Fällen ein. Das zweite Stadium
der Heilung dauerte etwa doppelt so lange als bei den Fällen von
primärer Nervennaht.
Warrington Haward: Phlebitis und Thrombosis. (Lancet 10.
und 17. März 1906.)
Schöne Monographie über diese in der Praxis so wichtigen
Krankheiten. Therapeutisch empfiehlt Verf. neben strengster Bett¬
ruhe die Gerinnungsfähigkeit des Blutes herabzusetzen sowohl bei
vorhandener Phlebitis und Thrombose, als auch bei Krankheiten, in
denen Gerinnungen des Blutes erfahrungsgemäss häufig auftreten.
Am besten dient diesem Zwecke die innerliche Verabreichung von
Acid. citricum. Die Zitronensäure entkalkt das Blut und setzt dadurch
die Gerinnungsfähigkeit herab. Auch die Milch, die man solchen
Kranken gibt, muss durch Zusatz von Natron citricum entkalkt
werden. Reichliche Mengen von Aqua destillata setzen auch die
Gerinnungsfähigkeit herab.
I. Shell nau; Spirochaeta pallida bei Syphilis. (Lancet 17.
März 1906.)
Es ist dies die erste grössere englische Arbeit (eigentlich schot¬
tische) über diesen Gegenstand. Verf. konnte in der Mehrzahl der
Fälle von frischer oder angeborener Syphilis die Spirochaeta pallida
nachweisen; in tertiären Läsionen fand er sie nie. Er bestätigt das
häufige Zusammenvorkommen mit der Spirochaeta rcfringens; er
beschreibt auch Zwischenformen sowie eigentümliche Schleifen und
Ringe, die er zuweilen fand. Einmal fand er einen grösseren Zentral¬
körper (Blutkörperchen?), an dem zahlreiche Spirochäten wie
Geissein hingen. Im ganzen glaubt er, dass mehr Gründe für als
gegen die ätiologische Bedeutuung der Spirochaeta pallida für das
Zustandekommen der Syphilis sprechen.
(Schluss folgt.)
Inauguraldissertationen.
Universität Würzburg. April, Mai, Juni 1906.
20. A h 1 m a n n Heinrich: Weitere Untersuchungen über die Giftigkeit
der Blausäure.
21. Bauer Gallus: Ueber einen sehr seltenen Mischtumor, Fibro—
myolipozystadenom, am Dünndarm eines 6 jährigen Knaben.
22. Bitter Bruno: Ueber die Erwärmung von Textilfasern in Gasen.
23. Bloch Willy: Ueber extragenitale Syphilisinfektion an den
Lippen.
24. Bub Georg: Ueber auffallende Klebrigkeit der roten Blutkörper¬
chen bei einem Falle von Leber- und Milzschwellung.
25. Engelmann Karl: Ueber die Beziehungen von Erkrankungen
der Nebennieren zu Morbus Addisonii.
26. v. Ho ff mann Max: Ein Beitrag zur Kasuistik der doppel¬
seitigen Netzhautgangliome mit Knochenbildung.
27. Kaesbohrer Joseph: Der syphilitische Primäraffekt an den
Tonsillen.
28. L i n d e m a n n August: Beiträge zur funktionellen Herzdiagnostik.
29. Löwensberg Isidor : Ueber die Aetiologie der Dupuytren-
schen Kontraktur.
30. Reissner Martin: Beiträge zur Kenntnis der Wärmestarre.
31. Wille rt Franz: Beitrag zur Kasuistik des primären Lungen¬
karzinoms.
Vereins- und Kongressberichte.
Medizinische Gesellschaft zu Chemnitz.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 21. März 1906.
Herr Hauschild: Ueber Gleichgewichtsstörungen der
Augen.
Die Ergebnisse und Behauptungen Schoens über die
Häufigkeit der Störungen im Höhengleichgewicht der Augen
und über deren Folgen für das Nervensystem sind bisher nur
von Bielschowsky nachuntersucht worden. Während
die Resultate dieser Autoren über die Häufigkeit der Höhen¬
ablenkungen bei gesunden Individuen, ohne Beschwerden von
seiten der Augen oder allgemein nervöser Natur, annähernd
übereinstimmen (S c h o e n 30 Proz., Bielschowsky
32 Proz.), weichen die Ergebnisse Bielschowskys bei
Neuropathen und besonders bei Epileptikern weit von denen
S c h o e n s ab. S c h o e n behauptet jetzt, dass man fast aus¬
nahmslos bei Epileptikern Höhenablenkungen nachweisen
könne. Bielschowsky fand sie nur in 16 Proz.
Vortragender hat bei 178 darauf untersuchten gesunden
Individuen in 34,8 Proz. messbare Höhenablenkungen feststellen
können. Als messbar sind gerechnet Ablenkungen von % 0 an.
Die Höhenablenkungen waren meist sehr gering, schwankten
zwischen % — 1 °, höchstens 1%°. Nur in 4 Fällen betrugen
sie mehr als 1% °. Bei 109 Neuropathen (Neurasthenikern,
Hysterikern, Migränekranken etc.) fand Vortr. in 33% Proz.
messbare Höhenablenkungen, in der überwiegenden Mehrzahl
auch geringen Grades. Bei 63 Epileptikern in 38,9 Proz. Unter¬
sucht wurde nach der Methode von M a d d o x, meist wieder¬
holt, und immer nach möglichster Erschlaffung der die Höhen¬
ablenkung korrigierenden Innervation durch Prismen, wie
Bielschowsky es empfohlen hat.
Vortr. kann sich auf Grund seiner Untersuchungen den
Behauptungen Schoens über die Häufigkeit und besonders
die Bedeutung dieser Höhenablenkungen für das Nervensystem
nicht anschliessen. Dieselben bestanden meist, ohne dass die
geringsten Beschwerden vorhanden waren. Nur in einigen
Fällen (8) hatten sie Beschwerden asthenopischer Natur ver¬
ursacht, die nach Korrektion der Höhenablenkung auch ge¬
bessert wurden. Mit Ausnahme von zweien waren aber diese
Patienten Neurastheniker oder Hysteriker, und waren zweifel¬
los die Augenbeschwerden sekundär, Folgen des allgemeinen
nervösen Leidens.
Die Neurasthenie oder Hysterie selbst wurde nicht oder
nur vorübergehend gebessert. Auch Migränekranke wurden
nur in einzelnen Fällen durch Korrektion einer vorhandenen
Höhenablenkung gebessert. Bei Epileptikern, deren Vortr.
auch eine Anzahl gesehen hat, die bereits von S c h o e n mit
Prismen versehen waren, ist nie eine andauernde Besserung
oder gar Heilung der Epilepsie beobachtet worden.
Die Einwände Bielschowskys gegen S c h o e n be¬
stehen mit vollem Recht. Sc h o e n hebt ausserdem einseitig
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1325
dieses einzige Symptom der Höhenablenkung heraus, das wahr¬
scheinlich in vielen Fällen überhaupt nicht als direkt patho¬
logisch bezeichnet werden kann, und hält es für die einzige Ur¬
sache der teils so schweren nervösen Krankheitserscheinungen.
Dass er den allgemein anerkannten ätiologischen Faktoren,
wie Heredität, neuropathische Belastung, physische und psy¬
chische 1 raumen etc., keine Bedeutung zuerkennt, ist absolut
unberechtigt. Vortr. hat Epileptiker gesehen, denen Schoen
Prismen von K oder K Grad verordnet hatte! Das Missver¬
hältnis zwischen Ursache und Wirkung (Höhenablenkung von
y* Grad und schwerste Epilepsie) scheint Schoen gar nicht
zum Bewusstsein gekommen zu sein. Ob die Ausstrahlungen
und Miterregungen, die Schoe n als direkte Folge einer be¬
stehenden Höhenablenkung annimmt, wirklich statthaben, ist
sehr hypothetisch. Bei der überhaupt so hypothetischen Natur
der Behauptungen und Folgerungen Schoe ns würde nach
Ansicht des Vortr. nur der Erfolg durch die Ausgleichung dieser
Höhenablenkungen der einzige Massstab für die Beurteilung
derselben sein können. Ueberzeugende Erfolge hat Vortr. nicht
gesehen, ebensowenig wie B i e 1 s c h o w s k y. Auch die auf¬
fallend wenigen Heilerfolge, besonders bei Epilepsie, von denen
Sch. in seiner neuesten Monographie über „Das Schielen“ be¬
richtet, können in Anbetracht der überaus grossen Zahl der
von Schoen untersuchten und behandelten Epileptiker Vortr.
nicht davon überzeugen, dass der Höhenablenkung die Bedeu¬
tung zukommt, die Schoen ihnen beimisst.
Herr Schoedel: Ueber induzierte Krankheiten (Imita¬
tionskrankheiten).
Vortragender berichtet über eine Schulepidemie: Von 35
Schülerinnen einer Klasse im Alter von 9—10 Jahren erkrankten
im Verlauf von 14 Tagen 21. Die Mädchen wurden bei Schreib¬
versuchen von Zitterbewegungen in der rechten Hand befallen,
die allmählich so heftig wurden, dass die Schriftzüge zuletzt
völlig unleserlich waren. Energische elektrische und suggestive
Behandlung beseitigte binnen 8 Tagen diese Erscheinungen.
Als Ursache dieser Erkrankungen war festzustellen, dass
die Kinder von einer ähnlichen Schulepidemie in Meissen ge¬
hört hatten und dass die erste Kranke bei einer choreatischen
Schwester ataktische Bewegungen gesehen hatte.
Solche Epidemien sind nicht als hysterisch aufzufassen.
Es liegen ihnen Störungen der unentwickelten Kinderseele zu
Grunde, die durch energisches Eingreifen schnell und sicher zu
heilen sind. (Erscheint ausführlich im Jahrbuch für Kinder¬
heilkunde).
Verein der Aerzte in Halle a. S.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 13. Dezember 1905.
Vorsitzender : Herr Schmidt-Rimpler.
Herr Anton: Symptome der Stirnhirnerkrankungen (mit
Demonstrationen am Projektionsapparat). (Befindet sich unter
den Originalien dieser Nummer.)
Herr Seeligmiiller legt das Präparat eines Tumors des
Stirnhiriis vor.
Diskussion: Herren H ö n i g e r, v. Bramann,
Sitzung vom 3. Januar 1906.
Herr Manie ufel: Was hat die billige Abgabe von ste¬
rilisierter Kindermilch gegen die Hallesche Säuglingssterblich¬
keit geleistet? (In No. 7 dieser Wochenschrift veröffentlicht.)
Diskussion: Herr Stödtzner : Der Herr Vortragende ist von der
leider noch vielfach herrschenden Ansicht ausgegangen, dass die Still¬
fähigkeit der heutigen Frauen in den Kulturländern nur noch gering sei
und immer mehr abnehme. Diese Ansicht ist grundfalsch; daran wird
dadurch nichts geändert, dass sie in einem sonst so genialen Forscher
wie v. Bunge einen ihrer wichtigsten Vertreter hat. v. Bunge
hat durch seine diesbezüglichen Veröffentlichungen unabsehbaren
Schaden angerichtet.
In Wirklichkeit sind von 100 Frauen mehr als 90 physisch im¬
stande, ihre Kinder selbst zu stillen. Die Kenntnis dieser Tatsache
allgemein zu machen, unermüdlich das Selbststillen zu predigen und
bei jeder Gelegenheit dem verhängnisvollen Irrglauben entgegenzu¬
treten, dass es irgend einen vollwertigen Ersatz für die Ernährung
an der Mutterbrust gebe, das ist in dem Kampfe gegen die Säuglings¬
sterblichkeit das Allerwichtigste. Die künstliche Ernährung gibt nur
bei den Wohlhabenden, die sich den kostspieligen Luxus einer
dauernden sachverständigen ärztlichen Ueberwachung ihrer Säug¬
linge leisten können, befriedigende Erfolge. Bei der grossen Masse
des Volkes hängt die Säuglingssterblichkeit ganz direkt von dem
Umfange ab, in dem die natürliche Ernährung geübt wird. Das
Selbststillen muss deshalb wieder allgemeine Volkssitte werden- und
wo soziale Hemmnisse hervortreten, da muss die Gesetzgebung wirk¬
sam eingreifen, die aufgewandten Geldmittel werden sich reichlich
bezahlt machen.
Freilich wird die Beschaffung einer möglichst einwandfreien
Kuhmilch, die an wenig Bemittelte zu einem billigen Preise abge¬
geben wird, immer notwendig bleiben. Der Versuch, den die Stadt
Halle mit der Ausgabe der sterilisierten Milch gemacht hat, ist des¬
halb auf das Wärmste anzuerkennen. Es ist nicht zu verlangen, dass
der Nutzen einer solchen neuen Einrichtung sich gleich in grossen
Zahlen äussert. Wenn bisher sich ein wesentlicher Einfluss auf die
Säuglingsmortalität noch nicht gezeigt hat, so folgt daraus keines¬
wegs, dass der Versuch verfehlt war; der richtige Schluss ist viel¬
mehr, dass auf dem beschrittenen Wege noch weiter gegangen, dass
noch mehr getan werden muss. Was noch weiter geschehen soll,
können wir von unseren westlichen Nachbarn lernen. Die Fran¬
zosen haben in der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit ausser¬
ordentliche Erfolge erreicht; wir können gar nichts besseres tun,
als vor allen Dingen die poliklinischen Fürsorgestellen, in denen die
Säuglinge andauernd sachverständig ärztlich überwacht werden,
immer mehr auch bei uns einzuführen. Auch diese Fürsorgestellen
aber sollten ihre vornehmste Aufgabe darin sehen, die natürliche Er¬
nährung zu fördern wo sie nur können.
Herr Schmidt-Rimpler stellt einen Fall von intermittieren¬
dem Exophthalmus infolge von Angiokavernombildung vor.
Patient, 18 Jahre alt, hat am linken Auge und ebenso in der
linksseitigen Mundschleimhaut (Wange, Gaumen und Mandel) ange¬
borene Angiokavernome. Am Auge sitzen sie besonders in der Kon-
junktiva des inneren Augenwinkels, sie bilden sowohl auf der Kon-
junctiva bulbi, fast bis zum Hornhautrande reichend, rote hervor¬
ragende Geschwülste, als auch in der Konjunktiva der Lider. Die
Uebergangsfalte des unteren Lides ist fast in ihrer ganzen Aus¬
dehnung bis zum Schläfenwinkel von Blutgeschwülsten durchsetzt,
die beim Ektropionieren stark hervortreten. Auch die Conj. palpe-
bralis zeigt kleine Geschwülste. Im inneren Augenwinkel kann man
eine Fortsetzung der Geschwulst in die Orbita hinein verfolgen. Bis¬
weilen bluten die Geschwülste. Für gewöhnlich ist ein Hervor¬
treten des nach aussen verschobenen Augapfels nicht deutlich er¬
kennbar. Beim Bücken oder bei sonstiger Veranlassung, die eine
Stauung oder Kongestion bedingen, z. B. Alkoholgenuss, sieht man
jedoch eine Protrusion mit gleichzeitiger Anschwellung der Blut-
geschwiilste eintreten. Letztere wird gelegentlich stärker und führt
zu tagelang dauerndem, erheblichem Exophthalmus, gegen den sich
die Anwendung einer Kompressionsbinde bewährt hat.
Ophthalmoskopisch erscheint die Netzhaut in der Umgebung der
Papilla optica etwas trübe; an der Papille nichts besonderes. Ge-
fässalterationen sind nicht zu sehen. Astigmatismus. Finger werden
auf 3/* Meter gezählt. Das rechte Auge ist hyperopisch und astig¬
matisch. S. > V 3.
Sitzung vom 17. Januar 1906.
Vorsitzender : Herr Schmidt-Rimpler.
Herr Schmidt-Rimpler stellt einen Fall von Choroideal-
kolobom mit gleichzeitiger sogenannter Druckexkavation der Papilla
optica vor.
Die Choroidealkolobome sind an beiden Augen nach unten ge¬
richtet. Rechts, wo auch ein Iris- und Linsenkolobom vorhanden ist,
beginnt das Choroidealkolobom etwa 3U Papillendurchmesser von der
Papilla optica. Der trennende Zwischenraum zeigte, abgesehen von
einer, dem Papillenrande sich anschliessenden weisslichen Sichel die
normale rote Färbung des Augenhintergrundes. Die Papille ist tief ex¬
kaviert; alle Gefässe machen am Rande eine scharfe Knickung. Die
Niveaudifferenz beträgt 1 mm (3,0 Dioptrien Refraktionsunterschied).
H 0,5; S . — Vs. Gesichtsfeld abgesehen von der Kolobomstelle normal.
Links beginnt das Kolobom etwa 3 Papillendurchmesser unterhalb des
ebenfalls tief exkavierten Sehnerveneintritts, der 2ls mm über der
angrenzenden Netzhaut liegt. H. 2,5; S. > 2/s. Gesichtsfeld abgesehen
von der Kolobomstelle normal. Zeichen von Glaukom sind nicht vor¬
handen. Die Patientin ist 53 Jahre alt und hat keine Verschlechterung
ihres Sehvermögens bemerkt.
Sehr bemerkenswert ist, dass hier eine doppel¬
seitige angeborene Exkavation der Papilla optica
vorhanden ist, die vollständig das Aussehen der
g lau komatösen Exkavation hat; eine überaus seltene Be¬
obachtung.
Die 10jährige Tochter der Patientin ist in der
Blindenanstalt. Sie hat rechts einen etwas kleineren Bulbus, Mikro¬
kornea, Iris- und Choroidealkolobom nach unten. Links ist der Bulbus,
was seine Grösse betrifft, normal, die Kornea ist etwas kleiner; auch
1326
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
hier besteht ein Iris- und Choroidealkolobom nach unten. Auf beiden
Augen wird die Papilla optica von Kolobom umschlossen und liegt
etwas tiefer noch als die kolobomatöse Umgebung, ohne dass aber
eine charakteristische Druckexkavation entsteht.
Herr Möller berichtet über einen Fall von hyaliner Degene¬
ration nach Trachom.
Patient Wilh. Sch., 30 Jahre. Arbeiter, wurde vom 6. April bis
12. Mai 1905 in hiesiger Augenklinik an Trachom beider Augen be¬
handelt. Während der Ernte traten zeitweise Entzündungen auf,
die aber immer wieder unter Behandlung mit Zink und kalten Um¬
schlägen zuriiekgingen. Ende September bemerkte Patient eine An¬
schwellung der Lider des linken Auges, die sehr schnell zunahm: am
7. November kam er zur Aufnahme in die Klinik, wo folgender Befund
festgestellt wurde: Die Konjunktiva tarsalis der Lider ist teilweise
mit Follikeln bedeckt, teilweise besteht Papillarhypertrophie. Die
Uebergangsfalten haben sich zu blauroten, etwas speckig aussehen¬
den Wülsten herausgebildet, deren Konsistenz etwas fester als
„pflaumenweich“ ist: durch die Anschwellung sind die Lider nach
vorne vom Bulbus abgedrängt, so dass dieser ganz zurückgesunken
erscheint. Die Wülste der untern Uebergangsfalte sind mehr rund
und horizontal verlaufend, mehr als bohnendick, während die obere
Geschwulst lappenförmig auf dem Bulbus liegt und dessen obere
Hälfte fast ganz bedeckt. Die klinische Diagnose wurde auf Amy¬
loiddegeneration der Konjunktiva gestellt: jedoch ergab die mikro¬
skopische Untersuchung mit .Todjodkali und Schwefelsäure, ferner
mit Methvviolett keine Amyloidreaktion ; dagegen sah man in Präpa¬
raten (Hämatineosin oder von Giemsafärbung) zahlreiche Rund- und
Spindelzellen, frisch gebildetes Bindegewebe, dass an vielen Stellen
hyalin degeneriert war. sodass hier grosse Massen von homo¬
gener Substanz angehäuft lagen. Die Therapie bestand in Exzision
dieser Wülste in mehreren Sitzungen, dabei war zu bemerken, dass
sich die oberen Lanoen allmählich von selbst zurückbildeten und
verschwanden. Zu bemerken bleibt noch, dass Lunge. Leber. Milz
und Nieren vollständig gesund sind; auch sind keine Drüsen in der
Hals- und Kieferregion zu fühlen.
Herr Stöltzner spricht über einige praktisch wichtige
Fragen der Säuglingsernährung.
Die gewöhnliche Marktmilch ist kein einwandfreies Aus¬
gangsmaterial für die Bereitung einer Säuglingsnahrung. Die
polizeiliche Kontrolle der Milch beschränkt sich auf die Unter¬
suchung des Fettgehaltes und des spezifischen Gewichtes; sie
ist so gut wie wertlos, da sie den weitaus wichtigsten Punkt,
den Grad der bakteriellen Verunreinigung der Milch, gar nicht
berücksichtigt.
Als Kindermilch im engeren Sinne sollte nur eine Milch
bezeichnet werden, die in Musterstallbetrieben von gesunden,
dauernd tierärztlich überwachten Kühen streng aseptisch ge¬
wonnen, nach der Gewinnung sogleich tief gekühlt und bis zur
Abgabe an den Konsumenten kühl aufbewahrt wird. Eine
solche Milch, wie sie in den besten Musterställen erzielt wird,
kostet aber pro Liter 50 — 60 Pfennig; unter 30 Pfennigen pro
Liter ist zurzeit selbst im Grossbetrieb eine vertrauenswürdige
Kindermilch nicht zu liefern. Obwohl dasProblem der
hygienischen Milchversorgung technisch ge¬
löst ist, ist deshalb die grosse Masse der Be¬
völkerung ausser stände, für ihre Säuglinge
Kinder milch zu kaufen.
Für gewöhnlich wird versucht, die Milch, unter Verzicht
auf aseptische Gewinnung, ihrer Gefahren durch nachträgliches
Sterilisieren zu entkleiden, und zwar kommt fast ausschliess¬
lich in Betracht die Sterilisierung durch Hitze. Leider
wirdabereineMilch, dieersteinmalbakteriell
starkdurch wuchert war, auch durchnachträg¬
liches Sterilisieren nicht wieder zu einer
brauchbaren Säuglingsnahrung. Es ist des¬
halb zu fordern, dass die Sterilisierung un¬
mittelbar nach dem Melken am Gewinnungs-
ort vorgenommen wird.
Vollkommen sterilisierbar ist eine Milch, die ohne besondere
Kautelen gewonnen worden ist. durch Erhitzen bis zur Siede¬
temperatur überhaupt nicht. Die Sporen der F 1 ü g g e sehen
Bakterien, die sich in solcher Milch immer finden, halten diese
Erhitzung aus; wenn sie nachher auskeimen, so führen sie zu
einer alkalischen Gärung und zu Peptonisierung des Milch-
eiweisses; auch eine solche Milch ist für Säuglinge gesundheits¬
gefährlich. Selbst durch Erhitzen auf über 100 Grad wird die
Entwicklung der Flügge sehen Bakterien nicht verhindert.
Wird die Milch nach der Erhitzung schnell abgekühlt und dann
dauernd unter 15° C gehalten, so wird dagegen das Auskeimen
der Sporen hintangehalten. Esistalsozufordern, dass 1
die Milch nicht nur sofort nach dem MelKen
erhitzt wird, sondern auch dass sie nach der
Erhitzung schnell abgekühlt und bis zur Ab¬
gabe an den Konsumenten kühl gehalten wird.
Wird diesen Anforderungen entsprochen, so
genügt eine 10 Minuten dauernde Erhitzung
auf die Siedetemperatur vollständig.
Die prinzipiellen Bedenken, welche neuerdings gegen die
sterilisierte Milch erhoben worden sind, erweisen sich bei vor¬
urteilsfreier Prüfung als hinfällig.
Richtig ist, dass die Milch durch das Kochen eine ganze
Reihe von Veränderungen erfährt. Der Geschmack wird
anders, das Albumin gerinnt, die Kalksalze fallen zum Teil aus,
die Gerinnbarkeit durch Lab wird beeinträchtigt; bei länger
dauerndem Sterilisieren fliesst das Milchfett zu grösseren
Tropfen zusammen und wird der Zucker karamelisiert, und
manches andere mehr. Ferner werden durch das Kochen die
in der Milch enthaltenen Fermente und Antikörper zerstört.
Trotz aller dieser Veränderungen, welche die Milch durch
das Kochen erleidet, wird nachgewiesenermassen sterilisierte
Kuhmilch vom menschlichen Säugling ebenso vortrefflich aus-
venutzt wie rohe, und die praktische Erfahrung zeigt, dass bei
Ernährung mit roher Milch keine besseren Erfolge erzielt wer¬
den als bei Ernährung mit sterilisierter Milch einwandsfreier
Provenienz. Der Tierversuch hat gelehrt, dass nur die art-
eigene Milch in rohem Zustande mehr leistet als in gekochtem;
in vollkommener Uebereinstimmung hiermit steht der wissen¬
schaftlich höchst wichtige, von Finkeistein erbrachte
Nachweis, dass für die Ernährung des menschlichen Säuglings
die rohe Frauenmilch allerdings der gekochten Frauenmilch
überlegen ist, dass dagegen zwischen roher und gekochter
Tiermilch deutliche Unterschiede nicht hervortreten. Auch ge¬
lingt passive Immunisierung, wie S a 1 g e nachgewiesen hat,
nur durch arteigene, nicht durch artfremde Milch.
Das Pasteurisieren der Milch hat für die Säuglings¬
ernährung gegenüber dem Sterilisieren durch Kochen eher
Nachteile als Vorzüge, da es umständlicher und weniger
sicher ist.
Der einzige Nachteil, welchen erhitzte Milch für die Säug¬
lingsernährung in der Tat hat, ist die Gefahr der Entstehung
der Barlowschen Krankheit. Es ist jedoch zu erwarten,
dass die Pathogenese der Barlowschen Krankheit binnen
kurzem so vollständig aufgeklärt werden wird, dass sie sich
mit Sicherheit wird vermeiden lassen. In bedenkliche Nähe
rückt die Gefahr der B a r 1 o w sehen Krankheit bei der Er¬
nährung mit Milchkonserven, die deshalb grundsätzlich zu ver¬
werfen ist.
Diskussion: Herren Pütz, Scharfe, Sobernheim,
Stöltzner.
Sitzung vom 7. Februar 1906.
Vorsitzender : Herr Schmidt-Rimpler.
Herr Haas ler: Diagnostische Hirnpunktion bei Hirn¬
geschwülsten.
H. stellt einen geheilten Patienten vor, den er vor einem halben
Jahre wegen einer grossen gutartigen Hirngeschwulst operiert hat,
und bespricht die moderne Technik derartiger Operationen, sowie
die neueren diagnostischen Hilfsmittel. Er betont die Bedeutung
der diagnostischen Hirnpunktion, wie sie neuerdings (Neisser
u. A.) besonders bei Entzündungsherden, Blutungen und Zysten
wieder angewendet worden ist, auch für die spezielle Diagnose der
Hirngeschwülste. Während in diesem Falle die Bedingungen für die
Punktion besonders günstig lagen, waren bei sechs weiteren ein¬
schlägigen Fällen der chirurgischen Klinik manche Nebenwirkungen
der Punktion bei der Trepanation festzustellen. Vor allem ist bei
der Punktion von Tumoren die Gefahr der Blutung zu be¬
rücksichtigen, auch bei Anwendung stumpfer Nadeln und bei vor¬
sichtiger Wahl der Einstichstellen, zumal bei stark verlagerten
und pathologisch veränderten Gefässen. Ausserdem
kann durch Blutung in den Stichkanal und seine Umgebung, sowie
durch die nachfolgenden Gewebsveränderungen
die Orientierung bei der Operation, die Beurteilung kleinster
Tumoren und ihrer Abgrenzung wesentlich erschwert
werden. Als Heilmittel wird die Hirnpunktion gegenüber der Tre¬
panation für den Chirurgen nur in sehr seltenen Ausnahmefällen in
Frage kommen, als diagnostisches Hilfsmittel verdient sie weitere
Anwendung und Verbreitung. (Ausführliche Veröffentlichung in den
1 Archives internationales de Chirurgie.)
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1327
Herr H. Hildebrandt: Mitteilungen aus dem Gebiete
der Pharmakologie und gerichtlichen Medizin.
1. Ueber die Wirkung einiger Amide.
Untersuchungen über Derivate des Piperidins ergaben,
dass sowohl der Bau des Piperidinringes als die Struktur des
den Wasserstoff der Imidgruppe ersetzenden Atonikoniplexes
von Einfluss ist auf die Intensität der physiologischen Wirkung.
Der Umstand, dass nahe Beziehungen bestehen zwischen den
ringförmigen Iminen und den sekundären Aminen der Fett¬
reihe, gab Veranlassung. Derivate dieser einer Untersuchung
zu unterziehen. Ersatz des Wasserstoffes der Imidgruppe des
Diäthylamin durch den Thymy Imethylen rest führte zu einer
Base mit wesentlich stärkerer physiologischer Wirkung, die
der des Salizyldiäthylamid entspricht. Bei Einführung
der Homologen der Fettsäurereihe — Essigsäure, Propionsäure,
Buttersäure, Valeriansäure — ergab sich, dass die Intensität
der Wirkung mit dem Molekül wächst. Aber auch in der Reihe
der Dialkylamine selbst — Diäthyl, Dipropyl, Dibutyl. Diamyl-
amin — ergab sich eine Steigerung der Wirkung mit der Zu¬
nahme der Grösse des Moleküls. Am stärksten wirkte Di-
amylamin, ohne dass ein Unterschied gegenüber dem Valerian-
säurediäthylthylamid (Valyl) in qualitativer Hinsicht vorhan¬
den war. Es handelt sich also bei der Wirkung des Valyl
nicht um Valeriansäurewirkung, sondern um Amidwirkung.
2. Ueber die Wirkung von Halogenalkyl-
Additionsprodukten des Sparte 'ins.
Das Spartein, das Alkaloid aus Spartium scoparium, ist
seit seiner Entdeckung durch Stenhouse (1851) Gegenstand
wiederholter Untersuchung gewesen, ohne dass die Kenntnis
des Baues seines Moleküls bis heute wesentlich gefördert
wurde. Neuerdings hat sich seine Identität mit dem in den
Samen der gelben Lupine vorkommenden Lupinidin heraus¬
gestellt. Seine Zusammensetzung ist CisHsoNs. Hinsichtlich
seiner physiologischen Wirkung ist bekannt geworden, dass
es die peripheren motorischen Nerven ähnlich dem Kurare
lähmt; das Aufhören der Atmung bei Vergiftung mit Spartei’n
ist nach neuesten Untersuchungen im wesentlichen durch peri¬
phere Lähmung des N. phrenicus bedingt. Endlich ist eine
lähmende Wirkung auf die herzhemmenden Vagusfasern kon¬
statiert worden, so dass deren Reizung ohne Erfolg ist und
der Muskarinstillstand durch nachträgliche Darreichung
von Spartei'n aufgehoben wird. Diese Eigenschaft des
Spartei'ns hat auch zu therapeutischen Versuchen Ver¬
anlassung gegeben. Indes hat sich gezeigt, dass Spärtem eine
schädigende Wirkung auf den Herzmuskel besitzt, indem die
Diastole auffallend verlängert wird. Ich habe kürzlich Deri¬
vate des Spartei'ns untersucht, welche durch Anlagerung von
Methyljodid bezw. Benzylbromid an das eine der beiden Stick¬
stoffatome im Molekül erhalten waren. Sie zeigten genau die
Wirkung des Spartei'ns selbst, unterschieden sich jedoch in¬
sofern. als ihnen die schädigende Wirkung auf den Herzmuskel
beim Frosche nicht zukam. Während die Kontraktionen beim
Sparteinfrosche immer schwächer und die Diastolen immer
länger wurden, blieb der Herzschlag bei den mit den Deri¬
vaten vergifteten Fröschen anhaltend normal. Doch konnte
ich die lähmende Wirkung auf den N. vagus nachweisen, indem
auch hier der Muskarinstillstand aufgehoben wurde, wenn ich
die Sparte'fnderivate zur Anwendung brachte. Versuche am
Warmblüter ergaben indes ein mit der Spartei'nwirkung völlig
übereinstimmendes Vergiftungsbild, indem es sehr bald zur
Atmungslähmung kam. Die Giftigkeit war keine geringere
als die des Spartei'ns selbst. Die den Herzmuskel schädigende
Wirkung des Spartei'ns scheint mit der Gegenwart des einen
tertiären Stickstoff im Molekül verknüpft zu sein. Im Organis¬
mus des Warmblüters scheint eine Abspaltung des Halogen¬
alkyls zu erfolgen.
3. Zur Wirkungsweise der Toluidine.
Die durch Einführung von Methylgruppen in die Amido-
gruppe des Toluidins entstehenden Verbindungen sind gleich
den Toluidinen heftige methämoglobinbildende Gifte. Eine Be¬
sonderheit zeigt das Dimethyl-o-Toluidin, indem es neben der
Methämoglobinbildung zu intensiver Ausscheidung von Oxy¬
hämoglobin im Harn von Kaninchen — nach innerlicher Dar¬
reichung von 1 bis 1,5 ccm mit Ol. oliv, gemischt — führt.
Der Harn zeigt tagelang blutrote Farbe; Blutkörperchen wur¬
den nicht nachgewiesen. Das gleiche Verhalten zeigte ein
Hund nach Injektion von 3 ccm mit Ol. oliv. ana. Hier behielt
der Harn seine braune Farbe; nach Behandeln mit Bleiazetat
wurde ein rötliches Filtrat erhalten, das die Streifen des Oxy¬
hämoglobin spektroskopisch zeigte. Trotz der schweren
Schädigung erholen sich die Tiere in einigen Tagen vollständig.
Etwas Analoges wurde bisher nur bei Arsenwasserstoff, Hel-
vellasäure und Phallin beobachtet. Die Wirkung ist bedingt
durch die o-Stellung der Methylgruppe zur Amidogruppe;
weder Dimethyl-p-Toluidin, noch Dimethylanilin zeigen diese
Wirkung.
4. Zum Nachweis von Chloraten im Harn.
Behufs Reduktion von Chloraten zu Chloriden ist neuer¬
dings die salpetrige Säure empfohlen worden; zum Nachweise
im Harn muss man erheblich mehr salpetrige Säure nehmen,
da diese zum Teil durch normale Bestandteile des Harns, vor
allem durch den Harnstoff reduziert wird, unter Bildung von
N und COa. Den auf Chlorat zu untersuchenden Harn säuert
man mit Salpetersäure an und fällt mit Silbernitratlösung voll¬
ständig aus. Das Filtrat wird solange mit Nitrit und Silber¬
lösung versetzt, bis kein Niederschlag mehr entsteht. Der
Niederschlag von AgCl wird gewogen und daraus die Menge
Chlorat berechnet.
5. Ueber den Einfluss des Anti-Emulsin auf
die Entstehung gepaarter Glykuronsäuren
im Organismus.
Vor 13 Jahren stellte ich im Anschluss an die Eh r lieh -
sehen Untersuchungen über Rizin- und Abrinimmunität fest,
dass im Organismus des Warmblüters auch den hydrolytischen
Fermenten gegenüber eine Immunität erzeugt werden kann;
das Serum der mit Emulsin injizierten Tiere zeigt „antifermen¬
tative“ Eigenschaften, indem auf Zusatz von Serum die Wir¬
kung von Ferment auf sein Substrat behindert wird: Nachweis
der Aenderung des Chemismus durch die Erzeugung des Anti¬
serums. Neuerdings ist von C. Neuberg dieses Anti-Emulsin
benutzt worden, um synthetisch ein Disaccharid aus Glukose
und Galaktose zu gewinnen. Da ich bei meinen Versuchen
feststellen konnte, dass die durch Thymotin-Piperidid erzeugte
gepaarte Verbindung durch Emulsin gespalten wird, so lag
es nahe, zu untersuchen, ob ihre Bildung durch Anti-Emulsin
befördert wird. Der Versuch fiel positiv aus: Zwei Kaninchen
(ä 1800 g) wurden 20 ccm Emulsinlösung (= 4,5 g) bezw.
0,7 proz. CINa-Lösung subkutan injiziert; nach 10 Minuten er¬
halten beide je 1.5 g Thymotin-Piperidid mittels Schlundsonde
in den Magen. Schon nach 15 Minuten zeigen sich die ersten
Krampfanfälle beim Kochsalztier, die nach ca. 1 Stunde zum
Tode führen. Das mit Emulsin injizierte Tier bleibt völlig
normal. Hiernach hat das im Organismus entstandene Anti-
Emulsin die Bildung der — indifferenten — Glykuronsäure-
verbindung begünstigt.
Diskussion: Herr Stöltzner fragt an, ob bei dem
Hunde, der durch Vergiftung mit Dimetbvlorthotoluidin komatös ge¬
worden ist, das Gehirn genauer untersucht worden ist. Bekanntlich
kommen auch bei schwerer Malaria, wo ia ebenfalls zahlreiche rote
Blutkörperchen zu Grunde gehen, komatöse Zustände vor. Man
findet dann in den Gehirnkapillaren reichlich Melanin. Es wäre von
Interesse zu untersuchen, ob auch bei Vergiftung mit chemisch wohl¬
definierten Blntgiften ähnliche Anhäufungen von aus dem Hämoglobin
stammenden Pigment in den Gehirnkapillaren zustande kommen.
Naturhistorisch-Medizinischer Verein Heidelberg.
(Medizinische Sektion.)
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 22. Mai 1906.
Herr Lewisohn: Zur Röntgenographie der Steine des Harn-
apparats (mit Projektionsbildern).
Vortr. wies eingangs auf die Bedeutung der Röntgenographie
spez. für die Diagnostik der Nieren- und Uretersteine hin, deren kli¬
nische Symptome meist nicht so einwandfrei sind, dass nicht Ver¬
wechslungen (spez. mit Nierentumoren) Vorkommen könnten. Auch
nach der negativen Seite hin ist das Röntgenbild von grösster Be¬
deutung, indem man bei Fehlen jeglicher Schattenbildung Steine von
nennenswerter Grösse, d. h. etwa von Erbsengrösse an aufwärts mit
Sicherheit ausschliessen kann. Für Blasensteine liefert die Rönt¬
genographie den sichersten Aufschluss über die Grösse des Steins,
1328
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
was für die Wahl der Operationsmethode (Lithrotripsie oder Sectio
von Wichtigkeit ist - Nach Erörterung der Technik und de
dfflerenSaldiaSostchen Fehlerauellen (Kotsten« ö ™ebol*hen e£>
demonstrierte Vortr. eine grossere Auswahl einschlägiger Komgem
«“die in den letzten beiden Jahren an der He.de bwOnb
gischen Klinik aufgenommen wurden und dazu kurze kh i h
Haten Speziell wies er darauf hin, wie ott ganz kleine bteincnen
schw ere Symptome machen und wie oft solche halle fälschlicherweise
als Pyelitis behandelt werden. Zutn Schluss zeigte er noch als
Rarität das Röntgenbild eines mandarinengrosseil Steines, der SKh m
rdnpr vnr s Jahren operierten Hydronephrose gebildet hatte unu
dessen Vorhandensein erst durch die Photographie festgestellt wuroe.
Extraktion vor 3 Monaten, jetzt vollständige Peilung.
Diskussion: Herren Lefmann, Lewisohn.
Herr lsserlin (als Gast): Die diagnostische Bedeutung
der Assoziationsversuche. ,. ,
Während das Assoziationsexperiment ursprünglich the-
retisch-psychologischen Interessen dienen sollte, ist es spater iin
und besonders in neuester Zeit vorwiegend als praktisches un
relativ sicheres Hilfsmittel für individualpsychologische und
psychopathologische Zwecke, zu der Kennzeichnung indivi¬
dueller Differenzen, sowie der Fixierung der Eigenarten, welche
ein Krankheitsprozess setzt, benutzt worden. Vortr. gibt eine
Ueberblick über die gundlegenden Arbeiten Krae P el 1 ^ lind
Aschaffenburg s, welche den Einfluss von Erschöpfung
und Alkohol sowie die Störungen im manisch-depressiven Irre¬
sein in Assoziationsversuchen dargelegt haben. Er erörtert
ferner die psychopathologischen Assoziationsstudien S om-
m e r s sowie die übrigen im Laboratorium der Giessener Klini
ausgeführten Assoziationsarbeiten (von Wreschner, Fuhr¬
mann, lsserlin), welche insbesondere die Storungen des
Vorstellungsablaufs in der Epilepsie und bei Imbezillität be¬
treffen. Er streift hierhergehörige Arbeiten von R a u s c n -
bürg und Riklin, um dann über die wichtigen Untei-
suchungen Ziehens über die Assoziationen der Kinder zu
berichten. Er geht ferner genau auf die jüngsten Arbeiten der
Züricher Psychiatrischen Klinik (von Jung, J u n g - R i k i n
und W e b e r 1 i n) ein, in welchen er eine Bereicherung dieses
Arbeitsgebietes erblickt. Er weist auf die Versuche an Ge¬
sunden hin, den Nachweis von Unterschieden zwischen Ge¬
bildeten und Ungebildeten, des Einflusses der Aufmerksamkeits-
ablenkung (Verflachung des Reaktionstypus) und die Unter¬
scheidung von objektiv und subjektiv Reagierenden. Besonders
wichtig erscheint der Nachweis des Einflusses gefühlsbetonter
Komplexe durch charakteristische Kennzeichen der Reaktionen
sowie die Verlängerung der Reaktionszeit. Vortr. stimmt auch
den Behauptungen J.s und R.s über die Reaktionen Hysterischer
bei welche einen extrem subjektiv reagierenden Typ mit reich¬
lichen Komplexwirkungen darstellen, wie er auch in einigen
Versuchen hat bestätigen können. Ablehnen muss dagegen der
Vortr. die Verwertung dieser Resultate im Sinne der F r e u d -
sehen Hysterielehre. Vortr. erwähnt endlich eigene, noch nicht
abgeschlossene Untersuchungen an Manischdepressiven, ins¬
besondere Mischzuständen. Er weist zusammenfassend auf die
Brauchbarkeit des Assoziationsversuchs als Hilfsmittel für die
Diagnose hin, betont freilich, dass dieses Verfahren, wie jedes
experimentell-psychologische, nur eine Seite des psychischen
Erlebens wiedergeben und darum der Ergänzung durch andere
Hilfsmittel bedürfe. Den Schluss der Ausführungen bilden Er¬
örterungen über die Möglichkeit einer Anwendung des Asso¬
ziationsverlustes in der Kriminalistik im Sinne einer sogen.
.Tatbestandsdiagnostik“. Die Möglichkeit ist theoretisch ge-
■ geben, praktisch stehen ihr mancherlei Schwierigkeiten im
Wege.
Herr lsserlin berichtet auf Befragen Prof. N i s s 1 s über den
sogen, „galvanischen psychophysischen Reflex“ (Veraguth) und
dessen Verwendung zum Nachweis gefühlsbetonter Komplexe. Er
hält die vom Vortr. berichteten Schwankungen des Galvanometers bei
Gemütsbewegungen für durch physikalische Endeffekte von Aus-
drucksbewegungen bedingt, die Verwendung des Phänomens zum
Komplexnachweis aber erst noch weiterer Untersuchungen bedürftig.
Diskussion: Herr N i s s 1.
Gynäkologische Gesellschaft in München.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 21. Juni 1906.
Vor der Tagesordnung: , . , .
Herr Eggel demonstriert eine Frau mit ausgedehntem peri¬
urethralem Karzinom.
Diskussion: Herr Aman n.
Herr Ludwig Seitz: Ueber Stieldrehungen von Parovarial-
zysten^rtr berichtet zunächst über 2 eigne Beobachtungen; bei der
einen hatte die Stieldrehung zu einer Zweiteilung des ^ars mi
hämorrhagischer Infarzierung des abgesprengten lateralen Abschnittes
geführt irrtümlich war Pyosalpinx angenommen worden, bei dem
9 palle trat die Stieldrehung am 5. Tage des Wochenbettes aut,
während der Geburt hatte die Zyste den Eintritt des Kopfes , ms
Becken verhindert, doch gelang es, sie über den Beckeneineang
hinauf zu schieben, worauf der Kopf spontan eintrat.
Vortr. führt des Weiteren aus, dass Stieldrehungen bei Pai-
ovarialzysten weit häufiger Vorkommen, als man nach den spärlichen
Berichten in der Literatur gewöhnlich annimmt. Dn™Ha Atomen
scheinungen gleichen denen bei Torsionen von Ovarialzystomen,
daher in der Regel auch die Verwechslung mit .sol^en. Verwach¬
sungen mit Nachbarorganen kommen vor, sind aber seltener als
bei Ovarialtumoren, auch ist die hämorrhagische Infarzierung m
so ausgedehnt wie 'bei jenen. Fast typisch für Stieldrehungen von
Parovarialzysten ist der hämorrhagische Infarkt des Ovars der be
treffenden Seite, das auf das Mehrfache seiner ursprunghehen Grosse
anschwellen und das total oder bis auf wenige normale Reste in der
Rinde blutig suffundiert sein kann. (Autoreferat. p • ,
Diskussion: Herr Brünings demonstriert eine Par«yaria
zyste von einer 24 jährigen Virgo, die nach emem Sturze mit
tieen peritonitischen Erscheinungen erkrankt war. Operation^ nei
£ Die Zyste und das Ovar boten die charakteristischen Zeichen
der Stieldrehung.
Herr Wiener: Demonstrationen. ,
a) Parovarialzyste, um 360° um ihren Stiel gedreht; derselbe
war so lang, dass der Tumor zwischen dem Uterus und dei vor¬
deren Beckenwand auf die rechte Seite des Uterus hmubergewander
war und daher bei der Untersuchung als rechtsseitige Z>ste im
ponierte, während er tatsächlich von der linken Seite ausging.
Heilung. 'Doppelseitige Dermoide von einer 25 jährigen Patientin, die
grössere rechte um 180 0 gedreht, bei gleichzeitig bestehender Gravi¬
dität Im’ 4. Monat. Die Gravidität wurde durch die Operation nicht
UIlterc)r Kopfgrosse Ovarialzyste, um 720° um ihren Stiel gedreht,
mit akuten Erscheinungen Operation «eilung.
Diskussion: Die Herren : Stumpf, Ludwig e 1 1 z und
Aman n Letzterer erwähnt einen Fall von stie gedrehter Par¬
ovarialzyste, wobei auch die Appendices epiploicae der Flexura sig-
moidea in die Drehung mit inbegriffen waren. c+riWiiren
d) 7 V* Monate alter Fötus mit atresia am, zahlreichen Strikturen
des Darmes Nabelhernie, offenem Meckel sehen Divertikel und Au.-
stülpung des Dünndarmes, sodass die Hernie in ihrem Ansatz eite aus
Nabelhernie und in ihrem oberen Teil aus Dunndarmschleimhaut
bestand.^ k ^ ^ _ Q n; Herren: Amann, Ludwig Seitz: Letz¬
terer demonstriert im Anschluss daran 3 Föten mit Nabelhernien ver¬
schiedenen Grades; bei dem einen ist die Hernie teilweise mit Epi
deimHerrbeOZbeernndorfer demonstriert die mikroskopischen Pra-
narate eines typischen Chorionepithelioms einer 25 jährigen Patientin,
Ste in der psychiatrischen Klinik unter den Erscheinungen eines
Hirntumors gestorben war. ... . Miinrhen
Diskussion: Herr Hormann. G. Wiener- München.
Münchener Gesellschaft für Kinderheilkunde.
Sitzung vom 21. Juni 1906.
Herr Gustav W o 1 f als Gast zeigt ein lljähr. Mädchen mit ent¬
wickeltem Morbus Basedow, der durch Antithyreoidinserum nach
Möbius (60 ccm in 2 Monaten) in allen Symptomen wesentlich ge¬
bessert wurde.
Diskussion: Herren Seitz, Spiegelberg, P f a u n d -
1 e r der in Graz nur 1 Fall vor der Pubertät gesehen hat. Die Be¬
handlung mit Milch einer vorbehandelten (1 otalexstirpation) Ziege
hatte dabei keinen Erfolg. Herr Seitz: in München kommen jähr¬
lich einige weniger ausgesprochene Fälle zur Beobachtung. Herr
Uffenheimer.
Herr Mennacher berichtet unter Vorführung von mikro¬
skopischen Blut- und Gewebspräparaten über einen Fall von chro¬
nischer lymphatischer Leukämie bei einem 11 monatigen Kinde (er¬
scheint ausführlich in Druck). . Fr
Diskussion: Herr Pfaundler meint nach eigener Er¬
fahrung, es könne sich auch um das Endstadium einer Anaetma
pseudoleucaemia (Jaksch) handeln. Herren Seitz, Mennacher.
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1329
Herr Mennacher berichtet ferner über einen Fall von
doppeltem Tonsillarabszess nach einer als Diphtherie erwiesenen
menibranösen Tonsillitis im Anschluss an Scharlach.
Diskussion: Herren Seitz, Pfaundler, Ada m.
Herr Spiegelberg zeigt den Magen eines an Hydrocephalus
int., fast 8 Monate alt atrophisch verstorbenen Kindes; systolisch ver¬
engt, fasst nur 25 — 30 ccm Wasser unter Druck.
Spiegelberg.
Berliner medizinische Gesellschaft.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 27. J u n i 1906.
Demonstrationen :
Herr Schönstädt; 72 jähr. Frau mit Hernia ischiadica.
Vor ca. 1 Jahr ischiasartige Schmerzen, jetzt Tumor, der sich
durch Elastizität und Reponibilität bezw. Hervorkommen durch Husten
als Hernie erweist. Pelotte erfolglos versucht, deshalb Operation
in Aussicht genommen.
Herr P. Hey manu: 14 jähr. Mädchen mit multiplen grösseren
Osteomen am Schädel; ein am nasalen Teil des Orbitalrandes
sitzendes verdrängt das Auge nach aussen, soll demnächst operiert
werden. Ausserdem einige diesbeziigl. Schädel aus dem patholog.
Institut.
Herr Türk: Junger Mann, der lVz Jahre lang einen Metall¬
splitter im Auge gehabt.
Verrostungserscheinungen und Linsentrübung. Entfernung des
Splitters mittelst Magnets, Diszission der Linse und Resorption der¬
selben; erhebliche Besserung des Sehvermögens.
Herr Zondeck: Mädchen mit nach Trauma entstandener sinu-
öser Venenerweiterung in der linken Parotis.
Kommunikation mit den intrakraniellen Venen anzunehmen, ob¬
wohl kein Basisbruch nachzuweisen, wegen Füllung des Venensinus
auch dann, wenn alle äusseren Venen komprimiert werden. Erör¬
terung der Möglichkeit einer angeborenen Anomalie. Therapie: Ver¬
meidung einer mit Kopfneigen verbundenen Beschäftigung und
Bandage.
Herr Bockenheimer: Mehrere Kinder mit verschiedenen
Formen von spina bifida.
Erörterung der verschiedenen Formen und ihrer klinischen Be¬
deutung bezw. Behandlung.
Herr Co eh neu: Mann mit multiplen Gesichtskarzinomen (Lippe
und Wange); ersterer Hornkrebs, letzterer wahrscheinlich von Talg¬
drüsen ausgehend. Operation demnächst.
Herr Guhlecke: 2 Frauen mit isolierter Taiusluxation.
Beide durch Sprung bezw. Fall entstanden; einer reponiert und
geheilt; der andere mit äusserer Wunde kombiniert, irreponibel
gewesen, daher blutige Reposition, Eiterung. Entfernung des Talus,
narbige Verzerrung des Fusses nach innen, Resektion der Malleolen¬
gabel und Stellungskorrektur; ziemlich gutes funktionelles Resultat,
dessen weitere Besserung erwartet wird.
Herr Feilchenfeid: Neue Wunöklammer zur raschen Ver¬
einigung tieferer Gewebspartien, empfehlenswert bei mangelnder
Assistenz. Hans K o h n.
Verein für innere Medizin zu Berlin.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 25. J u n i 1906.
Herr v. Leyden demonstriert Lungen und Herz eines Falles
von Mitralstenose mit gleichzeitiger Lungentuberkulose, der insofern
einen Beitrag zum K u h n sehen Vortrage bilde, als er trotz schein¬
baren Widerspruches eine Bestätigung der R o k i t a n s k y sehen
Lehre von der Seltenheit der Lungentuberkulose bei Mitralstenose
erbringe. Die Kranke ist nämlich nicht an ihrer Tuberkulose ge¬
storben, sondern an Herzschwäche infolge des Herzfehlers, und die
Tuberkulose sei alten Datums, habe schon vor dem Entstehen des
Herzfehlers bestanden und trotz schwerer hereditärer Belastung keine
Neigung zum Fortschreiten gezeigt, eben infolge des günstigen Ein¬
flusses des Herzfehlers.
Diskussion: Herr F. Kraus: Seine eigenen Erfahrungen
stützen die Lehre Rokitanskys, nur in 5 Fällen habe er das
Gegenteil gesehen. Anders sei es bei Herzfehlern, welche zur Anämie
der Lunge führen, so insbesondere der myelitischen Pulmonalstenose.
Herr Westenhoeffer: In der demonstrierten Lunge handle
es sich aber nicht um alte Tuberkulose, sondern um eine frische
Eruption mit käsig-pneumonischen Herden.
Herr v. Leyden: Dies könne er nicht zugeben.
Diskussion zum Vorträge des Herrn Kuhn: Ueber
eine Lungensaiigmaske. (Fortsetzung.)
Herr Bickel erinnert an Leos Angabe, eine Hyperämie der
oberen Lungenpartien durch Tieflagerung des Oberkörpers zu er¬
zielen; er selbst habe nach dem Vorgänge Quinckes bei Kranken
mit viel Sputum schon früher derartige Lagerung angewandt und nach
anfänglicher Steigerung des Auswurfes eine" Verminderung erzielt,
freilich nicht konstant. Bei Kranken mit wenig Sputum hatte er
keinen Einfluss auf die Krankheit gesehen.
Herr F. Kraus: Diese Behandlung sei nicht lange durchzu-
fuhren, weil der Husten dadurch zu sehr gesteigert werde.
Herr Apolant: Zur historischen Wahrheit erinnere er daran
dass er schon vor Quinc k e diese Lagerung angegeben und noch
vor seiner diesbezüglichen Publikation derartige Massnahmen u. a
bei Lungenabszess getroffen habe.
Tagesordnung:
Herr Hugo Feilchenfeid: Anästhesie als Heilfaktor
bei Augenentzündungen. Hans Kohn.
Aus den Pariser medizinischen Gesellschaften.
Societe de therapeutique.
Aprilsitzung.
Behandlung der See- und Eisenbahnkrankheit.
fi a f * befrachtete viele Personen, welche bei Eisenbahn-
jahrten ähnliche Symptome zeigten, wie sie bei Seekrankheit Vor¬
kommen; er war erstaunt von der Aehnlichkeit, welche zwischen
diesen beiden Zuständen einer- und den Anfällen bei Hyperazidität
andeierseits besteht und konnte in der Tat konstatieren, dass das Er¬
bt ochene bei See- und Eisenbahnkrankheit eine sehr stark sauere
Reaktion hatte. Wenn also die Seekrankheit ein Anfall von Hyper¬
azidität ist, so muss man sie mit denselben Mitteln bekämpfen, welche
gegen die Gastroxynsis Erfolg haben. Das V a li d o 1, der Valerian-
ester des Menthols, welches auf den englischen und französischen
Schiffen mit Erfolg angewandt wird, hat B. bei einer grossen An-
zahl von Fällen von Hyperazidität gebraucht und sich von dessen
sekretionshemmender Wirkung überzeugt. Er wandte es sodann bei
der Eisenbahnkrankheit an und fand es, 10 Tropfen auf Zucker vor
Antritt der Reise d. h. bei Betreten des Koupees gegeben, bei nicht
zu langen Reisen sehr wirksam. Um aber auch bei langen Reisen
den gewünschten Erfolg zu haben, musste ein Mittel noch zugegeben
werden, welches auf die verschiedenen beteiligten Organe beruhigend
wirkte und es fand sich in der von R o b i n zusammengesetzten
Mischung, welche folgendermassen lautet: Picrotoxin. 0,05, Morphin,
hydrochl. 0,05, Atropin, sulf. 0,01, Validol 10,0, Curaqao (sic! Ref.) 24,0.
Man lässt diese Mischung kaffeelöffelweise nehmen, wenn nötig alle
Stunden, aber nicht mehr wie 5 Kaffeelöffel pro Tag. B empfiehlt,
beim Betreten des Schiffes folgendes Pulver: Calc. carbon. 3,0, Mg'
hydr. 2,0, Bismut. subnitr. 0,5, in 50 g Wasser verteilt und 1 Kaffee¬
löffel obiger Mischung zugesetzt, zu geben; beim ersten Anfall die¬
selbe Medikation zu wiederholen. Die Diät muss dabei eine sehr
strenge sein: nur etwas Milch, wenn der Patient wirkliches Nahrungs¬
bedürfnis hat, späterhin Milch, Kaffee mit Milch, Butterbrot, trockenei
Kuchen, weiche Eier, grüne Gemüse, gekochtes Obst, alles in mässigen
Mengen. Er sollte dies auf etwa 5 kleine Mahlzeiten pro Tag ver¬
teilen und nicht eher an der gemeinsamen Tafel teilnehmen, als er
sich völlig an das Schiff gewöhnt hat.
Desesquelle hatte mit Bromwasser, esslöffelweise pro Tag
5—10 mal genommen, guten Erfolg bei der Seekrankheit. St.
Aus den englischen medizinischen Gesellschaften.
Glasgow Medico-Chirurgical Society.
Sitzung vom 6. April 1906
T. K. Monro und A. N. McGregor demonstrierten einen
40 jährigen Zahnarzt, bei dem sie die Operation der Epiplopexie mit
gutem Erfolg ausgeführt hatten. Der Patient hatte über Schmerzen
in der Lebergegend., Hämatemesis und schliesslich Aszites zu klagen
gehabt und war etwa 6 Monate in Behandlung gewesen. Man er-
öffnete die Abdominalhöhle oberhalb des Nabels und entleerte eine
gi össere Menge Flüssigkeit. Dabei konstatierte man Leberzirrhose
und Adhäsionen zwischen dem Pylorusteil des Magens und der unteren
Lebei fläche. Es wurde alsdann das Omentum ausgebreitet und mit
je 3 Reihen von Nähten mit der Peritonealfläche der vorderen Bauch¬
wand zu beiden Seiten der Inzision vereinigt. Darauf wurde die
Bauchwunde geschlossen, wobei das Omentum mit den vereinigenden
Sutuien zugleich gefasst wurde. Die Heilung erfolgte per primam,
und jetzt hat sich nach 8 Monaten der Patient bei völligem Wohl¬
befinden wieder vorgestellt. Abgesehen von einer vorübergehenden,
nicht bedeutenden Melätia ist keinerlei Störung zu bemerken ge¬
wesen. Zurzeit ist die Milz vergrössert und beim Inspirieren palpabel;
die Leber ist ein wenig kleiner geworden. Vom unteren Ende der
Naibe verläuft eine stark dilatierte Vene nach der linken Leiste hin,
abei sonst sind keine Varizen und namentlich kein Aszites zu kon-
statiei en. P h i 1 i p p i - Bad Salzschlirf.
1330
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
34. Deutscher Aerztetag in Halls a. S.
am 22. und 23. J u n i 1906.
(Eigener Bericht.)
Wenn wir mitteilen können, dass sich in Halle mehr Delegierte
mit mehr Stimmen als auf allen früheren Aerztetagen eingefunden
hatten, so ist diese Erscheinung ohne jede Frage auf die werbende
Tätigkeit des Leipziger Verbandes zurückzuführen. Von 371 dem
Deutschen Aerztevereinsbunde angehörigen Vereinen mit 22 300 Mit¬
gliedern waren 294 mit 20 532 Mitgliedern durch 287 Delegierte ver¬
treten. Es fehlten demnach offenbar nur kleinere Vereine und die
Beteiligung darf wohl als eine hohen Anforderungen genügende be¬
zeichnet werden.
Die sehr reiche Tagesordnung zeigte insoferne gegenüber denen
der letzten Aerztetage eine angenehme Veränderung, als nicht aus¬
schliesslich Krankenkassenfragen dieselbe bildeten. Es mag das als
ein gutes Zeichen dafür betrachtet werden, dass dank der Tätigkeit
und Wachsamkeit des Leipziger Verbandes die Verhältnisse der
Kassenärzte zu den Krankenkassen sich im allgemeinen gebessert und
zu ruhigeren gestaltet haben. Möge die allseits ausgesprochene Er¬
wartung, dass dies auch in Zukunft sich noch weiter bessern möge,
eine gerechtfertigte sein.
Es wird wohl in keinem Parlamente die Thronrede mit giösserer
Spannung erwartet werden, als in unserem Aerzteparlamente all¬
jährlich die bereits als glänzend bekannte Eröffnungsrede des allseits
verehrten Vorsitzenden, Prof. Dr. Löbker. Auch er hob in semei
Einleitung hervor, „dass dank der immer fester und inniget aus¬
gebildeten Organisation und Einigung unserer Reihen, gewiss aber
auch zum Teil dank besserer Einsicht und grösserem Verständnis
für unsere Bedürfnisse und Rechte bei den Kassenvorständen an
sehr vielen Stellen im Reiche die Regelung der Arztfiage für beide
Teile günstige Fortschritte gemacht hat“. Er gedachte der Kampfe
des letzten Jahres in Königsberg, Remscheid und Münster und meinte.
„Gesiegt aber haben sie nur, weil sie einig waren und tieu zu¬
einander gestanden sind!“ Besonders betonte er, dass wir den
Kampf nicht wünschen lind ihn nur führen, um uns zu verteidigen,
oder da, wo der Hieb den besten Schutz gewährt. Auch erklärte er
ausdrücklich, dass „wir endlich nur auf Anrufen, niemals aber gegen
den Willen der Aerzte auf dem Plane erscheinen“. „Von unseren
Grundsätzen aber — dies erklärte er mit erhobener Stimme — geben
wir nichts preis, jedes Feilschen und Handeln ist ausgeschlossen.
Sodann berührte er die Frage der Mittelstandskrankenkassen. Er
führte aus, dass wir im allgemeinen nichts gegen derartige Bestre-
bungen hätten, so lange diese nicht dazu führten, „zu einer Lockeiung
des bisher bestandenen Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und
Patienten auch in den Kreisen der Nichtversicherungspflichtigen zu
führen“ oder wenn sich auch hier ein Kassenvorstand zwischen Arzt
und Patient schieben oder uns zu politischen Parteizwecken aus-
nutzen wolle. Es sei' hocherfreulich, dass sich solcher Gefahr gegen¬
über sogar in Berlin 95 Proz. der Kollegen zur gemeinsamen Abwehr
zusammengeschlossen hätten.
Auch der Abweisung des Angriffes von seiten der rheinisch¬
westfälischen Betriebskrankenkassen gedenkt er, ebenso des 7. inter¬
nationalen Kongresses für Arbeiterversicherung in Wien und der
schweren und anerkennenswerten Arbeit unserer Krankenkassen¬
kommission für diesen Kongress: ..Nun möge man uns endlich hören
als Sachverständige auf diesem Gebiete“ (sozialpolitischer Gesetz¬
gebung)! „Jeder Arzt soll sich in seinem Wirkungskreise an diesen
Bestrebungen beteiligen; eine solche Tätigkeit ist nicht mindei wich¬
tig als die Arbeit in der praktischen Hygiene; sie fördert das All¬
gemeinwohl und schützt den Aerztestand vor vielen Schädigungen
auf wirtschaftlichem Gebiete.“ In Verfolgung solcher Ideen habe
auch der Geschäftsausschuss beschlossen, das ärztliche Vereinsblatt
durch einen sozial-ärztlichen und ärztlich-wirtschaftlichen teil zu
erweitern und vom 1. Januar 190* ab wöchentlich erscheinen zu
lassen. Bei dieser Gelegenheit könne er es sich nicht versagen, die
Kollegen, die Talent und Zeit dazu hätten, aufzufordern, durch Mit¬
arbeit an den politischen Tagesblättern an der Erziehung und Auf¬
klärung des gesamten Laienpublikums in richtigen Anschauungen aut
hygienischem und sozialmedizinischem Gebiete mitzuwirken. Er
gedenkt hier der grossen Verdienste des leider zu früh dahin-
gegangenen Berliner Kollegen Wolf Becher in der Redaktion dei
Vossischen Zeitung. Er schloss mit den Worten: „Wohl hat unser
Stand zurzeit, angewiesen auf die eigene Kraft, schwer zu lingen
für die Sicherung der materiellen Lage seiner Mitglieder, die ge¬
währleistet sein muss, wenn der Arzt die ihm durch die Forderungen
der Zeit und der Gesetzgebung gestellten Aufgaben auf sozialem Ge¬
biete erfüllen soll. Dennoch sind wir uns voll bewusst, dass die
Wurzeln unseres Könnens und Schaffens gegründet sind in dem Boden
der Wissenschaft, als deren Jünger wir auf deutschen Hochschulen
erzogen wurden.“ Reicher, herzlicher Beifall folgte der herrlichen
Rede, in der der männliche und bei dem Mangel jeder Ueberhebung
selbstbewusste Ton wohltuend berührte. .
Sodann begrüsste der Vorsitzende die erschienenen offiziellen
Vertreter Von diesen antwortete im Namen des preussischen Kultus¬
ministeriums Geheimrat Aschenborn -Berlin und versicherte
(wie wir das ja gewöhnt sind!) die Aerzte des Wohlwollens des
Ministers, als Vertreter der Regierung des Merseburger Kreises
Regierungspräsident v. Recke und als Repräsentant der Feststadt
der erste Bürgermeister Dr. Rieve: ohne die selbstlose Mitwirkung
der Aerzte, die dem Volke Schützer und Berater gewesen, sei ein ge¬
sundes Aufblühen von Staat und Gemeinden nicht denkbar. . 1 rotz-
dem aber die Allgemeinheit, nicht eingedenk der Dankespflicht für
diese Arbeit der Aerzteschaft, die Bestrebungen der Aerzte zur
Hebung ihrer wirtschaftlich schlechter gewordenen Lage nicht unter¬
stütze, riefen dieselben nicht wie andere Leute nach Staatshilfe,
sondern suchten aus eigener Kraft ihre Unabhängigkeit und ihr
Recht zu gewinnen. Als Rektor der Universität wandte sich Prof.
Sch m i d t - R i m p 1 e r in seiner mit grossem Beifall aufgenommenen
Rede gegen die Weiterausbreitung der Akademien für praktische
Medizin. Wir wollten keine medizinischen Fachschulen und die
Medizinstudierenden dürften nicht von der Alma mater getrennt
werden. Für die Ausbildung der Praktikanten sei es aber besser,
wenn sie tüchtigen praktischen Aerzten in die Hand gegeben würden.
Auch für die Ausbildung von Spezialärzten sollten keine eigenen
Einrichtungen getroffen werden. Nach diesen Worten kam die Be-
grüssung des Dekanes der medizinischen Fakultät, Prof. Hai n a c k.
Trennung von Wissenschaft und Praxis würde unzeitgemäss und er¬
folglos sein. Im Kampfe gegen Neid und Unverstand müssten wir
einig sein, denn wir seien alle Mitglieder der ordo medicans.
Diesen Reden folgten Dankesworte des Vorsitzenden und dann
eine besondere Begriissung des Kollegen, Reichstagsabgeordneten
Dr. B e c k e r und der auswärtigen Vertreter. Es waren erschienen
für Oesterreich Dr. E 1 1 m a n n und drei Gäste aus den Nieder¬
landen. Für die Abhaltung des nächsten Aerztetages lagen Ein¬
ladungen der Städte Münster (schon vom Vorjahre), Eisenach und
Mannheim vor. _
Die eigentliche Tagesordnung wurde begonnen mit dem Ge¬
schäftsberichte des Generalsekretärs S.-R. H e i n z e. Demselben ist
zu entnehmen: Abmachungen mit den Lebensversicherungsgesell¬
schaften über einheitliche Formulare für Hausarzt- und kleine Atteste,
definitive Abweisung der Versuche der homöopathischen Aerzte, in
den Aerztevereinsbund aufgenommen zu werden und Bilanzziffer des
Kassenberichtes mit 181 476 M. 42 Pf.; Vermögensbestand am 31. De¬
zember 1905: 45 409 M. 53 Pf.
Die infolge der Aenderungen im Vereinsblatt notwendigen ge¬
schäftlichen Verschiebungen machen eine Verlegung der Geschäfts¬
stelle nach Leipzig notwendig. Diese wurde dem Antrag des Ge¬
schäftsausschusses entsprechend genehmigt. Sitz des Aerztevereins-
bundes bleibt Berlin.
Bei dieser Gelegenheit ermahnte Löbker die Kollegen, dahin
zu wirken, dass die Zahl unserer Standesvertreter in den Parlamen¬
ten stets wachsen möge.
Als Punkt 4 der Tagesordnung folgte das Referat Pfeiffer-
Weimar über: Forderungen und Vorschläge der Aerzte zur Abände¬
rung der deutschen Arbeiterversicherungsgesetze. Das zweistündige,
mit grösstem Fleisse ausgearbeitete Referat blieb infolge der un¬
günstigen akustischen Verhältnisse des Saales und einer stimmlichen
Indisposition des Referenten leider einem sehr grossen Teile der
Teilnehmer absolut unverständlich. Pfeiffer hatte sein Referat in
3 Teile zerlegt. 1. Forderungen der Aerzte, 2. Vorschläge zur Re¬
form der Arbeiterversicherung und 3. Thesen der Krankenkassen¬
kommission für den Aerztetag in Halle. Seine Ausführungen sind in
möglichster Kürze zusammengefasst ungefähr folgende: Das Herein¬
ziehen sozialpolitischer Vorschläge in die Tätigkeit der Kranken¬
kassenkommission und in deren Berichte lasse sich heute absolut nicht
mehr vermeiden. Aber bei allen zurzeit schwebenden Fragen sei
eine weise Zurückhaltung notwendig, um zunächst nicht die erreich¬
baren Ziele hinauszuschieben. Ueber „das Erreichbare“ seien aller¬
dings noch die Meinungen geteilt. Die Broschüre der Kommission für
den Wiener Kongress sei eine Gelegenheitsarbeit gewesen. Der Kon¬
gress, an dem sich zum ersten Male eine Anzahl deutscher Aerzte
als freiwillige Vertreter der deutschen Aerzteorganisation beteiligt
hatten, habe gelehrt, „wie notwendig es sei, dass bei solchen Ge¬
legenheiten die Aerzte aus ihrer Erfahrung heraus mitarbeiten, wie
notwendig auch, dass sie ihre Forderungen besser bekannt geben“.
Der Aerzteverband sei eine Gewerkschaft. Das habe der National¬
ökonom P.Mombert- Karlsruhe betont. Alle Gewerkschaften aber
hätten als Produzentenverbände Vertragskommissionen. Deshalb
müsse auch bei einer gesetzlichen Neuregelung des Krankenversiche¬
rungsgesetzes der Reichstag und das Ministerium sich mit dem
Bestehen und der Tätigkeit der Vertragskommissionen abfinden. Die
gewerkschaftliche Stellung sei der Aerzteschaft als solcher eigent¬
lich fremd und zuwider, aber wir seien von aussen her durch die
Krankenkassen und deren Vorstände hineingedrängt worden. Er
bringt theoretische und praktische Erwägungen über Vertrags- und
Einigungskommissionen und deren Tätigkeiten. Ueber die Stellung
des Aerzteverbandes zu den Orts- und Betriebskrankenkassen sagt
er: „Wir betonen an dieser Stelle, dass neun Zehntel aller bisherigen
Streitfälle nicht aus Honorarforderungen, sondern aus der Stellung
der Machtfrage von seiten der Krankenkassenvorstände ihren Ui-
sprung genommen haben. Neuerdings sei eine Abnahme der Be¬
unruhigungen von seiten der Ortskrankenkassen eingetreten, denn
es seien eben die Forderungen der Aerzte als gerechte und massvolle
anerkannt worden. Schon aber erhebe sich eine neue Gegnerschaft
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1331
in den Betriebskrankenkassen (z. B. allgemeiner deutscher Knapp¬
schaftsverband und Verband rheinisch-westfälischer Betriebskranken¬
kassen). Diese der Grossindustrie gehörenden Institute wollen mit
Hilfe des Reichstages den Zwang zu ärztlicher Hilfeleistung einführen
lassen. Auch die Ablehnung der unbeschränkt freien Arztwahl ver¬
langen diese Herren, obwohl von der Aerzteschaft eine solche (un¬
beschränkt freie!) niemals verlangt wurde. Diese Grossindustriellen
wollen „ihre“ Aerzte in das Verhältnis eines Kassenbeamten herab¬
drücken und ihnen gleichzeitig die persönliche Freiheit aufs strengste
beschneiden durch Versagung der jedem Arbeiter gewährleisteten
Koalitionsfreiheit, freier Vereinbarung des Honorares, Ausschluss von
der freien Arztwahl etc. Kurz, sie wollen „ihre“ Aerzte aus der
Aerzteorganisation reissen, um diese, deren Macht ihnen unbequem
ist, zu sprengen. Deshalb wird der kommende Kampf schwerer wer-
' den als der gewesene. Aber trotzdem die Regierung auf seiten der
Grossindustriellen sein wird, werden wir den Kampf siegreich be¬
stehen, wenn sich jeder Arzt dessen bewusst bleibt, was von ihm
mit Recht erwartet werden kann und muss.
Bei dem Kapitel: freie organisierte Arztwahl sagt er: „Auch
auf dem Lande ist die organisierte freie Arztwahl das einzige Mittel,
die Krankenversicherung in die Höhe zu bringen, wenn es auch
paradox klinge. Er führt dafür schlagende Beispiele an. Dass auch
bei den Bahnkrankenkassen die Durchführung der bedingt freien
Arztwahl möglich sei, beweist er durch das Vorgehen der Direk¬
tionen Schweidnitz, Frankenhausen und Weimar. An der 2000 Mark-
Grenze sei festzuhalten im Interesse des Bestandes der Aerzteschaft.
Der Selbstverwaltung der Kassen steht er günstig gegenüber und hält
dieselbe für geeignet, einen gesunden Aufschwung derselben zu be¬
günstigen, solange nicht mit der Selbstverwaltung Missbrauch in
parteipolitischem Sinne getrieben wird. Politik gehöre in die Kran¬
kenkasse ebensowenig wie Religion. Gegenüber den M u g d a n -
sehen Vorschlägen (s. Zeitschr. f. Sozialwissenschaft, Heft 3 und -4,
1 906) verhält er sich im Grossen und Ganzen ablehnend und be¬
gründet diese Stellungnahme näher.
Die Frage der Arbeitslosenversicherung wird vom Referenten
kurz besprochen. Am wichtigsten erscheint der Schlussatz dieser
Erörterungen: „Jedenfalls ist die Arbeitslosenfürsorge wichtig genug,
dass die Gesetzgeber sich von den Aerzten eingehend unterrichten
lassen über den Umfang der bereits von den Krankenkassen
getragenen Arbeitslosenversicherung. Dieser Anteil ist grösser als
der noch zu deckende Rest.
In der Frage der Zusammenlegung der drei grossen Versiche¬
rungen (Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung) steht die Kom¬
mission auf dem Standpunkt, dass dieselbe „nicht dringlich, zur Zeit
nicht einmal ratsam, zum Teil bis auf weiteres gar nicht durchführ¬
bar sei.“ Auf jeden Fall werde die Unfallversicherung getrennt
bleiben, schon weil die einflussreichen Arbeitgeber gar nicht daran
denken, ihre Interessenmacht (in den Berufsgenossenschaften) aufzu¬
geben. Die Krankenkassenkommission habe folgende Thesen für den
Aerztetag zur Beratung gestellt:
„I. Die Verschmelzung der drei Arbeiterversicherungsgesetze
ist nicht dringlich, zurzeit nicht einmal ratsam, zum Teil bis auf
weiteres gar nicht durchführbar.
II. Der Verschmelzung der sozialen Versicherungsgesetze muss
eine Verbesserung und ein Ausbau der jetzt bestehenden Einzel¬
gesetze und eine Ergänzung derselben durch Errichtung einer Ar¬
beitslosenfürsorgeversicherung vorausgehen.
III. Am dringlichsten ist eine Reform des Krankenversicherungs¬
gesetzes, und zwar vor allem in folgenden Punkten:
a) Territoriale Zusammenlegung der bestehenden Kranken¬
kassen.
b) Erweiterung der Versicherungspflicht zum Umfange der Ver¬
sicherung zur Invaliditätsversicherung.
c) Personen mit einem Einkommen von mehr als 2000 Mark
sollen keinen Anspruch auf freie ärztliche Behandlung haben.
d) Die Beiträge sind nach Prozenten des wirklichen Arbeits¬
verdienstes (Individuallohnes) zu erheben.
e) Die Bureaubeamten der Krankenkassen haben den Befähi¬
gungsnachweis verwaltungstechnischer Ausbildung zu erbringen.
f) Der ärztliche Dienst erfolgt auf dem Boden der organisierten
freien Arztwahl, entsprechend den Beschlüssen des Königsberger
Aerztetages, welche lauten:
„„Der Aerztetag erklärt es für eine Pflicht aller dem Aerzte-
vereinsbunde angehörenden Aerzte, darauf hinzuwirken, dass sich die
Aerzte den einzelnen Kassen gegenüber zu festen Organisationen
zusammenschliessen, welche als solche mit den Kassen die Bedin¬
gungen für die kassenärztliche Tätigkeit vereinbaren.““
Bei allen Vereinbarungen ist zu erstreben:
1. Dass jeder Arzt, welcher die Satzungen der ärztlichen Or¬
ganisation und die Vereinbarungen derselben mit den Kassen aner¬
kennt, in die Organisation aufgenommen werden muss;
2. Dass die Kassenmitglieder die freie Wahl unter den Aerzten
der Organisation haben;
3. Dass die Pflichten der Aerzte den Kassen und Kassenmit¬
gliedern gegenüber sowie die Gegenleistungen der Kassen aus¬
schliesslich durch die ärztliche Organisation mit den Kassen verein¬
bart werden;
4. Dass die Organisation als solche die Verantwortung für die
Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen seitens der einzelnen
Aerzte übernimmt, und deshalb allein befugt ist, die einzelnen Aerzte
wegen Verletzung ihrer kassenärztlichen Pflichten zur Verantwortung
zu ziehen;
5. Dass die Kassen und die ärztliche Organisation bei allen
Verhandlungen und Meinungsverschiedenheiten als gleichberechtigte
Parteien erscheinen.““
g) Zur Vereinbarung der Vertragsbedingungen treten die Vor¬
stände der Krankenkassen zusammen mit Vertragskommissionen,
welche von der Aerzteorganisation gewählt werden.
Kommt eine Vereinbarung über den abzuschliessenden Vertrag
nicht zu stände, so soll eine kollegial zusammengesetzte Behörde,
nach nochmaliger Verhandlung zwischen den Parteien, einen Vertrag
höchstens für die Dauer des laufenden Geschäftsjahres zu verkünden
das Recht haben, welcher Vertrag jedoch ohne weiteres erlischt,
sobald eine Einigung der Parteien zu stände kommt. Auf Verlangen
einer der Parteien müssen solche Einigungsverhandlungen jederzeit
wieder angeknüpft werden.
Durch Gesetz müssen paritätisch zusammengesetzte Einigungs¬
kommissionen vorgesehen werden, denen die Beilegung von Streitig¬
keiten^, welche aus diesen Verträgen entstehen, obliegt.
Gelingt eine solche Beilegung nicht, so entscheidet endgültig
ein Schiedsgericht mit unparteiischem Vorsitzenden.
h) „Den Honorarbestimmungen seitens dieser Kommissionen“
(cf. vorstehend sub g) „ist die staatliche Taxe zu Grunde zu legen“
(Wortlaut des Beschlusses des Königsberger Aerztetages), eventuell
unter Festsetzung einer Höchstgrenze für die Gesamtsumme des von
der Krankenkasse zu zahlenden Honorars.
i) In die Kassenvorstände ist ein ärztlicher Beisitzer mit be¬
ratender Stimme aufzunehmen.
IV. Für die Begutachtung in Invaliditäts- und Unfallsachen sind
folgende Gesichtspunkte massgebend:
a) Zur Begutachtung sind alle Aerzte grundsätzlich berech¬
tigt, welche sich auf die vereinbarten Bedingungen verpflichten. An¬
dererseits ist gegen die Anstellung von Vertrauensärzten seitens der
Versicherungsorgane eine Einwendung nicht zu erheben.
b) Die Vereinbarung der Verpflichtungen geschieht durch die
Vertragskommissionen.
c) Als letzte Instanz bei Differenzen in der Begutachtung ent¬
scheidet eine Gutachterkommission, die von der Aerzteschaft ge¬
wählt wird.
V. Die in obigen Thesen gegebenen Grundzüge für die Mitarbeit
der Aerzte an der Abänderung der drei grossen Versicherungsgesetze
verlangen eine stärkere Beteiligung der Aerzte an der sozialen Ge¬
setzgebung, besonders nach der Richtung hin, dass in Zukunft eine
auf Erfahrung gestützte ärztliche Kritik rechtzeitig an den vielen
neuen Fürsorgebestrebungen zur Geltung kommen kann.“
Zu diesen Thesen hatten die Berliner ärztlichen Standesvereine
folgende Anträge gebracht:
1. Als Massstab der Versicherungspflicht ist das gesamte steuer¬
pflichtige Einkommen anzusehen.“
2. „Auch bei der Behandlung Unfallverletzter ist die freie Arzt¬
wahl im Sinne von No. IV einzuführen.“
3. „Die Regelung der ärztlichen Stellung bei den Krankenkassen
ist ein vitales Interesse der deutschen Aerzteschaft. Sie darf nicht
länger im Hinblick auf die Zusammenlegung der Arbeiterversiche¬
rungsgesetze vertagt werden.“
Schönheime r - Berlin begründet die Anträge. Er betont
unter anderem, dass für Grossstädte die 2000 Mark-Grenze wohl auf
3000 Mark erweitert werden müsse. Um die Verwaltung der
Kassen sollten wir uns gar nicht kümmern.
Die nun folgende Diskussion über die Thesen zeigte ganz klar
und deutlich, dass im Allgemeinen über die verschiedenen Fragen
absolut keine einheitliche Meinung herrscht; neue Thesen (so von
Rumpe- Krefeld), Resolutionen (von D o n a 1 i e s - Leipzig), Anträge
(von Bloch- Beuthen, Scholl- München, Bergeat - München)
wollten alle einen Ausweg aus dem Wirrwar der Ansichten und Mei¬
nungen schaffen. Schliesslich gelang es dem parlamentarischen Ge¬
schick L ö b k e r s mit verblüffender Klarheit, das was man als vor¬
läufiges Ergebnis der langen Besprechung betrachten konnte, zu¬
sammenzufassen und der Versammlung vorzulegen, sodass man sich
auf folgende Anträge einigen konnte:
1. Antrag B 1 o c h - Beuthen:
„Der 34. deutsche Aerztetag beharrt auf den in Königsberg,
Köln und Rostock in der Krankenkassenfrage gefassten Beschlüssen
und erklärt sich nach Kenntnisnahme des von Pfeiffer er¬
statteten Referates mit den aufgestellten Leitsätzen insoferne ein¬
verstanden, als er in ihnen eine geeignete Grundlage für ein
späteres Vorgehen erblickt, ohne damit der Beschlussfassung spä¬
terer Aerztetage vorzugreifen.“
2. Antrag Bergeat - München :
„Der Deutsche Aerztetag beauftragt den Geschäftsausschuss,
die erforderlichen Schritte zu unternehmen, damit zu den Vorar¬
beiten für den Gesetzentwurf betreff, die Aenderung der Arbeiter¬
versicherungsgesetze sachverständige Aerzte als Vertreter des
Aerztevereinsbundes zugezogen werden.“
3. Resolution D o n a 1 i e s - Leipzig:
„Der 34. Deutsche Aerztetag gedauert, dass sich auch im ver¬
gangenen Jahre in Konflikten zwischen Aerzten und Kranken¬
kassen noch immer einige Aerzte haben bereit finden lassen,
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 27.
1.332
gesperrte Kassenarztstellen zu übernehmen. Der Aerztetag ver¬
urteilt einmütig ein solches Vorgehen als allen kollegialen und
Standespflichten zuwiderlaufend und erwartet bestimmt, dass in
Zukunft jeder Arzt bei Annahme einer Kassenarztstelle nur im
Einverständnis mit der lokalen Standesorganisation handelt^ und
insbesondere in jedem Ealle Warnungen des L.-V. beachtet.“
Damit war um 4/4 Nachmittag die Arbeit des ersten Tages
beendet.
Am Abend vereinte ein Festessen im Beratungssaale die Dele¬
gierten mit ihren Damen und zahlreichen Festgästen der Stadt Halle.
Löbker feierte die Stadt Halle in einer hochpatriotischen Festrede.
Er wies darauf hin, wie anders wir deutschen Aerzte dank den
glücklichen Ereignissen der Jahre 187U/71 heute daständen, wie auch
die Feststadt Halle glücklichere Zeiten erlebe als vor hundert Jahren,
da ihre geplante 1000 Jahrfeier unter dem Drucke des korsischen
Joches unterbleiben musste. Auch an diesem Festabende sprach der
erste Bürgermeister, dessen Hoch den deutschen Aerzten galt, die
Hoffnung aus, dass nachdem Techniker und Kaufmann in den Ver¬
waltungskörpern der Städte den erstrebten Platz eingenommen hätten,
die Aerzte die ihnen infolge ihrer uneigennützigen Mitarbeit am Ge¬
meinwohl gebührende Stellung immer mehr erreichen möchten. Auch
die gleich der „Thronrede“ L ö b k e r s stets als „Clou“ geltende
Damenrede D i p p e s war von köstlichem Humor und fand dank¬
barsten Beifall.
(Schluss folgt.)
Versammlung süddeutscher Bahnärzte
in Nürnberg am 27. Juni 1906.
(Eigener Bericht.)
In stattlicher Anzahl hatten sich am 27. Juni zu Nürnberg in den
schönen Räumen des Saalbaues des Industrie- und Kulturvereins die
süddeutschen Bahnärzte auf Einladung des Vorsitzenden des dortigen
Lokalausschusses, Herrn Hofrat Dr. Stich -Nürnberg, eingefunden. In
dankenswerter Weise war die aktuelle Frage der freien Arzt¬
wahl als Hauptverhandlungsthema auf die Tagesordnung gesetzt
worden; war doch durch die Kündigung der bahn- und kassenärzt¬
lichen Verträge der Mannheimer Bahn- und Kassenärzte, welche
sich mit der dortigen ärztlichen Krankenkassenkommission solidarisch
erklärt hatten, und durch einen in den letzten 1 agen bekannt ge¬
wordenen Vorstoss des preussischen Eisenbahnministers gegen die
wirtschaftliche Organisation der deutschen Aerzte die krage der
freien Arztwahl in den Vordergrund des Interesses gerückt woiden.
Nachdem Herr Stich- Nürnberg den Vertreter des Kgl. Bayer.
Staatsministeriums, Herrn Ministerialrat Sei dl ein, die Veitretung
der lokalen Eisenbahnbetriebsdirektion, den Vertreter der Reichs¬
eisenbahnen, Herrn Regierungsrat Vogel, Herrn Finanzrat S a p e r
aus Württemberg, die Vertretung der Stadt und des ärztlichen Be¬
zirksvereines Nürnberg begriisst und der Vorsitzende des bayerischen
Bahnärztevereins, Herr Dr. Schmidt- München, und Hei l Medi¬
zinalrat Dr. B 1 u m e - Philippsburg zu Vorsitzenden gewählt worden
waren, wurde in die Tagung eingetreten. -du
Zunächst versichert Herr Ministerialrat S e i d 1 e i n die Bahn¬
ärzte des regsten Interesses des Ministeriums. Unter Hinweis auf
die vor kurzem erschienene Denkschrift des Verkehrsministeriums
über die Wohlfahrtseinrichtungen der bayerischen Staatseisenbahnen
beleuchtet er die Bedeutung des bahnärztlichen Institutes für alle die
soziale Hygiene der Eisenbahn betreffenden Fragen und der
Notwendigkeit des weiteren Ausbaues derselben. Er betont beson¬
ders die Wichtigkeit der bahnärztlichen Mitarbeit an der
in Bayern mustergültig durchgeführten Krankheitsstatistik, an der
hygienischen Ueberwachung aller Verkehrseinrichtungen, an der Ver¬
hütung von Krankheiten und Verletzungen, an dem Kampfe gegen die
Tuberkulose, für welche Krankheit er die Durchführung der
Anzeigepflicht in nächste Aussicht stellt, ferner an dei V ei -
hütung von Erkältungskrankheiten und der werktätigen Bekämpfung
der durch den Alkohol erwachsenden Gefahren. „Die Frage der freien
Arztwahl errege die ganze Aufmerksamkeit des Ministeriums; das
Interesse der Bahnärzte sei auch das des Ministei iums.
Herr Hofrat Dr. B e c k h begrüsst die Bahnärzte im Namen des
ärztlichen Bezirksvereins Nürnberg und wünscht der Versammlung,
„dass es gelingen möge, selbstverständlich unter Schonung erwor¬
bener Rechte der Kollegen und sicherer Garantie der vom Staate
verlangten Formalitäten einen Weg zu finden, aus dem Dilemma der
freien Arztwahlfrage herauszukommen, so dass die Aerzteschaft wei¬
ter geeint daraus hervorgehen werde“.
Zur „Stellungnahme der Bahn- und Bahnkasse n-
ä r z t e zur unbeschränkt freien Arztwahl hatte Hei i
Medizinalrat Dr. Blume- Philippsburg das Referat übernommen.
Derselbe führte etwa folgendes aus: „Die Frage der freien Arztwahl
bei den Bahnen sei durch die Vorgänge in Mannheim und Frank¬
furt a. M. in ein akutes Stadium getreten. Er fürchte, dass die Be¬
wegung wie ein gefährlicher Brand um sich greifen könnte. Der Linst
der Lage sei ein schwieriger für Aerzte und Behörden. Er möchte
mahnen, diejenige Mässigung zu bewahren, die durchaus nötig sei.
Fr gibt sodann eine möglichst objektive Schilderung der Mannheimer
Bewegung Dort hat die Gesellschaft der Aerzte Mannheims, welche
auch sämtliche Bahnärzte umschliesst, den Mitgliedern den Abschluss
von Verträgen verboten und die Kündigung der zwischen Bahnarzten
und Behörde bestehenden Verträge einstimmig beschlossen. Obwohl
alle Momente, die die Einführung der freien Arztwahl bei diesen
Kassen verlangten, fehlten, sei dieser Beschluss gefasst worden, dem
sich die Bahnärzte gefügt hätten. „Wir haben die Störung bloss
eines Prinzips wegen bedauert. Der so zum Ausdruck gekommene
Terrorismus der Aerzte ist nicht gerechtfertigt.“ Er gibt weiter eine
Schilderung seiner Verhandlungen mit dem Leipziger Verband, die
nach seiner Ansicht nicht zu einem befriedigenden Endresultat ge¬
führt hätten. Er gibt des weiteren die in Frankfurt a. M. zurzeit im
Sinne der freien Arztwahl geschehenen Schritte bekannt und teilt
mit. dass zurzeit Verhandlungen der beteiligten Kreise im preussi¬
schen Verkehrsministerium stattfinden. Uebergehend auf die in Würt¬
temberg seit Jahr und Tag bei der Bahn eingeführte freie Arztwahl
gibt er ein Exzerpt aus dem amtlichen Kassenbericht des letzten
Jahres. Dieser Bericht Hesse erkennen, dass es mit der freien Arzt¬
wahl bei den Bahnkassen bei gutem Willen und bei genügender
Organisation der Aerzte gehe. Wenn auch die Kasse keine guten
Geschäfte gemacht habe, so hätte doch der Kassenvorstand selbst
es ausgesprochen, dass „an ein Aufgeben der freien Arzt¬
wahl nichtmehr zu denken s e i“. Sein Standpunkt in dieser
Frage sei der, welchen er bereits in der Ausschussitzung des Ver¬
bandes deutscher Bahnärzte in Stuttgart vom 29. April 1 906 aus¬
gesprochen habe, „dass, so lange die freie Arztwahl gesetzlich noch
nicht festgelegt ist, es nicht als zweckmässig erachtet werden kann,
dieselbe zur Einführung bei den Eisenbahnkrankenkassen zu emp¬
fehlen“.
In der an dieses Referat sich anknüpfenden lebhaften Diskussion
vertrat zunächst Dr. R e i c h o I d - Lauf den Standpunkt, dass zwar
Bahnvertrauensärzte unentbehrlich, gegen die Freigabe der Betriebs¬
krankenkassen und der Familienangehörigen aber keinerlei Gründe
der Betriebssicherheit geltend gemacht werden könnten. Ob eine
gesetzliche Festlegung der freien Arztwahl überhaupt möglich
sei, sei nicht mehr fraglich. Eine solche erscheine ihm unaus-
f ü h r b a r. Die Bahnärzte, die an der freien Arztwahl bei allen ,
anderen Kassen sich beteiligten, seien verpflichtet, auch ihrerseits ]
der Allgemeinheit entgegenzukommen. So wie sich die Dinge bis |
heute entwickelt hätten, sei die eventuelle Durchführung der freien
Arztwahl auch ohne Zustimmung der Bahnärzte nur eine Frage der
Zeit. Er weist auf die Gefahr hin, dass es über kurz oder lang ein- ,
mal dahin kommen könnte, dass die Bahnärzte, die sich gegen die Be¬
schlüsse von Abteilungen für freie Arztwahl stemmten, von dieser
Abteilung von der Mitbeteiligung an den Vorteilen dieser Institutionen
ausgeschlossen werden könnten. Mit scharfen Worten geisselt er
die in dem Ausschreiben des Vorsitzenden der preussischen bahn¬
ärztlichen Vereine am 13. Juni an diese als ministeriellen Wunsch
niedergelegte Zumutung, „dass dasselbe als wesentliche Unterstützung
eventueller Massnahmen zur Einführung des Systems festangestellter
Aerzte es erblicke, wenn ein namhafter Teil der Bahnärzte von den
Verpflichtungen der ärztlichen Standesorganisationen (Schutz- und
Trutzbündnis) zurückträte“.
Dr. Baue r- Stuttgart weist die Durchführbarkeit der freien Arzt¬
wahl auch bei der Eisenbahn an der Hand der Württemberger Er¬
fahrungen nach. Grundbedingung sei eine genügende Organisation
der Aerzte. Es habe sich gezeigt, dass die Praxis zum grossen Teil
in den Händen der früheren Bahnärzte bleibe. Er halte es für eine
prinzipielle Anstandspflicht, bei Festhalten an fixierter Bahnarztstelle
auf Teilnahme an den freigegebenen sonstigen Krankenkassen Ver¬
zicht zu leisten. Der Grund des scharfen Aufrufes des Leipziger Ver¬
bandes sei in dem Anschreiben des Vorsitzenden des preussischen
Bahnärztevereins, Herrn Dr. Schwechten, zu sehen. Das letztere
wird mit energischen Worten verurteilt.
Dr. Krieger aus Baden hält das Vorgehen des Leipziger Ver¬
bandes nicht für unbedenklich. Die Mannheimer Krankenkassen¬
kommission hätte ein terroristisches Verhalten an den Tag gelegt.
Hofrat Dr. Grünewald - München präzisiert den Standpunkt
der Münchener Bahnärzte dahin, dass dieselben auf den Beschlüssen
der bayerischen Bahnärzteversammlung vom 25. September 1904 be¬
stehen bleiben müssten. Bekanntlich betonen dieselben „begründete
Bedenken gegen die Einführung der freien Arztwahl nicht nur im
bahnärztlichen Dienste, sondern auch bei den Eisenbahnkrankenkassen,
halten die Einführung der freien Arztwahl bei den Familienangehöri¬
gen für unbedenklich und erklären, dass die Bahnärzte den Bestre¬
bungen der Kollegen auf Einführung der freien Arztwahl überhaupt
nicht entgegentreten wollen“.
Dr. Doerfler - Weissenburg i. Bayern hält es im Interesse der
Einigkeit der deutschen Aerzteschaft für dringend geboten, gerade
im Hinblick auf die aus dem preussischen Eisenbahnministerium be¬
kanntgewordenen Tendenzen, dass die Versammlung gegenüber der
freien Arztwahl ihre Stellungnahme nicht wieder wie so oft in nega¬
tiver oder neutraler Richtung fixiere; die Versammlung wäre es der
Gesamtheit der deutschen Aerzte schuldig, dass sie einmal einen
positiven Schritt im Sinne der freien Arztwahl vorwärts mache.
Er teile ganz die Ansichten R e i c h o 1 d s und Bauers. Eine Re¬
solution der Versammlung im Sinne und zugunsten der freien Arzt¬
wahl wäre absolut notwendig. Indem er der Versammlung eine Re¬
solution zur Annahme unterbreite, erkläre er, dass er dieselbe gerne
weitgehender und in einem der freien Arztwahl günstigem Sinne
energischer gefasst hätte, dass er aber mit dem Allermindesten zu¬
frieden zu geben sich gezwungen sehe. Er bitte um Annahme folgen¬
der Resolution:
• _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
„Die Versammlung süddeutscher Bahnärzte
zu Nürnberg spricht ihre Bereitwilligkeit aus,
die Einführung der freien Arztwahl, soweit die¬
selbe mit der Betriebssicherheit bei gleich¬
zeitiger Beobachtung der Interessen der bis¬
herigen Bahn- und Kassenärzte sich verträgt,
z u unterstützen.“
Nachdem G o e r t z - München gegen, B 1 u m e - Philippsburg für
ie Resolution sich ausgesprochen und der Mannheimer Bahnarzt
)r. Gutkind das Vorgehen der Mannheimer Krankenkassen¬
ommission als vollberechtigt und vollkommen frei von Terrorismus
ezeichnet hatte, wird die Resolution D o e r f 1 e r mit 46 gegen
5 Stimmen angenommen.
Nachdem Herr Hofrat Dr. Zeitlmann - München „s t a -
i s t i s c h e Beobachtungen über Verletzungen und
fervenkrankheiten beim Eisenbahnpersonal“ unter
»emonstration entsprechender, äusserst lehrreicher Häufigkeitsskalen
Näheres zu finden in der aus dem Verkehrsministerium hervor-
cegangenen Arbeit über Wohlfahrtseinrichtungen der bayerischen
itaatseisenbahnen) mit besonders interessanten daraus sich ergeben-
len Schlussfolgerungen mitgcieilt und Herr Dr. Maar- Ansbach ein
eues System von Kochkisten demonstriert hatte, wurde die Ver-
ammlung geschlossen.
Als erfreuliches Moment dieser Tagung dürfte es zu bezeichnen
ein, dass die Bahnärzte durch die Annahme der Resolution
ioerfler einen positiven Schritt im Sinne der freien Arztwahl ge-
an haben. Wenn derselbe auch kräftiger hätte ausfallen können, so
ledeutet er immerhin eine Stärkung der Organisationsarbeit der
eutschen Aerzteschaft.
Dr. D o e r f I e r - Weissenburg i. Bayern.
Verschiedenes.
Aus den Parlamenten.
Die bayerische Abgeordnetenka m m e r genehmigte
lit grosser Majorität die Anstellung eines staatlichen Zentral-
/ohnungsinspektors, der ein beratendes technisches Organ
nd Hilfsarbeiter des Referenten für Wohnungsangelegenheiten im
taatsministerium des Innern- werden soll. Die ausgedehnte Debatte,
ie sich auf das Wohnungswesen überhaupt erstreckte, zeigte, dass
I ie Meinungen über die Stellung und Tätigkeit dieses Beamten ge-
bilt sind. Ein Abgeordneter wünschte, dass die Wohnungsinspektion
I I enger Verbindung mit dem zum Ministerium des Aeusseren ge-
örigen Fabriken- und Gewerbeinspektorat stehen sollte, da die
abrikinspektoren am häufigsten und leichtesten Gelegenheit hätten,
ie Wohnungsverhältnisse wenigstens der Industriearbeiter zu er-
j urschen. Ein anderer nahm eine absolut ablehnende Haltung ein,
/eil unsere ganze Sozialpolitik mit der fortwährenden Errichtung
euer Beamtenstellen in einen grossartigen Polizeistaat ausarte; zwei
ertreter ländlicher Kreise wünschten, der Zentralwohnungsinspektor
olle seine Tätigkeit nur in grösseren Städten entfalten und nicht auf
ie Landbezirke ausdehnen, da sie in der Beanstandung der Dienstboten-
'äume und der Inwohnerhäuser eine neue Belastung und Chikane für
en Bauernstand erblickten. Sprachen sich die einen für ein möglichst
jeharfes und rasches Vorgehen aus, so erklärten Andere dies für einen
ehler und waren mehr für ein massvolles, schrittweises Vorgehen;
ach ihrer Ansicht sollte der Wohnungsinspektor weniger eine polizei-
che als sozialpolitische Tätigkeit entfalten, als Ratgeber und Ver¬
mittler zwischen den verschiedenartigen Interessen. Nach den Dar-
:gungen des Staatsministers des Innern soll er nicht im polizeilichen
inne mit Strafandrohungen, sondern hauptsächlich durch Belehrung
nd Beratung der Bevölkerung wirken; die Befugnisse der Gemein¬
en bezüglich der Wohnungsaufsicht bleiben unbeeinflusst; um die-
Vlbe im ganzen Lande einheitlich und entsprechend durchzuführen,
>11 er eine rege Reisetätigkeit entfalten, den Wohnungskommissionen
nd -inspektoren Anleitungen geben und den Bauvereinen, Bauge-
ossenschaften usw. bei Beschaffungen von kleineren Wohnungen für
linderbemittelte mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Die gegen¬
wärtige Entwicklung des Wohnungswesens in Bayern befindet sich
einem erfreulichen Zustande. Durch die Verordnung vom 10. II. 1901
t in allen Gemeinden eine Wohnungsaufsicht eingeführt, 924 Ge-
leinden haben Wohnungskommissionen gebildet und 36 eigene In-
bektoren aufgestellt. Wohnungserhebungen sind vielfach durchge¬
hrt oder im Gange, auch bereits veröffentlicht. Eine grosse Anzahl
br konstatierten Missstände konnte ohne Strafen und Verursachung
■osser Kosten, nur durch eingehende Belehrung abgestellt werden;
ms Verständnis der Bevölkerung für diese Aufgaben nimmt zu. Wenn
e noch nicht in weiterem Masse als bisher durchgeführt wurden,
> liegt dies an der Mittellosigkeit vieler Beteiligten, ein Faktor, mit
hm die Staatsregierung selbstverständlich rechnen muss; wo sittliche
id hygienische Verhältnisse in Frage kommen, wird schärfer Vor¬
gängen, in Städten mit der dichteren Bevölkerung strenger als auf
bm Lande. Zurzeit bestehen 27 Bauvereine und Baugenossen¬
haften. Für die Beamteten und Bediensteten aller Ressorts hat
j:r Staat teils selbst Wohnungen errichtet, teils Baugenossenschaften
mit gering verzinslichen Darlehen unterstützt; die Invalidenversiche¬
rungsanstalten haben zum Bau von kleinen Wohnungen 2% Millionen
Mark verausgabt.
Die Staatsbeiträge an ärztliche Unter¬
stützungsfonds und Vereine wurden in der bisherigen
Höhe weiter bewilligt, je 3430 M. jährlich an den „Verein zur Unter¬
stützung invalider hilfsbedürftiger Aerzte und notleidender hinter-
bliebener Aerztefamilien in Bayern“ und an den „Pensionsverein für
Witwen und Waisen bayerischer Aerzte“; letzterer erhält ausserdem
eine ausserordentliche Zuwendung von 5000 M. im Jahre.
Die Petition der pfälzischen Kinderheilstätte in
D ii r k h e i m um Gewährung eines ständigen Unterstützungsbeitrages
wurde von Pfälzer Abgeordneten warm unterstützt, konnte jedoch
von der Regierung trotz des segensreichen Wirkens der Heilstätte,
nicht erfüllt werden, da es sich um das Unternehmen eines Privat¬
vereins handelt und die Konsequenzen unübersehbar sind, da dann
alle ähnlichen Vereine und Anstalten Staatshilfe beanspruchen
könnten.
Auf den Wunsch eines Abgeordneten, den Distrikten, die durch
den Bau von neuen Kranken- und Isolierhäusern
überlastet sind, entsprechend staatliche Zuschüsse zu geben, er¬
widerte der Staatsminister, dies würde sehr grosse Kosten ver¬
ursachen, aber sie könnten aus dem Gewinnanteile der München-
Aachener Feuerversicherung eine Beihilfe erhalten und sollten sich
an diese Quelle wenden; es werde ihnen so weit als möglich ent¬
gegengekommen. Dr. Carl Becker.
Mutterschaftsversicherung und Mutterschutz.
Das „Reichsarbeitsblatt“ vom Mai bringt hierüber eine zu¬
sammenfassende Darstellung, der ein reichhaltiges Literaturverzeichnis
beigegeben ist. Eine Art staatlicher Mutterschaftsversicherung be¬
sitzen bereits Deutschland und Oesterreich; hier tritt die obligatorische
Krankenversicherung für 6 resp. 4 Wochen nach der Entbindung für
die Fabrikarbeiterinnen ein, indem sie ihnen ein Krankengeld auszahlt,
das % bis 2,3 des ortsüblichen Tagelohns beträgt. Die grosse Säug¬
lingssterblichkeit in Deutschland, die erfahrungsgemäss in engem Zu¬
sammenhang mit der Erwerbsarbeit der Mütter steht, lässt es wün¬
schenswert erscheinen, eine Erweiterung des Mutterschutzes eintreten
zu lassen. Die Vorschläge, die in dieser Hinsicht gemacht sind, for¬
dern eine Ausdehnung des § 137 der Gewerbeordnung (Arbeitsverbot
für Wöchnerinnen 6 resp. 4 Wochen nach der Entbindung) auch auf
die Heimarbeiterinnen, Landarbeiterinnen, Dienstboten, damit aber
Hand in Hand gehend eine staatliche Mutterschaftsversicherung für
diese Frauen, die den Lohnausfall deckt, sowie freie Geburtshilfe
sichert. Eine amtliche Stellungnahme der Regierung zu solchen in
Versammlungen und Brochiiren vertretenen Vorschlägen, Thesen und
Projekten ist bisher nicht erfolgt. Doch dürfte es angebracht sein,
gerade bei den Vorarbeiten zu der bevorstehenden Vereinheitlichung
der deutschen Versicherungsgesetze auch die Frage einer erweiterten
Mutterschaftsversicherung ins Auge zu fassen, wie dies der Verband
Fortschrittlicher Frauenvereine in einer eingehend begründeten Pe¬
tition an das Reichsamt des Innern im Juni 1905 dargelegt hat. Die
Frage der staatlichen Mutterschaftsversicherung ist besonders aktuell
in Italien, wo man sich mit der Schaffung von besonderen Mutter¬
schaftskassen beschäftigt als notwendige Ergänzung zu dem Wöch¬
nerinnenschutz, den das Gesetz von 1902 betr. Frauen- und Kinder¬
arbeit vorschreibt. Das „Reichsarbeitsblatt“ bringt den betr. Gesetz¬
entwurf im Wortlaut. Abgestuft nach Lohnklassen sollen alle Ar¬
beiterinnen zwischen 15 und 50 Jahren, die unter das zitierte Gesetz
von 1902 fallen, auch obligatorisch für die Mutterschaftsversicherung
Marken kleben, die dann während 4 Wochen nach der Entbindung
für sie eintritt. Die Beiträge zahlen zur Hälfte der Arbeitgeber, zur
Hälfte die Arbeiterinnen, ausserdem ist ein Staatszuschuss von 250000
Lire im Jahr vorgesehen. — In den übrigen Staaten besteht noch
keinerlei staatliche Versicherung für Wöchnerinnen. Aus dem Ma¬
terial, das der Artikel des „Reichsarbeitsblattes“ zu diesem Thema
bietet, sei aber erwähnt, dass in Frankreich zahlreiche Gegenseitig¬
keitsgesellschaften (mutualites materneiles) Wöchnerinnenunter¬
stützung bieten; ferner bestehen in Italien in Mailand, Pisa, Turin
Mutterschaftskassen, die teils aus den Beiträgen der Mitglieder, teils
durch Schenkungen unterhalten werden. (Soziale Praxis.)
Therapeutische Notizen.
Das Theophorin ist ein neues Doppelsalz des Theobromin¬
natrium mit Natrium formicicum, d. h. ein vollkommenes Analogon des
Diuretins, in welches an Stelle der Salizylsäure Ameisensäure ein¬
geführt wurde. M a a s - Berlin hat über die Wirksamkeit des Mittels
eingehende Tierversuche unternommen (Ther. Monatsh. 1906, 4) und
kommt zu folgenden Ergebnissen: Das Theophorin ist ein Präparat
von relativ geringer Giftigkeit. Seine tödliche Dosis liegt bei ca. 0,8
bis 0,9 pro Kilo Meerschweinchen. Die Diurese gesunder Tiere wird
durch Theophorin vorübergehend mächtig erhöht. Gegen Hydrops
infolge toxischer Nephritis ist das Mittel ausserordentlich wirksam.
Die therapeutisch wirksame Dosis des Mittels liegt sehr tief unter der
toxischen. M. hält das Präparat zu Versuchen am Menschen für sehr
geeignet. Kr.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1334
No. 27.
Die B e h a n dl u n g der HyperTazidit ä t muss nach B o a s
(Ther. Monatsh. 1906, 5) in erster Linie eine diätetische sein: Ein¬
schränkung der animalischen, speziell der Fleischnahrung, Steigerung
der Kohlehydratkost, vorsichtige, bei guter I oieranz reichliche Dar¬
reichung von Fetten. Das wichtigste Nahrungsmittel für Hyperazide
ist die Milch. Unbedingt zu meiden sind Gewürze und Säuren. Nur
Milch- und Buttersäure wird gut vertragen. Der reine Zucker in
Lösungen wird gut vertragen, Beschwerden stellen sich nur häufig bei
neuen Gebäcken ein.
Von Weinen ist nur Rotwein erlaubt. Kaffee und Tabak sind
zu meiden. Mineralwässer unterstützen die Behandlung wesentlich,
namentlich Fachinger, Vichy, Biliner, Giesshiibler, Eau de Vals, Kron-
dorfer, Salvator.
Alkalien sind zur Beseitigung der Beschwerden zweifellos sehr
nützlich. An Stelle des eine COs-Entwicklung hervorrufenden Natr.
bicarbonicum verwendet B. lieber das Natr. citricum, gelegentlich mit
Magnesia usta. Sehr empfehlenswert als Antacida sind auch Magne¬
sium-Ammoniumphosphor und Magnesium citricum. Das Alkali darf
erst 2—3 Stunden nach der Mahlzeit gegeben werden.
Der Nutzen der neu empfohlenen Mittel: Atropin, Skopolamin
und Eumydrin ist kein sehr hervorragender. Kr.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 3. Juli 1906.
— Im bayerischen Landtag hat der Abgeordnete Bezirksarzt
Dr. Rauh folgenden Antrag eingebracht: Die Kammer wolle be-
schliessen: „Die K. Staatsregierung sei zu ersuchen, das gesamte
Medizinalwesen Bayerns nach Anhörung der ärztlichen Be¬
zirksvereine, der Aerztekammern und des bayerischen Medizinal¬
beamtenvereins neuzugestalten gemäss den Forderungen,
welche die Errungenschaften der modernen wissenschaftlichen For¬
schung an die Organisation des öffentlichen Gesundheitswesens stellen
müssen.“ Dr. Rauh beansprucht für die Amtsärzte vor allem weit¬
gehendere Befugnisse und, damit sie ihren vielfachen Verpflichtungen
gewissenhaft nachkommen können, Unabhängigkeit von der Privat¬
praxis. Das ist ein Verlangen, das innerhalb des bayerischen Medi¬
zinalbeamtenvereins schon öfter laut geworden und angesichts der
Verantwortung und der Arbeitslast, die auf unseren Amtsärzten ruht,
auch gewiss berechtigt ist. Trotz des ablehnenden Standpunktes der
Regierungsvertreter wurde der Antrag mit grosser Mehrheit an¬
genommen.
— Der auf Seite 1333 d. No. mitgeteilte Beschluss der Ver¬
sammlung süddeutscher Bahnärzte in Nürnberg, die
freie Arztwahl betreffend, stellt einen beachtenswerten Fort¬
schritt in der Haltung der Bahnärzte gegenüber der freien Arztwahl
dar. Während ein früherer Beschluss der bayerischen Bahnärzte aus¬
sprach, „dass sie den Bestrebungen der Kollegen auf Einführung der
freien Arztwahl nicht entgegentreten wollen“, will die jetzige
Resolution die Einführung der freien Arztwahl unter stützen,
soweit dieselbe mit der Betriebssicherheit bei gleichzeitiger Beobach¬
tung der Interessen der bisherigen Bahn- und Kassenärzte sich ver¬
trägt. Man sieht, dass die werbende Kraft, die die Idee der freien
Arztwahl bei den deutschen Aerzten in hohem Masse bewiesen hat,
sich auch den Bahnärzten gegenüber nicht verleugnet. Allerdings
ist die Resolution mit nur geringer Mehrheit angenommen worden;
doch darf man darauf rechnen, dass diese Mehrheit mehr und mehr er¬
starken wird. Nach der Nürnberger Versammlung darf man jeden¬
falls der Hoffnung Raum geben, dass die Stellung der Bahnärzte zur
freien Arztwahl in absehbarer Zeit aufhören wird, einen Gegenstand
des Zwistes unter den deutschen Ärzten zu bilden.
_ Am 27. Juni wurde der Neubau des pathologisch-
hygienischen Instituts der Stadt Chemnitz, deren Ein¬
wohnerzahl kürzlich die erste Viertelmillion überschritten hat, feier¬
lich seiner Bestimmung übergeben. Das dem Direktor Prof. Nau-
w e r c k unterstellte Institut besorgt die Geschäfte einer Prosektur
für die städtischen Krankenanstalten, dient gleichzeitig als öffentliche,
vollständig unentgeltlich arbeitende bakteriologische Untersuchungs¬
station und bietet endlich den Aerzten der Krankenhäuser, der Stadt
und des Kreises regelmässige Vorträge und Demonstrationen. Der
Bau enthält demgemäss u. a. einen grossen Hörsaal mit Epidiaskop
und elektrischer Verdunkelung, mikroskopische und bakteriologische
Laboratorien, ein Tierversuchszimmer mit Stall, während der Zucht¬
stall ein eigenes Gebäude bildet; ferner Räume für Photographie und
Mikrophotographie, endlich ein den Aerzten offen stehendes Biblio¬
thek- und Lesezimmer, in dem gegen 30 medizinische Zeitschriften
ausliegen, zum Teil unter Subvention durch den ärztlichen Bezirks¬
verein und die medizinische Gesellschaft. Den Leichenkellern ist
ein gesonderter Kühlraum (elektromotorische Ammoniakkompression)
angegliedert. Die Seziersäle nähern sich in ihrem Streben nach
äusserster Reinlichkeit in mancher Hinsicht der Ausstattung moderner
chirurgischer Operationszimmer. Die elektrische Beleuchtung der
Seziertische erfolgt durch je 2 seitlich oben angebrachte rampenartige
Reflektoren. Die Kosten des Baues und der Einrichtung betragen
mit Einschluss des Bauplatzes gegen 300 000 M.
— Zum Direktor des neugegründeten Hygienischen Instituts zu
B e u t h e n in Oberschlesien ist der bisherige Leiter der Hygienischen
Station daselbst Professor Dr. med. Walther von Lingelsheim
ernannt worden, (hc.)
— Wir machen nochmals darauf aufpierksam, dass vom 11.
bis 15. September 1906 in Berlin ein internationaler Kongress für
Versicherungsmedizin unter dem Ehrenpräsidium Sr. Exzellenz des
Herrn Staatsministers Dr. S t u d t und unter der Leitung des Herrn
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Kra u s, sowie der Herren Professoren
Dr. Florschütz und Dr. Unverricht tagen wird. Aus dem
Gebiete der Lebensversicherung werden als Hauptgegenstände die
Lungentuberkulose, Syphilis und Fettleibigkeit zur Verhandlung
kommen. Die Unfallversicherung wird zum ersten Male auf diesen
Kongressen in einer Reihe von Vorträgen behandelt werden, nament¬
lich die Verschlimmerung der inneren Krankheiten durch Unfälle mit
besonderer Berücksichtigung der funktionellen Neurosen und der
organischen Gehirn- und Rückenmarks- wie der Geisteskrankheiten.
Der Beitrag für Teilnahme an dem wissenschaftlichen Teil des Kon¬
gresses einschliesslich der Kongressberichte beträgt 16 Mk. Der Bei¬
trag für gleichzeitige Teilnahme an den zahlreichen Festlichkeiten
40 Mk. Für letztere Teilnehmer wird eine Meldung nur bis zum
15. Juli angenommen werden können. Der Generalsekretär des Kon¬
gresses Herr Dr. M a n e s, Spichernstr. 22 erteilt nähere Auskunft.
— Die sechste ärztliche Studienreise, vom 2. bis
15. September 1906, beginnt am 2. September, morgens 9 Uhr, zu
Heidelberg. Besucht werden am 3./4. September Schömberg und
Wildbad; am 5. September Teinach, Ereudenstadt und Rippoldsau; am
6 .17. September Peterstal und Badenweiler; am 8. September Todtmoos
und Wehrawald; am 9. September St. Blasien; am 10./11. September
Schaffhausen und Konstanz; am 12. September Triberg, am 13./14. Sep¬
tember Baden-Baden. Am 15. September, Mittags 1 Uhr: Ankunft
in Stuttgart. Der Gesamtpreis für die ca. 14 tägige Reise (freie Fahrt
per Eisenbahn und Wagen, freies Quartier und volle Verpflegung exkl.
Getränke und exkl. Quartier in Heidelberg) einschliesslich des vom
Komitee herausgegebenen offiziellen Reiseberichts beträgt M. 225.—.
Die Anmeldungen für die Reise werden, zugleich mit einer Post¬
einzahlung von M. 25. — als Einschreibegebühr bis spätestens,
20. August d. J. an die Adresse des Generalsekretärs, Herrn
Dr. Oliven, Berlin NW., Kaiserir.-Eriedrich-Haus, Luisenplatz 2 — 4,
erbeten. Anmeldungen ohne diese Einschreibegebühr können nicht
berücksichtigt werden. Sollte die Teilnahme trotz erfolgter Anmel¬
dung unterbleiben, so verfällt die Einschreibegebiihr. Der Restbetrag
von M. 200. — wird bis zum 20. August d. J. an den Generalsekretär
erbeten oder wird nach diesem Termin per Postnachnahme erhoben.
Vorträge haben zugesagt: Prof. K i o n k a, Prof. v. K r e h 1, Prof.
S t r a u s s, Prof. Strassma n n, Prof. R o m b e r g, Prof. Kutner,
Geh. Rat Vierord t, Geh. Rat W e i z s a e c k e r.
— Im Verlag von Julius Springer in Berlin beginnt eine
„Biochemische Zeitschrift“ zu erscheinen, die eine Zen¬
tralstelle für Originalmitteilungen biologischen Inhaltes aus den Ge¬
bieten der physiologischen, pathologischen, klinischen sowie physi¬
kalischen Chemie, Pflanzenphysiologie, Bakteriologie, Immunitätsfor¬
schung, Pharmakologie, experimentellen Pathologie, Veterinärkunde,
Landwirtschaftslehre usw. bilden soll. Die Hefte werden in Bänden
von etwa 36 Bogen vereinigt werden. Der Preis eines jeden Bandes
beträgt M. 12. — . ..... . ,
— Die Spezialfabrik für elektro-medizimsche Apparate von
Reiniger, Gebbert & Schall in Erlangen eröffnet dieser 1 age
in Leipzig, Johannisgasse 4 eine Filiale, der als Arbeitsgebiet König¬
reich und Provinz Sachsen, Schlesien und Thüringen zugewiesen sind.
Mit der Filiale ist ein reichhaltiges Musterlager, Reparaturwerkstatt
und Akkumulatorenladestation verbunden.
— Cholera. Britisch-Ostindien. Aus Moulmein wurde in der
am 12. Mai abgelaufenen Woche 1 Choleratodesfall gemeldet. —
Straits Settlements. In Singapore wurden vom 16. bis 22. Mai 14 Er¬
krankungen und 16 Todesfälle an der Cholera gemeldet.
_ Pest. Türkei. In Djedda waren nach den amtlichen Aus¬
weisen vom 28. Mai bis 3. Juni 13 Personen, und vom 4. bis 10. Juni
8 Personen an der Pest erkrankt, ferner 7 und 9, im ganzen 16 Per-
sonen der Pest erlegen; ausserdem war in Mekka am 8. Juni 1 Pest¬
kranker, angeblich ein aus Djedda entwichener Reisender, der Seuche
erlegen. — Aegypten. In der Zeit vom 9. bis einschl. 15. Juni wurden
9 neue Erkrankungen (und 8 Todesfälle) an der Pest gemeldet. —
Britisch-Ostindien. Während der am 26. Mai und 2. Juni abgelaufenen
beiden Wochen sind in der Präsidentschaft Bombay 857 + 565 neue
Erkrankungen (und 721 + 437 Todesfälle) an der Pest gemeldet, ln
Kalkutta starben in der Woche vom 13. bis 19. Mai 42 Personen an
der Pest. In Moulmein sind vom 5. bis 19. Mai 67 Personen an der
Pest gestorben. — Japan. In Kobe sind vom 16. April bis zum
14. Mai 20 neue Erkrankungen und 17 Todesfälle an der Pest, und
zwar in verschiedenen Bezirken der Stadt beobachtet; auch aus
Osaka sind vom 22. April bis zum 4. Mai 7 neue Pestfälle, von denen
6 bald mit dem Tode endeten gemeldet. Ferner sind während der
ersten Hälfte des Monats Mai sowohl aus dem zwischen Kobe und
Osaka gelegenen Orte Nischinomiya, wie aus der etwa 25 km westlich
von Kobe gelegenen Insel Awaji und aus der etwa 70 km südlich
von Osaka gelegenen Ortschaft Kuroya Pestfälle gemeldet worden.
— Brasilien. In Rio de Janeiro wurden vom 23. April bis 27. Mai
noch 2 neue Erkrankungen und 1 Todesfall an der Pest angezeigt. -
Neu-Süd-Wales. In Sydney wurde am 7. Mai ein Pestfall festgestellt
welcher am 10. Mai tödlich endete. — Queensland. Vom 29. Apn
bis zum 5. Mai sind im Staate Queensland 2 Pestfälle, je 1 in Brisbane
und Rockhampton, zur Anzeige gelangt; der erstere endete am 2. Ma
3. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1335
tödlich. — West-Australien. Aus Perth wurde in der am 27. Mai
abgelaufenen Woche ein neuer Pestfall gemeldet, welcher alsbald töd¬
lich verlief.
— In der 24. Jahreswoche, vom 10. bis 16. Juni 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblich¬
keit Heidelberg mit 33,4, die geringste Dtsch. Wilmersdorf mit
6,2 Todesfällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel
aller Gestorbenen starb an Scharlach in Gleiwitz, an Masern und
Röteln in Koblenz, Freiburg i. B., Schöneberg. V. d. K. ü.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Berlin. Dem Spezialarzt für Ernährungs- und Zirkulations¬
störungen, sowie für Hautkrankheiten, Dr. med. Max Eisenberg ist
der Professortitel verliehen worden, (hc.)
Erlangen. Der a. o. Professor für innere Medizin und Ober¬
arzt der medizinischen Poliklinik Dr. Lüthje hat einen Ruf nach
Frankfurt als Nachfolger v. Noord'ens erhalten und wird vom
Oktober ab dorthin übersiedeln. (Prof. Moritz- Giessen, an den
der Ruf zuerst ergangen war, hat denselben abgelehnt.)
G ö 1 1 i n g e n. Professor Dr. med. Wilhelm H i s, Ordinarius
und Direktor der Medizinischen Klinik an der Universität Basel
hat den Ruf nach Göttingen als Nachfolger Ebsteins ange¬
nommen. (hc.) — Der Physikus Dr. med E. H. Theodor Lochte
in Hamburg ist als Kreisarzt für Göttingen Stadt und Landkreis und
zugleich als ausserordentlicher Professor für gerichtliche Medizin an
der Universität Göttingen an Stelle des am 13. März 1906 verstor¬
benen a. o. Professors Dr. Paul Stolper in Aussicht genommen, (hc.)
Halle a. S. Habilitiert für Geburtshilfe und Gynäkologie der
Assistenzarzt an der kgl. Frauenklinik, Dr. med. Friedrich Fromme
mit einer Antrittsvorlesung über „Das enge Becken“. Habilitions-
schrift: Studien zum klinischen und pathologisch-anatomischen Ver¬
halten der Lymphdrüsen bei malignen Erkrankungen, hauptsächlich
dem Carcinoma colli uteri.
Kiel. Der Privatdozent für Chirurgie Dr. S i c k, früherer Ober¬
arzt der hiesigen Chirurgischen Klinik, ist zum Oberarzt des Diako¬
nissenhauses Lindenau in Leipzig ernannt worden und wird seine
neue Stellung im Juli ds. Js. antreten. Der Extraordinarius für ge¬
richtliche Medizin, Professor Dr. Z i e m k e, ist zum Gerichtsarzt fin¬
den Stadtkreis Kiel ernannt worden. Dem scheidenden Oberpräsi¬
denten von Schleswig-Holstein, Frhrn. v. Wilmowski ist die
Würde eines Ehrendoktors von der medizinischen Fakultät der Uni¬
versität Kiel verliehen worden.
Leipzig. Geheimrat Curschmann feierte am 28. v. Mts.
seinen 60. Geburtstag. Unserem verehrten Mitherausgeber die herz¬
lichsten Glückwünsche der Wochenschrift!
Rostock. Zu der Angelegenheit des Geheimrat Schatz in
Rostock, die in den Tagesblättern eine sehr verschiedenartige Dar¬
stellung gefunden hat, erfahren wir von authentischer Seite folgendes:
Auf die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen hin hatte Geheimrat
Schatz auf Veranlassung einzelner Mitglieder der medizinischen
Fakultät das Disziplinarverfahren gegen sich, beantragt und war
daraufhin vorläufig von seinen Aemtern suspendiert worden. Er hat
dann ohne den Abschluss dieses Verfahrens abzuwarten, seine Ent¬
lassung eingereicht. Dieselbe ist ihm sofort erteilt worden ohne Ge¬
haltsbewilligung.
Tübingen. Prof. Dr. Wollenberg hat den Ruf nach
Strassburg angenommen. — Am 2. Juli feierte Professor Dr. med.
Paul v. Bruns seinen 60. Geburtstag.
Graz. Den Privatdozenten: Stadtphysikus Dr. Oskar Eber¬
stal ler, Dr. Theodor Pfeiffer, Dr. Wilhelm Scholz und
Dr. Fritz Hart m ann wurde der Titel eines ausserordentlichen Pro¬
fessors verliehen.
Kopenhagen. Habilitiert: Dr. med. Erlandsen (Habili¬
tationsschrift: Untersuchungen über die Phosphatiden des Herzens).
Krakau. Der mit dem Titel und Charakter eines ordentlichen
Professors bekleidete a. o. Professor Dr. Valerian J a w o r s k i wurde
zum ordentlichen Professor der speziellen medizinischen Pathologie
und Therapie ernannt.
Prag. Dem Privatdozenten für Otologie und Rhinologie an der
deutschen Universität Dr. Otto P i f f 1 wurde der Titel eines a. o. Pro¬
fessors verliehen. Die Privatdozenten an der tschechischen Universität
Dr. Ladislaus Haskovec (Neuropathologie), Dr. Karl Weigner
(Anatomie) und Dr. Ottokar S r d i n k o (Histologie und Embryologie)
wurden zu a. o. Professoren ernannt; den Privatdozenten Polizeichef¬
arzt Dr. Ferdinand P e c i r k a, Dr. Anton Heveroch und Dr. Wen¬
zel Pitha wurde der Titel eines a. o. Professors verliehen.
Tours. Der Professor der internen Pathologie Dr. M e u n i e r
wurde zum Professor der medizinischen Klinik, Dr. Mercier zum
Professor der internen Pathologie an der medizinischen Schule
ernannt.
(Todesfälle.)
Dr. Willoughby Wade, früher Professor der Medizin an
Queens College zu Birmingham.
Dr. Charles W. Allen, Professor der Dermatologie an der
New York Post-Graduate Medical School and Hospital.
Berichtigung. In No. 26, S. 1268, 1. Spalte ist zu lesen:
28) E i b i c h statt Fiebig.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Niederlassung: Dr. Heinrich H o 1 1 e d e r e r, bisher prakt.
Arzt in Massbach in Eorchheim.
Erledigt: Die Bezirksarztstelle I. Klasse beim K. Bezirksamte
Nürnberg, mit welcher bis auf Weiteres die Funktion eines zweiten
Bezirksarztes der Stadt Nürnberg verbunden ist. Bewerber um die¬
selbe haben ihre vorschriftsmässig belegten Gesuche bei der ihnen
Vorgesetzten K. Regierung, Kammer des Innern, bis zum 14. Juli 1. Js.
einzureichen.
Militärsanitätswesen.
Versetzt: der Oberarzt Dr. Braunwart des 6. Chev.-
Reg. zu den Sanitätsoffizieren der Landwehr 2. Aufgebots.
Abschied bewilligt: dem Oberarzt der Reserve Dr. Wil¬
helm Saling- Aschaffenburg.
Gestorben: Dr. Karl Saiger, prakt. Arzt und Oberstabsarzt
der Reserve 1. Klasse in Lechhausen, 54 Jahre alt. Dr. Ferdinand
v. Wächter in Oberstdorf.
Korrespondenzen.
Die Zuckerbestimmung mittels Haines scher Lösung.
In No. 18 der Münch, med. Wochenschr. erschien ein Artikel
über Zuckerbestimmung im Harn mittels der Haines sehen Lösung.
Als der Erfinder dieser Lösung möchte ich Sie ergebenst bitten,
nachstehende Notiz bezüglich derselben zu publizieren.
Die qualitative Zusammensetzung dieser Lösung wurde zuerst
von mir im Jahre 1874 in Amerika veröffentlicht, und zwar im
Medical Examiner.
Im Jahre 1897 habe ich die quantitative Zubereitung angegeben
in der folgenden Weise: Löse 8,314 g reines Kupfersulphat in 400 ccm
Wasser. Füge dieser Lösung 40 ccm reines Glyzerin bei. Mische das
Ganze mit 500 ccm einer 5 proz. Lösung von Kaliumhydrat und gib
Wasser hinzu bis 1000 ccm voll sind.
Nimm als Probe 10 ccm dieser Lösung, mische 30 ccm starkes
Ammoniakwasser bei und koche gelinde. Die Reduktion und Ent¬
färbung dieser 10 ccm entspricht 0,01 g Dextrose.
Ich gestatte mir noch ergebenst darauf aufmerksam zu machen,
dass die Lösung nicht Hein sehe, sondern Haines sehe genannt
werden sollte.
Walter S. Haines,
Professor für medizinische Chemie an Rush Medical College.
Das Frauenheini in München.
No. 25 der Münch, med. Wochenschr., die mir leider, infolge
einer kurzen Abwesenheit, erst heute in die Hände kommt, enthält
einen Bericht über die Frauenheimdebatte, welcher, nach meinem
Empfinden, — aber wie ich überzeugt bin, ganz ohne Absicht des
Berichterstatters — kein getreues Bild von der wirklichen Stimmung
wiedergibt. Es verdient wenigstens der Erwähnung, dass die ab¬
lehnende Resolution Klein Schmidt mit einer Majorität von 3
Stimmen (16 gegen 13) angenommen wurde. Dieses Resultat be¬
deutet einen unerwarteten Zuwachs auf unserer Seite und lässt uns
hoffen, dass wenn wir uns in Jahr und Tag am selben Ort wieder
sprechen, das Erauenheim ein ganz anderes Verständnis in Aerzte-
kreisen finden wird, als vorläufig der Fall ist.
Nicht darum also bitte ich um einen kurzen Raum zur Er¬
gänzung von Lücken im Bericht, sondern wegen einer Verdächtigung,
die unsere Ehre berührt und welche sofort in der Sitzung von zwei
Seiten die entsprechende Antwort erfuhr. Da der Bericht die Ver¬
dächtigung wiederholt, die Erwiderungen aber, teils abgeschwächt,
teils gar nicht wiedergibt, ist eine Richtigstellung leider von nöten.
Prof. Stumpf erklärte, das Frauenheim sei eine Schädigung
der Universitäts-Frauenklinik, und zwar, wie er wisse, eine
gewollte Schädigung.
Gegen diese unqualifizierbare Verdächtigung soll Herr Epstein,
und nur Herr Epstein, laut Bericht, den Verein „verwahrt“ haben.
Dagegen ist zu konstatieren:
1. Herr Epstein wies diese Behauptung mit einer Entrüstung
zurück, welche, trotz der gewandten parlamentarischen Form, an
Schärfe nichts zu wünschen übrig liess.
2. Ich erklärte mit derselben Entrüstung, dass ich bereits öffent¬
lich und im Druck meine Stellung zur Klinik und meine Gefühle der
Verehrung und Dankbarkeit für ihren Leiter unzweideutig ausgesprochen
habe; dass es üblich sei, dem Wort eines unbescholtenen Menschen
Glauben zu schenken; dass Prof. Stumpf es für passend gefunden
habe, von diesem Brauch abzuweichen und dass ich infolgedessen
jede weitere Diskussion mit ihm ablehne.
3. Herr Stumpf hat auf diese Erklärungen von Herrn Ep¬
stein und mir Nichts erwidert.
4. Die Grundlosigkeit jedes Zweifels an unserer bona fides gegen
die Klinik erhellt am besten daraus, dass es unser dringendster Wunsch
gewesen ist, Herrn v. Winckel an unserer Spitze zu sehen.
Schon lange ehe wir an die Oeffentlichkeit getreten sind, ist
er gebeten und wiederholt gebeten worden, das Ehrenpräsidium des
Vereins anzunehmen, und auch heute haben wir noch nicht auf die
Hoffnung verzichtet, ihn als Führer in unserer guten Sache will-
13 36
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
kommen heissen zu können. Wir haben uns nicht nur für Freunde
der Klinik erklärt, wir haben auch als Freunde gehandelt; unserem
Vorgehen hat es die Klinik zu verdanken, dass ihr Neubau bereits
beschlossen ist; das haben wir vorausgesehen, gewollt und mit
Freude begriisst. Je mehr wir erreichen, je mehr wird auch die
Klinik erreichen, und wir werden es erleben, dass die Klinik einst
dem Frauenheim in demselben Mass Anerkennung zollt, wie jetzt
das Gegenteil.
Mit dieser Erklärung wird der Verein die Diskussion über diesen
Punkt für erledigt betrachten.
Dr. Adams-Lehmann.
Hierzu schreibt uns Herr Dr. Nassauer:
Frau Dr. Adams - Lehman n benutzt mein Referat in No. 25
der Münch, med. Wochenschr. über die Diskussion über das Frauen¬
heim im Aerztlichen Bezirksverein München dazu, für ihre in der
Aerzteschaft verlorene Angelegenheit Stimmung zu machen. Dass
sich in der betreffenden Sitzung 13 Stimmen für die geplante Organi¬
sation des Frauenheims ergaben, bezeichnet Frau Dr. Adams-
Lehmann „als einen unerwarteten Zuwachs auf ihrer Seite“. Diese
Bescheidenheit hat etwas Rührendes in sich; sie wird um so rühren¬
der 'wirken, wenn man erfährt, dass bei der Abstimmung, die gegen
:ül Uhr nachts erfolgte, sich ganze Tische von Gegnern des Pro¬
jektes, der verlorenen Angelegenheit müde, entfernt hatten, während
selbstredend die Anhänger desselben bis zum Schlüsse auszuharren
allen Grund hatten und schliesslich in der Anzahl von 13 Stimmen
dennoch in der Minderheit blieben! Frau Adams-Lehniann ist
sicherlich von der Stimmung in der Aerzteschaft ganz falsch unter¬
richtet, wenn sie die überwiegende Gegnerschaft derselben dem ge¬
planten Unternehmen gegenüber nicht kennt. Selbst Aerzte, die dem
Grundgedanken desselben anfänglich zustimmten, sind in der Ent¬
wicklung des Planes zu Gegnern desselben geworden.
Die von mir pflichtgemäss objektiv referierten Ausführungen des
Herrn Prof. Stumpf bezeichnet Frau Adams-Lehmann als
„Wiederholungen der Verdächtigungen“ Professors Stumpf. Man
könnte über diese merkwürdige Anwendung von Logik der Frau Kollegin
böse sein, wenn sie nicht selbst weiter oben die bona fides des Be¬
richterstatters betont hätte. Ich zweifle nicht, dass Flerr Prof.
Stumpf zur Sache selbst das Wort ergreifen wird.
Frau Dr. Adams-Lehmann sagt noch zum Schlüsse, dass
es „der dringendste Wunsch gewesen sei, Herrn v. Win ekel an
der Spitze des Unternehmens zu sehen“. Diesen Wunsch wird ganz
gewiss niemand von den Gegnern bezweifeln! Im Gegenteil werden
sie ihn ausserordentlich begreiflich finden.
Die vorstehende Erklärung der Frau Dr. Adams-Lehmann
nötigt mich zu folgender Erwiderung:
Schon in der Sitzung des ärztlichen Bezirksvereins vom 14. Fe¬
bruar d. Js., in welcher das Projekt des „Frauenheims“ zur ersten
Besprechung stand, wurde geltend gemacht, dass in der kgl. Uni¬
versitäts-Frauenklinik und Hebammenschule die Wöchnerinnen wegen
Raummangels zu früh entlassen werden. Diese Behauptung wurde
von mir als unrichtig zurückgewiesen. Dessenungeachtet wurde in dem
Schreiben, welches Anfangs Mai behufs Gründung des Vereins
„Frauenheim“ verschickt wurde, auf Seite 2, Zeile 3 und 4 v. o. diese
Behauptung wiederholt und ausserdem der Ausdruck gebraucht, dass
die Wöchnerinnen „zu früh in die Arbeit geschickt werden“, ja in der
konstituierenden Versammlung vom 10. Mai verstieg sich sogar ein
Redner zu der Aeusserung, die Wöchnerinnen würden „auf die
Strasse gesetzt“. In der Sitzung des ärztlichen Bezirksvereins vom
31. Mai hielt ich es daher für meine Pflicht, gegen diese Art des
Kampfes und die damit klarliegende beabsichtigte Schädigung der
staatlichen Entbindungsanstalten zu protestieren, welchen Protest ich
hiermit öffentlich wiederhole. Wenn ich auf die letzte Diskussions¬
bemerkung der Frau Dr. Adams-Lehmann in der genannten
Bezirksvereinssitzung nicht mehr erwiderte, so geschah dies deshalb,
weil die Liste der Diskussionsredner bereits geschlossen war.
Jeder Arzt, der nur kurze Zeit in der Kgl. Universitäts-Frauen¬
klinik praktiziert hat, weiss, dass die Wöchnerinnen weder wegen
Raummangels noch aus anderen Gründen frühzeitig entlassen werden,
sondern deshalb, weil die Wöchnerinnen selbst möglichst früh wieder
austreten wollen. Sollte dies allein Frau Dr. Adams-Lehmann,
die doch auch an der Kgl. Universitäts-Frauenklinik tätig war, un¬
bekannt geblieben sein?
Frau Dr. Adams-Lehmann findet es in 'ihrer obigen Er¬
klärung für angemessen, in Beteuerungen der Dankbarkeit gegen die
staatliche Klinik und ihren derzeitigen Direktor förmlich iiberzu-
fliessen. Wie sie dies damit vereinbart, dass sie ein in der Stadt ver¬
schicktes Zirkular, welches die angeführten gehässigen Bemerkungen
gegen die Frauenklinik enthält, mit ihrem Namen unterzeichnet, muss
ihr überlassen bleiben. Wenn sie es für passend findet, eine Sache,
die sie für eine gute hält, mit solchen Kampfmitteln zu verteidigen
und eine öffentliche Wohltätigkeitsanstalt, die, wie die Kgl. Uni¬
versitäts-Frauenklinik, alljährlich gegen 500 arme Gebärende und
Wöchnerinnen unentgeltlich verpflegt und ausserdem bei ihrem Aus¬
tritte mit Geldmitteln versieht, in den Augen des Publikums zu
verdächtigen, so mag dies ebenfalls ihr überlassen bleiben, die von
ihr verfochtene Sache wird aber hiedurch kaum gewinnen. Das
No. 27.
Urteil über diese Kampfesweise kann ruhig dem Leserkreise dieser
Wochenschrift anheimgegeben werden.
München, den 29. Juni 1906.
Prof. Dr. S t u m p f.
Briefkasten.
In der Landgemeinde R. ist Dr. Sch. als Leichenschauer vom
Bezirksamte aufgestellt. In dieser Gemeinde stirbt ein Kind an
Masern; der Vater des Kindes übersieht aus Unwissenheit die recht¬
zeitige Anmeldung des Todesfalles. Nach 48 Stunden trifft der
Moment der Beerdigung zu; 3 Stunden vor der Beerdigungszeit will
der Vater den Arzt Dr. Sch., um Entschuldigung für Sein Versehen
dringend bittend, bewegen, die Leichenschau zu machen. Dr. Sch.
verweigert die rechtzeitige Leichenschau und verbietet die Beerdi¬
gung des Kindes an dem festgesetzten Tage. Darf im Hinblick auf
§ 7 Abs. 3 der oberpolizeilichen Vorschriften vom 20. November 1885,
„Leichenschau und Zeit der Beerdigung betr.“, in so gelagertem Falle
nicht der Stellvertreter aus eigener Initiative die Leichenschau vor¬
nehmen, wenn er den Leichenschauer hiervon in Kenntnis setzt?
Dr. H. in A.
Generalkrankenrapport über die K. Bayer. Armee
für den Monat F e b r u a r 1906.
Iststärke des Heeres:
66045 Mann, 194 Kadetten, 141 Unteroffiziersschüler.
Mann
Kadetten
Unteroffiz. -
vorschüler
1. Bestand waren
am 31.
lanuar 1906:
1852
1
7
im Lazarett:
1534
2
13
2. Zugang:
im Revier:
2617
15
—
in Summa:
4151
17
13
Im ganzen sind behandelt:
6003
18
20
u/uo der Iststärke:
90,9
92,8
141,8
dienstfähig:
3901
15
15
°/oj der Erkrankten :
649,8
833,3
750,0
3. Abgang:
gestorben :
17
—
—
*) Darunter 55 un¬
mittelbar nach
°/oo der Erkrankten :
invalide:
2,8
37
1
_
der Einstellung.
dienstunbrauchbar :
61*)
—
—
anderweitig:
114
2
—
in Summa:
4130
17
15
4. Bestand
bleiben am
28. Febr. 06
in Summa:
°/oo der Iststärke:
davon im Lazarett:
davon im Revier:
1873
28,4
1353
520
1
5,2
1
5
35,5
5
Von den in Ziffer 3 aufgeführten Gestorbenen haben gelitten an:
Tuberkulose des Kehlkopfs und der Lungen 1, akuter Miliar¬
tuberkulose 1, epidemischer Genickstarre 2, Lungenentzündung 4, Blei¬
vergiftung 3, eitriger Rippenfellentzündung 1, Hirnhautentzündung 1,
Mittelohreiterung 1, Magenblutung infolge von Magengeschwüren 1,
Nierenentzündung 1 und Sublimatvergiftung t Selbstmord) 1.
Ausserdem starb noch 1 Mann ausserhalb ärztlicher Behandlung
an Lungentuberkulose.
Der Gesamtverlust der Armee durch Tod betrug demnach im
Februar 18 Mann.
Uefaersichl der Sterbefälle in München
während der 24. Jahreswoche vom 10. bis 16. Juni 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 18 (22*),
Altersschw. (üb. 60 J.) 9 (7), Kindbettfieber — (— ), and. Folgen der
Geburt 1 (3), Scharlach 1 ( — ), Masern u. Röteln 2 (1), Diphth. u.
Krupp 1 (— ), Keuchhusten — (1), Typhus — ( — ), übertragb. Tierkrankh.
— ( — ), Rose (Erysipel) 1 ( — ), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 2 (2), Tuberkul. d. Lungen 25 (25), Tuberkul. and.
Org. 4 (6) Miliartuberkul. 1 ( — ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 17 (13),
Influenza — ( — ), and. übertragb. Krankh. — ( — ), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 2(3), sonst. Krankh. derselb. 1(3), organ. Herzleid. 11 (21),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 9 (5), Gehirnschlag
4 (8), Geisteskrankh. 2 (1), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 4 (2), and.
Krankh. d. Nervensystems 1 (4), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 25 (24), Krankh. d. Leber 3 (3), Krankheit, des
Bauchfells 1 (1), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 4 (3), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 3 (6), Krebs (Karzinom, Kankroid) 23 (13),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 2 (3). Selbstmord 2 (1), Tod durch
fremde Hand — ( — ), Unglücksfälle 2 (2), alle übrig. Krankh. 8 (3).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 189 (186), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 18,2 (17.9), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 12,9 (12,5).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Miihlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.G., München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umfang von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 4- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
M 6.—. * Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren: Für die Redaktion Arnulf-
strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 8'/2-l Uhr. » Für
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20. • Für
* Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16.
Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
No. 28. 10. Juli 1906. Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
_ Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53 Jahrgang.
Originaiien.
Experimentelle Versuche über Framboesia tropica an
Affen.
Von Prof. Alb. N e i s s e r, Privatdozent Dr. Baerman n
und Dr. Ludwig Halberstädter (z. Z. in Batavia).
Als wir im Februar 1905 in Batavia anlangten, war uns
aus dem Studium der Literatur zwar wohl bekannt, dass die
Differentialdiagnose zwischen der Framboesia tropica und der
Syphilis selbst dem Geübten bisweilen grosse, ja unter Um¬
ständen unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten könne; wir
waren aber der Meinung, dass darüber, namentlich nach den
experimentellen Untersuchungen C h a r 1 o u i s’ aus dem Jahre
1881 (Ueber Polypapilloma tropicum, Vierteljahrsschr. f. Der¬
matologie und Syphilis, 8. Jahrg., 1881, pag. 431) ein Zweifel
nicht mehr obwalten könne, dass es sich zwar um verwandte,
aber um ätiologisch gänzlich verschiedene
und von einander unabhängige Krankheiten
handeln müsse. C h a r 1 o u i s hatte den exakten Nachweis
«erbracht, dass mit typischer Framboesie behaftete Kranke für
frische Syphilisinfektion empfänglich seien und dass sich ihre
primären und ersten sekundären Erscheinungen durch nichts
von den bei ganz Gesunden auftretenden Primäraffekten und
Syphilisexanthemen unterschieden.
Damit aber war bewiesen, dass die vor der neu hinzu¬
getretenen Syphilis bestehende Krankheit in keinerlei Be¬
ziehung zur Syphilis stehen könne ; denn sonst hätte
sich der von Charlouis konstatierte absolut typische
Syphilisverlauf nicht abspielen können.
Um so erstaunter waren wir, dass gerade in Dermatologie
und Syphilis besonders erfahrene und ausgebildete Kollegen
in Batavia immer wieder den Zusammenhang zwischen den
beiden Krankheiten betonten, und zwar auf Grund klinischer,
sowohl an Framboesie wie an Syphilis erinnernder Symptome,
die, wie wir alle zugeben mussten, auch uns, denen solche Fälle
demonstriert wurden, eine sichere Diagnose: Syphilis oder
Framboesie? unmöglich machten. Aber wir konnten aus sol¬
chen schwer zu diagnostizierenden Fällen und aus der grossen
Aehnlichkeit der bei beiden Krankheiten vorkommenden
Formen doch nichts Weiteres folgern, als eben die in manchen
Fällen vorhandene SchwierigkeitderDifferential-
diagnose, wir konnten aber nicht akzeptieren die Auf¬
fassung von der Identität oder auch nur ätiologischen
Verwandtschaft der beiden Krankheiten.
Es ist hier nicht der Platz, alle die klinischen Gesichts¬
punkte, die uns zu diesem Standpunkt führten, zu erörtern. Im
grossen Ganzen können wir uns hier ganz und gar den von
Albert Plehn im Handbuch der Tropenkrankheiten (Bd. I,
pag. 60 u. ff.) entwickelten Gesichtspunkten anschliessen.
Auch er trennt Syphilis und Frambösie voll¬
kommen.
Heute sei nur kurz über unsere im März in Batavia be¬
gonnenen und bis Ende Dezember 1905 (zuletzt von Baer-
mann und Halberstädter allein) fortgeführten Tier¬
experimente berichtet; Experimente, die, weil sie natürlich
hinter der uns wesentlich interessierenden Syphilisarbeit zu-
lückstehen mussten, leider nicht so ausgiebig angestellt werden
konnten, wie es uns selbst wünschenswert erschienen wäre.
No. 28.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Unsere Versuche wurden nach vier Richtungen hin ge¬
macht:
I. Uebertragung der Framboesie vom Menschen zum Affen.
II. Uebertragung vom Affen zum Affen.
III. Impfungen mit Organen von framboesiekranken Affen.
IV. Impfungen mit Framboesie und Lues auf dasselbe Tier.
I. Uebertragung vom Menschen auf Affen.
1. Mac. cyn. No. 41 wird am 24. III. 05 an rechter Augenbraue
und linker Brust geimpft. Material: Framboesiepapel vom Unter¬
arm eines Malayenknaben. Der Knabe hatte ausserdem reichliche,
etwa pfenniggrosse Papeln über den ganzen Körper zerstreut.
Positiver Erfolg am 22. VII. 05 an der rechten Augen¬
braue.
Inkubation: 91 Tage. Abgeheilt 9. IX. 05.
Regionäres Rezidiv: Am 13. IX. serpiginös fortschrei¬
tende Eruption an der rechten Augenbraue, welche bis zu dem am
25. X. 05 erfolgten Tode fortbesteht. Sektion bietet nichts Charakte¬
ristisches.
2. Q i b b o n No. 62 wird am 13. IV. 05 an der linken Augenbraue,
am linken Mundwinkel und an der linken Brust geimpft. Material:
Malaye, 30 Jahre. Einmarkstiickgrosse, papulöse Herde am linken
Mundwinkel und in der Analfurche. Angeblich erste Eruption, keine
Primärläsion beobachtet.
Positiver Erfolg an der linken Augenbraue und an der
Brust am 27. IV. 05. Inkubation: 14 Tage. — Die Erscheinungen
bestehen bis zu dem am 30. V. 05 erfolgten Tode des Tieres fort.
(Eingeweidewürmer.)
3. Mac. nemestrin No. 63 wird am 13. IV. 05 an der linken
Augenbraue, am linken Mundwinkel und an der linken Brust geimpft.
Material: wie bei No. 2, Qibbon No. 62.
Positiver Erfolg an der linken Augenbraue am 13. V. 05.
^Inkubation: 31 Tage. Abgeheilt am 11. VI. 05. Das Tier stirbt
ohne weitere Erscheinungen am 15. VII. 05.
4. Gibbon No. 110 wird am 14. V. 05 an der linken Augenbraue
und an der linken Brust geimpft. Material: Knabe aus Atjeh
(Sumatra). Grosse erodierte Papeln am Hals, Brust und Rücken.
(Bei diesem Knaben wurde eine traumatisch erodierte Stelle ohne
Erfolg autoinokuliert.) Eine Riickenpapel zur Verimpfung
exzidiert.
Positiver Erfolg an der linken Braue am 28. V. 05. Am
linken Mundwinkel entsteht (durch Autoinokulation?) gleichfalls eine
typische Framboesiepapel. Inkubation: 13 Tage. Abgeheilt am
11. VI. 05. Tier stirbt ohne weitere Erscheinungen am 23. VI. 05.
(Eingeweidewürmer.)
5. M a c. c y n o. No. 539 wird am 23. IX. 05 an der rechten Braue
geimpft. Material: Kubitaldrüse von einem Malayen, der
reichliche, über den ganzen Körper aüsgestreuteFramboesiepapeln auf¬
wies. Allgemeine deutliche Drüsenschwellung. Die linksseitige
haselnussgrosse Kubitaldrüse exzidiert. Dieselbe zeigt auf dem Durch¬
schnitt einige kleine erweichte Herde. (Bei diesem Patienten wurde
auf eine skarifizierte Riickenstelle eine Autoinokulation mit
Blut gemacht (ohne Erfolg). Alter der Framboesie unbekannt.
Positiver Erfolg am 27. XII. 05. Inkubation: 96 Tage.
Am 10. I. 06 abgeheilt.
Am 7. II. 06 Rezidiv an der Impfstelle, welches unter Ab¬
heilen im Zentrum serpiginös fortschreitet. Abheilung am 28. III. 06.
Das Tier lebt noch.
6. M a c. c y n. No. 344 wird am 23. IX. 05 wie No. 539 mit Kubital¬
drüse geimpft. Erfolg positiv am 27. XI. 05. Inkubation:
65 Tage. Abgeheilt 11. XII. 05. Tier gestorben am 10. I. 06 ohne
weitere Erscheinungen.
7. M a c. c y n. No. 292 wird am 23. IX. 05 wie 539 mit K u b i t a 1 -
d r ii s e geimpft. Erfolgpositiv am 15. XII. 05. Inkubation:
22 Tage. Die Erscheinungen bestehen fort bis zum 19. I. 06, an
welchem Tage das Tier getötet und dessen Organe weiterverimpft
wurden.
1
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
1338
Ausserdem wurden ohne Erfolg g e i m p f t 6 I iei e .
Mac. niger No. 39 (Mat. s. dl), Mac. nig. No. 60 (Mat. s. 62), Mac. cyn.
No. 108, 109, 111 (Mat. s. 110), Mac. cyn. No. 269 (Mat. s. 5391.
Es fallen also trotz gleichen Materials nicht
alle Impfungen gleichmässig aus.
Als Impfmaterial wurden, wie aus den Protokollen ersicht¬
lich, nur sichere Framboesie-Effloreszenzen
und mehrere Male eine Kubitaldrüse von einem in voller
Eruption befindlichen Framboesiepatienten benutzt.
Das Material wurde unzerkleinert auf die bis zum Auf¬
treten leichter Blutung skarifizierte Impfstelle eine Minute lang
energisch in derselben Weise eingerieben, wie wir es gewöhn¬
lich bei den Syphilisimpfungen getan haben. Die Impfstellen
heilten in den darauffolgenden Tagen ab. Nach einer Inkuba¬
tion, die zwischen 13 und 96 I agen schwankte, traten dann
die primären Erscheinungen auf. Auffallend ist, dass bei den
beiden Gibbons, also den antropoiden Affen, die In¬
kubation eine sehr kurze war: 13 und 14 Tage (gegenüber 91,
31, 96, 65 und 22 Tagen bei den niederen Affen) und dass bei
diesen die Impfungen nicht nur an d e n A u g e n brau e n,
sondern auch an der Brust positiv ausfielen. Es wird dies
vielleicht ebenso, wie bei der Lues darin begründet sein, dass
höhere und niedere Affen deutliche Differenzen in der ana¬
tomischen Konstruktion ihrer Haut (Reichtum der Blutgefässe,
Dicke des Papillarkörpers und des Koriums) aufweisen.
Der Beginn und der weitere Verlauf der
lokalen Erscheinungen war etwa folgender: Auf einer etwa
bohnengrossen, mässig infiltrierten, erhabenen Basis bildete
sich, umgeben von einem entzündlichen Hof, eine ziemlich
dicke, honiggelbe, sehr charakteristische Borke, nach deren
Entfernung ein leicht blutender, gewucherter Papillarkörper
zum Vorschein kommt, ganz ähnlich, wie bei den Framboesie-
Effloreszenzen beim Menschen. Die Erscheinungen waren,
vornehmlich bei den Gibbons, absolut identisch mit den am
Menschen zu beobachtenden Framboesie-Effloreszenzen. Die
Dauer des Bestandes der Effloreszenzen schwankte ebenso, wie
die Inkubationszeit in weiten Grenzen.
Bemerkenswert ist das Auftreten und das Aussehen der
Rezidive an den Impfstellen, die kürzere oder längere Zeit
nach dem Abheilen der Primärläsion beobachtet wurden: Es
bildete sich ein wenig infiltrierter, circinärer Herd, der, im
Zentrum abheilend und am Rande serpiginös fortwachsend, bis
zum Umfang etwa eines Markstücks sich vergrösserte. Das
Zentrum wurde dabei leicht atrophisch, der Rand etwas er¬
haben, aber wieder mit einer festhaftenden charakteristischen
gelben, harten Borke bedekt, unter der wieder der, allerdings
weniger als bei der Primärläsion gewucherte Papillarkörper
lag. Die Dauer der 3 beobachteten Rezidive betrug 40, 49
und 70 Tage.
Eine Allgemeineruption wurde nicht beobachtet,
was möglicherweise an der zu kurzen Beobachtungsdauer der
vorzeitig gestorbenen Tiere lag.
Die beim 4. Versuch (Gibbon No. 110) beobachtete Mund¬
winkelpapel ist wohl als Autoinokulation und nicht als Aus¬
druck einer disseminierten Eruption aufzufassen.
II. Uebertragungen von Tier zu Tier.
Es wurden geimpft: 1. von Mac. nemestrin. No. 63 drei Tiere,
ein Mac. cyn., ein Mac. nemestrin. und ein Mac. nig.; 2. von Qib-
b o n No. 62 ein Mac. cyn.; 3. von M a c. c y n. No. 292 drei Mac. cyn.
Positiv war nur eine Impfung und zwar bei Mac nig.
No. 65, der von Mac. nemestrin. No. 63 inokuliert war.
Impfung an der rechten Augenbraue am 28. V. U5; diese positiv
' am 1. VII. 05. I n k u b a t i o n: 34 Tage. Es bildet sich eine finger¬
nagelgrosse, warzenartige, mit gelben Borken bedeckte Effloreszenz.
Abgeheilt am 28. VII. 05. — Am II. VIII. 05 Auftreten eines Rezi¬
divs, analog den oben beschriebenen; dieses abgeheilt am 20. X. 05.
Tier gestorben am 27. X. 05 ohne weitere Erscheinungen.
III. Impfungenmitinneren Organen frambösie-
kranker Tiere.
Es wurden 3 Mac. cyn. mit einem zerriebenen Gemisch von Milz,
Knochenmark und Drüsen von Gibbon No. 62 kutan geimpft. Re¬
sultat: negativ.
Ferner wurden am 19. 1. 05 3 Mac. cyn. mit Milz und 3. Mac.
cyn. mit dem Knochenmark von Mac. cyn. No. 292 kutan an der
Augenbraue geimpft.
Nur die Impfung mit Knochenmark bei Mac. cyn.
No. 1208 war positiv. Inkubation: 44 Jage.
Die Ueberimpfungen von Tier zu Tier und mit Organen
framboesiekranker Tiere haben zwar nur in je einem Falle
ein positives Resultat gegeben. Es waren aber sowohl
die Primärläsionen, als auch das Rezidiv bei Mac. nig. No. 65
absolut identisch mit den Erscheinungen, die wir bei der Ueber-
impfung von Mensch zum Tier beobachteten.
Hierher gehören auch die positiven, mit menschlicher
Kubitaldrüse gemachten Impfungen.
IV. I m p f u n g von F r a in b o e s i e und Lues auf das¬
selbe T i e r.
1. Mac. cyn No. 339 wird am 23. IX. 05 an der rechten Braue
mit Framboesie, Kubitaldrüse (s. No. 539), geimpft.
Am 25. X. 05 wird die linke Braue mit 1 u e t i s c h e m Primär¬
affekte von einem Chinesen geimpft.
Die Impfung mit Framboesie ist positiv am 8. XI. 05.
Die Impfnug mit Lues ist positiv am 15. XI. 05.
Diese beiden Primärläsionen bestanden nebeneinander bis zum
16. XII. 05 (Abheilung). Das Tier zeigt bis heute keine weiteren
Erscheinungen.
2. M a c. n i g. No. 65 wird am 17. IV. 05 an der linken Braue
geimpft mit luetischem Primäraffekt von einem holländi¬
schen Soldaten. Diese Impfung ist p o s i t i v am 13. V. 05. Der ganz
typische Primäraffekt ist abgeheilt am 26. VI. 05, also 14. Tage nach
der typischen Entwicklung des syphilitischen Primäraffekts.
Am 28. V. 05 wird die rechte Braue geimpft mit der Fram-
boesiepapel von Mac. nem. No. 63.
Die Impfung mit Framboesie ist positiv am 1. VII. 05.
Weiteren Verlauf siehe oben.
Wir möchten noch besonders hervorheben, dass von einer
Verwechslung der beiden nach Lues- resp. nach Framboesie-
Impfung auftretenden Inokulationsprodukte nicht die Rede sein
kann, da die nach Impfungen mit Framboesie auftretenden Pri¬
märläsionen sich von den luetischen Primäraffekten klinisch
aufs deutlichste unterscheiden.
Unsere Ergebnisse sind also folgende:
1. Die Framboesie ist vom Menschen auf
höhere wie auf niedere Affen übertragbar.
2. Die Framboesie ist vom Affen zu m Affen
übertragbar.
3. EstrittwiedieDrüsen-undOrganimpfun-
gen beweisen, eine Generalisation des Fram-
b o e s i e g i f t e s im Körper ein.
4. Mit Lues behaftete Tiere sind für Fram¬
boesie empfänglich.
Lues und Framboesie müssen also ätiologisch differente
Erkrankungen sein.
Auf die von Cast el laue bei Framboesie gemachten
Spirochäten befände können wir hier nicht eingehen. Soll¬
ten sich seine Angaben als richtig erweisen, so würde sich die
Verwandtschaft der beiden Krankheiten Lues und Framboesie
erst recht erweisen. Wir hoffen in einer späteren Mitteilung
über diese Frage und über die Fortsetzung unserer Tierver¬
suche berichten zu können.
Aus der Kgl. chirurgischen Universitätsklinik Bonn.
Wie vermeidet man Misserfolge bei der Lumbal¬
anästhesie?
Von Dr. Alfred Dönitz, Assistent der Klinik.
Aus verschiedenen Veröffentlichungen und privaten Mit¬
teilungen ersehe ich, dass bei der Ausführung der Lumbal¬
anästhesie noch vielfach irrationell zu Werke gegangen wird.
Hierauf sind zweifellos eine Anzahl von Misserfolgen und üblen
Zufällen zurückzuführen, die sich bei geeigneterem Vorgehen
sicherlich hätten vermeiden lassen. Man kann dabei nicht von
Fehlern der Technik reden, da eine allgemein anerkannte Norm
leider noch nicht existiert. Da die Erfolge der Lumbal¬
anästhesie in höchstem Masse von diesen technischen Einzel¬
heiten abhängig sind, wie ich in einem Vortrage auf dem
Chirurgenkongress 1905 des genaueren gezeigt habe, so kann
allen denen, die über Misserfolge zu klagen haben, nicht drin¬
gend genug empfohlen werden, sich genau an die Technik
derer zu halten, die gute Resultate aufzuweisen haben. — Wir
haben auf Grund einer methodischen, teils praktischen, teils
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1339
10. Juli 1906.
experimentellen Prüfung aller dieser technischen Faktoren
ganz bestimmte Vorschriften aufgestellt, die sich uns auch
weiterhin ganz ausgezeichnet bewährt haben und die auch
schon von anderen Autoren nachgeprüft und ausdrücklich emp¬
fohlen sind.
Der am häufigsten begangene Fehler ist zweifellos die Ver¬
wendung zu grosser Dosen des anästhesierenden Giftes. Wenn
man bedenkt, dass bei 0,07 die erste schwere Stovainvergif-
tung beobachtet wurde, die um ein Geringes den Tod des Kran¬
ken zur Folge gehabt hätte, darf man sich natürlich über
schwere Vergiftungen, ja Todesfälle nicht wundern, wenn man
die Dosis auf 0,08, ja 0,1 und mehr erhöht. Auf der anderen
Seite ist es ganz selbstverständlich, dass man die Gefahren der
Lumbalanästhesie wesentlich einschränkt, wenn man nur ge¬
ringe Dosen verwendet. Unsere Normaldosis beträgt 0,04 Sto-
vain. Wir hatten die Dosis von 0,06 in besonderen Fällen
für zulässig gehalten, müssen aber jetzt selbst diese Menge,
nach schlechten Erfahrungen anderer, für zu hoch erklären,
wenn wir selbst auch nie irgendwelche bedrohliche Vergif¬
tungen danach gesehen haben. Von demselben Gesichtspunkte
ausgehend, hat T u f f i e r Ampullen herstellen lassen, in denen
nur insgesamt 0,05 Stovain enthalten ist, um jede irrtümliche
Ueberschreitung dieser geringen Dosis zur Unmöglichkeit zu
machen. Dieses Prinzip, mit möglichst wenig Gift auszu¬
kommen, ist für die Inhalationsnarkose ja längst allgemein
anerkannt: Die Kunst zu narkotisieren besteht in dem Aus¬
kommen mit möglichst wenig Chloroform oder Aether. Das¬
selbe fordern wir auch unbedingt von der Lumbalanästhesie:
Die Kunst der Spinalanalgesierung besteht in erster Linie in
dem Auskommen mit der Minimaldosis. Ein Kranker, der mit
40 g Chloroform gefahrlos narkotisiert werden kann, wird
unter Umständen bei Verwendung von 80 — 100 g bereits den
Chloroformtod erleiden, und um in demselben Mengenverhält¬
nis des gewählten Beispiels zu bleiben: eine Spinalanalgesie
wird mit 0,04 Stovain fast ausnahmslos gefahrlos, mit 0,08 bis
0,1 jedoch ab und zu tödlich enden, wenn diese Menge auch in
der grossen Mehrzahl der Fälle anstandslos vertragen wird.
Aber wie das Chloroformieren mit geringen Mengen Auf¬
merksamkeit erfordert und erlernt sein will, so erfordert die
Spinalanalgesie mit geringen Mengen auch eine gewisse Uebung
und eine Technik, die weiter unten geschildert werden soll.
Einer der wesentlichsten Fortschritte in der Ausführung der
Lumbalanästhesie ist zweifellos die Beckenhochlagerung nach
Kader. Gegen sie scheint im allgemeinen immer noch ein
gewisses Vorurteil zu bestehen, das wohl früher berechtigt
war, zurzeit jedoch nicht mehr, denn erstens lässt sich die
Hauptgefahr der Hochlagerung, das zu hohe Hinaufsteigen des
Anästhetikums nach der Medulla und die Lähmung lebens¬
wichtiger Zentren oder besser Nerven, z. B. Phrenikus,
vermeiden (s. u.). Zweitens ist diese Gefahr reichlich dadurch
kompensiert, dass die Hochlagerung uns ermöglicht, mit den
geringsten Dosen auszukommen, die, wie oben des breiteren
betont, praktisch ungefährlich sind. Drittens, und das betone
ich ganz besonders, haben wir in dem Tropakokain ein Mittel,
das bei seiner Einwirkung auf die Gegend der Medulla und
des Halsmarkes ungefährlich ist, wie weiter unten gezeigt
werden soll.
Um die Höhenausdehnung der Lumbalanästhesie je nach
Bedarf willkürlich zu variieren, sind zwei Verfahren gebräuch¬
lich :
1. Das erste besteht darin, dass man für höher oben ge¬
legene Operationsgebiete grössere Giftmengen verwendet; die
Mehrzahl der Autoren verfährt in dieser Weise. Beispiele an¬
zuführen erübrigt sich, da sie in jeder Mitteilung, die auch
die Technik berührt, zu finden sind.
Es ist zuzugeben, dass dieses Verfahren zum Ziele führt,
denn eine grössere Giftmenge gibt natürlich im Liquor eine
grössere Diffusionszone, so dass höher gelegene Nervenwurzeln
noch von einer hinreichend konzentrierten Giftlösung umspiilt
werden.
2. Das zweite Verfahren bedient sich nicht des indirekten
Weges der Diffusion. Es wird vielmehr durch Beckenhoch¬
lagerung nach der Injektion die ganze Liquorsäule des Arach-
noidealsackes in toto nach oben verschoben, so dass das ein¬
gespritzte Anästhetikum direkt auf die Nervenwurzeln des
Operationsfeldes gehoben wird. Man kann so höher ge¬
legene Gebiete (z. B. Leistenhernien) anästhesieren mit den
geringen Dosen, die sonst nur für Operationen am Damm ge¬
nügen.
Hat man zwischen beiden Verfahren zu wählen, so muss
man unbedingt das letztere vorziehen, da es durch Verringe¬
rung der verwandten Giftmengen wesentlich dazu beiträgt,
der Lumbalanästhesie ihre Gefahren zu nehmen.
Ein drittes, ebenso wichtiges Verfahren, das in Verwendung
grosser Liquormengen zur Verdünnung des Anästhetikums
besteht, und in Kombination mit anderen Massnahmen selbst
totale Anästhesie zu erzeugen gestattet, soll in einer der näch¬
sten Nummern dieser Wochenschrift mitgeteilt werden. Bei
diesem Verfahren braucht man auch für totale Anästhe¬
sien ebenso geringe Mengen des Anästheti-
k u m s wie für Operationen am Damm.
Wenn man sich des Verfahrens der Beckenhochlagerung
bedient, muss man jedoch die Ausbreitung der Anästhesie nach
der Injektion prüfen und nach dem Ergebnis den Grad der
Hochlagerung modifizieren, wenn man vor Misserfolgen sicher
sein will.
Zwei Beispiele mögen dies erläutern.
1. Nach der Injektion von 0,04 Stovain zur Ausführung
einer Bassinioperation wird der Kopf des Kranken tief gelagert,
nach 2 Minuten ergibt die Untersuchung, dass der Damm und
das ganze Bein stark hypästhetisch sind. Oberhalb des Leisten¬
bandes normale Schmerzempfindung. Da die Anästhesie nicht
hoch genug hinaufreicht, wird die Hochlagerung bis zum
äussersten erhöht: Die Anästhesie steigt bis handbreit unter
den Nabel. Der umgekehrte Fall: Bei einer Kniegelenksresek¬
tion war 3 Minuten nach der Injektion eine Anästhesie nur
zwischen Leistenband und Rippenbogen vorhanden. Sofort
wird der Kopf des Kranken hochgelagert: die Anästhesie brei¬
tet sich auch nach unten hin über das ganze Bein aus.
Im Gegensatz zu unserer Ansicht verwirft Veit die Prü¬
fung der Anästhesie prinzipiell, um die Kranken nicht unnütz
durch vorzeitiges Kneifen vor dem Eintritt der Anästhesie zu
ängstigen. Dieser Gesichtspunkt ist durchaus berechtigt. Es
ist deshalb von Wichtigkeit, dass Finkelnburg uns ge¬
lehrt hat, das Verhalten der Sehnen- und Hautreflexe in dem
gedachten Sinne zu verwerten. Finkelnburg fand näm¬
lich, dass bei der Anästhesierung mit Stovain von allen Funk¬
tionen die Reflexe zuerst verschwinden, lange bevor die An¬
ästhesie eintritt. Er bezeichnet daher mit Recht
das Verschwinden des Kniephänomens als Früh-
Symptom der eint’retenden Anästhesie des Beines; aber
auch vom Verschwinden des Kremaster und besonders des
unteren, mittleren und oberen Bauchreflexes machen wir mit
Vorteil bei Anästhesien der Bauchgegend Gebrauch. Wer mit
V e i t die Prüfung der Anästhesie durch Kneifen verwirft, wird
jedenfalls dieses sehr einfache, aber sehr wertvolle Hilfsmittel
der Untersuchung willkomen heissen, da es dem Kranken keine
Schmerzen macht und ihn daher nicht verängstigt. Das Nähere
s. u.
Die Verstärkung oder Verringerung der Beckenhochlage¬
rung ist ein sicheres Mittel um das anästhesierende Gift im
Arachnoidealsack nach Belieben hinauf- oder hinabsteigen zu
lassen. Man kann so einerseits sehr wirksam hochgehende
Anästhesien erzielen, andererseits aber kann man auch durch
Aufhebung der Hochlagerung ein zu hohes Hinauf¬
steigen des Anästhetikums nach der Medulla zu verhindern
und so die der Hochlagerung anhaftende Gefahr ausschalten.
Dass man mit dieser Gefahr rechnen muss, ist a priori zu¬
zugeben, und ich habe a. a. O. darauf hingewiesen, dass man
gerade beim Stovain daran denken soll, da es exquisite Läh¬
mungen auch in der motorischen Sphäre verursacht. Ich habe
deshalb den Einfluss des Stovains auf die Medulla möglichst
rein dadurch zu erkennen versucht, dass ich bei Hunden die
Spinalpunktion zwischen Okziput und Atlas ausführte und nun
das Stovain einspritzte; das Ergebnis war kurz gesagt, dass
die Atmung zuerst, und zwar sehr stark beeinträchtigt wird,
während das Herz lange unbeeinflusst bleibt; in einem Falle
schlug das Herz sogar noch 30 Minuten lang weiter, nachdem
die spontane Atmung definitiv sistiert und durch künstliche er¬
setzt war. Trat der Tod ein, so hörte stets primär die Atmung
auf. Dieses Verhalten ist von Wichtigkeit, da wir (wie auch
bei der Narkose) beim Nachlassen der Herztätigkeit
1*
34 0
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
wenig, beim Aufhören der Atmung jedoch sehr w lrksam ein-
greifen können. Dein Tierexperiment entsprechen die 4 bis¬
her beim Menschen beobachteten Fälle von Atmungslähmung
nach Stovainanästhesie (3 Fälle der Literatur, 1 eigene Be-
obachtung); bei allen konnte durch künstliche Atmung das
Leben erhalten werden.
1. Sandberg - Bergen (Medizinske Revue, iebiuar 19 6, ref.
Zentralbl. f. Chirurg., 1906, No. 16). Nach Injektion von 0,07 Stovain
mit anschliessender Beckenhochlagerung zwecks Ausführung einer
Nephrektomie trat schnell Atmungslähmung ein. Es musste 2 5 Minuten
lang künstliche Atmung ausgeführt werden.
2. Bei einem Falle eigener Beobachtung wurde gleichfalls zum
Zwecke einer Nephrektomie 0,04 Stovain im Sitzen injiziert. Es wuide
beabsichtigt, nach unserem neuen Verfahren eine sehr hochgehende
Anästhesie (bis zum Halse) auszuführen und die Möglichkeit einer
Atmungslähmumr ins Auge gefasst; im Vertrauen auf die geringere
lähmende Wirkung von nur 0,04 Stovain und die Wirksamkeit der
künstlichen Atmung wurde die Anästhesie trotzdem bis zum Halse
hinaufgetrieben, durch Hochlagerung des Kopfes jedoch ein noch
höheres Ansteigen (Gesicht) verhindert. Bereits 5 Minuten nach der
Injektion klagte Patientin über Luftmangel, nach einigen weiteren
Minuten trat völliger Respirationsstillstand ein. Während die Opera¬
tion ihren Gang nimmt, wird unter dem aseptischen Tuch mit
einer Hand die obere Thoraxhälfte rhythmisch komprimiert (die
untere fiel wegen der Lagerung über einer dicken Rolle für die Atmung
aus); nach 5 Minuten trat spontane Weiteratmung ein.
3. Greiffenhagen - Reval berichtet im Zentralbl. f. Chirurg.
1906, No. 19 über zwei Fälle von Atmungslähmung, von denen der
eine gleichfalls eine Nierenoperation betrifft. Injektion von 0,104 Sto¬
vain im Sitzen, darauf horizontale Lagerung. Nach einer Minute be¬
reits beginnt die Atmung oberflächlich zu werden. Es musste
10 Minuten lang die Atmung künstlich weitergeführt werden.
4. Zu einer Bassinioperation injizierte Greiffenhagen
0,08 Stovain im Sitzen ohne darauffolgende Tieflagerung. Nach
wenigen Minuten hörte die Atmung auf, daher 20 Minuten künstliche
Atmung.
Greiffenhagen hat in seinen beiden Fällen nur ver¬
sehentlich so hohe Dosen angewandt (s. Zentralbl. f. Chirurg.
1906, No. 23).
Es konnte also in allen Fällen durch künstliche Atmung
das Leben erhalten werden; trotzdem sind diese Störungen
doch so unangenehmer und ernster Natur, dass man sich fragen
muss, ob derartige Fälle sich in Zukunft werden vermeiden
lassen, und diese Frage ist unbedingt mit Ja zu beantworten.
Zunächst muss ich mich aus Gründen, deren Erörterung an
dieser Stelle zu weit führt, unbedingt dem Erklärungsver¬
such Greiffenhagens anschliessen, nämlich : „dass es
sich in beiden Fällen um reine Stovainwirkung auf die moto¬
rischen Nervenwurzeln gehandelt hat“. Eine Sto¬
vainanästhesie des Beines ist mit einer motorischen Lähmung
desselben verbunden; es ist demnach von vornherein wahr¬
scheinlich^ dass eine Anästhesie am Halse mit einer Lähmung des
zugehörigen motorischen Gebietes, also auch des Zwerchfells
und der übrigen Atmungsmuskulatur, kombiniert sein muss,
und wir haben deshalb in unserem Fall auch mit dieser Mög¬
lichkeit von vorneherein gerechnet. Diese Erklärung des Re¬
spirationsstillstandes durch Lähmung der entsprechenden
motorischen Nervenwurzeln ist von der allergrössten
Wichtigkeit, denn durch Verwendung eines Präparates, das
keine motorische Lähmung verursacht, kann man auf die ein¬
fachste und sicherste Weise diese üblen Zufälle vermeiden,
und das gegebene Mittel dafür ist das Tropakokain, nachdem
die mitgeteilten Beobachtungen ergeben haben, dass das Sto¬
vain bei hochgehenden Anästhesien die Gefahr der Atmungs¬
lähmung in sich schliesst. Nach unserer Erfahrung macht die
geringsten motorischen Störungen das Kokain; es folgt das
Tropakokain; Novokain wirkt stark, Stovain und Alypin am
stärksten auf das motorische Gebiet. Von diesem Ge¬
sichtspunkte aus muss man also dem Tropakokain, das
von Schwarz, Neugebauer, Preindlsberger,
Kuder u. a. schon lange empfohlen wird, den Vorzug geben,
da das Kokain aus sonstigen Gründen unbrauchbar ist; und die
praktische Erfahrung gibt dieser Ueberlegung recht. Wir
haben ein Verfahren ausgebildet, die Lumbalanästhesie auf
Operationen am Brustkorb und Halse, eventuell auch im Ge¬
sicht auszudehnen, und gebrauchen dazu das Tropakokain mit
dem allerbesten Erfolge, ohne dass die Atmung sichtlich be¬
einflusst wird. Die Respirationslähmung im Gefolge der Lum¬
balanästhesie gehört demnach zu den üblen Zufällen, die man
mit Sicherheit vermeiden kann.
Der psychischen Erregung der Kranken bei erhaltenem
Bewusstsein wurde in letzter Zeit auch in einer Veröffent¬
lichung aus der Freiburger Klinik Aufmerksamkeit geschenkt;
P e n k e r t nämlich berichtet über wohlgelungene Ver¬
suche, Bewusstsein und Erinnerungsbilder durch einen Sko-
polamin-Morphium-Dämmerschlaf auszuschalten. Nach
mitgeteilten Erfahrungen scheint sich diese Methode bei ängst¬
lichen Kranken zu empfehlen, jedoch halte ich die Verwendung
von VA— 1 '/< B i 1 1 o n sehen Ampullen aus den oben angeführ¬
ten Gründen für zu hoch. Naturgemäss ändert sich das Be¬
dürfnis nach derartigen Massnahmen mit dem Naturell der Be¬
völkerung. Wir sind in der hiesigen Klinik mit einfacheren
Mitteln ausgekommen. Meist bildet die wohlgelungene An¬
ästhesie das beste Beruhigungsmittel; ist dies nicht der Fall,
so halten wir dem Kranken eine Aethermaske vor und geben
10 bis 20 Tropfen Aether oder Kampheröl darauf, deren Wir¬
kung nur suggestiv sein kann. Bei extrem ängstlichen
Kranken geben wir soviel Aether, dass ein Dämmerschlaf ent¬
steht, ebenso natürlich auch bei langdauernden Operationen,
wenn schliesslich die Anästhesie nachlässt.
Die Technik der Punktion hat unseres Dafürhaltens Fol¬
gendes zu erstreben :
1. Die Kanüle muss in dem hintersten Umfange des Arach-
noidealsackes zu liegen kommen,
2. Alle Nebenverletzungen, insbesondere der Nervenele-
mente müssen vermieden werden,
3. Sie muss leicht ausführbar bleiben.
Diesen 3 Indikationen wird man gleichzeitig gerecht, wenn
man
1. genau in der Mittellinie eingeht, und
2. vor dem Durchstechen der Meningen den Mandrin ent¬
fernt. Das Eingehen in der Medianebene hat den Vorteil, dass
wir den Arachnoidealsack nie unrichtig, d. h. seitlich punktieren
können. Wir treffen ihn entweder richtig, d. h. in seiner Mitte,
oder gar nicht, wenn wir auf Knochen stossen. In diesen
Fällen zieht man die Nadel zurück und stösst sie mit stärkerer
Neigung mehr kopfwärts oder mehr kaudalwärts ein, bis man
den Interarcualraum trifft. So kommen wohl überflüssige Ver¬
letzungen der Weichteile — Muskel, Fascie, Periost zu
stände, doch sind diese völlig bedeutungslos. Die Haupt¬
sache ist, dass die Meningen nicht mehr als nötig geschädigt,
sondern nur einmal durchlocht werden, während sie bei den
Punktionen seitlich von der Mittellinie in vielen Fällen er-
fahrungsgemäss öfters durchstossen werden müssen, bis der
Liquorabfluss frei ist. Wir haben an der hiesigen Klinik beide
Verfahren an hunderten von Fällen geübt und haben uns durch¬
aus zu Gunsten der Punktion in der Mittellinie entschieden.
Wir entfernen ferner im letzten Akt der Punktion den
Mandrin. Da uns unmittelbar nach Durchstechen der Rücken¬
markshäute sofort Liquor entgegensprudelt, zu einer Zeit, wo
die Nadelspitze weder die Elemente der Kauda, noch den
Conus terminalis berührt hat, so vermeiden wir auf diese
Weise mit ziemlicher Sicherheit eine Verletzung dieser Or¬
gane. Gleichzeitig bleibt die Nadelspitze im hintersten Umfange
des Arachnoidealsackes, wodurch die typische Ausbreitung der
Anästhesie gewährleistet wird. Der Abfluss des Liquor tritt
selbst dann ein, wenn nur ein Teil der Kanülenspitze (von
etwa 1 Millimeter Länge) in -den Arachnoidealsack eingedrun¬
gen ist. Der Liquor quillt in einem solchen Falle tropfenweise
hervor und der Abfluss wird erst frei, wenn die Hohlnadel um
1 _ 2 mm vorgeschoben wird. Das charakteristische Gefühl
beim Durchstechen der Meningen ist bei weitem kein so feines
Reagenz, wie das Abfliessen des Liquor bei Punktionen ohne
Mandrin.
Verstopfungen der Hohlnadel kommen erfahrungsgemäss
nicht vor, wenn man den Mandrin erst kurz vor dem Ein¬
dringen in den Rückgratskanal entfernt.
Die Zufälle, die man bei diesem Vorgehen vermeidet, sind
folgende:
1. Das äusserst schmerzhafte Anstechen der Nervenfaser¬
bündel der Kauda wird ausgeschaltet, das wir früher bei ander¬
weitigem Vorgehen oft erlebten und sogar als ein ziemlich
sicheres Zeichen der gelungenen Punktion angesehen haben.
2. Unnötige Gefässverletzungen werden vermieden, und
blutig gefärbter Liquor, oder sogar Auslaufen von reinem Blut
JO. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1341
(aus dem Plexus venosus) haben wir im Gegensatz zu früher
kaum mehr gesehen.
3. Das Einspritzen einer anästhesierenden Lösung zwi¬
schen die Fasern der Rauda ist nicht möglich. Die an dieser
Stelle deponierte Lösung wird nämlich grösstenteils in dem
Zwischenraum der Nerven längere Zeit festgehalten und ver¬
ursacht Reizung lokaler Art, die bisher lange nicht genug ge¬
würdigt sind und die besonders bei den chemisch und physi¬
kalisch differenten Mitteln von Wichtigkeit sein dürften, z. B.
bei der von Frankreich aus empfohlenen lOproz. Stovain-
lösung mit dem (ganz unnötigen) Zusatz von 10 proz. NaCl ;
diese Lösung ist sehr stark überisotonisch (berechneter Ge¬
frierpunkt bei über 3,841" C); dazu kommt, dass das Stovain
nach Braun stark reizend und Gewebsschädigend wirkt.
Wir verwenden aus diesem Grunde nur eine isotonische 4 proz.
Stovainlösung.
Die Reizwirkung wird viel geringer, wenn die Lösung
nicht zwischen die Raudafasern, sondern an ihrer hinteren
Seite injiziert wird, wo in dem allseitig kommunizierenden
Liquorraum sofort eine starke Verdünnung stattfindet. — Aehn-
liche Reizungen scheinen auch durch Blutungen an derselben
Stelle verursacht zu werden.
Die Folgen der aufgezählten Schädigungen äussern sich
in: Hyperästhesien, Anästhesien, Parästhesien in der sensiblen
Sphäre und in Lähmungen und Rrämpfen im motorischen Ge¬
biete, je nachdem die Nadelspitze mehr im hinteren sensiblen
oder vorderen motorischen Gebiete der Rauda zur Zeit der
Einspritzung sich befand. Einseitige Störungen erklären sich
durch Injektionen in die seitlichen Partien, während doppel¬
seitige, insbesondere Paraplegien, durch Injektion in der Mittel¬
ebene zu stände kommen. Diese Störungen können unter
Umständen sehr unangenehmer und quälender Natur sein, und
es ist daher von Wichtigkeit, dass wir auf dem angegebenen
Wege die Nebenverletzungen beim Punktieren und damit diese
üblen Folgezustände vermeiden können.
Dass diese Störungen nun tatsächlich durch die Verletzun¬
gen bedingt sind, ergibt sich aus Beobachtungen, von denen die
Trantenroth sehen wegen ihrer exakten Beschreibung am
brauchbarsten sind; besonders seine zweite halbseitige An¬
ästhesie hat den Wert eines reinen Experimentes: Einstich in
die linke Hälfte des Lumbalsackes (in der Absicht eine Halb¬
seitenanästhesie zu erhalten). Abfluss von nur wenig Liquor
macht es wahrscheinlich, dass die Nadelspitze zwischer
den Raudafasern (und nicht an ihrer hinteren Seite) sich
befand. Injektion von 0,0005 Adrenalin und 0,04 Stovain: links¬
seitige Anästhesie, in der Folge Rrämpfe und sensible Störungen
im linken Bein (Gefühl der Schwere, Schmerzen, Gefühl von
Nadelstichen auf Druck uswj. Charakteristisch ist, dass die
Störungen nicht das ganze Bein gleichmässig be¬
trafen, sondern dass sie f 1 e c k w e i s e auftraten und lange
Zeit bestanden, jedenfalls nach 3 Monaten (!) noch nicht ganz
verschwunden waren. Bei T rantenroths erster Halb¬
seitenanästhesie traten keine lokalen Symptome auf (Verwen¬
dung von Tropakokain). Bei einem ferneren, ganz ausführlich
beschriebenem Falle hatte Trantenroth gleichfalls seitlich
punktiert. Diesmal trat eine motorische Lähmung des
rechten Beines ein (noch nach 5 Wochen Parese) und ausge¬
sprochene fleckweise Gefühlsstörungen (Gefühl von Eiseskälte;
nach 9 Wochen war der Oberschenkel an der Innenseite
„lahm“, der Unterschenkel an der Aussenseite „taub“ und der
Fuss wie eingeschlafen). Die in diesem Falle injizierten Sub¬
stanzen waren alle reizender Natur: Adrenalin 0,0005, darauf
weitere 0,0002; das englische Adrenalin ist besonders stark
reizend, da es im Gegensatz zu den deutschen Präparaten viel
freie Salzsäure enthält; das zur Anästhesie verwandte Prä¬
parat war eine 10 proz. Stovainlösung, also wohl das bereits
erwähnte, stark hyperisotonische, französische Präparat mit
Zusatz von lOproz. NaCl. Ferner war dieser Lösung zur
Haltbarmachung beigemischt Rarbolsäure in K proz. Ronzen-
tration. Dies ist jedoch nicht angängig nach Edens Ver¬
suchen an Ratzen: „Die anfänglichen Reizerscheinungen und
die, wenn auch vorübergehenden paretischen Folgeerschei¬
nungen bei der 5 proz. Rarbolsäure, verbieten natürlich jeden
Versuch am Menschen“. Die Summe aller dieser
Schädlich keiten zusammengenommen, sind für die üblen
Folgezustände verantwortlich zu machen. Bei Verwendung
No. 28.
unserer isotonischen 4 proz. Stovainlösung wäre wohl ein
grosser Teil derselben vermieden worden, selbst wenn sie
zwischen die Nervenfasern eingespritzt worden wäre.
Eine andere Entstehungsursache scheint die tödlich en¬
dende Paraplegie gehabt zu haben, die R ö n i g vor kurzem
in dieser Zeitschrift bekannt gab; doch muss erst die ange¬
kündigte ausführliche Mitteilung abgewartet werden.
Es wurden oben 2 Veröffentlichungen der letzten Zeit
herangezogen, in denen über schlechte Erfolge mit der Lumbal¬
anästhesie berichtet ist. Ihr Inhalt soll noch einmal kurz be¬
sprochen werden.
Trantenroth erlebte einen schweren Rollaps bei Ver¬
wendung von 0,06 bei einer Geburt und beruft sich darauf,
dass diese Dosis auch in unserer Rlinik verwendet wurde. Ich
bemerke dazu, dass wir sie für zulässig erklärt haben, aber
ausdrücklich nur als Maximaldosis für schwierige
Anästhesien; für Geburten jedoch kommt man erfahrungsge-
mäss mit einer geringen Menge des Anästhetikums aus
(S t o 1 z), es lag also kein Grund vor, die Normaldosis zu
überschreiten und 0,04 wäre völlig hinreichend gewesen.
T rantenroths Beobachtung lehrt jedoch, dass auch 0,06
noch zu viel ist und bestätigt die Richtigkeit unserer Forderung
mit dem Minimum des Anästhetikums auszukommen.
Die üblen Nacherscheinungen, die Tr. beobachtete, erklären
sich aus der Verwendung differenter Lösungen und einer Tech¬
nik, die noch vielfach in Gebrauch ist, die wir aber, gleich
uns, zu verlassen empfehlen zu Gunsten einer besseren, die
unten im Zusammenhang geschildert werden soll.
Ich habe gezeigt, dass die Halbseitenanästhesien nicht
durch die Schwerewirkung infolge von seitlicher Lagerung
bedingt sind, sondern durch halbseitige Ausbreitung des Sto-
vains, zwischen den Fasern der einen Raudahälfte auf der
Seite des Einstiches und konnte durch seitlichen Einstich ohne
darauffolgende Seitenlagerung eine unilaterale Anästhesie er¬
zeugen. Hildebrandt hat dann meine diesbezüglichen
Leichenversuche (Injektion gefärbter Flüssigkeiten) nachge¬
prüft und bestätigt, und das Verfahren durch seitliche Punktion
unilaterale Anästhesien zu erhalten, für die Praxis in geeigneten
Fällen empfohlen. Trantenroth hat dann dasselbe Verfahren
aufGrund gleicherBeobachtungen noch einmal befürwortet. Aus
dem Eintreten der schwersten Folgezustände ergibt sich jedoch,
dass das Verfahren völlig unbrauchbar ist. Die Halbseiten¬
anästhesien verdienen viel mehr deswegen eine breite Er¬
örterung, weil sie beweisen, dass bei Injektion zwischen die
Raudafasern das Anästhetikum und damit die Anästhesie lokal
beschränkt bleibt; deshalb muss zur Erzielung typischer, aus¬
gedehnter Anästhesien an der Hinterseite der Rauda injiziert
werden. In diesem Sinne haben die unilateralen Gefiihls-
lähmungen eine prinzipielle Bedeutung.
Was die Wahl der Punktionsstelle betrifft, so ist die In¬
jektion zwischen 1. und 2. Lendenwirbel und selbst eines
höheren Interarkualraumes gestattet, vorausgesetzt, dass man
in der Mittellinie ohne Mandrin punktiert, weil dann eine
Verletzung nervöser Teile so gut wie ausgeschlossen ist; pas¬
siert sie doch, so ist die Verletzung nicht folgenschwer, da die
Ronusspitze nur motorische Zentren für die Beckenmuskulatur
enthält, bei der ein geringer Ausfall nichts schadet. Einen
Rardinalfehler hat T rantenroth dadurch begangen, dass
er injiziert hat, ohne dass Liquor abgeflossen ist. Ich möchte
nicht unterlassen, eines zu betonen:
Trantenroth beschreibt seine Misserfolge und insbe¬
sondere die in Betracht kommenden technischen Faktoren so
exakt und genau, dass man wirklich Schlüsse aus ihnen ziehen
kann, wie man diese üblen Zufälle vermeiden kann, denn aus
Fehlern soll man lernen. Ich halte diese Arbeit für eine Be¬
reicherung im Gegensatz zu den zahlreichen Mitteilungen, die
nichts weiter als eine blosse Aufzählung von Erfolgen und
Misserfolgen enthalten, aus denen man mangels jeglicher Ein¬
zelheiten gar keine Schlüsse ziehen kann.
Ueber äusserst schlechte Resultate mit der Lumbalanästhe¬
sie berichtet Bosse im Aufträge von Hildebrandt (Chi¬
rurgische Rlinik der Charite), leider sind die Angaben so skiz¬
zenhaft gehalten, dass eine Diskussion dadurch sehr' er¬
schwert ist.
2
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
342
Berichtet wird über 55 Stovainanästhesien. Darunter sind:
1 Todesfall = 2 Proz., 8 Misserfolge (komplette und par¬
tielle) = 14,5 Proz., Narkose war nötig in ungefähr 50 Proz.,
2 Paraplegien der Beine (lange anhaltend!) == 4 Proz.
Diese Statistik ist wohl die schlechteste die in den letzten
Jahren bekannt geworden ist. Daneben aber gibt es auch
ausserordentlich günstige. So berichtet z. B. B. Kendir-
djy über insgesamt 204 Fülle ohne auch nur einen
einzigen Misserfolg! W enn dieselbe Methode
der Bier sehen Lumbalanästhesie mit demselben Mittel
— Stovain — so extrem verschiedene Resultate liefert, so liegt
doch der Gedanke nahe, dass es sich um Verschiedenheiten in
der Ausführung handelt. Wenn Bosse nun meint, dass
für die ungemein schlechten Resultate in der Hildebrandt-
schen Klinik Fehler der Technik nicht verantwortlich gemacht
werden könnten, so setzt er sich damit in strikten Gegensatz
mit einer Veröffentlichung aus derselben Klinik. Hil¬
debrandt (Assistent der Klinik) nämlich schreibt wörtlich:
„Diese Versager werden sich niemals ganz vermeiden lassen;
doch gelingt es bei guter Uebung, dieselben auf ein Minimum
zu reduzieren, sodass K e n d i r d j y und B u r g a n d unter
140 „Rachistovainisationen“ (inzwischen 204 s. o.) gar keinen
Misserfolg zu verzeichnen hatten. Wenn auch die Technik
nicht schwierig zu erlernen ist, so gehört doch einige Erfahrung
dazu, bis man alle Fehlerquellen zu vermeiden gelernt hat.“
Im einzelnen lassen die Fehler der Technik sich nicht nach-
weisen, aber nach der Launenhaftigkeit der Ausbreitung der
Anästhesien in zeitlicher und örtlicher Beziehung scheint von
der Hochlagerung nicht, oder nur in ungenügendem Masse Ge¬
brauch gemacht zu sein, was auch aus der zitierten Arbeit von
Hildebrandt zu ersehen ist. Die Dosierung des Stovains
ist zu hoch (0,06—0,08 allenfalls 0,1!). Die beiden lang an¬
haltenden Paraplegien sind vermutlich durch Injektion zwischen
die Kaudafasern zu erklären.
Da die Mortalitätsstatistik von prinzipieller Bedeutung für
die Beurteilung der Lumbalanästhesie ist, und da in der vor¬
liegenden Veröffentlichung ein Todesfall der Lumbalanästhesie
zur Last gelegt wird, obwohl alle mitgeteilten klinischen Er¬
scheinungen und der Sektionsbefund gegen die angenommene
zentrale Atmungslähmung spricht, so muss dieser Fall des Ge¬
naueren besprochen werden.
Einem Kranken wurde unter Lumbalanästhesie (wieviel
Stovain?) ein Oberschenkel reamputiert. Abends tritt plötzlich
Herzarythmie auf. Nachts plötzlicher Tod unter den Erschei¬
nungen der Atmungsinsuffizienz. Bei der Sektion fanden sich
ausser multiplen subpleuralen Ecchymosen keine andere Todes¬
ursache. Das sind die objektiven 1 atsachen; aus
ihnen zieht Bosse folgende Schlüsse: Die subpleuralen Ecchy¬
mosen werden als „charakteristisch für Erstickung aufgefasst .
„Damit wäre dieser Exitus auf Kosten direkter Lähmung der
medularen Zentren durch das chemische Gift zu setzen. Dazu
bemerke ich folgendes:
1. Subpleurale Ecchymosen finden sich zwar regelmässig
bei den Fällen von Erstickung, die mit Krämpfen einher¬
gehen, dagegen „. . . findet man die Ecchymosen nicht, wenn
der Erstickungstod ohne Krämpfe verlief“ (H o f f m a n n). In
Bosses Fall fehlten Krämpfe. Die Ecchymosen können dem¬
nach n i c h t für die Diagnose der Erstickung verwertet werden.
2. Subpleurale Ecchymosen werden vom Gerichtsarzt
schon lange nicht mehr „als charakteristisch für Erstickung
aufgefasst“, sondern nur als „adjuvierendes Zeichen“ (Cas-
per-Liman), wenn gleichzeitig andere Zeichen der Erstickung
vorhanden sind, die jedoch im vorliegenden Falle fehlten. Aus
dem alleinigen Befunde von Ecchymosen können gar keine
Schlüsse auf Erstickung gezogen werden.
3. Was für die Erstickung gilt, d. h. für den Tod durch
den Verschluss der Luftwege, darf man nicht ohne
weiteres auf zentrale Atmungslähmung übertragen, wie Bosse
es tut.
4. Subpleurale Ecchymosen konnte A. Schulz im Tier¬
experiment auch durch H e r z g i f t e erzeugen. Er spricht
daher den Ecchymosen jedenWertab, da sie sich
auch bei primärem Herztod finden.
5. Subpleurale Ecchymosen finden sich ferner unter an¬
derem bei der F e 1 1 e m b o 1 i e, die schon deswegen genauer
besprochen werden muss, weil es sich im vorliegenden Fall
um eine Knochenoperation handelt, wo die Möglichkeit
einer Fettembolie vorliegt.
6. Mit dem Bilde der Fettembolie decken sich die von
Bosse beschriebenen Erscheinungen: a) Respirationsinsuffi¬
zienz, b) Arhythmia cordis, c) subpleurale Ecchymosierungen
bei Fehlen eines sonstigen Befundes. Was a) Respirations¬
insuffizienz betrifft, so unterscheidet man je nach Payrs Vor¬
schlag eine respiratorische Form neben einer zerebralen.
Auch König-Hildebrand betonen die Respirations-
Störungen beim fetteinbolischen Tode, b) Ferner wird sehr
häufig Fett im Herzmuskel gefunden, hierdurch erklären sich
die Herzerscheinungen (s. o.) worauf v. Bergmann und
P a n u in hinweisen. c) Dass sich Ecchymosierungen, be¬
sonders der Pleura, häufig bei der Fettembolie finden, ist bereits
oben (sub 5) erwähnt. Andererseits fehlen oft alle makro¬
skopischen Befunde. Deshalb soll man „aus der Erfahiung
heraus, dass eben Eettembolie im Spiel sein könne, .... die
scheinbar normalen Organe einer mikroskopischen
Untersuchung unterziehen“ (B uss e).
7. Von entscheidender Wichtigkeit für die Beurteilung sind
endlich die zeitlichen Verhältnisse: der fettembolische Tod
tritt nach Stunden bis Tagen, die Respirationslähmung nach
Lumbalanästhesie nach einigen Minuten auf. (Dies zeigen
meine Tierexperimente, ferner beim Menschen die 4 erwähnten
Respirationslähmungen. (Diese Tatsachen waren allerdings
zur Zeit der Veröffentlichungen Bosses noch nicht bekannt
gegeben, resp. noch nicht beobachtet.) Die lange Zeit zwischen
Injektion und Tod schliesst danach mit Sicherheit die Re¬
spirationslähmung aus.
Demnach hat es sich vermutlich um Tod durch Fett¬
embolie gehandelt, sofern man beim Mangel einer Angabe
über die durchaus nötige mikroskopische Untersuchung über¬
haupt einen Schluss ziehen kann; ferner kommen zur Erklärung
jene häufigen Todesfälle in Betracht, für die auch die Sektion
keine Erklärung zu geben vermag. Jedenfalls aber ist die von
Bosse angenommene Respirationslähmung als Folge der An¬
ästhesie am unwahrscheinlichsten, da kein einziger Grund da¬
für, aber zahlreiche gewichtige Gründe dagegen sprechen.
Technik.
Um die beschränkte Zeit der Anästhesie voll auszunutzen,
wird vor der Punktion alles zum Desinfizieren des Operations¬
feldes zurecht gestellt, das Kopfbrett flach gestellt, die Kopf¬
rollen entfernt. Der Kranke sitzt da mit stärkster kyphotischer
Biegung der Brust- und Lendenwirbelsäule; jede seitliche
(skoliotische) Verbiegung oder Verdrehung (Torsion) wird aus¬
geglichen. Abäthern; Anästhesieren mit Aethylchlorid oder
Schleich sehe Infiltration. Zwischen 1. und 2. Lendenwirbel
oder einen Raum tiefer wird zunächst nur die Haut durch¬
stochen; rutscht die Nadel auf dem Lig. interspinale ab, so
wird die Durchstechung seitlich von der Wirbelsäule vor¬
genommen, und die Nadelspitze darauf nach der Mittelebene zu
aus das gen. Ligament verschoben. Die Kanüle wird gena u
median leicht kopfwärts einige Zentimeter weit vor¬
geschoben, ohne zunächst in den Rückgratskanal einzudringen.
Nach nochmaliger Kontrolle, ob die Nadel genau mediane Rich¬
tung hat, wird der Mandrin entfernt und die Nadel langsam vor¬
geschoben, bis Liquor hervorsprudelt. Die Spritze mit dem
Anästhetikum (0,04 Stovain; für hochgehende Anästhesien
0,05 Tropakokain, wegen der Gefahr der Atmungslähmung)
wird aufgesetzt und entleert. Darauf Flachlagerung für Opera¬
tionen am Damm, oder sofortige Beckenhochlagerung, um
so stärker, je höher die zum Operationsfeld gehörigen Segmente
liegen. Desinfektion desselben. 1 — 2 Minuten nach Injektion
werden die Reflexe geprüft; Knie- und Kremasterreflex für
Operationen unterhalb des Leistenbandes; die 3 Bauchreflexe
für höhere Anästhesien; für die Leistengegend soll der untere
und mittlere, eventuell auch der obere Bauchreflex verschwun¬
den sein. 2—3 Minuten nach der Injektion Prüfung auf b e -
ginnende Analgesie. Man prüft nicht, ob die Analgesie be¬
reits komplett ist, sondern ob sie an der richtigen Stelle ein¬
setzt, d. h. da, wo man operieren will. Man frage nie: Fühlen
Sie noch, dass ich Sie kneife? Zu dieser Zeit ist fast stets die
Berührungsempfindung, wohl auch die Schmerzempfindung
noch nicht erloschen, und mit dieser zwecklosen Frage ver¬
ängstigt man unnötig die Kranken (V e i t). Man stelle lediglich
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
fest, ob das Kneifen am Bein usw. noch ebenso schmerzhaft
empfunden wird, wie z. B. am Hals. Nach dem Ergebnis der
Prüfung der Reflexe und der Hypalgesie wird dann eventuell
die Hochlagerung verstärkt oder verringert. Bei diesem Vor¬
gehen ist die Anästhesie stets in 5 Minuten komplett.
Für hochgehende Anästhesien (Brustkorb, Hals) verwen¬
den wir Tropakokain (0,05), das in einer grösseren Spritze mit
10 ccm Liquor verdünnt wird. Das Nähere s. demnächst er¬
scheinende Mitteilung.
Nachtrag bei der Korrektur: Der erste Todesfall unter
mehr als 1000 Lumbalanästhesien der B i e r sehen Klinik sei hier
besprochen: Ein 75 Jahre alter Mann sollte eines Peniskarzinoms
wegen operiert werden; da gerade alte gebrechliche Kranke die
Spinalanalgasie meist gut vertragen, so wurde sie der Allgemein¬
narkose vorgezogen; es war nun vorauszusehen, dass die Operation
sehr lange dauern würde, da das ausgebreitete primäre Karzinom die
Exartikulation sämtlicher Corpora cavernosa nötig machte und die
ausgedehnten Leistendrüsenmetastasen stark verwachsen waren; des¬
wegen sollte abweichendvonunseremPrinzip eine höhere
Dosis verwandt werden. — Es wurden 0,13 Tropakokain zwischen
2. und 3.' Lendenwirbel im Sitzen mit 10 ccm Liquor verdünnt ein¬
gespritzt, darauf Flachlagerung: Die Anästhesie breitete sich rapide
bis zum Halse aus. Nach mehreren Minuten setzte die Atmung und
der Puls aus. Die sofort eingeleitete künstliche Atmung blieb auch
nach Ausführung der Tracheotomie erfolglos; das Ein- und Aus¬
strömen von Luft konnte nicht festgestellt werden. Der fassförmige
Thorax war so starr und rigide, dass die Ausführung der Atmung
ungewöhnliche Anstrengungen erforderte. Bei der 4 Stunden p. m.
vorgenommenen Sektion fand sich dunkelflüssige Beschaffenheit des
Blutes, subperikardiale Ekchymosen; die Lungen waren beiderseits
in voller Ausdehnung mit der Brustwand verwachsen. Gehirn und
Rückenmark ohne Besonderheiten. Es lag demnach Tod durch Er¬
stickung vor. Wie ist dieser Todesfall nun zu beurteilen? Die
deletäre Wirkung wird erklärt zunächst durch die hohe Dosierung
des Anästhetikums, die das 2,6 fache der Normaldosis beträgt; die
Wirkung war um so stärker, als die Ausdehnungsfähigkeit der Lungen
durch die Starrheit des Brustkastens und die beiderseitige Ver¬
wachsung des Brustfellraumes bereits stark beeinträchtigt war. Fer¬
ner war dem zu hohen Hinaufsteigen der Anästhesie nicht durch
Höherlegen des Kopfes entgegengetreten worden, obwohl die un¬
nötige Höhenausdehnung rechtzeitig bemerkt worden war. Dieser
Todesfall bestätigt demnach lediglich auf das entschiedenste die grosse
Wichtigkeit der oben besprochenen Regeln; er ist eine eindringliche
Mahnung, von ihnen in Zukunft nicht abzuweichen, wenn man vor
Unglücksfällen sicher sein will. Auch zu Beginn der Aelher- und
Chloroformära kamen manche Todesfälle vor, und erst langsam hat
man durch Erkenntnis ihrer Ursachen gelernt, sie zu vermeiden (Vor¬
ziehen der Zunge, künstliche Atmung usw.). Denselben Entwicklungs¬
gang geht die Spinalanalgesie, und es muss unser Ziel sein, die Ur¬
sachen der Unglücksfälle zu erforschen und sie auszuschalten.
Aus der Rostocker chirurgischen Klinik (Prof. Dr. Müller).
Erfahrungen an 360 Lumbalanästhesien irrt Stovain-
Adrenalin (Billon).*)
Von Dr. Eduard Deetz, Assistenzarzt der Klinik.
Die aprioristischen Bedenken, welche von vielen Seiten
der Anwendung der von Bier in die chirurgische Praxis ein¬
geführten Lumbalanästhesie entgegenstanden und welche
durch die vorsichtige Art, in welcher Bier selber über den
Wert seines Verfahrens sich wiederholt geäussert, in sach-
gemässer Weise unterstützt wurden, minderten sich nach Ein¬
führung der die Resorption des Anästhetikums verringernden
Nebennierenpräparate. Aber erst die Anwendung des Stovain
statt des Kokain ermutigte auch die bis dahin Zurückhaltenden
zu Versuchen mit der B i e r sehen Methode. An der chirur¬
gischen Klinik zu Rostock wurden solche erst nach Bekannt¬
werden der Stovaininjektionen unternommen und mit wachsen¬
dem Interesse weitergeführt.
Wir verfügen im ganzen bis Ende Mai 1906 über 360 Lum¬
balanästhesien, eine Zahl, die uns hinreichend erscheint, ein
eigenes Urteil zu rechtfertigen. Sie wurden ausschliesslich
mit dem Stovain-Adrenalin-Gemisch (Präparat B i 1 1 o n) aus¬
geführt.
Es wurden dem Verfahren unterworfen 6 Kranke dreimal,
darunter eine dreimal in einer Woche. 23 zweimal, die übrigen
einmal.
Auf die Technik der Punktion näher einzugehen, kann
ich mir wohl versagen, da wir uns strikte an die Vorschriften
*) Nach einem im Allgemeinen Mecklenburg. Aerzteverein zu
Wismar gehaltenen Vortrag.
Biers und seiner Schüler hielten, dieselbe auch eingehend
in dem Aufsatze von Hermes (Medizinische Klinik No. 13)
beschrieben ist. Nur haben wir im Gegensatz zu Sonnen -
bürg fast stets bei sitzenden Patienten punktiert; einmal auch
in Bauchlage bei einem Jungen mit sehr schmerzhaften Hiift-
und Kniegelenkskontrakturen.
Dem Lebensalter nach verteilten sich unsere Kranken fol-
gendermassen : IV-.— 14 = 41, 14—20 = 52, 20—40 = 149
40—60 = 84, 60—70 = 16, über 70 = 13.
Wir sind bei Kindern ruhig bis zu 7K- Jahren herunter¬
gegangen, viel weiter nach abwärts wird man wohl kaum noch
gehen können, da immerhin eine gewisse Intelligenz nötig ist,
dem Kranken begreiflich zu machen, dass er keine Schmerzen
fühlt. Aus diesem Grunde soll man sich mit „nervösen“ Per¬
sonen nicht erst quälen, denn sie lassen sich meist doch nicht
überzeugen.
Kontraindiziert erschien uns das Verfahren bei Pyämic
und anderen akuten Infektionskrankheiten.
Ueber die ausgeführten Operationen geben die Tabellen
Aufschluss. Aus praktischen Gründen habe ich sie eingeteilt
in Operationen der unteren Extremität, des Bau¬
ches und Beckens und der Brust.
I. Untere Extremität. (126 Fälle.)
Resektionen: Hüftgelenk 3, Nachresektionen 2, Knie¬
gelenk 4 und 1 orthopädische Kniegelenksresektion, Fuss-
gelenk 1, alte Resektionen revidiert 4. — Amputationen
und Exartikulationen: Amputatio femoris 1, Exarticu-
latio genu 1, Amputatio cruris 1, Pirogoff 1, Chopart 1, Exarti-
culatio digitorum 1, Exstirpatio tali 1. — Nekrotomien:
Femur 13, Tibia 11, Phalangen 2. — Osteotomien 4. —
Arthrotomien 2. — - Gelenkinjektionen: Hüftge¬
lenk 4. — Brisements forces: Hüftgelenk 2, Kniege¬
lenk 7. • — -Frakturen: Reposition und Desinfektion kompli¬
zierter Frakturen 8, Patellarnaht 1, Naht der Quadrizepssehne 1.
— Gipsverband bei coxa vara 1. — Redresse-
mentsvon Klump - und Plattfüssen 6. — Sehnen¬
verlängerungen und Sehnentransplantatio-
n e n 5. — Abszessinzisionen und Phlegmonen 7.
— Transplantationen 12. — Exstirpationen der
Saphena 7. — -Exstirpationen: Fasziensarkom 1, Mal
perforant 1, Randpartien eines Ulcus cruris 1, Unterschenkel¬
lupus 1, Fremdkörpertumor 1, Bursae praepatellares 2. — Deh¬
nungen des Ischiadikus: Blutig 1, unblutig 2.
II. Bauch und Becken. (228 Fälle.)
Laparotomien: Appendektomien 47, wegen Karzinom
der Appendix 1, Abszessinzisionen bei Appendizitis 8, Chole-
cystotomien 8, Choledochotomie 1, Gastroenterostomien 11,
Magenresektion 1, Gastrostomie 1, Jejunostomie 1, Ileus 1,
Darmfistel 1, Ani artificiales 2, Bauchbrüche 2, Darmresektion 1,
Ileoccloanastcmose 1 (wegen Intususceptio), Enteroanastomose
1, Pankreatitis 1, Peritonitis 4, Netzbruch 1, Uterusexstirpatio-
nen 4, Myomctomie 1, Exstirpationen vonOvarialzysten 4, Dop¬
pelseitiger Pyosalpinx 2, Probelaparotomien 5. — Hernien:
Bassini 17, Czerny 1, Salzer 6, Herniotomien mit Darmresektion
wegen Schenkelbruch 6, Herniotomien mit Darmresektion
wegen Leistenbruch 4, einfache Herniotomien 4. — Hydro-
zelen: Winkelmann 8, Bergmann 1. — Kastrationen:
Tuberkulose 4, Tumor 3, Probeexzision 1, Skrotalabszesse 1.
A in putatio penis 1. — Zystoskopie und Ure¬
ter e n k a t h e t e r i s m u s 6. — Sectio alta 2. — Sec¬
tio mediana 1. — Striktursondierungen 3. —
Nephrotomien 4. — Zirkumzision 1. — Hypo¬
spadien 5. — Perineale Prostatekto m ren 2. —
Hämorrhoiden 11. — Mastdarmfisteln 6. — Mast-
i darmfissuren3. — Amputatio recti2. — Exstir¬
pation eines Rektumkarzinomrezidivs 1.
Periproktitische Abszesse 3. — I^ektal unter¬
such ungen m i t Digitalausräumung 2. — Dou¬
glasabszess 1. — Echinokokkus im Douglas 1 . —
Fasziensarkom des Beckens 1. — Resektion
der Darmbein schaufei 1. — Nekrotomie der
Da r m bei n schau feil. — Curettagen2. — Conge-
stionsabszesse: Inzision 1, Punktion 1.
2*
1344
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
III. Brustoperationen. (9 Fälle.)
Rippen resektionen: wegen Empyem 5, wegen Rip¬
pentuberkulose 2, wegen subphrenischem Echinokokkus 1. —
Thorakoplastikl.
V o n unseren 360 Kranken hatten überhaupt
weder Neben- noch Nachwirkungen 1 89, das
sind 52,6 P r o z.
Erbrechen oder Uebelkeit während der Operationen hatten
31. Einzelne Patienten wurden blass, bekamen kleinen Puls,
erholten sich aber rasch. Einen, einer Ohnmacht ähnlichen Zu¬
stand erlebten wir bei einem Kranken, der sich aber auch nach
kurzer Zeit nach Kampherinjektion erholte.
Im unmittelbaren Anschluss an eine Injektion verloren wir
einen 72 jährigen alten Herrn mit akuter Peritonitis, der bereits
so elend war, dass wir glaubten, ihm keine Narkose mehr
zumuten zu dürfen.
Es waren bei regulärer Technik 0,06 g Stovain einge¬
spritzt und Patient dann mit dem Becken hochgelagert wor¬
den. Nach 4—5 Minuten Eintritt der Anästhesie. 2 Minuten
später plötzlich Zyanose; der Puls setzte aus, die Atmung
wurde schwach; die Pupillen eng. Patient reagierte nicht
mehr auf Anrufen. Es wurde künstliche Atmung gemacht,
Sauerstoff und Kampher gegeben. Etwas Besserung trat ein,
sodass mit der Operation begonnen wurde. Plötzlich sistierte
die Atmung wieder und zwar endgültig. Die Obduktion ergab
ausser einer schweren eitrigen Peritonitis (Cholezystitis) nichts
Besonderes. Ob die Peritonitis oder das Stovain oder Adrenalin
den Tod verursacht haben, dafür ergab- die Sektion keinerlei
Anhaltspunkte.
Einen zweiten Todesfall, der 5 Wochen nach der Lumbal¬
anästhesie eintrat, der aber wohl nicht als eine Folge derselben
aufzufassen ist, halten wir uns doch für verpflichtet, mitzuteilen.
Ein 21 Jahre altes Dienstmädchen, dessen eine Hüfte schon
früher wegen schwerer Coxitis tuberculosa reseziert werden
musste (Heilung), lag wegen sehr schmerzhafter Coxitis der
anderen Seite auf der Abteilung. Es war am 8. November und
25. November bei der sehr empfindlichen Patientin in Lumbal¬
anästhesie Jodoformglyzerin injiziert worden. Die letzte Anä¬
sthesie hatte nicht die geringsten Nebenwirkungen. 4 Wochen
später erkrankte sie mit Erbrechen. Puls 120. Schmerzen im
Abdomen, die vor allem in der Qegend des Mac Burney-
schen Punktes lokalisiert wurden, sodass wir in der Annahme
einer Appendizitis in Chloroformnarkose am 23. De¬
zember laparotomierten. Ausser vielfachen offenbar alten
Adhäsionen im Bauch entsprach der Befund an der Appendix
nicht ganz dem nach dem schweren klinischen Bild erwarteten.
Er wurde in der üblichen Weise abgetragen. Den nächsten
Tag befand sich die Patientin trotz 38,6 Temperatur ganz wohl,
am übernächsten klagte sie über sehr starke Kopfschmerzen,
sie bekam hohe Temperaturen, war zeitweise ganz benommen.
Der Augenhintergrund ergab keine Veränderungen. Die noch¬
mals vorgenommene Lumbalpunktion ergab wasserklaren Li¬
quor mit spärlichen Leukozyten, der sich bei der bakteriolo¬
gischen Untersuchung als steril erwies. (Exitus am 1. Januar
1906). Leider wurde uns die Autopsie verweigert. Es hat sich
wohl mit Sicherheit um eine tuberkulöse Meningitis, viel¬
leicht als Teilerscheinung einer Miliartuberkulose gehandelt.
Was die Nachwirkungen anbetrifft, so bilden entschieden
eine unangenehme Beigabe die Kopfschmerzen. Von unseren
360 Kranken hatten 50 darunter zu leiden, davon 8 schwer
bis sehr schwer, häufig setzen sie erst am dritten Tage ein,
in der Regel nie länger als 3 bis höchstens 5 Tage dauernd.
Bei einer Patientin hielten sie allerdings 14 Tage an, und bei
einem Herrn dauern sie jetzt schon über 6 Wo¬
chen fort.
Bei unseren ersten 100 Fällen beobachteten wir mehrere
Male Gefühl von Steifigkeit und objektiv Nackenstarre, die
nach einigen Tagen wieder schwanden. Wir fassen dies mit
Bier als Ausdruck einer meningealen Reizung auf, vielleicht
dadurch hervorgerufen, dass die Spritzen nicht sorgfältig genug
nach der Sodaauskochung ausgespült waren. Nachdem wir
darauf achten gelernt und Spritze und Kanüle gut durchspülten,
ist es nie wieder vorgekommen. Ein Beweis, wieviel auf exakte
Technik ankommt. Bei einer Patientin machten wir wegen der
meningitischen Reizung eine diagnostische Lumbalpunktion am
4. Tage und Hessen ganz trüb aussehenden Liquor ab, der zahl¬
reiche Leukozyten enthielt, aber sich bei der bakteriologischen
Untersuchung als steril erwies. Nach etwa 8 Tagen war die
Patientin wieder wohlauf.
Einzelne Kranke befanden sich am nächsten Tage noch
etwas übel, klagten auch ab und zu über Kreuz- oder Rücken¬
schmerzen.
Bei Operationen an der unteren Extremität hatten wir 4
Versager, auf 126 Operationen, d. h. es musste ein Narkotikum
zugegeben werden. Bei einer Kranken war halbseitige Sensi-
bilitäts- und Motilitätslähmung, einmal nur motorische Läh¬
mung bei erhaltener Sensibilität, einmal das gesunde Bein mo¬
torisch und sensibel ganz, das kranke nur partiell gelähmt.
Bei Bauchoperationen dürfen wir von der Methode nicht
dasselbe verlangen wie an der unteren Extremität. 23 mal
gaben wir hier Aether, Chloroform oder Sauerstoffchloroform
zu, manchmal nur ein paar Tropfen, manchmal vollständige
Narkose, weil die Anästhesie nicht hoch genug heraufreichte.
Einzelne Phasen der Operationen, z. B. Ziehen am Samen¬
strang, Mesenterium oder Peritoneum waren mehr oder we¬
niger schmerzhaft. Auch zum Zunähen der Bauchdecken nach
Gastroenterostomien z. B. musste der Entspannung wegen zur
Narkose gegriffen werden.
Auffallend gut haben unsere 9 Thoraxpa¬
tienten die Anästhesie vertragen. Es ist mir nicht
bekannt, ob an anderen Kliniken am Thorax überhaupt schon
unter Lumbalanästhesie operiert wurde. Wenn wir bei einem so
schweren Eingriff, wie ihn eine Thorakoplastik darstellt, die
Narkose sparen können, so bedeutet dies einen Gewinn.
Es liegt nicht in meiner Absicht, auf die Unglücksfälle näher
einzugehen, die andere Autoren mit der Stovain-Adrenalin-
anästhesie erlebt haben. Ich möchte aber doch darauf hin-
weisen, dass sie die Stovain- und Adrenalindosen, wie sie Bi e r
angegeben hat, wenn man die Fälle genau analysiert, zum Teil
um das Doppelte überschritten haben.
Die Frage, ob die Lumbalanästhesie als Ersatz für allge¬
meine Narkose anzusehen sei, kann unseres Erachtens in dieser
Form und jetzt schon kaum ventiliert werden. Der allgemeinen
Anwendung der Methode in der ärztlichen Praxis stehen ganz
selbstverständliche ernste Bedenken im
Wege. Dass aber die Methode, individualisierend angewandt,
für die chirurgische Technik in modernen Krankenhäusern in
vielen Fällen einen ausserordentlichen Gewinn, ja eine Epoche
bedeutet, dürfte doch für viele jetzt schon feststehen.
Zum Schluss möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass wir
das bezogene Stovain von Zeit zu Zeit bakteriologischen Kon-
trolluntersuchungen unterwerfen. Auf eine sehr peinliche Tech¬
nik kommt vieles an.
Anmerkung bei der Korrektur: Wir haben in¬
zwischen 39 Anästhesien gemacht, so dass wir jetzt über 399
verfügen. Bei einem Patienten trat am 13. Tag Abduzens¬
lähmung auf, die anscheinend schon im Rückgang begriffen ist.
Aus dem städtischen Krankenhause in Hildesheim.
Operationen mit Rückenmarksanästhesie.*)
Von Dr. Ernst Becker, Oberarzt.
Am 17. Oktober 1846 machte der Bostoner Chirurg John Collins
Warren die erste Aethernarkose und entfernte eine Geschwulst am
Hals.' 1847 empfahl der Edinburger Gynäkologe S i m pson das
Chloroform. Im Siegeslauf eroberten beide Mittel die Welt. „Wer
das nicht erlebt hat“, schreibt der Nestor deutscher Chirurgen, Fried¬
rich v. Esmarch'), „kann sich keine Vorstellung machen von
der Begeisterung, welche überall die Aerzte und namentlich auch die
Studenten in den chirurgischen Kliniken ergriff. Wenn sonst an den
Operationstagen die Lehrräume erfüllt waren von dem Geschrei und
Gejammer der unglücklichen Kranken, unter dessen schrecklichem Ein¬
druck mancher Neuling unter uns ohnmächtig zusammenbrach, so
war jetzt plötzlich völlige Ruhe, ja fast unheimliche Stille eingetreten,
nur bisweilen unterbrochen durch unzusammenhängende Reden oder
selbst lustige Gesänge der Operierten.“ Aber: post equitem sedet
atra cura; die Begeisterung wurde sehr bald durch zahlreiche Todes-
*) Nach einem im Hildesheimer ärztlichen Vereine am 25. Januar
1906 gehaltenen Vortrage.
1) Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, XXV,
1896, II, pag. 2.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
fälle gedämpft und seitdem haben die Bestrebungen, die allgemeine
Betäubung dureh ungefährliche Methoden zu ersetzen, nicht aufgehört.
Ich nenne nur das Kokain und seine Ersatzpräparate und die Namen
Schleich, Oberst, Braun, R e c 1 u s u. a., um die Richtung
zu bezeichnen, in welcher sich die Bestrebungen äusserten. Aber
weder die lokale, noch die regionäre Anästhesie eignet sich zur Aus¬
führung sogen, grosser Operationen.
Als ein Wendepunkt in der ganzen Frage ist der 24. August 1898
zu bezeichnen, an welchem Bier2) zum ersten Male an sich selbst
und dem Dr. Hildebrandt Einspritzungen von Kokain in den
Wirbelkanal vornahm. Wie jede grosse Entdeckung, so hat auch
diese ihre Vorläufer gehabt, denn als solche kann man nur die Ver¬
suche des New-Yorker Arztes Corning3) auffassen. Bier selbst
schildert anschaulich, welche Erscheinungen bei ihm und seinem
Kollegen eintraten; insbesondere missglückte bei ihm selbst der Ver¬
such durch ein Versehen. Die Pravazsche Spritze passte nicht auf
die Punktionsnadel; bei dem Bemühen, sie einzupassen, strömte viel
Liquor cerebrospinalis ab und das einzuspritzende Kokain lief gröss¬
tenteils vorbei. Infolgedessen trat keine Empfindungslosigkeit ein;
kleine Hautschnitte und Nadelstiche empfand Bier überall als
Schmerz. Besser gelang der Versuch bei Hildebrandt. In¬
dessen traten bei Beiden in der folgenden Nacht derartig schwere
Gehirnsymptome, Kopfschmerzen, Erbrechen, Schwindel und Kollaps
ein, dass man beide Forscher nicht um die Empfindungen beneider-
wird, welche sie in dem Bewusstsein, sich selbst der Wissenschaft
zum Opfer gebracht zu haben, durchgekämpft haben werden. Trotz¬
dem wurden, besonders von französischen Chirurgen z. B. Tuffier
u. A., mit Enthusiasmus die Versuche aufgenommen und das ganze
Verfahren sehr bald als ein durchaus harmloses charakterisiert.
Bier4) hat deshalb zu wiederholten Malen ernstlich davor gewarnt.
Die Methode sei durchaus noch nicht für den Allgemeingebrauch reif,
befinde sich noch gänzlich in der Entwickelung, so wie sie in der
überwiegenden Mehrzahl der Operationsfälle angewandt sei, sei sie
noch völlig ungenügend. Er halte es für sehr verhängnisvoll, dass
trotz seiner zweimaligen Warnung vor Uebereilungen von ver¬
schiedener Seite die Sache so dargestellt sei, als handele es sich hier
um ein verhältnismässig harmloses und ungefährliches Verfahren.
Aber ebenso bedauerlich, wie den Uebereifer einiger begeisterter
Apostel eines unfertigen Verfahrens würde er es halten, wenn man
sich verleiten Hesse, diese in den gut gelingenden Fällen wirklich
glänzende Methode, vor deren schmerzstillender Leistung jede lokale
Anästhesie erblassen muss, einfach abzutun und von der Hand zu
weisen. Gleichzeitig machte Bier 5) darauf aufmerksam, dass es
voraussichtlich gelingen würde, auf 3 verschiedenen Wegen das Ver¬
fahren zu verbessern: 1. indem man das Kokain durch verwandte
oder weniger giftige Mittel oder durch gänzlich ungiftige Stoffe er¬
setzen könnte,
2. indem man die betreffenden Gifte in genügender Menge, aber
in grösseren Verdünnungen auf das Rückenmark einwirken Hesse,
3. indem man ein Verfahren fände, um die Oiftwirkung möglichst
auf das Rückenmark zu beschränken und vom Gehirn abzuhalten.
Diese Wünsche sind inzwischen zum Teil verwirklicht worden
und Jeder, der auf dem Chirurgenkongress 1905 Bier s Worten ")
aufmerksam zugehört hat, wird die Empfindung mit nach Hause ge¬
nommen haben, dass nunmehr der Zeitpunkt gekommen sei, wo dieses
an sich nicht ungefährliche Verfahren inzwischen soweit vervoll-
kommt ist, dass — zunächst allerdings nur in Krankenhäusern und in
der Hand berufener Chirurgen — eine ausgedehntere Verwendung als
zulässig erscheinen kann. Denn die Methode ist inzwischen in mehr¬
facher Weise verbessert 1. dadurch, dass Braun uns lehrte, dass
das Kokain an Giftwirkung erheblich einbüsst, wenn man ihm Neben-
meren-Präparate hinzusetzt; 2. ist durch die Entdeckung des fran¬
zösischen Chemikers F o u r n e a u, welche aus dem ersten che¬
mischen Laboratorium der Universität Berlin des Geheimrat Prof.
Fischer hervorgegangen ist, uns in dem Stovain ein Mittel in
die Hand gegeben, welches zwar nicht in demselben Masse die
Nerven unempfindlich macht, wie das Kokain, dafür aber allem An¬
scheine nach sehr viel ungiftiger ist, als letzteres. In der Verwendung
des Stovain in Verbindung mit Nebennieren-Präparaten beruht der
Fortschritt der ganzen Methode. Dazu kommt, dass auch die An¬
wendung der Beckenhochlagerung die Technik des Verfahrens ver¬
bessert hat.
Bald nach dem Erscheinen des offiziellen Berichtes über die
Verhandlungen des letzten Chirurgenkongresses habe ich daher
in dem meiner Leitung unterstellten Städtischen Krankenhause
Operationen mit Rückenmarksanästhesie ausgeführt und bin
von Anfang an mit dem Ergebnis derselben zufrieden gewesen.
Wenn ich daher mit meiner nur kleinen Erfahrungsreihe an
die Oeffentlichkeit trete, so glaube ich die Berechtigung darin
zu sehen, dass bei jeder neuen Methode auch die Mitteilung
•) Bier, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 51. Bd. p. 364.
') Bier, Münchener medizin. Wochenschr. 1906, No. 22.
) Chirurgenkongress-Verhandlungen 1901 II, 188.
5) Ebenda pag. 175.
6) Chirurgenkongress-Verhandlungen 1905 II pag. 115 ff.
45
weniger, aber gut beobachteter Fälle den Fachgenossen er¬
wünscht sein kann. Ich habe in der Jat Beobachtungen ge¬
macht, die in der bislang vorliegenden Literatur zum Teil noch
nicht erwähnt sind, wohl aber wert sind, erörtert zu werden.
Anfangs habe ich das französische Stovain von Billon
einigemale verwandt, sodann regelmässig das von der che¬
mischen Fabrik von Riedel in Berlin hergestellte Präparat.
Die Firma liefert zugeschmolzene Ampullen von 1 bezw. 2 ccm
Inhalt. In jedem Kubikzentimeter ist enthalten;
Stovain . ....
Epii enan . 0 0001
Acid. boric . nnnnr.4
Natr. chlorat . ' o'ouii
Der Inhalt ist sterilisiert und daher gebrauchsfertig. Die
Firma Esch bäum in Bonn hatte mir die von Bier emp¬
fohlene Rekordspritze geliefert. Beim Einspritzen hat man zu
bedenken, dass begreiflicherweise bei der fabrikmässigen Her¬
stellung dei Inhalt der Ampullen nicht absolut genau sein kann,
dass man also die Dosierung stets an den Teilstrichen der
Spritze ablesen muss. Benutzt man eine grosse Ampulle, so
wurden 2 ccm 0,08 Stovain enthalten, also 1 Doppelteilstrich
dei Spiitze gleich 0,2 ccm würde 0,008 Stovain enthalten. Beim
Vorschieben des Spritzenstempels hat man demnach bei jedem
neuen Doppelteilstrich des Spritzenzylinders weitere 8 mg
Stovain eingespritzt. Die Hohlnadel ist so eingerichtet, dass
sie genau 0,2 ccm, also 1 Doppelteilstrich, enthält. Beim Vor¬
schieben des Spritzenstempels bis zur vollständigen Entleerung
der Spritze bleibt somit eine Flüssigkeitssäule von 0,2 ccm oder
8 mg Stovain in der Nadel unbenutzt zurück; um auch dieses
zu verwerten, empfiehlt Bier, vorsichtig den Spritzenstempel
zurückzuziehen, den Liquor cerebrospinalis anzusaugen, da¬
durch das Stovain zu verdünnen und jetzt wiederum vorsichtig
auszuspritzen.
Die Einspritzungen haben wir folgendermassen vor¬
genommen: Nach gründlicher Desinfektion des Rückens mit
heissem Wasser und Alkohol zieht man nach J a c o b y s Vor¬
schlag eine Verbindungslinie von einem Darmbeinkamm zum
anderen. Dieselbe trifft bei etwas nach vorn geneigtem Körper
den Dornfortsatz des 4. Lendenwirbels oder den unter dem¬
selben gelegenen Raum. Von hier zählt man nach oben die
Dornen ab und spritzt, wie wir das meistens getan haben,
zwischen dem 2. und 3. Dornfortsatz ein, nachdem die Haut
vorher etwas seitlich verzogen und eventuell mit Aethyl-
chlorid eingefroren ist.
Bei einem jungen Menschen mit hochgradiger rhachitischer
Verbiegung der Wirbelsäule habe ich es für zweckmässiger ge¬
halten, die Zählung von der Vertebra prominens aus vorzu¬
nehmen, weil die J a c o b y sehe Linie zu Missdeutungen An¬
lass gegeben haben könnte. Der Einstich ist in der Regel etwas
schmerzhaft und man darf die mit dem Mandrin versehene
Nadel nicht sofort weiterführen, sondern muss den Kranken erst
beruhigen, wie ich überhaupt -nur empfehlen kann, dass man
sich bei der Einspritzung streng an die von Bier und
D ö n i t z T) gegebenen Vorschriften hält. Man kontrolliert
jetzt, ob die Wirbelsäule gerade gehalten wird, ob die Kanüle
in der Mittelebene liegt, korrigiert eventuell die fehlerhafte
Stellung und zieht dann den Mandrin heraus. Jetzt wird die
Nadel möglichst genau in der Mittellinie etwas schräg aufwärts
langsam vorgeschoben; kommt man auf Knochen, so zieht man
sie etwas zurück, um sie in anderer Richtung wieder einzu¬
führen. Bevor man die Dura durchsticht, fühlt man in der
Regel einen leichten Widerstand, wras wohl darin seine Ursache
hat, dass nach Merkel7 8) der Durasack des Rückenmarks an
der hinteren Wand stärker als an der vorderen ist. Ueber-
windet man diesen Widerstand, so fährt die Nadel mit einem
kleinen Ruck vorwärts und in diesem Augenblick empfindet der
Patient in der Regel einen leichten Schmerz, der gelegentlich
blitzartig in das eine oder andere Bein ausstrahlt. Berück¬
sichtigt man, dass der ausfliessende Liquor erst die ganze
Länge der Punktionsnadel passieren muss und gelegentlich
daran durch ein verstopfendes Blutgerinnsel gehindert wird,
so ist es erklärlich, dass er nicht immer sofort ausfliesst. Man
7) Chirurgenkongress-Verhandlungen 1905 II pag. 546 ff.
D Merkel, Handbuch der Topographischen Anatomie Bd. II
pag. 218.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
13-46
darf daher nicht, wie es mir anfangs wohl passierte, die Nadel
nun sofort weiterschieben, sondern lieber einige Sekunden
warten. Meist fliesst der liquor dann im Strome ab ist das
nicht der Fall, so kann man durch Drehen, \ erschienen, Zu¬
rückziehen der Nadel, eventl. erneutes Durchstechen der
Rückenmarkshaut näher der Mittellinie, einen besseren Abfluss
erreichen. Die Nadelspitze dringt im Bereich der Cauda equina
in die sogen. Zisterne ein, welche einen einzigen und unge¬
teilten Raum darstellt.1') Nach Bier muss man Wert daiauf
legen, dass der ,, Liquor im Strom abfliesst . Anfangs hab£ 1C >
offenbar missverständlicher Weise, unnötig viel abfliessen
lassen und dadurch, wie ich glaube, die schon von Quincke
als bedrohlich bezeichneten Nachwirkungen hervorgerufen.
Ich glaube daher, man tut gut, sofort die mit Stovain ge¬
füllte Spritze aufzusetzen, sobald man durch das Ausströmen
des liquors den Beweis erbracht hat, dass die Nadelspitze in die
Zisterne eingedrungen ist. Die Einspritzung soll ganz langs-
sam und vorsichtig erfolgen. Will man den in der Hohlnadel
zurückbleibenden Rest nicht verlieren, so saugt man 1—2 ccm
liquor ein und spritzt ihn gleich wieder zurück. Nach Ent¬
fernung der Nadel wird derEinstich mitTupfer-Heftpflasterkreuz
verschlossen. Jetzt wird sofort der Kranke in Beckenhoch¬
lagerung gebracht und nun andauernd durch Vornahme von
Sensibilitätsprüfungen das allmähliche Aufsteigen des Stovains
am Rückenmark kontrolliert. Ich habe es als zweckmässig be¬
funden, dass man zumal weniger intelligente Patienten bereits
vor der Einspritzung davon unterrichtet, welchen Zweck man
mit diesen Prüfungen verfolgt und dass sie sich bemühen
sollen, Nadelspitze und Nadelknopf von einander zu unter¬
scheiden. Denn wenn erst das Stovain zu wirken beginnt und
das Empfindungsvermögen bereits beeinflusst ist, so werden
die Angaben der Kranken unpräzise und der Operateur ist viel¬
fach im Unklaren, ob er bereits mit der Operation beginnen
kann oder nicht. Die Beckenhochlagerung haben wir selten
länger als 10 Minuten beibehalten, sie kann schon nach kürzerer
Zeit unterbrochen werden, wenn es sich um Operationen an
den unteren Extremitäten und in der Dammgegend handelt.
Die Anästhesie trat einige Male fast momentan, meistens nach
2 — 3 Minuten, in seltenen Fällen erst nach 34 Stunde und später
wenige Male überhaupt nicht trotz einwandfreier Technik, im
Durchschnitt nach 6—7 Minuten ein. Sie erstreckte sich
selten nur bis zur Dammgegend, meist bis Nabelhöhe
resp. bis zum Rippenbogen, selten bis zur Brustwarze, einmal
bis zur 2. Rippe und einmal sogar bis zum Jugulum. Die Sto-
vainmenge schwankte zwischen 0,02 undO, 104 ( !), im Durchschnitt
wurden 0,056 verwandt. Teilt man die Art der Operationen in
3 Gruppen, so wurden bei Operationen an den unteren Extre¬
mitäten im Durchschnitt 0,05, bei solchen am Damme durch¬
schnittlich 0,04 und bei Bauchoperationen durchschnittlich
0,06 g Stovain verwandt.
Da, wie gleich erörtert werden soll, üble Erscheinungen
eintreten können, so soll man nicht glauben, dass man den
Narkotiseur bei dieser Methode entbehren kann. Er hat viel¬
mehr während der Operation das Befinden des Kranken, die
Höhe der Anästhesie, Puls und Atmung andauernd zu kontrol¬
lieren und bei eintretender Ohnmacht ihm zweckmässiger
Weise Wein zu verabreichen. Ausserdem ist es vielfach an¬
genehm, wenn er die Aufmerksamkeit des Patienten bei
grossen, eingreifenden Operationen ablenkt und sich mit ihm
über gleichgültige Dinge unterhalten kann.
Sobald Nadelstiche nicht mehr als Schmerz, sondern nur
• als unbestimmte Berührung empfunden werden, kann man in
der Regel mit der Operation beginnen, ohne dass der Kranke
den Hautschnitt fühlt. Angenehm ist auch, dass bei Laparo¬
tomien die Bauchdecken, welche besonders bei entzündlichen
Prozessen im Bauche bei lebhaften Schmerzen vorher straff
gespannt waren, sodass eine genaue Abtastung nicht möglich
war, jetzt erschlaffen und ein tiefes Eindringen der Hände z. B.
zum Zwecke der Untersuchung des Wurmfortsatzes ermög¬
lichen. Die Diagnose kann also vor Beginn der Operation oft
noch vervollständigt werden. Interessant war mir auch, wie
die Reposition von Knochenbrüchen spielend leicht gelang.
Es ist gar nicht zu vergleichen mit den Schwierigkeiten, welche
bei bestehender Muskelspannung eine unvollkommene allge¬
meine Narkose häufig bietet.
Ist die Anästhesie vollständig, so liegt der Kranke voll¬
kommen ruhig auf dem Tisch, betrachtet die Umgebung, drückt
mitunter sein Erstaunen darüber aus, dass er gar nichts fühle,
obwohl an seinen Knochen gemeisselt und gesägt wird, obwohl
er sieht, dass Blut fliesst. Selbst Frauen, die mit einer ge¬
wissen Aengstlichkeit der Operation entgegen gingen, be¬
ruhigten sich, als ihnen zum Bewusstsein gekommen war, dass
sie keine Schmerzen empfanden; wie denn überhaupt die von
Kranken oft geäusserte Redewendung: „Machen Sie mit mir,
was Sie wollen, wenn ich nur nichts fühle“, wie es scheint die
Empfindung des grössten Teils der Menschen wiedergibt.
Bemerkenswert ist, wie besonders Alkoholiker mit einem
Stoizismus chirurgische Eingriffe an sich vollziehen Hessen,
den man mit Recht im studentischen Sinne als „Bierruhe be¬
zeichnen könnte. Einen krasseren Gegensatz kann man sich
nicht denken zwischen dieser Methode und der mit der All¬
gemeinbetäubung verbundenen Exzitation eines Säufers. Inter¬
essant war mir in einem Falle das Benehmen eines mir von
früheren Operationen her bekannten Alkoholikers, dem ich
wegen einer Erfrierung eine Amputation im Kniegelenk nach
Gritti machen musste. Bei ihm entwickelte sich während
der Operation ein „stilles Delirium“. Er sah über seinem Kopfe
die elektrische Lampe schweben und äusserte wiederholt:
„Wenn das Ding mir nur nicht auf den Kopf fällt“. Man
konnte ihn zwar für einige Zeit beruhigen, er kam aber immer
wieder mit derselben Befürchtung heraus. Erst mehrere
Stunden nachher wurde er wieder vollständig klar und äusserte
sich selbst scherzend über diese Empfindung, die er bei frü¬
heren Gelegenheiten im verstärkten Masse häufig gehabt hatte.
Es beweist diese Beobachtung, dass auch eine Operation, wie
jedes andere Trauma, bei einem Alkoholiker Erscheinungen
von Delirium auslösen kann — im vorliegenden Falle aller¬
dings in abgeschwächtem Masse.
Aber nicht immer ist die Methode frei von Nebener¬
scheinungen. Verhältnismässig am häufigsten trat bei
dem Kranken ein Zustand ein, den man am passendsten mit der
Seekrankheit vergleichen kann. Sie wurden blass im
Gesicht, ängstlich, hatten das Bedürfnis, tief Luft zu holen, ver¬
langten nach einem Glase kalten Wassers. Der Angstschweiss
brach ihnen aus; schliesslich trat Würgen und auch Erbrechen
ein. Puls und Atmung stets gut und ein Glas Portwein brachte
sie meistens schnell über die Situation hinweg. Bei einigen ge¬
sellte sich allerdings Schwindel und auch Erbrechen hinzu und
in den seltensten Fällen wurde der Puls auffallend verlangsamt
und die Atmung oberflächlich, in einem Falle stockte sie sogar
für kurze Zeit. Es lässt sich nicht leugnen, dass diese Er¬
scheinungen auf die Umstehenden einen höchst bedrohlichen
Eindruck machen und dass sie offenbar auch bedrohliche
Zeichen sind. Vergleicht man sie aber mit den gleichen Symp¬
tomen, welche tagtäglich beschäftigten Chirurgen bei der All-
gemeinnarkose in die Erscheinung treten, so ist es jedenfalls
berechtigt die Frage aufzuwerfen, ob die Störungen des Pulses,
der Atmung und das Erbrechen bei Anwendung von Stovain
gefährlicher sein soll, als bei der Verwendung von Chloroform
oder Aether. Ein Mensch, der betäubt ist, hat nicht die Mög¬
lichkeit, sich mit Worten darüber auszusprechen, wie furchtbar
elend er sich in dem Augenblick fühlt, der stovainisierte tut es
und zwingt dadurch den Arzt, ihn zu beruhigen und sich mit
seiner Person mehr zu beschäftigen, als dieses bei der Allge¬
meinnarkose üblich ist.
Mehrere Male klagten die Kranken vor Beginn der eben
geschilderten Erscheinungen darüber, dass sie schläfrig und
müde würden. Der Puls war bei dabei vollständig kräftig und
die Atmung tief, alarmierende Erscheinungen waren nicht vor¬
handen.
Man wird vorderhand nur mit einer gewissen Reserve
über die Ursache dieser Erscheinungen sich aussprechen
können und erst weitere Erfahrungen werden Aufschluss dar¬
über geben, wie sie zu deuten sind, denn als Ursache dafür
können verschiedene Momente herangezogen werden, näm¬
lich einmal die Lumbalpunktion als solche, sodann die Gift-
9) Merkel 1. c. pag. 220.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1347
Wirkung des Stovain und der Nebennierenpräparate, endlich
aber auch, soweit wenigstens Laparotomien in Frage kommen,
auch die Reflexwirkung von seiten der Nerven im Bauche auf
das Zentrum für Atmung und Puls im verlängerten Mark.
Jedenfalls muss man sich darüber im Klaren sein, dass in dem
Augenblicke, wo Lähmungserscheinungen in den Händen und
Armen auftreten, welche zu Beginn der Stovainisierung nicht
vorhanden waren, das Mittel inzwischen soweit im Wirbel¬
kanal in die Höhe gestiegen ist, dass die Intumescentia cervi-
calis erreicht ist. Diese geht aber nach Merkel10) ,,nach
oben mit nur ganz geringer Verschmächtigung direkt in das
verdickte verlängerte Mark über“ und der aus ihr entspringende
4., 5. und 6. Halsnerv besorgt die Gefühlsinnervation der Haut
des Armes und der Schulter.11) Treten also Sensibilitäts-
störungen an diesen Stellen auf, so darf man annehmen, dass
das Mittel tatsächlich schon das verlängerte Mark beeinflusst,
weil doch immer ein gewisser Zeitraum, vielleicht von einigen
Minuten, darüber verstreichen wird, bis die Erscheinung in der
Peripherie zum Ausdruck kommt. Endlich habe ich noch zu
berichten, dass einigemale, wie z. B. bei einem sehr herunter¬
gekommenen Individuum, welches ich zweimal mit Stovain
operiert habe, ferner bei einer im übrigen gesunden Frau und
noch einige Male während der Operation unwillkürlich dünner
Kot abfloss. Relativ am häufigsten habe ich alle diese üblen
Erscheinungen bei Bauchschnitten beobachtet.
Nachwirkungen haben wir in der Mehrzahl der
Fälle vermisst. Die Kranken wurden auf die Krankensäle ge¬
bracht, unterhielten sich fröhlich mit ihren Genossen über das
Erlebte, waren zum Teil in der Lage, sofort das Mittagessen
einzunehmen und hielten ihren Nachmittagsschlaf ohne irgend¬
wie jetzt oder in den späteren Stunden und Tagen eine Störung
des Allgemeinbefindens aufzuweisen. Solche, die schon vor¬
her einmal mit Chloroform oder Aether betäubt waren, lobten
das neue Verfahren und diesem Lobe schlossen sich auch
solche an, welche unter den üblen Nebenwirkungen und noch
zu erwähnenden Nachwirkungen der Stovainisierung zu leiden
gehabt hatten.
Unter diesen ist in erster Linie das Erbrechen zu er¬
wähnen. Es hält in der Regel nur ganz kurze Zeit nachher
noch an, dauert jedenfalls durchschnittlich niemals solange, wie
wir es beim Chloroform und Aether gewohnt sind. Einige
Kranke klagten noch einige Tage über Schmerzen an der Ein¬
stichstelle im Kreuz; sie waren unbedeutender Art. Bei einer
Reihe von aseptisch verlaufenen Operationen traten T e m -
peratursteiger ungen mässigen Grades (bis 38,0 — -
einmal bis 38,9°) ein, welche 1 — 3 Tage anhielten und für die
jegliche andere Erklärung fehlte. Mehrere Male wurde Nak-
kensteifheit beobachtet, die ich einmal auf einen Fehler
in der Technik zurückzuführen geneigt bin. In einigen Fällen
stellten sich auch Gliederschmerzen, in der Schulter und in?
Rücken ein, die die Kranken als „rheumatisch“ bezeichneten.
Mehrmals trat Kopfschmerz auf, der in seltenen Fällen
noch einige Tage nach der Operation anhielt. Ich habe den
Eindruck, dass besonders in der ersten Zeit, als wir unnötig
viel liquor cerebrospinalis abfliessen Hessen, diese Kopf¬
schmerzen häufiger auftraten. Seitdem wir diesen Fehler
nicht mehr machen, ist das Symptom sehr viel seltener. Aus¬
serdem habe ich die Kranken in letzter Zeit absichtlich sofort
nach der Operation, wenn sie ins Bett gebracht wurden,
aufrecht im Bette hinsetzen lassen, in der An¬
nahme, dass dadurch einer event. vorhandenen Blutstauung in
der Schädelkapsel am einfachsten entgegen gearbeitet werden
könne. Bier empfiehlt zur Beseitigung der Kopfschmerzen
in erster Linie Abführungsmittel; ich habe darüber keine Er¬
fahrungen. In 4 Fällen wurde einige Zeit Harnverhal¬
tung beobachtet und zwar nicht nur bei Operationen in der
Dammgegend und an den Geschlechtsorganen, bei denen be¬
kannter Massen dieses Symptom gar nicht so selten eintritt.
Endlich ist zu erwähnen, dass bei einer Operation nach
Alexander- Adams die Kranke am 11. Tage nach der ein¬
wandfrei verlaufenen Stovainisierung (0,064) Doppeltsehen in-
M Merkel 1. c. pag. 215.
lx) Ebenda pag. 249.
folge von Abduzens- und Okkulomotoriusparese bekam, das im
ganzen etwa 4 Wochen anhielt, um dann von selbst zu ver¬
schwinden. (Aehnlich Fälle sind kürzlich mehrfach beschrie¬
ben: Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 23, Berl. klin.
Wochenschr. 1906, No. 24, Zentralbl. f. prakt. Augenheilk.,
März 1906, pag. 76.)
Nur in 2 Fällen habe ich wirklich bedrohliche
Erscheinungen beobachtet, die mir grosse Sorge um
die Patienten eingeflösst haben.
Das eine Mal handelte es sich um einen 47jährigen phthisischen
zuckerkranken, der von einer früheren Operation her eine Fistel im
Amputationsstumpf des Unterschenkels zurückbehalten hatte, die
duich einen Unterbindungsfaden unterhalten wurde. Gerade mit
Rücksicht darauf, dass nach Biers u. a. Empfehlung diese Methode
besonders bei heruntergekommenen Individuen anwendbar sei, und da
ich von den früheren Operationen her wusste, dass die Allgemein¬
betäubung in ihren Nachwirkungen den Patienten jedesmal tagelang
schwer geschädigt hatte, so entschloss ich mich, ihn zu stovainisieren.
Er erhielt 0,06 Stovain; nach 5 Minuten trat die Anästhesie ein und
verbreitete sich bis handbreit über den Nabel. Beckenhochlagerung
wurde 10 Minuten lang gemacht. Nachdem die Beckenhochlagerung
aufgegeben war, stellte sich für 2 Minuten ein ausgesprochenes Müdig¬
keitsgefühl ein. Der Radialpuls war einige Augenblicke nicht zu
fühlen, besserte sich erst allmählich; im Uebrigen war der Gesamt¬
eindruck durchaus gut. Der Kranke fühlte garnichts von dem Eingriff
und bestieg höchst vergnügt seine Droschke, um nach Haus zu fahren.
Etwa nach 3 Stunden hörte die Anästhesie auf und es stellten sich
statt dessen Kopfschmerzen, Ziehen im Rücken, etwas Nackensteif¬
heit ein. Ab und zu erbrach der Kranke. Alle diese Erscheinungen
nahmen nach und nach zu und erreichten 48 Stunden nach der
Operation ihren Höhepunkt. Der Kranke hatte äusserst heftige
Kopfschmerzen, Nacken- und Rückenschmerzen, Schwindelgefühl,
häufiges Erbrechen. Aufstossen; Zunge war stark belegt. Es war
ihm unmöglich, sich im Bette aufzurichten; die Nahrungsaufnahme,
selbst von Flüssigkeiten war bis zum 3. Tage unmöglich. Trotz
Morphium und Lhloralhydrat trat kein Schlaf ein; der Urin war sehr
spärlich, konzentriert, hatte ein SDezifisches Gewicht von 1040, ent¬
hielt 3,65 Proz. Zucker und 4V2 Prom. Eiweiss, was beides in den
Monaten vorher nur in verschwindenden Mengen dagewesen war,
oder auch ganz gefehlt hatte. Auch Salipyrin, Aspirin und ähnliche
Präparate schafften keine Erleichterung. Am Morgen des 3. Tages
wurde der Magen ausgesDült und darnach das Erbrechen wenigstens
etwas gelindert. Am 4. Tage hörte das Erbrechen auf, Von da ab
Hessen die schweren Symptome langsam nach, erst nach 8 Tagen
wurde wiederum etwas mehr Urin entleert. Das spezifische'Gewicht
fiel auf 1025, der Zuckergehalt auf Vz Proz., der Eiweissgehalt auf
1 Prom. Erst nach 3 Wochen konnte Patient das Bett verlassen,
klagte noch immer über Kopfschmerzen und etwas Schmerzen bei den
Bewegungen des Körpers, selten auch über Schwindelgefühl.
Hinsichtlich der Technik der Injektion und der Dosierung des
Mittels ist ein Fehler sicher nicht unterlaufen, wohl aber war es un¬
zweckmässig und in der Tat von mir nicht rechtzeitig bedacht, dass
dem Wunsche des Kranken nachgegeben und ihm gestattet wurde,
gleich nach beendeter Operation in der Droschke nach Hause zu
fahren. Schon Quincke warnt bei der einfachen Lumbalpunktion
entschieden davor und verlangt, dass der Kranke stundenlang ruhige
Bettlage einnehmen soll. Hätte ich auch diesen Rat damals^ befolgt,
so kann ich mich allerdings trotzdem des Verdachtes nicht erwehren,
dass bei dem schwerkranken Manne die Stovainisierung voraus¬
sichtlich doch nicht ganz symptomlos verlaufen wäre, wenn ich da¬
bei berücksichtige, wie schwer er früher stets unter den Nach¬
wirkungen des Aethers gelitten hat. In diesem Falle aber waren die
Erscheinungen so bedrohlich, dass in den ersten 8 Tagen mit der
Möglichkeit eines tätlichen Ausgangs gerechnet werden musste.
Nicht ganz so schlimm und vor allen Dingen nicht so lange
dauernd, aber auch sehr bedrohlich, waren die Symptome bei einer
36 jährigen Frau, welcher ich eine Laparotomie zu machen gezwun¬
gen war. Ihr waren früher von anderer Seite beide Ovarien ent¬
fernt und seit der Zeit fand sich ein Tumor in der unteren Hälfte des
Bauches in der Blinddarmgegend, der möglicherweise als ein Re¬
zidiv aufgefasst werden musste. Auch der Kollege, welcher die erste
Operation ausgeführt hatte, war dieser Ansicht. Ihr wurden
0,07 Stovain eingespritzt, nach 3 Minuten trat eine vollständige Emp¬
findungslosigkeit der Bauchhaut ein, nicht der Beine. Nach 10 Mi¬
nuten dauernder Beckenhochlagerung wurde mit der Operation be¬
gonnen, die vollkommen schmerzlos war. Etwa 20 Minuten nach Be¬
ginn der Operation klagte die Frau über Uebelkeit und musste er¬
brechen. Von jetzt ab verschlimmerte sich das Befinden fort¬
während; der Puls wurde kleiner, es trat Kribbeln in den Armen auf
und sogar die Sprache wurde undeutlich. Sie wurde äusserst blass
im Gesicht und die Atmung wurde flach. Es wurde daher die
Beckenhochlagerung nach 30 Minuten aufgegeben und in horizontaler
Lage weiter operiert. Darauf Hess das Kribbeln in den Händen sehr
bald nach, während die Sprache noch etwa eine Viertelstunde .un¬
deutlich blieb und die Kranke in leichter Benommenheit war. All¬
mählich wurde sie wieder vollständig klar, musste noch ab und zu
erbrechen. Als am Schluss der Operation, welche in der Entfernung
1 iS
MIJENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIE L
No. 28.
einer in der Bauchhöhle zurückgelassenen Oaze kornpresse nnt^nach-
folgender Resektion eines üünndärmstucks besta i d Frau jm
Stunde nach der Stovaininjektion beendet war, tut »
oberen Teile des Schnittes in Nabelhöhe wiederum bereits die An
legung der Hautnähte als leichten Schmerz. • b finden Sehr
Nach Beendigung der Operation war das A c stundeniang hoch¬
schlecht; der Puls war klein, kaum zu u blaurot verfärbt;
gradig verlangsamt. Lippen und Gesicht wa , dje pa_
beständiger Brechreiz. Nach einigen - unc enter (50 jn der
tientin einigermassen; der Puls wurde et Würgen und Er-
Minute); sie klagte über beständigen Brechre ^ sif bekanntlich
brechen und heftige Schmerzen im Ri ’ n kräftig gezogen
bei jeder Bauchoperation, bei der an den Durch Wein
und gedehnt werden musste, in der Rege Jeobacht t u selbst
und Kamphereinspritzung wurde die Fi rau ho. chgeh lt , chkeit
Nachmittags um 6 Uhr rechnete ich noch rmt ^ ^ AU.
eines tätlichen Ausgangs. Am anderen T« eienden Befin-
gemeinbefinden. Patientin erklärt, ■ . (iiese Methode als die
des um gestrige,, Tage hundertmal! ebe diese MetUode^ ^ ^
allgemeine Narkose wählen wurde. Be Tod als eine
?ale und wochenlang so elend gewesen dass ihr de Tod als eine
Erlösung vorgekommen wäre. Ihr Bewuss s
während der g a n z e n ge st r i gen Op e „ j c h , s g e .
frei gewesen, sie habe alles 2 , d a s Sprechen
i cS weV l eM f/.’wl r e, J a b s aber™ i Ujnb» t en
Zi!t 'bidht" den EiÄ Ä £ S
Iangsanil"gelegeijuicti tritt auch noch Uebelkeit unc ^ Erbrechen ^em.
rtfÄSÄlÄn ungünstigen
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Hig isSSS 1
isipii iism
Sechsmal habe ich die Bauchhöhle eröffnen müssen wegen
allgemeiner eitriger Bauchfellentzündung, welche sich dreimal
an eine Perforation des Blinddarms, einmal an eine Perforation
eines gonorrhoischen Prostataabszesses, und einmal an eine
Verletzung des aufsteigenden Kolons durch eine Kreissäge an-
geschlossen hatte. In allen Fallen kamen die Pat, enter > so-
sagen sterbend auf den Operationstisch und nur der Gedanke
dass man möglicherweise das Leben durch Ablassen des
Liters und ausgiebiger Dränage noch retten könne und dass
andererseits das Stovain weniger gefährlich als eine A lgemein-
betäubung sei, veranlasste mich, die Kranken überhaupt zu
operieren. Die Eindrücke, die wir dabei gewonnen haben sind
keine schlechten. Man konnte die Därme auspacken und ab¬
spülen, nach allen Seiten die Bauchhöhle hin durchsuchen und
mit der Hand abtasten, wobei die Kranken nicht den geringsten
Schmerz empfanden. Dabei konnte ich in einem Falle fest¬
stellen, dass die ganze Bauchhöhle vollständig unempfindhc
war, mit einziger Ausnahme des centrum tendineum des Zwerch¬
fells.' Ein Kranker unterhielt sich fortwährend mit uns, er¬
kundigte sich nach dem Stande der Operation, nach dem wahr¬
scheinlichen Ausgange und verlangte schliesslich eine An¬
sichtspostkarte, um seinen Angehörigen den glücklichen Ver¬
lauf mitzuteilen, . , . ,
Alle Kranken sind selbstverständlich gestorben. Ich habe
aber den Eindruck, dass wenigstens einige von ihnen, wenn sie
allgemein betäubt wären, vor Beginn der Operation schon ge¬
storben wären.
Eine interessante Laparotomie möchte ich noch mit we¬
nigen Worten besprechen, w'eil sie auch in anderer Hinsicht
als ein Unikum aufzufassen ist.
Es handelte sich um eine 49 jährige Bauersfrau mit einem Kör¬
pergewicht von 314 Pfund und einer Taillenweite von 190 cm,
welche seit Jahren an einem riesigen Ovarialkystom litt und schliess-
,irh ...... oneration sich entschlossen hatte. Sie erhielt 0,04 Stovain;
l’^Vi ,sd,SE war begreiflicherweise nicht leicht, weil d,e W.rbel-
üble ^ Erscheinungen traten weder während noch nach der Opera-
tl<m fn einer Reihe von Fällen war die Anästhesie nicht
vollständig. Die Kranken fühlten entschieden einen
Schmerz und klagten bei der Operation sehr. Insbesondere
war es bei den Bauchschnitten interessant zu beobachten dass
bei allem Zerren an den Därmen und am Netz der Schmerz
regelmässig in die Magengrube verlegt wurde.
Es ist bekannt, dass bei beginnender Peritonitis, auch wenn sie
im Becken oder in der unteren Hälfte des Bauches eintritt. die
Patienten zuerst über „Magenschmerzen“ klagen und mancher
Arzt dem dieses Symptom nicht bekannt ist, denkt nie
rechtzeitig daran, eine Perforation des Wurmfortsatzes zu ia-
gnoszieren, sondern glaubt an einen „Magenkatarrh Die
Laparotomien mit Rückenmarksanasthesie sind so recht ge¬
eignet, mit aller Deutlichkeit dem Operateur vor Augen zu
führen, dass alles Zerren und Drehen an den Or¬
ganen der Bauchhöhle in die Magengegend
von den Kranken verlegt wird. Ob es sich dabei
um Nervenleitungen handelt, die zum Ganglion coehacum oder
auf dem Wege des Splanchicus einhergehen, sei dahingestellt.
Es wird sich aber empfehlen, für die Folgezeit auf dieses
Symptom zu achten und es genauer zu analysieren.
Bei meinen ersten 135 Rückemarksanästhesien habe ich
zwölfmal sogen. „Versag er“ trotz einwandsfreier Technik
erlebt’ und zwar zehnmal bei Operationen in der Bauchhöhle
und zweimal bei Operationen an den Unterextremitäten. Zehn¬
mal trat keine Spur12) von Stovainwirkung in die Erscheinung,
sodass ich zur Aethernarkose übergehen musste. Diese ver¬
lief _ worauf bereits von anderer Seite hingev iesen ist —
ohne die geringsten Störungen und Nachteile für den Kranken.
In den übrigen Fällen beendete ich die Operation trotz
unvollkommener Anästhesie, da es sich um keine langdauernde
Eingriffe handelte. Ueberdies muss man doch bedenken dass
Operateur und Patient heutzutage meistens durch die Tiefe der
Narkose sehr verwöhnt werden. Wenn letzterer aber es über
sich gewinnt, eine Kropfoperation unter Lokalanästhesie, auch
wenn sie noch etwas schmerzhaft ist, zu ertragen, so wird er
auch bei einigem Zureden eine -nicht ganz vollkommene
Rückenmarksanästhesie erdulden können. Bezeichnend ist
jedenfalls, wenn man nach einigen Tagen den ersten Verband¬
wechsel vornimmt und beispielsweise Tampons aus einer Se¬
questerhöhle oder aus dem Mastdarm nach Hämorrhoiden¬
operationen entfernen muss, dass dann die Kranken bei diesen
Manipulationen sehr viel heftigere Schmerzen empfinden, laut
aufschreien und aus eigenem Antriebe erklären, dass hiergegen
der Schmerz bei der Operation gar nichts gewesen wäre. Man
muss also doch mit der Beurteilung der Schmerzempfindung
sehr skeptisch vorgehen und im Grunde genommen sind uns
die Kranken nach überstandenem Schmerz eigentlich jedesmal
dankbar dafür gewesen, dass wir sie der Unannehmlichkeit der
Allgemeinbetäubung nicht unterworfen haben.
Vielleicht hat diese neue Methode auch insofern noch eine
gute Wirkung, dass sie ebenso wie der Aetherrausch uns
lehren wird, Operationen deshalb schnell und geschickt zu be¬
enden, weil der Kranke Schmerzen empfindet. Die tiefen Nar¬
kosen' mit all ihren Gefahren werden dann seltener werden.
In letzter Zeit habe ich, wenn nach 10 Minuten
dauernder Beckenhochlagerung noch keine
12) Ich habe das Präparat nachträglich in der R i e d e 1 sehen
Fabrik analysieren lassen; es erwies sich zwar hinsichtlich seines
Stovaingehaltes als einwandsfrei, indessen vermutete die Firma, dass
eine Abschwächung oder Zersetzung des Epirenans eingetreten sein
könne Weitere Untersuchungen werden die Ursache der „Versager
hoffentlich noch aufklären. In jüngster Zeit setzt die Firma Adrenalin ,
statt Epirenan dem Kokain zu.
IO. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Anästhesie ein getreten war, eine zweite In¬
jektion von 0,02 bis 0,04 Stovain gemacht, so dass eine
Patientin sogar 0,104 Stovain im ganzen .erhielt. Ausnahmslos
:rat fast momentan nach der zweiten Injektion der gewünschte
Erfolg ein, ohnedassirgendwelcheiiblenNeben-
Dder Nachwirkungen in besonderem Masse sich gel¬
tend machten. Ich glaube daher, dass man in diese n
’ällen — aber auch nur in diesen — die übliche Dosis von 0,08
| iberschreiten darf. Wer das nicht wagt, mag zur Allgemein-
larkose übergehen.
Seitdem ich Ende November v. J. begonnen habe, Kranke
nit Rückenmarksanästhesie zu operieren, habe ich nicht aus¬
nahmsweise, sondern grundsätzlich überall dort die
Viethode angewandt, wo sie nach den bisherigen Erfahrungen
anwendbar war, d. h. bei allen Operationen an den
i n t e r e n Extremitäten, am Damm und den Ge¬
schlechtsteilen und 2. auch beifastallen Bauch¬
schnitten. Ich habe also nicht, wie T i 1 1 m a n n L:>) in
diesen Körperregionen die Methode nur ausnahmsweise
Und zwar dann angewandt, wenn man erwarten musste, dass
wegen bestehenden Herz- oder Lungenleidens eine Allgemein¬
aarkose schlecht vertragen würde, sondern ich habe in allen
Fällen von der Allgemeinnarkose Abstand genommen. Die
von mir beobachteten üblen Erscheinungen, welche oben ein¬
gehend besprochen sind, dürfen meines Erachtens bei der Sto-
j vainisierung nicht anders beurteilt werden, als bei der All¬
gemeinnarkose ; nur haben wir uns im Laufe der 60 Jahre bei
ler letzteren so sehr daran gewöhnt, dass wir die Symptome
licht mehr als bedrohliche ansehen. Bei der neuen Methode
assen wir dieselben vorläufig als solche auf und es ist gewiss
auch für den Patienten richtiger, wir ble’ben zunächst bei
lieser Anschauung. Hoffentlich wird aber auch die Zeit
commen, wo uns diese Erscheinungen nicht mehr Sorgen
nachen, als bei der Allgemeinnarkose.
Es ist nötig, dass man zum Schluss die Vorteile und Nach¬
eile der Rückenmarksanästhesie kurz präzisiert. Ich kann
nich dabei nicht allein auf meine eigenen Erfahrungen stützen,
»ondern resümiere kurz, was Bier u. a. von der Methode
iahen, um sie auf Grund der eigenen Erfahrungen zu ergänzen.
Vis Vorteile werden folgende vorgehoben :
1. Alte und heruntergekommene Leute ver-
ragen das Verfahren ausgezeichnet, während die allgemeine
larkose bekanntlich sehr gefährlich ist, besonders in ihren un-
ontrollierbaren Nachwirkungen. Schon der Umstand, dass die
Operierten sofort nach der Operation essen können, fällt sehr
ns Gewicht.
2. Von verschiedenen Seiten ist hervorgehoben, dass es
iir Kriegszeiten ungemein wichtig sei, mit Leichtigkeit
krossere Mengen eines nicht veränderlichen und sterilisierten
vnästhetikums bequem bei sich zu fiihr'en und die Möglichkeit
u haben, mit viel geringerer Assistenz zu operieren.
3. Eiir einen grossen Vorteil erachte ich es ferner, dass man
[vährend der Operation ‘von dem Patienten
i e Einwilligung zu etwa n o t w e n d i g werden-
en schwereren Eingriffen erhalten kann. Als ich
ei einem 50 jährigen Manne mit einer seit langen Jahren be-
tehenden, infolge einer Verletzung aufgetretenen eitrigen
stillosen Osteomyelitis des Oberschenkels mit Vereiterung des
.niegelenkes den ganzen Oberschenkelknochen von oben bis
nten aufgemeisselt, das mit Eiter angefüllte Hüftgelenk er-
ffnet und den Oberschenkelkopf entfernt hatte, da war es klar,
ass dieses Bein bei der schon vorhandenen, durch die jahre-
inge Eiterung hervorgerufenen Kachexie des Kranken völlig
wertlos war. Mit schonenden Worten setzte ich ihm dieses aus-
inander, worauf mir der Mann erwiderte, seit Jahren habe ei¬
en Augenblick erwartet, wo man ihm sagen würde, das Bein
nisse entfernt werden. Er sei sich der Folgen sehr wohl be¬
wusst, wisse, dass er ein Krüppel würde, aber wenn ihm ein
rzt die Notwendigkeit auseinandersetze, so würde er sich da-
üt abfinden. Er gab damit die Einwilligung zur Entfernung des
deines und in derselben Sitzung konnte ich ihm die Exarti-
ulation im Hüftgelenk machen. Aufmeisselung des Knochens,
’esektion des Hüftgelenkes und Exartikulation des Beines
13) Tillmann: Berl. klin. Wochenschr. 1905, pag.' 1065.
N«. 28.
1349
hatten zusammen nur ?/* Stunden gedauert; bei Anwendung der
Allgemeinnarkose wäre das selbstverständlich unmöglich ge¬
wesen, weil man einerseits auf den Eintritt der Anästhesie hätte
lange warten müssen und andrerseits die Einwilligung des
Kranken zur Exartikulation nicht hätte erhalten können. Dass
der Kranke am Schluss schwer kollabiert war infolge des Ein¬
griffes wie infolge des Blutverlustes, ist selbstverständlich;
unter Kochsalzinfusion hat er sich aber erholt.
4. Man kann unbeschadet zur Allgemeinbe-
täubung übergehen; man kann auch, wenn man ur¬
sprünglich nur eine kleine Dosis Stovain eingespritzt hat, eine
zweite Einspritzung unmittelbar hinterher vornehmen, um die
Wirkung zu erhöhen und ich habe endlich auch in einem Falle,
wo ich wegen Erfrierung beider Beine einen Kranken doppel¬
seitig amputieren musste, keine Nachteile davon gesehen, dass
etwa 14 Tage nach der ersten Amputation die zweite ausgeführt
wurde. Beide verliefen durchaus zufriedenstellend.
5. Da die Anästhesie regelmässig schon nach wenigen
Minuten eintritt, so bedeutete die Methode auch eine Zeit¬
ersparnis gegenüber der Narkose.
Diesen Vorteilen gegenüber sind auch einige Nachteile
zu vermerken, bezw. Bedenken geltend gemacht worden:
1. Die Technik ist nicht ganz einfach, von der Asepsis
rede ich gar nicht. Die Punktion kann misslingen, wie sie mir
auch in 2 Fällen aus mir unbekannten Gründen nicht gelang. Es
ist möglich, dass die Dura Kalkplatten enthielt und die Nadel nicht
durchdringen liess. In einem anderen Falle von sehr hochgradi¬
ger Kyphoskoliose bei einer Frau gelang es mir ebenfalls nicht
einzudringen, während es bei einem 20 jährigen kyphotischen
Manne ohne Schwierigkeit gelang. — Eine weitere Einschrän¬
kung erfährt die Methode dadurch, dass man die Beckenhoch¬
lagerung selbstverständlich nur in Krankenhäusern und nicht
in der konsultativen Praxis mit derjenigen Exaktheit ausführen
kann, wie es unbedingt erforderlich ist.
2. Die Methodehatihre Grenzen. Ausgeschlossen
sind alle Operationen an Brust, Kopf und Armen; Bier warnt
auch vor Bauchschnitten. Ferner wird davor gewarnt, sie bei
Kindern auszuführen. Ich habe trotzdem bei einem 10 jährigen
kleinen Mädchen mit Nekrose der Tibia die Nekrotomie mit
sehr zufriedenstellendem Erfolge gemacht. Für durchaus ver¬
werflich muss ich es halten, wenn man alle solche Operationen,
die ohne Narkose oder mit lokaler oder regionärer Anästhesie
gemacht werden können, wie z. B. die Entfernung einge¬
wachsener Nägel oder die Phimosenoperation, mit Rücken¬
marksanästhesie ausführen wollte.
3. Die Gefahren der Methode beruhen wohl in erster Linie
darauf, dass man kein Mittel hat, das Stovain mit abso¬
luter Sicherheit von dem verlängerten Mark
abzuhalten. Aber diese Gefahr besteht selbstverständ¬
lich auch bei der allgemeinen. Betäubung, nur mit dem Unter¬
schiede, dass man in - jahrzehntelanger, millionenfacher Er¬
fahrung gelernt hat, bis zu einem gewissen Grade wenigstens,
diese Gefahr zu vermeiden. Es ist nicht einzusehen, weshalb
uns bei der Rückenmarksanästhesie nicht dasselbe beschieden
sein sollte.
4. Als weiteren Nachteil hat man vielfach die event.
Schockwirkung hingestellt, welche eine grosse Operation
an einem Patienten in wachem Zustande hervorrufe, und man
wird diese Gefahr nicht hoch genug anschlagen können, wenn¬
gleich ich bislang nur in den beiden erwähnten Fällen von Ex¬
artikulation am Hüftgelenk und der Entfernung der Gazekom¬
presse aus der Bauchhöhle etwas derartiges erlebt habe.
5. Peinlich sind bislang noch die sogen. Versager und
die Nachwirkungen; aber es ist. zu hoffen, dass auch
sie bei verbesserter Technik künftig vermieden werden können,
6. Ich kann nicht finden, dass die Methode für die
meisten Kranken etwas' Aufregendes hat. Ich habe
selbst bei Frauen, jungen Mädchen und bei einigen Kindern die
Erfahrung gemacht, dass bei ruhigem Zureden die Kranken
sich willig operieren Hessen. Indessen ist es selbstverständlich,
dass kleine Kinder und alle Erwachsenen, die sich wie Kinder
benehmen, auch durch Zureden nicht eines bes eren zu be¬
lehren sind.
7. Die Methode eignet sich n i c h t f ü r j e de n Opera-
t e u r. Nur wer iiii sicheren Vertrauen auf seine eigene Eertig-
3
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Ho.
keit und auf die Geschicklichkeit seiner assistierenden Kollegen
und Schwestern an die Operation herantritt, wird auch dem
Kranken dasjenige Gefühl der Sicherheit und Ruhe einflössen,
welches er vom rein menschlichen Standpunkte aus be¬
anspruchen kann. Daher eignet sich die Methode zunächst
nur für Krankenhäuser und nicht für die Praxis des
praktischen Arztes. Der Operateur setzt sich einer Kritik des
Patienten aus über die Schnelligkeit des Operierens und über
seine Fertigkeiten und hat mit mancher oft höchst originellen
Zwischenrede zu rechnen, ohne sich dabei aus der Fassung
bringen lassen zu dürfen. Unvorsichtige Aeusserungen seitens
der Aerzte und Schwestern müssen peinlich vermieden werden
und man kann in den meisten Fällen statt des Narkotiseurs den
Causeur nicht entbehren. Ein Assistent hat sich ständig mit
dem Kranken selbst zu beschäftigen.
Es liegt mir fern, auf Grund meiner bisherigen Erfahrungen
ein abschliessendes Urteil über die Methode zu fällen. Den Ein¬
druck habe ich aber jetzt schon gewonnen, dass es eine Methode
ist, die sich das Bürgerrecht in unseren Krankenhäusern erwor¬
ben hat. In Zukunft wird die allgemeine Narkose ihre hervor¬
ragende Stellung nicht mehr im gleichen Umfange behaupten
können. Schon jetzt hat der Betrieb in unseren Operations¬
sälen ein ganz anderes Gepräge erhalten, die Technik der
Operationen beginnt sich ihm anzupassen. Bier ist der An¬
sicht, dass die Methode noch verbesserungsfähig sei, dass sie
noch zu kompliziert ist, um als allgemein zugängliche Methode
zu gelten. Hoffen wir, dass es ihm, der zuerst seinen .eigenen
Körper in den Dienst der Wissenschaft gestellt hat, gelingen
wird, die Methode auch weiterhin zu vervollkommnen. Für
alle Zeiten aber wird der Name Biers mit der R ii c k e n -
marksanästhesie verknüpft sein.
Zum Schluss gebe ich eine Zusammenstellung meiner unter
Stovainisierung des Rückenmarkes ausgeführten 135 Eingriffe:
I. Operationen in der
Eitrige Peritonitis ....
Ovariotomien .
Bruchoperationen ....
Appendektomien ....
Darmresektionen .
Uterusfixationen .
Gallenstein .
Wanderniere .
Gastroenterostomie . . .
Sectio alta .
Uterusexstirpation ....
Bauchhöhle:
. ... 6 Fälle
. ... 4 „
. . . .22 „
. . . 30 „
. . . . 3 „
. . . . 6 „
• • • . 3 „
. . . . 1 Fall
. ... 2 Fälle
. . . . 3 „
. . . . 1 Fall
Summe: 81 Operationen.
Durchschnittliche Stovainmenge 0,06. — 10 Versager bei Operationen
oberhalb des Nabels.
II. Operationen am unteren Rumpfende:
Hämorrhoiden, Analfistel, Abszess . 10 Fälle
Kolpotomien . 4 „
Dammplastiken . 2 „
Hodenexstirpationen . 2 „
Bubo inguinalis . 1 Fall
Nekrotomie am Darmbein . 1 „
Summe: 20 Operationen
Durchschnittliche Stovainmenge 0,04. — Kein Versager.
111. Operationen an den unteren Gliedmassen:
Exarticulatio coxae . * . . .
Amputatio femoris .
„ cruris .
„ pedis .... • .
Resectio coxae .
» genu .
„ pedis ... • .
Necrotomia femoris .
„ tibiae .
„ calcanei .
Fractura femoris .
„ cruris .
„ pedis .
Myositis ossificans femoris .
Exstirpation: von Sehnenscheidenhygromen
„ der Bursa praepatellaris . . .
Unblutige Ischiadikusdehnung .
Varizenexstirpationen .
Fadeneiterung am Amputationsstumpf . . .
Operationen an der Haut . . .
1 Fall
2 Fälle
1 Fall
1 „
2 Fälle
1 Fall
3 Fälle
1 Fall
1 „
2 Fälle
1 Fall
6 Fälle
1 Fall
3 Fälle
Summe: 34 Operationen.
Durchschnittliche Stovainmenge 0,05. — 2 Versager.
Aus der inneren Abteilung des Diakonissenhauses in Leipzig-
Lindenau (Oberarzt: Privatdozent Dr. Lange).
Ueber eine neue Methode der Blut- und Gewebs-
färbung mit dem eosinsauren Methylenblau.')
Vorläufige Mitteilung.
Von Georg Assmann, Assistenzarzt.
Das neutrale eosinsaure Methylenblau in reiner Form
wurde bisher von Bremer1 2), Jenner-) und May und
Grünwald3) zum Zwecke der Blutfärbung empfohlen. Dass
sich die Färbung in der Praxis nicht allgemein einzubürgern
vermocht hat, lag vornehmlich an der Schwierigkeit und Lang¬
wierigkeit der Herstellung des Farbstoffs. Nun hat zwar die
Firma Grüble r in Leipzig schon vor längerer Zeit einen Farb¬
stoff nach Jenner bezw. May-Grünwald, die beide mit¬
einander identisch sind, in den Handel gebracht, indessen auch
dieser gab, nach den von seinen Erfindern gegebenen Vor¬
schriften angewendet, bisher sehr ungleichmässige und unkon¬
trollierbare Resultate, wie schon W. T ii r k in seinen Vor¬
lesungen über klinische Hämatologie, 1904,
I. Teil, p. 210, hervorhebt, und wie auch ich in meinen über
ein Jahr sich erstreckenden Versuchen vielfach bestätigt fand.
Der Grund hierfür ist nach meiner Ueberzeugung ein doppelter:
Erstens bedienen sich die genannten Autoren bei der
Färbung einer Lösung des Farbstoffs in absolutem Methyl¬
alkohol und spülen danach nur kurze Zeit in destilliertem
Wasser ab, die eigentliche, in ihre beiden chemischen Kom¬
ponenten Eosin und Methylenblau differenzierte Färbung kommt
aber erst in überwiegend wässeriger Lösung zustande, die man
sich, da der Farbstoff in Wasser unlöslich ist, nach dem
Vorbilde der chemisch analogen Maliariablutfärbungen von
Reuter und G i e m s a durch starke wässerige Verdünnung
der methylalkoholischen Farblösung für eine zur Färbung hin¬
reichende Zeitdauer hersteilen kann.
Zweitens aber gibt nach meinen Erfahrungen der reine
neutrale Farbstoff überhaupt ganz unberechenbare Färbungs¬
resultate, indem bald die saure (Eosin-), bald die basische
(Methylenblau-) Färbungskomponente zu Ungunsten der
anderen überwiegt, und zw^ar bleibt, wie ich bei meinen Ver¬
suchen regelmässig fand, bei Bluttrockenpräparaten das
Methylenblau, bei Gewebsschnitten das Eosin an Intensität
erheblich zurück. Ich gebe daher im folgenden eine aus den
eben geschilderten Beobachtungen hervorgegangene, in einer
langen Versuchsreihe als durchaus zuverlässig erprobte Fär¬
bungsmethode bekannt, mit der ich seit etwra einem halben
Jahre stets gleichmässige Färbungsresultate von seltener
Schönheit und Vielseitigkeit erzielt habe, und die nicht
allein für Trockenpräparate von Blut, Eiter, Sputum,
Harnsediment etc., sondern auch für Gewebsschnitte, die
übrigens möglichst nicht dicker als 5 .« sein dürfen, anwendbar
ist. Dieselbe ist der Jenner sehen bezw^. May-Grün-
w a 1 d sehen Färbung besonders bezüglich der Zuverlässig¬
keit und Schärfe der Färbung der neutrophilen Granula und der
Intensität der Kernfärbung zweifellos überlegen, ohne dabei die
an jenen Methoden zu rühmende Einfachheit und Schnelligkeit
des Färbungsvorganges vermissen zu lassen. Ich verwandte
bei meinen Versuchen ausschliesslich das in Dr. G. G r ii b 1 e r s
mikroskop. -ehern. Laboratorium, Inhaber Dr. Karl H o 1 1 b o r n,
in Leipzig, hergestellte Eosin-Methylenblau, und zwar die fertig
bezogene, längere Zeit haltbare methylalkoholische Lösung des¬
selben; die in Bd. XXII, Heft 3, p. 433 der Zeitschr. f. wissen-
schaftl. Mikroskopie und in Abt. I, Bd. XL, Heft 3, p. 430 des
Zentralbl. f. Bakteriol. empfohlenen Farbstoffe nach Jenner
bezw. May-Grünwald, sowie auch der in Sahlis Lehr¬
buch der klinischen Untersuchungsmethoden, 4. Auflage, als
dem Grübler sehen überlegen bezeichnete Jenner sehe
Farbstoff von B a i r d &. T a 1 1 o c k in London sind nachweis¬
lich mit dem Grübler sehen Eosin-Methylenblau identisch.
Eine genauere Besprechung der der Färbung zugrunde liegen¬
den mutmasslichen chemischen Vorgänge, sowie eine ein-
*) Der Redaktion am 13. Mai 1906 zugegangen.
G Archiv f. mikrosk, Anat., Bd. XLV, 1895, p. 433 — 450.
2) The Lancet, No. 3937, 1899, I, p. 370.
3) Zentralbl. f. innere Med. 1902, No. 11.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
gehende Würdigung der bisher über den Farbstoff und seine
Bedeutung für die Blutfärbung vorliegenden Literatur behalte
ich mir für eine spätere, ausführliche Arbeit vor, an dieser
Stelle begnüge ich mich mit einer kurzen Wiedergabe der von
mir geübten Färbungsmethode:
A. Für Trocken präparate:
1. Einlegen des mit dem zu färbenden unfixierten Objekte
beschickten Objektträgers in eine saubere Petrischale und Ueber-
giessen desselben mit 40 Tropfen der methylalkoholischen Farblösung
derart, dass die letztere nicht über den Rand des Objektträgers über¬
läuft; dieselbe verbleibt dann zum Zwecke der Fixation 3 Minuten
auf dem Präparat.
2. Uebergiessen mit 20 ccm destillierten Wassers, denen zuvor
o Tropfen einer 1 prom. Kalium-carbonicum-Lösung unter kräftigem
Schütteln beigemischt wurden, und Umschütteln der Schale so lange,
bis eine gleichmifssig klare, von Niederschlägen freie, hellviolette,
überwiegend wässerige Farblösung entstanden ist; 5 Minuten langes
Färben in der letzteren.
3. Herausnehmen und unmittelbares Abtrocknen des Präparats
ohne weitere Abspülung. .
B. Für Gewebsschnitte:
1. Wie bei A, nur kann hier, da die Fixierung entbehrlich ist,
Teil 2 ohne Verzug angeschlosseb werden.
2. Ebenfalls wie bei A, nur füge man statt der alkalischen
Kalium-carbonicum-Lösung 5 Tropfen einer 1 prom. Essigsäurelösung
hinzu und färbe statt 5 Minuten 15 Minuten.'
3. Herausnehmen, kurzes Abspülen in absolutem Alkohol,
Abspülen in Xylol, Einbetten in neutralen Kanadabalsam. Der
verwendete Alkohol muss durch einen ständigen
Bodensatz von ausgeglühtem Kupfersulfat streng-
wasserfrei erhalten werden.
Die Einzelheiten der Färbung sind bei Trockenprä¬
paraten der Jenner sehen und May-Grünwald sehen
ähnlich, nur ist die Färbung der neutrophilen Granula zuver¬
lässiger und schärfer, die Kernfärbung wesentlich intensiver,
die Umrisse sämtlicher Blutelemente infolge des Vermeidens
jeglicher Abspülung besonders scharf. Die Erythrozyten zeigen
durch die stärkere Betonung der basischen Komponente einen
Schein ins Violette. Bei Ge websschnitten (Einbettung
in Paraffin) erkennt man, sofern dieselben dünn genug sind
(5 ß), ebenfalls sämtliche Leukozytengranula, sowie alle Arten
Bakterien, ebenso wie bei Trockenpräparaten von Eiter,
Sputum etc. Pneumokokken zeigen zuweilen eine leichte
Rosafärbung ihrer Kapseln.
Herrn Dr. Karl Hollborn, dem Inhaber des Dr. G. Griib-
I ersehen mikroskop. -ehern. Laboratoriums in Leipzig und Her¬
steller des verwendeten Farbstoffs, gebührt für die Freund¬
lichkeit, mit der er mir alle für meine Versuche erforder¬
lichen Chemikalien in freigebigster Weise zur Verfügung
stellte, mein aufrichtigster Dank.
Aus dem hygienischen Institut und der bakteriologischen Anstalt
zu Strassburg i. Eis.
Beitrag zur Agglutinationstechnik.
Von Dr. Walter Gaehtgens, Assistenten an der Anstalt.
Vorläufige Mitteilung.
In vereinzelten Fällen ist für die Behandlung typhusver¬
dächtiger Erkrankungen, z. B. aus differentialdiagnostischen
Gründen, eine möglichst schnelle Ausführung der Agglutina¬
tionsreaktion sehr erwünscht. Durch folgendes einfache Ver¬
fahren, dessen eingehendere Beschreibung demnächst in den
„Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte“ veröffent¬
licht werden soll, lässt sich die Beobachtungsdauer in dem
Grade einschränken, dass man bereits nach 10 Minuten
sicheren Aufschluss über die Eigenschaften des Serums erhält.
Ein Röhrchen wird in der bekannten Weise mit Patientenserum,
physiologischer Kochsalzlösung und Bakterienaufschwemmung derart
beschickt^ dass das Serum auf 1 : 100 verdünnt wird, während ein
zweites Gläschen mit Kochsalzlösung und Bakterienaufschwemmung
zur Kontrolle dient. Beide Röhrchen werden nun 10 Minuten
lang zentrifugiert, nach eingehender Betrachtung von unten
3 — 4 Male gleich massig geschüttelt und darauf nochmals makro¬
skopisch und mikroskopisch besichtigt.
In dem Kontrollröhrchen ist nach dem Zentrifugieren
ein verschwindend geringer Teil der Bakterien ausgeschleudert wor¬
den, welcher am Grunde des Gläschens bei Betrachtung von unten
als scharf umschriebener, ca. 2 mm im Durchmesser
1351
fas s e n der Bo de n s a t z sichtbar ist. Nach 3 — 4 maligem Schüt¬
teln lost sich diese Masse vollständig auf, sodass mikroskopisch
im hängenden Tropfen nur isolierte, frei bewegliche, höch¬
stens hici und da zu 2 oder 3 aneinanderhängende Bakterien nach¬
weisbar sind. Das gleiche Bild bietet bei negativem
Ausfall der Reaktion auch das Serumröhrchen dar.
In dem Serumröhrchen hat sich bei positivem Aus¬
fall der Reaktion ein Teil der Bakterien am Grunde des üe-
fasses als Bodensatz angesammelt, um den herum sich in äusserst
charakteristischer Weise die zu Flocken vereinigten Ba-
Rillen sedimentiert haben, indem sie, entsprechend der
Agglutininmenge des Serums, bald punktförmige Niederschläge bil¬
den, bald eine zusammenhängende Masse, deren Umfang den Boden¬
satz des Kontrollröhrchens um das Zwei- bis Dreifache übertrifft
(VergLAbb.) Nach dem Schütteln bleiben meist makroskopisch
deutlich sichtbare Flocken in dem Gläschen zurück. Nur wenn
es sich um ein geringwertiges Serum handelt, welches bei ruhigem
Stehen die Bakterien z. B. erst nach 5 Stunden agglutiniert ver¬
schwinden die Flocken nach dem Schütteln und lassen sich erst
mikroskopisch wieder nachweisen.
Bei der mikroskopischen Untersuchung ist
streng zu beachten, dass nur Häufchen, welche
nach oberflächlicher Schätzung aus mindestens
10 Individuen bestehen, für den positiven Ausfall
dei Reaktion sprechen dürfen. Ferner muss in
einem Tropfen immer eine grössere Anzahl von
solchen Häufchen nachweisbar sein, deren Menge
und Grösse natürlich von der Agglutinationskraft des Serums ab¬
hängt.
Zur Veranschaulichung des Gesagten diene die folgende Skizze,
welche den Bodensatz der Röhrchen, von unten betrachtet, darstellt!
Serum 1:100.
Kontrolle. negativ schwach positiv stark positiv.
Ich habe dieses Verfahren bei über 100 Agglutinations¬
proben angewandt, von denen die eine Hälfte ein negatives, die
andere ein positives Resultat ergab. Zum Vergleiche wurden
alle Sera von meinem Mitassistenten Herrn Dr. F o r n e t, dem
ich meinen besten Dank dafür ausspreche, in der bisher bei uns
üblichen Weise untersucht, indem die Röhrchen 4 — 5 Stunden
bei 37 0 C und eventuell noch weitere 12 Stunden bei Zimmer¬
temperatur gehalten wurden. Die beiderseitigen Re¬
sultatewaren stets übereinstimmend.
Den Herren Professoren Förster und L e v y spreche
ich für das freundliche Interesse, welches sie meinen Unter¬
suchungen entgegengebracht haben, meinen ergebensten Dank
aus.
Die Tätigkeit der Niere.*)
Von Prof. R. Magnus.
M. H. ! Die Lehre von der Nierensekretion ist in den letz¬
ten Jahren wieder so vielfältig bearbeitet worden, dass es sich
wohl verlohnt, Ihnen an dieser Stelle einen zusammenfassenden
Ueberblick über den gegenwärtigen Stand der Frage zu geben.
Die Physiologie der Niere hat sich, wie Sie wissen, hauptsäch¬
lich entwickelt durch den Kampf zweier Theorien, der Lud-
w i g sehen Filtrations- und der Heidenhain sehen Sekre¬
tionstheorie, und fast alle einschlägigen Arbeiten sind ange¬
stellt worden, um entweder die eine oder die andere Ansicht
als richtig zu beweisen. Die Vertreter der Ludwig sehen
Filtrationstheorie nehmen auch heute noch an, dass im Glome-
rulus aus dem Blutplasma durch Filtration eine Flüssigkeit ab¬
gepresst wird, welche in ihrer Beschaffenheit dem Blutplasma
gleicht, nur dass sie frei von Eiweiss und den anderen Kolloiden
des Blutes ist. Dieses Glomerulusfiltrat, welches demnach Blut¬
plasma minus Eiweiss bezw. Kolloid ist, wird nun auf dem
Wege durch die Harnkanälchen so verändert, dass es schliess¬
lich als Harn zutage tritt.
*) Vortrag, gehalten im Februar 1906 im Heidelberger medi¬
zinischen Kolloquium.
3*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
Das geschieht nur zu einem geringen Teil durch Sekretion
spezifischer Harnbestandteile durch die Tubulusepithelien; die
wesentlichste Veränderung soll dagegen das Glomerulusfiltrat
nach dieser Ansicht durch Rückresorption erfahren, durch
welche ein grosser Teil des Wassers und auch bestimmter
Salze wieder aufgesogcn und ins Blut zurückbefördert werden;
hierdurch soll nun erreicht werden, dass der abfliesscnde Harn
schliesslich eine grössere Konzentration als das Blut besitzt
und auch die verschiedenen Salze in durchaus anderen Mengen¬
verhältnissen als im Blut vorhanden sind. Demgegenüber sieht
die Heidenhain sehe Sekretionstheorie sowohl das \\ asser
des Harnes wie die gelösten Bestandteile als Ergebnisse echter
Sekretionsvorgänge an, welche sowohl im Glomerulus als in
den Tubulis stattfinden. Eine Rückresorption findet unter nor¬
malen Verhältnissen nicht oder nur in beschränktem Masse
statt. So verschieden diese Ansichten auch zunächst er¬
scheinen mögen, so hat doch Dreser1) vor einigen Jahren
darauf hingewiesen, dass sie sich im Laufe der Zeit immer mehr
genähert haben, dass über eine ganze Menge von Punkten
bereits Einigkeit herrscht, und nur noch eine Reihe von experi¬
mentellen Fakten verschieden gedeutet werden.
Wir wollen nun damit beginnen, diejenigen Tatsachen zu
berühren, welche von jeder Theorie der Harnabsonderung
unabhängig sind und über die Einigkeit herrscht. Es ist das
Verdienst von Dreser2), sich zuerst die Frage vorgelegt zu
haben, welche Arbeit die Niere leisten muss, wenn sie einen
Harn liefert, der eine beträchtliche grössere Salzkonzentra¬
tion besitzt als das Blut. Wie Sie wissen, braucht man, um eine
1 proz. Kochsalzlösung in eine 3 proz. zu verwandeln, Arbeit,
indem man z. B. eine 1 proz. Lösung auf der Flamme des
Bunsenbrenners unter Zuhilfenahme von Wärme verdunsten
lässt, oder indem man auf mechanischem Wege das
Wasser von dem Salz durch halbdurchlässige Membranen
abpresst. Dreser hat nun berechnet, wie gross die
nötige Arbeit ist, um z. B. 200 ccm Harn von einem
Gefrierpunkt A = —2,3 8 aus dem Blute zu machen, und fand,
dass hierzu 37 mkg nötig sind. Dabei ist es ganz gleichgültig,
auf welchem Wege die Konzentrierung dieser Flüssigkeit ge¬
schieht, ob durch Sekretion oder Rückresorption, oder auf
andere Weise. Die für die einfache Konzentration nötige Arbeit
ist in allen Fällen die gleiche, v. Rohrer3) hat neuerdings
die Dreser sehe Rechnung erweitert, indem er nicht nur die
Arbeit ermittelte, welche nötig ist, um die Blutflüssigkeit auf
die Konzentration des Harnes einzuengen, sondern auch be¬
rücksichtigte, dass dabei die einzelnen Harnbestandteile, z. B.
Kochsalz und Harnstoff in verschiedenem Masse eine Konzen¬
trationssteigerung in der Flüssigkeit erfahren. Er ist dabei noch
zu 2X> mal höheren Werten gekommen als dieser. Zu dieser
ganzen Ueberlegung ist aber zu bemerken, dass die gewon¬
nenen Zahlen immer nur Minimalwerte für die Nierenarbeit
darstellen, nämlich nur für denjenigen Bruchteil, welcher auf die
Konzentration des Harnes verwendet wird, während alle übri¬
gen Leistungen der Niere bei der Harnbereitung dabei unbe¬
rücksichtigt bleiben. In der Tat haben nun auch neuere, nach
ganz anderen Methoden angestellte Bestimmungen der ge¬
samten Nierenarbeit wesentlich höhere Werte ergeben.
Wie Sie wissen, ist ein vielfach angewendetes Mass für
den Energiewechsel des ganzen Körpers die Bestimmung der
Sauerstoffaufnahme und Kohlensäureabgabe geworden, und
es sind zahlreiche Tatsachen der Stoffwechsellehre mit Hilfe
derartiger Bestimmungen ermittelt worden. Barcroft4) hat
nun diese Untersuchungsmethoden so umgeändert, dass er den
Gaswechsel einzelner Organe messen konnte. Zunächst
hat er solche Untersuchungen an der Speicheldrüse
und am Pankreas angestellt. Zu diesem Zwecke wurde
zunächst Sauerstoff und Kohlensäuregehalt des arte¬
riellen Blutes bestimmt, und gleichzeitig das aus dem
Organ abfliesscnde Venenblut aufgefangen und ge-
1) Dreser: Ueber physiologische Albuminurie. Schmidts Jahr¬
bücher 276, 117, 1902.
2) Dreser: Ueber Diurese etc. Schmiedebergs Arch. 29,
303, 1892.
3) v. Rohrer: Die osmotische Arbeit der Nieren. Pflügers
Arch. 109, 375, 1905.
*) Barcroft: Journ. of physiol., Bd. 25 ff.
messen. Nach Anstellung von Gasanalysen dieses Venen¬
blutes Hess sich nun angeben, wie viel Kubikzentimeter Sauer¬
stoff das betreffende Organ in der Zeiteinheit aufgenommen und
wie viel Kubikzentimeter Kohlensäure es abgegeben hat. In
den letzten Jahren haben sich nun Barcroft und B i o d i e
vereinigt, um derartige Untersuchungen mit sehr eleganten
Methoden auch an der Niere auszuführen und sind dabei zu
sehr bemerkenswerten Ergebnissen gekommen. 5) Zunächst
stellte sich heraus, dass die Niere überhaupt einen sehr regen
Gaswechsel besitzt. Es steht das in Uebereinstimmung mit Re¬
sultaten des H ii r 1 1 e sehen Labaratoriums, aus welchen sich
ergab, dass die Niere ausserordentlich reichlich von Blut
durchströmt ist. Während durch 100 g Skelettmuskel in
der Minute 12 ccm Blut fliessen, werden 100 g Niere
in derselben Zeit von 100 ccm Blut durchflossen, ein
Wert, der der Blutversorgung des Gehirnes (136 ccm)
sehr nahe kommt“). Dass die Niere ein sehr grosses
Sauerstoffbedürfnis besitzt, hatte auch früher schon
Ehrlich v) festgestellt, indem er zeigte, dass auch
schwer reduzierbare Farbstoffe in der Nierensubstanz bei Ab¬
sperrung des Blutstromes schnell reduziert werden. Bekannt
ist ferner, wie ausserordentlich empfindlich die Niere gegen
Sauerstoffmangel ist, und dass sie schon auf kurze Unter¬
brechung des Blutstromes mit Einstellung ihrer Tätigkeit rea¬
giert. Barcroft und B r o d i e haben nun weiter den Gas¬
wechsel untersucht in Fällen, in denen das Organ durch Diu¬
retika zu vermehrter Absonderung gezwungen wurde, und
fanden, das dabei auch der Gaswechsel der Niere sehr be¬
trächtlich gesteigert wird. In einem Falle stieg die Sauerstoff¬
aufnahme der Niere eines Hundes bei der Diurese so staik,
dass sie dem 11. Teil der gesamten Sauerstoffautnahme des
Körpers entsprach. Barcroft und B r o d i e haben nun aus
ihren Zahlen die in der Niere produzierte Energie berechnet
unter der Annahme, dass der aufgenommene Sauerstoff zur voll¬
ständigen Verbrennung von Eiweiss oder Kohlehydrat ver¬
wendet wird8) und dabei ausserordentlich grosse Werte er¬
halten. Gleichzeitig haben sie dann nach der Dreser sehen
Formel denjenigen Teil der Nierenarbeit berechnet, welcher
für die Konzentrationsarbeit verwendet wurde und es hat sich
dabei immer herausgestellt, dass die nach dem Gaswechsel be¬
rechnete Gesamtarbeit der Niere wesentlich grösser ist als die
Konzentrationsarbeit allein. Ich habe Ihnen hier die Resultate
dieser Berechnung für 6 Versuche der englischen Autoren auf¬
geführt. Sie können darauf dieses Resultat ohne Weiteres
ablesen.
Versuchs-No.
4
5 (1)
(2)
6
7
8
Energie aus O-Verbrauch
840 000 gern
620 000 ‘ „
232 000 „
1 170 000 „
• 855 000 *
873 000 „
Konzentrationsenergie
14 684 gern
1941 „
34 „
1 651 „
2 281 „
0 *
Von besonderem Interesse für uns ist der letzte Versuch.
In diesem war es im Verlauf einer starken Glaubersalzdiurese
schliesslich soweit gekommen, dass der schnell entleerte, sehr
verdünnte diuretische Harn dieselbe Salzkonzentration hatte,
wie das Blut. In diesem Falle hatte also die Niere überhaupt
gar keine Konzentrationsarbeit mehr zu leisten. Trotzdem
aber stieg der Gaswechsel wie in den anderen Versuchen ganz
beträchtlich und Sie sehen, dass die daraus berechnete Gesamt¬
arbeitsleistung der Niere auch in diesem Falle, wokeine Kon¬
zentration des Harnes stattfindet, eine sehr beträchtliche war.
Wenn auch die Einzelheiten der Berechnung von Barcroft
und B r o d i e noch manches hypothetische enthalten, so ist
doch so viel aus ihnen mit Sicherheit zu entnehmen, dass bei
der Nierentätigkeit ein ausserordentlich starker Stoff- und
Kraftwechsel in der Niere statt hat und zwar auch in Fällen,
in welchen der Harn nicht konzentrierter ist wie das Blut. Es
5) Barcroft und Br o die: The gasous metabolism of the
Kidney. Journ. of physiol. 32, 18, 1904 und 33, 52, 1905.
°) Vergl. J e n s e n. Pflügers Arch. 103, 171, 1904.
7) Ehrlich: Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus. Berlin
1885.
s) Diese Annahme beruht darauf, dass in den Versuchen die
Nieren eine dem aufgenommenen Sauerstoff entsprechende Menge
COa abgaben. _ . .
10. Juli 1906.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
würde Allem, was wir über die Physiologie tierischer Organe
wissen, widersprechen, wenn man nicht annehmen wollte, dass
die in der Niere produzierte Energie auch für die eigentliche
Tätigkeit des Organes, nämlich die Harn absonderung,
verwendet würde, und wir müssen daher aus diesen Versuchen
schliessen, dass die Harnabsonderung von der Niere eine leb¬
hafte Organtätigkeit erfordert, auch wenn eine Konzentration
der Harnflüssigkeit nicht eintritt; über die Art aber, in welcher
diese Energie für die Harnbereitung verwendet wird, sagen
natürlich diese Versuche nichts aus.
Wir verlassen nunmehr diese allgemeinen Betrachtungen
und wenden uns der vielfach bearbeiteten spezielleren Frage
zu, in welcher Weise die Harnäbsonderung von der Zirku¬
lation abhängig ist. Es hat sich eine grosse Diskussion da¬
rüber entwickelt, ob die Höhe des allgemeinen Blutdruckes
in entscheidender Weise die Menge des abgesonderten Harnes
beeinflusst. Als Resultat dieser Forschungen hat sich schliess¬
lich ergeben, dass zwar ein guter Blutdruck die Vorbedingung
für eine kräftige Harnabsonderung ist, dass aber irgend ein
Parallelismus zwischen den beiden nicht besteht. Es kann
bei gleichem Blutdruck wechselnde Harnmenge und bei Blut¬
druckschwankungen unveränderte Harnproduktion gefunden
werden. Ebensowenig hat sich nach neueren Fesstellungen von
Lamy und Mayer9) eine Beziehung zwischen der Viskosität
des Blutes und der Nierentätigkeit aufdecken lassen. Beide
können vollständig unabhängig von einander schwanken. Von
sehr viel grösserer Bedeutung erwies sich dagegen der Zu¬
sammenhang zwischen der Nierenabsonderung und der lokalen
Durchblutungsgrösse der Nieren, d. h. demjenigen Faktor, den
Heidenhain schon früher als lokale Blutgeschwindigkeit in
die Nierenphysiologie eingeführt hatte. Schon Claude Ber-
nard 10) hatte beobachtet, dass, wenn die Niere in stärkere
Tätigkeit versetzt wird, das Blut durch die Nierenvene mit
hellroterFarbe fliesst und daraus auf eine stärkere Durchblutung
der Niere geschlossen. Die Frage ist seither vielfach bearbeitet
worden mit Hilfe des Onkometers, d. h. in der Weise, dass
die Niere ohne Störung ihres Kreislaufes in eine Kapsel einge¬
schlossen wird und nun die Volumänderung des Organs in
dieser Kapsel auf graphischem Wege aufgezeichnet wird. Zahl¬
reiche nach dieser Methode angestellte Versuche haben nun
gezeigt, dass die Nierentätigkeit in sehr vielen Fällen den
Schwankungen der Durchblutungsgrösse folgt11), dass diese
Abhängigkeit aber keine absolut notwendige ist. 12) Es kann
eine lebhafte Steigung der Zirkulation eintreten ohne dass
gleichzeitig die Harnabsonderung steigt. Es kann bei einer
Diurese die Harnflut aufhören zu einer Zeit, wo die Niere noch
stärker durchblutet wird und es kann drittens das onkometrisch
gemessene Nierenvolumen stark abnehmen bei deutlich ein¬
setzender Diurese. In neuerer Zeit sind nun gegen die onko¬
metrisch gewonnenen Resultate Einwände besonders von
L ö w i ¥) erhoben worden. Ich selbst bin weit davon ent¬
fernt, zu glauben, dass das Onkometer in allen Fällen immer
nur von Schwankungen der Durchblutungsgrösse der Organe
beeinflusst wird. Das ergibt sich besonders aus den Ver¬
suchen von B u n c h 14) an der Speicheldrüse, in denen trotz
Steigerung der Durchblutung das Organvolum abnahm, weil die
Drüsenzellen ihren Inhalt auspressten und nach aussen ent¬
leerten. Trotzdem glaube ich, dass das Onkometer für die
Niere eine relativ sichere Bestimmung der Durchblutungsgrösse
erlaubt, wenn man die Beobachtung nicht auf zu lange Zeit¬
perioden ausdehnt. Jedenfalls gibt die Onkometrie sicherere
Resultate als die einfache Beobachtung der Farbe des Venen¬
blutes nach Claude B e r n a r d, wie sie L ö w i auch neuer¬
dings wieder angewendet hat. Diese ganze Diskussion ist aber
9) Lamy et Mayer: Etudes sur la Diurese. C. R. Soc. Biol.
1904, S, 221.
10 ) Zitiert nach Heidenhain: Hermanns Handbuch V, 1,
S. 318.
“) Starling: The glomerular functions of the Kidney. Journ.
of physiol. 24, 317, 1899.
12) Gott lieb und Magnus: Die Beziehungen der Nieren¬
zirkulation zur Diurese. Schmidebergs Arch. 45, 223, 1901.
13) Löwi: Untersuchungen zur Physiologie und Pharmakologie
der Nierenfunktion. III. Schmiedebergs Arch. 53, 15, 1905.
“) Bunch: Changes in voIume of submax. gland. Journ. of
physiol. 26, 1, 1900.
inzwischen gegenstandslos geworden dadurch, dass es Bar¬
er oft und B r o d i e gelungen ist, direkte Bestimmungen der
Blutgeschwindigkeit in den Nieren bei der Diurese vorzu-
nehrnen. Sie gingen in der Weise vor, dass sie bei Hunden die
Vena cava unteihalb der Einmündungsstelle der Nierenvene
abklemmten (bei a, Fig. l), hier eine Kanüle (c) einführten und
nun zu verschiedenen
Zeiten ihrer Versuche in
demselben Augenblick die
Klemme bei a öffneten
und die Vena cava bei b
verschlossen, sodass nun
alles Nierenvenenblut in
die Kanüle floss. Hier
haben sie die ausfliessende
Blutmenge zu verschie¬
denen Zeiten ihrer Ver¬
suche bestimmt und dabei,
zunächst wenigstens bei
der Salz- und Harnstoff¬
diurese gefunden, dass
die lebhafteste Nierentätigkeit eintreten kann, ohne dass
die. Durchblutung des Organs überhaupt ge¬
steigertwird 1 "), und wenn bei der Diurese der Blutstrom
zunimmt, diese Zunahme gewöhnlich nicht so lange dauert, wie
die gesteigerte Harnflut. Daraus ergibt sich zur Evidenz, dass
es nicht angängig ist, die gesteigerte Nierendurchblutung als
die wesentlich wirksame Ursache der Diurese anzusehen, und
dass wir in der besseren Durchblutung der diuretischen Niere
nur eine Begleiterscheinung erblicken dürfen, welche die ge¬
steigerte Funktion unterstützt.
Hier ist auch der Ort eine Versuchsreihe zu erwähnen, welche
Löwi angestellt hat, um die mit dem Onkometer gewonnenen Re¬
sultate ihrer Beweiskraft zu berauben. Er gipste in einer Reihe von
Vei suchen die Niere vollständig ein, sodass sie sich nicht ausdehnen
konnte, und beobachtete dann, dass nach Einleitung der Diurese das
Blut hellrot aus den Nierenvene floss. Da das Nierengewebe als nicht
kompressibel zu betrachten ist, so nahm Löwi an, dass auch die Ge¬
lasse sich in einer solchen Niere nicht erweitern könnten, und dass
daher die aus dem Earbenumschlag des Venenblutes geschlossene
Steigerung der Blutgeschwindigkeit auf einer zunächst nicht näher
definierten Wegräumung innerer Widerstände in der Gefässbahn
beruhen müssen. Bei diesem Gedankengang ist vergessen worden,
dass eine der wenigen Tatsachen, die wir über die Eigenschaften der
Gefässwände mit Sicherheit wissen, ihre Durchgängigkeit für Wasser
ist. Auch in der eingegipsten Niere können daher die Gefässe sich
sehr gut erweitern, wenn dabei eine kleine Menge Wasser aus den
Gewebsspalten in das Gefässlumen Übertritt und durch die Venen¬
bahn die Niere verlässt. (Eventuell auch durch den Ureter.) Es ist
deshalb auch in Löwis Versuchen eine wirkliche Gefässerweiterung
durchaus möglich; und da erfahrungsgemäss das Volum der nicht ein¬
gegipsten Niere ebenso wie das Volum anderer Organe den Aen-
derungen der Durchblutungsgrösse tatsächlich ausserordentlich
prompt folgt, so ist durch diese Gipsversuche irgend ein Einwand
gegen die Onkometrie nicht geschaffen worden.
Nachdem wir jetzt die Abhängigkeit der Nierentätigkeit
von Zirkulationsbedingungen erörtert haben, wollen wir jetzt
dazu übergehen, die einzelnen Formen der Diurese näher zu
besprechen und dabei ausgehen von der Salzdiurese, welche
gerade in den letzten Jahren wieder sehr eingehend bearbeitet
worden ist. Die erste vergleichende Untersuchung über die
diuretische Wirkung verschiedener Salze verdanken wir Lim-
beck le). Dieser konnte feststellen, dass wenn man die ein¬
zelnen Salze per os gibt, ihre diuretische Wirkung in über¬
wiegendem Masse dadurch bestimmt wird, ob sie leicht oder
schwer vom Darmkanal aufgesogen werden. Kochsalz macht
unter diesen Umständen starke, Glaubersalz schwächere Diu¬
rese. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, bei allen Ver¬
suchen über Salzdiurese die zu prüfenden Lösungen mit Um-
15) Metzner hat neuerdings (Nagels Handbuch II, 1, 256, 1906)
gegen die Versuche von Bar er oft und Brodie eingewendet,
dass hier schon anfangs die Nierendurchblutung so stark gewesen sei,
dass eine weitere Steigerung nicht hätte eintreten können. Dieser
Einwand wird dadurch widerlegt, dass gerade in demjenigen Experi¬
ment (No. 2), in welchem die grösste Nierendurchblutung schon von
Anfang bestand (318 ccm pro Min. und 100 g Niere), noch eine weitere
Steigerung der Zirkulation (auf 360 ccm) eintrat.
1H) Limb eck: Schmiedebergs Arch. 25, 86, 1888.
Vena cava
- Niere
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28
3354
gehung des Magendarmkanals, also am besten intravenös zu
infundieren. Wenn wir nun irgend eine Salzlösung in die
Blutbahn einspritzen, so vermischt sie sich mit dem strömen¬
den Blut. Es wäre aber durchaus falsch, anzunehmen, dass
nun dieses Gemisch in unveränderter Weise auf die Nieren
einwirken könne; es gelangt ja mit der Zirkulation nicht nur
zur Niere, sondern auch zu allen anderen Organen und Ge¬
weben des Körpers, und es tritt nun in allen Fällen zunächst
ein lebhafter Austausch mit den Gewebsflüssigkeiten ein, als
dessen Endergebnis schliesslich ein ganz anders zusammen¬
gesetztes Blut auf die Niere einwirkt, als nach der einfachen
Infusion zu erwarten war. Ein Beispiel wird das Gesagte
verdeutlichen. Nehmen wir an, wir hätten eine lOproz. Koch¬
salzlösung infundiert, so wird dadurch zunächst der Kochsalz¬
gehalt des Blutes beträchtlich gesteigert. Auf dem Wege durch
die Gewebe gleicht sich dies sehr bald wieder aus, indem zu¬
nächst einmal Kochsalz die Blutbahn verlässt und in die Ge¬
webe Übertritt, andererseits aber eine grosse Menge von Ge¬
websflüssigkeit ins Blut strömt und dadurch den Wassergehalt
des Blutes beträchtlich steigert. In dem umgekehrten Fall,
wenn man eine sehr verdünnte, z. B. 0,4 proz. Kochsalzlösung
in die Blutbahn spritzt, so ist es klar, dass dadurch der Wasser¬
gehalt des Blutes steigen muss. Ausserdem treten aber noch
Salze aus den Geweben in die Blutbahn über. Wir sehen also,
dass in beiden Fällen, ob wir konzentriertere oder verdünntere
Lösungen einführen, immer der Wassergehalt des Blutes steigt,
dass es also zu einer hydrämischen Plethora kommt, und es
ergibt sich somit als die erste Frage, im wieweit die Salz¬
diurese von dieser hydrämischen Plethora abgelenkt werden
kann. Diese Frage schliesst zwei Probleme in sich. Beruht
die Diurese auf der Hydrämie oder beruht sie auf der Plethora?
Den Versuch, die Diurese von der Plethora abzuleiten, hat be-
sonders S t a r 1 i n g 17) gemacht. Er nimmt an, dass durch die
einfache Zunahme der Blutmenge, wie sie bei der Salzdiurese
eintritt, es zu einer Steigerung des Kapillardruckes in allen Or¬
ganen und besonders den Nieren kommen müsse, und dass
dieser gesteigerte Kapillardruck zu vermehrter Filtration von
Flüssigkeit in den Nierenglomerulis führt. Um diese Frage zu
entscheiden, hat man nun Versuche angestellt, in welchen nur
Plethora ohne Hydrämie erzeugt wurde18). Es wurde einem
Kaninchen das Blut eines zweiten, in gleicher Weise genährten
Tieres transfundiert und dadurch also eine beträchtliche Stei¬
gerung der Blutmenge dieses Tieres hervorgerufen. Das Re¬
sultat war, dass trotz der eingetretenen Plethora keine Diurese
beobachtet werden konnte, dass also Plethora an sich keine
Diurese hervorruft. Gegen diese Versuche ist von verschie¬
denen Seiten eingewendet worden, dass es dabei allerdings
zu einer Vermehrung der Blutmenge käme, dass aber von dem
transfundierten Blute ein grosser Teil des Plasmas binnen
Kurzem die Gefässbahn verlässt und in die Gewebe Übertritt,
während die Blutkörperchen sämtlich in der Gefässbahn blei¬
ben. Infolge dieser relativen Zunahme der roten Blutkörper¬
chen würde nun das Blut gewissermassen dicker und das sei
der Grund, weshalb es nicht zur Diurese kommen könnte.
Diese Kritik hat übersehen, dass gleichzeitig mit den einfachen
Plethoraversuchen auch Experimente zur Kontrolle angestellt
worden sind, in welchen die beiden Tiere vorher verschieden
gefüttert waren. Infundierte man einem Tiere, welches vorher
auf Trockenfutter gesetzt war, das Blut eines zweiten Kanin¬
chens, das wasserreiche Nahrung bekommen hatte, oder dem
vorher Salze eingespritzt waren, so kam es nach der Trans¬
fusion jedesmal zur Diurese. Auch in diesem Fall tritt ein
grosser Teil des Plasmas in die Gewebe, die Blutkörperchen
bleiben zurück und das Blut wird dicker, und trotzdem wird
die Harnsekretion gesteigert. Hier ist es eben ausser der
Plethora, welche keine Diurese bewirkt, noch zu einer, wenn
auch geringen Aenderung der Blutbeschaffenheit19) gekommen
und wir werden aus folgendem alsbald sehen, dass wir hierin
einen wirksamen Nierenreiz zu 'örblicken haben.
17) S t a r 1 i n g: a. a. O.
18) Magnus: Ueber die Beziehungen von Plethora zur Diurese.
Schmiedebergs Arch. 45, 210, 1901.
lfl) Nach C-ushny (Journ. of physiol. 28, 431 1902) genügt schon
die Infusion von Serum statt undefibrinierten Blutes, um Diurese zu
erzeugen.
Es fragt sich nun, ob die nach Infusion von Salzlösungen
eintretende Hydrämie als Ursache der Diurese angesehen
werden kann. Dies ist nun in der Tat der Fall und es lässt
sich zeigen, dass jedesmal, wenn der Wassergehalt des Blutes
gesteigert wird, die Niere mit vermehrter Tätigkeit einsetzt
und das überschüssige Wasser nach aussen befördert. Es ist
aber die Hydrämie nicht der einzige Faktor, welcher bei der
Salzdiurese mitspielt. Nach Zufuhr konzentrierterer Salzlösun¬
gen beobachtet man nämlich nicht selten, dass die Niere noch
fortfährt, diuretischen Harn zu liefern, auch wenn der anfangs
gesteigerte Wassergehalt des Blutes schon wieder auf die
Norm zurückgegangen ist, ja sogar wenn das Blut wasser-
ärmer geworden ist afs zuvor. In diesem Fall muss also noch
irgend ein anderes Moment die Niere zu gesteigerter Tätig¬
keit veranlassen und es lässt sich zeigen, dass es die Zunahme
des betreffenden Salzes im Blute ist20), welches diesen Reiz
darstellt. Die Niere antwortet also mit Diurese nicht nur auf
einen gesteigerten Wassergehalt des Blutes, sondern auch auf
einen gesteigerten Salzgehalt, und es ist zu betonen, dass hier¬
bei das Entscheidende nicht die Gesamtkonzentration des Plas¬
mas ist, sondern die Zunahme eines einzelnen Salzbestandteiles.
Damit steht in Uebereinstimmung, dass die einzelnen Salze ver¬
schieden stark auf die Diurese einwirken. Es hat sich z. B.
herausgestellt, dass das Glaubersalz ein sehr viel stärkeres
Diuretikum ist als das Kochsalz und zwar auch dann, wenn man
dafür sorgt, dass in beiden Fällen die eintretende Hydrämie
genau die gleiche ist. Auch zwischen anderen, einbasischen
Salzen hat Soll m a n n 21) solche Unterschiede in der diureti¬
schen Wirkung feststellen können. So fand er z. B. im Gegen¬
satz zu den neueren Angaben L o e w i s 22), dass das Jod-
natrium stärkere Diurese hervorrruft als das Kochsalz.
In welcher Weise müssen wir uns nun vorstellen, dass
die Zunahme eines einzelnen Blutbestandteiles Diurese hervor¬
ruft? Wir wollen hier von älteren Befunden Munks u. a.
über die Zuckerausscheidung ausgehen. Bekanntlich ist der
normale Harn so gut wie zuckerfrei, während das Blut deut¬
liche Mengen Zuckers enthält. Man müsste also hiernach
annehmen, dass die Niere für Zucker undurchgängig ist; dem
ist aber nicht so, denn bei dem Diabetiker nach Pankreas¬
exstirpation oder nach intravenöser Zuckerinjektion steigt der
Zuckergehalt des Blutes und gleichzeitig treten beträchtliche
Mengen von Zucker in den Harn über. In diesem Fall setzt
also die Zuckerausscheidung durch die Niere erst ein, wenn
der Zuckergehalt des Blutes einen gewissen Schwellenwert
übersteigt und es werden sodann sehr beträchtliche Mengen
davon nach aussen befördert. Sehr instruktiv sind auch die
Befunde, welche sich bei der Glaubersalzdiurese der Hunde
erheben lassen. Um gleich ein konkretes Beispiel zu geben,
so war in einem Falle bei Beginn des Versuchs 0,63 Proz.
Kochsalz im Blut vorhanden und fast gar kein Sulfat
(0,03 Proz.). Nun wurde eine Glaubersalzlösung infundiert
und dadurch der Sulfatgehalt des Blutes auf 0,27 Proz. ge¬
steigert, während der NaCl-Gehalt von 0.63 auf 0,60 sank.
Die Untersuchung des Harnes ergab 3 Proz. Glaubersalz,
während das Kochsalz fast vollständig aus dem Harn ver¬
schwunden war (0,05 Proz.). Es hatte also die Zunahme des
Sulfates im Blut zu einer beträchtlichen Glaubersalzausschei¬
dung mit dem diuretischen Harn geführt, während die Abnahme
des Kochscjlzgehaltes im Blut von 0,63 Proz. auf 0,60 Proz. ge¬
nügt hätte, um das Kochsalz aus dem Harn verschwinden zu
machen. Dieser Befund ist besonders von S o 1 1 m a n n 29)
auch an einer ganzen Reihe von anderen Salzen (beim
Hunde24) bestätigt worden, und es ist daher der Schluss wohl
erlaubt, dass die Niere eingestellt ist auf einen bestimmten
Gehalt des Blutes sowohl an Wasser wie an den einzelnen
harnfähigen Substanzen. Sowie die Konzentration derselben
im Blute über einen gewisser! Schwellenwert steigt, wird die
Niere zu gesteigerter Tätigkeit gezwungen, bei welcher haupt¬
sächlich derjenige Blutbestandteil (Wasser, Salz etc.) nach
20) Mas uns: Vergleich der diuretischen Wirksamkeit isoton.
Salzlösungen. Schmiedebergs Arch. 44, 396, 1900.
21 ) Sollmann: The comnarative diuretic effect of sahne Solu¬
tions. Americ. Journ. Physiol. 9. 454, 1903.
22) Loewi: a. a. o.
23) Sollmann: Effect of diureticis etc. on the Chlorides of
the urine. Americ. Journ. physiol. 9, 425, 1903.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1355
aussen befördert wird, dessen Konzentration im Blut gesteigert
war. Bei seiner vergleichenden Untersuchung verschiedene'!
Salze hat S o 1 1 m a n n aber zwei Ausnahmen von dem oben
geschilderten Verhalten gefunden, nämlich das Natriumjodid
und -nitrat. Nach Infusion dieser beiden Salze wird die Koch¬
salzausscheidung beim Hund nicht herabgesetzt und es ist da¬
her möglich, dass bei diesen beiden einbasischen und in ihrem
osmotischen Verhalten dem Kochsalz nahestehenden Salzen
die Niere nicht so reagiert, als wenn mehr Jodid oder Nitrat im
Blut wäre, sondern als ob einfach der Kochsalzgehalt des Plas¬
mas vermehrt wäre. Sie befördert dann demgemäss nicht nur
das Jodid und Nitrat sondern auch gleichzeitig Kochsalz nach
aussen. Während alle andern Punkte der Diureselehre bisher
in ausgiebigem Masse nachgeprüft und durchuntersucht worden
sind, ist leider bisher die geschilderte Abhängigkeit von der
Blutzusammensetzung wenig bearbeitet worden und es sind
daher die angeführten Daten so ziemlich die einzigen, welche
zurzeit für diese Frage herangezogen werden können. Es ist
dringend zu wünschen, dass dieser Punkt noch einer viel¬
fältigen Untersuchung unterzogen wird, und es ist möglich,
dass die Dinge in Wirklichkeit noch wesentlich komplizierter
liegen als sie im vorstehenden geschildert worden sind. Wenig¬
stens scheint sich aus neueren Versuchen von Lainy und
Mayer25) zu ergeben, dass die Sekretionsschwelle für Koch¬
salz sich, wenn man den Kochsalzbestand des Organismus
ändert, im Laufe von mehreren Tagen nicht unbeträchtlich ver¬
schieben kann, doch ist das Material bisher noch nicht gross
genug, um bindende Schlüsse zu ziehen.
(Schluss folgt.)
Aus der Universitäts-Irrenklinik zu Heidelberg
(Direktor: Prof. Dr. N i s s 1).
Ueber Verkennung von geistigen Erkrankungen.*)
Von Dr. Georges Dreyfus, Assistenzarzt.
M. H. ! Wenn ich Ihnen heute Abend von der Verkennung
geistiger Erkrankungen sprechen will, so schliesse ich natür¬
lich von vorneherein alle diejenigen Fälle aus, bei denen sofort
jeder Laie die Geistesstörung erkennt. Wenn wir hören, dass
ein Patient Gestalten sieht, oder Stimmen hört, oder glaubt,
er werde verfolgt, vergiftet, oder von irgend jemandem
dauernd auf die unangenehmste Weise körperlich beeinflusst,
dann ist es leicht zu sagen: der Mann ist geisteskrank.
Und nur auf die psychiatrische Schule kommt es dann an, die
geistige Störung einer bestimmten Krankheitsform zuzu¬
rechnen. — Wenn wir uns mit der Verkennung geistiger Er¬
krankungen beschäftigen wollen, so können wir dies unter
2 Gesichtspunkten tun: Entweder wir beschäftigen uns nur
mit solchen Krankheiten, die für den Arzt praktisches Inter¬
esse haben, die also häufig vom Nichtpsychiater verkannt wer¬
den, oder wir behandeln die Verkennung von rein wissen¬
schaftlichem Standpunkt, wir besprechen dann die Fehl-
iiagnostik. Da diese jedoch allein für den Psychiater
von Interesse ist, so lasse ich sie ganz beiseite.
Ich will also heute Abend Ihre Aufmerksamkeit auf jene
Teistesstörungen lenken, deren Erkennung vor allen Dingen
lern Nichtfachmann Schwierigkeiten bereitet. Der Gegenstand
neines Vortrages betrifft indes nicht die diagnostischen
Schwierigkeiten verschiedener Psychosen, also nicht das
(Erkennen, sondern das Verkennen psychischer Stö-
‘ungen. Freilich hat die Vermeidung des Verkennens das Er¬
nennen zur unabweisbaren Voraussetzung.
Dass es aus vielen Gründen von eminenter Wichtigkeit ist,
lie Geisteskrankheiten als solche zu erkennen, liegt ja auf der
iand.
2;) Bei Kaninchen liegen nach Cnshny, P o t o t z k y, Soll-
ha nn die Verhältnisse der Chlorausscheidung anders als beim Hund.
)och haben sich wegen der Kleinheit der Tiere noch keine aus-
eichendcn Reihen von Blutanalysen am selben Tier anstellen lassen,
die Zahlen von M i c h a u d scheinen auf eine Abhängigkeit der Chlor-
nusscheidung vom Choridgehalt des Blutes auch bei Kaninchen zu
leuten.
*) Nach einem am 12. Dezember 1905 im Naturhistorischen rnedi-
inischen Verein in Heidelberg gehaltenen Vortrag. 1
Für das Individuum selbst ist oft das Erkennen, also
das Nichtverkennen, von lebensrettender Bedeutung. Denken
Sie an die so ausserordentlich selbstmordgefährlichen „Melan¬
choliker“, die oft nur eine rechtzeitige Internierung in einer ge¬
schlossenen Anstalt von dem häufig mit aller Raffiniertheit ge¬
planten Selbstmord zurückhält. Und dabei werden bei dieser
Form der geistigen Störung Individuen dem Leben erhalten,
die fast sicher wieder völlig gesunden werden.
Ebenso wichtig ist das Erkennen geistiger Störungen im
Interesse der Familie. Ich will hier nur kurz hinweisen auf die
unendlichen Schäden, welche die nicht als geisteskrank er¬
kannten Paralytiker und Manischen ihrer Familie zufügen
können. Wie oft bringen diese infolge ihrer krankhaften geisti¬
gen Verfassung ihre Angehörigen an den Bettelstab, ehe er¬
kannt wird, dass es sich um geistig kranke Persönlichkeiten
handelt. Der Paralytiker wird durch seine Urteilsschwäche
zu sinnlosen Handlungen veranlasst. Den Manischen treibt sein
Betätigungsdrang in immer neue Unternehmungen.
Die sozialen Schäden der Geisteskranken sind ebenfalls
sehr grosse. Ich erinnere nur an die vielen Landstreicher, die
erst infolge ihrer oft schon in früher Jugend erworbenen
Geisteskrankheit auf die Landstrasse kommen. Dieselben
kommen häufig andauernd mit dem Gesetz in Konflikt, sie
kosten den Staat ' unendlich viel Geld, bis erst spät erkannt
wird, dass man es mit Geisteskranken zu tun hat, die dauernd
in einer Irrenanstalt unschädlich gemacht werden müssen.
W i 1 m a n n s hat in seiner demnächst erscheinenden Arbeit
„Die Dementia praecox bei Landstreichern“1) solche Fälle aus¬
führlich beschrieben.
Fast die grösste Bedeutung gewinnt die Verkennung
geistiger Erkrankungen in forensischer Beziehung. Vor allen
Dingen ist hier ein Laie — der Richter — derjenige, der zu¬
erst den Verdacht einer Geisteskrankheit hegen muss. Da¬
durch, dass der Richter nicht an eine Geisteskrankheit bei
einem ihm unterstellten Fall denkt, und somit nicht den Ge¬
richtsarzt zuzieht, ist es möglich, dass Menschen für Dinge ver¬
urteilt werden, für die sie nicht verantwortlich gemacht wer¬
den können. Und wie oft können wir aus den Akten entnehmen,
dass geisteskranke Individuen, zumal solche, bei denen die
Symptome wenig sinnfällige sind, immer wieder verurteilt wer¬
den. Zum Schutze solcher Personen sollte darum wohl vom
Richter verlangt werden dürfen, dass er sich einige psych¬
iatrische Kenntnisse angeeignet hat und möglichst oft das Be¬
stehen einer geistigen Erkrankung in Erwägung zieht, um den
Gerichtsarzt zuziehen zu können. Seit mehreren Jahren ist
an den Universitäten das forensisch-psychiatrische Praktikum
eingerichtet worden, hier in Heidelberg hat sich die forensisch¬
psychologische Vereinigung gebildet, um Jurisprudenz und
Psychiatrie einander näher zu bringen.
Nicht nur in Straf- sondern auch in Zivilsachen ist das
Nichterkennen einer bestehenden Geisteskrankheit von emi¬
nenter Bedeutung. Wie schwer muss es oft einem Richter
werden, von dem im Gesetzbuch ausdrücklich verlangt wird,
dass er sich selbst von der Geisteskrankheit überzeuge, einen
nur leicht schwachsinnigen Alkoholisten zu entmündigen. Hier
äussern sich die psychischen Anomalien in einer gewissen Reiz¬
barkeit, in einer leichten Schwäche der psychischen und intellek¬
tuellen Funktionen. Wenn die Betreffenden nicht unmittelbar
unter der Wirkung des Alkohols stehen, kann es oft sehr
schwer sein, den leichten Schwachsinn nachzuweisen. Und
doch müssen diese Individuen entmündigt werden, sowohl
wegen ihrer Willensschwäche, die sie immer wieder zum Trin¬
ken treibt, als auch wegen der Einsichtslosigkeit ihrer Leiden¬
schaft gegenüber. Bei der Ehescheidung, bei einer Testaments¬
errichtung, bei der Frage der Geschäftsfähigkeit, immer wieder
muss ein Laie zuerst den Verdacht schöpfen, dass eine
geistige Erkrankung vorliegen könne — und wie schwer ist es
oft für den Fachmann zu einem sicheren Urteil zu kommen.
Wenn wir die Geisteskrankheiten unter dem Gesichts¬
punkte des Verkennens betrachten, so können wir zwei grosse
Gruppen unterscheiden. Zu der ersten Gruppe möchte ich
alle diejenigen Krankheiten rechnen, die auch im Verlauf so
wenig eklatante Symptome bieten, dass sie dauernd ver-
P Joh. Ambros. Barth, Leipzig 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
1356
kannt werden können, gleichviel in welchem Stadium sich die
psychische Störung befindet. Hierher gehören solche
Kranke, die sich an der Schwelle geistiger Gesundheit und
Krankheit befinden: die Psychopathen, die Haltlosen, die patho¬
logischen Lügner und Schwindler, die Imbezillen, speziell die
erethisch Imbezillen. Aber nicht nur jene Störungen der
Grenzgebiete sind es, die dauernd verkannt werden
können, sondern auch solche Geistesstörungen, die in allen
ihren Stadien ev. nur eine geringe Intensität erreichen, z. 13. die
„schleichende Form der Hebephrenie“ und die
„Zyklothymie“. v ,
Zu der zweiten Gruppe möchte ich alle diejenigen Krank¬
heiten zählen, bei welchen der V erlauf eine anfängliche \ er-
kennung korrigiert. Hier werden die Symptome so chai akte¬
ristische, dass die bestehende Krankheit erkannt werden muss.
Hierher kann der Beginn aller geistigen Störungen gehören.
Es ist in dem Rahmen dieses Vortrages nicht möglich, alle
diese Erkrankungen eingehender zu besprechen. So möchte
ich mich auf die Formen beschränken, die erfahrungsgemäss
sehr häufig verkannt werden.
Aus der ersten Gruppe greife ich die schleichende
Form der Hebephrenie und die Zyklothymie
heraus.
Bei ersterer treten die Krankheitserscheinungen ganz lang¬
sam und allmählich zutage. Gewöhnlich lassen sich die ersten
Anzeichen bis in die Pubertätszeit oder noch weiter zurück
verfolgen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch bei dieser
Form der Dementia praecox, welche im übrigen die gleiche
schlechte Prognose wie die anderen Formen derselben hat,
eines Tages Sinnestäuschungen oder Wahnideen oder kata¬
tonische Zeichen auftreten, aber häufig ist sie gerade dadurch
gekennzeichnet, dass alle stürmischeren Erscheinungen, welche
die Sachlage sofort klarlegen würden, fehlen. Ganz lang¬
sam tritt eine durchgreifende Veränderung in der Persön¬
lichkeit der Kranken ein. Ihre geistigen Fähigkeiten lassen
nach, das bisher vorhandene Interesse ebenso wie die Initia¬
tive erlöschen. Das Gefühlsleben wird in hohem Masse in
dem Sinne verändert, dass die Patienten allem gleich¬
gültig gegenüberstehen. Gerade diese Gleichgültigkeit, die
das Hauptcharakteristikum für die Endzustände der Dementia
praecox ist, tritt auch hier sehr deutlich zutage und bietet den
sichersten Wegweiser zur richtigen Diagnose. Sehr oft haben
die Kranken selbst ein Gefühl für die Veränderung ihrer ganzen
Persönlichkeit. Sie klagen dann, sie seien „krank im Gemüt“,
sie seien „anders wie die anderen“, sie „könnten gar nicht mehr
fröhlich sein wie die anderen“ usw. Ein Umstand, der zwar die
richtige Spur weist, dass es sich um eine Geisteskrankheit han¬
deln könne, der aber die Differentialdiagnose zwischen der
Hebephrenie und der Zyklothymie erst recht erschwert. Hier
entscheidet, abgesehen von der Dauer der Krankheit, dem völ¬
ligen Fehlen irgedwelcher manischer Züge, in allererster Linie
das Symptom der H e in m u n g, auf das ich später noch ein¬
gehend zu sprechen komme. Aber nicht nur in der Gleich-
Gültigkeit äussert sich die schleichende Hebephrenie. Die Kran¬
ken sind ausserdem ohne Grund meist in gedrückter oder flach
euphorischer Stimmung, sie werden oft in ihrem Gebahren auf¬
fallend, sie benehmen sich nicht, wie es erwachsenen Menschen
zukommt, sondern wie junge Menschen in den Flegeljahren
oder im Backfischalter. Die Kranken betragen sich albern.
Ihre Streiche und Gedanken haben das Gepräge des Läppischen.
Sie handeln, im Gegensatz zu früher, ohne Vorbedacht.
Der Sinn dessen, was sie tun, ist unverständlich, trägt den
Stempel des Unsinnigen, dem normalen Empfinden völlig Zu¬
widerlaufenden. Zur Erläuterung möchte ich Ihnen ein Bei¬
spiel kurz anführen. Der junge Mensch von 22 Jahren, um
den es sich hier handelt, war zur Beobachtung in der Irren¬
klinik. Derselbe lebte in guten Verhältnissen mit einem Ein¬
kommen von 125 M. monatlich und bekleidete eine Stellung als
Buchhalter. Ohne allen Grund, wie er selbst später an¬
gab, aus Rache über schlechte Behandlung, die ihm wider¬
fahren, stahl er seinem Prinzipal des Nachts Hühner aus dessen
Hühnerstall und verschleuderte sie um einen Spottpreis. Er
hatte sich in den Kopf gesetzt, eine Räuberbande zu organi¬
sieren, um die Guten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen.
Diese Handlungen und Ideen standen in so schreiendem Gegen¬
satz zu dem früheren Verhalten des jungen Menschen, es fehlte
so jegliches Motiv, dass hierdurch allein schon der verdacht 1
aufkam, der sich im Verlaufe der Untersuchung bestätigte, esl
könne sich um eine schleichende Hebephrenie handeln.
Manchmal gesellt sich zu den schon erwähnten Verände¬
rungen noch eine gewisse Ruhelosigkeit und Unstetigkeit, die -
nicht dem manischen Betätigungsdrang entsprechen. Sie treiben
dieKranken zu zw eck- und ziellosen Handlungen, für welche sie
keinerlei Erklärungen abgeben können. Kommen hierzu ausser
der Menschenscheu, dem unsozialen, auffallend zurück -
gezogenen Leben noch ganz leise Beeinträchtigungsideen, die
ia bei diesen Sonderlingen durchaus nicht immer der realen
Grundlage entbehren, dann wird die Diagnose leicht. Schwie¬
rigkeiten bereiten besonders die Fälle, wo nur eine gewisse
Gleichgültigkeit zu konstatieren ist. Diese Gleichgültigkeit darf
jedoch keine angeborene, von jeher bestehende, sie
muss eine erworbene sein. Wir hören dann, dass sie
sich langsam, von einem nicht immer genau zu bestimmenden
Zeitpunkt an, ohne äussere Veranlassung entwickelt, und dem
künftigen Leben ihren Stempel aufgedrückt hat. Wir finden
sie z. B. als einziges pathognomonisches Symptom bei hebe-
phren gewordenen Schülern. Wir hören dann, dass die früher
sehr begabten jungen Menschen allmählich in ihren Leistungen
ganz auffallend nachgelassen haben, ohne dass ein Grund da¬
für vorliegt. Alles ist ihnen gleichgültig, der früher vorhandene
Ehrgeiz, die Aktivität und Energie, sind dauernd verschwunden,
die Betreffenden machen einen auffallend stumpfen Eindruck,
nichts tangiert sie mehr. Oft kommen, wie K r a e p e 1 i n aus¬
führt, derartige Kranke überhaupt nicht in ärztliche Behand¬
lung,’ da die Veränderung von der Umgebung nicht als eine
eigentlich krankhafte, sondern nur als das Ergebnis einer un¬
glücklichen Entwicklung, vielleicht sogar auch einer Verschul¬
dung durch Charakterfehler betrachtet wird.
Noch viel schwieriger als die Diagnose der schleichenden
Hebephrenie ist in vielen Fällen die Erkennung der Zyklo¬
thymie, eine Bezeichnung für die leichteren Formen des
manisch depressiven Irreseins, die Kahl bäum in die Psy¬
chiatrie einführte. In neuerer Zeit hat Hecker (Zeitschr. f.
prakt. Aerzte, 1898, I) die Zyklothymie in einer kleinen Schrift
eingehend beschrieben 2). Ehe ich auf die Verkennungsmöglich¬
keiten der Zyklothymie eingehe, muss icht erst kurz die Sym¬
ptome skizzieren.
Ebenso wie beim manisch depressiven Irresein unterschei¬
den wir eine manische Phase, die Zeit der Erregung, und eine
depressive Phase, die Zeit der trauigen Verstimmung.
Ganz ebenso wie bei diesem sind die Symptome der Erregung
oder der Verstimmung nie ganz rein vorhanden. Sehr oft finden
wir bei der Verstimmung Zeichen der Erregung und umge¬
kehrt. Wenn z. B. ein deprimierter Kranker erklärt, die Ge¬
danken jagten sich in seinem Gehirn, wenn ein anderer depri¬
mierter Kranker in der tiefen Depression stundenlang mit
grossen Schritten umherläuft, oder wochenlang seine Decke in
kleine Fasern zerzupft, so sind das manische Züge, die der
Ideenflucht, resp. dem Betätigungsdrang entsprechen. Die Zei¬
ten der einzelnen Phasen brauchen durchaus nicht immer gleich
lang zu sein. Einer Zeit der Verstimmung kann sich eine solche
der Erregung oder der Gesundheit anschliessen. In buntem
Wechsel, kürzer oder länger, tage-, wachen- oder monatelang
dauernd, können dieseZeiten aufeinanderfolgen. Meist wird aber
wohl auf eine depressive Phase eine erregte folgen. Nicht selten,
speziell nach längerem Bestehen der Krankheit, werden die
gesunden Zeiten immer kürzer oder verschwänden ganz. An¬
dererseits kommen auch wieder Fälle vor, wo die eine — meist
die depressive Phase - — viel intensivere Störungen macht als
die andere. Doch werden sich bei genauerem Nachforschen
wohl immer auch Zeichen der erregten Zeit im Gefolge der
depressiven Phase finden lassen und ebenso, wie die periodische
Depression als zum manisch depressiven Irresein gehörig er¬
kannt w;orden ist, gehört die in gewissen Perioden auftretende
leichtere Verstimmung zur Zyklothymie. Die erregte Zeit
wird meist von den Kranken selbst nicht als krankhaft, sondern
nur als „Freude über die Gesundung“ gedeutet.
2) Demnächst erscheint von W i 1 m a n n s eine Schrift über
Zyklothymie in Volk man ns Sammlung klin. Vorträge.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Die Grundsymptome der Manie (den Betätigungsdrang,
die Erregbarkeit, die gehobene Stimmung) finden wir in abge¬
schwächter Form bei der manischen Phase in der Zyklothymie
wieder, ebenso wie die Grundsymptome der Depression: die
traurige Verstimmung und die psychomotorische Hemmung bei
der depressiven Phase.
Besprechen wir zuerst die erregte Zeit. Wie
äussert sich der Betätigungsdrang? Hier können natürlich
alle möglichen Gebiete affiziert sein. Die Kranken sind im
Gegensatz zu ihrem bisherigen Verhalten,
ausserordentlich unternehmungslustig, sie reisen viel und oft
ohne Grund, sie gehen viel in Gesellschaften, Konzerte, Theater,
sie treiben Sport, sie treten allen möglichen Vereinen bei, sie
erweisen jedem Beliebigen einen Dienst, auch ohne darum
gebeten worden zu sein. Sie sind sehr freigebig, machen
skrupellos Schulden, sie stehen früh auf, gehen spät zu
Bett, sie kennen kein Ermüdungsgefühl, sie sind ausser¬
ordentlich redegewandt und begehen Exzesse in venere und
baccho. Die Kranken legen grossen Wert auf ihre äussere Er¬
scheinung, sie haben Heirats- oder Ehescheidungsgedanken, sie
arbeiten oft ausserordentlich viel.
Auch die Erregbarkeit ist in der manischen Phase ge¬
steigert. Die Kranken sind ausserordentlich empfindlich, die
harmloseste Bemerkung verletzt sie, sie nörgeln und queru¬
lieren viel. Sie geraten andererseits schnell in eine ausser-
gewöhnlich heitere Stimmung, sie reagieren auf jede Anregung
intensiver als es der Norm entspricht.
Die Stimmung ist in der Zeit der Erregung meist eine ge¬
hobene. Die Patienten sind heiter, sorglos, hoffnungsfroh.
Keine traurige Vorstellung vermag ihnen die Heiterkeit zu
rauben. Vor allen Dingen aber hat diese vergnügte Stimmung
keinen positiven Grund; die Kranken sind lebensfroh und
manchmal überschäumend lustig, ohne dass sie von aussen her
irgend ein Umstand dazu veranlasst hätte. Ueberhaupt muss
bei all diesen oft ja auch physiologisch vorkommenden Symp¬
tomen das Hauptgewicht darauf gelegt werden, dass sie im
Gegensatz zu dem früheren psychischen Verhalten des
Kranken stehen und keinen triftigen Grund haben, da sie die
Aeusserung endogen entstehender krankhafter Vorgänge sind.
In der depressiven Phase haben wir vor allen Dingen die
Verstimmung. Die Patienten grübeln, hängen traurigen Vor¬
stellungen nach, sind sorgenvoll, hoffnungslos. Oft steigert sich
diese Verstimmung zur Verzweiflung, sodass die Kranken ernst¬
haft überlegen, ob sie diesem traurigen Dasein nicht besser ein
Ende machen sollen. Ebenso wie in der „erregten Zeit“ die
vergnügte Stimmung, hat diese traurige Verstimmung keine
Ursache, und wenn man auch noch so sehr bestrebt ist, einen
äusseren Grund hierfür aufzufinden, so steht dieser doch nie¬
mals im Einklang oder in einem richtigen Verhältnis zu der
Tiefe und Nachhaltigkeit der Verstimmung. Das Kardinalsym¬
ptom und oft differentialdiagnostisch ausschlaggebend, ist die
psychomotorischeHemmung. Entweder — und das
ist häufiger der Fall — kommt sie nur dem Kranken zum
Bewusstsein, oder sie offenbart sich auch in seinen Willens¬
handlungen. Die Hemmung macht sich im Gefühlsleben be¬
merkbar, die Kranken kommen sich gleichgültig, apathisch
und gefühllos vor, sie klagen darüber, dass sie keine Em¬
pfindung mehr für das Angenehme und Schöne, für das Pein¬
liche und Hässliche haben. Die Hemmung erstreckt sich oft
auch auf die intellektuellen Gebiete. Die Patienten haben das
Gefühl, als ob die Verstandeskräfte und das Gedächtnis ab¬
nähmen, und gerade das ist für die oft intellektuell sehr reg¬
samen und geistig bedürftigen Menschen eine grosse Qual.
Sie selbst finden und klagen, dass ihre Auffassung gestört sei,
sie lesen die Zeitung, ein Buch, und begreifen das Gelesene
nicht, sie verstehen die Vorgänge der Aussenwelt nicht recht
und können sie nicht wie gewohnt verarbeiten. Die Hemmung
erstreckt sich auch häufig auf die Willenssphäre und zeitigt
die Entschlussunfähigkeit, unter der die Patienten ebenfalls
ausserordentlich leiden. Der Umgebung gegenüber dokumen¬
tiert sich die Hemmung durch die Verlangsamung und Erschwe¬
rung aller Willenshandlungen. DieKranken sprechen schleppend,
stockend, verlegen, sie überlegen oft lange, bis sie das richtige
Wort finden. Das Aussehen der depressiven Zyklothymen ist
No. 28.
1357
ebenso gealteit, welk und matt, wie es in der erregten Zeit
jugendlich, turgeszent und lebhaft ist.
In der depressiven Phase besteht des ferneren ein intern
sives Krankheitsgefühl, das in der manischen Zeit häufig we¬
niger oder gar nicht ausgeprägt ist. Die Patienten fühlen sich
in ihrem Gemute verändert, wissen aber nicht, dass es sich um
eine K r a n k h e i t des Gemüts handelt. Oft halten sie nur die
Depression für krankhaft, oft fürchten sie sich noch mehr vor
der erregten Zeit.
All diese Zeichen, die ich Ihnen hier nur kurz skizzieren
konnte, kommen recht selten so reinlich geschieden vor wie
ich sie angeführt habe. Ich konnte Ihnen nur ein Schema
geben. In Wirklichkeit sind die einzelnen Symptome teils ver¬
stärkt, teils abgeschwächt und vor allen Dingen mischen sich
oft die der manischen und depressiven Phase.
In der Natur der Störung liegt es schon, dass die Zyklo¬
thymie häufig verkannt wird. Auch bei ihr finden wir Ueber-
gänge in die Gesundheitsbreite, sodass wir oft nicht imstande
sein werden, zu entscheiden, ob es sich um eine leichte Zyklo¬
thymie handelt, oder ob die Stimmungsschwankungen Launen
sind. Meist werden die Zyklothymen nur in der depressiven
Phase dem Arzte zu Gesicht kommen. Da Symptome, die wir
aJs neurasthenische oder hysterische zu bezeichnen gewohnt
sind, sich sehr oft der Zyklothymie beigesellen, so liegt es
nahe, auf diese nebensächlichen Symptome das Hauptgewicht
zu legen. Ganz besonders oft werden daher die Zyklothymen
für Neurastheniker gehalten, und so ist es wohl wichtig, auf
die differentialdiagnostischen Momente etwas genauer einzu¬
gehen. Obgleich wir die Aetiologie der Zyklothymie nicht
kennen, so werden ihr doch oft, wenn sie für Neurasthenie ge¬
halten wird, dieselben Kausalmomente zugeschoben, wie dieser.
In allererster Linie die erbliche Belastung, ferner starke Ge¬
mütsbewegungen, geistige Ueberanstrengungen, Blut- und
Säfteverluste, speziell während der Geburt und des Wochen¬
betts.
Als Kardinalsymptom der Neurasthenie gilt die reizbare
Schwäche: die abnorme Erregbarkeit und Erschöpfbarkeit —
zwei Symptome, die wir ebenso im Verlaufe der Zyklothymie,
besonders in deren Mischzuständen antreffen. Die Erreg¬
barkeit ist dann identisch mit der manischen Erregbarkeit,
die sich bei beiden oft als Empfindlichkeit und Reizbarkeit äussert!
Die Erschöpfbarkeit entspricht dem Symptom der Hemmung,
nur dass mit der raschen Ermüdung noch die Unfähigkeit, sich
zu irgend etwas aufzuraffen, verbunden ist. Die intellektuellen
Fähigkeiten sind hier wie dort intakt, wenn auch subjektiv
über Gedächtnisschwäche und geistige Leere geklagt wird.
Das eine Mal sind es Zeichen der Erschöpfung, das andere Mal
Zeichen der Hemmung. Bei beiden Krankheiten finden wir die
trübe Stimmung.
Bei der Neurasthenie wie bei der Zyklothymie zeigen sich
massenhafte hypochondrische Beschwerden, Kopfschmerzen,
Schlaflosigkeit, Schwindelgefühle, Magen- und Verdauungsbe¬
schwerden usf. Auch die körperlichen Zeichen der Neurasthenie
vergesellschaften sich so oft mit der Zyklothymie, dass sie diffe¬
rentialdiagnostisch meistens nicht zu verwerten sind.
So können eigentlich alle Symptome der Neurasthenie bei
der Zyklothymie Vorkommen und verleiten oft zu deren
Verkennung. Sicherlich gibt es auch viele Fälle, die hart
an der Grenze zwischen Neurasthenie und Zyklothymie stehen,
andererseit kennen wir aber doch eine Reihe von Symptomen,
die uns die Zyklothymie nicht verkenne lassen dürfen. Meist
wird ja nur die Zyklothymie in der depressiven Phase für Neu¬
rasthenie gehalten werden und wir müssen nun die Faktoren
erwägen, die unbedingt für Zyklothymie sprechen.
Vor aPen. Hingen kommt der Umstand in Betracht, dass
schon häufig ähnliche, vielleicht nicht so schwere depressive Zu¬
stände bestanden haben, auf die ev., wenn auch noch so leichte
Zeiten der Erregung folgten. Wir werden also auf die häufigen
Schwankungen in der Stimmung, und dementsprechend in der
ganzen Lebensführung, grosses Gewicht legen müssen. Ein
zweites und wohl das wichtigste differentialdiagnostische
Symptom ist das der Hemmung. Die Klagen der Kranken sind
so typische, stehen meist so im Vordergrund, die Hemmung
wird als etwas dem eigenen Wesen so Fremdes empfunden,
4
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
358
dass die diesbezüglichen Klagen oft schon allein die Fährte
weisen, im Sinne der Zyklothymie weiter zu forschen.
Des ferneren fehlt meist bei der Zyklothymie die Ursache
für den Ausbruch einer so schweren Erkrankung und ist eine
Ursache vorhanden, so steht sie mit der Intensität der Er¬
krankung nicht im Einklang. Die Zyklothymen sind längst nicht
so suggestibel wie die Neurastheniker, in sehr vielen Fällen ist
es nicht möglich, jene von ihren Beschwerden durch irgend¬
welche Zerstreuungen abzulenken, man kann sie nicht für
längere Zeit aus ihrer traurigen Verstimmung herausrütteln.
Das Krankheitsgefühl und die Machtlosigkeit des eigenen Wil¬
lens, über die Gemütskrankheit Herr zu werden, ebenso wie
die andauernd trübe, hoffnungslose Stimmung, ist meist bei
bei den Zyklothymen viel ausgeprägter. Sie empfinden die
Krankheit als eine durchgreifende Veränderung ihres ganzen
Wesens, der sie ratlos und oft verzweifelt gegenüberstehen.
Auch der Verlauf kann zur richtigen Diagnose führen. Oft
werden die Zyklothymen überraschend schnell, von einem lag
zum anderen völlig gesund, oder aber trotz der besten Pflege
bleibt der Zustand wochen-, monate-, ja jahrelang derselbe.
Lassen Sie mich als Vertreterin der 2. Gruppe, zu der wir
alle diejenigen Krankheiten zählen wollen, bei welchen durch
den Verlauf eine Verkennung nicht mehr möglich ist, die Para¬
lyse besprechen. Es ist eine alte Erfahrung, dass die Paralyse,
die praktisch wichtigste Geisteskrankheit, ausserordentlich
häufig verkannt wird. Meist wird die beginnende Paralyse
für eine schwere Neurasthenie gehalten, und erst der Verlauf
ergibt die Verkennung. Zweifellos könnte oft die richtige
Diagnose viel früher gestellt werden, wenn nur der Ver-
d a c h tauf Paralyse auftauchte. Zu den frühesten psychischen
Symptomen der Paralyse gehört vor allen Dingen eine durch¬
greifende Charakterveränderung. Die Betreffenden
werden im Gegensatz zu früher plötzlich unmotiviert reizbar,
sehr jähzornig, unstet, und bei genauer Beobachtung kann man
schon häufig in diesen Frühstadien eine leichte Urteilsschwäche
feststellen. Meist macht sich diese auf allen Gebieten
geltend, und da die Kranken oft selbst ein vages Ge¬
fühl dafür haben, verlieren sie ihr Selbstvertrauen. Gerade
die durch die Urteilsschwäche gezeitigte Kritiklosig¬
keit wird den Paralytikern in allen ihren Handlungen
so sehr gefährlich. Hie und da kann man auch schon in den
frühesten Stadien eine leichte Gedächtnisschwäche nachweisen.
Diese 4 Symptome: durchgreifende Charakterveränderung,
leichte Urteils- und Gedächtnisschwäche, eine gewisse Ruhe¬
losigkeit sollten bei Menschen im mittleren Lebens¬
alter immer den Verdacht auf Paralyse erwecken. Früher
hatte man kein Mittel an der Hand, um eine Paralyse im Be¬
ginn sicher zu konstatieren, wenn — was nicht allzuselten vor¬
kommt — jegliches körperliche Zeichen (Pupillenstarre, ge¬
steigerte Patellarsehnenreflexe, Hypalgesie, Sprachstörung)
fehlte. In neuester Zeit sind wir durch die Lumbalpunk¬
tion (cf. N i s s 1 Zentralbl. f. Nervenheilk. und Psych. April
1904) in den Stand gesetzt, eine Paralyse ohne jedes körper¬
liche Zeichen mit Sicherheit zu erkennen. Auf die eminente
Bedeutung dieser neuesten Untersuchungsmethode brauche ich
wohl nicht des näheren hinzuweisen. Jetzt kann sich der Arzt
bei dem leisesten Verdacht auf Paralyse mittels der Lum¬
balpunktion eine absolut sichere Diagnose durch einen leichten
und harmlosen Eingriff verschaffen. Ebenso einfach die Lum¬
balpunktion ist, ebenso wichtig ist sie auch. Wir haben in den
letzten Jahren gelernt, die sich in den Symptomen so sehr
ähnlichen Krankheitsbilder: Paralyse, Hirnlues und Arterio¬
sklerose, klinisch zu trennen. Oft versagen jedoch die rein
klinischen Merkmale, aber auch hier gibt die Lumbalpunktion
sichere Auskunft. Bei der Arteriosklerose finden wir in der
zentrifugierten und entsprechend behandelten Zerebrospinal¬
flüssigkeit mikroskopisch keine oder nur 1 — 2, bei der Lues bis
zu 17 und bei der Paralyse ausserordentlich viele, 40, 50 und
noch mehr lymphozytäre Elemente im Gesichtsfeld. Bei den
132 Punktionen, die in der Irrenklinik in Heidelberg an 102 Para¬
lytikern ausgeführt wurden, fand sich stets der gleiche ein¬
deutige Befund. Oft war die Lumbalpunktion das einzige
Kriterium, das sich immer als richtig erwies, zur Erkennung der
bestehenden Psychose. Nur in 2 Fällen versagt die Lumbal¬
punktion: wenn der Patient früher eine Lues durchgemacht
hat — auch dann finden sich wenige lymphozytäre Elemente
im Gesichtsfeld, sodass Arteriosklerose und Lues nicht zu tren¬
nen sind, und zweitens bei entzündlichen Erscheinungen an den
Meningen. Hier finden wir ebensoviel Elemente wie bei der
Paralyse. Allein nicht nur für die Diagnostik spielt die Lumbal¬
punktion eine ausserordentlich wichtige Rolle, sondern auch
für Therapie und Prognose. Der Paralytiker ist unrettbar dem
Tode verfallen, der Hirnluetiker kann durch eine Schmierkur
ganz bedeutend gebessert, ja sogar manchmal geheilt werden,
und beim Arteriosklerotiker kann die Krankheit mit einer mehr
oder weniger weitgehenden und langdauernden Besserung ver¬
laufen.
Mein Bestreben war, Ihnen in Kürze einen Ueberblick zu
geben, wie grosse Kreise eine jede geistige Erkrankung und
somit naturgemäss auch ihre Verkennung zieht. Bei sehr vielen
anderen Erkrankungen, die irgend ein Organ treffen, ist das
betreffende Individuum allein geschädigt, es allein hat darunter
zu leiden und die Folgen zu tragen. Und wenn auch, wie bei
den Infektionskrankheiten, oft viele unter der Erkrankung des
einen zu leiden haben, so ist es doch stets möglich zu sagen,
dass der Betreffende krank ist. Bei den Geisteskrankheiten
ist aber gerade die Erkennung des Krankseins oft un¬
endlich schwer, und doch doppelt wichtig, da nicht nur das
Individuum, sondern die Allgemeinheit betroffen
wird, wenn nicht rechtzeitig Vorkehrungen getroffen werden,
um die Ausflüsse eines kranken Gehirns unschädlich zu machen.
Zur Entstehung und Verhütung chronischer Diphtherie.
Von L. G r ü n w a 1 d in Bad Reichenhall und München.
Zwei Erlebnisse im Laufe eines halben Jahres und die
Uebereinstimmung einiger charakteristischer Züge ihres Ver¬
laufes mit Beobachtungen von anderer Seite geben mir Anlass,
die Aufmerksamkeit auf diese Affektion zu lenken, die wahr¬
scheinlich doch häufiger sein dürfte, als die bisher noch sehr
spärlichen Veröffentlichungen vermuten lassen.
Im ganzen sind nämlich bisher nur 6 Fälle bekannt ge¬
worden (von Cozzolino, Gassicourt, Stam m, Con-
cetti, Jessen und N e u f e 1 d), sofern man sich darauf be¬
schränkt, diejenigen Erkrankungen, als deren Erreger der
Löffler sehe Bazillus betrachtet werden kann, hierherzu¬
rechnen.
Von E. N e i s s e r ist ferner eine kleine Serie eigentüm¬
licher chronischer Entzündungen, vom Nasenrachenraum ab¬
steigend bis zum Kehlkopf, beschrieben worden, die sich durch
spärliches eintrocknendes Sekret auf einer eher atrophischen
Schleimhaut ohne tiefergreifende Veränderungen und vor allem
durch den über Jahr und Tag anhaltenden Befund teils viru¬
lenter, teils giftiger Diphtheriebazillen auszeichneten. Da aber
nur in zweien dieser Fälle das Blut Antitoxingehalt aufwies,
da wir ferner wissen, dass hochvirulente Bazillen schon oft
inals auf normalen oder nur wenig veränderten Schleimhäuten
sich ganz gesund fühlender Personen gefunden worden sind,
ist nicht von der Hand zu weisen, dass in diesen Fällen die
spezifischen Bazillen keine ätiologische, sondern nur eine sapro-
phytische Rolle spielten; ebenso wie in dem jüngsten, durch
Schilling berichteten Fall von Rhinosklerom mit Diph¬
theriebazillenbefund.
Die hohe Gefährlichkeit gerade dieser klinisch nicht er¬
kennbaren Bazillenträger für ihre Umgebung ist ja erwiesen,
braucht aber an der gegebenen Auffassung nichts zu ändern.
Anders steht es mit denjenigen Fällen, die man als chro¬
nische Erkrankung durch Diphtheriebazillen deswegen auf¬
fassen darf, weil, bei aller klinischen Verschiedenheit, es sich
immer um akuten Beginn und, zwar protrahierten, aber doch
absehbaren Verlauf, in zeitlichem Konnex mit positiven und
negativen Bazillenbefunden, handelte.
Bemerkenswerterweise gehören mehrere der einschlägigen
Fälle der von v. Behring als diphtheroid bezeichneten, vom
gewöhnlichen Bilde diphtherischer Entzündungen stark ab¬
weichenden Form (Geschwüre, Infiltrate etc.) an und bieten in¬
folgedessen wesentliche Schwierigkeiten für die Diagnose, da¬
mit aber auch für rechtzeitige und richtige Behandlung.
Dieses, auch ätiologisch nicht unwichtige Moment machte
sich ganz besonders in meinem ersten Falle geltend:
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Ein 49 jähriger, sehr kräftiger Herr erkrankte im März 1905 an
influcnzaähnlichen Erscheinungen, besonders einem sehr heftigen,
mehrere Wochen anhaltenden eitrigen Nasenkatarrh, der aber spon¬
tan verschwand, während gleichzeitig entstandene starke Halsbe¬
schwerden mit in die Ohren ausstrahlenden Schmerzen dauernd
blieben. Die Halsaffektion wurde von 2 Aerzten nacheinander für
sekundärsyphilitisch erklärt, mit häufig wiederholten Aetzungen, Jod¬
kali und später Hg behandelt. Der Patient, dessen starke Beschwer¬
den bei grosser Mattigkeit und einem Gewichtsverlust von 27 Pfund
anhielten, der sich aber keiner Infektion bewusst war, stellte sich am
6. VII. 05, also 4 Monate nach Beginn der Erkrankung, vor.
An dem muskulösen und immer noch gut genährten Patienten
Hess sich am ganzen übrigen Körper nichts Abnormes (speziell kein
Exanthem) finden, als einige kleine Inguinaldrüsen, die sich durch
Reizung beim Reiten wohl erklären Hessen.
Im Rachen war die Umrahmung der Mandeln und des Zäpf¬
chens ziemlich stark gerötet; die ganze eingeschlossene Partie zeigte
ein leicht höckerige, offenbar epithelentblösste Oberfläche mit opakem,
besonders gegen den oberen Rand hin schmutzigweisslichem Belage,
der leicht, ohne Blutung abgezogen werden konnte und nur aus Leuko¬
zyten ohne Fibrinbeimengung bestand. Die übrigen sichtbaren
Schleimhäute boten nichts Abnormes dar; submaxillar waren einige
kleine, kaum schmerzhafte Drüsen fühlbar.
Zunächst war schon aus dem Anblick klar, dass es sich
nicht um Syphilis handle; die naheliegende Vermutung, dass
eine ursprünglich vorhandene sekundäre Affektion durch „zu
gute“ Behandlung zu einem hartnäckigen, aber indifferenten
Lokalprozess umgewandelt worden sei, wie man das ja leider
immer wieder erlebt, war angesichts mangelnden Exanthems
und bei ziemlich schwerem Allgemeinzustand kaum haltbar
und wurde nach einigen Tagen ganz verworfen, nachdem
ruhiges Zuwarten unter Aussetzen jeder Art von Behandlung
gar keine Besserung erkennen liess.
Dagegen wurde die Untersuchung bald dadurch in die
richtige Bahn gelenkt, dass wiederholte mikroskopische Unter¬
suchungen des Abstrichs endlich eine vereinzelte Gruppe plum¬
per, den Löffler sehen ähnlicher Bazillen auffinden liess.
Die bakteriologische Untersuchung (Frey und
König- München) ergab einige spärliche Kolonien wohl cha¬
rakterisierter Diphtheriebazillen neben wenigen Strepto- und
Staphylokokken.
Daraufhin wurden vom 15.— 24. VII. vier Injektionen Behring-
schen Serums, I — IV, vorgenommen; während dieser Zeit wurden die
Beläge weniger scharf abgegrenzt, die Granulationen flacher, das
Allgemeinbefinden hob sich wenigstens etwas.
Aber ein wesentlicher Fortschritt war nicht zu verzeichnen, so
dass vom 28. VII. ab Bepulverungen der Fläche mit Methylenblau
vorgenGmmen wurden, worauf bald völlige Reizlosigkeit eintrat. —
Unterdessen entstand eine rheumatische Kehlkopfreizung, wogegen
zweimalige Einreibung einer Hg-Belladonnasalbe verordnet wurde.
Vier Tage darauf hatten sich die Beläge verstärkt und bis auf
die Vorderfläche der Uvula verbreitet: Es stellte sich heraus, dass
infolge Missverständnisses die Salbe 2 mal täglich angewendet worden
war. Es wurde neuerlich Chlorkali zu Ausspülungen und später Be-
pulverung mit einem reizlosen und etwas deckenden Pulver an-
geoi dnei, worauf bis zum 21. VIII. wesentliche Besserung eintrat: die
Mattigkeit war endlich nahezu behoben, das Gewicht um 2 Kilo
vermehrt und lokal der grösste Teil der Fläche nur mehr gerötet,
ziemlich glatt und nur stellenweise dünne belegt, dabei keine sub¬
jektiven Beschwerden mehr.
Eine am 17. VIII. vorgenommene bakteriologische Untersuchung
Hess gar keine pathogenen Mikroben, nur einige saprophytische Mund-
bakterien finden, so dass Pat. am 23. VIII. mit fast ganz gereinigtem,
nur vereinzelte weissliche Trübungen aufweisendem Rachen ent¬
lassen werden konnte.
Aber erst nach einem Monate ist dann auswärts die volle Wieder¬
kehr normaler Verhältnisse festgestellt worden.
Dass in diesem Falle den Löffler sehen Bazillen die
Hauptrolle in der Aetiologie zukam, ist nach der Koinzidenz
der klinischen und bakteriologischen Befunde wohl kaum zu be¬
zweifeln; der Misserfolg der Serotherapie ist nach so langer
\ erlaufszeit selbstverständlich und wurde auch nicht anders
ervaitet; wir hatten uns nur für das Allgemeinbefinden etwas
erhofft.
Aber natürlich spricht schon der abnorme Verlauf für die
Geltung anderweitiger Ursachen, deren eine in sehr instruk¬
tiver Weise durch die rapide Verschlechterung im Gefolge der
leichten Hg-Stomatitis zutage tritt. Es ist also mindestens sehr
wahrscheinlich, dass die unangebrachte antisyphilitische Thera¬
pie genau in derselben Weise zur Konservierung des lokalen
Entzündungsprozesses beigetragen hat, wie man das nicht zu
selten bei wirklichen syphilitischen Papeln erlebt, an deren
1359
Stelle bei protahierter Hg-Einwirkung dauernde Epithelschädi¬
gungen und rezidivierende Beläge treten können, bis endlich
eine verständige Hand den Circulus vitiosus unterbricht.
Dazu xommen zwei weitere Momente, die wir auch in
anderen Fällen wiederfinden: Zunächst eine Herabsetzung der
Widerstandsfähigkeit des Organismus, bei Jessen durch ein
voraufgehendes Gesichtserysipel, bei N e u f e 1 d durch eine
Kohlenoxydvergiftung, in meinem Fall wahrscheinlich durch
Mischinfektion, die sich ausser durch die Strepto- und Sta-
phylokokkenbefunde besonders in dem heftigen eitrigen (nicht
fibrinösen!) Nasenkatarrh aussprach, bedingt.
Wenn unter diesen und möglicherweise noch unbekannten
anderen Umständen (vielleicht bazillär-biologischer Art) schon
eine Konsolidierung der Entzündung begonnen hatte, so scheint
doch die richtige Verschleppung der Prozesse erst durch
therapeutisches Maltraitement • stattgefunden zu haben. In
obigem Falle ist ja der wohltätige Einfluss vollständiger Scho¬
nung des Rachens, der vorher ausser durch die Hg-Einwirkung
auch durch fleissige Aetzungen und Pinselungen mechanisch
gereizt worden war, unverkennbar; bei Neufeld hört man
von Milchsäurepinselungen, und Jessen, dessen Therapie
eine wahre Speisenkarte von Aetzmitteln darstellte (Argentum
mtricum, Liquor ferri sesquichl., Natr. sozojodol., Hg. cyanat.,
Milchsäure, sogar eine 14 tägige Hg-Kur), war sehr erstaunt,
dass eine „Naturheilmethode“, nämlich Salzwassergurgelungen,
am günstigsten wirkte. Die gleiche Erfahrung hatten schon
Stamm und C o n c e 1 1 i gemacht und auch in meinem zwei¬
ten Fall scheint die eigentliche Verschleppung des Zustandes
erst duich die seitens des behandelnden Arztes fleissig geübte
Lokaltherapie bewirkt worden zu sein, während die primäre
Ausbildung der Tendenz zum Chronischwerden wahrscheinlich
darauf zurückzuführen ist, dass die Erkrankung im Anfänge
sehi leicht war und der Hausarzt infolgedessen zunächst keine
Seruminjektion anwandte. Natürlich heilen und heilten ja tau¬
sende von Fällen in akutem Verlaufe ohne Serumtherapie;
wenn wir uns aber nicht wundern, dass zu spät und daher
wirkungslos erfolgende Serumanwendung nicht mehr vor töd¬
lichem Ausgang schützt, ist es wohl möglich, ja sogar wahr¬
scheinlich, dass in all unseren Fällen rechtzeitige Injektion die
Neigung zur Chronizität unterbrochen hätte, sowie sie sonst
die Neigung zur Malignität unterbricht.
Bezüglich der Frage der Verschleppung durch lokale Rei¬
zung will ich nur noch bemerken, dass auch in dem zweit¬
erwähnten Falle vollkommene Schonung bald von guter Wir¬
kung war.
Nun kann man zwar kaum behaupten, dass wir nach den
jetzt gesammelten Erfahrungen bereits darüber im klaren
wären, warum eine Erkrankung, die sonst zwar nicht zyklisch,
aber doch ziemlich gleichmässig akut abzulaufen pflegt, einige-
male eine Tendenz zur Verschleppung zeigt, der wir mit der
Annahme geschwächter individueller Reaktion (gleichzeitige
anderweitige Erkrankung, Mischinfektion) doch nur ver¬
mutungsweise gerecht werden können. Vielleicht werden wir
durch bakteriologische Untersuchungen im Frühstadium einmal
hierüber orientiert werden.
Aber über die Gründe, die aus der blossen Tendenz end¬
lich eine wirkliche Verschleppung werden lassen, sind wir jetzt '
unterrichtet.
Diese sind:
1. die Unterlassung wirksamer Kausaltherapie (Serum) im
Anfänge der Erkrankung,
2. die Anwendung lokaler oder gar allgemeiner Mittel (Hg),
welche einen Reizungszustand zu unterhalten oder die geringe
Heilungstendenz zu lähmen imstande sind.
Daraus ergibt sich ohne weiteres, was wir zur Verhütung,
eventuell Behebung der Verschleppung tun können.
Wenn auch das, im Anfänge bereits nicht diphtherieähnliche
Bild, etwa noch dazu bei leichten Allgemeinerscheinungen, eine
richtige Erkennung der Aetiologie und damit eine rechtzeitige
wirksame Behandlung unmöglich machen kann, so ist doch die,
unter unklaren Verhältnissen jederzeit empfehlenswerte Mass¬
nahme ruhigen Zuwartens hier, wie bei allen anderen durch
Polypragmasie wohlkonservierten Prozessen, allein schon ge¬
eignet, die Heilung anzubahnen.
4*
No. 28.
Ueber Lippen- resp. Mundwasser-Ekzeme.
Von Dr. Q a 1 ew s k y - Dresden.
In zwei Publikationen hat N e i s s e r in den Jahren 1898
und 1902 *) auf die Ekzeme, die die Mundoffnung umgebend,
die Haut der Ober- und Unterlippe, das Kinn und dm an¬
grenzenden Wangenpartien ergreifen aufmerksam gemacht.
Neisser schildert die Ekzeme als juckende leicht schup¬
pende, oberflächliche Erkrankung der Haut; die Haut ist g
rötet und geschwollen, die Lippenschleimhaut gespannt schup¬
pend und mit Rhagaden versehen sodass jede Bewegung beim
Sprechen, Essen usw. schmerzhaft wird. Neisser tat dann
auf die Heilbarkeit dieser Ekzeme hingewiesen, sowie man d e
Mundwässer weglässt, und hat als Ursache derselben die
ätherischen Oele, speziell das Oleum menthae pip. und das
Oleum caryophyll. dafür verantwortlich gemacht, beit de
Jahre 1902, also seit der letzten Publikation Neisser s, habe
ich dieser Erkrankung ganz besondere Beachtung geschenkt,
und ich möchte hier kurz üebr 16 Fälle derartiger Erkrankunge
nach dem Gebrauch verschiedener Mundwasser, Zahnpu
und Pasten berichten. In allen 16 Fällen handelte es sich, ent¬
sprechend der Neisser sehen Beschreibung, um mehr oder
weniger schuppende Ekzeme der Mundöffnung, Kinn, Obei-
und Unterlippe; die Mundwinkel, bis hinab in die
Labiomentalf alten , waren erkrankt, die Haut war gerötet und
schuppend, in den Mundwinkeln entstanden zahlreiche Rhaga¬
den, das Lippenrot selbst war gespannt, schuppend, mit Rha-
gaden versehen und schmerzhaft. Sehr oft war die Ober¬
lippe stark geschwollen und ebenfalls bei jeder Bewegut g
schmerzhaft. Das Bild dieser Ekzeme ist, na^en^cl^,w^nn ^
sich von einem sonst ganz gesunden Gesicht abhebt, ein so
typisches, dass jeder auf den ersten Blick die Diagnose stellen
kann. Es sind dies die reinen Mundekzeme wie sie auf einer
sehr stark empfindlichen Haut durch den Gebrauch der Mund¬
wässer entstehen können. Ganz besonders empfindlich sind
aber nach meiner Erfahrung Patienten mit allgemeinem sebor¬
rhoischem Status, und sie sind es, die das Hauptkontingent
zu diesen Mundekzemen stellen. Fast alle diese Patienten
zeigen mehr oder weniger leichte seborrhoische Stellen m
Gesichte und man sieht, wie diese seborrhoischen Stellen unter
der Reizung des herabfliessenden Mundwassers exazerbieren
und sich entzünden. In dritter Reihe finden wir diese Mund¬
ekzeme bei Personen mit allgemeiner ekzematöser Diathese,
bei welchen das Mundwasser nur als äusseres lokales Reiz¬
mittel für die zum Ekzem neigende Haut gilt. Die Behandlung
dieser Ekzeme ist eine denkbar einfache, sobald das reizende
Agens wegbleibt; es gelingt dann stets unter milden Salben in
unverhältnismässig kurzer Zeit das Ekzem zu h®j!en*
besten hat sich mir für diese Mundekzeme die milde
Zinc 1,0, Wismut 1,0, Unguentum Simplex, Unguentum leniens
aa 10,0-salbe, zum Schluss mit Liquor carboms detergens 60,5
bis 1,0), bewährt. , ,
Sehen wir uns die 16 Fälle von Mundwasserekzemen an
so sind es folgende Mundwässer, Zahnpulver und Pasten, nach
welchen ich Ekzeme beobachtet habe:
Bergmann sehe Zahnpasta, Kosmin, Kosmodont, Gdo ,
Sanitol, Stomatol, Eau dentrifrice de Botot, drei von zwei hie¬
sigen Zahnärzten und von einer hiesigen Apotheke zusammen¬
gestellte Mundwässer, das in den Apotheken vorrätige Piettei-
minzzahnpulver, sowie ein aus München stammendes Zahn¬
pulver (mit Salol). , ..
Um einen Ueberblick zu bekommen, was bei diesen Mundwassern
als schädliches Agens wirken kann, möchte ich kurz die Zusammen¬
setzung, wie sie analytisch nachgewiesen ist ), für die verschiedenen
Mundwässer und Zahnpasten geben: / , , , . „ , .
1. Kosmodont-Mundwasser (nach Angaben der Fabi 1-
kanten und Untersuchung von Aufrecht in der Pharmaz. Zentral¬
zeitung No. 9): Salol, Thymol, Spirit, sapon., Pfefferminzol
2 Kosmin (Hager: Handb. d. pharm. Praxis II, 38UL Kos¬
min enthält Formaldehyd, Myrrhen- und Ratanhiaextrakt, Saccharin,
Pfefferminzöl und Geraniumöl in verdünntem Weingeist. Out¬
recht.)
*\ a Neisser: Lippenekzeme und Mundwässer. Therapeut.
Mnnatsh 1898 Februar, und: Lippenekzeme und Mundwässer, ms-
besonctere Odolmundwasser. Allgem. med. Zentralst* 1902 No 62.
M Da es sich meistens um Geheimmittel handelt, ist für diese
Analysen natürlich eine absolute Sicherheit nicht anzunehmen.
3. Odol2): Salol 3,5, Alkohol 90,0, Aqu. dest. 4,0, Saccharin 0,_,
Ol. menthae pip., anisi, foeniculi, caryophyll., cinnamomii. (Analyse
v. Naegeli-Ackerblo m.) ..
4. Sanitol (ein amerikanisches Präparat) enthalt: Borsaui e,
Formaldehyd, Salol, freie Salizylsäure und freies Phenol (wahrschein¬
lich beide durch Zersetzung des Salols entstanden), Saccharinnatrium.
Als Parfüm: Menthol, Pfefferminzöl, Lavendelöl etc.
5. Stomatol (Hager: Handb. d. pharm. Praxis II, 1030) .
Mischung von 4 Teilen Terpineol, 2 Teilen Seife, 45 1 eilen Alkohol,
2 Teilen aromatischer Stoffe, 5 Teilen Glyzerin und 42 Teilen W asser.
6. Aqua dentrifricia B o t o t i [Eau de B o t o tj.
(Hager- Handb. d. pharm. Praxis I, 667): Rp. Caryophyllorum,
Corticis Cinnamomii, Fructus Anisi aa 30,0, Coccionellae 20,0, Spiritus
(90 proz.) 2000,0. — Nach 8 tägigem Stehen filtriert man und lost Ulei
Menthae piperit. 15,0. H „ . nV.~rrn
7. Bergmanns Zahnpasta (Hager: Handb. d. pharm.
Praxis 11 840)- 50 Teile feine Oelseife und 25 Teile weisser Zucker
werden in Weingeist von 40 Proz. bei gelinder Wärme gelost, etwas
Pfefferminzöl nebst wenig Anilinrot hinzugesetzt und in eine Form
ausgegossen. (W i 1 1 s t e i n, Analyt.) .
8. Die Zahnpulver enthielten vor allem Calc. carbomca, Schlemm¬
kreide, Ossa sepiae etc., Ol. menthae pip.; das eine Zahnpulver
ausserdem Salol und Ol. menthae pip.; es ist das Zahnpulver, welches
ich bei Versuch I benützt habe. _
9. Die Mundwässer der beiden Zahnärzte enthielten beide
Pfefferminzöl, das Mundwasser des einen ausserdem Arnikatinktur,
Oleum gaultheriae und Oleum cinnamomii, das Mundwasser der Apo¬
theke bestand insbesondere aus Benzoetinktur, Pfefferminzol, Bayol,
Nelkenöl, Salol etc. . , . , .
Fassen wir diese Präparate zusammen, so findet sich in
den meisten der Mundwässer, Pulver und Pasten, Oleum
menthae (Sanitol, Odol, Stomatol, Kosmin, Kosmodont, B e r g-
m an n sehe Zahnpasta, Zahnpulver etc.) und eine Reihe
anderer Oele, die wie das Nelkenöl zweifellos reizende
Substanzen darstellen. Es findet sich ausserdem in dem
einen Mundwasser Arnikatinktur, die wir als starkes haut¬
reizendes Mittel bei besonders empfindlichen Personen kennen,
Salol das im Munde bei Zusatz von Seife vielleicht in Salizyl und
Phenol zerfällt und dann reizend wirkt, das sicherlich reizende
Terpineol, Formaldehyd (Sanitol, Kosmin), von dem wir eben¬
falls wissen, dass es bei empfindlichen Personen Dermatitis
hervorruien kann, Seife und Seifenspiritus, die durch Abspal¬
tung von Alkali Reizungen der Mundschleimhaut und der um¬
gebenden Hautpartien hervorrufen können. Um nun dahinter
zu kommen, welche Stoffe die eigentlich reizenden sind, habe
ich eine Reihe von Versuchen angestellt, die ich hier kurz
wiedergeben will. ,
1 In einem Falle von Mundekzem, in welchem dasselbe ver¬
anlasst war durch Zahnpulver mit Salol und Pfefferminz, liess ich das¬
selbe Zahnpulver ohne Pfefferminz hersteilen, behandelte das Ekzem
bis es abheilte und gab nebenbei das pfefferminzlose Zahnpulver; nach
einiger Zeit wurde versuchsweise das pfefferminzhaltige alte Zahn¬
pulver gegeben und sofort brach das Ekzem wieder von neuem aus,
in diesem Falle war also zweifellos das Pfefferminzöl das reizende
Agens.
2. In einer Reihe von Fällen habe ich sämtliche Mundwässer
weggelassen, die Patienten nur mit Schlemmkreide ohne Pfefferminz
den Mund putzen lassen und dabei stets ein schnelles Abheilen des
Ekzems erzielt.
3 In einem dritten Falle, in welchem Odol ein starkes Mund-
ekzem hervorgerufen hatte, gab ich hinterher Kosmin, auch dieses
bewirkte wieder ein starkes Mundekzem; erst als ich nur Schlemm¬
kreide verordnete, heilte das Ekzem ab.
4. In einem Fall, in welchem Odol ein starkes Mundekzem ver¬
ursacht hatte, bewirkte ein nur minimale Mengen von Pfefferminzöl
enthaltendes mildes Odol kein Ekzem.
5. In einem Falle, in welchem nach langem Gebrauch von Ouoi
mit Pfefferminzöl sich ein Ekzem entwickelt hatte, brachte auch das
obige annähernd pfefferminzfreie Odol Reizung.
6. In einem Fall von Odolekzem brachte auch Kosmodont ein
starkes Ekzem hervor; erst nach Weglassen jeden Mundwassers
heilte das Ekzem ab. . ,
Rekapitulieren wir diese Versuche, so sehen wir 1., üass
bei einer Reihe von Patienten jedes Ekzem aufhört, sowie das
Pfefferminzöl wegbleibt;
2., dass eine Reihe von Patienten kein Mundwasser, wel¬
ches irgendwie reizende Stoffe enthält, vertragen, dass diese
Patienten nur mit ganz einfachen Mitteln, wie z. B. Schlemm¬
kreide etc., frei von Ekzemen bleiben,
2) Die genaue Analyse dieses wohl am meisten gebrauchten
Präparates ist nicht bekannt; Dr. Gr e im er (Deutsche zahnärztl.
Wochenschr. No. 42, Jahrg. VIII) aus dem Laboratorium Lingner
bestreitet den Salolgehalt des Präparates.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1361
3., dass es ferner eine Reihe von Stoffen geben muss,
welche ausser dem Pfefferminzöl Ekzeme hervorrufen können,
da z. B. in Stomatol Pfefferminzöl nicht enthalten ist,
und dies doch Ekzeme hervorrufen kann; es müssen dies
also Stoffe wie Seife, resp. Seifenspiritus, das Formaldehyd,
das Terpineol, die Arnikatinktur und vielleicht auch das Salol
sein. Es wird uns dies auch nicht Wunder nehmen, da wir
ja wissen, dass es fast kein Mittel gibt, welches von jedem
Menschen anstandslos vertragen wird, dass selbst ganz ein¬
fache Fette die Haut reizen können und dass scheinbar ganz
harmlose Medikamente gelegentlich die schwersten Dernia-
titiden auf der Haut hervorrufen. Ganz besonders scheinen
mir aber die aromatischen O e 1 e, wie es bereits
Neisser hervorgehoben hat, diese Ekzeme hervorzurufen,
und ich möchte insbesondere die T e r p e n e, die in diesen
ätherischen Oelen enthalten sind, dafür verantwortlich machen.
Wir haben also in allen Fällen von Mundekzemen mög¬
lichst die schädlichen Stoffe fernzuhalten, dann wird das Ekzem
schnell abheilen, und es genügt, den Patienten darauf auf¬
merksam zu machen, dass er ein möglichst einfaches Mund¬
wasser oder Zahnpulver sich aussucht.
Eine sehr grosse Bedeutung haben ja diese Mundwasser¬
ekzeme überhaupt nicht, denn was wollen 16 Fälle von Mund¬
wasserekzemen im Verlauf von 4 Jahren sagen, wenn wir uns
überlegen, dass fast jeder Mensch ein Mundwasser anwendet,
wenn wir wissen, welche ungeheure Mengen von Mundwasser
jedes Jahr fabriziert werden! Wir haben nur die Pflicht, die
Aerzte aufmerksam zu machen auf diese Fälle und empfindliche
Personen vor dem Gebrauch derartiger Präparate zu warnen.
Ueber das Verhalten der im Blute der Typhuskranken
nachweisbaren Typhusbazillen gegenüber der bakteri¬
ziden Wirkung des Blutes.
Notiz zum Aufsatz von Eppenstein und Körte
aus dieser Wochenschrift 1906, No. 24.
Von Dr. H. Conrad i.
In ihrer interessanten Abhandlung berühren Eppenstein und
Körte auch die Frage, worauf die von mir festgestellte Tatsache
beruht, dass bei Mischung von Blut eines Typhuskranken mit Galle
im Verhältnis 1 : 2 die im Blut vorhandenen Typhusbazillen sich leb¬
haft vermehren. Ich habe zunächst (Deutsche medizinische Wochen¬
schrift 1906 No. 2) neben der antibakteriziden und wachstumsbe-
fördernden Wirkung der Galle vornehmlich die durch sie bewirkte
Gerinnungshemmung zur Erklärung herangezogen. In der letzten
Zeit habe ich indes in gemeinsamen Versuchen mit Herrn Dr. Metz,
über die ich am 8. Juni d. J. in der Sitzung der „Freien Mikro¬
biologischen Vereinigung“ in Berlin berichtete, festgestellt, dass Galle
die bakterizide Wirkung des Normalserums völlig aufhebt. Während
nämlich 0,3 ccm normales Meerschweinchenserum ca. 20 000 Typhus¬
bazillen binnen 2 Stunden bei 37° abtötet, stellt sich bei Zusatz von
0,1 — 1 ccm Galle zur gleichen Menge aktiven Normalserums lebhaftes
Wachstum der Typhusbazillen ein. Aus diesen Versuchen geht die
antibakterizide Wirkung der Galle, die auch Eppenstein und
Körte nachgewiesen haben, unzweideutig hervor und diese Eigen¬
schaft, nebst den oben erwähnten, erklärt die auch von Kayser
bestätigte Anwendbarkeit der Galle zur Züchtung der Typhusbazillen
aus dem Blut.
- -
Zum 70. Geburtstag J. Rosenthals- Erlangen.
Am 16. Juli dieses Jahres begeht J. Rosenthal in Er¬
langen die Feier seines 70. Geburtstages. Mit ihm und seiner
Familie gedenkt auch eine grosse Zahl seiner Freunde, Mit¬
arbeiter und Fachgenossen dieses festlichen Tages. Es ist
wohl angebracht, an einem solchen bedeutsamen Lebens¬
abschnitt den Werdegang dieses trotz seiner Bedeutung, oder
sagen wir besser, wegen seiner grossen Bedeutung so be¬
scheidenen, zurückhaltenden und allen Aeusserlichkeiten ab¬
holden Mannes zu schildern.
In Labischin, einem kleinen Landstädtchen des Regierungs¬
bezirks Bromberg, wurde J. Rosenthal als Sohn eines zwar
kinderreichen, aber sonst wenig mit Glücksgütern gesegneten
Wundarztes im Jahre 1836 geboren. Nachdem er das Gym¬
nasium in Bromberg im Jahre 1855 absolviert hatte, kam er,
um Medizin zu studieren, nach Berlin in das Haus seines älteren
Bruders, des vor 2 Jahren verstorbenen Geheimen Sanitäts¬
rates Dr. L. Rosenthal. Auf des letzteren Veranlassung
beschäftigte er sich schon während seiner Studienjahre, da er
eine besonders gute physikalische Vorbildung besass, mit
Untersuchungen über die tierische Elektrizität. Seine erste
wissenschaftliche Entdeckung betraf die relative Stärke der
direkten und indirekten Muskelreizung am Frosch (Rosen¬
thal scher Versuch, 1857). Durch diese Entdeckung wurde
bereits du Bois-Reymond auf den jungen Gelehrten
aufmerksam, so dass er Gelegenheit nahm, die Ergebnisse
einer weiteren Forschung J. Rosenthals über Modifikation
der Erregbarkeit durch geschlossene Ketten und die Volta¬
schen Abwechslungen in der Gesamtsitzung der Kgl. Akademie
der Wissenschaften zu Berlin mitzuteilen. Nachdem Rosen-
thal im Febr. 1859 eine kurze Abhandlung über das sogenannte
V a 1 1 i sehe Gesetz in der Allgem. med. Zentralzeitung ver¬
öffentlicht hatte, erwarb er sich am 12. Juli desselben Jahres
mit der Dissertation „De energiis nervorum specificis“ (bei
Gustav Lange, Berlin) die Würde eines medizinischen Dok¬
tors. In dieser Zeit verstarb der berühmte Johannes Müller
und sein Nachfolger wurde der nicht minder berühmte Emil
du Bois-Reymond. Bei diesem Wechsel wurde dem
damaligen sogenannt. „Physiologischen Institut“ zum ersten Male
die Stelle eines Assistenten bewilligt. Als solcher kam zunächst
v. B e z o 1 d t in Betracht, der schon im Sommer vorigen Jahres mit
Munk, Setscheneff, Rosenthal u. a. bei du Bois-
Reymond Physiologie gehört hatte. Aber noch bevor er
die ihm zugedachte Stelle antreten konnte, wurde er als Pro¬
fessor extraordinarius nach Jena berufen. Als sein würdigster
Nachfolger bekam nun J. R o s e n t h a 1 die Assistentenstelle
und behielt sie bis zum Jahre 1867, wo er (Privatdozent war
er bereits 1862 geworden) zum ausserordentlichen Professor
ernannt wurde. Während der Zeit seiner Berliner Tätigkeit
veröffentlichte er ausser den genannten Schriften noch fol¬
gende:
1. Ueber den elektrischen Geschmack.
2. Ueber die physiologischen Wirkungen des Nikotin. 18. Ok¬
tober 1863.
3. Ueber die Vereinigung des N. lingualis mit dem N. hypoglossus.
23. Juni 1864.
4. Studien über Atembewegungen. Anfang September 1864.
5. Studien über Atembewegungen. II. Artikel. März 1865.
6. Ueber den Einfluss höherer Temperaturgrade auf motorische
Nerven.
7. Notiz über Herzgifte. Dezember 1866.
8. Ueber Herzlähmung. 1868.
Während seiner Studien- und Assistentenzeit in Berlin war
Rosenthal mit vielen jungen Medizinern, welche ein ganz
besonderes Interesse an der biologischen Forschung zeigten,
Mitglied des „Naturwissenschaftlichen Vereins der Studieren¬
den“, woselbst er eine führende Rolle spielte. Bald aber er¬
wies es sich, dass dieser Verein den Ansprüchen der auf¬
strebenden Biologen und Physiologen nicht mehr genügte. So
kam es, dass R o s e n t h a 1 im Verein mit Hermann Munk
einen neuen und zwar den „Physiologischen Verein“ am
8. Juni 1859 gründete, aus dem später die „Physiologische Ge¬
sellschaft“ zu Berlin entstand. Die ersten Mitglieder waren
Aeby, B. Fraenkel, A. Eulenburg, Gusserow,'
L. Hermann, M. Hermann, C. Martin, M a t z d o r f,
H. Munk, Rindfleisch, J. R o s e n t h a 1, W. Sander.
Rosenthal wurde erster, v. Recklinghausen, damals
Assistent von Rudolph V i r c h o w, zweiter Vorsitzender. Im
Jahre 1863 begründete L. Hermann das Medizinische Zen¬
tralblatt, dessen Redaktionsgeschäfte Rosenthal zusammen
mit Senator von 1868 — 1880 führte. Aus den Mitgliedern des
„Physiologischen Vereins“, sowie den Mitarbeitern des letzt¬
genannten Zentralblattes, bildete sich in jener Zeit ein ge¬
selliger Verein, der sich bezeichnenderweise „Raisonneur“
nannte und der im Wagnerschen Bierhause seine teils humor¬
gewürzten, teils streng wissenschaftlichen und kritischen
Sitzungen abhielt. Auch hier war Rosenthal neben
Kühne, Cohnhei m, v. Recklinghausen, Leyden,
Gusserow, Lücke u. a. m. ein ebenso eifriges, wie wissen¬
schaftlich anregendes Mitglied. Kaum ein Mitglied dieses Ver¬
eins existiert, das nicht in späteren Jahren eine hochgeachtete
1362
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
Stelle in der medizinischen Gelehrtenwelt erklommen hätte. —
Rosenthals immer mehr anerkannte wissenschaftliche Be¬
deutung und fruchtbare literarische Tätigkeit trugen ihm im
Jahre 1872 in seinem 36. Lebensjahre die Berufung zum ordent¬
lichen Professor und Direktor des physiologischen Instituts in
Erlangen ein. Bis zu dieser Zeit gab es dort noch keine selb¬
ständige Professur für die genannte Wissenschaft, vielmehr
hielt .1. v. G e r 1 a c h neben anatomischen auch physiologische
Vorlesungen. — Ueber die ersten 25 Jahre der Tätigkeit des
Jubilars in Erlangen, also bis zum Jahre 1897, braucht hier
nichts gesagt zu werden, denn diese Periode wurde bei Ge¬
legenheit von R o s e n t h a 1 s 25 jährigem Professorenjubiläum
von seinem Mitarbeiter und Assistenten Dr. Oskar Schulz
eingehend und in anerkennenswertester Weise in dieser
Wochenschrift gewürdigt. Aus den letzten 9 Jahren von
Rosenthals Tätigkeit in Erlangen sei zunächst hervor¬
gehoben, dass er im Jahre 1897 die Vorlesungen über Hygiene,
die er seit Antritt seiner Lehrtätigkeit in Erlangen neben denen
über Physiologie gehalten hatte, abgab. Ferner erschien im
Jahre 1900 das Lehrbuch der allgemeinen Physiologie. Von
kleineren Publikationen in den letzten Jahren möge hier ab¬
gesehen und nur noch betont werden, dass Rosenthal
während der ganzen Dauer seines Aufenthaltes in Erlangen sich
um die Entwicklung dieser Stadt, besonders in hygienischer
Hinsicht, unendliche und dauernde Verdienste erworben hat.
Wir würden aber der Persönlichkeit Rosenthals nicht
gerecht werden, wenn wir seiner nur als Forscher und Lehrer
gedächten. Vielmehr darf nicht vergessen werden, was er dem
Vaterlande als Militärarzt in den grossen Jahren 1870—71 ge
leistet hat. Noch heute gedenken zahlreiche Krieger des
2. hanseatischen Infanterieregiments der aufopfernden Tätig¬
keit und wahren Nächstenliebe, die ihnen ihr damaliger Ober¬
stabsarzt Dr. R o s e n t h a 1 in den schweren Kämpfen bei
Loigny am 2. Dezember 1870 in so hervorragendem Masse
bewies. Nicht wenige verdanken seinem unerschrockenen Vor¬
gehen im stärksten Kugelregen, dass sie heute noch sich des
Lebens erfreuen können. Auch bei Gelegenheit des Ueberfalls
eines Feldlazaretts durch feindliche Truppen, die, des roten
Kreuzes nicht achtend, die Verwundeten zu Gefangenen machen
wollten, zeigte R o s e n t h a 1 denselben unerschrockenen
Todesmut.
Es ist natürlich nicht möglich, in dem vorstehenden kurzen
Ueberblick ein umfassendes Bild des Wirkens und Schaffens
unseres Jubilars zu zeichnen, doch wird wohl auch diese
skizzenhafte Darstellung genügen, um die Bedeutung Rosen¬
thals als Gelehrter und als Mensch klar darzutun. Mit uns,
so hoffen wir zuversichtlich, werden Ungezählte in den Wunsch
einstimmen, dass unserem Jubilar, an dem die Jahre, wenn
auch nicht spurlos, so doch schonend vorübergegangen sind,
noch lange Zeit rüstigen Weiterschaffens und Lehrens be-
schieden sein möge zum Wohle der allgemeinen wissenschaft¬
lichen Welt und speziell der Universität Erlangen.
Carl Rosenthal - Berlin.
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Syphilis und Unfallversicherung der praktischen Aerzte
Von Prof. Dr. Jesionek in Giessen.
Jeder Arzt, welcher auf seine Familie in finanzieller Beziehung
Rücksicht zu nehmen hat, erachtet es als seine Pflicht, durch den
Beitritt zu einer Unfallversicherung gegen die materiellen Schädi¬
gungen jener verhängnisvollen Vorkommnisse sich zu schützen,
welche die praktische Betätigung des ärztlichen Berufes mit sich
bringen kann.
Man versichert sich, gleichviel wo — die Bedingungen sind über¬
all so ziemlich die gleichen — , hofft, dass man die Versicherung nicht
in Anspruch nehmen müsse, und beruhigt sich bei dem Gedanken,
dass, wenn ein Unfall sich ereignen sollte, seinen Konsequenzen in
legaler Form, so gut als eben möglich, vorgebeugt sei. Was dazu
beiträgt in dem trügerischen Gefühle der Sicherheit uns zu stärken,
ist noch der Umstand, dass wir als Aerzte eine höhere Prämie zahlen
und zahlen müssen als die anderen Versicherten.
Beim Abschluss des Versicherungsvertrages ist man weit ent¬
fernt, alle die Möglichkeiten ins Auge zu fassen, welche sich ergeben
können, schon aus dem Grunde, weil man eben hofft,
o h n e U n f a 1 1 durchzukommen und bona fide mit mehr oder weniger
grosser Unkenntnis der einschlägigen Verhältnisse annimmt, in den
zahlreichen Bedingungen und Paragraphen des Vertrages sei allen
Eventualitäten Rechnung getragen.
Wie steht es nun, wenn der Arzt das Unglück hat, gelegentlich
eines beruflichen Unfalles, z. B. gelegentlich einer Verletzung während
einer Operation, Lues sich zuzuziehen? Wie viele Aerzte gibt es,
die bei Eingehung eines Versicherungsvertrages diese Frage in ihrer
ganzen Tragweite sich vorgelegt haben?
Durch äusserst betrübliche Erfahrungen, welche ich gelegent¬
lich der Konsultation seitens erkrankter Aerzte gemacht habe, bin
ich darauf aufmerksam geworden, wie unbedacht wir Aerzte im all¬
gemeinen bei der Abschliessung eines Unfallsversicherungskon¬
traktes verfahren und welche fatalen Konsequenzen sich aus unserer
Unkenntnis der rechtlichen Verhältnisse ergeben können. Achtet man
auf die Möglichkeit einer syphilitischen Infektion gelegentlich eines
beruflichen Unfalles und prüft daraufhin die Statuten und Bedingungen
der Unfallversicherungsgesellschaften, so kann man nicht umhin sich
zu wundern, wie wenig diese das Interesse ihrer ärztlichen Klientel
in diesem Punkte berücksichtigen. Gewiss liegt seitens der Gesell¬
schaften eine böse Absicht nicht vor; ich bin überzeugt, dass die Un¬
fallversicherungsgesellschaften es begriissen werden, wenn ärzt¬
licherseits eine Anregung gegeben wird, auf dass rücksichtlich der
luetischen Infektion der Aerzte bestimmte Normen ausdrücklich in
die Vertragsbedingungen aufgenommen werden. Die Lues ist so
eigenartig in ihrem Verlaufe, dass ihre Folgeerscheinungen in das
Schema der sonstigen durch einen Unfall ausgelösten „Blutver¬
giftungen" sich nicht einfügen lassen.
Allerdings erscheint es mir merkwürdig, dass die Lues seitens
der Versicherungen nicht schon längst ausdrückliche Berücksich¬
tigung gefunden hat. Den Versicherungsgesellschaften ist doch ge¬
wiss bekannt, dass es nicht selten vorkommt, dass Aerzte sich in
ihrem Berufe gelegentlich eines Unfalles syphilitisch infizieren.
„Aerzte erkranken nicht selten beruflich an Lues“, so ungefähr heisst
es in jedem Lehrbuche. B 1 a s c h k o 1) spricht von der Syphilis als
einer „Berufskrankheit“ der Aerzte, in den Ausführungen seines vor¬
züglichen Vortrages berechnet er auf Grund seiner eigenen Beob¬
achtungen, dass ungefähr 2 Proz. der Berliner Aerzte sich in der
Praxis Lues zuziehen. Mag diese Zahl richtig sein oder nicht, so viel
kann ich auf Grund eigener Beobachtungen beurteilen, dass beruf¬
liche Infektionen bei Aerzten häufig genug Vorkommen. Anderer¬
seits ist mir auch bekannt, dass manche syphilitisch infizierten
Aerzte es unterlassen, diesbezügliche Mitteilungen an ihre Ver¬
sicherungen zu machen. Es ist für einen Arzt in besonderem Masse
peinlich, andere zu Mitwissern seiner Erkrankung zu machen, um¬
so mehr, wenn er bei durch das Unglück geschärfter Prüfung des
Kontraktes sich überzeugen muss, dass gegenüber einigermassen
weitergehenden Forderungen seinerseits die Versicherungen in ihren
Bedingungen und Paragraphen Mittel und Wege genug besitzen, sich
sehr ablehnend verhalten zu können, und mit einer syphilitischen In¬
fektion vor Gericht zu gehen, das ist für den Arzt eine Sache, die nach
vielen Seiten hin reiflich überlegt sein will.
Da liegt irgend wo ein Unrecht, vielleicht beser gesagt, eine
Ungehörigkeit, nach der gewiss nur gefahndet zu werden braucht,
auf dass eine Richtigstellung oder ein billiger Ausgleich erfolge —
so sollte man meinen. Es ist doch nicht mehr als billig, dass der
Arzt rechtlich sichergestellt sei, da ihm alles mögliche Unheil wider¬
fahren kann. Sein Recht muss doch Jeder erhalten ohne Schwierig¬
keiten, dort wo die grössten Summen Geldes das Unglück nicht
wett machen können.
Wie hilflos der Arzt dasteht, wenn er das Unglück gehabt hat in
seinem Berufe durch einen Unfall sich eine syphilitische Infektion
zuzuziehen, wie wenig die Unfallversicherung den auf sie gesetzten
scheinbar berechtigten Erwartungen zu entsprechen braucht, das
illustriert der folgende Fall. Ich erwähne, dass der Kollege, dessen
Leidensgeschichte ich erzählen will, mich zur Veröffentlichung seiner
und meiner Erfahrungen ermächtigt hat, damit die Kollegen ihre Vor-
sichtsmassregeln treffen, um vor ähnlichen Eventualitäten bewahrt
zu bleiben.
Dr. X , prakt. Arzt in einem kleinen Landstädtchen, in nicht
mehr jugendlichem Alter stehend, verheiratet, zog sich am 9. XI. 02
gelegentlich eines geburtshilflichen Eingriffes eine Verletzung am
rechten Zeigefinger zu. Es entwickelte sich eine geschwiirige Affek¬
tion, deren wahrer Charakter unbekannt geblieben ist, bis das Auf¬
treten eines polymorphen Exanthems den Kollegen selbst auf die Mög¬
lichkeit syphilitischer Erkrankung aufmerksam machte. Als Herr Prof.
P o s s e 1 1 und ich Gelegenheit hatten, am 20 XII. 02 den Kranken
zu sehen, bestand neben den Residuen einer unter dem Bilde einer
Paronychie verlaufenen Sklerose am Nagelglied des rechten Zeige¬
fingers ein über den ganzen Körper ausgebreitetes makulöses,
makulopapulöses, papulopustulöses Syphilid, papulosquamöses Syphi¬
lid der Hohlhände; ausserdem fanden sich auch an der Schleimhaut
des Mundes und des Rachens verdächtige Erscheinungen. Ich brauche
gar nicht darauf einzugehen, dass der extragenitale Charakter der
1) Vortrag in der Berl. med. Gesellsch. am 14. XII. 04. Berl. klin.
Wochenschr. 1894, pag. 1349.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1363
Infektion Ranz ausser Frage gestellt war. Unter entsprechender All-
gcmeinbehandlung involvierten die Erscheinungen seitens der Haut¬
un d Schleimhaut und verschwanden schliesslich auch die letzten
Manifestationen des Primäraffektes, sodass am 24. II. 03 nur noch
Pigmentflecke an Stelle der papulösen Effloreszenzen zu konsta¬
tieren waren.
Im Dezember 03 zog sich Dr. X neuerdings gelegentlich einer
Operation eine Rissverletzung an einem Finger zu. welche an und
für sich unbedeutend von einer Lymphangioitis gefolgt war, die unter
stürmischen Störungen des Allgemeinbefindens innerhalb einiger
Jage ablief; unmittelbar im Anschluss hieran traten Rezidiverschei¬
nungen der luetischen Allgemeinerkrankung auf. Unter Hg-Behand-
lung heilten dieselben innerhalb 4 Wochen. Von da ab blieb Patient
frei von syphilitischen Symptomen bis Ende 1905.
Die Versicherungsgesellschaft, bei welcher Dr. X seit 1886
gegen Unfall versichert war, hat die entsprechenden Entschädigungen
für die Kurzeit vom November bis Dezember 1902 und vom Dezember
1903 ausgezahlt.2)
In einem Schreiben vom 16. II. 04 an Dr. X löste die Ver¬
sicherungsgesellschaft ihren Vertrag mit Dr. X auf.
Die Frage, ob^ die Versicherungsgesellschaft auch für weitere
eventuelle spätere Folgeerscheinungen des mit syphilitischer Infektion
komplizierten Unfalles vom 9. XI. 02 haftbar sei, wurde in den brief¬
lichen Auseinandersetzungen zwischen Dr. X und der Gesellschaft
wiederholt erörtert. Ein mit den Paragraphen seines Versicherungs¬
vertrages nicht genau vertrauter Arzt kann ja der Anschauung sein,
es sei ganz selbstverständlich, dass die zum Wesen der syphilitischen
Infektion gehörigen Rezidiverkrankungen Folgen des die Haftpflicht
der Gesellschaft bedingenden Unfalles seien, und soweit sie Arbeits¬
unfähigkeit, Invalidität oder Tod bedingen, seitens der Unfallver¬
sicherung entsprechend gwürdigt werden müssten. Quod non!
Auch Dr. X war der Ueberzeugung, in gutem Rechte zu sein,
als er an die Versicherungsgesellschaft das Ansinnen richtete, dass
sie für alle aus der Infektion vom 9. XI. 02 sich ergebenden Folgen,
nicht nur für vorübergehende Erwerbsunfähigkeit während etwaiger
Rezidive, sondern auch für die Invalidität und für den Todesfall er¬
satzverbindlich sich erkläre.
•) Die wesentlichen der in Betracht kommenden Bedingungen
und Bestimmungen lauten folgendermassen.
Allgemeine Bedingungen;
§ 1. Gegenstand und Umfang der Versicherung:
Die Gesellschaft versichert . gegen die materiellen Scha¬
densfolgen von Körperverletzungen durch Unfallereignisse, von wel¬
chen der Versicherte betroffen wird und in deren direkter und
alleiniger Folge entweder der Tod oder bleibende, bezw. vorüber¬
gehende Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit eintritt ... Als die Ver¬
sicherung betreffende Infektion und Vergiftung kommt nur jene Blut¬
vergiftung in Betracht, welche als unmittelbare Folge einer Körper¬
verletzung durch ein die Versicherung betreffendes Unfallsereignis
eintritt . Die Versicherung gilt nur insoweit für chirurgische
Operationen .... und deren Folgen, als solche durch ein die Ver¬
sicherung betreffendes Unfallsereignis veranlasst sind.
§ 5. Umfang und Höhe der Entschädigung:
Die Gesellschaft leistet nach Massgabe von § 1 der Bedingungen
aus der bestehenden Versicherung, soweit die Polize nicht ab¬
weichende „Besondere Bestimmungen“ enthält:
A. wenn der Versicherte durch das Unfallsereignis sofort oder
innerhalb Jahresfrist vom Unfallstage an, an den durch dasselbe
verursachten Körperbeschädigungen stirbt .... die volle Versiche¬
rungssumme;
B. wenn durch das Unfallsereignis innerhalb Jahresfrist vom Un¬
fallstage ab, eine voraussichtlich lebenslängliche Beeinträchtigung der
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (Invalidität) des Versicherten veran¬
lasst worden ist, . . . eine näher bestimmte Invaliditätsrente;
C. bei Verletzungen aller Art, auch wenn solche weder Tod,
noch Invalidität zur Folge haben, sondern eine nur vorübergehende
Kurzeit erfordern ... die für diese Eventualität vereinbarte Tages-
vergütung (Kurquote) und zwar vom ersten J'age der ärztlichen Be¬
handlung an . . . bis zum Aufhören der notwendigen ärztlichen Be¬
handlung, längstens jedoch bis zum 200. Tag von dem Unfallereignis
an . . . Als Kurzeit im Sinne der Versicherung gilt die Dauer der
notwendigen ärztlichen Behandlung des Versicherten an der eigent¬
lichen Unfallsfolge.
Besondere Bestimmungen:
Ziffer 2. Vergiftung durch Leichengift bei Sektionen und In¬
fektion bei Operationen, infolge bei der betreffenden Tätigkeit er¬
littener Verletzung des Herrn Versicherten sind mit in die Versiche¬
rung eingeschlossen; wenn bei einer Sektion oder Operation Blutver¬
giftung infolge einer Verletzung eintritt, welche auf ein früheres,
nicht zur Anzeige gebrachtes, Unfallsereignis nachweisbar zurückzu¬
führen ist, so ist auch hiefiir Entschädigung zu leisten.
Ziffer 3. In Abänderung des § 5 C der Allgemeinen Bedingungen
verpflichtet sich die Gesellschaft im Falle vorübergehender Erwerbs¬
unfähigkeit, wenn solche noch nach Ablauf von 200 Tagen fortbe-
stehen sollte, vom 201. Tage an die entsprechende tägliche Renten¬
entschädigung bis zur Höhe der halben Invaliditätsrente zu leisten.
Auf diese Zumutung seitens des Dr. X erklärte die Ver¬
sicherungsgesellschaft zunächst, sie sehe sich veranlasst „seinen Fall
fürs erste offen zu halten und abzuwarten, welche etwaigen weiteren
Folgen sich ergeben werden“. Man versetze sich als Arzt in diese
unangenehme Situation des Abwartens, wenn es sich um Svohilis
handelt!
In einem Schreiben vom 12. III. 04 nimmt die Gesellschaft bezug
auf einen Passus ihrer „Besonderen Bestimmungen“. Hier heisst es
unter Ziffer 3: „Es verpflichtet sich die Gesellschaft, im Falle vor¬
übergehender Erwerbsunfähigkeit, wenn sie noch nach Ablauf von
200 Tagen fortbestehen sollte, vom 201. Tage an die entsprechende
tägliche Rentenentschädigung bis zur Höhe der halben Invaliditäts¬
rente zu leisten“. Dr. X war also bei Abschluss 3) seines Vertrages
wenigstens so vorsichtig gewesen die Möglichkeit ins Auge zu fassen,
dass die Folgen eines Unfalles sich auf mehr denn 200 Tage erstrecken
können, während die „Allgemeinen Bedingungen“ ursprünglich eine
Tagesvergütung nur bis längstens zum 200. Tage von dem Unfall¬
ereignisse an gerechnet in Aussicht gestellt hatten. Die Versicherung
schreibt: „Bei dieser Gelegenheit bestätigen wir Ihnen neuerdings,
dass wir Ihnen bei allfälligen weiteren Rezidiven sekundärer Natur
der Infektion vom 9. XI. 02 die in besonderer Bestimmung 3 verein¬
barte Rente gewähren, für allfällige tertiäre Erscheinungen aber
weder durch Gewährung von Invaliditätsentschädigung noch der
Todesfallsumme aufkommen würden, da solche tertiäre Erscheinungen
weder eine Entschädigungspflicht nach besonderer Bestimmung 3
noch nach § 5, A und B, der allgemeinen Bedingungen begründen
könnten.“ Dieser § 5 lautet dahin: A. dass die volle Versicherungs¬
summe ausbezahlt wird, wenn der Versicherte durch das Unfallereig¬
nis sofort oder innerhalb Jahresfrist vom Unfallstage an,
an den durch das Unfallereignis verursachten Körperbeschädigungen
stirbt; B. dass die bestimmte lebenslängliche Invaliditätsrente aus¬
bezahlt wird dann, wenn durch das Unfallereignis innerhalb Jahres¬
frist vom Unfallstage an eine voraussichtlich lebenslängliche Be¬
einträchtigung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (Invalidität) ver¬
anlasst worden ist.
Sind nun diese Bestimmungen des § 5 an und für sich absolut
unzureichend dort wo es sich um eine luetische Infektion nach dem
Unfall handelt, so erscheint die Unterscheidung zwischen sekundären
und tertiären Folgeerscheinungen der Lues in diesem Zusammen¬
hänge, so wie die Versicherungsgesellschaft sie aufstellt, als, zum
mindesten gesagt, höchst willkürlich. Wir kommen aber hierauf noch
später zu sprechen. Verfolgen wir einstweilen den Ablauf der Ver¬
handlungen.
In einem späteren Briefe, 18. IV. 04 wiederholt die Ver¬
sicherungsgesellschaft ihre Erklärung, dass trotz der von hier ver¬
fügten Aufhebung der Versicherung, die polizenmässigen Rechte des
Dr. X. bestehen bleiben — hinter dieses liberale Entgegenkommen
könnte man ein Ausrufungszeichen setzen — und fügt bei: Hiebei
kann es sich allerdings nur noch um Entschädigung gemäss be¬
sonderer Bestimmung 3 für allenfallsige vorübergehende Rezidive
sekundärer Natur handeln, während wir hinsichtlich etwaiger ter¬
tiärer Folgen aus den früher angeführten Gründen jegliche Deckungs¬
pflicht ablehnen müssen. Passe dem Versicherten dieser Bescheid
nicht, so müsse die Versicherungsgesellschaft es ihm freisteilen mit
Klage gegen sie vorzugehen.
Die nun erhobene Klage seitens des Dr. X ging dahin, die Ver¬
sicherungsgesellschaft sei schuldig anzuerkennen, dass sie dem
Dr. X für alle aus dem Unfälle vom 9. XII. 02 sich ergebenden Folgen
aufzukommen und die dem Dr. X vereinbarte Invaliditätsentschä¬
digung, bezw. die Todesfallsumme gegebenen Falles zu zahlen habe.
Zur Begründung wurde der Sachverhalt ausgeführt, und ausserdem
mein Sachverständigengutachten beigelegt, welches in seinen wesent¬
lichen Punkten dahin lautete, dass bei syphilitischer Erkrankung auch
nach Abheilung der ersten Erscheinungen nach Jahren und Jahr¬
zehnten noch Krankheitserscheinungen auftreten können, welche mit
der primären Infektion in ursächlichem Zusammenhang stehen und
dauernde Invalidität, oder den Tod herbeiführen können.
Solche Möglichkeiten seien, so führt die Klage aus, auch für
Dr. X zu erwarten, und für diese eventuellen Folgezustände habe
die Versicherung nicht nur in der von ihr konzedierten Einschränkung
sondern in vollem Umfange aufzukommen. Dr. X habe ein erheb¬
liches rechtliches Interesse, jetzt schon festgestellt zu sehen, wie
weit er aus dem Versicherungsanträge Ansprüche gegen die Ver¬
sicherungsgesellschaft geltend machen könne.
Dem gegenüber beantragte die Gesellschaft kostenfällige Zu¬
rückweisung der Klage und begründete diesen Antrag folgender-
rnassen: Nach § 6 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen sei die
Ersatzverbindlichkeit der Gesellschaft für den Invaliditäts- und Todes¬
fall nur dann gegeben, wenn der Tod bezw. die Invalidität inner¬
halb Jahresfrist nach dem Unfälle eingetreten und letztere vor¬
aussichtlich eine lebenslängliche sei.
3) Oder vielmehr bei einer Erneuerung des Versicherungsverhält¬
nisses im Jahre 1891, zu welcher die Gesellschaft den Dr. X einlud
unter Hinweis auf die für Aerzte ganz besonders
günstige n. Sonderbestimmungen.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Diese Voraussetzung sei aber im vorliegenden Falle nicht ge¬
geben. Die primären und sekundären Krankheitszustände der Syphilis
fielen überhaupt nicht unter den Begriff der Invalidität, weil sie regel¬
mässig heilbar, keine dauernde Beeinträchtigung der Erwerbs- und
Arbeitsfähigkeit zur Folge hätten. Mit den sogen, tertiären Erschei¬
nungen verhalte es sich ebenso. Wenn letztere zu einer dauernden
Invalidität führen sollten, so bestehe doch eine Entschädungspflicht
deshalb nicht, weil die Invalidität nicht innerhalb Jahresfrist vom
Unfallstage eingetreten sei und weil ihr Eintreten überhaupt nicht
sicher, sondern nur möglich sei; tatsächlich sei Dr. X zurzeit ge¬
sund und arbeitsfähig, keinesfalls Invalide. Die Erklärung der Ver¬
sicherungsgesellschaft, sie wolle dem Dr. X für die Deckung allen-
fallsiger weiterer Rezidive sekundärer Natur (im Sinne der bisherigen
wissenschaftlichen Abgrenzung) aufkommen, sei lediglich aus ihrem
Entgegenkommen erfolgt, eine Rechtspflicht be¬
stehe nach dieser Richtung nicht. Denn der Sinn der
besonderen Bestimmungen Ziff. 3 verlange offenbar, dass zwischen
der Arbeitsbehinderung vor dem 200. Tage und der Arbeitsbehinde¬
rung nach demselben Kontinuität bestehe. Aus Coulance (!!)
jedoch werde die Gesellschaft auch im Prozesse ihre frühere dies¬
bezügliche Erklärung aufrecht erhalten und für allenfallsige vorüber¬
gehende Rezidive sekundärer Art Entschädigung gewähren. Ein
weiteres Entgegenkommen sei der Versicherung aus prin¬
zipiellen Gründen unmöglich, es müsse deshalb auf Klagabweisung
bestanden werden.
Aus der Entgegnung des Herrn Dr. X hebe ich folgendes Wesent¬
liche hervor: Für die eigenartigen Folgeerscheinungen der syphi¬
litischen Infektion müsse die beklagte Gesellschaft auch dann auf¬
kommen, wenn diese Folgeerscheinungen nicht schon binnen Jahres¬
frist nach dem Unfälle eingetreten seien, sonst hätten die Zusatz¬
bestimmungen, durch welche die syphilitische Infektion Gegenstand
der Versicherung geworden, keinen Wert. Uebrigens — und das
erscheint für den Mediziner wahrscheinlich als der springende Punkt
— verlange § 5 der allgemeinen Bedingungen, dass Tod oder In¬
validität sofort, bezw. innerhalb eines Jahres „veranlasst“ sein
müsse (es heisst im Wortlaut der Bedingungen „veranlasst“
nicht „eingetreten“). Bei syphilitischer Infektion seien aber alle auf
sie als Ursache zurückzuführenden Folgeerscheinungen durch den Un¬
fall, die Infektion sofort veranlasst. Die Versicherungsgesellschaft
sei früher offenbar selbst dieser Auffassung gewesen. Die von Un¬
beliebte Unterscheidung von primären, sekundären und tertiären Er¬
scheinungen sei nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft
nicht mehr angängig; man könne nur von Früh- oder Spätsymptomen
sprechen. Aus der gegebenen Zusicherung der Gesellschaft, bei allen-
fallsigen Rezidiven sekundärer Natur die vereinbarte Rente zu ge¬
währen, folgert deshalb die Verpflichtung, für alle späteren Erschei¬
nungen aufzukommen. Unter allen Umständen sei die Gesellschaft
im Hinblick auf Ziff. 3 der besonderen Bestimmungen verpflichtet,
in allen Fällen vorübergehender, durch weitere Rezidive verursachter
Erwerbsunfähigkeit die zugesicherte tägliche Rentenentschädigung zu
leisten. , ^ T7
Das Landgericht erliess folgendes Urteil: Die Versicherungs¬
gesellschaft ist schuldig, anzuerkennen, dass sie dem Dr. X für alle
diejenigen aus dem von ihm am 9. XI. 02 erlittenen Unfall sich er¬
gebenden Folgen, die nur eine vorübergehende Kurzeit erfordern,
bezw. nur vorübergehende Arbeitsunfähigkeit des Klägers bedingen,
nach Massgabe der Ziff. 3 der besonderen Bestimmungen mit § 5, lit. C
der allgemeinen Bedingungen aufzukommen hat. Im übrigen
wird die Klage abgewiesen. Jeder Teil hat seine Kosten
und die Hälfte der Gerichtskosten zu tragen.
Von grossem Interesse ist nun die Begründung dieses
Urteils:
Die Parteien sind darin einig, dass die syphilitische Infektion,
welche Dr. X am 9. XI. 02 sich zugezogen hat, an sich einen Unfall
darstellt, für dessen Schadensfolgen die beklagte Versicherungsgesell¬
schaft nach Massgabe der allgemeinen und besonderen Bestimmungen
des Versicherungsvertrages dem Kläger aufzukommen hat. Uneinig¬
keit bestehe nur bezüglich der Frage, ob und inwieweit die Versiche¬
rungsgesellschaft für solche Folgeerscheinungen der Infektion ein¬
zustehen hat, die künftighin, d. h. bezw. nach Ablauf der in § 5 A
und B der allgemeinen Bedingungen gesetzten Jahresfrist eintreten.
Dies ist der Kernpunkt der von Dr. X erhobenen Feststellungsklage,
deren prozessuale Zulässigkeit nicht bestritten ist . . . In sachlicher
Hinsicht führt die Würdigung des Falles an der Hand der allein
massgebenden fixierten Vertragsbestimmungen
zu folgendem Ergebnis: Die „besonderen Bestimmungen4 stellen sich
— und darüber kann schon nach dem Wortlaute derselben nicht ge¬
stritten werden — als Ergänzung bezw. Aenderung der All-gemeinen
Bedingungen dar; speziell Ziff. 2 erweitert den Gegenstand der Ver¬
sicherung, indem dort „Vergiftung durch Leichengift bei Sektionen
und Infektion bei Operationen“ mit in die Versicherung eingeschlossen
werden. Ziff. 3 der „Besonderen Bestimmungen“ enthält eine Ab¬
änderung des § 5, lit. C der „Allgemeinen Bedingungen“. Diese „Be¬
sonderen Bestimmungen“ können deshalb — und darin ist den Aus¬
führungen der Versicherung beizupflichten — nur im Zusammenhalte
mit den allgemeinen Bedingungen ausgelegt werden und müssen durch
dieselben ergänzt werden. So bestimmen sich Umfang und Höhe der
Entschädigung auch in den durch Ziff. 2 der „Besendeien Bestim¬
mungen“ hinzugekommenen Schadensfällen nach § 5 der „Allgemeinen
Bedingungen“ mit der in Ziff. 3 der „Besonderen Bestimmungen gc_
troffenen Abänderung. Eine Loslösung dei „Besonderungen Be-
Stimmungen“ von den „Allgemeinen Bedingungen ist auch deswegen
unmöglich, wreil sich erstere ohne letztere gar nicht praktisch ver¬
werten lassen. Demnach kann mangels einer besonderen
Vereinbarung auch bei den durch Ziff. 1 der „Besonderen Be¬
stimmungen“ in die Versicherung eingeschlossenen Fällen der Ver¬
giftung bei Sektionen und der Infektion bei Operationen die 1 odcsfall-
summe, bezw. die Invaliditätsrente nur verlangt werden, wenn dei
Tod bezw. die Invalidität durch das Unfallereignis sofort, bezw'. inner¬
halb Jahresfrist vom Unfallstage an eingetreten, bezw. „vei anlasst
worden ist. An diesem Ergebnis, zu dem die logische Auslegung der
Vertragsbestimmungen zwingt, kann der Inhalt des zweiten Satzes
in Ziff. 2 der „Besonderen Bestimmungen“ nichts ändern. Die dort
enthaltene Bestimmung stellt sich lediglich als Ausdehnung der Ent¬
schädigungspflicht auf den Fall dar, dass die Blutvergiftung bei einer
Sektion oder Operation infolge einer früheren, nicht zur Anzeige ge¬
brachten Unfallverletzung eingetreten ist. Mit anderen Worten ist
darin gesagt, dass lediglich die Vergiftung, bezw. die Infektion als das
Unfallereignis angesehen werde, auf Grund dessen die Ersatzpfhcht
der Gesellschaft eintritt, und dass frühere Ereignisse, welche dem
Giftstoffe und den Infektionskeimen Eingang in das Blut des Ver¬
sicherten ermöglichten, nicht berücksichtigt werden sollen. Zu dei
seitens des Dr. X gezogenen Schlussfolgerung, die beklagte Versiche¬
rung habe bei Leichenvergiftungen und Operationsinfektion die
Jahresfrist des § 5 A und B der allgemeinen Bedingungen aus-
geschaltet und bei solchen Schadensfällen zeitlich unbeschränkt fiii
Todesfall und Invalidität aufkommen wollen, fehlt angesichts dessen
jede Berechtigung. Auch das Verhalten der Gesellschaft vor deni Pro¬
zesse und ihre Briefe lassen sich hierher nicht zu Gunsten des Dr. X
verwerten. Denn die bisherigen Leistungen der Gesellschaft und ihre
briefliche Verpflichtung beziehen sich nur auf die Entrichtung dei
Kurquote gemäss § 5 C der allgemeinen Bedingungen und Ziff. 3
der besonderen Bestimmungen, nicht aber auf die event. Rechte des
Dr. X aus § 5 A und B der allgemeinen Bedingungen, betr. Tod und
Invalidität.
Die übrigen Erwägungen der Klagspartei^ können ebensowenig
an obigem Auslegungsresultat etwas ändern. Es ist richtig, wie auch
der vernommene Sachverständige bestätigte, dass gerade bei der
Syphilis, trotz anscheinend völliger Heilung, nach Jahren, ja nach
Jahrzehnten wieder Krankheitserscheinungen auftreten können, die
mit der syphilitischen Infektion in ursächlichem Zusammenhänge
stehen, und dass gerade die Späterscheinungen am ehesten Invalidität
oder Tod zur Folge haben können. Mit Rücksicht auf die Eigenart
der Syphilis lag es sicher im Interesse des Dr. X, für alle solche Folge¬
erscheinungen versichert zu sein. Allein dafür, dass bei Abschluss des
Versicherungvertrages Dr. X den Willen einer derartigen Ausdehnung
der Versicherung über den zeitlichen Rahmen des § 5 A und B der
allgemeinen Bedingungen gegenüber der Gesellschaft zum Aus¬
drucke gebracht hätte und dass diese stillschweigend da¬
rauf eingegangen wäre, dafür fehlen alle Anhaltspunkte. Kläger kann
nicht einmal behaupten, dass über diesen Punkt zwischen ihm und
dem Vertreter der Gesellschaft gesprochen worden wäre. Die Ge¬
sellschaft hat, was ihr ohne weiteres eingeräumt werden kann, die
Beschränkung ihrer Haftung für Unfallfolgen auf Jahresfrist bei Be¬
messung der von Dr. X zu zahlenden Prämie als Hauptfaktor be¬
rücksichtigt. Darnach aber verbietet sich die Annahme, dass die
Gesellschaft bei Ausdehnung der Versicherung auf Fälle der Infektion
mit möglichen Späterscheinungen, wie die Syphilis, ohne weiteres
eben mit Rücksicht auf die Eigenart der syphilitischen Infektion, den
Wegfall der Haftungsbeschränkung als selbstverständlich angesehen
habe oder habe ansehen müssen. (Das heisst: Damit, dass die Ge¬
sellschaft sich verpflichtete, auch nach dem 200. Tage die tägliche
Kurquote zu zahlen, hat sie nicht gleichzeitig, implicite, erklärt, auch
für Invalidität und Tod nach Ablauf der stipulierten Jahresfrist auf¬
zukommen.) Sache des Dr. X wäre es gewesen, seinem
Willen nach dieser Richtung mit aller Deutlich¬
keit Ausdruck zu verleihen und dementsprechende
Aenderung des Wortlautes seines Vertrages zu
veranlassen. .
Da dies nicht geschehen, muss es bei obiger Aus¬
legung sein Bewenden haben.
Vergebens ist ferner der klägerische Versuch, den Gebrauch
des Wortes „veranlasst“ in lit. B. des § 5 der allgemeinen Bedingungen
für seinen Standpunkt zu deuten; denn, wie von der anderen Partei
zutreffend ausgeführt wird, kann dies Wort nur in dem Sinne von
„in Erscheinung getreten, eingetreten“ gemeint sein. Würde man es
in dem Sinne von „verursacht“ nehmen, so wäre jede Folgeerschei¬
nung, die mit dem Unfallereignis in ursächlichem Zusammenhänge
stünde, gleichviel wann sie in Erscheinung tritt, durch das Unfall¬
ereignis als solches sofort „verursacht“, und wäre die Setzung einer
Jahresfrist vollkommen bedeutungslos. Gerade darauf aber kam es
der Gesellschaft an, dass sie nur für solche Folgeerscheinungen auf¬
zukommen brauche, die spätestens binnen Jahresfrist nach dem ver¬
ursachenden Ereignis eingetreten sind.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1365
Dr. X war Unbestrittenermassen und nach dem ärztlichen Gut¬
achten infolge der syphilitischen Infektion bisher nur immer vor¬
übergehend arbeits- und erwerbsunfähig und ist zurzeit gesund
und vollkommen erwerbsfähig. Tod und Invalidität — § 5 A und B —
ist also binnen Jahresfrist, vom Unfalltage an gerechnet, nicht ein¬
getreten.
Sollte die syphilitische Infektion, was nach ärztlichem Gut¬
achten keineswegs dem Regelfälle entsprechend wäre, bei Dr. X.
späterhin Invalidität oder Tod zur Folge haben, so hat
die Gesellschaft, wie sich aus obigen Ausführungen ergibt, dafür
nicht aufzukommen.
Dagegen ist die Versicherungsgesellschaft kraft der besonderen
Bestimmungen Ziff. 3 im Zusammenhänge mit § 5 lit. C der allgemeinen
Bedingungen gehalten, dem Dr. X bei a 1 1 e n weiteren durch Infektion
veranfassten Folgeerscheinungen, mögen sie sekundäre oder tertiäre
genannt werden, wenn und soweit sie nur eine vorüber¬
gehende Erwerbsunfähigkeit bedingen, die hierfür vereinbarte
Tagesvergütung (Kurquote) zu leisten. Nach ärztlichem Gutachten
sind solche Späterscheinungen mit vorübergehender Erwerbsunfähig¬
keit und Kurzeit bei Dr. X noch möglich.
In richtigem Lichte betrachtet hat die Versicherung in ihrem
Schreiben vom 12. III. 0-4 an Dr. X obige Verpflichtung auch an¬
erkannt; denn sie bestätigt dort, dass sie bei allenfallsigen weiteren
Rezidiven sekundärer Natur dem Dr. X die nach Ziff. 3 der besonderen
Bestimmungen vereinbarte Rente gewähren, für allenfallsige tertiäre
Erscheinungen aber weder durch Gewährung der Invaliditätsent¬
schädigung' noch der Todesfallsumme aufkommen werde. Sie ver¬
wahrt sich also ausdrücklich nur gegen die Leistung der Todes¬
fallsumme oder der Invaliditätsrente. Warum sie bei sogen, tertiären
Erscheinungen, wenn und soweit sie lediglich eine vorübergehende
Kurzeit erfordern, nicht einzustehen habe, dafür fehlt eine logische
Begründung. Dies namentlich dann, wenn man berücksichtigt, dass
nach dem Sachverständigengutachten in der Praxis eine strenge Schei¬
dung zwischen sekundären und tertiären Erscheinungen unmöglich ist.
Jedenfalls rechtfertigt und erzwingt obige mit Brief vom 18. IV. 0-4
wiederholte Erklärung der Gesellschaft die auch aus' dem Wortlaute
sich ergebende Auslegung der Ziff. 3 der besonderen Bestimmungen
dahin, dass die Kurquote zu gewähren ist für alle Folgeerschei¬
nungen der Infektion, die nur eine vorübergehende Kur¬
zeit erfordern. Eine zeitliche Grenze besteht hierbei nicht. Die
Ziff. 3 sichert dem Dr. X die tägliche Rentenentschädigung bei Fort¬
dauer der vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit auch über den
200. Tag hinaus zu. Mit keinem Worte ist hiebei zur Bedingung ge¬
macht, dass die Kurtage unmittelbar aufeinander folgen, eine ununter¬
brochene Reihe bilden müssten, insbesondere ist nicht verlangt, dass
zwischen dem 200. und 201. Tag Kontinuität bestehen müsste. Wenn
dieses der Wille der Gesellschaft beim Vertragsabschlüsse gewesen
wäre, so hätte sie dies deutlich zum Ausdrucke bringen müssen.
Jedoch zeugt ihr ganzes Verhalten vor dem Prozesse für die gegen¬
teilige Auffassung. So hat sie bei Entrichtung der bisher fälligen
Kurquote so wenig wie bei Abgabe der oben erörterten Erklärung
im Briefe vom 12. III. 04 auf eine Kontinuität der Kurtage Wert gelegt
oder auch nur derselben erwähnt . . . Jedenfalls ist in der Korrespon¬
denz zwischen den beiden Parteien auch die Frage erörtert worden,
wie weit die Versicherung aus dem Vertrage für spätere Folgen der
syphilitischen Infektion aufzukommen habe. Wenn die Versicherungs¬
gesellschaft hierbei erklärt, sie komme für allenfallsige weitere Re¬
zidive gemäss Ziff. 3 der besonderen Bestimmungen auf, so ist darin
eine authentische Interpretation ihres Vertragswillens zu erblicken,
jedenfalls eine bindende Verpflichtung, nicht wie die Be¬
klagte jetzt behaupten will, lediglich ein ihrer Kulanz ent¬
sprungenes unverbindliches Entgegenkommen.
Der Brief vom 12. III. 04 schliesst aber die Deutung aus. dass in
Ziff. 3 der besonderen Bestimmungen auf Seite der Gesellschaft Kon¬
tinuität der Kurtage vorausgesetzt worden wäre. Die Worte vom
201. Tage an, bedeuten lediglich die Zeitgrenze, von der ab laut
Vereinbarung die tägliche Entschädigung anders zu bemessen ist als
vorher.
Nach dem Sachverständigengutachten erscheint die Möglichkeit,
dass die Versicherung für den Fall des Todes oder der Invalidität
aufzukommen gehabt hätte, eine sehr fernliegende zu sein. Mit Rück¬
sicht hierauf hielt das Gericht, dem Prozessergebnis entsprechend,
einen Kostenverteilung dahin für angemessen, dass jeder Teil seine
Kosten und die Hälfte der Gerichtskosten zu tragen habe.
„Verkündet“ wurde dieses Urteil am so und so vielten, „aus-
g e h ä n g t“ am so und so vielten. Mit diesem „Aushänge n“, mit
dieser ganzen gerichtlichen Verhandlung ist das Geheimnis des un¬
glücklichen Kollegen hinsichtlich seiner syphilitischen Krankheit der
Oeffentlichkeit preisgegeben. Die Möglichkeit hierzu wenigstens ist
vorhanden. Jeder Arzt kann sich denken, was für Folgen eine der¬
artige Veröffentlichung für einen Arzt zu bedeuten vermag. Und was
hat der Kollege erreicht mit der gerichtlichen Verfolgung seiner Inter¬
essen? Nichts anderes im Grunde genommen, als dass er gegen die
willkürliche oder, wie es im Tenor des Urteiles heisst, unlogische Unter¬
scheidung der Versicherungsgesellschaft zwischen sekundären und
tertiären Folgen der syphilitischen Infektion geschützt ist. Wild er
durch sekundäre oder tertiäre Affektionen zum Invaliden, erreicht ihn
sein Schicksal in Form von Tabes oder der Paralyse, geht er an einer
spezifischen Endarteriitis der Gehirngefässe zugrunde — das sind
keine Folgen des Unfalles, für welche die Versicherung auf Grund der
bestehenden rechtlichen Verhältnisse haftbar gemacht werden kann.
Einzig und allein der Umstand kommt dem Dr. X zu gute, dass er
bei Abschluss des Vertrages daran gedacht hatte, dass ein Unfall
in seinen Folgen sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken kann
als 200 Tage. Bestände nicht zufällig diese besondere Bestim¬
mung, wie stiinde es da mit den Ansprüchen des Kollegen an seine
Versicherung? Ich wiederhole meine zu Beginn meiner Ausführungen
ausgesprochene Frage: Welcher Arzt denkt bei Abschluss seines Un¬
fallversicherungsvertrages an die Lues? Ob die Versicherungs¬
gesellschaft nicht daran denkt bei solchen Abschlüssen? Jedenfalls
ist sie mit ihren „allgemeinen Bedingungen“ nicht schlecht gegen eine
derartige Eventualität gedeckt!
Mit Absicht habe ich die Verhandlungen zwischen dem Ver¬
unglückten und der Gesellschaft und die Prozessverhandlungen in
longum et latum nach dem mir vorliegenden Aktenmateriale wieder¬
gegeben; es kann vielleicht mancher Arzt, der einen Unfallversiche¬
rungsvertrag bereits besitzt, vor allem derjenige, welcher einen
solchen eingehen will, daraus manches lernen, zum mindesten soviel,
dass die Möglichkeit luetischer Infektion der Unfallversicherung
gegenüber ausdrücklich in ausreichende Berücksichtigung gezogen
werden müsse. Bona fide, harmlos zu vertrauen, mit der Versicherung
allein sei den event. Bedürfnissen Rechnung getragen, damit ist es
leider nicht abgetan, das genügt vor Gericht nicht. Was nützt es
jetzt dem Kollegen, dass er seinerzeit bei Abschluss seines Vertrages
auf gut Treu und Glauben angenommen hat, gegen die Gefahren seines
Berufes, der ja an und für sich eine Erhöhung der Versicherungs¬
prämie bedingt, in materieller Beziehung wenigstens einigermassen
geschützt zu sein? Was hat er jetzt von seiner „Versicherung“ neben
seinem Unfälle und seiner Lues? Dass er an finanzieller Entschädi¬
gung für seine ab und zu auftretende vorübergehende Erwerbs¬
unfähigkeit von der Versicherungsgesellschaft auf dem Prozesswege
das bekommt, was ihm auf Grund seiner Sonderbestimmungen von
Rechts wegen schlechterdings nicht verweigert werden kann —
notabene, neuerdings stellt die Gesellschaft an Dr. X das Ansinnen,
bezüglich der Beurteilung der Folgen der weiteren Rezidive habe er
sich ihrer Auffassung zu unterwerfen — , daneben die Gerichtskosten,
daneben die Veröffentlichung seiner Krankheit, eine ausgesprochene
Berufsschädigung, daneben Aerger, Verdruss und Sorgen für die Zu¬
kunft der Seinen, wenn ihn sein Unfall vorschnell in seiner Erwerbs¬
fähigkeit, in seiner Existenz vernichtet hat, psychische Erregungen,
welche für einen Syphilitiker in vorgeschrittenen Jahren nichts
weniger als gleichgültig auf den Ablauf der Erkrankung sind! Ist
d a s im Sinne der Unfallversicherung gelegen? Ist einer von uns
Aerzten bei Abschliessung eines Unfallversicherungvertrages solcher
Eventualitäten sich bewusst? Gilt denn für uns Aerzte in diesem
Punkte vor Gericht nicht auch Treu und Glaube? Gelten denn neben
den gedruckten und geschriebenen Paragraphen nicht auch der Wille,
die Absicht, die Voraussetzungen, unter welchen wir juristisch un¬
geschulten Mediziner unsere Versicherungsverträge abgeschlossen
haben? Jeder Taglöhner mit seiner Versicherung ist besser gedeckt
als wir Aerzte, die wir uns unsere Unfälle im Dienste der Nächsten
holen.
Wahrlich, die Frage nach der Notwendigkeit und nach der Be¬
rechtigung zu einer Forderung staatlicher Hilfe, Verstaat¬
lichung der Versicherung der Aerzte, scheint mir da sehr am
Platze! Der Einzelne macht doch bei Eingehung privater Versiche¬
rungsverhältnisse in dieser oder jener Beziehung Fehler, vor allem
aus Unachtsamkeit und aus Unkenntnis der tatsächlich bestehenden
Verhältnisse.
„Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe.“ Aber denke
man nur an die Angehörigen der durch dLe „Unkenntnis“ Betroffenen,
so leuchtet ein, dass es nicht in das Belieben und die juristische Ge¬
schicklichkeit des Einzelnen gestellt bleiben darf, auf dass diese Un¬
kenntnis ihre verhängnisvollen Wirkungen entfalte. Eine einheitliche
staatliche Regelung und Hilfeleistung scheint da wirklich von nöten.
Ich bin mir wohl bewusst, dass eine derartige Forderung nach der
Hilfe des Staates bei manchen Aerzten auf Widerstand stossen wird
. . . gleichviel, ein Fall wie der vorliegende fordert zum mindesten,
dass die Aerzte in ihrer Gesamtheit zusammenstehen, auf dass dem
Einzelnen Gerechtigkeit widerfahre. Mag die Regelung der Frage
erfolgen wie sie wolle, so viel steht doch wohl fest, dass solche Fälle,
wie ich einen hier geschildert habe, wie es höchst wahrscheinlich
deren mehr gibt, nicht Vorkommen dürfen.
Weitere Schritte in dieser Angelegenheit zu tun, steht den ver¬
schiedenen Aerztevereinigungen zu, und dem Kollegen, der durch sein
gerichtliches Vorgehen die gegenwärtigen Missverhältnisse vor die
Oeffentlichkeit gebracht hat, dem gebührt unser aller Dank. Dann
waren die Leiden und die Sorgen, die er mit seiner „Versicherung“
gehabt hat, nicht umsonst.
Um aber noch einmal auf meinen Vorschlag einer staatlichen
Regelung der Versicherungsverhältnisse der Aerzte zurückzukommen,
es ist nicht allein der Umstand, dass es sich, wie im vorliegenden
Falle, ergeben kann, dass nach den bisherigen allgemeinen Be-
I dingungen der Unfall-Versicherungsgesellschaften die Aerzte gegen
1366
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28
die Folgeerscheinungen beruflich akquirierter Lues schutzlos da-
stchen. Es kommt noch ein Umstand hinzu, dessen Kenntnisnahme
gleichfalls der vorliegende Fall gezeitigt hat.
Wie aus dem bereits Mitgeteilten hervorgeht, hat die Versiche¬
rungsgesellschaft, welcher der Kollege seit beinahe 20 Jahren angehört
hat, diesem das Versicherungsverhältnis gekündigt. Dazu hat sie
laut Statuten das Recht.
Die luetische Erkrankung des Kollegen wird verlaufen wie alle
anderen Fälle luetischer Erkrankung überhaupt; leider ist nur im
speziellen Falle der weitere Ablauf der Infektion ein sehr schwerer
und besorgniserregender. Perioden des Rezidivs werden mit solchen
der Latenz abwechseln. Zeitweise, jahrelang, so hoffentlich nach
Rückbildung der gegenwärtigen Rezidiverkrankungen, zeitlebens wird
der Kollege imstande sein, seinem ärztlichen Berufe wieder nachzu¬
gehen. Er ist Landarzt, als solcher mehr als ein anderer Arzt beruf¬
lichen Schädigungen und Unfällen ausgesetzt. Wie schützt er sich
gegen neuerliche Unfälle, wer gewährt ihm Entschädigung, wenn er
aus seinem Wagen oder Schlitten herausgeschleudert wird und sich
z. B. das Bein bricht?
Die Versicherungsgesellschaft, welcher Dr. X. beinahe 20 Jahre
angehört, hat ihm gekündigt; nur wenn Dr. X. ausdrücklich sich damit
einverstanden erklärt, dass die Gesellschaft nicht haftbar sei für alle
diejenigen Komplikationen, welche neuerliche Unfälle durch das Be¬
stehen der Syphilis bei dem Versicherten erfahren könnten, will sie
sich auf einen neuen Vertrag einlassen. In einem Briefe an den Ver¬
treter des Dr. X. knüpft die Gesellschaft die Neuaufnahme des Dr. X.
ausdrücklich an die Bedingung, dass sie, wenn ein Unfall in seinen
Folgen durch die bestehende Syphilis erschwert werden sollte, nur
diejenige Entschädigung zu zahlen habe, welche zu zahlen wäre, wenn
der Unfall eine Person in körperlich normalem Zustande betroffen
hätte. Und so wie diese Versicherungsgesellschaft, so verhalten sich
natürlich auch alle anderen; seit einigen Jahren stehen alle Ver¬
sicherungsgesellschaften unter einander in einem Kartell und ver¬
fahren in allen wesentlichen Punkten nach ein und derselben
Schablone.
Welche Konsequenzen des Unfalles vom 9. XI. 02! Wie schwer
mag das in der Praxis sich gestalten, im einzelnen Falle zu entscheiden,
was ist dem neuerlichen Unfälle als solchem zuzuschreiben, was dem
Umstande, dass der neuerliche Unfall die alte Lues irritiert, zu Mani¬
festationen angeregt hat, dass der neue Unfall ein syphilitisch er¬
kranktes Individuum betroffen hat? Welch Rattenkönig ärgerlicher
Auseinandersetzungen und gerichtlicher Streitereien! Dass luetische
Individuen bei Abschliessung ihrer Unfallversicherung einer erhöhten
Prämie unterstehen, hat ja seine Berechtigung. Soll aber der Arzt,
der das Unglück gehabt hat, durch einen Unfall sich Lues zuzuziehen,
auch noch zeitlebens finanziell seitens der Unfallsversicherung benach¬
teiligt werden, muss ihm seine Lues zeitlebens ziffermässig vor¬
gerechnet werden? Ich will auf diesen Punkt gar nicht näher ein-
gehen, es genüge der Hinweis auf diese „weiteren“ Konsequenzen
luetischer Infektion eines durch Unfall geschädigten Arztes.
Hilfe tut da not! Und soweit ich die Verhältnisse überblicken
kann, kann sachgemässe und dabei diskrete Hilfe nur der Staat ge¬
währleisten.
Vor ein paar Tagen ging durch die medizinische Presse ein Auf¬
ruf an die deutschen Aerzte, aus welchem hervorgeht, dass die Bres¬
lauer Dermatologische Vereinigung Schritte zu tun beabsichtigt, um
den Aerzten bei Syphilisinfektion im Berufe günstigere Entschädi¬
gungsbedingungen seitens der Unfallversicherungsgesellschaften zu
erwirken. Die Breslauer Dermatologische Vereinigung fordert die
Aerzte auf, an dem Unternehmen durch die Bekanntgabe einschlägiger
Beobachtungen sich zu beteiligen.
Ein neues Lorberblatt fügt N e i s s e r seinem Ruhmeskranze
bei, indem er im Interesse unglücklicher geschädigter Kollegen an der
Spitze der Gesamtheit der deutschen Aerzte gegen Unbilligkeiten
und Ungehörigkeiten, welche die Einzelnen betreffen können, zu
Felde zieht.
Meine vorstehenden Mitteilungen hatte ich im Anschluss an die
Entscheidung des Landgerichtes im Einvernehmen mit dem Kollegen
zusammengestellt und mit der Publikation derselben die in nächster
Zeit erfolgende Entscheidung der von Dr. X. in Anspruch ge¬
nommenen Berufungsinstanz abwarten wollen. Nachdem aber jetzt
durch die machtvolle Initiative N e i s s e r s ein gemeinsames Vor¬
gehen aller Aerzte in Aussicht steht, erscheint es mir nicht mehr not¬
wendig unsere speziellen Erfahrungen hinsichtlich der Beurteilung
der Angelegenheit seitens einer höheren Instanz abzuwarten. Meine
Veröffentlichung mag jetzt dazu dienen, einem weiteren Kreise von
Aerzten die dringende Notwendigkeit des von Ne iss er in dankens¬
werter Weise beabsichtigten Vorgehens zu illustrieren und zu all¬
seitiger Unterstützung des grossen Unternehmens seitens der Aerzte
in dieser oder jener Form Veranlassung geben.
') Siehe Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 19, p. 952.
Referate und Bücheranzeigen.
Nagel: Handbuch der Physiologie des Menschen ii
4 Bänden. Braunschweig 1906. Fr. Vieweg &. Sohn. 2 Band
1 Hälfte: Physiologie der inneren Sekretion, der Geschlechts¬
und der Harnorgane. 384 Seiten. Preis 12 M.
Unter die Drüsen mit innerer Sekretion schliesst der Be¬
arbeiter H. Boruttau die Schilddrüse, den Hirnanhang, du
Nebennieren, Thymus, Milz und Pankreas, in beschränkten
Sinne die Nieren und die Keimdrüsen; Hoden und Ovariun
ein. Der Tendenz, die beiden Theorien über die Funktion diese]
Drüsen, die eine, dass dieselben für die normalen Funktioner
des übrigen Organismus notwendige Stoffe (chemische Ver¬
bindungen) erzeugen und — innere Sekretion — ar
das Blut abgeben, die andere, die Entgiftungstheorie, nacl
der diese Drüsen schädliche Stoffwechselprodukte anderer Or¬
gane, welche sonst eine Selbstvergiftung (Autointoxikation) de:
Körpers hervorrufen würden, durch chemische Veränderung
unschädlich zu machen berufen sind, zu verbinden, steht Verf
im allgemeinen beifällig gegenüber und zwar in dem Sinne
dass die schädlichen Substanzen in andere umgewandelt wer¬
den, welche, an das Blut abgegeben, noch wichtige Funktioner
zu erfüllen haben. Andererseits fasst Verf. z. B. die Aufgabt
der Nebennieren dahin zusammen, dass deren Marksubstam
durch beständige Bildung von Adrenalin, welches durch die
Nebennierenvenen in die Blutbahn gebracht wird, den nor¬
malen Tonus des Gefässystems, möglicherweise auch das ge¬
nügend kräftige Funktionieren des Herzens und der querge¬
streiften Muskulatur sichert, während die Rinde das entgiftende
Organ ist, durch das toxische Umsatzprodukte der Muskulatui
unschädlich gemacht werden. — Hinsichtlich der Schilddrüse
wäre hervorzuheben, dass Verf. schon die allerneueste Be¬
hauptung B i e d 1 s erwähnt, dass die Entfernung der eigent¬
lichen Schilddrüse die Myxödem-Kachexie, diejenige der Neben¬
schilddrüsen oder „Epithelkörper“ di Tetanie bewirke. Ref
muss sich zu seinem Bedauern Rückhaltung auferlegen unc
kann nicht alle die ausserordentlich interessanten Mitteilunger
neuer Tatsachen und der darauf gebauten Schlüsse anfiihrer
und erörtern, er muss sich darauf beschränken, die Verfassei
der übrigen Gebiete anzuführen und die allerwichtigsten Daten
die sie bringen, hervorzuheben. Fesselnd und mit grösstei
Klarheit ist die Physiologie der männlichen Geschlechtsorgane
von W. N a g e 1, dem Herausgeber, in gleicher Weise und aucl
für den Praktiker höchst belehrend die der weiblichen Ge¬
schlechtsorgane von Hugo S e 1 1 h e i m geschrieben, beide Ab¬
handlungen werden auch durch sehr gute und reichliche Ab¬
bildungen dem Verständnis leichter zugänglich gemacht. Füi
die Wichtigkeit des Selbststillens der Mutter seien folgende
Einzelnheiten aus der Arbeit des letzteren Verfassers ange¬
führt: 1. Beim Vergleich der Milchasche mit der Asche des
Säuglings ergibt sich eine Uebereinstimmung der Zahlen dahin
dass die Brustdrüse dem Blutserum der Mutter alle Aschen¬
bestandteile in einem bestimmten Prozentsätze und zwar genai
in dem Gewichtsverhältnis entnimmt, in welchem das Junge
ihrer zu seinem Ausbau bedarf. 2. Der Lezithingehalt der
Milch eines Tieres ist im Vergleich zum Eiweiss um so höher
je höher das relative Gehirngewicht ist. 3. Das Blutserum
des Brustkindes besitzt eine beträchtlich höhere bakterizide
Kraft als das Blutserum des künstlich ernährten Kindes. 4. Das
Nichtstillen hat statistischen Nachweisen zufolge Einfluss aui
die Entstehung des Brustkrebses.
Etwas schwieriger für das Verständnis sind die beiden
folgenden Abschnitte, indem sie gründliche anatomische und
chemische Kenntnisse voraussetzen. Bei der Absonderung
und Herausbeförderung des Harns ventiliert B. M e t z n e r die
Frage, ob in den Glomerulis Blutplasma minus Eiweiss filtriert
oder ob Wasser mit gelösten Harnbestandteilen sezerniert wird.
Indem er den ersteren Teil der Frage bejaht, hebt er anderer¬
seits die sekretorische und resorbierende Funktion der Nicren-
cpithelien hervor und zwar in bezug auf Harnsäure, phosphor¬
saure und blutfremde Stoffe überhaupt, während Harnstoff teils
durch Filtration teils durch Sekretion ausgeschieden werde.
Die Niere habe aber auch als ächte Drüse die Fähigkeit , blut¬
fremde Stoffe aus ihren Komponenten aufzubauen (Hippur¬
säuresynthese). Sehr klar und leicht verständlich ist am
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1367
Schlüsse dieser Abhandlung der Miktionsakt und seine Regu¬
lierung durch die nervösen Apparate zusammengefasst.
Im letzten Abschnitte: Der Harn von Otto W e i s s werden
dessen physikalische und chemische Eigenschaften sowie seine
Zusammensetzung ebenso vorzüglich besprochen. Von W e i s s’
interessanten Ausführungen sei erwähnt, dass der Harnstoff,
das hauptsächlichste Endprodukt des Eiweissumsatzes, haupt¬
sächlich in der Leber entsteht, während die Harnsäure in ihrer
endogenen Entstehung das Endprodukt des Stoff¬
wechsels der Zellkerne und, nicht ihres Zerfalles sei und
dass sie e x o g e n aus dem Nuklein der Nahrung entstehe. Bei
den Vögeln sei für die Harnsäure als Ort der Bildung ebenfalls
die Leber nachgewiesen und zwar als Endprodukt des Eiweiss¬
umsatzes analog dem Harnstoff bei den Säugern. Auch wird
die Entstehung von Harnsäure durch Synthese von Ammoniak
und Milchsäure für die Leber der Vögel nachgewiesen. Von
praktischer Wichtigkeit ist endlich, dass Indikan (Indoxyl-
schwefelsäure), das bekanntlich unter normalen Verhältnissen
von dem Grade der Eiweissfäulnis im Harn bei eiweissreicher
Nahrung abhängt und als Anzeichen von Autointoxikation
durch faulende Stoffe gilt, sich ausserdem bei teilweisen Ver¬
schluss des Darmkanales und zwar nur des Dünndarmes, nicht
des Dickdarmes findet, daher Kolomel als Desinfektionsmittel
anzuwenden ist. Durch diese kurzen Auszüge beabsichtigt
Referent den hohen Wert der Physiologie überhaupt wie die
grossen Vorzüge des vorliegenden auf hohem wissenschaft¬
lichen Standpunkte stehenden Werkes insbesondere auch dem
in der Praxis stehenden Mediziner vor Augen zu führen.
S e g g e 1.
Ebstein und Schwalbe: Handbuch der praktischen
Medizin. 2., vollständig umgearbeitete Auflage. 3. Band:
Krankheiten des Nervensystems (mit Einschluss der
Psychosen). Krankheiten der Bewegungsorgane. Stuttgart
1905. 20 M.
Den Krankheiten des Nervensystems im engeren Sinne sind
in der neuen Auflage auch die Psychosen und die Krankheiten
der Bewegungsorgane angegliedert, während die Verände¬
rungen des Auges und Ohres ausgelassen sind.
Die Psychosen behandelt wie in der 1. Auflage Mendel,
die Krankheiten des Gehirns und des verlängerten Marks, so¬
wie die funktionellen Sprachstörungen Ziehen, lieber beides
ist schon für die erste Auflage berichtet. Die allgemeinen
Neurosen hat, an Stelle von Jolly, Redlich - Wien über¬
nommen und ihre Darstellung auf der Grundlage der Jolly-
schen Darlegungen durchgeführt. Die Krankheiten des Rücken¬
marks besprechen wie in der ersten Auflage Obersteiner
und Redlich. Neu sind die Erkrankungen im Bereiche der
peripheren Nerven von E ding er; er tritt hier an die Stelle
von E u 1 e n b u r g. Mich hat die originelle und frische Be¬
handlung des Gegenstands durch E d i n g e r, die Hervorhebung
des Wesentlichen, die Berücksichtigung der praktischen Be¬
dürfnisse und dabei doch die hohe Achtung und Beachtung der
theoretischen Verhältnisse besonders angezogen.
Die Krankheiten der Bewegungsorgane behandelt
D a n e s c h, den Tetanus N i c o 1 a u s. Ueber beide Abhand¬
lungen ist schon früher berichtet.
Ich persönlich möchte auch bei diesem Band, wie bei allen
anderen, für die Leser und die Autoren bedauern, dass die
Aufsätze gekürzt sind und möchte dringend raten, das in einer
weiteren Auflage zu redressieren.
Der 2. B a n d des Handbuchs (Preis 20 M.) bringt zunächst
die Krankheiten der Verdauungsorgane. Die
Krankheiten der Lippen, der Mundhöhle und Speiseröhre schil¬
dert, wie im 1. Bande, Sticker. Die Störungen der Magen¬
verdauung hat, an Stelle von P e 1, Prof. Lorenz- Graz
übernommen. Die Darstellung erscheint mir durchaus korrekt
in den Grenzen der gegenwärtig herrschenden wissenschaft¬
lichen und technischen Anschauungen. Die Erkrankungen der
übrigen am Verdauungsprozess beteiligten Organe (Darm,
Leber, Pankreas, Peritoneum) sowie die Verdauungsstörungen
im Säuglingsalter werden von den gleichen Autoren wie in der
ersten Auflage geschildert (Pribram, Ebstein, Epstein).
Die chirurgische Behandlung ist auch hier wieder ausgelassen
und für einen besonderen Band aufgespart. In diesem Fall
scheint mir das ein Nachteil für das Ganze zu sein, weil ge¬
rade bei den Erkrankungen des Darmes (Appendizitis!) und der
Leber (Gallensteine!) die innere und die chirurgische Behand¬
lung doch überhaupt nicht mehr zu trennen sind, so dass sie
in einem Handbuche direkt nebeneinander gebracht werden
sollten !
Dem 2. Bande ist dann noch angegliedert die Besprechung
der Krankheiten der Harnorgane und des männlichen Ge¬
schlechtsapparats. Rosenstein bespricht wie in der ersten
Auflage die Krankheiten der Niere, des Nierenbeckens und der
Harnleiter. Die Darstellung steht noch auf dem Standpunkt
der Bemühung, die anatomische Form der Nierenveränderung
klinisch zu diagnostizieren — ich glaube, dass da eine von Grund
aus neue Auffassung möglich und zweckdienlich wäre. Für die
Erörterung der Krankheiten der Harnwege müsste meines Er¬
achtens die überragende Bedeutung der zystoskopischen
Methode mehr hervorgehoben werden.
Die Krankheiten der Harnblase bespricht wie in der ersten
Auflage K ü m m e 1 1, die der Harnröhre und des Hodens
J a d a s s o h n, die funktionellen Störungen des männlichen Ge¬
schlechtsapparates F ii r b r i n g e r, die eigentlichen Ge¬
schlechtskrankheiten Jadassohn.
Im 4. Bande des Handbuchs sind die Inf'ektions- und Kon¬
stitutionskrankheiten vereinigt. Für die Infektionskrankheiten
ist die Verteilung im wesentlichen die gleiche wie in der ersten
Auflage. Zwei kleinere Aufsätze von D e h i o über das Malta¬
fieber und über die Windpocken sind zugefügt. Die Darstellung
der verschiedenen Krankheiten ist gerade für den Erfahrenen
interessant, weil viele Autoren von verschiedenen Stand¬
punkten aus sich beteiligen. Indessen scheint mir für den rein
didaktischen Zweck doch die Zerspaltung eine zu grosse. Ganz
besonders in Anbetracht der neuerdings verkürzten Darstel¬
lung! Die gesamten Infektionskrankheiten werden auf 300 Sei¬
ten dargestellt und 8 Autoren beteiligen sich daran! So wäre
es meines Erachtens z. B. sehr wünschenswert, die Schilderung
der akuten Exantheme in einer Hand zu vereinigen! Die Be¬
sprechung des Abdominaltyphus z. B. ist reichlich kurz.
Der Band enthält dann noch die Konstitutionskrankheiten
von Ebstein, die Zoonosen von N i c o 1 a i e r und eine Dar¬
stellung der verschiedenen Formen der Vergiftung von Har-
nack, Brieger und Marx; wir haben hier die gleichen
Autoren wie in der ersten Auflage.
Alles in allem scheint mir das Ebst'Gn-Schwalbe-
sche Handbuch einem Bedürfnis für uen Arzt zu entsprechen
sowie seinen gut begründeten RiE zu rechtfertigen, ein volles
Recht auf die Behauptung seines Platzes zu haben. Denn es
kann kein Zweifel bestehen, dass gerade für Aerzte die Dar¬
stellungen des Nothnagel sehen Handbuchs vielfach zu
lang und diejenigen der kleineren Lehrbücher nicht eingehend
genug sind. Nur möchte ich nochmals dringend empfehlen,
dass bei einer weiteren Auflage des Handbuches manche Er¬
örterungen wieder ausführlicher gestaltet werden. Sonst be¬
steht tatsächlich die Gefahr, dass das Werk sich zu sehr den
kürzeren Lehrbüchern nähert und dann würde die Berechtigung
seiner Stellung zweifelhaft werden können. Ich sehe darin
eine ernstliche Gefahr für das Werk und gerade weil ich es
so hoch schätze, fühle ich die Pflicht, vor dieser Gefahr zu
warnen. Eine zu weitgehende Berücksichtigung buchhänd¬
lerisch-technischer Erwägungen, die ja allezeit auf gedrängte
und gekürzte Darstellungen hinausgehen, hat schon manches
Werk geschädigt. • K r e h 1.
Dr. Ernst Fränkl: Ueber Vorstelhingselemente und Auf¬
merksamkeit. Mit 40 Kurven auf 4 Tafeln, 6 Seiten Zeich¬
nungen eines schwachsinnigen Versuchsknaben, 1 Figuren-
tafcl mit 8 Figuren, 1 Figur im Text und 63 Tabellen. Verlag
von Theodor L a in part Augsburg 1905, Preis 8 Mark 50 Pf.
In der Art der Aufnahme des zu erlernenden Stoffes und
in seiner Reproduktion bestehen grosse individuelle Unter¬
schiede. Die visuell veranlagten Menschen lernen am
besten durch optische Eindrücke und denken in innerlich ge¬
sehenen Wortbildern, der Akustiker denkt in Klangbildern,
der motorische Typus spricht die Worte innerlich aus
ohne ihr Klangbild zu hören, hat aber dabei Sprechbewegungs-
empfindungen. Die meisten Menschen bieten gemischten Ty-
1368
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
pus. Besondere Begabung äussert sich aber vielfach einseitig,
so gibt es Leute, die dicke Bücher aus dem Gedächtnis „inner¬
lich ablesen“ können, der Akustiker Beethoven komponierte,
obgleich taub geworden, noch unsterbliche Werke und schrieb
sie erst nieder, wenn er ein Stück im Kopfe vollkommen fertig
hatte. Für die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses spielt nun
die Art der Aufmerksamkeit bei der Aufnahme des zu
Erlernenden eine grosse Rolle, Durch eine grosse Anzahl
von Versuchen prüfte nun F r ä n k 1 an normalen und an
schwachsinnigen Knaben ihre Fähigkeit des Erlernens von
Buchstabenreihen, von sinnlosen Silben, von Worten und von
Gedichten. Ferner untersuchte er tachistoskopisch dieSchnellig-
keit der Auffassung und die Ideenassoziation bei gegebener An¬
fangsvorstellung. Schliesslich erforschte er durch Ausfragen
der Versuchspersonen, wie sie am leichtesten lernen, ob durch
Aufsagen des zu Erlernenden oder ob sie durch den Rhythmus
unterstützt werden usw. Diese sehr mühseligen, in grosser
Anzahl angestellten experimentellen Forschungen haben nun er¬
geben, dass der Akustiker Schnellerner ist, während der Vi¬
suelle langsamer lernt, mit wenig Aufmerksamkeit an seine
Arbeit geht und seine Hauptkraft erst am Schlüsse betätigt.
Die verschiedenen Vorstellung- und Aufmerksamkeitstypen fin¬
den sich in gleicher Weise wie bei gesunden Menschen auch
unter schwachsinnigen Kindern. Beigefügte Zeichnungen illu¬
strieren, dass solche ungewöhnlich visuell veranlagt sein kön¬
nen. Die Ergebnisse der F r ä n k 1 sehen Arbeit haben nicht
nur theoretisches Interesse, ihnen muss auch grosse praktische
Bedeutung zugesprochen werden. Der Lehrer, welcher sich
über den Vorstellungs- und Aufmerksamkeitstypus seiner
Schüler unterrichtet, kann den Einzelnen über die günstigste
Lernweise belehren und dadurch sich und ihm die Arbe:+ er¬
leichtern. Die besprochenen Typen eignen sich auch in ganz
verschiedener Weise für die verschiedenen Berufe, so muss
der Arzt und der bildende Künstler visuell begabt sein, der
Neuphilologe muss Akustiker sein, wenn er in seinem Fache
etwas leisten will.
Aus der hier gegebenen kurzen Inhaltsangabe ist wohl zu
entnehmen, dass das Buch von F r ä n k 1 dem Psychologen
und dem Psychiater ebenso wie dem Pädagogen reichlich An¬
regung bietet. Die Nutzanwendung der Ergebnisse der vor¬
liegenden Arbeit wird der lernenden Jugend sicher sehr zu
statten kommen. L. R. Müller.
O. Witzei, F. Wenzel, P. Hackenbruch: Die
Schmerzverhütung in der Chirurgie. München 1906, Lehmann,
Preis 3 Mark.
Das ist ein Buch, das Ref. jedem deutschen Arzte zum
Studium aufs angelegentlichste empfehlen möchte. Und sei es
nur der kurzen einleitenden Worte Witzeis wegen. „Die
Schmerzaufhebung ist schwieriger als der Eingriff, sie bringt
grössere Verantwortung. Wer nicht vorher mit Ernst dabei
war, die Narkose zu erlernen, soll noch nicht einmal einen
Abszess eröffnen dürfen.“ Aus diesem und ähnlichen Sätzen
spricht die Wichtigkeit, die Witzei der Schmerzaufhebung
in der Chirurgie zuschreibt. Die Leser dieser Wochenschrift
wissen, wie eifrig W i t z e 1 bemüht war, im Verein mit seinen
Schülern die Allgemeinnarkose so auszubilden, dass sie, ohne
Gefahr zu bringen, auch für die kleinsten Eingriffe empfohlen
werden kann. Wenzel beschreibt im zweiten Abschnitt
nochmals genau die Aethertropfnarkose, wie sie sich
an den Abteilungen Witzeis seit Jahren aufs beste bewährt
hat. Auch für denjenigen, der nicht vom Chloroform lassen
mag, enthält dieser Abschnitt sehr beherzigenswerte Vor¬
schriften.
Die örtliche Schmerzverhütung schliesslich ist von einem
anderen Schüler W i t z e 1 s, von Hackenbruch - Wies¬
baden bearbeitet, dem wir bekanntlich schon lange eine be¬
trächtliche Förderung unseres schmerzverhütenden Könnens
verdanken (Hackenbruch scher Rhombus). Neben den
Allgemeinvorschriften gibt er besondere Regeln für die ein¬
zelnen Operationen, die jedem Praktiker sehr willkommen sein
werden. Auch die Rückenmarksanästhesie ist in diesem Ab¬
schnitt erörtert. H. macht die Rückenmarkseinspritzung jetzt
immer von einem K> cm langen Einschnitt aus. K r e c k e.
W. P r e y e r: Die Seele des Kindes. Beobachtungen über
die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebens¬
jahren. 6. Auflage. Nach dem Tode des Verfassers bearbeitet
und herausgegeben von Karl L. Sch äff er. Mit dem Por¬
trät des Verfassers. Th. Griebens Verlag, Leipzig 1905.
Nach dem Tode des geistvollen Autors des bekannten
Werkes hat sich sein früherer Schüler und Assistent pietätvoll
der Aufgabe unterzogen, eine Neuauflage herzustellen
und hat eine Anzahl von Abschnitten, besonders jene,
welche die Entwicklung des Sinne und des Willens be¬
handeln, einer Umarbeitung und Erweiterung zu unter¬
werfen. Im allgemeinen ist das Werk ziemlich unverändert
gelassen worden. Deutschlands Kinderfreunde und -Freun¬
dinnen, welchen Pr. sein an Beobachtungen so' überaus reiches
Werk gewidmet hatte, werden die Neuauflage mit Freuden
begrüssen. Grass mann- München.
W. Pf aff: Die Alkoholfrage vom ärztlichen Standpunkt.
Zweite vermehrte Auflage. München 1906. E. Reinhardt.
1 M. 20 Pf.
In ehrlichem Kampfeseifer verbreitet sich Verfasser aus¬
führlich über die Schädigungen, die nicht nur der Alkoholmiss¬
brauch, sondern der auch der „mässige“ Alkoholgenuss körper¬
lich, seelisch, wirtschaftlich und kulturell verursacht. Er
wendet sich in erster Linie an die Aerzte, um sie von der Not¬
wendigkeit zu überzeugen, durch eigenes Beispiel die Abstinenz¬
bewegung zu fördern. Doch ist das Büchlein auch geeignet, in
weiteren Kreisen aufklärend und werbend zu wirken.
F. P e r u t z - München.
Neueste Journalliteratur.
Deutsches Archiv für klinische Medizin. Bd. 87. 1. — 2. Heft.
1) W. Rudolph: lieber Leberdegenerationen infolge Pankreas¬
nekrosen. (Aus dem städtischen Krankenhause in Kiel.)
Für die Entstehung vieler Lebererkrankungen kommen als ur¬
sächliches Moment Erkrankungen anderer Organe im Gebiete der
Pfortader vielfach in Betracht, wobei allerdings das Pankreas wenig
berücksichtigt wurde. Im vorliegenden Falle fanden sich Nekrose¬
herde im Pankreas und gleichzeitig Veränderungen des Lebergewebes,
die wohl als Vorstufen von Nekroseherden anzusprechen waren.
Dass die prall und geschwollen anzufühlende Leber plötzlich inner¬
halb weniger Tage deutlich kleiner wurde, ist vielleicht auf eiweiss-
lösende Fermente zurückzuführen, die von den Zerfallsherden des
Pankreas in die Leber gelangten.
2) H. Edenhuizen: Lieber einen Fall von Polymyositis bei
akuter Polyarthritis. (Aus dem Stadtkrankenhause Friedrichstadt zu
Dresden.)
Nach Gegenüberstellung der noch sehr abweichenden Anschau¬
ungen über das Wesen dieses Krankheitsbildes gelangt Verf. auf
Grund zweier Beobachtungen zu der Ansicht, dass diese Myositis als
Teilerscheinung einer primären Polyarthritis aufzufassen ist.
3) H. Könige r: Der Einfluss der Röntgenbehandlung auf den
Stoffwechsel bei chronischer myeloider Leukämie. (Aus der medizin.
Klinik zu Erlangen.)
Die Harnsäureausscheidung wird bei myeloider Leukämie unter
dem Einfluss der Bestrahlung der Milz zugleich mit dem Rückgang
der leukämischen Beschaffenheit des Blutes und der Organe in gesetz-
mässiger Weise verändert. Die vorübergehenden Steigerungen der
Harnsäureausscheidung fallen zeitlich zusammen mit einer raschen
Abnahme der Leukozytenzahl und einer nachweislichen Verkleinerung
des leukämischen Milztumors, und sind als der Ausdruck eines ge¬
steigerten Leukozytenzerfalles anzusehen. Die allmähliche Abnahme
der Harnsäure und der Purinbasen (bei gleichzeitiger Hebung des
N-Umsatzes) ist der Ausdruck einer Abnahme des Zellzerfalles und
indirekt der Ausdruck einer Abnahme der Zellneubildung. Zwischen
dem Grade des Zellzerfalles, soweit man ihn therapeutisch beein¬
flussen und beurteilen kann, und der Grösse der U-Ausscheidung be¬
steht ein unverkennbarer Parallelismus; die Harnsäure erscheint
als der sicherste Gradmesser für die Schwankungen des Zellzerfalles
bei dem gleichen Individuum. Der allmähliche Rückgang der leu¬
kämischen Beschaffenheit des Blutes und der Organe kommt im we¬
sentlichen durch Beschränkung der Zellneubildung zustande. Ob die
Beschränkung der Zellwucherung die Folge einer direkten Einwirkung
der Strahlen auf die Zellen ist, ist noch zweifelhaft; jedenfalls ist es
merkwürdig, dass die Milzbestrahlung allein ausreicht, um die ganze
Wucherung zu unterdrücken. Die Besserung der Leukämie kann
allein durch die Beseitigung der Zellwucherung erklärt werden; die
Annahme einer Beeinflussung des hypothetischen parasitären Er¬
regers der Krankheit ist vorläufig nicht genügend begründet. Die
Abnahme der Purinkörperausscheidung ist das sicherste Zeichen der
erzielten Besserung der Leukämie. Um eine in einzelnen Fällen be-
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1369
obachtete anhaltende Zerfallssteigerung zu verhüten, ist eine vor¬
sichtige Dosierung der Röntgenstrahlen nötig.
4) 0. Hallenberger: Ueber die Sklerose der Arteria ro-
dialis. (Aus dem pathologischen Institut der Universität Marburg.)
(Mit 6 Abbildungen im Text und Tafel I.)
Nach Hinweis auf die verschiedenen Theorien über das Wesen
der Arteriosklerose (Entzündungstheorie — Köster, kompen¬
satorische Endarteriitis — T homa, hyperplastische Intimaver¬
dickung bezw. regenerative Bindegewebswucherung der Intima —
Jores) bespricht Verf. seine Ergebnisse über die Sklerose der
Arteria radialis an Hand von 80 Leichenbefunden, die von einer 8 Mo¬
nate alten Frühgeburt beginnend bis zu einem 75 jährigen Individuum
alle dazwischen liegenden Altersstufen umfassen. An der Radialis lässt
sich unter normalen Verhältnissen eine mit dem Alter allmählich zu¬
nehmende Intimaverdickung feststellen, die bis zum 4. Dezennium den
Typus der reinen Hyperplasie, bestehend aus einem bis drei starken
elastischen Streifen, darstellt. Nachdem der histologische Aufbau
dieser Intimaverdickung eingehend geschildert, ebenso die daran be¬
teiligten Gewebselemente, wird die Frage als offen betrachtet, ob
mit der hyperplastischen Intimaverdickung auch eine Hypertrophie
der Media einhergeht, was für die Adventitia bestirnt verneint wird.
Was die Ursache dieser Intimaverdickung anlangt, so geht ihr jeden¬
falls eine stärkere Spannung und Dehnung der Elastica interna voraus,
deren drohender Ueberdehnung im Wachstumsalter durch die Ent¬
wicklung der starken elastischen Streifen vorgebeugt wird. Diese
Verdichtung ist also als physiologisch zu betrachten. Erst im höheren
Alter, wenn auch das neugebildete elastische Gewebe mehr und mehr
abgenutzt wird, und seinen elastischen Widerstand verliert, setzt
Bindegewebswucherungen ein. Die senile Arteriosklerose der Ra¬
dialis stellt also eine polsterartige Intimaverdickung dar, die auf
einer vorwiegenden Wucherung von Bindegewebe beruht, ohne dass
histologisch stets sichtbare regressive Veränderungen des elastischen
Gewebes vorliegen. Durch das Zurücktreten sichtbarer regressiver
Veränderungen, insbesondere der Verfettung unterscheidet sich die
juvenile und senile Sklerose der Radialis von der Sklerose der Aorta
und der grossen Gefässe.
5) Lommer: Ueber Hydrops chylosus und chyliformis. (Aus
dem Stadtkrankenhause Friedrichstadt zu Dresden.) (Mit 1 Ab¬
bildung.)
Bei einem Falle von diffuser Mesenterialkarzinose (ausgehend von
einem Ovarialkarzinom) fand sich obige Kombination; der Chylus war
durch die karzinomatös degenerierte Wand des Ductus thoracicus aus¬
getreten.
6) G. B u s c k und H. v. Tappeiner: Ueber Lichtbehandlung
blutparasitärer Krankheiten.
Zahlreiche Untersuchungen über die mikrobiziden Eigenschaften
des Lichtes haben gezeigt, dass die Mikroorganismen der Licht¬
wirkung gegenüber weniger widerstandsfähig sind als tierische Ge¬
webszellen, so dass in tierische Zellen eingelagerte Mikroben, auch
tiefer im Gewebe liegende, mit intensivem Licht vielleicht getötet
werden können ohne die Gefahr der Gewebsdestruktion. Die mit
Trypanosoma Bruce!' angestellten Versuche ergaben, dass bei dem
derzeitigen Stande der Kenntnisse eine wirksame phototherapeutische
Behandlung blutparasitärer Erkrankungen nicht durchführbar ist.
7) K. Klieneberger: Ueber hämoglobinophile Bazillen bei
Lungenkrankheiten. (Aus der med. Klinik zu Königsberg i. Pr.)
Bei 50 Proz. hustender Kranker fanden sich hämoglobinophile
Bazillen von dem Charakter der Influenzabazillen, ohne dass klinische
oder pathologisch-anatomische Erscheinungen der Influenza Vorlagen
(Pseudoinfluenzabazillen). Jedenfalls kann der klinische Begriff der
Influenza als kurzdauernder febriler Infektion mit vorwiegender Be¬
teiligung der Atmungsorgane keine ätiologische Einheit mehr be¬
deuten.
8) M. Haegel: Embolie der Arteria mesentarica superior mit
Ausgang in Genesung. (Aus der Tübinger Poliklinik.)
Interessante, kasuistische Mitteilung.
9) G. Grund: Ueber organspezifische Präzipitine und ihre Be¬
deutung. (Aus dem Laboratorium der med. Klinik in Heidelberg.)
Injektionen von Organpressäften sind in hohem Masse geeignet,
Präzipitine zu erzeugen. Für die Erzielung einer spezifischen Absätti¬
gung von Immunseris ist es notwendig, durch Reihen möglichst
quantitativer Versuche das Reaktionsoptimum festzustellen. Für die
Beurteilung der Stärke der einzelnen Reaktionen eignet sich nächst der
Wägung des Niederschlages am meisten ein Vergleich der entstehen¬
den Trübung. Es lassen sich für Blut und eine Anzahl Organe vom
Rinde und Menschen (Leber, Niere, Milz, Muskel) spezifische Prä¬
zipitine mit Sicherheit nachweisen. Der Fähigkeit, spezifische Prä¬
zipitine zu erzeugen, entspricht ein Gehalt an spezifischen Eiweiss¬
körpern. Der nicht spezifische Anteil der Präzipitinreaktion beruht
auf der Anwesenheit gemeinschaftlicher Rezeptoren in den verschie¬
denen eiweisshaltigen Flüssigkeiten. Die Nukleoproteide sind nicht
diejenigen Eiweisskörper, die die spezifische Reaktion der Organe
auslösen. Der Nephritisharn enthält keine mittels spezifischer Prä¬
zipitinreaktion nachweisbaren Nierenbestandteile.
10) E. Bloch: Die dysthyre Schwerhörigkeit. (Aus der Uni¬
versitäts-Ohrenklinik zu Freiburg i. Br.) (Mit 1 Abbildung.) Adam
Politzer zum 70. Geburtstage gewidmet.
Die dysthyre Schwerhörigkeit, die sich in ihren höchsten Stufen
an die kretinistische Taubstummheit unmittelbar anreiht, ist stets und
ausnahmslos eine nervöse Schwerhörigkeit, deren anatomischer Sitz
mindestens jenseits des Mittelohres, wahrscheinlich sogar jenseits des
Labyrinthes, zu suchen ist. Das äussere Ohr und das Trommelfell
sind normal, die Kette der Gehörknöchelchen funktioniert wie beim
Gesunden. Die Funktionsprüfung des Gehörs ergab ohne Ausnahme
eine Herabsetzung der oberen Grenze der hörbaren Tonskala. Alle
unkomplizierten Fälle zeigen eine Verminderung der Hördauer, der
auf dem Scheitel aufgesetzten schwingenden Stimmgabel. In den
hochgradigsten Fällen der dysthyren Schwerhörigkeit bestand Stam¬
meln und Lispeln, weil das von Jugend auf schlechte Gehör die Er¬
lernung der Sprache erschwerte. In den meisten (92 von 100)
Fällen bestand eine Struma, sechsmal bestand
Athyreose; wiederholt waren mehrere Familienmitglieder
strumös. Sonst bestanden noch verschiedene Erscheinungen von
Entwicklungshemmung, besonders Minderwuchs bezw. Zwergwuchs,
ungewöhnlich kleine, zierliche Ohrmuscheln, Infantilismus mit ver¬
spätetem Eintritt der Menstruation, starke Fettleibigkeit, gelegentlich
Intelligenzdefekte. Unter spezifischer Behandlung mit Jodothyrin, die
unter Einschaltung von gewissen Pausen lebenslänglich fortzuführen
ist, sind wesentliche Gehörbesserungen möglich.
11) Kleine Mitteilungen:
a) F. Lange: Die Zellkerne des systolischen Herzens. (Aus
der Tübinger med. Klinik.) Polemisches.
b) P. Wennagel: Das Kernig sehe Symptom und seine Be¬
deutung für die Diagnose Meningitis. (Aus der med. Klinik der Uni¬
versität Strassburg.)
Das Kernigsche Symptom — bei der Mehrzahl der Meningi¬
tiden soll beim Aufsitzen der Kranken eine Beugekontraktur der Knie¬
gelenke auftreten — fand sich unter 300 Kranken 52 mal positiv, von
denen 6 an Meningitis litten; andererseits war es bei 3 Meningitis¬
fällen nicht nachzuweisen.
12) Besprechungen. Bamberger - Kronach.
Zeitschrift für diätetische und physikalische Therapie.
Bd. X, Heft II. 1906.
1) E. Hertel- Jena: Ueber den Gehalt verschiedener Spektral¬
bezirke an physiologisch wirksamer Energie. (Nicht vollendet.)
2) Paul L a z a r u s - Berlin : Die Rückenmarksanästhesie im
Dienste der physikalischen Therapie. (Aus der I, medizinischen Uni¬
versitätsklinik [Direktor: Geheimrat v. Leyden].) (Schluss.)
Verfasser empfiehlt die Anwendung der Lumbalanästhesie bei
Mobilisierung von Gelenkkontrakturen, Dehnungen des Ischiadikus.
Auch in diagnostischer Beziehung ist das Verfahren zu verwerten, so
bei simulierten und hysterischen Kontrakturen und der spastischen
Pseudoparalyse.
3) H. Strauss - Berlin: Der Einfluss von Kryoskopie und Ionen¬
lehre auf die praktische Therapie. (Schluss.)
Str. referiert über die diesbezüglichen Resultate in den letzten
10 Jahren. Es zeigte sich, dass Mineralwassereinführung per os den
osmotischen Druck des Blutes nicht verändert, ebensowenig konnte
bei Schwitzkuren ein erheblicher Einfluss konstatiert werden. Unter¬
suchungen bei Urämie rechtfertigten die üblichen Behandlungsmetho¬
den (Aderlass, Abführen, eiweissarme Nahrung). Hinsichtlich der
funktionellen Nierendiagnostik erwies sich der Mangel quantitativer
Ermittlungen des gesamten von einer Niere stammenden Urins als
Fehler. Die osmotische Blutdruckbestimmung ergab für die Nieren¬
chirurgie keine zuverlässigen Anhaltspunkte. Dagegen verdanken wir
der Kryoskopie die Chlorentziehungskur bei Nierenerkrankung, ferner
eine Wandlung und Förderung in der Therapie des Diabetes insipidus.
4) L o s s e n - Darmstadt: Ueber die Wertschätzung der physi¬
kalischen Therapie, speziell in Deutschland. (Schluss.)
L. führt aus, dass der Ausbildungsmangel in physikalischer
Therapie nicht nur den Arzt in der Praxis schädigt, sondern auch der
Kurpfuscherei eine Stütze bietet, insoferne sich die Kurpfuscher auf
manchen Gebieten der Naturheilkunde Erfolge erfreuen, welche von
den Aerzten zu wenig berücksichtigt werden. Die Gründung von
Lehrstühlen für physikalische Therapie ist daher allenthalben anzu¬
streben.
5) A x m a n n - Erfurt: Einiges zur Technik der Uviol-(ultra-
violett)-Behandlung.
A. beschreibt eine neue Blende und Konzentrationsvorrichtung für
die ultravioletten Strahlen. Eine gebogene Röhre ermöglicht die¬
selben auch in Körperhöhlen zu senden. Die anerkannte Wirkung der
ultravioletten Strahlen, die sich vorzugsweise bei der Heilung torpider
Geschwüre dokumentiert, beruht auf einer dauernden Erweiterung der
Arterien und zeigt dadurch Aehnlichkeit mit den Vorgängen bei der
Bier sehen Stauung. M. Wassermann- München.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 25.
E. G r a s e r - Erlangen: Zur Technik der Radikaloperation
grosser Nabel- und Bauchwandhernien.
G. empfiehlt den von Pfannenstiel angegebenen und von
Menge modifizierten Faszienquerschnitt, den er in 4 Fällen mit
Erfolg ausführte. Beschreibung der Operation im Original. Sie sei
besonders deswegen zu empfehlen, weil sie annähernd normale ana¬
tomische Verhältnisse schafft.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
' : Vl
P. Mathes-Graz: Thrombose einer Plazentarhauptvene
intra-uteriner Fruchttod. , .
Kasuistische Mitteilung des in der Ueberschrift bezeichneten
Falles, der eine 39jähr. 1. Para betraf. Dieselbe kam in der 39.
Schwangerschaftswoche nieder. Die Autopsie der Frucht ergab alle
Zeichen des Erstickungstodes mit ausgedehnten Ekchymosen an den
serösen Häuten. Eine Ursache für die Entstehung der I hrombose
liess sich nicht auffinden.
Q. M. Edebohls- NewYork: Ein neuer durcli Nierendekapsula-
tion geheilter Fall von puerperaler Eklampsie.
E. berichtet über den 3. von ihm mit Nierendekapsulation ge¬
heilten Fall puerperaler Eklampsie. Es handelte sich um eine 20 jähr.
I. Para mit schwerer Eklampsie, drohender Urämie und Albuminurie.
Heilung in 23 Tagen.
H. Thomson- Odessa: Seltenere Neubildungen der weib¬
lichen Harnröhre und des Septum urethro-vaginale.
Kurzer Bericht über ein Fibrom, Karzinom und Sarkom der
Harnröhre, sowie über ein typisches Fibrosarkom des Septum urethro-
vaginale. J a f f e - Hamburg.
Virchows Archiv. Bd. 183. Heft 1.
1) M. Lapinsky: Zur Frage über die Beteiligung der Nerven-
stämme der hinteren Extremität an der vasomotorischen Innervation
der distalen Gebiete derselben und über die Veränderung der vaso¬
motorischen Elemente, sowie der Gefässe selbst- der Hinterpfote nach
Beschädigung des N. ischiadicus.
2) H. W. Freund und R. Thome: Eierstockschwangerschaft.
20 jährige Frau. Der Embryo ist nach der Untersuchung schon
einige Zeit vor der Operation abgestorben gewesen. Amnion und
Chorion waren noch wohl erhalten. Dezidua war nicht vorhanden.
Das Ovarialgewebe zeigte keine besonderen Veränderungen. Nach
Ansicht der Verfasser entsteht eine Eierstockschwangerschaft durch
Befruchtung eines aus irgendwelchen Gründen im Follikel zurück¬
gebliebenen Eies. Die Ernährung des wachsenden Eies geschieht
durch die resorbierende Tätigkeit des Zottenepithels bezw. des Syn-
zytiums. Dabei bilden sich zwischen den Zotten mehr oder minder
grosse Hohlräume aus, die mit mütterlichem Blut sich füllen. Je nach
der Lage des Eies kommt es bei weiterem Wachstum durch diese
resorbierende Tätigkeit früher oder später zu einer Usur resp. Ruptur
des Ovarialgewebes. Später wächst der Eisack mehr und mehr an
dieser Stelle nach aussen, so dass das Ovarium bezw. dessen Reste
nur als Anhängsel des grossen Fruchtsackes erscheinen. Ob der
Embryo am Leben bleibt, hängt davon ab, ob durch das Zotten¬
epithel rechtzeitig grössere Gefässe eröffnet werden.
3) M. Simmonds: Ueber Frühformen der Samenblasentuber¬
kulose. (Allgem. Krankenhaus Hamburg-St. Georg.)
Verf. hat bereits von 10 Jahren auf die Frühformen der Samen¬
blasentuberkulose hingewiesen. Seine neuen Untersuchungen
zeichnen für die Entstehung und Weiterentwicklung der Samenblasen¬
tuberkulose folgendes Bild. Die in dem gesunden Hoden tuberkulöser
Individuen ausgeschiedenen und aus tuberkulösen Herden des Neben¬
hodens stammenden Bazillen gelangen mit dem Sekretstrom in die
Samenblasen, vermehren sich hier im zeitweise stagnierenden Inhalt,
regen zunächst einen eitrigen Katarrh an und führen weiterhin zu
tiefgreifenden Veränderungen der Schleimhaut und zu käsiger Zer¬
störung des Organs.
4) U m b r e i t: Ueber einen Fall von Lebervenen- und Pfortader¬
thrombose. (Patholog. Institut zu Marburg.)
22 jährige Frau. Die klinische Diagnose lautete auf Leberzir¬
rhose, da starker Aszites bestand. Bei der Sektion zeigte sich an der
Leber eine atrophische Randzone, die auch ausgesprochen zirrhotische
Prozesse aufwies. Innerhalb dieser Randzone erschienen die Leber¬
venen völlig obliteriert. In dem anderen Teile der Leber, der aus¬
gesprochen hypertrophisch war, traten die Gefässe in Gestalt feiner,
kaum klaffender Spalten hervor, die, wie es auch die mikroskopische
Untersuchnug zeigte, einem von Bindegewebssepten durchzogenen,
grösseren Gefässe entsprachen. In anderen Aesten der Lebervene
fanden sich frische Thromben. Der rechte Hauptast der Vena portae
erwies sich gleichfalls partiell obliteriert und mit frischen throm¬
botischen Massen ausgefüllt. Nach der mikroskopischen Unter¬
suchung liegt in diesem Falle keine primäre Erkrankung der Haupt¬
venenstämme mit sekundärer Thrombose, sondern eine piimäre
Thrombose mit sekundären Gewebsveränderungen, eine wirklich idio¬
pathische Lebervenenthrombose, vor.
5) Ed. Menne: Zur Kenntnis der Myelomzellen. (Patholog.
Institut zu Köln.)
Mitteilung zweier Fälle. 1. Multiple Myelome der Sternums, der
Rippen und der Wirbelsäule. 2. Aehnliche Lokalisation der Myelome.
Nach der mikroskopischen Beschreibung scheint es sich um myelo-
blastische Myelome zu handeln.
6) D. Spartaco Minelli: Primärer melanotischer Gehirntumor.
(Pathol. Institut zu Strassburg.)
33 jähriger Mann. Tumor der rechten Gehirnhälfte. Verf. be¬
zeichnet die Geschwulst als primäres melanotisches Peritheliom.
7) Arnold Fuchs: Ueber ein primäres Sarkom des Magens.
(Pathol. Institut zu Breslau.)
8) Kleinere Mitteilungen: ..... ....^
A. Schmincke: Zur Kasuistik primärer Multiplizitat maligner
Tumoren. (Pathol. Institut zu Würzburg.)
6ü jährige Frau. Zylinderepithelkrebs der Gallenblase und Sar¬
kom des Uterus, die beide Metastasen gesetzt hatten.
Joseph Wiesel: Ueber Befunde am chromafiinen System bei
Hitzschlag. (Franz-Joseph-Spital in Wien.)
Verf. fand bei einem 36 jährigen Mann, der an Hitzschlag ge¬
storben war, eine Missbildung des chromaffinen Systems, das sich in
Aplasie bezw. Hypoplasie des chromaffinen Nebennierenabschnittes
in erster Linie dokumentierte, bei gleichzeitigem Vorhandensein
embryonaler Sympathikuszellen. Schridde - Marburg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 27.
1) H. Leo-Bonn: Ueber Hyperämiebehandlung der Lungen¬
tuberkulose. .
Die von Verf. versuchte Inhalationsbehandlung mit Tunoligmn
schlug fehl, die Behandlung kleinerer Bezirke mit Heissluftduschen
war zum Teil von besserem Erfolg begleitet, aber am rationellsten
erscheint die Erzeugung einer Stauungshyperämie. Die darauf ge¬
richteten Versuche sind bei weitem nicht abgeschlossen, scheinen aber
Erfolg zu versprechen. Hinsichtlich der dazu nötigen Methode er¬
weist sich schon eine horizontale Lagerung des Kranken als von Ein¬
fluss. Verf. hat ein Lager konstruieren lassen, welches eine Tief-
lagerung des Thorax mit erhöhtem Kopfe gestattet. In maximum
wurden täglich 4 Stunden in dieser Lage von den Patienten zu¬
gebracht. Bei Hämoptoe darf die Tieflagerung nicht angewendet
werden.
2) H. K ü m m e 1 1 - Hamburg : Ueber moderne Nierenchirurgie,
ihre Diagnose und Resultate. (Fortsetzung folgt.)
3) M. Bernhardt- Berlin : Zur Pathologie der Basedow¬
schen Krankheit.
1. Mitteilung eines Falles, in welchem Halsrippen mit der ge¬
nannten Krankheit zusammentrafen. 2. Mitteilung eines Falles, wo
neben Basedow auch Tabes bestand und zu gleicher Zeit auch die
Frau des Kranken an M. Bas. erkrankte.
4) J. Brodzki Bad Kudowa: Experimentelle Untersuchungen
über das Verhalten des Blutdruckes bei Urannephritis und über den
Einfluss der Nahrung bei verschiedenen Nephritisarten.
Verf. berichtet, nachdem er eine Uebersicht über die Literatur
seiner Frage gegeben, über die von ihm an 25 Kaninchen angestellten
Versuche. Die mittels Uran erzeugte Nephritis verläuft mit einer
Blutdrucksteigerung, jene mit Kantharidin erzeugte ohne eine solche.
Die Versuche zeigten ferner, dass weder Wasser noch Kochsalz, weder
Milch noch Fleischextrakt irgend eine nennenswerte Blutdrucksteige¬
rung hervorbrachten. Durch die Nahrung tritt also die auf Grund
klim'sch-tonometrischer Messungen meist behauptete Blutdrucksteige¬
rung nicht ein.
5) C. A. E w a 1 d - Berlin: 1. Fall von geheiltem Lymphosarkom.
2. Syphilitische Pfortaderthrombose. 3. Fälle chronischer Ruhr, unter
dem Bilde eines Mastdarmkarzinoms verlaufend.
Der erste Fall, einen 57 jährigen Mann betreffend, war mit
Röntgenstrahlen und Arsen behandelt worden, die Drüsen verschwan¬
den vollkommen. Im zweiten Falle, der tödlich verlief, beherrschten
das Krankheitsbild äusserst heftige Krämpfe im Bauch, vor dem Tode
trat ein Blutstuhl auf. Die letzten Fälle waren besonders dadurch be¬
merkenswert, dass die vorhandene Dysenterie keine ihr sonst charak¬
teristischen Erscheinungen machte.
6) B. S a 1 g e - Dresden: Einige Bemerkungen über die Therapie
der Skrofulöse.
Verf. tritt für eine intensivere Ausnützung unserer Nordseeküste
und der ihr vorgelagerten Inselkette im Interesse der frühzeitigen Be¬
kämpfung der kindlichen Skrofulöse resp. Tuberkulose ein.
Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 26
1 ) Zander- Königsberg : Ueber das Waller sehe Gesetz.
An der Hand der neueren Forschungsergebnisse zeigt Verfasser,
dass das Waller sehe Gesetz mit entsprechenden Zusätzen und Ein¬
schränkungen auch heute noch Geltung hat.
2) Gräupner-Bad Nauheim: Funktionelle Bestimmung der
Leistungsfähigkeit des Herzmuskels und deren Bedeutung für die Dia¬
gnostik der Herzkrankheiten.
Durch Beobachtung der Blutdruckschwankungen bei bestimmter
Muskelarbeit (Ergometer) erhält Verfasser bestimmte Aufschlüsse
über die Myokardkraft einerseits, die Gefässwiderstände im grossen
und kleinen Kreislauf andererseits. Insbesondere wird der Grad der
„Anpassungsfähigkeit“ des Herzmuskels ermittelt.
3) Arthur S c h u 1 z - Berlin: Der quantitative Nachweis von Ei¬
weissubstanzen mit Hilfe der Präzipitinreaktion und seine Anwendung
bei der Nahrungsmittelkontrolle.
Verfasser versuchte seine für den quantitativen Nachweis von
Blut angegebene Methode, die auf der Präzipitinreaktion beruht, noch
weiter für die Nahrungsmittelchemie nutzbar zu machen, zur Analyse
von Eiweissgemischen. Mit Pferdefleisch gelangen die Versuche
unter technischen Schwierigkeiten, mit Eigelb versagten sie. Im An-
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1371
Schluss hieran teilt Verfasser einige Erfahrungen betr. die Methode
des biologischen Blutnachweises mit.
4) li. S c h 1 i m p e r t - Dresden: Spirochätenbefimde in den
Organen kongenital-syphilitischer Neugeborener.
Es gelang der Nachweis in Magen, Mesenterium, Mesenterial¬
drüsen, Gallenblase, Duct. choledoch., peripherischen Nerven, Schild¬
drüse. Thymus, Tonsillen, Zunge, Wangen- und Rachenschleimhaut;
es zeigte sich ferner, dass die Spirochaete pallida intaktes Zylinder-
und Plattenepithel interzellulär zu durchdringen vermag und dass
sämtliche Sekrete und Exkrete des kongenital syphilitischen Neu¬
geborenen als infektiös anzusehen sind.
5) E. L e v y und W. E o r n e t - Strassburg: lieber Filtrat-
aggressine.
Chamberlandfiltrate von Typhusbazillen üben ebenso wie die
Bai Ischen Exsudataggressine eine leukozytenabhaltende Wirkung
aus, die Phagozytose wird gehemmt. Während das Filtrat selbst nicht
toxisch ist, vermag es bei intraperitonealer Injektion mit Kulturen zu¬
sammen die Toxizität der letzteren erheblich zu steigern.
6) L. V i n c e n z i - Sassari: Ein Fall von Staphylokokken-
septikämie.
Sehr virulenter Staph. pyog. aureus hatte das klinische Bild des
Milzbrands erzeugt.
7) B ö k e 1 m a n n - Kork (Baden): Ein Beitrag zur Behandlung
der Sepsis mit Koüargol.
In dem mitgeteilten Fall erwiesen sich Kollargolklysmen der
Silbersalzschmierkur überlegen und brachten augenfälligen Erfolg.
8) R. L e w i s o h n - Heidelberg: Zur Herstellung plastisch wir¬
kender Röntgenphotographien.
L. bringt das Negativ und sein ihm zugekehrtes Diapositiv in
den Vergrösserungsapparat, erhält so ein Diapositiv und macht von
diesem ein Negativ, das er dann kopiert. Einen diagnostischen Fort¬
schritt hat das plastische Verfahren nicht gebracht.
9) E. H a r n a c k - Halle: Zur Streitfrage über den Fettgehalt
in den Handelssorten des Kakaos.
H. sieht im Kakao in erster Linie ein Genussmittel und gibt dem¬
entsprechend den fettärmeren Produkten den Vorzug.
R. Grashey - München.
Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte. XXXVI. Jahrg.
No. 12.
Sahli -Bern: Ueber Tuberkulinbehandlung. (Schluss folgt.)
Alfred v. Mut ach: Die „plastische Rektorrhaphie“, eine neue
Methode der operativen Behandlung grosser Mastdarmvorfälle. (Aus
der Privatklinik Lindenhof in Bern.)
Verfasser empfiehlt eine der Kolpoperineorrhaphie nachgebildete
Methode, wobei der Anus wie bei der Dammplastik von Lawson-
T a i t hinten Umschnitten und dann der Anus und das Rektum durch
Quernähte versteift wird. Pischinger.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 26. 1) E. Werth e im- Wien: Ueberblick über die Lei¬
stungen der erweiterten abdominalen Operation beim Gebärmutter¬
krebs,
Verf. verfügt jetzt über 180 Fälle, von denen 60 jetzt mehr als
5 Jahre rezidivfrei sind, 60 mehr als 4 Jahre, 60 mehr als 3 Jahre.
Die primäre Mortalität ist auf ca. 9 Proz. gesunken, sodass sich die
Ergebnisse der Operation ganz wesentlich gebessert haben.
2) E. B e n j a m i n, A. v. R e u s s, E. S 1 u k a und G. Schwarz-
Wien: Beiträge zur Frage der Einwirkung der Röntgenstrahlen auf
das Blut.
B. und S. konnten durch ihre Versuche — die Anordnung der¬
selben ist im Originale zu ersehen — nachweisen, dass es nicht nur
durch die Bestrahlung blutbildender Organe möglich ist, die charak¬
teristischen Blutveränderungen hervorzurufen, sondern dass auch die
isolierte Bestrahlung des Blutes Hyperleukozytose und Lymphopenie
zur Folge hat. Bei isolierter Bestrahlung des Blutes erfolgt die Re¬
generation desselben mit grosser Leichtigkeit schon im Laufe eines
Tages, während bei Totalbestrahlungen 7 — 10 Tage nötig sind. Sch.
stellte fest, dass die Röntgenbestrahlung im allgemeinen das Auf¬
treten eines Stoffes bewirkt, dem gegenüber sich die polynukleären
Leukozyten chemotaktisch positiv verhalten. Mit diesem Stoffe steht
die sogen. Vorreaktion und der initiale Harnsäureanstieg wahrschein¬
lich im Zusammenhang. Die Rüntgenleukopenie ist von der vorüber¬
gehenden Leukozytose der Vorreaktion scharf zu trennen. B. und
v. R. fanden, dass nach intensiver Röntgenbestrahlung im Organismus
Cholin entsteht. Das Auftreten desselben fällt mit der Hyperleuko¬
zytose zeitlich zusammen.
3) > J. Finster er- Wien: Ein Beitrag zur Kasuistik und
Therapie des Nabelschnurbruches.
Verf. teilt 3 Fälle von Nabelschnurbrüchen mit und kommt zu
tolgenden Schlussätzen: Der Nabelschnurbruch stellt entweder eine
reine Hemmungsmissbildung dar, bedingt durch Verweilen des Darmes
ausserhalb der Bauchhöhle oder seltener ist er ein echter Bruch. Die
Prognose, abhängig von einer möglichst frühzeitigen Operation, hat
sich in den letzten Jahren gebessert. Die Mortalität beträgt jetzt
ca. 23 Proz. Dem extraperitonealen Verfahren nach Olshausen
ist bei den irreponiblen Brüchen wegen der Möglichkeit von Neben-
vcrletzungen die Radikaloperation mit Eröffnung des Peritoneums vor¬
zuziehen.
4) F. T o r g g 1 e r - Klagenfurt: Zweifadennaht und Bauchschnitt¬
schluss.
Abbildung und Beschreibung der Methode ist im Original zu ver¬
gleichen.
5) G. Oester reicher: Eine neue Befestigungsart anschraub-
barer Bougies filiformes.
Den Bougies kann nach den Angaben des Verf. eine Aluminium-
Neusilberkugel angeschraubt werden, welche 2 Bohrlöcher trägt.
Durch letztere werden Seidenfäden gezogen, mittels welcher die Be¬
festigung unter Zuhilfenahme von Heftpflasterstreifen erfolgt.
Grassmann - München.
Englische Literatur.
(Schluss.)
t E • Farquhar B u z z a r d und Joseph C u n n i n g: Posttrau-
matische Blutung aus dem Sinus longitudinalis ohne Schädelbruch
(Lancet 24. März 1906.)
Ein 25 jähriger Mann fiel am 1. April auf den Kopf und zog sich
eine kleine Hautwunde zu, die im Hospitale verbunden wurde. Am
14. kam er mit völlig verheilter Wunde wieder und klagte über be¬
ständige Kopfschmerzen, am 16. wurde er aufgenommen, da er mehr¬
fach erbrochen hatte und Parese des linken Armes und Beines zeigte
Der Puls war verlangsamt, Patient war etwas benommen, die links¬
seitige Lähmung nahm rasch zu. Am 18. bestand linksseitige Hemi¬
plegie, Hemianaesthesie und Hemianopsie, Neuritis optica' fehlte, das
Bewusstsein war stark gestört. Es wurde an diesem Tage auf die
rechtsseitige Rolandsfurche eingegangen. Die Dura wölbte sich vor
und unter ihr lag ein grosser Bluterguss. Die Blutung kam aus dem
Sinus longitudinalis superior und wurde durch Klemmen gestillt, die
liegen blieben. Patient machte eine glatte Heilung durch. Es wurde
keinerlei Schädelfraktur gefunden und dies sowie "das späte Auftreten
der Symptome stempeln den Fall zu einem in der Literatur ziemlich
einzig dastehenden.
W. G. Dixon: Die Behandlung innerer Blutungen durch
Arzneimittel. (Ibid.)
Verf. setzt auseinander, warum Adrenalin, Ergotin, Tannin
Veratrin, Barium und Blei eher schaden als nützen. Er empfiehlt bei
jeder inneren Blutung Morphium zu geben, um alle sensoriellen Re¬
flexe auszulöschen. Ausserdem gibt er Calcium chloratum und zwar
0,05 bis 0,1 subkutan. Hierdurch wird die Gerinnungsfähigkeit des
Blutes auf das Doppelte vermehrt. Man muss ein neutrales Salz
nehmen und recht tief injizieren um lokale Reizwirkung zu vermeiden.
P. G. Stopford J aylor: Ein durch Röntgenstrahlen geheilter
Fall von Mykosis fungoides. (Ibid.)
Verf. behandelte einen 47 jährigen Mann, der an Mykosis fun¬
goides (mikroskopisch festgestellt) litt, mit 15 Sitzungen von Rönt-
genbesti ahlung. • Zweimal wöchentlich wurde 10 Minuten exponiert,
die Tube war 9 Zoll von der Haut, 0,5 der H o 1 z k n e c h t sehen Ein¬
heit und Strahlen mit einer Durchdringungskraft von 7 (Benoist)
kamen jedesmal zur Anwendung. Die Tumoren verschwanden voll¬
kommen und sind seit einem Jahr nicht wiedergekommen.
A. H. Tubby: Die moderne chirurgische Behandlung einiger
Formen der Lähmung. (Brit. Med. Journal 3. März 1906.)
Verfassers Arbeit zeigt, dass man auch in England anfängt, den
Sehnen und Nerveniiberpflanzungen einige Aufmerksamkeit zu
schenken. Aus Verfs. Arbeit sei besonders hervorgehoben, dass er
gute Erfolge bei habitueller Luxation der Patella infolge von Parese
des Quadrizeps dadurch erzielte, dass er dessen Sehne faltete. Ferner
bringt er einige sehr interessante Krankengeschichten über Nerven-
transplantationen, so pflanzte er den Hypoglossus in den Fazialis, den
popliteus internus in den popliteus externus u. s. w. Von 6 der¬
artigen Neryeniiberpflanzungen waren 3 von vollem Erfolge begleitet.
G. H. Sa vage: Die Grenzfälle der Geisteskrankheiten. (Ibid.)
Der bekannte Psychiater plädiert in diesem Aufsatz für die Be¬
handlung dieser Fälle durch den praktischen Arzt und zwar entweder
zu Hause oder auch in anderen Familien, doch so. dass der Fall nicht
als geisteskrank gemeldet werden braucht. Diese „Homes“ sollen
zwar auch der Kontrolle unterliegen, jedoch sollen solche Grenzfälle
nicht unter das strenge Irrengesetz fallen. Näheres im Original.
Guthrie Rank in: Die Behandlung der Neurasthenie. (Ibid.)
Verf. warnt vor allem vor jeder Schematisierung. Er empfiehlt
für leichtere Fälle eine Ozeanreise, für schwerere eine modifizierte
Ruhe und Mastkur mit sehr viel Milch und Fett. Streng verboten
sind ungekochte Gemüse und rohe Früchte; Fleisch gibt es nur einmal
am Tage.
John Türner: Zur Pathologie der Epilepsie. (Ibid.)
Veif. hat bei vielen Epileptikergehirnen, die er untersuchen
konnte, Veränderungen an den Nervenzellen und Gefässen gefunden.
Die Nervenzellen sind teilweise mangelhaft entwickelt, teilweise
stark verändert (diese Veränderungen gleichen denen, die sich beim
Hunde durch Unterbindung der Hirnarterien künstlich erzielen lassen).
Ferner finden sich bei Epileptikern auch im vorgerückteren Alter sehr
viele subkortikale Nervenzellen, die sonst nur in der frühesten Jugend
1372
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIE'
No. 28.
beim Menschen gefunden werden, bei I ieren aber meist persistieren.
In den Qefässen findet man zahlreiche Blutplättchen, sowie durch sie
hervorgerufene intravaskuläre Gerinnungen. Auch kleine Blutungen
in der Hirnrinde werden beschrieben und sollen sie die rolge der
vorher beschriebenen Gerinnungen sein.
A. E. Little: Bleivergiftung durch Diachylon, das als Abortiv-
mittel genommen wurde. (Ibid.) ... , , ^ u
Verf. bringt zwei Fälle dieser in England in staikei Zunahme
begriffenen Vergiftung. In beiden Willen handelte es sich um ver¬
heiratete Frauen, die Diachylonpillen nahmen, um zu abortieren.
Beide litten an Lähmungen, Kolik und Kopfschmerzen. Eine abor¬
tierte, die andere gebar ein 7 Monatskind, das ebenfalls lange an Kolik
und Erbrechen litt. , . . .... ,.
H. Astley K n i g h t: Das Aethylchlorid als allgemeines Anastheti-
kum. (Brit. Med. Journ., 17. März 1906.)
Verf. empfiehlt das Mittel besonders zur Einleitung von Chloro¬
form- oder Aethernarkosen. Hier hat es in seiner Praxis das Lachgas
völlig verdrängt. In geübten Händen ist es das harmloseste und
sicherste aller bekannten Betäubungsmittel. Bei Kindern wirkt es
ganz besonders gut und sicher. Will man in der Zahnpraxis vie e
Zähne ausziehen, so kann man den Patienten mehrfach dazwischen
aufwachen und den Mund ausspülen lassen. Jede weitere Narkose
erfolgt schneller als die vorhergehende. Bei kleinen Kindern genügen
y2 _ i ccm> bei Alkoholikern sind 4 — 5 ccm nötig, man kann auf etwa
2 Minuten tiefe Narkose rechnen. Das Mittel wird am besten mit der
C 1 o v e r sehen Aethermaske gegeben. Ein Nachteil des Mittels für
längere Narkosen ist der Kostenpunkt. .
Edmund Owen: Die reponible Inguinalhernie der Knaben.
(Practitioner, März 1906.)
Verf. glaubt, dass die künstliche Ernährung der Säuglinge mit
dem häufig daraus resultierenden Magendarmkatarrh der Kinder für
viele Hernien verantwortlich zu machen ist. Dasselbe gilt vom Be¬
stehen einer Phimose oder eines engen Orificium urethrae. In vielen
Fällen genügt das amerikanische Bruchband aus einem Strang Wolle
oder ein gewöhnliches Federband zur Heilung des Bruches. Rutscht
der Bruch immer wieder vor, so versuche man, das Kind mehrere
Wochen lang mit erhöhtem Becken im Bette zu halten, kleine Kmder
kann man an den Beinen aufhängen. Nach dieser Zeit hält ein Hand
häufig den Bruch zurück; will man operieren, so ist diese Behandlung
als Vorbereitung ebenfalls zu empfehlen. Als Operation verwirft
Verf. die Bassinische, sie ist meist unnötig und kann im Falle des
Misslingens sehr viel schaden. Er hält es für das wichtigste, den
Sack möglichst hoch oben abzutragen, so dass kein Pentonealtrichter
zurückbleibt. Dann verengt er den Kanal durch 2—3 Pfednahte. Li
lässt das Kind 3 Wochen im Bett und 3 Wochen auf dem Sofa liegen
und für die nächsten Monate ein schwaches Bruchband tragen.
H. Horsinan McNabb: Die Bakteriologie des Ulcus serpens
corneae mit Hypopyon. Ophthalmie Review, März 1906.)
Verf. untersuchte 25 Fälle. Den Pneumokokkus Frankel fand er
16 mal im Geschwür, 11 mal auf der Konjunktiva, den Bacillus xerosis
9 resp. 13 mal, den Staphylococcus pyogenes albus 3 resp. 4 mal, den
Staphyloc. pyogenes aureus 2 resp. 3 mal, den Staphyloc. pyogenes
longus 1 mal auf der Konjunktiva. Diplokokken fand er je 1 mal im
Ulcus und der Bindehaut. 2 mal war das Geschwür frei von Mikro¬
organismen. In 6 Fällen verimpfte er den Eiter aus der vorderen
Kammer auf Platten, doch gingen me Kulturen auf. Verf. empfiehlt
folgende Behandlung: Auswaschen des Auges mit Sublimat 1:5000
und Einbringen von Jodoformsalbe; ferner schlitzt er den Tranenkanal
und spritzt eine 25 proz. Lösung von Argyrol ein. Daneben träufelt
er Atropin ein und macht warme Umschläge auf das Auge. Schreitet
das Geschwür rasch vorwärts, so brennt er es mit dem Thermokauter.
Nützt dies nichts, so inzidiert er die Kornea in ihrer unteren 1 eri-
pherie. Subkonjunktivale Einspritzungen von Sublamin etc. haben
sich dem Verf. nicht bewährt.
Percy W. G. Sargent: Die Bakteriologie der Peritonitis.
(Journ. of Obstetrics and Gynaecology, März 1906.)
Verfassers Bemerkungen über die Bakteriologie müssen im Ori¬
ginal eingesehen werden. Hier sei nur erwähnt, was er im Anschluss
daran über die Behandlung sagt. Verf. rät, bei milden Infektionen mit
reichlicher Verunreinigung des Peritoneums diese fremden Stoffe
durch grosse Spülungen mit Kochsalzlösungen zu entfernen (es gilt
dies z B. für die Entfernung des Blutes bei geplatzter Tuben¬
schwangerschaft). Bei heftigeren Infektionen und bei Vorhandensein
eines trüben Exsudates vermeide man alles Spülen, sondern trockne
nur die am meisten befallenen Partien auf. Bei leichteren Infektionen
(Blutungen, Pyosalpinx) drainiere man nicht, bei schweren jedoch ist
es besser, zu drainieren. Vor allem vermeide man Opium und seine
Derivate, sie setzen die Leukozytose herab und begünstigen die Darm¬
lähmung; ausserdem maskieren sie die Symptome. Wenn man weiss,
welches im gegebenen Falle der Erreger der Peritonitis ist, so
wende man ein polyvalentes Serum an. Will man überhaupt ein
Serum anwenden, so tue man es möglichst frühzeitig und nicht als
letzte Hilfe.
H. Herbert: Die Extraktion der Linse in ihrer Kapsel. (Oph¬
thalmoskope, März 1906.) ...
Vor einiger Zeit referierte ich an dieser Stelle eine Arbeit von
H. S m i t h, der eine sehr grosse Anzahl von Staroperationen in Indien
ausgeführt hat und der dazu rät, in jedem Falle die Linse mit der
Kapsel zu extrahieren. Herbert, der ebenfalls m Indien über
2000 Staroperationen gemacht hat, wendet sich in dieser Arbeit gegen
die Ausführungen von S m i t h, der selbst zugibt, in 6-7 Proz. seiner
Fälle den Austritt von Glaskörper beobachtet zu haben. Herbei
sah bei seinen Fällen nur etwa 2 Proz. von Glaskörperverlusten und
keine Eiterungen oder schwerere Iritiden. Er rat deshalb dringend
von der von S m i t h empfohlenen Methode ab. ... . ,
E. F. Drake Brockman: Der Glaskörperverlust bei Katarakt¬
operationen. (Ibid.) .
Verf hat 293 mal die Linse nach Pagen Stecher mit der
Kapsel entfernt in 28,67 Proz. der Fälle floss Glaskörper aus; bei
293 Fällen operierte er mit 3 mm langem Lappenschnitt mit Iridek-
tomie, hierbei floss Glaskörper in 5,8 Proz. der Falle aus; in 293 hallen
operierte er mit Lappenschnitt ohne Iridektorme, hierbei floss Glas¬
körper in 1 02 Proz. der Fälle aus. Auch sonst gab die letztgenannte
Operation weitaus die besten Erfolge, so dass er sie vor allem emp¬
fehlen möchte. . , . »*
Leonard Rogers: Die Differentialdiagnose zwischen der Ma¬
laria und dem 7 tägigen influenzaähnlichen Fieber bei Europäern in
Indien. (Ind. Medic. Gaz., März 1906.) _
In Kalkutta erkranken Europäer häufig an Malariafiebern zu einer
Zeit wo der sogen, „endemische Index der Malaria“ auf Null steht.
Meist kommen diese Fälle zwischen Oktober und Dezember, am Ende
der Regenzeit vor. Gutartige und bösartige Tertianafieber sind
gleich häufig, quartane Fieber sind selten. Die I ertianafieber lassen
sich bei 4 stündlicher Messung durch ihre typischen Kurven leicht von
einander und anderen Fiebern unterscheiden. Sie verschwinden unter
Chinin (2 bis 2,5 täglich) meist nach 2 Tagen, halten aber me langer
als 4 bis 6 Tage an. In 90 Proz. der Fälle lassen sich nach 5 Minuten
langem Suchen die Parasiten finden, wenn sie überhaupt vorhanden
sind Das 7 tägige influenzaähnliche Fieber tritt in Kalkutta alljährlich
während der Regenzeit auf und lässt sich leicht von der Malaria
D. G. Crawford: Die Ruptur der Milz. (Ibid.)
Sehr sorgfältige Arbeit, die sich auf 477 in Indien beobachtete
Fälle stützt Die Fälle wurden bei 3884 Leichen gefunden, so dass
also die Milzruptur in 4,45 Proz. der untersuchten Fälle zur Beobach¬
tung kam. Es ist interessant, dass der Verf. das Vorkommen der
sogen spontanen Milzruptur leugnet, meist handelte es sich um Un¬
glücksfälle durch Ueberfahren, Abstürzen, Prügeleien etc.; in etwa
6 Proz. der Fälle war die Milz nicht vergrössert, meist handelte es
sich um grosse bis sehr grosse Milzen. .. n
William Leland St o well: Das Magengeschwür bei Kindern.
(Indian Medical Record, März 1906.)
Verf. sah ein 8 jähriges Mädchen an der Perforation von 2 Magen¬
geschwüren sterben. Anschliessend an diesen Fall stellt er 35 halle
aus der Literatur zusammen. Die jüngsten Kinder waren 5 und 7 läge
resp 1 Jahr alt. Die Behandlung muss natürlich dieselbe wie beim
Erwachsenen sein; jedenfalls muss man auch bei jüngeren Kindern
an die Möglichkeit eines Magengeschwüres denken.
S. B. Selhorst: Die elektrolytische Behandlung der Harn-
röhrenstriktur. (Brit. Med. Journal, 24. März 1906.)
Verf. führt nach vorheriger Erweiterung der Striktur aut 23 unar-
riere einen entsprechenden Tubus des Oberländer sehen Z> sto-
skopes ein; dann führt er eine elektrolytische Nadel mit Platinspitze
ein und sticht dieselbe in das Narbengewebe %— 1 cm tief ein und
lässt einen Strom von 4 — 6 Milliamperes 3 Minuten durchgehen. Man
kann in derselben Sitzung mehrere Stellen behandeln. Im Anfang ge¬
nügen 2, später 1 Stizung wöchentlich. Notwendig ist antiseptische
Spülung vor und nach der Elektrolyse. Die so behandelten Falle
wurden geheilt und war noch 2 Jahre später die Harnrohrenschleim-
haut weich und verschieblich, die Striktur war nicht wieder¬
gekommen. Verf. hat auch versucht, die Prostatahypertrophie von
der Urethra aus elektrolytisch zu behandeln, angeblich mit Erfolg.
David Newman: Bemerkungen über das Zystoskop. (Brit.
med. Journ., 24. und 31. März 1906.) . ...
Hübsche, mit ausgezeichneten, zum Teil farbigen Abbildungen
ausgestattete Arbeit. Verf. hat schon 1883 ein mit einem Gluhlamp-
chen versehenes Zystoskop konstruiert und mit Erfolg angewendet.
Sein neuestes Modell hat einen auswechselbaren Tubus, so dass man
leicht die Blase spülen und füllen und dann erst den optischen lubus
einführen kann. Das Instrument ist leicht sterilisierbar, hat einen
Handgriff, um es zu fixieren und kann, da es zwei Okulare besitzt,
gleichzeitig zur Demonstration benutzt werden. Zur Beleuchtung be¬
nutzt er eine von ihm angegebene Akkumulatorenbatterie mit Rlieo-
stat. Die Arbeit, die sich zu einem kurzen Referate nicht eignet,
enthält viele interessante Einzelheiten. .
O. Hildesheim: Die Prognose der Meningitis basilans
posterior. (Brit. Med. Journ., 31. März 1906.)
Verf. betont die viel grössere Häufigkeit dieser Erkrankung, als
gewöhnlich angenommen wird. Von 396 auf einander folgenden
Fällen von Meningitis handelte es sich in 133 um Meningitis posterior
basilaris. Von diesen 133 Fällen verliessen 43 das Hospital lebend.
Dies gibt natürlich kein deutliches Bild über die Prognose aller Fälle,
da nur die schwereren in das Hospital kommen, die leichteren aber zu
Hause behandelt werden. Viele von den Entlassenen sterben aller-
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1373
dings später zu Hause. Völlige Heilung kann höchstens in einem
Drittel der Fälle erwartet werden. Von 17 völlig geheilt entlassenen
Fällen starb keiner in den nächsten Jahren, 8 sind völlig gesund ge¬
blieben, 5 haben unbedeutende Störungen, die nicht auf die Meningitis
zurückzuführen sind, 2 haben sich mangelhaft entwickelt und 2 haben
einen Wasserkopf bekommen. Von 7 gebessert Entlassenen sind 4
nachträglich gestorben, Von den 3 Ueberlebenden ist ein Kind hydro-
cephalisch, 1 gelähmt und 1 in der Entwicklung zurückgeblieben. Von
13 wenig gebessert Entlassenen starb 1 an der Meningitis, 2 am Hydro-
cephalus, 1 an Masern, 3 sind völlig gelähmt, 4 hydrocephalisch und
nur 2 sind geheilt. Im Anfang der Erkrankung lässt sich keine Pro¬
gnose stellen, da auch sehr schlimme Fälle besser werden können.
Die Hauptsache ist, das Kind sorgfältig künstlich zu ernähren.
W. H. Thompson: Die Nierentätigkeit während der Narkose.
(Brit. Med. Journ., 24. März 1906.)
ln dieser zweiten Arbeit behandelt Verf. die Narkose mit Aether
und Aethergemischen. Auch bei der Aethernarkose nimmt gewöhnlich
die Urinmenge deutlich ab, um nach der Narkose stärker anzusteigen.
(Maximum nach 3 Stunden.) Hand in Hand mit der Ab- und Zunahme
der Urinmenge geht die Stickstoffausscheidung, sie entspricht der
Menge des ausgeschiedenen Harnes. Der konzentriertere Urin ent¬
hält mehr Stickstoff (umgekehrt wie bei der Chloroformnarkose). Die
Wirkung des Aethers ist eine vaskuläre. Nach der Aethernarkose
treten noch mehr Ueukozyten in den Urin über wie bei der Chloro¬
formnarkose, was auf eine stärkere Stase in den Kapillaren der
Qlomeruli schliessen lässt. Die Chloride sind nach der Aethernarkose
vermehrt, aber in geringerem Masse als nach der Chloroformnarkose.
Temporäre Albuminurie ist viel häufiger nach Aether als nach Chloro¬
form. Reduzierende Substanzen (nicht Zucker) erscheinen zuweilen
im Urin. Bei der Narkose mit A.-C.-E.-Mischung ist die Urinmenge
vermindert, aber weniger als während der Narkose mit Aether oder
Chloroform. Die Nachwirkung (vermehrter Urin) ist stärker als bei
den beiden anderen Narkosen. Die Ausscheidung des Stickstoffes ist
weniger herabgesetzt als die Urinmenge. Die Wirkung auf die Kon¬
zentration des Urins ist manchmal wie beim Chloroform und manchmal
wie beim Aether. Die Chloride sind weniger vermehrt als beim
Chloroform und mehr als beim Aether. Die Aether-Chloroform-
narkose vermindert die Urinmenge in geringerem Masse als die
Aether- und in höherem als die Chloroformnarkose. Die Nachwirkung
ist bedeutend geringer als bei den beiden anderen Narkosen. Die
Ausscheidung des Stickstoffes wird weniger beeinflusst als die des
Urins. Es gleicht dies mehr den bei der Aethernarkose beobachteten
Verhältnissen, dasselbe gilt von der Konzentration des Urins. Die
Chloride waren vermehrt, aber weniger als bei den anderen Narkosen.
J. P. zum Busch- Uondon.
Inauguraldissertationen.
Universität Berlin. Juni 1906.
22 Wolff Fritz: Niederdruckdampfheizung.
Universität Bonn. Juni 1906.
19. Bergrath Robert: Ueber Chondrodvstrophia foetalis.
20. Luxenburger Peter: Ueber die Erblichkeit der dermoiden
Geschwülste.
Universität Breslau. Juni 1906.
9. Worthmann Fritz: Beiträge zur Kenntnis der Nervenaus-
breitung in Klitoris und Vagina,
ln. Gold Schmidt Georg: Ueber Kiefernekrosen.
1 1. S c h n e i d e r Bruno: Beitrag zur Kasuistik der Myome als Kom¬
plikation von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett.
1-. Marschak Ueo: Vier Fälle von gutartigen Plazentartumoren.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
Universität Freiburg i. B. Juni 1906.
W i t h Otto: Eine familiäre atypische Form der Dystrophia musci
lorum progressiva.
Fabian Richard: Beitrag zur Wirkung des Tetanusantitoxii
beim Tetanus des Menschen.
Cohn Henry: Myom und Gravidität.
Bayer Heinrich: Ueber Herpes zoster ophthalmicus und Unfal
Grenz Alfred: Ueber Extraktion der kataraktösen Uinse in g<
schlossener Kapsel bei Iridochorioiditis.
Schlimpert Johannes: Ueber den Einfluss des Skopolamii
Morphium-Dammerschlafes auf die Wehentätigkeit.
Engländer Heinrich: Ueber Pupillenstarre im hysterische
Anfalle.
Emminghaus Bernhard: Ein Fall von trichterförmig verem
tem Becken.
Universität Göttingen. Februar bis Juni 1906.
13. Ehi beck V.: Zur Aetiologie der Tabes dorsalis.
14. Lieber C.: Die primäre fibrinöse Pneumonie in der Göttinger
medizinischen Klinik vom 1. April 1900 bis 1. April 1905.
15. Schlotterhausen K-: Die Ovariotomien der letzten zehn
Jahre aus der Göttinger Universitäts-Frauenklinik
6’ Epileptiker W"’ Be‘trag ZUr Kenntn>? d^r Sprachstörungen der
Universität Halle a, S, Juni 1906.
bei malignen Er-
colli uteri. Hab.-
anatomischen Verhalten der Lymphdriisen
krankungen, hauptsächlich dem Carcinoma
Schrift.
Hynitzsch J.: Ueber Glykosurie bei Graviden.
11. Kalmus Friedrich: Ueber den Einfluss der Muskeltätigkeit
und des Opiums auf die Zuckerausscheidung bei Phlorhizin-
Glykosurie. *
Müller Berthold: Ueber 785 Fälle von kongenitaler Amblyopie
aus dem Krankenmaterial der Halleschen Universitäts-Augenklinik.
Universität Jena. Mai und Juni 1906.
Dolgow Nachom: Ueber Dauerresultate der operativen Be¬
handlung der Extrauteringravidität.
Fels Richard: Ueber den Symptomenkomplex der primären
Inkoharenz mit Erregung.
p/ey Ernst: Der Mechanismus der Salz- und Wasserdiurese
Rin Beitrag zur osmotischen Arbeit der Niere.
9? Ff1? Em'1: Zur Kasuistik der myelogenen Angiomata der
Schadelknochen.
Nitsch Reinhard: Ein Fall von Endotheliom des Becken-Binde¬
gewebes.
16. Wilhelm Johannes: Ein Beitrag zur fötalen Eventration.
17. Luther Hans: Ueber Stieltorsion bei Hydrosalpinx.
18. Osske Hermann: Zur Prognose der Hebephrenie.
■4, ross mann. Eedx: Hysterische und organische Paraplegien
(1 araparesen) in differential-diagnostischer Hinsicht.
Pos er Oskar: Ueber Metastasenbildung gutartiger Kröpfe.
Universität Leipzig. Juni 1906. •
78 fehler1 n °Skar' Chronische Albuminurie bei kompensiertem Herz-
10.
12.
11.
12.
13.
14.
15.
19.
20.
79. Glass Julius: Ueber Spirochaete pallida
80. Görner Johannes: Klinische Beobachtungen bei Myasthenie.
81. Hofmann Johannes: Ueber den Einfluss der arsenigen Säure
auf die Zahl der roten und weissen Blutkörperchen
82. Lind ne r Ernst: Ein Beitrag zur Kenntnis der Meralgia
paraesthetica. (B e r n h a r'd t sehe Sensibilitätsstörung.)
l3. Nagel Julius: Tausend Heilstättenfälle. Statistische Wertung
der Jahrgänge 1900 — 1904 und kritische Würdigung der kom¬
binierten Anstalts- und Tuberkulinbehandlung in der Lungenheil¬
stätte Kottbus.
84. Fiedler Albert: Ueber die Untersuchungsmethoden, welche die
Diagnose der Oesophagusdivertikel ermöglichen.
85. Fischer Otto: Ueber Fussgeschwulst. Die Behandlung bei
äusserem Milzbrand in der Königl. Universitätsklinik zu Berlin.
(Exzellenz v. Bergmann).
86. Müller Otto: Kasuistische Beiträge zur Kenntnis des offenen
M e c k e 1 sehen Divertikels.
87. Paradies Abraham: Ueber Meningitis serosa.
88. Schneider Oskar: Ein kasuistischer Beitrag zu den traumati¬
schen Hüftgelenksluxationen.
Universität München. Juni 1906.
45. Weysser Paul: Ueber angeborene Verbiegungen der Unter¬
schenkelknochen.
46. Bamberg Karl: Ueber Sinusthrombose im Kindesalter.
47. Oppenheimer Siegfried: Ueber Perforation des Oesophagus¬
karzinoms in die Aorta.
48. Streng Karl: Aneurysma der Aorta mit Perforation in die Pul¬
monalarterie.
49. Rosenstern Iwan: Untersuchungen über den Stoffwechsel bei
Leukämie während der Röntgenbehandlung.
Universität Tübingen. Juni 1906.
2i>. Haegel Max: Ein Fall von Embolie der Arteria mesehterica
superior mit Ausgang in Genesung.
21. Weinbrenner Eduard: Ueber die Dauerheilung operativ be¬
handelter chirurgischer Tuberkulosen.
Auswärtige Briefe.
Berliner Briefe.
(Eigener Bericht.)
Berlin, den 28. Juni 1906.
Gesellschaft für Geschichte der Naturwissenschaften und
Medizin: Die Krankheit Schoppenhauers im Jahre 1823.
— Errichtung von Magenheilstätten. — Gesellschaft zur Be¬
kämpfung von Geschlechtskrankheiten. — Aerztliche oder spe¬
zialärztliche Zeugnisse.
Die wachsende Bedeutung, welche die Geschichte der
Medizin in neuerer Zeit wieder gewonnen hat, hat das Bedürf¬
nis gezeitigt, einen Sammelpunkt zu schaffen, an dem alle die¬
jenigen, welche sich für das Fach interessieren, ihre Ansichten
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
austauschen und ihre Arbeiten zur Besprechung bringen
können. So entstand die „Berliner Gesellschaft für Geschichte
der Naturwissenschaften und Medizin“, in deren erster Sitzung
Herr Iwan Bloch einen Vortrag über Schopenhauers
Krankheit im Jahre 1823“ hielt. Erst die jüngste Zeit hat sich
eingehend mit der Frage beschäftigt, welchen Einfluss die
Krankheiten und Leiden hervorragender Persönlichkeiten auf
ihr geistiges Leben gehabt haben; den Anstoss dazu gaben die
Lehren Lombrosos, aber der eigentliche Begründer dieser
Spezialwissenschaft, für die man den Namen „Pathographie ,
die Lehre vom bedeutungsvoll Krankhaften, eingefiihit hat, ist
Möbius. Die Krankheit nun, an welcher Schopenhau er
im Jahre 1823 in München litt, scheint von nicht geringem Ein¬
fluss auf die Entwicklung seiner pessimistischen Welt¬
anschauung gewesen zu sein. Wie aus einer Reihe von Zitaten
hervorgeht, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass es sich
um Syphilis handelte; den Beweis dafür liefern äiztliche ver-
Ordnungen, die in seinem Nachlass vorgefunden wurden, und
die eine typische antisyphilitsche Kur zum Inhalt haben. . Aber
auch verschiedene Stellen seiner Werke legen Zeugnis ab,
dass der Philosoph aus eigener Erfahrung spricht. Er war be¬
kanntlich der ärztlichen Kunst abhold und neigte mehr der
Charlatanerie und Kurpfuscherei zu, gibt aber zu, „dass es Aus¬
nahmen, also Fälle gibt, wo nur der Arzt heben kann; nament¬
lich ist die Syphilis der Triumph der Medizin.“ An einer an¬
dern Stelle der „Parerga und Paralipomena“ spricht er von
dem Einfluss, den die venerische Krankheit nicht bloss in phy¬
sischer, sondern auch in moralischer Beziehung ausübt. „Seit¬
dem Amors Köcher auch vergiftete Pfeile führt, ist in das Verhält¬
nis der Geschlechter zu einander ein fremdartiges, feindseliges,
ja teuflisches Element gekommen; infolge wovon ein furcht¬
sames Misstrauen es durchzieht; und der mittelbare Einfluss
einer solchen Aenderung in der Grundfeste aller menschlichen
Gesellschaft erstreckt sich mehr oder weniger auch auf die
übrigen geselligen Verhältnisse.“ Schopenhauer war
eine stark sinnliche Natur und in der Praxis durchaus nicht zur
Askese geneigt; unter dem unmittelbaren Einflüsse seinei Lei¬
den und Leidenschaften kam jedoch in seinen Schriften die
pessimistische Anschauung zum Ausdruck. Daran änderte
auch die Tatsache nichts, dass er von seiner Krankheit völlig
geheilt wurde. Er spricht die Ansicht aus, dass die natürlichen
Strafen des Lasters, insbesondere die venerische Krankheit,
Moralität zum Zweck haben, und dass sie ein natürlicher
Damm gegen die Triebe des Menschen seien. Es ist somit
wohl der Schluss berechtigt, dass die syphilitische Erkrankung
des Philosophen mit zur Entwicklung seiner pessimistischen
und asketischen Weltauffassung beigetragen haben.
In der Gesellschaft für soziale Medizin besprach Herr
A 1 b u die sozialhygienische Bedeutung der Errichtung von
Magenheilstätten. Die therapeutische Richtung der letzten
Dezennien mit ihrer starken Betonung der physikalisch-diä¬
tetischen Methoden hat den Kreis der Erkrankungen, welche
am erfolgreichsten in besonderen Heilstätten zu behandeln sind,
mehr und mehr erweitert. Anfangs waren es die Lungen¬
kranken, dann die Nervenkranken, für die Heilstätten errichtet
wurden, und während diese früher nur den Wohlhabenden zu¬
gänglich waren, hat die Volksheilstättenbewegung auch den
Bedürfnissen der minder bemittelten Kreise und der Arbeiter
in ausgedehntem Masse Rechnung getragen. So ist neben
einem grossen Netz von Lungenheilstätten auch eine kleine
Zahl von Nervenheilstätten geschaffen worden. Spezialan¬
stalten für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten gibt es
nur für Wohlhabende, sie sind aber nach Albus Ansicht auch
für die ärmere Bevölkerung ein dringendes Bedürfnis. Die
Zahl dieser Erkrankungen hat erheblich zugenommejn; die'
weiten Entfernungen, \velche der Arbeiter in der; Grosstadt,
zur Arbeitsstelle zurückzulegen hat, beschränken die Zeit
seiner Mittagspause und zwingen ihn zu hastiger Aufnahme
der Speisen; die kleinen Zwischenmahlzeiten werden stehend
während der Arbeit, die Abendmahlzeiten zu spät eingenommen.
Abendliche Vergnügungen verkürzen die Nachtruhe, und durch
alle diese schädlichen Einflüsse entstehen chronische Störungen
der Verdauungsorgane, die dadurch noch verstärkt werden,
dass hohe Nahrungsmittelpreise und eine nicht zweckent¬
sprechende Zubereitung der Speisen eine passende Ernährung
hindern Aus einer von A 1 b u zusammengestellten Statisti
eines grossen Krankenhauses und mehrerer Krankenkassen er¬
gibt sich, dass 12—15 Proz. aller erwerbsunfähigen Kranken an
Störungen derVerdauungsorgane litten, wobei die Stoffwechsel¬
krankheiten noch nicht mitgerechnet' sind. Gerade in der
Therapie dieser Krankheitszustände aber spielt die Ernährung,
die Auswahl und Zubereitung der Speisen eine wesentliche
Rolle und ist es schon in der Haushaltung einer dem Mittel¬
stände angehörigen Familie schwierig, eine vorgeschriebene
Diät sachgemäss durchzuführen, so ist das in der Arbeiter¬
familie fast unmöglich. Die öffentlichen Krankenküchen sind
nur ein mangelhafter Ersatz für Magenheilstätten, denn es
kommt neben der Ernährung auch auf eine Regelung der ge¬
samten Lebensweise an. Da eine sachgemäse Krankenkost als
Heilmitel im Sinne des Gesetzes angesehen werden muss, so
hätten die Krankenkassen die Möglichkeit, an die Errichtung
von Magenheilstätten heranzutreten.
Die Ortsgruppe Berlin der „Deutschen Gesellschaft zur Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten“ setzt ihre Bestre¬
bungen, Aufklärung über das Wesen und die Verhütung dei
venerischen Erkrankung in weite Kreise des Volkes hinem-
zutragen, eifrig fort und hat jetzt einen neuen Weg ein¬
geschlagen, um dem verschiedenartigen Verständnis und Bil¬
dungsgrad der einzelnen Berufsklassen Rechnung zu tragen.
Es soll jetzt alliährlich eine Reihe von Vortragsabenden für be¬
stimmte Berufsklassen veranstaltet werden ; der erste Vortrag
wurde für die Studierenden aller hiesigen Hochschulen gehalten
und behandelte das Thema „Geschlechtskrankheiten und Ge¬
schlechtliches“. Ein zweiter Vortrag wird im Laufe des Juli
für die Angehörigen des Kaufmannsstandes gehalten werden.
In eigentümlicher Beleuchtung erscheint der Wert, welchen
man ärztlichen Zeugnissen im preussischen Kultusministerium
beimisst, wenn man einen Ministerialerlass liest, der seit
18 Jahren von den beteiligten Instanzen ziemlich unbeachtet
geblieben, neuerdings wieder aufgefrischt und den Direktoren
der höheren Lehranstalten in Erinnerung gebracht ist. Dieser
Erlass verlangt bei Gesuchen um Befreiung vom Zeichenunter¬
richt, die sich auf ein ärztliches Zeugnis über ein bestehendes
Augenleiden stützen, die Beibringung auch noch eines spezial¬
ärztlichen Zeugnisses. Ob die freundliche Fürsorge, welche
aus dieser Verfügung spricht, mehr dem Zeichenunterricht oder
den Augen der Kinder gilt, mag dahin gestellt bleiben, wahr¬
scheinlich ist es das erstere. Konsequenterweise müsste man
dann aber bei Schülern, die z. B. wegen eines Bruches vom
Turnen befreit werden sollen, das Gutachten eines Chirurgen,
bei Ohrenleiden das eines Ohrenarztes, bei Magenleiden das
eines Magenarztes einfordern usw., ja es gäbe trotz der wahr¬
lich übergrossen Zersplitterung noch nicht Spezialitäten genug
für alle Krankheiten, z. B. fehlt es ja vorläufig noch an Spe¬
zialisten für Infektionskrankheiten, die gerade am häufigsten die
Schulkinder betreffen. Verlangt aber wirklich eine Behörde ein
spezialärztliches Zeugnis, so müsste vor allem gesagt sein, was
das eigentlich ist, denn im gesetzlichen Sinne gibt es keine
Spezialärzte, jeder Arzt kann sich auf Grund seiner Approbation
ohne weiteres als Spezialarzt für ein beliebiges Fach bezeich¬
nen, und für eine Behörde kann es somit keinen Unterschied
zwischen ärztlichen und spezialärztlichen Zeugnissen geben.
Es ist leider eine nicht wegzuleugnende Tatsache, dass unter
dem Einfluss der weitgehenden Spezialisierung im ärztlichen
Beruf das Ansehen des Arztes, der seine Tätigkeit nicht auf
die Behandlung eines einzelnen Organs beschränken, sondern
nach dem Muster der alten Meister unseres Faches kranke
Menschen behandeln will — ich möchte ihn den Arzt im eigent¬
lichen Sinne des Wortes, den Arzt par excellence nennen — ,
dass das Ansehen dieser Aerzte im Publikum erheblich gelitten
hat und dass nicht zum wenigsten das Publikum selbst den
Schaden davon trägt. Wenn nun gar diese Umwertung der
Werte eine Art amtlicher Sanktionierung erfährt, so ist es an
der Zeit, dass wir gegen die Minderbewertung unserer
Leistungen energisch Einspruch erheben. M. K.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1375
Vereins- und Kongressberichte.
Internationaler Congress für Gewerbekrankheiten
in Mailand, 9.— 14. Juni 1906.
Referent : Martin Hahn- München.
Die Idee zu diesem Kongress scheint wesentlich den gemein¬
samen Ueberlegungen des Senators Dr. M. de Cristoforis, eines
früheren Gynäkologen und sehr bekannten Politikers, sowie des Pro¬
fessor Luigi D e v o t o, inneren Kliniker in Pavia, entsprungen zu
sein. Die äussere Veranlassung war wohl in dem Umstande gegeben,
dass Prof. Devoto demnächst eine Klinik für Gewerbekrankheiten
übernimmt, welche die Stadt Mailand mit 400 000 Franken einmaligen
Kosten aus einer Privatstiftung und 6000 Franken jährlicher Sub¬
vention errichtet. Die Klinik wird 60 Betten umfassen und dürfte
die erste dieser Art in Europa sein. Weiter mag zu der Einberufung
des Kongresses gerade nach Italien der Umstand beigetragen haben,
dass sich dort in dem letzten Jahrzehnt eine ungemein rasche, in¬
dustrielle Entwicklung vollzogen hat, von der speziell Mailand und
Norditalien überhaupt betroffen ist.
Eine solche rasche Entwicklung hat noch in allen Kulturländern
immer besondere Gefahren für die industriellen Arbeiter mit sich
gebracht und ist in Deutschland wie in England der Ausgangspunkt
für die gewerbehygienischen Bestrebungen geworden.
Selbstverständlich war der Kongress zum allergrössten Teile
von Italienern besucht, unter denen das ärztliche Element bei weitem
das technische überwog. Für die sachliche Behandlung der Fragen
wäre es mitunter wünschenswert gewesen, dass die Beteiligung der
Techniker eine regere gewesen wäre. Die Schilderungen, welche die
italienischen Aerzte von den Zuständen in der italienischen Industrie
gaben, Hessen erkennen, dass allerdings sich ihr Heimatsland in be¬
zug auf soziale Gesetzgebung und Arbeiterschutz Deutschland und
anderen Kulturländern gegenüber noch im Rückstände befindet. Aber
um so freudiger haben die italienischen Aerzte die Gelegenheit be-
gi iisst, gei ade auf diesem Kongress eine Schilderung der gewerbe¬
hygienischen Zustände und sozialen Gesetzgebung anderer Staaten
zu empfangen und überall kam die Hoffnung zum Ausdruck, dass ge¬
rade die Arbeiten des Kongresses auch zu der Besserung der sozialen
Zustände in Italien beitragen könnten.
Was nun die einzelnen Themata anbetrifft, die auf dem Kongress
erörtert wurde, so waren die ersten Sitzungen wesentlich der Physio¬
logie und Pathologie der Arbeit im Allgemeinen gewidmet.
Es wurde insbesondere behandelt: die persönliche Re¬
sistenz des Arbeiters gegen die gewerblichen G e -
fahren (Prof, de Giovanni), der Schaden der Nacht¬
arbeit, der Stoffwechsel während der Arbeit (Prof.
Pieraccini, Alberto n i, Carozzi, Gardenghi, Ra-
bitti u. a.), und insbesondere rief die Frage der Maximal¬
arbeitszeit eine lebhafte Diskussion hervor.
Zu diesen Fragen wurde, wie zu allen anderen auf dem Kon¬
gresse, in motivierten Tagesordnungen Stellung genommen, und zwar
\or allem auf die sehr lebhaft geäusserten Wünsche der italienischen
Kollegen hin, während die Ausländer, wie es mir schien, im allge¬
meinen der Erledigung so schwieriger sozialer und medizinischer
riagen durch Tagesordnungen und Resolutionen etwas skeptisch
gegeniiberstanden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren,
dass gerade auf gewerbehygienischem Gebiete das Experiment nie¬
mals die mannigfach variierten Verhältnisse der Praxis nachahmen
kann und dass es durch Stoffwechseluntersuchungen, durch ergo-
graphische Messungen usw. immer nur in sehr mässiger Weise ge-
hngt, der Wahrheit, d. h. den reellen Verhältnissen der gewerblichen
Arbeit etwas näher zu kommen. Damit ist aber auch die Möglich¬
keit eines streng wissenschaftlichen objektiven Urteils erschwert,
klier wie auf dem Brüsseler Kongress für Hygiene, wo die Erörterung
der Maximalarbeitszeit gleichfalls auf der Tagesordnung stand, hat
der Ref. wiederholt Gelegenheit genommen, sich energisch dagegen
auszusprechen, dass ein wissenschaftlicher und von Aerzten haupt¬
sächlich besuchter Kongress für alle Gewerbe und Industrien eine
maximale Arbeitszeit von bestimmter Dauer festzusetzen sich für be¬
fugt erachtet, wenn auch selbstverständlich jeder Arzt mit gutem Ge¬
wissen für die Abkürzung der Arbeitszeit für Frauen und Kinder ein-
freten kann und jeder Abkürzung der Arbeitszeit für erwachsene
männliche I ersonen schon aus humanitären Rücksichten sympathisch
gegenub erstehen. kann. Aber von einer solchen Sympathie bis zur
Erklärung für eine bestimmte maximale Arbeitszeit ist ein weiter
- chntt, zu dessen wissenschaftlicher Begründung auch die auf diesem
Kongiess vorgetragenen Versuche und Beobachtungen kein genügen¬
des Material bieten. j
Jedenfalls konnte irian mit gutem Gewissen den Ausführungen
A I d e rtonis und T u 1 1 1 o s beistimmen, soweit sie die Maximal-
arbeitszeit für Frauen und Kinder, die in Italien noch auf 12 Stunden
./ festgesetzt ist, zu hoch fanden. Und ebenso wird man denjenigen
ita henischen Kollegen beistimmen müssen, welche die Ernährung des
italienischen Arbeiters im Verhältnis zu den Strapazen, welche ihm die
moderne Industriearbeit zumutet, als äusserst geringwertig bezeich¬
nten, und namentlich, wie A 1 b e r t o n i, auf den Mangel an Eiweiss
iii der Kost hinwiesen. Ziemliche Einstimmigkeit herrschte auch in
der Verurteilung der Nachtarbeit, die nach den interessanten Aus¬
führungen Carozzis auf die notwendigsten Fälle beschränkt wer¬
den sollte und bei Frauen und Kindern überhaupt untersagt
sein sollte. Mit Recht wies Carozzi auch darauf hin, dass
die Aufsicht über die Heimarbeit, soweit dabei nicht nur Familienmit¬
glieder beschäftigt werden, dringend einer Verbesserung bedürfe
Die Schaden der fortgesetzten Nachtarbeit sind in der Tat so klar
zu Tage liegend, dass man sich den Ausführungen einer Anzahl von
Rednern wohl anschliessen konnte, wenn auch die physiologischen
Experimente und pathologischen Beobachtungen kein vollkommen
klares Bild gaben.
So wurden namentlich gegenüber den Beobachtungen Gar-
u e n g h i s, der eine Verminderung des Hämoglobingehalts bei der
Nachtarbeit fand, Bedenken laut, ob man diese Erscheinung, wie G.
annimmt, ohne weiteres auf den Lichtentzug zurückführen kann. *
• + Fiage der Arbeiterernährung gab auch Veranlassung zu der
jetzt auf allen Kongressen üblichen Alkoholdiskussion, bei der wesent-
iche neue Momente nicht zu 1 age traten. Hervorzuheben ist viel-
leicht nur die Beobachtung C a s a r i n s, der auf Grund ergogra-
phischer Messungen annimmt, dass der Alkohol eine eklektische Wir-
ai’r die motorischen Rückenmarkszentren der unteren Extre-
rmtaten besitzt. Die weiteren Verhandlungen brachten sehr inter¬
essante Mitteilungen über den Einfluss hoher Temperaturen und
hohen Diuckes auf die Arbeiter. Besonders bemerkenswert waren
die Beobachtungen Bellis über die Erkrankungen der Heizer in der
italienischen Kriegsmarine, welche gegenüber den Maschinisten eine
bedeutend höhere Ziffer an solchen Erkrankungen aufweisen, welche
man direkt auf den Einfluss der Temperatur zurückführen kann. Man
wird nicht fehlgehen, wenn man diesen Unterschied zwischen der Er-
kiankungsziffei der Maschinisten und Heizer, die beide, wenn auch
verschieden, hohen Temperaturen ausgesetzt sind, im wesentlichen
au‘ me grössere, muskuläre Anstrengung bei den letzteren zuriiek-
fuh rt. Dafür spricht auch die grosse Zahl von Hitzschlägen bei den
Heizein der italienischen Marine, die nach der letzten zweijährigen
statistischen Veröffentlichung noch 0,84 Proz. des Effektivbestandes
betragen. Dass durch die Arbeit der Heizer und durch die dabei fast
notwendige grosse Getränkaufnahme vor allen Dingen das Zirku¬
lationssystem in Mitleidenschaft gezogen wird, bewiesen auch Mit¬
teilungen M i r c o 1 i s über Herz- und Aortenerkrankungen bei jugend¬
lichen Heizern. Ueber die prophylaktischen Massnahmen, die hier zu
treffen sind (Grösse des Heizraumes. Ventilation etc.) herrschte Ein¬
stimmigkeit und der Vorschlag des Ref., die internationale Regelung
der Anforderungen, die an die Heizräume von Handelsschiffen zu
stehen sind, auf einem der nächsten Kongresse zu besprechen, fand
mit Rücksicht auf den fortwährenden internationalen Wechsel des
Heizerpersonals Beifall.
Viel Interesse erregten die Mitteilungen IJ. v. Schrötters-
Wien zur Pathogenese der sogen. T au ch erJähmu n g. An Durch¬
schnitten durch das Rückenmark eines Matrosen der österreichischen
Mai ine, welcher nach einer Tauchung von 32 Metern Tiefe zugrunde
gegangen war, konnte Sch. die Gegenwart nekrotischer Herde, na¬
mentlich im Bereiche der weissen Substanz des Rückenmarks demon¬
strieren, die er auf die Aufhebung der Blutzirkulation in dem empfind¬
lichen Gewebe zurückführt. Diese ihrerseits ist wieder bedingt durch
das Freiwerden der unter hohem Druck absorbierten Gase, ins¬
besondere des Stickstoffes, welcher entweder bei grosser Menge die
Herz- und Lungentätigkeit direkt schädigt oder im Wege embolischer
Vorgänge und folgender Ischämie zu Nekrosen des Rückenmarks
und damit zu schweren Lähmungserscheinungen führt. Diese Un¬
glücksfälle lassen^ sich bekanntlich durch eine sehr lange Dekom-
piession bei den Kaissonarbeitern, eventuell auch durch eine Rekom-
pression in einer besonders dafür hergerichteten Druckkammer ver¬
meiden; bei den Tauchern liegen die Verhältnisse viel ungünstiger,
wie bei den. Kaissonarbeitern. weil sie zum grossen Teil sich selbst
uberlassen sind und wie die Schwamm- und Perltaucher ausser Kon¬
trolle stehen, ferner weil in den meisten Fällen auch die nötigen
Apparate zur Rekompression nicht vorhanden sind. Nur selten wird
y0*1 , aussei halb der Kriegsmarine die Dekompressionsnormale von
I,5M muten pro 1/m Atm. bei der Taucharbeit innegehalten und so ist
es erklärlich, dass bei den Schwammtauchern Griechenlands noch bis
vor einem Jahre ca. 15 Todesfälle alljährlich vorgekommen sind. Auf
Veranlassung der griechischen Regierung hat sich v. Schrötter
mit der präventiven Sauerstoffeinatmung bei der Taucharbeit be¬
schäftigt und ist dabei zu den sehr bemerkenswerten Resultaten ge¬
kommen. Die Einatmung von Sauerstoff von hoher Spannung führt
allerdings zu einer Beschleunigung der Stickstoffabgabe, entfaltet
abei ihrerseits sehr deletäre Wirkungen auf den Organismus. Es ist
also nicht möglich, dem Taucher bereits in der Tiefe, solange er noch
untei demDiuck steht, Sauerstoff zuzufjihreiK dagegen haben die
Versuche Schrötters ergeben, dass man die Erscheinungen, welche
-fch ff/ zu raS(rhen Rückkehr des Tauchers aus einer Tiefe von
über 20 Metern auftreten, vermeiden kann, wenn man ihn sofort nach
dei Piickkehi zum Atmosphärendruck etwa 10 Minuten kontinuierlich
pio Minute 10 Liter Sauerstoff einatmen lässt. Die griechischen
chwammtaucher haben bereits von dieser präventiven Sauerstoff¬
atmung mit Erfolg Gebrauch gemacht und Schrötters Vorschlag,
ein internationales Taucherregulativ auszuarbeiten, wurde mit Hilfe
von L an gl o i s, Giglioli, Glibert noch während des Kon¬
gresses in die Tat umgesetzt.
1376
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
Eine zweite Sektion des Kongresses beschäftigte sich während
dieser Verhandlungen mit dem Schutze der Mutter und
der Nachkommenschaft gegenüber den 1 n ^ u "
striellen Gefahren. Die Forderungen, die hier auf¬
gestellt wurden, gehen nicht sehr wesentlich über diejenigen
hinaus, welche unsere deutsche Gesetzgebung bereits bezüglich
des Mutterschutzes festgestellt hat. Hervorzuheben wäre nu:
noch die besonders von Merletti verlangte Fernhaltung dei
schwangeren Arbeiterin von allen industriellen Arbeiten, die sich als
schädlich für die Nachkommenschaft erwiesen haben (namentlich Gift¬
industrien), und zweitens die Einschränkung der Arbeitszeit auch in
den ersten Monaten der Gravidität. Grosses Gewicht wurde seitens
mehrerer italienischer Referenten auf die I atsache gelegt, dass nach
vielen statistischen Erhebungen die Neugeborenen der Arbeiterklasse
durchschnittlich ein geringeres Körpergewicht aufweisen, wie die
der Wohlhabenden, eine Tatsache, die allerdings auf das Zusammen¬
wirken verschiedener sozialer und pathologischer Faktoren zuiiick-
zufiihren sein dürfte.
Bei der grossen Ausbreitung, welche die Tuberkulose
gerade unter der arbeitenden Klasse besitzt, und dem unzweifel¬
haften Zusammenhänge ihrer En t w i c k 1 u n g m i t
gewerblichen Tätigkeiten muss diese Fiage selbst¬
verständlich auch auf dem Kongresse verhandelt werden.
Besonders interessant waren die Ausführungen Telekys (Arzt
für Gewerbekrankheiten der Wiener Krankenkassen), welcher
auf Grund der österreichischen Tuberkulosestatistik der letzten De¬
zennien den Satz aufstellen konnte, dass die industriellen Landes¬
teile zwar die grösste relative Tuberkulosesterblichkeit aufweisen,
aber auch zugleich die grösste Abminderung derselben. Dabei hat er
nur solche Gebiete als im Fortschreiten der Besserung begriffen be¬
zeichnet welche gleichzeitig einen Abfall an Lungenerki ankungen
überhaupt exkl. Tuberkulose aufweisen, sodass irrtümliche Diagnosen
nicht von wesentlicher Einwirkung sein können. Er führt die Besse¬
rung zurück auf ein Steigen des Standard of life, wie. es namentlich
durch die wirtschaftliche Organisation der Arbeiter herbeigeführt sei
und ferner auf die Arbeiterschutz- und Versicherungsgesetzgebung.
Auch in den Ausführungen der übrigen Redner trat es zutage, dass die
sozialen Lebensbedingungen des Arbeiters im allgemeinen einen min¬
destens so grossen Einfluss auf die Ausbreitung der Iuoerkulose be¬
sitzen, wie die berufliche Tätigkeit an sich. Und ein Vortrag Massa-
longos unterschied mit Recht zwischen der Prophylaxe in dei
Arbeitsstätte und derjenigen, die in der Familie ausgeübt werden
müsse.
Die Veranlassung zu den Mailänder Feiern und Kongressen war
bekanntlich die Eröffnung des Simplontunnels, und unter diesen Um¬
ständen ist es begreiflich, dass der Hygiene der Berg- und Tunnel¬
arbeiter eingehende Verhandlungen gewidmet wurden. Die Hygiene
der Berg- und Tunnelarbeiter im allgemeinen wurde von Momo
ziemlich erschöpfend, aber ohne wesentlich neue Gesichtspunkte ge¬
handelt. G i o r d a n o forderte namentlich eine grössere Berück¬
sichtigung des gewerbehygienischen Unterrichtes in den Bergbau¬
schulen, Industrieschulen usw., unter Hinweis auf die Gefahren, denen
die Bergarbeiter ausgesetzt sind, und er will auch den Bergarbeitern
selbst durch Aerzte eine eingehende hygienische Instruktion sehen
lassen. Am bemerkenswertesten aber in diesem Teile der Verhand¬
lungen war natürlich der Bericht Volantes über die sanitären v er-
hältnisse bei den Arbeitern des Simplontunnels: Denn es ist
ja bekannt, dass die hygienischen Verhältnisse dieser Riesenarbeit sich
wesentlich günstiger gestaltet haben, als seinerzeit nn Gotthardtunnel.
Betrug doch die Sterblichkeit innerhalb 8 Jahren im Simplontunnel
nur 106 auf 25 000 Arbeiter, von denen 63 durch Krankheit, 21 durch
Unfälle und Unfallsfolgen, 22 durch Körperverletzungen, Selbstmord
und Unfälle ausserhalb des Dienstes zugrunde gegangen sind. Be¬
kannt ist es ja auch, welch grosse Schwierigkeiten die nesigen
Wassermassen der Arbeit bereiteten, aber gerade die Ausnutzung
dieser Wasserkräfte im Dienste der Hygiene ist das neuartige und
grosse Verdienst der Betriebsleiter. Vor allem diente die Wassei-
masse dazu, durch eigenartige Anordnungen die Lufttemperatur aut
25_30° ständig zu erniedrigen. Dann konnte eine Spülung der La¬
trinen mit Hilfe des Wassers vorgenommen werden, während man
im Anfänge transportable Aborte ohne Spülung benutzt hatte. Auch
die Versorgung mit Trinkwasser, die Einrichtung zahlreicher Bäder,
die noch innerhalb der höher temperierten Arbeitsstätte gelegen
waren, um die Arbeiter vor Erkältungskrankheiten zu bewahren, war
durch die bei der Arbeit selbst frei werdende Wassermasse garantiert.
Eine sorgfältige ärztliche Untersuchung beim Eintritt in die Arbeit,
eine ständige ärztliche Kontrolle während derselben, die Verpflegung
der Kranken in einem eigens dafür errichteten Spital, das mit allem
Komfort ausgestattet war, vervollständigten den sanitären Dienst.
Unter diesen Umständen ist es begreiflich, dass die Ausgaben hierfür,
wie für die Errichtung der Arbeiterhäuser usw. vom Beginne der
Arbeiten bis zum Dezember 1903 schon 2 615 000 Francs betrugen.
So konnten namentlich mit Hilfe der guten Aborteinrichtungen auch
die zahlreichen Opfer an Menschenleben vermieden werden, die
die Ankylostomiasis beim Bau des Gotthardtunnels gefordert hatte.
Ueber diese gewerbliche Erkrankung brachte Hayo B r u n s dem
Kongresse zunächst, ein ausgezeichnetes Referat, in welchem er mit
grosser Klarheit die Entstehung und Bekämpfung nach den Grund¬
sätzen behandelte, die er des öfteren schon in deutschen medizinischen
Blättern behandelt hat. Er betonte wiederum die Notwendigkeit,
sämtliche Wurmbehaftete zu ermitteln und von der Arbeit unter läge
bis zum Nachweis der Wurmfreiheit fernzuhalten, ferner die Wichtig¬
keit einer allen hygienischen Ansprüchen genügenden Fakalien-
beseitigung, während er die Desinfektion des in Kübeln aufgefangenen
Kotes sowie die Desinfektion ganzer Grubenstrecken für praktisch
undurchführbar erklärt. Bekanntlich ist für die Entwicklung der
Fier zu Larven eine gewisse höhere Temperatur, gewisse Feuchtig¬
keit und Sauerstoffzutritt notwendig. Man hat deshalb sich auch
mit Rücksicht auf die höhere Feuchtigkeit gegen die in Deutschland
eingeführte Berieselungspflicht ausgesprochen. Nach Bruns sollte
sie nicht aufgehoben werden, weil der Einfluss der Berieselung auf
die Ausbreitung der Wurmkrankheit nicht als so gross anzusehen ist,
dass man dafür die erhöhte Gefahr der Kohlenstaubexplosion ent¬
täuschen sollte. Da aber das Berieselungswasser gelegentlich zum
Trinken verwandt wird, sollte man dazu nur hygienisch einwand¬
freies Wasser benutzen. Die Berechtigung der yon Bruns dar¬
gelegten Prinzipien geht am klarsten aus der I atsache hervor, dass
im Verlaufe von etwa 2 Jahren im Oberbergamtsbezirke Dort¬
mund auf den mehrfach untersuchten Zechen eine Abnahme der
Krankheit von 13 98-4 auf 2353, d. h. um 83,14 Proz. eingetreten ist.
Aus den italienischen Referaten über den gleichen Gegenstand
sei vor allem hervorgehoben, dass in Italien die Ausbreitung der
Wurmkrankheit sich nicht etwa auf die Bergarbeiter beschrankt wie
bei uns, sondern, wie namentlich die Mitteilungen C o n 1 1 s über das
Cremoneser Landgebiet zeigen, auch unter der Landbevölkerung
festen Fuss gefasst hat. Conti konnte allein im O s p e d a 1 c
Maggiore in Cremona seit 1898 105 Falle von eigentlichen
Wurmkranken beobachten und höchst bemerkenswert erscheinen
seine Angaben über die Behinderung der körperlichen Entwicklung
(Infantilismus) derjenigen, die bereits im jugendlichen Alter von der
Krankheit befallen werden. Einige sehr interessante Photographien
dienten zur Demonstration dieser Beobachtung. Man wird unter
solchen Umständen Nicola Recht geben müssen, welcher betonte,
dass die Wurmkrankheit in Italien sich häufig hinter anderen Dia¬
gnosen (Anaemie, Chlorose, Dysenterie, Enteritis, Malaria, Epilepsie
usw ) verbirgt, und sie wie jede andere Infektionskrankheit durch
Anzeigepflicht usw. bekämpf' wissen will. Ob die Beobachtungen.
welche S i c c a r
d'i über die hämolytische Wirkung des Serums
von Wurmkranken mitteilte (stärkere hämolytische Wirkung auf
Kaninchenblutkörperchen, präparierende Wirkung auf die roten Blut
körperchen von normalen Menschen) sich bestätigen werden, bleibt
abzuwartei^jeht ^ diesen Ausführungen über die Ausbreitung der
Wurmkrankheit in Italien, dass es schwer sein wurde, sie dort direkt
als eine gewerbliche Infektion zu bezeichnen wahrend unsere
deutschen Erfahrungen uns berechtigen ihr diese ^t®.11“ng
land zuzuweisen. Dass die Abgrenzung der gewerblichen Inf ektioi
überhaupt nicht immer leicht zu bewerkstelligen ist, zeigte das en -
gehende und höchst wertvolle Referat Montis über diesen Gegen-
stand Er behandelte den Milzbrand, die Aktinomykose, die Maul¬
und Klauenseuche, den Tetanus, die Syphilis, Tuberkulose und Malaria
immer gestützt auf zum Teil sehr bemerkenswerte Statistiken. Ueber
raschend wird zunächst dem Nichteingeweihten (Je W Zahl de
Milzbrandfälle in Italien sein, die in 15 Jahren (1890—1904) 36 42t
Fälle mit 7308 Todesfällen betrug. Davon entfielen die meisten au
Sardinien, und Kalabrien. Und soweit sie Industriearbeiter betrafen
scheint hier, wie überall, die Haar- und Häuteindustrie am stärkste)
beteiligt. M o n t i trat übrigens auch sehr lebhaft für die Verwendung
des Serums von Sclavo zur Behandlung des Milzbrands ein. Du
vereinzelten Beobachtungen über die Uebertragung der Aktinomykos«
direkt vom Tier auf solche Menschen, welche kranke 1 lere geptleg
haben, ergänzte Monti durch einen interessanten Fall, der m
Hospital zu Pavia zur Beobachtung gelangte. Auch für die Ueber
tragung der Maul- und Klauenseuche auf den Menschen, die sich hie
bekanntlich durch einen mit Fieber verbundenen BläschenausscMa:
an den Handflächen und manchmal an den Lippen und der Munü
Schleimhaut äussert, konnte Monti eigene Beobachtungen an
führen, ebenso für die Verbreitung der Syphilis durch gemeinsam
Benutzung von Musikinstrumenten in einem Trompeterkorps, wahren
frühere Mitteilungen bekanntlich vor allem Glasblaser beträte
(Glibert). Gross scheint in Italien auch immer noch die Am
breitung der Syphilis durch das Säugegeschäft zu sein, wenn seno
die offizielle Statistik, die sicherlich der Wahrheit nur wenig erb
spricht, für 1902 381 Fälle, für 1903 251, für 1904 176 Fälle von Syph
lis verzeichnet. Monti gedenkt auch schliesslich der UebeitK
gütigen von Syphilis im Berufe auf Aerzte, Pflegepersonal und Hel
ammen, und betont zugleich im Sinne der Breslauer dermatologische
Gesellschaft die Notwendigkeit, solche Ereignisse als Unfälle seuet
der Versicherungsgesellschaften zu behandeln. Bei der Erörterun
der Tuberkulose gibt er eine interessante Uebersicht über die Vei
teilung der Tuberkulosesterblichkeit auf die verschiedenen Beruf:
arten in Italien. Die düsteren Betrachtungen, denen sich bei diest
Gelegenheit jeder human denkende Arzt hingeben muss, wurden etWt
verscheucht durch die Schilderung, welche Mont i, und bei enu
anderen Gelegenheit (Erkrankungen der Reisfeldarbeiter) aiu
Celli, der sich hier so grosse Verdienste erworben hat, und G r a s s
von den Erfolgen gaben, die mit der Bekämpfung der Malaria
Italien erzielt worden sind. Während vor 20 Jahren in Italu
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1377
ca. 2 Millionen Menschen jährlich an Malaria erkrankten, schätzt man
die jetzige jährliche Morbidität auf 600 000, und während 1900 die
Sterblichkeit an Malaria noch 15 865 betrug, ist sie im Jahre 190-4
bereits auf 8501 herabgesunken.
Am eingehendsten von allen gewerblichen Infektionen wurde der
Milzbrand auf dem Kongress behandelt, und hier kam auch eine Krage
zur besonderen Erörterung, die bezüglich der gewerblichen Infek¬
tionen von grösster Wichtigkeit ist und schon von M o n t i bei der
Syphilis kurz gestreift wurde. Soll man die gewerblichen Milz-
branderkrankungen, soweit sie namentlich die Haar-, Häute- und
Textilindustrie betreffen, als Unfall auffassen? Man muss sich klar
darüber sein, dass eine bejahende Beantwortung dieser Frage, wie
sie von A s c o 1 i und L a n g 1 o i s in eingehenden Referaten befür¬
wortet wurde, zu schweren ökonomischen Konsequenzen für die Ver¬
sicherungsgesellschaften führt, namentlich wenn auch andere ge¬
werbliche Infektionen in gleicher Weise behandelt werden. Lang-
1 o i s konnte sich für seine Auffassung, die er in überaus klarer und
präziser Weise motivierte, vor allem auf eine Entscheidung des fran¬
zösischen Kassationsgerichtshofes sowie des deutschen Reichsver¬
sicherungsamtes berufen, und ferner auf die englische Milzbrand¬
statistik, welche die überwiegende Gefährdung der Arbeiter in den
genannten Industrien aufs glänzendste beweist. Wenn die Milz¬
brandtodeschance für einen Engländer, der nicht in diesen Industrien
beschäftigt ist, = 1 gesetzt wird, so beträgt sie für die Angehörigen
der genannten Industrien im allgemeinen 173 und für die Arbeiter der
Haarindustrie im besonderen 8750.
Während hier ein klar erkanntes gewerbliches Gift vor¬
liegt, sind die Ansichten darüber, ob in der Tabak-
i n d u s t r i e Schädigungen der Arbeiter durch
Nikotin, Ausdünstungen des fermentierenden Tabaks usw.
zu befürchten sind, noch immer nicht geklärt. G i 1 i o 1 i
kommt in dem Berichte, den er dem Kongress erstattete, zu dem
Resultate, dass zwar in gut eingerichteten Betrieben, wie er sie in
England gesehen hat, keine Störungen sich bei den Arbeitern be¬
merkbar machen, dass aber kleine oder schlecht eingerichtete Arbeits¬
stätten doch Schädigungen der Arbeiter, namentlich der weiblichen
(ständige Kopfschmerzen, Anämie, Uebelkeiten, allgemeine Schwäche,
Störungen der Menstruation) bedingen können, und dass demnach
jedenfalls alle diejenigen allgemeinen prophylaktischen Massnahmen
in den Tabakfabriken gefordert werden müssen, welche in den Gift¬
industrien überhaupt üblich sind.
Als ganz klargestellt ist jedenfalls die giftige Wirkung der Be¬
schäftigung mit dem Tabak nicht zu betrachten. Man berücksichtigt
meines Erachtens viel zu wenig, dass sich zur Tabaksindustrie meist
Individuen als Arbeiter melden, deren körperliche Konstitution schon
bei Beginn der Arbeit zu wünschen übrig lässt, weil es sich eben um
eine verhältnismässig leichte Arbeit handelt. Auch eine andere ge¬
werbliche Schädlichkeit konnte in ihren Wirkungen durch die beiden
Berichte, welche F i n z i und Rota, sowie P e s e n t i dem Kongresse
vorlegten, nicht scharf umgrenzt werden, nämlich der Staub in der
Zement-, Kalk- und Gipsindustrie. Dass chronische Bronchitiden
mit allen ihren Folgeerscheinungen durch den Staub erzeugt werden,
darüber schienen sich die Berichterstatter einig zu sein. Schwankend
war dagegen das Urteil darüber, inwieweit diese Staubarten für die
I uberkulose disponieren oder inwieferne sie sogar, wie das schon
von verschiedenen Seiten behauptet worden ist, einen günstigen Ein¬
fluss auf die bereits ausgebrochene Tuberkulose ausüben können.
Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man jedenfalls den massen¬
haften Staubmengen, die z. B. in der Zementindustrie eingeatmet wer¬
den, eine ungünstige Wirkung zuschreibt, wenn man auch zugeben
kann, dass der Zementstaub schon weniger verheerende Wirkung
anrichtet, als etwa der Sandsteinstaub.
Beinahe einmütige Verurteilung fand auf dem Kongresse die A r -
3 eit mit weissem oder gelbem Phosphor, über deren schäd-
iche Einwirkungen Menozzi berichtete, der überhaupt um das Ge-
ingen des Kongresses sich die grössten Verdienste erworben hat. Nur
-in Verteidiger des Phosphors sprach, und zwar mit grosser Be-
•edsamkeit: nämlich der Zoologe G r a s s i, rühmlichst bekannt durch
seine Malariaforschungen, aber in seiner gewerbehygienischen Tätig¬
keit entschieden weniger glücklich. Er behauptete, die Zahl der
hosphornekr oscfcille in Italien sei überhaupt eine viel zu geringe,
im ein allgemeines Verbot der Arbeit mit giftigem Phosphor zu
echtfertigen. Allseitig wurden ihm die Mängel der Statistik die
schwere der einzelnen Fälle und die Einigkeit beinahe aller zivili-
■ie i ten Staaten über die Notwendigkeit des Phosphorverbotes ent-
kegengehalten. Und so dürfte die Gegnerschaft Grassis auch kaum
■on besonderer Bedeutung für die Regelung der Phosphorfrage in
talien werden. Die Diskussion über das wichtigste gewerbliche Gift,
las Blei, wurde von dem Ref. selbst mit einem Vortrage über die
Verhütung der Bleivergiftungen eingeleitet. Ref. folgte dabei im
wesentlichen den theoretischen und praktischen Darlegungen Blum s,
ie er selbst zum Teil experimentell geprüft hatte. Ref. konnte fest-
tellen, dass Bleichlorid in nicht unwesentlichen Mengen vom Blute
I 'ei Einleitung von Kohlensäure gelöst wird, und damit es wahr-
cheinlich machen, dass die Behauptung Blums, das Blei würde
inerhalb des Organismus in Bleikarbonat verwandelt, zu Recht besteht.
Gums prophylaktische Massnahmen stützen sich wesentlich auf die
j atsachen, 1. dass Blei nur sehr langsam vollständig aus dem Organis-
ius ausgeschieden wird und jede kleine neue Zufuhr von Blei wieder¬
um neue Vergiftungserscheinungen hervorrufen kann, 2. auf die Tat¬
sache der Unlöslichkeit des Bleisulfids in den Körpersäften. Die
erstere Anschauung bedingt die Fernhaltung des Arbeiters von der
Bleiarbeit, so lange noch Spuren einer Bleivergiftung nachweisbar
sind. Die Diskussion förderte hier interessante Momente zutage:
T e 1 e k y, Gilbert u. a. betonten die Unzuverlässigkeit des Blei¬
saums, der mitunter bei ausgesprochenen Bleivergiftungen fehlt, mit¬
unter auch bei anderen Vergiftungen (Quecksilber) auftreten kann.
G 1 i b e r t konnte auf Grund einer ziemlich grossen Reihe von Ver¬
suchen auf die Zunahme der basophilen roten Blutkörperchen bei den
Bleivergifteten hinweisen, die er mit Grawitz u. a. als ein Früh¬
symptom der Bleivergiftung bezeichnete, während T e 1 e k y diesem
Befund nicht entscheidende Bedeutung beimessen konnte. Die Be¬
obachtungen über die Unlöslichkeit des Bleisulfids hatte Blum ver¬
anlasst, als prophylaktische Massnahme den Gebrauch der Akre-
m inseife zu empfehlen, welche Schwefelalkali enthält und dadurch
das an den Händen der Arbeiter haftende Blei in Bleisulfid über¬
führt. Ref. konnte auf Grund von Laboratoriumsversuchen mitteilen,
dass die von den Chemischen Werken Freiburg i. B. ge¬
lieferte Seife in der Tat ein Schutzmittel darstellt, dessen Anwendung
in der Praxis aber leider noch nicht genügende Fortschritte gemacht
hat. Einzelne Uebelstände, die der Seife anhaften (Geruch, schwere
Beseitigung der entstandenen Bleisulfidflecken) lassen sich vielleicht
vermeiden, wenn man an Stelle der Seife nach dem Vorschlag des
Ref. eine Lösung von Schwefelalkali in wässerigem Glyzerin an¬
wendet, deren Haltbarkeit Ref. im Laboratorium bereits erproben
konnte. Ueber die Prophylaxe der Bleivergiftungen in den
graphischen Gewerben berichtet M a s s i n i und Ref. konnte zu
diesem Thema Beobachtungen anführen, in denen namentlich die Auf¬
stellung von neuen Setzmaschinen in einer Buchdruckerei zu einer
unerwartet grossen Luftverschlechterung und übermässigen Erwär¬
mung des Raumes Veranlassung gegeben hatte, die aber durch eine
von der Firma Recknagel - München gelieferte Ventilations¬
anlage zum grossen Teile behoben werden konnten.
Weitere praktische Erfahrungen müssen lehren, ob die Blum-
schen Anschauungen zu Recht bestehen. Ist dies der Fall, so wird
man meines Erachtens unzweifelhaft auch von einer anderen pro¬
phylaktischen Massnahme in weiterem Umfange wie bisher, in allen
Gewerben, die ständig mit Blei zu tun haben, Gebrauch machen
müssen, nämlich von den Urlaubsbewilligungen bei Fortbezug des
Lohnes, eine Massnahme, die unseren Industriellen schon mit Rück¬
sicht auf die günstige Einwirkung, die sie auf den sozialen Frieden
überhaupt haben könnte, nicht dringend genug empfohlen werden
kann. Bei einer vollständigen, wenn auch nur kurz dauernden
Arbeitskarenz dürfen wir jedenfalls eine weitgehende Entgiftung des
Organismus erwarten. Bemerkenswert war hier eine Diskussions¬
bemerkung T e 1 e k y s, der in einem Jahre, wo ein Streik in einer
Arbeiterorganisation stattgefunden hatte, die Zahl der Bleivergiftungen
sinken sah.
Die letzten Sitzungen des Kongresses waren im wesent¬
lichen der Organisation des gewerbehygienischen Unterrichtes,
des Arbeiterschutzes, der Fabrikinspektion gewidmet. Referent
konnte in einem kurzen Vortrage seine Erfahrungen über
den gewerbehygienischen Unterricht an der Uni¬
versität und technischen Hochschule in München darlegen,
die von Prof. Roth-Zürich in wirksamster Weise ergänzt
wurden. Devoto motivierte bei dieser Gelegenheit die Schaffung
einer besonderen Klinik für Gewerbekrankheiten, die, wie bereits
eingangs erwähnt, in Mailand erfolgen soll, während Ref. dafür ein¬
trat, dass neben den theoretischen Vorlesungen und Fabrikbesichti¬
gungen ein Zusammenarbeiten aller Kliniken und Polikliniken in der
Weise stattfindet, dass an einem Wochentage von den betreffenden
Klinikern selbst die etwa vorhandenen Fälle von gewerblichen Er¬
krankungen demonstriert werden, wozu dann der Gewerbehygieniker
die nötigen hygienischen und technologischen Erläuterungen geben
müsste. Jedenfalls bleibt es ein dringendes Postulat, dass der ge¬
werbehygienische Unterricht für Mediziner durch besondere klinische
Demonstrationen, der für Techniker durch eingehende Fabrikbesichti¬
gungen mehr wie bisher ergänzt wird.
Zur Organisation der Fabrikinspektion lieferte Glibert-
Briissel einen höchst interessanten Beitrag durch seine Schilderung
der belgischen Verhältnisse, welche namentlich über die Beteiligung
der Aerzte an der Fabrikinspektion in Belgien und über die dia¬
gnostische und präventive Tätigkeit derselben eingehenden Aufschluss
brachte. In der Zentrale der Fabrikinspektion in Brüssel arbeitet
Glibert selbst mit Hilfe eines Assistenten; die Zahl der in der
Provinz beschäftigten Inspektionsärzte beträgt 3; dazu kommt aber
noch eine grosse Zahl (ca. 150) Fabrikärzte, welche in den ver¬
schiedenen Gegenden des Königreiches funktionieren und die von dem
Minister für Industrie und Arbeit bestätigt werden. Sie sind bezahlt
von den Industriellen, müssen aber aus einer kleinen Zahl von orts¬
ansässigen Aerzten gewählt werden. Der Zentralfabrikinspektion bei¬
gegeben ist ein Laboratorium, welches das nötige Instrumentarium für
chemische, mikroskopische und bakteriologische Untersuchungen ent¬
hält und wohl das erste derartige Institut in der Welt sein dürfte.
In dieser Weise ist in Belgien die Beteiligung des Arztes an der
Fabrikinspektion geregelt, die bekanntlich auch in England in grosser
Ausdehnung wirksam ist, wie auch aus einem Berichte, den G i g I i o 1 i
dem Kongresse lieferte, hervorgeht, und die nunmehr auch in Deutsch-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
lang von Aerzten und Laien dringend gefordert wird. Auf dem Kon¬
gress herrschte in bezug auf die Notwendigkeit, die Aerzte mehr als
bisher an der Fabrikinspektion zu beteiligen, Einstimmigkeit.
Jedenfalls kann man den G 1 i b e r t sehen Bericht als eines der
wertvollsten Dokumente des Kongresses bezeichnen. Die italienischen
Referate zu diesem Gegenstände, wie sie von G o b b i und F a b r i s
geliefert wurden, klangen sämtlich in dem Wunsche nach einer Ver¬
sicherungsgesetzgebung aus, wie er ja bei uns längst erfüllt ist. Das
Referat, welches ein Regierungsvertreter über diesen Gegenstand in
der Diskussion gab, liess allerdings erkennen, dass in Italien Schwie¬
rigkeiten auf diesem Gebiete vorliegen, die aber bei gutem Willen
durchaus nicht als unüberwindlich gelten können. Dass dieser gute
Wille bei den Arbeitern wie bei den Arbeitgebern vorhanden ist, zei¬
gen die vielen freiwilligen Organisationen, welche die Lücke in der
Gesetzgebung bis jetzt ausfüllen. Ueber die Tätigkeit einer in¬
dustriellen Vereinigung zum Zwecke des Arbeiterschutzes erstattete
der Ingenieur Base ggio einen interessanten Bericht.
Mit dem bisher Gesagten ist natürlich der Inhalt der Kongress¬
arbeiten njeht vollständig wiedergegeben, um so mehr, als es dem
Ref. auch nicht möglich war, allen Vorträgen, die zum Teil in zwei
verschiedenen Sektionen abgehalten wurden, beizuwohnen. Die er¬
staunliche Beredsamkeit der italienischen Referenten ' verleitete sie
überdies mitunter zu einem Tempo, welches es dem ausländischen,
wenn auch sprachkundigen Berichterstatter bedeutend erschwerte,
ihren Darlegungen zu folgen. Zahlreiche Referate behandelten spe¬
zielle gewerbliche Schädigungen in einzelnen Industrien. Als spe¬
zifisch italienische Beobachtungen seien nur noch hervorgehoben die
Mitteilungen Vastas über die Thoraxdeformitäten der jugendlichen
Materialträger („carusi“) in den italienischen Schwefelgruben, ferner
die von Repace über die Skelett- und Organveränderungen, die
durch das Tragen von Lasten auf dem Kopfe entstehen können,
schliesslich die von V i t a 1 i über die Skelettveränderungen der vene¬
zianischen Gondolieri.
Im ganzen kann das Ergebnis des Kongresses als ein durchaus
günstiges und wertvolles bezeichnet werden. Der internationalen
Regelung des Arbeiterschutzes, wie sie jetzt, mit Rücksicht auf die
ökonomischen Konsequenzen namentlich, allseitig verlangt wird, muss
eine internationale Aussprache auf dem Gebiete der Gewerbekrank¬
heiten vorangehen und diese gerade den Aerzten einmal ermöglicht
zu haben, bleibt ein dauerndes Verdienst der italienischen Kollegen,
insbesondere der Herren de Cristoforis, Menozzi und
D e v o t o, die auch ein, glücklicherweise nicht zu reiches, aber sehr
vornehmes und würdiges Unterhaltungsprogramm für die Mitglieder
des Kongresses vorbereitet hatten und zur Durchführung bringen
Hessen, an dem die Stadt Mailand hervorragend sich beteiligte. Die
Einsetzung eines internationalen permanenten Komitees lässt hoffen,
dass in einigen Jahren sich anderwärts wiederum die Gelegenheit zu
einer solchen internationalen Verständigung auf dem Gebiete der Ge¬
werbekrankheiten bieten wird.
Gesellschaft der Charite-Aerzte in Berlin.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 28. Juni 1906.
Herr Ziehen: a) demonstriert einen Fall von Gigantismus.
Der achtjährige Kranke macht körperlich den Eindruck eines dreissig-
jährigen; die Körperlänge beträgt 138 cm, der Schädelumfang ist ein
grosser. Auffallend ist eine abnorme frühe Geschlechtsentwicklung.
Diskussion: Herren Bernhardt, Ziehen.
b) Demonstration eines Falles von bilateraler Athetose. Die
Bewegungsstörung betrifft vorwiegend die Gesichts- und Armmusku¬
latur; sie nimmt bei Muskelaktion zu, in der Affektruhe ab. Diffe¬
rentialdiagnostisch kommt chronische Chorea und Hysterie in Be-
trapht.
c) Demonstration eines Falles von hereditärem (essentiellem)
Tremor. Ein Teil der Angehörigen des Kranken zeigt dasselbe Lei¬
den, ein anderer protrahiertes Bettnässen.
d) Demonstration einer Kranken, welche neben chronisch chore¬
atischen Bewegungen einen regelmässigen Tremor darbietet.
Diskussion: Herren Remak, Ziehen, Vorkastner.
Herr Rauschke: Vorstellung eines Falles von Paranoia acuta
Simplex. Im Anschluss an Aufregungen hatten sich bei dem Kranken,
ohne dass körperliche oder Intelligenzstörungen Vorlagen, Wahn¬
vorstellungen und Verfolgungsideen entwickelt. Die Prognose der¬
artiger Fälle ist: günstig; zuweilen stellen sich jedoch Nachschübe ein,
die dann einen chronischen Verlauf nehmen.
Herr Vorkastner: Demonstration eines Falles von Herd¬
erkrankung im Pons bezw. der Oblongata. Während anfangs Er¬
scheinungen bestanden, welche sich durch ein diffuses, infiltrierendes
Gliom der Pons-Oblongata-Gegend erklären Hessen, bestehen gegen¬
wärtig nur noch eine Ataxie des rechten Beines, Neigung nach rechts
zu fallen, Postikuslähmung und linksseitige Sensibilitätsstörungen.
Diese Ausfallserscheinungen lassen sich beziehen auf einen Herd —
vielleicht eine thrombotische Erweichung — in der Oblongata unter¬
halb der Pyramidenkreuzung in der Höhe der austretenden Vagus¬
fasern.
Diskussion: Herren Bernhardt, Vorkastner.
Reckzeh - Berlin.
No. 28.
Gesellschaft für Natur- und Heilkunde zu Dresden.
(Offizielles Protokoll.)
XXI. Sitzung vom 24. März 1906.
Vorsitzender: Herr Friedrich H a e n e 1.
Vor der Tagesordnung:
Herr N a e t h e r stellt einen Fall von DühmischerTromm-
I er lä Innung vor; Riss der Extensorsehne des Daumens.
Herr Hesse demonstriert einen Patienten mit einer Magen¬
fiste! (W i 1 z e 1).
Herr Oppe macht auf einen besonders in Süddeutschland, aber
auch hier von Kurpfuschern geübten Schwindel bei der Behandlung
angeblicher Cholelithiasis aufmerksam, der darin besteht, dass den
Patienten gegenüber die infolge des Gebrauchs von „Gallin“ oder
„Antifellin“, d. i. einem abführenden Oel abgehenden grünlichen,
weichen, kugeligen Gebilde als erweichte Gallensteine ausgegeben
werden. Er demonstriert derartige „falsche Gallensteine“, die in
heissem Wasser löslich sind und grösstenteils aus Oel bestehen.
Tagesordnung:
Herr Wert her: a) Demonstration eines Falles von Lymphan-
gionta tuberosum multiplex.
b) Demonstration zweier Fälle von Mycosis fungoides.
! Diskussion: Herr Galewsky hat in Breslau 2 Fälle von
Mykosis gesehen, deren Bilder er herumreicht. Nach Arsenbehand¬
lung trat Besserung ein, doch bald folgten Rezidive, Kachexie und
Tod. Er erwähnt insbesondere den Fall Brandwein ers an der
Finger sehen Klinik, in welchem sich die Sarkoiden Metastasen im
Gehirn auf hämatogenem Wege entstanden vorfanden.
Herr Werther hat vom Arsen wenig vorteilhaftes gesehen,
einmal sogar ein Rezidiv während des Arsengebrauches.
Herr F. v. Mango! dt: Krankenvorstellungen.
I. Cholelithiasis, Empyema et Carcinoma vesicae feileae, Chole¬
zystektomie. Heilung.
Der Kranke ist ein 77 Jahre alter Mann. Angeblich nie Gallen-
steinkoliken gehabt, niemals Ikterus, kein Erbrechen.
Seit ca. 6—8 Wochen in der Gallenblasengegend Beschwerden.
Es findet sich daselbst eine rundlicher, glatter Tumor von wenigstens
Gänseeigrösse, von der Leber nicht abgrenzbar. Kein Ikterus, keine
Koliken, kein Erbrechen. Magen und Darm anscheinend ohne Be¬
sonderheiten. Niere normal. Verträgt gewöhnliche Kost. Temperatur
normal, Puls 72—76, keine Bronchitis, kein Husten und Auswurf.
Bei der Operation am 2. September 1905 erweist sich der Tumor
als die sehr vergrösserte, verdickte, prall gefüllte, gelbbraun aus¬
sehende Gallenblase, die vom Fundus nirgends adhärent ist, während
ihre Lösung am Hals und die des Ductus cysticus wegen alter derber
Adhäsionen, die die Gänge umhüllen und verdecken, sehr mühsam ist.
Cholezystektomie.
Die Gallenblase ist 10—12 cm lang, bimförmig, in ihrer Wandung
bis zu 1 cm, besonders am Fundus, verdickt.
Die Schleimhaut ist ulzeriert und sugilliert mit eitrigem Schleim
bedeckt. Der Inhalt besteht aus dünnflüssigem Eiter und ca. 30 kaum
linsengrossen Steinen. Ductus cysticus ist nicht obliteriert.
Die mikroskopische Untersuchung der dicken Funduswand er¬
gibt : Zylinderzellenkarzinom.
Glatte Heilung. Patient zur Zeit ohne jede Störung. Körper¬
gewicht 114 Pf. Hat seit seiner Entlassung am 4. Dezember 1905
4 Pfund zugenommen.
Der Fall ist bemerkenswert, weil die Diagnose auf Karzinom
der Gallenblase schon vor der Operation mit einiger Wahrscheinlich¬
keit gestellt wurde, und weil er zeigt, dass selbst im Greisenalter
ein Karzinom der Gallenblase mit Erfolg operativ entfernt werden
kann. Meist wird dies allerdings unmöglich sein, weil das Karzinom
unmerklich entsteht, weit fortschreitet und man häufig bei der Lapa¬
rotomie Verhältnisse vorfindet, die eine Exstirpation der Geschwulst
von vornherein aussichtslos erscheinen lassen.
II. Aktinomykosis cervicalis mit Ergriffensein des Kehlkopfes
und des retropharyngealen tiefen Halszellgewebes. Breite Spal¬
tungen, offene Wundbehandlung; intern Jodkalium. Heilung.
Der Fall betrifft einen 20 Jahre alten Patienten.
Im Juli 1905 hatte er bei einem Spaziergang Kornähren entkörnt
und gegessen. Dabei blieb eine Granne im Halse stecken und verur¬
sachte ihm stechende Schmerzen, die auf Gurgelung mit Zitronen¬
wasser sich besserten.
Seit Mitte Dezember 1905 nun grosse harte Schwellung an der
linken Halsseite zwischen Zungenbein und Kehlkopf, die sich nicht
verschieben liess, gegen Druck leicht empfindlich war und langsam
zunahm. Bei seiner Aufnahme in das Karolahaus am 13. Januar 1906
fand sich an der linken Halsseite neben dem Kehlkopf eine von diesem
nicht abzugrenzende harte Schwellung. Patient litt an Heiserkeit,
klagte über zeitweise Atemnot, über Schling- und Schluckbeschwer¬
den. Bei laryngoskopischer Untersuchung fand sich im Sinus pyri-
formis linkerseits eine ödematöse starke Schwellung. Puls. Tem¬
peratur normal. Keine Drüsenschwellung. Gute Zähne, Mandeln
ohne Besonderheiten. Ohrbefund normal.
Am 16. Januar 1906 ausgedehnte Inzision über der brettharten
Schwellung links am Hals am Innenrand des Muscul. sternocleido-
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
mastoideus. Eingehen mit der Listerzange in die Tiefe. Entleerung
spärlichen Eiters. Mikroskopischer Untersuchungsbefund negativ.
Offene Wundbehandlung, Jodoformgazetamponade.
Am 26. Januar wegen brettharter Infiltration des Halszellge¬
webes auch hinter dem Muscul. sternocleidomastoideus ausgedehnte
Inzision am hinteren Rand dieses Muskels. In grosser Tiefe aus der
Gegend vor den Halswirbeln wieder Entleerung spärlichen Eiters, in
welchem deutliche gelbe Körnchen gefunden wurden. In diesen liessen
sich mikroskopisch deutliche Aktinomyzesdrusen nachweisen !
Offene Wundbehandlung. Jodoformgazetamponade. Intern Jod¬
kalium.
Patient ist zur Zeit geheilt, die Wunden sind geschlossen, die
Schwellung im Hals ist geschwunden, die Bretthärte an der linken
Halsseite gewichen. Er hat im ganzen 86 g Jodkalium in 2V2 Mo¬
naten eingenommen. Sein Aussehen ist wieder blühend, die früher
bestehende Anämie ist beseitigt. Körpergewicht 120 Pf. (3 Pfund
Körpergewichtszunahme.) Es ist bemerkenswert, dass eine derartig
ausgedehnte Aktinomykose noch ausheilen konnte!
III. Traumatischer Tetanus. Subkutane und endoneurale Injek¬
tionen von T i z z o n i s Tetanusantitoxin. Heilung.
Ein 16 jähriger Knecht verunglückte am 13. November 1905 beim
Abladen von Jauchefässern vom Wagen dadurch, dass ihm ein Fass
auf beide Vorderfüsse fiel. Die rechte grosse Zehe war abgequetscht,
die anderen verwundet.
Am linken Fuss waren 3 Zehen gequetscht ohne offene Wunde.
Trotzdem arbeitete er noch 4 Tage mit auf dem Felde, eggte mit
und versah alle Arbeiten. Erst dann trat er wegen zunehmender
Entzündung und Schwellung von beiden Füssen in ärztliche Be¬
handlung.
Da sich sein Zustand in der Folge nicht besserte, erfolgte seine
Ueberweisung in das Karolahaus Dresden. Bei seiner Aufnahme am
4. Dezember 1905 wurde folgender Befund erhoben: Temperatur 38,1,
Puls 108. Beide Fiisse stark teigig geschwollen, äusserst übel¬
riechend, Haut in weiter Ausdehnung mazeriert. Am rechten Fuss
Zehen I— III rudimentär; Nagelglieder fehlen, Wunden schmierig be¬
legt. Das erste Glied der grossen Zehe ragt als schwarzer Knoten
vor, fast in seiner ganzen Ausdehnung blossliegend. Ganzes Bein
geschwollen, heiss; an der Innenseite breiter lymphangitischer Strang.
Drüsen der Kniekehle und Leistenbeuge äusserst schmerzhaft und
stark geschwollen. An der Wunde scheinbar beginnender Abszess.
Am linken Fuss ebenfalls schmierige Granulationsfläche an Stelle der
fehlenden Nagelglieder für erste, vierte und fünfte Zehe.
Behandlung: Lang dauernde Fussbäder zweimal täglich, feuchte
antiseptische Umschläge, Stauung, Hochlagerung.
8. XII. Patient klagt abends über Schlingbeschwerden. Beim
Versuch, den Mund zu öffnen zeigt sich hochgradiger Trismus.
Bauchmuskeln bretthart. Temperatur normal. Alle Wunden mit
reiner Karbolsäure verätzt, mit Alkohol nachgespült. 3 g Chloral-
hydrat und Morphiumtropfen intern.
9. XII. Zustand unverändert. In Narkose Ausschneidung sämt¬
licher Wunden mit Amputation rechts der ersten Zehe mit Capitul.
metatarsi, der 2., 3. und 5. Zehe, Absetzung im Metatarso-phalangeal-
Gelenk. Linkerseits: Absetzung der 1. Zehe im Zwischenfingergelenk,
2. Zehe amputiert im 2. Gliede. 5. Zehe: Wunde ausgeschnitten und
vernäht.
Freilegung des Nerv, ischiadicus rechts und endoneurale In¬
jektion von 20 g Tizzoni sehen Tetanusantitoxins und 5 g in die
Umgebung = 2,5 g der trockenen Substanz.
Da der Zustand sich nicht ändert, Nackenstarre, Opisthotonus,
tonischer Krampf der Gesichtsmuskulatur, Starre der Extremitäten
eintritt, werden die endoneuralen Injektionen wiederholt, und zwar
am 18. XII. auch in den 1 i 11 k e n Nervus ischiadicus (30 ccm).
“L XII. Zum zweiten Mal in den rechten Nerv, ischiadicus
20 ccm.
Ausserdem erhält Patient am. 11. XII., 14. XII., 16. XII. je 10 ccm
subkutan injiziert. Im ganzen hat er 10 g Trockensubstanz = 10 Mil¬
lionen Immunisierungseinheiten injiziert bekommen.
Zu den schwersten allgemeinen tetanischen Krampfanfällen kam
es nicht, hingegen blieb der geschilderte Zustand 14 Tage lang ziem¬
lich unvei ändert bestehen, um dann allmählich völlig zu verschwinden.
Eine geimpfte Maus starb am 4. Tage nach der Impfung an
typischem Tetanus. Die ersten Erscheinungen traten Ende des
2. I ages auf, mit Krampf im Schwanz und der linken hinteren Ex¬
tremität, am nächsten Tag im rechten hinteren Fuss und im Lauf des
lages in den vorderen Extremitäten.
Was den vorgestellten Fall besonders interessant macht, ist der
Umstand, dass nicht die geringsten Lähmungen in beiden Beinen
zurückblieben und Patient so gut geht, wie zuvor.
Zur Vornahme der endoneuralen Injektionen wurde beiderseits
der Nerv, ischiadicus in der hinteren Glutäalfalte aufgesucht und von
hier aus unter starkem Druck, so dass er bis zu Daumendicke an-
schwoll, injiziert!
Die Injektionsflüssigkeit kann man auf eine Entfernung bis zu
10—42 cm in den Nervenstamm vortreiben, wie Versuche mit Farb¬
stofflösungen ergaben, die an grösseren Nervenstämmen bei abge¬
setzten Gliedern von mir vorgenommen wurden. Man kann also
annehmen, dass die Injektionsmasse bis in oder bis nahe an den
Wirbelkanal vordringt. Dass erst der rechte, später erst der linke
Nerv, ischiadicus infiltriert wurde, lag daran, dass es unsicher war,
iffl
aui welchen Nervenbahnen das 1 etanusgift zum Rückenmark empor¬
gestiegen war. Da die Verletzungen rechterseits schwerer waren
als links, wurde auch der rechte Nerv, ischiadicus zunächst endo-
neural injiziert.
Interessant ist, dass trotz der in beide Nn. ischiad. durch die
endoneurale Injektion gemachten Sperre für das Tetanusgift die teta¬
nischen Symptome 14 Tage andauerten, ehe sie verschwanden.
Redner weist zum Schluss auf die grundlegenden Arbeiten von
Gumprecht: Die physiologische Wirkung des Tetanusgiftes, 1895,
Pflügers Archiv, Hans Meyer und Fred. R a n s 0 m: Untersuchungen
über den Tetanus, Arch. f. exper. Pathologie und Pharmakologie 1903,
und die Veröffentlichung von C. Küster: Verhandl. d. D. Gesellsch.
f. Chir. 1905, hin, die ihn zu diesem Versuch mit endoneuralen In¬
jektionen zur Sperrung der zuführenden Nerven mit Antitoxin vor
dem Tetanusgift ermutigten.
Diskussion: Herr Pässler: Da die Spontanheilung des
1 etanus um so sicherer eintritt, je später die tetanischen Symptome
zum Au.sbruch kommen, so ist anzunehmen, dass der vom Herrn Vor-
ti agendpn geschilderte Fall ganz bestimmt auch ohne Antitoxin ge¬
heilt wäre. Die endoneurale Injektion des Tetanusantitoxins ist wahr¬
scheinlich rationell, sie wird jetzt von verschiedenen Seiten emp-
, fohlen. Da sie aber das einmal an die Nervenzellen gebundene Gift
auch nicht mehr unschädlich machen, sondern nach unserer jetzigen
Vorstellung nur für das aus dem Injektionsherd nachströmende Toxin
eine Sperre ausiiben kann, so ist auch im Falle ihrer Wirksamkeit
kein sofortiges Schwinden der Krankheitserscheinungen nach der In¬
jektion zu erwarten. P. würde deshalb aus dem blossen Fortbestehen
leichterer tetanischer Erscheinungen, namentlich nach chirurgischer
Entfernung des Infektionsherdes, keine Indikation für häufigere
Wiederholungen der Antitoxininjektionen entnehmen.
Herr Grunert stimmt den Ausführungen des Herrn Pässler
vollkommen zu. Er hat bei Tetanus Heilungen mit und ohne Anti¬
toxin gesehen.
Herr v. M a n g 0 1 d t hat den Eindruck, dass die wiederholten
endoneuralen Injektionen in seinem Fall von grossem Nutzen waren,
indem durch dieselben der Ausbruch allgemein schwerer tetanischer
Krampfanfälle bei dem sonst typischen Fall von Tetanus hintan¬
gehalten wurde.
Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M.
(Offizielles Protokoll.)
Ordentliche Sitzung vom 19. Februar 1906.
Vorsitzender: Herr E. Colin:
Schriftführer: Herr J. Ros engart.
Herr Albrecht: Demonstrationen.
Herr Rosen in eyer demonstriert einen Fall von Ranken-
neurom mit Hydrophthalmus. (Wird an anderer Stelle in extenso ver¬
öffentlicht werden.)
Herr K ü 1 1 n e r - Marburg: Vorstellung eines Falles von Kar-
diolyse.
. Der Symptomenkomplex der chronischen, adhäsiven Mediastino-
Pei ikarditis hatte sich bei dem Kranken im Verlaufe eines Jahres
entwickelt, das Krankheitsbild war besonders schwer. Neben den
Residuen einer Lungentuberkulose fanden sich die subjektiven und
objektiven Erscheinungen der Herzinsuffizienz; Pat. war zyanotisch,
am Halse bestand deutlicher herzdiastolischer Venenkollaps, es war
Stauungsleberzirrhose mit Ikterus und Aszites nachweisbar, in einer
Sitzung wurden 9,2 Liter Aszitesflüssigkeit entleert; das Auffallendste
aber war über dem Herzen eine deutliche systolische Einziehung
und ein starkes diastolisches Vorschleudern der Thoraxwand als
Ausdruck der Verwachsung zwischen Herz, Perikard und Brustkorb.
K. hat den ihm von Herrn Prof. Brauer zugewiesenen Kranken
vor 6/2 Monaten operiert. Es wurde ein grosser Weichteillappen
mit äusserer Basis gebildet, die linke 4. bis 6. Rippe vom Sternalrand
bis zur vorderen Axillarlinie reseziert, das Periost abgetragen und
der Lappen wieder an Ort und Stelle gebracht. Die Operation
wurde anstandlos ertragen. Wie günstig sie gewirkt hat, geht daraus
hervor, dass der vorher bettlägerige, in desolatem Zustande befind¬
liche Kranke seine Beschwerden vollkommen verloren und seine
Arbeitsfähigkeit wiedererlangt hat. K. stellt nach den bisherigen
Erfahrungen — der vorgestellte Kranke ist der neunte nach der
Methode operierte Patient — der Brauer sehen Kardiolyse eine
sehr günstige Prognose; er empfiehlt möglichst schnelles Operieren
im Aetherrausch, legt Gewicht auf sorgfältige Blutstillung, exakteste
Entfernung des Rippenperiostes zur Vermeidung stärkerer Knochen¬
regeneration und hält die Zufügung einer Talma sehen Operation zur
sichereren Beseitigung des Aszites für entbehrlich.
L. Brauer-Marburg bespricht im Anschluss an die Vor¬
führung des Herrn Küttner die Diagnose und Differentialdiagnose
der Herzbeutelverwachsungen, zwei Fälle, dann eine Anzahl von
Röntgenaufnahmen und zahlreiche graphische Darstellungen demon¬
strierend.
Die einzelnen Symptome des vielfach übersehenen Zustandes
lassen sich am besten gruppieren als abhängig von der Mediastinal-
erkrankung, der Obliteration der Perikardialblätter und den beglei-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
tenden Myokardstörungen. Der ersteren Gruppe sind im wesen -
liehen die abnormen Bewegungserscheinungen an der Urustw anu,
sowie die charakteristischen Störungen, welche am (letassystem be¬
obachtet werden, zuzurechnen. Der unkomplizierten Obiiteration der
Perikardialblätter braucht eine sicher zu diagnostizierende Zirku¬
lationsstörung nicht zu folgen. Die völlig unkomplizierte Obiiteration
ist aber nicht allzu häufig. tl , ,. ,. . „
Abgesehen von den sich meist hinzugesellenden mediast nalen
oder myokardialen Veränderungen ist die I erikardob uera-
tion häufig von einer beträchtlichen Verdickung und Sklero¬
sierung des äusseren Perikardialblattes begleitet. Hierdurch wir
das Herz wie von einem Panzer umkleidet, welcher nun nicht nur die
systolische Entleerung, sondern in noch stärkerem Grade die weniger
kraftvolle diastolische Füllung des Herzens erschwert. Diese „Um¬
klammerungserscheinungen“ werden durch die Kardiolysis wenig
oder gar nicht beeinflusst. Ihnen scheint im wesentlichen die Ent¬
stehung der Pickschen perikarditischen Pseudoleberzirrhose zu
folgen. Es ist daher auch durchaus empfehlenswert, an diesem um¬
strittenen Symptomenkomplex als einem besonderen Krankheitsbilde
festzuli alten
Die myokardialen Erscheinungen tragen keinen unserem Krank¬
heitsbilde besonders eigenen Stempel. Sie äussern sich — von
Stauungserscheinungen abgesehen — häufig in beträchtlichen Irregu¬
laritäten der Herzaktion. Diese beiden, oft sehr markant heryoi-
tretenden Störungen haben mehrfach dazu geführt, dem einzelnen rallc
eine allzu ungünstige Prognose zu stellen, und haben damit von der
Kardiolysis zurückschrecken lassen. Hier ist auf das schärfste noch¬
mals hervorzuheben, dass die Beurteilung der Testierenden Herz¬
kraft bei den Herzbeutelverwachsungen oft mit grosser Sicherheit
aus dem Grade und der Kraft der abnormen Brustwandbewegungen
zu gewinnen ist. Ein Herz, welches imstande ist die Brustwand
systolisch einzuziehen und zu der diastolischen Vorfederung zu
führen, hat stets noch eine sehr beträchtliche Reservekraft, welche
nach der funktionellen Entlastung des Herzehs durch die Kardio¬
lysis der Zirkulation dann zugute kommt.
Als Beweis hierfür stellt Brauer den ersten der seinerzeit zur
Kardiolysis gebrachten Fälle vor; dieser Kranke ist trotz beträcht¬
licher Irregularitas cordis, trotz Fortbestandes des im allgemeinen
etwas gebesserten Pickschen Symptomenkomplexes, trotz recht
unzweckmässiger Lebensweise immer noch arbeitsfähig v Werk¬
meister in Motorenfabrik, häufige Geschäftsreisen, häufig betracht-
liche körperliche Anstrengungen, Abusus cerevisiae). An der Hand
mehrerer Röntgenbilder und graphischer Aufzeichnungen sowie unter
Demonstration eines Falles bespricht Brauer zum Schluss die
häufigen Erscheinungen behinderter Herzaktion und der dadurch be¬
dingten abnormen Brustwandbewegungen, die sich in Begleitung aus¬
gedehnterer pleuritischer Schwarten, besonders bei Verlagerungen
des Herzens finden. Diesen Fällen wird zurzeit auf der Marburger
medizinischen Klinik besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Es haben
sich hier mancherlei praktisch wichtige Ergebnisse erheben lassen.
Herr Küttner - Marburg : lieber Pseudoappendizitis.
K. geht, ohne Berücksichtigung der zahlreichen Verwechs¬
lungen mit Erkrankungen der Gallenwege, der weiblichen Geni¬
talien, des uropoetischen Systems, nur auf die Fälle ein, bei
welchen das Krankheitsbild der Appendizitis besteht, ohne dass
überhaupt Veränderungen an den Organen der Bauchhöhle
nachweisbar sind. In diesen Fällen kann die Epityphlitis nicht
durch den klinischen Verlauf allein ausgeschlossen werden; es
genügt nicht einmal das makroskopisch normale Aussehen des
abgetragenen und aufgeschnittenen Wurmfortsatzes, sondern
entscheidend ist einzig und allein der normale histologische
Befund an dem exstirpierten Prozessus bei Untersuchung in
Schnittserien oder wenigstens in Stufenschnitten. Wichtig für
die Beurteilung der Frage ist die Feststellung, dass der Wurm¬
fortsatz nach leichteren Anfällen wieder vollkommen normal
werden kann, was vom Vortr. ausführlicher begründet wird.
Daraus ergibt sich, dass die voraufgegangene Epityphlitis nie¬
mals mit Sicherheit ausgeschlossen werden darf, wenn am be¬
schwerdefreien Kranken im Intervall ein auch histologisch nor¬
maler Wurmfortsatz entfernt wird; wohl aber muss von Täu¬
schungen gesprochen werden 1. wenn bei chronischen Be¬
schwerden in der Blinddarmgegend ein mikroskopisch nor¬
maler Wurmfortsatz gefunden wird, 2. wenn im Anfall operiert
wurde und der entfernte Prozessus vermiformis sich als un¬
verändert erweist.
Unter Anführung eigener Beobachtungen und unter dem
Hinweis, dass die Häufung der Epityphlitisfälle seines Erachtens
nur eine scheinbare ist, bedingt durch die Fortschritte der Dia¬
gnose (vergl. V i 1 1 a r e t s Statistik aus den amtlichen Be¬
richten über die Krankenbewegung in der Armee) geht K. so¬
dann auf die Fehlerquellen der Epityphlitisdiagnose ein, be¬
spricht die neurasthenische, die hysterische Pseudoappendizitis
und die Fälle, in denen nervöse Störungen der Darmfunktion,
Spasmen der unteren Dickdarmabschnitte, echte Neuralgien das
Krankheitsbild der chronischen oder chronisch-rezidivierenden
Epityphlitis Vortäuschen. Für noch wichtiger hält der Vortr.
die zweite Gruppe von Fällen, welche mit schweren lokalen
und allgemeinen Symptomen unter dem Bilde der akuten
Wurmfortsatzentziindung verlaufen und den Arzt zu unmittel¬
barem Handeln zwingen. Die klinischen Erscheinungen sind in
diesen Fällen die der diffusen oder umschriebenen Peritonitis,
der autoptische Befund dagegen liefert für die akuten Erkian-
kung weder des Wurmfortsatzes noch des Peritoneums irgend
welche Anhaltspunkte. K- schildert die hysterische Pseudo¬
peritonitis, beschreibt Fälle, in denen trotz negativen Befundes
die Ursache des peritonitischen Symptomenkomplexes in der
Bauchhöhle gesucht werden musste, geht auf die Differential-
diagnose der mit abdominalen Erscheinungen verlaufenden
Pneumonie und Pleuritis ein und erwähnt Beobachtungen, bei
denen das Krankheitsbild der akuten Epityphlitis durch Neu¬
ritis bei fieberhafter Influenza, durch Bauchmuskelerkiankung
bei akuter Polymyositis, durch Hüftgelenksaffektion oder Neu¬
ritis bei beginnendem akuten Gelenkrheumatismus vorgetäuscht
wurde. Gerade in diesen Fällen ist die Differentialdiagnose
besonders schwierig, da sich auch die echte Epityphlitis an In¬
fektionskrankheiten anschliessen kann (Hinweis auf die
A 1 b r e c h t sehen Untersuchungen über die schutzbringende
Bedeutung des lymphadenoiden Gewebes). Zum Schluss be¬
tont K. die Wichtigkeit der rückhaltlosen Mitteilung diagnosti¬
scher Irrtümer, weil nicht indizierte Eingriffe geeignet sind,
die glänzenden Resultate der chirurgischen Epityphlitisbehand-
lung zu verschlechtern und die segensreiche Operation in Miss¬
kredit zu bringen.
Diskussion: Herr L. Rehn: Herr Küttner hat unter
der Bezeichnung: „Pseudoappendizitis“ die Geschichte der rehl-
diagnosen bei den Erkrankungen des Wurmfortsatzes vorgetragen.
Der Name scheint mir nicht glücklich gewählt, namentlich wenn man
eine Neuralgie des N. ileohypogastricus oder eine Myositis usw. mit
unter diesen Begriff fassen will.
Der Redner hat von Pseudoappendizitis bei chronischen und in
akut verlaufenden Fällen gesprochen. .
Was die Fälle der ersten Kategorie anlangt, so ist es bei dem
oft so dunklen Krankheitsbild begreiflich, dass diagnostische Irr¬
tümer Vorkommen, dass Wurmfortsätze entfernt werden, welche un¬
schuldig an dem Leiden sind, dass andererseits in komplizierten Fällen
auch nach der Entfernung eines kranken Wurmfortsatzes Beschwer¬
den Zurückbleiben können, also die Operationsresultate nicht ganz
befriedigende sind. Wenn Herr Küttner vor Appendektomie bei
Neurasthenikern und Hysterikern warnt, so ist das gewiss sehr rich¬
tig. Aber ich denke, dass diese Dinge keinem Frankfurter Arzte un-
bekannt sind. Wir haben längst gelernt, darauf zu achten. Immerhin
kann bekanntlich auch einmal ein Patient durch eine chronische
Wurmfortsatzerkrankung recht nervös geworden sein, und eine hyste¬
rische Frau kann einmal an Appendizitis erkranken. Aber davon ab¬
gesehen ist mit Nachdruck zu betonen, dass es noch eine recht
grosse Anzahl von Patienten gibt, welche als Magen- und Darm-
kranke, als Hypochonder monate- und vielleicht jahrelang vergeblich
behandelt und erst durch die Entfernung des kranken Wurmfortsatzes
dauernd und völlig geheilt werden. ....
Was nun die Irrtümer in akuten Fällen von Blinddarmentzündung
anbelangt, so ist zu unterscheiden, ob wir uns bezüglich der Infektions¬
quelle geirrt haben, wie es zuweilen bei akuter Cholezystitis,
Adnexerkrankungen usw. vorkommt, oder ob wir überhaupt keine
Erkrankung im Bauch vor uns haben: Das erstere ist wohl von ge¬
ringer Bedeutung. Das letztere erscheint nach meinen Erfahrungen
recht selten. Die Irrungen bei Pneumonie sind lange bekannt
und können wohl meist vermieden werden.
Was wollen aber diese wenigen Fehldiagnosen sagen, wenn wir
die ungeheure Bedeutung der Frühdiagnose bei den infektiösen Pro¬
zessen im Bauchraum uns vor Augen führen. Bekanntlich gibt es
nichts Schwierigeres, als eine Diagnose und Prognose dieser Erkran¬
kungen zu stellen. Wir wissen aber ganz genau, dass das einzige
Heil so vieler Patienten in einer frühen Erkennung des Leidens und
in einem zeitigen Eingriff besteht.
Es gibt gewisse Zeichen, bei deren Vorhandensein ein rasches
Eingreifen geboten ist. Ich brauche nur auf ein plötzliches Einsetzen
der Erkrankung, auf die hochgradige Schmerzhaftigkeit, reflektorische
Muskelspannung, erhöhte Rektaltemperatur etc. hinzuweisen, alles
Zeichen, dass eine schwere Erkrankung im Bauchraum zu befürch¬
ten ist.
Mit vieler Mühe haben wir es dahin gebracht, dass Fälle dieser
Art zeitig zur Operation gebracht werden. Warnungen vor unnötigen
Eingriffen sind hier meines Erachtens nicht am Platz. Der Gewinn
an Menschenleben überwiegt doch unendlich, wenn wir uns an die
mühsam errungene Indikationsstellung halten.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1381
Um endlich noch einen Punkt zu erwähnen, den Herr K ii 1 1 n e r
hervorgehoben hat, dass A 1 b r e c ht die Appendix als lymphoides
Schutzorgan auffasst, so kann ich nur sagen, dass bisher von Aus¬
fallserscheinungen nach Appendektomie nichts bekannt geworden ist.
Herr S i p p e 1 weist auf die von dem Herrn Vortragenden nicht
erwähnten falschen Diagnosen bei Schwangeren hin.
Man diagnostizierte akute Appendizitis, operierte und fand voll¬
kommen normale Verhältnisse. Es handelte sich um das von S.
beschriebene Krankheitsbild der Ureterenkompression mit aufsteigen¬
der Infektion, ein Krankheitsbild, dessen richtige Diagnose mög¬
lich ist.
Herr Alb recht bestätigt die vom Vortragenden hervor¬
gehobene Bedeutung des Wurmfortsatzes unter nochmaliger Ver¬
weisung auf einen von ihm gehaltenen Vortrag über die Bedeutung
der lymphatischen Apparate des Darmtraktus, wie cs der Vortragende
schon getan hatte.
Verein Freiburger Aerzte.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 9. Januar 1906.
Herr Schottelius: Zur Aetiologie der Syphilis.
Diskussion: Herr Q i e r k e.
Herr Küster: Beitrag zur Frage des sporadischen Auf¬
tretens von Meningitis cerebrospinalis (Weichselbaum).
(Der Vortrag ist ausführlich in No. 20 dieses Jahrgangs dieser
Wochenschrift erschienen.)
Diskussion: Herren A x e n f e 1 d, Schottelius, M a n z,
E r n e, Thomas.
Sitzung vom 15. Februar 1906.
Herr v. Oettingen (als Qast): Kriegschirurgische Er¬
fahrungen aus der Mandschurei. (Der Vortrag wurde in ganz
ähnlicher Form bereits in der Sanitätsoffiziersgesellschaft zu
Dresden gehalten und ist in No. 7 dieses Jahrgangs dieser
Wochenschrift erschienen.)
Diskussion: Herr K r a s k e, Herr Zwicke.
Aerztlicher Verein in Hamburg.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 26. J u n i 1906.
Vorsitzender: Herr D e n e k e.
Demonstrationen:
Herr W i e s i n g e r demonstriert an einer Anzahl von Röntgen¬
bildern eine neue Methode, die dazu bestimmt ist, die Motilitäts¬
störungen des Magens, speziell bei Magenkarzinom zu erkennen. Es
schliesst sich diese jetzt zur praktischen Methode ausgearbeitete
Untersuchungstechnik an die Untersuchungen von Rieder- München
an, welche nicht speziell das Karzinom berührten. Der Magen wird
mit 400 g Qriesbrei, dem 30 g Bismuth. subnitr. zugesetzt sind, ge¬
füllt und die Patienten in Abständen von 2 Stunden vor dem Röntgen¬
schirm durchleuchtet. Bei normalem Magen ist nach 1 XA — 2 Stunden
bereits der gesamte Brei in den Darm übergetreten. Durch Massage
lässt sich dies beschleunigen; anders bei Karzinom, bei welchem der
Brei oft stundenlang liegen bleibt oder nur retardiert und mit Rück¬
ständen in den Darm Übertritt. Auf diese Weise sind nicht nur die
Motilitätsstörung an sich, sondern auch graduelle Unterschiede zu
erkennen. Die Methode ist für die Patienten nicht belästigend, doch
zeigt sie nur M o t i 1 i t ä t s Störungen an, welche auch bei anderen,
nicht karzinomatösen Magenleiden, wie Ptose, Ektasie durch Narben,
nervösen Störungen usw. Vorkommen, und daher sind stets das ganze
klinische Bild, event. sonstige Funktionsprüfungen, heranzuziehen.
Die neuerdings angegebene Methode von Schwarz- Wien ist
wesentlich eine chemische Methode, würde also sehr wohl mit der
beschriebenen Methode gleichzeitig Anwendung finden können und
dieselbe zu ergänzen imstande sein.
Herr Oberimpfarzt Voigt gibt an der Hand von Tabellen und
Photographien eine kurze Uebersicht über das Impfergebnis im Jahre
1905. Von 22 587 Erstimpflingen sind 16,6 Proz. ärztlich zurück¬
gestellt. Von 18 833 verlief bei 949 = 5 Proz. die Impfung erfolglos,
so dass immerhin etwa Vs ohne Impfschutz bleibt. Von den 19 529 Re-
\ akzinierten blieb 3220 mal der Impferfolg aus, also in 16,5 Proz. der
Fälle. — Versuche mit der ihrer Keimfreiheit wegen sehr gelobten
Grane sehen „Chloroformlymphe“ ergeben nicht so gute
Resultate, wie sie mit Glyzerinlymphe erzielt werden. Erwähnens¬
wert sind ferner Versuche mit Hasenlymphe, die in Hinsicht
aus überseeische Verhältnisse angestellt wurden und in Ländern, wo
Rindvieh und Kaninchen schwer zu haben sind, von Bedeutung werden
können.
Herr Albers-Schönberg demonstriert die Röntgenplatten
eines Falles von Reynaud scher Krankheit.
Die Patientin wurde von Dr. Ed. Arning am 12. VI. 06 in der
Sitzung des Aerztlichen Vereins Hamburg vorgestellt. Der Befund
der Platten ist der folgende: Rechte Hand: Die Handwurzelknochen
zeigen sämtlich gut ausgesprochene Struktur. Veränderungen sind
nicht wahrzunehmen. Ebenso fehlt jede Andeutung von Knochen¬
atrophie. Ueber dem Os lunatum, von letzterem nicht differenzierbar,
sieht man einen etwa erbsengrossen weissen Schatten, welcher auf
eine Strukturverdichtung an dieser Stelle zurückzubeziehen sein
dürfte. Der Metakarpus des Daumens zeigt eine leichte Auflockerung
der Struktur des Köpfchens, auch sieht man eine feine Auflagerung
an der radialen Seite des letzteren. Die Metakarpen der übrigen
5 Finger sind an ihren distalen Enden aufgefasert. Die Gelenkköpfe
sind vollkommen zerstört. Ferner sind auch periostale Auflage¬
rungen geringen Grades besonders am 2. und 3. Metakarpus sichtbar.
Die Struktur des 4. und 5. Metakarpus ist leicht aufgelockert. Dicht
oberhalb der Basis des 5. Metakarpus findet sich an der ulnaren Seite
eine halbmondförmige, weisse Anlagerung. Nach der Dichte der¬
selben zu schliessen, handelt es sich um ossifiziertes oder verkalktes
Gewebe. Die Grundphalangen des 2. und 3. Fingers sind mit ihrer
Basis über die zerstörten Enden der Metakarpen hinübergeschoben.
Von der Grundphalanx des 4. und 5. Fingers sieht man nur noch ein¬
zelne Trümmer. Die Basis der Grundphalangen erscheint ausser¬
ordentlich transparent. Knochenstruktur ist an ihnen fast gar nicht
mehr nachzuweisen. Einen massiveren und dichteren Eindruck machen
dagegen die noch vorhandenen Mittelstücke der Phalangen. An der
Grundphalanx des Daumens findet man ähnliche Auflagerungen wie
an der Basis des Metakarpus V, auch haben dieselben den gleichen
Charakter bezüglich ihrer Durchlässigkeit, so dass man schliessen
kann, dass es sich auch hier um stark verknöchertes Gewebe handelt.
Von den Mittel- und Endphalangen ist nichts mehr vorhanden. Die
linke Hand zeigt dieselben Veränderungen wie die rechte Hand, nur
in weniger ausgesprochenem Masse. Auch hier ist es zum völligen
Defekt einer grossen Anzahl von Phalangen gekommen. Auflage¬
rungen sind indessen an dieser Hand nicht vorhanden.
Herr Preiser demonstriert ein diagnostisch schwieriges, jeden¬
falls sehr seltenes Krankheitsbild. Ein 25 jähriger Mann bemerkte vor
einigen Jahren ein gleichmässiges Rotwerden seiner Füsse und Hände.
Bald führten ihn Plattfussbeschwerden zum Arzt, die unter ortho¬
pädischer Behandlung sich bald besserten, dann aber wieder ver¬
schlimmerten. Ganz allmählich kam es dann zu Verdickungen an den
Extremitätenknochen, zu periartikulären Schwellungen, zu Gelenkver¬
steifungen (Ankylose im rechten Schulter- und Handgelenk). Als
Ursache dieser — völlig schmerzlos verlaufenden — Affektion zeigt
das Röntgenbild eine abnorme Osteophytenbildung und periostale
Auflagerungen. Die Diagnose ist sehr zweifelhaft. Gewisse Aehn-
lichkeiten mit der Knochenlues führten zur Annahme einer Syphilis
hereditaria tarda. Und tatsächlich scheint eine Jodkalikur auch
subjektive und objektive Besserungen gebracht zu haben. Jetzt soll
auch noch geschmiert werden und später der Patient wieder gezeigt
werden.
Diskussion über den Vortrag des Herrn Deutsch-
länder: Ueber die Fürsorge jugendlicher Krüppel.
Herr .Taffe hält den Gedanken, dass die Aerzte sich der Krüppel
mehr als bisher annehmen sollen, für echt sozial und empfiehlt, dem
Vorschlag D.s, eine Ortsgruppe Hamburg des Kriippefürsorgevereins
zu bilden, zu folgen. In den Ausführungen D.s vermisst er zwei
Punkte, die genaue Definition des „Krüppels“ und die zukünftige Or¬
ganisation der Krüppelheime im ärztlichen Sinne. Die vom Berliner
Krüppelfürsorgeverein in seinem jüngst erlassenen Aufruf aufgestellte
Definition des Krüppels ist nicht ausreichend, da sie nur von dauern¬
de r Beeinträchtigung der Bewegungs- und Gebrauchsfähigkeit der
Gliedmassen spricht, während viele, früher unheilbare Krankheiten
durch operative Massnahmen geheilt werden können. Für die Organi¬
sation muss betont werden, dass die Krüppelheime unter ärzt¬
licher Leitung stehen sollen, jedenfalls aber das denselben an¬
zugliedernde Krankenhaus für orthopädische Chirurgie.
Die Frage, ob der Staat oder die privaten Vereine die Kriippel-
fiirsorge in die Hand nehmen sollen, möchte J. zunächst für die pri¬
vate Fürsorge bejahen. Eine spätere Uebernahme durch die staat¬
lichen und kommunalen Organe sei wahrscheinlich
Herr Kellner demonstriert als Beleg für das bei geistig ge¬
sunden Krüppeln erzielbare Resultat einer rationellen Krüppeler¬
ziehung einen jetzt 20 jährigen Menschen, der ohne Hände und
mit nur einem Bein geboren wurde. Der einzige Finger,
den der Mensch besitzt, sowie die Gliederstümpfe sind allmählig so
ausgebildet und durch instrumenteile Vorrichtungen gebrauchsfähig
gemacht, dass der junge Mann sich vollkommen selbständig helfen
kann, als Schreiber Dienst tut usw. Demonstrationen von Röntgen¬
bildern zur Illustration der Defekte und von Schriftproben, Zeich¬
nungen, Stenogrammen usw., die der Krüppel, der die Volksschule
besucht hat, angefertigt hat.
Herr M a r r gibt einen Ueberblick über die vom Hamburgisehen
Staate für die Krüppelfürsorge beschrittenen Wege. Er bezweifelt,
dass die Zahl der der Fürsorge bedürftigen Krüppel so eminent gross
ist. wie Vortragender sie geschildert hat. Die Oberschulbehörde hat
einen Fonds für solche Kinder, welche nur zu Hause unterrichtet
werden können, und aus verschiedenen Gründen nicht imstande
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
1382
sind, die Schule zu besuchen. Ausserdem hat der Staat durch einen
Geldzuschuss zum Krüppelheim Alten-Eichen bei Stellingen das Recht
erworben, in dieser Anstalt Kinder unterzubringen (zurzeit 5). Ein
3. Institut wird durch die „Arbeiterkolonie“ gebildet, die für die ge¬
werbliche Ausbildung gut sorgt. Den ausgedehnteren Bestrebungen,
für Krüppel zu sorgen, soll damit nicht hindernd in den Weg getreten
sein, aber der Anfang ist — wie in so vielen hygienischen Dingen —
auch in Hamburg bereits von den Behörden gemacht.
Herr Deutsch länder: Schlusswort.
Werner- Hamburg.
Naturhistorisch-Medizinischer Verein Heidelberg.
(Medizinische Sektion.)
(Offizielles Protokoll.)
Nachtrag zur Sitzung vom 12. Dezember 1905.
Herr Dreyfus: Ueber Verkennung von Geisteskrank¬
heiten. (Der Vortrag befindet sich unter den Originalien dieser
Nummer.)
Diskussion: Herr Erb erkennt rückhaltlos die grosse Be¬
deutung der von dem Vortragenden mitgeteilten interessanten Tat¬
sachen an und hält es für zweifellos, dass Verkennungen von Geistes¬
krankheiten ungemein häufig Vorkommen und dass durch das, was
infolgedessen geschieht, bezw. nicht geschieht, ausserordentlich viel
Schaden gestiftet wird; er möchte aber die Frage berührt wissen, ob
nicht auch in entgegengesetzter Richtung hie und da Irrtiimer Vor¬
kommen, dass nämlich Individuen für geisteskrank erklärt und dem¬
gemäss behandelt werden, die es eigentlich nicht sind; er ist weit ent¬
fernt, dabei irgend ein Gewicht auf die so häufig von Laien ver¬
breiteten und in den Zeitungen fruktifizierten Berichte über allerlei
Fälle von „widerrechtlicher“ Festhaltung in Irrenanstalten zu legen,
erinnert aber an die jüngst sich abspielende „cause celebre“ dieser Art,
wo die Gutachten einer Anzahl hervorragender deutscher Irrenärzte
und ebensolcher französischer Psychiater sich diametral gegenüber
stehen. Wie kommt es, dass solches möglich ist?
E. repliziert im weiteren Verlauf der Diskussion noch wiederholt
und gibt die nötige Erläuterung und Präzisierung seiner ersten Be¬
merkungen, die nichts weiter als eine bescheidene Anfrage und An¬
regung sein wollten.
Herr Nissl: Die Frage, ob es nicht vorkommt, dass geistig
Gesunde infolge eigentümlicher individueller Eigenschaften für
geisteskrank gehalten und in einer geschlossenen Anstalt gegen ihren
Willen zurückgehalten werden, kann ich aus eigener Erfahrung nur
dahin beantworten, dass ich einen solchen Fall noch nicht erlebt habe;
auch ist mir von anderer Seite kein direkter Fall bekannt geworden.
Uebrigens kann ich mir theoretisch diesen Fall konstruieren, dass in¬
folge des Zusammentreffens mehrerer unglücklicher Umstände, infolge
von irrtümlichen Angaben oder Verwechslungen einmal auch ein
geistig Gesunder in eine Anstalt aufgenommen wird. Ganz für aus¬
geschlossen halte ich es aber, dass ein solcher geistig Gesunder in
einer modernen Irrenanstalt längere Zeit gegen seinen Willen zurück¬
gehalten und verkannt werden kann. Der umgekehrte Fall dagegen,
dass geistig Kranke verkannt werden, ist gar nicht so sehr selten.
Herr Dreyfus: Eine Anfrage des Geh. Rat Erb. ob nicht auch
manchmal irrtümlich eine geistige Erkrankung von psychiatrischer
Seite angenommen werde, beantworte er dahin, dass aus¬
gesprochene Geisteskrankheiten, z. B. Dementia praecox,
Paralyse, manischdepressives Irresein, wohl niemals irrtümlicher¬
weise diagnostiziert würden, dass aber allerdings bei den Grenz¬
zuständen zwischen den einzelnen psychiatrischen Schulen
Meinungsdifferenzen beständen. So komme es vor, dass z. B. ein
pathologischer Schwindler von der einen Schule als geisteskrank,
von der anderen als ein zwar minderwertiges, aber nicht geistes¬
krankes Individuum erklärt werde. Eine klinisch präzise Abgrenzung
der einzelnen Krankheitsbilder der Grenzzustände würde diese Mei¬
nungsverschiedenheiten ausgleichen.
W i 1 m a n n s bemerkt hierzu, dass es sich auf Grund der Gut¬
achten über den Geisteszustand der Prinzessin Luise nicht ent¬
scheiden lässt, welcher Natur die psvchische Störung der Kranken war,
dass es aber nicht dem geringsten Zweifel unterliegen kann, dass die
Kranke wiederholt sehr ins Auge fallende Erscheinungen geistiger
Störung geboten hat. Die französischen Psychiater haben ohne alle
authentische Nachrichten über das Vorleben der Prinzessin, sondern
lediglich auf Grund der Angaben der Kranken selbst und ihrer eigenen
ärztlichen Beobachtungen das Gutachten abgegeben. Da es sich je¬
doch offenbar nicht um einen stationären Zustand, sondern um eine
mehr oder weniger periodisch auftretende Erkrankung handelt, so
musste ein derartiges Gutachten zu anderen Schlüssen kommen. Mit
grosser Wahrscheinlichkeit wird sich der Psychiater über kurz oder
lang wieder einmal mit dem Geisteszustand der Prinzessin zu be¬
schäftigen haben.
Herr Merzbacher macht darauf aufmerksam, dass alle diese
Broschüren und Artikel, die die Literatur und die Tagespresse über¬
fluten, von Geisteskranken als Verfasser derselben stammen, d. h. also,
gerade von Menschen, die für das Krankhafte ihrer Erscheinungen
keine Einsicht haben und die deshalb nicht als Belege herangezogen
werden können für den sich so oft breit machenden Satz, dass
Geistesgesunde als Opfer einer falschen Diagnose, einer Verkennung
tage- oder gar wochen- und monatelang gegen ihren Willen in An¬
stalten zurückgehalten worden sind.
An der Diskussion beteiligt sich ferner Herr Grund.
Medizinische Gesellschaft zu Magdeburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 22. März 1906.
Vorsitzender: Herr Un verricht.
Herr Kirsch: Demonstration zur Seidensehnenplastik.
Bericht über einen Fall von traumatischem Pes varus
nach 10 Jahre bestehender Peroneussehnendurchschneidung mit Un¬
tergang des peripheren Sehnenendes, geheilt durch seidene Sehne
nach Lang e, nach periostaler Anheftung in Länge von 25 cm.
(Wird in extenso an anderem Ort veröffentlicht.)
Diskussion: Herr Reichard: M. H.l Ich habe unter 116
Sehnenplastiken 4 mal eine Verlängerung der zu verpflanzenden Sehne
durch Seide vorgenommen; im ersten Falle handelte es sich um Er¬
satz des paretischen Quadrizeps durch den Biceps femoris, wo ich
nach der von Lange angegebenen Methode vorging und eine Seiden¬
sehne von etwa 10 cm Länge auf das Periost der Tuberositas tibiae
aufnähte. Leider hat sich hier nach 14 Tagen die künstliche Sehne
wieder ausgestossen. Anstandslos eingeheilt ist die Seidensehne in
den 3 anderen Fällen: bei einem paralytischen Equinovarus, wo ich
den Tibialis posticus nach entsprechender künstlicher Verlängerung
durch Seide an das Periost des Cuboideum nähte, und bei zwei Fällen
von Tubby scher Operation, wo der Pronator teres durch die Kon¬
traktur seines Muskelbauches so kolossal verkürzt war, dass an ein
Herumführen der Sehne um den Radius nach Durchziehen durch das
Lig. interosseum nicht zu denken war; ich flocht also einen dicken
Seidenfaden in das Sehnenende ein und nähte diesen an die ent¬
sprechende Stelle des Radius. Beide Fälle haben einen schönen funk¬
tioneilen Erfolg gegeben. Bei dem Ersätze des Quadrizeps habe ich
die periostale Methode von Lange später nicht mehr angewandt,
im übrigen ist die Verlängerung der Sehnen durch Seide ein wertvolles
Hilfsmittel bei der Sehnenverpflanzung.
Herr B 1 e n c k e stellt einen Fall von Kümmel scher Krankheit
vor. Das diesbezügliche Röntgenbild lässt deutlich erkennen, dass der
fünfte und sechste Lendenwirbel beteiligt sind.
Er zeigt ferner eine Serie von Röntgenbildern von einem Kno¬
chenabszess in der Tibia. Die Höhle wurde mit einer Jodoform¬
plombe ausgefüllt, und die Bilder zeigen deutlich, wie die Plombe
allmählich immer kleiner geworden ist. Zur Zeit hat sie nur noch
die Grösse einer Linse.
Herr Germer: Demonstration eines Falles von Lungenhernie.
Herr Kretschmann: Ooerativ geheilte Meningitis.
Herr G reiner: Hämoglobinurie nach Salolgebrauch bei einem
Hämoohilen.
Herr Laval: Leukämische Tumoren im Larynx.
Ein älterer Patient, der an peripheren Lymphtumoren, mässiger
Milzschwellung und typischen leukämischen Blutveränderungen er¬
krankt ist, musste im November 1905 wegen zunehmender Atemnot
tracheotomiert werden. Es findet sich geringe Hyperplasie der Ton¬
sillen, starke Vergrösserung der Papillae circumvallatae, ein In¬
filtrat des rechten Taschenbandes und massenhafte leukämische Tu¬
moren, die den subglottischen Raum fast völlig ausfüllen. Auf Arsen¬
gaben ist bis jetzt wesentliche Rückbildung eingetreten. (Wird in
extenso an anderem Ort veröffentlicht.)
Aerztlicher Verein zu Marburg.
(Offizielles Protokoll.)
Nachtrag zur Sitzung vorn 16. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Asch off.
Schriftführer: Herr Sardemann.
Herr Römer: Ueber die Versorgung der Grossstädte mit
Säuglingsmilch.
Herr Much: Ueber Perhydrasemilch. (Vergl. d. W.
No. 25, S. 1235/36.)
Diskussion: Herr Böhme: Die Versorgung grösserer
Städte mit einer hygienisch einwandfreien Milch stösst sicher auf
erhebliche Schwierigkeiten. Dagegen 'dürfte es in viel ausgedehn¬
terem Masse als bisher möglich sein, kleineren Absatzbezirken eine
allen Anforderungen genügende Milch zu verschaffen. Bedingung
hierfür ist, dass die gesamte Milchgewinnung und Verarbeitung von
dem Augenblicke an, wo die Kuh in den Stall eingestellt wird, bis
zur Darreichung der Milch an den Säugling unter einheitlicher ärzt¬
licher Kontrolle steht, wie es hier in Marburg durchgeführt ist.
Die gekochte Milch ist sicher nur ein mangelhafter Ersatz der
Rohmilch. Auch die medizinische Klinik zu Marburg macht seit
längerer Zeit mit gutem Erfolge Versuche, Säuglingen Rohmilch zu
> geben, besonders auch zu therapeutischen Zwecken (Rachitis, Barlow,
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1383
Atrophie). Diese Versuche können aber nur unter genauester ärzt¬
licher Aufsicht und mit einer vorzüglichen Milch ausgeführt werden;
als allgemeinere Säuglingsnahrung lässt sich die Rohmilch bisher
nicht empfehlen.
Es wäre deshalb mit Freude zu begriissen, wenn es gelänge,
durch das M u c h - R ö m e r sehe Verfahren eine 'keimfreie und in
ihren sonstigen Eigenschaften der Rohmilch möglichst nahestehende
Milch zu gewinnen. Die medizinische Klinik Marburg ist im Einver¬
nehmen mit den Herren Much und R ö m e r seit einiger Zeit mit
der klinischen Prüfung dieser Milch beschäftigt. Die wiederholt und
von verschiedenen im Müdhpriifen geübten Personen durchgeführte
üeschmacksprobe hat ergeben, dass diese Milch, wenn eine genügend
wirksame Katalase verwandt worden war, von Rohmilch nicht oder
doch nur ausnahmsweise durch den Geschmack unterschieden werden
kann. Sie wird, soweit unsere bisherigen Erfahrungen reichen, von
Erwachsenen wie von Säuglingen gern genommen und hat auch in
grösseren Mengen keine Störungen hervorgerufen. Wie weit die
Milch den auf sie gesetzten therapeutischen Erwartungen entspricht,
wird sich erst nach längerer klinischer Beobachtung entscheiden
lassen.
Herr v. d. Velden: Zu dem Verfahren das HsCK aus der Milch
zu entfernen, möchte ich nur wenige Worte hinzufügen. Bei meinen
Untersuchungen über Milchkatalase konnte ich das hinzugefügte
H2 Os am söhnellsten und ausgiebigsten entfernen bei einer Tem¬
peratur von 28 — 37° C. und unter stetem Schütteln in einem von der
B r e d i g sehen Schade konstruierten Schüttelapparat. Die möglichst
rasche Entfernung des Hs O2 ist sicher nicht ohne Bedeutung, da es
sonst leicht zu Oxydationen in der Milch kommen kann; eine solche
Oxydation liegt wohl z. B. vor bei dem von M. und R. konstatierten
Verschwinden der Oxydasen in ihrer Perhydrasemilch. Ob weitere
Oxydationsprozesse eintreten können, ist vorerst nicht abzusehen.
— Ausserdem möchte ich auf eine Angabe in der Literatur aufmerk¬
sam machen, nach der B a t e 1 1 i - Genf bei seinen Untersuchungen
über die tierische Katalase die, soweit mir erinnerlich vom Schwein
gewonnene Leberkatalase am wirksamsten fand. Er konnte
diese in Pulverform darstellen. Minimalste Mengen genügten schon
in gelöstem Zustande eine starke O-entwicklung aus Hs Os hervor-
zu rufen.
Herr Vogt fragt an, ob es etwa an verschiedener Konzen¬
tration des der Milch zugesetzten Wasserstoffsuperoxyds gelegen
se'i, wenn in den Versuchen der Vortragenden in der mit Wasserstoff¬
superoxyd behandelten Milch eine Abnahme der Eiweisskörper nicht
zu beobachten war, während nach Angaben in der Literatur dem
Wasserstoffsuperoxyd eine begünstigende Wirkung auf die proteo¬
lytischen Fermente der Milch zukommen soll.
Herr A s c h 0 f f fragt die Vortragenden, bis zu welcher Tem¬
peratur die sterilisierte Milch, welche gleichfalls unter den Einfluss
der Lichtstrahlen den bitteren Geschmack annahm, erhitzt worden
war, ob die Temperatur hoch genug war, um autolytische Prozesse
auszuschliessen, und ob schon Versuche darüber angestellt sind,
welche Art von Lichtstrahlen den Umwandlungsprozess der Milch
bewirken.
Herr Römer: Dass energisches Schütteln einer Was'serstoff-
superoxvd-Katalase-Mischung die Zersetzung des Wasserstoffsuper¬
oxyd beschleunigt, kann ich durchaus bestätigen, und Sie haben wohl
selbst gesehen, wie ich vorhin die Milch schüttelte, als ich das Wasser¬
stoffsuperoxyd herausschaffen wollte. Auf eine rasche und ener¬
gische Zersetzung des Wasserstoffsuperoxyds legen auch wir grossen
Wert.
Was die Frage der Fermentgewinnung betrifft, so wissen auch
wir, dass man aus den Organen des Schweines im allgemeinen wirk¬
samere Peroxydasen erhält. Wir haben uns aber absichtlich nur an
das Rind gehalten, weil wir der Milch nichts „heterologes“ hinzu¬
fügen wollen.
Was die Annahme des Herrn Vogt betrifft, auch in der Per¬
hydrasemilch müsse sich das genuine Eiweiss abbauen, so können
wir mit absoluter Bestimmtheit versichern, dass dies im Verlauf von
8 Tagen sicher nicht eintritt. Zu dieser Behauptung geben uns nicht
nur sorgfältig ausgeführte chemische Analysen Berechtigung, son¬
dern vor allem auch die Tatsache, dass wir keine Abnahme der anti¬
toxischen Funktion in einer Perhydrasemilch fanden, der wir künst¬
lich Tetanusantitoxin zugesetzt hatten: denn der geringste Abbau
des genuinen antitoxischen Eiweissmoleküls führt zu entsprechendem
Antitoxin-Verlust. Gerade das Tetanus-Antitoxin eignet sich vor¬
züglich zum Indikator für die quantitative Untersuchung auf Ver¬
änderungen. die das genuine Eiweiss durch irgend welche Mass¬
nahmen erfährt.
Auf die Anfrage des Herrn Asch off möchte ich mitteilen, dass
wir genaue Angaben darüber, welche Strahlen für die durch Herrn
Much geschilderten Veränderungen in der Milch verantwortlich zu
machen sind, noch nicht machen können, weil entsprechende Unter¬
suchungen noch im Gange befindlich sind. Hervorheben möchte ich
nur, dass wir bei dem eigentümlichen bitteren Geschmack, die die
Milch (Rohmilch sowohl wie die durch Dampf sterilisierte) unter dem
Eindruck des Lichtes annimmt, zugleich eine schwache Rosafärbung
der Milch eintreten sehen.
Rostocker Aerzteverein.
Sitzung vom 21. April 1906,
Herr Meinertz: Ueber neuere Bestrebungen auf dem
Gebiete der Tuberkulosebekämpfung. (Erscheint an anderer
Stelle in extenso.)
Sitzung vom 12. M a i 1906.
Herr Becker demonstriert:
1. 43 jährige Patientin, bei der ein Lupiiskarzinoin des Gesichtes
mit Röntgenstrahlen behandelt und zum Verschwinden gebracht
wurde. 2. 13 jähriger Knabe aus dem Krüppelheim mit Lähmung
beider Beine und. der Beckenmuskulatur der rechten Seite nach
Poliomyelitis acuta anterior, der, nachdem er 10 Jahre lang „Knie¬
rutscher“ war, mit Hilfe von aus Zelluloid angefertigten Schienen¬
hülsenapparaten wieder zum Gehen gebracht ist. 3. Mikroskopisches
Präparat eines primären Karzinoms der Appendix eines 18 jährigen
Mannes, der wegen „chronischer Appendizitis“ operiert wurde.
Herr Müller demonstriert:
1. Zwei Pseudarthrosen, eine Frau, deren rechter Oberarm, ein
Kind, dessen linker Unterschenkel pseudarthrotisch verheilt ist, in
beiden Fällen besteht relativ hohe Gebrauchsfähigkeit trotz der
schweren Läsion. Im ersteren Falle soll die Neuknochenbildung
durch Transplantieren eines Rippenstückes erfolgen (der Fall wird
später wieder vorgestellt werden): im letzteren Falle ist bisher von
den Eltern die Operation verweigert: das Kind hat eine passende
Schiene. 2. Patient mit zahlreichen Spontanfrakturen und diversen
Arthropathien bei Tabes.
Medizinisch -Naturwissenschaftlicher Verein Tübingen.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 26. Februar 1906.*)
Vorsitzender: Herr R o m b e r g.
Schriftführer: Herr Blaue!.
Herr Romberg: Vorstellung des bekannten Falles Leon¬
hard t (saltatorischer Reflexkrampf). Der Zustand hat sich in den
16 Jahren, seitdem er ihn kennt, nicht im geringsten verändert.
Nur körperliche Veränderungen, starker Muskelschwund und Herz¬
schwäche sind hinzugetreten.
Herr D ö d e r 1 e i n: Bakteriologische Experimentalunter-
suchungen über den primären Keimgehalt der Operations¬
wunden, mit einem Vorschlag zu dessen Verhütung. (Mit De¬
monstrationen.)
Redner berichtet über bakteriologische Untersuchungen
über den primären Keimgehalt der Bauchhöhle und Bauch¬
wunde, die er im Verfolge früherer Versuche wieder aufge¬
nommen und bei 100 Laparotomien durchgeführt hat. Das erste
Ergebnis dieser Untersuchungen geht dahin, dass trotz des mo¬
dernen und verschärften Wundschutzes bestehend in peinlich¬
ster Asepsis, Gebrauch von Gummihandschuhen, Gummiman¬
schetten, Gesichtsmaske, K ü s t n e r schem Gummituch zum
Abdecken des Operationsfeldes, sowohl Bauchhöhle wie
Bauchwunde in jedem Falle keimhaltig werden. Es stimmt
dieses Untersuchungsergebnis mit seinen eigenen früheren wie
mit den Arbeiten von Brunner, Schenk und Lichten-
stern überein, wonach also keimfreies Operieren überhaupt
unerreichbar wäre. Redner ist mit diesen Autoren auch einig
in der Annahme, dass als letzte und hauptsächlichste Infektions¬
quelle für die Operationswunden die Haut des Operations¬
gebietes selbst, bei Laparotomien also die Bauchhaut in Be¬
tracht kommt. Zur Ausschaltung dieser genügt, wie die Unter¬
suchungen gezeigt haben, die Desinfektion der Haut nicht, da
ebensowenig, wie die verschiedensten Händedesinfektionen
eine vollständige Entkeimung der Händehaut möglich machen,
auch die Bauchhaut durch Infektionsprozedur bis in ihre Tiefe
hinein frei von Spaltpilzen gemacht werden kann. Dagegen ge¬
lang es durch ein bestimmtes Verfahren die Haut an der Ab¬
gabe ihrer Bakterien zu verhindern und zwar empfiehlt Redner
hierzu folgendes.
Nachdem die Kranken durch Baden, Abseifen und Rasieren
gereinigt sind, wird die Haut des Operationsgebietes, bei La¬
parotomien also die Bauchhaut und die angrenzenden Partien
der Oberschenkel, mit Formalinbenzin oder Jodbenzin
) Der Redaktion am 13. Mai zugegangen.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
13_M
(Heusner) intensiv abgerieben und sodann mit einer Jod¬
tinktur bepinselt. Es soll dadurch die Haut für die Dauer der
Operation möglichst derb gemacht werden. Ueber diesem j
Jodanstrich wird dann durch eine sorgfältig hergestellte, ste¬
rilisierte Gummilösung eine mit der Haut sich fest verbindende
Gummimembram erzeugt.1) Nach wenigen Minuten ist die
Gummilösung auf der Haut durch Verdampfen des Benzins ge¬
trocknet, durch Bestreuen mit sterilisiertem Talkum wird ihre
Klebrigkeit beseitigt und es ist jetzt eine dünne, glatte, glän¬
zende, sterile Gummimembram fest mit der Haut verbunden,
die über die Dauer der Operation hinweg die Keimabgabe der
Haut zuverlässig verhindert und nach der Operation durch
Abwaschen mit Benzin leicht beseitigt werden kann. Redner
demonstriert zahlreiche Kulturproben, die bei Laparotomien
gewonnen wurden und auf der einen Seite den Keimgehalt der
ohne Gummischutz durchgeführten Operation, auf der andern
Seite aber die Keimfreiheit solcher unter vollem Gummischutz
ausgeführter, zeigen und schliesst damit, dass durch Aus¬
schalten dieser letzten Infektionsquelle das von L i s t e r er¬
strebte Ideal keimfreien Operierens erreicht sei. (Erscheint
ausführlich in der Deutsch, med. Wochenschr.)
Diskussion: Herr v. Brunn teilt die Ergebnisse von Paral¬
lelversuchen mit, welche nach der D ö d e r 1 e i n sehen Methode in
der v. B r u n s sehen Klinik angestellt wurden. Es wurde zunächst
der ganze aseptische Apparat einer Kontrolle unterzogen, wobei un¬
liebsame Entdeckungen nicht ausblieben (starker Keimgehalt der
Zwirnhandschuhe während der Operation, mangelhafte Sterilität der
Kochsalzlösung). Es ergab sich dann bei den im Vergleich zur
Gynäkologie viel abwechslungsreicheren Bedingungen der Opera¬
tionsfelder die Notwendigkeit, Vorversuche über die Desinfizierbarkeit
der einzelnen Körperregionen anzustellen. Dabei stellten sich sehr
ausgesprochene und zum Teil überraschende Verschiedenheiten
heraus. So erwies sich das Operationsfeld der Hernien selbst nach
gründlichster Desinfektion stets sehr stark keimbeladen, während das
Operationsfeld der Strumen, bei Frauen wenigstens, verhältnismässig
keimarm gefunden wurde. Beim Manne war dieselbe Gegend, wahr¬
scheinlich infolge der stärkeren Behaarung, ungleich stärker keim¬
haltig. Als das wesentlichste Ergebnis ist zurzeit zu betrachten, dass
der Keimgehalt des Operationsfeldes gegenüber dem der Hände stark
unterschätzt wurde. Die bisherigen Versuche mit einem Gummi¬
überzug nach D ö d e r 1 e i n ergaben deswegen noch keine befriedi¬
genden Resultate, weil die Gummilösung selbst ein sporentragendes
Kurzstäbchen in grossen Mengen enthielt. Es ist zu hoffen, dass es
gelingt, eine keimfreie Gummidecke für das Operationsfeld zu erzielen
und damit eine wichtige Infektionsquelle auszuschalten.
Herr B i n g e 1 betrachtet es als fraglich, ob die absolute Keim¬
freiheit überhaupt das erstrebenswerte Ideal ist. Jede Wunde, auch
die sog. aseptische, heile unter einer, wenn auch geringen entzünd¬
lichen Reaktion. Diese Reaktion sei wichtig für die Wundheilung
überhaupt, und es sei möglich, dass sie von der Anwesenheit der
Bakterien abhängig sei, wenn der Reiz des Traumas an sich zur
Anregung der Reaktion nicht genüge.
Herr v. Baumgarten: Ich bin der Meinung, dass der For¬
derung der „Asepsis“ genügt ist, wenn es gelingt, die pathogenen
Keime von der Operationswunde fernzuhalten. Der Herr Vortragende l
hat dargetan, dass der von ihm nachgewiesene überraschend grosse
Keimgehalt der Operationswunden hauptsächlich, wenn nicht aus¬
schliesslich, aus der Haut der Wunden stammt. Beweist nun diese
interessante Beobachtung von neuem die Schwierigkeit einer Ste¬
rilisation (völlige Entkeimung) der Haut, so widerlegt sie doch
nicht die Möglichkeit einer Desinfektion (Abtötung der patho¬
genen Keime) der Haut. Es ist nämlich zu unterscheiden zwischen
den harmlosen normalen, ständigen Mikrophyten der Haut und den
zufälligen pathogenen Eindringlingen in dieselbe. Letztere können
aus biologischen Gründen sich nicht, wie erstere, in der Oberhaut
vermehren, sind daher nur in vereinzelten Exemplaren in der
normalen Oberhaut anzutreffen und in ihrer Lokalisation in der¬
selben auf deren oberste Lagen beschränkt. Diese obersten Lagen
der Epidermis lassen sich aber wohl sicher sterilisieren oder min¬
destens desinfizieren, wie dies u. a. aus den mehrfach bestätigten
einschlägigen Versuchen von Henke und mir hervorgeht. Die
in der lege artis desinfizierten Haut lebensfähig zurückbleibenden
Keime sind, mögen sie noch so zahlreich sein, irrelevant, da sie aus¬
schliesslich der Klasse der obligaten Saprophyten angehören, die der
lebende menschliche Organismus, selbst in grössten Mengen, mit
Leichtigkeit vernichtet. Nur die „pathogenen“ Bakterien sind ihm
schädlich und verderblich. Obwohl nun auch ich der Ansicht bin,
dass das von dem Herrn Vortragenden mit Energie und Erfolg an¬
gestrebte Ziel einer völligen Keimbefreiung, also Sterilisation
des Operationsgebietes als das Ideal zu betrachten sei, weil hier¬
durch eben auch die pathogenen Bakterien mit absoluter Sicherheit
D Ein hierzu nötiges und zweckdienliches Instrument sowie die
unter dem Namen Gaudanin geschützte Lösung ist zu beziehen durch
Zieger & Wiegand, Leipzig-Volkmarsdorf, Gummiwarenfabrik.
ausgeschlossen werden würden, so glaube ich doch nicht, dass dieses
Ideal (schon wegen der nicht auszuschaltenden Möglichkeit einer
Luftinfektion) ganz zu erreichen sein wird, während die, piaktisch dei
Sterilisation gleichwertige, Desinfektion (Beseitigung der patho¬
genen Keime) des Operationsfeldes ohne besondere Schwierigkeit
gelingen dürfte.
Herr Sarwey: Neuere geburtshilfliche Bestrebungen zur
Rettung von Mutter und Kind.
Der Vortragende bespricht zunächst die gegenwärtige
Stellung derjenigen Operationsmethoden, welche in der The¬
rapie des engen Beckens den künstlichen Abort und die Krani-
otomie des lebenden Kindes ersetzen sollen, und erläutert die
mütterlichen und kindlichen Mortalitätsverhältnisse an der
Hand einer Tabelle, welche grösere Sammelstatistiken, sowie
die Spezialstatistik der Tübinger Klinik, über künstliche Früh¬
geburt, Kaiserschnitt, Symphyseotomie und Hebotomie um¬
fasst (s. unten).
Für die künstliche Frühgeburt sind zwar jene
Zeiten vorüber, in welchen sie wegen der hohen mütterlichen
Mortalität des Kaiserschnittes wahre Triumphe feierte, aber
sie hat doch auch heute noch ihre Daseinsberechtigung nicht
verloren, weil sie immer noch eine wesentlich bessere Pro¬
gnose für die Mutter liefert, als ihre Konkurrenzoperationen,
und weil sie auch im Privathaus ohne Schwierigkeit durch¬
führbar ist; der schwache Punkt liegt freilich in der relativ
grossen Kindersterblichkeit, weshalb ohne Weiteres zuzugeben
ist, dass das ideale Ziel dieser Operation, Mutter u n d Kind
am Leben zu erhalten, nur zu häufig nicht erreicht wird.
Der Kaiserschnitt darf für die Kinder als eine lebens¬
sichere Operation bezeichnet werden, und auch die Erfolge für
die Mütter haben sich im Laufe der Jahre ganz wesentlich ge¬
bessert; indessen ist und bleibt er mit seiner gegenwärtigen
mütterlichen Mortalität von 6 — 7 Proz. immer noch eine lebens¬
gefährliche Operation, welcher alle Nachteile und Gefahren
einer ventralen Bauchhöhlenoperation in erhöhtem Masse an¬
haften.
Die 3. Konkurrenzoperation, die Symphyseotomie,
hat sich wegen ihrer für beide Teile hohen Mortalität niemals
recht einbürgern können, und an ihre Stelle ist in jüngster Zeit
eine neue Operation, die Hebotomie, getreten. Diese von
G i g 1 i in die Praxis eingeführte Operation ist von Döder-
1 e i n dadurch wesentlich vereinfacht worden, dass dieser sie,
zum ersten Male vor 2X> Jahren (26. Juli 1903) mit völliger
Erhaltung der an der vorderen Beckenwand und über der
Sägestelle gelegenen Weichteile ausführte und sie so zu einer
subkutanen Operation ausgestaltete. Die Vorteile dieses
G i g 1 i - D ö d e r 1 e i n sehen Verfahrens bestehen darin, dass
die mit der Symphyseotomie verbundenen Gefahren — lebens¬
gefährliche Blutungen, retrosymphysäre Weichteilverletzungen
mit eventueller Zerreissung von Harnröhre und Harnblase,
Sprengung der Articulatio sacro-iliaca, Vereiterung und Aus¬
bleiben der Vereinigung im Symphysengelenk — vermieden
werden, dass eine rasche und sichere Konsolidierung des knö¬
chernen Beckenrings gewährleistet wird, und dass die Nach¬
behandlung keinerlei Schwierigkeiten unterliegt. Dem gegen¬
über ist als Nachteil des Verfahrens das nicht seltene Auftreten
von subkutanen Hämatomen beobachtet worden, welche in¬
dessen, bis jetzt wenigstens, nur zu vorübergehenden Stö¬
rungen im Wundheilverlaufe Veranlassung gaben. Dass der
durch die subkutane Hebotomie erzielte Raumzuwachs dem¬
jenigen bei der Symphyseotomie gleichkommt, haben nicht nur
klinische Erfahrungen, sondern auch von S e 1 1 h e i m u. A.
angestellte Untersuchungen an der Leiche dargetan.
Aus den bisherigen, bekannt gewordenen Erfahrungen
scheint dem Vortragenden soviel mit Sicherheit hervorzugehen,
dass die subkutane Hebotomie zur Umgehung der Perforation
der lebenden Frucht eine Zunkunft hat, dass sie die Symphy¬
seotomie wohl ganz aus dem Felde schlagen wird und dass sie
auch in grösserem Umfange an Stelle des relativ indizierten
Kaiserschnitts zu treten berufen ist; auch dürfte sie in abseh¬
barer Zeit sich wohl in der ausserklinischen geburtshilflichen
Praxis einbürgern.
Die Tabelle enthält folgende Statistiken:
1. Künstliche Frühgeburt: Von 2200 Fällen beträgt die mütterliche
Gesamtmortalität 1,4 Proz., die Infektionsmortalität 0,6 Proz.; lebend
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1385
entlassen wurden im ganzen 62,7 Proz. der Kinder (von 60 künstlichen
Frühgeburten der Tübinger Klinik mütterliche Mortalität 1,6 Proz.,
lebend entlassene Kinder 71,7 Proz.).
2. Kaiserschnitt: Von 207 Fällen mütterliche Mortalität 6,3 Proz.,
kindliche 5,3 Proz. (von 33 wegen Beckenenge ausgeführten Kaiser¬
schnitten der Tübinger Klinik mütterliche Mortalität 6,0 Proz., alle
Kinder lebend geboren, zwei innerhalb der ersten 6 Wochen post
operationem gestorben).
3. Symphyseotomie: Von 210 Fällen mütterliche Mortalität
12,8 Proz., kindliche 19 Proz. (von 5 Fällen der Tübinger Klinik keine
Mutter gestorben, alle Kinder lebend geboren, 1 gestorben).
4. Hebotomie: Von 120 Fällen mütterliche und kindliche Mor¬
talität je 2,5 Proz. (von 18 Fällen der Tübinger Klinik keine Mutter
gestorben, alle Kinder lebend geboren, 1 gestorben).
Sodann wendet sich der Vortragende zn jenen modernen
Bestrebungen, welche durch eine rasche Erschliessung der
unvorbereiteten Geburts-W e i c h t e i 1 e auch bei normalen
Beckenverhältnissen die Geburt eines lebenden und lebens¬
fähigen Kindes ermöglichen sollen; er bespricht die Technik,
die Vorteile und Nachteile der suprazervikalen Metreuryse, der
instrumenteilen Dilatation nach B o s s i und des Dührssen-
schen vaginalen Kaiserschnitts und kommt zu dem Schluss,
dass von der Anwendung des B o s s i sehen Verfahrens in der
Praxis wegen der ihm innewohnenden nicht kontrollierbaren
Gefahren (Zervixrisse und Verletzungen des unteren Uterin¬
segments) entschieden abzuraten ist, dass wir aber sicherlich
für die Stadt- und Landpraxis in der Metreuryse, für die An¬
staltsbehandlung je nach den Umständen in der Metreuyse
und dem vaginalen Kaiserschnitt einen sehr willkommenen
Fortschritt zur Rettung von Mauer und Kind aus schwerer
Lebensgefahr begrüssen dürfen.
Zum Schluss demonstriert der Vortragende eine Patientin, bei
welcher am 16. VIII. 05 zum zweiten Male die Hebotomie ausgeführt
wurde. 32 jährige, verheiratete V. Para mit allgemein ungleichmässig
verengtem Becken 2. Grades; C. v. 7,7 cm. Die zwei ersten Geburten
mussten auswärts mit Perforation des lebenden Kindes beendigt wer¬
den. Dritte Geburt: Kaiserschnitt mit lebendem Kinde. Bei der
vierten Geburt wurde am 29. IV. 04 von D ö d e r 1 e i n die Hebotomie
und am 16. VIII. 05 von dem Vortragenden zum 2. Male die Hebotomie
am Ende der Schwangerschaft, beide Male mit glücklichem Erfolge
für Mutter und Kind ausgeführt. Die 3 Kinder der 3 letzten Geburten
sind am Leben geblieben und gesund.
Aus den Wiener medizinischen Gesellschaften.
(Eigener Bericht.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde.
Privatdozent Dr. Türk: Meningitis saccharomycotica (Hefe-
meningitis).
Am 16. Mai 1. J. hat der Vortragende eine Leiche seziert, welche
einen seltenen Befund lieferte. Es handelte sich um eine 43 jährige
welche Ende März mit heftigen Kopf- und Nackenschmerzen,
häufigem Erbrechen, Appetitlosigkeit etc. erkrankt war. Im Spitale
wurde sie vom 21. April bis 15. Mai beobachtet. Man fand Narben
nach skrofulösen Drüseneiterungen am Halse, ausserdem grosse, derbe
Drüsenschwellungen am Halse und in den Achselhöhlen, tuberkulöse
Erkrankung der Lungenspitzen, sodann Zeichen einer subakuten
Meningitis, als da sind: Kopfschmerzen, Nackenstarre, Wirbelsäulen-
steifigkeit, Hyperästhesie der Haut und der Muskulatur, Kernig-
sches Symptom, Täches cerebrales, wechselnde Paresen etc. Dia¬
gnose. Meningitis tuberculosa. Wiederholte Lumbalpunktionen, unter
strengsten Kautelen ausgeführt, förderten in der erhaltenen Flüssig¬
keit mehrmals Hefekultur mit typischer Sprossung und Dauerformen
zutage. Es gelang auch, die Hefe aus der Punktionsflüssigkeit zu
Zuchten, sie bildete nach Ueberimpfung auf Bierwürze-Agar oder
-gelatine oder auf Pflaumenbrüheagar ziemlich üppige weisse Kolo¬
nien. Nun wurde die Diagnose auf Meningitis saccharomycotica ge¬
stellt. Im Rachen fand sich einige Tage vor dem Ableben ein soor-
artiger Belag, von welchem ebenfalls abgeimpft wurde. Auch vom
Rachenbelage ging reichlich Hefe auf.
Die Sektion ergab alte und frische Drüsentuberkulose und tuber¬
kulös-schwielige Erkrankung der Lungenspitzen, sodann hochgradiges
Hirnödem mit starkem inneren und äusseren Hydrocephalus, geringe
Trübung der Meningen, keine tumorartigen Veränderungen, wie sie
sonst bei den wenigen Fällen von Hefeinfektion beschrieben wurden.
Im Rachen konnten Hefezellen mit fibrinösem Exsudate bis zwischen
die quergestreifte Muskulatur hinein verfolgt werden. Der Vor¬
tragende führt aus, dass von einem kleinen Herde im Rachen aus
die Infektion der Blutbahn und die weitere Lokalisation in die Menin¬
gen erfolgte. In den Meningen fanden sich bei makroskopischer Unter¬
suchung (die histologische Untersuchung steht noch aus und soll der
Befund nachgetragen werden) keinerlei tuberkulöse Veränderungen,
hingegen sehr geringe entzündliche Reaktion (einer 6 wöchentlichen
Erkrankung an tuberkulöser Meningitis nicht entsprechend), sodann
m der Punktionsfliissigkeit auch Hefezellen, zuweilen in mehreren
Exemplaren, in grosse einkernige Körperzellen eingeschlossen (Phago¬
zytose); ferner enthielt die Punktionsflüssigkeit neben Fibrin und Ei-
weiss noch Lymphozyten und neutrale Leukozyten. Al! dies spricht
dafür, dass die klinische Diagnose einer Hefemeningitis gerechtfertigt
sei. Weitere Untersuchungen, speziell der histologischen Verände¬
rungen, der Arteigenschaft und der Pathogenität der gefundenen Hefe¬
pilze sollen volle Aufklärung geben.
Prof. Dr. R. Kretz: Angina tonsillaris als Quelle schwerer In¬
fektionen.
Im ersten Falle betraf es ein 14 jähriges Mädchen, das seit
2 Jahren an Kopfschmerzen litt, jetzt (3 Tage vor dem Tode) hohes
Fieber, allgemeine Muskelkrämpfe, tiefe Bewusstlosigkeit darbot.
Sektion: Akute Tonsillarangina mit frischer entzündlicher Schwellung
der Retromaxillar- und Halslymphdriisen, leichter Milztumor, sein-
grosses Gehirn (1340 g schwer) bei verhältnismässig zu kleinem
Schädel (Gehirn anämisch, Kammern enge, Windungen abgeplattet)
Die leichte Hirnschwellung bei der akuten Halsentzündung hat hier
zur tödlichen Komplikation (Hirndruck) geführt.
Ein anderes Mal starb ein 32 jähriger Arbeiter nach 4 tägiger
Erkrankung mit mässigem Fieber unter den Symptomen der akuten
aufsteigenden Lähmung (Landry-Kussmaulsche Paralyse).
Sektion: Frische Substanzverluste an beiden Mandeln, akute fials-
lymphdrüsenentzündung, akuter Milztumor. Aus dem Herzblut aus¬
schliesslich Staphylokokken in ziemlicher Menge züchtbar. Leichtes
Hirnödem, ödematöse Schwellung der grauen Substanz der Vorder-
hörner, gegen das Lumbalmark zunehmend.
Im 3. Falle handelte es sich um eine 51 jährige Frau, welche seit
Wochen mit schwerem Ikterus, zuletzt mit Fieber behaftet war. Dia¬
gnose: Leberabszesse durch Steine, vielleicht Neoplasma. Befund:
Perforierte Gallenblase mit Wandeiterung, eitrig-gallige Peritonitis,
keine Cholelithiasis, dagegen Duktuskarzinom. Der Peritoneal- und
Gallenblaseneiter enthalten nur Staphylokokken, ebenso der Eiter in
den grösseren und mittleren Gallengängen. Infektionsquelle: Eine
ältere Tonsillareiterung mit frischer Lymphadenitis („eine förmliche
Strasse geschwollener Lymphdriisen“) an der linken Halsseite. Die
Staphylokokken infizierten das Blut, gelangten in die Gallenwege,
durch Gallenstauung kam es wegen des Choledochuskrebses zur
tödlichen Eiterung. — In allen 3 Fällen wurde die frische Angina
tonsillaris übersehen. Die Druckempfindlichkeit der Halsdriisen sollte
in Hinkunft mehr Beachtung finden, da in derlei Fällen die Infektions¬
quelle dann leicht konstatiert werden könnte.
Prof. Dr. Kretz: Ueber chronische Influenzainfektion.
Ein 56 Jahre alter Mann bekam 1900 eine Fliissigkeitsansamm-
lung im Peritoneum, welche als Aszites im Gefolge von Leberzirrhose
gedeutet wurde. Daneben bestand Emphysem und Bronchiektasie.
Die Sektion bestätigte diesen Befund, man fand aber auch massen¬
haft Influenzabazillen. Redner glaubt, dass schon 1900 die Infektion
(mit Influenzabazillen) von der Pleura aus auf das Peritoneum über¬
gegriffen, dass sich eine chronische Peritonitis gebildet, welche die
Leber eingekapselt und so die Zirrhose vorgetäuscht habe. Seit
1897 hat K. eine Reihe solcher chronischer Infektionen mit Influenza¬
bazillen beobachtet, hingegen fehlen seither Neuinfektionen der seit¬
her geborenen Generation und dies führt zur Annahme, dass die
Epidemie der Influenza jetzt immer vollkommener erlischt und dass
dieser Bazillus nur noch in ganz chronischen Fällen mit vielleicht
abgeschwächter Pathogenität zu finden ist.
Aus den Pariser medizinischen Gesellschaften.
Academie de medecine.
Sitzung vom 25. April 1906.
Die französische Medizin in Persien.
Nach dem Bericht von Delorme ist in Teheran eine umfang¬
reiche Medizinschule vorhanden, welche eine ausgedehnte Tätigkeit
in dem Sanitätunterricht, in der Gründung von Laboratorien, von
lokalen und provinzialen Sanitätsbehörden und in dem Kampfe gegen
die zwei Hauptseuchen des Landes, Pest und Cholera, entfaltet. Nach
den Berichten der beiden ersten Medizinalpersonen, Schneider und
G a 1 1 e y, wütet die Pest, von Indien her über Afghanistan ein¬
geschleppt, mit ganz besonderer Heftigkeit unter der durch Getreide¬
wucher noch dem Verhungern ausgesetzten Bevölkerung, hat sowohl
die Form der Pneumonie- wie der Bubonenpest, wovon letztere, als
häufigere, etwa 86 Proz. Mortalität liefert. Tiere scheinen an der Ent¬
stehung und Weiterverbreitung hier keinen Anteil zu haben. Das
Antipestserum wurde angewandt, ohne dass die Resultate genauer
zu ermitteln sind, ebenso streng prophylaktische Massnahmen.
Sitzung vom 8. und 15. Mai 1906.
Die experimentelle Syphilis.
Metschnikoff berichtet über die Untersuchungen, welche
er mit Roux zur Abschwächung der Syphilis angestellt hat; die Ver¬
suche, ein Antisyphilisserum zu erhalten, blieben unsicher, die Ab¬
schwächung des Giftes bei den niederen Affen gibt vielleicht etwas
mehr Hoffnung, einen Impfstoff zu erhalten. Man kennt aber dabei
noch nicht die Wirkung dieser abgeschwächten Syphilisformen auf
1
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
längere Zeit hinaus. Die prophylaktische Anwendung von Hg-
Inunktionen hat jedoch konstant sehr günstige Resultate gegeben.
12 Affen wurden — teils an den Geschlechtsteilen, teils an den Augen¬
brauen — geimpft und 1 — I8V2 Stunden nach der Impfung mit Kalomel-,
weisser Präzipitat- und Salizylarsen-Quecksilbersalbe eingerieben,
der Erfolg war immer der gleiche: das Syphilisgift blieb ohne Einfluss.
Bei den Konfrontieren, die nicht mit Salbe behandelt wurden, stellte
sich stets der typische Primäraffekt ein. Mehreren der Affen, die von
letzterem dank der Salbenbehandlung verschont blieben, wurde
späterhin von neuem Syphilisgift eingeimpft; sie zeigten später den
typischen Primäraffekt, was beweist, dass sie keine natlii liehe
Immunität gegenüber der Syphilis besassen. Diese Untersuchungen
erschienen so beweiskräftig, dass ein junger Student an sich selbst die
Abortivwirkung der Kalomelsalbe auf eine syphilitische Ueberimp-
fung versuchen liess. Es wurden demselben 3 Einimpfungen von 2,
zwei verschiedenen Personen entstammenden, harten Schankein am
Gliede gemacht, eine Stunde später aui die kleinen \\ unden 5 Minuten
lang eine Kalomelsalbe (10: Lanolin 3,0) verrieben. Nach 3 Monaten
hat dieser mutige Student nicht die geringste spezifische Veränderung
gezeigt. M. schliesst daraus, dass derselbe, obwohl ihm eine viel
grössere Menge Syphilisgiftes, als es unter normalen Verhältnissen
möglich ist, eingeimpft wurde, von Syphilis völlig verschont ist; diese
Immunität kann keineswegs auf die Unschädlichkeit des Giftes zurück-
geführt werden, denn die 2 mit eben demselben geimpften I iere
(Makakken) zeigten die typischen syphilitischen Veränderungen,
welche bei dem einen der I iere noch nach 2(4 Monaten sichtbar waren.
Diese verschiedenen Untersuchungen beweisen also, dass die Kalomel¬
salbe, eine Stunde nach der Einimpfung des Syphilisgiftes appiiziert,
beim Menschen ebenso wie beim Affen imstande ist, den Ausbruch
der Syphilis zu verhüten, ferner auch, dass die Salbe nach 2-4 Stunden
diese Präventivwirkung nicht mehr hat. Aus diesen gesamten Tat¬
sachen ist der Schluss erlaubt, dass die Kalomelsalbe bei der Syphilis¬
prophylaxe in Anwendung kommen kann;., über die Einzelheiten der
prophylaktischen Anwendung der Quecksilbersalbe sind noch Unter¬
suchungen im Gange.
Mallopeau erinnert daran, dass N e i s s e r bei seinen ana¬
logen Untersuchungen gewisse Misserfolge hatte. Wenn sich die
Experimente Metschnikoffs bestätigten, dann verschwände dei
alte Streit zwischen Reglementaristen und Abolitionisten, denn die
Leute, welche ihr Töpfchen Kalomelsalbe bei sich hätten, brauchten
sich nicht mehr um den Gesundheitszustand ihrer Partnerin zu be¬
kümmern. Andererseits würden die Syphilis, Tabes und allgemeine
Paralyse verschwinden. H. fragt auch, ob durch Anwendung der
Kalomelsalbe keine lokale Reizung entstünde.
Metschnikoff glaubt, dass Neissers Technik eine von
seiner verschiedene sei, denn demselben sei es lange Zeit nicht ge-
lungen, bei Affen Syphilis durch Impfung hervorzurufen. Anstatt diese
durch oberflächliche Skarifikationen auszuführen, macht N. tiefe Ein¬
stiche; hierbei wird die Präventivwirkung der Kalomelsalbe viel un¬
sicherer. Die Salben mit Kalomel und Enesol wirken nicht reizend und
werden gut vertragen, das ist aber nicht der Fall mit der grauen
Salbe. . ...
Pouchet erinnert daran, dass um 1850 herum die Quecksilber¬
seife einen gewissen Ruf als Schutzmittel gegen die Syphilis hatte.
Aber sie gab, da sie auch unter den unsichersten Bedingungen oft
angewandt wurde, zahlreiche Misserfolge.
Sitzung vom 22. Mai 1906.
Der sanitäre Zustand von Paris.
A. G. Martin gibt einen vollkommenen historischen Ueberblick
über die hygienische Organisation von Paris seit 1892 und zählt die ver¬
schiedenen, allmählich zur Einführung gekommenen Massnahmen auf,
wie Impfung, und Wiederimpfung, Desinfektion, sanitäre Ueberwachung
der Häuser, der Wasserversorgung, des Abfuhrsystems, Schutz der
Kinder usw. All diese Bemühungen der öffentlichen Behörden und
der privaten Initiative haben zu sehr erfreulichen Resultaten geführt:
Die allgemeine Sterblichkeit, welche im Jahre 1894 noch 22,3 aui
1000 Einwohner betrug, ist auf 17,4 im Jahre 1905 allmählich herab¬
gegangen. Wäre die Mortalität stationär geblieben, so hätte sie im
Jahre 1905 die Zahl von 62 070 erreichen müssen, in Wirklichkeit be¬
trug sie 47 853, was für ein einziges Jahre den Gewinn von 14 207
Menschenleben Dank der sanitären Massnahmen bedeutet. Besonders
die ansteckenden Krankheiten, wie Typhus, Scharlach, Masern, Diph¬
therie waren noch niemals so selten, wie im Jahre 1905, ebenso die
Kinderdiarrhöe, dank der Kinderbewahranstalten, Säuglingsmilch-
küchen usw. Die Tuberkulose verursacht noch ein Viertel aller
Sterbefälle, aber sie ist ebenfalls in Abnahme begriffen und M. er¬
hofft durch die neuesten Massnahmen der Wohnungsassanierung noch
bedeutende Abnahme. Hingegen ist eine Zunahme der Fälle von
Leberzirrhose und Nephritis zu konstatieren, eine Folge des Alkoholis¬
mus, der leider nicht in Abnahme begriffen ist.
Die Tuberkulophobie und einige ihrer Folgen in der Pädiatrie.
Rousseau Saint-Philippe - Bordeaux bespricht die
Uebertreibungen, zu welchen die Furcht vor der Tuberkulose be¬
sonders in der Kinderheilkunde führt und fürchtet, die Tuberkulösen
bald wie Parias und Aussätzige behandelt zu sehen. Nun hat ihn die
Erfahrung an der Kinderklinik zu Bordeaux, wo jeden lag etwa ICH)
Kinder zugeführt werden, folgende beiden I atsachen gelehrt: 1. die
ausserordentliche Seltenheit der Lungentuberkulose bei Kindern im
Vergleich zu den Erwachsenen und auch zur grossen Häufigkeit von
Lungenerkrankungen aus anderen Ursachen, 2. die grosse Leichtig¬
keit, mit welchen, besonders junge Aerzte, bei Kindern die Diagnose
„Tuberkulose“ stellen; so sieht mau oft Drüsenschwellungen, die eine
ganz andere Ursache haben, mit Tuberkulose bezeichnet. Auch alte
Fälle von Keuchhusten, von Influenza, Gelenkserkrankungen, Getoirn-
erscheinungen infolge von Pseudomeningitis, die bei zahlreichen In¬
fektionskrankheiten Vorkommen, werden als ,, I uberkulose bezeichnet.
Man übertreibt also 'in hohem Grade die Häufigkeit derselben und
lässt die Ansteckung eine zu grosse Rolle spielen, während das Ter¬
rain, die Disposition, das vorherrschende ist. Die Tuberkulose ist
nach Saint-Philippe besonders die Folge aller „Abnützungs“-
Krankheiten, die Folge aller organischen Entartungen, aber auch diese
Tuberkulosekandidaten sind leicht zu schützen und eine wirksame
Kinderprophylaxe muss sich vor allem mit diesen Prädisponierten
beschäftigen.
Sitzung vom 29. Mai 1906.
Viele Leute, die nur mit Typhlocolitis mucoinembranacea behaftet
sind, werden wegen Appendizitis, die sie gar nicht haben, operiert.
Dieulafoy ist erstaunt, wie viele Leute, die nur an Typhlo¬
colitis leiden, unnötigerweise wegen Appendiziitis operiert werden.
Er hat 13 eigene Beobachtungen dieser Art gesammelt; nach der
Operation erwies sich der Wurmfortsatz als völlig gesund, die Pa¬
tienten haben weiter ihre schmerzhaften Anfälle, ihre hartnäckige
Obstipation in den anfallsfreien Zeiten und entleeren weiter mit den
Fäzes Schleimmassen, Sand, Membranen. Manche Kranken, die man
als geheilt im Augenblicke der Publikation ansieht, werden einige
Wochen oder Monate später von ähnlichen Anfällen ergriffen, die sie
vor ihrer Operation hatten. Liest man diese Beobachtungen, so
findet man, dass der entfernte Wurmfortsatz gesund normal aussieht,
histologisch aber fibröse Balken, Hypertrophie der Follikeln, hämor¬
rhagische Suffusionen und „hämorrhagische Follli'ku 1 i ti*s vorhanden
sei. Nun haben all diese histologischen Befunde keineswegs die Be¬
deutung, welche man ihnen geben wollte, die sog. Folllikulitis trifft
man, wie L e t u 1 1 e machwies, sehr häufig bei gesunden Leuten und
die Blutunterlaufungen in der Schleimhaut, ebenso wie die hämor¬
rhagische Follikulitis, die man als Appendizitis erklärt, sind die Folgen
eines Traumas oder auch einer allzu starken Gefässunterbindung
während der Operation. Bezüglich der Differentialdiagnose zwischen
der wirklichen Appendizitis, gegen welche er immpr noch auf das
wärmste Operation empfiehlt und der lyphlitis muco-membranacea
oder sablosa hebt Dieulafoy folgende Gesichtspunkte hervor.
Schmerzen, welche in der fossa iliaca dextra vorherrschen, genügen
nicht zur Diagnose der Appendizitis und besonders dann nicht, wenn
auch Erscheinungen von Enterocolitis vorhanden sind; D. glaubt nicht,
dass Appendizitis eine häufige Folge der letzteren ist. und eine
langjährige Erfahrung habe ihn gelehrt, dass die im Verlaufe einer
Typhlo- oder Enterokolitis vorkommenden Anfälle auf Typhlitis
und nicht auf Appendizitis zurückzuführen sind. Bei Appendizitis
wird der Kranke fast immer ganz plötzlich während eines
ausgezeichneten Gesundheitszustandes von dem Anfall ergriffen,
wie D. in seinen 200 und etlichen Fällen, die alle durch die Operation
ihre Bestätigung fanden, konstatierte; bei Enterokolitis hat der Patient
seit Monaten und Jahren Darmbeschwerden. Bei Typhlokolitis ist
zwar die rechte Fossa iliaca schmerzhaft, aber man findet nicht den
so enge umschriebenen, auf den MacBurney sehen Punkt lokali¬
sierten Schmerz, wie bei der Appendizitis, nicht die Hauthyperästhesie,
nicht Begleiterscheinungen wie Uebelkeit, Erbrechen und Fieber. Es
gibt also spezielle Symptome, welche die Unterscheidung dieser
beiden Affektionen ermöglichen und wodurch D. zahlreiche irrtüm¬
liche Diagnosen auf Appendizitis richtig stellen, das Vorhandensein
einer Enterokolitis in Zweifelsfällen konstatieren und viele unnötige
Operationen verhüten konnte. Schliesslich hebt er nochmals hervor,
dass er bei wirklicher Appendizitis durchaus Anhänger der sofortigen
Operation bleibt. ^t.
Verein für innere Medizin zu Berlin.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 2. Juli 1906.
Herr P. Ma nasse: Beitrag zur Lehre vom Ileus.
Vortr. beobachtete einen Fall von Ileus, in welchem der Darm¬
verschluss an der Flex. col. sin. dadurch zustande kam, dass das
Querkolon weiter herabhing und genannte Flexur spitzwinklig abge¬
knickt war; zwischen beiden Schenkeln des Winkels schienen Ver¬
wachsungen zu bestehen, wie sie von anderer Seite beschrieben
worden, doch sind solche Darmverschlüsse (Gassperre) auch ohne
Verwachsungen mit Sicherheit beobachtet und beschrieben. Bei dem
Kranken bestanden Erscheinungen, welche zur Annahme einer Peri¬
typhlitis verleiteten und dadurch zu stände gekommen waren, dass das
Kökum am meisten von Gasen aufgetrieben war, wie dies als eine
Ursache von Perforationen sich beschrieben findet.
10. Juli 1906.
MLIENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Zur Bekämpfung dieser Gefahr zunächst Anlegung eines Anus
praeternat. am Kükum und nach einigen Monaten Verschluss dieser
Jetzt seit über einem Jahr Darmpassage frei, nur einmal wieder
Schmerzanfall in der linken Oberbauchgegend.
n Diskussion: Herr E. Kraus: Er habe auch einen Fall von
Ileus duich Gassperre an der Flex. col. sin. gesehen, da fanden sich
keine Verwachsungen, doch bestand grosse Fettleibigkeit.
f ii FraeakeI: Hat Vortr. etwas getan, um einem Rück¬
fall des Ileus vorzubeugen?
Herr P M an as s e: Dies würde in Form einer Kolon-Kolonfistel
geschehen, falls sich ein erneuter Anfall einstellen sollte. In seinem
obigen Fall bestand keine Fettleibigkeit.
Blutes 6n C S Engel: Ueber die Entstehung und Neubildung des
V-ti. gibt ein Referat über seine bekannten Forschungen und
Ansichten über diese Frage. Hans K o h n.
1387
Aus ärztlichen Standesvereinen.
34. Deutscher Aerztetag in Halle a. S.
am 22. und 23. Juni 1906.
(Eigener Bericht.)
(Schluss.)
, o u?er Ta?’ e,*was schwächer besucht war als der erste,
brachte zuerst das Ergebnis der Wahl. Wie der Vorsitzende bekannt
gab’ wa‘en ,folgende Herren gewählt: P f e i f f e r - Weimar mit
Hartmann-Leipzig mit 17 485, Lö b k e r -Bochum mit
1/ _o9, D lp p e -Leipzig mit 16 884, H e r z a u - Halle mit 16 843,
L e n t - Köln mit 16 246, Winkelmann-Barmen mit 15 092,
“ 1 s* h 0 1 f r - Stuttgart mit 14 186, Wentscher- Thorn mit
K a s 1 1- München mit 12 835, M u g d a n - Berlin mit 1 1 224
und Mayer-Furth mit 10 711 Stimmen. Es sei gleich hier bemerkt
dass von diesen 12 gewählten Herren noch die Herren: Brunk-
roraberg, H a r t m a n n - Hanau, Kraft- Strassburg, L i n d m a n n -
Mannheim, M un t e r - Berlin, P a r t s c h - Breslau, Scheel-
Rostock und Sc h e r e r - Ludwigshafen kooptiert wurden. Neu sind
Hmpf u/ani r 6 6 der auf ihren eigenen Wunsch ausgeschiedenen
Herren Wall ich s, Windeis und Becher- Berlin die Kollegen
M ugd a n, H a r tmann- Hanau und Munter- Berlin. Dem seit
30 Jahren die Aerztetage besuchenden, lange Jahre dem Geschäfts-
ausschusse angehörenden Kollegen Wallichs, dessen treueste Hin¬
gabe an die Sache der deutschen Aerzteschaft der Vorsitzende in
warmen Worten feierte, boten die Kollegen einen von herzlichem
Danke durchdrungenen Abschiedsgruss, dem der Wunsch angefügt
wurde, den bewahrten hochverehrten Veteranen auch in künftigen
Jahren aut dem Aerztetage wiederzusehen. Auch den beiden anderen
scheidenden Kollegen wurde der gebührende Dank und die verdiente
Anerkennung dargebracht.
b) die Kasse muss einen Vertrag mit der Vertretung der im Orte
wohnenden Aerzte abschliessen, in dem freie Arztwahl und Bezahlung
ausbedungen ^ Unter de" Mindestsätze" de>' Gebührenordnung
5. Der Zutritt Nichtversicherungspflichtiger
a ll edn6M itteU e " V e r s 1 c h e r u 11 g s P f 1 i c h t i g e r ist mit
a 1 1 e n M ! 1 1 e 1 ii streng zu überwachen. Auch hier ist als
2000 M ^ verfinngeU„7r'äSS,geS Ei"ha“en der E'”k°™™»*re„se von
Zu den Leitsätzen 1 und 2 gibt er eine kurze Kritik der Ent¬
stehung und Mitgliedschaft solcher sog. wilder Kassen. Durch eine
Umfrage bei den lokalen Organisationen in ganz Deutschland hat
der Leipziger Verband ein annäherndes Bild von der Zahl und Art der
heute schon bestehenden Mittelstandskassen erhalten. Der Referent
verliest die zusammengefassten Resultate der nach einzelnen Pro¬
vinzen geordneten Antworten auf die Fragebogen. Als Kuriosum
mag erwähnt sein, dass ein Arzt in Thüringen sich in seinem Bezirk
eine eigene Kasse gründete, die aus ca. 35 Mitgliedern besteht und
deren einzelne Mitglieder ein Pauschale von 15 M. pro Jahr zahlen.
To+cf Jeile S0Jlenganz.zuf Heden sein. Eine zu berücksichtigende
Tatsache war die, dass eine grosse Zahl solcher Kassen keine fixierte
pnkornmengrenze hat, so dass im Bochumer Bezirk Direktoren mit
emem Einkommen bis zu 70 000 M. sich und ihre Familien als Kassen-
rmtgheder behandeln lassen. Auch das in manchen Kassen festgelegte
I auschale musste als vollkommen ungenügend bezeichnet werden.
Bezüglich dei These 3 erklärte er, absolut keine Zugeständnisse
machen zu können, und auch bei These 4 wollte er Ausnahmen wie
S1l d?H angedeutet sind, nur zulassen, wenn durch eine möglichst
scharfe Kontrolle die Möglichkeit gegeben würde, die Einkommens-
grenze zu überwachen, wobei als obere Grenze ein steuer¬
pflichtiges Einkommen (so korrigierte er selbst) von 2000 M
pro Jahr angenommen werden musste.
... ^ll d*^sei1 Leitsätzen lagen 3 Anträge vor, die im folgenden bei¬
gefugt sind.
bürg- Antfag V°n 17 Vereinen in Be r 1 i n -Brande n -
„Der Aerztetag wolle beschliessen :
Die Aerzteschaft des Deutschen Reichs bestreitet nicht die Be¬
rechtigung aller Klassen der Bevölkerung, also auch des Mittelstandes,
zum Zweck der Versicherung gegen Krankheit genossenschaftliche
Vereinigungen zu bilden, soweit diese den Mitgliedern eine Beihilfe
für den Fall der Erkrankung sichern.
Dagegen hält sie es für unstatthaft, dass ein Arzt oder eine
aizthche Vereinigung mit irgend einer neu zu gründenden Vereini¬
gung, die andere als versicherungspflichtige Personen aufnimmt, z. B.
einer Mittelstandskasse, ein Vertragsverhältnis über Leistung ärzt¬
licher Hilfe eingeht.
Bestehende Verhältnisse werden durch diese Resolution nicht
berührt.“
Als eine Musterleistung in Form und Wiedergabe muss da
nun folgende Referat D i p p e - Leipzig über Krankenkasse
l!l.r. n i c h t v e r s i c h e r u n g s p f 1 i c h t i g e Personen, b e z w
Mittelstandskassen bezeichnet werden. Die Frische, mit de
pippe seine auf Grund von Fragebogen erlangten Zusammenstel
jungen vortrug, wirkte geradezu belebend. Nach einer kurzen Ein
eitung in der er erklärt, wie der Geschäftsausschuss durch du
Mittelstandskassenbewegung dazu gedrängt wurde, die Frage auf du
lagesordnung des Aerztetages zu setzen, bringt er seine im nach
stehenden wiedergegebenen Leitsätze.
„1. Das Bestreben Derjenigen, die nicht dem Krankenversiche¬
rungsgesetze unterstellt sind, in ihren äusseren Verhältnissen aber
een Versicherungspflichtigen gleichstehen, einander gegenseitig bei
Erkrankungen vor gar zu grossen Geldausgaben zu bewahren, ist
als berechtigt anzuerkennen.
2- Diesem Bestreben wird am besten Genüge geleistet durch
aie Gründung von Versicherungsvereinen, die dem von Krankheit Be-
tronenen mit einer ausreichenden Geldunterstützung beistehen, sich
aoer in das Verhältnis des Versicherten und seiner Angehörigen zu
dem Arzte nicht einmischen.
3. Kassen, Vereine, Verbände, zu denen sich Leute aus ver-
,c..iede[!en Berufen und verschiedener sozialer Stellung zusammentun,
e lgll<rh za dem Zwecke, für einen möglichst geringen Beitrag freie
ärztliche Hilfe, freie Apotheke und womöglich auch noch Kranken¬
geld zu bekommen, sind durchaus vom Uebel. Mit solchen
Vassen und Verbänden dürfen Aerzte und Aerzte-
/ er e in e nicht Verträge abschliessen. Bestehende der-
u ige V erträge sind so bald als möglich zu kündigen, und es ist dahin
u wirken, dass die Kassen aufgelöst oder in Versicherungsvereine
m Sinne der 2. These umgewandelt werden.
4. Ausnahmsweise kann bei besonderen Verhältnissen,
jinter einer abgeschlossenen Gruppe Gleichgestellter, z. B. unter den
Beamten einer Behörde, eines Betriebes etc., ärztlicherseits der Grün¬
ung einer Krankenkasse zugestimmt werden, wenn folgende Be¬
engungen erfüllt sind:
a) Es muss sichere Gewähr dafür gegeben sein, dass niemand
a de.r, Kasse ist oder bleibt, dessen jährliches Einkommen über
000 M. beträgt;
II. Antrag der Berliner ärztlichen Standes¬
vereine:
„Behufs Verhinderung bezw. Abwehr von sog. Mittelstandskassen
wird den deutschen Aerzten dringend empfohlen, an allen Orten, wo
dies nicht bereits geschehen ist, möglichst umgehend Schutz- und
1 rutzbündnisse ad hoc zu schliessen.“
III. Anträge des Vereins der Aerzte Düssel¬
dorfs:
1. „Der XXXIV. Deutsche Aerztetag erkennt das Bestreben aller
nicht versicherungspflichtigen Personen, sich gegen die wirtschaft¬
lichen Nachteile von Krankheiten ebenso wie gegen diejenigen von
Unfällen auf dem Wege der Versicherung zu schützen, an sich als be¬
rechtigt an.
2. Jedes Bestreben nichtversicherungspflichtiger Personen je¬
doch, sich mit Hilfe von Versicherungsorganisationen verbilligte
ärztliche Hilfe vorweg zu verschaffen, würde nur dahin führen, die
ohnehin ungünstige wirtschaftliche Lage des Aerztestandes noch wei¬
ter zu verschlechtern und ist deshalb einmütig zurückzuweisen.
3. Mit Versicherungsorganisationen, welche jedermann ohne
Rücksicht auf seine Einkommensverhältnisse Zutritt gewähren, dürfen
deshalb weder von einzelnen Aerzten noch von ärztlichen Vereini¬
gungen Verträge abgeschlossen oder bereits abgeschlossene weiter¬
geführt werden. Letztere sind zum nächstmöglichen Termin zu
kündigen.
4. Mit Versicherungsorganisationen, welche lediglich solchen
Personen Zutritt gewähren, deren soziale Lage derjenigen Versiche¬
rungspflichtiger gleich ist, können ausnahmsweise Verträge ge¬
schlossen werden, wenn folgende Bedingungen dabei erfüllt werden:
a ) Es daif niemand der Kasse beitreten oder ihr weiter an-
gehören, dessen Gesamtjahreseinkommen 2000 M. übersteigt.
b) Die bedingt freie Arztwahl muss durch Vertrag mit den be¬
treffenden Aerztevereinigungen gesichert und die Bezahlung nicht
unter den Mindestsätzen der Gebührenordnung seitens der Versiche¬
rungsorganisation gewährleistet sein.
Die Berliner Anträge begründete Herr Hesselbart - Berlin.
Ei sagte: Wir gehen in bezug auf Neugründung von solchen Kassen
weiter wie der Referent. Wir wollen überhaupt nicht, dass solche
Kassen neu entstehen, auch wollen wir prinzipiell keinerlei Aus-
1388
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
nahmen gestatten. Bestehende Verhältnisse sollen durch die Re¬
solution nicht berührt werden. Nur unter dieser Zusage ist es uns
gelungen, in Berlin 97 Proz. der Aerzte für diese Frage zur Einigung
zu bringen. Auch er ist dafür, zu beschliessen, dass bestehende Ver¬
träge so bald als möglich zu kündigen sind.
Für die Düsseldorfer spricht Herr P f a 1 z - Düsseldorf. So wie
wir für uns eine Krankenkasse gründen wollten, könnten das auch
andere Stände tun. Sie müssten nur jeden Angriff auf unsere wirt¬
schaftliche Lage unterlassen. Ihre These 3 hätten sie deshalb ge¬
bracht, weil uns ja bei solchen Kassen jede Kontrolle fehle. Auch sie
forderten die Kündigung bestehender Verträge. In den übrigen Punk¬
ten stimmten sie mit dem D i p p e sehen Referat vollkommen überein.
Herr Löwen stein - Elberfeld meinte, man solle doch den
Leuten nicht sagen, wie sie es machen müssten, um Mittelstands¬
kassen gründen zu können. Das sei doch nicht unsere Sache. Der
Begriff Mittelstand sei sehr schwer zu definieren, ln gewissem Sinne
gehörten wir selbst dazu.
In der weiteren Diskussion sprachen noch Munter- Berlin,
Moll- Berlin, L ö b k e r, der die ausgesprochenen Meinungen wieder
treffend in 5 Punkte zusammenfasste, Bauer- München, Bloch-
Beuthen, Franz- Schleiz, Magen- Breslau, Neuberger - Nürn¬
berg, H a k e r - Berlin und zum Schluss noch einmal der Bericht¬
erstatter. Es werden von ihm eine Reihe die Leitsätze und Dis¬
kussionsergebnisse zusammenfassende Anfragen gestellt, die schliess¬
lich zur Annahme folgender Erklärungen führt:
1. Das Recht gewisser Kreise der Bevölkerung, Mittelstands¬
kassen zu gründen oder das Bestreben, Verbände zur gegenseitigen
Hilfeleistung bei Krankheiten etc. anzustreben, wird als unbestreitbar
anerkannt.
2. Es ist grundsätzlich verboten, mit Kassen oder Sanitäts¬
vereinen, die nicht versicherungspflichtige Mitglieder haben, Ver¬
träge über ärztliche Hilfe abzuschliessen.
3. Ausnahmen für neu zu gründende derartige Verbände
sind unter keinen Umständen gestattet, für bestehende Verträge
sind solche gestattet.
4. Verträge sind nicht durch einzelne Aerzte, sondern durch die
lokalen Organisationen zu schliessen. Diesem Grundsatz wider¬
sprechende Verträge sind zu kündigen.
5. Zur Durchführung vorstehender Grundsätze sind möglichst
eigene Schutz- und Trutzbündnisse zu gründen.'
Damit scheint eine genügende Stellungnahme des Aerztetages
für diejenigen Vereine gegeben, die ihre schwebenden Entscheidungen
bis nach dem Aerztetage verschieben wollten.
. Nach einer kurzen Pause ging man zu Punkt 7 der Tagesordnung
über.
Herr A. Hartmann - Berlin erstattete ein sehr klar und prä¬
zise gehaltenes Referat über die Unterweisung und Er¬
ziehung der Schuljugend zur Gesundheitspflege. Er gibt sta¬
tistische Angaben über den Wert der Gesundheitspflege, wenn sie
systematisch, wie z. B. beim Militär, betrieben wird. Dort sei die
Mortalität in 50 Jahren von 14:1000 auf 2,1:1000 zurückgegangen.
Auch die Zahl der Behandlungstage in den Lazaretten sei bedeutend
kleiner geworden. Deshalb müssten wir im Interesse eines ge¬
nügenden Materiales für die Landesverteidigung auch im Zivil für die
Durchführung einer guten Gesundheitspflege sorgen. Er begriisst den
Beschluss des preussischen Landtages, ein staatliches Wohlfahrtsamt
zu gründen. Mit unseren Bestrebungen müssten wir zur Jugend
gehen, da die Erfolge bei den Erwachsenen geringe und keine dau¬
ernden seien. Er stellt deshalb folgende Leitsätze auf:
„1. Unser Volk muss mit den Regeln der Gesundheitspflege be¬
kannt gemacht und daran gewöhnt werden, gesundheitsgemäss zu
leben und die heranwachsende Jugend gesundheitsgemäss zu erziehen.
„2. Zu der Unterweisung in der Gesundheitspflege sind in erster
Linie die Aerzte berufen, welche durch ihre Ausbildung und durch
ihren Beruf die Gewähr dafür bieten, dass die Unterweisung eine
zweckmässige ist.
3. Ausser der Belehrung, welche von Aerzten gelegentlich der
Behandlung von Kranken gegeben werden kann, erweist sich zur
Verbreitung der Grundregeln der Gesundheitspflege die Schule am
geeignetsten.
4. Die an der Schule angestellten Aerzte haben, neben der
Ueberwachung des Gesundheitszustandes der Kinder und der be¬
züglich der Gesundheit der Kinder in Betracht kommenden Einrich¬
tungen der Schule, dafür Sorge zu tragen, dass die Kinder mit der
Gesundheitspflege vertraut gemacht und mit Hilfe der Schule daran
gewöhnt werden, gesundheitsgemäss zu leben.
5. Da der Arzt mit dem Schüler nicht in so enger und andauern¬
der Berührung steht wie der Lehrer, müssen ausser der direkten
Unterweisung durch die Aerzte auch die Lehrer zu dieser Unter¬
weisung herangezogen werden.
6. Nicht nur in den Städten an den Volksschulen, sondern auch
auf dem Lande und an den höheren Schulen sind Aerzte als Berater
für die gesundheitsgemässe Erziehung der Kinder den Lehrern bei¬
zugeben.
7. Ebenso ist es erforderlich, dass Aerzte den Provinzialschul¬
kollegien, den Schuldeputationen und den Schulkonferenzen als Be¬
rater beigegeben werden.
8. Sowohl die Lehrer der Volksschule als die Lehrer der höheren
Schulen müssen eine besondere Ausbildung in der Gesundheitspflege
erhalten.
9. Den Lehrern ist zur Pflicht zu machen, bei jedem Unter¬
richtsstoffe, der hierzu geeignet erscheint, auf die Gesundheitspflege
hinzuweisen und im Verkehr mit den Schülern und bei der Beauf¬
sichtigung derselben darauf hinzuwirken, dass die Grundregeln der
Gesundheitspflege von den Schülern beachtet werden.
10. Besonderer Unterricht über Gesundheitspflege ist hauptsäch¬
lich für die älteren Schüler der höheren Schulen und der Fortbil¬
dungsschulen erforderlich. Dieser Unterricht ist am zweckmüssigsten
durch Aerzte zu erteilen.“
S t e f a n i - Mannheim beantragte einige redaktionelle Aende-
rungen an den Thesen, während K o h n - Berlin (ebenso wie Ste-
fani seit Jahren Schularzt) folgende kürzere Thesen der Berliner
ärztlichen Standesvereine, des Charlottenburger Aerztevereins und
des Berliner Vereines zur Einführung freier Arztwahl vorschlug
und kurz begründete:
1. Die Unterweisung der Schuljugend in den Lehren der Gesund¬
heitspflege muss durch die Schule geschehen.
2. Schulhaus und Schulbetrieb müssen den Anforderungen der
modernen Schulhygiene entsprechen.
3. Den Schulkindern sollen durch die für alle Schulen anzu¬
stellenden Schulärzte bei Gelegenheit der Klassenbesuche kurze, leicht
verständliche Vorträge über Gesundheitspflege gehalten werden: im
Pubertätsalter ist dabei in angemessener Weise die sexuelle Hygiene
zu behandeln.
4. Alle Lehrer müssen während ihrer Ausbildungszeit in der
Gesundheitspflege unterrichtet werden.
5. Die Lehrer sollen die Schulkinder bei jeder Gelegenheit zur
Beachtung der Regeln der Gesundheitspflege anhalten unter Berück¬
sichtigung der von den Schulärzten gegebenen Unterweisungen.
Er war der Meinung, dass die Schulärzte am besten bei ihren
regelmässigen Besuchen in der Schule 15 Minuten dauernde Vor¬
träge oder Belehrungen über entsprechende Themata geben könnten.
Dem wurde in der Diskussion mit Recht entgegengehalten, dass der
Arzt mit dem Unterricht in der Schule sich auf keinem Gebiete
befassen solle, um jede Eifersüchtelei der Lehrer und Störungen des
Unterrichtes zu vermeiden. Den Lehrern, so betonte sehr richtig
ein Diskussionsredner, aber den Unterricht über Gesundheitspflege in
die Hand zu geben, hiesse unter Umständen der Kurpfuscherei Vor¬
schub leisten, denn so viele Lehrer seien Mitglieder, ja selbst Vor¬
stände von Naturheilvereinen, dass man sich denken könne, wie in
solchen Fällen die Belehrung ausfallen werde.
K o h n - Berlin stellt schliesslich den Antrag, die ganze Ange¬
legenheit dem nächsten Aerztetage zur Beschlussfassung zu über¬
weisen. Dieser Antrag wird einstimmig angenommen.
Sodann erhält Herr Bornemann - Limbach das Wort zur
Begründung des Antrages des ärztlichen Bezirks¬
vereines Chemnitz-Land:
„Der Deutsche Aerztevereinsbund wolle beim Reichskanzler
bezw. den verschiedenen Bundesregierungen dahin vorstellig wer¬
den, dass gegen die Vertretung von praktischen Aerzten durch
Mediziner, die nach Vollendung ihres Staatsexamens das vorge¬
schriebene praktische Jahr ableisten, nichts einzuwenden sei, be¬
sonders nicht während der zweiten Hälfte dieses Jahres, sowie
dass die Zeit, während der er einen praktischen Arzt ver¬
treten hat, dem Praktikanten auf sein praktisches Jahr angerechnet
werde.“
Er bringt nichts wesentlich Neues für den Antrag. Nur meint
er eine Abänderung des Gesetzes sei bezüglich seines Antrages des¬
halb wohl nicht notwendig, weil ja auch heute schon das preussische
Ministerium gestatte, dass Praktikanten bei praktischen Aerzten ihr
praktisches Jahr verbringen. Er wird in der Diskussion jedoch
darauf aufmerksam gemacht, dass eben dann der praktische Arzt
der Führer des Praktikanten sei, während im Vertretungsfalle der
verantwortliche Teil der sei, der es dem Gesetze nach gerade nicht
sein solle. Ueberhaupt war man einstimmig der Ansicht — nur
Neuberger - Nürnberg stellte Vertagungsantrag auf 1 Jahr — dass
eine Aenderung des so lange erstrebten und mit Mühe erreichten
Gesetzes über das praktische Jahr unter keinen Umständen ver¬
langt oder gewünscht werden dürfe. Besonders Wentscher-
Thorn erinnerte an die historische Entwicklung dieses Gesetzes und
an die Stellungnahme der früheren Aerztetage zu dieser Angelegenheit.
Auch H. D r e i b h o 1 z - Wilsnack, der sich als Vater eines Me¬
dizinalpraktikanten vorstellte, sprach energisch für Ablehnung des
Antrages Chemnitz. Die Mehrheit war seiner Ansicht. Damit fiel
auch der Antrag Neuberger.
Es folgten die unter 9 auf der Tagesordnung stehenden Kommis¬
sionsberichte. Da die Lebensversicherungskommission
nichts aktuelles zu berichten hatte und der Bericht der Kranken¬
kassenkommission in dem Referate Pfeiffers (Punkt 4 der
Tagesordnung) enthalten war, verzichtete die Versammlung auf die
Erstattung dieser Berichte.
Ueber die Tätigkeit der Kurpfuschereikommission referierte kurz
L i n d m a n n - Mannheim als Vorsitzender dieser Kommission. Er
kann nicht viel Neues berichten, erwähnt aber bei der Besprechung
der Bekämpfung des Geheimmittelschwindels lobend die Denkschrift
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1389
des neuen Standesvereines in München, die dieser dem Reichsgesund¬
heitsamt überreicht hat.
J. Davidsohn - Berlin erstattet im Anschluss an nachstehen¬
den Antrag der Kommission für das ärztliche Unter¬
st ii t z u n g s - und Versicherungswesen,
„Der Aerztetag wolle die Kommission ermächtigen, in Ge¬
meinschaft mit dem Geschäftsausschuss die Ausführung der in der
Anfrage vom 15. VIII. 1905 erwähnten und durch die Zustimmung
der befragten ärztlichen Standesvertretungen resp. der Vereine ge¬
billigten Vorschläge in die Wege zu leiten.“
ein ausführliches Referat über das Ergebnis oben erwähnter Umfrage
bei den staatlich anerkannten Standesvertretungen der deutschen
Aerzte. Diese Anfragen, die wie wohl allen Kollegen bekannt sein
dürfte, Wohlfahrtseinrichtungen für invalide, unterstützungsbedürftige
Aerzte, Arztwitwen und -weisen und genaue Erhebungen über alle
einschlägigen Verhältnisse betrafen, wurden von der grossen Mehr¬
zahl der deutschen Aerzte zustimmend beantwortet. Damit erklärten
sich die Kollegen auch einverstanden mit den von der Kommission
gemachten Vorschlägen, die eine Zentralisierung der ärztlichen Wohl¬
fahrtsbestrebungen und einen Schutz gegen gewissenlose Ausbeutung
einzelner Unterstützungskassen herbeiführen wollen. Der Antrag der
Kommission wurde einstimmig angenommen.
Ebenso ein Antrag S t e r n f e 1 d - München, der dahin ging:
Es sollten künftig alle auf dem Aerztetage zu erstattenden Referate
den Delegierten 3 Wochen vor der Tagung im Drucke übersendet
werden.
Man muss den Antrag sehr begriissen, wenn man, wie der Be¬
richterstatter, Gelegenheit hatte zu hören, wie bitter sich einzelne
Delegierte darüber beklagten, dass von den einzelnen Referaten oft
in der 2. Hälfte des Saales fast nichts zu verstehen war. Auch hat
dann jeder Delegierte und jeder Verein viel mehr und besser Zeit
und Gelegenheit, über die Thesen auf Grund der im Referate ge¬
gebenen Motive seine eigenen Gedanken zu fassen und in präziser
Form zum Aerztetag zu bringen.
Ueber die Verlegung der Vermittlungsstelle für Schiffsärzte ent¬
spann sich nach einer Erklärung des Leiters dieser Stelle .1. Oberg-
Hamburg gegen eine Verlegung derselben nach Leipzig eine etwas
gespannte Debatte zwischen diesem Kollegen und dem Generalsekretär
des L.-V., J. Kuhns. Schliesslich wurde die Verlegung der Stelle
nach Leipzig und Vereinigung derselben mit der allgemeinen Stellen¬
vermittlung des L.-V. beschlossen. Von einem Danke an die Ham¬
burger Herren, die 4 Jahre lang die oft unangenehme Arbeit ehren¬
amtlich besorgten, hat der Berichterstatter leider nichts gehört.
Dagegen floss reicher Dank von seiten des Vorsitzenden zum
Schlüsse auf alle, die zum guten Gelingen des heurigen Aerztetages
beigetragen hatten. Auch J. L ö b k e r selbst wurde der redlich ver¬
diente Dank gebracht. Ohne seine, durch die parlamentarische Rou¬
tine, wirklich vorzügliche Leitung der Verhandlungen hätten wir bei
dem reichen Material wohl noch einen Tag beraten oder noch mehr
vertagen müssen.
Nach den vielen Mühen der Tagung erholte man sich am Abend
des Samstages auf dem Kellerabend, den die Stadt Halle in der
Saalschlossbrauerei ihren Gästen gab, und am Sonntag auf der
Rudelsburg und in dem kleinen, aber schönen Soolbad Kosen sehr
gründlich. Dankbar sei noch der ganz famosen Darbietungen der
Hallenser Kliniker auf der Rudelsburg und des herrlichen Begriissungs-
gedichtes des Kollegen Schütze- Kosen gedacht.
Dr. Hoeflmay r.
Aerztlicher Bezirksverein Bad Kissingen.
Sitzung vom 19. Juni 1906.
Nach Bekanntgabe der Einläufe berichtet der Vorsitzende
Scherpf über seine Verhandlungen mit dem Vorstande der hiesigen
Gastwirtsinnung bezüglich der von der Kommission ausgearbeiteten
diätetischen Speisekarte für Bad Kissingen. Es haben sich darnach
sämtliche hiesige Hotelbesitzer und Restaurateure bereit erklärt, den
Forderungen des ärztlichen Bezirksvereins gerecht zu werden. An
Stelle der alten, längst überlebten sog. Kurdiät tritt die von den
Aerzten verlangte Auswahl von Speisen, welche nach bestimmten
Regeln zubereitet werden, so dass es nun jedem Arzte ermöglicht
ist, seinen Patienten die dem speziellen Krankheitsfalle
entsprechende Diätvorschrift auszustellen, und die Kur¬
gäste gesichert sind, in den Speisehäusern das ihnen ordinierte auch
wirklich erlangen zu können.
Scherpf gibt eine Zuschrift der Kgl. Badeverwaltung bekannt,
der zufolge in dem neuerbauten Prinzregent-Luitpold-Bad dem An¬
träge der Aerzte entsprechend eine Anzahl Bäder eingerichtet sind,
welche eine dosierbare Verwendung der COa und des NaCl ermög¬
lichen. Jede Wanne besitzt einen Inhalt von 300 Litern, der von je
100 zu 100 Litern vermittels eines graduierten Massstabes messbar ist.
Es sind dreierlei eigene Zuleitungen dazu vorhanden: für Süsswasser,
kohlensäurearme und für die gewöhnliche kohlensäurereiche Sole;
um den 1 proz. Salzgehalt unserer Sole zu steigern, werden folgende
Quantitäten Kissinger Badesalz oder Gutsole benötigt und sind hier
in der Badeanstalt zu erhalten:
Badesalz:
Erhöhung des NaCl-Gehalts auf l‘/s Proz. — 1 kg = 25 Pf.
» >> >> » l1/^ v L5 ,, = 40 ,,
>> )> ii >> 2 „ 3 ,, = 75 „
G u t s 0 1 e:
Erhöhung des NaCl-Gehalts auf l'/s Proz. — 4 Liter ä 10 = 0,40 M.
» „ „ „ U/2 „ — 6 „ ä 10 = 0,60 „
» n >7 i) 2 ,, 12 ,, ä 10 = 1,20 „
Durch diese Einrichtung sind die Kurmittel Kissingens um eine
wesentliche Modifikation bereichert und ist hierdurch in Verbindung
mit den prachtvollen, neu geschaffenen Ruheräumen und den neuen,
der Vollendung entgegengehenden Moorbädern das Prinzregent-Luit-
pold-Bad auf eine Höhe gebracht, die allen therapeutischen Anforde¬
rungen Rechnung trägt.
Mit grosser Anerkennung wurde die Mitteilung des Kgl. Bezirks¬
amts zur Kenntnis genommen, dass von nun an allen hiesigen und
fremden Aerzten gestattet wird, ihre Patienten in dem ganz modern
eingerichteten Operationssaal des Theresienspitals operieren und da¬
nach gemeinschaftlich mit dem Spitalarzt dort weiter behandeln zu
dürfen. Es wurde dabei die Erwartung ausgesprochen, dass auch den
übfigen geäusserten Wünschen der hiesigen Aerzteschaft in ebenso
entgegenkommender Weise an massgebender Stelle Erfüllung gewährt
werden möge, wie bei dieser von den Aerzten längst angestrebten
Neuerung.
Ferner gibt der Vorsitzende bekannt, dass das neue ärztliche
Bibliothek- und Lesezimmer fertig und dem allgemeinen Gebrauche
zur Verfügung gestellt sei; dasselbe befindet sich im ersten Stock
des Kasinobaues im Prinzregent-Luitpold-Bad und ist allen fremden,
zur Kur hier weilenden Kollegen jederzeit zugänglich.
Zum Schlüsse erteilt der Vorsitzende dem Inhaber des hier neu¬
errichteten Röntgeninstitutes, Herrn Kollegen V e i t h, das Wort zu
seinem angekündigten Vortrag über': „Was bietet uns die röntgeno¬
logische Durchleuchtung für die Diagnostik innerer Erkrankungen?“
Der Vortragende bespricht zunächst die Vorzüge der Röntgeno¬
skopie im Gegensatz zur Röntgenographie bei der Diagnostik innerer
Erkrankungen, gibt dann eine Uebersicht über diejenigen patho¬
logischen Veränderungen der Brust- und Bauchhöhle, die sich auf dem
Leuchtschirm deutlich manifestieren, wobei hauptsächlich die für
die hiesigen Kurverhältnisse in Betracht kommenden Erkrankungen
berücksichtigt werden. Besonders wird die röntgenologische Unter¬
suchung des Magendarmkanals nach der Methode von Holz-
kn echt- Wien und ihre Bedeutung für die Diagnostik der Krank¬
heiten dieser Organe des Breiteren ausgeführt.
An diesen Vortrag schloss sich eine lebhafte Debatte an.
Wahle.
Verschiedenes.
Lebensalter der Kinder beim Eintritt in die Volksschule.
Vor 3 Jahren habe ich an dieser Stelle (Münch, med. Wochenschr.
1903, No. 25) unter kurzem Hinweis auf die hygienische Bedeutung
dieser Frage und unter Darlegung der früheren Vorschriften wegen
der gerade ergangenen Schulpflicht-Verordnung vom 4. Juni 1903 an¬
geregt, es möchten die bayerischen Aerztekammern, da für längere
Zeit eine Neuregelung der Verhältnisse vorgenommen werde, noch¬
mals in eingehender Begründung und an Hand der Erfahrungen auf
die körperlichen und geistigen Nachteile eines zu frühen Schul¬
besuches hinweisen und, jede bei ihrer zuständigen Kreisregierung,
die Anträge vom Jahre 1899 wiederholt vorlegen, sofern sie noch auf
dem gleichen Standpunkte stehen. Diese von sämtlichen Aerzte¬
kammern mit Ausnahme der unterfränkischen gestellten Anträge
gingen dahin, es sollten Kinder unter 5 Jahren 9 Monaten gar nicht
und solche zwischen 5% und 6 Jahren nur dann in die Volksschulen
aufgenommen werden, wenn die genügende körperliche und geistige
Entwicklung durch ein ärztliches Zeugnis konstatiert sei; die unter¬
fränkische Aerztekammer hatte, da für diesen Kreis die Verhältnisse
in befriedigender Weise geregelt waren, vorgeschlagen, diese Be¬
stimmungen auf das ganze Königreich auszudehnen. Meine Anregung
wurde von den Aerztekammern nicht aufgenommen und das mag zum
Teile mit daran schuld sein, wenn jetzt in den einzelnen Kreisen
ganz verschiedenartige und in hygienischer Beziehung teilweise un¬
befriedigende Bestimmungen getroffen worden sind.
Die Kgl. Allerh. Verordnung vom 4. Juni 1903, die Schulpflicht
betr., stellt als Regel auf: „Die Aufnahme in die Werktagsschule er¬
folgt mit Beginn des Schuljahres für alle Kinder, welche an diesem
Zeitpunkte des 6. Lebensjahrs zurückgelegt haben und geistig und
körperlich genügend entwickelt sind.“ Hiermit ist gesagt, dass die
Aufnahme in einem früheren Zeitpunkte gegen den Willen der Er¬
ziehungsberechtigten keinenfalls erzwungen werden kann, dass sie
aber der Regel nach auch nicht auf deren Wunsch gestattet sein soll.
Indessen ist diese Regel von der Verordnung nicht ausnahmslos fest¬
gehalten, es sind vielmehr die Kreisregierungen ermächtigt worden,
„für ihren Regierungsbezirk oder für Teile desselben zu gestatten,
dass die Aufnahme unter der Voraussetzung genügender geistiger und
körperlicher Entwicklung auch solchen Kindern gewährt werde,
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 28.
1390
welche das 6. Lebensjahr noch vor Ablauf des Kalenderjahres oder
innerhalb eines kürzeren Zeitabschnittes vollenden“. Diese Bestim¬
mung bezweckt, zwischen den einmütigen Forderungen der Schul¬
männer und Aerztekammern nach Hinaufrückung des Aufnahmealters
und den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Bevölkerung einen Aus¬
gleich zu ermöglichen; dabei kann auch innerhalb der einzelnen Kreise
den örtlichen Verhältnissen möglichst Rechnung getragen und ins¬
besondere für einzelne grössere Städte eine strengere Regelung her-
beigeführt werden. Diese Vorschriften werden von den Kreis¬
regierungen nach Einvernahme der Landräte, der Kreisschulkommis¬
sionen, der Kreismedizinalausschüsse und, wenn veranlasst, auch der
Distriktsschulbehörden erlassen und können auf demselben Wege ge¬
ändert werden.
Die Regierung der Pfalz, wo alle beteiligten Faktoren stren¬
geren Grundsätzen huldigen, ist nun die einzige, die von der ein¬
geräumten Befugnis keinen Gebrauch gemacht hat; es dürfen daher
in die erste Klasse der Werktagschule (Schulbeginn mit dem Sommer¬
semester) nur solche Kinder aufgenommen werden, die das 6. Lebens¬
jahr am 1. Mai vollendet haben oder vollenden. In Oberfranken
und Unter franken kann bei genügender körperlicher und geisti¬
ger Entwicklung die Aufnahme auch solchen Kindern gewährt wer¬
den, die bei ihrem Eintritt in die Schule mindestens 5 Jahre 9 Monate
alt sind; das gleiche gilt für Mittelfranken mit der Ausnahme,
dass für die in benachbarte mittelfränkische Schulen eingeschulten
Kinder aus oberpfälzischen und schwäbischen Grenzgemeinden das
zulässige Aufnahmealter auf 5 Jahre 8 Monate herabgesetzt ist. In
Schwaben und Neuburg ist bloss für die Stadt Augsburg- eine
strengere Regelung eingeführt, indem nur solche Kinder Aufnahme
finden können, die noch im Monate des Schuleintrittes das 6. Lebens¬
jahr vollenden; sonst kann in Gemeinden, in denen das Schuljahr im
Herbst beginnt, die Aufnahme solchen Kindern gewährt werden, die
das 6. Lebensjahr innerhalb der Monate September, Oktober oder
November vollenden, und in Gemeinden, in denen das Schuljahr im
Frühjahr beginnt, sogar solchen Kindern, die das 6. Lebensjahr inner¬
halb der auf den Schulbeginn folgenden 6 Monate vollenden. Für
Oberbayern, Niederbayern und die Oberpfalz ist das
Aufnahmealter so weit herabgesetzt, dass Kinder, welche noch im
Laufe des Kalenderjahres das 6. Lebensjahr zurücklegen, aufge¬
nommen werden können. Es ist daher in diesen Kreisen die Möglich¬
keit gegeben, dass ein im Dezember geborenes Kind bei seinem nach
Ostern erfolgenden Schuleintritte nur ein Alter von 5 Jahren 4 Mona¬
ten hat. Bei dem Bestreben der Landbevölkerung, die Kinder mög¬
lichst frühe wieder aus der Schule herauszubekommen, um sie zum
Arbeiten verwenden zu können, wird von dieser Befugnis sicher nur
zu häufig Gebrauch gemacht werden, auch wenn es den Interessen
der Schule und des Kindes noch so sehr widerspricht. Kinder mit
5V2 Jahren kommen, wie vor einigen Jahren ein Vertreter des Kultus¬
ministeriums im Landtage sich aussprach, oft schwer mit, sie sind
sehr häufig ein Ballast für die Schule und den Lehrer und es ist ihre
frühe Aufnahme in die Schule weder ihrem körperlichen noch ihrem
geistigen Wohle zuträglich.
Wie die ministeriellen Vollzugsvorschriften vom 6. März d. J.
ausführen, erwächst auch dort, wo eine Kreisregierung eine frühere
Schulaufnahme zugelassen hat, für die Erziehungsberechtigten daraus
noch kein Recht, die vorzeitige Aufnahme zu verlangen. Diese Auf¬
nahme kann, sie muss aber nicht gestattet und darf demgemäss
versagt werden, auch wenn die genügende Schulreife des Kindes
nachgewiesen ist. Allerdings wird die Aufnahme im letzteren Falle
nur ausnahmsweise verweigert werden dürfen, wenn es aus beson¬
deren Zweckmässigkeitsgründen, wie z. B. bei zeitweiliger Ueber-
ftillung der Schulklassen geboten erscheint.
Die Aufnahme in die Werktagschule setzt in jedem Falle ge¬
nügende körperliche und geistige Entwicklung
voraus. Wer hierüber zu befinden hat, die Eltern, der Lehrer, der
Schulinspektor oder der Arzt, war bisher nicht vorgesehen, es ist
daher zu begriissen, wenn die neuen Vollzugsvorschriften und Erläute¬
rungen zur Schulpflichtverordnung vom 7. März d. .1. auch hierfür An¬
weisungen geben, die eine ärztliche Begutachtung ausdrücklich vor¬
sehen.
Wenn das Kind das 6. Lebensjahr bei der An¬
meldung bereits vollendet hat oder bis zum Schul¬
beginne vollenden wird, bedarf es regelmässig keines be¬
sonderen Nachweises dieser genügenden Entwicklung. Erscheint je¬
doch die genügende körperliche Entwicklung dem mit der Entgegen¬
nahme der Anmeldungen befassten Lokalschulinspektor oder dessen
Vertreter oder dem Erziehungsberechtigten des Kindes als zwei¬
felhaft, so ist die schleunige Beibringung eines ärzt¬
lichen Zeugnisses anzuordnen. Das Zeugnis des praktischen
oder Amtsarztes muss sich auf eine persönliche Untersuchung des
Kindes stützen, soll den Befund derselben kurz wiedergeben und hat
ein Urteil darüber zu enthalten, ob das Kind imstande ist, ohne eine
Schädigung seiner Gesundheit die Volksschule zu besuchen und den
gewöhnlichen Unterricht zu empfangen. Es kann sich auch auf die
Frage der genügenden geistigen Entwicklung erstrecken. Die Unter¬
suchung der Kinder ist einzeln, auf Verlangen in Gegenwart der
Eltern, in schonender Weise vorzunehmen und nur so weit aus-
zudelmen, als dies zur Abgabe des geforderten Urteils notwendig er¬
scheint. Das Zeugnis ist dem Erziehungsberechtigten verschlossen
zu behändigen und von diesem uneröffnet vorzulegen. Wo ei n
Amtsarzt oder praktischer Arzt (Schularzt) auf
Kosten einer Gemeinde am Anmeldetermin zur un¬
entgeltlichen Untersuchung der angemeldeten
Kinder beigezogen wird, kann an geordnet werden,
dass die Untersuchung und Begutachtung durch
diesen Arzt zu erfolgen habe. Wenn der Mangel genügen¬
der körperlicher Entwicklung offensichtlich zutage liegt, kann von
der Beibringung eines ärztlichen Zeugnisses abgesehen werden.
Wird ein Kind vor Vollendung seines 6. Lebens-
j a h res zur Aufnahme angemeldet, so ist hinsichtlich des Nachweises
der genügenden körperlichen Entwicklung nach den vorstehen¬
den Grundsätzen zu verfahren, wenn das Kind längstens innerhalb der
auf den Schulbeginn folgenden vier Monate das 6. Lebensjahr
vollenden wird. Es ist demgemäss nur in zweifelhaften Fällen
auf Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses zu bestehen. Dabei wird
eine besonders gewissenhafte Prüfung zur Pflicht gemacht. Soll da¬
gegen ein Kind aufgenommen werden, das erst mehr als vier
Monate nach Schulbeginn das 6. Lebensjahr vollenden wird, so
soll die Beibringung eines ärztlichen Zeugnisses in der Regel ge¬
fordert werden. Die Kreisregierungen können bestimmen, dass in
solchen Fällen ein amts ärztliches Zeugnis vorzulegen ist, wenn
der Amtsarzt vom Wohnorte des Kindes oder dem Schulorte nicht
wesentlich schwerer als ein anderer Arzt erreichbar ist. In un¬
mittelbaren Städten kann die Beibringung eines
amtsärztlichen Zeugnisses für, alle Kinder, die das
6. Lebensjahr nicht im Monate des Schulbeginns
vollenden, durch die Stadtschulkommission vor¬
geschrieben werden.
Die Beurteilung der genügenden geistigen Entwicklung im
Sinne der Fähigkeit aus dem Unterricht Nutzen zu ziehen, steht dem
K. Lokalschulinspektor (Stadtbezirksschulinspektor, Oberlehrer) in
Gemeinschaft mit dem Klasslehrer zu. Sie erfolgt regelmässig auf
Grund einer P r o b e s c h u 1 z e i t. 1) Dabei ist zwischen Kindern,
die das 6. Lebensjahr bereits vollendet haben und solchen, die vor
Vollendung desselben in die Schule aufgenommen werden sollen, zu
unterscheiden. Bei den letztgenannten hat die Aufnahme stets nur
auf Probe zu geschehen. Ergiebt sich nach Ablauf von höchstens
6 Wochen, dass diese Kinder dem Unterrichte nicht oder nur bei
übermässiger Anstrengung mit Nutzen zu folgen vermögen, so sind
sie aus der Schule wieder zurückzuweisen und bis zum nächsten
Schuljahr zurückzustellen. Handelt es sich dagegen um Kinder, die
das 6. Lebensjahr bereits vollendet haben, so soll eine Zurückweisung
nur ausnahmsweise nach Ablauf einer dreimonatigen Probezeit ver¬
fügt werden.
Die Zurückweisung wegen ungenügender körperlicher oder gei¬
stiger Entwicklung hat in der Regel auf die Dauer eines Schul¬
jahres zu erfolgen, das auf die Dauer der Schulpflicht nicht an¬
gerechnet wird. Dr. Carl Becker.
Reformvorschläge für die humanistischen Gymnasien,
ausgearbeitet von der Schulkommission des Aerztlichen Vereins
München in Gemeinschaft mit den Vertretern der humanistischen
Gymnasien.
I. Die körperliche Ausbildung der Schüler an den humanistischen
Gymnasien kann in der von den Aerzten als unbedingt notwendig er¬
kannten und von den Schulmännern vollkommen gebilligten Aus¬
dehnung nur betätigt werden, wenn die Inanspruchnahme der Schü¬
ler durch Beschränkung der häuslichen Arbeiten und durch öko¬
nomischere Anordnung des Lehrstoffes vermindert wird. Dies setzt
eine den Forderungen der modernen Didaktik und der Hygiene ent¬
sprechende Umänderung der Schulordnung und besonders eine Herab¬
setzung der Schülerzahl in den einzelnen Klassen voraus.
II. Die häuslichen Arbeiten müssen beschränkt werden. Diese
Forderung kann erfüllt werden:
a) durch erhebliche Verminderung der deutschen Hausaufgaben,
welche gegen Ende der Woche eingeliefert werden sollen, um den
Sonntag frei zu halten;
b) durch Einschränkung der täglichen Präparation bei veränder¬
ter Behandlung der Klassikerlektüre;
c) durch Beschränkung der Texte der häuslichen Uebersetzungen
und der häuslichen Arbeiten in den mathematischen Fächern.
III. Der Stundenplan ist nach Massgabe der örtlichen Verhältnisse
einzurichten auf der Grundlage des Vormittagsunterrichtes. Es lässt
sich ein Stundenplan aufstellen, bei dem in den 5 ersten Klassen der
Unterricht in den obligatorischen wissenschaftlichen Fächern an allen
Tagen auf den Vormittag beschränkt bleibt, während in den 4 oberen
Klassen wenigstens 4 Nachmittage von diesen Fächern frei sind und
auf die übrigen 2 Nachmittagsstunden fallen.
Für die Wahlfächer bleiben bei dem neuen Stundenpläne ge¬
nügend Stunden zur Verfügung.
IV. Dabei sind entsprechende Erholungspausen, und zwar in der
Weise, dass im Sommer von 8 — 8.50, von 9—9.50, von 10.10 — 11, von
J) Daneben sollte doch auch häufig ein Arzt beigezogen werden,
namentlich, wenn die Unterbringung in Hilfsschulen oder besonderen
Anstalten und Instituten in Frage kommt.
10. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1 1.15 — 12 und von 12.15 — 1 Uhr, im Winter von 8.15 — 9, von 9.5 — 10,
von 10.15 — 11, von 11.10 — 12 und von 12.15 — 1 Uhr Unterricht erteilt
wird. Etwa nötiger Nachmittagsunterricht soll mit einer viertel¬
stündigen Zwischenpause von 3—5 Uhr stattfinden, soweit dies die
Lichtverhältnisse zulassen. An Tagen, an welchen der Unterricht
morgens bis 1 Uhr dauert, muss der Nachmittag frei sein.
V. An den freien Nachmittagen sollen Jugendspiele, Turnen etc.
stattfinden, in der Weise, wie dies in den Leitsätzen der Schul-
kommission festgelegt ist. Für das Pflichtturnen und für die Turn¬
spiele müssen geeignete Plätze geschaffen werden. Die Leitung der
Spiele soll eigens vorgebildeten Lehrkräften übertragen werden. Die
Haftpflicht für den Lehrer muss natürlich der Staat übernehmen auf
Grund des § 823 des B.G.B.
VI. Der Sonntag muss von allen obligatorischen Stunden frei
bleiben und der körperlichen und geistigen Erholung gewidmet sein.
Ausführlicher Kommentar zu diesen Vorschlägen folgt.
Frequenz der medizinischen Fakultäten im Sommersemester 1906.')
Universität
Sommer
1906
Winter ti)05/l't0ö
Sommer
1906
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Summa
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1292
519
451
970
Bonn .
189
17
206
164
20
184
225
31
256
Breslau ....
175
21
196
163
26
189
196
35
231
Erlangen . . .
102
74
176
123
62
185
111
61
172
Freiburg . . .
66
383
449
81
284
365 4)
482
41
523
Giessen ....
63
89
152
56
88
144
57
92
149
Göttingen . . .
143
31
174
127
' 31
158
131
42
173
Greifswald . .
144
25
169
119
20
139
154
30
184
Halle .
147
9
156
127
43
170
60
115
175
Heidelberg . .
71
258
329
73
166
239 6)
68
294
362
Jena .
47
145
192
41
153
194
43
176
219
Kiel .
185
89
274
143
44
187
178
100
278
Königsberg . .
133
53
186
116
51
167
131
77
208
Leipzig ....
185
179
364
206
245
451
215
232
447
Marburg ....
151
42
193
136
39
175
182
58
240
München . . .
343
607
950
383
636
1019 6)
348
751
1099
Münster ....
—
—
—
—
—
—
40
3
43
Rostock ....
54
74
128
44
73
117
37
70
107
Strassburg . .
194
22
216
186
30
216
187
30
217
Tübingen . .
82
75
157
113
61
174
109
95
204
Würzburg7) . .
153
234
387
166
239
405
153
260
413
5978
6080
6510
0 Nach amtlichen Verzeichnissen. Vergl. d. W. 1906, No. 3. 2) Unter Ausländern
sind hier Angehörige anderer deutscher Bundesstaaten verstanden. 3) Dazu die Studieren-
en des Kaiser-Wilhelm-Instituts. *) inkl. 6 Frauen. 6) inkl. 22 Frauen. 6) inkl. 26 Frauen,
inkl. 2 Frauen.
Therapeutische Notizen.
In einer Abhandlung „Zur Behandlung der D y s m e n o r -
h ö e“ weist J a c o b y - Mannheim darauf hin, dass wir bei der idio¬
pathischen Dysmenorrhöe im S t y p t o 1 ein Mittel besitzen, welches
nicht nur vorübergehend beruhigend wirkt, sondern dauernde Hei¬
lung erzielen kann. Jedoch muss das Mittel in relativ hohen
Dosen gegeben werden, täglich 4 — 5 mal 2 Tabletten oder 3 mal
3 Tabletten ä 0,05. Mit der Darreichung des Styptol ist schon einige
Tage vor Beginn der Menses anzufangen. Bei gleichzeitiger Chlorose
ist während der intermenstruellen Zeit ein blutbildendes Präparat,
verbunden mit einer Milchkur, zu verordnen. (Therapie d. Gegenw.
1906, Juni.) R. S.
Zur Behandlung der chronischen Verstopfung
empfiehlt O. Kohnstamm - Königstein i. T. reichliche fleisch¬
lose Ernährung mit Zuziehung von Milch und Butter. Schon
2 — 4 Tage nach Weglassung des Fleisches haben die Patienten reich¬
lichen geformten Stuhl. Viele Patienten können, nachdem sie einmal
in Ordnung sind, zur gewohnten Kost zurückkehren; bei Wiederauf¬
treten der Obstipation genügt eine 1 — 2 tägige fleischlose Diät zur
Beseitigung. (Therapie d. Gegenw. 1906, Juni.) R. S.
L. L a g 1 e i z e sah von vaginalen und besonders von intrau¬
terinen heissen Einspritzungen während der Wehen einen recht gün¬
stigen Einfluss auf Stärke und Dauer der Uteruskontraktionen. Am
besten eignet sich Wasser von 50°. (These de Paris 1905.) F. L.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 10. Juli 1906.
— Die materielle Lage der Aerzte an den öffent¬
lichen Irrenanstalten erfährt allenthalben fortgesetzt an¬
sehnliche Aufbesserungen. So ist z. B. für die Aerzte an den
schlesischen Irrenanstalten (die neuerdings den Namen
Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt führen) seit dem 1. April d. J. ge¬
mäss Beschluss des Provinziallandtags folgende neue Besoldungs¬
ordnung in Kraft getreten: A. Für die Hilfsärzte der Heil- und Pflege¬
anstalten, die sich gliedern in Assistenzärzte, Abteilungsärzte und
1391
Oberärzte: 1. Die Assistenzärzte werden aus der Zahl der approbier¬
ten Aerzte ohne Rücksicht aiif psychiatrische Vorkenntnisse angestellt,
und zwar wie bisher auf Kündigung, nach Ablauf von 3 Jahren lebens¬
länglich. Das Stellengehalt neben den bisherigen Natural- und Neben¬
bezügen steigt von 1800 M. jährlich bis auf 2300 M. von Jahr zu Jahr
um 100 M. (Die bisherigen Natural- und Nebenbezüge bestehen aus
freier Dienstwohnung, in der Regel zwei Zimmern, nebst Beheizung
und Beleuchtung derselben, dann unentgeltlicher Reinigung,
Mangeln und Plätten der Leibwäsche und angemessener Be¬
köstigung. 2. Die Abteilungsärzte werden nach fünfjähriger
Dienstzeit aus der Zahl der Assistenzärzte lebenslänglich an¬
gestellt, vorausgesetzt, dass gegen Qualifikation und Führung nichts
einzuwenden ist. Das Stellengehalt steigt von 2400 M. jährlich bis
auf 3600 M., und zwar von 3 zu 3 Jahren um 400 M. Natural- und
Nebenbezüge für unverheiratete Abteilungsärzte wie für die Assistenz¬
ärzte. Verheirateten Abteilungsärzten können, soweit für sie eine
Familiendienstwohnung nicht vorhanden ist, an Stelle dieser Natural-
und Nebenbezüge 1200 M. (800 M. für die Verpflegung, 400 M. für die
Wohnung) bar bezahlt werden. 3. Das Stellengehalt der lebensläng¬
lich anzustellenden Oberärzte steigt von 3600 M. bis 6000 M. alle
drei Jahre um 400 M. Daneben erhalten sie wie bisher Familien¬
wohnung nebst Beheizung und zumeist auch Gartenbenutzung. B. Das
Stellengehalt der Direktoren der Heil- und Pflegeanstalten steigt von
5200 bis 8500 M. jährlich alle drei Jahre erst dreimal um 600 M.,
sodann dreimal um 500 M.; Natural- und Nebenbezüge wie bei den
Oberärzten.
— Man schreibt uns: Die Deutsche med. Wochenschrift bringt
in No. 25 die Mitteilung, dass die Rangklassen der preuss. Universitäts¬
lehrer „bedeutungsvoll“ vom Ministerium vermehrt worden sind,
indem jetzt auch „ausserordentliche Honorarpro¬
fessoren“ ernannt werden. Für die medizinischen Fakultäten ist
dieser Titel in der Tat neu, noch ungewohnter aber, dass derselbe
nur für die Zeit der Amtsstellung gelten soll. Es dürfte interessieren,
zu wissen, dass gegen die Einführung dieser neuen Titulatur von
Universitätsbehörden bereits Einspruch erhoben worden ist. Jeden¬
falls kann die sarkastische Bemerkung der Deutsch, med. Wochen¬
schrift: „Und nun behaupte dann noch jemand, dass unser Ministerium
bezw. die Fakultäten nicht das feinste Unterscheidungsvermögen
für die Verdienste der einzelnen Universitätslehrer besitzen!“ sich
nicht auf die Fakultäten beziehen, da die bezüglichen Vorschläge
nicht von ihnen ausgegangen sind.
— Man schreibt uns: Es dürfte für den ärztlichen Stand ins¬
besondere deshalb, weil ein sehr grosser Teil aller Aerzte im Re¬
serve- oder Landwehrverhältnis steht oder gestanden hat, von In¬
teresse sein, dass unsere in Südwestafrika schon über 2 Jahre
im Felde befindlichen Kollegen, unter, denen sich eine ganze Reihe aus
der Reserve befindet, zu einem nicht geringen Teil Auszeich¬
nungen am schwarzen (Kombattanten) Bande bekommen
haben, die früher Aerzten nicht verliehen wurden. Da die Aerzte in
diesem so langwierigen und beschwerlichen Feldzug zu nicht ge¬
ringem Teile ganz wie jeder Offizier in Reihe und Glied mitge¬
schossen und mitgekämpft haben, auch Züge geführt und Patrouillen
geritten haben, erscheint diese Auszeichnung am schwarzen Bande
als wohlverdient und von grosser Bedeutung. Es erhielten nach der.
vor kurzem erschienenen Rangliste das schwarze Band (Kronen¬
oder Roter Adlerorden) 27, das weisse (Nichtkombattanten) 62, zu¬
sammen 89 von ca. 150 — 155, die draussen gewesen sind oder noch
sind. — Auch von den Veterinären erhielten 10 das schwarze, 9 das
weisse Band. Auch sie waren vielfach nur als Kombattanten tätig.
- — Die Angaben über die letzteren sind nicht vollständig, da mehrere
schon pensioniert und schwer zu finden sind.
— Laut § 7 A Absatz 4 der Satzungen des „Verbandes der
Aerzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirt¬
schaftlichen Interessen“ hat sich der auf der Hauptver¬
sammlung in Halle a. S. vom 21. Juni ds. Js. gewählte Vorstand
konstituiert. Nach Zuwahl weiterer 4 Beisitzer gehören ihm z. Z.
an die Herren : Dr. Hartmann, Dr. M. G o e t z, Dr. Hirschfeld,
Dr. D i p p e, Dr. D o n a 1 i e s, Dr. Streffer, Prof. Dr. Schwarz,
Dr. M e j e r, Dr. Dumas, Dr. V o 1 1 e r t.
— Die Vergütungen für die im laufenden Jahre zum Cholera¬
überwachungsdienste in Preussen bereits herangezogenen oder noch
heranzuziehenden Sanitätsoffiziere, bei Wahrnehmung des Ueber-
wachungsdienstes, wurden wie folgt festgesetzt: a) vom Garnison-
(Wohn-)Orte aus, auf den reglementsmässigen Tagegeldersatz bei
Reisen innerhalb des Deutschen Reiches von mehr als eintägiger
Dauer; b) nicht vom Garnison-(Wohn-)Orte aus, auf täglich 24 Mk.
für verheiratete und 20 Mk. für unverheiratete Sanitätsoffiziere.
— Der Rubrik „Standesangelegenheiten“ der Peters¬
burger medizinischen Wochenschrift entnehmen wir nachstehende
Notizen: Der Ordinator der Irrenanstalt Nikolaus des Wundertäters,
Dr. Troschin, wurde als Hauptanstifter der Unruhen in der ge¬
nannten Anstalt dem Gericht übergeben. — Der Eisenbahnarzt
Dr. Stempnizki im Flecken Wyschkow (Gouv. Warschau) ist
zu einer Geldstrafe von 200 Rubel verurteilt worden, weil er Reden
auf einem Meeting gehalten hat. — Dr. A. V e i t ist wegen Teilnahme
an den Sitzungen des St. Petersburger Rats der Arbeiterdeputierten
in Anklagezustand versetzt worden. — Neuerdings sind arretiert wor-
den : In Jalta Dn W. S s a 1 1 y k o w s k i ; in Wlozlawsk Dr. K ra¬
se h e w s k i, Arzt am Antoniushospital, und im Gouvernement Perm
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
i 092
r Eabrikarzt Dr. N. Mento w. — Der Odessaer Sanitätsarzt Dr. M.
Bogomolez ist mittels Urteils des Kriegsgerichts zur Ansiede¬
lung in Sibirien verurteilt und bereits nach Tjumen abgefertigt wor¬
den. — Armes Russland!
— Für das neue Rudolf Virchow-Krankenhaus
in Berlin wurden vom Magistrat folgende Aerzte für leitende
Stellen gewählt: Innere Abteilung Prof. L. Kuttner; chirurgische
Abteilung Prof. M. Borchardt; Gynäkologische Abteilung Prof.
K o b 1 a n c k; Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten Prof. Artur Hart-
.mann; Augenkrankheiten Dr. Fehr; Haut- und Geschlechtskrank¬
heiten Privatdoz. Dr. Buschke und San. -Rat Wechselmann;
Hydrotherapie Dr. Laqueur; Röntgenabteilung Dr. Levy-Dorn;
Pathologische Anatomie Prof. v. Hanse mann; Infektionsabteilung
Dr. Jochma n n.
— Für den Kongress für Kinderforschung und
.1 ugendfürsorge, welcher vom 1. bis 4. Oktober 1906 zu Ber-
I i n in den Räumen der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität
abgehalten werden wird, liegt jetzt das ausführliche Programm vor.
Von den sehr zahlreich angemeldeten Vorträgen erwähnen wir u. a. :
Prof. Dr. B ag i n sky- Berlin: Die Impressionabilität der Kinder
unter dem Einfluss des Milieu; Prof. Dr. M e u m a n n - Königsberg:
Die wissenschaftliche Untersuchung der Begabungsunterschiede der
Kinder und ihre praktische Bedeutung; Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Ziehen-
Berlin: Die normale und pathologische Ideenassoziation des Kindes;
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Binswanger - Jena: Hysterie des Kindes;
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. H e u b n e r - Berlin: Das Vorkommen der
Idiotie in der Praxis des Kinderarztes; Dr. Uffenheimer, Privat¬
dozent München: Zur Mimik der Kinder. Die mit dem Kongresse
verbundene Ausstellung bezieht sich auf Körperbau und Hygiene des
normalen wie des kranken Schulkindes, gewerbliches und künst¬
lerisches Schaffen des Kindes, Unterrichtsmittel, Schulbau und Schul¬
ausstattung, wissenschaftliche Werke, methodische Schriften usw.
Hierzu kommt eine durch das Zusammenwirken mehrerer Kinder¬
psychologen veranstaltete Ausstellung von Kinderzeichnungen, mit
Erläuterungen, ebenso eine Ausstellung der Literatur der Kinderseelen¬
kunde von 1690 bis 1882 in Erstlingsausgaben. Nähere Auskunft wird
seinerzeit vom Empfangskomitee in der Universität erteilt werden.
Mitgliederkarten sind ebenfalls dort zu entnehmen, werden aber auf
Verlangen auch vorher zugeschickt gegen Einsendung des Betrages
einschliesslich des Portos an den Schatzmeister des Kongresses,
Herrn Professor Dr. Moritz Schäfer, Berlin NW. 23, Klopstock-
strasse 24.
— Der 16. Kongress französischer Irrenärzte und
Neurologen findet vom 1. bis 7. August zu Lille statt. Auf der
Tagesordnung stehen: 1. Zytologische, bakteriologische und experi¬
mentelle Untersuchungen über das Blut der Geisteskranken; 2. das
Greisenhirn; 3. die Verantwortlichkeit der Hysterischen.
— Genickstarre. Im Königreich Preussen kamen vom
1. Januar bis Ende April 1271 (565) Erkrankungen (Todesfälle) an
übertragbarer Genickstarre zur Anzeige; für den Monat Mai sind
gemeldet 300 (136), darunter in der Provinz Posen 25 (6), in der
Provinz Schlesien 110 (57), in der Provinz Westfalen 79 (30) und
in der Rheinprovinz 53 (26).
— Cholera. Straits Settlements. In Singapore wurden vom
23. bis 29. Mai 5 Erkrankungen und 4 Todesfälle an der Cholera
gemeldet.
— Pest. Türkei. In Djedda sind in der am 17. Juni abge¬
laufenen Woche 7 Personen an der Pest erkrankt und 7 gestorben;
einschliesslich eines in Candirah beobachteten pestverdächtigen
Todesfalles sind seit dem 28. Mai im ganzen 30 Erkrankungen und
25 Todesfälle gemeldet. — Aegypten. In der Zeit vom 16. bis 22.
Juni wurden 3 neue Erkrankungen (und 2 Todesfälle) an der Pest
gemeldet, davon 1 (l) in Alexandrien, 1 (l) in Tantah und 1 ( — ) in
Bebeh. — Britisch-Ostindien. Während der am 9. Juni abgelaufenen
Woche sind in der Präsidentschaft Bombay 425 neue Erkrankungen
(und 316 Todesfälle) an der Pest gemeldet. In Kalkutta starben in
der Woche vom 20. bis 26. Mai 43 Personen an der Pest. — Japan.
Auf Formosa wurden im April 800 Erkrankungen (und 602 Todesfälle)
an der Pest festgestellt. — Chile. Zufolge einer Mitteilung vom
14. Mai sind in Valparaiso mehrere Pestfälle festgestellt worden.
— In der 25. Jahreswoche, vom 17. bis 23. Juni 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblichkeit
Beuthen mit 34,1, die geringste Altona mit 8,0 Todesfällen pro Jahr
und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Gestorbenen starb
an Masern und Röteln in Borbeck, Dortmund, Königshütte, an Keuch¬
husten in Barmen, Dessau. V. d. K- G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Freiburg i. B. Der ausserordentliche Professor der Me¬
dizin Dr. med. Clemens wurde als Oberarzt für die innere Ab¬
teilung an das Dresdener Stadtkrankenhaus berufen. — Die 50 jährige
Jubelfeier als Doktor der Medizin begeht am 9. Juli der ordentliche
Professor der Zoologie an der Universität Freiburg i. B., Geheimrat
Dr. med. et phil. August W e i s m a n n. (hc.)
Heidelberg. Der Nachfolger von Geh. -Rat Czerny, Exz.
Prof. Narath ist zum Geheimen Hofrat ernannt worden. Der Assi¬
stenzarzt der chirurgischen Klinik Dr. Richard Werner hat sich
habilitiert mit einer Probevorlesung „Die chirurgische Behandlung
der malignen Tumoren“.
No. 28.
L e i p z i g. Die medizinische Gesellschaft Leipzig ernannte Prof.
B a c c e 11 i - Rom aus Anlass der Feier zur Eröffnung der neuen
Poliklinik in Rom zum Ehrenmitglied.
(T o d e s f ä 1 1 e.)
Im Alter von 43 Jahren ist am 5. ds. in Berlin der o. Professor
und Direktor des physikalischen Instituts Dr. phil. Paul Drude
gestorben, (hc.)
Im Alter von 101 Jahren starb am 1. ds. Mts. in London
Manuel ü a r c i a, der Erfinder des Kehlkopfspiegels. Gelegentlich der
Feier seines 100. Geburtstages am 17. März 1905 war sein Verdienst
um die Medizin auch an dieser Stelle gewürdigt.
Personal nachrichten.
(Bayern.)
Niederlassung. Dr. Hans Schiller, bisher prakt. Arzt
in Abbach, in Lichtenberg, Bez.-A. Naila. — Tritschler Hermann,
approb. 1896, für Ohren-, Nasen, Hals etc., in Bad Kissingen. —
Höchstetter Friedrich, approb. 1895, Staatsprüfung 1902, zu Stadt¬
prozelten. — Dr. E v a s, appr. 1901, in Velden, Bez.-A. Hersbruck.
Verzogen. Dr. Grabmeister von Lichtenberg nach
Nürnberg. - — Dr. Stubenrath, Privatdozent, von Wiirzburg nach
Klosterheidenfeld. - — Dr. Martin von Velden unbekannt wohin.
Gestorben. Dr. Wenninger in Schnaittach, 63 Jahre alt.
Generalkrankenrapport über die K. Bayer. Armee
für den Monat März 1906.
Iststärke des Heeres:
65658 Mann, 183 Kadetten, 142 Unteroffiziersvorschüler.
Main
Kadetten
Unteroffiz. -
vorschüler
1. Bestand waren
am 28.
rebruar 1906:
1873
i
5
im Lazarett:
1524
3
20
2. Zugang:
im Revier:
2594
11
—
in Summa:
4118
14
20
Im ganzen sind behandelt:
5991
15
25
°/uo der Iststärke:
91,2
82,0
176,1
dienstfähig:
3985
13
19
°/oo der Erkrankten :
665,2
866,7
760,0
3. Abgang:
gestorben :
8
—
*) Darunter 34 un¬
mittelbar nach
u/oo der Erkrankten :
invalide:
1,3
42
_
der Einstellung.
dienstunbrauchbar :
38*)
—
—
anderweitig:
133
2
1
in Summa:
4206
15
20
4. Bestand
bleiben am
31. März 06
in Summa:
°/oo der Iststärke:
davon im Lazarett:
davon im Revier:
1785
27,2
1309
476
5
35,2
5
Von den in Ziffer 3 aufgeführten Gestorbenen haben gelitten an:
Lungentuberkulose 1, epidemischer Genickstarre 2, Geschwulst
im Kleinhirn (Sarkom) 1, Lungenentzündung 2, Blinddarmentzündung 1
und Schussverletzung (Selbstmord) 1.
Ausserdem kamen noch 2 Todesfälle ausserhalb der ärztlichen
Behandlung infolge von Selbstmord (Erschiessen) vor.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 25. Jahreswoche vom 17. bis 23. Juni 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 13 (18*),
Altersschw. (üb. 60 J.) 7 (9), Kindbettfieber — ( — ), and. Folgen der
Geburt 1 (1), Scharlach — (1), Masern u. Röteln 1 (2), Diphth. u.
Krupp 3(1), Keuchhusten — (—), Typhus — (—), übertragb. Tierkrankh.
— ( — ), Rose (Erysipel) — (1), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) — (2), Tuberkul. d. Lungen 26 (25), Tuberkul. and.
Org. 3 (4) Miliartuberkul. 1 (1), Lungenentzünd. (Pneumon.) 11 (17),
Influenza — ( — ), and. übertragb. Krankh. 3 ( — ), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 5(2), sonst. Krankh. derselb. 3(1), organ. Herzleid. 12 (11),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 4 (9), Gehirnschlag
5 (4), Geisteskrankh. — (2), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 7 (4), and.
Krankh. d. Nervensystems 5 (1), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 28 (25), Krankh. d. Leber — (3), Krankheit, des
Bauchfells 3 (1), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 4 (4), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 2 (3), Krebs (Karzinom, Kankroid) 6 (23),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 4 (2), Selbstmord 2 (2), Tod durch
fremde Hand — ( — ), Unglücksfälle 4 (2), alle übrig. Krankh. 4 (8).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 167 (189), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 16,1 (18,2), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 10,3 (12,9).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.G., München.
t>te Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
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Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
Iklngerer, Ch.Bäumlep, 0. v. Bolliogcp, fl. Curschmann, B. Helfepich, W.v.Lenbe, G. Merkel, J. t. liebe), F. Penzoldf, H. p. flanke, B. Spalz F j Winckel
München. Freiburg i. B. München. Leipzig. Kiel. WiirzWcr N:;rai,nm rwi,„ f„, _ _ ... ’
Würzburg. Nürnberg. Berlin. Erlangen. München. München. München.
No. 29. 17. Juli 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53 Jahrgang.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Originalien.
Aus der medizinischen Klinik zu Breslau (Direktor: Qeheimrat
Prof. Dr. v. Strümpell).
Ueber eine einfache Methode zum Nachweis proteoly¬
tischer Fermentwirkungen (nebst einigen Ergebnissen,
besonders bei der Leukaemie).
Von Dr. Eduard Müller und Dr. Georg Joch mann,
Privatdozenten an der Universität.
Beim Studium thermophiler Bakterien fiel es uns auf, dass
Auswurf, der zum Zwecke bakteriologischer Untersuchung auf
sterile Löfflerplatten (Petrischalen, die erstarrtes Blutserum
und etwas Traubenzuckerbouillon enthalten) in grösseren
Klümpchen ausgesät und bei 50—60° gehalten wurde, auf dem
Nährboden mulden- und dellenförmige Einsenkungen erzeugte.
Diese Veränderungen erwiesen sich bei genauerem Zusehen
nicht als Folge eines Bakterienwachstums, sondern rein fer¬
mentativer Vorgänge. Dass einfachere chemische Prozesse
auszuschliessen waren und Fermentwirkungen im Spiele sein
mussten, war dadurch zu beweisen, dass bei vorangehender
Erhitzung des Sputums im Dampftopf auf 100° Verdauungs-
erscheinungen völlig ausblieben. Sehr bald zeigte es sich, dass
das eitrige Sputum eine erheblich stärkere proteolytische
Wirkung auf dem Löfflerserum entfaltet, als das schleimige.
Dies wies im Hinblick auf die. bekannte ,, Verdauungseigen¬
schaft“ des Eiters darauf hin, dass hier vielleicht die Leuko¬
zyten die wesentlichste Rolle spielen. Dass bei „thermo¬
philer“ Aussaat von Sputum dem weiteren Wachstum der
schon zuvor darin enthaltenen Bakterien eine erhebliche Be¬
deutung kaum zukommt, erhellt schon daraus, dass bei dieser
Temperatur die bekannten pathogenen Mikroorganismen nicht
mehr gedeihen und die gelegentlichen thermophilen Arten eine
seltene und leicht erkennbare Verunreinigung bilden. Immerhin
blieb die Möglichkeit, dass gewisse Stoffwechselprodukte schon
zuvor im Auswurf enthaltener Bakterien derartige Verdauungs¬
erscheinungen verursachen könnten. Dagegen sprach freilich
die Erfahrung, dass auch steriler Eiter zu Eermentwirkungen
imstande ist. Immerhin schien es von Interesse, das Verhalten
leukozytenreicher steriler Flüssigkeiten auf
Löfflerserum bei 50 0 zu untersuchen. Es lag deshalb nahe,
dazu in erster Linie leukämisches Blut zu benützen.
Unser Verfahren war folgendes:
Durch Einstich in die Fingerbeere gewannen wir kleinste
Blutmengen von myelogener Leukämie und brachten
sie mit Hilfe einer Platinöse in Form einzelner platter Tröpfchen
auf die glatte Oberfläche einer Löfflerplatte, die dann für
24 Stunden in den auf 50° eingestellten Thermostaten — gleich¬
gültig ob aerob oder anaerob — kam. Es zeigte sich
dann die merkwürdige Erscheinung, dass an
Stelle jedes einzelnen Tröpfchens eine nach
und nach sich vergrössernde dellenförmige
Einsenkung trat. Der anfänglich normal rote Blutfarb¬
stoff nahm zunächst eine schwarzbraune Färbung an, die sich
mit weiterer Vertiefung und Verbreiterung der Dellen allmäh¬
lich verlor und schliesslich in einen helleren Farbenton über¬
ging. Zahlreiche Kontrollversuche (im ganzen 69)
No. 29.
mit normalem Blut ergaben im Gegensatz
dazu keinerlei Dellenbildung oder sonstige
Einsenk u ngen der Oberfläche des Löffler¬
serums anstelle d e r T r ö p f c h e n. Ausserdem blieb
hier die Aufhellung des in Schwarzbraun übergehenden
Blutfarbstoffes gänzlich aus. Auch bei Blutproben von Pa¬
tienten mit den verschiedenartigsten Erkrankungen, wie
Morbus Basedowii, Nephritis, Pseudoleukämie, Karzinom, Sar¬
kom, Skorbut, Diabetes usw. blieben jegliche Verdauungs-
erscheinungen aus. Gleiches gilt — von der myelogenen Leu¬
kämie abgesehen — für die eigentlichen sogen. Blut¬
erkrankungen, wie schwere primäre und sekundäre ein¬
fache und perniziöse Anämien u. dergl. Selbst das Blut von
lymphatischer Leukämie zeigte trotz hoher Leukozyten¬
zahlen bei unserem Verfahren nicht die geringsten Spuren von
Verdauungserscheinungen. Wir hatten z. B. Gelegenheit,
gleichzeitig eine myelogene und eine lymphatische Leukämie
mit je 300 000 Leukozyten im Kubikmillimeter zu untersuchen.
Während die Blutproben der ersteren eine sehr ausgiebige und
rasch einsetzende Dellenbildung bedingten, fehlte bei den letz¬
teren jede erkennbare Fermentwirkung. Die wiederholte
Untersuchung von 7 myelogenen und 2 lymphatischen Leukä¬
mien mit Leukozytenzahlen von 58 000 bis 500 000 ergab stets
dasselbe Resultat: starke Fermcntwirkung bei der myelogenen,
fehlende Fermentwirkung bei der lymphatischen Leukämie.
Auf Grund dieses Befundes müssen wir die oben beschriebenen
Verdauungserscheinungen des Blutes auf der Löfflerplatte bei
50" als eine ebenso einfache, wie sinnfällige
und (beim Ausschluss einer vorübergehenden,
erheblichen Leukozytose [s. u.]) geradezu spe¬
zifische Reaktion des Blutes von myelogener
Leukämie bezeichnen.
Der äusserst bemerkenswerte schroffe Unterschied zwi¬
schen der myelogenen und lymphatischen Form hinsichtlich
ihrer Einwirkungen auf das Löfflerserum war ein Fingerzeig,
dass als Träger des fermentativen Prozesses nicht die Lympho¬
zyten, sondern die Myelozyten und die polynukleären Leuko¬
zyten zu betrachten sind. Dass das Blutserum und das Blut¬
plasma als solches, sowie die Erythrozyten nicht in Frage
kommen, war durch getrennte Prüfung der einzelnen Blut-
bestandteile bei der myelogenen Leukämie leicht nachzu¬
weisen. Wenn wirklich zwischen Lymphozyten und Myelo¬
zyten bezw. gelapptkernigen Leukozyten derartige biologische
Unterschiede bestehen, wie dies aus unseren Ergebnissen bei
der Leukämie hervorzugehen schien, mussten sich dieselben
auch bei der Untersuchung der Ursprungsstellen dieser Zell¬
formen geltend machen. Diese Annahme fand ihre Bestätigung
bei folgender Versuchsanordnung:
Zerquetscht man bei beliebigen Autopsien gewonnene
Lytnphdrüsen derart, dass man einen vornehmlich aus
Lymphozyten bestehenden Brei erhält und bringt Proben da¬
von auf die Löfflerplatte, so erkennt man auch nach mehr¬
tägigem Verweilen der letzteren bei 50° keine Ferment-
\v i i k u n g e n. Die einzelnen allmählich eintrocknenden
Häufchen bleiben im Gegenteil leicht erhaben. Presst man
dagegen rotes Knochenmark aus, gleichgültig ob von Wirbeln
oder knöcherner Rippe, so erhält man einen dicken rötlichen
No. 29.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Brei, der in kleinen Klümpchen auf die Löfflerplatte gebiaclit
bei 50° eine rasche und tiefe Dellenbildung er¬
zeugt. Damit erscheint sicher gestellt, dass die durch
unsere Methode nachweisbare Fermentwir¬
kung der weissen Blutkörperchen nicht an
die Lymphozyten, sondern an die gelappt¬
kernigen Leukozyten bezw. an die Myelo¬
zyten gebunden ist. Mit diesem Befund steht in Ein¬
klang, dass die Stärke der Ferment Wirkung bei
den einzelnen Fällen von myelogener Leukämie im Grossen
und Ganzen der Leukozytenzahl proportional
war. Sie wurde auch durch die Röntgenbehandlung nur dann
beeinflusst, wenn damit eine entsprechende Herabsetzung der
Leukozytenzahl einherging.
Die bei 50° so lebhafte proteolytische Wirkung des
Blutes von myelogener Leukämie auf Löfflerserum fehlt eigen¬
tümlicherweise, wenigstens im Laufe der ersten Tage, bei
Körpertemperatur völlig. Die Tröpfchen behalten bei 37° ihre
rötliche Farbe und bekommen ohne allzuschnelle Eintrocknung
und ohne Dellenbildung auf dem Löfflerserum eine zähflüssige
Konsistenz. Der' fermentative Prozess macht
sich jedoch auch bei Körpertemperatur in der¬
selben Weise wie bei 50° geltend, sobald man
das leukämische Blut vorher — etwa durch
mehrstündiges Erwärmen auf 55° — schädigt.
Umgekehrt tritt die bei 37° auch nach Ablauf mehrerer Tage
fehlende Dellenbildung ein, sobald man die Platten nachträg¬
lich noch für ungefähr einen halben bis ganzen Tag bei 50 0
hält. Sie bleibt jedoch aus, wenn das Blut nur kurze Zeit auf
75° erhitzt wird, offenbar infolge einer Abtötung des Ferments,
dessen kritische Temperatur aber höher als 65° zu liegen
scheint. Aus dem Befund, dass die bei Körpertemperatur
fehlende Verdauung des leukämischen Blutes durch voran¬
gehendes stärkeres Erwärmen künstlich hervorgerufen werden
kann, scheint hervorzugehen, dass die Fermentwirkung durch
das Absterben der Leukozyten ausgelöst wird oder
dass in dem Ungeschädigten Blut „hemmende“ Ein¬
flüsse (Lymphozyten, Plasma) sich geltend machen. Die
erstere Möglichkeit liegt umso näher, als die Leukozyten auf
dem wasserreichen Löfflerserum bei 37 0 anscheinend lange
erhalten bleiben, während sie bei 50° rasch zu Grunde gehen.
Es bleibt noch die Frage zu erörtern, ob die auffällige
Verdauungskraft des leukämischen Blutes bei 50° nur den Aus¬
druck einer quantitativen Steigerung normaler Eigenschaften
des Blutes infolge des Vorherrschens solcher Zellformen, an
die die Fermentwirkung geknüpft ist, darstellt oder ob es sich
schon um gewisse qualitative Veränderungen der Leukozyten
handelt. Diese Frage entschieden wir durch folgendes Ex¬
periment: Versetzt man etwa 20 ccm normales durch Venen¬
punktion gewonnenes Blut zur Verhinderung der Gerinnung mit
einigen ccm einer 0,2 proz. Hirudinlösung und zentrifugiert
es längere Zeit bei grosser Umdrehungsgeschwindigkeit, so
kann man leicht im Zentrifugengläschen eine sich zwischen
dem roten Erythrozytenbodensatz und der Plasmasäule ab¬
setzende Leukozytenschicht gewinnen, die ein fast isoliertes
Arbeiten mit grossem Leukozytenmengen erlaubt. Proben
hiervon auf Löfflerserum „verdauen“ bei 50 0 prompt. Damit
ist der Nachweis geführt, dass auch die poly¬
nukleären Leukozyten des normalen Blutes
Fermentträger darstellen, die wegen ihrer
geringen Zahl jedoch bei unserer Methode
eine sichtbare Wirkung nicht entfalten.
Das Ergebnis dieses ausschlaggebenden Versuchs steht in
teilweisem Widerspruch mit den Angaben Erbens (Zeit¬
schrift für Heilkunde 1903 Bd. 24, Heft II). Erben fand,
ebenso wie später auch Schümm (Hoffmeisters Bei¬
träge IV, 9 — 11 p. 453) nach 70 ständigem Verweilen des ste¬
rilen Blutes von myelogener Leukämie bei Bruttemperatur so¬
wohl Albumosen wie Peptone in deutlicher Menge, während in
frischem Zustand ebenso wie im lymphatischen und im nicht¬
leukämischen Blut verschiedenen Ursprungs, mit Ammonium¬
sulfat aussalzbare Albumosen gar nicht, nicht aussalzbare
Abumosen und Peptone nur in zweifelhaften Spuren nachweis¬
bar waren. Als Ursache dieses Befundes nahm er an, dass
im Blute von myelogener Leukämie eine an die polynukleären
Leukozyten geknüpftes und beim Absterben dieser Zellen frei
werdendes tryptisches Ferment neben Spuren eines pep¬
tischen Vorkommen. Seine Auffassung aber, dass diese Fer- .
mente im normalen Blut nicht vorhanden oder doch so fest ge¬
bunden sind, dass sie auch durch das Absterben der Zellen
nicht frei werden und demnach ihre Wirkung nicht entfalten
können, wird widerlegt durch unseren Befund, dass auch
die Leukozyten des normalen Blutes, wenn
man sie in reichlicher Menge durch Abzentri¬
fugieren gewinnt, für das Auge dieselben Ver¬
dauungserscheinungen bedingen, wie die
weissen B 1 u t z e 1 1 e n der myelogenen Leu-
•kämie. .
In derselben, aber meist noch ausgesprocheneren Weise
wie das Blut von myelogener Leukämie besitzt auch frischer
Eiter bei unserem Verfahren eine sehr ausgiebige Ferment-
wirkung. Eine Verdauung des Löfflerserums durch Eiter¬
tröpfchen tritt zwar schon bei 37 0 ein. Hierbei droht aber die
Verwechslung mit einer Verflüssigung des Nährbodens durch
wuchernde Bakterien. Die Gefahr ist allerdings schon des¬
halb gering, weil die verbreiteten Eitererreger — vom Pyo-
zyaneus abgesehen - — - das Löfflerserum nicht peptonisieren
und demgemäss keine Dellenbildung machen. Die Anwendung
einer höheren Temperatur bei unserem Verfahren hat nun den
Vorzug, dasssieeinerseitsdieFermentwirkung
erheblich beschleunigt, und anderseits ein
steriles Arbeiten ermöglicht. Bringt man z. B.
Eiterklümpchen von Zystitis, Gonorrhöe, Furunkeln, Phleg¬
monen usw. auf die bei 50° gehaltene Löfflerplatte, so entstehen
schon nach wenigen Stunden rasch sich vertiefende und ver¬
breiternde Löcher, so dass sich nach ein bis zwei Tagen der
Vergleich des so veränderten Nährbodens mit der Schnitt¬
fläche des „Schweizerkäses“ aufdrängt. Aeusserst bemerkens¬
wert war der Nachweis, dass dem Eiter von kalten
Abszessen wie überhaupt dem sogen, tuber¬
kulösen Eiter im allgemeinen keine Ferment-
Wirkung auf der Löfflerplatte zukommt. Am
deutlichsten trat dies in Erscheinung beim Vergleich des tu¬
berkulösen mit dem Kokken-Empyemeiter, ein Befund, der
nicht unerhebliche praktische Wichtigkeit beansprucht.
Auch im Reagenzglas zeigen sich bei beiden Eiterarten ganz
entsprechende Erscheinungen, wenn man sie darin ohne jeden Zu¬
satz bei 50° stehen lässt. Während z. B. ein frischer rahmiger
Kokkeneiter sich mehr und mehr verflüssigt, sammelt sich bei
den aus einem kalten Abszess stammenden Proben nach 24
Stunden über einem reichlichen, weissgelblichen und kriime-
lichen Bodensatz eine klare, durchsichtige, gelatinös erstar¬
rende Masse an, die zur Eintrocknung neigt. E s f e h 1 1 a 1 s o
dem tuberkulösen Eiter jede für das Auge er¬
kennbare Selbstverdauung. Als Gründe dafür
lassen sich anführen das Zurücktreten der gelapptkernigen
Leukozyten gegenüber den Lymphozyten bei tuberkulösen
Prozessen, Verschiedenheiten der rein chemischen Zusammen¬
setzung des Eiters und vielleicht noch der ausserordentlich
starke Zerfall der weissen Blutzellen, die meist nur in Form
kleinster Zell- und Kerntrümmer erhalten sind. Der Mangel
an Verdauungskraft könnte also hier bis zu einem gewissen
Grade nur die Folge einer Fermentzerstörung bezw. Ferment¬
bindung bei mangelhaftem Ersatz in dem lange Zeit stag¬
nierenden Eiter sein. Ein sicheres Urteil darüber können wir
z. Z. noch nicht abgeben. Im Hinblick auf die Untersuchungen
Heiles, der bei der Jodoformbehandlung kalter Abszesse
eine erhebliche Beschleunigung autolytischer Vorgänge expe¬
rimentell erwies, war es recht bedeutsam, dass Eiter aus einem
mit Jodoformglyzerin behandelten kalten Abszess nicht die
oben beschriebene gelatinöse Erstarrung zeigte, sondern —
im Reagenzglas bei 50 0 auf bewahrt — eher zur Verfltissung
neigte.
Im Gegensatz zu dem tuberkulösen Eiter aus nicht be¬
handelten kalten Abszessen verursacht das tuberkulös¬
eitrige Sputum schon beim einfachen Ausstreichen auf
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1395
dei Löfflerplatte tiefe Mulden im Serum, eine Erscheinung, die
wohl darauf beruht, dass beim tuberkulöseitrigen Auswurf die
Mischinfektion und damit die wesentlich stärkere Beteiligung
polynukleärei Leukozyten mehr und mehr in den Vorder¬
grund tritt.
Die von uns beobachteten Fermentwirkungen der Leuko¬
zyten veranlassten uns — von den Lymphdriisen und dem
Knochenmark abgesehen (s. o.) — auch die wichtigsten übrigen
menschlichen Körperorgane mit der oben beschriebenen
. Methode zu untersuchen. Zunächst stellte sich heraus, dass
die weitaus rascheste und intensivste Ver¬
dauung au f dem Löfflerserum bei 50 0 das Pan¬
kreas zeigt. Verschafft man sich durch sorgfältige me¬
chanische Zerkleinerung einen Pankreasbrei und bringt davon
kleine Häufchen auf das Löfflerserum, so verflüssigt sich schon
nach wenigen Stunden nicht nur das Löfflerserum, sondern
auch der grösste Teil des darauf liegenden Qewebsbreies (die
Verflüssigung des Löfflerserums durch das Pankreas im Gegen¬
satz zu der einfachen Loch- und Muldenbildung des Eiters des
Leukämieblutes und dergl. ist vielleicht nur die Folge der
ausserordentlichen Schnelligkeit der Fermentwirkung, sodass
ein genügendes Abdunsten der gebildeten Flüssigkeit ver¬
hindert wird). Die rapide Selbstverdauung des
Pankreas bei 50 lässt sich auch durch folgenden Versuch
ebenso leicht wie ungemein deutlich demonstrieren: Bringt
man das ganze, durch Abspülen von Blut befreite feingehackte
bezw. gewiegte Organ in ein 300 ccm fassendes Kölbchen
mit steriler Kochsalzlösung, so ist das Organ bei 50° schon
nach 16 Stunden für das Auge fast völlig verschwunden. Da¬
bei schwimmt in den Kölbchen auf einer leicht gelblich ge¬
färbten und aromatisch riechenden ,, Bouillon“ eine etwa 1 cm
dicke Oelschicht, v ährend man in der amphoter reagierenden
Flüssigkeit suspendiert nur noch einige braune BrÖckchen und
längliche weissliche Partikel (Gefässe ?) schwimmen sieht.
Die Flüssigkeit zeigt bei der Salpetersäure- und 'Kochprobe nur
geringe Eiweissreaktion; schon auf den Zusatz von Essigsäure
erfolgt jedoch eine deutliche Trübung; nebenbei ist die Biu-
retreaktion ausgesprochen positiv (Albumosen?)
Diese starken Fermentwirkungen des Pankreas sind zwar
hinreichend bekannt; durch unsere Prüfungsmethode auf
Löfflerserum und bei 50° gelingt aber ihr Nachweis auch zu
Demonstrationszwecken in besonders rascher und einfacher
Weise. Ausserdem genügen dazu schon kleinste Gewebs-
partikelchen, sodass vergleichende Studien über diese biolo¬
gische Funktion der Bauchspeicheldrüse ohne besondere Mühe
und Zeitverlust möglich sind. Wir selbst konnten u. A. fest¬
stellen, dass hinsichtlich der Fermentwirkungen auf Löffler- *
serutn zwischen Kopf und Schwanz des Pankreas gröbere
Unterschiede nicht vorhanden sind und dass ein Fall von
jugendlichem Diabetes keine wesentliche Abweichung von dem
bei normalen Pankreas beobachteten Verhalten darbot. Deut¬
liche, wenn auch geringere Verdauungserscheinungen auf dem
Löfflerserum riefen auch die L e b e r und vor allem die M i 1 z
hervor. Dass die Letztere das Löfflerserum
verdaut und die Lymphdrüsen nicht, beweist
u ns, dass trotz des ähnlichen histologischen
Baus bemerkenswerte biologische Unter¬
schiede existieren. Dies mag darauf beruhen, dass
entweder das Milzgewebe an sich in derselben Weise wie wir
dies beim Pankreas und der Leber annehmen müssen zu
solchen Fermentwirkungen im stände ist oder, was uns wahr¬
scheinlicher dünkt, dass in der Milz sich grössere Mengen
vielleicht zerfallender polynukleärer Leukozyten als Ferment¬
träger ansammeln.
Die Vorzüge der von uns verwendeten Methode
zum Nachweis proteolytischer Fermentwirkungen lassen sich
dahin zusammenfassen : vollkommen steriles Ar¬
beiten ohne jeden Zusatz, erhebliche Be¬
schleunigung des chemischen Prozesses
durch diehoheTemperatur, Möglichkeit einer
Beschränkung auf kleinste Versuchsquanten
z. B. auf einen einzigen Bluttropfen, sowie An¬
schaulichkeit und leichte Demonstrierbar-
keit der Ergebnisse. Während früher der sichere
Nachweis solcher fermentativen Prozesse (z. B. im leukä¬
mischen Blute) zeitraubende chemische Untersuchungen er¬
forderte, besitzen wir in unserer Methode ein
auch für die Klinik brauchbares, ausser¬
ordentlich einfaches, sowie schnell und si¬
cher zum Ziele führendes Verfahren. Die Ver¬
wendung des erstarrten Löfflerserums bezw. eines anderen er¬
starrten Blutserums ist auch deshalb vorteilhaft, weil der
grosse und zäh festgehaltene Wassergehalt des Nährbodens
trotz der hohen Temperatur während mehrerer Tage auch ohne
feuchte Kammer vor Eintrocknung schützt. Das Prinzip un¬
serer Methode lässt sich zudem unschwer auch zum Studium
anderer Fermentwirkungen verwenden. So lässt sich z. B
durch Stärkekleisterplatten, die ebenfalls bei 50° gehalten
vciden, ohne jeden Zusatz und ohne Gefahr eines störenden
Baktei ienv achstums die diastatische Wirkung des Speichels
leicht studieren.
Aus der k. k. Universitäts-Kinderklinik in Wien (Vorstand:
Hofrat Prof. Dr. Th. Es che rieh).
Die Rolle der Grubeninfektionen bei der Entstehung der
Genickstarreepidemien.
Epidemiologische Beobachtungen aus Neumühl (Kreis Ruhrort)
und Mörs.
Von Dr. Ludwig J e h 1 e, klin. Assistent.
In der Wiener klin. Wochenschr. No. 25 habe ich über die
Beobachtungen berichtet, welche ich gelegentlich einer Studien¬
reise nach Orlau (Oesterr. Schlesien) gemacht habe. Ich habe
dort die Meinung ausgesprochen, dass ein epidemiologi¬
sches Auftreten der Genickstarre nur durch die Gruben er¬
folgt. Die Gruben bilden den Herd, in denen sich die Bergleute
direkt oder indirekt infizieren und von wo dieselben die Krank¬
heitserreger in ihre Familien schleppen.
Gelegentlich eines mehrwöchentlichen Aufenthaltes in
Neumühl fand ich diese Annahme vollständig bestätigt.
Ich will über die Beobachtungen in den folgenden Zeilen
in Kürze berichten.
In Neumühl bestehen zwei getrennte Zechen: Die Zeche
„Neumühl mit zwei Schächten und die Zeche „Deutscher
Kaiser“ mit vier in Betrieb stehenden Schächten. Die Arbeiter
der beiden Zechen sind zum grössten 1 eil in den zugehörigen
Kolonien, zum geringeren Teil in Privathäusern untergebracht.
Ausserdem wohnen in diesen Kolonien auch die zahlreichen
Arbeiter anderer Betriebe, wie Kokerei und Gewerkschaft.
Die Kolonien der zwei Zechen sind zwar räumlich von
einander etwas getrennt, stehen jedoch trotzdem in regstem
Kontakt mit einander, umsomehr, als die lebhaftesten Punkte,
Hamborn und die Provinzinalstrasse mit ihrem elektrischen
Strassenbahnnetz, die Grenze zwischen beiden bilden. Noch
lebhafter und inniger ist natürlich der Verkehr insbesonders
zwischen den Kindern innerhalb der einzelnen Kolonien selbst.
Wie verhielt sich nun die Ausbreitung der Genickstarre in
diesem Gebiet?
Die ersten Fälle wurden in der zweiten Hälfte Dezember
v. J. beobachtet. Am 8. Januar wurden sämtliche bis dahin
erkrankten Personen in das zu dieser Zeit fertiggestellte kathol.
Krankenhaus Schmidhorst aufgenommen. Die Daten über die
Kranken stellte mir Herr Dr. Müller in liebenswürdigster
Weise zur Verfügung.
Im Laufe des Monates Januar war die Zahl der Erkran¬
kungen auf 23 gestiegen. Die Väter sämtlicher Patienten waren
in der Zeche „Neumühl“ beschäftigt; nicht ein einziger Fall
betraf die Familie eines Bergmannes aus der Zeche „Deutscher
Kaiser . Erst am 10. Februar, also 5 Wochen nach Beginn der
Epidemie,^ erkrankte das erste Kind eines Bergmannes aus
letzterer Zeche. Dieser Erkrankung folgten dann rasch auf¬
einander eine grosse Zahl von Neuerkrankungen. Von diesem
i ermin ab also waren beide Zechen an den Erkrankungen be¬
teiligt.
Durch Nachforschungen konnte ich mich nun mit aller
Sicherheit überzeugen, dass vom 1. Oktober v. Js. bis 1. Fe-
1*
?) 2 Geschwister erkrankt. 4 Geschwister erkrankt.
1396
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
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17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
bruar d. Js. kein einziger Bergmann aus der Zeche „Neumühl“
von der Zeche „Deutscher Kaiser“ übernommen wurde. Erst
am 1. Februar wurden einige Bergleute aufgenommen und am
10. Februar trat dort die erste Erkrankung auf. Es genügte
also zur Verschleppung das Einfahren nur einzelner
Personen aus der infizierten Zeche in die andere, während
dies bisher der lebhafteste Verkehr auf der Erde nicht
zustande brachte.
Bevor ich auf die Eigentümlichkeit der Verbreitungsweise
innerhalb der Kolonie der Zeche „Deutscher Kaiser“ eingehe,
muss ich in Kürze über die Erkrankungen in der Zeche „Neu¬
mühl“ berichten.
Nachdem dort nur zwei, räumlich wenig getrennte Schächte
vorhanden sind und ich beide von Erkrankungen betroffen fand,
versuchte ich zu eruieren, ob nicht aus einzelnen Arbeits¬
revieren dieser Gruben eine häufigere Infektion stattfindet,
d. h. ob nicht Kinder von Bergleuten, die an bestimmten Arbeits¬
stellen (Revieren) beschäftigt sind, häufiger erkranken als
Kinder von anderweitig in denselben Gruben beschäftigten
Bergmännern.
In der Zeche „Neumühl“ wird in 26 resp. 27 Arbeitsrevieren
gearbeitet, von denen die Reviere I— XIII inkl. XXV von dem
Schacht I, die Reviere XIII — XXVI vom Schacht II aus be¬
fahren werden.
Ein Blick auf Tabelle I zeigt uns nun, dass Kinder von
Bergleuten aus einzelnen Revieren während der ganzen Dauer
der Epidemie verschont blieben, dass es von anderen Revieren
aus zu sporadischen Fällen kam, dagegen aus mehreren Re¬
vieren eine explosionartige Häufung von Erkrankungen ent¬
standen ist. Wenn man auf der Karte die Wohnorte der be¬
troffenen Familien bestimmt, so zeigt es sich, dass die Wohn¬
stätten der aus denselben Revieren stammenden Fälle räumlich
in der Regel weit von einander liegen. Es ist demnach eine
Uebertragung ausserhalb der Grube so gut wie ausgeschlossen.
Die Familien kennen sich in der Regel gar nicht und stehen mit
einander in keinem Verkehr. Selbst die Väter sind einander
fremd, was sich durch den dreimal täglich erfolgenden Schicht¬
wechsel erklärt. — Nur gerade bei den sporadischen Fällen
aus einzelnen Revieren lässt sich eine Kontaktinfektion in den
Kolonien selbst manchmal nachweisen.
(Tabelle I siehe vorige Seite.)
Aus diesem Umstand lässt sich also mit Sicherheit an¬
nehmen, dass die Ansteckungen fast aus¬
schliesslich an der Arbeitsstelle erfolgen,
dass selbst Umstände, wie das gemeinsame Einfahren in die
Grube, gemeinsame Badeanstalten, nur eine sehr geringe Rolle
bei der Weiterverbreitung der Genickstarre bilden.
Wie verhielt sich nun anderseits die Epidemie in den
Kolonien der Zeche „Deutscher Kaiser“?
Wie bereits erwähnt, traten dort die ersten Fälle erst am
10. Februar d. Js. auf.
An der Hand der Tabelle II sehen wir, dass die Erkran¬
kungen keineswegs sämtliche Schächte zu gleicher Zeit be¬
trafen, sondern dass durch 2 Monate fast ausschliesslich nur
Kinder von Bergleuten aus dem Schacht III erkrankten. Erst
im April treten häufigere Erkrankungen im Schacht I und im
Mai in Schacht II auf, während die Kinder von Bergleuten
aus Schacht IV die ganze Zeit hindurch von Erkrankungen ver¬
schont blieben.
(Tabelle II siehe nebenstehend.)
Auch hier sehen wir also, dass durch mehrere Wochen
nur Kinder von Bergleuten eines bestimmten Schachtes
erkranken, geradeso wie im Grubengebiet Orlau in den ver¬
schiedensten Ortschaften fast nur Kinder von Vätern aus ein¬
zelnen Gruben betroffen wurden.
Wie lässt sich nun diese ausschliessliche Beteiligung
eines Schachtes durch viele Wochen erklären, trotzdem eine
gleichrnässige Invasion sämtlicher Schächte durch Bergleute
einer infizierten Zeche („Neumühl“) stattfand?
Darüber gibt uns die Tabelle III auf Grund der in der
Tabelle I angeführten Beobachtungen genügenden Aufschluss.
No. 29.
1397
Tabelle II. Zeche: „Deutscher Kaiser'
Schacht
D Wohnort A
Schacht II
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Schacht III
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Schacht IV
D Wohnort A
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11
16
19
20
Marxloh
Knappenl9
Schmidth.
Sterkrade
42
Marxloh
Kaiser 19
O. Marxloh
Knappen80
Hamborn1)
Over¬
brück. 90
11
Brück¬
hausen
Wolf 29
+
+
Marxloh
Sand 70
21
Marxloh
Kaiser 276
6
11
12
19
30
Hamborn
Bremen 28
Hamborn
Kloster 46
O. Marxloh
Lessing66
Marxloh
Wolf 12
Marxloh
Mittel 66
+
+
+
+
22
O. Marx¬
loh3)
Lessing 56
4
Marxloh
Sand 47
+
12
Hamborn
Overbr.82
15
Marxloh
Sand 70
16
Marxloh1)
Emma 27
18
Walsum
Feld 47
+
27
Marxloh
Hütten 20
4-
28
Tanen
Carl 58
+
29
Hamborn
Kloster 34
30
Hamborn2)
Kloster 46
O. Marxloh
Knappen58
0. Marxloh
Halfmann
+
52
4-
Hamborn
August 7
+
23
24
25
26
Brückh.
Vereins. 7
Beek Ost¬
acker 129
Beek Ost¬
acker 113
Hamborn
Kloster 54
+
+
+
+
D = Tag der Erkrankung,
in Spitalsbehandlung.
— A = Abgang (-f Tod). — • = noch
*) Noch in Spitalsbehandlung.
2) Klinisch Enzephalitis.
3) In 10 Tagen genesen.
Es wurden aus der Zeche „Neumühl“ in die einzelnen
Schächte des „Deutschen Kaiser“ vom 1. II. bis 31. III 56 Berg¬
leute aufgenommen. Dieselben arbeiteten vorher in folgenden
Revieren der Zeche „Neumühl“ (s. Tabelle III):
2
1398 ^ ,, -
Tabelle III.
Uebernahme der Bergleute in die Schächte „Deutscher Kaiser .
Schacht I
Schacht II
Schacht III
Schacht IV
D
R
E
R
E
R |
E
R
E
26
12
15
6
20
—
4
_
21
—
8
1
27
—
i—
CJ
9
_
8
1
12
—
21
—
3
1—
3
_
2
—
1
1
27
—
-C
d>
2
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21
- —
15
6
5
—
U-
2
_
21
—
18
—
6
1
15
6
11
1
19
_
21
—
7
—
26
—
16
2
2
1
21
—
15
1
6
3
2
27
—
1
—
2
1
27
—
3
2
6
—
19
—
13
1
1
—
8
—
NI
16
2
22
3
i-,
iw
11
_
22
3
£
3
2
1
22
3
3
2
22
3
2
1
D = Monat in dem die Uebernahme erfolgte. — R = Revier in der
Zeche „Neumühl“ aus welcher die Bergleute übernommen wurden.
— E = Zahl der Erkrankungen im angegebenen Revier (R) im vor¬
hergehenden Monat.
Wir sehen also, dass mit 1. Februar in den Schacht III
5 Bergleute aus infizierten Revieren der Zeche „Neumühl“, da¬
runter 2 aus den schwer betroffenen Revieren 15 einfuhren;
während zur selben Zeit in die anderen Schächte nur Bergleute
aus seuchenfreien und weniger betroffenen Revieren und letztere
in geringerer Anzahl übertraten. — Aehnlich ist das Verhältnis
auch im Monat März. In Schacht IV fuhren zwar 2 Bergleute
aus dem Revier 22 ein, aber dort war schon 3 Wochen vorher
keine Erkrankung vorgekommen, während in den bei
Schacht III in Betracht kommenden Revieren (2, 3 und 16)
kaum 1—2 Wochen vorher Erkrankungen vorkamen.
Diese Tatsachen sprechen demnach wieder dafür, dass
der Bergmann sich fast ausschliesslich an der Arbeits¬
stätte infiziert, und dadurch zum Zwischenträger wird; denn
nur so lässt es sich erklären, dass Bergleute aus infizierten
Gruben, wenn sie von seuchenfreien Revieren stammen, die
Erkrankungen nicht weiter verschleppen, während andere aus
derselben Grube, jedoch von infizierten Revieren, zu gefähr¬
lichen Zwischenträgern werden.
Die Rolle der Grube als Infektionsherd kam auch in M ö r s
(Kreis Homberg) in klassischer Weise zum Ausdruck.
Die dortige Kohlenzeche besitzt 5 Schächte. In diesem
Grubenbezirk trat die Epidemie anfangs Februai auf und um¬
fasste bisher 29 Fälle. Sämtliche Fälle betrafen, wie ich aus
der liebenswürdigen Auskunft des dortigen Kreisarztes Herrn
Medizinalrates Dr. Ba-uer erfahren habe, sämtlich nur den
Schacht IV, oder es ist wenigstens ein direkter Kontakt mit den
Bergleuten dieses Schachtes nachzuweisen. Nur in 2 Fällen
scheint ein solcher direkter Zusammenhang nicht zu bestehen.
In diesem Bezirk sind die betroffenen Familien räumlich häufig
auf das entfernteste getrennt, aber auch sie bindet ein Ge¬
meinsames: die Grube.
Ueber die Art der Ansteckung in der Grube und Ver¬
schleppung in die Familien kann ich mich nach dem in der ersten
Publikation Gesagten kurz fassen. Die Erwachsenen infizieren
sich gegenseitig direkt und indirekt bei der Arbeit durch Aus¬
spucken, Benützung gemeinsamer Arbeitsgeräte und Trink -
gefässe. — Auf dieselbe Weise infizieren sie in den Familien
dann ihre Frau und Kinder und besonders jene im zarten Alter,
da gerade diese mit den Eltern in innigsten Kontakt kommen
und einer Schmierinfektion durch Kriechen auf der Erde am
leichtesten ausgesetzt sind.
Kinder, auch bereits erkrankte, kommen als Infektions¬
träger fast gar nicht in Betracht, da sic die im Nasenrachcn-
No. 29.
raum nistenden Meningokokken nicht herausbefördern. Daraus
erklärt es sich, dass in der Regel, wenn mehrere Geschwister
in einer Familie erkranken, dies zu gleicher Zeit oder rasch
hintereinander geschieht, d. h. dieselben von einer Person zu
gleicher Zeit infiziert werden. Bleibt ein krankes Kind, wie
dies bei der üblichen Verheimlichung so oft geschieht, auch
wochenlang in der Familie, so tritt trotzdem fast niemals eine
Neuerkrankung in derselben auf. Anders verhält es sich bei
erwachsenen Kranken, insbesonders wenn diese mit mehreren
Personen gemeinsam in einem Raum wie etwa in Kasernen
leben. Diese Patienten können durch das Auswerfen von
meningokokkenhaltigem Schleim ihre Mitbewohner infizieren.
Die Uebertragung ausserhalb der Grube spielt im allge¬
meinen bei demEntstehen der Epidemien so gut wie keine
Rolle- sondern führt höchstens zu sporadischen Erkrankungen,
da die Meningokokken unter diesen Verhältnissen durch die
schädigenden Einflüsse wie Licht und Austrocknung viel zu
rasch zu Grunde gehen. Daraus erklärt es sich, dass in
anderen grossen Industriegebieten wie Eisenwerke etc. trotz
des engsten Zusammenwohnens der Arbeiterfamilien in Kolo¬
nien oder Ortschaften die Genickstarre in der Regel rasch
erlischt.
Wie wenig Massenversammlungen selbst im Zentrum
eines Infektionsgebietes zu der Ausbreitung der Epidemie bei¬
tragen, beweist uns das Kirchweihfest, welches in Hamborn
anfangs Mai d. J. stattfand und zu dem aus der weitesten Um¬
gebung die Menschen zusammenströmten. Trotzdem kam es
weder zu einer Verschleppung der Genickstarre in andere Ge¬
biete, noch erkrankten Kinder anderer Einwohner „Neumuhls“
wie Geschäftsleute Schneider, Beamte etc., nach wie vor
wurden nur die Familien von Bergleuten aus den bereits vor¬
her verseuchten Grubengebieten betroffen.
Zum Schluss noch einzelne Worte über die Massregeln,
welche auf Grund dieser Beobachtungen ergriffen werden
möchten und welche ich bereits in Orlau und Neumühl befolgt
habe.
An beiden Orten habe ich meine Aufmerksamkeit den
Zwischenträgern zugewendet. Als Hauptbedingung erachtete
ich, dass der Bergmann, in dessen Familie eine Erkrankung
vorgekommen war, sofort für die Zeit, als er als Kokkenträger
in Betracht kommt, von der Arbeit in der Grube ferngehalten
werde. Durch das liebenswürdige Entgegenkommen der
Herren Direktoren Bentrop und Jakob habe ich in Neu¬
mühl auf privatem Wege erreicht, dass sich die Bergleute
gegen Zusicherung ihres vollen Schichtgeldes freiwillig von
ihrer Arbeit fernhielten und der entsprechenden Untersuchung
und Behandlung unterzogen.
Ich habe nun durch die bakteriologische Untersuchung die
Kokkenträger in jenen Familien ermittelt, in welchen im Laufe
der letzten 3 Wochen Erkrankungen vorkamen. — Dann
wurden die Kokkenträger mit Pyozyanase entsprechend be¬
handelt.
Ueber die Methode und Resultate dieser Behandlung
werde ich an anderer Stelle eingehend berichten. — Jetzt sei
in Kürze bemerkt, dass nach 1—3 maliger Applikation dieses
Mittels in den Nasenrachenraum die Meningokokken in der
Regel geschwunden waren und bei den folgenden wiederholten
Untersuchungen nicht mehr nachgewiesen werden konnten.
Ich konnte also die Bergleute nach 2— 4 tägiger Behandlung
wieder einfahren lassen.
Das Ergebnis dieser prophylaktischen Massregeln war das
sofortige Sistieren der Erkrankungen in Orlau und in Neu¬
mühl. Es geht wohl nicht an, das Erlöschen der Epidemien
bloss auf Zufall oder auf klimatische Einflüsse zurückzuführen.
— Denn zur selben Zeit, als in Orlau die Epidemie erlosch,
wurden in Neumühl Erkrankungen beobachtet und umgekehrt
zur Zeit als in Neumühl die Erkrankungen sistierten, traten in
Orlau ca. 5 Wochen nach dem Erlöschen der Epidemie, also
wohl sicher durch Einschleppung neuerlich Fälle von Genick¬
starre auf.
Auf jeden Fall berechtigen meine Beobachtungen den
Wunsch, dass endlich energische Massregeln zur Bekämpfung
dieser furchtbaren Krankheit ergriffen werden.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
17. Juli 1906.
Muenchener medizinische Wochenschrift.
1399
Jetzt, wo man den Weg der bisher dunkeln Ausbreitung
kennt, wird es ein leichtes sein, mit geringen Opfern den Epi¬
demien Einhalt zu tun. Dass man thit den bisher befolgten
Massregeln, wie Isolierung der Rinder, Desinfektion der
Wohnungen gar keine Erfolge erzielt hat, bestätigt wohl am
besten meine Anschauung, dass die Epidemien nur durch die
Gruben erfolgen.
Meine Beobachtungen und die daraus sich ergebenden
Vorschläge zu wirksamen Massregeln lassen sich kurz folgen-
dermassen zusammenfassen.
1. Die Genickstarre findet ihre epide¬
mische Ausbreitung nur auf dem Wege der
Grube. Diese ist der Herd, wo sich die Berg¬
leute infizieren und woher sie die Krank¬
heitskeime in ihre Familie schleppen. Die
Ansteckung der Bergleute erfolgt fa^st aus¬
schliesslich auf der Arbeitsstelle.
2. Zur Verhinderung einer Weiterverbrei¬
tung der Genickstarre ist es vor allem not¬
wendig, dass die Väter erkrankter Rinder
von der Arbeit in der Grube so lange fern ge¬
halten werden, bis sie durch eine entspre¬
chende Behandlung als Zwischenträger nicht
in Betracht kommen. Ich nehme aber keinen Anstand,
dass diese Leute in der Zeit der Behandlung ausserhalb der
Grube d. h. „ober Tag“ beschäftigt werden. Dieser Umstand
käme hauptsächlich dann in Betracht, wenn eine grössere An¬
zahl Bergleute von ihrer ursprünglichen Arbeit ferngehalten
werden müssen und ein vollständiges Entbehren dieser Ar¬
beitskräfte aus Betriebsrücksichten nicht möglich ist.
3. Bergleute, welche aus infizierten Gru¬
bengebieten kommen, müssen als Zwischen¬
träger betrachtet und entsprechend behan¬
delt werden. Auf Grund exakter statistischer Arbeiten
wird es ein leichtes sein, innerhalb einer infizierten Grube
häufig seuchenfreie und verseuchte Reviere zu trennen, so dass
man auf Grund dieser Angaben die prophylaktischen Mass¬
regeln bei Uebertritt einer grösseren Anzahl Bergleute aus
solchen Gruben vereinfachen könnte. — In vielen Fällen wird
auch hier die provisorische Beschäftigung der Neueingetre-
tenen „ober Tag“ bis zur Beendigung der Behandlung ein
gutes Hilfsmittel sein.
4. Zur prophylaktischen Behandlung hat
sich in allen Fällen die Pyozyanase als ein
ausgezeichnetes, rasch u n' d sicher wirkendes
und vollständig unschädliches Mittel be¬
währt.
Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig.
Pyozyaneussepsis bei Erwachsenen.
Von Privatdozent Dr. R o 1 1 y, Assistenten der Klinik.
Die Geschichte der pathogenen Bedeutung des Bac. pyo-
caneus beim Menschen hat- seit seiner Entdeckung durch
Gessard1) eigentümliche Wandlungen durchgemacht. Man
hielt den Bazillus ursprünglich für einen harmlosen Sapro-
phyten, welcher auf der Haut des Menschen und nach den
Untersuchungen von M ü hsam 2) hauptsächlich in der Achsel¬
höhle, den Anal- und Inguinalfalten in 50 Proz. der Fälle
gefunden wurde, man wies ihn ferner bei Eiterungen in den
Wundsekreten, in Furunkeln, im Auswurf bei septischen Pneu¬
monien usw. (Literatur bis 1897 bei M a n i c a t i d e, Jahrb. f.
Kinderheilkunde 45 pag. 80, nach 1897 in Baumgartens
Jahresberichte) nach. Er wurde jedoch in diesen Se- und Ex-
kreten von den meisten Autoren deswegen für völlig harmlos
gehalten, weil neben ihm andere eitererregende Bakterien da¬
selbst vorhanden waren, welchen man die Hauptrolle bei dem
pathologischen Prozess zuschrieb.
Nun wurden aber auch Fälle beobachtet, wo der Bac.
pyocyaneus in Reinkultur bei lokalen eitrigen und anderen
D These de Paris 1882.
2) Siehe Schimmelbusch, Volkmanns Sammlung kliri.
Vorträge, Serie III, Heft 2 No. 6.
Prozessen gefunden wurde, und die betr. Autoren waren in¬
folgedessen gezwungen, ihn allein bei diesen pathologischen
Vorgängen für die Ursache zu halten. Eine derartige Annahme
fand experimentell bei Tieren eine gute Begründung, insofern
C h a r r i n lokale Eiterungen mittelst Injektion des Bazillus
hervorrufen konnte, auch glaubte derselbe Autor ihn als ur¬
sächliches Moment bei Unterschenkeltumoren des Menschen,
welche ein Gummata ähnliches Aussehen hatten, ansprechen
zu müssen. Der Bacillus pyocyaneus wurde fernerhin allein
oder in Gesellschaft mit anderen Bakterien bei Ohreiterungen
(K o s s e 1) bei Perityphlitis (Coyne und H o b b s), bei Pyelo¬
nephritis (Bernhard), bei Phlegmonen, bei Fisteln, ausser¬
dem allein bei Ohreiterungen (Rossel, Gruber, Martha),
bei Mastitis, Strumitis (C h a r r i n, L a n z, Lüsche r), Bur¬
sitis präpatellaris (S c h ü r rn a y e r), Hautulzerationen (B u -
r o t), Ekthyma gangraenosum (Hitschmann, K r e i b i c h),
Panophthalmitis (Sattler) angetroffen und ihm die Ursache
bei diesen Erkrankungen zugeschrieben.
Sehr bald sah man dann, dass der Bac. pyocyaneus auch
Entzündungen an tiefgelegenen Organen allein zu stände
bringen kann, er wurde in zwei Fällen von Leberabszessen
durch Kruse und Pas quäle, bei einer Herzbeutelentzün¬
dung durch Erns t, eitriger Meningitis von Kindern (Rossel)
nachgewiesen.
I rotzdem im Jahre 1893 schon die Arbeiten von Ehlers,
Karlinski, Oettinger Vorlagen, glaubte in diesem Jahre
Schimmelbusch (1. c.) doch noch zu dem Ausspruch be¬
rechtigt zu sein, „dass der Bacillus pyocyaneus nur giftige
lokale und allgemeine Wirkungen zu stände bringe, dass ihm
aber die Eigenschaften eines invasiven pathogenen Organismus
abgehen“. Er fordert, dass der Bazillus vor allen Dingen
während des Lebens aus dem Blut oder den Geweben in Rein¬
kultur gezüchtet oder nachgewiesen werde, ehe man ihm die
Rolle eines pathogenen invasiven Mikroorganismus zuerteilen
dürfe.
Im Jahre 1894 kam Rossel3) auf Grund der Fälle der
Literatur und 2 eigner Beobachtungen zu dem Ergebnis, dass
der Bacillus pyocyaneus als pathogen für den Menschen im
K i n d e s a 1 1 e r anzusehen ist, insofern er bei Rindern direkt
durch Invasion in die Blutbahn oder indirekt durch giftige
Stoffwechselprodukte schwere und zum Tode führende Krank¬
heitserscheinungen verursachen könne. Bei Erwachsenen hält
ihn Rossel für relativ unschädlich.
Als beweisend für die pathogene Bedeutung des Bazillus
bei Allgemeininfektionen und somit auch für seine gelegentliche
invasive pathogene Tätigkeit im Kindesalter möchte ich hier
aus der mir zugänglichen Literatur die Fälle von N e u m a n n 4),
K o s s e 1 (1. c.), Blum ’), A. W a s s e r m a n n 6) und die in
diesen Tagen publizierten 4 Fälle von E. F r ä n k e 1 7 *) rechnen.
Bei allen diesen Rindern konnte entweder schon ante-, ge¬
wöhnlich aber kurze Zeit post mortem der Bac. pyocyaneus
im Herzblut und Gewebe in Reinkultur nachgewiesen werden,
gewöhnlich waren ausserdem noch gewisse durch die An¬
wesenheit der Bazillen in den Organen bedingte Veränderungen
und Reaktionen des Gewebes nachzuweisen.
Aber auch die Ansicht von Rossel, welche den Bacillus
pyocyaneus nur für den Menschen im Kindesalter als invasiv
pathogen erklärt, können wir heutzutage nicht mehr teilen. Die
Beobachtungen von S o 1 1 m a n n S),-De la Camp9), Küh n 10),
vielleicht auch noch diejenige von Krannhals“) und meine
eigene sprechen unbedingt dafür, dass der Bazillus auch bei
Ei w a c h s e n e n eine Allgemeininfektion hervorzurufen im¬
stande ist. Und zwar sehen wir Erwachsene an allgemeiner
Pyozyaneussepsis erkranken, deren Organismus nicht etwa,
w ie verschiedene Forscher annehmen, durch vorhergegangenc
3) Zeitschrift f. Hygiene 16 pag. 368.
4 Arch. f. Kinderheilk. 12 pag. 5-4.
'') Zentralbl. f. Bakteriol. und Parasitenk. 25 pag. 113.
_) Virchows Arch. 165 pag. 342.
' ) Virchows Ares. 183 pag. 405.
2 Deutsches Arch. f. klin. Medizin 73 pag. 650.
) Charite-Annalen 1903, 23 pag. 92.
*“) Zentralbl. f. innere Medizin 1903, pag. 577.
) Zeitschr. f. Chirurgie 37 pag. 181.
2*
400
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
schwere Krankheiten gelitten hat, sondern welche scheinbar
völlig gesund von der tückischen Infektion betallen wurden.
Im Falle Soltmanns handelte es sich um einen lns P. > un
völlig gesunden 13 jährigen Patienten, der plötzlich mit hohem Eieber
Delirien erkrankte und am 8. Krankheitstage starb. \\ ahrend
Lebens konnten bronchopneumonische Herde m den Lungen
nachgewiesen werden, ausserdem erschienen am 5. RranK-
heitstage auf der Haut des Patienten Petechien von ver-
schiedener Grösse. Die Autopsie zeigte bronchopneumonische Herde
in den Lungen in den verschiedensten Stadien, ferner fanden sich die
Schleimhaut des Magens durchsetzende oder auch mehr aufhegende
Knöpfchen in verschiedener Grösse von graugelber bis orangegel rei
Farbe. In den erkrankten Lungenteilen etc. wurde Bac. pyocyaneus
in Reinkultur nachgewiesen. . . , 0 r o ™ n c
Ein eigenartiges Krankheitsbild bietet der Fall De la Camps.
Die Erkrankung bei der 51jährigen Frau begann 1/* Jahre vor der
Aufnahme in die Klinik mit Gelenkerscheinungen, denen sich Kopt-
schmerzen und Symptome von seiten der Nase hinzugesellten, 1 Jahr
später setzte Fieber und eine hämorrhagische Diathese ein. cs
traten Infiltrationen an Unterschenkeln und Füssen auf, die aufbrachen
und wieder verheilten. Bei der Aufnahme der Pat. ins Krankenhaus
konnte man unter Verwertung der Anamnese die Diagnose einer
chronischen Sepsis stellen. Während des Krankenhausaufenthaltes
bestanden bei der Pat. ein irreguläres re- und intermittierendes Fieber,
auf der Haut fanden sich oder traten hämorrhagische Infiltration mit
oder ohne Pusteln, Blasen, Geschwüre usw. auf. Aus einem exzi-
dierten Unterschenkelgeschwür, Pustelinhalt, während des Lebens,
ausserdem post mortem im Herzblut, von den Auflagerungen dei
Mitralklappen konnte der Bac. pyocyaneus in Reinkultur nachgewiesen
werden. Die Sektion ergab unter anderem ulzeröse Rhinitis, nautge-
schwüre, verruköse Endokarditis der Valvula mitralis, Infarkte der
Milz, leichte hämorrhagische Enteritis, Bronchitis. . o
K ii h n s Fall erinnert klinisch an das Bild des Abdominaltyphus.
Der 31 jährige Patient war 20 Tage krank, eine Milzpunktion, welche
1 Stunde post mortem vorgenommen wurde, ergab Bac. pyocyaneus
in Reinkultur. Bei der Sektion fand sich abgesehen von anderen
Blutungen in den Pleuren und im Epikard, Fibrinbelag auf Pleura und
Milzserose, eine mikroskopische Untersuchung fand nicht statt.
Krannhals beschreibt einen 20 jährigen Patienten, welchei
ein Monat nach der Operation eines nach einer Influenza ausge¬
tretenen Empyems plötzlich unter Fieber und gastrischen Erschei¬
nungen erkrankte, schnell verfiel und nach 11 Tagen starb Die
Sektion zeigte am Darm ähnliche Befunde wie bei Unterleibstyphus
in der zweiten Woche mit einigen Blutungen in den Nieren und
in der Darmschleimhaut. Bakteriologische Untersuchungen ergaben
den Bac. pyocyaneus in Reinkultur.
Diesen in der Literatur niedergelegten Fallen von ryo-
zyaneussepsis bei Erwachsenen hätte ich nun meine eigene
Beobachtung aus der Leipziger medizin. Klinik hier anzu-
schliessen :
Aus der Anamnese der 28 jährigen Arbeiterin A. K. ergibt sich,
dass die Eltern der Patientin noch am Leben und gesund sind. Sie
selbst will in früheren Jahren nie krank gewesen sein. Am 7. Sep¬
tember 1905 erkrankte sie mit Fieber und Leibschmerzen, das rieber
hielt 10 Tage lang an, und war Pat. darnach völlig gesund und
fieberfrei Da die Pat. in einem Hause wohnte, in welchem ver¬
schiedene Typhusfälle zu gleicher Zeit vorhanden waren, so wird
es sich bei' dieser Erkrankung mit Wahrscheinlichkeit um einen
Typhus levis gehandelt haben. Durchfälle und Erbrechen haben nicht
bestanden, auch war die Milz während der fieberhaften Periode nicht
vergrössert, Roseolen konnten nicht wahrgenommen werden.
Die uns nun beschäftigende Erkrankung setzte am 4. Novem¬
ber 1905, also beinahe 2 Monate nach der letzten soeben erwähnten
fieberhaften Erkrankung akut mit heftigen Kopf- und Ruc^e'’sc l’Tier ’
Fieber und grosser Mattigkeit ein. Auch soll die Periode, welche stets
regelmässig gewesen sei, mit diesem Zeitpunkt sehr heftig aufgetreten
sein Die Aufnahme in die medizinischen Klinik eitolgte 3 läge
nach der Erkrankung am 7. November 1905.
Es handelt sich um eine mittelgrosse, kräftig gebaute Patientin,
die etwas schlaffe Muskulatur und mässiges Fettpolster zeigt und
sofort bei der Aufnahme einen schwerkranken Eindruck macht. Die
Zunge ist stark belegt, Rachen- und Gaumenschleimhaut in geringem
Die Konjunktiven und die Haut sind leicht ikterisch ve i färbt.
An der Endphalange des linken Daumens befinden sich zwei kleine,
nicht ganz erbsengrosse, nur wenig erhabene, rötliche Punkte, welche
unregelmässig und nicht scharf begrenzt sind. Auch an der End¬
phalange des linken Mittelfingers, in der rechten Hohlhand, an der
linken grossen Zehe, in geringerem Masse an den übrigen Zehen, an
der Plantarfläche des linken Vorderfusses zeigen sich derartige steck-
nadelkopf- bis beinahe pfennigstückgrosse, rötliche Stellen, welche
ihrem ganzen Aussehen und ihrer Anordnung nach eine gewisse Ärm¬
lichkeit mit Hautembolien hämorrhagischen Charakters zeigen.
Aber auch an anderen Körperteilen, wie z. B. am rechten Unter¬
schenkel am linken Oberarm sind derartige Stellen gerade eben er¬
kennbar.’ auch an den abhängigen Teilen des Rumpfes kann man
solche sehen.
Während an den Endphalangen die Hautflecke sofort durch ihre
intensiv rötlich, manchmal mehr bläulich livide Verfärbung auffallen
sind dieselben an den zuletzt bezeichneten Körperregionen nur mit
Mühe infolge ihrer weit geringeren Farbenmtensitat zu erkennen.
Die Untersuchung der Lunge und des Herzens ergibt keinen
pathologischen Befund. Das Abdomen ist meteonstisch au g -
trieben, die Milz stark vergrössert, unterer Rand derselben _ Quer
fingerbreit unterhalb des Rippenbogens fühlbar.
Es besteht Fieber und ein sehr beschleunigter, regulärer Puls
(s. Kurve).
Das
finden
Anzahl d
Stühle
Sensorium ist nicht benommen, das Allgemein be-
schlecht, im Urin kann eine Spur Albumen, ausserdem
mikroskopisch eine geringe Anzahl granulierter Zylinder, ebenso
weisse und rote Blutkörperchen in mässiger Menge nachgewiesen
werden, die Almen sehe Blutprobe fällt jedoch negativ aus.
Auffallend ist bei der Pat. eine beträchtliche Steifigkeit der
Rücken-, Hals- und Kopfmuskulatur, die Nackengegend ist auf Druck
stark empfindlich, auch bei Druck des Fingers auf die Wadenmus¬
kulatur werden von seiten der Patientin starke Schmerzen ge-
äussert. Die P a t e 1 1 a r r e f 1 e x e erscheinen in geringer W eise
gesteigert, die übrigen Reflexe normal, ebenso Pupillenreaktion, Mo¬
tilität, Sensibilität usw. T
Aus dem Krankheitsverlauf ist zu erwähnen, dass am 8. No¬
vember eine Blutentnahme und wegen der meningitischen Symp¬
tome eine Lumbalpunktion vorgenommen wurde. In 20 ccm Blut,
welches mit Agar auf die bekannte Weise vermischt und alsdann
in Petrische Schälchen gefüllt wurde, konnten nach 24 Stunden
210 Kolonien von Bac. pyocyaneus nachgewiesen werden.
In mikroskopischen Blutausstrichpräparaten konnte nichts abnormes
Interessant war der Befund bei der Untersuchung der Lum-
balpunktionsflüssigkeit. Dieselbe spritzte im Strahle also
bei erhöhtem Druck aus der Punktionsnadel heraus, erschien anfangs
hell später, bei längerem Stehen, leicht getrübt. Mikroskopisch
fanden sich in dem Sediment derselben reichlich polymorphkernige
Leukozyten, Lymphozyten waren nur sehr wenige nachweisbar. Ein
Teil der Lumbalpunktionsflüssigkeit wurde mit Bouillon vermischt,
der andere Teil ohne Zusatz in den Brutofen gestellt, in diesen beiden
Teilen fand sich nach 24 Stunden Bac. pyocyaneus in Rein¬
kultur. Ueberall bot der gefundene Bacillus pyocyaneus die charak¬
teristischen kulturellen und sonstigen Merkmale, die ich hier wohl
nicht weiter aufzuzählen brauche.
3 Tage später, also am 8. Krankheitstage wurden abermals 20 ccm
Blut aus der Armvene entnommen und mit Agar vermischt. Es
konnten in diesen 20 ccm Blut 380 Kolonien des Bacillus
pyocyaneus auf den Blutagarplatten gezählt werden. Auch eine
1 Tag vor dem Tode am 11. Krankheitstage vorgenommene sterile,
intravenöse Blutentnahme hatte kein anderes Resultat zur Folge.
Es wurden auf diesen Blutagarplatten wieder Reinkulturen desselben
Bazillus gefunden und zwar konnten aus 20 ccm Blut ca. 600 Pyo-
zvaneuskalonien gezüchtet werden.
Eine an demselben Tage (11. Krankheitstag) vorgenommene
Lumbalpunktion hatte dasselbe Ergebnis wie die erste: Es wuchsen
aus 1 ccm Lumbalpunktionsflüssigkeit, welche mit Agar
vermischt und in ein Petri sches Schälchen gefüllt war,
ca. 80 Kolonien des Bac. pyocyaneus und ausserdem keine
anderen Bakterien. .
Auch bei anaerober Züchtung des Blutes und der Lumbalpunk¬
tionsflüssigkeit, bei Vermischung mit Agar und Gelatine konnte ich
kein anderes Resultat erheben.
Was nun den klinischen Verlauf anlangt, so kamen an
dem der Krankenhausaufnahme folgenden Tage neue Flecke auf der
Haut hinzu. Dieselben präsentierten sich ganz ähnlich wie die
früheren, waren auch anfangs nicht grösser (als die früheren), sahen
rötlich bis schwärzlich, livide, bläulich aus. Verfolgten wir die Ent¬
stehung eines derartigen Hautfleckchens an den aufeinanderfolgenden
Tagen genauer, so sahen wir zuerst nur einen ganz kleinen hellroten
Fleck, der grösser ward, und später mehr schmutzig blauschwärzhch
a u s s ah •
Am 7. Krankheitstage setzten Delirien und starke Benommenheit
ein die Steifigkeit der Rücken- und Kopfmuskulatur hatte bedeutend
zugenommen, es trat eine beiderseitige Bronchitis der unteren Lungen¬
partien hinzu, der Puls war stets sehr frequent, klein, das Fieber hoch
(s. Kurve), etwas unregelmässig remittierend. Im Rachenschleim,
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1401
dei reichlich produziert wurde, konnten nur Kokken, auch Tetragenus-
formen, aber keine Bazillen nachgewiesen werden.
Aus einem am lü. Krankheitstage aufgenommenen Status
mochte ich folgendes hier anführen: Pat. ist völlig bewusstlos, sie
liegt mit weit geöffneten Augen, frequenter schnarchender Atmung,
geöffnetem Munde da. Die Zunge ist trocken, rissig, mit einem bräun¬
lichen Belage belegt, der Rachen, die Tonsillen geschwollen, eben¬
falls mit einer missfarbigen, dicken, schleimigen Masse bedeckt. Das
Gesicht ist stark verfallen, zeigt eine hektische Röte. Die Konjunk¬
tive sind gerötet und teilweise mit Schleim bedeckt, die Haut in toto
gering ikterisch, missfarben, die Pupillen mittelweit, reagieren träge.
Die allgemeine Steifigkeit der Körpermuskulatur hat in geringem
Masse abgenommen (Lähmung!), doch ist eine abnorme Steifigkeit
noch deutlich demonstrabel. Es besteht Nackenstarre, der Kopf wird
nach hinten und etwas nach links gedreht und steif gehalten. Bei
Druck auf die Nackengegend werden Schmerzen von seiten der Pat.
geäussert.
Das Herz ist mässig dilatiert nach rechts und links, die Herz¬
aktion sehr frequent, der erste Ton etwas unrein und verwaschen,
es besteht aber kein eigentliches Geräusch, kein sicherer Anhalts¬
punkt für eine Endokarditis.
Die Lungen zeigen eine Bronchitis in den hinteren unteren Par¬
tien, das Abdomen ist stärker meteoristisch aufgetrieben, als an den
vorhergehenden Tagen. Die Leber und namentlich die Milz sind
stark vergrössert.
Der Urin bietet den gleichen Befund wie bei der Aufnahme;
der Stuhl ist stets angehalten und nur jeden zweiten Tag mittels Ein¬
lauf zu erzielen; Oedeme fehlen.
Die Hautflecken haben an Zahl und Ausdehnung zugenommen,
auch an Oberschenkeln, Rumpf, Armen können nun solche wahr¬
genommen werden. Sie sind meist deutlich erhaben und mässig in¬
filtriert, letzteres beim Streichen mit einem Finger über die be¬
treffende Stelle durch eine geringe Vorwölbung und härtere Kon¬
sistenz leichter nachweisbar als früher, auch hat die Grösse der ein¬
zelnen Eiecke zugenommen, man sieht aber auch neben solchen
grösseren noch kleine, stecknadelkopfgrosse. Einige der schon län¬
ger bestehenden Hautflecke sind blässer geworden und sind nur noch
an einer schmutzig-braunen Farbe erkenntlich.
Zu erwähnen wäre noch, dass geringe Blasenbildung in der
Mitte der Embolie an den Endphalangen der Finger, aber keine Ulzera-
tionen daselbst bemerkt wurden.
11 Tage nach Beginn der Erkrankung, 6 Tage nach dem erst¬
maligen Nachweis des Bac. pyocyaneus in Blut und Lumbalpunktions-
flussigkeit erlag die Pat. ihrem Leiden.
Aus dem Sektionsprotokoll der am nächsten Tage
ausgeführten Autopsie entnehme ich mit gütiger Erlaubnis des
Herrn Qeheimrat March and folgendes;
Ziemlich grosse Leiche, stark verfallenes Aussehen. An Gesicht
und Brust deutlich gelbliche Verfärbung. An oberen und unteren Ex¬
tremitäten, an abhängigen Teilen des Rückens teils diffuse, teils ver¬
waschene rötliche Flecke von etwa Linsengrösse oder ein wenig
darüber.
Duia mater des Gehirns gespannt. Im Sinus longitudinalis
noch nussiges Blut vorhanden. Die Innenfläche der Dura mater er¬
scheint über beiden Hemisphären glatt; in den weichen Hirnhäuten
nimmt man beiderseits eine ganze Anzahl grösserer und kleinerer
Intiltrate wahr, dagegen kann man in den Maschen der Pia daselbst
nirgends deutlichen Eiter erkennen, ausserdem befindet sich in den
weichen Hirnhäuten stellenweise etwas trübe gelbe Flüssigkeit.
Bei der Herausnahme des Gehirns zeigten sich in den beider-
seitigen Fossae Sylvii und im Chiasma nervi optici trübe eitrige
Massen; daselbst befindet sich in den weichen Hirnhäuten sehr reich¬
licher rötlicher Eiter, ebensolcher an der Unterfläche des Kleinhirns,
der Medulla oblongata und der Brücke. Beide Kleinhirnseitenventrikel
enthalten eine leicht getrübte Flüssigkeit, in dem Plexus chorioideus
befinden sich reingelbliche eitrige Massen.
Auch in den meisten Häuten des Rückenmarks, namentlich
im Brustteil, ist reichlich Eiter vorhanden. In der rechten Pauken¬
höhle befindet sich eine mässig getrübte gelbliche Flüssigkeit, linke
I aukenhöhle, inneres und äusseres Ohr, Stirn- und Siebbeinhöhlen
ergeben einen völlig normalen Befund.
Die Pleurahöhlen sind frei, ebenso der Herzbeutel;
die Oberfläche des Herzens glatt. Die Fossa ovalis ist geschlossen’,
im rechten Herzmuskel befinden sich weder ältere noch frischere
Herde. Die Aortenklappen erscheinen zart. Der Schliessungsrand
der Mitralklappe ist mässig verdickt, das Ostium daselbst etwas ein¬
geengt. An der Vorhofsfläche der Mitralklappe befindet sich ein
schmaler Streifen von zarten, frischen, gelb- und graurötlichen Auf¬
lagerungen, an einer Stelle des vorderen Mitralsegels ausserdem
ein über stecknadelkopfgrosser, graurötlicher, knopfartiger, festanhaf¬
tender Thrombus. An der Herzspitze besteht ein umschriebener
weisslich-schwieliger Herd; ein zweiter, frischerer, von mehr gelb¬
lich-rötlicher Farbe in der Wand des linken Ventrikels dicht neben
dem Septum ventriculorum.
An der Aussenseite der A o r t a a s c e n d e n s, etwa iVz cm über
dem Sinus der linken Aortenklappe ist eine etwa linsengrosse, flache,
weisslich gefärbte und mit einem rötlichen Saum umgebene Vorwöl¬
bung, welche sich etwas fester anfühlt, vorhanden. Beim Einschnei¬
den auf diese Stelle findet man einen die Adventitia vorbuchtenden,
sie auch teilweise durchsetzenden und auf die Media übergreifenden
gelblich-eitrigen Herd. Ein kleineres, ähnliches, etwa stecknadelkopf¬
grosses Herdchen von weissgelblicher Farbe findet sich am äusseren
Umfange der Aorta im Bereich des 5. Arterienpaares.
Der untere Lappen der linken Lunge ist weniger lufthaltig,
es finden sich daselbst dunkle, blaurote, grössere und kleinere lobulär-
pneumonische Herde. Die übrige Lunge erscheint völlig normal, die
Bronchialschleimhaut dagegen stark gerötet.
Im Rachen, Kehlkopfeingang finden sich dicke, missfarbene,
schleimig-schmierige Massen. Die Schleimhaut ist daselbst gerötet,
an der hinteren Rachenwand, den aryepiglottischen Falten bedecken
dieselbe zarte graugelbliche Auflagerungen, welche sich leicht ent¬
fernen lassen. Beide Tonsillen erscheinen an ihrer Aussenfläche miss¬
farbig, graugrünlich, in den Krypten liegen Pfropfe von graugelb¬
lichen, eingedickten, käseähnlichen Massen. Die Schleimhaut des
Kehlkopfes ist ebenfalls gerötet, auch hierselbst und der ganzen
Trachea dicke schmierige Massen wie im Rachen.
Im Abdomen ist der Uteruskörper leicht vergrössert, von
fester Konsistenz. Zwischen der hinteren Wand des Uterus, der Vor¬
derwand des Rektum und den Adnexen befinden sich eine Anzahl
strangförmiger Verwachsungen, welche auch die Ovarien und die
rechte Tube mit einschliessen. Das Abdomen ist zu beiden Seiten
dieser Verwachsungen frei und normal.
Die Milz erscheint sehr gross, sie ist 17 cm lang, 12 cm breit.
An der Oberfläche sind ausgedehnte zarte fibrinöse Pseudomem¬
branen vorhanden. Ferner bestehen eine grosse Anzahl keilförmiger
embolischer Herde, welche sich durch einen gelben Saum deutlich
von der Nachbarschaft abheben und zum Teil deutlich erweicht und
vereitert sind. In den zuführenden Arterienästen kann man kleine
rötliche Pfropfe gewöhnlich erkennen.
Die Magenschleimhaut ist geschwollen, ödematös, gallig ver¬
färbt; hier und da kann man rötliche Stippchen wahrnehmen, aber
nirgends deutliche embolische Herde. Im Duodenum keine deut¬
lichen Veränderungen; im Jejunum erscheint die Schleimhaut
ebenfalls ödematös; es finden sich daselbst, ferner in der Schleimhaut
des Ileum, Colon ascendens, Ileozoekalklappe,
Zoekum eine ganze Anzahl rundlicher blaurötlicher Herdchen,
welche stellenweise manchmal zusammenfliessen; manche erscheinen
flach, andere sind in der Mitte gering erhaben und mit einem gelb¬
lichen Zentrum daselbst versehen, einige auch in der Mitte mit gelb¬
lichen Pfropfen bedeckt.
In der Leber, Gallenblase keine sichtbaren Veränderungen, die
Nebennieren vergrössert.
Beide Nieren sind gross, Kapsel leicht abziehbar, Oberfläche
sehr unregelmässig gesprenkelt; die Grundfarbe derselben rötlich.
Es heben sich von dieser Grundfarbe eine ganze Anzahl kleiner punkt¬
förmiger eitriger Herde mit gering gerötetem Saum, ausserdem
mehrere grössere, ähnlich aussehender pathologischer Bezirke ab.
Auf dem Durchschnitt entsprechen den grösseren Herden keilförmige
pathologische Stellen vom Aussehen gewöhnlich eitriger Infarkte.
Ausserdem finden sich in der Nachbarschaft derartiger Infarkte viel¬
fach stieifige Herdchen mit rötlichem Saum, welche sich auch von der
Spitze der Pyramiden verbreiten; letztere erscheinen öfter stellen¬
weise ganz gelblich, wie eitrig. Ferner sieht man im Mark und in
der Rinde kleinere gelblich-eitrige Fleckchen. Die Schleimhaut des
Nierenbeckens zeigt eine leichte Rötung, diejenige der Harnblase
keinen pathologischen Befund.
Genitalien; Der derbe Uterus ist vergrössert, an den Tuben¬
winkeln ca. 6 cm breit. In der Cervix uteri zeigt sich missfarbiger
graugrünlicher Schleim. Den grössten Teil der Uterushöhle nimmt
eine eigentümlich trockene und bröcklige Masse von graurötlichem
Aussehen ein, welche besonders dem rechten Tubenwinkel und der
Vorderwand anhaftet, aber auch noch dem Fundus aufsitzt. Am vor¬
deren Umfange haben die Massen ca. Vz cm Breite und 3 Vz cm Länge
und endigen nach unten in einen langen fadenförmigen Fortsatz von
Eihautresten, welche auf dem Durchschnitt dunkelrot, stellenweise
mehr graurot erscheinen. Die Massen an der Hinterwand des Fundus
haben eine mehr höckerige Oberfläche, messen 1 Vz cm im Durch¬
messer und sind von den anderen Massen durch einen weiten Streifen
von schmutzig graugrünlicher roter Schleimhaut getrennt.
Die Blut- und Lymphgefässe in der Uterusmuskulatur und in den
Parametrien werden ohne pathologische Veränderung befunden.
Beide Ovarien erscheinen etwas gross, sukkulent; in jedem be¬
findet sich ein Corpus luteum von ca. 1 cm Länge. Die abdominalen
Tubenostien sind weit, die Fimbrien geschwollen und gerötet.
Sofort bei der Sektion wurde das Herzblut, Abstriche von den
Meningen, der Mitralklappenauflagerung und den verschiedensten son¬
stigen Organen, Infarkten etc. bakteriologisch von Herrn Dr. Löh-
1 e i n, Assistenten am pathologischen Institut, und von mir unter¬
sucht und in allen diesen Organen nur der Bac. pyocyaneus gefunden.
Auf Grund dieses Befundes lautete die ' p a t h o logisch¬
anatomische Diagnose:
Endocarditis chronica et insufficientia levis
valvulae mitralis. Retentio partis placentae (po-
lypus place ntaris). Corpus luteum verum ovarii
utriusque. Endocarditis ulcerosa recens valvulae
mitralis (Bac. pyocyaneus), Septicaemia. Ab-
scessus metastatici renum, lienis, intestini et
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
adventitiae aortae. Myocarditis chronic, 't 1 b r o s. J
v e n t r i c u 1 i sin.; Lcptomeningitis f i b r i n o p u r u 1 e n t a
recens cerebrospinalis. Phary n g i t i s, Laryngitis, j
Bronchitis. Pneumonia 1 o b u 1 a r i s confluens 1 o b i
inferior, p u 1 m o n. s i n i s t r.
Zwecks mikroskopischer Untersuchung bettete ich I eile ,
der erkrankten Mitralklappe, der Nieren, Milz und Daim in
Zelioidin ein, färbte die Schnitte mit polychromem Methylen¬
blau (Qlyzerinäther und Essigsäuredifferenzierung), Thionin,
Fuchsin, nach Gram etc.
Die Auflagerungen auf der Mitralklappe unter schie¬
den sich histologisch in nichts Wesentlichem von denen bei anderen
verrukösen Endokarditiden. Dieselben bestanden in Blutgerinnseln,
welche mit Leukozyten zum Teil durchsetzt waren, zum kleinen 1 eil
auch organisiert erschienen. In diesen I hrombusmassen lagen an
den verschiedensten Stellen die Pyozyaneusbazillen in Reinkultur
millionenweise eingebettet, auch zwischen den Leukozyten waren sie,
wenn auch in geringerer Menge nachweisbar. Es kann nach dei
ganzen Sachlage kein Zweifel herrschen, dass nui die Pyozyancus-
bazillen die Endokarditis hervorgerufen hatten.
Als ein interessanter Befund ist hier noch zu erwähnen, dass in
dem Papillarmuskel, der direkt zur erkrankten Mitralklappe führte,
sich ein kleines Abszesschen vorfand, welches durch Einlagerung von
Leukozyten, strotzende Füllung eines Blutgefässchens zwischen die
einzelnen Muskelbündel als solches diagnostiziert werden konnte.
Vielleicht wären bei mikroskopischer Untersuchung der übrigen Herz-
muskulatur noch mehrere solcher Abszesse zum Vorschein gekommen.
Die in der Darmwand gelegenen roten Flecke scheinen
makroskopisch aus einer hämorrhagischen Verdickung derselben zu
bestehen. Betrachtet man mikroskopisch einen solchen Herd auf dem
Querschnitt, so erkennt man, dass die Veränderungen hauptsächlich
in dem submukösen Gewebe gelegen sind. Die Drüsenschichte des
Darmes erscheint meist ohne besondere pathologische Merkmale, abei
direkt unterhalb derselben ist das Gewebe reichlich mit Leukozyten
infiltriert, die Blutgefässe und auch häufig die Lymphgefässe enorm
erweitert, öfter auch Nekrosen und wirkliche Blutaustritte deutlich
erkennbar. Die unterhalb dieser Herde gelegene Ringmuskulatur ist
ebenfalls meist in den Prozess mit einbezogen, insofern auch sie
nekrotisch sein kann, was man an der mangelnden Kernfarbung und
dem ganzen Aussehen deutlich wahrnehmen kann. An anderen Stellen
wieder scheint der Herd und die Ringmuskulatur gequollen, odematos,
dabei aber die Längsmuskulatur noch verhältnismässig intakt. An
dem Rande der Herde machen die pathologischen Gewebsverände¬
rungen wieder allmählich normalen Verhältnissen Platz.
Auf den einzelnen Schnitten ist es zuweilen recht schwer, die
Pyozyaneusbazillen zu finden. Hat man Qlück, so kann man Stellen
wahrnehmen, woselbst dieselben hauptsächlich in der Adventitia dei
Wand der Blutgefässe liegen und alsdann Bilder abgeben, wie sie
E Fraenkel neuerdings beschrieben und abgebildet hat. Im Innern
der daselbst nicht thrombosierten Blutgefässe erkennt man daselbst
gewöhnlich sehr selten Bazillen, auch sind sie spärlich in den Herclen
zwischen den Leukozyten etc. auffindbar. Das Durchwandern dei
Bazillen durch die Wand der Intima und Media der Gefässe bei der
Pyozyaneussepsis kommt demnach sicherlich vor. Haben wir doch
sogar grössere Abszesse, wie schon oben bemeikt, zwischen dei
Media und Adventitia der Aorta bei dem vorliegenden Falle wahr¬
nehmen können.
Die Herde in der Niere erscheinen als grössere odei kleineic,
in der Rinde mehr rundliche, nach dem Nierenbecken zu als meist
längliche Abszesschen. Es finden sich daselbst wieder die enorm ge¬
füllten Blutgefässe, um dieselben herum oder mehr seitlich von ihnen
die Leukozyten in das Gewebe eingestreut. Daneben kann man öfter
Blutungen in das Gewebe, manchmal auch Nekrosen im Innern der
Herdchen eitrige Detritusmassen wahrnehmen. Die Harnkanäl¬
chen etc. sind im Bereiche dieser Infiltrationen zugrunde gegangen
oder sie sind nur zur Seite gedrückt und manchmal alsdann mit
Bazillenzylindern angefüllt. Direkt in der Umgebung erscheinen die
Harnkanälchen völlig normal. Verschiedentlich hat man auch den
Eindruck, als ob ein derartiges Abszesschen von einem Glomerulus
seinen Ausgang nimmt, insofern man meist im Zentrum Reste von
einem solchen mit Sicherheit erkennen kann. Dagegen ist an anderen
Glomerulis wieder nichts Krankhaftes wahrzunehmen.
Pyozyaneusbazillen findet man in den einzelnen Herdchen ge¬
wöhnlich aufSchnitten spärlich, einenUebertritt von denselben aus den
kleineren Blutgefässchen in die Adventitialscheiden kann man an ge¬
eigneten Präparaten, wenn auch selten, wahrnehmen. Eine eigent¬
liche Thrombusbildung wie sie bei Strepto- und Staphylokokkensepsis
ganz gewöhnlich vorkommt und welche mit Pyozyaneusbazillen an¬
gefüllt sind, kann man mikroskopisch bei den kleinen Blutgefässen
selten wahrnehmen, dagegen war makroskopisch in grösseren Her¬
den reichlich Thrombenbildung und sind mikroskopisch Bazillen in
letzteren nachweisbar.
Die Herde in der Milz bieten nichts Besonderes, es finden sich
da ähnliche Prozesse wie die soeben angedeuteten, nur sind die
einzelnen Herde hier grösser, es ist weit mehr Detritus und nekro-
flsches Gewebe in denselben und grössere Blutungen ‘vorhanden.
Um den klinischen Verlauf des vorliegenden Falles noch¬
mals zu rekapitulieren, so handelt es sich um eine 28 jährige
Arbeiterin welche plötzllth, angeblich zu gleicher Zeit mit dein
Auftreten einer sehr starken Menstruation, an Kopt- und
Rückenschmerzen und Fieber erkrankte. Am 4. Erkrankungs¬
tage kommt Pat. in die Klinik und es konnten sofort bei der
Aufnahme die klinischen Symptome einer Meningitis neben
Zeichen von allgemeiner septischer Infektio n er¬
kannt werden: Es bestanden Nackensteifigkeit, Schmerzhaftig¬
keit der Halswirbelsäule, der Wadenmuskulatur, Flecke auf
der Haut welche wie hämorrhagische Hautembolien aussahen,
hauptsächlich an den distalsten Teilen der Extremitäten lokali¬
siert waren, ferner leichter Ikterus, geringe katarrhalische An¬
gina starke Vergrösserung der Milz, hohes Fieber usw.
Eine am 5. Krankheitstage ausgeführte Untersuchung des
Blutes und der Lumbalpunktionsflüssigkeit klärte das ganze
Krankheitsbild auch ätiologisch auf, insofern bakteriologisch
im Blut und der Lumbalpunktionsflüssigkeit
der Bacillus pyocyaneus in Reinkultur gefunden
wurde. Es konnten an diesem Tage in 20 ccm Blut 210 Ko¬
lonien, am 8. Krankheitstage in 20 ccm bei derselben kulturellen
Untersuchungsmethode 380 und am 10. Krankheitstage in zO ccm
600 lebensfähige Pyozyaneuskeime kulturell nachgewiesen
werden. Auch in der Lumbalpunktionsflüssigkeit wurden Pyo¬
zyaneusbazillen am 5. und 10. Krankheitstage in Reinkultur ge¬
funden. - . . /
Im weiteren Verlauf der Erkrankung zeigten sich neue
Flecke auf der Haut, die alten wurden grösser, es traten Be¬
nommenheit, Delirien, Meteorismus ohne Durchfälle hinzu, die
anfangs geringfügige, anscheinend katarrhalische Angina vei -
schlimmerte sich und es erfolgte am 11. Krankheitstage im
tiefen Koma der Exitus letalis.
Was nun das klinische Bild der Pyozyaneussepsis
im allgemeinen anlangt, so dürfte dasselbe nach den bis jetzt
vorliegenden Publikationen sehr vielgestaltig sein. Wir können
zuerst einmal einen akuten und einen chronischen Verlauf der
Krankheit unterscheiden. Während in der Mehizahl der Fälle
die Erkrankung akut unter hohem Fieber beginnt und inner¬
halb weniger Tage zum Tode führt, sehen wir z. B. in dem
de la Camp sehen Falle die Erkrankung anscheinend \A
Jahre lang bestehen.
Das Fieber, welches, wie bemerkt, akut und in be¬
trächtlicher Höhe einzusetzen oflegt, zeigt während des Krank¬
heitsverlaufes einen nicht regulären Typus. E* kann remit¬
tierend, intermittierend sein, jedenfalls ist es gewöhnlich hoch
und zeigt ein Verhalten, wie wir es auch bei septischen Er¬
krankungen, welche durch andere Bakterien bedingt sind, sehen
können. Dabei ist auffallend, dass eigentliche, sich wieder¬
holende, Schüttelfröste in der Literatur nur selten erwähnt
sind, wenn auch von zeitweisem Frost manche Autoren reden.
Auch der Puls verhält sich ähnlich wie bei den übrigen sep¬
tischen Krankheiten; er ist gewöhnlich stark in Mitleidenschaft
gezogen, frequent, dikrot usw.
Das Allgemeinbefinden ist sofort sehr stark al-
teriert, es kann zu einem typhösen Status kommen, es können
Delirien, allgemeine Prostation, Apathie, Somnolenz, überhaupt
Erscheinungen auftreten, welche wir als toxische bezeichnen
können. Dabei bestehen Kopfschmerzen, Nackenschmerzen,
Wadenschmerzen, Druckempfindlichkeit und Steifheit der Mus¬
kulatur.
Eine hochgradige Dyspnoe, welche von manchen Autoren
als charakteristisches Merkmal einer Pyozyaneussepsis ange¬
geben wird, werden wir hauptsächlich dann wahrnehmen, wenn
eine Infiltration der Lungen, Bronchitis etc. vorhanden ist, es
werden bei solchen Patienten 'auch Husten und Auswurf auf¬
treten, in welchem der Bacillus pyocyaneus vorhanden sein
dürfte. L
Im Allgemeinen wird das klinische Bild sehr grosse Dif¬
ferenzen, je nachdem sich der Bazillus an diesem oder jenem
Orte besonders lokalisiert hat, aufweisen, wie das bei Sepsis¬
fällen ander Aetiologie auch der Fall ist. So sehen wir in
unserem Falle den Bazillus ganz besonders in den Meningen
etabliert und daselbst eine fibrinös-eitrige Meningitis hervor-
ruferh ‘Infolgedessen beherrschten besonders diese möningiti-
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1403
sehen Symptome das ganze Krankheitsbild vom Beginne der
Erkrankung an.
Als konstante Krankheitserscheinung bei der Pyozyaneus-
sepsis werden ferner Durchfall und öfter Erbrechen genannt.
1 rotzdem in unserem Fall reichliche hämorrhagische Herde
und Oedem am Darme bei der Autopsie sich zeigten, bestand
während des Lebens kein Durchfall, ausser einem mässigen
Meteorismus auch keine sonstigen Symptome von seiten des
Magen- und Darmkanals. Wir können also Magen- und Darm¬
erscheinungen nicht als konstante Vorkommnisse während des
Lebens hier anführen, wenn auch, wie es scheint, bei der
Sektion gewöhnlich pathologische Prozesse am Darme gefun¬
den werden. Es werden sich die Verhältnisse hier ähnlich ver¬
halten wie beim Unterleibstyphus, wo ebenfalls Darmerschei¬
nungen während des Lebens trotz regelmässig vorhandener
Veränderungen an demselben fehlen können.
Als ein konstantes Symptom dagegen wird von allen
Autoren der hämorrhagische Charakter der Flecke auf
der Haut, Darm etc. angesehen. Wie schon oben angeführt,
handelt es sich dabei in unserem Falle wohl um Blutaustritte
aus den Qefässen in die Gewebemaschen, aber die rote, blau¬
rötliche Farbe dieser Flecken war in erster Linie durch die
enorme Blutfülle der daselbst befindlichen Kapillaren und Er¬
weiterung derselben bedingt. In anderen Fällen war der hä¬
morrhagische Charakter fast nur durch Blutungen in das Ge¬
webe hervorgerufen, es waren auf diese Weise bei solchen
Blutblasen entstanden, die teilweise vereiterten etc.
Von verschiedenen Autoren werden diese Flecke als Pe¬
techien bezeichnet, es wird von hämorrhagischer Diathese, von
Ekthyma ähnlichen Effloreszenzen gesprochen.
Die Entstehung eines derartigen Exanthems ist bei Sepsis¬
fällen anderer Aetiologie wohl stets dieselbe: Durch Ver¬
stopfung eines Blutgefässes mittelst eines embolischen Vor¬
ganges kommt es zu einer lokalen Zirkulationsunterbrechung
im Bereich des betr. Blutgefässes. Infolgedessen vermehren
sich die Bazillen in ihm ausgezeichnet, dieselben werden in¬
folge ihres Wachstums die Blutgefäss- oder Kapillarwand
schädigen, aus derselben in die Umgebung gelangen können
und hier alsdann die verschiedenartigsten Herde und Ent¬
zündungen erzeugen.
Bei einem Teil der durch den Bacillus pyocyaneus hervor¬
gerufenen derartigen Reaktionen des Gewebes handelt es sich
sicherlich um ähnliche Vorgänge wie den soeben genannten.
Dafür sprechen namentlich die grösseren Herde in der Milz
und auch in den Nieren, wo wir direkt schon makroskopisch
(s. o.) Thromben in den in dem betreffenden Herd befindlichen
Gefässen nachweisen konnten, in welchen die Pyozyaneus-
bazillen vorhanden waren.
Andererseits aber fanden wir namentlich in den kleineren
Herden der Niere keine solchen Thromben, hier war das Blut
in den Gefässen der Herdchen nicht geronnen, kein Fibrin
nachweisbar. Wir sind infolgedessen gezwungen, bei diesen
Herdchen einen anderen Entstehungmodus anzunehmen, worauf
in diesen Tagen E. F r ä n k e 1 ganz besonders aufmerksam ge¬
macht hat: Da der Bac. pyocyaneus in grossen Mengen im
Blute vorhanden ist, wird derselbe sehr leicht auch ausserhalb
der Blutgefässe in die Lymphspalten, zuerst und vornehmlich
der arteriellen Gefässchen gelangen können und sich daselbst
ansiedeln und vermehren. Von hier aus können dann sehr
leicht die kleinen Herdchen sich entwickelt haben. Einen
direkten Beweis für eine derartige Annahme sehe ich zuerst
darin, dass Thromben in den Blutgefässen der verschiedenen
kleineren Herde sehr oft fehlen, und dass zweitens bei gün¬
stigen Präparaten man direkt erkennen kann, wie die Bazillen
zwischen der Media und Adventitia der Gefässchen liegen (s. o.)
und von hier aus die Reaktion in dem umliegenden Gewebe
hervorgerufen haben.
Damit, dass der Bacillus pyocyaneus auf der Haut konstant
solche hämorrhagische Herde hervorruft, soll nicht gesagt sein,
dass er allein von den Mikroorganismen dazu im stände ist.
Ich sah schon ähnliche derartige, rote Flecken in ähnlicher
Konfiguration bei Staphylokokkensepsis, und so werden solche i
vielleicht j, . auch durch andere Bakterien erzeugt. Diese
Erfahrungen geben uns einen Hinweis darauf, dass wir wohl
bei grösseren hämorrhagischen Flecken an den Bacillus pyo¬
cyaneus denken, aber nicht in solchen Fällen ihn als Infektions¬
erreger ohne weitere bakteriologische Untersuchung an¬
sprechen dürfen.
Bei den meisten Pyozyaneusallgemeinerkrankungen ist eine
beträchtliche M i I z Schwellung konstatiert worden, ebenso in
unserem Falle; von wenigen Autoren wurde jedoch eine solche
vermisst. Ob eine Leukopenie und a b n o r m schlechte
Gerinnbarkeit des Blutes, welch letztere in unserem
Falle auch gefunden wurde, bei allen derartigen Krankheiten
vorkommt, dürften erst zukünftige Untersuchungen fcststellen.
Eine durch den Bacillus pyozyaneus hervor'gerufene Endo¬
karditis ist bis jetzt bei Erwachsenen nur von de la Camp
meines Wissens beobachtet worden. Auch bei Kindern ist
sie scheinbar sehr selten, insofern nur Blum12) bei einem
2Vi Monate alten luetischen Kinde, welches an einer Pyo-
zyaneussepsis starb, eine solche der Mitralklappe erwähnt.
Dass man experimentell bei Tieren (Kaninchen) eine Endo¬
karditis mit Bacillus pyocyaneus hervorrufen kann, hat Ha¬
se n f e 1 d 1;') bewiesen.
Die Endokarditis beim Menschen scheint sich in nichts
von der durch andere Bakterien hervorgerufenen zu unter¬
scheiden. Es handelt sich um verruköse zarte Auflagerungen
von Thromben auf den Klappen, die teilweise organisiert sind,
und in welchen massenhaft die Pyozyaneusbazillen nachge¬
wiesen werden können. Klinisch werden diese Endokardititen
wegen ihrer Zartheit und Geringfügigkeit nur selten diagnosti¬
ziert, sondern nur vermutet werden können, wie es auch bei
unserem Patienten der Fall war.
Was nun die Eintrittspforte für die Infektion des Bacillus
pyocyaneus anlangt, so liegen in der Literatur verschiedene
Angaben vor. Vor allem dürfte dieselbe in Verletzungen der
äusseren Haut und Schleimhaut (Mund, Tonsillen, Magen,
Darm, Lungen) zu suchen sein.
In unserem Falle ist die Eintrittspforte nicht mit absoluter
Sicherheit anzugeben. Da jedoch die Patientin, wie ich später
in Erfahrung brachte und durch die Sektion bestätigt wurde,
schwanger war, und die eingangs erwähnte Blutung von einer
Unterbrechung der Schwangerschaft herriihrte, so glaube ich,
dass bei dem Fehlen einer Annahme für eine andere Eintritts¬
pforte dieselbe mit grosser Wahrscheinlichkeit in dem graviden
Uterus zu suchen und demnach der Fall als eine puerperale
Sepsis aufzufassen ist.
Dass die Tonsillen nicht die Eingangspforte gewesen sind,
wie man vielleicht auf Grund des Sektionsbefundes annehmen
könnte, glaube ich daraus zu entnehmen berechtigt zu sein,
dass im Anfänge der Beobachtung die Tonsillen normal waren,
und erst allmählich zu der Rötung des Rachens eine Tonsilitis
sich sekundär hinzugesellte.
Alles in allem wird man auf Grund der Fälle der Literatur
und des vorliegenden aus dem klinischen Symptomenkomplex
allein eine Pyozyaneussepsis nicht erkennen können. Eine
Sepsis ohne Angabe der Aetiologie wird man wohl meist zu
diagnostizieren im stände sein, man wird auch, wie oben schon
angedeutet, nach dem hämorrhagischen Aussehen des Exan¬
thems auf der Haut in erster Linie an den Bazillus pyocyaneus
als Erreger denken. Die richtige ätiologische Diagnose da¬
gegen wird erst durch die bakteriologische Untersuchung des
Blutes etc. gestellt werden können.
Ich glaube somit, durch Mitteilung des vorliegenden Falles
unter anderem hauptsächlich den Beweis geliefert zu haben,
dass auch bei Erwachsenen der Bacillus pyo¬
cyaneus als selbständiger Infektionserreger
auftreten und die Rolle eines invasiv patho¬
genen Bakteriums daselbst spielen kann. Und
zwar ist, wie mein und andere Fälle lehren, eine vorher¬
gehende Schwächung des menschlichen Organismus und eine
damit Hand in Hand gehende Abnahme der Widerstandsfähig¬
keit der Gewebe zu einer Infektion und allgemeinen Sepsis
nicht notwendig, wie es etwa F i n k e 1 s t e i n 14) u. a.‘ an-
12) Zentralbl. f. Bakt. u. Parasitenk. 25 pag. 113.
ls) Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 64.
14) ChariteTAnnaJen 1896.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
nehmen, welche behaupten, dass nur geschwächte Individuen
von der Erkrankung befallen werden können.
Auch der Einwand Schimmelbuschs, dass auf der
Haut und den Wunden der Bacillus pyocyaneus so häufig vor¬
komme — was übrigens Krannhals bei seinen Unter¬
suchungen nicht bestätigen konnte — und doch so selten zu
einer allgemeinen Infektion führe, können wir nicht als ein
Argument gegen die Pathogenität des Bazillus gelten lassen.
Es führen doch z. B. unsere gewöhnlichen Eitererreger die
Staphylo- und Streptokokken in der Regel bloss zu lokalen
Prozessen und nur in einer verschwindenden Anzahl von
Fällen zu Allgemeininfektionen. Niemand wird desw egen heut¬
zutage diesen Bakterien ihre Pathogenität absprechen wollen.
Die Bedingungen, unter welchen diese Kokken wie der
Bac. pyocyaneus eine Allgemeininfektion herbeizuführen im¬
stande sind,' sind bis jetzt nicht geklärt, es werden verschiedene
Faktoren dabei beteiligt sein, so vor allem die Widerstands¬
fähigkeit des befallenen Organismus, die Art und Lokalisation
der Eintrittspforte, die Virulenz der Bakterien.
Diese verschiedenen Faktoren genauer zu erfoi sehen,
dürfte der Zukunft Vorbehalten sein, auch zweifle ich nicht, dass
bei regelmässiger Blutuntersuchung, wie sie heute in den
meisten Kliniken geübt wird, eine grössere Anzahl von Pyo-
zyaneuserkrankungen als bisher gefunden wird.
Aus der psychiatrischen Klinik in Freiburg i. B.
(Prof. Dr. Hoche).
Hemiplegie bei intakter Pyramidenbahn (intrakortikale
Hemiplegie).*)
Von Dr. W. S p i e 1 m e y e r, Assistenzarzt der Klinik.
Nach den Ergebnissen der klinisch-anatomischen und ex¬
perimentellen Arbeiten, die sich mit der Erforschung des
nervösen motorischen Mechanismus beschäftigen, kommt es
zu einer typischen hemiplegischen Bewegungsstörung nur dann,
wenn die sogen, motorischen Willensbahnen unterbrochen odei
an ihrer Ursprungsstelle zerstört werden. Die Vorherrschaft
unter diesen von der motorischen Rinde entspringenden Bahnen
erwirbt sich im Laufe der Phylogenese die direkte Grosshirn-
Rückenmarksverbindung, die Pyramidenbahn. In Ueberein-
stimmung mit den vergleichend-anatomischen Studien
E d i n g e r s ergibt sich aus den klinischen und anatomischen
Untersuchungen, dass allmählich in der Stammesentwicklung
die älteren motorischen Hauben- und Vierhügelsysteme an
Selbständigkeit einbüssen und dass dementsprechend die
direkte kortikospinale Bahn an Bedeutung für den zentralen
motorischen Apparat gewinnt. So kommt es, dass der Aus¬
fall ihrer Funktion von den anderen subkortikal entspringenden
Systemen nicht mehr ausgeglichen werden kann, während es
sich nicht wohl bezweifeln lässt, dass sie allein für alle mo¬
torischen Verrichtungen beim Menschen vollkommen aus¬
reicht (Rothmann1).
Den klarsten Beweis für diese funktionelle Ueberlegenheit
der Pyramidenbahn gibt der Befund bei der Hemiplegie des
Menschen: wo es zu einer ausgesprochenen Halbseitenlähmung
mit nachfolgenden Spasmen und Kontrakturen kommt, ist diese
Bewegungsstörung in erster Linie auf eine Läsion der korti-
kospinalen Bahn zurückzuführen. Denn es ist — wie das erst
neuerdings von Probst2) betont wurde — noch kein Fall
bekannt geworden, in welchem „eine organische Lähmung der
Extremitäten eingetreten wäre“, ohne dass die Pyramiden¬
bahn eine Verletzung erlitten hätte.
Natürlich gilt das nicht für jede akute Hemiplegie; ich
erinnere an die Fälle von transitorischer Halbseitenlähmung,
von agonaler oder toxischer kompletter Hemiplegie, von
extrazerebralen Lähmungen, in denen eine nachweis¬
bare Erkrankung des Projektionssystems vermisst
*) Nach einem in Baden-Baden gehaltenen Vortrage (Mai 1906).
1) Rothmann: Ueber neue Theorien der hemiplegischen Be¬
wegungsstörung. Monatsschr. f. Psych. und Neur. Bd. 18.
2) M. Probst: Zur Kenntnis der Qroshirnfaserung und der
zerebralen Hemiplegie. Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften. 112 Bd. III. Abt.
wurde. Dagegen hat dieser Satz bisher seine Geltung
für diejenigen stationären oder residuären halb¬
seitigen Lähmungen, die noch durch ihre Kombination mit
Spasmen und Kontrakturen näher bestimmt sind.
Denn darin, dass sich bei „Halbseitenlähmungen“ mit anders¬
artigen Symptomen die Pyramidenbahnen intakt finden,
kann natürlich eine Ausnahme von diesem Satze nicht erblickt
werden. Diese „Hemiplegien“ beruhen eben entsprechend ihren
andersartigen Symptomen auch auf einer Schädigung an¬
dersartiger Systeme, wie z. B. die zerebellaren
Hemiplegien oder die seltenen Hemiparesen und Akinesen, die
auf einen Ausfall zentripetaler Bahnen zurückzuführen sind.
Zu den Hemiplegien dieser Art glaube ich auch eine Beob¬
achtung von Pierre Marie und Georges Guillain1)
rechnen zu dürfen. Das Bemerkenswerte dieses Falles (vgl.
Rothmann 1. c. 606) liegt darin, dass hier eine Degeneration
der Pyramidenbahn, die der intra vitam festgestellten zere¬
bralen Kinderlähmung entsprochen hätte, vermisst wurde, da¬
gegen war der roteKern auf der derLähmung entgegengesetzten
Seite zerstört und infolgedessen seine zuführenden und ab¬
führenden Bahnen degeneriert, resp. unterbrochen. Auf_ eine
Interpretation der klinischen durch die anatomischen Befunde
verzichten die Autoren, weil sie den Kranken nicht selber
untersucht haben. Sie begnügen sich damit, es als möglich
hinzustellcn, dass diese infantile Hemiplegie abhängig ist von
der Läsion des roten Kernes und der motorischen Haubenbahn.
Dass die Ausschaltung dieser letzteren hier nicht wesentlich
in Betracht kommen kann, ist wohl gewiss; so würde also der
Fall besonders eklatant zeigen, wie der Ausfall bestimmter
zentripetaler Faserungen, zumal wenn sie in früher Kindheit
zerstört sind, zu einer dauernden hemiplegischen Störung
führen kann. Inwieweit aber diese Hemiplegie mit den Symp¬
tomen der gewöhnlichen zerebralen Hemiplegie im übrigen
übereinstimmt, ist in dieser Arbeit nicht erörtert. Es kann also
bisher auch durch diesen Fall der Satz nicht entkräftet werden,
dass zum Wesen der typischen residuären Grosshirnhemi¬
plegie, der Halbseitenlähmung mit Spasmen und Kontrakturen,
eine Verletzung der motorischen Willensbahnen, in erstei
Linie der Pyramidenbahn gehört.
Dass es nun doch, in gewiss ausserordentlich seltenen
Fällen, zu einer organischen Halbseitenlähmung,
die alle Zeichen der gewöhnlichen residuären
Grosshirnhemiplegie trägt, kommen kann bei i n -
takt bleibender Pyramidenbahn, darüber möchte
ich hier berichten; und ich will zu zeigen versuchen, welche
Erklärung sich für das Zustandekommen dieser Hemiplegie
aus dem pathologisch-anatomischen Befunde ab¬
leiten lässt. Vielleicht können diese klinisch-anatomischen
Untersuchungen dazu beitragen, die Kenntnis von dem ner¬
vösen motorischen Mechanismus zu erweitern.
Der Fall, von dem hier die Rede ist, ging klinisch, nach unserer
Diagnose, als genuine Epilepsie. Die Anfälle, die bei der
Kranken in den zwanziger Jahren aufgetreten waren und im Laufe
der Jahre an Häufigkeit zugenommen hatten (2 — 3 im Monat), trugen
den gewöhnlichen Charakter. Jackson sehe Rindenkrämpfe wur¬
den nie beobachtet, ebensowenig postparoxysmale Lähmungen. Auch
die psychischen Störungen chronischer und passagerer Art ent¬
sprachen durchaus den bekannten Bildern bei der genuinen Epilepsie:
die früher intelligente Kranke verblödete zusehends, sie wurde um¬
ständlich, servil, reizbar; im Anschluss an die Krampfanfälle, aber
auch unabhängig von ihnen, traten Dämmerzustände auf, bald mit
einfacher Verstimmung und oligophasischen Störungen, bald mit hef¬
tiger motorischer Unruhe und ängstlichen Delirien. — Zwei Jahre
vor dem Tode der damals etwa 40 jährigen Kranken blieb nach einem
mehrtägigen schweren Statu sepilepticus eine t o t a 1 e 1 inks¬
seitige Lähmung zurück. Aus der ursprünglich schlaffen
Lähmung entwickelte sich unter Zunahme der Reflexerregbarkeit auf
der gelähmten Seite, unter Restitution von „Gemeinschaftsbewegungen“
und Ausbildung typischer Kontrakturen die residuäre Phase der
Hemiplegie. In der gelähmten Seite hatte die Kranke oft unan¬
genehme subjektive Empfindungen; objektiv waren die elementaren
Empfindungsqualitäten (Schmerz-, Berührung-, Temperaturempfin-
3) Pierre Marie et Georges Guillain; Lesion ancienne du
noyau rouge. Extrait de la nouvelle Iconographie de la Sal-
petriere 1903.
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
düng) nicht geschädigt, dagegen waren der Ortssinn und der stereo-
gnostische Sinn leicht gestört.
Das Bild der Hemiplegie in diesem Falle bot also keinerlei
Abweichungen von dem Typus der gewöhnlichen zerebralen
Hemiplegie. Das einzige Symptom, das bei der Kranken
während der Zeit ihres Aufenthaltes in der Klinik vermisst
wurde, war das B a b i n s k i sehe Phänomen. Doch soll auch
das im Anfänge der Residuärphase vorhanden gewesen sein;
und schliesslich ist ja dieser Reflex auch bei ausgesprochenen
Pyi amidenbahnerkrankungen lange nicht mit der Regel¬
mässigkeit nachzuweisen, dass ihm die Bedeutung eines not¬
wendigen Symptomes der echten Hemiplegie zukäme.
Es wurde deshalb als anatomische Ursache für die hier
vorliegende hemiplegische Bewegungsstörung eine Herdläsion,
ohne kapsuläre oder suprakapsuläre Hämorrhagie, ange¬
nommen; und es schien plausibel, dass für das Zustande¬
kommen dieser Läsion die Zirkulationsstörungen während des
schweren Status epilepticus den letzten Anlass gegeben haben
mochten.
Von einer solchen Herderkrankung fand sich bei der Sek¬
tion und bei der eingehenden histologischen Untersuchung
nichts. Dagegen war die ganze rechte — also die der Hemi¬
plegie entgegengesetzte — Hemisphäre in toto verkleinert; sie
war um mehr als 200 g leichter wie die gesund erscheinende
linke Hemisphäre. Ueberall waren die Windungen schmal
und kammartig, ganz besonders in den vorderen und mittleren
Partien des rechtsseitigen Grosshirns; dabei unterschied sich
ihre Anordnung in nichts von der auf der gesunden Seite.
Entspiechend der erheblichen Atrophie des Grosshirnmantels
sind seine ,, direkten und indirekten Anteile11, also besonders
der Thalamus und Nucleus ruber rechts und die Kleinhirn¬
hemisphäre links, etwas an Volumen reduziert; sie zeigen
mikroskopisch die Merkmale der sekundären Atrophie.
Von primären Veränderungen ist in diesen Partien, wie auch
sonst im Hirnstamm und Rückenmark nirgends etwas nach¬
weisbar.
Von den Ergebnissen der mikroskopischen Unter¬
suchung ist für die hier interessierende Frage nach den ana¬
tomischen Grundlagen der hemiplegischen Bewegungsstörung
zweierlei von Bedeutung.
Erstens der Nachweis einer völlig intakten Pyra¬
mide n b a h n. Mit den Markscheidenfärbungen und mit der
M a r c h i sehen Osmiummethode ist nirgends in Pons, Medulla
und Rückenmark eine Lichtung des betreffenden Pyramiden¬
areals oder ein frischer Ausfall von Fasern nachzuweisen. Und
auch an Weigert sehen Neurogliapräparaten ist nirgends ein
Unterschied zwischen den beiderseitigen Pyramidensystemen
zu erkennen. Ich möchte gerade darauf besonderes Gewicht
legen, da die W e i g e r t sehe Gliafärbung dort, wo sie gelingt,
ein ausserordentliches feines Reagenz4) für den Ausfall funk¬
tiontragender Nervensubstanz ist.
Zweitens ist hier von Bedeutung der Befund einer
schweren Rindenerkrankung, die sich auf die
der Hemiplegie entgegengesetzte Hemisphäre
beschränkt. Dieser Krankheitsprozess ist in allen Rinden¬
gebieten der rechten atrophischen Hemisphäre der gleiche, nur
der Intensität nach unterscheiden sich die Veränderungen in
den verschiedenen Abschnitten des rechten Grosshirns. Dabei
sind nicht etwa funktionell umschriebene oder bestimmten Ge-
fässbezirken angehörige Zonen stärker betroffen; es sind
vielmehr im allgemeinen die vorderen zwei Drittel der rechten
Hemisphäre stärker atrophisch als das okzipitale Drittel.
Welcher Art dieser Krankheitsprozess ist, das lässt sich
hier nicht auseinandersetzen, will man ihn irgendwie rubri¬
zieren, so kann man ihn zu den sklerotischen Hirn¬
atrophien oder sklerotischen Hemisphären¬
atrophien rechnen. Aber damit ist seine Eigenart in keiner
Weise bestimmt, da ja — worauf neuerdings besonders
B i s c h o f f 5) hingewiesen hat — unter dem Namen „sklero-
4) Spielmeyer: Ueber das Verhalten der Neuroglia bei
tabischer Optikusatrophie. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1906, S. 102.
5) Bi sch off: Ueber die sogen, sklerotische Hemisphärenatro-
phie. Wiener klinische Rundschau 1901.
No. 29.
1405
tische Hemisphärenatrophie“ ganz heterogene halbseitige Hirn¬
erkrankungen (z. B. abnorme Kleinheit einer Hemisphäre) zu¬
sammengefasst werden. Ich werde deshalb an anderer Stelle
eingehend über die Veränderungen in diesem Falle“) an der
Hand von Abbildungen berichten und werde dort auch die Be¬
ziehungen meines Falles zu den in der Literatur beschriebenen
sklerotischen Hirnatrophien besprechen. Hier möchte ich nur be¬
merken, dass ich bisher keine Fälle in der Literatur gefunden
habe, die ich mit dem meinen sicher identifizieren könnte, und
dass auch einem Kenner der Hirnrinde wie N i s s 1 das hier vor¬
liegende histologische Gesamtbild, das besonders durch die Art
der Gliawucherung 6 7) bestimmt wird, bisher unbekannt war.
Für die hier aufgeworfene Frage nach der anatomischen
Ursache der Hemiplegie kommt es nur auf den Befund in der
Zentralregion an. Am besten belehrt über die Verände¬
rungen dort ein Vergleich der gesunden linken mit der kranken
rechten Hirnrinde. An Nisslpräparaten aus der vorderen Zen¬
tralwindung sieht man ohne weiteres, wie die Verschmälerung
des Rindenbandes rechts auf dem Ausfall ganzer Zellschichten
beruht: Die obersten Zellschichten bis tief in die dritte
Zone hinein sind völlig zugrunde gegangen, aber auch die tiefen
Schichten der Rinde sind sehr nervenzellarm und dafür reich
an Gliazellen; das Weigertsche Gliapräparat zeigt sehr
schön den Ersatz der funktiontragenden Nervensubstanz durch
nicht nervöses Stützgewebe. Eine Verwerfung der Zell¬
schichten fehlt. Die Gefässe sind intakt; die Endothelien sind
allerdings auffallend pigmentreich, von regressiven oder ent¬
zündlichen Veränderungen ist aber nichts nachzuweisen.
In dieser stark atrophischen Rinde ist aber ein Zell-
streifen in ganzer Ausdehnung enthalten: das
ist die fünfte Schicht, die Schicht der Riesenpyra¬
mide n z e 1 1 e n. Sie sind den entsprechenden Elementen
auf der gesunden Seite nach Zahl, Anordnung und Struktur
völlig gleich. Hier und da macht es den Eindruck, als wären sie
in der kranken Rinde sogar zahlreicher als in der gesunden —
ein Eindruck, der dadurch hervorgerufen wird, dass in der
schmalen Rinde die gleich zahlreichen Elemente dichter zu¬
sammengerückt sind. Ausser diesen Riesenpyramidenzellen
sind nur noch die grossen und mittleren Pyramiden der dritten
Schicht relativ zahlreich in dieser atrophischen Rinde ver¬
treten.
Die Beetz sehen Riesenpyramiden und vielleicht
auch ein Teil der grossen Pyramiden der dritten Schicht sind
aber die Ursprungszellen der kortiko motori¬
schen Bahn. Dass sie .„in physiologischer Hinsicht mit
motorischen Funktionen in irgend einem Zusammenhänge
stehen“, dass sie als „motorische Rindenzellen“ gelten dürfen,
das geht schon aus den zellhistologischen Untersuchungen an
der Hirnrinde hervor (N i s s 1, Kolmer8). Auch C a j a 1 9 10)
kommt auf Grund seiner namentlich mit der Golgimethode
ausgeführten Untersuchungen zu dem Resultate, dass die
grossen Zellen seiner vierten und sechsten (resp. dritten und
fünften) Schicht „den Ursprungsort des motorischen Impulses
darstellen“. „Obgleich es unmöglich ist, die wahre Rolle, die
den verschiedenen Arten von Pyramiden zukommt, zu be¬
stimmen, so ergibt sich doch aus unseren Untersuchungen die
hinreichend plausible Hypothese, dass die Pyramidenbahn aus
den Riesenpyramiden und aus nicht wenigen der mittelgrossen
Pyramiden stammt . . .“. Den stringenten Beweis, dass sich
dies wirklich so verhält, können diese zellhistologischen Unter¬
suchungen allerdings nicht erbringen (siehe darüber auch
Brodmann: Beiträge zur histologischen Lokalisation der
Grosshirnrinde. I. Journal f. Physiol. u. Neurol. II).
6) Dort werde ich auch eine ausführliche Wiedergabe der Kran¬
kengeschichte bringen.
7) Siehe darüber auch meine im Archiv f. Psychiatrie erschei¬
nende Arbeit: „Von der protoplasmatischen und fasrigen Stützsub¬
stanz des Zentralnervensystems“.
8) Kolmer Beitrag zur Kenntnis der „motorischen“ Hirnrinden¬
region. Archiv f. mikrosk. Anatomie 1901.
9) Cajal: Studien über die Hirnrinde des Menschen. 2. Heft:
Die Bewegungsrinde. Leipzig 1900.
10) v. Monakow: Gehirnpathologie II., 1905, S. 197, 198
432 u. a.
3
1406
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
In einwandsfreier Weise hat aber v. Monakow diesen
Beweis erbracht: nämlich durch den Nachweis der sekun¬
dären Veränderungen der Riesenpyramiden
nach Pyramidenbahnunterbrechung. Nach Zer¬
störung der Pyramidenfaserung im Gebiet der inneren Kapsel
gehen bei Mensch und Tier die Riesenpyramidenzellen der mo¬
torischen Region zugrunde. Man kann sich davon leicht bei den
gewöhnlichen Kapselhemiplegien überzeugen. Auch die Rinden¬
bilder in manchen Fällen von Paralyse, bei denen die Pyra¬
midensysteme sekundär von der Rinde aus degenerieren,
sprechen für die Richtigkeit dieser Beobachtungen. Hier sind
es ebenfalls die Beetzschen Zellen, die bisweilen in geradezu
„elektiver“ Weise zugrunde gegangen sind. Und wenn es über¬
haupt einer Bestätigung dieser Monako w sehen Unter¬
suchungen bedürfte, so könnte der Befund sie hier bringen;
denn wir haben hier eine intakte Pyramidenbahn und
finden intakt in der sonst zellarmen motorischen Rinde die
grossen Pyramiden zellen von Beetz.
In diesem Befunde einer Rindenerkrankung, bei der die
Zellen der motorischen Region in grosser Ausdehnung zugrunde
gehen, die Ursprungszellen aber der kortiko-
motorischen Bahn verschont bleiben, ist meines Er¬
achtens die Erklärung für das Zustandekommen der
Halbseitenlähmung von selber gegeben. Das geht
wohl ohne weiteres daraus hervor, dass der Prozess, der in
diesem Falle zur Hemiplegie geführt hat, sich jenseits des
zentralen motorischen Neurons, sich jenseits
der unmittelbaren Ursprungszentren der
Pyramidenbahn abgespielt hat. Welches im einzelnen
die kortikalen Systeme sind, deren Ausfall die Hemiplegie
zur Folge gehabt hat, das lässt sich natürlich an meinen Prä¬
paraten nicht erweisen; es lässt sich nicht sagen, inwieweit
dafür die autochthonen Veränderungen der motorischen Rinde
und inwieweit der Wegfall ihrer Verbindungen mit den gleich
stark veränderten perifokalen Bezirken anzuschuldigen sind.
Doch ist es sicher, dass hier dem Untergang der Eigen-
elemente der motorischen Rinde und der Ausschaltung
ihrer Verbindungen mit den grossen motorischen Ganglien¬
zellen eine wesentliche ursächliche Bedeutung zukommt. Denn
diese Eigenelemente sind es, die — wie C a j a 1 (1. c.) gezeigt
hat — zu den grossen Pyramiden in besonders nahe Be¬
ziehungen treten und dichte Netze und Körbe um sie bilden.
Sie aber sind hier grossenteils zugrunde gegangen und dem¬
entsprechend sehen die grossen Pyramiden im Bielschowsky-
präparat auffallend „nackt“ aus.
Ich glaube also, aus diesen histologischen Befunden folgern
zu dürfen, dass eine weitgehende Isolierung der
motorischen Ursprungszellen aus ihren nor¬
malen kortikalen Verbänden eine Halbseiten¬
lähmung zur Folge haben kann.
Von Interesse ist dabei, dass sich diese Ausschaltung der
Pyramidenbahn aus ihrem Konnex mit den ihr übergeordneten
kortikalen Systemen sehr rasch vollzogen hat. Denn ähnlich
wie manche Lähmungen nach paralytischen Anfällen, ist auch
hier die Lähmung nach einem schweren Status epilepticus zu¬
rückgeblieben. Es haben also auch hier die gehäuften Anfälle
und die nachfolgende Lähmung ihre anatomische Ursache in
dem plötzlichen Anschwellen des Krankheitsprozesses, in dem
akuten massenhaften Untergang funktiontragender Nerven-
substanz.
Eine prinzipielle Bedeutung haben diese klinisch-anatomi¬
schen Befunde wohl erstens für das Problem der hemiplegi-
schen Bewegungsstörung, zweitens für die allgemeinere Frage
nach der Organisation der Motilität.
Für die Lehre von der Hemiplegie ist zunächst
die Tatsache von Wichtigkeit, dass auch kortikale Verände¬
rungen jenseits des motorischen Projektionssystems eine
Hemiplegie zur Folge haben können. Im Gegensatz zu den
gewöhnlichen kortikalen Hemiplegien, die ihre Ursache in einer
Zerstörung der Ursprungsstätten des zentralen motorischen
Neurons und in dessen sekundärer Degeneration haben, ist die
Hemiplegie hier auf Veränderungen zurückzuführen, die sich
ausschliesslich in der Rinde selber abspielen: Sie lassen das
motorische Projektionssystem intakt, sie bleiben supraradiär,
innerhalb der Rinde. Ich möchte diese Halbseitenlähmung des¬
halb eine „i n t r a k o r t i k a 1 e Hemiplegie“ nennen. — Ein
Unterschied zwischen den Symptomen dieser intrakortikalen
Hemiplegie, die also auf einer Isolierung des motorischen Pro¬
jektionssystems aus seinen kortikalen Verbänden beruht, und
den Symptomen der gewöhnlichen kortikalen oder kapsulären
Hemiplegie, die eine Folge der Zerstörung oder Unterbrechung
der kortikomotorischen Bahnen ist, konnte klinisch nicht nach¬
gewiesen werden. Denn hier wie dort ist die Halbseiten-
lähmung charakterisiert durch die ungleiche Verteilungsweise
der Lähmung auf die verschiedenen Muskelgebiete, durch die
Steigerung der Reflexe und durch die Ausbildung residuärer
Kontrakturen.
Gerade mit Rücksicht auf die Frage nach den Entstehungs¬
ursachen der Kontrakturen, die durch die jüngste Arbeit
von Förster11) wieder ein besonderes Interesse gewonnen
hat, ist dieser Befund bemerkenswert. Wir sehen, dass die
sogen, residuäre Kontraktur nicht notwendig eine Läsion der
Pyramidenbahn zur Voraussetzung hat. Als Bedingung für ihre
Entstehung hat vielmehr ganz allgemein die Ausschaltung des
hemmenden Einflusses des Kortex zu gelten, der Ausfall eines
der übereinander geschalteten Innervationsmechanismen (F ö r-
s t e r, 1. c., S. 9).
So haben die Kontrakturen hier offenbar manches Gemein¬
same hinsichtlich ihrer Genese mit der „senilarterioskleroti¬
schen Muskelsteifigkeit“. Auch bei dieser Erkrankung bleiben
nicht selten die motorischen Projektionsbahnen im wesentlichen
intakt, während die Rinde schwer destruiert ist.
Inwieweit etwa auch die eigentlichen Lähmungserschei¬
nungen analoge Vorbedingungen dort und hier haben, das ent¬
zieht sich vorläufig unserer Beurteilung. Doch ist es nicht un¬
wahrscheinlich, dass es auch bei diesen Formen der Rinden¬
erkrankung zu Veränderungen „jenseits“ der motorischen Ur¬
sprungszellen kommen kann, die eine mehr oder weniger aus¬
gesprochene spastische organische Lähmung zur Folge haben.
Ganz besonders ist daran aber bei den Fällen von genuiner
Epilepsie mit Halbseitenerscheinungen zu
denken, die wohl durch eine stärkere „Akzentuierung des dif¬
fusen Rindenprozesses“ in der motorischen Region bedingt
sind (Redlich 12). Man wird auch hier nicht notwendig als
Folgen dieser Rindenerkrankung Faserdegenerationen in den
kortikomotorischen Bahnen zu erwarten haben; es könnte sich
vielmehr auch in manchen dieser Fälle um Veränderungen
handeln, die jenseits des unmittelbaren zentralen motorischen
Systems bleiben.
Für die zweite Frage, der Frage nach der allgemeinen
Organisation der Motilität, sind diese Befunde des¬
halb von Interesse, weil sie einen Einblick gestatten in den zen¬
tralen motorischen Mechanismus. Wir sehen, dass sich das
motorische Projektions f e 1 d aus mehreren übereinander ge¬
ordneten Systemen zusammensetzt, dass es nicht nur die Ur¬
sprungselemente der kortikomotorischen Bahnen, sondern auch
noch weiter „zentral“ gelegene Neurone umfasst. Der Ausfall
dieser höher gelegenen Systeme hat den gleichen Effekt wie der
Ausfall der kortikomotorischen Bahnen; mit diesen Bahnen
haben sie also auch die gleiche Funktion gemeinsam:
die Funktion der H e m m u n g und Innervation.
Das aber ist für das Verständnis des zentralen motorischen
Mechanismus von besonderer Wichtigkeit, dass die Aus¬
schaltung dieser intrakortikalen Systeme
eine so grob elementare Bewegungsstörung zur Folge hat.
Denn es ist hier nicht etwa, wie bei den Leitungsunter¬
brechungen transkortikaler Bahnen, die Uebertragung des Be¬
wegungsentwurfes auf das Motorium gestört (Liepmanns
motorische Apraxie); es ist auch nicht, wie bei dem Verlust
von zentripetalen Regulativen oder von gliedkinetischen Vor¬
stellungen das „W i e“ der Bewegung getroffen (Rindenataxie,
11 ) O. Förster: Die Kontrakturen bei den Erkrankungen der
Pyramidenbahn. Berlin 1906.
12) Redlich: Ueber Halbseitenerscheinungen bei der genuinen
Epilepsie. Archiv f. Psychiatrie 1906, Bd. 41.
17. Juli 1906.
Seelenlähmung, kortikale Apraxie-), sondern es ist der
In n e 1 v a 1 1 o sapp arat unmittelbar geschädigt, die
Bewegungsfahigkeit selber vernichtet.
Zur Prognose der Lungentuberkulose.
Von Dr. E. Rumpf in Ebersteinburg bei Baden-Baden.
Die badische Heilstätte Friedrichsheim für lungenkranke,
versicherte Männer arbeitete in den letzten Jahren gleich¬
massig mit 170 Betten1) und durchschnittlich 727 jährlichen
Entlassungen bei einer durchschnittlichen Kurdauer von
74 lagen. Das Schicksal der Kranken der einzelnen Jahr¬
gange wird 5 Jahre lang vom Vorstande der Landesversiche¬
rungsanstalt weiter verfolgt, und über das Ergehen jedes Ein¬
zelnen weiden behördliche Erhebungen gemacht. Ich habe
diese Erhebungen über die Dauererfolge immer in den Jahres¬
berichten der Heilstätte mit verarbeitet und wdedergegeben.
Am wertvollsten sind dabei natürlich immer die Ergeb¬
nisse des am weitesten zurückliegenden fünften Jahrganges.
Die letzten, Anfang 1906 gemachten Erhebungen ergaben, dass
vom Jahrgange 1901, also im fünften Jahrgange nach der Ent¬
lassung noch arbeitsfähig waren von den Kranken des I. Sta¬
diums 8o, 8 Proz., des II. Stadiums 60,9 Proz., des III. Sta¬
diums 25,2 Proz.
Dass diese Kranken vor dem Eintritt in die Heilstätte tat¬
sächlich fast alle arbeitsunfähig waren, und dass die wieder¬
gegebenen Zahlen sich nur auf Iuberkulöse beziehen, habe ich
früher schon in dieser Wochenschrift betont2). Dass anderer¬
seits viele von den Kranken des I. Stadiums wohl auch ohne die
?peziee Behandlung in der Heilstätte noch wieder arbeits¬
fähig gew orden wären, muss ohne weiteres zugegeben werden.
Hätte man es desw egen aber im Einzelfalle darauf ankommen
assen sollen. Bei den Kranken des II. Stadiums und vor allen
ingen bei denen des III. Stadiums wäre dies jedenfalls nach
5 Jahren höchst fraglich gewesen, und gegenwärtig befinden
sich von al en Kranken der Heilstätte Friedrichsheim noch
nicht Ä im I. Stadium und über % im II. und III. Stadium 3)
Die guten Dauererfolge bei den Kranken, welche sich der Aus¬
dehnung der tuberkulösen Prozesse in ihren Lungen nach schon
im II. und III. Stadium befunden hatten, sprechen am be¬
redtesten zu gunsten der Heilstättenbehandlung.
Diese guten Heilstättenerfolge stammen aus der höchst¬
gelegenen Volksheilstätte Deutschlands 4) und sind so gut wie
die in den noch höheren Bergen der Schweiz erzielten, zumal
wxnn man noch unsere viel kürzere Kurdauer und den Um¬
stand in Betiacht zieht, dass unsere Kranken fast nur aus der
Arbeiterbevölkerung stammen, für welche es sehr schwer ist
später eine geeignetere Beschäftigung zu finden. Ich glaube
jedoch nicht, dass die absolute Höhenlage der Heilstätte über
dem Meeresspiegel bei der Ausheilung der Lungentuberkulose
eine Rolle spielt. Nach meinen nunmehr 11jährigen Er¬
fahrungen als Anstaltsarzt kommt es auf das Regime der ein¬
zelnen Heilstätte und nicht auf deren Höhenlage an Als ich
nach 3 jähriger Tätigkeit in Davos (1550 m) nach Görbersdorf
kam, von wo aus doch die ganze Heilstättenidee ihre Ent¬
stehung und Ausbreitung nahm,- da war ich damals überrascht
dass auf einer Höhenlage von nur 500 m gerade so schwere
balle von Lungentuberkulose gerade so gut ausheilten, und
unsere, auf der mittleren Höhenlage von Friedrichsheim, bei
Schwindsüchtigen erzielten Erfolge lassen, wie wir sahen
nichts zu wünschen übrig. Ich habe mir jetzt ein eigenes Sana¬
torium für leicht lungenkranke Damen gebaut. Dafür wurden
mir Plätze in den verschiedensten Höhenlagen des Schwarz¬
wildes angeboten; ich gab den Vorzug der Höhe von Eber-
steinburg, d. i. ca. 420 m, über 200 m höher als Baden-Baden
kommen doch bei den langwierigen Kuren Lungenkranker auch
noch viele andere, psychische u. a. Momente in Betracht, rela-
hirnkranken Ls‘ 6 ^ ann: Ueber StörunSeu des Handelns bei Qe-
. Der andauernd starke Zudrang auch im Winter macht jetzt
wiederum eine Vergrösserung der Heilstätte nötig
) Münch, med. Wochenschr. 1904, No. 38.
■0 6. Jahresbericht der Heilstätte Friedrichsheim 1905.
Die Heilstätte hriedrichsheim und die neue Schwesteranstalt
vöÄi,IÜr ]30 lungenkranke versicherte Frauen, liegen östlich
vom Hochblauen 84o m hoch.
tive Erhebung über der Talsohle, schönste, abwechslungs¬
reichste Umgebung, leichte Erreichbarkeit und anderes mehr.
Dass das Gebirge überhaupt manche Vorteile bietet, haben
I e n z o 1 d t ") u. a. mit Recht betont. Bei einer relativen Er¬
hebung von ein paar hundert Metern über dem Tale ist die
Luft gleich freier und reiner und wirkt erfrischend und an¬
regend an sonnenreichen Südhängen sowohl wie im
schattigen Bergwald. Dabei gewähren an geeigneten Plätzen
des Gebirges bewaldete, höhere Berge Schutz gegen rauhe
Winde bei freiester Fernsicht nach Süden und langsam an¬
steigende Spazierwege gestatten eine ganz allmähliche Trai-
nierung der Körpers mit fortschreitender Besserung.
Ich habe nun schon an anderem Orte") betont, dass es
erwünscht sei, unser grosses Heilstättenmaterial anch nach
anderei Richtung hin für die Prognose zu verwerten. Mein
früherer Assistent, Dr. J. Schmidt, jetzt Oberarzt von
Luisenheim, hat sich dieser Mühe unterzogen und das Material
zum Teil noch nach anderen, neuen Gesichtspunkten geordnet,
als ich es schon 1899 mit meinem früheren Chef Turban5 * 7)
zusammen unternommen habe. Die Zahlen stimmen mit den
früheren Jahresberichten nicht ganz genau überein, weil hier
die Unbekannten weggelassen und die wiederholten Heilver¬
fahren einfach gerechnet sind, auch einzelne Fälle, bei denen
genaue Eintragungen fehlten, unberücksichtigt blieben.
Für die Statistik verwertbar waren 990 Kranke der Jahr¬
gänge 1900 und 1901. Davon waren im 4. Jahre nach der Ent¬
lassung
noch arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
541 = 54,7 Proz. 108 = 10,9 Proz 341 = 34,4 Proz.
Von den 990 Kranken gehörten zum I. Stadium 28L
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 248 = 88,3 Proz. 18 = 6,4 Proz. 15 = 5,3 Proz.
II. Stadium 265.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 183 = 69,0 Proz. 33 = 12,5 Proz, 49 = 18,5 Proz.
III. Stadium 444.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 110 = 24,8 Proz. 57 = 12,8 Proz. 227 = 62,4 Proz.
Nach dem Lebensalter geordnet stellt sich das Ver¬
hältnis der 990 Kranken folgendermassen dar:
Im Alter von 16—20 Jahren standen 152 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 94 = 61,8 Proz. 6 = 4,0 Proz. 52 = 34,2 Proz.
Im Alter von 21—25 Jahren standen 231 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 127 = 55,0 Proz. 15 = 6,5 Proz. 89 = 38,5 Proz.
Im Alter von 26—30 Jahren standen 216 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 127 = 59,8 Proz. 2t = 11,1 Proz. 65 = 30,1 Proz.
Im Alter von 31—35 Jahren standen 172 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 98 = 57,0 Proz. 25 = 14,5 Proz. 49 = 28,5 Proz.
Im Alter von 36—40 Jahren standen 108 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 45 = 41,7 Proz. 15 = 13,9 Proz. 48 = 44, 4Proz.
Im Alter von 41—50 Jahren standen 92 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 46 = 50,0 Proz. 15 = 16,3 Proz. 31 = 33,7 Proz.
Im Alter von über 50 Jahren standen 19 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 4 = 21,1 Proz. 8 = 42,2 Proz. 7 = 36,8 Proz.
Das ganz jugendliche Alter von 16—20 Jahren zeigt also
itn 4. Jahie nach dei Entlassung noch am meisten Arbeitsfähige.
,,Dei jugendliche Organismus ist unseren Bemühungen, seine
5) Penzoldt: Ueber das Mass der Bewegung bei Behandlung
der Lungentuberkulose. Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 1
V^pf: , Pje TPr°gnose der Phthise. Handbuch von
Schröder und B umenfeld. Leipzig, J. A. Barth, 1904.
) K.. 1 urban und E. Rumpf: Die Anstaltsbehandlung im
Hochgebirge. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1899.
3*
1408
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
Widerstandskraft zu heben, in der Regel mehr zugänglich als
der ältere. Ausnahmefälle kommen allerdings gerade im
jugendlichen Alter vor, bei denen trotz all unserer Bemühungen
die Lungentuberkulose rapid fortschreitet. In der Regel wird
aber, wenn die Kranken einer rationellen Behandlung unter¬
zogen werden, ganz besonders, wrenn sie in die günstigen Ver¬
hältnisse einer Lungenheilanstalt versetzt werden, eine Wen¬
dung zum Bessern erzielt“ b).
Weiterhin zeigen unsere Zahlen aber keine solche Regel¬
mässigkeit wie z. B. der Bericht der hanseatischen Ver¬
sicherungsanstalt, wonach sich in unverkennbarer Weise mit
jedem weiteren Jahrzehnt die Prognose schlechter stellt. Bei
der Kontrolle der bis 1900 in Heilbehandlung Gewesenen wurde
* Erwerbsfähigkeit festgestellt in den Altersklassen von:
1 6 — 20 J. 20—30 J. 30—40 J- 40—50 J. 50—60 J. 60—7° J
bei 79,1 Proz. 75,9 Proz. 66,3 Proz. 50 Proz. [47 Proz. 33,3 Proz.
Unsere Zahlen von Kranken im Alter von über 50 Jahren
sind zu klein, um statistischen Wert beanspruchen zu können.
Immerhin sind hier die wenigsten Arbeitsfähigen (21,1 Proz.)
und bei weitem am meisten Arbeitsunfähige bezw. Renten¬
empfänger (42,2 Proz.).
Bei den jugendlichen Kranken ist natürlich auch im Auge
zu behalten, dass sie zum Teil noch gar nicht rentenberechtigt
waren oder doch sich weniger leicht zum Antrag auf Rente
entschliessen.
Am meisten Tote zeigt das Alter von 36 — 40 Jahren; es
umfasst wahrscheinlich auch die meisten Familienväter, welche
sich zwangen zur Arbeit, so lange es ging.
Kaum einen Unterschied von dem Durchschnitt aller zei¬
gen die Dauererfolge der hereditär belasteten Kran¬
ken; hereditär belastet waren 334 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 176 = 52,7 Proz. 42 = 12,6 Proz. 116 = 34,7 Proz.
Ebenso zeigen unsere Kranken mit B r e h m e r scher Be¬
lastung 8 9) keinen nennenswerten Unterschied vom Durchschnitt
aller. Die Dauererfolge stellen sich bei ihnen sogar eine
Kleinigkeit günstiger. B r e h m e r sehe Belastung zeigten
187 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 113 = 60,4 Proz. 19 = 10,2 Proz. 55 = 29,4 Proz
Auf die Momente, welche für die Prognose besonders wich¬
tig sind, habe ich früher schon wiederholt hingewiesen. Be¬
stätigt wird dies jetzt auch bei den Dauererfolgen:
Beschleun ig t e n Puls hatten 461 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 145 = 31,5 Proz. 54 = 11,7 Proz. 262 = 56,8 Proz
Das zu Beginn der Kur bestehende Fieber verloren
171 Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 71 = 41,5 Proz. 22 = 12,9 Proz. 78 = 45,6 Proz.
Das Fieber bestand auch bei der Entlassung
bei 157 Kranken.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 9 = 5, 7, Proz. 8 =^5,1 Proz. 140 = 89,2 Pioz.
Ebenso wie dauernd beschleunigter Puls und Fieber muss
komplizierende Kohlkopftuberkulose als prognostisch
sehr ungünstig betrachtet werden, wenn ich auch ganz be¬
ginnende Fälle während der Heilstättenbehandlung plus
lokaler Behandlung verhältnismässig häufig ausheilen sah.
Gleichzeitig Kehlkopftuberkulose hatten 75 Kranke.
8) E. Rumpf: Die Prognose . . . 1. c. ...
9) Nach B r e h m e r sollen in kinderreichen Familien die jüng¬
sten Kinder und wiederum deren Kinder für Tuberkulose besonders
empfänglich sein, auch wenn diese Krankheit in der Aszendenz nicht
nachzuweisen ist. Wir haben an dem Turban sehen Kranken¬
materiale diese Verminderung der produktiven Kraft der Eltern etwa
vom 5 Kinde an nicht nur vielfach beobachtet, sondern wir fanden
auch insofern einen Einfluss auf die Prognose, als bei den Kranken
mit Breli m e r scher Belastung die Erfolgzahlen deutlich vermindert
waren (37 1 Proz. gegen 48 Proz. beim Durchschnitt aller Kranken).
Von Volksheilstättenärzten haben dagegen Weick er u. a. das
Brehmer sehe Gesetz wenig oder nicht bestätigt gefunden.
(E. Rumpf: Die Prognose ... 1. c.)
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestorben
im 4. Jahre 5 = 6,7 Proz. 6 = 8,0 Proz. 64 = 85,3 I roz.
Dass zwischen S o m m e r- und Winterkur kein Unter¬
schied besteht, zeigt sich ebenfalls bei den Dauererfolgen:
oder grösstenteils Sommerkur machten 5Uo
Ganz
Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig
im 4. Jahre 282 = 55,7 Proz.
Ganz oder grösstenteils
Kranke.
Hiervon waren arbeitsfähig
im 4. Jahre 259 = 53,5 Proz
nicht arbeitsfähig
52 = 10,3 Proz.
Winterkur
nicht arbeitsfähig
56 = 11,6 Proz,
gestorben
172 = 34 Proz.
machten 484
gestorben
169 = 34,9 Proz.
I • kJ I i 1 V ■* '
,,Die Piece de resistance für die Prognosenstellung wird
immer die genaue physikalische Lungenuntersuchung bleiben.
Besonderen Wert legte ich dabei von vornherein erstens
darauf, ob schon klingende Rasselgeräusche gehört wurden
(Gewebszerfall) oder nur tonlose, und zweitens darauf ob die
Rasselgeräusche während der Kur noch wieder völlig ver¬
schwanden (auch bei der Inspiration unmittelbar nach einem
leisen kurzen Hustenstoss nirgends mehr ein Knacken) oder
nicht In geradezu auffälliger Weise wird dies jetzt be¬
stätigt durch die von Dr. Schmidt gemachte Zusammen¬
stellung, welche einen Vergleich der Anfang 1905 gemachten
Erhebungen der Landesversicherungsanstalt mit unseren Kran¬
kengeschichten der Jahrgänge 1900 und 1901 darstellt:
Bei der Entlassung aus der Heilstätte waren n i r g e n d s
mehr Rasselgeräusche zu h ö r e n bei 308 Kranken.
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig gestor en
im 4. Jahre 276 = 89,6 Proz. 18 = 5,8 Proz. 14 = 4,6 Proz.
Es waren noch Rasselgeräusche (nicht klin¬
gend) z u höre n bei 356 Kranken. ,
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfähig g^st°r
im 4. Jahre 223 = 62,6 Proz. 53 = 14,9 1 roz. 80 — 22,5 I roz.
Klingende Rasselgeräusche waren zu hören bei
Hiervon waren arbeitsfähig nicht arbeitsfällig ^S|L01!?^
im 4. Jahre 42 = 12,9 Proz. 37 = 11,3 Proz. 24/ — 75,8 I roz.
Um nach Jahr und Tag solche sprechenden Zahlen auf¬
weisen zu können, müssen natürlich während des Heilstatten-
aufenthaltes wiederholte, sehr sorgfältige physikalische Lungen¬
untersuchungen vorgenommen, und sehr genaue Krankenge¬
schichten geführt werden. Auch bedeuten die behördlichen
Erhebungen durch die Landesversicherungsanstalten 4 5 Jahre
hindurch über jeden einzelnen Kranken der früheren Jahrgange
eine Unsumme von Arbeit. Aber dessungeachtet sollten sich
meines Erachtens gerade die Volksheilstättenärzte die Verar¬
beitung ihres grossen Materiales nach den angegebenen un
loch nach anderen Gesichtspunkten hin angelegen sein lassen,
denn so werden sie selbst am meisten zur Klärung der so
schwierigen Frage der Auslese der für die Heilstättenbehanu-
[ung geeigneten Kranken beitragen.
Aus dem Hafenkrankenhaus zu Hamburg. (Oberarzt: Dr. C.
L a u e n s t e i n.)
Ueber Selbstmordversuche.
Es ist eine leider feststehende Tatsache, dass in den
Kulturstaaten die Zahl der Selbstmorde stetig zunimmt.
Preussen waren es 1903 7470 Personen (5878 Männer und
1592 Frauen), die durch Selbstmord endeten. In Frankreich
nimmt die Zahl der Selbstmorde alle 5 Jahre um 1 auf 100(100
Einwohner zu. In Preussen waren es 1873 11 -.100 000^ 1903
bereits ca. 21 : 100 000. Sehr berechtigt ist deshalb die Frage :
Was ist die Ursache des Anwachsens der Selbstmorde, und
ist es nicht möglich, dieser Zunahme zu steuern?
Gestützt auf die Erfahrungen bei den in den letzten
5 Jahren in das Hafenkrankenhaus zu Hamburg noch lebend
eingelieferten 375 Selbstmordkandidaten will ich versuchen,
diese Frage, soweit es möglich ist, zu beantworten. Wir haben
es uns stets angelegen sein lassen, die Ursache der Selbst¬
morde zu erforschen; nur in wenigen Fällen ist es uns nicht
gelungen; meist waren in diesem Falle die Kranken bewusstlos
(Schädelschüsse) und starben, ohne das Bewusstsein wieder
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1409
erlangt zu haben, oder aber sie verweigerten die Auskunft
(geringe Ausnahmen).
Einige behaupten, jeder Selbstmörder sei mehr oder we¬
niger geisteskrank; so hält Esquirol den Selbstmord für
eine besondere Form des Irreseins. Zweifellos ist, wie wir
unten sehen werden, eine grosse Anzahl Selbstmörder geistes¬
krank; doch jeden Selbstmord als eine besondere Form einer
Geisteskrankheit zu betrachten, geht zu weit. Wir haben von
Anfang an jeden eingelieferten Selbstmörder auf seinen Geistes¬
zustand beobachtet. Ueber das Resultat der Beobachtung
werde ich unten berichten. Wir müssen unterscheiden zwi¬
schen Ursache und Motiv zum Selbstmord.
Dr. Bela Revesz in Bekes-Gyula (Ungarn) schreibt in
einer sozialhygienischen Skizze ,,Der Selbstmord“ (Archiv für
soziale Medizin und Hygiene Bd. II Heft III, 1905). „Unter Ur¬
sache muss man die Summe all jener individualen und sozialen
Umstände verstehen, welche den einzelnen dazu bewegen, den
Tod freiwillig dem Leben vorzuziehen. Als Motiv muss jeder
einzelne Umstand betrachtet werden, welcher das durch eine
Ursache prädisponierte Individuum in den Tod treibt.“
Der Selbstmörder muss also zur Tat prädisponiert sein.
Es bedarf dann nur eines kleinen Anstosses, eines „Gelegen¬
heitsmomentes“, um die. Katastrophe herbeizuführen.
Ein Beispiel: Ein 15 jähriger Junge wird uns in das Kran¬
kenhaus eingeliefert, weil er in selbstmörderischer Absicht in
die Alster gesprungen war. Er hatte einige Groschen, für die
er etwas kaufen sollte, verloren. Seine Stiefmutter hatte ihn
häufig misshandelt. Er fürchtet jetzt wiederum Schläge; um
diesen zu entgehen, macht er einen Selbstmordversuch. Also
Ursache war die fortwährende schlechte Behandlung seitens
der Stiefmutter, der Anstoss zum Selbstmord der Verlust
einiger Pfennige.
Ich könnte noch eine Anzahl ähnlicher Fälle bei erwach¬
senen Personen anführen, bei denen das Motiv so geringfügig
war, dass man es nicht für möglich halten sollte, wie jemand
wegen einer so nichtigen Sache einen Selbstmordversuch
machen konnte. Bei einem Menschen ruft eine Kleinigkeit eine
psychische Erregung hervor, die in den Augen des andern
überhaupt nicht der Beachtung wert ist. Es reagieren eben
nicht alle Menschen gleich auf dieselbe äussere Einwirkung.
Nach statistischer Erhebung waren in Preussen von den
7470 Selbstmördern im Jahre 1903 2164, also 28 Proz. geistes¬
krank. Wir konnten von unsern 375 bei 48 vollendete Geistes¬
krankheit feststellen; dazu kamen noch 13, die im Delirium
tremens und 15, die in einem pathologischen Rauschzustände
einen Selbstmordversuch gemacht hatten. Alle diese befanden
sich also in einem Zustande, in dem sie für ihr Tun nicht ver¬
antwortlich gemacht werden konnten. Im ganzen demnach
76 Personen = 20,26 Proz.
Im folgenden gebe ich eine Uebersicht über die Ursache
des Selbstmordversuches bei den eingelieferten Kranken.
U rsache
1901
1902
1903
1904
1905
Summa
Ges.-
Summa
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
Delirium tremens .
3
_
1
_
2
_
2
_
5
13
13
Trunkenheit .
—
—
_
_
—
_
7
_
8
15
15
Geisteskrankheit ..
Körperliche Leiden
13
—
7
2
3
1
3
3
11
5
37
11
48
und Furcht vor
Krankheit .
Häusl. Unfrieden. .
Elend, ökonomische
3
1
2
5
4
6
2
3
4
2
5
1
3
1
2
1
13
3
7
12
27
8
21
20
48
_ , Lage .
3
2
12
5
6
3
13
1
14
3
2
48
13
61
Unglückliche Liebe
3
2
2
6
2
10
3
4
6
13
28
41
Reue u. Scham . . .
Furcht vor Strafe
—
3
2
1
1
5
—
3
2
5
12
17
seitens d. Eltern
—
1
—
—
—
_
_
1
_
2
9
Furcht vor gericht-
licher Strafe . . .
4
3
1
4
3
3
5
6
6
3
19
19
38
Trotz u. Ärger . . .
1
—
1
1
2
3
2
l
2
6
7
13
Unbestimmt .
10
2
11
1
13
—
8
5
7
2
49
10
59
Summa 375
Eine grosse Rolle spielt dabei der Alkohol. Unter unsern
Selbstmordkandidaten, die allen Ständen angehörten, befanden
sich viele, die durch chronischen Alkoholmissbrauch materiell
und moralisch verkommen, geistig und körperlich so ge¬
schwächt waren, dass sie den Anforderungen, welche das
Leben der Grosstadt an den Einzelnen stellt, nicht mehr ge¬
wachsen waren, den Kampf ums Dasein aufgaben und nun
Hand an sich legten. Bedenkt man dann noch, dass eine An¬
zahl Geisteskrankheiten auf den Alkoholmissbrauch zurück¬
zuführen ist, es sollen ca. 30 Proz. aller männlichen Geistes¬
kranken dieses traurige Schicksal dem Alkohol verdanken, so
haben wir im Alkohol eigentlich den Hauptanstifter zum Selbst¬
mord. Der Alkohol erleichtert das Begehen des Selbstmordes;
man denke nur an das „Mutantrinken“. Auch Heller (Zur
Lehre vom Selbstmord nach 300 Sektionen. Münchn. med.
Wochenschr. 1900 Nr. 27) sagt: „Das starke Steigen der Selbst¬
mordzahl mit zunehmendem Alter dürfte sich zum Teil aus der
starken Zunahme der Alkoholiker erklären.“ Er konnte bei 143
von 300 sezierten Selbstmördern chronischen Alkoholismus
nachweisen = 47,6 Proz. In 73 Fällen fand er fieberhafte akute
Erkrankungen (Miliartuberkulose, Typhus, Lungenentzündung,
Herzklappenentzündung). Von 70 Frauen befanden sich
33 in einem physiologischen Zustande (Menses, Gravidität,
Puerperium) der zu abnormen psychischen Verhalten dis¬
ponierte.
Bei unsern 53 Selbstmördern, die zur Sektion kamen,
fanden wir in keinem Falle eine akute Erkrankung, dagegen
häufig Zeichen von chronischem Alkoholismus und einige
Male Lungen- und Darmtuberkulose.
Die Zahl der bei uns eingelieferten Selbstmörder stieg
Jahr für Jahr.
Es waren:
Jahr
Männer
Frauen
Summa
davon
Männer
starben
Frauen
Summa
1901
41
20
61
8
1
9
1902
47
22
69
6
1
7
1903
39
32
71
9
1
10
1904
47
27
74
8
3
11
1905
70
30
100
11
5
16
1
244
131
375
42
11
53
Es starben 53 = 14,13 Proz.
Es interessiert uns jetzt noch, zu erfahren, welche Todes¬
art bevorzugt wurde, welche am meisten den gewünschten Er¬
folg hatte, und in welchem Alter sich die Leute befanden. Ich
werde dies statistisch kurz zusammenstellen.
Was die lodesart anbelangt, so versuchten sich zu töten
durch:
T o|d e s a r t
1901
1902
1903
1904
1905
Summa
Gesamt-
Summa
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
Erhängen .
3
5
3
3
3
1
6
4
10
5
25
18
43
Ertrinken .
8
7
21
14
14
19
19
10
26
11
88
61
149
Pulsaderöffnen ....
8
1
5
—
3
2
_
2
2
_
18
5
23
Erstechen .
3
1
—
_
1
_
2
1
_
7
1
8
Erschiessen .
13
—
16
1
14
2
13
2
25
1
81
6
87
Vergiften .
4
4
2
2
5
9
7
6
5
12
23
33
56
Sturz aus der Höhe
—
2
—
2
—
_
_
3
_
_
7
7
Uberfahren .
1
—
—
—
1
—
—
—
—
2
2
Summa
244
131
375
Davon starben durch:
Todesart
1901
1902
1903
1904
1905
Summa
Ges.-
Summa
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
Erhängen .
—
—
—
—
—
—
__
_
_
2
_ _
2
2
Ertrinken .
—
—
—
—
1
1
1
Pulsaderöffnen ....
Erstechen .
—
—
—
—
_
.
_
_
_
Erschiessen .
7
—
6
—
6
1
8
2
9
_
36
3
39
Vergiften .
1
—
—
—
2-
—
—
_
2
3
5
3
8
Sturz aus der Höhe
—
1
—
1
_
_
_
1
3
3
Uberfahren .
—
—
—
—
—
—
—
—
—
Gestorben | 42 | 1 1 | 53
Von diesen Todesarten habe ich die durch Erschiessen
und Vergiften noch besonders zusammengestellt:
1410
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
Jahr
Kopfschuss
Brustschuss
Bauch¬
schuss
Halsschuss
Mundschuss
1901
10 (7)
3
—
—
—
1902
12 (5)
5 (1)
—
—
—
1903
10 (5)
5
1 (1)
—
—
1904
10 (8)
3
1 (1)
1 (1)
—
1905
18 (7)
3 (2)
3 (1)
■
2
Summa 60 (32) j . 19 (3) | 5 (3) j 1 (1) j 2
NB. Die Gestorbenen sind eingeklammert.
Von diesen 87 Schussverletzungen starben 39 = 44,82 Proz.
Am meisten Erfolg hatten die Schädel- und Bauchschüsse. Bei den
Schädelschüssen bestand die Behandlung in Reinigung der Wunde
und deren Umgebung, Entfernung der in das Gehirn eingedrungenen
Knochensplitter. Nach der Kugel wurde im allgemeinen nicht gesucht.
Nur in einem Falle taten wir es, weil durch das Röntgenbild ein gün¬
stiger Sitz festgestellt werden konnte. Ein Mann verliess geheilt das
Krankenhaus, der — wie das Röntgenbild ergab — 3 Kugeln im
Gehirn hatte. Sein Befinden ist auch jetzt noch — ca. 3 Jahre nach
dem Selbstmordversuch — * ein gutes. 4 Selbstmörder verletzten
sich durch Schläfenschuss beide Sehnerven, sodass sie vollständig
erblindeten. Sie starben 4—17 Tage nach der Verletzung an eitriger
Hirnhautentzündung. Einer von ihnen machte noch während seines
Krankenlagers ein schweres Delirium tremens durch. Es war inter¬
essant, zu beobachten, dass dieses Delirium bei dem erblindeten
Kranken in nichts von einem anderen abwich. Er sah Ratten und
Hunde, glaubte sich mit Freunden bei einem Gelage etc.
Unter 21 Brustschüssen befanden sich 2 Herzschüsse. In beiden
Fällen wurde das Herz freigelegt und genäht. Ein Kranker wurde
geheilt, der zweite (es handelte sich um einen penetrierenden Schuss
durch die linke Herzkammer) starb 24 Stunden nach der Operation
an Bauchfellentzündung, da die Kugel auch noch den Magen durch¬
bohrt hatte. Alle 21 Brustschüsse befanden sich in der Herzgegend.
Bei den 5 Bauchschüssen handelte es sich
1 mal um einen Milzschuss,
1 mal um einen Milz- und Magenschuss,
1 mal um Zerreissung d. A. und v. Hepatica und Leberschuss,
1 mal um Zwerchfellschuss.
1 mal um Dickdarm- und Dünndarmschuss.
Zweimal musste wegen der Milzverletzung die Milz entfernt
werden. Ein Kranker wurde geheilt, der 2. starb an Kollaps.
Ein 18 jähriges Mädchen hatte sich durch einen Schuss in die
rechte Halsseite die Arteria subclavia durchschossen. Sie starb
14 Tage später infolge einer plötzlich auftretenden heftigen Nach¬
blutung.
Es suchten sich zu vergiften mit:
Ursache
1901
1902
1903
1904
1905
Summa
davon
starben
Salzsäure .
3
1
3
—
2
9
—
Phosphor .
1
—
—
1
—
2
Kleesalz .
1
2
—
2
3
8
1
Schweinf. Grün . . .
1
—
—
—
—
1
—
Arsenik .
—
—
—
—
1
1
1
Kohlenoxydgas . . .
1
1
1
2
—
5
1
Morphium .
—
—
2
—
1
3
2
Atropin .
- ,
—
1
1
—
2
1
Chloroform .
—
—
1
—
—
1
- -
Sublimat .
—
—
1
—
1
2
1
Essigs. Tonerde. . .
—
—
1
—
—
1
•
Salmiak .
—
—
2
—
—
2
—
Salpetersäure .
—
—
1
—
—
1
—
Strychnin .
—
—
—
1
—
1
—
Lysol .
—
—
—
1
8
9
3
Chinin .
—
—
—
1
—
1
Opium u. Sublimat
—
—
—
1
—
1
—
Schwefelsäure ....
—
—
—
1
—
1
—
Waschblau .
—
—
1
1
—
2
—
Höllenstein .
—
—
—
—
1
1
—
Unbestimmte Gifte
1
—
—
—
—
1
Summa
1 8
1 ^
1 14
1 12
1 17
| 55
1 9
Von diesen 55 starben 9 = 16,36 Proz.
Dieses gute Resultat führe ich mit darauf zurück, dass wir die
Kranken dank dem vorzüglich funktionierenden Transportwesen immer
schnell in die Behandlung bekamen. Es waren von den angeführten
Giften oft erhebliche Mengen genommen worden und doch gelang es
die Kranken zu retten.
Die Behandlung bestand im ausgiebiger Magenspülung und
den geeigneten Gegenmitteln.
Von den 375 Personen hatten ein Alter von
15—20 Jahren . 57
20—30 „ 135
30—40 „ 85
40—50 „ 51
50—60 „ . 28
60—70 „ 13
70—80 „ 6
Summa 375
Ausserdem wurden noch 42 Personen (37 Männer und 5 Frauen)
eingeliefert, die untaugliche Mittel angewendet oder es augenschein¬
lich nicht ernst mit einem Selbstmord gemeint hatten.
Die Selbstmorde verteilen sich auf die verschiedenen Mo-
nate wie folgt:
25
Juli .
. 44
Februar .
. 31
August .
. 34
... 20
September . . .
. 42
April .
. . 30
Oktober .
. 28
. 28
November . . . .
. 28
Juni .
. 40
Dezember . . . .
. 25
Summa 375
Die meisten Selbstmörder begingen die Tat abends zwi¬
schen 9—12 Uhr und morgens zwischen 2—4 Uhr.
Die Frage, ob es möglich ist, der Zunahme der Selbst¬
morde zu steuern, möchte ich mit ja beantworten. Wenigstens
ist dies bis zu einem gewissen Grade möglich. Wir haben ja
oben die verschiedensten Ursachen kennen gelernt und haben
gesehen, welch unheilvolle Folge allein der Alkohol spielt. Hier
wäre zunächst der Hebel anzusetzen. Segensreich könnten
hierbei alle die wirken, welche vermöge ihres Berufes Ein¬
fluss auf das Volk besitzen, als Aerzte, Geistliche, Lehrer.
Ferner müssten die Behörden eingreifen (Verringerung der
Schnapskneipen und Errichtung von Trinkerasylen und Arbeits¬
häusern).
Zum Schluss ein Wort über den noch in manchen Gegen¬
den existierenden Brauch der Kirche, Selbstmördern ein
ehrliches Begräbnis zu versagen. Sie dürfte ihn meines Er¬
achtens höchstens bei Leuten in Anwendung bringen, welche
im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte Hand an sich legten, also
bei den wirklichen Selbstmördern, nicht aber bei all jenen Un¬
glücklichen, die in geistiger Umnachtung ihrem Leben ein Ende
machten. Jene Massregel trifft doch nur die schon schwer
genug geprüften Angehörigen.
Aber angesichts der Tatsache, dass eine so grosse Anzahl
Selbstmörder geisteskrank ist und man meist die Ursachen
und Motive gar nicht kennt, möchte man doch fragen, ob es
überhaupt noch berechtigt ist, Selbstmördern ein ehrliches Be¬
gräbnis zu verweigern, und ob es nicht endlich einmal an der
Zeit wäre, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um diese
Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen.
Die Anwendung der Hyperämie nach Bier bei einigen
Erkrankungen der Diabetiker
Von Privatdozent Dr. Karl Grube, Arzt in Bad Neuenahr.
I. Furunkulose.
In No. 6 der Münch, med. Wochenschr., Jahrg. 1906,
schreibt C o 1 1 e y in der Arbeit „Beobachtungen und Betrach¬
tungen über die Behandlung akut eitriger Prozesse mit Bier-
scher Hyperämie“ S. 260 folgendes: „Nur vor einem muss ich
warnen, und zwar im Gegensatz zu B i e r und Klapp, das ist
die Behandlung von Diabetikern mit Stauungsbinde und Saug¬
köpfen. Meine Erfahrung ist nur gering, es handelt sich um
zwei Kranke, aber beide habe ich behandelt zu einer Zeit, wo
ich, wie ich glaube, die Technik schon beherrschte.“ Es han¬
delte sich um zwei schwere Fälle von Diabetes, von denen der
eine Kranke ausserdem Potator war. Bei beiden bestand Nei¬
gung zu Furunkulose und Hautgangrän und bei beiden rief die
Anwendung der Stauungsbinde bezw. des Saugkopfes Gangrän
hervor.
Da diese Warnung nun manchen abhalten könnte, bei Dia¬
betikern mit Furunkulose die B i e r sehe Stauung in der Form
des Saugkopfes anzuw enden, was ich im Interesse vieler
Kranker bedauern würde, so möchte ich kurz meine, im Gegen¬
satz zu C o 1 1 e y, an einem reichen Material gewonnenen
günstigen Ergebnisse mitteilen.
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1411
Unter der grossen Zahl von Zuckerkranken, die alljährlich
in meine Behandlung kommen — ich besitze zurzeit ausführ¬
liche Aufzeichnungen über 1687* Fälle dieses Leidens — be¬
findet sich immer eine Anzahl von mit Furunkeln bezw. Kar¬
bunkel behafteter Kranker. Ich habe nun, nachdem ich mir
die Technik des Verfahrens in der chirurgischen Poliklinik in
Bonn (Dr. K 1 a p p) angeeignet hatte, damit angefangen, die ein¬
schlägigen Fälle nach dieser Methode zu behandeln, und ich
kann nur hervorheben, dass das Verfahren gegenüber dem
früheren viele Vorzüge hat, die hauptsächlich darin bestehen,
dass es sehr viel schonender ist, schneller zur Heilung führt
und, in schweren Fällen angewandt, eher vor dem Auftreten
von Koma zu schützen scheint.
Es ist ja bekannt, dass Furunkulose eine häufige Kompli¬
kation des Diabetes ist, wie es ebenfalls eine bekannte Tat¬
sache ist, dass das Auftreten grosser Furunkel und bösartiger
Karbunkel bei Kranken der schweren Form sowie bei durch
das Leiden oder sonst heruntergekommenen Kranken, bei denen
das Leiden schon längere Zeit bestanden hat, eine gefährliche,
das Leben bedrohende Komplikation darstellt. Diese Gefahr
wird noch bedeutend erhöht, wenn durch ausgiebige Inzision
das Auftreten von Koma begünstigt wird, ganz abgesehen da¬
von, dass die entstehenden grossen Defekte bei Zuckerkranken
sehr schwer zur Heilung gelangen. Ich habe selbst ver¬
schiedene Kranke an schwerer Furunkulosis bezw. an Kar¬
bunkel zugrunde gehen sehen.
Ich habe das B i e r - K 1 a p p sehe Verfahren sowohl bei
Zuckerkranken der schweren wie der leichten Form, sowohl
bei einfachen wie bei schweren Furunkeln und bei Karbunkel
angewendet, und ich will im folgenden einige schwere Fälle
kurz mitteilen.
Fall 1. Frau St., 46 Jahre alt. Die Kranke ist seit 1899 zucker¬
krank und seit 1900 jährlich in meiner Behandlung gewesen. Im
Jahre 1903 hat das bis dahin gutartige Leiden durch heftige Auf¬
regungen und Sorgen eine Wendung zum schlimmeren genommen, und
die Kranke leidet jetzt an einem Diabetes der mittelschweren Form.
Sie kam am 20. V. 05 wieder in meine Behandlung. Die Harn¬
untersuchung ergab: spez. Gewicht 1039. Zucker 6,3 Proz. Eiweiss:
Spur. Azetessigsäure: reichlich vorhanden. Die 24 ständige Harn¬
menge = 2100 ccm, die 24 ständige Zuckermenge = 132,3 g.
Die Kranke ist sehr hinfällig und besonders durch 3 grosse
Furunkel sehr mitgenommen, auch leidet sie infolge heftiger Schmer¬
zen an Schlaflosigkeit. Die Furunkel sitzen neben bezw. übereinander
an der Unterseite des Bauches. Die ganze untere Seite des Bauches
ist gerötet, prall und infiltriert. Gehen und Bewegungen, besonders
Bücken sind sehr schmerzhaft. Ich nehme sofort die Behandlung
mit ziemlich grossen Saugköpfen vor und lasse dieselben mit kurzen
Unterbrechungen täglich zweimal je % Stunden lang einwirken.
Aus einem Furunkel entleert sich gleich bei der ersten Sitzung und
ohne vorhergehende Inzision ziemlich reichlich Eiter und Blut; bei
den beiden anderen erst, nachdem ich am 2. Tage eine ganz minimale
Inzision gemacht habe. Die Schmerzen lassen gleich am 1. Tage be¬
deutend nach. Nach 3 tägiger Behandlung mit den Saugköpfen ent¬
leert sich kein Eiter mehr; nach 6 Tagen war soweit Heilung ein¬
getreten, dass nur noch eine geringe Infiltration in der Umgebung
zurückbleibt. Das Allgemeinbefinden der Kranken ist ein bedeutend
besseres. Die Analyse am 7. Tage ergibt: spez. Gewicht 1021,
Zucker: 1,6 Proz., Eiweiss: Spur, Azetessigsäure: schwache Ger¬
hard t sehe Reaktion, 24 ständige Harnmenge: 1600 ccm, 24 ständige
Zuckermenge: 25,6 g. Natürlich war strenge Diät befolgt worden.
Fall 2. Herr Sch., 48 Jahre alt. Die Zuckerkrankheit besteht
seit 10 Jahren; es handelt sich um. die mittelschwere Form des
Leidens mit Ausscheidung von Azeton und Azetessigsäure.
Harn bei der Aufnahme: spez. Gewicht 1034, Zucker 4,8 Proz.,
Azetessigsäure reichlich, 24 ständige Harnmenge 2900 ccm, 24 stän¬
dige Zuckermenge 139,2 g.
In der linken Achselhöhle ein grosser, sehr schmerzhafter
Furunkel, der fast die ganze Achselhöhle ausfüllt; Bewegungen des
Armes nur mit grossen Schmerzen möglich und stark behindert. Das
Allgemeinbefinden ist schlecht; es besteht Fieber bis 39,2° C; Appetit¬
losigkeit, trockene, schmutzig belegte Zunge, viel Durst; starker
Azetongeruch der Atemluft. Es wird sofort mit der Stauung begonnen
und zwar 2 mal täglich eine halbe Stunde lang. Am 2. Tage kleine
Inzision und darauf nach Ansaugen Entleerung von reichlich Eiter
und Blut.
Harn am 5. Tage: spez. Gewicht 1025, Zucker 26 Proz., Azet¬
essigsäure vorhanden. 24 ständige Harnrnenge 1800 ccm, 24 ständige
Zuckermenge 46,8 g.
Besserung des Allgemeinbefindens; Heilung nach 6 Tagen. *
Harn am 7. Tage (strenge Diät): spez. Gewicht 1022, Zucker
1.2 Proz., 24 ständige Harnmenge 1350, 24 ständige Zuckermenge
22.2 g.
Fall 3. Herr K., 51 Jahre alt, seit 1900 zuckerkrank. Am
15. VIII. 05 kam der Kranke in sehr traurigem Zustande in meine Be¬
handlung. Er kam direkt aus einer Naturheilanstalt, wo er mit Mas¬
sage behandelt worden war. Dabei hatten sich Furunkel gebildet;
doch wurde weitermassiert. Als ich den Kranken zuerst sah, hatte
er 38 grössere und kleinere Furunkel aufzuweisen, die über den ganzen
Körper verteilt sassen; ca. 6 waren von bedeutender Grösse. Der
Kranke litt grosse Schmerzen, war gänzlich schlaflos und hatte Fieber
bis zu 39,5 0 C. Es bestand grosse Schwäche und starke Abmagerung.
Harn: spez. Gewicht 1032, Zucker 3,4 Proz., Eiweiss: Spur,
24 ständige Menge 2400 ccm, 24 ständige Zuckermenge 81,6 g.
Ich behandelte die grösseren Furunkel mit Saugköpfen; bei einigen
war eine kleine Inzision nötig, worauf sich Eiter und Blut reichlich
entleerten. Am 15. VIII. war der Kranke in meine Behandlung ge¬
kommen, am 16. IX. wurde er entlassen. Sämtliche Furunkel waren
abgeheilt, alle bis auf einen schon nach Ablauf der 2. Woche. Der
Harn enthielt nur noch Spuren Zucker und Eiweiss.
Fall V. Herr P., 54 Jahre, Potator, besonders Bier. Seit
ca. 8 Jahren zuckerkrank, leichte Form.
Flarn: spez. Gewicht 1024, Zucker 1,6 Proz., 24 ständige Menge
3200 ccm, 24 ständige Zuckermenge 51,2 g.
Auf dem Rücken unterhalb des Nackenansatzes, zum Teil auf
den Nacken übergehend, ein grosser Karbunkel; Patient ist sehr hin¬
fällig, appetitlos und hat in letzter Zeit rapid an Gewicht abgenommen.
Zunge trocken, schmutzig belegt. In der Umgebung des Karbunkels
starke Rötung, die bis zum halben Rücken und bis zu den Schultern
reicht. Auf dem Tumor zahlreiche gelbe Punkte, aus denen sich nach
dem Aufsatze einer grösseren Saugglocke reichlich Eiter entleert.
Die Behandlung besteht in täglicher zweimaliger Applikation der
Saugglocke, je 3U Stunden lang, und heissen Breiumschlägen in der
Zwischenzeit. Nach 5 Tagen wird nur noch einmal täglich angesaugt
und im übrigen ein feuchter Verband angelegt. An 2 Stellen haben
sich ca. einmarkstückgrosse gangränöse Stellen gebildet, an welchen
das gangränöse Gewebe mit Pinzette und Schere entfernt werden
muss. Diese Stellen granuliern langsam zu. Die Dauer bis zur voll¬
ständigen Heilung beträgt 37 Tage. Das Allgemeinbefinden war vom
8. Tage ab vorzüglich; die Zuckerausscheidung verschwand bei
strenger Diät nach 13 Tagen, um nicht wiederzukehren, nachdem
80 g Brot gegeben wurden.
II. Diabetisches Fussgeschwür; diabetische
Gangrän.
Eine andere nicht seltene, häufig gefährliche Komplikation
der Zuckerkrankheit ist die auf Veränderungen der Gefässe,
auf arteriosklerotischer Erkrankung beruhende Gangrän,
welche mit Vorliebe an den unteren Extremitäten auftritt und
bei Männern viel häufiger ist als bei Frauen. Es handelt sich
in der Regel um ältere Personen, meist mit der leichteren
Form der Zuckerkrankheit; häufig sind andere Erscheinungen
von Arteriosklerose vorhanden. Ehe die eigentlichen Erschei¬
nungen der Gangrän auftreten, sind häufig Symptome vor¬
handen, welche bereits die bestehende Zirkulationsstörung er¬
kennen lassen. Es sind das: Anästhesie bezw. Hypästhesie
besonders an den Zehen und der Fussohle, livide Verfärbung
der Fiisse, starke anfallsweise auftretende oder anhaltende
Schmerzen in den Füssen, plötzlich auftretende Schmerzen in
den Beinen unterhalb des Kniees, die besonders das Gehen
stark behindern. Zuweilen bilden sich bei diesen Kranken
zahlreiche punktförmige Hautblutungen besonders an den
Füssen und dem unteren Teil des Unterschenkels; die anfangs
dunkelblauen Punkte nehmen nach einiger Zeit eine gelblich¬
braune Färbung an. Später kommt es dann zu Gangrän der
Zehen oder zur Bildung von Geschwüren, die zwischen den
Zehen und an der Fussohle, Ferse oder Ballen, ihren Sitz
haben.
Ich habe diese Komplikationen in den letzten Jahren mit
gutem Erfolg mit heisser Luft in der Weise behandelt, dass
die betreffende Extremität bezw. der Fuss täglich eine Stunde
lang in einen Heissluftkasten gebracht wird. Die anzuwen¬
dende Temperatur beträgt 60— 65 0 C., höhere Temperaturen
sind nicht notwendig, ja können schädlich wirken. Die Wir¬
kung ist folgende: die oft sehr heftigen Schmerzen schwinden
meist schon nach wenigen Sitzungen, die vorher immer kalten
und lividen Füsse werden wärmer und nehmen ein normaleres
Aussehen an, bestehende Geschwüre zeigen oft eine über¬
raschend schnelle Tendenz zur Heilung zu gelangen. Als be¬
sonders gutes Zeichen ist es anzusehen, wenn die Extremitäten,
welche bei der ersten Anwendung der heissen Luft keine Spur
von Schweissekretion zeigen, wieder anfangen zu schwitzen.
Nachteile habe ich bei sachgemässer Ausführung nie be¬
obachtet, dagegen häufige Besserung. Im ganzen habe ich die
1412
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
Methode in etwa 20 Fällen zur Anwendung gebracht. Natürlich
müssen die Kranken während der Applikation der heissen Luft
andauernd unter der Beobachtung des Arztes stehen.
Aus Dr. Raabs Ambulatorium für Herz- und Nervenkranke
in München.
Die Elektrotherapie der Kreislaufserkrankungen.*)
Von Dr. LudwigRaab.
M. H.! Es ist Ihnen bekannt, dass noch vor ca. 10 Jahren
die lebhafteste Scheu der Aerztewelt gegen die Herzbehand"
lung mit elektrischen Strömen bestand, eine Scheu, der
Tigerstedt in seiner bekannten Physiologie der Kreislauf¬
organe beredten Ausdruck verlieh mit den Worten: „und man
kann nie wissen, wann die traurigsten Resultate auftreten“,
nämlich beim Gebrauch von Elektrizität auf das menschliche
Herz. Das alles ist jetzt anders geworden. Trotz weitest¬
gehender Anwendung elektrischer Ströme bei Kreislaufserkran¬
kungen haben sich die düsteren Prophezeiungen nicht erfüllt,
ist die Zahl der offenkundigen Gesundheitsschädigungen eine
so geringe, dass sich das Urteil des ärztlichen Publikums nach
und nach auf den entgegengesetzten Standpunkt stellte und
der Elektrotherapie bei Kreislaufstörungen entweder nur eine
geringe oder gar keine oder endlich nur eine suggestive Wir¬
kung zuerkannte.
Es ist nun nicht schwer, nachzuweisen, dass weder der
eine, noch der andere extreme Standpunkt den Tatsachen ge¬
recht wird, sondern wie überall, so auch hier die Wahrheit in
der Mitte liegt. Immerhin ist es verwunderlich, wie trotz
der bekannten ausgezeichneten Wirkung elektrischer Ströme
bei Muskel- und Nervenerkrankungen, wobei naturgemäss nur
schwache Ströme mit kleinen Elektroden in Verwendung
kommen; eine so geringe Meinung von der Wirkung elek¬
trischer Ströme entstehen konnte, als es sich darum handelte,
starke Ströme therapeutisch zu verwerten, wobei das
Wasserbad als riesige, den ganzen Körper umschliessende
Elektrode zu betrachten ist; also eine ganz gewaltige Steige¬
rung der Elektrizitätszufuhr gegen früher in Betracht kam.
Wie dem auch sei, einer Forderung seitens der Aerztewelt
muss man volle Berechtigung zuerkennen, nämlich dem Ver¬
langen, mit wissenschaftlich einwandfreien Methoden den Nach¬
weis zu erbringen, ob und welche Wirkungen auf den mensch¬
lichen Organismus die Elektrizität bei der Behandlung der
Kreislaufstörungen hervorzubringen imstande ist. Eine zu¬
nächst kurze Zusammenfassung meiner zweijährigen Beobach¬
tungen an nicht geringem Krankenmateriale soll dieser Auf¬
gabe nach Möglichkeit gerecht werden.
Bei der Prüfung der Einwirkung eines Heilfaktors auf den
Kreislaufsapparat pflegen wir zunächst zu fragen: In welcher
Weise, in welchem Umfange vermag das Heilmittel Herz und
Gefässystem zu beeinflussen?
So wichtig und bedeutungsvoll diese Fragestellung auch
erscheinen mag — sie soll auch später möglichst eingehend
beantwortet werden — , muss sie doch für den prüfenden
Therapeuten zurückstehen hinter der Frage: Wie wirkt das
Heilmittel auf die Blutverteilung?
Sinn und Zweck unseres Kreislaufsapparates ist es ja, nicht
etwa bloss mechanisch Blutflüssigkeit in lebendigem Fluss
durch unseren Körper zu treiben, sondern auch mit einer an
Menge gänzlich unzureichenden Blutmasse alle Organe und
Zellen möglichst gleichzeitig und in ausgiebiger Weise mit der
unentbehrlichen Ernährungsflüssigkeit zu versorgen.
Bekanntlich wird dieses Ziel durch das aufs feinste abge¬
stufte Gegenspiel sich gleichzeitig für den Blutstrom öffnender
und schliessender Gefässbezirke und Organkomplexe erreicht.
Jede geringste Störung in dieser so überaus komplizierten
Zusammenarbeit aller Gefässe muss die Psyche als Hemmung
des Betriebes mehr oder weniger unangenehm oder schmerz¬
haft empfinden. Hier und nirgends anders müssen die ersten
Anfänge einer Kreislaufserkrankung in Erscheinung treten,
auch dann, wenn wir pathologisch-anatomisch noch nicht die
geringste Gewebsveränderung am Kreislaufsapparat selbst ent¬
decken können.
Obwohl uns nun ein umfassender Einblick in den überaus
verwickelten Vorgang der Blutverteilung noch vollkommen
versagt ist, so ist uns die Blutregulierung im menschlichen
Körper wenigstens in ihren grossen Grundzügen doch bekannt.
Es ist das D a s t r e - M o r a t sehe Gesetz, welches uns lehrt,
dass bei Erweiterung der Gefässe der Unterleibseingeweide
gleichzeitig eine Verengerung der Gefässe im Hautmuskcl-
gebiet stattfindet und umgekehrt.
Ferner ist uns bekannt, dass sich die Gefässe des Unter¬
leibes dem Blutstrom in Körperruhe leichter öffnen, als die
im peripheren Gebiete befindlichen, sodass es eines bestimmten
Masses körperlicher Anstrengung bedarf, um die für unsere
gedeihliche Fortexistenz so notwendige, ausgiebige Blutver¬
sorgung im peripheren Hautmuskelgebiete zu erreichen. An
der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, den peripheren Kreislauf
zu fördern, setzt ja bekanntlich die Lebenstragik aller Stuben-
sitzer und trägen Schlemmer, ebenso wie der Geistesarbeiter und
der ruheliebenden Frauenwelt zuerst ein. Alle unsere warmen
Empfehlungen von Sport und Bewegungen aller Art dienen
lediglich dem Zwecke der so wichtigen Förderung des peri¬
pheren Kreislaufes, insbesondere der Erleichterung des Blut¬
abflusses in das periphere Kapillargebiet. Aber auch unsere
Therapie der Kreislaufsorgane, solange es eine solche gegeben
hat, dient in erster Linie diesem hochbedeutenden Ziele einer
richtigen Blutverteilung im D a s t r e - M o r a t sehen Sinne.
Ich erinnere nur an die Gymnastik für Kreislaufzwecke, die
Massagebehandlung, vor allem aber an die Wasserbehandlung
in jeder Form, sei es kaltes oder heisses Bad, Dusche, Um¬
schlag, Abklatschung usw. Alles das dient zur Anregung des
peripheren Kreislaufes mit Entlastung des abdominellen.
Durch die epochemachende Entdeckung der Gefässwirkung
der Digitalis und ihrer Abkömmlinge durch Gott lieb und
Magnus wurde uns gezeigt, dass auch hier das gegensätz¬
liche Verhalten von Bauch- und peripheren Gefässen in Er¬
scheinung tritt, also auch die medikamentöse Behandlung
gleiche Heileffekte, wie die physikalische Therapie, zur Voraus¬
setzung hat, nur mit dem wesentlichen Unterschiede, dass alle
physikalischen Heilverfahren schon beim Gesunden mächtig
fördernd auf die periphere Zirkulation einwirken, während
S c h w a r t z (Archiv für experim. Physiol. u. Pathol. Bd. 51
und 52) gezeigt hat, dass das für die Kardiotonica nicht zutrifft.
Bei der Prüfung der Hydroelektrotherapie in der Richtung
der vorstehenden Ausführungen muss ich vorausschicken, dass
alle an dieser Stelle natürlich nur kurz referierenden Angaben
mehrtausendfache Einzeluntersuchungen zur einsichtsbereiten
Grundlage haben, deren umfassendere Publikation an anderer
Stelle ich mir Vorbehalte. Die Liegemessungen werden alle
mit bestimmten Ausnahmen im Wasser vorgenommen, wozu
ich bei Riva Roccimessung einen besonderen derben
Gummiarmschlauch benütze, dessen Angaben natürlich nur
brauchbar sind zur Bemessung der Badewirkung, nicht der
absoluten Blutdruckhöhe im Liegen, wobei viel zu hohe Werte
entstünden.
Ferner bemerke ich gleich hier, dass die von mir benützten
faradischen, sinusoidalen und galvanischen Ströme im Allge¬
meinen gleiche Wirkung auf den Organismus haben, jedoch
dem Einzelindividuum gegenüber oft sehr differente Wirkung
darbieten.
Mit verschwindenden Ausnahmen beobachtet man nun
Drucksteigerung bei Untersuchungen mit dem Gärtner-
schen Tonometer (Finger in Herzhöhe unter Wasser befind¬
lich) also im Kapillargebiet, wie ich (Münch, med. Wochenschr.
Heft 50, 1905) gezeigt habe. Die Drucksteigerung beträgt
in der Regel 5 — 10 mm bis zu 25 ja 30 mm in extremis. Das
mag dem Uneingeweihten nicht viel erscheinen. Ich be¬
merke jedoch, dass bei Gesunden wie Kranken nach grossen
anstrengenden Spaziergängen mit Ersteigung von Höhen usw.
durchschnittlich auch nicht mehr Kapillardruckerhöhung wie
5 — 10 mm zu erzielen ist, wie ja auch F. B a u e r (XXI. Kongress
f. innere Medizin) in seinen Untersuchungen mit dem Ergostaten
selbst für 1000kg Arbeit eine gleiche durchschnittliche Steigerung
des Blutdruckes bei Gärtner fand. Anders als der Gärtner ver¬
hält sich der Aortenblutdruck durch Riva Rocci bestimmt. Auch
hier ist Steigerung um 20, 30 bis 50 und 60 mm im Bade seht
häufig, aber mit sehr vielen Ausnahmen, in denen trotz steigen-
*) Vortrag, gehalten im Aerztlichen Verein München.
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1413
dem Gärtner der Riva Rocci absinkt, besonders dann, wenn
der Gärtner stark steigt. Namentlich dieser letztere Vorgang
zeigt auf das deutlichste, wie durch das Bad die Blutmasse aus
den Gefässen des Aortagebietes in die Kapillaren der Peri¬
pherie gedrängt wurde, womit notwendigerweise auch eine
Entlastung der Eingeweidegefässe und besonders der des
Unterleibes stattfinden muss!
Ist diese Annahme richtig, so muss mit der Blutzufuhr auch
die 1 empera t u r im Hautmuskelgebiet, wozu auch der Kopf
gehört, steigen, im After dagegen, als dem Eingeweidebezirk
des Unterleibes in der Hauptsache angehörig, absinken. Das
ist aber in der I at der Fall, wie das folgende Beispiel von vielen
zeigen wird.
J.-No. 348/1. 23. V. 05.
Liegen
im Bad vor Stromeinleitung R. R.
G.
P.
Temp.
Aft. M.
Liegen
210
112
80
37,3
36,3
im Bad nach Stromeinleitung
10
Minuten lang . 200
135
84
37,2
36,9
Die Temperaturdifferenz im After (die Wassertemperatur
während der Badedauer bleibt in der Aftergegend stets voll¬
kommen gleich) ist in diesem Falle anscheinend gering, was
aber leicht begreiflich ist, wenn man bedenkt, dass der After
auch dem Einflüsse des peripheren Gebietes unterliegt, ebenso
wie die Mundmessungen häufig stark beeinflusst werden von
der mit den Unterleibseingeweidegefässen konsensuellen Re¬
aktion der Gehirngefässe (O. Müller, Arch. f. klin. Medizin,
Bd. 82, Heft 5 und 6, wir haben demnach im Kopfe ebenfalls
zwei gegensätzlich reagierende Gefässgebiete). Immerhin beo¬
bachtet man bei den oft enorm hohen Aftertemperaturen (bis
38,3°) der Unterleibsphlethoriker Abfälle um 0,5° und mehr.
Infolge der 7 emperaturmessung auf Grenzgebieten gegensätz¬
lich reagierender Gefässbezirke ist natürlich auch die gegen¬
sätzliche Reaktion von Mund- und Aftertemperatur im Bade
nicht immer deutlich vorhanden, d. h. es sinken oder steigen ab
und zu beide Thermometer durch das Bad. Ein Absinken
der Mundtemperatur und Ansteigen der Aftertemperatur ist
dagegen in der Regel das Anzeichen einer fehlerhaften Bade¬
reaktion, wovon später mehr.
Ist somit die energische Wirkung der hydroelektrischen
Behandlung im Dast re -Mo ratschen Sinne erwiesen, so gilt
es nun auch ihre direkte Einwirkung auf die Herzarbeit zu
untersuchen.
Zu diesem Zwecke habe ich bei allen Messungen den systo-
lichen und diastolischen Blutdruck bestimmt nach Strasbur-
gers Verfahren, wodurch wir sowohl das Schlagvolumen
(Differenz der systolischen und diastolischen Werte) sowie den
mittleren Blutdruck ersehen können, deren Produkte die Herz¬
arbeit berechnen lassen.
Der Abstand zwischen Maximal- und Minimaldruck, d. h.
die pulsatorische Druckschwankung dividiert durch den Maxi¬
maldruck, gibt den von Strasburger sogen. Blutdruck¬
quotienten, aus dessen Verhalten (grösser, kleiner werden oder
gleich bleiben) zu den Schwankungen des Maximaldruckes wir
Gefässspannung und Herzarbeit in ihrem gegenseitigen Ver¬
halten zu beurteilen vermögen. Q Die Steigerung des systoli¬
schen Druckes zugleich mit dem Steigen des Quotienten und
der Vergrösserung des Schlagvolumens (auch im Pulse deutlich
fühlbar) sind die unverkennbaren Anzeichen in erster Linie der
gesteigerten Herzarbeit wie das auch aus der Herzarbeitsbe¬
rechnung ersichtlich ist.
1 C1HIJ«
J.-No. 303/1. 14. III. 05. R- R- Quot. Herzarb. Gärtn. Puls Aft. Mund
Vor Bad liegen) 122 (88) 0,28 3570 95 66 37,7 37,1
) im Wasser
Nach Bad liegen] 125 (88) 0,30 3922 110 72 37,5 37,2
J.-No. 1 1. III. 05.
Vor Bad liegen | 142 (122) 0,14 2640 85 60 37,5 37,0
9. III. 06. ! im Wasser
Nach Bad liegen! 135 (115) 0,15 2500 90 56 37,1 37,4
Messung, ausgeführt von Dr. B a u c k e ehern. Assistenten Dr.
Strasburgers und Mitarbeiter seiner Versuche.
Diesem Falle reiner Herzarbeitssteigerung stehen dann
solche gegenüber mit Senkung (siehe II. Beispiel) des systo-
1) Bezüglich des Näheren muss ich auf das für den Praktiker
recht wichtige Studium der Einzelarbeiten verweisen. Zeitschr. f.
klin. Med., Bd. 54, 1904. Kongress f. innere Medizin 1904. Archiv
f. klin. Med., Bd. 82, H. 5, 6.
No. 29.
lischen Druckes und gleichzeitigem Steigen des Quotienten als
Zeichen einer hauptsächlich durch Gefässwirkung, d. h. Tonus¬
änderung der Gefässe bedingten Badeeffektes. Daraus ersehen
wir, wie der elektrische Strom sowohl auf die Anregung der
Herzarbeit direkt, wie auch auf die Spannung der Gefässe
einzuwirken imstande ist.
Nun weist Strasburger in seinen wertvollen Unter¬
suchungen über den Einfluss verschieden temperierter Bäder,
insbesondere auch einfacher kühler und kühler kohlensaurer
Bäder auf den Kreislauf als rühmend zu Gunsten der kohlen¬
saueren Bäder nach, dass letztere erhöhend auch auf die Herz¬
arbeit wirken im Gegensatz zu den einfach kühlen Bädern, welche
bloss auf die Gefässspannung Einfluss haben. Wir ersehen
also aus unseren Untersuchungen, dass alle Vorzüge des kohlen¬
saueren Bades auch den elektrischen Bädern, und zwar, wie
ich auf Grund meiner eingehenden und umfassenden Unter¬
suchungen sagen darf, im höchsten Masse zukommen.
Ich muss es mir leider hier versagen, auf alle die interes¬
santen verschiedenartigen Einwirkungen starker elektrischer
Ströme (es werden z. B. galvanische Ströme von 200—300,
ja bis 1000 M.A. verwendet, wovon allerdings wahrscheinlich
nur ein Teil den Organismus passiert) auf Herz und Gefäss-
apparat in den verschiedensten Krankheitsstadien einzugehen.
' Nur die allgemeinen Untersuchungsergebnisse der momen¬
tanen Badewirkung auf den Organismus sofort nach dem Bade
oder längere Zeit hernach, etwa 14—1 Stunde, sollen noch er¬
wähnt werden. Ich habe hiezu Blutdruck und Pulsmessung im
Stehen vor und nach dem Bade vorgenommen, natürlich unter
ganz gleichen Bedingungen und mit Professor Martins
Seidenschlauch, sodass hier auch die absoluten Riva Rocci-
werte wieder Geltung besitzen. Dabei ist nun in der Regel
Ansteigen des Aortendruckes und Ansteigen des Kapillardruckes
und zwar oft stundenlang nachher zu beobachten, der Puls geht
meist zurück, namentlich bei Tachykardien.
Natürlich sind auch Herzarbeit und Blutdruckquotient ge¬
steigert. Sehr häufig dagegen findet man neben Steigerung des
Kapillardruckes, Rückgang des Aortendruckes, Reduktion des
Blutdruckquotienten und Rückgang der Herzarbeit als natür¬
liche Reaktion des Organismus gegenüber der starken Er¬
regung im Bade. Gerade diese Zustände des reduzierten Be¬
triebes erklären uns das so häufige Gefühl einer stets ange¬
nehmen Ermüdung der Kranken nach dem Bade, welche nicht
selten zu kurzem Schlummer führt. Aus der noch nach dem
Bade andauernden Steigerung aller Funktionen im ersterwähn¬
tem Falle begreifen wir wieder, wie eine Reihe Individuen sich
geistig freier und körperlich erfrischt fühlen nach dem Bade,
Beobachtungen, welche auch L a q u e u r aus B r i e g e r s In¬
stitut in Berlin ebenfalls publiziert hat. (Therapie der Gegen¬
wart 1905, Heft 5).
J.-No. 368/1 28. VI. 05.
Stehen vor Bad. R. R. 140 (115) Qu. 0,18 Gärtner 105 Puls 88
nach „ „ „ 130 (108) „ 0,16 „ 100 „ 80
Im Bad selbst gingen R. R. und G. und P. hinauf, Aftertemperatur
sank, Mundtemperatur stieg.
J.-No. 303 I 6. IV. 05.
Stehen vor Bad. R. R. 135 (110) F Qu. 0,19 Gärtn. 100 Puls 46
nach „ „ „ 145(110) Q „ 0,24 „ 107 „ 64
Auch hier im Bad Reaktion wie oben.
Nun wäre noch eine Badereaktion zu erwähnen, welche ich
als falsche bezeichnen möchte. Diese tritt in der Regel dann
auf, wenn im Laufe einer Behandlung die sogenannten Depres¬
sionen erscheinen, jene in ihrem Wesen noch wenig geklärten
Zustände schlechteren Befindens des Kranken nach bereits
eingetretener fortschreitender Besserung des Allgemeinzu¬
standes. Man beobachtet dabei, dass der Riva Rocci, welcher
sonst stets stieg, im Bade plötzlich eine Abnahme zeigt, ja
sogar Absinken des Gärtner bemerkt man, oder statt Ab¬
nahme der Aftertemperatur Zunahme derselben, im Mund da¬
gegen Abnahme statt Zunahme der Temperatur, mit anderen
Worten hauptsächlich Zeichen, welche darauf hindeuten, dass
die Bewegung der Blutmasse in die Peripherie nicht oder
schlecht gelingt, beziehungsweise die Hauptmasse im Innern
insbesondere im Unterleib aufgestaut ist.
J.-No. 355/1 9. V. 05.
Liegen im Bad vor Strom R. R. Qu.
135 (105) 0,22
» » » nach „ 130(102) 0,21
Herzarb.
3630
3284
Temp.
G. P. After Mund
90 66 37,2 • 36,9
85 60 37,2 37,0
4
nach
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
1414
Also: Abnahme des Gärtner im Bad, Abnahme der*, lierzarbeit
und des Quotienten,
20. V. 05 normale Badereaktion. Temp.
Liegen vor Strom R. R. Qu. Herzarb Gärtn. P. After Mund
188 (165) 0,12 4048 95 80 37,7 37,3
„ nach „ 165 (135) 0,18 4500 105 76 36,8 37,3
Also auch Abnahme des R.-R., aber Steigerung des Quotienten,
des Gärtner und der Herzarbeit, also starke Eröffnung der peri¬
pheren Blutbahnen.
Da man nun derartige falsche Badereaktionen auch dann
beobachtet, wenn eine für den Kranken nicht passende Strom¬
art gewählt wurde, so ist diese Form der Bademessung für
mich längst ein unentbehrliches Hilfsmittel zur richtigen Aus¬
wahl der anzuwendenden Stromart geworden.
Von Wichtigkeit erschien es mir nun, auch
den Einfluss der elektrischen Bäder auf den
in tiefer Narkose befindlichen Organismus zu
untersuchen.
Herr J. R., Kaufmann dahier, 20 Jahre alt, erbot sich hiezu
freiwillig. Derselbe litt an Mitralinsuffizienz mit Dilatatio cordis. Die
Erweiterung, sowie alle sonstigen Schwächeerscheinungen waren
unter dem Gebrauch von 25 faradischen Bädern verschwunden. Ich
konnte daher sein Anerbieten ohne das geringste Bedenken an¬
nehmen.
Herr Dr. B. Görtz hatte in dankenswerter Weise die Leitung
der Narkose am 28. I. 05 übernommen.
Zunächst das Messungsresultat:
Vom 16. I.— 27. I. schwankt Riva Rocci im Stehen vor einem
Bad zwischen 139 mm und 128 mm. Der Gärtner war fast stets
100 mm.
28. 1. 05. Vor Narkose Stehen .
Vor Narkose u. vor Bad auf Chaiselongue liegend
tiefe ,, ,, ,, ,, ,, » >j
„ „ nach Bad .
Erwachen und liegen .
25 Minuten nach Narkose im Stehen
R. R.
Gärtner
Puls
132
105
80
154
110
80
118
?
54
130
?
68
137
?
68
142
9
80
? = Gärtner nicht messbar wegen kalter blasser Hände.
Hiezu bemerke ich, dass R. vor Beginn der Durchleitung des
faradischen Stromes (schwächer als er für gewöhnlich bei R. an¬
gewendet worden war) im 27° R warmen Wasserbad alle Anzeichen
tiefer Narkose darbot, sofort bei Beginn der Stromeinleitung in das
Stadium der Exzitation geriet, wobei ein krampfartiges Hochziehen
der Beine mit ausgeprägter tonisch klonischer Muskelzuckung be¬
sonders auffiel. Dieselben wurden nach Wiederherstellung tiefer Nar¬
kose im Bad stärker, sodass Druck- oder Temperaturmessungen
im Bade nicht ausführbar waren.
Bemerkenswert war auch, dass der Puls vor der Stromeinleitung
fast nicht fühlbar war, während der Stromzufuhr auch nach wieder
erreichter tiefer Narkose deutlich beschleunigt und voll erschien.
Bemerkenswert ist ferner, dass R. ausser einer Uebelkeit von 10
Minuten Dauer sich vollständig wohl fühlte, trotz Vz stiindiger Dauer
der Narkose und Verbrauch von zirka 60 ccm Chloroform. Auch
ging R. trotz Abraten und Angebot eines Wagens 4!4 km Weges
nach Vs stündigem Ausruhen zu Fuss nach Hause.
Eine Veränderung des Herzumfanges war nicht eingetreten, auch
sonst zeigten sich nicht die geringsten Nachwehen.
Aus diesem Experimente geht also die die Kreislaufsorgane
mächtig erregende Wirkung der Elektrizität mit aller Klarheit
hervor; ausserdem aber bewiesen die heftigen Muskelkontrak¬
turen und Krämpfe, dass die elektrische Erregung auch ohne
sensible Reizung und ohne reflektorische Erregung des moto¬
rischen Zentrums in der Medulla wirksam sein kann, ferner
ergibt sich, dass die elektrischen Ströme nicht etwa bloss ober¬
flächliche Hautreize darstellen, sondern mindestens bis in die
tiefsten Muskelpartien hinein direkt erregend einwirken. _
J.-N. 109/III. Am 3. X. 04 wurde A. W., 17 Jahre alt, Schlosser,
in meine Sprechstunde gefahren. Derselbe bot alle Erscheinungen
schwerster Insuffizienz des Herzens. Fahles Aussehen, zyanotische
Schleimhäute, Kurzatmigkeit, kann kaum stehen, Herzstoss den ganzen
Thorax hebend, Herz im Längsdurchmesser 20 cm lang, füllt im
Röntgen fast den ganzen Thorax aus, Geräusche an allen Ostien
systolisch und diastolisch, Puls kaum fühlbar, aussetzend, über 100
Schläge in der Minute, systolisch, präsystolischer Venenpuls. Ana-
sarka der Beine und der Bauchhaut, Eiweiss im Harn (2 Proz. Es¬
bach), starke Leberschwellung, Blutdruck, Gärtner 80 mm, Riva
Rocci nicht gemessen wegen Ueberempfindlichkeit der Arme gegen
Druck. Auf Verlangen faradisches Bad. Darnach wesentliches Bes¬
serbefinden. Dabei war auffallend, wie das zyanotische Blau auf den
Lippen einem lebhaften Rot Platz machte.
Am 6. X. 04 zweites faradisches Bad.
Vor Bad liegen 90 mm Gärtner
Nach „ „ 110
112 Puls
104 „
Am 11. X. 04 drittes faradisches Bad.
Vor Bad liegen 80 mm Gärtner 110 Puls
Nach „ „ 90 „ „ 96 „
Fühlt sich etwas müde nach Bad.
Am 18. X. 04 viertes faradisches Bad.
Vor Bad liegen 50 mm Gärtner 108 Puls
Nach ,, „ 75 ,, ,, 92 ,,
niederster Druck, den ich bei erwärmtem Finger je gemessen habe.
Fühlt sich sehr wohl nach Bad. Zunehmender Hydrops ver¬
hinderte weitere Bäder, nach denen sich der Kranke so lebhaft
sehnte, dass er bei einem Besuche kurz vor dem Ende Oktober er¬
folgten Exitus mich fragte, ob er denn nicht bald wieder baden dürfe.
Ich erwähnte dieses Falles, dem ich noch andere ähnliche
anfügen könnte, um zu zeigen, dass kein Qrad der
Herzinsuffizienz gegen die Anwendung der
Elektrizität eine Kontraindikation bildet, so
wenig, wie der Gebrauch der Digitalis, mit
derjadie AnwendungderElektrizitätimPrin-
zip vollkommen identisch ist. Solche Fälle führen
übrigens auch B ü d i n g e r und G e i s s 1 e r (Münch, med.
Wochenschr. 1904 S. 789) bei Gebrauch des Wechsel¬
stromes an.
Für solche schwere bettlägerige Kranke kann ich die quere
Durchleitung mittelstarker, faradischer oder Wechselströme durch
den Unterleib mittels breiter Platten nur aufs Wärmste em¬
pfehlen, wenigstens als schwachen Ersatz für die Bäder.
Nachdem wir den Einzeleffekt eines Bades auf den Or¬
ganismus geprüft haben, gilt es nur noch der Gesamtwirkung
hydroelektrischer Bäder auf den Kranken im Verlaufe einer
Behandlung nachzugehen.
Zu diesem Zwecke, sowie überhaupt zur Feststellung der Dia¬
gnose, bediene ich mich folgender Funktionsprüfung. Ausser der
selbstverständlichen auskultatorischen (namentlich auch im Liegen
beim Herzen), perkutorischen und palpatorischen Untersuchung aller
Organe, wird eine orthodiagraphische Röntgenaufnahme gemacht.
Der Blutdruck nach Gärtner wird im Stehen am rechten Zeige¬
finger bestimmt. Hierauf kommt an den linken Oberarm der Schlauch
von Ri va Rocci und an das rechte Handgelenk Jaquets Sphyg-
mograph. Diese beiden Instrumente bleiben, während Patient 20 Knie¬
beugen macht, liegen, sodass also Blutdruck (systolisch und dia¬
stolisch) und Pulskurve unmittelbar vor und nach der Anstrengung
aufgenommen werden können. (Der diastolische Blutdruck ist nach
der Anstrengung leichter zu bestimmen als vorher.) Ein am Arm¬
schlauch besonders angebrachtes Ventil ermöglicht mir, vor dem
Absinken des systolischen Blutdruckes durch raschen Abfall der
Quecksilbersäule den diastolischen Druck zu bestimmen.
Aus der Pulskurve erkennen wir an der quantitativen und
qualitativen Veränderung der Pulswelle und ihrer zeitlichen
Aufeinanderfolge nicht bloss die Veränderung der Herzarbeit,
sonderen insbesondere auch die so wichtigen wechselnden
Spannungsverhältnisse im peripheren Gefässystem im Ver¬
laufe der Behandlung. Die Bestimung des Aorten und Kapillar¬
druckes gibt uns einen Einblick in die Blutverteilung der beiden
grossen Gefässysteme, wovon, wie schon erwähnt, Kreislaufs¬
störungen in der Regel ihren Ursprung nehmen.
(Schluss folgt.)
Aus dem Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten (Direktor:
Medizinalrat Dr. N o c h t).
Die Romanowskyfärbung nach May.
Von Oberarzt Dr. Viereck, kommandiert zum Institut.
Im Jahre 1891 veröffentlichte Romanowsky (1) seine
Arbeit über die Parasitologie und Therapie der Malaria, in
welcher die Färbetechnik beschrieben worden ist, welche
seinen Namen bekannt machte (1). Es gelang ihm, den Schleier
vor den Strukturverhältnissen und Lebensvorgängen der Ma¬
lariaparasiten zu lüften und den Kern derselben charak¬
teristisch zu färben. Seine im Sinne E h r 1 i c h s neutralen
Farblösungen von konzentriertem Methylenblau und 1 proz.
Eosin zeigten sich jedoch in der Hand seiner Nachuntersucher
launisch und ungleich. Deshalb entstand eine ganze Reihe
Modifikationen, welche ein sicheres Gelingen und eine grössere
Gleichmässigkeit der Färbung zum Ziel hatten.
N o c h t (2) erkannte, dass das wirksame Prinzip in dem
Methylenblau der Romanowskyfärbung ein durch Zersetzung
des Methylenblaus entstandener Farbkörper (Rot aus Me¬
thylenblau) sei, welchen Michaelis (3) als Methylenazur
if
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1415
identifizierte. Q i e m s a (4) konnte die Befunde von Micha¬
elis bestätigen und führte den reinen Farbstoff in die Färbe¬
praxis ein, indem er eine neue, wohlfeilere Darstellungsmethode
des Methylenazur und brauchbare Färbemethoden ersann; er
arbeitete zunächst noch mit zwei Lösungen, einer die basischen
Farbstoffe enthaltenden und einer zweiten mit dem sauren
Farbstoff.
Ein weiterer Fortschritt ist die Vereinigung beider Farb¬
stoffe zu einer einzigen Lösung, deren Haltbarkeit und Färbe¬
kraft durch Anwendung zweckmässiger Lösungsmittel und
eines bestimmten Ueberschusses an basischem Farbstoff (Azur
und Methylenblau) bedingt ist (Q i e m s a) (5).
May hat nun vor Kurzem in der Münchener medizinischen
Wochenschrift 1906 No. 8 eine neue Methode der Romanowskyfärbung
empfohlen, welche durch ihre schnelle, sparsame, einfache Hand¬
habung und durch ihre niederschlagfreien, klaren Bilder sich vor
den übrigen „starken“ Romanowskyfärbungen auszeichnen solle.
Bei der Wichtigkeit der Romanowskyfärbung für die Protozoen¬
forschung lag eine Nachprüfung, zu welcher hier reichliches Material
vorhanden ist, in dem Interesse des Institutes.
May arbeitete mit zwei Farblösungen. Den ersten Farbstoff,
das eosinsaure Methylenblau, bezogen wir von Grübler direkt, das
Methylenazur I war hier vorhanden. Die Lösung des eosinsauren
Methylenblaus in Methylalkohol wurde hier nach den May-Qrün-
wald sehen Vorschriften hergestellt.
In einer ersten Versuchreihe wurden gefärbt:
1. Normales Blut;
2. Blut mit Regenerationstadien;
3. Blut bei chlorotischen Zuständen;
4. mit Tropika infiziertes Blut;
5. mit Quartana und Tertiana infiziertes Blut;
6. verschiedene Trypanosomen.
Es wurden von demselben Material und gleichzeitig Präparate
hergestellt:
1. nach May-Grünwald (Zentralbl. f. innere Medizin 1902,
No. 11);
2. nach May,
3. nach G i e m s a.
Die einzelnen Blutelemente — aber nicht die protozoischen Blut¬
parasiten — sind nach May-Grünwald sehr gut differenziert
gefärbt. Die Polychromatophilie und Basophilie waren in allen drei
Parallelreihen gut erkennbar. Die Leukozytengranula sind nach May
und G i e m s a weniger leicht diagnostizierbar als nach May-
Grünwald; speziell erfordert die Erkennung der Eosinophilie einige
Uebung. Die eosinophilen Granula färben sich nach May grau, nach
G i e m s a ebenfalls grau bis graurot, nicht selten heben sie sich als
blass graurote Körner von einem blau gefärbten Untergründe ab.
Am sichersten sind sie an ihrer ziemlich grossen, gleichmässig runden
Form zu erkennen und von den weit kleineren und ungleichmässiger
verteilten, oft rot-violett gefärbten neutrophilen Granulis zu unter¬
scheiden. Lymphozyten, Mastzellen und Blutplättchen fanden sich,
wie May schildert, gut gefärbt, obgleich die Chromatinelemente eine
bei der Romano wsky sehen Methode ungewohnte Ueberfärbung
nach Blau zeigten.
Bei den weiteren Färbeversuchen ist ein Unterschied zu machen
zwischen frischen und schon längere Zeit konservierten Präparaten.
Frisch ausgestrichen kam zur Färbung mit Malaria und Try¬
panosomen infiziertes Blut. Nur in den frisch ausgestrichenen Tropika-
präparaten gab die Färbung nach May eine leidliche Chromatin¬
färbung der Ringe, welche aber ebenso wie z. B. die Blutplättchen eine
Ueberfärbung nach Blau zeigten. Schon bei den Gameten trat
überhaupt keine Chromatinfärbung mehr ein. Das gleiche gilt von
den heranwachsenden Formen des Tertian- und Quartanparasiten
sowie von deren Dauerformen. Das Chromatin blieb ungefärbt. Bei
den Trypanosomen färbte sich der Kernapparat schwach blau anstatt
rotviolett. Der Blepharoblast der Mal-de-Caderas-Trypanosomen trat
nicht hervor. Die Granula der Tsetsegruppe färbten sich intensiv,
sie verdecken meistens so den blassblauen Kern völlig, dass er nicht
zu erkennen war. Es mag hinzugefügt werden, dass alle Präparate
nach G i e m s a gefärbt gute Chromatinbilder gaben. Die Färbung
wurde genau nach Mays Vorschriften ausgeführt. Auch wurde ver¬
sucht, unter Kontrolle des Mikroskops durch verschieden lange Aus¬
dehnung der Nachfärbung mit Methylenazur eine Chromatinfärbung
der Trypanosomen zu erreichen. Die Leukozytenkerne waren gut ge¬
färbt.
An alten Ausstrichen: Malaria, Tropica, Tertiana und Quartana,
ergab sich nach May gar keine Chromatinfärbung der Parasiten
mehr. Es färbten sich also nach May nur in frisch ausgestrichenen
Präparaten die Kerne der Tropikaringe; aber auch für diese verlor
unsere Farblösung bald das Färbevermögen.
Zu einer zweiten Versuchsreihe wurde eine Lösung frisch an¬
gefertigt, um mit ihr die Ergebnisse der ersten Färbeversuche einer
nochmaligen Prüfung zu unterziehen. Die Farblösung wurde an
frischen Tropikaringen geprüft, dann wurde eine Hälfte der Farb¬
lösung bei Zimmertemperatur aufgehoben, die zweite im Warmzimmer
bei etwa 27°. Beide Lösungen versagten beim Versuche, alte Prä¬
parate von Malaria sowie frische Piroplasmenausstriche zu färben.
Auch zwei frische Tropikapräparate gaben zunächst keine Chroma'
tinfärbung; doch wurde diese nach stärkerer Verdünnung der Methy-
len-Azur-I-Lösung erreicht. Es wurde von einer Vz proz. Lösung nur
ein kleinei Tropfen oder Glasstababstrich auf dem noch mit reich¬
lichem Wasser bedeckten Objektträger verteilt. Diese Methode
wurde dann beibehalten. Doch schon nach 3 Tagen gab die bei
27° stehende Lösung keine distinkte Chromatinfärbung mehr. Die
Färbedauer wurde für Lösung I auf eine Stunde erhöht, für Lösung II
auf 10 Minuten. Die Färbung war danach wieder einigermassen zu¬
friedenstellend, aber schon nach 7 Tagen mussten die Färbezeiten
wieder erhöht werden. Bei einer Dauer der Färbung von 2 Stunden
mit der ersten Lösung und 20 Minuten mit der zweiten ergab di« Be¬
nutzung der bei Zimmertemperatur aufbewahrten Lösung noch Kern¬
färbung der Tropikaringe, aber nicht mehr die bei 27° aufbewahrte.
Bei einer Wiederholung des Färbeversuches am übernächsten Tage
mit einer Färbedauer von 1 Stunde bezw. 20 Minuten ergab auch die
erstere Lösung keine annehmbaren Resultate mehr.
Die Ergebnisse unserer Mayfärbungen entsprachen nicht
den Erwartungen, welche die empfehlenden Worte Mays
in uns erweckten. Eine rote Chromatinfärbung erhielten
wir unter strikter Befolgung der Färbevorschriften des ge¬
nannten Autors überhaupt nur bei Tropikaringen in frischen
Präparaten. Dagegen versagte die Methode für das Chroma¬
tin anderer Protozoenformen: Trypanosomen, Piroplasmen,
Quartana, Tertiana und Tropikagameten. Dass das Chromatin
dieser Parasiten sich elektiv nach Romanowsky färbt,
zeigten die Parallelfärbungen nach Q i e m s a. Aber selbst
das Färbungsvermögen des Tropikaringchromatins verlor
unsere Maylösung sehr bald, besonders schnell bei ihrer Aufbe¬
wahrung in einer der gemässigten Tropentemperatur ent¬
sprechenden Wärme. Diese geringe Haltbarkeit beeinträchtigt
ihre Brauchbarkeit in der von May empfohlenen Anwendung
ausserordentlich. Die Bezeichnung der May sehen Färbe¬
methode als „Romanowskyfärbung“ verdient aber überhaupt
eine erhebliche Einschränkung wegen ihrer Ueberfärbung nach
blau und ihres gänzlichen Misserfolges bei den meisten Pro¬
tozoen. Aus allem erhellt, dass die May sehe Methode in
der beschriebenen Anwendung keinenfalls eine Verbesserung
der Romanowskyfärbung bedeutet.
Literatur.
1. Romanowsky: Zur Frage der Parasitologie und Therapie
der Malaria. Deutsch von Werner. — 2. Nocht: Zur Färbung der
Malariaparasiten. Zentralbl. f. Bakteriol., Abt. I, Bd. 24. —
3. Michaelis: Das Methylenblau und seine Zersetzungsprodukte.
Zentralbl. f. Bakteriol., Abt. 1, Bd. 29. -- 4. G i e m s a: Färbemethoden
für Malariaparasiten. Zentralbl. f. Bakteriol., Abt. I, Bd. 31. —
5. Giemsa: Eine Vereinfachung und Vervollkommnung meiner
Methylenazur-Methylenblau-Eosin-Färbemethode etc. Zentralbl. f.
Bakteriol., Abt. I, Bd. 37.
Aus der Privatklinik von Hofrat Dr. Fr. Haenel in Dresden.
Ein Fall von Ganglion am Kniegelenksmeniskus.
Von Dr. Erhard Schmidt,
früher Assistenzarzt der Klinik, z. Z. Volontärassistent am
pathologischen Institut der Universität Leipzig.
Die Anregung zur Publikation dieses Falles gab eine mit
dem gleichen Thema in No. 39, Jahrgang 1904, der Münch,
med. Wochenschr. erschienene Arbeit von Dr. A. Ebner aus
der Garre sehen Privatklinik in K ö n i g s b e r g. Da ich in
der Literatur ausser dem Ebner sehen Fall keinen von gleicher
Lokalisation finden konnte, möchte ich den unsrigen anreihen:
Am 4. Februar 1905 wurde der 20 jährige Markthelfer E. Gr. mit
einer kleinen Geschwulst auf der Aussenseite des rechten Kniegelenks
in die Klinik aufgenommen. Als Entstehungsursache seines Leidens
gab Gr. an, dass ihm etwa 3 Monate vorher, Anfang November 1904,
eine Kiste vorn seitlich auf das rechte Kniegelenk gefallen sei. Die
anfangs heftigen Schmerzen haben nach wenigen Tagen nachgelassen,
sodass Gr. seinem Berufe nachgehen konnte. Etwa 4 Wochen nach
dem Unfall jedoch begannen die Beschwerden wieder zuzunehmen
und es zeigte sich eine allmählich wachsende Geschwulst, die Gr.
veranlasste, den Arzt aufzusuchen. Da die Behandlung mit Um¬
schlägen und Jodtinktur keine Besserung brachte, kam Gr. Anfang
Februar 1905 in die Klinik.
Der kräftige und sonst vollkommen gesunde Mann zeigte auf
der Aussenseite des rechten Kniegelenks eine etwa kirschgrosse,
sehr derbe, auf der Unterlage festhaftende Geschwulst. Sie sass
unterhalb des Epicondylus externus d., in Höhe der Gelenkspalte.
4*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
[416
. >ic Haut darüber war verschieblich und von normaler Beschaffenheit.
Bei Druck auf den Tumor und Bewegungen des Gelenks äusserte
ür. heftige Schmerzen, auch waren aktive und passive Bewegungen
des rechten Kniegelenks nur in geringem Umfange möglich. Das
Röntgenogramm zeigte keinerlei Strukturveränderung der Knochen,
sondern nur eine durch das Hervorragen der Geschwulst bedingte
Konturveränderung des Weichteilbildes.
Die Geschwulst, die sich als Ganglion erwies, wurde exstirpiert
und die Wunde vernäht. Die Heilung erfolgte primär, jedoch gab Gr.
noch lange Zeit an, stechende Schmerzen zu empfinden, die dann
durch Massage und Uebungen in einem Pendelapparat allmählich
wichen.
Nachdem Gr. dann von Anfang Mai an mehrere Wochen ge¬
arbeitet hatte, wurde das Auftreten eines Rezidivs beobachtet. Sitz
und Symptome waren dieselben wie beim ersten Male. Die Operation
erfolgte am 13. Juni 1905.
Mitte Oktober 1905 bemerkte Gr. am Orte der exstirpierten
Geschwulst direkt unter der etwas adhärenten Narbe wiederum einen
allmählich wachsenden Tumor mit denselben Symptomen, wie sie
der erste und zweite gezeigt hatten. Am 3. November 1905 wurde
dieser neue, etwa kirschgrosse Tumor samt einem Teil vom Rande
des fest mit ihm zusammenhängenden Meniscus lateralis und einem
Stück der mit diesem verwachsenen Gelenkkapsel und der Faszie ent¬
fernt. Das Innere der Geschwulst und die Gelenkhöhle kommuni¬
zierten nicht miteinander. Es trat glatte Heilung ein. Bis heute hat
sich kein Rezidiv gebildet.
Die Operationen unterschieden sich dadurch von einander,
dass bei den ersten beiden der Tumor an der Ansatzstelle am
Meniskus abgetrennt wurde, während bei der letzten ein Teil
des makroskopisch allerdings unveränderten Meniskus mit
entfernt wurde.
Die pathologisch-anatomische Untersu¬
chung bestätigte die Diagnose Ganglion und hatte fol¬
gendes Ergebnis1):
Makroskopisch zeigen sich die Gelenkflächen des rese¬
zierten Meniskusstückes glatt, seine peripheren Teile ohne Verände¬
rungen. Der Tumor selbst ist auf der Aussenseite von Faszien- und
Sehnenresten, auf der Innenseite von narbigem Bindegewebe bedeckt.
Auf der Schnittfläche sieht man, besonders in den zentralen Teilen,
in einem derben, sehnig weissen Bindegewebe ziemlich zahlreiche
hirsekorn- bis erbsengrosse, runde, glattwandige Hohlräume, welche
eine zähe, schleimig sich anfühlende, wasserklare Flüssigkeit enthalten.
Die mikroskopische Untersuchung ergibt, dass der Tumor
aus dicken Bindegewebsbündeln besteht, die sich nach den ver¬
schiedensten Richtungen durchflechten. Die einzelnen Bündel sind
verhältnismässig kernarm, zwischen ihnen verlaufen ziemlich zahl¬
reiche Gefässe, die mitunter von einem schmalen Ring eines aus
Rund- und Spindelzellen bestehenden Gewebes eingehüllt werden.
An zahlreichen Stellen bemerkt man inmitten der Bindegewebsbündel
eine Auflockerung des Gewebes, indem neben einer geringfügigen
Kernvermehrung die einzelnen, die Bündel zusammensetzenden Fa¬
sern, auseinandergewichen sind und zwischen den Fasern eine fein¬
körnig geronnene Masse hervortritt, die sich mit Hämatoxylin blass¬
bläulichgrau gefärbt hat. Diese Masse ist wohl als gallertartiges
Degenerationsprodukt aufzufassen, das durch Hämatoxylinfärbung
bläulich zu werden pflegt und durch Fixierung und Härtung zu
körniger Masse gerinnt.
An anderen Stellen findet sich mitten in den Bindegewebs¬
bündeln eine reichlichere Anhäufung von teils spindelförmigen, teils
sternförmigen Zellen, die durch feine Ausläufer miteinandei Zusammen¬
hängen, aber nicht dicht nebeneinander liegen, sondern durch kleine,
unregelmässig gestaltete Hohlräume von einander getrennt sind, die
teils leer sind, teils die bereits erwähnte feinkörnig geronnene Masse
enthalten.
An wieder anderen Stellen sind die zuletzt erwähnten Hohl-
räume grösser, die Zellen infolgedessen weiter auseinander gedrängt,
aber immer noch durch deutliche Ausläufer mit einander verbunden.
Die schon mit blossem Auge erkennbaren grösseren und kleineren
Hohlräume unterscheiden sich von den zuletzt erwähnten Herden
nicht wesentlich, nur finden sich hier in den zentralen Abschnitten
keine Zellen mehr, es liegt hier vielmehr eine feinkörnig und fein-
fädig geronnene Masse, die die oben angegebene Färbung mit Hä¬
matoxylin angenommen hat, aber keine deutliche Schleimreaktion gibt.
Die Peripherie der Hohlräume wird von den spindel- und stern¬
förmigen, mit Ausläufern untereinander verbundenen, mehr oder min¬
der weit voneinander liegenden Zellen gebildet, die ohne scharfe
Grenze unmittelbar mit, den Zellen des umgebenden dicht gewebten
Bindegewebes Zusammenhängen.
Ein spezifischer Endothelbelag, der morphologisch von den um¬
gebenden Zellen verschieden sein müsste, findet sich demnach nicht.
An mehreren Stellen trifft man auf Durchschnitte von Seiden¬
fäden — von den früheren Operationen herstammend — , die von
einem dichten, zellreichen Granulationsgewebe umgeben sind, in dem
sich reichlich Riesenzellen finden.
U Nach einem von Herrn Prof. Dr. Schmorl, Prosektor am
Friedrichstädter Krankenhaus in Dresden, gütigst zur Verfügung ge¬
stellten Bericht.
Der Meniskus zeigt im allgemeinen dieselben Veränderungen,
wie sie eben beschrieben wurden, auch trifft man auf eine Auf¬
lockerung der Bindegewebsbündel und eine Umwandlung derselben
in ein dem Schleimgewebe nahestehendes Gewebe. Grössere Hohl¬
räume werden hier nur äusserst spärlich gefunden.
Wir haben also einen gutartigen, in der Nähe eines Ge¬
lenks, ohne Kommunikation mit diesem, sitzenden Tumor vor
uns, der in einem bindegewebigen Stroma langsam gewachsen
ist und keinerlei Entzündungserscheinungen in der Umgebung
zeigt. Im Innern enthält er zahlreiche mit gallertartiger Flüs¬
sigkeit gefüllte Hohlräume, die durch ein ziemlich kernarmes,
weissliches Bindegewebe von einander getrennt sind.
Das alles sind Merkmale, welche die Diagnose „G ang-
1 i o n“ rechtfertigen.
Der von Ebner (1. c.) veröffentlichte Fall zeigt grosse
Aehnlichkeit mit dem eben beschriebenen.
Was das spezielle Verhalten zum Meniskus des Gelenks
anlangt, so sitzen ihm beide Tumoren mit breiter Basis auf
und gehen ohne scharfe Grenze in sein Gewebe über. Worauf
bei dem E b n e r sehen Meniskus die gelbliche Verfärbung an
der Trennungsstelle beruht, konnte nicht festgestellt werden,
da er bei der Operation nicht mit entfernt wurde. E. nimmt
,, Vorgänge degenerativer Natur“ an. In unserem Falle fehlt die
Verfärbung, es finden sich jedoch pathologische Veränderungen,
wie sie dem Ganglion selbst eigen sind.
Ein Zusammenhang des Geschwulstinnern mit der Ge¬
lenkhöhle Hess sich in keinem Falle nachweisen; auch fehlte
mikroskopisch jede Andeutung eines etwa obliterierten Ganges,
ein Verhalten, das gegen die Annahme spricht, dass Ganglien
als „hernienartige Ausstülpungen“ aufzufassen seien, in denen
sich Gallerte bilde. 2 3)
Bei der mikroskopisch weitgehenden Uebereinstimmung ist
auffallend,, dass die Gefässe unseres Tumors unverändert sind,
während im Ebner sehen Falle eine oft hochgradige Endar-
teriitis besteht. Dieser Umstand scheint darauf hinzudeuten,
dass die Gefässveränderungen sekundär auftreten und viel¬
leicht durch den vermehrten Innendruck hervorgerufen wer¬
den a) u. 4); das E b n e r sehe Ganglion bestand 4 — 5 Jahre,
in unserem Falle war der Tumor — als Rezidiv — %
Jahre alt.
Bemerkenswert ist ferner, dass in beiden Fällen eine das
Zystenlumen auskleidende spezifische Endothelschicht fehlt.
Die angeführten Tatsachen sprechen für die vielfach auf¬
gestellte Hypothese, dass die echten Ganglien als Erwei¬
chungszysten im paraartikulären, tendinösen oder periostalen
Gewebe aufzufassen sind, die durch gallertige Degeneration
des infolge eines Traumas in seiner Ernährung geschädigten
Bindegewebes entstanden sind. 5 *)
Den von E b n e r in seiner Arbeit angeführten 5 Fällen von
Ganglien der Kniegelenksgegend möchte ich noch zwei aus der
Literatur hinzufügen.
Im ersten Falle °) handelte es sich um einen etwa nussgrossen,
unregelmässig geformten Tumor, dicht neben der Patella, aussen von
ihr sitzend. Ein Zusammenhang mit dem Gelenk war nicht nach¬
weisbar. Bei der Operation wurde der ins Gelenk führende Stiel
unterbunden und durchschnitten. Es entleerte sich eine geringe Menge
fadenziehender Flüssigkeit. Der Tumor zeigte einen mehrkammerigen
Bau und ist, wie N i c a i s e annimmt, durch eine mehrfach wieder¬
holte herniöse Ausstülpung der Synovialis entstanden.
Ferner berichtet E mb erg7) über ein Ganglion an der Arti-
culatio fibulo-tibialis sup., das operiert wurde und nach 9 Monaten
rezidivierte. Der histologische Bau zeigte keine Besonderheiten. Der
Degenerationsprozess erstreckte sich auch in das intermuskuläre
Bindegewebe hinein. E r n b e r g nimmt als primär eine kleine Hernie
der Gelenksynovialis an. Durch Einklemmung sei Oedem mit par-
2) C. Borchardt: Ganglienbildung etc. Ein Beitrag zur
Pathogenese der Ganglien. Langenbecks Archiv, LXII, 3.
3) C. Borchardt: 1. c.
4) E. Payr: Beiträge zum feineren Bau und der Entstehung der
karpalen Ganglien. D. Zeitschr. f.^Chir., XL1X.
5) Payr und Borchardt: 11. cc. — Ledderhose: Ueber
Ganglien der Kniegelenksgegend. Zentralbl. f. Chir., XVI. — Der¬
selbe: Die Aetiologie der karpalen Ganglien. D. Zeitschr. f. Chir.,
XXXVII. — Miele rt: Zur Kasuistik der Ganglien. Diss., Greifs¬
wald 1902.
8) Nicaise: Ganglion articulaire du genou. Rev. de chir. 1883.
Ref. im Zentralbl. f. Chir. XI.
7) Ernberg: Beiträge zur Kenntnis der sog. Ganglien. Nord,
med. Arkiv. N. F., Bd. XI. Ref. im Zentralbl. f. Chir., XXVIII.
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1417
tieller Nekrose zu stände gekommen. Schliesslich sei Synovial¬
flüssigkeit zu dem so veränderten Gewebe hinzugetreten.
Aus der chirurgischen Abteilung des städt. Krankenhauses zu
Karlsruhe (Prof. v. Beck).
Vereinfachtes Extensionsverfahren.
(Zweite Mitteilung.)
Von Dr. Arthur Hofman n, I. Assistenten.
ln No. 6 des diesjährigen Jahrganges dieser Wochenschrift
habe ich in einer vorläufigen Mitteilung ein Extensionsverfahren
angegeben, welches durch den Wegfall des ganzen Rollen¬
systems eine wesentliche Vereinfachung darstellen dürfte. Das
Prinzip beruht darin, dass der Längszug in einen queren Zug
nach beiden Seiten hin umgesetzt wird. Die Erfahrungen,
welche nun mit diesem Extensionsverfahren gemacht wurden,
geben zur vorstehenden Mitteilung Veranlassung.
Eine Veränderung erfuhr die Gestalt des Spreizschlittens. (Die
Anregung hierzu verdanke ich Herrn Regierungsarzt Dr. Wohl-
g e m u t h - Dsumeb, Siid-West-Afrika). Es wird jetzt nicht mehr der
Heftpflasterstreifen durch die Basis des gleichschenkeligen Dreiecks
hindurchgezogen, sondern derselbe wird um den Spreizschlitten
herumgelegt. Dadurch wird das umständliche Durchziehen des Strei¬
fens vermieden, welcher überdies zusammengefaltet werden muss,
um die Löcher passieren zu können.
Was die Form anlangt, so wurde das Dreieck durch eine halb¬
kreisförmige Scheibe ersetzt. Dieselbe bietet dem ansetzenden Zuge
eine regelmässige Verteilung und kann in jedem Haushalte leicht
und schnell beschafft werden.
Die Extension gestaltet sich dann folgendermassen:
Der Heftpflasterstreifen a, welcher der Extre¬
mität b anliegt, läuft um die Peripherie des Spreiz¬
schlittens c, der eine halbkreisförmige, für Er¬
wachsene 5 cm dicke
und an der Basis 15 cm
lange (bei Kindern sind
die Masse entspre¬
chend kleiner zu neh¬
men) Scheibedarstellt.
Die Ringschrauben d,
durchweiche die quer¬
laufende Schnur e
zieht, werden zu bei¬
den Seiten am Kreis¬
bogen angebracht, so
uass sie tue Mitte zwischen Fusspunkt und
Scheitel der Scheibe einhalten, damit ein Um-
kippen des Spreizschlittens vermieden wird. Die
beiden Kanten des Spreizschlittens sind abge¬
schrägt, um ein Einschneiden des Hef'tpflaster-
streifens zu verhüten.
Durch diese Modifikation wird die Extension so vereinfacht, dass
der praktische Arzt in der Lage ist, sie in jedem Falle zu improvi¬
sieren. Der Spreizschlitten kann sowohl bei dem V olkmann sehen
Stiefel als bei der einfachen Bardenheuer sehen Extension an¬
gewandt werden.
Am besten hat sich die vorliegende Extensionsart bei Kindern
bewahrt. Man erlebt es täglich, dass das Kind mit dem Stiefel von
dem Schleifbrett heruntergleitet. Dadurch wird der Effekt der Ex¬
tension illusorisch. Bei der vorstehenden Extensionsart ist dieses
Vorkommnis ausgeschaltet. Der Spreizschlitten ersetzt das Schleif¬
brett, weil er auf der Unterlage zu gleiten vermag. Wenden wir einen
Volkmann sehen Stiefel oder eine Schiene an, dann dient der
Spreizschlitten allein der Uebertragung der Zugrichtung und hängt in
der Schwebe. Das gleiche ist der Fall, wenn, wie bei einer Ober¬
schenkelfraktur, eine Elevation der Extremität erforderlich ist. In
diesen Fällen wirkt der Schlitten dann nicht mehr als solcher, son¬
dern nur als Transformator für die Zugrichtung.
Mit welchem Gewicht soll nun beiderseits belastet werden?
Die Antwort lautet: Auf jeder Seite mit demjenigen,
welches man sonst unten anhängen würde. Es
muss also im ganzen das doppelte Gewicht, das man
sonst gebraucht, angewendet werden.
Die Berechnung dieses Gewichtes geschieht einmal dadurch,
dass man an Stelle der Extremität eine bestimmte Gewichtsmenge
einschaltet und dann prüft, welches Gewicht imstande ist, die Rei¬
bungswiderstände der Bettoberfläche gerade zu überwinden und einen
Zug nach abwärts auszuüben. Zweitens kann man die anzuwendende
Kraft aus dem Parallelogramm der Kräfte berechnen.
Ist der Winkel, welchen die querlaufende Schnur an ihrem An¬
griffspunkt an der Ringschraube bildet a, die Kraft, mit welcher nach
unten gezogen werden soll R, und 0 das Gewicht der Belastung auf
einer Seite, dann ist R = 2 0 sin a.
Belasten wir demnach z. B. mit 20 Pfd. auf jeder Seite bei einer
Oberschenkelfraktur, so müsste mit ca. 40 Pfd. abwärts gezogen
werden. Die Widerstände spielen jedoch eine grosse Rolle, so dass
ungefähr 50 Proz. des Gesamtgewichtes verloren gehen. Die Wider¬
stände hängen von der Beschaffenheit der Unterlage, der Grösse der
Gewichte und dem Drucke, welchen die Extremität auf den Spreiz¬
schlitten nach unten zu ausiibt, ab. So erhalten wir in Wirklichkeit
nicht 40 Pfd., sondern ungefähr die Hälfte als resultierende Kraft.
Lässt man den Winkel « kleiner werden, d. h. nähert man die
querlaufende Schnur dem unteren Bettende, dann wird die Zug¬
kraft nach unten gesteigert. Lässt man « grösser werden, so tritt
das Gegenteil ein, so dass bei einem Winkel von a = 180° die
Extension nach abwärts gleich Null ist.
Es muss also darauf geachtet werden, dass die
querlaufende Schnur nicht die Richtung gegen die
Extremität zu einnimmt. Schon eher kann man die Rich¬
tung nach dem Bettende zu verändern.
Dass der notwendige Grad von Gegenextension angebracht wird,
versteht sich von selbst. Die Extension wird unwirksam, sobald
der Spreizschlitten an die querlaufende Schnur anstösst. Die Schnüre
selbst müssen kräftig sein, da sie ja ein grösseres Quantum wie bei
der sonst üblichen Extension zu tragen haben.
Aus der Kgl. medizinischen Poliklinik in München (Vorstand:
Professor Dr. R. May.
Beitrag zur Bi ersehen Stauung.
Von Dr. M. Riehl, Assistent.
In den nachfolgenden Zeilen soll in aller Kürze der Fall
einer vor vielen Jahrzehnten erlittenen Unterschenkelfraktur
mitgeteilt werden, der seiner Originalität halber besonderes
Interesse verdienen dürfte. Die Angaben des Patienten be¬
weisen, dass derselbe z u f ä 1 1 i g den heute anerkannten Weg:
das Prinzip der Bier sehen Stauung, bei den wiederholten Ver¬
letzungen seiner Kontusionsstelle eingeschlagen hat.
Am 21. April 1906 suchte uns der 72 jährige Schäfer P. A. aus Z.
auf wegen „Summens im Kopf“, das im letzten Winter ihn recht ge¬
quält habe und nach seiner Ansicht von einem „Wurm im Kopf“ her¬
rühren müsse. Die Untersuchung ergab als wahrscheinliche Ursache
eine seit langer Zeit bestehende rechtsseitige Phthisis bulbi.
Auf eine zufällig an ihn gerichtete Frage erklärte der Patient,
dass er früher auch „den Wurm im linken Unterschenkel“ gehabt
habe. 17 Jahre alt, sei er von einer Scheune herabgesprungen; so¬
fort habe er äusserst heftige Schmerzen verspürt, die es ihm unmög¬
lich machten, aufzustehen. Er wurde nach Hause transportiert. Bis
abends war das Bein ausserordentlich stark geschwollen. Ein Arzt
wurde nicht zugezogen, dagegen eine Bauersfrau, die das Leiden als
„Wurm“ deutete und ihm angeblich „Würmer in Pillenform'^dagegen
Fig. 1.
Fig. 2.
verordnete. Nach einjähriger Behandlung war Patient völlig gesund.
Als er 38 Jahre alt war, stiess sich ein Knochen aus dem Schienbein
ab, weswegen er sich indes doch in ein Krankenhaus (Mühldorf am
Inn) begab, aus dem er nach 90 Tagen gesund entlassen wurde; doch
blieb die Haut des linken Unterschenkels immer an der Verletzungs¬
stelle gerötet und mit einer Kruste bedeckt. Von Zeit zu Zeit stiess
sich diese, besonders immer nach Verletzungen, wieder ab; seit 7 bis
8 Jahren aber ist sie unverändert.
Seit der Zeit seiner ersten Genesung trägt Patient tagsüber zum
Schutz seines Beines die auf der untenstehenden Photographie abge-
1418
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
bildete Blechschiene (Bild I), die er sich se>bstViVn°rClneLiHnPd Iw
fertigt hat. Damit sein „Schaden“ nicht durch Druck leide, aber
auch die obere KaiW der Schiene seine Haut nicht verletze, tragt
er ferner eine gleichfalls abgebildete Binde (Bild 1U.
Trotz der Schiene und der äussersten V o r s i c h t
des Patienten kam es oft, besonders nachts, zu
Verletzungen der Kontusionsstelle. solchen
Fällen zog der Patient seine um gelegte Binde
fe s t e r zu, da er i m L a u f der Jahre dieErfahrung ge¬
macht hatte, „dass er dann keinen Schmerz mehr
hatte und die Wunde schneller und besser heilte.
Die Tätigkeit der Niere.
Von Prof. R. Magnus.
(Schluss.)
Die Darstellung, welche im vorhergehenden von dem Zu¬
standekommen der Salzdiurese gegeben worden ist wird
durchaus nicht von allen Forschern anerkannt, vielmehr haben
die Anhänger der Filtrations- und Rückresorptionstheorie diese
Tatsachen in durchaus abweichender Weise zu deuten versucht, |
und es ist hier daher der rechte Ort, diese Rückresorptions¬
theorie an der Hand der Lehre von der Salzdiurese einer kri¬
tischen Durchsicht zu unterziehen. Diejenigen Versuche,
welche am schlagendsten für das Vorhandensein einer Ruck¬
resorption zu sprechen scheinen, sind die bekannten Experi¬
mente R i b b e r t s 20). Dieser Forscher exstirpierte bei Kanin¬
chen nach Spaltung einer Niere das Nierenmark, so dass nur
die Rinde mit den Qlomeruli und den Tubulis contortis übrig
blieb. Die Niere iibersteht diesen Eingriff ziemlich gut und
beginnt nach einiger Zeit ihre Sekretionstätigkeit wieder.
Ribbert fand nun, dass solche Nieren, denen das Nieren¬
mark fehlte, in welchem die Rückresorption stattfinden soll,
nun einen vermehrten und verdünnten Harn liefern. Nach
der Filtrationstheorie fliesst also nach diesem Eingriff ein Bjö¬
rne rulusfiltrat nach aussen ab, welches durch den Fortfall der
geraden Harnkanälchen nicht durch Rückresorption eingedickt
und an Menge vermindert worden ist. So schlagend diese Ver¬
suche auch zu sein scheinen, so hat sich doch in dei Folge
herausgestellt, dass die Exstirpation des Nierenmarkes gar
nicht der einzige Eingriff ist, auf welchen die Nieie in der ge¬
schilderten Weise reagiert, sondern dass die Abscheidung eines
vermehrten und verdünnten Harnes nach einer ganzen Reihe
von chirurgischen Operationen eintritt, welche an der Niere
vorgenommen werden. Wenn man ein keilförmiges Stück
exzidiert oder einen Nierenpol wegschneidet") oder die ganze
Niere, wie das neuerdings mit Erfolg Guthrie und Car-
r e 1 28) gelungen ist, an den Hals transplantiert, so ist die Folge
jedesmal dieselbe wie bei R i b b e r t s Versuchen, undPass -
1 e r 29) hat neuerdings zeigen können, dass die eintretende
Polyurie auch unabhängig von einer Blutdrucksteigerung ist.
Sie beruht nicht auf dem Fortfall der supponierten Rückresorp¬
tionsorgane, sondern ist ganz allgemein die Reaktion auf einen
chirurgischen Eingriff irgend welcher Art. Die Ribbert-
schen Versuche können also nicht als Stütze der Resorptions¬
theorie angesehen werden.
Es ist nun versucht worden, insbesondere von
Cushny 30), H.Meyer31) undLoewi 32), die bei der Salz¬
diurese gefundenen Tatsachen mit Hilfe der Resorptionstheorie
zu erklären, und zwar soll nach der Annahme dieser Autoren
die Tatsache, dass Glaubersalz eine stärkere Harnflut hervor-
25)
physiol.
26 \
27)
Of
Etudes sur la diurese. II. Journ. de
Journ.
L a m y und Mayer
7, S. 679. 1905.
Ribbert: Virchows Arch. 93, 169, 1883.
Bradford: Results following partial nephrectomy.
physiol. 23, 415, 1899.
-») Guthrie et Carrel: Circulation et secretion dun rein
transplante. C. R. Soc. Biol. 1905, S. 669.
2B) Pässler: Ursache und Bedeutung der lierzaffektion Nieren¬
kranker. Volkmanns klin. Vorträge. N. F., 408, 1906.
30) Cushny: On diuresis etc. Journ. physiol. 27, 429, 1902. —
On saline diuresis. Ibid. 28, 431, 1902. — On the secretion of urine
and saiine diuresis. Festschrift für V. C. Vaughan, Michigan 1903.
31) Hans Meyer: Ueber Diurese. Sitzungsber. d. Gesellsch.
z Bef. d. ges. Naturwiss. Marburg, Juli 1902.
32) O. Loewi: Untersuchungen zur Physiologie und Pharma¬
kologie der Nierenfunktion. 1.— 5. Mitteil. Schmiedebergs Arch. 48,
410, 1902; 50, 326, 1904; 53, 15 ff., 1905.
ruft als Kochsalz, und selbst auch in grösserer Menge aus¬
geschieden wird als das Kochsalz, in der Weise zustande
kommen, dass sowohl bei der Kochsalz- wie bei dei Glaubcr-
salzdiurese ungefähr gleiche Flüssigkeitsmengen im Glomerulus
abfiltriert werden, dass dies Filtrat aber auf dem W ege durch ,
die Harnkanälchen nicht die gleichen Yerändei ungen ei leidet.
Es wird nämlich angenommen, dass das Glaubersalz in den
Harnkanälchen ebenso schwer resorbierbar ist wie im Dann,
während das Kochsalz leicht aufgesogen werden kann. Die
Folge hiervon muss sein, dass mehr Glaubersalz nach aussen
gelangt, als bei den Parallelversuchen Kochsalz und dass weiter
das nicht resorbierbare Glaubersalz, gerade wie bei der Ab-
fiihrwirkung im Darm, Lösungswasser im Lumen der Harn¬
kanälchen zurückhält und vor der Resorption bewahrt. Es
kommt also, um einen Ausdruck Hans Meyers zu ge¬
brauchen, bei der Glaubersalzdiurese zu einem „Durchfair
in den Harnkanälchen. Um diese Hypothese durch Versuche
zu unterstützen, ist C u s h n y in der Weise vorgegangen, dass
er Kaninchen ein Gemisch von Kochsalz- und Glaubersalz¬
lösung infundierte, den Harn aus der einen Niere direkt auffing,
die andere Niere aber gegen einen Widerstand sezernieren
liess, indem die Flüssigkeit aus dem betreffenden Ureter erst
nach Ueberwindung eines gewissen Gegendrucks abfliessen
konnte. Cushny nahm an, dass auf der Seite, wo der
Widerstand eingeschaltet war, für die Rückresorption beson¬
ders günstige Bedingungen geschaffen wären, und er hat in
der Tat gefunden, dass der Harn durch die Ureterenbelastung
beträchtlich kochsalzärmer wird, während der Gehalt an Glau¬
bersalz nur wenig sinkt. Da auch gleichzeitig ^iie Harnmenge
durch die Ureterenbelastung abnahm, schloss Cushny, dass
bei diesen Versuchen tatsächlich eine vermehrte Rückresorp¬
tion stattgefunden habe, welche im wesentlichen das Kochsalz
und nur sehr viel weniger das Glaubersalz betrifft. Es muss
aber bemerkt werden, dass dieser Schluss keineswegs zwin¬
gend ist. Stellt man sich auf den Boden der Resorptions¬
theorie, so ist der abfliessende Harn die Resultante aus zwei
Prozessen: der Filtration und der Rückresorption. Treten
Veränderungen der Harnabscheidung ein, so können diese nicht
nur auf den Veränderungen der Rückresorption sondern auch
der Filtration beruhen. Bei derCushny sehen Schlussfolge¬
rung ist vorausgesetzt, dass die Glomerulusabscheidung
auf der Widerstandseite nicht geändert worden ist. Nach
der Sekretionstheorie würden diese Tatsachen einfach so
zu deuten sein, dass auf der Widerstandseite weniger Sekret
gebildet wird und dass das stärker diuretisch wirkende Glau¬
bersalz unter diesen Umständen auch noch besser abgeschieden
wird als das Kochsalz. Es gibt aber auch einige tatsächliche
Experimentalbefunde, welche die Cushny sehe Deutung
seiner Versuche ohne weiteres ausschliessen. F i 1 e h n e und
Ruschhaupt33) haben bei einer Nachprüfung Fälle be¬
obachtet, in denen auf der Widerstandseite nicht weniger, son¬
dern mehr Kochsalz ausgeschieden wird als auf der Normal¬
seite. Das kann natürlich nicht auf einer gesteigerten Rück¬
resorption beruhen. Dieser ganzen Versuchsanordnung wird
aber der Boden entzogen durch Versuche von Pfaundler 34),
Schwarz35) und Steyrer 36), welche fanden, dass bei
Hunden und Menschen37) durch Ureterenbelastung nicht ver¬
minderte, sondern sogar vermehrte Harnsekretion hervor¬
gerufen wird. Diese kann natürlich nicht auf Steigerung der
Rückresorption beruhen 37*). Es sind nun weiter bei der Salz¬
diurese von Barcroft und Brodie38) (und ähnlich von
33) F i 1 e h n e und Ruschhaupt: Diurese bei Abfluss¬
erschwerung. Pflügers Arch. 95, 409, 1903.
34) Pfaundler: Ueber die durch Stauung im Ureter zustande
kommende Veränderung der Harnsekretion. Hofmeisters Beitr. 2,
336, 1902. *
3ä) Schwarz: Harnveränderung nach Ureterenbelastung.
Zentralbl. f. Physiol. 16, 281, 1902.
3G) Steyrer: Ueber osmotische Analyse des Harns. Hof¬
meisters Beitr. 2, 312, 1902.
37) Während die Beobachtungen von Cushny und von Fi¬
le h n e und Ruschhaupt an Kaninchen gemacht worden sind.
37*) Inzwischen haben Brodie und Cullis bei solchen Ver¬
suchen am Hund auf der Gegendruckseite auch vermehrte Kochsalz-
und Glaubersalzabscheidung gefunden, was mit der Riickresorptions-
theorie ebensowenig stimmen will.
38) Barcroft und Brodie: a. a. O.
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1419
S o 1 1 m a n n 30) Beobachtungen gemacht worden, welche sich
nur schwer der Rückresorptionstheorie anpassen lassen.
B r o d i e und Barcroft gelang es bei ihren oben geschilder¬
ten Versuchen so starke Salzdiurese zu erzeugen, dass dabei
die molekulare Konzentration des Harnes sich immer mehr der
des Blutes näherte, bis schliesslich der Harn auf der Höhe der
Diurese sogar verdünnter wurde wie das Blut. Der
Grund, dass bei starker Diurese der Harn immer verdünnter
wird, wird von den Vertretern der Resorptionstheorie darin
gesehen, dass beim raschen Fliessen des Glomerulusfiltrates
durch die Harnkanälchen keine Zeit zur Rückresorption bleibt.
Danach müsste also auf der Höhe der Diurese schliesslich der
Harn die gleiche Salzkonzentration haben wie das Blutplasma.
In dem Fall von Barcroft und B r o d i e aber entfernte
sich die Zusammensetzung des Harnes bei maximaler Diurese
wieder von der des Blutes. Es hätte also gerade auf der Höhe
der Nierentätigkeit wieder eine Rückresorption von Salzen an¬
setzen müssen, was durchaus unwahrscheinlich ist. Während
alle diese Versuche an Säugetieren angestellt wurden, ist es
vor einigen Jahren Gur witsch40) gelungen, die Rück¬
resorptionstheorie bei dem Frosch durch direkten Versuch un¬
wahrscheinlich zu machen. Bei diesem Tier werden die Harn¬
kanälchen von einem anderen Gefässgebiet versorgt als die
Glomeruli und Gurwitsch hat nun auf einer Seite die
Nierenpfortader unterbunden und dadurch die Harnkanälchen
aus der Zirkulation ausgeschaltet. Wäre die Rückresorptions¬
theorie richtig, so musste in diesem Fall das gesamte Glorne-
rulusfiltrat nach aussen entleert werden, d. h. es müsste auf
der operierten Seite mehr Harn abgesondert werden. Es trat
aber das umgekehrte Ergebnis ein; es wurde nicht mehr, son¬
dern weniger Harn sezerniert, ein Befund, der wenigstens !
beim Frosch die Rückresorptionstheorie sehr stark erschüttert.
Von den Anhängern dieser Lehre wird immer betont, dass diese
Theorie vor der Sekretionshypothese deshalb den Vorzug ver¬
diente, weil sie einfacher sei. In Wirklichkeit sind aber die
Schwierigkeiten in beiden Fällen genau die gleichen. Nicht
nur, dass auch für die Rückresorption genau die gleiche „aktive
Zelltätigkeit“ angenommen werden muss wie für die Sekretion,
es haben sich auch fernerhin die Verhältnisse bei der Kochsalz¬
ausscheidung als so kompliziert herausgestellt, dass für die
rückresorbierenden Zellen ein Wahlvermögen dem Kochsalz
gegenüber angenommen werden muss (L o e w i), durch
welches die Zellen je nach dem Kochsalzbedarf und Kochsalz¬
bestand des Organismus bald grosse Mengen Kochsalzes re¬
sorbieren, bald dieses vollkommen verschmähen müssten.
Diese kurze kritische Uebersicht hat also gezeigt, dass
bis jetzt keine zwingenden Gründe zur Annahme dieser Theorie
beigebracht sind, dass eine Reihe von experimentellen Be¬
obachtungen entschieden gegen sie sprechen, und dass sie
schliesslich so viel physiologische Vorgänge im Dunkel lassen
muss, dass sie als Erklärungsprinzip keinenfalls den Vorzug
vor der Sekretionstheorie besitzen.
Damit verlassen wir die Salzdiurese und wollen nur kurz
die Koffei'ndiurese erörtern, v. Schröder41) hatte an¬
genommen, dass das Koffein und die anderen wirksamen Purin¬
körper spezifische Nierenreizmittel seien, welche die sezer-
nierenden Elemente zu vermehrter Abscheidung von Wasser
und Salz veranlassen. Diese Ansicht dürfte auch heute noch
als zu Recht bestehend angesehen werden. Im Gegensatz dazu
aber fasst Loewi42) neuerdings die Koffeindiurese auf als
ausschliesslich bedingt durch lokale Gefässerweiterung in der
Niere, welche zu vermehrter Filtration führen soll. Er stützt
sich dabei nur auf die Inspektion der Venenblutfarbe und ver¬
wirft die mit dem Onkometer gewonnenen Resultate. Es ist
schon oben bei der Salzdiurese angeführt worden, dass die
direkte Messung der Zirkulationsgeschwindigkeit in der Niere
die Richtigkeit der onkometrischen Resultate bewiesen hat,
und es ist daher auch bei der Koffei'ndiurese vorläufig anzu¬
nehmen, dass eine direkte Messung des Nierenblutstromes das
3i9 Sollmann: Effect of diuretics etc. on the Chlorides of
the urin. Amer. Journ. physiol. 9, 425, 1903.
4Ü) Qurwitsch: Zur Physiologie und Morphologie der Nieren¬
tätigkeit. Pflügers Arch. 91, 71, 1902.
41) v. Schröder: Ueber die Wirkung des Koffeins als Diure¬
tikum, Schmiedebergs Arch. 22, 37, 1886.
42) Loewi: a. a. 0.
gleiche ergeben wird wie das Onkometer, dass nämlich durch¬
aus nicht notwendigerweise bei der Koffei'ndiurese eine ge¬
steigerte Nierendurchblutung eintreten muss. In entschiedenem
Sinn gegen die Auffassung, dass die Koffei'ndiurese nur auf
gesteigerter Filtration von Flüssigkeit im Glomerulus beruht,
sprechen die neueren Beobachtungen von Erich Meyer43)
an Patienten mit Diabetes insipidus, bei denen Koffein überhaupt
keine Zunahme der Harnmenge, sondern nur eine Vermehrung
der ausgeschiedenen festen Bestandteile verursacht. Das kann
natürlich nicht auf vermehrter Glomerulusfiltration beruhen.
Die Sekretionstheorie nimmt an, dass sämtliche Bestand¬
teile des Harnes durch die Nierenzellen sezerniert wer¬
den. Direkt histologisch verfolgen lässt sich dieser Vorgang
nur bei der Harnsäure (Minkowski44), Sauer45), welche durch
die Zellen der Tubuli contorti ausgeschieden wird. Die Filtra¬
tionstheorie nimmt eine solche Sekretion nur für eine begrenzte
Klasse von Körpern an. Eine einheitliche Regel für diese Vor¬
gänge vom Standpunkt der Filtrationstheorie ist nun neuer¬
dings ebenfalls von H. Meyer und Loewi aufgestellt wor¬
den, und zwar sollen alle diejenigen Plasmabestandteile durch
Filtration ausgeschieden werden, welche im Blute frei gelöst
vorhanden sind, während nur diejenigen in den Tubulis sezer¬
niert werden müssen, welche in kolloidaler Bindung im Blute
kreisen. Eine solche kolloidale Bindung wird nun von Meyer
und Loewi angenommen für die Harnsäure, den normalen
Blutzucker, und die im Stoffwechsel gebildete Phosphorsäure.
Charakteristisch für diese Substanzen soll sein, dass sie bei
irgend einer experimentell erzeugten Diurese nicht in ver¬
mehrter Menge sezerniert werden, während alle durch Filtra¬
tion ausgeschiedenen Substanzen bei Diurese in grösseren
Quantitäten im Harn erscheinen. Was zunächst diesen letz¬
teren Punkt betrifft, so sind für die Phosphorsäure die von
Loewi selbst mitgeteilten Zahlen wenig beweisend und es
ist in neuerer Zeit durch Erich Meyer40) und Weber47) ge¬
zeigt worden, dass bei der Diurese auch die Phosphorsäure¬
ausscheidung steigen kann.47*) Ueberhaupt aber erscheint es
völlig willkürlich, die eintretende oder fehlende Mehrausschei¬
dung einer Substanz bei der Diurese als Kriterium benutzen
zu wollen, ob dieselbe in den Glomerulis oder Tubulis ab¬
geschieden wird. Für den Zucker nimmt Loewi an, dass
bei Diabetes, nach Pankreasexstirpation und nach intravenöser
Infusion von Zuckerlösung freier Blutzucker kreist, während
unter normalen Bedingungen aller Zucker in kolloidaler Bin¬
dung vorhanden ist. Darauf soll die Zuckerfreiheit des nor¬
malen Harnes beruhen. Nun ist aber neuerdings durch
A s h e r und Rosenfeld48) angegeben worden, dass der
normale Blutzucker durch Pergamentmembranen diffundiert,
also nicht kolloidal gebunden ist. Es ist allerdings für die
Phlorhidzinglykosurie von Loewi vermutet und von Bro-
d i e, Pavy und Siau49) bewiesen worden, dass hierbei in
der Niere Zucker aus irgend welchen im Blut vorhandenen
Vorstufen gebildet wird. Durchblutet man eine isolierte Niere
unter Phlorhizinzusatz, so scheidet sie mehr Zucker aus als
vorher in dem gesamten Blute in freier Form vorhanden war.
Daraus darf man aber nicht schliessen, dass aller Blutzucker
nur in dieser Bindung vorhanden sein müsste. Von chemischen
Veränderungen, welche Blutbestandteile bei der Sekretion in
der Niere erfahren, kennen wir eigentlich nur zwei mit Sicher¬
heit, das ist erstens die Synthese der Hippursäure aus Benzoe¬
säure und Glykokoll und zweitens die Bildung von Zucker aus
irgend welchen Vorstufen bei der Phlorhidzinvergiftung. Ueber
die Bindungsverhältnisse der verschiedenen harnfähigen Sub-
43) E. Meyer: Ueber Diabetes insipidus und andere Polyurien.
D. Arch. f. Klin. Medizin 82, 1, 1905.
44) Minkowski: Schmiedebergs Arch. 1, 375, 1898.
4ä) Sauer: Arch. mikr. Anat. 53, 218, 1899.
4ß) a. a. O.
4') Weber: Exp. Untersuchung zur Physiol. und Pathologie
der Nierenfunktion. Schmiedebergs Arch. 54, 1, 1905.
47*) Umgekehrt haben B r o d i e und C u 1 1 i s auch die Angabe
Loewis, dass die absolute Kochsalzausscheidung bei der Diurese
steigen muss, neuerdings experimentell widerlegt.
48) Asher und Rosenfeld: Ueber das physikal.-chemische
Verhalten des Zuckers im Blute. Zentr. f. Physiol. 19, 449, 1905.
40) B r o d i e, Pavy und Siau: On the mechanism of.phlo-
ridzin glycosurie. Journ. physiol. 29. 467, 1903.
1420
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
stanzen im Blut sind wir nur sehr unvollkommen unterrichtet.
Diese Kenntnisse genügen keinesfalls, um darauf eine so weit¬
gehende Theorie der Harnabsonderung aufzubauen.
Während unsere Kenntnisse über die eigentlichen Sekre¬
tionsvorgänge der normalen Harnbestandteile somit sehr dürf¬
tig sind, sind zahlreiche Erfahrungen gewonnen worden über
die Ausscheidung körperfremder Substanzen, insbesondere von
Farbstoffen. Allgemein bekannt sind ja die klassischen Ver¬
suche Heide n hai ns über die Ausscheidung des Indig-
karmins, aus denen sich ergab, dass dieser Farbstoff nicht durch
die Glomeruli, sondern durch die Zellen der Tubuli contorti
ausgeschieden wird. Es sind diese Versuche in der Folge viel¬
fach kritisiert worden, besonders weil der typische Erfolg nur
bei ganz bestimmtem experimentellen Vorgehen eintritt. Es
sind aber in der Folgezeit die Resultate mit zahlreichen anderen
Substanzen bestätigt worden. Erwähnt seien hier neuere Ver¬
suche von B i b e r f e 1 d 50), welcher bei Kaninchen zunächst
mit Ferrocyannatrium starke Diurese hervorrief und dann die
Nieren mit verdünnten Eisenchloridlösungen ausspritzte. Er
fand das hierdurch gebildete Berliner Blau niemals im Kapsel¬
raum der Glomeruli, sondern stets erst im Lumen der Tubuli
contorti, und schloss daraus, dass wenigstens eine der beiden
benutzten Substanzen nicht durch den Glomerulus abgeschie¬
den wird. Versuche über die Ausscheidung von Silbernitrat
und verschiedener Farbstoffe ergaben das gleiche. Es ist nun
Gurwitsch “j und Höher und Königsberg52) ge¬
lungen, diesen Sekretionsprozess von Farbstoffen beim Frosch
in den Zellen der sezernierenden Tubuli direkt zu
verfolgen. Dabei sieht man, dass der Farbstoff zunächst in
verschiedenen Arten von Vakuolen im Zellinnern gespeichert,
und dann der Vakuoleninhalt samt dem Farbstoff in das Lumen
der Harnkanälchen entleert wird. H ö b e r und Königs¬
berg fanden solche Vakuolentröpfchen (entfärbt) noch im
Blaseninhalt der Frösche53). Bemerkt sei, dass sowohl fett¬
lösliche wie fettunlösliche Farbstoffe auf diese Weise ausge¬
schieden werden und dass darüber, dass alle diese Farbstoffe
im Blute in kolloidaler Bindung kreisen, durchaus nicht das
mindeste bekannt ist. Vervollständigt wird diese Erfahrung
durch Unterbindungsversuche der Nierengefässe am Frosch.
Wie schon oben erwähnt, werden die Glomeruli der Frosch¬
niere von der Nierenarterie, die Harnkanälchen von der Nieren¬
pfortader versorgt. Während man früher mit A d a m i an¬
genommen hatte, dass zwischen beiden Gefässgebieten Ana-
stomosen beständen, welche derartige Unterbindungsversuche
illusorisch machen, hat B e d d a r d 54) durch sorgfältige In¬
jektionen bewiesen, dass sie völlig getrennt sind. Nur ist die
vollständige Unterbindung aller Zweige der Nierenarterie
schwierig und muss jedesmal durch besondere Injektion kon¬
trolliert werden. Diesen strengeren Anforderungen genügen
nun zwei Versuchsreihen. Die erste, bisher wenig beachtete,
wurde schon vor längerer Zeit von D res er55) angestellt.
Er schaltete die Nierenglomeruli aus, injizierte Farbstoffe und
fand sie in den Zellen der Tubuli contorti, während umgekehrt
Gurwitsch56) die Harnkanälchen ausschaltete und nach In¬
jektion von Farbstoffen die Niere fast vollständig ungefärbt
fand. Es ist also das Ergebnis sowohl für den Frosch wie für
das Säugetier das gleiche. Injizierte Farbstoffe werden in
50) Biberfeld: Zur Kenntnis der Sekretionsstelle körperfremder
Substanzen in der Niere. Pflügers Arch. 105, 308, 1904.
51) Gurwitsch: a. a. O.
52) Höher und Königsberg: Farbstoffausscheidung durch
die Nieren. Pflügers Arch. 108, 323, 1905.
53) In neuester Zeit sind diese Sekretvakuolen der Tubuli con¬
torti auch beim Warmblüter gefunden. Metzner (Nagels Hand¬
buch II. 1, S. 221) beschreibt das Durchtreten der Tropfen durch den
Bürstensaum ins Lumen bei Kätzchen (ohne Farbstoffinjektion) und
Lamy, Mayer und Rathery (c. R. Soc. Biol. 1906, 636) sahen
bei der Glaubersalz- und Zuckerdiurese (nicht aber nach NaCl und
Harnstoff) reichlich solche Vakuolen in den Tubuliszellen auftreten.
Letzteres spricht entscheidend dafür, dass bei der Glaubersalzdiurese
in den Tubuliszellen nicht eine verminderte Rückresorption,
sondern eine vermehrte Sekretion stattfindet.
54 ) B e d d a r d: Effects of the ligature of the renal arteries in the
frog. Journal physiol. 28, 20, 1902.
“) Dreser: Histochemisches zur Nierenphysiologie. Z. f.
Biol. 21, 41, 1885.
3,i) Gurwitsch: a. a. O.
überwiegender Zahl nicht durch den Glomerulus, sondern durch
die Zellen der Tubuli sezerniert.
Das sind im wesentlichen die Tatsachen, welche über die
Physiologie der Harnabsonderung bisher sich haben ermitteln
lassen. Anhangsweise soll nur einiges Pathologische angeführt
werden, soweit es mit unserem Thema in Zusammenhang
steht. Dass die Niere gegen Störung des Blutzuflusses sehr
empfindlich ist, ist eine alte Erfahrung. Temporäre Abklem¬
mung der Nierenarterie führt zu Anurie und nachfolgender Ei¬
weissausscheidung. Es ist wahrscheinlich, dass die Albu¬
minurie, welche bei Stauungen einzutreten pflegt, auf derartiger
Erstickung der Niere beruht. Es sind nun eine Reihe von patho¬
logischen Zuständen bekannt geworden, in denen die Niere ge¬
rade so, wie das oben schon für chirurgische Eingriffe erwähnt
wurde, die Fähigkeit verliert, einen konzentrierten Harn zu
liefern. Vor allem ist das der Fall nach den Untersuchungen
von Erich Meyer57) beim Diabetes insipidus. Hier beträgt
die Gefrierpunktserniedrigung des Harns nur 0,14 — 0,34°. Auf
Salzzufuhr steigt nicht die Konzentration des Harns, sondern
es muss um so mehr Wasser ausgeschieden werden, um die
Salzmenge zu beseitigen. Daher der enorme Durst der Patien¬
ten. Das Primäre ist die Unfähigkeit der Niere, einen kon¬
zentrierten Harn zu liefern. Klinische Erfahrungen der letzten
Zeit haben gelehrt, dass bei Nierenerkrankung die absolute
Fähigkeit des Organs, Kochsalz in genügender Menge aus¬
zuscheiden, wesentlich gestört sein kann. Von besonderem
Interesse hierfür ist die ausserordentlich sorgfältige, durch
Jahre fortgesetzte Selbstbeobachtung Finsens58) geworden.
Er litt an Zuckergussleber, peritonitischen Erscheinungen mit
chronischer Nephritis. Seine Nieren konnten pro Tag nur bis
% Liter Wasser und nur 2K — 4 g Kochsalz ausscheiden. (Die
Sekretion der stickstoffhaltigen Produkte war nicht gestört.)
Sowie er mehr als diese Kochsalzmenge genoss, fand Kochsalz¬
retention und Oedembildung statt. Auch in diesem Fall konnte
die Niere die Konzentration des Harnes nicht mehr leisten.
Die Gefrierpunktserniedrigung betrug nur 0,3 — 0,7°. Die Unter¬
suchung experimentell erzeugter Nephritis ist in letzter Zeit
vielfach ausgeführt worden. Als typisch sei hier erwähnt, dass
Weber59) durch Chromvergiftung Nephritis erzeugen konnte,
welche wesentlich die Tubuli betraf und die Glomeruli freiliess.
In diesem Falle hatte die Niere ebenfalls die Fähigkeit ver¬
loren, einen konzentrierten Harn zu liefern. Es war die Harn¬
menge vermehrt, die Konzentration geringer als die des Blutes.
Im Gegensatz dazu stehen die Befunde, welche G a 1 e o 1 1 i fa0)
bei der Kantharidinnephritis erhoben hat. Hier werden fast
ausschliesslich die Glomeruli befallen und die Tubuli bleiben
frei. Es zeigt sich dabei, dass im wesentlichen die Wasser-
abscheidung gestört ist, dass dagegen die festen Bestandteile,
die Salze, sezerniert werden können. Infolgedessen ist der
Harn spärlich und hoch konzentriert. Fassen wir diese Er¬
fahrungen zusammen, so ergibt sich, dass jedenfalls die Glo¬
meruli der Hauptort für die Wasserausscheidung sind. Ob sie
alles Wasser liefern, ist dagegen keineswegs ausgemacht. Die
Zellen der Tubuli contorti sezernieren jedenfalls Harnsäure und
eine Reihe körperfremder Substanzen, nach den Erfahrungen
bei experimenteller Nephritis höchst wahrscheinlich auch einen
Teil der Salze. Weiter gehen unsere Kenntnisse zurzeit noch
nicht.
Der ganze Komplex von Erscheinungen, welcher im vor¬
hergehenden geschildert worden ist, lässt sich, wie ich glaube,
nur auf Grund der Sekretionstheorie verstehen. Dagegen
glaube ich gezeigt zu haben, dass für die Filtrations- und Rück¬
resorptionstheorie erstens keine zwingenden Beweise existieren
und zweitens, dass eine Reihe von Tatsachen und experimen¬
tellen Ergebnissen zu ihr in direktem Widerspruch stehen.
57) a. a. O.
58) Flöystrup und Scheel: Niels R. Finsens Krankheit.
Therapie der Gegenwart, 1905, S. 289.
59) a. a. O.
60) Galeotti: Ueber die Arbeit, welche die Nieren leisten,
um den osmot. Druck des Blutes auszugleichen. Arch. f. Physiol.
1902, 200.
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1421
Aus dem allgemeinen Krankenhaus in Nürnberg.
Wie schützen wir uns und unsere Diener bei Sektionen?
Von C h. 1' h o r e 1.
In dem ersten Hefte des diesjährigen Zentralblattes für patho¬
logische Anatomie hat S i m m o n d s einen Artikel gebracht, welcher
wohl von allen Vorständen pathologisch-anatomischer Institute mit
grosser Genugtuung begriisst worden ist; handelt es sich doch bei
der Verhütung von Sektionsunfällen um eine Frage, die allen wegen
der immer mal ab und zu vorkommenden leichteren oder schwereren
und unter Umständen (wenn auch äusserst selten) tödlich verlaufen¬
den Infektionen im Interesse ihrer Assistenten und Diener am Herzen
liegt. Da weiterhin die häufigen Unterbrechungen durch Sektions¬
unfälle sehr unliebsame Störungen des Gesamtbetriebes bilden, und
die von Simmonds aufgeworfene Frage auch noch insofern eine
grosse praktische Bedeutung hat, als insbesondere von dem Diener¬
personal gelegentlich weitgehende Entschädigungsansprüche für die
im Sektionsbetriebe erworbenen Schädigungen (Paronychien mit
Fingeramputationen etc.) erhoben werden, so scheint es tatsächlich
geboten, dass die ganze Frage der Verhütung von Sektionsunfällen,
die bisher ziemlich arglos im Schoss der einzelnen Institute ge¬
schlummert hat, vor der breiten Oeffentlichkeit unter gleichzeitiger
Berührung des eventuellen Nutzens moderner Schutzmassregeln be¬
sprochen wird.
In dieser Hinsicht hat man in der letzten Zeit an einigen Instituten
zunächst Gummihandschuhe eingeführt und es lässt sich auch nach
meinen persönlichen *) langjährigen Erfahrungen nicht bestreiten, dass
diese Vorsichtsmassregel einen grossen Schutz gegen Wundinfek¬
tionen gewährt; es trifft dieses allerdings nach meinem Ermessen
in erster Linie und vorwiegend nur für uns selbst und unsere Assi¬
stenten zu, während^ das regelmässige Tragen von Gummihandschuhen
von seiten unserer Sektionsdiener gewisse, nicht abzustreitende Schat¬
tenseiten hat; da nämlich die Diener trotz aller Ermahnungen nicht
in dem Masse wie wir bei den Sektionen auf das Hineinfliessen von
Blut, schmutzigem Wasser etc. in die Handschuhe achten, sodass es
mir schon wiederholt vorgekommen ist, dass die Diener nach den
Sektionen dieselben blutigen Hände wie ohne Benutzung von Gummi¬
handschuhen hatten, da sie ferner wegen ihrer zum Teil recht grossen
Gleichgültigkeit nicht die genügende Sorgfalt auf die Integrität ihrer
Gummihandschuhe legen und sich endlich auch selbst durch dicke
Gummihandschuhe hindurch nicht selten mit den spitzen Nadeln,
Messern usw. stechen, weil sie bei ihren groben Manipulationen durch
ihre Handschuhe weit mehr als wir behindert werden, so kommt also
gerade bei den Dienern, unseren Schmerzenskindern, eine Reihe von
Momenten in Betracht, die eben wegen ihrer Indifferenz und Unge¬
übtheit das Tragen von Gummihandschuhen bei den Sektionen bis
zum gewissen Grade illusorisch macht. Obwohl die Diener also in
Wirkhchkeit keineswegs denselben Nutzen von den Gummihand¬
schuhen haben, wie wir uns denselben vermöge unserer besseren Ein-
sicht und Kenntnisse zu verschaffen vermögen, so habe ich doch in
Hmblick darauf, dass sie den Wert derselben anscheinend höher
schätzen, auch bei ihnen und zwar bei allen Sektionen zu ihrer
Beruhigung das regelmässige Tragen von Gummihandschuhen ein-
Da sich die Sektionsdiener aber nicht nur bei den Sektionen
selbst, sondern auch bei den späteren Hantierungen in den Leichen-
Kammern, beim Abzählen der schmutzigen, eitrigen Leichen-
wasche usw. infizieren können, so müsste man, wenn das Tragen von
Gummihandschuhen wirklich einen dauernden Schutz gegen Infek¬
tionen bei ihnen gewähren und seinen Zweck erfüllen sollte, in kon¬
sequenter Durchführung dieses Prinzipes auch verlangen, dass den
Uienern auch bei allen übrigen Manipulationen, bei denen der Instituts¬
vorstand doch unmöglich regelmässig anwesend sein kann, das -Tragen
von Gummihandschuhen befohlen wird.
■ diesem Postulate, dessen Berechtigung ohne weiteres gegeben
ist ), kamen aber unsere Diener den ganzen Tag über nicht aus den
Gummihandschuhen heraus und sehen wir von dem Umstand ab,
dass ein permanentes Tragen von Gummihandschuhen erst recht
mit der Zeit infolge der ungenügenden Verdunstung der Hautsekrete
aie Hautdecken mazeriert und damit die Diener erst recht für Infek¬
tionen empfänglich macht, so bin ich auch der festen Ueberzeugung
dass gegen ein solches Ansinnen ein lebhafter Protest von seite
unserer Sektionsdiener erhoben werden wird.
Ein weiterer, aber durch Aufklärung der Institutsvorstände leicht
zu beseitigender Nachteil des Tragens von Gummihandschuhen durch
unsere Diener ist der, dass dieselben meinen, dass mit der Benützung
. ) fch selbs* bin zum Tragen der Gummihandschuhe infolge
meiner lästigen Formalinekzeme schon seit Jahren gezwungen und
wickle meine Hände, da ich die Handschuhe auf der blossen Haut nicht
veitragen kann, regelmässig noch mit Gazebinden ein; sind die
Ekzeme geheilt, so führe ich meine Sektionen aber ohne Gummihand¬
schuhe aus.
Voreg,Vn dieser Hinsicht über ein sehr instruktives Bei¬
spiel. Mein 2. Sektionsdiener W., seit 1. Januar überhaupt nicht bei
Sektionen beschäftigt, bekam am 30. Januar eine foudroyante Paro-
wen er an diesem Tage von einer Peritonitis herrührende
eitrige Verbände in der Leichenkammer angefasst hatte!
von Gummihandschuhen eine nachträgliche gründliche Reinigung ihrer
Hände nicht nötig sei, und doch muss ich betonen, dass das Tragen
von Gummihandschuhen nur in Verbindung mit strikter Befolgung un¬
serer sonstigen Reinlichkeitsvorschriften seinen Zweck erfüllen kann.
Aus diesem Grunde und weil der Begriff Reinlichkeit bei unseren
Dienern meistens sehr dehnbar ist, dürfen wir also nicht ermüden,
immer wieder und wieder, zumal bei septischen Sektionen, Vorsicht
und Sauberkeit zu predigen und wenn ich auch persönlich auf dem
Standpunkt stehe, dass Desinfizientien bei Sektionen zu entbehren sind
— ich benutze solche nie, selbst dann nicht, wenn ich die Sektionen
mit blossen Händen mache — so ist doch in meinem Institut dafür
gesorgt, dass den Assistenten und Dienern jeder Zeit genügend reich¬
liche Desinfizierungsflüssigkeit (Lysol, Sublimat) zur Verfügung steht;
ausserdem kann ich nach meinen persönlichen Gebräuchen nur emp¬
fehlen, dass man sich, zumal nach Sektionen infektiöser Leichen (Typhus,
Peritonitis etc.), die Finger, Hände usw. zur Beseitigung des Haut¬
talges und des ihm event. anhaftenden infektiösen Materials mit Aether
wäscht, während man sich mit dem vielfach gebräuchlichen „gründ¬
lichen Bürsten“ der Hände nur Wunden, namentlich an den zarten
Nagelhäuten macht, wodurch die- Inokulation von infektiösem Material
erst recht begünstigt wird; dieses Abwaschen der Hände mit Aether
durchtränkten Wattetampons kommt namentlich auch bei den viel¬
fach üblichen prophylaktischen Vaselineinfettungen der Hände in Be¬
tracht, obwohl man dieselben nach meiner Meinung entbehren kann.
Dass man kleinere Wunden vor der Sektion mit Pflaster ver¬
klebt und durch Gummifinger schützt, ist allgemein bekannt und
ebenso wird es gang und gebe sein, dass man Diener, die grössere
offene Wunden haben, eine Zeit lang von ihrem Dienste dispensiert,
und sie, soweit es möglich ist, auch mit sonstigen Manipulationen,
wie dem Einsammeln der Leichenwäsche, dem Putzen von Instru¬
menten etc. sich nicht beschäftigen lässt; kleinere Institute mit nur
einem Diener sind allerdings in solchen Zeiten recht misslich daran,
doch wird auch hier wohl meistens die Schaffung eines temporären
Ersatzes möglich sein.
Von sonstigen Massregeln zum Schutze unserer Untergebenen
hat Simmonds neuerdings auch das Auskochen der Instrumente
nach den Sektionen anempfohlen und wenn ich mir auch persönlich
keinen grossen Nutzen hiervon versprechen kann, weil die Haupt¬
gefahr nicht bei dem Stunde in Anspruch nehmenden Putzen der
Instrumente, sondern während der 3 — 4 mal länger dauernden Sektion
gegeben ist. so habe ich doch auch diese Vorsichtsmassregel ganz
neuerdings in meinem Sektionshaus eingeführt, „ut aliquid factum esse
videatur“.
Einen weit grösseren Wert, als dieser Massregel, messe ich da¬
gegen der S i m m o n d s sehen Empfehlung, nur abgerundete Messer
bei den Sektionen zu gebrauchen, zu, da hierdurch die Möglichkeit
von Stichverletzungen entschieden vermindert wird; da die meisten
Verletzungen, und zwar Rissverletzungen, aber notorisch beim Auf¬
sägen des Schädeldaches Vorkommen und dieselben an Gefährlich¬
keit die Stichverletzungen übertreffen, so habe ich schon seit Jahren
einen „Kopfhalter“ in Gebrauch, der besonders empfohlen werden
kann, da hierdurch das Abrutschen der Säge in die den Kopf der
Leiche haltende Hand des Dieners vollkommen vermieden wird3)
und wenn wir schliesslich noch ein Mittel finden sollten, um unter
Vermeidung der spitzigen Nadeln unsere Leichen zuzunähen, so glaube
ich. haben wir alles getan, was zum Schutze unserer Diener in unseren
Kräften steht.
Soweit ich aus den an verschiedene pathologisch-anatomische
Institute gesandten Fragebogen, für deren liebenswürdige Beantwor¬
tung ich den Herren auch an dieser Stelle besonders danke, ersehe,
sind sonstige besondere neuere Vorsichtsmassregeln, abgesehen von
dem Abwaschen exanthematischer Leichen mit Desinfizientien, dem
ich aber persönlich keinen grösseren Wert beilegen möchte, nirgends
in Gebrauch, da alle übrigen Vorschriften, wie das Aufliegen der In¬
strumente auf besonders konstruierte, gewöhnlich über den Füssen
der Leichen stehende Bänke, genügend Wasserzufuhr während der
Sektionen zum ständigen Absptilen der Hände usw. wohl in allen In¬
stituten schon von jeher gebräuchlich sind.
Wenn wir das Resümee aus diesen Betrachtungen ziehen, so
sehen wir, dass die Zahl der Mittel, die uns zur Verhütung von Un¬
fällen unserer Diener bei Sektionen zur Verfügung stehen, nur eine be¬
schränkte ist und dass man nach wie zuvor als obersten Grundsatz
die Reinlichkeit bei ihnen einzuschärfen hat: ohne sie kommt man bei
ihnen auch dann nicht aus, wenn man den Diener in einen hermetisch
abgeschlossenen Taucheranzug steckt! Der beste Beweis hierfür ist
der, dass meine Diener in früheren Jahren, wo sie ohne Gummihand¬
schuhe sezierten, nur äusserst selten Sektionsunfälle erlitten haben,
während ich jetzt, nach Einführung des Gummihandschuhtragens, in¬
folge der Leichtfertigkeit der Diener erst recht mit allen möglichen
Infektionen bei ihnen zu kämpfen habe.
Stehe ich somit auch allen oben besprochenen Vorsichtsmass¬
regeln bis zu einem gewissen Grade skeptisch gegenüber, da der
Weit und eventuelle wirkliche Nutzen derselben von den Sektions-
dienern nicht immer gewürdigt wird, so dass sie sich trotz aller War¬
nungen auch weiterhin noch genugsam infizieren werden, so gebe
ich doch zu, dass man bei konsequenter Anwendung von Gummi-
0 beziehen bei J. Roh mann, St. Johann a. d. Saar, Preis:
^5 M.
1422
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
handschuhen und Erlass von Vorschritten bezüglich ihrer Verwendung
und Reinigung doch mit der Zeit die ewige Kalamität von Infektionen
bei unseren Dienern einschränken und dafür sorgen kann, dass vor
allein auch die Leichenfurunkulosis aus unseren Instituten ver¬
schwindet. , , . . . TT ,
Auf diese unangenehme und die Hände detoimierende Haut¬
erkrankung lege ich aber in Hinblick auf einige besonders üble fci-
fahrungen vor allem ein Gewicht, zumal es mir vorgekommen ist,
dass die Erkrankung an Leichenfurunkeln in einem halle direkt als
Ursache einer späteren Lungentuberkulose beschuldigt worden ist.
Obwohl ich in dieser kurzen Abhandlung die Richtigkeit einer
derartigen Behauptung nicht weiter untersuchen möchte, so kann doch
auch diese Frage gegebenenfalls eine eminent wichtige praktische Be-
deutung haben und deshalb weise ich noch kurz darauf hin, dass in
meinem Institute einmal ein junger, aus durchaus gesunder Familie
stammender Assistent kurz nach Akquirierung eines fungösen Leichcn-
tuberkels am rechten Mittelfinger eine rechtsseitige exsudative Pleu¬
ritis und eine rechtsseitige (rasch wieder verheilende) Spitzentuber¬
kulose mit nachgewiesenen Tuberkelbazillen im Sputum erworben
hat; aus diesem Grunde erscheint es mir erwünscht, wenn auch in
anderen Instituten auf einen eventuellen Zusammenhang zwischen
Leichentuberkeln und Lungentuberkulose geachtet wird.
Hauptsache ist jedoch und bleibt, dass die Diener ebenso wie wir
von der Ueberzeugung durchdrungen werden, dass alle Schutzmass-
regeln ohne gleichzeitige Befolgung der üblichen Reinlichkeitsvor¬
schriften nutzlos sind und wenn unsere Institute einmal in die an¬
genehme Lage kommen sollten, dass in ihrem Betriebe statt des per¬
manenten Wechsels ungeübter jüngerer Leute nur dauernd angestellte,
ältere und einsichtsvollere Diener zur Verwendung kommen, die wir
überdies durch Unfallversicherung schützen, so glaube ich mit S i m -
mond s, dass dieses das allerbeste Mittel ist, wodurch die ständige
Kalamität unserer pathologisch-anatomischen Institute auf das denk¬
bar mögliche Mass vermindert wird.
Anhang. K
Die bei uns im Sektionssaale hängenden gedruckten „Vor¬
schriften für die Sektionsdiener zur Vermeidung
von Infektionen“ lauten :
Zur Vermeidung eitriger Entzündungen allenfalls vorhandener
Wunden an den Händen, vor allem an den Nagelgliedern der Finger,
sind folgende Vorsichtsmassregeln auf das peinlichste zu beachten:
1. Vor jeder Sektion sind die Hände und Vorderarme mit
Vaselin gründlich einzufetten, kleine Hautabschürfungen an den Hän¬
den oder Armen mit Zinkpflaster zu verkleben. Kleinere Wunden
an den Fingern sind mit reiner Watte zu bedecken und durch Gummi¬
finger vor Verunreinigungen zu schützen. Bei eitrigen Leichen kann
man sich zum Schutze der Hände auch der Gummihandschuhe be¬
dienen, diese müssen vor dem Gebrauche mit Talkpulver ausgepudert
und nach der Benützung wieder gründlich mit Wasser und Seife ge¬
reinigt und getrocknet werden.
2. Während der Sektionen ist durch ständiges Abspiilen
der Hände und Arme mit reinem Wasser ein Antrocknen von Blut auf
der Haut so viel als möglich zu verhindern und darauf zu achten, dass
kein Blut von der Leiche verspritzt wird. Hat man sich gestochen
oder geschnitten, so ist die Wunde zunächst in fliessendetn Wasser
gründlich zu reinigen und dann in der oben angegebenen Weise vor
Verunreinigung zu schützen.
3. Nach jeder Sektion sind Hände und Arme mehrmals
gründlich mit Seife zu reinigen und in der vorrätig gehaltenen Subli¬
matlösung zu desinfizieren. Auf diese Säuberung ist speziell bei
allen Sektionen von an ansteckenden Krankheiten (Typhus!) ge¬
storbenen Personen eine besondere Sorgfalt zu verwenden, da man
sich durch die schmutzigen Hände, z. B. während des Essens, leicht
mit der betreffenden Krankheit (Typhus!) infizieren kann. Aus diesen
Gründen ist es auch streng verboten, während der Reinigung des
Sektionssaales, also vor vollendeter Säuberung der Hände, zu essen
oder zu rauchen 4).
4. Hat sich trotz aller Vorsichtsmassregeln eine eitrige Wund¬
entzündung an den Händen oder Fingern entwickelt, so ist dieses
sofort anzuzeigen. In derselben Weise ist es Pflicht des Sektions¬
dieners, etwaige an den Händen sich zeigende Leichenfurunkel
zur Anzeige zu bringen. Wird diese Anzeige von dem
Sektionsdiener versäumt, oder vernachlässigt er
trotz obiger Vorschriften allenfallsige Hautent-
z ii n d u n g e n, so ist er für dieselben und alle Folge-
zu stände selbst und allein verantwortlich.
5. Da im Betriebe des Sektionshauses ausser der Möglichkeit
einer Infektion an den Fingern und Händen bei den Sektionen auch
ausserdem noch Gelegenheiten zu Infektionen mehr allgemeiner Art
im Falle ungenügender persönlicher Reinlichkeit gegeben sind, so hat
der Diener auch ausserhalb des eigentlichen Sektionsdienstes in hohem
Grade in seinem eigenen Interesse auf grösste Reinlichkeit zu achten.
In diesem Sinne ist zunächst das Tragen von blutbefleckten Mänteln
streng verboten, wie überhaupt alle blutbefleckte Wäsche täglich zur
Reinigung und Desinfektion abzuliefern ist.
*) Einer meiner früheren Diener hat sich nur durch Zigaretten¬
rauchen während des Reinigens einer Typhusleiche einen schweren
Typhus zugezogen.
6. Weiterhin haben die Sektionsdiener darauf zu achten, dass die
Gänge und Zimmer des Sektionshauses nicht mit verspritzten Bluts¬
tropfen besudelt werden. Alle dort etwa vorhandenen Blutspuren
sind sofort zu beseitigen. Auch ist es streng verboten, das Sek¬
tionslokal mit nassen, blutbefleckten Händen zu verlassen, damit nicht
Türklinken, Telephonhörrohre etc. mit Leichenblut besudelt werden.
7. Aber nicht nur bei den Sektionen, sondern auch späterhin nach
dem Ankleiden und Fortschaffen der Leichen ist eine gründliche
Säuberung der Hände vorzunehmen, wie überhaupt im ganzen Be¬
triebe des Sektionshauses zur Vermeidung von Infektionen die Diener
in ihrem eigenen Gesundheitsinteresse mit der peinlichsten Reinlich¬
keit nicht nur an sich, sondern auch in sämtlichen Räumen zu ver¬
fahren haben.
Nürnberg, Oktober 1905.
Die „Vorschriften über Benutzung und Reini¬
gung de’r Gummihandschuhe“ lauten :
1. Gummihandschuhe müssen bei allen Sektionen zur Vermeidung
von Infektionen getragen werden und ist das Anlegen derselben na¬
mentlich beim Sezieren von Leichen erforderlich, die mit eitrigen
Krankheitsprozessen behaftet oder an allgemeinen Blutvergiftungen
gestorben sind; bei solchen Leichen sind auch die mit Eiter durch-
tränkten oder sonstwie verunreinigten und giftigen Verbände vor¬
sichtig mit Pinzette und Gummihandschuhen abzunehmen und ist für
die sofortige Beseitigung des infektiösen Materials Sorge zu tragen.
2. Vor den Sektionen sind die Gummihandschuhe mit
Talkum auszustreuen und etwaige kleinere Löcher oder Risse in den¬
selben durch Gummistreifen zu verkleben. Zerrissene Gummihand¬
schuhe dürfen bei den Sektionen nicht getragen werden; sind kleinere
Fingerwunden vorhanden, so können dieselben unter den Gummi¬
handschuhen überdies noch durch Gummifinger geschützt werden.
3. Während der Sektionen ist vor allem darauf zu
achten, dass kein Blut, schmutziges Wasser etc. in die Gummihand¬
schuhe von oben hineinfliesst; aus diesem Grunde sind die Hand¬
schuhe über den Handgelenken durch Gummibänder festzuhalten.
Gummihandschuhe erfüllen nur dann ihien
Zweck und verringern die Infektionsgefahr, wenn
die Hände während der Sektionen unter den Hand¬
schuhen auch wirklich völlig rein und trocken
bleiben; ist das nicht der Fall, so kann das Anbehalten der Gummi¬
handschuhe während der Sektionen sogar die Gefahr zur Infektion
vergrössern. T . .
4. Nach den Sektionen sind die Hände peinhchst zu
waschen und in der vorgeschriebenen Weise mit Sublimat zu desin¬
fizieren, ebenso wie für die sofortige Säuberung und 1 rocknung der
verwendeten Gummihandschuhe sowie ihre eventuelle Reparierung
Sorge zu tragen ist. , . . n
5. An jedem Sonnabend sind die Gummihandschuhe in der Des¬
infektionsanstalt des Krankenhauses in strömendem Dampf zu sterili-
sieren.
Zusatz: Dieser Modus hat sich bei uns sehr bewährt; die Hand¬
schuhe (bezogen von Schack & Pearson, Hamburg, Matten-
twiete 2, Preis M. 3.30) leiden nicht und kann ich das handliche Sterili¬
sierkästchen für Handschuhe (bezogen von Max H o f m a n n, Nürn¬
berg, Museumsbrücke, Preis M. 19.—) nur warm empfehlen.
Nürnberg, Januar 1906.
Referate und Bücheranzeigen.
Untersuchungen über die Beziehungen zwischen der Tu¬
berkulose des Menschen und der Tiere. Im Aufträge des Herrn
Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten ausgeführt
von Professor Dr. Dammann, Dirigent und Fr. Müsse¬
meier, wissenschaftlicher Hilfsarbeiter des hygienischen In¬
stituts der tierärztlichen Hochschule in Hannover. Mit 45 Kur¬
ven- und 3 Bakterientafeln. Verlag von M. und H. S c h a p e r,
Hannover 1905, Preis 9 Mark.
Koch hat bekanntlich, im Gegensatz zu seiner früheren
Auffassung, in neuester Zeit die Ansicht vertreten, dass der
Bazillus der Rindertuberkulose und der Bazillus der mensch¬
lichen Tuberkulose nicht der gleichen Spezies angehören, son¬
dern vielmehr verschiedene Arten repräsentierten und dass die
Rindertuberkulose nicht auf den Menschen, sowie umgekehrt,
die Tuberkulose des Menschen nicht auf das Rind übertragbar
wären.
Um diese hochwichtige Frage zur sicheren Entscheidung
zu führen, wurde beschlossen, dass auf Grund eines breit ange¬
legten Planes im bakteriologischen Laboratorium des Kaiser¬
lichen Gesundheitsamtes und gleichzeitig in dessen Versuchs¬
stätten in Dahlem auf Reichskosten umfangreiche Versuche an¬
gestellt werden, mit deren Leitung Professor Kos sei betraut
worden ist. Daneben wurde es als wünschenswert bezeichnet,
dass als Kontrolle zur Vermeidung einseitiger Auffassungen,
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1423
in ähnlicher Weise und zu gleicher Zeit solche Versuche im
hygienischen Institut der tierärztlichen Hochschule in Hannover
aus Mitteln des preussischen Staates angestellt würden.. Die
Leitung dieser letzteren Versuche wurde Professor Dam-
m a n n übertragen und ist das Ergebnis derselben in der vor¬
liegenden Schrift niedergelegt.
Nach eingehender Schilderung der bei der Züchtung der
Bazillenstämme zur Verwendung gelangten Methoden und des
Ganges der Untersuchungen, des morphologischen und biolo¬
gischen Verhaltens der verschiedenen Bazillenstämme, sowie
einer sehr ausführlichen Beschreibung aller Einzelversuche,
fassen D a m m a n n und Müssemeier das Ergebnis
ihrer mit ebenso grosser Sachkenntnis als Sorgfalt und Ge¬
wissenhaftigkeit durchgeführten Untersuchungen in folgenden
Schlussätzen zusammen :
,,1. Auf Grund des morphologischen und biologischen
Verhaltens der von uns geprüften Tuberkelbazillenstämme
vermögen wir nicht 2 streng von einander zu trennende
und keine Uebergänge aufweisende Typen — der Tuberkel¬
bazillen menschlicher Herkunft auf der einen und der von
sonstigen Säugetieren stammenden auf der anderen Seite - — ,
einen sogen. Typus humanus und einen Typus bovinus, zu
unterscheiden.
2. Die Verimpfung der von uns geprüften Tuberkel¬
bazillenstämme menschlicher und tierischer Herkunft auf
Meerschweinchen hat keine wesentlichen und konstant vor¬
handenen Unterschiede in der Wirkung ergeben.
3. Sowohl mit Tuberkelbazillen menschlicher als auch
mit solchen tierischer Abkunft konnten wir bei Kaninchen
Tuberkulose hervorrufen. Die letzteren erwiesen sich aber
in der Regel für Kaninchen virulenter als die ersteren.
4. Sowohl mit Tuberkelbazillenstämmen vom Men¬
schen als auch mit solchen vom Rinde vermochten wir
durch Verbitterung wie auch durch Verimpfung bei Rindern.
Schafen und Schweinen Tuberkulose, mitunter auch in der
Form der Perlsucht, zu erzeugen. In der Regel waren die
vom Rinde stammenden Tuberkelbazillenstämme für Rinder,
Schafe und Schweine jedoch virulenter als die Mehrzahl der
aus dem Körper des Menschen entnommenen Stämme.
5. Es war uns möglich, einen für Rinder und Schweine
schwach virulenten Menschentuberkelbazillenstamm durch
wiederholte Ziegenpassage morphologisch und biologisch
abzuändern und mittels 5 maliger Durchführung durch den
Ziegenkörper seine Virulenz derartig zu verstärken, dass
er im stände war, bei einem Kalbe und einem Schweine
eine schwere Tuberkulose hervorzurufen.
Würdigen wir ausserdem, dass Tuberkulose und Perlsucht
histologisch identische Prozesse darstellen, so kommen wir
zu dem Schlüsse:
I. Die Tuberkelbazillen des Menschen und der übrigen
Säugetiere sind nicht als getrennte, besondere Arten, son¬
dern als dem Organismus der verschiedenen Tierspezies
angepasste Varietäten derselben Art aufzufassen.
II. Massregeln zum Schutze des Menschen gegen die .
Ansteckung durch tierische Tuberkulose sind unentbehrlich.“
Durch diese exakten und. hochbedeutsamen Untersuchun¬
gen, welche mit den früheren Untersuchungsergebnissen von
Bollinger, Schottelius und anderen vollkommen über¬
einstimmen, hat die Meinung Kochs, dass die menschliche
Tuberkulose und die Perlsucht von verschiedenen Krankheits¬
erregern hervorgerufen würden, ihre endgültige Widerlegung
gefunden. G. Hauser.
M. Kassowitz: Allgemeine Biologie. 3. Band : Stoff¬
und Kraftwechsel des Tierorganismus. 4. Band: Nerven und
Seele. Wien 1904 und 1906. Moritz P e r 1 e s. M. 10 bezw. 12.
Werke, die uns biologische Kenntnisse in einer sämtliche
Gebiete umfassenden Form geben, sind eine Seltenheit. Es
gab Zeiten, in denen zu jedem Lehrbuch der Medizin eine Dar¬
stellung des gesamten medizinischen Systems, der Stellung der
Medizin zur Philosophie gehörte. So etwas ist heutzutage
nicht nur ungewohnt, sondern es erfordert auch ein ungewöhn¬
liches Wissen. Denn die zahllosen Tatsachen der normalen
und pathologischen Biologie soweit zu beherrschen, um sie in
ein einheitliches Ganzes zu verarbeiten, das nicht an hundert !
Stellen Widersprüche enthält, ist allein schon eine staunens¬
werte Leistung. Kommt dazu noch die Darstellungskunst, wie
sie dem Verfasser eignet, so kann es nicht ausbleiben, dass ein
solches Werk zu dem fesselndsten und anregendsten und be¬
lehrendsten gehört, was auf diesem Gebiete erwartet werden
kann. Es ist unmöglich, auch nur einen gedrängten Ueber-
blick über den Inhalt der fast 1000 Seiten zu geben. Es wäre
nur zu wünschen, dass sich viele die Mühe nehmen möchten
und diese Gelegenheit benutzten, sich wieder einmal einen
Ueberblick über das gesamte Gebiet der Biologie zu ver¬
schaffen. Bei unserer in lauter Einzelnkenntnis sich zersplit¬
ternden Zeit wirkt eine solche Lektüre ausserordentlich auf¬
frischend und den Blick erweiternd. Neu stätte r.
R. F. F u c h s - Erlangen: Physiologisches Praktikum für
Mediziner. 261 Seiten mit 93 Abbildungen. Verlag von J. F.
Bergmann - Wiesbaden 1906. Preis 6.60 M.
Als Wegweiser im physiologischen Praktikum haben bis¬
her die Bücher von F. Schenk und L. Hermann gedient.
Die Anleitung etwas in- und extensiver zu gestalten, so dass
der Praktikant möglichst selbständig alle wichtigen physio¬
logischen Versuche ausführen kann, war leitender Gedanke
bei der Abfassung dieses Buches, dessen Verfasser auf eine
zehnjährige im Prager und Erlanger physiologischen Institut
gewonnene Erfahrung zurückblicken kann.
In der Tat wird in dem Buche dem Praktikanten eine vor^-
zügliche Anleitung geboten, welche sich aber nur auf den phy¬
sikalischen 1 eil der physiologischen Methotik bezieht, während
der chemische Teil zurzeit von Dr. O. S c h u 1 z - Erlangen
mit Bezug auf diesen physikalischen Teil bearbeitet und gleich¬
falls im Verlage von J. F. B e r g m ann erscheinen wird.
Das vorliegende Buch behandelt in einem allgemein
experimentellen 1 eil die allgemeine Technik physio¬
logischer Versuche und gibt im speziellen Teil in 13 Ka¬
piteln Anweisung zur Untersuchung des Blutes, des Herzens,
des Kreislaufes und Blutdrucks, der Lymphe, der Atmung, der
Peristaltik und Flimmerbewegung, des Muskels, des Nerven,
der tierischen Elektrizität, des Zentralnervensystems, der Op¬
tik, der Akustik, Stimme und Sprache und der übrigen Sinne.
Der meist mangelhaften physikalischen Vorbildung der Me¬
diziner wird, wenn nötig, durch treffende einleitende Be¬
merkungen Rechnung getragen, darauf der eigentliche physio¬
logische Versuch in klarer und anschaulicher Weise be¬
schrieben, wobei 93 Abbildungen, teils schematische Zeich¬
nungen, teils Photographien die Orientierung ausserordentlich
erleichtern. Eine der Versuchsbeschreibung meist angefügte
Kritik soll den Leser zu eigenen kritischen Betrachtungen
anregen.
Was das Buch weiterhin wertvoll macht, ist der Umstand,
dass es auch schon auf die Bedürfnisse der Klinik Rücksicht
nimmt und mit Recht dem Praktikanten Kenntnisse vermittelt,
welche er bisher erst in den praktisch-klinischen Kursen zu er¬
werben gewohnt war, wie Auskultation, Refraktionsbestim¬
mung, Augen- und Kehlkopfspiegelung.
Nach alledem ist das Buch, was Inhalt und Ausstattung
betrifft, in besonderem Masse geeignet, dem jungen Mediziner
die so notwendigen praktisch physiologischen Kenntnisse zu
vermitteln, von denen doch wohl jede praktische Pathologie
auszugehen hat. B ii r k e r.
Friedrich C r ä m e r: Vorlesungen über Magen- und Darm¬
krankheiten. 2. Heft. Darmatonie (Dyspepsia nervosa — Dys-
pepsia intestinalis flatulenta). München, J. F. Lehmann,
1906. 231 Seiten. Preis 4.50 M.
Den Inhalt dieses an praktischen Erfahrungen, an kritischen
Streifzügen und an fruchtbringenden Gedanken reichen Vor¬
trages in Kürze anzugeben, ist unmöglich. Schwierig' ist es
auch, das vielgestaltige, mit anderen, ebenfalls nicht scharf
umgrenzten Symptomenkomplexen und vielen Organerkran¬
kungen sich berührende Krankheitsbild in knappen Zügen
wiederzugeben. Schon der von dem Verfasser gewählte Name
macht Schwierigkeiten. Diese werden dadurch nicht geringer,
dass Verfasser (S. 25) selbst die Bezeichnung ,, Darmatonie“
nicht für richtig hält. Der gewählte Titel sagt auf der einen
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
1 424
Seite lange nicht genug und auf der anderen präjudiziert er
etwas, was Verfasser in Wirklichkeit eigentlich nicht will. Es
genügt, darauf hinzuweisen, dass Verfasser die Entstehung
eines jedem Arzt bekannten, in schlechtem Geschmack, Luft-
aufstossen, Flatulenz, Schwindel und zahlreichen nervösen und
sonstigen Erscheinungen bestehenden Krankheitsbildes in den
Darm verlegt und vom Darm aus behandelt wissen w ill. Die
Stuhlträgheit soll bei diesem Bilde stets vorhanden sein, auch
wenn sie scheinbar fehlt, und stellt mit ihren Folgen, den Zer¬
setzungen des Darminhaltes, die eigentliche Krankheitsursache
dar. Den Einfluss dieser Schädlichkeit sucht Verfasser haupt¬
sächlich in der Autointoxikation, wenn er auch die Möglichkeit
einer reflektorischen Erklärung der Erscheinungen nicht ganz
ausschliessen will. Man sieht, dass an Stelle der Auffassung
jener Symptomengruppe als nervöser Dyspepsie des Magens
oder als einer Teilerscheinung der Neurasthenie, die Darm¬
störung als das Wesentliche betrachtet wird. In dieser An¬
schauung liegt zweifellos viel Richtiges und das zahlreiche
Material, welches aus eigner wie fremder Erfahrung bei¬
gebracht wird, ist sehr beachtenswert. Dennoch kann man
kein abschliessendes Urteil abgeben. Ebenso wie es schwer
ist, aus der ausführlichen, äusserst gewandt und anregend ge¬
schriebenen Darstellung des Verfassers ein ganz scharf be¬
grenztes und abgeklärtes Bild zu gewinnen, so wird es noch
mehr in der Praxis Schwierigkeiten machen, im Einzelfalle
sich vor Täuschungen zu bewahren. Aber zur Aufklärung des
unsicheren und doch praktisch so bedeutungsvollen Gebietes
hat C r ä m e r vieles und wertvolles beigetragen. Kein Arzt,
der in einer vielseitigen Praxis steht, sollte es versäumen, den
Vortrag zu lesen. Er wird durch zahlreiche Anregungen und
durch die Freude, die naturgetreuen Abbilder eigner Be¬
obachtungen in neuer Beleuchtung zu sehen, hinreichend be¬
lohnt werden. P e n z o 1 d t.
F. Lejars: Technik dringender Operationen. Dritte
deutsche Auflage, nach der 6. französischen übertragen von
Hans Strehl. 1. Teil. Jena, Fischer, 1906 Preis des
vollständigen Werkes 20 M.
Selten hat die Uebersetzung eines fremden medizinischen
Werkes bei uns so grossen Erfolg gehabt, wie das genannte
Werk von Lejars. Die Erklärung dieses Erfolges liegt ausser
in der sehr geschickten Uebersetzung, in den grossen Vor¬
zügen des Werkes selbst, namentlich in den den Text aufs beste
verdeutlichenden klaren Abbildungen. Ref. hat bei der Be¬
sprechung der ersten Auflage vor 2 Jahren mit seiner An¬
erkennung nicht gekargt, hat aber auch gleichzeitig auf allerlei,
zumal für unsere deutschen Ansprüche vorhandene Mängel
hingewiesen. Die vorliegende dritte Auflage ist in vielfacher
Hinsicht vermehrt und verbessert und zumal mit vorzüglichen
Abbildungen bereichert worden. Wenn es auch heute erlaubt
ist, einige Ausstellungen zu machen, so sei auf Folgendes hin¬
gewiesen. Bei der Besprechung der Narkose dürfte die Er¬
wähnung der Aethertropfmethode nicht fehlen. Bei den Ope¬
rationen am Halse fehlt die Strumektomie, die doch bei suffo-
katorischen Kröpfen sehr dringlich sein kann. Bei der Gastro-
tomie müsste wohl auch die AJethode nach Witzei be¬
schrieben werden. Der Abschnitt über Appendizitis rechnet
zu sehr nur mit dem Vorliegen eines Exsudates und berück¬
sichtigt zu wenig die Frühoperation; sonst würde wohl mehr
auf den Vorteil der kleinen Schnitte (Wechselschnitt) hinge¬
wiesen worden sein.
Auf den zweiten Abschnitt wird noch zurückzukommen
sein. K r e c k e.
Dr. E. J a c o b i, a. o. Professor und Direktor der dermato¬
logischen Universitätsklinik zu Freiburg i. Br.: Supplement zum
Atlas der Hautkrankheiten mit Einschluss der wichtigsten
venerischen Erkrankungen. Urban & Schwarzenberg,
Berlin-Wien 1906. Preis 15.16 Kronen. •
Was der Unterzeichnete Berichterstatter seinerzeit vom
Jakobi sehen Atlas selber sagen durfte, kann er wortwörtlich
für den nunmehr erschienenen Ergänzungsband wiederholen.
Es sind viel ikonographische dermatologische Werke in dem
letzten Jahrzehnt herausgegeben worden, die Abbildungen des
vorliegenden Atlas jedoch gehören zweifellos zu dem besten,
was auf diesem Gebiete geboten werden kann. DieWieder-
gabe der klinischen Bilder ist von einer Naturtreue, Zartheit
der Kolorierung und Klarheit der Zeichnung, dass man daran
seine helle Freude haben muss. Und das alles bei einem ziem¬
lich bescheidenen Preise. Auch die Auswahl der Hautaffek¬
tionen, welche der Herausgeber getroffen hat, ist reichhaltig und
lehrreich. Erinnert sei nur an die Abbildungen der Creeping
disease (Myiasis linearis); des Adenoma sebaceum, Lupus
pernio, der Psorospermosis und anderer Affektionen.
Hopf- Dresden.
Diagnostisch-therapeutisches Lexikon für praktische
Aerzte. Herausgegeben von Priv.-Doz. Dr. K. B r u n s - Berlin,
Priv.-Doz. Dr. A. B u m m - Wien, Priv.-Doz. Dr. S. Gott-
schalk- Berlin, Prof. Dr. W. Kausch- Berlin, Priv.-Doz.
Dr. E. Klemperer - Berlin, Priv.-Doz. Dr. A. Strasser-
Wien. Unter Mitwirkung einer Reihe anderer Autoren. Berlin
und Wien, Urban und Schwarzenberg 1906.
Es liegt bisher nur die erste Lieferung des neuen Alphabets¬
werkes vor, von dem ca. 60 Lieferungen erscheinen werden.
Der Preis des dreibändigen Gesamtwerkes soll 75 M. nicht
übersteigen. Das Werk will dem praktischen Arzte in knapper.
Form ein zuverlässiger Führer durch die wichtigen Gebiete der
Diagnose und Therapie werden. Mustergültige Illustrationen
sollen beigegeben werden. Binnen Jahresfrist soll das Werk
zum Abschluss gelangt sein. Grassmann - München.
Neueste Journalliteratur.
Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und
Chirurgie. 16. Band, 2. Heft. Jena 1906, Gustav Fischer.
10) Kurt Schultze - Bonn: Zur Chirurgie des Morbus Ba¬
sedow. (Aus der chir. Klinik zu Jena.)
Das Material Riedels spricht zu Gunsten der operativen
Behandlung, d. h. Resektion des grössten Teiles des Basedowkropfes.
Von 50 Fällen wurden 36 (72 Proz.) geheilt, 6 wesentlich gebessert,
einmal blieb der Erfolg aus, 7 starben. Die Todesursache war vor
allem in der Schwäche des durch die chronische Intoxikation ge¬
schädigten Herzens zu suchen, auch die Narkose wirkte anscheinend
ungünstig, sodass sie später durch Eukainanästhesie ersetzt wurde.
Je früher die Operation vorgenommen wird, desto mehr Aussicht
hat dieselbe; bei leichten Fällen wird ein Versuch mit interner The¬
rapie gutgeheissen, sofern die sozialen Verhältnisse nicht dagegen
sprechen. Antithyreoidin Möbius bewährte sich. Auf die Sympto¬
matologie der Krankheit geht Verf. näher ein, gibt auch die Kranken¬
geschichten. In der grössten Mehrzahl der Kröpfe zeigte sich die
charakteristische abnorme Beteiligung der Blutgefässe, die häufig
schon bei der klinischen Untersuchung durch fühlbare Pulsation, Ge-
fässgeräusche. Schwirren hervortrat. In 7 Fällen traten nach der
Operation Rezidive auf, die jedoch spontan oder auf interne Behand¬
lung hin zurückgingen.
11) Herrn. S c h 1 e s i n g e r - Wien: Zur Kenntnis der Gallen¬
blasenbronchusfisteln infolge von Cholelithiasis.
Bei dem beschriebenen, seltenen Fall konnte in vivo zuerst ein
subphrenischer Abszess und dann später, nach erfolgtem Durchbruch
durch das Zwerchfell, auch die fistulöse Kommunikation mit den
Luftwegen nachgewiesen werden (Gallenfarbstoffreaktion des
Sputums). .
12) R i n g e 1 - Hamburg-Eppendorf : Ueber akuten mechanischen
Ileus. Tr
Von 27 operierten Fällen (Strangulationsileus, Volvulus, Invagi-
nation, Hernia obturatoria incarcerata) starben 14, also 51,8 Proz.
Bei den Gestorbenen bestand jedoch zur Zeit der Operation schon
Peritonitis, ausgenommen 2 im Schock gebliebeneKinder, weshalb Verf.
auf möglichst frühzeitige Operation dringt. Bei Gangrän des Darmes
ist Verf. für die Resektion; auch bei zwei Fällen von Invagmation
musste Verf. das invaginiert gewesene, aber schon befreite Zökum
resezieren, da die innere Schwellung des Darmes die Bauhinische
Klappe verlegte.
13) O. M i n k o w s k i - Greifswald: Ueber perirenale Hydro-
nephrose. .
Seltener Fall mit interessanten diagnostischen Einzelheiten. Es
handelte sich um eine Ansammlung von Flüssigkeit zwischen Nieren¬
rinde und fibröser Nierenkapsel; die Zystenwand hatte keine endo¬
theliale Auskleidung, es bestand keine Kommunikation mit dem Nieren¬
becken. Die Heilung wurde durch Inzision und Tamponade
des Zystensackes erreicht, nachdem der oft punktierte Sack sich
immer rasch wieder gefüllt hatte. Man vermutete Hydronephrose,
auffällig war aber, dass der Katheterismus gut gelang und der Harn
wenig verändert war, ferner dass die Zusammensetzung der (punk¬
tierten) an Harnsubstanzen armen Zystenflüssigkeit weder durch Zu¬
fuhr körperfremder Substanzen — Methylenblau, Theophyllin — noch
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHR IFT.
duidi gesteigerte Zufuhr von Eiweiss und Salzen stärker verändert
wurde, wahrend der Harn entsprechend beeinflusst wurde. Die
spontane „Dekapsulation der Niere“ denkt sich Verf. als Folge einer
kapselPar°XySma 6 ^ongestionen herbeigeführte Dehnung der Nieren-
, /• APelt-Hamburg-Eppendorf: Zum Kapitel der Diagnose des
matomsUn° ,ntrat*ura*en traumatischen und pachymeningitischen Hä-
Verf. teilt einen Schulfall von richtig diagnostiziertem, durch
Trepanation geheilten Hämatom der Dura mater mit, und daran
anschliessend eine Reihe von Fällen, bei denen die diagnostischen
Regeln im Stich liessen. Ein extradurales Hämatom Hess alle kar-
dmalen Symptome vermissen, auch die Seite der Erkrankung war
nicht erkennbar ; in einem anderen Fall fand sich statt des erwarteten
traumatischen Hämatoms eine durch Thrombose der Arteria fossae
^y\\ n entstandene Enzephalomalazie. Pachymeningitis hämorrhagica
verlief ohne Konvulsionen, ohne Lähmungen, täuschte einen apo-
plektischen Insult vor u. a. R. Q r a s h e y - München.
1425
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 82. Band. 1.— 3 Eieft
Leipzig, Vogel.
*!(FeSSie r- München: Die Torsionsfestigkeit des Gelenkband-
Menschen Torsionsversuche an den Extremitätengelenken des
diesen "4 mühevollen Torsionsversuchen wurden künstlich
Verhältnisse geschaffen, wie sie in praxi beim Zustandekommen von
Verletzungen ausserordentlich häufig vorzuliegen pflegen: Fixation
des einen Gelenkknochens und Drehung des anderen. Im einzelnen
können kurz nur folgende Ergebnisse mitgeteilt werden: Für das
bchmtergelenk betragt die mittlere Bruchbelastung (= m B ) 15 4 ksr-
die Festigkeit der Kapsel ist geringer als die des Knochens.' Für das
E enbogengelenk beträgt die m. B. 14,0 kg, für das Handgelenk
y,U kg werden beide Gelenke gemeinsam der Torsion ausgesetzt so
erfolgt zuerst der Kapselriss am ulnaren Teile des Handgelenkes, dann
am radialen Teile des Ellenbogengelenks; Knochenbrüche werden
häufig in Form der Epiphysenabreissungen beobachtet. Die m. B des
Hüftgelenks ist 49,0 kg; in der Hälfte der Fälle wird das Femur ge¬
brochen bei der Rotation nach innen, ebenso wie bei der nach aussen-
bei dieser hegt der Kapselriss vorn aussen, bei jener unten hinten!
7n™i / ^‘^elenkes beträgt 44,0 kg; unter 16 Versuchen trat
10 mal Knochenbruch (Spiralbruch der Tibia in 43,8 Proz.) vor dem
eiHL+die Seitenbänder, zuerst das der am meisten be¬
anspruchten Seite, können ohne Gelenkverletzung zerreissen. Das
FnnSrhpnh,k->v,erreinSt fbei einer- B* von 26’4 k S, mit 68,8 Proz.
Knochenbi uchen; häufig reissen zuerst die Bänder und brechen die
Knochen der Fusswurzel. Ein Unterschied zwischen rechter und
linkei Seite konnte bei sämtlichen Versuchen nicht gefunden werden
men.2)(Chirn Klinik, rBaseU,iS,er; ^ *“cta"ld“« >" S'-'
Bie mikroskopische Untersuchung von 194 Kröpfen ergab in
67 Fallen mehr weniger ausgedehnte Verkalkung, darunter in 11 Fällen
Ve-kX.fnl6 etThte Knochenbildung; diese scheint an voraufgehende
Verkalkung gebunden und ist als das Produkt einer Metaplasie des
Bindegewebes anzusehen. Dementsprechend fand sich Knochen-
m v°rneJmhch teilweise verkalkten fibrösen Kröpfen, sowie
könnt/ n^™/cng l hämorrhagischer Zysten, Knorpelbildung
konnte niemals nachgewiesen werden. Ausgezeichnet war das
Knochengewebe durch reichliche Entwicklung von Knochenmark mit
Markzellen, Riesenzellen, Fettgewebe und Gefässen. Erwähnt werden
die mteressanten Versuche von S a c e r d o 1 1 i und F r a 1 1 i, die nach
unnt?rrb4nFä!f Qefässe einer Niere beim Kaninchen in 3
KnochenWltog Ü.“ SPa'er in der abs:ebu"de"e'‘ Niere echte
3) A X ^-u U SJse nTV,Ueber den äusseren Schenkelbruch, nebst Be¬
merkungen über die Klassifikation der Schenkelbrüche. (Chir. Klinik,
Rn,/ei einer 47 jährigen Frau, die wiederholt das Auftreten einer
ruchgeschwulst in der rechten Leistengegend nebst typischen Ein-
PilmÄlerf/heinU^e.n gezeigt hatte, wurde durch die Operation
ripn S“henkelhernie festgestellt, deren Bruchsack nach aussen von
den grossen Gefässen zwischen oberflächlichem und tiefem Blatte
der Fascia lata vor der Arter. circumflexa ilei lag. Lediglich für
solche Falle will Verfasser den Namen Hernia cruralis externa
angewendet haben, während er für die verschiedenen anderen For-
Schenkelbruchen die Bezeichnungen H. er. vasculolacunaris
(vor den Gefässen), H. er. interna (nach innen von'den Gefässen die
gewöhnliche Form) H. er. intravaginalis (die Gefässcheide passier’end)
Rptr.pm Cr- 17luscul0^canaris vorschlägt. Eingehende anatomische
Betrachtung der in Rede stehenden Gegend.
haus RixSd“r1f-tBenriin,jeber ,0ka'e Eosi,,OI>hllie <>« Niere. (Kranken-
zen FraU erkrankte mit häufigen kolikartigen Schmer¬
zen in der linken Nierengegend; in dem vorübergehend etwas blutigen
namenÄ"81?, keine Zylinder’ Wohl aber Reiche Eiterzellen!
namentlich mehrkermge Leukozyten mit eosinophiler Kör-
” “ ” S' C+Weder poaokokken noch Tuberkelbazillen nachweisbar. Die
wegen Steinverdacht vorgenommene Operation ergab ein beim ersten
Anblick tumorartiges Gebilde, dessentwegen die Niere exstirpiert
wurde Auf dem Durchschnitt zeigt sich ein keilförmiger gelbliche/
deutlich gegen das übrige Nierengewebe abgegrenzter Herd der
mikroskopisch eine dichte Infiltration mit massenhaften mehrkernigen
eosinophilen Leukozyten erkennen lässt; Glomeruli vielfach fibrös de¬
generiert; m der Randzone überwiegt die interstitielle Infiltration mit
gewöhnlichen Lymphozyten. Irgendwie beträchtliche Hämorrhagieu
waren nicht zu sehen. Die Frage, wie diese lokale Eosinophilie (bei
normalem Blute) entsteht, ob sie erst an Ort und Stelle eintritt, muss
S weden n°ch offen , bleiben. Im vorliegenden, übrigens geheilten
Fallt wäre vielleicht die einfache Nephrotomie ausreichend gewesen.
defek/prl/Ll/ypi/i Hebe^ die heteroplastische Deckung von Schädel-
aetekten mit Zelluloid. (Garmsonslazarett Brandenburg a. H.)
Diese Methode hält Verfasser in allen den Fällen für indiziert
in denen ein Schädeldefekt mit Verletzung der Dura, der weichen
Haute und des Hirns vorliegt; unter diesen Umständen gelang nach
Bunge und Stieda die osteoplastische (sekundäre) Deckung nur
1 mal unter 8 Fällen Die Zelluloidplatte hat den grossen Vorzug
veSp^SUnfn d/S Qehl;?s mit den bedeckenden Weichteilen zu
verhüten. Aus diesem Grunde ist sie auch empfehlenswert zur
EnSeoSI VDip I/efehktin naGh Trepanation wegen traumatischer
tpilepsie. Die Einheilung erfolgt, peinlichste Asepsis und Blut¬
stillung vorausgesetzt, in der Regel anstandslos; nur bei kariösen
Defekten erlebt man gelegentlich Schwierigkeiten; doch ist auch hier
wegen der Häufigkeit der Rezidive und der Grösse des Defektes die
zuziehenP attC ^ Verwendung des Periostknochenlappens vor-
6) Nieszytka: Ueber die isolierte Fraktur des Tuberculum
majushumeri. (Hoeftmannsche Privatklinik, Königsberg i. Pr.)
Die Absprengung des Tuberculum majus humeri, früher als
Komplikation der Schultergelenksluxation bekannt, findet sich selb-
fp1np!S- mf1St -aIS ?ol®ie emes direkten Stosses gegen die Schulter
bei atienten jenseits des 30. Lebensjahres. Die Symptome sind die
der schweren Kontusion oder Distorsion, von denen sie mit Sicher¬
heit nur durch die Rontgenphotographie bei auswärts rotiertem Arm
untei schieden wird. Im Vordergrund der klinischen Erscheinungen
steht die ausgedehnte und oft sehr langwierige Bewegungsstörung,
die zum I eil durch Einklemmung der Fragmente, zum Teil wohl
durch das Auftreten einer traumatischen Arthritis bedingt ist. Die
Heissluf tb äderi/^ Massage’ medik°mechanischen Uebungen und
frm/U°rk1^ Zu,r Lehre von der Fraktar des Kaikaneus.
(Lhir Abt. d. stadt. Krankenanstalt Magdeburg-Sudenburg.)
2 Arbeiter fielen mit einem Aufzug etwa 15 m tief herab; beide
erlitten einen doppelseitigen Kompressionsbruch des Fersenbeins, der
eine mit komplizierender Weichteilzerreissung bei Vertikalbruch des
lalus, der andere mit nachträglicher Nekrosenbildung an der Fuss-
sohle Die Kalkaneusfrakturen stellen etwa 1,83 Proz. sämtlicher
Fräkturformen dar; sie sind quoad funktionem prognostisch recht un¬
günstig zu betrachten, zumal meist der Sinus tarsi und die Articulatio
calcaneocuboidea häufig mitverletzt ist. Gipsverband während
mehrerer Wochen, eventuell Extensionsverband nach Barden¬
heu e r; jedenfalls keine verfrühten Gehversuche, die eine vorhandene
Deformation nur verschlimmern.
8) v. RuedigerRydygier jun. : Zur Diagnose und Therapie
des pii mären Sarkoms der Kniegelenkkapsel. (K. k. chir. Klinik von
Prof. v. Ruediger Rydygier.)
.in« Fain Vi°u diffasem Primärem Sarkom der Kniegelenkskapsel bei
e nem 20 Jahre alten Mädchen, vor der Operation richtig diagnosti-
zmit. Die meist auffallend lange Entwicklungsdauer hat im Verein
mit der ausseren Form dieser Tumoren wiederholt die Verwechslung
mit Kniegelenksfungus verursacht, von dem sie jedoch geringe Be¬
wegungsstörung und Schmerzhaftigkeit, das Fehlen von Fieber, von
SL!P/ie/eil™?eIe.nk’die mehr oder weniser blutige (nicht eiterige)
Beschaffenheit der T unktionsfliissigkeit hinreichend unterscheidet Bei
der relativ geringen Malignität des Leidens wird man sich in nicht
weit vorgeschrittenen Fällen auf die Gelenkresektion mit sorg¬
fältige! Entfernung der Synovialis beschränken dürfen.
Klinik! Königsberg.)^6'*'38 ^ Gesichtsspalte„. (Chir.
Cnoi// Ä bade 7on einseitiger totaler Lippen-Kiefer-Gaumen-
Spalte lasst den Verfasser eine in der Unterlippe des Kindes vor¬
handene, in ihrer Form dem einem Daumennagel entsprechende Delle
/ 1 e/ r 1 ^ h sche Hypothese denken, nach welcher Gesichts-
en?Sen k?n/ennUn SC Handhaltung des EmbrT° bei engem Amnion
J0) Ottendorff: Operative Heilung einer amniotischen Ab-
pSfUV n8! 0? ^ntHrs<JhMnke,\ (Orthopädisch-chirurgische Klinik von
Drot. V u 1 p i u s, Heidelberg.)
Neben zahlreichen anderen, auf amniotische Abschnürungen zu-
luclvzufuhi enden Verbildungen der Extremitäten fand sich eine tiefe
unri Ä1 vhp6 an-dfm eiaen Unterschenkel, die in 2 Hälften angefrischt
und breit vereinigt wurde; gleichzeitig Exzision des infolge der Blut-
r!hTJng VM'/ai!ldDne,n odernatös-hypertrophischen Gewebes am Fuss-
rucken. Nach Redressement und Eingipsung des ebenfalls vor-
lSnFfCihgradlge!! Klumpfusses war der funktionelle wie kos¬
metische Erfolg ganz befriedigend.
11) Lewiasch: Endresultate konservativer Behandlung der
tuberkulösen Koxitis. (Chir. Klinik, Bern.) ,.
Eine Zusammetistelung von 100 Fällen tuberkulöser Koxitis, d
konservative Behandlung erfuhren; dazu gehören neben der Allgemein-
behandlung, Extensions- und fixierenden Verbänden die einfache In¬
zision und Injektion von Jod, Karbol oder 1 uberkulin. Bei der eite¬
rigen Form wurden 39 Proz. geheilt, bei der nicht eiterigen 74,2 roz-
Ungünstig für die Prognose ist ausser der mit der Synovialiserkrankung
zusammenhängenden Eiterung männliches Geschlecht, A ei u ei
15 Jahre, Vorhandensein anderweitiger Iuberkulose.
12) Lauenstein - Hamburg: Ein ungewöhnlicher Verbleib des
Murphyknopfes. , . , .. ■«.
Der Knopf blieb im zuführenden Jejunumschenkel liegen; Ver¬
fasser empfiehlt, diesen nach dem Vorschläge Gelpkes durch Um¬
legung eines Seidenfadens soweit zu verengern, dass der Knopf
nicht hineingleiten kann.
13) Methling: Zur Kasuistik der Zwerchfellshernien; ein Fall
von eingeklemmter Zwerchfellshernie. (Chir. Klinik, Kiel.)
Einklemmung des Netzes und Colon transversum in einem
Zwerchfellschlitz, der wahrscheinlich 2 Jahre vorher durch Sticli-
verletzung im VII. linken Interkostalraum entstanden war. Laparo¬
tomie; Resektion des gangränösen Netzes und Kolons; Anus praeter¬
naturalis am Colon ascendens; Exitus.
14) Zesas-Lausanne: Ueber eine seltene Geschwulst der Knie¬
gelenkskapsel. „ .
Es handelte sich um ein von der Synovialis ausgehendes kaver¬
nöses Angiom, das klinisch oft heftige Schmerzen und wechselnde
Schwellung verursachte.
15) Re venstorf: Geheilter Hirnschuss. Tod an Meningitis
nach 1% Jahren. (Hafenkrankenhaus Hamburg.)
Die Kugel lag im rechten Hinterhauptslappen, ohne motorische,
sensible oder psychische Störungen zu veranlassen. Der ätiologische
Zusammenhang mit der eiterigen Meningitis ist etwas unsicher.
16) Thiemann: Angeborenes Harnröhrendivertikel. (Chir.
Klinik, Jena.) , , . ...
Zunehmende Vergrösserung des Divertikels durch eine ventil-
artig wirkende, am Uebergang von der Eichel zum Penisschaft
sitzende, als embryonaler Rest aufzufassende Schleimhautfalte. Ex-
stirpation des Divertikels. Heilung. Verfasser warnt vor wieder¬
holtem Sondieren und Katheterisieren.
17) Blech: Zur Kasuistik der Hernia ischiadica.
Kleiner, komprimierbarer Tumor am unteren Rande des Glutaeus,
bei Husten sich vergrössernd.
18) Voeckler: Zur Kasuistik der Bauchkontusionen. (Chir.
Abt. d. Krankenanstalt Magdeburg-Sudenburg.)
Zerreissung sämtlicher Schichten der Bauchdecken mit Aus¬
nahme der Haut, infolge Schlages durch einen Zentrifugenarm gegen
die linke Oberbauchgegend unmittelbar unterhalb des Rippenbogens,
Symptome einer intraabdominalen Blutung ohne Verletzung der Bauch¬
organe wegen Zerreissung der Arteria epigastrica; Netzvorfall.
Operation nach 9 Tagen. Heilung. B a u m - München.
Zentralblatt für Chirurgie. 1906. No. 25 bis 26.
Alfr. W e i s c h e r - Hamm i. W. : Ueber die Wundbehandlung
nach Transplantationen.
Den Erwartungen W.s hat die offene Wundbehandlung bei
T h i e r s c h sehen Transplantationen nach Brüning nicht ganz ent¬
sprochen, indem sich die aufgelegten Läppchen durch Sekretstauung
teilweise abhoben, während die einzelnen Felder von dicken Krusten
umgeben waren, und als Endresultate nur einige Epithelinseln blieben,
er verwendet deshalb in den ersten 2 Tagen eine feuchte Wund¬
behandlung mit warmen Kochsalzkompressen, besonders bei grossen
Hautdefekten, bei denen es selten gelungen, eine ganz eiterfreie
Wunde zu erzielen, es wird dadurch die Ausgangspforte des Sekrets
unter den grösseren Läppchen möglichst offen gehalten. W. ent¬
fernt die oberen Schichten der Granulationen mit dem Transplantations¬
messer in gleichmässigen Zügen unter Esmarch scher Blutleere,
stillt nach der Entfernung des Schlauchs die Blutung durch in heisse
Kochsalzlösung getauchte, mit einer Binde fest auf die Wunde ge¬
drückte Mullkompressen und giesst (damit die Wärme nicht verfliegt),
aus einer Kanne heisses Wasser auf den Verband, nach in der Regel
JO — 15 Minuten werden die Läppchen aufgelegt, die Fläche mit in
warme 0,8 proz. Kochsalzlösung getauchten Mullkompressen und
einer Lage Watte bedeckt und mit Binde fixiert. Die Pat. werden
auf seitlich überragende wasserdichte Unterlage gelegt, die betr.
Gegend von Berührung der Wolldecke mit den Verband durch ein
Drahtgestell geschützt, alle 2—3 Stunden wird, je nachdem die
äusseren Schichten des Verbandes trocken geworden sind, von neuem
Kochsalzwasser aufgegossen, bis es Pat. auf der Haut fühlt. Der erste
Verband wird fast stets erst nach 2 mal 24 Stunden erneuert, nur bei
sehr reichlicher Sekretion schon nach 1 Tag. Unter Aufgiessen von
Kochsalzlösung lassen sich die Kompressen leicht abheben. Nach
weiteren 2 Tagen wird 3 proz. Borsalbenmull aufgelegt. W. er¬
zielte mit dieser Methode in % der Fälle 100 Proz., in % 80—90 Proz.
Anheilungen der Läppchen, er wendet nur Autoplastik an, da ihm die
Heteroplastik schlechte Resultate gab.
Max Herz- Aukland : Zur Behandlung veralteter Schenkel-
halsbriiche.
H. sah in einem Falle von Schenkelhalsfraktur, der als Luxation
angesehen und nicht konsolidiert war und wegen der anhaltenden
Schmerzen als Hysterie angesprochen worden war, von der sekun¬
dären Anfrischung und Vernagelung mit Silbernagel guten trfolg.
Die Heilung erfolgte p. prim. Das Röntgenbild liess zunächst die
Konsolidierung der unteren Partien des Schenkelhalses, später auch
der oberen erkennen, die Bewegungen im Hüftgelenk blieben frei,
infolge von Coxa-vara-Stellung resultierte 2 cm Verkiiizung.
No. 26. Prof. E. Goldmann: Ueber hochsitzende Hämorrhoi¬
den als Ursache von okkulten Darmblutungen.
G. bestätigt die Bemerkungen von Ewald und N o t h n a g e 1,
betr. die Bedeutung versteckter Hämorrhoiden und betont die Wich¬
tigkeit der Rektoskopie hiebei. In einem seit 5 Jahren bestehenden
Fall von Blutungen entdeckte er an der vorderen Rektalwand 10 cm
oberhalb der Anusöffnung eine, wie ein Polyp prominente, blutende
Stelle, deren galvanoskopische Behandlung Heilung herbeiführte, in
einem anderen Fall von Rezidivieren von Blutungen nach Hamor-
rhoidaloperation sah er 18 cm über dem Anus einen isolierten, hasel¬
nussgrossen Varix als Ursache der wiederaufgetretenen Blutungen.
Q. befürwortet deshalb die rektoskopische Untersuchung auch bei
sogen, äusseren und inneren Hämorrhoiden, um sich zu überzeugen,
dass eine Komplikation mit hochsitzenden Hämorrhoiden nicht vorliegt
Linartz-Köln: Eine neue Klemme zur Gastroenterostomie
und Enteroanastomie. ..
Schilderung einer im wesentlichen der Doyen sehen Magen¬
klemme nachgebildeten, aber aus 3 Branchen bestehenden Klemme.
Sieh. Abbild. Sehr.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 26.
1) P. Z w e i f e 1 - Leipzig: Die subkutane Symphyseotomie.
Die von D ö d e r 1 e i n empfohlene subkutane Pubiotomie oder
Hebotomie führt bekanntlich leicht zu starken Blutungen, die nach
Z. nicht, wie die Autoren meinen, aus den Schwellkörpern der Klitoris
stammen, sondern aus der Art. pudenda interna s. communis. Sicherer
verhütet man die Blutung bei der subkutanen Symphseotomie, nur
muss vorher an der Hinterwand der Symphyse mit gedecktem Messer
eine Rinne eingekerbt werden, um der Drahtsäge den Weg zu weisen.
Z. berichtet über 3 derartig operierte und günstig verlaufene Fälle.
Alle Operierten haben tadellose Gebrauchsfähigkeit ihrer Beine
wiedererlangt.
2) L. F e 1 1 n e r - Franzensbad: Der Einfluss der Uterusnerven
auf die Atonie des nichtpuerperalen Uterus.
F. vergleicht den Einfluss der Uterusnerven mit dem der Rektum¬
nerven, mit denen sie für das Corpus uteri auch übereinstimmen.
Der Erigens ist motorischer Nerv für die Längs- und hemmender
Nerv für die Ringmuskulatur, der Hypogastricus motorischer Nerv
für die Ring- und hemmender für die Längsmuskeln. An- der Zervix ist
das Verhältnis gerade umgekehrt. Wie sich F. das Zustandekommen
der Erschlaffung des Uterus bei Dilatation und Abrasio durch den
Einfluss der Nerven denkt, möge im Original nachgelesen werden.
3) L. M. Bossi- Genua: Die tiefen Inzisionen als Methode zur
gewaltsamen Entbindung und der vaginale Kaiserschnitt müssen aus
der geburtshilflichen Praxis ausgeschaltet werden.
Entgegnung auf Dührssens Artikel in No. 15 des Zentralbl.
f. Gynäkol. (ref. in dieser Wochenschr. No. 17, S. 832). B. hat jetzt
107 Fälle mit seinem Dilatator entbunden. Von denselben verliefen
102 für die Mutter und 65 für den Fötus günstig. Von den 42 ge¬
storbenen Föten waren 16 vor der Geburt gestorben, 9 während der
Operation und 17 Aborte. J a f f e - Hamburg.
Virchows Archiv Bd. 183. Heft 2.
9) H. Beitzke und C. Neuberg: Zur Kenntnis der Anti¬
fermente. (Patholog. Institut zu Berlin).
Die Arbeit muss im Original eingesehen werden.
10) Kumoji Sasaki: Untersuchungen über die elektrische Leit¬
fähigkeit der Aszitesflüssigkeit bei experimentell erzeugter Nieren-
insuffizienz. (Patholog. Institut zu Berlin.)
Die Untersuchungen wurden an Kaninchen vorgenommen, die
durch Urannitrat vergiftet und nach einigen Tagen getötet wurden.
Dann wurde die elektrische Leitfähigkeit des Blutserums und der
Aszitesflüssigkeit bestimmt. Verf. schliesst aus seinen Versuchen,
dass bei der experimentell erzeugten Niereninsuffizienz eine irgend¬
wie nennenswerte Retention von Elektrolyten, sei es in den Säften
des Körpers oder in seinen Geweben, nicht eintreten muss. Auch für
die Auffassung, dass eine Elektrolytenretention in ätiologischer Be¬
ziehung zu der Ausbildung nephritischer Ergüsse unter allen Umstän¬
den stehe, bieten die Versuche keine Handhabe.
11) 0. Lubarsch: Ueber die Bedeutung der pathologischen
Glykogenablagerungen. (Patholog. Institut zu Zwickau.)
Der erste Teil der Arbeit behandelt unter Berücksichtigung der
Literatur und Mitteilung eines eigenen sehr umfangreichen Materiales
das Vorkommen des Glykogens unter normalen und pathologischen
Bedingungen. Bezüglich des Glykogengehaltes embryonaler Organe
stellt Lubarsch folgende Sätze auf. Der Glykogengehalt ist nach
Alter und Spezies der Embryonen verschieden. Die meisten Deck-
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1427
epithelien, quergestreiften Muskeln und Knorpel enthalten konstant
ulykogen. Bei vielen Driisenepithelien, sowie der glatten Muskulatur
ist der Glykogengehalt inkonstant. Als konstant glykogenfrei er¬
wiesen sich sowohl bei allen Säugetierarten wie in allen Embryonal-
Stadien: Blut, Lymphknoten, Milz, Hoden und Ovarien, die meisten
Bmdegewebsarten, die Nervensubstanz, der Knochen und die Blut-
gefässepithelien. Weiter werden besprochen die Befunde bei patho¬
logischen Piozessen und bei Geschwülsten, von denen 1544 unter¬
sucht wurden. Bezüglich der Bildungsweise und Herkunft des Gly¬
kogens, die im 2. Abschnitt behandelt werden, hegt L. die Ansicht,
dass das Glykogen an Ort und Stelle durch Zelltätigkeit gebildet
werde.
ta. 12) Gotthold Herxheim er: Lieber Pankreaszirrhose (bei
Diabetes). (Städt. Krankenhaus Wiesbaden.)
Die Eigebnisse der vorliegenden Untersuchungen hat Verf. schon
auf der Naturforscherversammlung in Meran im wesentlichen mitge¬
teilt. (Vergl. das Referat in dieser Wochenschr.)
Schridde - Marburg.
Archiv für Hygiene. 57. Bd. 3. Heft.
1) Max Rubner - Berlin: Die Beziehungen zwischen Bakterien-
wachstum und Konzentration der Nahrung. (Stickstoff- und Schwefel¬
umsatz.)
Beber das Bakterienwachstum in verschieden konzentrierten
Nährlösungen, worüber bisher exakte Untersuchungen noch fehlten,
lässt sich aus den Resultaten des Stickstoff- und Schwefelumsatzes
entnehmen, dass die Menge des Gewachsenen um so grösser ist und
die Geschwindigkeit der Zellenvermehrung um so bedeutender, je
mehr Nährstoffe vorhanden sind. Bei Verdünnungen erreicht der An¬
wuchs nicht die durch die Abnahme des Prozentgehaltes an Nahrungs¬
werten bedingte Grösse, sondern die Bakterienmasse sinkt viel
rascher, weshalb auch hochgradige Verdünnungen gänzlichen Still¬
stand des Wachstums herbeiführen müssen. Je länger die Versuchs¬
zeit dauert, desto mehr nimmt die neugewachsene Bakterienmenge ab.
Von dem Schwefelvorrat wird bei allen Konzentrationen ungefähr
dreimal so viel verwertet als vom Stickstoff.
2) Max Rubner: Energieumsatz im Leben einiger Spaltpilze.
Ber Energieverlust, der durch das Bakterienwachstum statt¬
findet, beruht nur zum kleinen Teil auf Ansatz und Wachstum, zum
grössten Teil auf chemischen Prozessen, dem Umsatz. Der Energie¬
verbrauch geht aber nur bis zu einer gewissen Grenze, er ist nach
3 Wochen nicht mehr nachzuweisen. Die Untersuchungen über die
Beziehungen des Ansatzes zum Umsatz ergaben, dass Ansatz und
Umsatz in ihrem gegenseitigen Verhältnis bei sonst gleichen Zell¬
leistungen von der Zelle unabhängig sind. Aus den mühevollen
Versuchen über den Energieverbrauch verschiedener Bakterienarten
ergab sich, dass grosse Unterschiede bei den einzelnen Arten be¬
stehen, jedoch der Energieverbrauch im Wachstum bei allen Keimen
erheblich hinter den Stoffumsatz zurücktritt. Bei Typhus, Cholera
und Diphtherie war der Umsatz im Verhältnis zur geringen Masse
der Bakterien am grössten. Die Umsatzleistungen der Bakterien
sind im Verhältnis zu den mittleren Leistungen der Körperzellen der
liere sehr grosse zu nennen. Weitere direkte kalorimetrische Mes¬
sungen über die Wärmebildung bei Bakterienwachstum ergaben, dass
der, . ab^er*enumsatz stets in der Form einer steil ansteigenden Kurve
verlauft, deren Form von dem Nahrungsvorrat bei gleicher Konzen¬
tration abhängig ist. Weitere interessante Einzelheiten sind im Ori¬
ginal nachzulesen.
, V- Ma? .Rubner: Ueber spontane Wärmebildung in Kuhmilch
und die Milchsäuregärung.
..... Bs handelte sich um den Nachweis, ob die in der Milch auftretende
Wärmebildung das Produkt der Milchgärung sei. Zunächst zeigte
sich, dass die Milch eine Spontanerwärmung aufwies, die aber keines-
tails nur als Milchsäuregärung aufgefasst werden konnte. Von der
m 1 r onen in der Milch entwickelten Wärme treffen noch nicht
einmal 2 Proz. auf die eigentliche Säuerungsperiode. Weitere Wärme¬
bildung kann nach den Untersuchungen R u b n e r s auf Zersetzung
von Eiweiss, Fetten und Salzen zurückgeführt werden.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 28.
DK. B o n h öf f e r - Breslau: Ueber die Bedeutung der Jack¬
son sehen Epilepsie für die topische Hirndiagnostik.
verf. schildert zunächst das typische Krankheitsbild der J. sehen
-puepsie und die nicht seltenen Abweichungen vom gewöhnlichen
ypus, um dann eine Anzahl von Fällen zu beschreiben, in welchen
t as o aldiagnostische Merkmal der halbseitigen Krämpfe versagt hat.
dfl« h!?hQ!l5r1!npfe gebfn aicht ganz selten den Hinweis darauf,
das,s b' ^ Schadeltraumen der Ort der äusserlich sichtbaren Kontusion
UJS* "^wendig auch der Ort eines eventuellen chirurgischen Ein¬
griffes ist. Das Auftreten von Serien solcher Krämpfe deutet darauf
bin dass keine sehr hochgradige Verdrängung der Hirnsubstanz im
Bereich der Zentralwindungen durch die Blutung stattgefunden hat.
ns werden dann die Beziehungen der J.schen Epilepsie zur genuinen
Epilepsie eingehend erörtert. Unter besonderen Umständen kann ein
nnm^0+t0r,SC^eln Rl,nde ganz ferngelegener Herd den Krämpfen einen
halbseitigen Charakter geben, ohne dass man einen Rindenherd zu
erwarten hat. Mehrere Krankengeschichten mit Epikrise bilden den
Schluss des in einem kurzen Referate schwer zu erschöpfenden
Artikels.
2) A. H o f f a - Berlin: Ueber Röntgenbilder nach Sauerstoffein¬
blasung ui das Kniegelenk.
Beschreibung des dazu verwendeten Apparates nach Wollen-
b e r g und Wiedergabe einer Reihe von Röntgenogrammen, welche die
verschiedenartigsten Krankheitsprozesse im Kniegelenk repräsen-
depen- Besprechung der Einzelnheiten der Bilder. Das Verfahren der
O-Einblasung ist bei aseptischem Vorgehen ganz ungefährlich.
1.1 Wolff-Eisner und A. Rosenbaum-Berlin: Ueber das
Verhalten der Organrezeptoren bei der Autolyse, speziell der tetanus-
bindenden Substanz des Gehirns.
ais naupiergeoms der Versuche ist hervorgehoben, dass die
äutolyüsche Verdauung ein Vorgang ist, der ebenso, wie er die
spezifischen, präzipitinauslösenden Eigenschaften des Eiweiss zer-
stort, wie er die spezifische Giftigkeit aufhebt, wie er die Giftigkeit
der Leibessubstanzen der Bakterien vernichtet, in gleicher Weise die
Rezeptoren vernichtet, welche an den Zellen sitzen und im Sinne der
ehrlich scheu beitenkettentheorie die Giftbindung bewirken.
4) E. Käst- Berlin: Rückläufige Strömung in der Speiseröhre
als Erklärung der belegten Zunge.
Aus Versuchen an Menschen ergab sich, dass in den Magen ge¬
brachter Bärlappsamen z. T. wieder in die Speiseröhre und nach
einiger Zeit auch wieder in die Mundhöhle gelangen kann. Bedin¬
gungen hiefür liegen in den rhythmischen Druckschwankungen im
Brustkorb, in der Pulsation der Aorta und des Herzens, in den Be-
wegungen des Zwerchfells etc. Infolgedessen steigt ein langsamer
rlüssigkeitsstrom entlang der Oesophaguswand nach oben. Es ist
sehr wahrscheinlich, dass das Sodbrennen in vielen Fällen sich als
eine Reaktion der Speiseröhre gegenüber dem säuern Magensaft dar¬
stellt. Der Belag der Zunge hat, vorausgesetzt, dass keine lokale
Erkrankung der Mundhöhle, der Speiseröhre und keine ungewöhnliche
Beschaffenheit der Zunge selbst vorliegt, die Bedeutung, dass daraus
auf einen vermehrten Transport von Substanzen, resp. abnormen
Substanzen aus dem Magen geschlossen werden kann.
5) P. Ro dar i- Zürich: Zur Frage der Heilbarkeit der chro-
mchen Gastritis.
Verf. bejaht, im Gegensatz zu verschiedenen anderen Autoren,
die aufgeworfene Fiage und betont unter Wiedergabe von Krankheits-
geschichten, dass die Verordnung von Adstringentien und salinischen
Mitteln durchaus nichts Indifferentes, sondern in die Sekretionsver¬
hältnisse des Magens sehr Eingreifendes darstellt. Die Amara und
Stomachica aber spielen eine ganz untergeordnete Rolle in der medi¬
kamentösen Therapie der chronischen Gastritis. Die Pepsinpräparate
sind praktisch völlig wertlos, günstig sind nach Verf. die Ergebnisse
mit der Verordnung des Papains.
6). H. K ü m m e 1 1 - Hamburg: Ueber moderne Nierenchirurgie,
ihre Diagnose und Resultate. (Schluss folgt.)
/) Kettner - Berlin: Ueber Kleinkaliberschussverletzungen.
Nicht zu kurzem Auszug sich eignendes Referat über die wich-
tigsten, im russisch-japanischen Kriege in dieser Hinsicht gemachten
Erfahrungen, aus dem hervorgeht., dass man sich hinsichtlich der
Schädelschüsse wieder einem mehr aktiven Verfahren zuwendet, aber
sonst auf dem Schlachtfelde möglichst wenig operiert, sondern sich
möglichst konservativ verhält. Grassmann - München
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 27
v uiu -P' Jr.a.ss, ar ;Berlin: Die Verhütung und Bekämpfung der
Kahlheit. Klinischer Vortrag.
Verf. betont namentlich, dass jedes Defluvium capillitii abnorm
ist und dass die Verhütung der Kahlheit in Vermeidung und früh¬
zeitiger Bekämpfung der Haarkrankheiten besteht.
2) A. Schlossmann und St. Engel- Dresden : Zur Frage
der Entstehung der Lungentuberkulose.
Injiziert man jungen Meerschweinchen in Milch verriebene Tu¬
berkelbazillen in den freigelegten Magen, so findet man sie bereits
nach wenden Stunden in der Lunge. Verf. glauben, dass die aerogene
Infektion eine untergeordnete Rolle spielt und dass die grösste Mehr-
zah! der Infektionen mit Tuberkulose in das frühe Kindesalter fällt.
, 2) !>• Kutscher - Berlin : Ueber Untersuchungen der Nasen-
rachenhohle^ gesunder Menschen auf Meningokokken.
Unter 56 untersuchten Lazarettkranken waren 4, bei denen sich
echte Meningokokken fanden. Die Kokken wichen weder morpho¬
logisch noch kulturell, noch in ihrem immunisatorischen Verhalten
von echten Meningokokken ab, so dass also zum Ausbruch der Ge¬
nickstarre noch eine gewisse, nicht näher bekannte Disposition er¬
forderlich sein muss.
4) W e lim ann - Bihe: Ueber die Flagellatenform des tropischen
Malariaparasiten.
Die Tatsache, dass in Westafrika die halbmondförmigen Gameten
selten im peripherischen Blut zu finden sind, erklärt sich Verf. so, dass
bei dem gleichmässig warmen Klima schon wenige Gameten genügen
um den Parasiten auszubreiten.
o) H. D o e r i n g - Göttingen: Die Behandlung des Caput ob-
stipum.
An der B r a u n sehen Klinik wurden 35 Fälle von Tortikollis
operiert (offene fenotomie), mit 32 Dauererfolgen. Nach dreiwöchiger
1428
MIIENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
Nachbehandlung — mit passiven Uebungen — wurden die Kranken
mi, f>'^-^avat.ene„t,assen. Kön.ssbere: ^ wirkung des
der Streplokok^ ariden Mektas-
modus einerseits, die prophylaktische Anwendung Serum in
seits führten zu dem Ergebnis, dass das A , Menschen
seiner heutigen Form für die therapeutische Anwendung am Menschen
noch^nictlt brauchbar ist. g . e b # r , . [Jreslau; Ueber Qonosa„ und
Q°norrhoetherapie.die gerUhmte gUnslige Wirkung des Mittels nicht
bestätigen- es wirke weder innerlich noch ausserlich hemmend au
das Wachstum der Gonokokken, viel sicherer sei eine frühzeitige
und energische Lokaltherapie mit frisch und kalt bereiteten Protargol-
l0SU118)e W. Sternberg- Berlin: Kartoffelspeisen für Diabetes und
Adiposdasjer ^ Absitzenlassen des Mehls zerriebener roher Kar¬
toffeln in Wasser zurückbleibenden Fasermasse lassen sich Speisen
mit Kartoffelgeschmack bereiten. ..... T7
9) Boruttau-Göttingen: Ueber einen wirklichen Ersatz des
Vierzeiler, bades. R. G r a s h e y - München.
Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte. XXXVI. Jahrg.
N°’ Rudolf Staehelin - Basel : Ueber vegetarische Diät. (Vor¬
trag gehalten in der medizinischen Gesellschaft zu Basel.!
' ’ Ueber die verschiedene Art des Vegetarismus, die Möglichkeit
der Deckung des Nährstoffbedarfes bei reinem Vegetarismus, den
Fettgehalt der Fleischkost, den reichlichen Eiweissgenuss, die grossere
Inanspruchnahme der Nieren und die grössere innere Reibung de
Blutes bei Fleischnahrung, die Extraktivstoffe des Fieisches un i
diuretische Wirkung, die leichtere Alkoholentziehung und die günstige
Beeinflussung der Zirkulationsorgane bei vegetarischer Kost,
naue Abgrenzung der Indikationen ist noch nicht mogl^n- x
Sahli -Bern: Ueber Tuberkulmbehandlung. (Schluss.!
Verf gibt hauptsächlich die eigenen Anschauungen und cr-
fahrnmren wieder und will den Aerzten richtige Vorstellungen von
dem Wesen der Tuberkulintherapie und damit die Mögüchkeit emer
ausgiebigen Einführung derselben besonders in die hausarztliche Praxis
vermitteln, indem er die nähere Begründung zahlreicher Darlegungen
fUr S D a s t h e r apeu t: is cf i e r I n z i p ist in den verschiedenen Tuberkulinen
im wesentlichen das Gleiche, Verf. bevorzugt neuerdings das Tuber¬
kulin von Beraneck (bakteriologisches Laboratorium Neuen bürg
in der Schweiz), zunächst weil es die spezifischen toxischen Sub¬
stanzen der Kultur (aus Bouillon und Bazillenleibern) möglichst un¬
verändert und vollständig enthält, andere toxische Substanzen des
Nährbodens aber ausschliesst. Das Tuberkulin wirkt n‘cht spez! hsc i
heilend, sondern lediglich aktiv immunisatorisch, es j eräugt Gift¬
festigung indem es den Organismus immer mehr zui Bildung von
Gegenkörpern gegen das Tuberkulosegift befähigt; es ist also ein
funktionstherapeutisches Mittel und hiernach von den übrigen Be¬
handlungsmethoden der Tuberkulose nicht so sehr /«schieden. Die
Heilungsvorgänge muss aber der Organismus selbst aufbringen.
Diese üiftfestigung muss — das ist der bedeutungsvollste Teil
der Arbeit — ganz allmählich unter möglichster Vermeidung lecher
Art von Reaktion geschehen, i e d e R e a k t i o „ i s t e . neS c la d . -
g u n g der erkrankten T ei 1 e. Es muss also das jeweilige
Optimum der Dosierung, das keine Reaktion gibt, : B®*udnde^ ,^erde,J
Eine absolute Tuberkulindosierung fuhrt leicht irr und verleitet z
Rekordrennen“, es handelt sich vielmehr darum die absolut u
schädliche Minimaldosis und dann das relative Starkeyerhaltms ver-
IcSfedener Lösungen zu kennen um möghchst vorstcht.g und gternh^
mässig die Dosis steigern zu können. Dies ist besonders bei den
Beraneck sehen Tuberkulin möglich, da es 13 verschiedene Lo¬
sungen gibt, deren jede doppelt so stark ist als die zunächst yorher-
gehende. Man beginnt mit 1 Teilstrich (V*. ccm) der schwächsten
Lösung und spritzt wöchentlich 2 mal am 1 horax ein, Jedesmal u
y y2 Teilstrich steigernd, wenn nicht — noch so geringe R
aktion auftrat. Im letzteren Falle längere Pause und Dosenverminde-
rung Jede sich deutlich abhebende Temperaturerhöhung um I»
oder 3 ho am Tage der Einspritzung oder am folgenden, jede Steig
rung der Pulsfrequenz, Dyspnoe, Gewichtsabnahme („Tuberkuhn¬
kachexie“), jedes üble Allgemeinbefinden, jede deutliche ört¬
liche Entzündung und jede Organreaktion (p'euntische Rei¬
zung Blut im Auswurf, Vermehrung des Auswurfes) ist als
Reaktion als Tuberkulinschädigung aufzufassen. Die Behand¬
lung wird auch nach Erreichung der absoluten (1 ccm dei stark
Lösung) oder individuellen Maximaldosis noch moghc^Uange fort¬
gesetzt, und zwar bei der absoluten Maximaldosis alle 8—14 Tage,
Qn lanorG Hpt* ZustcHld Sich AVCitCT t)6SSClt. # .
Die Behandlung ist besonders erfolgreich bei beginnenden
Fällen Bedeutung der Frühdiagnose und der 'I emperaturmessungen.
rSe üblichen diagnostischen Tuberkulineinspritzungen werden ver-
Ul ciP Qind stets riskiert. Der grösste Fortschritt der neuen
Tuberkulintherapie ist ja die vollständige Ungefährlichkeit, so dass
■ i ,i, nif ,ii,' leichtesten Tuberkulosefälle und auf die 1 uber-
k„eioseve“äehtigen und Prophylaktiker erstrecken kann. Oe.en >e
ein. Bei rieoer ... , ein Versuch“ mit I uberkuhn ge¬
macht werden* Schwere örtliche Befunde lassen wenig erhoffen, hier
Kt die scheinbar geringe Tuberkulinempfindlichkeit gerade ein un-
LI 7 P k hen die F’olge von Giftüberlastung; auch die hier vor-
gunst.ges Zeichen dienroigeryngit verdient ernsteste Beachtung.
kommende „ - . . tige Worte gegen die therapeutische Kasuistik
^'‘isibuir »"■ <«* -‘«“berk“,öse
Sei umtherapie.. n r a 1 1: Wasserstoffsuperoxyd bei Darmyerschluss.
(4ns der chirurgischen Abteilung des Kinderspitals Zürich-)
Bei einem Kinde war wegen Peritonitis (nach Entfernung des
Wurmfortsatzes im Anfall) Enterostomie gemacht worden. Der
darauffolgende Verschluss des unteren Darmteiles wurde durch 20 ccm
2 proz. Wasserstoffsuperoxydlösung in kürzester Zeit beseiüg^- g ^
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No 27 H v H ab e r e r - Wien: Experimentelle Untersuchungen
über Nierenreduktion und Funktion des Testierenden Parenchyms.
Die Vergehe haben gezeigt, dass wiederholte Nierenreduktionen
in p-rnsserer Ausdehnung und kurzen Intervallen von Hunden im
Ganzen nicht gmt ertragen werden. In vielen Fällen kommt es zum
Nierentod ohne dass es vor dem letzten Eingriff ein Kriterium gibt,
ob eine weitere Reduktion überstanden wird oder nicht. Besser er
trauen wTrd es wenn erst auf der einen Seite reseziert und dann d e
andere Niere exstirpiert wird, als umgekehrt. Von Bedeutung ist
auch ob sich die Resektion nur in die Nierensubstanz oder bis ins
Nierenbecken hinein erstreckt. H. prüfte dabei auch den diagnosti¬
schen Wert der Phloridzinmethode und fand, dass sie wohl über die
Funktion^ des Jeweiligen Nierenparenchyms als Ganzes Aufschlüsse
o-ibt nicht aber über das Vorhandensein kranker Herde und nicht
über die Frage öS ohne Schaden weiteres Parenchym entbehrt wer-
dCn sanEhr mann -Wien: Die Phagozytose und die Degenerations-
formeii der Snirochaete paiiida im Primäraffekt und Lymphstrang.
b" beschreibt die Verbreitung der Spirochäten in den verschie¬
denen Gewebsschichten und besonders ihre ff ^SjadeSii filzigen
Kapillaren. Man findet die jungen Kapillaren oft in geradezu tuzige
massenhaften Ansammlungen von Spirochäten umlagert, welche an
scheinend chemotaktisch auf die in der Kapillare befindlichen Leuko-
zyten wirken und sie zur Auswanderung bringen, ebenso scheinen
sie die Kapillaren zur weiteren Sprossenbitdung anzuregen. Vielfach
sieht man Spirochäten büschelförmig mehr oder minder tief in die
gequollenen Bindegewebszellen und Leukozyten ®1JK®drH"|®n
ihren intrazellulären Teil dann weniger gefärbt und weniger deut
lllh Zusammenhängend. Es handelt sich dabei ™ Aufnahme und
nachfolgende Degeneration der Spirochäten innerhalb des Zelleibes.
R. Q u es t- Lemberg: Ueber den Einfluss der Ernährung auf die
Frrppharkeit des Nervensystems im Säuglingsalter.
n ist der Frage, ob nicht die Kalkarmut des Organismus, speziell
des Zentralnervensystems, für die funktioneUen Krampfe des Kmd Ps¬
alters von Bedeutung ist, experimentell naher getret en Nachd®^h
7ii nächst bei an Tetanie verstorbenen Kindern das Gehirn betiacn
lieh" kalkärmer gefunden hatte als bei anderen, nahm er Futterungs-
versuche an 4 jungen Hunden vor, derart, da» er zwe.en , derseben
von einem gewissen Zeitpunkt an nur eine fast kalkfreie Nahrung
(Rindfleisch) reichte. Nach wenigen Wochen stellten sich die Zeich
der Rachitis ein und weiterhin eine der Tetanie gleichende Ue
Erregbarkeit des peripheren Nervensystems. In der Erregbarkeit der
Hirnrinde bestand kein Unterschied gegenüber den anderen Ver¬
suchstieren und ebenso war schliesslich keine Verminderung des
Kalkgehaltes des Gehirns nachzuweisen. .
F. Hamburger - Wien: Parasternale Dämpfung und Aufhellung
bGI ^nMog' der paravertebralen relativen Aufhellung des Schalles
auf der kranken und Dämpfung des Schalles auf der gesunden
sind nach H. bei hochgradigen Ergüssen auch parasternal djeselber
Phänomene, bedingt durch dieselben physikalischen Bedingungen,
nachzuweisen. e ^ j . gelle i- Ofen-Pest: Sind die normalen
Serumlipoiden Träger oder bloss Vermittler von Antiwirknngen.
Aus den zahlreichen von den Verfassern mitgeteilten Beobach
tungen und aufgeworfenen Fragen sei nur kurz folgendes
gehoben. Die antitetanolytische Wirkung der versdnedenen
sera ist verschieden und es lässt sich eine ziem ich konstante Wer
tigkeitsreihe für die verschiedenen Tierarten aufstellen. Zum i weita
überwiegenden Teil kommt diese Wirkung ihren hpoiden Bestand
teilen zu. Bei der gegenseitigen Einwirkung der Lipoide und -
Tetanusgiftes erleiden beide eine Veränderung, das TetanMysm u.
die Lipoide verlieren ihre hämatolytische Wirkung. Bei den Lipoidei
besteht diese Veränderung direkt in dem Verlust der Eigenschaften
welche sie als Fettstoffe charakterisiert.
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1429
0. Bail und E. Weil -Prag: Ueber die Beziehungen von
Kaninchenleukozyten zum Staphylokokkengift.
Die hier beschriebenen Versuche bringen neuerdings den Beweis
für die Fähigkeit der Leukozyten, die von Bakterien produzierten
Gifte zu paralysieren und die Aggressivität von Bakterien aufzuheben.
Wiener klinische Rundschau.
No. 20/21. J. Z e m a n n - Jungbunzlau: Die laterale Oesophago-
toinie bei Fremdkörpern des Oesophagus.
Nach einem kurzen Ueberblick über die Pathologie dieser Fremd¬
körper und der von Balanescu und Kohn gegebenen Zusammen¬
stellung von 326 Oesophagotomien beschreibt Z. 2 mit Erfolg ope¬
rierte Krankheitsfälle.
No. 22. U t h m ö 1 1 e r - Osnabrück: Ueber Kolostrum.
Auf Grund von Untersuchungen an 200 Fällen betont U. zunächst,
dass auch bei Personen, die nie gravid waren und besonders auch bei
Virgines sich nicht gar zu selten Kolostrum nachweisen lässt. Der
Versuch, durch gewisse Eigentümlichkeiten das Kolostrum der Gra¬
viden als charakteristisch zu erkennen, gelingt nicht. Der positive
Kolostrumbefund spricht daher nicht beweisend für Gravidität, da¬
gegen spricht das Fehlen von Kolostrum mit hoher Wahrscheinlich¬
keit gegen dieselbe.
No. 22/23. W. R ü h 1 - Dillenburg: Ueber Mängel unseres Sterili¬
sierungsverfahrens des Geburtskanales und Vorschläge zu deren Ver¬
besserung.
Die gebräuchlichen Ausspülungen und Auswaschungen sind teils
ungenügend, teils bei Verwendung stärkerer Lösungen mit der Ge¬
fahr der Intoxikation oder der Epithelschädigung verbunden; das
letztere gilt namentlich von den Scheidenauswaschungen. Spülungen
mit nicht zu starken Lösungen bringen immerhin einen gewissen
Nutzen, sie sind aber kontraindiziert, sobald die Zervix geöffnet und
Fruchtwasser abgeflossen ist. Sehr zufrieden ist R. mit der kurz¬
dauernden antiseptischen Tamponade, selbstverständlich nach gründ¬
licher äusserer Reinigung der Gebärenden und der Hände des Arztes.
Die Vagina wird nach Entfernung von Blut- und Schleimgerinnseln
mit 4 — 5 ca. 8 cm langen und 3 cm dicken Wattetupfern, welche in
Sublimatlösung 1 :1000 eingetaucht sind, vorsichtig austamponiert;
2 — 5 Minuten langes Liegen genügt vollständig. In gleicher Weise
kann eventuell die Zervix, wenn kein Kindsteil vorliegt, durch einen
Tampon desinfiziert werden. Die Desinfektion des Uterus nach der
Geburt erfolgt natürlich nur bei strenger Indikation, geschieht durch
Einführung eines in dieselbe Sublimatlösung eingetauchten Jodoform¬
gazestreifens, welcher so lange liegen bleibt, bis mehrere kräftige
Nachwehen erfolgt sind, die den Tampon innig mit der Uteruswand
in Berührung bringen. Zu allen diesen Manipulationen, die mit pein¬
licher Sauberkeit ausgeführt werden, wird die Hand mit sterilisiertem
Sublimatvaselin eingefettet.
No. 23. . M. Jerusalem- Wien : B i e r sehe Stau- und Saug¬
behandlung in der Kassenpraxis.
Die vielfache Verwendbarkeit des Verfahrens, der nur verein¬
zelte Misserfolge gegenüberstehen, .erläutert J. an zahlreichen Bei¬
spielen. Für die Panaritien jeder Art berechnet er eine Abminde¬
rung der Behandlungsdauer von durchschnittlich 19 auf 16 Tage, bei
Furunkeln beträgt dieser für die Kassen und Patienten gleich wichtige
Zeitgewinn fast die Hälfte der früheren Zeit (5,8 gegen 11,2 Tage).
Besonders augenfällig sind die guten Erfolge bei Sehnenscheiden¬
phlegmonen und bei Tendovaginitis crepitans gewesen.
B e r g e a t.
Französische Literatur.
Ch. Fere: Experimentelle Untersuchungen über den Einfluss
des Zuckers auf die Arbeit. (Revue de medecine, Januar 1906.)
Der Zucker ist ein Nahrungsmittel, welches geeignet ist, die durch
Ermüdung erschöpfte Muskelenergie wieder zu heben, und wird daher
mehr als die anderen Kohlehydrate zu diesem Zwecke, aber auch zu
Zwecken der Ueberernährung empfohlen. Die zahlreichen experi-
mentellen Untersuchungen haben zwar beinahe übereinstimmend diesen
günstigen Einfluss des Zuckers festgestellt, aber nach Feres An¬
sicht wurde dabei der Wert der psychischen (sensoriellen) Anregung
und die Dauer der Energiezunahme nicht genügend berücksichtigt,
eine Lucke, welche vorliegende Arbeit ausfüllen soll. Die Unter¬
suchungen Fs. wurden in regelmässiger Weise beim ersten Früh¬
stück, welches immer gleichmässig zusammengesetzt war, aber keine
tei mentierenden Getränke oder Kaffee enthielt, mit einer Lösung von
30 g Zucker auf 100 ccm destillierten Wassers ausgeführt; der Ergo-
graph M o ss os diente zur genaueren Bestimmung der Kraftzu-
oter abnahme. Mit 15 g Zucker ist die Arbeitsleistung beinahe ebenso
lange gleich geblieben wie ohne diese Anregung, aber nach dem
vierten Versuch hat sich der Abfall beschleunigt, mit 30 g hat
die vermehite Arbeitsleistung durch 3 Versuche hindurch angehalten,
der Abfall war aber dann ein viel rascherer wie mit 15 g. Es ergab
*/? Summa, dass der Zucker zwar augenblicklich und für kurze
Zeit die Arbeitsleistung erhöhe, dann aber ein um so rascherer Nach¬
lass derselben eintritt, je grösser die anfängliche Steigerung (ent¬
sprechend der aufgenommenen Menge) war, dass er also eher ver¬
mindernd auf die gesamte Arbeitsleistung wirkt. Er verhält
sich dahei ähnlich wie der Alkohol und andere reizende Substanzen
(Kola, Koka), bei welchen die Versuche ganz dasselbe lehren: vorüber¬
gehende Reizung, dann vorzeitige Erschlaffung der Kräfte. Bei kurz
dauernder Arbeit und Muskelanstrengung ist die Anwendung des
Zuckers zu empfehlen, bei längerer dient er nur dazu, die Ermüdung
zu beschleunigen. Man sieht, dass die Folgen der alimentären oder
toxischen Anregung nicht sehr verschieden sind von jenen der patho¬
logischen Erregung, wie z. B. die Erschöpfung nach dem epileptischen
Anfall lehrt. Der Gebrauch von Zuckerspeisen am Ende der Mahl¬
zeiten bewirkt eine Anregung, welche die Verdauung zu begünstigen
scheint, und verschleiert die mit derselben verbundene Ermüdung,
aber F. hält es für wahrscheinlich, dass diese vorübergehende An¬
regung ein Defizit hinterlässt und alle anregenden Nahrungsmittel,
sei es durch ihren Geschmack oder Anderes, dieselben Illusionen
geben können.
Marandon de Montyel: Die prädisponierenden Krankheits¬
ursachen in der Psychiatrie. (Ibidem.)
Diese Krankheitsursachen konnte Verfasser nur in der Zahl von
6 finden und fasst sie in 3 Gruppen zusammen: 1. die infektiöse
mit Typhus und chronischer Malaria, 2. die toxische mit chroni¬
schem Alkoholismus und Bleivergiftung und 3. die physische mit
Schädelverletzung, wozu sich Gehirnerschütterung durch Contre-coup
und Hitzschlag hinzugesellen, diese Krankheiten bewirken aber an
sich keine Geisteserkrankung, sondern sie schaffen die Prädisposition,
auf Grund welcher späterhin eine solche zum Ausbruch kommen
kann. In Frankreich ist die häufigste dieser Ursachen der Typhus,
der alle Arten von Psychosen vorbereitet, wenn auch nach manchen
Autoren die Manie hierbei am häufigsten ist. Bezüglich der Malaria
beobachtete Montyel Fälle, bei welchen sie unzweifelhaft progres¬
sive unheilbare Paralyse verursacht hat. Häufiger noch ist der
Alkohol der Faktor derselben und auf die Dauer kann er ohne jede
persönliche Prädisposition (psychische Veranlagung) sicher, wenn
auch oft nach sehr langer Zeit und in grossen Pausen, die Paralyse
hervorrufen. Es kommt sodann die chronische Bleiver¬
giftung, deren Einfluss auf die Verstandeskraft, selbst wenn gar
keine Prädisposition vorhanden ist, ein rascherer und tiefer gehender
sei als sogar der des Alkohols. Schädelverletzungen und
Gehirnerschütterung, inbegriffen die Zufälle bei Eisenbahnunglück oder
bei Erdbeben, bewirken bei nicht Belasteten vorübergehende Stö¬
rungen des Intellekts und sogar Demenz, aber eine wirkliche, unheil¬
bare Psychose nur bei vorhandener neuropathischer Veranlagung;
sie können jedoch, ebenso wie Sonnenstich, in langsamer, schleichen¬
der Weise den Boden zu späteren Psychosen vorbereiten. Es sind
nach Verfassers Ansicht nur diese 6 angegebenen Krankheitszustände,
welche bei sonst nicht belasteten Individuen eine Prädisposition zu
Psychosen schlimmster Art schaffen können, welche aber keineswegs
imstande sind, im Momente ihrer Einwirkung bei eben
solchen eine geistige Erkrankung zu verursachen. Als direkt aus¬
lösende Ursachen kämen dann nach so geschaffener Prädisposition
in Betracht: Infektionen, chronische Vergiftungen, Konstitutionskrank¬
heiten, Not und Elend, Ernährungsstörungen, schwere Krankheiten.
Verfasser will jedenfalls seine bezüglichen, an einem reichen Material
gesammelten Erfahrungen noch zu weiteren Forschungen benützen.
H. Labbe und G. V i t r y: Beitrag zum Studium des Stickstoff-
wechsels bei Tuberkulösen. (Revue de medecine, Februar 1906.)
Um genau den Stickstoffwechsel bei Tuberkulösen festzustellen,
mussten Verfasser einerseits den genauen Gehalt der aufgenommenen
Nahrung an Stickstoff, andererseits aller Absonderungen (Urin, Fäzes,
Auswurf) berechnen. Sie kamen dabei zu dem allgemeinen Ergeb¬
nisse, dass bei Tuberkulose im zweiten und dritten Stadium die Nicht-
ausniitzung des N eine viel bedeutendere ist, als im normalen Zu¬
stande, selbst wenn nur geringe Mengen davon (Eiweissstoffe) ein¬
gegeben werden. Diese Nichtausnützung nimmt rasch gleichzeitig
mit Vermehrung der N-Ration zu. Bei gesunden Menschen gehen von
100 g eingenommenem N ungefähr 90 Proz. in den Urin über; die
Nichtausnützung beträgt also hier 10 Proz., bei Tuberkulösen immer
mehr als 15 Proz. bei sehr geringer N-Einnahme (7 g pro Tag) und
steigt auf 50 — 70 Proz., wenn man 15 — 18 g N pro Tag einnehmen
lässt. Jedoch gibt es hier grosse Verschiedenheiten: je weniger
schlecht der Zustand des Patienten, desto höher die Ausnützung. Vom
praktischen Gesichtspunkte ergibt sich also, um mit Nutzen einem
1 uberkulösen die notwendige Menge N zu geben, dass man nicht
allein auf sein Körpergewicht, sondern vor allem auf seine Verdau-
ungs- und Assimilationsfähigkeit Rücksicht nehmen muss. Der Zucker,
in der Menge von 100 g pro Tag, hat bewirkt, dass der N besser
ausgenützt und im Urin eine grössere Menge N ausgeschieden wird
als bei derselben Versuchsperson mit derselben (reinen) Stickstoff¬
nahrung; diese Wirkung konnte aber nur beobachtet werden, wenn
der 1 uberkulöse sehr mässige Mengen von N einnahm. Abgesehen
von diesen Bedingungen bleibt die Nichtausnützung eine viel deut¬
lichere Erscheinung und ist selten mehr merkliche Besserung zu kon¬
statieren.
Ch. Fere: Experimentelle Untersuchungen über den Einfluss des
Kochsalzes auf die Arbeit. (Ibidem.)
Das Kochsalz ist ein in unseren Geweben sehr verbreitetes und
für ihre Ernährung unentbehrliches Element; aber es findet sich im
allgemeinen in genügender Menge in unseren Nahrungsmitteln. Trotz¬
dem ist es für viele Leute an sich noch unentbehrlich: F. ist nun der
Ansicht, dass es ebensowenig unentbehrlich ist, wie Alkohol und
1430
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
Tabak, dass es nicht notwendig ist, zur gewöhnlichen Nahrung noch
Kochsalz hinzuzufügen und dass dasselbe unter gewissen Bedingungen
sogar schädlich ist. In zahlreichen (20) Versuchen prüfte nun r. den
Einfluss des Kochsalzes auf die Arbeitsleistung, bediente sich dabei
verschiedener Arten von Salz in einer Menge von 0,5 3 g pio Ver¬
such und kam zu dem Schlüsse, dass es die motorische Iätigkeit ui
mehr weniger vorübergehender Weise anregt, damit aber eine vor¬
zeitige Ermüdung, wenn nicht entsprechende kompensatorische Kühe
eintritt, sich einstellt. Das Salz verdient nicht mehi als die anderen
Stimulantien, dass man ihm die Fähigkeit zuschreibt, es ermögliche
eine Arbeit ohne Ermüdung; in Wirklichkeit beschleunigen die fiii den
Anfang energischsten Reizmittel nur die Ermüdung und vermindern
auf die Dauer die Widerstandskraft. Die Reizmittel sind daher im all¬
gemeinen viel weniger nützlich, als die Erziehung zu möglichster
Arbeitsleistung. Arbeit ohne Ermüdung ist ein noch ungelöstes Rätsel,
ebenso wie das verwandte Problem der ständigen Bewegung, und
die Versuche, der Menschen Arbeit vermittels chemischer oder
anderer Exzitantien ohne Ermüdung zu gestalten, sind keineswegs un¬
schädlich. . , ,
A. Q o s s e t - Paris: Das peptische Diinndaringeschwur nach
Gastroenterostomie. (Revue de Chirurgie, Januar und Febiuar 1906.)
Während das peptische Geschwür des Magens sehr häufig, das
des Zwölffingerdarms nicht sehr selten ist, kennt man das im Jejunum
vorkommende erst seit 6 Jahren, und zwar als Folge der Gastro¬
enterostomie. In Deutschland wurden die ersten Fälle diesei Art
beschrieben (von Braun, Hahn, Kausch), im Jahre 1902 er¬
schien der erste Fall in Frankreich (von Quen u) und der zweite
stammt von Gosset, der 2 Jahre nach einer Gastroenterostomie
(wegen Pylorusstenose) ein peptisches Geschwür im Jejunum be¬
obachtete und in vorliegender Arbeit mit Beifügung von Abbildungen
genau beschreibt. Was das Geschlecht betrifft, so wurde diese Alt
Ulcus fast ausschliesslich beim Manne beobachtet: 29 Fälle gegen
2 beim Weibe. Das Alter scheint keine besondere Rolle zu spielen,
die Zeit, welche zwischen Operation und ersten Erscheinungen ver¬
strich, schwankte von 10 1 agen bis zu 9 Jahre. Pathologisch-ana¬
tomisch ist das Jejunalgeschwür identisch mit jenem des Magens und
Zwölffingerdarms und meist als alleiniges vorkommend. Die Sym¬
ptome treten unter 3 Formen auf: 1. Plötzlich bei anscheinend völliger
Gesundheit stellen sich heftige Schmerzen im Leibe ein, Erbrechen
und die anderen Erscheinungen von Perforationsperitonitis. 2. Die
zweite, häufigste Form ist die mit lokalisierter Peritonitis und Ver¬
wachsungen, wobei die Beschwerden ähnlich sind wie beim pei-
forierenden Magengeschwür: nach einem mehr weniger langen Inter¬
vall von Wohlbefinden stellen sich sehr wechselnde Schmerzen 1 /s bis
2 Stunden nach dem Essen ein, sie sitzen meist an einer bestimmten
Stelle im Epigastrium und hier fühlt man auch Infiltrationen dei
Bauchwand. 3. Die seltenste Form ist jene mit Durchbruch in andere
Teile des Verdauungskanals — hierher gehört jener des Verfassers,
wo Durchbruch in das Kolon transversuin erfolgt ist (mit Fistelbil-
düng). Die Diagnose dünkt Gosset nicht schwierig, wenn
man nur nach einer Gastroenterostomie bei Auftreten von Schmerzen,
Erbrechen, Hämatemesis an diese Komplikationsmöglichkeit denkt,
die beinahe zur Sicherheit wird, wenn eine Induration der Bauchwand
im oberen Teil des linken Musculus rectus oder gar die Erscheinungen
der Dick-Dünndarm-(Jejuno-colica-)Fistel auftreten. Die Pathogenese
ist in den 3 Begriffen: Hyperazidität, sehr enge Stenose und bedeu¬
tende Magenerweiterung enthalten. Die Behandlung muss in
erster Linie noch Jahre lang nach jeder Gastroenterostomie wegen
gutartiger Magenaffektion eine sorgsam diätetische und medikamen¬
töse sein; in den Fällen, wo die Perforation plötzlich ohne Prodrome
sich einstellt, ist Operation angezeigt, ebenso bei Adhärenzen; man
muss den Sitz des Geschwürs aufsuchen, die Naht oder Exzision und
eine neue, möglichst weit vom Pylorus entfernte, Gastroenterostomie
vornehmen. Dieser Rat G o e p e 1 s sollte auch bei dei primären
Operation befolgt werden; denn, wenn auch die Gastroenterostomie
keineswegs die ideale Operation, so ist sie doch in vielen Fällen nicht
durch die Pylorektomie oder Gastroduodenostomie zu ersetzen. Be¬
schreibung der 30 aus der Literatur gesammelten Fälle.
E. V i 1 1 a r d und G. C o 1 1 e - Lyon : Der intermittierende
Hydrops der Gallenblase infolge von Obliteratäon des Canalis cysticus.
(Ibidem.) . . ,
Der Ausführungsgang der Gallenblase kann ebenso, wie jener der
Niere, in vorübergehender und unvollständiger Weise verstopft sein
und die dadurch verursachte Ausdehnung der Gallenblase beschreiben
Verfasser unter dem Namen „intermittierender Hydrops der Gallen¬
blase“. Diese Erweiterung der Gallenblase kann in mehr weniger
grossen Zwischenräumen auftreten und im Augenblick, wo die Ge¬
schwulst verschwindet, konstatiert man oft anfallsweise auftretende
heftige Schmerzen. Im ganzen fanden Verfasser 18 Fälle dieser Art
in der Literatur und als Hauptursache des Leidens Gallensteine (im
Canalis cysticus) und Knickungen des Canalis cysticus, welche
wiederum auf verschiedene Ursachen, wie abnorme Beweglichkeit
der Gallenblase (Cholezystoptose), Lageveränderungen der Leber
oder Niere, Verwachsungen, zurückzuführen sind, in letzter Linie auf
Lähmungen der Gallenblase. Die Anfälle des Gallenblasenhydrops
sind durch 2 Haupterscheinungen: Schmerz und Auftreten einer Ge¬
schwulst charakterisiert, beide erscheinen und verschwinden zu¬
sammen, der erste Anfall kann plötzlich bei völligei Gesundheit sich
einstellen, meist sind aber schon mehr weniger intensive Symptome
einer Leberaffektion vorausgegangen und es handelt sich bei den An¬
fällen die in wechselnden Zwischenräumen auftreten, nur um eine
Verschärfung alter Krankheitszustände. Der Schmerz bei den An¬
fällen ist ein hochgradiger, zuweilen, wie bei Ga llensteinkolik, ver¬
bunden mit Uebelkeit, Erbrechen, Ohnmacht. Objektiv sind Epi¬
gastrium und Hvpochondrium so schmerzhaft, dass sie oft nicht den
geringsten Druck aushalten können und die Untersuchung wahrend der
2 _ 3 Stunden währenden Anfälle unmöglich ist. In dem Falle, welchen
Verfasser beobachteten, waren die Pausen zwischen den zwei ersten
Krisen ca. 4 Wochen, wurden dann aber immer kleiner; diese häutigen
Anfälle waren natürlich von grossem Einfluss auf das Allgemein¬
befinden, welches mit Abmagerung, ja hochgradiger Blutarmut und
Schwächezuständen reagierte. Die B e h a n d 1 u n g des Zustandes
kann zwar momentan eine medikamentöse sein, fordert aber zur Be¬
seitigung des Grundübels meist operativen Eingriff, wie ausführlichst
von Verfassern erörtert wird. Beschreibung des eigenen und der
anderen 17 Fälle. Literaturübersicht. _ , .
M o n p r o f i t - Angers: Resultate und Indikationen der üastrek-
tomie. (Archives provinciales de Chirurgie, Januar und Februar 1906.)
Auf 30, meist wegen gut- und bösartiger Tumoren ausgefuhrte
eigene Operationen und die gesammelte Literatur gestützt, gibt Ver¬
fasser einen umfassenden Bericht über diese Magenoperation.
M o u 1 o n g u e t - Amiens: Betrachtungen über die Zukunft und
Behandlung der Osteomyelitis. (Archives provinciales de Chirurgie,
Februar 1906.) ' „ , .....
M. unterscheidet im allgemeinen 2 Formen von Osteomyelitis,
bei der einen treten immer wieder erneute Fisteln und Eiterungen
trotz ausgedehnter Eingriffe auf, bei der anderen, der Zahl nach viel¬
leicht häufigeren, ist der Beginn zwar der gleiche, aber die Fisteln
kommen zur äusseren Ausheilung, die Kranken haben Schmerzen, die
Extremitäten erscheinen länger, zeigen abnorme Krümmungen, der
ganze Längsknochen ist ergriffen. Stets sieht M. die Osteomyelitis,
die oft nur unter der Bezeichnung „Wachstumsschmerzen figuriert,
als sehr schweres Leiden an. Bei der ersten Form sollte man sich nur
auf die allernotwendigsten chirurgischen Eingriffe — Oeffnung der
Abszesse, antiseptische Reinhaltung der Wunden beschranken,
kräftigende Diät, frische Luft verordnen und recht geduldig ab-
warten; bei der zweiten Form ist das einzige Mittel totale Resektion
des Knochens, einschliesslich der Dia- und Epiphyse oder auch Ampu¬
tation. Man muss zwar alles daran setzen, eine Verstümmelung zu
vermeiden, aber in manchen Fällen sie als unvermeidlich ansehen
und bei gewissen Formen akuter oder chronischer Osteomyelitis sich
damit abfinden, ohne sich Gewissensbisse zu machen.
W a 1 1 i c h und L e v a d i t i : Untersuchungen über die Syphilis
an rrvtipmimrip pf (Pnhste.trioue. Februar
Aus den an 13 Fällen vorgenommenen Untersuchungen geht in
kurzem hervor, dass die Spirochäten bis jetzt nur dann in der Pla¬
zenta gefunden wurden, wenn beim Fötus die Syphilis sicher zu kon¬
statieren war. Es erscheint aber nicht angängig, aus der histo¬
logischen Untersuchung der Plazenta in bezug auf Anwesenheit von
Spirochäten eine retrospektive Diagnose der Syphilis der Eltern oder
eine Prognose über die Gesundheit des Kindes zu stellen. Zu diesem
Schluss kommen Verfasser, nachdem von den 13 untersuchten Fallen,
welche alle syphilitische Antezedentien ergaben, nur 1 positiven
Spirochätenbefund in der Plazenta ergab.
j.Roux und Ph. Josserand: Die Lungentuberkulose und die
Schwellung der Tracheo-Bronchial-Driisen im Kindesalter. (Revue
des maladies de l’enfance, Januar 1906.) / , .
Verfasser haben in verschiedenen Schulen und im Säuglingsheim
zu Cannes insgesamt 588 Kinder im Alter vom ersten Lebenstage
bis zu 15 Jahren untersucht und bei 119, d. i. 20 Proz. mehr wenigei
hochgradige Schwellungen der Tracheo-Bronchial-Driisen gefunden.
All diese Kinder hatten auch Veränderungen an den Lungenspitzen,
und zwar fast immer an beiden; die Röntgenstrahlen waren wertvolle
Hilfsmittel sowohl zur Diagnose der Bronchialdriisenschwellungen
als der latenten Lungentuberkulose. In der Mehrzahl der Fälle wai
die eine Spitze stärker affiziert als die andere, zeigte eine ausgedehn¬
tere Undurchsichtigkeit; eine besondere Prädilektion der einen odei
anderen Seite war nicht nachzuweisen. Die Radioskopie hat eint
genaue Kontrolle des Lungenbefundes ermöglicht: jeder Unterschiet
in der Dichtigkeit der Lungenspitzen hat stets einem Schallunter¬
schiede entsprochen. In einigen wenigen Fällen konnte man mitten
der Radioskopie geringfügige Drüsenschwellungen, welche ohne die¬
selbe unbemerkt geblieben waren, entdecken und zweifelhafte Dia
gnosen sicher stellen. Kurz, Verfasser erklären die Radioskopie tui
ein erstklassiges Mittel zur Diagnose latenter geringfügiger Lungen
tuberkulöse und von Bronchialdrüsenschwellungen, welche die Quellt
baldig oder später drohender, weiterer Bazilleninvasion sind und so
fortiges therapeutisches Einschreiten erheischen.
Pater: Ueber zwei seltene anatomische Formen der Tuberku
lose in den ersten Kinderjahren. (Revue des maladies de 1 enfance
Februar 1906). .......
Bei der einen Form, die zwar weniger selten, aber doch ment m
häufig ist, handelte es sich um Kavernen mit Hämoptoen bei einen
2jährigen Kind; bei der anderen, ungleich weniger studierten, tm
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCEIRIFT.
eine Pachypleuritis mit käsiger Tuberkulose der Pleura bei einem
4 Monate alten Säugling. Beide Fälle endeten tödlich.
, e un^ Det°P Die Pleuritis als Folgekrankheit der Diph¬
therie. (Ibidem.)
Aus dieser Studie geht hervor, dass im Verlaufe der Diphtherie
veischiedene Arten von Pleuritis Vorkommen können. Die einen,
eitiigen, sind immer die Fohje einer Sekundär-, gewöhnlich Strepto¬
kokkeninfektion, wobei der pathogene Keim der Reihe nach in die
Luftröhren und Lungen, dann in die Blutbahn und schliesslich ins
Mediastinum gelangt. Die andere, die serofibrinöse Form ist bald
mit einer Lungenaffektion kompliziert, bald, was viel seltener ist,
ohne eine solche vorhanden und scheint, obwohl dies noch nicht ge¬
nau bewiesen werden konnte, in der Diphtherieintoxikation selbst
ihren Ursprung zu haben.
Kendirdy und B u r g a u d: 140 neue Fälle von Rachistovaini-
sation. (Presse medicale 1905, No. 43.)
Die 140 von Verfassern unter dieser Anästhesie vorgenommenen
Operationen betrafen vor allem Zirkumzisionen (67 Fälle), dann Radi¬
kaloperationen von Hydrocele vaginalis (14 Fälle), Abszesse und
Fisteln am Perineum u. ä. m. und bedeuten einen vollen Erfolg dieser
Art Rückenmarksanästhesie. Die bekannten Nebenerscheinungen, wie
Kopfschmerzen, Erbrechen nach der Operation, traten nur in wenigen
Fällen und dann meist in sehr geringem Grade auf.
Ingel rans - Lille : Das M o e b i u s sehe Svmptomenbild ( Aki-
nesia algera). (Gazette des höpitaux 1905, No. 66.)
Zusammenfassende Darstellung dieses von M o e b i u s im Jahre
1891 aufgestellten Krankheitsbildes — heftige Muskel-, Kopfschmerzen,
Schlaf-, Appetitlosigkeit, Erscheinungen von Amnesie — und Auf¬
zählung der sämtlich bis jetzt veröffentlichten (40) Fälle. In einer
Schlussbetrachtung lässt Verfasser die Frage offen, ob es sich bei
der Akinesia algera nicht eher um das Symptom verschiedener Ner¬
venleiden (Neurasthenie, Hysterie) als um eine Krankheit sui generis
handelt.
Pehu und Hör and: Die progressive ossifizierende Myositis.
(Gazette des höpitaux, 9. Dezember 1905.)
Dieses zuerst in England, dann in Deutschland beschriebene sel¬
tene Muskelleiden ist charakterisiert durch Bildung von Knochen¬
massen in den Muskeln (Aponeurosen, Bändern, Knorpeln) und kann
zu einer wirklichen Petrifikation des ganzen Menschen führen. Aus
allen Ländern zusammen sind bis jetzt 62 Fälle publiziert worden.
Das männliche Geschlecht ist weitaus häufiger befallen als das weib¬
liche. Im ersten Stadium sind die Muskelmassen deformiert, im
zweiten treten die Verhärtungen (Osteome) innerhalb derselben auf
und im dritten allmählich die verschiedenen Grade von Unbeweglich¬
keit. Die Entwicklung des Leidens ist je nach der Art der befallenen
Muskeln eine verschiedene, mehr weniger lange Remissionen zeigend,
die durchschnittliche Dauer 10—12 Jahre. Bezüglich der Aetiologie
sind verschiedene Theorien aufgestellt worden. Verf. glauben, dass
die kongenitale die grösste Wahrscheinlichkeit hat. Die Therapie ist
immer machtlos gegen das Allgemeinleiden; zuweilen muss man
diejenigen Tumoren, welche am meisten Schmerzen machen oder die
Funktion hindern, operativ entfernen, aber immer bedenken, dass der
Verknöcherungsprozess an diesen Stellen wieder auftritt und die Re¬
zidive fast stets tödlich sind.
Leva di ti: Die pathologische Histologie der hereditären Sy¬
philis in ihren Beziehungen zur „Spirochaete pallida“. (Annales de
1 Institut Pasteur, Januar 1906.)
Der Nachweis der Spirochaete pallida in den Organen der mit
ererbter Syphilis behafteten Neugeborenen gelang kurze Zeit nach der
Entdeckung des Syphilisparasiten einer grossen Anzahl von For¬
schern, worunter auch Levaditi selbst. Derselbe fasst diese
ganze Frage in vorliegender Arbeit, der auch eine Anzahl farbiger
Abbildungen der vortrefflichen Schnitte beigegeben ist, besonders
bezüglich der histologischen Veränderungen, zu deren Studium ihm
6 \ erschiedenartige Fälle Gelegenheit gaben, zusammen. In ab¬
nehmender Reihenfolge waren bei ' der Syphilitischen Infektion des
Neugeborenen die an Spirochaeten reichsten Organe, die Leber,
Lungen, Nebennierenkapseln und Haut und in eben dieser Reihenfolge
erwiesen sich diese Organe auch histologisch und makroskopisch am
meisten von Syphilis infiziert, während die Organe, welche in letzterer
beider Hinsicht normal oder nahezu normal erschienen, keine oder
nHr wenige Spirochaeten aufwiesen — nach dieser Koinzidenz müsste
^ie ! • or’e’ seien dieselben nur Folge einer Sekundärinfektion
HP,. hinSen mit der Pathogenese der Syphilis nicht zusammen, hin¬
fällig sein. Unter den Zellen, für welche die Spirochaete pallida eine
besondere Vorliebe zeigt, stehen in erster Linie die Drüsenepithelien
und aus den Untersuchungen Ls. geht auch hervor, dass diese Spi¬
nnen die^ Eigenschaft haben, in das relativ intakte Protoplasma
mancher Epitheliazellen, wie der Leber und Nieren, der Nebennieren¬
kapseln usw. einzudringen; es werden also nicht ausschliesslich Ge-
tassystem und Bindegewebe, wie man bis jetzt annahm, sondern auch
die Epithelzellen gewisser Organe von dem syphilitischen Agens
ergriffen. Von Interesse ist auch die Tatsache, dass die Spirochaeten
m Organen, deren anatomische Elemente durch die Mazeration zer¬
stört sind, sich noch erhalten. Weiterhin bespricht L. noch die Art
und Weise, wie der fötale Organismus sich gegen die zerstörende
Wn-kung der Spirochaeten verteidigt, demnach besitzt das Proto¬
plasma der fötalen Zellen schon von den ersten Zeiten ihrer Existenz
an phagozytäre Eigenschaften, besonders im Lungengewebe (Makro¬
phagen) und zu dieser phagozytären Eigenschaft gesellen sich noch als
Abwehrmittel die Reaktion der einkernigen Zellen und die auf diese
Reaktion folgende Sklerose. Die Anwesenheit freier Spirochaeten
im Inhalt der Bronchien und im Nierenepithel lässt schliesslich Ver¬
fasser an die Infektion durch Auswurf und Urin denken, ebenso wie
durch den Inhalt der syphilitischen Pemphigusblasen und dürfte
nach seiner Ansicht in prophylaktischer Beziehung von Interesse sein.
P. Vansteenberghe und G r y s e z : Beitrag zum Studium
des Meningokokkus. (Ibidem.)
Das bakteriologische Studium der Meningitis cerebrospinalis hat
trotz zahlreicher im Laufe der letzten Jahre ausgeführten Unter¬
suchungen bis jetzt noch wenig Aufklärung gebracht, weshalb sich
Verf. in vorliegender Arbeit nochmals mit deren Erreger beschäftigen.
Sie fanden, dass der Meningokokkus, welcher aus der Zerebrospinal¬
flüssigkeit bei einem typischen Falle von Meningitis isoliert wurde,
sehr virulent für Versuchstiere (Meerschweinchen, Kaninchen) ist.
Die Ueberimpfung dieses Mikrokokkus auf diese Tiere (unter der
Gehirnhaut) ruft eine Erkrankung hervor, welche durchaus der Zere-
brospinalmeningitis des Menschen ähnlich ist. Die Nervensubstanz
der an dieser Affektion zugrunde gegangenen Tiere ist virulent und
bleibt es lange Zeit hindurch. In den Nasenhöhlen des gesunden
oder kranken Menschen ist häufig ein Mikroorganismus vorhanden,
der ähnliche morphologische und kulturelle Eigenschaften wie der
Meningokokkus und alle Charaktere des W eichsei bäum sehen
Typus besitzt. Dieser Keim, normalerweise nicht schädlich für den
Menschen, scheint die Ursache für die Meningokokkenautoinfektion,
welche sich unter analogen Bedingungen wie jene des Pneumokokkus
entwickelt, abzugeben. Der Meningokokkus scheint also viel weiter
verbreitet zu sein als man gewöhnlich glaubt, er ist zwar, wie der
Pneumokokkus ein ganz gewöhnlicher Mikroorganismus, kann aber,
ebenso wie dieser, unter gewissen Umständen eine grosse Virulenz
annehmen.
E. Marchoux und P. L. Simond: Studien über das Gelb¬
fieber. (Annales de Tinstitut Pasteur, Januar und Februar 1906.)
Die ausführliche Arbeit stellt in erster Linie fest, dass von allen
Moskitoarten nur die Stegomyia fasciata die Uebertragung
des Gelbfiebers auf den Menschen bewirkt und es gewisse biologische
Eigenschaften der weiblichen Stegomyia sind, wodurch diese Moskito-
ait I räger des Gelbfiebers sind. Es ist leicht die Stegomyia fasciata
lebend in Frankreich zu erhalten und weiter zu züchten; in der
Sommerszeit ist für ihr Gedeihen die Temperatur im Inneren der
Wohnungen günstig und sie kann sich hier im freien Zustand ver¬
mehren, wenn auch nicht so reichlich, wie im tropischen Klima, dies ist
bei den prophylaktischen Massnahmen gegenüber den Schiffen, die als
gelbfieberverdächtig in unsere Häfen während des Sommers kommen,
zu berücksichtigen. Das menschliche Geschlecht ist vom frühesten
Alter an für das gelbe Fieber empfänglich; bei ganz kleinen Kindern
entwickelt es sich in ganz versteckter Form und kann mit Sicher¬
heit nur in jenen Fällen diagnostiziert werden, wo es zum „schwarzen
Erbrechen“ kommt. Die Sterblichkeit an Gelbfieber, fast Null im
ersten. Lebensjahre, bleibt eine sehr geringe bis zur Zeit der Ado¬
leszenz. Die ganz unklaren Fälle (cas frustes) von Gelbfieber, welche
man in jedem Lebensalter beobachtet, bilden bei den Kindern die
Regel. Rezidive an Gelbfieber sind wahrscheinlich häufiger als
man feststellen kann, da viele wegen ihrer Gutartigkeit der Beo¬
bachtung entgehen; ausnahmsweise kann ein Rezidiv eine schwere
Form annehmen. Rückfall (rechute) ist selten, hat aber dann meist
den Charakter einer sehr schweren Erkrankung.
Alfred Guillemard: Die Reinkultur der anaeroben Mikro¬
organismen zur Analyse des Wassers angewandt. (Ibidem.)
Aus seinen Versuchen schliesst Verf., dass zur Beurteilung des
Grades der Dichtigkeit einer Wasserverunreinigung einfache Zäh¬
lung der darin vorhandenen anaeroben Bakterien genügt, dass man
aber das Verhältnis zwischen Aerobien und Anaerobien bestimmen
muss, wenn man näheren Aufschluss über die Art der Verunreinigung,
über ein vorhandenes Kontagium, gewinnen will. Ster n.
Otologie.
Ernst Urban tschitsch - Wien : Zur Pathologie und Physio¬
logie des Labyrinths. (Monatsschr. f. Ohrenheilk., 40. Jahrg., 2. H.)
Die vorliegende Arbeit bestätigt die noch von einzelner Seite
bestrittene Tatsache, dass das sch necken lose Gehörorgan ge¬
hörlos ist und dass die gegenteiligen Befunde auf Täuschung be¬
ruhen. Sie bestätigt ferner, dass die Existenz der Schnecke ' nicht
die Grundbedingung zum Zustandekommen subjektiver Gehöremp¬
findungen ist. Weiterhin ist der Fall bemerkenswert durch das sonst
seltene Fehlen von Fazialisparalyse, und durch den Nachweis einer
Hyperästhesie für thermische Reize auf der erkrankten Seite.
Ferdinand Alt- Wien: Ueber otogene Abduzenslähmung. (Ibid.)
Uebersicht über eigene Beobachtungen von rein otogener Ab¬
duzenslähmung und über die in der Literatur vorliegenden Berichte,
nach dem ätiologischen Moment gruppiert. Die Lähmung kann
danach Zustandekommen:
1. reflektorisch auf dem Wege des N. vestibularis,
2. durch Uebergreifen der Entzündung vom kariös-nekrotischen
Piozess im Schläfenbein auf den Nerven (Neuritis infectiosa),
1432
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
3. durch Fortschreiten der eitrigen Entzündung vom Mittelohr im
Venensinus des karotischen Kanals auf den Sin. cavernosus und den
N. abducens,
4. durch eine auf die Gegend der Felsenbeinspitze lokalisierte
Meningitis (am häufigsten),
5) durch otogene Meningitis serosa diffusa und extradurale Ab¬
szesse (Drucklähmung).
Robert Bäräny: Ueber die vom Ohrlabyrintli ausgeloste
Gegenrollung der Augen bei Normalhörenden, Ohrenkranken und
Taubstummen. (Aus der k. k. Universitäts-Ohrenklinik in Wien. Voi-
stand: Hofrat Prof. Dr. A. Politzer.) (Archiv f. Ohrenheilk.,
68. Bd., 1. u. 2. H.) Tr r
Die Untersuchungen sind mit einem vom Verf. angegebenen
Apparat ausgeführt, der es ermöglichen soll, in objektiver Weise die
Gegenrollung der Augen in jedem Fall auf Vs 1 0 genau zu messen.
Theoretisch kommt Verfasser zu der Annahme, dass die Gegenrollung
(ebenso wie der Nystagmus) wenigstens zum 4 eil vom Vestibular-
apparat ausgelöst werde. Klinisch bedeutungsvoll erscheint die Unter¬
suchung der Gegenrollung bei denjenigen Fällen, die an Schwindel
leiden oder zu leiden vorgeben. Hier kann nach Verfassers Ansicht
oft eine einmalige Untersuchung den Nachweis erbringen, dass eine
organische Ursache für den Schwindel vorliegt, während ein mehr¬
mals konstatiertes normales Verhalten der Gegenrollung bei Berück¬
sichtigung des sonstigen Verhaltens des Patienten mit Sicherheit ent¬
weder Simulation oder Neurose annehmen lässt.
Ludwig K a n d e r - Karlsruhe: Die Störungen der Geschmacks¬
empfindung bei chronischen Mittelohreiterungen, insbesondere nach
operativen Eingriffen. (Aus der Universitäts-Ohrenklinik Freiburg i. B.
Direktor: Prof. Dr. E. Bloch.) (Ibid.)
Der Geschmacksnerv für die vorderen zwei Drittel der Zunge ist
die Chorda tympani, während das hintere Drittel der Zunge, dei
weiche Gaumen, der Arcus palato-glossus und die hintere Rachen¬
wand nach allgemeiner Annahme vom Plexus tympanicus versorgt
werden. Letzterer wird selten, erstere häufig bei chronischen Mittel¬
ohreiterungen in Mitleidenschaft gezogen, besonders bei der Extrak¬
tion von Hammer und Ambos und bei der Radikaloperation, in welch
letzteren Fällen eine Zerreissung bezw. vollständige Zerstörung er¬
folgt. Die Störungen der Geschmacksempfindung im Anschluss an
die Radikaloperation sind dauernd und irreparabel.
Rudolf Hoff mann: Die Noma des Ohres. (Aus der Universi-
täts-Ohrenklinik von Prof. Bezold in München.) (Zeitschr. f.
Ohrenheilk., 51. Bd., 4. H.)
Die vorliegende Monographie gibt ein hübsches Bild der sel¬
tenen Krankheit. Wie Perthes u. a. fand auch H. eine anaetobe
Streptothrixform in dem der Nekrose verfallenen Gewebe. Prädis¬
ponierend für Noma erscheint besonders die Tuberkulose. Die Er¬
krankung darf angenommen werden, wenn im Verlauf einer Otitis
med. purul. der Ausfluss plötzlich hämorrhagisch und aashaft wird,
ein die Muschel abhebendes pralles Oedem in der Umgebung auf tritt,
während aus dem Meatus sich Knorpelsequester bei rascher flächen-
hafter Zunahme der Gangrän abstossen.
Die Therapie ist eine chirurgische. Zum Verband wird Per-
liydrol Merck als besonders geeignet empfohlen. Neuerdings fanden
auch Umschläge mit einer 1 proz. Lösung blauer Pyoktaninlösung so¬
wie Einwirkung von rotem Licht erfolgreiche Anwendung.
W. K o e 1 1 r e u 1 1 e r: Die Extraktion eiserner Fremdkörper aus
der Nase und dem Ohr mittels des M e 1 1 i n g e r sehen Innenpol¬
magneten. (Aus der Universitäts-Ohren- und Kehlkopfklinik zu
Rostock. Direktor: Prof. Körner.) (Ibid.)
Ein bei der Abmeisselung der Spina eines Nasenseptums ab¬
gebrochenes und im Vomer sitzendes Meisselstiick, das allen übrigen
Extraktionsversuchen trotzte, wurde mit genanntem Magneten mühe¬
los entfernt. Weitere Versuche ergaben gleichfalls günstige Re¬
sultate. Verfasser empfiehlt deshalb die Methode sehr, insbesondere
in Fällen, in welchen schon verletzende Extraktionsversuche eines
ganz oder teilweise eisernen Fremdkörpers gemacht worden sind.
Georg Boenninghaus: Ueber den jetzigen Stand der
H e 1 m h o 1 1 z sehen Resonanztheorie. (Aus dem St. Georgs-Kranken¬
hause zu Breslau, Abteilung für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke.)
(Monatsschr. f. Ohrenheilk., 40. Jahrg., 3. H.)
Der um die Physiologie des Ohres so verdiente Verfasser kommt
auf Grund seiner Erörterungen zur Verwerfung aller neu auftauchen¬
den Hörtheorien und zur Anerkennung der alten H e 1 m h o 1 1 z sehen
Resonanztheorie.
Dr. Robert Bäräny: Untersuchungen über den vom Vestibu-
larapparat des Ohres reflektorisch ausgelösten rhythmischen Nystag¬
mus und seine Begleiterscheinungen. Ein Beitrag zur Physiologie
und Pathologie des Bogengangapparates. (Aus der Universitäts-
Ohrenklinik in Wien. Vorstand: Hofrat Prof. Politzer.) (Ibid.,
4. H.)
Als eine praktische Konsequenz der Untersuchungen über den
kalorischen, durch Ausspritzen des Ohres mit kaltem und heissem
Wasser hervorrufbaren Nystagmus hat sich ergeben, dass man zur
Vermeidung von Schwindel und Nystagmus nur Wasser von genau
Körpertemperatur mit dem Mittelohr in Berührung bringen darf und
dass unter Umständen durch 1 0 über oder unter Körpertemperatur
Schwindel, Uebelkeit und Nystagmus verursacht werden. Im übrigen
muss auf die 100 Seiten umfassende interessante Arbeit selbst ver¬
wiesen werden. (Vgl. Monatsschr. f. Ohrenheilk., 40. Jahrg., 2. H.:
Bäräny: Ueber die vom Ohrlabyrinth ausgelöste Gegenrollung der
Augen etc.) Dr. D ö 1 g e r - Frankfurt a. M.
Inauguraldissertationen.
Universität Giessen. Juni 1906.
29. Roepke Paulus: Vergleichende Untersuchungen über die Wir¬
kung der Mydriatica beim Pferde. *)
30. Loebell Xlfr.: Ueber kongenitalen Radiusdefekt.
31. Klein Emil: Ueber das Vorkommen von Schweineseuchen¬
bakterien und diesen ähnlichen Bakterien in der Nasenhöhle des
Schweines.
32. Kl oft Heinr. : Zwei Fälle von hereditärer Ataxie.
33. Kahn Carl: Zur Kasuistik der Pfortaderthrombose.
34. Springefeldt E. O. F.: Ist Griserin ein Heilmittel der Tuber¬
kulose? *)
35. Blancke Paul: Zur Kasuistik der Augenerkrankungen bei Acne
rosacea.
36. Maass Friedr.: Ueber Lumbalanästhesie beim Hunde.
37. Kranich Jul.: Zur Methodik der Bestimmung von Fett und
Fettsäuren im Blute.
*) Ist veterinär-medizinische Dissertation.
Universität Strassburg. Juni 1906.
20. Kalefeld Franz: Ueber die Metreuryse in der Geburtshilfe.
21. Schneider Paul: Die Lebenschancen der Kinder von künst¬
lichen Frühgeburten und Kaiserschnitten.
22. Her kt Karl: Ueber Knochenbrüche im Anschluss an infektiöse
Osteomyelitis.
23. Ehr har d Ignaz: Ueber Spasmotin und Clavin und ihre Be¬
deutung als wehenerregende Mittel in der Geburtshilfe.
Vereins- und Kongressberichte.
Vereinigung Westdeutscher Hals- und Ohrenärzte.
XVII. Sitzung vom 26. November 1905 zu Köln."')
Herr R e i n h a r d - Köln demonstriert die obere Tracheo- und
Bronchoskopie nach K i 1 1 i a n an einer 24 jährigen weiblichen Per¬
son in sitzender Stellung ohne Narkose nach vorheriger Kokaini-
sierung mit 20 proz. Lösung; als Beleuchtungsquelle dient die
C a s p e r sehe Lampe.
M. H.! Im Anschluss an die Demonstration möchte ich einige
Worte über diese Methode sagen, deren Wert sowohl in thera¬
peutischer als auch in diagnostischer Beziehung über allem Zweifel
steht, in therapeutischer Beziehung in Anbetracht der bereits so zahl¬
reich entfernten Fremdkörper, aber auch in diagnostischer Hinsicht
von grosser Bedeutung, wie ein Fall lehrt, den ich letzthin in Wien
zu beobachten Gelegenheit hatte, und der demnächst in der Monats¬
schrift für Ohrenheilkunde ausführlich veröffentlicht wird. Es han¬
delte sich kurz um eine Patientin, die mit deutlichem Stenosenatmen
auf die III. medizin. Klinik kam; es fand sich äusserlich in der Gegend
der linken Klavikula ein derber ca. hühnereigrosser Tumor, der
anfangs im Zusammenhang mit dem kachektischen Aussehen der
Kranken für ein Sarkom gehalten wurde; hiermit wurden auch die
stenotischen Beschwerden (Metastasen in den Bronchien) in Zu¬
sammenhang gebracht. Die direkte Besichtigung der Luftröhre er¬
gab sodann in der Gegend der Teilungsstelle zahlreiche höckerige
zum Teil ulzerierende flache Erhabenheiten, welche sofort als luetisch
angesprochen wurden. Eine antiluetische Behandlung hatte denn auch
den Erfolg, dass nicht nur der Tumor über der linken Klavikula voll¬
ständig schwand, sondern auch die Infiltrate an der Bifurkation der
Trachea; eine später vorgenommene bronchoskopische Untersuchung
ergab nur noch eine Stenose des rechten Hauptbronchus dicht unter¬
halb der Abgangsstelle des rechten Oberlappenbronchus. Von einer
dilatatorischen Behandlung derselben wurde Abstand genommen, da
die Patientin keine nennenswerten Atembeschwerden mehr hatte.
Bei diesem vorgestellten Falle finden sich keine pathologischen Ver¬
hältnisse weder in der Trachea noch in den Bronchien. Die Patientin
klagte im Hospital über Blutspucken; ich untersuchte sie daher
mittels der oberen Tracheoskopie und Bronchoskopie, was nach
Kokainisierung bei ihr leicht gelang, da sie an Hysterie leidet und
ausserdem die obere Zahnreihe fehlt. Wir konnten deutlich den Bi¬
furkationssporn der Trachea erkennen, dokumentiert durch eine
schmale weisse sagittalgestellte Leiste, sahen den Eingang in die
beiden Hauptbronchien, in die man leicht mit dem Rohr eindringen
kann; auch liess sich an der Teilungsstelle der Trachea die Pulsation
der Aorta zu zählen, die sich deutlich dem Trachealrohr mitteilt.
Meiner Ansicht nach ist es nicht nur gut, wenn man sich für vor¬
kommende Fälle fleissig übt, sondern auch sein Instrumentarium in
Bereitschaft hat, weil man, wenn ein Fall von Fremdkörper in den
Bronchien in Behandlung kommt, nicht erst, wohl gar von auswärts,
sich die Instrumente kommen lassen kann. Da nun erfahrungsgemäss
*) Eingelaufen am 15. Mai 1906.
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1 433
häufig: Metallteile und zwar eiserne aspiriert wurden, so empfiehlt es
sich, auch einen solchen weichen Eisenstab, der leicht magnetisch ge¬
macht werden kann, vorrätig zu haben; es sind bereits mit Erfolg
aut diese Weise eiserne Fremdkörper entfernt worden.
Herr L ö h n b e r g - Hamm i. W. : Ueber die Behandlung der
Mundatmung und des chronischen Tubenverschlusses mit der Gaumen¬
dehnung nach Schröder in Kassel.
Zur erfolgreichen Behandlung der Mundatmung und des mit
ihr verbundenen chronischen Tubenverschlusses genügt in einer be¬
stimmten Klasse von Fällen nicht die operative Beseitigung der
raumbeschränkenden Momente innerhalb des naso-pharyngealen At¬
mungsrohres, also besonders der adenoiden Vegetationen, der Schleim¬
hauthypertrophien und Septumleisten sowie der vergrösserten Gau¬
mentonsillen, vielmehr bleibt auch nach Entfernung dieser Bildungen
d’t Mundatmung sowohl wie die Schwerhörigkeit bestehen, weil sie
auf absoluter Enge der nasalen Respirationsspalte
und des Nasenrachenraumes, sowie wahrscheinlich auf einen
hierdurch bedingten Steilverlauf des Levator veli und
engem Ostium tubae pharyngeum beruhen. Diese Fälle sind durch¬
weg Kranke mit sogen, „hohem Gaumen“. Der hohe Gaumen
ist nach Sieben mann Attribut der L e p t o p r o s o p i e, die den
anormalen Typus im Aufbau des Obergesichtsschädels repräsentiert,
— im Gegensatz zur Choanaprosopie, welche den normalen
fypus darstellt. Die Misserfolge der Adenotomie für die Mund¬
atmung in den durch den hohen Gaumen ausgezeichneten Fällen be¬
weisen, dass die durch den hohen Gaumen bedingte Enge des
knöchernen Atmungsrohres die primäre und e i g ent¬
lieh e .Ursache der Mundatmung ist. Es genügt also dort
nicht die Entfernung der adenoiden Wucherungen und anderer Hinder¬
nisse in Nase und Rachen, sondern es kann ein Erfolg erst von der
Erweiterung der Nasen- und der Rachenhöhle er¬
wartet werden. Nachdem Eysell schon 1886 aufgefordert hatte,
eine Erweiterung der Nasenhöhle durch Dehnung des harten
Gaumens vorzunehmen, gelang es 1898 dem Kasseler Zahnarzte
Schroeder einen Extensionsapparat zu konstruieren, welcher
allen Ansprüchen genügt. Der Apparat besteht aus zwei durch eine
auswechselbare Dehnungsschraube von einander weg
zu drängenden Goldhülsen, welche die Alveolarfortsätze des Ober¬
kiefers überkappen und durch den von ihnen auf den lateralen Gaumen¬
partien übertragenen Druck am wachsenden Schädel eine
Abflachung des Gaumengewölbes bewirken. Die Einwände, welche
gegen die Möglichkeit einer faktischen Abflachung des Gaumen¬
gewölbes erhoben worden sind, halten gegenüber den entwicklungs¬
mechanischen und orthopädischen Erfahrungen, sowie auch gegenüber
den mit dem Eysell-Schröder sehen Verfahren bereits
erzielten Erfolgen nicht Stich. In einem vom Vortr. ausführlich re¬
ferierten Fall, den derselbe über 4 Jahre beobachtet hat, gelang es
erst durch die Gaumendehnung die vordere,
jeder operativen und nicht operativen Therapie
unzugängliche Mundatmung, sowie den nur durch
die Luftdusche temporär aufzuhebenden Tuben¬
verschluss mit Schwerhörigkeit vollständig und
dauernd zu heilen.
Eine Reihe von Tafeln, Gipsabgüssen und Photographien erläutern
den Vortrag.
Diskussion: Herr V o h s e n - Frankfurt a. M.: Auch der
vorliegende Fall von Erzielung der Nasenatmung durch Behandlung
der Zahnstellung ist nicht beweiskräftig für das, was Herr Schrö-
d e r in Heidelberg behauptete, dass nämlich Wölbung der Gaumen¬
kuppe Stellung der Nasenscheidewand und Weite der Nase durch die
sogen. Kieferdehnung beeinflusst würden. Die Dehnung des Kiefers
ist bei dem angewandten Verfahren eine Auswärtsdrängung der
Alveolarfortsätze. Die oberste Kuppe der Kieferwölbung wird in den
mir in Heidelberg und hier vorgelegten Abgüssen nicht von der Ver¬
änderung betroffen. Es kann darum auch kein Einfluss auf die Weite
der Nasenhöhle und Scheidewandstellung durch das Verfahren her¬
vorgerufen werden. Ein Nachweis des Tiefertretens der Kuppe wäre
erforderlich. Die vom Vortr. festgestellte, durch die früheren Mass¬
nahmen nicht erzielte Nasenatmung kann in dem vorliegenden Fall
durch Wachstumsvorgänge und die erfolgte Korrektur der Zahnstellung
erklärt'werden. Bei vielen Menschen ist ja die Zahnstellung allein das
Hindernis der Nasenatmung und ich bin der letzte, die Verdienste
der Zahnheilkunde in dieser Beziehung gering anzuschlagen. — Ueber
die auf den Oberkiefer wirksame Druckkraft herrschen noch sehr
unklare Vorstellungen. Sie bedürften einer eingehenden Unter¬
suchung. In einem vor kurzem erschienenen Buch „die Chirurgie der
Mundhöhle“ von Kaposi und Port macht letzterer auf die Ver¬
änderungen des Oberkiefers bei Caput obstipum aufmerksam. Ein
Hinweis auf die Zahl der untersuchten Fälle und eine genauere
Literaturangabe der benutzten Arbeit fehlt. Zur Erklärung der Fälle,
in denen der Zwischenraum zwischen den mittleren Schneidezähnen
und die Raphe nach der gesunden Seite „nur in geringem Masse“ und
zwar hauptsächlich an den Kiefern Erwachsener verschoben sind
und der Gaumen auf der kranken Seite „weniger gewölbt und breit
ist“, konstruiert der Verfasser eine Drucklinie als Resultante auf dem
Parallelogramm zweier Kräfte, deren eine „seitlich“, während die
andere „von oben durch den Jochbogen“ wirke. In der beigegebenen
Zeichnung strebt die eine Kraftlinie direkt auf die Kuppe des harten
Gaumens, die andere direkt auf die Seite etwa oberhalb des Alveolar¬
randes. Gegenüber diesen unklaren mechanischen Anschauungen
kann ich nur wiederholt auf das Studium der Raubtierschädel mit ihrem
flachen Gaumen und die Verhältnisse beim Wolfsrachen verweisen,
wie ich das auf der Heidelberger Versammlung getan habe.
Herr Proebsting ist der Meinung, dass die Schröder sehe
Kieferdehnung zur Verbreitung und Abflachung des hohen Gaumens
wohl wert sei, in geeigneten Fällen weiter ausprobiert zu werden.
Aus dem demonstrierten Kiefermodell des von Löhnberg be¬
handelnden Kindes ergebe sich zweifellos, dass dabei der harte
Gaumen flacher und breiter geworden sei, und das müsse auch auf die
Lageverhältnisse des knöchernen Nasengerüstes, zumal bei Septum¬
verbiegungen infolge hohen Gaumens, von Einfluss sein. P. hat bei
seinem eigenen Töchterchen, das hohen Spitzgaumen mit vorstehenden
oberen Schneidezähnen und behinderte Nasenatmung hatte, den
ausserordentlich günstigen Erfolg der von Herrn Kollegen Dr. C h r i s t
in Wiesbaden schon vor 2 Jahren vorgenommenen Korrektur der
Zahnstellung auf Gaumenhöhe und Nasenatmung beobachtet.
Herr B 1 u m e n f e 1 d - Wiesbaden: Die früher gegen die Be¬
hauptungen Schroeders geltend gemachten Einwände können
nicht als widerlegt angesehen werden. Wenn nach der Kieferdehnung
die bestehende Mundatmung in Nasenatmung verwandelt wurde, so
kann das seinen Grund darin haben, dass der Patient, welcher infolge
der Abnormität seines Gebisses den Mund geöffnet hielt, denselben
nunmehr schliessen kann. Auf diese Weise könnte indirekt eine Er¬
weiterung der Nase stattfinden. Eine derartige Erweiterung ist aber
nicht im Sinne der mechanischen Theorien Schroeders zu ver¬
muten; es handelt sich vielmehr um Dinge, die längst den Rhinologen
geläufig waren.
Herr Löhnberg (Schlusswort) : V o h s e n gegenüber bemerkt
Vortr., dass der Effekt der Dehnung nicht in einer distalen Ver¬
drängung der Alveolarfortsätze bestehe, sondern dass das ganze
Gaumengewölbe von der Intermaxillarlinie bis zum Zahnbogen hinab
von der Dehnung betroffen werde. Es sei zweifellos, dass der hori¬
zontale Durchmesser der Apertura pyriformis und des Epipharynx
dadurch vergrössert werde. Die abnorme Zahnstellung könne des¬
halb nicht die Ursache der Mundatmung gewesen sein, weil diese
allenfalls eine leichte Artikulationsstellung der Kiefer, aber kaum eine
weite Offenhaltung des Mundes bedingen könne. Allerdings scheine
dies im Falle Pröbstings zuzutreffen, in dem ja auch die Mund¬
atmung nicht durch die Gaumendehnung, sondern durch die blosse
Korrektur der Zahnstellung behoben worden sei.
Die Annahme Blumenfelds, dass Schröder - Kassel durch
sein orthopädisches Verfahren „die Adenotomie überflüssig machen“
wolle, ist unbegründet. Vielmehr übernimmt Schroeder nur
solche Fälle, die ihm aus rhinologischer Hand zugewiesen werden
und die keinerlei Störungen in Nasen oder Rachen, vor allem keine
adenoiden Vegetationen mehr aufweisen.
Herr E. Kronenberg - Solingen: Ueber einen nach besonderer
Methode aus der Nase entfernten Fremdkörper.
M. H.l Ueber Fremdkörper der Nase sollte eigentlich neues nicht
mehr zu sagen sein. Man findet sie so oft und in so mannigfaltiger
Auswahl, dass wohl jeder, der sich längere Zeit mit der Behandlung
der Nase befasst hat, sich ein ganzes Museum von Gegenständen, die
er aus derselben entfernt hat, zulegen könnte. Auch was die Extrak¬
tion anbelangt, wird der Geübte selten in Verlegenheit geraten; meist
ist sie sehr einfach, und nur in Ausnahmefällen macht sie grössere
Schwierigkeiten, so dass man von dem gewöhnlichen Weg abweichen
muss. Indessen kommen solche Fälle immerhin vor. So hatte ich vor
einigen Monaten bei einem Jungen von 14 Jahren eine Haarnadel,
ein sogen. Lockennädelchen zu entfernen, in welche es dem Patienten,
der an einer Naseneiterung litt, beim Kratzen hineingeschlüpft war.
Die eine Branche lag auf dem Nasenboden, die andere ragte schräg
nach vorn und oben und war bei den vom Patienten vorgenommenen
Extraktionsversuchen abgeknickt und mit dem vorderen Ende in den
nasalen Teil des Nasenrückens eingedrungen. Hier war die Entfernung
leicht, die Nadel wurde nach hinten geschoben, bis sie frei war, die
Branchen mit einer Nasenzange zusammengedrückt und so entfernt.
Kürzlich indessen kam mir ein Fremdkörper vor, dem nach keiner
der gewöhnlichen Methoden beizukommen war, dessen Beseitigung
mir vielmehr grosse Mühe verursachte. Da ich etwas ähnliches in
der so reichhaltigen Fremdkörperliteratur nicht fand, auch nicht in der
sorgfältigen Zusammenstellung Seifferts in Heymanns Hand¬
buch, so möchte ich an dieser Stelle über den Fall berichten, zumal
die Methode der Entfernung vielleicht gelegentlich wieder benützt
werden kann.
Am 4. Oktober 1905 erschien in meiner Sprechstunde ein Mann
mit einem 2Vz jährigen schwächlichen Kinde und gab an, dasselbe
habe sich eine Klammer, wie man sie zum Festnageln von Volieren¬
gittern benutzte, in die Nase gesteckt. Der Vater war verständig
genug gewesen, ein zweites Exemplar mitzubringen, was die Be¬
urteilung der Sachlage wesentlich erleichterte. Es handelte sich um
eine sogen. Schlaufe, eine Art Drahtstift, der an beiden Enden ge¬
schärft und so gebogen ist, dass ein Gegenstand entsteht, welcher
etwa die Form einer ganz kurzen Haarnadel hat. In meinem Fall
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT
No. 29.
1434
war die Schlaufe etwa 2 cm lang, die Branchen waren an ihren
scharfen Enden etwa 1 cm von einander entfernt und ungefähr 2\ 4 cm
dick. Die Untersuchung der Nase ergab, dass der Gegenstand in
der rechten Nasenhälfte lag, die Umbiegungsstelle nach hinten, die
beiden spitzen Enden nach vorne. Es war verwunderlich, dass der
Fremdkörper durch die enge Nasenöffnung des Kindes hatte durch¬
schlüpfen können, dass er auf dem gewöhnlichen Wege nicht entfernt
werden konnte, war sofort klar. Wenn man die untere Branche fasste,
bohrte sich die obere in den Nasenrücken, beim Fassen der oberen
geriet die untere in den Nasenboden. Ein Versuch, die beiden
Branchen mit einer starken Nasenzange einander zu nähern, musste
bald aufgegeben werden, da die beste Zange dem starken Fremdkörper
nicht im mindesten gewachsen war. Da auch nicht daran zu denken
war, den Fremdkörper an der Umbiegungsstelle durchzufeilen, musste
der Gedanke, ihn auf dem Wege, auf welchem er eingedrungen war,
zu entfernen, aufgegeben werden, wenn man nicht dazu übergehen
wollte, den Nasenflügel abzulösen.
Es blieb also übrig, den Gegenstand in den Nasenrachenraum zu
schieben und von dort zu entfernen, und zwar kam zunächst nur
ein Eingriff in Narkose am hängenden Kopf in Frage, da der Fremd¬
körper andernfalls unter Umständen in die tieferen Luftwege oder die
Speiseröhre gelangen konnte, was zu bedenklichen Konsequenzen
führen musste. Indes war mir auch die Operation am hängenden
Kopf nicht sympathisch. Wenn man die dazu nötige tiefe Narkose
vermeiden konnte, so war damit dem kleinen Patienten gedient; auch
ist bekanntlich das Manipulieren im Nasenrachenraum bei einem
Kinde in den ersten Lebensjahren nicht immer eine angenehme Sache;
eine stärkere Blutung war nicht ausgeschlossen, zumal reichlich
adenoide Wucherungen vorhanden waren, wie das nach den Be¬
obachtungen Reinhards bei Kindern, die sich Fremdkröper in die
Nase stecken, meist der Fall ist.
Ich suchte also nochmals nach einem Wege, um auf schonende
Weise zum Ziele zu gelangen und fand denn auch einen in folgender
Methode: Die Nase wurde mit dem Spray gut kokainisiert und das
Kind sorgfältig fixiert. Alsdann machte ich eine Schlinge aus starkem
Zwirn, legte dieselbe über eine schlanke Heymann sehe Zange,
fasste mit dieser die untere Branche des Fremdkörpers und ver¬
suchte nun, mit einer Sonde die Schlinge vorwärts zu schieben. Das
gelang auch mit einiger Geduld; ich schob so die Schlinge auf dem
vorsichtig fixierten Fremdkörper bis zur Umbiegungsstelle und zog sie
zu. Nun hatte ich den Fremdkörper am Faden fest und hätte ihn ohne
Gefahr in den Nasenrachenraum schieben können, auch ohne Narkose
und hängendem Kopf.
Nachdem jedoch durch Anlegung der Schlinge der schwierigste
Akt erledigt war, konnte man mit Leichtigkeit die weitere Extraktion
ohne Beschwerden für das Kind und ohne jeden Blutverlust vor¬
nehmen. Ich schob daher ein dünnes Bougie an dem Fremdkörper
vorbei in den Rachen, holte es zum Munde heraus, befestigte einen
zweiten Zwirnfaden daran und zog diesen durch den Nasenrachen¬
raum vor die Nase, so dass das eine Ende vor dem Munde, das andere
zur Nase heraushing; dann verknüpfte ich ihn mit dem am Fremd¬
körper befindlichen Faden, führte, damit der weiche Gaumen beim
Ziehen an dem Faden nicht litt, einen Gaumenhaken ein und konnte
mm auf diesem den Faden mit dem daran befindlichen Fremdkörper
mit grösster Leichtigkeit zum Munde herausziehen.
So waren wir beide, der kleine Patient und ich, von dem un¬
angenehmen Fremdkörper befreit. Die Methode führte schneller und
weit bequemer zum Ziel, als wenn eine Narkose oder Manipulationen
im Nasenrachenraum nötig gewesen wären, von einer Blutung oder
anderen störenden Einflüssen war nicht die Rede. Ich glaube daher für
ähnliche Fälle — wenn sie auch selten sind — diese Art, vorzugehen,
empfehlen zu können.
Diskussion: Herr Fabian- Mülheim a. d. Ruhr erinnert
daran, dass ihm (wie s. Z. hier vorgetragen) die Entfernung einer
solchen, in zwei scharfe Spitzen auflaufenden Klammer aus dem
Kehlkopf eines Kindes nicht geringe Schwierigkeiten bereitet habe.
Er musste die Laryngofissur ausführen. Die Stimme wurde dadurch
in keiner Weise geschädigt.
Im Anschluss an diese Mitteilung wurde damals über einen von
ihm mit F2rfolg operierten Fall von Schläfenlappenabszess nach Mittel¬
ohreiterung referiert (besonders grosser Abszess, gleichzeitig bestand
auch Erysipel). Es dürfte daher an dieser Stelle die Mitteilung an¬
gebracht und von nicht geringem Interesse sein, dass die betr. Dame
(Schwester eines Kollegen) sich auch heute noch — 3 Jahre nach der
Operation — abgesehen von leichten epileptiformen Zuständen zur
Nachtzeit und Gedächtnisschwäche des besten Wohlseins erfreut.
Herr R e i n h a r d - Köln: Gestatten Sie, dass ich Ihnen im An¬
schluss an die Demonstration und den Vortrag des Kollegen Kronen¬
berg ebenfalls einen Fremdkörper zeige, den ich vor kurzem zwar
nicht aus der Nase selbst, sondern aus einer ihrer Nebenhöhlen zu ent¬
fernen Gelegenheit hatte; es handelte sich um eine Hartgummipro¬
these, die fast 3 Jahre lang in der rechten Oberkieferhöhle sass und
v eiche ich durch Erweiterung der in der Fossa canina befindlichen
Oeffnnng entfernte. Auffallend ist, dass der Stift, der übrigens meines
Erachtens viel zu dünn ich (ich meine, wenn man schon einmal die
Oberkieferhöhle eröffnet, so soll man auch für eine grössere Oeffnung
sorgen und eine dickere Prothese einlegen), so lange in der Höhle lag,
ohne dem Patienten andere Beschwerden, als profuse Eiterung zu
machen; es fanden sich nicht einmal Polypen und auch keine Karies.
Der betr. Herr stürzte bei einer Automobiltour aus dem Wagen, als
er sich im Chausseegraben wiederfand, fehlte seine Prothese. Nach
Entfernung derselben hat sich durch tägliche Ausspülungen, die er
selbst vornimmt, die Eiterung bereits auf ein Minimum verringert, da¬
gegen trat eine heftige rechtsseitige Mittelohreiterung ein infolge des
Eiterabflusses durch die Nase und den Rachen.
Herr C. S c h m i d t - Düsseldorf :
Fall I. Einem jungen Mann von 30 Jahren wird wegen einer
rechtsseitigen Kieferhöhleneiterung nach Entfernung des 2. erkrankten
Backzahnes durch die Alveole die Höhle erbohrt. Bei der darauf er¬
folgten Ausspülung kommt mit dem Spülwasser eine kleine Erbse
zum Vorschein. Letztere war die Ursache der Eiterung. Pat. gibt an,
vor etwa 8 Tagen nach einem Erbsengericht sich übergeben zu haben.
Dabei ist die Erbse durch die vis a tergo durchs Infundibulum in die
Highmorshöhle gepresst worden.
Fall II. Bei einer Frau von 56 Jahren, die an totaler Verlegung
der linken Nasenhälfte leidet, ergibt die elektrische Durchleuchtung
Verdunkelung der linken Kopfhöhlen. Nach Abschwellung der Nasen¬
schleimhaut auf Kokainisierung hin, stösst die Nasensonde auf einen
harten festen Körper. Diagnose: Nasenstein. Der Stein wird in den
Nasenrachenraum gestossen und so entfernt. Er zeigt einen
Kirschkern als Grund der Steinbildung. Wie Pat. angibt, ist die Nase
schon seit dem 7. Jahre stets verstopft gewesen. Eine Operation
der Sinuseiterungen wird verweigert.
(Schluss folgt.)
Berliner medizinische Gesellschaft.
(Eigener Bericht.)
Si t z u li g v o m 4. Juli 1906.
Herr Leder mann demonstriert einen Fall von Lichen ruber
planus der Mundschleimhaut, der zur Verwechslung mit Lues führen
könnte. Die deutlich bemerkbare Heilwirkung des Arsen sichert die
Diagnose.
Herr Litthauer demonstriert eine Patientin, der eine retro¬
pharyngeale Geschwulst entfernt wurde. Diese war apfelgross und
wurde durch einen Schnitt unterhalb des Unterkiefers entfernt. Nach
der Operation trat Schlucklähmung ein. Links besteht Verengerung
der Lidspalte und Pupillenverengerung. Die Pat. war vor der Ope¬
ration schon heiser, konnte aber der Geschwulst wegen nicht laryn-
goskopiert werden. Jetzt sieht man linksseitige Rekurrenzlähmung.
Es sind also Vagus und Sympathicus beteiligt. Der Tumor erwies
sich als ein Fibrosarkom.
Herr B e n d a zeigt eine doppelseitige Erweichung der Gross¬
hirnhemisphären durch Thrombose und ausgehend von einer doppel¬
seitigen Parotiserkrankung. Es fanden sich an den erweichten
Stellen syphilitische Endarteriitis und Mesarteriitis, während sonst
keine Spuren von Syphilis vorhanden waren. In diesen Krankheits¬
herden wurden Spirochäten nachgewiesen und demonstriert.
Herr Max M o s s e demonstriert Präparate und Zeichnungen
von Leberzellenveränderungen nephrektomierter und hungernder
Tiere.
Die Versuche wurden zur Beantwortung der Frage angestellt,
ob es gelingt, einen histologischen Ausdruck für das klinische Bild
der Azidose zu finden. Das war in der Tat der Fall. Während das
normale Leberzellenplasma azidophil ist, erwies es sich bei den
nephrektomierten und hungernden Tieren als basophil, wie die Unter¬
suchung mit chemisch-elektiver Methode (Färbung mit neutralem
Eosin-Methylenblau und mit Neutralrot) zeigte. Diese Ergebnisse
beweisen den Nutzen dieser Untersuchungsmethode für pathologisch-
anatomische Zwecke.
Herr Holländer demonstriert einen ungewöhnlich interes¬
santen Fall von Perforationsperitonitis.
Bei der Operation fand sich einMeckelschesDivertikel,
angefüllt mit Gallensteinen und durch diese nekrotisch geworden,
als Ursache der Peritonitis. Nach der Operation trat eine bedrohliche
Tympanie ein. Durch eine gewaltsam gegen den Willen des Kranken
vorgenommene Magenspülung trat Stuhl ein und Pat. erholte sich
rasch.
Herr C o e n e n berichtet über die histologische Untersuchung
der Tumoren des vor 8 Tagen demonstrierten Patienten mit Kar¬
zinom der Lippe und W'ange. Der eine Tumor war ein verhornender
Epithelkrebs (Lippe), der andere gewöhnliches Kankroid.
Herr M. Halle: Externe oder interne Operation der
Nebenhöhleneiternngen.
Redner vertritt das Prinzip der möglichst breiten Eröffnung
der Kieferhöhle vom unteren Nasengang aus, der Entfernung
der Siebbeinzellen von der Nase aus, der Eröffnung des Keil¬
beines und Stirnhöhle auf demselben Wege. Er verwirft Spü¬
lungen und glaubt, dass durch die gesetzten Oeffnungen der
zirkulierende Luftstrom durch Ansaugung des Sekretes und
I Austrocknung allein genüge, um Heilung herbeizuführen. Die
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1435
Eröffnung der Stirnhöhle schlägt Redner in der Weise vor,
dass er zunächst eine Sonde einführt, darüber eine nach Art
des Stacke sehen Schützers konstruierte breitere Schutz¬
sonde schiebt und nun mit einer Fräse die nach vorn von dieser
Sonde liegende Knochenpartie entfernt.
Diskussion: Herr Max Senator: Die Methode der Stirn¬
höhleneröffnung mittels einer Fräse ist schon in Amerika bekannt
gewesen. Gegen das Arbeiten mit der Fräse sind überhaupt erheb¬
liche Einwände zu machen, man kann nie sehen, wo man arbeitet,
es gibt Knochensplitterungen, Fissuren und Schleimhautfetzen, die
unchirurgische Wunden setzen; für die Kieferhöhle liegen die Verhält¬
nisse günstiger, für die Stirnhöhle ist es nicht so einfach. Dass die
Operation so auszuführen ist, war ja bekannt, und das beweisen
wiederum die Fälle von Halle.
Herr Ritter: Es ist nicht immer mit Sicherheit eine Stirn¬
höhleneiterung festzustellen, häufig täuscht man sich und findet später
eine vorgeschobene Siebbeinzelle als Ursache. In 25 Proz. aller Fälle
ist nachgewiesen, dass die Stirnhöhle nicht sondierbar ist. Man tut
doch besser daran, extern zu operieren, da die Gefahr einer Hirnver¬
letzung sehr gross ist, besonders bei flachen Höhlen. Ausführbar ist die
Operation überhaupt nur bei hohen Stirnhöhlen, welche allein an¬
zutreffen Halle offenbar das Glück hatte.
Herr P e y s e r frägt, was Herr Halle bei Kieferempyem rein
dentalen Ursprungs tut und wo die Grenze ist, wo man nicht mehr in¬
tern, sondern extern operieren muss. Es müssen leichte und schwere
Fälle unterschieden werden. Es gibt ferner Tumoren, die zuerst als
Empyem anfangen, hier würde durch interne Operation Verschlep¬
pung eintreten.
Herr Bochner zeigt ein Bild, wo die Sonde scheinbar in der
Stirn, in Wahrheit in einer Siebbeinzelle liegt.
Herr Halle: Man kann deutlich sehen, wo man sich mit der
Fräse befindet; jedes chronische Empyem kann sondiert werden; der
Stirnhöhlengang liegt immer medial. (Herr Ritter: Nein!)
Schluss. Fritz Koch.
Sitzung vom 11. Juli 1 906.
Demonstrationen:
Herr Goldschmidt: Instrument zur Besichtigung der hinteren
Harnröhre.
Herr G. Muscat: Isolierte Fraktur eines Sesambeines an einer
grossen Zehe.
Herr Lassafr: a) Kankroid im Gesicht, geheilt durch innerliche
Anwendung von Arsenik, b) Kind mit generalisierter Vakzine, von
der Impfstelle aus durch Kratzen infolge eines älteren Ekzems über¬
tragen (cave Impfen bei bestehendem Ekzem!). Auffallend rasche und
gute Abheilung dieser Vakzine unter der von F i n s e n für die Variola
angegebenen Behandlung im Zimmer mit roten Vorhängen,
c) Kind mit Xeroderma pigmentosum; dunkle graubraune Gesichts¬
farbe mit mehrfacher Kankroidbildung. In einem ähnlichen Falle ge¬
lang es Vortr. die Kankroide durch Radium zur Heilung zu bringen,
während die schwarzen Pigmentflecke durch flüchtiges Bestreichen
mit dem Paquelin zum Verschwinden gebracht wurden.
Diskussion: Herr B. Baginsky berichtet über eine Vak¬
zineübertragung auf die Labien eines kleinen Mädchens mit aus¬
gedehnter Geschwürsbildung.
Tagesordnung:
Herr Nagelschmidt: lieber lokale Blutbefunde.
Die Frage, ob die morphologische Blutzusammensetzung
lokal unter gewissen Umständen eine andere ist, als im all¬
gemeinen Kreislauf, untersuchte N. an einigen Hautkrankheiten
z. B. dem Lupus vulgaris, erythematodes, Lues u. dergl.
Beim Lupus vulgaris ergab das ohne jeden Druck auf Ein¬
stich in ein Lupusknötchen entleerte Blut eine Vermehrung der
Lymphozyten und eine Veränderung der polynukleären Leu¬
kozyten; ähnliches auch beim Lupus erythematodes. Bei der
sekundären und tertiären Lues eine Vermehrung der grossen
Lymphozyten. Da nun Vortr. glaubt, annehmen zu dürfen,
dass diese Abweichung vom Verhalten des Gesamtblutes auf
eine lokale Blutveränderung zurückzuführen sei und nicht etwa
auf mitaustretenden Gewebssaft (alle tuberkulösen Gewebe
zeichnen sich bekanntlich durch Reichtum an Lymphoidzellen
aus. Ref.), so ist sein weiterer Schluss begreiflich, dass diesem
Verhalten des Lokalblutes unter Umständen eine diagnostische
Bedeutung zukomme — so habe er in einem auf der N e i s s e r-
schen Klinik befindlichen zweifelhaften Falle von Lues oder
Tuberkulose aus dem Befunde von grossen Lymphozyten sich
für die erstere, durch die Therapie gerechtfertigte Diagnose
entschieden — und ebenso sein Schluss auf die Verwandtschaft
von Lupus vulgaris und erythematodes. Nach Behandlung
des Lupus mittelst Finsens Methode ist das Lokalblut
wieder gleich dem allgemeinen (was weder für noch gegen
seinen ersten Schluss spricht. Ref.).
Herr Manuil P e w s n e r - Moskau a. G.: 1. Experimen¬
telle Untersuchungen über den Einfluss seelischer Vorgänge
auf die Sekretion des Pankreas.
Wird einem Hunde mit P a w 1 o w scher Pankreasfistel
Fleisch vorgehalten, so tritt eine lebhafte Sekretion von Pan¬
kreassaft ein. Hält man ihm jetzt eine Katze vor, so gerät er
in Wut und macht lebhafte und, da er angebunden ist, ver¬
gebliche Versuche, auf die Katze loszugehen; die Sekretion
des Pankreassaftes versiegt aber und kehrt längere Zeit nicht
zurück. Das gleiche tritt ein, wenn man ihm eine Hündin vor¬
hält. Gestattet man ihm aber, hiebei sein Geschlechtsbedürf¬
nis zu befriedigen, so kommt obige Sekretion bald wieder in
Gang.
2. Experimentelle Untersuchungen über den Einfluss ver¬
schiedener Mineralwässer auf die Sekretion des Pankreas.
Uebertragung der Versuche Bickels, unter dessen Lei¬
tung diese und vorangehende Untersuchungen angestellt sind,
auf das Pankreas ergeben, dass Kochsalzwasser und Selters¬
wasser fördernd, Karlsbader Sprudel ungefähr gleich dem Lei¬
tungswasser oder in geringem Masse fördernd, Vichy und
Bitterwasser hemmend auf genannte Sekretion einwirkten.
v. Bergmann, Exz. : Einleitende Bemerkungen zur Dis¬
kussion der Appendizitisbehandlung.
Diese Diskussion soll in der nächsten Sitzung stattfinden
und sich auf folgende zwei Punkte beschränken:
a) Unter welchen Bedingungen kann der erste Anfall von
Appendizitis diagnostiziert werden?
b) Ist es notwendig, nach jedem glücklich abgelaufenen An¬
fall von Appendizitis den Wurmfortsatz herauszunehmen?
Er wolle in der nächsten Sitzung dazu noch einiges be¬
merken, für heute darauf verzichten zu Gunsten des Herrn
F r a n k, eines Assistenten Bardenheuers, der jetzt an seiner
(v. B.s) Klinik die Behandlung der Frakturen mittelst der
Bardenheuer sehen Extensionsbehandlung eingeführt
habe.
Herr Frank: Eine ideale Frakturbehandlung soll an der
oberen Extremität in 5, an der unteren in 10 Wochen ein ana¬
tomisch und funktionell so gutes Resultat ergeben, dass eine
weitere Nachbehandlung nicht nötig ist. Dies ist aber mit den
üblichen Fixationsverbänden nicht möglich, wenigstens nicht
bei Erwachsenen, lässt sich aber erzielen mittelst der B a r -
denheuer sehen Extension, gleichviel ob sie als Extension
mit Gewichten (bis 50 Pfund) oder mit Eederspannung bei
portativen Verbänden ausgeübt wird.
Vorgeführte Patienten und zahlreiche Photogramme er¬
läutern die in der Tat ganz aussergewöhnlich guten Resultate.
Hans K o h n.
Medizinische Gesellschaft zu Chemnitz.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 18. April 1906.
Herr Velhagen stellt einen 42jährigen Patienten vor, der
an fleckförmiger familiärer Hornhautentartung leidet. Es finden sich
im Zentrum beider Hornhäute oberflächlich liegende Flecken, zwi¬
schen welchen zerstreut noch eine grosse Anzahl kleinerer nur mit
H a r t n a c k scher Lupe erkennbarer Trübungen zu sehen ist. Die
Randpartien der Hornhäute sind vollständig frei geblieben. Rechts
sind diese Veränderungen sehr viel stärker ausgebildet wie links.
Dafür finden sich aber links zwischen den Flecken noch sehr viele
strichförmige Bildungen, welche oberflächlich liegend einen radiär
gerichteten Verlauf haben und sich vielfach dichotomisch verzweigen.
Der Visus beträgt rechts 5/so, links 5/io. Anamnestisch ist zu bemerken,
dass der Patient seit ca. 12 Jahren die Sehstörungen spürt, ohne dass
jemals eine Entzündung eingetreten war. Er hat noch einen älteren
Bruder und eine Schwester von 52 Jahren, welche die gleiche Affek¬
tion haben. Ein anderer Bruder, der wahrscheinlich dieselbe Krank¬
heit gehabt hat, ist gestorben vor 3 Jahren. Anatomische Unter¬
suchungen anzustellen, hatte Vortragender nicht Gelegenheit. Er
glaubt aber nach den bisher in dieser Beziehung gemachten For¬
schungen, dass die grösseren Flecken auf Einlagerung einer fremd¬
artigen, dem Hyalin nahestehenden Substanz in das Hornhautgewebe
beruhen und dass die feinen Trübungen der Ausdruck für vergrösserte
oder gequollene Hornhautkörperchen sind. Die therapeutischen Mass¬
nahmen haben sich als unwirksam erwiesen.
1436
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Das kombinierte Vorkommen der fleck- und stnchformigen Trü¬
bungen an dem einen Auge des demonstrierten Falles dume cm
weiterer Beweis sein, dass die fleck- und gitterförmige Hornhaut¬
entartung zusammengehören, wie das in letzter Zeit noch besondeis
von Fleischer betont worden ist.
Herr Moritz: Vorstellung 1. eines in Heilung begriffenen Falles
von L a n d r y scher Paralyse. (Ausführliche Veröffentlichung wild an
anderer Stelle erfolgen.) , , ...
2. eines geheilten Falles (17 jähriger Gärtnergehilfe) von eitriger
— vielleicht sporadischer epidemischer — Zerebrospinalmeningitis.
Die Krankheit hatte unmittelbar nach einer exzessiven körperlichen
Ueberanstrengung, bestehend in mehrtägigen grossen Märschen und
fast völliger Nahrungsenthaltung begonnen. Die Lumbalpunktion er¬
gab starken Eiter. Die klinischen Erscheinungen waren typisch.
Therapeutisch wurde vom dritten Tag an salizylsaures Natron (6 g
pro die) angewandt. Ein früher von Vortragendem behandelter Fall
von epidemischer Meningitis, bei welchem in der Zerebrospinal¬
flüssigkeit Meningokokken nachgewiesen worden waren, war gleich¬
falls bei Behandlung mit salizylsaurem Natron zur Heilung gelangt.
Vortragender glaubt daher, die Salizylsäure bei epidemischer und
eitriger primärer Zerebrospinalmeningitis, wie es auch von anderer
Seite geschehen ist, empfehlen zu sollen.
Herr Fritz F r a e n k e 1 demonstriert mikroskopische Präparate
(pigmentiertes Spindelzellensarkom der Aderhaut, Glk,in der Netz¬
haut, zwei Fälle von Netzhautablösung nach perforierender Korneo-
skleralverletzung).
Das Aderhautsarkom hatte sich als kompakter, flachovaler 1 umor
bei einer 27 jährigen Frau entwickelt und zu Sekundärglaukom und
Netzhautablösung geführt. Die Spindelzellen waren in Bündeln ange¬
ordnet. ln der Peripherie des Tumors fanden sich zahlreiche dünn¬
wandige Gefässe und reichlich Pigment. Das Sarkom war entlang
einer hinteren Ziliararterie nach aussen durchgebrochen, doch war
nach Verlauf eines Jahres weder ein Lokalrezidiv noch eine Metastase
aufgetreten. Bemerkenswert war eine Deformierung der Linse, ähn¬
lich einem Lenticonus posterior, verursacht durch Verwachsung der
abgelösten Netzhaut mit der Linsenkapsel und sekundärem Zug der
schrumpfenden Netzhaut an der Kapsel. Die Netzhautblätter waren
mit einander verwachsen (strangförmige Netzhautablösung) und
ausserdem die Netzhaut der Ora serrata ringförmig mit der Pars
ciliaris retinae (sekundäre Ablösung des Ziliarkörpers).
Das Gliom (3 jähriges Kind) war auf Stirnbein, Keilbein und
Gehirn übergegangen. Ein Teil des Tumors zeigte netzförmige
Struktur. Der kindliche Bulbus war durch Sekundärglaukom stark
ausgedehnt worden.
Das eine der beiden Augen mit perforierender Korneoskleralver-
letzung war 17 Jahre nach der Verletzung wegen Spätinfektion, das
andere 2Vs Monate nach der Verletzung wegen sympathischer Oph¬
thalmie des zweiten Auges enukleiert worden. Die Narbe verlief
beidemal ungefähr wagrecht im unteren Drittel der Hornhaut und
setzte sich in die Lederhaut fort. Es bestand eine ausgedehnte Ver¬
wachsung zwischen abgelöster Netzhaut und Hornhautnarbe. Infolge
des Zuges der schrumpfenden Netzhaut war in dem frisch verletzten
Auge der Sehnerv durch die Lamina cribrosa hindurch in das Bulbus¬
innere hineingezogen worden, in dem anderen älteren Falle die Netz¬
haut bis auf die Gefässe an der Papille abgerissen. Es bestand hier
eine napfförmige Exkavation.
Fränkische Gesellschaft für Geburtshilfe und
Frauenheilkunde.
(Offizielles Protokoll.)
XIII. Sitzung in Bamberg am 13. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr H o f m e i e r - Würzburg.
Schriftführer: Herr P o 1 a n o - Würzburg.
Herr Menge demonstriert:
a) Photographien von einem Fall von Alopecia congenita uni-
versalis.
b) einen myomatösen graviden Uterus, nach Doyen exstirpiert.
Heilung.
c) ein aus einem graviden Uterus enukleiertes Myom; Schwan-
gcrschaftsverlauf ungestört. Normale Niederkunft.
d) grosses verjauchtes Uterussarkom, bei 64 jähriger Frau ab¬
dominal entfernt. Heilung.
e) Blasenkarzinom, bei 53 jähriger Frau unter Freilegung der
Ureteren per laparotomiain exstirpiert. Neubildung einer Blase.
Heilung.
f) einen grossen Blasenstein, durch Kolpozystotomie entfernt.
Heilung.
Herr Holm ei er demonstriert ein durch Operation gewonnenes
Präparat von interstitieller Gravidität.
Herr H o f m e i e r: Ueber Pessarbeliandlung. (Erscheint
ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Diskussion: Herr Menge: Bei E. Martinschem Pessar,
wenn Stiel zu kurz, und bei L ö h 1 e i n schem Pessar sind Perfora¬
tionen in Blase und Rektum möglich. Das von Menge angegebene
Keulenpessar hat sich gut bewährt; es hält, ohne zu voluminös zu
sein, die grössten Prolapse zurück, wenn der Beckenboden nicht ganz
zerstört ist. Zur erleichterten Einführung der Keule hat M. eine
Zange konstruiert. . ,
Herr R e i c h o 1 d - Lauf verwirft ebenfalls Weichgummipessar
und berichtet über ein Schalenpessar, das einmal ein Geburtshindernis
abgegeben. , . ,, „.
Herr R a e t h e r - Kissingen berichtet, dass eine Altonaer riima
Bellmann die Welt mit Hysterophoren versorgt; er empfiehlt ebenso
wie der Vortragende das Löhleinpessar.
Herr Polano: Ueber künstliche Frühgeburt in der
Praxis. (Erscheint ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Diskussion: Herr Menge ist Gegner der künstlichen
Frühgeburt bei Beckenenge. Er empfiehlt bei Einleitung der künst¬
lichen Frühgeburt aus anderer Indikation, z. B. chronische Nephritis,
kleinen Ballon mit konstantem Zug und abwartendes Verfahren.
Herr Hofmeier empfiehlt bei engem Becken das aktive Vor¬
gehen, hat aber das ab wartende Verfahren, das ihm anfangs das
sympathischere schien, nur ungern aufgegeben infolge der vom
Vortragenden erwähnten Misserfolge.
Herr Menge glaubt, dass beim engen Becken die \\ ehentatig-
keit nach Ausstossen des Ballons deshalb häufig aufhöre, weil die
Zervikalganglien von dem hochstehenden Kopfe nicht gedrückt
werden
Herr H e 1 1 e r - Dresden empfiehlt ebenfalls das aktive Vorgehen
nach etwaiger Dilatation der Zervix durch Bossi vor Einlegen des
Metreurynters ,wie dies Leopold empfohlen.
Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M.
(Offizielles Protokoll.)
Ordentliche Sitzung vom 5. März 1906.
Vorsitzender: Herr Emanuel Cohn.
Schriftführer: Herr J. Rosengart.
Herr AI brecht: Demonstrationen.
Herr Friedrich Strauss demonstriert:
1. operierten Fall von Nierentumor.
2. operierten Fall von Steinniere.
Herr G. Löffler: Demonstration eines Patienten mit nervöser
Kehlkopfaffektion. .. , , , . . .
M H.l Der junge Mann, den ich Ihnen vorstellen mochte, leidet
an einer dem Wesen nach keineswegs seltenen Krankheit. Diese
äussert sich aber bei unserem Patienten durch einen ganz eigenartigen
Symptomenkomplex, der in solcher Art bisher nur wenig bekannt
war. Ich glaubte daher, Ihr Interesse für den Fall einen Moment in
Anspruch nehmen zu dürfen, um so mehr, als seine Kenntnis von
nicht zu unterschätzender praktischer Bedeutung ist, wie. Ihnen die
Schicksale des Patienten beweisen werden. Was Ihnen bei letzterem
auffallen wird, ist zunächst eine noch ziemlich frische Tracheotomie¬
narbe und die merkwürdige gepresste Sprache, die Sie hören, wenn
ich den jungen Mann jetzt einige Worte sagen lasse (geschieht!).
Was es mit beiden für eine Bewandtnis hat, werden Sie aus der
Krankengeschichte des Patienten ersehen, die ich Ihnen nun kurz be¬
richten will. , „ .. , .
Pat. wurde am Abend des 17. Januar d. J. in unser Hospital in
bewusstlosem Zustande eingeliefert. Die ihn transportierenden Leute
sagten mir, sie hätten ihn auf der Strasse zusammengebrochen uni
ohne Zeichen von Bewusstsein aufgefunden, genau in dem Zustande
den er jetzt darbiete. Der Kranke machte auf den ersten Blick
einen direkt beängstigenden Eindruck. Er atmete mit lautem, ziehen
dem In- und pfeifendem Exspirium. Da mir am Halse die Ihnen vor
hin demonstrierte frische Tracheotomienarbe in die Augen sprang, s
war mein erster Gedanke, es handle sich um eine Larynxstetiose in
folge Granuloms, das durch die Tracheotomie sich gebildet habe
könnte. Infolgedessen schien eine sofortige Operation, d. h. Wieder
eröffnung der Narbe und Einlegen einer Kanüle in die Trachea drin
gend geboten, und ich liess dementsprechend die Vorbereitunge
treffen. Allein bei weiterer Beobachtung fiel mir auf, dass trotz For
dauer des geschilderten Zustandes keine Spur von Zyanose auftrat
und dann war mit einer Larynxstenose die tiefe Bewusst- resp. Re
aktionslosigkeit (Kornealreflex erloschen!) nicht vereinbar. Der Ver
dacht, dass es sich um einen hysterischen oder hystero-epileptischei
Anfall handle, wurde mehr und mehr rege. Es kamen daher Faradi
sation, Zungentraktionen und andere, wenig angenehme, äussere Reiz
mittel in Anwendung, doch ohne Erfolg. Die Laryngoskopie wurd<
versucht, war aber nicht möglich. Nachdem der geschilderte Zu
stand ungefähr IV2 Stunden unverändert fortgedauert hatte, wurd'
Pat. zu Bette gebracht und erhielt eine Morphiuminjektion. Er atmet'
noch etwa 3 Stunden in der gleichen Weise, dann wurde die Atmuns
allmählich ruhiger, normal. Dagegen hielt die Bewusstlosigkeit nocl
IV2 Tage an; während dieser Zeit reagierte er auf keinerlei Reize
die Corneae waren fast ohne Reflex und die Augäpfel befanden siel
permanent in Radstellung. Einmal liess Pat. Urin unter sich geher
Am 19. Januar mittags erwachte er und wusste angeblich von der
ganzen abgelaufenen Zustande nichts. Es hinterblieb weiterhin uin
bis heute die vorhin demonstrierte gepresste Sprache und in psychi
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1437
scher Hinsicht eine leichte Reizbarkeit und Zanksucht. Am 6. Fe¬
bruar hatte der Patient einen ohnmachtähnlichen Anfall, der nach
% Stunden wieder behoben war. Dagegen stellte sich am Abend des
14. Februar, nachdem Patient den Tag über ein recht aufgeregtes
Wesen gezeigt hatte, ein Anfall von Qlottiskrampf und Bewusst¬
losigkeit ein, genau von derselben Art wie bei der Aufnahme. Um
den Spasmus der Stimmbänder zu lösen, zugleich auch aus diagnosti¬
schen Gründen, chloroformierten wir diesmal den Patienten an und —
die Atmung wurde in der Narkose ruhig, im Exzitationsstadium die
Sprache fast klar! Sobald die Chloroformwirkung vorüber war,
wieder Stenosenatmung, ausserdem noch Stunden lang wirres Reden.
Am nächsten Morgen wieder normales Verhalten. Gerade auf Grund
der letzten Wahrnehmungen müssen wir die sonderbaren Anfälle
stenotischer Atmung als durch nervösen Spasmus der Stimmbänder
bedingt erklären. Die zugleich auftretende Bewusstlosigkeit hat
immerhin manches an sich, was sie als nicht hysterisch, sondern
eher als epileptiform auffassen lässt. Da wir durch den Patienten
hörten, er sei in Wien und Leipzig tracheotomiert worden, so zogen
wir dort Erkundigungen ein über die Ursache der stattgehabten Ope
rationell. Wir erhielten den Bescheid, dass es sich jedesmal um die¬
selben Zustände handelte, deretwegen Patient bei uns zur Aufnahme
gelangte, und dass man erst nach der Operation die nervöse („hyste¬
rische“) Natur des Anfalles erkannt habe. Mit Rücksicht darauf
möchte ich die Demonstration mit der Bitte beenden, dass Sie, m. H„
den Patienten in der Erinnerung behalten möchten, damit er nicht
etwa, wenn er bei uns entlassen wird und wieder einen ähnlichen
Anfall bekommen sollte, in einer anderen Klinik hiesiger Stadt un¬
nötiger Weise nochmals operiert wird.
Herr Ludwig W o 1 f f bespricht den Kehlkopfbefund des von
Herrn Löffler vorgestellten Patienten:
Die Stimmbänder zeigen das Bild der Postikuslähmung, sind fast
geschlossen, lassen nur nach hinten einen kleinen dreieckigen Spalt
offen. Ganz selten werden deutliche und ausgiebige Abduktionsbe¬
wegungen gemacht. Diese Möglichkeit der Abduktion ist für die
Beurteilung des Falles sehr wichtig. Kokaineinspritzungen lösen den
Krampf nicht, dagegen lässt in Chloroformnarkose der Stridor nach,
wie auch die Sprache ihren gepressten Charakter verliert.
Aehnliche Beobachtungen veröffentlichten Krause und M i -
ch ae 1. In einem dem vorgestellten Falle am meisten entsprechenden
bei einem hysterischen Mädchen, den Onodi beschreibt, half die
Hypnose.
Diskussion: Herr Treupel: M.H.! Der Patient, über den Ihnen
Herr Löffler berichtet hat, ist mir bekannt. Er wurde am 4. Februar
vorigen Jahres mit denselben Erscheinungen, wie sie Ihnen Herr
Löffler eben geschildert hat, ins Heilig-Geist-Hospital eingeliefert.
V 6r dm .° p * k e f u n d bot damals während des Anfalles folgen¬
des Bild. Bei der sehr beschleunigten von deutlichem Stenosegeräusch
begleiteten Atmung ist die Rima glott. fast vollständig geschlossen
und die Taschenbänder werden durch den einströmenden Luftstrom
eingestiilpt. Lenkt man die Aufmerksamkeit des Patienten ab, so wer-
den die Stimmbänder, oft allerdings nur für Augenblicke, in normaler
Weise abduziert. Beim Phonieren treten die Taschenbänder wieder
fast bis zur Berührung vor, während die Stimmbänder einen ovalen
Spalt (wie bei der Internuslähmung) lassen.
Ich stellte damals die Diagnose : Hysterisches Ton-
quetschen und hysterische verkehrte Einatmung,
sodass das Bild einer Postikuslähmung entsteht. Wir
haben den Patienten nicht tracheotomiert, sondern die Erscheinungen
haben sich auf Zureden zurückgebildet. Tracheotomienarben hatte
Patient übrigens damals noch nicht.
M. H.l Ich wollte Ihnen sehr gern damals den Patienten hier
im Verein demonstrieren, weil es ein ganz einwandsfreier Fall ist,
der zeigt, dass das Bild und die Begleiterscheinungen
der Postikuslähmungbei Hysterischen Vorkommen
und nach meiner Ansicht bei genügender Uebung
auch willkürlich erzeugt werden können. Das habe
ich schon vor 12 Jahren behauptet und bin damals von Semon und
Burger sowohl deshalb, als auch wegen meiner Erklärung der
hysterischen Bewegungsstörungen im Kehlkopfe überhaupt heftig an¬
gegriffen worden.
Die Demonstration musste leider unterbleiben, denn der Patient
hat schon am zweiten Tage, nachdem er sich von uns durchschaut
sah, das Hospital verlassen. Ich freue mich deshalb, dass Ihnen der
Patient heute von anderer Seite mit wesentlich derselben Auffassung,
wie ich sie damals von ihm hatte, vorgestellt worden ist. Dass der
Patient tatsächlich wi 1 1 k ü r 1 i c h das Bild der Postikuslähmung
erzeugen konnte, habe ich im Kehlkopfspiegel bei ihm beobachten
können. Er vermochte nämlich, wie bereits gesagt, schliesslich ganz
normal zu atmen, so wie Sie es ja heute bei ihm sahen. Forderte
man den Patienten aber auf, wieder recht tief und rasch zu atmen,
so schloss sich die Rima glott. wieder, die Taschenbänder sprangen
wieder gegenseitig vor, kurz es stellte sich wieder dasselbe Bild
der Postikuslähmung dar, das er bei seiner Einlieferung ins Spital
geboten hatte.
Herr Vohsen: Bei der Diagnose funktioneller Larynxerkran-
kungen, die ähnliche Erscheinungen wie der vorgestellte Fall bieten,
braucht die Grundlage nicht immer im Nervensystem gesucht zu
werden. Ich habe einen Fall mehrere Wochen behandelt, der dann
in andere Behandlung überging, ohne dass es mir oder dem zweiten
Kollegen möglich gewesen wäre, eine andere, als eine nervöse Stö¬
rung anzunehmen. Der Patient litt seit Kindheit an Heiserkeit, ver¬
schluckte sich häufig in den letzten Jahren, bekam Erstickungsanfälle
beim Rauchen und zeigte laryngoskopisch nur athetotische Erschei¬
nungen und nicht klar deutbare Innervationsstörungen der Stimm¬
lippen. Ein Anfall von Atemnot brachte ihn zur Vornahme der Tra¬
cheotomie in das städtische Krankenhaus, wo R e h n bei der Vor¬
bereitung zur Tracheotomie eine den Larynx von hinten umklam¬
mernde Struma fand, nach deren Exstirpation die Heilung eintrat, ohne
dass die Tracheotomie ausgeführt zu werden brauchte.
Herr O. Kohnstamm: Neuere Forschungen über Sensi¬
bilitätsstörungen.
K- referiert zunächst über H e a d s neueste Arbeitsergeb¬
nisse in der Lehre von den peripheren Nerven. Diese bauen
sich aut einem Selbstversuch am eigenen Körper auf, der in
Durchschneidung der Hautäste des Nervus radialis bestand. H.
kommt zur Unterscheidung einer tiefen Sensibilität, deren Fa¬
sern mit den motorischen Muskelnerven verlaufen und der
Wahrnehmung aller Arten von auf die Haut ausgeübtem Druck
dienen. Die eigentliche Hautsensibilität wird geleistet: 1. durch
die protopathischen, 2. durch die epikritischen Fasern. Die
ersteren regenerieren schnell nach Durchschneidung, nehmen
nur extreme Temperaturen und Stiche wahr und lokalisieren
schlecht. Letztere stellen sich erst nach Monaten wieder her
und bewirken fein graduierte Temperaturempfindungen. Sie
empfinden feine Berührungen und lokalisieren gut.
In einer Uebersicht über die Empfindungsleitung im
Rückenmark zeigt Vortr., dass die von Roth mann urgierte
Beteiligung des Widerstands an der Temperaturleitung nach
K.s anatomischen Untersuchungen darauf beruht, dass die Fa¬
sern nach ihrer Kreuzung in der vorderen Kommissur längs
dervorderenLängsspalte zum Areal des Qowers-
schen Stranges hinziehen.
Während durch zerebrale Herde, wenn sie die Tem¬
peraturleitung schädigen, der Wärmesinn mehr betroffen wird,
als der Kältesinn, scheint es (nach fremder und eigener Beob¬
achtung) bei bulbären Herden die Regel zu sein, dass der
Kältesinn vorwiegend gestört ist.
In theoretischer Hinsicht hält Vortr. im Gegensatz zur
Lehre von den spezifischen Energien die Annahme für uner¬
lässlich, dass der Erregungsstrom in jeder Nervenfaser quali¬
tativ verschieden ist, je nach der Erregungsart, die in ihm ge¬
leitet wird. Was dem Telephondraht recht ist, muss auch der
Nervenfaser billig sein. Die spezielle Erregungsform bringt
sich an den zentralen Wirkungsstätten zur Geltung durch ihre
Eigenart und nicht durch Isolierung der Leitung, die nicht be¬
steht. Die Lokalisierung der Leitung kommt zustande durch
die lokalisierende „Reflexdeterminante“, die auf eigenen Bahnen
zentrahvärts weitergeleitet wird.
Wenn diese besondere Lokalisationsbahn geschädigt wird,
z. B. durch gewisse Herde in der inneren Kapsel, die den Seh¬
hügel mit beteiligen, so kommt es zu Topoanästhesie, wie sie
besonders durch Schaffer für den Hautsinn und durch
E x n e r für den Gesichtssinn beschrieben worden ist.
Verein der Aerzte in Halle a. S.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 21. Februar 1906.
Vorsitzender: Herr Kohlhardt.
Herr v. Bramann berichtet über eine ungewöhnliche Magen¬
geschwulst, die aus einem zusamrnengebackenen Haarkonvolut be¬
stand. Das Mädchen, bei dem sie beobachtet, hatte die Gewohnheit,
an ihren Zöpfen zu kauen.
Herr Fries: Demonstration.
Herr J. Veit: Ueber die Glykosurie der Schwangeren.
(Vorläufige Mitteilung.)
Während die Erklärung der puerperalen Laktosurie durch
Milchstauung wohl auf keine Schwierigkeiten stösst, scheint
mir die Genese der während der Schwangerschaft auftretenden
Glykosurie noch nicht klar zu sein; die Annahme einer rein
alimentären Form ist nach meinen klinischen Erfahrungen da¬
rum unmöglich, weil man sie überhaupt recht selten findet;
ferner aber fand ich bei zwei Schwangeren, die zeitweise Gly-
1438
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
kosurie hatten, sie nicht gleichzeitig bei gleicher Diät auftreten.
Es muss also poch ein weiteres Moment hinzukommen.
Ich. .knüpfe wieder an die Lehre von der Aufnahme von Zotten¬
bestandteilen in das mütterliche Blut an und bleibe weiter dabei,
dass unter normalen Verhältnissen die Stoffe, deren vermehrter
Aufnahme wir Ktankheitserscheinungen zuschreiben müssen,
wenn auch in geringerer Menge, in der Plazenta nach\\ eislich
sind. Seit March and auf den starken Glykogengehalt der
Zottenbekleidung hinwies, schien mir schon immer die experi¬
mentelle Prüfung der Frage von Bedeutung, ob nicht in dem
Glykogengehalt der Zotten die Ursache der Graviditatsglyko-
surie liegen könne. u Durch Einverleibung reifer Plazenta ist
aber dieser Versuch nicht ausführbar. Man muss so grosse
Mengen Plazenta nehmen, dass die 'I iere sofort daran zugrunde
gehen. Immerhin schien mir gerade jetzt, wo Zweifel die
Milchsäure mit der Eklampsie in ätiologischen Zusammenhang
bringt, eine weitere Prüfung zweckmässig. Ich habe daher jetzt
lebensfrisches, jugendliches Plazentargewebe einem Kaninchen
in die Bauchhöhle gebracht; das erste so behandelte Kaninchen
habe ich zur Harngewinnung aufgebunden gehalten; der Harn
zeigte 4 Proz. Dextrose. Da man in dem Aufbinden des 4 leres
vielleicht die Ursache der Glykosurie erblicken könnte, habe
ich demnächst den gleichen Versuch gemacht, indem ich das
Tier in einen Harnkäfig brachte; das Tiere zeigte 2,67 Proz.
Dextrose im Harn. Brachte ich dagegen alte Plazenta in die
Bauchhöhle, so erhielt ich nur eine minimale Spur Zucker.
Demnächst brachte ich chemisch reines Glykogen von Merck
in die Bauchhöhle und zwar 5 g. Das fier entleerte zuerst
überhaupt keinen Harn. Der dann zuerst entleerte Harn erga
trotz der grossen Menge eingeführten Glykogens nur 0,05 Proz.
Dextrose Hieraus schloss ich, dass der Glykogengehalt der
Plazenta nicht die Ursache der Graviditätsglykosurie sein
könne — wenigstens nicht allein. Da nun W e i c h a i dt,
ebenso wie ich, durch das Einbringen von Plazenta Verände¬
rungen des Lebergewebes eintreten sah, so lag es nahe, diese
Schädigung des Lebergewebes als Erklärung mit heran-
zuzichen. Ich brachte daher mit reifer Plazenta gleichzeitig
Glykogen — diesmal 3 g — in die Bauchhöhle; die Plazenta,
die an sich recht wenig Glykogen enthielt, sollte eben nur die
Leber schädigen: Ergebnis deutliche Glykosurie — 0,075 bis
0,1 g. Ich bin mir vollkommen darüber klar, dass ich damit
nur den allerersten Anfang einer Untersuchungsreihe gemacht
habe; Kollegen, die mehr Zeit haben, als ich bei meinem reich¬
lichen klinischen Material zur Verfügung habe, mögen die
Versuche verfeinert fortsetzen; schon jetzt aber wollte ich
Ihnen diese Ergebnisse vorführen; ich halte es für sehr wahr¬
scheinlich, dass1 man nunmehr in der vermehrten Aufnahme
von Zottenbesfcmdteilen — die Vermehrung der Zottenaufnahme
beruht auf Verhältnissen anatomischer oder physiologischer
Art im Uterus — , insbesondere von dem in ihnen enthaltenen
Glykogen und einer gewissen Veränderung der Lebei, die Ur¬
sache dafür zu erblicken hat, dass bei einzelnen Schwangeren
durch die Diät Glykosurie entsteht.
Ich möchte nicht schliessen, ohne auch hier meinen Dank
an meine Mitarbeiter, besonders aber an Herrn Kollegen
Tschermak, .auszusprechen.
Diskussion: Herr Hildebrandt betrachtet die Fleisch-
Milchsäure entgegen der Ansicht Zweifels nicht für das ätiologische
Moment. , „ , „ . . , , .
Veit: Auch ich halte den Milchsäurebefund von Zweifel bei
Hklampsie nur für sekundär. Ich glaube nicht, dass in so einfachen
chemischen Stoffen das eklamptische Gift liegt; es wird uns damit
wohl ebenso gehen, wie mit anderen giftigen Eiweissubstanzen, wn
werden das Gift eher in seiner Wirkung, als in seiner chemischen Kon¬
stitution kennen.
Herr J. Veit: Ueber intramurale Gravidität.
Wenn in der Erklärung der Graviditätsglykosurie die che¬
mischen Folgen der Zottenaufnahme eine gewisse Rolle spielen,
so bin ich zufälig in der Lage, Ihnen eine der mechanischen
Folgen dieses 'Vorganges an einer neueren Beobachtung zu
illustrieren.
Am 9. Januar d. Js. kam eine 38 Jahre alte Frau in die Klinik,
die 9 mal geboren hatte und die im November 1902 im 2. Monate
der Schwangerschaft abortierte; seit dieser Fehlgeburt war die Men¬
struation nicht mehr regelmässig: im Februar 1904 wurde nach ihrer
Mitteilung die Nachgeburt entfernt- und seitdem kränkelte die Frau.
Im August und September 1905 war die Menstruation je einen Tag da;
seitdem fehlt sie; seit November 1905 ist der, Leib starker geworden;
die Kranke klagt über erhebliche Beschwerden, insbesondere Stechen
im Leib und Kreuz, Schmerzen, die zeitweise so arg sind, dass sie
nicht arbeiten kann; sie wird deshalb der Klinik zugewiesen mit der
Diagnose: Tumor im Leib, Gravidität sicher mellt vorhanden.
Der Untersuchungsbefund war sehr auffallend und ich muss ge*
stehen, dass ich ohne weiteres an Schwangerschaft dachte; ab¬
weichend war nur die Schmerzhaftigkeit des Leibes und die Schwache
der bläulichen Verfärbung. Auch konnten von den verschiedensten
Untersuchern keine Herztöne nachgewiesen werden. Der rumor der
nachweislich war, reichte nicht ganz bis zum Nabel; die Konsistenz
des Tumors war ziemlich hart; das H e g a r sehe Zeichen fehlte völlig
Immerhin blieb ich bei dem Verdacht einer intrauterinen Gravidität
und glaubte nur wegen der Schmerzen der brau, der dauernden harten
Konsistenz des Uterus und dem Fehlen der Herztöne trotz genauester
Versuche, annehmen zu müssen, dass es sich um Verhaltung einer
toten Frucht im Uterus handele. Daher beschloss ich die Zervix zu
dilatieren und legte am )2. Januar 1906 Laminanastifte in den Uterus
ein Am 13. Januar entfernte ich die Stifte, kam aber nicht so be¬
quem durch die Zervix, wie ich wollte, fühlte nur entfernt vom Ostium
internum oben den unteren Rand einer Neubildung. Ich legte erneut
Stifte in den Uterus ein und am 14. Januar 1906 gelangte nun de>
Finger in die Uterushöhle, die im unteren Teile glatt und frei war und
in die von oben her ein Tumor mit dicker Wand hineinragte. Es
wurde beschlossen, diesen Tumor lieber von oben zu entfernen und
deshalb sofort das Abdomen geöffnet. Als ich den Uterus mit einei
Hakenzange anzog, entleerte sich reichlich Fruchtwasser aus den
Stichstellen und ich habe demnächst die Frucht und Plazenta extra¬
hiert- die Frucht lebte (ich nehme an, dass die Fruchtwassermenge
die Diagnose des Lebens erschwerte). Nach Entfernung des ganzen
Eies ging ich in die Höhle mit dem Finger ein und konstatierte, dass
ich nirgends in die eigentliche Uterushöhle hineinkam; eine dicke
Wand trennte mich von ihr. Nunmehr vernähte ich das Bett, in dem
das Ei sass, so, wie man das Bett eines enukleierten Myoms vernäht
mit versenkten Katgutnähten, nachdem ich mir ein klemes . tuck ai ,
der inneren Begrenzung der Eihöhle herausgeschnitten hatte. Dann
vernähte ich das Peritoneum und versenkte den Uteius. Die K ranke
machte eine glatte Rekonvaleszenz durch. Die mikroskopische Unter¬
suchung der maternalen Oberfläche der Plazenta ergab völliges Feh en
der Dezidua und auf dem exzidierten Strick aus derxvandfandsiUi
nirgends eine Andeutung einer uterinen Druse; das St^k..^st.a"9 f“s
muskulösen Elementen, zwischen denen an einzelnen Stellen dezidua
ähnliche Zellen lagen. (Deziduale Reaktion.)
Drei Punkte charakterisieren also diese Beobachtung als
eine intramurale Schwangerschaft: das Fehlen
jeglichen Zusammenhainges der Höhle, in der das
Ei lag, mit der Uterushöhle, die bei der Untersuchung vom
Genitalkanal aus konstatierte Leerheit der Ute r u s -
höhle und endlich das Anliegen des fcies dir ekt an
der uterinen Muskulatur, resp. an der Wand von
muskulären Venen. Der Fall schliesst sich dadurch an die¬
jenigen Fälle an, bei denen es zur Ruptur des Uterus während
der Gravidität kam; hier wurde nur infolge der diagnostischen
Schwierigkeiten die Operation zufällig vor der Ruptur oder
Dehiszenz (wie Freund will) gemacht. Die Erklärung des
ausnahmsweise tiefen Sitzes des Eies gebe ich auch jetzt noc
nicht durch die Annahme einer zerstörenden Tätigkeit der Zotten
sondern dadurch, dass infolge von vorausgegangener Erkran¬
kung des Uterus die Zotten in tiefere Venen hineingelangten.
Herr Veit: Vorlegung zweier apfelsinengrosser Myome, du
während der Gravidität aus der Uteruswand enukleiert sind; de
Peritonealüberzug ist nur in sehr geringer Ausdehnung vorhanden
als bester Beweis, wie tief die Tumoren in der Wand sassen. Uu
Schwangerschaft blieb ungestört. Die Indikation zur Operation gäbet
Einklemmungserscheinungen.
Herr Veit: Demonstration des Rezidivs eines Vulvakarzinoms
das er bei einer Frau von 77 Jahren im Zusammenhang mit den beider
seitigen Leistendrüsen entfernt hat; die erste Operation war vo
8 Jahren gemacht worden; die Patientin Überstand trotz des hohei
Alters den Eingriff ohne jeden Zwischenfall und ist geheilt entlasse)
worden.
Biologische Abteilung des ärztlichen Vereins Hamburg
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung v o m 10. April 1906.
Vorsitzender: Herr Paschen.
Schriftführer: Herr S t e r t z.
Demonstrationen:
Herr Simmonds: Ueber multiples Myelom.
Multipel auftretende primäre' Tumoren des Knochensystems siri
sehr selten. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Sarkome un
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1439
um Myelome. Die Unterscheidung bietet bisweilen grosse Schwierig¬
keit. Vortr. zeigt Präparate von den 2 folgenden Fällen:
1. Multiples primäres Sarkom der Knochen von
48 jährigem Manne, der an chronischer Nephritis starb und über
diffuse Knochenschmerzen geklagt hatte. Alle untersuchten Knochen
waren im Mark von weichen, grauweissen Tumoren durchestzt. Die
Wirbel waren z. T. dadurch eingesunken. Mikroskopisch kleine
Rundzellen in regelmässigen Zügen angeordnet. Ausser am Skelett
keine Tumoren.
2. Multiples Myelom von 65 jähriger Frau, die seit 1 Jahr
nach einem Schlaganfall dement war und an Pneumonie starb. Kli¬
nisch nur Oberarmfraktur bemerkt, keine Deformität sonst. Bei der
Sektion fanden sich an allen Knochen verschieden grosse grauweisse
oder hämorrhagisch gefärbte weiche Tumoren, welche die Kortikalis
vielfach angenagt und zum Schwund gebracht hatten. Beide Ober¬
arme waren am Schultergelenk eingeknickt, andere Deformitäten
fehlten. Am Schädeldach fanden sich zahlreiche runde Defekte durch
erbsengrosse, an der Aussenfläche der Dura anhaftende Knollen.
Mikroskopisch fand sich durchweg in allen Tumoren dem Knochen¬
mark völlig entsprechendes Gewebe. Es lag demnach ein echtes
Myelom vor.
Vortr. weist auf die Schwierigkeit der Abgrenzung des Myeloms
von der Osteomalazie intra vitam hin und zeigt an vorgelegten Rönt¬
genaufnahmen, wie dieses Verfahren in zweifelhaften Fällen die
Diagnose erleichtern könne.
Diskussion: Herr N o n n e demonstriert Röntgenbilder eines
Falles von multiplem Myelom. Es handelte sich um eine alte Dame,
die wegen Schmerzen in Rücken, Brust und Beinen sich in Behand¬
lung begeben hatte. Es fand sich eine kyphotisch gekrümmte Wirbel¬
säule, Stauchungsschmerz derselben, ferner Druckempfindlichkeit der
Oberschenkel, des Sternums, der Rippen. Die Untersuchung des
Magens ergab fast völlige Anazidität, keine Milchsäure. Die Diagnose
wurde auf Magenkarzinom mit multiplen Knochenmetastasen gestellt.
Bei der Sektion fand sich kein Magenkarzinom, sondern mul¬
tiples Myelom (histologisch bestätigt). Die an den herausgenom¬
menen Knochen vorgenommene Röntgendurchleuchtung ergab ähn¬
liche Bilder wie die von Herrn S i m m o n d s demonstrierten.
Herr Simmonds: Spirochätennachweis bei mazeriertem syphi¬
litischem Fötus.
Vortr. legt mikroskopische Präparate von Organen eines aus¬
getragenen mazerierten Fötus einer syphilitischen Mutter vor. Ma¬
kroskopisch waren weder am Skelett noch an den inneren Organen
sichere Zeichen von Syphilis erkennbar, mikroskopisch fanden sich
in den nach der Levaditimethode vorbehandelten Organteilen grosse
Mengen der Spirochaeta pallida. Sie waren spärlich vorhanden in
der Unterhaut, im Herzfleisch, in der Thyreoidea, in den Ovarien;
reichlicher in der Thymusdrüse, wo sie vielfach in H a s s a 1 sehen
Körperchen lagen, in der Lunge und dem Pankreas; noch zahlreicher
in Milz, Nebennieren und Nieren; am dichtesten in der Leber und in
enormen Mengen vor allem in der Darmschleimhaut, wo sie rings um
die Drüsen vielfach dichte Züge bildeten, die schon bei schwacher
Vergrösserung erkennbar waren. Bestimmte Beziehungen der Spiro¬
chäten zu den Geweben Hessen sich nicht nachweisen. Sie lagen
teils unregelmässig zerstreut, teils in dichten Haufen; mehrfach lagen
sie mitten in den Gefässen im Blut. Auffallenderweise war der Nach¬
weis in frischen Strichpräparaten, gefärbt mit der Giemsalösung,
missglückt.
Vortr. hat in den in gleicher Weise behandelten Organen von
vier verschiedenen nicht syphilitischen totfaulen Früchten nirgends
| Spirochäten angetroffen und glaubt, dass in Hinblick auf die positiven
Befunde von Paschen und anderen bei syphilitischen Früchten,
fortan der Nachweis der Spirochäten in derartigen Fällen von dia¬
gnostischer Wichtigkeit sein wird. Speziell wären bei der Unter¬
suchung Stücke aus Leber und Darm nach der L e v a d i t i sehen
Methode zu prüfen.
Tagesordnung:
Herr Fahr: Das elastische Gewebe im gesunden und
kranken Herzen und seine Bedeutung für die Diastole.
Bei den Untersuchungen, die Vort. an 17 normalen und 94
pathologisch-anatomisch veränderten Herzen unternommen
hat, konnte er zunächst bestätigen, was früher schon von
M elnikow-Roswedenkow festgestellt worden war,
dass nämlich das Herz des Neugeborenen in den Ventrikeln
elastische Fasern nur im Epi- und Endokard, sowie in der
nächsten Umgebung der Blutgefässe enthält, während sie in
den Muskelschichten vermisst werden, dass dagegen beim Er¬
wachsenen elastisches Gewebe auch in den Muskelschichten
auftritt und dass es dort in Gestalt eines feinen Netzes jede ein¬
zelne Muskdlfibrille umgibt. Vortr. konnte weiterhin fest¬
stellen, dass die Entwickelung dieses Netzes mit dem 5. Le¬
bensjahre etwa einsetzt — der Zeitpunkt ist nicht ganz kon¬
stant, es spielen individuelle Verschiedenheiten eine Rolle —
und dass die Entwickelung des Netzes mit dem 7. Lebensjahre
! etwa abgeschlossen ist,- 1 - m ' " m.
In einer Reihe von Fällen konnte Vortr. Veränderungen anv
elastischen Gewebe feststellen. Stets bestanden diese in einer
Vermehrung der elastischen Fasern. Die Individuen, bei denen
sich diese Veränderungen fanden, gehörten fast durchweg dem
höheren Lebensalter an. Mit wenigen Ausnahmen war bei
ihnen eine lange bestehende meist ziemlich hochgradige Arterio¬
sklerose zu konstatieren.
Mitunter betraf die Vermehrung des elastischen Gewebes
den ganzen linken Ventrikel, in der Mehrzahl der Fälle war
sie auf die Muskelwülste beschränkt, die dicht unter den Aor¬
tenklappen in den linken Ventrikel sich vorWölben. Auch in
den Fällen, in denen die Vermehrung nicht auf die genannten
Muskelpartien beschränkt blieb, war der Gehalt an elastischen
Fasern dort ein wesentlich bedeutenderer, als im übrigen
Herzen.
Im histologischen Bilde manifestiert sich die Vermehrung
des elastischen Gewebes in der Weise, dass das ursprünglich
aus einer Lage elastischer Fasern bestehende Netz nur die
Muskelfibrillen sich verdichtet, aus mehreren Lagen sich zu¬
sammensetzt. Den Ausgangspunkt für die Neubildung der ela¬
stischen Fasern bildet die Elastika der Semilunarklappen und
der in den Muskelschichten gelegenen Gefässe. Im Beginne
des Prozesses findet sich das elastische Gewebe nur in der
Umgebung der Klappen und Gefässe vermehrt. Von da ziehen
die elastischen Fasern in vorgeschrittenen Fällen in die ent¬
fernter liegenden Muskelschichten hinein.
Vortr. fasst die Bildung des elastischen Netzes in den
Muskelschichten und ebenso die Neubildung der elastischen
Fasern als eine Reaktion des Organismus auf, die den Zweck
hat, eine Verminderung der Muskelelastizität zu kompensieren.
Beim Neugeborenen scheint, da hier elastische Elemente in
den Muskelschichten noch nicht vorhanden sind, die Elastizität
der Muskulatur allein für die Herzarbeit zu genügen. Beim
älteren Kinde und beim Erwachsenen ist dies offenbar nicht
mehr der Fall, denn der Organismus sieht sich veranlasst,, im
6., 7. Lebensjahre etwa besondere elastische Elemente auszu¬
bilden, die um die Muskelfibrillen herum angeordnet sind.
Eine weitere Verminderung der Muskelelastizität, infolge
hochgradiger lange Zeit bestehender Arteriosklerose z. B. hat
zur Folge, dass die elastischen Elemente im Herzen noch an
Zahl zunehmen.
Die Tatsache, dass bei der Vermehrung des elastischen
Gewebes der Prozess die unter den Aortenklappen gelegenen
Partien so auffallend bevorzugt, interpretiert Vortr. dahin, dass
an die Elastizität der in Frage stehenden Herzwandabschnitte
besonders hohe Anforderungen gestellt werden.
Er weist darauf hin, dass schon K r e h 1 den elastischen
Platten, die von den Semilunarklappen ausgehend, sich ins
Innere der Muskulatur hineinstrecken, eine besondere Rolle
zuschrieb. Diese besteht nach Krehl darin, dass die ela¬
stischen Platten das Herz in Beginn der Diastole öffnen, indem
sie ihre bei der Systole verlorene Form wieder einzunehmen
suchen. Dass diese Auffassung richtig ist, dass in den frag¬
lichen Herzwandabschnitten elastische Kräfte besonders tätig
sein müssen und tätig sind, beweist nach der Ansicht des Vortr.
die Tatsache, dass der Organismus für den Fall, dass die nor¬
maler Weise vorhandenen elastischen Kräfte der Herzwand
sich zu erschöpfen beginnen, gerade an dieser Stelle massen¬
haft neue elastische Elemente bildet.
In gleicher Weise, wie die unter den Aortenklappen ge¬
legenen elastischen Elemente, werden sich auch die elastischen
Fasern, die allenthalben in den Ventrikeln die Muskelfibrillen
umspinnen, an der Herzarbeit beteiligen können.
(Der Vortrag wird in extenso in Virchows Archiv er¬
scheinen.)
Diskussion: Herr Simmonds weist auf das Verhalten
des elastischen Gewebes in verschiedenen anderen Organen hin, bei
welchen ebenfalls wie am Herzen ein Parallelismus zwischen Inan¬
spruchnahme und Elastinentwicklung sich verfolgen lässt. Er fragt
den Vortr., ob aus dem Verhalten des elastischen Gewebes im Herzen
bei Kindern ein sicherer Rückschluss auf das Alter des Individuums
zu machen ist, ob ferner die Gruppierung des elastischen Gewebes
in fibrösen Herden des Herzens erkennen lasse, welcher pathologischen
Veränderung' die Herde ihren Ursprung verdankdn. • 1 '■>
1440
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
Herr Fahr (Schlusswort): Die Entwicklung des elastischen
Netzes pflegt init dem 5. Jahr zu beginnen und mit dem 7. abge¬
schlossen zu sein, doch bestehen individuelle Verschiedenheiten. Ist
das Netz deutlich entwickelt, so kommen die Lebensjahre jenseits des
oben angegebenen Zeitraumes in Betracht. Bei Neugeborenen findet
sich ein elastisches Netz nie. Die zweite Frage des Herrn S i m -
m o n d s ist zu verneinen, es weist ein reichlicher Gehalt an elasti¬
schen Fasern nur ähf das längere Bestehen der Schwiele hin.
Allgemeiner ärztlicher Verein zu Köln.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 26. März 1 906.
Vorsitzender: Herr Böse.
Schriftführer : Herr W a r b u r g.
Herr Ernst Mayer: 1. Demonstration einer Leibbinde nach
H o f f a an einer 40 jährigen Patientin mit Hängebauch und Bauch¬
hernie nach Laparotomie. Patientin hatte schon mehrere andere
Leibbinden ohne Erfolg getragen. Die Vorteile der H o f f a sehen
Binde bestehen in gutem Sitz, ohne dass Schenkel- oder Schulter¬
riemen nötig sind.
2. Die orthopädisch-chirurgische Behandlung der Kinderlähmung.
Vortragender erwähnt zunächst die Behandlung der Lähmungen
mit Schienen und Arthrodesenoperationen, um dann die Sehnendurch¬
schneidungen und Ueberpflanzungen zu besprechen. Er kommt in
den meisten Fällen nach gelungener Operation ohne Schienen aus.
Demonstration von 5 Patienten, welche vorher gar nicht oder nur
auf allen vieren gegangen waren und sich jetzt allein fortbewegen:
ferner Vorstellung eines 28 jährigen Mannes, welcher zwar aufrecht
aber auf beiden Knieen gegangen war, infolge spitzwinkliger Kon¬
traktur beider Knie und eines paralytischen Klumpfusses auf der einen
und eines Plattfusses auf der anderen Seite. Patient geht jetzt auf¬
recht nach unblutigem Redressement der Knie- und Fusskontrakturen
in Verbindung mit Sehnentransplantationen. Da Patient ca. 2 Zentner
schwer ist, muss er vorläufig noch H e s s i n g sehe Schienen tragen,
trotzdem er die Knie in gestreckter Stellung frei halten und die
Fiisse wieder bewegen kann (Demonstration). Die Indikationen zur
Operation stellt Vortr. sehr weit und warnt nur vor Eingriffen bei
Verdacht auf ein Fortschreiten der Lähmung. Bei einem 2 jährigen
imbezillen Kinde, welches an L i 1 1 1 e scher Kontraktur litt, trat, nach¬
dem es 3 Wochen vorher umfangreiche Transplantationen am Knie
und Fuss beiderseits überstanden hatte, nach einer Tenotomie der
Adduktoren ca. 18 Stunden post Operationen! der Exitus unter allge¬
meinen Konvulsionen ein. Eine Wundstörung war nicht aufgetreten.
Als Nathmaterial verwendet M. Silkworm oder Seide, die ca Vs Stunde
in 1 prom. Sublimatlösung gekocht hat.
Die Patienten stehen 3 Wochen nach der Operation im Ver¬
bände auf, um Gehversuche zu machen, nach der Verbandsabnahme
erfolgt die Nachbehandlung zur Stärkung der gelähmten Partien.
Diskussion: Herr Bardenheuer macht bei der Quadri-
zepsplastik eine Verkürzung dieser Sehne mit der Kniegelenkskapsel.
Bei dem letal verlaufenen Falle glaubt B., dass man wohl auch an
eine Enzephalitis denken könne.
Herr Dreesmann will die Spannung der zu langen Sehnen
dadurch zur normalen zurückführen, dass er durch eine Osteotomie
die Knochen verlängert.
Herr Strohe zieht die subkutane Tenotomie der Adduktoren
der offenen vor. Er bespricht ausserdem das oft vorkommende Wund¬
liegen. das er bei seinen Patienten beobachtet hat.
Herr Mayer bringt die Spannung bei der Quadrizepsplastik
durch straffes Ineinandernähen der nach vorne gebrachten Flexoren
zustande. Er glaubt, dass bei der Extension nach der Osteotomie
nicht nur die Knochenenden, sondern auch die Sehnen gedehnt werden.
Herr Keller: Neuere Untersuchungen über nervöse
Schwerhörigkeit.
Vortr. bespricht die Ergebnisse neuerer pathologisch-ana¬
tomischer Untersuchungen (W i 1 1 m a c k, H a i k e, Blau)
am Akustikus, welche es in hohem Grade, wahrscheinlich er¬
scheinen lassen, dass ebenso, wie die peripheren Nerven und
der Optikus, auch der Hörnerv von einer degenerativen to¬
xischen Neuritis befallen werden kann; nicht blos, dass die
ätiologischen Momente dieselben sind, finden sich auch die
gleichen pathologisch-anatomischen Veränderungen an den
Nervenzellen und Nervenfasern, wie bei der peripheren und
Optikusneuritis, so auch beim Akustikus. Als Belege hierfür
wird des näheren eingegangen auf die Tierversuche mit Chinin
und Salizylvergiftung, sowie auf die von Siebenmann und
W i 1 1 m a c k mitgeteilten Sektionsbefunde am Gehörnerven
bei Karzinose und Tuberkulose. Als besonders interessant wird
die Tatsache hervorgehoben, dass ebenso wie bei der peri¬
pheren Neuritis oft nur einzelne Faserbündel erkranken, z. B.
im gemischten Nerven nur die sensiblen, oder nur die motori¬
schen, bei der Nikotinamblyopie nur das papillomakuläre
Bündel des Optikus, so auch ausschliesslich oder doch hervor¬
ragend nur das Ganglion spirale und die Fasern des Nervus
cochleae bei der Akustikusneuritis ergriffen werden. Mit einem
Hinweise auf die diagnostischen Momente betont Vortr. die
Notwendigkeit einer eingehenden Berücksichtigung des Ge¬
samtorganismus, wodurch in manchen Fällen allein ein Auf¬
schluss über das Wesen und den Charakter der Ohraffektion
gegeben werden kann.
Medizinische Gesellschaft zu Leipzig.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 15. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Cur sch mann.
Schriftführer: Herr R i e c k e.
Herr March and: Ueber einen Fall von sporadischem
Kretinismus und Myxödem mit fast totaler Aplasie der Schild¬
drüse.
Es handelt sich um ein weibliches Individuum von 35 Jahren,
welches in der hiesigen psychiatrischen Klinik verstorben war. Die
Sektion wurde vom Vortragenden am 29. II. 04 ausgeführt, nachdem
das Gehirn bereits unmittelbar nach dem Tode in der psychiatrischen
Klinik herausgenommen war. Die mikroskopische Untersuchung der
pathologisch veränderten Organe wurde durch den ehemaligen Assi¬
stenten am Institut, Herrn Dr. L o o s e r, vorgenommen, der auch die
genauere Beschreibung des Falles veröffentlichen wird.
Nach Mitteilung der behandelnden Aerzte soll die Kranke bis zum
2. Lebensjahre normal entwickelt gewesen sein, dann blieb sie im
Wachstum zurück, war vollständig idiotisch, und von sehr charak¬
teristischem kretinistischem Habitus.
Die Körperlänge der Leiche war 103 cm, wobei eine mässige
Skoliokyphose der Brustwirbelsäule in Betracht zu ziehen ist.
Es war glücklicherweise möglich, das ganze Skelett zu erhalten,
das abgesehen von dem allgemeinen Zwergwuchs die für den spora¬
dischen ebenso, wie für den endemischen Kretinismus so charak¬
teristische Erhaltung der Zwischenknorpelscheiben, besonders an den
Knochen der Hände und Fiisse, zum Teil aber auch an den Vorder¬
armknochen und den Unterschenkeln, sowie am Becken erkennen
lässt. An letzterem sind die y-förmigen Knorpel des Acetabulum voll¬
ständig erhalten: die Darmbeinkämme waren beiderseits mit einem
ungefähr 1 cm hohem Knorpelrand, ohne Spur von epiphysärer
Knochenbildung versehen, der durch die Mazeration leider ganz ver¬
loren gegangen ist.
Am Schädel ist die dem Kretinismus eigentümliche sehr plumpe
Form der Knochen, besonders des Gesichtsschädels, mangelhafte
Zahnentwicklung und mangelhafter Verschluss der grossen Fontanelle
bemerkenswert, die eine Breite und Länge von ca. 2 — 3 cm zeigt.
Die Einziehung der Nasenwurzel, auf die bekanntlich V i r c h o w
so grosses Gewicht bei Kretinismus legte — als Folge einer früh¬
zeitigen Synostose der Schädelbasis — , ist nicht besonders aus¬
geprägt. Auch hat dieses Kriterium seine Bedeutung für den Kretinis¬
mus zum grossen Teile verloren, da wir wissen, dass die Synostose
gerade hierbei fehlen kann, während sie bei anderen Zuständen, die
mit dem Kretinismus zum Teil irrtümlich zusammengeworfen sind,
namentlich bei der sogen, fötalen Rhachitis, vorhanden sein kann.
In dem vorliegenden Falle zeigte der sagittale Durchschnitt des Schä¬
dels (vor der Mazeration), dass zwischen der sehr kurzen Pars
basilaris des Hinterhauptbeines und dem Keilbeinkörper eine breite
Knorpelfuge vorhanden ist, während die beiden Keilbeinkörper unter
einander, wie gewöhnlich, knöchern vereinigt sind. Mikroskopisch
findet sich an der Grenze der erhaltenen Zwischenknorpelscheiben
keine fortschreitende Knocheneubildung, sondern ein scharf abge¬
grenzter Knochensaum.
Der wichtigste Befund ist der fast totale Defekt der Schild¬
drüse. Erst nach längerem Suchen gelang es, jederseits neben dem
Ringknorpel einen kleinen, etwa hanfkorngrossen Körper zu finden,
sodann etwas abwärts ein drittes, 12 mm langes, plattes Gebilde,
offenbar die Reste der Schilddrüsenanlage.
Die mikroskopische Untersuchung (an Serienschnitten) ergab das
Vorhandensein von sehr mangelhaften Resten von Schilddrüsen¬
gewebe, kleine Hohlräume mit Epithelauskleidung und spärlichen
Kolloidkörpern, daneben einige grössere Räume mit degenerierten
Zellresten und schleimigem Inhalt. An einem Teil der Schnitte ist
die verhältnismässig gut erhaltene Glandula parathyroidea (Epithel¬
körperchen) vorhanden, ausserdem finden sich in der nächsten Nach¬
barschaft azinöse Drüsenläppchen von der Beschaffenheit von Schleim¬
drüsen. Ausserdem fand sich am Zungengrunde im Foramen coecum
ein länglichrunder Körper, der sich nach der Oberfläche zu in einen
ziemlich weiten, mit Flimmerepithel ausgekleideten Gang fortsetzte,
augenscheinlich ein Rest Schilddrüsengewebe von ähnlicher Be¬
schaffenheit, wie die übrigen.
Es ist nach allem nicht daran zu zweifeln, dass die rudimentäre
Entwicklung der Schilddrüsen als die Ursache der schweren Störung
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1441
der Skelettbildung und des ganzen kretinistischen Zustandes auf¬
zufassen ist. 11
Von sonstigen Veränderungen ist noch eine verhältnissmässig
stark ausgebildete Arteriosklerose und Verkalkung der Aorta und
anderer Arterien bemerkenswert. Mit Rücksicht auf den Befund aus¬
gedehnter Verkalkungen der Aortenintima (und Media!) bei Ziegen
nach totaler Exstirpation der Schilddrüse durch Hofmeister ist
es wohl gestattet, den Zustand der Arterien bei dem relativ jugend¬
lichen Individuum ebenfalls mit dem Schwund der Schilddrüse in
Verbindung zu bringen. Es fand sich ferner — wohl als hauptsäch¬
liche 1 odesursache — eine ziemlich weit vorgeschrittene Schrumpf¬
niere, Hypertrophie des Herzens, besonders des rechten Ventrikels,
ausserdem eine ganz mangelhafte Ausbildung der Ovarien, in denen
nur vereinzelte Eollikel erkennbar waren.
Besonders wichtig und noch nicht genauer bekannt ist eine eigen¬
tümliche Veränderung an den Skelettmuskeln. Der Vortragende be¬
sitzt einige von Herrn Dr. V o 1 k m a n n - Dessau stammende mikro¬
skopische Muskelpräparate von einem 15 jährigen Kretin, der im Jahre
1885 in der medizinischen Klinik (damals unter E. Wagner) ge¬
storben war, dessen Muskeln bei der mikroskopischen Untersuchung
die gleichen Veränderungen in besonders ausgesprochener Weise
zeigten wie die des vorliegenden Falles.
Die Veränderung besteht in der Einlagerung homogener, schol¬
liger Massen zwischen Sarkolemm und kontraktiler Substanz, die an
Längsschnitten die Muskelfasern streckenweise umgibt; an vielen
Stellen ist in den einzelnen Schollen ein Sarkolemmkern zu sehen, so
dass es den Anschein hat, dass diese homogene Masse sich in dem
Sarkoplasmarest um die Kerne ablagert. Auch an Querschnitten ist
ein Teil dei Muskelfasern von diesen homogenen Massen umgeben,
die Muskelfasern unregelmässig zerklüftet. Bei der Färbung mit
Hämatoxylin-Eosin heben sich die intensiv bläulichen Schollen sehr
scharf von der schön rot gefärbten fibrillären Substanz ab. Es scheint,
dass es sich um eine schleimartige Masse handelt, die vielleicht
gleicher Natur ist, wie die das Myxödem der Haut bedingende
. Der Vortragende legt zum Vergleich den Schädel eines 27jähr.
Kretin aus der Sammlung des Institutes vor, der von Dolega be¬
schrieben worden ist (Zieglers Beitr., Bd. 9). Der Schädel zeigt
eine grosse Aehnlichkeit mit dem des 35 jährigen weiblichen Kretin
eine ungefähr ebensoweit offene, grosse Fontanelle, ähnliche plumpe
Form des Gesichtsschädels mit stark zurückgebliebener Zahnbildung,
dicken Knochen. Auch in diesem Fall fand sich nach Ausweis des
Sektionsprotokolls (von Dr. Huber) ein sehr kleiner Schilddrüsen¬
rest, auf den damals jedoch wenig Wert gelegt worden ist.
Herr Verse: Demonstration und Vortrag über die Spiro-
chaete pallida.
Der Vortragende berichtet zuächst über einige Verbesse¬
rungen der Methodik.
Es mag gleich vorausgeschickt werden, dass es sich nur um
Untersuchungen am Schnittpräparat handelte.
Die, Art der Fixierung, ob Kaiserling sehe Flüssigkeit, For¬
men, Müllerformol oder Alkohol, scheint auf die Imprägnationsfähig¬
keit der Spirochäten keinen erheblichen Einfluss zu haben. Das alte
Verfahren nach Le vaditi ist dem neueren, von dem gleichen Autor
ui Verbindung mit Manouelian angegebenen vorzuziehen, da es
gleichmässigere, klarere und, wie vergleichende Untersuchungen
zeigten, auch sicherere Resultate liefert.
Eine wesentliche Erleichterung, speziell für die Beurteilung der
Gewebsveränderungen gewährt eine neue, vom Vortragenden ge¬
legentlich seiner Versuche, ein Differenzierungsmittel ausfindig zu
machen, angewandte Methode, das Silber aus den Prä¬
paraten herauszuziehen, um sich an Schnitten der¬
selben Stelle durch andere Farbreaktionen über
aie Gewebsveränderung genauer orientieren zu
können. Zu diesem Zweck bedient man sich mit Vorteil einer Jod¬
jodkaliumlösung von etwas dunkler, kognakbrauner Farbe, in der die
Schnitte eine Zeitlang verweilen, um dann in hochprozentiger (20 bis
o proz.) Natriumthiosulfatlösung differenziert zu werden. Stärkere
\ erdünnungen dieser Lösungen gestatten es auch, den etwas störenden
braunen Ton der Präparate zu beseitigen, ohne dass die Spirochäten¬
imprägnation allzusehr darunter leidet. Auch Ferrozyankaliumlösung
(10 proz.) und nachfolgende Behandlung mit Natriumthiosulfat oder
auch konzentrierte Sublimatlösung allein lassen sehr schnell eine
vo hge Desimprägnation der Schnitte zu stände kommen. In allen
rällen sind die Präparate vor der Weiterbehandlung gründlich aus¬
zuwaschen.
Um Knochen zu untersuchen, muss man die Entkalkung der
Silberimprägnation vorangehen lassen, da sonst das reduzierte Silber
durch die Säure in das betr. Salz (die Salpetersäure also wieder in
Arg. nitr.) übergeführt wird. Man scheint vor diesem Organ Halt ge¬
macht zu haben, nachdem G i e r k e gezeigt hat, dass imprägnierte
Knochen die Entkalkung nicht vertragen, und dass auch an impräg¬
nierten spirochätenhaltigen Gewebsteilen die Silberimprägnation durch
die Entkalkungsflüssigkeit beseitigt wird. Neuerdings hat Froh-
wein an kleinen Knorpelschnitten Spirochäten im Mark nach¬
gewiesen, ein sehr unvollkommener Notbehelf. Nach der Ent¬
kalkung z. B. mit salpetersaurem Alkohol gelin gt
die Imprägnation der Knochen ausgezeichnet, die
Spirochäten sind hinsichtlich ihrer Imprägnationsfähigkeit che¬
mischen Einflüssen gegenüber offenbar sehr widerstandsfähig.
Statt Toluidinblau (L e v a d i t i), welches leicht einen zu dunklen
Grund gibt, kann man zweckmässiger J o d g r ii n in 1 proz. Lösung
anwenden, man erzielt dadurch sehr elegante Bilder. Hierbei ist nur
zu beachten, dass man nur ganz kurz nach dem Abwaschen des über¬
färbten Präparates die Schnitte in 75 proz. Alkohol taucht, in Azeton
schnell entwässert und in Nelken- oder Origanumöl rasch aufhellt.
Andere Kernfärbungen sind weniger zu empfehlen.
Ohne auf die einzelnen untersuchten Fälle, die an anderer
Stelle ausführlich beschrieben werden sollen,- genauer ein¬
zugehen, gibt der Vortragende unter Hinweis auf die auf¬
gestellten Präparate einen kurzen Ueberblick über den In¬
fektionsmechanismus bei der Syphilis congenita, die sich bis¬
lang noch immer als das geeignetste Studienobjekt er¬
wiesen hat.
Bei dieser Form der syphilitischen Erkrankung, die dadurch viel¬
leicht noch ausgezeichnet ist, dass der fötale Organismus noch nicht
über die Abwehrmittel verfügt, wie der des Erwachsenen, lassen
sich schon jetzt ziemlich bestimmte Normen für die Verteilung der
Spirochäten wie auch für ihre Beziehung zu den reaktiven Verände¬
rungen der Gewebe aufstellen. Auffallenderweise ist fast in allen
Arbeiten der letztere Punkt bisher kaum berücksichtigt worden.
Sieht man von den lymphatischen Apparaten ab, so zeigt sich,
dass die Spirochäten am reichlichsten in nicht
oder kaum veränderten Organen Vorkommen, wobei
man die von der des Erwachsenen etwas abweichende histologische
Struktur der normaleiyfötalen Organe nicht ausser acht lassen darf.
Andererseits sind in den Organen, die am schwersten
geschädigt erscheinen und eine ausgedehnte bindegewebige
Induration erfahren haben, Spirochäten im allgemeinen
nicht nachweisbar, falls nicht eine zweite Invasion statt¬
gefunden hat.
Das verbindende Glied zwischen diesen Extremen bilden
die Organe mit frischerer Reaktion. So konnte der Vortragende u. a.
in 2 Fällen herdförmige Zellinfiltrate in der Darmmuskulatur be¬
obachten, eine bisher kaum beschriebene Veränderung. In diesen
Herden, die schon bei schwacher Vergrösserung durch ihre hellgelbe
bezw. grüne Färbung sehr stark gegen die durch ihren enormen
Spirochätenreichtum als schwarzgestreiftes Band erscheinende Ring-
muskularis sich abhoben, waren alle möglichen Degenerationsformen
der im ganzen nur spärlich noch vorhandenen Parasiten nach¬
zuweisen. In einem etwas vorgerückterem Stadium einer diffusen
syphilitischen Leberaffektion, bei welcher schon kleine, zellreiche
zirrhotische Bezirke im Anschluss an die Pfortaderverzweigungen
aufgetreten waren, konnten Spirochäten nur noch in den vereinzelten
Leberzellen gefunden werden, dort allerdings in ziemlich reichlicher
Menge, während das gewucherte Bindegewebe keine Parasiten be¬
herbergte. Hieraus resultiert also, dass dort, wo eine ent¬
zündliche Reaktion einsetzt, die Parasiten bald
zugrunde gehen bezw. sich in die schützenden
Epithelien zurückziehen.
Eine besondere Rolle spielen die lymphatischen Apparate, Milz,
Lymphdrüsen und Thymus; in ihnen sind Spiro¬
chäten nur selten anzutreffen. Bei der Beurteilung posi¬
tiver Befunde ist stets zu scheiden zwischen eigentlichem Drüsen¬
parenchym und bindegewebigem Stützgerüst, Angaben, die man fast
überall vermisst.
Man muss sich also den Modus der Spirochäteninvasion so vor¬
stellen, dass vom Blutwege aus (stets finden sich Spirochäten
massenhaft in der Wand der erweiterten Gefässe, besonders der
Venen) die Parasiten in das Stützgewebe und von
da in das eigentliche Organ parenchym eindringen,
sich stark vermehren und nach einer gewissen
Zeit eine Reaktion auslöse n, d i e > s i e zugrunde
richtet oder vertreibt. Die später auftretenden
zir rhotischen Veränderungen sind als eine Art
Ausheilung zu betrachten. In den lymphatischen
Organen scheinen sie ebenfalls bald ve r' n i c h t e t
zu werden.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet erfahren eine ganze
Reihe bisher etwas rätselhaft erscheinender Beobachtungen eine ge¬
wisse Aufklärung. Vor allem kann es nun nicht mehr überraschen,
wenn man Spirochäten in scheinbar ganz gesunden Organen findet,
es ist im Gegenteil ganz natürlich. Ebenso wird es verständlich, dass
in starken Infiltraten beziehungsweise Gummen keine Parasiten mehr
vorhanden zu sein brauchen. Ferner lässt sich aus den mitgeteilten
Befunden schliessen, dass es anscheinend einer gewissen Zeit bedarf,
ehe der Organismus auf die Spirochäteninvasion reagiert, wenn über¬
haupt eine Reaktion eintritt, und dass die Vernichtung der Parasiten
an die Tätigkeit der Zellen selbst gebunden ist, was ja auch Le¬
va d i t i annimmt.
Diese für die kongenitale Syphilis sich ergebenden De¬
duktionen sind direkt übertragbar auf die akquirierte Er-
1442
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 20.
krankung, sie stehen durchaus im Einklang mit den hierbei
erhobenen Befunden.
Das lange Vorhandensein von Spirochäten zwischen und in den
Epithelzellen älterer Schanker, der seltene Nachweis in dem Lymph-
driisenparenchym, das Fehlen der Parasiten in den Produkten der
sogen. Syphilis maligna, in den im Frühstadium auftretenden schweren
arteriitischen Prozessen und schliesslich in den Veränderungen der
tertiären Periode, dies alles sind Erscheinungen, die vortrefflich zu
dem vorher gezeichneten Bilde passen. Wird in den etwas vorge¬
rückteren Stadien der syphilitische Prozess in einem Organ manifest,
so sind die Erreger meist schon verschwunden, da schon an sich eine
gewisse Zeit zu verstreichen scheint, ehe überhaupt eine Reaktion
einsetzt. tJ
Herr Marchand demonstriert ausserdem folgende pathologisch¬
anatomische Präparate:
1. Nieren mit ungewöhnlich grossen Nierenbeckensteinen von
einem 23 jährigen Mädchen, welches von Kindheit an einen trüben
Harn gehabt, aber nie an kolikartigen Beschwerden gelitten haben soll.
(N. 529.) Bemerkenswert ist, dass an einigen der grossen, die
Nierenkelche ausfüllenden Vorsprüngen der Steine, die aus harn¬
sauren Salzen bestehen, feste weissliche Ueberziige von teilweise
deutlich krystallinischer Beschaffenheit sichtbar sind. Das Nieren¬
becken enthielt ammoniakalische zähschleimige eitrige Massen. Die
krystallischen Ablagerungen bestehen aus phospohrsaurer Ammoniak-
Magnesia. Der Vortr. erinnert daran, dass im vorigen Jahre ein
grobkrystallinischer Blasenstein durch Pommer in Innsbruck be¬
schrieben wurde, der (als identisch mit dem als „Struvit" bekannten
Mineral erkannt wurde. Etwas ähnliches liegt hier vor.
2. Pankreas eines 34 jährigen Mannes mit sehr starker Aus¬
dehnung des Ausführungsganges durch sehr zahlreiche grosse Pan¬
kreassteine. Der noch vorhandene Rest des Pankreas war fast voll¬
ständig verödet, enthielt aber noch eine Anzahl erkennbarer Lan¬
ge r h a n s sehe Inseln. Es bestand Diabetes seit 1904. Der Tod er¬
folgte an Phthisis pulm. und Pyopneumothorax (S. 6. II. 05, No. 135).
3. Lungen mit sehr verbreiteten Residuen älterer Embolien von
einem 33 jährigen Manne, der an Herzinsuffizienz mit starken Stau¬
ungserscheinungen gestorben war. (S. 12 II. 1906.) Beide Haupt¬
äste der Lungenarterie sind durch festhaftende zum Teil noch röt¬
liche Thrombusmassen ausgefüllt; sämtliche grösseren Verzweigungen
zeigen unregelmässige kranzförmige narbige Verdickungen der Wand
und Verengungen, die augenscheinlich aus der bindegewebigen Um¬
wandlung älterer embolischer Pfropfe hervorgegangen sind. Der rechte
Ventrikel des Ganzen ist sehr stark hypertrophisch und ditatiert. Die
embolischen Pfropfe, zu denen anscheinend frische Thrombusmassen
hinzugekommen sind, stammen aus beiden Schenkelvenen und der Vena
cava, die ebenfalls sehr verbreitete sträng- und brückenförmige Binde¬
gewebswucherungen enthielten. An einem Unterschenkel fand sich
ein älteres, halb vernarbtes Geschwür, das nach einem Trauma im
Jahre 1898 entstanden sein soll. Im Jahre 1905 ist der Verstorbene
mehrere Monate in der medizinischen Klinik an Erscheinungen von
Insuffizienz und Stenose des Mitralostium in Behandlung gewesen
(Schwellungen der Beine sollen schon 1904 bestanden haben). Zeichen
von Lungenembolie wurden damals nicht beobachtet. Bei der Sektion
wurde jedoch kein Mitralfehler gefunden, Emphysem war nicht vor¬
handen.
Wenn es auch nicht auszuschliessen ist, dass die Hypertrophie
des rechten Ventrikels schon früher bestanden hat, so ist doch mit
grösster Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass dieselbe sich in der
Hauptsache infolge der sehr verbreiteten Verlegungen der Lungen¬
arterienäste durch embolische Thromben entwickelte.
An die Demonstrationen schloss sich eine Besichtigung der Samm¬
lungsräume des neuen Institutsgebäudes.
Medizinische Gesellschaft zu Magdeburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 5. April 1906.
Yorsitzender: Herr Unverricht.
Herr Hirsch: Ueber Skopolamin-Morphium-Narkose.
Vortragender teilt die Erfahrungen mit, welche an der
H o f f m a n n sehen Ohrenklinik in Dresden an 33 Versuchen
mit der Skopolamin-Morphium-Narkose gewonnen wurden.
Die hauptsächlich zur Anwendung gelangenden Dosen waren
23 mal 0,001 Skopolamin und 0,04 Morphium, in zwei gleichen
Teilen in meist 1 K> ständiger Pause verabreicht, und 6 mal
0,0005 Skopolamin und 0,02 Morphium, auf einmal gegeben.
Die damit erzielte narkotische Wirkung befriedigte nicht, da
nur bei 7 verhältnismässig kleinen Eingriffen die Narkose als
reine Skopolamin-Morphium-Narkose durchgeführt werden
konnte. In den übrigen Fällen musste zur Herbeiführung oder
Vertiefung der Narkose die Aetherinhalation herangezogen
werden. Gefährliche Zustände als unmittelbare Folge der In¬
jektionen wurden nicht beobachtet. Nur in einem Falle, in
dem bei einer Kieferhöhlenradikaloperation eine heftige Blu¬
tung stattgefunden hatte, wurde der fünfstündige postoperative
Schlaf des Patienten für eine eintretende Aspirationspneumonie
mitverantwortlich gemacht, so dass die Methode vor Ope¬
rationen in den oberen Luftwegen als kontraindiziert gelten
muss. Einer Erhöhung der Dosis, sowohl des Morphiums wie
des Skopolamins stehen die üblen Erfahrungen anderer Autoren
entgegen. Es ist deshalb nur die Verwendung von sicher un¬
schädlichen Dosen (0,0003 Skopolamin, 0,01 Morphium) als Vor¬
bereitung für die Inhalationsnarkose zu empfehlen, um die an¬
erkannt günstigen Wirkungen (ruhiger Verlauf der Narkose,
Fehlen des Erbrechens während und nach der Operation, mehr¬
stündiger postoperativer Schlaf, Herabsetzung der Schleim¬
und Speichelsekretion in den oberen Luftwegen) nutzbar zu
machen. Als nachfolgendes Inhalationsmittel verdient der
Aether als toxisch weniger wirksam vor dem Chloroform den
Vorzug.
Diskussion: Herr Weinbrenner hat das Skopolamin
bei 150 grösseren gynäkologischen Operationen erprobt. Zum Zweck
einer gleichmässigen Versuchsreihe wurde in jedem Falle 2 Stunden,
1 Stunde, Vs Stunde vor der Operation 5/io mgr S. und 1 egr M. ge¬
trennt injiziert. Die reine M.-S.-Narkose genügte nur einigemal bei
vaginalen Eingriffen und einmal bei Entfernung eines Ovarialtumors
per laparotomiam. In allen anderen Fällen musste die Narkose durch
Chloroform vervollständigt werden.
Bei diesen M.-S.-Chl.-Narkosen kann W. allerdings bestätigen,
dass in vielen Fällen der Verbrauch von Chloroform sehr gering
war, ein Umstand, der das Mittel in den Fällen empfehlenswert er¬
scheinen lässt, in denen Chloroform kontraindiziert ist. In manchen
Fällen war der ruhige Verlauf der Narkose und der über viele
Stunden sich hinziehende Nachschlaf eine zweifellos günstige Wir¬
kung des M.-S. Ein Uebelstand aber ist die Unsicherheit der Wir¬
kung. Die Patienten reagieren sehr verschieden auf die beiden
Alkaloide. Unangenehm sind einige Nebenerscheinungen, die W. in
Gestalt von Aufgeregtheit und Verwirrtheit vor und nach der
Operation nicht selten gesehen hat. Den vielgerühmten Vorzug bei
de- Anwendung des M.-S., dass das Erbrechen post operationem fehle,
konnte W. bei seinen Fällen auch nicht in dem Masse sicher stellen,
wie er es erwarten musste. Die Unsicherheit des Verfahrens und
die häufigen unerwünschten Nebenerscheinungen haben W. das Mittel
im Gebrauch nicht so sympathisch machen können, dass er es weiter¬
hin prinzipiell bei allen Narkosen anwenden möchte. Ein Nachteil
ist auserdem die Unreinheit des Skopolaminpräparates, die eine ein¬
heitliche Dosierung und eine richtige Beurteilung von Fall zu Fall
nicht ermöglicht.
Der Herr Vortragende hat das M.-S. auch als Narkotikum in der
Geburtshilfe gegen Wehenschmerz empfohlen. W. hat indes den Ein¬
druck, dass man hier mit den Gebrauch des M.-S. mehr im Interesse
des Kindes vorsichtig sein sollte. Er nahm von seinen Versuchen in
der Geburtshilfe Abstand, als er bei einem glatt entwickelten Kaiser¬
schnittkind eine eigenartige Störung des Atemzentrums beobachtete,
die auf eine Intoxikation durch M.-S. zurückgeführt werden muss.
Das Kind war apnoisch geboren, wie es beim Kaiserschnitt oft beob¬
achtet wird, die Farbe war frischrot, wurde aber bald blass, da nach
Verbrauch des überschüssigen Sauerstoffs die Atmung nicht in Gang
kommen wollte. Auf Hautreize gelang dies bald, das Kind schrie
und erholte sich gut, änderte aber, in Ruhe gelassen, sehr bald wieder
Atmung und Hautfarbe und machte den Eindruck eines sterbenden
Kindes. Der Zustand wiederholte sich den Tag über öfter, das Kind
musste beaufsichtigt und bei nachlassender Atmung angeregt werden.
Da die Skopolaminlösung in jedem Falle frisch angefertigt wurde,
so könnte diese Beobachtung vielleicht auch als ein Beweis für die
Richtigkeit der Auffassung von Unverricht dienen, dass Skopo¬
lamin und Morphium wenigstens in ihrer Wirkung auf das Atem¬
zentrum keine Antagonisten sind.
Herr Unverricht macht darauf aufmerksam, dass man nach
seinen eigenen Untersuchungen eine Aufbesserung der durch Mor¬
phium verschlechterten Atmung mit Hilfe von Körpern aus der
Atropingruppe nicht erwarten könne. Um den behaupteten Anta¬
gonismus von Atropin und Morphium in bezug auf die Atmung zu
untersuchen, benützte er Kranke mit Cheyne-Stokesschem Atmen.
Er dachte sich, dass dieses Phänomen, welches bei dazu geneigten
Kranken durch Morphiumeinspritzung leicht erzeugt werden kann,
durch Atropin zum Verschwinden gebracht werden müsste, wenn
die Wirkungen beider Körper auf die Atmung in einem antago¬
nistischen Verhältnisse ständen. Es trat aber das Gegenteil ein.
Die Atempausen wurden länger, ja selbst durch Atropin allein konnte
Cheyne-Stokes sches Atmen hervorgerufen werden.
In einer anderen Versuchsreihe wurde die geatmete Luftmenge
unter dem Einfluss von Atropin untersucht. Hierbei stellte sich
heraus, dass diese Grösse, welche gewissermassen den Nutzeffekt
der Atmung darstellt, ungünstig beeinflusst wird. Man darf sich also
nicht wundern, dass auch der Vortragende in einzelnen Fällen die
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Atemzahl bis auf 5 in der Minute bei der Skopolamin-Morphium-
nqjVose herabsinken, al,so eine Verschlechterung der Atmung ein-
treten sah.
Dass Atropin und Morphium nicht in dem Sinne, wie man dies
gewöhnlich glaubt, Antagonisten in ihrer Wirkung auf die Hirnrinde
sind, konnte er bei seinen Versuchen über experimentelle Epilepsie
feststellen. Während die meisten narkotischen Mittel die Erregbar¬
keit der Hirnrinde für den faradischen Strom herabsetzten, lässt das
Morphium dieselbe ziemlich unverändert oder steigert sie ebenso wie
das Atropin. Es dürfte also die Zusammensetzung von Skopolamin
und Morphium nicht besonders zweckmässig sein.
Herr Ruppe rt: Untersuchungen über den Dreh-
nystagmus.
Vortragender hat bei 115 Personen die nach dem Drehen
uni die Körperlängsachse auftretenden nystaktischen Augen¬
bewegungen untersucht. Das Hauptergebnis seiner Unter¬
suchungen war, dass die genannten Augenbewegungen bei
nervösen Menschen durchschnittlich früher und stärker auf¬
traten als bei Nervengesunden. (Der Vortrag erscheint in
extenso im Z e n t r a 1 b 1 a 1 1 für innere Medizin.)
Diskussion: Herr Un verricht bemerkt, dass er den
Vortragenden zur Anstellung der Versuche veranlasst habe, weil das
eigenartige Auftreten von Nystagmus nach Drehen um die Längs¬
achse bisher in der menschlichen Pathologie noch sehr wenig be¬
achtet und zu diagnostischen Schlüssen fast gar nicht verwertet
worden ist. Es scheint aber, dass es ein sehr beachtenswertes
Zeichen darstellt, welches uns über gewisse funktionelle Störungen
des Qehirns Aufschluss gibt. Es wird die Untersuchungsmethode
noch mehr verfeinert werden und dann zunächst festgestellt werden
müssen, wie sich das Phänomen unter normalen Verhältnissen bei
Rechts- und Linksdrehung verhält. Schon jetzt gewinnt man den
Eindruck, dass, wenn einseitige Hirnveränderungen, wenn auch nur
funktioneller Natur, Platz greifen, der Nystagmus beim Drehen auf
einer Seite stärker ausfällt, wie umgekehrt.
Vielleicht ist aber schon ein kleiner Unterschied physiologisch
vorhanden, denn die normale Rechtshändigkeit beweist doch, dass
auch die beiden Hirnhälften nicht gleichwertig sind, und die Er¬
fahrung lehrt, dass die Rechtsdrehung bei den meisten Menschen
viel weniger Schwindel hervorruft, wie die nach links.
Auch die auffälligen Nebenerscheinungen, welche beim Dreh¬
versuch auftreten, insbesondere die vasomotorischen Phänomene,
scheinen für die Beurteilung gewisser nervöser Störungen höchst
beachtenswerte Aufschlüsse zu geben. U. ist geneigt, Leute, welche
beim Drehversuch eine auffällig hohe Pulsfrequenz darbieten, für
krank zu halten und hat in diesem Sinne besonders interessante Er¬
fahrungen bei Unfallkranken gemacht, welche er fast regelmässig
dem Drehversuche unterzieht.
Nürnberger medizinische Gesellschaft und Poliklinik.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 19. April 1906.
Herr Heinlein: Verschiedene Mitteilungen zur Kenntnis der
Epityphlitis.
Herr H e i n 1 e i n spricht zuerst über die Entstehung und klini¬
schen und diagnostischen Merkmale des im Gefolge der Epityphlitis
sich ausbildenden und gegen den übrigen Bauchraum sich ab¬
schliessenden Abszesses des Douglasschen Raumes,
betont die Notwendigkeit seiner scharfen Trennung von Eiteransamm¬
lungen im kleinen Becken, welche bei diffuser Peritonitis beobachtet
werden. Wie Hochenegg — s. Verhandlungen des Chirurgen¬
kongresses 1905 — schon betont hat, vermag die zeitig ausgeführte
Ektomie des Wurmfortsatzes die Weiterentwicklung des Douglas¬
abszesses nicht zu verhindern, so dass ein zweiter Eingriff notwendig
wird. H. beobachtete das gleiche bei der nach wiederholtem Eingriff
genesenen Gattin eines Kollegen. In zwei folgenden Fällen war ex-
spektatives Verfahren zulässig, jedes Mal erfolgte nach spontanem
Durchbruch in das Rektum rasche Genesung.
Den von ihm in der Sitzung vom 28. Dezember 1905 gemachten
Mitteilungen von zwei nach dem Vorgang von Max J a f f e - Posen
wegen Unmöglichkeit der Ausführung der Ektomie
des Wurmfortsatzes betätigten Ileokolostomien ver¬
mag H. eine dritte anzureihen, einen 23 jährigen Förster betreffend.
Hie technische Unausführbarkeit der Ektomie war bedingt durch
äusserst derbe Verwachsungen einiger Ileumschlingen, des Coekum
und des offenbar zentral eingeschlossenen Wurmfortsatzes. Stumpfe
Ablösung war wegen der Innigkeit der Verlötungen unmöglich. Es
wurde versucht, die Darmschlingen mit scharfen Messerzügen, welche
knirschendes Geräusch vernehmen Hessen, von einander zu trennen;
die kapillare Blutung war dabei sehr lebhaft, die Blutstillung nur durch
Kompression möglich und deshalb mit grossem Zeitverlust verbunden,
dabei die Gefahr der bis nun vermiedenen Eröffnung des Darmrohres
sehr drohend, so dass nach 'fast halbstündiger Arbeit der Versuch
weiterer Isolierung der Darmschlingen und des zwischen den Schlingen
eingeschlossenen und noch immer deutlich fühlbaren Wurmfortsatzes
aufgegeben und zur Ileokolostomie übergegangen wurde. Heilung
nach Ausstossung eines brandigen Netzabschnittes innerhalb 3 Wochen.
Seit Vierteljahresfrist keine Beschwerden, kein Rezidiv. Da in der
Literatur über ähnliche Beobachtungen nur sehr spärlich berichtet
wird, ist H. geneigt, die in relativ kurzem Zeitraum sich ergebende
rasche Folge dreier eigener Beobachtungen für eine zufällige zu
halten.
Weiter berichtet H. über Krankheits- und O'perationsgeschichte
eines 11 jährigen Knaben, bei welchem sich als scheinbar seltener Be¬
fund bei der Intervalloperation ein etwa 3 cm langer Coekal-
polyp darbot. Derselbe sass im Bereich der Mündungsstelle des
Wurmfortsatzes, welcher in seiner proximalen Hälfte völlig ob-
literiert war, in der distalen ein geschlossenes Empyem enthielt. Die
Längsachsen des Polypen und des Wurmfortsatzes lagen in einer
Flucht. Nach dem Abklingen des vorausgegangenen zweiten und
letzten schweren Anfalles waren bedeutende subjektive und an¬
haltende Beschwerden hinterblieben. Mit querovalem Ausschnitt aus
der Coekalwand wurden Polyp und Wurmfortsatz entfernt. Heilung
ohne Zwischenfall innerhalb 16 Tagen. Das Präparat wird vorgelegt.
Herr H e i n I e i n demonstriert ferner das Sprungbein eines
79 jährigen, Mastdarmkrebsmetastasen erlegenen Mannes, welcher
seit seinem 3. Lebensjahr mit einem paralytischen Klumpfuss behaftet
war. An dem Präparat sind die typischen Veränderungen sehr aus¬
gesprochen, vor allem die ausserordentliche Verlängerung des
Sprungbeinhalses auf dessen Aussenseite und die Einwärtswendung
des Kopfes. Dabei erschien das Sprungbein im ganzen — zum Ver¬
gleich wurde ein durch die wegen traumatischer totaler Luxation mit
vollem Erfolg betätigte Exstirpation gewonnenes Sprungbein vor¬
gelegt — in allen Dimensionen stark verkleinert, atrophisch, wie ein
kindliches Sprungbein, der Knorpelüberzug zum weitaus grössten Teil
in Verlust gegangen, die Knochenoberfläche auf der Streckseite mit
ausgesprochenen Schliffflächen. Leider musste aus äusseren Gründen
auf die Erlangung des ■ sicherlich ebenso interessanten Fersenbeines
in dem gleichen Falle verzichtet werden.
Herr Kraus berichtet über seine Erfahrungen mit Alypin. Er
wandte dasselbe meist in 2 proz. und 5 proz. Lösungen art, konnte
bei diesen nie Schädigungen des Kornealepithels entdecken. Kleine
Epithelverluste traten auf bei Anwendung einer 20 proz. Lösung (aus
Versehen des Apothekers als 2 proz. signiert). Diese Lösung fand
Anwendung bei einer Nachstaroperation; während bei den voraus¬
gegangenen peripheren Linearextraktionen nie eine stärkere ziliare
Reizung aufgetreten war, hatte Patient in der der Diszission folgenden
Nacht angeblich sehr starke Schmerzen und bei Abnahme des Ver¬
bandes war der Bulbus sehr stark injiziert. Druck auf die Gegend des
Corpus ciliare wird als schmerzhaft bezeichnet. Die Schmerzen
Hessen von da ab langsam nach und nach 4 Tagen war das Auge
wieder völlig reizlos. — Aeltere Lösungen schienen Vortragendem
stärkeres Brennen zu verursachen, es ist deshalb zweckmässig, sich
Alypin in Tablettenform ä 0,2 g vorrätig zu halten. In allen Fällen,
in denen der Bulbus, wenn auch nur geringe ziliare Reizerscheinungen
zeigt, sieht Vortragender von der Anwendung des Alypins ab und
verwendet Kokain. Die Hauptvorzüge des Alypins vor dem Kokain
sind, wie bekannt, die geringe Giftigkeit gegenüber dem Kokain, die
Sterilisierbarkeit, keine Beeinflussung der Akkommodation und Pu¬
pillenweite.
Naturwissenschaftl.-medizinisclier Verein zu Strassburg.
(Medizinische Sektion.),
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 25. Mai 1906.
Herr Bet he: Die Bedeutung des Sauerstoffs und der
Kohlensäure für die Tätigkeit des Zentralnervensystems.
Bis jetzt ist vorwiegend der Einfluss des Sauerstoffs und
der Kohlensäure auf das Atemzentrum untersucht worden.
Diese Untersuchungen haben zu dem Resultat geführt, dass
sowohl Sauei stoffmangel wie Kohlensäureanfeicherung die
Erregbarkeit des Atemzentrums vermehren find dass umge¬
kehrt Sauerstoffüberfluss (?) und Kohlensäurearmut die Erreg¬
barkeit herabsetzen d. h. Apnoe hervorrufen. An anderen
Zentren sind nur wenige Untersuchungen ausgeführt, aber auch
hier hat sich ein Einfluss der Blutbeschaffenheit auf die Erreg¬
barkeit in ähnlicher Weise, wie beim Atemzentrum nachweisen
lassen (Erregbarkeitssteigerung der Rückenmarkszentren von
Hunden mit durchschnittenem Rückenmark bei Erstickung und
Verblutung [Freusberg und L u c h s i mg e r], Erregbar¬
keitsverminderung bei Apnoe [Freusberg]). Ob hier Sauer¬
stoff oder Kohlensäure den Ausschlag gibt, ist bisher nicht ge¬
nügend untersucht.
Dei Vortragende fand am Hund mit durchschnittenem
Rückenmark Erregbarkeitssteigerung nur bei Sauerstofferit-
ziehung, dagegen nicht bei Kohlensäurcanreicherung. Sauer-
1 444
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
Stoffentziehung erwies sich erregbarkeits¬
steigernd auch bei Fröschen, Fischen, Krebsen und Blut¬
egeln. Kohlensäure ruft bei all diesen Iieren nur Depression
hervor. Eine deutliche Verminderung der Erregbai keit durch
Sauerstoffüberfluss konnte bei Fischen, Krebsen und Blutegeln
nachgewiesen werden. Sauerstoffmangel wirkt
also allgemein zunächst erregbarkeitsstei¬
gernd auf die Zentralorgane ein; erst sekundär wirkt Sauer¬
stoffmangel depressiv und schliesslich vernichtend auf die
Funktion der Zentralorgane ein. Sauerstoffüberfluss
ruft vielfach eine Depression der Erregbarkeit
hervor. Die erregende Wirkung der Kohlensäure auf das
Atemzentrum bleibt zunächst ein Spezialfall. Diese Befunde,
wie auch die bisher schon in der Literatur beschriebenen Ver¬
suche auf demselben Gebiet widersprechen der von Verworn
aufgestellten Theorie der Vorgänge in den Zentralorganen.*)
Diskussion: Herren Ewald, Bayer, B e t h e.
Medizinisch-Naturwissenschaftlicher Verein Tübingen.
(Offizielles Protokoll.)
Medizinische Sitzung vom 7. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Romberg.
Schriftführer: Herr Blauel.
Herr Linse r: Ueber Lichtbehandlung beiin Lupus.
Vortragender spricht speziell über die Röntgen- und die
Finsenmethode. Er verwendet die letztere hauptsächlich bei
oberflächlichen, exfoliierenden Lupusformen, sowie als Nach¬
behandlung nach Röntgenbestrahlungen. Die letzteren werden
meist in Kombination mit der Pyrogallusbehandlung angewandt.
Die Dauer der klinischen Behandlung ist dabei sehr abgekürzt.
Es werden eine Reihe von Kranken vorgestellt, bei denen
namentlich mit der Röntgenmethode günstige Resultate erzielt
worden sind.
Herr Bingel: Ueber die Messung des diastolischen
Blutdruckes beim Menschen. (Mit Demonstration eines
Sphygmomanometers.) (Der Vortrag ist als Originalmitteilung
in No. 26 dieser Wochenschrift erschienen.)
Herr Otfried Müller: Ueber die Beeinflussung der Hirn¬
zirkulation durch therapeutische Massnahmen.
Nachdem man früher unter dem Einfluss der Monro sehen
Lehren vielfach geglaubt hatte, dass der Blutgehalt des
Schädels unter allen Umständen konstant sei, hat sich in der
neueren Zeit im allgemeinen die Ueberzeugung Bahn gebrochen,
dass die Durchblutung des Gehirnes in weitgehender Weise
reguliert werden kann. Während nun eine Anzahl von Autoren
die Schwankungen des Blutgehaltes der Gehirnarterien als rein
mechanisch durch entsprechende Veränderungen des arteriellen
und venösen Druckes bedingt ansahen, glaubten andere, die¬
selben durch nervöse Einflüsse erklären zu müssen. Für beide
Auffassungen ycurden zahlreiche experimentelle Unter¬
suchungen geltend gemacht. Eine endgültige Entscheidung war
angesichts der grossen Differenzen der gewonnenen Resultate
nicht gegeben.
Durch Untersuchungen von O. Müller und S i e b e c k
hat sich nun ergeben, dass nach Durchschneidung des Sym¬
pathikus die Gehirnarterien sich erweitern, während sie sich
nach Reizung des zentralen Stumpfes des durchschnittenen
Nerven verengern. Das war nachweisbar 1. durch Plethysmo¬
graphie des Gehirns, 2. durch die Bestimmung der Menge des
aus einer Hirnvene abfliessenden Blutes, 3. durch Wägungen
des Kopfes beim kurarisierten Tier. Es verlaufen mithin
zweifellos im Sympathikus konstriktorische Fasern für die Ge-
hirngefässe.
Weiter hat sich in zahlreichen Versuchen die auch früher
schon bekannte Tatsache bestätigt, dass sich die Gehirnarterien
in der Chloroformnarkose trotz starken Absinkens des Blut¬
druckes enorm erweitern. Da Chloroform am vasomotorischen
Zentrum selbst und nicht peripher an der Gefässwand angreift,
so spricht auch dieser wiederholt erhobene Befund für das Vor¬
handensein und die Wirksamkeit vasomotorischer Nerven im
*) Die ausführliche Publikation der Befunde wird in der Fest¬
schrift für Prof. Rosenthal, 1906, stattfinden.
Gehirn. In ganz gleicher Weise wirkt Amylnitrit. Nur sind
die Schlussfolgerungen, die aus seiner Wirkungsweise gezogen
werden müssen, andere, da Amylnitrit sicher auch peripher an
der Gefässwand selbst angreift. Endlich fand sich, dass
Strychnin und Adrenalin die Gehirngefässe durch den enorm
gesteigerten Druck passiv ausdehnen, trotzdem bei diesen
Mitteln teils durch Erregung des vasomotorischen Zentrums,
teils durch direkte Einwirkung auf die glatte Muskulatur eine
Verengerung der Gehirngefässe zu erwarten wäre.
Kalte Bäder bedingen eine Erweiterung, warme eine Ver¬
engerung der Gehirngefässe, die vielfach schon vor ent¬
sprechenden Veränderungen des Blutdruckes auftrat, mithin
also ebenfalls auf nervöse Einflüsse zurückzuführen ist.
Dass die geschilderten Veränderungen der Hirnzirkulation
beim Menschen in gleicher Weise eintreten, wie bei unseren
Versuchstieren, liess sich durch die Partialwägung des Kopfes,
sowie durch die Lumbalpunktion erweisen.
Diskussion: Herr B ii r k e r bezweifelt, dass der Blutdruck
im intakten Blutgefäss so grosse Schwankungen erleidet, wie sie der
Apparat angibt.
Herr Ottfried Müller weist darauf hin, dass bei Untersuchungen
am Menschen, bei denen Manometer direkt in die Arterie eingebunden
wurden, Druckschwankungen nachgewiesen werden konnten, die den
vom Bingel sehen Apparat verzeichneten durchaus entsprechen.
Herr Romberg: Wie ich glaube, ist durch die tonographischen
Untersuchungen Hürthles der endgültige Beweis erbracht, dass
der Blutdruck bei jeder Pulswelle eine sehr bedeutende Schwankung
etwa um ein Viertel bis ein Drittel des Maximaldruckes erfährt. Dass
es sich beim Menschen ebenso verhält, zeigt die von Herrn Ottfried
M illler erwähnte Beobachtung. Die Ergebnisse des Herrn Bingel
scheinen mir damit sehr gut übereinzustimmen.
Diskussion: Herr Grützner macht auf die verschiedenen
Wirkungen sensibler Reizungen aufmerksam, je nachdem dieselben
mit lebhaften Schmerzen verknüpft sind oder nicht. Im ersten Fall
erhöhen sie nicht den Blutdruck, sondern setzen ihn sogar gelegent¬
lich herab, im zweiten Fall erhöhen sie ihn ziemlich regelmässig.
Herr C urschmann teilt mit, dass er eine Drucksteigerung
des Liquor cerebrospinalis (zwischen 50 und 70 mm) auf Kältereize
hin (Aether) ebenfalls in einigen Fällen bei Lumbalpunktionen ge¬
funden habe. In einem Fall blieb diese (einige Tage vorher noch
deutliche) Reaktion bei einem Flüssigkeitsdruck von 250 mm
a u s, als Pat. komatös geworden war. Weiterhin scheint die
Drucksteigerung auf Kälte ausbleiben zu können, wenn es sich um
dauernd exzessiv hohe Liquordruckwerte handelt,
wie in einem von C. beobachteten Fall von tuberkulöser Meningitis
mit über 550 mm Liquordruck.
Herr Romberg: In Analogie zu den ausgiebigen von
Herr Otfried Müller mitgeteilten Kaliberschwankungen der Gehirn¬
gefässe in der starren Schädelkapsel möchte ich erinnern, an die Ver¬
suche O. L o e w i s. Er gipste Nieren oder Speicheldrüsen fest ein
und sah trotzdem ausgiebige Aenderungen der Stromgeschwindigkeit
bei bestimmten Einwirkungen. O. Loe w i bezog sie allerdings auf
Vorgänge in den Kapillaren. Nach den Versuchen des Herrn Otfried
Müller ist für diese Beobachtungen die Deutung zulässig, dass auch
in den eingegipsten Nieren und Speicheldrüsen eine Erweiterung der
Arterien auf Kosten der Venen und der Lymphgefässe stattfand und
dass dadurch der Blutstrom beschleunigt wurde. Sicher sind ja auch
die Kapillaren zu Aenderungen ihre Lumens befähigt. Aber eine
arterielle Erweiterung lässt sich durch eine noch so sichere Ver¬
hinderung der Ausdehnung eines Organs nicht ausschliessen.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Pensionsverein für Witwen und Waisen bayerischer Aerzte.
(Delegiertenversammlung des Pensionsvereins für Witwen und
Waisen bayerischer Aerzte betr.)
Bekanntmachung.
Am Montag den 22. Oktober d. J. findet, dem § 41 der neuen
Vereinssatzung gemäss die IX. ordentliche Delegierten¬
versammlung des Pensionsvereins für Witwen und Waisen
bayerischer Aerzte in München, Reisingerianum, statt.
Anträge hierzu müssen zwei Monate vor der Delegierten¬
versammlung (bis spätestens 22. August d. J.) bei dem Verwaltungs¬
rate eingereicht werden.
Die Versammlung wird durch je einen Delegierten eines jeden
Kreises beschickt.
Die Verhandlungen der Delegiertenversammlung sind für alle
Mitglieder öffentlich.
München, den 6. Juli 1906.
Verwaltungsrat
des Pensionsvereins für Witwen und Waisen bayerischer Aerzte.
v. B o 1 1 i n g e r, Vorsitzender. R. v. H ö s s 1 i n, Schriftführer.
I
17. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1445
Seminar für soziale Medizin der Ortsgruppe Berlin des Ver¬
bandes der Aerzte Deutschlands
(Wirtschaft!. Abt. des deutschen Aerztevereinsbundes).
Zyklus II. 10.— 31. Oktober 1906.
Gesamtthema: „Die Unfallversicherung in Theorie und Praxis.“
A. Vorträge:
1. Geh. Regierungsrat Konrad Hartmann, Senatsvorsitzender
im Reichsversicherungsamt, Professor an der technischen Hochschule:
„Inhalt und Wirkungen des Unfallversicherungsgesetzes“. — 2. Sa¬
nitätsrat Dr. M u g d a n, M. d. R. : „Arzt und Unfallversicherung.“
— 3. Medizinalrat Dr. Leppmann, kgl. Kreisarzt: „Das ärztliche
Gutachten in Unfallsachen.“ — 4. Verwaltungsdirektor G o r e 1 1 a,
Geschäftsführer der Strassen- und Kleinbahnberufsgenossenschaft:
„Die Stellung der Berufsgenossenschaften innerhalb der gewerblichen
Unfallversicherung.“ — 5. Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Hoffa:
„Behandlung von Unfallschäden und deren Folgen durch den Chi¬
rurgen.“ — 6. Privatdozent Dr. Paul Schuster: „Behandlung von
Unfallschäden und deren Folgen durch den Neurologen.“ — 7. Herr
Dr. L. Feilchenfeld: „Die Besonderheiten der privaten Unfall¬
versicherungen.“
B. Seminaristische Uebungen.
Zur Leitung haben sich bisher bereit erklärt die Herren Dr. Dr.
R. Lennhoff, Munter, Schuster, Georg Müller, Kurt
Mendel, Helbing, Taendler. — Uebungen im Begutachten
und Attestieren, mit Untersuchung von Fällen und an der Hand von
Aktenmaterial.
Besichtigungen.
I. Gemeinsame Besichtigungen: 1. Der Ausstellung für Arbeiter¬
wohlfahrtseinrichtungen (unter Führung des Herrn Geheimrat Hart¬
mann), 2. der Einrichtungen einer Berufsgenossenschaft, 3. des
orthopädischen Institutes der Universität, 4. des hydrotherapeutischen
Institutes der Universität. 5. Event, der Heilanstalt Neu-Rahnsdorf.
II. Einzelbesichtigungen von Röntgenlaboratorien während der
Aufnahmen, von Unfallstationen und privaten orthopädischen etc.
Instituten, für die inzwischen die Erlaubnis nachgesucht werden wird.
Die Teilnahme an sämtlichen Veranstaltungen ist kostenfrei.
Ausser zu den seminaristischen Uebungen sind zu allen Veranstal¬
tungen auch Nichtmediziner zugelassen. Meldungen werden erst in
der Zeit vom 20. September bis 1. Oktober entgegengenomen. An¬
fragen sind zu richten an Dr. A. P e y s e r, Berlin C., Hackescher
Markt 1 und müssen die Aufschrift tragen: „Angeleg. des Seminars für
soziale Medizin“.
Verschiedenes.
Aus den Parlamenten.
Die diesjährigen Beratungen der bayerischen Abgeord¬
netenkammer über den Gesundheitsetat verdienen dadurch be¬
sonderes Interesse, dass bei dieser Gelegenheit die ganze Frage des
amtsärztlichen Dienstes aufgerollt und eingehend beleuchtet wurde.
Zwei in der Praxis stehende Abgeordnete, Herr Landgerichtsrat
Meyer in Nürnberg, der den grossen Umfang, sowie die schwer¬
wiegende Bedeutung und Verantwortlichkeit des gerichtsärztlichen
Dienstes bei einem grossen Landgerichte aus eigener Erfahrung
kennt, und Herr Bezirksarzt Dr. Rauh in Kötzting übernahmen es,
auf die Reformbedürftigkeit des bayerischen Medizinalwesens aus¬
führlich und mit Nachdruck hinzuweisen und entsprechenden Ab¬
änderungen zu verlangen. Herr Dr. Rauh hatte noch einige Tage
vor der Plenarberatung mit kurzer Begründung folgenden Antrag ein¬
gebracht:
„Die Kammer wolle beschliessen: Die Kgl. Staatsregierung
sei zu ersuchen, das gesamte Medizinalwesen Bayerns nach An¬
hörung der ärztlichen Bezirksvereine, der Aerztekammern und
des bayerischen Medizinalbeamtenvereins neuzugestalten gemäss
den Forderungen, welche die Errungenschaften der modernen
wissenschaftlichen Forschung an die Organisation des öffentlichen
Gesundheitswesens stellen müssen.“
Dieser Antrag hatte den Finanzausschuss nicht mehr beschäftigt,
gleichwohl war aber auch bereits dort die Umgestaltung des Me¬
dizinalwesens in allgemeinen Zügen erörtert worden, namentlich in
der Richtung der Loslösung von der Privatpraxis und einer, der
Steigerung der Geschäftsaufgaben entsprechenden vollen Besoldung.
Herr Abgeordneter Meyer leitete seine Rede damit ein, es
habe sich in der konstituierenden Versammlung des bayerischen Me¬
dizinalbeamtenvereins ein hochangesehener Arzt und Medizinal¬
beamter dahin ausgesprochen, dass das bayerische Medizinalwesen
keinen Schuss Pulver wert sei. Diese Aeusserung möge über das
Ziel hinausschiessen, jedenfalls aber zeige der allgemeine Beifall,
den sie in der Versammlung gefunden, dass in den weitesten Kreisen
unserer Bevölkerung und besonders der Aerzteschaft die Ueberzeu-
gung bestehe, dass unser bayerisches Medizinalwesen nach verschie¬
dener Richtung dringend einer Neuorganisation bedürfe. Diese An¬
schauung sei nicht verwunderlich, da die Organisation im grossen
und ganzen auch heute noch auf dem organischen Edikt über das
Medizinalwesen vom Jahre 1808 beruhe, seitdem aber ausserordent¬
lich umfangreiche Veränderungen auf dem Gebiete des Medizinal¬
wesens vor sich gegangen seien und die moderne Gesetzgebung in
hygienischer, sozialer und gewerblicher Beziehung erhöhte Anfor¬
derungen an das Medizinalwesen stelle. Er stehe daher mit seinen
politischen Freunden dem Anträge des Abgeordneten Dr. Rauh
sympathisch gegenüber und werde ihn unterstützen, wenn er auch
noch sehr allgemein und unbestimmt gefasst sei.
Notwendig sei vor allen Dingen die Reorganisation der Stellung
der bayerischen Amtsärzte, die den derzeitigen Verhältnissen nicht
mehr entspräche. Die Landgerichtsärzte zunächst sollten von dem
Ministerium des Innern losgelöst und direkt dem Staatsmini¬
sterium der Justiz unterstellt werden, da ihre Tätigkeit
ausschlieslich sich in dem Justizressort bewege, mit der gerichtlichen
Medizin und der forensen Psychiatrie sich befasse und daher beim
Justizministerium viel besser beurteilt werden könne, als beim Mi¬
nisterium des Innern; es werde dann mit der Zeit bei der erstge¬
nannten Behörde eine Zentralstelle für das gerichtliche Medizinal¬
wesen geschaffen werden müssen. Bis dahin sollte man wenigstens
dem Rechnung tragen, dass die Dienstesaufgaben und der Wirkungs¬
kreis, die Interessen und Bedürfnisse der beiden Klassen von Amts¬
ärzten, der Landgerichtsärzte und der Bezirksärzte, total verschieden
seien; jetzt würden beide im grossen und ganzen fast gleichartig
behandelt, während den Bezirksärzten mehr die amtsärztlichen Ver¬
waltungsgeschäfte, die Amtshandlungen in Bezug auf Sanitäts- und
Medizinalpolizei zufielen. Jetzt müsse der Landgerichtsarzt Amts¬
blätter halten, die für ihn eine nur sehr untergeordnete Bedeutung
hätten und oft das ganze Jahr nicht zur Verwendung kämen, das
Justizministerialblatt stehe ihm aber nicht zur Verfügung. Der Land¬
gerichtsarzt müsse seiner Bibliothek die Anweisungen zur Be¬
kämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, Berichte über Epidemien
und sonstige Bücher einverleiben, für die er zwar ein grosses wissen¬
schaftliches Interesse besitze, mit denen er aber amtlich nichts zu
tun habe, weil dies Sache des Bezirksarztes sei. Für den Landge¬
richtsarzt und seinen Dienst wäre es viel wichtiger, seine Bibliothek
in Bezug auf gerichtliche Medizin und Psychiatrie reichhaltiger, im
Einklang mit den Fortschritten der Wissenschaft auszugestalten und
die nötigen Mittel hierzu zur Verfügung zu stellen. Es dürfte über¬
haupt mehr für die Fortbildung der Landgerichtsärzte
geschehen; so sei wünschenswert, dass ihnen mit Hilfe eines staat¬
lichen Zuschusses Gelegenheit gegeben werde, an einer renommierten
Irrenanstalt ihre Kenntnisse in der gerichtlichen Psychiatrie zu ver¬
tiefen und zu erweitern oder auch andere ärztliche Institute aufzu¬
suchen. (Die gerichtlich-medizinischen Institute fehlen leider noch
immer in Bayern. Ref.) Ganz besonders vordringlich sei die N e u-
regelung der Bezahlungs- und Pensionsverhält¬
nisse der Landgerichtsärzte. Früher sei ihr Wirkungskreis so
beschränkt gewesen, dass er ganz leicht im Nebenamt von einem
praktischen Arzt versehen werden konnte, das habe sich aber in¬
zwischen bedeutend geändert. Zur Zeit sei es den Landgerichtsärzten
in ihrer grossen Mehrzahl nicht mehr möglich, Privatpraxis auszu-
iiben, weil sie mit Amtsgeschäften überhäuft seien. So seien z. B.
die schwierigen und zeitraubenden Untersuchungen von An¬
geklagten auf ihren Geisteszustand, die früher selten
waren, viel häufiger und bei dem geringsten Verdachte auf der Tages¬
ordnung; die Zahl der gerichtlichen Sektionen, die viel Zeit
beanspruchen, habe sich ausserordentlich vermehrt und betragen bei
kleineren Gerichten 30 bis 40, bei den grossen 70 bis 100 im Jahr;
in allen halbwegs wichtigen Fällen müsse der Landgerichtsarzt ein
eingehendes schriftliches Gutachten erstatten, deren
Zahl bei grösseren Gerichten einige Hundert im Jahr betrage und
deren Niederschrift mangels einer Schreibhilfe sehr aufhalte; dazu
komme das Studium der oft recht dickleibigen Akten und das
Abwarten der gerichtlichen Termine; früher sei der
Landgerichtsarzt alle 2 oder 3 Wochen einmal in den Gerichtssaal
gekommen, jetzt fast täglich. Die Landgerichtsärzte hätten daher
für Privatpraxis keine Zeit übrig, und wenn dies an
kleinen Gerichten da und dort noch der Fall sei, so bekämen sie keine
Praxis, weil dieselbe bei der Uebernahme des Amtes bereits in
festen Händen sei, eine Ueberproduktion von Aerzten bestehe und
das Publikum vielfach einen Landgerichtsarzt wegen seiner dienst¬
lichen Abhaltungen nicht als Hausarzt wähle. Es sei auch gar
nicht wünschenswert, dass die Landgerichtsärzte
Praxis a u s ii b e n, da sie als Beamte nach allen Seiten hin unbe¬
fangen und unabhängig dastehen sollten, was bei einem privaten
Nebenerwerb nicht möglich sei, und da jeder Schein der Partei¬
lichkeit, wenn z. B. der Landgerichtsarzt gleichzeitig Hausarzt in der
betreffenden Familie sei, vermieden werden müsse. Man werde ein¬
wenden, dass die Landgerichtsärzte Privatpraxis ausüben sollten, um
nicht aus der Uebung zu kommen. Wäre das richtig, dann müssten
gerade die am meisten angestrengten Landgerichtsärzte, die für
die Privatpraxis gar keine Zeit übrig hätten, in ihrem Berufe am
rückständigsten sein; übrigens seien die Landgerichtsärzte Hausärzte
in den Gefängnissen und hätten bei den ausserordentlich zahlreichen
Gutachten über alle möglichen Gebrechen und Krankheiten, über
Körperverletzungen, Abtreibungen, fragliche Geisteszustände usw. ein
so umfangreiches und vielseitiges Feld der Tätigkeit, dass keine Be-
1446
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29.
sorgnis zu bestehen brauche, die Landgerichtsärzte kämen ausser
Uebung. Die gerichtliche Medizin habe sich als voll¬
kommen selbständiges Spezialfach herausgebildet, in
ähnlicher Weise wie die Chirurgie und andere Spezialfächer; man
könne daher von dem Landgerichtsarzte ebensowenig wie von einem
Spezialisten für Ohren- und Nasenkrankheiten verlangen, dass er auf
dem Oesamtgebiete der medizinischen Wissenschaft praktisch tätig
bleibe. Beschäftige nun der Staat seinen Amtsarzt
vollständig, so dass ihm für Nebenpraxis keine Zeit
überbleibe, so sei er auch verpflichtet, ihn voll zu
besolden; mit dem Gehalte, den er heute habe — pensionsfähiger
Gehalt 2340 M., nichtpragmatische Gehaltszulagen 360 M. — könne
er unmöglich leben; um Stellen in einer grossen Stadt könnten sich
nur Aerzte mit Privatvermögen bewerben. Die Möglichkeit eines
Avancements sei ausgeschlossen; man sollte bei den grössten
Gerichten, bei denen die Ausübung einer Privatpraxis von vorneherein
ausgeschlossen und sogar noch eine Ueberlastung vorhanden sei, den
Landgerichtsärzten den Titel, Rang und Gehalt eines Medizinalrates
verleihen, wie auch die Bezirksamtmänner, Rentamtmänner, Ober¬
amtsrichter und Landgerichtsräte Titel, Rang und Gehalt von Re¬
gierungsräten oder Oberlandesgerichtsräten erhielten. Auf diese
Weise lasse sich bei den Landgerichtsärzten ein Avancement ermög¬
lichen, indem sie an solchen Stellen anfangen, wo sie nicht voll
besoldet seien, dann an vollbesoldete Stellen vorrücken und schliess¬
lich an solche Stellen kämen, die den Titel, Rang und Gehalt eines
Medizinalrates hätten.
In ähnlicher Weise lägen die Verhältnisse bei den Bezirks¬
ärzten. Auch bei ihnen sei eine ganz grosse Anzahl so beschäftigt
und durch Amtsgeschäfte überlastet, dass sie eine Privatpraxis nicht
ausüben könnten; es sollten daher auch bei ihnen diese Verhältnisse
festgestellt und darnach bemessen werden, ob sie voll besoldet wer¬
den sollten oder nicht. Auch die Beförderungsverhältnisse Hessen
recht zu wünschen übrig, da die Kreismedizinalratsstellen sich so
selten erledigten, dass es wohl mehr Zufall sei, wenn ein Bezirksarzt
Kreismedizinalrat werde. Eine Abhilfe sei möglich, indem in ähn¬
licher Weise, wie bei den Landgerichtsärzten angedeutet, eine Reihe
von Stellen geschaffen würde, die den Rang, Titel und Gehalt eines
Medizinalrates haben. Zum mindesten solle man mit der Verleihung
dieser Titel nicht so spärlich Vorgehen, wie seither.
Ein weiterer Wunsch der Landgerichtsärzte und Bezirksärzte sei
der, dass ihre Dienstesinstruktion einer gründlichen Reform
unterzogen werde, so wie in Preussen. Dort seien für die hygieni¬
schen Untersuchungen der Ortschaften durch die Kreisärzte, für den
lebendigen Verkehr mit den Beteiligten usw. im Interesse der Ge¬
sundheitspflege genaue Vorschriften in der Dienstesanweisung ge¬
geben, in Bayern müsse dies tunlichst gelegentlich bei Verrichtung
anderer amtsärztlicher Geschäfte erledigt werden. Da aber die Be¬
zirksärzte infolge der Abnahme ihrer Privatpraxis nur in den kleinsten
Teil ihrer Bezirke ..gelegentlich“ kämen, so lernten sie die entfernter
gelegenen Ortschaften kaum jemals kennen, es unterblieben sogar
mit Rücksicht hierauf die hygienischen Visitationen der Dorfschulen
in vielen Amtsbezirken nahezu ganz. Es sei eine ernste Aufgabe
unserer Staatsverwaltung, auf dem Gebiete des Gesundheitswesens
eine gründliche Ordnung zu schaffen.
Herr Dr. Rauh wünschte eine Reform unseres Medizinalwesens
hauptsächlich in Bezug auf die Anforderungen der modernen Hygiene
und der sozialen Gesetzgebung, die das Arbeitsfeld der Amtsärzte
erheblich erweitert und ihre Aufgaben ganz bedeutend gesteigert
haben. Der Amtsarzt soll der Vermittler der Gesundheitspflege im
Volke sein, er soll den Kampf gegen die akuten und chronischen In¬
fektionskrankheiten mit allem Eifer und aller Intensität aufnehmen,
vor allem durch eine richtige Belehrung der weitesten Volks¬
schichten, wie dies speziell für die Tuberkulose eingehend dargelegt
wird. Er soll daher selbstverständlich in erster Linie Gesundheits¬
beamter und erst in zweiter Linie praktischer Arzt sein, so weit er
heutzutage bei der ungemein grossen Summe von Anforderungen
dazu überhaupt noch imstande ist, wenigstens in den grossen Amts¬
bezirken; in den kleineren Bezirken ist dies heute noch gut möglich,
bei den gegenwärtigen Verhältnissen ist der Amtsarzt auf die Privat¬
praxis noch angewiesen. Es sollten ihm, auch auf dem Lande, Ge¬
sundheitskommissionen beigegeben werden, bestehend aus
•den Bürgermeistern, Pfarrern, Lehrern und verschiedenen Gemeinde¬
bürgern, die die Aufgabe hätten, sich durch gemeinsame Besichti¬
gungen von den gesundheitlichen Verhältnissen Kenntnis zu ver¬
schaffen, die Massnahmen der Polizeibehörde bei Verhütung und
Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten geeignet zu unterstützen,
die Wohnungsfürsorge durchzuführen, belehrend auf die Bevölkerung
einzuwirken, über Fragen des Gesundheitswesens sich gutachtlich zii
äussern und den Behörden Vorschläge zu machen. Die amtlichen
und praktischen Aerzte sollten im Obermedizinalaus-
schusse und in den Kreismedizinalausschüssen vertreten sein. Bei
dem ebenfalls reformbedürftigen Physikatsexamen sollte auf
die soziale Gesetzgebung mehr Wert gelegt werden. Ausserdem
wünschte Herr Dr. Rauh eine freiere, selbständigere Stel¬
lung der Am t s ä r z t e und eine Erweiterung ihrer Kom¬
petenzen, damit sie nicht immer erst ein amtliches Ersuchen ab-
warten müssen oder „gelegentlich“ ihrer Privatpraxis ihre Amts¬
geschäfte zu besorgen haben; bei der Durchführung der Fabrikinspek¬
tion, der Nahrungsmitteluntersuchungen und der Wohnungshygiene
sollten die Amtsärzte beigezogen werden; die juristische Begleit¬
person bei den Apothekenvisitationen könnte entfallen. Auch er trat
für eine entsprechend bessere Bezahlung der Amtsärzte
ein, für eine Vollbesoldung bei nachgewiesener Vollbeschäfti¬
gung und für die Schaffung von Vorrückungsposten.
Der Kgl. Regierungskommissär Obermedizinalrat, Geheimrat Dr.
v. Grashey wendete sich zunächst gegen den anfänglich mitge¬
teilten Vorwurf gegen das bayerische Medizinalwesen und berief
sich, zum Beweise dafür, dass derselbe durch die Tatsachen und
Erfolge glänzend widerlegt sei, auf die Abnahme der Sterblichkeit
in Bayern und die Zunahme der Lebensdauer, auf die Frequenz der
Münchener medizinischen Fakultät, der zweitgrössten Deutschlands,
auf die .Musteranstalten der psychiatrischen Klinik und der Zentral¬
impfanstalt in München, auf die Wasserversorgungen der Gemeinden
und die Volksheilstätten für Lungenkranke. Weiter erinnerte er
daran, dass Bayern schon seit vielen Jahrzehnten die obligate Lei¬
chenschau eingeführt (1839), als erster Staat den Impfschutz ins Leben
gerufen habe (1807) und die Untersuchungsanstalten für Nahrungs¬
und Genussmittel eine grosse Tätigkeit entfalten; gewiss das beste
Zeugnis, das unserem bayerischen Medizinalwesen ausgestellt wer¬
den konnte, sei das, dass die Amtsärzte, obwohl ungenügend bezahlt,
doch voll und ganz ihre Pflicht täten; mehr könne man von einem
Beamtenkörper nicht verlangen.
Sodann begriisste er es äusserst dankbar, dass aus dem Hause
heraus Vorschläge gemacht wurden, und versicherte, dass es eine
angenehme Pflicht der Staatsregierung sei, in der Ausgestaltung des
amtsärztlichen Dienstes fortzuschreiten, und dass die gegebenen An¬
regungen ganz gewiss von der Staatsregierung gewürdigt und ge¬
prüft werden und dass sie machen wird, was gemacht werden kann.
Man könnte sich durch diese Versicherungen in günstige Hoffnungen
für die Zukunft versetzen lassen, wenn nicht die näheren Aus¬
führungen des Herrn Geheimrates manche Einschränkungen gebracht
hätten. Auch er gab zu, dass die Landgerichtsärzte nicht
vollständig, nicht genügend bezahlt seien, die Staats¬
regierung habe das wiederholt anerkannt, aber die Abhilfe sei davon
abhängig, dass die Finanzlage sich in entsprechender Weise bessere,
dass man an eine allgemeine Revision des Gehaltsregulativs heran¬
treten könne. Den Landgerichtsärzten sollte man nicht jede Praxis
verbieten, da das warme Herz, das der Arzt in allen Lebenslagen
braucht und haben soll, ihm am besten am Krankenbett erhalten wird;
man sollte ihnen auch nicht nach dem Muster der vollbesoldeten
preussischen Kreisärzte alle Gebühren entziehen, da diese Neben¬
einnahmen die Dienstfreudigkeit erhöhen und zu einer freundlichen,
zuvorkommenden Behandlung des Pubjikums aufmuntern, wie bei den
Notaren und Apothekern.
Bezüglich der Fortbildung der Landgerichtsärzte
war Herr Geheimrat damit einverstanden, dass dafür mehr wie bisher
gesorgt werden soll, er meinte jedoch, dass derjenige Arzt, der auf
der Universität und in seiner späteren Praxis genügend studiert und
gelernt hat, auch die Fähigkeit errungen habe, sich allzeit fortzu¬
bilden, zwischen dem was die Literatur neues Gutes und Nichtgutes
bringt, richtig zu unterscheiden, das Beste zu behalten und für seinen
Beruf anzuwenden; ein tüchtiger Amtsarzt müsse nicht alles gesehen
haben, was überhaupt in der Welt Vorkommen kann, sondern er
müsse im Gegensatz zum sogenannten Routinier imstande sein, einen
ganz neuen Fall, den er und vielleicht andere auch nicht gesehen
haben, sofort vermöge des früher Gelernten richtig zu beurteilen.
Gegen die vorgeschlagenen Fortbildungskurse sei nichts einzuwenden,
aber man müsse doch auch mit der amtlichen Tätigkeit und der Zeit
dieser Herren rechnen; er habe es oft beklagt, wenn Beamte aus
anderen Berufen ihre Ferienzeit dazu benützten, Fortbildungspraktika
mitzumachen; sie lernten zwar noch mehr, sie erholten sich aber
nicht, verbrauchten die Zeit der höchst notwendigen Erholung zum
Studium und dann, anstatt gekräftigt und gestärkt, kehrten sie müde
nach Hause zurück und daraus resultierten vielfach die Fälle hoch¬
gradiger Neurasthenie und vorzeitiger Pensionierung. Er habe nichts
dagegen, wenn ein Amtsarzt einmal 3 bis 4 Wochen einen Fort¬
bildungskurs nehmen könne, aber es sei zu bedenken, dass er eine
genügende vollwertige Vertretung haben müsse. Der Vorschlag, die
Landgerichtsärzte einige Wochen als Volontärärzte z. B. in eine Irren¬
anstalt zu schicken, damit sie sich im Irrenwesen ausbilden,
schwierige Fälle richtig beurteilen und besonders raffinierte Simu¬
lanten von wirklichen Kranken unterscheiden könnten, höre sich sehr
vernünftig an, aber in 3 Monaten lerne man das nicht; man könne
vom Amtsärzte überhaupt nicht verlangen, dass er derartige schwie¬
rige Fälle richtig beurteilen könne, da ihm, auch wenn er die
Fähigkeit dazu habe, die Gelegenheit zur Beobachtung fehle.
An der Vorbildung der Physikatskandidaten fehle
es nicht, es sei sogar über ein zu strenges Examinieren geklagt wor¬
den und es läge vollkommen in der Befugnis des Examinators,
bei der Prüfung aus der Medizinalpolizei auch die soziale Gesetz¬
gebung besonders zu berücksichtigen.
Bei der Besetzung der Landgerichtsarztstellen
sei kein Mangel an tüchtigen Bewerbern, die Angestellten seien in
der Regel die bestqualifizierten Aerzte.
Auf die Aufklärung des Volkes habe die bayerische
Regierung immer Wert gelegt, sie habe, speziell was die Tuberkulose
7. Juli 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1447
nlangt, die Preisschrift von Dr. Knopf in 15 000 Exemplaren unter
as Volk verbreitet; man sei auch in Bayern darangegangen, Wald¬
rholungsstätten zu errichten und Fürsorgestätten zu organisieren.
Die Befugnisse der Bezirksärzte zu erweitern, ihnen
in Qeneralmandat zu geben, sei sehr zu überlegen; das werde ge¬
wiss segensreiche Folgen haben, aber auch seine grossen Schwierig¬
eren, da der Amtsarzt, wenn er in der Seuchenbekämpfung energisch
'orgehen wolle, unter Umständen mit dem Widerstande der Be-
Ölkerung rechnen müsse und über die vorgeschriebene Linie nicht
inausgehen dürfe; wenn er in der Person des Bezirksamtmannes oder
issessors einen sachverständigen und verantwortlichen Ratgeber zur
fand habe, sei das für ihn nur sehr angenehm und beruhigend.
Wenn auch die Bezirksärzte besser bezahlt würden, freue er
ich, aber man solle ihnen nicht die Privatpraxis und die Gebühren
ntziehen.
Wenn die Besichtigung der Schulen, die Kontrolle der Geistes¬
ranken und Kostkinder gelegentlich, nebenbei vorgenommen werden
ollen, so sei das nicht so zu verstehen, dass es sich hier um eineNeben-
ache handle, sondern so, dass man seine Amtsgeschäfte gehörig ein¬
eile, eines mit dem anderen verbinde und verknüpfe, im Interesse
ler Zeit, auch im Interesse der Kosten; er sei vollkommen damit ein¬
verstanden, dass man ordentlich revidiere und kontrolliere.
Nachdem er noch einzelne Vorschriften, die im Laufe der Jahro
lemacht wurden, gestreift hatte, sprach er sich zum Schlüsse dahin
ius, dass man in dieser Weise fortfahren soll, dass man möglicher-
veise, um das Odium des Jahres 1808 aus der Welt zu schaffen,
;inmal eine generelle Verordnung erlasse, die nach dem Muster des
Ediktes alles zusammenfasst, was gerade in der jetzigen Zeit mass¬
gebend ist, dass man ihm ein neues Datum aufdrückt, um endlich
:inmal dem Vorwurfe der Rückständigkeit zu entgehen. Aber bei
liesem Ausbau des Medizinalwesens kann man die Sache nicht übers
(nie brechen.
Von den beiden nächsten Rednern war Herr Abg. Gersten-
lerger von diesen Ausführungen des Regierungsvertreters recht
gefriedigt . Herr Prieger wies auf die Verdienste der Laien, wie
Wiessnitz und Kneipp um die Hebung der Volksgesundheit
lin, äusserte bezüglich der Aufklärung des Volkes durch die Bezirks-
irzte und die Schulen einige Bedenken und meinte, dass die Pocken
licht durch Schutzimpfung allein, sondern durch die Hebung der
sanitären Verhältnisse und die Zunahme der Reinlichkeit zuriickge-
;angen seien.
Herr Meyer erwiderte auf einzelne Ausführungen des Herrn
Dr. v. G r a s h e y u. a. er sei ihm ausserordentlich dankbar, dass er
luf die Gesundheit unserer Landgerichtsärzte ein so sorgsames Auge
labe und dafür sorgen wolle, dass sie nicht Neurastheniker werden;
iber wenn er ihnen nach dieser Richtung hin wirklich nützen wolle,
so möge er sie nicht daran hindern, sich in ihrem Berufe ent¬
sprechend fortzubilden, sondern er möge dafür sorgen, dass sie nicht
gezwungen sind, neben einem Berufe, der sie bereits vollständig in
\nspruch nimmt, auch noch Privatpraxis auszuüben; ein solches
Nebeneinander bringe die geistige Ueberanstrengung, welche ver-
nieden werden soll, diese Ueberanstrengung würde eventuell Neur-
istheniker heranziehen, aber nicht die Fortbildung, wie er sie Vor¬
schlägen habe. Damit, dass es in Bayern mit den Gesundheits-
/erhältnissen gut bestellt sei, sei nicht der Beweis geliefert, dass
tuch die Organisation der äusseren Behörden — und darauf habe er
angewiesen — vorzüglich sei. Unser bayerisches Medizinalwesen
cönne ganz vorzüglich sein, könne aber vielleicht noch besser wer-
len; diese Anschauung bestehe in weiten Kreisen der Aerzteschaft.
üne Reihe von Dingen, die der Herr Geheimrat rühmend hervor-
,rehoben habe, so die Lungenheilstätten, verdankten ihre Entstehung
licht der Initiative der obersten Medizinalbehörde, sondern des
/olkes, der Städte selbst.
Der Kgl. Staatsminister des Innern, Dr. Graf v. F e i 1 i t z s c h,
sprach die Anschauung der Staatsregierung dahin aus, dass eine
Neugestaltung des bayerischen Medizinalwesens nicht erfor-
lerlich sei, sondern dass die seit vielen Jahren fortgesetzt erlassenen
Jestimmungen genügen, um die Gesundheitsverhältnisse der Bevölke-
ung in entsprechender Weise zu fördern. Den Vorschlag, die Land¬
gerichts- und Bezirksärzte besser zu bezahlen und von der Praxis
:u entbinden, betrachte er als eine einfache Gehaltregulierungsfrage,
lie nur im Verein mit den Gehältern anderer Beamter geregelt werden
xönne. Bezüglich der Wünsche, den Bezirksärzten mehr Kompetenz
tegeniiber den Bezirksämtern zuzuweisen, Kurse zur Belehrung ab-
^uhalten usw., handle es sich um keine grundlegende Aenderung
inseres Medizinalwesens, sondern um Einzelverfügungen, die getroffen
werden könnten. Für den generellen Antrag Dr. Rauh läge kein
Wlass vor, sondern es sollte sich ein Antrag darauf beschränken,
| diese oder jene Richtung zu bezeichnen, in der eine Besserung ge¬
wünscht wird; dem würde alsdann durch einzelne Verordnungen oder
Verfügungen und, wenn notwendig, auch im Gesetzeswege ent¬
sprochen werden können. Bei der Spezialisierung des Medizinal-
!vesens in neuerer Zeit könne man nicht von Mängeln des Medizinal¬
vesens im allgemeinen sprechen, sondern höchstens von speziellen
Mängeln, auf die sich spezielle Anträge richten müssten. Mit dem
vorliegenden Anträge sei aber eigentlich nichts zu machen, denn das
tanze Medizinaledikt stehe in der Hauptsache nur auf dem Papiere,
:s sei durch zahlreiche Spezialverordnungen ergänzt und ersetzt, ein
neues Mcdizinaledikt zu schaffen, dazu bestehe kein hinreichender
Anlass.
Nachdem Herr Dr. Rauh nochmals kurz das Wort zu seinem
Anträge ergriffen hatte, wurde derselbe bei der Abstimmung m i t
Mehrheit a n g e n o m m e n. Dr. Becker- München.
Therapeutische Notizen.
Misch empfiehlt in einer Leipziger Dissertation (1906) die An¬
wendung des H e t r a 1 i n - Dioxybenzolurotropin als ein von Neben¬
wirkungen freies, zuverlässiges Harnantiseptikum, das in Gaben von
ca. 2,5 g pro die gute Dienste leiste bei bakterieller, nicht gonor¬
rhoischer Infektion der Harnwege, bei chronischer und akuter Zystitis,
bei harn- und oxalsaurer Diathese, Phosphaturie und bei Urogenital¬
tuberkulose, bei welcher es die Sekundärinfektion mit anderen
Eitererregern hintanhalte. F. L.
Die Behandlung der H-yperhidrosis ist immer noch
eine nicht ganz befriedigende. Die Verwendung des Formalins hat
sich auf die Dauer nicht bewährt, da ihm ausser verschiedenen
anderen Unannehmlichkeiten die völlige Ausschaltung der Schweiss-
sekretion zum Vorwurf zu machen ist. Saalfeld (Ther. Monatsh.
6, 06) hat in letzter Zeit das V e s t o s o 1 verwendet, eine weiss¬
gelbliche Salbe, bei dem der Formaldehyd bis zu 2 Proz. bei Gegen¬
wart anorganischer Metalloxyde (Zink und Bor) an ein neutrales
Fettgemisch gebunden ist. Der Geruch der Salbe ist ein durchaus
angenehmer. Die Salbe wird auf die Hände oder Füsse an 2 auf¬
einander folgenden Tagen eingerieben. Die Schweissbildung kehrt
alsbald zur Norm zurück, die Wirkung hält 4—6 Wochen an. Kr.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 17. Juli 1906.
— Wer die in der heutigen Nummer eingehender mitgeteilten Ver¬
handlungen über den Antrag Rauh in der bayerischen Ab¬
geordnetenkammer liest, wird sich dem Eindrücke nicht ver-
schliessen können, dass die Forderung einer Reform des bayerischen
Medizinalwesens von den Rednern f ii r den Antrag gut begründet
wurde. Insbesondere wirken die Ausführungen des Abgeordneten
Landgerichtsrat M e y e r - Nürnberg, der als Richter die Bedürfnisse
des landgerichtsärztlichen Dienstes genau kennt, durchaus über¬
zeugend. Die Medizinalreform im Sinne der Abgeordneten Rauh
und Meyer bedeutet übrigens keineswegs einen Umsturz unseres
bisherigen Medizinalwesens. Sie beschränkt sich in der Hauptsache
auf die Vollbesoldung der jetzt überlasteten Bezirks- und Land¬
gerichtsärzte in grösseren Bezirken, wodurch sich von selbst die
jetzt fehlende Beförderungsmöglichkeit für diese Beamten ergeben
würde; das übrige könnte durch eine neue Dienstesinstruktion ge¬
regelt werden. Die Medizinalreform ist also im wesentlichen eine
Geldfrage; aber doch handelt es sich nicht, wie Minister Graf
v. Feilitzsch meinte, um eine einfache Gehaltsaufbesserung, die
nur gemeinsam mit der Aufbesserung aller anderen Beamtengehälter
erfolgen könne. Hier soll die Gehaltserhöhung nicht mit Rücksicht
auf die Verteuerung aller Lebensbedürfnisse erfolgen, wie es bei
einer allgemeinen Gehaltsregulierung der Fall wäre, sondern die Auf¬
besserung würde den Ersatz bilden für eine Nebeneinnahme, mit
Rücksicht auf welche die geringere Gehaltsfestsetzung seinerzeit
stattfand, die aber jetzt infolge der Zunahme der Amtsgeschäfte in
Wegfall gekommen ist. Die Befürchtung, dass bei Durchführung der
angestrebten Vollbesoldung einzelner Amtsärzte nun auch andere Be¬
amtenklassen mit Recht eine Aufbesserung verlangen könnten, trifft
somit gewiss nicht zu. Bei den enormen Anforderungen, die an den
Staatshaushalt gestellt werden, ist es begreiflich, wenn die Regierung
neuen Ansprüchen gegenüber sich zurückhält. Nachdem jedoch auch
die Volksvertretung in diesem Falle das Bedürfnis anerkannt hat
und somit einer entsprechenden Vorlage sicher zustimmen würde,
wäre die weitere Verweigerung einer so wohlbegründeten und ge¬
rechten Forderung kaum verständlich. Es könnte sonst der Fall ein-
treten, dass bei einer späteren Beratung der Regierungsvertreter,
nicht mehr in der Lage wäre, mit berechtigtem Stolz auf das aus¬
gezeichnete Material der bayerischen Medizinalbeamtenschaft hin¬
zuweisen, die, obwohl ungenügend bezahlt, doch voll und ganz ihre
Pflicht tue.
— Der XIV. Internationale Kongress für Hygiene
und Demographie findet vom 23. — 29. September 1907 in Berlin
statt. Das Organisationskomitee unter dem Vorsitz des Präsidenten
des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, Herrn Bum m, hat die Vorar¬
beiten so weit gefördert, dass die Einladungen demnächst ergehen
werden. Die Arbeiten des Kongresses, welcher voraussichtlich im
Reichstagsgebäude tagen wird, werden in 8 Sektionen erledigt wer¬
den: Sektion I: Hygienische Mikrobiologie und Parasitologie; Sek¬
tion II: Ernährungshygiene und hygienische Physiologie; Sektion III:
Hygiene des Kindesalters und der Schule; Sektion IV: Berufshygiene
und Fürsorge für die arbeitenden Klassen; Sektion V: Bekämpfung
• der ansteckenden Krankheiten und Fürsorge für Kranke; Sektion Via:
Wohnungshygiene und Hygiene der Ortschaften; Sektion VIb: Hy¬
giene des Verkehrswesens; Sektion VII: Militärhygiene, Kolonial-
1448
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 29
und Schiffshygiene; Sektion VIII: Demographie. Die Organisation
einer mit dem Kongress verbundenen wissenschaftlichen Ausstellung
hat Herr Qeh. Medizinalrat Prof. Dr. R u b n e r. Berlin N 4, Hessi¬
schestrasse 4, übernommen. Die Geschäfte des Kongresses führt der
Generalsekretär Oberstabsarzt a. D. Dr. N i e t n e r. Die Geschäfts¬
stelle befindet sich Berlin W 9, Eichhornstrasse 9.
— Bei der diesjährigen französischen ärztlichen
Studienreise, welche am 1. September in Lyon beginnt und am
12. September in Uriage endet, werden folgende Kurorte besucht:
Hauteville, Evian, Thonon, St. Gervais, Chamounix, Annecy, Aix,
Challes, Salins-Moutier, Brides, Pralognan, Allevard, Bouqueron, La
Motte, Uriage. Der Preis für die Reise ist auf 300 Eres, festgesetzt.
Anfragen sind zu richten an:- Docteur Carron de la Carrier e,
2 rue Lincoln, Paris.
— Cholera. Hongkong. In der Woche vom 29. April bis
5. Mai kam 1 Fall von Cholera zur Anzeige.
— Pest. Türkei. In D j e d d a sind in der Zeit vom 18. bis
24. Juni 11 Personen an der Pest erkrankt und 12 gestorben. —
Britisch-Ostindien. Während der am 16. Juni abgelaufenen Woche
sind in der Präsidentschaft Bombay 275 Erkrankungen (und 225 Todes¬
fälle) an der Pest gemeldet. In Kalkutta starben in der Woche vom
27. Mai bis 2. Juni 57 Personen an der Pest. In Moulmein sind vom
19. bis 26. Mai 11 Personen an der Pest gestorben. In Madras galt
die Pest anfangs Juni als erloschen. — Hongkong. Während der
vier Wochen vom 29. April bis 26. Mai sind nacheinander 61 — 96 —
90—116 Erkrankungen und insgesamt 346 Todesfälle an der Pest zur
Anzeige gelangt. — China. Zufolge einer Mitteilung vom 28. Mai ge¬
langten in Amoy täglich im Mittel 12 neue Krankheitsfälle, von denen
mehr als die Hälfte tödlich endete, zur Kenntnis des Hafenarztes. —
Japan. Einer Mitteilung vom 23. Mai zufolge tritt die Pest neuerdings
in Schimonoseki wieder häufiger auf und verbreitet sich anscheinend
auch über die nähere Umgebung. — Queensland. Während der
am 19. Mai endenden Woche ist in Brisbane und Rockhampton je
1 Pestfall festgestellt worden. — Westaustralien. In Fremantle ist
in der am 2. Juni abgelaufenen Woche ein neuer Pestfall gemeldet
worden.
— In der 26. Jahreswoche, vom 24. bis 30. Juni 1906, hatten von
deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblichkeit
Posen mit 32,5, die geringste Dtsch. Wilmersdorf und Hildesheim mit je
7,7 Todesfällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel
aller Gestorbenen starb an Masern und Röteln in Harburg, Plauen i. V.,
Potsdam, an Keuchhusten in Pforzheim, an Unterleibstyphus in Brom¬
berg. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Erlangen. Herr Prof. Dr. J. Rosenthal, der Senior der
hiesigen medizinischen Fakultät, feierte am 16. d. M. — auf seinen
ausdrücklichen Wunsch hin in aller Stille — seinen 70. Geburtstag;
Freunde, Kollegen und frühere Schüler haben aus diesem Anlass dem
Gelehrten als Zeichen ihrer Verehrung eine Festschrift gewidmet.
Freiburg i. B.: Prof. Dr. Clemens wurde zum Oberarzt
am Krankenhause in Chemnitz (nicht Dresden, wie in vor. Nr. ge¬
meldet) gewählt.
Giessen. Prof. Dr. Moritz erhielt den Titel eines Geheimen
Medizinalrates, nachdem derselbe einen Ruf nach Frankfurt a. M.
als Nachfolger des nach Wien berufenen Prof. v. N o o r d e n ab¬
gelehnt hatte.
Heidelberg. Der Assistent der chirurgischen Universitäts¬
klinik Dr. V ö 1 c k e r hat den Titel eines a. o. Professors erhalten.
M ii n c h e n. Dem ersten Assistenten am pathologischen In¬
stitut der Universität München, ausserordentlichen Professor Dr.
Hermann D ii r c k, wurde die Funktion eines Prosektors an diesem
Institut in widerruflicher Weise übertragen.
W ii r z b u r g. Prof. Friedrich H elf reich wurde zum Mit¬
glied der Kais. Leopoldinisch-Karolinischen Akademie der Natur¬
forscher in Halle a. S. ernannt. — Dr. Martin Reichardt ha¬
bilitierte sich für das Fach der Psychiatrie. Die Habilitationsschrift
ist betitelt: „Ueber die Untersuchung des gesunden und kranken
Gehirnes mittels der Wage“.
Basel. Der Privatdozent für Geburtshilfe Dr. Otto Burck-
h a r d t - Arosa hat seine Entlassung als Privatdozent eingereicht.
Neu habilitieren sich die Herren DDr. F. Suter für Urologie,
L. G e 1 p k e, Direktor des Kantonsspitals in Liestal für Chirurgie,
A. Labhardt, Oberassistenzarzt des Frauenspitals, für Geburts¬
hilfe und Gynäkologie und E. Oppikofer für Oto-Rhino-Laryngo-
logie.
Christiania. Dr. Kr. K. H. Brandt wurde zum Professor
der Medizin ernannt.
Graz. Als Nachfolger des nach München berufenen Professors
Pfaundler sind zur Besetzung der Lehrkanzel für Pädiatrie vor¬
geschlagen : Stoeltzner - Halle, T h i e m i c h - Breslau, Langer-
Prag. — Dr. O. Gross habilitierte sich als Privatdozent für
pathologische Psychologie.
Kopenhagen. Dr. S. Monrad habilitierte sich als Privat¬
dozent für Pädiatrie.
Lemberg. Dem Privatdozenten für Chirurgie Dr. med. Roman
v. B a r o n c z ist der Titel eines a. o. Professors verliehen wor¬
den. (hc.)
L o n d o n. Dr. W. E. D i x o n wurde zum Professor der Matcri;
medica und Pharmakologie an King’s College ernannt.
Moskau. Der a. o. Professor für gerichtliche Medizii
Dr. P. A. M i n a k o w wurde zum ordentlichen Professor ernannt.
Neapel. DDr. G. E v o 1 i und P. P e z z o 1 o habilitierten siel
als Privatdozenten für interne Pathologie.
Ofen-Pest. Dr. E. K o n r a d habilitierte sich als Privatdozen
für Psychiatrie.
Palermo. Dr. G. Cirincione wurde zum ausserordent
liehen Professor der Augenheilkunde ernannt.
Prag. Dr. Fr. Erben habilitierte sich an der deutschen medi
zinischen Fakultät als Privatdozent für innere Medizin. Als Nach
folger des nach Strassburg berufenen pathologischen Anatomen Prof
Dr. C h i a r i wurden von der medizinischen Fakultät der hiesigei
Universität in Vorschlag gebracht: primo et aequo loco Kretz- Wiei
und Prof. Kaufmann- Basel, secundo loco D ii r c k - München um
tertio loco A 1 b r e c h t, Ghon und Schlage nhaufer - Wien.
R o m. Der a. o. Professor der gerichtlichen Medizii
Dr. S. Ottolenghi wurde zum ordentlichen Professor ernannt.
Turin. Dr. C. Magnani habilitierte sich als Privatdozen
für Augenheilkunde.
Zürich. Professor Dr. med. W. Silberschmidt hielt an
7. Juli seine Antrittsrede an der hiesigen Universität über die „Rein
lichkeit im Lichte der modernen Hygiene“.
(Todesfall.) In Bonn ist am 13. ds. der frühere a. o. Pro¬
fessor für Zahnheilkunde an der Universität Jena, Dr. med. Adol
W i t z e 1 im 59. Lebensjahre gestorben.
Personal nachrichten.
(Bayern.)
Niederlassung: Dr. Hermann Schum, Assistenzarzt ii
Mitterteich, Bez.-Amts Tirschenreuth, Assistent des Dr. Bail dort
Dr. Arthur Cohn, Assistenzarzt des Dr. Becker in Wiesau, Bez.
Amts Tirschenreuth. Dr. Anton Wiedemann, Stabsarzt im 11. Inf.
Reg. in Regensburg. Dr. Hans Mayer, prakt. Arzt in Hohenfels
Bez.-Amts Parsberg. Dr. Adolf Mayer, prakt. Arzt in Kirchenlaibach
Bez.-Amts Kemnath. Dr. Konrad Aschenaue r, prakt. Arzt ii
Stadtamhof, appr. 1894. Dr. Hans Wolfgang A s s u m, appr. 1900, ii
Staffelstein.
Verzogen: Dr. Franz Wintergerst, prakt. Arzt, voi
Kemnath nach Iphofen. Dr. Georg S t a b r i n, prakt. Arzt von Sulz
bürg, Bez.-Amts Neumarkt i/O., nach Potsdam. Dr. Hans Stöckl
prakt. Arzt in Neunburg v. W., nach Mainburg. Dr. Adam Franl
von Vilseck nach Rötz, Bez.-Amts Waldmünchen. Dr. Karl Lücken
Assistenzarzt in der Dr. D ö r f 1 e r sehen Privatklinik in Regensburg
August Bub von Staffelstein nach Friesenried, Bez.-Amt Oberdorf
Ernannt: Dr. Franz Xaver Held, bezirksärztl. Stellvertrete
in Schwandorf, zum Landgerichtsarzt in Straubing. Dr. Jos
Ochsenküh n, prakt. Arzt, zum bezirksärztl. Stellvertreter ii
Schwandorf.
In den dauernden Ruhestand versetzt: Der Be
zirksarzt I. Klasse Dr. Joseph Koller in Pfarrkirchen, seiner Bitti
entsprechend, wegen physischer Gebrechlichkeit unter allerhöchste
Anerkennung seiner langjährigen, treuen und erspriesslichen Dienst
leistung.
Erledigt: Die Bezirksarztsstelle I. Klasse in Pfarrkirchen
Bewerber um dieselbe haben ihre vorschriftsmässig belegten Gesuchi
bei der ihnen Vorgesetzten K. Regierung, K. d. I., bis zum 2. Augus
1. J. einzureichen.
Gestorben: Dr. Ant. Gamringer, Kgl. Bez.-Arzt a. D. ii
Tirschenreuth.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 26. Jahreswoche vom 24. bis 30. Juni 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 16 (13*
Altersschw. (üb. 60 J.) 7 (7), Kindbettfieber 1 (— ), and. Folgen de
Geburt —(1), Scharlach — ( — ), Masern u. Röteln 1 (D, Diphth. i
Krupp 1 (3), Keuchhusten 2 (—), Typhus — (—), übertragb. Tierkrankl
— ( — ), Rose (Erysipel) 1 ( — ), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut
u. Eitervergift.) — (— ), Tuberkul. d. Lungen 25 (26), Tuberkul. anc
Org. 9 (3) Miliartuberkul. 2 (1), Lungenentziind. (Pneumon.) 13 (11
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. 1 (3), Entzünd, d. Atmungs
organe 3 (5), sonst. Krankh. derselb. 3 (3), organ. Herzleid. 16 (12
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 4 (4), Gehirnschla.
7 (5), Geisteskrankh. 1 ( — ), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 1 (7), anc
Krankh. d. Nervensystems 5 (5), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfa
(einschl. Abzehrung) 31 (28), Krankh. d. Leber 2 (— ), Krankheit, de
Bauchfells 1 (3), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 1 (4), Krankh. c
Harn- u. Geschlechtsorg. 4 (2), Krebs (Karzinom, Kankroid) 10 (6,
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 4 (4), Selbstmord 3 (2), Tod durcl
fremde Hand 1 (— ), Unglücksfälle 5 (4), alle übrig. Krankh. 3 (4
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 184 (167), Verhältniszahl auf da
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 17,7 (16,1), für die übe
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 11,7 (10,3).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerci A.G., München.
Oie Mönchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umfang von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 4- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
Jt 6.—. • Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren: Für die Redaktion Amuff-
strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 81/»— 1 Uhr. • Für
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20. • Für
• Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16. *
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
No. 30. 24. Juli 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang.
Originalien.
Aus dem Frauenspital Basel-Stadt.
Ueber den Wert der Heisswasseralkoholdesinfektion
für die Geburtshilfe wie für den Wundschutz von
Bauchwunden.
Von Otto v. Herff.
Eine Keimfreiheit der Hände lässt sich durch die in Dampf
sterilisierten Gummihandschuhe zweifellos erzielen. Folge¬
richtig müsste man daher stets Handschuhe tragen, wenn
ihnen nicht erhebliche Nachteile anhafteten. Sieht man von
den doch immerhin hohen Preisen ab, die bei den stei¬
genden Gummipreisen im Handel keine Aussicht haben, nie¬
driger zu werden, übergeht man die geringe Haltbar¬
keit der Gummihandschuhe, so ist ganz besonders un¬
angenehm, dass das feine Tasten durch deren Verwendung
nicht unbeträchtlich abgestumpft wird, selbst bei jenen, die seit
Jahren alle gynäkologischen Untersuchungen mit Gummifinger¬
lingen auszuführen pflegen, denen es gewiss an Uebung nicht
fehlt. Besonders unangenehm macht sich dieser Nachteil gel¬
tend z. B. bei der Entscheidung, ob eine Placenta praevia
lateralis vorliegt oder nicht, bei der Entfernung von Nach¬
geburtsresten, von Eihautfetzen, . von Plazentarpolypen, beim
Sprengen einer etwas dicken Fruchtblase usw. Kein Zweifel,
dass Anfänger mit fehlender grosser Uebung und Erfahrung
leicht in grosse Verlegenheit geraten werden, vielleicht auch
eher den richtigen Weg verfehlen und schweres Unheil ver¬
anlassen.
Sehr bedenklich ist ferner die leichte Zerreisslich-
keit und Verletzbarkeit der Gummihandschuhe, die
besonders dann zu befürchten ist, wenn Instrumente gehand-
habt werden. Es entstehen oft sehr kleine Oeffnungen, die
nur dann entdeckt werden, und deren Häufigkeit einem klar
wird, wenn man sich daran gewöhnt, wie ich es seit Jahren
tue, die abgezogenen Gummihandschuhe mit Wasser unter
leichtem Druck anzufüllen. So klein solche Oeffnungen auch
sein mögen, so sind sie doch gross genug, Spaltpilze aller Art,
die aus der Haut stammen, heraustreten zu lassen. Daher
auch der dringende Rat, die Hände zuvor gründlichst zu des¬
infizieren. Werden die Handschuhe nass, etwa nach Kochen
derselben, oder über nasse Hände, wie nach einer Reinigung
nach Fürbringer angezogen, so sammeln sich in der Brühe,
die sich bildet, zahllose Keime an. Dieser Saft kann auch durch
kleinste Oeffnungen austreten und eine Infektion veranlassen,
wie umgekehrt auch der Arzt durch solche kleinste Oeffnungen
infiziert werden kann. Ich selbst erkrankte an einer Wund¬
rose des linken Zeigefingers und Armes nach Untersuchung
eines jauchenden Uteruskrebses mit Handschuhen! Daher
muss die Haut trocken, die Handschuhe mit Talk ausgepudert
sein, um die Bildung eines solchen Saftes zu verhindern. Leicht
ist nach A h 1 f e 1 d s Vorgang der Beweis zu führen, dass ab¬
geschnittene Fingerlinge selbst nach stundenlangem Operieren
und nach sorgfältigstem Ausschütteln des Talkes in Bouillon
in der Regel keine Kulturen auswachsen lassen. Die Haut¬
keime können aus einer trockenen Haut nicht so leicht heraus¬
kommen. Eine ganz besonders trockene Haut liefert nun die
No. 30.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
A h 1 f e 1 d sehe Heisswasseralkoholdesinfektion, daher ist diese
auch beim Gebrauch von Handschuhen der Fürbringer-
schen bei weitem vorzuziehen. Da aber eine solche Desinfek¬
tion eine für die gewöhnliche Geburtshilfe jedenfalls genügende
Keimarmut zu erzielen vermag, so erscheinen die Handschuhe
hierfür hier eigentlich überflüssig.
Das alles darf aber nicht zum Schlüsse führen, dass Hand¬
schuhe nutzlos sind. Das wäre viel zu weit gegangen. Ihr
Nutzen ist ein ausserordentlicher, sobald man sich der Unver-
letzthe'it seiner Hände nicht ganz sicher ist. Auch die kleinste
unscheinbare Verletzung, eine kleine Schrunde, ein Riss
am Rande des Nagelbettes, enthält stets Eiterkeime, die für
den Wirt selbst harmlos erscheinen mögen, aber die, auf eine
dritte Person übertragen, höchst gefährlich werden. Für diese
recht häufigen Fälle, ebenso jene, in denen man vorbeugend
seine eigenen Hände gegen Infektion mit Eitererregern schützen
will, die durch Menschenpassage hochvirulent geworden sind,
also aus irgend einer eiternden Wunde, aus einem Wochen¬
flüsse und dergl. stammen, sind Handschuhe auch in der Haus¬
praxis unentbehrlich. Denn der Notbehelf, seine Hände
mit Sublimatvaselin oder mit sterilisiertem Oele zuvor einzu-
reiben, ist doch recht unsicher. Indes ist stets zu bedenken,
dass durch kleinste, nicht sichtbare Löchelchen in dem Hand¬
schuh Keime einzudringen vermögen, dass der Schutz kein
absoluter ist
Eines kann aber keine desinfizierte Hand,
kein Gummihandschuh verhindern, nämlich
eine Verschleppung von Eigen- oder Fremd¬
keimen aus den äusseren Teilen, aus der
Scheide in die Gebär m u 1 1 e r ! Leicht wäre es hierfür
warnende Beispiele anzubringen!
Und in der Tat haben sich n i r g e n d s die hochgespannten
Erwartungen, die sicheren Hoffnungen erfüllt, die man an die
prinzipielle Anwendung der kostspieligen Handschuhe bei allen
geburtshilflichen Untersuchungen und Operationen knüpfen zu
müssen glaubte. Vielmehr zeigt es sich, dass die Ergebnisse,
die mit Handschuhe erzielt werden, gegenüber jenen zurück¬
stehen, die mit vorbeugenden Scheidenspülungen während der
Geburt, aber unter Verzicht einer durchgängigen Anwendung
von Flandschuhen erzielt werden.
Mit oder ohne Gebrauch von Handschuhen, stets muss die
Hand, wenn es sich nicht um eine ganz vorsichtige, vorläufige,
kurze Untersuchung mit Handschuh handelt, auf das sorg¬
fältigste desinfiziert werden. Daher ist und wird
nach wie vor eine zuverlässige Desin¬
fektionsmethode ein dringendes Bedürfnis
sein. Es muss von einer solchen verlangt werden, dass
sie trotz weitgehender Einfachheit möglichste Keimarmut ge¬
währleistet ! Je einfacher die Methode ist, je
weniger verschiedene Waschungen notwen¬
dig werden, desto grösser ist die Aussicht für
eine allgemeine Verbreitung. Daher erfreut sich
die einfache Heisswasserwaschung mit folgender Anwendung
irgend eines Desinfiziens noch immer einer solchen allge¬
meinen Vorliebe, wiewohl jedermann weiss oder wissen sollte,
dass sic als „u n g e n ü g e n d“ bewertet werden muss, daher
die in der allgemeinen Praxis verhältnismässig geringe Ver-
1
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
450
breitung der bei weitem besseren Fürbringer sehen Me¬
thode, da sie dreierlei Waschungen vorschreibt.
In der A h 1 f e 1 d sehen Heisswasseralkoholmethode liegt
eine solche verhältnismässig einfache Desinfektionsvorschrift
vor, die bei grösstmöglicher Einfachheit — zwei Waschungen —
eine weitgehende Keimarmut, bei geeigneten Händen selbst eine
Keimfreiheit für längere Zeit gewährleistet. Eine Methode, die
zudem auch nach den zahllosen Laboratoriumsversuchen heute
den Ergebnissen der Fürbringer sehen Methode in keiner
Weise zurücksteht, sofern man die Fehlergrenzen nach der
Wahrscheinlichkeitsrechnung nur ein wenig berücksichtigt.
Es ist dieses auch nicht anders zu erwarten, da ja der wesent¬
lichste Teil der Fürbringer sehen Methode die Waschung
mit Alkohol ist. „Ohne Alkohol keine genügende Keimarmut“
lehren alle Versuche eindringlich, daher muss eine Desinfek¬
tion ohne Alkohol als ungenügend angesehen werden.
Die Angliederung einer weiteren Waschung mit wässe¬
rigen Desinfizientien nach der Alkoholreinigung ist keine Ver¬
besserung, sondern eher eine Verschlechterung, weil gewisse
Vorteile der Alkoholwaschung geschwächt werden. Da aber
der Glaube an die rasche Wirksamkeit wässriger Desinfek¬
tionslösungen, d. h. in etwa 5 Minuten Waschdauer, nicht so
bald zu erschüttern sein wird, weil es sich um einen Glauben
und nicht um ein Wissen handelt, so wird es noch lange dauern,
bis diese Methode fallen gelassen wird. Da erscheint es doch
gewiss besser, es werden zu der zweiten Waschung wenigstens
alkoholische Desinfektionslösungen nach der Methode Engels
verwandt. Diese Methode schadet jedenfalls nichts, vielleicht
leistet sie in der allgemeinen Praxis mehr als der einfache
Alkohol. Da jedoch über diesen Punkt ausgedehntere Ver¬
suchsreihen am Krankenbette fehlen, so muss diese Frage noch
immer als offen hingestellt werden.
Vorderhand gebührt der Heisswasseralkoholmethode, die
den Namen A h 1 f e 1 d s insofern mit Recht trägt, weil er für sie
den Kampf führt und ihr erster Empfehler, R e i n i c k e, sie
anscheinend als Schüler Zweifels hat fallen lassen, wegen
ihrer Sicherheit und vor allem ihrer Einfachheit gegenüber der
Fürbringer sehen Methode für die allgemeine Praxis ent¬
schieden der Vorrang.
Natürlich muss der Beweis geführt werden, dass sich diese
Methode auch in der Praxis und nicht allein im Laboratoriums¬
versuch als vorzüglich erweist. Diesen Beweis an einem ein¬
wandsfreien Materiale zu führen, dessen Grösse die möglichen
Fehlergrenzen unter 1 herabdrückt und das zu 89 Proz. aus
Frauen besteht, die kreissend erst die Anstalt aufsuchen, also
keinerlei vorbeugenden hygienischen Massregeln unterworfen
werden konnte, das daher den Verhältnissen der Hauspraxis
mit Ausnahme der Desinfektionsvorkehrungen völlig entspricht,
habe ich mir als Aufgabe seit 1901 gestellt. So verfüge ich
denn bei der Niederschrift dieser Zeilen, Juni 1906, über
5000 Geburten, ohne Fehlgeburten, die unter ausschliesslicher
Händedesinfektion mit Heisswasseralkohol nach A h 1 f e 1 d bei
sorgfältigster Reinigung der äusseren Teile mit Heisswasser¬
sublimat nach Kürzung der Schamhaare, vor Operationen hin¬
gegen, sobald narkotisiert wird, nach Rasieren der Scham unter
Reinigung" mit Alkohol, geleitet wurden. Die Zahl der Ge¬
burten im Berichtsjahre 1905 erreichte die Ziffer 1254. Dass
bei einer solchen jährlichen Zahl von Geburten irgendwelche
Mängel oder Unsicherheiten, die in der Methode selbst liegen,
notwendigerweise zu Tage hätten treten müssen, bedarf wohl
keiner weiteren Darlegung.
Auch auf der gynäkologischen Station wird die Heisswasser¬
alkoholdesinfektion ausschliesslich zur Reinigung des Opera¬
tionsfeldes verwandt — auch die Scheide wird mit in Alkohol
getauchter Watte abgerieben, dann aber, um die Trockenheit
der Haut zu mildern, ausgespült — , stets mit vorzüglichem
Erfolge, was die Wundheilung betrifft. Wenn es richtig ist,
wie vielfach und wohl mit Recht behauptet wird, dass der
suprasymphysäre Schnitt, die A 1 e x a n d e r - A d am s sehe
Operation den besten Prüfstein für die Güte der in der Anstalt
herrschenden Desinfektion abgibt, so würden die glatten Aus¬
heilungen, die seit Jahren durchweg unter ausschliesslicher
Heisswasseralkoholdesinfektion beobachtet werden, einen wei¬
teren Beweis für die Zuverlässigkeit dieser Methode abgeben.
Die Alkoholdesinfektion bietet gerade bei den Bauch¬
operationen noch einen weitgehenden Schutz, indem die Aus¬
trocknung und ipphrumpfung, Gerbung der Haut entschieden ein
Auswandern oder ein Abstreifen der in der Tiefe gelegenen
Hautkeime erschwert, selbst verhindert, wie dieses durch zahl¬
lose Versuche längst bewiesen wurde. Sorgt man für eine
sorgfältige Bedeckung der Wundumgebung mit trockenen
sterilen Tüchern, die gegebenenfalls Flüssigkeit, Schweiss auf¬
saugen, welchen Wundschutz ich im vorjährigen Jahresbericht
und in dieser Zeitschrift näher ausgeführt habe, so ist die
Möglichkeit einer Uebertragung von Hautkeimen in die Wunden
gewiss gering.
Grösser muss diese Gefahr werden, wenn Gummitücher,
die keinerlei Flüssigkeiten aufnehmen, zur Abdeckung benützt
werden. Bei Gummitüchern ist stets die Möglichkeit vor¬
handen, dass Blut oder Flüssigkeiten, Schweiss, der sich da¬
runter ansammelt, wieder in die Wunde fliesst oder zufälliger¬
weise dorthin gewischt wird. Daher habe ich von Anfang an
zur Abdeckung der Wunden mich steriler trockener Tücher
bedient.
Es erscheint daher der Vorschlag Döderleins, das
Hautgebiet des Operationsfeldes durch eine an Ort und Stelle
erzeugte Gummihaut an der Abgabe von Keimen in das Opera¬
tionsgebiet zu verhindern, gerade bei Durchführung der Heiss¬
wasseralkoholdesinfektion wenig dringlich zu sein. Hat doch
auch A h 1 f e 1 d nachgewiesen, dass Hände, die lange in
Gummihandschuhen steckten, keine Keime darnach abgeben.
Es ist nicht unmöglich, dass die guten Ergebnisse Döder¬
leins mit Aufpinseln einer Gummilösung *) nicht so sehr
dieser, als vielmehr der Alkoholdesinfektion, die in Form einer
Pinselung von Jodtinktur ausgeführt wird, in erster Linie mit
zu verdanken sind. Es muss jede Aufweichung der Haut, wie
dieses bei der Fürbringer sehen Methode regel¬
in ässig stattfindet, unbedingt vermieden
werden, weil dadurch die Keimabgabe beför¬
dert wird.
Im Interesse eines weitgehenden Wund¬
schutzes ist daher die Heisswasseralkohol¬
desinfektion, bei welcher die Haut ein-
schrumpft und eintrocknet, gewissermassen
gegerbt wird, und die Keimabgabe für lange
Zeit erheblich, wenn nicht ganz erschwert
wird, dringend anzuraten.
Ich kann nur Döderleins Beobachtungen bestätigen, dass am
Schlüsse reiner Bauchoperationen von einer Keimfreiheit nicht mehr
die Rede sein kann. Wenige Keime sind auch nach der Heiss-
wasseralkoholdesinfektion, trotz ausgedehntestem Wundschutz, wie
er im Frauenspital Basel ausgeführt wird, vorhanden. Ein Teil dieser
Keime stammt in meinen Fällen zweifellos von Luftkeimen her, da
ich über eine keimfreie Luft in meinem Operationssaale nicht verfüge.
Während der Dauer der Operation fallen immer eine ganze Anzahl
Keime auf die Operationswunden, da solche auf in der Nähe aufge¬
stellten kleinen Petrischalen aufkeimen. Ihre Zahl beträgt während
einer Stunde Operation rund 20 — 25 Keime auf dem Umfang einer
massig grossen Wunde. Ein anderer Teil der Keime entstammt der
Flaut, die während der ganzen Operation nicht trocken zu erhalten
ist, da Wundflüssigkeiten sie alsbald benässen und durchfeuchten. '‘-Ge¬
länge es, ihre Trockenheit zu wahren, so wären nur Luftkeim^ zu
erwarten. Und in der Tat ist es mir durch Einfettung der Haut mit
1 proz. Jodvaseline, der soviel Jodkali zugesetzt wird, dass eine leichte
Lösung des Jods in Wasser gewährleistet wird, gelungen, eine weit¬
gehende Keimarmut, (eine Keimfreiheit kann ich wegen der Luft¬
keime nicht erreichen), herbeizuführen, ohne das teure „Guadanin“
— sterile Gummilösung — anwenden zu müssen. Ueberall wo
Flüssigkeiten durch Lücken der Vaselinschicht Vordringen, kommen
sie mit dem Jod in Berührung, dessen rasche keimtötende Kraft ja
bekannt ist. Verschärfen lässt sich dieser Wundschutz durch zu¬
voriges Einpinseln der Haut mit 10 proz. alkoholischer Jodlösung.
Keime lassen sich dann nur aus der Unterhautzellgewebswunde, die
ja während dieser Zeit den Luftkeimen der bewegten Luft besonders
ausgesetzt ist, züchten. Drei Beispiele mögen den Schutz dieser
Massregel zeigen: a) Ovariotomia dextra, ein halbes Jahr nach Stiel¬
torsion. Ausgedehnteste, besonders harte Schwielen und Schwarten
gestalten die einstiindige Operation ausserordentlich schwer. Ver-
U Döderlein: Ein neuer Vorschlag zur Erzielung keimfreier
Operationswunden. Deutsche med. Wochenschr. 1906, No. 15, d. W,
1906, No. 28.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1451
letzung des S romanums, welche Oeffnung in der Höhe der Haut¬
wunde vernäht wird. Vorher überall Keimfreiheit, am Schlüsse der
Operation vereinzelte Keime in der Bauchhöhle, zahlreiche in der
Hautwunde, die offenbar von der Darmverletzung, es war Kot aus¬
getreten. herriihren dürften. Zahlreiche Keime der Luftplatte. Hei¬
lung. b) Parovariotomia sinistra und Ventrofixatio uteri mit supra¬
symphysärem Schnitt Rapin-Pfannenstiel. Dauer % Stunden.
Vor Schluss der Bauchwunde Serosa keimfrei, Unterhautzellgewebe
ein Keim (Luftkeim), c) Doppelseitige Ovariotomie wegen Carcinoma
ovarii bei massigem Aszites. Suprasymphysärer Schnitt Rapin-
Pfannenstiel. Alle Platten mit Ausnahme der Luftplatte, die
rund 25 Keime enthielt, blieben steril. Entnahme der Flüssigkeiten
mit einem breiten Spatel. Dauer Vz Stunde. Heilung.
Uebrigens glaube ich, dass dieser verschärfte Wundschutz nach
Döde r lein mir keine besseren Ergebnisse liefern wird, wie es übrigens
bei D ö d e r 1 e i n auch der Fall ist und bei seinen anerkannt vorzüg¬
lichen Ergebnissen auch sein muss. Der Körper überwältigt mit
seinen Kampfzellen und Schutzstoffen vereinzelte, wenig angriffs¬
kräftige Spaltpilze, wie es doch die Haut- und Luftkeime gewöhnlich
zu sein pflegen. Seit Einführung des verschärften Wundschutzes zu
der alten Heisswasseralkoholdesinfektion habe ich im Gegensatz zu
Werth und Küstner keine bemerkenswerte Verbesserung der
Laparotomieresultate gesehen. Das einzige, was ich allenfalls sagen
kann, ist, dass schon nach Einführung der Handschuhe, ohne den ver¬
schärften Wundschutz, die Blähungsbeschwerden milder werden, die
Winde etwas früher abgehen. Meines Erachtens wesentlich Folge
geringerer mechanischer Schädigung des Bauchfells durch die glatte
Oberfläche der Handschuhe. Nach wie vor der Einführung des ver¬
schärften Wundschutzes gehen die Winde in der Regel innerhalb
20 — 28 Stunden nach der Operation ab. Eine Ausnahme ist so selten,
dass man kaum noch mit einem späteren Abgänge rechnet. Die Ope¬
rierten bekommen reichlich Physostigmin neben den üblichen Ein¬
läufen, so dass der frühe Windabgang wohl die Folge dieser Mass-
regeln ist. Indes ist die Beurteilung von milderen oder schweren
Windschwierigkeiten so sehr subjektiven Fehlerquellen ausgesetzt,
dass ich für meine Beobachtungen besonderen Wert nicht darauf legen
kann. Die Wunden heilten unter der Heisswasseralkoholdesinfektion
im Frauenspitale Basel, wie sich so viele Besucher überzeugen konn¬
ten, derart glatt aus, dass der obige verschärfte Schutz nach D ö d e r -
lein mehr zu leisten wohl nicht vermag. Er könnte daher als über¬
flüssig erscheinen, wenn eben nicht die Pflicht bestünde, das Prinzip
der Keimfreiheit auf alle Fälle strengstens durchzuführen. Und von
diesem Standpunkte aus muss die Anregung Döderleins allseitig
mit Dank entgegengenommen werden und eingehend studiert, aber
auch möglichst vereinfacht werden.
Doch zu den Ergebnissen des Kreissaales des Frauen-
spitales Basel-Stadt zurück.
Bei der Sitte der meisten Gebäranstalten, die Grenze des
Fiebers im Wochenbett bei 38° C Achselmessung zu setzen,
habe ich meine Zahlen des Jahresberichts, die auf 37,9 0 C
Fiebergrenze eingestellt sind, umgerechnet.
Von nunmehr 5000 Wöchnerinnen (November 1901 bis
Mai 1906), bei welchen Reihen die mögliche Fehlergrenze nur
1 beträgt, fieberten in Basel bei der Heisswasseralkohol¬
desinfektion an
Vulvitis, Kolpitis, Wundfieber, Endometritis, Wochenbetts¬
geschwüre und unbekannte Ursachen . 8 Proz.
Endometritis allein, einschliesslich Eihautverhaltung ... 2,8 „
Pelveozellulitis u. Pelveoperitonitis gonorrhoica, (je ein Fall 2 Fälle
Bakteriämie . 0,08 Proz.
Verschleppungsbakteriämie (Pyämie) . 3 Fälle
Gesamterkrankungen . . . . . 15,7 Proz.
Kindbettfiebererkrankungen . . 8,2 „
Fieberhafte Erkrankungen anderer Art . 7,5 „
Brustdrüsenerkrankungen . 2,8 „
Gesaiqtsterblichkeit . . 0,7 „
Sterblichkeit an anderen Erkrankungen, Zufällen . 0,6 „
Sterblichkeit an Kindbettfieber . 0,09 „
Anstaltssterblichkeit an Kindbettfieber . 0 „
Gegenüber diesen Ergebnissen, die ge¬
wiss in die Reihen der besten ein gereiht
werden müssen, muss auch die strengste und
unerbittlichste Kritik zum mindesten das
zugeben, dass die Heisswasseralkoholdes¬
infektion gleichwertig der Fürbringerschen
Methode ist, dass sie aber dieser auf alle
Fälle darin überlegen ist, dass sie einfacher
ist, weil sie nur zwei Waschungen von je rund
fünf Minuten vorschreibt.
Es geht daher nicht mehr an, dass die Ahlfeldsche
Heisswasseralkoholreinigung in grossen Handbüchern mit
Stillschweigen übergangen wird — selbst wenn dieses
Schweigen ein Ausdruck vornehmer Kritik sein sollte. Es ist
dieses um so weniger angängig, nachdem die praktische Vor¬
züglichkeit dieser Methode am Kreissbette von einem Dritten,
der dieserStreitfrage lange Zeit alsZuschauer unbeteiligt gegen¬
übergestanden hatte, nunmehr bewiesen wird. Das ist so lange
unzulässig und muss von jetzt an als Voreingenommenheit ge¬
deutet werden, als nicht nachgewiesen wird, dass am Kreiss¬
bette die F ii r b r i n g e r sehe Methode erheblich bessere Er¬
gebnisse als die Heisswasseralkoholdesinfektion liefert und
zwar an Reihen von Geburten, die an der Hand der Wahr¬
scheinlichkeitsrechnung einer Kritik stand halten.
Bei allen diesen Erörterungen ist wenig oder gar nicht die
Eigenschaft des Alkohols berührt worden, Bakteriengifte, ins-
besonders Toxine, Endotoxine, Aggressine und andere Gifte zu
zerstören, wodurch gewiss die Angriffskraft der Spaltpilze not¬
leidet. Kurz und gut, es kann nur wiederholt werden, was im
vorigen Jahre betont worden ist:
Die Ergebnisse der Ahlfeldschen Heiss¬
wasseralkoholmethode im Frauenspitale Ba¬
sel sind derart vorzügliche, dass ich in
jeder Beziehung nicht nur berechtigt, son¬
dern auch verpflichtet bin, diese Methode,
die sich durch ihre Sicherheit, wie durch
ihre verhältnismässige Einfachheit aus¬
zeichnet, weiteren greisen auf das wärmste
zu empfehlen.
Aus Prof. Dr. Vulpius’ Orthopädisch-Chirurgischer Heil¬
anstalt in Heidelberg.
Erfahrungen in der Behandlung der spinalen Kinder¬
lähmung.*)
Von Oscar Vulpius.
Es sind etwa 10 Jahre her, dass mein besonderes Interesse
sich der Behandlung der Lähmungen — speziell der spinalen
Kinderlähmungen — zugewendet hat. Zunächst war dieses
Interesse auf die Ausbildung und Erprobung der Sehnenüber¬
pflanzung beschränkt. Und, wie dies immer zu geschehen
pflegt, mit dem Interesse wuchs unter den Händen das Kranken¬
material. Dadurch aber kamen wir selbstverständlich auch in
die Lage, andere Behandlungsmethoden anwenden zu müssen.
So wurde es uns möglich, an einigen Hunderten von Fällen
Erfahrungen nach den verschiedensten Richtungen sammeln,
die Leistungsfähigkeit aller Methoden beobachten und beur¬
teilen zu können. Und über solche Erfahrungen zu berichten,
ist die Aufgabe, die mir von der Kongressleitung übertragen
worden ist.
Uebergangen sei heute völlig die Frühbehandlung, wir
wollen uns nur mit Fällen beschäftigen, welche einen defini¬
tiven Zustand darstellen, was die Ausdehnung bezw. die Rück¬
bildung des Lähmungsbezirkes betrifft. Und bei diesen Fällen
wieder soll nur die Behandlung mit portativem Apparat, die
Behandlung mit Arthro- bezw. Tenodese, die Behandlung mit
Sehnentransplantation unter besonderer Berücksichtigung der
Dauererfolge besprochen werden.
Was soll der portative orthopädische Appa¬
rat leisten? Erstlich Fixierung schlotternder Gelenke, ferner
Bewegungsregulierung partiell gelähmter Gelenke, endlich
Korrektur fehlerhafter Gelenkstellungen.
Inwieweit vermag der orthopädische Apparat diesen An¬
forderungen zu entsprechen?
1. Der moderne orthopädische Hülsenapparat gestattet eine
vorzügliche Feststellung des Schlottergelenks, ja er ermöglicht
eine temporäre Beseitigung oder Durchführung dieser Fixation
je nach dem augenblicklichen Wunsch des Gelähmten, er er¬
laubt auch die Fixation in beliebig zu wählender und zu ändern¬
der Winkelstellung.
Eine Heil Wirkung auf schlotternde Gelenke vermag der
Apparat aber nicht in nennenswertem Grad auszuüben, er
_ . * Uj
*) Nach dem offiziellen Referat, erstattet auf dem Internationalen
Medizinischen Kongress in Lissabon (Sektion für Pädiatrie), April 1906.
. . 1*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
452
muss dauernd getragen werden, wenn er einen Dauererfolg
auf weisen soll.
2. Die Scharniere des Apparates können wunschgepiäss
die Gelenkbewegung regulieren, d. h. dieselbe hinsichtlich der
Exkursionsbreite beliebig beschränken, und sie können die
Bewegungsrichtung, welche durch partielle Lähmung der Ge-
lenkmuskulatur pathologisch zu werden pflegt, zur Norm
zurückführen.
Die Versuche, auf die Scharniere elastische Züge ein¬
wirken zu lassen, welche als sogen, künstliche Muskeln die ge¬
lähmten Muskeln ersetzen sollen, sind im Ganzen mehr tech¬
nisch interessant als praktisch von Wert.
3. Endlich ist nicht zu bestreiten, dass mittels verschieden¬
artiger Vorrichtungen dem orthopädischen Apparat eine Re¬
dressionswirkung auf paralytische Deformitäten verliehen
werden kann.
Eine solche Behandlung aber ist mühsam, zeitraubend,
kostspielig und bei ernsterer Deformität keineswegs zuver¬
lässig.
Wir kommen damit auf die Nachteile der Apparattherapie
überhaupt zu sprechen. Die alltägliche Erfahrung lehrt, dass
auch der beste Apparat schädliche Nebenwirkungen aufweist,
welche Blutumlauf und Muskulatur betreffen. Eine nicht immer
unerhebliche Atrophie der apparattragenden Extremität ist die
nur allzu regelmässige Folgeerscheinung. Da wir es aber in
unserem speziellen Fall mit Gliedmassen zu tun haben, welche
bereits hinsichtlich der Zirkulation und der Muskelkraft eine
Einbusse erlitten haben, so sind diese Nebenwirkungen be¬
sonders unerwünscht.
Und weiter besitzt jeder orthopädische Apparat ein Ge¬
wicht. welches für eine gesunde Extremität vielleicht keine
Ucberlastung erzeugt, welches aber für das durch Lähmung
geschwächte Bein eine schwere Bürde bildet.
Wir stellen also aus diesen Erfahrungen und Erwägungen
heraus für eine rationelle Lähmungstherapie in erster Linie die
Forderung, einen orthopädischen portativen
Apparat wenn irgend möglich unnötig zu machen,
wenn auch ein tüchtiger Bandagist uns zur Seite steht. Und
die Verwirklichung dieses Postulats durch die Heranziehung
operativer Methoden hat uns Orthopäden den Dank so mancher
Kranker eingetragen, welche Jahre lang mit Apparaten sich
herumgeschleppt und herumgeärgert hatten, hat uns selbst
aber auch reine Freude gebracht an den Erfolgen dieser
operativen Therapie.
Wir beginnen mit der Besprechung der Arthrodese,
welche angezeigt ist in Fällen totaler Lähmung aller ein
Gelenk bewegender Muskeln oder dann, wenn die übrig ge¬
bliebenen funktionstüchtigen Muskelreste so geringfügig sind,
dass sie das Schlottern des Gelenkes in keiner Weise ver¬
hüten können.
Wir haben diese Operation am Sprung-, Knie- und
Schultergelenk sehr häufig ausgeführt und über die Technik und
die Dauerresultate hinreichende Erfahrungen gesammelt. An
Hüft-, Ellbogen- und Handgelenk dagegen haben wir von der
operativen Versteifung Abstand genommen und, wie wir zu¬
nächst glauben, mit Recht. Unsere Technik ist die folgende:
Die Gelenkflächen werden ausgiebig zu Gesicht gebracht, mit
dem scharfen Löffel griindichst angefrischt derart, dass vieler¬
orts Knochensubstanz freigelegt wird, die Oberflächen unregel¬
mässig durchfurcht erscheinen.
Eine Vernähung der beiden Knochen wird von uns nur
am Schultergelenk und zwar mit Silberdraht gemacht, im
übrigen überlassen wir die Ankylosierung des zerstörten Ge¬
lenkes dem natürlichen Heilungsprozess, den wir durch lang¬
dauernde Fixation in exakt angelegtem Gipsverband (während
mindestens 3 Monaten) begünstigen.
Werden wir nach den Dauerresultaten befragt, so
antworten wir am besten für die einzelnen Gelenke getrennt.
Im Sprunggelenk wird gewöhnlich eine feste fibröse An¬
kylose in Mittelstellung erreicht, leichte Wackelbewegungen
bleiben meist möglich, sie bringen keinen Schaden, sondern
erleichtern das Abwickeln des Fusses beim Gehen.
Es hat sich als zweckmässig herausgestellt, zur Arthrodese
die Verkürzung und periostale Anheftung der 3 vorderen Mus¬
keln am Unterschenkel hinzuzufügen, um die dauernde Hebung
der Fussspitze zu sichern. Misserfolge sind sehr selten, sie
sind bisweilen bedingt dadurch, dass nach der gelungenen An¬
kylosierung <Jss oberen Sprunggelenkes eine übermässige Be¬
weglichkeit der übrigen Fusswurzelgelenke eintritt. Ge¬
legentlich habe ich beobachtet, dass verfrühte Belastung des
noch nicht ausgeheilten Gelenkes eine Plattfussstellung zur
Folge hatte. Der funktionelle Erfolg ist fast ausnahmslos ein
sehr günstiger, die Versteifung wird kaum als Störung emp¬
funden.
Um im Kniegelenk eine solide Ankylose zu erzielen,
muss die Anfrischung nicht zu schonend ausfallen. Andernfalls
ist nicht nur die Fixation ungenügend, sondern es besteht auch
eine Neigung zu unerwünschter Beugekontraktur des Gelenkes.
Zur Verhütung der letzteren ist es des weiteren angezeigt,
die Flexorensehnen zu tenotomieren bezw. zu resezieren, den
durchtrennten Streckapparat durch exakte Naht in guter Span¬
nung nach vollendeter Arthrodese wieder herzustellen. Eine
Ueberstreckung des Gelenkes habe ich darnach niemals ein-
treten sehen. Der funktionelle Erfolg ist auch hier regelmässig
ein erfreulicher, wenn auch die dauernde Versteifung des
Beines, namentlich nach doppelseitiger Arthrodese nicht als
gleichgültig bezeichnet werden darf. Wo es angeht, ziehe
ich es vor, nur e i n Knie zu arthrodcsicren, das andere im
portativen Apparat festzustellen.
Für die Heilung des schlotternden Schultergelenkes
endlich bildet die Arthrodese das souveräne Mittel. Sind die
Heber des Schultergürtels erhalten geblieben, so bewegen sie
den mit der Skapula durch die Arthrodese verschmolzenen
Humerus mit, — der vorher als wertloses Anhängsel mit¬
geschleppte Arm kann wieder verwertet, die Hand kann zum
Gesicht geführt werden. Es empfiehlt sich, die Ankylose bei
stark abduziertem und etwas nach vorne erhobenem Arm ein-
treten zu lassen. Gymnastische Nachbehandlung ist von
grossem Wert und unentbehrlich.
Der Erfolg ist meist ein erstaunlicher, zumal auch die Ober¬
armmuskulatur, besonders der Bizeps, sich wieder zu erholen
pflegt, nachdem er durch Inaktivität und dauernde Ueber-
dehnung funktionell verloren gegangen war.
Wert hat die Arthrodese des Schultergelenkes natürlich
nur, wenn die Vorderarmmuskulatur gut erhalten, die Motilität
der Hand nicht oder nur unbedeutend beschränkt ist.
Als Nachteil der Methode muss erwähnt werden, dass
durch die allmählich eintretende Hypertrophie der Schulter-
giirtelmuskeln, besonders des Trapezius, ein Hochstand der
gelähmten Schulter und eine leichte Skoliose sich einstellen.
Vorübergehend stören kann eine bisweilen nach Jahr und Tag
eintretende Fistelbildung, welche erst nach Extraktion des
Silberdrahtes verschwindet.
Zusammenfassend können wir sagen, dass die Arthrodese
vorzügliche und dauernde Resultate gibt, wenn sie unter
richtiger Indikation und technisch exakt ausgeführt wird.
Dass sie einen pathologischen Zustand, eben die Ankylose,
erzeugt, ist richtig, — allein dieser Nachteil tritt weit zurück
gegenüber ihrer grossen Heilwirkung, gebrauchsunfähige Glied¬
massen wieder funktionstüchtig zu machen.
Wir haben uns bisher mit Fällen totaler oder fast totaler
Lähmung beschäftigt und wenden uns nun zu der weitaus
häufigeren partiellen Lähmung: Neben völlig gelähmten
und degenerierten Muskeln liegen völlig gesunde, ja bisweilen
geradezu vikariierend hypertrophische, oder aber inaktivitäts¬
atrophische Muskeln, letztere an ihrer Rosafärbung leicht
kenntlich. Manchmal finden wir die verschiedenen Zustände
in einem und demselben Muskelbauch neben einander, wodurch
der letztere ein „getigertes“ Aussehen erhält.
Die Folge einer derartigen partiellen Lähmung ist nicht nur
ein teilweiser Funktionsverlust, sondern auch das Entstehen
einer Kontraktur und weiterhin einer fixierten paralytischen
Deformität.
Diese Deformität zu korrigieren, hat man schon lange ver¬
mocht unter Anwendung des Redressements und der Teno-
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1453
tomie. Damit aber ist der Patient vor einem Rezidiv keines¬
wegs geschützt, da die Wurzel des Uebels, die Lähmung,
nicht dauernd beseitigt ist. Auf die Wiederherstellung
der Funktion, als auf das höhere Ziel, ist die Sehnenüber¬
pflanzung gerichtet, eine Operation, deren Idee so unge¬
mein naheliegt und doch so auffallend spät aufgegriffen und
verwirklicht 'wurde. Erst in den allerletzten Jahren ist die
Kenntnis und Würdigung dieser Operation in weitere Kreise
gedrungen, und auf diesem Gebiet unserer Wissenschaft för¬
dernd mitzuhelfen, ist das hauptsächliche Ziel meiner persön¬
lichen Arbeit gewesen.
Diese meine Vorliebe für die ebenso physiologisch inter¬
essante als praktisch wertvolle Operation hat mir, wie eingangs
gesagt, die Gelegenheit verschafft, reichliche Erfahrungen zu
sammeln.
Zunächst einige Worte zur Technik unseres allmählich
typisch gewordenen Verfahrens:
Die gesunden und gelähmten Sehnen müssen bis zum peri¬
pheren Ende ihres Muskelbanches freigelegt werden, um sich
vom Zustande des letzteren durch den Augenschein überzeugen
zu können. Soweit es angeht, führen wir totale Ueberpflan-
zungen aus, d. h. wir durchtrennen und verwenden den kraft¬
spendenden Muskel bezw. dessen Sehne gänzlich, versorgen
seinen peripheren Stumpf in der Nachbarschaft. Ist eine par¬
tielle Ueberpfianzung notwendig, so nehmen wir die Spaltung
bis in den Muskelbauch hinauf vor, um dem überpflanzten An¬
teil möglichst funktionelle Selbständigkeit zu sichern.
Wir bevorzugen die von mir als „absteigende“ bezeichnete
Transplantationsmethode, wir bringen also den Kraftspender
zu der in ihrer Kontinuität ungestörten gelähmten Sehne.
Wir wählen zur Ueberpfianzung möglichst solche Muskeln,
welche mit dem Kraftempfänger funktionelle Verwandtschaft
aufweisen, scheuen uns gegebenen Falls aber auch nicht, An¬
tagonisten zu verwenden, Beuger also auf Strecksehnen zu be¬
festigen.
Fast immer nähen wir Sehne auf Sehne und verzichten auf
die periostale Fixation der überpflanzten Sehne, weil wir uns
fast stets von der genügenden Widerstandskraft auch der ge¬
lähmten Sehne überzeugt haben.
Die Einfügung sogen, künstlicher Sehnen aus Seide ver¬
meiden wir fast ausnahmslos, weil dieselbe zwar ein inter¬
essantes Experiment, aber eine meist entbehrliche Komplikation
der Operation und eine unseres Erachtens nicht erstrebens¬
werte Fremdkörpereinführung darstellt. Sorgfältige Frei¬
legung der kraftspendenden Sehne bis zur Insertion sichert uns
die ausreichende Länge derselben behufs Ueberpfianzung selbst
in Fällen, in welchen wir die periostale Methode anwenden.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Erzielung richtiger
Sehnenanspannung, genügende Fixationsdauer im Verband und
sorgfältige Nachbehandlung.
Und nun die Resultate?
In allen Kulturländern hat die Operation Nachahmung und
Anerkennung, ja begeisterte Lobredner gefunden. Wie wäre
dies möglich, wenn ein Erfolg die Ausnahme, oder wenn der
Erfolg nur ein vorübergehender wäre? Nur ganz vereinzelte
Stimmen von Skeptikern haben sich vernehmen lassen, die
aber nicht auf Grund eigener praktischer Arbeiten und Er¬
fahrungen auf diesem Gebiet, sondern aus einer kritischen
Durchsicht der Literatur und theoretischen Bedenken heraus
zu ihrem ablehnenden Standpunkt gelangt sind.
Nicht im Studierzimmer, sondern in der Klinik gilt es zu
schaffen und Material zu sammeln. Erwägungen, gegründet
auf bisher geltende Anschauungen in der Muskel- und Be¬
wegungsphysiologie, sind für unser Handeln gewiss wertvoll,
aber dann nicht ausschlaggebend, wenn sie mit neugewon¬
nenen Beobachtungen im Widerspruch stehen.
Gewiss ist eine ruhige und unparteiische Prüfung des
bisher Erreichten notwendig und nützlich, gewiss ist im ersten
Enthusiasmus der Indikationskreis hier und dort zu weit ab¬
gesteckt worden — ihren Wert wird die Operation für immer
behalten, dies darf ruhig behauptet werden, indem wir auf die
stattliche Zahl Operierter zurückblicken, welche seit 10 Jahren
durch unsere Hände gegangen sind.
No. 30.
Völlige Heilung einer Lähmung ist freilich nur in besonders
günstig gelagerten Fällen zu erzielen, wenn nämlich der Läh¬
mungsbezirk ein eng begrenzter ist. Aber auch wo die Er¬
reichung dieses idealen Zieles uns versagt ist, werden wir jede
Besserung der Funktion dankbar begrüssen, da sie ja in Fällen
uns gelingt, bei welchen vor Einführung der Sehnenüberpflan¬
zung eine Hilfe ausgeschlossen schien.
Es hat seine Schwierigkeit, in einem kurzen Referat mit
Statistik und Zahlen aufzutreten, weil jeder Fall von operierter
Lähmung hinsichtlich des Erfolges und seiner Bedeutung für
sich bewertet werden muss.
Es muss und darf für diesen Bericht genügen, wenn wir
feststellen, ob durch die Operation eine Besserung herbei¬
geführt worden ist und ob diese Besserung zu einem Dauer¬
zustand führt.
Und diese beiden Fragen können mit aller Bestimmheit
bejaht werden, und weiss ich mich in solcher Gewissheit mit
den erfahrenen Spezialisten auf diesem Gebiete einer Ueber-
zeugung.
Einen funktionellen Fortschritt erzielt die Sehnenoperation
— richtige Auswahl der Fälle, gute Technik und exakte Nach¬
behandlung vorausgesetzt — in weitaus den meisten Fällen.
Und dass es sich um Dauerresultate handelt, darüber
haben mich und Andere Nachuntersuchungen nach Jahr und
Tag genügend unterrichtet.
Ich muss aber sagen, dass selbst ein einziger Fall, in
welchem 5 oder 6 Jahre. nach dem Eingriff der überpflanzte
Beugemuskel die Streckung des Unterschenkels zu leisten ver¬
mag, mir ein genügender Beweis wäre für die Leistungs¬
fähigkeit der Methode. Und wenn nun Dutzende und Dutzende
von Beobachtungen uns das Gleiche zeigen, und wenn diese
Beobachtungen in analoger Weise von Operateuren des In-
und Auslandes berichtet werden, dann darf wohl die Methode
als Fortschritt unseres Könnens gepriesen werden.
Eine einseitige Verwendung der Sehnenüberpflanzung in
der Behandlung der Kinderlähmung freilich ist falsch, sie muss
zu Misserfolgen, zu Täuschungen führen. Davor also sei am
Schluss meines Berichtes gewarnt, der gerade aus diesem
Grund sich auch und an erster Stelle mit der Apparatbehand-
lung, mit der Arthrodese, beschäftigt hat.
Die Auswahl der richtigen Methoden im Einzelfall und ihre
zweckmässige Kombination bei Patienten mit ausgedehnten
schweren Lähmungen sind es, welche mit steigender Er¬
fahrung dem speziell sich mit diesen Dingen beschäftigenden
Arzte geläufig werden, welche dann aber auch glückliche Re¬
sultate seiner Tätigkeit gewährleisten. Wir dürfen heute sagen,
dass weitaus den meisten Gelähmten Hilfe, Besserung zu
schaffen ist, wir dürfen uns darüber freuen, dass die Lähmungs¬
therapie ein besonders dankbares Feld orthopädischer Tätigkeit
geworden ist.
Aus der I. medizinischen Abteilung des Nürnberger Kranken¬
hauses (Oberarzt: Obermedizinalrat Dr. G. Merkel).
A. Schmidts „Regulin-Behandlung“ der chronischen,
habituellen Verstopfung.
Von Dr. W. V o i t, Assistenzarzt.
Prof. Ad. Schmidt- Dresden hat auf der Naturforscher¬
versammlung zu Meran 1905 x) den Satz aufgestellt: „dass bei
der chronischen habituellen Obstipation die Nahrung im Ver¬
gleich mit der normalen Verdauung zu gut ausgenützt wird,
sodass zu wenig und zu harter Kot gebildet wird“. . . . „weil
so wenig nnausgeniitzte Nahrungsmittel übrig bleiben, ent¬
wickeln sich auch weniger Bakterien und es werden nicht ge¬
nug Zersetznngsprodukte gebildet, um den Dickdarm zur
Peristaltik anzuregen“. Man muss deshalb nach Schmidts
Ausführungen dem Darm eine Substanz zuführen, die den Kot
einesteils voluminöser, andernteils weicher macht. Zellulose¬
reiche Nahrung erfüllt diesen Zweck nicht, weil Zellulose ge¬
rade vom Darm Obstipierter besser verdaut wird, als vom
normalen Darm.
0 Diese Wochenschr. 1905, No. 41.
?
454
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Den beiden Bedingungen (grösserem Kotvolumen und
grösserem Wasserreichtum) wird nach Schmidt Agar-Agar
gerecht. Zu diesem mechanischen Reiz auf die Darmwand
muss noch ein chemischer in Gestalt von Kaskara kommen.
Unter dem Namen „Regulin“ wird von der Fabrik Helfenberg
ein Präparat in den Handel gebracht, das aus Agar-Agar be¬
steht und, wie mir die Fabrik auf Anfragen mitteilte, 20 proz.
wässeriges, entbittertes Kaskaraextrakt enthält.
Mit diesem „Regulin“ haben wir in den letzten Monaten
Versuche bei chronisch Obstipierten gemacht, die sich jetzt
auf 25 Fälle erstrecken.
Das Regulin wurde fast ausschliesslich in Kartoffelbrei ge¬
mengt den Patienten gegeben; da das Präparat so gut wie völlig
geschmacklos ist, haben es die Patienten alle gerne genommen;
ausnahmsweise wurde es bei einigen Patienten abwechslungs¬
halber in Apfelbrei gereicht.
Wir haben bei den meisten Patienten mit 1 Esslöffel
pro Tag begonnen und sind, wenn der Erfolg nach einigen
Tagen nicht eintrat, auf 2 gestiegen. Die zwei Esslöffel wurden
teils auf einmal, teils getrennt — einer mittags, einer abends
nach dem Essen — gegeben. Diese 2 Esslöffel wiegen genau
12,0 g; da das Präparat 20 Proz. Kaskaraextrakt enthält, so be¬
kommt der Patient mit zwei Esslöffeln Regulin 2,4 g wässeriges
entbittertes Kaskaraextrakt, eine Menge, die also allein kaum
abführend wirken würde. Durch Zugiessen von gewöhnlichem
Wasser wurde gefunden, dass diese 12,0 g Regulin fast
200,0 ccm Wasser in sich aufnehmen und dabei bedeutend auf-
qtiellen. Dass die Stühle durch Vermengung mit Regulin
weicher und wässeriger werden müssen, ist also leicht ein¬
zusehen. Da das Regulin, selbst wenn zwei Esslöffel von
Anfang gegeben werden, wie dies in einigen Fällen geschah,
manchmal erst nach einer Reihe von Tagen zur Wirkung
kommt, so glaube ich, dass man häufig auch mit einem Ess¬
löffel zum Ziele kommt, wenn man noch einige Tage zuwartet,
bevor man auf zwei Esslöffel steigt. Schmidt selbst sagt,
dass man ab und zu in der ersten Zeit mit Suppositorien und
dergl. nachhelfen muss; wir haben bei unseren letzten Fällen
versucht, dadurch eine schnellere Wirkung zu erzielen, dass
wir, bevor die Patienten anfingen, Regulin zu nehmen, Infus.
Sennae bis zur Wirkung nehmen Hessen; in einigen Fällen
scheint dadurch eine Beschleunigung erzielt worden zu sein,
doch erstrecken sich unsere diesbezüglichen Versuche auf eine
zu geringe Anzahl von Patienten, als dass sie sichere Schlüsse
zuliessen. Meist erschien das Regulin am 3. — 4. Tage im Stuhl;
durch Ausschütteln einer Portion Kot mit kaltem Wasser fand
man die kleinen Agarstückchen wieder und zwar waren die
vorher braunen Stückchen entfärbt und gequollen, sonst aber
unverändert. Die Wirkung des Regulins auf die Stühle war
in den Fällen, wo wir Erfolge erzielten nicht immer dieselbe.
Bei einigen Patienten waren bereits die ersten Stühle, in denen
man Agar nachweisen konnte, massig, dickbreiig bis weich
und dicksäulenförmig, die Oberfläche hatte infolge der aus der
Masse heraussragenden Agarstückchen ein krümeliges Aus¬
sehen und war feuchtglänzend, von ziemlich dunkelbrauner
Farbe; bei anderen Patienten waren selbst die ersten, spontan
entleerten Stühle, in denen sich Agar fand, noch trocken und
bestanden aus harten, grösseren und kleineren Knollen; all¬
mählich wurden die Knollen feuchter, weicher, begannen sich
zu verbinden und im Lauf einiger Tage kamen dann weiche,
dicksäulenförmige bis dickbreiige Stühle zum Vorschein, die
dasselbe Aussehen, wie die erstbeschriebenen hatten.
Anfangs musste, wie bereits erwähnt, bei mehreren Pat.
noch mit Eingiessungen und dergl. nachgeholfen werden; dann
traten spontane Entleerungen ein, manchmal noch in Zwischen¬
räumen von 1 selbst 2 Tagen und nach einiger Zeit hatten die
Patienten regelmässig Tag für Tag Agarausleerungen von der
obengeschilderten Art; hatte diese Regelmässigkeit eine Zeit¬
lang bestanden, 8 bis 14 Tage, so wurde auf 1 Esslöffel
bis 1 Kaffeelöffel zurückgegangen. Das Zurückgehen von
zwei auf einen Esslöffel vollzog sich stets, ohne dass dine
Aenderung in der Beschaffenheit der Stühle und der Regel¬
mässigkeit der Entleerungen sich geltend gemacht hätte; wurde
dann nur ein Kaffeelöffel Regulin gereicht, so wurden die
Stühle etwas konsistenter und trockener, blieben aber noch
immer feucht, weich und wurden auch weiterhin regelmässig
entleert. Es wäre nun interessant, zu wissen, wie sich die
Darmtätigkeit gestaltet, wenn das Regulin völlig wieder aus-
gesetzt wird. Leider sind unsere Erfahrungen darüber sehr
spärliche, da die Patienten meist schon unter dem Regulin¬
gebrauch sich so wohl fühlten, dass sie nicht länger mehr im
Krankenhaus bleiben wollten. Eine Patientin gelang es uns,
nach Aussetzen des Regulins noch eine Woche im Krankenhaus
zu halten; ihre Entleerungen gingen ungestört weiter, auch als
nach Verlauf einiger Tage nach der letzten Regulinzufuhr kein
Agar mehr im Stuhl nachweisbar war.
Zu erwähnen wäre noch, dass in mehreren Fällen geradezu
riesige Stuhlmengen entleert wurden und zwar derart massig,
wie wir sie nie zuvor beobachtet hatten.
Klagen über Störungen irgend welcher Art haben wir in
keinem Fall gehört, obwohl es sich zum Teil um hochgradig
nervöse und empfindliche Patienten handelte; im Gegenteil
waren die Patienten, welche oft schon jahrelang die ver¬
schiedensten Abführmittel mit mehr oder weniger Erfolg be¬
nützt hatten, häufig erfreut über die regelmässigen und beson¬
ders über die weichen Ausleerungen.
Abgesehen von den anfangs zur Unterstützung gegebenen
Eingiessungen wurden keinerlei andere diätetischen oder
physikalischen Mittel bei den Patienten angewandt. Die Kost
war eine einfache, gemischte.
Unsere Erfolge mit Regulin sollen folgende Auszüge aus
5 Krankengeschichten erläutern:
1. K. W. Seit 6 Wochen Magenbeschwerden mit häufigem
Erbrechen. Stuhl angehalten. Aufnahme 29. XII. 05. Während der
Monate Januar und Februar fast tägliches Erbrechen und Klagen
über Magenschmerzen. Die mehrmals vorgenommene gründliche
Magenuntersuchung gibt keinen Anhaltspunkt für die Annahme einer
organischen Magenerkrankung. Jegliche versuchte Therapie er¬
folglos (Wismutkur, Milchkur, Lenhartzsche Kost, gewöhnliche
Diät und gemischte Kost). Stuhlgang fast nie ohne Nachhilfe (Ri¬
zinus, Leu b es Pulver, Oel-, Salzwasser- und gewöhnliche Wasser-
eingiessung). Patientin kommt immer mehr herunter. Aufnahme¬
gewicht (29. XII. 05) 66,0 kg; Gewicht am 1. III. 06 59,5 kg, am
3. III. Senna-Infus. per os 150,0; in der darauffolgenden Nacht reich¬
licher Stuhlgang; ab 4. III. mittags nach dem Essen 1 Esslöffel Regulin
in Kartoffelbrei; ab 5. III. kein Erbrechen mehr; 5. III. kein Stuhl;
am 6. III. spontan mässige dickbreiige Ausleerung; ab 6. III. schmerz¬
frei; von da an fast täglich Stuhlgang, jedoch manchmal noch ziem¬
lich fest; deshalb ab 17. III. täglich 2 Esslöffel Regulin mittags; am
25. III. wird auf 1 Esslöffel zurückgegangen, da die Stühle weich,
dickbreiig sind; ab 30. III. nur noch 1 Kaffeelöffel Regulin. Stühle
fast täglich vom typischen Aussehen der Regulinstühle; Eingiessung
oder sonstige Abführmittel seit Beginn der Regulinkur nie wieder
erforderlich; seit 5. III. kein Erbrechen mehr; gewöhnliche Kost
seitdem. Am 3. IV. geheilt entlassen. Gewicht bei Aufnahme am
29. XII. 66,0 kg, bei Beginn der Regulinkur am 4. III. 59,5 kg, nach
1 Woche 60,5 kg, bei der Entlassung am 3. IV. 63,0 kg.
2. M. H. Seit 3 Wochen drückende Magenschmerzen. 1 Stunde
nach dem Essen auftretend und zwar nach jeder Art von Speisen;
seit kurzem häufiges Erbrechen. Appetitlosigkeit, Stuhlgang träge,
letzte Zeit wöchentlich nur einmal. Schmerzen im Rücken und
Seitenstechen. Aufnahme am 26. I. 06. Innere Organe ohne Befund.
27. I. Von selbst Stuhl; sehr wenig, hart, knollig, mit einer
grossen weissen Schleimmembran; nächster Stuhl am
30. I. auf Wassereingiessung: riesige harte Ausleerung.
2. II. Auf Wassereingiessung Stuhl; seit 27. I. kein spontaner
Stuhl.
Ab 3. II. täglich 2 Esslöffel Regulin nach dem Mittagessen (ge¬
wöhnliche Kost).
3. und 4. II. Kein Stuhl.
5. II. Wassereingiessung, darauf harter, knolliger Stuhl.
6. II. Kein Stuhl.
7. II. Von selbst wird ganz wenig knolliger, sehr fester Stuhl,
vermischt mit weissen Schleimmembranen, entleert.
8. II. Oeleingiessung; darnach reichlicher typischer Regulinstuhl
mit Oel vermischt; Pat. klagt noch immer etwas über Schmerzen.
9. II. Von selbst sehr massiger, weicher, typischer Regulinstuhl;
weniger Schmerzen; von da an täglich solche Stühle. Ab 17. II. nur
noch 1 Esslöffel Regulin; Stühle merklich fester, aber nicht hart,
jedoch nicht mehr ganz regelmässig jeden Tag. Eingiessung oder
sonstige Abführmittel seit 8. II. nicht mehr erforderlich.
22. II. Geheilt entlassen. Aufnahmegewicht am 26. I. 59,0 kg,
am 22. II. 63,0 kg.
3. E. Sehr. Schon mehrmals wegen hochgradiger Obstipatio
auf der Abteilung; kommt wie immer mit heftigem, im Krankenhaus
noch tagelang anhaltendem Erbrechen, starken Leibschmerzen, Puls-
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1455
irregularität und elendem Allgemeinzustand; nach anfangs täglichen,
später etwas selteneren Oeleingiessungen verlässt Pat. gewöhnlich
das Krankenhaus in gutem Zustand. Aufnahme 3. III. Am selben
Tag 1000,0 Oelklysma, darnach weniger harter Stuhl.
4. III. Oeleinlauf 1000,0, reichlicher, ziemlich fester Stuhl; etwas
weniger Schmerzen.
5. III. Ab heute täglich 1 Esslöffel Regulin; seit 5. III. täglich
ohne weitere Nachhilfe Stuhlgang; anfangs noch fest, allmählich
weicher werdend bis weichbreiig.
Am 15. III. Zum Teil riesige Ausleerungen; nach wenigen Tagen
völlig frei von Leibschmerzen, während dies früher erst nach Wochen
erreicht wurde.
21. III. Seit 5. III. täglich Regulin, täglich mit Ausnahme des
16. III. typischer Regulinstuhl. Geheilt entlassen.
■4. A. S. Seit 3 Wochen Unterleibschmerzen, die letzter Tage er¬
heblich Zunahmen, Kopfschmerzen, auch Erbrechen. Appetit gering.
Periode regelmässig. Stuhlgang schon seit längerer Zeit angehalten;
letzter vor 3 Tagen. Aufnahme am 24. I. 06. Innere Organe ohne
Befund. Innere Genitalien normal.
24. I. Wassereingiessung. 25. I. Rizinus; jedesmal harte, mässige
Ausleerung. 26. 27., 28., 29. kein Stuhl. Vom 28. I. an 1 Esslöffel
Regulin täglich. Am 30. I. auf Wassereingiessung harter knolliger
Stuhl. 31. I. — 2. II. trotz Regulins kein Stuhl; ab 1. II. täglich 2 Ess¬
löffel Regulin.
Am 2. II. Wassereingiessung; kein Stuhl.
3. II. Salzwassereingiessung. Stuhl etwas weicher wie der
am 30. 1. entleerte, deutlich mit Agar vermischt. Bis 7. II. kein
Stuhl mehr.
7. II. Salzwassereingiessung; Stuhl noch immer hart, wenn¬
gleich nicht mehr wie bisher; noch Leibschmerzen.
8. II. Zum 1. Mal von selbst Stuhl, sehr reichlicher, massiger,
dickbreiiger, typischer Agarstuhl.
Von nun an täglich solche Stühle, nur ab und zu 1 Tag kein
Stuhl, schmerzfrei; ab 15. II. nur noch 1 Esslöffel Regulin, Stuhl
vorübergehend fester; ab 18. II. kein Agar mehr, trotzdem bis 26. II.
täglich weiche, dicksäulenförmige Stühle; Pat. ist völlig schmerzfrei,
seit 7. II. keine Nachhilfe mehr nötig.
Aufnahmegewicht 24. I. 63,0 kg; 26. II. 66,0 kg, geheilt entlassen.
5. A. N. Pat. leidet seit 14 Tagen an Mattigkeit, Kopfschmerzen,
Schwindel, Schmerzen im ganzen Körper. Appetitlosigkeit, Er¬
brechen. Stuhlgang schon längere Zeit träge, in den letzten Wochen
nur einmal wöchentlich. Aufnahme am 1. II. Lungenbefund normal.
Atmung oberflächlich, Herztätigkeit stark unregelmässig. Zahlreiche
auch auf dem Sphygmogramm deutlich zum Ausdruck kommende
Extrasystolen. Puls dementsprechend. Blutdruck 185 mm Hg.
Bauchdecken sehr schlaff. Darmschlingen in Peristaltik deutlich
sichtbar.
3. II. Herz- und Pulsbefund unverändert. Stuhl seit Aufnahme
noch nicht erfolgt. Digitalisinfus 1,5/200,0. Salzwassereingiessung;
darnach reichliche harte Ausleerung.
5. II. Herz- und Pulsbefund unverändert. Digitalisinfus 1,5/200,0.
Röntgenaufnahme ergibt nicht besonderes.
8. II. Seit 3. II. kein Stuhl mehr. Salzwassereingiessung; reich¬
licher, harter Stuhl. Puls abends kräftig, völlig regelmässig; letzter
Tage viel Erbrechen.
11. II. Noch immer Leibschmerzen; fast täglich Erbrechen;
seit 8. II. kein Stuhl mehr; heute zweimal 0,001 Atropin subkutan
ohne Erfolg.
12. II. Oeleingiessung 1000,0 ohne Erfolg.
13. II. Inf. Sennae 150,0; in der folgenden Nacht 2 riesige Aus¬
leerungen alter Kotmassen; seitdem frei von Leibschmerzen und Er¬
brechen; am 14. II. zum 1. Mal Appetit.
15. II. Ab heute täglich 1 Esslöffel Regulin.
16. II. Kein Stuhl.
17. II. Ganz wenig harter Stuhl.
18. II. Reichliche, ziemlich weiche, säulenförmige Ausleerung.
Befinden gut.
19. II. Kein Stuhl.
20. II. Zur Erzielung noch weicheren und regelmässigen Stuhles
ab heute 2 Esslöffel Regulin.
12. IV. Pat. hat seit 20. II. fast täglich Stuhlgang; seit 13. II.
keine Eingiessung oder dergl. Stühle stets weich, dickbreiig,
typische Agarstiihle; seit 23. III. nur noch 1 Esslöffel Regulin, ohne
dass eine Aenderung in der Häufigkeit oder Beschaffenheit der Stühle
aufgetreten wäre; seit 31. III. nur noch 1 Kaffeelöffel Regulin. Stühle
etwas konsistenter wie vordem, bezüglich der Häufigkeit unverändert.
Pat. fühlt sich wohl, ist viel munterer als früher und wird in den
nächsten Tagen entlassen. Herzbefund normal.
Gewicht bei Aufnahme am 1. II. 50,0 kg, bei Beginn der Regulin¬
kur am 14. II. 46,5 kg, 1 Woche später 47,0 kg. Seitdem stetige Zu¬
nahme. Pat. wiegt jetzt 54,0 kg.
Diesen 5 Fällen könnten noch 14 mit gleich gutem Erfolg
an die Seite gestellt werden, doch glaube ich, dass die aufge¬
führten genügen, um die vorzügliche Wirkung des Regulins zu
beweisen.
Die letzten 6 von unseren 25 Patienten sind mehr oder
weniger unbeeinflusst durch Regulin geblieben; zum Teil mag
dies daran liegen, dass die Fälle mit zu unseren ersten Ver¬
suchen gehörten, und wir damals noch nicht mit der nötigen
Ausdauer vorgingen wie später. Dass das Regulin manchmal
erst nach längerer Zeit zur Wirkung kommt, und dann noch
ganz vorzügliches leistet, zeigt in überzeugender Weise der
oben mitgeteilte Fall 4. Bei einigen unserer erfolglosen Fälle
konnten auch aus anderen Gründen die Versuche nicht lange
genug fortgeführt werden; dass in einigen Fällen bei aller Aus¬
dauer nichts erreicht werden kann, wird wohl beim Regulin
ebenso zutreffen wie bei anderen therapeutischen Mitteln Rder
Art. A. Schmidt selbst gibt an, dass er nur in seiner
Versuche Erfolge gehabt habe; unsere Versuche geben also ein
noch etwas besseres Resultat; ausser diesen 25 haben wie zur¬
zeit einige noch in Behandlung, bei denen der Erfolg gleichfalls
ein recht günstiger zu werden scheint ; 'zählen wir diese zu unseren
25, so wird das Ergebnis unserer Versuche sich noch günstiger
gestalten. Bei genauerer Auswahl der Patienten, genügender
Ausdauer bei der Anwendung und bei reichlicherer Erfahrung
wird sich wohl in mehr als 2/s aller Fälle ein günstiges Resultat
ergeben; mit zunehmender Erfahrung wird sich gewiss auch
die Dosierung genauer gestalten und zugleich die jetzt noch
ziemlich lange Dauer der Behandlung abkürzen lassen. Viel¬
leicht wäre dies auch durch gleichzeitige Anwendung von
Massage und Elektrizität zu erreichen, wie dies Schmidt
rät. Ueber das von Schmidt zugleich empfohlene Parare-
gulin fehlen uns bis jetzt eingehendere Versuche. Das Regulin .
aber können wir auf Grund unserer Versuche als angenehmes,
vorzügliches und völlig unschädliches Mittel gegen chronische
Obstipation wärmstens empfehlen.
Es ist bereits oben darauf aufmerksam gemacht, dass die
Krankenhausbehandlung in bezug auf Methoden bei
Fällen, die wie die chronische, habituelle Stuhlverstopfung an
Hartnäckigkeit nichts zu wünschen übrig lassen und an die
Geduld des Arztes und der Kranken besonders grosse An¬
forderungen stellen, geringe Ausbeute verspricht. Die Krank¬
heit beeinträchtigt die Arbeitsfähigkeit meist nur wenig, und
die geringsten Umschläge zum Besseren veranlassen die
Kranken, sich rasch zufrieden zu geben mit Resultaten, die
oft schnell vorübergehen und durch ihren Wechsel sie ver¬
anlassen, die Sache bald wieder aufzugeben. So laufen uns
die Leute davon, sobald es besser geht, und wenden sich
ausserhalb der Anstalt bei Rückfällen an andere Hilfe. Trotz¬
dem stehen wir nicht an, die Methode als sehr leistungsfähig
zu erklären und werden in unserer Anschauung unterstützt
von hiesigen Aerzten, die in ihrer Praxis die gleich guten Er¬
fahrungen gemacht haben. Dem Hausarzt bleibt in solchen
Fällen der Kranke länger unter den Augen als dem Kranken¬
hausarzt. Wir möchten deshalb die Methode, die dem
,,tuto et jucunde“ Rechnung trägt wie nicht leicht eine andere,
den praktischen Aerzten ganz besonders zur An¬
wendung in geeigneten Fällen empfehlen. Wenn sie auch das
„cito“ vermissen werden, so wird ihnen darüber die allge¬
meine Anschauung der Kranken hinweghelfen, die gewöhnt
sind, ungebührlich lange ihre gewohnten Abführmittel gegen
die unliebsame chronische Verstopfung ins Feld zu führen.
Nicht zu gebrauchen ist die Methode natürlich, wie sich
von selbst versteht, als einmaliges Abführmittel in dem Sinne
von Rizinus und dergleichen.
Aus dem hygienischen Institut der deutschen Universität in
Prag (Vorstand: Prof. F. H u e p p e).
Zur Kenntnis der Diphtherie.
Von Dr. Gottlieb Salus.
Die nachstehend mitgeteilten Versuche verdanken ihre
Entstehung den Studien über „Aggressine“; es musste von be¬
sonderem Interesse sein, den Diphtheriebazillus vom Stand¬
punkte der B a i 1 sehen Aggressinlehre zu prüfen; denn man
konnte einerseits von einem so ausgesprochen plasmolysierten
Stäbchen erwarten, dass es einer etwaigen Extraktion von
Leibesbestandteilen durch die tierischen Säfte keinen beson-
2*
1456
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
deren Widerstand entgegensetzen werde, andererseits sprach
die Pathologie gegen die Existenz von Bestandteilen, welche
die Infektion befördern könnten. Denn nirgends tritt
i m BildederDiphtheriederEffektvermehrter
Bazillenwucherung hervor, vielmehr dominiert die
Toxinwirkung überall, besonders auch im Tierversuche.
Meine Versuche haben dieser letzteren Auffassung Recht ge¬
geben. Es ist nicht gelungen, Diphtherieaggres-
s i n zu erzeugen. Durch Steigerung der injizierten Ba-
zillennienge oder durch Zusatz von Exsudat, also Injektion von
tierischen und Kulturbazillen zusammen konnte wohl ein ra¬
scherer letaler Verlauf — in minimo 9 Stunden — herbeigeführt
werden, doch lag die Ursache dieser Er¬
scheinung nie in der Bazillenvermehrung,
vielmehr stets in der erhöhten Qiftwirkung.
Wenn C i t r o n meine, in Arbeiten des Instituts erwähnten,
Versuche dahin deutet, dass hier die künstliche Ge¬
winnung von Aggressinen der natürlichen überlegen sei, da es
gelungen sei, künstliches Diphtherieaggressin zu erzeugen, so
kann ich ihm nicht beistimmen. Es gibt überhaupt kein natür¬
liches Diphtherieaggressin, und das ist mir ein Beweis mehr
für die totale Verschiedenheit der natürlichen von
den künstlichen Aggressinen, der sich an die
anderen, von Bail, Weil und Nakayama erbrachten an-
schliesst. Ich selbst habe diese Verschiedenheit schon in
bezug auf den differenten Mechanismus der Immunität dar¬
gelegt. Der Diphtheriebazillus bedarf auch gar nicht des
Aggressins, denn er wirkt, ohne sich erst im Körper vermehren
zu müssen. Er ist ein Saprophyt von intensiver
Giftigkeit, genau so wie der Tetanusbazillus, auf dessen
saprophytische Funktionen H u e p p e zuerst hinwies. Sein
Gift gelangt von der Oberfläche aus zur Resorption und
bedingt die schweren Erscheinungen. Lokal erzeugt es Ne¬
krose und ermöglicht dem Bazillus ein saprophytisches
Wachstum in den abgestorbenen Geweben. Daher kommt es,
dass man in den Auflagerungen und nekrotischen Schichten
Bazillenhäufchen findet, welche mit zunehmender Toxin¬
wirkung in tieferen Lagen auftreten; darunter findet man wohl
Entzündung, aber keine Bazillen. Nicht die Ver¬
mehrung der Bazillen bedingt sonach die
Schwellung, diese entsteht vielmehr ledig¬
lich durch die lokale Giftwirkung. In genialer
Intuition hat Bretonneau vom „Herabfliessen“ der Mem¬
bran in den Kehlkopf gesprochen. Es ist auch kein Zu¬
fall, dass Bazillenbefunde in den inneren Or¬
ganen zu den grössten Seltenheiten gehören;
damit ist auch klar, dass man von Verfahren, welche sich
gegen die Vermehrung der Diphtheriebazillen richten, schwer¬
lich grosse Erfolge wird erwarten können. Wenden sie sich
doch gegen eine Fähigkeit, die im Tierkörper dem Bazillus
nicht zuzukommen pflegt.
Da eine Zunahme der Bazillen im Tierkörper nicht be¬
obachtet wurde, mussten wir annehmen, dass auch eine Se¬
kretion des Giftes nicht stattgefunden habe, dass vielmehr be¬
reits eine ausreichende Giftmenge eingebracht worden sei;
oder mit anderen Worten: dass das Diphtheriegift
ein in den Bazillen vorgebildetes, ein Endo¬
toxin sei. Vermutet hatte ähnliches bereits Gamal eia,
wenn er darauf hinwies, dass die Kulturbouillon erst mit be¬
ginnenden Zerfall der Bakterien anfange, toxinhaltig zu
werden. In meinen Versuche konnte aus frischen Se¬
rum k u 1 1 u r e n (24 ständig) durch das Schiittelverfahren das
Toxin dargestellt werden, welches in grösseren Dosen (0,1 bis
1 ccm) Meerschweinchen unter Erscheinungen der Toxin¬
wirkung tötete oder, besonders in kleineren Dosen, wenigstens
Infiltrate erzeugte. Ist auch dem Tierkörper zu seinem
Schaden die Fähigkeit der Toxinauslösung in höherem Masse
eigen, so sind es doch nur quantitative Unterschiede. Mit
dem Beweise der Endotoxinnatur des Diph¬
theriegiftes ergibt sich auch die Unhaltbar¬
keit des allgemeinen Satzes, dass Endotoxine
keine Antitoxine bilden (A. W o 1 f f).
Versuche.
Diphtheriestamni I.
1. Meerschweinchen 250 g. 3 Agarkulturen in physio¬
logischer Kochsalzlösung aufgeschwemmt, intraperitoneal. Nach
2 Tagen tot. Im Cavum periton. wenig zellarmes, bazillenfreies
Exsudat. Kein Pleuraexsudat. Nebennieren kohlschwarz.
2. Kaninchen I. 3 Löfflerserumkulturen intrapleural.
Nach 36 Stunden tot. Ueber 20 ccm zellarmes, bazillenfreies Pleura¬
exsudat. Granula, Phagozyten. Im Pleuraraum fibrinöse, zellarme
Auflagerungen ohne Bazillen. Hämorrhagien in den Nebennieren.
3. Kaninchen II. 5 ccm obigen Exsudats und 2 Serum¬
kulturen intrapleural. Vor Ablauf von 20 Stunden tot. 4 ccm
zellen- und bazillenarmen Exsudats, wenige Bazillenhäufchen in den
Auflagerungen. Nebennieren blass; Kultur aus dem Exsudat spärlich.
4. Junges Kaninchen III. Das ganze Exsudat von Kaninchen II
und 1 Löfflerserumkultur intrapleural. Tot nach 9 Stunden.
Hämorrhagisches, nicht gerinnendes Pleuraexsudat, mit sehr wenigen
Bazillen. Spärliche, sehr bazillenarme Auflagerungen mit starker
Phagozytose. Bouillonkultur vom Exsudat wächst ärmlich.
5. Kaninchen IV (jung) bekommt das ganze Exsudat (E3) und
Bodensatz von einer zentrifugierten Bouillonkultur intrapleural R
(rechts). Nach 10 Stundentot. R. 10 ccm, L 2 ccm hämorrhagi¬
sches Pleuraexsudat, reichlich Leukozyten und besonders Phago¬
zyten. Keine Bazillen im Exsudat, mässig in den Auflagerungen,
aber nicht vermehrt. Milz vergrössert.
6. Kaninchen V bekommt E5 und 1 Bouillonkultur intrapleural.
Tot nach 34 Stunden. R 8 ccm hämorrhagisches, L 5 ccm klares
Exsudat; wenig Bazillen in Exsudat und Auflagerungen, Milz ver¬
grössert, Hämorrhagien in Netz, Nieren und Nebennieren.
7. Kaninchen VI bekommt E5 und 1 Bouillonkultur. Tot nach
ca. 30 Stunden. Neben vereinzelten intrazellularen Diphtheriebazillen
noch fremde Stäbchen. Reihe abgebrochen.
In keinem der Versuche Bazillen im Blute.
8. Kaninchen VII. 8 Löfflerserumkulturen, 24 Stunden alt, intra¬
pleural. Tot nach 36 Stunden. R 35 ccm leicht getrübtes, mässig
leukozytenhaltiges Exsudat mit ziemlich vielen intra- und extra¬
zellularen Bazillen. L 8 ccm klares Exsudat. Mächtige Auflagerungen
auf Pleura und Perikard mit vielen auffallend dünnen Bazillen. Hä¬
morrhagien in Netz und Nebennieren. (In diesem Versuche könnte
man an eine Vermehrung der Bazillen denken; doch ist zu erwägen,
dass volle 8 Kulturen injiziert wurden und dass im folgenden Ver¬
suche das Exsudat (E7) keinerlei aggressive Fähigkeiten zeigt.
9. Kaninchen VII. 5 ccm E 7 und die verriebenen Auf¬
lagerungen (lauter tierische Bazillen). Tot nach 30 Stunden.
R 4 ccm hämorrhagisches Exsudat, nur einige Bazillen in Phagozyten.
L 0. In den geringen Auflagerungen und im Herzblut keine Bazillen.
Keine makroskopischen Nebennierenblutungen.
10. Kaninchen IX. 5 ccm E7 und 2 Serumkulturen R intra¬
pleural. Tot nach 16 Stunden. R 5 ccm bazillenfreien, zellreichen
Exsudats. Kleine, bazillenfreie Auflagerungen. Milz gross, dunkel,
Hämorrhagien an der Darmserosa.
11. Kaninchen X. 5 ccm des bazillen- und zellfrei zentrifugierten
E7 und 3 Löfflerkulturen. Tot nach 28 Stunden. R und L je ca.
20 ccm trüben, bazillenfreien Exsudats mit vielen Zellen. Die ganze
Pleurahöhle voll Auflagerungen, die Leukozyten und Granula ent¬
halten, aber keine Bazillen. Leber sehr gross, verfettet; Milz S£hr
gross, dunkel, mässige Netzhämorrhagie.
12. Kaninchen XI. 5 ccm E10 und 1 Löfflerkultur intrapleural.
Verunreinigung.
13. Kaninchen XII. 8 Löfflerserumkulturen intrapleural. Tot nach
12 Stunden. Wenige Tropfen bazillenfreien Exsudats in Pleural- und
Peritonealhöhle. Milz gross, wenige Netzhämorrhagien.
14. Kaninchen XIII. 8 Löfflerserumkulturen intrapleural. Tot
nach 36 Stunden. Auflagerungen mit zerfallenen Bazillen, leuko¬
zytenreiches Exsudat mit wenigen Bazillen.
15. Kaninchen XIV bekommt dieses Exsudat und 3 Löfflerserum¬
kulturen. Tot nach 24 Stunden. Nur eine kleine Auflagerung mit
Bazillen (zum Teil Kolben und Fäden) an der Pleura. 10 ccm auch
kulturell bazillenfreien Exsudats.
16. Kaninchen XV bekommt die Kulturen aus der Auflagerung
des Kaninchen XIV ipl. Tot nach 24 Stunden. Pleuraauflagerungen.
Leichte Milzschwellung, Nebennierenhämorrhagien. R 2, L IV2 ccm
Exsudat. Bazillen spärlich in Auflagerungen, sehr spärlich im Ex¬
sudat.
17. Kaninchen XVI. Dieses Exsudat und 2 Bouillonkul-
t u r e n. 2 ccm Exsudat, geringe Auflagerung am Perikard, spär¬
liche Bazillen. Von 2 Kulturen aus dem Exsudat geht eine auf, rein.
Diese wird mit dem verdünnten Exsudat an ein sehr kleines
18. Kaninchen XVII verimpft, intrapleural. Tot nach 24 Stunden.
Zusammen % ccm sehr bazillenarmen Exsudats. Mehr Bazillen in den
Auflagerungen, viele Kolben und Fäden. Kulturen: aus dem Ex¬
sudat steril, aus den Auflagerungen: typische Bazillen.
19. Kaninchen XVIII bekomt das verdünnte Exsudat von Kanin¬
chen XVII und 1 Kultur (48 stiind. Bouillon). Tot nach 20 Stunden.
Leichte Milzschwellung. Geringe Netzhämorrhagien. R IV2 ccm
hämorrhagisches Exsudat und 1 Auflagerung, L % ccm nahezu klares
Exsudat, alles zellarm (vide dagegen bei Serumkulturen), Phagozyten;
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1457
»ehr spärliche Bazillen, nur in der minimen Auflagerung etwas mehr.
20. Kaninchen XIX bekommt dieses Exsudat verdünnt und 1 Bouil¬
lonkultur aus der Auflagerung intrapleural. Tot nach 24 Stunden.
Klares, zellarmes Exsudat, R 5 ccm, L iVz ccm. Dicke, bazillen¬
freie Auflagerung. Milz massig vergrössert, in Netz und Nebennieren
wenige Hämorrhagien, Leber auffallend gelb.
21. Kaninchen XX, intrapleural dieses Exsudat und 1 Bouillonkultur.
Tot nach 18 Stunden. Ca. 5 ccm massig leukozytenhaltiges Exsudat
ohne Bazillen, mehr Bazillen in den Auflagerungen. Milz leicht
vergrössert, Hämorrhagien in Netz und Nieren, keine in den Neben¬
nieren.
22. Kaninchen XXI bekommt 3 ccm des mit Toluol sterilisierten
Exsudats und 1 Bouillonkultur. Tot in 20 Stunden. R7, L5 ccm klares,
zellarmes Exsudat ohne Bazillen. Wenige, sehr zellarme, bazillen¬
freie Auflagerungen. Nebennierenblutungen.
23. Kaninchen XXII bekommt das halbe Exsudat und Vz Serum¬
kultur intrapleural. Tot binnen 24 Stunden mit dem gewöhnlichen
Befunde des Toxintodes.
24. 25, 26. Versuche mit Injektion von durch Toluol abgetöteten
Kulturen. Bei Injektion selbst von 3 Kulturen keine Krankheits¬
erscheinungen.
Diphtheriestamm II.
27. Kleines Meerschweinchen. 3 Bouillonkulturen intraperitoneal.
Tot nach 20 Stunden. Kein Pleuraexsudat. 2 ccm leicht
hämorrhagischer Flüssigkeit im Peritonealkavum, Nebennieren tief
dunkel, Netzhämorrha'gien, dort auch Auflagerungen mit sehr wenigen
Diphtheriebazillen.
28. Kleines Meerschweinchen. 2 Serumkulturen intraperitoneal.
Tot nach 18 Stunden. Nebennierenhämorrhagien. 1 ccm Pleura-,
4 ccm Peritonealexsudat, nicht hämorrhagisch. Netzgefässe prall
gefüllt, auf dem Netz zellreiche Auflagerungen mit phagozytierten
und spärlichen freien Bazillen. Steriles Exsudat.
29. Meerschweinchen. 2 Serumkulturen intraperitoneal. Tot nach
20 Stunden. Gewöhnlicher Befund des Toxintodes.
30. Meerschweinchen. 1 Oese Kultur intraperitoneal. Kapillar¬
entnahme nach 12 Stunden. Reiner Eiter, keine Bazillen.
Diphtheriestamm III (schwach virulent).
31. Kleines Kaninchen. 2 Serumkulturen intraperitoneal in 5 ccm
0,8 proz. Kochsalzlösung. Bleibt 10 Tage am Leben. Tot an Seuche.
32. Kaninchen. 6 Kulturen intraperitoneal. Tot nach 3 Tagen.
Ohne Befund, ohne Bazillen (?).
Toxin versuche.
Die Toxinversuche wurden mit den Stämmen I und II
vorgenommen, ein 3. Stamm typischer Diphtheriebazillen er¬
wies sich avirulent; ein Versuch. wurde mit einem 4. Stamm
„T„ P.“ ausgeführt. Es wurden nach Entfernung des Kondens-
wassers Kulturen auf Löfflerserum angelegt, nach 24 Stunden
teils mit frischem Rinderserum, teils mit Wasser vorsichtig
abgenommen und am Schüttelapparat geschüttelt. Nach
24 Stunden waren die Bazillen oft nicht augenfällig zerstört,
sie zeigten schöne, lange Formen, so dass öfter 48 Stunden
geschüttelt werden musste, worauf man mikroskopisch viele,
leere Schläuche sah. Darauf Sterilisieren mit Toluol, Ver¬
dunsten des Toluols, Injektion. Wurde das Toluol vor dem
Schütteln zugesetzt, dann schien es die Extraktion des Toxins
zu behindern.
33. Meerschweinchen über 250 g bekommt subkutan den Extrakt
von 5 Kulturen I in Rinderserum. Stirbt nach 29 Stunden. Aus¬
gedehntes subkutanes Oedem, 2 ccm Pleuraexsudat. Kohlschwarze
Nebennieren. Keine Bazillen im Oedem.
34 — 36. Meerschweinchen I, 525 g bekommt subkutan 1 ccm
Extrakt (5 Serumkulturen 24 Stunden alter Diphtheriestamm II, in
Rinderserum 48 Stunden geschüttelt). (Steril.)
Meerschweinchen II, 420 g bekommt subkutan 0,1 ccm Extrakt.
Meerschweinchen III, 430 g bekommt subkutan 0,01 ccm Extrakt.
Alle 3 haben am nächsten Tage mächtige Infiltrate. Am dritten
Tage stirbt Meerschweinchen I mit viel Pleuraexsudat, schwarzen
Nebennieren und sterilem, nicht vereiterten, lokalen Infiltrat. Die
beiden anderen Tiere überstehen die Krankheit und erholen sich
allmählich unter Rückgang der Infiltrate.
37 — 38. Meerschweinchen I, 200 g bekommt subkutan 0,1 ccm
Extrakt (Diphtheriestamm II, 24 Stunden gewachsen, 48 Stunden ge¬
schüttelt. in Wasser). (Steril.)
Meerschweinchen II, 185 g bekommt subkutan 0,01 g Extrakt
(Diphtheriestamm II, 24 Stunden gewachsen, 48 Stunden geschüttelt,
in Wasser).’ (Steril.)
Meerschweinchen I stirbt nach 4 Tagen. Pleuraexsudat, kohl¬
schwarze Nebennieren, ausgedehntes, steriles Infiltrat.
Meerschweinchen II stirbt nach 7 Tagen, zeigt ausser dem
Infiltrat keitje Zeichen des Toxintodes (unsicher).
39 — 40. Meerschweinchen I, 290 g bekommt 0,1 ccm Extrakt
(4 Serumkulturen, 24 Stunden alter Diphtheriestamm II, in 5 ccm
Rinderserum, sofort Toluol zugesetzt, geschüttelt, zentrifugiert, ver¬
dunstet).
Meerschweinchen II, 190 g bekommt 0,01 ccm Extrakt (4 Serum¬
kulturen, 24 Stunden alter Diphtheriestamm II, in 5 ccm Rinder¬
serum, sofort Toluol zugesetzt, geschüttelt, zentrifugiert, verdunstet).
Am nächsten Tage haben beide Tiere Infiltrate, Meerschwein¬
chen I ein besonders ausgedehntes. Durchbruch mit Nekrose.
Heilung.
41 — 42. Meerschweinchen I, 250 g bekommt 0,1 ccm Extrakt
subkutan (Diphtheriestamm T. P. Nach dem Schütteln sterilisiert).
Meerschweinchen II, 210 g bekommt 0,025 ccm Extrakt subkutan.
Meerschweinchen I stirbt nach 10, Meerschweinchen II nach
8 Tagen. Toxintod.
43 — 44. Diphtheriestamm II, Wasserextrakt, 48 Stunden ge¬
schüttelt.
Meerschweinchen I, 250 g bekommt 0,1 ccm subkutan.
Meerschweinchen II, 205 g bekommt 0,05 ccm subkutan.
Am nächsten Tage haben beide Infiltrate; Durchbruch mit Ne¬
krose. Heilung.
Literatur:
Bail und Weil: Unterschiede zwischen aggressiven Exsudaten
und Bakterienextrakten. Zentralbl. f. Bakteriol. 1906, XI. Bd., H. 3.
— Weil und Nakayama: Berl. klin. Wochenschr. 1906, No. 3. —
Salus G. : Neue biologische Beziehungen zwischen Koli- und Ty¬
phusbakterien. Arch. f. Hyg. LV. — Citron: Zentralbl. f. Bakteriol.
Orig. Bd. LXI, H. 2. — Beck und Ko Ile: Wassermanns Handbuch der
pathog. Mikroorganismen. II. Bd., S. 754 ff. — A. Wolff: Unter¬
suchungen über einige Immunitätsfragen. Berl. klin. Wochenschr.
1904, No. 42—44.
Aus der k. k. Universitäts-Kinderklinik in Wien (Vorst.: Hofrat
E s c h e r i c h).
Allergie.
Von C. v. Pirquet.
In den letzten Jahren ist eine Reihe von Tatsachen ge¬
sammelt worden, welche in das Bereich der Immunitätslehre
gehören, aber unter diesen Namen schlecht passen: die Be¬
funde von Ueberempfindlichkeit am immunisierten Orga¬
nismus. 1)
Diese beiden Ausdrücke schreien gegeneinander; unter
immun stellen wir uns doch einen Organismus vor, welcher
gegen eine Krankheit geschützt ist, von ihr nicht mehr ange¬
griffen wird; und der soll gleichzeitig gegenüber derselben
Krankheit überempfindlich sein?
Diesen Widerspruch hat schon v. Behring gefühlt, als
er den Tod von gegen Tetanus hoch immunisierten Tieren an
kleinen Mengen desselben Toxins als „paradoxe Reaktion“
bezeichnete.
Eine „Paradoxie“ können wir doch nur als Ausnahmefall
gelten lassen; je mehr man aber in dieses Gebiet eindringt,
desto weiter reicht die Gesetzmässigkeit, und wir kennen
schon jetzt eine grosse Zahl von Krankheitsprozessen, bei denen
Symptome von Ueberempfindlichkeit angetroffen werden.
Hieher gehören:
Tetanus (v. Behring, Kretz). Tuberkulose (Cour-
m o n t, S t r a u s s und Gamalei a, Babes und P r o c a,
Detre-Deutsch, B. Schick, Löwen stein und
Rappaport, Möller, Löwenste in und Ostrowsky),
Syphilis (Finger und Landsteiner), Diphtherie (R i g t),
Serum (A r t h u s, v. P i r q u e t und Schick, Lehn¬
dorff, B. Otto, Rosenau und Anderson), Bakterien
im allgemeinen, Organextrakte, diverse Eiweissubstanzen,
Heufieber (A. W o 1 f f - E i s n e r).
Sind aber wirklich Immunität und Ueberempfindlichkeit
mit einander verbunden, oder sind die Prozesse, bei denen
Vorbehandlung Immunität verursacht, von jenen abzutrennen,
wo sie zur Ueberempfindlichkeit führt?
A. Wolf f-Eisner2) will diese Trennung durchführen :
die Prozesse, bei denen Toxine beteiligt sind, führen zu Anti¬
toxinbildung und Immunität, die Prozesse, in welchen Endo¬
toxine das wirksame Agens vorstellen, führen zur Ueber¬
empfindlichkeit.
Wir sehen aber schon aus den Erfahrungen beim Tetanus,
dass bei rein antitoxischen Prozessen Ueberempfindlichkeit
1) Vergl. v. Pirquet und Schick: Ueberempfindlichkeit und
beschleunigte Reaktion. Münch, med. Wochenschr. 1906, 2.
2) Zentralbl. f. Bakteriolog. Bd. 37, 1904; Münch, med. Wochen¬
schrift 1906, No. 5; Das Heufieber, München, Lehmann 1906.
1458
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Vorkommen kann. Der Einwand Wolff-Eisners, dass sie
hier nur ausnahmsweise auftritt, scheint mir das Prinzipielle
der Frage nicht zu treffen.
R i c h e t :‘). welcher als erster der Ueberempfindlichkeit,
die er Anaphylaxie nannte, eine wichtige Bedeutung zu¬
erkannte, fand, dass Injektion seines Aktiniengiftes gleichzeitig
Immunität und Anaphylaxie erzeugt: bei der Wiederholung
der Giftinjektion nach einer gewissen Zeit gehen die Tiere ge¬
wöhnlich akut zugrunde; wenn sie aber den ersten Schock über¬
leben, so iiberstehen sie die Krankheit schneller als erst¬
injizierte Kontrolltiere.
Aehnliche Vorstellungen haben v. Pirquet und Schick3 4)
aus der Serumkrankheit gezogen: die Erscheinungen nach
Reinjektion verlaufen stürmischer, aber schneller.
In jüngster Zeit haben Rosenau und Anderson5 *)
gezeigt, dass trotz der enormen Ueberempfindlichkeit, welche
Meerschweinchen durch Injektion von kleinsten Mengen
Pferdeserum akquirieren, damit gleichzeitig Immunisierungs¬
vorgänge vergesellschaftet sind: wenn man, statt nur einmal
zu injizieren, die Injektion des Pferdeserums durch 10 Tage
wiederholt, so erliegt das 10 mal injizierte Tier nicht der
späteren Reinjektion von Pferdeserum, wie das nur einmal vor¬
injizierte.
Am klarsten scheint mir die Verbindung von Immunität
und Ueberempfindlichkeit aus den Erfahrungen bei der Vak¬
zination zu erhellen °). Der vor kurzer Zeit Vorgeimpfte er¬
scheint gegenüber dem Erstimpfling überempfindlich, denn er
reagiert viel schneller auf die Infektion, und gleichzeitig ist er
geschützt, denn bei ihm erreicht der vakzinale Prozess nur eine
geringfügige lokale Ausdehnung, alle Allgemeinerscheinungen
bleiben ihm erspart. Ganz ähnliche Verhältnisse haben in
jüngster Zeit Finger und Landsteiner7) bei der Syphilis
aufgedeckt: Die Reinokulation mit Syphilis hat in allen Stadien
einen deutlichen Effekt. Dieser erscheint rascher als nach einer
Erstinfektion (verkürzte Inkubationszeit); bei tertiärer Syphilis
kann sogar sofort nach der Reinokulation ein lokales Erythem
auftreten, ein Vorgang, welcher der „sofortigen Reaktion“ bei
wiederholter Seruminjektion gleichzustellen ist.
„Immunität“ und Ueberempfindlichkeit
können somit aufs innigste mit einander ver¬
bunden sein.
Diese Worte stehen aber in kontradiktorischem Gegen¬
sätze zu einander, ihre Vereinigung ist eine ganz ge¬
zwungene. Der Immunitätsbegriff ist eben noch von der
Zeit übernommen, wo man die Ueberempfindlichkeit noch nicht
kannte.
Nun aber ist, wie F. Hamburger8) sagt, die spezifische
Aenderung, die ein Tier nach einer experimentellen Erkrankung
erleidet, fast ebenso oft eine erhöhte Empfindlichkeit, wie eine
erhöhte Widerstandsfähigkeit.
Wir brauchen ein neues, allgemeines, nichts präjudizieren-
des Wort für die Zustandsänderung, die der Organismus durch
die Bekanntschaft mit irgend einem organischen, lebenden oder
leblosen Gifte erfährt.
Der Geimpfte verhält sich gegenüber der
Lymphe, der Luetische gegenüber dem Syphi¬
lisvirus, der Tuberkulöse gegenüber dem Tu¬
berkulin, der mit Serum Injizierte gegen¬
über dem Serum anders als ein Individuum,
welches mit dem betreffenden Agens noch
3) Archivio di Fisiologia 1904, pag. 129. Soc. de biologie 21, I. 05.
4) Wien. klin. Wochenschr. 1903, No. 26, 45, 1905, No. 17 und
Die Serumkrankheit. Wien, Deutike, 1905.
5) A study on the cause of sudden death following the injection
of horse serum. Hyg. Lab. U. S. Pub. Health and Mar. Hosp. Serv.
Washington 1906. Bull. No. 29.
°) v. Pirquet: Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Na¬
turforscher und Aerzte, Kassel 1903, Wiener klin. Wochenschr. 1906,
No. 28, Klinische Studien übere Vakzination und vakzinale Allergie.
Wien, Deutike, 1906. (Wird in den nächsten Monaten erscheinen).
7) Sitzungsbericht d. Kais. Akad. d. Wiss. in Wien. M.-N.-Klasse,
April 1906.
8) Eine energetische Vererbungstheorie. 22. Kongr. f. innere
Medizin, Wiesbaden 1905.
nicht in Berührung gekommen ist; er ist des¬
wegen noch weit entfernt, unempfindlich zu
sein. Alles, was wir von ihm sagen können,
ist, dass seine Reaktionsfähigkeit geändert
i s t.
Für diesen allgemeinen Begriff der veränderten
Reaktionsfähigkeit schlage ich den Ausdruck
Allergie vor. Allos bezeichnet die Abweichung von der
ursprünglichen Verfassung, von dem Verhalten des Normalen,
wie in Allorhythmie, Allotropie.
Der Geimpfte, der Tuberkulöse, der mit Serum Injizierte
werden den respektiven Fremdkörpern gegenüber aller¬
gisch. Ein Fremdkörper hinwiederum, welcher den Organis¬
mus durch ein- oder mehrmalige Einverleibung zu einer Ver¬
änderung der Reaktion beeinflusst, ist ein A 1 1 e r g e n. Der
Ausdruck ist — in allerdings unphilologischer Weise — an die
Bezeichnung Antigen (Detre-Deutsch) angelehnt, welcher
eine Substanz bedeutet, die Antikörper zu erzeugen vermag.
Der Begriff Allergen reicht weiter: Ausser den Antigenen ge¬
hören zu den Allergenen die zahlreichen Eiweisskörper welche
keine Antikörperbildung, aber Ueberempfindlichkeit ver¬
ursachen. Allergene sind alle Erreger von Infektionskrank¬
heiten, die von Immunität gefolgt sind; zu den Allergenen
werden auch die Gifte der Mücken und Bienen zu rechnen sein,
insoweit hiernach Erscheinungen von Unter- oder Ueber¬
empfindlichkeit auftreten. Aus diesem Grund werden wir auch
die Pollen des Heufiebers (Wolff-Eisner), die Urtikaria er¬
zeugenden Substanzen der Erdbeeren und Krebse, wahrschein¬
lich auch eine Reihe organischer Substanzen, welche zu Idio¬
synkrasien führen, unter diesem Namen vereinigen können.
Die Bezeichnung Immunität soll auf jene
Prozesse beschränkt werden, wo die Ein¬
bringung der fremden Substanz in den Orga¬
nismus gar keine klinische Reaktion gibt, wo
also eine vollkommene Unempfindlichkeit
vorhanden ist, mag diese durch Alexine (natürliche Im¬
munität) durch Antitoxine (aktive und passive Immunität gegen
Diphtherie und Tetanus) oder auch durch eine Art Anpassung
an das Gift (W assermann und C i t r o n) bedingt sein.
Die neuen Namen machen keinen Eingriff in die
bisherige spezielle Nomenklatur. Die abgegrenzten
Begriffe der Antitoxine, Zytolysine, Hämolysine, Präzipitine,
Agglutinine, Koaguline werden dadurch nicht tangiert. Die
Ueberempfindlichkeit ist ein neues Arbeitsgebiet, auf dem
erst in den letzten Jahren die Bildung der Begriffe unter müh¬
samer Anpassung an alte Namen stattgefunden hat. Aus dem
Bedürfnis heraus, in diese Begriffsbildung Klarheit zu bringen,
schlage ich die neuen Bezeichnungen vor und hoffe, dass ich
durch die Vereinfachung der äusseren Formen neuen Mit¬
arbeitern eine Erleichterung des Studiums der interessanten
Vorgänge auf diesem Gebiete schaffen werde.
Ueber Formen und Ursachen des Infantilismus.*)
Von Prof. G. Anton in Halle a. S.
Unter Infantilismus verstehen wir einen Folge¬
zustand, welcher einer Summe verschiedener Erkrankungen in
der Kindheit, in der Geschlechtsreife entstammt. Diese Stö¬
rungen bewirken eine krankhafte Fortdauer der Merkmale der
Kindheit und Adoleszenz bis ins Lebensalter der vollen Reife,
und weiter bis über die Zeit des Wechsels, bis in die Phase des
Greisenalters. Sie stellen also eine durchs ganze extrauterine
Leben andauernde Entwicklungsstörung und Wachstumshem¬
mung dar, welche allerdings mitunter nachweisbar anschliesst
an fehlerhafte Anlage oder intrauterine Entwicklungsstörungen.
Das Wort stammt von A n d r a 1 und Laseguef. Nach der
Definition von L o r r a i n ist darunter zu verstehen eine De¬
bilität, Grazilität und abnormes Kleinbleiben des Körpers, eine
Entwicklungsstörung, welche mehr die Gesamtmasse des Kör¬
pers, als irgend ein spezielles Organ betrifft. Es sind seither
*) Vortrag, gehalten im Verein der Aerzte in Halle a. S. am
7. März 1906.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1459
aber vielfach Fälle beschrieben, welche dazu berechtigen, auch
einen lokalen, partiellen Infantilismus anzunehmen. Manou-
v r i e r bezeichnet den Infantilismus als einen Entwicklungs¬
stillstand in der Zeitphase vom 15. bis 16. Lebensjahre und
einfache Fortdauer des Grössenzuwachses. Aber in diesem
Rahmen fände nur ein kleiner Teil, nämlich einzelne Störungen
in der Pubertät, Platz. Wir wissen aber, dass eine grosse An¬
zahl solcher Kranker schon frühzeitig geringe Grössenentwick¬
lung zeigt, ja dass es auch Zwergfötusse (feto nano) gibt. Wir
wollen daher den allgemeinen Infantilismus be¬
zeichnen als eine Entwicklungs Störung,
w eiche den ganzen Organismus auf kind¬
lichem Typus Zurückbleiben lässt und die
Fortentwicklung des Individuums im Sinne
seiner Gattung verhindert; dabei bleiben
nicht nur die körperlichen Merkmale, son¬
dern vielfach auch die seelischen Eigen¬
schaften des Kindes fortbeste hen. Als Haupt¬
merkmale werden von den meisten Autoren für diese Form
angegeben : Kleinheit des knöchernen Skelettes, pro¬
portionale Verkleinerung der Organe, Ausbleiben
oder wenigstens Hemmung der geschlechtlichen
Fortentwicklung, also kleines Genitale, endlich Zu¬
rückbleiben der geistigen Leistungen auf kind¬
licher Stufe.
Diese Schilderung aber trifft in allen Teilen nur zu beim
allgemeinen und reinen Infantilismus, wobei die Formen
des „wahren Zwergwuchses“ mit unterzuordnen sind. Nicht
immer aber tritt der Infantilismus universell gewissermassen
harmonisch zutage. Wir werden mehrfach über die partiellen
Infantilismen zu sprechen haben. Aber auch die allgemeinen
Formen zeigen den Grad und die Komplikationen nach sehr
verschiedenen Typen, welche deutlich auf ihre Krank¬
heitsursache und Herkunft verweisen.
Es ist ja wohl bekannt, dass die frühzeitigen intra- und
extrauterinen Erkrankungen der Schilddrüse beim Zu¬
standekommen des Infantilismus eine grosse Rolle spielen; ja
es lässt sich aussagen, dass (seit Hofmeister, v. Eiseis¬
berg) man durch Exstirpation der Schilddrüse ganz gesetz-
mässig bei jungen Tieren Zwergwuchs, Verkümmerung des
Genitales, sowie mangelhafte Intelligenzleistungen hervor-
rufen kann.
Ich will dabei die derzeit diskutierte Frage nicht näher be¬
handeln: ob der endemische Kretinismus identisch ist mit dem
sporadischen, infantilen Myxödem.
Die Trennung, welche der wahre Zwergwuchs von dem
kretinistischen Zwergwuchse noch vor 10 Jahren allgemein
erfuhr, ist derzeit von vielen Autoren nicht mehr anerkannt.
Es darf hier erwähnt werden, dass selbst eine Autorität wie
March and nicht abgeneigt scheint, wenigstens einzelne
Formen der Mikrocephalie auf kretinistische Schädlichkeiten
zurückzuführen. Es gibt eine Anzahl verdienter Autoren, unter
denen ich Herthoghe nenne, welche alle Fälle von In¬
fantilismus auf Störung der Schilddrüsenfunktion zurückführen.
Nach der Ansicht dieses Autors führen alle anderen Ursachen,
wie erbliche Syphilis, Malaria, Alkoholismus, Tuberkulose usw.,
nur dann zu Infantilismus, wenn vorher die Schilddrüse mit¬
erkrankt war. Dagegen wird von S a n c t i s und von anderen
Autoren doch die Tatsache geltend gemacht, dass es schwere
und leichte Infantilismusformen gibt, bei denen die Schild¬
drüse wohlerhalten ist. Ich kann diese Tatsache vol¬
lauf bestätigen sowohl für schwere als auch leichte Formen.
Wohl aber bin ich auf Grund 10 jähriger Erfahrung in
Steiermark genötigt, auszusagen, dass in Gegenden und in Fa¬
milien, wo der Kretinismus herrscht, auch infantile Hemmungs¬
bildungen ohne Kropf besonders häufig erscheinen. Diese Tat¬
sache schliesst aber keineswegs aus, dass auch andere Krank¬
heitsursachen während der Entwicklung infantile Hemmungs¬
bildung veranlassen. Letztere Tatsache wurde schon von
L o r r a i n 18 — erörtert, in neuester Zeit von Ferranini,
S a n c t i s und andere bestätigt und weiter ausgeführt.
Dass auch der Wegfall anderer Drüsenfunk¬
tionen die körperliche und psychische Entwicklung hemmen
und unterbrechen kann, geht ja aus den Massenerfahrungen bei
den Entfernungen der Geschlechtsdrüsen durch die Tierzüchter
hervor. Letztere haben auch bereits nachgewiesen, dass es
einen grossen Unterschied gibt, je nachdem die Entfernung der
Geschlechtsdrüsen beim neugeborenen oder beim erwach¬
seneren Tiere vollzogen wird; es ist also erwiesen, dass die
scheinbar noch nicht funktionierenden Geschlechtsdrüsen be¬
reits für das Wachstum des Organismus offenbar durch innere
Sekretion eine sehr belangreiche Bedeutung haben. Dasselbe
lässt sich beim Menschen behaupten; so wird oft durch erb¬
liche Syphilis eine Erkrankung des kindlichen Hodens (eine
Castratio subalbuginea) hervorgerufen (H. S c r i n g e).
Sehr bemerkenswert illustriert Zander in Königsberg
die Beziehungen der Nebennieren zu den Störungen der
Hirnentwicklung. Dieser Autor fand in 56 Fällen die Neben¬
nieren sehr klein oder entartet. Es betraf folgende Fälle:
Hcmicephalen 42, Encephalocele 6, Zyklopie 4, Syncephalie 3,
Mikrocephalie 1.
Auch bei Fällen von erheblichen Defekten des Vorderhirns
fand er regulär die Nebennieren verändert.
Ich selbst kann diese Angaben bestätigen auf Grund dreier
selbst gemachter Obduktionen von Ankuzephalen. Hierzu
darf ich den eigenartigen Befund anfügen, dass in einem Falle
von eklatanter Hypertrophia cerebri ich die Mark¬
substanz der Nebennieren fast total zystisch entartet fand;
dagegen war die Thymusdrüse ganz auffällig gross und auch
beide Arteriae thymicae in ungewöhnlicher Grösse vorhanden.
Die Schilddrüse war normal. In derselben Familie hatte ich
einen jungen Mann zu behandeln, welcher im Obergymnasium
in der geistigen Fortentwicklung Stillstand und seither psychisch
dekadent wurde. Auch bei diesem liess sich durch die Per¬
kussion eine Persistenz der Tymusdrüse wenigstens wahr¬
scheinlich machen. Die letztgenannte Driise muss desgleichen
hier in Betracht gezogen werden. Schon K 1 e b s hat dieselbe
mit dem Entstehen der Akromegalie in Zusammenhang ge¬
bracht. Vielfach sind die Versuche, die Störungen der
Thymusdrüse mit anderen Entwicklungsstörungen z. B.
der Chlorose (Blondeil) in Konnex zu bringen. Tatsache ist ja,
dass die Thymusdrüse beim Menschen mit der Fortentwicklung
normalerweise sich verkleinert und schwindet; doch ist die
Persistenz der Thymusdrüse wie alle erfahrenen
Pathologen wissen, ein häufiger Befund, der noch in tiefes
Fragedunkel gehüllt ist. Tatsache ist endlich, dass Anomalien
der Thymusdrüse insbesondere Mangel der Involution bei In-
fantilismus relativ häufig gefunden wird. Die Beziehungen der
Thymusdrüse zum Knochenwachstum haben die interessanten
Versuche von Basch illustriert: nach der Exstirpation der Thy¬
musdrüse zeigten die Tiere viel grazileren Knochenbau als ihre
Genossen und nach Knochenbrüchen war die Kallusbildung be¬
trächtlich vermindert. Ueber die näheren Beziehungen der
Thymusdrüse zu den Wachtstumsstörungen sowie über die
Pathogenese des sogen. „Thymustodes“ könnte hier nur
Vermutungen bringen. Die Beziehungen der Gehirnanhangs¬
drüse der „Hypophyse“ zum Knochenwachstum brauchen
hier wohl nur erwähnt zu werden.
Jedenfalls tritt aus den zahlreichen Arbeiten auf diesem
verheissungsvollen Gebiete der pathologischen Forschung im¬
mer klarer die Ueberzeugung hervor, dass die Drüsen mil
innerer Sekretion i n s g e s a m t eine grosse Bedeutung be¬
sitzen für das Wachstum und für die Fortentwicklung des Or¬
ganismus und seiner Teile im Sinne seiner Art eigenen Gat-
tungsmerkmale. Wir lassen hier dahingestellt, wie weit diese
Korrelation der Drüsen eine chemische, physio¬
logische oder durch nervöse Reflexe vermittelt ist. Ange¬
sichts der zahlreichen klinischen und experimentellen Er¬
fahrungen über den funktionellen Konnex dieser Drüsen spricht
S a n c t i s von zweierlei Arten (Jer Drüsenfunktion und zwar
von einer „eigenen und spezifischen Funktion“ und von einer
„üemeinfunktion“, welche solidarisch mit den anderen Drüsen
für den Organismus erfüllt wird. Nach diesem Autor ist die
Behinderung der körperlich-geistigen Fortentwicklung ent¬
standen durch eine Störung des richtigen Gleichgewichtes, der
richtigen Harmonie des Stoffwechselschutzes und der forma-
tiven Stoffe im allgemeinen; diese Störungen können von ver-
1460
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
schiedenen Drüsen mit innerer Sekretion hervorgerufen
werden.
Nach dem bisher Gesagten geht wohl hervor, dass ich den
ähnlichen Standpunkt vertrete, d. h. die Annahme, dass die
Entwicklungshemmung der Infantilismen durch Stoffwechsel¬
störungen sehr verschiedener Herkunft bewirkt werden kann;
ich füge hinzu, dass die lokale und organische Ursache an sich
aber imstande ist, dem Infantilismus einen eigenen Typus, ein
eigenartiges Gepräge zu verleihen.
Zwei Ursachen müssen hier noch ausserdem wenigstens
kurze Erwähnung finden; dies deswegen, weil sie grosse pa¬
thologische Bedeutung haben und andrerseits, weil sie in den
bezüglichen Publikationen zumeist unerörtert bleiben.
Zunächst ist es Tatsache, dass nach einem Trauma be¬
sonders bei starker Erschütterung jugendliche Individuen auf
demselben kindlichen Typus der Entwicklung stehen bleiben
können, den sie zur Zeit des Traumas erreicht hatten.
Zweitens muss auch die primäre Funktions¬
störung des Gehirns als veranlassende Ur¬
sache in Betracht gezogen werden. Die Beziehungen
zwischen Gehirn und Drüsen ist ja eine gegenseitige, ja es kann
kurzweg ausgesagt werden, dass der Einfluss des Zentral¬
nervensystems auf die Drüsen so eklatant ist, wie der auf die
Muskulatur. Auch auf die übrigen Organe einschliesslich des
knöchernen Skelettes ist der Wachstumseinfluss des Gehirns
ja evident; dieser Einfluss wird besonders deutlich bei infan¬
tilen Gehirnerkrankungen, besonders bei Encephalitis, Poren-
cephalie und bei der Paralysis progressiva im Kindesalter,
Ausdrücklich darf aber bemerkt werden, dass Mikrozephalie
an und für sich nicht notwendig zu einer Verkleinerung des
Längenwachstums und der Grössenentwicklung des Rumpfes
und der Extremitäten führt.
Die Zusammenfassung des Gesagten will ich in der folgen¬
den Tabelle geben, welche noch nicht eine systematische Ein¬
teilung oder scharfe Unterscheidung der einzelnen Formen ten¬
diert; vielmehr soll eine Aufzählung damit gegeben sein, in
welcher die einzelnen Ursachen und Typen des Infantilismus
vermerkt sind.
I. Generelle Infantilismen.
a) Infantilismus mit Myxödem und mit Kretinismus.
b) Mongolismus.
c) Infantilismus durch Fehlen oder durch Verkleinerung des
Genitales.
d) Infantilismus mit primärer Erkrankung anderer viszeraler
Drüsen, insbesondere der Nebennieren, der Thymus, der
Bauchspeicheldrüse.
e) Infantilismus dystrophicus mit folgenden ätiologischen
Unterarten :
o.) Infantilismus bei Gefässaplasie (J. anangioplasticus).
ß) Infantilismus bei primären Gehirnerkrankungen (ein¬
seitig oder beiderseitig).
y) Infantilismus bei erblicher Syphilis.
3) Infantilismus nach Alkoholismus und anderen Ver¬
giftungen (Blei, Quecksilber etc.) der Eltern.
0 Infantilismus bei frühzeitig erworbenen anderweitigen
Erkrankungen und Stoffwechselstörungen, wie Tu¬
berkulose, Chlorose, Herzfehler (Pulmonalis- und Mi¬
tralisinsuffizienz), Pellagra und andere Endemien.
t) Infantilismus durch Verkümmerung in schlechten hy¬
gienischen Verhältnissen und durch mangelhafte Er¬
nährung des Kindes.
II. Partielle Infantilismen.
a) Infantilismus, bestehend in Verkleinerung der Sexualorgane.
b) Infantilismus mit Mangel im Gebiete des kardiovaskulären
Systems.
c) Infantilbleiben der Stimme und der stimmbildenden Organe.
d) Ausbleibender Haarwuchs (Fehlen des Bartes und der
Pubes, aber auch der übrigen Körperhaare mit guten Kör¬
perproportionen).
e) Reiner Infantilismus psychicus.
Aus der Universitäts-Kinderklinik in Graz (Vorstand: Prof.
Dr. Meinhard P f a u n d 1 e r).
Ueber das Westp hat sehe Phänomen bei kruppöser
Pneumonie der Kinder.
Von Dr. Nikos A. Kephallinös aus Korfu.
Im Jahre 1902 hat Pfaundler in dieser Wochenschrift
(No. 29) über Beobachtungen berichtet, die in die Neunziger
Jahre zurückgreifen und die das Verhalten des Patellarsehnen-
reflexes bei der akuten lobären Pneumonie der Kinder be¬
treffen; unter 200 Fällen dieser Erkrankung wurde der Patel-
larsehnenreflex 55 mal (27,5 Proz.) nicht vorhanden oder herab¬
gesetzt befunden. Die Kinder, die das W e s t p h a 1 sehe Phä¬
nomen boten, standen im Alter von 1 bis 13 Jahren. P f a u n d-
1 e r führt aus, dass das W e s t p h a 1 sehe Phänomen abge¬
sehen von den Fällen gewisser Neurosen (wie Poliomyelitis
und Neuritis) im Kindesalter recht selten ist und dass
andere akute Infekte mit Fehlen des Patellarsehnenreflexes
jedenfalls nur ganz ausnahmsweise einhergehen. Die sta¬
tistische Nachforschung, ob andere die kruppöse Pneumonie
begleitende Umstände mit dem Auftreten des W estphal-
schen Phänomens in näherer Beziehung stehen, ergab keine
besonders verwertbare Anhaltspunkte; es schien nur, dass die
Fälle mit schwerem Allgemeinzustande, namentlich jene, die
mit zerebralen pseudomeningitischen Initialerscheinungen
(Kopfschmerzen, Benommenheit, Delirien, Nackenstarre) ein¬
hergehen, häufiger als andere den Patellarsehnenreflex ver¬
missen lassen.
Als besonders beachtenwert bezeichnet Pfaundler das
Auftreten des W e s t p h a 1 sehen Phänomens in frühesten Sta¬
dien der Erkrankung, in denen die Diagnose sich höchstens auf
gewisse Indizien, wie Schüttelfrost, hohe Kontinua, kupierte
Atmung von diversem Typus, Wangenröte, Azetonurie, Leu¬
kozytose etc. nicht aber auf einen physikalischen Lungen¬
befund zu stützen vermag.
Nach Ablauf der Erkrankung kehrte der Reflex in allen
darauf untersuchten Fällen wieder, und zwar zumeist während
oder bald nach der Krise. Pfaundler verweist auf An¬
deutungen, die über das W e s t p h a 1 sehe Phänomen bei
Pneumonie in der Literatur bishin Vorlagen (Petitclerc,
Marinian, Longaard, Pelizaeus und insbesonders
Sternberg), bemerkt, dass die gebräuchlichen Lehr- und
Handbücher keinen Hinweis darauf enthalten und resümiert
dahin, dass das W e s t p h a Ische Zeichen — sofern esbei
kruppöser Pneumonie der Kinder v o r 1 i e g t —
diagnostisch verwertbar sei, namentlich in jenen Fällen, in
denen wegen zentralen Sitzes der Infiltration die physikalischen
Erscheinungen verspätet auftreten und in jenen, in welchen die
zerebralen Erscheinungen an Meningitis denken lassen.
Ungefähr ein Jahr vor dem Erscheinen der Publikation
von Pfaundler kam F. Schnitze in einer Arbeit, be¬
titelt ,, Ueber das Vorkommen von Lichtstarre der Pupillen bei
kruppöser Pneumonie“ *) auf das Verhalten der Patellar-
sehnenreflexe bei dieser Krankheit zu sprechen und berichtet:
„Diese Reflexe können sich gerade so wie bei
anderen akuten Infektionskrankheiten nor¬
mal verhalten, sie können aber auch gestei¬
gertsein, und vor allem zeitweilig erlosch en“.
Weiterhin bestätigt H. L ii t h j e * 2) nach Pfaundler aus der
Greit'swaldcr medizinischen Klinik das häufige Vorkommen des
W e s t p h a 1 sehen Phänomens bei kruppöser Pneumonie und
zwar „bei Kranken jeglichen Alters“ (auch bei
Säuglingen? Verf.), er findet das Zeichen „launisch“ und
konnte über die inneren Ursachen seines Fehlens oder seines
Auftretens bei verschiedenen Krankheitsfällen nichts eruieren.
Drittens kam auf die gegenständliche Frage H. Roeder
im „Deutschen Archiv für. Klinische Medizin“ 3) zu sprechen.
Auch dieser Autor, dem das Material des Kaiser- und Kaiserin
Q Deutsches Archiv für klinische Medizin. 1901. Bd. LXX1II.
2) Zum Schwinden der Patellarreflexe bei Pneu mie. Miinch.
med. Wochenschr. 1902. No. 32.
3) Band LXXII.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1461
Friedrich-Krankenhauses in Berlin verfügbar war, bestätigt —
ohne Zahlenangaben zu machen — das Vorkommen von Her¬
absetzung oder Fehlen des Patellarsehnenreflexes bei Kinder¬
pneumonie, findet wie Pfaundler gesetzmässige Be¬
ziehungen zwischen dem Grade und dem Verlaufe der Er¬
krankung einerseits und dem Auftreten des Phänomens ander¬
seits nicht und glaubt, dass das „schwankende Verhalten“ der
Beobachtung ihr die „diagnostische und prognostische Be¬
deutung“ raubt. Es darf hier wohl einschaltend gleich bemerkt
werden, dass Pfaundler dem Zeichen als solchem eine pro¬
gnostische Bedeutung gar nicht, eine diagnostische aber nur
im Falle seines Vorhandenseins zugeschrieben hat.
Jedermann anerkennt die diagnostische Bedeutung des Herpes
febrilis bei kruppöser Pneumonie, eines Zeichens das, wie schon
Pfaundler zeigen konnte, die Krankheit bei Kindern viel
seltener begleitet als das Phänomen von Westphal, und das
bekanntlich vielen anderen akuten Infektionskrankheiten in
gleichem Masse eigentümlich ist; somit kann das Fehlen des
W e s t p h a 1 sehen Phänomens in einem beträchtlichen Pro¬
zentsätze der Fälle von Pneumonie ebensowenig wie sein Vor¬
kommen bei Typhus, Erysipel, Masern, Scharlach, das von
Roeder ohne weitere Belege behauptet wird, ein Argument
sein, welches das Interesse an dem Befunde von Pfaundler
und Anderen und seine Bedeutung wesentlich herabmindert.
Roeder meint ferner die Frage offen lassen zu müssen, ob
nicht diejenigen Fälle von kruppöser Pneumonie, bei denen
der Patellarsehnenreflex herabgesetzt ist oder fehlt, bereits
während vorausgegangener Krankheiten durch toxisch-infek¬
tiöse Einflüsse eine Schädigung dieses Reflexbogens erlitten
haben; es komme bei Diphtherie vor, dass das Westphal -
sehe Zeichen nach Ablauf der Erkrankung stationär bleibt. „Zu
welchen Irrtümern würde es führen, hier bei
einer späteren Erkrankung an Pneumonie aus
dem Fehlen des Patellarsehnenreflexes
Schlüsse zu ziehen und das dauernde Fehlen
des Reflexes nach der Rekonvaleszenz der
Pneumonie allein zuzuschreiben !“4 5) Wenn Roe¬
der etwa annehmen sollte, dass ein solches stationäres West¬
phal sches Zeichen nach Infektion in den von Pfaundler
beobachteten Fällen ein Schwinden des Patellarsehnenreflexes
während der und durch die akute Pneumonie vorgetäuscht
habe, so dürfte ihm die Bemerkung in der Pfaundler sehen
Arbeit entgangen sein, dass der Patellarsehnenreflex nach Ab¬
lauf der Erkrankung und Rekonvaleszenz in allen darauf
untersuchten Fällen in gehörigem Ausmasse wieder gefunden
wurde.
Vielleicht mit Recht wurde als ein Mangel in der P f a u n d-
1 e r sehen Publikation empfunden, dass sich der Autor nicht
durchaus auf persönliche Erfahrungen, sondern zum Teil
auf die im Krankenjournale enthaltene Angabe des jeweiligen
Abteilungsoberarztes stützte; auch war zu erwarten, dass
etwas abweichende Resultate erhalten werden, wenn man der
Frage eine spezielle Beachtung in jedem Einzelfalle schenkt,
als wenn man sich auf Angaben in dem systematischen Status
stützt, herrührend von Solchen, die auf eine bemerkenswerte
Abweichung im Verhalten des Patellarsehnenreflexes bei
kruppöser Pneumonie nicht gefasst waren.
Ich habe daher das seit Pfaundlers Publikation an
dessen Klinik. und unter dessen persönlicher Ingerenz ange¬
sammelte Material, zu dem ich seit 1904 selbst Beiträge zu
liefern in der Lage war, hinsichtlich der in Rede stehenden Be¬
ziehung bearbeitet.
Die Ergebnisse meiner Nachforschung lege ich, wie folgt,
dar: Von Juli 1902 bis 15. März 1906 wurden an der Grazer
4) Von mir gesperrt.
5) Das Material von unter 3 jährigen Kindern wurde hier nicht
verwertet, da in diesem Alter die kruppöse Pneumonie relativ selten
auftritt und in einer geringeren Zahl von Fällen absolut ein¬
wandsfrei diagnostiziert werden kann. Dass auch bei kruppöser
Pneumonie jüngster Kinder der Patellarsehnenreflex fehlen kann,
lehrte uns ein Fall, betreffend ein 15 Monate altes Mädchen, das mit
zerebralen Reizerscheinungen eingebracht, im ganzen Verlaufe der
(tödlichen) Erkrankung ohne Patellarsehnenreflexe befunden wurde
und bei welchem die Obduktion eine reine kruppöse Pneumonie ergab.
No. 30-
Klinik 65 diagnostisch zweifellos sichergestellte Fälle von
Pneumonia crouposa acuta an Kindern zwischen dem 4. und
14. Lebensjahre behandelt4) (siehe Tabelle am Schlüsse der
Arbeit).
Die Patellarsehnenreflexe waren unter diesen 65 Fällen
Nicht auslösbar 27mal = 41,5 Eroz.
Stark herabgesetzt 3mal
Rechts nicht auslösbar 2mal
32mal = 49,2 Proz.
Das Westphal sehe Phänomen bestand somit ausge¬
sprochen in über 41 Proz. der Fälle. Störungen des Patellar¬
sehnenreflexes überhaupt wurden beinahe in 50 Proz. aller
Fälle gefunden, während Pfaundler die Zahl mit nur 27,5
Proz. angibt. Die Häufigkeit des positiven Befundes, somit
auch die Verwertbarkeit des Westphal sehen Phänomens
bei Pneumonie im allgemeinen ist demnach eine viel grössere,
als seiner Zeit angenommen wurde.
Das Westphal sehe Phänomen fand sich
8 mal öfter als der Herpes febrilis.
Weiterhin wurde das zeitliche Auftreten des Westphal-
schen Phänomens zum Gegenstände besonderen Studiums ge¬
macht. So wie in unserem älteren Materiale, fanden sich auch
nach 1902 Fälle, die das W e s t p h a 1 sehe Phänomen un¬
zweifelhaft vor dem Auftreten jeden physi¬
kalischen Lungenbefundes erkennen Hessen.
Wiederholt wurden von mir hochfiebernde Kinder ohne ört¬
liche Krankheitszeichen auf das Fehlen des Patellarsehnen¬
reflexes hin als pneumonieverdächtig aus der Poliklinik auf die
Abteilung geschickt, woselbst noch durch 1 oder 2 Tage trotz
der aufmerksamsten Untersuchung der Respirationsorgane von
erfahrener Seite keine Zeichen beginnender Infiltration nach¬
gewiesen werden konnten; erst weiterhin kam es zu den cha¬
rakteristischen Zeichen und zu einem typisch ablaufenden,
kritisch endigenden Krankheitsprozesse.
Auch in den von mir untersuchten Fällen kehrte der Pa¬
tellarsehnenreflex jedesmal noch in der Beobachtungsdauer
wieder und zwar unter 12 Fällen, in denen diese Wiederkehr
einer besonderen Kontrolle unterlag, 6 mal am Tage der Krise,
4 mal am folgenden, 2 mal am zweitfolgenden Tage.
Sechs von den 32 Fällen mit Westphal schem Phänomen be¬
trafen Kinder im zweiten Dezennium, was mit den oben angeführten,
aus medizinischen Kliniken herrührenden Beobachtungen an Erwach¬
senen übereinstimmt, nicht auer mit der Bemerkung Pfaundlers,
wonach jenes Symptom die Pneumonie bei mehr als zehnjährigen
Kindern nur ausnahmsweise begleitet.
Trotzdem sich unter unseren Fällen ohne Patellarsehnenreflexe
auch viele schwere und „pseudomeningitische“ fanden, betrug ihre
Mortalität 0 Proz.
Schultze6) meint, dass zur Erklärung für das Fehlen der
Patellarsehnenreflexe bei kruppöser Pneumonie gesteigerter Druck der
Zerebrospinalflüssigkeit verantwortlich gemacht werden könnte,
wenngleich sonstige Symptome eines „starken Gehirndruckes“ (wie
Erbrechen und Bradykardie) in solchen Fällen fehlten. Auch wir
konnten uns von dem Vorhandensein eindeutiger Zeichen von mani¬
festem Hirndrucke neben dem Westphal schem Symptom, nicht
überzeugen.
Um über das Verhalten des zerebrospinalen Druckes
objektiven Aufschluss zu gewinnen, führte ich an dem sub 16
der Tabelle registrierten Falle am zweiten Krankheitstage
der Pneumonie, zur Zeit völligen Fehlens der Patellar¬
sehnenreflexe eine Lumbalpunktion aus und mass mittels
des von Pfaundler hiezu konstruierten Quecksilbermanometers,
welches im Gegensätze zum sonst üblichen Verfahren ein Ausströmen
nennenswerter Flüssigkeitsmengen vor statthabender Ablösung ver¬
hindert, den Druck der Zerebrospinalflüssigkeit am sitzenden Pa¬
tienten. Derselbe betrug 33 — 35 mm Quecksilber. Bei gesunden
Kindern dieses Alters wird ceteris paribus der Druck meist nur
25 mm hoch befunden. Wenn sich auch bei gleichalterigen Kindern
nach den Erfahrungen unserer Klinik bei Ausschluss zerebrospinaler
Veränderungen ausnahmsweise ein Druck von 35 mm Quecksilber
findet, so muss der oben angegebene Wert doch als ein auffallend
hoher bezeichnet werden; zur Bestätigung der Annahme S c h u 1 1 z e s
wird es allerdings noch weiterer Belege bedürfen.
Die Zerebrospinalflüssigkeit dieses Falles war wasserklar, ohne
Formelemente und von sehr geringem (normalem) Eiweissgehalte.
Auf die Beobachtung von Schultze betreffend das Vor¬
kommen von Lichtstarre der Pupillen bei kruppöser Pneu-
a) 1. c.
3
1462
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Name
Alter
Jahre
Zur Zeit der Statusaufnahme
Verlauf
Krankheitstage |
Temperatur
Lungenerscheinungen
•
Patellarsehnen-
reflexe
C/)
<D
CL
L-
<D
E
Harnbefund
(Azeton, Albumen,
Diazo)
Lokalisation
Stadium
1
Fürbas Mizzi
6l/2
3
42,2
R. H. U.
Hepatisation
Rechts nicht auslösbar
0
Azeton
Krise am 8. Tag
2
Geiger Marie
41/»
5
40,0
R. H. U.
ditto
Nicht auslösbar
0
Azeton, Albumen
ditto
3
Haas Viktor
10
5
40,0
R.H.O.-R.V.O.
ditto
ditto
•p
Azeton
Krise am 9. Tag
4
Hafner Anna
5'/2
5
39,8
R. V. O.
ditto
Stark herabgesetzt
0
Azeton, Albumen, Diazo
Krise am 7. 1 ag
5
Hayek Joseph
10
1
39,1
L. H. U.
Beginnende Infiltr.I
Nicht auslösbar
0
Azeton
Krise am 4. 1 ag
6
Heil Antonie
7l/2
4
40,3
R. V. - R. H.
Hepatisation
ditto
0
ditto
Krise am 7. 1 ag
7
Huber Joseph
4
4
39,9
L.H.U.-R.V.O.
ditto
ditto
0
ditto
Krise am 8. Tag
8
Juchart Ludwig
6
4
40
R.H. U.
ditto
ditto
0
ditto
Lytischer Abfall
9
Kapfensteiner Herrn.
3
3
39,7
L.H.U.-L.V.O.
ditto
ditto
0
ditto
Krise am 5. Tag
10
Keretz Marie
4'/2
4
38,4
R. H. O.
ditto
ditto
0
—
Krise am 4. Tag
11
Kinderhofer Marie
4l/n
6
39,7
R. H. U.
ditto
ditto
0
Azeton, Albumen, Diazo
Lytischer Abfall
12
Kowalskv Luise
5
4
39,8
—
Kein Befund
ditto
0
Azeton
Krise am 8. Tag
13
Knödl Therese
5’/2
4
40,5
L.H.O.-L.V.O.
Hepatisation
ditto
0
ditto
Lytischer Abfall
14
Löschnig Gabriele
41/ 2
3
39,3
—
Kein Befund
ditto
0
ditto
ditto
15
Malonig Marie
5
5
39,5
L. H. O.
Hepatisation
Sehr träge
0
Azeton, Albumen
Krise am 6. Tag
16
Nest Johann
5
1
39,0
—
Kein Befund
Nicht auslösbar
0
Azeton
ditto
17
Nowak Olga
13
4
40,3
L.H.U.-R.V.O.
Hepatisation
ditto
T*
Azeton, Albumen
Krise am 8. 1 ag
18
Pabst Anna
5
5
40,0
R. H. U.
ditto
ditto
0
Azeton, Diazo
ditto
19
Pekarek Joseph
13
6
39,0
L. H. U.
ditto
Stark herabgesetzt
0
—
Lytischer Abfall
20
Petrich Johann
11
8
39,3
R. H. U.
ditto
Nicht auslösbar
0
Azeton
Krise am 9. 1 ag
21
Petschar Anton
7
6
39,8
L. H. U.
Beginnende Lösung
ditto
0
ditto
Krise am 7. Tag
22
Pichler Johann
77a
6
39,5
L. H.
Hepatisation
Rechts keine
0
Azeton. Diazo
Lytischer Abfall
23
Prochaska Flora
9
4
40,2
R.U.H.- R.U.V.
ditto
Nicht auslösbar
0
Azeton
Krise am 5. Tag
24
Ranninger Amalia
13'/2
5
39,5
L.U.-L.H.
ditto
ditto
0
Diazo
Lytischer Abfall
25
Rocher August
12
4
40,1
L. H. U.
ditto
ditto
0
Azeton
Krise am 6. Tag
26
Scheu Franz
3
6
39,6
L. H. U.
ditto
ditto
0
ditto
Lytischer Abfall
27
Schweiger Marie
8
4
41,0
R. H. O.
ditto
ditto
0
Azeton, Albumen
Krise am 6. Tag
28
Scheinzer Ferdinand
3
5
39,6
R. H. - R.V.O.
Beginnende Lösung
ditto
0
Azeton, Diazo
Krise am 8. Tag
29
Stepanek Ernst
9
3
38,6
—
Kein Befund
ditto
0
Azeton
Krise am 7. Tag
30
Walch Julie
7
3
40,6
_
ditto
ditto
0
ditto
Krise am 8. Tag
31
Weinmüller Barbara
11
1
39,2
—
ditto
ditto
0
ditto
Krise am 6. Tag
32
Winkler Johann
372
8
40,5
R.H.O.-R.V.O.
Hepatisation
ditto
0
Diazo
Lytischer Abfall
Aus¬
gang
Heilung
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
ditto
6 an der Zahl sind in folgendem noch besonders dargestellt.
Krankheitstage.
1.
2. 3 4. ! 5. 1 6. 7 1 fl.J 9.
Anmerkungen
Westphal iches Phänomen
f: t I | til jf)
K = Krise
Erste Untersuchung am 3. Krankheitstag.
Fall 30
Lungenbefund
I5ji? 1
Am 4 Krankheitstag L. H. U Bronchiale« Atmen
Westphal'scbes Phänomen
Erste Untersuchung am 3. Krankheitstag
Lungenbefund
\TWmsm
Am 5. Krankheitstag R. H. U. Bronchiales Atmen.
SchallverkBrzung.
Westphal'sches Phänomen
^ F || f Erste Untersuchung am 4. Krankheitstag
Fall 12
Lungenbefund
Am 5. Krankheitstag L. n. u. uampiung
Bronchiales Atmen.
Westphalsches Phänomen
-jr T~
Krisis protrahiert. Erste Untersuchung am 3. Krankheitstag.
Patellarsehnen-Reflexe später nicht mehr untersucht.
Fall 14
Lungenbefund
bl3jyT LJ .
Am 4. Krankheitstag R. H. 0. Klingendes Rasseln.
Bronchialatmen.
Westphal'sches Phänomen
| kT
Patellarsehnenreflexe nur am 1. Krankheitstag untersucht.
Fall 31
Lungenbefund
r-t | M ul"
Am 3. Krankheitstag R. H. U. Bronchiales Atmen,
Knisterrasseln
Westphalsches Phänomen
p_ - - -
Am 2. Krankheitstag L. H. U. leichte SchallverkOrzung
Fall 16
Lungenbefund
monie prüfte ich in unseren Fällen die Pupillenreaktion sowie
auch das Verhalten anderer oberflächlicher (Haut- und
Schleimhaut) Reflexe, konnte jedoch niemals auf eine be¬
stehende reflektorische Pupillenstarre oder eine andere Ab¬
weichung in dem Verhalten der Reflexe neben dem West -
phal sehen Zeichen stossen. Anderseits wurde in Fällen von
Typhus, Erysipel, Masern, Scharlach und einigen anderen
akuten Infektionskrankheiten der Patellarsehnenreflex von uns,
sofern darauf geachtet wurde, so gut wie niemals vermisst.
Nach dem hier dargelegten Materiale muss ich zu dem
Schlüsse kommen, dass das Fehlen oder die Herab¬
setzung des Patellarsehnenreflexes ein die
kruppöse Pneumonie der Kinder in ihren An¬
fangsstadien sehr häufig begleitendes Zei¬
chen und im positiven Falle neben anderen
Indizien in hohem Grade verwertbares dia¬
gnostisches Kriterium ist.
Ueber Mohnkapseln.
Kasuistische Betrachtung.
Von Dr. T i s c h 1 e r, Kgl. Bezirksarzt in Deggendorf.
Mit meinen Ausführungen beabsichtige ich eine sorgfältige
Darlegung der Schwierigkeiten in der richtigen Beurteilung
dieser an sich höchst wichtigen Droge, ferner Beseitigung gar
mancher irrtümlicher Anschauung über deren Wert oder Un¬
wert, deren Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit, deren Ge¬
fährlichkeit oder Ungefährlichkeit, endlich Besprechung der
Indikation oder Kontraindikation der Zulassung zum Verkauf
und zur Verwendung sowohl der Mohnkapseln ausländischen
Ursprungs, als der einheimischen Gartenpflanze:
Die Mohnkapseln werden abgeschnitten von den unreifen, halb¬
reifen, nahezu reifen und ganz gereiften Mohnpflanzen. Die Mohn¬
kapseln kommen ganz selten im ganzen Zustande, auch den Samen
enthaltend, in den Handel, selten ist der Versand mit halbierten Kap¬
seln; hingegen ist ganz üblich, dass die Mohnkapseln zerschnitten
werden und der Samen herausgesiebt wird. Nur reife Kapsel enthält
reifen Samen. Die nicht reife Kapsel ist am safthaltigsten und der
Saft enthält das Opium und dessen Alkaloide.
Deutsche Aerzte wie Hufeland, Wolff sagten in Ueberein-
stimtnung mit französischen Aerzten, Drousart, Merat-Quillot,
Fouquier etc., dass die pharmakodynamischen Eigenschaften des
einheimischen Mohnsaftes dem exotischen, orientalischen ganz gleich¬
kommen. (Sobernheim 1811.) Das Aufritzen und Einschneiden der
Mohnkapseln wird verschieden gehandhabt. In Kleinasien lässt man
aus den feinen Ritzen den Mohnsaft wie Tränen ausschwitzen und
schabt den eingetrockneten Saft von der Mohnkapsel ab; die Mohn¬
frucht reift alsdann weiter und es kommt somit Mohnkapsel in den
Handel, welche zuvor des Mohnsaftes beraubt war.
Der reife Mohnsamen ist ungiftig und dient zur Bereitung des
wohlschmeckenden Speiseöles; wegen dieses Oeles, welches in Süd¬
deutschland viel gebraucht wird, wird der an sich weniger saftreiche,
aber dennoch morphinhaltige Mohn in Deutschland gebaut. Mohn¬
samen wird häufig auf Brot gestreut als Mohnbrot, Mohnstrippel. Die
Gattung Papaver somniferum liefert die pharmazeutischen Mohn¬
früchte. Der Gartenmohn papaver somniferum wird auch Mohnsame
genannt, wobei Verwechslungen mit Mohnsamen häufig Vorkommen.
In Wredows „Gartenfreund“ wird die Bezeichnung papaver auf
Papa. Kinderbrei zurückgeführt, weil der Saft der Pflanze den Speisen
der Kinder beigemischt wird, um sie einzuschläfern. Papaver Rhöas
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1463
ist auch einheimischer Mohn, der wilde Mohn, die wild auf Aeckern
und Feldern wachsende Klatschrose; auch dieser Mohn ist opium¬
haltig! Die roten Blätter der Klatschrosen werden zur Fabrikation
der Zwiebelzeltchen mitverwendet. Aus den flores Rhöados wird der
Sirupus Rhöados hergestellt. Als Heimat des Papaver somniferum
gilt jetzt Griechenland, Levante, Aegypten, wo er wild wächst. Nach
Hager werden die unreifen Mohnfrüchte im Monate Juli gesammelt,
ganz wie sie sind getrocknet, dann kleingeschnitten, durch Absieben
von den Samen befreit und in dicht geschlossenen Glas- oder Blech¬
büchsen aufbewahrt. Hiebei bemerke ich, dass heutzutage der Ver¬
sand mit Fr. Papaveri immaturi nicht mit der Sorgfalt und Ge¬
nauigkeit stattfindet, dass aus einem sorgfältigen Verschlüsse eine
gewisse Garantie für den ursprünglichen unreifen Zustand geboten
würde.
Die Frage, ob zerschnittene reife und unreife Mohnkapseln sich
von einander unterscheiden lassen, ist entschieden zu verneinen; nicht
mit Gesichtsinn, nicht mit Geschmacksinn; der Apotheker hat keine
Garantie, ob er unreife oder reife zerschnittene Kapseln vor sich hat!
Dass eine Mischung unreifer mit reifen Kapseln wohl nicht ganz
zu vermeiden ist, ergibt die Beobachtung, dass keine Früchte gleich¬
zeitig die volle Reife erlangen, z. B. bei Obstbäumen, Weinreben, bei
der Getreideernte etc. etc.
Hier bei den Mohnkapseln spielt aber der Giftgehalt eine wich¬
tige Rolle, bedingt durch den Reifezustand. Ich habe schon erwähnt,
dass unter den zerschnittenen Fr. Papaveris immaturi auch vorher
des Saftes beraubte Kapseln sich befinden können. Warum kommt
nur die dürre, trockene, zerschnittene Mohnkapsel zum Verkaufe,
warum werden nicht Mohnköpfe im Ganzen und zwar ungereift ge¬
erntet und verschlossen in den Handel gebracht? In dem dürren,
kleinzerschnittenen Zustande der unreifen Kapseln vermag Niemand
zu prüfen, ob er eine Mischung von reifen und unreifen oder gar
nur reife Kapseln vor sich hat.
Eminent wichtige Bedeutung gewinnt die Verwendung der
Mohnkapseln zum Kinderschlafthee.
Kernpunkt ist die Frage über Opiumgehalt in den unreifen und
reifen Mohnkapseln. Im Jahre 1905 wurde von den verbündeten Re¬
gierungen eine Enquete erhoben über den Verkehr mit den Kapseln
der reifen Mohnfrüchte. Das Reichsamt des Innern will der Un¬
sitte entgegentreten, dass Aufgüsse oder Abkochungen von Mohnköpfen
kleineren Kindern als Beruhigungsmittel gereicht werden. Bei
der auch an mich gelangten Aufforderung, über Missbrauch und Un¬
sitte mit mohnhaltigen Kinderschlafthee zu berichten, wurde ich irrig
beeinflusst in der Beurteilung der Mohnkapseln durch einen Aufsatz
von Hofrat C e s s 1 e r - Stuttgart in No. 85 der süddeutschen Apo¬
thekerzeitung vom 21. Oktober 1904.
C e s s 1 e r wendet sich gegen das Zusammenwerfen in der
Benützung der reifen und unreifen Mohnfrüchte und scheidet scharf
die ungiftigen reifen von den giftigen unreifen Früchten ab.
Kollege Dr. Köhler von Naila hat das Verdienst, durch Mit¬
teilung in No. 36 der Miinchn. mediz. Wochenschrift vom 26. Juli 1904
in ganz entgegengesetztem Sinne sich ausgesprochen zu haben; er
schilderte einen Vergiftungsfall mit Schlafthee, Vergiftung mit töt-
lichem Ausgang durch Absud von reifen Mohnfrüchten; ferner
referierte er über Vergiftungsfall einer Dame durch frisch gepflückte
Gartenmohnköpfe.
In No. 64 der Süddeutschen Apothekerzeitung vom 9. August
1904 tritt C. B e d a 1 1 zunächst der Dr. Köhler sehen Behauptung
entgegen, dass in den Apotheken Bayerns der Durchschnittsver¬
brauch von Mohnköpfen zum Schlafthee jährlich 1800 Zentner betrage.
„Dr. Köhler habe damit viel zu weit gegriffen“ sagt C. Be da 11;
ferner meint B e d a 1 1, dass viele Apotheker als Schlafthee ganz harm¬
lose Drogen ohne Mohnkapseln abgeben. B e d a 1 1 gibt zu, dass die
reifen Mohnfrüchte nichts weniger als giftfrei sind; er spricht sich
dahin aus, dass die Eltern, welche Mohnfrüchte anwenden, zur ge¬
richtlichen Verantwortung gezogen werden sollen, sowie dass die
Abgabe von Mohnfrüchten verboten werden solle. C. B e d a 1 1 s
Ansichten über die reifen Mohnfrüchte stimme ich vollkommen bei.
Ausschreitungen seiner Kollegen bezüglich Schlaftheeabgabe kommen
wohl zweifellos auch jetzt noch vor. Apotheker, die an verschiedenen
Plätzen tätig waren, geben es selbst zu.
Die amtlichen Recherchen über Kinderschlafthee mit Mohn¬
kapseln werden schwerlich ein den tatsächlichen Verhältnissen ent¬
sprechendes Resultat liefern, weil die Apotheker keine Lust ver¬
spüren, durch eigene Angaben sich Unannehmlichkeiten zuzuziehen.
Meine Erfahrungen bei Apothekenbesitzern bezüglich Mohnschlaf-
thee führten zu negativem Ergebnis. Bei meinen Versuchen, zer¬
schnittene reife und unreife Mohnkapseln durch Gesichts- und Ge¬
schmackprobe zu unterscheiden, konnte ich nicht differentieren; auch
der Apotheker kann es nicht. Er weiss nicht, ob er reife oder unreife
zerschnittene Kapseln erhalten hat. Ich vermochte auch keinen
Unterschied zu erkennen bei kaltem, wässerigen Extrakt, beim De-
kokt, beim weingeistigen Extrakt. Wenn bei der völligen Reife der
Kapseln durch Stoffmetamorphose der Saft nahezu oder doch grössten¬
teils verloren geht und zwar durch Austrocknung, ist dieser Vorgang
dieses Saftverlustes mit Verschwinden des Giftes nicht geradeso
ermöglicht bei den ausgetrockneten, zerschnittenen, unreifen Mohn¬
früchten? Hager (Handbuch der pharmazeutischen Praxis) gibt an,
dass der Mohnsaft kurz vor der Reife am reichsten an Morfin in
den Mohnkapseln enthalten sei, wenn beim Schütteln der Kapseln die
Samen rasseln und die blaugrüne Farbe in die weisslich grüne über¬
geht. Dieser Anschauung gemäss nähert sich demnach der Zeit¬
punkt des grössten Giftgehaltes der Reife und er liegt ja nicht in
der völligen Unreife der Kapsel, nicht einmal in der Mitte zwischen
Unreife und Reife. Ja, wenn die Sache so gelagert ist, ist bei der
Mohnernte eine Mischung von gifthaltigsten und mehr minder gift¬
freieren Mohnköpfen unvermeidlich.
Nach Hager ist die Ansicht widerlegt worden, dass Mohn¬
kapsel mit weissem Samen stets ärmer an Morfin seien als Früchte
mit schwarzem Samen.
Bei der Verwendung der Mohnkapseln zum Kinderschlafthee
kommen in Verwendung Kapseln aus der Apotheke oder Kapseln
zum Absud vom einheimischen Gartenmohn.
Letzterer ist, wie schon erwähnt, auch opiumhaltig. Opium¬
gehalt wird bestimmt nach seinem Gehalt an Morfin. Nun führt
darüber Hager an:
7—15
Proz. Morfin,
3—7
ff ff
1—3
ff ff
3—10
ff ff
10
ff ff
6—8
•f ff
Das türkische oder levantische Opium hat .
„ ägyptische . 3-
„ persische .
„ ostindische . • . 3 — 10
„ griechische oft über .
„ italienische . 6-
„ französische oder Affium bis . 10 „ „
„ deutsche und englische Opium bis zu . . 18 „ „
Nach Binz (Grundzüge der Arzneimittellehre 1877) fehlt Mor¬
fin bei Fr. Papaveris und dem daraus bereiteten Sirupus Papaveris
nie; „jedoch sind Mohnköpfe zu rationellem Gebrauche ungeeignet“.
Dr. Sobernheim (Physiologie der Arzneiwirkung 1841)
erwähnt, dass 3 Pfund unreife Mohnköpfe ca. V2 Gran Morfin = 0,03 g
enthalten. Ich stellte das Gewicht eines ganzen, trockenen samen¬
entleerten Mohnkopfes fest und fand ein Gewicht von 5,25 g.
Der Giftgehalt der Mohnkapsel ist zu beurteilen nach dem Haupt¬
bestandteil des Opium, nach dem Morfingehalt. Autoritative An¬
gaben über Morfingehalt der Mohnkapseln kann ich nicht umgehen,
will mich aber einschränken, weil ich diesen Konstatierungen nur
relativen Wert zuerkennen kann und zwar aus folgenden Gründen:
Es ist bei Mohn der Morfingehalt abhängig von dem Grade seiner
Reife, es bietet die Zeit der Einsammlung Unsicherheit:, wann sie am
geeignetsten sei; ferner zeigt der schwankende Morfingehalt bei den
verschiedenen Opiumsorten, dass der Mohn als Mutterpflanze nach
seiner Heimat erheblich variiere; es ist der Morfingehalt einer be¬
stimmten Mohnsorte nach Jahrgängen verschieden; es schwanken
die einzelnen Mohnsorten zeitlich um das Doppelte und Dreifache
ihres Morfingehaltes; es spielen ferner die Witterungs- und Boden¬
verhältnisse zur Zeit des Einsammelns eine wichtige Rolle, endlich
fehlt es bei den quantitativen Nachweisen des Morfingehaltes an der
genauen Bezeichnung des untersuchten Mohns. Es ist doch ein ge¬
waltiger Unterschied, ob frische, nicht getrocknete oder ob aus¬
getrocknete Mohnkapseln analysiert werden. Nach Hager geben
100 Teile frische Mohnfrüchte 14 Teile trockene Früchte. Alsdann
ist bei trockenen Kapseln der 7 fache Morfingehalt gegenüber den
frischen zu erwarten.
Welche Garantie hat der Apotheker über die Provenienz der ihm
zugesandten Mohnfrüchte, über den Zustand der Reife bei den
trockenen, zerschnittenen Mohnkapseln und was die Hauptsache ist,
über den Giftgehalt? Keine. Ist die qualitative Prüfung des Morfin¬
gehaltes der Mohnkapseln seitens der Apotheker sicher sehr selten,
so dürfte eine quantitative Analyse bezüglich Morfin um so weniger
zu erwarten sein, als die Methode sehr umständlich, schwierig, zeit¬
raubend ist und dann — das ist interessant — weil die Pharmakopoe
eine Prüfung auf Morfingehalt gar nicht verlangt, vermutlich, weil
sie solche wegen des unsicheren Morfingehaltes nicht verlangen kann.
Eine so unzuverlässige Droge gehört darum nach meinem Da¬
fürhalten nicht in die Deutsche Pharmakopoe. Nach meiner Be¬
rechnung wäre auf Grund der bekannten Morfinzahlen auf 1 g unreife
Mohnkapsel 0,0001 Morfin bei frischem Zustande, und auf 1 g unreife,
trockene Mohnkapsel ungefähr 0,0007 Morfin anzunehmen.
Wenn ich beispielsweise eine alte Formel zur innerlichen An¬
wendung von Papaver somniferum zur Morfinberechnung benütze
a) Papaveris somniferi 7.50 g auf 120 g Wasser, zweistündlich
1 Esslöffel von dieser Abkochung auf Milch zu nehmen, b) Papaveris
somniferi 15 g auf 180 g Wasser, 2 stündlich 1 Esslöffel in Milch
zu nehmen, so dürfte diese 7,5 und 15 g bei frischen Kapseln einen
Morfingehalt von a) 0,00027, b) 0,00054 und bei trockenen Kapseln
a) 0,00375, b) 0,00187 erwarten lassen.
Hager gibt für 100 g trockene Fr. Papaveris immaturi
einen Morfingehalt von 0,05 bis 0,1 g an. Derselbe Autor sagt in
seinem jedem Pharmazeuten zugänglichen Handbuche: „Der Gebrauch
von Mohnfrüchteabkochung als Schlafmittel für kleine Kinder ist sehr
verwerflich und ein öfterer Gebrauch macht die Kinder dumm und
blödsinnig; es sind Fälle bekannt, wo Kinder durch dieses Mittel ge¬
tötet wurden.“
Bei so entschiedener, kräftiger Warnung muss es Erstaunen er¬
regen, dass sie nicht abseitiger, ernstester Beachtung gewürdigt
wurde.
3*
1464
jftUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Dr. K ö h 1 e r (1904) referiert, dass Dublanc nur einheimischen
Mohnextrakt bereitete und durch Abkochung 2 Proz. Morfium gewann.
Auf meine Veranlassung haben mehrere Apotheker Pr. Papaveris
maturi untersucht und teilweise Morfin gefunden, teils nicht nach¬
gewiesen. , Tr
Nach Hager fand in trockenen, unreifen Kapseln P r i c k e r
0,003 Proz. Morfin, Krause in trockenen, unreifen Kapseln nur
0,002 Proz., hingegen wurden in frischen, unreifen Kapseln 0,376 Proz.
Morfin gefunden. .
Die deutsche Pharmakopoe Edition IV enthalt über Morfingehalt
der Er. Papaveris immaturi keinerlei Angabe. Fr. Papaveris imma-
turi sind nach K. bayer. Verordnung vom 22. Juli 1896 in beiliegen¬
dem Verzeichnisse aufgeführt, worin solche Drogen und Piäparatt
enthalten sind, die nur auf schriftliche Anweisung des Arztes in
Apotheken als Heilmittel abgegeben werden dürfen. Sir. Papaveris
ist aus Fr. Papaveris immaturi zu bereiten und unterliegt daher den
Bestimmungen über unreife Früchte. Pr. Papaveris maturi sind
völlig freigegeben, dürfen daher in der Apotheke als Handverkaufs¬
artikel abgegeben werden, benötigen soweit keiner ärztlichen Ordi¬
nation, sie dürfen aber auch ausserhalb der Apotheken verkauft
werden! . , ...
Fr. Papaveris immaturi und Sir. Papaveris gehören nicht zu
den Separanda, zur Tab. C, welche, von anderen Arzneimittel ge¬
trennt, vorsichtig aufzubewahren sind. Sie stehen auch nicht in dem
Verzeichnisse der Deutschen Pharmakopoe über Höchstgaben, grösste
Finzeln- und Tagesgaben der Arzneimittel für erwachsene Menschen.
Fr. Papaveris immaturi und Sir. Papaveris müssen nach Bayer.
Minist.-Bekanntmachung vom 30. XII. 1900 in jeder Apotheke vor¬
rätig gehalten werden. _ . , . .
Es drängt sich mir die Frage auf, warum die Fr. immatuii
der Pharmakopoe einerseits eine Ausnahmestellung einnehmen un
anderseits keinerlei Kontrolle über deren Morfingehalt für nötig er¬
achte wje ^ann man die pr. maturi ganz zu beliebigem Ver¬
kaufe freigeben, bei der Unsicherheit über deren etwaigen Morfin¬
gehalt’ Nachdem der einheimische Mohn allbekannter Weise auch
schlafmachende Wirkung hat, sollte der Verwendung desselben zum
Kinderschlafthee doch behördliche Aufsicht zuzuwenden sein. Der
narkotischen Wirkung des einheimischen — nicht oncutuhschen
Mohn dürfte wohl die Unsitte in der französischen Schweiz zuzu¬
schreiben sein, dass Mohnkapseln sehr gerne zum Kauen benutzt
werdern nn Kinderschlafthee in Apotheken verlangt wird, wird nach
Versicherung der Apotheker harmloser, aber ohne eine Spur von
Nervinum depressorium, also nicht schlafmachender Krauter-
thee abgegeben. Nun bestehen aber manche Pflegefrauen darauf
dass sie Beruhigungsthee bekommen. Manche Apotheker helfen sich
damit, dass sie aus Fr. maturi eine Sir. Papaveris bereiten und
solchen abgeben. Sie führen somit zweierlei Sir. Papaveris, das
ist unstatthaft und ferner gebrauchen sie eben Fr. maturi und sind
solche vorrätig, ist auch die Möglichkeit gegeben, dass diese Fruchte
zum Mohntheeabsud abgegeben werden. Bei der schon oft erwähnten
Unsicherheit der reifen Mohnfrüchte kann dieses Verfahren nicht un¬
gefährlich erklärt werden nach meiner Ueberzeugung, welche ich zum
Ausdruck bringe, um eine Abhilfe anzustreben. .
Bezüglich Morfinwirkung bei kleinen Kindern, wie sie beim
Mohntheeabsud sich geltend machen kann, teile ich die gerichtsarzt-
liche Erfahrung mit, dass die Gabe von 2 mg Morfin pro Kilo Körper¬
gewicht des kindlichen Körpers im Allgemeinen als tödliche Dosis
gilt. 1 mg Morfin ist für ein Kind unter 1 Jahr äusserst lebens¬
gefährlich. , ... , ,
Dr. K a t z e n s t e i n schilderte in der Munch, med. Wochenschr.
1902 einen Fall von Morfiumvergiftung mit ca. 7 mg Morfium bei
einem 24 Tage alten Kinde, das sich in kurzer Zeit wieder erholte.
Dr. Ernst Büchner (Jahrb. d. gerichtl. Med. 1872) erwähnt
eine tödliche Vergiftung eines Säuglings, welchen abends eine Poition
der wässerigen Abkochung 1 Mohnkopfes beigebracht war.
Dr. Schürmeier (Lehrb. d. gerichtl. Med. 1874) teilt aus
seiner Erfahrung mit, dass schon Vio Gran Opium, d. i. 0,006 g Opium,
bei Kindern tödlich wirke. Was den Opiumgehalt der Mohnköpfe an¬
belangt, so macht es nach Dr. S c h ü r m e i e r im allgemeinen keinen
Unterschied, ob reife oder unreife zur Anwendung kommen, weil
Opium in beiden enthalten sei.
Im Dr. Schmidtmann sehen Handb. d. gerichtl. Med. 1905 ist
zu finden, dass nach Taylor ein 4 Wochen altes Kind nach Dar¬
reichung von 0,0007 g Opium in 7 Stunden starb, nach Burgl ein
2 Monate altes Kind nach 0,005 g Morfium starb und nach E d 1 e f s e n
ein 7 Monate altes Kind nach 0,07 g Opium starb.
Nach gerichtsärztlicher Erfahrung gibt es kein Gift, bei welchem
die Krankheitssymptome so verschieden, besonders hinsichtlich ihrer
Intensität, zu beobachten wären, wie bei Opium. Sektionsbefund
meist negativ. Bei den durch Mohnabkochungen von den Pflege¬
frauen vergifteten Kindern sind die Gaben zu klein, als dass durch
chemische Analyse im Leicheninhalt ein Nachweis möglich ist.
Der Antrag der oberbayerischen Aerztekammer vom Jahre 1903,
bei Revision der K. B. V. vom Jahre 1896 an Stelle von Fructus Pap.
immaturis zu setzen Fructus Papaveris, weil die Zusammensetzung
der unreifen wie der reifen sehr schwankend sei, diesei \om K. Be¬
zirksarzt Dr. Vierling gestellte Antrag fand durch Ministerialent-
schliessung vom 22. VII. 04 die Verbescheidung, „diesem Anträge wird
seinerzeit nähergetreten werden1'. Dieser Antrag beweist das voll¬
kommen berechtigte Misstrauen gegen die im Arzneiverkehr frei¬
gegebenen Fructus maturi. In Niederbayern erregte 1901 ein gericht¬
licher Fall ungewöhnliches Aufsehen in pharmazeutischen und medi¬
zinischen Kreisen sowohl wegen der Anklage, als noch mehr wegen
seines Ausganges. Ein Apotheker hatte schwunghaften Handel mit
Kindernährthee betrieben. Die chemische Untersuchung durch das
Medizinalkomitee in M. wies nach, dass dieser 1 hee ausser einigen
unwesentlichen und für eine Ernährung der Kinder ernstlich nicht in
Betracht kommenden Stoffen aus dem Pflanzenreiche als Haupt¬
bestandteile Mohnkapseln enthielt. Weit entfernt, ein Nährthee zu
sein, sei er direkt gefährlich für Kinder wegen seines Morfingehaltes.
In einem weiteren, ergänzenden Gutachten äusserte der Sach¬
verständige vom Medizinalkomitee, dass nicht mit Sicherheit an¬
zugeben sei, ob der Kindernährthee reife oder unreife Mohnkapseln
enthalte, da diese durch das Rösten teilweise verändert wurden. Da¬
raufhin erfolgte Freisprechung.
Dieser Fall beweist hinwiederum die ganze Unsicherheit bei Be¬
urteilung der Fructus Papaveris.
Mohnthee unter der Bezeichnung Nährthee im grossen ein Ab¬
satzgebiet zu verschaffen und zwar für Säuglinge und Kinder im Säug¬
lingsalter ist geradezu eine empörende Handlungsweise. Der Thee
wurde vom Gerichtschemiker direkt gefährlich für Kinder wegen
seines Morfingehaltes erklärt, aber trotz alledem konnte die Ab¬
gabe im Handverkaufe nicht bestraft werden, weil die Zusammen¬
setzung der Mohnkapseln unentschieden blieb und weil reife Kapseln
im Arzneihandel freigegeben sind.
Erwähnen möchte ich noch, dass bei Nachweis des Morphiums
als Hauptbestandteil des Opiums auch die Anwesenheit der übrigen
Alkaloide des Opiums anzunehmen ist und dass somit der Giftgehalt
des Mohn, wenn auch in der Hauptsache, aber nicht allein vom Mor¬
phium bedingt ist.
Ich folgere aus meinen Ausführungen:
1. Der Verkehr mit Fr. Papaveris immaturi und maturi ist
zu verbieten, weil diese Drogen unkontrollierbar und wegen
der Unsicherheit über Giftgehalt gefährlich sind.
2. Fr. Papaveris immaturi und Sir. Papaveris wollen in
der Pharmakopoe gestrichen werden. Sir. Papaveris wird aus
unreifen Früchten bereitet und dieser Sirup gilt allgemein als
ganz ungeeignet zum rationellen Gebrauche. Die Pharmakopoe
verlangt bei Prüfung dieses Saftes einzig und allein, dass seine
Farbe bräunlichgelb sei. Weder bei Fr. Papaveris immaturis,
noch bei Sir. Papaveris wird nach Opium- bezw. Morfingehalt
gefragt. Der Apotheker braucht sich darum nicht zu kümmern.
Das ist doch ein ganz eigenartiger, unhaltbarer Zustand.
Da nicht angenommen werden darf, dass Morfingehalt nicht
in Betracht gezogen wurde, so könnte man glauben, dass der
Morfingehalt als wirkungslos und unschädlich angesehen werde.
Gut, in letzterem Falle bestände doch erst recht keine Veran¬
lassung zur Fortführung dieser Droge im Ballaste der Pharma¬
kopoe.
3. Die Abgabe von Fr. Papaveris sei nach Streichung aus
der Pharmakopoe sowohl in- als ausserhalb der Apotheken mit
Strafe zu belegen, und insbesondere sei die Verwendung von
Mohn zum Kinderschlafthee, von einheimischem und ausländi¬
schem Mohn, strafbar.
Hinaus aus den Apotheken mit der Schlaf teekundschaft!
rufe ich aus. Mit dem Strafgesetze wird man den kaufmänni¬
schen Standpunkt einzelner Apotheker korrigieren, und ebenso
die zähe Anhänglichkeit der Pflegefrauen an den Schlafthee
überwinden, auch das Gewissen leichtsinniger Pflegefrauen
schärfen können.
Em Fall von doppelseitiger Abduzenslähmung, verbunden
mit aussergewöhnlich heftigen und lange anhaltenden
Nackenschmerzen nach Rückenmarksanästhesie.
Von Dr. M. L a n d o w, dirigierendem Arzte der chirurgischen
Abteilung des städtischen Krankenhauses zu Wiesbaden.
Vor einigen Monaten hat Adam in No. 8 dieser Wochen¬
schrift einen Fall von linksseitiger Abduzenslähmung nach
Lumbalanästhesie mitgeteilt und seitdem sind bereits drei
weitere Beobachtungen über Augenmuskellähmung x) ver¬
öffentlicht worden, in denen zweimal der Abduzens und einmal
i) L. L o e s e r, Medizinische Klinik No. 10, 1906 und Roeder,
Münch, med. Wochenschr. No. 23, 1906.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1465
der Trochlearis befallen war. In 3 von diesen 4 Fällen war
Stovain, in einem Novokain zur Anästhesierung benützt
worden.
Meines Erachtens ist es Pflicht eines jeden Chirurgen, der¬
artige, bei der Anwendung einer neuen Methode gemachte
unliebsame Erfahrungen möglichst bald bekannt zu geben, zu¬
mal wenn es sich um ein Verfahren mit so zweifellosen Vor¬
zügen und von so weittragender Bedeutung handelt, wie dies
für die Lumbalanästhesie zutrifft.
Aus diesem Grunde sei den 4 bereits veröffentlichten Fällen
ein weiterer hinzugefügt, der von jenen insofern abweicht, als
bei ihm die Lähmung doppelseitig und mit aussergewöhnlich
heftigen, wochenlang anhaltenden Kopf- und Nackenschmerzen
verbunden war.
Am 18. V. d. J. operierte ich einen 53 jährigen Herrn wegen
Mastdarmfistel und Hämorrhoiden. Bei dem sehr nervösen Pat. hatte
ich der Lumbalanästhesie eine Injektion von Skopolamin-Morphium
(Vs der gewöhnlichen von K o r f f für die Skopolamin-Morphium¬
narkose angegebenen Lösung von 0,001 Skopolamin und 0,025 Mor¬
phium) vorausgeschickt, wie ich dies häufiger zur Beruhigung sehr
aufgeregter Patienten bei der Inhalationsnarkose mit gutem Erfolge
zu tun pflege. Es wurden dann 2,5 ccm der von den Höchster
Farbwerken zum Zwecke der Medullaranästhesie in den Handel ge¬
brachten 5 proz. Novokainsuprareninlösung in den Raum zwischen
3. und 4. Lendenwirbel eingespritzt. Aus der Hohlnadel waren nur
langsam einige Tropfen Zerebrospinalflüssigkeit abgesickert. Als nach
20 Minuten die Sensibilität nur sehr unvollkommen herabgesetzt war,
liess ich der ersten Injektion noch eine zweite von 1 ccm in den nächst
höheren Zwischenwirbelraum folgen, wobei die Zerebrospinalflüssig¬
keit im Strahle aus der Hohlnadel abfloss. Als auch hiernach die
gewünschte Herabsetzung der Empfindlichkeit ausblieb, war ich, um
die Operation ausführen zu können, gezwungen, noch etwa 25 g
Chloroform zu verabreichen.
Am 25. Mai, also am 7. Tage nach der Operation fällt es Pat.
auf, dass er in der Ferne zeitweise doppelt sieht, und im Laufe der
nächsten 24 Stunden rücken die Doppelbilder bis dicht vor die Augen,
sodass er nicht mehr- im stände ist, zu lesen. Die von uns ange¬
nommene Abduzenslähmung wird von Herrn Dr. Mertens bestätigt,
dessen Untersuchung eine Parese beider Abduzentes feststellte, die
gleich stark in ihrer Funktion herabgesetzt waren. Nach ungefähr
10 Tagen tritt in der Lähmung eine geringe Besserung ein, die bis
heute stetig Fortschritte gemacht hat; die Doppelbilder machen sich
jetzt nur noch bei seitlichem Sehen bemerkbar.
Gleichzeitig mit den Doppelbildern traten heftigere Kopfschmerzen
auf, die im Laufe der nächsten 2 Wochen an Intensität Zunahmen
und schliesslich die Hauptklage des Kranken bildeten, der unsäglich
darunter litt. Sie nahmen ihren Ausgang in der Gegend der Austritts¬
stelle des N. supraorbitalis, zogen sich über beide Schläfen nach dem
Nacken bis zur Schulter hin und Hessen anfänglich tagsüber nur
vorübergehend für wenige Stunden nach. Durch die verschiedensten
inneren Mittel, von denen sich Pyramidon noch am wirksamsten
erwies, konnten sie nur sehr unvollkommen beeinflusst werden. In
späterer Zeit pflegte Pat., sobald die Schmerzen heftiger zu werden
anfingen, den Kopf tief zu lagern und hatte so, wie er sagte, in der
Horizontallage ein souveränes Mittel gegen seine Qualen gefunden,
dem er es verdankte, dass er die Nächte grösstenteils schlafend
zubringen konnte.
Erst 4 Wochen nach der Operation begannen die Schmerzen
erträglicher zu werden, und in den letzten Tagen ist Pat. fast ganz
frei von ihnen, sodass er schon ohne Furcht, von ihnen befallen zu
werden, kleine Spaziergänge unternimmt. Man darf also damit rech¬
nen, dass auch diese Beschwerden gleich der Abduzenslähmung all¬
mählich vollkommen zurückgehen werden.
Was nun die uns hier in erster Linie interessierende
Augenmuskellähmung anbelangt, die im Gegensatz zu den bis¬
her bekannten 4 Fällen von linksseitiger Lähmung eine doppel¬
seitige war, so äussert sich Adam in seinem Bericht über die
erste derartige Beobachtung bezüglich der Frage, ob die
Augenmuskellähmung durch die Lumbalanästhesie bedingt sei,
mit Recht noch etwas zurückhaltend. Nach dem Bekannt¬
werden von 4 weiteren derartigen Fällen werden wir aber
heute an der Tatsache eines solchen Zusammenhanges nicht
mehr zweifeln können. Dagegen darf unser Urteil über die
Art, wie diese Affektion zustande kommt, wohl zurzeit noch
nicht als vollständig abgeschlossen gelten.
Dass es sich lediglich um eine Folge der Lumbalpunktion
als solcher, und zwar um eine kleine Blutung ins Kerngebiet
des Abduzens bezw. Trochlearis handelt, die, wie Adam
meint, im Anschluss an die durch die abgeflossene Zerebro¬
spinalflüssigkeit herbeigeführte Herabsetzung des intraduralen
Druckes hervorgerufen sein könnte, scheint mir in Ueberein-
stimmung mit L o e s e r und R o e d e r von vornherein wenig
wahrscheinlich. Die Folgen einer solchen Blutung müssten
sich vermutlich doch schon sehr bald nach der Punktion ein¬
stellen; in unserem Falle aber ist die Lähmung ganz sicher
erst längere Zeit nach derselben aufgetreten; der sehr intel¬
ligente Pat. befand sich in den ersten Tagen nach der Operation
ganz wohl und hat sich sehr genau beobachtet, so dass ihm
das Auftreten von Doppelbildern schwerlich mehrere Tage
hätte entgangen sein können. Zudem kommen irgendwie
nennenswerte intradurale Druckschwankungen — zunächst
wenigstens — kaum bei der Lumbalanästhesie, dagegen wohl
bei der blossen Lumbalpunktion in Frage, und gerade bei der
letzteren, die doch schon längere Zeit und ziemlich häufig ge¬
übt wird, sind Augenmuskellähmungen meines Wissens bisher
noch nicht beobachtet worden.
Wir werden also schon an eine — direkte oder indirekte
— Wirkling des eingespritzten Mittels selbst zu denken haben.
Und da scheint es gleichgültig zu sein, ob wir Stovain oder
Novokain benützen, dessen ich mich seit ungefähr 5 Monaten
bediene, nachdem ich bei Anwendung des Stovains zum
Zwecke lokaler Infiltrationsanästhesie mehrere Male in der
Umgebung der Einstichstelle kleine umschriebene Gewebs-
nekrosen hatte auftreten sehen. Beide Mittel sind Gifte; und
so dürfte auch der Gedanke an eine Giftwirkung der nahe¬
liegendste sein.
L o e s e r weist in seiner Mitteilung noch auf besondere
Nebenumstände hin, welche event. eine intensivere Einwirkung
auf das Gehirn ausüben können und erwähnt hierbei auch, dass
durch unruhiges Vqjjlialten des Pat. nach der Injektion ein
schnelles Emporsteigen des Medikamentes im Duralsacke be¬
günstigt werden könnte. Hierzu möchte ich bemerken, dass
in unserem Falle der Patient zu Beginn der Chloroformnarkose
ausserordentlich erregt war, sich gegen das Auflegen der
Chloroformmaske beharrlich wehrte, sich fortwährend auf¬
richtete und wieder hinwarf, so dass erst nach längerem
Kampfe die zur Operation nötige Toleranz eintrat.
Der Umstand endlich, dass sich bei unserem Kranken zu¬
gleich mit der Lähmung die aussergewöhnlich heftigen,
wochenlang anhaltenden Kopf- und Nackenschmerzen ein¬
stellten, Hesse auch an die bereits von L o e s e r erwähnte
Möglichkeit einer auf Giftwirkung beruhenden event. mit Ex¬
sudation einhergehenden meningitischen Reizung denken; hier¬
mit wäre dann auch das späte Auftreten der Störung gut in Ein¬
klang zu bringen. Leider ergab sich kein weiterer Anhalt für
diese Annahme, und die Tatsache, dass gerade Tieflagerung
des Kopfes bei unserem Pat. die Schmerzen sofort zum
Schwinden brachte, scheint nur eher dagegen als dafür zu
sprechen.
Doch sei dem, wie ihm wolle. Auf jeden Fall haben wir
es hier mit Symptomen zu tun, welche die Lumbalanästhesie als
ein keineswegs ganz unbedenkliches Verfahren erscheinen
lassen.
Werden schon die häufiger, nach meinen Erfahrungen sehr
gern bei nervösen Personen zuweilen noch neben anderen Be¬
lästigungen zu beobachtenden, sich tagelang hinziehenden,
ausnahmsweise wohl auch mit Erbrechen einhergehenden
Kopf- und Nackenschmerzen für gewöhnlich schwerer empfun¬
den, als die in der Regel einen oder doch nur wenige Tage an¬
haltenden landläufigen Störungen nach einer Inhalationsnar¬
kose, so sind die letzteren gegenüber Komplikationen, wie wir
sie bei unserem Pat. kennen gelernt haben, ganz sicher als das
kleinere Uebel zu betrachten. Wenn man nun weiter dabei in
Erwägung zieht, dass sich bei ausgedehnterer Anwendung der
Methode voraussichtlich auch noch weitere Schädigungen her-
ausstellen werden, von denen sich die eine oder die andere
auch einmal als bleibend erweisen kann, wie König2) eine
solche mit letalem Ausgange erst jüngst beschrieben hat, und
das alles unter Umständen auf die Gefahr hin, dass nach der
Lumbalanästhesie, wie in unserem Falle, die gewünschte
Wirkung ausbleibt und man schliesslich doch noch zur In¬
halationsnarkose, die man umgehen wollte, seine Zuflucht
2) Münch, med. Wochenschr. No. 23, 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
1466
nehmen muss, dann wird man zugeben müssen, dass dies Ver¬
fahren zur Zeit noch nicht in allen Fällen von Operationen im
Gebiete der unteren Körperhälfte ohne weiteres als Ersatz für
die Inhalationsnarkose angesehen werden darf.
Es muss daher unsere nächste Aufgabe sein, für die
Rückenmarksanästhesie bestimmte Indikationen festzulegen.
Naturgemäss wird man sich ihrer zunächst in allen den Fällen
bedienen, in denen Chloroform und Aether bezw. eine der
lokalen Anästhesierungsmethoden kontraindiziert erscheinen,
dagegen würde ich mich nach meinen bisherigen Erfahrungen
bei sehr nervösen Personen nur ausnahmsweise für dieselben
entscheiden.
Aus der inneren Abteilung des Marienhospitales zu Witten
a. d. Ruhr.
Ueber zwei Fälle von epidemischer Genickstarre.
Von Dr. B r o e r, leitendem Arzt der Abteilung.
Sowohl im vorigen wie auch in diesem Jahre hatte ich
Gelegenheit, je einen Fall von epidemischer Genickstarre zu
beobachten und zu behandeln.
Bei dem ersten Falle handelte es sich um einen jungen Mann
aus Annen i. W., der sich in dem genannten Orte nur 14 Tage als
Fabrikarbeiter aufgehalten hatte. Er stammte aus Oesterreichisch-
Schlesien, also aus der Nähe von Oberschlesien. Es ist wohl mit
Sicherheit anzunehmen, dass die Infektion schon in seiner Heimat er¬
folgt ist. Nach eingetretener Infektion reiste er dann ab, um im rhei¬
nisch-westfälischen Industriegebiete Beschäftigung zu finden. Nach¬
dem der Patient sich 14 Tage in Annen aufgehal^en und während dieser
Zeit anscheinend gesund gewesen war, wurde er plötzlich von dieser
Krankheit befallen und am 15. Mai 1905 in das Marienhospital zu
Witten eingeliefert. Die Krankheit war nach Angabe des Patienten
erst am Tage vorher aufgetreten; sie hatte mit Schüttelfrost, etwas
Fieber sowie leichtem Erbrechen angefangen; Patient verspürte da¬
bei sehr starke Schmerzen in der ganzen Nackengegend, die eine
völlige Steifigkeit darbot. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen
und schrie Patient beständig sehr laut. Bei der Aufnahme wies Pa¬
tient dasselbe Bild auf. Die Untersuchung ergab nun, dass zunächst
die Ohren und die Lungen vollständig frei waren; auch das Sen-
sorium war durchaus nicht beeinträchtigt. Das Fieber war jetzt so¬
wohl wie auch in dem späteren Krankheitsverlaufe nur gering und
hat 38,5 nicht überstiegen. Die Anamnese einerseits (der Mann war
aus der Nähe von Oberschlesien), der charakteristische Anfang und
der objektive Befund andererseits Hessen an der Diagnose kaum
einen Zweifel; und wurde dieselbe durch die sofort vorgenommene
Lumbalpunktion bestätigt. Durch dieselbe wurde eine reichliche
Menge trüber Flüssigkeit entleert, die mikroskopisch viele Eiter¬
körperchen und Meningokokken aufwies. Die Lumbalpunktion wurde
häufiger vorgenommen, aber abgesehen von der Diagnose habe ich
in bezug auf das Befinden des Patienten einen wesentlichen Vorteil
nicht konstatieren können. Im übrigen wurde der Kranke mit Aspirin,
reichlichen Mengen von Narkotizis, mit Eisblase und Unguent. einer,
behandelt. Die Schmerzen Hessen dann auch etwas nach. Der Puls
war immer ziemlich kräftig und etwas beschleunigt zwischen 80 und
100 in der Minute. Das Allgemeinbefinden war ziemlich günstig,
sadass die Aussicht auf Genesung ziemlich gross war. Am 18. Mai
wurde jedoch der Puls plötzlich klein und schwach; Patient kollabierte
und es trat ziemlich plötzlich und unerwartet am folgenden Tage
der Exitus ein.
In dem zweiten Fahle handelte es sich um den Arbeiter F. K-,
der seit einem Jahre auf einem Annener Werke beschäftigt war, selbst
aber auf Wittener Gebiet wohnte. Trotz der grössten Bemühungen
ist es nicht gelungen, den eigentlichen Infektionsherd ausfindig zu
machen; denn K. war mit dem früher behandelten Patienten in keine
Beziehungen getreten, sodass die Art und Weise der Ansteckung auch
heute noch nicht aufgeklärt ist.
Der Patient, ein schwächlich gebauter Jüngling von 18 Jahren,
wurde am 21. Januar 1906 in das Marienhospital eingeliefert. Die
Anamnese ergab, dass er erst am Tage vorher analog wie in dem
ersten Falle unter geringen Schüttelfrösten, heftigen Nackenschmerzen
verbunden mit stark ausgeprägter Starre erkrankt war. Erbrechen
hat dieser Patient nicht gehabt. Die Untersuchung bot genau das¬
selbe Bild dar, wie bei dem ersten Patienten; Lungen, Ohren etc.
waren normal; irgend eine Eiterung bestand nicht. Die Nacken¬
steifigkeit war sehr stark ausgeprägt und mit grossen Schmerzen ver¬
bunden; Puls war ziemlich kräftig; 80 — 90 in der Minute; Erbrechen
bestand nicht. Aus dem klinischen Befund, sowie aus der später vor¬
genommenen mikroskopischen Untersuchung der Lumbalflüssigkeit
stand die Diagnose Meningitis cerebrospinalis epidemica fest. Durch
Herrn Kreisarzt Dr. Bliesener - Bochum, sowie durch Unter¬
suchungen im hygienischen Institute zu Gelsenkirchen (Direktor
Dr. Bruns) wurde die Diagnose gleichfalls bestätigt. Die Be¬
handlung war dieselbe wie in dem ersten Falle; abgesehen von den
verschiedenen Lumbalpunktionen bekam Patient Einreibungen mit
Unguent. einer., Eisbeutel und täglich bis zu 4 g Aspirin, sowie reich¬
liche Mengen Chloralhydrat. Das Fieber, welches nur bis 38,3 kam,
war nach 3 Tagen vollständig geschwunden und ist auch nie wieder
aufgetreten. Der Puls war immer kräftig und gut ca. 80—90 in der
Minute. Die geistigen Funktionen waren vollständig normal; moto¬
rische und sensible Störungen waren niemals vorhanden; alle Re¬
flexe lösten sich normal aus. Die Schmerzen im Nacken und die
Steifigkeit nahmen allmählig ab und ist der Patient heute, nach ca.
7 Wochen, geheilt und zwar ohne dass die Krankheit irgendwelche
Folgen hinterlassen hat.
Derlei günstige Ausgänge sind nach epidemischer Genickstarre
immerhin sehr selten. Da aber der Patient bis jetzt nicht die ge¬
ringsten Zeichen einer motorischen oder sensorischen Störung auf¬
weist, so kann man nach so langer Zeit auch wohl annehmen, dass
in Zukunft derartige Nachkrankheiten nicht mehr zu befürchten sind.
Ueber Blutdruckmessungen.
Bemerkungen zur gleichnamigen Arbeit von Th. Schilling
in No. 23 dieser Wochenschrift.
Von Dr. B r u n o F e 1 1 n e r jun. in Franzensbad und Dr. Carl
R u d i n g e r in Wien.
Th. Schilling berichtete jüngst in dieser Wochenschrift über
Tierexperimente, mittels welcher er die Brauchbarkeit verschieden
breiter Manchetten zur Blutdruckmessung nach Riva-Rocci kon¬
trollierte. Nachdem w i r (Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 57) über ähn¬
liche Experimente berichtet haben, glauben wir, um einer weiteren
Verwirrung in dieser Frage vorzubeugen, folgendes bemerken zu
müssen.
Wir haben nicht, wie Schilling meint, Arterien verschiedenen
Kalibers zum Vergleich herangezogen. Wir palpierten nach Riva-
Rocci an der Cruralis superficialis und nahmen den Blutdruck direkt
in dem Hauptstamm der Cruralis auf. Dies entspricht vollkommen
unserer Messungsmethode am Menschen: Kompression der Brachialis
— am Hunde Cruralis, Palpation an der Radialis — am Hunde
Superfizialis.
Wir glauben aber auch den scheinbaren Widerspruch zwischen
Schillings und unseren Resultaten derart lösen zu können, dass
wir seine Experimente als eine Bestätigung der unsrigen betrachten
könnten.
In der Arbeit Schillings ist leider nicht angegeben, wie und
mit welchem Manometer er den Blutdruck in der Arterie gemessen.
Wir glauben aber aus der Stilisierung, wie aus einer mündlichen
Aeusserung entnehmen zu können, dass er den Blutdruck in der
Arterie direkt mit einem Quecksilbermanometer gemessen.
Ein Quecksilbermanometer gibt aber nach der Anschauung der
meisten Physiologen (s. Fick, H ii r t h 1 e etc.) die pulsatorische
Druckschwankung zu klein und damit den systolischen Druck zu
niedrig an. Es gäbe daher ein nach Schillings mit Quecksilber¬
manometer gemessener systolischer Druck von 130, nach unserer
Methode mit einem elastischen Manometer gemessen, 140—150.
Wenn daher nach Schilling eine 12 cm breite Manchette
mit den Quecksilberdruckwerten übereinstimmt, ist es klar, dass eine
6—8 cm breite höhere Werte geben muss, die aber eher mit den
elastischen Manometerwerten harmonieren.
Beispiel; Tabelle IX von Schilling: Quecksilbermanometer
130 mm (wäre) elastisches Manometer 140 — 150, es gab dabei eine
Manchette von ca. 12 cm Breite 125 mm eine 8 cm breite 135—140.
Es wäre also dann Geschmacksache, ein in die Arterie einge¬
führtes Quecksilbermanometer und damit eine 12 cm breite Manchette
oder ein elastisches Manometer und damit eine 6 cm breite für ver¬
lässlicher zu halten. Da aber Schilling unseren Standpunkt teilt,
dass alle, auch die mittels des Riva-Rocci zu bestimmenden
Blutdruckzahlen nur relativen Wert haben, genügt es wohl, sich stets
derselben Manchette zu bedienen und dieselbe auch in wissenschaft¬
lichen Arbeiten anzugeben.
Aus Dr. Raabs Ambulatorium für Herz- und Nervenkranke
in München.
Die Elektrotherapie der Kreislaufserkrankungen.
Von Dr. Ludwig Raab.
(Schluss.)
Die Bestimmung des diastolischen Druckes und damit des
Blutdruckquotienten lässt uns Einsicht nehmen in das Verhältnis
von Herz und Gefässarbeit vor und nach dosierter körperlicher
Anstrengung, namentlich aber auch in die zunehmende Kräfti¬
gung des Herzmuskel, was sich durch die Herzarbeitsberech¬
nung, sowie an den Veränderungen des Pulsdruckes deutlich
zeigen lässt. Die folgenden Beispiele sollen das erklären. Die
Auswahl der Beispiele erfolgte lediglich unter dem Gesichts¬
punkte der anderweitigen fachmännischen Kontrolle, welche
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1467
dabei stattfand. Ich ergreife hier die Gelegenheit überhaupt,
allen Kollegen, welche mich durch Zuweisung von Material
oder anderwärtig in meinen Bestrebungen unterstützten, meinen
wärmsten Dank auszudrücken.
J.-N. 73/1. K. L., Postinspektor, 44 Jahre alt. Hofrat Dr. W o h 1-
m u t h, 16. IV. 04.
Anamnese: Mit 20 Jahren Gelenkrheumatismus. Rezidive
wiederholt. Seit 2 Jahren starke Atemnot bei geringster Anstrengung.
Appetit, Stuhlgang gut, Schlaf schlecht, Atembeklemmungen im Bett,
•früher 3 Liter Bier, jetzt Vs Liter, Nichtraucher. Ausser Typhus
keine Infektion.
Habitus: Magerer Körper, fahle Gesichtsfarbe mit starker
Zyanose auf allen Schleimhäuten, fleckige Röte im Gesicht, alle
sichtbaren Venen strotzend gefüllt. Nach kurzem Stehen sinkt Pat.
in den Stuhl und atmet stark dyspnoisch. Herz stosshebend, zwei
Querfinger ausserhalb der Mamilla Herzspitzenstoss fühlbar, sausende,
systolisch-diastolische Geräusche an allen Ostien.
Herzlängsdurchmesser 21 cm, füllt im Röntgen fast den ganzen
Thorax aus. Grenzen?
Puls: 104 Schläge im Stehen und Sitzen voll, stossend.
Leber: vergrössert, hart und glatt.
Milz: nicht fühlbar.
Nervensystem: Romberg positiv.
Urin: 1,6 pro Mille Eiweiss.
Blutdruck Gärtner: 70 mm (damals mass ich nur mit
Gärtner).
1. V. 04. Beginn der Behandlung: Gärtner 75 mm. Puls ? nach
faradischem Bad. — 5. V. 04. 75 mm Gärtner, Stehen vor Bad. —
6. V. 85 mm Gärtner. — 7. V. 90 mm Gärtner. — 10. V.
95 mm Gärtner. — 15. V. 75 mm Gärtner. Puls 84. —
19. V. 65 mm Gärtner. Puls 84. — 20. V. 75 mm Gärtner, nach Bad
Stehen. — 23. V. 100 mm Gärtner nach Bad. Puls 80. — 18. V.
100 mm Gärtner, vor Bad Stehen. Puls 84. — 5. VI. 95 mm Gärtner
vor Bad. Puls 80. — 7. VI. 105 mm Gärtner. Puls 80. — 21. VI.
110 mm Gärtner. Puls 84. — 27. VI. 105 mm Gärtner. Puls 80. —
4. VII. 105 mm Gärtner. Puls 80. — 29. VI. 105 mm Gärtner.
Puls 76. 73 Bäder, teils faradisch, teils Wechselstrom.
Federspannung 0.
Federspannung 0.
6. VI. 04. vor nach Anstrengung 10 Knieb.
Objektiv: Systolisch-diastolisches Geräusch über Aorta und
lediglich systolisches Geräusch über Mitralis hörbar, aber scharf ab¬
gegrenzt und lauter als früher. Herzlängendurchmesser von 21 cm
auf 18 cm zurückgegangen. Aussehen frisch und gesund, keine Cya-
nose, keine Atemnot mehr. Leber kleiner und weicher, jedoch noch
vergrössert. Pulskurve siehe oben.
Subjektiv: Schläft ununterbrochen bis morgens 7 Uhr, keine
Atembeklemmungen mehr, steigt 2 Treppen ohne geringste Beschwer¬
den, fährt 10 km im mässigen Tempo Rad (bei grosser Hitze) ohne
jede Beschwerde, wobei der Puls nur auf 100 Schläge steigt.
Diesem Fall einer schweren Herzinsuffizienz mit krankhaft
niederem Kapillardruck reihe ich jetzt einen Fall von leichter Herz¬
insuffizienz mit krankhaft erhöhtem Kapillar- und Aortendruck an.
J.-N. 114/1. Kgl. Bezirksarzt Dr. H. in S., 47 Jahre. I. Unter¬
suchung 28. V. 04.
Anamnese: Als Student etwas weniger leistungsfähig als
andere. Nach einem längeren Training Besserung. Jetzt Parästhesien
an den Schläfen nach Lesen.
Empfindung von stundenlangem Pulsieren der Gefässe im Bette,
sowohl am Rumpf wie im Kopfe. Beim Gehen Empfindung von
Zittern am ganzen Körper. Puls wechselnd in Ruhe von 56 zu
65 Schlägen pro Minute. Nach geringem Steigen in der Regel stun¬
denlanges höchst lästiges Nachempfinden des Zirkulationsapparates,
wie während des Steigens.
Appetit gut, Stuhlgang träge, keine Infektion. Abstinent und
Nichtraucher.
Habitus: Frisch aussehender, schlank gebauter Herr.
Herztöne: Rein, weich,
gleichmässig, II. Aortenton im
Stehen klingend. Im Röntgen
etwas breites Gefässband, Herz-
Längsdurchmesser 14 cm.
Puls: Regelmässig, etwas
gespannt, mittelvoll, 80 Schläge
pro Minute im Stehen.
Alle sonstigen Organe ohne
Befund, nur Patellarreflexe er¬
höht.
Blutdruck: Gärtner 135,
Riva-Rocci 185, nach 20 Knie¬
beugen 210.
7. III. 05,
also nach 1 Jahr, 2. Untersuchung G. 145 R. R. 180 (152) Qu. 0,16
nach 20 anstrengenden Kniebeugen „ 210 (162) „ 0,23
Anamnese u. Status idem. Pulsdruck 210-180 = 30 mm.
Herzarbeit = mittlerer Blutdr. 167 X 30 Pulsdr. = 5040 mm nach
Knieb. 8928 mm.
Differenz der Herzarbeit 8928— 5040 =.■ 3888 mm Quecks. als Zeichen
der Mehrleistung des Herzens durch die Kniebeugen. Ich gebe in
Zukunft bloss diese Differenzzahl.
7. III. 05. vor
nach 20 Knieb.
6. V. 05. vor
nach 20 Knieb.
R.
R.
159
(135)
Qu.
0,15
ff
185
(150)
ff
0,19
R.
R.
180
(150)
Qu.
0,17
r
f
200
(165)
ff
0,17
R.
R.
169
(133)
Qu.
0,21
ff
190
(152)
f
0,20
26. V. 14 Bäder. Ty^ * Q. 130 P. 96
nach 20 Knieb., welche sehr anstrengten
PulsdrucK'26, Diff. der Herzarbeit 2317.
6. V. 05.
20 Knieb. ohne Anstrengung
Pulsdruck 20, Diff. der Herzarbeit 1420.
31. V. 05. G. 130 Puls 72
20 Knieb. ohne Anstrengung
Pulsdruck 21, Diff. der Herzarbeit 1062.
An diesem Tage Depression mit Wiederkehr schon verschwun¬
dener subjektiver Krankheitsempfindungen.
3. IV. 05. G. 130 Puls 80
20 Kniebeugen
Pulsdruck 16, Diff. der Herzarbeit 2035.
26. VI. 05. G. 120 Puls 80
20 Kniebeugen
Pulsdruck mühelos 16, Diff. der Herzarbeit 1602.
R. R.
R. R.
162 (137) Qu. 0,15
178 (142) „ 0,20
163 (133) Qu. 0,18
178 (140) „ 0,20
Befund. Objektiv: Herzlängendurchmesser zurück von
14 cm auf 12 cm. II. Aortenton nicht mehr klingend, Puls nicht
mehr gespannt.
Subjektiv: Kein Opressionsgefühl auf der Brust mehr, die
Atmung viel freier, 2 stiindiger Spaziergang mit Tragen eines schweren
Malkastens ohne jede Beschwerde, was früher nicht möglich war,
überhaupt auszuführen. Die Beschwerden beim Steigen, insbesondere
das Nachempfinden sind weg, Schlaf -gut, ebenso Stuhlgang besser.
Die Pulsationen im Bett nur noch ganz schwach hie und da wahr¬
nehmbar.
An diesem Falle ist ausser dem Absinken der Aorten- und
Kapillardruckwerte besonders beachtenswert die Abnahme der Stei¬
gerung der Herzarbeit bei Leistung der Kniebeugen was aus der Ab¬
nahme des Pulsdruckes von 30 am 7. III. auf 15 am 26. IV. und aus
der Verringerung der Differenz der Herzarbeit von 3888 auf 1602
ersichtlich ist. Am 5. VI., nach Steigen von 2Vs Treppen, war die
Differenz der Herzarbeit sogar nur 300. Obwohl ferner der Blutdruck¬
quotient stets während der Funktionsprüfung stieg, ging er am Tage
einer Depression am 31. V. zurück, als Zeichen der im Gefässystem
sich einstellenden Widerstände. Auch die allmähliche Steigerung des
Blutdruckquotienten (0,16 am 7. III. in Ruhe vor Bad auf 0,18 am
26. III.) ist im Sinne einer erleichterten Gefässzirkulation zu deuten.
Endlich ist wohl zu bemerken, dass bei den Untersuchungen am
28. V. 04 und 7. III. 05, also innerhalb eines Zeitraumes von fast
468
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
einem Jahr, äusserst geringe Druckunterschiede konstatiert wurden,
welche erst durch die Behandlung eine Veränderung erfahren haben.
J.-No. 305/1. F. B., Gymnasialprofessor aus S., 45 Jahre. 1. V. 05
(Dr. Held).
Anamnese: Herzfehler von Jugend auf, ohne Beschwerden
bis 27. Lebensjahr (Platzangst, Schwindel usw. als Folgen eines
Uebermasses in Speise und Trank; 1892 in Kissingen, kohlensaure
Bäder mit Erfolg gebraucht). Seit Februar 1905 bei Tag und Nacht
Herzklopfen, Beklemmungen, Angst, Schwindelgefühl am Tag, jede
körperliche stärkere Bewegung macht Angst und Brustdruck. Appe¬
tit untertags schlecht, Abends besser, fühlt sich matt, elend, stets
Kopfdruck. Trinkt 1 Glas Bier täglich, kann keine Zigarre mehr
vertragen.
Habitus: Mittelgrosser Herr, mittlerer Ernährungszustand,
aufgeregtes Wesen, Gesicht kongestioniert.
Herzstoss: Hebend, den ganzen Thorax erschütternd, Pul-
satio epigastrica.
Herz: 1. Spitzenton klappend, mit scharfem systolischen Ge¬
räusch, den diastolischen Ton verdeckend. Ueber Aorta und Pul-
monalis diastolisches Geräusch schwach hörbar.
Puls: 104 im Stehen, 88 im Liegen, schwach gefüllt, schwellend.
Gefässe: Stark pulsierend. Sonstige Organe ohne Befund.
G. 150 R. R. 190 (158) Qu. 0,17
20 Kniebengen anstrengend „ 230 (115) „ 0,24
Pulsdruck 40, Diff. der Herzarbeit 6092.
15. VI. 06. G. 120 P. 88 R. R. 190 (158) Qu. 0,21
20 Kniebeugungen, nicht anstrengend „ 215 (170) „ 0,21
Pulsdruck 40, Diff. der Herzarbeit 3310. Herzumfang unverändert.
Status praesens: Spitzenstoss im 5. IKR. schwach fühl¬
bar, keinerlei Pulsationen mehr wahrnehmbar, 1. Spitzenton nicht
mehr klappend, systolisches Geräusch unverändert, an den Gefässen
kein diastolisches Geräusch mehr wahrnehmbar, keine pulsierenden
Gefässe mehr. Puls voll ruhig. Frisches, gesundes Aussehen.
Subjektiv: Frei von jeder Missempfindung, macht stunden¬
lange Spaziergänge ohne jede Beschwerde, steigt 3 und 4 Stiegen
ohne jede Anstrengung, Appetit und Stuhlgang sehr gut.
Bemerkenswert ist hier die unveränderte Herzfigur, also das
Fehlen einer erkennbaren Erweiterung und Hauptsitz der Erkrankung
in den Gefässen (Hochdruckstauung).
J.-No. 355. R. M., Kaufmann in M., 25 Jahre (Dr. B. G ö r t z).
Wegen Rotsehen nach einigen Kniebeugen oder ganz kurzer
schriftlicher Arbeit zurzeit arbeitsunfähig. Mit der Erythropsie tritt
Kopfweh ein. Augenärztlicherseits Gesichtsfeldeinengung konstatiert.
Patient hält seine Kreislaufsorgane für vollkommen gesund, geht
täglich 4 Stunden ohne Beschwerden spazieren. War stets gesund,
trinkt ein Glas Bier täglich, sonst keinen Alkohol, Nichtraucher,
Kaffee wird nur ganz dünn getrunken.
Habitus: Schlanker junger Mann mit gesunder Gesichtsfarbe.
Herztöne: Im Stehen 1. Spitzenton unrein. Im Liegen 2. Töne
besonders laut, nicht betont, nach 20 Kniebeugen 1. Spitzenton deut¬
lich unrein.
Puls: 72, gleichmässig, mittelvoll. In der Kurve jedoch un-
gleichmässig.
Herzstoss: Nur im 5. IKR. fühlbar.
Nervensystem: Reflexe erhöht.
20. IV. 05. Federspannung = 0 Federspannung = 1
vor nach 20 Knieb.
25. V. 05. Federspannung beidemale = 0.
vor nach 20 Kniebeugen
27. IV. 05. G. 100 P. 72 R. R. 135 (105) Qu. 0,22
sinkt nach 10 Min. Stehen auf „ 108 (79)
nach 20 Kniebeugen „ 130 (95) „ 0,27
Rotsehen tritt auf, Pulsdruck 22, Diff. der Herzarbeit 1223.
25. V. 05. G. 105 P. 68 R. R. 124 (98) Qu. 0,21
nach 20 Kniebeugen „ 135 (100) „ 0,26
Pulsdruck 11, Diff. der Herzarbeit 1134.
Entlässen am 25. V. 05. Bei Pulskurve I Federspannung „1“
nach 20 Kniebeugen, da Puls zu elend war, um ordentliche Zeichnung
zu geben. Bei Kurve II Federspannung „0“ nach F.-Priifung.
Objektiv: Gesichtsfeldeinengung verschwunden (Dr. B. Görtz).
I. Spitzenton auch nach 20 Kniebeugen vollkommen rein, Herzlängs¬
durchmesser 1 cm zurück.
Subjektiv: Kann jetzt 4 Stunden ohne Beschwerden schrei¬
ben und lesen. Rotsehen tritt auch nach Kniebeugen nicht mehr
auf. Ist seitdem gesund und arbeitsfähig.
J.-No. 250/1. K- E., Privatiere, 83 Jahre (Dr. Ludwig Fischer),
II. XI. 04.
Seit 1891 Bronchitis mit Asthma, Puls arrhythmisch seitdem;
desgleichen schlechter Appetit und Schlaflosigkeit. 1903 und 1904 in
Nauheim, je 7 Wochen, 24 Bä¬
der, Erfolg gering. Schlaf
etwas besser. Asthma stark,
besonders nach Tisch, Schwin¬
del hie und da, ziehende
Schmerzen in der Herzgegend,
Gefühl von Anschwellen der
Adern beim Liegen. Gemüts¬
stimmung gedrückt. Verlässt
seit Wochen das Zimmer
nicht, wegen des Asthma.
Habitus: Blasses Gesicht,
mittlerer Ernährungszustand,
Herztöne rein, ungleichmässig, jedoch synchron dem Pulse, Betonung
gleichmässig. Im Röntgen erscheint das Herz in trübe Massen, be¬
sonders nach links eingebettet. Herzlängsdurchmesser 16,5 cm, Puls
gespannt, klein, ungleichmässig.
Herzstoss: Im 5. IKR., verbreitert hebend.
Atmung: Abgeschwächt, sonst Lunge rein.
Urin: Schwache Eiweisstrübung.
Gärtner 115 R. R. 180 keine Kniebeugen möglich
11. I. 05.
Nach 45 Bädern
„ 155 6 Knieb. schwer atmig
180 mm
Pdr. 25
23. 11. 05.
„ 145 6 „ geht leichter
155 „
„ 10
30. V. 05.
Nach 115 farad.
Bädern
„ 135 10 „ ohne Anstr.
150 „
„ 15
G. 100.
Subjektiv: Asthma, schon besser nach den ersten Bädern, ist
längst verschwunden; Schlaf und Stuhlgang, ebenso Appetit sehr gut.
Das Gefühl von Anschwellen der Adern besteht nicht mehr. Patien¬
tin geht täglich 2 km spazieren. Schwindel hie und da noch schwach
vorhanden.
Ich mache hier auf das starke Missverhältnis zwischen
Aortadruck und Kapillardruck (Riva-Rocci 180, Gärtner 175) im Be¬
ginne der Behandlung aufmerksam, und auf den dann allmählich ein¬
tretenden Ausgleich mit starkem Abfall des Aortendruckes (Riva-
Rocci 180 auf 135) und geringem Abfall des Gärtner (115 auf 100).
(Vorsicht in der Diagnose Arteriosklerose auch bei alten Leuten!)
Man beachte ferner den starken Herzrückgang von 16,5 auf 13,5 cm.
Diese wenigen Fälle, auf welche ich mich leider des Um¬
fanges der Arbeit wegen beschränken muss, geben natürlich
nur einen sehr schwachen Begriff von der Mannigfaltigkeit der
Krankheitsbilder in ihrem therapeutischen Ablauf. Erschöpfen
sie doch nicht einmal die Qrundtypen, namentlich hätte ich
Ihnen gern die ganz leichten Fälle von Kreislaufsinsuffizienz
sogen, gesunder, nur etwas neurasthenischer Individuen, insbe¬
sondere auch die interessanten Herzinsuffizienzerscheinungen
bei Kindern und ihre Heilung gezeigt. Der Zweck meiner Auf¬
gabe jedoch, Ihnen das Wesen der therapeutischen Beein¬
flussung durch die Elektrizität zu demonstrieren, ist, wie ich
glaube, erreicht.
Die noch vollkommen offene Frage in wieweit seitens der
elektrischen Ströme mechanische oder chemische Einwirkungen
auf den Körper stattfinden, und in wieweit die in den Zellen
normaler Wesen sich abspielenden elektrischen Transforma¬
tionen beeinflusst werden, ferner ob die inneren Organe direkt
vom Strome erregt werden, wie dies Aug. Hoffmann (XXI.
Kongress für innere Medizin) für das Herz gegenüber dem gal¬
vanischen Strome nachwies oder ob die Organe nur reflek¬
torisch erregt werden, kann ich für diesmal nicht weiter be¬
rühren.
24. Juli 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. \4(r)
Nun hat Capriati (Zeitschr. f. Elektrotherapie Heft 1)
in einer sorgfältigen Untersuehungsreihe für das galvanische
Bad die Tatsache einer auffallenden Förderung der muskulösen
Kraftentfaltung und raschen Beseitigung aller Ermüdungser¬
scheinungen erwiesen. Ebenso zeigen auch alle von mir be¬
handelten Fälle die eine wichtige Qrundtatsache der allmäh¬
lichen Herzerstarkung, wie das objektiv aus der Abnahme der
Herzarbeit und in der Regel des Pulsdruckes nach dosierter
Anstrengung, sowie subjektiv aus der Abnahme der Ermüdung
bei den Kniebeugen einwandfrei hervorgeht, abgesehen natür¬
lich von Aenderungen der Herzfigur, der Pulskurven, der Herz¬
geräusche und der allgemeinen Besserung des Befindens.
Zu dieser Kräftigung der Herzleistung gesellen sich jedes¬
mal in mannigfaltigster,, aber für jedes Individuum besonderen
Weise, funktionelle Veränderungen im Gefässystem, sei es nun
Abfall oder Anstieg des arteriellen und kapillaren Druckes ent¬
weder in gleicher oder entgegengesetzter Weise, bis das, jeder
Person eigentümliche Blutdruckoptimum erreicht ist (die ve¬
nösen Druckverhältnisse müssen ja leider zur Zeit noch ausser
Betracht bleiben mangels geeigneter Untersuchungsmethoden).
Mit diesen Druckänderungen, d. h. Druckentlastung (auch
krankhaft niederer Blutdruck bildet ja eine Kreislaufs be¬
last u n g) und mit dieser Herzerstarkung gehen dann die
Anzeichen der Verminderung der Gefässwiderstände, also die
Erleichterung des Blutabflusses in die Peripherie einher, wie
uns dies das Verhalten des Blutdruckquotienten und der Puls¬
kurven zum Ausdruck bringt. Die geschilderten Vorgänge
sind nun keineswegs etwa von bestimmten und individuellen
Zuständen oder bestimmten Arten von Kreislaufserkrankungs¬
formen abhängig. Sie treten im Gegenteil bei allen Erkran¬
kungsformen und Personen mit einer an die Naturnotwendig¬
keit eines physikalischen Gesetzes erinnernden Sicherheit ein,
selbst unter den ungünstigsten Bedingungen, wie z. B. :
J.-No. 225/1. T., Fabrikbesitzer aus M. R., 50 Jahre alt, schwerer
Potator, bekommt nach 5 — 10 Minuten Gehen regelmässig Anfall von
akutem Lungenödem, Asthma, Schwindel, Trachealrasseln, schaumiges
Sputum, dasselbe auch nach den 2 ersten Bädern .
7. X. 04. Riva-Rocci im Stehen über 250 mm, Gärtner 225 mm,
Puls 100.
Trinkt während der Behandlung täglich 1 — 2 Flaschen schweren
Südwein. Bei der Entlassung, nach Gebrauch von 58 Bädern, macht
Patient täglich 3 ständige Spaziergänge ohne jede Beschwerde. An¬
fälle kommen nur sehr selten in Form von rasch vorübergehender
Schweratmigkeit vor.
11. XII. Riva-Rocci im Stehen 195 mm, Gärtner 180 mm,
Puls 92.
Selbstverständlich kann solch widersinniges Verhalten auch
jeden Erfolg gelegentlich illusorisch machen. Infolge dieser zu¬
verlässigen Wirksamkeit sind bei der Elektrotherapie eigent¬
liche Kontraindikationen auch schwer aufzustellen, abgesehen
von fieberhaften Erkrankungen oder von Aortaaneurysmen,
die aber mehr in das Kapitel bösartiger Geschwülste, als in die
Rubrik Kreislaufserkrankung gehören. Hier versagt die
Elektrotherapie vollkommen.
Aeusserst selten sind Idiosynkrasien gegen den elek¬
trischen Strom, z. B. J.-No. 277/1, Fr. E., 40 Jahre alte Hysterika
mit Herzinsuffizienz und Klappenfehler (Dr. Bickart), welche
während des Bades regelmässig schon vor Durchleitung des
Stromes Angstanfälle mit allgemeinem Tremor bekommt.
In einigen wenigen anderen Fällen sind nicht vollbefriedi¬
gende Erfolge lediglich in unangreifbaren Komplikationen,
schweren mechanischen Kreislaufshindernissen, wie schwerster
Stenoseformen oder vorgeschrittensten Kranzarteriensklerosen
begründet.
J.-No. 16/1. Finanzrat D., 70 Jahre alt (Hofrat Dr. B r e d a u e r).
Muss wegen Herzschmerz auf 100 m Weg 4 — 5 mal stehen bleiben.
115 Bäder, die er nimmt, weil sie ihm stets wesentliche Erleichterung
bringen, wird nach vorübergehender Besserung als ungeheilt ent¬
lassen.
Dagegen J.-No. 270/1, A. W. aus M., 58 Jahre alt, Grosskaufmann.
Apoplexie vor 2 Jahren. Ausstrahlende Schmerzen in den linken
Arm bei Liegen und Sitzen, muss im Gehen wegen Herzschmerzen
sehr häufig stehen bleiben.
10. XII. 04. R. R. 155 G. 140 65 Bäder
22. III. 05. „ „ 125 „ 110
Herz zurück. Schmerzen verschwunden. Macht im Sommer
Tagespartien mit Rad ohne Beschwerden.
Der Dauererfolg der Hydroelektrotherapie wird lediglich
garantiert, und zwar zuverlässig garantiert, von der Lebens-
No. 30.
führung der Kranken, von dem Aufgeben einer unzweck¬
mässigen Lebensweise, namentlich im Essen und Trinken. Nur
dadurch werden Kreislaufstörungen verhütet oder geheilte
Erkrankungsfälle vor Rezidiven bewahrt. Dagegen ist die An¬
nahme, es könnten irgendwie erheblichere Kreislaufsstörungen
durch Diätetik oder Entfettung usw. allein geheilt werden,
sicher falsch, wie das z. B. Dr. H. sowie eine Reihe anderer
von mir beobachteter Fälle beweisen.
Auf die eigentliche Behandlungsweise einzugehen, muss ich
mir für diesmal leider versagen und möchte ich nur bemerken,
dass es ein grober Fehler ist, Kreislaufskranke von Anfang an
oder ausschliesslich mit Wechselströmen zu behandeln, wegen
der hohen Spannung derselben (30 Volt gegen faradisch 8 Volt)
und des starken Juckreizes infolge der geringen Unter¬
brechungszahl. Letzterer Uebelstand ist durch Erreichung von
Wechselströmen mit 14 000 Unterbrechungen, statt 5000 bis¬
her, in meiner Anstalt so ziemlich behoben.
Es mag auffallend erscheinen, dass in den angeführten
Fällen die Behandlungsdauer ziemlich lang und die Anzahl der
Bäder eine reichlich bemessene ist. Nun ich glaube, dass es
nachgerade Zeit ist, der leidenden Menschheit klar zu machen,
dass innerhalb 4 Wochen jahrelang bestehende Leiden kaum
gebessert, geschweige denn geheilt werden, mag die Behand¬
lung sein wie sie will. Die relativ hohe Anzahl der Einzel¬
behandlungen ist bedingt durch die unablässig der Erreichung
der früheren Gewebsspannung in gesunden Tagen entgegen¬
arbeitenden Kreislaufsarbeit, und ich muss es direkt als einen
Vorzug der Elektrotherapie betrachten, dass sie in dieser
Häufigkeit der Applikationsform anstandslos und fast aus¬
nahmslos ertragen wird.
Meine Aufgabe, zu zeigen, dass die Hydroelektrotherapie
alles das zu leisten imstande ist, was man billigerweise von
einer Kreislaufsbehandlung verlangen kann, ist, wie ich hoffe,
mit dem Vorstehenden erfüllt. Wenn ich nun aber
weiter gehe und behaupte, sie ist in ihrer Art
zurzeit wohl durch keine andere Behandlung
voll zu ersetzen, so möchte ich dies noch kurz
in folgendem begründen.
Der Schott sehen Widerstandsgymnastik ist sie weniger
wegen Wegfalls der Innervationsanstrengung, wie B ü d i n g e r
und G e i s s 1 e r meinen, überlegen, als durch die Einwirkung
des therapeutischen Faktors auf einen ruhenden Körper, der
von jedem zur Ueberwindung der Schwerkraft nötigen Kraft¬
verbrauch vollkommen frei ist. Darin beruht der Begriff
„Herzschonung“ im besten Sinne des Wortes für unsere Be¬
handlungsart.
Bezüglich der Hydrotherapie, insbesondere der mit kohlen¬
saueren Bädern, ist nun endgültig und widerspruchslos ins¬
besondere durch Senator und R o m b e r g (Referat auf dem
Kongress für innere Medizin 1903) erwiesen, dass ihre Wirk¬
samkeit erst unter 33 0 C beginnt, also als kühles bezw. kaltes
Bad, welches durch die Wärmegefühl erregende Kohlensäure
erträglich gemacht wird.
Auch die eingehenden Untersuchungen Strasburgers
(Archiv f. klin. Med., Bd. 82, H. 5 u. 6) haben diese Annahme
gestützt und zugleich gezeigt, dass mit den Bädern, und zwar
je kälter und wirksamer sie sind, eine starke systolische Blut-
drucksteigerung mit nachfolgender Senkung und Wieder¬
aufstieg verknüpft ist. Diese Druckschwankungen sind ledig¬
lich die Folge des Kälteschocks und fehlen in den elektrischen
Bädern, deren Druckanstieg vollkommen gleichmässig ist. Ab¬
gesehen davon ist es überhaupt ein grosser Vorteil, die Herz¬
kranken, welche ja bekanntlich sehr empfindlich gegen jede
Kälteeinwirkung sind und so leicht zu Frostkollaps neigen,
bei den elektrischen Bädern stets im gleichmässig und nach
subjektivem Bedarf gewärmten Wasser zu haben. Gerade die
Frostempfindlichkeit der Kranken ist ja vielfach ein grosses
Hindernis für eine durchgreifende Kur mit den kohlensauren
Bädern, wenigstens mit den wirklich wirksamen. Auf andere
Vorteile, wie das Vermeiden der Kohlensäureeinatmung, die
genaue Dosierung des Heilfaktors, die fast unbegrenzte Steige¬
rungsfähigkeit der Stärke des elektrischen Stromes, die wahr¬
scheinlich auch viel kontrastreichere Wirkung der verschieden¬
artigen elektrischen Ströme usw. will ich hier nur hinweisen.
Ausdrücklich möchte ich jedoch bemerken, dass die angeführte
Gegenüberstellung der beiden Behandlungsarten keineswegs
4
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
1470
cme Herabsetzung des anerkannten Wertes der Therapie mit
kohlensauren Bädern darstellen soll. Es ist für mich kein
Zweifel, dass jede der beiden Behandlungweisen gewisse Son¬
dervorteile in sich trägt und als Aufgabe der eingehendsten
Forschung für die Zukunft betrachte ich es auch hier, volle
Klarheit zu schaffen.
- -o@c=- - -
Fritz Schaudinn.
Von Richard Hertwig in München.
Durch die Entdeckung des Malariaparasiten und die Fest¬
stellung seiner Entwicklungsweise durch Laveran, Ross,
G r a s s i u. A. wurde zum ersten Mal die Auffassung durch¬
brochen, dass die infektiösen Krankheiten im weiteren Sinne
vorwiegend durch niedere pflanzliche Organismen, vor allem
durch Bakterien bedingt seien. Es stellte sich heraus, dass
auch einzellige Tiere oder Protozoen nicht nur als Para¬
siten des Menschen auftreten, wie es für die A m o e b e n und
Infusorien des Darms schon längst bekannt war, sondern
auch durch enorme Vermehrung, ausgedehnte Zerstörungen
und leichte Uebertragbarkeit zu ebenso furchtbaren, ja in ihren
ökonomischen Folgen noch furchtbareren Geissein der Mensch¬
heit werden können. Damit waren plötzlich die Protozoen
in den Mittelpunkt des medizinischen Interesses gerückt,
welches noch zunahm, als es sich herausstellte, dass noch viele
andere Krankheiten, besonders Krankheiten der durch die
koloniale Ausbreitung der europäischen Staaten uns näher
gerückten tropischen und subtropischen Länder durch Pro¬
tozoen hervorgerufen werden, einerseits Krankheiten des
Menschen, andererseits Krankheiten der für die menschliche
Kultur unentbehrlichen Haustiere.
Der Entwicklungsgang der Bakterien ist, wenigstens so¬
weit wie wir wissen, einfacher Natur und zeigt eine grosse
Gleichförmigkeit, sodass sich für bakterielle Untersuchungen
eine relativ einfache und in relativ kurzer Zeit zu erlernende
Methode hat entwickeln lassen. Ganz anders geartet ist der
Entwicklungsgang der Protozoen. Auch hier gibt es ja
gewisse Grundzüge der Entwicklung, wie sie bei allen para¬
sitischen Tieren Vorkommen. Bei keinem Parasiten spielt sich
der zwischen zwei Geschlechtsakte eingeschlossene Ent¬
wicklungzyklus an einem und demselben Ort ab. Auf irgend
einem Stadium kommt die Entwicklung zum Stillstand und
muss der Parasit, wie es uns Bandwürmer und Tri¬
chinen lehren, aus dem Wirt herausgelangen und einen oder
mehrere Zwischenwirte passieren oder müssen seine Keime
wie es für Ascaris lumbricoides und Oxyu ris,
Ankylostoma und T richocephalus zutrifft, eine
Zeitlang im Freien verweilen, ehe sie im ursprünglichen Para¬
sitenträger ihre Entwicklung wieder aufnehmen können. In
allem Uebrigen aber herrscht eine proteusartige Mannig¬
faltigkeit der Zustände, dass man schon ein in zoologischen
Dingen, besonders in der Kenntnis der Protozoen sehr er¬
fahrener Forscher sein muss, um sich in dem Labyrinth der
Entwicklungszustände zurecht zu finden und ihre entwick¬
lungsgeschichtliche Bedeutung gut zu verstehen.
In diesen rein sachlichen Verhältnissen ist, ganz abgesehen
von der ganz aussergewöhnlichen später noch zu besprechen¬
den Begabung des Mannes, der Grund gegeben, weshalb der
Tod des Protozoenforschers Fritz Schaudinn nicht nur für
seine zoologischen Kollegen, sondern auch für die Vertreter
der Medizin ein so schwerer Verlust geworden ist. Fritz
Schaudinn wurde am 19. September 1871 in dem ost-
preussischen Städtchen Röseningken geboren als Sohn eines
Gestütsinspektors, welchem es nicht vergönnt war, an der
glänzenden Entwicklung seines Sohnes sich zu erfreuen. Nach¬
dem er die Gymnasien in Insterburg und Gumbinnen absolviert
hatte, bezog er 1890 die Universität Berlin, wo er sich unter
der Leitung von F. E. Schulze hauptsächlich dem Studium
der Zoologie widmete. Nachdem er 1894 promoviert hatte,
wurde er zunächst Assistent am Berliner zoologischen In¬
stitut und habilitierte sich 1898 für Zoologie. In diese Zeit
fallen seine ausgezeichneten Untersuchungen über freilebende
Protozoen des Meeres und des Süsswassers. Es gelang ihm
namentlich für gewisse einzellige Tierformen den gesamten
Lebenszyklus festzustellen, so für Trichosphaerium
S i e b o 1 d i und die durch den Dimorphismus der Generationen
ausgezeichneten Foraminiferen. Man kannte damals
nur für wenige Gruppen der Protozoen Befruchtungsvor¬
gänge. Schaudinn wies in den genannten Untersuchungen
ihre weite Verbreitung nach und zeigte, dass der Lebenszyklus
der Protozoen sehr häufig durch die Befruchtung in zwei
Perioden zerlegt werde, in denen dieselben Arten einen durch¬
aus verschiedenen Habitus besitzen und auch oft ausserordent¬
liche Unterschiede der Grösse zeigen, wie das gleichzeitig von
anderer Seite für die Malariaparasiten bewiesen wurde.
Ein Wendepunkt in seinem Leben wurde durch die Ar¬
beit über die in Tausendfüssen schmarotzenden Coccidien
herbeigeführt. Mit dieser Arbeit, welche die prinzipielle
Uebereinstimmung im Entwicklungsgang der Malariaparasiten
und Coccidien nachwies, begann Schaudinn sein Inter¬
esse den parasitischen Protozoen zuzuwenden. Er hatte um¬
somehr hierzu Veranlassung, als er im Jahre 1901 in den Dienst
des Reichsgesundheitsamtes berufen wurde. Zunächst ging er
zur Erforschung der Malaria nach Rovigno in Istrien; nach
wenigen Jahren kehrte er nach Berlin zurück und trat zunächst
als Hilfsarbeiter, später als Regierungrat und Vorstand des
Laboratoriums zur Erforschung krankheitserregender Proto¬
zoen in das Reichsgesundheitsamt ein. Anfangs dieses Jahres
siedelte er an das Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten
in Hamburg über. Nur kurze Zeit konnte er sich dieses neuen,
ihm im höchsten Mass sympathischen Wirkungskreises er¬
freuen. Schon am 22. Juni machte nach schwerem Leiden
der Tod seinem an Erfolg und Arbeit reichen, kurzen aber
ruhmvollen Leben ein Ende.
An dieser Stelle sei nur der Verdienste gedacht, welche
Schaudinn sich in der letzten Phase seines Lebens er¬
worben hat, Verdienste von der grössten Bedeutung für die
wissenschaftliche Zoologie, von noch grösserer Bedeutung für
die Medizin. Ich beginne mit seinen Untersuchungen über die
Amöben, welche die tropische Dysenterie begleiten, in deren
Gefolge so häufig die schweren Leberabszesse auftreten. Die
pathogene Natur der sogen. Amoeba coli war trotz vieler
Untersuchungen stark umstritten. Schaudinn klärte die
Ursache der herrschenden Widersprüche auf, indem er zeigte,
dass im Kolon des Menschen mindestens zwei verschiedene
Amöbenarten Vorkommen; für die eine, die Entamoeba
coli, konnte er den Entwicklungsgang, die Art der Infektion
und ihre Unschädlichkeit feststellen, in der anderen dagegen,
der Entamoeba histolytica, erkannte er einen dem
Menschen äusserst gefährlichen Parasiten.
Von den in Rovigno ausgeführten ausgedehnten Malaria¬
forschungen ist leider — was bedauerlicherweise für viele
S c h a u d i n n sehe Untersuchungen gilt — nur ein Teil und
dieser nur in unvollständiger vorläufiger Mitteilung erschienen;
derselbe enthält aber eine sehr wichtige Entdeckung, die
äusserst interessante Erklärung des Malariarezidivs. Es ist
bekannt, dass die Malaria, falls keine neue Infektion eintritt,
öfters auch ohne Chininbehandlung ausheilt, dass es aber in
solchen Fällen zu typischen I^ezidiven kommen Kann: der
Krankheitsprozess flammt aufs neue auf, auch dann, wenn eine
Neuinfektion ausgeschlossen ist. Schaudinn wies als Ur¬
sache der Rezidive die „Makrogameten“, d. h. weibliche Ge¬
schlechtsformen nach, welche sich im Blute des Patienten er¬
halten haben, ohne aber sich zu vermehren, und nun plötzlich
ihre Vermehrungsfähigkeit wieder gewinnen. Der sehr grosse
Kern derselben zerfällt in zwei Stücke, ein Stück, das zugrunde
geht (gemeinsam mit einem Quantum Protoplasma), ein
zweites, welches anfängt sich zu vermehren. So entstehen
neue proliferationsfähige Malariaparasiten, welche neue Fieber¬
anfälle erzeugen. Offenbar handelt es sich hier um dieselben
Erscheinungen, die ich für zahlreiche freilebende Protozoen
nachgewiesen habe und für die C a 1 k i n s den Namen De¬
pressionszustände eingeführt hat. Wenn Protozoen lange Zeit
in reicher Nahrung kultiviert werden — und das trifft ja bei
Parasiten zu — so wird zunächst eine enorme Vermehrung
erzielt, dann aber tritt Unfähigkeit zu assimilieren und
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1471
sich zu teilen ein. Auf diesem Stadium sind die Kerne bei
einkernigen Formen auf Kosten des Protoplasma vergrössert,
bei vielzelligen Formen über das Mass vermehrt. Viele Indi¬
viduen gehen an dieser Kernhypertrophie zugrunde, andere
retten sich, indem sie den Kernapparat verkleinern, sei es, dass
der einheitliche Kern in Stücke zerfällt, die zum Teil aufgelöst
werden, sei es, dass von den vielen Kernen ein Teil zugrunde
geht, der andere sich erhält. Auch können ganze, an Kernsub¬
stanz überreiche Teile des Tieres wie ein Sequester abge-
stossen werden. Die Tiere, welchen es so gelungen ist, den
Kernapparat auf die Norm zu reduzieren und sich zu reorgani¬
sieren, zeichnen sich durch eine enorme Vermehrungsfähigkeit
aus. Offenbar ist auf diese den einzelligen Organismen eigen¬
tümlichen Depressionszustände das Ausheilen der Malaria,
auf das Ueberwinden derselben das Vorkommen von Rezidiven
zurückzuführen, vielleicht nicht nur bei Malaria, sondern auch
anderen Infektionskrankheiten. Es wäre dann nicht richtig,
mit Schaudinn von Makrogameten, weiblichen Ge¬
schlechtstieren, zu reden, wie denn überhaupt in der neuen
Parasitenliteratur mit diesem Ausdruck nach meiner Ansicht
viel Missbrauch getrieben wird.
Die letzten Jahre von Schaudinns Leben waren der
Untersuchung der T rypanosomen gewidmet. Er machte
seine Vorstudien an anderweitigen Wirbeltieren, um von den so
gewonnenen Erfahrungen aus analoge Erkrankungen des
Menschen und seiner Haustiere zu erklären. Für das in einer
Eule schmarotzende Trypanosoma noctuae gelang
es ihm, den gesamten Entwicklungsgang festzustellen: die Ver¬
mehrungsvorgänge im Blut der Eule, die äusserst merk¬
würdigen Geschlechtsvorgänge in dem Darm und der Leibes¬
höhle von Culiziden. Bei einer zweiten parasitischen Form der
Eule, der Spirochaete Ziemanni, war der Entwick¬
lungsgang in allen prinzipiellen Punkten der gleiche wie bei
dem Trypanosoma. Hieraus ergab sich das äusserst
wichtige Resultat, dass die Spirochäten nicht, wie man
bisher annahm, zu den Bakterien gehören, sondern Flagel¬
laten sind, die in die nächste Nähe der T rypanosomen
gestellt werden müssen. Die Bedeutung dieses Resultats fällt
um so mehr in die Augen, als eine Spirochäte (S p.
Obermeier i) im Blut von Rekurrenzkranken gefunden
worden ist. Die Ermittelungen über die Krankheitserreger
der Eule und über die Art ihrer Uebertragung eröffneten, wie
Schaudinn auch auseinandersetzte, neue Perspektiven, in
der Aetiologie des Rückfalltyphus einen tüchtigen Schritt vor¬
wärts zu kommen.
Die Entdeckung einer im Menschen schmarotzenden
Spirochäte ist die letzte wissenschaftliche Leistung
Schaudinns gewesen, vielleicht zugleich die Leistung,
welche seinem Namen einmal den grössten Glanz verleihen
wird. Er fand in den Primär- und Sekundäraffekten und den
geschwollenen Lymphdrüsen syphilitischer Individuen, auch
solchen, die sonst völlig gesund und noch nicht lange infiziert
waren, eine Spirochäte von so extremer Zartheit, welche
ferner den gewöhnlichen Färbungsmethoden so ausserordent¬
liche Schwierigkeiten bereitete, dass er ihr den bezeichnenden
Namen S p. p a 1 1 i d a gab. Viele Dermatologen, vielleicht
sogar die Mehrzahl, sind der Ansicht, dass in der Spiro¬
chaete pallida und nicht in dem ungefähr gleichzeitig
von Siegel entdeckten Cytorrhyctes luis endlich der so
lange Zeit vergebens gesuchte Erreger der Syphilis gefunden
worden sei. Schaudinn selbst ist auch der Meinung ge¬
wesen, dass er den Syphiliserreger entdeckt habe, wenn er
auch zu vorsichtig war, um diese Ansicht in bestimmter Weise
auszusprechen. Als ein Mann der exakten Forschung war er
sich der grossen Schwierigkeiten bewusst, welche die For¬
schung noch zu überwinden hatte, um den Beweis der infek¬
tiösen Natur zu erbringen oder gar Mittel zur Bekämpfung des
furchtbaren Feindes der Menschheit zu ermitteln. Schau¬
dinn war aber auch nicht der Mann, der vor diesen Schwierig¬
keiten zurückschreckte. Er besass das für wichtige Ent¬
deckungen nötige Zutrauen auf sein Können, welches ihn bei
seinen Untersuchungen nicht erlahmen liess.
Schaudinn hatte zu diesem Selbstvertrauen volle Be¬
rechtigung; denn in der Tat stand ihm bei seiner Forscher¬
tätigkeit eine ganz eigenartige, für die Besonderheit seines
Arbeitsgebietes wie geschaffene, glänzende Begabung zu Gebote.
Er war ein Entdecker und Beobachter ersten Ranges, der mit
ganz aussergewöhnlichem Scharfblick Wichtiges und Un¬
wichtiges rasch zu sondern und so den richtigen Weg der
Forschung einzuschlagen wusste. Begabt mit unermüdlicher
Arbeitskraft, die in einem kräftigen Körper ihren Rückhalt fand,
vermochte er die Gunst des Augenblicks durch zeitweilige
äusserste Anspannung seiner Kräfte auszunützen; zugleich war
er ausharrend, um diese Gunst des Augenblicks, die sich bei
Protozoenforschung meist nicht erzwingen lässt, geduldig ab¬
zuwarten.
Schaudinn war ferner eine eminent praktische Natur.
Wo die Beobachtung auf Schwierigkeiten stiess, war er nie um
Mittel verlegen, sie zu beseitigen. Manchmal waren es höchst
einfache Einrichtungen, mit denen er Schwierigkeiten, an denen
manch anderer gescheitert wäre, bemeisterte.
Alle diese hervorragenden Eigenschaften, dazu die in einem
Jahrzehnt gewonnenen reichen Erfahrungen bringen es mit
sich, dass der Tod S c h a u d i n n s ein geradezu unersetzliche’
Verlust sowohl für die Zoologie wie für die Medizin geworden
ist. Der Verlust ist um so unersetzlicher, als viele seiner Unter¬
suchungen nur unvollständig in Auszügen mitgeteilt worden
sind. Schaudinn war kein Mann des Schreibtisches; er
war ein Mann der Beobachtung, sei es am Mikroskopiertisch,
sei es in der freien Natur, ein frische, arbeitsfreudige, gerade
Natur, welche Freunde und Schüler gleichmässig verehrten.
Um so tragischer berührt uns sein hartes Schicksal. Zwar
hat es ihm in den letzten Jahren seines Lebens nicht an An¬
erkennung gefehlt; die Petersburger Akademie ernannte ihn
erst kürzlich zu ihrem korrespondierenden Mitglied. Zweimal
wurden ihm von England aus glänzende Anerbietungen ge¬
macht, um ihn für das University College und die Universität
Cambridge zu gewinnen, wo Lehrstühle für Protozoenkunde
errichtet worden waren. Aber alles das tritt hinter der tief¬
traurigen Tatsache zurück, dass er von seiner Arbeit ab¬
berufen wurde, ehe es ihm vergönnt war, die Resultate jahre¬
langer angestrengtester Tätigkeit in ausführlicher Form zu ver¬
öffentlichen und die reiche wissenschaftliche Früchte ver¬
sprechende Saat der letzten Jahre einzuernten. Eine schwere
Bekümmernis muss es auch für den aus dem Leben scheidenden
Gelehrten gewesen sein, seine Familie in bedrängter Lage
Zurücklassen zu müssen, nachdem er jahrelang mit ihr ein
sehr bescheidenes Los geteilt und zum ersten Male in dem
neuen Hamburger Wirkungskreis eine glücklichere Gestaltung
auch der äusseren Lebensverhältnisse für sie erreicht hatte.
Aus dem pathologischen Institut in München.
Wie sollen Untersuchungsobjekte eingesandt werden?
Von Professor Dr. Hermann Dürck.
Einsendungen von Untersuchungsobjekten, wie Gewebs-
schnitten, Organen, Sputum, Dejektionen etc., an das patho¬
logische Institut, bei welchen infolge ungenügender oder
ungeeigneter Konservierung oder Verpackung oder infolge
sonstiger unzweckmässiger Vorbehandlung die Beantwortung
der gestellten Fragen erschwert, verzögert oder in manchen
Fällen ganz unmöglich gemacht wird, erfolgen sehr häufig.
Da von dem Ausfall derartiger Untersuchungen sehr
oft das ärztliche Handeln in entscheidender Weise beein¬
flusst wird und das Wohl und Wehe der betr. Kranken abhängt'
so ist es wünschenswert, ja notwendig, dass die Untersuchung
der eingesandten Objekte von der damit betrauten Zentralstelle
möglichst genau und tunlichst rasch ausgeführt wird.
Der einsendende Arzt soll in der Regel (je nach seiner Ent¬
fernung vom Untersuchungsort und je nach Kompliziertheit
des zu beurteilenden Objekts) 24 bis längstens 48 Stunden nach
erfolgter Einsendung im Besitz einer orientierenden Antwort,
bezw. eines erschöpfenden Befundprotokolles sein.
Dieses Ziel zu erreichen ist aber nur möglich, wenn der
Einsender die Objekte in genügender Weise vorbereitet oder
4*
7- _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 30.
wenigstens nicht durch fehlerhafte Behandlung die Unter¬
suchung behindert.
Die folgenden Zeilen sollen dem mit den neueren Unter¬
suchungsmethoden selbst weniger vertrauten Praktiker eine
kurze Anleitung -geben, in welcher Weise derartige Einsen¬
dungen zweckmässig betätigt werden.
Ich beginne mit der Behandlung von Gewebsstücken, Probe¬
exzisionen und ähnlichen Objekten, bei welchen also eine Gewebs-
d i a g n o s e verlangt wird.
Die Uebersendung der Gewebsstücke in frischem Zustande
ist meistens, wenn es sich nicht um ganz kleine Stückchen und um
ganz geringe Entfernung vom Untersuchungsort handelt, unzweck¬
mässig, da allzuleicht entweder Vertrocknung oder Fäulnis eintritt,
durch beide aber die geweblichen Strukturen gewöhnlich bis zur Un-
definierbarkeit entstellt werden. Sehr ungeeignet ist der Zusatz von
Wasser, ebenso auch von verdünnter Kochsalzlösung, weil darin eine
hochgradige Verquellung und bei längerem Verweilen natürlich auch
ungestörte Fäulnis stattfindet. Ganz zu verwerfen sind auch die in
der Chirurgie gebräuchlichen Lösungen antiseptischer' Substanzen,
wie Sublimat (1:1000), Karbol, Lysol etc., denn auch diese wirken
nicht fixierend, sondern nur stark verquellend auf die Gewebe.
Die meisten Einsender glauben allen Ansprüchen gerecht zu
werden, wenn sie Alkohol in verschiedenen Konzentrationsgraden
zur Konservierung der Gewebsstückchen verwenden. (Leider wird
auch denaturierter Spiritus häufig genug benutzt.) An und für sich
wäre nun gegen die Benutzung des Alkohols nichts einzuwenden,
da er eine genügende Fixation und Härtung der Gewebe herbeiführt,
wenn die Stückchen im Verhältnis zu der umgebenden Flüssigkeits¬
menge nicht zu gross sind, was besonders bei der Versendung von
ganzen Organen oder grösseren Organstücken häufig genug der Fall
ist (s. u.). Allein abgesehen von der überaus lästigen Eigenschaft des
Alkohols, stark schrumpfend auf die Gewebe, namentlich auf besonders
saftreiche einzuwirken, verzögert seine Anwendung in der Regel sehr
beträchtlich die Untersuchung der eingesandten Objekte und damit
die Ausfertigung der Antwort.
Seit der bedeutsamen Verbesserung der Mikrotome und nament¬
lich der Gefriertechnik durch Anwendung der flüssigen Kohlen¬
säure zum Zweck der Ueberführung der zu untersuchenden Ge¬
webe in eine schnittfähige Konsistenz bedienen sich die meisten Unter¬
suchungslaboratorien der Kohlensäuregefriermikrotome zur Herstel¬
lung der erforderlichen Schnitte. Wir verwenden z. B. im Münchener
pathologischen Institut seit etwa 4 Jahren mit ausgezeichnetem Er¬
folg das von Asch off angegebene und von Aug. Becker in
Göttingen ausgeführte Mikrotom mit Kohlensäuregefriervorrichtung.
Seine Anwendungsmöglichkeit ist eine nahezu universelle, die Be¬
dienung eine überaus einfache und die Schnelligkeit, mit welcher sich
ganz unabhängig von der herrschenden Aussentemperatur Schnitte
von allen erdenklichen Gewebsgattungen herstellen lassen, lässt nichts
zu wünschen übrig, Eigenschaften, welche den älteren, mit Aether-
spray versehenen Gefriermikrotomen durchaus nicht nachgerühmt
werden konnten.
Nur eines ist bei den zu schneidenden Gewebsstücken auch
hier erforderlich — dass sie vorher nicht in Alkohol gelegen hatten
(weil hierdurch natürlich die Gefrierfähigkeit aufgehoben wird).
Manchmal lässt sich zwar durch längeres Auswässern auch bei einem
nicht zu lange in Alkohol gewesenen Stückchen die Gefriermöglich¬
keit wieder herstellen, aber die Schnitte haben dann die Neigung,
ungemein leicht zu zerbröckeln und es ist überhaupt niemals mehr
mit Sicherheit auf die Erziehung genügender Schnitte zu rechnen.
In diesen Fällen bleibt dann natürlich nichts anderes mehr übrig, als
die in Alkohol geschickten Stücke in Paraffin einzubetten und zu
schneiden. Damit aber ist immer ein Zeitverlust von allermindestens
vielen Stunden gegeben.
Wir werden daher für ein möglichst allgemein anzuwendendes
Konservierungsverfahren von Gewebsstücken die Forderung aufzu¬
stellen haben, dass es nicht nur gut fixiert und härtet und rasch
genug in grössere Gewebstiefen eindringt, sondern dass es auch die
augenblickliche Gefrierfähigkeit der Stücke in keiner Weise be¬
einträchtigt und allen diesen Bedingungen wird in geradezu idealer
Form gerecht die lOproz. sog. Formalinlösung.
Der Formaldehyd wurde zuerst von F. Blum im Jahre 1893 in
die histologische Technik eingeführt. Er ist ein farbloses, stechend,
riechendes, die Schleimhäute stark reizendes Gas, gewonnen durch
Oxydation von mit Luft zerstäubtem Methylalkohol über glühender
Kohle. Seine wässerige Lösung kommt unter dem Namen Formol
oder Formalin in den Handel, enthält gewöhnlich etwa 40 Proz. For¬
maldehyd und ist das Formaldehydum solutum des deutschen
Arzneibuches.
Es soll für unsere Fixationszwecke ausschliesslich in einer Ver¬
dünnung von 1: 10 Wasser angewendet werden. In dieser Form hat
es die Eigenschaft, die Eiweisskörper, welche die Gewebe zu¬
sammensetzen, wasserunlöslich und hart zu machen, indem es eine
homogene und sehr feine Gerinnung derselben mit bester Formerhal¬
tung herbeiführt. Ein ganz besonderer und für sehr viele Unter¬
suchungen wichtiger Vorteil des Formaldehyds gegenüber dem Alko¬
hol ist der Umstand, dass es Fett durchaus nicht extrahiert, sondern
gänzlich unberührt lässt, so dass diese für die Beurteilung so vieler
krankhafter Veränderunge ausserordentlich belangreiche Substanz,
sei es in Form von zusammenhängendem Fettgewebe, sei es als De-
generations- und Zerfallsprodukt in Form einzelner Tröpfchen und
Kügelchen in den Schnitten zur Anschauung gebracht und bei Bedarf
mit Sudan III oder Ponceau gefärbt werden kann.
Die Anwendung des Formalins wird demnach für unsere Zwecke,
d. h. für die Konservierung von kleineren Gewebsstücken am besten
in der Weise zu geschehen haben, dass ein weithalsiges, gut ver-
schliessbares Glasgefäss z u e r s t mit der 10 proz. Formalinlösung ge¬
füllt und in diese hierauf das Gewebsstiick gebracht wird. Man ver¬
fahre nicht umgekehrt, damit ein inniges Anliegen der Objekte
an den Gefässwandungen und damit Deformationen und einseitige
mangelhafte Konservierung vermieden wird. Sehr zweckmässig ist
es, auf den Boden des Gefässes vorher etwas zusammengeknülltes
Goldschlagpapier (sog. „Josephipapier“) zu legen, damit das Prä¬
parat von allen Seiten her durch die Konservierungsflüssigkeit be¬
spült wird, jedoch ist die Einlage von Watte, Verbandstoff etc. zu
vermeiden, weil durch diese störende Fasern in das Gewebe kommen.
Das dem Glase anzuheftende Etikett soll enthalten (auch wenn
nähere Angaben in einem Begleitschreiben gemacht werden): Pro¬
venienz des Stückes, Individuum von dem es stammt (Mann? Frau?),
Alter, Datum der Einsendung und Name und genaue Adresse des Ein¬
senders, also z. B. :
„Probeexzision, Tumor vom Unterkiefer. W. 35 J. 18. Mai 1906.
Dr. Mayer, Straubing, Landstr. 2.“
Das Ganze ist bruchsicher gepackt (bei kleineren Fläschchen am
besten in gebohrter Holzhülse) auf schnellstem Wege dem Unter¬
sucher einzusenden.
Sollen ganze Organe von Sektionen, grössere durch Opera¬
tion gewonnene Tumoren, Extremitäten etc. oder Föten, Missbil¬
dungen etc. zur Einsendung gelangen, so sind auch hier Vorsichts-
massregeln notwendig, wenn eine genaue Untersuchung dieser Objekte
gewünscht wird. Erfahrungsgemäss kommen namentlich auch von
gerichtlichen Obduktionen die Organe oftmals in einem so weit vor¬
geschrittenen Stadium fauliger Zersetzung zur Einsendung, dass eine
Beurteilung der Fälle ausserordentlich erschwert und genauere histo¬
logische Untersuchungen ganz unmöglich gemacht werden. Der be¬
rühmte alte „Giftkasten“ mit seinen unseligen 4 numerierten Gläsern,
der meist einen ansehnlichen „Instanzenweg“ zu durchwandern hat,
bis er endlich in den Händen des designierten Untersuchers landet,
spielt hier eine beträchtliche, wenn auch nicht gerade rühmenswerte
Rolle.
Die Grösse der Objekte begünstigt natürlich die Schnelligkeit
des Eintrittes der Fäulnis, ausserdem verursacht häufig die Ver¬
packung Schwierigkeiten und gerade in letzterer Beziehung wird am
meisten gefehlt.
Auch hier leistet wiederum das Formaldehyd ganz hervorragende
Dienste und ist von einer geradezu souveränen Wirksamkeit, indem
es bei richtiger Anwendung selbst starke schon eingetretene Fäulnis
nahezu augenblicklich aufhebt.
Besteht also irgendwelche Gefahr, dass bei Einsendung der
frischen Organe Veränderungen durch Fäulnis eintreten könnten, und
dies ist in der wärmeren Jahreszeit wohl stets der Fall, wenn nicht
ausgiebige Eispackung der möglichst frisch entnommenen Objekte
angewendet werden kann, so wird man am besten stets zur Forma¬
hnkonservierung greifen. Es ist dabei besonders darauf zu achten,
dass in die betreffenden Gefässe, Gläser, Blechbüchsen etc. zuerst
das Formalin (lOproz. Lösung) geschüttet und dann erst die Organe,
allseitig gut unterpolstert, eingelegt werden, damit Deformationen ver¬
mieden werden. Auch ist zu berücksichtigen, dass Formalin alles
Bindegewebe augenblicklich derartig gerbt, dass es in der Form er¬
starrt, in welcher das Konservierungsmittel zur Einwirkung gelangte.
Es ist beispielsweise ganz unmöglich, bei einem Fötus die Lagerung
dei Gliedmassen jemals wieder ohne Zerreissung zu verändern, wenn
einmal Formalin einwirkte; ein aufgeschnittenes Herz in unnatürlicher
Weise in ein Glas mit Formalin gepresst, wird niemals wieder in
eine natürliche Form zurückgebracht werden können; selbst tage¬
langes Wässern etc. ändert hier nichts mehr. Es muss also von vorne-
herein darauf Bedacht genommen werden, dass die natürliche
Form der Organe durch entsprechende Lagerung einzelner Teile zu
einander möglichst gewahrt bleibt.
Sind passende Gefässe nicht zur Stelle, so kann man sich mit
grossem Vorteil der^ fast überall beim Metzger erhältlichen Tier¬
blasen, namentlich Schweinsblasen und Rindsblasen, bedienen, in
welche man die Organe in wenig Formalinlösung oder umgeben von
foi inalingetränktem Material, wie Watte, Verbandgaze etc., fest ein-
bindet, um sie dann in einem passenden Kistchen oder im Notfälle
auch nur in mehrfaches starkes Packpapier eingeschlagen zur Ver¬
sendung zu bringen.
Für kürzere Transporte ist auch das Einschlagen der ganzen
Organe in mit Formalin durchtränkte Tücher, Lappen, Verbandstoffe
und eine äusseie Umhüllung mit Guttapercha, Billrothbattist, Wachs-
leinen etc. sehr zu empfehlen.
Das Konservieren der Organe in Formalin gestattet nicht nur
eine , genaue nachträgliche makroskopische und namentlich mikro¬
skopische Untersuchung, sondern auch noch die Anstellung aller
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1473
chemischen Untersuchungen auf allenfalls vorhandene Gift¬
stoffe. Hierauf ist selbstverständlich vom gerichtsärztlichen Stand¬
punkt der allergrösste Wert zu legen, da wir demnach im Formalin
im Gegensatz zu vielen anderen früher für die gerichtsärztliche Praxis
angewendeten Konservierungsflüssigkeiten ein Mittel besitzen, um
giftige Substanzen auch Wochen und Monate nach der Entnahme
der Organe aus dem Körper noch nachweisbar zu erhalten.
In neuerer Zeit ist diese wichtige Eigenschaft des Formaldehyds
für Phosphor, Arsenik, Antimon, von Alkaloiden für Strychnin, Atropin,
Veratrin, Morphin und Kodein, ferner für Blausäure, Karbol, Alkohol,
Chloroform und Nitrobenzol experimentell von G r i g o r j e w *) nach¬
gewiesen worden.
Es ist dabei nur zu empfehlen, dass der Sendung jedesmal ein
kleines Fläschchen (ca. 50 ccm) des verwendeten unverdünn¬
ten Formaldehyds mit beigegeben werde, da gelegentlich Fabrikate
Vorkommen können, welche mit Spuren von Arsenik verunreinigt
sind.
Es ist wohl zu hoffen, dass in Bälde die Verwendung des Formal¬
dehyds zu Konservierungszwecken in forensischen Fällen obliga¬
torisch eingeführt wird, damit die zahlreichen, gerade auf diesem
Gebiete vorkommenden und manchmal fast unbegreiflichen Missgriffe
in Zukunft verhütet werden.
Selbstverständlich ist die Anwendung des Formaldehyds in allen
denjenigen Fällen wegen seiner stark bakterientötenden Tiefenwirkung
ausgeschlossen, in welchen eine nachträgliche kulturelle Unter¬
suchung auf lebende Bakterien vorgenommen werden soll.
Es möge daher in folgendem noch kurz skizziert werden, in
welcher Weise derartige Objekte am besten vorzubehandeln sind.
Natürlich ist hier schon den zur Aufnahme der Untersuchungsmateria¬
lien dienenden Gefässen ganz besondere Sorgfalt zuzuwenden. Ge¬
rade gegen diese Massregel wird am häufigsten gefehlt. Wie oft ge¬
langen grosse Flaschen, Krüge, Einmachgläser etc. mit irgend einer
bakteriologisch zu untersuchenden Flüssigkeit zur Einsendung und
erweisen sich, ins Laboratorium gebracht, als vollkommen unbrauch¬
bar, während wenige Tropfen, in der richtigen Weise eingesendet,
vollkommen genügt hätten, um ein vielleicht wichtiges Untersuchungs¬
ergebnis erzielen zu lassen.
Alle zu bakteriologischer Untersuchung bestimmten Objekte
sollen in sterilen Gefässen zur Einsendung kommen. Wo in
Krankenhäusern, Apotheken etc. Sterilisationsapparate nicht zur Ver¬
fügung stehen, da genügt zur Not das Auskochen der geöffneten Ge-
fässe und der zugehörigen Stöpsel in Wasser (15 — 20 Minuten vom
Moment des Kochens) oder trockenes Erhitzen im Backofen bei
mindestens 130° 1 Stunde lang.
Als Gefässe sollen für Gewebsstiicke, Dejektionen etc. weit¬
halsige Glasfläschchen, womöglich mit Glasstöpsel oder aber, wenn
solche nicht zu haben, mit neuen, gesunden Korken dienen. Die
Stöpsel und Korke müssen mit Pergamentpapier oder Schweinsblase
gut befestigt werden. Für Gewebsstiicke oder mit sterilen Watte¬
bauschen aufgenommene Materialien genügen auch häufig sterile Re¬
agenzgläser mit Watteverschluss, wenn sie in entsprechende Holz-
oder Blechhüllen bruchsicher eingepackt werden.
Für Flüssigkeiten (Blut, Urin, diarrhoischer Stuhl bei Cholera¬
verdacht) genügen sehr häufig die über-all leicht zu beschaffenden
Glaskapillaren. Man erhitzt eine gewöhnliche Glasröhre (sog.
Biegeröhre) über einer Gas- oder Spiritusflamme bis sie biegsam
weich geworden ist und zieht sie dann mit beiden Händen in einem
raschen Zug zu einem Kapillarrohr auseinander. Man erhält so mit
einem Zuge eine Haarröhre von etwa 1 m Länge, die man
in Stücke von ca. 10 cm Länge bricht und zur Bewahrung
ihrer durch die Erhitzung erreichten Sterilität am oberen
und unteren Ende je mit einem Tropfen Siegellack vorläufig
verschliesst oder einfach zuschmilzt. Im Momente des Ge¬
brauches bricht man die beiden verschlossenen Endstückchen ab,
lässt die (möglichst steril entnommene) Flüssigkeit durch die Wirkung
der Kapillarität von selbst einziehen, indem man das eine Ende ein¬
taucht, und verschliesst aufs neue oben und unten mit einem Tropfen
Siegellack. Natürlich müssen diese Kaoillaren mit besonderer Sorg¬
falt verpackt werden, am besten durch Einstellen in ein Reagenzglas,
das auch am Boden eine Watteeinlage trägt und Umhüllung mit ge¬
bohrter Holzkapsel.
An dieser Stelle mag erwähnt werden, dass die Uebersendung
von Fäzes zu bakteriologischer Untersuchung mit einer einzigen
Ausnahme so gut wie wertlos ist, besonders die zum Leidwesen der
Laboratoriumsbakteriologen ab und zu immer noch vorkommenden
Sendungen von Typhusstühlen ..zur gefl. Untersuchung auf Typhus¬
bazillen“ verfehlen ihren Zweck gründlich.
Wenn es wirklich einmal gelingt, aus solchen Fäzes Typhus¬
bazillen zu isolieren und einwandsfrei zu charakterisieren, so hat
das Ergebnis gewöhnlich nur mehr einen sehr problematischen Wert
und wenige Tropfen Blut von einem solchen Falle zur Einsendung ge¬
bracht, lassen die Diagnose unendlich viel schneller und sicherer
stellen.
*) Grigorjew: Ueber Konservierung von Organen und
Organinhalt zu nachträglicher mikroskopischer und chemischer Unter¬
suchung. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1905.
Die einzige Ausnahme bilden Stühle bei Choleraverdacht, beson¬
ders wenn sie die oft geschilderte „reiswasserähnliche Beschaffenheit“
zeigen, aber auch hier genügt 1 Esslöffel voll in steriler Glasflasche
oder einige Kapillaren. Handelt es sich um eine Leichenuntersuchung,
so wird am besten ein ca. 10 cm langes Stück einer unteren Ileum-
schlinge doppelt abgebunden und samt Inhalt uneröffnet über¬
sandt.
Gelegentlich bietet auch ein an Ort und Stelle angefertigtes
A usstrichpräparat dem Untersucher ganz unschätzbare
Dienste. Besonders bei Verdacht auf Cholera (Schleimflocke aus den
Dejektionen), auf Milzbrand, auf Diphtherie und auf Pest sollte die
Anfertigung dieses „primären Ausstrichpräparates“ niemals unter¬
lassen werden. Es mag freilich oft genug Vorkommen, dass dem
Arzte, besonders in anstrengender Landpraxis, Objektträger, Deck¬
gläser und Platinöse nicht zur Verfügung stehen — jedes einiger-
massen flache Stück Glas, wenn es nur sauber ist, zur Not ein
Scherben einer Fensterscheibe, gut geputzt, tut denselben Dienst. Zum
Ausstreichen bedient man sich eines Stückchens Draht, einer Haar¬
nadel oder Häckelnadel etc., die man über ein paar Zündhölzern aus¬
geglüht hat, streicht damit eine dünne Schicht auf das Glas und
schlägt dieses nach vollkommener Trocknung an der Luft in eine
mehrfache Lage von Schreibpapier. Das Ganze wird mit dem übrigen
kulturell zu untersuchenden Material signiert zur Einsendung ge¬
bracht.
Zu bemerken ist, dass alle diese „bakteriologischen“ Sendungen
fast ausnahmslos unbedingt in Eispackung zu geschehen haben, d. h.
immer, wenn die Lufttemperatur etwa 5° C. übersteigt, also wohl
zu allen Zeiten, mit Ausnahme der kältesten Wintermonate. Zur
Verhütung zu grossen Schmelzverlustes sollen die benutzten eishalti¬
gen Gefässe, Büchsen etc. mit schlechten Wärmeleitern, etwa Stroh,
umhüllt werden. Auch wird es sich empfehlen, tunlichst das Material
mit Nachtzügen zur Versendung zu bringen, namentlich im Sommer,
und jeder Sendung den Vermerk zu geben: „Durch Eilboten zu be¬
stellen“.
Zum Schlüsse mag noch eine kurze Angabe hier Platz finden be¬
züglich der Entnahme und Uebersendung von Material, welches auf
Sperma untersucht werden soll, also namentlich in gerichtlichen
Fällen, wenn der Verdacht auf einen geschlechtlichen Akt oder Miss¬
brauch besteht. Handelt es sich dabei um flüssiges, bezw. schlei¬
miges Material, so wird man dieses am besten in ein ganz sauberes
Gläschen aufnehmen; besteht die Befürchtung, dass geringe vor¬
handene Spuren auf dem Transport eintrocknen könnten, so wird man
diese am zweckmässigsten gleich mit kleinen ganz sauberen Leinwand¬
oder Baumwollstiickchen (ev. einem Stück eines reinen Taschen¬
tuches) aufsaugen, diese Stoffstückchen an der Luft trocknen lassen
und dann in ein Gläschen trocken verschliessen.
Die Spermatozoen lassen sich an solche Stoffteile angetrocknet
nach Jahren noch vollkommen unversehrt nachweisen.
Vertrocknete spermaverdächtige Flecke werden samt ihrer Un¬
terlage zur Einsendung gebracht.
Die Beziehungen zwischen Krebs und Tuberkulose.
Von Dr. med. Wilhelm Weinberg in Stuttgart.
In der Literatur über die Aetiologie des Krebses und der Tuber¬
kulose ist in den letzten Jahren mehrfach die Behauptung aufge¬
taucht, dass zwischen Krebs und Tuberkulose ein ätiologischer Zu¬
sammenhang bestehe. Ob solche Anschauungen schon früher auf¬
getaucht sind, kann hier nicht untersucht werden, ist übrigens schon
deswegen ohne Belang, weil aus früherer Zeit eine stichhaltige Be¬
gründung einer solchen Anschauung von vornherein aus den sich
im Folgenden ergebenden Gründen nicht erwartet werden darf,
etwaigen weiter zurückreichenden Arbeiten daher sicher nur rein
historische Bedeutung zukommt.
Für die genannten Beziehungen zwischen Krebs und Tuberkulose
werden als Beweis angeführt:
1. Das gleichzeitige Vorkommen von Krebs und Tuberkulose
an verschiedenen Organen eines und desselben Individuums.
2. Das Vorkommen tuberkulöser Prozesse in Krebsen und Sar¬
komen und das Entstehen von Krebs auf der Basis alter, zum Teil
auch verheilter, tuberkulöser Geschwüre, namentlich lupöser Haut¬
affektionen.
3. Das angeblich auffallend häufige Vorkommen von Krebs und
Tuberkulose in einer und derselben Familie auf hereditärer Grundlage.
Mit den beiden ersten Beweisen kann ich mich hier nur kurz
befassen.
Das gleichzeitige Vorkommen von Krebs und Tuberkulose an
verschiedenen Organen oder Organteilen desselben Individuums ist
eine Erscheinung, die bei der Häufigkeit sowohl der Tuberkulose
wie des Krebses mit einer gewissen Häufigkeit vom Standpunkt der
Wahrscheinlichkeitsrechnung aus erwartet werden muss, auch wenn
nicht die geringsten ätiologischen Beziehungen zwischen Krebs und
Tuberkulose bestehen. Im Ganzen muss ein solches Vorkommen
eher als verhältnismässig selten bezeichnet werden, wenn auch die
Anschauung von Rokitansky in dieser Hinsicht zu weit ging.
Williams findet bei 12,5 Proz. der Karzinomatösen obsolete
Tuberkulose, aber dürfte dieser Prozentsatz nicht auch bei allen das
74
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
gleiche hohe Durchschnittsalter wie die Krebstoten erreichenden Per¬
sonen, gefunden werden?
Das gleichzeitige Vorkommen von Krebs und Tuberkulose be¬
zeichnet auch Williams als Seltenheit. Riffel sieht in seinem
derartigen Vorkommen einen Beweis dafür, dass der Tuberkelbazillus
nur ein Saprophyt sei. Bei der grossen Häufigkeit sowohl der Tuber¬
kulose wie des Krebses spricht die tatsächliche Seltenheit des Zu¬
sammentreffens beider Prozesse in einem Organe eher gegen einen
kausalen Zusammenhang.
Die beiden genannten Vorkommnisse stehen nicht in einem
absoluten einheitlichen Zusammenhang mit der als dritten Beweis an¬
geführten angeblichen Tatsache, eine endgültige Bestätigung oder
Verneinung der letzteren würde daher das Urteil über die beiden
erstgenannten Beobachtungen nicht völlig bestimmen, lediglich im
positiven Fall würde der Versuch einer einheitlichen Zusammen¬
fassung aller Beobachtungen Berechtigung haben.
Die angebliche Tatsache des gehäuften Vorkommens von Krebs
und Tuberkulose in einer Familie ist im Gegensatz zu den beiden
oben angeführten Beweisen ein Gegenstand, der sich, wenn auch
nicht ohne Mühe, nach den Methoden der Statistik beurteilen lässt.
Die Entstehung diser Lehre führt Reiche auf R. Williams zurück,
der 189-4 eine Arbeit, betitelt Cancer and tubercel, veröffentlichte. In
Deutschland ist indessen Riffel bereits 1890, dann 1892, 1901 und
1905 mit dieser Anschauung aufgetreten. Es ist daher billig, dass
man sich zunächst mit diesem Autor beschäftigt.
Riffel sucht mit immer neuem Material auf Grund der Todes¬
ursachen gegen diesen nach derselben Methode nachzuweisen, dass
in den Familien Tuberkulöser Krebs, Taubstummheit, Puerperalfieber,
Geisteskrankheiten, Typhus, Pneumonie, Arthritis deform, und dergl.
auch auffallend häufig vorkommt.
1890 äusserte er sich über die Beziehungen zwischen Tuber¬
kulose und Krebs wie folgt:
„Am meisten ist mir aufgefallen, dass ferner 86 Proz. aller Magen¬
krebse und der einzige Fall von Krebs eines anderen Organs (Mastdarm¬
krebs), welche seit 1852 in dem Orte vorkamen, ebenfalls schwind¬
süchtigen Familien angehören, und dass Magenkrebs und Lungen¬
sucht in einzelnen Fällen derart vorkamen, dass von Geschwistern
das eine an Magenkrebs, das andere an Lungenschwindsucht starb.
In welchem Zusammenhang nun Schwindsucht und Magenkrebs
zu einander stehen, darüber könnte ich bis jetzt nur Vermutungen
aussprechen. Zufall möchte ich aber diese Erscheinung ebenfalls
nicht nennen, weil sie zu häufig vorkommt und weil ich auch an
anderen Orten und bei meiner ärztlichen Praxis überhaupt gefunden
habe, dass an Magenkrebs Leidende in der Regel schwindsüchtigen
Familien angehören.“
1892: „Ausser den tuberkulösen resp. skrophulösen Entzündungen
der Augen, Drüsen, Gelenke und Knochen kommen bei schwind¬
süchtigen Familien auch andere Krankheiten häufig vor, wie Apoplexia,
Carcinoma ventriculi, Lungenerkrankungen“.
1901: „Auffallend ist ferner, dass weitaus die meisten hier ver-
zeichneten Krebsfälle Familien angehören, in denen zugleich auch
Schwindsucht vorkommt. . . . Ersteres lässt den Schluss zu, dass
Schwindsucht und Krebs in einem gewissen Zusammenhänge stehen
dürften oder dass derselbe Boden ihrer Entwicklung günstig ist.
Ohne mich in Erklärungsversuche zu ergehen, möchte ich nur an
die Hinfälligkeit der Krebszellen und an die des Lungengewebes bei
der floriden Phthise erinnern. . . . Das grösste Kontingent an Krebs
liefert das Alter der regressiven Metamorphose, die bei dem einen
früher, bei dem andern später auftritt. Ob nun der Krebs des¬
wegen bei schwindsüchtigen Familien so häufig vorkommt, weil bei
diesen der Rückgang der Kräfte und der Widerstandskraft sich früher
einstellt, als bei gesunden Familien, diese Frage lasse ich offen. Soviel
scheint mir aber sicher zu sein, dass auch der Krebs für seine Ent¬
stehung und Entwicklung eine bestimmte Eigenschaft des Gewebes
und der Zellen verlangt.“
1905: „Dass in manchen Familien häufig auch Krebs, Apoplexie,
Puerperalfieber, Geisteskrankheiten und sonstige Defekte Vor¬
kommen“.
Der von Riffel vermeintlich geführte Nachweis eines be¬
sonders häufigen Vorkommens von Krebs in tuberkulösen Familien
beruht auf derselben Methode wie sein Versuch, die Vererbung der
Tuberkulose nachzuweisen, steht und fällt also mit diesem. Im We¬
sentlichen besteht diese Methode darin, dass die Stammbäume ganzer
Dörfer hergestellt werden und in den Familien Tuberkulöser das Vor¬
kommen weiterer Tuberkulosefälle nachgewiesen ist, was dann bei in
Frage kommender Infektion als das Ausschlaggebende betrachtet wird.
Da Riffel den Begriff der Vererbung sehr weit fasst und sich
nicht bloss auf die Untersuchung der Verhältnisse bei Eltern und
Geschwistern beschränkt, so erscheinen die meisten Familien der
untersuchten Orte als tuberkulös und dementsprechend ist auch die
überwiegende Mehrzahl der Krebse in solchen als tuberkulös bezeich-
neten Familien zu finden. Auf einen Vergleich der Verhältniszahlen
von Krebsfällen zur Gesamtzahl der Personen in tuberkulösen und
nichttuberkulösen Familien unter gebührender Berücksichtigung des
Alters lässt sich Riffel ein. Sein Verfahren ist im Grunde ein
Sammeln zahlreicher Kasuistik und entbehrt jeder statistischen Unter¬
suchungsmethodik.
Wie wir später sehen werden, kann auch das Material von
vier Dörfern zur Entscheidung derartiger Fragen bei weitem nicht
ausreichen.
Anders ist Williams vorgegangen. Von seinen zahlreichen
Schriften über den vorliegenden Gegenstand ist die wichtigste die
unter dem Titel „Observations on the general pathology of Cancer,
especially of the breast“ erschienen, speziell das 4. Kapitel Family
Hereditary proclivities correlated with cancer, Medical chronicle,
Bd. 17, S. 2 — 3, erschienen Juni 1893. Er findet in 55 Proz. der
Familien Brustkrebskranker Tuberkuloseerkrankungen angegeben,
und in ähnlichem Verhältnis auch bei anderen Krebslokalisationen,
und vergleicht diese Zahl mit den 44 Proz. Familienbelastung durch
Phthise, welche Thompson (Family Phthisis, London 1885) bei
5000 Tuberkulösen fand (bezw. 58 Proz. bei den Frauen allein). Im
Gegensatz dazu betrage die Tuberkulosebelastung bei 409 nicht
schwindsüchtigen Angehörigen der Lebensversicherung nach D o r c y
nur 10,8 Proz.
Bei 88 Familien mit genau gezählter Kinderzahl findet Wil¬
liams unter 774 Brüdern und Schwestern Krebskranker 19 Todes¬
fälle an Tuberkulose oder einen auf 19, während die allgemeine
Tuberkulosesterblichkeit 1:570 betrage, ebenso bei 154 Todesfällen
von Brustkrebskranken 40 Fälle mit Phthise oder einen auf 3,8 Todes¬
fälle, während unter den Todesfällen überhaupt die Tuberkulose nur
den 11. Teil ausmache.
Diese Vergleiche sind durchaus hinfällig. Die Krebskranken sind
durchschnittlich wesentlich älter als die Tuberkulösen, dement¬
sprechend liegt auch das Geburtsjahr ihrer Familienmitglieder weiter
zurück und ist die Uebersicht über deren Schicksal vollständiger
als bei den Tuberkulösen. Anamnesen, die bei der Aufnahme in die
Lebensversicherung erhoben werden, sind natürlich weit unvoll¬
ständiger als Anamnesen, die erst beim Eintritt der Krankheit ge¬
macht werden, da die Familie um dieselbe Zahl an Jahren altert,
wie das ihr angehörige befragte Individuum.
Ebenso unrichtig ist es, den Prozentsatz, der im Laufe einer Reihe
von Jahren bei denselben Individuen, den Geschwistern Krebskranker,
vorkommenden Todesfälle an Tuberkulose zu berechnen, indem man
deren Zahl durch die Zahl der Individuen und nicht auch durch die
durchschnittliche Zahl der Beobachtungsjahre multipliziert, und dieses
Verhältnis mit der Tuberkulosesterblichkeit einer Gesamtbevölke¬
rung während eines einzigen Beobachtungsjahres zu vergleichen.
Ebenso falsch ist es, die Häufigkeit der Tuberkulose unter den Todes¬
fällen der Eltern und erwachsenen Geschwister Krebskranker, die
lediglich von Williams berücksichtigt werden, mit deren Häufig¬
keit unter den Todesfällen einer gesamten, auch die Kinder umfassen¬
den Bevölkerung zu vergleichen.
Ich verzichte daher darauf, die von Williams aufgestellten
Sätze über die Beziehungen zwischen Tuberkulose und Krebs hier
wiederzugeben.
Auch C r o n e r, der das Material zweier Lebensversicherungs¬
gesellschaften bearbeitet hat, spricht wie Williams von einem
Alternieren von Krebs und Tuberkulose. Da er den Einfluss des
Alters bei seinen Untersuchungen über den Beruf der Tuberkulösen
und Krebskranken nicht berücksichtigt hat, so ist aber nicht bewiesen,
dass hier ein innerer Zusammenhang besteht.
Mehr Beachtung verdienen seine Zahlen über die erbliche Be¬
lastung mit Krebs und Tuberkulose. Er findet bei den Familien der
Phthisiker in 13,7 Proz. Krebs, bei den Familien der Krebskranken
in 22,7 Proz. Phthise; hingegen bei 252 weder an Tuberkulose noch
an Krebs gestorbenen Versicherten nur 5,3 Proz. Krebs und 19,3 Proz.
Tuberkulose, und erklärt dieses Verhältnis damit, dass es zur Akqui¬
sition einer von beiden Infektionskrankheiten genüge, wenn die Kin¬
der einen im allgemeinen oder in irgend einem Organ weniger re¬
sistenten Körper haben.
So plausibel diese Erklärung ist, so darf man sich nicht ver¬
hehlen, dass bis jetzt die Vererbung der verschiedenen Widerstands¬
kraft gegen Krebs oder Tuberkulose keineswegs mit einer irgend¬
wie einwandfreien Methode bewiesen ist. Bei dem ziemlich ver¬
schiedenen Durchschnittsalter der an Krebs und Tuberkulose Ster¬
benden ist der geringe Unterschied der Prozentsätze erblicher Be¬
lastung mit Tuberkulose bei an Krebs und nicht an Krebs Ge¬
storbenen ohne jeden Belang.
Hingegen ist der Unterschied zwischen der Krebsbelastung der
1 uberkulösen und Nichttuberkulösen allerdings bedeutend, beruht
aber auf nur sehr wenigen Beobachtungen bei den Nichttuberkulösen.
Nach einer anderen, auf demselben Material beruhenden Sta¬
tistik betragen die Zahlen statt 13,7 Proz. nur 7,6 Proz. und statt
5,3 Proz. nur 3,6 Proz., das würde bei 252 Anamnesen Nichttuberku¬
löser nur 9 Familien mit Belastung durch Krebs ergeben, also eine
absolut dem Spiel des Zufalls stark ausgesetzte' Zahl. Insofern be¬
darf jedenfalls das Ergebnis der Arbeit von Croner noch weiterer
Prüfung.
Ebensowenig beweiskräftig ist die Angabe von Jacob und
P a n n w i t z, die unter den Todesursachen der Eltern von Phthisikern
Pan n witz und W o 1 f f, die unter den Todesursachen der Eltern
von Phthisikern 7,5 Proz. Karzinome, bezw. sogar 10 Proz. fanden.
Mit Kasuistiken, wie sie Aronsohn mehrfach anführt, kann
natürlich gar nichts bewiesen werden, denn sie ignorieren stets die
zahlreichen Fälle, wo Zusammentreffen von Krebs und Tuberkulose
in einer Familie nicht vorkam.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1475
Der Begriff der Belastung durch die Familie ist überhaupt sehr
ungenau, der eine zählt nur Eltern und Geschwister, der andere Gross¬
eltern und weitläufige Verwandte zur Familie, es müsste mindestens
die Zahl der in jeder Familie gezählten Individuen bekannt sein, wenn
man zu einem sicheren Ergebnis gelangen will. Bei Krankheiten, wie
Krebs und Tuberkulose, bei deren I^ptstehung das Alter eine so grosse
Rolle spielt, muss auch dessen Einfluss berücksichtigt werden, und
mit Rücksicht auf die soziale Bedeutung der Tuberkulose darf auch
das soziale Moment nicht vernachlässigt werden.
Ich habe bereits in meiner Arbeit über pathologische Vererbung
und genealogische Statistik einen Weg angegeben, um diesen beiden
Faktoren bei der statistischen Behandlung des pathologischen Ver¬
erbungsproblems gerecht zu werden.
Die Methode besteht darin, dass man die erbliche Belastung der
Kranken durch die eigene Familie und die ihrer Ehdgatten vergleicht,
und zwar unter genauer Feststellung der Zahl, Geburtszeit und des
erreichten Lebensalters sowie der Todesursachen dieser Verwandt¬
schaft auf Grund möglichst aktenmässigen Materials.
Mit Hilfe dieser Methode und der Einrichtung der wiirttem-
bergischen Familienregister habe ich auf Grund der Stuttgarter
Todesfälle das Problem der Vererbung des Krebses bei Eltern und
Geschwistern Krebskranker untersucht und werde demnächst auch
eine ähnliche Arbeit über die Vererbung bei Tuberkulose veröffent¬
lichen.
Die Methode eignet sich auch für die Lösung des Problems der
erblichen Beziehungen zwischen Krebs und Tuberkulose, indem bei
den Eltern und Geschwistern sowohl der Krebskranken als ihrer
Ehegatten die Häufigkeit der Tuberkulose und entsprechend bei den
Verwandten der Tuberkulösen die Häufigkeit des Krebses fest¬
gestellt werden kann.
Ich habe zunächst nur den erstereti Weg verfolgt und auch diese
Untersuchung auf die Geschwister beschränkt, letzteres deshalb,
weil über die weniger weit zurückliegenden Todesursachen der Ge¬
schwister genauere Aufschlüsse zu erhalten sind, als über die weiter
zurückliegenden der Eltern und weil erstere auch eine grössere Zahl
ausmachen.
Ich bin in der Art vorgegangen, dass ich in die Erblichkeits¬
zählkarten der Personen, die in Stuttgart von 1873 bis 1902 an Krebs
starben, die bis Ende 1902 in Stuttgart oder auswärts, aber innerhalb
Württembergs, bekannt gewordenen Todesursachen eintrug, soweit
sie über 1 Jahr alt gewordene Personen betrafen. Ich habe hier nur
diejenigen Erblichkeitszählkarten ausgewählt, die für Eltern oder
Schwiegereltern Krebskranker aus den Stuttgarter Familienregistern
ohne Vororte gewonnen werden konnten, während meine Unter¬
suchung über die Vererbung des Krebses allein sich auch auf die
Familienregister der Vororte bezieht. Hingegen sind diesmal auch
die vor 1873 bekannt gewordenen Todesursachen eingetragen, so dass
diesmal ein vollständiges Bild der Geschichte der untersuchten Ge¬
schwister der Krebstoten und ihrer Ehegatten vorliegt, während
bezüglich der Vererbung des Krebses allein die Untersuchung nicht
nur auf die Todesfälle im Zeitraum 1873 bis 1902 bezog.
Die Ergebnisse sind in den beiden Tabellen A und B niedergelegt.
Tabelle A gibt Auskunft über die Geburtsjahre der Geschwister
der Krebstoten und der Ehegatten Krebstoter. Jedes Individuum ist
so oft gezählt, als es mit einer in Stuttgart von 1873 bis 1902 ge¬
storbenen Person geschwisterlich oder schwägerlich verwandt war.
Dasselbe gilt für Tabelle B, welche Uebersicht über die Todesfälle
und Todesursachen nach Alter und Geschlecht gibt.
Aus Tabelle A wurde die durchschnittliche Entfernung der Ge¬
burtsjahre der Lebendgeborenen vom Ende des Zeitraums, über den
sich die Untersuchung erstreckt, also vom 31. Dezember 1902, be¬
rechnet.
Tabelle A.
Die Verteilung der Geschwister der Krebstoten und ihrer Ehefrauen
nach Geburtsjahren.
in den
Jahrzehnten
Brüdern
Es sind geboren von den
Schwestern | Schwägern
der Krebstoten
Schwäge¬
rinnen
lebend
tot
lebend
tot
lebend
tot
lebend
tot
1773— 1782
2
—
3
—
—
—
1
—
1783—179 2
10
—
7
—
5
—
16
—
1793—1802
36
—
49
—
51
1
62
—
1803—1812
108
—
94
3
137
—
153
3
1813—1822
208
2
187
— ■
170
1
171
2
1823—1832
367
10
351
7
315
17
309
7
1833—1842
345
15
335
12
321
17
317
12
1843— 1852
202
18
203
13
248
10
260
11
1853—1862
95
14
77
2
111
4
120
2
1863— 1872
22
3
30
—
47
—
39
1
1873—1882
10
—
4
—
9
—
7
—
1883— 1892
4
—
3
—
—
—
2
—
1893—1902
2
1
—
■ - *
1
““““
1
insgesamt
1411
53
1343
37
1414
50
1457
38
(Tabelle B siehe nächste Seite.)
Diese betrug für die lebendgeborenen
Brüder
der Krebstoten 69,8 Jahre
Schwäger
„ „ 69,9 „
Schwestern
„ „ 70,8 „
Schwägerinnen
» >i 70,4 „
Die Beobachtungsdauer der miteinander zu vergleichenden Kate¬
gorien stimmt also genügend überein, um einen wesentlichen Einfluss
der Beobachtungsdauer auf die Unterschiede in deren Sterblichkeit
auszuschliessen. Aus den Untersuchungen über die Vererbung des
Krebses allein hat sich weiterhin ergeben, dass die Wanderungen
bei beiden zu vergleichenden Kategorien eben gleich häufig sind.
Der Einfluss der Wanderungen ist bei diesen Untersuchungen noch
geringer anzuschlagen, weil diesmal auch die sonst irgendwo in
Württemberg erfolgten Todesfälle auf ihre Todesursache untersucht
wurden, während früher nur die Todesfälle in Stuttgart selbst fest¬
gestellt wurden. Der Einfluss der sozialen Stellung, der bei Krebs
ohnehin nicht wesentlich in Betracht kommt, ist dadurch aus¬
geschlossen, dass angenommen wurde, dass die Ehegatten der Krebs¬
toten zumeist aus denselben sozialen Schichten stammten wie die
Krebstoten selbst und dass sich die Differenzen der sozialen Niveaus,
die in den einzelnen Fällen vorhanden waren, im Durchschnitt aller
Fälle wieder ausgleichen.
Es ist auf Grund der Gleichheit des Alteraufbaues der Geburts¬
jahre anzunehmen, dass die Untersuchung sich bei den zu ver¬
gleichenden Kategorien auf eine pro Kopf gleiche Anzahl von Be¬
obachtungsjahren bezieht, sofern nicht etwa häufige Todesfälle auf
einer Seite diese verändert haben sollten.
Zunächst ergibt sich, dass die Totgeburtenziffern der Geschwister
der Krebstoten und der Ehegatten Krebstoter nur unwesentlich
differieren, sie betrugen 3,15 Proz. und 2,97 Proz. und müssen leider
mit Rücksicht darauf, dass die Geburtsjahre noch in das 18. Jahr¬
hundert zurückreichen, eher als niedrig bezeichnet werden.
Dies hängt mit folgendem zusammen: Bei Berücksichtigung des
Einflusses des Alters glichen sich nach meinen Untersuchungen
die Unterschiede in der Krebssterblichkeit der sozialen Klassen aus,
aber da die Mehrzahl der Krebstodesfälle in ein hohes Alter fällt,
in dem die höheren sozialen Schichten stärker vertreten sind wie
bei der Gesamtbevölkerung, so sind diese nach der Gesamtheit der
Krebsfälle ohne Berücksichtigung der Alter zu stark vertreten und der
günstige solide Durchschnitt der Krebstoten drückt auch ihre Tot¬
geburtenziffer herab.
Von den lebendgeborenen Geschwistern
der Krebstoten der Ehegatten Krebstoter
starben im ersten Lebensjahre 21,2 °/o 21,1 °,'o.
Auch hier ist kein Unterschied zu konstatieren. Diese Gleich¬
heit der Kindersterblichkeit und der Totgeburten beweist die nahe
Uebereinstimmung des sozialen Durchschnitts der Familien der
Krebstoten und ihrer Ehegatten.
Nach dem ersten Lebenjahre waren noch am Leben 1078 Brüder,
1092 Schwestern, 1077 Schwäger, 1187 Schwägerinnen.
Es starben bis Ende 1902 überhaupt an den über 1 Jahr alt ge¬
wordenen
Brüdern Schwestern Schwägern Schwägerinnen
60,9 °/o 55,2% 62,2 <>/o 54,5 %
58,1 % 58,1 %
Auch hier erscheint der Unterschied = Null. Es muss jedoch
bemerkt werden, dass bei der relativ grösseren Anzahl von Frauen
unter den Geschwistern der Ehegatten Krebstoter deren Sterbeziffer
eigentlich etwas geringer sein müsste.
Auf die einzelnen Alter verteilen sich die Sterbeziffern, ohne
Berücksichtigung der Fälle mit unbekanntem Alter beim Tode, wie
folgt:
Es starben von den über 1 Jahr alt gewordenen Geschwistern
der Krebstoten der Ehegatten Krebstoter
im 2. — 15. Lebensjahre 12,2% 14,0 °/o
„ 16.— 50. „ 19,6 °o 21,2%
„ 51.— 60. „ 24,5 % 22,3%
Die Geschwister der Ehegatten Krebstoter sind also etwas
jünger gestorben als deren eigene Geschwister.
Ueber die Verteilung der Todesursachen erhält man folgendes
Bild:
Es starben von den Geschwistern der
Krebstoten
an Krebs .
an sicherer Tuberkulose . . .
an Tuberkulose einschliesslich un¬
sicherer Fälle .
72 = 3,3 %
76 = 3,5 %
192 = 8,8 %
Ehegatten Krebstoter
53= 2,3 %
108= 4,8%
240 = 10,5 %.
Demnach erscheint die Tuberkulosesterblichkeit der Geschwister
Krebstoter geringer als die der Geschwister ihrer Ehegatten, und
zwar sowohl mit als ohne Zählung der unsicheren Fälle. Zu dem¬
selben Ergebnis würde man auch bei lediglicher Zählung der Todes¬
fälle bei den Erwachsenen gelangen. Lediglich die Krebssterblich¬
keit erscheint bei den Geschwistern der Krebstoten wesentlich er¬
höht. Letzteres mag teilweise mit dem durchschnittlich höheren
Alter beim Tode Zusammenhängen. Einen sicheren Beweis für die
Vererbung des Krebses darf man hierin bei der geringen absoluten
Grösse der Zahlen noch nicht erblicken.
1476
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Tabelle B.
Todesursachen und Alter beim Tod.
a) bei den Geschwistern der Krebskranken:
Von den Brüdern starben an
Von den
S c h w4e Stern
starben
an
im
vollendeten
Alter
Krebs
Tuber¬
kulose
Magen¬
leiden
Brust¬
leiden
Drüsen¬
leiden
Ab¬
zehrung
Menin¬
gitis
allen
Ursachen
Krebs
Tuber¬
kulose
Magen¬
leiden
Brust¬
leiden
Drüsen¬
leiden
Ab¬
zehrung
Hirn¬
ent¬
zündung
allen
Ursachen
0 Jahre
333
#
251
1— 4 „
_
_
1
—
1
13
9
86
—
—
—
1
—
8
5
110
5— 9 „
_
_
1
—
2
3
2
30
—
2
—
—
—
2
2
20
10—14 „
—
—
—
- -
—
1
—
24
—
4
—
—
—
3
1
18
15—19 „
—
1
1
—
—
2
—
18
—
1
—
—
—
1
2
16
20—29 „
—
15
—
1
—
7
—
60
1
5
—
1
—
8
—
63
30—39 „
—
15
1
1
—
3
2
71
6
9
—
1
6
—
60
40—49 „
1
11
5
—
—
4
1
86
7
3
1
1
5
—
52
50—59 „
3
7
1
—
—
2
—
109
13
5
—
1
—
2
—
65
60 — 69 „
6
1
1
—
—
2
—
86
22
1
—
—
—
—
—
106
70—79 „
3
—
—
—
—
—
—
61
8
—
—
—
—
—
—
68
80—89 „
—
- -
—
—
—
—
—
16
2
—
—
—
—
—
—
22
90—99 „
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
unbestimmt
—
—
—
—
—
—
—
10
—
—
—
—
—
—
—
4
insgesamt
13
50
11
2
3
37
14
990
59
26
1
5
—
35
10
855
b) bei den Geschwistern der Ehegatten Krebskranker:
Von den
Schwägern starben
an
Von
den Schwägerinnen starben an
im
vollendeten
Alter
Krebs
Tuber¬
kulose
Magen¬
leiden
Brust¬
leiden
Drüsen-
lciden
Ab¬
zehrung
Menin¬
gitis
allen
Ursachen
Krebs
Tuber¬
kulose
Magen¬
leiden
Brust¬
leiden
Drüsen¬
leiden
Ab¬
zehrung
Menin¬
gitis
allen
Ursachen
0 Jahre
337
.
270
1- 4 „
—
1
—
—
—
9
10
100
—
—
—
—
1
18
7
117
5- 9 „
—
1
1
—
1
2
3
30
—
1
—
—
—
4
—
26
10-14 „
—
1
—
—
—
1
—
16
—
1
—
—1
—
6
2
29
15-19 „
—
2
—
—
—
3
1
17
—
2
—
—
—
—
—
19
20—29 ,
—
14
—
2
—
9
2
75
1
9
—
2
—
8
1
55
30—39 „
1
11
—
1
—
5
1
86
—
11
—
2
—
5
—
53
40—49 „
2
18
1
2
—
4
1
99
4
13
—
2
—
2
—
77
50—59 „
5
8
—
2
—
1
—
77
17
6
—
—
—
6
—
91
60 — 69
7
6
—
1
. -
—
85
8
3
—
1
—
1
1
91
70—79 „
4
—
—
—
—
—
60
3
—
—
—
—
—
—
60
80—89 „
■ —
—
—
—
—
—
—
16
1
—
—
—
—
—
—
24
90—99 „
—
—
—
—
—
—
—
1
—
—
—
—
—
—
—
—
unbestimmt
—
—
—
—
—
—
—
8
—
—
—
—
—
—
—
4
insgesamt
19
62
2
8
1
34
18
1007
33
46
—
7
1
50
11
916
Jedenfalls ist aber hiermit bis auf weiteres die erbliche Be¬
lastung der Krebstoten mit Tuberkulose mit mindestens gleicher,
wenn nicht wesentlich grösserer Sicherheit widerlegt, wie die Ver¬
erbung des Krebses erwiesen ist.
An künftige Untersuchungen über diesen Gegenstand stelle ich
die Forderung, dass sie ebenfalls, wie ich, den Einfluss des Alters
und sozialer Einflüsse auszuschalten haben und ein grösseres und be¬
züglich der Zuverlässigkeit der Daten mindestens dem meinen gleich¬
wertiges Material beizubringen haben, wenn mein negatives Ergebnis
widerlegt werden soll.
Weiterhin wäre eine Untersuchung mit Trennung der Verhält¬
nisse bei der Verwandtschaft der Krebsfälle unter und über 50 Jahren
wünschenswert, und zwar nicht etwa in der Weise, dass man die
Häufigkeit der Familienbelastung mit Tuberkulose bei jüngeren und
älteren Krebstoten vergleicht, denn etwaige Unterschiede zu Un¬
gunsten der Jungen werden sich durch die Differenzen des sozialen
Durchschnittsniveaus der jüngeren und Krebstoten zur Genüge er¬
klären. Vielmehr müsste festgestellt werden, ob sich bei den Ge¬
schwistern jüngerer Krebstoter und denen ihrer Ehegatten ein- er¬
heblicherer Unterschied in der Tuberkulosesterblichkeit nachweisen
lässt als bei den entsprechenden Kategorien der Verwandtschaft älterer
Krebstoter. Ein von mir angestellter Versuch, mein Material in
diesem Sinne geteilt zu untersuchen, hatte einen negativen Erfolg,
aber dazu reicht es vermöge seiner Grösse auch nicht aus. Hiezu
wäre die Anamnese von mindestens 1500 Krebstoten nötig.
Literatur:
Aronsohn: 1. Beziehungen zwischen Tuberkulose und Krebs,
Deutsche med. Wochenschr. 1902, No. 47. 2. Tuberkulose und Krebs
in derselben Familie. Ebenda 1903, No. 26. — Croner: 1. Beitrag
zur Pathologie des Karzinoms. Ergänzungsband zum klinischen
Jahrbuch 1902, Jena. 2. Tabelle über 612 Fälle von Phthisis
Dulmonum aus zwei Lebensversicherungsgesellschaften, siehe Jacob
und Pannwitz. — Jacob und Pannwitz: Entstehung und
Bekämpfung der Tuberkulose. 1. 1901. — A. W o 1 f f : Die moderne Be¬
handlung der Lungenschwindsucht. Wiesbaden 1894. — Reiche:
1. Die Erfolge der Heilstättenbehandlung Lungenschwindsüchtiger
und klinische Bemerkungen zur Tuberculosis pulmonum. Deutsche
med. Wochenschr. 1894, No. 34. 2. Die Bedeutung der erblichen Be¬
lastung bei der Lungenschwindsucht. Zeitschr. f. Tuberkulose und
Heilstättenwesen. Bd. I, 1900. — Riffel: 1. Die Erblichkeit der
Lungenschwindsucht und tuberkulösen Prozesse. Karlsruhe 1890.
2. Mitteilungen über die Erblichkeit der Infektiosität der Lungen¬
schwindsucht. Braunschweig 1892. 3. Weitere pathogenetische Stu¬
dien über Schwindsucht und Krebs. Frankfurt 1901. 4. Schwindsucht
und Krebs im Lichte vergleichend-statistisch-genealogischer For¬
schung. Karlsruhe 1905. — Rokitansky: Ueber Karzinom und
wechselseitige Ausschliessung verschiedener Krankheiten. — Schlü¬
ter: Die Anlage zur Tuberkulose. Wien 1905. — Turban: Bei¬
träge zur Kenntnis der Lungentuberkulose. Wiesbaden 1899. —
W. Weinberg: Pathologische Vererbung und genealogische Sta¬
tistik. Archiv f. klin. Medizin. — Weinberg und Gastpar:
Die bösartigen Neubildungen in Stuttgart 1873 — 1902. Zeitschr. f.
Krebsforschung. II. 1904. — Williams R. : 1. Middlesex hospital
reports 1882 — 1889. 2. Cancer and Phthisis as correlated diseases
The Lancet. 14. V. 1887. 3. The family historys of cancer patients.
Ebenda. 23. I. 1886. 4. Hereditary proclivities correlated with
cancer. Medical chrotiicle, Bd. 17, 1892. 5. Diseases of the breast.
6. Cancr- and tubercle. The Lancet. 22. XII. 1894.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1477
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Psychiatrie und Neurologie.
Bemerkungen zu dem Aufsatz Quinckes: „Speziali¬
täten und S p e z i a 1 ä r z t e“ in dieser Wochenschrift.
Von Prof. E. Meyer in Königsberg i. Pr.
„Spezialitäten und Spezialärzte“, so nennt sich ein Aufsatz
Quinckes, der vor kurzem in dieser Wochenschrift erschienen
ist. Die Ausführungen Quinckes, die ja in vielen Punkten all¬
gemeiner Anerkennung sicher sind, vor allem, wo sie dem Hausarzt
die gebührende Stellung zu geben sich bemühen, haben mich durch
die Schärfe befremdet, mit der sich Quincke gegen die Vereini¬
gung von Psychiatrie und Neurologie wendet. Vielleicht wäre es
richtiger, darauf nicht zu antworten, die Dinge selbst antworten zu
lassen, jedoch veranlasst mich ein lokales Ereignis, das sich gerade
jetzt abgespielt hat, vom Standpunkt des Psychiaters „mit dem Lehr¬
auftrag für Nervenkrankheiten“ dagegen Stellung zu nehmen. Der
seit 13 Jahren bestehende Nordostdeutsche psychiatrische Verein hat
in seiner diesjährigen Sitzung beschlossen, sich von jetzt an: „Nord¬
ostdeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie“ zu nennen. Wie
gesagt, ein Beschluss von rein lokaler Bedeutung, aber doch be¬
zeichnend für die Zeitströmung und interessant, weil er nicht von
speziell psychiatrischer Seite ausging.
Nach Quincke „gehören die Nervenkranken zur inneren
Klinik“. Ein Fernerstehender könnte bei der immer wiederkehrenden
Abwehr Quinckes gegen die Psychiater fast glauben, den inneren
Klinikern seien schon sämtliche Nervenkranke abwendig gemacht,
doch fühlt man sich wieder beruhigt, wenn man liest, dass in der
Quincke sehen Klinik die Nervenfälle 25 — 30 Proz. der vorge¬
stellten Kranken ausmachen, obwohl in Kiel eine der vielgeschmähten
psychiatrischen und Nervenkliniken besteht. Es ist das ja für die
Studierenden der Medizin in Kiel nur sehr erfreulich, wenn sie so
mannigfachen Unterricht im Gebiete der Nervenkrankheiten erhalten.
Nun, im Ernst wird es natürlich keinem Psychiater einfallen,
dem inneren Kliniker etwa die Erforschung und Behandlung von
Nervenkranken absprechen zu wollen, mir am allerwenigsten, der
ich den Vorzug habe, mit einem inneren Kliniker, von Weltruf gerade
auf dem Gebiete der Nervenkrankheiten, zusammenzuwirken. Es
hiesse aber die Dinge auf den Kopf stellen, wollten wir leugnen, dass
die Geistes- und Nervenkrankheiten unendlich vielfache, enge Be¬
ziehungen zueinander haben.
Nur Weniges sei hier zum Ueberfluss genannt!
Ganz davon abgesehen, dass Geisteskrankheiten ja Gehirnkrank¬
heiten sind, so steht von den durch Gehirnkrankheiten bedingten
Störungen die Aphasie in engster Beziehung zu den Geisteskrank¬
heiten; hat doch Wern icke gerade sie als Ausgangspunkt für
das Verständnis der Geisteskrankheiten gewählt. Zahlreiche Gehirn¬
krankheiten, Apoplexien, Erweichungen, Tumoren etc. sind oft mit
psychischen Störungen verbunden. Eine der verbreitetsten Geistes-'
krankheiten, die Dementia paralytica, die übrigens als Gehirnkrank¬
heit in Lehrbüchern der inneren Medizin aufgeführt zu werden pflegt,
geht mit den ausgedehntesten Veränderungen am Rückenmark und
den peripheren Nerven einher; der Alcoholismus chronicus, die
Grundlage von ca. 20 — 30 Proz. unserer Geisteskrankheiten, führt
ebenfalls zu den verschiedenartigsten Störungen des Nervensystems.
Ein Beispiel ist der alkoholische Korsakow sehe Symptomen-
komplex mit Neuritis usw. Wir müssten mit geschlossenen Augen
durch unsere Abteilungen gehen, wenn bei uns nicht durch die auf
Schritt und Tritt uns bei unseren Kranken begegnenden Erkran¬
kungen des Nervensystems ein lebhaftes Interesse für dieselben er¬
weckt würde, wenn wir nicht vielfache Erfahrungen darüber
sammelten.
In noch viel höherem Masse gilt alles das von den funktionellen
Nervenkrankheiten, der Epilepsie, Hysterie und Neurasthenie, wie
das von manchen Klinikern ohne weiteres, in beschränktem Umfange
auch von Quincke anerkannt wird.
Ich stehe daher nicht an, zu behaupten, dass der Psychiater ge¬
wisse neurologische Kenntnisse, die weit über die Anforderungen, die
etwa an den Praktiker gestellt werden, hinausgehen, haben muss.
Man missverstehe mich nicht! Wir wollen — es kann das nicht
genug betont werden — dem inneren Kliniker die Nervenkrankheiten
nicht entziehen, wir wollen uns nur an ihrer Erforschung beteiligen,
und dazu fühlen wir uns eben durch das häufige Vorkommen nervöser
Erkrankungen bei Geisteskranken, durch das besonders ausgedehnte
Grenzland beider berechtigt, ja zum Wohle unserer Kranken ver¬
pflichtet.
Dass die Beschäftigung der Psychiater mit den Nervenkrank¬
heiten die Erforschung dieser nicht gerade gehemmt hat, dafür ge¬
nügt es wohl, Namen wie W e s t p h a 1 und Wernicke zu nennen.
Natürlich soll die Psychiatrie Hauptfach bleiben, das habe ich auch
kürzlich bei der Namensänderung des Nordostdeutschen Vereins für
Psychiatrie betont, das Studium der Nervenkrankheiten soll in aller¬
erster Linie der Erforschung der Geisteskrankheiten dienen. Wir
wollen keineswegs leugnen, dass die Gefahr nahe liegt, dass die Ner¬
venkrankheiten, die ja greifbarer sind und vielfach eine exaktere
Bearbeitung ermöglichen, den Untersucher abziehen von dem dornen¬
vollen Arbeitsgebiet der Psychiatrie, wo die Fülle der Kasuistik und
der bunte Wechsel der Erscheinungen die klare Uebersicht und Zu¬
sammenfassung erschwert. Wenn K r a e p e 1 i n in diesem Sinne
betont, dass die Beschäftigung mit den Nervenkrankheiten der
Psychiatrie viele ihr so notwendige Arbeitskräfte eventuell entzieht,
so können wir ihm wohl zustimmen, aber das ist doch verhältnis¬
mässig selten der Fall. Uebrigens hat ja auch K r a e p e 1 i n eine
Poliklinik, in der wohl Nervenkranke zur Behandlung kommen —
in welchem Umfange ist mir nicht bekannt — , und ich halte nach
eigener Erfahrung eine Poliklinik für besonders wertvoll, weil sie
uns gerade beginnende und leichte psychische Störungen zuführt.
Kehren wir zu Quinckes Ausführungen zurück, so will ich auf
die vielfachen scharfen Ausfälle Quinckes gegen die Nerven¬
kliniken und alle die Psychiater, die es wagen, etwa auch Nerven-
spezialisten sein zu wollen, nicht eingehen. Wäre es nicht so bitter
ernst gemeint, so würde man es für einen guten Scherz halten, wenn
er schreibt, dass Herz- und Magenkranke, Chlorosen und alte Syphi¬
litiker die „Nervenklinik“ — Quincke meint wohl Poliklinik —
aufsuchen. Als ob nicht oft auch chirurgisch Kranke oder gynäko¬
logische Fälle in innere Kliniken sich verliefen und umgekehrt; ja, es
soll sogar Vorkommen, dass psychisch Kranke in eine innere Klinik
gehen, horribile dictu!
Zum Schluss noch eins! Quincke vertritt den Standpunkt,
dass die Psychiatrie ein Spezialfach sei, in dem der praktische Arzt
von vornherein auf jede Behandlung verzichte. .Wir können diese
glänzende Isolierung, die uns Quincke grossmtitig zuweist, nicht
annehmen. Es ist eine derartige Anschauung auch nur verständlich,
wenn man, was ich bei Quincke doch nicht voraussetzen möchte,
nur wie der Laie ganz grobe geistige Störungen als Geisteskrank¬
heiten rechnet. Heute kommt der praktische Arzt doch häufig in die
Lage, psychisch Kranke zu behandeln, so besonders milde Fälle von
manisch-depressivem Irresein, Dementia praecox etc. Das wird nach
der Einführung der Prüfung in der Psychiatrie noch mit weit mehr
Verständnis geschehen.
Innere Kliniker wie Psychiater haben in den Nervenkrankheiten
ein gemeinsames Arbeitsfeld. Der Erforschung und Behandlung der
Nervenkrankheiten wird es nur dienlich sein, wenn beide, jeder nach
seiner Art, sich ihnen widmen, im sachlichen, ruhigen Wettstreit und
unter gegenseitiger Achtung.
Die neue Standesordnung der Gesellschaft der Aerzte
in Zürich.
Der Ruf nach Standesordnungen ist in Deutschland verstummt.
Das kommt daher, dass die preussischen Ehrengerichte auch ohne
Standesordnung (im allgemeinen) vortrefflich funktionieren und dass
man zur Ueberzeugung gekommen ist, dass die Rechtsprechung dieser
Ehrengerichte vermöge der freien Würdigung jedes einzelnen Falles
sogar eine gerechtere sein konnte, als wenn sie an geschriebene Ge¬
setze gebunden gewesen wäre. Trotzdem werden namentlich junge
Aerzte immer das Bedürfnis fühlen, eine Zusammenfassung anerkann¬
ter Standesregeln zu besitzen und es werden daher auch die ärzt¬
lichen Vereine an ihren Standesordnungen festhalten bezw. solche
neu aufstellen, wenn auch nicht als Gesetzbuch, so doch als Richt¬
schnur für ihre Mitglieder.
Die Gesellschaft der Aerzte in Zürich, eine der vornehmsten
Aerztevereinigungen der Schweiz, hat soeben eine neue Standesord¬
nung erlassen, die auch das Interesse unserer Leser finden dürfte.
I. Einleitung.
Die Ehre und das Wohlansehen des Aerztestandes hängt vor
allem ab von dem persönlichen Verhalten des einzelnen Arztes im
Verkehr mit den Patienten und mit den Kollegen.
Die Aerztegeseilschaft Zürich, von dem Wunsche beseelt, neben
der wissenschaftlichen Fortbildung auch das ethische Niveau des
Standes auf der Höhe zu erhalten, stellt die Standesordnung auf,
in welcher einerseits anerkannte ethische Grundsätze niedergelegt,
andererseits bindende Bestimmungen aufgestellt werden, welche ge¬
eignet sind, dem Arzte in seinem Lebens- und Konkurrenzkampf eine
sichere Richtschnur zu geben. Wenn jeder Arzt zu jeder Zeit sich
bewusst ist, welche grosse Erbschaft an Vertrauen, an Achtung von
seiten des Publikums, welche reiche Summe von Wissen und Können
von seiten der früheren Gelehrten- und Aerztegenerationen er über¬
nimmt, so wird ihm die Forderung, diesen Schatz, dieses allgemeine
Gut zu hüten und zu fördern, und nicht in egoistischer Betätigung zu
mindern, nicht unbegründet oder anmassend erscheinen. Jeder Kol¬
lege wisse, dass die Untergrabung des Vertrauens eines Patienten
zu einem Arzt das Vertrauen zum Aerztestand überhaupt mindert
und dass konsequenterweise sich der Kollege selbst damit schädigt.
Vor allem ist deshalb jede absprechende, leichtfertige oder un¬
vorsichtige Aeusserung über das ärztliche Handeln eines Kollegen
gegenüber den Laien strikte zu vermeiden; jeder mache es sich viel¬
mehr zur Ehrenpflicht, in Fällen von Divergenz versöhnend zu
wirken.
Da Mitteilungen des Publikums über andere Aerzte selten objek¬
tiv und zutreffend, häufig dagegen tendenziös und falsch oder zum
1478
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
mindesten übertrieben sind, nicht selten auch auf Missverständnis
beruhen oder dann dazu dienen sollen, das unkorrekte Verhalten des
Publikums zu verdecken, so soll der Arzt solchen Zuflüsterungen
weder Gehör noch Glauben schenken. Auf keinen Fall darf er darauf¬
hin sein Urteil über den Kollegen bilden oder ändern, bevor er offen
die Angelegenheit mit ihm besprochen oder schriftlich sich mit ihm
auseinandergesetzt hat. Man hüte sich durch vorschnelles Urteil
Unrecht zu tun und vergesse nie, dass jeder in schwierige Situationen
kommen kann, wo er den Schein gegen sich hat.
Im Verkehr mit den Patienten und Verunglückten soll der Arzt
nie vergessen, dass deren Wohlbefinden, Gesundheit und Leben von
seiner Geschicklichkeit, Aufmerksamkeit und Pflichttreue abhängen
und dass er jedem Menschenfreundlichkeit, Sorgfalt und Nachsicht
schuldet, bei voller Wahrung seiner Ueberzeugung.
Auch unheilbare Patienten dürfen nicht vernachlässigt oder ver¬
lassen werden, denn sorgfältige Behandlung kann dem Leidenden
immerhin nützen, tröstet die Umgebung und lindert Schmerz und
Angst selbst in den letzten Stunden.
Im Verhältnis zu Behörden und Korporationen und zur Wahrung
seiner eigenen sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Inter¬
essen bedarf der Aerztestand Korpsgeist und Disziplin.
Das Publikum weiss, dass der Arzt von seiner Arbeit leben muss;
es wird ihm seine hohe soziale Stellung um so eher gönnen und
garantieren, wenn es sieht, dass der Arzt daneben noch freiwillig
Pflichten auf sich nimmt, der uneigennützige Fürsprech und Helfer
im Kampf gegen Not und Elend bleibt und als ein echter Führer mann¬
haft und tatkräftig eintritt für alles Gute, Wahre und Schöne.
II. Spezieller Teil.
§ 1. Ueber die Beachtung der in der Standesordnung auf¬
gestellten Grundsätze wacht ein Ehrenrat. Streitigkeiten zwischen
Aerzten, welche aus Verletzung dieser Grundsätze entstanden sind,
sollen nicht vor dem Publikum ausgetragen, sondern dem Ehrenrate
zur Beurteilung unterbreitet werden.
A. Verkehr mit dem Publikum.
§ 2. Der Arzt hat die Pflicht, sein Hilfspersonal (Vertreter,
Assistent, Gehilfen, Wärter) im Sinne nachfolgender Grundsätze, be¬
sonders betreffend Verschwiegenheit und Enthaltung von kritischen
Bemerkungen über frühere Diagnose und Behandlung zu instruieren.
§ 3. Mit Ausnahme der üblichen Anzeige der Niederlassung, des
Wohnungswechsels, der Unterbrechung und Wiederaufnahme der
Praxis in der Presse ist untersagt:
a) die fortgesetzte marktschreierische Reklame in
den Blättern;
b) die Veröffentlichung, resp. die Veranlassung oder Erlaubnis
zur Veröffentlichung von Kranken- und Operationsgeschichten, von
Danksagungen und Empfehlungen;
c) die Veröffentlichung von eigenen Heilmethoden und persön¬
lichen Entdeckungen in nicht medizinischen Blättern.
§ 4. Es ist unstatthaft über die Wirkung sog. Geheimmittel
Zeugnisse auszustellen.
Gutachten über Medikamente oder Heilverfahren sollen nur nach
gewissenhafter Prüfung abgegeben werden.
§ 5. Ferner sind verboten:
a) Abmachungen mit Hebammen, Apothekern, Vereinen, Insti¬
tuten, Hotelportiers oder Agenten irgend welcher Art, wonach die Zu¬
wendung von Patienten mit Gewährung entsprechender Vorteile be¬
lohnt wird;
b) die direkte, nicht nachgesuchte Anbietung der ärztlichen
Tätigkeit an Private,
c) An- und Unterbietungen, sowie alle anderen Schritte, welche
zum Zwecke haben, einen Kollegen aus seiner Stellung zu ver¬
drängen.
§ 6. Die Unterstützung von Vereinen, welche notorisch ärzte¬
feindliche Tendenzen verfolgen, ist standesunwürdig.
§ 7. Krankeninstituten, in welchen Kurpfuscher oder Nichtärzte
die ärztliche Leitung haben, seinen Namen zur Deckung zu geben,
ist unstatthaft.
§ 8. In Wahrung des Berufsgeheimnisses soll sich der Arzt
vor Laien über seine eigenen Patienten und deren intime häusliche
Verhältnisse grösster Zurückhaltung befleissigen, über Kranke anderer
Aerzte hat er sich jeden Urteils zu enthalten.
§ 9. Es ist Ehrensache des Aerztestandes und liegt zudem in
seinem eigenen Interesse, dass er dem Bedürfnis des Volkes nach
Aufklärung in medizinischen Dingen Rechnung trage. Die Belehrung
im privaten Verkehr und in der Oeffentlichkeit soll aber in ernster,
gewissenhafter und vorsichtiger Weise geschehen.
§ 10. Die Bezeichnung als Spezialist kommt nur dem .Arzte zu,
der sich gründliche wissenschaftliche und praktische Ausbildung in
dem betreffenden Spezialfach erworben hat und sich vorwiegend
mit demselben beschäftigt. Die missbräuchliche Bezeichnung und
Empfehlung als Spezialist ist unstatthaft.
B. Verkehr mit den Patienten.
§ 11. Es ist unzulässig, Kranke ausschliesslich brieflich zu be¬
handeln.
§ 12. Es steht dem Arzte frei, unbemittelten Kranken das Hono¬
rar ganz oder teilweise zu erlassen, dagegen ist der Arzt gehalten,
zahlungsfähigen Personen — von Standesgenossen und deren An¬
gehörigen und ihm nahe Verwandten und Befreundeten abgesehen —
entsprechende Rechnung zu stellen. Ueberforderungen verstossen
gegen die Grundsätze der Gesellschaft.
§ 13. Die Abgabe von Zeugnissen, ärztlichen Berichten und Be¬
gutachtungen hat unter grösster Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zu
erfolgen. In Fällen, wo schon mehrfache Zeugnisse vorliegen, sind
solche nur unter vorheriger Kenntnisnahme der Akten auszustellen.
C. Verkehr mit den Kollegen.
§ 14. Bei Vertretung von Kollegen und in Fällen, wo ein Arzt
in eine Familie gerufen wird, ausdrücklich an Stelle des abwesenden
Hausarztes, hat der Stellvertreter nur die Patienten, für die er ge¬
rufen wurde, zu behandeln und dieselben dem anderen Arzt nach
Wiederaufnahme der Praxis wieder zu übergeben. Es soll alles
vermieden werden, was zu einer Entfremdung vom Hausarzte führen
könnte.
§ 15. Wird der Arzt zu einem Patienten gerufen, der vorher
in kontinuierlicher Behandlung eines anderen Arztes stand, so darf
er den Patienten erst übernehmen, nachdem er sich überzeugt oder
dafür gesorgt hat, dass dem Vorgänger von diesem Entschlüsse Mit¬
teilung gemacht wurde.
§ 16. Beim Arztwechsel hat auf Wunsch der Arzt seinem Nach¬
folger über den früheren Verlauf Mitteilung zu machen. Das gleiche
gilt beim Eintritt in ein Spital, eine Klinik, ein Sanatorium und beim
Austritt.
§ 17. Hat in korrekter Weise ein Arztwechsel stattgefunden,
so hat der zurücktretende Arzt sich aller direkten oder indirekten
Versuche zu enthalten, den Patienten wieder zu gewinnen.
§ 18. Hausbehandlung eines Kranken ohne Mitwissen des be¬
handelnden Kollegen ist unter allen Umständen unstatthaft, ausge¬
nommen in Notfällen, wobei der neu hinzugerufene Arzt die wei¬
tern Besuche einzustellen hat, sobald der behandelnde Arzt oder der
Hausarzt erschienen ist.
Treffen mehrere Aerzte bei einem Notfälle ein, so hat der Erst¬
gekommene das Recht zur Behandlung.
§ 19. Beratungen im Sprechzimmer des Arztes unterliegen nur
einer Beschränkung, wenn ein Patient mit schriftlicher Empfehlung
seines behandelnden Arztes behufs Spezialuntersuchung kommt. In
diesem Falle ist dies dem Kollegen gegenüber als Konsultation auf¬
zufassen.
Der konsultierte Arzt sendet seinen Bericht schriftlich an den be¬
handelnden Arzt und übernimmt die Behandlung nur in den Fällen, in
denen er sich mit dem behandelnden Arzte verständigt hat.
§ 20. Dem Wunsch nach Beiziehung eines zweiten Arztes hat
der behandelnde Arzt möglichst nachzukommen und sich über die
Auswahl desselben mit dem Kranken bezw. dessen Familie ins Ein¬
vernehmen zu setzen.
§ 21. Konsilien mit Nichtärzten sind unter allen Umständen ver¬
boten. Konsultationen mit Aerzten, die sich in irgend einer Weise
zur wissenschaftlichen Medizin in Gegensatz stellen, wie Homöo¬
pathen etc., werden als des Standes unwürdig betrachtet.
§ 22. Der von dem Patienten oder dessen Angehörigen zur
Teilnahme an einem Konsilium aufgeforderte Arzt ist erst zur An¬
nahme berechtigt, wenn er sich vergewissert hat, dass der behandelnde
Arzt damit einverstanden ist.
§ 23. Bei Konsilien ist der Kurplan durch gemeinschaftliche Be¬
ratung festzulegen, die weitere Behandlung aber dem behandelnden
Arzte zu überlassen. Fernere Besuche sind nur auf Wunsch des be¬
handelnden Arztes und nur im Beisein des letzteren zu machen,
anderweitige Verabredung Vorbehalten.
Keiner der beiden Aerzte ist verpflichtet, länger als 15 Minuten
über die festgesetzte Zeit zu warten. Nach Ablauf dieser Frist kann
der Konsilarius seine Untersuchung vornehmen, das Nötige anordnen
mit nachträglicher schriftlicher Benachrichtigung des behandelnden
Arztes.
Kommt der Konsiliarius zu spät und erst nach Weggang des
behandelnden Arztes, so muss eine neue Verabredung getroffen wer¬
den, sofern nicht der behandelnde Arzt etwas anderes verfügt hat.
§ 24. Der Uebergang des Patienten in die Behandlung des Kon¬
siliarius erfolgt nur im Einverständnis mit dem behandelnden Arzte.
§ 25. Wer in seiner Eigenschaft als Kontroll- oder Amtsarzt
Untersuchungen oder Besuche macht, darf sich nur im Einverständnis
mit dem behandelnden Arzte in die Behandlung mischen und event.
abweichende Verfügungen treffen.
D. Verkehr mit Behörden und Korporationen.
§ 26. Der Aerztestand muss es sich zur Aufgabe machen, die
öffentlichen Behörden bei der Ausarbeitung und Durchführung von
Gesetzen und Verordnungen auf sanitarisch-hygienischem Gebiete
nach besten Kräften zu unterstützen und von sich aus zu nötigen
Verbesserungen die Initiative zu ergreifen.
§ 27. Die Mitwirkung der Aerzte bei der Gründung und beim
Betrieb von Krankenversicherungsorganen ist anzuempfehlen.
§ 28. Verträge mit Krankenkassen sind womöglich einheitlich,
für alle Aerzte verbindlich, nach dem Grundsatz der freien Arztwahl
und der Honorierung auf Grund der Taxordnung abzuschliessen. In
Fällen, in welchen der Mindestsatz nicht erreicht wird, oder in wel¬
chen Pauschalentschädigungen allein in Frage kommen, sind die Ver¬
träge dem Ehrenrate zur Entscheidung vorzulegen, und dürfen erst
nach dessen Genehmigung abgeschlossen werden.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1479
§ 29. Bei Behandlung haftpflichtiger Unfälle muss das Prinzip
der freien Arztwahl gewahrt werden und es darf die Entschädigung in
keinem Falle hinter den kantonalen Minimaltaxen Zurückbleiben.
Referate und Bücheranzeigen.
F. S c h e n c k - Marburg und A. G ü r b e r - Würzburg:
Leitfaden der Physiologie des Menschen für Studierende der
Medizin. 4. Auflage, 280 Seiten mit 44 Abbildungen. Verlag
von Ferdinand Enke, Stutgartt 1906. Preis 5.40 M.
Der mit wohltuender Prägnanz geschriebene Schenck-
Giirbersche Leitfaden hat mit dieser Auflage in nur
814 Jahren die vierte erlebt, wodurch sich die Absicht der Ver¬
fasser, der vielfach ungeeigneten Kompendienliteratur Kon¬
kurrenz zu schaffen, wohl erfüllt hat.
Im ersten Teile des Buches, betitelt Stoffwechsel (vege¬
tative Physiologie) sind einige wesentliche Aenderungen vor¬
genommen worden, teils Kürzungen besonders in dem Kapitel
von der chemischen Zusammensetzung des menschlichen Kör¬
pers, teils Umstellungen, welche zu einer zweckmässigeren
Gruppierung des gerade im ersten Teile früher nicht so über¬
sichtlich angeordneten Stoffes geführt haben. Der zweite und
dritte Teil, betitelt Kraftumsatz und Kraftauslösung (animale
Physiologie) bezw. Fortpflanzung und Entwicklung, von vorn¬
herein etwas einheitlicher abgefasst, ist nach Inhalt und Um¬
fang so ziemlich derselbe geblieben.
Das Buch erfreute sich in den Kreisen der Studierenden
schon bisher grosser Beliebtheit und verdient diese in der
neuen Bearbeitung in noch höherem Masse.
K. Bürker - Tübingen.
S. Frankel: Die Arzneimittelsynthese auf Grundlage
der Beziehungen zwischen chemischem Aufbau und Wirkung
Für Aerzte und Chemiker. Berlin. Julius Springer 1906.
Zweite umgearbeitete Auflage. Preis 12 M.
Das beste Zeichen dafür, dass die Herausgabe S. Fran¬
kels Arzneimittelsynthese einem vielseitigen Wunsche ent¬
sprach, ist die verhältnismässig rasche Folge einer neuen Auf¬
lage. Die erste Auflage ist in der Münchener rned. Wochen¬
schrift 1901, pag. 1540 bereits bsprochen. Das dort gesagte
gilt natürlich auch für die zweite Auflage.
Der Entschluss F r ä n k e 1 s, in der neuen Auflage die
benützte Literatur anzugeben, wird von den Fachgenossen mit
grossem Danke aufgenommen. Hiedurch ist ein Nachschlage¬
werk geschaffen, das einzig in seiner Art ist. Zur Erleichterung
hiezu sind am Schlüsse des Buches sehr gründlich ausge¬
arbeitete Verzeichnisse angefügt über die einschlägigen deut¬
schen Reichspatente, die erwähnten Autoren, das Verhalten
der Körper im Organismus, sowie ein Sachregister. Schon
hiedurch hat der Umfang des Buches sehr zugenommen. Die
alte Auflage umfasste 559 Seiten, die neue 761.
Allerdings sind auch ganz neue Kapitel angefügt worden,
so: über die Anthelmintika, die reduzierenden Hautmittel, die
Glykoside. Das Erscheinen dieser vorliegenden zweiten Auf¬
lage ist mit Spannung erwartet worden und wird bei den Fach¬
genossen Freude hervorrufen.
A. J o d 1 b a u e r.
Lehrbuch der Ohrenheilkunde für Aerzte und Studierende.
In 32 Vorträgen von Dr. Friedrich B e z o 1 d, Professor der
Ohrenheilkunde an der Universität München. Mit 75 Text¬
abbildungen und einer Tafel Trommelfellbilder. Wiesbaden,
Verlag von J. F. Bergmann, 1906. Preis 9 M.
Von den Fachkollegen Vird es allseitig mit Freuden be-
grüsst werden, dass der Verf., einem vielfach von früheren
Schülern und Freunden geäusserten Wunsche Folge gebend,
sich entschlossen hat, die wissenschaftlichen Errungenschaften
der Ohrenheilkunde an der Hand der eigenen reichen Erfahrungen
in ein kurzes Lehrbuch für Aerzte und Studierende zusammen¬
fassen. Nur wenige dürften wie B e z o 1 d, der auf allen
Gebieten der Otiatrie grundlegend, befruchtend und fördernd
gearbeitet hat, dazu berufen sein, dem Lernenden bei der Er¬
langung der Kenntnisse in dieser erst seit kurzem wissen¬
schaftlich erschlossenen Disziplin ein Führer zu sein. Und es
ist als besonders erfreulich zu bezeichnen, dass das Buch ge¬
rade jetzt erscheint zu einer Zeit, da der Unterricht in der
Ohrenheilkunde für den Studierenden obligatorisch wird, da
derselbe im Staatsexamen den Nachweis liefern muss, dass er
die für den praktischen Arzt unbedingt erforderlichen Kennt¬
nisse in der Otologie sich angeeignet hat.
Der Inhalt des Buches, das dem verstorbenen Begründer
der modernen Ohrenheilkunde, Professor v. T r ö 1 1 s c h ge¬
widmet ist, zerfällt in einen allgemeinen Teil, der die
Topographie, die Untersuchungsniethoden sowie die Funk¬
tionsprüfung des Ohres behandelt, und in. einen speziellen
Teil, der sich mit den Krankheiten des äusseren, des mittleren
und des mittleren Ohres in Besonderen beschäftigt.
Mit Rücksicht auf andauerndes Unwohlsein hat Verf. mit
den Vorträgen über das innere Ohr seinen früheren Schüler Pro¬
fessor Siebenmann betraut, der sich auf diesem Gebiete
speziell betätigt hat.
Nachdem in der Einleitung auf die Häufigkeit der Ohren¬
erkrankungen und auf die Mortalität unter den Ohrenkranken
— zwischen dem 10. bis 30. Lebensjahr erliegen 4 — 5 Proz.
aller Sterbenden einer in den Räumen des Ohres spielenden
Eiterung — hingewiesen ist, gibt Verf. dem wir bekanntlich
die Korrosionsanatomie des Ohres verdanken, einen klaren
Ueberblick über die topographisch anatomischen Verhältnisse
des Gehörorgans, über die praktisch so ausserordentlich
wichtigen Lageverhältnisse der einzelnen Bezirke des Ohres
zu den dasselbe von allen Seiten umlagernden Nachbarorganen.
Weiterhin werden die Untersuchungswege durch die Tube
(Katheterismus), den äusseren Gehörgang und nach der
operativen Eröffnung der Mittelohrräume und sodann die funk¬
tionelle Prüfung des Ohres mit Tönen in Luft- und Knochen¬
leitung, sowie mit der menschlichen Sprache eingehend be¬
schrieben: wenn man sich daran erinnert, dass der Verf. durch
die Erfindung seiner kontinuierlichen Tonreihe sowie durch
eine Reihe hervorragender Arbeiten auf dem Gebiete der
physiologischen Akustik unsere Kenntnisse von der Funktion
des Ohres ausserordentlich gefördert hat, wird es nicht
wunder nehmen, dass dem Leser auch diese komplizierten
Funktionsverhältnisse in kurzer Zusammenfassung klar vor
Augen geführt werden.
Sehr dankenswert scheint es, dass am Schluss des allge¬
meinen Teiles der Gang der Unterscheidung, wie er sich nach
jahrzehntelangen Erfahrungen an der Münchener Universitäts¬
ohrenklinik als zweckmässig herausgestellt hat, geschildert
wird. Vielleicht könnten nach Ansicht des Ref. diese Aus¬
führungen, die sich auf die akustische Funktion des Ohres be¬
schränken, bei Affektionen des inneren Ohres noch ergänzt
werden durch eine kurze Beschreibung der Prüfung des Vesti-
bularapparates durch statische und dynamische Versuche.
Es würde den Rahmen einer Besprechung in einer allge¬
meinen medizinischen Zeitschrift weit überschreiten, wenn
man auf die Einzelheiten der im speziellen Teil des Buches
enthaltenen Vorträge eingehen wollte. Bei der von allen Fach¬
kollegen anerkannten Bedeutung des Autors, dessen sämt¬
liche Arbeiten den Stempel grösster Zuverlässigkeit tragend,
den Ruf der deutschen Ohrenheilkunde weit über die Grenzen
des Vaterlandes hinausgetragen haben, dürfte der Hinweis ge¬
nügen, dass sowohl in den Vorträgen des Verfassers,
als auch in den von Professor Siebenmann verfassten
Kapiteln in der knappsten Form — das ganze Buch enthält
nur 336 Seiten — alles für den praktischen Arzt und den Stu¬
dierenden Wissenswerte wiedergegeben ist, dass in dem Werke
aber auch für den Ohrenarzt neben allgemein Bekanntem
manche dem Verf. zu verdankende, wichtige und dauernd
wertvolle Beobachtungsergebnisse enthalten sind, die an ver¬
schiedenen Orten publiziert, zum Teil noch nicht die ge¬
bührende Beachtung und Anerkennung gefunden haben. Wenn
auch über Einzelheiten in dem speziellen Teil des Buches
hier nicht berichtet werden kann, so will Ref. es doch nicht
unterlasen, auf die am Schluss behandelten Themata über
7'aubstummheit und Taubstummenunterricht sowie über die
Schwerhörigkeit und die Ohrenkrankheiten in der Schule noch
besonders aufmerksam zu machen, weil es sich hier um Gebiete
1480
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
handelt, um welche sich der Verf. ganz besondere Verdienste
erworben hat. B e z o 1 d ist es gewesen, der mit Hilfe seiner
kontinuierlichen Tonreihe bei den Taubstummen die zahlreichen
und ausgedehnten Hörreste aufdeckte und damit den Ohren¬
ärzten auch in den Taubstummenanstalten ein fruchtbares Feld
der Tätigkeit eröffnete. Auf dieser Feststellung der Hörreste
hat sich bekanntlich eine neue Unterrichtsmethode aufgebaut,
die die gefundenen Hörreste für den Sprachunterricht ausgiebig
verwertet und fast einem Drittel der Taubstummen zu gute
kommt. Die Anerkennung der Verdienste des Verf. um das
Taubstummenwesen und die Wertschätzung des Lehrbuches
haben auch von seiten des bayerischen Kultusministeriums
ihren Ausdruck gefunden in der Verordnung, dass das Werk
in sämtlichen bayerischen Taubstummenanstalten angeschafft
werden soll.
In Bezug auf die Behandlung der Ohrenkrankheiten —
das sei noch kurz erwähnt — teilt Ref. gänzlich den Stand¬
punkt des Verfassers und ist deshalb in der Lage, die vor-
geschlagenen therapeutischen Massnahmen nach eigenen Ei-
f ah rungen wärmstens zu empfehlen.
Das Buch ist sowohl was den Druck als auch die Wieder¬
gabe der Abbildungen anbetrifft, von der rühmlichst bekannten
Verlagsfirma J. F. Bergmann, Wiesbaden, in vortrefflichster
Weise ausgestattet.
Möge das Werk, welches an Zuverlässigkeit von keinem
anderen Lehrbuch übertroffen wird, unter Aerzten und Stu¬
dierenden möglichst weite Verbreitung finden!
Denke r - Erlangen.
Handbuch der ärztlichen Sachverständigentätigkeit. Her¬
ausgegeben von Professor Dr. Paul Di tt rieh, Drag-
D r i 1 1 e r B a n d. Mit 70 Abbildungen im Texte und 12 Ta¬
feln. 787 Seiten. Verlag von Wilhelm B r a u m ü 1 1 e r, Wien
und Leipzig. 1906. Preis 24 M.
Die ausserordentliche Vielseitigkeit und Bedeutung der
ärztlichen Sachverständigentätigkeit könnten nicht besser zum
Ausdruck kommen, als in der Anlage dieses grossen, 10 Bände
starken Handbuches. Es ist dazu bestimmt, den praktischen
Bedürfnissen des Arztes bei seiner Tätigkeit als Sachver¬
ständiger nach jeder Richtung und in vollem Umfange Rech¬
nung zu tragen. Es erstreckt sich daher nicht auf einzelne
Gebiete, für- welche bereits gute Lehrbücher vorhanden sind,
sondern’ es umfasst das Gesamtgebiet der Medizin, soweit hier
eine ärzliche Sachverständigentätigkeit in Anspruch genommen
werden kann. Ausser der gerichtlichen Medizin, die natur-
gemäss den grössten Raum einnimmt, und dei forensen Psychi¬
atrie umgreift es auch die einzelnen Spezialgebiete, wie Augen-,
Ohren- und Zahnheilkunde, die traumatischen inneren Krank¬
heiten, die Bakteriologie im Dienste der ärztlichen Sachver¬
ständigentätigkeit; an die österreichischen und reichsdeutschen
Sanitätsgesetze gliedert sich die ärztliche Sachverständigen¬
tätigkeit auf den Gebieten der Hygiene, des Versichungswesens
und der Tierheilkunde an; die kriminalistische Tätigkeit und
Stellung des Arztes wird in einem eigenen Bande behandelt.
Diese grosse Aufgabe Hesse sich von einem Einzelnen gar
nicht bewältigen; so sind denn ausser dem Herausgeber nicht
weniger als 50 Mitarbeiter an dem Werke beteiligt, hervor¬
ragende Autoren Oesterreichs und Deutschlands, ausser den
Vertretern der gerichtlichen Medizin Kliniker, Amtsärzte, Che¬
miker und Kriminalisten. Man kann daher mit hohen Er¬
wartungen dem Erscheinen des Handbuches entgegensehen.
Wie sehr der Herausgeber bestrebt war, die Aufgaben ent¬
sprechend zu verteilen und in den einzelnen Abschnitten den
Fachmann zum Worte kommen zu lassen, mag daraus ent¬
nommen werden, dass das eminent wichtige Gebiet der ärzt¬
lichen Kunstfehler von drei Seiten, von Autoritäten der Chi¬
rurgie, der inneren Medizin und der Geburtshilfe bearbeitet
wird.
Das Werk wird in einzelnen Lieferungen und bandweise
ausgegeben. Die Ausstattung in Druck und Papier ist tadellos.
Vorerst liegt nur der dritte Band vor, der ausschliesslich
Prager Autoren zu Verfassern hat. Seinen Inhalt bilden;
Prof. Dr. Paul Dittrich; Aerztliche Sachverständigen¬
tätigkeit bei der Begutachtung von Verletzungen zu foren¬
sischen Zwecken.
Prof. Dr. Karl Bayer: Chirurgische Beurteilung von
Verletzungsfolgen.
Doz. Dr. Viktor L i e b 1 e i n : Ueber die wichtigsten Fehler¬
quellen bei der Deutung von Röntgenbefunden.
Prof. Dr. Anton W ö 1 f f 1 e r und Dr. Gustav Dober-
a u e r: Kunstfehler in der Chirurgie.
Bei dem grossen wissenschaftlichen Materiale lässt sich
Einzelnes nicht herausgreifen oder hervorheben. Die Bear¬
beitung ist eine vorzügliche, die beigegebenen Abbildungen und
Tafeln sind recht instruktiv und gut ausgeführt; namentlich das
letzte Kapitel, das auch das Recht zur Vornahme chirurgischer
Eingriffe behandelt, verdient allseitige Beachtung.
Dr. Carl B e c k e r - München.
Dr. jur. Henry Graack: Kurpfuscherei und Kurpfuscherei¬
verbot. Eine rechtsvergleichende kriminalpolitische Studie.
Gustav Fischer, Jena 1906. 2 Mark.
Die vorliegende Studie ist die Erläuterung zu der früher
hier schon besprochenen Sammlung von deutschen und aus¬
ländischen Gesetzen bezüglich Kurpfuscherei und Ausübung der
Heilkunde vom gleichen Verfasser. Die beiden Arbeiten bilden
eigentlich ein Ganzes und sind unentbehrlich für jeden, der
dieses wichtige und schwierige Problem kennen und bearbeiten
will. Von Bedeutung ist es, dass der Verfasser auf Grund
seiner Studien, die in dieser Ausdehnung und eingehenden
Weise bisher von niemand betrieben worden sind, und auf
Grund der Tatsachen, dass in allen Ländern, ausser England,
Appenzell und Glarus Knrpfuschereiverbote bestehen und aus
Gründen des öffentlichen Interesses zur Forderung eines
Kurpfuschereiverbotes kommt. Am Schlüsse bringt er denWort-
laut, wie er sich ein solches Verbot gefasst denken würde. Die
ständig zunehmende Bedrohung der Gesundheit seitens der
Kurpfuscher und die noch in weiter Ferne stehende Reform
des Strafgesetzes lassen ihm den Weg eines Sondergesetzes
als den richtigeren erscheinen. Neu stätte r.
Neueste Journafliteratur.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 27 u. 28.
1) P. Z w e i f e 1 - Leipzig: Die unmittelbare Messung der Konju-
gata obstetricia.
Auch Z. empfiehlt ein nach den Prinzipien von B y 1 i c k i und
Q a u s s konstruiertes vereinfachtes Messinstrument für die Kon-
jugata vera, wie dies von Faust (cf. diese Wochenschr. No. 25,
p. 1223) kürzlich nach ähnlichen Grundsätzen angegeben wurde. Zu
haben bei Alex. Schädel in Leipzig.
2) C. J. G a u s s - Freiburg i. B. : Eine vereinfachte und ver¬
besserte Beckenmessung.
Auch G. hat jetzt ein vereinfachtes Messinstrument konstruiert,
dessen Beschreibung demnächst in dieser Zeitschrift erfolgen soll.
Zu haben bei Fischer in Freiburg i. B.
3) O. v. H e r f f - Basel : Farabeufs Beckenmesser.
v. H. fand in der Sammlung des Frauenspitals Basel-Stadt einen
Beckenmesser, der als von Farabeuf herrührend bezeichnet war
und an dem er eine kleine Modifikation anbringen Hess. Derselbe liess
sich alsdann zum Messen der Conjugata vera verwenden und bot die¬
selben Vorteile, wie der Bylicki-Gauss sehe Beckenmesser,
braucht aber nur einmal eingeführt zu werden. Zu haben bei Hau s-
m ann in St. Gallen.
No. 28.
Felix Turan- Franzensbad: Das Bier sehe Verfahren in intra¬
uteriner Anwendung.
T. hat Versuche mit dem Suktionsverfahren fortgesetzt (cf. diese
Wochenschr. 1906, No. 14, pag. 666), diesmal ohne gleichzeitige bal-
neotherapeutische Massnahmen. ZurfBehandlung kamen 4 unkom¬
plizierte Fälle von Metritis und Endometritis chronica. Die Erfolge
waren subjektiv und objektiv gut, subjektiv in Bezug auf Linderung
der Dysmenorrhoe, Hebung des .Appetits, der Arbeitslust und der
Frische der Psyche, objektiv in Bezug auf Nachlass des Fluors und
Heilung der Erosionen. Die Wirkung des Suktion erklärt sich T. durch
das Aussaugen des Sekrets, die erzielte Dilatation und die Hyperämie.
Westphal - Stolp : Vaginaler Kaiserschnitt bei der Mori¬
bunden; lebendes Kind.
Es handelt sich um eine VII. Para mit schwerer Eklampsie im
10. Monat. W. machte die vaginale Laparotomie ohne Narkose.
Das Kind blieb am Leben, die Mutter starb einige Stunden nach der
Operation.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1481
W. Q e s s n e r - Olvenstedt: Lieber das Verhalten des Menschen
bei paragenitaler Zufuhr artgleichen Spermas.
G. hat sich und anderen frische Spermalösung (0,5 ccm
mit 1 ccm physiologischer Kochsalzlösung verdünnt) subkutan in¬
jiziert und danach geringe oder keine Allgemein-, aber stets deutliche
Lokalreaktion beobachtet. Diese sofortige Lokalreaktion oder das
„spezifische Oedem“ hält G. für eine sogen. Ueberempfindlichkeits-
reaktion, d. h. sie soll beweisen, dass der Organismus infolge des
Eindringens der Spermazelle bei der Zeugung zeitlebens überemp¬
findlich gegen nochmalige Zufuhr von Spermatozoen geworden ist.
Dies erklärt auch, warum das Blutserum des Menschen die in dem
Sperma enthaltenen Spermatozoen zu agglutinieren vermag, und ist
eine Stütze für die Ansicht der Autoren, welche die Ursache der
Eklampsie in die Frucht verlegen. Versuche mit reifen Eizellen,
die G. an Vögeln anstellte, fielen durchaus negativ aus.
J a f f e - Hamburg.
Virchows Archiv. Bd. 183. Heft 3.
13) Hermann v. Schrötter: Beitrag zur Mikrophotographie
mit ultraviolettem Lichte nach Köhler. (III. med. Universitäts¬
klinik in Wien.)
Studien an Mikroorganismen, Blutzellen usw. mit zahlreichen
Abbildungen. Sehr, verwandte ungefärbte, fixierte Präparate im Ge¬
gensatz zu Grawitz, der bei seinen Untersuchungen nur lebens¬
frische Präparate benutzte.
14) C. E i j k m a n und C. van Hoogenhuyze: Experimen¬
telle Untersuchungen über den Verbrennungstod.
Versuche an Kaninchen. Bei ausgedehnter akuter Hautver¬
brühung oder bei einer Verbrennung, bei der ein Körperteil während
längerer Zeit der Hitzeeinwirkung ausgesetzt ist, kann durch Ueber-
hitzung des Blutes der Tod infolge von Herzparalyse eintreten. Die
Veränderungen im Blute, namentlich die starke Abnahme der Zahl
der roten Blutkörperchen und das Zerfallen derselben in kleine Par¬
tikelchen mit nachfolgendem Auftreten von Hämoglobin im Urin, sind
in anderen Fällen nicht nachzuweisen, obgleich der Tod bald erfolgt,
und können deshalb nicht als die häufigst vorkommende und wich¬
tigste Todesursache betrachtet werden. Unter der Einwirkung der
Hitze erleidet die Haut eine solche Veränderung, dass darin Stoffe
entstehen, welche in das Blut aufgenommen, den Tod verursachen
können. Die Verbrühung des Muskelgewebes veranlasst keine Ent¬
stehung solcher giftigen Stoffe wie in der Haut.
15) Eugen Fraenkel: Ueber Allgemeininfektionen durch den
Bacillus pyocyaneus. (Patholog. Institut zu Hamburg-Eppendorf.)
Bereits in No. 22, 1906 dieser Wochenschrift referiert.
16) Otto Busse: Ueber Zerreissungen und traumatische
Aneurysmen der Aorta. (Patholog. Institut zu Posen.)
F a 1 1 I. 38 jähr. Mann. Zerreissung der Aorta und Bildung
eines Aneurysma dissecans. Fall II. 87 jähr. Frau. Ruptur der
Aorta. Fall III. 40 jähr. Frau. Rupturaneurysma der Aorta.
Fall IV. 51 jähr. Frau. Aneurysma dissecans, welches die ganze
Länge der Aorta einnimmt. Verf. schliesst aus diesen Fällen, deren
klinische Daten im Original eingesehen werden müssen, dass heftige
körperliche Anstrengungen und Ueberanstrengungen bei der Ent¬
stehung von Zerreissungen und Rupturaneurysmen eine wesentliche
Rolle spielen.
17) S. Fuss: Zur Frage des elastischen Gewebes im normalen
und myopischen Auge. (Patholog. Institut zu Halle.)
18) Th. G ü m b e 1: Beitrag zur Histologie des Kallus. (Patholog.
Institut zu Strassburg.)
Untersuchungen an menschlichen Knochen und an Material von
Hunden. Verf. schliesst aus seinen Untersuchungen, dass die Meta¬
plasie bei pathologischer Knochenbildung einen hervorragenden An¬
teil hat. Während sie bei der normalen Ossifikation nur in unterge¬
ordnetem Masse zur Geltung kommt, bildet sich bei der Ossifikation
des Kallus zu einem grossen Teile die junge Knochensubstanz auf dem
Wege der Metaplasie. Die Ausdehnung der metaplastischen Ossi¬
fikation ist direkt abhängig von der Gefässversorgung. Nur wo bei
ungenügender Vaskularisation das Bestreben zur Ossifikation besteht,
tritt metaplastische Knochenbildung auf, sowohl im periostalen als
im Markkallus, allerdings mit dem Unterschiede, dass im periostalen
Kallus nur hyaliner Knorpel, im Markkallus sowohl hyaliner Knorpel
als auch fibröses Mark ossifiziert. Mit der Bildung von Gefässen
hört die Metaplasie auf. Statt dessen erfolgt die fernere Ossifikation
nach endochondralem Typus. Ein Einfluss der Nervendurchschnei¬
dung ist bei der Transformation des periostalen Kallus nicht nach¬
gewiesen worden. Jedoch scheint die Bildung von Faserrnark im
Markkallus durch die Aufhebung der Innervation begünstigt zu sein.
19) C. Hueter und Karrenstein: Eine Mischgeschwulst
(Osteoidsarkom) der weiblichen Milchdrüse.
37 jähr. Frau. Nach der Operation des Primärtumors verschie¬
dene Rezidive. Tod wahrscheinlich an Metastasen der inneren Or¬
gane. Die histologischen Details sind im Originale einzusehen.
Schridde - Marburg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 29.
1) Ed. M a r t i n - Greifswald: Die Behandlung des Puerperal¬
fiebers mit Antistreptokokkenserum.
Verf. stellt die Verlaufsweise der genannten Erkrankung bei 39
nicht mit Serum behandelten Fällen jener bei 25 mit Serum be¬
handelten Fällen gegenüber. Diese Gegenüberstellung erlaubt den
Schluss, dass das Serum die Schwere der puerperalen Infektion zu
mindern vermag. Eine weitere Tabelle zeigt, dass die mit Serum
behandelten Wöchnerinnen nicht nur nicht so hoch fieberten, sondern
auch im Durchschnitt viel früher abgefiebert waren als die anderen.
Ein Nachteil für die Wöchnerinnen ist in keinem Falle zur Beobach¬
tung gelangt.
2) M. H i r s c h - Kudowa: Die Einwirkung des Vierzellenbades
auf den Blutdruck.
Verf. hat die Angaben von Schnee in dieser Frage einer ex¬
perimentellen Nachuntersuchung unterzogen und zwar hinsichtlich
der Einwirkung der verschiedenen Stromarten auf Blutdruck, Puls
und Temperatur. Die Sch ne eschen Angaben konnte er nur zum
kleineren Teile bestätigen und besonders sah er an seiner Serie von
Fällen niemals eine sehr frappante Einwirkung des Vierzellenbades
auf den Blutdruck. Jedenfalls kann derselbe durch das Vierzellenbad
keineswegs nach Wunsch verändert werden, wie es Schnee ange¬
geben hat.
3) G. Rosenfeld - Breslau : Fett und Kohlehydrate.
Der wesentliche Inhalt des Vortrages ist in einem kurzen Re¬
ferate kaum wiederzugeben. Wichtig ist die Auffassung des Verf.,
dass die Kohlehydrate für die Fette gewissermassen die Rolle von
Sauerstoffüberträgern spielen, so'dass die Kohlehydrate als Zündstoff
für die Fette fungieren. Daraus lässt sich erklären, warum es unter
gewissen Bedingungen des Experimentes zu einer Ablagerung von
Fett in der Leber kommt.
4) C. A. B 1 u m e - Kopenhagen: Zur bakteriologischen Früh¬
diagnose der Lungentuberkulose.
Unter Mitteilung verschiedener einschlägiger Krankengeschichten
empfiehlt Verf. in solchen Fällen, in denen die Kranken weder aus¬
spucken noch husten, etwas Schleim aus dem Inneren des Larynx
mittelst eines kleinen Wattebausches zu entnehmen. Dieser Schleim
enthält häufig Tuberkelbazillen.
5) H. K ii m m e 1 1 - Hamburg: Ueber moderne Nierenchirurgie,
ihre Diagnose und Resultate.
Vergl. Referat Seite 1133 der Münch, med. Wochenschr. 1906.
6) U. F r i e d m a n n - Berlin: Ueber Staubbeseitigung.
Verf. erwähnt in Kürze das Prinzip und die Vorzüge des Va¬
kuumreinigers und führt kurz die mit den Oelen gemachten Er¬
fahrungen an, welche zur Staubbindung an den Fussböden in Ver¬
wendung stehen. Die relativ besten Aussichten eröffnet gegenwärtig
das Verfahren, die Strassen zu teeren. Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 28.
1) O. Z u c k e r k a n d 1 - Wien: Ueber die Behandlung der
Nierentuberkulose.
Klinischer Vortrag.
2) Richard F r e u n d - Halle: Weitere Erfahrungen mit der
Rückenmarksnarkose.
Verfasser verfügt über 209 Fälle, auf Grund deren er die Lumbal¬
anästhesie — unter strenger Einhaltung der Bier-Dönitz sehen
Regeln — für gynäkologische Operationen warm empfiehlt. Für
Laparotomien und längerdauernde Operationen wurden 7 — 8 cg Sto-
vain benötigt. Die üblichen Sensibilitätsprüfungen zur Kontrolle des
Eintritts der Wirkung vermeidet F. im Interesse der psychischen
Ruhe der Patientinnen. Eine 73 jährige asthmatische Frau starb etwa
8 Minuten nach der lumbalen Injektion ganz rasch unter Erbrechen
und Atmungsstillstand, die Sektion gab keinerlei Anhaltspunkt.
3) R. M ü h s a m - Berlin: Ueber eine typische Verletzung der
Chauffeure.
Verfasser erörtert den Mechanismus der schon mehrfach be¬
schriebenen, von ihm zweimal, beobachteten, durch Zurückschlagen
der angedrehten Motorkurbel verursachten Radiusfraktur. Im einen
Fall (abgebildet) war starke ulnare und dorsale Dislokation des peri¬
pheren Bruchstücks vorhanden.
4) A. K i r c h n e r - Göttingen: Welches ist der gefährliche
Moment für die Entstehung eines Mittelfussknochenbruchs beim
Gehen?
Wenn beim Gehen der Mittelfuss auf eine Bodenerhöhung auf-
tritt, so dass die Sohle nicht voll aufgesetzt werden kann, so können
der zweite und dritte Mittelfussknochen überlastet werden; in dem
Masse, als der Schwerpunkt von der Ferse nach vorne rückt, wächst
die Gefahr der Fraktur, sie ist gegen das Ende dieser Periode am
grössten.
5) S. Ehrmann - Wien: Ueber Befunde von Spirochaete pallida
in den Nerven des Präputiums bei syphilitischer Initialsklerose.
Verfasser traf die Spirochaete pallida nicht nur in dem die
Nerven umgebenden Bindegewebe und in den Lymphspalten des
Perineuriums, sondern auch im Nervenbündel selbst, zwischen den
Nervenfasern. Dadurch wird die Ausbreitung der Infektion zentral-
wärts im Nervensystem verständlich.
6) G. R i e b o 1 d - Dresden: Ueber Menstruationsfieber, men¬
struelle Sepsis und andere während der Menstruation auftretende
Krankheiten infektiöser resp. toxischer Natur. (Schluss folgt.)
1482
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
7) H. Herzog-Heidelberg: Therapeutische Versuche mit Bio-
ferrin bei Anämien im Kindesalter.
Erfolg bei 19 Fällen: Besserung der subjektiven und objektiven
Veränderungen, Erythrozytenzahl, Hb-Gehalt.
8) J. R u h e m a n n - Berlin : Bemerkungen zu dem Aufsatz von
A. K o w a r s k i in No. 25: Eine vereinfachte Methode zur quantitativen
Bestimmung der Harnsäure im Harn.
9) Max Cohn-Berlin: Ueber den Wert plastisch wirkender
Röntgenbilder.
C. schätzt an dem Verfahren die bessere Hervorhebung ge¬
ringer Schattendifferenzen, z. B. bei Knochentuberkulose, und die Vor¬
züge für die Reproduktion von Röntgenbildern.
R. Grashey - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 28. C. v. P i r q u e t - Wien : Die frühzeitige Reaktion bei der
Schutzpockenimpfung.
P. unterzieht die Impferfolge einer näheren Betrachtung, welche
bei Revakzination in den ersten Monaten nach einer Erstimpfung
erzielt werden. In dieser Zeit besteht nicht, wie man meist an¬
nimmt, eine absolute Immunität, sondern es treten häufig kleine Re¬
aktionen auf (frühzeitige Areola oder frühzeitige Papelreaktion),
welche bemerkenswerter Weise ihre maximale Entwicklung inner¬
halb der ersten 24 Stunden erreichen. Betrachtet man die Reaktion
als eine Abwehrvorrichtung, die, je schneller sie Platz greift, um so
schneller die Infektion beseitigt, so ergibt sich, dass die Vakzination
nicht eine volle Immunität schafft, sondern eine rascher wirkende
Reaktionsfähigkeit des Organismus, sodass bei neuer Infektion die
Abwehr früher einsetzt und rascher wirksam wird.
W. Neu mann und H. Wittgenstein: Das Verhalten der
Tuberkelbazillen in den verschiedenen Organen nach intravenöser
Injektion.
Als bemerkenswertes Ergebnis der an Hunden gemachten Ver¬
suche ist der lange — bis zum 35. Tage — anhaltende Befund frei im
Blut zirkulierender Bazillen zu bezeichnen; ebenso fanden sich in
den verschiedensten Organen nach dieser Zeit Bazillen, in geringerem
Masse scheint die Verbreitung derselben nur im Ovarium stattzu¬
finden. Ferner zeigte sich neuerdings, dass Tierimpfungen, mit ba¬
zillenhaltigen Organstückchen, die in Hundeserum aufbewahrt waren,
negativ ausfielen und zwar nicht nur mit den lymphoiden Organen,
sondern auch mit der Leber und dem Ovarium, es käme also auch
diesen Organen die Fähigkeit zu, lebensfähig erhaltene Tuberkel¬
bazillen avirulent zu machen. Dagegen waren diese Impfversuche
vom 22. Tage nach der Injektion an positiv, die Avirulenz der Bazillen
von diesem Tage an beseitigt. Bazillen, welche in defibriniertem
Blute und in Lungenstückchen aufbewahrt waren, lieferten dagegen
stets positive Impfversuche; dieses bisher nicht zu erklärende be¬
sondere Verhalten des Lungengewebes erscheint von grosser Wich¬
tigkeit.
F. L u c k s c h - Czernowitz: Ueber eine Dysenterieepidemie.
Die Epidemie betraf 54 Kranke einer Irrenanstalt; als der ge¬
meinsame Infektionserreger liess sich der Flexner sehe Bazillus
nachweisen, wofür weiter auch Agglutinationsversuche und Schutz¬
impfungen sprechen. Die Epidemie scheint von aussen, nicht durch
das Trinkwasser, eingeschleppt worden zu sein. Die Weiterver¬
breitung erfolgte durch Kontakt, wahrscheinlich auch durch Fliegen.
A.^ Jungmann: Technisch-therapeutische Mitteilungen zur
Lupusbehandlung, speziell zum Finsenbetrieb.
Die Beschreibung verschiedener komplizierter Apparate eignet
sich nicht zur kurzen Wiedergabe.
S. J e 1 1 i n e k - Wien: Zur kausalen Thiosinaminbehaudlung des
Malum Dupuytren.
Die durch ein chronisches Trauma (Druck durch eine Ma¬
schine hervorgerufene Affektion wurde innerhalb eines Jahres
durch Injektionen einer 15 proz. alkoholischen 1 hiosinaminlösung
in die erkrankte Faszie (je 0,2 — 0,5 ccm der Lösung; Chlor¬
äthyl- oder Kokainanästhesie) fast vollständig zur Heilung gebracht
und die Brauchbarkeit der Hand ganz hergestellt. In den Zwischen¬
zeiten Verband mit 10 proz. Thiosinaminpflastermull. Im ganzen wur¬
den 46 Injektionen gemacht; die gleichartige Affektion der anderen
Hand blieb unbeeinflusst.
Wiener medizinische Presse.
No. 19. A. D i r s c h 1 e r - Ofen-Pest: Ueber die Untersuchung
der sekretorischen Funktion des Magens mittelst Sahlis Desmoid-
reaktion. , ,
Den Ausführungen liegen 50 tabellarisch verwertete Falle zu
Wo eine Sondenuntersuchung möglich ist, gibt Verf. auch jetzt
noch dem Probefrühstück nach Ewald-Boas und der Leube-
schen Probemahlzeit den Vorzug. In den anderen Fällen ist die Des-
moidreaktion ein sehr geeignetes Verfahren, um festzustellen, ob der
Magensaft für die Verdauung der gleichzeitig gereichten Nahrung
geeignet ist. Wenn sich die Reaktion nach 3—9 Stunden einstellt,
enthält der Magensaft Salzsäure und Pepsin, sie gestattet jedoch
keinen Schluss auf die Menge der abgesonderten Salzsäure. Wenn
das Probefrühstück Anazidität ergibt und dieser Befund auch durch
das mit dem Mittagsmahle gereichte Desmoidsäckchen bestätigt wird
_ bei fehlender Hypermotilität des Magens — so weist das auf hoch¬
gradige sekretorische Insuffizienz des Magens. Nach Verf. Erfah¬
rungen verdaut auch die Milchsäure das Desmoidsäckchen und das
beeinträchtigt den Wert der Probe, wo sich der positive Wert nach
24—36 Stunden einstellt. Aus dem negativen Werte der Probe
Schlüsse zu ziehen, hält Verf. für nicht angängig.
No. 22/23. E. S 1 a j m e r - Laibach: Erfahrungen über Lumbal¬
anästhesie mit Tropakokain in 1200 Fällen.
Während die ersten Fälle weniger befriedigten, hat Verf. mit
zunehmender Erfahrung und Beobachtung aller Technizismen mehr und
mehr die Methode mit vollständig befriedigendem Erfolg in Anwendung
gezogen. Die eventuellen geringen Reaktionserscheinungen kommen im
Vergleich zur Inhalationsnarkose nicht in Betracht. In 54 Fällen
musste wegen unvollständiger Anästhesie zur Inhalationsnarkose
übergegangen werden. Wichtig ist u. a., nicht zu dicke Punktions-
nadeln, wie sie meist gebräuchlich sind, zu benützen; Verf. empfiehlt
Nadeln von 1 mm Dicke und 7—9 cm Länge; bemerkenswert ist
ferner, dass in manchen Fällen Temperatursteigerungen durch schein¬
bar ganz nebensächliche Dinge verursacht werden, namentlich durch
Verwendung von Sublimat, verunreinigtem Alkohol u. dgl. zur Reini¬
gung der Haut vor der Injektion. Die Kopfschmerzen rühren
teilweise von zu raschem oder starkem Abfluss des Liqu.
cerebrospin. ht:r, in vereinzelten Fällen waren sie überaus
heftig und konnten erst durch abermalige Punktion, die
eine leicht getrübte Flüssigkeit ergab, beseitigt werden. In einem
Falle erfolgte mehrere Stunden nach einer mehr als 0,1 betragenden
Injektion ein epileptischer Anfall, vielleicht infolge der zu grossen
Dosis. Unter Uebergehung vieler klinischer und technischer Einzel¬
heiten sei noch erwähnt, dass speziell bei Hernien die postoperativen
Lungenkatarrhe und Pneumonien gegen früher nicht weniger gewor¬
den sind.
No. 22. H. H aase -Wien: Ueber eine Epidemie von hysteri¬
schem Laryngismus. , ,
nie Epidemie erstreckte sich auf 29 von 36 Mädchen eines
Waisenhauses im Alter von 11—15 Jahren und die Erscheinungen
steigerten sich, anfangs dem Keuchhusten ähnlich, bis zu dem typi¬
schen Bild der sogen. Chorea laryngis. Durch autoritatives ärzt¬
liches Eingreifen wurde der Sache dann ein rasches Ende bereitet.
Prädisponierende Momente könnten nur in einer die Hälfte der Mäd¬
chen betreffenden tuberkulösen Belastung und in ihrer israelitischen
Abstammung gefunden werden.
W. Wunderer- Wien: Ueber Proponal.
Das Mittel, welches in Dosen bis 0,5 g auch bei unruhigen
Geisteskranken ohne Nebenbeschwerden schlafbringend wirkt, wird
von dem Verf. als ein gutes, in medizinalen Gaben anscheinend ge¬
fahrloses, Hypnotikum bezeichnet, dessen hoher Preis allerdings
seiner weiteren Verbreitung noch entgegensteht. Tierversuche
(Hund) haben als letale Dosis etwa 0,1— 0,2 g pro Kilo ergeben..
No. 24/25. E. Eitner-Wien: Beiträge zur Radiometrie.
E. legt die Brauchbarkeit und leichte Anwendbarkeit des von
F r e u n d eingeführten Jodoform-Chloroformradiometers dar.
B e r g e a t.
Skandinavische Literatur.*)
Oluf Thomsen und Oie C h i e v i t z (D) : Spirochaete pallida
(Treponema pallidum) bei angeborener Syphilis. (Bibliotek for Läger,
April 1906.)
Die Verfasser fanden konstant Spirochaete pallida in den Organen
von Kindern mit angeborener Syphilis, wenn die Kinder bis zur Ge¬
burt gelebt haben und wenn die Organe syphilitische Veränderungen
darbieten. In den Organen von mazerierten syphilitischen Früchten
ist es gewöhnlich nicht möglich, die Spirochäten in Abstrichpräparaten
nachzuweisen. Es besteht ein Parallelismus zwischen der Stärke der
anatomischen Veränderungen und der Menge der Spirochäten. Spiro¬
chaete pallida wird in den Organen von nicht syphilitischen Neu¬
geborenen nicht gefunden. Spirochaete pallida muss als die Ursache
der anatomischen Veränderungen bei angeborener Syphilis angesehen
werden.
Der Tuberkuloseausschuss der norwegischen
medizinischen Gesellschaft: Untersuchungen über die
Lebensdauer der Schwindsüchtigen in Norwegen. (Norsk Magazin
for Lägevidenskaben 1906, No. 4.)
Die Untersuchungen umfassen 2002 Patienten von der Bevöjke-
rungsklasse, die die Volkssanatorien besucht. Als Hauptresultat
dieser statistischen Arbeit geht hervor, dass die Durchschnittsdauer
der Krankheit, nachdem sie deutliche klinische Symptome gegeben
hatte, zwischen 3 und 5 Jahren war. Von den Patienten, die mehr
als 4 Jahre lebten, war eine überraschend grosse Prozentzahl arbeits¬
fähig.
P. Bull (N.): Ueber Fieber bei Sarkom. (Ibid., No. 6.)
Fieber ohne bestimmten Typus ist bei Sarkom, speziell bei
jüngeren Individuen, nicht selten. Die innere Ursache des Fiebers
*) Durch die beigefügten Buchstaben D, F, N oder S wird an¬
gegeben, ob der Verfasser Däne, Finnländer, Norweger oder
Schwede ist.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1483
ist vorläufig unbekannt, es ist ein Ausdruck für das Entstehen von
Metastasen im allgemeinen, aber kaum von Metastasen bestimmter
Organe abhängig. Der Verfasser referiert 20 Fälle, von welchen 14
mit hieb er, 6 ohne Fieber verliefen.
F. Vogel i us (D): Paralyse während des Verlaufes der krup-
posen Pneumonie. (Aus der Universitätsklinik des Kgl. Frederiks
Hosp^itah Abt. B, Vorstand: Prof. K- Fab e r.) (Hospitalstidende 1906,
In dem einen Fall handelte es sich um eine linksseitige Fazialis¬
parese und Parese der linksseitigen Extremitäten. Die Hemiplegie
wui de wahischeinhcherweise von einer Metastase in der Capsula
externa veruisacht; im zweiten Fall handelte es sich um eine Para¬
lyse der ganzen rechten Seite mit Aphasie. Bei der Sektion wurde in
der Art. fossae Sylvn eine Thrombe gefunden, als deren Ursache eine
abgelaufene Pneumokokkenendokarditis betrachtet wurde. Diese
Thiombe hatte eine Nekrose des Gewebes und, da der Embolus
infektiosei Art war, eine purulente Meningitis verursacht.
N. Rubow (D): Beitrag zur Pathologie und Therapie des
Magengeschwürs. I. Das Reichmannsche Symptom. (Aus der
medizinischen Universitätsklinik des Kgl. Frederiks Hospital, Abt. B,
Vorstand: Prof. K. Fab e r.) (Ibidem, No. 20 u. 21.)
• AufJ12 Krankengeschichten gestützt sucht der Verfasser zu be¬
weisen, dass Gastrosuccorrhoea, „das Reichmann sehe Symptom“
eine Folge des Magengeschwürs ist, es kann doch auch bei Magen-
krebs Vorkommen; dagegen verneint er, dass die Hypersekretion
primär ist.
. . 5r' P ?a11 1 S eJ11 ^Dl Studien über d'e sogenannte typische Radius¬
fraktur. (Aus der chirurgischen Poliklinik des Kommunehospital
Kopenhagen.) (Ibidem No. 22, 23, 24, 25 und 26.)
Die Abhandlung wird in einer deutschen Zeitschrift in extenso
erscheinen.
Aage Holm (D): Ueber Fraktura ossis navicularis carpi. (Aus
der chirurgischen Poliklinik des Kommunehospitals Kopenhagen, Vor-
sta,ndT. Prof- K. P o u I s e n.) (Ugeskrift for Läger 1906 No. 21
und 22.)
Der Verfasser zeigt, dass die Fraktur des Os naviculare carpi
gar nicht selten ist, aber oft als eine Distorsio carpi diagnostiziert
wild. Der Bruch lässt sich gewöhnlich nur durch Röntgenoskopie
diagnostizieren. Wenn bloss eine Fissur besteht, lässt sich eine
konservative immobilisierende Behandlung mit gutem Erfolg durch-
fuhren. In älteren Fällen mit Ankylose empfiehlt er zuerst die B i e r-
sche Stauungsbehandlung, um bessere Beweglichkeit im Handgelenk
zu bekommen und dann die operative Entfernung des Fragmentes oder
des ganzen Knochens.
O. N. Petterson (S): Ueber die Ansteckungsgefahr von
Lungentuberkulösen in verschiedenen Krankheitsstadien. (Upsala
Lakareförenings Förhandlingar 1906 Heft 3 und 4.)
Die Abhandlung ist ein Beitrag zur Frage der Ansteckungsgefahr
von in verschiedenen Stadien stehenden Lungenschwindsuchtspatien-
2® »us dem Gesichtspunkt des Bazillus, seiner Häufigkeit und der
Möglichkeit der Ansteckung je nach dem Krankheitszustand. Der
erfasse: bestimmte bei 20 Patienten (8 im ersten, 5 im zweiten, 7 im
dritten Stadium nach Turban) den Bazillengehalt in 1 Zentigramm
Sputum. Die Durchschnittsanzahl Bazillen für die Kranken des ersten
Stadiums betrug auf 1 Zentigramm Sputum 217 523, für die Kranken
df^ zweiten Stadiums 1 618 528, für die Kranken des dritten Stadiums
f- u r u üie Kranken im ersten Stadium scheinen also ebenso ge-
iahrheh wie die im dritten Stadium stehenden. Im ersten und zweiten
Stadium konnten bazillenführende Tropfen bei allen, im dritten Sta-
dl.um nur be' e*nem von sieben Patienten nachgewiesen werden.
Die Virulenz der Bazillen, auf Meerschweinchen übertragen, zeigte
sich stärker bei den Sputumbazillen des ersten und zweiten Stadium
als bei denen des dritten Stadiums. In der Praxis spielen ohne Zweifel
andere bedeutende Faktoren mit, die die Ansteckungsgefahr vermehren
oder vermindern.
H. Köster Die Zytologie der Pleura- und Peritonealergüsse.
(Nordiskt medicinskt Arkiv 1905. Abt. II. Innere Medizin. Heft 3
und 4.)
Das Material umfasst ca. 250 Patienten. Der Verfasser fasst seine
Resultate folgendermassen zusammen: 1. Die Lymphozyten in tuber¬
kulösen Ergüssen überwiegen in nicht weniger als 80 Proz. der Fälle,
andere Zellelemente sind nur spärlich vorhanden. 2. Bei Trans¬
sudaten sind die Endothelien zahlreich vertreten, in 76,5 Proz. der
Fälle, aber meistens (in 45 Fällen von 52) sind auch gleichzeitig zahl¬
reiche Lymphozyten vorhanden. 3. Bei inflammatorischen Exsudaten
anderer Art als tuberkulöser und rheumatischer Natur sind die
polynukleären Leukozyten in nicht weniger als 80 Proz. zahlreich
vorhanden, während die Lymphozyten relativ selten (in 7 Fällen von
29) zahlreich vorhanden sind. 4. Bei pleuritischen Ergüssen, die
in Zusammenhang mit einem akuten Gelenkrheumatismus entstanden
sind, überwiegen die Lymphozyten nur selten, dagegen sind relativ
oft sowohl zahlreiche polynukleäre Leukozyten (in 33,4 Proz.) als auch
solche und gleichzeitig zahlreiche Endothelien (in 40 Proz.) vorhanden
5. Bei Karzinom überwiegen gewöhnlich die Endothelien (in 63,4
Proz.), aber manchmal sind auch reichlich Lymphozyten vorhanden
(in 11 Fällen von 41). Diese Endothelien zeigen öfter den Typus
von Geschwulstzellen. 6. In den Fällen, in denen die Ursache des
Ergusses nicht mit Sicherheit bestimmt werden konnte, stimmt das
Sediment fast völlig mit demjenigen der Ergüsse bei Tuberkulösen
überein, und die Auffassung des tuberkulösen Ursprungs dieser Er¬
güsse, der sog. idiopathischen Pleuritiden, gewinnt hierdurch an Wahr¬
scheinlichkeit. 7. Ein längeres Ueberwiegen von polynukleären Leu¬
kozyten im Sediment spricht mit grosser Wahrscheinlichkeit für die
Entwicklung eines Eiterexsudates. Betreff der Technik des Ver¬
fassers muss auf die in deutscher Sprache publizierte Original¬
abhandlung hingewiesen werden.
Chr. Kier (D): Ueber experimentelle Leukozytose. (Ibidem
Heft 4.)
Der Verfasser zeigt, dass die Thomas-Zeiss sehe Einteilung
für die Zählung von weissen Blutkörperchen nicht genügt; er gibt
eine Erweiterung an, welche die leichtesten Zahlen um damit zu ar¬
beiten gewährt. Bei Untersuchung über Leukozyten bei Kaninchen
zeigt der Verf. eine Menge Fehlerquellen, die bisher von dem grössten
Teil der Verfasser nicht berücksichtigt worden sind. Er warnt davor,
vorläufig, so lange die leukozytäre Reaktion noch nicht besser aufge¬
klärt worden ist, die leukozytären Verhältnisse bei Infektionen bei
demselben als Erklärung für Entsprechendes beim Menschen benutzen
zu wollen.
Hans Jansen (D): Ueber Zytodiagnostik von Pleuraergüssen.
(Nordisk Tidskrift for Terapi 1906, Heft 9.)
Der Verfasser findet in seinem Material von 22 Patienten gute
Uebereinstimmung zwischen den zytologischen Bildern und der übri¬
gen klinischen Untersuchung. Er hat zur Färbung die Leish-
m a n sehe Flüssigkeit angewandt. Er findet, dass Ergüsse mit En¬
dothelzellen mechanischer Natur sind (Köster [s. o.] fordert nur
Ueberwiegen von Endothelzellen, indem er immer einige Endothelien
in den Ergüssen findet. Nach dem Verfasser soll K. wegen seiner
Technik, Untersuchung des ungefärbten Präparates, mit Endothelien
grosse mononukleäre Leukozyten verwechselt haben), dass Ergüsse
mit überwiegenden polynukleären Leukozyten und ohne Endothel¬
zellen infektiös, nicht tuberkulös sind, und dass Ergüsse mit über¬
wiegender Anzahl von Lymphozyten und ohne Endothelzellen wahr¬
scheinlicherweise tuberkulös, aber auch von anderer Natur sein
können. Adolph H. Meyer- Kopenhagen.
Spanische Literatur.
J. Peralta: Bemerkungen über den Trockenrückstand des
Urins und seine Bedeutung für das Studium der Nierenkrankheiten.
(Rev. de Med. y Cir. Präct., 14./21. V. 06.)
Peralta will das Verhältnis zwischen Trockenrückstand des
Urins und Körpergewicht als Depurationskoeffizienten benützen und
aus der Grösse des Quotienten Anhaltspunkte für die Prognose und
die Wirksamkeit der Therapie bei der Nephritis gewinnen. Selbst¬
verständlich wurde nicht der Trockenrückstand von einem Tage
verwertet, sondern der Durchschnitt von mehreren Tagen bei leich-
licher gemischter Kost. Bei 10 gesunden jungen Leuten betrug das
Verhältnis Trockenrückstand : Körpergewicht ungefähr 1, d. h. 1 kg
Gewicht entsprach 1 g Rückstand; die Höchstzahl war 1,47, die
Mindestzahl 0,82. Vielleicht sind bei Kindern die Schwankungen
grösser; wenigstens deutet eine Beobachtung des Verf. darauf hin;
jedoch besitzt er zur Entscheidung dieser Frage zu wenig Erfahrung.
Auch pathologische Fälle hat er noch wenig untersucht; jedoch sind
hier die Beobachtungen teilweise recht bezeichnend. In einem Falle
parenchymatöser Nephritis war die Zahl 0,84 und stieg bei Bessefung
der Symptome auf 0,9; ein Fall von Schrumpfniere, kurz vor dem
letalen Ausgang, hatte die Zahl 0,23, ein Fall von grosser bunter
Niere 0,56 und kurz vor dem Exitus 0,40. Weitere Untersuchungen
des Verf. sind abzuwarten; aber schon jetzt lässt sich sagen, dass
die Methode für die Praxis viel zu umständlich ist, ganz abgesehen
davon, dass die Exaktheit der Versuche mindestens eine stets kon¬
stante Probekost verlangen würde.
E. Perez N o g u e r a: Das Narzil. (Gac. Med. Catal. 30. IV. 06.)
Verf. bespricht die Darstellungsweise und die Wirksamkeit des
Narzils, des salzsauren Aethyl-Narzeins, im Tierexperiment und am
kranken Menschen, um aber auf Grund seiner eigenen Beobachtungen
zu dem Resultat zu kommen, dass es vor Morphin, Opium, Kodein,
Narzein therapeutisch keine Vorteile besitzt, wohl wasserlöslicher,
aber dafür auch viel teurer ist als Narzein.
Co di na: Paralysis agitans und Schilddrüse. (Real Acad. de
Madrid, 21. IV. 06, Rev. de Med. y Cir. Präct., 28. V. 06.)
Verf., der bereits früher (Rev. de Med. y Cir. Präct. 1903) ausführ¬
licher über den Zusammenhang derSchiittellähmung mit Affektionen der
Schilddrüse sich ausgesprochen hatte, berichtet hier über die Sektion
eines Kranken mit Paralysis agitans. Neben Atheromatose und einer
kleinen Narbe im linken Stirnhirn fand sich eine Schilddrüse von
20 g Gewicht, von dunkelweinroter Farbe, mit einer fast schwarzen
Stelle, die beinahe 2/s des linken Lappens ausmachte; beim Durch¬
schneiden war das Gewebe sehr hart, die Schnittfläche ebenfalls
sehr dunkel, und dem schwarzen Flecke entsprach ein alter, sub-
kapsulärer Bluterguss. Verf. glaubt, dass dieser Befund geeignet ist,
seine Ansicht über den Zusammenhang beider Affektionen zu stützen.
A. Rodriguez-Morini: Beitrag zum Studium der progres¬
siven Paralyse in Spanien. (Gac. Med. Catal. 15. IV. 06.)
Die Statistiken der spanischen Irrenanstalten liefern für dia
Paralyse nur ein mangelhaftes Material, immerhin kann man ihnen
entnehmen, dass 5 — 6 Proz. der männlichen Insassen Paralytiker sind;
in den nördlichen Provinzen, wo der Alkoholismus eine grössere
1484
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Rolle spielt, steift die Zahl auf 8 Proz.; von weiblichen Insassen war
nur 1 Proz. paralytisch. Die Krankheit tritt in Spanien meist zwischen
dem 32. und 48. Lebensjahr auf; selten vor 25 oder nach 50 Jahren.
Sie ist doppelt so häufig in grossen Städten als auf dem Lande, häufiger
bei Verheirateten als bei Ledigen; von Berufen sind die gebildeten
Stände bevorzugt. Sehr selten nur tritt sie bei beiden Ehegatten auf.
In 90 Proz. der Fälle erscheint die Syphilis als ätiologischer Haupt-
faktor, in 8 Proz. der Alkohol; jedoch führt er im Gegensatz zur
Syphilis in der Mehrzahl der Fälle nicht zu der klassischen Paralyse,
sondern zu einer heilbaren Pseudoparalyse, ln 2 Proz. der Fälle
bleibt das ätiologische Agens dunkel (irgendwelche Intoxikation).
Gemäss der ätiologischen Bedeutung der Syphilis, zeigen 90 Proz. der
Fälle die klassische Form der Meningo-Encephalitis diffusa mit letalem
Ausgang binnen 2 — 3 Jahren.
J. Martin A g u i 1 a r: 34 Pfund schwere linksseitige Ovarialzyste
mit 2Vz facher Achsendrehung, Höhlenblutung und ausgedehnter Wand¬
gangrän, kombiniert mit Schwangerschaft. Normale Geburt eines
lebenden Kindes von 3,369 kg Gewicht, 32 Stunden nach der Ovario-
tomie. Heilung. (Gac. Med. de Granada 7. V. 06.)
Interessante kasuistische Mitteilung, durch den Titel genügend
beschrieben.
B. Castresana: Ein neues Anästhetikum in der Ophthal¬
mologie. (El Siglo Medico, 19. V. 06.)
Verf. hat das Alypin in seiner Klinik vielfach verwendet und
hält es für ein vorzügliches, dem Kokain und Stovain wesentlich
überlegenes Anästhetikum. Seine Lösung ist leicht, ohne Zersetzung,
sterilisierbar, wird an Schleimhäuten und im Unterhautzellgewebe
leicht und rasch resorbiert; nie wurde, auch bei subkutaner Injektion
einer 4 proz. Lösung, Nekrose oder entzündliche Reaktion beobachtet.
Die Anästhesie ist schon bei 2 proz. Lösung sehr ausgesprochen, und
die Wirkung dringt mehr in die Tiefe als die 10 proz. Kokainlösungen:
sie tritt schon nach etwa 1 Minute ein und hält 8—10 Minuten an.
Das Mittel ist ferner nicht giftig, bezw. sehr wenig giftig; selbsx
Injektionen 4 proz. Lösung in die Subkutis oder die Tenonsche
Kapsel bei grossen Operationen wie Enukleationen, bei denen grosse
resorbierende Wundflächen entstanden, erwiesen sich als indifferent.
Ein weiterer Vorteil des Mittels ist, dass es keine Störung
der Akkomodation oder der Pupillenerweiterung herbeiführt, eine
Eigenschaft des Kokains, die besonders bei Druckerhöhung schädlich
sein kann. Den dem Alypin gemachten Vorwurf, dass ihm die vaso-
konstriktorische Wirkung fehle, kann Verf. nicht bestätigen; Opera¬
tionen nach subkutaner Injektion des Mittels zeigten weniger Blutung
als ohne das Mittel. Alles in allem hält Verf. das Alypin für ein
gutes Anästhetikum und für geeignet, die bisher angewendeten Mittel
mit Vorteil zu ersetzen.
J. A. del Cueto: Prophylaktische Blutstillung in der Otorhino-
laryngologie. (Archiv, de Ginecopat., Obst, y Ped., Ref.: Rev. de
Med. y Cir. Präct., 14. VI. 06.)
Um Blutungen bei Nasenrachenoperationen, spez. bei Adenoiden,
aus dem Wege zu gehen, gibt Verf. am Vorabend der Operation:
Reines Chlorkalzium 3,0, Aqu. dest. 250,0, Sirup, q. s.; in 4 Por¬
tionen zu nehmen, die letzte 2 Stunden vor der Operation; das Mittel
verträgt sich nicht mit Milch. Die Wirkung desselben besteht in einer
Vermehrung der Gerinnungsfähigkeit des Blutes, wodurch Nach¬
sickern etc. verhütet wird. Die oben angegebene Dosis ist die für
einen Erwachsenen und ist für Kinder dem Alter gemäss zu redu¬
zieren. M. Kaufmann - Mannheim.
Gerichtliche Medizin.
V o 1 1 m e r - Simmern: Mord durch Verbrennung. (Zeitschr. f.
Med. -Beamte, 1906, No. 1.)
Ein in Familienpflege befindlicher, verstümmelter Idiot ward ans
Bett gefesselt und durch Inbrandsetzung des Hauses getötet. An
beiden Oberarmen der verkohlten Leiche fanden sich oberhalb des
Ellbogengelenkes quer verlaufende Einschnürungsfurchen, in denen-
die sonst zerstörte Haut gut erhalten war, und an den eisernen Bett¬
stellen verkohlte Strickreste, die in die Schnürfurchen hineinpassten.
M u 1 e r t - Waren: Ueber Selbstmord durch Selbsterdrosselung
unter Mitteilung eines Falles eigener Beobachtung. (Zeitschr. f.
Med. -Beamte, 1906, No. 7.)
Efh hochbejahrter Mann hatte sich ein wollenes Tuch mehrfach
um den Hals geschlungen, vorne zugeknotet und mit einem zwischen
die Türen gesteckten Holzstabe dreimal herumknebelt. Das Zurück¬
schnellen des Stabes und das Aufdrehen des Tuches war dadurch
verhindert, dass sein unterer Teil sich an das Schlüsselbein anlehnte.
S t u b e n r a t h - Würzburg: Ueber Ohrenblutung beim Hän¬
gungstode. (Friedreichs Blätter, 1906, Heft 3.)
Bei einem älteren und seit Jahren mit Kopfkongestionen be¬
hafteten Manne wurde nach dem Erhängen eine starke und anhaltende
Blutung aus beiden Ohren beobachtet, herrührend aus Trotnmelf ell-
einrissen im hinteren unteren Quadranten. Für das Zustandekommen
dieser Rupturen wirkten zwei Umstände zusammen, eine Steigerung
des Blutdrucks, da bei der Lage des Stranges um den Hals der
Blutlauf nicht vollständig unterbrochen war, an der Leiche durch die
starke Blutfüllung der Kopforgane, sowie die Ekchymosen der Wangen
und der Bindehäute erkenntlich, und eine Erhöhung des Luftdruckes
in den Paukenhöhlen, veranlasst durch das rasche und heftige Rück¬
wärtspressen des Zungengrundes und die Verlegung der Rachen¬
öffnungen der Tuben.
Zelle- Lüben: Ein Fall von Fehlen der Geschlechtsorgane nach
einer Entbindung mit unaufgeklärter Ursache. (Vierteljahrsschr. f.
ger. Med., 1906, Heft 1.)
Eine fiebernde Dienstmagd blieb bei der Frühgeburt sich allein
überlassen; man fand sie tot im Bette liegend, letzteres und die Diele
stark mit Blut besudelt, das Nachtgeschirr enthielt die Nachgeburt
und ein totes 35 cm langes Kind. Die nach 7 Tagen bei vorge¬
schrittener Fäulnis vorgenommene Sektion ergab als Todesursache
Verblutung nach der Geburt; die Scheide war unmittelbar hinter dem
Scheideneingange abgerissen und fehlte mitsamt den innneren Ge¬
schlechtsteilen, aus der Schamspalte ragten Reste der fast völlig
verwesten Mutterbänder vor, der Damm war 8 cm weit zentral
eingerissen. Auf welche Weise die Durchtrennung der Gewebe zu
stände kam, liess sich nicht mehr feststellen; mangels vitaler Re¬
aktionserscheinungen wurde ein postmortales Entstehen der Ver¬
letzungen angenommen und an eine -Leichenschändung behufs Ver¬
deckung der Abtreibungsmanipulationen gedacht.
D r e s c h e r - Mainz: Tödliche Vergiftung durch Inhalation von
Terpentinöldämpfen. (Zeitschr. f. Med. -Beamte, 1906, No. 5.)
Ein gesunder kräftiger Arbeiter, der die Innenwand eines eisernen
Kessels mit Lackfarbe anstrich, bekam nach kurzer Zeit Kopf¬
schmerzen, Uebelkeit und Erbrechen; nachdem er sich wieder erhob,
und die Arbeit fortgesetzt hatte, fand man ihn bald darauf bewusst¬
los mit dem Oberkörper zu dem Einsteigloche heraushängend; Wie¬
derbelebungsversuche blieben ohne Erfolg. Die Sektion ergab ledig¬
lich Hyperämie der Hirnhäute, starke Füllung des Herzens mit dunk¬
lem, flüssigen Blute, Blutreichtum der Bauchorgane, keine Er¬
stickungserscheinungen. Die verwendeten Farben erwiesen sich als
frei von Blei und Arsen, der COa-Gehalt des Kessels war unter
1 Prom., die Todesursache bestand daher in der Einatmung konzen¬
trierter Terpentinöldämpfe. Die Erscheinungen und der Sektions¬
befund stimmen mit den Beobachtungen bei früheren I ierversuchen
überein.
M a y e r - Simmern: Tödliche Dermatitis nach Anwendung von
Scillablättern als Volksheilmittel bei einer Verbrennung. (Viertel-
jahrschr. f. gerichtl. Med. 1906, li. 1.)
Eine kleine Brandwunde am rechten Handgelenk, die gerötete
Haut an der Innenseite des Armes und auch die unversehrte Haut des¬
selben wurden mit Streifen von Blättern der frischen Meerzwiebel
bedeckt. Es kam zu einer starken Entzündung der Haut, die mit
Rötung, Schwellung und Blasenbildung einherging und unter Zerfall
der Blasen, reichlicher Absonderung, Brand der Haut und Sepsis in
5V2 Tagen zum Tode führte. Das hohe Alter von 73 Jahren und die
stark ausgeprägte Arteriosklerose haben den ungünstigen Ausgang
mitbegünstigt.
Attilio C e v i d a 1 1 i - Modena: Ueber eine neue mikrochemische
Reaktion des Sperma. (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1906, H. 1.)
Die Methode Barberios, Bildung eigenartiger gelber Kristalle
bei Behandlung des Spermas mit wässeriger Pikrinsäurelösung,
wurde etwas abgeändert durch Lösung des Reagens in Glyzerin-
Alkohol, um die Bildung von Pikrinsäurekristallen zu vermeiden und
das Präparat konservieren zu können. Die Reaktion soll bei mensch¬
lichem Sperma konstant auftreten und ihm eigentümlich sein, bei
anderen Körpersäften, vegetabilischen Substanzen, auch bei anderen
Tiergattungen negativ ausfallen, durch Fäulnis vernichtet werden.
Die reaktiongebende Substanz ist nicht identisch mit der, welche die
F 1 0 r e n c e sehen Kristalle hervorbringt.
Dohrn und Zahnarzt Scheele- Kassel: Beiträge zur Lehre
von den Degenerationszeichen. (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
1906, H. 1.)
Wäre die Lehre vom geborenen Verbrecher, der auch äusserlich
die Zeichen seiner geistigen Entartung zur Schau trägt, richtig, so
müsste der Unterschied zwischen Entarteten und Normalen am deut¬
lichsten an den Gebilden des Schädels hervortreten. Die Verfasser
haben nun an ca. 850 Verbrechern und an 600 Soldaten vergleichende
Untersuchungen der Schädelbildung, mit besonderer Berücksichtigung
des Kiefers, der Zähne und des Gaumens angestellt und sind dabei zu
dem Ergebnis gekommen, dass sowohl bezüglich der Häufigkeit der
Degenerationszeichen, als bezüglich ihres mehrfachen Vorkommens
bei der gleichen Person zwischen Verbrechern und Gesunden nur
unwesentliche Unterschiede bestehen; hierbei verdient aber beson¬
dere Beachtung, dass die Soldaten schon ein auserlesenes, über dem
Bevölkerungsdurchschnitt stehendes Menschenmaterial sind und auch
einer jüngeren Altersstufe angehören als die sehr viel älteren Ver¬
brecher. Die Verfasser halten es daher nicht für gerechtfertigt, den
Stigmata einen forensischen Wert für den Beweis einer psychischen
Minderwertigkeit beizulegen.
C o 1 1 a - Buchheide: Drei Fälle von homosexuellen Handlungen
in Rauschzuständen. (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1906, H. 1.)
Die mitgeteilten Beobachtungen betreffen psychopathische Men¬
schen, bei denen der Alkohol für das Zustandekommen homosexueller
Handlungen eine verhängnisvolle Rolle spielte, entweder als Ge¬
legenheitsmacher, oder indem er die letzten Schranken der Selbst¬
beherrschung, die den geschlechtlich ausschweifenden Mann bisher
davon abhielt, niederriss, oder indem er die perverse Neigung
überhaupt erst hervorkommen liess.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1485
B r a u n - Elberfeld: Ueber Spiegelschrift. (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1906, H. 1.)
In einem Gerichstermine beobachtete B. zufällig, wie ein junges
Mädchen unter das Protokoll seinen Namen mit der linken Hand in
Spiegelschrift schrieb. Dasselbe war erheblich geistesschwach und
von Jugend auf an der rechten Körperseite unvollständig gelähmt.
Es konnte allerdings auch mit der rechten Hand schreiben und
schrieb mit dieser gewöhnliche Schrift, schrieb aber lieber und
fliessender mit der linken Hand und dann immer Spiegelschrift. B.
erörtert, wie eine solche Perversion der graphischen Ausdrucks¬
bewegungen bei Schwachsinnigen zustande kommt, dass Spiegel¬
schrift resultiert, und glaubt, dass eine, konstant und unwillkürlich
vorhandene, linkshändige Spiegelschrift für Schwachsinn, wenigstens
für ein von frühester Jugend ab bestehendes Gehirnleiden spricht.
Dr. Carl Becker.
Unfallheilkunde.
Liniger: Interessante Fälle aus der Unfallpraxis. (Kranken¬
haus der Barmherzigen Brüder in Bonn.) (Mit 1 Abbildung.)
(Monatsschr. f. Unfallheilk. 1906, No. 1.)
Von einem Glasbläser war plötzlich während des Blasens einer
Flasche ein Stich in der Backe verspürt und bemerkt worden, dass
Luft in die Backe bis zum Ohr hinaufdrang. Es handelte sich um eine
Erweiterung des linken Parotisausfiihrungsganges, der sich seitdem
durch Aufblasen der Backe in seinem ganzen Verlauf bis dicht vor das
Ohr mit Luft aufblasen Hess und in etwa Bleistiftdicke unter der Haut
hervorsprang. Der Unfall wurde vom R.-V.-A. anerkannt, doch ist
L. der Ueberzeugung, dass die B.-G. mit ihrem ablehnenden Bescheid
im Recht war, da sich, ganz analog zur Entstehung eines
Leiste n bruches, kein Betriebsunfall ereignet hatte und das
Blasen der Flasche eine durchaus gewohnte Arbeit des Pat. war;
dieser hatte eine von Natur aus sehr schwach entwickelte Backen¬
muskulatur, es bestand daher eine ausgesprochene Disposition zu
einer Ausdehung des Speichelganges (was auch daraus sich ergibt,
dass auf der anderen Seite ebenfalls eine Erweiterung des Speichel¬
ganges vorhanden ist). In dem betreffenden Moment hatte sich durch
die gewöhnliche Betriebstätigkeit das schon allmählich vorbereitete
Leiden zum ersten Male störend bemerkbar gemacht, indem es in
diesem Augenblick zu dem längst vorbereiteten Versagen des Klap¬
penverschlusses am Ausgang der Ohrspeicheldrüse kam.
S c h m i d t - Kottbus: Uebungstherapie zur Vermeidung von
Hypostasen in den Lungen. (Monatsschr. f. Unfallheilk. 1906, No. 2.)
S. empfiehlt zur Vermeidung von Hypostasen bei alten Leuten,
bei denen eine Behandlung ausser Bett unmöglich oder nicht wün¬
schenswert ist, methodische aktive Uebungen mit den Armen und be¬
sonders passive künstliche Atmungsbewegungen vornehmen zu lassen,
täglich 3 — 4 mal, jedesmal 10 — 15 Minuten, vor den Mahlzeiten.
T h i e m - Kottbus: Wasserbruch nach Unfall (Hydrocele trau¬
matica). (Monatsschr. f. Unfallheilk. 1906, No. 3).
Um Missverständnissen zu begegnen, die durch ein von Körte
abgegebenes Obergutachten, das in einem besonderen Fall die (in¬
direkte — durch schweres Heben verursachte) Entstehung eines
Wasserbruches durch Unfall für unwahrscheinlich erklärt, in ver¬
allgemeinernder Weise gemacht werden könnten und konnten, als
ob die traumatische Entstehung eines Wasserbruches überhaupt zu
bestreiten sei, wird durch die Mitteilung eines Gutachtens über einen
durch Hodenquetschung entstandenen Wasserbruch dargetan, dass das
Fehlen oder Vorhandensein einer blutigen Beimischung zum Hydro-
zelenerguss, wie sie bei indirekt entstandenen Wasserbrüchen für
die Anerkennung des Zusammenhanges mit dem Unfall gefordert
werden muss, kein Beweis für die traumatische oder spontane Ent¬
stehung ist, sondern dass auch ohne Blutbeimengung eine Hydrozele
eine durch Quetschung des Hodens und Nebenhodens hervorgerufene
Unfallfolge sein kann.
M o s e r - Weimar: Ueber die Massverhältnisse des rechten und
linken Armes. (Aerztl. Sachverständigenztg. 1906, No. 2.)
Angesichts der grossen Bedeutung, die bei Beurteilung von Un¬
fallfolgen einem gleichen oder gar geringeren Umfang des rechten
Armes gegenüber dem linken beigelegt wird, hat M. eine kleine En¬
quete über diese Frage veranstaltet und ist dabei auf Grund von
216 Massresultaten an Gesunden zu dem Ergebnis gekommen, dass
man höchstens in der Hälfte der Fälle von einem grösseren Umfang
der rechten oberen Extremität sprechen kann. M. fordert zu weiteren
Messungen auf, betont aber die Notwendigkeit, den Umfang beider
Arme gleich nach dem Unfall zu messen und im ersten Gutachten
die Masse anzugeben.
A.. S t e y e r t h a 1 - Wasserheilanstalt Kleinen in Mecklenb.: Die
Beurteilung der Unfallneurosen. (Aerztl. Sachverständigenztg. 1906,
No. 3.)
Der Standpunkt des Verfassers, der sich auf ein Material von
1000 aus allen Ständen sich rekrutierenden Fällen (609 männlichen,
391 weiblichen) aus den Jahren 1895 — 1905 stützt, ist folgender:
Wer es nicht einsieht, dass ein vierschrötiger Kohlenarbeiter ge¬
nau das gleiche Anrecht darauf hat, nervös zu werden, wie eine ver¬
zärtelte Bankiersgattin, ganz abgesehen davon, ob eine Prädisposition
vorliegt oder nicht; wer es nicht glaubt, dass nach einer Verletzung
nie und nimmer eine Neurose entstehen kann, die nicht aus irgend
einer anderen, mit elementarer Kraft ins menschliche Leben ein¬
greifenden Ursache genau ebensogut hervorgehen könnte, ganz gleich¬
gültig, ob eine mechanische Erschütterung der Zentralnervenapparate
stattgefunden hat oder nicht: der wird einen Fall von sog. Unfall¬
neurose weder richtig aufzufassen, noch richtig zu beurteilen, noch
auch richtig zu behandeln imstande sein.
Ferner: Der Standpunkt, dass Neurasthenie und Hysterie zwei
verschiedene Krankheiten sind, die nichts miteinander zu tun haben
(Möbius) und nur durch Misch- und Zwischenformen miteinander
verbunden sind (C h a r c o t), muss heutzutage als unhaltbar auf¬
gegeben werden; es kann sich nur um gradatim verschiedene Sta¬
dien einer und derselben Krankheit handeln, und zwar ist es immer
und immer wieder die nervöse Ermüdung bezw. Erschöpfung, die
entweder als einfache (reizbare) Nervenschwäche (Cordes) —
Neurasthenie (Beard) — oder als objektiv nachweisbare zentrale
Ausfallserscheinungen funktioneller Natur — Hysterie — imponiert.
Es handelt sich nur um verschiedene Formen der reinen Ermüdungs¬
und Erschöpfungsneurose (Krafft-Ebing); die vermeintlichen
Unterschiede ergeben sich nur durch die mehr oder minder ausge¬
prägte Belastung und Entartung des Individuums.
Hysterisch kann jeder werden.
Die Krankheit ist genau dieselbe, ganz gleichgültig, durch welches
körperliche oder geistige Trauma sie hervorgerufen wird. Von einer
Neurasthenie zu sprechen, hat keine grössere Berechtigung, als wenn
man z. B. die Nervenschwäche der Postbeamten als N. postalis, die
der verfeindeten Ehegatten als N. conjugalis oder die der verlassenen
Frau als N. adulteria bezeichnen wollte.
Deshalb soll man jeden durch eine Verletzung nervenleidend ge¬
wordenen Patienten auffassen als das, was er wirklich ist: nämlich
als einen Nervenkranken, und nicht in den Fehler der Simulanten¬
riecherei verfallen. Trotzdem ist die Gefahr, infolge dieser Auf¬
fassung Unfallnervenkranke zu günstig zu beurteilen, ausgeschlossen;
die therapeutische Forderung heisst: Ruhe ist Gift, das geeignete
Medikament ist die richtig dosierte Arbeit. Ausgenommen ist eine
bestimmte Klasse von Unfallnervenkranken, die selbst durch den Ver¬
such, zu arbeiten, in ihrer Gesundheit noch mehr geschädigt werden
würden — das sind die Fälle von schweren Kopfverletzungen, bei
welchen die psychischen Symptome stark im Vordergrund des Krank¬
heitsbildes stehen und der körperliche Verfall mit dem geistigen
parallel geht.
Die Behandlung sei keine Therapie sensu strictiori, sondern eine
Pädagogik. Nervenkranke behandle man nicht, sondern erziehe sie,
wobei man mit berechtigter Milde weiter kommt, als mit drakonischer
Strenge.
G. H e r z f e 1 d - Berlin: Bornyval bei traumatischen Neurosen.
(Aerztl. Sachverständigenztg. 1906, No. 4.)
H. hat Boryval bei 9 traumatischen Neurosen, bei denen die
nervösen Herzbeschwerden hervorragend in Erscheinung traten, ge¬
geben und vor allem einen sichtlichen Umschwung in der Stimmung
der Behandelten schon nach 3 — 5 Tagen gesehen, in zweiter Linie
wurde überraschend die gestörte Herzaffektion beeinflusst. Damit
zusammenhängend wurde die Schlaflosigkeit gemildert und das All¬
gemeinbefinden gehoben.
M o s e r - Weimar : Trauma und Gelenktuberkulose. (Aerztl.
1 Sachverständigenztg. 1906, No. 4 u. 5.)
Da in vielen Fällen von angeblich traumatischer Gelenktuberku¬
lose diese nicht die Folge eines Unfalles ist, sondern umgekehrt:
das ursprüngliche Leiden den Unfall veranlasst hat, da ferner der
Hergang des Unfalles, die ärztliche Beobachtung direkt nach dem
Unfall und der weitere Verlauf der Erkrankung zumeist so ungenau
sind, dass aus ihnen keine weiteren Schlüsse zu ziehen sind, so
steht M. auf dem Standpunkt, nicht allzu vertrauensselig gegenüber
den Angaben der Verletzten über ihren Unfall zu sein, der oft nur
irgend einen kleinen Vorgang bei der Arbeit, wie er sich tagtäglich
ereignet und bei Gesunden völlig spurlos vorübergeht, betrifft. Mit
Sicherheit kann ein Zusammenhang zwischen Unfall und Gelenk¬
tuberkulose niemals behauptet, sondern nur mit grösserer oder ge¬
ringerer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, und letzteres auch
nur unter folgenden Bedingungen:
I. Der Hergang des Unfalles und der Verlauf des Leidens bis
zum Erscheinen der Tuberkulose muss genau bekannt sein.
2. Das Trauma muss stets ein stärkeres gewesen sein.
3. Die Folgen der Verletzung müssen sich sofort bemerkbar ge¬
macht haben und nachhaltig gewesen sein.
4. Dieselben können anscheinend wieder völlig zurückgehen oder
bestehen bleiben bis zum Erscheinen der Tuberkulose.
5. Je früher die Tuberkulose nach der Verletzung erscheint, desto
unwahrscheinlicher ist der Zusammenhang.
6. Als mindeste Zeit muss zwischen beiden ein Zeitraum von
4 — 6 Wochen liegen.
7. Durch die Verletzung wird entweder die Grundlage zur Ent¬
wicklung der Tuberkulose überhaupt im Gelenk gegeben oder, was
das häufigere Vorkommnis ist: ein schon vorhandener alter ruhender
Herd zum Neuaufflackern gebracht.
8. Eine schon bestehende manifeste Tuberkulose kann in ein rasch
verlaufendes akutes Stadium übergeführt werden.
9. Die körperliche Gesamtkonstitution ist stets mit zu berück¬
sichtigen.
Mitteilung von 27 Fällen.
I486 MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ No. 30,
R. Bernstein: Ueber Verletzungen und Erkrankungen des
Herzens durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Brustkorb und
ihre Begutachtung. (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1905, H. 4.)
Eingehende Abhandlung über das Thema nach 2 grossen Ge¬
sichtspunkten:
I. Von dem Trauma ausgehend: Untersuchung der primären und
sekundären Folgen desselben:
1. Primäre Folgen des Traumas, die keine anderen als Kon¬
tinuitätstrennungen vorübergehender oder bleibender Natur sein
können. Sie können betreffen:
A. Das ganze Herz oder grössere Abschnitte desselben.
B. Die strukturellen Bestandteile desselben im einzelnen: 1. Das
Perikard, 2. das Myokard. 3. die Klappen und das Endokard, 4. die
Blutgefässe des Herzens (Koronargefässe und ihre Kapillaren), 5. die
Nervenapparate des Herzens, soweit nicht, den neueren Anschauungen
zufolge, für Ursprung und Fortleitung der „nervösen“ Reize wiederum
das Myokard in Betracht kommt.
2. Sekundäre Folgen des Traumas:
a) Heilungsvorgänge.
b) Krankheitsvorgänge: a) durch Nekrosen und extravasiertes
Blut, ß) durch pathogene Mikroorganismen.
II. Umgekehrt von dem einzelnen Fall der Herzerkrankung aus¬
gehend: Erörterung des ursächlichen Zusammenhanges desselben mit
dem vorausgegangenen Trauma unter Zugrundelegung der Erck-
I e n t z sehen Forderungen für den Nachweis des Zusamenhanges:
1. Das Trauma und seine näheren Umstände müssen einwandsfrei
festgestellt sein.
2. Patient muss bis zu seinem Unfall vollständig gesund ge¬
wesen sein.
3. Im Anschluss an den Unfall müssen sich gleich oder nach
kurzer Frist Herzsymptome gezeigt haben.
4. Eine Kontinuität zwischen späteren und unmittelbaren Folge¬
zuständen muss mit Sicherheit oder grösster Wahrscheinlichkeit be¬
stehen.
Zusammenfassung:
1. Durch stumpfe Gewalteinwirkungen auf den Thorax können
Herzverletzungen und als deren Folgen Herzerkrankungen entstehen.
2. Ob und wann dies geschieht, kann im einzelnen Fall nicht vor¬
hergesagt werden, da die erforderlichen Begleitumstände selten vor¬
her erkennbar sind.
3. Bestehende Herzerkrankungen können auf vorausgegangene
Gewalteinwirkung auf den Thorax zurückgeführt werden.
4. Dies kann nur selten mit Sicherheit, meist nur mit grösserer
oder geringerer Wahrscheinlichkeit geschehen und hängt hauptsäch¬
lich von der Beantwortung der Frage ab, ob ein bestimmtes Krank¬
heitsbild sich in einer bestimmten Zeit entwickeln konnte.
5. Einwandfreie Feststellung der Gewalteinwirkung und der be¬
stehenden Herzerkrankung ist als selbstverständlich vorauszusetzen.
6. Im ganzen handelt es sich um seltene Vorkommnisse.
Martinek: Die Geistesstörungen infolge von Kopftrauma in
gerichtlich-medizinischer Beziehung. (D. Medizinalztg. 1905, No. 28
bis 32.)
Von den zwei Teilen der Arbeit, dem allgemeinen, klinisch-foren¬
sischen und dem speziell-forensischen, interessiert für die Unfallheil¬
kunde hauptsächlich der erstere mit seinen drei Punkten:
1. Welcher Art sind die infolge von Kopftrauma
auftretenden Geistesstörungen?
a) Primär-traumatisches Irresein.
1. Die von v. Krafft-Ebing unter dieser Bezeichnung be¬
schriebenen, wohl auch als primäre Demenz bezeichneten Formen,
sind ausgezeichnet durch auffallende Abnahme der Intelligenz und
schlechte Prognose.
2. Die zuerst von Wille beschriebenen Formen, die von G u d e r
als akute Form des primär-traumatischen Irreseins bezeichnet, von
anderen unter dem Namen „Delirium traumaticum“ zusammengefasst
werden, sind ausgezeichnet dadurch, dass sie trotz offenbar schwerer
Schädigung des Gehirns nach wenigen Monaten in Heilung aus¬
gehen.
3. Fälle, in denen die Geistesstörung durch die psychische Ein¬
wirkung der Kopfverletzung, den dabei überstandenen Schreck, die
Aufregung usw. bedingt werden; die oft sehr geringfügige Kopfver¬
letzung ist dann von ganz nebensächlicher Bedeutung. Das Krank¬
heitsbild ist das einer Psychoneurose, häufig kombiniert mit Sym¬
ptomen einer Hysterie, Hypochondrie; etwa auftretende Krämpfe sind
psychisch vermittelt. Das Krankheitsbild kann dem der trau¬
matischen Neurose ähneln. Jedenfalls fehlen Erscheinungen orga¬
nischer Hirnerkrankung.
4. Die Geistesstörungen, die unter dem Bilde der „Gehirn¬
erschütterung“ verlaufen.
5. Eine Reihe anderer Symptomenkomplexe: Dämmerzustände
von minuten-, stunden-, tagelanger Dauer; allgemeine Gedächtnis¬
schwäche; Amnesie (— begrenzter Verlust aller oder einiger Erinne¬
rungen in einem grösseren Zeitraum vor oder nach der Verletzung);
Erinnerungsdefekte, bedingt durch den Ausfall bestimmter von der
Lokalisation der Verletzung abhängiger Gruppen von Erinnerungs¬
bildern; der Gesichtseindrücke (Seelenblindheit, Verlust der optischen
Erinnerungsbilder), der Wortklänge undSprachbewegungen (Aphasie).
b) Sekundär-traumatisches Irresein (nach wochen-,
monate-, jahrelangem Prodromalstadium in Form von psychozere-
bralen Erscheinungen unter dem Bilde der Zerebrasthenie und des
vasomotorischen Symptomenkomplexes), spontan oder unter dem Ein¬
fluss von Gelegenheitsursachen (Alkohol, Affekte) entstehend.
1. Die reinen unkomplizierten Formen.
2. Die in Begleitung, meist von Epilepsie auftretenden trauma¬
tischen Psychosen.
3. Die sogen. Reflexpsychosen im Sinne K ö p p e s.
4. Die Geistesstörungen als ein Symptom traumatisch entstan¬
dener Geschwülste des Schädelinnern.
5. Die sogen, traumatischen Neurosen.
II. Haben 'diese Geistesstörungen in ihrer Ent¬
wicklung oder in ihrem Verlauf besondere charak¬
teristische Eigentümlichkeiten gegenüber Gei¬
stesstörungen anderer Aetiologie, Eigentümlich¬
keiten, durch welche ihre Beziehungen zu einem
Kopftrau mafiir den Gutachter ersichtlich werden?
Diese Frage wird trotz der verschiedenen Formen der trauma¬
tischen Psychosen mit Ja beantwortet. Als charakteristische
Symptome kommen in Betracht:
Die auffallende, oft progressive Gemütsreizbarkeit mit explosiven
Affektausbrüchen, die Veränderung der Stimmung und des Charakters
des Verletzten nach der schlimmen Seite hin.
Die Intoleranz gegen Exzesse aller Art, besonders gegen Alkohol.
Die Neigung zu fluxionären Hyperämien des Gehirns.
Die Häufigkeit abnormer Sensationen in der Schädelhöhle, nicht
selten lokalisiert auf die Stelle der Traumaeinwirkung oder ausgehend
von dieser.
Das nicht seltene Fortbestehen von Lähmungen motorischer
oder Sinnesnerven, oder selbst deren Zunahme als Zeichen einer fort¬
bestehenden, durch die Verletzung bedingten Gehirnerkrankung.
Die Fortdauer oder zeitweilige Wiederkehr von auf die trau¬
matische Ursache beziehbaren, anderweitigen zerebralen Symptomen
wie apoplektischen oder epileptischen Zufällen.
Das ungemein Wechselvolle in dem Symptomenkomplex, perio¬
dische Steigerungen und Verschlimmerungen der Erscheinungen.
Besonders charakteristisch ist das Vorwalten psychischer
Schwächezustände mit Tendenz zur Entartung und „Demenz“.
Ausserdem ist im Einzelfalle auch die Art der Kopfverletzung und
ihr Sitz diagnostisch verwertbar: unter Umständen gibt die Sektion
noch wichtige Aufschlüsse, manchmal auch das Röntgenverfahren.
III. Welche Allgemeinen Gesichtspunkte sind
für die Konstruierung des Kausalnexus zwischen
GeistesstörungundKopftrauma nachdemheutigen
Stande der Wissenschaft massgebend?
Schwab- Berlin.
Auswärtige Briefe.
Briefe aus Amerika.
Die medizinische Nationalbibliothek zu Washington.
Bis auf die neueste Zeit hatte das amerikanische Volk
wenig Zeit, seine Tätigkeit den Interessen der Künste und
Wissenschaften zu widmen. In der Kolonialperiode waren die
Amerikaner zu arm und zu unfrei und zu sehr mit dem Kampfe
mit der sie umgebenden Natur beschäftigt, um an etwas anderes
denken zu können, obgleich schon den ersten Ansiedlern
grosser Wissensdurst und Drang nach Bildung innewohnte.
Nach erlangter Unabhängigkeit war die junge Republik viele
Jahrzehnte damit beschäftigt, ihre Existenz zu sichern und erst
nach dem grossen Bürgerkriege, der die Republik für alle Zu¬
kunft auf eine sichere Basis stellte, konnte das Land ungehemmt
seine Tätigkeit auch den höheren Interessen der menschlichen
Kultur zuwenden. Das ist auch der Grund, warum die Ameri¬
kaner in den Wissenschaften und Künsten weniger geleistet
haben, als man von einem so grossen und freien Volke er¬
warten konnte, während sie auf jenen Gebieten, welche den
materiellen Interessen der Menschheit dienen, epochemachende
Erfindungen gemacht haben.
In den letzten 40 Jahren sind in den Vereinigten Staaten
grossartige Lehranstalten, prächtige Museen aller Art und un¬
zählige Bibliotheken gegründet worden, die eine feste Grund¬
lage für die Entwickelung der Wissenschaften in diesem Lande
bilden und deren Früchte in zukünftiger Zeit nicht ausbleiben
werden. In diese Zeit fällt auch die Gründung der grossen
medizinischen Bibliothek zu Washington, die der Gegenstand
des gegenwärtigen Artikels ist. Am Ende des Bürgerkrieges
besass das Bureau des Generalstabsarztes der amerikanischen
Armee eine kleine Bibliothek von einigen hundert Bänden.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1487
Herr Dr. Billings, der als Kriegschirurg während des
Bürgerkrieges in verschiedenen Stellungen der Unionsarmee
hervorragende Dienste geleistet hatte, und der über diese
Büchersammlung die Aufsicht führte, fasste nun frühzeitig den
Plan, eine grosse medizinische Bibliothek anzulegen und so
einem weitgefühlten Mangel abzuhelfen, denn obschon das
Land zwei oder drei ansehnliche medizinische Bibliotheken be-
sass, so war doch keine einzige reichhaltig genug, um den
Anforderungen der wissenschaftlichen Forscher nur einiger-
massen Genüge zu leisten. Billings hatte aber noch einen
anderen Zweck im Auge. Er sah ein, dass eine grosse National¬
bibliothek ein wichtiges Mittel sei, die medizinische Wissen¬
schaft, das medizinische Studium und damit den Aerztestand in
diesem Lande zu heben. Schon damals sagte er selbst: „Ein
solches Werk wird dazu beitragen, das Durchschnittsmass
der medizinischen Bildung, die Literatur und Gelehrsamkeit
der ganzen Nation zu heben und wird so indirekt eine Wohltat
für das ganze Land sein, da das allgemeine Wissen und die Ge¬
schicklichkeit des Aerztestandes eine Sache des persönlichen
Interesses für beinahe Jedermann ist.“ Der Kongress bewilligte
reichliche Summen für dieses grosse Unternehmen und man
ging energisch an den Ankauf von Büchern und medizinischen
Fachschriften. Dabei legte man ein Hauptaugenmerk darauf,
eine vollständige Sammlung der englischen, deutschen, fran¬
zösischen und italienischen Werke, die im Laufe des 19. Jahr¬
hunderts erschienen, zu erhalten, ohne jedoch die bedeutenderen
Werke aller anderen Sprachen ausser acht zu lassen. Aber
auch die hervorragenden Werke der früheren Jahrhunderte
vernachlässigte man nicht. Die Bibliothek besitzt prächtige
Ausgaben der Werke von Paracelsus, Harvey,
Sydenham, Hoff mann, Haller usw. Wie reich¬
haltig die Bibliothek an älteren Werken ist, zeigt die Tatsache,
dass von Hippokrates allein 51 verschiedene Ausgaben
seiner Opera omnia in griechischer, lateinischer, englischer,
deutscher, französischer und spanischer Sprache vorhanden
sind. Hiezu kommen noch 433 Ausgaben spezieller Abhand¬
lungen des Hippokrates und 398 Kommentare und biblio¬
graphische Schriften über seine Werke. An medizinischen Zeit¬
schriften besitzt die Bibliothek die vollständigste Sammlung,
die irgendwo zu finden ist. Selbst die wenigen medizinischen
Fachschriften, die im 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts
erschienen, fehlen nicht. Von den Zeitschriften der Gegenwart,
die in den verschiedenen Ländern veröffentlicht werden,
wurden beinahe alle Jahrgänge, die vor der Anlage der Biblio¬
thek erschienen, angeschafft. So energisch förderte Dr. Bil¬
lings, unterstützt durch die Freigebigkeit des Kongresses,
das Gedeihen der Bibliothek, dass dieselbe gegenwärtig über
193 000 Bände und 276 000 Dissertationen und Broschüren
zählt.
Im Jahre 1890 bewilligte der Kongress 200 000 Taler für
ein neues Bibliothekgebäude. Dasselbe ist in einfachem aber
praktischem Stile ausgeführt. Seine beiden Flügel bilden zwei
mächtige, über 40 Fuss hohe Hallen. In der östlichen be¬
findet sich das medizinische Museum, in der westlichen die
Bibliothek. Diese ist nach dem Magazinsystem eingerichtet.
Die mächtigen eisernen Büchergestelle erheben sich drei Ge¬
schosse hoch, welche letzteren durch eiserne Treppen mit
einander in Verbindung stehen. Die Halle erhält reichliche Be¬
leuchtung durch Seiten- und Oberlicht. Bei der bekannten
Trockenheit der amerikanischen Luft sind die Bücher den
schädlichen Einflüssen der Atmosphäre nicht im geringsten aus¬
gesetzt. Eine Lesehalle, wo die neuesten Nummern der medi¬
zinischen, chemischen, pharmazeutischen, anthropologischen
und tierärztlichen Zeitschriften aller Sprachen den Lesern zur
Verfügung stehen, sowie eine Anzahl von Arbeitszimmern für
die Angestellten der Bibliothek, befinden sich in demselben
Gebäude. Die Bibliothek wird eifrig benützt. Nicht nur von
den östlichen Staaten, sondern von allen Gegenden der Union
kommen Aerzte und Gelehrte auf viele Tage und Wochen
nach Washington, um die reichhaltige Literatur dieser Biblio¬
thek zu Rate zu ziehen, und schon mehrfach sind Gelehrte von
Europa herübergekommen, um zu ihren wissenschaftlichen
Arbeiten das zu suchen, was sie anderwärts nicht so voll¬
ständig und bequem finden konnten.
Was aber diese Büchersammlung zur bedeutendsten medi¬
zinischen Bibliothek der Gegenwart macht, ist nicht allein die
grosse Anzahl und Reichhaltigkeit der medizinischen Werke,
sondern in noch höherem Grade der grosse medizinische
Katalog, der den Schlüssel zu dieser Büchersammlung bildet
und von dem gegenwärtig 27 grosse Oktavbände fertiggestellt
sind. Schon bei der Gründung der Bibliothek hatte Herr
Billings den Plan gefasst, die gesamte medizinische
Literatur zu katalogisieren. Nach mehrjährigen ausgedehnten
und sorgfältigen Vorarbeiten wurde der erste Band im Jahre
1880 dem Drucke übergeben. Die erste Serie von 16 Bänden
wurde im Jahre 1896 vollendet. Eine zweite Serie wurde im
folgenden Jahre begonnen und von dieser sind bereits 11 Bände
erschienen. Dieses wertvolle Werk besteht aus einem alpha¬
betischen Autorenkatalog und einem Realkatalog. Unter den
Titeln des letzteren erscheinen nicht nur alle Bücher, Disser¬
tationen und Broschüren, die über einen speziellen Gegenstand
der Medizin handeln, sondern auch alle Artikel, die über den¬
selben Gegenstand geschrieben und in den medizinischen Zeit¬
schriften der verschiedenen Sprachen veröffentlicht worden
sind. Beide Kataloge bilden ein Ganzes, indem die Titel des
Realkataloges jeweilen an dem ihnen zukommenden Platze
unter dem Autorenalphabet erscheinen. Von der Allgemeinheit
und Reichhaltigkeit dieses Kataloges kann man sich einen Be¬
griff machen, wenn man bedenkt, dass die medizinische
Literatur von 21 Sprachen darin vertreten ist. Zwar sind schon
früher mehrfach bibliographische Werke der medizinischen
Literatur herausgegeben worden. G e s n e r veröffentlichte ein
solches Werk schon im Jahre 1545. Ihm folgte später
M e r k 1 i n, v. Haller, H a e s e r, Y o u n g, Watts u. a.
Alle diese Versuche sind aber beschränkt und zwerghaft und
können in keiner Weise mit dem grossen amerikanischen Werke
verglichen werden. Die Medizin machte in früheren Zeiten
nur langsame Fortschritte, die Literatur war nicht ausgedehnt
und das Bedürfnis eines bibliographischen Werkes machte sich
nicht sehr fühlbar. Aber seit der Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts nahmen die medizinischen Wissenschaften einen kaum
geahnten Aufschwung und namentlich sind die letzten 25 Jahre
fruchtbar gewesen, denn in diese Zeit fallen die grossen epoche¬
machenden Entdeckungen, welche die Heilwissenschaft zum
Teil auf ganz neue Bahnen lenkten. Die Abfassung des Kata¬
loges wurde daher in einer Zeit begonnen, wo er der Wissen¬
schaft die wertvollsten Dienste leisten konnte.
Der Katalog wird nur in 1500 Exemplaren gedruckt und an
die grösseren medizinischen Bibliotheken, Universitäten und
wissenschaftlichen Institute, sowie an hervorragende Männer
der Wissenschaft in Amerika und den verschiedenen Staaten
Europas verabreicht. Es ist klar, dass dieser Katalog, da er
die gesamte Literatur der älteren und neuesten Zeit in sich
schliesst, in irgend einer medizinischen Bibliothek von grossem
Werte ist. Die sorgfältige und genaue Abfassung des Kata¬
loges und dessen hohe Wichtigkeit für die Wissenschaft, hat
unter den Gelehrten aller Länder geziemende Anerkennung ge¬
funden. In einer Besprechung des Werkes in dieser Wochen¬
schrift (1897) sagt F. v. W i n c k e 1 : Wir haben alle Ursache,
dem Autor und der amerikanischen Regierung den herzlichsten
Dank auszusprechen für dieses opulente Werk und die grosse
Munifizenz, mit der jene dasselbe an die Gelehrten aller
Länder versenden. Für uns vergehen wenige Tage im Se¬
mester, in denen wir dasselbe nicht zur Belehrung in die Hand
nehmen und uns immer wieder beim Aufsuchen der in ihm
zitierten Quellen über die absolute Zuverlässigkeit seiner An¬
gaben freuen. Welch eine Menge von Zeit und Mühe jedem
Forscher auf ärztlichem und naturwissenschaftlichem Gebiet
durch seine Existenz erspart wird, das vermag nur der zu be¬
urteilen, welcher dem Fortschreiten dieses Werkes seit
17 Jahren gefolgt ist.
Es ist hier am Platze, noch eines anderen Unternehmens
zu erwähnen, das mit der Bibliothek in Verbindung steht und
das für die medizinische Welt von nicht geringem Wert und
Wichtigkeit ist. Es ist dies der Index Medicus. Die Herren
Billings und F 1 e t c h e r begannen mit der Herausgabe
dieses Werkes schon im Jahre 1879. Sie wollten durch diese
monatlich erscheinende Publikation, die im kleinen einen Real-
1488
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
katalog der gesamten neuesten Literatur eines jeden Monats
bildet, einem Mangel abhelfen, den der Katalog der Bibliothek
nicht ausfüllen konnte. Das Werk wurde ununterbrochen fort¬
gesetzt bis zum Jahre 1900, wo es dann aufgegeben werden
musste aus Mangel an zureichender Unterstützung. Man fühlte
aber so sehr die Notwendigkeit eines solchen Werkes, dass die
Carnegie Institution die Sache wieder an die Hand nahm und
den Index Medicus fortsetzte unter Leitung von Herrn
Dr. Robert F I e t c h e r und Herrn Dr. Fielding H. Garrison.
Bis jetzt sind im ganzen 24 Bände von diesem Werke er¬
schienen.
Zum Schlüsse geziemt es sich, noch der Männer zu ge¬
denken, die durch ihre unermüdliche Arbeit das Gedeihen der
Bibliothek gefördert und die Herausgabe des Kataloges möglich
gemacht haben, Herr Dr. Billings, der als Gründer der
Bibliothek angesehen werden muss, trat im Jahre 1895 von
seiner Stelle zurück. Derselbe ist gegenwärtig Direktor der
öffentlichen Bibliotheken der Stadt New York. Seine Ver¬
dienste um die Wissenschaft sind im Jahrgang 1896 dieser
Wochenschrift von F. v. W i n c k e 1 in einem längeren Artikel
geziemend hervorgehoben worden. Schon im Jahre 1888 hatte
die K. Universität München ihn zu ihrem Ehrendoktor ernannt.
Herr Dr. F 1 e t c h e r, ein Fachmann in der medizinischen
Bibliographie, der schon seit dem Jahre 1879 mit Herrn
Billings verbunden war, setzte dann den Katalog bis auf die
Gegenwart fort. Ihm steht Herr Dr. Garriso n als tüchtiger
Assistent zur Seite.
Die Bibliothek mit dem dazu gehörigen Personal bildet
eine Abteilung des Bureaus des Generalstabsarztes, welcher
jeweilen von den Offizieren seines Stabes einen Bibliothekar
ernennt. Herrn Oberst Billings folgten nacheinander
Oberst Huntington, Major M e r r i 1 und Major Walter
R e e d. Gegenwärtig steht die Bibliothek unter Leitung von
Herrn Major W. D. M c C a w. Alle diese Offiziere wurden mit
Rücksicht auf ihre fachmännische Bildung und ausgedehnten
Sprachkenntnisse ernannt. Dr. A. A 1 1 e m a n n.
Vereins- und Kongressberichte.
Vereinigung Westdeutscher Hals- und Ohrenärzte.
XVII. Sitzung vom 26. November 1905 zu Köln.
(Schluss.)
Herr Ke 11 er -Köln: lieber Entwicklung fötaler Knorpelreste
in Nase und Ohr.
Die bei der Umwandlung fötalen Knorpels in Knochen oft zurück¬
bleibenden Knorpelreste können, zumal zur Pubertätszeit, Anlass zur
Bildung von Knochenneubildungen geben, welche in der Nase eine
typische Ausgangsstelle an der Verbindung des knorpelig präfor-
mierten Siebbeins mit dem bindegewebig angelegten Stirnbeine zu
haben scheinen; diese Osteome wuchern nach der Stirn-, Augen- und
Nasenhöhle und finden sich nicht selten als sogen, tote Osteome frei
beweglich vor. Vortr. demonstriert ein solches Präparat. — Von
grosser Bedeutung sind die ebenfalls als fötale Knorpelreste an¬
zusprechenden Interglobularräuine in der knöchernen Labyrinthkapsel,
insofern dieselben nach den Untersuchungen Siebenmanns mit
der Spongiosierung der Labyrinthkapsel und Ankylosierung der
Stapesfussplatte in einen genetischen Zusammenhang gebracht werden
dürften; nach Siebenmanns Ansicht würde es sich hierbei viel¬
leicht weniger um einen ostitischen, als vielmehr um einen post-
embryonalen Wachstumsvorgang handeln. Körner glaubt auf
Grund der neueren biologischen Vererbungslehre dieser Ansicht zum
definitiven Siege verhelfen zu können, wie Vortr. des Näheren aus¬
führt; die Folge einer solchen Auffassung muss aber der Verzicht auf
jeden therapeutischen Versuch sein. Einem solchen, von autoritativer
Seite ausgesprochenen Pessimismus gegenüber können wir uns je¬
doch so lange skeptisch verhalten, so lange der Einwand nicht ent¬
kräftet ist, dass es sich bei der Otosklerose zwar nicht um eine
Krankheit im biologischen Sinne handle, die als solche nicht vererbt
sein kann, wohl aber um eine Anlage zu einer solchen, die erst später
unter Einwirkung gewisser Anlässe zur Entwicklung gelangt.
Diskussion: Herr Hopmann j u n. empfiehlt die von
Siebenmann eingeführte Behandlung der Sklerose (Progressive
Spongiosierung und Stapesankylose) mit innerlicher Darreichung von
Phosphoremulsion. Da dieselbe lange Zeit genommen werden muss,
ist darauf zu achten, dass sie ohne vorheriges Lösen des Phosphors
in Schwefelkohlenstoff hergestellt sei.
R. Solut. oleos. Phosphor.
(Stammlösung sine CS 1,0:99,0) 2,0
Olei olivar. 18,0
Sach. alb.
Gummi arab. pulv. aa 10,0
Aq. dest. q. s. ad Emuls. Kassowitz 200,0
D. S. 2 mal tägl. 1 Esslöffel nach dem Essen.
Herr Kronenberg - Solingen : Die Körner sehe Theorie,
wenn ich sie so nennen darf, von der Vererbbarkeit der Otosklerose,
stützt sich auf die Theorie Weismanns, nach welcher nur solche
Veränderungen oder Eigenschaften vererbt werden, welche bereits
im Keimplasma vorhanden sind, erworbene Eigenschaften, welche
nicht das Keimplasma treffen, dagegen nicht. Diese Theorie, welche
von Weismann in genialer Weise aufgebaut worden ist, erfreut
sich zur Zeit der Anerkennung der meisten Biologen, — ob sie in-,
dessen die Rätsel der Otosklerose zu lösen geeignet ist, möchte ich
nicht ohne weiteres zugeben, noch weniger aber auf sie eine so
schwerwiegende soziale Massregel begründen, wie es das Heirats¬
verbot Otosklerotikern gegenüber darstellen würde, oder vielmehr
gegenüber Individuen, die aus otosklerotischen Familien stammen.
Denn alle diese Individuen, selbst wenn sie nicht oder noch nicht an
Otosklerose leiden, müssen nach der W e i s m a n n sehen Theorie,
wenn man sie auf diese Krankheit anwenden will, dieselbe vererben
können, da die entsprechenden Determinanten in ihrem Keimplasma
in mehr oder weniger grosser Zahl vorhanden wären, auch wenn sie
selbst von der Krankheit verschont bleiben. Es würde sich also um
eine tief in das soziale Leben einschneidende Massnahme handeln,
und hierzu erscheint mir trotz der Arbeiten Siebenmanns das
Wesen der Otosklerose noch nicht genügend geklärt, vielleicht auch
ihre allgemeine Bedeutung nicht ausreichend.
Ich glaube vielmehr, trotz der bisher so unzureichenden thera¬
peutischen Erfolge, dass wir nach wie vor versuchen sollen, ob wir
keine Methode zur Bekämpfung der Krankheit auffinden. Dass man
nach dieser Richtung sich von langdauernder Phosphorbehandlung
einen gewissen Nutzen verspricht, dürfte ja bekannt sein; vielleicht
hat der eine oder andere der Herren grössere persönliche Er¬
fahrungen hierüber oder auch über die neuerdings empfohlene Be¬
handlung mit Fibrolysin.
Herr V o h s e n - Frankfurt a. M.: Ich schliesse mich ganz Herrn
Kronenberg an. So weitgehende Folgerungen dürfen wir aus
so jungen Thorien nicht ziehen. Gerade die Unmasse der Deter¬
minanten, wenn wir die Beziehungen nur weniger Generationen ver¬
folgen, die für das anscheinend spontane Erscheinen der Sklerose ver¬
antwortlich gemacht wird, scheint mir weniger rigorose Massregeln
zu bedingen, denn bei der Häufigkeit der Sklerose müssten wir zahl¬
losen Familien, in denen sie scheinbar spontan auftritt, das Heiraten
verbieten. Wir wissen aber doch, wie häufig auch Sklerotiker ge¬
sunde Kinder und Enkel haben. — Wenn die Spongiosierung der
Labyrinthkapsel eine angeborene Anlage ist, scheint mir es erforder¬
lich, dass man bei den von ihr befallenen Individuen auch einmal die
anderen Knochen untersucht, ob diese ähnliche Veränderungen auf¬
weisen. Zeigt sich das Labyrinth allein befallen, so liegt es doch
nahe, auch lokale Ursachen in Betracht zu ziehen, die uns vielleicht
die Schädlichkeit einmal in einer ganz anderen vererbten Anlage
finden lassen. —
Das Thiosinamin und das Fibrolysin habe ich in etwa 6 Fällen
von Sklerose bei positivem Gelle versucht. Ich habe bis 20 intra¬
venöse Injektionen gemacht, ohne eine deutliche Besserung feststellen
zu können.
Herr Lleven - Aachen :
1. Beitrag zur Kenntnis der gummösen Nasensyphilis (der Vor¬
trag erscheint in Max Josephs dermatologischem Zentralblatt).
2. Fall von Arosion der Arteria vertebralis durch ein Rachen¬
geschwür bei Lues maligna.
Der 35 jährige Patient, Potator, zeigte während der ersten
8 Monate post infectionem lediglich zwei Rezidive an der Stelle des
Primäreffektes, welche aber unter Hg-Pillen verschwanden. Im
neunten Monat erkrankte er an Halsbeschwerden. Innerhalb drei
Wochen bildete sich nachstehend beschriebener Zustand aus, trotz
Behandlung mit Hg und KJ durch den englischen Kollegen in der
Heimat.
Befund bei der Aufnahme; Die rechte Gaumenmandel ist in toto
ulzerös zerfallen; nach vorn und oben Fortsetzung des Geschwürs
auf das Velum, welches neben der U^vula eine bleistiftdicke Per¬
foration aufweist. Nach hinten geht die Ulzeration auf die hintere
Rachenwand über, in der Gegend der Plica salpingopharyngea ein
markstückgrosses, tiefes, bis auf die Wirbelsäule reichendes kreis¬
rundes Geschwür erkennen lassend, das mit sphazelösen Massen
gefüllt ist.
Nebenher besteht heftige merkurielle Stomatitis. Unerträglicher
Fötor. Pat. ist sehr abgemagert.
Therapie: Adstringierendes Mundwasser. Pinselung der
Gingiva und der Ulzeration im Rachen mit 25 proz. Arg. nitricum-
lösung. KJ von 3 g täglich ansteigend, bis nach 14 Tagen 10 g er¬
reicht und weiter genommen werden . Nach 10 Tagen Besserung der
Stomatitis, so dass Einreibungen von 5 g 33 Vz proz. Ung. cinereum pro
die begonnen werden konnten. Daneben anregende hydropathische
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1489
Prozeduren. Genügende Zuführung von Nahrungs- und Anregungs¬
mitteln wird trotz der Schluckbeschwerden durch Eukainisierung und
Anästhesininsufflationen vor den Mahlzeiten ermöglicht.
Trotz dieser Therapie innerhalb 25 Tagen nur bortschreiten
der Ulzeration nach der Tiefe und Fläche. Da sich damit der ball als
ein maligner erwies, wurden Kalomelinjektionen unter Fortlassen des
Jodkalis gegeben (2 mal wöchentlich 0,05). Aber auch diese Therapie,
welche sich anderen und mir in so vielen schweren Syphihsfallen als
geradezu lebensrettend erwiesen hat, versagte, ja sie verschlimmerte
das Leiden rapid. .
Ich liess deshalb nach weiteren 14 Tagen eine Zittmannkur
beginnen. Dieselbe wurde absolut nicht vertragen, denn profuse
Diarrhöen brachten den Kranken noch mehr herunter.
Nach 7 wöchentlicher Behandlung war der Zustand des Pat. ein
trostloser. Er war zum Skelett abgemagert, hatte jeden Abend 1 eni-
peraturen von 38,5° bis 39,0°. Das mit der Sonde zu fühlende rauhe
Stück der Wirbelsäule hatte sich stark vergrossert, seitlich gelangte
man an ihr vorbei tief in die Muskulatur hinein. < •
Am 50. Behandlungstage gegen 3 Uhr nachmittags heftiger aber
in etwa 10 Minuten weichender Schwindelanfall. Abends, als ich mich
zur Visite bei dem Pat. befand, gegen Vs 8 Uhr fiel mir plötzlich auf,
dass das rechte Auge nach innen abwich. Eine sofort vorgenommene
Untersuchung ergab Doppelsehen. Pat. klagte über mässig starken
Kopfschmerz, ^n ^ Viertelstunde später verlassen wollte, wurde
ich an der Haustür zurückgerufen und fand den Pat. in einer Blut-
Der beschriebene Fall ist in mehr als einer Hinsicht interessant.
Zunächst handelt es sich auch in diesem baUe wieder um einen
Potator — 1 Flasche Whisky mindestens pro Tag!) — wie man dies
so oft bei maligner Lues sieht. Dann aber beweist der Verlauf aufs
Neue dass es Fälle gibt, in denen die sonst so prompt wirkenden
Spezifika, nicht nur wertlos, sondern direkt schädlich sind. Dieses
Verhalten von Hg und KJ lässt uns eben die Diagnose Lues maligna
stellen, im Gegensätze zur Syphilis gravis, bei welchei zwar di
sonst üblichen Dosen der Spezifica versagen, die aber doch durch
energischere und das Allgemeinbefinden berücksichtigende Therapie
in der Regel der Heilung zugeführt werden können.
Ferner ist die Arosion der Arteria vertebralis, um die es sich
offenbar handelte, an und für sich schon ein seUenes Ereignis; was
aber die Beobachtung besonders interessant macht, ist der Umstand,
dass es möglich war, den Verlauf des Falles so eingehend in seinen
letzten Phasen zu beobachten. , , , ., ,
Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, dass bereits der
Schwindelanfall am Nachmittage durch das Hineingeraten eines ue-
webspartikelchens von der Wand des erkrankten Gefasses in den
Kreislauf des Schädelinneren verursacht war. Die kurz vor dem
Exitus beobachtete Abduzenslähmung verdankte sicherlich gleich¬
falls einem embolischen Prozess an der Basis cranu ihre Entstehung.
Beide Si’mptome waren Vorboten des Zusammenbrechens der
morschen Gefässwand unter dem arteriellen Drucke.
Herr Hansberg: Zur Operation der typischen Nasenrachen-
fibrome. ^ g ^ g r g berichtet über eine Anzahl von typischen Nasen-
rachenfibroiden, die er mittelst Ausreissen ohne Voroperation operiert
hat Er erwähnt zunächst kurz einen Fall, den er bereits im Jahre
1890 veröffentlicht hat, in dem es gelang, mit der Kuhn sehen Zange
und einer von ihm konstruierten Nasenzange in 5 Sitzungen einen
hühnereigrossen Tumor radikal zu entfernen. Seitdem ist dieser
Operationsmodus noch in 3 weiteren Fällen zur Anwendung ge¬
kommen In 2 von diesen Fällen füllte der Tumor den ganzen Nasen¬
rachenraum aus, hatte unter teilweiser Zerstörung des Vorners aus¬
gedehnte Verwachsungen herbeigeführt und zu abundanten Blutungen
Veranlassung gegeben, sodass die Kranken in höchst anämischem Zu¬
stande zur Operation kamen. Der dritte der letzten 3 Fälle ging von
Choanaldache aus, erreichte die Grösse einer Walnuss und wat
ausschliesslich in die Nasenhöhle gewuchert. Bei der Operation der
3 letzten Fälle wurde die Kuhn sehe Zange nicht mehr angewandt,
sondern die Nasenzange (die von Schäffer konstruierte eignet
sich auch vortrefflich hierzu) mit der einen Hand eingeführt und mit
dem in den Nasenrachenraum eingeführten Zeigefinger der andern
Hand die Geschwulst gegen die Zange gedrückt. In allen 3 Fällen
war es möglich, in 2 Sitzungen die Geschwulst gründlich zu entfernen,
nur einmal trat eine erhebliche Nachblutung auf, die Tamponade not¬
wendig machte. Bei einem Kranken entwickelte sich spätei ein
Rezidiv, das in einer Sitzung leicht entfernt werden konnte.
M n s p. - Köhl.
Verein der Aerzte in Halle a. S.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 7. März 1906.
Herr Anton spricht, mit Vorstellung von Patienten, über
Formen und Ursachen des InfantiHsmus. (Der Voitrag be¬
findet sich unter den Originalien dieser Nummer.)
Sitzung am 2. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Veit.
Schriftführer : Herr Kohlhardt.
Herr Keil demonstriert ein Präparat von Tubenschwanger¬
schaft, das er durch die Laparotomie exstirpierte; er bespricht die
diagnostischen und therapeutischen Schwierigkeiten des Falles.
Herr Keil legt weiter ein dreiblätteriges Bauchspekulum vor,
das ihm gute Dienste erwies.
Herr R. F r e u n d: Beitrag zur Ureterenchirurgie mit De¬
monstrationen.
M. H.! Ich möchte Ihnen heute kurz über eine seltene
Ureterplastik berichten, die ich am Tierexperiment seit einiger
Zeit studiere. Sie gehört zu der Gruppe operativer Mass¬
nahmen am Ureter, die einen Ersatz für resezierte Ureterstücke
zu schaffen suchen. — An Tieren sind schon verschiedentlich
dahingehende Versuche mit allerhand organischem und un¬
organischem Material vorgenommen worden. Beim Menschen
sah man sich bei grösseren Ureterresektionen genötigt, wenn
man nicht die Niere der verletzten Seite durch Ureterunter¬
bindung oder Nierenexstirpation ausschalten, oder die sehr be¬
denkliche Implantation des Ureters in das Kolon ausführen
wollte, die beiden Ureterstümpfe unter Anlegung von Fisteln
nach aussen zu leiten, um später über eingefühiten Bougies
durch Lappenbildung einen Kanal herzustellen. Ein wirkliches
Schaltstück in Gestalt eines muskulösen, mit Schleimhaut aus¬
gestatteten Rohres fand sich bislang nicht. Ein solches be¬
sitzen wir aber in der Tube des weiblichen Sexualapparates.
Nachdem ich mich von der Ausführbarkeit dieser Plastik, die
in der Herstellung einer Anastomose zwischen zentralem Ure¬
terende und abdominalem Tubenostium und zwischen rese¬
ziertem uterinen Tubenostium und der Blase mittelst direktei
Invagination beidesmal besteht, überzeugt hatte, ging ich an
das Tierexperiment, welches vor mir bereits schon d'U r s o
und de F a b i i, zwar nicht in derselben, so doch ähnlicher
Weise vorgenommen hatten; erst nach Abschluss des grössten
Teils meiner Experimente fiel mir dieser Aufsatz, der in einem
mir schwer zugänglichen französischen Journal erschienen
war, in die Hände. — Ich führte die Plastik an Hündinnen aus,
indem ich den Ureter der einen Seite an einer hochgelegenen
Stelle ebenso wie das benachbarte schmale Uterushorn, welches
der Lage nach der weiblichen Tube entspricht, durchschnitt
und nach Kelly u. a. die Invagination des zentralen Uretei-
stumples in das Uterushorn herbeiführte. Oberhalb des ge¬
meinsamen Uterus wurde dann dasselbe Uterushorn abgesetzt
und nach der gleichen Methode in die Blase gepflanzt. In einet
zweiten Laparotomie nach einiger Zeit wurde der neugeschaf¬
fene Weg erprobt durch Ausschaltung der anderen intakten
Seite, entweder mittels Ureterdurchschneidung und Einnähen
des ligierten zentralen Stumpfs in die Bauchdecken oder durch
Nierenexstirpation. Die damit erzielten Erfolge waren beieits
sehr gute neben grossen anfänglichen Misserfolgen. Die zu¬
gehörigen Präparate von Hunden, die verschieden lange die
Operationen überlebten — darunter einige dauernd bis zu ihrer
Tötung — erlaube ich mir, Ihnen hernach zu demonstrieren.
_ Heute bin ich nun in der glücklichen Lage,
Ihnen eine Hündin vorzuführen, bei der.es
mir in einer einzigen Sitzung gelungen ist,
beideUreteren in dieentsprechendenUterus-
hörner und den gemeinsamen Uterus in die
Blasezupflanzen. Die rasche Heilung der Laparotomie¬
wunde p. p. und das dauernde Wohlbefinden des Hundes, der
auf diesem neugeschaffenen Wege per vias naturales uriniert,
sprechen für die Tauglichkeit dieser Operationsmethode. —
Was die Indikation zu dieser Plastik beim Menschen an¬
belangt, so Hesse diese sich ziemlich genau präzisieren. Bei
Karzinom wäre sie von vornherein ausgeschlossen, nicht nur
weil hier möglichst alles vom Genitalapparat entfernt weiden
muss, sondern weil absichtliche und unabsichtliche Ureterver¬
letzungen hierbei nie so grossartiger Natur sind, dass eine Ein¬
pflanzung des Ureters in die Blase nicht mehr möglich wäre.
Wo es sich jedoch um Ausschälung intraliga¬
mentärer und retroperitonealer Geschwülste
(Kystome, Myome, Teratome, Echinokokken
etc.) handelt, da dürfte diese Urete rosalpin go-
zystostomie in ihr Recht treten, zumal hierbei die
1490
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Operation gewöhnlich nicht mit Ausschaltung der entsprechen¬
den Adnexe, sondern mit Spaltung des hinteren Blattes des
Lig. lat. und Ausschälung des Tumors beginnt. Dass es dabei
zu beträchtlichen Ureterresektionen öfters kommt, beweisen die
zahlreichen in der Literatur angeführten Fälle. — Eine in
solchen Fällen eventuell noch in Betracht kommende Ureter¬
plastik, nämlich die künstliche Anastomose zwischen ver¬
letztem Ureter und dem intakten der anderen Seite. Sie ist
von Kelly, Sampon u. A. vorgeschlagen, bisher an Hunden
mit grösstenteils schlechtem Erfolg ausgeführt worden. 2 Hün¬
dinnen operierte ich nach dieser Art unter Benützung der der
Enteroanastomose analogen Methode. Die Operation ist tech¬
nisch schwierig und prinzipiell zu widerraten, da bei Ver¬
letzung der einen Seite des uropoetischen Apparates nicht
leichtsinnigerweise noch die andere, lebenswichtige durch mög¬
liches Fehlschlagen der Plastik gefährdet werden dürfte.
(Demonstrationen des lebenden Hundes mit doppelseitiger Ein¬
pflanzung der Ureteren in die Uterushörner und des Uterus in
die Blase, sowie von zugehörigen Präparaten aller genannten
Plastiken und schematischen Tafeln.)
R. Freund: Erfahrungen mit der medullären Narkose.
Seit dem 17. Mai 05 wird die Rückenmarksnarkose in der
hiesigen kgl. Universitätsfrauenklinik angewendet. Unsere Er¬
fahrungen erstrecken sich auf 161 Fälle bis heute, bei denen
es sich in der Mehrzahl um grössere operativgynäkologische
Eingriffe unter ausgedehntester Verwendung der Beckenhoch¬
lagerung handelt. — (An der Hand einer Tabelle werden die
nach Operationsart, Narkosenwirkung und Begleiterscheinung
analysierten 161 Fälle näher erläutert.) Zur Injektion gelangten
nur die von Bi llon und den Höchster Farbwerken in den
Handel gebrachten Präparate von Stovain resp. Novokain mit
Suprarenin. Der Hauptfehler der Methode besteht immer noch
in dem zeitweiligen Versagen (unter 161 Fällen waren 134 gute
und 25 schlechte Narkosen), das in letzter Zeit durch ein¬
gehenderes Studium der anatomischen Verhältnisse der Me-
dulla (D ö n i t z) erheblich bereits eingeschränkt wurde, wenn
man sich zur Regel macht, stets möglichst
hoch, mindestens zwischen 2. und 3. Lenden¬
wirbel und genau in der Medianlinie zu punk¬
tieren. Mit kleineren Dosen (4—6 cg Stovain) ist eine sichere
und genügende Anästhesie für Laparotomien und langwierigere
Operationen unzureichend; für solche brauchten wir stets 8 cg
Stovain. Auch prüfen wir vor der Operation niemals mehr
den Eintritt und die Ausbreitung der Narkose, sorgen im Gegen¬
teil für grösstmöglichste Ruhe im Vorbereitungszimmer, was
bei psychisch leicht erregbaren Patienten von nicht zu unter¬
schätzendem Einfluss auf den Gang der Narkose ist. Die in
dieser Richtung noch viel weitergehenden Bestrebungen, wie
sie an der Freiburger Frauenklinik jetzt üblich sind, die Kom¬
bination von Stovainsuprarenin-Rückenmarksnarkose mit dem
Morphiumskopolamin-Dämmerschlaf, erscheinen uns hinsichtlich
der Zuführung so vieler giftiger Ingredientien nicht sehr sym¬
pathisch. — Nebenwirkungen, welche bei Stovain wie Novokain
genau die gleichen sind, beobachteten wir während der Ope¬
ration in 38, nach derselben in 11 Fällen. Alle stellten harm¬
losere, niemals bedrohliche Symptome dar. Während der
Operation in K der Fälle in ca. 30 Minuten Nausea mit
leichten Würgbewegungen, nach der Operation in 4 Fällen
leichter Kollaps (Blässe des Gesichts, kalter Schweiss, vor¬
übergehend kleiner Puls) in 3 Fällen schmerzhafte, rasch ver¬
schwindende Kontraktionen in Unterarm und Händen, in 4
Fällen Kopfschmerzen, darunter 3 ganz leichte am 1. Tag post
operat., die in wenigen Stunden gänzlich vorübergegangen
waren; nur in einem Fall bestanden sie 2 Tage und wichen auf
2 g Antipyrin. Unter den 161 Fällen erlebten wir einen exitus
let. 8 Min. nach der Injektion während der Desinfektion bei
einer 73 jährigen, gebrechlichen, asthmatischen Frau. Mög¬
licherweise war hier, den Ausführungen D ö n i t z’ gemäss, die
Kanüle in den vorderen Arachnoidalraum, der nur die mo¬
torischen Wurzeln führt, gelangt und hatte hier das Stovain
deponiert, welches bei der stets nach der Injektion gleich an¬
geschlossenen leichten Beckenhochlagerung die höher ge¬
legenen, lebenswichtigen motorischen Zentren lähmte. Um
dies zu verhindern, soll die Nadel nach Einstich in die Haut
ohne Mandrin bis zum ersten Liquorabfluss vorgeschoben
werden; dann liegt sie richtig in dem isolierten hinteren, nur
sensible Wurzeln enthaltenden Arachnoidalraum. Der Todes¬
fall gehört aber in eine Periode, in der uns diese feinere Technik
nicht bekannt war; darum ist nicht einzusehen, warum wir
nicht wiederholt wenigstens bedrohlichere Zufälle beobachteten.
Die Erfolge sind trotz alledem so gute, die Vorteile dieser Me¬
thode gegenüber der Inhalationsnarkose so handgreifliche, dass
die medulläre Narkose in ihrer jetzigen Form nicht warm genug
empfohlen werden kann.
Diskussion: Stieda berichtet über die Erfahrungen, die
an der v. Bra m a n n sehen Klinik mit der Lumbalanästhesie ge¬
macht sind: Es wird seit dem Herbst 1905 ausschliesslich Novo¬
kain zur medullären Narkose verwandt in der von den Höchster
Farbwerken mit Suprareninzusatz in den Handel gebrachten Lösung
(in Ampullen ä 3 ccm). Als Injektionsstelle wird zumeist der Zwi¬
schenraum zwischen 2. und 3. Lendenwirbel gewählt, nach vorausge¬
gangener Lokalanästhesierung der betreffenden Hautstelle durch
Quaddelbildung. Die Hohlnadel wird in der Medianlinie eingestochen,
der Mandrin vor Durchdringen der Dura entfernt, sodass sich
dieser Moment sofort durch Abfluss von Zerebrospinalflüssigkeit
kundgibt. Auf diese Weise ist man sicher, das Anästhetikum in den
hinteren Teil des Subduralraumes zu injizieren. Von dem Abfliessen-
lassen eines gewissen Quantums von Zerebrospinalflüssigkeit, bevor
man injiziert, ist kein Vorteil zu erwarten. For zierte Becken¬
hochlagerung wird nicht angewandt. Misserfolge sind nicht zur Be¬
obachtung gelangt, im Gegenteil sämtliche medullären Narkosen ver¬
liefen ohne Zwischenfall und ohne irgendwelche schädliche oder auch
nur unangenehme Nachwirkung. Zu den ausgeführten Operationen
gehörten: Ober- und Unterschenkelamputationen (auch doppelseitige),
Operationen wegen Rektalerkrankungen, Prostatektomien, Sectio alta,
Radikaloperationen von Hernien u. a. (In einem Falle trat nach
20 Stunden eine einmalige Temperatursteigerung morgens auf
39° ein, der betreffende Patient war aber Epileptiker und hatte in
der vorausgegangenen Nacht einen epileptischen Anfall gehabt.)
Die Lumbalanästhesie ist zwar für eine ganze Reihe grosser
chirurgischer Eingriffe wegen ihrer Vorzüge gegenüber der Allge¬
meinnarkose als eine hervorragende Bereicherung unseres tech¬
nischen Könnens anzusehen, wird aber doch, selbst bei noch weiterer
Vervollkommnung des Verfahrens, wohl nie imstande sein, in vielen
Fällen die grossen Wohlthaten einer allgemeinen Narkose zu
ersetzen.
An der Diskussion beteiligen sich ferner die Herren Wull-
stein und Veit.
Herr Veit: Demonstration eines Beckens, das hochgradig all¬
gemein ungleichmässig verengt ist und nur 4 Kreuzbeinwirbel hat,
sowie ein anderes, ähnliches Becken mit 6 Kreuzbeinwirbeln. Er
betont dabei die Wichtigkeit der Lehre von. der Assimilation.
Herr Veit demonstriert zwei Präparate von Komplikationen
von Gravidität init Zervixkarzinom.
Beide Patientinnen genasen nach abdominaler Uterusexstirpation;
bei der ersten wurde das lebensfähige Kind durch den abdominalen
Kaiserschnitt lebend entfernt und dann der Uterus mit Lymphdrüseu
exstirpiert; der rechte Ureter wurde durchschnitten und etwa in der
von Franz angegebenen Weise in die Blase erfolgreich implantiert;
in dem zweiten Fall — die Patientin wurde in voller Rekonvaleszenz
vorgestellt nach fieberfreier Heilung — musste der rechte Ureter
aus Krebsmassen herausgelöst werden; es gelang ohne Verletzung.
Der Bardenheu er - Mackenrodt sehe Bogenschnitt erwies
sich hier für die Operation insofern sehr günstig, als die Demon¬
stration der Operation besonders bequem war. Heilung der Haut¬
wunde per primam.
Herr Veit demonstriert zwei Fälle von doppelseitigem glan¬
dulärem Ovarialtumor bei Blasenmole.
Die Fälle werden in einer Dissertation ausführlich beschrieben
werden.
Biologische Abteilung des ärztlichen Vereins Hamburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 24. April 1906.
Vorsitzender: Herr Paschen.
Schriftführer: Herr Haars.
Demonstrationen:
Herr Falke: Perforation des Oesophagus infolge eines ver¬
schluckten Knochenstückchens. (Anatomisches Präparat.)
Diskussion: Herr Engelmann fragt an, ob bei der Sek¬
tion eine Verlagerung der Aorta und des Oesophagus aufgefallen ist,
weil die Perforation an einer Stelle sitzt, die der gewöhnlichen Be¬
obachtung bei ähnlichen Fällen nicht entspricht.
Herr Falke: Es bestand in der Lage der Aorta zum Oeso¬
phagus keine Abnormität.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1491
Herr Fahr: Der Einfluss der Konservierungsmethoden
auf die Färbbarkeit der Tuberkelbazillen.
Im Gegensatz zu Schmorl, der auf der Karlsbader Tagung
der pathologischen Gesellschaft im Jahre 1902 und in seinem
Buch über pathologisch-histologische Untersuchungsmethoden
angegeben hat, dass die Behandlung mit Fonnalin und forma-
linhaltigen Gemischen die Färbbarkeit der Tuberkelbazillen
beeinträchtige, hat Simmonds die Erfahrung gemacht und
ausgesprochen, dass in Stückchen, die selbst lange Zeit in For¬
mahn fixiert waren, die Färbung der Tuberkelbazillen noch ge¬
lang und dass bei Kontrollversuchen zwischen Stückchen, die in
Formahn und Alkohol fixiert waren, Intensität der Färbung und
Zahl der gefärbten Bakterien sich durchaus gleich verhielt.
Die Untersuchungen des Vortr. bilden zunächst eine Be¬
stätigung der Angaben von Simmonds. In Präparaten, die
5 Jahre in Formalin fixiert waren, konnte er reichlich Tuberkel¬
bazillen nachweisen, die sich nach der Z i eh 1 sehen Methode
intensiv rot gefärbt hatten.
Vortr. versuchte dann überhaupt im Prinzip festzustellen,
unter welchen Umständen die Färbbarkeit der Tuberkelbazillen
leidet bezw. aufgehoben wird. Er legte zu diesem Zwecke
eine Anzahl Stückchen, die von einer tuberkulösen Lunge
stammten, in der sich reichlich Tuberkelbazillen hatten nach¬
weisen lassen, in Formalin 5 und 10 proz., Alkohol 96 proz. und
absolut, K a i s e r 1 i n g sches Gemisch, Müller sehe Flüssig¬
keit, ferner in Orth sehe Entkalkungsflüssigkeit, Salpeter-
. säurealkohol und Trichloressigsäure ein und untersuchte sie,
nachdem sie 334 Monate in diesen Flüssigkeiten gelegen hatten.
Die Färbung der Tuberkelbazillen gelang bei den Stückchen,
die in Formalin, Alkohol, Kaiserling und Müller gewesen
waren, in durchaus gleich guter Weise. Bei den Stückchen,
die in den Salpetersäuregemischen und in Trichloressigsäure
gelegen hatten, war dagegen keine Spur von Tuberkelbazillen
mehr nachzuweisen. Doch war hier auch die Gewebsstruktur
in der schwersten Weise geschädigt, die Kernfärbung vor allem
völlig verloren gegangen. Wirkte die Entkalkungsflüssigkeit
nur kürzere Zeit, 8 Tage z. B. ein, so blieben Kerne und Tu¬
berkelbazillen ungeschädigt. Aus diesen Befunden schien zu¬
nächst hervorzugehn, dass die Tuberkelbazillen ihre Färbbar¬
keit dann einbüssen, wenn die Kernfärbung des betr. Organs
verloren gegangen ist
Doch fand Vortr. bei weiteren Untersuchungen, dass die
Tingierbarkeit der Tuberkelbazillen diejenige der Kerne sogar
noch überdauert. In 2 Präparaten, einem Uterus und einer
Tube, die 10 Jahre in Kaiserling gelegen hatten, die schon
etwas gefault waren und an denen sich die Kerne nicht mehr
tingieren Hessen, konnte Vortr. noch eine Anzahl gut gefärbter
Tuberkelbazillen auffinden. Die Färbung gelang, wie auch bei
den übrigen Untersuchungen, ebensogut nach der Z i e h I schen
wie nach der Koch-Ehrlich sehen Methode.
Auch die Behandlung der Stückchen nach L e v a d i t i be¬
einträchtigt die Färbbarkeit der Tuberkelbazillen in keiner
Weise.
Vortr. schliesst aus seinen Untersuchungen, dass die For¬
malinkonservierung der Organe die Färbbarkeit der Tuberkel¬
bazillen durchaus nicht beeinträchtigt. Schädigenden
Einflüssen gegenüber behalten die Tuberkelbazillen ihre Tin¬
gierbarkeit sogar länger, als die Kerne und biissen sie erst
dann ein, wenn die Gewebsstruktur in der schwersten Weise
z. B. durch lange Einwirkung starker Säuren geschädigt ist.
Diskussion: Herr Reuter fragt Herrn Fahr, ob er eben¬
falls die Beobachtung gemacht habe, dass in einzelnen Fällen in tuber¬
kulösem Gewebe trotz hochgradiger pathologisch-histologischer Ver¬
änderungen, die Zahl der Tuberkelbazillen eine äusserst geringe sei,
und ob Herr Fahr diese auffallende Inkongruenz als tatsächlich vor¬
handen oder durch das Versagen der Färbungsmethoden bedingt an¬
sehe.
Herr Fränkel: Es gibt sicher tuberkulöse Veränderungen, die
sich durch grosse Armut an Tuberkelbazillen auszeichnen. Dahin
gehört, was bereits Rob. Koch in seiner berühmten Arbeit über die
Aetiologie der Tuberkulose hervorgehoben hat, vor allem der Lupus.
Ich selbst habe in manchen Fällen von Schilddrüsentuberkulose sehr
lange nach Tuberkelbazillen suchen müssen. Auch bei einer striktu-
rierenden Dünndarmerkrankung, deren Aetiologie ich feststellen
wollte, gelang es mir erst nach Durchmusterung von mehr als hun¬
dert Schnitten ganz vereinzelte Tuberkelbazillen aufzufinden. Wei¬
gert vertrat die Ansicht, dass die ursprüngliche, zum Nachweis der
Tuberkelbazillen angegebene, K o c h - E h r 1 i c h sehe Färbungs¬
methode in manchen Fällen Tuberkelbazillen noch auffinden lässt, wo
die Z i e h 1 sehe Methode versagt. Ich selbst habe mich der letz¬
teren seit deren Bekanntwerden ausschliesslich bedient, habe also
kein Urteil, ob man mit der K o c h - E h r 1 i c h sehen Färbung bessere
Resultate erlangt. Bei Kontrolluntersuchungen wäre aber doch jeden¬
falls darauf zu achten, ob die quantitative Ausbeute nicht tatsächlich
eine grössere ist, wenn auch qualitative Färbungsdifferenzen nicht
zu bestehen scheinen.
Herr Fahr: Schlusswort.
Herr Fraenkel: Demonstration eines Präparats und Röntgen¬
bildes von symmetrischer Verkalkung des vesikalen Teils des Ductus
deferens.
Der Befund wurde bei einem 45 jährigen, an Phthisis pulmon. ver¬
storbenen Manne erhoben, und Sie überzeugen sich, dass man die
Duct. deferent. an der erwähnten Stelle in einer Ausdehnung von
mehreren Zentimetern in beträchtlich verdickte und starre Röhren
umgewandelt sieht. Die Betrachtung mit blossem Auge lässt an dem
Präparat eine unverkennbare Aehnlichkeit mit der, Ihnen allen als
Mediaverkalkung der Extremitätenarterien bekannten Erkrankung
wahrnehmen, d. h. man sieht in den äusseren Wandschichten der
Samenleiter dicht gelagerte, zirkuläre Kalkringe und kann sich dem¬
nach schon auf Grund der makroskopischen Betrachtüng dahin
äussern, dass man es mit einer, die muskulöse Wand des
Duct. deferens betreffenden, Verkalkung zu tun hat.
Eine vollkommene Bestätigung dieser Auffassung hat die, auf meinen
Wunsch, von Herrn Otten vorgenommene Röntgenuntersuchung des
Präparats ergeben. Sie sehen an der Röntgenplatte (Demonstration)
die zierlichen, aufs dichteste aneinander gruppierten, Kalkringe, welche
den kalkig infiltrierten, zirkulär verlaufenden glatten Muskelfasern
des Duct. deferens entsprechen. Ob die Kalkablagerung die gesamte
Dicke der zirkulären Muskelschicht betrifft und ob auch die longi¬
tudinale Muskelschicht in gleicher Weise verändert ist, kann erst die
mikroskopische Untersuchung ergeben. Die Platte zeigt Ihnen noch
einige weitere Befunde. Einmal ein Stück einer sich verästelnden
Beckenarterie mit exquisiter Mediaverkalkung,
so dass Sie in bequemer Weise einen Vergleich zwischen den, von
dem gleichen pathologischen Prozess ergriffenen, auch histologische
Uebereinstimmungen aufweisenden, funktionell so verschiedenen Kör¬
perteilen anstellen können. Weiter aber erblicken Sie eine Anzahl
verschieden grosser Flecke, die unschwer als Phlebolithen zu
erkennen sind. Es ist wichtig, zu wissen, dass diese Venensteine
schon bei verhältnismässig jungen Individuen — handelt es sich doch
um einen erst 45 jährigen Mann — Vorkommen und der Befund dürfte
dazu angetan sein, zu bestätigen, was ich gelegentlich meiner De¬
monstration seniler Uteri im ärztlichen Verein betonte, dass ein
Teil der bei Röntgenuntersuchungen sichtbaren sog. Becken¬
flecke, welche den verschiedensten Deutungen unterlegen haben,
als Phlebolithen aufzufassen sind. Auch den Röntgenbefund
an den Samenleitern halte ich für wichtig, die Kenntnis desselben
wird imstande sein, vor falschen Deutungen zu schützen.
Ueber die Aetiologie des P rozesses vermag ich vor¬
läufig nichts Sicheres mitzuteilen. Von C h i a r i, von dem, soweit ich
sehe, die einzige Mitteilung über den Gegenstand vorliegt, ist im
Jahre 1903 eine, als senile Verkalkung des ampullären Teils
des Duct. deferens bezeichnete, Veränderung beschrieben worden.
Der Träger des Ihnen gezeigten Präparats gehört noch nicht dem
Greisenalter an, es müssen also noch andere Momente bei der Ent¬
stehung dieser eigenartigen Veränderung eine Rolle spielen, die uns
ihrer Natur nach freilich noch unbekannt sind. Ich will nicht unter¬
lassen, auf das gleichzeitige Auftreten der Verkalkung an den Becken¬
arterien und den Samenleitern aufmerksam zu machen. Möglich, dass
die Lokalisation der Kalkablagerung an 2 so verschiedenen Systemen
auf die gleiche Ursache zurückzuführen ist.
Diskussion: Herr Simmonds bestätigt die Seltenheit
des demonstrierten Befundes. Er hat nur 2 mal bei Männern von
50 — 60 Jahren Verkalkungen der Vasa deferentia angetroffen. Einer
derselben war an Leberzirrhose, der andere an Gangrän des Unter¬
schenkels infolge von starker Gefässverkalkung gestorben und hatte
an Arthritis urica gelitten. Histologisch erwies sich in beiden Fällen
die Schleimhaut mit ihrem Epithel intakt, der Kanal war unverändert,
die Verkalkungen beschränkten sich auf die äusseren Schichten des
muskulären Wandteils. 'Ueber die Aetiologie ist nichts anzugeben.
Herr E. Paschen: Demonstration von 2 Herzen bei plötzlich
eintretendem Tode.
Das erste Herz stammt von einer 75 jährigen Frau, die seit
1% Jahren auf der Krankenabteilung des Hospitals zum Heiligen Geist
lag, dort mehrfache apoplektische Insulte gehabt hatte. Vor 3 Wochen
fiel Patientin beim Kaffeetrinken plötzlich tot in die Kissen zurück.
Im Gehirn fanden sich neben ausgesprochener Arteriosklerose
mehrfache kleine Erweichungsherde, Hydrocephalus internus. Bei Er¬
öffnung der Brusthöhle fällt die pralle Füllung des Herzbeutels auf;
ein mächtiges Blutkoagulum umgibt mantelförmig das Herz. Auf der
Hinterwand, in der Nähe der Basis des linken Ventrikels, findet sich
ein kleines Loch, durch das man mit einer feinen Sonde in Windungen
in das Lumen des linken Ventrikels gelangt. Als Ursache für die
Herzruptur findet sich eine ausgedehnte Nekrose des Herzfleisches im
Bereiche der Arteria coronaria sinistra, die durch arteriosklerotische
1492
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Auflagerungen verlegt ist: Herzruptur infolge Nekrose
nach Thrombose der zugehörigen Koronararterie.
Der 74 jährige Besitzer des zweiten Herzens kam 8 Tage vor
seinem Tode auf die Krankenabteilung mit einem schweren steno-
kardischen Anfall mit Lungenödem, von dem er sich leidlich erholte.
In den nächsten Tagen stellten sich Erscheinungen von Herz¬
insuffizienz ein; vor 8 Tagen trat dann plötzlich Exitus im Bett ein.
Objektiv war eine Verbreiterung der Herzdämpfung nach links
und unten (Herzstoss in der vorderen Axillarlinie), deutliches dia¬
stolisches Blasen über der Aorta nachweisbar gewesen.
Es fand sich erst bei der Obduktion neben einer mässigen ex¬
zentrischen Hypertrophie des linken Ventrikels eine kolossale aneurys¬
matische Erweiterung der Brustaorta bis zu Kindsarmdicke. Am
Scheitel des Arcus aortae war ein daumendicker weisser Thrombus,
der den Abgang der Anonyma und Karotis verlegte und wohl dadurch
den plötzlichen Tod herbeigeführt hatte.
In diesem Falle waren die Kranzarterien wenig verändert.
Diskussion: Herr Simmonds: Es kommen in seltenen
Fällen Blutungen in den Herzbeutel vor, deren Quellen nicht erkenn¬
bar sind. So fand er kürzlich bei einem jüngeren, an chronischer
Nephritis verstorbenen Manne ein grosses Blutgerinnsel im Herz¬
beutel, ohne dass an der Herzwand und den Gefässen trotz sorgfälti¬
gen Suchens etwas zu finden war. Da weiterhin an einigen kleinen
Stellen rostfarben pigmentierte Flecke vorhanden waren und auf
frühere geringe Epikardblutungen hinwiesen, glaubte S. den Erguss
als Resultat einer diffusen Flächenblutung auffassen zu müssen, so un¬
gern er sich auch zu diesem Ausweg entschloss.
Herr E d 1 e f s e n fragt an, wodurch im zweiten Fall der plötz¬
liche Tod eingetreten sei.
Herr Fraenkel: Der Tod bei Herzrupturen braucht nicht
immer momentan einzutreten. Das hängt in erster Linie von der
Grösse des Risses, resp. von dem Grade des Klaffens der Rissränder,
von der Schnelligkeit der Thrombenbildung an der Rissstelle etc. ab.
Solche Patienten können sich sogar vorübergehend erholen, nachdem
der Eintritt des Risses von schweren ohnmachtähnlichen Zuständen
begleitet war. Schliesslich kann nach Stunden der Tod eintreten,
wenn, wie Rose das nennt, die „Herztamponade“ durch das un¬
unterbrochen aussickernde Blut eine komplette geworden ist. Ich
möchte dann noch darauf hinweisen, dass es eine nicht hämor¬
rhagische, idiopathische — unabhängig von Tuberkulose und Karzi¬
nose auftretende — Perikarditis gibt, welche zu grossen blutigen Er¬
güssen in den Herzbeutel Veranlassung geben kann. Freilich gehören
solche Erkrankungen, soweit meine Erfahrungen reichen, zu den Sel¬
tenheiten.
Herr Simmonds: Die mikroskopische Untersuchung des Epi-
kard liess keine entzündlichen Veränderungen erkennen; um eine
hämorrhagische Perikarditis hat es sich in seinem Falle also nicht ge¬
handelt.
Herr Lochte bemerkt, dass auch bei traumatischem Haemo-
perikardium das Auffinden der Quelle, aus der die Blutung stammt,
gelegentlich Schwierigkeit machen kann. Einem Arbeiter, der an
einer Holzschneidemaschine beschäftigt war, flog ein Stück Holz
gegen die Brust. Der Mann brach sofort zusammen und musste in
ein Krankenhaus transportiert werden. Der Tod erfolgte 10 — 11 Stun¬
den nach der Verletzung. Die Obduktion ergab Bruch mehrerer
Rippen der rechten Seite des Brustkorbes. Im Herzbeutel fanden sich
über 400 g zum Teil geronnenen Blutes. Am Herzen war zunächst
keine Verletzung zu erkennen; erst eine sehr sorgfältige Unter¬
suchung ergab eine stecknadelkopfgrosse Platzruptur am freien Rande
des rechten Herzohres, durch die mühelos eine Borste durchgeführt
werden konnte. Durch die allmählich stärker werdende Blutung war
es schliesslich zur Herzbeuteltamponade gekommen. Der Fall zeigt
einmal, dass zwischen Eintritt der Herzruptur und Tod tatsächlich ein
stundenlanges Intervall liegen kann, andererseits illustriert er die
gelegentliche Schwierigkeit, die Quelle der Blutung zu entdecken.
Herr Reuter: M. H.! Ich möchte mir erlauben, eine kleine Zahl
von Tuberkulosefällen aus dem Kindesalter durch die anatomischen
Präparate zu erläutern, welche ein gewisses Interesse verdienen.
In dem ersten Falle handelt es sich um ein 11 Wochen altes
Pflegekind, welches angeblich plötzlich verstorben sein soll. Die
Beurkundung dieses Todesfalles wurde von dem zuständigen Polizei¬
arzt abgelehnt, mit dem Hinweis darauf, dass bereits kurze Zeit vor¬
her in derselben Pflegschaft ein ähnlicher Todesfall unaufgeklärt ge¬
blieben war. Die gerichtliche Obduktion wurde von Herrn Physikus
Dr. M a e s vorgenommen, dessen liebenswürdigem Entgegenkommen
ich diese Präparate verdanke. Sie finden in dem Oberlappen der
rechten Lunge dieses Kindes einen etwa walnussgrossen, völlig ver¬
kästen, im Zentrum bereits zerfallenen und zur Kavernenbildung sich
vorbereitenden Konglomerattuberkel. Ausserdem sind die Hilusdrüsen
enorm vergrössert und von gleicher Beschaffenheit. Dazu sind die
übrigen Lungenpartien, die Milz, Leber und anderen Körperorgane
übersät und durchsetzt von miliaren Tuberkeln. Dass für diese
miliare Aussaat aller Wahrscheinlichkeit nach der im Zerfall be¬
griffene Lungentuberkel anzuschuldigen ist, dürfte als nächstliegende
Annahme in Frage kommen; und beim Aufschneiden der Lungenvenen
fand ich eines dieser Gefässe, welches in dem Käseherd seinen Ur¬
sprung hatte, an dieser Stelle in bezug auf seine Wandung völlig
nekrotisiert. Schwieriger dürfte schon die Frage nach dem Ursprung
der älteren Herde resp. Primärherde, Lunge oder Drüsen, sein.
Die Lebensdauer von 11 Monaten ist nicht kurz genug, um den
Schluss zu rechtfertigen, es müsste sich unbedingt um eine hereditäre,
intrauterin erworbene Tuberkulose handeln. Da nun aber die sehr
sorgfältig durchgeführte Sektion das Fehlen jedes anderen Primär¬
herdes, insbesondere aber das Freisein des Magendarmkanals und der
Mesenterialdrüsen erwiesen hat, so ist der Leichenbefund nicht im¬
stande uns über die Genese der Infektion mit Sicherheit aufzuklären.
Darum möchte ich hierzu als Gegenstück den zweiten Fall an-
schliessen, den ich im Hafenkrankenhause bei der Sektion eines zwei¬
jährigen, an Diphtherie der Luftwege durch Asphyxie plötzlich zu¬
grunde gegangenen Kindes als Nebenbefund erhob. Hier fand sich
bei der Darmsektion eine isolierte geschwürige Tuberkulose des
Zoekums mit Verkäsung der allernächst gelegenen Mesenterialdrüsen.
Der übrige Darmkanal und seine Lymphorgane sowie insbesondere
auch die Lungen erwiesen sich trotz darauf gerichteter Unter¬
suchung als frei von Tuberkulose. Ich glaube wir können in diesem
Fall wohl mit Recht von einer exquisiten Fütterungstuberkulose
sprechen. Leider haben sorgfältige Nachforschungen des Medizinal¬
amts nach der Milchquelle keine Anhaltspunkte betreffs des Ursprungs
der Infektion ergeben.
Die 3 folgenden Fälle entstammen dem Sektionsmaterial des
Altonaer Kinderhospitals und ich verdanke sie der Liebenswürdigkeit
von Herrn Dr. Grüneberg, auf dessen Veranlassung ich dort Sek¬
tionen ausführe. — Eine Masernpneumonie machte dem Leben eines
schwächlichen 1% jährigen Kindes ein Ende, und wir fanden ausser
einer bereits operativ behandelten Halslymphdrüsentuberkulose noch
eine ausserordentlich vergrösserte Thymusdrüse, die sich beim Ein¬
schneiden als grösstenteils verkäst und von Tuberkeln durchsetzt er¬
wies. Das Zentrum der Käseherde war breiig zerfallen. Histologisch
wiesen die Randpartien noch Reste unveränderten Thymusgewebes
neben den tuberkulösen Herden auf. Abgesehen von der Seltenheit
einer solchen Lokalisation des tuberkulösen Prozesses dürfte bei
diesem Fall noch bemerkenswert sein, dass die Thymusvergrösserung
klinisch keine Erscheinungen gemacht hat und auch auf Grund des
Sektionsbefundes als Todesursache (sog. Thymustod) hier nicht in
Betracht kommen kann. Als ebenso selten dürfte die Lokalisation der
Tuberkulose am Mitralsegel gelten, welche der nächste Fall aufweist.
Es handelt sich um ein 1% jähriges Kind, welches unter den Er¬
scheinungen von Fieber und rechtsseitigen Konvulsionen starb. Da
eine Warzenfortsatzoperation vorgenommen war, so lag die An¬
nahme eines Hirnabszesses im Bereiche der Möglichkeit. Bei der
Sektion fand sich indessen nur eine doppelseitige tuberkulöse Karies
des Felsenbeins, dagegen weiterhin ein isolierter, annähernd kirsch¬
grosser Tuberkel in der Gegend der linken oberen Zentralwindung,
sowie ausserdem jene am Präparat sichtbare Verdickung und zentrale
Verkäsung des vorderen Mitralsegels. Das im übrigen aufgestellte
mikroskopische Präparat zeigt Ihnen das verkäste Zentrum der
Klappe, umgeben von typischen Riesenzellentuberkeln, in denen ich
an Serienschnitten vereinzelte Tuberkelbazillen nachweisen konnte.
Der fünfte und letzte Fall bietet nur das immerhin seltene Bild
einer Blutung in die Hirnventrikel bei einem Fall von tuberkulöser
Meningitis. Sie sehen hier sämtliche Hirnhöhlen ausgegossen mit ge¬
ronnenem Blut, welches auch an der Basis die Maschen der weichen
Hirnhäute in der Gegend der Brücke und des verlängerten Marks
infiltriert hat. Da die Basalgefässe sowie die Plexus und ihre Venen
überall in tuberkulöses, stellenweise verkästes Gewebe eingebettet
sind, so dürfte wahrscheinlich die Blutung auf die Arrosion eines
dieser Gefässe zurückzuführen sein, wenngleich es nicht gelang, die
Durchbruchstelle durch Präparation aufzufinden. Die Sektion des
Rückenmarks ergab abgesehen von der auch hier vorhandenen
Meningitis nichts Besonderes.
Diskussion; Herr Simmonds: In dem ersten Falle hat
möglicherweise doch eine plazentare Infektion Vorgelegen. Wir
wissen ja durch Versuche Baumgartens, dass bei Infektion auf
dem Blutwege sich tuberkulöse Lungenveränderungen ausbilden
können, die der Phthise ähnlich sind. S. fand einen mit dem vor¬
gelegten Präparat übereinstimmenden Befund bei einem 11 wöchent¬
lichen Säugling, dessen Mutter wenige Wochen nach dem Partus an
allgemeiner Tuberkulose und tuberkulöser Endometritis gestorben
war. Er nahm daher in jenem Falle eine kongenitale Lungentuber¬
kulose an.
Herr Simmonds: Zur Pathologie des Ductus Botalli.
Vortragender demonstriert ein kleines, enghalsiges, sackförmiges
Aneurysma der Aorta, das bei einem an Schädelfraktur verstorbenen
27 jährigen Manne angetroffen worden war. Da der histologische
Befund der Mesaortitis productiva Chiari entsprach und eine doppel¬
seitige fibröse Orchitis vorlag, wurde Syphilis als Ursache ange¬
nommen. Die Lage des Aneurysmas entsprach völlig dem Ductus
Botalli, erst der mikroskopische Nachweis des Ligamentum B. in
der Aneurysmenwand zeigte, dass es sich nicht um ein Aneurysma
Botalli gehandelt hatte. Vortragender hat 2 weitere ähnliche Fälle
gesehen. In einem Falle, von einer jungen Puella publica stammend,
war der Sack schliesslich in den linken Bronchus perforiert. Solche
Fälle zeigen, wie leicht man fälschlich ein Aneurysma Botalli an¬
nehmen kann. Zu Verwechslung geben dann weiter Anlass die häufig
vorkommenden Ausbuchtungen der Aorta an der Insertionsstelle des
Ductus Botalli. Diese können bisweilen hohe Grade annehmen und
bilden dann die von Thoma als Traktionsaneurysmen bezeichneten
Gebilde- Vortragender zeigt an zahlreichen Präparaten verschiedene
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1493
Grade dieser Ausbuchtungen. Auch in Fällen von Persistenz des
Ductus Botalli, wo gleichzeitig kein anderer angeborener Herzfehler
vorliegt, und wo in der Regel der Duktus sehr kurz ist, ja meist
so kurz ist, dass direkt Aorta und Pulmonalis hart aneinander liegen
und nur durch ein Foramen kommunizieren, auch in diesen Fällen
kann man an der Aorta eine aneurysmatische Ausbuchtung erkennen.
Vortragender zeigt 2 derartige Präparate. Im ersten Falle (37 jährige
Frau, gestorben an perniziöser Anämie) hatte die Persistenz des
Ductus keine Störungen hervorgerufen, im zweiten Falle (14 jähriges
Mädchen, gestorben an akuter Endokartitis mitralis) hatte stets leichte
Zyanose, besonders nach Anstrengungen bestanden und das rechte
Herz war stark hypertrophisch und dilatiert. Die Kommunikation
war kleinfingerdick. Alle die vorgeführten Beobachtungen und Prä¬
parate mahnen zur Vorsicht in der Diagnose des Aneurysma ductus
Botalli. Die Mehrzahl der unter dieser Bezeichnung publizierten Fälle
sind nur Aneurysmen der Aorta an der Mündungsstelle des Ductus
Botalli gewesen.
Allgemeiner ärztlicher Verein zu Köln.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 9. April 1906.
Vorsitzender: Herr Böse.
Schriftführer: Herr W a r b u r g.
Herr War bürg stellt den in der Sitzung vom 15. I. 06 demon¬
strierten Leukämiekranken wieder vor, der 214 Monate täglich mit
Röntgenstrahlen behandelt wurde, nachdem weder vorher noch
gleichzeitig, wie dies sonst meist geschehen ist, Arsen gegeben wurde.
Es wurde eine mittelharte Röhre verwandt; die Stärke des durch die
Röhre gehenden Stromes betrug 0,8 Milliampere. Trotz dieser Strom¬
stärke liess sich durch aufgelegtes Staniolpapier und täglichen
Wechsel der bestrahlten Stelle eine Röntgenverbrennung vermeiden,
wenn auch eine wohl nie bei so langdauernder Einwirkung zu ver¬
meidende Pigmentation heute in der Milzgegend zu sehen ist.
Durch diese ausschliessliche Röntgenbehandlung ist bei dem
Kranken eine beachtenswerte Besserung erzielt worden. Der Leibes¬
umfang (in der Höhe des Nabels) ist um 7 cm geringer geworden;
das Körpergewicht ging von 58 kg auf 56 kg herab und stieg dann
wieder langsam bis heute auf 57 kg. Das vor der Bestrahlung stets
im Urin vorhandene Eiweiss ist zurzeit gänzlich geschwunden. Die
Milz ist um Handbreite kleiner geworden. Am deutlichsten zeigt sich
die Besserung in dem Blutbefund: der Hämoglobingehalt ist langsam
von 43 Proz. auf 61 Proz. (Sahli) gestiegen und die Zahl der weissen
Blutkörperchen hat sich bedeutend verringert; während früher das
Verhältnis der weissen zu den roten Blutkörperchen 1 : 3 war, so
ist dies jetzt 1 : 50.
Am interessantesten ist jedoch die inzwischen eingetretene Ver¬
änderung in der Prozentzahl der verschiedenen Arten der weissen
Blutkörperchen. Vor der Einleitung der Röntgentherapie wurde das
mikroskopische Bild beherrscht durch die grosse Anzahl der
gro-ssen Lymphozyten (Zellen mit grossem, blassem Kern
und stark basophil gefärbtem Protoplasma). Diese Zellen hessen im
Anfang den Gedanken an eine akute lymphatische Leukämie auf-
kornmen, um so mehr, als Mastzellen völlig fehlten. In der Folge
änderte sich unter der Einwirkung der Röntgenstrahlen das mikro¬
skopische Blutbild in der Weise, dass die grossen Lympho¬
zyten immer mehr schwanden und ihre Prozentzahl
v o n 23,5 Proz. auf 1,5 Proz. zurückging; dagegen
nahm die Zahl der Myelozyten und polynukleären
Leukozyten zu, und die vorher nicht vorhandenen
Mastzeilen traten bis zu 8 Proz. auf. Wenn man die
grossen Lymphozyten im Sinne Naegelis als Myeloblasten
auffasst, so macht die Erklärung der beiden Blutbilder keine
Schwierigkeit; es sind dann die grossen Lymphozyten (Myeloblasten)
die Vorstufen der Myelozyten und polynukleären Leukozyten, und sie
erscheinen erst dann in grösserer Menge in dem leukämischen Blute,
wenn der Vorrat an Leukozyten und Myelozyten nicht mehr aus¬
reicht. Völlig verfehlt würde wohl die Annahme sein, dass in diesem
Falle zuerst eine lymphatische Leukämie Vorgelegen hätte, an
deren Stelle dann später eine myelogene Leukämie getreten
wäre. Der vorgestellte Fall war vom Beginne eine reine myelogene
oder, besser vielleicht gesagt, Leukozytenleukämie. Die Fälle, von
denen berichtet wird, dass sich in das myelogene Stadium eine lym¬
phatische eingeschoben habe, sind mit grosser Vorsicht aufzufassen;
es wird wohl meist eine Verkennung der N a e g e 1 i scheu Myelo¬
blasten die Ursache einer irrtümlichen Auffassung gewesen sein.
Denn auch heute noch müssen wir an dem strengen Unterschied zwi¬
schen der Lymphozyten- und Leukozytenleukämie festhalten, wenn
wir auch alle damit zusammenhängenden Theorien nicht mehr unter¬
schreiben können; namentlich sind die Arbeiten Schriddes zu
berücksichtigen, wonach auch die Lymphozyten durch aktive Wan¬
derung in den Kreislauf gelangen; ferner ist (nach Sternberg)
die leukämische Milzveränderung bei der myelogenen Leukämie nicht
als ein metastatischer, sondern als ein hyperplastischer Prozess auf¬
zufassen.
Was die Theorie der Wirkung der Röntgenstrahlen bei der
Leukämie betrifft, so nahm man bisher an, dass die Röntgenstrahlen
ausschliesslich einen vermehrten Zerfall der Leukozyten herbeiführten.
Da aber meist bei günstigem Verlauf eine Verminderung der
Harnsäureausscheidung beobachtet wird, so muss man nach Sturs¬
berg annehmen, dass durch die Röntgenstrahlen eine Herab¬
setzung der Leukozytenneubildung herbeigeführt wird
und zwar durch die hemmende Wirkung eines in dem bestrahlten Blute
entstehenden Leukotoxins auf die wuchernden Zellen.
Die Besserung, die in dem vorgestellten Falle durch die Röntgen¬
strahlen allein erzielt wurde, ist nicht zu verkennen, wenn sie ja auch
keine bedeutende zu nennen ist. Vortragender bestrahlte gleichzeitig
einen anderen Fall von Leukozytenleukämie (mit grosser Milz und
einer Verhältniszahl der weissen zu den roten Blutkörperchen 1:10)
einen und einen halben Monat mit Röntgenstrahlen in genau derselben
Weise; es wurde aber in dem zweiten Falle von dem behandelnden
Arzte gleichzeitig per os und subkutan Arsen gegeben; in diesem Falle
trat nach einer anfänglichen Verschlimmerung des Allgemeinbefindens
bald eine wesentliche Besserung ein; die Milz ist seit 1 Monat nicht
mehr fühlbar und der Blutbefund gleicht völlig dem normalen Bilde.
Es scheint also, dass doch die kombinierte Anwendung von
Röntgenstrahlen und Arsen von günstigerer Einwirkung
ist, als die Behandlung mit Röntgenstrahlen allein.
Herr Bardenheuer: Das Wesen und die operative
Behandlung der Neuralgie mittels Aufmeisselung des Kanales,
durch welchen der Nerv verläuft, und Verlagerung des Nerven
in Weichteile.
Der Vortragende spricht als Ursache für die Entstehung
der Neuralgie das Bestehen einer venösen Hyperämie in den
Knochenkanälen, durch welche die Nerven verlaufen, an.
Es entsteht nach dem Vortr. infolge irgend einer peri¬
pheren Ursache: Erkältung, Traumen, Entzündung etc., eine
periphere Hyperämie, welche entlang den Nervenästchen bis
zu dem ihm zugehörigen Knochenkanale hinaufsteigt, und in
welchem sie durch die Unnachgiebigkeit der knöchernen Wand
ständig wird und sich zum Oedem, zur Perineuritis, zur Ver¬
wachsung mit dem Knochenkanale weiter entwickelt.
Die venöse Hyperämie wandert bei längerem Bestehen
aufwärts bis zu den übrigen Aesten, bis zum Stamme, bis zu
den Ganglien. Diese venöse Hyperämie kann auch durch
innere Ursachen, die im Blute oder in den Gefässwänden etc.
liegen, allerwärts entstehen; dementsprechend aber auch in den
betreffenden Knochenkanälen, woselbst sie wiederum durch
die gleichen Ursachen ständig wird.- Aus diesem Grund emp¬
fiehlt er die Entfernung einer Wand des Kanales und die sanfte
Hervorhebung des Nerven aus demselben in einiger Entfernung
von der entstandenen Knochenwundfläche und an letzter Stelle
die Ueberlagerung eines subkutanen, aus der Nähe genom¬
menen Muskelperiostlappens über die Knochenwundfläche unter
den Nerven.
Bardenheuer gibt alsdann einen Bericht über 4 von
ihm selbst operierte Neuralgien des Trigeminus und einen
gleichen von Oberarzt Dr. S t r a e t e r - Düsseldorf und stellt
ausserdem 2 geheilte Fälle vor.
Alle Fälle sind geheilt worden. Nur in einem Falle ist
ein Rezidiv nach 13 Monaten eingetreten, weil bei der Opera¬
tion ein Bruch des Unterkiefers entstand und nachträglich sich
eine stärkere Phlegmone und sekundär eine Nekrosis der
Bruchenden entwickelte. Es bestand ein Schmerzpunkt dort,
wo der Nerv über den Kallus lief. Die nachgeschickte Exzision
des Bindegewebskallus um den Nerven heilte den Patienten
(seit 6 Monaten).
Die Heilungsdauer beträgt in den übrigen 4 Fällen 14, 7,
8, 3 Monate.
Das Leiden bestand in den 5 Fällen 3, 6, 10 (2 mal), 12 Jahre.
Bardenheuer glaubt daher, dieses Verfahren wenig¬
stens zum Versuche der Neurektomie resp. der Ganglion¬
exzision vorausschicken zu dürfen, zumal da der Eingriff ein
gefahrloser ist und die event. nachherige Ausführung der
anderen Methoden nicht beeinträchtigt.
Sitzung vom 30. April und 14. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Böse.
Schriftführer: Herr W a r b u r g.
Herr Bier (als Gast) spricht unter Demonstration der
zugehörigen Apparate über hyperämisierende Behandlung.
1494
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Herr Lossen stellt im Anschluss an den Vortrag von Bier
einige auf der Abteilung Barde nheuers im Bürgerhospital mit
Stauung behandelte und geheilteFälle von Sehnenscheidenphlegmonen,
Gelenkvereiterungen und akuter Osteomyelitis vor, an denen die aus¬
gezeichnete Wirkung der Bier sehen Stauung am meisten hervor¬
tritt, und bespricht die seit einem Jahr im Kölner Bürgerhospital
erhaltenen Resultate der Stauungsbehandlung.
Unter J2 Fällen von Sehnenscheidenphlegmonen
heilten 10 mit voller oder nahezu voller Beweglichkeit und halber
bis normaler Kraft, ein Fall heilte mit halber Beweglichkeit, ein Fall,
in dem gleichzeitig Nekrose der Grundphalanx bestand, führte zur
Abstossung der Sehne. Unter den 12 Fällen befanden sich 7 Fälle
schwerster Art, sogen. V-Phlegmonen, bei denen die Bursae synoviales
und sämtliche Beugesehnen beteiligt waren, in denen teilweise
schwere Sepsis mit Ikterus bestand. Von diesen 7 Fällen heilten 6
voll beweglich, einer halb beweglich. . .
Vortr. glaubt, dass sich ähnliche Resultate regelmässig bei einiger-
massen frühzeitig behandelten Sehnenphlegmonen erreichen lassen,
und hält die Erfolge der Stauungsbehandlung somit gerade bei Sehnen¬
phlegmonen für augenscheinlich, da diese fiiiher fast regelmässig mit
Abstossung oder Schrumpfung und Verwachsung der Sehnen endigten.
Die Behandlung erfolgte nach Biers Vorschrift mit Dauer¬
stauung, multiplen kleinen Inzisionen, Sodasandbädern und fi ühzeitigen
aktiven Bewegungen.
Unter 9 Fällen von Gelenkvereiterungen heilten 7 mit
voller oder nahezu voller Beweglichkeit: 1 Schultergelenk (spontane
Vereiterung im Kindesalter), 1 Ellbogengelenk, 1 Kniegelenk, 1 Fuss-
gelenk (sämtlich bei Osteomyelitis), 3 Fingergelenke (Vereiterung
nach Verletzung). Mit geringer Beweglichkeit heilten eine Knie¬
vereiterung (Axthieb). Schweren Misserfolg ergab untei Stauung
und kleinen Inzisionen ein Fall von Schultervereiterung nach Messer¬
stich. Derselbe Überstand die schwere Sepsis erst nach ausgedehnter
Schulterresektion.
Zur Behandlung genügte meist Stauung von 22 Stunden ohne
operativen Eingriff. Einmal war ausser Stauung noch Punktion, Aus¬
spülung mit 3 proz. Karbollösung nötig (Kniegelenk), 2 mal Inzision
des Gelenkes, einmal Resektion des Gelenkes (Schulter).
Von akuter Osteomyelitis wurden 7 Fälle mit Stauung
behandelt. Davon waren 1 Fall multipel, 6 nur an einem Knochen.
Erkrankt waren 5 mal Tibia, 1 mal Fibula, Kalkaneus, Femur, Ulna.
Von den 7 Fällen heilten 5 ohne Sequesterbildung in 3 — 4 Wochen
mit Stauung und kleinen Inzisionen. 1 Fall heilte mit grossem Se¬
quester der Tibia, 1 Fall (Kalkaneus) heilte nach Exkochleation.
In 4 Fällen waren im Röntgenbild Knochenveränderungen sicht¬
bar. in 2 nicht sichtbar, in 1 Fall wurde nicht durchleuchtet.
Gute Resultate ergab die B i e r sehe Stauungsbehandlung bei
Par ulis (10 Fälle, mittlere Dauer 14 Tage). Die entstellenden
grossen Schnitte konnten in allen Fällen vermieden werden, darunter
in einem sehr ausgedehnten Fall von Parulis mit Zuschwellung beider
Augen und Atemnot. In allen Fällen von Periostentblössung des
Knochens (3 mal) und in denen mit Fistelbildung (2 mal) bedeckte sich
der Knochen wieder und die Fisteln heilten aus.
16 Fälle von Karbunkel, darunter 6 Lippenkarbunkel, heilten
sämtlich ohne Inzision oder nur mit kleiner Stichinzision, im Mittel
in 12 Tagen; darunter ein Nackenkarbunkel von 15 cm Durchmesser.
Besonders günstig wirkte die Stauung bei phlegmonöser
Bursitis des Ellbogens, der Schulter und der Kniegegend, die
früher nur mit grossen Schnitten, Exstirpation der Bursae und langer
Behandlung zur Heilung kamen. In 7 Fällen betrug die Heilung im
Mittel 16 Tage.
Günstig wirkte ferner die Stauung bei grossen Abszessen
und vereiterten Hämatomen (4 Fälle, Dauer 1 1 Tage), bei
Phlegmonen (8 Fälle, mittlere Dauer 10 Tage), vereiterten
Achseldrüsen (9 Fälle, mittlere Dauer 18 Tage), Lymp h-
a n g i t i s, Lymphadenitis (7 Fälle, mittlere Dauer 10 1 age),
Panaritien, vereiterten Wunden, Faden fisteln,
chro n. E kz e m etc.
V/eniger gute Resultate ergaben Leistenbubonen, nament¬
lich die noch nicht völlig vereiterteni(7 Fälle, mittlere Dauer 34 läge).
Einmal war nachträgliche Ausräumung nötig, einmal kam Rezidiv.
Weniger gute Resultate ergaben auch P a n. o s s e u m (3 geheilt,
1 sequestriert) und Thrombophlebitis.
Ungünstig, d. h. nekrotisierend, wirkte die Stauung anscheinend
in 2 Fällen von drohender Hau tnek rose bei ausgedehnten
diffus infiltrierten Panaritien und in 2 Fällen beginnender diabeti¬
scher Gangrän, die sich unter der Stauung verschlimmerten.
In allen anderen, im ganzen 127 stationär behandelten septischen Ent¬
zündungen war die günstige Wirkung der Stauungsbehandlung,
namentlich auf Abkürzung der Behandlungsdauer und Wiederher¬
stellung der Funktion nicht zu verkennen.
Was die Technik betrifft, so wurde in der Regel Wert gelegt auf
ausreichende Eröffnung der Eiterherde mit kleinen, oft
multiplen Schnitten, wenn dies erforderlich war. Bei diffus infil¬
trierten grossen Phlegmonen ohne genügende Erweichung wurde
ausserdem noch von kleinen Hautschnitten 'aus durch ausgiebige sub¬
kutane stumpfe Ablösung der Haut und Muskelinterstitien für guten
Abfluss gesorgt. Die abgelöste Haut legte sich unter dem Einfluss
der Stauungs- und Saugbehandlung rasch und vollständig wieder an.
Im subakuten Stadium der Entzündungen, wenn Stauungs- und
Entzündungsödem nicht verschwand, wurde vielfach Heiss luf t-
behandlung bis 60° oder Lichtbäder verwendet, die sich
namentlich auch bei Karbunkeln eigneten, wo sie die Erweichung be¬
schleunigten und den Schmerz linderten. .
Im übrigen entsprach die Behandlung genau den von Bier an¬
gegebenen Vorschriften.
Herr P i n k u s spricht über Alexie.
(Dieser Vortrag wird ausführlich veröffentlicht werden.)
Herr Kühler (als Gast) spricht über Kriippelheime.
Die zielbewusste Krüppelfürsorge ist ein Gebiet der so¬
zialen Fürsorge, der man erst in den letzten Dezennien mehr
und mehr seine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Nach zuver¬
lässiger Statistik beträgt die Zahl der Krüppel in Deutschland
mindestens 320 000. Von diesen sind 90 — 95 Pioz. geistig nor¬
mal. Als erstes Ziel der Krüppelheime gilt die ärztliche Für¬
sorge; aber da die Behandlung eine langdauernde ist, muss
in diesen Krüppelheimen für Schulen und Handwerksschulen
gesorgt werden, und schliesslich müssen die Kriippelheime
auch als Heimstätten dienen. Die Leistungen solcher Kriippcl-
heime sind nicht zu unterschätzen; dadurch wird es möglich,
dass bis zu 92 Proz. ihren Erwerb selbst verdienen können.
Aber nicht nur die finanzielle Seite soll man schätzen, sondern
auch den Wert und den Segen der Arbeit, den solche Krüppel¬
heime ermöglichen; dadurch können wir glückliche und zu¬
friedene Menschen machen.
Medizinische Gesellschaft zu Leipzig.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 29. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Cur sch mann.
Schriftführer : Herr R i e c k e.
Herr R i e c k e demonstriert aus der Universitätsklinik für Haut¬
krankheiten und Syphilis (Prof. Dr. Rille):
1. ein 12 jähriges Mädchen mit Alopecia areata universahs.
Im vierten Lebensjahre Beginn des Haarausfalles in Scheiben¬
form auf dem behaarten Kopfe. Im Verlauf mehrerer Monate tiat
totaler Verlust der Haare inkl. der Lanugobekleidung ein. Die ver¬
schiedensten therapeutischen Massnahmen blieben ohne Erfolg. Seit
mehreren Wochen zeigen sich an den Augenbrauen und Vorder¬
armen kleine feinste weisse Härchen. An der Kopfhaut sind vier
bis fünf Haarstiimpfchen zu erkennen. Infolge dieses spontan aufge¬
tretenen Haarwuchses soll, da die nahende Pubertätszeit an sich dem
Haarwuchstum günstig sein dürfte, eine vorsichtige und leichte
Röntgenbestrahlung zunächst der Kopfhaut eingeleitet
werden.
2. Einen 38 jährigen Bierverleger, welcher bis vor zwei Jahren
an einer langjährigen Alopecia areata universalls litt.
Auch hier begann der Prozess an der behaarten Kopfhaut, um
dann zum Verlust sämtlicher Körperhaare zu führen. Patient wurde
ca. % Jahr lang einer gering dosierten Behandlung mit Röntgen¬
strahlen vorsichtig unterworfen und zwar wurde lediglich die Kopf¬
haut bestrahlt, unter peinlicher Abdeckung des übrigen Körpers.
Nach ca. 10 Wochen war ein deutliches Sprossen feinster Woll-
härchen in den seitlichen Anteilen der Kopfhaut zu konstatieren. Es
wurde schliesslich ein nicht unbeträchtliches Wachstum auch kräf¬
tiger Haare in den Seitenteilen der Kopfhaut erzielt, während der
Vertex absolut kahl blieb.
Bemerkenswert ist jedoch, dass bald nach Konstatierung der
ersten Härchen an der Kopfhaut an den sorgsam abgedeckten übrigen
Körperteilen die Lanugobekleidung sowie die Axillarhaare und die
Pubes zu sprossen begannen. Es erscheint daher die Röntgenwirkung
in diesem Falle fragwürdig.
3. eine 48 jährige Formersfrau mit einem seit 4 Jahren bestehen¬
den Epithelioma frontis.
Die ursprünglich fünfmarkstückgrosse Geschwürsfläche ist nur
mehr kleinfingernagelgross. Im allgemeinen ist eine glatte Vernarbung
eingetreten. Nur der innere untere Rand des Herdes bildet einen ’/a cm
hohen und ebenso breiten derben Infiltrationswall. Die Behandlung
bestand seit etwa einem halben Jahre in Röntgenbestrah¬
lungen. Der erwähnte Infiltrationssaum ist im Laufe der letzten
Zeit stärker geworden und trotzt der eingeschlagenen Iherapie.
4. eine 66 jährige Wittfrau mit einem seit 23 Jahren bestehenden
Epitheliom am rechten Nasenwinkel.
Es liegt ein walnussgrosser tiefer Defekt vor, welcher den rech¬
ten Nasenflügel völlig zerstört hat, fingerbreit über der Oberlippe
mit einem derben Infiltrationswall endigt. Die Geschwürsbasis ist
stark eitrig belegt und hat das Septum narium blossgelegt. Der
Processus alveolaris des Oberkiefers liegt streckenweise frei. Die
Schleimhaut ist daselbst ulzeriert. Eine seit etwa 8 Wochen ein-
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1495
geleitete, ziemlich energische Röntgenbehandlung hat bis¬
lang bei der in ihrem Allgemeinbefinden stark herabgekommenen
brau keinerlei Erfolg gezeitigt.
5. eine 61 Jahre alte Frau mit Epithelioma am Helix major des
rechten Ohres.
Die Affektion besteht seit einem halben Jahre. Es liegt eine
etwa daumennagelgrosse, sehr oberflächliche Qeschwürsfläche vor,
mit etwas eitrig belegten, zum Teil lackfarben glänzenden, kleinen
Granulationshöckerchen ausgestattet. Die glatten Ränder sind nur
wenig flach erhaben, etwas derb, von bläulich-weissem Glanz. Seit
ca. 3 Wochen ist eine Röntgenbehandlung eingeleitet.
Der Vortragende verbreitet sich im Anschluss an diese 3 Fälle
über die Indikationen der Röntgenbehandlung bei
Epitheliom unter spezieller Berücksichtigung der kürzlich in der
französischen dermatologischen Gesellschaft stattgehabten ausgiebigen
Diskussion dieses Themas.
Bemerkenswert ist die von fast allen französischen Autoren ver¬
tretene Anschauung, dass eine sichere Wirkung der Röntgenstrahlen
bei Epitheliom am ehesten zu erwarten sei, wenn das Röntgen-
verfahren mit einer vorhergehenden Exkoch leation („r a c -
läge“) kombiniert würde. Sicher ist, dass sowohl der mehr minder
tiefere Sitz des Geschwulstgewebes, sowie der Allgemeinzustand im
einzelnen Fall neben der individuellen Empfindlichkeit den Strahlen
gegenüber weitgehende Berücksichtigung zu erfahren haben.
Herr Riecke demonstriert ferner:
6. einen 30 jährigen Postboten mit einem Lichen ruber planus
der Haut und der Schleimhaut.
7. eine 46 jährige Buchhandlungsgehilfenfrau mit einem isolierten
Licher ruber planus der Schleimhaut. (Fall 6 und 7 werden ander¬
weitig publiziert.)
8. einen 52 Jahre alten Markthelfer mit Psoriasis mucosae lin-
gualis et buccalis, auf deren Basis ein Epitheliom entstanden ist.
Vor 30 Jahren Lues, unvollkommene Behandlung. Im Jahre 1901
poliklinische Behandlung wegen nässender Papeln am Skrotum und
Schleimhautpapeln. Es wurde damals bereits eine Psoriasis linguae
konstatiert. In der vorderen Zungenhälfte, in der rechten Hälfte
der Ober- und Unterlippenschleimhaut, sowie an der rechten Wangen¬
schleimhaut finden sich in chagrinlederartiger Zeichnung typische
Plaques von Psoriasis mucosae. Bemerkenswert ist an der
rechten Wangenschleimhaut ein auf psoriatischer Basis entstandenes
etwa bohnengrosses Geschwür, mit sehr harten, deutlich er¬
habenen Rändern und sehr derber Basis. Die Induration er¬
streckt sich zentimeterbreit in die Umgebung; die Geschwürsbasis
flach, trichterförmig vertieft, mit graugelbem Eiterbelag versehen.
In der rechten Submaxillarregion ist eine derbe, bohnengrosse, ver¬
schiebliche Lymphdriise zu konstatieren. Die histologische Unter¬
suchung eines bioptisch gewonnenen Stückchens des Geschwürs er¬
gibt die Diagnose Karzinom. (Demonstration mikroskopischer
Präparate.)
9. einen 27 jährigen Arbeiter mit Pityriasis lichenoides chronica.
10. ein 31 Jahre altes Wirtschaftsfräulein mit Pityriasis liche¬
noides chronica. (Fall 9 und 10 werden anderweitig publiziert.) .
11. einen 46 jährigen Kaufmann mit Dermatitis papillaris capillitii.
Das Leiden begann vor etwa 6 Jahren mit Jucken und einzelnen
Knötchenbildungen an der Haarnackengrenze. Periodenweise promi-
nierten die Knötchen stärker und sonderten infolge von Wundwerden
durch Kratzen eine eitrige Flüssigkeit ab. Die Knötchen haben all¬
mählich sich vermehrt. Behandlung mit verschiedenen Zugpflastern,
Hg-Pflaster, mit Wilkinsonsalbe u. a. völlig fruchtlos. Als der Pa¬
tient vor lVz Jahren in Behandlung trat, zeigte sich an der Haar¬
nackengrenze und unterhalb derselben, so zwar, dass beiderseits
von der Mittellinie eine Gruppenbildung resultierte, ein Exanthem,
welches aus grieskorn- bis hirsekorngrossen, strohgelben bis rötlich¬
gelben, von einem leichten hyperämischen Saum umgebenen, rund¬
lichen bis flach kegelförmigen, an der Oberfläche glänzenden, sehr
derben Knötchen bestand. Durch Konfluenz der Knötchen entstanden
bald unregelmässig konfigurierte Bildungen und Ringbildungen u. ä.
Im allgemeinen werden die Knötchen etwa erbsengross, sitzen flach
halbkuglig der Basis auf, sind scharf umschrieben und glänzend. Wo
die Knötchen enger zusammenstehen oder konfluieren, finden sich in
den leicht geröteten Interstitien büschelförmig zusammengedrängte
Haare. Die einzelnen Knötchen sind nur ausnahmsweise von einer
Härchen durchbohrt. Die anfangs deutlich sich markierenden Ein¬
senkungen zwischen den konfluierenden Effloreszenzen verschwinden
allmählich, indem grössere Plaques plateauartig erhaben sich aus¬
bilden. Dieselben haben ein hellgelbrotes, glänzendes, wachsartiges
Aussehen, eine keloidartige Härte, die Derbheit ist so bedeutend,
dass beim Durchschneiden eines Knötchens das Messer knirscht.
Nachdem verschiedene Schälkuren, graues Quecksilberpflaster ver¬
geblich angewendet waren, wurde eine Behandlung mit Röntgen-
strahlen eingeleitet. Nach etwa 12 maliger Bestrahlung von je
10 Minuten Dauer in 8 tägigen Intervallen mit mittelharter Röhre
hatten sich die Knötchen und die Plaques bis auf ein Drittel ihrer
ursprünglichen Grösse involviert, ohne dass entzündliche Erschei¬
nungen oder Ulzerationen aufgetreten wären. Die Röntgenbestrah¬
lung wurde fortgesetzt und hat ein fast völliges Schwinden des
Exanthems ohne markante Narbenbildung herbeigeführt. Es
schiessen gelegentlich stecknadelkopfgrosse neue Knötchen auf,
welche sich aber alsbald unter Röntgenbehandlung rückbilden.
Der mikroskopische Befund ergab herdförmige Infiltrate in der
Kutis bei völligem Intaktsein der zahlreichen Haare und Ialgdriisen
und vereinzelter Schweissdriisen. Die Papillarschicht zeigte sehr
verschiedenartiges Verhalten, bald lang ausgezogene und verbrei¬
terte, bald verschmächtigte und abgeflachte Retezapfen. Die Epi¬
dermis im ganzen bald verbreitert, bald verschmälert, je nachdem ein
mehr oder minder starkes Infiltrat gegen die Oberfläche andrängte.
Flerr Wilms: 1. Meningealblutung mit ungewöhnlichem Sym-
ptomenkomplex wurde bei einem 12 jährigen Mädchen beobachtet.
Das Kind war gestürzt, scheinbar ohne Schaden zu nehmen, da es
gleich wieder aufstand und sich wohl befand, bis 24 Stunden später
erst Kopfschmerzen, Erbrechen und langsam zunehmende Benom¬
menheit eintraten, ohne Spur von Lähmung. 40 Stunden nach
dem Unfall wurde es eingeliefert, mit Pulsverlangsamung, in bewusst¬
losem Zustande, bewegte aber sämtliche Extremitäten. Die Seite,
an der die Blutung sass, war nur dadurch festzustellen, dass hinter
dem rechten Ohr ein leichtes Oedem und eine ausgesprochene
Druckempfindlichkeit nachzuweisen war. Die Operation be¬
stand in Trepanation mit Bildung eines ziemlich weit nach vorn ge¬
legenen Knochenlappens, der nach Entfernung des beträchtlichen,
extraduralen Blutergusses wieder reponiert wurde; Heilung.
2. Demonstration eines Patienten, bei welchem eine embryoide
Geschwulst des Hodens entfernt wurde, die seit 2 Jahren gewachsen
war. Ein Teil der Geschwulst war karzinomatös degeneriert. Aus¬
gedehnte Drüsenmetastasen im Becken mussten entfernt, ebenso eine
wandständige Resektion des Colon descendens vorgenommen wer¬
den. Schon makroskopisch sieht man an der Geschwulst die charakte¬
ristischen gelb-weisslichen Herde und Züge, welche aus Epider
m i s, also dem Produkt des Ektoderm, entstanden sind. Im
Uebrigen .sind verschiedene Epithel- und Bindegewebsformationen
des Endo- und Mesoderm noch im Tumor nachzuweisen, ein Zeichen,
dass eine dreiblättrige Keimanlage der Ursprung der Ge¬
schwulst gewesen ist.
3. Demonstration eines Patienten, der vor einem Jahre nach
Talma operiert wurde. Er hatte früher typische Gallenstein¬
koliken gehabt. Bei der Aufnahme ins Krankenhaus zeigte sich, dass
ein beträchtlicher Aszites vorhanden war, der uns zu der Annahme
verleitete, dass eine Leberzirrhose vorläge. Zur Beseitigung der
Stauung sollte deshalb die Talma sehe Operation ausgeführt wer¬
den. Bei der Laparotomie zeigte sich keine Leberzirrhose, dagegen
eine sehr starke Stauung im ganzen Pfortadergebiet und eine stark
geschrumpfte, mit Stein gefüllte Gallenblase, sowie eine Veihäitung
im Bereich der grossen Gallenwege und ihrer Umgebung. Die
Pfortaderstauung war also bedingt durch eine im Gefolge
einer Cholezystitis aufgetretene Entzündung im Bereich der Gallen¬
wege und der Pfortader, die zu einer Verengerung der letz¬
teren geführt hatte. Da bei dem vorhandenen Aszites ein grösserei-
Eingriff an der Gallenblase mir zunächst nicht ratsam schien, nähte
ich das Netz aussen unter die Bauchdeckennaht ein, um später, wenn
die Pfortaderstauung dadurch beseitigt wäre, die Gallenblasenopera¬
tion vorzunehmen.
Bei der Entlassung des Patienten, 4 Wochen nach der Operation,
war ein mässiger Aszites wieder vorhanden, der aber im Laufe
der nächsten Monate von selbst verschwand und nicht wiedergekehrt
ist. Patient befindet sich dauernd wohl und lehnt vorläufig wegen des
guten Allgemeinbefindens einen neuen Eingriff zur Beseitigung der
Gallensteine ab.
Es handelt sich hier also um eine erfolgreich ausgeführte
Talmasche Operation bei ungewöhnlicher Form
der Pfortaderstauung durch Stenose des Pfort-
ad er Stammes. In der Literatur habe ich derartige Fälle nicht
verzeichnet gefunden.
Herr Viereck: lieber die Braunsche Methode der
Anästhesierung des Kehlkopfes durch Leitungsunterbrechung
des N. laryngeus superior.
Im Verlauf seiner Bemühungen, die Methoden der regio¬
nären oder Leitungsanästhesie auszubilden, hat Brau n zum
ersten Male die Schleimhaut des Kehlkopfes unempfindlich ge¬
macht durch perineurale Injektion von Kokain-Adrenalin¬
lösung in den Nervus laryngeus superior an seiner Durchtritts¬
stelle durch die Membrana hyo-thyreoidea unter dem grossen
Zungenbeinhorn (siehe die erste Veröffentlichung Brauns im
Arch. f. Chir., Bd. 71, S. 235 vom Jahre 1903, wiederholt in
seinem Anfang 1905 erschienenen Lehrbuche; Die Lokal¬
anästhesie [Leipzig, Ambrosius Barth] S. 298). Die Ausführung
der Injektion beschreibt Braun an letzterer Stelle folgender-
massen: „Man lässt den Kranken hinlegen, schiebt eine Rolle
unter den Nacken, so dass der Kopf leicht nach hinten über¬
geneigt ist, und lässt sich von einem Assistenten das Zungen¬
bein nach der einen Seite hinüberdrücken. Hier fühlt man dann
leicht das nun stark vorspringende hintere Ende des grossen
1496
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Zungenbeinhorns. Hinter dasselbe legt man die Spitze des
linken Zeigefingers, der dann die Pulsation der Carotis externa
fühlt und injiziert unter das Zungenbeinhorn 1 ccm Lösung IV“,
d. h. einer 1 proz. Kokainlösung mit Zusatz von 2 Tropfen
Suprareninlösung (1: 1000) auf den Kubikzentimeter. Während
gleich beim ersten Versuche eine vollständige Anästhesie des
Kehlkopfes erreicht wurde, gelang dieses in den folgenden
Fällen nicht oder doch nur teilweise. Nach Einführung des
Novokains in die Praxis, das nach Heineke-Läwen
6— 7 mal weniger giftig ist als das Kokain, setzte ich die
Braun sehen Versuche fort, indem ich jederseits 3 ccm einer
2 proz. Novokainlösung mit Zusatz von 2 Tropfen Suprarenin¬
lösung (1:1000) auf den Kubikzentimeter einspritzte. 0,2 g
Novokain wurden nach Heineke-Läwen anstandslos ver¬
tragen (das sind 10 Spritzen ä 1 ccm einer 2 proz. Lösung),
sogar 0,5 Novokain sind von ihnen ohne Schaden gegeben
worden. Schon mit 3 ccm jederseits gelingt es auch bei ge¬
ringer Uebung leicht und sicher, die regionäre Anästhesierung
des Kehlkopfes auszuführen, was mit den geringen erlaubten
Kokainmengen nicht so sicher, zumal bei fehlender Uebung.
zu erreichen ist.
Die Anästhesie tritt schon 3 — 5 Minuten nach der Injektion
ein, dauert 30 — 40 Minuten, in einzelnen Fällen bedeutend
länger, erstreckt sich auf den Kehldeckel und den ganzen
oberen Kehlkopfraum bis zur Glottis mit Sicherheit, ist aber
unterhalb der Glottis nicht immer vollkommen. Sie erlaubt die
Ausführung fast aller endolaryngealen Operationen, nur wenn
tief im subglottischen Raum operiert werden soll, könnten
Schwierigkeiten entstehen. Das Curettement und die Kauteri¬
sation bei Kehlkopftuberkulose, die Exstirpation des tuberkulös
erkrankten Taschenbandes, Aetzungen mit konzentrierter
Milchsäure, galvanokaustische Zerstörung von Polypenresten
liessen sich bei vollständiger Anästhesie leicht und sicher aus¬
führen. Unangenehme Nebenerscheinungen oder Nachwir¬
kungen wurden nicht beobachtet, nur machte sich in der Mehr¬
zahl der Fälle eine starke Schleimabsonderung, namentlich zu
Beginn der Anästhesie, bemerklich, die zuweilen etwas störend
wirkte, aber im weiteren Verlaufe der Anästhesie dann aufhörte.
Der Eintritt der Empfindungslosigkeit, dessen Moment von den
Kranken stets prompt angegeben wurde, machte sich objektiv
durch Abblassen der Larynxschleimhaut kenntlich.
Gegenüber der alten Anästhesierungsmethode durch Pin¬
seln oder Einträufeln starker Kokainlösungen möchte ich als
Vorteile der Braun sehen Methode bezeichnen: 1. die genaue
Dosierung und geringe Menge des angewandten Anästheti-
kums; 2. die geringe Belästigung des Patienten (nur ein Nadel¬
stich beiderseits); 3. die lange Dauer der Anästhesie, welche
erlaubt, jeden Eingriff in grösster Ruhe auszuführen. Nach
meinen Beobachtungen ist 4. auch die Anästhesie vollständiger
als bei den Pinselungen.
Medizinische Gesellschaft zu Magdeburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 19. April 1906.
Vorsitzender: Herr Unverricht.
Herr Kretschmann: Demonstration eines neuen Ton-
sillotoins.
Herr Buttenberg berichtet über einen 1 odesfall eine halbe
Stunde nach komplizierten Beinbrüchen mit sonst negativem Sek¬
tionsbefund. Die mikroskopische Untersuchung der Lungen ergab
ausgedehnte Fett emboli e. Die yorgeführten Schnitte sind nach
sorgfältigster Härtung der Lunge und Imprägnierung mit Osmium¬
säure und Färbung nach van O i e s o n hergestellt.
Derselbe zeigt ferner die mikroskopischen Bilder des von Herrn
T h o r n unlängst operierten und demonstrierten T ermatoma
o v a r i i. Den Hauptbestandteil der Geschwulst bildet Gliagewebe,
im übrigen sind die mannigfachsten Abkömmlinge der drei Keim¬
blätter in buntem Wechsel vertreten.
Herr Schreiber demonstriert einen Fremdkörper, den er am
17. IV. 06 aus der Augenhöhle eines neunjährigen Mädchens entfernt
hat, welches 8 Tage vorher in einer Sagemühle verunglückt war.
Dem Kinde war ein längerer Holzspahn mit grosser Gewalt gegen
das rechte Auge geflogen. Das Auge wa,r seit dem Unfall etwa
l1/? cm vorgetrieben, stand vollkommen unbeweglich und war von
dem gelähmten oberen Lide verdeckt. Am unteren Lide befand sich
eine etwa 1 cm lange, horizontal verlaufende, vom aussci cn Lid¬
winkel 1 cm nach unten entfernte Wunde, die am Tage der Aufnahme
des Kindes in der Klinik bereits vernarbt war. Schmerzen wurden
nicht geklagt; auch war kein Fieber vorhanden. Das Auge besass
noch annähernd normale Sehschärfe bei normalem Augenspiegcl-
befunde. Da angenommen werden musste, dass sich in der 1 iefe der
Augenhöhle entweder ein Fremdkörper oder doch mindestens ein
Bluterguss befand, welches den Exophthalmus hervoi gerufen hatte,
so wurde in Chloroformnarkose der äussere Lidwinkel gespalten und
mit einem Skalpell zwischen Aug- und äusserem Orbitalrand. einge¬
gangen, wobei auf einen Widerstand gestossen wurde, der sich bei
erweiterter Wunde als ein Stückchen Holz 2 cm lang, 7 mm breit
— entpuppte, das in einem beginnenden Abszess eingebettet lag.
Der Fremdkörper wurde entfernt und der Orbitalabszess drainiert.
Die Heilung verlief in der Beobachtungsdauer ohne Besonderheiten.
Herr Schreiber: Ueber die Resultate der Augen-
untersuchungen in den Magdeburger Volksschulen.
Die Zahlen sind an dem ersten Tausend der dem Redner
zur Untersuchung überwiesenen Volksschüler und Schüler¬
innen gewonnen, die wegen mangelhafter Sehschärfe oder
Augenerkrankungen dem Schulunterricht nicht zu folgen ver¬
mochten. Es befanden sich darunter bei 538 Mädchen und
462 Knaben:
1. Kornealerkrankungen . . .
a) Hornhauttrübungen (39 Knaben 49 Mädchen .
b) Parenchymatöse Hornhautentzündung . . . .
(sämtliche hereditär luetisch)
c) Hornhautinfiltrat .
d) Leucoma adhaerens .
2. Konjunktivalerkrankungen .
a) Blepharoconjunctivitis .
b) Conjunctivitis follicularis .
3. Muskelanomalien
a) Strabismus convergens . .
b) „ divergens .
c) Insuffizienz der Recti interni .
d) Diphtheritische Akkommod.-Lähmungen , . .
e) Anisokorie .
f) |Ptosis congenita . . .
g) "Angeborene Abduzenzlähmung .
h) Nystagmus . .
4. Linsenerkrankungen
a) vordere Kapseltrübungen .
b) angeborene Totalstare .
c) „ Schichtstar .
d) Wundstar .
5. Erkrankungen der Aderhaut, der Netzhaut und des
108 Fälle
88 „
10
4
43
34
9
V
V
V
V
V
96
16
11
4
9
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v
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v
v
v
7
2
1
2
V
V
w
Sehnerven
a) Atrophie des Sehnerven . .
b) Entzündung „
c) Retinitis luetica .
d) „ pigmentosa . .
e) Chorioiditis disseminata . . .
6. Tränenleiden
a) Dakryocystitis .
b) Obliteration der Tränenpunkte
3
1
2
1
1
V
3
1
V
7. Refraktionsanomalien waren 730 mal vorhanden. Hoch¬
gradige Myopie von 6 Dioptr. und darüber wurde nur 29 mal kon¬
statiert. Geringgradige Myopie kam 154 mal zur Beobachtung. Das
männliche Geschlecht verhielt sich zum weiblichen wie 108: 75. Alle
diese Fälle von Myopie wurden soweit angängig voll korrigiert, und
nahezu ein Drittel wurde alljährlich einer Kontrolle unterzogen,
welche namentlich bei den 40 Knaben in 30 Fällen ergab, dass die
Kurzsichtigkeit unter dem Einfluss der Vollkorrektion keine Fort¬
schritte gemacht hatte, während bei den Mädchen, welche die Brillen
weniger konsequent getragen hatten, die Myopie nur in 65 Proz. der
Fälle stationär geblieben war. Zu der reinen Myopie sind noch 37
Fälle von Myopie mit Astigmatismus zuzurechnen, welche
ebenfalls voll korrigiert wurden, und bei denen die Kontrolle statio¬
näres Verhalten des Brechungszustandes ergab.
Diesen Fällen von Myopie stehen 510 Fälle gegenüber,
die aus Hyperopen, Hyperopen mit Astigmatismus und Asth¬
matikern bestehen.
Was die Hyperopie anlangt, so war dieselbe rein in 190,
kompliziert mit Astigmatismus in 60, in Summa 250 Fällen ver¬
treten, in denen das weibliche Geschlecht mit 148, das männ¬
liche nur mit 102 Fällen vertreten war.
Am auffallendsten ist die ungeheuer grosse Zahl von 260
Astigmatikern, 137 Knaben, 123 Mädchen, eine Anzahl, wie
sie bisher noch nicht konstatiert wurde, und welche deshalb
zu Bedenken für die Zukunft Veranlassung geben kann, weil
der Astigmatismus eine erhebliche grössere Neigung zur Ver-
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1497
erbring erkennen lässt als die Myopie. Schreiber hält auf
Grund seiner Erhebungen die früher angestellten Schulunter¬
suchungen für sehr revisionsbedürftig, da jedenfalls ohne die
Benützung des J a v a 1 sehen Astigmameters viele Astigmatis¬
men gar nicht erkannt sind, und vieles als Myopie angesehen
ist, was sich bei genauerer Untersuchung als Myopie mit
Astigmatismus oder als myopischer Astigmatismus heraus¬
gestellt hätte. Auch kann er der Myopie nicht die Bedeutung
beimessen, die derselben bisher zuerkannt ist, da die rationelle
Vollkorrektion zweifellos die Progression der Myopie ein¬
zudämmen und die Gefahr derselben abzuschwächen im
Stande ist.
Aerztlicher Verein zu Marburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 20. J u n i 1906.
Vorsitzender: Herr Asch off.
Schriftführer: Herr Opitz.
Herr B a c h demonstriert eine 66 jährige Patientin der Marburger
Irrenanstalt, bei der seit 13 Jahren einseitiges G r a e f e sches
Symptom besteht. Das G r a e f e sehe Symptom, das fast immer
doppelseitig sei, komme vor bei Basedow scher Erkrankung, bei
Lähmung des Orbikularis, bei einem Reizzustand im 3. Aste des
Trigeminus, im Alter als selbständige Erkrankung (Gowers), bei
Affektionen in der Gegend des Okulomotoriuskernes, fernerhin könne
es durch Einträufelung von Kokain in den Bindehautsack oder durch
Einspritzung desselben unter das Oberlid hervorgerufen werden.
Bei dem demonstrierten Falle bestand vor dem Auftreten des
G r a e f e sehen Symptoms eine Ptosis sowie eine Parese fast aller
Aeste des Okulomotorius für die äussere Bulbusmuskulatur derselben
Seite. Infolge einer antiluetischen Kur bildete sich die Ptosis ganz
zurück, teilweise auch die Lähmung der äusseren Bulbusmuskulatur.
Zurzeit besteht nur mehr einseitige, unvollständige Blicklähmung nach
oben und nach unten.
Zur Erklärung des Symptoms denkt Bach an Veränderungen
in der Gegend des Okulomotoriuskerns sowie zwischen diesem und
der Hirnrinde. Einer Lokalisation der einseitigen Beschränkung des
Blickes nach oben und unten in das Okulomotoriuskerngebiet selbst
stehen in gewissem Grade die anatomisch feststehenden Kreuzungs¬
verhältnisse in demselben im Wege.
Bach ist der Ansicht, dass in seinem Falle das G r a e f e sehe
Symptom durch einen Krampf des Musculus levator palpebrae supe-
rioris zustande kommt, der bei dem Impuls zur Blicksenkung aus¬
gelöst wird.
Eine genauere Beschreibung des Falles befindet sich in der unter
Prof. Tuczeks Leitung verfassten Dissertation von Wickel
(Marburg 1898).
Hier sei nur erwähnt, dass verbale Amnesie, Alexie und Agraphie
und reflektorische Pupillenstarre besteht.
In der Diskussion weist Herr Bartels darauf hin, dass
die letztgenannten sicheren Symptome der Alexie und Agraphie einen
Wink bezüglich der Lokalisation der Ursache des einseitigen
G r a e f e sehen Symptoms geben könnten. Die erwähnten Stö¬
rungen sind im unteren Scheitelläppchen lokalisiert und das
G r a e f e sehe Symptom besteht in diesem Falle auf der kontra¬
lateralen rechten Seite allein. Levatorlähmungen zentralen Ur¬
sprungs werden nun in dieser Gegend lokalisiert (Gyrus angularis).
Es könnte also das rechtsseitige G r a e f esche Symptom als Stö¬
rung der Mitbewegung (resp. der Erschlaffung des Levator) so auf¬
gefasst werden, dass dieser Impuls nicht mehr zum Okulomotorius-
kern geleitet werden kann wegen Zerstörung der subkortikalen
Bahn.
Hen Aschoff demonstriert altrömische Votivgaben (Donaria).
Herr Hess stellt 2 Fälle von Huntington scher Chorea vor.
t i e.rs*e Kranke stammt aus einer Familie, in welcher das
3p. Lebensjahr das kritische Jahr des Krankheitsbeginnes ist. Seine
Mutter, 2 Brüder, 1 Schwester und er selbst sind sämtlich im
35. Jahre erkrankt; eine weitere Schwester, jetzt 34 Jahre alt, leidet
seit kurzei Zeit an „Nervosität“, welche die Familie selbst als Vor¬
boten der Erkrankung auffasst. Der Kranke bietet sehr auffällige
choreatische Bewegungen fast der gesamten Körpermuskulatur; be¬
sonders beim Gehen treten die „hampelmannartigen“ Bewegungen der
Extremitäten deutlich hervor. Die Sprache ist durch unwillkürliche
Bewegungen der Lippen, Zunge, Kehlkopfmuskeln und des Zwerch-
lells erschwert. Die Intelligenz ist mässig herabgesetzt. Inner¬
vationsstörungen sind nicht nachweisbar; die Kniereflexe sind ge¬
steigert. Hyoszyamin war von vorübergehendem guten Erfolge.
Der zweite aus einer anderen Familie stammende Kranke, jetzt
. Jahre alt, zeigt viel geringere choreatische Bewegungen, jedoch
eine stärkere Demenz, eine gaumige nasale Sprache, geringe Schwäche
im rechten Fazialisgebiet und im rechten Arm und klagt über Schmer¬
zen im Rücken und in den Extremitäten. Seine Mutter ist mit
50 Jahren, ein Bruder mit 40 Jahren an Chorea erkrankt; er selbst
erkrankte im 38. Jahre und ist seit % Jahr arbeitsunfähig.
Der Kranke zeigt ausserdem eine auffallende Veränderung des
Atemtypus; bei ruhigem Verhalten ist die Atmung unregelmässig
und beschleunigt; bei tiefer' Atmung wird bei der Inspiration
der Thorax abnorm stark ausgedehnt und der Bauch eingezogen — ,
bei der Exspiration wird mit Zusammensinken des Thorax der
Bauch wieder vorgetrieben. Die Lungenränder steigen bei der I n -
s p i r a t i o n um 3 cm in die Höhe und rücken bei der Exspira¬
tion herab. Beim Uebergang von horizontaler zu senkrechter
Körperhaltung steigen die Lungenränder ebenfalls um mehrere Zenti¬
meter hinunter. Die unter den Rippenbogen eindringende Hand fühlt
bei der Inspiration keinen Widerstand und kann Leber und Lungen¬
rand um mehrere Zentimeter in die Höhe drängen.
Vor dem Röntgenschirme zeigt das Zwerchfell bei oberfläch¬
licher Atmung ganz leichte Exkursionen in normaler Richtung; bei
tiefer Atmung dagegen steigt das Zwerchfell inspiratorisch
stark in die Höhe, senkt sich sodann auf der Höhe der Inspiration
(wohl durch Streckung infolge Hebung seiner Ansätze) um ein ge¬
ringes, — exspiratorisch sinkt es ganz analog dem Perkus¬
sionsbefunde herab. Es handelt sich um eine fast vollkommene
Zwerchfellähmung.
Als Ursache dieser Lähmung, welche dem Kranken keinerlei
Beschwerden macht und ihm noch niemals aufgefallen ist, kann die
Chorea an sich nicht herangezogen werden; da ferner toxische, in¬
fektiöse Prozesse ein Trauma und lokale Veränderungen am Halse,
ausser einer Struma, die ätiologisch nicht in Betracht kommen kann,
fehlen, so muss die mangelnde Innervation des Zwerch¬
fellmuskels als angeborene Anomalie aufgefasst wer¬
den. Diese Auffassung ist gerechtfertigt, da der Kranke an einer
ererbten Erkrankung des Zentralnervensystems leidet.
Vortragender demonstriert sodann vor dem Röntgenschirm die
Zwerchfellbewegung eines normalen Menschen, die pathologische des
beschriebenen Kranken und die „paradoxe Zwerchfellkontraktion“ eines
anderen Kranken mit linksseitigem Pyopneumothorax.
Vortragender bespricht ferner den „Z w e rc h f e 1 1 r e f 1 e x“,
eine eigentümliche blitzartige Zwerchfellkontraktion, welche sich bei
vielen Menschen durch leichte Perkussion der Brustwarze auslösen
lässt ; des weiteren die Bedeutung der Doppelinnervation
des Zwerchfells durch Phrenicus und die Inter-
costalnerven. (Dieser Vortrag erscheint in der Münchener
medizinischen Wochenschrift.)
Herr Hildebrand: Röntgendemonstrationen.
Herr Hess: Röntgendemonstrationen.
Gynäkologische Gesellschaft in München.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 12. Juli 1906.
Vor der Tagesordnung demonstriert Herr E g g e I die
Patientin mit dem periurethralen Karzinom nach der Operation. Die¬
selbe ist gut gelungen, die Kontinenz ist erhalten geblieben.
Diskussion: Herr Mirabeau.
Tagesordnung:
Herr A 1 b r e c h t (a. G.) : Ueber akuten postoperativen mesen¬
terialen Duodenalverschluss.
Der Vortragende gibt nach Besprechung eines auf der II. gynäko¬
logischen Klinik (Prof. Amann) beobachteten und geheilten 'Falles
dieser Ileusform (nach Operation eines Vorfalls und Exstirpation eines
Ovarialkystoms) eine zusammenfassende kritische Erörterung der
bisherigen Literatur über dieses Krankheitsbild, das, trotz seiner bei
richtiger Diagnosestellung günstigen Prognose und einfachen Therapie,
bisher in der Lehre des postoperativen Ileus nur wenig Beachtung ge¬
funden hat, und kommt dabei zu folgenden Schlüssen:
1. Der postoperative mesenteriale Darmverschluss ist nach
seinem pathologisch-anatomischen Bilde ein typischer Stran¬
gulation sileus (Abklemmung des Duodenums durch die infolge
Verlagerung der Dünndarmschlingen ins kleine Becken abnorm straff
gespannte Radix mesenterii). Dieser und nicht die akute
Gastrektasie bildet das Hauptmoment des Krankheitsbildes.
2. Der MechanismusdesVerschlusses bezw. die Ver¬
lagerung der Dünndärme ins kleine Becken mit den genannten Folgen
wird in der Mehrzahl der Fälle durch den infolge akuter Atonie
enorm aufgeblähten Magen verursacht, doch ist die akute Gastrek¬
tasie nicht die einzige, in allen Fällen erforderliche Ursache, sondern
mehrere Beobachtungen ergeben, was mechanisch leicht verständlich,
dass das Krankheitsbild auch nach plötzlicher intensiver Anwendung
der Bauchpresse, nach abnormer Blähung des Dickdarms, durch akute
peritonitische usw. Fixation der Dünndärme im kleinen Becken ent¬
stehen kann.
3. Die p rädisponier enden Momente sind: Gastroptose,
Gastrektasie, eine besondere Form des Duodenums (Tieflagerung, ein
mehr horizontaler Verlauf der Pars inferior), eine besondere Länge
oder Kürze des Mesenterium, Lordose, Rückenmarksläsion, Peri¬
tonitis, hochgradige Schwächung des Körperzustandes durch voraus-
I
1498
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Nö; 30.
gegangene schwere Krankheiten (hinsichtlich dci Qcfahi cinci
akuten Qastrektasie). , , , . ,
4. Unter den auslösenden Ursachen steht die Chloroiorm-
narkose wegen der Gefahr einer akuten Magenatonie obenan, ferner
Operationen an den Gallenwegen und Magenoperationen.
5. Die Diagnose ist mit Berücksichtigung des klaren bym-
ptomenbildes leicht zu stellen: profuses, unstillbares, galliges, nie
fäkulentes Erbrechen, Auftreibung des Epigastriums bei sonst nicht
meteoristischem Leib, der Nachweis einer Magendilatation, bei den
sonstigen Erscheinungen des akuten Ileus.
6 Die einfache, von Schnitzler zuerst vorgeschlagene
Therapie, die in sämtlichen bisher diagnostizierten Fällen von
eklatantem Erfolg begleitet war (bei einer Gesamtmortalität von
87 Proz.) besteht in Anwendung der Bauch-, eventuell Knieellbogen¬
lage. Als operative Therapie wurde empfohlen: Gastro¬
enterostomie, dann Jejunostomie mit 1 amponade des kleinen Beckens.
Vortragender empfiehlt, nach Aufhebung des mechanischen Ver¬
schlusses die Abdeckung des kleinen Beckens mit dei hlexui
(Amannsches Verfahren zum Abschluss der Bauchhöhle vom
kleinen Becken) und eventuell zur Entspannung der Radix mesen-
terii eine Längsraffung derselben ans Mesokolon. (Autoreferat.)
Diskussion: Die Herren : K r e c k e, Amann,
Herr Hör mann: Histologische Bemerkungen zur Dezidua-
bildung in Ovarien. (Ref.: Sitzungsbericht der Gesellschaft für
Morphologie und Physiologie vom 3. Juli 1906.)
Diskussion: Die Herren: Amann, Hörmann.
Herr Wiener: Demonstrationen.
a) Blasenmole, 7 Wochen alt.
b) Doppelseitige Ovarialkarzinome, wahrscheinlich sekundärer
Natur.
Diskussion: Die Herren: Amann, Wiener.
c) 7Vs Monate alte Thorakopagen mit symmetrischer Janizeps-
bildung und diversen Missbildungen innerer Organe.
Diskussion: Die Herren: Ludwig Seitz, Stumpf.
Herr Eggel: Neugeborenes Kind mit kongenitaler Dünndarm-
abschniirung, wahrscheinlich entstanden durch fötale Peritonitis.
Diskussion: Herr Albrecht.
G. Wiener- München.
Nürnberger medizinische Gesellschaft und Poliklinik.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 3. Mai 1906.
Herr Fürnrohr hält den angekündigten Vortrag „über einige
neuere Reflexe“. .. ,
Nach einer kurzen historischen Einleitung werden zunächst das
B a b i n s k i sehe Zehenphänomen und das dorsale Unterschenkel¬
phänomen Oppenheims besprochen. Besonders betont wird dabei
die Notwendigkeit, in differentialdiagnostisch schwierigen Fällen beide
Methoden zur Untersuchung heranzuziehen, da nicht gar so selten
nur das Babinskische oder nur das Oppenheim sehe Phä¬
nomen nachzuweisen, ein exaktes Resultat also nur bei genügendei
Berücksichtigung beider Methoden zu erzielen ist.
F. bespricht dann weiter das Tibialis-, Zehen-, Radialis- und
Pronationsphänomen Strümpells und erläutert das Gesagte an
einigen Fällen aus der Praxis.
Zum Schluss werden noch der „Fressreflex“ Oppenheims, der
„harte Gaumenreflex“ Hennebergs und der „Reflex buccal“ von
Toulouse und V u r p a s einer Betrachtung unterzogen. Dabei wird
vor allem auf die eigenen, in der Deutsch. Zeitschr. f. Nervenheilk,
1904 u. 1905 veröffentlichten Untersuchungen F.s hingewiesen.
Herr Kraus hält unter Demonstration zahlreicher Bilderwerke
einen Vortrag über: Die Brille und ihre Geschichte. (1. Teil.)
Sitzung vom 17. Mai 1906.
Herr Kraus hält den 2. Teil seines Vortrages: Die Brille und
ihre Geschichte.
Herr Hintner demonstriert unter Mitteilung der Kranken¬
geschichte das Sektionspräparat eines Falles von angeborener Stenose
der Ureteren.
Naturwissenschaftl.-medizinischer Verein zu Strassburg.
(Medizinische Sektion.)
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 15. Juni 1906.
Herr E. Lev y: Ueber den Einfluss bakterieller Stoff-
wechselprodukte bei Nahrungsmittelvergiftungen.
E. Levy und W. Fornet berichten über die Wirkung
von bakteriellen Stoffwechselprodukten beim Zustandekommen
von Nahrungsmittelvergiftungen. Sie erinnern zunächst daran,
dass beim Botulismus nach den Untersuchungen von van
Ermenghem das Ioxin des Bacillus botulinus die aus¬
schlaggebende Rolle spielt. Bei den Proteusnahrungsmittelver¬
giftungen kommt neben der Vermehrung des Mikrobions im
befallenen Organismus noch das von E. Levy in den Kul¬
turen des Proteus nachgewiesene sepsinartige (Schmiede-
b e r g) Gift in Betracht. Bei den Nahrungsmittelvergiftungen
schliesslich mit bakteriellen Befunden aus der Paratyphus¬
gruppe beanspruchen die löslichen, leicht in das Kulturmedium
übergehenden Stoffwechselprodukte, wie aus den eben be¬
endeten Versuchen von E. Levy und W. Fornet hervor¬
geht, grosse Beachtung. Die an und für sich nicht giftigen Cham¬
berlandfiltrate von Bouillonkulturen erhöhen die Virulenz der
Paratyphusbazillen. 2 — 3 ccm 24 — 48stiindigen Filtrats führten,
zugleich mit dem zehntel bis zwanzigstel Teil der minimalen
fetalen Dose eingeführt, regelmässig den Tod der zum Ver¬
such herangezogenen Meerschweinchen herbei. Die Filtrate
stimmen in dieser virulenzsteigernden Eigenschaft mit den
Bail sehen Aggressinen überein, mit denen sie sich auch sonst
vergleichen lassen.
Herr Schickele: Die Ursachen der abundanten Blu¬
tungen bei Ruptur der graviden Tube.
M. H. Das Missverhältnis zwischen dem relativ kleinen
Riss bei Tjibenruptur und der schweren intraperitonealen
Blutung ist nicht zu verkennen. Eine befriedigende Erklärung
ist bisher nicht gegeben worden. Veit führt die Schwere der
Blutungen auf Verstopfung der Venen durch deportierte Zotten
zurück, W e r t h glaubt eine oberflächlich liegende Arterie für
die schwere Blutung verantwortlich machen zu müssen.
Um sich über die Zahl der Gefässe, die bluten, eine Vor¬
stellung zu machen, muss man zuerst an die Lage des Eies
innerhalb der Tubenwand denken, an die Veränderungen der
Muskulatur, die eine Folge der diffus in ihre Systeme ein¬
dringenden fötalen Zellen sind, an die Blutlakunen (inter-
villöse Räume), in die von mütterlichen Arterien Blut hinein¬
gebracht wird und aus denen Venen Blut abführen. Die
Berstung der gedehnten I ubenwand braucht nicht von einem
Trauma abhängig zu sein. Das aktive Vordringen der diffus
sich ausbreitenden fötalen Zellen kann die Dehiszenz der Tube
bedingen. Sobald die J ubenwand auf diese Alt durchbrochen
ist, ergiesst sich Blut nach aussen.
Aus welchen Gefässen blutet es?
1. Im Moment der Berstung wird durch den plötzlich nach¬
lassenden Innendruck, unter dem das Ei in der Tubenwand lag,
dieses ganz oder zum Teil von seiner Haftfläche gelöst, oder
auch aus dem Riss herausgeschleudert. Dabei werden die Ge¬
fässe, welche den intervillösen Raum mit Blut versorgen, auf¬
gerissen. Aus den Arterien und Venen, welche
in diesen Raum münden, blutet es in erster
Linie.
2. Innerhalb der Tubenwand, in nächster und weiterer Um¬
gebung des Eibettes, findet man Blutextravasate, in welche Ge¬
fässe eintauchen. Sei es, dass Gefässe arrodiert werden oder
bei der Berstung zerrissen sind; es liegen Bluträume vor in
der Tubenwand, die von Gefässen gespeist werden. Diese
Räume stehen mit dem klaffenden intervillösen Raum in Ver¬
bindung und bilden also eine weitere Quelle der Blutung nach
aussen.
3. In der Umgebung des Risses sieht man vielfach einen
Kranz von erweiterten subserösen Gefässen, welche nach der
Mesosalpinx ziehen. Diese Gefässe, welche zahlreich sind und
von den naheliegenden grösseren Gefässen in das Lig. latum
abgehen, können für sich nach aussen bersten oder bei der
Ruptur zerrissen werden. Aus ihnen erfolgt eine nicht unbe¬
deutende Blutung. Die Gesamtzahl aller Gefässe dieser drei
Gruppen ist, auf den ganzen Raum des Eibettes und der um¬
gebenden Tubenwand betrachtet, eine grosse und sie sind
schon imstande, eine grosse Menge Blut abfliessen zu lassen.
Nun wirft sich die Frage auf: Weshalb blutet es aus diesen
Gefässen weiter ? Die durch die fötalen Zellen
infiltrierte Wand kann sich nicht kontra¬
hieren. Sie ist ein starres Gewebe, dessen Bestandteile
durch die fötalen Elemente auseinandergetrieben und ausser
dem geschädigt sind. Veränderungen der Muskularis lassen
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1499
sich nachweisen, ödematöse Durchtränkung der Gewebe in der
Umgebung des Eibetfes, Zerstörung desselben durch Blut¬
extravasate sind nicht selten. Selbst wenn die Tubenwand
diesseits und jenseits der Rupturstelle sich kontrahierte, würde
sie dadurch auf die infiltrierten Abschnitte keinen Einfluss aus-
iiben; ebensowenig wie ein Ulcus ventriculi oder Ulcus typho-
surn durch die Kontraktion der Magen- oder Darmwand beein¬
flusst wird. Die Kleinheit des Risses bezw. der Gefässe an
sich, ist kein Grund, die Grösse der Blutung nicht verständ¬
lich machen zu können. Wir kennen sehr grosse und tödliche
Verblutungen aus Hämorrhoidalvenen, aus Oesophagusvenen,
grosse Blutungen bei diffuser flächenhafter Entzündung (Zysti¬
tis z. B.) u. a. m.
Wenn man also alle diese Punkte berücksichtigt, erklärt
sich die abundante Blutung aus dem relativ kleinen Risse'
folgendermassen : Es liegt eine der Grösse des Eies
entsprechende zerklüftete Fläche der klaf¬
fenden Tubenwand vor, aus der es wie aus
einem Schwamm blutet. Es sind nicht einige
Gefässe, diezerrissen sind, sondern Dutzende.
Es sind in der Mehrzahl V en e n, varikös erweiterte, die
bluten, ausserdem blutet es auch aus den Arterien der inter-
villösen Räume. Das infiltrierte Gewebe kann
sich aber nicht kontrahieren, es muss deshalb aus
1 den Blutgefässen, aus den breiten Blutextravasaten der Tuben¬
wand immerfort bluten, umsomehr als der Druck kein geringer
ist, da die blutenden Gefässe die ersten abgehenden Aeste der
unter der 1 ube im Ligament, lat. verlaufenden Hauptgefässe
sind. Alle Blutgefässe und Blutflächen, aus
denen es blutet, zusammengeno m men, würde n
ein recht ansehnliches einzelnes Gefäss bil¬
den, aus dem eine abundante Blutung, wie wir
siebei der Tubenruptur kennen, wohl erklärt
werden kann.
Diskussion: Herren Ledderhose, Fehling, Sch ick eie.
Herr Kraft: Einiges über Radium Wirkungen.
Diskussion: Herren Laqueur und Kraft.
Physikalisch-medizinische Gesellschaft zu Würzburg.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 21. Juni 1906.
Herr T r e u 1 1 e i n demonstriert 3 mikroskopische Präparate,
von denen das eine reichlich Spirochaeta pallida mit teilweise 10 — 12
Windungen enthält. Das Präparat ist angefertigt von den Anal-
papeln eines mehrere Wochen vollständig unbehandelten Matrosen
eines Segelschiffes. Das 2. Präparat zeigt Spirochaeta refringens
von einem Leberausstrich eines Kindes, das ein papulöses Exanthem
am Anus gehabt hatte, bei dessen Sektion aber weder in der Leber
noch an den Knochen oder sonstigen Organen sich pathologische Ver¬
änderungen fanden. Das 3. zeigt eine Spirochätenform, welche mor¬
phologisch zwischen pallida und refringens steht und dem Er¬
brochenen einer an ulzeriertem Magenkarzinom leidenden Frau ent¬
stammt. Die beiden letzten Präparate verdankt Vortragender der
Güte des Direktors der med. Poliklinik, Herrn Prof. Matt er stock
und dessen Assistenten Dr. Arnold, dem es gelang, bei dem Fall
von Kaizinom zuerst die Spirochäten mit Gentianaviolett zu färben.
Im Anschluss daran zeigt T r e u 1 1 e i n einige Mikrophotogramme,
die ihm kürzlich in Hamburg von F. Schau dinn zur Verfügung
gestellt wurden. Man kann auf ihnen die charakteristischen Unter¬
schiede besonders deutlich sehen, nämlich bei Spirochaeta pallida
feinste Geiseln meist an beiden Enden, bei refringens dagegen Fehlen
de. Geiseln und Vorhandensein einer undulierenden Membran an der
Seite Im Anschluss daran spricht T reut lein die Hoffnung aus,
dass der leider schwer erkrankte Forscher baldigst der Wissenschaft
ziiruckgegeben werden möge.
Herr Weygand t: Ueber Aphasie.
Nach einleitenden Bemerkungen über Sprachstörungen und die
anatomischen Befunde bei denselben geht Vortragender auf den Fall
Voit ein, der in der Literatur eine grosse Berühmtheit erlangt hat,
indem nicht weniger als 10 Autoren über ihn geschrieben haben, zum
1 ei! allei dings ohne ihn selbst zu untersuchen. W c y g a n d t wurde
auf Grund eines Unfallgutachtens zu einer Neuuntersuchung veran¬
lasst Der erste iür die Aphasie in Betracht kommende Unfall war
ein Fall auf den Schädel im Jahre 1883. Seitdem hat Patient noch
2 Unfälle erlitten. Die nach dem ersten Unfall auftretende Sprach¬
störung wurde von G r a s h e y als amnestische Aphasie beschrieben.
Voit war nicht imstande, zu einem Objektbild ein Klangbild zu
finden, ohne dass er es zu gleicher Zeit auch schrieb. Sommer
suchte dann das Schreiben auszuschalten, wobei sich herausstellte,
dass Voit, wenn er verhindert war, mit den Händen bezw. Armen
zu schreiben, dies mit den Beinen tat, und wenn letztere festgehalten
wurden, die Zunge benützte. Von einem eigentlichen Schreiben kann
man in solchen Fällen natürlich nicht mehr sprechen; es handelt sich
nur um eine rhythmische Innervation -der Muskulatur, wie ja auch
daraus hervorgeht, dass schliesslich die entsprechende Innervation
der Gesichtsmuskulatur genügte. Wolf, der den Patienten später
untersuchte, fand, dass Voit die Eigenschaften eines Objektes nicht
schreibend finden kann. Er muss vielmehr einen sinnlichen Eindruck
von dem Gegenstand haben. Er kann nur sagen, dass die Kreide
weiss ist, wenn er sie sieht, dass der Zucker süss ist, wenn er ihn
schmeckt. Als er nach der Farbe des Blutes gefragt wurde, drückte
er sich eine Aknepustel auf. Besser als mit konkreten Eigenschaften
ging es mit abstrakten.
Als Weygandt den Fall zur Untersuchung bekam, fand er
eine sehr wesentliche Besserung. Voit braucht zur Zeit ein Wort
nicht mehr schreibend zu suchen und nicht mehr die Gegenstände
sinnlich anschaulich zu haben, um deren Eigenschaften zu finden. Es
liegt lediglich nur noch eine Verlangsamung der Auffassung und des
Gedächtnisses vor. Aus der Krankengeschichte geht hervor, dass
auch schon früher einmal eine entsprechende Besserung bestand, und
dass die Symptome bei Voit immer Zunahmen, wenn er erregt
oder ermüdet war. W e y g a n d t fasst deshalb den ganzen bei
Voit beobachteten Symptomenkomplex, der zu so vielen Er¬
örterungen Veranlassung gegeben hat, als traumatisch hysterisch auf.
Wenn auch eine Verletzung des Zentralorganes nicht ausgeschlossen
werden kann, so ist sie doch stark mit hysterischen Symptomen über¬
lagert.
Berliner medizinische Gesellschaft.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 18. Juli 1906.
Diskussion über die Appendizitis.
Der Vorsitzende, Exz. v. Bergmann, der das Thema zur
Diskussion gestellt, hatte sich offenbar davon sehr viel versprochen,
da er den Grafen Posadowsky und den Präsidenten des Gesund¬
heitsamts, Geh. Rat B u m m, eingeladen hatte. Die Herren waren
auch erschienen.
Der Vorsitzende leitete die Diskussion damit ein, dass er sie
auf zwei Punkte beschränkte :
a) Die Diagnose des Anfalls.
b) Soll bezw. muss nach jedem Anfall operiert, d. h. der Wurm¬
fortsatz entfernt werden?
Die Sicherung der Diagnose erscheine um so nötiger, als zurzeit
fast alle Chirurgen Berlins die Meinung vertreten, dass der Anfall
am besten durch eine Operation innerhalb der ersten 24 Stunden be¬
handelt werde, dass also der behandelnde Arzt sich leicht dem Vor¬
wurf einer Unterlassung aussetze.
Die zweite Frage finde auf Grund der neueren anatomischen
Untersuchungen vielfach eine andere Beurteilung, als noch vor kurzer
Zeit, wo man meinte, dass jedem Anfall eine chronische Entzündung
des Wurmfortsatzes vorausgehen müsse, während man jetzt wisse,
dass der Anfall ganz unvorbereitet eintreten kann. Gibt es nun
klinisch bestimmte Symptome im Anfall, welche uns zum Schluss be¬
rechtigen, hier muss hinterher operiert werden?
Als erster Redner sprach auf Einladung des Vorsitzenden Herr
F. Kraus, der in der Hoffnung, dem Praktiker ein diagnosti-
sches Schema geben zu können, in längerer Rede sämtliche mög¬
lichen Symptome aufführte, auf die Schwierigkeit bezw. Unmöglich¬
keit eines Schlusses von den klinischen Erscheinungen auf die ana¬
tomischen Veränderungen und somit auf die Grösse der Gefahr hin¬
wies, unter Betonung seiner Auffassung, dass der akute Anfall
häufiger, als der Vorsitzende dies vermeint, im Verlauf chro¬
nischer Veränderungen eintritt. Unter Ablehnung der Sahli-
schen Statistik (91 Proz. Heilung ohne Operation) und Berechnung
einer viel grösseren Mortalität kommt Vortragender dann zum
Schlüsse, dass -der eigentliche Anfall in die Domäne
des Chirurgen gehört und dass bei den sog. Blinddarm r e i -
zungen (ohne Fieber etc.) ein konservatives Verfahren einge¬
schlagen werden könne, doch auch hier die Operation als Prophy¬
laxe in Erwägung zu ziehen sei.
Um zu einem sicheren Urteil über die Appendizitis zu gelangen,
brauchen wir eine Morbiditätsstatistik. Eine solche in die
Wege zu leiten, möge die Gesellschaft bei der Regie¬
rung beantragen.
Herr H e u b n e r: Unter Beziehung auf des Vorredners Satz von
der erschreckenden Mortalität der Appendizitis
bei Kindern schildert er einen Fall, den er operieren liess; der
untersuchte Wurmfortsatz zeigte die bekannten und jetzt so viel er¬
örterten Blutungen. Es sei also eine hämorrhagische Appendizitis vor¬
handen gewesen; freilich können solche intramuköse Blutungen auch
entstehen infolge des operativen Eingriffs selbst, wie er durch einen
Assistenten experimentel: hat feststellen lassen.
f
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
1500
Herr Orth, ebenfalls vom Vorsitzenden aufgefordert, bemerkt,
dass er nur zögernd das Wort ergreife, da wir ja von den beiden
Vorrednern gehört, dass aus den klinischen Erscheinungen kein
Schluss auf die anatomischen Veränderungen zu ziehen sei, dass also
die letzteren nicht ohne weiteres für klinische Zwecke in Anspiuch
genommen werden können. O. schildert dann in klarer Weise die
anatomischen Befunde, wie sie sich ihm auf Grund eigenei und der
kürzlich publizierten A s c h o f f sehen Untersuchungen ergeben haben.
O. betont mit Asch off die Notwendigkeit, nur ganz
frisch konserviertes Material zu verwenden, da sonst so¬
gleich Epitheldefekte eintreten, die von weniger kritischen
Untersuchern (gleich den Blutungen) als pathologisch verw eitet wor¬
den sind. Ebenso wichtig sei eine Kenntnis des normalen Baues der
Appendix, dessen Lymphapparat grossen individuellen und Alters¬
schwankungen unterworfen ist und so zu der Annahme einci medu-
lären Entzündung, öfters mit Unrecht, verleitet hat. In 9 10 P r o z. (.)
aller exstirpierten Wurmfortsätze fanden sich gar keine
pathologischen Veränderungen, obwohl sie während des
Anfalls“ operiert worden sind. Manchmal fanden sich in ganz
änderen Organen die pathologischen Veränderungen, also Ursachen
des vermeintlichen Anfalls; in anderen Fällen waren die primären
Ursachen sicherlich nicht im Wurmfortsatz zu suchen. Unter den
Asch off sehen Fällen sind auch gesunde Wurmfortsätze, die ge¬
legentlich anderer Operationen absichtlich mit entfernt wurden und
so Gelegenheit zum Studium der normalen Verhältnisse gaben. Es
besteht also gar kein Einklang zwischen anatomischem Befund und
klinischen Erscheinungen, was noch durch Leichenbefunde mit ana¬
tomischem Befund und negativer Anamnese weiterhin bestätigt wird.
O. geht dann auf die von Ribbert beschriebene, so häufige Ob¬
literation am distalen Ende ein, die nur Pjodukt einer nach Epithel¬
defekt einsetzenden granulierenden Entzündung sein könne, niemals
aber eine Folge einer bloss nodulären Entzündung. Es müssen ihr
also schwere Veränderungen vorangegangen sein — und
doch findet sie sich in so zahlreichen Leichen. Oft fanden sich
Schwielen in der Wand, die also ebenfalls Zeichen einer ausgeheilten
eitrigen Entzündung sind, die, wie die Anamnese ergibt, niemals S3 m-
ptome gemacht hat.
Ferner finden sich fibrinöse Oberflächenentzündungen, die eben¬
falls durch Granulierung zur Heilung kommen können.
Die Frage 2 also; Soll in bezw. nach jedem Anfall operiert wer¬
den? ist mit Rücksicht auf obige Befunde, die aber nur mit Vorbehalt
zu verwerten sind, dahin zu beantworten, dass selbst schwere
Erkrankungen spontan a u s h e i 1 e n können, es also
nicht nötig sei, immer zu operieren. Es müsse weiterer klinischer
Forschung die Klärung dieser Frage in erster Linie Vorbehalten
bleiben.
Die Fortsetzung der Diskussion musste leider vertagt werden;
es steht zu hoffen, dass der Eindruck, den dieser erste Teil auf die
Hörer gemacht (mit Ausnahme der sehr klaren Orth sehen Aus¬
führungen) durch den weiteren Verlauf verwischt werde, wenn jetzt
neben den Chirurgen erfahrene Praktiker zum Worte kommen wer¬
den. Hoffentlich leisten recht viele der Aufforderung des Vorsitzen¬
den dass gerade die in allgemeiner Praxis stehenden Herren sich
äussern möchten, Folge. Freilich findet diese Sitzung notgedrungen
zu einer Zeit statt, in der die meisten schon verreist sein werden.
Hans K 0 h n.
Verein für innere Medizin zu Berlin.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 16. Juli 1906.
Herr v. Leyden demonstriert Herz und Niere eines Falles
von Schrumpfniere infolge von Bleivergiftung. #
Herr Meyer: Apparat zur Erzeugung von Stauungshyperamie
am Penis (Saugapparat) bei Gonorrhöe etc.
Tagesordnung:
Herr Mosse: Ueber unsere Kenntnisse von den Er¬
krankungen des Blutes.
Der Vortragende bespricht zunächst die Zellformen, die
im normalen Knochenmark Vorkommen. Die grosse unreife
Zelle (Myelogonie, Myeloblast, lymphoide Mutterzelle) ist
durchaus vom typischen auch im Knochenmark vorkommen¬
den Lymphozyten zu trennen. Sie ist nicht als Stammzelle
der roten Zelle anzusehen, sondern nur Vorstufe der Mye¬
lozyten. Gegen einen gemeinsamen Ursprung der hämoglobin¬
haltigen und hämoglobinlosen Zellen sprechen Untersuchungen
des Vortr. (gemeinsam mit M i 1 k n e r) über Röntgenbehand¬
lung des Knochenmarks: Zerstörung der hämoglobinfreien
Zellen, Erhaltenbleiben der roten. Zu den ersteren gehören
auch die unreifen basophilen Formen’, es können sich aus
ihnen, da sie ja zerstört werden, also nicht die kernhaltigen
roten Blutkörperchen bilden. Denselben Schluss erlauben
Knochenmarksuntersuchungen an pyrodinvergifteten Hunden:
da unter den hämoglobinfreien Zellen fast ausschliesslich
Myeloblasten sich finden, ferner zahlreiche kernhaltige rote,
folgt, dass die ersteren nicht auch Stammzellen der letzteren
sind; es wäre nicht einzusehen, warum die Weiterentwicklung
nur nach der einen Richtung (der der roten) erfolgen solle.
Es folgt alsdann eine Schilderung der Knochenmarkser¬
krankungen und zwar I. der zirkumskripten (d. h. der Mye¬
lome, die Erythrozytome, Myelozytome und Lymphozytome
sein können); II. der diffusen Knochenmarkserkrankungen:
1. allgemeine Zellvermehrung = Polyglobulin mit Milz¬
tumor und Zyanose;
2. Erkrankung des Erythroblastenanteils im Sinne einer
megaloblastischen Degeneration ;
3. Hyperplasie des myeloiden Anteils,
a) der neutrophilen Zellen =* Leukozytose,
b) sämtlicher Zellformen = myeloide Leukämie;
4. Hyperplasie des lymphatischen Anteils = lymphatische
Leukämie und Pseudoleukämie;
5. Aphasie des Knochenmarks.
Diese Formen der Erkrankung werden kurz beschrieben,
mikroskopische Präparate demonstriert und das klinische Bild ,
skizziert. Es folgte eine Abgrenzung des Pseudoleukämie¬
begriffs den anderen Lymphdriisenvergrösserungen gegen-
iiber.
Zum Schluss bespricht M. kurz die Therapie, er erwähnt
den Nutzen von Liege- und Ruhekuren für die Anämischen,
den Nutzen der Röntgenbehandlung der Leukämischen und
Pseudoleukämischen.
Aus den Pariser medizinischen Gesellschaften.
Academie de medecine.
Sitzung vom 5. und 12. Juni 1906.
Zur Frage der Typhlokolitis und Appendizitis.
C 0 r 11 i 1 sucht zu beweisen, dass schwere Fälle von Appendi¬
zitis dem blossen Auge verborgen und nur histologisch nachweisbar
sein können. Zwischen der einfachen Entzündung der Schleimhaut
und den schweren Veränderungen, welche Lymphgefässystem und
Peritoneum betreffen, findet man als akute alle Zwischenformen;
ebenso variiert die chronische Appendizitis von leichten Narben bis
zu Sklerose und völliger Obliteration. Die tuberkulöse oder krebsige
Appendizitis kann man oft nur durch die mikroskopische Untersuchung
entdecken; ohne dieselbe kann ein hochgradig erkrankter Wurmfort¬
satz als gesund angesehen werden.
R e c 1 u s glaubt ebenfalls, dass dieser Mangel histologischer
Untersuchung der Mehrzahl der von Dieulafoy mitgeteilten Fälle
ihren Wert nimmt, und ist ausserdem von dem engen Zusammenhang
zwischen Enteritis und Appendizitis überzeugt. Die Darmentzündung
geht sehr leicht über die G e r 1 a c h sehe Klappe hinaus, um die
Appendix zu befallen, wodurch eine innere Fistel geschaffen wird,
die eine so leichte mechanische Prädisposition für alle Infektionen
schafft. Schliesslich sah R e c 1 u s zuweilen offenkundige Besserung
der Enteritis nach Abtragung des Wurmfortsatzes.
R i c h e 1 0 t gibt zu, dass manche operative Uebertreibungen
Vorkommen, aber eine Reaktion im entgegengesetzten Sinne wäre
noch gefährlicher. Die Rolle, welche der Wurmfortsatz bei der Stag-
nierung der Kotmassen spielt, steht für Richelot fest, in Wirklich¬
keit bestehe zwischen Dickdarm und Wurmfortsatz ein ständiger Aus¬
tausch schlimmer Vorgänge: einerseits haben viele Darmerkrankungen
ihren Ausgang im Wurmfortsatz, andererseits stamme die Appendizitis
immer von Darmaffektionen her. Die Heilung oder Besserung einer
Enterokolitis infolge der Appendizitisoperation ist häufig und R. führt
hierfür ein paar recht charakteristische, ein 8 jähriges Kind und einen
Arzt betreffende Fälle an. R. erklärt für den gefährlichen Punkt
in der Lehre D i e u 1 a f o y s den Antagonismus, welchen er zwischen
Enterokolitis und Appendizitis zu konstruieren sucht, obwohl wir ja
alle darüber einig seien, dass beide Krankheiten unabhängig von¬
einander Vorkommen können und es nicht richtig ist, aus einer auf
die andere den Schluss auf unnötige Operationen zu ziehen.
Le Den tu hält zur Beurteilung einer Appendizitis die mikro¬
skopische Untersuchung für unentbehrlich; ganz kleine Veränderungen
rechtfertigen den operativen Eingriff bei akuten oder chronischen
Fällen, wenn die Anfälle häufig und die Symptome gefährlicher Natur
sind. Die Differentialdiagnose zwischen Appendizitis und Entero¬
kolitis ist oft sehr schwierig und in zweifelhaften Fällen, wenn das
Befinden ein sehr gestörtes ist, die Explorativinzision gerechtfertigt.
24. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1501
Le Den tu glaubt zwar ebenfalls, dass der von Dieulafoy be-
zeichnete Irrtum zuweilen begangen werde, aber keinesfalls so oft,
wie dieser annimmt.
Rey nier teilt in manchen Beziehungen die Ansicht Dieu¬
lafoy s, besonders aber darin, dass ein akuter Schmerz an der
M a c B u r n e y sehen Stelle bei Mangel anderer Symptome nicht
zur Diagnose einer Appendizitis genügt; diesen Schmerzpunkt findet
man in der I at auch bei Typhlokolitis, Harnleitersteinen usw. In
dem Verhältnis zwischen Appendizitis und Enterokolitis steht er aber
nicht auf Seite D.s, indem er letztere für eine häufige Folge der Entero¬
kolitis ansieht, wenn es auch noch andere Ursachen dafür gibt, wie
Krankheiten des Uterus, der Ovarien usw. Man findet nach der
Operation „ä froid“ Wurmfortsätze, welche, mit blossem Auge be¬
trachtet, gesund erscheinen, bei welchen aber das Mikroskop Narben
als Ueberreste früherer Entzündung entdeckt. * Und bei der Un¬
gewissheit, in welcher wir uns zuweilen befinden, müssen wir in An¬
betracht der geringen Gefährlichkeit einer Operation ä froid operieren.
Denn auf einen Wurmfortsatz, bei dem wir anscheinend normales
Aussehen und nur mikroskopische Veränderungen treffen, kommen
fünf, die ohne Operation den Tod oder neue Anfälle sicher verursacht
hätten. Man hüte sich also, uns diese geringen Veränderungen am
Wurmfortsatz zum Vorwurf, und Operationen, die wir mit aller Ge¬
wissenhaftigkeit vornehmen, verdächtig zu machen.
Sitzung vom 19. Juni 1906.
Dieulafoy kann bei aller Hochschätzung der pathologischen
Histologie Veränderungen des Wurmfortsatzes, welche nur mikro¬
skopisch nachzuweisen sind, nur eine Pseudo-, eine klinisch nicht
vorhandene Appendizitis nennen. Die Koinzidenz von Typhlokolitis
und Appendizitis bezeichnet er nur als Ausnahmefälle, wovon er selbst
einige beobachtet, daneben aber mehr als 200 Fälle von Typhlocolitis
membranacea oder sablosa, wo kein einziges Mal Appendizitis vor¬
handen war. D. frägt schliesslich die Chirurgen, welches denn die
Symptome seien, die sie berechtigen, eine „mikroskopische“ Appendi¬
zitis zu operieren; es sei eben unmöglich, eine Erkrankung, die kli¬
nisch nicht vorhanden sei, zu operieren. Seit seiner letzten Mit¬
teilung sind ihm noch mehrere solcher Fälle diagnostischen Irrtums,
verschlimmert durch den Fehler unnötiger Operation, zur Kenntnis
gekommen.
Die Bedeutung von Skatol und Indikan im Urin.
Darenberg und Penoy suchen den Beweis zu erbringen,
dass Skatol und Indikan, im Ueberschuss im Urin enthalten, eine Stö¬
rung in der Nieren- und Leberfunktion bedeuten. 95 Proz. aller
Fälle, welche diesen Ueberschuss hatten, waren Eiweissharne. Aber
da andererseits nur ein Teil der beobachteten Albuminuriker im Urin
einen Skatol- oder Indikaniiberschuss aufwiesen, schliessen sie, dass
die Erkrankungen der Nieren allein diesen Farbstoffüberschuss nicht
zu erklären vermögen. D. und P. haben nun weiterhin in allen Fällen
von ikterischem Urin einen Ueberschuss, sei es an Skatol oder Indi¬
kan, gefunden und kommen daher zu dem Schlüsse, dass die Er¬
krankungen von Nieren und Leber notwendig und genügend sind,
um den Ueberschuss an einem der beiden Harnfarbstoffe zu erklären
und zu dem weiteren, dass die letzteren nicht auf vermehrte
üährungsvorgänge im Darme zurückzuführen sind.
Sitzung vom 26. Juni 1906.
R e c 1 u s glaubt daran, dass Appendizitis und Typhlokolitis häufig
zusammen Vorkommen; so hat B e r n a r d - Plombieres erstere
76 mal auf 1100 Fälle von Enterokolitis getroffen d. i. in etwa 7 Proz.
der Fälle, umgekehrt hat Talamon auf 80 Fälle von Appendizitis
nicht weniger als 29 von Enterokolitis gefunden. Immerhin operiert
inan zu oft, aber besonders für die Appendizitis wäre es gefährlich,
um jeden Preis die Operation zu meiden.
Pinard erklärt, dass er seit 20 Jahren seine Patienten genau
auf die Koexistenz von Appendizitis und Enterokolitis untersucht und
bei einer ziemlich grossen Anzahl von Fällen nur selten beide gleich¬
zeitig beobachtet hat.
Dieulafoy setzt auseinander, dass die Meinungsverschieden¬
heiten nur Kleinigkeiten betreffen und legt eine Note von Professor
Dur et- Lyon nieder, welche zu folgendem Schlüsse kommt: „die
von Dieulafoy hervorgehobene klinische Tatsache ist von un¬
bestreitbarer Wahrheit, eine Menge von Leuten, welche mit Typh-
htis mucomembranacea oder sablosa behaftet sind, werden mit Un¬
recht wegen Appendizitis operiert. Im allgemeinen Interesse sollte
man mit diesen Operationen etwas vorsichtiger sein und „Dieu¬
lafoy hat als kluger und weiser Lenker die Zügel etwas straffer
angezogen.“
Die Aneurysmen der grossen Gefässe und deren Behandlung durch
Serumgelatine.
Lancereaux studierte Aetiologie und Pathogenese der
Aneuiysmen und zeigt die guten Erfolge der Serumgelatine
bei ,3 ganz schweren Fällen derselben; bei genügend pein-
lichei Asepsis konnte er alle 5 — 6 Tage in der Glutäalgegend 200 g
der 3,5 proz. Lösung injizieren. Die Hauptschlüsse, zu welchen L.
kommt, sind in kurzem folgende. Die allgemeine Arteriosklerose
oder Fndarteriitis hat nur ausnahmsweise Aneurysmen der grossen
Gefässe zur Folge. Die pathogenen Bedingungen dieser letzteren
sind Periarteriitis, welche an Tiefe zunimmt und endlich die elastische
Membram der Arterien durchbohrt; die Ursachen sind neben Traumen
infektiöser Natur, von welchen wir bis jetzt die Tuberkulose, Syphilis
und Malaria kennen. Die Ruptur ist die Art des tödlichen Ausgangs
bei Aneurysmen der grossen Gefässe, wenn nicht Spontangerinnung
im Ancurysmensack eintritt. Da nun dies selten vorkommt, ist die
formelle Indikation vorhanden, sie künstlich hervorzurufen. Die
Methode mit Serumgelatine entspricht völlig dieser Indikation, da
sie die Koagulation innerhalb des Sackes begünstigt und ausserdem
auch der Ruptur Widerstand leistet, wenn der Kranke dafür Sorge
trägt, allzu heftige Anstrengungen zu meiden. Im Gegensatz zu der
Ansicht mancher Autoren ist L. überzeugt, dass die Injektionen mit
Serumgelatine ohne Gefahr sind, vorausgesetzt, dass das angewandte
Serum völlig aseptisch ist; ihre Anwendung ist um so mehr indiziert,
als bei Aneurysmen der grossen Gefässe der chirurgische Eingriff
meist unmöglich oder gefährlich ist und es bis jetzt kein anderes
Mittel gibt, mit Sicherheit das Fortschreiten dieser schweren Störung
aufzuhalten.
Societe medicale des höpitaux.
Sitzung vom 15. Juni 1 906.
Zur Behandlung der diphtlieritischen Lähmung.
J. Comby hat seit nahezu 5 Jahren alle Fälle von diphthe-
ritischer Spätlähmung durch wiederholte Injektionen hoher Dosen
von Heilserum (nach R o u x) behandelt und zählt im ganzen 26 solcher
Fälle, die durch Diphtherieheilserum zur Heilung kamen, während vor
dieser Epoche 2 Fälle, mit Strychnin, Elektrizität, Stimulantien be¬
handelt, tödlich endeten. C. kommt daher zu dem Schlüsse, dass
jede diphtheritische Lähmung, frischen oder späteren Ursprungs, all¬
gemein oder lokalisiert, mit Injektionen von Diphtherieheilserum be¬
handelt werden muss; diese Injektionen sind in der Dosis von 10 bis
20 ccm täglich je nach dem Alter zu machen, bis 60 — 80 ccm erreicht
sind. Auf diese Weise wiederholt, sind sie unschädlich, werden gut
ertragen und verursachen nur geringe Nebenerscheinungen (Erythem
usw.). Weder das Alter der Patienten noch ihr bisheriger Gesund¬
heitszustand (Arteriosklerose bei einem Erwachsenen) bilden eine
Gegenanzeige gegen diese intensive Serumtherapie. Die Injektionen
mit R o u x’ Serum müssen sobald wie möglich und in allen Fällen
von diphtheritischer Lähmung gemacht werden, mögen die Kranken
wegen der Halsaffektion injiziert worden sein oder nicht.
Barbier stimmt im allgemeinen völlig mit Comby überein.
Man glaubt meist, dass mit dem Verschwinden der Membranen jede
Gefahr beseitigt sei, muss aber an die Möglichkeit von Späterschei¬
nungen denken, wenn in der Rekonvaleszenz plötzlich Abgeschlagen-
heit, Erbrechen usw. auftritt: das sind die Vorboten der Gaumensegel¬
lähmung, welche zuweilen sich verallgemeinert. In solchen Fällen
muss man Serum injizieren, und zwar möglichst bald, ohne Zeit zu
verlieren; wenn man zuwartet, ist es oft schon zu spät und der Kranke
verloren. Diese toxischen Späterscheimmgen beobachtet man be¬
sonders bei Erwachsenen, bei Kindern in jenen Fällen, wenn die
Seruminjektionen zu spät gemacht worden sind, und bei den membra-
nösen Formen der Diphtherie. Diese toxischen Späterscheinungen
können noch später als 2 Monate nach dem Beginn der Krankheit auf-
treten.
Societe de Pediatrie.
Sitzung vom 19. Juni 1906.
Zur Behandlung der diphtheritischen Lähmung.
G u i n o n und Pater berichten über einen Fall von diphthe¬
ritischer Lähmung, welcher trotz Serumbehandlung (50 ccm innerhalb
5 Tage) tödlich endete, und einen weiteren, wo die Spontanheilung,
d. i. ohne dass Serum injiziert wurde, eintrat.
Rist hebt hervor, dass die diphtheritische Lähmung durch die
Endotoxine entsteht; man dürfe daher nicht darüber erstaunen, dass
die Lähmung durch das Heilserum weder geheilt noch verhütet werde,
man müsse vielmehr die Antikörper der Endotoxine anwenden. Ein
derartiges besonderes Serum wird auch im Institut Pasteur hergestellt,
Vincent hat es in Val-de-Gräce angewandt und es scheint völlig die
diphtheritischen Lähmungen vermieden zu haben. R. gibt anderer¬
seits gerne zu, dass dieselben seit der Serumepoche abgenommen
haben; das hänge damit zusammen, dass das Serum die Dauer der
infektösen Periode abkürzt, es hat aber keine direkte Präventiv¬
wirkung und zahlreich sind die Beispiele, wo trotz hoher Serumdosen
Diphtherielähmungen entstanden sind. Dass unter diesen Umständen
letztere nicht häufiger sind, hängt zweifellos mit den beträchtlichen
Unterschieden zusammen, die zwischen den verschiedenen Diphtherie¬
bazillen in bezug auf ihren Gehalt an Endotoxinen bestehen.
Comby hält es nach seinen Erfahrungen für zweifellos, dass das
Diphtherieheilserum eine prophylaktische Wirkung gegen die Läh¬
mungen besitzt.
1502
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Zur Scharlachstatistik.
Pate r berichtet über die Scharlachstatistik am Spital I rousseau.
im Jahre 1905 haben 300 Fälle von Scharlach nur 4 Todesfälle, wovon
2 ganz kachektische Säuglinge betrafen, gegeben. Diese niedere Mor¬
talität von 1,33 Proz. war um so bemerkenswerter, als schwere halle
von Angina mit Nekrose der Tonsillen und in einem kalle eine 1 ei-
foration des Gaumensegels vorkamen.
Academie des Sciences.
Sitzung vom 11. Juni 1906.
Die Schutzimpfung gegen die Tuberkulose per os.
Wie C a 1 m e 1 1 e und Oue rin, so hatten R o u x und V a 1 1 e e
die Idee, Kälbern Tuberkelbazillen, die auf verschiedenen Wegen ab¬
getötet waren, einzugeben, um sie immun zu machen. Das Verfahren
von Roux und Vallee war nun folgendes* Sie Hessen die Kälber
kleine Mengen lebender Tuberkelbazillen verschlucken, um sie tuber¬
kulös zu machen; einige Zeit darauf reagierten diese Tiere auf Tuber-
kulin, später aber nicht mehr. Es wurde die Probe gemacht, indem
man ihnen virulente Bazillen in die Venen injizierte, sie kamen mit
dem Leben davon, während die Kontrolliere nach einigen Wochen an
allgemeiner Tuberkulose zugrunde gingen. Dieses Experiment zeigte,
dass die Kälber infolge Einnahme von Tuberkelbazillen per os immun
gegen Tuberkulose geworden sind; der Versuch wurde wiederholt,
indem man junge Kälber abgetötete, d. s. weniger schädliche, Tuber¬
kelbazillen nehmen Hess. Obwohl diese Versuche noch nicht ab¬
geschlossen sind, zeigen sie doch in Uebereinstimmung mit jenen
von Calmette und G u e r i n, dass es möglich ist, Rinder durch
Einverleibung per os gegen I uberkulose immun zu, machen.
Sitzung vom 18. Juni 1906.
Experimentelle Produktion von übertragbaren Varietäten des Tuber¬
kelbazillus und von antituberkulöser Lymphe.
A r 1 o i n g hat sich bemüht, mit Reinkulturen des Tuberkel¬
bazillus übertragbare Variationen desselben, welche bei allen Indi\i-
duen möglichst gleichartig seien, und zwar durch eine beträchtliche
Anzahl von Generationen, die sich in einer langen Reihe von Kulturen
folgen, zu gewinnen. So hat er seit 8 Jahren einen vom Menschen
stammenden Bazillus, welchen er gewöhnt hat, in Glyzerinbouillon
wohl zu gedeihen, und dessen pathogene Eigenschaften sich in hohem
Masse verändert haben; er hat seine ursprüngliche Eignung, Tuber¬
keln hervorzurufen, zum grossen Teil verloren, besonders, wenn er
in die Venen, unter die Haut oder in den Verdauungskanal eingeführt
wird. Kurz er verwirklicht das Desideratum, welches bezüglich der
Schutzimpfung gegen die I uberkulose ausgesprochen wuide, näm¬
lich vollständig im Organismus resorbiert zu werden. Von diesem
Bazillus ausgehend, hat A r 1 o i n g versucht, eine Unterart zu er¬
halten, die gleichfalls auf dem Wege der Generation übertragbar ist,
indem er Temperaturen, welche für den vom Menschen stammenden
Tuberkelbazillus nicht geeignet sind, benützte, und so gelang es ihm,
den fraglichen Mikroorganismus bei 43 — 44" gedeihen zu lassen.
Studiert man nun die Eigenschaften dieser mit der achten Generation
lixierten Varietät, so konstatiert man, dass er beträchtlich an Virulenz
abgenommen hat: Kaninchen, welchen in die Venen hiervon ein¬
geimpft wurde, blieben 80—100 Tage am Leben. Seit 1902 wendet
A. diesen Bazillus auch zur Impfung der Kälber gegen Tuberkulose an
und hatte dabei ebensoviel Erfolg, wie mit den spontan oder individuell
abgeschwächten Bazillen. Da sie die Charaktere der Impfstoffe, wie
man sie seit Pasteurs Arbeiten über die Abschwächung des Milz¬
brandbazillus aufgefasst hat, besitzen, so hält sich A. für berechtigt,
sie antituberkulöse Vakzine zu nennen.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Allgemeine Aerzteversammlung in München
a m 20. Juli 1906.
Der Obmann der Sektion München des Leipziger Verbandes,
Kr ecke, gibt ein eingehendes Referat darüber, wie sich der zur¬
zeit bestehende Verpflichtungsschein für München entwickelt hat.
Die Versammlung beschliesst danach einstimmig einen Modus, der
den Boden für die lückenlose Unterzeichnung des Verpflichtungs¬
scheines des Deutschen Aerztevereinsbundes ebnen
soll. Das Nähere wird jedem einzelnen Münchener Kollegen durch
Rundschreiben kundgegeben werden. Nassauer.
Verschiedenes.
Gerichtliche Entscheidungen.
Aberkennung des Doktortitels.
Ein Leipziger Arzt wurde wegen Sittlichkeitsverbrechen zu Ge¬
fängnis und Ehrverlust verurteilt und zur Führung1 des Doktortitels
für dauernd unfähig erklärt; hierauf wurde er nach' Verbüssung der
Strafe von der Polizei ausdrücklich aufmerksam gemacht. Da er
trotzdem den Titel auf seinem Schild und in seiner Unterschrift weiter
führte, wurde er vom Landgericht Leipzig wegen Führung eines
falschen Titels bestraft. Hiergegen legte er Berufung ein, indem er
ausführte, dass der Doktortitel keine Würde enthalte, sondern ledig¬
lich eine Bescheinigung über auf der Universität erlangte Kenntnisse
darstelle. Nach §§ 33 und 360 Abs. 8 des StGBs gehe derjenige seiner
Würden verlustig, der zu Ehrenrechtsverlust verurteilt worden sei,
da aber das Doktorat lediglich auf Grund einer Prüfung über er¬
langte Kenntnisse verliehen werde, so sei dasselbe keine Würde,
sondern ein Titel, der auch denjenigen nicht entzogen werden könne,
die zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt worden seien.
Das Oberlandesgericht zu Dresden verwarf jedoch die Revision und
führte aus, dass die von dem Arzte wiedergegebene Anschauung im
Widerspruche zu dem allgemeinen Sprachgebrauche und mit der Ent¬
wicklung der Universitäten nicht im Einklang stehe. Das Doktorat
sei eine besondere Würde, die von einer besonderen Korporation
verliehen werde. Eine Prüfung des Doktoranden sei kein absolutes
Erfordernis, denn die Verleihung des Doktorats sei auch ohne Prüfung
möglich, beispielsweise bei Verleihung des Dr. hon. causa. Die ge¬
nannten gesetzlichen Bestimmungen in §§ 33 und 360 Abs. 8 des
Reichsstrafgesetzbuches seien keineswegs verletzt. Es müsse davon
ausgegangen werden, dass der mehrfach genannte Arzt eine ihm
nicht mehr zukommende Würde weitergeführt habe. Die Revision sei
deshalb kostenpflichtig zu verwerfen.
Frequenz der Schweizer medizinischen Fakul¬
täten im Sommersemester 1906: Basel 141 männliche,
5 weibliche Studierende; Bern 160 m., 338 w.; Genf 184 m., 159 w.;
Lausanne 140 m., 322 w.; Zürich 261 m„ 174 w.; in Summa 1884
Medizinstudierende, darunter 886 männliche, 998 weibliche; 553
(526 + 27) Schweizer.
Therapeutische Notizen.
In einer Arbeit aus der inneren Abteilung des städt. Luisen¬
hospitals zu Dortmund berichtet H. K e i n e i über medikamen¬
tös-therapeutische Erfahrungen bei kruppöser
Pneu m o n i e. (Dissertation. Berlin 1905.) Chinin wurde inner¬
lich in Dosen von 0,5— 1,0 g zweimal täglich gegeben. Von 29 Fällen
verliefen 4 letal, es ergibt sich also eine Mortalität von 13,8 Proz.
Im allgemeinen trat keineswegs eine deutliche Beeinflussung der
Erkrankung unter der Chininbehandlung hervor. — Was die (40) Ver¬
suche mit Kreosotal betrifft, so kommt Verfasser zu dem Re¬
sultat, weitere Versuche mit diesem Mittel bei Pneumonikern für über¬
flüssig zu erklären, „um nicht mit der Kreosotal- Darreichung die recht
kostbare Zeit zu verlieren“. — Die Versuche mit Digitalis er¬
gaben eine sehr hohe Mortalität (29 Proz.) und haben den Verfasser
von einer spezifischen Wirkung des Mittels bei Pneumonie nicht über¬
zeugen können. Eine coupierende Wirkung wurde in keinem Fall be¬
obachtet, ebensowenig eine Abkürzung des Krankheitsverlaufes oder
eine Beeinflussung der Fieberkurve. — In keinem der 25 mit Natrium
benzoicum behandelten Fälle sind Symptome aufgetreten, die
auf eine ungünstige Wirkung des Mittels schliessen Hessen. Ver¬
fasser erhielt den Eindruck, dass der Verlauf sich weniger aufregend
gestaltete, als unter der Herrschaft der vorstehend genannten Mittel.
Bei den Versuchen mit der Darreichung des Pyrenols (Dosis: 0,5g
2 — 3 stündlich) wurde die bemerkenswerte Beobachtung gemacht,
dass bei 6 am 3. und 4. Krankheitstage aufgenommenen Fällen ein
prompter Ablauf der Krankheit stattfand. Verfasser hat einen „gün¬
stigen Eindruck von der therapeutischen Dignität des Pyrenols bei
Pneumonie“ erhalten. Er ist von der Zweckmässigkeit und Unschäd¬
lichkeit des Mittels, die es im Gegensatz zu vielen neuen Präpa¬
raten besitze, überzeugt. — Von einer zuverlässigen Wirkung des
Hetols hat sich Verfasser nicht überzeugen können. Er resümiert:
Unter den zur Verwendung gekommenen Mitteln haben wir von dem
Natrium benzoicum und dem Pyrenol den besten Eindruck erhalten,
während das Chinin, das Kreosotal und namentlich die Digitalis die
Resultate der Behandlung zu verschlechtern scheinen und die Hetol-
medikation den grössten Bedenken unterliegt. Fritz Locb-
Nach den Untersuchungen von Herbert Assm a'h h (Disser¬
tation, Königsberg i. Pr. 1905) ist die desinfizierende Kraft
des Aethylalkohols abhängig von seiner Konzentration und
von dem Feuchtigkeitsgehalt des zu desinfizierenden keimhaltigen
Materials. Trocknen Keimen gegenüber zeigt ein Alkohol mittlerer
Konzentration von etwa 50 Proz., feuchten Keimen gegenüber ein
hochprozentischer Alkohol die grösste Desinfektionskraft. Ein Zusatz
von Alkali zu 50 proz. Alkohol erhöht dessen Wirkung. Der 50 proz.
Alkohol mit einem Gehalt von 1 proz. Natriumhydroxyd stellt trocknen
wie feuchten Keimen gegenüber ein sicher wirkendes Desinfektions¬
mittel dar, dessen bakterizide Kraft grösser als die seiner Kompo¬
nenten: eines 50 proz. Alkohols und einer 1 proz. wässerigen Natron¬
lauge allein ist. Der Desinfektionswert des 1 proz. Natriumhydroxyd
enthaltenden Alkohols ist ziemlich genau gleich dem des offizinellen
Seifenspiritus. Fritz Loeb.
i
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1503
24. Juli 1906.
* — - -
S. F e 1 d b a c h liefert aus dem Jenner sehen Kinderspital in
, Bern einen Beitrag zur Ernährung m agendarmkran-
[ k e r Säuglinge mit Buttermilch. Die Verabreichung
der Buttermilch war von besondereju Erfolg begleitet bei kleinen
Kindern, die infolge von Darmstörungen sehr im Ge,\vjcht zuriick-
I geblieben waren, bei denen jedoch zurzeit keine schweren Darm¬
symptome bestanden. Andere Ernährungsweisen mannigfacher Art
waren der Buttermilchernährung vorausgegangen. Letztere leistete
; gutes bei einigen chronischen Magendarmerkrankungen, in denjenigen
Krankheitsperioden, in denen keine akuteren Schübe bestanden, doch
wurde bei diesen Fällen die Buttermilch oft nur kürzere Zeit vertragen,
sie brachte aber die Säuglinge vorwärts und ermöglichte nachher eine
andere Ernährungsweise. Bei akuten Enteritiden oder zur Zeit akuter
Schiibe chronischer Enteritiden empfiehlt Verf. die Buttermilch nicht,
da hier andere Ernährungsmethoden mehr Aussicht auf Erfolg bieten.
Auch in jenen Fällen ist von der Buttermilch kein Erfolg zu erwarten,
wo schwere Bronchopneumonie die Enteritis der Säuglinge kompli¬
ziert. Sie leistete oft gute Dienste zur Ernährung kleiner Kinder,
welche an erschöpfenden chronischen Krankheiten, wie Tuberkulose,
mit begleitenden Darmstörungen litten. (Dissertation, Bern 1905.)
Fritz L o e b.
Die kochsalzarme Ernährung ist nach S t r a u s s be¬
kanntlich von Bedeutung bei der Behandlung der Nephritiden.
Tischler (Jher. Monatsh. 1906, 4) weist nun an einigen Beispielen
nach, dass der Mensch ohne Schädigung seiner Gesundheit mit ge¬
ringen Salzmengen auskommen kann. Bezüglich der Technik der
salzarmen Ernährung hat schon S t r a u s s auf die Kochsalzarmut
■ der Milch, des Reis, der Eier und der ungesalzenen Butter hin¬
gewiesen, sowie auf die Kochsalzarmut des unzubereiteten Fleisches.
Tischler hat in dieser Beziehung weitere Untersuchungen an¬
gestellt. Durch einen sehr geringen Kochsalzgehalt zeichnen sich aus
Milch, ^ Eier, Pilze, Obst, Beerenfrüchte, Gemüse und Mehlarten.
Beim Fleisch muss man darauf sehen, dass der ursprünglich geringe
Kochsalzgehalt durch die Zubereitung nicht vermehrt wird. Von dem
Schwarzbrot verdient der Zwieback den Vorzug. Von Gemüsen
bleiben bekanntlich Blumenkohl und Pilze noch relativ salzarm nach
der Zubereitung. Die Fleischbrühe soll ausgiebig durch Obst-, Milch-
und Mehlsuppen ersetzt werden. Von Mineralwässern kommen nur
kochsalzarme in Betracht: Gleichenberger, Klausenquelle, Wildunger
Georg-Viktorquelle, Giesshiibler, Neuenahrer. Kr.
Das Sajodin hat sich bei Versuchen an der I. inneren Ab¬
teilung des Krankenhauses Moabit zu Berlin (Dir. Prof. v. Revers)
gut bewährt und wurde mit gleichem Erfolge wie Jodkalium oder
Jodnatrium angewendet. Es vermag zwar den Jodismus nicht zu ver¬
hüten, doch wird es meist besser vertragen als die Jodalkalien. Das
Jodkali zu ersetzen ist es wegen seines ungleich höheren Preises
nicht imstande. (Koch: Ueber die therapeutische Wirksamkeit des
Sajodin. Therapie d. Gegenw. 1906, Juni.) R. S.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 24. Juli 1906.
— Die badische Aerzteordnung wurde am 12. ds. von
der 2. Kammer des badischen Landtages mit 64 gegen 1 Stimme
n der Fassung der Kommission angenommen. Die Kommission hatte
die Bestimmung bezüglich des Erlasses einer Standesordnung aus dem
Entwürfe gestrichen und für den Ehrengerichtshof statt eines ju¬
ristischen Mitgliedes deren zwei angenommen. Den in den Peti¬
tionen der Naturheilvereine etc. gestellten Forderungen wurde nur
insofern Rechnung getragen, als dem Absatz 4 des § 20, der ur¬
sprünglich lautete: Politische, wissenschaftliche und religiöse An¬
sichten und Handlungen eines Arztes können niemals den Gegen¬
stand , ^ines ehrengerichtlichen Verfahrens bilden, die Fassung ge¬
sehen wurde: „Politische, religiöse und wissenschaftliche Ansichten
und Betätigungen eines Arztes, insbesondere die Wahl und Ver¬
tretung einer Heilmethode oder eines Heilverfahrens dürfen niemals
Jen Gegenstand eines ehrengerichtlichen Verfahrens bilden.“ In den
Beratungen, wurde aber ausdrücklich betont, dass selbstverständlich
lede standesunwürdige Form bei der Vertretung wissenschaftlicher
Anschauungen ehrengerichtlich geahndet werden könne. Die Aerzt-
! ichen Mitteilungen aus und für Baden schreiben, dass die badischen
Aerzte mit dem Ausgang der ganzen Sache zufrieden sein können.
„Nachdem wir den Wunsch vergangener Zeiten, durch die Aerzte-
»rdtiung ein Hilfsinstrument fiir unsere wirtschaftlichen Bestrebungen
tu erhalten, hatten zurückstellen müssen, und angesichts unserer
nittlei weile erstarkten Organisation auch auf denselben verzichten
vonnten, konnte sie uns schliesslich nicht viel mehr bringen, als die
Vlöglichkeit, unser besonders hinsichtlich der Hinterbliebenen von
Merzten reformbedürftiges Unterstützungswesen und das Disziplinar-
• ei fahren zu verbessern. Nachdem nun alle wirtschaftlichen F ragen
iuch in Baden aus der Aerzteordnung für immer ausgeschaltet und
vir bezüglich dieser wichtigsten aller Standesangelegenheiten aus-
.ch liesslich auf die Selbsthilfe angewiesen sind, ist es um so mehr
lie Pflicht aller derer, die dazu berufen sind, diese Selbsthilfe noch
mehr auszubauen wie bisher, und Pflicht eines jeden Arztes ist es,
sich dieser freiwilligen Organisation d. h. dem Leipziger Verbände
anzuschliessen“.
— Man schreibt uns: In No. 28 der Münch, ttied. Wochenschr.
wird die Tatsache, dass die Auszeichnungen an Sanitätsoffiziere der
Schutztruppe für Südwestafrika vielfach am sch warz-weissen
Bande verliehen wurden, mit Recht als „von grosser Bedeutung“
hingestellt. Die betreffende Notiz dürfte nun leicht zu der gewiss nicht
beabsichtigten irrigen Auslegung Anlass geben, als ob die 62 mit dem
„w eissen Bande mit schwarzer Einfassung“ deko¬
rierten Sanitätsoffiziere im Gegensatz zu den 27 glücklicheren durch¬
wegs als Nichtkombattanten zu betrachten seien.
Leider muss gesagt werden, dass bei Auswahl dieser beiden
Bandarten Ungleichheiten vorkamen. So wurden in der ersten Phase
des Aufstandes — dem Herero-Feldzuge — sämtliche Sanitäts¬
offiziere mit den Dekorationen, durchgängig Orden mit Schwer¬
tern, am weissen Bande bedacht. Darunter befanden sich z. B.
auch solche, die den berühmten Siegeszug der Kompagnie Francke
mitgemacht, die sich bei Oviumbo, Onganjira, Waterberg etc. aus¬
gezeichnet hatten. Und ein „vorn“ und „hinten“ gibt es in den siid-
westafrikanischen Gefechten nicht, wo unsere Truppen gewöhnlich
von allen Seiten Feuer erhielten.
Auch im Hottentotten-Feldzuge wurde zuerst — Kub, Naris,
Gochas — fast durchgängig das weiss-schwarze Band ver¬
liehen. Bei dem 52 stündigen Gefecht bei Gr. Nabas, Januar 1905,
erhielt ein Stabsarzt das schwarz-weisse Band, während die beiden
anderen gleichfalls beteiligten Sanitätsoffiziere das weiss-schwarze
erhielten. Es sind Schreiber dieses viele Sanitätsoffiziere bekannt,
die Monate lang bei Feldtruppen Märsche, Strapazen und Gefechte
mitgemacht und das weiss-schwarze Band erhielten, während anderer¬
seits andere, die dauernd an Etappenorten sassen, auf Grund einer
einzigen Patrouille das schwarz-weisse Band sich sicherten.
Hält man dagegen die Tatsache, dass Offiziere, die sich aus¬
schliesslich an der Küste oder Bahnstrecke, bei Pferde-, Bekleidungs¬
depots, Eisenbahn- und Etappenformationen aufhielten, durchweg das
schwarz-weisse Band erhielten, so ist dieser Vergleich nicht dazu
angetan, dass die Sanitätsoffiziere im Interesse des Standes volle Be¬
friedigung über ihre Dekorierung empfinden.
Auch bei den Sanitätsoffizieren der Feldlazarette wurde zu
wenig berücksichtigt, dass diesen ausser ihrer durch die äusseren
Verhältnisse sehr erschwerten ärztlichen Tätigkeit auch die volle
Verantwortlichkeit für Disziplin, Kriegsbereitschaft, militärische
Sicherung beim Marsch wie in der Ruhe, die Fürsorge für Transport¬
mittel und Bespannung oblag und sie oft genug in die Lage kamen,
aus eigenen Entschlüssen militärisch eingreifen zu müssen.
Dazu im Gegensatz die Auszeichnung der Offiziere an der Bahn¬
linie — von den Kolonnenoffizieren ganz abgesehen.
Der Grund dieses ungleichmässigen Verfahrens dürfte in den
wohl nicht mehr zeitgemässen Statuten sowie auch an der ver¬
schiedenen Auffassungsweise der Vorgesetzten liegen, die diese Ein¬
gaben aufzustellen hatten und deren Grundantrag entscheidend bleibt.
Auch eine grosse Berliner Zeitung — soweit erinnerlich die Tägl.
Rundschau — hat in einem eigenen, dieser Frage gewidmeten Artikel
das bisherige Prinzip als abänderungsbedürftig bezeichnet.
In Bayern wird bekanntlich als K r i e g s d e k o r a t i o n der
Militärverdienstorden mit Schwertern ohne Unterschied des
Bandes (in Preussen dagegen 3 Bänder für den gleichen Orden) an
die Personen des Soldatenstandes, wozu die Sanitätsoffiziere ge¬
hören, verliehen. Militärbeamte erhalten diesen Orden ohne
Schwerter.
— Die Hufelandsche Gesellschaft in Berlin hat den
diesjährigen Alvarengapreis (Thema: Bedeutung der Stenose der
oberen Thoraxapertur für die Entwicklung der Spitzentuberkulose)
Herrn Dr. Karl Hart, Assistent am pathologischen Institut des Kran¬
kenhauses Friedrichshain, verliehen. Eine lobende Erwähnung wurde
der Arbeit von Herrn Dr. Ludwig Mendelsohn zu Berlin zu teil.
— Herr Hofrat Dr. Wilhelm Merkel, Frauenarzt in Nürnberg,
feiert am 26. Juli sein goldenes Doktorjubiläum.
— Dem vorläufigen Programm des am 12. — 14. September d. .1.
in Bern stattfindenden 9. Kongresses der Deutschen dermatologischen
Gesellschaft entnehmen wir, dass am Mittwoch, den 12. September
der Vortrag von Neisser: Ueber den derzeitigen Stand der experi¬
mentellen Syphilisforschung, am Donnerstag, den 13. September der
Vortrag von Hoff mann: Ueber den derzeitigen Stand unserer
Kenntnisse von der Aetiologie der Syphilis, stattfindet. Die Berner
Oberlandsbahnen (Interlaken — Lauterbrunnen, Grindelwald — Miirren,
Schynige Platte) und die Brienzer Rothhornbahn haben für die
Woche vom 9. — 16. September, die Jungfraubahn für die Zeit vom
9.— 20. September, den Mitgliedern des Kongresses eine Ermüssigung
von 50 Proz. gewährt.
— Als Mitglieder des Kreisausschusses des Pensions¬
vereins für Witwen und Waisen bayerischer Aerzte
für die Pfalz wurden folgende Herren gewählt: 1. Dr. Ullmanii,
Med. -Rat, ZweityTicken, 2. Dr. S t e i t z, prakt. Arzt, Gaugrehweiler,
3. Dr. K r a f f t, prakt. Arzt, Hornbach, 4. Dr. König, Hofrat, Eden-
koben; als Delegierte zur IX. ordentlichen Generalversammlung
1. Dr. Ullman n, Med. -Rat, Zweibrücken, 2. Dr. Kaufman n, Hof¬
rat, Dürkheim.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
1504
— Vom 16. bis 18. Juli fanden in Dr. Hofmanns Kuranstalt
zu Nauheim vor den Nauheimer und den in Nauheim zur Kur an¬
wesenden Aerzten unentgeltliche Vorträge und Demonstrationen
aus dem Gebiete der physikalischen Diagnostik und
Therapie (Röntgenverfahren, Orthodiagraphie des Herzens, Mes¬
sung der Herzkraft etc.) statt, zu welchen die Nauheimer Badeärzte
DDr. Kranze, Qräupner, Hofmann und Pöhlmann einge¬
laden hatten. Die Vorträge erfreuten sich eines guten Besuches und
sollen in ca. 4 Wochen ihre Fortsetzung finden.
— Im Kommissionsverlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden er¬
schien ein auf Veranlassung des Ministers für Landwirtschaft, Do¬
mänen und Forsten von dem Badeinspektor Dr. Stern in Langen-
schwalbach bearbeitetes „Bäderalbum der kgl. Preussi-
sehen Domänenverwaltun g“. Das künstlerisch ausge¬
stattete Werk, das ausser zahlreichen Abbildungen im Text eine Reihe
von farbigen Illustrationen nach Gemälden von Gscheidel - Berlin,
Günther-Naumburg - Charlottenburg und v. Wedel- Kassel
enthält, bringt ausführliche Beschreibungen der Bäder Ems, Langen-
schwalbach, Schlangenbad, Weilbach, Niederselters, Fachingen, Geil¬
nau, Nenndorf, Rehburg und Norderney. Der Preis des Albums be¬
trägt 6 Mk.
— Cholera. Straits Settlements. In Singapore wurden vom
30. Mai bis 5. Juni 2 Erkrankungen und 3 Todesfälle und vom 5. bis
12. Juni 3 Todesfälle an Cholera gemeldet.
— Pest, Türkei. In der Zeit vom 25. Juni bis 1. Juli sind in
Djedda 3 Erkrankungen und 7 Todesfälle an der Pest bekannt ge¬
worden. — Aegypten. Vom 23. bis 29. Juni wurden 2 neue Pest¬
erkrankungen gemeldet. — Britisch-Ostindien. Während der am
23. Juni abgelaufenen Woche sind in der Präsidentschaft Bombay
238 Erkrankungen (und 169 Todesfälle) an der Pest gemeldet wor¬
den. In Kalkutta starben in der Woche vom 3. bis 9. Juni 43 Personen
an der Pest. In Moulmein sind vom 26. Mai bis 2. Juni 23 und vom
2. bis 9. Juni 28 Personen an der Pest gestorben. — Queensland.
Während der am 26. Mai endenden Woche sind in Brisbane und
Rockhampton neue Pestfälle nicht bekannt geworden. — West¬
australien. Während der am 9. Juni endenden Woche ist in Fremantle
ein neuer Pestfall gemeldet worden; ferner ist ein Todesfall an der
Pest dort vorgekommen.
— In der 27. Jahreswoche, vom 1. — 7. Juli 1906, hatten von
deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblichkeit
Posen mit 30,2, die geringste Dtscli. Wilmersdorf mit 7,7 Todes¬
fällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Ge¬
storbenen starb an Masern in Kiel, Wiesbaden, an Keuchhusten in
Hildesheim. V. d. K. G.-A.
(Hoc-hschulnachrichte n.)
Berlin. Frau Dr. Lydia Rabinowitsch wurde von der
Societe centrale de medecine veterinaire zu Paris zum korrespon¬
dierenden Mitglied ernannt.
Freiburg i. Br. Der ordentliche Professor und Direktor der
psychiatrischen Klinik der Universität Freiburg i. Br. Dr. med. Alfred
H o c h e ist zum Geheimen Hofrat ernannt worden. Der Freiburger
Psychiater hat vor einigen Tagen einen Ruf nach Strassburg als
Nachfolger F ii r s t n e r s ablehnend beantwortet.
Giessen. Zum Rektor der Universität für das Studienjahr
1906/07 wurde Geheimer Medizinalrat Profesor Dr. Eugen B o s t r ö m
gewählt. In den Zeitraum der Amtswirksamkeit des neuen Rektors
fällt die Feier des 300 jährigen Bestehens der hessischen Landes¬
universität.
H a 1 1 e a. S. An der medizinischen Klinik wurde ein Block
ausschliesslich zur Unterbringung tuberkulöser Kranken bestimmt und
durch Umbau mit Liegehallen und entsprechenden Nebenräumen aus¬
gestattet. In Verbindung mit diesem Block wurde des weiteren
eine Poliklinik für Kehlkopf- und Nasenleiden eingerichtet. Der Neu¬
bau, welcher mehrere poliklinische Räume umfasst, ist der Strassen-
seite des Tuberkulosenblocks vorgelagert, aber sonst räumlich von
demselben getrennt. Die Poliklinik untersteht der Leitung des Privat¬
dozenten für Laryngologie, Dr. Frese.
Heidelberg. Exzellenz Prof. Czerny, der sich vom Herbst
d. J. ab ausschliesslich dem Institut für experimentelle Krebsforschung
widmen wird, wird im Wintersemester 1906/07 ein 2 ständiges Kolleg
„Therapie der Krebse“ abhalten.
München. Mit einer Probevorlesung: „Ueber die Bedeutung
des Sauerstoffes im Tierkörper“ führte sich Dr. med. Ernst Heil-
n e r (aus Stuttgart) in der Münchener medizinischen Fakultät als
Privatdozent für Physiologie ein.
T ii hinge n. Die medizinische Fakultät hat den bisherigen
Kultusminister, jetzigen Minister der auswärtigen Angelegenheiten,
Dr. v. Weizsäcker, zum Dr. njed. honoris causa ernannt wegen
seiner Verdienste um Gründung, Vergrösserung und verbesserte Ein¬
richtung der Kliniken und wissenschaftlichen Institute.
Würz b u r g. Dr. Adolf T r e u 1 1 e i n, Oberarzt im 9. Inf.-Reg.
und kommandiert zum hygienischen Institut, habilitierte sich für das
Fach der Hygiene, speziell Schiffs-, Militär- und Tropenhygiene, mit
einer Probevorlesung über „Die Mittel zur Bekämpfung der Malaria
auf Grund der neuen ätiologischen Anschauungen, insbesondere in
den Tropen“. Die Habilitationsschrift ist betitelt „Ueber chronische
Oxalsäurevergiftung an Hühnern und deren Beziehung zur Aetiologie
der Beri-Beri“. — Von der Würzburger medizinischen Fakultät wurde
für das Jahr 1906/07 folgende Preisaufgabe gestellt: „Der Zustand
des Mainwassers und der Mainufer oberhalb, unterhalb und innerhalb
Wiirzburg soll unter Verwendung chemischer, bakteriologischer und
womöglich biologischer Methoden untersucht werden. Es kann aber
auch eine Arbeit mit dem Preise ausgezeichnet werden, welche nur
eine Methode, diese aber in besonders gründlicher Weise anwendet.“
G r a z. Der ausserordentliche Professor an der Universität
Graz Dr. W. Scholz wurde als Nachfolger Prof. Fossels zum
Direktor des Allgemeinen Krankenhauses daselbst ernannt.
P arma. Dr. G. M a r i o 1 1 i habilitierte sich als Privatdozent
für operative Medizin.
(Todesfälle.)
ln Osnabrück starb der Nestor der deutschen Psychiater, Ge¬
heimrat Meyer, früher Direktor der dortigen Provinzialirrenanstalt
im Alter von 87 Jahren.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Verzogen. Dr. Hermann Schum von Mitterteich — un¬
bekannt wohin. Dr. Karl Hart mann von Rothenkirchen nach
Wadern bei Trier.
Gestorben: Dr. Richard Wentzel in Schmidmühlen, B.-A.
Burglengenfeld, 41 Jahre alt.
Generalkrankenrapport über die K. Bayer. Armee
für den Monat April 1906.
Iststärke des Heeres:
65720 Mann, 183 Kadetten, 142 Unteroffiziersvorschiiler.
1. Bestand waren
am 31. März 1906:
Mann
Kadetten
Unteroffiz. -
vorschüler
1785
—
5
im Lazarett:
1108
—
15
2. Zugang: \
im Revier:
1549
4
—
in Summa:
2657
4
15
Im ganzen sind behandelt:
4442
4
20
°/u o der Iststärke:
67,6
21,9
140,8
dienstfähig:
2717
4
12
ü/oo der Erkrankten:
611,7
1000,0
600,0
3. Abgang:
gestorben :
'6
—
1
°/oci der Erkrankten :
1,4
—
50,0
*) Darunter 36 un¬
mittelbar nach
invalide:
56
—
—
der Einstellung.
dienstunbrauchbar :
38*)
—
—
anderweitig:
145
—
—
in Summa:
2962
4
13
in Summa:
1480
—
7
4. Bestand
°/oo der Iststärke:
22,5
—
49,3
bleiben am
davon im Lazarett:
1066
—
7
30. April 06
davon im Revier:
414
—
—
Von den in Ziffer 3 aufgeführten Gestorbenen haben gelitten an:
Lungentuberkulose 1, epidemischer Genickstarre 2, Vergrösserung und
Erweiterung der rechten Herzkammer 1, Blinddarmentzündung 1 und
Nierenentzündung 1.
Ausserdem kam noch 1 Todesfall ausserhalb der ärztlichen Be¬
handlung infolge von Schädelbruch durch Sturz aus dem Fenster vor.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 27. Jahreswoche vom 1. bis 7. Juli 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 11 (16*),
Altersschw. (üb. 60 J.) 2 (7), Kindbettfieber 1 (1), and. Folgen der
Geburt — (— ), Scharlach 1 (— ), Masern u. Röteln 7 (1), Diphth. u.
Krupp 1 (1), Keuchhusten 1 (2), Typhus — (—), übertragb. Tierkrankh.
_ (_)f Rose (Erysipel) 1 (1), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 1 (— ), Tuberkul. d. Lungen 31 (25), Tuberkul. and.
Org. 6 (9) Miliartuberkul. — (2), Lungenentziind. (Pneumon.) 9 (13),
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. 1 (1), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 1 (3), sonst. Krankh. derselb. 2(3), organ. Herzlcid. 15 (16),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 3 (4), Gehirnschlag
1 (7), Geisteskrankh. 2 (1), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 5(1), and.
Krankh. d. Nervensystems 3 (5), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 21 (31), Krankh. d. Leber 1 (2), Krankheit, des
Bauchfells 2 (1), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 5 (1), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 4 (4), Krebs (Karzinom, Kankroid) 7 (10),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 5 (4), Selbstmord 3 (3), Tod durch
fremde Hand — (1), Unglücksfälle 3 (5), alle übrig. Krankh. 2 (3).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 158 (184), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 15,2 (17,7), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 10,9 (11,7).
*) Die eingeklammerten Zählen
bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.G.. München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umfang von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 4,. » Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
M 6.—. * Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
«t
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren: für die Redaktion Arnulf¬
strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 8'/a — 1 Uhr. • Für
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20. • Für
• Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16. •
MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
(LUngerer, CUäumler, O.r.Bollieger, fl. Curscteann, fl. flellericb, W. v. Leute, G. Merkel, J.vJicliel, F. Penzelill, fl. v. Banke, B. Spalz, F.y.Winckel,
München. Freiburg i. B.
München.
Leipzig.
Kiel.
Würzburg. Nürnberg.
Berlin.
Erlangen. München. München. München.
No. 31. 31. Juli 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang.
Originalien.
(Aus der chirurgischen Klinik in Giessen.)
Zur Frage der Erhaltung des Schliessmuskels bei der
Exstirpation des Mastdarmkrebses.
Von Prof. P. P o p p e r t.
Es ist ein unbestreitbares Verdienst der deutschen Chi¬
rurgen, die Radikaloperation des Mastdarmkrebses zu ihrer
heutigen Vollkommenheit ausgebildet und ihre grosse Ueber-
legenheit gegenüber der Palliativbehandlung (Rolostomie) dar¬
getan zu haben. Durch eine grosse Reihe von Arbeiten ist
der Beweis erbracht worden, dass eine Radikalheilung wirk¬
lich möglich ist, und dass wir daher die Pflicht haben, die Aus¬
rottung des Krebses, wenn irgend möglich, zu erstreben. Aller¬
dings gehen die Meinungen über die zweckmässigsten Opera¬
tionsmethoden noch etwas auseinander; während eine Zeit¬
lang das sogen, sakrale Verfahren im Vordergrund stand, haben
neuerdings auch die perinealen und vaginalen Methoden wieder
mehr Berücksichtigung gefunden. Von den übrigen zurzeit
noch strittigen Punkten scheint mir nun besonders einer von
grundsätzlicher Bedeutung zu sein und einer besonderen Er¬
örterung zu bedürfen — nämlich die Frage, ob man in den
Fällen, wo der Schliessmuskel gesund ist, die Resektion
oder die Amputation des Mastdarms vor¬
ziehen soll.
Dass die Resektion mit Erhaltung des Sphinkter¬
teiles des Anus als das idealere Verfahren der Amputation,
bei der der Schliessmuskel geopfert wird, den Vorzug ver¬
dient, erscheint von vornherein so selbstverständlich, dass
eine weitere Begründung für überflüssig gehalten werden
könnte. Indes unterliegt es keinem Zweifel, dass die Resektion
technisch schwieriger und eingreifender ist und leichter zu
Wundinfektionen Anlass gibt wie die Amputation; hierzu
kommt noch, dass der funktionelle Erfolg nicht selten durch
Versagen der Darmnaht in Frage gestellt wird. So mag es
sich erklären, dass in letzter Zeit mehrfach Stimmen laut ge¬
worden sind, welche die Resektion verwerfen.
Zuerst hat sich Schuchard1) grundsätzlich gegen die
Erhaltung des Sphinkters ausgesprochen, weil er mit der¬
artigen Versuchen durchweg keine günstigen Erfahrungen ge¬
macht habe. Er empfahl, regelmässig die Amputation mit Aus¬
lösung des Sphinkterteiles vorzunehmen, ohne Rücksicht
darauf, ob es sich um tiefsitzende oder hochsitzende Karzinome
handelte. Wiesinger2) geht in der Ablehnung der Re¬
sektion nicht ganz so weit wie Schuchar d, indem er diese
Operation nur für die schwierigeren Fälle von hochsitzendem
Mastdarmkarzinom verwirft. Er begründet sein Vorgehen
mit dem Hinweis auf die grossen unmittelbaren Gefahren der
Resektion, die zahlreichen dabei in Betracht kommenden Stö¬
rungen der Wundheilung und die üble Lage der Kranken bei
Versagen der Darmnaht, wodurch die Freude an der glücklich
überstandenen Operation ihnen nur zu oft verleidet werde.
) Ueber die Exstirpation des Carcinoma recti. Deutsche med.
Wochenschr. 34, 1899.
■) Zur Behandlung hochsitzender Mastdarmkarzinome. Deutsche
Zeitschr. f. Chir. Bd. 61.
No. 31.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Wiesinger geht nun in der Weise vor, dass er zunächst
in der linken Seite am Colon descendens einen dauernden
Anus praeternaturalis anlegt und später in einer
zweiten Sitzung von unten her den Mastdarm in Verbindung
mit dem Sphinkterteil aus seiner Umgebung loslöst, jenseits
der erkrankten Stelle abträgt und schliesslich den Darmstumpf
übernäht, also völlig schliesst.
Bei dem nach-Quenu genannten Verfahren der sogen,
kombinierten Amputation, das indes nur für hochsitzende
Karzinome empfohlen ist, wird ebenfalls auf die Erhaltung des
Schliessmuskels grundsätzlich verzichtet. Quenu legt einen
definitiven Anus praeternaturalis an und exstirpiert den peri¬
pheren Darmabschnitt samt dem Schliessmuskel, teils vom
Abdomen, teils vom Damm aus.
Einen noch wesentlich radikaleren Standpunkt in dieser
Frage nimmt Witzei3) ein, indem er grundsätzlich die
Resektion für alle Fälle verwirft und statt dessen immer die
Amputation ausführt. Er geht von den gleichen Gesichts¬
punkten aus wie W i e s i n g e r und will den Kranken vor
allem vor der „abscheulichen Fistelmisere“ bewahren, die in
Fällen von Insuffizienz der Darmnaht die Operierten belästige
und in Gefahr bringe. Zudem ist nach W i t z e 1 s Meinung
die Funktion der erhaltenen Sphinkterpartie, selbst in Fällen
von gelungener Naht keine befriedigende, er stellt sogar die
auffällige Behauptung auf, dass „die Funktion beim Manne
stets eine schlechte, bei der Frau, trotz der Mitwirkung des
Constrictor cunni, eine nur mässige und jedenfalls keine
bessere sei, als wir sie durch seitliche höhere Einpflanzung am
Darme erzielen können.“ W i t z e 1 verfährt nun in der Weise,
dass er das Rektum samt der Analportion von der Umgebung
loslöst, oberhalb der Neubildung durchtrennt und nun einen
Anusglutaealis anlegt. Vierquerfingerbreit von der Mittel¬
linie wird eine Inzision durch die Haut und das Unterhautzell¬
gewebe ausgeführt und nun durch die Glutaealmuskulatur
stumpf vorgedrungen, sodass ein Kanal gebildet wird, durch
welchen man den einzupflanzenden Darmstumpf hindurchleitet.
W i t z e 1 rühmt diesem Verfahren nach, dass es nur so, durch
Verzicht auf die Erhaltung des natürlichen Afters, möglich sei,
die Operation zu einer vollkommen aseptischen zu gestalten
und gleichzeitig die Neubildung möglichst gründlich aus¬
zurotten.
Sind nun die unmittelbaren Operationsresultate der Mast¬
darmresektion mit Erhaltung des Sphinkters in der Tat so
ungünstig und die funktionellen Erfolge so wenig befriedigend,
dass wir uns für berechtigt halten dürfen, den gesunden
Sphinkter grundsätzlich zu opfern, also regelmässig die Ampu¬
tation auszuführen? Gegen diese Auffassung hat sich kürzlich
K r a s k e ') mit Entschiedenheit ausgesprochen, welcher ja
bekanntlich die Methode der hohen Mastdarmresektion ausge¬
bildet hat und daher wie kein anderer befugt ist, zu dieser
Frage Stellung zu nehmen. Er sagt, dass derjenige, welcher
J) Vergl. Witzei: Indikation der operativen Eingriffe beim
Rektumkarzinom. Münch, med. Wochenschr. 10, 1903 und Wenzel:
W ie lässt sich die Rektumoperation zu einer aseptischen und un¬
blutigen Operation gestalten? Ibidem.
4) Die Erhaltung des Schliessmuskels bei der Operation des
Mastdarmkrebses. Deutsche med. Wochenschr. 28, 1905.
1
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
1506 1
einem Menschen bei der Exstirpation eines Mastdarmkarzi¬
noms den gesunden Sphinkter entferne und ihn so ohne Not
eines wichtigen Organs beraube, das sich sehr wohl erhalten
liesse, ein grosses Unrecht begehe lind wider das erste Gebot
der Chirurgie sündige. Ebenso wendet sich Kraske ent¬
schieden gegen die W i t z e 1 sehe Behauptung, dass der er¬
haltene Sphinkter doch nicht funktioniere und führt eine
grössere Reihe von Fällen an, in denen er eine ideale, völlig
normale Kontinenz erzielt hat.
Ausser Kraske ist kürzlich auch v. Eiseisberg5)
der Neigung einiger Chirurgen zur Einschränkung der Resek¬
tion entgegengetreten und gibt den Rat, sich durch die Mög¬
lichkeit der Fistelbildung und etwaiger Nachoperationen von
dem Versuch nicht abschrecken zu lassen, eine normale Kon¬
tinenz zu erstreben.
An der Hand der auf der Giessener Klinik gewonnenen
Erfahrungen ö) glauben wir auch in der Lage zu sein, die Ueber-
legenheit der Resektion gegenüber der einfachen Amputation
bestätigen zu können, sodass wir daher Kraske in der Ver¬
werfung des W i t z e 1 sehen Standpunktes beipflichten müssen.
Was zunächst die den beiden Methoden anhaftende un¬
mittelbare Lebensgefahr anbretrifft, so muss ja zugegeben
werden, dass die Resektion im Durchschnitt eine grössere
Sterblichkeit aufweist wie die einfache Amputation. In
manchen Statistiken ist dieser Zahlenunterschied sogar ein sehr
erheblicher; so berechnet Wolf7) aus der von Bergmann-
schen Klinik die Mortalität bei Amputationen auf 14,7 Proz.,
bei Resektionen aber auf 47,7 Proz. Mit Recht aber weist
Kiipferle8) darauf hin, dass dieser Unterschied in Wirk¬
lichkeit nicht so gross ist, wenn man gleichwertiges Material
benutzt. Indem er nur diejenigen Fälle der Heidelberger
Klinik mit einander vergleicht, bei denen eine Eröffnung des
Peritoneums nötig wurde, wo es sich also um hochsitzende
Karzinome handelte, konnte er für die Amputationen eine
Mortalität von 14,6 Proz. berechnen, während er bei der Re¬
sektion eine solche von 26,0 Proz. fand. Diese Zahlen stimmen
übrigens gut überein mit den von L i e b 1 e i n u) für das
Wölflersche Material angegebenen, welcher für die Ampu¬
tation eine Sterblichkeit von 10 Proz. und für die Resektion
eine solche von 27 Proz. feststellte.
Bei den Operationsfällen der Giessener Klinik ist das Ver¬
hältnis merkwürdiger Weise ein umgekehrtes. Wir haben bei
35 Amputationen 3 Todesfälle zu beklagen, (je ein Fall
an Herschwäche, Pneumonie und Jodoformintoxikation), was
einer Mortalität von 8,6 Proz. entspricht; unter 28 Resek¬
tionen haben wir aber nur einen Todesfall (an Herz¬
schwäche) zu verzeichnen, was 3,6 Proz. Mortalität ergibt.
Da nun die angeführten Todesursachen zu denjenigen gehören,
die man nicht unmittelbar der Operationsmethode zur Last
legen kann, so ist dieses Zahlenverhältnis, das zu Gunsten der
Resektion lautet, natürlich als ein mehr zufälliges zu be¬
zeichnen.
Aus den mitgeteilten Zahlen geht aber zweifellos hervor,
dass die Art der Darmversorgung, d. h. die Wahl der Ampu¬
tation oder Resektion für den unmittelbaren Erfolg doch nicht
von so entscheidender Bedeutung ist, wie dies von vielen
Seiten behauptet wird, insbesondere können wir hiernach
Wiesingers Ausspruch, die Ueberweisung der hochsitzen¬
den Karzinome an den Chirurgen sei gleichbedeutend mit dem
Unterschreiben eines Todesurteils, nicht für begründet an¬
erkennen.
Nun wird ja von den Gegnern der Resektion behauptet,
dass der Versuch der Darmvereinigung fast regelmässig fehl-
') Wiener klin. Wochenschr. No. 38, 1905: Zur Frage der Kon¬
tinenz nach sakraler Rektumexstirpation.
'') Vergl. Richter: Ueber die auf der Giessener Klinik er¬
zielten hrfolge bei der Radikaloperation des Mastdarmkarzinoms.
Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 81.
') Ueber die Radikaloperation des Mastdarmkrebses. Arch. f.
klin. Chir. Bd. 62.
') Die Erfolge der Radikaloperation des Mastdarmkrebses. Beitr.
z. klin. Chir. Bd. 42.
9) Zur Statistik und Technik der Radikaloperation des Mast¬
darmkrebses. Beitr. z. klin. Chir. Bd. 33.
schlage, wodurch die Kranken in eine viel üblere Lage ver¬
setzt würden, wie nach der Amputation. Auch diese Behaup¬
tung müssen wir auf Grund der vorliegenden Veröffent¬
lichungen und unserer eigenen Erfahrungen bestreiten. Leider
geben die Mehrzahl der erschienenen Statistiken keine auf
Zahlen sich stützende Antwort auf diese Frage und enthalten
nur unzureichende, allgemein gehaltene Angaben über die
Funktion des Darms, wobei nicht selten die Fälle von Resek¬
tion und Amputation mit einander verrechnet werden. Von
den für unsere Zwecke brauchbaren Zusammenstellungen führe
ich die von V o g e 1 - S c h e d e (1. c.), von Schneider-
Garre (1. c.) und von Kraske1") an.
Schede erzielte unter 14 Fällen von Darmnaht, welche
den Eingriff Überstunden, zweimal Heilung per primam, in
6 Fällen entwickelte sich eine vorübergehende Fistel, die aber
spontan oder auf operativem Wege zum Verschluss kam; in
6 Fällen wurde der Kranke mit einer Fistel entlassen. Aehn-
liclie Resultate weist die Statistik von Schneider-Gar re
auf: unter 6 Fällen von Darmnaht kam es einmal zur Heilung
per primam, dreimal entwickelte sich vorübergehend eine
Fistel, 2 Fälle wurden mit Fistel entlassen und ein Kranker mit
Fistel befand sich zur Zeit der Berichterstattung noch in Be¬
handlung. — Kraske, der bei weitem über die grössten
Zahlen verfügt, hat unter 39 Fällen von Resektion 23 mal
eine Vereinigung und vollkommene Funktion des Darmrohrs
erreicht, allerdings auch häufig erst nach vorübergehender
Fistelbildung, ln 16 Fällen war eine kleine Fistel dauernd
zurückgeblieben. - — Die von mir in der Giessener Klinik ge¬
wonnenen Resultate bei der Resektion des Mastdarmes mit
nachfolgender zirkulärer Naht müssen ebenfalls als durchaus
günstige bezeichnet werden. Von 20 Fällen mit Darmnaht
heilten 10 per primam, 6 mal kam es zu einer vorübergehenden
Kotfistel, die sich spontan oder infolge einer Nachoperation
wieder schloss, in 4 Fällen wurden die Kranken mit einer
kleinen Fistel entlassen. Wenn nun eine derartige Fistel für
den Kranken auch mancherlei Unbequemlichkeiten mit sich
bringt, so müssen diese doch gering bewertet werden gegen¬
über jenen, die mit der völligen Einbusse des Schliessmuskels
verbunden sind.
Will man sich ein richtiges Urteil über den Erfolg der Be¬
mühungen zur Wiederherstellung einer normalen Kontinenz
bilden, so ist es erforderlich, diejenigen Modifikationen, welche
als Ersatz der umständlichen und nicht selten versagenden
Darmnaht angegeben worden sind, einer besonderen Be¬
trachtung zu unterziehen. An erster Stelle verdient hier das
H o cli e n e g g sehe Durchziehungsverfahren unsere
Beachtung, bei welchem bekanntlich der Mastdarmstumpf
durch den von der Schleimhaut entblössten Analteil hindurch¬
geführt und an der äusseren Haut angeheftet wird. Wir haben
von diesem Verfahren in 8 Fällen Gebrauch gemacht und
können es wegen seiner Einfachheit und Bequemlichkeit durch¬
aus empfehlen. Indes eignet es sich nur für diejenigen Fälle,
wo die Neubildung dicht oberhalb des Sphinkters sitzt und das
obere Darmende ohne allzu starke Spannung durch den
Muskelring hindurchgezogen werden kann. Für diese Fälle
ziehen wir diese Methode der gewöhnlichen zirkulären Darm¬
naht vor. Der muskuläre Verschluss ist meist ein befriedigen¬
der, allein es ist nicht zu leugnen, dass die Kontinenz für Darm¬
gase und dünnen Stuhl bisweilen unsicher ist, weshalb das Ver¬
fahren gegenüber der typischen Resektion mit zirkulärer Naht
immerhin zurücksteht.
Von weiteren Modifikationen ist das Hochenegg sehe
Invaginationsverfahren zu nennen, über das mir allerdings
eigene Erfahrungen nicht zu Gebote stehen; soviel man indes
aus der Literatur zu ersehen vermag, hat es sich nicht bewährt
und ist wieder aufgegeben worden. Noch weniger günstiges
lässt sich von der Benutzung des Murphy sehen Knopfes oder
ähnlicher Hilfsmittel zur Vereinigung der Darmenden berichten,
die ja begreiflicher Weise gerade am Rektum versagen müssen,
da dieses der serösen, leicht verklebenden Flächen entbehrt.
Auch die Bestrebungen, einen Ersatz für den verlorenen
Schliessmuskel zu schaffen, haben nur bescheidene Erfolge ge-
>») Vergl. Sammlung klinischer Vorträge, 183 und 184, 1897.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1507
zeitigt. So vermag die Drehung des Darms nach Gersuny
keineswegs einen Afterverschluss zu bewirken, der mit dem
physiologischen in Vergleich gesetzt werden könnte. Aller¬
dings findet man in Krankheitsberichten häufig die Angabe,
dass die Patienten nach einer derartigen Operation gute Kon¬
tinenz aufwiesen. Allein hier kann doch nur von relativer Kon¬
tinenz für festen Stuhl die Rede sein, wie wir dies auch bei
Anlegung eines gewöhnlichen Anus perinealis oder sacralis
häufiger beobachten und zwar in Fällen, wo die Kranken eine
geregelte Verdauung haben. Ist dies aber nicht der Fall und
besteht Neigung zu Durchfällen, so befinden sich die Kranken
in einer sehr üblen Lage, da sie weder dünnen Stuhl noch
Darmgase zurückzuhalten vermögen.
Entspricht nun der Anus glutaealis den Anforderungen
eines physiologischen Afterverschlusses? Nach den Angaben
W i t z e 1 s und seiner Schüler soll ein derartiger widernatür¬
licher After gut funktionieren und sich durch gute Schluss¬
fähigkeit auszeichnen. ,,Die Kranken seien durch denselben
so wenig belästigt, die Darmtätigkeit lasse sich so gut regeln,
dass die meisten imstande seien, ihrer früheren Arbeit wieder
vollkommen nachzugehen.“ Es liegt indes auf der Hand, dass
die anatomischen und physiologischen Verhältnisse dieses
neuen Anus von der Norm doch weit entfernt bleiben, da die
Muskelfasern hier keinen geschlossenen Ring bilden; der
Kranke vermag wohl durch willkürliche Kontraktion der Glu-
täalfasern vorübergehend, auf kurze Dauer, die Darmöffnung
zu komprimieren, einen physiologischen Afterverschluss aber
werden wir nicht erwarten dürfen. In der Tat müssen wir auf
Grund unserer eigenen, allerdings nur geringen Erfahrungen
bestreiten, dass der Anus glutaealis einen befriedigenden Er¬
satz für den normalen After darstelle: in 3 nach W i t z e 1 ope¬
rierten Fällen haben wir einmal, wo Neigung zu Durchfällen
bestand, völlige Inkontinenz, in den beiden anderen Fällen aber
nur relative Kontinenz für festen Stuhl zu verzeichnen gehabt.
Wir sehen demnach, dass die Versuche, auf mehr oder
weniger gekünstelte Art einen den physiologischen Anfor¬
derungen entsprechenden Ersatz für den normalen Afterver¬
schluss zu finden, fehlgeschlagen sind; wir halter uns daher
auch nicht berechtigt, ohne Not den gesunden
Sphinkter zu opfern.
Nun behaupten weiterhin die Chirurgen, welche die grund¬
sätzliche Fortnahme des Schliessmuskels empfehlen, diesesVor-
gehen habe den Vorteil, einfachere und daher günstigere
Wundverhältnisse zu geben und ermögliche gleichzeitig eine
radikalere Beseitigung der Neubildung. Was zunächst den
letzteren Punkt betrifft, so ist nicht recht einzusehen, warum
man nicht instande sein soll, von dem kranken Darm ein be¬
liebig grosses Stück wegzunehmen, einerlei, ob man nun den
Schliessmuskel fortschneidet oder zurücklässt. Man darf sich
natürlich nicht verleiten lassen, beim Sitz der Erkrankung in
der Nähe des Sphinkters, in dem Bestreben, diesen zu schonen,
nun zu weit zu gehen und schliesslich krankes Gewebe zurück¬
zulassen.
Etwas anders liegen die Verhältnisse, wenn es sich um
weit vorgeschrittene Fälle handelt, wo eine Dauerheilung kaum
noch erwartet werden darf, wo also die Operation nur eine
palliative Bedeutung hat. Hier ist man wohl berechtigt, die
Amputation vorzuziehen, weil sie die einfachere und rascher
zur Heilung führende Operation ist, bei welcher es dem
Kranken möglich ist, schon nach verhältnismässig kurzem
Krankenlager das Bett zu verlassen.
Dass man in der Tat auch durch die Resektion des
Mastdarms gute Dauerresultate zu erzielen vermag,
dürfte aus unserer Statistik hervorgehen. Von im ganzen 60
Radikaloperationen sind 17 länger wie 3 Jahre ohne Rezidiv
geblieben, wir haben also im ganzen 28,33 P r o z. dauernd
Geheilte zu verzeichnen. Diese verteilen sich nun auf
8 Amputationen und 9 Resektionen. Unter den Resek¬
tionsfällen befindet sich ein Kranker, bei dem die Heilung fast
15 Jahre andauert, ferner ein Fall von 9 jähriger Dauer, 3 Fälle
von 7 jähriger Dauer usw.
Dass die Wundverhältnisse bei der Amputation sich we¬
sentlich einfacher gestalten wie bei der Resektion, ist nicht zu
bestreiten. Bei letzterem Eingriff muss der Darm eröffnet
werden und zwar häufig schon in einem frühen Abschnitt der
Operation, wodurch natürlich die Gefahr der Wundinfektion
steigt. Ebenso besteht bei der Resektion die Möglichkeit der
Kotphlegmone bei vorzeitigem Stuhlgang, wenn die Naht
undicht wird. Indes lässt sich beiden Gefahren durch ent¬
sprechendes Vorgehen mit einem hohen Grad von Sicherheit
begegnen, und es gelingt, wie die Resultate von K r a s k e,
Höchen egg usw. und die der Giessener Klinik beweisen,
die Sterblichkeit des Eingriffs auf einen sehr geringen Prozent¬
satz herabzudrücken. Aus unseren Darlegungen ergibt sich
demnach, dass wir keinen Anlass zu einer grundsätzlichen Be¬
vorzugung der Amputation gegenüber der Resektion haben;
wir sehen uns im Gegenteil genötigt, die Vorschläge derjenigen
Chirurgen, welche eine Besserung der Resultate auf Kosten der
Funktion herbeiführen wollen, zu verwerfen. Wenn man be¬
denkt, wie ausserordentlich wichtig für das Wohlbefinden
unserer Operierten eine sichere Kontinenz ist, nach deren
Verlust die ungetrübte Freude am Leben und am Beruf kaum
mehr aufkommen kann, so haben wir auch die Pflicht, bei der
Wahl des Operationsverfahrens vor allem auf die Erzielung
einer normalen Sphinkterfunktion bedacht zu sein. Der sicherste
Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist nach unseren persön¬
lichen Erfahrungen, die Resektion mit nachfolgender zirkulärer
Darnmaht nach K raske und zwar ohne Spaltung des Sphink¬
ters, während die übrigen mehr oder minder gekünstelten Me¬
thoden im Erfolg viel zweifelhafter sind. Je gründlicher wir
die Vorbereitungsknr durchführen, je schonender und vor¬
sichtiger wir die Trennung der Gewebe vornehmen, desto
häufiger werden wir die Freude haben, einen vollen Erfolg zu
erzielen und unsere Kranken wieder zu glücklichen Menschen
zu machen, die sich dem Gefühl der wiedererlangten Genesung
ganz und ohne Einschränkung hingeben dürfen.
Aus der medizinischen Klinik in Breslau (Direktor: Geheimrat
Prof. Dr. v. S t r ii m p e 1 1).
lieber proteolytische Fermentwirkungen der Leuko¬
zyten-* *)
Zweite Mitteilung.
Von Dr. Eduard Müller und Dr. Georg Jochman n,
Privatdozenten an der Universität.
In unserer ersten Mitteilung findet sich die Angabe, dass
Blut von myelogener Leukämie das Löfflerserum bei 50°
prompt verdaut, bei Körpertemperatur hingegen nicht. Aus
der Tatsache, dass aber auch eine Verdauung bei Körper¬
temperatur durch vorangehendes Erwärmen des Blutes —
etwa auf 55 0 — künstlich hervorgerufen werden kann,
schlossen wir, dass die Fermentwirkung erst durch das rasche
Absterben der gelapptkernigen Leukozyten, bezw. der Myelo¬
zyten im Gefolge der höheren Temperatur ausgelöst wird oder
dass sich in dem Ungeschädigten Blut bei 37 0 hemmende Ein¬
flüsse geltend machen. Gelegentlich einer Diskussion über
dieses Thema warf nun R. Stern1) die Frage auf, ob unser
Befund nicht durch das Vorhandensein von Plasma¬
hemmungen, die bei 55 0 vielleicht ihre Wirksamkeit ver¬
lieren, zu erklären sei. Dadurch angeregt, stellten wir eine
Reihe von Versuchen an, die zu folgenden Ergebnissen
führten.
Gewinnt man durch Zentrifugieren des mit Hirudin ver¬
setzten Blutes von myelogen erLeukämie einen Leuko¬
zytenbrei, so gelingt es leicht, denselben mit dem gleichzeitig
isolierten Plasma zu verdünnen und durch Vergleich mit
anderen Zusätzen, z. B. mit physiologischer Kochsalzlösung
etwaige Hemmungen der Fermentwirkung zu studieren. Dies
gelingt um so leichter, als unser Verfahren sich auch zur an¬
nähernden quantitativen Messung der Ferment¬
wirkung eignet, wenn man das zeitliche Einsetzen sowie
Grösse und Tiefe der Dellenbildung berücksichtigt. Wir gingen
*) Diese Wochenschr. 1906, No. 29.
*) R. Stern: Demonstration in der schles. Gesellsch. f. vater¬
ländische Kultur, 29. Juni 1906, und Eduard Müller: Diskussions¬
bemerkungen hierzu. Allgem. med. Zentralztg. 1906 (vergl. den
Nachtrag am Schluss).
1*
15U8
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
dabei so vor, dass wir mit Hilfe einer Platinöse abgezählte
Tröpfchen des Lenkozytenbreies auf ein Uhrschälchen brach¬
ten lind ösenweise Plasma, physiologische Kochsalzlösung
u. dergl. hinzusetzten. Es stellte sich zunächst heraus, dass
zwar mit zunehmender Verdünnung der Leukozyten durch
physiologische Kochsalzlösung die Verdauungskraft in der Zeit¬
einheit allmählich abnahm, eine deutliche Dellenbildung auf
dem Löfflerserum aber immerhin noch bei Verreibungen mit
der 64 fachen Menge nach Ablauf von 2—3 Tagen nachweisbar
war. In schroffem Gegensatz dazu trat bei Verdünnungen des
Leukozytenbreies mit Leukämieplasma eine scharf
ausgesprochene Hemmung der Fermentwir-
k u n g ein. Schon bei der Mischung gleicher Mengen Leuko¬
zytenbrei und Plasma blieb einige Male jede Verdauung auf
der Löfflerplatte aus. Eine deutliche Dellenbildung fehlte aber
stets völlig bei Verdünnungen um das 3, 10 und 20 fache. Die¬
selbe Hemmung durch Leukämieplasma beobachteten wir auch
bei den durch Abzentrifugieren gewonnenen Leukozyten
des normalen menschlichen Blutes und bei
frischem menschlichen Kokkeneiter. Während z. B.
Eurunkeleiter bei Verdünnungen mit physiologischer Kochsalz¬
lösung von 1 : 84 das Löfflerserum noch deutlich verdaut, trat
schon bei Vermengung von Eitertröpfchen mit der zehnfachen
Dosis Leukämieplasma eine völlige Aufhebung der
Fermentwirkung ein. Diesen hemmenden Einfluss des
Leukämieplasmas besitzt auch das Serum des leukämi¬
schen Blutes; jedenfalls haben wir grobe Unterschiede
in dieser Hinsicht nicht feststellen können. Gleiche Eigen¬
schaften haben ferner Plasma und Serum des nor¬
malen menschlichen Blutes, wenn auch, wie es nach
unseren vergleichenden Versuchen scheint, in etwas geringerem
Grade. Selbst das Blutserum von Kaninchen und
Meerschweinchen übt eine deutliche Hemmung aus ;
sie steht jedoch hinter der Wirkung des normalen und vor
allem hinter derjenigen des leukämischen Serums deutlich
zurück. Wir bemerken noch, dass Plasma und Serum die Ver¬
dauung des Löfflerserums nicht nur durch die gelapptkernigen
Leukozyten, sondern auch durch das roteKnochenmark,
das als die Ursprungsstelle dieser Zellformen zu betrachten
ist, in gleicher Weise abschwächen bezw. aufheben.
Durch die Gesamtheit dieser Versuche erscheint uns u. a.
mit Sicherheit festgestellt, dass die Leukozyten des
normalen und leukämischen menschlichen
Blutes und dementsprechend auch frischer
m enschlicher Eiter, sowie rotes Knochen¬
mark schon durch Zusatz geringer Mengen
von Blutplasma oder Blutserum auch bei 50
bis 55° ihre Verdauungskraft verlieren, ob¬
wohl sie bei dieser Temperatur trotz hoher
Verdünnungen mit physiologischer Koch¬
salzlösung noch eine erhebliche Ferment¬
wirkung entfalten: Dies beweist, dass der oben er¬
wähnte Versuch, die rasche und ausgiebige Fermentwirkung
der Leukozyten bei 50 0 im Gegensatz zu der bei Körpertem¬
peratur fehlenden Verdauung des Löfflerserums durch den
Ausfall von Plasmahemmungen zu erklären, nicht befriedigen
kann. Wir müssen deshalb die prompte Verdauung durch
weisse Blutkörperchen bei 50 0 in erster Linie auf das durch die
hohe Temperatur verursachte Absterben der Leuko¬
zyten und auf das damit einhergehende Freiwerden
des proteolytischen Ferments zurückführen. Es
ist aber zweifellos richtig, dass Plasma und Serum bei noch
höherer Temperatur ihren hemmenden Einfluss allmählich ver¬
lieren müssen. Falls nämlich das Löfflerserum, das zur Her¬
stellung der Platten mehrere Stunden lang auf 90 0 erhitzt
wurde, dabei seine Hemmungswirkung behielte, müsste ja eine
prompte Verdauung durch Leukozyten, Eiter und Knochen¬
mark ausbleiben. Der Rückschluss, dass diese „Hemmung“
an Körper gebunden sein muss, die sich bei starkem Erhitzen
verändern, ist um so mehr erlaubt, weil die gleichen Erschei¬
nungen auch auf erstarrtem menschlichen Blutserum,
bezw. auf erstarrtem menschlichen Aszites zu beobachten sind.
Im Gegensatz zu Blutplasma und Blutserum können wir
den Erythrozyten einen hemmenden Einfluss auf die Fer¬
mentwirkung der gelapptkernigen Leukozyten bezw. Myelo¬
zyten nicht zuschreiben. Die Lymphozyten vermögen
allerdings nach unseren Versuchen mit Zusatz von Ljmph-
drüsenbrei zu Leukozyten eine hemmende Wirkung auszuüben,
die jedoch lange nicht an diejenige des Plasmas heranreicht.
Dass anorganischen Körpern, besonders in
dünnen Lösungen, eine erhebliche verdauungshemmende oder
-beschleunigende Wirkung zukommt, konnten wir bisher
nicht nachweisen. Wir haben jedenfalls beim Ver¬
reiben von Leukozytenbrei mit 1U prozentiger Essigsäure,
Vk. Normalsalzsäure, 1 prom. Natr.-carbon. -Lösung, Vio Nor-
malnatronlauge ■'), konzentrierter Kochsalzlösung nichts Der¬
artiges beobachten können. Auch hatte die verschiedene Re¬
aktion des Löfflerserums (schwachsauer, neutral, schwach
alkalisch) keinen grossen Einfluss, wenn auch das proteo¬
lytische Ferment einen schwach alkalischen bezw.
neutralen Nährboden etwas besser als einen schwach
sauren anzugreifen scheint. Uebrigens trat, was für das
etwaige Vorkommen eines peptischen Fermentes wichtig ist —
bei der Aussaat verschiedener Blutarten auf salzsaurem Löff¬
lerserum ebenfalls nur bei der myelogenen Leukämie eine
Dellenbildung ein, die freilich etwas geringer war als bei
alkalischer bezw. neutraler Reaktion. Wir können danach mit
Sicherheit sagen, dass die verdauende Wirkung der Leuko¬
zyten vorwiegend durch ein tryptisches Ferment bedingt
ist. Die Frage, ob ausserdem ein peptisches Ferment eine
mehr untergeordnete Rolle spielt, müssen wir vorerst noch
offen lassen. Hinzugefügt sei noch, dass die Verwendung eines
schwach salzsauren Nährbodens zu Verdauungsproben auch
deshalb unzweckmässig ist, weil derselbe leichter eintrocknet
und am Orte der Dellenbildung störende Sprünge bekommt.
Eine gesonderte Besprechung verdienen unsere Versuche
mit Jodzusatz zu Nährböden einerseits und zu den ver¬
dauenden Leukozyten andererseits. Fügt man zu 30 ccm des
Löfflerserums vor seiner Erstarrung 1/ioo — 1 ccm Lugolsche
Lösung, so macht sich bei der Verdauung durch Leukozyten
oder Eiter weder eine Hemmung noch eine Be¬
schleunigung geltend. Dasselbe gilt (im Vergleich zu
physiologischer Kochsalzlösung) für die Untersuchung von
Leukozyten und Eitertröpfchen, die mit L u g o 1 scher Lösung
zu gleichen Teilen oder selbst mit der 10 fachen Menge ver¬
mischt auf gewöhnliches Löfflerserum gebracht wurden. Diese
Tatsachen erklären das Verhalten des Eiters tuberkulöser Her¬
kunft auf der Löfflerplatte. Wie wir schon in unserer ersten
Mitteilung andeuteten und wie durch mehrfache weitere Unter¬
suchungen bestätigt wurde, fehltbei der Aussaat „un¬
behandelte n“ tuberkulösen Eiters auf Löff¬
le r s e r u m sowie beim Stehenlassen desselben im Reagens¬
glas bei 50° jegliche für das Auge erkennbare
Verdauung. Ist jedoch der tuberkulöse Pro¬
zess, dem der Eiter entstammte, vorher mit
Jodoform behandelt worden, so pflegt an¬
scheinend eine starke Fermentwirkung der
ausgesäten Eitertröpfchen auf der Löff¬
lerplatte ein zu trete n. Es ist also nach Vor¬
hergesagtem klar, dass das Auftreten der Verdauungs¬
wirkung nicht abhängt von einer direkten, etwa che¬
mischen Beeinflussung der Fermentwirkung durch das Jodo¬
form, sondern von einer indirekten Einwirkung, d. h. von der
dadurch bedingten Zuwanderung polynukleärer
Leukozyten. Wir müssen uns also die Heilwirkung der
Jodoform-Glyzerin-Behandlung tuberkulös-eitriger Prozesse
wohl in der Hauptsache so vorstellen, dass sie eine Einwande¬
rung zahlreicher Fermentträger (gelapptkerniger weisser Blut¬
körperchen) hervorruft, zu lebhaften Verdauungsvorgängen
von Eiweisskörpern im tuberkulösen Eiter Anlass gibt und sie
dadurch der Resorption zugänglich macht.
Abgesehen von solchen theoretischen Gesichtspunkten be¬
ansprucht unser Nachweis, dass dem Eiter aus unbehandelten
rein tuberkulösen Prozessen eine Fermentwirkung auf der
Löfflerplatte bei 50 0 nicht zukommt, für die Differential-
diagnose zwischen rein tuberkulösen und
anderen Eiterungen ein nicht unerhebliches praktisches
2) Konzentriertere, z. B. 10 proz. Natronlauge empfiehlt sich
nicht, weil sie an sich allein schon zur Dellenbildung und damit zu
Täuschungen führen kann.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1509
Interesse. Wir haben jedenfalls unter unseren sehr zahlreichen
bisherigen Eiteruntersuchungen eine fehlende Fermentwirkung
auf der Löfflerplatte nur bei Eiterproben aus nicht mit Jodo¬
form behandelten tuberkulösen Prozessen beobachtet.
Noch eine andere Frage von praktischer Bedeutung war
durch unser Verfahren mit hinreichender Sicherheit zu ent¬
scheiden. Trotz verschiedentlichen Widerspruchs wurde bis¬
her fast allgemein angenommen, dass die günstige Beein¬
flussung der myelogenen Leukämie durch Röntgen-
s t r a h 1 e n auf eine Zerstörung der im Blute kreisenden Leuko¬
zyten zurückzuführen ist. Arneth, Klieneberger u. a.
dagegen erklären das Absinken der Leukozytenwerte auf
Grund des Blutbildes und chemischer Untersuchungen durch
eine Veränderung in der Leukozytenproduktion. Unsere Ex¬
perimente machen es nun, wie wir schon früher berichteten,
äusserst wahrscheinlich, dass das proteolytische Ferment der
Leukozyten erst durch den Untergang bezw. durch eine Schädi¬
gung der Fermentträger frei und dadurch auf der Löfflerplatte
wirksam wird. Dies ging daraus hervor, dass ungeschädigte
Leukozyten von normalem und leukämischem menschlichen
Blute bei Körpertemperatur auf Löfflerserum keine Verdäuung
verursachen, während schwer geschädigte weisse Blutzellen
(z. B. nach vorübergehender Erwärmung auf 55 °) eine prompte
Fermentwirkung auch bei Körpertemperatur entfalten. Wenn
tatsächlich die Röntgentherapie zu einer erheblichen Schädi¬
gung oder gar zur Zerstörung der im Blute kreisenden Leuko¬
zyten führen würde, so müsste das bei folgender Versuchs¬
anordnung zum Ausdruck kommen :
Um auf derselben Löfflerplatte gleichzeitig verschiedenes
Material ohne Gefahr einer Verwechslung untersuchen zu
können, teilt man zweckmässig die Oberfläche des erstarrten
Serums mit Tintenstrichen in einzelne Sektoren, die mit Num¬
mern versehen werden. Auf diese Weise wurden abzentri¬
fugierte Leukozyten aus normalem und leukämischem Blute
und schliesslich einzelne Tröpfchen leukämischen Blutes zu
gleicher Zeit auf das Serum gebracht. Von 4 derartig beschick¬
ten Platten dienten 2 als Kontrolle, während die anderen beiden
über 1 Stunde lang (ohne Glasdeckel, in etwa 40 cm Röhren¬
abstand) der Bestrahlung durch unsere therapeutische
Röntgenröhre ausgesetzt wurden. Je eine der bestrahl¬
ten und unbestrahlten Platten kam wiederum zur selben Stunde
in den Thermostaten von 37 0 und in den von 50 °. Das Er¬
gebnis war, dass auch nach 24 Stunden nicht der
geringste Unterschied zwischen bestrahl¬
ten und unbestrahlten Platten bestand.
Während auf den bei 50 0 gehaltenen Platten eine vollkommen
gleichmässige Verdauung zu erkennen war, fehlte jede An¬
deutung einer Fermentwirkung auf den beiden anderen. Die
mit Röntgenstrahlen „behandelten“ weissen Blutzellen be-
sassen also bei 37° keinerlei Verdauungskraft, ein Zeichen
dafür, dass von einer erheblichen Schädigung oder gar von
einer Abtötung der gelapptkernigen Leukozyten durch die
Röntgenstrahlen nicht die Rede sein kann. Es ist dies um so
bemerkenswerter, als die Voraussetzung für eine Leukozyten¬
schädigung bei unserer Versuchsanordnung weitaus günstiger
war als bei der therapeutischen Bestrahlung von Leukämie¬
kranken, wo erstens die Leukozyten im Gegensatz zu den auf
der Löfflerplatte fixierten Häufchen im Blute kreisen und wo
zweitens die übliche Bestrahlungsdauer eine geringere ist.
Wir kommen also zu der auch von anderen Autoren
schon vertretenen Anschauung, dass bei der Rönt¬
gentherapie der myelogenen Leukämie eine
erhebliche Schädigung oder gar Zerstörung
im Blute kreisender Leukozyten kaum statt-
findet, dass also vermutlich der günstige Einfluss der Bestrah¬
lung auf das Absinken der Leukozytenwerte durch die Ein¬
schränkung der Leukozytenproduktion bedingt
wird.
Es erübrigt noch die Besprechung eines weiteren äusserst
merkwürdigen und interessanten Befundes. Da die zu unseren
Untersuchungen notwendige Beschaffung genügender Mengen
menschlicher Leukozyten bisweilen Schwierigkeiten machte,
so suchten wir Ersatz im tierischen Blute. Auf Grund der
Erfahrungen an früheren Versuchen 3) spritzten wir Meer¬
3) Joch mann: Versuche zur Serodiasnostik und Serotherapie
der Genickstarre. Deutsch, med. Wochenschr. 1906, No. 20.
schweinchen 2 ccm steriler 2 proz. nukleinsaurer Natronlösung
unter die Rückenhaut und gleichzeitig 20 ccm im Dampftopf
sterilisierter Bouillon in die Bauchhöhle und gewannen so nach
8 Stunden ein ungemein leukozytenreiches peritoneales Ex¬
sudat. Daraus lassen sich die Leukozyten durch Abzentri¬
fugieren leicht isolieren. Brachten wir die so ge¬
wonnenen Meerschweinchenleukozyten, die
sich bei der mikroskopischen Untersuchung
inderHauptsachealsgelapptkernigeerwiesen,
in der üblichen Weise auf das Löfflerserum,
so zeigte sich die ungemein auffallende Er¬
scheinung, dassdieselbenauchnach mehreren
Tagen nichtdiegeringste proteolytischeWir-
kung ausübten und zwar weder bei Körper¬
temperatur noch bei 50°. Mehrfache Wiederholung
dieses Versuches ergab stets dasselbe negative Resultat. Da¬
mit stand in Einklang die Tatsache, dass auchKnochen-
mark und Milz des Meerschweinchens in wieder¬
holten Prüfungen das Löfflerserum nicht ver¬
dauten. Genau die gleichen Verhältnisse wie beim Meer¬
schweinchen waren auch beim Kaninchen mit Sicherheit
festzustellen. Es kann also kein Zweifel mehr darüber be¬
stehen, dass die gelapptkernigen Leukozyten des Meerschwein¬
chens und Kaninchens durch das Ausbleiben einer proteo¬
lytischen Fermentwirkung sich bei unserer Methode in bio¬
logischer Hinsicht scharf von den polynukleären weissen Blut¬
körperchen des Menschen unterscheiden.
Eine Fehlerquelle konnte zunächst freilich in der Möglich¬
keit liegen, dass die gelapptkernigen Leukozyten dieser Tiere
nicht auf dem von uns meist benutzten Rinderblutserum, wohl
aber auf dem erstarrten Serum der gleichen Tierart eine pro¬
teolytische Wirkung besitzen. Dies trifft jedoch nicht zu.
Kanin chen-undMeerschweinchenleukozyten
verdauen weder Menschenblut- und Rinder¬
blutserum, noch das erstarrte Serum von Ka¬
ninchen und Meerschweinchen. Dagegen konnten
wir sicherstellen, dass menschliche Leukozyten
nicht nur das eigene Serum und das Rinder¬
serum, sondern auch dasjenige von Kaninchen
und Meerschweinchen prompt verdauen.
Als zweite Fehlerquelle kam die Möglichkeit irgendwelcher
besonderer Hemmungen in Betracht, die die Wirkung eines
etwaigen Fermentes der Meerschweinchen- und Kaninchen¬
leukozyten bei unserer Methode aufheben. Es gelang uns
jedoch nicht, etwas derartiges nachzuweisen. Weder beim
Arbeiten mit völlig reinen Leukozyten noch bei den verschie¬
densten Verdünnungsversuchen sahen wir auch nur eine An¬
deutung von Dellenbildung auf den verschiedenen erstarrten
Seris. Zudem konnten wir bereits oben erwähnen, dass Ka¬
ninchen- bezw. Meerschweinchenserum gegenüber mensch¬
lichem Eiter und menschlichen Leukozyten geringere hem¬
mende Eigenschaften entfaltet als menschliches Serum.
Für die Richtigkeit unserer Beobachtung, dass die gelappt¬
kernigen Leukozyten des Meerschweinchens und Kaninchens
im Gegensatz zu denen des Menschen kein proteolytisches
Ferment enthalten, spricht endlich die Tatsache, dass auch das
rote Knochenmark (die Ursprungsquelle dieser Zellform), und
ferner auch die Milz dieser Tiere — wiederum im Gegensatz
zum Menschen — keine erkennbare Verdauungswirkung be¬
sitzen. Das Pankreas jedoch und im geringen Grade auch
die Leber dieser Nager verdaut in gleicher Weise wie beim
Menschen das Löfflerserum.
Die Frage, ob der beschriebene schroffe Unterschied zwi¬
schen den Leukozyten des Menschen einerseits und denjenigen
des Kaninchens und Meerschweinchens andererseits auf einem
Gegensatz zwischen Omnivoren und Pflanzenfressern oder
zwischen höheren und niederen Säugetieren beruht, wird uns
in einer weiteren Mitteilung beschäftigen. Dort ist auch eine
Reihe allgemeiner pathologisch-pl^siologischer Gesichtspunkte
genauer zu erörtern, die sich aus unseren Versuchen ergeben.
So scheint es uns z. B. im Hinblick auf den immer noch un¬
entschiedenen Streit über die Beziehungen der einzelnen Leu¬
kozytenformen zu einander selr bedeutsam, dass wir mit Hilfe
unserer Methode zwischen Lymphozyten und gelapptkernigen
Leukozyten bezw. Myelozyten ein scharf unterschei-
(
15 1 U
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
den des biologisches Merk m a 1 sicherstellen konnten.
Dass wir aus diesem Grunde mehr zu der bekannten Ehr¬
lich sehen Anschauung von der prinzipiellen, auch histo-
genetischen Verschiedenheit dieser beiden Zellformen hin¬
neigen, ist um so verständlicher, als solche biologische Unter¬
schiede vielleicht schwerer wiegen als färberische.
(Nachtrag bei der Korrektur s. S. 1552.)
Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig (Direktor: Geheimrat
Professor Dr. Curschma n n).
Ueber zwei Fälle von zerebraler Hemiplegie im
Kindesalter.
Von Dr. med. Heinrich Wiehern, Assistent der Klinik.
im Laufe der letzten Jahre kamen in unserer Klinik die
beiden folgenden Fälle von halbseitiger zerebraler Kinder¬
lähmung zur Beobachtung. Die Gelegenheit, diese nicht ge¬
rade häufige Erkrankung des Kindesalters in ihrem ganzen
Verlaufe zu beobachten, bietet sich nur selten, und deshalb
erscheint die Veröffentlichung der beiden Fälle gerechtfertigt.
Fall 1. 2 Jahre 6 Monate alter Knabe aus gesunder Familie,
bisher stets gesund gewesen, leidet seit 27. September 1901 an Hals-
schmerzen und Schluckbeschwerden.
Am 1. Oktober wird er ins Krankenhaus gebracht, wo folgender
Status aufgenommen wird:
Gut entwickelter Knabe von 12,4 kg Körpergewicht. Das Gesicht
und die Haut des übrigen Körpers ist leicht gedunsen, an den unteren
Extremitäten besteht deutliches Oedem. Das Sensorium ist nicht
benommen, aber der Kranke ist sehr apathisch. Körpertemperatur
(Achselhöhle) 38,5°. Zeitweilig Anfälle von Krupphusten.
Auf beiden Tonsillen, die leicht geschwollen sind, zusammen¬
hängender festhaftender, weisslicher Belag, der sich auch auf die
Gaumenbögen und Uvula erstreckt. Bei mikroskopischer und bak¬
teriologischer Untersuchung finden sich in den Membranen reichlich
Diphtheriebazillen.
Herz nicht verbreitert, Töne rein. Puls sehr klein, wenig ge¬
spannt, 140 Schläge in der Minute.
Ueber den Lungen und am Abdomen nichts Pathologisches nach¬
weisbar, ebenso am Nervensystem.
Der Urin ist stark vermindert, sehr konzentriert, enthält reichlich
(etwa 14 Prom.) Eiweiss. Mikroskopisch finden sich reichliche hya¬
line und granulierte Zylinder, aber kein Blut.
Verordnung: Injektion von Behrings Heilserum No. III, Eis¬
schlauch um den Hals.
Verlauf: 2. Oktober: Allgemeinbefinden unverändert, der Be¬
lag auf den Tonsillen und Gaumenbögen hat sich weiter ausgebreitet.
Injektion von Behrings Heilserum No. II, Fol. Digital. 0,025 4 mal
täglich.
5. Oktober: Allgemeinbefinden wesentlich besser; das Kind sitzt
im Bett und spielt. Diurese noch sehr gering. Die Urinmengen konn¬
ten nicht genau bestimmt werden. Der Eiweissgehalt beträgt 11 bis
18 Prom. Noch Anfälle von Krupphusten. Fol. Digital, wie bisher,
ein warmes Bad.
6. Oktober: Belag auf den Tonsillen und Gaumenbögen geringer.
Deutliche Gaumensegellähmung. Die Temperatur, die bisher 37,8°
bis 38,5 0 betrug, sinkt auf 37,3 — 37,5 °.
10. Oktober: Der Knabe hat sich gut erholt; der Belag ist ver¬
schwunden, Tonsillen und Gaumenbögen sind noch etwas gerötet.
Die Diurese ist reichlicher, der Eiweissgehalt des Harns ist auf
% — Vz Prom. herabgesunken. Körpertemperatur 37,0—37,4°, Puls
regelmässig besser gefüllt und gespannt. An Lungen und Herz keine
Veränderungen, Allgemeinbefinden dauernd gut.
11. Oktober (15. Tag nach Beginn der Krankheit): Um 4% Uhr
morgens tritt plötzlich deutliche Parese der rechten Körperhälfte ein.
Der rechte Mundwinkel hängt herab, die rechtsseitigen Extremitäten
werden auf Kneifen der Haut noch etwas bewegt, liegen sonst aber
gestreckt und unbeweglich. Der erste Ast des Fazialis und die Augen¬
bewegungen sind, soweit eine Prüfung möglich ist, frei. Die Periost-
und Sehnenreflexe sind auf der rechten Seite im Vergleich zur linken
deutlich gesteigert. Der Bauchdeckenreflex ist rechts nicht auslös¬
bar, der Fussohlenreflex schwächer, als auf der linken Seite.
Die Körpertemperatur beträgt 37,5°, die Pulsfrequenz 104, die
Atmung ist beschleunigt bis zu 44 Atemzügen in der Minute. An Herz
und Lungen ist nichts Pathologisches festzustellen.
Der Zustand bleibt ziemlich unverändert bis zum Mittag. Um
lVz Uhr mittags erfolgt ganz plötzlich unter den Erscheinungen der
Herzlähmung der Tod.
Klinische Diagnose: Diphtherie, Nephritis parenchyma-
tosa acuta, Hemiparesis dextra.
Das Sektionsprotokoll (vom 12. Oktober, 10 Uhr vor¬
mittags; Obduzent: Dr. K ö n i g e r), das ich der Güte des Herrn
Geheimrat Prof. Dr. Marchand verdanke, lautet:
Dem Alter entsprechend grosse Leiche eines Knaben in gutem
Ernährungszustand. Die Haut zeigt griinweisse Farbe und wenig
Totenflecke. Fettpolster mässig reichlich, Muskulatur von etwas
blasser Farbe. Geringe Totenstarre.
Der Schädel ist mittelgross, längsoval, symmetrisch; seine Obcr-
und Innenfläche ist glatt, die Nähte sind gut erhalten. An ihnen
haftet die innen glatte Dura noch ziemlich fest. Die Pia ist zart, durch¬
scheinend und ziemlich stark ödematös.
Die Arterien der Gehirnbasis zeigen zarte, dünne Wandung. In
den Art. vertebrales und in der Art. basilaris findet sich flüssiges Blut
und etwas weiche Kruormasse.
Die linke Arteria fossa Sylvii zeigt in ihrem Hauptstamm zwei
auffallende Anschwellungen, in deren Bereich das Gefäss von einer
ziemlich festen Masse prall angefüllt erscheint. Beide Anschwellungen
sind ungefähr 7 mm lang, und die obere beginnt 2Vz cm unterhalb des
Abgangs der Arterie von der Carotis interna, während die untere
Anschwellung von der oberen noch um lVz cm entfernt liegt. Bei
der Eröffnung der Arterie zeigt sich, dass in ihrem Lumen an den
erwähnten Anschwellungen je ein länglich-runder, blass-grauroter
Pfropf fest eingekeilt ist. Die Pfropfe sind ungefähr 6 mm lang und
zeigen ganz gleiche Beschaffenheit. Ihre Oberfläche ist deutlich ge¬
rippt und die Konsistenz ziemlich fest, aber brüchig. Eine festere
Verbindung mit der Arterienwand besteht nicht, sondern beide
Pfropfe lösen sich nach dem Aufschneiden des Gefässes leicht heraus.
Nach abwärts schliesst sich im Gefässrohr an die beiden Pfropfe
frische, weiche Kruormasse an.
Die Gehirnwindungen sind gut gewölbt, die Substanz des Ge¬
hirns ist überall gleichmässig fest, mässig blutreich und wenig durch¬
feuchtet. die Hirnventrikel sind nicht erweitert, ihr Ependym ist zart
und glatt.
Die Dura ist auch an der Schädelbasis glatt. Alle Venensinus
enthalten geringe Mengen weichen Gerinnsels.
Zwerchfellstand beiderseits an der 4. Rippe. Die Lungen sinken
bei Eröffnung der Brusthöhle wenig zurück. In beiden Pleuraräumen,
deren Blätter glatt, glänzend und nirgends miteinander verwachsen
sind, findet sich etwas vermehrte ganz klare Flüssigkeit, ebenso im
Herzbeutel.
Das Herz entspricht in seiner Grösse der Faust der Leiche. Der
linke Ventrikel ist vielleicht etwas weiter, als normal. Das linke
Herzohr ist auffallend stark ausgedehnt und zeigt ziemlich feste Kon¬
sistenz. Der linke Vorhof ist mit reichlichen, weichen Kruormassen
angefüllt; bei ihrer Herausnahme wird auch ein Teil eines im linken
Herzohr steckenden, umfangreichen und mit der Kruormasse verklebten
Thrombus losgelöst. Das ganze linke Herzohr ist mit dieser etwa
4cm langen Thrombusmasse angefüllt; ihre Oberfläche ist fein gerippt,
graurötlich gefärbt und ihre Konsistenz ziemlich fest und brüchig.
Der linke Ventrikel, in dem sich nur wenig Speckhautgerinnsel be¬
findet, zeigt sich nach dem Aufschneiden deutlich dilatiert. Die Klap¬
pen des Herzens und der grossen Gefässe sind frei von pathologischen
Veränderungen.
Beide Lungen sind ziemlich voluminös und zeigen in einzelnen
Teilen der Unterlappen etwas festere Konsistenz. Das Parenchym ist
auf dem Durchschnitt blutreich und im allgemeinen weich und luft¬
haltig; doch finden sich überall, und zwar am reichlichsten in den
Unterlappen, kleine, dunkelrote, teilweise auch graurote lobulärpneu¬
monische Infiltrate. Die Bronchien sind im Innern mit etwas ver¬
mehrtem, schleimigen Inhalt bedeckt, ihre Schleimhaut ist wenig ge¬
rötet; die Bronchialdrüsen zeigen keine Schwellung.
Von den Halsorganen weisen die Tonsillen eine sehr geringe Ver-
grösserung auf und sind etwas zerklüftet. Die Schleimhaut des
Rachens ist kaum gerötet und frei von Auflagerungen. Am weichen
Gaumen finden sich mehrere fast linsengrosse, flache Geschwiirchen.
Die Schleimhaut des Oesophagus ist blass und glatt, ebenso die¬
jenige des Kehlkopfs und der Trachea; nur an beiden wahren Stimm¬
bändern finden sich über den Aryknorpeln kleine, flache, längliche
Substanzverluste der Schleimhaut.
In der Bauchhöhle ist wenig klare Flüssigkeit enthalten. Das
Peritoneum der Bauchwand und des Darms ist überall glatt und
glänzend. Die Eingeweide zeigen völlig normalen Situs.
Die Milz ist nicht vergrössert, ihre Oberfläche glatt, die Pulpa
zäh und wenig blutreich; die Follikel sind gross und deutlich erkenn¬
bar,
Leber, Magen, Pankreas, Nebennieren, Harnblase und Genitalien
zeigen keine bemerkenswerten Veränderungen.
Die Mesenterialdrüsen sind stark geschwollen, zeigen auf dem
Durchschnitt graurote Farbe und ziemlich feste Konsistenz.
Im Ileum sind einige Follikel und besonders die Pey er sehen
Plaques gerötet und geschwollen, während die übrige Darmschleim¬
haut blass und glatt ist.
Die Nieren sind von gewöhnlicher Grösse; ihre Kapsel ist leicht
abzuziehen. Die Oberfläche ist glatt, graurot und weist etwas stär¬
kere Füllung der Vena stellatae auf. Die Rinde ist auf dem Durch¬
schnitt graurot und zeigt deutliche Streifung; die Glomeruli sind klein
und blutgefüllt. Die Schleimhaut des Nierenbeckens ist blass, glatt.
Angaben über den mikroskopischen Befund fehlen.
Die pathologisch - anatomische Diagnose lautete :
Diphtheria fere sanata. Ulcera pharyngis et ligamenti glottidis
veri lateris utriusque. Dilatatio ventriculi sinistri cordis. Throm-
bosis auriculae sinistrae cordis. Embolia recens arteriae
fossae Sylvii sinistrae. Pneumonia lobularis duplex. Ente-
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1511
ritis follicularis. Intumescentia glandularum lymphaticarum mesen-
terialiuru.
Fall 2. 5 jähriges Mädchen, hat früher Masern überstanden,
ist sonst gesund gewesen. Eltern und 5 Geschwister bisher gesund;
2 Schwestern leiden seit 8 Tagen an Keuchhusten. Hereditäre Lues
auszuschliessen.
Das Kind hat seit 4 Tagen leichten Husten und wird wegen der
Erkrankung der Schwestern als verdächtig auf Keuchhusten ins
Krankenhaus gebracht.
Bei der Aufnahme am 25. März 1905 wird folgender Status fest¬
gestellt:
Gut entwickeltes Mädchen in mittlerem Ernährungszustand,
macht einen hinfälligen Eindruck. Sensorium leicht benommen. Die
Lippen sind borkig, trocken. Ueber beiden Lungen ausgedehnte
bronchitische Geräusche, jedoch kein Bronchialatmen, auch keine
Schalldämpfung. Die Herzdämpfung ist normal, die Herztätigkeit be¬
schleunigt (bis zu 120 Schlägen in der Minute), aber regelmässig, Herz¬
töne sind rein. An den inneren Organen ist sonst nichts Patho¬
logisches nachweisbar; die Milz ist etwas palpabel. Im Urin findet
sich eine Spur Eiweiss. Körpertemperatur (Achselhöhle) 38,3".
Etwa 2 — 3 Stunden nach der Aufnahme, um 1 Uhr mittags, treten
plötzlich klonische Zuckungen zuerst im Gebiet der beiden unteren
rechten Eazialisäste, dann auch am rechten Arm und Bein auf.
Gleichzeitig völlige Bewusstlosigkeit und heftige Dyspnoe, so dass
die Zahl der Atemzüge etwa 60 — 80 in der Minute erreicht. Puls
sehr frequent und klein. Die Temperatur steigt bald nach Beginn der
Krämpfe auf 41,2°. Die Konvulsionen, die sich auf die rechte Kör¬
perhälfte beschränken, bestehen fast ohne Unterbrechung 5 Stunden.
Nach 4 ständiger Dauer wird die Lumbalpunktion gemacht, die 3 ccm
völlig klarer Flüssigkeit und keine Druckerhöhung im Rückenmarks-
kanal ergibt. Verabreichung von Kampher, Morphium und zwei¬
malige Kochsalzinfusion.
Nach Aufhören der Zuckungen besteht die Bewusstlosigkeit fort;
es wird gleichzeitig eine leichte Verzerrung des Gesichts, die auf
rechtsseitige Fazialisparese deutet, bemerkt. Sonstige Lähmungs¬
erscheinungen sind wegen der Bewusstlosigkeit nicht festzustellen.
Die Temperatur beträgt abends nur noch 37,8°, die Atmungsgeschwin¬
digkeit 44, die Pulsfrequenz etwa 140.
Während der Nacht treten einige Male kurz dauernde heftige
Zuckungen des linken Armes und Beines auf, während völlige Be¬
nommenheit besteht.
26. III. Die Temperatur ist auf 38,9° gestiegen, der Puls sehr be¬
schleunigt, die Atmung etwas ruhiger als am vorhergehenden Abend.
Das Kind ist völlig apathisch, scheint aber nicht mehr ganz be¬
wusstlos zu sein. Die Pupillen sind mittelweit, reagieren träge. Die
beiden unteren Aeste des rechten Fazialis erscheinen leicht paretisch.
Am rechten Arm und Bein ist jetzt deutliche Parese nachweisbar. Die
Patellarreflexe sind beiderseits gesteigert; rechts ist geringer Fuss-
klonus nachweisbar. Die Sensibilität ist offenbar erhalten, doch
reagiert das Kind nur auf starke Schmerzeindrücke. Der Urin wird
grösstenteils unwillkürlich entleert; er enthält etwas Eiweiss und
spärliche granulierte Zylinder.
In den folgenden Tagen hält sich die Körperwärme etwa
auf der Höhe zwischen 37,5° und 38,0° und steigt nur noch am 29. III.
abends auf 38,9°. Puls und Atmung bleiben ziemlich frequent, wie
am 27. III.
Die Kleine liegt dauernd in demselben apathischen Zustande da,
gibt keine Antwort, doch scheint sie zu verstehen. Der Nerven-
status ist unverändert.
Am 31. III. setzen typische Keuchhustenanfälle ein, die mittel¬
schwer und ohne Erbrechen verlaufen. In der ersten Woche treten
18 — 25 Hustenanfälle in 24 Stunden auf, dann sinkt die Zahl all¬
mählich auf 10 herab. Die Temperatur sinkt langsam auf 37,0" und
hält sich auf dieser Höhe. Der Puls bleibt etwas beschleunigt
(120 Schläge), während die Atemfrequenz normal wird.
12. IV. Das Kind ist zum ersten Male etwas lebhafter, spricht
noch nicht, blickt aber den Fragenden an und scheint die Umgebung
zu beobachten. Allmählich hat sich die bei zerebraler Kinderläh¬
mung typische Haltung der rechtsseitigen Extremitäten ausgebildet.
Das rechte Bein wird im Bette etwas mehr, als bisher bewegt. Die
Reflexe verhalten sich wie früher.
19. IV. Der rechte Arm zeigt etwas bessere Beweglichkeit;
die Hand ist noch völlig unbeweglich. Das rechte Bein kann schon
ziemlich gut bewegt werden.
21. IV. Die Kleine lallt einige Worte und singt vor sich hin.
In den folgenden Tagen macht das Sprachvermögen wesentliche
Fortschritte. Vorsichtige Gehversuche zeigen deutlich spastisch-
paretischen Gang des rechten Beines mit Zirkumduktion in der Hüfte.
Die Armbewegungen der rechten Seite zeigen mittleren Umfang und
mässige Kraft. Die Muskeln sind am Schultergürtel, am ganzen Arm
und am Daumenballen auf der rechten Körperhälfte leicht atrophisch.
Elektrische Untersuchung ergibt am rechten Daumenballen mya¬
sthenische Reaktion, am rechten Kleinfingerballen vielleicht etwas
trägere Zuckung, als links, sonst keine Abnormitäten.
Anfang Mai lassen die Keuchhustenanfälle an Zahl bedeu¬
tend nach und treten bald gar nicht mehr auf. Das Kind befindet
sich wohl, nimmt an Körpergewicht zu und zeigt nach Angabe der
Mutter dieselbe Lebhaftigkeit wie früher. Psychische Störungen
sind nicht nachweisbar. Es werden lauwarme Bäder gegeben und
passive Bewegungen und Uebungen der paretischen Glieder vorge¬
nommen.
Am 7. Juli wird das Kind aus dem Krankenhaus entlassen.
Die Sprache ist völlig normal. Beide Gesichtshälften werden an¬
nähernd gleich gut bewegt. Auf der rechten Seite lässt sich noch
immer eine mässige spastische Parese der Extremitäten nachweisen,
der Gang zeigt die für zerebrale Kinderlähmung typische Art, und die
motorischen Reflexe sind noch gesteigert. Mit der rechten Hand
kann das Kind noch nicht gut zugreifen; der zweite und dritte
Finger werden gespreizt gehalten.
Nach der Entlassung hat das Kind noch Monate lang be¬
stimmte passive und aktive Bewegungen mit den befallenen Ex¬
tremitäten vorgenommen.
Als es sich etwa I Jahr nach dem Eintritt der Lähmung wieder
zeigte, war am Gesicht kein Unterschied zwischen beiden Hälften
mehr zu sehen. Der rechte Arm konnte gut bewegt werden, nur
der Zeigefinger wurde noch gestreckt gehalten und konnte etwas
schlechter gekrümmt werden als die anderen Finger. Der rechte
Fuss stand in leichter Spitzfussstellung; der Gang war völlig normal.
Nach Angabe der Eltern hat das Kind sich auch geistig gut ent¬
wickelt. Es war also nach diesem Befund fast völlige Heilung
eingetreten.
Die beiden vorstehenden Fälle weichen von dem all¬
gemeinen Krankheitsbild der halbseitigen zerebralen Kinder¬
lähmung wenig ab. Plötzlich auftretende, stürmische Er¬
scheinungen, wie Krämpfe, Fieber, Erbrechen und Bewusst¬
losigkeit bilden ja gewöhnlich den Anfang. Wenige Stunden
oder Tage später wird eine halbseitige schlaffe Lähmung be¬
merkt, die sehr bald in eine spastische übergeht und nur
allmählich verschwindet. An den befallenen Gliedmassen
bleiben dann fast immer Wachstumshemmungen zurück; häufig
bilden sich auch dauernde Schädigungen des Nervensystems
aus, die in epileptischen Anfällen, choreatischen Zuständen,
Athetose und Intelligenzstörungen zum Ausdruck kommen
können.
Ueber diese schwere Krankheit, die meist ganz gesunde
oder bis dahin nur leicht erkrankte Kinder im Alter von 1 — 4
Jahren befällt, sind seit dem bekannten Vortrage Strüm¬
pells über die Poliencephalitis acuta auf der Naturforscher-
Versammlung zu Magdeburg im Jahre 1884 zahlreiche Beob¬
achtungen veröffentlicht worden; wir besitzen daher eine recht
ausführliche Literatur über die zerebralen Hemiplegien der
Kinder. Von grösseren Sammelarbeiten mögen nur die
Schriften von Gau dar d, Osler, Sachs und Peterson,
Gibotteau, Freud und R i e und vor allem die bekannte
Monographie Freuds in Nothnagels Handbuch erwähnt
werden. Letztere enthält sehr eingehende Literaturangaben,
worauf daher an dieser Stelle verzichtet werden kann.
Eine kurze Durchsicht der bisher bekannt gegebenen Fälle
lässt das vorhin in wenigen Zügen gezeichnete Krankheitsbild
recht vielgestaltig erscheinen. Die Symptome erfahren zu¬
weilen, anstatt plötzlich mit voller Heftigkeit einzusetzen, erst
eine allmähliche Steigerung. Von leichten Allgemeinerschei¬
nungen, wie geringen Kopfschmerzen, gehen sie langsam zu
halb- oder doppelseitigen Konvulsionen und schliesslich zu
völliger Bewusstlosigkeit über. In unserem zweiten Falle trat
bald nach dem Aufhören der Zuckungen die halbseitige Läh¬
mung hervor; manchmal gehen aber auch einige solche An¬
fälle vorüber, ohne motorische Störungen zu hinterlassen, und
erst nach mehreren Attacken bildet sich eine Parese der einen
Körperhälfte aus, die allmählich in völlige Lähmung übergeht.
Diese soll im allgemeinen die rechte Körperhälfte häufiger be¬
fallen, als die linke, was unsere beiden Beobachtungen nur be¬
stätigen könnten. Ebenso entsprach es in unseren Fällen
der Regel, dass eine deutliche Mitbeteiligung der zwei unteren
Fazialisäste festzustellen war. Von den Extremitäten pflegt,
wie bei unserem kleinen Mädchen, der Arm schwerer und
dauernder geschädigt zu sein, als das Bein.
Durch den baldigen Uebergang der schlaffen Lähmung in
eine spastische entsteht die bekannte charakteristische Kon-
trakturstellung der Extremitäten, die auch bei unserem zweiten
Falle ausgebildet war. Bei demselben Kinde fand sich auf der
nicht gelähmten Seite eine Steigerung des Patellarreflexes,
was öfter beobachtet worden ist. Es kann sogar zu einer
gleichzeitigen oder späteren Mitbeteiligung des anderen Beines
an der Lähmung kommen und dann eine Vereinigung von
151^
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
zerebraler Hemiplegie und Paraplegie der Beine vorliegen.
Mit rechtsseitiger Lähmung ist fast immer, wie beim Erwach¬
senen, eine Sprachstörung verbunden, die bei sehr kleinen
Kindern natürlich nicht nachweisbar ist, aber nach längerer
Zeit noch durch auffällig spätes Erlernen der Sprache zum
Ausdruck kommen kann. Bei unserem kleinen Mädchen be¬
stand eine zweifellose motorische Aphasie, die etwa 4 Wochen
unverändert bestehen blieb und dann in wenigen I agen zu¬
rückging. Sensibilitätsstörungen scheinen nicht häufig zu sein,
da die Läsion meist wohl nur die motorischen Bahnen trifft;
vielleicht lag in unserem zweiten Falle eine Herabsetzung des
Schmerzgefühles vor, was mit manchen anderen Berichten
übereinstimmen würde. Als seltenere Begleiterscheinungen
wären noch Augenmuskelstörungen und Hemianopsie zu
nennen, die nur in ätiologischem Zusammenhang mit der Hemi¬
plegie stehen.
Noch grössere Verschiedenheit, als die hier kurz auf¬
gezählten Einzelsymptome, zeigt der weitere Verlauf der halb¬
seitigen infantilen Zerebrallähmung; dabei spielt natürlich die
Verbindung mit anderen Krankheiten eine grosse Rolle. So
erlag in unserem ersten Falle das durch die kaum überwundene
Diphtherie und schwere Nephritis geschwächte Kind sehr bald
der neu hinzutretenden Gehirnläsion. Dagegen überstand das
andere Kind den viel bedrohlicher einsetzenden Insult trotz
seines Keuchhustens gut und darf beinahe als geheilt angesehen
werden. Leider ist ein so glücklicher 'Ausgang selten, wenn
auch Todesfälle nicht gerade häufig sind. Es bleiben aber,
wie schon erwähnt wurde, gewöhnlich Störungen im Wachs¬
tum, leichte Paresen oder geistige Anomalien zurück; ja, es
besteht sogar die Gefahr, dass nach anfänglicher Besserung
und scheinbarer Heilung später doch noch schwere Erschei¬
nungen an den betreffenden Gliedmassen auftreten. So hat
S. Weir-Mitchell 1874 auf den Zusammenhang der halb¬
seitigen Chorea mit früherer Hemiplegie hingewiesen; bald
fand man auch die häufigen Beziehungen zwischen zerebraler
Kinderlähmung und Hemiathetose, und endlich verdanken wir
der Schule Charcots die wichtige Erkenntnis, dass die
Gehirnlähmung von epileptischen Zuständen gefolgt sein kann,
treten diese erst nach Rückgang der Lähmung auf, so kann
oft zunächst an eine genuine Epilepsie gedacht werden.
Das trifft auch auf Fälle zu, bei denen die paralytischen Er¬
scheinungen nur angedeutet sind und gegenüber der voll aus¬
gebildeten Epilepsie in den Hintergrund treten. Solche Be¬
obachtungen bilden dann den Uebergang zu einigen anderen,
deren klinischer Verlauf überhaupt nur eine Epilepsie oder
Hemiathetose erkennen liess, während das bei der Sektion
gefundene pathologisch-anatomische Bild ganz den Befunden
bei zerebraler Kinderlähmung entsprach.
Gerade solche Fälle weisen neben der Mannigfaltigkeit der
klinischen Symptome darauf hin, wie schwer der Begriff der
zerebralen Kinderlähmung abzugrenzen ist. Bisher haben wir
nur die „erworbene“ und halbseitige Form dieser
Erkrankung berücksichtigt und werden uns auch im folgenden
mit Hinblick auf unsere beiden hierhergehörigen Fälle mög¬
lichst darauf beschränken. Alle neueren Arbeiten auf diesem
Gebiet zeigen aber, dass aus anatomischen und pathologischen
Gründen die Herauslösung einer solchen Gruppe aus dem Ge¬
samtbilde noch nicht statthaft ist, wenn sie aus prakti¬
schen Gründen, wie hier, auch einmal geboten sein mag.
Zum Bilde der „infantilen Zerebrallähmung“ gehören vielmehr
neben den extrauterin erworbenen Hemiplegien auch die an¬
geborenen und bei der Geburt entstandenen, ausserdem aber
noch die gesamten diplegischen Formen. Manche sogen,
„erworbenen“ Hemiplegien Hessen sich nämlich später doch
wahrscheinlich auf kongenitale oder durch die Geburt bedingte
Ursachen zurückführen, und das Vorkommen von Mischformen
der halb- und doppelseitigen Lähmungen ist schon erwähnt
worden. Es gelingt uns daher oftmals nicht, diese Gruppen von
einander zu trennen; ja der heutige Stand der Wissenschaft
zwingt uns sogar noch, manche Fälle von Epilepsie, Chorea
oder Atethose ohne Lähmungserscheinungen in die Bezeich¬
nung „infantile Zerebrallähmung“ mit einzuschliessen, wie sich
aus den früheren Erörterungen ergibt. Wir gelangen damit
also schliesslich zu dem paradox erscheinenden Bilde der
„infantilen Zerebrallähmung“ — ohne Lähmung, weil uns eine
bessere und umfassendere Benennung fehlt.
Die Worte „infantile Zerebrallähmung“ bedeuten ja auch
nur ein klinisches Krankheitsbild und berück¬
sichtigen weder die pathologisch-anatomische noch die ätio¬
logische Grundlage. Es ist zwar oft versucht worden, nach
diesen beiden Gesichtspunkten zu bestimmt abgegrenzten
Gruppen zu gelangen. Doch ist es dabei nie geglückt,
dem Kliniker genügende und sichere Merkmale zu ihrer Unter¬
scheidung anzugeben. Dazu reichen eben die bis jetzt gesam¬
melten Erfahrungen noch nicht aus.
Die Zahl der pathologisch-anatomischen Befunde ist näm¬
lich im Gegensatz zum klinischen Material noch sehr gering.
Das gilt besonders von der erworbenen halbseitigen Form
der zerebralen Kinderlähmung, auf die wir dabei wieder näher
eingehen wollen. Bei den ihr zugrunde liegenden anatomischen
Veränderungen muss man zwischen den Initialläsionen und den
später daraus hervorgehenden Befunden unterscheiden. Letz¬
tere kommen ja im klinischen Krankheitsbilde nicht unmittelbar
zum Ausdruck und sind deshalb für den Kliniker nur verwert¬
bar, wenn jede einzelne stets einer ganz bestimmten ursprüng¬
lichen Schädigung entspricht. Als solche Endveränderungen
kommen Narben- und Zystenbildung, die diffuse lobäre und
partielle atrophische Sklerose, sowie die Porenzephalie in Be¬
tracht. Zahlreiche Untersuchungen an geeigneten Fällen haben
aber ergeben, dass alle Rückschlüsse von solchen späteren Be¬
funden auf die Initialläsionen trügerisch sind. Schon von den
Gehirnen Erwachsener wissen wir, dass Narben und Zysten
als Ueberreste von Erweichungsherden nicht eindeutig sind;
so können auch der nur bei Kindern entstehenden Por¬
enzephalie verschiedene Prozesse traumatischer, vasku¬
lärer und vielleicht auch entzündlicher Art zugrunde liegen.
Die Natur der sklerotischen Veränderungen ist über¬
haupt noch ziemlich unklar und lässt bisher nur unsichere Ver¬
mutungen zu. Es gibt allerdings, wie ein von H e u b n e r be¬
obachteter Fall zeigt, ganz vereinzelte Fälle, bei denen noch
längere Zeit nach Eintritt der Lähmung die eigentliche Ursache
der Gehirnläsion nachweisbar war.
Die sichere Diagnose der Initialläsion gelingt also im all¬
gemeinen nur, wenn die anatomische Untersuchung bald nach
Eintritt der Lähmung vorgenommen werden kann. Die Ge¬
legenheit dazu scheint recht selten zu sein, und die Mitteilung
unseres ersten Falles ist um so mehr berechtigt. Eine Be¬
sprechung der n a c h g e w i e s e n e n Initialläsionen lässt
natürlich keine Schlüsse auf die Häufigkeit der einzelnen
Schädigungen zu, weil es sich stets um schnell tödlich ver¬
laufene Fälle handelt, und die das Leben weniger gefährdenden
Ursachen nur ausnahmsweise frühzeitig der pathologisch¬
anatomischen Untersuchung zugänglich werden.
In unserem tödlich endigenden Falle konnten wir eine
Embolie der Arteria cerebri media feststellen.
Diese Ursache scheint bei den zerebralen Hemiplegien der
Kinder die erste Stelle einzunehmen, und die zu ihrer Entstehung
führenden Thromben stammen fast immer aus dem linken
Herzen. Meist gibt eine frische oder ältere Endokarditis der
Mitralklappen zu ihrer Bildung Veranlassung; in anderen Fällen,
wie auch in unserem, führt die durch eine schwere Infektions¬
krankheit bedingte Herzschwäche zur Entwicklung maran¬
tischer Thromben im linken Ventrikel oder Herzohr. Eine
autochthone Thrombose der Hirnarterie ist dagegen äusserst
selten und als Ursache der halbseitigen zerebralen Kinder¬
lähmung wohl nur bei gleichzeitiger tuberkulöser oder eitriger
Meningitis beobachtet worden.
Auch die Meningitis selbst kann durch stärkere An¬
sammlung des Exsudats an einer Hemisphäre zum Bilde der
zerebralen Hemiplegie führen. In seltenen Fällen treten dann
die Lähmungserscheinungen als erstes Symptom auf, was
für die Differentialdiagnose besondere Beachtung verdient.
Weit häufiger sind Blutungen in die Gehirnsubstanz
als Initialläsion nachgewiesen worden, was bei den elastischen
Arterien des Kindesalters besonders auffallend ist. Abgesehen
von den spärlichen Beobachtungen, bei denen ein Sarkom oder
31. Juli 1906.
MUÜNcHfefoEfc MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1513
Solitärtuberkel zur Arrosion eines Gefässes geführt hatte,
konnte die Entstehung der Blutung gewöhnlich nicht genügend
aufgeklärt werden. Für die Ruptur des Gefässes nehmen daher
viele eine Gelegenheitsursache an. Bei gleichzeitig vor¬
handener Nephritis macht die Drucksteigerung, bei Keuch¬
husten die in den Anfällen auftretende Stauung im Kreislauf
das Zerreissen eines Gefässes leichter erklärlich. Zuweilen
wird allerdings besonders betont, dass die Hustenparoxysmen
nur sehr schwach ausgebildet waren, und auch wir sahen bei
dem Mädchen erst nach Enitritt der Lähmung eigentliche
Keuchhustenanfälle auftreten. Es wird daher im allgemeinen
doch wohl noch irgend eine Schädigung der Gefässwand selbst
für die Entstehung der Blutung vorauszusetzen sein. Darüber
sind aber unsere Kenntnisse noch recht gering. Denn, wenn
auch Gefässveränderungen bei manchen Infektionskrankheiten,
besonders bei der Diphtherie, beschrieben worden sind, so
fehlen doch wohl noch genaue systematische Untersuchungen
über die pathologische Anatomie der Hirnarterien bei Kindern
im Verlaufe solcher Infektionskrankheiten. — Auch damit liesse
sich im günstigen Falle doch nur ein Teil der Blutungen er¬
klären, und für die nicht bei einer infektiösen Erkrankung ent¬
standenen Hämorrhagien müsste nach weiteren Ursachen ge¬
forscht werden. Unter diesen kommen vielleicht die Gefäss¬
veränderungen bei hereditärer Syphilis am meisten in Betracht.
Wenn wir zu dem Gesagten noch hinzufügen, dass in
Ausnahmefällen auch ein maligner Tumor (Sarkom oder Gliom)
selbst zur plötzlichen Entstehung einer zerebralen Hemiplegie
bei Kindern geführt hat, so ist damit die Zahl der wirklich
erwiesenen anatomischen Ursachen für diese Krankheit
erschöpft. Es ist das besonders bemerkenswert, weil die
Encephalitis acuta bisher nicht genannt worden ist. S t r ii m-
p e 1 1 hatte ja gerade diesen entzündlichen Prozess als ge¬
wöhnliche Ursache angenommen und ihn der Poliomyelitis
acuta gleichgestellt, indem er sein ausschliessliches Vor¬
kommen in der Hirnrinde behauptete. Diese letzte Vermutung
hat sich als falsch erwiesen, und wir wissen heutzutage be¬
stimmt, dass die Encephalitis acuta fast ebenso häufig die
weisse Substanz befällt, wie die graue; doch können die Er¬
scheinungen einer Lähmung natürlich nur hervorgerufen
werden, wenn die motorische Zone in Mitleidenschaft gezogen
ist. Beim Erwachsenen ist diese Affektion ja ziemlich oft, be¬
sonders im Verlauf einer Influenza, anatomisch festgestellt
worden. Dagegen gibt es bisher nur wenige gleiche Beob¬
achtungen bei Kindern. Wenn durch diese auch das Vor¬
kommen der akuten Enzephalitis bei Kindern sichergestellt
ist, so hat sie doch bis heute noch in keinem
Falle als Ursache einer halbseitigen Zere-
b.rallähmung nachgewiesen werden können.
Da wir aber manche Fälle klinisch durch vaskuläre Ursachen
nicht befriedigend zu erklären vermögen, so würde die An¬
nahme eines solchen entzündlichen Prozesses die schwierige
Frage nach der Entstehung der kindlichen Zerebrallähmungen
wesentlich erleichtern. Diese Erklärung wäre allerdings nur
für einen Bruchteil aller Fälle zulässig, über dessen Grösse wir
einstweilen völlig im Unklaren sind.
Bei dieser pathologisch-anatomischen Betrachtung haben
wir schon kurz die Aetiologie der erworbenen zerebralen
Hemiplegien gestreift. So haben wir gesehen, dass Infektions¬
krankheiten durch Schädigung des Herzens zu Thromben¬
bildung und damit weiterhin zur Embolie einer Hirnarterie Ver¬
anlassung geben können. Wir haben es ferner als möglich hin¬
gestellt, dass die Infektion zu Veränderungen der Gefässwände
und so zu deren Zerreissung führen kann, zumal wenn durch
besondere Umstände Drucksteigerungen im Blutkreislauf ent¬
stehen. Dass die Infektionskrankheiten in irgend einer Be¬
ziehung zu den zerebralen Hemiplegien der Kinder stehen
müssen, kann wohl kaum bezweifelt werden; denn in min¬
destens einem Drittel aller Fälle tritt die Lähmung während
oder kurz nach einer solchen Erkrankung auf. So lag ja auch
in unserem ersten Falle Diphtherie, im zweiten Keuchhusten
vor. Neben diesen beiden Krankheiten kommen besonders die
akuten Exantheme, wie Scharlach, Masern, Blattern und
Röteln, ferner auch Typhus, Pneumonie, Dysenterie usw. in
No. 31
Betracht. Gerade das auffällige Zusammentreffen mit solchen
ansteckenden Erkrankungen weist uns aber wieder auf einen
infektiös-entzündlichen Prozess hin, wie wir ihn in der akuten
Enzephalitis nach den neueren Untersuchungen doch wohl er¬
blicken müssen. Einige Beobachtungen aus der Kinderpraxis
deuten auch auf die Wahrscheinlichkeit einer infektiösen Natur
der zerebralen Hemiplegie hin. Es ist nämlich das gleich¬
zeitige Auftreten mit der Poliomyelitis acuta zusammen bei
Geschwistern (M ö b i u s u. a.) und sogar ein epidemisches Vor¬
kommen beider (B u c c e 1 1 i) festgestellt worden. Damit dürfte
auch die S t r ii m pell sehe Ansicht von der Identität dieser
Erkrankungen eine wesentliche Stütze erhalten haben.
Wenn es für die zerebrale Kinderlähmung, wie wir nach
obigen Ausführungen wohl vermuten dürfen, wirklich eine
akut-infektiöse Aetiologie gibt, so kann die Encephalitis acuta
wohl durch das Eindringen von Krankheitserregern in die
Hirnsubstanz hervorgerufen werden; daneben scheint es aber,
wie die Befunde an Erwachsenen lehren, möglich zu sein, dass
sie allein durch die Wirkung bakterieller Gifte entstehen
kann. Zu der Annahme, dass eine rein toxische Schädigung
schon genügt, um eine zerebrale Hemiplegie zu erzeugen,
drängt vielleicht der von Jacobson beschriebene Fall, der
bei der Autopsie nur beiderseitige eitrige Otitis media und
Tuberkulose in der Lunge, Leber und Milz, aber gar keine
Veränderungen des Gehirns und seiner Häute ergab. Auch
dürften hier wohl jene merkwürdigen Beobachtungen anzu¬
reihen sein, in denen bei Kindern halbseitige Lähmungen durch
Darmparasiten bedingt gewesen zu sein scheinen (Langer,
S i g a u d).
Wenn wir somit der akut-infektiösen Aetiologie bei der
Entstehung infantiler Zerebrallähmungen eine grosse Be¬
deutung zuerkennen müssen, dürfen wir doch nicht andere
Ursachen unterschätzen. Vor allem ist es sichergestellt und
allgemein zugegeben, dass ein den Schädel treffendes
Trauma bei Kindern zur Hemiplegie führen kann; es ist ja
bekannt, dass diese Aetiologie auch bei den während der
Geburt entstandenen Hemiplegien eine besonders grosse Rolle
spielt.
In neuerer Zeit hat man noch der hereditären
Syphilis als Ursache infantiler Zerebrallähmungen viel¬
fach grössere Beachtung geschenkt. Erlenmeyer glaubt,
dass das Auftreten einer selchen Lähmung nach einer infek¬
tiösen Krankheit vielleicht nur die „Manifestation einer bis
dahin latent gewesenen hereditären Syphilis“ vorstellt. Auch
König, der sich eingehender mit diesen Fragen beschäftigt hat,
räumt der Lues unter den von ihm aufgestellten „ätio¬
logischen Momenten zweifelloser Art“ einen Platz ein. Wie
der Zusammenhang der hereditären Syphilis mit den zere¬
bralen Hemiplegien anatomisch zu denken ist, kann nach den
bisherigen Untersuchungen noch nicht erklärt werden; doch
wird bei der halbseitigen erworbenen Form der Krankheit viel¬
leicht die Endarteriitis syphilitica, wie sie H e u b n e r in einem
interessanten Falle nachgewiesen hat, eine grosse Rolle spielen.
Bei unseren beiden Beobachtungen glauben wir nach der
Anamnese hereditäre Syphilis ausschliessen zu können.
Wie weit ausser der Lues hereditäre Ursachen für
die halbseitigen Gehirnlähmungen in Betracht kommen, ent¬
zieht sich noch unserer Beurteilung. Häufig wird erbliche Be¬
lastung erwähnt, und König führt psychoneurotische Heredi¬
tät, Phthise in der Aszendenz, Potus des Vaters usw. als
prädisponierende Momente auf. P 1 a c z e k beobachtete eine
zerebrale Hemiplegie bei einem Kinde, dessen Vater im An¬
schluss an Scharlach in der Jugend von demselben Leiden be¬
fallen war.
Unsere lückenhaften Kenntnisse der pathologischen Ana¬
tomie und Aetiologie der zerebralen Kinderlähmung erschweren
es dem Kliniker, zu einer genauen Diagnose zu gelangen.
Für den Praktiker ist das von um so grösserer Bedeutung, weil
es dadurch auch unmöglich wird, die für ihn besonders wich¬
tige Prognose mit einiger Wahrscheinlichkeit zu stellen. Im
allgemeinen wird die Erkennung, dass es sich bei einem Kinde
um eine zerebral bedingte Hemiplegie handelt, bei mehrtägiger
Beobachtung nicht schwer fallen; die richtige Deutung der
2
Iöi4
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
ersten Symptome wird allerdings zuweilen unmöglich sein,
wie aus unserer klinischen Betrachtung hervorgeht. Bei der
ausgesprochenen Halbseitenlähmung kommen neben der zere¬
bralen Form differentialdiagnostisch wohl nur drei andere in
Betracht, die spinale, hysterische und echt diphtheritische. Von
der erstgenannten unterscheidet sich die Zerebrallähmung
hauptsächlich durch das Erhaltenbleiben der elektrischen
Muskelerregbarkeit, das Vorhandensein der Reflexe, die Mit¬
beteiligung des Fazialis und das spätere Auftreten von Kon¬
trakturen neben manchen anderen Merkmalen. Für die
Differentialdiagnose der hysterischen und organischen Hemi¬
plegie hat Oppenheim in der neuesten Auflage seines Lehr¬
buches für Nervenkrankheiten ein genaues Schema angegeben,
das aber natürlich auch nicht in allen Fällen eine sichere Dia¬
gnose ermöglicht. Für die organische Form hebt er als charak¬
teristisch hervor: das Fehlen des Bauch* und Kremaster-
reflexes und die Beteiligung des Fazialis auf der gelähmten
Seite, die Zirkumduktion des Beines in der Hüfte und schliess¬
lich die Erscheinung, dass die gelähmte Hand beim Heben des
Armes in supinierter Stellung in Pronation gerät. Echt diph¬
theritische Hemiplegien endlich, die noch in Frage kommen
können, sind nur sehr selten beobachtet worden und bildeten
sich dann nicht plötzlich, sondern allmählich an den einzelnen
Körperteilen aus. Der Vollständigkeit halber sei noch an¬
geführt, dass einige Male an die Entwicklung einer multiplen
Sklerose gedacht werden musste; Bradylalie, Intentionstremor,
Nystagmus und der Verlauf der Krankheit machten diese An¬
nahme wahrscheinlich.
Ist nach Ausschluss der genannten Möglichkeiten die Dia¬
gnose einer zerebralen Hemiplegie gesichert, so ist die Fest¬
stellung der Ursache sehr viel schwieriger. In der Ana-
m n e s e wird dabei besonders auf hereditäre Lues und eine
kurz vorhergegangene Infektionskrankheit zu achten sein.
P. M a r i e ist der Ansicht, dass gerade letztere nicht ganz
selten übersehen wird. Bei der Untersuchung wird man
zunächst das Vorhandensein einer Meningitis oder eines Hirn¬
tumors auszuschliessen versuchen. Dabei können besondere
Herdsymptome, Hirndruckerscheinungen, der Augenspiegel-
befuud und die Lumbalpunktion zuweilen wertvollen Aufschluss
geben. Von grösster Bedeutung ist ferner die Untersuchung
des Herzens auf Erscheinungen von Endokarditis und die Be¬
rücksichtigung einer kurz vorhergegangenen schweren Herz¬
schwäche: ein positives Ergebnis macht das Vorhandensein
einer Embolie sehr wahrscheinlich, ja beim Auftreten von Haut¬
embolien wie es schon gelegentlich beobachtet worden ist,
fast zur Gewissheit. Beim Fehlen dieser Symptome kann eine
gleichzeitig bestehende Nephritis oder ein schwerer Keuch¬
husten die Vermutung einer Hirnhämorrhagie nahelegen. Viel¬
leicht dürften plötzliche, sehr stürmische Initialerscheinungen,
wie Schüttelfrost, hohes Fieber, heftige Konvulsionen, Er¬
brechen usw., noch am meisten auf eine Encephalitis acuta
hindeuten, wenn diese überhaupt in Erwägung zu ziehen ist.
Diese Diagnose würde demnach wohl auch für unseren zweiten
F'all wesentlich in Betracht kommen. Schliesslich ist es auf
Grund einiger Beobachtungen wohl ratsam, den Stuhlgang auf
Darmparasiten zu untersuchen.
Trotz der angegebenen differentialdiagnostischen Merk¬
maie wird bei der Mehrzahl der zerebralen Hemiplegien im
Kindesalter die anatomische Grundlage und die Aetiologie kli¬
nisch nicht zu erkennen sein. Die Prognose wird daher
stets sehr vorsichtig zu stellen sein. Unsere bisherige Er¬
fahrung lehrt ja, dass ein frühzeitiger Tod nur selten zu er¬
warten ist; handelt es sich also nicht um besonders schwache
Kinder oder äusserst schwere Allgemeinerscheinungen, so wird
man sich vielleicht in diesem Sinne aussprechen dürfen. Leider
ist dann aber die Aussicht auf völlige Heilung gering; denn nur
in sehr wenigen Fällen gehen die Erscheinungen vollständig
und dauernd zurück, und das spätere Auftreten von Epilepsie,
Athetose, Chorea, Idiotie usw. kann in keinem Falle aus¬
geschlossen werden. Auch bei dem von uns beobachteten
Mädchen werden wir daher vor Ablauf mehrerer Jahre nicht
von vollständiger Heilung sprechen dürfen.
Leider erstreckt sich die Therapie bisher nur auf eine
symptomatische Behandlung und auch die Krankheitsfolgen
lassen sich wenig beeinflussen. Zur Beseitigung und Verhütung
der Bewegungsstörungen wird die Anwendung von Massage,
elektrischer Behandlung, gymnastischen Uebungen und ortho¬
pädischen Eingriffen im allgemeinen zu empfehlen sein. Ob
wir dadurch in unserem zweiten Falle den recht günstigen
Ausgang der Krankheit erzielt haben, mag unentschieden
bleiben.
Literatur:
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sche med. Wochenschr. 1884, S. 714.
Aus der Chirurg. Universitätsklinik in Bonn (Geh. Rat Bier).
Ein neuer Apparat zur Hyperämiebehandlung des
Kopfes.
Von Dr. V. Schmiede n, Privatdozent, Oberarzt der Klinik.
Bei der zunehmenden Bedeutung, welche die Bier sehe
Hyperämiebehandlung erringt, sind der Technik eine Reihe von
Aufgaben erwachsen, die zum Teil recht schwierig waren; es
galt, auch diejenigen Körperstellen dem Verfahren zugänglich
zu machen, an denen sich die verhältnismässig einfache Me¬
thode der Bindenstauung nicht anwenden liess, und hier hat die
Ausnützung des negativen Luftdruckes viele Lücken schon
ausgefüllt. Die von Bier und in den letzten Jahren haupt¬
sächlich von Klapp durchgebildete Anwendung der Saug¬
apparate in der allerverschiedensten Form hat es möglich ge¬
macht, fast sämtliche Körperstellen künstlich zu hyperämisieren.
Für den Kopf als Ganzes wendeten wir bisher nur die Stauungs¬
binde an; sie wird in der bekannten Form um den Hals an¬
gelegt und hat sich für die verschiedensten Erkrankungen be¬
reits bewährt. Nach Analogie mit den Extremitäten war zu
erwarten, dass sich auch am Kopf durch Anwendung des Saug¬
verfahrens eine noch lebhaftere Hyperämie erzielen liesse, die
im Vergleich zur Stauung mehr den Charakter roter Hyper¬
ämie tragen würde. Dies ist mit Hilfe eines Apparates ge¬
lungen, der im folgenden beschrieben werden soll.
Die Schwierigkeit lag besonders in der Aufrechterhaltung einer
ungestörten Atmung und andererseits in der bequemen Abdichtung am
Halse. Auf einem vierbeinigen Gestell, das in der Zeichnung nur an¬
gedeutet ist, ruht eine Holzplatte (a), die eine runde Oeffnung in
ihrer Mitte trägt. Ueber dieser Oeffnung ruht luftdicht aufgesetzt
eine grosse Glasglocke (b). Von unten her wird durch diese Oeff¬
nung der Kopf des Patienten in diese Glocke eingeführt und der
Hals durch eine Manschette von Mosetigbatist (c) abgedichtet, die
allseitig an der Oeffnung des Brettes luftdicht ansitzt und sich um
den Hals zusammenziehen lässt. Der Kopf befindet sich nun in einem
geschlossenen Raum, und dieser Raum kann leicht durch ein ein¬
geführtes Rohr (d) zum Teil ausgepumpt werden. Es gilt nur, die
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1515
Respiration zu ermöglichen und das geschieht durch das Seitenrohr
(e), das durch die Glasglocke in den Mund des Patienten hineinführt.
An einem starken kurzen Gummischlauch beweglich, trägt dieses
Rohr an seinem inneren Ende ein bequemes Mundstück; die Nase
des Patienten wird mit Watte verschlossen oder mit einer kleinen
Spiralfeder zugedrückt gehalten. Der Patient sitzt bequem auf
^einem Drehstuhl, den er sich hoch oder niedrig stellen kann, unter der
‘Platte des Apparats.
Es lag in der Natur der Aufgabe, dass niemals in diesem
Apparat eine ähnliche starke Luftverdünnung hergestellt
werden darf, wie etwa in unseren orthopädischen Saugappa¬
raten; eine so starke Hyperämisierung dürfte man dem Gehirn
niemals zumuten; andererseits reagiert das gefässreiche Gesicht
ja sehr schnell schon auf geringe Reize thermischer und anderer
Natur mit sehr lebhafter Blutfülle. Diese Vermutung hat sich
bei den ersten Versuchen mit dem beschriebenen Apparat so¬
fort bestätigt: saugt man mit langsamen Zügen einer Luft¬
pumpe Luft heraus, so füllen sich lebhaft rot die Kapillaren
des Gesichtes, auch z. B. der Conjunctiva bulbi. Die grösseren
venösen Gefässe treten ebenfalls stark hervor und besonders,
wenn man Patienten auswählt, die auf der Stirn sehr aus¬
gebildete Venen haben, so schwellen diese bis in die kleinsten
Verästelungen lebhaft an. Wie bei allen Saugapparaten, so ist
es hierbei wünschenswert, dass nicht durch die Abdichtung
eine Stauungsl^perämie erzeugt wird. Deshalb lässt man
das Band, das die Batistmanschette um den Hals zusammen¬
zieht, nur lose binden. Wenn auch hier die Abdichtung an¬
fangs keine vollständige ist, so legt sich doch schon bei den
ersten Zügen der Luftpumpe die Manschette allseitig durch den
negativen Innendruck dicht an die Haut des Halses und des
Kinns an und verbessert dadurch seine Dichtigkeit.
Wenn man sich zur Prüfung des Apparates selbst in den¬
selben hineinbegibt, so ist man erstaunt, wie wenig Beschwer¬
den selbst von einer lebhaften Blutfülle des Kopfes hervor¬
gerufen werden. Erst beim starken Evakuieren empfindet man
etwas Belästigung in den Ohren, indem die Trommelfelle vor¬
gewölbt werden. Bei längerer Anwendung beschlägt durch
Schweissverdunstung die Innenseite der Glasglocke. Damit
dies die Beobachtung von aussen nicht stört, hängt man in der
Glocke ein Schälchen von Seifenpulver auf, das die Feuchtig¬
keit an sich zieht (f). Die Atmung geht durch das Luftrohr
ganz ungestört vor sich. Wie gesagt, entsteht für den
Patienten keine nennenswerte Belästigung durch den Apparat;
sollte dies doch einmal der Fall sein, so lässt er einfach das
Mundstück, das ihn mit der Aussenluft verbindet, mit den
Lippen los, dann wird die Luftverdünnung momentan unter¬
brochen. Es gilt als Regel, dass die Hyperämie nur ganz
langsam eingeleitet wird. Nach Analogie mit anderen Saug¬
apparaten lässt man 5 Minuten saugen und dann einige Minuten
unterbrechen. Die ganze Sitzung soll K>— % Stunden dauern.
Selbstverständlich verwendet man für verschiedene Kranke
stets frisch ausgekochte Mundstücke; für eine Lupuskranke
musste ich ein besonders geformtes Mundstück anfertigen
lassen, da sie so wenig bewegliche, narbige Lippen hat, dass
sie sich nicht luftdicht über einem gewöhnlichen, ovalen Mund¬
stück zusammenschliessen Hessen. Aus der Zeichnung geht
auch hervor, dass eine ziemlich grosse Glasglocke gewählt
wurde, In dem verhältnismässig grossen Luftraum empfindet
man den Abschluss viel weniger lästig und die Luftverdünnung
ist eine langsamere. Die Glasglocke kann natürlich leicht ab¬
nehmbar gemacht werden, oder zum Abklappen eingerichtet
werden, dadurch würde sie sich in einer für den Patienten be¬
quemeren Weise in Betrieb setzen lassen. Der abgebildete
Apparat ist so gedacht, dass er von einer zweiten Person be¬
dient wird, die die Säugpumpe in Bewegung setzt. Es steht
natürlich nichts im Wege, dass der Patient mit seinen eigenen
Händen eine Säugpumpe bedient, oder noch bequemer, dass er
die Luftverdünnung mit einem Tretbalg mit dem Fuss vor¬
nimmt. Diese auch bei anderen Saugapparaten schon mit
bestem Erfolg eingerichtete Selbstbedienung hat den weiteren
Vorteil, dass dann stets genau das richtige, nicht belästigende
Mass von Blutfülle eingehalten werden kann. Für die Ein¬
haltung der vorgeschrie.benen Zeit sowie der jeweiligen Zwi¬
schenpausen dient eine auf dem Brett stehende 5 Minuten-
Sanduhr (g).
Es lag mir heute hauptsächlich daran, den Apparat und
die Technik seiner Anwendung zu beschreiben, und zu zeigen,
wie es damit gelingt, erhebliche Hyperämiegrade von lebhaft
rotem, arteriellen Charakter zu Heilzwecken hervorzurufen. Es
ist selbstverständlich, dass man niemals diese Hyperämie auf
die Spitze, treiben darf, und dass namentlich keinerlei Schmerz
oder Belästigung eintreten darf; eine Forderung, die für sämt¬
liche hyperätnisierende Verfahren in gleicher W eise ihre Geltung
hat. Für eine künstliche Hyperämie am Kopfe gilt sie ganz be¬
sonders, da man sich wohl vorstellen kann, das zu starke
Hyperämie zu Blutaustritten führen könnte, namentlich bei be¬
stehender Arteriosklerose. Aber schon jede plötzliche Eiruck¬
schwankung muss unbedingt vermieden werden, zumal sie un¬
angenehm empfunden wird. Andererseits wird langsam ent¬
stehende Blutfülle sehr gut vertragen, ja man kann annehmen,
dass schon normaler Weise der Blutreichtum des Kopfes, be¬
sonders der Weichteile ausserhalb des Schädels ein äusserst
wechselnder ist. Der beschriebene Apparat wirkt zunächst
wohl auf die Blutverteilung der Weichteile ausserhalb des
Schädels, er wirkt aber ohne jeden Zweifel auch sehr schnell
auf die Blutverteilung im Schädelinnern; das ist bei dem ana-
stomosierendenGefässystem leicht verständlich und andererseits
aus der Tatsache, dass es hinreichend bewiesen ist, dass mit
der Kopfstauungsbinde sich erhebliche Blutdruckschwankungen
und damit einhergehende Druckschwankungen im Liquor cere¬
brospinalis erzielen lassen. Somit wird auch das Anwendungs¬
gebiet des Kopfsaugapparates unter Umständen ein sehr viel¬
seitiges werden können, vielleicht führt er auch zu günstiger
Beeinflussung von entzündlichen Erkrankungen im Gehirn und
seinen Häuten. In erster Line war er konstruiert, um Gesichts¬
lupus zu behandeln, der auf die bisherigen Versuche mit Stau¬
ungshyperämie leider nur wenig reagiert hat, wohl aber schon
mit örtlich applizierten Sauggläsern günstig beeinflusst wurde.
Auch hierbei wird man sich bei den Individuen vermutlich die
lebhafteste Einwirkung versprechen können, bei welchen sich
die deutlichsten Hyperämiegrade erreichen lassen. Ich behandele
seit einigen Wochen einen schweren alten Lupusfall darin, der
sich nach Ansicht der beobachtenden Aerzte gut zurückbildet.
Es sind Narben an Stelle der geschwürigen Partien getreten,
wenigstens teilweise. Natürlich lässt sich daraus noch nicht viel
schliessen; man darf aber auch nicht verlangen, dass Fälle, die
bisher entweder jeder Therapie getrotzt haben, oder Jahre zu
ihrer Heilung bedürfen, sich in wenig Wochen schon entschei¬
dend bessern. Die junge Patientin unterzieht sich der Behand¬
lung sehr gern und freudig, zumal sie selbst einen Fortschritt
2*
1516
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
der Heilung bemerken kann. Wir hoffen, dass bei der Be¬
handlung solcher Lupusfälle der Vorteil der andern Hyperämie¬
verfahren ebenfalls zur Geltung kommt, nämlich die Heilung
mit möglichst unscheinbaren Narben.
Die gewaltige Einwirkung künstlicher Hyperämie ist heute
anerkannt. Die Ausgestaltung der Methoden wird im Wesent¬
lichen dazu beitragen, die Resultate noch besser, noch zuver¬
lässiger zu gestalten und dem Verfahren dadurch weiteren
Boden zu gewinnen.
Den Apparat hat die Firma F. A. Eschbaum in Bonn an¬
gefertigt.
Aus der Universitäts-Poliklinik für Hautkrankheiten in Berlin
(Direktor: Geheimrat L e s s e r).
Ueber eine bessere Darstellungsart der Spirochaeta
pallida im Ausstrich.1)
Von Prof. E. H o f f m a n n und Dr. A. Halle.
Noch immer gilt die Eosinazurfärbung G i e m s a s als die
sicherste und beste Methode zur Darstellung der Spirochaeta
pallida im Ausstrich, und weder die Färbung mit Marinoblau
noch mit heisser Gentianaviolettlösung leistet Gleichwertiges.
Die Art der nachträglichen Fixierung des Trockenpräparates —
Alkohol oder Osmiumsäure — ist von untergeordneter Be¬
deutung, ja man erhält ebenso gute Resultate, wenn man über¬
haupt auf die Fixierung verzichtet. In sorgsam angefertigten
Ausstrichpräparaten ist mittels dieser Methode der Nachweis
der Syphilisspirochäte häufig in kurzer Zeit und gewöhnlich
leicht zu erbringen.
Ein Uebelstand aber haftet diesem nun vielfach erprobten
Verfahren noch an: Bei dem Bestreben, möglichst dünne Aus¬
striche herzustellen, bewirkt man nicht selten eine Zerreissung
von Zellen und Kernen, und es entstehen neben Protoplasma-
und Kernschlieren allerlei Fadenbildungen, Netze und Körn¬
chen, welche das Aufsuchen der Spir. pallida erschweren und
dem Ungeübten sogar zu Täuschungen Anlass geben können;
ferner ist an dickeren Stellen des Ausstrichs wegen der starken
diffusen Färbung des Grundes die sichere Erkennung der Spir.
pallida gewöhnlich nicht möglich.
Da aber die Syphilisspirochäten in manchen Sekreten nur
spärlich vorhanden sind, erscheint es wünschenswert, eine
Methode zu besitzen, die das Suchen auch in dickerer Schicht
erlaubt und das Auffinden dadurch natürlich wesentlich er¬
leichtert. Zu diesem Zweck haben wir ein Verfahren ange¬
wandt, welches W e i d e n r e i c h 2) für die Herrichtung von
Bluttrockenpräparaten empfohlen und das inzwischen H.
Kayser3) zur Darstellung von Bakterienkapseln mit gutem
Erfolg benutzt hat.
Die Ausführung geschieht auf folgende Weise: In ein flaches,
ca. 5 cm im Durchmesser haltendes, Glasschälchen bringt man 5 ccm
einer 1 proz. Osmiumsäurelösung und setzt 10 Tropfen Eis¬
essig hinzu. Um die Verdunstung der sonst leicht unbequem wer¬
denden Osmiumdämpfe zu verhüten, stellt man die Mischung in eine
nicht zu kleine und nicht zu niedrige Petrischale. Alsdann werden
einige gut gereinigte Objektträger über das im Innern befindliche
Schälchen gelegt und den Osmiumdämpfen mindestens 2 Minuten
lang ausgesetzt. Die zu untersuchenden Sekrete oder Gewebssäfte
(„Reizserum“ oder „Geschähe“) werden nun möglichst schnell mit
einem einzigen Zuge mittelst eines Platinspatels oder Deck¬
glasrandes über die den Dämpfen ausgesetzte „osmierte“ Seite des
Objektträgers ausgestrichen und dann sofort — in noch feuchtem
Zustand — zur Vollendung der Fixierung für 1 bis 2 Minuten auf
die Glasschale zurückgebracht; längeres Verweilen in der Osmium¬
kammer ist zu vermeiden, weil es die Färbbarkeit beeinträchtigen
könnte. Die fixierten Präparate, welche, falls das nötig ist, vorsichtig
über der Flamme oder besser ohne Erwärmen getrocknet werden,
kommen dann 1 Minute in eine sehr dünne, schwach hellrote Lösung
von Kaliumpermanganat und werden in Wasser abgespült und mit
D Nach einer Demonstration bei der ersten Tagung der freien
Vereinigung für Mikrobiologie zu Berlin am 9. Juni 1906.
2) F. Weiden reich: Eine neue einfache Methode zur Dar¬
stellung von Bluttrockenpräparaten. Folia haematologica, 1906, No. 1.
3) H. Kayser: Eine Fixierungsmethode für die Darstellung von
Bakterienkapseln. Zentralbl. b. Bakteriol., Bd. XLI, Heft 1 (Ori¬
ginale).
Flicsspapier getrocknet. Nun folgt die Färbung mit Eosinazur genau
nach der Vorschrift Giemsas. 4)
In den auf diese Weise hergestellten Präparaten treten die
tiefrot gefärbten Spirochäten auf dem mehr oder weniger
bläulichroten Grund recht deutlich hervor und sind leicht und
schnell auffindbar; alle Zellen5 6 7) sind wohlerhalten, störende
Kernschlieren und Fadenbildungen fehlen so gut wie ganz.«
Auch an dickeren Stellen des Ausstrichs sind die Spir. pallidae,
welche ihre charakteristische Form und ihre steilen regel¬
mässigen Windungen in diesen Präparaten besonders schön
zeigen, unschwer zu erkennen; auch die Endfäden („Geissein“
Schau di n ns) lassen sich so gut darstellen. Die bläuliche Fär¬
bung des Grundes ist insofern ausserordentlich angenehm, als
sie das Auge des Untersuchers nicht so schnell ermüden lässt.
Für Messungen der Windungslänge und Tiefe sind diese Prä¬
parate besonders gut geeignet. Auch für die Darstellung an¬
derer Spirochäten hat sich das beschriebene Verfahren uns
wohl bewährt. Es lag natürlich nahe, an Stelle der nicht ganz
billigen Osmiumsäure auch andere Fixierungsmittel zu ver¬
suchen, und es mag hier mitgeteilt werden, dass auch For¬
ma 1 i n G) gut verwendbar ist, wenn es auch nicht so schöne
Resultate ergibt, wie die als Fixierungsmittel bisher unüber¬
troffene Osmiumsäure; auch mit Pyridin wurde ein brauch¬
bares Resultat erzielt.
An mit Osmiumsäure fixierten Präparaten hat der eine
von uns (Hoffman n) nochmals Messungen der Spir.
pallida vorgenommen, welche folgendes Ergebnis hatten:
Windungslänge durchschnittlich 1 bis 1,2 ß; Windungstiefe
1 bis 1,5 i>; Dicke etwa K ß oder wenig mehr.
Bei nicht deformierten Exemplaren ist die Win¬
dungslänge sehr regelmässig und weicht wenig von 1 ß ab,
auch bei kongenitaler Lues beträgt sie meist nicht mehr als
1 bis 1,2 ß. Das charakteristische Bild der Spir. pallida wird
verursacht durch die erhebliche Tiefe der Windungen,
welche gewöhnlich 1 ß übertrifft und bei schön fixierten Exem¬
plaren meist ca. 1,5.« beträgt. Die Länge der Spir. pallida
schwankt von 8 bis 26 Windungen; nur selten trifft man
kürzere oder noch längere Exemplare.
Für geübte und mit scharfem Auge begabte Beobachter
ist, wie hier erwähnt sein mag, als die einfachste und ge¬
wöhnlich am schnellsten zum Ziele führende Methode die
frische Untersuchung eines mit physiologischer
NaCl-Lösung verdünnten Tröpfchens „Reizserum“, welches
zwischen planem Objektträger und Deckglas ausgebreitet und
durch Umrandung mit Vaselin luftdicht abgeschlossen wird,
am meisten zu empfehlen. Wie die Balanitis- und Mundspiro¬
chäten, können auf diese einfache Weise auch die Syphilis¬
spirochäten mehrere Wochen lang am Leben erhalten und an
ihrer charakteristischen Form und Bewegungsart, sowie
ihrem schwachen Lichtbrechungsvermögen erkannt werden. T)
Solche Präparate können wie Dauerpräparate auch längere
Zeit nach der Herstellung untersucht werden, was für den
viel beschäftigten Kliniker gewiss von Bedeutung ist.
Aus dem orthopädischen Ambulatorium der Kgl. Universität
München (Prof. Dr. Fritz Lange).
Wie kann der praktische Arzt die gymnastische Be¬
handlung der Gelenkkontrakturen durchführen?
Von Dr. Georg Hohmann, Assistenzarzt.
In weiten Kreisen der Aerzte ist heute noch die Anschauung
verbreitet, dass man zur Beseitigung gewisser Arten von Ge¬
lenkkontrakturen unter allen Umständen der modernen kom-
4) G. Giemsa: Bemerkungen zur Färbung der Spirochaete
pallida (Schau di n n). Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 26,
pag. 1026.
5) Die Erythrozyten sind im Gegensatz zu den einfachen Giemsa*
Präparaten hier blau gefärbt.
6) Auf dieses Mittel machte mich Herr Dr. Frank Schultz
gelegentlich einer Demonstration aufmerksam.
7) Genaueres darüber bringt die Arbeit von mir und Prowa¬
zek, Untersuchungen über die Balanitis- und Mundspirochäten, Zen¬
tralblatt f. Bakteriol. 1906 und die unter meiner Leitung angefertigte
Arbeit von Beer, Beobachtungen an der lebenden Spirochaeta
pallida, Deutsche med. Wochenschr. 1906 (beide im Druck befindlich).
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1517
plizierten und teueren medikomechanischen Apparate bedarf.
Meine Ausführungen sollen darlegen, dass derselbe Zweck oft
ebenso vollkommen mit billigen, einfachen, leicht überall an¬
zubringenden Vorrichtungen erreicht werden kann. Das ist
sicher von Interesse für den praktischen Arzt, besonders auf
dem Lande, der nicht spezialistisch orthopädisch ausgebildet
ist, der aber alle möglichen Gelenkkontrakturen fast täglich
unter die Hände bekommt. Vielfach geschieht für solche
Patienten nichts, oft leider in einem Stadium, in dem eine Be¬
handlung noch Aussicht auf Erfolg hätte. Aber einmal ist
keine orthopädische Anstalt mit entsprechenden Apparaten in
der Nähe, und selbst sich einen Apparat anzuschaffen, über¬
steigt meist die Kräfte der Patienten. So ist es zu erklären,
dass viele Fälle von Gelenkkontrakturen, die in einem früheren
Stadium mit einfachen Mitteln hätten beseitigt werden können,
in vernachlässigtem Zustand zu dem Orthopäden kommen und
oft nur durch zum Teil recht eingreifende Operationen, wie Re¬
dressement und Osteotomie, geheilt werden können. Es dürfte
deshalb nicht überflüssig sein, einfache Methoden, die sich seit
einem Jahrzehnt in der Praxis des Herrn Prof. Lange be¬
währt haben, hier mitzuteilen.
In der Hand jedes Arztes kann mit diesen einfachen Mitteln
eine Reihe von Gelenkkontrakturen erfolgreich bekämpft
werden. Auch dem Unbemitteltsten wird dadurch eine Be¬
handlung ermöglicht. Nicht alles ist neu an diesen Methoden;
manche Uebungen sind ähnlich denen, die Thilo u. a. emp¬
fohlen haben. Hier soll nur eine zusammenfassende Darstel¬
lung gegeben werden für die Kollegen in der allgemeinen Praxis,
wo das Bedürfnis nach einfachen Verfahren recht dringend ist.
Wir beginnen mit einem der grössten und wichtigsten Ge¬
lenke, dem H ü f t gelenk, das oft von Kontrakturzuständen be¬
fallen wird. Das kann geschehen im Anschluss an ein
Trauma, an eine Fraktur, Kontusion oder Distorsion. Die
Versteifung kann in verschiedener Stellung erfolgen, in
Flexions-, Adduktions- und Streckstellung. Sicher den Haupt¬
anteil an den Versteifungen im Hüftgelenk hat aber wohl die
tuberkulöse Hüftgelenkentzündung, die Koxitis. Sie
führt ja schon sehr bald zur Beugestellung des Gelenkes, zu der
später noch Adduktion hinzukommt; in vernachlässigten Fällen
sehen wir sogar knöcherne Ankylose in dieser pathologischen
Stellung. Von anderen Entzündungsprozessen seien noch die
äus.serst schmerzhafte gonorrhoische Gelenkentzündung, die
Arthritis deformans und besonders noch der akute Gelenk¬
rheumatismus genannt, die in schweren Fällen zu einer Beuge¬
stellung im Gelenk führen, oft zu ankylotischer Versteifung.
Ausser diesen- Entzündungsprozessen geben aber auch einige
Erkrankungen des Zentralnervensystems zu Hüft-
kontrakturen Veranlassung. Das sind vor allem die' spinale
Kinderlähmung, die Little sehe Gliederstarre
und mitunter auch die Dystrophia musculorum pro¬
gressiva. Im Anschluss hieran seien noch die nicht gerade
häufig vorkommenden kongenitalen Kontrakturen
erwähnt, die von den einen auf Entwicklungsstörungen des
fötalen Nervensystems zurückgeführt werden, von
der Mehrzahl der anderen aber mit grösserer Wahrscheinlich¬
keit auf Zwangshaltungen im Uterus. Hierfür spricht
unter anderem auch oft gleichzeitiges Bestehen von Klumpfuss
oder Valgusfuss.
Bei den Entzündungen entstehen die Kontrakturen da¬
durch, dass das Gelenk die Stellung einnimmt, bei der die das
entzündete Gelenk umgebenden Muskeln, Bänder und Kapsel
möglichst entspannt sind; das ist in der Regel eine leichte
Beugestellung.
Wird das Bein dauernd in dieser Stellung gehalten, so ver¬
kürzen sich Kapsel und Bänder durch Schrumpfung; es folgen
dann Muskeln und Sehnen, später auch Nerven und Gefässe. - —
Die genannten Nervenkrankheiten führen auf andere
Weise zur Kontraktur. Die L ä h m u n g s kontraktur (meist
Flexions- und Abduktionskontraktur) entsteht durch Ausfall ein¬
zelner Muskeln, wodurch die Antagonisten das Uebergewicht
erhalten. Sekundär verkürzen sich natürlich die entsprechen¬
den Muskeln und Bänder. Ebenso lassen sich wohl die zu¬
weilen vorkommenden Kontrakturen im Verlauf der Dystrophia
musculorum progressiva erklären. Anders entstehen sie bei
der Little sehen Gliederstarre. Hier ist kein Muskel
gelähmt, aber in einzelnen Muskelgruppen, vornehmlich den
Beugern, bestehen starke Spasmen, die die betreffenden Ge¬
lenke: Hüfte, Knie und Fuss krampfhaft in Kontrakturstellung
versetzen (bei Little meist Hüftbeuge- und Adduktionskon¬
traktur).
Die orthopädische Behandlung dieser verschie¬
denen Kontrakturen ist so mannigfaltig, dass ich mich hier nur
auf kurze Hinweise beschränken muss; mehr darüber aus¬
zuführen, fiele aus dem Rahmen der Arbeit. Koxitische Kon¬
trakturen und tuberkulöse Kniebeugekontrakturen werden in
Narkose gestreckt, dann mit Entlastungsverbänden oder Ap¬
paraten versehen, die das gewonnene Resultat möglichst er¬
halten sollen. Bei knöcherner Ankylose kommt Osteotomie in
Frage, bei Lähmungen und Little scher Krankheit Tenotomien
der verschiedenen Sehnen (Tensor fasciae, Adduktoren der
Hüfte, Achillessehne usw.) oder Sehnenüberpflanzungen u. dergl.
Aber alle diese Methoden sind Sache des spezialistisch ausge¬
bildeten Orthopäden, sie erfordern grosse Erfahrung und viel
technisches Geschick. Jedoch mit diesen operativen Methoden
ist die Sache nicht abgetan, weil die in Frage stehenden Krank¬
heitsprozesse meist von langer Dauer sind und fast alle grosse
Neigung zu Rezidiven zeigen. Stets ist eine Nachbehand¬
lung notwendig und zwar für längere Zeit. Wird diese ver¬
nachlässigt, so kommt in der Mehrzahl der Fälle ein Rezidiv.
Das zu verhüten, fällt in sehr vielen Fällen dem praktischen
Arzte zu, der die Kranken, namentlich draussen auf dem Lande,
leichter unter Kontrolle hat. Und dazu dienen die gym¬
nastischen Methoden, deren Ausführung ich später an der Hand
der beigedruckten Zeichnungen kurz bespreche. Es ist wohl
kaum nötig, darauf hinzuweisen, dass diese Uebungen selbst¬
verständlich niemals bei Fällen von frischer Gelenkent¬
zündung angewendet werden dürfen. Hier würden es die leb¬
haften Schmerzen ganz von selbst verbieten. Die alte Regel
für ein frisch entzündetes Gelenk heisst : Ruhig-
stellen. Aber wenn in Beugestellung ausgeheilte Koxitiden
oder Knietuberkulosen gestreckt worden sind und dann aus
dem Verbände herauskommen, dann ist es, vorausgesetzt, dass
keinerlei Reizerscheinungen mehr bestehen, angezeigt, all¬
mählich mit gymnastischen Uebungen zu beginnen. Ich
betone nochmals allmählich. Durch verfrühte Manipulationen
kann man nur schaden. — Die Uebungen selbst sind passive
und aktive. Passive zum schonenden, allmählichen Redres-
sieren der Kontraktur; aktiv zur Kräftigung der geschwächten
und überdehnten Muskulatur. Zunächst etwas von den pas¬
siven, redressierenden Uebungen; beispielsweise bei der
koxitischen Beuge- und Adduktionskontraktur. Wie wir
wissen, sind dabei die das Gelenk umgebenden Weichteile
(Kapsel, Bänder, Muskeln und Sehnen) an der einen Seite, in
diesem Fall der vorderen, inneren Seite des Gelenkes verkürzt.
Sie halten das Gelenk in der falschen Stellung. Die Uebung
geschieht im Sinne der Ueberfiihrung des Beines in Streck-
und Adduktionsstellung. Dabei müssen die verkürzten Weich¬
teile eine Dehnung erfahren. Dehnung der ver¬
kürzten W e i c h t e i 1 e ist also die eine Seite der Behand¬
lung. Aber dann kommt es darauf an, die durch die lange
Ruhigstellung, durch Hessingapparate oder atrophierende
Nervenkrankheiten geschwächten Muskeln wieder zu kräftigen.
Und dazu dient uns die aktive Gymnastik, die aber nicht all¬
gemein für alle Muskeln angewendet werden darf, sondern
zu einseitiger Kräftigung gerade der Muskeln, die ihrer be¬
dürfen, die einer Kontraktur durch ihre natürliche Funktion
entgegenwirken. Bei einer Muskeldystrophie z. B. mit Neigung
zu Beugekontraktu ren wird man also die Streckmuskeln metho¬
disch üben lassen, um ihnen als Antagonisten mehr Kraft den
Beugern gegenüber zu verschaffen. Das gleiche gilt für die
Versteifungen nach Traumen, wo man durch die bisweilen un¬
nötig lange liegenden immobilisierenden Verbände gar oft einen
kolossalen Schwund der Muskulatur beobachten kann. Diese
aktiven Uebungen geschehen am besten unter Widerstand, der
bei zunehmender Leistungsfähigkeit der Muskeln entsprechend
erhöht wird,
1518
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Wie die beigegebenen schematischen Abbildungen, von
denen ich einige der L a n g e sehen Arbeit: Die Sehnenopera¬
tionen, im Handbuch der orthopädischen Chirurgie (heraus¬
gegeben von Prof. Joachimsthal [Gustav Fischer, 1904])
mit Erlaubnis des Verfassers dankend entnommen habe, ver¬
anschaulichen, gestaltet sich die Ausführung der einzelnen
Uebungen in folgender Weise:
L Hüftgelenk: passive Ueberstreckung,
evenr. verbunden mit passiver Abduktion (Fig. 1). Patient liegt
Fig. 1. Passive Streckung des Hüftgelenks.
auf einer gepolsterten Bank, Matratze oder Divan in Bauch¬
lage und wird mit zwei etwa handbreiten Gurten an die Unter¬
lage angeschnallt. Der eine Gurt läuft über die Schulterblätter,
der andere über das Gesäss und schneidet etwa mit den Sitz¬
beinhöckern ab. Dieser Gurt muss ziemlich fest an¬
gezogen werden, was man durch ein unter den Gurt gescho¬
benes Kissen erleichtert. Nun wird um den Oberschenkel der
kranken Seite ein gepolsterter Gurt gelegt, von dem aus eine
Schnur mit Gewicht nach oben über eine Rolle führt. Das Ge¬
wicht zieht nun an dem in Beugestellung stehenden Ober¬
schenkel im Sinne der Ueberstreckung und dehnt so allmählich
und schmerzlos die verkürzten Weichteile, Muskeln, Sehnen,
Bänder und Gelenkkapsel. Damit diese Ueberstreckung aber
wirklich erreicht wird, ist es nötig, das Becken durch
den Gurt zu fixieren; andernfalls geht das Becken
mit nach oben und die Ueberstreckung ist nur scheinbar, da¬
durch, dass die Wirbelsäule sich in Lordose einstellt und die
Korrektur nicht im Gelenk geschieht. Ist neben der Beuge¬
kontraktur noch Adduktion oder Abduktion vorhanden,
so bekämpft man diese dadurch, dass man den Zug nicht bloss
nach oben, sondern gleichzeitig nach aussen oder innen, je
nachdem, wirken lässt. Man stellt einfach die Bank mit dem
Patienten schräg zu der Wand, an. der die Rolle befestigt ist,
etwa in einem Winkel von 45°. An Gewicht kann man bei
Kindern 10 — 25 Pfund, bei Erwachsenen bis 35 und mehr Pfund
nehmen, die Uebung selbst täglich 14 — 1 Stunde lang anwenden.
Sollte das nicht auf einmal vertragen werden, dann tut man
gut, es auf zweimal zu verteilen.
Wenn nun die Uebung etwa dem Patienten durch die
Bauchlage Beschwerden machen sollte, so kann man sie auch
in folgender Weise anwenden (s. Fig. 2).
b) Gurt zum Strecken des linken kranken Beins.
Patient liegt in Rückenlage auf der Bank oder dem Quer¬
bett; das Becken, durch ein Keilkissen unterstützt, ist hoch
gelagert und zwar möglichst am Rande des Bettes, sodass
No. 31.
Bettrand und Tubera ischii etwa in einer Ebene liegen. Der
Oberkörper ist durch ein Kissen gestützt. Durch einen Gurt a
wird das gesunde Bein in möglichster Beugestellung im Hüft¬
gelenk fixiert, und dadurch das Becken festgestellt. Ein
weiterer Gurt b mit einem daranhängenden Gewicht geht um
den Oberschenkel der kranken Seite und zieht diesen nach
unten. Das Gewicht kann bei Kindern 5—10 Pfund betragen,
bei Erwachsenen bis 25 Pfund. Diese Uebung kann, da sie
nicht so intensiv wirkt wie bei der Bauchlage, mehrmals täg¬
lich % Stunde ausgeführt werden.
Zur Kräftigung der geschwächten Glutäalmuskulatur führt
man aktive Ueberstreckung in der Weise einfach aus, dass
der Patient in Bauchlage das ganze Bein, das im Kniegelenk
gestreckt ist, im Hüftgelenk hochhebt; als zu überwindenden
Widerstand kann man ihm ein Säckchen mit Gewichten an den
Fuss binden. Zur aktiven Abduktion im Hüftgelenk
ist seitlich von dem in Rückenlage liegenden Patienten eine
hängende Rolle angebracht, über die der Patient mit dem im
Knie gestreckten Bein bei der Abduktion ein Gewicht zieht.
2. Kniegelenk. Die Ursachen der Kontrakturen sind
meist die gleichen wie beim Hüftgelenk, Entzündungen, wie
Tuberkulose und Gonorrhoe. Auch Lues kommt als Ursache
in Betracht. Wir denken ferner an die Kontrakturen trauma¬
tischen Ursprungs (Fraktur, Luxation, Distorsion). Schliess¬
lich bleibt noch wie beim Hüftgelenk die grosse Gruppe der
durch Ncrvenkrankheten entstandenen Versteifungen. Kinder¬
lähmung und L i 1 1 1 e sehe Gliederstarre führen zu recht- ja
spitzwinkliger Kniebeugekontraktur, die erste durch Ausfall,
die letztere durch Schwäche des überdehnten Quadrizeps
gegenüber der Wirkung der kräftigeren Flexoren, die oft
enorm gespannt sind und kulissenartig, hart in der Kniekehle
vorspringen. Wir beobachten auch angeborene Kniebeuge¬
kontraktur, oft kombiniert mit anderen Defekten wie Fehlen
der Patella und Hüftluxation. Die Uebungen zur passiven
Streckung und Beugung sind in Fig. 3 und 4 veranschaulicht.
Passive Beugung des Kniegelenks. Passive Streckung d. Kniegelenks.
Genaue Fixierung des zentralwärts von der Versteifung ge¬
legenen Gliedabschnitts ist dabei zu beachten. Der Kräftigung
der Muskulatur dienen die in Fig. 5 und 6 dargestellten
Fig. 5. Aktive Streckung des Kniegelenks.
Uebungen aktiver Kniestreckung oder Kniebeugung unter
Widerstand.
3. Auch das letzte grössere Gelenk der unteren Extremi¬
tät, das Fussgelenk ist nicht selten der Sitz von Ver¬
steifungen, vor allem im Sinne des Spitzfusses, den ziemlich
dieselben Ursachen veranlassen, wie wir sie bei den anderen
Gelenken kennen gelernt haben. Es sei erinnert an den kon¬
genitalen Spitzfuss, wahrscheinlich durch Zwangshaltung im
Uterus entstanden, den Spitzfuss durch Lähmung, durch Little,
durch andere zerebrale Prozesse (zerebrale Hemiplegie, lue-
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1519
tische Herde usw.). Sehr wichtig ist die grosse Gruppe der
durch Traumen verursachten Spitzfiisse. Jeder praktische
Arzt kennt aus seiner Erfahrung die Fälle malleolärer und
suprarnalleolärer Frakturen und die oft noch unangenehmeren
Distorsionen im Fussgelenk, die nicht selten mit Sptzfuss-
stellung ausheilen. Sei es, dass der Fuss im Verband zu lange
Fig. 6. Aktive Beugung von Knie- und Hüftgelenk.
fixiert war und zwar in etwas Spitzfussstellung, sei es, dass der
konstante Druck der Bettdecke wieder einmal der Schuldige
war. Aber ganz abgesehen von diesen beiden ätiologischen
Möglichkeiten bleiben oft bei den Frakturen in der Nähe der
Gelenke dauernde oder vorübergehende Versteifungen zurück.
Bei der Therapie müssen wir auch hier der Dehnung der
verkürzten Weichteile die hauptsächlichste Aufmerksamkeit
Fig. 7. Passive Dorsalflexion des Fussgelenks.
zuwenden. Zu dehnen ist die verkürzte Achillessehne, aber
ebenso auch die geschrumpfte Gelenkkapsel und die einzelnen
Bänder. Dass nicht bloss die Achillessehne schuld hat am
Spitzfuss, davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man
tenotomiert hat und danach trotzdem oft noch gewaltige
Hemmnisse findet. Dieser Dehnung dient die in Fig. 7 darge¬
stellte passive Uebung, bei der das Kopfende des Bettes
oder Divans hochgestellt wird, um dem Zuge ein Gegenge¬
wicht durch die Körper¬
schwere zu geben. 10
bis 15 Kilo Gewicht
werden gut vertragen.
Diese Uebung lässt sich
leicht in die aktive um¬
wandeln, dadurch, dass
die Rolle am Fassende
des Bettes angebracht
ist und der Patient unter
Widerstand den Fuss
dorsalflektiert.
4. Obere Extre¬
mität. Für die Mo¬
bilisierung der Gelenke
hier gelten natürlich die
gleichen Grundsätze.
Bei der Schulter ist
Passive [Abduktion des Schultergelenks, die Ausführung der
Uebung deshalb nicht
*) Eduard Weisz: Ein einfaches System zur ambulanten Be¬
handlung von Gelenkkontrakturen. (Zeitschr. f. orthop. Chir., Bd. XII.
H. 4.)
ganz so einfach, weil die sichere Fixierung der Skapula schwie¬
riger ist. Immerhin kann man etwa so verfahren, wie u. A.
Weiszl angegeben hat. Fig. 8 gibt die Anwendung wieder,
wobei das Schulterblatt von oben her an die horizontale Stuhl¬
lehne fixiert wird. Weisz gibt dem Patienten einen Stab in
die Hand, an dem er dem Gewichtszug folgend, mit der Hand
immer höher klettern kann. Dieses passive Redressement
lässt sich nach allen Richtungen hin ausführen, nach aussen
seitlich, innen seitlich, nach vorn und nach hinten, nach welcher
Richtung hin eben das Gelenk in seiner Beweglichkeit be¬
schränkt ist. Sobald es durch die Gymnastik etwas mobilisiert
ist, ist es sehr zweckmässig, mit aktiven Uebungen, die in
derselben einfachen Wese angestellt werden, zu beginnen;
denn in den meisten Fällen von Versteifungen im Schulter¬
gelenk bemerken wir eine manchmal sehr hochgradige Atrophie
des Muscul'us deltoideus, die sich durch die Inaktivität ent¬
wickelt hat.
*
5. In Fig. 9 und Fig. 10 werden die Uebungen bei Ellen¬
bogenkontrakturen gezeigt, die eine zur passiven
Fig. 9. Passive Streckung des
Ellenbogengelenks.
Fig. 10. Aktive Streckung des
Ellenbogengelenks.
Streckung der Beugekontraktur, die andere zur aktiven Kräfti¬
gung der Muskulatur.
Natürlich sollen diese Abildungen nur eine Anleitung sein,
in welcher Weise man ungefähr bei Kontrakturen Vorgehen
kann; selbstverständlich kann man diese Methoden nach allen
möglichen Richtungen hin je nach dem Fall modifizieren.
Diese hier beschriebenen Anwendungsformen stellen das E i n-
fachste dar, das überall mit den geringsten Mitteln einge¬
richtet werden kann. Und warum soll denn immer ein um¬
ständlicher Apparat in Bewegung gesetzt werden, wo es der
einfachen Weise ebenso vollkommen gelingt ? Und wenn man
an eben diese Aufgabe des Arztes denkt, unter Vermeidung
des Unnützen auf dem einfachsten Wege dem Prinzip allein
Geltung zu verschaffen, und blättert dann einen der Kataloge
einer Fabrik orthopädischer Apparate durch, dann kommt man
meist wenig auf seine Rechnung. Da findet man eine Fülle
komplizierter und natürlich sehr teurer Apparate empfohlen,
und zwar für jedes Glied einen besonderen. Da kosten nach
einer Preisliste einer bekannten Fabrik z. B. Hüftbeuge- und
Streckapparate, Kniestreckapparate usw. alle zwischen 400
und 500 Mark und darüber. Das sind Preise, die eine An¬
schaffung für einen einzelnen Patienten meist unmöglich
machen und nur für grössere orthopädische Anstalten sich ren¬
tieren. Es soll nicht im entferntesten bestritten werden, dass
diese Maschinen in gewissen Fällen von Nutzen sind, — dass
ihre suggestive Wirkung oft beobachtet werden kann, ist
sicher, und der Arzt muss ja auch damit rechnen — , aber es
muss ebenso deutlich einmal ausgesprochen werden, dass
andere Wege ebenso sicher auch zum Ziele führen, dass also
die absolute Notwendigkeit der komplizierten Apparate eine
ganz erhebliche Einschränkung verdient. Vor allem eben von
dem Standpunkte aus, der am Anfang des Aufsatzes betont
wurde, dass diese Apparate wegen ihrer Kostspieligkeit und
Umständlichkeit nicht der grossen Menge der
Kranken zu gute kommen können, und dass es dringende
Notwendigkeit ist, einfachere Wege zu zeigen, auf denen es
dem Arzt gelingt, seinen Patienten zu nützen.
1520
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
Aus der medizinischen Universitäts-Poliklinik zu Leipzig
(Direktor: Geh. Med. -Rat Prof. Dr. F. A. Hoff mann).
lieber Verlagerung der Trachea bei intrathorazischen
Erkrankungen.
Von Dr. A. Gröber, Assistenten am Institut.
Zunächst möchte ich hier einen historischen Irrtum ") be¬
richtigen :
Vor kurzem hat C. Pfeiffer eine Arbeit veröffentlicht1):
Ueber die Röntgenuntersuchung der Trachea bei
Tumoren und Exsudaten im Thora x“. Er bezieht sich
dabei auf die Ende vorigen Jahres erschienene Publikation Cursch-
manns2): „Die Verlagerung der Luftröhre und des
Kehlkopfes alsEolge gewisser Veränderungen der
Brustorgan e“.
Er bezeichnet das von Curschmann beschriebene Symptom
(Verlagerung des Kehlkopfes und des Halsteiles der Luftröhre bei ge¬
wissen intrathorazischen Erkrankungen) als neu.
Es ist nicht neu. F. A. H o f f m a n n hat es bereits im Jahre 1896
in seinen „Erkrankungen des Mediastinums“3) in seiner ganzen Be¬
deutung gewürdigt. Er sagt daselbst S. 61:
„Man versäume es auch niemals, Kehlkopf und Trachea selbst
zu betrachten. Oft sind dieselben ein wenig aus der Mittellinie ver¬
schoben, oder man sieht die Trachea geradezu schräg nach aussen
herabsteigen.“
Er gedenkt hier auch der Tracheoskopie, die Curschmann
gar nicht erwähnt:
„Die Wichtigkeit der Tracheoskopie für alle zweifelhaften Fälle
brauche ich hier nicht zu begründen. Sie zeigt oft sicher eine Ver¬
schiebung der Trachea nach der Seite, eine seitliche oder eine Kom¬
pression von vorne an.“
Auf eine andere Art der Verlagerung der Trachea bei Erkran¬
kungen der Brustorgane, nämlich die nach vorn, habe ich selbst An¬
fang des Jahres 1905 hingewiesen4).
Ich möchte nun hier einige weitere Fälle dieser Art mit-
teilen :
Im ersten Falle, der zur Obduktion kam, handelte es sich um
den 56 jährigen Schuhmacher B., der, wie schon in früheren Jahren,
auch jetzt wieder wegen Husten und Kurzatmigkeit Hilfe in der Poli¬
klinik suchte. War es nun früher stets relativ rasch gelungen, die
diffuse trockene Bronchitis des Mannes mittels mässiger Jodkaligaben
zur Heilung zu bringen, so erwies sich der jetzige Anfall als viel hart¬
näckiger. Er trotzte jeder Therapie. Die Sputumuntersuchung ergab
nichts Charakteristisches. Am Herzen Hess sich keinerlei abnormer
Befund erheben, ausser einer (klinisch diagnostizierten) Sklerose
derAorta, durch die sich auch der leichte Pulsus differens (1. > r.)
erklärte.
Die Bronchitis liess sich, wie gesagt, diesmal therapeutisch nicht
beeinflussen. Die Dyspnoe wurde immer stärker, ohne dass eine
genügende Erklärung für ihre Stärke zu finden war.
Da fiel mir bei einer erneuten Untersuchung des Kranken der
ausgesprochene tympanitische Perkussionsschall über dem Manubrium
sterni auf. Ich liess den Mund öffnen und erhielt einen sehr aus¬
gesprochenen Wintrich sehen Schallwechsel.
Am selben Tage zeigten sich zum ersten Male kleine Phlebekta¬
sien auf der Brustwand. Auf Grund beider Erscheinungen musste eine
mediastinale Erkrankung angenommen werden. Die Diaskopie zeigte
denn auch ein grosses spindelförmiges Aneurysma des Arcus
aortae. Ein umschriebener aneurysmatischer Sack war nicht zu ent¬
decken. Aus dem W i n t r i c h sehen Schallwechsel über dem Manu¬
brium sterni wurde aber gefolgert, dass vom Ramus descendens des
Arcus aortae ein wohl ziemlich grosser Sack ausgehen, sich zwischen
Wirbelsäule und Trachea schieben, letztere nach vorn drängen und
so dem Sternum beträchtlich nähern müsse, wodurch der Schall¬
wechsel sich erklären würde. Eine Dämpfung, die auf das Vor¬
handensein eines Aortenaneurysmas hätte schliessen lassen, fand sich
nirgends, weder an der Vorder - noch an der Hinter¬
wand des Thorax.
Die im pathologischen Institut von Herrn Geh. Med.-Rat Prof.
Dr. Marchand ausgeführte Obduktion ergab in der Tat ein ziem¬
lich spindelförmiges Aneurysma des ganzen Arcus aortae mit einer
grossen sackförmigen Ausbuchtung am Ramus descendens, die zum Teil
mit der Wirbelsäule fest verwachsen war und — dieselbe stellenweise
usurierend — sich zwischen Wirbelsäule und Trachea einschob und
die hintere Trachealwand um 3V2 bis 4 cm nach vorn drängte.
Der zweite Fall betrifft einen Herrn K„ einen Mann von
ca. 58 Jahren, der vor 33 Jahren sich luetisch infizierte. Er stand
*) Der sich auch bei R 0 m b e r g findet in seinem Lehrbuch der
Krankheiten des Herzens und der Blutgefässe. (Stuttgart 1906).
S. 451.
U Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 8.
2) Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 48.
3) Nothnagel: Spez. Path. u. Ther., Bd. XIII, 3, 2. Abt.
4) D. Archiv f. klin. Med., Bd. LXXXII, S. 250 f.
schon einige Zeit bei mir in Behandlung wegen Glykosurie, die übri¬
gens auf JK ohne Diät verschwand und mit Aussetzen des JK wieder¬
kehrte, und Aneurysma aortae. Letzteres war schon rein klinisch
diagnostiziert worden als Aneurysma des Arcus aortae. Die Dia¬
skopie zeigte in der Tat ein Aneurysma fusiforme arcus aortae. Gela¬
tineinjektionen bewirkten keine Verkleinerung. Allmählich stellte sich
eine merkliche Dyspnoe ein, und eines Tages fand sich auch hier ein
ausgesprochener Wintrich scher Schallwechsel über dem Manu¬
brium sterni, der in der ersten Zeit der Behandlung sicher fehlte.
Man geht also wohl nicht fehl mit der Annahme, dass sich im Laufe
der Behandlung ein vom Ramus descendens arcus aortae ausgehen¬
der Sack, allmählich wachsend zwischen Wirbelsäule und Trachea
eingeschoben und letztere nach vorn verlagert hat. Der Patient ver¬
zog später aus Leipzig. Indessen hatte ich durch die Güte des ihn
in seinem neuen Wohnsitz behandelnden Herrn Kollegen Gelegenheit,
ihn kurz ante mortem noch einmal zu sehen. Der Thoraxbefund war
im ganzen gleich geblieben. Doch hatten sich starke Oedeme, Aszites
und ein allerdings minimaler Hydrothorax der rechten Seite ein¬
gestellt. Kurze Zeit nach dieser Untersuchung erfolgte Exitus letalis.
Leider wurde die Autopsie nicht gestattet. Nach Analogie des ersten
Falles geht man wohl auch hier mit der Diagnose eines vom Ramus
descendens der Aorta thoracica ausgehenden, die Trachea durch Ein¬
lagerung zwischen diese und die Wirbelsäule nach vorn schiebenden
aneurysmatischen Sackes nicht fehl.
Seitdem hatte ich in der Poliklinik noch zweimal Gelegen¬
heit, den gleichen Befund zu erheben. Hier lagen die Verhält¬
nisse zur Kontrolle mit Diaskopie aber günstiger, da der Bogen
nicht gleichzeitig so stark vergrössert und verbreitert war, wie
in den beiden oben beschriebenen Fällen. Man konnte hier in
der Tat am fluoreszierenden Schirm den von der Aorta des¬
cendens ausgehenden Sack und bei geeigneter Verdrehung des
Kranken die Trachea davor liegen sehen. Beide Kranke sind
zurzeit noch am Leben.
Die Kenntnis zweier weiterer einschlägiger Fälle verdanke
ich mündlichen Mitteilungen meines hochverehrten Chefs, des
Herrn Geh. -Rat Prof. Dr. F. A. Hoffmann, dem ich hierfür,
sowie für das an dieser Arbeit bewiesene freundliche Interesse
meinen verbindlichsten Dank sage. In beiden Fällen war ein
Aneurysma der Aorta descendens nachzuweisen. In einem lag
ein Röntgenogramm vor von L e v y - D o r 11 - Berlin, den der
Kranke früher konsultiert hatte.
Diese Zeilen, die auch meine früher ausgesprochene Be¬
hauptung bezüglich des Schallwechsels über dem Manubrium
sterni beweisen, sollen dazu dienen, zu zeigen, dass dieses
Symptom für die Erkennung mediastinaler Erkrankungen
immerhin von Bedeutung ist, und dass es auch mangels anderer
Symptome (wie in Fall I) stets den Verdacht einer Erkrankung
des Mediastinums erwecken muss.
Aus dem pathologischen Institut zu Erlangen.
Ue er die Verwendung von Formalinlösungen bei der
U h len huth sehen Blutuntersuchung.
Von Privatdozent Dr. Herrn. Merkel.
Alle diejenigen, die sich mit biologischen Uhlenhuth-
schen Blutuntersuchungen fortlaufend beschäftigen müssen,
werden die beiden kürzlich an dieser tSelle (diese Wochen¬
schrift No. 22, pag. 1053) von Loele gerügten Mängel bei
der Handhabung dieser Methode mit ihm anerkennen, nämlich
die Schwierigkeit einerseits das Injektionsmaterial, anderer¬
seits die zur Kontrolluntersuchung notwendigen verschiedenen
Blutauszüge (in 0,9 proz. Kochsalzlösung) längere Zeit keimfrei
zu halten und man wird deshalb neue Mittel und Wege, dies
zu erreichen, wie sie L o e 1 e angibt, nur mit Freude begrüssen
können.
Was nun die Beschaffung sterilen Injektionsmaterials an¬
geht, so hat Herr Prof. Hauser, mein hochgeehrter Chef, an
anderer Stelle1) bereits darauf hingewiesen, dass wir in unserem
Institute wie Ziemke u. a. viel mit Leichenserum arbeiten,
das wir nach möglichst frühzeitiger Entnahme des Blutes aus
der Leiche und nach Absetzung des Blutkuchens vorsichtig
abpipettieren; wie dort erwähnt, schliessen wir von der Blut¬
entnahme nur die tuberkulösen Leichen aus und verwenden das
Serum aller anderen Leichen, ohne je einen Schaden für die
Tiere beobachtet zu haben. In den letzten Zeiten habe ich
1) Diese Wochenschr. Jalirg. 1904, No. 7.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1521
auch meist auf den Zusatz von Chloroform verzichtet, da durch
dasselbe immerhin eine starke Ausfällung von Eiweisskörpern
eintritt, und konserviere das blanke Serum meist unverändert
wochenlang im gut gekühlten Eisschrank. 2) Wie ich hier be¬
merken möchte, wende ich die gleiche Methode auch bei der
Konservierung der spezifischen Kaninchensera an, die steril
abgefüllt und in Eis gepackt aufbewahrt bleiben.
Mit dem direkten Zusatz von Formalin zum Injektions¬
material habe ich in früheren Zeiten auch schon Versuche ge¬
macht, aber ohne Erfolg; nach meinen bisherigen Erfahrungen
scheint dagegen der Zusatz der von L o e 1 e angegebenen For-
molkochsalzlösung sehr zweckmässig zu sein und zwar be¬
sonders dann, wenn man sich, wie bei dem Geburtsblut, auf
die Sterilität des Materials nicht völlig verlassen kann. Da
ich hier für meine Injektionen in hinreichender Menge Ge¬
burtsblut nicht erhalten kann, so verwende ich dasselbe mit
Formolkochsalzlösung versetzt und kombiniert mit Leichenblut
bezw. -serum zu den Injektionen und bin mit den erzielten
Resultaten recht zufrieden; die injizierten Gesamtmengen über¬
schreiten natürlich die von L o e 1 e angegebenen Zahlen, da be¬
kanntlich das Leichenblut in viel geringerer Menge die wirk¬
samen Substanzen enthält wie das Blut von Lebenden.
Weiter hat L o e 1 e eine Eormalinkalklösung angegeben zur
Bereitung der Blutauszüge, die zwei Vorteile in sich ver¬
einigen soll; erstens soll sie eine sehr intensiv wirkende Lö¬
sungsfähigkeit der Eiweisskörper selbst aus alten Blutflecken
und zweitens eine längere Verwendbarkeit wegen der durch
den Formalinzusatz bedingten Keimfreiheit der Lösung be¬
sitzen, beides Vroteile, von denen ich mich seitdem des öfteren
überzeugen konnte. Umsomehr bedauerte ich plötzlich eine
Beobachtung, die ich bei der Anwendung dieser Formalin¬
kalklösung machte, und die es mir ausgeschlossen erscheinen
lässt, dass man sich zu gerichtlichen Untersuchungen
ihrer bedienen dürfte:
Ich hatte in diesen Tagen eine Blutspur auf einem Stück Holz¬
diele im Auftrag des Medizinalkomitees auf Menschenblut zu unter¬
suchen. Wie immer stellte ich vorher die Spezifität meines ver¬
wendeten Serums (Prot. Nr. V) nochmals fest; obwohl ich dasselbe
als obsolut zuverlässig kannte, erzielte ich zu meiner unangenehmen
Ueberraschung folgende Reaktionen in den Blutauszügen mittelst
Formalinkalklösung :
Formalinkalklösung allein
Mensch
-2^73
Rind
Ziege
Schwein
Schaf
Taube
Huhn
Qans
bei Zusatz des Serums
No. V
negativ
positiv
negativ
positiv .(stark)
posit. (schw.)
positiv (stark)
negativ
negativ
negativ
Kaninchen-Menschenserum No. V (ebenso wie auch zwei andere
mit Menschenblut vorbehandelte Kaninchensera) tatsächlich nur
für Menschenbluteiweiss spezifisch sind, aber dennoch bei
Verwendung der angegebenen Formalinkalklösung in Auszügen
von Ziegen-, Schweine- und Schafblut einen Niederschlag von
wechselnder Intensität bilden.
Die Gefahr die in der Benützung eines derartigen Lösungs¬
mittels liegt, ist also sehr gross, denn, um auf meinen foren¬
sischen Fall zu kommen, so würde ich bei Anwendung des
bezeichneten Lösungsmittels für die zu untersuchende Blutspur
selbst dann eine Reaktion mit meinem spezifischen Kaninchen-
Menschenblutserum bekommen haben, wenn die Spur Ziegen-,
Schweine-, oder Schafblut und nicht wie im vorliegenden Falle
Menschenblut gewesen wäre; es hätte also der verhängnis¬
vollste Irrtum entstehen können, wenn ich mich auf meine
eist kürzlich (mit Kochsalzauszügen) erfolgte Spezifitätsprüfung
verlassen oder wenn ich nur vereinzelte neue Stich¬
probe n (z. B. nur I aube, Rind, Gans) vorgenommen hätte.
Es war mir nun natürlich von grösstem Interesse, fest¬
zustellen, ob diese Täuschungsreaktionen der Auszüge mit
Formalinkalklösungen auch bei Anwendung anderer spezifischer
Sera entstehen, und ich prüfte deshalb ein sehr hochwertiges
(Titer ca. 1 : 30—50 000) Kaninchen-Rinderblutserum (No. VI),
sowie ein weniger hochwertiges (Titer ca. 1 : 1000) Kaninchen-
Schweineblutserum (No. VII), dabei erhielt ich folgende Re¬
aktionen :
Blutart
Probe mit Forma lin-
kalkausziigen
Reaktion
Probe mit 0,9 proz.
NaClauszügen
Reaktion
Mensch
Rind
Pferd
Ziege
Schwein
Schaf
Taube
Qans
Huhn
bei Zusatz von
Kaninchen-
Rinderserum
No. VI
negativ
positiv
schw. pos.
deutl. pos.
negativ
stark pos.
negativ
negativ
negativ
bei Zusatz von
Kaninchen-
Rinderserum
No. VI
negativ
stark pos.
negativ
negativ*)
negativ
negativ*)
negativ
negativ
negativ
Mensch
Rind
Pferd
Ziege
Schwein
Schaf
Taube
Qans
Huhn
bei Zusatz von
Kaninchen-
Schweineserum
No. VII
negativ
negativ
positiv
positiv
positiv
stark pos.
negativ
negativ
negativ
bei Zusatz von
Kaninchen-
Schweincserum
No. VII
negativ
negativ
negativ
negativ
stark poss.
negativ
negativ
negativ
negativ
*) In konzentrierten Lösungen entstehen nach längerer Zeit
leichte homologe Trübungen!
Dieser Vorversuch machte mich natürlich zunächst stutzig,
allein es ergab mir eine sofortige Prüfung zweier weiterer Kaninchen-
Menschensera das gleiche Resultat, d. h. der Formalinkalk-
auszug von Ziege-, Schwein- und Schafblut ergab
mir gleichfalls und zwar. sofort eine deutliche
Reaktion mit jedem sonst nur für Menschenblut¬
eiweiss spezifischen Kaninchenserum.
Da wir unsere Kontrollblutproben auf Filtrierpapier angetrocknet
aufbewahren, so konnte ich das gleiche Material für eine Prüfung in
0.9 proz. Kochsalzauszügen benützten, und sie ergab mir folgende
Reaktionen:
i
Mensch
Rind
N ^ 3 • •
Ziege
C/5 0) C/5 £
Schwein
Schaf
= E Q, rt
Taube
CQ
Huhn
o
Qans
bei Zusatz von Serum
No. V
negativ
positiv
negativ
negativ
negativ
negativ
negativ
negativ
negativ
Es ergibt sich also daraus, dass mein zuerst verwendetes
) Ich glaube natürlich nicht, dass ein derartig behandeltes
Leichenserum im strengsten Sinne keimfrei ist, aber die
wenigen in demselben vorhandenen Mikroorganismen gehen dabei
wahrscheinlich rasch zugrunde!
No. 31.
Aus diesen beiden Versuchsreihen ergibt sich also, dass bei
Verwendung der L o e 1 e sehen Formalinkalklösungen auch
andere spezifische Sera falsche Resultate geben; diese Täu¬
schungsreaktionen sind z. T. sogar intensiver und treten früh¬
zeitiger ein wie die spezifische Reaktion; sie sind in der Praxis
also sehr gefährlich!
Ob die angegebene Formalinkalklösung für die vom Verf.
geschilderten quantitativen Eiweissbestimmungen zweckmässig
ist oder nicht, mit dieser Frage habe ich mich überhaupt nicht
beschäftigt, von der Anwendung für die forensi¬
sche Blutdiagnose muss diesesLösungsmittel
aber ausgeschloss e n bleiben; denn hiebei dürfen
wir uns nur in jeder Hinsicht einwandsfreier Reagenzien be¬
dienen, die eine Missdeutung der Reaktion absolut aus-
schliessen!
Es wäre ja dringend zu wünschen, ein derartigen Be¬
dingungen entsprechendes Lösungsmittel zu finden, das alte
Blutflecken in intensiverer Weise extrahiert, als es mit physio¬
logischer Kochsalzlösung gelingt, das ohne weitere Manipula¬
tionen zu den Untersuchungen verwendet werden kann und das
zugleich eine längere Keimfreiheit garantiert. Bis auf weiteres
müssen wir uns noch mit der 0,9 proz. NaCl lösung behelfen,
wobei wir die Haltbarkeit der Blutauszüge vielleicht noch durch
Zusatz weniger Formalintropfen und durch kühle Aufbewah¬
rung vermehren können.
3
1522
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
Meine Beobachtungen zeigen aber auch, wie enorm wich¬
tig es für die Zuverlässigkeit der Uhlen h u t h sehen Methode
ist, vor jeder forensischen Untersuchung auf eine bestimmte
Blutart wieder die Spezifität des zur Verwendung gelangenden
Serums, und zwar stets unter Beiziehung einer mög¬
lichst grossen Zahl von Iierblutproben zu
prüfen !
Auf diese beiden, auch von anderen Seiten betonten For¬
derungen will ich hiermit dringendst hinweisen, da sie für die
Bewertung der U h 1 e n h u t h sehen Methode von giösstei
praktischer Bedeutung sind!
Was die Ursache für die von mir beobachteten Täuschungs¬
reaktionen betrifft, so kann ich eben nur vermuten, dass sie
in der Einwirkung der beiden doch nicht gerade indifferenten
Salze (MgCla und CaCb) beim Zusammentreffen von Blut¬
auszug und Präzipitinserum zu suchen ist; Genaueres kann
ich darüber nicht angeben. Im übrigen glaube ich vorerst
nicht, dass es sich hier um spezifische Reaktionen (für Kanin-
chen-Menschen-Serum: Ziege, Schwein, Schaf;
Kaninchen - Ri nder-Serum: Pferd, Ziege, Schaf ;
Kaninchen - Sch weine-Serum: Pferd, Ziege, Schaf
usf.) handelt, doch müssten diese Fragen von kompetenterer
Seite erst geprüft werden; ich selbst hatte momentan kein
weiteres spez. Tierserum auf Lager!
Mir war es nur darum zu tun, hier in Kürze meine Be¬
obachtungen mitzuteilen und vor der Verwendung der Forma¬
linkalklösung bei der forensischen ' Blutuntersuchung zu
warnen !
Aus der Prosektur des Krankenhauses r. d. I. in München
(Dr. Eugen Albrecht).
Ein Fall von symptomlos verlaufener Bakteriämie.
Von Dr. Hermann Künzel.
Im Gegensatz zu dem Misstrauen, welches anfänglich der
bakteriologischen Verwertung des Leichenmateriales ent¬
gegengebracht wurde, haben späterhin die Stimmen an Zahl
gewonnen, welche sich für dieselbe aussprachen. Insbesondere
hat Simmonds1), gestützt auf eine lange Beobachtungs¬
reihe, mehrfach dringend die bakteriologische Untersuchung
des Leichenblutes empfohlen. Nicht nur, dass sich daraus in
vielen Fällen der Gang einer Infektion mit Sicherheit erkennen
lässt, gibt die Kultur zuweilen den wichtigsten Beweis für das
Vorhandensein einer Infektion überhaupt und legt damit den
Grundstein der anatomischen Diagnose. Simmonds führt
5 Fälle an, in welchen bei unklarem Sektionsbefund erst die
bakteriologische Untersuchung Licht brachte, indem damit das
Bestehen der Septikämie festgestellt werden konnte. Ein Ana¬
logon dazu bietet die Sektion einer im Krankenhaus r. d. I. ver¬
storbenen Patientin, worüber im Folgenden kurz berichtet
werden soll. Hier ist die Sache auch insofern interessant, als
auch die Erkrankung intra vitam keinen Anhaltspunkt für den
Verdacht der Sepsis bot.
Aus der Krankengeschichte, welche ich der Freundlichkeit
des Assistenten am Krankenhause r. d. I., Herrn Dr. F ries,
verdanke, ist folgendes hervorzuheben:
W. Anna, 70 J. alt, Wechselwärterswitwe. Eintritt am 5. März
1904. Patientin wird in äusserst elendem Zustande eingeliefert, kann
nur mit Unterstützung zweier Personen einige Schritte gehen, er¬
bricht bei ihrer Ankunft grosse Mengen gelblichgrüner Flüssigkeit.
Sie gibt an, sie sei schon über ein Jahr krank. Vor lVz Jahren habe
sie eine „sehr starke Gedärmentzündung“ gehabt, die sie sehr
herunterbrachte. Seit 1 Jahr sei sie immer schwächer und magerer
geworden, der Appetit sei immer sehr gering, und in der letzten
Zeit könne sie fast gar nichts mehr essen. Ihre Hauptbeschwerden
bestehen in äusserster Erschöpfung. Schmerzen im Magen und Er¬
brechen. Unterschenkelfraktur (rechts) vor vielen Jahren. Sonst
war sie nie wesentlich krank. Der Mann der Patientin starb im
Krankenhause 1. d. I. auf der psychiatrischen Abteilung, wo er sich
lange Zeit zur Beobachtung befand.
Status: äusserst erschöpfte alte Frau, in reduziertem Er¬
nährungszustand, mit welker gelblicher Haut, Konjunktivae wachsgelb,
jedoch kein deutlicher Ikterus. Erhebliche Struma beiderseits. Zahl¬
reiche Nävi, keine Hautblutungen. Zunge schmal, trocken, zittert
nicht beim Hervorstrecken. Gedächtnis gut, Pupillen gleich, prompt
reagierend. Reflexe erhalten, Nervensystem ohne pathologischen
Befund. Radialis und Temporalis etwas rigide. Leistendrüsen leicht
vergrössert. Am rechten Unterschenkel alte Fraktur.
Herz: von rechts her von der Lunge überlagert, Spitzenstoss inner¬
halb der Mammillarlinie, gut sicht- und fühlbar. Aktion regelmässig,
mittelkräftig, etwas beschleunigt, auskultatorisch an allen Ostien,
besonders jedoch an Spitze und Basis, kratzendes diastolisches Ge¬
räusch. , _ f
Lungen: schlechte Verschieblichkeit der unteren Grenzen, 1 ief-
stand derselben, über den vorderen Partien überall voller Klopfschall
und rauhes Vesikuläratmen; hintere Partien wegen der grossen
Schwäche der Patientin nicht zu untersuchen. Kein Husten, kein
Auswurf. w , . , ,
Abdomen nicht aufgetrieben, in der Magengegend etwas druck¬
empfindlich, Tumor daselbst nicht nachweisbar.
Urin enthält Eiweiss in Spuren, keinen Zucker, im Sediment keine
Zylinder. „ . ,
Blut: von bräunlichroter Farbe, zähklebriger Konsistenz.
Mikroskopischer Befund: Erythrozyten von sehr blasser Farbe,
Leukozyten nicht vermehrt, Geldrollenbildung völlig aufgehoben.
Spärliche Poikilozytenformen (Birn-, Ambos-, Glockenformen). Keine
kernhaltigen roten Blutkörperchen. . ,
Klinische Diagnose: Anaemia gravis (perniciosa?). Neoplasma
in abdomine? Vitium cordis, Atheromatose, Emphysema pulmonum.
7. III. Pat. hat bisher nie mehr erbrochen, erholte sich etwas
und nimmt etwas Nahrung zu sich.
in tu Do.->;rin iTräfTpalinalimp kpin Erbrechen.
nähme minimal. , _ „ , ,
12. III. Früh bewusstlos. Plötzlich Kollaps und Exitus letalis.
Temperaturen zwischen 36,2 und 36,6. Am letzten Tage früh 37,2.
Die 8 Stunden nach dem Tode vorgenommene Sektion
trug zunächst nicht viel bei, die unklare Sachlage zu erhellen.
Ich füge den Befund auszugsweise an.
Mittelgrosse, stark abgemagerte Leiche mit leicht gelblicher
Hautfarbe, Kiefer atrophisch, zahnlos, Korneae in beginnender Trü¬
bung. Fettpolster über dem Abdomen ca. Vz cm. dick, Muskulatur
dürftig, braunrot, äussere Genitalien ohne Besonderheiten, Hymen
zerstört. . . . Bei Eröffnung der Bauchhöhle zeigt sich das kontrahiert
vorliegende Colon transversum durch mehrere fibröse Spangen mit
der vorderen Bauchwand verbunden, ebenso das herabgeschlagene,
ziemlich fettarme Netz, . . . Wurmfortsatz mit glatter, blasser, glän¬
zender Serosa, in seiner ganzen Länge verwachsen, Leber in der
Herzgrube 4, in der Mamillarlinie 5 Finger breit vorliegend, . . . .
Blase mit ca. 200 ccm klaren Urin gefüllt, mit glatter blasser Schleim¬
haut. Herzbeutel ca. handtellerbreit vorliegend, mit ca. 100 ccm klarer
gelblicher Flüssigkeit; beide Lungen retrahieren sich nicht, die beiden
Pleurablätter sind in ihrer ganzen Ausdehnung mit derben, fibrösen
Spangen verwachsen. In der Bauchhöhle keine Flüssigkeit. Zwerch¬
fellstand: links IV. Interkostalraum, rechts wegen der Verwachsungen
der Leber nicht bestimmbar.
Milz mit verdickter Kapsel, durch derbe, fibröse Verwachsungen
mit der Umgebung fest verbunden, kaum vergrössert, von schlaffer
Konsistenz, auf dem Schnitt tief dunkelrot, die Pulpa leicht vor¬
quellend, Follikel deutlich, Bindegewebe nicht vermehrt. Leber
von entsprechender Grösse, mit dem Zwerchfell, der vorderen Bauch¬
wand und dem grossen Netz durch fibröse Spangen verwachsen, mit
verdickter, überall undurchsichtiger Kapsel, von verringerter Kon¬
sistenz. Auf dem Schnitt die Farbe eigentümlich braungelb, hell, mit
einem Stich in orange, der Blutgehalt sehr gering, der Saftgehalt
reichlich, die azinöse Zeichnung deutlich. In der Gallenblase ca. 30 ccm
klare, zähflüssige, goldgelbe Galle und 2 fazettierte Gallensteine von
Kirschgrösse. Grosse Gallengänge ohne Besonderheiten.
Beide Nieren etwas gross, in gering entwickelte Fettkapsel
eingehüllt, die fibröse Kapsel schwer abziehbar, die Oberfläche glatt,
mit Andeutung fötaler Lappung, in einer Niere einige hanfkorngrosse
Zysten. Auf dem Schnitt ist die Rinde ca. 4 mm breit, ganz leicht
stellenweise vorspringend, vom Mark deutlich geschieden; die Farbe
hat einen leichten Stich ins Gelbbräunliche, doch ist die Zeichnung
überall scharf, nur an ganz vereinzelten Stellen leicht trübe, das
Mark blass. Nierenbecken und Ureter mit blasser, glatter Schleim¬
haut.
Beide Lungen zeigten die von den Verwachsungen herrühren¬
den fibrösen Auflagerungen, je eine Pleuranarbe in der Spitze; die
Ränder leicht gebläht, die Konsistenz der rechten Lunge leicht all¬
gemein vermehrt, im Unterlappen noch einige umschriebene kirscn-
grosse Resistenzen; auf dem Schnitt zeigten sich diese als fast ganz
luftleere, umschriebene Bezirke; der reichlich vorhandene Saft ge¬
trübt, die Farbe dunkelrot. Bronchialschleimhaut injiziert, die grossen
Gefässe leer, Drüsen anthrakotisch. Die Konsistenz der linken Lunge
im Unterlappen leicht allgemein vermehrt; der abströmende, reichlich
vorhandene Saft ist klar; die übrigen Lungenpartien bieten ausser
etwas vermehrtem Blut- und Saftgehalt keine Besonderheiten, der
Hilus der linken Lunge zeigt dieselben Verhältnisse wie jener der
rechten.
Herz von der Grösse der Faust der Leiche, mit glattem, glän¬
zenden Perikard und reichlichem, subepikardialen Fett über dein
rechten Ventrikel, welcher zu 2/s die Spitze bildet. Die Gefässe
U Virch. Arch. 175, Heft 3, 1904.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1523
sind geschlängelt, das ganze Organ von schlaffer Konsistenz, der
rechte Ventrikel leer, mit schlaffer, stark von Fett durchwachsener
Muskulatur, von der Weite eines grossen Hühnereis. Pulmonal¬
klappen, wie die für 3 Finger knapp durchgängige Trikuspidalis, zart,
leicht beweglich, Pulmonalis mit glatter Intima, sehr weit. Muskulatur
des linken Ventrikels ist kräftig entwickelt, von hellbrauner Farbe,
schlaff, Aortaklappen zart, leicht beweglich, die Aorta weit; dicht über
dem Abgang der Koronararterien, welche nicht verengert sind und
glatte Intima besitzen, beginnen fibröse, fleckweise angeordnete, beet¬
förmige Plaques, welche sich bis über den Abgang der grossen Ge-
fässe hinaus erstrecken. Die übrige Intima der Aorta ist glatt, an
der Bifurkation finden sich ähnliche Verdickungen der Intima wie im
Arkus und der Pars ascendens. Die Mitralis für 2 Finger bequem
durchgängig, der Aortenzipfel leicht verdickt, das Endokard in bei¬
den Ventrikeln glatt, glänzend. Beide Vorhöfe mit relativ starker
Muskulatur, sehr weit und mit etwas flüssigem Blut im Lumen. Auf
einem Flachschnitt durch die Muskulatur des linken Ventrikels zeigt
diese ausser einigen gelblichen, mattglänzenden Streifchen und Fleck¬
chen keinerlei Einlagerungen.
Oesophagus und Pharynx mit blasser, grauweisser
Schleimhaut, beide Tonsillen haselnussgross, auf dem Schnitt
graurötlich, ohne Einlagerung, Kehlkopf ohne Besonderheiten, die
durch die mannsfaustgrossen Schilddrüsenlappen geringgradig kom¬
primierte Trachea zeigt blasse, dünne Schleimhaut, im Lumen einigen
zähen Schleim. Die im Ganzen weiche, von einzelnen derberen Par¬
tien durchsetzte Thyreoidea erweist sich nach einem Durchschnitt
grösstenteils als aus glashellen, schleimartigen Massen bestehend,
zwischen welchen derbere Züge, offenbar aus Bindegewebe be¬
stehend, verlaufen. Hie und da erscheinen auf der sonst fleckig gelb¬
grauen Schnittfläche dunklere, anscheinend hämorrhagische Partien.
Der Uterus ist etwa kleinhühnereigross, von derber Kon¬
sistenz, sonst, wie die Tuben, ohne Besonderheiten; beide Ovarien
sehr klein, das rechte mit einigen kleinen Zysten.
Die Tibia erscheint, ungefähr der Stelle zwischen mittlerem
und distalem Drittel entsprechend, in einem Winkel von ca. 160°
geknickt, das eine Stück noch breit vorspringend, die Fibula an der
gleichen Stelle gleichmässig verdickt. Die beiden Schenkel des
Knickungswinkels vollkommen knöchern vereinigt, vom Scheitel des¬
selben spannt sich eine knöcherne Brücke hinüber zur Fibula.
Die Venae femorales beiderseits durchgängig, flüssiges Blut ent¬
haltend.
Magen mit blasser Schleimhaut, der übrige Magendarmtraktus
ohne Besonderheiten, ebenso Pankreas.
Bei der ganzen Sektion fällt auf, dass nirgends Gerinnselbildung
beobachtet wurde, sondern sich überall nur flüssiges Blut vorfand.
Bei Durchsägung des Femur zeigt sich das Mark stellenweise
himbeerfarben, neben reichlich vorhandenem Fettmark.
Nach diesem Befund war also das Ergebnis wenig be¬
friedigend. Die vereinzelten pneumonischen Herde konnten am
ehesten den Tod erklären, zumal ja auch der Zustand des
Herzens ein ungünstiger war. Unsere Diagnose lautete
demnach;
Lobulärpneumonische Herde und entzündliches Oedem
im rechten Unterlappen.
Geringgradige Hypertrophie des linken Ventrikels, gering¬
gradige Hypertrophie und hochgradige Dilatation beider Vor¬
höfe. Obesitas des rechten Ventrikels, beginnende Fettdegene¬
ration und Pigmentierung des Myokards. Dilatation der Pul-
monalis und Aorta, Sklerose der Aorta. Obliterierende Ad¬
häsivpleuritis beider Lungen, Pleuranarben beider Spitzen,
Perihepatitis und Perisplenitis fibrosa.
Beginnende trübe Schwellung der Nieren, Pigmentablage¬
rung der Leber, Cholelithiasis. Perityphlitis fibrosa. Hoch¬
gradige Kolloidstruma mit geringer Kompression der Trachea.
Fibröse Spangen zwischen Netz, Kolon und der vorderen
Bauchwand. Atrophie der Genitalien, Zysten des rechten
Ovars und einer Niere. Hypinosis des Blutes.
Knöcherne Verwachsung zwischen Tibia und Fibula, ab¬
geheilte Fraktur daselbst.
Dem Kliniker konnten wir also auf die Frage nach der Ur¬
sache der Erkrankung und der Prostration keine Antwort
geben. Da kam uns der Zufall zu Hilfe. Wegen des Verdachtes
auf Anämie, welche ja durch die eigentümliche Farbe der Leber
eine Stütze erhalten hatte, wurde Blut zur Untersuchung ent¬
nommen und der Diener, welcher es auffing, hatte dazu ein
nicht ganz ausgekühltes, frisch sterilisiertes Glas benützt. Nach
wenigen Minuten zeigte sich infolgedessen das Blut plötzlich
lackfarben. Die sofort vorgenommene mikroskopische Unter¬
suchung liess nun zwischen den im ganzen die gewöhnlichen
Formen zeigenden Erythrozyten reichlich lange, lebhaft be¬
wegliche Streptokokkenketten erkennen. Eine Vermehrung etc.
der weissen Blutkörperchen war, soweit es sich ohne Zählung
feststellen lässt, nicht vorhanden. Die aus dem Armvenenblute
entnommenen Kulturen bestätigten den Befund in vollem Um¬
fange; überall wuchsen massenhafte, typische Streptokokken¬
kolonien ohne jede Beimengung.
Die mikroskopischen Präparate, welche von
Leber und Niere angefertigt wurden, trugen weiterhin zur
Klärung des Bildes bei.
Mit schwacher Vergrösserung zeigen die mit Hämalaun-Eosin be¬
handelten Leberschnitte die Acini etwas kleiner als gewöhnlich, nahe
beieinander stehend, die Zentralvenen mässig weit, überall in den
Acini zahlreiche braungelbliche bis goldgelbe Stippchen, das inter¬
azinöse Bindgewebe an einzelnen Stellen geringfügig vermehrt. Mit
stärkerer Vergrösserung betrachtet erscheint dieses stellenweise von
wenigen Rundzellen durchsetzt, die in ihm verlaufenden Gefässe und
Gallengänge sind kaum erweitert, die erwähnten gelblichen Streifchen
lösen sich in zahlreiche feine, goldgelbe und gelbbraune, ziemlich stark
lichtbrechende Körnchen auf, welche innerhalb der Zellen liegen und
betreffs ihrer Anordnung keinerlei charakteristische Kennzeichen
(etwa um Gallengänge herum usw.) aufweisen. Die Gallengänge er¬
scheinen überall mit hohem, scharf gezeichneten Epithel, die Leber¬
zellen, einzeln sowohl als in ihrer balkenförmigen Anordnung relativ
klein und eng aneinander gedrängt; ganz vereinzelt scheint es, als ob
das Pigment die Umgebung einiger Gallengänge bevorzuge. Bei
ca. lOOOfacher Vergrösserung (Immersion) zeigen sich die Kerne
bis auf verschwindende Ausnahmen gut gefärbt; zwischen den Leber¬
zellbalken finden sich bisweilen durchsichtige, hyalin aussehende,
offenbar geronnene Massen, in einigen wenigen Leberzellen erscheinen
runde und ovale kleine Lücken, welche in dem mit Alkohol vorbehan¬
delten Präparate offenbar ausgefallenen Fettröpfchen entsprechen.
In den dem P r a n t e r sehen Färbeverfahren 2) unterworfenen
Schnitten zeigen sich zunächst und bei schwacher Vergrösserung die¬
selben Verhältnisse. Mit Immersion betrachtend sieht man aber
zwischen den Leberzellbalken scharf gefärbte, tiefblaue Kokken, ein¬
zeln und in Anhäufungen, so dass man an besonders auffallenden
Stellen geradezu von einer Kokkenembolie sprechen könnte, da bis¬
weilen der Raum zwischen 2 solchen Bälkchen vollkommen mit den
sehr deutlich erkennbaren Kokken ausgefüllt ist. Eine charakte¬
ristische Lagerung derselben ist jedoch mit voller Sicherheit nirgends
zu finden. Auch in der nächsten Umgebung dieser Kokkenhäufchen
sind die Kerne weitaus in der Mehrzahl vollkommen distinkt, in
wenigen Fällen ganz leicht verwaschen.
Die Nierenkanälchen zeigen sich, bei schwacher Vergrösserung
gesehen, eng aneinander gelagert, die Glomeruli in gewöhnlicher
Weise etwas von der Kapsel retrahiert, an ganz wenigen Stellen sind
sie durch eine augenscheinlich homogene, im Hämalaun-Eosin-Prä-
parate rot erscheinende Masse ersetzt. Die Gefässe weisen hie und
da leicht verdickte Wandung auf, das Bindegewebe ist an ganz wenig
Stellen leicht vermehrt. Dies beschränkt sich indessen auf ganz be¬
stimmte kleine Bezirke. Im Marke liegen die geraden Harnkanälchen
dicht nebeneinander; bei stärkerer Vergrösserung zeigen sich die
Zellen der gewundenen Harnkanälchen niedrig; das Lumen ist nir¬
gends verengt, die Kerne treten durchwegs scharf hervor. Selten
erscheint das Epithel leicht abgehoben, hie und da ist aber in dem
(mit Formol gehärteten) Präparat sogar der Bürstenbesatz sichtbar.
Epithel der absteigenden Schleifen und der Tubuli recti überall von
gehöriger Beschaffenheit und mit deutlichen Kernen. Im Lumen eini¬
ger Kanälchen finden sich hier und da hyaline, zylindrische Gerinnsel,
die Gefässe sind wenig gefüllt, mit einzelnen Blutgerinnseln bisweilen
verlegt.
In einem nach P r a n t e r gefärbten Schnitt erscheinen sowohl
innerhalb der Kapillarschlingen der Glomeruli, in vereinzelten Fällen
auch innerhalb der Harnkanälchen und der Gefässe ähnliche Bakterien¬
haufen, wie oben in der Leber beschrieben, die Kerne höchstens in
der Umgebung der dichtesten Anhäufungen leicht verwaschen, in der
weitaus überwiegenden Mehrzahl indessen vollkommen scharf. Das
Epithel im ganzen gut erhalten, an wenigen Stellen mit zahlreichen
feinsten Körnchen durchsetzt, im übrigen ohne Besonderheiten.
Was das Blut anlangt, so ergab sich aus einem anderen
Versuch, dass auch auf Eis in kurzer Zeit (24 — 36 Stunden)
Lackfarbigwerden eintrat.
Auffallend ist, dass die starke Durchsetzung des ganzen
Körpers der Patientin mit Streptokokken so ohne jede ener¬
gische Reaktion einherging. Fieber war während der mehr¬
tägigen Beobachtung nicht aufgetreten, und auch sonst zeigte
sich nichts, worauf man auf das Bestehen einer schweren
Blutintoxikation hätte schliessen können. Erst die bakterio¬
logische Untersuchung nach dem quoad Todesursache so gut
wie negativen Sektionsergebnis führte auf den Weg zur Dia¬
gnose der Bakteriämie.
2) Pathol. Zentralbl. 1904.
3*
1524
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
Man kann auch angesichts dieses Falles S i m m o n d s ge¬
wiss nur zustimmen, wenn er für jeden pathologisch-ana¬
tomisch nicht geklärten Fall eine entsprechende bakterio¬
logische Untersuchung als unbedingt erforderlich bezeichnet.
Konsequenterweise wird die gleiche Forderung bakteriologi¬
scher Blutprüfung auch auf die klinische Untersuchung der¬
artiger unklarer Fälle von Anämie bei herabgekommenen In¬
dividuen ausgedehnt werden müssen.
Lieber die praktische Verwertung der Dauermessung.
Von Dr. Ernst Oertmann in Wurzen.
Die höchste Körpertemperatur, die innerhalb eines längeren
Zeitraumes bei einem Menschen vorgekommen ist, kann nur,
wie ich in dieser Wochenschrift und an anderer Stelle1) aus¬
geführt habe, durch Dauermessung gefunden werden. Sie wird
angezeigt durch den Stand eines Maximalthermometers, das
an einer geeigneten Stelle des Körpers während der ganzen Be¬
obachtungszeit gelegen hat. Die von mir vorgeschlagene
Methode, ein genau nach der Form eines Hämorrhoidalpessars
hergestelltes Maximalthermometer von dem Beobachteten
dauernd tragen zu lassen, geradeso wie der Hämorrhoidarier
dauernd sein Pessar trägt, zeigte wenigstens die Möglichkeit
der Ausführung der Dauermessung. Ich habe nach dieser
Methode bei einer Anzahl Kranker viele Stunden hindurch die
Höchsttemperatur beobachtet. Da aber das ununterbrochene
Tragen dieses Pessarthermometers mancherlei Beschwerden
verursachen würde, konnte eine allgemeine Einführung der
Dauermessung nach dieser Messungsart nicht erwartet werden.
Bei weiterer Beschäftigung mit der Frage der Dauer-
messung gelang es mir, eine Anzahl Möglichkeiten für die Aus¬
führung derselben zu finden, über die ich in Pflügers Archiv
Bd. 109 berichtet habe. Für die praktische Verwertung der
Dauermessung erschienen mir nur zwei der dort angegebenen
Methoden geeignet, nämlich die Dauermessung mit dem
Mastdarmdauerthermometer und die Dauermessung mit dem
Achselhöhlendauerthermometer. Diese beiden Messungsarten
habe ich bei Gesunden und Kranken einer eingehenden Prüfung
unterzogen und sie zu einer bequemen praktischen Verwen¬
dung geeignet gemacht, so dass ich jetzt in der Lage bin,
wochenlang durchgeführte Beobachtungen von Höchsttempera¬
turen des Menschen mitzuteilen.
Ein ganz zuverlässiges Ergebnis liefert nur die Dauer¬
messung im Mastdarm, es besitzt aber auch die Dauermessung
in der Achselhöhle eine grosse praktische Bedeutung.
Die praktische Verwertung der Dauermes¬
sung im Mastdarm e.
Das Mastdarmdauerthermometer hat eine eiförmige Ge¬
stalt, eine Länge von 3 cm, seine Skala erstreckt sich über 1 ü,
so dass 2 Thermometer, eines mit der Skala 37,5 0 C. bis
38,5 u C., ein zweites 38,5 0 C. bis 39,5 0 C. für den Arzt meistens
genügen werden. Bei höherem Steigen wird das Quecksilber
durch eine Erweiterung des Steigerohres auL
genommen. Durch diese Beschränkung auf
1 0 war es möglich, das Thermomter so klein
herzustellen, dass es beim Einlegen und
Liegen im Mastdarm sowie bei der Ent¬
leerung, die mit dem Stuhlgang erfolgt, keiner¬
lei Beschwerden verursacht. Wegen seiner
Kleinheit war aber auch seine Herstellung sehr
schwierig. Nach vielen vergeblichen ander¬
weitigen Versuchen bekam ich endlich von
Nat. Grosse. den Thermometerfabrikanten Gebrüder
Mastdarmdauer- Fritz in Schmiedefeld (Kreis Schleusingen)
thermometer. brauchbare Thermometer geliefert. Das zu¬
verlässige Stehenbleiben der Maximalstellung
wurde erreicht durch möglichste Verengerung des Raumes, der
das Quecksilberbassin mit dem Steigerohr verbindet. Infolge¬
dessen macht aber auch das Herunterschlagen des Quecksilber¬
fadens Schwierigkeiten und kann häufig durch Schwenken und
Aufschlagen nicht erreicht werden. Hier hilft nur die Zentri-
Q Pflügers Archiv Band 105 und Münch, med. Wochenschr,
Jahrgang 1904 No. 49. .
fugalkraft, indem das Thermometer mit dem Quecksilberbassin
nach aussen in einem an einem Faden hängenden Schleuder¬
säckchen heftig kreisförmig herumgeschwenkt wird.
Zum Beweise der praktischen Brauchbarkeit der Dauer¬
messung und ihrer Vorzüge vor der Einzelmessung teile ich
hier einige Beobachtungen mit, bei denen gleichzeitig Dauer¬
messung und und ein bis mehrere Male täglich ausgeführte
Einzelmessungen vorgenommen wurden.
Die erste Kurve stellt dar die Resultate von Mastdarmdauer-
messungen, die ich mehrere Wochen ohne Unterbrechung an mir
selbst ausgeführt habe. Es wurden in dieser Zeit viermal Radfahrten
von 15 — 20 km ausgeführt, deren Wirkung auf die Höchsttemperatur
des Tages durch Dauermessung deutlich erkennbar ist. Zur Er¬
klärung der Kurve ist zu bemerken, dass das Ergebnis einer Dauer¬
messung durch einen wagrechten Strich angezeigt wird, der sich über
die Zeit hin erstreckt, während der das Dauerthermometer gelegen hat
und an beiden Seiten durch senkrechte Striche begrenzt ist, die den
Anfang und das Ende jeder Dauermessung bezeichnen. Zum Ver¬
gleiche und zur Kontrolle wurden täglich 3 — 4 Messungen im Urin¬
strahl 2), eine von mir angegebene Methode, vorgenommen, von
denen jedesmal das höchste der während jeder Dauermessungszeit
erzielten Einzelmessungsergebnisse eingezeichnet ist. An den vier
Radfahrtagen fand sich das höchste Messungsergebnis im Urinstrahl
gleich nach der Rückkehr von der Fahrt.
TAG
38 0
37,5°
37 0
i - 1 = Dauermessung. O = Höchste von mehreren während
einer Dauermessung vorgenommenen
Messungen im Urinstrahl.
Die Steigerung der Körpertemperatur durch Muskeltätigkeit kann
ganz zuverlässig nur durch Dauermessung nachgewiesen werden. Dass
die Steigerung der Körperwärme durch Bewegung dann am Ende der
Bewegungszeit am höchsten Ist, und zu dieser Zeit in ihrer höchsten
Erhebung auch durch Einzelmessung richtig beobachtet wird, wenn die
Bewegung ununterbrochen in gleichbleibender Stärke stattfand, ist
nicht zu bezweifeln. Wenn die Bewegung sich aber mit Unter¬
brechungen und Erholungspausen vollzieht oder gegen Ende mit ge¬
ringerem Kraftaufwand ausgeführt wird, so wird die nach Beendigung der
Bewegung vorgenommene Einzelmessung nicht mehr die höchste durch
die Muskeltätigkeit herbeigeführte Temperatursteigerung anzeigen.
Ich habe dies durch einen an mir selbst vorgenommenen Versuch be¬
stätigt. Während ich gleich nach der Rückkehr von einer 20 km
weiten Radfahrt im Urinstrahle die Temperatur von 37,5 0 C mass und
an diesem Tage durch Mastdarmdauermessung 38,0 u C als Höchst¬
temperatur feststellte, fand ich am folgenden Tage nach derselben,
zu gleicher Tageszeit unternommenen Fahrt, bei der ich aber 4 Kilo¬
meter vor dem Endziele Va Stunde gerastet hatte, nur 37, 0U C im Urin¬
strahle bei ebenfalls 38,0° C Dauermessungsbefund.
Es ist somit bei der Verordnung von Bewegungstherapie für
Rekonvaleszenten, Phthisiker usw., bei denen sich durch Steigerung
der Temperatur eine Ueberdosierung anzeigt, die durch die Be¬
wegung bedingte Temperatursteigerung in ganz zuverlässiger Weise
nur durch Dauermessung festzustellen.
Für die Beobachtung der Körperwärme der Phthisiker entspricht
die Mastdarmdauermessung allen Ansprüchen am besten. Es wird
von P e n z o 1 d t und vielen anderen bei Phthisikern die Anwendung
der Mastdarmmessung verlangt, weil die Mund- und Achselhöhlen¬
messung infolge ihrer vielen Fehleriiuellen unzuverlässig sind. Dann
zeigt sich bei allen ärztlichen Leitern von Heilanstalten das Be¬
streben, die Körperwärme Lungenkranker möglichst häufig zu
messen, in der Besorgnis, dass in den zwischen den Messungszeiten
liegenden Zeitabschnitten unbemerkt ein bei Lungenschwindsucht sehr
häufig vorkommendes Eieber von ganz kurzer Dauer ablaufen könne.
Die Mastdarmdauermessung erfüllt diese Anforderungen an die
Messung in vollkommener Weise, indem die Beobachtung der Höchst¬
temperatur an dem sichersten Messungsorte stattfindet und sich ohne
irgend eine Unterbrechung über den ganzen Zeitraum der Beob¬
achtung erstreckt.
Die folgende Kurve stellt die 4 Wochen lang durchgeführte Mast¬
darmdauermessung bei einem phthisisverdächtigen, hereditär be¬
lasteten Manne von 26 Jahren dar, der vor einigen Jahren eine Pleu¬
ritis überstanden hatte und jetzt an pleuritischer Reizung litt. Der
Kranke kam jeden Tag früh 8 Uhr von seinem 2 km entfernten Wohn¬
orte in meine Sprechstunde, wo ich zuerst durch Aftermessung seine
2) E. Oertmann: Eine einfache Methode zur Messung der
Körpertemperatur, Pflügers Archiv, Bd. 16, und Z u n t z und
Schu m b u r g, Physiologie des Marsches, Bibliothek Coler, S. 121
bis 128.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1525
Körperwärme bestimmte. Diese Einzelmessung führte ich täglich aus,
um die Zuverlässigkeit der Dauermessung zu prüfen. Dann legte ich
ihm das Mastdarmdauerthermometer ein, das er bis zum anderen
Morgen gegen 7 Uhr, zu welcher Zeit regelmässig Stuhlgang erfolgte,
trug.
TAG
36°
3 7,5° ■
37°
1 - 1 — Dauermessung im Mastdarm.
= Einzelmessung im Mastdarm, die beim Beginn jeder ein¬
zelnen Dauermessung vorgenommen wurde.
Der Kranke hat während der ganzen Zeit durch die Messung
nicht die geringste Belästigung erlitten und wurde nur durch die
Wiederaufnahme der Arbeit an der Fortsetzung der Messung ge¬
hindert. Bei der Lungenschwindsucht lässt sich die Dauermessung
vielfach anwenden, ihre grösste Wichtigkeit besitzt sie hier aber zum
Nachweis der kurzdauernden und unerwartet sich einstellenden Tem¬
peratursteigerungen.
Sie ist bei Lungenschwindsucht zu verwerten:
1. bei bestehendem Fieber zum sicheren Nachweise der höchsten
Steigerung:
2. bei Verdacht latenter Phthise, besonders auch bei Chloro-
tischen, wenn bei diesen latente Phthise vermutet wird;
3. bei Prüfung der Fieberlosigkeit solcher Kranker, die in eine
Heilanstalt aufgenommen werden sollen;
4. bei Tuberkulinbehandlung, um die Fieberlosigkeit vor der Ein¬
spritzung und das Verhalten der Temperatur nachher sicherer zu be¬
obachten, als es jetzt möglich ist.
Die Dauermessung im Mastdarm ist der Finzelmessung be¬
sonders in allen den Krankheitsfällen überlegen, in deren Verlauf
Fieber von ganz kurzer Dauer eintreten kann.
Die genaue Messung der Körperinnenwärme wird nur erreicht
durch Messung im Mastdarm und der Vagina. Die von mir ausgeführte
Messung der Körperwärme fand ausschliesslich mit dem oben be¬
schriebenen Mastdarmdauerthermometer statt, das in das Rektum ein¬
geführt wird, wo es mehr als 5 cm tief ruht, bis es durch den nächsten
Stuhlgang entleert wird. Beim Beginn meiner Versuche benutzte ich
auch mehrfach ein dem beschriebenen gleiches, nur noch mit einem
Knopfe versehenes Thermometer, an dem ein Faden angebunden war,
der zum Anus heraushing und zum Herausziehen des Thermometers
diente. Auch diese Ausführung bietet keine Schwierigkeit und ge¬
währt den Vorteil, dass die Ablesung zu jeder Zeit stattfinden kann.
Allmählich stellte sich aber bei den beobachteten Kranken ein geringer
Reizzustand des Sphincter ani ein, so dass ich vorläufig von dieser
Methode wieder abgesehen habe.
Für die Vaginalmessung ist die Ein¬
legung eines kleinen zylindrischen, 3 cm
langen Maximalthermometers in den Schen¬
kel eines Uteruspessars erforderlich. Von
den gebräuchlichen Pessaren eignet sich nur
das Thomaspessar, in dessen dicken Rücken,
der ins hintere Scheidengewölbe zu liegen
kommt, eine Vertiefung anzubringen ist, in
die sich das Dauerthermometer einbetten
lässt. Thermometerfabrikanten Gebrüder
Fritz in Schmiedefeld, Kreis Schleusingen,
sind bereit, in ein eingeschicktes Pessar
diese Aushöhlung anzubringen.
Praktische Verwertung der
Dauermessung in der Achsel¬
höhle.
Wenn die höchste Tagestemperatur mit
Sicherheit bestimmt werden soll, muss die
oben beschriebene Mastdarmdauermessung
in Anwendung kommen. Dagegen ist für viele praktische Zwecke die
sehr bequeme Achselhöhlendauermessung zu gebrauchen. Ausgeführt
wird dieselbe mit dem etwa 4 cm langen Achselhöhlenthermo¬
meter von der Form eines dünnen Zylinders, dessen Skala sich über
P/20 erstreckt. Zwei Thermometer umfassen den nötigen Umfang
der Skala: 37,0° C bis 38,5° C und 38,5° C bis 40,0° C. Das Achsel¬
höhlendauerthermometer ist an beiden Seiten mit Oesen versehen, an
die Gummibändchen befestigt sind. Soll das Thermometer eingelegt
werden, so wird vorher ein gut klebender, Vz cm breiter Heftpflaster¬
streifen so über die Schulter gelegt, dass er über das periphere Ende
des Schlüsselbeines führt, vorn und hinten oberhalb der Achselhöhle
endet. An beide Enden des Heftpflasters wird ein Knopf befestigt,
an dem das Thermometer mit seinen Gummibändchen so anzuknöpfen
ist, dass der Quecksilberbehälter mitten in der Achselhöhle liegt.
Zum täglichen Ablesen wird das Thermometer abgeknöpft und nach
dem Zurückschlagen der Quecksilbersäule wieder eingelegt, während
der Heftpflasterstreifen liegen bleibt und 1 bis 2 Wochen, manchmal
Uteruspessar
(Thomas) mit ein¬
gebettetem Dauer¬
thermometer.
noch länger, aushält. Die Dauermessung in der Achselhöhle gibt nur
dann eine ganz zuverlässigen Befund, wenn die Achselhöhle während
der Messungszeit dauernd geschlossen ist. Ein solcher Dauerschluss
findet statt, wenn der Kranke infolge
einer Verletzung, Entzündung oder
Operation am Arm oder Hand seinen
Arm dauernd in einer Mitella tragen
muss. Ich wende in solchen Fällen die
Dauermessung regelmässig an; sie hat
hier auch praktischen Wert, weil von
ihrem Ergebnis es hauptsächlich ab¬
hängt, ob der Wundverband erneuert
werden muss oder noch länger liegen
darf.
In allen anderen Fällen ist die mit
dem Achselhöhlendauerthermometer be¬
setzte Achselhöhle nicht dauernd fest
geschlossen und dadurch die Unsicher¬
heit dieser Messung bedingt. Ich bin
aber doch erstaunt gewesen, wie gut die
durch Einzelmessungen kontrollierten
Ergebnisse trotzdem waren und wie häufig ich höhere Temperaturen
als die zweimal täglich in der anderen Achselhöhle ausgeführte K011-
trollmessung ergeben hatte.
Die folgende Kurve gibt die Temperatur einer an Pleuritis ex¬
sudativa erkrankten Frau an, gemessen durch Achselhöhlendauer¬
messung und 2mal täglich ausgeführter Einzelmessung in der anderen
Achselhöhle. Es zeigt sich, dass am 10. Messungstage ein mit Frost
einsetzendes Fieber von ganz kurzer Dauer durch Achselhöhlendauer¬
messung angezeigt wurde, während die Einzelmessung es nicht nach¬
wies. In diesem Falle ist der eigentliche Zweck der Dauermessung
erfüllt, nämlich der Nachweis ganz kurz dauernder Fieberwellen, die
der Einzelmessung entgehen.
TAG
39°
36,5°
38°
31,5°
37 0
• • = Einzelmessungen in der anderen Achselhöhle.
1— — 1 = Dauermessung in der Achselhöhle.
* = Frost am Nachmittage des zehnten Tages.
Die Achselhöhlendauermessung im allgemeinen ist mit gutem Re¬
sultate nur anzuwenden bei im Bette liegenden, gut genährten Men¬
schen. Ich habe es sehr zweckmässig gefunden, bei nicht gut
schliessender Achselhöhle den bettlägerigen Kranken zu veranlassen,
oft mindestens alle 2 Stunden und sobald er selbst Fieber vermutet,
seine mit dem Dauerthermometer besetzte Achselhöhle yA Stunde
zu schliessen zu einer Einzelmessung. Wenn dann der Arzt nachsieht,
stellt er fest, welches die höchste Temperatur dieser Einzelmessung
gewesen ist. Durch häufige Ausführung und lange Dauer jeder Einzel¬
messung nähert sich diese Messungsart einer einwandsfreien Dauer¬
messung.
Bei den ausser Bett befindlichen Menschen liefert die Achsel¬
höhlendauermessung, ausser beim Tragen des Arms in der Mitella,
keine genauen Resultate. Aber auch hier bleibt meistens der Dauer¬
messungsbefund nur einige Zehntel hinter der gleichzeitig durch Ein¬
zelmessung in der anderen Achselhöhle oder im Urinstrahl gefundenen
Wärme zurück. Ziemlich zuverlässig ist die Achselhöhlendauer¬
messung während des Radfahrens, wohl deshalb, weil der Radfahrer
seine Arme dauernd fest an den Körper anlegt. So fand ich gleich
nach Beendigung einer anstrengenden Radfahrt bei mir durch Einzel¬
messung in der Achselhöhle 37,4 0 C, im Urinstrahl 37,5 0 C. Das an
diesem Tage getragene Mastdarmdauerthermometer war auf 37,9° C
gestiegen, während am Achselhöhlendauerthermometer 37,4 0 C ab¬
gelesen wurden. Letzteres gab somit die wirkliche Achselhöhlen¬
höchsttemperatur an, die während des Radfahrens bestanden hatte.
Durch die Achselhöhlendauermessung erhält man zwar nicht
einen ganz sicheren Befund der höchsten Achselhöhlentemperatur,
aber doch das Ergebnis, dass zurzeit des Liegens des Dauerthermo¬
meters die Körperwärme mindestens so hoch gestiegen war, als das
Dauerthermometer anzeigte. Auf Grund dieser Bewertung der
Achselhöhlendauermessung ist dieselbe in folgenden Fällen von Wert.
1. Bei ungenügendem oder unzuverlässigem Pflegepersonal. Der
Arzt liest bei seinen täglichen Besuchen des Achselhöhlendauer¬
thermometer ab und weiss dann sicher, dass die Höchsttemperatur
seit seinem letzten Besuche mindestens die angezeigte gewesen ist.
Es werden durch diese Messungsart die Abendmessungen ziemlich
gut ersetzt und im allgemeinen die abendlichen Steigerungen sicherer
gefunden als durch unzuverlässige Messungen ungeübter Pfleger.
So wies ich z. B. bei einem chlorotischen Mädchen, bei dem ich wegen
seiner Hinfälligkeit Fieber vermutete, nur durch Dauermessung in der
38
37
Achselhöhlen¬
dauer¬
thermometer.
Nat. Grösse.
15^ö
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
Achselhöhle abendliches Fieber nach. Vormittags fand ich die Kranke
in meiner Sprechstunde fieberfrei und die abends von^ den Ange¬
hörigen ausgeführten Messungen hatten auch keine Steigerungen
ergeben.
2. Die Achselhöhlendauermessung scheint mir bei Beobachtung
der Körperwärme der Wöchnerinnen von besonderem praktischen
Werte zu sein. Die Dauermessung in der Achselhöhle gibt hier des¬
halb einen zuverlässigen Befund, weil zur Zeit des Wochenbettes eine
allgemeine Adipositas besteht, wodurch die Achselhöhle wesentlich
besser geschlossen ist und weil ferner die Wöchnerinnen ruhig liegen.
Den Wert der Achselhöhlendauermessung bei Wöchnerinnen beweist
folgende kürzlich von mir gemachte Beobachtung. Bei einer Wöch¬
nerin, die ich schon seit dem letzten Monate der Gravidität an
Nephritis behandelte, ergab einige Tage p. p. die Messung der He¬
bamme eine Abendtemperatur von 37,4° C. Nun begann ich, neben¬
her die Achselhöhlendauermessung anzuwenden. Während in den
nächsten 8 Tagen die Hebammenmessungen immer gegen 37,5° C
blieben, fand ich 4 Tage lang durch Dauermessung in der Achselhöhle
über 38° C. In diesem Falle hat entweder die Hebamme flüchtig ge¬
messen oder, was wahrscheinlicher ist, die Abendtemperatur absicht¬
lich etwas niedriger notiert, um die unangenehmen Massregeln, die
bei bestehendem Fieber der Wöchnerinnen ergriffen werden, zu ver¬
meiden. Die Dauermessung in der Achselhöhle der Wöchnerinnen
ist als eine gute, praktische Beobachtungsmethode der Höchst¬
temperatur der Wöchnerinnen und als eine ausgezeichnete Kontrolle
der Hebammenmessung zu empfehlen. Will man aber ganz einwand¬
freie Ergebnisse haben, so ist auch bei Wöchnerinnen die Mastdarm¬
dauermessung anzuwenden. Zum Schlüsse teile ich in der folgenden
Tafel die nach 5 Methoden gleichzeitig an demselben Kranken ge¬
fundenen Körpertemperaturen mit. Das Fieber trat bei einem 47 jähr.
Mann im Anschlüsse an eine Lungenblutung - ein. Ich nahm jeden
Vormitag V2II Uhr und abends x/27 Uhr die Einzelmessungen in der
Achselhöhle und im Mastdarm vor, las das Achselhöhlendauerther-
I - 1 = Dauermessung im Mast- o - o = Einzelmessung in der Achsel-
. . ■ S darin. höhle.
• • = tinzelmessung im Mast- + + = Messung im Urinstrahl,
darm.
I - 1 = Dauermessung in der Achselhöhle.
mometer ab, nach stattgehabter Ausleerung erfolgte die Ablesung
und Wiedereinführung des Mastdarmdauerthermometers. In den
letzten Beobachtungstagen fügte ich noch als fünfte Messungsart die
Messung im Urinstrahl hinzu.
Bei der Prüfung vieler Thermometer fand ich, dass manches
Mastdarmthermometer in einzelnen Fällen versagt, indem es seine
Höchststellung nicht genau behält. Es ist deshalb beim Gebrauche
eines neuen Thermometers die Zuverlässigkeit desselben erst durch
Kontrollmessungen zu prüfen. Bei dem Achselhöhlenthermometer
habe ich ein Versagen nicht beobachtet.
Nachdem ich die Ausführbarkeit und genügende Zuver¬
lässigkeit der Dauermesung durch obige Mitteilungen bewiesen
und zugleich gefunden habe, dass die Ausführung der Dauer-
messung sowohl im Mastdarm als auch in der Achselhöhle sich
ohne Belästigung der Beobachteten vollzieht, darf ich bei der
Wichtigkeit des Nachweises der Höchsttemperatur, deren
sichere Feststellung ja nur durch Dauermessung erfolgen kann,
wohl behaupten, dass die Dauermessung in der Praxis eines
jeden Arztes geeignete Verwendung finden kann.
Die beschriebenen Dauerthermometer für Mastdarm und
Achselhöhle werden von der Firma Gebrüder Fritz, Fabrik
von Thermometern und Glasinstrumenten in Schmiedefeld
(Kreis Schleusingen) hergestellt, und können von dort direkt,
wie auch von Alexander S c h ä d e 1 - Leipzig und Franz
Hugershof - Leipzig bezogen werden.
Aus dem Diakonissenhaus zu Halle a. S.
(Oberarzt Dr. W i 1 1 h a u e r).
Kurze Beiträge zur Wirkung des Viferrals.
Von Dr. Carl M a c k h, prakt. Arzt in Nördlingen.
Ein Schlafmittel, das schnell und prompt einen gesunden,
erquickenden Schlaf bewirkt, für den menschlichen Körper un¬
schädlich ist, nach dem Erwachen die Frische des Geistes und
Körpers nicht beeinträchtigt und schliesslich quoad pecuniam
auch für die grosse Mehrzahl nicht unerreichbar ist, dürfte
wohl ein ideales genannt werden. Bis jetzt weist unser Arznei¬
schatz ein solches nicht auf; doch lassen die fortwährenden Be¬
mühungen der Aerzte und Chemiker darauf schliessen, dass
auch dieses Ziel noch erreicht werden wird. Dr. Gärtner-
Halle a. S. glaubt, mit dem von ihm gefundenen Viferral jenem
Ziele näher gekommen zu sein. Ich will hier nicht näher auf
die chemischen Eigenschaften dieses Mittels eingehen, indem
ich auf Gärtners Ausführungen (Therap. Monatsh., März
1905) verweise. Bemerkt sei hier nur, dass das Viferral eine
polymere Modifikation des Chlorais ist, die gegenüber dem
alten Schlafmittel Choral ohne ätzende Wirkung auf die Magen¬
schleimhaut ist. Auf Anregung und im Anschluss an die Ver¬
suche Witthauers (Therap. Monatsh., März 1905) seien
hier weitere Fälle, in denen das Mittel angewandt wurde,
genannt.
Fräulein Br. 39 J. Retroflexio uteri, Hysterika, nach Alexander-
Adams operiert. Klagt am 4. Tage nach der Operation über Herz¬
klopfen, Schlaflosigkeit. 1 g Viferral: schläft die halbe Nacht, ist
ruhig; nächste Nacht 1 g V. : schläft sehr gut.
E. S. 45 J. Meningitis tub. Sehr unruhig, dumpfer Kopfschmerz.
1 g V. bei 38,7° Temp., schläft gut.
Frau G. 50 J. Myoma uteri. Laparotomie. Am 10. Tage nach
der Operation Schlaflosigkeit, Unruhe. 1 g V. : guter Schlaf.
Frau N. 26. J. Endometritis polyposa. Durch monatelange
Blutungen sehr aufgeregt, Hysterika, schläft oft ganze Nächte nicht.
Auf 1 g V. : „sehr gut geschlafen, fühle mich heute wohl und kräftig“.
Fräulein U. 38 .1. Ren mobilis, Hysterika. „Seit Monaten schlaf¬
los.“ 1 g V. 3 Tage hintereinander: „schläft schon einige Stunden“.
1 g V.: schläft gut.
Frau N. 49 J. Endometritis follic., Colitis spastica, Neurasthenie,
Schlaflosigkeit seit Wochen. 1 g V.: schläft nicht (eigene Angabe). Am
nächsten Tage wieder 1 g V. : schläft nach Angabe der beobachtenden
Schwester 5 Stunden, nach eigener Angabe „ein wenig“. Später auf
1 g V.: schläft gut.
Frau B. 41 J. Melancholie, Hysterie: häufiges Aufschreckeu
aus dem Schlafe mit sehr unangenehmen,' bedrückenden Träumen.
1 g V. : „wenigstens Ruhe vor den Träumen“. Am nächsten Tag
1 g V. : schläft ganz gut.
Frau S. 74 J. Neuritis nach Herpes zoster. Andauernde Schlaf¬
losigkeit. 1 g V. : schläft gut. Bei Schmerzanfall 1 g V.: schläft
gar nicht
Frau B. 33 J. Arthritis rheum., beginnende Deformierung, an¬
dauernd starke Schmerzen. 1 g V.: schläft gar nicht, ebenso bei
1,5 g. Weitere Gaben stets ohne Erfolg.
Fräulein St. 33 J. Influenza, Hysterie. 1 g V.: schläft nicht.
1,5 g V.: schläft etwas, später schläft gut.
Frau K. 32 J. Retroflexio uteri mol., Hysterie, Schlaflosigkeit.
1 g V.: schläft gut.
Frau S. 46 J. Retroflexio uteri fin. 1 g V. : schläft gut.
Fräulein B. 42 J. Influenza, Hysterie, Klimakterische Be¬
schwerden. 1 g V.: schläft gut.
Fräulein Th. 56 J. Arthritis chron. Es sei erlaubt auf die
Krankengeschichte kurz einzugehen: Früher öfter Rheum. articul.,
vor 5 Jahren Amputatio mammae dextrae wegen Karzinom. An¬
dauernd Schmerzen im rechten Hüftgelenk, hinkt stark, keine be¬
sondere Veränderung nachzuweisen, dann Schmerzen im rechten
Oberarm und Schultergelenk. Später dumpfer Kopfschmerz, starke
Abnahme der Sehfähigkeit, schliesslich Pneumonia dextr., Exitus.
Sektion: Karzinose der rechten Brustwand, Pleura und Lunge, der
Dura über dem Sinus cavernos., beide N. optici in Karzinommassen
eingebettet; Karzinom des rechten Schenkelhalses. Litt sehr häufig
an Schlaflosigkeit. 1 g V.: schläft oft gut, sind jedoch Schmerzen
vorhanden, schläft sie nie.
Frl. J. 29 J. Phthisis pulm. progr., Hysterika. 1 g V.: schläft
gar nicht. 1,5 g V.: schläft gut; jedoch zeigt Pat. folgendes Ver¬
halten: Wird V. drei Tage nach einander gegeben, schläft sie auf die
dritte Gabe nicht, wird dagegen nach je zwei Tagen einmal aus¬
gesetzt, schläft sie stets gut.
Frl. K. 77 J. Eczema squamosum chron., Juckreiz. 1 g V.:
schläft nicht. 1,5 g V.: schläft stets gut.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1527
Die Erfahrungen, die ich in der verhältnismässig kurzen
Zeit eines halben Jahres über das Viferral sammelte, kann ich
folgendermassen zusammenfassen :
Genommen wurde das Mittel stets gern, selbst von sehr
diffizilen Patienten.
Die gewünschte Wirkung blieb aus
1. wenn starke Schmerzen vorhanden waren,
2. bei Temperaturen über 39°.
Zu 1. sei noch bemerkt, dass Viferral auch dann sehr gute
Dienste tat, wenn besonders bei rheumatischen und neuralgi¬
schen Schmerzen 2 Stunden vorher Aspirin verabreicht war.
In allen übrigen Fällen, insbesondere bei der reinen ner¬
vösen Schlaflosigkeit, war die Wirkung des Viferrals fast aus¬
nahmslos eine gute. Speziell zeigte es sich bei den Beängsti¬
gungen, die so häufig ohne feststellbarem Grund nach grösseren
Operationen auftreten, von sehr beruhigendem Einfluss. Auch
die von vielen Autoren auf Hysterie zurückzuführende Schlaf¬
losigkeit bei Retroflexio uteri war gewöhnlich durch Viferral
zu beseitigen.
Was die Dosierung des Mittels anbelangt, so sind Gaben
von unter 1,0 von nicht ausgesprochener Wirkung, jedoch
kommt man mit 1,0 für gewöhnlich zum Ziel; manchmal aller¬
dings tritt die Wirkung erst bei 1,5 g ein. Irgend ein schädi¬
gender Einfluss auf Magen oder Darm, Herz oder Niere war
selbst bei konstanter Darreichung nicht zu konstatieren. Auch
waren die Patienten nach dem Erwachen stets frei von Be¬
nommenheit, Kopfdruck, Somnolenz und sonstigen Unannehm¬
lichkeiten, wie sie häufig nach Einnahme von Schlafmitteln
geklagt werden. Ferner scheint eine Gewöhnung an das Mittel
sich nicht einzustellen.
Das Viferral zeigt sich also als ein nicht zu unterschätzen¬
des Hypnotikum und verdient, weiterer Versuche gewürdigt zu
werden, wie ja auch in der letzten Zeit veröffentlichte Be¬
obachtungen von anderer Seite bewiesen. Mein früherer Chef,
Herr Dr. W i 1 1 h a u e r, hat das Mittel auch in der Privat¬
praxis fast ausnahmslos mit bestem Erfolg verwandt und stellt
es dem Trional und Veronal als ebenbürtig zur Seite. Den
Kopfdruck, den nicht wenige Patienten nach letzterem am
nächsten Tag klagten, konnte ich nach Viferral nie beobachten.
Mitteilung aus dem Münchener physikaf.-therapeut. Institute
(Prof. Dr. Rieder).
Ein Fall von künstlich erzeugtem Hautemphysem.
Von Dr. med. et phil. P. P r e g o w s k i - Warschau-München.
Während meiner im Münchener physikalisch-therapeu¬
tischen Institute ausgeführten Versuche mit der hypästhe-
sierenden Wirkung des stärkeren Luftstromes auf die Haut *)
habe ich die beströmten Hautstellen mit der Nähnadel
gestochen. Die Versuche wurden hauptsächlich an mir
selbst gemacht. Der Luftstrom wurde durch die Instituts¬
luftpumpe erzeugt, welche die Inhalatorien mit kompri¬
mierter Luft versorgt. Der Druck des Luftstromes, an dem
Luftpumpenmanometer gemessen, konnte nur bis zu der Stärke
von 3,5 Atmosphären gesteigert werden. Das Leitungsrohr
sowie seine Oeffnung, durch welche die Luft herausströmte,
waren rund 1 cm im Diameter dick, so dass die Luft in gerader
Richtung ausströmte. Die Rohröffnung war mit einer durch¬
löcherten Platte bedeckt. Die Temperatur der aüsströmenden
Luft war dicht an der Rohröffnung ca. 18° C, in einer Ent¬
fernung von ca. 1A cm von derselben ca. 21° C. Die be-
strömte Hautpartie war ca. 1 A cm von der Rohröffnung ent¬
fernt. Die Luft wurde vor ihrem Eintritt in die Pumpe durch
die entfettete Watte filtriert.
Am 15. VIII. 05 begann der Versuch an der äusseren Fläche des
linken Vorderarms. Es wurde während der Beströmung mehrere
Male gestochen. Zirka 15 Minuten nach der % Minuten dauernden
Beströmung fiel es auf, dass an der beströmten Partie der Haut
mehrere papulöse Gebilde aufgetreten warpn. Diese papulösen Er¬
hebungen waren blass und beim Betasten ein wenig schmerzhaft.
Die Bedeutung dieser Gebilde war mir zuerst unklar.
*) Die betreffende Arbeit wird in der „Monatschr. f. Psychiatrie
u. Neurol.“ von diesem Jahre erscheinen.
Am 16. d. M. wurde der Versuch an der Brusthaut, nahe dem
rechten Sternalrande, in der Nähe der II. Rippe gemacht. Gleich
nach der Beströmung wurde die ganze beströmte Hautpartie deutlich
gewölbt. Die in dem vorigen Versuche aufgetretenen papulösen Ge¬
bilde waren hier nicht zu bemerken. Durch das Palpieren wurden
ausser dem Schmerzgefühle nooh deutliche Krepitationsgeräusche
hervorgerufen. Bei dem Anklopfen nach dem ganz leichten Anlegen
des Plessimeters oder des Fingers war ein bedeutender Unterschied
zwischen der untersuchten und allen übrigen Hautpartien der Brust
wahrnehmbar. Hier war ein deutlicher tympanitischer Schall vor¬
handen. Bei schwachem Massieren breiteten sich die Krepitations¬
geräusche aus, mit denen auch geringe Schmerzgefühle einhergingen.
Es war kein Zweifel, dass es sich hier um subkutane Ansammlung
von Luft handelte. Nach geringgradiger Massage waren alle er¬
wähnten Erscheinungen bis zum Morgen des nächsten Tages völlig
verschwunden.
Am folgenden Tage (17. VIII.) wurde der Versuch an der
inneren Fläche des linken Oberschenkels in seinem unteren Drittel
wiederholt. Die Beströmung dauerte 2 Minuten hindurch. Die Nadel
wurde mit grösserem Drucke eingestossen. Gleich nach der Be¬
strömung fiel es auf, dass die ganze innere Fläche des linken Ober¬
schenkels vom Knie ab bis zum Lig. Poupartii und von der Mittel¬
linie der vorderen Fläche bis zu der Mittellinie der inneren Fläche in
der unteren Hälfte und weit über diese Linie in der oberen Hälfte des
Oberschenkels deutlich an Volumen Zunahmen. Die vorgenommene
Messung ergab folgende Daten: 1. an der Grenze zwischen unterem
und mittlerem Drittel betrug der Umfang des linken Oberschenkels
39 cm, der des rechten Oberschenkels in derselben Höhe 38 cm;
2. an der Grenze zwischen mittlerem und oberem Drittel 4872 cm,
wenn der rechte Oberschenkel an derselben Stelle 4672 cm dick
war; 3. in seinem obersten Teile betrug der Umfang des linken
Oberschenkels 5014 cm, wenn der des rechten Oberschenkels, in
derselben Höhe gemessen, 4872 cm gross war. — Der ganze erwähnte
umfangreicher gewordene Teil des Oberschenkels sah gewölbt und
abgerundet aus. — Beim Palpieren entstand an allen berührten
Stellen ein dumpfes Schmerzgefühl. Auch während des Gehens, sowie
bei passiven Bewegungen trat in der gewölbten Partie des linken
Oberschenkels ein Schmerzgefühl ein, welches in dieser ganzen Partie
diffus ausgebreitet war. Bei dem stärkeren Palpieren traten auf der
ganzen erwähnten Fläche deutliche Krepitationsgeräusche auf. Nach
jeder Palpitation glichen sich die eingesunkenen Stellen nicht sofort
aus und blieben einige Zeit eingesunken, sodass die Haut eine teig¬
artige Beschaffenheit zeigte. Bei Perkussion trat auf der ganzen
Fläche ein auffallender tympanitischer Schall auf. Bei dem Anschlägen
mit der ausgestreckten Hand entstand ein dumpfes Geräusch, dem¬
jenigen ähnlich, welches bei dem Anschläge auf stark aufgeblähte
tierische Harnblasen entsteht. Auch bei dem Darübergleiten mit der
Hand über die erwähnte Partie des linken Oberschenkels entstand
ein eigentümliches Geräusch, welches an dasjenige erinnerte, welches
bei demselben Verfahren mit der stark aufgeblähten tierischen Harn¬
blase zu stände kommt.
Wir hatten es hier offenbar mit einem auf eine 40 cm lange
und 10—20 cm breite Fläche ausgedehnten subkutanen Emphysem
zu tun. Dass es ähnlich war, wie dasjenige in dem vorigen Versuche,
und ähnlich, wie die papulösen Gebilde in dem ersten Versuche,
direkt durch unsere Beströmung erzeugt wurde, war unzweifelhaft.
Zur Beseitigung des erwähnten Hautemphysems nahm ich ein
warmes Bad, legte mich ins Bett und machte einen Priessnitz-
umschlag auf den Oberschenkel.
Am 18. VIII. Das Schmerzgefühl ist sowohl bei aktiven und
passiven Bewegungen, wie auch auf Druck etwas grösser, als am
vorigen Tage. Beim Betasten fühlt sich die Haut an der inneren
Fläche des linken Oberschenkels viel wärmer an, als die Haut des
rechten Oberschenkels. Die Herabsetzung der Elastizität der Haitf
ist bedeutend geringer als gestern: nach stärkerem Palpieren gleichen
sich die eingesunkenen Stellen schnell aus. Es sind drei Erschei¬
nungen im Allgemeinbefinden zu verzeichnen: 1. ein leichtes Uebel-
befinden; 2. der sonst nie vorher bei mir aufgetretene Kopfschmerz,
welcher diffus über den ganzen Kopf verbreitet und etwas stärker
in der Gegend der linken Schläfe ist; 3. eine geringe Steigerung der
Körpertemperatur :
Temperatur: 902 Uhr vorm. 37,0° C. U/s Uhr nachm. 37,5° C.
1P/2 „ „ 37,30 c. 37» „ „ 37,50 C.
9 Uhr abends 37,2° C.
Einreibungen mit Ameisenspiritus und Priessnitzumschläge bei
Tag und Nacht.
19. VIII. Es bestehen dieselben lokalen Erscheinungen wie
gestern. Allgemeinbefinden gut. Kein Gefühl von Uebelbefinden,
keine Kopfschmerzen.
Temperatur: 9l/2 Uhr vorm. 36,9° C. P/2 Uhr nachm. 37,2° C.
IP/2 „ „ 37,1° C. 392 „ „ 37,4 0 C.
9 Uhr abends 37,0° C.
22. VIII. Die emphysematose Partie ist 5 cm lang und 2 — 3 cm
breit.
Temperatur: 9l/2 Uhr vorm. 36,8° C. T1/ 2 Uhr nachm. 37,0° C.
1172 „ „ 36,90 C. 3‘/2 „ „ 37,20 C.
9?Uhr abends 36,8°^C.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
24. VIII. Keine Spur irgend einer Veränderung ist an dem
linken Oberschenkel vorhanden. Auch ist die Körpertemperatur nor¬
mal. Die Messung ergab, dass der Umfang des linken Oberschenkels
an der Grenze des mittleren und oberen Drittels 46 cm, d. h. 2 Vs cm
weniger beträgt, als während der Erkrankung, während der des
rechten Oberschenkels auf derselben Höhe 46% cm beträgt, d. h.
so viel wie bei der früheren Messung. In dem obersten Teile beträgt
der Umfang des linken Oberschenkels 48 cm, d. h. um 2Vz cm weniger
als während der Erkrankung, während der des rechten Oberschenkels
auf derselben Höhe 48% cm beträgt, also ungefähr so viel, wie bei
der früheren Messung.
Wir haben es liier mit einem reinen Falle von sub¬
kutanem Emphyse m zu tun, in welchem jede Möglich¬
keit irgend welcher Komplikation auszuschliessen ist. Zwei
Momente sind in diesem Falle vor allem hervorzuheben : 1. dass
die ganze grosse Luftmenge im Verlaufe von 7 Tagen auf¬
gesaugt wurde und 2. dass der Fall mit einer allgemeinen Re¬
aktion seitens des Organismus und zwar mit einer geringen
Temperatursteigerung, Kopfschmerzen und leichtem Uebel-
bcfinden einherging.
Phlegmone als Komplikation von Varizellen.
Von R. Kreuzeder in Ottobeuren.
Komplikationen von Varizellen sind im allgemeinen ziem¬
lich selten. Es dürfte daher folgender Fall, den ich anlässlich
der zur Zeit hier herrschenden Varizellenepidemie zu beob¬
achten Gelegenheit hatte, manches Interessante bieten.
Am 3. II. 06 wurde ich zu dem 9 Monate alten Kind M. N. gerufen,
das angeblich schon seit ein paar Tagen krank sein soll.
Befund: Für sein Alter ziemlich kräftiges, gut genährtes Kind.
Die 2 medialen Schneidezähne gut entwickelt, die gleichen Zähne
des Oberkiefers sind im Durchbruch begriffen.
Am harten und weichen Gaumen vereinzelte Varizellenbläschen.
Ueber den ganzen Körper zerstreut nicht besonders zahlreiche
Krusten und Borken, ebenso an den Extremitäten und auch am be¬
haarten Kopfe. Einige frische, wasserhelle Bläschen sind ebenfalls
vorhanden. Leichte bronchitische Erscheinungen; Temperatur 38,5.
Diagnose: Varizellenexanthem in Zurückbildung begriffen mit
vereinzelten Nachschüben.
Am 4. und 5. II. 06: Status idem, auch die nachgeschobenen
Bläschen trocknen ein; Temperatur 37,5.
6. II. 06. Temperatur 39,8. Der rechte Arm in toto stark ge¬
schwollen und gerötet; auch die Hand zeigt leichte Schwellung. Bei
näherem Zusehen quillt auf leichten Druck unter einer Kruste auf der
rechten Achsel dünner, furchtbar stinkender Eiter hervor. Nach
Entfernung der Kruste erscheint ein kleines, rundes Loch in die
Tiefe gehend, aus dem massenhaft Eiter herausgedrückt werden kann.
Die ganze Umgebung erscheint unterminiert. Um den Abfluss des
Eiters zu erleichtern und dem Entzündungsherd besser beikommen
zu können, erfolgt von oben genanntem Loche aus ein ca. 5 cm langer
Schnitt durch die Haut quer über die Achsel. Die durchschnittene
Haut blutet fast nicht und das darunter erscheinende Gewebe ist
schwarz-grünlich verfärbt, nekrotisch.
Auswaschen mit Sublimatlösung, Tamponade und feuchter
Verband.
Am 7. II. 06 Temperatur 39,0. Die Schwellung des Unterarms
und der Hand geht zurück. Verband wie tags zuvor.
Am 8. II. 06 Temperatur 38,5. Auch der Oberarm abgeschwollen,
von jetzt ab trockener Verband.
Am 9., 10. und 11. II. 06 Temperatur zwischen 38,5 — 37,5. Das
nekrotische Gewebe stösst sich in Fetzen ab; es erscheinen frischrote,
leicht blutende Granulationen.
Am 12. II. 06 Temperatur 40,0. Fast die ganze rechte Rücken¬
hälfte geschwollen und in der Mitte gerötet. In der Höhe des 6. Brust¬
wirbels horizontaler Hautschnitt über den Rücken in der Länge von
ca. 8 cm. Die Wunde zeigt dieselben Verhältnisse wie die Achsel-
wunde vor 6 Tagen.
Die folgenden Tage bessert sich das Befinden des Kindes, auch
am Rücken lösen sich die nekrotischen Partien ab.
Am 18. II. 06 Temperatur wieder 37,5.
Am 19. II. 06 treten die bronchitischen Erscheinungen plötzlich
stärker auf, Temperatur 39,8.
Am 20. II. 06 Dämpfung des rechten unteren Lungenlappen.
Temperatur 40,2. Starke Cyanose und Dyspnoe.
21. II. 06 Exitus letalis.
Anmerkung: Urinuntersuchung konnte nicht erfolgen, da
leider kein Urin zu bekommen war.
Die Literatur berichtet über nicht besonders viele Fälle
von Komplikationen bei Varizellen.
Monti [1] sagt: „Ich habe bei Varizellen nie Komplikationen
beobachtet. Mehrfach wird über Geschwüre, selbst
Gangrän der Haut berichtet. Die Beurteilung, ob solche i
Prozesse direkte Folgen der Varizellen sind oder nicht, mahnt zu
grosser Vorsicht.“
Strümpell [21 schreibt: „Besondere Komplikationen (insbe¬
sondere leichte Nephritiden) kommen nur ausnahmsweise vor.“
Vier or dt [3]: „Unter den Komplikationen seitens des Exan¬
thems sind die Bildungen grösserer Pusteln, kleiner Abszesse um die¬
selben und ferner das Auftreten von pemphigusartigen Blasen Vor¬
kommnisse, gegen die man nichts tun kann. Die Therapie wird da¬
gegen gelegentlich herausgefordert durch nachbleibende torpide U 1 -
z e r a mit unterminierten bläulichen Hauträndern,
schlaffen Granulationen und selbst gangränösem Zerfall
der Geschwürsfläche; kleinere, etwa fünfzigpfennigstück¬
grosse derartige Geschwüre haben wir in letzterer Zeit öfters ge¬
sehen, grössere scheinen aber eine Ausnahme zu sein.“
Romberg [41 : „Die Affektion verläuft so meist ganz harmlos.
Nur ein sehr elendes Kind habe ich an allgemeiner Septikopyämie
sterben sehen, die von einer geschwürig zerfallenen
und gangränös gewordenen Varizellenpustel ausge¬
gangen war.“
Zu meinem Fall möchte ich noch bemerken:.
Dass der geschwürige, gangränöse Prozess eine d i -
rekte Folge der einen Varizellenpustel war, ist wohl an¬
zunehmen, wenn man erwägt, dass eine Infektion von aussen
bei dem sauber und reinlich gehaltenen Kind nahezu aus¬
geschlossen erscheint. — Im Gegensatz zu Romberg möchte
ich nochmals erwähnen, dass es sich in meinem Falle um ein
kräftiges, gut genährtes Kind handelte, das
dem septischen Prozess und der zum Schluss auftretenden
katarrhalischen Pneumonie zum Opfer fiel.
Literatur:
1. Kinderheilkunde in Einzeldarstellungen von Prof. Dr. A.
Monti, 1901, Bd. II, pag. 631. — 2. Strümpell, spez. Pathologie
und Therapie, Bd. I, pag. 99. — 3. Handbuch der Therapie der In¬
fektionskrankheiten von Dr. F. P e n z o 1 d t und Dr. R. S t i n t z i n g,
Bd. I, pag. 175. — 4. Lehrbuch der inneren Medizin von Dr. v.
M e r i n g, pag. 180.
Die Orthokystoskopie.
Von Dr. med. Julius Weinberg in Dortmund, früher in
Berlin.
Die Schwierigkeit der kystoskopischen Technik und zumal des
Ureterenkatheterismus beruht bekanntlich, wenigstens bei letzterem,
im Wesentlichen darauf, dass das kystoskopische Bild die Blasenwand
nicht in ihrer natürlichen Lage, sondern wie im Spiegel gesehen
wiedergibt, in dem Sinne, dass das „Oben“ und „Unten“, bezw.
„Vorne“ und „Hinten“ des betrachteten Objekts im Bilde mit
einander vertauscht erscheinen, während die Situation in Bezug auf
„Rechts“ und „Links“ unverändert bleibt. Infolge dieser ja in der
Tat durch Spiegelung verursachten Desorientierung des kystoskopi¬
schen Bildes sieht man dieses bei Vor- oder Rückwärtsbewegungen
des Instrumentes immer in umgekehrter Richtung wandern, als man
dies dem Augenschein nach erwarten sollte. Um also einen —
scheinbar! — näher oder entfernter gelegenen Punkt der Blasen¬
fläche in das Gesichtsfeld zu bringen, hat man das Kystoskop in
entgegengesetzter Richtung zu dirigieren, als es der Bildeindruck zu
erfordern scheint.
Es kann daher durchaus nicht wundernehmen, dass der angehende
Kystoskopiker sich nur mit Mühe in diesen eigenartigen optischen
Verhältnissen zurechtfindet und Auge und Hand an dieselben gewöhnt.
Bei dem Ureterenkatheterismus nun gar steigern sich diese Schwierig¬
keiten aus leicht ersichtlichen Gründen in einem Masse, dass dessen
Erlernung gleich hohe Ansprüche an die Geduld des Schülers wie
des Lehrers stellt.
Es muss daher eigentlich auffallen, dass die sonst so rege uro-
logische Erfindertätigkeit dem besagten Mangel nicht schon längst ab¬
geholfen hat, da doch die Idee hierzu für den Kystoskopiker, ich
möchte sagen, greifbar nahe liegt. 1)
So liess ich es mir denn angelegen sein, durch Abstellung jener
optischen Schwierigkeiten die Kystoskopie und besonders den Ure¬
terenkatheterismus zu erleichtern, eine Aufgabe, deren Lösung ich
denn auch in einem recht einfachen Mittel, der nachstehend abge¬
bildeten Vorrichtung, fand. Das derselben zu Grunde liegende Prin¬
zip besteht darin, dass die durch den Kystoskopspiegel — den be¬
kannten Prismenspiegel — bewirkte Umkehrung des Blasenbildes
durch eine zweite Spiegelung, welche in der Vorrichtung stattfindet,
gleichsam wieder aufgehoben wird, sodass also das kystoskopische
Bild wieder aufrecht erscheint. Man sieht es daher in der Vorrichtung
*) Gleichwohl habe ich Veranlassung, diese Idee als mein gei¬
stiges Eigentum an dieser Stelle ausdrücklich in Anspruch zu
nehmen, und zwar aus Gründen und laut Daten, von deren Erörterung
ich Abstand nehmen kann, da es mir hier lediglich auf die formelle
I Feststellung ankommt.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1529
in genau derselben Lage, als ob man das Objekt, die Blasenwand,
direkt mit blossem Auge betrachtete. Aus diesem Grunde möchte
ich in Anregung bringen, die solchermassen verbesserte Kystoskopie
als „Orthokystoskopie“ und entsprechend die Kombination
von Kystoskop und neuer Vorrichtung als „Orthokystosko p“
zu bezeichnen. Desgleichen wird man künftig prägnanter Weise auch
einen „Orthoureterenkatheterismus“ von dem gewöhn¬
lichen unterscheiden können. Es muss hier jedoch gleich bemerkt
werden, dass die Orthokystoskopie aus noch näher zu erörternden
optisch-mechanischen Gründen nur zur Besichtigung des Blasen¬
bodens und der angrenzenden Partieen, also gerade der topogra¬
phisch und diagnostisch weitaus wichtigsten Blasenregion prädesti¬
niert ist. Da an dieser Stelle sich auch die beiden Ureterenmiin-
dungen befinden, so gehört der Katheterismus derselben mithin
gleichfalls zur Domäne der Orthokystoskopie, nicht minder auch die
Operationskystoskopie, soweit der auch hierfür besonders wichtige
Blasenboden in Frage kommt.
Die beigegebene Figur veranschaulicht das mit der neuen
Vorrichtung c ausgerüstete okulare Ende eines Spiilkystoskops bezw.
-ureterenkystoskops, dessen optisches Rohr b um ein kleines Stück
aus dem Spiilrohr a herausgezogen dargestellt ist. Die Vorrichtung
selbst ist im Längsschnitt gezeichnet und durch verstärkte Linien
hervorgehoben. Die Form derselben entspricht ungefähr der eines
flachen, weiten Trichters, welcher in einen kurzen, querstehenden
Rohransatz übergeht. Das freie, offene Ende des Ansatzes dient, wie
die Skizze erkennen lässt, zur Verbindung der Vorrichtung mit dem
okularen Ende des Kystokops, während das Rohr auf der gegen¬
überliegenden Seite, hart an dem Trichteransatz beginnend, schräg
abgestutzt und verschlossen ist. Die schräge, plane Abschlusswand
trägt als wesentlichsten Teil der Vorrichtung den bereits erwähnten
Spiegel s, dessen Ebene zu dem Okular o in einem Neigungswinkel
von 45 0 steht. Spiegel wie Okular sind durch Schraffierung be¬
sonders markiert. Die Vorrichtung besteht bis auf den Spiegel aus
Metall, welches aussen glänzend, innen schwarz gehalten ist. Der
bei den Kystoskopen sonst übliche festsitzende Abschlusstrichter ist
durch einen auswechselbaren Ergänzungstrichter ersetzt.
Der Strahlengang ist durch die eingezeichneten Pfeile an¬
gedeutet, wonach also der Untersuchende sein Auge nahe an die
Trichteröffnung heranzubringen und in diese senkrecht von oben
hineinzuschauen hat. Alsdann sieht er das eingestellte Blasensegment
in seiner natürlichen Lage. Dies ist aber wohlgemerkt nur dann der
Fall, wenn die Ebenen des Kystoskopspiegels und des sekundären
Trichterspiegels parallel zueinander stehen, d. h. wenn der Kysto-
skopschnabei und die Trichteröffnung einander entgegengesetzt ge¬
richtet sind. Da also der Schautrichter, wie ich die neue Vorrich¬
tung kurz nennen will, mit dem Kystoskop in fester Verbindung bleiben
muss, da ferner der Untersuchende sich des Schautrichters aus
physischen Gründen nur dann in bequemer Weise bedienen kann,
wenn dessen Oeffnung nach oben oder ein wenig nach der Seite
sieht, so ist das Untersuclnmgsgebiet der Orthokystoskopie begrenzt,
aber glücklicherweise gerade auf diejenige Blasenregion, für welche
sie weitaus am wichtigsten und am meisten erwünscht ist, d. h. auf
den Blasenboden und den angrenzenden Bezirk.
Diese Einengung der Kompetenz der Orthokystoskopie verschlägt
für ihre Bedeutung um so weniger, als sie sich ja noch für einen
anderen wichtigen Zweig der urologischen Technik, den Ureteren-
katheterismus, als in hohem Masse förderlich erweist. Auf diesem
Gebiete entfaltet die Orthokystoskopie, wie ich ausdrücklich hervor¬
heben möchte, sogar erst ihren vollen Wert, eine Behauptung, welche
in Hinsicht auf den komplizierten und minutiösen Mechanismus der
Kathetereinführung wohl nicht der ausführlichen Begründung be¬
darf. Es ist geradezu überraschend, wie sehr der Katheterismus durch
die neue Vorrichtung erleichtert wird, und um dies treffend zu
illustrieren, will ich das des Humors nicht entbehrende Faktum an¬
führen, dass, als ich nach geraumer Zeit zum ersten Mal wieder den
Ureterenkatheterismus versuchte, mir derselbe mit den bisher
üblichen Hilfsmitteln nicht gelingen wollte, während ich gleich darauf
bei erstmaliger Benutzung des neuen Schautrichters mühelos
reüssierte.
Die Vorrichtung ist auf Grund meiner Angaben von der be¬
kannten Firma Reiniger, Gebbert & Schall, Spezialfabrik
elektro-medizinischer Apparate in Erlangen, ausgeführt worden, und
zwar das erste Modell von deren Zweigniederlassung in Berlin. Die
Firma hat sich der Angelegenheit mit anerkennenswertem Interesse
und grosser Sorgfalt angenommen und mich bei meinen Arbeiten in
entgegenkommendster Weise unterstützt, wofür dem Hause mein
verbindlichster Dank gebührt. Auch die technische Ausführung der
Vorrichtung lässt an Exaktheit nichts zu wünschen übrig.
Die fabrikmässige Herstellung der Vorrichtung liegt gleichfalls
in den Händen der genannten Firma, welche sowohl komplette, mit
Vorrichtung und Ergänzungstrichter ausgestattete Kystoskope undUre-
' terenkystoskope, als auch die Vorrichtung allein abgibt. Für letz¬
teren Fall empfiehlt es sich jedoch, das zu ergänzende Instrument
zwecks Anpassung an die Vorrichtung der Fabrik zu überweisen. Im
Falle der Nachfrage sollen auch Operationskystoskope mit der Vor¬
richtung ausgerüstet werden. Der Preis der Vorrichtung wird der
relativen Einfachheit ihrer Konstruktion angemessen sein.
Um noch einmal die Vorzüge der Orthokystoskopie zu re¬
sümieren, möchte ich in erster Linie die durch sie bewirkte wesent¬
liche Erleichterung der Erlernung der kvstoskonischen Technik und
insbesondere des Ureterenkatheterismus betonen s). Es kommt hinzu,
dass der Orthokystoskopiker sich ein für allemale eine richtige Vor¬
stellung vom Blasenboden und seinen Gebilden einprägt, im Gegen¬
satz zum Kystoskopiker älterer Observanz, welcher den Blasenboden
nie anders als im Spiegelbild gesehen hat und seine Vorstellung hier¬
durch vielleicht unbewusst hat beeinflussen lassen. Dieses Moment
ist um so wichtiger, als gerade der Blasenboden im KystoskoD ohne¬
hin ziemlich stark verzeichnet erscheint. Ein weiterer Vorteil der
Neuerung besteht darin, dass der Untersuchende in den Schautrichter
von oben hineinsieht, also in einer Richtung, welche speziell bei der
Besichtigung des Blasenbodens wegen der hierbei — manchmal
stark — gesenkten Haltung des okularen Kvstoskopendes für den Be¬
obachter recht bequem ist. Ausserdem wird aber infolge dieser ver¬
änderten Sehrichtung, bei welcher der letztere übrigens einen etwas
erhöhten Sitz einzunehmen hat, in manchen Fällen störendes Seiten¬
licht vermieden. Wie schon erwähnt worden, wird endlich auch die
Operationskystoskonie sich die Neuerune mit besonderem Vorteil
zunutze machen können, da die Vorrichtung Auge und Hand des
Operateurs bei seinen eingreifenden Manipulationen in ungleich
sichererer Weise leiten wird, als das Spiegelbild es vermag.
Indem ich so die von mir eingehendst und mit bestem Erfolge
geprüfte Neuerung ihrem Interessentenkreise unterbreite, wünsche ich
der Orthokystoskopie eine umfangreiche und getreue Anhängerschaft,
zum Besten einer immer allgemeineren Verbreitung der so bedeutungs¬
vollen Kystoskopie und des Ureterenkatheterismus.
Plastische Röntgenbilder.
Von Dr. Albert E. Stein,
dirig. Arzt der chirnrg.-orthopäd. Abteilung des Augusta-
Viktoria-Bades in Wiesbaden.
Auf dem TT. Röntgenkongress im April d. Js. zeigte
Alexander (Käsmark -Ungarn) eine Anzahl von Röntgen¬
photographien, die durch den Umstand, dass sie in vorher
nie gesehener Weise plastisch wirkten, die Bewunderung und
das Erstaunen der Anwesenden hervorriefen. - — Leider wollte
aber der damalige Redner die zur Herstellung der Methode
notwendige Technik nicht verraten. In No. 17 der ,, Deutsch,
med. Wochenschr.“ hat nun Schellenberg den Schleier
des Geheimnisses gelüftet und angegeben, dass eine plastische
Kopie eines Röntgenogrammes in der Weise erhalten wird,
dass man von der Originalplatte ein Diapositiv herstellt, dieses,
um weniges verschoben, in nassem Zustande, Schicht auf
Schicht, auf das Originalnegativ aufquetscht, trocknen lässt,
und dann die so hergestellte Doppelplatte kopiert. — Sicherlich
haben sofort nach dem Bekanntwerden dieser Mitteilung eine
grosse Anzahl von Aerzten, die sich mit Röntgenphotographie
befassen, die hübsche und interessante Neuerung probiert.
Schon nach wenigen Wochen erschienen zwei weitere Publi¬
kationen. In der ersten schlägt Albers-Schönberg
(Deutsche med. Wochenschr. No. 23) vor, die Doppelplatte
Schellenbergs nicht im Rahmen zu 'kopieren, sondern in
den Vergrösserungsapparat einzusetzen und mit Hilfe der Pro¬
jektion eine Kopie auf Bromsilberpapier zu erzeugen; diesem
Vorschlag lag der Umstand zu Grunde, dass die Kontaktkopic
unscharf wird, weil sich zwischen Plattenbildschicht und
lichtempfindlicher Schicht desKopierpapieres notwendigerweise
eine mehr weniger dicke Glasplatte befindet. Lewisohn
modifizierte das Verfahren in folgender Weise (Deutsche med.
2) Dem bereits geübten Kystoskopiker dürfte die Gewöhnung an
die Neuerung, wie alles Umlernen, allerdings einige Mühe ver¬
ursachen, auf die Dauer aber gewiss auch zum Vorteil gereichen.
530
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
Wochenschr. No. 26): Er stellt zunächst wie Schellen-
b c r g ein Diapositiv her und befestigt dann dieses auf dem
Negativ; die Doppelplatte setzt er wie Albers-Schön¬
berg in den Vergrösserungsapparat; nun gewinnt er durch
Projektion, aber nicht direkt, einen Bromsilberdruck, sondern
er stellt sich erst wieder eine neue Diapositivplatte her, von
dieser wieder durch Kontakt ein Negativ und erst dieses soll
dann in üblicher Weise kopiert werden.
Bei Betrachtung der 3 kurz skizzierten Methoden macht man die
seltene Wahrnehmung, dass ein von Natur einfaches Verfahren sich
im Laufe weniger Wochen in der Hand der Praktiker in ganz un¬
natürlicher Weise kompliziert hat. Gewöhnlich pflegt das Umge¬
kehrte der Fall zu sein; denn nur auf diesem Wege ist die allge¬
meine Verbreitung einer Neuerung denkbar und möglich. Schel¬
le n b e r g gebraucht zu seinen Kopien eine Platte oder einen Flach¬
zelluloidfilm; letzterer ist ein verhältnismässig teures Material und
für grössere Formate als 13: 18 überhaupt nicht im Handel erhältlich,
sowohl aber bei Verwendung der Platte wie des Film geht das unter
Umständen wichtige Originalnegativ verloren, wenn man sich nicht
zuvor ein Duplikatnegativ herstellt, wodurch natürlich eine neue Ver¬
teuerung eintritt.
Albers-Schönbergs Verfahren verdirbt gleichfalls die
Originalplatte und benötigt ausserdem einen Vergrösserungsapparat
für Plattengrösse 13 : 18, der nur ganz vereinzelten Röntgenologen zur
Verfügung stehen dürfte. Hat man aber grössere Platten als Format
13: 18, so reicht auch dieser Apparat nicht mehr; man müsste sich
also erst wieder mit Hilfe einer Stativkamera eine VerkleinerunT
der Originalplatte hersteilen und die ganze Sache hierdurch von
neuem verteuern und vor allem zeitraubender gestalten. L e w i
sohn gar gebraucht, ehe er zu der definitiven Kopie kommt, ab
gesehen von der auch hier eventuell noch notwendigen Verkleinerung
des Originalnegativs einen Vergrösserungsapparat und 3 verschiedene
Platten.
Zweck dieser Zeilen soll es sein, zu zeigen, dass die Herstellung
plastischer Röntgenphotographien unter Zugrundelegung des von
Schellenberg angegebenen Prinzips so leicht und einfach ist,
dass sie jeder ohne weitere Vorbereitungen vornehmen kann. Ich
verwende mit bestem Erfolge folgende Technik: Von dem Original¬
negativ wird, ganz gleichgültig welche Grösse es hat, im Kopier¬
rahmen eine Kontaktkopie auf Schäuffelens Negativbromsilber¬
papier für Gummidruck (12 Blatt 13: 18 M. 1.80) gemacht; das er¬
haltene Papierdiapositiv wird, nachdem es trocken geworden ist,
durch Bestreichen der Rückseite mit einer Mischung von Rizinusöl und
Alkohol im Verhältnis von 1:2 transparent gemacht. Das so er¬
haltene Papierdiapositiv ist nach dem Trocknen vollkommen glasklar;
es wird nun im Kopierrahmen Schicht auf Schicht mit der notwendigen
Verschiebung auf das Originalnegativ gelegt, mit photograph. Papier
bedeckt und kopiert. Die erhaltene Kopie ist das fer¬
tige plastische Röntgenbild.
Dabei ist weder Platte, noch Vergrösserung, noch Verkleinerung,
noch vor allem Vernichtung der Originalplatte nötig. Zur Herstellung
des endgültigen Bildes kann man ein beliebiges Papier benutzen,
doch erscheint mir im Interesse einer gut wirkenden Plastik auch hier
glattes Bromsilberpapier den Vorzug zu verdienen. Anstatt des
oben empfohlenen Negativpapiers kann im Notfälle auch irgend ein
anderes Papier (Aristo, Zellodin etc.) benutzt werden, wenn es nur
nicht zu dick ist; durch Bestreichen mit der genannten Mischung
werden alle Papiere so transparent, dass sie mehr oder weniger gut
brauchbar sind.
Was die praktische Bedeutung der plastischen Röntgenphoto¬
graphien angeht, so mag hier nur so viel gesagt sein, dass man keine
zu weitgehende Erwartungen an das neue Verfahren knüpfen und vor
allen Dingen sich vor groben Täuschungen in der Diagnostik bei
Anwendung derselben hüten möge!
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Zur Einführung der schulärztlichen Institution in den
Volksschulen des Reg.-Bez. Schwaben und Neuburg.*)
Von Bezirksarzt Dr. Wille in Markt-Oberdorf.
M. H. ! Wenn ich mir gestatte, einem Ersuchen unseres Vor¬
sitzenden nachkommend, Ihnen Einiges über die Schularztfrage
zu berichten, so muss ich mich bei der Behandlung dieses Themas
vor allem Ihrer Nachsicht versichern; denn auf diesem Gebiete bin
ich ja noch ein vollkommener Neuling in der Praxis, wie wohl
jeder bayer. Arzt, der nicht gerade in Nürnberg oder Fürth tätig ist,
den beiden einzigen Städten Bayerns, in denen bereits Schulärzte
fungieren.
Freilich brauchte man deshalb nicht gerade auch ein Neuling in
der Theorie zu sein; denn wollte man von diesem Gesichtspunkte
aus die vorwürfige Frage einigermassen eingehender behandeln, so
wären hierzu Darlegungen und Debatten von Tages-, nicht aber
Stundendauer erforderlich, wie allein die Verhandlungen bei den
schulhygienischen Kongressen dartun. Aber auch ausser diesen ist
die diesbezügliche Literatur schon heute zu einem Berge von Büchern,
Brochiiren und Zeitschriften angewachsen, zu dessen Bewältigung die
Zeit und Ausdauer eines literarischen Hochtouristen gehörte.
Wir wollen und müssen deshalb hier — . schon die verfügbare
Zeit gebietet solches — wesentlich bescheideneren Ansprüchen ge¬
nügen. Und in einer Versammlung von bayerischen Medizinal¬
beamten dürfte es vor allem Aufgabe des Berichterstatters sein,
ihre bisherige Stellung auf diesem Gebiete, sowie besonders
die Möglichkeit oder vielmehr dieNotwendigkeit ihrer
künftigen Stellung hiezu zu kennzeichnen. Zur Erläuterung
des letzteren Problems jedoch erscheint es unerlässlich, auf die Ent¬
wicklung und den derzeitigen Stand des Schularztwesens, wenn auch
nur mit aphoristischer Kürze, zu rekurrieren.
Mag nun auch unser deutsches Vaterland, mit Bayern unter
Pettenkofers Auspizien an der Spitze, nach England die ersten
und vollkommensten Bahnen in das hygienische Gebiet gebrochen
haben, auf dem der Schulhygiene ist es hinter den Arbeiten und
Leistungen auswärtiger Länder, selbst solcher, deren Kulturzustand
uns noch höchst zweifelhaft erscheint, um ein Erkleckliches zurück¬
geblieben. So hat Ungarn seit 1887 Schulärzte, allerdings für
die Mittel- und höheren Schulen; in Moskau fungieren solche seit
1888, in Paris gibt es Schulärzte seit 1879, in Brüssel seit 1874. In
Deutschland wurden zuerst in Leipzig 1891 Schulärzte angestellt,
dann 1892 in Dresden und 1897 in Nürnberg, obgleich schon viel
früher der deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege die Ein¬
führung des Schularztsystems bei uns urgiert hatte. Selbst die Aerzte-
kammer der Oberpfalz war schon 1888 mit dem Anträge hervor¬
getreten, in Bayern Schulärzte mit staatlicher Besoldung an¬
zustellen, ein Vorschlag, den damals die Kgl. bayer. Ministerien mit
dem Hinweise auf die diesbezüglichen Amtspflichten der Bezirks¬
ärzte erledigten.
Ausser diesem Ablehnungsgrunde, der allerdings eine irrtümliche
Auffassung von den Aufgaben des Schularztes verrät, waren es ver¬
schiedenartige Momente, die einer gedeihlichen Entwicklung des
Schularztwesens entgegenwirkten. So fürchteten die kom¬
munalen Behörden eine weitgehende Schädigung ihres gemeindlichen
Etats, wenn nun ein Schularzt mit vermeintlich „diktatorischer Ge¬
walt“ über die Einrichtung und den Betrieb der Schule zu ent¬
scheiden hätte, während sich die Lehrer die Gefahr weiterer Be¬
drückung durch einen „neuen Vorgesetzten“ suggerierten. Die oberste
bayerische Schulbehörde aber, der Kgl. Oberste Schulrat, fällte über
diese Frage, am 3. Februar 1898, das gerade nicht sehr fortschrittlich
*) Vortrag für die schwäbische Kreisversammlung pro 1906 des
Bayerischen Medizinalbeamtenvereins.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1531
klingende Urteil: „Das seitherige Fehlen von Schulärzten hat das
stetige Fortschreiten in der Besserung der schulhygienischen Ver
hältnisse nicht gehindert und keine Missstände hervorgerufen, welche
die Anstellung eigener Schulärzte rechtfertigten“.
Jedoch diese oppositionelle Stimmung erlahmte mit den ver-
schiedenerorts gemachten Beobachtungen so rasch, dass bereits
2 Jahre später (1900) der Bezirkslehrerverein München selbst den
Wunsch nach Anstellung von Schulärzten aussprach, der sich nun
endlich erfüllen dürfte.
So haben wir denn bis jetzt in Bayern nur 2 Städte, die Schul¬
ärzte aufweisen können, und zwar, wie bereits erwähnt, Nürn-
b er g, das in der Förderung der ärztlichen wie hygienischen Bestre¬
bungen noch immer an der Spitze der bayerischen Städte mar¬
schiert, und die ihm benachbarte, rasch aufblühende Industriestadt
Fürth. Im übrigen Deutschland mit insgesamt
56 Millionen Einwohner aber besitzt nach Schubert
vorerst nur 1/o schulärztliche Einrichtungen. Von
den Grossstädten mit mehr als 100 000 Einwohnern haben 18 eigene
Schulärzte; von. den 229 deutschen Städten mit einer Bevölkerungs¬
ziffer von 20 — 1Ö0 000 Einwohnern, finden sich bei 106 schulärztliche
Einrichtungen vor, während solche bei 123 fehlen; endlich von den
Städten unter 20 000 Einwohnern haben noch eine relativ grosse
Anzahl Schulärzte. Während nun alle diese Stellen komunale In¬
stitutionen sind und den örtlichen (Gemeinde-) Behörden unterstehen,
kann nur das Herzogtum Meiningen und fast ebenso auch das Gross¬
herzogtum Hessen Schulärzte in allen Volks-, Mittel- und Privat¬
schulen aufweisen, worunter allerdings viele Kreisärzte, welche für
diese Funktion ein gesondertes Honorar aus der Kreiskasse beziehen.
In ganz Deutschland fungieren z. Z. etwa 500 A e r z t e
als Schulärzte.
Der Charakter der schulärztlichen Institutionen als gemeind¬
licher Einrichtungen lässt auch die grosse Verschiedenheit in den
Anforderungen an dieselben seitens der einzelnen Magistrate, sowie
in der Wahl und Honorierung der Schulärzte erklären. Allein gerade
in dieser Mannigfaltigkeit der Postulate lag das beste Korrektiv gegen
eine nachteilige Schematisierung und zugleich der Vorzug, die Wir¬
kung dieser neuen Einrichtung nach den verschiedensten Gesichts¬
punkten beurteilen zu können. Freilich waren die Forderungen an¬
fänglich und an manchen Orten so rudimentär, dass sie an die Ver¬
ordnungen zur Zeit des therapeutischen Nihilismus mit dem Motto
„at aliquid fierivideatur“ gemahnten. Ausserdem griffen sie bisweilen
in ein Gebiet über, welches auf Grund gesetzlicher Bestimmungen
schon längst dem Amtsärzte reserviert war. Denn die erste Periode
des Schularztwesens verlangte nicht viel mehr, als die Beobachtung
der Hygiene des Schulgebäudes, Begutachtung des Bau¬
platzes, Revision der Lehrzimmer, ihrer Ventilation, Beleuchtung,
Beheizung und Reinlichkeit derselben, wie der Aborte, sowie etwa
noch die Beurteilung des Zustandes der Subsellien und der Sitz¬
ordnung. Der Schülerhygiene dagegen wurde wenig oder keine
Aufmerksamkeit geschenkt, und, wenn überhaupt, nur für die Hilfs¬
schulen. In letzterer Beziehung kam nur der Augenuntersuchung
der Schüler eine grössere Beachtung zu, und wurden die Schulkinder
allenfalls noch bei Verdacht auf eine Krankheit und vorzüglich beim
Ausbruche gewisser kontagiöser Krankheiten vom Schulärzte unter¬
sucht. Als solcher wurde dann zur gewissenhaften Schonung des
Gemeindesäckels in der Regel der Polizei-, Stadt- oder Armenarzt,
oder auch der Kreisphysikus aufgestellt, entweder, u. zwar zum ge¬
ringeren Teile, mit einer kleinen Funktionszulage, oder, und dies mit
Vorliebe, ohne eine solche, indem man letztere stillschweigend durch
eine höhere Meinung von seinem Amts- und Humanitätseifer ersetzte.
Erst nachdem man in Wiesbaden 1 896 eine probeweise
Untersuchung am 7000 neu eintretenden Schulkindern hinsichtlich ihrer
körperlichen Entwicklung und insbesondere des Zustandes ihrer Re-
spirations- und Zirkulationsorgane, der Wirbelsäule, der Bruchpforten,
der Augen und Ohren vorgenommen und dabei zum erstenmale die
Entdeckung gemacht hatte, wie nachteilig Anomalien dieser Organe
die Erreichung des Unterrichtszieles beeinflussen, wurde der Hy¬
giene der Schüler und des Schulbetriebes die ge¬
bührende Beachtung geschenkt. Und erst von dieser Zeit an datiert
sich der Aufschwung des Schularztwesens in •Deutschland.
Zur Beantwortung der späteren Frage, welche Massnahmen zur
Förderung des Schularztwesens auch in Bayern getroffen werden
könnten, ist es wohl unerlässlich, über den heutigen Stand derselben
im übrigen Deutschland sowie speziell in den beiden bayerischen
Städten Nürnberg und Fürth das Wichtigste in tunlichster Kürze
zu berichten.
Der Hauptgrundsatz hierbei ist, dass dem Schulärzte die
Hygiene des S c h ü 1 e r s und des Schulbetriebes, weniger aber
die des Schulhauses, zur Aufgabe gestellt werde, und dass zur Er¬
reichung dieses Zieles eine genaueUntersuchung und perio¬
dische Beobachtung sämtlicher Schüler erforder¬
lich sei.
Zu diesem Zwecke werden zunächst alle neu eintretenden
Schüler oder Schulrekruten der schulärztlichen Untersuchung und
Begutachtung unterworfen. Zu deren Erleichterung wie zur gründ¬
lichen Durchführung nach gewissen Gesichtkpunkten liegt dem Schul¬
ärzte ein Fragebogen vor, der schon früher von der Lokalpolizei¬
oder Lokalschulbehörde den Eltern der Schulneulinge zur Ausfüllung
zugeschickt worden war. Auf diesem sind die Fragen nach der bis¬
herigen körperlichen und geistigen Gesundheit des Kindes, nach übei-
standenen Krankheiten und ihren etwaigen Folgen, nach Fehlern und
Angewöhnungen desselben, an manchen Orten auch nach hereditären
Krankheitsanlagen von den Eltern oder Erziehern zu beantworten.
Der Fragebogen von Breslau z. B. requiriert nach folgenden
Rubriken :
1.— 3. Name, Geburtsdatum und Wohnung des Kindes?
4. In welchem Lebensjahre hat das Kind Krankheiten durchge¬
macht und welche?
5. Wurden dauernde schädliche Folgen davon beobachtet?
6. Verletzungen mit dauernden Folgen?
7. Ist das Kind schwerhörig?
8. Ist es kurzsichtig?
9. Hat es sonstige Gebrechen oder Schwächen, z. B.
Krämpfe usf.?
10. Wann lernte das Kind sprechen?
Herr Obermedizinalrat Prof. Dr. Gruber in München stellt in
einem sehr lesenswerten Referate an den dortigen ärztlichen Bczirks-
verein vom 19. Dezember 1904 nachstehende 20 Fragen zur Beant¬
wortung durch die Eltern auf:
1. Vor- und Zuname des Kindes?
2. Sein Geburtsort und Geburtstag?
3. Geimpft am?
4. Wiedergeimpft am?
5. Name und Stand der Eltern bezw. Aufsichtspflichtigen?
6. Welche Krankheiten hat das Kind schon überstanden? Und
wann?
7. Sind von diesen Krankheiten Nachteile zurückgeblieben, und
welche?
8. Sieht das Kind schlecht?
9. Hört es schlecht?
10. Stottert es?
11. Hat es Fehler in Mund, Nase und Rachen?
12. Ist es lungenkrank?
13. Ist es herzkrank?
14. Leidet es an Verdauungskrankheiten?
15. Hat es ein Knochenleiden?
16. Hat es einen Bruch?
17. Leidet es an Epilepsie?
18. Ist es sonstwie nervenkrank?
19. Ist es geistig zurückgeblieben?
20. Hat es irgendwelche körperliche Gebrechen oder Leiden."
Da der Fragebogen in der Regel doch von Laien beantwortet
werden muss, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Ant¬
worten um so zweckentsprechender ausfallen werden, je detailliei tei
die Fragen gestellt sind. Deshalb wird auch in Sachsen-Meiningen
und Hessen, wo das Schularztwesen staatlich geregelt ist, die Frage¬
stellung in gleicher Weise spezialisiert.
Auf Grund der so erhaltenen Anamnese nun kann der Schularzt
planmässiger an die Untersuchung der Schulneulinge gehen.
Diese wird nach dem Vorgänge von Nürnberg und Fürth in 3 Etappen
vorgenommen : der Vor- Haupt- und spezial ärztlichen
Untersuchung.
Die Voruntersuchung, welche möglichst bald nach dem
Eintritte des Kindes in die Schule in Gegenwart des Lehrers oder
der Lehrerin und nach erfolgter Einladung an die Eltern auch in
deren Beisein ausgeführt wird, besteht lediglich in einer äusser-
lichen Besichtigung des Schulrekruten, um sich ein provisorisches
Urteil über seine Aufnahmsfähigkeit in die Schule zu bilden. Bei
Verneinung der Schulreife infolge ungenügender körperlicher Ent¬
wickelung, offenkundiger Sinnesfehler des Gesichtes, Gehörs, der
Sprache oder wegen ausgesprochener Krankheitsanlagen, insbesondere
infektiöser Natur, werden die kleinen Rekruten ausgemustert und
zurückgestellt. Den nicht anwesenden Eltern wird das Resultat in
geeigneter, schonender Form mitgeteilt. So wurden in Berlin aus den
genannten Gründen 1900—1902: 12,3—9,7 Proz. der Schulneulinge
zurückgestellt, ein relativ etwas höherer Prozentsatz, weil dortselbst
die Aufnahme in die Volksschulen jährlich 2 mal erfolgen kann.
Erst am Schlüsse des 1. Semesters oder mindestens mehrere
Wochen nach dem Schuleintritte wird die 2. oder Hauptunter¬
suchung der Schulneulinge vorgenommen, nachdem diese selbst
für diesen Zweck etwas unbefangener geworden, und der Lehrer
auf Grund seiner bisherigen Beobachtungen dem Schulärzte mit bes¬
seren Aufschlüssen an die Hand gehen kann. Diese Untersuchung
muss eine eingehendere und daher zeitraubendere sein. Das Resultat
derselben wird in einen eigenen Gesundheitsbogen einge¬
tragen, der gewissermassen als Führungsattest den Schulrekruten bis
zu seinem Austritt aus der Schule begleitet. Das Formular von
Wiesbaden, das von einer grossen Zahl deutscher Städte ange¬
nommen wurde, enthält darüber nachfolgende Rubriken:
Allgemeine Konstitution; Grösse; Gewicht; Brustumfang; Brust
und Bauch; Hauterkrankungen und Parasiten; Wirbelsäule und Ex¬
tremitäten; Augen und Sehschärfe; Ohren und Gehör; Mund, Nase
und Sprache; Besondere Bemerkungen und Vorschläge für die Be¬
handlung in der Schule; Mitteilungen an die Eltern; Bemerküngen
des Lehrers.
Diesen Desideraten hat Gruber bei seinen Forderungen noch
einige speziellere angefügt und eine, wie mir scheint, nicht unwesent-
1532
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
liehe Rubrik für die Aetiologie der beobachteten krankhaften Zu¬
stände angeschlossen.
Nach dem Ausfall dieser Hauptuntersuchung kann nun gleichfalls
Zurückstellung oder Zurückweisung des Schülers er¬
folgen, oder er wird einer Hilfsschule überwiesen, von einzelnen
obligatorischen Unterrichtsfächern, wie Turnen und Oesang, dis¬
pensiert, erhält einen geeigneten Sitzplatz und wird in das
Verzeichnis der sogen. Ueberwachungsschüler aufgenom¬
men. welchen der Schularzt bei seinen regelmässigen Besuchen in
der Schule eine besondere Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen hat.
Auch den Eltern oder Pflegern des Kindes wird im Interesse einer
geeigneten Behandlung desselben in der Familie oder durch einen
Spezialarzt die erforderliche Mitteilung gemacht.
Die 3. und letzte Untersuchung der Schulneulinge ist die Prü¬
fung der höheren Sinnesorgane derselben durch einen
Augen- und Ohrenarzt, wo irgend angängig. Sie dürfte wohl
in der Behausung des Spezialarztes selbst vorzunehmen sein, da der
schwierige Transport der benötigten Apparate, der Mangel eines
Dunkelzimmers ausserhalb derselben u. dgl. solches erfordern werden.
Mit der Untersuchung und Begutachtung der Schulrekruten ist
jedoch erst der Anfang der schulärztlichen Tätigkeit gemacht. Denn
auch die Schüler der älteren Jahrgänge sind einer regel¬
mässigen periodischen Untersuchung zu unterwerfen und
die eingehende Exploration des ganzen Organismus der Schüler ist,
wie bei der Hauotuntersuchung. bei bestimmten Altersklassen
zu wiederholen. Diese Wiederholung ist nach dem Beispiele
Wiesbadens in den meisten deutschen Städten für die Kinder des
3. 5. und 8. Schuljahres angeordnet. Der Befund ist in den Gesund¬
heitsbogen einzutragen, und der Schularzt verpflichtet, dem Lehrer
nach Massgabe desselben Winke für die individuelle Behandlung des
Schülers zu geben. Ausserdem hat der Schularzt wenigstens 2 m al
i m Halbjahr sämtliche Schüler einer jeden Klasse zu besichtigen,
hiebei die Ueberwachungs- und Hilfsschüler einer besonderen Auf¬
merksamkeit zu würdigen und die gemachten Beobachtungen im Ge¬
sundheitsbogen zu vermerken. Endlich ist der Schularzt noch ge¬
halten, wöchentlich oder mindestens alle 2 Wochen einmal eine
Sprechstunde im Schulhause selbst abzuhalten. Dabei hat er in
Wiesbaden die erste Hälfte derselben zu einem 10—15 Minuten
dauernden Besuche von 2 bis 5 Klassen während des Unter¬
richtes in Begleitung des Schulleiters zu verwenden, insbesondere
bei Verdacht auf Infektionskrankheiten bei den Schülern oder deren
Familien.
Indem solcherweise die Schüler einer fortlaufenden Beobachtung
seitens des Schularztes unterliegen, ist nicht nur für deren körperliche
und geistige Prosperität, soweit die Schule darauf Einfluss besitzt,
regelmässig Sorge getragen, sondern der Schularzt ist dadurch auch
in den Stand gesetzt, am Ende der Schulzeit den Eltern der Kinder
geeignete Ratschläge für deren Berufswahl zu erteilen. Der
Gesundheitsbogen, welcher für ieden Schüler angelegt ist und
während seiner ganzen Schulzeit fortgeführt wird, bildet hiefür eine
sichere Grundlage.
In einzelnen Dienstordnungen ist dem Schulärzte auch auferlegt,
Schüler in ihren Wohnungen aufzusuchen und zu begut¬
achten, z. B. wenn sie als infektionsverdächtig vom Lehrer heimge¬
schickt wurden, oder wenn sie Krankheiten simulieren. Im Uebrigen
ist den Schulärzten jedoch in allen Dienstordnungen untersagt, in
ihrer schulärztlichen Eigenschaft die Kinder zu behandeln.
Diese Bestimmung, die ja im Allgemeinen die sicherste Gewähr gegen
irgend einen Missbrauch ihrer Funktion, auch gegen ihre Absicht,
bietet, erscheint bisweilen so rigoros, dass kaum abzusehen ist, wie
da oder dort eine Kollision der Pflichten des Schul- und Privatarztes
zu vermeiden ist.
Ferner gehört es gewöhnlich noch zu den Obliegenheiten des
Schularztes, die Lehrer und Schuldiener, sowie deren Fa¬
milien hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes zu beobachten und zu
untersuchen, vor allem dann, wenn sich bei diesen selbst eine In¬
fektionskrankheit zeigen und die Möglichkeit ihrer Uebertragung auf
andere obwalten sollte.
Des Weiteren soll auch die Beachtung der Hygiene des Schul¬
hauses und Schulbetriebes dem Tätigkeitsbereiche des Schul¬
arztes eingereiht werden, freilich unter der Oberaufsicht des Amts¬
arztes, dem diese Sparte ja schon seit dem organischen Edikt über
das Medizinalwesen in Bayern v. J. 1808 zu eigen ist. Ich habe mir
in diesem Betreffe bereits bei Erwähnung der ersten Periode des
deutschen Schularztwesens in der Vor-Wiesbadener Epoche eine kurze
Bemerkung gestattet und möchte dem nur noch anfügen, dass zur
Ueberwachung des Schulbetriebes auch die Berücksichtigung des
Handarbeits- oder Handfertigkeitsunterrichtes, die Kontrolle der Lehr¬
mittel, speziell in typographischer Hinsicht, der Schultafeln und Hefte,
die Prüfung des Umfanges der Hausaufgaben, die Zulässigkeit ge¬
wisser Schulstrafen, wie andererseits ausnahmsweise Schulferien u.
A. Ae. gehört.
Schliesslich, und meines Erachtens last not least, wäre es eine
segensreiche Aufgabe für den Schularzt, Schüler und Lehrer in den
Grundsätzen der allgemeinen und ganz besonders der individuellen
Hygiene zu unterrichten. Denn hier muss ich vollkommen Grub er
beistimmen, welcher sich beim Schlüsse der Ausstellung für Wesen
und Bekämpfung der Volkskrankheiten in München am 4. November
1905 äusserte: „Hygienische Belehrung des Volkes ist von un¬
gleich grösserem Nutzen für das Volkswohl, als die hygienische Ge¬
setzgebung“.
Es ist selbstredend, dass über alle diese Tätigkeit, als der eines
beamteten Arztes, der Schularzt auch schriftlich Rechenschaft zu
geben hat und deshalb nach dem Grundsätze: quod non est in scriptis,
non est in mundo, sein Tage- oder Hygienebuch, sowie seinen
Jahresbericht fertigen muss.
Man hat nun die Frage diskutiert, ob es rechtlich zulässig sei, in
Ermangelung gesetzlicher Bestimmungen, die Eltern der Schulkinder
zu zwinge n, diese vom Schulärzte untersuchen zu lassen, ge¬
schweige die Beantwortung des Fragebogens zu fordern. Bis zu
einem gewissen Grade steht den Lokalpolizeibehörden wohl zweifel¬
los das Recht zu, auf dem Gebiete der Schulhygiene ebensogut, wie
auf dem der sonstigen öffentlichen Gesundheitspflege statutarische
Bestimmungen zu erlassen. Uebrigens hat die Praxis gelehrt, dass
sich dagegen kaum irgendwo eine bemerkenswerte Opposition oder
passive Resistenz seitens des Publikums erhoben, um so weniger,
als manche Gemeindeverwaltungen, wie z. B. die von Fürth, bei
Ucbersendung des Fragebogens durch Beigabe eines belehrenden
Zirkulars über den Zweck und Wert dieser Institution für das körper¬
liche und geistige Wohl der Kinder die meisten privaten Bedenken
beruhigten. Ausserdem aber erhalten die Eltern oder Erziehungs¬
pflichtigen. wenn sie es wünschen, die gleichen Formulare unentgelt¬
lich zugeschickt, wie sie der Schularzt zu den Einträgen für seinen
Untersuchungsbefund gebraucht, und steht es dann den ersteren frei,
die erforderlichen Rubriken durch den eigenen Hausarzt aus¬
füllen zu lassen. Es wurde jedoch von dieser Erlaubnis nur in einem
verschwindend kleinen Prozentsatz Gebrauch gemacht, wenn auch
in München bei einem Probeversuche vorerst 10 — 50 Proz. der Schüler
vom Hausarzte untersucht und begutachtet worden sein sollen.
Nach diesen Darlegungen möchte ich mit nur ein paar Worten
die Frage erörtern: Ist die allgemeine Einführung von Schulärzten
auch in Bayern wünschenswert oder notwendig? Und
ich glaube, dass sie in bejahendem Sinne zu beantworten ist, wenn
man sich nicht gerade auf den seinerzeitigen Standpunkt des
Kgl. Bayer. Obersten Schulrates stellt. Denn da nun einmal der Staat
allgemeinen Schulzwang eingeführt, ist, oder vorerst richtiger gesagt,
wäre er auch verpflichtet, dafür mit allen Mitteln zu sorgen, dass
das körperliche und geistige Wohl der Schulkinder nicht nur vor allen,
mit dem Schulbesuche untrennbaren Fährlichkeiten geschützt, son¬
dern auch in positivem Sinne nach jeder Richtung hin gefördert werde.
Freilich überlässt er diese Sorge einstweilen den Kommunalbehörden;
aber diese haben nichtsdestoweniger die Pflicht, sich dieser Verant¬
wortung zu unterziehen. In pädagogischer Hinsicht ist es
wichtig, vor allem eine Ausmusterung der sog. „Sinneskrüppel“ vor¬
zunehmen, die Schwerhörigen. Stotternden und mit Gesichtsfehlern
Behafteten in die für sie geeigneten Anstalten oder Schulen zu ver¬
weisen, die geistig weniger Begabten den Hilfsschulen zu übermitteln,
die zu körperlichen Missbildungen Disponierten in passenden Sub¬
sellien zu unterbringen; denn häufig genug wird das schlechte Lehr¬
resultat bei derartigen Schülern auf Rechnung ihrer geringen Ver¬
anlagung gesetzt, während es tatsächlich den genannten Gebrechen
zur Last zu legen ist; andererseits aber werden die normalen Schul¬
jungen in ihren Fortschritten von den Minderwertigen allzusehr auf¬
gehalten. Dann erfordert die Notwendigkeit der Ueberwachung des
Schulbetriebes, der Einrichtung des Schullokales, der Kon¬
trolle der Lehrmittel, der Verteilung der Unterrichtsstunden mit Be¬
rücksichtigung der Abwechslung zwischen geistiger Tätigkeit und
körperlicher Uebung die Beobachtung und Ratschläge eines hygie¬
nisch gebildeten und hygienisch denkenden Arztes. Dazu kommt die
individuelle Prophylaxe vor parasitären und insbesondere
akuten und chronischen Infektionskrankheiten. Ich denke dabei in
erster Linie einerseits an die akuten Exantheme, andererseits an die
Geissei unserer Generation, die Tuberkulose. Wenn der Grundsatz:
Principiis obsta! gerade bei der ätiologischen Therapie oberstes Leit¬
motiv sein muss, so würde die Dringlichkeit seiner Anwendung allein
schon die praktische Durchführung des Schularztproblemes recht-
fertigen. Es erübrigt hier nicht die Zeit, auf das Thema der Ein¬
führung der Hygiene als eines obligatorischen Unter¬
richtsgegenstandes für die Volks- und Mittelschulen einzu¬
gehen und einen diesbezüglichen Antrag des Aerztlichen Bezirks¬
vereins Allgäu vom Jahre 1 904 an die bayer. Aerztekammern wieder¬
holt und detailliert zu begründen; ich behaupte nur unmassgeblichst,
ein Nationalvermögen von ideellen und materiellen Werten könnte
dadurch gehoben werden, und befinde mich hierin in Uebereinstim-
mung mit erfahrenen Schulmännern, mit denen ich die praktische
Durchführung dieses Problems zu prüfen Gelegenheit hatte. In
Fleisch und Blut des Volkskörpers geht nur über, was in der Jugend
und in der Schule aufgenommen wurde.
Somit stände einer erspriesslichen Tätigkeit des Schularztes
ein weites und fruchtbares Arbeitsfeld offen. Denn ausser den eben
aufgezählten Momenten gäbe es noch mancherlei von nicht weniger
integrierendem Einflüsse auf die Gesundheit und Tüchtigkeit nicht nur
für das schulpflichtige, sondern auch für das spätere Lebensalter.
Auf den Aufzeichnungen ir^ den Gesundheitsbögen könnte sich all¬
mählich ein sicheres und stattliches Fundament für eine wissenschaft¬
liche Statistik der Volksgesundheit und eine verlässige Direktive für
die gewinnbringendste Verwertung dieses ausschlaggebenden natio¬
nalökonomischen Faktors erheben,
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1533
Allerdings wird man bei der Einführung der schulärztlichen Ein¬
richtungen, vorzüglich am Beginne, mit Bedacht und Mässigung Vor¬
gehen müssen. Ein viel zu Viel in den Forderungen würde der In¬
stitution selbst ebenso wenig nützen, als früher die rudimentären
Ansprüche mancher Orte einem blossen schulärztlichen Scheinwesen
Dasein gaben. Desiderate, die sich vielleicht in grossen Gemein¬
wesen verwirklichen lassen, eignen sich nicht durchwegs auch für
kleine und kleinste Kommunen. Vor allem ist hierbei ein Unterschied
zwischen etwas grösseren Städten und dem Lande zu machen, wie
er schon äusserlich in den ragenden Schulpalästen dort und in den
bescheidenen, oft dürftigen Landschulhäuschen hier zutage tritt. Mit
der Verschiedenheit der sozialen Stellung, des Berufes, der Lebens¬
weise, Ernährung und Kleidung der Eltern und Kinder variieren auch
die hygienischen Bedürfnisse und damit die Aufgaben der individuellen
Prophylaxe. Wenn auf dem platten Lande schon die Abhaltung von
regelmässigen Sprechstunden bisweilen Schwierigkeiten begegnen
müsste, dann wäre daselbst die spezialärztliche Untersuchung der
höheren Sinnesorgane in der Regel undurchführbar.
(Schluss folgt.)
Aus der Säuglingspoliklinik und Beratungsstelle für Säuglings¬
ernährung in Frankfurt a. Main.
Eine neue Merktafel für Mütter.*)
Von Dr. med. Heinrich Rosenhaupt.
Schon seit einer Reihe von Jahren geben Standesämter und
gemeinnützige Vereine Merkblätter heraus, die dazu bestimmt sind,
durch Belehrung der Mutter den heranwachsenden Säugling vor
mancherlei Gefahren, die ihm drohen, zu bewahren. Vor allem wird
in ihnen den Ernährungsfragen ein breiter Raum gewidmet. Nach¬
weisbare Erfolge hat man durch sie bis jetzt noch nicht gesehen.
Wie mir scheinen will, aus mehreren Gründen. Es ist unbe¬
streitbar, dass in weiten Kreisen der proletarischen Bevölkerung —
und diese hat ja die Belehrung besonders nötig, da es gilt, den
sozialen Fährnissen, die sich nicht beseitigen lassen, ein Gegengewicht
zu geben — eine nicht geringe Indolenz Gedrucktem gegenüber be¬
steht und man darf sich daher nicht wundern, dass ein mit dem Ge¬
burtsschein überreichter gedruckter Zettel entweder bald in einer
Schublade verschwindet, als Einwickelpapier benutzt wird oder ein
noch rühmloseres Ende findet.
Das ist e i n wesentlicher Grund für den Misserfolg. Ein anderer
liegt meines Erachtens häufig in der Art der Ausdrucksweise dieser
Merkblätter, im Mangel an volkstümlichem prägnantem Stil, vor allen
Dingen aber daran, dass das Wesentliche nicht genügend hervor¬
gehoben ist. Das Wesentliche ist der nachdrückliche Hinweis auf den
Wert der natürlichen Ernährung, ein Hinweis, der für die Mutter des
Proletarierkindes ganz besonders wichtig ist, denn sie kann in den
seltensten Fällen eine relativ zweckmässige künstliche Nahrung be¬
schaffen und gefährdet ihr Kind durch die künstliche Nahrung in
weit höherem Masse, als die Mutter des Kindes der besitzenden
Klassen. Dieser wesentliche Punkt, die Mahnung
zum Selbststillen, tritt auf den meisten Merkblät¬
tern ganz zurück gegen die detaillierten Angaben
über die Art, Mischung und Zubereitung der künst¬
lichen Nahrung. Diese nehmen den grössten Raum
ein. Ich halte sie auch aus anderen Gründen für über¬
flüssig; denn sie sind unzweckmässig und gefährlich. Un¬
zweckmässig, weil sich nach dem Alter des Kindes sche¬
matische Vorschriften über die zweckmässige künstliche Er¬
nährung überhaupt nicht machen lassen, und gefährlich, weil sie oft
genug die Ursache sind, dass, wenn die nach dem Schema des
Merkblattes verabreichte Nahrung schlecht bekommt, das Vertrauen
auf das mit behördlicher Autorität versehene Merkblatt dem recht¬
zeitigen Hinzuziehen eines Arztes hindernd entgegen steht.
Diese eben geschilderten Mängel glaube ich in unserem
Merkblatt vermieden zu haben. Eine gefällige äussere Form
und die Kombination mit einem Abreisskalender
verhindern es, dass es unbeachtet verschwindet. Es wird
als willkommener Zimmerschmuck aufgehängt und bei der Benutzung
des Abreisskalenders täglich wieder beachtet. Die Regeln betonen
vor allen Dingen das Stillen und vermeiden jede detaillierte Vor¬
schrift über die künstliche Ernährung aus den obenerwähnten
Gründen.
Ich gebe im folgenden den Text der Merktafel:
12 goldene Regeln für Mütter.
I. Stille Dein Kind selbst, es wird ihm von Nutzen
sein sein Leben lang; jede Woche, jeder Tag den Du stillst, ist ihm
ein Gewinn.
II. Stille Dein Kind selbst, denn Du bist dazu i m -
Stande, wenn Du es nur mit Geduld viele Tage versuchst. Hast
Du nicht genug Milch, so höre nicht ganz mit dem Stillen auf,
sondern gib die Flasche nebenbei.
*) Der Kalender mit Merktafel ist im Verlag von Hermann
Mayer, Frankfurt a. M., Bleichstrasse 22, erschienen.
III. Stille Dein Kind selbst und lass Dich nicht da¬
von a b h a 1 1 e n durch unverständige Reden Deiner Umgebung.
IV. Stille Dein Kind selbst, denn Du schützest da¬
durch Deine Brust vor schwerer Erkrankung im späteren Alter.
V. Wenn Du Dein Kind stillst, iss und trink, was Dir
schmeckt und bekommt; was Dir nicht schadet, schadet auch
Deinem Kind nicht.
VI. Wenn Du aber trotzdem Dein Kind unnatürlich, das ist
künstlich mit der Flasche nähren musst, so erkundige Dich
beim Arzt über die Art der Ernährung.
VII. Die Milch für das Kind sei frisch und rein und werde
nach dem Abkochen sauber, kühl und verschlossen auf¬
bewahrt.
VIII. Gieb Deinem Kind nicht zu viel und nicht zu oft
zu trinken, das ist gerade so schlimm, wie zu selten und zu wenig.
IX. Wenn das Kind schreit, so wisse, dass das nicht
immer Hunger bedeutet.
X. Lege Dein Kind so oft trocken, als es nass ist;
wenn es wund wird, so ist es Deine Schuld.
XI. Glaube nicht denen, die sagen Dein Kind sei durch
Zahnen krank; es gibt keine Krankheit, die vom Zahnen kommt,
das Kind kann nur krank sein während des Zahnens aus
anderer Ursache.
XII. Gehe daher immer rechtzeitig zum Arzt, dass er
dieser Krankheit Heilung bringe.
Ich bin mir wohl bewusst, dass die Regel IV, die auf der von
v. B o 1 1 i n g e r behaupteten grösseren Häufigkeit des Mamma¬
karzinoms bei Brüsten ohne Laktation fusst, einen etwas proble¬
matischen Grund hat. Trotzdem dürfte sie nach der agitatorischen
Seite hin einen grossen Wert besitzen.
Nicht minder rechne ich bei Regel XI mit einem Widerspruch
mancher Kollegen, die sich ja mit ihren Anschauungen über das Be¬
stehen von Zahnungskrankheiten auf Heubner berufen können.
Aber auch diese werden mir, der ich auch jetzt noch auf dem negieren¬
den Standpunkt stehe, den nachdrücklich vertreten zu haben das
grosse Verdienst von Kassowitz ist, zugeben, dass von der
Zahnung als ätiologisches Moment von Laien (aber auch von Aerzten)
zum Schaden der Kinder ein übertrieben häufiger Gebrauch gemacht
wird.
Bei den übrigen Regeln dürfte ein Widerspruch nicht zu er¬
warten sein, so dass man im ganzen auf einen gewissen Erfolg wohl
rechnen kann.
Referate und Bücheranzeigen.
Zwei Jahre chirurgischer Tätigkeit, 1904 und 1905. Bericht
aus der Chirurg. Privatklinik von Dr. K r e c k e - München.
Der Bericht der genannten Klinik gibt in äusserst an¬
regender Schilderung eine Uebersicht über das grosse Material
der Klinik (in den beiden Jahren 4606 Patienten, 495 in die
Klinik aufgenommene Patienten) mit 446 Operationen im ersten,
546 im zweiten Jahre, 907 Narkosen (wobei die Aethertropf-
naikose als Normalmethode angesehen wird). K. berichtet zu¬
nächst über die Vergrösserung der Klinik durch ein Ambula¬
torium mit klinisch-orthopädischer Anstalt, bespricht die in der
Klinik geübte Asepsis, wobei besonders das heisse Wasser und
der Alkohol event. der Seifenspiritus zur Verwendung kommt,
während die Anwendung von Antiseptizis mehr und mehr ver¬
lassen, und schildert deren treffliche Erfolge (von 51 Hernien
z. B. 48 glatt geheilt, von 61 Bauchschnittwunden 58 primär
vereinigt). Hierauf wird das Material in topographischer Ein¬
teilung vorgeführt, ein Reihe von interessanten Fällen näher
besprochen, einzelne davon durch gute Abbildungen illustriert.
So werden u. a. der Fall einer Gehirntumorenexstirpation,
28 Kropfoperationen, 9 Brustkrebsoperationen, 9 Magenkarzi¬
nome (3 Radikaloperationen, 5 Gastroenterostomien), 5 Dick¬
darmkarzinome, 71 Fälle von Appendizitisoperationen (bei
58 Patienten) besprochen. Die in diesem Kapitel nieder¬
gelegten Anschauungen K-s verdienen ganz besonders allge¬
meine Berücksichtigung. K. plädiert warm für die Früh¬
operation. zumal in allen den Fällen, in denen sich ein destruk¬
tiver Prozess an der Appendix annehmen lässt, und gibt ge¬
naue diagnostische Anhaltspunkte hierfür. Ist ein leichter An¬
fall unter Bettruhe und örtlicher Eisapplikation in 24 Stunden
nicht soweit schmerzfrei, dass dem Patienten der Zustand wohl
erträglich erscheint, so ist auch beim Fehlen sonst schwerer
Erscheinungen die Operation zu empfehlen. „Ein Appendizitis¬
fall, der am 1. Tag mehrere Male erbricht, am 2. Tag einen
Puls über 100 hat, hat mit grosser Wahrscheinlichkeit destruk¬
tiven Prozess an der Appendix und muss sofort operiert
534
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
werden“. Die relativ vielen Todesfälle von Peritonitis (K. ver¬
lor in den Berichtsjahren von 10 Fällen von Appendizitis mit
Peritonitis 6) müssen und können vermindert werden, wenn die
Aerzte allgemein von der Bedeutung der Frühoperation über¬
zeugt werden, und es ist deshalb angezeigt, immer wieder
die Anhaltspunkte, die eine Operation dringend indizieren, her¬
vorzuheben, wie dies K. in der Schilderung seines Stand¬
punktes in dieser Frage, die Appendizitis so früh zu operieren,
als möglich, tut: „Bietet nur eines der wichtigsten Appendizitis¬
symptome eine massige Steigerung dar, sind die Schmerzen
und die örtliche Druckempfindlichkeit sehr heftig, tritt heftiges
Erbrechen auf, steigt der Puls über 100, ist die Atmung be¬
schleunigt und erschwert, findet sich ausgebreitete schmerzhafte
Muskelspannung über der rechten Fossa iliaca, dann nehme
man einer schwere, der Destruktion mindestens sehr ver¬
dächtige Form an.“ Die meisten Chirurgen werden durch ihre
Erfahrungen zu diesem Standpunkt der Frühoperation kommen
und wie K. nur die Fälle von einer Operation ausnehmen, in
denen man einen leichten Prozess annehmen kann, der einer spon¬
tanen Fleilung völlig sicher ist. Besonders interessant sind die
Mitteilungen, die K. über einige Fälle von Fehldiagnosen auf
Appendizitis gibt (retroperitoneale Phlegmone, entzündliche
Myositis, Gallensteinleiden) und die Angaben, die K. über die
Technik der Operation, auch die in der anfallsfreien Zeit, macht.
Des weiteren werden 2 Fälle von Ileocoekaltuberkulose, 6 von
Ileusoperationen, 8 Gallenblasenerkrankungen besprochen.
Betr. der Blasensteine empfiehlt K. warm die Lithotripsie, die
er — abgesehen von grossen und Oxalatsteinen, die der Sectio
alta zufallen — für das Normalverfahren erklärt. — Ein inter¬
essanter Fall von Tubargravidität, 3 Myomoperationen,
5 Ovariotomien, 12 Mastdarmkrebse (9 Radikaloperationen)
und der Bericht über 51 Hernien (39 Leistenhernien, darunter
4 Einklemmungen, 3 Schenkelbrüche, 9 Nabelbrüche) geben K.
Anlass zu einer Reihe von zutreffenden Bemerkungen. Die
Radikaloperation der Brüche, die nach dem heutigen Stand des
chirurgischen Könnens jedem Patienten in den ersten 5 De¬
zennien empfohlen werden kann, hält K- nach dem 50. Lebens¬
jahr nicht mehr für wünschenswert, da 1. die Operation in
diesem Alter nicht gleichgültig und 2. die Rezidive sehr häufig
sind. Die B a s s i n i sehe Operation gilt K. als Normalver-
tahren der Radikaloperation der Leistenbrüche. Die Operation
der grossen eingeklemmten Nabelbrüche gehört besonders bei
sehr starken Leuten zu den undankbarsten Aufgaben der
Chirurgie. — Betr. der Extremitätenchirurgie bespricht K. die
tuberkulösen Erkrankungen, betr. deren streng konservativer
Standpunkt, Immobilisation und Hebung des Allgemein¬
befindens angezeigt, auch das Bier sehe Stauungsverfahren
sich bewährt hat; die operative Behandlung tuberkulöser Ge¬
lenke betrachtet er als Ult. refugium und warnt ernstlich vor
dem schematischen Eröffnen kalter Abszesse. U. a. werden ein
Fall von Operation wegen veralteter Luxation des Knies,
3 Varizenexstirpationen, die Behandlung des Klumpfusses und
Plattfusses näher besprochen. Die Lektüre des umfassenden
Berichtes sei jedem Arzt warm empfohlen. Schreiber.
Dr. Hugo Hoppe: Alkohol und Kriminalität mit Doppel¬
tafeln, J. F. Bergmann, Wiesbaden 1906. 208 S. 4 M.
Eine sehr nützliche Zusammenstellung der bekannten Be¬
ziehungen zwischen Alkohol und Verbrechen. Nach einer
kurzen Orientierung über den psychologischen Zusammenhang
der Trunksucht mit dem Verbrechen nehmen die Ergebnisse
der Statistik den breitetesten Raum ein, in denen die Rolle der
Trunkenheit und der Trunksucht bei der Entstehung der ver¬
schiedenen Verbrechen, der Rückfälligkeit etc. durch Zahlen aus
den verschiedenen Ländern beleuchtet werden. Ein beson¬
deres Kapitel ist den „Jugendlichen“ gewidmet. Die foren¬
sische Beurteilung und die Bekämpfung der Alkoholkriminalität
bilden den Schluss.
Einige unrichtige Prozentzahlen machten den Referenten
misstrauisch gegen die Genauigkeit der Zahlen. Eine grössere
Anzahl von Stichproben gab aber dann ein befriedigendes Re¬
sultat. An einzelnen Stellen wären indes die prozentischen Be¬
rechnungen besser weggejassen, da sie aus zu kleinen Zahlen
gewonnen sind; auch ein Schluss ist etwa einmal aus diesem
letzteren Grunde anfechtbar. Einzelne ungenaue Bezeich¬
nungen wie „in der Schweiz“ (die 25 verschiedene Strafrechte
und einen wichtigen Entwurf für ein eidgenössisches Gesetz
besitzt), „in Amerika“ und dergl. dürften in einer zweiten Auf¬
lage näher präzisiert werden. Im ganzen aber ist die fleissige
Arbeit die reichhaltigste Zusammenstellung eines Materials,
dessen Wichtigkeit von Tag zu Tag mehr erkannt wird.
Bleuler- Burghölzli.
•
Heinrich Jaeger und Anna Jaeger: Hygiene der
Kleidung. (Band 19 der Bibliothek der Gesund¬
heitspflege. Stuttgart, E. M. Moritz. Brosch. 2.50 M.
Das vorliegende Werkchen, mit dem die vorzügliche und
hier schon wiederholt lobend erwähnte populäre Bibliothek
der Gesundheitspflege ihren Abschluss gefunden hat, weist
vielerlei Originelles auf. Schon die Zusammenarbeit eines
männlichen und weiblichen Autors ist etwas ungewöhnliches.
Auch in der Art der Illustrationen und in den Tabellen, wie in
der von Frau J. erfundenen Reproduktionstechnik ist Ori¬
ginelles geleistet. Die schwierig zusammenzufassenden Tat¬
sachen über die hygienischen Wirkungen der physikalischen
Beschaffenheit der Stoffe und Kleidung sind mit viel Glück klar¬
gestellt. Der grösste Teil des Buches ist der richtigen Art des
Ausbaues der Frauenkleidung gewidmet. Wesentlich neues ist
nicht gebracht, auch nicht zu erwarten. Ein Streifzug durch
die Kulturgeschichte der Kleidung, photographische Repro¬
duktionen von Kleidern und zahlreiche andere Abbildungen
würzen aber die Lektüre. Die Figuren 43 und 44 hätten etwas
weniger schematisch übertrieben werden sollen. Der Normal¬
stiefel von Schulze- Naumburg ist inzwischen auch durch
gefälligere und richtigere Formen überholt worden. Von Re¬
formkleidern hätten sich namentlich von den äusserlich die
Reform gar nicht verratenden und daher viel leichter ein¬
zubürgernden, mehr ansprechende bringen lassen. Aber ich
weiss aus eigener Erfahrung, wie schwer es hält, den allge¬
meinen Geschmack da zu befriedigen. Im wesentlichen ist das
Gebrachte wirklich gut, ansprechend und anregend, und es
wäre zu wünschen, dass das Büchlein die verdiente günstige
Aufnahme fände. Neustätte r.
Dr. med. Willms: Das preussische Kreisarztexamen.
Berlin, Martin Boas, Buchhandlung für Medizin 1906.
In ebenso übersichtlicher, als vollständiger Weise bringt
der Verf. auf 34 Druckseiten, Alles, was man über Vorbe¬
dingungen, Verlauf, Anforderungen zum preussischen Kreis¬
arztexamen zu wissen braucht.
Im Anschluss an die Prüfungsordnung wird der Modus der
Meldung und die Bestimmungen über die schriftlichen Arbeiten
erörtert. Um dem Kandidaten zu zeigen, was seiner wartet,
sind eine Reihe von Themata aufgeführt. Ueber die Be¬
schaffung der nötigen Literatur werden praktische Winke ge¬
geben. In ähnlicher Weise ist der Abschnitt über die prak¬
tisch mündliche Prüfung behandelt. Für die Vorbereitung in
der Psychiatrie empfiehlt der Verf. dem Nichtpsychiater, sich
im Wesentlichen an ein Werk zu halten, um durch die Ver¬
schiedenheit der Nomenklatur und der klinischen Einteilung
nicht verwirrt zu werden. Bei der Literaturangabe hätte auch
H o c h e s Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie angeführt
werden sollen. Es folgt dann ein Schema über den Verlauf des
Examens nach Stunden und Tagen.
Ein besonderer Abschnitt ist dem Universitätsstudium zur
Erlangung der Praktikantenscheine und den Ferienkursen ge¬
widmet, für den Kandidaten eine besonders erwünschte Be¬
lehrung! Die Kosten, die einem auf dem Land wohnenden Arzt
aus dem Examen mittelbar und unmittelbar erwachsen, schlägt
der Verf. auf rund 4000 M. an.
Man entnimmt dem Schriftchen, dass das Kreisarztexamen,
besonders für den Arzt auf dem Lande eine ziemlich mühsame
und kostspielige Sache ist. Allen, die das Examen zu machen
wünschen, kann man die Arbeit bestens empfehlen.
W i 1 d e r m u t h.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1535
Heinrich Fasbender: Geschichte der Geburtshilfe.
Jena, Gustav Fischer, 1906. 1028 Seiten, gr 8°. Preis 25 M.
Das engumschriebene Gebiet der Geburtskunde erfreut sich
einer relativ grossen Anzahl von bedeutenden geschichtlichen
Darstellungen. Schon Albrecht v. Haller hat in seiner klassi¬
schen Bibliotheca chirurgica 1774, welche auch die gesamte
Gynäkologie umfasst, ein kritisches Material von grossem
Werte gegeben. Zu Ende des 18. Jahrhunderts erschien die
erste grössere Arbeit über Geschichte der „Entbindungkunst“
von Friedrich Benjamin Osiander, dem berühmten Tü¬
binger Lehrer. Dieses gründliche 599 Seiten starke Buch ver¬
dient die Vergessenheit nicht, der es nach dem Erscheinen von
Ed. v. Siebolds Werk anheimgefallen ist. Dieses (1845
beendet) war bald vergriffen und nur zu hohen Preisen zu
bekommen. Deshalb war die Neuausgabe durch R. Doh r n
(1904) mit trefflichen Fortsetzungen von 1840 — 1880 freudig zu
begrüssen. Trotz dieses Reichtums unserer Literatur in ge¬
nanntem Fach kann auch Fasbenders grosses Werk der
besten Aufnahme sicher sein.
Der Verfasser hat sich schon 1897 durch seine „Entwick¬
lungslehre, Geburtshilfe und Gynäkologie in den Hippokrati¬
schen Schriften“ einen guten Namen gemacht und bietet uns
jetzt wieder ein Buch, auf das Deutschland stolz sein darf. —
Da Max Wegscheider im 3. Bande von P a g e 1 und
Neuburgers Handbuch (878 — 952) einen Auszug des
Werkes gegeben hat, kann auf diesen verwiesen werden. —
Im Allgemeinen gewinnt man den Eindruck, dass der Autor
genötigt war, mit dem Raum sparsam umzugehen. Daraus
erklärt sich auch, dass im ersten Abschnitte (Altertum) fort¬
während auf das eben zitierte Buch von 1897 hingewiesen
wird. Auch für biographische Belehrung werden die bekann¬
ten deutschen und österreichischen grossen Enzyklopädien
(„Deutsche Biographie, Wurzbach etc.“) herbeigezogen, wäh¬
rend sich der Verfasser auf das Dringlichste beschränkt. Wer
hier Ausführliches lesen will, muss sich an die in den Zeit¬
schriften publizierten Lebensläufe halten. Besonders willkom¬
mene Teile des grossen Werkes sind diejenigen über Unter¬
richtsverhältnisse, die zeitweiligen Universitätslehrer und die
Geschichte der Fachjournale.
Ohne Zweifel war Verf. durch buchhändlerische Rück¬
sichten gezwungen, einen Teil seiner gesammelten Materialien
in den Manuskripten zurückzubehalten; manche Namen und
Bücher, die wir bei Ed. v. S i e b o 1 d und bei R. Dohm
finden, vermissen wir bei Fasbender.
Bei der hebräischen Geburtshilfe, die Verf. 1897 mit gröss¬
ter Gründlichkeit behandelt hat, suchen wir vergebens die ge¬
diegenen Arbeiten von J.Preuss (Zeitschr. f. Geburtshilfe und
Gynäkologie Bd. LIII und LIV). Für die Geschichte der Sectio
caesarea bei Verstorbenen (resp. Lex regia des Numa) ist wohl
der Artikel von Moriz Voigt in den Abhandl. d. sächs. Ges.
d. Wiss. VII, 1879, pag. 73 ff das Bedeutendste. — Ueber
„leges regiae“ sehe man T e u f f e 1, Gesch. d. röm. Liter. § 70.
Bei So ran us dürfte auch der handlichen und billigen Text¬
ausgabe (1882) von Val. Rose zu gedenken sein, die Vieles
bringt, was bei E r m e r i n s nicht zu finden ist. Da das Werk
Fasbenders ein internationales ist, so war die Ueber-
setzung von F. Jos. Herrgott nicht zu übergehen (Soranus
d’Ephese, Traite des maladies des femmes et Moschion 237 pp.
gr. 8U. Nancy 1895.) Dieses Buch ist nicht nur äusserlich
vorzüglich ausgestattet, sondern hat auch sonstige Vorzüge,
z. B. die sehr gute Introduktion (XXVI. pp.) in welcher leider
der Codex Hafniensis nach Hanau verlegt wird.
Bei der auch kulturhistorisch wichtigen Gruppe R ö s 1 i n,
R y f f, R u e f f, deren Werke in unversehrtem Zustande schwer
zu bekommen sind, wäre vieles zu bemerken. Für Biblio¬
graphen ist der Artikel in Choulants Graphischen Inku¬
nabeln zu empfehlen. Bei Jakob R u e f f ist zu erwähnen, dass
unter den Holzschnitten sich auch ein ganz vortrefflicher findet,
welcher die Haltung bei Steisslage darstellt (De conceptu et
generatione hominis 1554, Fol. 21). Vielleicht ist die Figur aus
V e s a 1 entnommen. Eine ausführlichere Arbeit über J. R u e f f
von Meyer-Ahrens findet sich im 20. Bande der Monats¬
schrift f. Geb. (1865).
Fasbenders Werk wird unter den historischen Bücher¬
schätzen eine der ersten Stellen einnehmen, aber auch dem
Praktiker wird eine gründliche Beschäftigung mit demselben
grössten Nutzen und genussreiche Stunden bereiten.
Huber- Memmingen.
Rudolf Robert: Lehrbuch der Intoxikationen. 2. durch-
weg-neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Enke 1904. II. Band,
1278 Steiten. 24 M.
Die 2. Auflage des grossen Robert sehen Lehrbuches
liegt nunmehr vollendet vor. Das sehr günstige Urteil das
Referent über den ersten Band in Nr. 37 1903 fällen konnte gilt
auch vom 2. Band — das Werk stellt ein höchst wertvolles und
vollständiges, die gesamte Literatur verarbeitendes und an¬
führendes Handbuch dar, das der Kritik, Erfahrenheit und Be¬
lesenheit sowohl, als der eigenen Forschertätigkeit Roberts
das beste Zeugnis ausstellt. Es ist das grösste und vollstän¬
digste toxikologische Lehrbuch, das je in deutscher Sprache ge¬
schrieben wurde. R. B. Lehmann.
Neueste Journalliteratur.
Beiträge zur Klinik der Tuberkulose. Herausgeg. von
Prof. L. Braue r. Band V. Heft IV.
W. Weinberg: Lungenschwindsucht beider Ehegatten.
Die statistische Arbeit stützt sich auf ein Material von
überlebenden Ehegatten von 3932 an Lungenschwindsucht
während der Jahre 1873 bis 1903 in Stuttgart gestorbenen
Personen unter Berücksichtigung der Dauer des Zusammenlebens,
des Alters, der Beobachtungsdauer und der sozialen Verhält¬
nisse. Der Vergleich der Sterblichkeit an Schwindsucht bei den über¬
lebenden Ehegatten Schwindsüchtiger mit den allgemeinen Sterbe¬
ziffern ergibt, dass die überlebenden Ehegatten Schwindsüchtiger eine
doppelt so hohe Schwindsuchtssterblichkeit haben, als die Gesamt¬
bevölkerung. Diese Uebersterblichkeit ist bei den Ehefrauen — be¬
sonders der niederen sozialen Schichten — relativ grösser, als die der
Männer. Nicht alle Fälle von Tuberkulose beider Ehegatten können
natürlich auf direkte Ansteckung zurückgeführt werden, nur etwa
ein Drittel bis ein Viertel kommt hierfür in Betracht.
Zickgraf: Ueber die therapeutische Verwendung des kiesel¬
sauren Natriums und über die Beteiligung der Kieselsäure an derj
Bildung von Lungensteinen.
Die Applikation der Kieselsäure geschah zum Teil mittels Lipp-
springer Kieselsäurewassers, zum Teil mit Natr. silicicum puriss.
Merck. Verf. machte bei einigen Patienten Analysen des Harns auf
Kieselsäure, in einem Fall die Untersuchung von Lungensteinen auf
Kieselsäure. Das kieselsaure Natron macht bei innerlicher Anwen¬
dung keine Beschwerden. Es wird vom Körper resorbiert und er¬
scheint im Harn als deutliche Vermehrung der normal vorhandenen
Kieselsäure. Auf dem Wege durch das Blut übt es eine geringe leuko-
zytaktische Wirkung aus. Seine Anteilnahme an der Petrifikation
tuberkulöser Gewebe ist sehr beträchtlich. Die weitere Verwendung
des Mittels ist demnach zu rechtfertigen, besonders als ein die Er¬
nährung zweckmässig unterstützendes Moment.
J. Wiesel: Beiträge zur Statistik und Klinik der Tuberkulose.
Uebersicht über 556 Fälle (der III. med. Klinik des k. k. Franz-
Joseph-Spitals in Wien) unter Berücksichtigung ätiologischer, sozial¬
hygienischer und klinisch-symptomatischer Momente (vor allem der
Komplikationen); Darstellung der geübten hygienisch-diätetischen und
spezifischen Therapie. Der Erfolg war trotz der überwiegend
schweren Fälle relativ gut.
J. Kasten: Zur Lehre der Hämoptoe im Säuglingsalter.
Mitteilung eines intra vitam diagnostizierten Falles von ulze¬
röser Tuberkulose des rechten Oberlappens bei einem 7 Monat alten
Kind, das an profuser Hämoptyse zugrunde ging. Die Obduktion ergab
Ruptur eines Gefässes in einer Kaverne. Verf. bespricht weiter die
sehr spärliche Kasuistik dieser Fälle und einige Punkte der Patho¬
genese der Säuglingstuberkulose.
J. Nagel: Tausend Heilstättenfälle. (Aus der Lungenheilstätte
Kottbus.)
Statistische Wertung der Jahrgänge 1900 — 1904 und kritische
Würdigung der kombinierten Anstalts- und Tuberkulinbehandlung in
der Heilstätte Kottbus. Der vielseitige Inhalt dieser verdienstlichen
und umfangreichen Arbeit entzieht sich naturgemäss dem Referat.
Sehr erwähnenswert ist die Mitteilung, dass der erzielte Erfolg in
der Mehrzahl der Fälle kein vorübergehender gewesen ist, sondern
dass den meisten durch die Heilstättenbehandlung jahrelang dauernde
Gesundheit und Erwerbsfähigkeit erhalten resp. wiedergegeben
worden ist.
W. Stockert: Ueber Tuberkulose der Schädelbasis.
Mitteilung eines Falles von tumorartiger Tuberkulose der linken
Schädelbasis, ausgehend von der linken Keilbeinhälfte mit Ueber-
greifen auf das Schläfenbein und Kompressi m des Optikus; links¬
seitige Spitzentuberkulose. C u r s c h m a n n - Tübingen.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
1536
Zeitschrift für Tuberkulose. Band IX, Heft 1. 1906.
Hans Burckhardt: Statistische Zusammenstellungen aus den
an der Baseler allgemeinen Poliklinik behandelten Fällen von Lungen¬
tuberkulose mit bes. Berücksichtigung der Heilstättenbehandlung.
Der Statistik ist zu Grunde gelegt das Material der Poliklinik des
Bürgerspitals, zu deren Behandlung (wenigstens im vollen Umfangel
nur Leute mit einem Jahreseinkommen von weniger als 800 Mk. für
ledige und 1200 Mk. für verheiratete Anspruch haben. Die ambu¬
latorisch Behandelten sind im Gegensätze zu anderen Statistiken
(Hammer, Stadler) nicht berücksichtigt. Von 3699 Patienten
wurden nur 1826 in Betracht gezogen, die länger als 1 Jahr in Be¬
handlung waren. Die einzelnen statistischen Daten, die durch viele
Tabellen erläutert werden, können natürlich hier nicht mitgeteilt
werden, sondern nur die Ergebnisse. Kinder unter 16 Jahren (nicht
unter 6) und Erwachsene werden getrennt behandelt. Das Ergebnis
der Kinderstatistik wird in folgenden Sätzen zusammengefasst. „Ge¬
heilt wurden: im frühesten Kindesalter keine, im späteren von den
klimatisch verpflegten Kindern 19,5 Proz., von den nicht klimatisch
verpflegten 2,7 Proz., von den schwer erkrankten keine; gebessert
wurden: im frühesten Kindesalter keine, im späteren von den kli¬
matisch verpflegten 54,7 Proz., von den nicht klimatisch verpflegten
Kindern 31,1 Proz., von den schwer erkrankten keine; stationär
blieben: von den klimatisch verpflegten Kindern des späteren Alters
14,2 Proz., von den nicht klimatisch verpflegten 35,1 Proz., von den
schwer erkrankten älteren und den jüngeren Kindern vereinzelte;
progredient wurden: von den klimatisch verpflegten 9,5 Proz., von
den nicht klimatisch verpflegten Kindern 20,9 Proz., von den schwer
erkrankten älteren und von den jüngeren Kindern nur wenige. Ge¬
storben sind: von den klimatisch verpflegten 2,1 Proz., von den nicht
klimatisch verpflegten 10,2 Proz., von den zu schwer erkrankten
älteren die Hälfte und von den jüngeren Kindern beinahe alle. Der
Unterschied zwischen den klimatisch verpflegten Kindern und den
entsprechend nicht klimatisch verpflegten ist ein so grosser, dass wir
von einem guten Erfolge dieser Therapie sprechen dürfen“.
Bei den Erwachsenen zeigt es sich, dass die Heilstättenpatienten
viel bessere Erfolge aufweisen, als die in Basel behandelten. Die
Sterblichkeit ist bei letzteren in den ersten Jahren bedeutend grösser,
hält sich aber später annähernd gleich. Dagegen ist die Erwerbs¬
fähigkeit bei den (Davoser) Heilstättenpatienten dreimal so gut, als
bei den anderen. Es ist durch diese genauen statistischen Unter¬
suchungen die von Ham m e r ausgesprochene und durch eine kleine
Zahl von Fällen unterstützte Behauptung widerlegt, dass die
Heilstättenbehandlung keinen grösseren Nutzen bringe, als die po¬
liklinische.
W. Kyllmann - Berlin : Einige Wohnungsfragen, praktisch
beleuchtet.
Eine Besprechung eines Buches von Dr. Andreas Voigt und
Paul G e 1 d n e r über „Untersuchung der Intensität der Bebauung
vom wirtschaftlichen und hygienischen Standpunkte“. Der Wert
kleiner Eigenhäuser ist nicht zu verkennen, aber für unsere gross¬
städtische Arbeiterbevölkerung wird zweifellos das Mietshaus die ge¬
wöhnliche Wohnungsform bleiben. Daher ist das hauptsächlichste
Bestreben für die Menge dahin zu richten, diesen Haustyp gesund,
luftig und hell zu machen. (Wie schön das zu machen ist, zeigen die
Dresdner Arbeiterwohnungen auf der Dresdner Kunstgewerbeaus¬
stellung. L.) In diesem Bestreben, für solche Umgestaltung der Miets¬
wohnungen einzutreten, kommen bei den Verfassern und beim Re¬
ferenten des Buches die Eigenhäuser zu schlecht weg, während er die
Mietshäuser ziemlich ideal schildert. Der Ref. moniert sogar, dass
die Verf. nicht auf die sozialen Vorteile der Mietshäuser aufmerksam
gemacht hätten, in denen verschiedene Gesellschaftsklassen sich
mischten und so wohltätig ausgleichend wirkten. Das dürfte doch
praktisch noch sehr zweifelhaft sein, vielleicht oft sogar ins Gegen¬
teil Umschlagen. Es wird dann noch eine Reihe einzelner Punkte
berührt, Feuchtigkeit, Kellerwohnungen, Abzugskanäle usw.
E. J o e 1 - Görbersdorf: Davos und seine Statistik.
Dr. Nienhaus, Direktor der Baseler Heilstätte in Davos, hat
in dem 1905 erschienenen Davoser Handbuche klar und deutlich sta¬
tistisch bewiesen, dass die Phthiseotherapie im Hochgebirge durch
ihre Leistungen die unglückseligen deutschen Anstalten in der Ebene
arg in den Schatten stellt. Joel nimmt die ganze Arbeit kritisch und
sehr scharf unter die Luppe und zerpflückt sie ganz gehörig. Sie ist
auf mangelhaften und falschen Grundlagen aufgebaut und berührt um
so merkwürdiger, als Nienhaus Tatsachen behauptet, die seinen
eigenen von Joel angeführten Jahresberichten widersprechen.
Joels Meinung, mit diesem anmassenden Hochgebirgsmärchen nun¬
mehr gründlich aufgeräumt zu haben, kann ich nur beistimmen.
A. H. H a e n t j e s - Putten: Verbreitung der Tuberkulose auf
lymphogenem Wege.
„Die Tuberkulose ist hauptsächlich eine Krankheit des Binde¬
gewebes, dieses Stiitzgeriistes fast aller Organe und spezifischen Ele¬
mente in unserem Körper, immerhin desjenigen Bindegewebes, das
zum Aufbau der feineren und gröberen Teile des ganzen „Lymph¬
systems“ dient, während meistens nur in letzter Instanz die Tuber¬
kulose übergreift auf die spezifischen Zellgruppen der Organe und
Gewebe. Der Tuberkulosevirus verbreitet sich im Bindegewebe per
contiguitatem (Bindegewebsspalten); wo das Bindegewebe nicht im
Körper vorgefunden wird, entsteht es (Schwarte; Fistelgangaus¬
kleidung; Granulationsgewebe) unter dem Einflüsse der Reizung des
Tuberkulosevirus oder seiner Produkte. Dies neu entstandene
Bindegewebe leitet jetzt den Virus in seinen Spalten weiter hin oder
eliminiert ihn nach aussen (Fistel) oder nach den nächstliegenden
Lymphdriisen, aber nicht immer nach den regionären Drüsen. Es
führt den Tuberkulosevirus aus dem Unterhautbindegewebe nach
den grossen Körperhöhlen und zu den Knochen (oder in umgekehrter
Richtung) und von diesen wieder zu den Lymphbahnen. Wenn diese
Ansicht richtig ist, so bringt sie alle die jetzt bekannten, meist kon¬
troversen Theorien über die .Infektion (v. Baumgarten, Ribbert,
v. Behring, C o r n e t u. a.) harmonisch zusammen“. Dieses
führt H. nun aus. Dass er aber endlich nicht zu dem Schlüsse kommt,
es sei mm die Hauptsache, durch eine gute physikalisch-diätetische
Behandlung den Körper mitsamt seinen Säften und Bindegeweben zu
kräftigen, sondern dass er den Inhalt von virusfreien Lymphdriisen
eines mit Tuberkulose behafteten Individuums dem Patienten einver¬
leiben will, scheint mir ein merkwürdiger Schluss zu sein.
M. S c h a e f e r - M.-Gladbach: Vorschlag zur Vereinheitlichung
der Zeichen beim Einträgen des Krankheitsbefundes in Schemata. Mit¬
teilung der in Belzig üblichen Zeichensprache und Aussprache des ge¬
wiss allenthalben vorhandenen Wunsches, hierin zu einer Einheit
zu kommen.
Die Zeitschrift enthält jetzt auch eine Beilage für Heilstätten-
und Wohlfahrtseinrichtungen, die Jahresberichte usw. aufnimmt, und
so einem früher an dieser Stelle schon einmal gerügten Punkte abhilft.
Liebe- Waldhof Elgershausen.
Archiv für Gynäkologie. Bd. 78, Heft 3. Berlin 1906.
1) Leopold E e 1 1 n e r - Wien, Franzensbad: Zur physiologischen
Wirkung der Hydrastis canadensis und des Ergotins auf die Zirku¬
lationsorgane und die Uterusmuskulatur.
Zu den einschlägigen Untersuchungen Kurdinowskis be¬
richtet E. über Versuche, welche er 1885 und 1887 bei v. Basch
angestellt hat. E. prüfte an Hündinnen und Kaninchen die Wirkung
von Präparaten der Hydrastis c. und des Ergotins. Er fand: Die durch
beiderlei Präparate hervorgerufenen Uteruskontraktionen sind un¬
abhängig von der Einwirkung der Gifte auf das üefässystem; die
Sekalepräparate ergaben tetanische Kontraktionen des Uterus,
während das bei Kontraktionen nach Hydrastis nicht der Fall ist. —
Geburtshilflich empfiehlt sich vielleicht die Kombination von Ergotin
und Hydrastis.
2) Richard Bengelsdorff: Ueber die Reaktion des Scheiden¬
sekretes. (Aus dem Laboratorium der geburtshilflich-gynäkologischen
Universitätsklinik zu Helsingfors. Vorstand: Prof. G. H e i n r i c i u s.)
In den 20 mitgeteilten Fällen wurde das Scheidensekret unmittel¬
bar nach der Geburt und dann mit ungefähr 24 ständigen Intervallen
entnommen. Die Prüfung geschah mit Lackmuspapier, ferner wurden
aerobe Kulturen angelegt und das Sekret mikroskopisch untersucht.
Die Reaktion war in der Vulva in 18 Fällen gleich nach der Geburt
alkalisch, in 2 Fällen sauer; in der Scheide in 15 Fällen alkalisch,
in 3 neutral, in 2 sauer. Sehr bald wurde die Reaktion in der Scheide
sauer. Bei der Reaktionsänderung scheinen Bakterien keine Rolle zu
spielen. B. nimmt an, das Sekret in der Scheide sei primär sauer
und werde während der Geburt durch eindringendes Fruchtwasser
alkalisch.
3) Otto Specht: Mikroskopische Befunde an röntgenisierten
Kaninchenovarien. (Aus der dermatologischen Universitätsklinik zu
Breslau. Stellvertretender Direktor: Privatdozent Dr. Kling¬
müller.)
In zwei grösseren Versuchsreihen zeigte es sich, dass im
Kaninchenovarium die Zellen -den ersten Angriffspunkt für die
Röntgenstrahlen bieten. Eine Schädigung der Gefässe kommt über¬
haupt nicht Betracht. Die ersten Veränderungen treten an den Primär¬
follikeln und an dem interstitiellen Eierstocksparenchym nahezu
gleichzeitig auf.
Praktische Bedeutung: Schutz des weiblichen Personals in
Röntgeninstituten vor Einwirkung der Strahlen; vielleicht auch thera¬
peutische Verwertung der Strahlenwirkung.
4) A. Jheilhaber und A. Meier: Die physiologischen
Variationen im Bau des normalen Ovariums und die chronische
Oophoritis. (Aus Hofrat Dr. A. Theilhabers Frauen-Heilanstalt
in München.)
Von den untersuchten Ovarien stammen 69 aus dem patho¬
logischen Institut, 17 sind durch Operation gewonnen; sie betreffen
jedes Lebensalter vom 1. — 80. Jahre. Das Endergebnis der an-
gestellten Untersuchungen hat einen vorwiegend negativen Charakter.
Aus klinischen Symptomen lässt sich an der Lebenden eine idio¬
pathische Oophoritis chronica nicht mit Sicherheit diagnostizieren;
auch die für die anatomische mikroskopische Diagnose der Oophoritis
chronica angegebenen Erscheinungen sind nicht beweisend für deren
Existenz. Eine primäre chronische Entzündung der Keimdrüse scheint
fast gar nicht vorzukommen.
5) Karl Schmidlechner: Gangraena uteri puerperalis
(Metritis dissecans?). Aus der II. Uiniversitäts-Erauenklinik zu
Budapest, Hofrat Prof. Wilhelm T a u f f e r.)
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1537
Eine 27 jährige Frau erkrankte schwer mit übelriechendem Aus¬
fluss, nachdem die Menses 2 Monate ausgeblieben waren. Im faust¬
grossen Uterus war eine zerfallene, schwammige Masse zu fühlen.
Wegen Verschlimmerung des Zustandes wurde der Uterus vaginal
total exstirpiert. Die Frau konnte am 25. Tage geheilt entlassen
werden. — Der grösste Teil der die Zervikalwand und das untere
Drittel des Korpus bildenden Muskulatur war in eine zerfallende
Masse umgewandelt, welche sich gegen das gesunde Gewebe scharf
abgrenzte.
6) E. M. Kurdinowski: Weitere Studien zur Pharmakologie
des Uterus und deren klinische Würdigung. (Aus dem pharma¬
kologischen Institut des Herrn Geheimrat Prof. Liebreich in
Berlin.)
K. gibt eine eingehende kritische Besprechung der Methodik der
pharmakologischen Versuche am Uterus. Im weiteren berichtet K.
über Versuche mit Chinin, Berberin, Styptizin, Hydrastinin, Adrenalin,
Bebeerin, Physostigmin, Koffein, Strychnin, Extractum Sabinae, Ex-
tract. Gossipii und Extract. Hamamelidis virg. fluid. Ohne Einfluss
zeigten sich Strychnin und Erxtract. Sabinae; unzuverlässig war die
Wirkung des Bebeerin, des Koffein und des Extract. Gossipii. Chinin
wird als zuverlässiges Tonikum empfohlen; Styptizin und Hydra¬
stinin kommen nach der Entbindung erfolgreich zur Anwendung;
Adrenalin tritt als Medicamentum heroicum uteri in extremis in Wirk¬
samkeit.
7) C. J. Gauss: Geburten in künstlichem Dämmerschlaf. (Aus
der Universitäts-Frauenklinik zu Freiburg i. Br., Direktor: Prof. Dr.
K r o e n i g.)
Bericht über 500 Geburten, in denen Skopolamin-Morphium-In-
jektionen angewandt wurden; unter den 500 Frauen sind 233 Erst¬
und 267 Mehrgebärende. Zu Anfang wird in der Regel eine Dosis
von 0,00045 — 0,0006 Scopol, hydrobromic. und 0,01 Morph, mur. ge¬
geben, bei ausbleibendem Erfolg wird eine zweite Injektion von
0,00015 — 0,0003 Scopol, hydrobrom. ohne Morphium gemacht. Eine
Fortsetzung des so eingeleiteten Dämmerschlafes ist ohne Schaden
über mehrere Tage hin ausführbar. Die grösste bei einer Patientin
angewandte Gesamtdosis betrug 0,0031 Skopolamin + 0,0475 Mor¬
phium in 48 Stunden.
Kontraindikation bilden primäre Wehenschwäche, Schwäche¬
zustände, fieberhafte Erkrankungen, Anämien und somnolente Zu¬
stände.
Das Verfahren bringt keine Gefährdung der Mutter und keine
Schädigung des Kindes mit sich.
8) G. Brunet: Ergebnisse der abdominalen Radikaloperation
des Gebärmutterkrebses. (Aus der Privat-Frauenklinik von Prof.
Mackenrodt- Berlin.)
Zu der Arbeit verwertet B. 251 Fälle, von denen 70 aus der
M a c k e n r o d t sehen Klinik stammen, während die übrigen von
v. R o s t h o r n, Wertheim und Kroenig mitgeteilt wurden.
In allen diesen Fällen wurden die in Betracht kommenden Teile des
Uterus samt den Parametrien und den exstirpierten Lymphdriisen in
Serienschnitte zerlegt und mikroskopisch untersucht.
Die Operabilität des Karzinoms betrug bei den 4 Autoren im
Durchschnitt 67 Proz. ; aber nur etwa in der Hälfte aller Karzinom¬
fälle Hess sich eine radikale, Dauererfolg versprechende Operation
vornehmen.
B. fasst das Resultat seiner Untersuchung dahin zusammen: Wir
müssen in allen Fällen von Krebs am unteren Gebärmutterabschnitt
den Uterus samt dem oberen Scheidendrittel, den Parametrien und
Parakolpien, sowie den regionären Lymphdriisen, soweit es technisch
überhaupt möglich ist, entfernen. Der geeignetste Weg dazu ist der
Weg vom Abdomen aus.
Die Durchschnittsoperabilität aller Fälle für eine abdominale
radikale Operation beträgt 50 Proz., die Durchschnittsoperations¬
mortalität 15 Proz.
9) F. Weindler - Dresden: Zur Reform des Hebammenwesens
unter Zugrundelegung der sächsischen Verhältnisse.
Alle sächsischen Hebammen sind staatlich konzessioniert, es
gibt in Sachsen keine Freizügigkeit der Hebammen. Die in einer
guten Volksschule erworbenen Kenntnisse genügen vollkommen für
einen gedeihlichen Unterricht in einer Hebammenlehranstalt. Für die
weitere Ausgestaltung des Hebammenwesens scheint besonders
wichtig: 1. Die Besserung der materiellen Lage und die Heranziehung
der Hebamme zu gemeinsamer Tätigkeit mit dem Arzt sind die Vor¬
bedingungen für jede Hebammenreform. Unser Vorbild, unsere Be¬
lehrungen, vor allem die ständige genaue Kontrolle von seiten ge¬
burtshilflich tätiger Aerzte vermögen mehr als alles andere, die
Hebamme auf der Höhe ihrer Ausbildung zu erhalten.
2. Regelmässige Wiederholungskurse.
3. An Stelle übermässig langer Fernhaltung von der Praxis bei
Kindbettfiebererkrankung eine gründliche Sterilisation der Kleider
und Instrumente und Desinfektion der Hände.
10) L. Bl u m r e i c h - Berlin: Schwangerschaft und Geburt,
kompliziert durch einen Darmvorfall mit Schleinihautumstülpung aus
einem Anus praeternaturalis heraus. (Aus der Universitäts-Frauen¬
klinik der Charite. Direktor: Geh. -Rat E. Bumm.)
Bei einer 29 jährigen II. Gravida war nach der ersten Entbindung
wegen Gonorrhoe des Rektum mit Strikturen ein Anus praeter¬
naturalis angelegt worden. In den letzten Monaten der 2. Schwanger¬
schaft stülpte sich der Darm häufig aus dem künstlichen After heraus,
trat aber stets wieder von selbst zurück; in den letzten 2 Wochen
lag der Darm in einer Länge von 14 cm dauernd auf dem Bauche. In
der Austreibungsperiode trat der Darm in einer Länge von 40 cm
hervor, zog sich jedoch unmittelbar nach Austritt des Kindes spontan
in wenigen Minuten bis auf die ursprüngliche Länge von etwa 14 cm
zurück.
In dem Referat des „Archiv für Gynäkologie“ B. 78 H. 1 in
Nr. 21 der Münchn. med. Wochenschr. ist ein sinnstörender Druck¬
fehler enthalten. Dadurch wird der Inhalt der Arbeit „Beitrag zur
Hebotomie auf Grund von 21 Fällen“ von Dr. Kannegiesser-
Dresden, entstellt wiedergegeben. Anstatt „die Operation wurde
nie subkutan durchgeführt“ muss es heissen: „die Operation wurde
rein subkutan durchgeführt“. K. macht darauf aufmerksam, dass
er sogar als Erster das rein subkutane Verfahren mit sondieren¬
der Einführung der Säge angewandt hat.
Dr. Anton H e n g g e - München.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 29.
M. H o f m e i e r - Würzburg: Zur plastischen Verwertung des
Uterus bei Defekt des Sphincter vesicae.
Es handelte sich um eine 41 jähr. Frau, die nach einer Kolpo-
zystotomie wegen Blasensteins eine Blasenscheidenfistel behalten
hatte, die 7 mal operiert worden war. Nach einer Zangengeburt kam
es von neuem zu einer Fistelbildung, die trotz 3 maliger Plastik
inkontinent blieb. Grund dafür war ein vollkommener Defekt oder
eine vollkommene Insuffizienz des Sphinkters. Nun machte H. eine
plastische Verlagerung des Uterus, der als eine Art Pelotte den
Blasenhals und die Urethra komprimierte. Der Erfolg war derartig,
dass Pat. den Urin mehrere Stunden lang zurückhalten konnte.
W e s t p h a 1 - Stolp: Zur Kasuistik der Geburten nach vagi¬
nalem Kaiserschnitt und Vaginaefixur.
Bei einer Frau, bei der W. die vaginale Laparotomie wegen
Eklampsie gemacht, trat 4 Monate später ein Abort und 7 Monate
später erneute Gravidität ein, die normal verlief. Die Narbe im Uterus
hatte also gehalten. Bei drei Geburtsfällen nach voraufgegangener
Vaginifixur sah W. einmal, wo nach dem älteren Mackenrodt-
schen Verfahren operiert war, die bekannten Geburtsstörungen, bei
den beiden anderen, nach den D ii h r s s e n sehen späteren Methoden
operiert, keine Abnormitäten. W. hält es daher für Unrecht, die
Vaginifixur bei konzeptionsfähigen Frauen ganz zu verwerfen.
J a f f e - Hamburg.
Archiv für Kinderheilkunde. 43. Band. 5.-6. Heft.
Martha Kannegiesse r: Ueber intermittierende und zyklisch-
orthotische Albuminurie. (Aus der Universitäts-Kinderklinik zu
Heidelberg.)
Verf. nahm Nachuntersuchungen früher beobachteter Fälle von
zyklischer Albuminurie vor und konnte so 27 Fälle verarbeiten, deren
Beobachtungszeit 3 — 14 Jahre umfasst. Bei einer Anzahl Fälle be¬
stand ein offenbarer Zusammenhang der Albuminurie mit nephritischen
Prozessen, bei einer grossen Anzahl fehlte dieser völlig. Infektions¬
krankheiten scheinen in der Aetiologie keine nennenswerte Rolle zu
spielen, dagegen sind bei der zyklischen Albuminurie von der Norm
abweichende Herzbefunde nicht selten. Die ganze Klinik der
zyklisch-orthotischen Albuminurie wird eingehend erörtert und das
Krankheitsbild gegen andere Affektionen der Nieren möglichst abge¬
grenzt.
H. F 1 e s c h und A. Schossberger: Zur Frage der Anaeinia
infantum pseudoleucaemia. (Aus dem Stefanie-Kinderspitale zu
Ofen-Pest.)
Hämatologische Untersuchungen und Erwägungen auf Grund
derer die Verf. zu dem Schluss kommen, dass das Krankheitsbild der
Anaemia infantum pseudoleuc. zu Recht besteht; wenn auch die Aetio¬
logie nicht geklärt ist, so sind doch die betreffenden Krankheitsbilder
klinisch und hämatologisch genügend charakterisiert, um unter dem
in Frage stehenden Krankheitsbegriff subsummiert werden zu können.
.1. S t e i n h a r t - Nürnberg: Ueber Stillungshäufigkeit und
-Fälligkeit. (Aus der Poliklinik der Nürnberger medizinischen Ge¬
sellschaft.)
Untersuchungen an einem grösseren Nürnberger AJaterial, aus
dem wiederum hervorgeht, wie gross die Fähigkeit zum Stillen im
allgemeinen ist und wie sehr diese noch immer unterschätzt wird.
Dafür, dass dagegen zu selten gestillt wird, sind neben Unverstand,
Indolenz etc. die bekannten sozialen Verhältnisse verantwortlich zu
machen. Verf. propagiert möglichst für Stillen in jedem Fall und
macht eine Reihe von Vorschlägen, wodurch diese Möglichkeit er¬
leichtert und ausgedehnt verwertet werden soll.
V. Immerwoh 1- Jassy: Ueber das urämische Magengeschwür
im Kindesalter.
Einschlägiger Fall bei einem 5 jährigen Kind mit Sektions- und
mikroskopischem Befund.
L. B i 1 i k - Odessa: Ein Fall von Rachendiphtherie bei einem
4 wöchentlichen Säuglinge.
1538
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
Isolierte Erkrankung des Rachens, ohne Beteiligung der Nase;
Serumbehandlung — 3000 Einheiten, die gut vertragen wurden — ,
drohende Herzparalyse, Gaumenlähmung, Genesung.
B. P o 1 i k i e r - Warschau: Zur Morbidität der Säuglinge.
Statistische Arbeit.
E. Moro: Natürliche Schutzkräfte des Säuglingsdarms. Be¬
trachtungen über frühere Forschungsergebnisse und neue Versuche.
(Aus der K. K. Universitätskinderklinik zu Graz.)
Interessante Arbeit, die aber in kurzem Auszug nicht wieder¬
gegeben werden kann; es sei aus ihren Hauptergebnissen nur hervor¬
gehoben, dass, entgegengesetzt bisherigen Anschauungen, der Dünn¬
darm in Bezug auf Bakterien als steril oder fast steril zu betrachten
ist. Dies verdankt er aber nicht den verschiedenen Darmsäften, die
an sich einen guten Nährboden für Bakterien darstellen, sondern einer
besonderen bakteriziden Eigenschaft der Darmschleimhaut, einer
spezifischen Funktion des Epithels. Bedingung dafür ist, dass der
Darm ganz gesund ist, Erkrankungen schädigen diese Funktion, eben¬
so der Hungerzustand. Beim Neugeborenen ist diese Schutzvor¬
richtung des Darms noch mangelhaft, vermutlich, weil die Epithel¬
decke noch nicht ganz vollständig ist. Ein weiteres Mittel des Selbst¬
schutzes des Darms gegen fremde Mikroben stellen bakterielle
Hemmungsstoffe dar, die von der dem Darm eigentümlichen Bak¬
terienflora gebildet werden. Weiter folgen noch Ausführungen über
den Schutz gegen das Eindringen von Kuhmilcheiweiss. Die Einzel¬
heiten, sowie zahlreiche Versuche, die den Schlüssen des Verf. zu
Grunde liegen, sind im Original nachzusehen.
Ph. B i e d e r t - Strassburg; Die Musteranstalt für Bekämpfung
der Säuglingssterblichkeit, die klinische Beobachtung und die histo¬
rische Betrachtung.
B. spricht sich in Frage der „Musteranstalt“ über seine Ab- und
Ansichten aus, und wendet sich gegen die Langsteins.
L. Voigt, Oberimpfarzt in Hamburg: Bericht über die in den
Jahren 1904 und 1905 erschienenen Schriften über die Schutzpocken¬
impfung. (Fortsetzung folgt.)
Referate. Lichtenstein - München.
Jahrbuch für Kinderheilkunde. Bd. 63, Heft 6.
32) W. S t o e 1 1 z n e r - Halle: Die Kindertetanie (Spasmophilie)
als Kalziumvergiftung.
Verf. prüfte an 12 meist rachitischen Kindern die mechanische
und elektrische Uebererregbarkeit unter dem Einfluss verschiedener
Kostformen, sowie unter Darreichung von Chlorkalzium, Calcium
aceticum — auch Natrium phosphoricum und Ferrum lacticum. Im
weiteren Ausbau der von Finkeistein ausgesprochenen Ansicht,
dass in der Kuhmilch m o 1 k e die Noxe für die Säuglingsspasmophilie
gelegen sei, glaubt Stoeltzner die darin enthaltenen Salze, be¬
sonders das Kalzium als Ursache für die dieser Diathese zugrunde
liegende Stoffwechselstörung ansehen zu müssen. Die beigegebenen
Diagramme überzeugen nicht recht und tragen auch die weiteren Aus¬
führungen des Verf. vorwiegend hypothetischen Charakter.
33) Paul Römer und Hans Much: Antitoxin und Eiweiss.
(Aus dem Institut für Hygiene und experimentelle Therapie zu Mar¬
burg. Direktor: Geh. Rat v. Behring.)
Die Verfasser verteidigen die von einem von ihnen früher dar¬
getane Ansicht der intestinalen Antitoxinresorption beim Neu¬
geborenen. Neue, nach dieser Richtung angestellte Versuche fielen
im gleichen Sinne aus und Hessen erkennen, dass beim Kalbe auch
eine intestinale Resorption an Pferdeserumeiweiss, also heterologes
Eiweiss geknüpften Antitoxins stattfindet. Ein wesentlicher Unter¬
schied hinsichtlich der intestinalen Antitoxinresorption in quanti¬
tativer Hinsicht bei neugeborenen Kälbern ist aber zu erkennen, je
nachdem das Kalb direkt vom Euter antitoxinhaltige Muttermilch auf¬
nimmt oder ob man ihm Muttermilch mit der Flasche reicht, der erst
ausserhalb des Euters Antitoxin in Form von antitoxischem Pferde¬
serum zugesetzt ist. Im ersteren Falle ist die resorbierte Menge
10 mal so gross wie im zweiten Fall. Weitere Versuche lassen die
Annahme zu, dass das Pferdeantitoxin bei der Passage durch den
Rinderorganismus eine Umwandlung von „Pferdeantitoxin“ in „Rinder¬
antitoxin“ erfährt, die es für die Resorption im Magendarmkanal des
neugeborenen Kalbes geeigneter macht.
34) Hans Koeppe - Giessen: Die Ernährung mit „Holländischer
Säuglingsnahrung“ im Buttermilchgemisch-Dauerpräparat. Zusammen¬
fassende Besprechung. (Schluss.)
Die Darreichung dieser Nahrung hat sich dem Verf., wie er dies
näher ausführt, bewährt, besonders im „Allaitement mixte“ (sagen
wir doch „Zwiemilchernährung“ nach Escherich. Ref.) — bei der Ent¬
wöhnung, als Nahrung gesunder Kinder — als Dauernahrung, aber
auch bei kranken Kindern, einfachen Dyspepsien, chronischem Entero-
katarrh, Atrophie. Rachitis wird bei dieser Nahrung nach Koeppe
zwar nicht vermieden, jedenfalls aber nicht durch sie hervorgerufen.
Koeppe hielt sich bei seinen Verordnungen im Kostmass an den von
Heubner aufgestellten Energiequotienten, den er als unentbehr¬
liches Hilfsmittel preist.
35) Arbeiten aus dem Säuglingsheim Haan bei Solingen. (Leiter
Dr. Selter- Solingen.)
1. Einleitende Bemerkungen von Paul Selter.
2. Macht Buttermilch Rachitis? Von Max Cantrowitz.
3. Ist Mehlzusatz zur Buttermilch notwendig? Derselbe.
4. Ueber die Indikation der Buttermilchernährung. Von
C. B r e h m e r.
5. Ueber die Störungen bei Buttermilchernährung. Derselbe.
6. Ueber Säuglingsernährung mit gesäuerter Vollmilch. Von
Walther Nebel.
Kürzere Mitteilungen zur Frage der Buttermilchernährung. Im
Original nachzulesen.
Literaturbericlit von L. L a n g s t e i n. Besprechung. Register.
O. R o m m e 1.
Virchows Archiv. Bd. 184. Heft 1.
1) H. Beitzke: Ueber den Weg der Tuberkelbazillen von der
Mund- und Rachenhöhle zu den Lungen, mit besonderer Berück¬
sichtigung der Verhältnisse beim Kinde. (Pathologisches Institut zu
Berlin.)
Es empfiehlt sich, die sehr interessante Arbeit im Original nach¬
zulesen. Hier mögen nur die Ergebnisse der Untersuchungen ange¬
führt werden. Es existieren keine zuführenden Lymphgefässe von
der Kette der zervikalen Lymphdriisen zu den bronchialen Drüsen.
Für eine tuberkulöse Infektion der Lungen von den Halsdrüsen aus
kommt nur der Weg durch die Trunci lymphatici und die obere Hohl¬
vene in Betracht. Dieser Infektionsweg ist aber, wenigstens beim
Kinde, praktisch ohne wesentliche Bedeutung. Die Infektion der
Lungen bezw. Bronchialdrüsen kommt beim Kinde vielmehr in der
Regel durch Aspiration von Tuberkelbazillen in den Bronchialbaum
zustande. Eine absteigende Zervikaldrüsentuberkulose geht manch¬
mal unabhängig davon nebenher. Die aspirierten Bazillen können in
der Atemluft enthalten sein, sie können aber auch aus' dem Munde
stammen, in den sie mit infizierter Nahrung oder durch Kontakt
(Schmutzinfektion) gelangt sind.
2) Th. Dieter le: Die Athyreosis, unter besonderer Berück¬
sichtigung der dabei auftretenden Skelettveränderungen, sowie der
differential-diagnostisch vornehmlich in Betracht kommenden Stö¬
rungen des Knochenwachstums. — Untersuchungen über Thyreo-
aplasie, Chondrodystrophia foetalis und Osteogenesis imperfecta.
(Pathologisches Institut zu Basel.)
Die Untersuchungen über Athyreosis (kongenitales Myxödem)
zeigten, dass die kindliche Schilddrüse für die Entwickelung des
Skeletts während des Fötallebens entbehrlich ist. Die Folgen des
angeborenen Schilddrüsenmangels für das Knochenwachstum treten
ungefähr zur Zeit der Geburt auf und können durch die Anwesenheit
der Epithelkörperchen nicht verhindert werden. Die Wachstums¬
hemmung beruht auf einer gleichmässigen Verzögerung der etido-
chondralen und periostalen Ossifikation und führt zu proportioniertem
Zwergwuchs. Die Form und Grössenverhältnisse des Skeletts ent¬
sprechen ungefähr denen eines gleich langen, normalen Kindes. Die
feine Struktur dagegen nähert sich der des erwachsenen Skeletts.
Die Störung des Knochenwachstums ist eine der ersten und regel¬
mässigen Teilerscheinungen der athyreotischen Kachexie und beruht
auf einem Nachlassen der blut- und knochenbildenden Tätigkeit des
Markes. Die Knorpelveränderungen sind nicht prävalierend, sondern
nur mit ein Ausdruck der Schädigung sämtlicher am Knochenwachs¬
tum beteiligter Gewebe. — In bezug auf die fötalen Skeletterkran¬
kungen kommt Verf. zu dem Schlüsse, dass keine von ihnen auf
Störung der Schilddrüsenfunktion zurückgeführt werden kann. Die
Wachstumshemmung, betrifft nicht wie bei der Athyreosis alle am
Aufbau des Knochensystems beteiligten Gewebe gleichmässig, son¬
dern es liegt bei der Chondrodystrophie eine primäre Veränderung
des Knorpels, bei der Osteogenesis imperfecta eine Funktionsstörung
des Periosts und Endostsvor.
3) R. Malat es ta: Ueber Knorpelheilung nach aseptischen Ver¬
letzungen am hyalinen, von Perichondrium überzogenen, fertigen
Knorpel. (Pathologisches Institut zu Padua.)
4) Edens: Ueber lokales und allgemeines Amyloid. (Kranken¬
haus Bethanien in Berlin.)
Amyloidtumor des Knochenmarks einer Rippe neben allgemeiner
Amyloidose bei einer 66 jähr. Frau.
5) E. Gebert: Die kleinzellige Infiltration der Haut. (Augusta-
hospital zu Berlin.)
Verf., welcher einen grossen Teil neuerer, hierher gehöriger
Arbeiten scheinbar nicht kennt, schliesst sich auf Grund seiner Unter¬
suchungen den Autoren an, welche die Zellen der kleinzelligen Infil¬
tration aus den perivaskulären, lymphozytären Elementen herleiten.
6) Sp. Minelli: Ueber die Malakoplakie der Harnblase
(Hansemann). (Pathologisches Institut zu Strassburg.)
Untersuchungen an einem hierher gehörigen Falle. Betreffs der
das Granulom zusammensetzenden Zellen hegt M. die Ansicht, dass
sie sicherlich aus den Lymphräumen der Submukosa stammen
können. Den im Innern der Plaques gefundenen Bakterien wird eine
ätiologische Bedeutung abgesprochen.
7) Kleine Mitteilungen.
H. Bennecke: Ueber kavernöse Phlebektasien des Ver-
dauungstraktus. (Pathologisches Institut zu Marburg.)
Bereits referiert in Nr. 7, 1906 dieser Wochenschrift.
Schridde - Marburg.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1539
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 30.
1) T. A. V e n e m a - Halle: Ueber Agglutination von Bakterien
der Typhusgruppe durch Galle.
Verf. untersuchte Menschengallen auf ihre agglutinierende
Wirkung an Typhus- und Paratyphusbazillen und hatte hiebei nega¬
tive Ergebnisse. Aehnlich verhielt es sich bei den untersuchten
Kaninchengallen. Es zeigte sich ferner, dass keine bakterizide
Wirkung vorhanden war. Es sind daher die Aussichten, mittelst Im¬
munisierung die Typhusbazillen in der Gallenblase zu vernichten,
keine grossen. Wenn bei ikterischen Seren eine höhere Aggluti¬
nationkraft gegenüber Typhus beobachtet wurde, so kann die Galle
hiebei keine wichtige Rolle spielen.
2) H. Oppenheim: Ueber einen bemerkenswerten Fall von
Tumor cerebn.
Befund eines Falles, in welchem motorische und sensible Reiz¬
erscheinungen der rechten Körperhälfte bestanden, auffallenderweise
aber auch eine Stereoagnosie der linken Hand. Verf. setzt die Unter¬
lagen für die von ihm gestellte Diagnose eines Tumors im obern
hintern Bereich der hintern Zentralwindung links und anstossendem
Teil dds Scheitellappens auseinander, welche denn auch bei der
Operation vollkommen bestätigt wurde. Der Fall macht wahrschein¬
lich, dass für den Akt des Wiedererkennens von Gegenständen durch
das Betasten die entsprechende Rindenzone des linken Scheitel¬
lappens das Uebergewicht hat.
3) H. Much und P. H. R ö m e r - Marburg: Ueber belichtete
Perhydrasemilch. (Schluss folgt.)
4) E. W e i n s t e i n - Odessa: Ueber die Grundlagen und An¬
wendung der W r i g h t sehen Opsonintheorie.
Verf. schildert die W. sehen Methoden und besonders auch die
Bestimmung des sogen, opsonischen Index und erläutert an von ihm
behandelten Fällen von Akne und Furunkulosis die günstigen Er¬
folge der auf diesen Methoden aufgebauten Behandlungsarten. Zu
einem kurzen Auszug nicht geeignet.
5) J. S p ä t h e r - Duisburg: Ein Beitrag zur Auffassung des
Diabetes insipidus und zu seiner Behandlung mit Strychnin.
In dem mitgeteilten Falle trat der Diabetes ins. nach einer Kopf¬
verletzung auf und wurde durch Injektionen von Strychninum nitr.
günstig beeinflusst. In der Erörterung der Aetiologie des Symptoms
kommt Verf. zu dem Schlüsse, dass es sich hiebei um eine durch das
Kopftrauma verursachte Zirkulationsstörung in der Med. oblongata
handelt, die zu einer funktionellen Störung mit dem Erfolge des
Diabetes ins. führt. Dieselbe beträfe eine bestimmte Bahn des
Sympathikus, nämlich jene der Nierenvasomotoren.
6) .1. H e 1 1 e r- Berlin: Ueber Syphilis der Caruncula subliugualis.
Diese sehr seltene Erkrankung wurde an einer 31 jährigen Pa¬
tientin beobachtet. Verf. schildert den pathologischen Befund unter
Wiedergabe der Abbildungen von Präparaten.
7) H. B e i t z k e - Berlin : Ueber experimentelle Krebsforschung.
Verf. gibt eine kurze zusammenfassende Darstellung der Ergeb¬
nisse der in neuerer Zeit aufgenommenen experimentellen Krebs¬
forschung, besonders der Versuche mit Transplantationen und der
Versuche über Krebsimmunität. G r a s s m a n n - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 29.
1) S c h a t z - Rostock: Die Behandlung der Verlagerungen des
Uterus. Klinischer Vortrag.
2) R. P e t e r s - Petersburg: Ueber die Entzündung des extra¬
duralen Gewebes des Rückenmarkes bei der Genickstarre. (Pachy-
meningitis spinalis externa acuta aut cellulitis perispinalis acuta.)
Bei 13 Sektionen an Genickstarre gestorbener Kinder fand P. das
perispinale, zwischen Dura und Periost des Wirbelkanales gelegene
Zellgewebe entzündet, in 4 Fällen war der Eiter schon makroskopisch
sichtbar; die Pachymeningitis ging der Leptomeningitis nicht parallel
und war anscheinend 'nicht von letzterer fortgeleitet worden, sondern
primär, auf hämatogenem Wege entstanden.
3) L. J a c o b s o h n - Berlin: Ueber traumatisch-chirurgische
Fazialislähmungen.
Verf. beobachtete in den letzten Jahren 6 Fazialislähmungen,
welche auf chirurgische Eingriffe (am Trigeminus, Mittelohr etc.)
zurückzuführen waren.
4) A. O n o d i - Ofen-Pest: Die Resektion der Nasenscheidewand
bei primärer Tuberkulose.
In dem beschriebenen Fall wurde infolge irriger Diagnose
„Karzinom“ die J9ase median aufgeklappt und eine osteoplastische Re¬
sektion ausgeführt. Ein dabei gefundener latenter tuberkulöser Herd
rechtfertigte übrigens den Eingriff gegenüber der gewöhnlich bei
primärer Tuberkulose geübten endonasalen Kürettage.
5) M. W e i n r i c h - Berlin: Ueber Fremdkörper in Harnröhre
und Blase.
Verf. teilt die an N i t z e s Material gewonnenen diagnostischen
und therapeutischen Erfahrungen mit und betont namentlich den Wert
der Operation unter Leitung des Urethroskops und des N i t z e sehen
Operationszystoskops.
6) M. P 1 a u t - Leipzig: Ueber missed labour (missed abortion).
Zwei Fälle; die retinierten, mumifizierten Früchte waren im
4. bezw. 6. Monat; P. empfiehlt im allgemeinen abwartende Therapie,
solange keine Zersetzung nachweisbar ist.
7) G. R i e b o 1 d - Dresden: Ueber Menstruationsfieber, men-
menstruelle Sepsis und andere während der Menstruation auftretende
Krankheiten infektiöser resp. toxischer Natur. (Schluss.)
Geringe Temperatursteigerungen während der Menses be¬
obachtete Verf. recht häufig, seltener höhere Grade bei sonst an¬
scheinend Gesunden. Die Ursache des Fiebers sieht Verf: in Re¬
sorption von toxischem bezw. infektiösem Material seitens der auf¬
gelockerten Genitalschleimhaut; manche Neuralgie, rheumatische
Gelenkaffektion, menstrueller Hautausschlag, gelegentlich auch eine
kryptogenetische Sepsis ist nach R. auf solche Resorptionsvorgänge
zurückzuführen.
8) E. S a a 1 f e 1 d - Berlin : Ueber Hefebehandlung bei Hautkrank¬
heiten.
Verf. wendet das Hefepräparat „Furonkuline“ mit Erfolg bei
Akne und Furunkeln an, rät auch zu Versuchen bei Dermatosen, die
vermutlich mit Verdauungsstörungen Zusammenhängen. Bei einem
Diabetes mellitus bewährte sich die „Antidiabethefe Zyma“.
9) C. S. E n g e 1 - Berlin : Ueber kernhaltige rote Blutkörperchen
und deren Entwicklung.
Auf seine früheren Arbeiten verweisend, erklärt Verf. seine
Ansicht über die Entwicklung der polychromatophilen Erythrozyten,
über Normoblasten mit bläschenförmigem Kern als Vorstadium der
kernhaltigen Erythrozyten, über Entstehung von Blutplättchen aus
dem Kerne der orthochromatischen Normoblasten u. a.
10) G. D r ey f u s- Basel, A x e n f e 1 d - Freiburg i. B.: Ueber
traumatische reflektorische Pupillenstarre.
R. Grashey - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 29. W. Reis: Die Immunitätslehre in der Augenheilkunde.
R. erörtert in diesem Vortrage, vorzugsweise die Forschungen
R ö m ers zugrundelegend, die ätiologische und therapeutische Be¬
deutung der Immunitätslehre für das septische Hornhautgeschwür
(prophylaktische Schutzimpfung), die Glaskörperblutung, den Alters¬
star, die sympathische Augenentzündung.
R. Müller und M. Oppenheimer - Wien : Ueber den
Nachweis von Antikörpern im Serum eines an Arthritis gonorrhoica
Erkrankten mittels Komplementablenkung.
Beschreibung eines Falles, in dem dieser Nachweis gelungen ist.
D. O 1 1 o 1 e n g h i - Siena: Ueber die Konservierung der prä-
zipitierenden Sera.
O. hat seinerzeit zwei Konservierungsmethoden angegeben: die
in Aether und die auf Löschpapierstreifen; letztere ist, wie auch
.1 a k o b s t h a 1 und v. Eisler fanden, die praktischere und kommt
in ihrer Einfachheit fast einer Probe mit Lackmuspapier gleich. Die
Dauer der Wirksamkeit ist für beide Methoden, wenigstens bei dem
für das Eigelb spezifischen Serum sehr gross. Nach anfangs ziem¬
lich rascher Abnahme des Präzipitationsvermögens bleibt dasselbe
noch auf einige Jahre fast unverändert erhalten.
K. Glaessner - Wien : Diabetes und Pneumonie.
Nach den bisherigen klinischen Erfahrungen scheinen inter¬
kurrente fieberhafte Erkrankungen wenigstens vorübergehend oft
günstig auf die diabetische Glykosurie einzuwirken. Nicht so günstig
sind die Resultate der experimentellen Forschungen gewesen und es
scheint das Fieber gerade bei Pneumonie das Auftreten alimentärer
Glykosurie zu begünstigen. G. hat nun einen Fall von Pneumonie
bei einer 54 jährigen Frau beobachtet, welche vorher bei kohlehydrat¬
freier Kost täglich 130 g Zucker ausschied; mit der Pneumonie wurde
die Zuckermenge geringer, das Azeton schwand und nun erscheint
bereits 3 Monate auch nach einer Gabe von 100 g Traubenzucker
kein Zucker im Harn. Inwieweit die bei Pneumonie beobachtete er¬
höhte Alkaleszenz des Blutes hierbei eine Rolle spielt, bleibt dahin¬
gestellt.
Engl und Plaut- Dresden : Ueber das Milchfett stillender
Frauen bei der Ernährung mit spezifischen Fetten.
Die Verf. haben bei zwei stillenden Frauen die gewöhnlichen
Fette der Nahrung durch Gänsefett, Leinöl, Olivenöl und Palmöl, also
Fette von abnorm hohem oder niedrigem Jodbindungsvermögen,
ersetzt. Es hat dann mit grosser Promptheit auch das Fett der Milch
eine Ab- oder Zunahme der Jodbindungszahlen gezeigt und sich bald
auf einen konstanten Wert eingestellt, um beim Aufhören des Ver¬
suches wieder zur Norm zurückzukehren. Es hat sich also ein un¬
mittelbarer Einfluss des Nahrungsfettes auf das Milchfett ergeben,
welch letzteres sich jedenfalls grösstenteils aus dem ersteren aufbaut.
Wir besitzen demnach die Gewalt, auf diätetischem Weg innerhalb
gewisser Grenzen ein Milchfett von beliebiger Zusammensetzung her¬
zustellen und es gelingt vielleicht noch, auch durch geeignete Fütte¬
rung das Milchfett der Kühe dem der Frauenmilch gleich zu machen.
M. Gioseffi: Zur Kenntnis des perniziösen MalaHafiebers
im südlichen Istrien.
Der hier mitgeteilte, einwandfrei festgestellte Fall ist der erste
sichergestellte Fall von perniziöser Malaria in Istrien.
1540
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
Wiener medizinische Wochenschrift.
No. 24/28. F. F i n k - Karlsbad: Bericht über 385 Gallenstein¬
kranke.
Bei der statistischen Bearbeitung: der Fälle suchte Verfasser
vor allem durch Vergleiche des Zustandes vor und nach der Be¬
handlung genauere Anhaltspunkte für den Heilerfolg. Als Massstab
dafür nimmt er das Verhalten der Leber und der Gallenblase. Vor der
Kur war die Leber in etwa 90 Proz. der Fälle durch Vergrösserung
und Druckempfindlichkeit mitbeteiligt. Ein ganzer Erfolg, d. i. Latenz
oder völliger Rückgang der Erscheinungen wurde dabei in ca. 88,
Besserung und teilweiser Erfolg in 6 Proz. erzielt, während 6 Proz.
nicht beeinflusst wurden und event. für operative Behandung in Be¬
tracht kommen. Verfasser ist der Ansicht, dass durch Wiederholung
der Kur oft die temporäre Besserung zu einer dauernden gestaltet
werden könne, die übliche Kurzeit von 4 Wochen müsse im übrigen
allgemein auf 5 — 6 Wochen verlängert werden.
No. 24. S. P o 1 1 i t z e r - Wien: Ein Beitrag zur Anwendung der
raschen Zervixdilatation nach B o s s i.
Bei einer Patientin verzögerte sich unter bedrohlicher Blutung
der Abgang der Nachgeburt, indem durch krampfartige Kontraktion
des unteren Uterinabschnittes die Plazenta zurückgehalten wurde.
Hier wurde mit Hilfe des B o s s i sehen Verfahrens die Zervix in
kürzester Zeit erweitert und die Plazenta entfernt.
Die verschiedenen Einwände, welche sonst gegen das Verfahren
erhoben werden, treffen bei dieser Indikation jedenfalls nicht zu.
No. 26. E. Urbantschitsch-Wien: Meniere scher
Symptomenkomplex nach Mumps bei hereditärer Taubstummheit.
Beschreibung und Analyse des durch die Ueberschrift charak¬
terisierten Krankheitsfalles.
No. 27. Pieniazek: Die Kompression der Luftröhre durch
Wirbelabszesse.
Der vorliegende Fall — es sind nur 4 ähnliche in der Literatur
bekannt — endete trotz Tracheotomie tödlich. Der Abszess, der
sich über 5 Wirbelkörper erstreckte, komprimierte drei Wirbel der
Luftröhre und die Bronchien bei dem vierjährigen Kinde.
No. 27/29. v. Niessen - Wiesbaden: Die Bedeutung der Spiro-
chaete Dallida für die Syphilisursache und die Syphilisdiagnose.
v. N. weist darauf hin, dass er bei Syphilis aller Formen und
Stadien bisher in 300 Fällen aus dem Blute eine Bakterienform von
lehbaftem Formen- und Farbenwechsel gewinnen konnte, dass sub¬
kutane Impfungen mit der Reinkultur dieser Bakterien bei Affen,
Schweinen und Pferden ein der Syphilis entsprechendes Krankheits¬
bild hervorrufen und aus dem Blut dieser Versuchstiere die ursprüng¬
lichen Bakterien reingezüchtet werden konnten. Um die Schau-
d i n n sehen Befunde hiermit in' Einklang zu bringen, muss man an¬
nehmen, dass die Spirochaete pallida, welche nicht zu den Protozoen,
sondern zu den Myzeten zählt, nur eine der vielen Entwicklungs¬
formen des polymorphen Syphiliserregers ist. Schaudinn selbst
hat übrigens in den Präparaten v. N i e s s e n s keine mit der Spiro¬
chaete pall. identischen Formen gefunden.
Wiener klinische Rundschau.
No. 26/27. E. Redlich: Ein Fall von Gigantismus infantilis.
Beschreibung zweier Fälle.
R. G a u p p - München: Chronische Trunksucht und Delirium
tremens. }
Im Anschluss an ein gerichtliches Gutachten erörtert G. mehrere
praktisch wichtige einschlägige Fragen. So ist nach seiner An¬
schauung entgegen anderer Auffassung der chronische Alkoholismus
durchaus nicht immer leicht objektiv festzustellen, da die körperlichen
Symptome lange vollkommen fehlen können, selbst wo schon Delirium
und Halluzinosis vorhanden war. Desgleichen können sich Laien auch
bei öfterem Zusammensein über die bestehende Trunksucht täuschen,
zumal da sie die Trunksucht nur bei wiederholtem schwerem Rausch
annehmen. Ferner verneint G. die Frage, ob ein kräftiger Mann
mittleren Alters, der als Küfer täglich 2 — 3 Liter Wein trank, durch
40 tägigen Genuss von Schnaps bis zum Delirium und Alkoholepilepsie
gelangen konnte. Es wäre wichtig, genauere Untersuchungen an¬
zustellen über die Minimaldauer der Trunksucht vor Ausbruch eines
Alkoholdeliriums, Halluzinose oder Epilepsie, und über die Minimal¬
menge des hierzu nötigen täglichen Alkoholquantums, über den Ein¬
fluss der Alkoholintoleranz und über den event. Einfluss der Einatmung
von Alkoholdämpfen. B e r g e a t.
Rumänische Literatur.
C. Par hon und S. Marbe: Die Achondroplasie (mit zwei
neueren Beobachtungen von Achondroplasie beim Erwachsenen).
(Revista stiintelor medicale, No. 7, 1906.)
Die Verfasser gelangen auf Grund der Arbeiten verschiedener
Autoren, wie Pierre Marie, Poncet und ihrer eigenen, zur An¬
nahme, dass der Zwergwuchs auf einer Störung der Funktion der
Drüsen mit innerer Sekretion beruhe und in dieser Beziehung im An¬
tagonismus mit dem Riesenwuchs stehe. Während beim letzteren
es sich um eine gesteigerte Funktionierung der Hypophysis, der
Thymus und der Thyreoidea, bei gleichzeitiger Verminderung oder
vollständiger Aufhebung der Funktion der Sexualdrüsen handelt, ist
bei Achondroplasie gerade das Gegenteil der Fall, indem es sich
hier um eine innere Hypersekretion der Sexualdrüsen, bei gleich¬
zeitiger Hyposekretion der Antagonisten handelt.
E. Spirt: Der Einfluss des Wasserstoffsuperoxyds auf uterine
Blutungen. (Ibidem.)
S. hat zwei Fälle von Gebärmutterblutung mit Einspritzungen
von Wasserstoffsuperoxyd behandelt und ist mit den erzielten Er¬
folgen sehr zufrieden. Das Mittel wird mittelst der Braun sehen
Spritze injiziert und zwar genügten in den Fällen des Verfassers
zwei Sitzungen, um Blutungen zum Stillstand zu bringen, gegen
welche andere Methoden resultatlos angewendet wurden. Diese von
Petit im Jahre 1895 empfohlene Behandlungsmethode, wobei aber
das Mittel mit Wattetampon appliziert wurde, wäre also in allen
einschlägigen Fällen zu versuchen; wichtig ist es, ein tadelloses Prä¬
parat anzuwenden.
Al. Schaabner-Tuduri: Die Mineralwässer und klimati¬
schen Stationen Rumäniens. (Bukarest 1906, II. Aufl., 646 S.)
Unter obigem Titel ist kürzlich ein bedeutendes und interes¬
santes balneologisches Werk in rumänischer Sprache erschienen.
Der Verfasser, welcher sich seit Jahrzehnten mit dem Gegenstände
beschäftigt, hat mit seltenem Fleisse und peinlicher Genauigkeit alles
für die Balneologie und Klimatologie Rumäniens Wichtige zusammen¬
gestellt, selbst die detaillierte Anführung der Flora der einzelnen
Ortschaften nicht vergessen, und hierdurch eine Lücke in der medi¬
zinischen Literatur und speziell in derjenigen Rumäniens, in gedie¬
gener Weise ausgefüllt.
Der Gegenstand ist in erschöpfender und leicht übersichtlicher
Weise behandelt, so dass man nicht nur ein interessantes Lehrbuch,
sondern auch ein bequemes Nachschlagebuch vor sich hat. Es wäre
nur zu wünschen, dass baldigst eine deutsche Uebersetzung dieses
Buches erscheinen möge, wodurch viele therapeutisch wichtige mine¬
ralische Quellen und klimatische Kurorte, an denen Rumänien so
überaus reich ist, auch im entfernteren Auslande bekannt und ge¬
schätzt werden würden. So manche rumänische Kurorte stehen, was
chemische Zusammensetzung der Quellen oder Klima anbetrifft, zahl¬
reichen weltberühmten Badeorten des Auslandes ebenbürtig an der
Seite, oder übertreffen sie sogar in vielen Beziehungen. So wären
die Soolbäder Tekir-Ghiol (maritimes Klima) und K a 1 i ma-
neschti, die Jodbäder Lakul-Sarat und Sarata-Mon-
t e o r u zu erwähnen, welche ausgezeichnete Resultate, namentlich
in Fällen von Skrofulöse, Syphilis, Rheumatismus und Frauenkrank¬
heiten geben; ferner Slanik, die Perle Rumäniens, welches unter
seinen 17 Quellen solche »besitzt, die eine grosse Aehnlichkeit mit
denen von Ems, Selters, Spa, Ischl, Karlsbad, Kreuznach etc. haben,
und ausserdem durch seine Lage in den Karpaten ein ideales, sub¬
alpines Klima aufweist.
Al. Bolintineanu und Gh. R i z e s c u : Fraktur der Schädel¬
basis gefolgt von Heilung. (Ibidem.)
Ein 9 jähriger Knabe war von einem rotierenden Rade auf den
Zementboden gestürzt und bot folgende Symptome dar: Erbrechen,
Blutungen aus Nase, Mund, Ohren und speziell aus dem linken
äusseren Gehörgange, Strabismus, kalte Hände und Fiisse, Pulslosigkeit,
Somnolenz und Delirien. Durch Lumbalpunktion wurde eine blutrote
Flüssigkeit extrahiert. Die Behandlung bestand in Eisblase, massiven
Einspritzungen von künstlichem Serum, Koffein etc. Trotzdem die
Diagnose Basisfraktur nicht angezweifelt werden konnte, ging
doch der Fall in Heilung aus, nur Strabismus und eine Dilatation der
linken Pupille war noch nach 6 Wochen zu beobachten.
J. Friedmann: Beitrag zum Studium der agglutinativen Se¬
rumreaktion bei Tuberkulose und der Wert derselben als diagnosti¬
sches Mittel. (Revista stiintelor medicale, März 1906.)
Diese im Laboratorium für experimentelle Medizin der Bu-
karester Fakultät gemachte fleissige Arbeit führt den Verfasser zu
folgenden Schlüssen. Bei Meerschweinchen findet eine Agglutinierung
von Tuberkelkulturen nicht statt, falls es sich um gesunde Tiere
handelt, hingegen aber agglutinieren tuberkulöse Tiere und zwar um
so mehr, als die Krankheit vorgeschritten ist, doch kommen auch
Fälle vor, wo die tuberkulösen Läsionen kaum sichtbar sind und doch
eine starke Agglutinierungsreaktion besteht. Die Jungen von tuber¬
kulösen Müttern bieten im Allgemeinen nach der Geburt eine Aggluti¬
nation, welche derjenigen der Mütter ähnlich ist, welche aber nach
kurzer Zeit verschwindet.
Mit Bezug auf den Menschen zeigten die Untersuchungen, dass
zweifellos eine agglutinierende Serumreaktion der Tuberkulose be¬
stehe, doch ist der praktische Wert derselben vom diagnostischen
Standpunkte aus betrachtet, ein geringer und mit der analogen Me¬
thode der Typhusdiagnose nicht zu vergleichen; die Agglutination
kann keine Sicherheit geben und das sicherste diagnostische Mittel
bleibt noch immer das Tuberkulin. Zur Illustrierung dieser Schlüsse
wird hervorgehoben, dass unter vollständig gesunden Individuen,
also solchen, welche auf Tuberkulin keinerlei Reaktion zeigen, doch
einige zu finden sind, welche eine positive Serumreaktion geben.
Andererseits ist es aber vorgekommen, dass solche Personen, welche
zweifellos Tuberkulose haben und auf Tuberkulin prompt reagieren,
trotzdem eine negative Serumreaktion aufweisen. In allen derartigen
Untersuchungen bildet die Rasse der für die Reaktion benützten
Bakterienkulturen eine konstante Fehlerquelle, da manche Individuen
mit gewissen Kulturen eine positive Reaktion geben, mit anderen
3l. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1541
aber eine negative. Endlich kann aus der agglutinierenden Kraft des
Blutserums keinerlei Schluss auf die Immunität gezogen werden.
E. Puschkariu und G. Proka: Der endemische Kropf und |
das Wasser von Timischeschti. (Ibidem.)
Die Verwaltung der Stadt Jassy hatte beschlossen, das not¬
wendige Trinkwasser von dem etwa 100 km entfernten Gebirgs-
dorfe Timischeschti einzuleiten; die Vorarbeiten waren beendet, als
die militärärztliche Assentierungskommission darauf aufmerksam
machte, dass ein grosser Prozentsatz der aus jener Gegend stammen¬
den jungen Leute an Struma oder Kretinismus leide. Eine unter der
Leitung der Verfasser an Ort und Stelle entsendete wissenschaft¬
liche Kommission hatte nun darüber zu entscheiden, ob die betreffen¬
den Endemien auf das Trinkwasser zurückzuführen wären und ob
also die Einleitung desselben in die Stadt eine Gefahr für die Bevöl¬
kerung in sich schliesse. Der nun vorliegende Bericht beschreibt
in Kürze die gemachten Untersuchungen. Hauptsächlich zeigte es
sich, dass in den betreffenden Gebirgsgegenden jene Dörfer, welche
Brunnen von geringer Tiefe (etwa 1(4 m) besitzen, viel zahlreichere
balle von Struma und Kretinismus aufweisen, als jene mit Brunnen
von 5 — 9 m Tiefe, woraus zu schliessen wäre, dass die oberflächlich
gelegenen Wasserschichten Verunreinigungen, möglicherweise bak¬
terieller Natur, enthalten und hierdurch zur Entwicklung der
in Rede stehenden endemischen Krankheiten Veranlassung
geben können. Die bakteriologischen Untersuchungen haben
in denselben die Anwesenheit von zwei schleimbildenden
Mikroorganismen gezeigt und es ist nicht unmöglich, dass
dieselben akuten oder chronischen Vergiftungen Veranlassung
geben können, Vergiftungen deren Hauptsymptome in Erscheinungen
von thyreoidealer Insuffizienz bestehen. Wie dem auch sei, der j
heutige Stand der Wissenschaft erlaubt einen sicheren Schluss in
dieser Beziehung noch nicht, auch kann nicht mit Sicherheit gesagt
werden, ob das betreffende Trinkwasser schädlich im besagten
Sinne sein wird, da die zu fassenden Wasserschichten in einer viel
grösseren Tiefe liegen, als der Wasserspiegel der untersuchten Dorf¬
brunnen. Jedenfalls müssen zur Lösung dieser Frage noch mannig¬
fache Untersuchungen vorgenommen werden, wodurch aber die
Wasserversorgung der Stadt Jassy wieder in eine ungewisse Ferne
gerückt wird.
Demosthen und Anghelovici: Ein neuer Vorgang zur
partiellen Amputation des Fusses. (Revista sanitara militara,
April 1906.)
Diese neue Operation, welche von den Verfassern osteo¬
plastische inter-astragalo-kalkaneale Amputation
genannt wird, besteht in der Hauptsache darin, dass durch einen
keilförmigen Einschnitt der Vorderfuss entfernt wird und dann, in
horizontaler Richtung sowohl vom Astragalus, als auch vom Kal-
kaneus eine Knochenlamelle abgesägt wird. Diese beiden Knochen¬
flächen werden aneinander gelegt und durch einige Silberdrähte
fixiert, hierauf wird der aus der Sohle gebildete, ziemlich lange
Hautlappen nach oben geschlagen und die ganze Wunde durch Knopf¬
nähte fixiert.
Demosthen: Die Bildung einer hypogastrischen Urethra bei
Hypertrophie der Prostata. (Ibidem.)
Alte Prostatiker sind oft nicht im stände, eingreifende Opera¬
tionen, wie z. B. die Exstirpation der Prostata auszuhalten, da es sich
bei ihnen nicht nur um die Veränderungen am Harnapparate, son¬
dern auch um allgemeine senile Degenerationserscheinungen (Arterio¬
sklerose, Herz-, Nieren- und Lungenkrankheiten) handelt, welche
ebensoviele Kontraindikationen eines blutigen Eingriffes abgeben. Für
diese Fälle gibt die Anlegung einer hypogastrischen Urethra ausge¬
zeichnete Erfolge, die Harnblase entleert sich durch ein Syphonsystem
in vollständiger Weise, die Entzündungserscheinungen derselben bes¬
sern sich, auch die Hypertrophie der Prostata geht um ein erhebliches
zurück, wie sich D. nach 3 Monaten bei einem selbstoperierten Falle
überzeugen konnte.
V. Babes: Ueber die pathogenen Mikroben der intermediären
Serie zwischen E b e r t h sehen Bazillus und Bac. coli communis.
(Rumänische Akademie der Wissenschaften, Sitzung am 3. Fe¬
bruar 1906).
Die Untersuchungen des Verfassers haben denselben zu folgen¬
den Schlüssen geführt. Die Mikroben der Zwischenserie müssen
als natürliche Varietäten jener Mikroben angesehen werden, die mit
dem Coli communis und dem Bazillus des typhösen Fiebers eine
grosse Gruppe bilden, welche eine ausgesprochene Verwandtschaft
mit gewissen Mikroben der hämorrhagischen Septikämien besitzen
und mit denselben zusammen einen Entwicklungszyklus bilden. Die
verschiedenen Mitglieder dieser Gruppe verursachen eine grosse An¬
zahl von menschlichen und tierischen Krankheiten, von denen manche
spezifisch, andere nichtspezifisch, alle aber von der grössten Wichtig¬
keit sind.
Ausser den pathogenen Bazillen aus diesem Entwicklungszyklus,
muss man noch eine grosse Anzahl von nichtpathogenen Abarten an¬
nehmen, von denen manche Saprophyten sind, andere nur in Ver¬
bindung mit anderen Bakterien pathogen werden. Derartige Mi¬
kroben werden oft im Organismus mit pathogenen Mikroben derselben
Serie angetroffen.
Diese Mikroben, selbst die nichtpathogenen oder nur wenig
pathogenen Abarten, können den Organismus derart beeinflussen, dass
derselbe ein agglutinierendes Serum bildet.
Die pathogenen Bakterien der Zwischenserie haben nahe ver¬
wandte morphologische und biologische Eigenschaften und bilden kleine
Gruppen, welche zu spezifischen, nahe verwandten Krankheiten (Ty¬
phus und Paratyphus, Infektionen durch Fleisch, Dysenterie und
Paradysenterie etc.) Veranlassung geben. An der Grenze dieser
Gruppen und zwischen ihnen findet man mehrere von B. entdeckte
Mikroben, welche die Veranlassung zu mehreren sporadischen oder
nicht spezifischen Krankheiten geben.
Die morphologischen und biologischen Charaktere allein ge¬
nügen nicht, um den Platz eines Bakteriums in dieser Serie festzu¬
stellen; so gibt es Mikroben der Fleischinfektion oder gewisser spon¬
taner Tierkrankheiten, welche viel näher dem Typhusbazillus, als dem
Paratyphusbazillus stehen. Die sogen. Parakoli und paradysenteri¬
schen Bazillen gehen oft ohne feste Grenze in die Gruppe ge¬
wisser pathogener Koli über, mit welchen sie gelegentlich identifiziert
werden können. Das Studium der Mikroben aus der Zwischenserie ist
also von grösster Wichtigkeit und ist berufen, die Aetiologie vieler
Krankheiten aufzuklären, gleichzeitig aber auch zur Verhütung der¬
selben beizusteuern.
V. Babes und J. Panea: Ueber einige tödliche Fälle von
Anämie. (Romania medicala, 1906, No. 5.)
Die Verfasser haben Gelegenheit gehabt, einige Fälle von
schwerer Anämie mit tödlichem Ausgange zu untersuchen, bei welchen
ätiologisch nichts anderes aufgefunden werden konnte als ausgedehnte
ulzerative und entzündliche Veränderungen des Darmes und nehmen
an, dass die dieselben hervorrufenden Bakterien ein hämolytisches
Toxin abscheiden, welches dann in den Blutkreislauf gelangt und
zu einer schweren Schädigung der blutbildenden Organe führt. Man
findet eine bedeutende Vergrösserung der Milz, der Leber und der
Lymphdriisen, beruhend auf einer chronischen Reizung, die von den
betreffenden Darmzentren ausgehen dürfte. Die Vergrösserung der
betreffenden Organe beruht auf einer Proliferierung des fibroblasti-
schen Gewebes und auf einer in denselben stattfindenden Ansammlung
einer grossen Menge von eigentümlichen Zellen. Dieselben haben die
Grösse von Leukozyten mit homogenem, mitunter eosinophilem Pro-
ioplasma und grossem, in spindelförmigen oder haferkornähnlichen
Stücken zerklüftetem Kerne, während Polynukleare fast voll¬
ständig fehlen. Babes hat derartige Elemente bei experimenteller
Pest und auch in manchen Fällen von Tollwut gefunden und hält die¬
selben für eine Veränderung grosser mononuklearer Leukozyten auf
infektiöser oder toxischer Grundlage. Derartige Veränderungen finden
nicht im Knochenmarke statt, welches sehr arm an geformten Ele¬
menten erscheint und diese Zellbildungen nicht enthält, vielmehr
würde die Anwesenheit derselben in Leber, Milz und retroperitonealen
Lymphdriisen dafür sprechen, dass ihre Bildung auf dem Einflüsse von
Mikroorganismen oder ihrer Toxine, welche ihren Ausgangspunkt
vom Darme haben, beruht.
Eine andere Eigenschaft der in Rede stehenden Anämiefälle ist
eine mit Höhlenbildung einhergehende Degenerierung des Herz¬
muskels, die von den perinukleären Räumen ausgehend, wahrschein¬
lich auf einer mit Muskelatrophie einhergehenden Oedembildung des
Herzgewebes beruht.
M. Anghelovici und G. Joanitzescu: Untersuchungen
über Spirochaete pallida. (Romania medicala, No. 4/5, 1906.)
A. und J. geben eine geschichtliche Uebersicht der wichtigeren
Arbeiten, welche auf die Auffindung des Syphilismikroben hinzieiten
und besprechen dann die seit der Entdeckung Schaudinns ge¬
machten Studien. Sie haben 26 Syphilisfälle mit verschiedenen Me¬
thoden auf Spirochäten untersucht und 20 mal positive Resultate er¬
zielt. Am sichersten fanden sie Spirochäten in dem Ab-
kratzungsprodukte von Schleimpapeln, hingegen fielen Blutunter¬
suchungen und solche von Liq. cerebrospinalis immer negativ aus.
Was die Färbungsmethoden anbelangt, so erprobten die Verfasser die¬
jenige von G i e m s a, von Proca-Wasilescu und von Roma-
n o w s k y und sind der Ansicht, dass man die schönsten Färbungs¬
bilder mit letzterer erzielen kann, doch ist es von Wichtigkeit, die
Lösung vorsichtig herzustellen, namentlich das Hinzufügen der Eosin-
lösung genau auszuführen, da einige Tropfen zu viel oder zu wenig
genügen, um dann die Färbug misslingen zu lassen.
M. Vesescu: Das Albargin in der Behandlung der Blennorrhoe.
(Romania medicala, No. 6/7, 1906.)
Der Verfasser hat 12 Fälle von akuter Urethritis mit
Albargin behandelt und gute Erfolge erzielt. Die Gono¬
kokken verschwanden nach wenigen Tagen und der Ausfluss ver¬
siegte nach etwa einer Woche. Die Konzentration der ange¬
wendeten Lösungen war 0,15 — 0,35 Proz. und wurden hiermit 3 Ein¬
spritzungen täglich gemacht und jede einige Minuten in der Harn¬
röhre zurückgehalten.
Alex. Manolescu: Die Behandlung der Epitheliome. (Ibidem.)
M. hat 2 Fälle von Epitheliom mit dem von Truneczek an¬
gegebenen Serum behandelt und in beiden Heilung erzielt. Bei dem
einen Falle reicht die Beobachtung auf 9 Jahre zurück, beim anderen
auf 8 Jahre und ist kein Rezidiv aufgetreten.
io42
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHEÜSCHRlFt.
No. 31.
Parhon und P a p i n i a n : Die Veränderungen der kortikalen
Zellen bei Urämie. (Anatomische Gesellschaft in Bukarest, Sitzung
vom 19. März 1905.)
Die Verfasser haben das Nervensystem eines im urämischen
Koma verstorbenen Nephritikers untersucht und folgendes festgestellt:
Bei der Untersuchung des Gehirns nach der Methode von N i s s 1
wurden die Riesenzellen geschwellt gefunden, die chromatische Sub¬
stanz in unregelmässigen Stücken zerklüftet, in manchen Zellen zu
einer pulverförmigen Substanz reduziert. Ferner bestand eine diffuse
Chromatolyse, so dass auch die Substanz zwischen den einzelnen
chromatischen Schollen eine gleichmässige blaue Färbung an¬
genommen hatte.
Mit der Methode von Ramony Cajal erschienen verschiedene
Veränderungen der Neurofibrillen; dieselben waren stellenweise ver¬
dickt, häufiger aber verdünnt, blasser als gewöhnlich und mit dem
Silbersalze weniger imprägniert, als dies sonst der Fall ist. Im
Zentrum der Zellen erscheinen die Veränderungen viel stärker aus¬
gesprochen als in den Verlängerungen, namentlich in den kleinen
Zellen.
Th. T. Vittin g: Beiträge zum klinischen Studium der musi¬
kalischen Herzgeräusche. (Inauguraldissertation, Bukarest 1906.)
Diese in der Spitalabteilung von Nanu-Muscel ge¬
machte interessante Arbeit, gibt einen guten Ueberblick dieser wich¬
tigen klinischen Frage, sowohl in ätiologischer, als auch in klinischer
Hinsicht. Man hört musikalische Geräusche hauptsächlich über den
Auskultationszentren des linken Herzens, doch weisen sie nicht immer
auf eine Erkrankung desselben hin, da ihre Entstehung auch ausser¬
halb dieses Organes statthaben kann. In manchen Fällen entstehen
sie durch Blutvibrationen oder durch solche der präkordialen La¬
melle von Luschka, so dass man das Herz vollkommen gesund
finden kann. Es ist wichtig, dies zu wissen, da man durch eine ge¬
naue Untersuchung der Tonalität, der Intensität, des Sitzes dieser
Geräusche und aus dem Umstande, dass gewisse Stellungen, Atem¬
bewegungen etc. Veränderungen in denselben hervorrufen, auch
einen diagnostischen Schluss auf ihren Ursprung ziehen kann, was ja
für die Prognose von Wichtigkeit ist.
V. Bon ach i: Ueber Extrauterinschwangerschaften. (Chirur¬
gische Gesellschaft in Bukarest, Sitzung vom 22. März 1906.)
Der Verfasser verfügt über 29 selbstoperierte Fälle von extra¬
uteriner Gravidität, von denen einer tödlich endete, die anderen aber
alle glatt heilten. In allen Fällen war der Fruchtsack geplatzt und
das Blut, meist in Mengen von über 1 kg, in die freie Bauchhöhle
ergossen. Trotz genauen Auftupfens bleiben doch noch immer
gewisse Blutmengen in der Peritonealhöhle zurück und auf die Re¬
sorption derselben führt B. die fast konstante, oft bis 39 0 reichende
thermische Aszension nach der Operation zurück. Von den be¬
obachteten Fällen hatte nur der eine 71/ z Monate erreicht, die anderen
waren meist im ersten oder zweiten Schwangerschaftsmonate.
Obige relativ grosse Anzahl von extrauterinen Schwangerschaften,
welche B. im Laufe von 3 Jahren operieren konnte, berechtigt zur
Annahme, dass diese Schwangerschaftsart ausserordentlich häufig
vorkommt, bis vor wenigen Jahren aber nicht diagnostiziert wurde;
die Kranken starben an angeblicher Peritonitis oder heilten spontan.
Dr. E. T o f f - Braila.
Englische Literatur.
S. Maynard Smith: Die Perforation des Duodenalgeschwüres.
(Lancet, 31. März 1906.)
Verfasser berichtet über 14 konsekutive Fälle. 2 wurden wegen
zu schlechten allgemeinen Befindens nicht mehr operiert und starben,
bei einem wurde das Geschwür erst bei der Sektion gefunden, von
11 operierten Kranken starben 6, während 5 geheilt wurden. Es gibt
für gewöhnlich 3 verschiedene Arten der Perforation, ein Geschwür
kann in den Peritonealraum durchbrechen und sofort eine allgemeine
Peritonitis erzeugen, oder es tritt nur wenig Darminhalt aus, so dass
es nur zur Infektion eines beschränkten Teiles der Peritonealhöhle
und zur Bildung eines lokalisierten, meist sehr grossen Abszesses
kommt, auch diese zweite Form kann nach einiger Zeit durch wei¬
teren Austritt von Darminhalt zur allgemeinen Peritonitis führen.
Dann kann es drittens zur Perforation im extraperitonealen Teil des
Duodenums kommen oder es kann ein Geschwür allmählich in einen
durch Adhäsionen abgeschlossenen Raum der Peritonealhöhle per¬
forieren. Durch Beobachtungen bei Operationen und durch Versuche
an Leichen hat Verfasser festgestellt, dass Flüssigkeit, die an der ge¬
wöhnlichen Perforationsstelle das Duodenum verlässt, zuerst in die
der rechten Niere entsprechende Tasche gelangt und von dort an der
Aussenseite des Colon ascendens zur Gegend des Wurmfortsatzes
und zum Beckeneingang gelangt. Die Flüssigkeit hat gar keine Nei¬
gung durch das Forainen Winslowii hindurchzutreten. Nur in 3 von
Verfassers 14 Fällen bestanden Symptome (Schmerzen im rechten
Hypochondrium und Erbrechen mehrere Stunden nach Nahrungsauf¬
nahme); die auf das Bestehen eines Duodenalgeschwüres schliessen
Hessen; dyspeptische Beschwerden bestanden in 9 Fällen. Die Per¬
foration erfolgte meist während der Kranke bei der Arbeit war, stets
war der Beginn durch einen sehr heftigen Schmerz gekennzeichnet;
bei 12 Fällen wurde angegeben, dass der Schmerz oberhalb des
Nabels war, bei 8 im rechten Hypochondrium (der Sitz des Schmerzes
ist von Wichtigkeit für die Diagnose). Wenn der Kranke zur Unter¬
suchung kommt, ist die Schmerzhaftigkeit meist über den ganzen Leib
verbreitet oder es wird über Schmerzen in der Zoekalgegend ge¬
klagt, so dass Verwechslungen mit Appendizitis häufig vorgekommen
sind. Nachdem der erste heftige Schmerz vorübergegangen ist, tritt
gewöhnlich ein kurzes Latenzstadium ein, in dem Puls und Tempera¬
tur völlig normal sein können, bekommt man einen Kranken zuerst
um diese Zeit zu sehen, so beobachte man den Puls auf das genaueste,
Ansteigen der Pulsfrequenz deutet auf eine innere Läsion hin. Dem
Fehlen oder Vorhandensein der Leberdämpfung ist wenig dia¬
gnostische Bedeutung beizumessen. Therapeutisch kann natürlich nur
die sofortige Operation nützen. Man kann dabei das Geschwür ein¬
fach übernähen und die Naht durch einen Netzzipfel verstärken oder
man kann es exzidieren. Am besten ist die einfache Naht, sobald der
Kranke wieder zu Kräften gekommen ist, mache man in einer zweiten
Sitzung die Gastroenterostomie, um durch Ruhestellung des Duo¬
denums das Geschwür zur Heilung zu bringen. Verfasser erzielte die
besten Erfolge in den Fällen, in denen er die Bauchhöhle mit Koch¬
salzlösung gründlich auswusch, die mit einfachem Austupfen be¬
handelten Fälle verliefen weniger günstig; die Zahlen sind aber zu
klein, um darüber zu entscheiden und zufällig waren die gespülten
vornehmlich die Fälle, die verhältnismässig früh zur Operation kamen.
Verfasser rät zu ausgiebiger Drainage des Beckens durch ein über
dem Schambein angelegtes Drainloch und zu lumbaler Drainage zur
Entlastung der Nierengegend.
H. M. W. Gray; Die Vakzinebehandlung in der Chirurgie.
Lancet 21. April 1906.
Verfs. Arbeit berücksichtigt hauptsächlich die Tuberkulinbehand¬
lung. Bei tuberkulösen Drüsen, die noch nicht verkäst sind, genügen
meist wenige Einspritzungen, um sie zum Verschwinden zu bringen.
Verkäste Drüsen schabt er aus oder entfernt sie in toto, wenn ein
grösseres Drüsenpaket zu fühlen ist, ebenso verfährt er bei vereiterten
und verkalkten Drüsen, die nachfolgende Tuberkulinbehandlung
schützt vor Rezidiven und bringt zurückgebliebene Fisteln zu
raschem Verschluss. Bei frischer Gelenktuberkulose stellt er das
Gelenk ruhig und behandelt mit Tuberkulin. Man soll das Gelenk
nicht zu lange ruhig stellen, ist es schmerzlos geworden, so beginne
man mit passiven Bewegungen; bestehen schon Abszesse in oder um
das Gelenk, so genügt die Tuberkulinbehandlung allein nicht, sondern
man muss die Abszesse chirurgisch behandeln. Man untersuche den
Eiter und wenn man Staphylokokken findet, so bereite man daraus
eine Vakzine und behandele mit ihr und Tuberkulin zugleich. Auch
bei Psoasabszessen muss die Vakzinebehandlung mit der Entleerung
des Abszesses kombiniert werden, auch hier wirken gemischte Vak¬
zinen meist am besten; so hat er Tuberkulin-, Streptokokken- und
Staphylokokkenvakzine kombiniert und gute Erfolge erzielt.
Vor ausgedehnten Mundoperationen bei ulzerierten Krebsen der
Zunge etc. hat er mehrere Tage lang Einspritzungen mit Strepto¬
kokken- und Staphylokokkenvakzinen gemacht und er glaubt, dass
der glatte Verlauf dieser Operationen und das Freibleiben des Kranken
von septischen Pneumonien besonders auf die prophylaktischen Ein¬
spritzungen zurückzuführen ist. Bei akuten Eiterungen durch Sta¬
phylokokken und Streptokokken ist die Vakzinebehandlung kontra¬
indiziert. Verf. hält es nicht für nötig bei den meisten Fällen den
opsonischen Index zu bestimmen. Man muss nur mit sehr geringen
Dosen arbeiten und darf nie grössere Mengen verabreichen. Er
gibt V» oo Milligramm Tuberkulinum (T. R.) bei allen Personen, die
älter sind als 5 Jahre. Anfangs machte er alle 10 dann alle 14 Tage
eine Injektion, nach 3 Monaten macht er monatlich 1 Einspritzung,
mehr als 1/boo Milligramm T.R. gibt er nie. Nach ausgedehnten
Operationen oder Ausschabungen warte man mindestens 14 Tage
mit der Einspritzung, da diese Eingriffe den Opsoningehalt des Blutes
herabsetzen und man mit der Einspritzung, die auch zuerst eine
negative Phase herbeiführt, die Widerstandskraft des Körpers schwä¬
chen würde. Von Staphylokokken gibt er 50 bis 150 Millionen, von
Streptokokken 50 bis 100 Millionen für jede Einspritzung. Die Menge
der Bakterien lässt sich leicht nach W right bestimmen. Verf.
macht alle Einspritzungen intramuskulär. Um gute Erfolge bei der
Tuberkulose zu haben, muss man die Behandlung sehr früh beginnen.
Nathan Raw: Die Behandlung der malignen Endokarditis mit
Antistreptokokkenserum. Ibidem.
Verf. hat bei über 200 Fällen von Sepsis (Septikämie, Pyämie,
Erysipel etc.) das Serum verwendet und ist zu der Ueberzeugung
gekommen, dass in reinen Streptokokkeninfektionen die Serumbe¬
handlung von allergrösstem Werte ist. Gleichzeitig hat er sich davon
überzeugt, dass es viel besser ist, das Serum per rectum als Klysma
einzuverleiben, als Einspritzungen zu machen. Die Wirkung ist bei
rektaler Einverleibung ebenso prompt als bei subkutaner und gleich¬
zeitig werden alle Nebenerscheinungen, wie Hautausschläge, Rheu¬
matismus etc. vermieden. Er gibt als Klysma 20 ccm Serum mit
40 ccm auf 100° F erwärmter normaler Kochsalzlösung. Er ver¬
wendet nur das polyvalente Serum von Burroughs, Wellcome & Co.
Er gibt 3 Krankengeschichten von Fällen von maligner Endokarditis,
von denen 2 durch die Serumbehandlung geheilt wurden. Ein Fall
starb allerdings 6 Wochen später an Embolie. Es wurden beinahe
600 ccm Serum per rectum verabreicht ohne irgendwelche unan¬
genehme Nebenwirkungen.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1543
William Pr im rose: Eine neue Methode der Pannusoperation.
Ibidem.
Verf. sticht ein spitzes Messer etwa 2 bis 3 Millimeter vom
Hornhautrande entfernt unter die Bindehaut und sticht ein grösseres
Gefäss an. Wenn man die Bindehautwunde möglichst klein und schräg
anlegt, so blutet es gar nicht nach aussen, sondern es bildet sich
nur ein subkonjunktivales Hämatom. Teils mechanisch, teils chemisch
wirkt dies Hämatom auf die die Hornhaut versehenden kleinen Blut¬
gefässe ein und bringt sie zum Schrumpfen. Nach Resorption des
Hämatoms sind in dem seinem Umfange entsprechenden Hornhaut¬
abschnitte die Gefässe obliteriert und die Hornhaut ist viel trans¬
parenter geworden. Je nach der Grösse des Pannus kann man das
ganze befallene Gebiet in einer oder mehreren Sitzungen auf diese
Weise behandeln.
C. Winfield Roll: Zufällige Durchtrennung des Nervus opticus.
Ibidem.
Beschreibung eines der seltenen Fälle, in dem durch einen Wurf
mit einem Tischmesser der Nervus opticus ohne Verletzung des
Auges oder anderer Teile glatt durchschnitten wurde. Das Messer
war durch das untere Lid eingedrungen und hatte ein retrobulbäres
Hämatom mit Proptosis verursacht. Die Augenbewegungen waren
ganz normal. Die Pupille war erweitert und reagierte nicht auf
Licht. Der Fundus oculi schien normal. Nach 48 Stunden war die
Wunde geheilt und die Proptosis verschwunden. Nach etwa 1-4 Tagen
konstatierte man deutliche Blässe der Papille Die Sehkraft blieb
natürlich völlig erloschen.
W. Watson Cheyne: Die Hepatoptose, die G I e n a r d sehe
Krankheit und die Wanderniere. Lancet 7. April 1906.)
Verf. gibt den gewiss sehr richtigen Rat, eine zufällig gefundene
Wanderniere, die keine Beschwerden macht, ganz unberücksichtigt
zu lassen und dem Kranken nichts davon mitzuteilen. Wo anderer¬
seits die Wanderniere deutliche Symptome macht, da muss man
einschreiten und zwar meist operativ. Gürtel und Pelotten nützen
gar nichts, etwas besser ist das von Gal laut angegebene Korsett,
das genau beschrieben wird. In allen schwereren Fällen muss man
operieren und die Niere möglichst hoch oben fixieren. Ch. operiert
von einem Querschnitt parallel dem Rippenbogen aus. Er entfernt
die ganze Fettkapsel; die fibröse Kapsel löst er weit ab um eine
gute Fläche zur Adhäsion zu schaffen. Nach der Operation muss das
Gail an t sehe Korsett getragen werden. Die Hepatoptose ist eine
häufige Krankheit. Es ist wichtig zu wissen, dass die Leber nicht
nur abwärts sinkt, sondern gleichzeitig nach vorne und links rotiert
wird. Die Lage der Leber kann dabei so verändert werden, dass
der linke Lappen in das rechte Hypochondrium zu liegen kommt.
Als Ursache der Hepatoptose sind wiederholte Schwangerschaften
und unzweckmässige Kleidung, sowie starkes Schnüren anzusehen.
Um die Krankheit zu erkennen, ist die Patientin im Liegen und im
Stehen zu untersuchen. Alle Gürtel sind in der Behandlung unnütz.
Nur eine Operation kann helfen. Die Leber muss nach Eröffnung
der Bauchhöhle zuerst in ihre normale Lage zurückgedreht werden
(nach rückwärts und rechts). Verf. bestreicht dann den diaphragma¬
tischen Teil der Leber mit reiner Karbolsäure und näht sie am
Zwerchfell fest. Ausserdem vernäht er den freien Leberrand mit der
Bauchwand. Die Kranke muss nach der Operation 6 Wochen lang
liegen. Bei der G 1 e n a r d sehen Krankheit rät Verf. das Ligam.
gastrohepaticum durch Raffung zu verkürzen, die Diastase der Rekti
durch sorgfältige Naht zu beseitigen und nachher ein G a 1 1 a n t sches
Korsett zu tragen, das im Liegen angemessen werden muss.
Alexander Paine und David J. Morgan: Der Wert des
D o y e n sehen Krebsserums bei malignen Tumoren. Ibidem.
In 4 Fällen, die von den Verfassern behandelt wurden, hatte das
Serum keinerlei Wirkung; in 2 Fällen von Brustkrebs traten im Ge¬
folge der Einspritzungen überaus heftige Schmerzen auf. In 3 Fällen
waren die Injektionen von sehr heftigen Allgemeinsymptomen gefolgt
(sehr grosse Herzschwäche, Fieber, Schmerzen und Kollaps), die
auf eine Toxämie zurückgeführt werden mussten. In 4-4 Fällen
wurde nach dem Micrococcus neoformans gesucht und derselbe
elfmal gefunden (1 Epitheliom, 7 Brustkrebse, 2 Sarkome, 1 Myxom).
Achtmal wurde der Micrococcus neoformans in Reinkultur gefunden,
dreimal war er mit anderen Tumoren vergesellschaftet. 200 Tiere
wurden mit Reinkulturen des Mikrokokkus geimpft, doch gelang es
in keinem Falle einen gut- oder bösartigen Tumor zu erzeugen, als
Folge der Einspritzung traten nur entzündliche Veränderungen auf.
(Die Verfasser haben Gelegenheit gehabt, die Präparate zu unter¬
suchen, die von von Doyen selbst geimpften Tieren stammten
und sie haben auch aus diesen Präparaten die Ueberzeugung ge¬
wonnen, dass es sich stets um entzündliche Veränderungen handelte.)
Wenn Doyen wirklich einmal bei Ratten oder Mäusen Tumoren
gefunden hat, so ist es sehr wohl möglich, dass es sich um spontan
entstandene Tumoren gehandelt hat, die bei diesen Tieren gar nicht
so selten sind. Dem Serum sprechen sie jeden therapeutischen Wert
ab, halten seine Anwendung sogar für gefährlich und warnen davor.
Die Arbeit stammt aus dem Londoner Krebshospitale.
J. Hutchinson jun.: Die Dauererfolge der Radikaloperation
der Hernien. Ibidem.
Verf. hat in den letzen 15 Jahren 500 Hernien operiert; davon
waren 360 inguinale, 100 femorale, der Rest Bauch- und Nabelhernien.
150 Fälle kamen wegen Einklemmung zur Operation. Verf. lässt nach
Leisten- und Schenkelhernienoperationen nie, nach Bauch- und Nabel-
hernienopejationen stets später eine Bandage tragen. Er konnte
109 Fälle von Leistenhernien 2 bis 10 Jahre (durchschrittlich 6 Jahre)
nach der Operation noch untersuchen, er fand 8 Proz. Rezidive, es
ist dabei zu bemerken, dass in dieser Zahl alle wegen Einklemmung
behandelten Fälle eingeschlossen sind und dass Verfasser auch ältere
Leute nicht von der Operation ausschliesst; es ist nicht uninteressant,
dass 8 Proz. der Fälle seit der Operation auf der anderen Seite eine
Hernie entwickelt haben. Verf. fand, dass alle geheilten Fälle völlig
beschwerdefrei waren. Verf. empfiehlt den Sack nach der Kocher-
schen Methode zu verlagern und dann den Kanal nach B a s s i n i
zu verengern. Er verwendet für die tiefen Nähte Känguruhsehnen,
die in Alkohol aufbewahrt werden; kurz vor der Operation werden
sie in kaltes, steriles Wasser übertragen. Diese Sehnen sind gut knot¬
bar, sehr fest und bleiben mehrere Jahre lang an Ort und Stelle
liegen, allmählich werden sie durch Bindegewebe ersetzt. Silberdraht
verwirft er vollkommen, da man danach häufig Komplikationen, wie
Orchitis, Varikozele, und Schmerzen beobachtet. (Refer. hat in weit
über 1Ü0 Fällen mit Silberdraht genäht, ohne diese Komplikationen
zu beobachten und hat ihn nur aufgegeben, weil er leicht beim Kno¬
ten bricht und man Zwirn auch steril machen kann.) 16 Femoral-
hernien, die er nachuntersuchen konnte, zeigten 2 Rezidive. Er ver¬
lagert bei der Schenkelherilie den Sack nach oben und näht mit
Känguruhsehne das Poupartsche Band an die tiefe Faszie; man
muss sich dabei nur hüten, die Femoralvene einzuschnüren. Bei re¬
zidivierenden Leistenhernien und bei schlechter Entwicklung der
Faszien empfiehlt er wie bei Frauen den Leistenkanal total zu ver¬
nähen und den Samenstrang vor die Faszie zu lagern, wie es Hal¬
sted empfohlen hat.
Stanley Barnes: Der Verlust der Patellarreflexe bei der Pneu¬
monie. Birmingham Med. Review April 1906.
Gestützt auf Beobachtungen von Hughlings Jackson hat Verf.
den Kniereflex und andere Sehnenreflexe bei einer Anzahl von Fällen
von Konsolidation der Lunge untersucht und gefunden, dass der Knie¬
reflex und meist auch die anderen Sehnenreflexe im Verlaufe der
kruppösen Pneumonie fast immer verschwinden, während sie bei
tuberkulösen und septischen Pneumonien bis zum Tode erhalten
bleiben. Bei 34 kruppösen Pneumonien fehlte der Kniereflex in
30 Fällen. Verschwindet der Kniereflex schon am 1. oder 2. Tage
der Krankheit, so handelt es sich um einen schweren Fall mit
schlechter Prognose. Bei gestorbenen Fällen konnte Verf. Verän¬
derungen im 3. Lendensegment des Rückenmarks nachweisen und
abbilden. Er glaubt, dass das Fehlen oder Vorhandensein des Pa-
tellarreflexes sich differentialdiagnostisch verwerten lässt, ebenso wie
prognostisch.
A. H. White: Der opsonische Index bei der tuberkulösen Peri¬
tonitis. Dublin Journal of Medic. Sciences. April 1906.
Verf. glaubt, dass die Eröffnung des Bauches deshalb günstig
auf die tuberkulöse Peritonitis einwirkt, weil sie das Exsudat ent¬
fernt, das sehr arm an Opsoninen ist und weil dieses Exsudat ersetzt
wird durch eine an Opsoninen reichere Flüssigkeit; zweitens tritt
infolge des Eingriffes eine Autointoxikation ein, durch welche der Ge¬
halt des Blutes an Opsoninen vermehrt wird. Verf. empfiehlt aber
vor der Operation den opsonischen Index des Blutes zu bestimmen,
und ihn durch vorsichtige Tuberkulineinspritzungen zu erhöhen.
Eine Anzahl von Tabellen zeigt wie der opsonische Index nach
Operationen sich verändert.
George Rose: Die akute Osteomyelitis der Kinder. Scottish
Medical and Surgical Journal. April 1906.
Verf. rät zu sofortiger Operation, es ist weit besser einmal zil
oft wie einmal zu selten zu operieren. Man inzidiere auf die Epiphyse.
Stösst man auf Eiter, so suche man die Oeffnung im Knochen, aus der
er gekommen ist und erweitere sie gründlich. Findet man die Oeff¬
nung nicht, so meissele man getrost den Knochen auf und wasche
die Markhöhle mit steriler Salzlösung aus. Findet man keinen Eiter
ausserhalb des Knochens, so indiziere man den Knochen durch einen
über die Epiphyse geführten Längsschnitt. Meist muss man ausgiebig
drainieren. Findet man das Periost weithin abgelöst, und sind die
Allgemeinsymptome sehr schwere, so amputiere man sofort das be¬
fallene Glied. Verf. hat in über 100 Fällen so gehandelt und sofort
operiert, wenn er bei einem Kinde über der Epiphyse eines langen
Röhrenknochen starken Druckschmerz fand und heftige Allgemein¬
symptome bestanden, er fand stets Eiter.
Charles W. Cathcarf: Die Bier sehe Behandlung der akuten
Entzündung. Ibidem.
Verf. gibt zuerst eine Beschreibung der von Bier eingeführten
Methoden und spricht dann über seine eigenen mit dieser Methode
gemachten Erfahrungen, die sich auf Phlegmonen, gonorrhoischen
Rheumatismus, Knochengumma etc. erstrecken. Verf. sah nie Nach¬
teile der Methode, aber neben glänzenden Erfolgen auch einige Miss¬
erfolge. Im ganzen jedoch kann er die Methode nur warm empfehlen,
sie ist einfacher wie jede andere und sicherer im Erfolge.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
44
No. 31.
W. Q. Aitchison Robertson: Persönliche Erfahrungen mit
dem LI h 1 e n h u t h sehen Verfahren der Bluterkennung. (Ibidem.)
Verf. hat zahlreiche Versuche mit dem Uhlenhuth sehen Ver¬
fahren angestellt und gefunden, dass sich Eiecke von Menschenblut
noch nach 9 Jahren mit Sicherheit als solche erkennen lassen, er
stellte viele Versuche mit dem Blute von Tieren an und fand, dass
man das Menschenblut stets sicher von ihm unterscheiden kann.
Alexis Thomson: Der umschriebene (Brodiesche) Kno¬
chenabszess. Edinburgh Medical Journal. April 1906.
Hübsche Monographie über diese Krankheit. Krankengeschichten
von 3 eigenen Fällen und kritische Beleuchtung von 145 aus der
Literatur gesammelten Fällen. Bei 122 Fällen war (oft sehr lange
vorher) eine leichte Osteomyelitis voraufgegangen. Es ist nicht un¬
interessant, zu wissen, dass der Knochen in dem der Brodiesche
Abszess sitzt, ein anderer sein kann, als der, in welchem vor Jahren
die Osteomyelitis zur Beobachtung kam. Die Latenzperiode zwischen
der Osteomyelitis und dem Bemerktwerden des Abszesses schwankte
zwischen 1 und 57 Jahren. Der Abszess sitzt am häufigsten an den
Enden der Knochen und zwar weitaus am häufigsten in der Tibia.
Die Diagnose wird häufig nicht gemacht, da die dumpfen oder bohren¬
den Schmerzen als Rheumatismus gedeutet werden und da Schallung
des Knochens im Anfang oft fehlt. Fieber fehlt häufig. Bakterio¬
logisch findet man fast immer den Staphylococcus aureus. Verf. fand
einmal nur den Staphylococcus albus. Meist kann man skiagraphisch
eine sichere Diagnose stellen. Die Behandlung besteht in der gründ¬
lichen Freilegung und Tamponade der Knöchenhöhle.
Q. A. Sutherland: Chronische Bronchitis und Fettsucht.
Ibidem.
Verf. glaubt, dass chronische Bronchitis und Fettsucht zwei
Krankheiten sind, die sich gegenseitig ungünstig beeinflussen und
er empfiehlt in allen diesen Fällen vor allem darauf zu sehen, dass
durch geeignete Diät die Fettsucht vermindert wird. Er empfiehlt
eine mässige Fleischdiät mit wenig Brot, er verbietet jedes Getränk
bei Tisch, lässt aber zwischen den Mahlzeiten eine Flasche Contrexe-
villewasser trinken; Alkohol muss streng verboten werden. Er er¬
zielt wöchentlich eine Gewichtsabnahme von 2 bis 5 Pfund und
gleichzeitig damit eine bedeutende Besserung der Bronchitis.
Alexander Miles: Die Hernia epigastrica. Ibidem.
Verf. beschreibt wie diese Hernie häufig übersehen wird und
wie die durch sie hervorgerufenen Symptome so oft auf den Magen
gedeutet werden. Er empfiehlt jede derartige Hernie zu operieren
und auch die sogen, präperitonealen Lipome zu entfernen, da sie meist
die Vorstufen der Hernien sind. Tritt Einklemmung ein, so ist dieselbe
meist sehr heftig und führt rasch zu Gangrän des Darmes. Die
Operation macht man am besten von einem Querschnitt aus. Der
gut frei präparierte Sack wird abgebunden und an der Innenfläche
der Bauchwand fixiert. Die Bruchpforte wird quer vernäht.
A. Lu ff: Die Diät bei Gichtkranken. Practitioner. April 1906.
Die Aprilnummer des Practitioner ist der diätetischen Behandlung
der Krankheiten gewidmet und es ist erfreulich zu sehen, dass die
Extravaganzen, die noch vor einigen Jahren gepredigt wurden, mehr
und mehr verschwinden. L u f f, wie auch andere Mitarbeiter dieser
Nummer, warnen vor allzu hastigen Aenderungen der Diät. Man
nehme eine genaue Anamnese auf und achte wohl darauf, was der
Kranke als bekömmlich und nicht bekömmlich bezeichnet. L u f f lässt
seine Gichtkranken alle Sorten Fleisch in Mässigung essen, er em¬
pfiehlt daneben grüne Gemüse, mässige Mengen von Kartoffeln, auch
etwas Zucker erlaubt er. Süssigkeiten will er vermieden wissen.
Alkohol verbietet er in der Mehrzahl der Fälle ganz; er lässt morgens
nüchtern % Liter heisses, abgekochtes Wasser trinken, dieselbe
Menge vor dem Zubettgehen. In schweren Fällen empfiehlt er für
kurze Zeit die Salisbury Diät, die aus rohem, gehackten Fleisch und
heissem Wasser besteht. Bei gesunden Nieren wirkt diese Diät oft
sehr günstig. Fette Speisen, Süssigkeiten und Gewürze sind zu
vermeiden. Alle Speisen müssen sehr sorgfältig gekaut und einge-
speichelt werden. Rohe Früchte dürfen nie mit Fleisch zusammen
genossen werden.
C. Jacobs und Victor G e e t s: Die Krebsbehandlung mit Vak¬
zine. (Lancet, 7. April 1906.)
Die Verfasser suchen in dieser Arbeit nachzuweisen, dass der
Micrococcus neoformans als Erreger der Krebskachexie anzusehen
ist, dass ferner das Doyen sehe Serum völlig wertlos ist, dass es
aber gelingt, durch eine Vakzine unter Kontrolle des opsonischen
Index den menschlichen Körper gegen den Micrococcus neoformans
zu immunisieren. In 90 Proz. aller untersuchten Krebse konnten die
Verfasser den Micrococcus neoformans nachweisen und in 30 Proz.
aller damit geimpften Tiere gelang es ihnen, typische maligne Tu¬
moren (lokal oder generalisiert) zu erzeugen. Das D o y e n sehe
Serum, welches sie untersuchten, hatte weder bakterizide, bakterio-
lytische, agglutinierende oder opsonische Wirkungen. Sie stellten
deshalb eine Bakterienvakzine her, die bei 60° C. sterilisiert und
reichlich gewaschen wurde, durch Zählen der Bakterien nach der
W right sehen Methode wurde sie standardisiert. Dann wurde der
opsonische Index der zu behandelnden Krebskranken gegenüber dem
Micrococcus neoformans bestimmt und nachgewiesen, dass derselbe
in jedem Falle stark herabgesetzt war. Die dahinzielenden Beobach¬
tungen erstreckten sich über mehr wie 12 Monate. Der Erfolg oder
Misserfolg der Vakzinebehandlung hängt nun davon ab, ob der be¬
treffende Patient noch genug vitale Energie besitzt, um auf die Ein¬
spritzung zu reagieren und mehr Opsonine zu erzeugen. Steigt nach
einer oder zwei Einspritzungen der opsonische Index nicht an, so ist
der Fall rettungslos verloren und man darf keine Vakzine mehr ein¬
spritzen, da jede Einspritzung dem Körper zuerst Opsonin entzieht
(negative Phase von W r i g h t) und der Körper zu geschwächt ist,
um auf den Reiz der Einspritzung hin neue Opsonine zu produzieren.
Reagiert dagegen der Kranke günstig, so verläuft die Sache folgender-
massen. Ein opsonischer Index von 0,7 sinkt sofort nach der Ein¬
spritzung der Vakzine auf 0,5 herunter, um nach 2 Tagen auf 1,2 zu
steigen. Auf dieser Höhe bleibt er für einige Zeit, sobald der Index
wieder zu fallen beginnt, ist es Zeit, eine neue^ Einspritzung vorzu¬
nehmen, nach dieser Injektion sinkt der Index wahrend der negativen
Phase auf 0,8, um dann auf 1,8 anzusteigen. Unter den Einspritzungen
wird der Tumor kleiner und beweglicher, die Schmerzen hören auf,
die Kachexie lässt nach, das Gewicht steigt an. Wenn irgend mög¬
lich, suche man jetzt den Tumor ganz oder soviel wie möglich von
ihm zu entfernen. Verfasser geben dann einige Krankengeschichten
von Personen, die an Brust-, Uterus- und anderen Krebsen litten und
behaupten schliesslich, dass von 46 ihrer Kranken 7 geheilt, 12 dauernd
gebessert, 7 vorübergehend gebessert und 11 unbeeinflusst geblieben
sind. 9 befinden sich noch unter Behandlung.
(Schluss folgt.)
Auswärtige Briefe.
Römische Briefe.
(Eigener Bericht.)
Erfolge des Kampfes gegen die Malaria im verflossenen
Jahr. — Die Umwandlung der italienischen Rente vom hygi¬
enischen Standpunkt.
Wenn man bedenkt, welch geringen Nutzen in Italien die
Entwässerungsversuche brachten, für die man Millionen ver¬
ausgabte, dann kann man nicht laut genug seine Bewunderung
und sein aufrichtiges, warmes Lob aussprechen über die Re¬
sultate, die in den letzten vier Jahren im Kampf gegen die
Malaria erzielt wurden. Am interessantesten ist dabei die
Tatsache, dass diese Erfolge nicht nur mit den denkbar ein¬
fachsten Mitteln erzielt wurden, sondern dass sie auch, statt
dem Staate, wie alle andern Versuche vorher, Qeld zu kosten,
ihm eine ganz beachtenswerte Einnahmequelle brachten. In
der letzten, vor wenigen Tagen in Rom abgehaltenen Sitzung
der Gesellschaft zum Studium der Malaria traten diese Tat¬
sachen ins hellste Licht und erwecken die berechtigte Hoff¬
nung, dass die Malaria bald vollständig von unserer Halbinsel
verdrängt sein und zu den historischen Erinnerungen gehören
wird. In einigen Gegenden Italiens ist diese Hoffnung über¬
haupt schon Tatsache geworden. Man kann sagen, dass die
letzte Malaria-„Saison“ im allgemeinen in Ober- und Mittel¬
italien ziemlich leicht verlief. In den römischen Kranken¬
häusern vermindert sich die Zahl der aus der Campagna kom¬
menden Malariakranken zusehends und Todesfälle infolge
perniziösen Fiebers sind in den letzten zwei bis drei Jahren
eine Seltenheit geworden.
Schlimmer sieht es leider in Unteritalien und auf den Inseln,
aus, wo die Malaria unbeirrt auf ihrem Tod und Verderben
bringenden Siegeszug fortschreitet. Einige Landstrecken
dieser Regionen haben den traurigen Vorzug, in bezug auf die'
Herrschaft der Malaria die ersten der Welt zu sein. Man kann,
daher leider auch was die Malaria anbetrifft von zwei ver¬
schiedenen Italien sprechen, die sehr unterschiedliche Beiträge
zur Statistik liefern. Das letzte Erdbeben in Kalabrien hat
ohne Zweifel sehr viel dazu beigetragen, diesen Stand der
Dinge zu verschlimmern, indem es günstige Vorbedingungen
für die Epidemie schuf, durch die Zerstörung der Behausungen
und die Vergrösserung des Elends dieser ohnehin schon so
armseligen Bevölkerung. Ueber das Verhältnis der Industrie
und Malaria wurde in Sardinien eine interessante Beobachtung
gemacht; es zeigte sich nämlich, dass die Bevölkerung, die in
den Gruben arbeitet, einen grösseren Prozentsatz an Malaria¬
kranken stellt, als die Bewohner des gleichen Distriktes, die
sich dem Ackerbau widmen.
Von den zwei hauptsächlichsten Mitteln, die in der
letzten Malariakampagne zur Anwendung kamen, war das-
bevorzugte jedenfalls das Chinin, obwohl auch die mecha-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1545
31. Juli 1906.
nische Verteidigung mittels Metallnetzen durchaus nicht ver¬
nachlässigt wurde und besonders an den Behausungen der
Staats-, Provinz- und Kommunalbeamten und -bediensteten
zur Anwendung kommt. Die Versuche zur Vernichtung der
Larven der Zanzaren haben zu keinen praktischen Resultaten
geführt. Die Prophylaxis mit Chinin dagegen, das der Staat
selbst hersteilen und von den privilegierten Tabakshändlern
zu niederem Preis verkaufen lässt, so jedem die Anschaffung
1 ermöglichend, hat im verflossenen Jahre ihren Höhepunkt er¬
reicht. Es wurden mehr als 18 000 kg Chinin verkauft. Ausser
den bekannten Chinintabletten macht man jetzt praktische Ver¬
suche, damit der Staat auch die Fabrikation der Chokolade-
pastillen mit Chinintannat in die Hand nähme, mittels deren
die Prophylaxis auch bei Kindern ausserordentlich erleichtert
würde, da dieses letztgenannte Chininsalz viel weniger bitter
schmeckt. Experimente, die in diesen letzten Jahren angestellt
wurden, haben bewiesen, dass die Absorbierung und Wirkungs¬
kraft des Chinintannates derjenigen des bisher im Gebrauch
befindlichen Chininsalzes in nichts nachsteht und es ist daher
zu hoffen, dass der oberste Gesundheitsrat durch diese Studien
veranlasst wird, sein vor drei Jahren ausgesprochenes Urteil
zu modifizieren, wonach der Staat das Chinintannat nicht in
den Handel bringen dürfe, weil ihm keinerlei Wirksamkeit zu¬
gesprochen werden könne. Die Professoren G a g 1 i o - Rom
und C e r v e 1 1 o - Palermo haben durch ihre Experimente in
evidenter Weise die Assimilation dieses Salzes bewiesen, wenn
die klinischen Untersuchungen über seine Wirksamkeit nicht
genügen sollten.
Die Quantität des zur Prophylaxis gegebenen Chinins
schwankt in den verschiedenen Regionen zwischen drei bis vier
Tabletten und einer (20 cg Chinin) oder noch weniger pro Tag.
Man kann sagen, dass die Bekehrung zu der neuen Lehre fast
vollständig und allgemein durchgeführt ist, dank der zahlreichen
populären Veröffentlichungen, neben denen die Gesellschaft
jetzt auch einen Dekalog in tausenden von Exemplaren ver¬
breiten lässt, um auch denjenigen, die nur mühsam ein bischen
zu lesen verstehen, zu lehren, wie sie das Chinin anzuwenden
haben und dass nach dem Gesetz der Arbeiter ein Recht darauf
hat und der Arbeitgeber verpflichtet ist, es ihm zu geben. So
schreiten wir in diesem letzten Jahr glücklich voran in der Ver¬
nichtung der Malaria und selbst wenn wir das Mittel für ganz
Italien nehmen (samt den südlichen Regionen, die, wie gesagt,
noch sehr übel daran sind), so zeigt sich doch, dass sich die
Sterblichkeit in den letzten vier Jahren um 50 Proz. vermindert
hat, wie aus nachstehender Tabelle hervorgeht. Bis zum
Jahre 1902 betrug die mittlere Sterblichkeitsziffer 1500.
Im Jahre
Chininkonsum in
Kilogramm
Sterblichkeit
Reinertrag
aus d. Chininver¬
kauf in Liren
1902—1903
2242
9908
34270
1903—1904
7234
8513
183038
1904—1905
14071
8501
183382
1905-1906
18712
7838
230000
Wahrlich bessere Resultate konnte man doch in so kurzer
Zeit nicht erwarten, als sie hier ohne Kosten, ja sogar mit
einem beträchtlichen Ueberschuss für den Staatssäckel erzielt
wurden !
Bekanntlich hat sich auch die Umwandlung der Rente ganz
glänzend vollzogen und schon sind, besonders auch im Parla¬
ment, alle möglichen Vorschläge laut geworden, wie die
hübsche Anzahl von Millionen, die der Staat auf diese Weise
erspart, am besten und nützlichsten zu verwenden seien. Die
meisten sind für eine Verminderung der hohen Abgaben, die
der Staat auf Verschiedene Artikel des allgemeinen Konsums
legt und zwar ganz besonders für jene der Salz- und der
Zuckersteuer. Abgesehen vom Zucker, der allgemein als ein
vorzügliches Nährmittel anerkannt wird (in gewissen Grenzen
jedoch, denn es scheint mir durchaus nicht richtig, nach Art
unserer Zeitungen immer dem Publikum den gewaltigen, über¬
mässigen Konsum anzupreisen, den andere Nationen davon
machen), bin ich der Meinung, dass eine Verminderung des
Salzpreises vom hygienischen Standpunkt aus sehr wenig
wünschenwert wäre, da sie sehr wenig Nutzen, sondern viel¬
leicht eher Schaden bringen würde. Die beste Verwendung
fänden diese Ersparnisse im Staatshaushalt sicher, wenn man
sie dazu benützen würde, den so glorreich begonnenen Feld¬
zug gegen die Verwüsterin unserer Felder mit allen Mitteln
und auf allen Linien durchzuführen. Aber wer weiss, ob nicht
am Ende mit all den gutgemeinten Vorschlägen auch diese
Millionen nur der Vernichtung der Menschen dienen müssen,
auf diese Weise die guten Erfolge ausgleichend, welche die
Wissenschaft nach langen Mühen erzielt hat. Prof. G a 1 1 i.
Vereins- und Kongressberichte.
Berliner medizinische Gesellschaft.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 25. Juli 1906.
Fortsetzung der Diskussion über Perityphlitis.
Herr v. Bergmann teilt mit, dass vom Reichsgesund¬
heitsamt eine Sammelstatistik geplant wird. Die Ausarbeitung des
Fragebogens wird einer Kommission überwiesen.
Herr Israel bespricht die Frage der Intervalloperation.
Unnötig ist die Operation: 1. nach eitriger Perityphlitis, weil
hier der Wurmfortsatz meist obliteriert resp. abgestossen ist; 2. wenn
seit dem Anfall zwei Jahre ohne Beschwerden vergangen sind (80
Proz. der Rückfälle im ersten Jahre, 90 Proz. in den beiden ersten
Jahren nach dem Anfall.
Unbedingt indiziert ist die Operation im freien Inter¬
vall: 1. bei äusseren Fisteln, die auf andere Art nie heilen; 2. bei
chronischen Wurmfortsatzbeschwerden, die im übrigen ein proteus¬
artiges Bild haben, sodass Fehldiagnosen auf Magenleiden, Wander¬
niere, Gallensteinen uswx gestellt werden; 3. wenn mehrere Anfälle
in einem Jahre auftreten; 4. bei Schwangeren; 5. bei Kindern.
Bedingt indiziert ist die Intervalloperation: 1. bei inneren
Fisteln in Darm oder Blase, die noch nach Monaten heilen können;
2. bei lokaler Druckempfindlichkeit mit oder ohne Gasauftreibung
oder Steifung des Wurmfortsatzes (bleibt die Druckempfindlichkeit
länger als 3 Monate nach dem Anfall bestehen, so ist die Operation
zu machen).
Empfehlenswert ist die Intervalloperation: 1. in Erwartung
der Schwangerschaft (weil diese Sachlage sehr kompliziert);
2. bei Zweifel, ob man den Patienten in einem neuen Anfall früh genug
zur Operation bekommen werde (bei Reisenden, bei Leuten auf dem
Lande); 3. bei Rezidivfurcht; 4. aus wirtschaftlichen Gründen bei
Leuten mit anstrengendem Beruf.
Im ganzen ist es sicherer im Intervall zu operieren als abzu¬
warten. In 50 Proz. der Fälle tritt ein Rezidiv ein, und wir können
nicht vorher sagen, wer ein Rezidiv bekommen wird, und wie schwer
dasselbe verlaufen kann. Die Intervalloperation hat nur 0,5 Proz.
Mortalität, die Anfallsoperation in den ersten 48 Stunden aber 3 Proz.
Mortalität. Ausserdem weiss man nie, ob der Betreffende nachher
früh genug zur Operation kommen wird, die Schwierigkeit ist be¬
sonders gross bei Frauen (Zusammenfallen des Anfalles mit der
Menstruation) und bei Kindern.
Herr Krause operiert dann nicht im Intervall, wenn gerade keine
Beschwerden vorhanden sind, und die Untersuchung, auch vom
Mastdarm (per vaginam) keine Veränderungen ergibt. Dagegen sei
auch nach abgelaufener eitriger Entzündung oft die Operation nötig. Die
Indikation zur Intervalloperation ist weit zu stellen, bei Leuten, die
im Beruf Anstrengungen ausgesetzt sind (Offiziere, Reisende) und
bei Kindern, bei denen nach allen Autoren die schweren Anfälle
überwiegen. Eher abwarten wird man bei älteren fettleibigen
Männern, namentlich mit Alkoholmissbrauch, bei Leuten mit Herz¬
fehlern, Bronchitis.
Herr R o 1 1 e r bespricht die Frühoperation. Nach seiner Mei¬
nung ist der beginnende Anfall sicher genug zu dia¬
gnostizieren. Die 10 Proz. gesunden Wurmfortsätze, die
A s c h o f f unter den exstirpierten gefunden hat, erklären sich daraus,
dass A. nur die Präparate der zweifelhaften Fälle zugeschickt wur¬
den. In Wirklichkeit wurden nur 7 (4,5 Proz.) Fehldiagnosen ge¬
stellt. in 3 Fällen davon handelte es sich um Salpingitis gonorrhoica,
hier Hesse sich die Diagnose noch sichern, so dass nur 2,5 Proz. Fehl¬
diagnosen unvermeidbar wären. Seit 1905 zieht er auch das „Vor¬
stadium“ des Anfalles in den Bereich der Operation, dadurch sind
die Resultate sehr gebessert worden. In 15 — 20 Proz. sind, die ersten
Erscheinungen sehr leichte, folgende Anhaltspunkte dienen der Dia¬
gnose: I. Peritonealgefühl (Schmerzen, die namentlich bei schweren
Fällen auch in Nabel-, Magengegend lokalisiert sein können, Uebel-
keit, event. Erbrechen); 2. krankhafter Druckschmerz (man beginnt
die Untersuchung links, dann in den übrigen Bauchgegenden und geht
erst zuletzt auf die Blinddarmgegend über, dann lässt sich die lokale
Schmerzhaftigkeit am leichtesten feststellen); 3. Temperatursteige¬
rung, wenn auch leichte. Muskelspannung tritt oft erst später ein.
Ohne Druckschmerz lässt sich keine Diagnose stellen, man wartet
dann ab. Ob der Anfall schwer oder leicht verlaufen wird, lässt sich
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
15-46
nicht sicher Voraussagen, nur 70 Proz. der schweren Fälle wurden
als solche diagnostiziert (Anhaltspunkt: Puls über 100), deshalb soll
man lieber operieren.
Herr B e c k-New-York: Auch bei leichten Erscheinungen könne
der F'all ein schwerer sein, das kleinere Uebel ist die Operation.
Herr Landau bespricht die nifferentialdiagnose wie gynäkolo¬
gischen Affektionen (Pyosalpinx, geplatzte Tubargravidität, stielge¬
drehte Adnextumoren) und spricht sich für die Frühoperation aus.
Herr Olshausen meint, dass eine rechtsseitige Salpingitis
öfter für Perityphlitis gehalten werde, selten sei das umgekehrte der
Fall. Für Perityphlitis spricht die überwiegende Längenausdehnung
des Exsudats und das Fühlen gesunder Tuben, für Salpingitis die
Anamnese, eitriger Fluor, Doppelseitigkeit der Affektion, Breitenaus¬
dehnung des Exsudats. J a p h a - Berlin.
Medizinische Gesellschaft zu Chemnitz.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung v o m 3. M a i 1906.
Herr Reichel: Appendizitis und Ikterus.
Die Bedeutung des Auftretens von Ikterus nach Opera¬
tionen wegen Appendizitis ist bisher nicht genügend gewürdigt
worden; diese Bedeutung ist oft eine ernste, prognostisch un¬
günstige. Vortragender sah unter 165 in den Jahren 1903,
1904, 1905 ihm zur Beobachtung gekommenen Fällen von
Appendizitis mit insgesamt 22 Todesfällen, d. s. 13,33... Proz.
(einschl. aller, zum Teil gar nicht mehr zur Operation gelangten
Fälle schwerster, diffus eitriger Peritonitis nach Appendizitis)
18 mal Ikterus auftreten; von diesen 18 Patienten starben 10
= 55,55 . . . Proz. Diese Zahlen sprechen wohl eine beredte
Sprache.
Die ungünstige Prognose der Komplikation ist darin be¬
gründet, dass der Ikterus nur ein Symptom beginnender sep¬
tischer Allgemeininfektion ist. Wird dies schon dadurch wahr¬
scheinlich gemacht, dass von allen 43, während des genannten
Zeitraums im freien Intervall Operierten nur 1 Patient, dessen
Wundverlauf auch durch Eiterung gestört war, einen leichten
Ikterus bekam und niemand starb, so wird es bewiesen durch
den klinischen Verlauf und den Obduktionsbefund.
Die stürmischen Erscheinungen pflegen im allgemeinen
nach dem operativen Eingriff rasch zurückzugehen, das Fieber
fällt ab, die Schmerzen lassen nach, Patient macht zunächst
einen günstigen Eindruck, bis nach 36 bis 48 bis 60 Stunden
ein leichter Ikterus bemerkbar wird. In den leichten Fällen
braucht dieser das Allgemeinbefinden gar nicht zu stören und
kann nach wenigen Tagen wieder völlig schwinden. In den
schwereren macht sich aber meist gleichzeitig eine gewisse
psychische Unruhe, Schlaflosigkeit, leichte Unklarheit geltend;
dabei pflegt auch der Puls schneller zu werden, während die
Temperatur bald normal bleibt, bald ansteigt. • Auch jetzt
können alle Erscheinungen noch zurückgehen und der Kranke
genesen. In den ganz schweren Fällen aber steigert sich, meist
mit zunehmendem Ikterus, die Unruhe und Aufregung rasch zu
furibunden Delirien, so dass der Kranke kaum im Bett zu halten
ist, die Unklarheit zur völligen Benommenheit; der Puls wird
sehr frequent, die Temperatur steigt auch an, der Unruhe folgt
tiefes Koma und binnen 1 — 3 Tagen nach Auftreten des Ikterus
der Tod. Das Krankheitsbild ähnelt sehr dem der Jodoform¬
intoxikation, zeigt sich aber in gleicher Weise, auch wenn
kein Körnchen Jodoform die Wunde berührt.
Modifikationen erleidet das äusserst charakteristische
Krankheitsbild natürlich durch gleichzeitige andere Kompli¬
kationen, so insbesondere durch fortschreitende Peritonitis.
Tödliche septische Allgemeininfektion kann jedoch die wegen
Appendizitis Operierten hinwegraffen, ohne dass die mindeste
Peritonitis vorliegt; diesen bisher viel zu wenig bekannten und
gewürdigten Umstand glaubt Vortragender besonders hervor¬
heben zu sollen. Bei 3 seiner Patienten, welche das geschil¬
derte Krankheitsbild allgemeiner Sepsis rein darboten, zeigte
weder die Autopsie bei der Operation, noch der folgende Ver¬
lauf, noch die Obduktion Zeichen von Peritonitis. Bei der Ob¬
duktion fand man subperi- und endokardiale, sowie subpleu¬
rale Ekchymosen, eine septische Milz, fettige Muskatnussleber
mit einer Anzahl kleiner Nekrosen einzelner Leberläppchen,
Verfettung der Niere, schwärzlichen, kaffeesatzartigen Inhalt
im Magen und Duodenum und als Ursache hierfür eine grosse
Anzahl kleiner Schleimhautekchymosen.
Die Ursache der Erkrankung liegt in einer Verschleppung
von Infektionskeimen vom erkrankten Wurmfortsatz aus in
die Verzweigungen der Pfortader. Thrombosen der Venen des
Mesenteriolum oder Netzes mögen dabei oft eine Rolle spielen;
in einem Falle des Vortragenden wurden solche Thromben je¬
doch trotz genauester Untersuchung vermisst; hingegen fand
sich das Qefässystem vollgestopft mit einer Reinkultur von
Streptokokken.
Ist die Operation für das Zustandekommen der Kompli¬
kation und den unglücklichen Ausgang verantwortlich zu
machen? Ganz ohne Schuld erscheint sie nicht, wenn man
bedenkt, wie selten Ikterus die spontan ablaufenden Fälle von
Appendizitis kompliziert, wie regelmässig die Komplikation
36 bis längstens 72 Stunden nach der Operation einsetzt, wie
viel häufiger sie ist nach Resektionen des Wurmfortsatzes im
Anfalle, als nach einfacher Abszesspaltung. Man beschränke
daher den Eingriff nach Ablauf der ersten 48 Stunden nach Be¬
ginn des Anfalls, wenigstens nach Bildung eines Abszesses auf
das unbedingt Nötige und verschiebe die Resektion bis zum
freien Intervall. Die Frühoperation innerhalb der ersten 36 bis
höchstens 48 Stunden wird freilich, wie die Todesfälle an fort¬
schreitender Peritonitis, auch die an septischer Allgemein-
infektion an Zahl vermindern; ganz zu beseitigen vermag sie
sie leider auch nicht. Vortragender verlor einen Patienten,
den er innerhalb der ersten 24 Stunden operierte, trotz ganz
glatter Operation. Derartige Unglücksfälle sind in der Schwere
der Infektion begründet; es sind Fälle, die Dieulafoy als
hypertoxische Appendizitiden beschrieben hat, und bei denen
es sich wohl ausnahmslos um sehr virulente Streptokokken¬
infektion handelt.
Herr Neck stellt einen Kranken vor, bei welchem er vor zwei
Jahren die Milzexstirpation wegen Zerreissung vorgenommen hatte.
Der Verletzte fühlt sich völlig wohl und ist in seiner Erwerbsfähig¬
keit nicht beeinträchtigt, (cf. Sitzungsbericht vom 19. Oktober 19P4.)
In einem zweiten Fall war die Verletzung durch Hufschlag gegen
die linke Brust- und Bauchseite entstanden. 6 Stunden nach dem
Unfall wurde zur Operation geschritten.
Die bestehende Anämie, der rasch .zunehmende Erguss im Bauch,
die nachweisbare Vergrösserung der Milzdämpfung ermöglichten die
Diagnose unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Gegend, welche
durch das Trauma betroffen wurde. Bauchdeckenspannung war nur
in der linken Oberbauchgegend vorhanden. Die Bauchhöhle wurde
durch einen Schnitt, der von der Mitte bis zur verlängerten hinteren
Achselhöhlenlinie reichte und parallel zum linken Rippenbogen ver¬
lief, eröffnet. In der Bauchhöhle fanden sich etwa 2 Liter Blut.
Zwischen Darmschlingen wurde ein hühnereigrosses Milzstück ge¬
funden. In der Umgebung der Milz hatten sich grosse Blutgerinnsel
angesammelt, daher die Vergrösserung der Milzdämpfung. Die Unter¬
bindung des Milzstieles machte Schwierigkeiten, weil er sehr kurz
war. Die Heilung erfolgte — abgesehen von einer nach 3 Wochen
auftretenden linksseitigen Pleuritis — ohne Störungen. Der Verletzte
ist jetzt — 3 Monate nach der Verletzung — arbeitsfähig. Lymph-
driisenschwellung oder Schilddrüsenvergrösserung ist nicht nach¬
weisbar.
Bei Besichtigung der herausgenommenen Milz zeigte sich, dass
das abgetrennte Stück dem unteren Abschnitt angehörte. Einrisse
waren nicht zu sehen.
Gesellschaft für Natur- und Heilkunde zu Dresden.
(Offizielles Protokoll.)
Nachtrag zur Sitzung vom 24. März 1906.
Herr W ertfier: Zwei Fälle von Mykosis fungoides.
Fall I. Frau K, 59 Jahre alt, aus der Umgebung Dresdens.
Aufgenommen: 17. April 1905.
Anamnese: Mutter starb an Phthise. Patientin hat seit
5 Jahren Hautjucken. Vor 5 Jahren bekam sie eine handtellergrossc,
schuppende Flechte am Bauch, vor 2 Jahren im Anschluss an eine
Verletzung eine ebensolche an der Stirn, später an Rumpf und Glie¬
dern; diese wuchsen zu hühnereigrossen Knoten, vergingen und kamen
an anderen Stellen wieder. Seit einem Jahr hat sie Geschwülste am
Augenlid, seit einigen Monaten an Nase, Kinn und Unterlippe. Pa¬
tientin wird durch das fortwährende Abtropfen von den nässenden
Geschwülsten im Gesicht stark belästigt.
Status: Subfebrile Temperaturen. Linke Lungenspitze ge¬
dämpft. Milz nicht vergrössert. Geringe Anschwellung der Lymph-
drüsen an Hals, Achseln, Leisten. Flecke, Scheiben, teils nässend,
teils schuppend, teils mit tiefen Rissen, teils mit Krusten bedeckt,
ringförmig, auch polyzyklisch begrenzt, Geschwülste, Geschwüre,
Narben, ca. 20 an Zahl; über den ganzen Körper unsymmetrisch zer¬
streut. Das Gesicht ist von einem unförmlichen Gebilde entstellt,
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1547
welches durch Konfluenz mehrerer Tumoren entstanden ist. Das
rechte Auge ist verdeckt, die Nase unkenntlich und die Mundöffnung
stark verengt (s. Abbild. 1). Die Haut im Gesicht ist reich an er¬
weiterten Venen, blaurot gefärbt; die Tumoren gekerbt, wie Tomaten,
vielfach nässend oder ulzeriert. Die Haare gelichtet, die Nägel durch
Kratzen abgeschliffen. Das Blut enthielt 18 000 weisse Blutkörperchen
im normalen Verhältnis der Lymphozyten zu den Leukozyten, darunter
3—6 Proz. (zu verschiedenen Zeiten!) eosinophile.
Abbildung 1. Abbildung 2.
Die Therapie war in Anbetracht der starken Entstellung
eine möglichst energische: 1. Abtragung der Tumoren am Kinn,
anderer an den Extremitäten; 2. Arseninjektionen; 3. Röntgenbestrah¬
lung. Dabei zeigte sich die letztere von ganz eklatantem Erfolge: Es
wurden vom 5. V. ab 6 Bestrahlungen vorgenommen, von
10 Minuten Dauer, mit mittelweicher Röhre, die so nahe als möglich
an die Tumoren gebracht wurde. Die Tumoren schmolzen mit jeder
Bestrahlung mehr ein, so dass die Kranke am 17. VI., also nach
43 T a g e n, schon in dem Zustande, wie ihn die zweite
Photographie veranschaulicht, entlassen werden
konnte. An Stelle der Tumoren am rechten Auge und auf der
Nase war die Haut leicht eingesunken, etwas entfärbt, mit Milien
durchsetzt, sonst glatt und glänzend. Dieser rasche Erfolg der Rönt¬
genbehandlung stellt jede andere Methode in den Schatten, so dass
ich bedauern musste, am Kinn und der Unterlippe operiert zu haben,
um so mehr, als der dadurch entstandene grosse Defekt durch die
plastische Hautverschiebung vom Halse her sich nicht ganz decken
liess.
Für die Pathologie der Erkrankung lehrt dieser Erfolg, dass es
sich bei dem Infiltrat der Mykosis fungoides um äusserst hinfällige
Zellen handelt. Ihre Tendenz neigt von vornherein zum Absterben,
wie schon an dem spontanen Schwinden der Geschwülste und Ge¬
schwüre ersichtlich ist; diese wird durch die Bestrahlung beschleu¬
nigt. Die Zellen von Neubildungen widerstehen in verschiedenem
Grade den Röntgenstrahlen: das sehen wir bei den Hautkarzinomen,
von denen die einen schnell und dauernd durch dieselben geheilt
werden, nämlich solche, welche als Ulcus rodens auftreten, spinde-
lige, protoplasmaarme Zellen haben und oft eine schlauchförmige An¬
ordnung derselben zeigen (sog. Endotheliome, Basalzellenkrebse oder
medulläre Karzinome). Hingegen leisten die anderen Karzinome,
welche Hornperlen bilden und grössere Zellen mit mehr Protoplasma
und Epithelfaserung zeigen (Stachelzellenkrebse, Kankroide) den
Röntgenstrahlen mehr Widerstand und eignen sich nicht so gut für
diese Behandlung. Erwähnen möchte ich, dass französische Autoren
(Leredde) mit grossem Enthusiasmus in diesem Hinschmelzen der
Infiltrate einen Beweis ihrer leukämischen Natur sehen, in Analogie
zu der günstigen Beeinflussung des leukämischen Milztumors durch
X-Strahlen. Dieser Analogieschluss ist jedoch unberechtigt.
Seit der Entlassung der Kranken sind 10 Monate vergangen.
Von Heilung darf natürlich nicht die Rede sein. Bei ihrer zweiten
Aufnahme (September 1905) hatte sie einige kleine Rezidive ersten
und zweiten Grades, die wieder mit Röntgenstrahlen zum Schwinden
gebracht wurden und heute (24. III.) sieht man nur ein talergrosses
Infiltrat mit nässender Oberfläche am Handrücken.
Fall II. Frau Z., 63 Jahre alt, aus Dresden. Aufgenommen
am 6. XI. 1905.
Anamnese: Der Vater starb an Phthisis. Patientin war früher
nie krank. Beginn des jetzigen Leidens vor 2 Vi Jahren mit einer
Flechte, die von einem Arzt als Schuppenflechte bezeichnet wurde.
Seit (4 Jahre hat die Kranke zahlreiche Knoten und „Pilze“, nach ihrer
eigenen Benennung. In den letzten 15 Wochen war sie in einer chirur¬
gischen Klinik, wo ihr gegen 20 Hauttumoren (die Diagnose war auf
Sarkome gestellt worden) exzidiert wurden; gleichzeitig hatte sie
innerlich Arsen erhalten. Die meisten Beschwerden hat die Kranke
von einem intensiven Hautjucken.
Status: Schwache Frau, mit welker Haut und Oedemen, welche
infolge der Schwäche nicht allein gehen kann. Temperaturen 38 bis
38,5°; Organe gesund. Regellos über Rumpf und Extremitäten ver¬
teilte, charakteristisch geformte Infiltrate; grössere Tumoren fehlen
(sind exzidiert); Gesicht, Schleimhäute frei. (Demonstration von
Moulagen und Photographien.) Eigentümlich sind 1. blasige Ab¬
hebungen der Epidermis in erythematösen Bezirken, welche auch
später beobachtet wurden, 2. ein Infiltrat in der Gegend der Achilles¬
sehne mit verruköser Oberfläche. Der Blutbefund bewies nur
Anämie (3 250 000 Rote, 6000 Weisse (30:70), 2 Proz. Eosinophile).
Behandlun g: Das Hautjucken hörte auf unter Einreibung einer
V:: proz. Pyrogallusvaseline. Ausserdem lokal: Borsalbeverbände,
einige Exzisionen. Die Kranke bekam ferner Arsen und Röntgen¬
bestrahlungen (17 Sitzungen ä 20 Minuten, weich bis mittelweich,
10 cm Abstand) und wurde am 14 Februar mit gebessertem All¬
gemeinbefinden, nach Schwinden aller Infiltrate, entlassen. Kleine
Rezidive in Gestalt erysipelähnlicher Rötungen, ekzem- und pem¬
phigusähnlicher Eruptionen blieben nie aus und wurden von der
Patientin mit Borsalbe geheilt.
Die Arsenbehandlung bestand in intramuskulärer Injektion einer
1 proz. Lösung von Acid. arsenic. (mit Zusatz von 3 Proz. Acid.
carbok). Die intramuskulären Injektionen schmerzen fast gar nicht,
im Gegensatz zu den subkutanen, welche brennen. Die Dosis stieg
von 0,001 bis 0,01. Dabei konnte wiederholt die Beobachtung gemacht
werden, 1. dass das Arsen das Auftreten von Rezidiven nicht ver¬
hindert. Der Nutzen der As-Therapie ist mir deshalb recht zweifel¬
haft. 2. dass die Krankheitsherde, besonders die an den unteren Ex¬
tremitäten, mit Bildung eines entzündlichen, zum Teil hämorrhagischen
Randes auf die Arsen in jektion reagierten. Solche Re¬
aktionen sind bei verschiedenen Hautkrankheiten von verschiedenen
Seiten beobachtet worden. Ich erlebte sie bei Lichen ruber, bei pem¬
phigoiden Erkrankungen und bei vulgären Warzen. Eine für irgend
eine Krankheit spezifische Reaktion, wie eine Tuberkulinreaktion,
kann .man hierin nicht sehen. Sie tritt bei sehr verschiedenen Haut¬
krankheiten auf und . dazu nicht regelmässig. Sie hat auch thera¬
peutisch verschiedenen Wert. Bei Pemphigus ist sie nachteilig, in¬
dem sie von neuen Blasenausbrüchen begleitet ist. Bei Verruca vul¬
garis hatte sie ein rasches Schwinden der hämorrhagisch verfärbten
Warzen zur Folge. Jadassohn (Archiv f. D. u. S. 1900) bespricht
diese Arsenreaktion und beschränkt sich in ihrer Bewertung auf den
Satz: „Die Wirkung des Arsens auf Hautkrankheiten kann von einer
klinisch erkenntlichen, entzündlichen Reaktion begleitet sein“. Bei
Mykosis fungoides war sie meines Wissens noch nicht beobachtet
worden. Ich möchte bei ihr die gleiche Entstehung annehmen, wie
bei den Reaktionen auf Injektion von Kantharidin, Zimtsäure und
vielen anderen Mitteln. Das Gift kommt auf dem Blutweg an, trifft
auf einen Bezirk, wo schon infolge der Entzündung und des Infiltrates
Stauung besteht,’ häuft sich daher an der Peripherie dieses Herdes an
und erregt hier von den Endothelien der Blutgefässe aus eine neue
Entzündung.
Von den beiden vorzustellenden Patientinnen wurden ver¬
schiedene Objekte zur histologischen Untersuchung ent¬
nommen. Der Befund variiert, je nach dem Grade und Alter der
Infiltration, je nach dem Stadium der spontanen Rückbildung, je nach
dem Sitz des Tumors und je nachdem dieser ulzeriert ist oder nicht.
Im Anfang findet man Infiltration der Pars reticularis cutis und Oedem.
Dieselbe geht von den Blutgefässen aus und breitet sich anfangs
längs der Blutgefässe nach oben, unten und seitlich aus. Die Zellen
des Infiltrates sind vorwiegend solche mit stark gefärbtem Kern und
schmalem, aber deutlichen Protoplasmasaum, die an Grösse einen
Lymphozyten des Blutes übertreffen und als grosse Lymphozyten be¬
zeichnet werden. Nächstdem sind die Zellen mit etwas blässerem
Kern und reichlicherem Protoplasma, die sog. epitheloiden Fibro¬
blasten, ins Auge fallend. In geringerer Zahl finden sich Plasmazellen,
Mastzellen, Riesenzellen, endlich polynukleäre Leukozyten. Stellen¬
weise finden sich eosinophile Zellen, und zwar massenhaft in unregel¬
mässigen Zügen und Haufen. Neben diesen Zellen findet sich ein
deutliches Retikulum: in manchen Schnitten zeigt sich jede Zelle von
einem feinen Faden desselben eingerahmt. Dieser Infiltrationsprozess
zeitigt nun sekundäre Veränderungen: zunächst im Epithel. Die
Zellen des Rete werden stellenweise hydropisch, Wanderzellen treten
zwischen ihnen auf; es bilden sich Bläschen, Erweichung der Decke,
Ekzem und Geschwüre. Damit vermehren sich auch die poly¬
nukleären Leukozyten im Infiltrat. Drüsen und Haare verschwinden
infolge Nekrose und Resorption. An den kleinen Blutgefässen sieht
man Infiltration der Wand, Schwellung und Wucherung der Endo¬
thelien, Thrombose und Resorption eintreten. Die sich zurückbilden¬
den Tumoren durchsetzen sich mehr und mehr mit jungem Binde¬
gewebe. Das Tiefenwachstum ist gering: Am Kinn und der Lippe bei
der vorzustellenden Frau ist die Muskulatur im Infiltrate einbezogen
gewesen, wie an den Präparaten ersichtlich ist. Tiefere Teile scheinen
aber nicht öder sehr selten ergriffen zu werden.
Es kann an den histologischen Bildern nicht verkannt werden, dass
es sich um eine Entzündung handelt, die an den Blutgefässen der Pars
reticularis cutis beginnt; dass sich im Laufe dieser Entzündung eine
von Lymphozyten und Leukozyten durchsetzte Zellproliferation bildet,
1548
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
d. h. ein Granulationsgewebe. Diese Granulationswucherung besteht
längere Zeit als solche, um schliesslich zu nekrotisieren oder sich in
Bindegewebe zu verwandeln. Sie verhält sich also analog den bei
Tuberkulose, Syphilis und Lepra entstehenden Granulationsgeschwül¬
sten (Virchow, Köbner). Wir haben daher einiges Recht, eine
analoge Ursache bei der Mykosis fungoides zu vermuten. Auch kli¬
nisch können wir die Entwicklung der Krankheit von Entzündungen
leichten Grades, aber groser Fläche und grösserer Zahl der Einzel¬
herde, zu höheren Graden der Gewebswucherungen, die sich mehr
lokalisieren, mit der Entwicklung der Syphilis und Leprarezidive
vergleichen. Zunächst ist der Erreger der Mykosis fungoides ganz
unbekannt. Demselben kann grosse Kontagiosität nicht eigen sein,
denn es ist bisher noch nie eine Uebertragung beobachtet worden,
sondern die Krankheit ist immer sporadisch vorgekommen, und zwar
bei Männern mehr als bei Frauen (2: l), am häufigsten zwischen dem
30. und 50. Lebensjahre.
Aerztlicher Bezirksverein zu Erlangen.
(Bericht des Vereins.)
151. Sitzung vom 23. Mai 1906.
Herr Lüthje: Ueber Fermentwirkung im menschlichen
Körper.
Vortr. spricht über Fermentwirkungen in Exsudaten und
Transsudaten des menschlichen Körpers; es lässt sich stets ein
saccharifizierendes Ferment nachweisen, das Stärke bis zu
Osazonverbindungen gebenden Zuckern überführt. Auch lipo-
lytische und proteolytische Fermente lassen sich gelegentlich
nachweisen. Hieran schliesst sich eine kurze Darstellung und
Uebersicht des heutigen Standes der Fermentforschungen.
Diskussion: Herren Hauser, Graser.
Herr Merkel: Ueber die Hernien der Regio duodeno-
jejunalis.
Vortr. bespricht zunächst die anatomischen Verhältnisse
der Regio duodeno-jejunalis, insbesondere die daselbst zu be¬
obachtenden Bauchfelltaschen im Anschluss an die Unter¬
suchungen von B r ö s i c k e. Für die Entstehung der retro-
peritonealen Hernien dieser Gegend kommen nach der An¬
schauung des Vortr. wohl hauptsächlich in Betracht der Re-
cessus duod.-jejun. sinister (s. venosus) und der Rec. duod.-
jejun. posterior (s. Gruber-Landzert sehe Tasche). Aus
dem ersteren entstehen die typischen sogen. T r e i t z sehen
Hernie n, der letztere kann aber ebenfalls zur Bildung retro-
peritonealer Hernien Veranlassung geben (vergh A b b e e), die
Vortr. als Gruber-Landzert sehe Hernien bezeichnet
wissen möchte. Es wird die Differentialdiagnose zwischen
beiden besprochen und werden einschlägige Fälle aus der
Sammlung des Pathologischen Instituts demonstriert.
Als besondere und seltene Komplikationen derartiger Her¬
nien werden Berstungen des retroperitoneal ge¬
legenen Bruchsackes mit Austritt der Dünndarm¬
schlingen in die freie Bauchhöhle besprochen. Vortr. berichtet
über eine eigene derartige zufällige Beobachtung von
typischer T r ei tz scher Hernie mit zweifacher Bruchsack-
berstung, wobei durch die Hauptrisstelle der ganze Dünn¬
darm wieder in die freie Bauchhöhle zurückverlagert worden
war, und nur enie Strangulation des untersten Ileums auf diese
komplizierten Verhältnisse hinwies. Von solchen und ähn¬
lichen Berstungen scheinen nur wenige Fälle, so von Hessel¬
bach, Hauff, Palla und N a r a t h beschrieben zu sein.
(Ausführliche Mitteilung dieses Falles erfolgt an anderer
Stelle dieser Wochenschrift.)
Diskussion: Herr K r e u t e r.
Geschäftliches.
152. Sitzung vom 25. J u n i 1906.
Herr Graser spricht unter Demonstration der betr.
Patienten bezw. photographischer Abbildungen über Röntgen-
und Radiumbehandlung von Tumoren und betont besonders die
guten kosmetischen Resultate bei der Behandlung der flachen
Hautkrebse sowie der Hautangiorne.
Diskussion: Herr Hauck wirft die Frage der Dauer¬
heilung der Krebse auf und berichtet über einige selbst beobachtete
Fälle, die später rezidivierten und doch zuletzt operativ behandelt
werden mussten.
Herren Hauser, v. Kryger, Graser.
Herr Penzoldt hält den angekündigten Vortrag über
Variolois unter Besprechung von 5 jüngst zum Teil in der Er¬
langer Klinik beobachteten Fällen, unter denen einer tödlich
verlief, mit besonderer Berücksichtigung der epidemiologischen
und klinisch-diagnostischen Gesichtspunkte.
Diskussion: Herren Fritsch, Weichardt.
Herr J a m i n demonstriert unter entsprechenden Erläuterungen
einen kleinen, von ihm angegebenen Apparat zur Hautpunktion bei
Anasarka.
Geschäftliches.
Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M.
(Offizielles Protokoll.)
Ausserordentliche Sitzung vom 12. März 1906.
Vorsitzender: Herr E. Cohn.
Schriftführer: Herr J. Rosengart.
Herr Friedländer erstattet den Bericht der Kommission
für Errichtung eines Luft- und Sonnenbades in unserer Stadt. Er
beantragt mit einem Gesuch an den Magistrat heranzutreten, aus
städtischer Initiative ein Luft- und Sonnenbad zu errichten, an dessen
Beaufsichtigung der ärztliche Verein resp. eine vom Verein dazu
zu ernennende Kommission beteiligt werden soll. — Dieser Antrag
wird einstimmig angenommen, und der Vorstand und die bisherige
Kommission werden beauftragt, die Angelegenheit im Sinne des
Beschlusses weiter zu betreiben.
Herr Max Simon berichtet über ein Vorkommnis, durch das
die irrige Auffassung unserer städtischen Dienstbotenversicherung für
Krankenhausbehandlung dargelegt wird. Im Publikum ist vielfach die
Meinung verbreitet, als begriffe diese Versicherung auch die Behand¬
lung ambulanter Kranker auf Kosten der Stadt in sich. Diesem Irr¬
tum soll durch einen Vermerk auf den Versicherungskarten gesteuert
werden.
Herr Rosengart referiert sodann über die Vorarbeiten für
die Durchführung der ärztlichen Sonntag-Nachmittagsruhe. In der
ausserordentlichen Sitzung vom 2. Januar d. J. ist beschlossen wor¬
den: 1. Die Sonntag-Nachmittagsruhe und Vertretung dauert von
12 Uhr mittags bis 9 Uhr abends. 2. Die Vertreter werden jedesmal
auf den Einladungskarten zu den Vereinssitzungen den Kollegen be¬
kannt gegeben und am schwarzen Brett des Senkenberg sehen In¬
stitutes angeschlagen. Die nachfragenden und bestellenden Patienten
erfahren die Namen der Vertreter in den Wohnungen ihrer Aerzte
beim Hauspersonal. 3. Die Vertretung ist eine gegenseitige und un¬
entgeltliche. 4. Die Vertretungen finden bezirksweise statt. Die
Vertretung nach Spezialitäten soll angestrebt werden.
Die Sonntagsruhe der Aerzte kommt mit dem 1. April d. J. zur
Einführung.
An der Organisation haben sich 77 Aerzte der Stadt, 7 in
Bockenheim, 7 in Sachsenhausen, 2 in Niederrad, 1 in Oberrad be¬
teiligt. Die Kollegen in Sachsenhausen bilden einen Turnus unter
sich; die in Bockenheim. wo bisher die Sonntagsruhevertretung schon
bestanden hat, werden ihre Organisation auch weiter selber in der
Hand behalten. Für Niederrad und Oberrad kann wegen zu geringer
Beteiligung eine Organisation noch nicht geschaffen werden.
Für die Stadt werden 5 Aerztebezirke gebildet, die sich z. T.
der Polizeireviereinteilung, z. T. der radiären Richtung unserer Tram¬
bahn anschliessen werden. Für jeden Bezirk werden auf jeden
Sonntag-Nachmittag zwei Vertreter aufgestellt. Es wird auf diese
Weise jeder Kollege fünf freie Sonntagnachmittage haben, bis er
wieder an einem Sonntagnachmittag den Dienst für sich und ge¬
meinschaftlich mit dem 2. Vertreter für seine Kollegen im Bezirk zu
tun hat.
Der Referent hebt hervor, dass durch die seit dem 1. März d. .1.
in Kraft getretene allgemeine gewerbliche Sonntagsruhe unsere Be¬
strebungen unterstützt werden werden, da das Publikum aus den
Nachbarstädten und Vororten dadurch am Sonntag weniger zahlreich
zur Stadt komme, seine Einkäufe an Wochentagen machen müsse
und so künftig die Aerzte auch an Wochentagen aufsuchen werde.
Die Organisation der Spezialisten ist bisher noch nicht geglückt.
Die Chirurgen haben unter sich vereinbart, dass sie' ihre Ortsan¬
wesenheit an Sonntagen den Rettungswachen jedesmal mitteilen
wollen, wo sie dann am schnellsten erfragt werden können.
An der Diskussion beteiligen sich sodann die Herren
v. Wild, Sippe 1, Seligmann. Stiebei, Deutsch, Hey der,
G ü n z b u r g, H. S t r a u s s und Hanau.
Nach einem Schlusswort des Berichterstatters wird die ins Auge
gefasste Organisation gutgeheissen, und einstimmig der Beschluss an¬
genommen, dass das Ziel der Sonntagsruhe eifrig verfolgt, und dass
das Publikum durch geeignete Mitteilungen in den Tagesblättern
davon unterrichtet und zur Mitwirkung erzogen werden soll.
Im weiteren Verlauf der Sitzung wird die Kommission zur Be¬
kämpfung des Kurpfuschertums rekonstruiert; die Kommission zur
Ueberwachung der Frankfurter Milchkuranstalt ergänzt, und ein Mit¬
glied zur Bibliothekkommission gewählt.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1549
Herr Fl e sch nimmt seinen früher schon einmal zum Beschluss
erhobenen Antrag wieder auf, den Magistrat zu ersuchen, an die
Privathospitäler und Kliniken für die daselbst eingewiesenen Patienten
3. Klasse einen Zuschuss zu leisten. Auf die frühere Eingabe ist eine
Antwort von Seite des Magistrates nicht erfolgt. Herr F 1 e s c h
kommt auch auf die freie Arztwahl in den Krankenhäusern zu
sprechen. Nach einer Diskussion, an der sich die Herren H e y d e r,
Marcus, Fridberg, Daube und F 1 e s c h beteiligen, wird der
frühere Antrag Flesch angenommen.
Es findet sodann noch die Wahl zum Standesausschuss an Stelle
dreier ausscheidender Mitglieder statt.
Zum Schluss wird vom Vorsitzenden noch eine Zuschrift der
X. Bezirksvertragskommission verlesen, in welcher diese beantragt,
„der Verein möge beschliessen, dass das Schutzbündnis der Aerzte
über ganz Deutschland sich erstrecken solle. Sämtliche Aerzte sollen
aufgefordert werden, durch Unterschrift sich diesem Bündnis in
seinem erweiterten Geltungsbereich anzuschliessen“. Dieser Antrag
wird einstimmig zum Beschluss erhoben.
Biologische Abteilung des ärztlichen Vereins Hamburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 22. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr N o n n e.
Schriftführer: Herr Haars.
Tagesordnung:
Herr Hueter: Ein seltener Fall von Herzruptur.
Der jetzt 42 jährige Kranke hatte bei seiner Anfang Februar 1905
erfolgten Aufnahme in das Altonaer Krankenhaus angegeben, vor
4 Jahren sei bei ihm ein Herzleiden festgestellt worden,] er habe
längere Zeit an Schwindel und Herzklopfen gelitten und sei deshalb
öfters arbeitsunfähig gewesen. Seine Kurzatmigkeit habe in letzter
Zeit zugenommen, jetzt sei er ganz arbeitsunfähig.
Damals wurde folgender Herzbefund erhoben. Spitzenstoss im
5. und 6. Interkostalraum in der vorderen Axillarlinie fühlbar, sehr
hebend, stark verbreitert und resistent. Statt des ersten Tons ein
hauchendes Geräusch an der Spitze hörbar. Eine breite, der Herz¬
dämpfung aufgesetzte Dämpfung über dem Manubr. sterni Hess zuerst
den Verdacht eines Aneurysmas aufkommen, doch war diese An¬
nahme bei dem völligen Mangel sonstiger Aneurysmasymptome nicht
haltbar. Der Puls war niemals abnorm gespannt. Bei einer späteren
Untersuchung wurde auch ein diastolisches Geräusch an der Spitze
und über der Aorta gehört. Klagen über Brustschmerzen, unruhiges
Wesen. Pat. wurde wegen Nichtbefolgung ärztlicher Vorschriften
entlassen.
Anfang April 1906 wegen hochgradiger Eregungszustände und
Tobsuchtsanfälle Neuaufnahme auf die Irrenstation des Kranken¬
hauses. Dort wurde die psychische Störung des Kranken sehr bald
als Paralyse erkannt. Demgemäss stand diese im Vordergrund des
klinischen Interesses. Doch wurde konstatiert, dass die Herzgrenzen
nach links verbreitert waren, Spitzenstoss zwei Finger breit ausser¬
halb der Mammillarlinie. Genauere Untersuchung des Herzens wegen
andauernder Unruhe unmöglich. Blutdruck bei wiederholter Unter¬
suchung (Riva-Rocci) stets herabgesetzt gefunden. Tod im para¬
lytischen Anfall.
Die Autopsie ergab ausser Gehirnatrophie und mässiger Hy¬
perämie der Unterleibsorgane als wesentlichen Befund Folgendes:
Das Zwerchfell stand links in der Höhe der 6. Rippe. Auf der Vorder¬
fläche des Herzens waren die Perikardialblätter fest verwachsen.
Es erschien nach oben verdrängt durch einen gut zwei Fäuste grossen,
zwischen ihm und dem Zwerchfell befindlichen Sack. Dieser Sack
war mit dem letzteren in grosser Ausdehnung fest verwachsen,
ausserdem bestanden Adhäsionen des Sackes mit den vorderen Rän¬
dern beider unteren Lungenlappen. Die Wände des Sackes waren
sehr derb und starr, er war nicht sehr prall mit Blut gefüllt. Das
der vorderen Fläche des Herzens adhärente parietale Blatt des Peri¬
kards ging unmittelbar in die starre Sackwand über. Das Herz war
nicht vergrössert, die Muskulatur im ganzen rötlichgrau, von guter
Konsistenz, die Ventrikel nicht hypertrophisch und nicht dilatiert,
die Klappen intakt, Aorta mit Sklerose mässigen Grades, nicht er¬
weitert. Der linke Ventrikel war leer. Unter dem schwielig ver¬
dickten, stellenweise sehnig glänzenden Endokard am Sept. ventr.
Schwielen der Muskulatur. Genau an der Spitze des sich hier
trichterartig verengenden Ventrikels befindet sich nun eine für einen
kleinen Finger bequem durchgängige Oeffnung in der Herzwand, durch
welche man unmittelbar in den oben beschriebenen grossen Sack
gelangt. Auf dem Durchschnitt ist zu erkennen, wie sich die auch hier
mit Schwielen versehene Muskulatur der Herzwand allmählich ver¬
dünnt. In der Nähe der Oeffnung ist das Endokard am Sept. ventr.
schwielig verdickt und sehnig glänzend, die 4 rabekel darüber ver¬
zerrt, langgezogen und verdünnt. Im Bereich der Kontinuitätsunter¬
brechung der Herzwand sieht man eine ca. Vs cm breite derbe
Schwiele, die ohne scharfe Grenze in die Wand des grossen Sackes
übergeht. Die Innenfläche des Sackes ist durchaus uneben, teils mit
Fibrin bedeckt, teils mit schwieligen und kalkigen, unregelmässigen
Auflagerungen versehen. Besonders in der rechten Hälfte des Sackes
finden sich" ältere, dicke, bräunlich gefärbte und geschichtete Fibrin¬
massen. In der Wand des Sackes sind kalkige Platten eingelagert.
Der Sack reicht nach vorn an die seitlichen Kanten des rechten und
linken Ventrikels, wo er durch Adhäsionen des Perikards begrenzt
ist und erstreckt sich über die hintere Fläche des Herzens bis zum
Sulcus circuiaris, er liegt also hinter und unterhalb des Herzens.
Der absteigende Ast der Art. coronar. sin. zeigt in seinem oberen
Teil keine Sklerose, ist aber im unteren Teil starrwandig und hoch¬
gradig verengt.
Nach dem Gesagten handelt es sich um eine Kontinuitätsunter¬
brechung der Herzwand an der Spitze, die man wohl kaum als eine
angeborene Missbildung auffassen kann, und die am ehesten wohl in
einer erworbenen pathologischen Veränderung der Herzmuskulatur
ihre Erklärung findet. Da in der Geschichte des Kranken eine inten¬
sive äussere Gewalteinwirkung nicht erwähnt ist, so kommt eine
traumatische Herzruptur im Sinne der Autoren für den vorliegenden
Fall kaum in Frage. Wahrscheinlicher ist es, dass die Ruptur infolge
einer Erkrankung des Herzmuskels erfolgt ist. Etwas sicheres über
die Beschaffenheit der Herzmuskulatur an der Spitze vor der Ruptur
zu sagen, ist kaum möglich. Doch spricht der Befund von zahl¬
reichen Muskelschwielen an anderen Stellen des linken Ventrikel
zu Gunsten der Auffassung, dass auch an der Herzspitze, einem Lieb¬
lingssitz für Schwielen, solche vorhanden waren. Die durch diese
bedingte nachgiebige Stelle der Herzwand ist dann durch den Blut-
durck allmählich ausgebuchtet worden, bis schliesslich das so ent¬
standene Aneurysma durch den gewöhnlichen oder durch eine gering¬
fügige körperliche Anstrengung verstärkten Systolendruck einriss.
Ausser der Myocarditis fibrosa kommt für die Genese der Ruptur
ein die ganze Dicke oder den grösseren Teil der Herzwand be¬
treffender myomalazischer Herd in Frage, dessen Ränder nach der
Ruptur von Bindegewebe überzogen wurden. In jedem Falle musste
nach der Ruptur eine Anfüllung des Perikardialsackes mit Blut ein-
treten. Während die dadurch bedingte Herztamponade sonst fast
ausnahmslos den Tod alsbald zur Folge hat, ist dieser in dem vor¬
liegenden Fall ausgeblieben. In dieser Beziehung ist wohl der Sy¬
nechie der Perikardialblätter auf der vorderen Fläche des Herzens
grosse Bedeutung beizulegen. Dass diese zeitlich nach der Ruptur
zustande gekomen ist, ist kaum anzunehmen. Dadurch, dass die Blät¬
ter des Perikards vorn verwachsen waren, war der Perikardialraum,
der dem austretenden Blut zur Verfügung stand, erheblich verkleinert,
das ergossene Blut konnte nur von einer Seite, der hinteren Fläche
des Herzens einen Druck auf diese ausiiben, nur dieser partiellen
Synechie des Herzbeutels ist es zu verdanken, dass das Leben des
Kranken nach der Ruptur erhalten blieb. Dafür, dass längere Zeit
eine Kommunikation zwischen linken Ventrikel und Perikardialhöhle
bestanden haben muss, spricht die schwielige Verdickung des Peri¬
kardialblattes, soweit es nicht verwachsen war, die Verkalkung
der Sackwände, die kalkigen Auflagerungen auf der Innenfläche und
die Thrombenbildung, die am stärksten hinter dem rechten Ventrikel,
also von der Rupturstelle am weitesten entfernt entwickelt war.
Wenn wir nun mit Hinsicht auf den anatomischen Befund noch¬
mals Anamnese und klinische Beobachtung des Falles übersehen, so
ist zu bemerken, dass da nicht alles genau stimmt. Dass von einer
überstandenen Perikarditis in der Anamnese nichts erwähnt ist, ist
nicht weiter zu verwundern. Wohl aber ist bemerkenswert, dass
in der Krankengeschichte zu keiner Zeit eine akut einsetzende, mit
schweren Symptomen einhergehende Erkrankung angeführt ist, die
man auf das Eintreten der Herzruptur beziehen könnte. Interessant
ist die Frage, ob bei dem ersten Aufenthalt des Kranken im Kranken¬
haus schon dieselben anatomischen Veränderungen bestanden, wie
sie bei der Autopsie gefunden wurden. Zu Gunsten dieser Auffassung
scheint vieles zu sprechen. Bei der allmählichen Ausweitung der
Perikardialhöhle wurde das Herz nach oben disloziert und hierauf
ist vielleicht der Befund einer abnormen, der Herzdämpfung aufge¬
setzten Dämpfung, zu beziehen, die zuerst den Verdacht eines Aneu¬
rysmas erweckte. Bei der Systole des linken Ventrikels musste dieser
sein Blut nach zwei Seiten hin entleeren, in die Aorta und in den
Perikardialsack. Damit steht sehr gut die klinische Beobachtung
im Einklang, dass der Blutdruck in letzter Zeit stets herabgesetzt
gefunden wurde, während er doch bei Erregungszuständen infolge
psychischer Störungen in der Regel erhöht ist. Umgekehrt musste bei
der Diastole des linken Ventrikels durch Saugwirkung ein Teil des
im Perikardialsack enthaltenen Blutes in diesen zurückströmen, sicher
nicht viel, da ja der Sack einer selbsttätigen Kontraktion nicht fähig
war, andererseits bei Ueberfüllung des Ventrikels eine Erweiterung
desselben hätte eintreten müssen. Auf diese Weise entstanden systo¬
lische und diastolische abnorme Strömungen im Ventrikel, auf welche
wohl die bei der physikalischen Untersuchung gehörten Geräusche
zu beziehen sind. Von Interesse ist ferner die klinische Beobachtung,
dass der Spitzenstoss nach links und unten disloziert war, dass er
verbreitert und verstärkt war. Vermutlich wurde ein systolisches
Schwirren des Perikardialsackes gefühlt. Gerade diese Beobachtung
bei dem gänzlichen Fehlen von Herzhypertrophie und -Dilatation, bei
normalen Herzklappen spricht dafür, dass damals, also SU Jahre vor
dem Tode, im wesentlichen dieselben anatomischen Störungen bereits
bestanden, wie sie die Autopsie feststellte. Einen derartigen Zustand
des Herzens klinisch zu diagnostizieren, ist kaum möglich, da der
Fall in anatomischer Beziehung ein Unikum darstellt. Jedenfalls
hat der Kranke diese seltene Anomalie seines Herzens längere Zeit,
vermutlich Jahre lang, mit sich herumgetragen, ohne dass sie er-
1550
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
liebliche Zirkulationsstörungen bedingte. Der Tod ist nicht infolge
der Herzerkrankung, sondern im paralytischen Anfall eingetreten.
Herr Simmonds: Spirochätennachweis bei syphilitischer
.Myokarditis eines Neugeborenen.
d Stunden altes Kind einer syphilitischen Puella. Sektionsbefund:
Hämorrhagien der serösen Häute, fibröse Hepatitis, Osteochondritis
syphilitica, Fleckung des Herzfleisches. Mikroskopisch kleinste zir¬
kumskripte Infiltrate im Septum ventriculorum nachweisbar bei gut
erhaltener Muskelquerstreifung. Im Septum und im Blute einiger
kleinen Herzvenen reichlich Spirochäten. In Leber und Knochen
Spirochäten spärlich vorhanden.
Diskussion: Im Anschluss an die Demonstration des Herrn
Simmonds demonstriert Herr Paschen ein mikroskopisches
Präparat, in dem zahlreiche Spirochäten innerhalb der Zellen liegen.
Herr Umber: Diagnostistisches und Experimentelles
über die Fettverdauung im Magendarmkanal.
Die Abänderung der normalen Vorgänge der Fettverdauung
im Magendarmkanal hat Vortragender auf seiner Abteilung im Alto-
uaei Krankenhaus zusammen mit Dr. B r u g s c h in quantitativen
Ausnützungsversuchen bei verschiedenen Erkrankungen des Ver-
dauungstraktus systematisch verfolgt, wobei sich bemerkenswerte
diagnostische Gesichtspunkte ergeben haben. So spricht eine Wieder¬
ausscheidung bis zu 45 Proz. des Nahrungsfettes im Kot eines Ikte-
rischen für reinen Gallenabschluss, über 60 Proz. dagegen für Mit¬
beteiligung des Pankreas bei der Erkrankung der Gallenwege. Gehen
bei einem Nichtikterischen mehr als 50 Proz. des Nahrungsfettes im
Kot verloren, so ist damit eine Pankreasstörung wahrscheinlich. Bei
gleichzeitigem völligen Abschluss von Galle und Bauchspeichel er¬
scheinen bis zu 87 Proz. des Nahrungsfettes im Kot wieder.
Die Fettspaltung hingegen kann trotz schwer darnieder¬
liegender Fettresorption infolge von isolierter Pankreaserkrankung
völlig normal ablaufen, wie gleichfalls an quantitativen Ausnützungs¬
versuchen gezeigt wird. Es müssen also im Darmkanal ausser dem
Pankreas noch andere fettspaltende Kräfte wirksam sein, die eine
fehlende oder schwer geschädigte pankreatische Fettspaltung voll¬
ständig ersetzen können. Welche sind das? Auch bei Gallen¬
abschluss vom Darm ist die Fettspaltung darin normal, also bedarf
es auch der Galle nicht zur Erhaltung derselben. Das V o I h a r d -
sehe Magensteapsin, dessen Existenz auch U. am menschlichen Fistel¬
träger nachweisen kann, kann nicht allein für die Erhaltung der nor¬
malen Fettspaltung verantwortlich gemacht werden, auch nicht die
zu geringe bakterielle Spaltung. Deshalb hat U. die aseptischen
Pressäfte von Pankreas, Leber, Milz, Darmschleimhaut, des ent¬
bluteten und mit physiologischer Kochsalzlösung durchspülten Hundes,
ferner Galle und Blut vergleichend geprüft auf ihre fettspaltende Wir¬
kung gegenüber einer Eigelbemulsion von der Alkaleszenz des Darm¬
inhaltes. Sämtliche Säfte sind unter geeigneten Versuchsbedingungen
einer mehr weniger energischen Fettspaltung fähig, und zwar be¬
stehe:^ Unterschiede zwischen den Säften des nüchternen und des
fleischfettverdauenden Tieres, welch letzteres reicher an wirksamen
fettspaltenden Enzymen ist, jenes dagegen zymogenhaltiger. Durch
zweckmässige Kombinationen der Säfte (Demonstration der Ver¬
suchsreihen!) ergaben sich interessante wechselweise Aktivierungen
und Hemmungen der enzymatischen Fettspaltungen, die je hach dem
Verdauungsstadium variieren.
So entfaltet z. B. die Kombination von Leber- und Pankreassaft
des nüchternen Tieres eine weit höhere Fettspaltung als die Summe
der einzeln wirkenden Säfte beträgt. Beim verdauenden Tier leistet
dagegen die Kombination nicht mehr als die Summe. So hemmt ferner
der Darmpressaft des nüchternen Tieres die Fettspaltung seines Pan-
kreaspressaftes, während er beim verdauenden Tier seine Wirkung
erhöht, der Milzpressaft des verdauenden Tieres, der selbst stark fett¬
spaltet, aktiviert denPankreaspressaft in auffälligem Masse usw. So er¬
klärt sich also, warum beim isolierten Pankreasausfall die Fettspaltung
durch alle diese fettspaltenden Kräfte des Darms auf normaler
Höhe gehalten werden kann, trotz schwerer Schädigung der vom
Pankreas abhängigen Fettresorption, und dass sie erst dann notleiden
muss, wenn sämtliche Funktionen der Darmverdauung durch die Er¬
krankung in Mitleidenschaft gezogen worden sind. (Autoreferat.)
Diskussion: Herr O. Schümm: Nach den von Herrn Prof.
Umber und Herrn Dr. Brugsch ausgeführten Untersuchungen
scheint bei Verdacht auf Pankreaserkrankungen die Prüfung des Fett¬
stoffwechsels mittels quantitativer chemischer Methoden zuverlässi¬
gere Anhaltspunkte für die Diagnose zu liefern, als man auf Grund
früherer Beobachtungen anzunehmen berechtigt war. Man wird da¬
her gut tun, in zweifelhaften Fällen eine solche Untersuchung auszu¬
führen.
Die Beobachtungen des Herrn Prof. Umber über die fettspal¬
tende Kraft der Organpressäfte erscheinen mir sehr bedeutsam. Er¬
wünscht wäre eine Angabe über den Fettgehalt der Versuchsflüssig¬
keit, über die absoluten Mengen der durch das Ferment abgespaltenen
Fettsäuren, endlich über die Art der Versuchanordnung, ob aseptisch
oder antiseptisch und eventuell unter Benutzung welchen Antisepti¬
kums. (Autoreferat.)
Herr U m b e r verweist auf die vorgeführten Tabellen und im
Uebrigen auf seine Arbeit, da eine eingehendere Besprechung des
Themas zu weit führen würde.
Verschiedenes.
Semesterbericht der Münchener K 1 i n i k er¬
schaff. Die „Münchener Klinikerschaft“ hat mit diesem Semester
das 7. ihres Bestehens hinter sich. Wie früher, so fanden auch in
diesem Halbjahr verschiedene Vorträge und Führungen statt. Als
erster sprach Herr Prof. Dr. Friedr. Müller über „Aerztliche
Standesregeln“, worüber in einer früheren Nummer dieser Wochen¬
schrift ausführlich referiert war.
In der 2. Versammlung hielt'Herr Prof. Dr. Hang einen Vortrag
über „Die klinische und forensische Bedeutung der Ohrfeige“.
Führungen fanden statt: Anfangs Mai durch die Kuranstalt
Ebenhausen, daran schlossen sich an Besichtigungen der Ober¬
bayerischen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing und der k. Zentralimpf¬
anstalt dahier.
Von geselligen Veranstaltungen fand ein Kellerabend statt.
•Weiterhin hat die hiesige Klinikerschaft Schritte getan, um die
Anrechnung des II. Militärhalbjahres auf das praktische Jahr zu er¬
zielen.
An die Klinikerschaft aller deutscher Universitäten wurde ein
Schreiben gesandt, worin sie aufgefordert wurden, sich mit einer
Eingabe an den Reichskanzler zu wenden. Unsere Ein¬
gabe lautet folgendermassen:
„Der Herr Reichskanzler wolle dahin wirken, dass den Medi¬
zinalpraktikanten gestattet wird, ihr II. als Einjährig-Freiwilliger Arzt
zu dienendes Halbjahr gleich im Anschluss an die ersten 6 Monate
des praktischen Jahres abzuleisten und zwar in der Weise, dass
denselben nach diesen 6 Monaten die Approbation erteilt wird.
Selbstverständlich ist dieses Recht nur denjenigen Herren ein¬
zuräumen, die in unmittelbarem Anschluss an die ersten
6 Monate des praktischen Jahres ihr Halbjahr dienen.
Begründung: 1. Bei allen anderen Fakultätsstudien, die sämtlich
eine geringere Semesterzahl als 11 inklusive Examen nachzu¬
weisen haben, wird die Dienstzeit in verhältnismässig
höhere Anrechnung gebracht, als dies bei den medizinischen Stu¬
dien festgesetzt ist. 2. Die Tätigkeit des Einjährig-Freiwilligen
Arztes entspricht im allgemeinen der Verantwortung und
F u n k t i o n des Medizinalpraktikanten. 3. Prinzipielle Bedenken
gegen dieses Gesuch dürften nicht bestehen, da ja den Eleven der
Kaiser- Wilhelm-Akademie sogar die Tätigkeit vor der ärztlichen
Prüfung am Charitekrankenhause zu Berlin auf das praktische Jahr
angerechnet wird. 4. Da zudem das medizinische Studium ungleich
höhere Anforderungen an Zeit und Geld gegenüber dem bei
anderen Fakultäten stellt, wolle der Herr Reichskanzler diese Ein¬
gabe in wohlwollende Erwägung ziehen.
ln Anbetracht der Tatsache, dass die ersten unter die neuen Be¬
stimmungen fallenden Kandidaten spätestens bis 1. März 1907 ilu
praktisches Jahr antreten, wolle die Erledigung dieses Gesuches
baldigst bewirkt werden.“
In der Sache der Anrechnung wurde eine Reihe von Besuchen
an massgebenden Stellen gemacht. In der Presse sind darüber Mit¬
teilungen veröffentlicht worden von einer Seite, welche der Leitung
der Klinikerschaft vollständig unbekannt ist. Ausser verschiedenen
Unrichtigkeiten tatsächlicher Natur, enthielten sie ein sehr rosiges
Urteil über den Ausgang dieser Bestrebungen, obwohl es ganz un¬
möglich ist, schon jetzt über die Chancen dieser Massnahmen irgend
etwas auszusagen.
Ausserdem wurde die Schaffung einer Auskunftsstelle für
Koassistenten- und Medizinalpraktikantenstellen beschlossen und ein
Organisationsplan dafür geschaffen.
Die finanzielle Lage der Klinikerschaft hat sich bedeutend ge¬
bessert und ist nunmehr als eine gute zu bezeichnen.
Während gerade im Kreise der Professoren die Bestrebungen
des Verbandes warmes Interesse finden, steht so mancher studierende
Kollege uns fern, wenn auch nicht geleugnet werden kann, dass in
diesem Semester der Mitgliederstand sich erheblich verbessert hat.
Infolgedessen tritt die Kliuikerschaft mit guten Hoffnungen in
das kommende Wintersemester hinüber. Th.
Galerie hervorragender Aerzte und Naturforscher.
Der heutigen Nummer liegt das 192. Blatt der Galerie bei: Fritz
Schaudinn. Nekrolog siehe No. 30, S. 1470 dieser Wochenschrift.
Therapeutische Notizen.
Das D i g a 1 e n ist nach K e 1 1 y - Ofen-Pest als das zurzeit beste
Digitalisersatzpräparat zu bezeichnen (Therap. MonatsL 06, 6). Das
Digalen wird bekanntlich in wässriger Lösung in 15 ccm enthaltenden
Fläschchen in den Verkehr gebracht. Eine beigegebene Pipette ge¬
stattet die genaue Dosierung des Mittels. Je 1 ccm der Lösung ent¬
hält 0,3 mg Digalen, welche Menge 0,1 Pulv. folior. Digitalis ent¬
spricht.
Ketly hat das Mittel immer per os verabreicht, und zwar 2 bis
3 mal täglich je V!> — 1 ccm in Wasser oder Syrup. Die in einigen Fällen
gemachte subkutane Injektion war immer schmerzhaft. Die intra¬
venöse Injektion ist in schweren Fällen gerechtfertigt, in denen man
eine augenblickliche Wirkung auf das Herz erzielen will.
31. Juli 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1551
Die Vorzüge des Digalens sind: gleichmässige Zusammensetzung,
schnelle Wirkung, genaue Dosierung, Fehlen von nachteiliger Beein¬
flussung des Magens. Kr.
Zur Behandlung der Askaridiasis wurde in der
Kinderabteilung des Univ. -Krankenhauses zu Rostock ein in Deutsch¬
land zu Anfang des vorigen Jahrhunderts bekanntes, in Amerika jetzt
noch offizielles und viel gebrauchtes Anthelmintikum, das ameri¬
kanische Wurmsamenöl, Oleum Chenopodii anthel¬
min t h i c i, angewendet und pharmakologisch wie klinisch geprüft.
H. Brüning hält das Mittel für dem Santonin ebenbürtig, wenn
nicht überlegen und fordert zur Nachprüfung auch über seine Wir¬
kung gegenüber Oxyuris vermicularis, Trichocephalus dispar und
Ankylostoma duodenale auf. Das Präparat wird bei Einschränkung
der Nahrungszufuhrin Gaben von 0.25 — 0,5 dreimal täglich in 1 — 2
ständigen Intervallen verabreicht und 1 — 2 Stunden nach der letzten
Tagesdosis ein Abführungsmittel (Rizinusöl) nachgegeben. Die Dar¬
reichung kann tropfenweise mit Syrup oder Zuckerwasser erfolgen,
oder in Form einer Emulsion:
Rp. Ol. Chenopodii anthelminth.
Vitell. ovi I.
Ol. Amvgdal.
Gi. arab. pulv. äa 10,0.
Aq. dest. ad 200,0.
Fiat emulsio.
(Medizinische Klinik 1906, No. 29.) R. S.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 31. Juli 1906.
— Man schreibt uns aus Wien: Ein jüngst an die Kranken¬
anstalten gerichteter Erlass des Ministeriums des Innern beschäftigt
sich mit der Vornahme von Versuchen an Patienten. „Die Kranken¬
anstalten haben ausschliesslich die Aufgabe zu erfüllen, jenen, welche
sich diesen Anstalten anvertrauen, Pflege und so rasch als möglich
Heilung zu bringen. Es ist daher den Anstaltsärzten nicht gestattet,
an den Patienten medizinisch-wissenschaftliche Versuche vorzu¬
nehmen. Eine Ausnahme ist nur dann zulässig, wenn es sich um
diagnostische, Heil- oder Immunisicrungszwecke handelt, und auch
nur insoferne, als derartige Versuche in den objektiven Bedürfnissen
des Patienten begründet sind. Auch in solchen Fällen dürfen jedoch
nur über Weisung des betreffenden Abteilungsvorstandes derartige
Versuche vorgenommen werden. Der die Entscheidung treffende
Arzt hat in allen Fällen von Versuchen die Verantwortung zu tragen
und nur dann den Versuch zu gestatten, wenn nach seiner vollen
Ueberzeugung ein Nachteil für den Patienten in keiner Weise zu
besorgen ist. Ueber den Versuch ist ein genaues Versuchsprotokoll
aufzubewahren, welches der Krankengeschichte anzuschliessen ist.
Uebertretungen dieser Vorschriften werden als schwere Disziplinar¬
vergehen bestraft werden.“ — Ein weiterer Erlass betrifft Mass¬
nahmen gegen die Verbreitung der Aktinomykosis und anderer an¬
steckender Krankheiten durch das Gebäck. Dieser Erlass soll in allen
Bäckerwerkstätten affichiert werden Die besagte Erkrankung wird,
bekanntlich durch einen in der Natur im Wasser und auf Pflanzen,
insbesonders auf Gerstengrannen vegetierenden Pilz hervorgerufen:
durch Vermittlung dieser Grannen dringt der Pilz häufig in den
menschlichen Organismus ein. Nun wird, das Gebäck zweimal, und
zwar vor dem Backen und, in noch heissem Zustande, nach dem
Backen mit Wasser angefeuchtet und es werden zu dieser Prozedur
meistens Strohwische aus leeren Aehren verwendet. Behufs Ver¬
nichtung der etwa auf den Grannen, Spelzen und dem Stroh der
Strohwische haftenden Pilze wird nunmehr angeordnet, dass die zum
Befeuchten des Gebäckes bestimmten Strohwische vor dem Ge¬
brauche in siedendem Wasser auszukochen, trocknen zu lassen und
dann gut auszukiopfen seien.
— Am 30. Juni ds. Jrs. wurde in Hamburg in einer von
Aerzten, Juristen und anderen für die Sozialgesetzgebung sich
interessierenden Personen einberufenen Versammlung, an der
zahlreiche Vertreter der Krankenkassen, Berufsgenossenschaften,
Behörden usw. teilnahmen, nach einem Referat des Herrn Stadt¬
rat von Frankenberg aus Braunschweig beschlossen, die
Vorarbeiten zur eventuellen Gründung einer Ortsgruppe
Hamburg der Gesellschaft für Arbeiter Ver¬
sicherung in die Hand zu nehmen. In der lebhaften Dis¬
kussion, an der sich Vertreter der Krankenkassen, Behörden und
Aerzte beteiligten, fanden die vom Referenten entwickelten Gedanken
über die Zweckmässigkeit einer Gesellschaft für Arbeiterversicherung
fast allseitige Zustimmung. Nur über die Form, Organisation und
Zusammensetzung derselben gingen die Meinungen auseinander. Die
Niedersetzung einer Kommission wurde schliesslich mit allen gegen
eine Stimme beschlossen. Die aus sieben Mitgliedern (Vertretern
der Aerzte, Krankenkassen und Behörden) bestehende Kommission
wurde sofort mit dem Recht der Kooptierung weiterer Mitglieder ein¬
gesetzt und dieselbe mit den Vorarbeiten zur eventuellen Gründung
einer Gesellschaft für Arbeiterversicherung — Ortsgruppe Hamburg
— betraut.
— Das Komitee zur Veranstaltung ärztlicher
Studienreisen ersucht die Herren Kollegen, welche an der
diesjährigen (VI.) ärztlichen Studienreise, die am 2. September in
Heidelberg beginnt, die Orte Höfen, Schömberg, Wildbad, Teinach,
Freudenstadt, Rippoldsau, Peterstal, Badenweiler, Wehr, Schaff¬
hausen, Konstanz, Sigmaringen, Dürrheim, Triberg, Baden-Baden
berührt und am 15. September in Stuttgart endigt, noch teilnehmen
wollen, sich baldigst anmelden zu wollen, da die Zahl der Teilnehmer
auf 200 beschränkt ist und voraussichtlich in kürzester Zeit erreicht
wird. Der Preis für die ca. 15 tägige Reise ist auf 225 M., inkl.
Fahrt, Quartier und Verpflegung festgestzt. Anfragen sind möglichst
umgehend, zu richten an das Komitee zur Veranstaltung ärztlicher
Studienreisen, Berlin NW 6, Luisenplatz 2 — 4, Kaiserin Friedrich-
Haus.
— Der V. Internationale Gynäkologenkongress,
welcher zuerst im September 1905, dann im Herbst dieses Jahres in
St. Petersburg abgehalten werden sollte, wird auf den Wunsch vieler
Mitglieder und den Beschluss des Organisationskomitees hin um ein
weiteres Jahr aufgeschoben und tritt vom 11. bis 18. September 1907
zusammen.
— Pest. Türkei. In der Zeit vom 2. bis 8. Juli wurden in
Djedda je 5 Erkrankungen und Todesfälle an der Pest festgestellt. • —
Aegypten. Vom 7. bis 13. Juli sind 5 neue Pesterkrankungen und
1 Todesfall, sämtlich in Alexandrien, gemeldet worden. — • Britisch-
Ostindien. In Moulmein sind vom 9. bis 16. Juni 30 Personen an der
Pest gestorben, ln Kalkutta starben in der Woche vom 10. bis
16. Juni 38 Personen an der Pest. — Japan. In Schimonoseki und
Umgebung sind vom 21. bis 30. Mai 3 Pestfälle und 3 pestverdächtige
Erkrankungen zur Anzeige gelangt, von denen je 2 tödlich verliefen.
— Brasilien. In Rio de Janeiro sind vom 28. Mai bis 24. Juni 5 Per¬
sonen an der Pest erkrankt und 2 gestorben. In Bahia wurden in der
Zeit vom 12. Mai bis 30. Juni 15 Erkrankungen, davon 8 mit tödlichem
Verlaufe gemeldet. — Chile. In Valparaiso und Vina del Mar ist die
Pestepidemie zufolge einer Mitteilung vom 11. Juni als erloschen zu
betrachten. Die Zahl der Erkrankungen belief sich in beiden Orten
auf etwa 17, der Todesfälle auf etwa 6. Die Seuche soll entweder
durch eine aus Autofagasta zugereiste Person oder mittels Zucker¬
säcke aus Peru eingeschleppt worden sein. — Westaustralien. Einer
Mitteilung vom 18. Juni zufolge sind weitere Pestfälle in Fremantle
nicht bekannt geworden; der letzte Pestkranke befand sich zurzeit
noch in ärztlicher Behandlung. V. d. K. G.-A.
— Im Königreich Preussen kamen vom 1. Januar bis 30. Juni d. .1.
1661 Erkrankungen an übertragbarer Genickstarre mit
745 Todesfällen zur Anzeige, davon 897 mit 407 Todesfällen in
Schlesien und 266 mit 149 Todesfällen in der Rheinprovinz. In dem
am stärksten befallenen Regierungsbezirke Oppeln kamen insgesamt
704 Fälle mit 354 Todesfällen vor; vom 16. bis 30. Juni wurden
8 Fälle und 3 Todesfälle neu gemeldet.
— In der 28. Jahreswoche, vom 8. — 14. Juli 1906, hatten von
deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblichkeit
Königshütte mit 39,6, die geringste Solingen mit 7,4 Todesfällen pro
Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Gestorbenen
starb an Masern und Röteln in Königshütte, an Keuchhusten in Glei-
witz, Mainz. V. d. K- G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Marburg. Der Direktor des pathologisch - anatomischen
Senckenberg sehen Instituts zu Frankfurt a. M., Dr. med. Eugen
A 1 b r e c h t, ist als ordentlicher Professor der allgemeinen Patho¬
logie und pathologischen Anatomie an die Universität Marburg be¬
rufen. (hc.)
M ün ch e n. Am 21. Juli habilitierte sidi für Hygiene Dr. Rieh.
Trommsdorff, I. Assistent am hygienischen Institute mit einer
Probevorlesung: „Der gegenwärtige Stand der bakteriologischen
Diagnostik der Gruppe des Typhusbazillus“. Die Habilitationsschrift
führt den Titel: „Experimentelle Studien über die Ursachen der durch
verschiedene Schädlichkeiten bedingten Herabsetzung der natürlichen
Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen (Resistenz); ein Beitrag zur
Immunitätslehre.“
Strassburg. Mit dem Schlüsse des laufenden Sommerhalb¬
jahres wird der ausserordentliche Professor Dr. Richard Ulrich
seine akademische Lehrtätigkeit einstellen.
Tübingen. Dr. H. Curschmann, Assistenzarzt der medi¬
zinischen Klinik, habilitierte sich an der medizinischen Fakultät für
innere Medizin. Seine Probevorlesung am 27. d. M. betraf „Das
Wesen der körperlichen Erscheinungen der Hysterie und ihre Be¬
deutung für die Therapie“. Prof. Dr. D ö d e r 1 e i n, Vorstand der
hiesigen Frauenklinik, erhielt einen Ruf nach Rostock.
Zürich. Am 14. d. M. hat Dr. phil. o. Zietschmann,
Professor e. o. der Anatomie und Physiologie an der veterinär-medi¬
zinischen Fakultät seine Antrittsrede über „Die Akkommodation und
die Binnenmuskulatur des Auges“ gehalten. — Dr. H. Bluntschli,
Assistent am anatomischen Institut erhält die venia legendi für Ana¬
tomie und Entwicklungsgeschichte an der medizinischen Fakultät.
1552
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 31.
(Todesfälle.)
’ Am 24. Juli starb zu Paris Professor Dr. Paul Camille Hippolyte
B r o u a r d e 1 im 70. Lebensjahr. Brouardel war einer der her¬
vorragendsten französischen Mediziner, der auch mit der deutschen
medizinischen Wissenschaft in enger Fühlung stand und namentlich
als Vorkämpfer gegen die Tuberkulose und in seiner Eigenschaft als
Vorsitzender der Internationalen Vereinigung und Leiter der inter¬
nationalen Tuberkulosekongresse zu Neapel 1899 und zu Paris 1903
hervortrat. Er war seit 1879 Professor der gerichtlichen Medizin und
von 1881 bis 1901 Doyen der Pariser medizinischen Fakultät, seit 188-4
Vorsitzender des Comite consultatif d’hygiene de France. Seine sehr
zahlreichen Arbeiten bewegen sich zumeist auf den Gebieten der ge¬
richtlichen Medizin, der Epidemiologie und der Tuberkuloseforschung.
Dr. C a s t i a u x, Professor der gerichtlichen Medizin an der
med. Fakultät zu Lille.
Dr. A. Vincent, früher Professor der Hygiene an der med.
Fakultät zu Genf und Vizepräsident der Internationalen Konferenz
zur Revision der Genfer Konvention.
Dr. A. P e r i d e, Professor der Anatomie an der med. Fakultät
zu Jassy.
Dr. A. Chkliarewsky, früher Professor der medizinischen
Physik an der medizinischen Fakultät zu Kiew.
Dr. W. D. B u 1 1 a r d, ausserordentlicher Professor der Chirurgie
an der New York Post-Graduate Medical School and Hospital.
Amtliches.
(Deutsches Reic h.)
Bekanntmachung.
Die zuständigen Ausschüsse des Reichs-Gesundheitsrates werden
sich in Verbindung mit dem Kaiserlichen Gesundheitsamte demnächst
mit den Vorarbeiten zu einer neuen Ausgabe des „Arzneibuches für
das Deutsche Reich“ zu befassen haben. Hierzu ist erforderlich, zu¬
nächst das einschlägige Material zu sammeln. Um es möglichst voll¬
ständig zu erhalten, richte ich an die für die Angelegenheit sich inter¬
essierenden Herren Aerzte, Tierärzte und Apotheker ergebenst das
Ersuchen, ihre Wünsche, die sich auf die Neuausgabe des Arzneibuches
beziehen, bekanntzugeben, insbesondere sich über die auf Grund ihrer
Erfahrungen empfehlenswerte Aufnahme neuer oder Streichung offi-
zineller Arzneimittel zu äussern. Die Einsendung bezüglicher Vor¬
schläge nebst Begründung an den Unterzeichneten würde mit Dank
erkannt werden.
Berlin, den 15. Juli 1906.
Bum m,
Präsident des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, Vorsitzender des
Reichs-Gesundheitsrates.
Generalkrankenrapport über die K. Bayer. Armee
für den Monat Mai 1906.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Niederlassung. Franz Bogner, appr. 1904, in Selb. Otto
R i s c h e 1, appr. 1903, in Selb.
Verzogen. Dr. Hans Mayer von Hohenfels, Bez.-Amts
Parsberg, nach Wolnzach, Bez.-Amts Pfaffenhofen a. Ilm. (Hiernach
ist die Nachricht in No. 29 zu berichtigen.)
In den dauernden Ruhestand versetzt: Der Bezirks¬
arzt I. Klasse Dr. Karl Pö hl mann in Bamberg, seiner Bitte ent¬
sprechend, wegen zurückgelegten siebzigsten Lebensjahres unter
Anerkennung seiner langjährigen, treuen und erspriesslichen Dienst¬
leistung.
Erledigt: Die Bezirksarztstelle I. Klasse beim K. Bezirks-
amte B a m b e r g II. Bewerber um dieselbe haben ihre vorschrifts-
mässig belegten Gesuche bei der ihnen Vorgesetzten K. Regierung,
Kammer des Innern, bis zum 11. August 1. Js. einzureichen.
Gestorben. Dr. Georg H ö g 1 a u e r, K. Medizinalrat und
Bezirksarzt I. Kl. a. D., Ehrenbürger der Stadt Dingolfing, 75 Jahre alt.
Nachtrag
zur Arbeit von Dr. Müller und Dr. Joch mann: „Ueber
proteolytische Fermentwirkungen der Leukozyten“.
R. Stern und Eppe n stein zeigten gelegentlich
einer Demonstration: „Ueber Fermentwirkung von Leuko¬
zyten“ in der Sitzung der Schles. Gesellschaft für vater¬
ländische Kultur vorn 29. Juni ds. Js. den Unterschied isolierter
Myelozyten und polynukleärer Leukozyten einerseits und
Lymphozyten andererseits durch Verflüssigung, resp. Nicht¬
verflüssigung von Gelatine im Reagensglas. Ausserdem be¬
tonten die Vortragenden, dass normales Blutserum und Blut¬
plasma bei der von ihnen benutzten Gelatine-Reagensglas¬
methode bei Körpertemperatur (37°) hemmend auf das ver¬
dauende Leukozytenferment wirken.
In derselben Sitzung und zwar in der Diskussion zu dieser
Demonstration konnte einer von uns (E. Müller) an der
Hand mehrerer mit verschiedenen Blutarten und Eiter ver¬
schiedener Herkunft, sowie mit Organextrakten (Lymphdrüsen,
Knochenmark, Pankreas) beschickten Löfflerplatten dieselben
Unterschiede und insbesondere die Differenz in der Einwirkung
einzelner direkt auf das Sternum gebrachter Blutströpfchen
von myelogener bezw. lymphatischer Leukämie nachweisen.
Somit haben also S t e r n und E p p e n s t e i n die Tatsache
von der proteolytischen Wirksamkeit der Leukozyten im
Gegensatz zur Unwirksamkeit der Lymphozyten gleichzeitig
und unabhängig von uns ebenfalls sicher festgestelit und auf
eine einfache Weise veranschaulicht. Unsere Methode dieses
Nachv eises ist aber von der Stern-Eppe n stein sehen
Methode durchaus verschieden und scheint uns auch nament¬
lich in praktischer Hinsicht durch ihre leichte Ausführung mit
kleinsten Blutmengen gewisse Vorzüge zu haben.
Iststärke des Heeres:
69936 Mann, 182 Kadetten, 142 Unteroffiziersvorschüler.
1. Bestand waren
am 30. April 1906:
Mann
Kadetten
Unteroffiz. -
vorschüler
1480
_
7
2. Zugang:
[ im Lazarett:
im Revier:
in Summa:
1277
2017
3294
1
13
. 14
10
10
Im ganzen sind behandelt:
°/u o der Iststärke :
4774
68,3
14
76,9
17
119,7
3. Abgang:
*) Darunter 31 un¬
mittelbar nach
der Einstellung.
dienstfähig:
u/oo der Erkrankten:
gestorben :
u/ou der Erkrankten :
invalide:
dienstunbrauchbar:
anderweitig:
in Summa:
3271
685,2
9
1,9
56
37*)
121
3494
14
1000,0
14
17
1000,0
17
4. Bestand
in Summa:
1280
—
_
bleiben am
°/oo der Iststärke:
18,3
- ■
—
davon im Lazarett:
961
—
___
davon im Revier:
319
—
Von den in Ziffer 3 aufgeführten Gestorbenen haben gelitten an:
Lungentuberkulose 3, Septikämie 2, Lungenentzündung 1, Brust¬
fellentzündung 1, Zerreissung des rechten Leberlappens und der
rechten Niere 1 und Stichverletzung der rechten Schlüsselbeinschlag¬
ader 1.
Ausserdem kamen noch 6 Todesfälle ausserhalb der ärztlichen
Behandlung vor: 1 Mann starb an Lungenblutung, 5 Mann ertranken
bei einer Pionierübung.
Der Gesamtvei lust der Armee durch Tod betrug demnach im
Mai 15 Mann.
Ucbersicht der Sterbefälle In München
während der 28. Jahreswoche vom 8. bis 14. Juli 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M) 7 (11*)
Altersschw. (üb. 60 J.) 7 (2), Kindbettfieber 1 (1), and. Folgen der
Geburt - (-l, Scharlach — (1), Masern u. Röteln 2 (7), Diphth. u.
Krupp 1(1), Keuchhusten 2 (1), Typhus 1 ( — ), übertragb. Tierkrankh.
— (— ), Rose (Erysipel) — (1), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 1(1), Tuberkul. d. Lungen 27 (31), Tuberkul. and.
Org. 5 (6) Miliartuberkul. — (— ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 10 (9),
Influenza — (-), and übertragb. Krankh. 2 (1), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 5 (1), sonst. Krankh. derselb. 3 (2), organ. Herzleid. 18 (15),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg. (einschl. Herzschlag) 6 (3), Gehirnschlag
5 (1), Geisteskrankh. 1 (2), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 3 (5), and.
Krankh. d Nervensystems 4 (3), Magen u. Darm-Kat, Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 34 (21), Krankh. d. Leber — (1), Krankheit, des
Bauchfells 1 (2) and. Krankh. d. Verdanungsorg. 3 (5), Krankh. d.
Uk m6/ lechtsorg. 6 (4), Krebs (Karzinom, Kankroid) 13 (7),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 2 (5), Selbstmord 1 (3), Tod durch
fremde Hand (—) Unglücksfälle 1 (3), alle übrig. Krankh. 5 (2).
t u ^IG ^ ^tei*Uefälle 177 (158), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 17,0 (15,2), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 11,7 (10,9).
/ cuigeKiammerten zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von j. F. Lehmann in München. - Druck von E. MUhlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.Ö., München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umfang von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 4- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
M 6.—. * Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren: Für die Redaktion Arnulf¬
strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 8V2— 1 Uhr. » Für
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Fteysestrasse 20. • Für
* Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16.
MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
0. i Unserer, Ch. Minier, 0. v. Bollinger, fl. Cupschmann, H. Hellerieh, 11. v. Lenke, 6. Merkel, J. v. Michel, F.PenzolJI, fl. ?. Ranke, 8. Spate, F. r. Winckel
München. _ Freiburg B. München. 1 • — — 1
Leipzig.
No. 32. 7. August 1906.
Würzburg. Nürnberg. Berlin.
Erlangen. München. München. München.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Originalien.
Aus dem pathologisch-anatomischen Institute der Universität
Marburg.
Zur Frage der teleangiektatischen Granulome.
Von Dr. H. B e n n e c k e, II. Assistent des Institutes.
Im Laufe der letzten Jahre hatte das Institut mehrfach
Gelegenheit, Präparate zu untersuchen, die von Herrn Dr.
L e g r a i n aus Bougie in Algier Herrn Prof. A s c h o f f unter
der Diagnose „Botryomykome des Menschen“ zur histo-
iogischen Bestätigung der Diagnose zugesandt worden waren.
Obgleich das nun in keinem der Fälle geschehen konnte, so
haben die Untersuchungen doch Veranlassung gegeben, sich
mit der besonders in Frankreich reichlich vorhandenen Li¬
teratur über die „menschliche Botryomykose“ näher zu be¬
schäftigen. Als daher Ende des Jahres 1904 dem Institute von
Hern Dr. Mertens aus Bremen eine kleine gestielte Ge¬
schwulst des Kinnes zuging, die auf Grund der mikroskopischen
Untersuchung als eine Granulationsgeschwulst mit telean-
giektatischem Charakter bezeichnet und deren Aehnlichkeit
mit gleichartigen Geschwülsten der Hand, die den Pathologen
und Chirurgen bezüglich der Differentialdiagnose ob Sarkom
oder Granulationsgeschwulst seit Langem Schwierigkeiten
machen, betont wurde und bald darauf dem Institute ein neuer
Fall solcher typischen Fingergeschwulst von Herrn Prof.
K ü 1 1 n e r eingeliefert wurde, welcher mir den Fall zu gemein¬
samer Bearbeitung überliess, wurde durch die früher, vor
meiner Zeit, im Institute ausgeführten Untersuchungen der
Fälle des Herrn Dr. L e g r a i n die Aufmerksamkeit sehr bald
auf die grosse Aehnlichkeit der von mir gewonnenen mikros¬
kopischen Bilder mit der sog. „menschlichen Botryomykose“
der Franzosen gelenkt. Da diese Aehnlichkeit auch vom kli¬
nischen Standpunkt seitens Herrn Prof. K ü 1 1 n e r s anerkannt
wurde, so fanden die gemeinsam mit Herrn Prof. K ü 1 1 n e r
fortgesetzten Untersuchungen gerade nach dieser Richtung
hin unsere besondere Aufmerksamkeit. Herr Prof. K ü 1 1 n e r
hat bereits über unsere Resultate in den Beiträgen zur kli¬
nischen Chirurgie ausführlicher berichtet. Wir sind dabei zu
dem Resultat gekommen, dass es sich in dem Falle des Herrn
Dr. Mertens und Prof. K ü 1 1 n e r, denen sich noch zwei
weitere frühere Fälle Küttners anschliessen, nicht um sar-
komatöse Wucherungen, sondern um eine Granulationsge¬
schwulst handelt, die durch den Reichtum an auffallend weiten
Kapillaren ausgezeichnet ist, sodass uns der Name t e 1 e a n -
giektatische Granulome berechtigt erschien.
Herr Prof. K ü 1 1 n e r hat nun auf Grund eingehender
Literaturstudien die Frage, wie weit die von den französischen
Autoren beschriebenen, als Botrymykome des Menschen be-
zeichneten, mit unseren Fällen histologisch übereinstimmenden
Geschwülste als wirkliche Botryomyzesinfektion aufzufassen
sind, genau erörtert und ist in dieser Beziehung gleichfalls zu
einem ablehnenden Standpunkte gekommen, dem ich mich
für die in der mir zugängigen Literatur angegebenen Fälle nur
anschliessen kann. Um die von uns aufgeworfenen und in der
Küttn er sehen Publikation zum Teil beantworteten Fragen
noch weiter zu klären, habe ich im Anschluss an diese ge¬
meinsamen Untersuchungen weiteres Material gesammelt.
No. 32.
Die Mitteilung dieses und die Besprechung einiger Punkte
in denen ich mich Herrn Prof. K ü 1 1 n e r nicht ganz an¬
schliessen kann, sollen den Hauptgegenstand der folgenden
Zeilen bilden.
Vorher erscheint es bei der, im Vergleich zur französischen
Literatur, geringen Beachtung, die die Geschwülste von Seiten
deutscher Forscher (F r e d e r i c : Deutsche medizin. Wochen¬
schrift 1904) gefunden haben, angebracht, die Fragen zu prä¬
zisieren, um die sich der Streit in dieser Angelegenheit dreht.
Es sind deren drei:
I. Gibt es einen Botryomyzes?
II. Sind die sogen, botryomykotischen Veränderungen bei
Eier und Mensch die gleichen?
III. Als was sind die sogen, botryomykotischen Ver¬
änderungen beim Menschen aufzufassen ?
Die Botryomykose ist eine bei unseren Haustieren keines¬
wegs seltene Erkrankung. Am häufigsten wird sie beim
Pferde beobachtet, wo sie sich gewöhnlich als sogen. Kastra¬
tionsschwamm am Samenstrange kastrierter Pferde, oft an
mechan. Reizungen ausgesetzten Stellen der Haut und ganz
ausnahmsweise in multipler Ausbreitung auch in den Organen
in Form von Abszessen findet. Im Grossen und Ganzen kann
man sagen, dass die Botryomykose klinisch eine grosse Aehn¬
lichkeit mit der Aktinomykose besitzt; nur scheint die Bo¬
tryomykose ein gutartigeres Leiden zu sein und mehr als die
Aktinomykose dazu zu neigen, geschwulstartige Gebilde her¬
vorzurufen. Als Erreger der Botryomykose wurde von
Bollinger im Jahre 1869 ein Pilz entdeckt, der, nachdem
er sich die verschiedensten Aenderungen seines Namens hatte
gefallen lassen müssen, schliesslich den Namen Botryo¬
myzes oder Mikrokokkus askoformaus erhielt. Uebcr
diesen Pilz existiert nun eine grosse Literatur, weil bis auf den
heutigen Tag darüber gestritten wird, ob er etwas spe¬
zifisches ist, oder ob er zu den Staphylokokken
gehört und drittens, ob er überhaupt existiert.
Eigene bakteriologische Untersuchungen stehen mir nun
Mangels frischen botryomykotischen Materiales nicht zur Ver¬
fügung, sodass ich auf Grund eigener Versuche ein Urteil
nicht abgeben kann. Den Literaturangaben ist aber zu ent¬
nehmen, dass dem Botryomyzes charakteristische Eigenarten
zukommen, die seine Trennung von den Staphylokokken als
gerechtfertigt und nötig erscheinen lassen. Zwar verhält er
sich kulturell dem Staphylococcus pyogenes aureus sehr ähn¬
lich. Fr unterscheidet sich jedoch dadurch, dass er im Gegen¬
satz zum Staphylokokkus bei niederen Temperaturen die
Fähigkeit, Farbstoff zu bilden verliert und dass er sich auf den
gebräuchlichen Kulturmedien durchschnittlich langsamer ent¬
wickelt. Ein biologischer Unterschied zwischen den beiden
Pilzen besteht darin, dass der Botryomyzes bei Verimpfungen
auf entsprechende Tiere auser einer einfachen Eiterung ge¬
legentlich typische botryomykotische Geschwülste zu er¬
zeugen vermag, was bei dem Staphylokokkus bisher nie beob¬
achtet wurde. Der wichtigste und die Spezifizität des Bo¬
tryomyzes beweisende Unterschied ist der, dass durch Serum
von mit Botryomyzeskulturen vorbehandelten Tieren nur der
Botryomyzes agglutiniert wird, nicht aber der Staphylokokkus
und umgekehrt. Allerdings sind derartige Untersuchungen
1
ioö4
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
meines Wissens erst einmal und zwar von Parasca ndolo
(Deutsche tierärztl. Wochenschrift 1901) mitgeteilt worden,
aber sie sind auch bis heute unwidersprochen geblieben.
Nun ist auf Grund des Verhaltens des Botryo-
myzes im Gewebe der von ihm erzeugten Geschwülste
die Behauptung aufgestellt worden, dass er nichts Besonderes
sei, sondern nur ein in Folge grossen Alters im Gewebe ent¬
arteter und eigentümlich umgewandelter Staphylokokkus,
ja Poncet und D o r, durch deren Untersuchungen die
genauere Kenntnis und Bearbeitung des Botryomyzes über¬
haupt erst angebahnt sind, selber, wie auch Ball, vertreten
jetzt den Standpunkt, dass die als Botryomyzes beschriebenen
Gebilde nichts sind als Produkte einer Zelldegeneration —
„Kernpyknose“ — und gar keine Mikroorganismen. Diesen
beiden Einwürfen ist zunächst der sofort zu beschreibende
histologische Befund der botryomykotischen Geschwülste ent¬
gegenzuhalten; dem ersten ausserdem, dass von derartigen
Altersveränderungen der Staphylokokken, die doch oft Jahr¬
zehnte lang in alten osteomyelitischen Herden sich erhalten
können, meines Wissens nichts bekannt ist; dem zweiten aber
noch, dass der positive Ausfall der Tierexperimente dagegen
spricht.
Trotz der verschiedenen Deutung, die die als Botryomyzes
beschriebenen Gebilde in der Literatur erfahren haben, stim¬
men die Beschreibungen im Grossen und Ganzen überein.
B o 1 1 i n g e r spricht von einer Zoogloea, die Franzosen von
amas müriformes und verstehen darunter Haufen Gram-be¬
ständiger Kokken, die etwas grösser sind als die einzelnen In¬
dividuen der Staphylokokken und die gewöhnlich von einer
gemeinsamen Hülle umschlossen werden. Auf die abweichende
Schilderung von Poncet und D o r, sowie Ball, die vom
Jahre 1900 datiert, wird später eingegangen werden. Da mir
dank der Liebenswürdigkeit des Herrn Geheimrat B o 1 1 i n g e r
und Prof. F r i c k von der tierärztlichen Hochschule in Han¬
nover typisches, vom Samenstrange des Pferdes stammendes
botryomykotisches Material zur Verfügung steht, kann ich
mich auf die Schilderung eigener Befunde stützen. Wie die
Fig. 1 zeigt, liegen die Mikroorganismen (a) in Mitten von
Fig. 1.
Haufen gelapptkerniger Leukozyten (b) und erscheinen als
Gruppen von ca. 8 — 10 runden Kokken, die sich nach Gram
nicht entfärben und eingeschlossen sind in eine schleimartige,
Schleimreaktion aber nicht gebende Hülle (c). Diese entfärbt
sich nach Gram und Gram-Weigert und wird zuweilen frei
von Mikroorganismen gefunden (d). Es ist das der Fall in
älteren Herden, wo sich auch sonst noch Zeichen von Dege¬
neration und Absterben an den Mikroorganismen finden, was
sich z. B. in Pyroninpräparaten in einer eigentümlichen blauen
Verfärbung der sonst roten Hüllen zu erkennen gibt. In einem
meiner Fälle konnten ausserdem feinste Kalkablagerungen
nachgewiesen werden. Es entstehen dadurch Bilder, die sehr
an die neuerdings von Poncet und D o r beschriebenen,
aber nicht als Mikroorganismen gedeuteten Haufen erinnern.
Anderseits kann man aber auch zuweilen die Kokken frei und
ohne die Hüllen finden.
Auf den histologischen Bau der eigentlichen botryomy¬
kotischen Geschwülste wird später näher eingegangen werden.
Es sei hier nur nochmals auf die Eigentümlichkeiten der Pilze,
die sich durch die Grösse und Lagerung der einzelnen Kokken
und die charakteristische Hülle scharf von den Staphylokokken
unterscheiden, sowie auf die akut entzündlichen Veränderungen
um sie herum, die für einen lebenden und virulenten, aber
gegen einen abgeschwächten oder toten Krankheitserreger
oder gar ein Produkt der Zelldegeneration sprechen, hin¬
gewiesen. Dies zusammen mit den Resultaten der bakterio¬
logisch-biologischen Forschung spricht doch unbedingt dafür,
dass wir die Existenz eines besondere n, als Botryo¬
myzes bezeichneten Mikroorganismus an¬
nehmen müssen, der als der Erreger der bo¬
tryomykotischen Geschwülste beim Tier an¬
zusehen ist. Es ändert daran auch nichts die Be¬
obachtung, dass, wie das bei den ulzerierten Geschwülsten
leicht erklärlich ist, meist neben dem Botryomyzes auch ge¬
wöhnliche Staphylokokken gezüchtet wurden, so dass schon
jetzt die Behauptung G ah in et s u. a., denen sich auch
K ü 1 1 n e r anschliesst, als eine auf nicht genügender Kenntnis
der tierischen Botriomykose begründete Hypothese bezeichnet
werden muss, dass nämlich die tierische Botryomykcse nichts
sei als eine „schleichende Infektion mit Staphylokokken“.
Die zweite Frage: Sind die sogen, botryomykotischen Ver¬
änderungen bei Tier und Mensch die gleichen, verlangt, um
sie beantworten zu können, zunächst eine histologische Be¬
schreibung der beiden Geschwülste.
Für den Kastrationsschwamm der Pferde wird von den
meisten Autoren die zutreffende, die histologische Eigenart am
besten charakterisierende Bezeichnung M y k o f i b r o m
gewählt. Es soll dadurch zum Ausdruck gebracht
werden, dass die Geschwülste aus derbem fibrösen
Bindegewebe (Fig. 1 e) bestehen, in dem sich die
eigentlichen Herde des Pilzes befinden. Hier und da
(Kitt u. a.) sind die Geschwülste genauer beschrieben,
woraus sich dann schliesslich zusammen mit meinen eigenen
histologischen Befunden, die an dem tierischen Materiale des
Herrn Geh. Rat B o 1 1 i n g e r und Prof. F r i c k erhoben
wurden, etwa folgendes Bild ergibt: Die Hauptmasse der bis
kindskopfgrossen, oberflächlich vielfach ulzerierten, aber oft
noch von Epithel oder Epithelresten bedeckten Geschwulst
wird gebildet aus sehr derbem, fibrösen, kernarmen Binde¬
gewebe (e), das zu Zügen und Strängen vereint ist, die einander
netzartig durchflechten. In jüngeren, nur ausnahmsweise
untersuchten Geschwülsten ist den Beschreibungen nach das
Gewebe zellreicher, enthält reichliche dünnwandige üefässe
und ist durchsetzt von Leukozyten, kurz zeigt den Charakter
von einfachem Granulationsgewebe. In den älteren Ge¬
schwülsten ist der Reichtum an Gefässen ein wechselnder.
Ausser reichlichen Kapillaren um die abszessartigen Herde
finden sich grössere Arterien und Venen, die den Literatur¬
angaben (Ball, L e g r o u x) nach zuweilen hochgradige end¬
arte riitische und endophlebi tische Prozesse erkennen lassen,
ln die Züge und Maschen des die Geschwülste bildenden Binde¬
gewebes sind nun in verschieden reichlicher Menge die oben
beschriebenen abszessartigen Herde mit den Botryomyzes-
pilzen eingestreut. Dabei ist der Uebergang der abszessartigen
Herde in das alte Gewebe kein unmittelbarer, vielmehr findet
sich eine mehr oder weniger breite Zone, wo jugendliches
Granulationsgewebe mit reichlichen Kapillaren vorhanden ist,
durchsetzt von Leukozyten, Lymphozyten und Plasmazellen (f).
Letztere bilden zwischen dem Granulations- und Bindegewebe
einerseits und der Ansammlung gelapptkerniger Leukozyten
mit den Mikroorganismen anderseits eine besondere ring¬
förmige Zone. Die hiervon abweichende Schilderung der Ge-
7. August 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
schwülste durch Poncet und Dor muss hier erwähnt
werden, obgleich die beiden Autoren diese Ansicht jetzt nicht
mehr vertreten, da dieselbe eine Zeitlang in der Literatur eine
grosse Rolle spielte und sie der Grund für die Genannten war,
an dei Iden tität der menschlichen und tierischen Geschwülste
festzuhalten, als die auf bakteriologischen Tatsachen beruhen¬
den Gründe schon nicht mehr stichhaltig waren. Poncet
und D o r waren eine Zeitlang der Ansicht, dass sich in den
Samenstr anggeschv ülsten des Pferdes von den Nebenhoden¬
kanälchen abzuleitende drüsige Gebilde finden, welcher Befund
sie zu der Ansicht führte, dass die Botryomykome adenom¬
artige Wucherungen seien, bedingt durch eine Infektion.
Auf eine genauere histologische Beschreibung der sogen,
botryomykotischen Geschwülste des Menschen möchte ich hier
nicht eingehen, da sie sich erschöpfend in der leicht zugäng¬
lichen Publikation K ü 1 1 n e r s findet. Nur das hier zum Ver¬
ständnis nötigste soll angeführt werden.
\ °rhei sei aber betont, dass auf Grund der Durchsicht der
einschlägigen Literatur und Betrachtung der betreffenden Ab¬
bildungen es sicher erscheint, dass die von Herrn Professor
K ü 1 1 n e r und mir unter dem Namen teleangiektatische Granu¬
lome beschriebenen Geschwülste identisch sind mit dem, was
die französischen Autoren mit menschlicher Botryomykose be¬
zeichnen. Für die von Poncet und Dor und ihren Schülern,
denen sich übrigens die meisten übrigen französischen Autoren
bezüglich des histologischen Befundes anschliessen, veröffent¬
lichten Fälle kann ich das sogar mit grösster Bestimmtheit be¬
haupten, da Herr Dr. Louis Dor, dem ich auch an dieser Stelle
meinen verbindlichsten Dank ausspreche, die grosse Liebens¬
würdigkeit hatte, mir verschiedene seiner Präparate zu über¬
senden.
Wie die Fig. 2 zeigt, lassen sich an den pilzförmigen Ge¬
schwülsten 3 Teile unterscheiden: I. ein das Niveau der Haut
überragender, II. ein wie eine Zwiebel in der Erde steckender
Fig. 2.
und III. ein beide Teile verbindender kurzer Stiel. Histologisch
ist der die Haut überragende Teil charakterisiert 1. durch die
zahlreichen, stark erweiterten und sehr dünnwandigen, meist
nur aus einer einzigen Lage spindelförmiger Zellen bestehenden
Kapillaren, die vom Stiele zu nach der Oberfläche hin im All¬
gemeinen an Weite zunehmen, 2. durch eine eiweissartige, aber
schleimfreie Grundsubstanz, die wohl als entzündliches Oedem
aufzufassen ist und den Tumor ganz gleichmässig durchsetzt,
3. durch das vollkommene Fehlen fertig entwickelten, zur Ge¬
schwulst selbst gehörigen Bindegewebes, 4. durch die diffuse
Durchsetzung des Tumors mit gelapptkernigen Leukozyten, die
an der Oberfläche sich zu einem förmlichen Walle zusammen-
geschlossen haben. Im Bereiche desselben sind zahlreiche,
wohl nur als Saprophyten aufzufassende Mikroorganismen Vor¬
ländern
Die Wurzel des Tumors (Fig. 3 b) scheint zunächst einen
inderen Bau zu besitzen. Hier finden sich anscheinend regel¬
1555
lose Haufen spindelförmiger Zellen, die gegen das Rorium durch
eine leicht durch Lymphozyten, Plasma- und Mastzellen in¬
filtrierte Bindegewebskapsel (Fig. 3 c) abgegrenzt sind und
von aus dieser hervorgehenden Fasern durchzogen sind. Eine
genaue Analyse ergibt, dass diese Zellhaufen doch eine gewisse
Regelmässigkeit erkennen lassen und nichts weiter darstellen,
als anscheinend durch den Druck des umgebenden Gewebes
komprimierte und an einer Erweiterung verhinderte Kapillaren.
Leukozyten sind auch hier, allerdings sehr spärlich, nach¬
zuweisen. Das Oedem dagegen fehlt in dem straffen Faser¬
gewebe. Von grösster Wichtigkeit sind die Gefässverände-
rungen, die sich am Rande der Geschwulstwurzel finden. An
den Arterien sowohl wie an den Venen besteht eine aus¬
gesprochene Wucherung der Endothelien bezw. der Intima¬
zellen (Fig.- 3 a), die teils, und zwar vornehmlich an den Ar¬
terien, zu einer mehr konzentrischen Einengung des Lumens,
teils aber, und zwar besonders an den Venen, zu einer un¬
regelmässigen Durchsetzung des Lumens geführt hat. Welche
Bedeutung diesem Befunde beizumessen ist, wird später aus¬
einandergesetzt werden. Beachtenswert ist nur, dass diese
Prozesse sich an Arterien und Venen finden und dass die so
veränderten Gefässe zum Teil recht weit von der durch Binde¬
gewebe scharf abgegrenzten Geschwulstwurzel entfernt liegen.
Der Stiel der Geschwulst schliesslich stellt nichts weiter dar als
den allmählichen Uebergang des einen in den anderen Teil;
seine Struktur, die sich durch die zunehmende Weite der Ka¬
pillaren und die Reste des von der Haut und der die Geschwulst-
wurzel umgebenden Bindegewebskapsel herstammenden
Bindegewebes auszeichnet, erklärt sich aus mechanischen Mo¬
menten von selbst. Die Schweissdriisen, die in der französi¬
schen Literatur ein so grosse Rolle spielen, liessen in unseren
Fällen keinerlei Proliferationserscheinungen erkennen. In ihrer
Umgebung findet sich zuweilen eine leichte Infiltration, ferner
eine Lockerung des Epithels und leichte Erweiterung der Aus¬
führungsgänge, also nichts, was als eine aktive Beteiligung ge¬
deutet werden könnte.
Ist es nun möglich, nach dem Gesagten die tierischen und
menschlichen botryomykotischen Geschwülste vom histo¬
logischen Standpunkte als identisch zu bezeichnen?
Die Antwort muss entschieden nein lauten.
Die vom Menschen stammenden Geschwülste erscheinen
auf den eisten Blick als etwas Besonderes, zunächst nicht
näher Definierbares, während die vom Tier stammenden und,
wie gesagt, treffend als Mykofibrome bezeichneten, weit¬
gehende Analogien mit aktinomykotischen Geschwülsten be¬
sitzen.
Dass die beiden histologisch so verschiedenen Geschwülste
von 1 ier und Mensch mit demselben Namen belegt wurden,
weist darauf hin, dass sie für identisch gehalten werden resp.
wurden. Es geschah dies auf Grund anscheinend überein¬
stimmender bakteriologischer Befunde, auf die noch mit einigen
Worten eingegangen werden muss. Poncet und D o r be-
1*
1556
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
schrieben im Jahre 1897 in einer kleinen gestielten Geschwulst,
die sich durch klinische Eigenarten auszeichnete, Kokken¬
haufen, die sie für identisch mit dem tierischen Botryomyzes
erklärten. Bald darauf folgte unabhängig von ihnen eine ent¬
sprechende Mitteilung holländischer Aerzte (F a b e r und Ten
Siethoff), so dass an der Identität der Kokkenhaufen bei
Tier und Mensch kein Zweifel zu bestehen schien, zumal
Poncet und D o r bald neue derartige Beobachtungen machen
konnten, die ihre erste Beobachtung nur zu bestätigen schienen.
Es wurden deshalb die Geschwülste, die als das Produkt des¬
selben Mikroorganismus angesehen wurden, mit demselben
Namen belegt. Bald folgten andere französische Autoren, so
dass eine Zeitlang der Satz galt: Es gibt beim Menschen be¬
sondere, durch ihre klinischen Eigentümlichkeiten ausgezeich¬
nete Granulationsgeschwülste, als deren Erreger der vom Tier
her bekannte Botryomyzes anzusehen ist. Es änderte an dem
Satze zunächst nichts, dass in einer relativ sehr grossen An¬
zahl von Fällen sogen, menschlicher Botryomykose der Er¬
reger nicht gefunden werden konnte) es hiess dann einfach,
weil die Geschwülste histologisch und klinisch mit den von
Poncet und D o r zuerst beschriebenen übereinstimmen, sind
sie auch dasselbe und müssen als Botryomykose bezeichnet
werden. Inzwischen stellten Poncet und D o r an mensch¬
lichem und tierischen Material histologische Untersuchungen
an, die sie zu der schon erwähnten Behauptung veranlassten,
die Geschwülste beim Pferde seien nichts als auf Infektion be¬
ruhende adenomartige Gebilde, diese aber seien in Parallele zu
setzen mit den angeblich von ihnen beobachteten Wucherungen
der Schweissdrüsen in den menschlichen botryomykotischen
Geschwülsten, für die die Bezeichnung „Fibroadenoses sudori-
pares“ deshalb die passende sei, weil dadurch zugleich der
adenomartige Bau und die Granulationsgeschwulstnatur aus¬
gedrückt sei. Inzwischen hatten die Gegner Poncet und
D o r s, die Pariser Schule, wenn ich so sagen darf, ihren Stand¬
punkt dahin präzisiert, auf Grund der Literatur und eigener
Untersuchungen, dass sie das Vorkommen des Botryomyzes
in menschlichen Geschwülsten vollkommen verneinten. Be¬
züglich der Existenz in tierischen konnte eine Einigung unter
ihnen zwar nicht erzielt werden, doch stellte sich die Mehrzahl
der Pariser Autoren schliesslich auf den Standpunkt, dass die
sogen, botryomykotischen Geschwülste bei Tier und Mensch
nichts seien, als die Folge einer chronischen Staphylokokken¬
infektion (Savariaud et Degny, Bose et Abadie,
H. Bichat, LeBerreu. a.). Ja, einige Autoren behaupteten
sogar, dass die menschlichen Geschwülste einfache Fleisch¬
wärzchen seien. Dabei muss betont werden, dass auch diese
Autoren nur hierher gehöriges beschrieben haben. Gegenüber
diesen Tatsachen hielten Poncet und D o r an ihrer Behaup¬
tung, dass die menschlichen botryomykotischen Geschwülste
durch den Botryomyzes erzeugt würden, nicht fest, vielmehr
kamen sie jetzt, etwa im Jahre 1900, zu der vorher bereits an¬
gegebenen Auffassung des Botryomyzes als Zelldegenerations¬
produkte und da ihnen ausserdem bei einer kleinen Anzahl
tierischer Geschwülste der Nachweis des typischen, lebens¬
fähigen Botryomyzes auch nicht gelang, so folgerten sie, dass
auch die unter diesem Namen beim Tiere beschriebenen Gebilde
nichts seien als Degenerationsprodukte epithelialer Zellen. An
der Identität der tierischen und menschlichen Geschwülste
hielten sie aber auf Grund des analogen Verhaltens der Neben¬
hodenkanälchen und Schweissdrüsen eine Zeitlang fest, bis sie
auch diesen Standpunkt verliessen und die Geschwülste bei
Tier und Mensch nur als wahrscheinlich identisch ansahen,
wegen des Vorkommens der gleichen Zelldegenerationspro¬
dukte.
In den von mir untersuchten 3 Fällen sog. menschlicher
Botryomykose, worunter sich ein neuer, von Herrn Prof.
K ü 1 1 n e r noch nicht publizierter Fall befindet, wie auch in
den mir übersandten Präparaten des Herrn Dr. D o r. gelang es
nicht, den Botryomyzes nachzuweisen. Die an der Oberfläche
vorhandenen Mikroorganismen sind, wie gesagt, wohl nur
Saprophyten (Kokken) und in dem letzten Falle auffallend lange
Bazillen. — Dagegen konnten bisweilen die von Poncet und
Do r beschriebenen „Kernpyknosen“ beobachtet werden. Wie
aus den Beschreibungen, Abbildungen, den mir zugesandten
und meinen eigenen Präparaten hervorgeht, handelt es sich da
jedoch um Rüssel sehe Körperchen, die wie in anderen
Granulationsgeschwülsten, so auch hier gelegentlich zu be¬
obachten sind und deren Vorhandensein hier bei der Gegen¬
wart reichlicher Plasmazellen nach den neuesten Unter¬
suchungen Schriddes nicht wundernimmt. Ob alle von
Poncet und D o r in den Fällen von tierischer Botryomykose
gefundenen pyknotischen Degenerationsmassen wirklich
Russe Ische Körperchen sind, möchte ich nicht mit Sicher¬
heit entscheiden. Für einen Teil derselben trifft diese An¬
nahme nach den mir vorliegenden Originalpräparaten von
Dor unbedingt zu. Für einen kleineren Teil möchte ich an¬
nehmen, dass hier wirkliche Botryomyzesformen, aber in hoch¬
gradiger Degeneration und Schrumpfung vorliegen, wie auch ich
sie in meinen Präparaten gesehen habe. 1 ierisches Material mit
voll entwickelten Botryomyzeskörnern scheinen Poncet und
D o r überhaupt nicht in Händen gehabt zu haben, sonst würden
sie wohl gar nicht auf die Idee gekommen sein, die unter dem
Namen Rüssel sehe Körperchen bekannten Degenerations¬
produkte als das Charakteristische für die echten Botryomyzes-
geschwülste des Pferdes und die ihrer Meinung nach ver¬
wandten menschlichen Granulationsgeschwülste anzusehen.
Jedenfalls ist völlig unerlaubt, aus dem gleichartigen Vor¬
kommen einer bei den verschiedensten chronischen Entzün¬
dungen beobachteten Zelldegeneration auf die Identität des Er¬
regers bei der tierischen und sogen, menschlichen Botryo¬
mykose zu schliessen.
Es muss daher die Identität der Ge¬
schwülste auch vom ätiologisch-bakterio¬
logischen Standpunkte aus abgelehnt wer-
d e n.
Die zweite Frage muss also dahin beantwortet werden,
dass die botryomykotischen Veränderungen beiTier undMensch
weder vom histologischen noch ätiol. - bak¬
teriologischen Standpunkte aus als identisch
angesehen werden können, dass vielmehr der Erreger der
tierischen Botryomykose ein spezifischer Mikroorganismus ist,
während die Erreger der klinisch und histologisch sich durch
ihre Eigenarten auszeichnenden menschlichen Geschwülste
nicht bekannt ist. Damit ist auch schon die Behauptung der
Autoren widerlegt, die für beide Erkrankungen eine schlei¬
chende Staphylokokkeninfektion annehmen. Denn dass die
tierischen Geschwülste auf diese Weise nicht entstehen, wird
durch den bakteriologischen Nachweis spezifischer Pilze in
ihnen und die Tatsache, dass es gelungen ist, mit Kulturen
dieses Mikroorganismus typische Geschwülste zu erzeugen,
sichergestellt. Für die Entstehung der Geschwülste beim Men¬
schen durch schleichende Staphylokokkusinfektion sind von
gegnerischer Seite nur Vermutungen und zum Teil sogar hin¬
fällige, aber keine Tatsachen erbracht.
Die Beantwortung der dritten Frage: Als was sind die
botryomykotischen Veränderungen beim Menschen aufzu¬
fassen? ergibt sich dem bisher Gesagten nach von selber. Es
handelt sich um eigentümliche Granulationsgeschwülste, die
histologisch durch den Reichtum an erweiterten und dünn¬
wandigen Kapillaren ausgezeichnet sind, die die Aufstellung
eines besonderen Namens — teleangiektatische Granulome —
rechtfertigen und die von den verschiedensten Autoren über¬
einstimmend geschilderte klinische Eigentümlichkeiten be¬
sitzen. War nun durch die Arbeiten der französischen Autoren
und durch unsere, in der Arbeit Küttners ausführlich mit¬
geteilten Untersuchungen bereits hinlänglich sicher bewiesen,
dass die in Rede stehenden Geschwülste Granulations¬
geschwülste sind, so kann ich jetzt noch ein neues Argument
hinzu anführen, das wenigstens für die Beweisführung aui
Grund histologischer Tatsachen als Schlussstein angesehen
werden kann. Es handelt sich um Geschwülste, die von mir
in einer im Arch. f. Schiffs- u. Tropenhygiene 1906 erschienenen
Arbeit beschrieben sind und die abgesehen davon, dass
sie histologisch vollkommen mit den bisher behandelten iiber-
einstimmen, dadurch interessant sind, dass sie vielleicht ge¬
eignet sind, einen Fingerzeig zu geben, in welcher Richtung
die Aetiologie der teleangiektatischen Granulome zu suchen ist,
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Herr Prof. A s c h o f f erhielt im Sommer 1904 aus Bra¬
silien eine Anzahl Tumoren zugesandt, die sich nach ca.
21 tägiger Inkubation auf der Haut von Patienten entwickelt
hatten, die nach Angaben des behandelten Arztes, Dr. v.
Bassewitz, von einer eigenartigen, bisher nicht bekannten,
weder mit der Syphilis, noch mit der Verruga peruana klinisch in
Zusammenhang stehenden kontagiösen Krankheit ergriffen
waren. Basse witz konnte eine, auf einem isoliert
liegenden Gehöfte sich abspielende, ca. 12 — 15 Personen des¬
selben Hausstandes ergreifende Epidemie beobachten. Von
einer dieser Personen war die Krankheit, über deren Herkunft
noch nichts bekannt ist, nachweislich auswärts erworben und
beim Matte-Trinken auf die anderen Hausgenossen über¬
tragen. Klinisch also steht die infektiöse Natur dieser Krank¬
heit fest. Sie ist nun dadurch ausgezeichnet, dass in ihrem
Verlaufe ausser nicht sehr schweren Allgemeinsymptomen dif¬
fus über den Körper verbreitete, bis klein apfelgrosse Tumoren
auftreten, die einer spontanen Rückbildung
fähig sind.
Abbildungen dieser Tumoren finden sich a. a. 0. Aus
ihnen geht hervor, dass sie mit unseren teleangiektatischen
Granulomen so übereinstimmen, dass histologisch eine Ver¬
wechslung wohl möglich ist. Auch diese Granulome sind aus¬
gezeichnet: 1. durch die Entwicklung zahlreicher, zum Teil
stark erweiterter kapillarer Gefässe, deren Wandung meist aus
einer einfachen Lage spindelförmiger Zellen besteht. 2. Durch
die Gegenwart einer eiweissartigen, den ganzen Tumor durch¬
setzenden Substanz, die wohl als entzündliches Oedem aufzu¬
fassen ist. 3. Durch die diffuse Durchsetzung mit Leukozyten
auch an den tiefsten Stellen des Tumors, wo die Einwirkung
der an der Oberfläche in grosser Menge vorhandenen Sapro-
phyten nicht mehr gut angenommen werden kann. 4. Durch
den Mangel jeglicher Mikroorganismen in den tieferen
Schichten der Geschwulst, die, um es zu erwähnen, vergeblich
nach Spirochäten durchsucht wurde.
Es ergibt sich also eine vollkommene histologische Ueber-
einstimmung der teleangiektatischen Granulome mit den bra¬
silianischen Geschwülsten, für die bereits v. B a s s e w i t z,
unabhängig von uns, den Namen teleangiektatische Granulome
vorgeschlagen hatte.
Nun haben wir auf der einen Seite die teleangiektatischen
Granulome, deren Granulationsgeschwulstnatur fraglich er¬
scheinen könnte; auf der anderen Seite die brasilianischen Ge¬
schwülste, die unbedingt zu den Granulationsgeschwülsten zu
rechnen sind, da sie ja nur ein Symptom einer Infektionskrank¬
heit sind, sodass auch die Krankheitsprodukte, die sich den
Berichten nach wenigstens makroskopisch überall gleich-
mässig bei Farbigen und Weissen repräsentierten und eine für
die Krankheit charakteristische Erscheinung sind, als durch
die Infektion bedingt angesehen werden müssen. Beide
stimmen histologisch, wenigstens in den oberen, die Haut
überragenden Teil(en überein. Das macht, abgesehen von
allem anderen, die Granulationsgeschwulstnatur der telean¬
giektatischen Granulome zweifellos. Ein noch weiteres Ar¬
gument wird später angeführt werden.
Nun muss zum Schlüsse mit einigen Worten noch darauf
eingegangen werden, weshalb diese Granulome nicht zu den
echten Geschwülsten zu rechnen sind, da Martens und v.
Hansemann kürzlich über diesen Punkt sich geäussert
haben. Beide vertreten die Ansicht, dass die von den Fran¬
zosen beschriebenen Botryomykome, mithin auch unsere
Fälle nichts sind als Sarkome resp. Angiosarkome. Folgende
Gründe, die wie in anderen Punkten so auch hier durch die
Resultate der Arbeit F redcrics, der bereits im Jahre 1904
vor mir zu denselben Schlüssen kam, eine wesentliche Stütze
erhalten, sind dagegen ins Feld zu führen. Zunächst könnten
dem ganzen histologischen Verhalten der Granulome nach nur
bösartige Geschwülste und zwar Sarkome in Betracht kommen.
Histologisch fehlt aber jedes infiltrative Wachstum,
das bei dem relativ langen Bestände der Geschwülste bereits
deutlich ausgesprochen sein müsste. Wie erwähnt, steckt in
dem ersten Falle Küttners der Tumor mit einer Wurzel tief
im Gewebe der Haut. Dieselbe ist aber, wie in den Fällen
1557
F r e d e r i c s, rings von einer Bindegewebskapsel umgeben;
nach aussen von ihr findet sich nichts, das für eine Infiltration
des Gewebes durch Tumormassen gehalten werden könnte.
Nun wurde aber schon vorher erwähnt, dass sich an den Ge-
fässen in grösserer und kleinerer Entfernung die Tumor¬
wurzel eine Wucherung der Endothelien findet. Diese hat be¬
sonders in einer Vene eine entfernte Aehnlichkeit mit der
Struktur des Tumors. Nichts könnte näher liegen als die An¬
nahme, dass hier ein Einbruch der Geschwulst in die Gefässe
erfolgt ist. Aber es wäre auffallend: 1. dass der Einbruch in
Arterien und Venen zugleich erfolgt ist, 2. dass der Einbruch
in Gefässe, die doch sonst dem Einwachsen von Tumor¬
massen relativ sehr lange Widerstand leisten, überhaupt schon
und ausschliesslich stattfand, 3. dass ein infiltrierendes Wachs¬
tum in die übrige Gewebe sonst nicht nachzuweisen ist, 4. dass
weder zur Zeit der Operation, noch 3 Monate später bei der
Nachuntersuchung irgendwelche Zeichen von Metastasen¬
bildung in anderen Organen vorhanden waren, während man
doch annehmen müsste, dass bereits viele Tumorzellen in die
Blutbahn gelangt seien. Es kann hier auch noch der zweite,
bisher nicht publizierte Fall von Herrn Prof. K ü 1 1 n e r heran¬
gezogen werden, wenn auch bei diesem die Verhältnisse nicht
so ausgeprägt und instruktiv sind. Auch hier findet sich eine
kleine Tumorwurzel in der Haut; auch sie lässt eine deutliche
Abgrenzung durch eine hier mehr homogene und weniger
zellreiche Bindegewebskapsel gegen das umgehende Gewebe
erkennen. Es finden sich auch in diesem Falle Veränderungen
der Gefässe, die aber die Vermutung, es könne sich um einen
Tumoreinbruch handeln, überhaupt nicht aufkommen lassen.
Die Literaturangaben lassen, wie gesagt, über diesen Punkt
mit Ausnahme der Arbeit Frederics im Stiche, da über das
Verhalten der Granulome in den tieferen, hier allein in Betracht
kommenden Schichten sonst nichts erwähnt ist. Weder in
unseren Fällen, noch in denen der Literatur ist etwas von
Metastase n bildung oder Geschwulstkachexie
bemerkt worden. Eine Neigung der Geschwülste zu Zerfall
nach Art maligner Tumoren ist nicht beobachtet worden. Ein
rasches Wachstum der Granulome ist zwar vorhanden,
doch ist das für den zu führenden Beweis wohl bedeutungs¬
los, da sie nicht in das Gewebe hinein, sondern aus ihm heraus
wuchern. Rezidive sind in unseren eigenen Fällen, die
gleich anfangs radikal operiert wurden, nicht beobachtet. In
der Literatur sind Rezidive zwar angegeben, jedoch nur in den
Fällen, in denen die Geschwulst oberflächlich abgetragen
wurde und zwar traten sie dann unmittelbar nach dem Ein¬
griffe auf. Bei gründlicher zweiter Operation blieben Rezidive
auch hier nach Jahren aus.
Muss demnach abgelehnt werden, dass die Granulome zu
den bösartigen Geschwülsten gehören, so wäre, wie das
Martens bereits angedeutet hat, zu überlegen, ob sie viel¬
leicht zu den Angiomen oder Teleangiektasien gehören oder
eine besondere Abart dieser zu den Gewebsmissbildungen ge¬
rechneten Geschwülste sind. Dagegen spricht das schnelle
Wachstum der Granulome, das an anscheinend unveränderten
Hautstellen, die zum Teil traumatischen Einflüssen ausgesetzt
gewesen sind, stattfindet. Ferner das Fehlen jeglichen zur
Geschwulst gehörigen Bindegewebes. Sodann die Beschaffen¬
heit der Kapillarwandung, die bei den Granulomen meist nur
aus einer Zellage bestehen. Schliesslich der typische Sitz der
Granulome einerseits, der Angiome und Teleangiektasien
anderseits.
Jetzt kann auch auf die sehr wichtigen und bereits mehr¬
fach erwähnten endarteriitischen und endophlebitischen Pro¬
zesse in der Umgebung der Tumorwurzel, die wir besonders
deutlich in dem ersten unserer Fälle beobachten konnten, ein¬
gegangen werden. Dass es sich nicht um den Einbruch von
Fumormassen in die Gefässe handelt, wurde auseinander¬
gesetzt. Es bleibt deshalb nichts weiter übrig, als sie durch
die Einwirkung des die teleangiektatischen Granulome ■ er¬
zeugenden Erregers oder seiner event. Toxine entstanden zu
erklären, genau so, wie wir es bei anderen, gewöhnlichen
Granulationsgeschwülsten so häufig, aber nicht regelmässig
finden.
1558
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
Es ergibt sich also, dass die teleangiek ta¬
uschen Granulome weder zu den bösartigen,
noch gutartigen Geschwülsten gehören, dass
sie vielmehr Granulationsgeschwülste bis¬
her unbekannter Aetiologie sind, die sich
von anderen gewöhnlichen Granulationsge¬
schwülsten durch ihren, auf der Gegenwart
zahlreicher erweiterter Kapillaren beruhen¬
den, besonderen histologischen Bau und ihre
klinischen Eigentümlichkeiten auszeichnen.
Sie haben mit der Botryomykose, die eine
besonders beim Pferde bekannte, spezifische
Erkrankung ist, nicht gemein.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Prof. A s c h o f f,
spreche ich auch an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank
aus für die Anregung zu dieser Arbeit und seine Unterstützung
bei Ausführung derselben.
Farbige Abbildungen dieser Geschwülste, die bisher nur
in der Arbeit Leroux’ zu finden sind, sind für eine Anzahl
Separatabzüge hergestellt.
Literatur:
Wegen der erschöpfenden Zusammenstellung durch Küttner,
Ueber teleangiektatische Granulome. Ein Beitrag zur Kenntnis der
sogen. Botryomokose. Beitr. z. klin. Chirurgie. Bd. XLVII, Heft 1,
führe ich sie hier nicht nochmals an. l) Hartmann: Sur la botryo-
mycose. Arch. gen. de med. 83. Anne. Tome 1. No. 14
1906. — 2) Mahar: Bull, et mem.' de la soc. anat. de
Paris. 1903. — 3) Martens: Berliner klin. Wochenschr. 1903. —
4) v. Hansemann: Die Beziehung gewisser Sarkome zu den
Angiomen. Zeitschrift für Krebsforschung. 3 Bd. Heft 2. — 5)
Remlinger: Traite de techn. mikrobiologique. S. 570. —
6) Fr. Glage: Die Eiterungen bei den Haustieren. Handbuch der
pathogenen Mikroorganismen. Bd. III. S. 795. — 7) Legroux: La
botryomycose. These. Paris 1904. (Mit guten Abbildungen und
Zusammenstellung der bisher beschriebenen Fälle). — 8) Le Berre:
Contribution ä l’etude de la botryomycose. These. Paris 1904. —
9) v. Bassewitz: Archiv f. Schiffs- und Tropenhygiene. 1906.
— 10) Ben n ecke: Zur Histologie der in der Arbeit von
Basse witz erwähnten Tumoren. Ibidem. — 11) Carlo Paras¬
can d u 1 o und Vincenzo de Meis: Die Botryomykose. Oesterreich.
Monatsschr. f. Tierheilkunde. Jahrg. 30. 1905. S. 433 — 441. —
12) Hart zell: Granuloma pyogenicum. The Journ. of ent diseases
incl. Syphilis. XXII. No. 11.
Aus dem hygienischen Institut der Universität Heidelberg
(Dir. : Geh. -Rat Prof Dr. Knauf f).
Untersuchungen über die Einwirkung des Protylins auf
die Phosphorausscheidung des Menschen.
Von Prof. Dr. med. et phil. R. O. N e u m a n n.
Die zunehmende Bedeutung, welche die Phosphor¬
verbindungen für therapeutische Zwecke mehr und mehr
gewinnen, haben dazu geführt, dass in neuerer Zeit Präparate
in den Handel gebracht werden, welcher den Phosphor teils in
anorganischer, teils in organischer Form enthalten.
Vielfach sind es Verbindungen oder auch nur Mischungen
von Eiweissstoffen mit löslichen oder unlöslichen Phos¬
phaten, Pyro Phosphaten, Hypophosphiten, vielfach
sind es organische Phosphorverbindungen wie Nukleine, Para-
nukleine, Lezithine, Nukleinsäuren oder die Glyzerin-
phosphorsäure, endlich auch synthetische Verbindungen
von wasserfreier Phosphorsäure mitEiweiss-
körpern.
Die Notwendigkeit des Phosphors für den Organismus kann
nicht mehr bestritten werden. Dunkel ist freilich noch oder
wenigstens nicht völlig geklärt, ob anorganische und orga¬
nische Phosphorverbindungen, oder ob nur die eine oder
andere Form sich am Aufbau der Zelle beteiligen. Die eine
Annahme scheint aber besonders nach den Arbeiten von
K o s s e 1 als ziemlich sicher hingenommen werden zu können,
dass die an das Eiweissmolekiil angelagerten Nukleinsäuren,
welche phosphor- und stickstoffhaltige Atomkomplexe dar¬
stellen, zur Bildung hochkomplizierter Eiweisskörper beitragen
und demnach für die Lebensfunktion wichtig sind. In diesen
Verbindungen ist der Phosphor nach K o s s e 1 s Anschauung
in anhydrischcr Form vorhanden. Man neigt sich überhaupt
im allgemeinen doch mehr der Meinung zu, dass die orga¬
nischen P h o s p h o r v e r b i n d u n g e n 0 * 2) für die As¬
similation im Organismus mindestens eine bedeutendere Rolle
spielen, als die anorganischen, vielleicht die grösste, wenn auch
nicht vergessen werden darf, dass z. B. anorganische Verbin¬
dungen, wie die Kalkphosphate der Kuhmilch,
nicht nutzlos in den Organismus der Tiere und der Menschen
aufgenommen werden.
Wenn es zutrifft, dass unsere animalischen Hauptnahrungs¬
mittel, aber auch die vegetabilischen, von ihrem Phosphor¬
gehalt etwa 70 — 80 0 in organischer Form gebunden als
Paranukleinsäuren, Lezithin, Nuklein, Phytin enthalten, so ist
an sich schon ein Schluss auf die Notwendigkeit der Einfuhr
von organischen Phosphorverbindungen gerechtfertigt.
In welcher Weise nun aber die organischen Phosphorver¬
bindungen und event. auch die anorganischen im Organismus
Verwendung finden und inwieweit derselbe mit den eingeführ¬
ten Phosphormengen Haus hält, ist noch nicht endgültig auf¬
geklärt und bedarf noch weiterer Forschungen. Genau wie
das Eiweiss resp. der Stickstoff verhält es sich wohl nicht,
wenn auch gleich wie beim Stickstoff ein gewisses Gleich¬
gewicht hinsichtlich der Einnahmen und Ausgaben erwartet
werden könnte.
Die Stoffwechselversuche, welche über den Phosphor¬
umsatz bisher angestellt wurden, widersprechen sich in vielen
Punkten, so dass wir auch über den normalen Verlauf des Um¬
satzes noch nicht ganz genau unterrichtet sind. Auch die Be¬
ziehungen des Phosphorumsatzes zum Stickstoffumsatz, ob
beide mit einander parallel verlaufen, oder ob sie unabhängig
von einander sind, harrt noch der definitiven Entscheidung.
Es ist nicht meine Absicht, an dieser Stelle eine kritische
Uebersicht der bisher schon ziemlich zahlreichen Stoffwechsel¬
versuche über den Phosphorumsatz zu geben, es sollen nur
einige wenige Arbeiten, die über die vorliegenden Fragen orien¬
tieren, mit kurzen Worten genannt sein.
Bei einer Anzahl von Untersuchungen konnte nach¬
gewiesen werden, dass bei genügender Nahrung und vor¬
herigem Phosphorgleichgewicht eine Retention von
Phosphor stattfand. So bei T i g e r s t e d t 3). Nahm er
aber an Stelle gemischter Kost vegetabilische Nahrung, so
konstatierte er Phosphorverlust im Kot und schloss
daraus, dass der Phosphor in der animalischen Kost besser aus-
geniitzt würde wie der Phosphor der Vegetabilien. Ebenso
fand Ludw. F. M e y e r 4 5) eine Steigerung des Phosphorgehaltes
im Organismus bei gesteigerter phosphorhaltiger Kost und
L. Büch m a n n n) konstatiert dasselbe bei Lezithin-
gaben. Auch Gilbert und Posternak6) konnten bei
Versuchen mit dem aus Pflanzen dargestellten Phytin zeigen,
dass Phosphor im Organismus angesetzt wurde, ganz wie
bei Versuchen mit Glyzerinphosphorsäure, wobei
Gumpert7) zeigte, dass bei Einnahme der letzteren erheb¬
liche Mengen im Organismus zurückgehalten wurden. Endlich
weisen auch die Untersuchungen von Loewi8), S i v c n 9),
Z a d i c k 10) und Ehrström 41) auf die Fähigkeit des Orga-
0 R ö h m a n n : Stoffwechselversuche mit P-haltigen und
P-freien Eiweisskörpern. Berlin, klin. Wochenschr. 1899, No. 36.
■) Steinitz: Ueber das Verhalten P-haltiger Eiweisskörper
im Organismus. Pflügers Arch. 1898, Bd. 72.
s) Tigerstedt: Ein Beitrag zur Kenntnis des Phosphorstoff¬
wechsels beim erwachsenen Menschen. Skand. Arch. f. Physiologie
16. 67—78.
4) L. F. Meyer: Beiträge zur Kenntnis des Phosphorstoff¬
wechsels. Zeitschr. f. phys. Chemie 43, 1.
5) L. Büch mann: Beiträge zum Phosphorstoffwechsel. Zeit¬
schrift f. Diät, und physik. Therapie 8, 67.
6) Zitiert aus „Zusamenstellung der Literatur über Phytin“,
S. 34. Baseler Gesellschaft für chemische Industrie, 1905.
7) Gumpert: Beitrag zur Kenntnis des Stickstoff-, Phosphor-,
Kalk- und Magnesiaumsatzes beim Menschen. Medizin. Klinik 1905,
No. 41.
8) Loewi: Untersuchungen über Nukleinstoffwechsel. Arch. f.
experiment. Pathol. und Pharmakol. 1901, XL, S. 157.
9) Siven: Zur Kenntnis der Stoffwechselversuche beim er¬
wachsenen Menschen usw. Skand. Arch. f. Physiol. 1901, Bd. 11.
10) Zadik: Stoffwechselversuche mit phosphorhaltigen und
phosphorfreien Eiweisskörpern. Pflügers Arch. 77, 1, 1899.
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1559
nismus hin, grössere Quantitäten Phosphor aufspeichern zu
können. Nur R e n v a 1 1 1L') findet trotz Einnahme verschieden
grosser Phosphormengen keine Retention im Organis¬
mus, sondern im Gegenteil, da stets bei Einnahme grösserer
Phosphormengen im Rot auch grössere Phosphormengen auf¬
traten, stets eine Minusbilanz.
Die Schlüsse, die man aus diesen Angaben ziehen kann,
sind, wie auch schon u. a, E h r s t r ö m und S i v e n er¬
wähnen, vorerst noch mit Vorsicht zu beurteilen; sie zeigen
uns nur, dass der Phosphor ini Haushalt des Organismus nicht
ganz dieselbe Rolle spielt wie das Eiweiss. Während wir bis¬
her bei erhöhter Eiweisgzufuhr gewöhnlich auch einen
vermehrten Zerfall beobachten — Ausnahme siehe bei Gum-
pert1,1) und B o r n s t e i n 14) — , so ist das beim Phosphor
scheinbar nicht der Fall. Hier wird unter gewissen Verhält¬
nissen ein Teil des eingeführten organischen Phosphors zurück -
behalten, sobald die Gaben gesteigert werden.
Daher finden wir auch — worauf S i v e n zuerst auf¬
merksam machte — bei den meisten Arbeiten keinen Paral¬
lelismus zwischen den) Phosphor- und dem Stickstoffumsatz.
Bei Ehrström und P o s t e r n a k ist z. B. bei bedeutendem
Phosphoransatz grosser Stickstoffverlust, bei Za dick und
auch bei E. Meyer P-Verlust bei N-Ansatz, bei G u m p e r t
P-Ansatz ohne N-Ansatz und nur bei Ren wall unter be¬
stimmten Verhältnissen ein gewisser Parallelismus.
Diese Tatsache ist vielleicht einer Erklärung zugänglich,
wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der aufgenommene
Phosphor aus anorganischen und organischen Quellen stammt
und wahrscheinlich sehr verschieden verarbeitet wird, so dass
alsdann auch gelegentlich ein Plus oder ein Minus in der Bilanz
resultieren kann. Zudem sind die verschiedenen Nahrungs¬
mittel sich durchaus nicht gleichbleibend in ihrem Phosphor¬
gehalt und wir wissen auch noch nicht, wie viel Phosphor
von jedem zugeführten Material verarbeitet wird.
Bei dieser noch nicht ganz geklärten Sachlage über den
normalen Phosphorstoffwechsel ist zwar die Be¬
urteilung der Resultate von Versuchen mit phosphor¬
haltigen Präparaten eine etwas kompliziertere ; der¬
artige Versuche scheinen aber doch geboten, weil bei denselben
eine bestimmte, genau dosierte Menge zur Verwendung
kommen kann und die erzielten Ausschläge, unter Beibehaltung
einer bestimmten Nahrung, auf Rosten des Präparates fallen
müssen. Andererseits hat es ein praktisches Interesse, über
die zu therapeutischen Zwecken vorgeschlagenen Mittel orien¬
tiert zu sein.
Von den neueren Präparaten hat P r o t y 1 i n meines
Wissens noch keinen Stoffwechselversuch am Menschen
erfahren, während zwei andere, viel genannte Phosphorprä¬
parate, die Glyzerinphosphorsäure, das sogen. Sanatogen
und das Phytin, bereits bearbeitet wurden. Tch habe des¬
halb das P r o t y 1 i n im Anschluss an einen anderen Stoff¬
wechselversuch untersucht und teile die Ergebnisse desselben
in Rürze mit:
Das P r o t y 1 i n, welches von der Fabrik Hoff man n-
La Roche & Co. in Basel hergestellt wird, ist ein weisses,
feinkörniges homogenes Pulver ohne Geruch mit einem leichten
Geschmack nach Leim, besonders wenn grössere Mengen auf
einmal genommen werden. Es löst sich nicht in Wasser, aber
in Alkalien; in Salzsäure löst es sich unter Zersetzung. Wird
es im Platintiegel erhitzt, so verbrennt es, stark nach ver¬
branntem Horn riechend, wie alle Eiweisskörper. Den An¬
gaben von Schaerges15) entnehme ich, dass Protylin zu
den Paranuklei'nen gehört und dass der Phosphor in anhydri-
scher Form in das Eiweissmolekül eingeführt sei.
11 ) Ehr ström: Zur Renntnis des Phosphonunsatzes beim er¬
wachsenen Menschen. Skand. Arch. f. Physiol. 1903, Bd. 14.
12) Ren wall: Zur Renntnis des- Phosphor-, Ralziuin- und Ma¬
gnesiaumsatzes beim erwachsenen Menschen. Zeitschr. f. phvs.
Chemie 1902, Bd. 37.
13) G u m p e r t: 1. c. S. 14.
14) Bornstein: Berl. klin. Wochenschr. 1898, No. 36; 1904,
46/47 ; Pflügers Arch. 1901, 83.
15) Schaerges: Ueber Protylin und organische Phosphor¬
präparate. Pharmazeut. Zentralbl. 1903, No. 1.
Nach meinen Analysen fand ich im Protylin
9 Proz. Wasser, 12 Proz. Stickstoff, 75 Proz. Eiweiss, 3,4 Proz.
Asche und 2,5 Proz. Phosphor. Die Stickstoffbestimmung
wurde nach R j e 1 d a h 1, der Phosphor nach einer von
Schanz angegebenen Methode bei Schaerges16) aus¬
geführt.
Dem Versuch lag folgender Gedankengang zugrunde: Es
sollte ein m al ermittelt werden, ob Protylin,
in steigenden Quantitäten eingenommen, im¬
stande sei, das in äquivalenten Mengen aus
der Nahrung fortgelassene Eiweiss und den
Phosphor zu ersetzen, und weiter, wie sich
der Phosphor - und Ei weissumsatz gestalten
würde, wenn zur genügenden Nahrung grös¬
sere Mengen von Protylin gegeben würden,
also eine Ueberernährung mit dem Präparat
stattfände.
Die Versuchsdauer betrug 26 Tage, und zerfiel ausser in eine
Vor- und Nachperiode in 7 Einzelperioden, in welcher je 3 Tage lang
2,5, 5, 10, 20 g Protylin unter Weglassung äquivalenter Mengen Eiweiss
und Phosphor aus der Nahrung gereicht und alsdann 10, 20 und 25 g
Protylin pro Die zur genügenden Nahrung hinzugefügt wurden.
Die Nahrung bestand aus Zervelatwurst, Ramadou-
käse, Schwarzbrot, Schweinefett und Zucker, deren
Zusammensetzung folgende Tabelle veranschaulicht:
Wasser
Trocken¬
substanz
Eiweiss
Fett
Kohle¬
hydrate
Phos¬
phor
Asche
Cervelatwurst . .
27,3
72,7
18,3
48,4
0,18
5,3
Ramadoukäse . .
56,8
43,2
18,7
19,0
_ _
0,58
5,9
Schwarzbrot . .
Fett .
47,5
52,5
100,0
, [6,2
0,2
100,0
44,2
0,56
1,6
Zucker . . .
—
—
100,0
_
Protylin ....
9,0
81,0
75,0
—
2,5
3,4';
Die 1 agesperiode dauerte von Früh 7 bis zum nächsten Morgen
um 7 Uhr. Bis abends 7 Uhr musste die in gleichmässigen Zwischen¬
räumen genossene Nahrung aufgezehrt sein. Alkohol wurde ver¬
mieden. Als Flüssigkeit diente nur Wasser. Eiweiss und Phosphor
im Flarn wurde täglich, im Rot am Schluss jeder Periode bestimmt.
Die Phosphorbestimmungen im Harn führte ich mittelst Titrierung
mit Uranlösung aus17), die in den Nahrungsmitteln nach A.
N e u m a n n 18), die im Rot nach P f e i f f e r. und Scholz.19) Bei
Erhöhung der Protylinration wurden in der zweiten bis fünften Periode
äquivalente Mengen Räse weggelassen.
Die gesamte Einfuhr und Ausfuhr von Eiweiss, Fett,
Rohlehydraten und Phosphor veranschaulicht fol¬
gende Uebersichtstabelle 20):
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Wenn wir zuerst den Stickstoffumsatz einer Be¬
trachtung unterziehen, so beobachten wir einen Gesamtunter¬
schied in der Bilanz insofern, als im ersten Teil des Versuches,
in der 2. — 5. Periode, wo ein der Protylinmenge äquivalenter
Teil des Eiweiss aus der Nahrung weggelassen worden war,
sich eine geringe Minusbilanz bemerkbar macht, in der
5.-7. Periode dagegen eine P 1 u s b i 1 a n z auftritt. Dies
würde bedeuten, dass das Protylineiweiss, nicht in vollem
Masse das Nahrungseiweiss ersetzen kann, bei Zugaben aber
zur vollen, genügenden Nahrung doch einen sichtbaren gün¬
stigen Einfluss ausiibt.
Praktisch dürften allerdings die geringen Verluste in der
3.-5. Periode ganz bedeutungslos sein, da der Vorperiode mit
einer Plusbilanz von 0,4 nur eine höchste Minusbilanz von
— 0,3 gegenüber steht und derartige geringe Schwankungen
auch zu den alltäglichen Vorkommnissen bei gleiehmässiger
normaler Nahrung zählen.
ie) Ebenda S. 4.
5') Salkowski: Praktikum der physiol. und pathol. Chemie
1900, S. 265.
18) A. Neu mann: Chem. Zentralbl. 1898, I, S. 219.
la ) Pfeiffer und Scholz: Deutsch. Arch. f. klin. Medizin.
Bd. 63, S. 373.
-") Die ausführlichen Tabellen über Einnahmen und Ausgaben
können wegen Platzmangels hier leider nicht beigefügt werden, sie
werden aber den Separatabzügen beigegeben werden.
1560
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
—
E
i n n a h m e
n
Ausgabe
n
B i 1 a
n z
Perioden
Versuchs¬
tage
Nahrungs¬
menge
Wasser
Flüssigkeit
i. d. Nahrung
Wasserfreie
Nahrung
Eiweiss
*
-t— *
CD
Ü-,
Kohle¬
hydrate
Phosphor
Asche
Gesamt-
Stickstoff
Kalorien
Trockenkot
lufttrocken
Harnmenge
N im Kot
N im Harn
Gesamt-N
P im Kot
P im Harn
Gesamt-P
N-Bilanz
N
J3
1
Qh
Be¬
merkungen
I. Periode
,-3
770
ca.
293
477
70,6
106,5
276
3,17
20,4
11,3
2314
39,6
950
1,94
8,96
10,90
0,70
2,31
3,01
+ 0,4
+ 0,16
Vorperiode
1200
— 0,11
II. Periode
4—6
775
ca.
288
475
70,6
1 06,6
276
3,17
19,9
11,3
2314
39,8
1160
1,91
9,07
10,98
0,86
2,42
3,28
+ 0,32
2,5 Protylin
1200
— 0,06
III. Periode
7 9
759
ca.
283
476
70,7
106,7
276
3,18
19,4
11,3
2314
40,0
1210
1,84
9,28
11,12
0,84
2,40
3,24
+ 0,18
5,0 Protylin
1200
%
+ 0,03
IV. Periode
10,0 Protylin
10—12
748
ca.
1200
272
486
70,6
106,6
276
3,18
18,3
11,3
2314
40,6
1080
1,91
9,56
11,47
0,85
2,30
3,15
- 0,17
V. Periode
13—15
748
ca.
251
475
71,0
106,5
276
3,21
16,4
11,3
2314
41,8
990
1,96
9,64
11,60
0,75
2,42
3,17
-0,30
+ 0,04
20,0 Protylin
1200
|
+ 0,31
+A
VI. Periode
10,0 Protylin
16—18
780
ca.
1200
295
485
78,1
106,5
276
|
3,42
20,7
12,5
2345
43,5
1120
2,17
9,97
12,14
0,60
2,51
3,11
+ 0,36
VII. Periode
20,0 Protylin
19—21
790
ca.
1200
296
495
85,0
106,5
276
3,67
21,1
13,6
2375
45,1
1240
2,34
10,12
12,46
0,62
2,60
3,22
+ 1,14
+ 0,45
5
o= '■*
VIII. Periode
25,0 Protylin
22-23
795
ca.
1200
296
509
89,0
106,5
276
3,80
21,3
14,3
2391
46,8
1030
2,43
10,27
12,70
0,62
2,71
3,33
+ 1.60
4 0,47
Oh >
IX. Periode
24-26
770
ca.
293
477
70,6
106,5
276
3,17
20,4
11,3
2314
40,5
1080
1,98
8,42
10,40
0,68
2,41
3,09
+ 0,9
+ 0,08
Nachperiode
1 200
1
1
Theoretisch ist aber interessant, wie ganz allmählich von
der 1. bis zur 5. Periode der Stickstoff im Harn
parallel den zunehmenden Protylineinnahmen steigt:
Vorperiode
0 Protylin
Harnstickstoff 8,16
II
2,5 „
yy
9,07
III
5
yy
9,28
IV
10
yy
9,56
V
20
yy
9,64
Man wird jedoch
aus der relativ geringen S
rung des Harnstickstoffs im Vergleich zu den sich immer
verdoppelnden Protylineinnahmen nur schliessen können,
dass nur ganz geringe Mengen des Protylineiweisses nicht
assimiliert werden.
Der Kot Stickstoff hält sich auf gleicher Höhe: 1,94,
1,91. 1,84, 1,91, 1,96, ein Beweis, dass die Resorption
des Protylineiweisses ebenso günstig verlief, wie die des
Nah rungseiweisses.
Bei Gaben von 10,0, 20,0 und 25,0 Protylin zur vollen
genügenden Nahrung sieht man sowohl im Har n
wie im Kot den Stickstoff etwas an steigen.
(5. Periode 11,60 g, 6. Periode 12,14 g, 7. Periode 12,46 g,
8. Periode 12,70 g, Nachperiode 10,40 g.) Derselbe fällt erst
wieder, wenn in der Nachperiode das Protylin fortgelassen
wird. Die bedeutendere Steigerung fällt auf den K o t und er¬
klärt sich einmal aus der vermehrten Zufuhr von Eiweiss:
in der VI. Periode 10,0 Protylin = 7,5 Eiweiss
VII. „ 20,0 „ = 15,0
VIII. „ 25,0 „ = 18,75 „
und dann wahrscheinlich auch aus der Vermehrung des
Trockenkotes. Der Trockenkot steigt von 40,6 g in der
4. Periode allmählig bis zu 46,8 g in der 8. Periode, worauf der
vermehrte Kotstickstoff (5. Periode 1,96 g, 6. Periode 2,17 g,
7. Periode 2,34, 8. Periode 2,43 g) zurückzuführen ist. Es lässt
sich wohl nicht von der Hand weisen, dass das Protylin in
grösseren Gaben einen Reiz auf die Darmschleimhaut ausiibt,
der sich in einer etwas vermehrten Peristaltik äussert. Da¬
durch wird mehr Kot abgeschieden und mit ihm ein kleiner Teil
unresorbiertes Eiweiss.
Die Vermehrung des Harn Stickstoffs 5. Periode
9,64 g, 6. Periode 9,97 g, 7. Periode 10,12 g, 8. Periode 10,27 g,
Nachperiode 8,42 g) ist relativ gering und hält sich fast in den¬
selben Grenzen, wie der Harnstickstoff in der 2. — 5. Periode.
Das Eiweiss des Protylins wird also bei voller genügender
Nahrung genau so assimiliert wie bei unvollkommener Nah¬
rungszufuhr.
Trotz der deutlichen Mehrausscheidung von Stickstoff in
Harn und Kot erfolgt doch in kurzer Zeit ein ziemlich er¬
heblicher Stickstoffansatz. Von — 0,3 in der
5. Periode nimmt die Minusbilanz ab bis zum Stickstoffgleich¬
gewicht und steigt nun bis + 1,60 in der 8. Periode an, und
zwar innerhalb von 10 Tagen.
Hier antwortet der Organismus bei erhöhter Eiweisszufuhr
also nicht mit erhöhtem Stickstoffzerfall, sondern mit Stick¬
stoffretention, eine Erscheinung, die auch Gumper t21)
und Bornstein") bereits beobachteten, während im all¬
gemeinen die Lehre gilt, dass bei erhöhter Eiweisseinfuhr der
Organismus auch mehr Eiweiss zersetzt bis das Stickstoff¬
gleichgewicht wieder eingetreten ist.
Die Plusbilanz in der Nachperiode steht in Abhängigkeit
von den vorhergehenden Perioden, die Menge des T rocken-
kotes nimmt wieder ab und erreicht fast die Höhe der Vor¬
periode.
Zur Beurteilung des Phosphorumsatzes bei Pro-
tylingaben müssen wir zunächst die Mengen ins Auge fassen,
die in den einzelnen Perioden zugeführt werden.
In der Vorperiode bei „normaler“ Nahrung betragen sie
3,17 g und halten sich in der 2. Periode mit 3,17 g, in der
3. Periode mit 3,18 g, in der 4. Periode mit 3,18 g und in der
5. Periode mit 3,21 g fast in derselben Höhe. Diese Gleich-
mässigkeit resultiert daraus, dass in dem eingeführten Protylin
j auch ungefähr immer ebenso viel Phosphor in den Organis¬
mus gelangte, als in der für das Protylin aus der Nahrung fort-
' gelassenen Menge Käse enthalten war.
Im 2. Teil des Versuches stieg natürlich die Phosphor¬
menge in der Einnahme (6. Periode 3,42 g, 7. Periode 3,67 g,
8. Periode 3,8 g), weil zur vollen genügenden Nahrung 10 g,
20 g und 25 g Protylin mit 0,25 g, 0,5 g und 0,63 Phosphor
zugeführt werde.
Die Ermittelung des Phosphorgehaltes im Harn und im Kot
' ergeben nun eine ziemlich gleichbleibende Ausscheidung von
Phosphor; wenigstens im ersten Teil des Versuches (I. — V.
Periode).
I. Periode
Harn 2,31
Kot 0,70
Gesamtphosphor
3,01
II. „
„ 2,42
„ 0,86
yy
3,28
III. „
„ 2,40
„ 0,84
yy
3,24
IV. „
„ 2,30
„ 0,85
yy
3,15
V. „
„ 2,42
„ 0,75
yy
3,17
Da die Einnahme im Mittel aller 5 Perioden 3,19 g betrug,
so befand ich mich in dieser Zeit fast auf Phosphor¬
gleichgewichtszustand. Die Bilanzen waren : Vor¬
periode + 0,16; — 0,11; — 0,06; + 0,03; + 0,04.
Wir müssen daraus den Schluss ziehen, dass die Protylin-
gaben genügten, den Organismus an Phosphor nicht verarmen
zu lassen und auf seinem Gleichgewichtszustand zu erhalten.
21 ) Gumpert: 1. c.
22) Bornstein: 1. c.
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1561
Will man auf die kleinen Schwankungen Rücksicht nehmen,
so könnte man in der 4. und 5. Periode eine ganz geringere
Retention an Phosphor zu Gunsten des Protylins herauslesen,
doch möchte ich nicht allzuviel Wert darauf gelegt wissen.
Auch geben die kleinen Differenzen in der Plus- und
Minusdifferenz keine sicheren Anhaltspunkte über den Pa¬
rallelismus der Stickstoff - und Phosphoraus¬
scheidung, wenn es auch scheint, als ob in diesem Teil
des Versuches ein Parallelismus in der Plus- und Minusdistanz
der Stickstoff- und Phosphorausfuhr nicht vorhanden wäre.
Anders verhält es sich im 2. Teil, wo grössere Mengen
Phosphor zur vollen genügenden Nahrung gegeben werden.
Betrachtet man zunächst die Einnahmen und Ausgaben an
Phosphor in den letzten Perioden:
V. Periode: Einnahme 3,21
Ausgabe 3,17
Bilanz -
b 0,04
VI.
„ 3,42
„ 3,11
11
- 0,31
VII.
„ 3,67
„ 3,22
11
- 0,45
VIII.
„ 3,80
„ 3,33
11
- 0,47
so sieht man sofort, da§s in jeder Periode die Einnahmen die
Ausgaben übersteigen, d. h. dass eine Retention von
Phosphor im Organismus stattgefunden hat.
Im Harn tritt ähnlich wie beim Stickstoff eine geringe Er¬
höhung der Phosphorausscheidung ein (5. Pe¬
riode 2,42 g, 6. Periode 2,51 g, 7. Periode 2,60 g, 8. Periode
2,71 g), welche ohne weiteres auf die vermehrte Einführung
von Phosphor zurückzuführen ist; sie steht aber in keinem
Verhältnis zu den stark steigenden Phosphordosen von 0,25 g,
0,5 g, 0,65 g. Wäre der Phosphor im Organismus nicht assimi¬
liert worden, so hätte man im Elarn zweifellos mehr finden
müssen. Es ist demnach ein erheblicher Teil im
Körper zurückgehalten worden. Gestützt wird
diese Annahme dadurch, dass im Kot weniger Phosphor ge¬
funden wurde als in den ersten Perioden, trotz Vermehrung
des Trockenkotes (2. Periode 0,86 g; 3. Periode 0,84 g; 4. Pe¬
riode 0,85 g; 5. Periode 0,75 g; 6. Periode 0,60 g; 7. Periode
0,62; 8. Periode 0,62). Worauf die geringere Ausfuhr im Kot
zurückzuführen ist, kann nicht ohne weiteres bestimmt beant¬
wortet werden. Es ist aber der Grund sehr wahrscheinlich
darin zu suchen, dass beivölliggenügenderNahrung
eine bessere Ausnützung des im Protylin ein¬
geführten Phosphors eintritt .
Hier zeigt sich die beachtenswerte Tatsache, dass bei
vermehrter Kotausfuhr und damit in Zusammenhang stehender
Stickstoffausfuhr die Phosphorausfuhr im Gegenteil vermindert
wird, also kein Parallelismus besteht, während
im Harn Stickstoff und Harnphosphor ein sol¬
cher nachzuweisen ist. Vergleicht man die Bilanz
des Stickstoff- und Phosphor Umsatzes, so ist
in der 6. — 8. Periode ebenfalls ein Parallelismus zu
konstatieren und zwar in positivem Sinne.
VI. Periode: Stickstoff 4- 0,36 Phosphor -|- 0,31
VII. „ „ -j- 1,14 „ -j- 0,45
VIII. . „ „ + 1,60 „ + 0,47
Es würden die Resultate in betreff des P a r a 1 1 e 1 i s -
mus zwischen Phosphor und Stickstoff mit
denen von R e n w a 1 1 übereinstimmen, in betreff der Re¬
tention mit denen von Tigersted t, Meyer, Büch¬
mann, Posternak, Gumpert, Siven, Zadick und
E h r s t r ö m.
Kurz zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Bei
den Versuchen, indeneneinTeildesNahrungs-
eiweisses und des Phosphors durch eine ali¬
quote Menge Protylin ersetzt wurde, konnte
der Organismus ganz oder fast ganz auf sei¬
nem Stickstoff- und Phosp'horgleichgewicht
erhalten werden. In anderen Versuchen, in
denen zur vollen genügenden Nahrung ver¬
schieden grosse Mengen Protylin gegeben
wurden, zeigte sich ein Stickstoffansatz und
gleichzeitige Phosphorretention. Daraus
darf geschlossen werden, dass der Phosphor
und das Eiweiss des Protylins im Organismus
zu Gunsten des Z e 11 a u f b a u e s resorbiert und
No. 32.
assimiliert wird und dem Körper zu Gute
k o m m t.
Aus der chirurgischen Abteilung des Stadtkrankenhauses .zu
Chemnitz (Hofrat Dr. Reichel).
Ueber akute Magenerweiterung und sogenannten
arterio-mesenterialen Darmverschluss.
Von Dr. Neck, früherem Sekundärarzt.
Die akute Magenerweiterung ist eine jener Erkrankungen,
deren genaue Kenntnis für die Praxis von der grössten
Wichtigkeit ist, weil sie, rechtzeitig erkannt, den Arzt in den
Stand setzt, durch verhältnismässig einfache Massnahmen das
in höchstem Grade gefährdete Leben der Erkrankten zu er¬
halten. Die Tatsache, dass die in Rede stehende Erkrankung
noch nicht genügend allgemein bekannt ist, — die meisten
Fälle wurden erst bei der Obduktion richtig gedeutet —
muss uns Veranlassung geben, durch Mitteilung neuer Beob¬
achtungen immer wieder die Aufmerksamkeit der Aerzte auf
eine praktisch so bedeutsame Krankheit zu lenken. Von diesen
Ueberlegungen ausgehend, sei es mir gestattet, über 4 Fälle
von akuter Magenerweiterung zu berichten, von welchen drei
auf der chirurgischen Abteilung des hiesigen Stadtkranken¬
hauses zur Beobachtung kamen; ein vierter Fall wurde mir
von Herrn Dr. K i r c h - Krefeld in dankenswerter Weise zur
Veröffentlichung überlassen.
Im 1. Falle handelte es sich um einen 16 jährigen Mann. Er
gab an, dass er einige Monate vor der Aufnahme ins Krankenhaus
2 mal je einen Tag Schmerzen in der Unterbauchgegend gehabt habe.
Der Stuhlgang sei ausgeblieben und Erbrechen aufgetreten. Ab¬
gesehen von diesen Störungen sei er immer gesund gewesen. Am
23. Oktober 1902 erkrankte er plötzlich unter heftigen Schmerzen
im Unterbauch. Der Vater des Kranken gab an, dass sein Sohn am
Tag der Erkrankung grosse Mengen frisches Obst während der Arbeit
auf dem Felde genossen habe. Allmählich zogen sich diese Schmer¬
zen auch auf die linke Oberbauchgegend. Es trat Stuhlverhaltung
auf, Winde gingen nicht mehr ab. Bald stellte sich Erbrechen kaffee¬
satzartiger Massen ein, zeitweise erfolgte auch Aufstossen. Am Tag
der Aufnahme in das Krankenhaus (28. X. 1902) traten beim Atmen
grosse Beschwerden auf. Patient bekam nicht genügend Luft und
musste sehr rasch atmen. Seit 26. Oktober stand der Kranke in ärzt¬
licher Behandlung. Durch wiederholt verabreichte Einläufe konnte
keine Stuhlentleerung erzielt werden. Der Arzt schickte den Kranken
mit der Diagnose Darmverschluss zur Vornahme einer Operation in
das Krankenhaus.
Bei der am 28. Oktober 1902 nachts 2 Uhr erfolgten Aufnahme
wurde folgender Befund erhoben:
Der junge Mann befand sich in sehr schlechtem Ernährungs¬
zustand, das Gesicht war verfallen, leicht gerötet. Der Puls war nur
bei grösster Aufmerksamkeit fühlbar und betrug in der Minute
132 — 140 Schläge.
Die Atmung war frequent (48 — 60 Atemzüge in der Minute), ober¬
flächlich und mühsam. An den Lungen konnten keine krankhaften
Veränderungen festgestellt werden, ebensowenig am Herzen. Das
Zwerchfell stand links am unteren Rand der 5. Rippe. Rechterseits
begann die Leberdämpfung am unteren Rand der 6. Rippe und reichte
bis zum Rippenbogen. Bei der Besichtigung des Bauches fiel es auf,
dass er links von der Mitte vom Rippenbogen an abwärts bis zum
P o u p a r t sehen Band und in der rechten Unterbauchgegend stark
vorgetrieben war. Die rechte Oberbauchgegend dagegen erschien
flach. Im Bereich der Vorwölbung war absolute Dämpfung vorhan¬
den, während in der rechten Oberbauchgegend und über dem
Traube sehen Raum tympanitischer Schall bestand. Beim An¬
schlägen mit dem Finger auf der einen Seite der gedämpften Partie
fühlte man auf der anderen Seite grosswellige Fluktuation und beim
Erschüttern dieser Gegend Plätschern mit metallischem Beiklang ent¬
sprechend einer mit Gas gemischten Flüssigkeitsansammlung. Nach
Einführung eines Katheters in die Blase kam kein Tropfen Urin. Der
Kranke gab an, dass er seit Beginn seiner Erkrankung täglich nur
ganz geringe Mengen Urin entleert habe.
Bei der Untersuchung vom Mastdarm aus konnte nichts Beson¬
deres festgestellt werden. Die Betastung des Bauches war nur
mässig schmerzhaft, insbesondere bestand im Bereich der genannten
Dämpfung und bei stärkerer Betastung Schmerz. Auf Grund der
Anamnese und des Befundes wurde an eine abgesackte Eiteransamm¬
lung in der Bauchhöhle gedacht, deren Grundursache zunächst dahin¬
gestellt blieb. Da der Kranke einen längeren Transport hinter sich
hatte und der Zustand ein überaus elender war, wurde zunächst
zugewartet, eine Kochsalzinfusion verabreicht und Kampher subkutan
gegeben. Durch den Mund erhielt er gar nichts.
Morgens 714 Uhr war der Zustand völlig unverändert. Er¬
brochen hatte der Kranke während seines Aufenthalts im Kranken-
2
1562
MUENCHENER MEDIZINISCEIE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
hause nicht mehr. Zum Zweck der Ausführung einer Laparotomie
wurde der Kranke auf den Operationstisch verbracht. Hier auf dem
Tisch stellte sich dann Erbrechen einer grösseren Menge schwarz¬
brauner Flüssigkeit, die mit zahlreichen Öbstkernen vermischt war,
ein. Nach Einführung einer Magensonde entleerten sich in Becken¬
hochlagerung grosse Mengen von Flüssigkeit, die die geschilderte
Beschaffenheit hatte und es wurde nunmehr die Diagnose auf akute
Magenerweiterung gestellt. Im ganzen betrugen die ‘mit der Sonde
entleerten Massen A/z Liter. Alles konnte auch in Beckenhochlage¬
rung nicht herausbefördert werden. Nach Abschluss der Aushebe¬
rung war immer noch Plätschern in der linken Seite des Bauches zu
bemerken. Die früher beschriebene Dämpfungsfigur war erheblich
kleiner geworden und war wesentlich nach oben gerückt, so dass
ihr unterer Rand etwa in der Höhe der Verbindungslinie der beiden
vorderen Darmbeinstacheln stand. Nach der Ausheberung fühlte
sich der Kranke sofort wohler. Die Atmung wurde völlig ruhig,
die Schmerzen waren verschwunden. Da eine so wesentliche Besse¬
rung in dem Befinden des Kranken eingetreten war, wurde zunächst
von einer Operation abgesehen. Dem Kranken wurde weiterhin durch
Kochsalzinfusionen Flüssigkeit zugeführt. Im Verlauf des Tages ent¬
leerte er etwa 50 ccm klaren Urins.
Am Abend wurden aus dem Magen mit der Magensonde in
Beckenhochlagerung noch etwa 1000 ccm braunschwarzer Flüssig¬
keit entleert und darauf wurde der Magen ausgespült. Der Puls
war am Abend kräftiger geworden, die Atmung war tagsüber ruhig
geblieben. Erbrechen war nicht mehr erfolgt. Am 29. Oktober mor¬
gens war der Puls kräftig (96 Schläge in der Minute). Die Beschwer¬
den waren völlig verschwunden und zum ersten Male gingen Flatus
ab. Die Dämpfung im Bauch lag im wesentlichen im Epigastrium.
Nach abwärts reichte sie bis zum Nabel. Die Ausheberung des
Magens am Vormittag dieses Tages ergab 800 ccm einer grasgrünen,
nur mit wenig schwarzbraunen Flocken durchsetzten Flüssigkeit. Die
Urinmenge war im Laufe dieses Tages auf 800' ccm gestiegen. Die
Untersuchung der schwarzbraunen Massen, die aus dem Magen ent¬
leert wurden, ergab, dass es sich um Blutbeimischungen handelte.
Weiterhin enthielt der Mageninhalt Milchsäure, während die Salz¬
säurereaktion negativ ausfiel.
Vom 5. Tage an wurde Milch und später breiige Kost verabreicht.
Die bis zum 5. Tage fortgesetzten Magenausspülungen wurden aus¬
gesetzt, da sich der Magen nach mehreren Stunden leer zeigte.
Am 10. Tage wurden zum ersten Male wieder geringe Salz¬
säuremengen im Mageninhalt gefunden. Die Milchsäurereaktion war
von nun an negativ.
Nach 26 Tagen wurde der Kranke nach Hause entlassen. Er
fühlte sich völlig wohl. Bei gefülltem Magen stand die grosse Kur¬
vatur 2 Querfinger oberhalb des Nabels. Die Stuhlentleerungen er¬
folgten in den ersten 10 Tagen gewöhnlich jeden zweiten Tag, von
da ab täglich. Der Puls bewegte sich vom 3. Tage ab zwischen 76
und 80 Schlägen in der Minute.
Eine Nachuntersuchung dieses Kranken konnte nicht vorge¬
nommen werden, da er nicht aufzufinden war.
Die Ursachen der akuten Magenerweiterung sind, wie wir
noch hören werden, verschiedenartig. Der eben geschilderte
Fall gehört unter jene Kategorie, bei welcher reichliche und
ungeeignete Nahrungs- und Elüssigkeitszufuhr als Ursache
der A'lagenerweiterung erkannt wurde. R e n n e 1 1 beobachtete
eine akute Magenerweiterung bei einem . Kranken, der auf
einmal 2 Flaschen Limonade ausgetrunken hatte, K i r c h sah
die Erweiterung im Anschluss an den Genuss von Brot, Suppe
und Weissbier auftreten. In einem Fall Körtes stellte sich
die Erkrankung nach einer reichlichen aus Mohrrüben be¬
stehenden Mahlzeit ein. Ein Patient Heines erkrankte, nach¬
dem er am Abend vorher bei einem Essen 3—4 Flaschen Sekt
getrunken hatte. Nachweisbare Diätfehler stellten ferner
B ä u m 1er, Hoffman n, Boas, Frankel und Abbe bei
ihren Erkrankten fest.
Dass eine unmässige Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme
eine Dehnung des Magens und somit eine funktionelle Störung
verursachen kann, ist ohne weiteres verständlich. Dazu
kommt, dass durch ein längeres Verweilen der Speisen in
einem funktionsuntüchtigen Magen abnorme Gährungen ver¬
ursacht werden, die ihrerseits zur Gasententwicklung und
Toxinbildung und damit zu weiterer Schädigung der Magen¬
tätigkeit führen.
Anders lagen die Verhältnisse im 2. Fall unserer Beobachtung.
Dieser kam am 17. Dezember 1902 auf die chirurgische Abteilung.
Die -40 jährige Frau gab an, dass sie schon seit ihrer Kindheit eine
Verbiegung der Wirbelsäule habe. Vor Beginn ihrer jetzigen Er¬
krankung sei sie nie ernstlich krank gewesen, vor allem habe sie nie
ein Magendarmleiden gehabt. 8 Tage vor der Aufnahme ins Kranken¬
haus sei sie ohne bekannte Ursache unter Schmerzen in der Magen¬
gegend und Erbrechen schleimiger Massen erkrankt. Der Stuhl, der
vorher regelmässig war, sei ganz ausgeblieben, ebenso war kein
Abgang von Winden mehr erfolgt. Seit 4 Tagen habe sich das Er¬
brechen häufiger eingestellt und sie sei mehr und mehr hinfällig ge¬
worden. Der Leib sei immer dicker geworden.
Bei der Untersuchung im Krankenhaus wurde bei der Kranken
ein verfallenes Aussehen festgestellt. Der Puls war sehr klein und
betrug 128 Schläge in der Minute. Die Temperaturmessung ergab
37,2 °.
Der Leib war stark aufgetrieben. In der ganzen linken Bauch¬
seite und unterhalb des Nabels nach rechts hinüberreichend bestand
absolute Dämpfung. Ein freier Erguss war im Bauch nicht
nachweisbar. Der Bauch war überall mässig druckempfindlich. Eine
Geschwulst war nirgends zu fühlen. Die Wirbelsäule war in ihrem
unteren Brustabschnitt stark nach hinten und links verbogen. Die
Kuppe der Verbiegung lag in der Höhe des 10. Brustwirbels.
Ueber den Lungen hörte man zerstreut vereinzelte Rassel¬
geräusche. Im übrigen war bei der Kranken nichts Krankhaftes
an den Brustorganen festzustellen.
Die Diagnose wurde auf akute Magenerweiterung gestellt.
Bei der Einführung der Magensonde entleerte sich sofort in
fast kontinuierlichem Strahl ein bräunlicher, nicht kotig riechender,
dünnflüssiger Mageninhalt von leicht säuerlichem Geruch. Im gan¬
zen wurden etwa 2 Liter derartiger Flüssigkeit entleert. Durch Aus¬
spülen wurde der Magen möglichst gesäubert. Danach zeigte sich
der Leib zusammengefallen und fühlte sich weich an. Die vorher
vorhandene Dämpfung war verschwunden. Eine Geschwulst war
auch nach der Ausheberung des Magens nicht zu fühlen. Der Kran¬
ken wurde eipe Kochsalzinfusion verabreicht. Per os wurde gar
nichts zugeführt. Die am nächsten Morgen vorgenommene Magen¬
ausheberung ergab noch etwa 50 g einer intensiv gallig gefärbten
Flüssigkeit. Der Magensaft enthielt keine freie Salzsäure, dagegen
Milchsäure. Der Puls hatte sich wesentlich gekräftigt, auch war das
Allgemeinbefinden ein besseres geworden. Vom 2. Tage an trat
bräunlich gefärbter Stuhlgang auf, es erfolgte wieder Abgang von
Winden. Die Urinentleerung, die vordem sehr gering war, nahm
wieder zu. Vom 5. Tag an konnte bei den morgens in nüchternem
Zustand vorgenommenen Ausheberungen kein nennenswerter Inhalt
mehr aus dem Magen gewonnen werden. Die Patientin sah wieder
wohl aus, subjektive Beschwerden hatte sie nicht mehr. Breiige
Kost wurde jetzt gut vertragen. Vom 10. Tage ab wurde feste Kost
verabreicht, ohne irgend welche Störungen zu verursachen. Bei der
Untersuchung des Mageninhaltes nach 16 Tagen fand sich Salzsäure
in geringer Menge, die Milchsäurereaktion war immer noch positiv.
Nach 14 Tagen wurden die Magenspülungen vollkommen ausgesetzt
und nach 3 Wochen konnte die Kranke völlig beschwerde-frei aus der
Behandlung entlassen werden.
Bei einer im August 1905 vorgenommenen Nachuntersuchung
gab die Frau an, dass sie sich seit ihrer Entlassung aus dem Kranken¬
haus wohl gefühlt habe und keinerlei Magenstörungen bemerkte. Bei
der Untersuchung des Magens der gut genährten und gesund aus¬
sehenden Frau wurde ein Tiefstand des Pylorus — rechts vom
Nabel und Vertikalstellung des Magens nach Aufblasung desselben —
gefunden. Bezüglich seines Volumens zeigt der Magen ein nor¬
males Verhalten. Von dem 2% Stunden vorher eingenommenen
Frühstück war nur noch wenig im Magen.
Herr Dr. K i r c h berichtet mir über seinen dem vorher¬
gehenden ähnlichen Fall folgendes:
Es handelte sich um einen 42 jährigen schwächlichen tuber¬
kulösen Mann, der nach dem Genüsse von 2 Tellern Buttermilch¬
suppe in der Nacht unter Erbrechen und Leibschmerzen erkrankte.
Das Erbrechen dauerte auch an den beiden folgenden Tagen noch an,
und zwar wurde, wie man mir versicherte, graugrüne Flüssigkeit er¬
brochen. Da der Zustand immer elender wurde, so wurde ich am
3. Tage zu dem Kranken hingerufen, der einen ganz bedauernswerten
Eindruck machte. Verfallenes, ängstlich verzogenes Gesicht mit
tiefliegenden Augen, die richtige Facies hippocratica, welke, an
Händen und Stirne schweissbedeckte Haut, sehr frequenter, fast un¬
fühlbarer Puls deuteten an, dass der Kranke bald' seinen letzten Weg
antreten würde. Ich muss gestehen, beim ersten Anblicke des Pa¬
tienten trat mir sofort wieder der von mir seinerzeit beschriebene
Fall von akuter Magendilatation in Erinnerung und die nähere Unter¬
suchung bestätigte auch die Diagnose, die ich schon vorahnender-
weise gestellt hatte. Magengegend auf Druck sehr empfindlich,
Bauch mässig aufgetrieben, in der linken Bauchseite und diese ganz
ausfüllend ein Bezirk absoluter Dämpfung, der sich etwas nach rechts
vom Nabel in die Hö'he zum rechten Rippenbogen hinzog. Stuhl
seit ein paar Tagen angehalten, Flatus gingen seit Beginn der Er¬
krankung nicht ab. Als besonders wichtig (meines Erachtens wenig¬
stens) für die Deutung des Zustandekommens dieses Krankheitsbildes
will ich einen Umstand noch hervorheben, nämlich das Bestehen einer
mässigen Kyphoskoliose (Brustkrümmung der Wirbelsäule nach rechts
gerichtet, gerade wie in meinem 1. Falle). Temp. 36,2, Urin spärlich
und konzentriert, indikanhaltig, frei von Zucker und Eiweiss. Enor¬
mer Durst und quälendes Erbrechen. Probepunktion in der Gegend
der absoluten Dämpfung ergab trübe, grünliche, fast geruchlose
Flüssigkeit. Therapie: Entleerung mit dem Magenschlauch von fast
3 Liter Flüssigkeit, Kampherinjektionen. Die angeordnete Bauchlage
7. August 1906.
, _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1563
konnte Patient wegen Atembeschwerden nicht aushalten. Exitus nach
5 Stunden.
Sektion der Bauchhöhle: Grosser, schwappender, mit gallig ge¬
färbter Flüssigkeit, in der noch kleine Brotstückchen umherschwam-
men, gefüllter Magen, der mit seiner grosssen Kurvatur ca. 3 Quer¬
finger über der Symphyse steht. Schleimhaut blassrot, an einzelnen
Stellen grau, schmierig erweicht. Pylorus sehr weit, bequem für
3 Finger durchgängig. Der absteigende Teil des Duodenums bis zu
einer gewissen Stelle stark ausgedehnt und mit Flüssigkeit gefüllt,
wird dann plötzlich und unvermittelt eng. Dünndarm sehr blass,
verengt, im kleinen Becken liegend, im Dickdarm Luft und Kotmassen.
Magenwände dünn.
In beiden letztgenannten Fällen war die akute Magen¬
erweiterung bei Personen aufgetreten, die seit ihrer lugend
mit einer Kyphoskoliose behaftet waren. Wie die Nachunter¬
suchung zeigte, bestand bei der Frau ein beträchtlicher Tief¬
stand des Magens und es liegt nahe, diesen Tiefstand mit der
Verbiegung der Wirbelsäule in Zusammenhang zu bringen und
ihn als prädisponierende Ursache für die akute Magener¬
weiterung anzusehen. Dem unseren ähnliche Fälle beob¬
achteten P e r r y und Shaw, Kirch und R e 1 1 i n g.
Während in den Fällen Kirchs ein Diätfehler die
direkte Ursache der Erkrankung abgab, kommt neben
einem Diätfehler in den Fällen P e r r y s und Shaw s,
ebenso K e 1 1 i n g s, das Anlegen eines Gipskorsetts bei der
Entstehung der Erweiterung als tatsächlicher Faktor mit in
Frage. Kelling teilt seine Beobachtung genauer mit. Es
war bei einem Mädchen wegen einer linksseitigen lumbodor-
salen Skoliose ein Gipskorsett angelegt worden. Nach fünf
Tagen trat Erbrechen kleiner Mengen auf, viel konnte die
Kranke nicht erbrechen. Drei Tage nach Beginn der Erkran¬
kung sah Kelling die Patientin zum ersten Mal. Nach Ab¬
nahme des Gipskorsetts wurde die Magenerweiterung fest¬
gestellt. Interessant ist an diesem Fall noch, dass dieselbe
Kranke vorher bereits zweimal Gipskorsette trug, ohne däss
dabei irgendwelche Störungen von Seiten des Magens auf¬
traten. Das dritte Korsett wurde sofort nach Abnahme des
zweiten wieder angelegt. Kelling schreibt der Wirbel¬
säulenverbiegung bei der Entstehung der Magenerweiterung
einen begünstigenden Einfluss zu und begründet seine Mei¬
nung in folgender Weise: Die Kranke hatte infolge ihrer Sko-
iiose einen vertikal gestellten Magen mit Tiefstand des Pylorus,
wie er später bei Aufblähung des Magens nachweisen konnte.
Dadurch war eine Prädisposition zu einer Kompression des
Duodenums bei Ueberfüllung des Magens durch reichliches
Essen und Trinken — was tatsächlich sowohl in seinem wie
in dem Falle Kirchs, Perrys und Sha w s stattgefunden
hatte — geschaffen. Ein Gipskorsett wirkt nun insofern noch
erschwerend, als der Magen dadurch in einer Stellung fest¬
gehalten wird, in welcher eine Lösung des Verschlusses un¬
möglich ist. Bei unserer Kranken fällt die Wirkung des Gips¬
korsetts weg; eine direkte Ursache ist nicht mit Sicherheit
festzustellen, das wahrscheinlichste bleibt, — wie im 2. Fall
von Kirch — dass auch bei ihr eine Ueberfüllung des abnorm
gelegenen Organes die direkte Ursache für die akute Er¬
weiterung abgab.
Häufig wurde die akute Magenerweiterung im Anschluss
an Operationen, welche in Chloroformnarkose ausgeführt wur¬
den, beobachtet. 29 derartige Fälle sind beschrieben worden,
nachdem Riedel die ersten hierher gehörenden Fälle ver¬
öffentlicht hatte. Wegen d-er durch die Ektasie bedingten
bedrohlichen Erscheinungen führte Riedel zweimal die
Relaparotomie aus und fand den bei der ersten Operation
dem Gesicht als normales Organ zugänglich gewesenen Magen
dunkelblaurot, dilatiert und enorm gespannt. Zwei gewaltige
armdicke Schläuche lagen nebeneinander; von der Kardia
ging der linksseitige bis zum Ligament. Poupart. herunter, um
dort unter spitzem Winkel in den rechtsseitigen überzugehen,
der fast in sagittaler Richtung nach oben zum Pylorus verlief;
zwischen beiden lag in extremer Weise ausgespannt das kleine
Netz. 17 mal handelte es sich bei den der Ektasie vorher¬
gegangenen Eingriffen um Bauchoperationen, wobei die An¬
nahme einer durch die Operation gesetzten Schädigung des
Magens nicht ganz von der Hand zu weisen ist. In den übrigen
11 Fällen handelte es sich aber um blutige und unblutige Ein¬
griffe, die nicht an Bauchorganen gemacht wurden, und für
diese Fälle kann nur das Narkotikum für die Entstehung der
Krankheit verantwortlich gemacht werden. Durch das Hinein¬
gelangen von Chloroform in den Magen werden offenbar die
muskulösen und nervösen Elemente bei einer Anzahl von Indi¬
viduen derart geschädigt, dass die schwere Erkrankung des
Magens daraus resultiert.
Ich werde in meiner Annahme, dass Gifte bei bestimmten
Individuen eine zur akuten Ausdehnung des Magens führende
Schädigung veranlassen, durch die folgende weitere Beob¬
achtung bestärkt.
Bei einem stark abgemagerten Mann, der schon lange im Kran¬
kenhaus lag und mehrfach wegen tuberkulöser Rippenkaries operiert
worden war, stellte sich zwei Stunden nach Verabreichung von 0,5
Veronal plötzlich heftiger Schmerz in der Magengegend und hef¬
tiges Erbrechen ein. Die Pulsfrequenz betrug 132 — 140 bei nicht
erhöhter Temperatur. Nach etwa 14 Stunden stand die untere Grenze
des vordem völlig normalen Magens zwischen Nabel und Symphyse.
Besonders hervorgehoben muss werden, dass der Kranke mehrfach
chloroformiert worden war und darnach vorübergehend von seiten
des Magens nur leichte Störungen beobachtet wurden, dass er neben
Morphium während seines schmerzhaften Leidens häufig Sulfonal
und Bromkali zugeführt bekam, ohne die geringsten Störungen von
seiten des Magens zu bieten. Ein Diätfehler war ebenfalls sicher aus-
zuschliessen, sodass nur die Annahme einer schädigenden Wirkung
des Veronals auf den Magen übrig bleibt. Die akute Magenerweite¬
rung ging auf systematische Magenspülungen bald zurück.
Um schliesslich noch die bis jetzt beobachteten Ursachen
für die Entstehung einer akuten Magenerweiterung vollzählig
zu machen, sei noch erwäjint, dass einigemal die Magen¬
erweiterung im Anschluss an Traumen auftrat. Appel be¬
obachtete sie nach einer Bauchquetschung. Unter Annahme
eines Darmverschlusses führte er den Bauchschnitt aus und
fand den hochgradig erweiterten Magen. Wallace und
Box sahen sie im Anschluss an einen Stoss gegen das Epi-
gastrium auftreten. Wahrscheinlich handelt es sich in diesen
Fällen um eine direkte Schädigung des Organs durch Quet¬
schung.
Erwähnt muss werden, dass bei einer grösseren An¬
zahl von Fällen, die in der Literatur niedergelegt sind, vor
Eintritt der Erweiterung prädisponierende Ursachen vorhanden
gewesen sind (allgemeine körperliche Schwäche nach Krank¬
heiten, vorhergegangene Magenerkrankungen, Lageverände¬
rungen des Magens). Aber auch bei vorher ganz normalem
Magen kann die Erweiterung Vorkommen, wie sicher fest¬
gestellt wurde (Heine, Riedel u. a.).
Unsere Fälle illustrieren die Symptome bei akuterMagen-
erweiterung gut. Zumeist tritt plötzlich heftiges Erbrechen
auf, mehr oder weniger starke Schmerzen in verschiedenen
Abschnitten des aufgetriebenen Leibes gesellen sich dazu, der
Puls wird klein und frequent, dabei ist die Temperatur nicht
erhöht. Das Fehlen der Temperaturerhöhung ist insofern
wichtig, als man dadurch eher eine Peritonitis, bei welcher in
der Regel eine Temperaturerhöhung besteht, ausschliessen
kann. Für eine Peritonitis würden die übrigen genannten
Symptome sprechen und in der Tat ist die akute Magenerweite¬
rung mit einer Bauchfellentzündung mehrfach verwechselt
worden. Eine diagnostische Bedeutung kommt auch einer in
der linken Bauchseite gelegenen abgesackten Flüssigkeits¬
ansammlung zu, die wir und andere bei akuter Magenerweite¬
rung feststellen konnten. Unter 60 Fällen wurde die richtige
Diagnose nur 13 mal gestellt und dies meist von Beobachtern,
die zuvor einen nicht erkannten Fall von akuter Magen¬
erweiterung behandelt hatten und sich erst durch die Sektion
über ihren ersten Fall Klarheit verschafften. In erster Linie
wird man bei der Diagnosenstellung die Erweiterung des
Magens nachzuweisen haben. Der Nachweis wird am besten
nach Einführung der Magensonde gelingen.
Die Prognose ist bei der in Rede stehenden Erkran¬
kung, sobald nicht baldigst die richtige Therapie eingeleitet
wird, eine sehr schlechte. Von 64 Fällen, die veröffentlicht
wurden, sind 47 gestorben.
Was die Behandlung betrifft, so ist in erster Linie
die Ausheberung des überdehnten Magens zu bewerkstelligen.
Die Ausheberung wird am besten in Beckenhochlagerung aus-
2*
1004
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
geführt, weil es so viel eher gelingen wird, den funktions¬
unfähigen Magen genügend zu entlasten. Borchardt hat
darauf hingewiesen, dass bei der akuten Magenerweiterung
dadurch eine ungenügende Entleerung bei der Ausheberung
bedingt wird, dass die eingeführte Sonde nicht bis in die
Flüssigkeit hineinreicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein
Teil der Kranken, bei welchen ein- oder mehrmalige Magen¬
ausspülungen gemacht wurden, und die trotzdem zugrunde
gingen, infolge ungenügender Entleerung des Magens erlag.
In den ersten Tagen ist es erforderlich, regelmässig mehr¬
mals Magenausspülungen vorzunehmen. Durch den Mund darf
konsequent solange keine Nahrung zugeführt werden, bis sich
der Magen genügend erholt hat. Man muss sich in der ersten
Zeit damit begnügen, den Kranken entweder durch Ver¬
abreichung von subkutanen Kochsalzlösungen oder durch
Wassereinläufe die genügende Flüssigkeit zuzuführen. Da¬
neben können noch Nährklystiere verabreicht werden. Dass
die Herzschwäche entsprechend bekämpft werden muss,
braucht nur nebenbei erwähnt zu werden.
Es erübrigt noch, an dieser Stelle kurz die bei der in Frage
stehenden Erkrankung gemachten Beobachtungen von Passage¬
störungen des Darmes, insbesondere den sogen, arterio-
mesenterialen Darmverschluss zu streifen, weil durch sie unser
therapeutisches Handeln zu einem gewissen Grad beeinflusst
werden kann.
Kund rat hat im Jahre 1891 auf Grund seiner Be¬
obachtungen an drei Fällen von akuter Magenerweiterung, die
zur Obduktion kamen, die Ansicht ausgesprochen, dass es sich
dabei um die Folgen einer Duodenalkompression handle, welche
ihrerseits durch das straff gespannte Dünndarmmesenterium
verursacht wurde. Bei diesen Obduktionen fand sich neben
der Magenerweiterung eine hochgradige Erweiterung des
Duodenums bis zu dessen Durchtrittsstelle unter dem Dünn¬
darmmesenterium. Der ganze leere Dünndarm lag im kleinen
Becken und dieses Hinabsinken des Darmes sollte nach An¬
sicht K u n d r a t s die Ursache für die hochgradige Kom¬
pression des Duodenums durch das Dünndarmmesenterium
abgeben. Dieser Situs wurde mehrfach bei Obduktionen be¬
stätigt, so auch wiederum in dem oben von K i r c h ge¬
gebenen Obduktionsbericht.
Dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass durch Herab¬
sinken des Dünndarms allein eine zum dauernden Verschluss
führende Kompression des Duodenums verursacht würde,
sprach A 1 b r e c h t auf Grund zweier Obduktionsbefunde aus.
Er ist der Meinung, dass der Dünndarm durch den hoch¬
gradig gefüllten Magen im kleinen Becken festgehalten würde,
und dass so eine Zerrung des Mesenteriums mit völliger Kom¬
pression des Duodenums zustande käme. Die einmal vor¬
handene arterio-mesenteriale Darmeinklemmung sei ihrerseits
wieder die Ursache einer fortwährenden Steigerung der
Magenfüllung und -Erweiterung, weil sie den Abfluss des
Magenduodenalinhaltes in das Jejunum verhindere. Es wurde
auch experimentell der Versuch gemacht, den Mechanismus
der akuten Magenerweiterung zu klären, und auf Grund dieser
Experimente — deren ausführlichere Mitteilung ich mir hier
versagen muss — , der Obduktionsbefunde und der klinischen
Beobachtungen kann man sich dahin aussprechen, dass bei der
akuten Magenerweiterung neben ihr und infolge derselben
Knickungen und Kompressionen des Duodenums Vorkommen,
die ihrerseits die Erweiterung steigern. Am häufigsten ist
beim Menschen eine Kompression des Duodenums an der
Durchtrittstelle desselben unter der Arteria mesenterica
superior durch diese und das Mesenterium beobachtet worden,
seltener Knickung des Duodenums infolge einer Zugwirkung
oder Drehung des erweiterten Magens. Die Magenerweiterung
ist aber stets als das Primäre anzusehen. Schnitzler hat
darauf aufmerksam gemacht, dass zur Behebung des Darm¬
hindernisses eine Bauchlagerung der Erkrankten zweckmässig
sei. Eine derartige Lagerung kann neben regelmässig durch¬
geführten Magenspülungen, die in erster Linie angewendet
werden müssen, als nutzbringend verordnet werden.
Einigemal wurde bei akuter Magenerweiterung ein opera¬
tiver Eingriff vorgenommen. So führte Höchen egg '") zur
Behebung des arterio-mesenterialen Verschlusses die Laparo¬
tomie aus. Appel, H o f f m a n n, J e s s o p, W a 1 1 a c e und
Box entleerten den Magen durch Gastrotomie; Kirch führte
zweimal die Punktion des Magens aus und Körte in einem
Fall die Gastroenteroanastomose. Alle Operierten sind ge¬
storben. Ich glaube, dass ein operativer Eingriff bei der akuten
Magenerweiterung nicht erforderlich ist, vielmehr die Magen¬
ausheberung in Beckenhochlagerung, frühzeitig angewendet,
stets zum Ziele führen wird. Tritt auch nach Anwendung der
Magenausheberung in Beckenhochlagerung keine Besserung
ein, dann ist die Annahme berechtigt, dass nicht eine einfache
akute Magenerweiterung vorliegt, sondern eine Magenerweite¬
rung, die auf einen hohen Darmverschluss zurückzuführen
wäre. In solchen Fällen wäre dann Veranlassung gegeben,
durch Laparotomie den Sachverhalt zu klären.
Aus der inneren Abteilung des Stadtkrankenhauses Johannstadt
zu Dresden (Geh. Medizinalrat Dr. Schmält z).
üeber die Behandlung akuter Arthritiden mit intra¬
venösen Kollargolinjektionen.*)
Von Dr. med. Georg R i e b o 1 d, II. Arzt.
Eine ganze Anzahl akuter und subakuter Arthritiden setzt
einer erfolgreichen Therapie oft erhebliche Schwierigkeiten ent¬
gegen. So besitzen wir z. B. gegen die gonorrhoischen
Gelenkentzündungen kein Spezifikum. Die üblichen
Antirheumatika, Jodkalium und andere innere Medikamente
sind meist erfolglos, und der Krankheitsverlauf ist in diesen
Fällen fest stets ein ungemein langwieriger. Der akute
Gelenkrheumatismus setzt sich mitunter in einem oder
mehreren Gelenken mit besonderer Hartnäckigkeit fest und
trotzt dann oft der sonst so erfolgreichen Therapie mit Salizyl-
und Antipyrinpräparaten. Auch gegen die Gelenkent¬
zündungen septischer Natur besitzen wir kein er¬
folgreiches internes Mittel. In allen diesen Fällen erzielt man
nun bekanntermassen mit der Bier sehen Stauung oft
überraschend günstige Resultate; aber oft genug versagt leider
auch diese Behandlungsmethode, und dann ist von anderen
lokalen Massnahmen, wie Pinselungen mit Jodtinktur, Auf¬
streichen von Ichthyol- oder Salizylsalben usw.
wohl kaum etwas zu erhoffen ; Schienen- und Gipsver-
b ä r. d e können symptomatisch ausgezeichnete Dienste leisten,
ohne doch als Heilfaktoren in Frage zu kommen. Die oft sehr
günstig wirkende örtliche Heissluftbehandlung,
die Massage sind vielfach der heftigen Schmerzen wegen
nicht anwendbar — kurz, jeder Arzt kennt jene ganz ver¬
zweifelten Fälle, in denen ein therapeutischer Versuch nach
dem andern fehlschlägt, in denen der interne Kliniker schliess¬
lich am Ende seines Könnens steht, in denen es im günstigsten
Falle zu ausgedehnten Ankylosenbildungen und damit zu
schweren Funktionsstörungen kommt, oder in denen sich
schliesslich ein operativer Eingriff nötig macht.
Und 2 solcher Fälle, die wochenlang jeder Therapie ge¬
trotzt hatten, und deren einer schon ernstlich die Frage eines
chirurgischen Eingriffs nahe legte, waren es, bei denen wir
auf Vorschlag des Herrn Geheimrat Dr. Crede zunächst
einen Versuch mit intravenösen Kollargolinjek¬
tionen machten (cf. unten Fall 1 und XIV). Wir wählten
diese Darreichungsform des Kollargols, weil die intravenöse
Injektion des Mittels sich nach den vorliegenden Veröffent¬
lichungen * 1) zweifellos als ungefährlich und wirksam er-
*) Bezüglich der genaueren Literaturangaben verweise ich auf
mein Referat „Ueber akute Magenerweiterung“ im Zentralblatt der
Grenzgebiete der Medizin und Chirurgie.
*) Vorgetragen in der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde
zu Dresden, am 3. März 1906.
1) Schmidt: Ueber die Wirkung intravenöser Kollargolinjek¬
tionen bei septischen Erkrankungen (aus der Crede sehen Abtei¬
lung). Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 15 und 16. 4 Fälle von
septischer Polyarthritis durch intravenöse Kollargolinjek¬
tionen geheilt. — Hermann: Gonorrh. Erythem (mit Rheuma¬
toid!) nach intravenöser Kollargolinjektion geheilt. 1 Fall. Münch.
7. August 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
wiesen hatte, weil die Silberschmierkur wegen der durch die
Einreibung bedingten Erschütterung zu starke Schmerzen ver¬
ursacht, und deshalb in unseren Fällen nicht anwendbar war,
und weil endlich über die Wirkung des durch Rektum und
Magen einverleibten Kollargols noch zu wenig abgeschlossene
Beobachtungen Vorlagen.
Die ausserordentlich günstigen Erfolge, die wir in den er¬
wähnten beiden Fällen erzielten, ermutigten uns zu weiteren
Versuchen. Es sei mir nun gestattet, das Resultat dieser
Versuche zusammenfassend mitzuteilen. Eine ganze Anzahl
der hierher gehörigen Fälle ist von meinem hochverehrten Chef,
Herrn Geheimrat Dr. S c h m a 1 1 z, in den Donnerstags¬
demonstrationen hiesigen Aerzten schon vorgestellt worden.
Wir verfügen im ganzen über 15 Fälle verschiedener
Gelenkaffektionen, in denen durch Kollargolinjektionen 11 mal
eine völlige Heilung, und 4 in a 1 eine ganz wesent¬
liche Besserung erzielt wurde. Es handelt sich um 7 Fälle
von gornorrhoischen Arthritiden, 2 Fälle von Polyarthritis rheu-
matica acuta, 4 Fälle von mehr subakutem Gelenkrheumatis¬
mus mit hartnäckigen Gelenkschwellungen, und 2 Fälle von
septischen Gelenkaffektionen.
Die einzelnen Fälle seien teils kurz, teils ausführlicher
mitgeteilt:
Fall I. Martha R., 19 J. Gonorrhoische G o n i t i s.
August 1903 gonorrhoisch infiziert. 28. IX. 1903 erkrankt mit Schmer¬
zen in verschiedenen Gelenken und Schwellung des linken Kniege¬
lenks. Bei der Aufnahme (29. IX. 1903) beträchtliche Anschwellung
des linken Kniegelenks (41 cm gegen 36 cm rechts), heftige Schmerzen
in diesem Gelenk; sonst keine Gelenkerscheinungen.
3 Wochen lang mit Salizyl, Antipyrin, Bier scher Stauung usw.
fast erfolglos behandelt. Dauernd remittierendes Fieber (bis 39,9).
Linkes Knie immer noch angeschwollen (39 cm), jeder Versuch
einer Bewegung verursacht die heftigsten Schmerzen. Ge¬
störtes Allgemeinbefinden.
22. X. Kollargolinjektion (2 proz., 8 ccm. Schüttelfrost 40,6).
Danach wesentliche Besserung der Schmerzen, geringe Abnahme der
Schwellung, Zurückgehen der Temperatur.
Nach 2 weiteren Kollargolinjektionen am 26. X. (2 proz., 6 ccm,
40,1, kein Schüttelfrost), und am 5. XI. (2 proz., 6 ccm, 40,2, kein
Schüttelfrost) sind die Schmerzen vollkommen geschwun¬
den, passive Bewegungen begegnen keinem Widerstand mehr, die
aktive Beweglichkeit nimmt rasch zu. Die Schwellung geht
vollkommen zurück (auf 36,5 cm). Die Temperatur wird
normal. Am 15. XI. bei bestem Wohlbefinden geheilt entlassen.
Fall II. Karl W., 30 J. Gonorrhoische Gonitis. Ende
März 1905 Gonorrhoe. Am 17. IV. erkrankt mit Schüttelfrost, Schmer¬
zen in verschiedenen Gelenken. In den nächsten Tagen schmerzhafte
Schwellung des linken Knies, die bisher jeder Therapie getrotzt hat.
Bei der Aufnahme (6. V.) starke Schwellung des linken Knies
(40 cm, rechts 35 cm), Schmerzen namentlich bei Bewegungsver¬
suchen. Hohes Fieber (39,0).
10. V. Kollargolinjektion (2 proz., 4 ccm, keine Reaktion). U m -
fang des linken Knies am 11. V. 39cm, am 12. V. 38 cm, am 13. V.
37,5 cm. Schmerzen geringer. Fieber unbeeinflusst.
14. V. Das Knie schwillt wieder an. 15. V. Kollargolinjektion
(2 proz., 8 ccm).
16. 5. Knieumfang 37,3 cm. In den nächsten Tagen wieder
stärkere Anschwellung. Ausgesprochen remittierendes Fieber mit
abendlichen Steigerungen auf 40,3 und Remissionen auf 36,5. Weitere
Kollargolinjektionen am 17. V., 30. V., 5. VI., (je 8 ccm, 2 proz.).
Nach jeder Injektion geht die Schwellung messbar zurück,
um sich bald wieder zu verstärken. Erst nach der letzten Injektion
(5. VI.) bleibt die Schwellung auf 37 cm. Von da ab ist Pat.
auch dauernd fieberfrei. Nach der 6. Injektion (8. VI.) Knie-
umfang 36 cm. Beginn mit passiven Bewegungen, die vollkommen
schmerzlos sind. Baldige vollständige Rückbildung des Ge¬
lenkergusses und Heilung (bis auf leichtes Schlottern). 30. VI.
entlassen. Pat. macht jetzt bereits wieder Bergbesteigungen.
4 weitere Fälle (III. — VI.) von gonorrhoischen Ar¬
thritiden verschiedener Gelenke, bei denen nach 2 — 5 Kollargol¬
injektionen Heilung eintrat.
med. Wochenschr. 1905, No. 36. — Rittershaus: Intravenöse
Kollargolinjektionen bei sept. und infekt. Erkrankungen. Therapie der
Gegenwart. Juli 1904. In einigen Fällen von Polyarthritis
rheum. a c. günstige Beeinflussung der Temperatur und des Allge¬
meinbefindens; auch negative Fälle. — Löbl: Ueber eine neue
Applikationsmethode von Kollargol. Therapie der Gegenwart 1904,
Heft 4. 1 Fall von septischer Polyarthritis durch Kollargol-
klysmen geheilt. — Gron: Kollargol. Pharmacia, Tidskrift for kemi
og Farmaci 1905, 3 Fälle von Rheumatismus gonorrhoicus
erfolgreich mit Silberschmierkur behandelt.
1565
1 Fall (VII.) schwerster gonorrhoischer Arthritis
beider Hand- und sämtlicher Fingergelenke mit heftigsten Schmerzen,
starken Gelenkschwellungen, Gelenkversteifungen (8 Wochen lang
erfolglos lokal und intern behandelt), in dem nach 2 Kollargol¬
injektionen die Gelenke abschwollen, und die Schmerzen wesentlich
geringer wurden, sodass mit passiven Uebungen begonnen werden
konnte, die schliesslich zur teilweisen Wiedererlangung der Ge¬
brauchsfähigkeit der Hände führten, soweit dies die Gelenkverstei¬
fungen zuliessen. (In mediko-mechanische Behandlung überge¬
gangen.) Ein ganz analoger Fall (VIII) auf rheumatischer,
nicht gonorrhoischer Basis. — 3 Fälle (IX. — XI.) von hartnäckiger,
jeder Therapie trotzender Fixation einer subakuten Poly¬
arthritis rheumatica in einem Gelenk (einmal Fuss, einmal
Schulter, einmal Knie). In den beiden ersten Fällen Heilung nach
1 Kollargolinjektion, im letzteren Falle nach 6 Kollargolinjektionen
(hier bis auf geringe Ankylose, im Knie).
1 Fall (XII.) von Polyarthritis rheumatica acuta, bei
dem. nach dem Abklingen der akuten Symptome äusserst hartnäckige,
in verschiedenen Gelenken herumziehende heftige Schmerzen
zurückblieben, die nach 6 wöchentlicher erfolgloser Behandlung mit
Salizyl, Antipyrin u. a. auf 3 Kollargolinjektionen vollkommen
schwände n. Gleichzeitig wurde die vorher unruhige Temperatur
normal.
F a 1 1- XIII. Willy T., 24 J. Polyarthritis rheum. ac. Am
30. XI. 1905 erkrankt mit Gelenkschmerzen, namentlich in den Händen.
15. XII. Anschwellung des rechten Knies, 16. XII. Anschwellung des
linken Ellbogengelenks. Starke Schweisse. Keine gonorrhoische In¬
fektion.
Bei der Aufnahme (18. XII. 1905) Schwellung des linken
Ellbogen- und Handgelenkes, und des rechten Knies (42 cm, gegen
37,5 cm links). Bewegungen in den erkrankten Gelenken be¬
schränkt und schmerzhaft. Auf 2 Kollargolinjektionen am
19. XII. und 21. XII. (je 5 ccm, 2 proz., keine Reaktion) zunächst nur
voriibergehede Besserung (geringe Abnahme der Schwellung, freiere
Beweglichkeit). Temperatur schwankend zwischen 37,8 und 38,6,
steigt vom 29. — 31. XII. allmählich auf 40,0 an, durch Antirheumatika
unbeeinflusst. Das Allgemeinbefinden des Kranken be¬
trächtlich gestört, die Polyarthritis scheint Tendenz zu haben,
in die hyperpyretische Form überzugehen.
31. XII. Abendtemperatur 40,6. Kollargolinjektion (2 proz.,
9 ccm, keine Reaktion).
1. I. 06. Das Fieber ist während der Nacht auf,
36,3 abgefallen. Pat. fühlt sich heute wesentlich w o h 1 e r.
2. I. Rechtes Knie auf 38,5 cm abgeschwollen.
5. I. Linkes Hand- und Ellbogengelenk abgeschwol¬
len; alle erkrankten Gelenke ohne Schmerzen und ausgiebig
zu bewegen. Pat. ist fieberfrei geblieben (cf. Kurve).
Unter heilgymnastischen Uebungen fast völlige Wieder¬
herstellung voller ^Beweglichkeit in den erkrank¬
ten Gelenken bis zur Entlassung am 6. II. 06.
Fall XIV. Martha F. 20 J. Septischer Gelenkerguss. Am
31. X. 03 (3. Menstruationstag) erkrankt mit Schmerzen in den Füssen
und Knien. Am 3. XI. äusserst schmerzhafte Anschwellung des rech¬
ten Kniegelenks. Seitdem bettlägerig. Menstruation immer regel¬
mässig; kein Fluor; virginelle Genitalien. Bei der Aufnahme (4. XI. 03)
schwerer, fieberhafter Krankheitszustand, Temperatur 38,5. Rechtes
Kniegelenk geschwollen (38 cm, gegen 35 cm links). Haut über dem
Gelenk entzündlich gerötet. Jede Bewegung, ja schon leise Be¬
rührung des Gelenks ist äusserst schmerzhaft. Uebrige Gelenke frei.
20. XI. Zustand gänzlich unverändert. Die S c h w e 1 1 u n g des
Knies hat bisher jeder Therapie getrotzt (Antirheumatika, Bierschc
Stauung, Lagerung auf Schiene). Temperatur 37,8—38,9. Die
Schmerzen sind äusserst heftig, rauben den Schlaf; Appetit
gering.
23. XI. Kollargolinjektion (5 proz., 3 ccm), Schüttelfrost, 40,2.
24. XI. Schmerzen im Knie wesentlich geringer.
25. XI. Rechtes Knie um 1 cm abgeschwollen (37 cm),
ist fast völlig schmerzfrei. Pat. vermag sogar schon das Knie
aktiv in geringem Grade ohne Schmerzen zu bewegen.
26. XI. Kollargolinjektion (5 proz., 3 ccm, kein Schüttelfrost,
38,8).
27. XI. Allgemeinbefinden erheblich besser. Hat
heute Nacht gut geschlafen. Rechtes Knie auch bei Bewegungen
völlig schmerzfrei, misst noch 37 cm.
15C6
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
28. XI. Umfang des rechten Knies 36,5 cm. Die Temperatur
sinkt ab.
30. XI. Rechtes Knie misst noch 36 cm, ist völlig schmerzlos.
5. XII. Pat. ist jetzt fieberfrei, hat guten Appetit bekommen,
erholt sich zusehends. Umfang des rechten Knies 35 cm. Gelenk-
erguss nicht mehr nachweisbar.
7. XII. Umfang beider Kniegelenke 34,5 cm. Pat. steht zum
ersten Male auf, vermag ohne jede Schmerzen zu laufen.
Sie verblieb wegen einer Herzkomplikation (Endokarditis), die
durch die Kollargolinjektionen nicht nachweisbar beeinflusst wurde,
noch längere Zeit im Krankenhaus.
Vom 9. XII. ab wieder unruhige Temperaturen (bis 37,8); keine
neuen Gelenkerscheinungen. Schliessliche Heilung und Entlassung
am 8. II. 04.
E a 1 1 XV. Aeusserst schmerzhafte septische Koxitis
(Staphylococcus pyogenes albus in Blutkulturen nachgewiesen) bei
einem 15 jährigen Mädchen. Die Kranke schrie vor Schmer¬
zen, namentlich bei jeder Bewegung (z. B. beim Umbetten). Nach
einer Kollargolinjektion ganz eklatanter Nachlass der
Schmerzen. Nach einer 2. Injektion fast vollkommen und
dauernd schmerzfrei. Geheilt mit Ankylose im (jelenk.
Diesen 15 günstigen Fällen stehen nun 20 Fälle gonorrhoi¬
scher, subakuter rheumatischer oder septischer Gelenkaffek-
tionen gegenüber, bei denen durch intravenöse Kollargolinjek¬
tionen kein wesentlicher Erfolg, höchstens eine vorübergehende
Besserung einzelner Symptome erzielt wurde. Vielfach wurde
die Temperatur für einige Tage herabgedrückt, oft besserte sich
das subjektive Befinden, und die vordem manchmal sehr hef¬
tigen Schmerzen Hessen bald nach der Einspritzung fast stets
für einige Stunden oder selbst Tage nach, aber die Gelenk-
schwellungen und -Steifigkeiten blieben unbeeinflusst.
Die meisten dieser Fälle können deshalb nicht als Miss¬
erfolge gezählt werden, weil sie in eine Zeit fallen, wo wir
die Kollargolbehandlung aufgaben, wenn nicht sofort nach der
ersten Injektion ein in die Augen springender Erfolg eintrat,
oder weil aus äusseren Gründen (Beschaffenheit der Haut,
cf. unten, fehlendes Einverständnis des Kranken) nur eine In¬
jektion gemacht werden konnte.
Es bleiben aber doch 5 Fälle aus der jüngsten Zeit, bei
denen auch auf wiederholte und genügend grosse Kollargol¬
injektionen, abgesehen von der fast konstanten, aber voi über¬
gehenden Herabminderung der Schmerzen, weder eine ob¬
jektiv nachweisbare Veränderung an den erkrankten Gelenken,
noch ein wesentlicher oder dauernder Einfluss auf die Tem¬
peraturkurve bemerkbar war (2 Fälle von gonorrhoischen Ge¬
lenkaffektionen, 2 Fälle von subakuter Polyarthritis mit Fixa¬
tion in einzelnen Gelenken, 1 Fall von septischer, eitriger
Gonitis [Autopsie]).
Die Frage, warum das Kollargol in dem einen Fall so aus¬
gezeichnete Dienste leistet, und dann wieder versagt, gleichviel,
ob man es mit septischen, gonorrhoischen oder rheumatischen
Gelenkaffektionen zu tun hat, vermögen wir nicht zu entschei¬
den. Nach dem klinischen Verlauf kann man dies vorher
niemals beurteilen.
Es ist uns nicht wahrscheinlich, dass das Kollargol etwa
nur eine e 1 e k t i v e Wirkung auf bestimmte Bakterien
ausübt, zweifellos ist von einem gewissen Einfluss die
Akuität des infektiösen Prozesses, von viel grösserer Be¬
deutung scheint uns in dieser Frage aber die Patho¬
genese der betreffenden Erkrankung zu sein. Wir wissen,
dass die exsudativen Gelenkentzündungen auf ganz ver¬
schiedene Weise entstehen können: Einmal durch di¬
rekte Ansiedelung von Bakterien in den Gelenken,
als echte metastatische Gelenkentzündungen, was durch die
Befunde von Gonokokken oder von Streptokokken und anderen
Bakterien im Gelenkexsudate bei gonorrhoischen resp. sep¬
tischen Gelenkergüssen erhärtet wird.
Sodann ohne Ansiedlung von Bakterien in den Gelenken
durch Toxine bakterieller Natur, die entweder
von einem Krankheitsherd aus in die Blutbahn ge¬
langen, oder die von den im Blute kreisenden Bak¬
terien produziert werden, wie das bei manchen Formen sep¬
tischer Arthritiden, und vielleicht auch bei den Pseudorheuma¬
tismen bei Scharlach, Diphtherie, Typhus, Phthise u. a. der
Fall ist 2).
2) Das Vorkommen rein toxischer Gelenkentzün¬
dungen, ohne bakterielle Einflüsse, wird bewiesen durch die nicht
Kurz, bei Betrachtung aller der Möglichkeiten, die bei der
Pathogenese akuter Gelenkentzündungen verschiedener Aetio-
logie zur Diskussion kommen, kann es nicht wundernehmen,
dass das Kollargol nicht in allen Fällen gleich wirksam ist. Je
nachdem es sich um eine Bakterienansiedelung in einem Ge¬
lenk oder um eine einmalige Ueberschwemmung des Körpers
mit Mikroorganismen handelt oder endlich um immer neue
Einbrüche von Bakterien oder deren Toxinen aus einem älteren
Herd in die Blutbahn, mag die Wirksamkeit des Kollargols eine
verschiedene sein.
In vielen Fällen wird durch das Kollargol nicht eine
völlige Heilung, sondern nur eine Besserung ein¬
zelner Symptome erzielt.
Am regelmässigsten beobachteten wir eine Herabminde¬
rung der Schmerzen. Es war ganz auffallend, wie die bis
dahin vor Schmerzen stöhnenden und ängstlich jede Bewegung
meidenden Kranken oft schon wenige Stunden nach einer ein¬
maligen Einspritzung sich frei und schmerzlos bewegen. konnten
(Fall XII und XV). Der Erfolg war meist ein rascher; der Nach¬
lass der Schmerzen machte sich manchmal schon nach 2 bis
3 Stunden, meist nach etwa 12 Stunden bemerkbar. Wir haben
die schmerzlindernde Wirkung des Kollargols nur selten ver¬
misst; freilich konnten wir in Fällen, in denen kein sonstiger
Erfolg eintrat, manchmal eine rein suggestive Wirkung nicht
ganz ausschliessen. In vielen Fällen traten nach 1 — 2 schmerz¬
freien Tagen wieder Schmerzen auf, die durch eine nochmalige
Kollargolinjektion meist ebenso prompt beseitigt wurden.
Sehr häufig fanden wir auch eine nach Kollargolinjektionen
meist sehr bald eintretende Besserung des Allgemein¬
befindens (z. B. Fall XIII und XIV). Die bis dahin schlaf¬
losen Kranken fanden Schlaf und der Appetit hob sich. Nur
in einigen wenigen Fällen sahen wir im Gegenteil, dass die
Kranken nach der Einspritzung sich ausserordentlich an¬
gegriffen fühlten und ihren Appetit verloren.
Der Einfluss des Kollargols auf die Gelenkschwel¬
lungen war oft ein geradezu eklatanter. Wir haben es
wiederholt gesehen, dass die bis dahin wochenlang jeder
Therapie trotzende Schwellung eines Kniegelenkes, an dem
sich Messungen des Umfanges am exaktesten machen lassen,
schon nach 24 Stunden nach einer Kollargoleinspritzung mess¬
bar zurückgegangen war, und von ab in den nächsten Tagen
sukzessive weiter zurückging (z. B. Fall II und XIV). Bei
einem erneuten Anschwellen des erkrankten Gelenkes war eine
nochmalige Injektion immer wirksam. Wir haben auf diese
Weise eine völlige Abschwellung des Kniegelenkes innerhalb
kurzer Zeit um 2,5 — 4 cm durch 2 — 6 Injektionen in 4 Fällen
beobachten können (Fälle I, II, XIII, XIV). Ein ähnliches Ver¬
halten sahen wir auch an anderen, z. B. an Fuss-, Ellbogen- und
Handgelenken.
Was die Beweglichkeit der erkrankten Gelenke be¬
trifft, so war sie in den Fällen, wo sie nur durch die heftigen
Schmerzen oder den starken Gelenkerguss behindert wurde,
mit dem Aufhören dieser beiden Momente meist nach mehreren
Injektionen völlig wieder hergestellt (Fälle I — VI, IX, X, XIV).
In den Fällen hingegen, wo eine Arthritis zu schweren ana¬
tomischen Veränderungen des Gelenkes, zu wirklichen An¬
kylosen, geführt hatte, vermochte das Kollargol manchmal in¬
sofern noch ausserordentlich wertvolle Dienste zu leisten, als
es durch Beseitigung der bis dahin oft unerträglichen
Schmerzen, die eine erfolgreiche Uebungstherapie ausschlossen,
die Vornahme heilgymnastischer Uebungen und anderer lokaler
seltenen Fälle von Gelenkschwellungen nach Seruminjektionen (z. B.
Pferdeblutserum, Antistreptokokkenserum). Es erscheint uns ganz
zweifellos, dass auch der Symptomenkomplex, den wir als Poly¬
arthritis rheumatica acuta bezeichnen, und der im Gegen¬
satz zu den anderen Arthritiden wohl charakterisiert ist durch sein
Auftreten unabhängig von einer der genannten Infektionskrankheiten,
durch die stets negativen bakteriellen Befunde und durch das prompte
Reagieren auf Salizyl, keine ganz einheitliche Pathogenese hat. Ein¬
mal mögen zwar untereinander verwandte, aber doch bis zu
einem gewissen Grade verschiedenartige, namentlich hinsichtlich ihrer
Virulenz variierende Mikroorganismen, die wir noch nicht kennen,
dabei in Frage kommen; und dann ist es sehr wohl denkbar, dass,
wie bei den septischen Arthritiden, bald die betreffenden Mikro¬
organismen als solche, bald deren Toxine die Gelenkentzündungen
I hervorrufen können.
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1567
Massnahmen ermöglichte, wodurch noch ein sehr hoher Grad
von Funktionstüchtigkeit erzielt wurde. Gerade in dieser Rich¬
tung haben wir in 3 Fällen (VII, VIII, XV) durch Kollargol-
injektionen noch viel erreicht.
Ein gewisser Einfluss des Kollargols auf die Tempera¬
tur k u v e machte sich ausserordentlich oft bemerkbar. Das
Kollargol hat, wie auch von anderer Seite bestätigt wird, eine
ausgesprochen antipyretische Wikung. Die Temperatur
wurde in unseren Fällen durch eine Kollargolinjektion, nach
Abklingen der meist unmittelbar danach eintretenden Tempera¬
tursteigerung, sehr oft, wenn auch nur für kurze Zeit, für 1 bis
2 Tage herabgedrückt. Durch öftere Wiederholung der Injektionen
gelang es nicht selten, das Fieber dauernd zu beseitigen (Fälle I,
II, XII, u. a.). In einem Falle von Polyarthritis rheumatica
acuta mit hyperpyretischen Temperaturen sahen wir nach
einer einmaligen Kollargolinjcktion einen rapiden Temperatur-
abfall zur Norm ■') und zwar blieb in diesem Fall die Temperatur
danach d a u e r n d normal. (Fall XIII, cf. Kurve.) Dieser Fall
scheint uns deshalb besonders wertvoll für die Beurteilung der
Wirksamkeit des Kollargols zu sein, weil ein spontaner
kritischer Temperaturabfall bei der Entfieberung eines hoch¬
fieberhaften akuten Gelenkrheumatismus nicht vorzukommen
scheint; wenigstens wird in der zusammenfassenden Be¬
arbeitung von P r i b r a m dieses Vorkommnis nicht erwähnt.
Was die Menge und Konzentration des ein¬
zuspritzenden Kollargols anbelangt, so verwenden wir jetzt
regelmäsig 2 proz. Lösungen und spritzen davon das erstemal
nur 4 — 8 ccm, die folgenden Male aber 6 — 10 ccm ein. Die
Grösse der Dosis ist von entscheidendem Einfluss auf die Wirk¬
samkeit (Fall XIII).
Die Häufigkeit der Injektionen richtet sich ganz nach
dem gegebenen Fall. Sowie ein erkranktes Gelenk wieder
anschwillt, die Temperatur wieder ansteigt, die Schmerzen
wieder stärker werden, ist, event. schon am 1. oder 2. Tag nach
der ersten Einspritzung, eine Wiederholung der Injektion an¬
gezeigt (Fall II). Man kann natürlich nicht erwarten, ein schon
lange Zeit bestehendes schweres Gelenkleiden durch eine ein¬
malige Kollargolinjektion heilen zu können, ebensowenig, wie
man einen akuten Gelenkrheumatismus durch eine einmalige
Salizyldosis zu heilen vermag. Wir sind meist mit 3 — 4 In¬
jektionen ausgekommen, haben aber manchmal erst nach
5 — 6 Injektionen einen Dauererfolg erzielt.
Neben der Kollargolbehandlung darf selbstredend auch die
lokale Behandlung nicht ganz vernachlässigt werden (ent¬
sprechende Lagerung und Ruhigstellung des erkrankten Ge¬
lenks in frischen Fällen, Uebungstherapie u. a. in älteren Fällen).
Bezüglich der T e c h n i k der Kollargolinjektionen können
wir namentlich auf die Schmidtsche Arbeit verweisen
(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 15 u. 16). Nur auf einen
Punkt möchten wir besonders betonen. Die Injektion muss,
abgesehen von dem kleinen Hautstich «chm erzlos sein.
Sowie beim Einspritzen irgendwie nennenswerte Schmerzen
empfunden werden, empfehlen wir dringend, die Injektion so¬
fort abzubrechen, denn dies ist ein untrügliches Zeichen dafür,
dass das Kollargol in das perivaskuläre Gewebe aus¬
getreten ist.
Die Technik ist meist eine ausserordentlich leichte, und
selbst bei häufigen Wiederholungen der Injektionen findet man
geeignete Venen, zumal 2 oder 3 mal dieselbe Vene benutzt
werden kann. Schwer ist die Injektion nur bei Individuen mit
starkem Fettpolster und mit dicker, turgeszenter Haut; dann
sieht man die gestauten Venen kaum durchschimmern, und es ist
für den Ungeübten nicht leicht, eine geeignete Vene perkutan
zu erreichen; in solchen Fällen muss man sie durch eine kleine
Inzision freilegen.
Es gibt seltene Fälle von Polyarthritis rheumatica und
gonorrhoica, bei denen die Haut gewisse Veränderungen er¬
leidet und wohl infolge von Ernährungsstörungen eigentümlich
3) Aehnliche Beobachtungen sind bei septischen Erkran¬
kungen von anderer Seite und auch von uns gelegentlich gemacht
worden; cf. Osterloh: Beitrag zur Behandlung des Puerperal¬
fiebers mit intravenösen Kollargoleinspritzungen. D. Archiv f. klin.
Med., 85. Bd., 1905.
trocken, rissig und schuppend wird. In zwei derartigen Fällen
fanden wir die Venen ganz ausserordentlich dünn, und es gelang
nur unter grossen Schwierigkeiten, durch ziemlich ausgedehnte
Inzisionen eine einigermassen genügende Vene aufzufinden.
Die Schwierigkeiten der Technik, die demnach zweifellos in
manchen Fällen bestehen, werden ja leider nicht selten einer
energischen und nur dadurch erfolgreichen Anwendung des
Kollargols in Form der intravenösen Injektionen hinderlich sein;
deshalb wäre es zu wünschen, dass die an anderem Ort und bei
uns angefangenen Versuche mit Darreichung durch den Magen
Erfolg haben möchten.
Die meisten der gelegentlich zur Beobachtung kommenden
unangenehmen Nebenwirkungen einer Kollargol¬
injektion lassen sich bei entsprechender Technik vermeiden.
Bei zu rascher Injektion tritt manchmal unmittel¬
bar nach der Injektion eine nach kurzer Zeit vorübergehende
B e k 1 e m m u n g mit Dyspnoe und Hustenreiz ein. Beim
Durchstechen der Venenwand und Austreten von Kol¬
largol ins subkutane Gewebe entstehen sehr schmerzhafte
entzündliche Infiltrate, die sich nur sehr langsam, aber fast
stets spontan resorbieren. Bei Injektion zu grosser Mengen
sahen wir zweimal Kollapse. Auf die fast regelmässig
2 — 5 Stunden nach der Injektion auftretende, ganz passagere
meist beträchtliche Temperatursteigerung (bis über
40,0°), die manchmal mit Erbrechen, Schüttelfrost
und Schweissausbruch verknüpft ist, in seltenen Fällen
aber ganz ausbleibt, hat unserer Erfahrung nach nicht die
Technik der Einspritzung, wohl aber die angewandte Menge
und Konzentration des Kollargols einen Einfluss. In 2 Fällen
von subakuter Polyarthritis sahen wir bald nach der Injektion
rasch vorübergehende Schmerzen in sämtlichen früher er¬
krankten Gelenken auftreten.
Wir sind der Ueberzeugung, dass alle Nebenwirkungen
einer Kollargoleinspritzung im allgemeinen so harmloser Natur
sind, dass sie in Anbetracht der schönen Erfolge, die man da¬
mit erzielen kann, nicht irgend wie in Frage kommen können,.
Unser zusammenfassendes Urteil über den Wert
der intravenösen Kollargolinjektionen bei der Behandlung
akuter Arthritiden lautet folgendermassen r
Bei der Behandlung der gonorrhoischen Gelenk¬
entzündungen stellt das Kollargol ein äusserstwert-
volles, nur selten versagendes, fast spezifisch wir¬
kendes Heilmittel dar, das selbst in den hartnäckigsten Fällen
oft noch prompt wirksam ist.
Während wir es früher als Ultimum refugium betrachteten,
wenden wir es neuerdings in Fällen sicherer gonorrhoischer
Arthritis stets sofort an, und glauben dadurch namentlich dek
Krankheitsverlauf abkürzen zu können.
In frischen Fällen von Polyarthritis rheu¬
matica liegt wohl kein Grund vor, die wesent¬
lich einfachere, und meist erfolgreiche Behand¬
lungsmethode mit Salizyl- oder Antipyrinpräparaten aufzu¬
geben. Hingegen empfehlen wir in allen Fällen, in denen die
Antirheumatika oder sonstige therapeutische Massnahmen ver¬
sagen, namentlich in älteren, subakuten Fällen, einen
Versuch mit Kollargolinjektionen zu machen Man erzielt dabei
nicht selten recht günstige Resultate und selbst völlige Hei¬
lungen.
Bei der Behandlung der septischen Arthritiden
können wir die Kollargolinjektionen ebenfalls empfehlen.
Wenn auch die Fälle einer wirklichen Heilung der Natur
der Krankheit nach hierbei nicht sehr häufig sein mögen, so
kann man doch schon durch Besserung des Allgemeinzustandes
und der Schmerzen viel damit nützen.
Nachtragbei derKorrektur: Kürzlich hatten wir
wieder einen ganz eklatanten Erfolg von Kollargolinjektionen
bei einem Fall von gonorrhoischer Arthritis. Es
handelte sich um eine äusserst hartnäckige, schon 3 Monate
lang erfolglos behandelte, schmerzhafte Schwellung eines Fuss-
gelenks, die durch 3 Kollargolinjektionen innerhalb von
14 Tagen vollständig geheilt wurde.
1568
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
Alis der chirurgischen Universitätsklinik in Giessen (Direktor
Professor Dr. P o p p e r t).
Zur Behandlung hysterischer Kontrakturen der unteren
Extremitäten durch Lumbalanästhesie.
Von Dr. Hermann L ö h r e r, Assistenzarzt der Klinik.
Der in No. 24 d. J. der deutschen med. Wochenschr. er¬
schienene Aufsatz von Prof. Wilms: Heilung hysterischer
Kontrakturen durch Lumballähmung veranlasst mich zur Ver¬
öffentlichung eines Falles, der im März d. J. in klinische Be¬
handlung kam und bei dem es gelang, eine hysterische Kon¬
traktur durch Lumbalanästhesie und die mit dieser eintretende
Muskellähmung zur Heilung zu bringen. Der Erfolg ist hier
fast noch eklatanter als im Wilms sehen Falle, insofern, als
vollständig restitutio ad integrum eingetreten ist. Es ist viel¬
leicht nicht überflüssig, an dieser Stelle einzuschalten, dass die
Erkrankung Folge eines landwirtschaftlichen Unfalles war, und
dass die Verletzte eine Rente bezog, die sie durch die Heilung
verloren hat.
Es handelte sich um ein auffallend kräftig gebautes 23 jähriges
Mädchen. Die Anamnese ergab folgendes: Pat. hat früher angeblich
an Appendizitis und Typhus abdom. gelitten. Am 19. VIII. 05 stach
sie sich bei der Arbeit mit einer Heugabel in den rechten Fuss. Der
hinzugezogene Arzt verordnete Einreibungen und Umschläge und
machte nach vier Tagen eine Inzision, bei der sich angeblich Eiter
entleert haben soll. Pat. war sechs Wochen lang bettlägerig und
wurde dann in ein Krankenhaus überführt; hier wiederum Inzision,
angeblich wieder Eiterentleerung. Allmählich bildete sich die Fuss-
stellung aus, wie sie bei der Aufnahme in die Klinik bestand; das
Gehen war nur mehr auf dem vorderen Teil des äusseren Fuss-
randes und nur unter sehr grossen Schmerzen möglich. Auf Ver¬
anlassung der Berufsgenossenschaft suchte Pat. die Klinik auf. Sie
musste auf einer Tragbahre transportiert werden, da nach ihrer
strikten Erklärung ihr das Gehen unmöglich sei.
Die Untersuchung der Brust- und Bauchorgane ergab keine
Besonderheiten. Eine wesentliche Atrophie der erkrankten Ex¬
tremität besteht nicht. Patellarreflexe vielleicht etwas abgeschwächt,
beiderseits gleich. Auch der Umfang beider Füsse und beider Fuss-
gelenke ist gleich.
Auf dem rechten Fussrücken findet sich zwischen Metatarsus I
und II eine P/2 cm lange, auf der Unterlage verschiebliche, mässig
druckempfindliche Narbe. Der Fuss steht in einer Stellung, die am
meisten der des Pes equinovarus gleicht; der innere Fussrand ist
vollkommen supiniert, der äussere ist nach abwärts gesenkt. Beim
Auftreten berührt nur der vordere Teil der äusseren Kante den Boden.
Sämtliche Zehen stehen in leichter Dorsalflexion. In Ruhelage fühlt
man sehr deutlich starke Kontraktion des Tibialis anticus und des
Extens. halluc. long. Kontraktion des Extens. digit. long. ist eben¬
falls nachzuweisen, jedoch nicht so ausgesprochen, wie die der ge¬
nannten Muskel. Die Peronei erscheinen vollkommen schlaff, doch
ist Pat. gelegentlich dazu zu bringen, die Funktion dieser Gruppe
aktiv in gewissem Grade auszuführen. Die Beweglichkeit im Fuss-
gelenk ist annähernd normal; die Röntgenuntersuchung ergab durch¬
aus normale Verhältnisse.
Von vornherein erklärte die Patientin, dass es ihr unbedingt un¬
möglich sei, die Pronationsstellung herzustellen, doch gelang es mir
einmal, ihre Aufmerksamkeit vollständig abzulenken und bei dieser
Gelegenheit die gewünschte Stellung ohne grössere Gewaltanwen¬
dung herbeizuführen. Die Pat. wurde darauf aufmerksam gemacht
und sofort trat die Muskelkontraktion wieder ein. Durch Gewalt¬
anwendung gelang es stets, den Fuss zu pronieren, allerdings unter
sehr lebhaften Schmerzäusserungen und nur unter Ueberwindung
eines sehr starken Widerstandes; man hörte und fühlte dabei keinerlei -
Geräusche, die durch irgend eine subkutane Verletzung bedingt ge¬
wesen sein könnten.
Der Gesamteindruck, den die Pat. machte, war der der typischen
traumatischen Neurose. Die wenigen Versuche, die gemacht wurden,
mit dem kranken Fuss aufzutreten, geschahen ausserordentlich zaghaft,
mit sehr grosser Aengstlichkeit. Das Leiden war durch die bisherige
Behandlung nicht zu beeinflussen gewesen, die Kranke war voll¬
kommen mutlos, ihr Gemütszustand deprimiert, jegliche Energie fehlte.
Ausserdem bestand eine permanente Neigung zu Klagen. Nimmt
man hinzu die Möglichkeit, ohne Anwendung grober Gewalt die
normale Stellung hersteilen zu können und das Fehlen eines anato¬
mischen Substrates für die Muskelkontraktion, so wird die Diagnose
hysterische Kontraktur gerechtfertigt erscheinen.
Bei der einzuschlagenden Therapie ging ich von einer ähnlichen
Ueberlegung aus, wie Prof. Wilms sie in seiner Veröffentlichung
darlegt: Das psychische Moment ist von eminenter Wichtigkeit für
die Behandlung hysterischer Krankheitszustände. Es hing meiner
Ansicht nach ausserordentlich viel davon ab, der Pat. ad oculos
zu demonstrieren, wie es mit grosser Leichtigkeit gelingen würde, die
krankhafte Fussstellung ohne eine Spur von Schmerz in die normale
umzuwandeln. Das Mittel, welches diese Demonstration in idealer
Weise möglich machte, stand in der Lumbalanästhesie (Stovain)
und der in der Regel mit ihr eintretenden Muskellähmung zur Ver¬
fügung (Lumballähmung nach Wilms.) Zugleich musste der Kran¬
ken in der bestimmtesten Art erklärt werden, dass mit der Ein¬
spritzung ihre Krankheit verschwunden sei. Zur Sicherung des Er¬
folges sollte dann noch für einige Zeit ein Gipsgehverband angelegt
werden.
Am 16. III. 06 wurde die Injektion ausgeführt; nach eingetretener
Lähmung wurde der Pat. gründlich gezeigt, dass jetzt mühe- und
schmerzlos die richtige Stellung wieder hergestellt sei, und darauf
der Fuss in normaler Stellung eingegipst. Am. 19. III. stand Pat.
auf und ging anstandslos in dem Verbände umher. Der Gipsverband
wurde nach nicht ganz vier Wochen entfernt, der Fuss präsentierte
sich in normaler Stellung und Beweglichkeit und behielt diese auch
bei. Am 19. V. 06 hatte ich Gelegenheit, die Pat. noch einmal zu
untersuchen; dfe Gebrauchsfähigkeit des Fusses war völlig normal.
Die Pat. gab nur an, dass der rechte Fuss noch etwas leichter er¬
müde als der linke, sie war glücklich und dankbar, dass sie in der
elterlichen Wirtschaft wie früher wieder mitarbeiten könne.
Es darf wohl mit Recht angenommen werden, dass der
Erfolg der eingeschlagenen Therapie im .wesentlichen auf der
durch die Lumbalanästhesie und die ihr folgende Muskel-
lühmung ermöglichte psychische Beeinflussung der Kranken
zurückzuführen ist. Wenn . auch die fast vierwöchentliche
Nachbehandlung durch Gipsverband zweifellos nicht ohne Be¬
deutung für die erzielte Heilung ist, so ist meiner Ansicht nach
diese Bedeutung doch nur sekundärer Natur. Der Verband
sollte eine Unterstützung des Eingriffes sein, er sollte nach
der der Pat. suggerierten Ueberzeugung lediglich dazu dienen,
den Fuss wieder an die frühere normale Stellung zu gewöhnen.
Das Leiden war gehoben in dem Augenblick, als die Kranke
mit eigenen Augen sah, dass der Fuss schmerzlos und mit
spielender Leichtigkeit in eine Stellung gebracht werden
konnte, die vorher nur annähernd und unter unerträglichen
Schmerzen eingenommen werden konnte. Dazu kam der all¬
gemeine psychische Eindruck, den die Lumbalanästhesie auf
die Pat. machte, und die bündige, bestimmte Versicherung des
Arztes, dass mit der Injektion die Krankheit gehoben sei.
Eingespritzt wurden 0,05 Stovain (Riedel). Nach acht
Minuten war vollkommene Paraplegie beider Beine eingetreten.
Auch dieser Fall trägt vielleicht dazu bei, die Bier sehe
Lumbalanästhesie als Heilfaktor kennen zu lernen auf einem
Gebiete, das sich bis jetzt in einer Reihe von Fällen in Bezug
auf Behandlung und Resultat als ein undankbares erwiesen hat.
Herzneurosen und Basedow.
Von M. Fischer in Zehlendorf-Berlin.
Lange Zeit hindurch ist das rätselhafte und doch so typisch
wirkende Krankheitsbild des Morbus Basedow ii ein
Spielball allerlei ätiologischer Erklärungsversuche gewesen, bis
die M ö b i u s sehe Ansicht, der Schilddrüsenvergrösserung ge¬
bühre die primäre Stellung unter der Trias der Hauptsym¬
ptome: Tachykardie, Struma und Exophthalmus, die Prä-
ponderanz errungen hat unter den sonstigen Meinungen. Wenn
wir jetzt mit M 0 e b i u s im Basedow eine Intoxikation sehen,
welche von der im Sinn einer Hypersekretion unrichtig arbei¬
tenden Schilddrüse ausgeht, so ist dafür einmal der Grund
massgebend, dass sich alle Einzelerscheinungen des Krank¬
heitsbildes, auch die ungewöhnlicheren, auf Grund dieser Hypo¬
these ungezwungen erklären lassen. Hauptsächlich aber drängt
zu ihrer Annahme der jetzt hinlänglich festgestellte Erfolg einer
entsprechenden Therapie. Während man früher wohl hie
und da ein Stabil werden des Basedow sah, eine Jahre lang an¬
dauernde Heilung aber kaum je beobachtet wurde, haben die
Chirurgen, in erster Linie Kocher, durch partielle, in vielen
Fällen öfters wiederholte Strumektomien oder auch durch die
technisch vielleicht noch schwierigere Unterbindung der Ar-
teriae thyreoideae in vielen Fällen vollständigen Rückgang
aller Krankheitserscheinungen erzielt. Indessen, eine Kropf¬
operation bei schwerem Basedow — die leichteren Fälle halten
sich natürlich in begreiflicher Scheu gern dem Messer fern —
ist und bleibt eine missliche Sache. Die gewaltig gestörte
Herztätigkeit lässt jede Narkose gewagt erscheinen, und wenn
man nach Kochers und Riedels Vorgang auf die allge-
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1569
meine Narkose verzichten und sich mit der lokalen Anästhesie
begnügen will, so muss man den psychischen Schock, dem
gerade die aufgeregten leicht verstörten Basedowkranken so
sehr zugängig sind, im prognostischen Kalkül gebührend mit
in Rechnung ziehen. Ausserdem aber sind einerseits stärkere
mechanische Läsionen der Gewebe, andererseits jedes Häma¬
tom und Sugillat in der Wunde auf das ängstlichste zu ver¬
meiden. Denn das mit den toxischen Produkten der Schild¬
drüse beladene Blut der Basedowkranken besitzt unangenehm
giftige Eigenschaften und wird seine Resorption von der Wunde
aus erforderlich, so geschieht sie unter heftigen Fieber¬
bewegungen, Delirien und das Herz mit Lähmung bedrohenden
Kollapszuständen. Das geringe, oft nach gewöhnlichen Strum-
ektomien bei völlig aseptischem Wundverlauf eintretende
Fieber, das die überall Fingerkokken witternden Chirurgen
in den ersten Tagen post operationem in Angst versetzt, rührt
wahrscheinlich von leichten derartigen Intoxikationen her. So
wird es verständlich, dass die Kropfoperation, selbst von der
Hand eines Meisters ausgeführt, gerade bei Basedowkranken
immer mit einer gewissen Mortalitätsziffer zu rechnen hat.
Dazu kommt nun die weitere Schwierigkeit, dass die Ab¬
schätzung, ein wie grosser Teil der Drüse zu entfernen, resp.
wie viele der zuführenden Arterien zu unterbinden sind, immer
eine willkürliche bleiben wird. Es steht ja die Grösse des
Kropfes durchaus nicht im geraden Verhältnis zur Stärke der
Krankheitssymptome; die Kröpfe sind ja überhaupt hierbei
meist höchstens mittelgross, ganz abgesehen von den ohne
nachweisbare Vergrösserung der Thyreoidea verlaufenden
Fällen. Innere sekretorische Arbeit und äusserer Umfang einer
Drüse können sich wohl, müssen sich aber nicht kon¬
gruent verhalten. Um nun nicht aus der Scylla des Hyper-
thyreoidismus in die Charybdis der Cachexia strumipriva zu
geraten, ist es empfehlenswert, anfangs höchstens die Hälfte
des funktionstüchtigen Schilddrüsengewebes zu entfernen.
Man läuft dabei aber natürlich das Risiko, dass der ver¬
bliebene Rest sehr bald, sozusagen kompensatorisch, zu hyper¬
tropheren beginnt und wiederum schädlicher Hypersekretion
verfällt. Das führt dann logischerweise zu neuen operativen
Abtragungen von Drüsenparenchym, bis endlich, falls der
Patient die erforderliche Ausdauer behalten hat, der Ruhe¬
zustand erreicht ist. Natürlich geht es nicht immer so und
es gibt viele Kliniken, deren Operierte nach einmaligem Ein¬
griff in ziemlich hoher Prozentzahl zur Heilung gelangt sind.
Immerhin bedeutet es einen unzweifelhaften Fortschritt,
dass zu dem chirurgischen Verfahren, durch einfache Fort-
nahine der schädlich sezernierenden Drüse die von ihr aus¬
gehende Körperstörung zu beseitigen, sich neuerdings aus¬
sichtsreiche Versuche gesellt haben, auf chemischem Wege,
durch dem Organismus einverleibte Schutzkörper, die er¬
zeugten Gifte zu binden und so unschädlich zu machen. Diese
Schlitzkörper bilden sich im Blute solcher Tiere, deren Schild¬
drüse operativ entfernt worden ist (Antithyreoidin Merck) und
geht auch in die M i 1 c h derselben über. Die eingedickte und
zu einem haltbaren Pulver verarbeitete Milch thyreoidekto-
mierter Ziegen liefert das Präparat R o d a g e n, über dessen
mit grosser Regelmässigkeit eintretende günstige Wirkung bei
Basedow scher Krankheit von den verschiedensten Seiten
Ermutigendes berichtet wird.
Man muss es sich aber gegenwärtig halten, dass keines¬
wegs nur die ausgesprochene Glotzaugenkrankheit und der
stark hervortretende Kropf unter den Begriff des „Basedow“
gehören. Leider, möchte man sagen, sind diese Symptome so
auffällig und präokkupieren so stark, dass ihr Bild allein bei
der Besprechung der in Rede stehenden Krankheit vor dem
geistigen Auge des Lesers ersteht. Es gibt aber viel mehr
„formes frustes“ des Basedow — nur andeutungsweise vor¬
handene Ansätze zu dem Leiden — , als man gewöhnlich an-
nimmt. Diese Formen, denen die Glotzaugen meistens gänzlich
fehlen, gehen in der Regel unter der Diagnose „Neurasthenie“,
„Anämie“, und „Herzneurose“ und bilden eine Crux für die
behandelnden Aerzte, da sie sich allen Nervenmitteln und den
Tonizis, Eisen, Arsen, Chinin usw. gegenüber genau so refraktär
und widerspenstig verhalten, wie den hier gänzlich wirkungs-
No. 32.
losen Herzmitteln gegenüber. Fast immer handelt es sich um
E r a u e n, deren genitale Sphäre irgend welche Störungen
aufweist, sei es nun Pubertät oder Klimakterium, sei es Metror¬
rhagie oder Amenorrhoe. Der Zusammenhang zwischen
Thyreoidea und uterinen Vorgängen ist ja von alters her be¬
kannt; Schwellung der Schilddrüse als Graviditätszeichen wird
schon von Goethe in seinen Römischen Elegien erwähnt, Zu¬
nahme einer Struma in jeder Gestation .ist oft zu beobachten
(J. S a r b a c h fand bei Wöchnerinnen stets leichte strumöse
Entartung — Grenzgebiete XV, 3 — 4) und Hoenicke - Greifs¬
wald führt die Osteomalazie neuerdings auf Hyperthyreoidis-
mus zurück. Ausserdem haben die Patientinnen zuweilen
Magen- und Darmstörungen, anfallsweises Erbrechen, monate¬
lange Diarrhöen und dergleichen. Ihre Hauptklage ist das
Herz, dessen beunruhigendes oder schmerzhaftes Klopfen
ihnen grosse Not macht, auch oft Atembeklemmungen und ohn¬
machtsähnliche Zustände verursacht. Dabei ist der objektive
Befund ein sehr verschiedener, von einfacher Pulsbeschleuni-
gung an bis zu ausgedehnten Dilatationen und pfeifenden Ge¬
räuschen. Alle Kranken aber haben, und das ist mir ein Haupt¬
merkmal, etwas eigentümlich Verstörtes. Sie fühlen sich
benommen, unsicher, kommen sich zuweilen traumhaft vor
und stimmen alle darin überein, dass die einzelnen Anfälle über
sie hereinbrechen mit grosser Unregelmässigkeit und ohne die
geringste äussere Veranlassung. Nähere Nachforschungen er¬
geben auch, dass nervöse Belastung, voraufgegangene Neur¬
asthenie oder Hysterie, berufliche Schädigungen oder Abusus
spirituosorum et tabacci etc., kurz jede rein nervöse Aetiologie
fehlen.
Findet man nun bei solchen Kranken, deren Beschwerden
bisher den internen Medikationen gerade so trotzten, wie den
physikalischen und medikomechanischen Prozeduren und Diät¬
kuren der Bäder und Sanatorien, eine auch nur gering¬
fügig vergrösserte Thyreoidea, so ist der Versuch einer
Rodagenkur unbedingt geboten. Die Vergrösserung be¬
steht meist schon von Jugend an und wird von der Kranken
für etwas vollständig Unwesentliches erachtet. Während aus¬
gesprochene Basedowfälle grössere Gaben, 8 und 10 g pro die,
erfordern, kommt man bei den oben geschilderten Herz¬
beschwerden mit 3 mal täglich 2 g vollkommen aus, was leider
noch immer kostspielig genug ist; die Tagesausgabe über¬
steigt immer noch 1 Mark für das Medikament. Kann man
möglichste körperliche und geistige Schonung durchsetzen, so
tritt der Erfolg um so rascher ein. In der allgemeinen Praxis
kommen natürlich einschlägige Fälle nicht jeden Augenblick
vor; immerhin habe ich doch im Laufe der letzten drei Quartale
viermal derartige Herzneurosen beobachten können, bei denen
jedesmal die Wirkung des Rodagen eine augenfällige war. Nach
2 — 3 wöchentlichem Gebrauche linderten sich die subjektiven
Beschwerden, dann besserte sich der Herzbefund und schliess¬
lich bekamen die Kranken das deutliche, angenehme Rekon¬
valeszenzgefühl, wie es uns allen nach Ueberstehen einer In¬
fektionskrankheit wohlbekannt ist. Dann habe ich die Rodagen-
gaben vermindert und schliesslich eingestellt, immer mit dem
Vorbehalt, zur Wiederholung der Medikation greifen zu müssen,
wenn sich aufs neue giftige Absonderungen der Schilddrüse im
Blute anhäufen würden. In der Tat begann eine Patientin, die
Juni bis August v. Js. Rodagen genommen hatte und sich da¬
nach vollkommen gesund fühlte, um die Jahreswende über
plötzlich auftretende Beängstigungen zu klagen, die sich schon
nach zweitägigem Rodagengebrauch ganz wieder verloren.
Vorbeugenderweise wird das Mittel vorläufig weiter ge¬
nommen.
Bei allem guten Erfolge ist das Mittel also doch in letzter
Linie nicht als ein die Krankheitsursache zerstörendes, son¬
dern nur paralysierendes anzusehen. Es beseitigt nicht
die fehlerhafte Arbeit der Thyreoidea, wohl aber macht es
deren Produkte unschädlich für den Organismus, ist also
um so mehr als ein gutes Symptomatikum zu verwenden, als
irgend welche schädigende Nebenwirkungen bisher nicht be¬
obachtet sind. Im Gegenteil heben meine Patienten immer die
grosse Besserung ihres Allgemeinbefindens lobend hervor. Eine
Verkleinerung des Kropfansatzes habe ich in drei meiner Fälle
3
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
iö7U
feststellen können. Da es wohl misslich erscheinen kann, emp¬
findlichen Damen gegenüber den „Schönheitsfehler eines
starken Halses“ mit unerbittlicher ärztlicher Forscherexaktheit
gleich zu konstatieren, hatte ich einer meiner Patientinnen die
Pulver lediglich für ihre Herzbeschwerden verordnet. Nach
6 Wochen vertraut sie mir dann an, unter der Bitte sie nicht
auszulachen, dass der „kleine Knoten“ am Halse, den ich viel¬
leicht gar nicht gesehen hätte und der schon über 20 Jahre un¬
verändert bestände, während der Kur plötzlich fast gänzlich
geschwunden sei. Geht man so allmählich vor, dann bekommt
man auch eine bessere Anamnese und stellt fast stets in der
Aszendenz einfache oder auch mit nervösen Symptomen ver¬
bundene Struma fest.
Bei einer Herzneurose ohne jede sichtbare Veränderung
der Schilddrüse habe ich bisher noch keine Gelegenheit zur
Rodagentherapie gehabt, würde mich aber nicht besinnen, zu
ihr resp. zu dem wohl in gleicher Weise wirksamen, von
Merck dargestellten Antithyreoidin zu greifen, falls die Sym¬
ptome den oben geschilderten entsprächen und eine ander¬
weitige Aetiologie nicht eruierbar wäre. Bei der sonst so
grossen Undankbarkeit der Behandlung nervöser Herz¬
störungen würde der Zweck dieser Zeilen erreicht sein, wenn
sie hie und da einen Kollegen veranlassten, in solchen Fällen
an die „forines frustes“ des Basedow zu denken, und mit der
Antitoxintherapie, deren weiterer Ausbau für die Heilbestre¬
bungen des Arztes so aussichtsvolle Fernblicke eröffnet, einen
Versuch zu machen.
Ein Fall von Morbus Basedowii ohne Exophthalmus,
behandelt mit Antithyreoidin Moebius.
Von Dr. A r o n h e i m in Gevelsberg i. W.
Ist auch der Morbus Basedowii keine alltägliche Krankheit, so
beschäftigt sie doch oft genug den Arzt, sowohl den für innere Krank¬
heiten, wie den Chirurgen und Frauenarzt, und erregt in klinisch¬
therapeutischer, oft auch in diagnostischer Beziehung grösstes Inter¬
esse. Besonders sind es die unvollkommenen, anormalen Fälle, die
„Formes frustes“, in welchen von den Kardinalsymptomen: der
Struma, dem Exophthalmus und der Pulsbeschleunigung eines oder
des andern fehlt, welche häufig diagnostische Schwierigkeiten bieten.
In No. 4, 1906 der Wiener klin. Rundschau teilte ich 2 Fälle von
Morbus Basedowii mit, in welchen ich mit dem Antithyreoidin
Moebius (Thyreoidserum) nach kurzer Zeit günstige Erfolge erzielt
hatte. Im ersten Falle handelte es sich um eine I7V2 jährige Arbeiterin,
die mit den Symptomen eines mittelschweren Morbus Basedowii:
doppelseitigem Exophthalmus, Struma der mittleren und seitlichen
Halspartie und einer Pulsfrequenz von 100 regelmässigen Schlägen
in der Minute, in meine Behandlung kam. Die Untersuchung des
Herzens ergab ausser einer mässigen Dilatation, keine Insuffizienz der
Klappen. Der Umfang des Halses betrug 34 cm, die Kropfgeschwulst
fühlte sich derb an. Die Patientin war nach einer langen erfolglosen
Behandlung seitens mehrerer Aerzte mit verschiedenen Mitteln, de¬
primierter Stimmung. Der Erfolg der Behandlung mit dem
Moebiusschen Serum war ein auffälliger: der doppelseitige Ex¬
ophthalmus verschwand, der Umfang des Halses wurde geringer, die
Herzpalpitationen liessen nach, die Pulsfrequenz ging auf 80 Schläge
in der Minute zurück, die Periode wurde wieder regelmässig, das
psychische Befinden ein freudiges. Der 2. Fall betraf eine 19 jährige
Putzmacherin, die seit Monaten wegen eines Morbus Basedowii
ebenfalls ohne Resultat vorher von mehreren Aerzten behandelt wor¬
den war. Der Halsumfang betrug 37 cm, es bestand Herzklopfen,
Atembeklemmung, besonders beim Treppensteigen, schnelles Er¬
müden bei Handarbeiten und geringes Vortreten der Augäpfel. Auch
bei dieser Patientin besserten sich die subjektiven und objektiven
Krankheitssymptome nach Gebrauch des Serums, so dass sie ihre
beruflichen Arbeiten wieder ohne Ermüdung ununterbrochen ver¬
richten konnte.
Beide Fälle bewiesen die Richtigkeit der von Moebius auf¬
gestellten Theorie, nach welcher die Basedow sehe Krankheit auf
einer Vergiftung durch Stoffe beruht, die sich infolge einer vermehr¬
ten oder krankhaften Sekretion der Schilddrüse bilden. _
Die thyreogene Entstehung des Morbus Basedowii beweist auch
der 3. Fall, der vor wenigen Monaten in meine Behandlung kam, bei
dem die Diagnose nicht sofort gestellt wurde. Anfangs November
vorigen Jahres wurde ich zu der 30 Jahre alten Frau L. A. gerufen,
die nach ihren Angaben — abgesehen von einer im 17. Jahre durch¬
gemachten schweren Chlorose — früher gesund war. Sie stammte
aus gesunder Familie, die Eltern leben; die Mutter soll seit ihrer
Jugend an einer Kropfgeschwulst leiden, jedoch dadurch niemals Be¬
schwerden gehabt haben. Auch die Kranke hatte eine kleinfaust¬
grosse Anschwellung in der Mitte des Halses, angeblich schon seit
der Kindheit, ohne nennenswerte Beschwerden. Sie war 2 Jahre
verheiratet, die erste Entbindung mit einem gutentwickelten Kinde
war vor einem Jahre ohne Kunsthilfe erfolgt; das Kind hatte sie
mehrere Monate gestillt. Die Periode war nach einem halben Jahre
wieder regelmässig eingetreten, war in den letzten Monaten unregel¬
mässig geworden und seit 2 Monaten ausgeblieben. Seit dieser Zeit
klagte sie über Herzklopfen, Angstgefühl in der Herzgegend, Kurz¬
atmigkeit schon bei geringer Anstrengung, grosse Mattigkeit und
Appetitlosigkeit. Seit etwa 3 Wochen litt sie auch an Husten, Aus¬
wurf, nächtlichem Schweiss und Schlaflosigkeit. Die Untersuchung
der mittelgrossen, blassen, mittelmässig ernährten Frau ergab eine
Temperatur von 38“ C. in der Achselhöhle, einen kleinen unregel¬
mässigen Puls von 90 Schlägen in der Minute. Der Urin war frei
von Eiweiss und Zucker; der Uterus war nicht vergrössert, beweg¬
lich in normaler Anteflexion. Die Untersuchung des übrigen Körpers
ergab ausser der erwähnten Struma — der Halsumfang betrug
3614 cm — pathologische Befunde nur am Herzen und an den Lungen.
Es bestand eine Vergrösserung des rechten und linken Ventrikels:
rechts reichte die Dämpfung bis zur Mitte des Sternums, der Spitzen-
stoss war im 5. Interkostalraum, etwas ausserhalb der Mammillarlinie,
stark hebend; die Herzaktion war beschleunigt, zeitweise unregel¬
mässig, die Herztöne waren rein, doch nur schwach hörbar. Die
Perkussion der Lungen ergab in beiden Unterlappen geringe Schall¬
verkürzung, auskultatorisch über beiden abgeschwächtes, sakka-
diertes Atmen und trockene, mittelblasige Rasselgeräusche.
Da sich der Zustand der Kranken trotz sorgfältigster Pflege, der
verschiedensten medikamentösen Massnahmen nicht besserte, quälen¬
der Husten mit schleimig-eitrigem Auswurf anhielt, liess ich den letz¬
teren im Hygienischen Institute Gelsenkirchen auf Tuberkelbazillen
untersuchen, da nach den klinischen Symptomen der Verdacht auf
Phthisis pulmonum gerechtfertigt war. In dem Sputum fanden sich
jedoch nach der Mitteilung des Instituts keine Tuberkelbazillen. Nach
dieser Auskunft hielt ich jetzt, bei dem Bestehen der Struma, trotz
des Fehlens des Exophthalmus, den Fall für einen jener anormalen
Fälle des Morbus Basedowii (Formes frustes), die wegen der Ab¬
wesenheit eines Hauptsymptomes der Diagnose häufig Schwierigkeiten
bieten und nahm an, dass durch eine qualitative und quantitative
Veränderung des Sekretes der Schilddrüse der schwere Krankheits¬
zustand hervorgerufen sei.
Da die Patientin infolge ihres schweren Leidens äusserst mutlos
geworden, die Umgebung ebenfalls sehr beunruhigt war, ging man
gern auf meinen Vorschlag ein, das Antithyreoidin Moebius anzu¬
wenden. Wie in meinen eingangs erwähnten Fällen verordnete ich
das Mittel in folgender Lösung: Rp. Antithyreoidin Moebius 4,0, Vin.
Tokay. 20,0, Aqu. dest. 100,0, 3 mal täglich 1 Kaffeelöffel voll zu
nehmen. Schon nach 2 maligem Einnehmen desselben zeigte sich eine
wesentliche Besserung sämtlicher Krankheitssymptome: das subjek¬
tive Befinden wurde ein besseres, die Herzaktion regelmässiger, die
Temperatur ging zur Norm zurück, die Kurzatmigkeit und der Husten
verringerten sich. Nach nochmaliger Repetition gab ich 3 mal 6 g
des Serums in derselben Zusammensetzung mit dem Erfolge, dass
nach Gebrauch dieses Quantums die Dilatation der Herzventrikel sich
wieder zur normalen Grösse zurückbildete, die Herzaktion eine regel¬
mässige wurde, die Pulsfrequenz auf 80 Schläge in der Minute zurück¬
ging und die katarrhalischen Erscheinungen in beiden Unterlappen
verschwanden, die wohl als Symptom eines Stauungskatarrhs auf¬
zufassen sind, infolge der unregelmässigen, insuffizienten Herztätig¬
keit. Der Appetit, der Kräftezustand der Kranken hob sich, so dass
sie nach 2 monatlichem Kranksein wieder ihren häuslichen Pflichten
nachgehen konnte. Sie nimmt nur noch zeitweise das Präparat in
Tropfen in folgender Zusammensetzung ein: Rp. Antithyreoidin
Moebius 3,0, Vin. Tokay., Aqu. dest. ana 10,0, 3 mal täglich 25 Tropfen
zu nehmen. Die Besserung hat bis heute angehalten, wie ich auch in
einem Vortrag im ärztlichen Verein in Hagen und Schwelm „Ueber
Serumbehandlung des Morbus Basedowii“ vor wenigen Wochen mit-
teilen konnte. Trotzdem bei der Patientin sich die Struma auch nach
der Besserung der schweren Erkrankung nicht nachweisbar ver¬
kleinerte, glaube ich doch den Fall auf Grund der vorzüglichen Wir¬
kung des Thyreoidinserums — trotz des Fehlens des Exophthalmus —
für einen Morbus Basedowii halten und die Serummedikation emp¬
fehlen zu dürfen.
Nachtrag bei der Korrektur: Dr. Erwin Stranski
schliesst eine Arbeit in Nr. 10 und 11 1906 der „Wiener Medizinischen
Presse“ „Zur Antithyreoidin-Behandlung der Basedow sehen
Krankheit“ mit den Worten: „das Antithyreoidin scheint derzeit an
der Spitze der verwandten Medikationen endlich eine interne Therapie
des Basedow anzubahnen, die nicht nur ähnlich der modernen
Myxödembehandlung auf grenzwissenschaftlicher Basis ruht, sondern
auch praktisch alle anderen internen und diätetischen Medikationen
an Wirksamkeit zu übertreffen scheint und so vielleicht manchen
Fall, der bisher in die Domäne der Chirurgie zu fallen schien, der
inneren Medizin revindiziert. Es steht jedoch einstweilen noch dahin,
ob das Antithyreoidin auch echte Dauererfolge zu zeitigen vermag“.
7. August 1906.
MUENGHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1571
Ein Beitrag zur Behandlung des Morbus Basedowii
mit Antithyreoidinserum von Moebius.
Von Dr. med. J. M. A. Q e v e r s Leuven in Ede (Holland).
Ueber die Wirkung des Antithyreoidinserums von Moe¬
bius sind gerade an dieser Stelle in letzter Zeit eine Reihe
von Mitteilungen erschienen.
Ich möchte diese Beiträge durch den Bericht über einen
Fall vermehren, der zunächst mit Antithyreoidinserum be¬
handelt und seitdem noch eben ein Jahr lang ärztlich weiter
beobachtet wurde.
Anamnese. Eine 21jährige unverheiratete Dame, die jüngste
von 4 Kindern. Der Vater lebt noch, ist gesund, nur reizbar. Die Mutter
war normal und ist an einer Infektionskrankheit gestorben. Die
Schwester der Patientin hat im Anschluss an ein Puerperium einen
deutlich ausgesprochenen Basedow durchgemacht, der restlos aus¬
geheilt ist.
Erste Krankheitserscheinung, auf die aber damals anscheinend
kein Wert gelegt wurde, war das Ausbleiben der bis dahin regel¬
mässig eintretenden Menses. Im Frühjahr 1904 wurde der Pat. das
Kleid am Halse schon etwas zu eng, ohne dass sie darauf besonders
geachtet hätte, auch Zittern der Hände soll schon länger bestanden
haben.
Einige Monate später, nach einer heftigen psychischen Emotion,
erwachte sie eines Tages mit einem angeblich plötzlich dick ge¬
wordenen Hals.
Status praesens 8. Juli 1904. Umfang der Struma, grösste
Peripherie, 40 cm, etwas darüber 38 cm. Puls 120.
Stellwag fehlend.
Konvergenzstörung fehlend.
Qraefe fehlend.
Tremor manuum et linguae.
Tremor facialis.
Kornealreflex links = rechts, positiv.
Das Herz ist nach links vergrössert bis über die Mammillarlinie,
nach rechts nicht vergrössert.
Ueber dem Herzen sind systolische. Geräusche zu hören. Puls¬
frequenz 135.
Im übrigen hat Patientin die gewöhnlichen Basedowsymptome:
Exophthalmus, Schweiss, Unruhe, erhöhte Sehnenreflexe.
Anfangs wurde sie von mir mit den gebräuchlichen Medikamen¬
ten behandelt, ohne Erfolg. Ich schickte sie dann nach Utrecht, wo
Prof. Heilbronner den Anfang mit der Serumbehandlung machte.
Zuerst wurde per os 2 mal pro Tag Yz g gegeben, nachher 3 mal Vz,
3 mal %, 3 mal 1, 2 mal 1 g.
Die Temperaturkurve zeigt nichts Besonderes. Die Pulsfrequenz
dauernd erhöht: die höchste Frequenz war 120, die niedrigste einmal
108. Natürlich wurde strenge Bettruhe verordnet.
Nachdem so ungefähr '90 ccm verbraucht war, beschränkten wir
uns auf eine roborierende Behandlung, namentlich Bettruhe, vor¬
wiegend vegetarische Diät, Solutio ferri mangani peptonati. Dabei
besserte sich der Zustand allmählich.
Die Struma wurde weicher, der Umfang blieb ungefähr derselbe.
Das Körpergewicht stieg allmählich von 60 auf 73 kg. Die Menses
kehrten im Monat Februar 1905 zurück. Tremores beinahe ge¬
schwunden, kein Schweiss, Exophthalmus vielleicht etwas geringer,
Pulsfrequenz 100.
Bei all dieser Besserung bleibt der Zustand noch sehr abhängig
von psychischen Einflüssen. Unangenehme häusliche Verhältnisse
haben immer wieder eine Verschlimmerung zur Folge. Dass trotz¬
dem eine erhebliche Besserung eingetreten ist, ist unzweifelhaft.
Während die Kranke im Beginne der Behandlung einen sehr kranken
Eindruck machte und mit der Möglichkeit eines sehr ernsten Ver¬
laufs jedenfalls gerechnet werden musste, hat sie jetzt einen doch
erheblichen Grad von Leistungsfähigkeit erreicht. Sie hat eine Stelle
als Gesellschafterin angenommen.
Wie weit an dieser Besserung die spezifische Behandlung
Anteil hat, wird gerade in diesem Falle noch schwerer wie in
anderen zu entscheiden sein, da sich die Besserung erst einige
Zeit nach dem Aussetzen des Serums unter einer indifferenten
Therapie entwickelt hat. Jedenfalls hat aber auch diese Be¬
obachtung erwiesen, dass schädliche oder auch nur störende
Nebenwirkungen von dem Gebrauch des Serums nicht zu be¬
fürchten sind.
Bemerkenswert erscheint es noch, dass die Schwester an
zweifellosem Basedow gelitten hat und von diesem jedenfalls
ohne spezifische Therapie anscheinend vollständig genesen ist.
Zur Kasuistik der subkutanen Geschwülste an den
Fingern.
Von Dr. Durlacher in Ettlingen.
Der aussergewöhnliche Sitz und die Grösse des Tumors, den ich
vor kurzer Zeit bei einem 57 jährigen Arbeiter exstirpierte, recht-
fertigen die Veröffentlichung.
Bei dem Arbeiter, der mit 16 Jahren „Nervenfieber“ und später
2 mal Lungenentziidung durchgemacht hat, zeigt sich mit 36 Jahren
ohne jede Ursache ein kleines „Knötchen“ an der Volarfläche des
rechten Zeigefingers in der Gegend der Artic. metacarpo-phalang.
Die Grösse dieses Knötchens blieb sich bis vor etwa 16 Jahren
gleich; von diesem Zeitpunkte ab vergrösserte es sich allmählich
bis zu der auf dem Bilde sichtbaren Ausdehnung.
Fig. 1.
Eine Tätigkeit, bei welcher ein mechanischer Druck auf die
Eingergegend ständig ausgeübt wurde, bestand nie.
Der Tumor reichte von der Basis der Grundphalange bis zum
äussersten Phalangealgelenk.
Auf der Haut waren ausgedehnte Venen sichtbar.
Bei der Palpation fühlte sich der Tumor prall elastisch an.
Die Haut war mit Ausnahme vereinzelter kleiner Stellen über
der Geschwulst verschieblich.
Die Beweglichkeit des Fingers war in den Phalangealgelenken
aktiv und passiv aufgehoben.
Die Geschwulst konnte unter lokaler Anästhesie leicht aus dem
Unterhautzellgewebe entfernt werden.
Die Sehnenscheiden
lagen nicht frei zutage,
sondern waren von einer
Bindegewebssicht be¬
deckt.
An einzelnen Stellen
des Tumors bestanden
geringe Verwachsungen
mit der Haut.
Der zuführende, ziem¬
lich starke Arterien¬
stamm wurde unter¬
bunden.
Die Haut war sehr
stark gedehnt, sehr blut¬
reich, keineswegs atro¬
phisch.
Sie musste vor der Naht derart beschnitten werden, dass bei
deren glattem Aufliegen auf dem Finger sich die Wundränder reich¬
lich berührten.
Es trat primäre Verheilung und normale Beweglichkeit des Fin¬
gers ein.
Der Tumor selbst hatte eine Länge von 5,7 cm, eine Höhe von
4,3 cm und war etwa 3 cm dick.
An einer Stelle der Geschwulst bestand eine durch Bindegewebe
hervorgerufene Einschnürung (s. Fig. 2) .
Bei Entfernung des Bindegewebes stellte sich die kleine Partie b
nur als ein mit dem grösseren Tumor a durch Bindegewebe ge¬
trennter selbständiger Teil dar.
3*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
1572
Der Durchschnitt der Geschwulst zeigte eine derbe, sehnenartige,
weisse Faserung.
An einer erbsengrossen Stelle der Oberfläche war eine gallert¬
artiger Erweichungsherd.
Die histologische Untersuchung (im pathologischen Institut Frei-
bürg i. B. ausgeführt) ergab keinen einheitlichen Bau der Geschwulst.
Hauptsächlich zeigten sich bündelartig sich durchflechtende
Bindegewbsfasern, stellenweise mit hyaliner Entartung der Gefäss-
umgebung.
Es ist ein sehr wechselnder, aber an einzelnen Stellen ganz aus¬
gesprochener Zellreichtum vorhanden.
Es gleicht der Tumor in histologischer Beziehung einerseits den
Dermoiden, der Zellreichtum lässt andererseits auch die Deutung
eines Fibrosarkoms zu.
Wir sehen also eine stark hühnereigrosse Geschwulst in dem
subkutanen Bindegewebe entstehen, die innerhalb von etwa 20 Jahren
zu dieser Grösse gewachsen ist.
In der Literatur sind bis jetzt nur 2 Fälle von Geschwülsten an
der Basalfläche der Finger beschrieben, die des Interesses halber
hier kurz referiert werden sollen.
Der erste Fall von Axel Key1) betrifft den schwedischen Dichter
Strandberg, der an der Volarseite der rechten Hand über der Artic.
metacarpo-phalang. digit. III eine Geschwulst hatte.
Dieselbe war walnusgross, weich und elastisch, zog sich bei
wechselnder Witterung zu der Grösse einer spanischen Nuss zu¬
sammen, indem sie zugleich fest und schmerzhaft wurde.
Bei der Sektion hatte die aus dem subkutanen Bindegewebe
leicht ausschälbare feste Geschwulst die Grösse und Form eines
Walnusskernes und an der Schnittfläche sah sie einem Uterusfibroid
ähnlich. Ihr mikroskopischer Bau war der eines exquisiten Myo-
fibroms; breitere oder schmälere Bündel organischer Muskelzellen
durch weniges zellenreiches fibrilläres oder homogenes Bindegewebe
von einander getrennt. Ausserdem fanden sich in der Geschwulst
mehrere offene Spalten oder Hohlräume an vielen Stellen so dicht
nebeneinanderstehend, dass das Gewebe kavernöses Aussehen bekam.
Diese Hohlräume waren Lymph- und Saftkanälchen.
Key nannte deshalb die Geschwulst ein Myofibrom lymphan-
giectaticum und sah ihr Auftreten im subkutanen Bindegewebe als
eine höchst eigentümliche un'd früher gewiss nicht beobachtete
Sache an.
Beim zweiten Falle2), bei dem ein Trauma die Entstehung der
Geschwulst verursachte, handelt es sich um einen 30 jährigen
Drechsler, dem in die Basalphalanx des linken Ringfingers ein
Spreissel eingetrieben wurde.
Einen Teil extrahierte er sofort, der übrige Teil blieb im Finger.
Es trat Schmerzhaftigkeit und Anschwellung ein, die Bewegung des
Fingers war gehemmt. Die Erscheinungen gingen innerhalb von
8 Tagen zurück.
Eine Verhärtung blieb bestehen, die zu wachsen begann und nach
15 Monaten zu einer walnussgrossen, harten, nicht schmerzhaften
Geschwulst sich entwickelte.
Der Finger konnte nur in schwachem Bogen flektiert werden.
Die Exstirpation ergab eine Geschwulst, ausgehend von der
gemeinsamen fibrösen Scheide des Ringfingers. In der Mitte der
Geschwulst war ein 1 cm langer Holzsplitter eingebettet. Eiterung
bestand nicht.
Der Tumor bestand in den äusseren Schichten aus derbem Fi¬
bromgewebe, in der Mitte aus sehr gefässreichem granulationsartigem
Gewebe. Die Wunde heilte glatt.
Ueber die Entstehungsursache der Geschwulst in unserem Falle
liegt absolut kein Anhaltspunkt vor.
Der Mann arbeitete durchweg als Kesselreiniger und hat nie
eine 1 ätigkeit ausgeübt, bei welcher die Volarfläche des Fingers stän¬
dig mechanischen Insulten ausgesetzt gewesen wäre.
Das Wachstum war, wie aus der Anamnese ersichtlich ist, ein
äusserst langsames.
Die Beeinträchtigung der Umgebung der Geschwulst war eine
rein mechanische. Die Beugung des Fingers war durch den Tumor
gehindert und andererseits traten in der Haut Stauungserscheinungen
auf, die sich in der Ausbildung eines starken Venennetzes äusserten.
Zum Schlüsse spreche ich Herrn Privatdozent Dr. Gierke in
Freiburg i. B. den besten Dank aus für die gütige histologische Unter¬
suchung des Tumors.
]) Axel Key: Fall af myofibroma lymphangiectaticum subcuta-
neum digiti III och af Myofibroma cutis. Hygiea, Sv. läk sullok.
förh. pag. 88. Ref.: Jahresb. über die gesamte Med., XII. Jahrg., Be¬
richt für das Jahr 1877, I. Bd., S. 271.
■) K. Bayer: Zur Kasuistik des paratendinösen Fibroms. Ref.
a. d. Prag. med. Wochenschr. in dem XVIII. Jahrg. des Jahresb. über
ges. Med., Bericht f. d. Jahr 1883, II. Bd., S. 360.
Aus der Chirurg. Abteilung des Kaiser-Eranz-Joseph-Kranken-
hauses in Mährisch Ostrau (Primarius Dr. F. N e u g e b a u e r).
Vier Fälle von Epithelzysten.
Von Dr. Leopold Klein.
M. Klar1) sagt in seinem Artikel „Ueber traumatische
Epithelzysten“, dass es wegen des noch nicht entschiedenen
Streites über eine für alle Fälle passende Aetiologie richtig sei,
jeden einzelnen ähnlichen Fall zu veröffentlichen.
Ueber die Aetiologie der Epithelzysten ist bisher viel ge¬
schrieben und viel gestritten worden; die Mehrzahl der Autoren
hat sich für die traumatische Entstehung dieser Geschwülste
erklärt und man besitzt auch eine Reihe untrüglicher experi¬
menteller Beweise für die Richtigkeit der darauf gebauten Hypo¬
these, dass versprengte Epithelkeime trotz der Loslösung aus
ihrem Zusammenhänge in tiefer gelegene Gewebe verpflanzt
weitere Wachstumsenergie entwickeln und zu kleinen Ge¬
schwülsten heranwachsen können.
So berichtet Neugebauer2) einen Fall von Neurolysis, bei
dem nach Umhüllung des Nervus radialis mit einem T h i e r s c h sehen
Läppchen eine kleine Fistel sich entwickelte, aus der sich zuweilen
atherombreiartige Massen entleerten.
Diese Erfahrung der Grazer Klinik wurde auch von Wörz3)
aus der Bruns sehen Klinik bestätigt, wo gleichfalls ein genähter
Radialnerv zur Verhütung von Verwachsungen mit der Umgebung
mit einem T h i e r s c h sehen Lappen umhüllt worden war und später
sich daraus eine Epithelgeschwulst entwickelt hat.
Als dritten, gleichsam experimentellen Fall will ich hier noch
2 von Martin4) beobachtete Fälle anführen, bei denen nach Ent¬
fernung von eingewachsenen Nägeln an der Operationsstelle Epithel¬
zysten entstanden.
Nach der Statistik von Wörz, der 55 Fälle zusammen¬
gestellt hat, ist nur bei 24 Fällen die Aetiologie bekannt und
diese ist stets ein Trauma. Wenn man ausserdem in Betracht
zieht, dass die veranlassenden Traumen meist geringeren
Grades sind und meist reaktionslos verlaufen und daher von
den Trägern wenig oder gar nicht beachtet werden, so ist ein¬
leuchtend, dass die Mehrzahl der Kranken über die Ent¬
stehungsweise der Geschwülste nichts Genaues anzugeben
wissen.
Ein zweites wichtiges Moment, welches für die trauma¬
tische Entstehung sprechen mag, ist die Lokalisation dieser
Geschwülste. Nach der bereits zitierten Statistik von Wörz
sind die meisten der beobachteten Fälle in der Hohlhand und
an der Volarseite der Finger zu treffen, also an Partien, die bei
der Arbeit am meisten Traumen ausgesetzt sind. Und die¬
jenigen Geschwülste dieser Art, die andere Lokalisationen auf¬
weisen, sind meist direkt auf Traumen zurückzuführen, wie
z. B. der Fall von V u 1 p i u s 5), wo nach einer wahrschein¬
lichen Infraktion der Tibia 11 Monate nach dem Trauma an der
Stelle desselben eine atheromartige Geschwulst entstand, die
als Epithelzyste aufzufassen war.
Der erste der Fälle, über welche hier berichtet werden soll,
kam am 13. Oktober 1905 zu unserer Beobachtung. Er betraf einen
33 jährigen Bergmann, Ferdinand M. aus Polnisch-Ostrau, der eine
Geschwulst am rechten Klcinfinger hatte, die nach seiner Angabe seit
7 Jahren bestand, langsam bis zu ihrer jetzigen Grösse heran¬
gewachsen war und in der letzten Zeit bei der Arbeit beträchtlich
hinderte, weshalb der Mann die Entfernung der Geschwulst wünschte.
Ueber die Entstehungsursache dieser Geschwulst wusste der Kranke
nichts Bestimmtes anzugeben, doch glaubte er sie auf die ständigen
Insulte durch den Hammerstiel zurückführen zu können.
Es sass die Geschwulst an der Volarfläche der II. Phalanx des
rechten Kleinfingers und hatte die Form und Grösse einer Kirsche
(vgl. Fig. l). Die Haut darüber war normal, nur stark gespannt. Die
Geschwulst war auf der Unterlage leicht verschieblich, auf Druck
etwas empfindlich. Fluktuation war nicht deutlich nachweisbar.
Nach Durchtrennung der ganzen Hautdicke in Lokalanästhesie
zeigte sich eine glatte weisse Geschwulstoberfläche, welche mit dem
Messer verletzt wurde und aus der sich ein Brei von fettglänzenden
O Münch, med. Wochenschr. 1904, No. 16.
2) Beitr. z. klin. Chir., Bd. XV, H. 2: Zur Neurorrhaphie und
Neurolysis.
3) Wörz: Ueber traumatische Epithelzysten. Beitr. z. klin.
Chir., Bd. XVIII, H. 3.
4) Martin: Beiträge zur Lehre von den traumatischen Epithel¬
zysten. D. Zeitschr. f. Chir., Bd. XLIII, pag. 597.
D) Vulpius: Zur Kasuistik der traumatischen Epithelzysten.
Zentralbl. f. Chir., S. 361.
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1573
Schüppchen entleerte. Der Geschwulstbalg, der vollständig exstir-
piert wurde, reichte bis an die Sehnenscheide heran, ohne mit ihr in
irgendwelchem Zusammenhänge zu stehen. Es stellte also die Ge¬
schwulst eine Hohlkugel dar, an deren Innenwand die beschriebenen
Schüppchen sassen.
Der zweite Fall betraf einen 24 jährigen Kesselheizer, Max N. aus
Mährisch-Ostrau, der am 24. April 1906 zur Aufnahme kam. Dieser
hatte eine kugelige Geschwulst an der Volarseite der zweiten Pha¬
lanx des rechten Mittelfingers von der Grösse einer Herzkirsche (vgl.
Fig. 2); sie bestand seit 4 Jahren und war sehr langsam gewachsen.
An eine Verletzung wusste sich der Kranke nicht zu erinnern. Die
Haut über der Geschwulst war gespannt und schwielig verändert.
Fluktuation war deutlich nachweisbar.
Die in Lokalanästhesie exstirpierte Geschwulst hatte eine weisse
glänzende Kapsel. Der Inhalt bestand aus denselben Schüppchen, wie
sie der erste Fall aufwies.
Der dritte Fall unserer Beobachtung betraf einen 36 jährigen
Spengler, Johann Sch. aus Oberfranzensthal. Dieser hatte eine kuge¬
lige Geschwulst in der rechten Hohlhand. Die Haut darüber bildete
eine Schwiele (vgl. Fig. 3). Auch dieser Kranke wusste sich an keine
Verletzung zu erinnern, doch gab er über eingehenderes Befragen
an, dass er sehr starkes Blech mit einer grossen Schere schneiden
müsse und dass dabei die Scherenkante gerade auf die Geschwulst zu
liegen komme. Dieser Umstand machte ihm die Geschwulst beson¬
ders lästig.
Makroskopisch zeigte die exstirpierte Geschwulst, die eine kuge¬
lige Form besass, dieselben Eigenschaften, wie die früher genannten
Geschwülste.
Was nun den 4. Fall betrifft, so bietet dieser einen besonders
interessanten Befund. Dieser Fall kam am 8. Mai 1906 zu unserer
Beobachtung. Bei einem 26 jährigen Grubenlampenputzer, Alois W.
aus Mährisch-Ostrau bestand seit 4 Jahren eine Geschwulst an der
Basis des linken Mittelfingers von etwa Taubeneigrösse (vgl. Fig. 4),
die in der ersten Zeit ihres Bestehens langsam gewachsen war, in den
letzten 2 Monaten aber ein stärkeres Wachstum entwickelte. Ein
Trauma war nicht vorhergegangen. Vor einem Jahre hatte der
Patient an der Stelle der Geschwulst, die damals Kirschengrösse hatte,
eine Schnittwunde der Haut mit dem Taschenmesser erlitten, die
eiterte; die Geschwulst war aber in ihrem Bestände nicht geändert
worden. Die Beschäftigung des Kranken besteht nun darin, dass er
beim Putzen der Grubenlampe diese mit der linken Hand fest an die
Brust andrückt, wobei gerade die Stelle der Geschwulst dem stärksten
Drucke ausgesetzt ist.
Beim Betasten der Geschwulst fand man, dass dieser 2 über¬
einanderstehende ovale Gebilde zugrunde lagen, von denen jedes
etwa Haselnussgrösse besass. Das untere Gebilde reichte etwas in
die Hohlhand hinein, während das obere gegen den zweiten Inter-
phalangealraum sah. Bei der in Lokalanästhesie vorgenommenen
Exstirpation fanden sich nun 3 vollständig von einander gesonderte,
nebeneinander liegende Gebilde, und zwar 2 von Haselnussgrösse,
während das dritte Gebilde Erbsengrösse besass und von den beiden
anderen bedeckt wurde, weshalb es auch der äusseren Betastung ent¬
gangen war. Alle 3 Gebilde bestanden aus einem weissglänzenden
Geschwulstbalg und hatten fettglänzende Schüppchen zum Inhalt.
Ein Zusammenhang mit den Gebilden der Umgebung bestand nicht.
Die histologische Untersuchung der in Zelloidin eingebetteten und
mit Hämatoxylin-Eosin gefärbten Präparate aller Geschwülste der
4 Fälle wies im grossen und ganzen denselben Befund auf. Es fan¬
den sich 3 Schichten; die äusserste bestand aus Bindegewebe, die
mittlere Schichte aus mehrschichtigem Plattenepithel, welches sich
nach innen zu immer mehr abplattete und die dritte innerste Schichte
bildete eine mächtige Lage verhornter Epithelzellen mit undeutlicher
Kernfärbung, von denen Teile bereits aus dem Zusammenhänge ge¬
löst waren.
Die Schüppchen, die den Inhalt der Geschwülste gebildet hatten,
erwiesen sich bei der mikroskopischen Untersuchung als vereinzelte
Plattenepithelzellen und Detritusmassen.
Es zeigte also sowohl der makroskopische Befund als auch
der histologische Bau alle Merkmale von Epithelzysten und es
sprach auch die Lokalisation bei allen vier Fällen für die An¬
nahme von Epithelzysten.
Dass nun für keinen der beschriebenen Fälle die trauma¬
tische Entstehung nachgewiesen werden konnte, fällt nicht
schwer ins Gewicht. Denn die Arbeiter und insbesondere
Bergleute, sind so häufig Traumen ausgesetzt, dass sie ge¬
ringere Verletzungen gar nicht beachten, insbesondere dann
nicht, wenn keine Infektion hinzutritt. Wenn man auch die Ent-
stehungsweisen, die unsere Arbeiter angaben, nicht als glaub¬
haft akzeptiert, so bleibt doch die Vermutung bestehen, dass bei
allen diesen Leuten ein die Haut penetrierendes Trauma vor¬
hergegangen sein mag, welches, da es reaktionslos verheilt
war, nicht beachtet worden war, zumal ja zwei unserer Fälle
Zugaben, oft Traumen geringerenGrades an den Händen erlitten
zu haben, aber an ein spezielles Trauma an der Stelle der Ge¬
schwulst sich keiner erinnern konnte.
Ueber das Verhalten der im Blute der Typhuskranken
nachweisbaren Typhusbazillen gegenüber der bakteri¬
ziden Wirkung des Blutes.
Von Dr. A. L e m i e r r e, Anden interne des Hopitaux de
Paris.
Eppenstein und Körte haben in No. 24 dieser Wochen¬
schrift vom 12- Juni 1906 nachgewiesen, dass man bei Typhuskranken
eine deutliche Anreicherung der Typhusbazillen im eigenen Oxalat-
Fig. 4.
1574
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
blut finden kann, und dass das Blut der Typhuskranken, das man der
Arterie entnimmt, nicht imstande ist, mit seiner ihm sonst gegen
Tj'phusbazillen zukommenden bakteriziden Kraft diejenigen Typhus- ,
bazillen aufzulösen, die im Verlaufe der Infektion hineingelangt sind.
Diese Ergebnisse stimmen mit den Untersuchungen überein,
welche ich, als Interne, in der Klinik von Prof. W i d a 1 und von
Prof. Le tu Ile gemacht habe, und welche im Jahre 1903 in der
Societe de Biologie und im Jahre 1904 in meiner Inauguraldissertation
veröffentlicht wurden1).
Ich hatte eine Reihe von Blutuntersuchungen bei Typhuskranken
und bei Kranken, welche septische Erkrankungen darboten, im Jahre
1902 begonnen; ich hatte mich dann überzeugt, dass es nötig ist, das
Blut unmittelbar mit grossen Mengen Nährböden zu verdünnen, um
die bakterizide Kraft auszuschalten, und ich gebrauchte die C a s t e 1 -
1 a n i sehe Methode, welche ich leicht geändert hatte, indem ich
die Bouillon durch Peptonwasser ersetzte.
Ich wollte doch einmal untersuchen, wie lange man das defibri-
nierte Blut der Typhuskranken rein und ohne Verdünnung auf¬
bewahren kann, ohne dass die im Blute befindlichen Typhusbazillen
abgetötet werden.
Mein Verfahren war folgendes: 20 ccm Blut wurden mittels
Venenpunktion von Typhuskranken entnommen; von diesen 20 ccm
wurden 10 ccm unmittelbar während 5 Minuten in einem Röhrchen
mit Glasperlen geschüttelt, um die Gerinnung zu verhindern. Die
verbleibenden 10 ccm wurden, zur Kontrolle, in einen mit 400 ccm
Peptonwasser gefüllten Glaskolben gegossen. Alles kam in den Brut¬
schrank.
Nach 1, 2, 3 usw. Tagen wurde von dem defibrinierten Blute
ein Tropfen aspiriert und in ein Agarröhrchen geimpft; ein anderer
Tropfen wurde auf einer Glasplatte gefärbt und untersucht.
23 Blutproben, welche von 22 Typhuskranken stammten, wurden
so behandelt. In 21 defibrinierten Blutproben konnte ich eine deut¬
liche Anreicherung der Bazillen beobachten; ebenso gelangen die
23 Kulturen in den Peptonwasserkolben.
Die Anreicherung der Mikroben im defibrinierten Blut wurde
deutlich:
Nach
1 Tag .
in
3
Fällen
yy
3 Tagen .
yy
5
yy
yy
4 . .
yy
5
yy
yy
5 „ .
yy
4
yy
yy
6 „ .
yy
2
yy
yy
7 . .
yy
1
yy
yy
9 „ .
yy
1
yy
Dagegen war immer eine starke Bazillenwucherung nach 1 oder
2, ausnahmsweise nach 3 oder 4 Tagen in den Peptonwasserkolben
zu beobachten.
Macht man tägliche Untersuchungen der defibrinierten Blut¬
proben, welche eine Bazillenanreicherung erst spät zeigen, so bemerkt
man während 1, 2, 3 usw. Tagen keine Veränderung. Die Farbe des
Blutes bleibt dunkelrot; in einem auf einer Glasplatte ausgebreiteten
und gefärbten Bluttropfen, kann man keinen Bazillus finden; ein in
einem Agarröhrchen gelegener Tropfen gibt keine Kolonie oder 1 oder
2 Kolonien.
Nach dieser Periode, plötzlich, über Nacht, tritt eine Veränderung
ein. Die Farbe des Blutes wird bräunlich; in den Präparaten kann
man eine ausserordentliche Zahl von Bazillen sehen; diese zeigen sich
mitten unter den Blutkörperchen, die Mehrzahl als lange Bazillen¬
ketten, deren einige frei liegen, während die anderen sich kreuzen
und agglutinierte Häufchen bilden. Natürlich gibt die Impfung eines
solchen Tropfen auf Agar unzählbare Kolonien.
Es scheint also, dass es in vitro, während einer ersten Periode,
eine Hemmungskraft in dem defibrinierten Typhuskrankenblute gibt,
welche das Wachstum der hier befindlichen Typhusbazillen verhindert,
ohne sie doch zu töten. Nach dieser mehr oder minder langen Periode
besiegen die Mikroben diesen Widerstand und vermehren sich kräftig
und schnell. Ich habe Typhusbazillen so in den defibrinierten Blut¬
proben mehrere Monate erhalten können.
Wovon die Dauer der Hemmungsperiode abhängt, kann man nicht
sicher sagen. Man kann nur behaupten, dass die Agglutinations¬
kraft des Blutes (1/woo in einem Falle, wo die Anreicherung der Ba¬
zillen nach 24 Stunden deutlich war) keinen Einfluss zu haben scheint.
Vielleicht ist das Stadium der Krankheit, in welchem die Unter¬
suchung gemacht ist, von grösserer Wichtigkeit. In dem ersten
unserer zwei erfolglos gebliebenen Fälle (Fall II), wurde die Unter¬
suchung am 8. Tag der Krankheit gemacht; in einer von demselben
Kranken 3 Tage vorher entnommenen Blutprobe hatte nur nach
9 Tagen eine Anreicherung der Bazillen stattgefunden; die Hemmungs¬
kraft, welche schon am 5. Tag der Infektion sehr deutlich war, ist
vielleicht während der 3 folgenden Tage grösser geworden, so dass
sie die Keimvermehrung vollständig verhindern konnte. In dem
zweiten Falle (Fall XII) handelte es sich um eine Frau, welche einen
x) Lemierre: Un procede simple d’ensemencement du sang.
Comptes rendus hebdomadaires des Seances et Memoires de la
Societe de Biologie. 1903. S. 1296.
Derselbe. L’ensemencement . du Sang pendant la vie
Inauguraldissertation, Paris 1904.
sehr leichten Typhus darbot: die Untersuchung wurde am 12. Tag
der Krankheit gemacht und die Kranke wurde am 14. Tag fieberfrei.
10 ccm Blut gaben in Peptonwasser Typhusbazillen in Reinkultur;
in der defibrinierten Blutprobe trat keine Anreicherung ein.
2 Fälle lassen keinen sicheren Schluss darauf zu, dass die bak¬
terizide Wirkung des Blutes zugleich mit dem Alter der Krankheit
wächst; und die folgende Tabelle zeigt, dass die Zusammenfassung
der Fälle diese Hypothese nicht zu stützen scheint.
Fälle
Tag der Krankheit
Blutkultur in Pepton¬
wasser positiv nach
Anreicherung in de-
fibriniertem Blut positiv
nach
1
5.
1 Tag
1 Tag
TT
( 5.
|3 Tage
9 Tage
il
1 8.
4 -
negativ
III
6.
2 „
4 Tage
IV
6.
2
3 „
V
7.
2 „
5 ■ „
VI
7.
1 ,
5 „
VII
8.
2 „
4 „
VIII
8.
1 „
3 „
IX
10.
1 *
1 „
f X
10.
1 „
3 „
XI
10.
1 „
1 „
XII
12.
4 „
negativ
XIII
15.
3 „
4 Tage
XIV
16.
1 .
4 „
XV
20.
2 „
5 „
XVI
20.
2 „
7 „
XVII
21.
3 ..
6 „
XVIII
22.
2 „
4 „
XIX
29.
2 „
6
XX
Rückfall
1
3 „
XXI
Rückfall
2 .
5 „
XXII
Rückfall
2 „
3 „
Es wäre doch interessant, in Zukunft bei jedem Typhuskranken
das Blut während des Verlaufes des Fiebers mehrmals zu unter¬
suchen und zu bestimmen, ob die Dauer der Hemmungsperiode in den
nacheinanderfolgenden Blutproben länger wird.
Endlich kann man vielleicht annehmen, dass bei den 2 Fällen,
welche erfolglos blieben, die Blutprobe keinen Typhusbazillus ent¬
hielt. Bei dem Falle XII ist diese Voraussetzung möglich, da die
Fieberkurve schon zu sinken anfing, und die Bazillen wahrscheinlich
im Blute sehr spärlich waren. Aber beim Falle II handelte es sich
um einen schweren Typhus und man kann kaum annehmen, dass
es keinen Bazillus in 10 ccm Blut gab.
Bei den anderen septischen Erkrankungen sind solche Unter¬
suchungen minder leicht als beim Abdominaltyphus, weil die An¬
wesenheit der Keime im Blute seltener ist. Jedoch habe ich in einer
defibrinierten Blutprobe, welche der Ader eines Pneumonikers ent¬
nommen wurde, eine deutliche Pneumokokkenanreicherung nach
48 Stunden erhalten, während die Blutkultur in Peptonwasser miss¬
lang. Bei einem Falle von Kindbettfieber gab die Blutzüchtung in
Peptonwasser Streptokokken nach zwei Tagen, und die Anreicherung
dieses Keimes in defibrinierter Blutprobe trat erst nach fünf Tagen
ein. Wie bei Typhus war eine Hemmungsperiode hier zu bemerken.
Es geht aus diesen Untersuchungen hervor, dass das Blut der
Typhuskranken nur ausnahmsweise die Anreicherung der Bazillen,
welche in den Gefässen mit diesem Blute zirkulieren, in vitro ab¬
solut zu verhindern scheint. Wenn' die bakterizide Wirkung des
Blutes nicht genügend ist, um die Mikroben zu töten, so ist sie doch
imstande, die Vermehrung dieser Mikroben zu verspäten. Des¬
wegen muss man, wenn man in der Klinik frühe Resultate erhalten
will, das entnommene Blut in grossen Mengen Nährböden verdünnen.
Praktisch sind diese Ergebnisse von ziemlich grosser Wichtig¬
keit. Sie zeigen, dass das Blut der Typhuskranken aus der Vene,
weil von dem Laboratorium entnommen und ohne Nachteil, nach
Defibrination mehrere Tage aufbewahrt werden kann, bevor es mit
den Nährböden verdünnt wird. Das ist aber eine jetzt so allgemein
bekannte Sache, dass es zwecklos ist, länger dabei zu verweilen.
Ein einfacher und praktischer Apparat für die
Biersche Stauung.
Von Dr. O. Muck, Ohrenarzt in Essen a. d. R.
Ein wie grosses Interesse man der von Bier inaugurierten
Stauungshyperämie entgegenbringt, beweist die umfangreiche Arbeit
von allen Seiten, auf allen Gebieten der Medizin nach dieser Richtung
hin und vor allem die Tatsache, dass selten ein medizinisches Werk
in dem kurzen Zeitraum, eines Halbjahres, so viele Auflagen erlebte,
wie Biers Monographie „die Hyperämie als Heilmittel“. Wenn
eine so nützliche Heilmethode, wie sie in so genialer Weise von
Bier der Natur abgelauscht ist, für uns ein wirksamer Heilfaktor
bleiben soll, müssen wir Aerzte, die Diener der Natur, auch mit einem
guten Rüstzeug versehen sein, um das, was sie uns lehrt oder an-
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1575
deutet, künstlich nachzuahmen oder wo es not tut, zu verstärken.
In vielen. Fällen brauchen wir zu solchem Zweck Vorrichtungen,
auf die wir uns jeder Zeit verlassen müssen. Seitdem ich
mich mit der Stauungshyperämie befasste, fiel mir auf, wie oft
ein Saugball im Stich liess. Vor allem hat der Gummiballon nur eine
begrenzte Saugkraft; seine Elastizität lässt mit der Zeit nach. Ein
anderer Nachteil liegt darin, dass er nicht auskochbar ist und ein
dritter Jst der hohe Preis des Gummi
Für die Behandlung einer
beiderseitigen Mittelohrtuberku¬
lose die ich mit der Stauungs¬
hyperämie erfolgreich behandelte,
konstruierte ich mir einen ein¬
fachen Saugapparat, den ich später
zur Behandlung von Furunkeln und
Peritonsillitiden etc. anwendete.
Ich empfehle ihn zur Behandlung in
allen anderen Fällen, in denen man
die Hyperämie mit dem Saugballon
hervorzurufen bestrebt war.
Das Prinzip der Saug¬
methode ist höchst ein¬
fach. Der Gummiballon
ist durch eine einfache
Glaskugel eisetzt, die
durch eine Saugspritze
beliebig evakuiert wer¬
den kann. An dem kurzen Hals
a der Kugel befindet sich ein kurzes Schlauchstück b, das mit einem
Quetschhahn g versehen ist. Um die Luft in der Kugel zu verdünnen,
lässt man durch den Patienten den Quetschhahn öffnen und schliessen
und bringt den Schröpfkopf an das Schlauchende, setzt den
Schröpfkopf auf, öffnet und schliesst den Quetschhahn und nimmt die
Glaskugel ab.
Die Vorteile dieses einfachen Saugapparates sind zusammen¬
gefasst folgende:
1. Der teure und mit der Zeit versagende Gummiball wird durch
eine Glaskugel ersetzt.
2. Die Luftverdünnung in der Glaskugel kann mit einer Saug¬
spritze oder durch Anschluss an die Wasserstrahlluftpumpe mit
Manometer genau dosiert werden. (Im Notfälle kann man die Luft-
verdiinnung in der Kugel erreichen durch Erwärmen derselben über
einer Flamme bei geöffnetem Quetschhahn und nachherigem Erkalten¬
lassen bei geschlossenem.)
3. Der Schröpfkopf bleibt allein haften.
4. Die einzelnen Teile des Apparates lassen sich leicht ste¬
rilisieren.
Der Apparat ist zu beziehen durch die Glasbläserei von Robert
Müller in Essen a. d. Ruhr.
Die Behandlung der „Stiele“ bei gynäkologischen
Operationen.
Von L. v. Stubenrauch.
Die Forderung, dass die Stümpfe bei gynäkologischen Opera¬
tionen mit besonderer Sorgfalt behandelt werden sollen, ist eine sehr
alte. Braun (Lehrb. d. ges. Gyäkol., 1881) hat seinerzeit von der
Möglichkeit eines infizierenden Einflusses der Stümpfe gesprochen
und mit Anderen empfohlen, die ligierten Stiele abzubrennen. Auf
der Beobachtung, dass an den Stümpfen leicht Infektionen Vorkommen,
welche sekundäre Verklebungen der Därme hervorrufen, baut sich die
Methode des Peritonisierens der Stümpfe auf. Auf der gleichen Be¬
obachtung baut sich die Aenderung der Operationsmethode bei der
Entfernung der Myome auf. Um den Stumpf zu vermeiden, wird die
supravaginale Amputation des Uterus durch die abdominale Total¬
exstirpation ersetzt. Schliesslich geht das Streben der Operateure
dahin, die Stümpfe womöglich ganz zu vermeiden und die Stumpf¬
bildung durch Einzelligaturen zu umgehen. Jeder Operateur weiss
ferner, dass das Peritoneum viel besser eine gewisse Quantität In¬
fektionserreger erträgt als das Zellgewebe und ganz besonders das
Fettgewebe. Verständlich erscheint ferner meines Erachtens die Vor¬
stellung, dass in subserösen Zellgewebspartien, in deren Bezirk län¬
gere Zeit operiert wird, leichter Infektionen auftreten, wie in solchen,
welche den nachteiligen Folgen länger dauernder Eingriffe nicht aus¬
gesetzt sind (gelöste Adhäsionen, durchtrennte Bauchdecken etc.).
Wenn Herr Theilhaber die Forderung stellt, vor der Unterbin¬
dung des Stieles eine nochmalige Desinfektion der Hände, der Tupfer,
der Instrumente und des Stieles vorzunehmen, dann wundere ich mich,
dass er gerade für jenes Medium nicht die verschärfte Asepsis ver¬
langt, welches anerkannterweise am schwersten keimfrei zu machen
ist, nämlich die Hand, welche den sterilen Faden knoten soll. Dass
die exakt desinfizierte, mit sterilisiertem Handschuh versehene Hand
den zu knotenden Faden mehr vor Infektion schützt wie die des¬
infizierte handschulose Hand, wird Herr Theilhaber kaum be¬
streiten. Die in No. 27 dieser Wochenschrift erschienene Abhandlung
Theilhabers wird wohl viele in der Asepsis ängstliche Opera¬
teure beruhigen, welche gewohnt sind, die exakt desinfizierten Hände
noch mit sterilisierten Handschuhen zu bedecken und letztere mehr¬
mals während der Operation, ganz besonders aber vor Anlegung von
Ligaturen in Desinfizientien abzuwaschen, bezw. durch sterilisierte
zu ersetzen. Herr Theilhaber sagt zwar: „Die mehrmalige Des¬
infektion der Hände während der Operation ist doch verschieden von
der prinzipiellen nochmaligen Desinfektion der Hände, der Tupfer, der
Instrumente und des Stieles vor Unterbindung der Lig, lata.“ Die
betreffenden Operateure, zu denen ich mich ebenfalls rechnen muss,
führen die mehrmalige Desinfektion der Hände, wie ich Herrn T h e i 1 -
haber auf das Bestimmteste versichern kann, „prinzipiell“ lediglich
aus Fürsorge für die Erhaltung der Sterilität des Unterbindungs¬
materiales vor Anlegung von Ligaturen überhaupt, nicht allein jenen
der Stiele aus. Mit der Empfehlung der antiseptischen Waschung
der Stiele kehrt Theilhaber in die antiseptische Zeit der Ovario-
tomien zurück, in jene Zeit, in welcher das Operationsgebiet mit Bor¬
säure (Nussbaum*) gewaschen wurde. Das Prioritätsrecht für
die „energische“ Abreibung der Stiele mit Borsäure- oder Salizyl¬
säurelösung soll Herrn Theilhaber nicht genommen werden.
Zur Einführung der schulärztlichen Institution in den
Volksschulen des Reg. - Bez. Schwaben und Neuburg.
Von Bezirksarzt Dr. Wille in Markt-Oberdorf.
(Schluss.)
Auf alle Fälle müssen wir uns bei der Betrachtung der Durch¬
führbarkeit des Schularztwesens doch einigermassen auf den sicheren
Boden des Zahlenbeweises stellen. Und hier dürfte in erster
Linie die Frage zu beantworten sein: Wie viel Arbeitszeit
beansprucht der schulärztliche Dienst vom Schul¬
arzt? Selbstredend wird sich ihr Quantum in erster Linie nach dem
Masse und der Art der Anforderungen richten, die an den Schularzt
gestellt werden. Und hier wird wohl allgemein der Wiesbadener
Typus, wie ich ihn soeben geschildert, zum Vorbilde dienen müssen,
wenn auch mit bestimmten Modifikationen für Stadt und Land.
Da ich nun für diesen Zweck wenig Verlässiges und Verwert¬
bares aufzufinden vermochte, so habe ich darüber selbst eine un¬
gefähre Berechnung nach den Schul- und Schülerverhältnissen
in Schwaben und Neuburg vom Jahre 1900 angestellt, nachdem mir
eine neuere Statistik nicht gerade zur Hand gelegen. Trotz der
vielen Mängel, welche, wie ich offen gestehe, meinem approximativen
Voranschläge anhaften müssen, beruht er doch wenigstens auf der
Basis von Zahlen und dürfte daher auch etwas mehr Wert be¬
anspruchen können, als lediglich ganz abstrakte Schätzungen.
Ich habe dabei zunächst angenommen, dass jeder Schul¬
rekrut bei seinem Eintritt in die Schule einer oberflächlichen Be¬
sichtigung auf seine Schulreife und auf offenbar kontagiöse Krank¬
heiten vom Schulärzte und Lehrer unter Einsichtnahme des Frage¬
bogens, dann ein paar Wochen später einer genauen Körperunter¬
suchung, sowie einer Untersuchung der höheren Sinnesorgane mit
gleichzeitigen Einträgen in den Gesundheitsbogen unterworfen werde,
und habe für diese 3 malige Untersuchung insgesamt einen Zeitauf¬
wand von 20 Minuten für jedes Schulkind berechnet.
Ferner nahm ich an, dass jeder ältere Schüler im 3., 5.
und 8. Schuljahr je 1 mal genauer untersucht und das Resultat
im Gesundheitsbogen verzeichnet werde. Für jede derartige Unter¬
suchung mit Einträgen berechnete ich pro Kind 10 Minuten.
Des weiteren erachtete ich es nach exaktem Wiesbadener Typus
als Aufgabe des Schularztes, dass er jedes Semester 2mal
jede Klasse seiner Schule 15 Minuten lang besichtige, was einem
Zeitaufwand von 7 Stunden pro Schule und Jahr entsprechen würde.
Endlich supponierte ich, dass der Schularzt etwa alle 2 W o c h e n
1 Sprechstunde in der Schule abhalte.
Für etwaige Besuche im Hause des Schülers im Interesse des
Schularztwesens, für eventuelle Beiwohnung bei den Konferenzen,
Schulprüfungen, in der Schulkommission usf., für die Abhaltung von
hygienischen Vorträgen, für Buchführung und Erstattung von Jahres¬
berichten u. dgl. berechnete ich überhaupt . keine Zeit, hauptsächlich
in Anbetracht des Umstandes, dass der Zeitaufwand von 20 Minuten
für die Untersuchung eines Schulneulings und von 10 Minuten für
die jedes älteren Schülers gewiss nicht zu karg bemessen erscheine.
Unter diesen Voraussetzungen nun kam ich zu folgenden
Resultaten: Die Durchführung des schulärztlichen Dienstes in
obiger Form beansprucht durchschnittlich pro Jahr:
I. Für jedes schwäbische Landbezirksamt (durch¬
schnittlich 4293 Schüler in 50 Schulen):
a) für die genauere Untersuchung der Schulrekruten
und Schüler des 3., 5. u. 8. Schuljahres . 511 Stunden,
b) für die 2 malige Semestraluntersuchung in jeder
Schule . 350 „
c) für die ärztlichen Sprechstunden, ca. 20 im Jahre,
in jeder*Schule . . . 1000 .
Somit in Summa 1861 Stunden.
*) Cfr. F e s s 1 e r s Bericht; Allg. Wiener med. Ztg. 1887, No. 27.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
II. Für die Stadt Augsburg allein (9257 Schüler in
22 Schulen):
a) für Untersuchung der Schulrekruten und Schüler 1100 Stunden,
b) für 2 malige Semestraluntersuchung jeder Schule 154 „
c) für 20 ärztliche Sprechstunden in jeder Schule . 440 „
in Summa 1694 Stunden.
III. Für jede unmittelbare Stadt Schwabens ohne
Augsburg (842 Schüler in 3 Schulen):
a) für Untersuchung der Schulrekruten und Schüler 100 Stunden,
b) für 2 malige Semestraluntersuchung jeder Schule 21 „
c) für 20 ärztliche Sprechstunden in jeder Schule . 60 „
in Summa 181 Stunden.
Dagegen bei Hinzutritt des Landbezirksamtes
(durchschnittlich 5135 Schüler in 53 Schulen): 2042 Stunden.
Dabei bitte ich, nicht zu übersehen, m. H., dass dies nur Durch¬
schnittszahlen sind, so dass z. B. das Landbezirksamt Augsburg
mit 8472 Schülern und 69 Schulen im Jahre 1900 wesentlich grössere
Ansprüche an den schulärztlichen Dienst stellen wird, als etwa das
Landbezirksamt Zusmarshausen mit 2589 Schülern und 36 Schulen.
Wie Sie aus den angeführten Zahlen ersehen, sind es so beträcht¬
liche Ziffern, dass man dabei mit der Durchführung des Schularzt¬
wesens ins Wanken geraten könnte, insbesondere mit Rücksicht auf
die Lage und Stimmungen der Gegenwart. Allein auch dies Gerücht
kühlt sich bei näherer Untersuchung schliesslich doch bis zur Ge-
niessbarkeit ab.
Betrachten wir vor allem die für die Untersuchung der Schul¬
rekruten notwendige Zeitdauer. Obermedizinalrat Prof. G r u b e r in
München legt das grösste Gewicht auf die Exaktheit dieser Unter¬
suchung, und wer wollte bestreiten, dass er grundsätzlich Recht hat?
Nach ihm würde die Untersuchung eines jeden Schulneulings mit
Wägung, Messung von Körperlänge und Brustumfang, Inspektion, Pal¬
pation, Perkussion und Auskultation der einzelnen Organe, Spezial¬
untersuchung der höheren Sinnesorgane u. dgl. durchschnittlich min¬
destens Va Stunde beanspruchen, wenn nicht noch viel mehr. Allein,
wie weit sind wir bei noch vielen anderen hygienischen Desideraten
von der Erreichung des Vollkommenen und Wünschenswerten ent¬
fernt, ohne deshalb das Resultat unserer Tätigkeit für illusorisch hal¬
ten zu müssen. Einstweilen bleibt uns wohl nichts anderes übrig,
als das Ereichbare anzustreben. Freilich, wenn man z. B. in Leip-
z i g meint, wenn auch ohne Wägung und Messung, mit einem Zwei¬
minutenaufwand pro Schüler „einwandfrei“ untersucht zu haben, so
kann ich angesichts der Rubriken der Gesundheitsbögen an die Leistung
solcher Magierkünste kaum recht glauben. In Frankfurt rechnet
man durchschnittlich 8 Minuten für die Untersuchung. Mit wachsen¬
der Uebung der Schulärzte mögen demnach etwa 10 Minuten
für die Untersuchung des Schulneulings genügen,
selbst inkl. der notwendigsten Untersuchung der höheren Sinnesorgane
durch einen Nichtspezialisten.
Ferner erscheint es keineswegs ausgeschlossen, dass auch die
Untersuchungsdauer der ä 1 1 e r e n S c h ü 1 e r, in der 3., 5. und
8. Schulklasse allmählich bis auf die Hälfte der von mir an¬
genommenen Zeit, d. h. bis auf durchschnittlich 15 Minuten für diese
3 Untersuchungen zusammen herabgemindert werden könne, ohne dem
Zwecke derselben einen zu empfindlichen Eintrag zu tun. Schulrat
Dr. Kerschensteiner in München schlägt übrigens für diese
Stadt nur eine 2 malige Wiederholung der allgemeinen Untersuchung
der Kinder, und zwar am Ende des 3. und 7. o d e r 8. Schuljahres vor
(16. Februar 1906).
Wir könnten deshalb für die Untersuchung eines jeden Schülers
bei seinem Eintritt in die Schule, sowie im 3., 5. und 8. Schuljahre all¬
mählich vielleicht auch mit der Hälfte der von mir angenommenen
Zeit, demnach mit 25 statt 50 Minuten auskommen.
Des weiteren wäre es gewiss einmal des Versuches wert, wenig¬
stens in den Schulen der Landbezirksämter, statt zweier Visitationen
pro Semester nur eine für jede Schulklasse im Halbjahre vorzu¬
nehmen.
Endlich erscheint es mir keineswegs unumgänglich nötig, zum
mindesten in den Landschulen, die 1—2 wöchentlichen Sprechstunden
in der Schule abzuhalten, ein Ausfall, den sich sogar die Mehrzahl
der Grossstädte, wie Breslau, Köln u. a., gestattet.
Nach diesen Reduktionen, durch welche ein selbst blühendes
Schularztwesen durchaus noch nicht in seiner Prosperität bedroht
wäre, würde sich die schulärztliche Arbeitsdauer für die Land¬
bezirksämter in Schwaben von jährlich 1861 Stunden auf nicht
weniger als 430 Stunden pro Jahr herabmindern.
Für den schulärztlichen Dienst in den unmittelbaren
schwäbisch-bayerischen Städten inkl. der Landbezirksämter betrüge
dann der Zeitaufwand pro Jahr durchschnittlich ungefähr 490 Stun¬
den, während bei Beibehaltung der ärztlichen Sprechstunden und
2 maligen Schuluntersuchung pro Semester in der Stadt allein auch
nur etwa 561 Stunden. *
Schliesslich für Augsburg allein in ersterem Falle 6 2 7,
in letzterem 1144 Stunden.
Ich habe vorstehende, wie ich wiederholt betone, ganz ungefähre
Schätzung der Arbeitszeit deshalb vorgenommen, weil ich keinen
anderen Weg einzuschlagen wüsste, um ein nur annäherndes Bild
von der Arbeitssumme zu geben, welche auf diesem Gebiete
zu leisten sein dürfte. Denn danach muss sich auch die Requisition
nach Arbeitskräften richten, und die Beantwortung dieser
Frage hat für alle schwäbischen Aerzte, und nicht zum wenigsten
für die Mitglieder des Medizinalbeamtenvereins, ein hervorragend
aktuelles Interesse.
Bevor ich jedoch auf die Frage der Besetzung der Schularzt¬
stellen näher eingehe, möchte ich der bisherigen Entlohnung
dieser Funktion mit ein paar Angaben gedenken. Ich brauche heute
nicht mehr zu fürchten, dass Sie darüber allzu sanguinischen Er¬
wartungen zum Opfer fallen könnten, da auch der Neophyt des ärzt¬
lichen Berufes zur Einsicht gelangt sein muss, dass das Dat Galenus
opes längst zur Fabel geworden. Nur Mannheim hat einen
Schularzt im Hauptamte und ohne die Erlaubnis, Praxis auszuüben,
mit einem fixen Gehalte von 10 000 M. Die übrigen Kommunen geben
ihrem Schulärzte, der immer nur auf Ruf und Widerruf angestellt ist,
entweder ein Jahres p a u s c h a 1 e, das mehr oder weniger mit den
an ihn gestellten Anforderungen variiert und von 100 M., wie in Cre-
feld, bis ausnahmsweise zu 2000 M., wie in Berlin, schwankt — in
München wurde jüngst ein Fixum von je 1000 M. für 18 Schulärzte,
deren jedem die Untersuchung von 1200 Kindern obliegt, und von je
250 M. für den Augen- und Ohrenspezialschularzt vorgeschlagen — ,
oder sie zahlen ein Jahreshonorar pro Schulklasse von 3 M., wie
in Meerane, bis zu 30 M., wie in Saarlouis, oder endlich sie honorieren
nach der Zahl der untersuchten Kinder mit dem Betrage der Ein¬
zel 1 e i s t u n g von 25—60 Pf. Dass auch ein Honorar von 4 Pf.
pro Untersuchung verabreicht werden kann, hat die rheinpfälzische
Gemeinde Kallstadt ad oculos demonstriert. Der um die Schul¬
arztfrage hochverdiente Schubert - Nürnberg hält jedoch diese
Ausgabe seitens einer kleinen Gemeinde immer noch für rühmens¬
wert; ich würde es für rühmenswerter erachten, gar nichts zu geben
oder zu nehmen. Wiesbaden zahlt seinen 7 Schulärzten je
600 M., Fürth seinen 5 je 500, Nürnberg seinen 15 Schulärzten
je 5—600 M. Auch den Spezialisten für Augen- und Ohrenkrankheiten
wird entweder ein Jahrespauschale in ähnlicher Höhe gewährt, oder
sie werden pro Einzelleistung honoriert
Es ist gewiss misslich, bei der ersten Besprechung einer so her¬
vorragend hygienischen und nationalökonomischen Institution, wie der
uns eben beschäftigenden, sogleich auch mit der Frage der Entlohnung
hervorzutreten; aber die sozialen Verhältnisse haben die Aerzte
endlich einmal gezwungen, in ihrem dringendsten Existenzinteresse
auch wirtschaftlich zu denken und zu handeln. Seit der Entstehung
des Leipziger Verbandes ist es überflüssig geworden, dies allgemein
bekannte, deprimierende Thema noch weiter zu verfolgen. Ihr Be¬
rufs- und Humanitätsempfinden sowie ihre Aufopferungsfähigkeit zu¬
gunsten des allgemeinen Wohles haben die deutschen Aerzte seit Jahr¬
hunderten glänzend dokumentiert und beweisen es noch alltäglich,
ohne dass jemand davon Notiz nimmt, noch auch Notiz zu nehmen
braucht. Wenn sie nun notgedrungen auch auf ihr materielles Inter¬
esse etwas mehr Bedacht zu nehmen beginnen, so tun sie dies in dem
Bewusstsein der Pflicht, über dem Interesse anderer nicht das eigene
und speziell das Existenzinteresse ihrer Angehörigen zu vergessen,
sowie in der erwachsenden Einsicht, dass nur scheinbar oder gar
nicht entlohnte Dienstleistungen deshalb noch keineswegs die besten
oder verdienstvollsten sein müssen.
Rund 42 Millionen Mark werden alljährlich in
Bayern für die Volksschulen ausgegeben, also durch¬
schnittlich für jeden Regierungsbezirk 5/4 Millionen Mark. Gesetzt
nun den Fall, es würden die Schulärzte von Schwaben und Neuburg
für ihre Mühewaltung nach der Mindesttaxe für die Zeit¬
berechnung, mithin pro Stunde ihrer Tätigkeit mit 3 M. honoriert,
so würden dafür bei rigoroser Beobachtung des Wiesbadener Schul¬
arzttypus nach unserer I. Berechnung sämtliche Schulärzte von
Schwaben und Neuburg mit ca. 172 419 M., nach der II. Berechnung
mit nur 41 106 M. zu honorieren sein, d. h. sie bekämen von dem Ge-
samtaufwande für die schwäbischen Volksschulen nach obiger
Durchschnittsberechnung im I. Falle 3,5, im II.: 0,78, also
nicht ganz 1 P r o z. der Ausgaben für die Volksschulen.
Da nun aber diese hohe Differenz zwischen I. und II. Berech¬
nung, wenigstens bei den Landbezirksämtern, vor allem auf den Um¬
stand zurückzuführen ist, dass der Schularzt in jeder Schule alle
2 Wochen eine Sprechstunde abhalten soll, was gerade für die Land¬
schulen keineswegs unerlässlich erscheint, so dürfte gewiss mit der
Annahme von 1 P r o z. der üesamtschulausgaben für die Zwecke
des Schularztwesens der Wahrscheinlichkeit näher gekommen sein.
Dass dieser Betrag die Einführung dieser Institution nicht gefährden
sollte, wird wohl jeder zugeben müssen, der nur einigermassen von
ihrer Wichtigkeit überzeugt ist.
Wem soll nun die Funktion des Schularztes
übertragen werden. Befragen wir darüber den wissen¬
schaftlichen Areopag der Medizin, so kann die Beantwortung
dieser krage schon Von vorneherein wohl keinem Zweifel unterliegen.
Denn da derselbe aus Vertretern der medizinischen Spezialfächer be¬
steht, so wird der Hygieniker sagen: selbstredend dem Hygieniker
vielleicht der Psychiater: dem Psychiater, der Ophthalmo- und Oto-
loge: dem Spezialisten für Augen- oder Ohrenheilkunde. Warum
sollte dann der Arzt der Allgemeinpraxis eine Ausnahme machen und
glauben, dass er weniger für den Schularzt geeignet sei? Bei ihm
unterliegt es wenigstens keinem Zweifel, dass er, mindestens in klei¬
nen Städten und auf dem Lande, in ständigem, lebendigem Kontakt
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1577
mit allen Verhältnissen und Bedürfnissen des Publikums lebt und
webt, und sich daher auf Grund der eingehenden Beobachtung oft
von Generationen auch das sachkundigste Urteil darüber zu bilden
vermag, was dem Volke mangelt, sowie, was und wie es ihm zu
geben ist. Die Aneignung der diagnostischen Spezialkunstgriffe bis
zur Bereitung und Impfung von Nährböden dürfte meines Dafürhaltens
nötigenfalls noch leichter zu erlernen sein, als die Kenntnis und Be¬
urteilung des gesamten Volkslebens und seiner richtigen Behandlung.
Aber gewiss, wo sich Spezialärzte finden, dürfte die
Untersuchung der höheren Sinnesorgane, spez. der Augen und Ohren,
auch ihnen zu übertragen sein. Im Uebrigen jedoch sollte der A 1 1 -
gemeinpraxis ausübende Arzt auch der Schularzt sein.
An geeigneten Kräften hiezu kann es bei dem heutigen Confluxus
medicorum nicht ermangeln.
Es frägt sich nun, wer, ausser den Spezialärzten, in erster Linie
als Schularzt berufen werden solle; der Amtsarzt oder der p rak-
tische Arzt
Ich bin überzeugt, dass auch der praktische Arzt die Schularzt¬
frage von einer höheren Warte aus ansehen wird, als nur von der
des privatärztlichen Dienstes, Einflusses und Einkommens, nämlich
vor allem auch vom Standpunkte der öffentlichen Verwaltungs-
medizin in ihren Beziehungen zur praktischen Förderung der moder¬
nen Hygiene und Sozialpolitik. Und wenn schon auch der materielle
Gesichtspunkt nicht völlig ausser Acht gelassen werden soll, so muss
sich doch der künftige Schularzt sagen, dass dadurch seine Chancen
kaum in beträchtlichem Masse gewinnen dürften, sogar bei Hono¬
rierung seiner Bemühungen nach der Zeit oder nach Einzelleistungen.
Denn bekanntlich wird die ärztliche Praxis durch Nichts mehr ge¬
schädigt, als durch Terminsarbeiten, welche allen anderen zu jeder
Zeit und unter allen Umständen vorzugehen haben. Ausserdem in¬
volviert die Pflicht einer unparteiischen Beurteilung der Kinder in
Bezug auf Schulreife, Dispens von einzelnen Fächern, Verteilung
der Sitzplätze, Qualifikation ihrer körperlichen und geistigen Eigen¬
schaften und der betreffenden Mitteilungen an die Eltern ein ganzes
Heer von Möglichkeiten, ja geradezu Notwendigkeiten, die Eltern der
Kinder an den sensibelsten Druckpunkten ihrer Gefühlssphäre zu
treffen. Wer nur immer Gelegenheit hatte, durch möglichst objektive,
selbst wohlwollende Begutachtung von Unfallrentnern eine blühende
Praxis von Grund aus zu demolieren, kann vielleicht ahnen, wie er
sie, wenigstens auf dem Lande und in kleinen Städten, durch Begut¬
achtung der Lieblinge der Familien, die ja bekanntlich in Bezug auf
Entwicklung und Veranlagung immer am weitesten herangediehen
sind, schädigen wrerde; er wird sich dann vielleicht noch damit
zufrieden geben können, nicht auch noch in der eigenen Familie dis¬
kreditiert zu sein. Und dann sollte der Schularzt die Kinder, deren
Gebrechlichkeit oder Krankheit er diagnostizierte, nicht behandeln
dürfen! Damit wäre ihm freilich mancherorts die gewinn- oder besser
existenzbringendste Praxis zum grossen Teile entzogen. Jedoch,
von dieser hier wohl undurchführbaren Forderung ganz abgesehen,
wird die Versuchung, aus materiellen Rücksichten um einiger hundert
Mark willen eine Schularztstelle anzustreben, dem einigermassen
berechnenden praktischen Arzte nicht zu schwer zu besiegen sein.
Wenn nun aber schon der praktische Arzt Schularzt sein soll
oder will, so dürfte es doch keinem Zweifel unterliegen, dass unter
den praktisch-ärztlichen Bewerbern der mit bestandenem Phy-
sikatsexamen den Vorzug erhalten solle. Damit liegt es mir
ferne, die Tüchtigkeit oder Eignung der anderen Kollegen in Zweifel
ziehen zu wollen; aber abgesehen davon, dass der Physikatsaspirant
die Qualifikation hiezu offiziell nachzuweisen im stände ist, so er¬
fordert es doch schon die Billigkeit, jenen Arzt bei der Bewerbung
zu berücksichtigen, welcher zur Erbringung eines solchen Nachweises
nicht geringe materielle Opfer und geistige Anstrengungen aufgeboten.
An erster Stelle jedoch dürfte m. E. der Amtsarzt hiebei in
Betracht kommen. Ich fürchte nicht, mich damit dem Verdachte aus¬
zusetzen, pro domo zu sprechen, wenn ich dieser meiner persönlichen
Auffassung Ausdruck gebe. Denn ich hege, wie schon angedeutet,
die tatsächliche Befürchtung, dass die persönlichen Vorteile einer
derartigen Funktion von den daraus entspringenden Nachteilen wenig¬
stens in nächster Zeit überkompensiert werden dürften. Allein für
den Amtsarzt, der sich seiner Amtspflichten in Bezug auf das allge¬
meine gesundheitliche Wohl voll bewusst ist, darf es meiner An¬
schauung nach derartige Bedenken nicht geben.
Ausserdem steht der Amtsarzt schon auf Grund seiner amt¬
lichen Dienstes Obliegenheiten mit der schulärztlichen
Institution nach den verschiedensten Richtungen in Kontakt, selbst und
so lange dieselbe noch eine kommunale Einrichtung ist. Schon nach
dem organischen Edikt vom 8. September 1808, das für ihn nicht nur
ehrwürdig, sondern auch immer noch lebensfrisch ist, hat er die
Pflicht einer „surveillierenden“ Aufsicht über die hygienischen Ver¬
hältnisse des Schulgebäudes und seiner Einrichtungen; nach dem
Ministerialerlass vom 16. Januar 1867 hat er auch den Schulbe¬
trieb ins Auge zu fassen, z. B. Reinlichkeit der Schulen, Ueber-
fiillung der Klassen, Bekleidung der Schulkinder, Körperhaltung der
Schüler, Schonung und Erhaltung der Augen, Versorgung der aus¬
wärtigen mit warmer Suppe, Schliessung der Schule bei anstecken¬
den Krankheiten usf., abgesehen von seinen noch weitergehenden
Amtsaufgaben bei den privaten Erziehungs- und Unterrichtsinstituten
und bei den staatlichen Mittelschulen. In den unmittelbaren
Städten ist der Bezirksarzt zugleich auch der Amtsarzt für den
Stadtbezirk und als solcher das sachkundige und stimmberechtigte
Mitglied des Magistrates in allen sanitätspolizeilichen Angelegen¬
heiten, in den Städten mit schulärztlichen Einrichtungen auch der
ärztliche Leiter und Beaufsichtiger der letzteren. Bei den Land¬
bezirksämtern aber ist er sowohl sachverständiger Beirat des
Amtes, wie sachkundiges und stimmberechtigtes Mitglied der Distrikts¬
ausschüsse in allen, das öffentliche Gesundheitswesen berührenden
Fragen.
In dieser seiner Stellung zur Hygiene der öffentlichen und privaten
Schulen kann daher der Amtsarzt auch bei der Schularztfrage nicht
wohl umgangen werden; er dürfte daher nicht nur als Schularzt,
sondern auch als Leiter des Schularztwesens in seinem
Amtsbezirke in Aussicht zu nehmen sein, und letzteres selbst dann,
wenn er nicht gewillt oder im stände sein sollte, selbst die Stelle
eines Schularztes zu übernehmen. Denn dies dürfte schon die ein¬
heitliche Durchführung des Problems im Interesse einer
planvollen Erstrebung des wichtigen Zweckes erfordern. Der Ein¬
wurf, dass damit die ganze Institution einem formelreichen, aber prak¬
tisch leistungsunfähigen Bureaukratismus oder Schabionismus ver¬
fallen würde, ist gewiss nicht stichhaltig: systematisches Zusammen¬
arbeiten und methodischer Betrieb müssen nicht immer Schablone
sein, und gerade da, wo der sogen. Schabionismus am üppigsten in
Blüte steht, wird nicht selten, wie beim Militär, in Verbindung mit
grösster Exaktheit und Strammheit das beste Resultat erzielt. Ausser¬
dem erscheint es nicht ausgeschlossen, vielleicht sogar wahrscheinlich,
dass der schulärztliche Dienst einmal durch staatliche Ver¬
ordnungen geregelt wird, was auch jüngst Schulrat Dr. K e r -
schensteiner in München als „die natürliche Lösung der Schul¬
arztfrage“ bezeichnet hat, und dann müsste die Aufsicht darüber
doch wieder den Amtsärzten übertragen werden.
Eine Arbeitszeit von etwa 430—500 Stunden bei den Lan d-
bezirksämtern und unmittelbaren Städten pro Jahr
wird allerdings den amtsärztlichen Dienst daselbst nicht unwesentlich
belasten; dafür könnte, etwa nach dem Vorbilde der Durchführung
des Impfgeschäftes, auch der bezirksärztliche Stellver¬
treter zur Mitarbeit in seinem Distrikte herangezogen werden.
Augsburg freilich wird ausser dem städtischen Bezirksarzte noch
einer Anzahl weiterer Schulärzte, insbesondere der S p e z i a 1 ä r z t e,
bedürfen; letztere könnten vielleicht auch noch in Kempten in
Betracht kommen. Endlich wäre es auch noch den einzelnen
Landgemeinden anheimzugeben, etwa die praktischen
Aerzte ihrer Wohnorte zur Vervollkomnung des schulärzt¬
lichen Dienstes, wie z. B. der Abhaltung von Sprechstunden in der
Schule u. dgl. zu engagieren.
Weiterhin kann es nicht in meiner Absicht liegen, auf die
Einzelheiten der Durchführung dieser Frage einzugehen. Hier
sollten nur allgemeine Grundsätze ausgesprochen werden. Von
diesen aber erscheint mir als einer der wichtigsten die gleich-
m ä s s i g e Versehung des schulärztlichen Dienstes nach be¬
stimmten allgemeinen Normen unter einheitlicher Leitung.
Schon die s t a t i s t i s c h e Verwertung der zu gewinnenden Resultate
wird das letztere erfordern.
Es gehört meines Erachtens zu den vitalen Interessen
des bayerischen Medizinalbeamtenvereins, wie nicht weniger
zu den einer wirklich erspriesslichen Leistung desselben,
dahin zu wirken, dass mit der Zersplitterung des amts¬
ärztlichen Dienstes auf allen Gebieten der öffentlichen Verwaltung ein
Ende gemacht, und mit einer Vereinigung der amtlichen
Medizinalgeschäfte in der Hand des Amtsarztes’
begonnen werde. So aber haben wir einen Bahn-, Post-,
Fabrikarzt und weitere ähnliche Spezies, Nahrungsmittel, Fabrik- und
Gewerbeinspektoren und ähnliche Kategorien, die sich als Aerzte und
Nichtärzte in die verschiedenen Zweige des öffentlichen Gesundheits¬
wesens teilen, „beamtete“ Aerzte, die als praktische Aerzte genommen
werden, wenn es sich um Honorierung und Pragmatik, als „Beamte“,
wenn es sich um die Verantwortung handelt, während der prag¬
matische Amtsarzt zur Ermöglichung seiner Existenz auf die Kon¬
kurrenz mit den praktischen Aerzten hingewiesen wird, die er als
Physikatsaspiranten gleichzeitig zu qualifizieren hat.
In dieser amphibiotischen Stellung mit Halbsold und Halbarbeit,
sowie andern- und grossenteils als praktischer Arzt hat der bayerische
Amtsarzt materiell gewiss Nichts zu verlieren; allein ein Gefühl
der Befriedigung, wie es das ehrliche Schaffen eines jeden pflicht-
und zielbewussten Mannes begleiten soll, ich muss gestehen, dass es
mir wenigstens fehlt, wenn ich am Schlüsse eines Jahres das reelle
Fazit meiner amtsärztlichen Tätigkeit überblicke. Und es gäbe so
viele und so rentierliche Amtsarbeit, die sich freilich durch Herum¬
kutschieren auf dem blossen Papiere nicht erledigen lässt.
Ich möchte keine „Reise nach Ikarien“ antreten, um das Zukunfts¬
bild eines gründlich reformierten bayerischen Medizinalwesens hervor¬
zuspiegeln, dessen Erwartung unter den heutigen Verhältnissen viel¬
leicht am wenigsten gerechtfertigt wäre. Aber wenn sich einmal
dem bayerischen Amtsärzte in der Verwaltungsmedizin jemals die
Aussicht auf eine fruchtbare reelle Amtstätigkeit im gesamten volks¬
wirtschaftlichen Interesse eröffnen soll, dann muss schon jetzt
m i t a 1 1 e n M i 1 1 e 1 n vorgebeugt werden, dass ihm wieder
ein Tätigkeitsgebiet entrissen wird, das er als zu seiner eigensten
Wirkungssphäre gehörig betrachten muss. Und deshalb muss er
das des Schularztes in erster Linie für sich reklamieren, mag es ihm
1578
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
persönliche Vorteile einbringen oder nicht. Denn darüber dürften
wohl keine dissentierenden Anschauungen bestehen, dass ein ärzt¬
licher Vollbeamter ohne ärztliche Praxis, wie deren z. Z. vereinzelt
bereits in Norddeutschland angestellt sind, wenigstens in materieller
Beziehung keine grösseren Errungenschaften zu erwarten haben
wird. Um so segensreicher aber wird er dann einmal für das allge¬
meine sanitäre Wohl wirken können und dann in dieser Volltätigkeit
seiner Amtsstellung auch jene Befriedigung finden, zu der er heute
noch wenig berechtigt erscheint. Bis zur Erreichung dieses Zieles
werden freilich die Knochen der jetzigen amtsärztlichen Generation
wohl längst vermodert sein; aber hoffentlich wird dann ein Ersatz von
Amtsnachfolgern an ihre Stelle gerückt sein, die ihre volle Kraft
den amtlichen Aufgaben zu einer Periode des Lebens zu widmen
vermögen, in der sie noch keineswegs den Zenith ihrer Impulsivität
und Leistungsfähigkeit überschritten.
Die Devise, die der bayerische Amtsarzt der Verwaltungsmedizin
jetzt schon führen soll, wird er sich dann um so nachdrücklicher und
wirkungsvoller zum Grundsatz seiner gesamten Lebensaufgabe stellen
können: Sanitas reipublicae suprema lex esto!
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten.
Von Dr. Alfred Riedel, k. Bezirksarzt in Forchheim.
Zu dem in der Ueberschrift bezeichneten Zwecke waren im Jahre
1905 durch Ministerial- und Regierungsentschliessung die bayerischen
Bezirksärzte beauftragt worden, für die approbierten Bader, sowie
für die Sanitätsmannschaften der Feuerwehren ihrer Amtsbezirke
einen belehrenden theoretischen Vortrag über Desinfektionsverfahren
abzuhalten.
In diesem Jahre war von den gleichen Stellen in diesem Betreffe
folgendes angeordnet worden. Eine einmalige theoretische Unter¬
weisung genügt nicht, diese muss vielmehr wiederholt erfolgen und
auf die praktische Handhabung zweckmässiger Apparate ausgedehnt
werden. ... .
Als Ziel ist ins Auge zu fassen, dass mit der Zeit für jede
grössere Gemeinde ein Desinfektor, sowie mindestens ein Vertreter
zur Verfügung steht. Auf die Bereithaltung geeigneter Mittel und
Gerätschaften zur Vornahme von Desinfektionen bei den Gemeinden
und Distrikten ist hinzuwirken.
Dieser neuerliche Auftrag war für eine grössere Anzahl von
Bezirksärzten geeignet, einige Verlegenheit zu bereiten, insofern als
denselben, soweit sie nicht Krankenhausärzte sind, keine Auswahl
derartiger Desinfektionsapparate zur Verfügung steht, ihnen auch die
zu einer solchen Unterweisung nötige Uebung und Erfahrung abgeht.
Die Nähe der Universität Erlangen von Forchheim legte mir den
Gedanken nahe, mich mit dem Vorstande des hygienischen Instituts
in Erlangen, Herrn Prof. Heim, ins Benehmen zu setzen, ob er nicht
geneigt wäre, im Laufe dieses Sommers für eine Anzahl von Des-
infektoradspiranten aus dem niederärztlichen Personale der -4 Be¬
zirksämter Forchheim, Erlangen, Ebermannstadt und Hochstart a'A.
im hygienischen Institute einen solchen Demonstrationskurs in be¬
zug auf Desinfektionsverfahren abhalten zu lassen.
Herr Prof. Heim kam meinem Ansuchen mit der grössten Be¬
reitwilligkeit entgegen. Der Kurs fand am Nachmittage des 5. Juli
im hygienischen Institute zu Erlangen statt und hatten sich zu dem¬
selben 3 Bezirksärzte und 24 Bader aus den bezeichneten 4 Bezirks¬
ämtern eingefunden.
In die Arbeit der Abhaltung des Kurses teilten sich Herr Prof.
Heim und sein erster Assistent Herr Privatdozent Dr. Weichardt.
Herr Dr. Weichardt sprach über Sinn, Zweck und Bedeutung
der Desinfektion im allgemeinen, es wurden die wichtigsten Des¬
infektionsmittel vorgeführt und ihre Anwendungsweise besprochen,
die Handhabung einiger Desinfektionsapparate wurde erläutert, der
Gang einer Desinfektionshandlung wurde beschrieben und schliesslich
wurde den Anwesenden als bestes literarisches Hilfsmittel zum Nach¬
lesen und privaten Studium warm empfohlen: Leitfaden für Desinfek¬
toren, in Frage und Antwort. Von Dr. K i r s t e i n. 2. Auflage. Ber¬
lin 1905, bei Julius Springer. Preis M. 1.40.
Damit für die Anwesenden aus dem niederärztlichen Personale
die Worte Bazillen und Bakterien nicht bloss leere Namen seien, mit
dem sie keinen Begriff verbinden könnten, und damit sie den Feind,
den sie zu bekämpfen haben, aus eigener Anschauung kennen lernten,
führte Herr Prof. Heim eine grosse Serie von Projektionsbildern
aus dem Gebiete der Bakteriologie vor und gab die nötige theo¬
retische Aufklärung hiezu.
Diese prächtigen Bilder mit ihrer scharfen Zeichnung, in der
sehr starken Vergrösserung und mit ihrer gesättigten Färbung er¬
regten bei sämtlichen Anwesenden das allergrösste Interesse.
Mit diesem Demonstrationskurse war für den vorschwebenden
Zweck zunächst das Mögliche und Erreichbare geleistet.
Schliesslich kann ich nicht umhin, den Herren Prof. Heim und
Dr. Weichardt für die bei dieser Gelegenheit bewiesene ausser¬
ordentliche Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit im Namen aller
bei dem Kurse Anwesenden nochmals verbindlichsten Dank aus¬
zusprechen.
Referate und Bücheranzeigen.
Handbuch der Geburtshilfe, herausgegeben von F. von
W i n c k e 1, Band III, Teil 1. Wiesbaden, J. F. Bergmanns
Verlag 1906. Preis 22.60 M.
Diesen Band, der die gesamte operative Geburtshilfe ent¬
hält, leitet eine vom allgemeinen Gesichtspunkte geleitete
Arbeit W y d e r s über Anti- und Aseptik, Narkose etc. ein. Es
überwiegt überall den Eindruck, den ein erfahrener Ge¬
burtshelfer, sowohl Lehrer als Mensch, seine Ueberzeugungen
darlegt. Die WVrte über das mangelnde ,,V orstellungs-
vermöge n“ (als Grund der meisten Kunstfehler), die Dex-
terität, die Warnung in der geburtshilflichen Tätigkeit ein
,, Athlet“ zu sein, sind sehr lesenswert. Bei der Aufzählung
des Instrumentariums vermisste ich die Abortuszange von
Winter; dagegen könnte der unglückselige Namen „ame¬
rikanische Kugelzange“ endgültig vergessen werden. Bei der
Entwicklung der allgemeinen Indikationsstellung legt W. mehr
Wert auf das Leben und die Gesundheit der Mutter als des
Kindes. Gerade an dieser Stelle fesselt manches gute und auch
menschlich-kluge Wort. Der nur allzu kritiklosen Neigung
mancher Geburtshelfer, mit Subkutaninfusionen von NaCl-Lö-
sung gar zu reichlich umzugehen, setzt W. einen kräftigen
Damm entgegen.
Die Lehre von der künstlichen Unterbrechung
der Schwangerschaft ist von S a r w e y bearbeitet.
Nephritis und Tuberkulose als Anzeige will er nicht direkt
gelten lassen. Dagegen hat es Referent gern gesehen, dass die
wahre Hyperemesis unter den absoluten Anzeigen zur Ein¬
leitung des Abortns aufgeführt ist, ein gesunder Gegen¬
satz zu so manchem intransigenten Geburtshelfer. Die Ent¬
scheidung, ob Kaiserschnitt, ob künstliche Frühgeburt will S.
der Mutter überlassen. Nur die mechanischen Verfahren sind
brauchbar und kontrollierbar. Die juristisch-ethischen Aus¬
einandersetzungen über die Berechtigung der ärztlich ge¬
forderten Unterbrechung der Schwangerschaft, über die
Lücken in unserer Gesetzgebung, zeigen von ebensoviel Scharf¬
sinn als Erfahrung. Die anhängenden Tabellen dürften über
die mässigen Enderfolge der künstlichen Frühgeburt im Ver¬
gleich zu neueren Verfahren notwendiges Licht verbreiten.
Bei dem Kapitel über Erweiterung der Vulva und
Vagina und des Muttermundes (Wyders F eder)
werden die unblutigen Verfahren den Lehren Dührssens
vorgezogen. Was über B o s s i und sein Instrument gesagt
ist, deckt sich wohl mit den Ansichten der meisten deutschen
Gynäkologen.
Misserfolge der Metreuryse erklärt W y d e r mit Recht
als Folgen entweder falscher Anzeigen oder schlechter Technik.
Aus der klaren Arbeit von L i n d f o r d s über die Wen¬
dung sei erwähnt, dass man die äussere Wendung nicht ganz
vergessen soll. Wendung in Verhinderung mit Walchers
Hauptlage gibt gute Resultate bis zu einer Konjugata von 8
bis 8XA cm; die prophylaktische Wendung bei engem Becken
wird dringend ans Herz gelegt. In der Technik ist L. kein
Dogmatiker; die Wahl der Hand, mit der gewendet wird stellt
er mit vollem Recht frei. Von allen Handgriffen zur Heraus¬
beförderung des Kopfes ist das alte „Mauriceau“ noch immer
der beste.
Das Kapitel „Wendung nach Braxton Hicks“ stammt
vom Herausgeber selbst, der bekanntlich schon seit Jahr¬
zehnten für diesen fein erdachten und segensreichen geburts¬
hilflichen Eingriff eingetreten ist.
v. Franques Arbeit über Wendung von Ge¬
sichts- und Stirnlagen in Hinterhauptslagen
gibt ein gutes Referat; der gewissen Skepsis über die Erfolge
wird man sich nur anschliessen.
Ueber Perforation und Kranioklasie spricht
K r ö n i g, also ein wenig in der Art eines „Pflicht-Advokaten“.
Aber gerade deshalb sehr anregend und wohl auch über¬
zeugend für alle diejenigen, die die moderne Technik begreifen
und beherrschen. Von den Instrumenten wird Zweifels
Kephalokranioklast mit seiner mittleren Schallplatte bevor¬
zugt; ebenso wird zur Dekapitation der Trachelorrhektor
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCEIRIFT.
1579
Z w e i f e 1 s vor den Instrumenten Brauns und Schnitzes
empfohlen. Ein abschliessendes Urteil über die Symphyseo-
tomie und ihre Abarten ist noch nicht möglich, so lange die
Technik nicht ganz einwandfrei feststeht. Bei der An¬
wendung darf man unter eine Conjugata diag. von 8,7 bei
plattem und 9,5 bei allgemein verengtem Becken nicht herunter¬
gehen.
Bei der Reposition vorgefallener Teile erinnert v. F ran -
q u e mit Recht daran, dass das beste Repositionsinstrument
die Hand ist.
Expression und Extraktion behandelt wieder
W y d e r. Die Ratschläge bei nach hinten emporgeschlagenen
Händen sind sehr gut. Die Steisszange wird verworfen und
die Möglichkeit der Verhütung von Dammrupturen besonders
eingeprägt.
Bei dem Kapitel über die Zange ist naturgemäss wenig
Neues zu sagen.
Genaue Diagnose (event. in Narkose!) ist die Hauptsache.
Ueber den Gebrauch der hohen Zange spricht W y d e-r sehr
reserviert und möchte sie nur sehr geübten Geburtshelfern
hier und da empfehlen.
Mechanik und Technik der Achsenzugzange, die bekannter¬
weise in Praktikerkreisen gar nicht Fuss fassen will, wird sehr
klar und gut dargelegt.
Dührssens scharfe Feder hat über den vaginalen
Kaiserschnitt geschrieben : mit starker Betonung des geistigen
Eigentums und mit der vielleicht etwas blinden Liebe, die die
zahlreichen Angriffe auf das Geisteskind erklärlich machen.
Die Arbeiten von Schenk und K 1 e i n h a n s über
den P o r r o und den konservativen Kaiser¬
schnitt sind fleissig und ordentlich; die persönliche
Note fehlt aber diesen Arbeiten. Auch finde ich die
historischen Exkurse, die in jedem Hand- und Lehr¬
buch immer wiedergekäut werden, überflüssig, unnötig,
zeit- und raumraubend. Was Kleinhans über den
Fundalschnitt zitiert, ist nicht immer wichtig!
Die wichtigsten Lehren der Nachgeburtslösungen setzt
Strassmann auseinander: Abwarten heisst das vorsichtige
Gesetz und die Füllung der Nabelvene gibt Aufschluss über
den Prozess der Lösung zwischen Uterus und Plazenta. Der
Empfehlung der Handschuhe kann Referent sich nicht ganz
entschlossen: den Ungeübten werden sie nur unsicher und
ängstlich machen ! Bei Verdacht auf Retention von Plazentar¬
gewebe (Blutung, Fieber) Austasten mit dem Finger. Chorion¬
stückchen können sich auflösen und mit den Lochien unbemerkt
abgehen.
Den Schluss des Bandes schreibt W y d e r mit den Lehren
über die Anästhesie bei der Geburt. Die Medullarnarkose
sollte nach des Referenten Ansicht hierbei ganz ausgeschaltet
werden. Was W, über die Morphium-Skopolamin-Anästhesie
sagt, ist durch die Tatsachen schon überholt.
Das ist im grossen und ganzen der spezielle Inhalt des
wichtigen Bandes. Sollte ich etwas allgemeines noch sagen,
so möchte ich bemängeln, dass in manchen Kapiteln das
tausendmal Gesagte noch einmal breiter aber nicht besser ge¬
sagt wird, dass das Buch in sehr vielen Abbildungen einen
Ballast mit sich trägt, der für den Leser (bei der Natur des
Handbuchs doch nur Fachgynäkologen) störend wirkt und nicht
selten etwas Komisches hat. Ganz abgesehen davon, dass
diese äusserlichen Mängel das Buch nur unnötig vergrössern
und verteuern. Dr. F 1 a t a u - Nürnberg.
Donati: Chirurgia del!" ulcera gastrica. Turin, Carlo
Clausen, 1905. Preis 8 Lire.
Die ausserordentlich fleissige und erschöpfende Arbeit
bringt zunächst eine gute Abhandlung über die Pathologie der
Erkrankung. Der eigentliche chirurgische Teil schildert ein¬
gehend die gesamten gegen das Ulcus ventriculi angewandten
Operationsmethoden und bringt eine Zusammenstellung von im
ganzen 936 Operationen. 98 davon entstammen der Carle-
schen Klinik, und die bei diesen Operationen gewonnenen Er¬
fahrungen geben dem Verf. die Unterlage für die ausserordent¬
lich wertvollen Schlussfolgerungen der Arbeit.
Auf die 98 Carle sehen Operationen entfallen 6 Todes¬
fälle. Unter den 98 Operationen sind 88 Gastroenterostomien,
4 nach W ö 1 f 1 e r mit 1 Todesfall und 84 nach Hacker mit
3 Todesfällen.
Als das beste operative Verfahren zur Behandlung des
Ulcus ventriculi muss nach der Gesamtstatistik die Gastro¬
enterostomie bezeichnet werden. Gegenüber der Resektion
zeichnet sich die Gastroenterostomie zunächst durch eine weit
geringere Mortalität aus. Auf 108 Resektionen kamen 31 Todes¬
fälle = 28,7 Proz., und auf 701 Gastroenterostomien 85 Todes¬
fälle = 12,1 Proz. Bezüglich der Rezidive ergibt sich, dass
auf 616 Gastroenterostomien 18 Rezidive kommen = 2,9 Proz.,
dagegen auf 77 Resektionen 14 Rezidive = 18,1 Proz. Stellt
man Rezidive und Todesfälle nach beiden Operationen unter
der Rubrik Misserfolge zusammen, so ergeben sich für die Re¬
sektion 41,6 Proz. und für die Gastroenterostomie 14,6 Proz.
Misserfolge.
Die Zahl der Misserfolge bei der Pyloroplastik beträgt
unter 123 Fällen 30 = 24,3 Proz.
Man kann also die Gastroenterostomie als ein wirkliches
Heilverfahren bei dem Ulcus ventriculi bezeichnen. Die besten
Erfolge ergeben sich bei der narbigen Pylorusstenose
(10,3 Proz. Mortalität und 2,9 Proz. Rezidive), während bei dem
frischen Ulcus die Mortalität etwas höher ist.
Die Gastroenterostomie wird am besten nach dem Ver¬
fahren von Hacker unter Benützung des Knopfes ausgeführt.
151 Gastroenterostomien nach W ö 1 f 1 e r ergaben eine Mor¬
talität von 20,5 Proz., 391 Gastroenterostomien nach Hacker
eine Mortalität von 9,97 Prozent. Der Vergleich der Opera¬
tionen mit und ohne Knopf ergibt auf 212 Operationen mit
Knopf eine Mortalität von 7,54 Proz., auf 391 Operationen ohne
Knopf eine Mortalität von 14,5 Proz.
Wann die innere Behandlung der chirurgischen zu weichen
hat, darüber lassen sich bestimmte Regeln nicht aufstellen. Sache
des Arztes ist es, auf Grund des einzelnen Falles zu individuali¬
sieren. Im allgemeinen hat die chirurgische Behandlung dann
einzusetzen, wenn die innere nicht zum Ziele führt, also vor
allen Dingen die Gastralgien, die Blutungen, die Abmagerung
nicht zu hindern vermag, und wenn der kleinste Diätfehler
genügt, um eine Wiederkehr der Schmerzen und des Er¬
brechens herbeizuführen.
Was die Blutungen anbetrifft, so glaubt Verf., dass bei den
profusen Blutungen die Gastroenterostomie wirkungslos ist,
dass in solchen Fällen eine Operation besser unterlassen wird.
K r e ck e.
, G. Schümm: Die Untersuchung der Fäzes auf Blut.
Mit 3 Tafeln. Jena 1906. Gustav Fischer. Preis M. 1.50.
Die Tatsache, dass unter Umständen selbst ziemlich stark
bluthaltige Stühle bei der Weber sehen Probe nicht den be¬
weisenden blauvioletten Farbenton, sondern oft schwer zu be¬
urteilende Mischfarben liefern, veranlasste Schümm zu einer
Abänderung der Weber sehen Probe, die bei gleichbleiben¬
der Empfindlichkeit und Eindeutigkeit auch in farbstoffreichen
Stühlen einen blauvioletten oder dem doch nahestehenden Far¬
benton liefert. Unumgänglich notwendig ist hierbei für dia¬
gnostische Zwecke die Untersuchungen nur bei geeigneter Diät
auszuführen, d. h. nicht nur rohes oder halbrohes, sondern auch
gargekochtes Fleisch zu vermeiden, und vermag das Ver¬
fahren dann unter Umständen schon bei einem Blutgehalt von
0,1 Proz. eine positive Reaktion zu liefern. Der Schilderung
dieser in der Tat sehr leicht durchführbaren Modifikation, die
der Hauptsache nach auf Entwässerung und teilweiser Ent¬
fettung und Entfärbung der Stuhlprobe mittels Alkoholäther in
einem offenen Filter beruht, geht eine eingehende Besprechung
und kritische Würdigung der übrigen gebräuchlichen Unter¬
suchungsmethoden voraus. A. Jordan- München.
E. Salkowski - Berlin : Praktikum der physiologischen
und pathologischen Chemie nebst einer Anleitung zur anorga¬
nischen Analyse für Mediziner. 3. vermehrte Auflage.
315 Seiten mit 10 Abbildungen im Text und einer Spektral¬
tafel in Buntdruck. Verlag von A. Hirschwald, Berlin
1906. Preis 8 M.
iobü
(
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
Seit 1893 im Buchhandel, aber schon vorher als Manuskript
gedruckt und von den Praktikanten des S a 1 k o w s k i sehen
Laboratoriums benutzt, hat das Buch, seither stetig verbessert,
sich gut bewährt, so dass nunmehr die 3. Auflage nötig ge¬
worden ist. Wesentliche Umgestaltungen hat diese Auflage
gegenüber der 2. nicht erfahren, doch wurde eine Reihe neuer
Reaktionen und Verfahren aufgenommen und zwei kurze
Kapitel über Autolyse der Organe und über alkoholische
Qährung eingefügt.
Den Bedürfnissen der Mediziner angepasst und von diesen,
insbesondere von Klinikern vielfach benutzt, gibt das Buch
im 1. Teile eine Anleitung zur anorganischen Analyse, behandelt
im 2. Teile die Reaktionen der Metalle und Säuren und im
3. physiologisch-chemische Untersuchungen in qualitativer und
quantitativer Beziehung. Dem Buch ist weiterhin noch eine
Reagentientabelle, eine Tabelle der spezifischen Gewichte
einiger Flüssigkeiten und eine Spektraltafel beigefügt. Ein
alphabetisches Sachregister bildet den Schluss.
Die einzelnen Kapitel sind durchweg klar und so aus¬
führlich geschrieben, dass die betreffenden chemischen Opera¬
tionen leicht, und was nicht zu unterschätzen ist, ohne viel
Aufwand von chemischem Material durchgeführt werden
können, nur die Spektraltafel dürfte den Anforderungen, welche
man heuzutage an eine solche zu stellen gewohnt ist, nicht ge¬
nügen. B ii r k e r.
Enzyklopädie der praktischen Medizin. Herausgegeben
von Dr. M. T. S c h n i r e r, Redakteur der Wiener klin. -thera¬
peutischen Wochenschr. und Dr. H. V i e r o r d t, Professor der
Medizin an der Universität Tübingen.
Von dem Werke liegt nun die 7. und 8. Lieferung vor,
reichend bis zum Artikel ,, Jodoform“. Von den enthaltenen
grösseren Artikeln seien hervorgehoben jene über „Gonorrhoe“'
von Grouven und Jul. Neumann, über „Hand“ von
B u n g e, über „H a r n“ von H. S t r a u s s, „Harn und Harn¬
blase“ von J. Coh n, „Heilgymnastik“ von R i e d i n g e r,
„Hernien“ von J. A. Rosenberger, „Herz und Herz-
klappcnfchler“ von H. V i e r o r d t, „Herzneurosen“ — unter
welchen ungewöhnlicherweise auch die echte Angina pectoris
erscheint — von G. Sticker, von letzterem auch der Artikel
über „Hypnotismus“, sowie ein eingehendes Referat über „In¬
fluenza“, ferner „Herzschwäche“ von V i e r o r d t, „Hitzschlag“
von A. S e i t z, „Hodenerkrankungen“ von Payr, „Hiift-
gelenkaffektionen von Hoffa, „Hüftgelenkoperationen“ von
Bunge, „Hydrozephalus“ von L. Bruns, „Hysterie“ von
H. V i c r o r d t, „Immunität und Immunisierung“ von Dieu-
d o n n e, „Intubation“ von T r u m p p, „Iris“ von E 1 s c h n f g.
Der Artikel über „Hydrotherapie“ wird wohl an anderer Stelle
des Werkes noch die nötige Erweiterung erfahren.
Grassmann - München.
Aerztliches Handbiichlein fiir hygienisch-diätetische, hy¬
drotherapeutische, mechanische und andere Verordnungen.
Eine Ergänzung zu den Arzneivorschriften. Für den Schreib¬
tisch des praktischen Arztes. Von Dr. med. Hermann Schle¬
singer, prakt. Arzt, Frankfurt a. M. 9. Auflage. Göttingen,
Verlag der Deuerlichschen Buchhandlung 1906.
Wir haben das Werkchen, dessen grosse Beliebtheit aus
der Zahl der Auflagen wohl hinreichend deutlich hervorgeht,
schon wiederholt günstig an dieser Stelle besprochen, sodass
wir uns mit diesem kurzen Hinweis begnügen können. Die
Fortschritte auf den einschlägigen Gebieten sind in der neuen
Auflage gebührend berücksichtigt und wurde speziell dem diä¬
tetischen Teile eine kurze Uebersicht der Nährpräparate bei¬
gefügt. Grassmann - München.
Kochbuch für Zuckerkranke und Fettleibige von F. v.
W i n c k 1 c r, Verfasserin der 365 Speisezettel für Zuckerkranke
und Fettleibige. 6. verbesserte Auflage. Nach der Verfasserin
Tode herausgegeben von F. Broxner in München. Wies¬
baden, Verlag von J. F. Bergmann 1906. Preis 2.40 M.
Das gut eingeführte Kochbuch ist wieder mit verschiedenen
Ergänzungen und Neuerungen versehen worden. An dieser
Stelle schon wiederholt erwähnt, weisen wir auf das Erscheinen
der Neuauflage des recht brauchbaren Buches gerne hin. Druck
und Ausstattung sind sehr zu loben.
Grassmann - München.
Jahrbuch der praktischen Medizin. Kritischer Jahresbe¬
richt für die Fortbildung der praktischen Aerzte. Heraus¬
gegeben von Prof. Dr. J. Schwalbe in Berlin. Jahrgang
1906. Stuttgart, Verlag von F. Enke. Preis 11 M.
Das bekannte Werk, das heuer besonders frühzeitig er¬
schienen ist, bietet dem Praktiker, unter Beibehaltung der auch
früher gebräuchlichen Einteilung des ganzen Stoffes, eine sehr
gute Sammlung von kurzen Referaten über alle wichtigen lite¬
rarischen Neuerscheinungen im ganzen Gebiete der Medizin.
Die einzelnen Kapitel sind von den nämlichen Verfassern wie
im Vorjahre bearbeitet. Auch der Umfang des Bandes ist un¬
gefähr der gleiche geblieben. Grassmann- München.
Neueste Journalliteratur.
Zeitschrift für Heilkunde. Herausgegeben von C h i a r i
in Prag. XXVII. Bd. (Neue Folge, VII. Bd.) Jahrg. 1906,
Heft 6.
1) Freund: Die Brachydaktylie durch Metakarpalverkürzung.
(Aus dem tierärztlichen Institut der deutschen Universität in Prag.)
Mit Abbildungen.
Ein Fall dieser seltenen Missbildung: doppelseitige Verkürzung
des Metakarpus IV, beobachtet bei einem Manne ohne sonstige Miss¬
bildungen, aus gesunder, von Missbildungen freier Familie stammend.
Keine Funktionsstörung. Eine befriedigende Erklärung der Miss¬
bildung steht noch aus.
2) I p s e n : Beitrag zur Deutung des Entstehungsmechanismus der
Lochbrüche. (Aus dem Institut für gerichtliche Medizin in Innsbruck.)
Mit Abbildungen.
Verfasser fühlt sich weder von der Bergmann sehen noch von
der Pal tauf sehen Erklärung des bekannten Verhaltens der ver¬
schiedenen Grosse von Ein- und Ausschussöffnung bei Schädel¬
schüssen befriedigt und versucht eine eigene Erklärung, die im Ori¬
ginal nachgelesen werden wolle.
3) Graff: Zur Kasuistik und Therapie der Hämangiome. (Aus
der E i s e 1 s b e r g sehen chirurgischen Klinik in Wien.) Mit Ab¬
bildungen.
Die interessante Arbeit umfasst ein Material von 125 Fällen von
Teleangiektasien und Angiokavernomen, Zahlreiche Krankenge¬
schichten mit instruktiven Illustrationen. Bei ausgedehnten halb¬
seitigen Angiomatosen ist daran zu denken, ob nicht eine abnorme
Enge der grösseren von der Aorta abgehenden Gefässe zu Grunde
liegt, welcher Befund autoptisch von Schuh und Hulke erhoben
wurde. Eine nicht unerhebliche Rolle in der Aetiologie spielt das
Trauma (auch das intrauterine oder bei der Geburt erfolgende). Bei
jedem noch so kleinen Hämangiom ist die radikale Entfernung mit
allen Mitteln anzustreben. Mit dem Paquelin wurden 75 Proz. Dauer¬
heilung, mittels Exstirpation 94 Proz. Dauerheilung erzielt. Das
letztere Verfahren stellt, wo Esmarchsche Blutleere nicht an¬
wendbar ist, allerdings sehr hohe Anforderungen an. die Technik des
Operateurs, da auch die prophylaktische Ligatur grösserer zufiih-
render Gefässe nicht immer genügt, um eine gefährliche Blutung bei
der Operation zu verhüten. Auch mit der Einführung von Magne¬
siumpfeilen wurde ein gutes Resultat erzielt (Methode nach Payr).
In einem Fall von Teleangiektasie erzielte die Röntgenbehandlung
deutliche Besserung. Ebenso die Radiumbehandlung bei einem
taubeneigrossen Kavernom der Sternalgegend.
4) Lieb lein: Ueber die Resorption von Peptonlösungen in
verschiedenen Abschnitten des Dünndarmes. (Aus der W ö 1 f I e r -
sehen chirurgischen Klinik und dem Z e y n e k sehen medizinisch¬
chemischen Institut in Prag.)
20 Tierversuche zur Entscheidung der Frage, ob das Ileum hin¬
sichtlich seiner Resorptionsfähigkeit gegenüber dem Jejunum minder¬
wertig sei, welche Frage bekanntlich bei Darminfektionen von Wich¬
tigkeit ist. Verfasser kommt zu dem Schluss, dass das Resorptions¬
vermögen für Peptonlösungen seitens der lleumschleimhaut der des
Jejunums gleichwertig oder sogar etwas überlegen sei. Bei ausge¬
dehnten Dünndarmresektionen kommt daher die Lokalisation der Re¬
sektion nicht mehr in Betracht. Bändel- Nürnberg.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 2. bis
4. Heft. 1906.
14. F r ä n k e 1 - Berlin: Die infantile zerebrale Hemiplegie.
Die interessante Arbeit ist auf das Studium von 60 Fällen der
Hoffaschen Klientel und der Literatur gegründet und führt zu
ätiologisch wie therapeutisch interessanten Ergebnissen, von denen
die wichtigsten hier wiedergegeben seien: Für die Aetiologie
der zerebralen Hemiplegie haben alle vaskulären Schädigungen
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1581
Bedeutung, die während der Fötalperiode, des Geburtsaktes und
des Extrautei inlebens zur Geltung kommen, darunter hereditäre Lues
Zirkulationsstörungen im Fötus, akut entzündliche Gefässerkrankung
(Enzephalitis, Meningitis), Hämorrhagie, Embolie, Thrombose.
Pränatale Schädigungen äussern ihre Wirkung oft erst nach
dem Hinzutreten von Geburtsschädigungen oder extrauterinen
Affektionen. ,
Die spastischen Deformitäten der unteren Extremität sind leicht
zu beseitigen, über auch solche der Hand sind erfolgreicher chi¬
rurgisch-orthopädischer Behandlung zugänglich, mittels welcher ein
gutes kosmetisches und auch funktionelles Resultat zu erreichen ist.
Die Sehnenplastik hat gleichzeitig krampflösende Wirkung, be¬
seitigt bezw. verhütet die posthemiplegische Chorea.
Da die zerebrale Armlähmung meist vom Nervus radialis abzu¬
hängen scheint, so ist vielleicht in Zukunft auch die Nervenplastik
aussichtsreich.
15. E w a 1 d - Heidelberg: Die aniniogene Entstehung des ange¬
borenen Klumpfusses.
F,. beschreibt aus der V u 1 p i u s sehen Klinik eine der seltenen
Beobachtungen von angeborenen Klumpfuss und deutlichen Spuren
amniotischer Bandumschnürung am Unterschenkel (5 fache lose Um¬
schlingung) und bespricht die ätiologische Bedeutung dieses Zu¬
sammentreffens. Der gesunde Fuss wies in diesem Fall Polydaktylie
und Syndaktylie auf, die ebenfalls auf amniotische Einflüsse bezogen
werden.
16. F r a n c k e - Altenburg : Zur Kasuistik der angeborenen
Coxa vara.
Drei Kinder, 1 Knabe und 2 Mädchen, einer gesunden Frau,
weisen hochgradige doppelseitige Coxa vara auf, dessen Diagnose
die beigegebenen Röntgenbilder sichern. Rachitis und Trauma sind
ausgeschlossen.
Die Epiphysenlinien der Köpfe verlaufen senkrecht (differential
diagnostisch wichtig gegenüber der Rachitis), sie sind verbreitert,
unregelmässig gezackt.
17. C h 1 u m s k y - Krakau : Ein Fall von Scoliosis traumatica
und Diabetes nach Blitzschlag und Trauma.
Typische Blitzverletzungen nicht vorhanden, Fraktur des
rechten Unterschenkels und des rechten Darmbeines durch auffallende
Baumäste. Der Zucker (3,9 Proz.) verschwand innerhalb einer
Woche, die starke linkskonvexe Skoliose (Entlastungskrümmung?
Ref.) nach 2 Monaten.
18. Chlumsky - Krakau : Ein neues Nabelbruchband für Kinder.
An die Pelotte eines gewöhnlichen Leistenbruchbandes wird
eine zweite Feder mit Pelotte befestigt, welche zum Nabel aufsteigt.
19. G a n g e 1 e - Zwickau: Ueber einen Fall veralteter Sub¬
luxation des Os naviculare am Fuss.
Luxation des Kahnbeines medialwärts, das laterale Drittel des
Knochens liegt zwischen Talus und Cuneiforme.
20. B 1 e n c k e - Magdeburg : Meine bei der angeborenen
Luxation des Hüftgelenkes gemachten Erfahrungen.
Als obere Altersgrenze für die unblutige Reposition nennt Bl.
bei einseitiger Luxation das 8., bei doppelseitiger das 6. Lebensjahr.
Er schliesst auch den gesunden Oberschenkel mit in den Ver¬
band ein. Bei Luxatio duplex operiert er in einer Sitzung, wenn die
Reposition des ersten Gelenkes eine stabile zu sein verspricht. Bei
97 Hüften erzielte er 55 Repositionen, 31 Transpositionen, 11 Relux-
ationen. Von letzteren wurden 3 in zweiter Sitzung reponiert, 3
transponiert, so dass sich im ganzen 59,8 Proz. anatomische Hei¬
lungen ergeben.
21. Z e s a s - Lausaune: Ueber die Tuberkulose des lliosakral-
gelenkes.
Zusammenfassende Darstellung der Symptome, des Verlaufes
und der Therapie. Letztere ist zunächst eine konservative —
Rumpfgipsverband, Jodoforminjektion — , später eventuell eine opera¬
tive — Resektion. Kurze Mitteilung einer Serie von solchen Opera¬
tionen der Bardenheuer sehen Klinik. Von 9-1 aus der Litera¬
tur zusammengestellten operierten Fällen heilten 36 aus, 29 endeten
letal.
22) P e r r o n e - Neapel: Ueber kongenitale Skoliose.
Beschreibung von 3 Präparaten, aus denen der Schluss gezogen
wird, dass zu den bisher anerkannten Ursachen einer kongenitalen
Skoliose die durchaus nicht seltene Asymmetrie des Sakrum hinzu¬
gefügt werden muss.
23) K o p i t s - Ofen-Pest: Ein neues Stützkorsett zur Markierung
der Deformität bei Skoliotikern mit grossem Rippenbuckel.
Ein mit besonderer Technik auf Gipsmodell gewalktes Leder¬
korsett mit einer besonders stützenden Ledereinlage am Rippen¬
buckel.
24) S i 1 b e r s t e i n - Berlin: Zur mechanischen Behandlung der
Hüftgelenkskontrakturen.
Ein Extensionsapparat zur Anlegung des Gipsverbandes.
25) M i 1 a t z - Rotterdam: Zur Messung mittels Photographie.
26) Max M. K 1 a r - München: Ueber kongenitale Osteodysplasie
der Schlüsselbeine, der Schädeldeckknochen und des Gebisses.
Ein interessanter Fall der V u 1 p i u s sehen Klinik gab Verfasser
Veranlassung, die Literatur des angeborenen Klavikuladefektes gründ¬
lich zusammenzusuchen. Es liess sich daraus ein eigentümlicher Sym-
ptomenkomplex aufstellen, den Verfasser als Osteodysplasia congenita
bezeichnet:
1. Mangelhafte Ausbildung bezw. Anlage aller Belegknochen des
Schädels,
2. Defekte der Schlüsselbeine.
3. Mangelhafte Zahnbildung.
4. Gaumenspalte oder hoher Gaumen.
5. Auffallend geringe Körperlänge.
6. Kyphoskoliose.
Die Defekte beziehen sich merkwürdigerweise sämtlich auf Haut¬
knochen.
A1 s Ursache nimmt Kl. abnorme Enge des Amnion an, welches
die Entwicklung der Hautknochen störte.
Einen Parallelfall aus dem Lorenz sehen Ambulatorium be¬
schreibt Kl. in einem Nachtrag. Hier fand sich ausser den oben¬
genannten Entwicklungsstörungen doppelseitige Coxa vara congenita.
27) S c h a n z - Dresden : Zur Nachbehandlung der tuberkulösen
Koxitis.
Ist die Koxitis durch konservative Therapie nach Jahr und Tag
zum Stillstand gekommen, so erlebt man nach Weglassen des Stütz-
und Entlastungsapparates regelmässig eine Stellungsverschlechterung,
Adduktions-Flexions-Kontraktur: Der abnorm plastische Schenkelhals
bewirkt Coxa-vara-Bildung. Durch eine federnde „Hiiftkrücke“ er¬
möglicht Sch. 1 a n g s a m e Steigerung der Belastung. Ist die stö-
i ende Deformität schon vorhanden, so wird sie besser durch sub-
trochantere Osteotomie als durch intraartikuläres Redressement be¬
seitigt.
28) Schanz- Dresden : Technische Kleinigkeiten.
Beschreibung der sub 27 genannten federnden Hiiftkrücke, eines
Extensionsliegestuhles, eines Stuhles zur Anfertigung von Gips¬
modellen.
29) E w a 1 d - Heidelberg: Keimfehler oder abnorme Druck¬
wirkung.
Wenn wir die angeborene Deformität auf einen „Keimfehler“ zu
beziehen suchen, so ist für ihr Verständnis noch nichts gewonnen.
„Abnorme Druckwirkung“ dagegen lässt uns greifbare ätiologische
Momente erkennen. Wir werden also letztere Erklärung mit Vorliebe
akzeptieren, wo sie sich mit den Tatsachen vereinbaren lässt.
Diese Anschauung wird gegen Wollenberg verteidigt hin¬
sichtlich der Aetiologie der Hüftluxation.
30) Wollenberg - Berlin: Keimfehler oder abnorme Druck¬
wirkung.
Replik auf vorstehende Arbeit.
31) H e 1 b i n g - Berlin : Die Coxa vara.
Die 100 Seiten umfassende Monographie stützt sich auf eine
200 Nummern zählende Literatur und ein klinisches bezw. poli¬
klinisches Material von 77 Fällen. Nicht weniger als 81 Abbildungen
verdeutlichen den Text, der sich mit Aetiologie, Symptomatologie,
Anatomie und Therapie erschöpfend befasst. Letztere ist wenn mög¬
lich konservativ, mechanisch. Nur bei schwerer, dauernder Funk¬
tionsstörung wird ein operativer Eingriff nötig. Die Operation der
Wahl ist die schiefe, subtrochantere Osteotomie.
32) W e 1 1 e - Berlin : Ueber Hüftgelenksverrenkungen nach
Koxitis im Säuglingsalter.
W. beschreibt 3 solche Beobachtungen aus der H o f f a sehen
Klinik, einen Fall sogar mit doppelseitiger Luxation.
Er glaubt, dass man meist aus dem Röntgenbild die Differential¬
diagnose gegenüber der kongenitalen Luxation stellen könne, nament¬
lich wegen der Form und Tiefe der Pfanne.
33) Spitzy-Graz: Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und
Neurologie.
Besprechung der Technik der Peroneus-Tibialis-Plastik und der
Medianus-Radialis-PIastik beim Menschen, mit instruktiven topo¬
graphisch-anatomischen Abbildungen. V u 1 p i u s - Heidelberg.
Zentralblatt für Chirurgie. 1906. No. 29 u. 30.
No. 29. E. Goldmann: Zur offenen Wundbehandlung von
Hauttransplantationen.
G. betont gegenüber der Mitteilung von W e i s c h e r, dass er
die offene Wundbehandlung nach Transplantationen, wie er sie durch
B r ii ning berichten liess, bei einer grossen Anzahl der verschieden¬
artigsten frischen und granulierenden Hautdefekte mit ausnahmslos
günstigem Erfolg anwandte, selbe auch anderwärts ausgezeichnete
Resultate lieferte, für praktische Zwecke kommt alles auf die mecha¬
nische hixation in den ersten Stunden an und gerade hierfür ist die
Austr ocknung der Kittsubstanz bei der offenen Wundbehandlung das
sicherste. Bei Austrocknung des reichlicher sich bildenden Wund¬
sekrets im weitern Verlauf genügt feuchter oder Oelverband, um die
Krusten und Borken ohne jede Schädigung für die Transplantation
aufzuweichen. Die Blasenbildung an diesen kann unabhängig von der
Wundseki etion und der Ausdruck mangelhafter Ernährung der Haut
sein, sie hebt die Anheilung der 1 ransplantationen nicht auf, solange
durch die Wundbehandlung dafür Sorge getragen wird, dass der zarte
Schleiei des Stratum Malpighi der Epidermis nicht mechanisch ent¬
fernt wird, jeder Verband, besonders ein solcher, der die Unterlage
mazeriert, ist deshalb ungeeignet.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
1582
J. K. Spisbarny-Moskau: Pharyngotomia suprahyoidea.
Mitteilung eines Falles von Exstirpation eines Fibrosarkoms der
linken hinteren Rachengegend von einem parallel dem Zungenbein,
1/3 cm über diesem, von der Mitte des rechten Hornes bis zum linken
Kopfnicker geführten Schnitt aus, der gute Uebersicht bot.
No. 30. Wilms: Die Freilegung des Herzens bei Herz¬
verletzungen. ,
Während die gewöhnlichen Lappenplastiken wohl bei Operation
wegen Verletzungen an der vorderen W and des Herzens genügen, ist
bei einer Naht an der Hinterwand des Herzens (wie sich W. gelegent¬
lich der Naht einer den linken Ventrikel perforierenden Schussver-
letzung überzeugte) von einem langen Interkostalschnitt (M i k u 1 i c z,
Sauerbruch) freier Zugang und bessere Uebersicht zu erwarten
_ je nach der Verletzungsstelle im 4. oder 5. Interkostalraum. Will
man den Zugang noch verbreitern, so kann man die 4. oder 5. Rippe
in der Nähe des Sternumansatzes inzidieren und hat danach weit
bessere Uebersicht. Der Schnitt ist auch rascher ausführbar, die
Blutung minimal. Dass ein Pneumothorax dabei eintritt, fällt nicht
ins Gewicht, da dies bei allen Lappenplastiken auch dei Fall ist.
Im betreffenden Fall, 2 Stunden nach dem Schuss operiert, bei dem
Ein- und Ausschuss mit je 3 Nähten geschlossen wurde, ebenso Ein-
und Ausschuss am linken Unterlappen der Lunge und nach Perikaidial-
nalit ohne Tampon geschlossen wurde, war (trotzdem 1 A Litei Blut
in Pleura und Perikard sich fand) der Ausgang ein günstiger.
O. E h r h a r dt - Königsberg: Ein einfacher Ligaturträger.
Beschreibung eines aus 2 exakt ineinander gepassten vernickel¬
ten Hohlzylindern (mit Schlitz) und einem Führungsstab, auf den
die mit der Seide beschickte Glasspule aufgesteckt wird, bestehenden,
beim Ligieren bequem in der Hand zu haltenden Instrumentes, mir
dem man die Ligaturen, ohne dauernd die Seide mit der Hand zu
berühren und ohne sich jeden einzelnen Faden zurecht schneiden zu
müssen, anlegen kann. E. empfiehlt dabei auch die Anwendung dei
Kocher sehen Schere. Sehr.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 30.
F. H e h 1 - Prag: Ein Beitrag zur Frage der mechanischen Frucht¬
abtreibung. ,r , , . , , , .
Da in Oesterreich für den Arzt die Verpflichtung besteht, bei
Todesfällen mit Verdacht eines Verbrechens oder Vergehens
dies zur Anzeige zu bringen, so kommen mehr Fälle kriminellen
Aborts zur Kenntnis der Behörden, als bei uns. H. berichtet über
mehrere letal verlaufene Abortfälle mit interessanten Befunden.
Einmal fand sich eine Verletzung in der Uteruswand, wo es zweifelhaft
bleiben musste, ob dieselbe von innen her oder von aussen durch einen
durch die Bauchdecken hindurch wirkenden Druck entstanden war.
In einem zweiten Fall, der als Sepsis post abortum verlief, fand sich
eine lochförmige Wunde in der Blase; der „Eihautstich“ war hier
durch die Urethra in der Blase gemacht worden.
A. Z i n s s e r - Göttingen : Ueber die B r e u s sehe Hämatommole,
Unter B r e u s scher Mole versteht man ein Krankheitsbild,
klinisch charakterisiert durch eine Uebertragung des im früheren
Stadium abgestorbenen Eies, anatomisch gekennzeichnet durch ein
Missverhältnis zwischen Embryo und Fruchtsack und das Vorkommen
von reichligen, teils breitbasigen, teils gestielten Hämatomen (Aneu¬
rysmen) zwischen Dezidua und Chorion. Z. beschreibt einen hierhei
gehörigen Fall aus der Göttinger Frauenklinik, den er genau mikro¬
skopisch untersuchte. Neue Gesichtspunkte ergab diese Unter¬
suchung jedoch nicht. Die aus derselben gezogenen Schlussfolge¬
rungen mögen im Original nachgesehen werden.
R. K 1 i e n - Leipzig: Bemerkungen zu dem Artikel B. C red es
„Pelveoplastik“ in No. 22 dieses Blattes.
Eine herbe Kritik des C r e d e sehen Vorschlages (ref. in diesem
Blatt No. 25, pag. 1222), den Frank vor 12 Jahren schon ausgeführt
haben soll, und der von allen Geburtshelfern und Frank selbst
verlassen worden ist. K. warnt vor der C r e d e sehen Pelveoplastik
als vor einer Operation, welche
1. bei mässig verengtem Becken überflüssig ist,
2. bei stark verengtem Becken ihren Zweck nicht erfüllt,
3. bei zweiseitiger Ausführung die Solidität des Beckenringes
zu gefährden imstande ist. J a f f e - Hamburg.
Archiv für Hygiene. 57. Bd. 4. Heft.
1) J. Papasotiriou - Athen: Einige Beobachtungen ,über den
Einfluss von Bakterien auf Pepsin.
Die Versuche, welche mit Faulflüssigkeit und auch mit Reinkul¬
turen von Fluoreszens, Putidum und Vulgare angestellt waren, zeig¬
ten, dass bereits eine 9stündige Einwirkung die Wirkung des Pepsins
vollständig zerstörte. Eine solche Flüssigkeit wirkt nicht anders,
als ob kein Pepsin mehr vorhanden wäre.
2) K- B. I. e h m a n n - Würzburg: Untersuchungen über die Auf¬
nahme von Gasen (namentlich Ammoniak) und Wasserdampf durch
Klcidungsstoffe.
Die vom Verfasser früher bereits eingeleiteten Versuche wurden
mit verbesserter Methodik weiter geführt und erstreckten sich auf die
Absorption von Ammoniak und Salzsäure durch Leinen, Wolle und
Baumwolle. Es stellte sich heraus, dass Stoffe, welche hygro¬
skopisches Wasser enthalten, von Ammoniakgas die Summe der
Menge aufnehmen, welche der trockene Stoff und das absorbierte
Wasser, jedes einzeln, zu binden imstande ist. Von der Salzsäure
nehmen feuchte Stoffe mehr auf als trockene Stoffe plus dem hygro¬
skopischen Wasser. Die Absorption ist in / Stunden, aber noch nicht
in 4 Stunden beendet.
3) K- B. Lehmann- Wiirzburg : Die Temperatursteigerung der
Textilfasern durch den Einfluss von Wasserdampf, Ammoniak, Salz¬
säure und einigen anderen Gasen.
, Sowohl im trockenen wie im feuchten Zustande der Textilfaser tritt
bei Aufnahme von Ammoniak eine Temperatursteigerung ein. Je feuch¬
ter der Stoff ist, desto grösser ist die Erwärmung. Die Wolle übertrifft
in feuchtem Zustande alle anderen Stoffe, offenbar weil sie auch im
ausgedrückten Zustande noch sehr lufthaltig ist. Am grössten ist aber
die Steigerung der Temperatur, wenn nicht trockenes, sondern feuch¬
tes Ammoniakgas angewendet wird. Es wurden Temperatursteige¬
rungen bis zu 26 und 27° beobachtet. Nach der Ansicht des Ver¬
fassers erklärt sich dieselbe durch Kondensationswärme des Ammo¬
niaks. Hygroskopisch durchfeuchtete Stoffe erwärmen sich einesteils
durch Ammoniakkondensation, andernteils durch Ammoniakauflösung
im hygroskopischen Wasser. Bei Wasserdampfversuchen
ging die Temperatursteigerung langsam vor sich, wobei auch niedere
Werte erzielt wurden. Salzsäuregas gab hohe Steigerungen,
Kohlensäure, Schwefelwasserstoff und Textil¬
fasern gar keine Steigerung.
4) Fritz Di 1 1 h o r n - Posen : Ueber Milzbrandinfektion bei
Fröschen.
Die Versuche lehren, dass Milzbrandbazillen, wenn sie durch den
Froschkörper geschickt werden, ihre Virulenz für Warmblüter nicht
einbüssen, sogar eine gewisse Erhöhung trat ein. Auch die Sporen¬
bildungsfähigkeit blieb erhalten.
5) Max Ru b n e r - Berlin: Ueber trübe Wintertage, nebst Unter¬
suchungen zur sog. Rauchplage der Grossstädte.
Die sehr lesenswerte Studie bringt eine grosse Reihe von inter¬
essanten Beobachtungen und wichtiges Tatsachenmaterial, welches
die Bedeutung der. Rauchplage der Städte so recht klar stellt. Die
einzelnen Kapitel: Trübungen der grossstädtischen Atmosphäre, Kohle
und Brennmaterialverbrauch, Brennmaterialverbrauch für Hausbrand
und Fabriken, Untersuchungen über die Russbildung bei der Feuerung
und der Russgehalt der Stadtluft, geben eine Fülle von Anregung in
diesen mit wissenschaftlichen Experimenten noch wenig bearbeiteten
Fragen.
6) W. H o f f m a n n - Berlin: Ueber den Einfluss hohen Kohlen¬
säuredrucks auf Bakterien im Wasser und in der Milch.
50 atmosphärige Kohlensäure beeinflusst bei 24 ständiger Ein¬
wirkung die Bakterien des Flusswassers derart, dass dieselben trotz
Anreicherungsverfahrens nicht zum Auswachsen kommen. Dasselbe
tritt bei Typhus, Cholera, Ruhrbakterien bereits nach 3 ständiger Ein¬
wirkung ein. Milch lässt nach 24 Stunden das Kasein ausfallen, die
Bakterien in der Milch werden dabei aber nicht erheblich geschädigt.
Immerhin lässt sich die Milch 24—48 Stunden länger unzersetzt hal¬
ten. Agglutinine werden nicht geschädigt. Versuche, bakterien¬
reiches Wasser im Grossbetriebe durch Kohlensäure einwandfrei und
verwendbar zu machen, sind zunächst noch nicht als gelungen zu be¬
trachten.
7) Otto Cohnheim - Heidelberg: Der Energieaufwand der Ver¬
dauungsarbeit.
Die an einem „Paw low sehen Hund“ gewonnenen Resultate
zeigen, dass die Stickstoffausscheidung bei der Energieproduktion
nicht vermehrt ist. Die Arbeit der Verdauung wird mit stickstoff¬
freiem Material geleistet. Bei der Scheinfütterung liegt die Energie¬
produktion höher als beim Hunger, und zwar um 3,3 Kalorien.
R. O. N e u m a n n - Heidelberg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 31.
1) E. Friedberger und C. M o r e s c h i - Königsberg i. Pr.:
Ueber die Antiambozeptoren gegen die komplementophile Gruppe des
Ambozeptors.
Der Artikel eignet sich nicht für einen kurzen Auszug seines In¬
halts.
2) L. Kast-Berlin: Zur theoretischen und praktischen Bedeu¬
tung H e a d scher Zonen bei Erkrankung der Verdauungsorgane.
(Schluss folgt.) '
3) E. R. F r a n k - Berlin: Ueber Arhovin.
Unter Hinweis auf die anatomischen Verhältnisse der Urethral¬
schleimhaut setzt Fr. zunächst auseinander, dass die innerliche 1 rip-
perbehandlung (durch Balsamika etc.) keinen vollkommenen Heil¬
erfolg entfalten kann. Die des Näheren im Original mitgeteilten
bakteriologischen Versuche mit Arhovin lieferten den Nachweis, dass
durch das Mittel der Harn zwar nicht stark bakterizid gemacht wird,
dass aber die Entwicklung von Staphylo- und Streptokokken, be¬
sonders auch von Gonokokken gehemmt wird. Es kann also mit
Vorteil zur Unterstützung der lokalen Behandlung benützt werden.
In den betreffenden Fällen wurde es auch in hohen Dosen gut ertragen
und verminderte sichtlich den Grad der lokalen Reizerscheinungen.
4) H. E c k s t e i n - Berlin: Paraffininjektionen und -Implanta¬
tionen bei Nasen- und Gesichtsplastiken. (Schluss folgt.)
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT
5) H. Much und P. H. R ö m e r - Marburg: Ueber belichtete
Perhydrasemilch.
Die Verfassei beobachteten sowohl bei Perhydrase- als bei Roh-
nnlch eine deutliche Geruchs- und Geschmacksveränderung, sobald
sie dem Lichte ausgesetzt war und konnten durch systematisch vari-
lerte Versuche feststellen, dass es sich um eine unter dem Einfluss
Y°,n “P*1* u, G erfolgende Veränderung des Milchfettes dabei han¬
delt. Den blauen Lichtstrahlen scheint bei dieser Wirkung ein Haupt-
anteil zuzukommen. Die bei der bakterienfreien Milch eintretende
Zersetzung des Milchfettes bezeichnen die Verfasser als ein Talgig-
wei den dei selben. Verfasser untersuchten die chemischen Verhält¬
nisse einer derartig veränderten Milch und fanden nur geringe Ab¬
nahme der Alkaleszenz und starke Abnahme der Jodzahl. Praktisch
eigibt sich daiaus, dass die Milch nicht in durchsichtigen Gläsern der
Sonne ausgesetzt werden darf. Belichtete Milch kann, wie Versuche
zeigen, dem Säugling schaden. Sie soll also in Blechgefässen trans¬
portiert ^werden und durch Umhüllung mit schwarzem, rotem oder
grünem Seidenpapier der Belichtung entzogen werden. Die Verfasser
beschreiben endlich noch die von ihnen hergestellte Katalase zur
Gewinnung der Perhydrasemilch.
Dr. G r a s s m a n n - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 30.
1) Sonnenburg,- Berlin : Grundsätze der Behandlung der
Appendizitis.
Im akuten Anfall empfiehlt S. möglichst frühzeitige Operation,
wenn alarmierende Symptome allgemeiner und lokaler Art (insbe¬
sondere „Kreuzung der Symptome“) vorhanden, dagegen Abwarten,
wenn nur mässige Krankheitserscheinungen vorliegen, die auch in
den nächsten Tagen keine Steigerung zeigen und keine besonderen
Komplikationen ei fahren. Nach Ueberstehung eines oder mehrerer
Anfälle, auch wenn sie leicht waren, ist zur Intervalloperation zu
raten, aussei wenn ein heftiger, lange dauernder Anfall mit nach¬
folgender dauernder Beschwerdefreiheit annehmen lässt, dass Spon¬
tanheilung durch Abstossung des Wurms erfolgt ist. Die Leuko¬
zytenzählung im Anfall hält S. für ein wertvolles Untersuchungsmittel.
2) Ernst Erey-Jena: Die Beziehungen zwischen dem physi-
kalischen Verhalten und der Wirkung der Arzneistoffe.
Von wichtigen physikalischen Eigenschaften als Vorbedingung
für entsprechende Wirkung eines Mittels nennt Verf. die Löslichkeit
in Wasser und Oel, die Dissoziationsfähigkeit (Zerfall in Ionen) und
die Diffusibilität.
3) A. Beer-Berlin: Ueber Beobachtungen an der lebenden
Spirochaete pallida.
Im luftdicht eingeschlossenen Tropfen physiologischer Kochsalz¬
lösung, also anaerob, bleibt die Spirochäte über ein Monat lang be¬
weglich.
4) Sahli -Bern: Bemerkungen zur Desmoidreaktion.
S. warnt vor der Verwendung käuflicher Desmoidbeutelcheir
sie sollen genau nach seiner Vorschrift vom Arzte selbst jedesmal
frisch bereitet werden.
5) Heinsheimer - Baden-Baden : Experimentelle Unter¬
suchungen über fermentative Fettspaltung im Magen.
Vortrag im Verein für innere Medizin in Berlin am 30. April 1906.
ref. Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 19, Seite 949.
6) Ei itz R o s e n f e 1 d - Stuttgart : Ein Fall von Aneurysma arcus
aortae nebst Bemerkungen über die Therapie desselben.
Da Verf. bei Lungen- und Uterusblutungen Stagnin mit Erfolg
angewandt hatte, versuchte er das Mittel auch bei Aneurysmen um
Gerinnungen herbeizuführen.
7) \V. S c h ü 1 e i n - Berlin: Ueber Garrulitas vulvae.
, Fälle, in beiden Fällen war es Luft, die bei Aenderungen
des abdominalen Drucks (Lagewechsel) ein- und ausströmte und das
Geräusch verursachte; begünstigend wirkte Schlaffheit der Vagina
und der Bauchdecken.
... 8\A- S i 1 1 n e r - Brandenburg a. H.: Ein Fall von sekundärer
Abdommalgravidität mit ausgetragenem lebenden Kinde.
. Primäre Tubargravidität, nach deren Ruptur sich die Plazenta
in der freien Bauchhöhle ansiedelte; sie war schwierig von Darm
Netz etc. abzulösen. R. G r a s h e y - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No 30. K. Schwarz: 1000 medulläre Tropakokainanalgesien.
Sch.s hier ausführlich wiedergegebene Erfahrungen sind sehr
günstige. Wenn auch nicht ganz harmlos — es werden 5 Kollapse
Berichtet — so ist das Tropakokain zurzeit jedenfalls das ungefähr¬
lichste Mittel zur Lumbalanästhesie. Bezüglich der Technik emp¬
fiehlt auch Sch. eine ziemlich starke, 1,25 mm dicke, 8 cm lange Platin-
iridiumhohlnadel. Die Maximaldosis ist 0,06 g,'eine Ueberschreitung,
beispielsweise um eine höher hinaufreichende Anästhesie zu er-
reichen, ist stets bedenklich. Kontraindiziert ist das Verfahren bei
Kindern unter 14 Jahren und abnorm ängstlichen Erwachsenen. Grosse
v°™icht ist auch geboten bei sehr ausgebluteten Personen mit
schlechtem Allgemeinzustand und raschem, kleinen Puls.
K- Glaessner - Wien : Ueber Abkühlungsglykosurie.
Gl. hat bei einer Anzahl von Patienten, welche vom Tode des
Ertrinkens gerettet wurden — bei 4 unter 9 — ein nahezu typisches
Auftreten von Glykosurie beobachtet. Dabei wurde der Urin por¬
tionenweise untersucht und gefunden, dass regelmässig zuerst der
Zucker fehlte, dann mit eintretender Harnflut in Mengen von 0,1 bis
1,3 Proz. auftrat, um dann von der vierten bis fünften Portion an
wieder auszubleiben. In zwei Fällen fanden sich auch vorübergehend
k eiu e Mengen von Eiweiss. Parallel der Zuckerausscheidung war
auch Milchsäure im Harn nachzuweisen. Die Erscheinungen, die auch
von gerichtsärztlicher Bedeutung werden können, hängen möglicher¬
weise mit der gesteigerten Muskeltätigkeit und dem Sauerstoffmangel
zusammen.
A. N e u m ann- Wien : Ueber die Temperaturempfindlichkeit des
Magens.
Entgegen den Angaben Lennanders, dessen Versuche er
kritisiert, ist N. durch verschiedene Beobachtungen an Kranken zu
der Leberzeugung gelangt, dass dem Magen eine eigene Empfindlich¬
keit für Temperaturunterschiede sicher zukommt. Bei krankhaften
Veränderungen, speziell bei hysterischen, lässt sich aber unter Um¬
ständen eine völlige Anästhesie oder auch eine paradoxe Temperatur-
empfindung nachweisen; in manchen Fällen besteht eine Hyper¬
ästhesie, die durch Hervorrufung einer Anästhesie durch Kälte be¬
seitigt werden kann.
L. v. A 1 d o r - Kai lsbad : Ueber die Fettverdauung im Magen
Die Untersuchungen A.s haben die von V o 1 h a r d und Stade
gefundene fettspaltende 1 ätigkeit des menschlichen Magensaftes be-
statigt, dagegen lässt sich die von diesen Autoren angenommene
fermentative Natur dieser Eettverdauung zurzeit noch nicht mit Be¬
stimmtheit behaupten.
Y Kiku chi- Osaka: Ueber die passive Aggressinimmunität
gegen Pestbazillen.
In dieser vorläufigen Mitteilung konstatiert Verf., dass eine
passive Immunisierung durch Serum von Tieren, die mit keimfreien
estaggi essinen yoi behandelt sind, möglich ist. Die Versuche ver¬
sprechen bei Erzielung höherer Schutzwerte noch weitere günstige
Ergebnisse.
R. K i aus und R. Dörr- Wien: Das Dysenterieserum.
Die Verf. stellen gegenüber einer Publikation von Vaillard
und L o p t e i ihren Anteil an der Entwickelung der Serumtherapie
der Dysenterie klar. ßergeat.
Italienische Literatur.
Roncali: Pathologisch-anatomische und klinische Beobach¬
tungen in 2 Fällen von Zerebralstörungen als Beitrag zur Histologie
und zur chirurgischen Therapie der posttraumatischen Gehirn¬
sklerosen. (II policlinico, Januar, Februar, März, April 1906.)
In einer interessanten, auszugsweise schwer wiederzugebenden
Abhandlung aus der chirurgischen Klinik Roms bespricht R.die Aus¬
sichten operativer Eingriffe bei traumatischen Neuropsychosen und
bei J a c k s o n scher Epilepsie nach Traumen.
Jede posttraumatische Läsion in der Gehirnrinde in Form einer
tibrösen oder zystischen Narbe, Erweichungsherdes etc. soll nach R.
vollständig und breit exzidiert werden, weil ohne solches Vorgehen
der piekäre Zustand der Kranken verschlimmert wird.
Die Fuicht vor dauernden Paralysen und Anästhesien, ebenso
wye die vor Infektionen erscheint ihm ungerechtfertigt. Dafür spre¬
chen die nach H o r s 1 e y scher Methode mit vorheriger elektrischer
Prüfung der Gehirnrinde erlangten Resultate. Die H o r s 1 e y sehe
Methode erscheint nicht eingreifender als eine Schädelresektion mit
Inzision der Dura mater.
R. erwähnt 30 zu seiner Kenntnis gekommene Exzisionen der
Gehirnrinde nach Horsley. In 10 Fällen hatte man entweder
keine Paralysen und Anästhesien oder dieselben waren kaum merk-
hch; in 16 Fällen tiaten Paralysen und Anästhesien unmittelbar nach
der Exzision auf, verminderten sich aber allmählich bis zum voll¬
ständigen oder fast vollständigen Verschwinden; in 2 Fällen blieben
Paralyse und Anästhesien unverändert, ohne durch den operativen
Emgriff verschlimmert zu werden; in 2 Fällen endlich erfolgte der
lod durch Shok und durch Meningitis.
Die experimentellen und klinischen Resultate bestätigen so
übereinstimmend die Lehre von den funktionellen Kompensationen
durch Hilfe der Ganglien der Basis, wie sie zuerst von Dario Mara-
g 1 i a n o aufgestellt wurde. (
Zum Schlüsse führt R. die von Dur ante für die Operation an
H au gefahr1F Normen an: Es heisst: „Ehe man nach
Methode Hoisley die Gehirnrinde angreift, bedarf es einer grossen
diagnostischen I razision des konvulsiven Typus und einer sicheren
Indikation des relativen kortikalen Sitzes, um mit Sicherheit auf das
kranke Zentrum zu wirken. In ähnlichen Fällen ist die elektrische
Untersuchung das einzig sichere Kontrollmittel. Wenn es gelingt,
mi schwächet Reizung den gleichen Monospasmus herbeizuführen, an
dem dei Kranke in jedem Anfalle leidet, dann kann man sicher sein,
c ass dies das kranke Zentrum ist und alsdann kann man dreist zum
Auskratzen und zur oberflächlichen Exzision mittels galvanischen
Messers seine Zuflucht nehmen. Au,f diesen operativen Vorgang folgt
un\ermeidhch Parese oder Paralyse aller der Muskeln der Region
1584
MUENCHENER MEDIZINISCEIE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
oder des Gliedes, welche der Sitz des konvulsivischen Anfalles waren,
aber nur für wenige Tage, weil klinisch und experimentell bewiesen
ist, dass bei diesen partiellen Zerstörungen der Hirnrinde die funktio¬
nelle Reintegration der Muskeln bald wieder erscheint, entweder
durch funktionelle Kompensation der benachbarten Rindenpartien oder
durch partielle Regeneration der zerstörten Nervengewebe oder
durch Ergänzung von seiten der Ganglien der Basis, wie Luciani
S e p p i 1 1 i, Tamburini und Dario Maragliano angeben, oder,
wie R o n c a 1 i annimmt, durch ein Fascium lenticulo-pyramidale“.
Silvagni bringt (II Morgagni, März und April 1906) einen
graphischen und ergographischen, durch Kurventafeln erläuterten
Beitrag zum Kniephänomen.
Diese Untersuchungen, welche sich an die von Bo er i -Neapel
bereits im Jahre 1903 veröffentlichten anlehnen und dieselben er¬
gänzen, führen S. zu dem Resultat, dass das Kniephänomen nicht als
ein Reflexphänomen anzusehen sei, sondern dass es als direkt duich
eine Reizung des Muskels hervorgerufen anzusehen sei und einen In¬
dex abgebe für den Stand des Tonus spinalis; insofern also sind nur
die nervösen Zentren beteiligt, als sie, ohne dass ein Reflex von ihnen
ausgeht, das Zustandekomenm und die Ergiebigkeit regeln.
Für diese Anschauung S.s scheint zu sprechen, dass er durch
wiederholte rhythmische mechanische Reizungen der Kniesehne alle
die graphischen Bilder hervorzurufen imstande ist, welche sonst die
Untersuchung des Kniephänomens in abnormen Fällen bietet.
Der Muskeltonus ist es, welcher das Zustandekommen des Knie¬
phänomens bestimmt; und dieser Muskeltonus steht in beständiger
Abhängigkeit und beständig unter dem Einfluss der nervösen Zentren
und besonders des Gehirns.
B u z i berichtet über epidurale Injektionen aus der chirurgischen
Klinik zu Perugia. (II policlinico, April 1906.)
Dieses neue therapeutische Verfahren, welches sich bei Neur¬
algien hartnäckigster Art, namentlich bei Ischias, tabetischen Kiisen,
Interkostalneuralgien, auch Enuresis nocturna bewähren soll, wurde
in Paris durch Chatelin in die Praxis eingeführt. Eine grössere
Reihe von Autoren, u. a. Achard, Laubry, Levy, Du Pas-
quier, Widal, Bergouignan etc. bestätigten die Gefahrlosig¬
keit und die Erfolge. B. berichtet über 8 Fälle. Die epiduralen In¬
jektionen sind nicht zu verwechseln mit den subarachnoidealen In¬
jektionen Biers, welche behufs Anästhesierung verwandt werden.
Das Spatium epidurale ist der Raum, welcher zwischen der Dura
mater, welche das Rückenmark umkleidet, und dem Periost, welches
die innere Oberfläche des Rückenmarkskanals austapeziert, gedacht
werden muss: ein mehr ideeller als reeller Raum, welcher sich aber
zur Aufnahme und zur Diffusion injizierter Flüssigkeiten auch be¬
sonders nach den austretenden Nervenwurzeln hin, eignet. Die In¬
jektionen werden in der untersten Sakralgegend gemacht, es ist die
Membrana obturatoria sacrale inferior, durch welche die Nadel hin¬
durchdringen muss, und zwar in der sog. Fossa triangularis, 2 cm
oberhalb der Fissura analis. Zur Injektion ist 1 proz. Kokainlösung,
aber mit dem gleichen Erfolg auch physiologische Kochsalzlösung
verwandt. Die Injektionen müssen oft mehreremale wiederholt wer¬
den bis die Wirkung eine dauernde ist.
Zur Erklärung der wunderbaren therapeutischen Wirkung der
epiduralen Injektionen glaubt B. auf den Schok rekurrieren zu müssen.
Ob sich dies Verfahren dauernd bewähren wird, steht dahin,
jedenfalls dürfte demselben eine allgemeinere Anwendung in der
Praxis nicht zu prognostizieren sein. (Ref.)
Senni: Chirurgische Behandlung der Schnürleber. (II poli¬
clinico, Februar 1906.) .
Die disponierende Ursache der Schnürleber ist das Tieferrucken
des Leberrandes durch Ptosis oder Hypertrophie, die bestimmende
Ursache ist das Zusammendrücken des Rippenbogens durch über¬
triebene Anwendung des Korsetts. Die Gallenblase, gezwungen sich
der Bewegung des herabgetretenen Leberteiles anzupasseri, findet bei
ihrer Entleerung Schwierigkeit. Hierdurch wird die Gallenstein¬
bildung begünstigt.
Die Behandlung kann in einem Apparat bestehen, welcher den
herabgetretenen Leberlappen immobilisiert und in der richtigen Lage
hält. Genügt dies nicht, so tritt ein blutiges Verfahren ein, welches
in der Fixation des Lappens an der Bauchwand besteht^ und grosse
Erleichterung schafft. Es genügt nicht bei Lithiasis und Gallenblasen¬
entzündung. Hier ist die Cholezystotomie und die Cholezystektomie
am Platz, desgleichen kann partielle Hepatektomie nötig werden,
wenn es sich um neoplastische Auflagerungen handelt. S. vervoll¬
ständigt seine Abhandlung durch Mitteilung von 8 in römischen
Hospitalen operierten Fällen.
Bovo: Mykosis des Fusses durch Aspergillus. Ein Fall, mit¬
geteilt aus dem pathologisch-anatomischen Institut des Zivilhospitals
zu Genua. Derselbe betraf einen 74 jährigen Bauer. (II policlinico,
März 1906.) .
Dies würde der erste nichtexperimentelle Fall sein, in welchem
ein Aspergillus von der Haut bis in die nächsten Lymphdrüsen ge¬
wandert ist. Alle anderen internen Lokalisationen sind experimentell,
und um sie zu erhalten musste man grosse Quantitäten infizierender
Substanzen anwenden und direkt in die Gefässe einimpfen, weil eine
subkutane Injektion nur eine lokale Läsion und nie eine allgemeine
Krankheit erzeugt.
Es handelt sich um Aspergillus fumigatus; für ihn spricht nament¬
lich auch die sehr schwarze Pigmentierung des Pilzes.
B. erörtert die Berührungspunkte der von ihm ausführlich be¬
schriebenen Affektion mit schwereren Pilzerkrankungen, so nament¬
lich mit Aktinomyzesformen.
Ferruccio Schupf er: Beiträge zum Studium anatomischer und
funktioneller Magenveränderungen nach Nervenläsionen. (II poli¬
clinico, April 1906.)
Während in der medizinischen Literatur viele Beobachtungen
existieren über gastrische Störungen nach funktionellen Störungen
des Nervensystems, finden sich wenige Untersuchungen über ana¬
tomische und funktionelle Veränderungen am Magen, welche direkt
auf Nervenläsionen zu beziehen sind.
F. S. suchte diese Frage experimentell und klinisch zu lösen
und gibt in vorliegender Arbeit eine interessante Mitteilung über
dieselbe.
Er glaubt festgestellt zu haben, dass nach der Läsion an Nerven¬
fasern, welche zum Splanchnicus major gehören, Veränderungen im
Gewebe des Magens und in der Magensekretion entstehen.
Lädiert man bei Hunden, gleichzeitig beiderseits die vorderen
und hinteren spinalen Wurzeln zwischen dem 4. und 8. oder zwischen
dem 5. und 9. Dorsalsegment, so erfolgt als konstantes Resultat eine
Vermehrung des Magensaftes, welche bis zu 2 Prom. steigen kann,
namentlich bei Fleischkost. Diese Vermehrung soll hauptsächlich die
kombinierte Salzsäure, weniger die freie betreffen. Im Verhalten der
Milchsäure, des Labferments, des Pepsins und der Magenmotilität
zeigte sich keine Veränderung.
Zugleich mit diesem veränderten Chemismus stellten sich kleine
Nekrosen der Magenschleimhaut, oberflächliche hämorrhagische Lä¬
sionen der Mukosa, besonders in der Pylorusgegend ein, ausserdem
auch zirkuläre Hämorrhagien am Pylorus zwischen Mukosa und
Submukosa.
Der Autor führt nun noch eine Reihe klinischer Beobachtungen
an, in welchen Veränderungen im zentralen Nervengebiete des
Splanchnicus major anzunehmen waren, so Fälle von Wirbelkaries,
Wirbelsarkomen, auch einen Fall von Gliom des Daches des 4. Ven¬
trikels, einen von apoplektischen Zysten im Thalamus opticus, welche
hämorrhagische Erosionen und andere Veränderungen am Magen
boten und geeignet erschienen, einen Zusammenhang dieser nervösen
Läsionen mit materiellen und funktionellen Magenstörungen zur Ge¬
wissheit zu erheben.
Bocciardo-Pisa: Seitliche Kopfstösse gleichzeitig mit dem
Puls auftretend als differentialdiagnostisches Moment bei Aorten¬
aneurysmen. (II policlinico, Februar 1906.)
Diese Stösse können erfolgen in der Richtung von links nach
rechts oder von rechts nach links. Im ersteren Falle soll es sich
vorwiegend um Aneurysmen des aufsteigenden Astes der Aorta,
des Truncus brachiocephalicus und der rechten Subklavia handeln,
im anderen Falle um Aneurysmen am absteigenden Stamm der Aorta.
Z e r i bringt aus der Klinik Roms einen Beitrag zur Frage der
akuten Leukämie. (II policlinico, Februar und März 1906.)
Es handelt sich um drei Fälle, von welchen der eine in 7 Tagen,
die beiden anderen in weniger als zwei Monaten abliefen.
Z. ist mit verschiedenen deutschen Autoren, so namentlich
A. Fränkel der Ansicht, dass der akuten Leukämie eine besondere
Stellung im nosographischen Sestern gebührt. Was den Blutbefund
anbelangt, so handelt es sich um ein Vorwiegen grosser mono¬
nukleärer Leukozyten (Uebergangsformen und grosse Lymphozyten),
d. h. für gewöhnlich um eine Lymphozythämie. Wenn eine Unter¬
scheidung zwischen Leukämie und akuter Leukämie gemacht werden
soll, so ist diejenige die beste, welche sich auf den Blutbefund
stützt (Leucaemia lymphocytica, leucocythica — Granulocythen
mono- und polynukleäre — gemischte), während die Bezeichungen
lymphoide Leukämien ungeeignet sind, weil alle Leukämien myeloiden
Ursprungs sind. .
Gal len ga: Ueber Protylin. (II policlinico, März, April 1906.)
G. prüfte in der Klinik Roms das obige Mittel experimentell
und klinisch und gelangt zu einem sehr günstigen Urteil.
Das Mittel belästigt den Magen nicht, wird erst im Darm verdaut,
erwies sich auch in viel höheren Dosen, als man sie therapeutisch
jemals verwendet, bei Tieren vollständig unschädlich. Man bemerkt
keine Zunahme der Phosphate in den Fäzes; dagegen im Urin.
Auch Verbindungen des Protylins mit Brom, Eisen und Arsen
prüfte G. und kann sie nach den von ihm gemachten klinischen Er¬
fahrungen durchaus empfehlen. Hager- Magdeburg.
Englische Literatur.
(Schluss.)
C. B. Keetley: Ueber Appendikostomie und ihre Anwendung
beim Typhus abdominalis. (Lancet, 14. April 1906.)
Verfasser gibt an, dass man in der Mehrzahl der Fälle den in die
Bauchwunde eingenähten Wurmfortsatz ohne Mühe so dehnen kann,
dass diese Fistel als künstlicher After zur Abfuhr allen Kotes dienen
kann. Wo dies nicht geht, mache man die Appendikotomie, deren
Technik aus einer Abbildung leicht zu ersehem ist. Ausser als Mittel
zur Ableitung des Kotes und zur Einführung von Medikamenten in
den Darm bei Kolitis und anderen Krankheiten will Verfasser die
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1585
Appendixfistel benutzen, um beim Typhus die Perforation von Ge¬
schwüren zu vermeiden. Er will bei Typhuskranken eine Appendix¬
fistel anlegen und durch sie den ganzen Kot ableiten, gleichzeitig
kann man von ihr aus den Darm spülen; noch bessere Erfolge hofft
er zu erzielen durch temporäre Anlegung einer Dünndarmfistel. Er
hofft durch Ruhestellung und Berieselung mit antiseptischen Lösungen
die 1 yphusgeschwiire zur Heilung zu bringen und so Perforationen und
Blutungen zu vermeiden. (Die Behandlung erinnert lebhaft an die
früher hier referierte L a n e sehe Behandlung der Konstipation mit
Ausschaltung oder Entfernung des ganzen Dickdarms und es ist nur
merkwürdig, dass ältere Herren zuweilen noch so jugendliche Vor¬
schläge machen. Refer.)
Samuel W est: Zur Behandlung der chronischen Nierenschrump-
fung. (Ibid.)
Alles kommt auf eine möglichst frühzeitige Diagnose an, da
sorgfältige Lebensweise mit Vermeidung aller Alkoholika sowie der
Nahrungsmittel, die reich an Extraktivstoffen sind, die Krankheit sich
lange hinziehen lässt. Verfasser empfiehlt im Anfang neben vor¬
sichtiger, aber nicht zu ängstlicher Diät mässigen Sport zu treiben.
Er gibt an, dass die chronische ^chrumpfniere sehr häufig zu einer
akuten Nephritis Anlass gibt und dass man deshalb bei den akuten
Nephritiden älterer Leute die Prognose sehr vorsichtig stellen muss,
weil nach Abheilung der akuten Nephritis die früher übersehene
Schrumpfniere zum Vorschein kommt. Dies Verhältnis ist viel
häufiger, als das umgekehrte, dass sich aus einer akuten Nephritis
eine Schrumpfniere entwickelt. In den späteren Stadien gibt der
Blutdruck ein gutes Kriterium für die Behandlung. Man soll sich be¬
mühen, den Blutdruck ziemlich hoch zu erhalten, deshalb ist bei
niedrigem Blutdruck Digitalis angezeigt. Bei sehr hohem Blutdruck
gibt er Nitroglyzerin und Jodkali. Sehr grossen Nutzen hat er in den
Spätstadien von Pilokarpin gesehen, es ist besonders bei Kopfschmer¬
zen, Unruhe und drohender Urämie angezeigt. Er gibt 0,01 Pilocarp.
nitr. 3 mal täglich per os und hat nur Nutzen, nie Schaden davon ge¬
sehen. Verf. glaubt, dass die Niere eine innere Sekretion hat und dass
man deshalb mit der Verabreichung von Nierensubstanz Erfolge er¬
zielen kann. Er empfiehlt besonders Schweinenieren zu diesem
Zwecke.
G. F. Black er: Die Behandlung des dritten Stadiums der Ge¬
burt. (Ibid.)
In meinem letzten Referat findet sich der Bericht über eine Arbeit
von Horrocks, der alles und jedes Eingreifen in den natürlichen
Verlauf der Geburt verwirft. B 1 a c k e r empfiehlt dagegen nach
30 Minuten die Plazenta mit dem Crede sehen Handgriff zu ex-
primieren, man muss aber mindestens 30 Minuten warten, da sonst
Gefahr für die Mutter besteht. Man Ijontrolliere die spontane Lösung
durch Beobachtung des Standes des Fundus uteri. Gelingt die Ex¬
pression nicht, so warte man noch lVz bis 2 Stunden und versuche
dann die Expression von neuem, gelingt sie auch dann nicht, so ent¬
ferne man die Plazenta manuell (Gummihandschuhe).
David Ferrier: Die Tabes dorsalis. (Brit. med. Journal,
31. März, 7. und 14. April 1906.)
Die ausgezeichnete Arbeit des bekannten englischen Neurologen
kann hier nur kurz erwähnt werden. Verf. steht auf dem Standpunkt,
dass es sich bei der Tabes um eine progressive Dystrophie, eine De-
myelinisation handelt und dass alle Zeichen von Entzündung fehlen.
Er glaubt nicht, dass es sich um eine diffuse, chronische Meningitis
handelt und er hält die Theorie für ganz unbewiesen, dass es sich
primär um eine von der Peripherie aufsteigende Neuritis handelt.
Bei Tabes und progressiver Paralyse findet man vom frühesten bis
zum letzten Stadium eine Lymphzytose der Zerebrospinalflüssigkeit,
und dies ist so charakteristisch, dass Verf. es oft als diagnostisches
Hilfsmittel verwendet hat; statt 2 oder 3 mononukleäre Leukozyten
im Gesichtsfelde zu finden, kann man deren hundert oder gar mehrere
Hundert zählen. Diese Lymphozytose wird durch energische anti¬
syphilitische Behandlung gar nicht beeinflusst, während bei wirklich
syphilitischen Erkrankungen des zentralen Nervensystems eine be-
. stehende Lymphzytose unter spezifischer Behandlung meist bald ver¬
schwindet. Verf. nimmt an, dass es sich bei der Entstehung der Tabes
und der Paralyse um eine Toxämie handelt, die eine Dystrophie des
gesamten sensorischen Protoneurons hervorruft; die peripheren wie
die terminalen Terminationen degenerieren. Tabes und Dementia
paralytica sind nur verschiedene Manifestationen derselben Krankheit,
die in jedem Falle auf vorhergegangener Syphilis beruht. Er spricht
von einer spinalen und zerebralen Tabes, ferner kommen Mischformen
vor, die er als zerebrospinale Tabes bezeichnet. Am häufigsten er¬
kranken Männer zwischen dem 30. und 40. Lebensjahre, etwa 7 bis
10 Jahre nach der Infektion. Verf. sah aber u. a. einen 70 jährigen-
Mann, der 50 Jahre nach der Infektion an Tabes erkrankte. Er glaubt
nicht an Benedikts Ausspruch „Tabicus nascitur non fit“, auch die
traumatische Tabes erkennt er nicht an, 'wohl aber hält er E d i n g e r s
sog. Ersatztheorie für wahrscheinlich. Als letzte Ursache sieht er
ein von den Syphiliserregern erzeugtes Toxin an. Den von Ford
Robertson beschriebenen diphtheroiden Bazillus verwirft er völlig.
So wichtig die gründliche Behandlung der frischen Lues für die Pro¬
phylaxe der Tabes ist, so schlechte Erfolge sieht man mit der anti¬
syphilitischen Behandlung der Tabes selbst. Energische Quecksilber¬
kuren schaden immer. Die Ataxie entsteht durch Einschränkung oder
Verlust aller zentripetalen Eindrücke, sowohl der bewussten wie der
unbewussten, und zwar hält Verf. die von den tiefer gelegenen Struk¬
turen (Muskeln, Sehnen, Gelenke) ausgehenden Eindrücke für wich¬
tiger als die von den oberflächlich gelegenen ausgehenden. Er
konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Sinn der passiven Be¬
wegungen besonders häufig (wie F r e n k e 1 will) gestört ist. Die
reflektorische Pupillenstarre ist stets auf Syphilis zurückzuführen;
eine dauernde isolierte reflektorische Iridoplegie kommt nur bei Tabes,
Paralyse und bei erworbener oder angeborener Lues vor. Er glaubt,
dass das Ziliarganglion und die Ziliarnerven so affiziert sind, dass
sie zwar nicht mehr den schwachen Licht-, wohl aber den viel stär¬
keren Akkomodationsreiz auf den Sphinkter der Pupille übertragen.
J. Kingston Fowler: Die Behandlung des Bandwurms. (Brit.
Med. Journal, 14. April 1906.)
Verf. hält den Patienten im Bett; 3 bis 4 Tage vor der eigent¬
lichen Kur erhält er nur Fleischbrühe, etwas Portwein und ein paar
Zwiebäcke, sowie reichliche Dosen von Cascara Sagrada. Am 4
oder 5 Tage bekommt er um 5 Uhr morgens einen Sennaaufguss,
von 9 Uhr ab erhält er jede Viertelstunde eine Kapsel mit 15 Tropfen
des Extr. filicis maris, bis 4 Kapseln geschluckt sind, um 11 Uhr
bekommt er noch einmal Infus. Sennae. Ist um 1 Uhr der Kopf noch
nicht abgegangen, so wiederholt man dieselbe Behandlung. Geht
auch dann der Kopf nicht ab, so wird eine dritte Kur eingeleitet. Bei
22 so behandelten Fällen wurde 17 mal der Kopf gefunden, die 5 an¬
deren wurden ebenfalls geheilt.
P. S. Abraham: Psoriasis und ihre Behandlung. Ibidem.
Verf. fand in 5,4 Proz. aller von ihm behandelten Hautkranken
Psoriasis. Frauen erkranken viel häufiger als Männer. Die Krankheit
beginnt in der Mehrzahl der Fälle schon im frühen Kindesalter. Ein
erblicher Einfluss liess sich aber nicht nachweisen. Die Behandlung
muss vorwiegend eine äusserliche sein. Arsenik hat ihm nie Nutzen
gebracht, ebensowenig Thyreoidin. Bei „rheumatischen“ Fällen gibt
es Salizylpräparate. Er lässt die Kranken täglich 10 Minuten lang
ein Teerbad (Creolin) nehmen und reibt sie dann dick mit einer
Salbe ein, die Creolin, Salizylsäure und weisses Präzipitat enthält.
Den Kopf lässt er mit einer Salbe einreiben, die Schmierseife und
Hydrarg. praec. alb. enthält. Bei hartnäckigen Fällen versucht er
Chrysarobin.
Hugh Thursfield: Die Behandlung der Enuresis. Brit. Med.
Journal 21. April 1906.
Wenn Kinder nach dem zweiten Geburtstage nicht volle Kontrolle
über die Blase haben, spricht man von Enuresis. Die meisten Fälle
kommen zwischen dem 3. und 10. Lebensjahre vor. Es kommt aller¬
dings vor, dass die Enuresis erst mit 16 Jahren und noch später
zuerst auftritt. Mädchen leiden daran viel häufiger als Knaben. Es
gibt neben der Enuresis nocturna auch eine diurna. Die Blase kann
so reizbar werden, dass sie nur noch wenige ccm Urins zurückhalten
kann, dabei kann man sie leicht auf das normale Mass mit Flüssigkeit
füllen. In manchen Fällen ist die Enuresis ein Symptom der Epilepsia
minor oder es handelt sich um eine Spina bifida occulta. Sehr häufig
sind adenoide Wucherungen des Nasenrachenraumes die Ursache der
Enuresis, die nach deren Entfernung verschwindet. Ob Würmer
Enuresis herbeiführen können, ist zweifelhaft, Balanitis oder Vulvitis
haben nichts damit zu tun, auch konnte Verf. nie die von Jacob i
beschriebenen Fissuren des Anus finden. Ein zu saurer Urin oder
eine im Gefolge von Typhus auftretende Bazillurie führte zuweilen
Enuresis herbei. Verf. empfiehlt, die Kinder aus ihrer gewohnten
Umgebung zu nehmen. 1% Stunde nach dem Schlafengehen müssen
sie aufgenommen werden, während dos Tages suche man die Blase
dadurch zu kräftigen, dass man das Kind anhält, die Blase nur
zu bestimmten, möglichst weit auseinander liegenden Stunden zu ent¬
leeren. Tee, Kaffee und Zucker in jeder Form sind streng zu ver¬
bieten, Flüssigkeit schränke man nicht zu sehr ein, da der zu kon¬
zentrierte Urin mehr reizt. Innerlich ist Atropin oder Tinct. Bella-
donnae weitaus das beste Mittel, doch muss es in grossen Dosen
und sehr lange gegeben werden, ausserdem gibt er Kalium citricum
und Urotropin. Von anderen Medikamenten sah er keinen Erfolg,
ebensowenig von der Elektrizität. Verf. hat etwa 70 bis 80 Proz.
Heilungen nach 4 monatlicher, 10 bis 16 Proz. nach 8 monatlicher
Behandlung; 1 bis 2 Proz. der Fälle bleibt ungebessert.
Percy G. Lewis: Die Ursache und Behandlung der Enuresis.
Ibidem.
Meist handelt es sich um Kinder mit schwachem Nervensystem;
die Hauptursache ist jedoch eine stets vorhandene Verdauungsstörung;
der Urin kann zu sauer oder zu alkalisch sein (Eiweiss oder Kohle¬
hydratfäulnis im Darm). Man muss demnach eine eiweissreiche
oder eine vegetabilische Diät vor^chreiben. Alle anderen Behand¬
lungsmethoden sind von geringem Werte.
Allan Mac Fadyen: Ein antätyphöses Serum, das von der
Ziege gewonnen wurde. Ibidem.
Intravenöse Einspritzungen bei einer Ziege mit den toxischen
Zellsäften des B. typhosus in kleinen und sorgfältig abgemessenen
Quantitäten führte zur Bildung einer reichlichen Menge von Antiendo¬
toxin; 1/so ccm des Serums neutralisierte 30 letale Dosen des Typlius-
endotoxius. Diese Eigenschaft haftete . dem normalen Ziegenserum
auch in grossen Quantitäten nicht an. Das Serum wurde nach 4 monat¬
licher Behandlung der Ziege gewonnen. Das Serum war wirksam,
wenn es zu gleicher Zeit wie das Toxin eingespritzt wurde oder bei
Beginn der toxischen Erscheinungen. Es besass bakteriolytische und
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
1586
agglutinierende Eigenschaften; es neutralisierte nicht das Cholera¬
endotoxin und war daher spezifisch. Es gelang dem Verf. ein Serum
herzustellen, das Choleratoxine neutralisierte. Er ist jetzt damit
beschäftigt, Pferde auf diese Weise zu behandeln.
Dr. Berry und Dr. Hack: Der Wurmfortsatz des Menschen
und seine Veränderungen im Alter. Journal Anatomy and Physiology.
Vol. 40 pag. 247.
Schöne Arbeit, aus der hervorgeht, dass der Wurmfortsatz des
Menschen bei der Geburt kein lymphoides Gewebe enthält, nach
14 lagen treten die ersten Lymphfollikel auf; 32 Wochen nach der
Geburt ist der Wurmfortsatz allem Anschein nach eine aktiv funk¬
tionierende Drüse. Bei Tieren findet sich dagegen kein Lymph-
gewebe im Wurm und Verf. folgert daraus, dass die Annahme, der
Wurmfortsatz sei ein Ueberbleibsel aus früherer Zeit und beim Meh-
schen im Rückgang begriffen, falsch sei. Mit zunehmendem Alter
verschwindet das lymphoide Gewebe wieder und mit etwa 60 Jahren
ist es ganz verschwunden. Eine Obliteration des Wurmfortsatzes
ist aber stets als ein pathologischer Vorgang aufzufassen.
J. M. H. Mac Leod: Epitheliom in einer Narbe nach Röntgen-
dermatitis. Brit. Journal of Dermatology. März 1906.
Eine 34jähr. Erau wurde wegen eines ausgedehnten Lupus mit
Röntgenstrahlen behandelt. Der Lupus wurde sehr günstig beein¬
flusst, es kam aber zu einer schweren Dermatitis, die mit grosser
Narbe heilte. In den nächsten zwei Jahren wurde mehrfach nach
F i n s e n behandelt, da kleine Rezidive des Lupus vorkamen. Nach
3 Jahren trat in der Narbe ein rasch wachsendes Epitheliom auf,
das chirurgisch entfernt werden musste. Verf. weist darauf hin, dass
Men des da Costa unter 72 mit Röntgenstrahlen behandelten
Fällen von Lupus 7 mal das Auftreten eines Epithelioms in der Narbe
beobachten konnte.
Alfred Austin Lendon: Die Behandlung der Blasenektopie.
Brit. Med. Journal. 28. April 1906.
H. Simpson Newland: Die Behandlung der Blasenektopie.
Ibidem.
Beschreibung einer in Australien mehrfach ausgeführten Methode.
Die Ureteren werden Umschnitten und mit einer Schleimhautrosette
von der Blase abgelöst und etwas höher nach oben extraperitoneal
frei gemacht. Dann stösst man durch das Rektum vom Anus her
eine Klemme, zieht damit das Ureterende an und verlagert es in
das Rektum. Die Klemme bleibt hängen und schützt vor dem Zurück¬
schi iipfen. Die Operation, die ganz extraperitoneal ausgeführt wird,
ist ungefährlich, von 8 Eällen, die so operiert wurden, starben aller¬
dings 2 später an Pyelitis und Nephritis; diese Komplikation kann aber
immer eintreten, wenn die Ureteren in den Darm eingepflanzt werden.
Beide Verfasser weisen darauf hin, wie häufig bei nicht operierter
Blaseneklopsie die freiliegende Schleimhaut von Krebs befallen wird.
William Ewart und Flora Murray: Die Behandlung der
Pleuraergüsse mit Adrenalin. Ibidem.
Die Verfasser empfehlen 15 bis 20 Tropfen Adrenalin (Parke,
Davies & Co.) in das Exsudat zu spritzen und sie glauben, dass es
dadurch häufig gelingt, die Punktion zu vermeiden, da das Exsudat
rasch und dauernd verschwindet. Jedenfalls schützt die präliminäre
Einspritzung vor der Wiederansammlung nach der Punktion.
Sir William Sinclair: Der paravaginale Schnitt. Journal of
Obstetries and Gynaecology. April 1906.
Verfasser beschreibt den paravaginalen Schnitt, wie er von
Schuch ardt angegeben wurde und empfiehlt seine häufigere An¬
wendung, besonders auch bei’der vaginalen Entfernung nicht bösarti¬
ger Erkrankungen des Uterus und der Adnexe. Die Arbeit enthält
eine Anzahl von Krankengeschichten und gute Abbildungen.
C. M. Given: Blutuntersuchungen in der Schwangerschaft.
Ibidem.
Verf. hat gefunden, dass in den letzten Monaten der Schwanger¬
schaft eine leichte Leukozytose besteht. Unmittelbar nach der Ent¬
bindung tritt eine starke Leukozytose auf, die schon während des
Kreissens beginnt. Es handelt sich um eine Zunahme der poly-
morphonukleären Elemente und diese Leukozytose verschwindet rasch
wieder. Sie ist gleich bei Primi- und Multiparen, bei zu früher und
bei normaler Geburt. Ist das Kind vor Beginn des Kreissens abge¬
storben oder besteht Anurie, so fehlt die Leukozytose. Chloroform
und andere Arzneimittel haben keinen Einfluss darauf. Zur Zeit der
Involution des Uterus (2 und 3 Woche nach der Geburt) tritt eine
starke Lymphozytose ein, je ausgeprägter diese ist, um so besser
ist die Prognose für die baldige Wiederherstellung der Patienten.
R; Townley Singer und Sir Victor Horsley: Ueber die
Orientierung von Punkten im Raum vermöge des Muskel- und Gelenk¬
sinnes bei normalen und blinden Menschen. Brain. Frühling 1906.
Es ist bekannt, dass wir nicht nur vermittelst der halbzirkel¬
förmigen Kanäle, sondern auch vermitteslt des Muskel-, Gelenk- und
1 astsinnes uns über die Lage von Punkten im Raum orientieren
können. Horsley hat nun eine Methode angegeben, wie man
wissenschaftlich die Irrtiimer dieser 3 Sinne messen kann. Die Ver¬
fasser haben nun gefunden, dass die Fähigkeit der Orientierung im
Raum progressiv abnimmt von der Körperoberfläche auswärts bis
zu den Grenzen, die von den in irgend einer Richtung ausgestreckten
Armen gezogen werden. Die Orientierungsfähigkeit nimmt zu von
Punkt zu Punkt, wenn man oberhalb des Kopfes beginnt, dann nach
vorne zum Rumpf herabgeht und allmählig nach dem Schwerpunkt
des Körpers zukommt. Dasselbe geschieht, wenn man seitlich in der
Ebene der Schulter beginnt und sich der mesialen, sagittalen Ebene
des Körpers nähert.
Philip Coombs Knapp: Ueber Symptome von Irrsinn bei
Hirntumoren. Ibidem.
Verf. glaubt, dass es keinen Hirntumor gibt, der nicht bei genauer
Untersuchung bei dem Träger Zeichen geistiger Störung erkennen
lässt. Er untersuchte 104 Fälle des Boston Hospitales und glaubt
bei 90 Prozent der Fälle solche Störungen gefunden zu haben. Meist
handelte es sich um Apathie, Gedächtnisschwäche mit allmählichem
Uebergang in Stupor und Koma. Im Beginne der Erkrankung lassen
sich die schlummernden Fähigkeiten durch starke Reize zuweilen
wieder wecken, doch arbeitet das Gehirn dann äusserst langsam.
In anderen Fällen kam es zu Delirien, Halluzinationen, zum Ausbruch
der Manie und zu anderen Störungen. In der Hälfte der Fälle be¬
gannen diese Symptome schon am Anfang der Erkrankung; das De¬
lirium war immer ein spätes Symptom. Bei der Hälfte der Fälle
sass der Tumor in der linken, bei der anderen Hälfte in der rechten
Seite des Gehirns. Je grösser der Tumor, um so bedeutender waren
gewöhnlich die Gehirnsymptome» Verf. konnte auf Grund seiner
Fälle keine Ursache finden, ein besonderes psychisches Zentrum im
Gehirn anzunehmen. Die Symptome geistiger Störung traten ganz
unbeeinflusst von dem Sitze der Geschwulst auf. Es wurde aller¬
dings bemerkt, dass bei Tumoren des Corpus callosum oder der
Vierhügel die Hirnsymptome äusserst frühzeitig auftraten; ihnen am
nächsten in der Häufigkeit geistiger Störungen waren die Tumoren
des Schläfen- und Stirnlappens. Der Hirnstiel kommt zu allerletzt
in dieser Reihe. Die Art des Tumors hatte keinen Einfluss. auf das
Entstehen dieser Symptome, wohl aber das mehr oder weniger rasche
Wachstum desselben. Verf. glaubt, dass die durch den Tumor hervor¬
gerufene Steigerung des intrakraniellen Druckes und die Bildung
von Toxinen für die Entstehung des Irrsinns verantwortlich zu
machen sind. J. P. zum Busch - London.
Laryngo-Rhinologie.
1) L. Ma d er- München: Ueber Röntgentherapie in den oberen
Luftwegen. (Mit 3 Abb.) (Archiv f. Larvngol. u. Rhinol., Bd. 18,
H. 1.)
Nach wenig erfolgreichen Versuchen mit den bis jetzt vorhan¬
denen Röntgenröhren Hess sich Mader von der Polyphos-
Gesellschaft in München eine' zweckentsprechende Rachenkehlkopf¬
röhre konstruieren, die es • ermöglicht, „alle Regionen der oberen
Luftwege der therapeutischen Wirkung der Röntgenstrahlen zugäng¬
lich zu machen“. Die Röhre, die in der Arbeit abgebildet ist, wird
in den Mund des Patienten eingeführt und ermöglicht unter Abdich¬
tung aller übrigen Teile eine genaue Lokalisation der Strahlen auf
die gewünschte Stelle. Die Konstruktion der Röhre, sowie die Tech¬
nik sind eingehend beschrieben und die Resultate von 4 bestrahlten
Fällen kritisch erörtert. Besonderes Interesse erheischt der eine Fall
— ein Karzinom des Rachens bei einem 45 jährigen Manne — das
durch diese Behandlungsmethode zum Verschwinden gebracht wurde.
Die Krankengeschichte ist in extenso beigegeben. Autor fasst die Re¬
sultate seiner Arbeit unter Teilung in einen klinischen und einen prak¬
tischen Teil — in eine Reihe von Thesen zusammen, bezüglich derer,
ebenso wie weiterer Details, auf das Original verwiesen werden
muss.
2) L e n n h o f f - Berlin : Zur Tamponade der Nase und des
Nasenrachenraumes. (Mit 1 Abb.) (Ibid.)
Autor empfiehlt gegen Blutungen aus Nase und Nasenrachenraum
— sowohl spontaner, wie postoperativer Art — seinen „Zugstreifen¬
tampon“. Es ist dies ein „von einem Faden durchlaufener Gaze¬
streifen“, dessen hinteres „geknotetes“ Ende zunächst durch die Nase
in den Nasenrachenraum eingefiihrt wird; hierauf „schiebt man weiter
so viel Gaze plus Faden nach, dass das geknotete Ende schliesslich in
den Rachen hineinfällt und Würgen hervorruft. Sodann lässt man den
Assistenten durch Zug am Faden das geknotete Ende soweit heben»
dass das Würgen aufhört und nunmehr den Faden — nicht den Gaze¬
streifen! — unbeweglich fixieren. An dem Faden entlang, wie an
einer Leitschiene, wird nun der Gazestreifen Schicht für Schicht
immer möglichst weit nach hinten gegen das ja feststehende Ende
des Streifens geschoben, wodurch sich dieser in einen Tampon um¬
wandelt.“ Unter Fixierung des vorderen Endes mit einer Pinzette
wird das hintere Ende am Faden fest angezogen; der Faden wird
10 cm weit ausserhalb der Nase abgeschnitten und „um ein längliches
Wattebäuschchen, das man in die Nase schiebt“, herumgewickelt.
Auf diese Weise lässt sich auch der Nasenrachenraum von vorne
durch die Nase tamponieren und die lästige Belloctamponade um¬
gehen. „Die Hartmannsche Verbandstoffabrik fertigt Tampons
von 4 und 2(4 cm Breite und 1(4 und 1 m Länge steril oder mit Jodo¬
form imprägniert.“
3) R. M. Menzel- Wien: Chronisch-ödematöse Verände¬
rungen der Kehlkopfsclileimhaut als Folge von Kompression durch
Struma. (Ibid.)
Menzel berichtet über eine Reihe eigener und fremder Be¬
obachtungen in extenso und kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:
„Durch die infolge des Strumadruckes in den Kehlkopfgefässen her¬
vorgerufene Stauung können sämtliche Partien der Kehlkopfschleim-
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1587
haut in ödematösen Zustand versetzt werden, wodurch sie unter ge¬
wissen Umstanden ein nicht unbeträchtliches mechanisches Atem¬
hindernis bilden.“ „Nach Strumektomie schwinden im allgemeinen
die Erscheinungen, jedoch bleiben, wenn die Kompression lange be¬
standen hat, auch nach der Strumektomie gewisse Veränderungen.“
.Diese Dauerveränderungen verraten sich im laryngoskopischen
Bilde als nicht ödematöse Verdickungen von gewissen Schleimhaut¬
anteilen und dürften histologisch begründet sein in Verdickung
bezw. Verhornung des Epithels und Vermehrung des Stromas. ‘
4) H e n r i c i - Aachen : Indikationen zur kurativen Tracheotomie
bei der Kehlkopftuberkulose. (Ibid.)
Verfasser berichtet über 4 einschlägige Fälle aus der Korne i -
sehen Klinik, bei denen die kurative Tracheotomie vorzügliche Re¬
sultate zeitigte, und regt an, die Tracheotomie nicht nur — wie es
bisher vielfach geschieht — bei gegebener Indicatio Vitalis bei
Kehlkopfphthise auszuführen, sondern auch kurativ unter entsprechen¬
der Fixierung der Indikation. Als solche verlangt Autor: 1. Jugend¬
liches Alter — „etwa bis zur vollendeten körperlichen Entwicklung,
also bis ungefähr zum 20. Jahre“, 2. Fehlende oder unbedeutende
Veränderungen auf den Lungen und 3. relative Gutartigkeit der Kehl¬
kopftuberkulose“, also „Tumorform der Tuberkulose, Neigung mehr
zu Infiltration und weniger zu Ulzeration“. Bezüglich der von
Hansberg unter ähnlichen Indikationen vorgeschlagenen zwei¬
zeitigen Laryngotomie empfiehlt Henrici zwischen Tracheotomie
und Laryngotomie einen längeren Zwischenraum — mehrere Wochen,
eventuell auch Monate — einzuschiebem um abzuwarten, ob nicht die
Tracheotomie allein zur Besserung bezw. Heilung genügt, und sich
dadurch dann etwa bei der Laryngotomie unvermeidliche Funktions¬
störungen vermeiden lassen. , ....
5) A. Schoenemann - Bern : Sauerstoff-Gasgluhhcht. (Mit
1 Abb.) (Ibid.) , , , . , ,
Durch Zuführung von Sauerstoff zu dem glühenden Auerstiumpt
gelingt es, dessen Leuchtkraft zu einer viel intensiveren zu gestalten
und dadurch die Lichtquelle für minutiöse Untersuchungen (Auto¬
skopie, Tracheo-, Broncho- und Oesophagoskopie) auch für den ein¬
fachen Stirnreflektor ausreichend zu gestalten. Der komprimierte
Sauerstoff wird aus einem Stahlzylinder durch ein Reduzierventil
vermittels eines gewöhnlichen Gummischlauches der nach unten
stehenden Oeffnung des Glühstrumpfes zugeführt. , ...
6) A. O n o d i - Ofen-Pest: Eine neue Spritze zum Gebrauche für
starres Paraffin. (Mit 1 Abb.) (Ibid.)
Die Spritze nebst Zubehör ist in der Arbeit abgebildet.
7) M. S ey ff e r t -Dessau: Ein neues Ringmesser-Tonsiuotom.
(Mit 1 Abb.) (Monatsschr. f. Ohrenheilk. etc. 1905, No. 12.)
Modifikation des M a t h i e u sehen Ringmessers.
8) J. T h an isch- München: Inhalierpfeife zur Verdampfung
ätherischer Oele. (Mit 1 Abb.) (Ibidem.) ..... . .. ■ , •
Die ganz aus Qlas gefertigte, handliche Inhalationspieite ist in
der Arbeit abgebildet, die Technik eingehend beschrieben. „Dei ganze
Apparat, der samt Spirituslampe in einer kleinen Schachtel durch
die Firma Katsch, München, geliefert wird, ist bequem in der lasche
mitzufiihren.“ „ , „ ....
9) Hermann v. S c h r ö 1 1 e r - Wien : Ueber Syphilis an der
Teilungsstelle der Luftröhre. (Mit 1 Abb.) (Ibidem 1906, No. 1.)
Bericht über einen einschlägigen Fall, bei dem es sich um ein
gummöses Infiltrat an der Bifurkation der Luftröhre handelte, das
durch direkte, obere Tracheoskopie festgestellt und dessen Ruck¬
bildung auf die gleiche Weise dauernd kontrolliert wurde.
10) Eugen F e 1 i x - Bukarest: Larynxtuberkulose und Schwan¬
gerschaft. (Annales des maladies de l’oreille, etc. 1906, No . 2.)
\nschliessend an zwei selbstbeobachtete einschlägige 1 alle gibt
uns Autor in einer instruktiven Tabelle eine Zusammenstellung von
82 aus der Literatur gesammelten Berichten über die Schwangerschaft
komplizierende Larynxtuberkulosen, nebst einer Uebersicht über
Beginn und Verlauf der Tuberkulose, Heredität, Zahl der Schwanger¬
schaft, Beendigung der Gravidität, sowie Schicksal von Muttei um.
Kind nebst anschliessenden epikritischen und therapeutischen 1 e-
trachtungen.
1 1 ) Maurice Constantin - Toulouse : Die Behandlung der
postoperativen Blutungen nach Tonsillotomie. (Mit 6 Abb.) (Ibidem.)
Constantin bespricht zunächst die verschiedenen zur 1 on-
sillotomie angegebenen Instrumente, bei denen sämtlich mehr mindei
starke, postoperative Blutungen eintreten können und berichtet übet
eine Reihe bis jetzt nicht veröffentlichter einschlägiger Fälle mehrerer
Autoren. Sodann unterzieht er die verschiedenen Methoden der Ver¬
wertung der Elektrizität einer kritischen Erörterung; auch die noc i
am meisten verwandte Gliihschlinge schützt nicht vor Blutungen, da
bisweilen bei Abstossung des Brandschoifes noch Spätblutungen
auftreten können, wofür gleichfalls einige Fälle zur Illustration an-
geführt werden. In dem zweiten Teile der Arbeit bespricht Verf. die
verschiedenen Instrumente zur Blutstillung, so den doppelseitigen
Karotis-Kompressor von Doyen, den Mikulicz-Stoerck sehen
Kompressor, die Kompressionspinzette Doyens u. a., verbreitet
sich über die übrigen Methoden, insbesondere über die Tamponade des
Pharynx nach vorangeschickter Tracheotomie. Zur Veimeidung dei
letzteren liess sich Escat eine besondere, zum Munde herausiagende
Larynxtube konstruieren, die den Larynx vollständig abdichtet und
nach Einführung eines Schlauches in den Oesophagus eine feste Tam¬
ponade des Pharynx ermöglicht. Bezüglich Technik und Details muss
auf das Original verwiesen werden.
12) M. Hajek-Wien: Indikationen zu operativen Eingriffen bei
Stirnhöhleneiterungen. (Archives internationales de laryngologit etc.,
1906, No. 1.) . •
Autor weist darauf hin, dass eine grosse Zahl von Rhinologcn aci
chronischen Stirnhöhleneiterungen direkt zur Eröffnung der Stirnhöhle
schreiten, ohne den vorherigen Versuch einer entsprechenden intra-
nasalen Behandlung. Letztere besteht darin, dass man den Kopf der
mittleren Muschel amputiert und — wenn nötig das Gebiet der
vorderen Siebbeinzellen ausräumt. Der hierdurch meist geschanene
freie Abfluss für die Stirnhöhle beseitigt in der Regel die subjektiven
Beschwerden und ermöglicht in Kombination mit Ausspülungen des
Sinus des Oefteren eine Ausheilung der Stirnhöhlenaffektion, wofür
Hajek statistische Nachweise aus seiner Praxis erbringt. Die In¬
dikation zur Eröffnung der Stirnhöhle besteht unter allen Umstanden
bei vorhandenen oder drohenden intrakraniellen Komplikationen, sowie
bei Fortbestehen der Kopfschmerzen und der Eiterung trotz ent¬
sprechender endonasaler Behandlung; bedingungsweise, wenn die
endonasale Behandlung wohl die subjektiven Beschwerden zum v ei-
schwinden gebracht, die Eiterung aber unverändert persistiert. Zui
Beurteilung über den Erfolg der endonasalen Behandlung genügen
aber nicht, wie es einzelne Autoren verlangen, acht oder viei zehn
Tage, sondern eine Reihe von Wochen, bisweilen sogar von Monaten.
Bei allen Fällen aber, soweit nicht, eine strikte Indikation zur so¬
fortigen Eröffnung der Stirnhöhle besteht, sollte man zuerst ver¬
suchen, ob die endonasale Behandlung nicht zum Ziele fuhrt.
13) F. M a s s e i - Neapel: Beobachtungen über einige Punkte
in der lokalen Behandlung der Larynxtuberkulose. (Ibidem.)
M a s s e i bespricht die verschiedenen Behandlungsmethoden
(Galvanokaustik, Curettement, Skarifikationen, Abtragungen er¬
krankter Teile, präventive Tracheotomie) kritisch und verbreitet sich
dann eingehend über die intralaryngealen und intratrachealen Injek¬
tionen, mit denen er sehr gute Erfolge sowohl im Gebiete des er¬
krankten Larynx, wie auch der erkrankten Lungen erzielte, und em¬
pfiehlt eine ausgedehntere Anwendung dieser Behandlungsalt unter
Mitteilung der verschiedenen von ihm verwandten medikamentösen
Kombinationen.
14) Mann -Dresden: Die Behandlung der Kehlkopituberkulose
mittelst Galvanokaustik. (Mit 10 Abb.) (Ibidem No. 2.)
In einem durch Kasuistik und Abbildungen des erkrankten Larynx
illustrierten Vortrag erörtert Mann die Vorzüge der Galvanokaustik
gegenüber den schneidenden Instrumenten in der Therapie der La¬
rynxtuberkulose. Die sonst gegenüber den blutigen Operationen un¬
angenehm empfundene lange Reaktion und Heilungsdauer muss ge¬
rade bei der Tuberkulose als Vorzug betrachtet werden, da die dui cli
die konsekutive Entzündung hervorgerufene, langer dauernde Hy¬
perämie mit als Heilfaktor in Betracht kommt.
15) Na vratil- Ofen-Pest: Ueber den Wert submuköser Pa¬
raffininjektionen bei Ozaena. (Ibidem.) . , , ^ ff.
Bei 5 Fällen von Ozaena erzielte Navratil durch Parafnn-
injektionen unter die Schleimhaut der Muscheln, des Septums und des
Nasenbodens bedeutende Besserungen; er verwandte die von
Brockaert angegebene und von Lermoyez modifiziei te _ pi hze
zur Injektion kalten Paraffins. H e£ h t - München.
Inauguraldissertationen.
Universität Freiburg. Juli 1906.
40. Ko pp Friedrich: Ueber den Raumzuwachs nach Symphyseotomie
und Hebotomie. . ,. , , ,
4L Cohn Max: Die Behandlung des septisch-paralytischen und des
' einfach-paralytischen Ileus durch Enterostomie.
42. Widmann Heinrich: Stieldrehung von Ovarialzystomen wah¬
rend der Schwangerschaft und im Wochenbett.
43. E 1 1 e n r i e d e r, Albert Ritter v. : Ueber Malakoplakie der
Harnblase. . ... , „
44. V o g e 1 Ferdinand: Experimentelle Untersuchungen übet das
Verhalten von Xerosebazillen im Glaskörper von Kaninchen (bei
gegen Diphtherie immunisierten und nicht immunisierten Iieten).
45 Stahl Hermann: Herz und Schwangerschaft.
46. Liwschitz Selmann: Zwei Fälle von multipler Sklerose.
Universität Greifswald. Mai 1906 (Nachtrag).
15 Hoff mann Emil: Ueber die Ausscheidungsgrösse von orga¬
nischen Säuren im Harn unter verschiedenen Bedingungen, ins¬
besondere beim gesunden Menschen.
Juni 1906.
16. Diihs Rudolf: Ueber ein Glioma retinae mit massenhaften intra-
bulbären Metastasen.
17. Schul tze Otto: Ueber Urogenitalfisteln und Mastdarmgemtal-
fisteln.
Universität München. Juli 1906.
50. Bcwerunge Joseph: Ein Fall von Cholelithiasis mit Chole¬
zystitis, Cholangitis und sekundärer Thrombose der Pfortaocr.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
» T -
No. 32
1588
51. Max Joseph: Ueber gutartige Tumoren des Magendarmkanals
(Mit einer Abbildung.)
52. Holste Karl: Ueber den Residualharn im Wochenbett.
ro. Beule k e Otto: Empyem und Pneumothorax. Statistische Studie
iibci die in den Jahren 1890 — 1904 inkl. auf der I. medizinischen
Abteilung des Krankenhauses 1. d. Isar in München beobachteten
Fälle.
54. Oeissler Walther: Ueber tubare Sterilisation, deren Erfolge
und Misserfolge.
55. Schneider Julius: Ueber Syringomyelie nebst Beschreibung
eines neuen Falles.
56. Hasse Kurt: Kurzer Ueberblick über die Geschichte und Aetio-
logie des Keuchhustens mit einigen Beiträgen.
57. Heuss Ludwig: Ein Fall von Nierensarkom im kindlichen Alter.
58. Lichtendorf Alexander J.: Ueber Embolie der Mesenterial¬
arterien.
59. Dulk Felix: Zur vitalen Blutfärbung mit Methylenblau.
60. Baumgartner Josef: Ueber Osteosarkom der Extremitäten
nebst kasuistischen Beiträgen.
61- Stammler Fritz: Ein Fall von hämorrhagischer Perikarditis.
62. Kau 1 Rudolf: Ueber einen Fall von sekundärem Ovarialkar-
zinom.
63. Wagner Paul: Zur Therapie der puerperalen Sepsis mit Anti¬
streptokokkenserum (Aronso n).
M. Scripture Edward Wheeler: Untersuchungen über die Vokale.
65. Neumann Eugen: Ein Fall von subchordalem Gumma.
66. Gene wein Fritz: Ueber Hamartome (geschwulstartige Fehl-
bildungeji) der Niere und Leber. Ein Beitrag zur Geschwulst¬
lehre. Mit 2 Tafeln.
Universität Rostock. Juni 1906.
Nichts erschienen.
Juli 1906.
11. Martini E. : Beobachtungen an Arcella vulgaris.
12. Porten, Paul Maximilian von der: Beitrag zur Differential¬
diagnose der multiplen Sklerose.
13. Kasten Johannes: Zur Lehre der Hämoptoe im Säuglingsalter.
14. Brüning Hermann: Beiträge zur Lehre der natürlichen und
künstlichen Säuglingsernährung: Zeitschrift für Tiermedizin,
Bd. 10. (Habilitationsschrift.)
Universität Wiirzburg, Juli 1906.
32. Dawidsohn Joseph Hersch: Ueber eine seltene Missbildung.
33. Franz Gustav: Die Gastroenterostomie und ihr Einfluss auf die
motorischen und sekretorischen Funktionen des Magens bei gut¬
artiger Pylorusstenose.
34. Häher le Albert: Beitrag zur Lehre vom Pseudomyxoma peri-
tonei.
35. Heimannsberg Alban: Studien über die Methodik der Niko¬
tinbestimmung in Zigarren.
36. Löb Hermann: Die extragenitale Syphilisinfektion, speziell: der
Primäraffekt der Nase.
37. Pixis Walter: Ueber spontane Inversio uteri.
Vereins- und Kongressberichte.
Gesellschaft für Natur- und Heilkunde zu Dresden.
(Offizielles Protokoll.)
XXII. Sitzung vom 31. März 1906.
Vorsitzender: Herr Oalewsky.
Tagesordnung:
Herr Tottmann (a. G.): Demonstration eines Falles von Akro¬
megalie.
Ls handelt sich um eine vor einigen Jahren schon einmal ge-
zeigte und jetzt nur im Zusammenhang mit 2 anderen Akromegalie-
fa!!e.n vorzustellende 36 jährige Frau, die vor 8 Jahren mit all-
uKimiuiem Versiegen der Menses, Kopf- und Gliederschmerzen und
Mattigkeit erkrankte und schon damals ein Grösserwerden von Hän¬
den und Füssen bemerkte. Wegen zunehmender Kopfschmerzen hin¬
ter dem rechten Auge und Kurzatmigkeit kam sie im Februar 1906
zum 3. Male in die Diakonissenanstalt. Die Vergrösserung be-
trmt die Nase, die Jochbogen, den Unterkiefer, an dem die Zähne,
diese selbst intakt, auseinandergewichen sind, die Ohren, die Hände
und busse, das akromiale Ende der Schlüsselbeine, die Akromial-
tortsatze der im übrigen zierlichen Schulterblätter, das Brustbein
und die Kniescheiben. Die Vergrösserung betrifft Haut und Knochen.
'c vergrößerten J ede sind dabei in sich proportioniert, jedes ihrer
Elemente ist vergrössert, so dass das Ganze wie die Einzelheiten
aussehen wie normale 1 eile mit der Lupe betrachtet. Nägel und
Haare sind unbeteiligt. Es besteht im Brustteil eine starke Kyphose,
die t rau ist in 5 Jahren um 1,5 cm kleiner geworden. Die inneren
Organe sind nicht vergrössert, die Thyreoidea nicht abtastbar,
- musreste nicht nachweisbar, der Uterus präsenil. Interessant ist
t .': Augenbefund. Es besteht temporale Hemianopsie, rechts mit
konzentrischer Einengung des Gesichtsfeldrestes. Nach Korrektion
besteht links Vio Sehschärfe, rechts werden Finger auf 1 m gezählt
Rechts findet sich eine Myopie von 12,0 gegen 6,0 vor 5 Jahren, links
von 16,0 gegen 9,0 früher. Beiderseits ist der Bulbus prominent. Viel¬
leicht beruht die Zunahme der Myopie auf einer primären Vergrösse¬
rung der Bulbi? Geschmack und Geruch sind rechts ganz, links
fast ganz aufgehoben. Im Nasenrachenraum ist nichts Sicheres nach¬
weisbar. Stuhl und Harn werden in normalen Mengen entleert; im
Stuhl fanden sich mikroskopisch keine abnormen Bestandteile. Der
Harn enthielt dauernd Spuren von Eiweiss, etwas Indikan und gab
die S e 1 i w a n o f f sehe Reaktion. Beim Polarisieren ui)j Vergären
fand sich jedoch keine Lävulose, noch andere Zuckerarten. Das
Körpergewicht ist von 160 Pfund (1900) gestiegen auf 179, ohne dass
die Frau glaubt dicker geworden zu sein, was für eine Gewichts¬
zunahme infolge des Grössenwachstums der endständigen Teile
spiechen würde. Andererseits gelang es, durch Beschränkung der
Flüssigkeitszufuhr das Gewicht in 8 Tagen um 2 Pfund zu vermindern,
was wohl nicht möglich wäre, wenn die Zunahme allein auf dem
krankhaften Prozesse beruhte. Röntgenaufnahme zeigt, etwa dem
Türkensattel entsprechend, einen leichten Schatten, doch erscheint
die Annahme eines Hypophysentumors nach dem klinischen sicherer
als nach dem Röntgenbilde. Therapeutisch hat die, Frau früher Hypo¬
physentabletten mit scheinbarem leichten Erfolg bekommen. Jetzt
hat sie in 5Vs Wochen im ganzen 68 g frische Hypophyse vom Schaf,
Rind und Kalb erhalten und nimmt sie noch weiter, und es ist eine
sichere Besserung zu bemerken. Die Frau fühlt sich viel freier, hat
weniger Kopfschmerzen, kann wieder mit geschlossenem Munde
atmen; die Haut der vergrösserten Teile, die anfangs mässig ge¬
spannt war, ist jetzt ausgesprochen runzlig. Der Fall wird weiter
beobachtet und soll auch ausführlich veröffentlicht werden.
Diskussion: Herr Kettner (a. G.) stellt gleichfalls einen
Lall von Akromegalie vor, der mit angeborenem Schwachsinn kom¬
biniert ist. Die Mutter des Patienten hatte 5 Aborte durchgemacht.
.se^s* hat *n der Schule schlecht gerechnet und musste wegen
Diebereien entlassen werden. Es besteht bei ihm ausser einer be¬
trächtlichen Verdickung der Dornfortsätze an der Wirbelsäule eine
Spina bifida occulta mit Behaarung der Kreuzbeingegend, Drüsen¬
schwellung, sehr starke Schweissabsonderung der Achselhöhlen und
hochgradige Myopie des linken Auges, das um die Papille, nach der
Makula zu, einen grossen blassen Fleck zeigt. Ob dieser Fleck die
Folge der Myopie oder infolge des Drucks der vergrösserten Hypo¬
physe ist, lässt K. unentschieden. Ausser der üblichen Vergrösserung
dei Nase, der Lippen, des Unterkiefers und der Extremitätenenden
zeigt sich die rechte J horaxwand gegen links stark vergrössert, so
dass vorn lcchts eine starke buckelige Vorwölbung der Brustwand
entstanden ist, ohne dass eine Skoliose der Wirbelsäule sich nach-
xv eisen Hesse. Auch das Mauubrium sterni ist stark vergrössert
Unterarme und Hände sind am meisten betroffen.
Herr G a 1 e w s k y demonstriert zwei Photogramme von Akro¬
megalie.
Herr Haupt (a. G.) berichtet über einen Fall von Akromegalie,
der wegen schwerer Herzinsuffizienz zurzeit im Friedrichstädter
Krankenhaus liegt, dessen Blutbefund an den bei perniziöser Anämie *
erinneit und der bei einer Atrophie der Papillen eine bitemporale
Gesichtsfeldeinschränkung, links stärker wie rechts, aufweist.
Herr v.Mangoldt; Aphorismen zur Perityphlitis. (Der
Vortrag erscheint in extenso in dieser Wochenschrift.)
Diskussion: Herr Georg Hesse stimmt den Ausführungen
des Vortragenden zu. Die ideale Forderung ist, die Krankheit an¬
zugreifen, so lange der Prozess noch in der Appendix sitzt. Die
Opeiation ä froid ist gewöhnlich leicht, sie kann aber bisweilen in-
folge von Verwachsungen ausserordentlich schwierig sein. Den
Wurmfortsatz fasst und exstjrpiert er, wie es gerade am besten geht.
Bei Abszessen beschränkt er sich auf das Notwendigste, macht kleine
Inzisionen und wendet die Kapillardrainage an, womöglich ohne Er¬
öffnen der freien Bauchhöhle.
Heir Naether erwähnt, dass die Militärchirurgen im allge¬
meinen die Fälle in frühem, ja in frühestem Stadium in die Behand¬
lung bekommen. Er hat 2 derartige ganz frühe Fälle behandelt, von
denen der eine bereits 6 Stunden nach Beginn des Anfalles operiert
wurde. Der Fortsatz war prall gefüllt, wie erigiert, sein Inhalt
kotigei ^chleim. Der 2. Fall, der klinisch ganz dem ersten glich,
verweigerte, da während der Vorbereitungen zur Operation der An-
fal vorüberging, den Eingriff. Er genas. N. schliesst aus diesen
Lallen, dass die erste Ursache der Appendizitis ein Katarrh des
Jrgans ist, wobei es infolge von Verschluss der Mündung durch die
geschwollene Schleimhaut zum peristaltischen Krampf und Obstruk-
tionsileus der Appendix mit all seinen Folgen kommen kann. Bei
s.’cher ersten. Anfällen hält er in den ersten 12 Stunden Massage und
Abfühl mittel, aber nur dort, wo bei Verschlimmerung sofort
operiert werden kann, für erlaubt. Er hat mehrfach Günstiges davon
gesehen und den Anfall coupieren können. Ferner bringt N. einen
Beitrag für die grosse Resistenz und das Heilvermögen des Peri¬
toneums. Ein wegen appendikaler, diffuser Peritonitis Operierter
hatte, als 4 Monate später der Leib wieder eröffnet werden musste,
em absolut normales Bauchfell, ohne jede Verwachsung, Verdickung
u. dergl. Zum Schluss berichtet N. über einen Fall, bei dem 24 Stun-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1589
7. August 1906.
den nach dem Anfall der Appendix entfernt und trotz trüben serösen
Exsudats die Bauchhöhle geschlossen wurde. Es trat Peritonitis ein,
die trotz Wiedereröffnung der Wunde, Medianlaparotomie und aus¬
giebiger Drainage zum Tode führte. N. nimmt an, dass die Wider¬
standkraft des Organismus in diesem Fall infolge gleichzeitig be¬
stehender schweren Appendixkrankheit und Dickdarmkatarrh ge¬
schwächt war und dass infolgedessen das Peritoneum der In¬
fektion nicht Herr werden konnte.
Herr Schubert hat das Bruit de pot feie bei Perkussion
des Abdomens an einer grösseren Anzahl von Kranken seiner Ab¬
teilung nachuntersucht und ist zu folgendem Resultat gekommen.
Bei gesundem Abdomen hat er es niemals gefunden; bei 3 Kranken
mit chronischer Diarrhoe und massigem Meteorismus fand er es
zeitweise nur wenig ausgeprägt; bei einem Kranken mit multiplen
Tumoren, wahrscheinlich Lymphosarkomen, der bereits vom Herrn
Vortragenden erwähnt worden ist, fand er es sehr deutlich und kon¬
stant an verschiedenen Stellen des Abdomens. Die Entstehung dieser
Perkussionserscheinung ist in diesen Fällen wohl in gleicher Weise
zu erklären, wie es der Herr Vortragende für seine Fälle getan hat.
Kranke mit retrocökalen Abszessen oder Ileus auf die Erscheinung
des Bruit de pot feie hin nachzuuntersuchen hat Herr Schubert
noch keine Gelegenheit gehabt.
Herr Battmann stellt fest, dass sich die Ansichten der prak¬
tischen Aerzte und der Chirurgen bezüglich der operativen Indi¬
kationsstellung der Perityphlitis einander sehr genähert haben und
dass die grossen Differenzen, die noch vor einem Jahr auch in den
Diskussionen dieser Gesellschaft zu Tage traten, verschwunden sind.
Der praktische Arzt werde zwar öfters beschuldigt, die Indikation
zur Operation nicht richtig zu stellen. Wenn aber etwas schief gehe,
so liege das nicht immer am praktischen Arzt. Ob ein Patient
operiert werde oder nicht, darüber entscheide neben dem behan¬
delnden Arzte der Wille des Patienten und der Angehörigen.
Herr Martini stellt Fragen bezüglich der Fremdkörper als
Äetiologie der Perityphlitis und bezüglich der Typhlitis stercoralis.
Herr v. Mangoldt betont, es habe ihm völlig fern gelegen,
den praktischen Aerzten, wie es nach den Worten des Herrn Batt-
mann scheinen könnte, auch nur den geringsten Vorwurf machen zu
wollen. Nach der Arbeit Jordans und anderer dürfte an dem Vor¬
kommen echter Typhlitis stercoralis nicht gezweifelt werden. Fremd¬
körper und Kotsteine spielen bei der Entstehung der Perityphlitis, wie
die Beobachtungen der Chirurgen und pathologischen Anatomen er¬
geben, eine nicht unwesentliche Rolle.
Herr Schill berichtet, dass wenn man in der Armeestatistik
die Fälle von Peritonitis und Perityphlitis früherer Jahre zusammen¬
fasst und mit den jetzigen vergleicht, die Peritonitis zurückgetreten
ist, beide Erkrankungen aber nicht zugenommen haben.
Herr v. Mangoldt demonstriert exstirpierte Wurmfortsätze,
die teils durch ihre Länge, teils durch sonstige Besonderheiten auf¬
fallen.
Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M.
(Offizielles Protokoll.)
Ordentliche Sitzung vom 19. März 1906.
Vorsitzender; Herr Emanuel Cohn.
Schriftführer : Herr Rosengart.
Herr Wislicenus: Demonstrationen.
Herr G. Berg: Ueber wesentliche Gesichtspunkte bei der
Diagnose und Therapie der Blasensteine.
Während sonst für dieDiagnose dieklinischenSymptomemit
Recht einen hervorragenden Platz beanspruchen können, so ist
dies bei den Blasensteinen nicht in demselben Masse der Fall.
Das würde den Blick nur verwirren und vom Wesentlichen
ablenken. Eine lokale Untersuchung ist daher unerlässlich,
um sich Klarheit und Sicherheit zu verschaffen. Für diese
Untersuchung ist der Reihe nach notwendig das Bougie ä boule,
die Steinsonde und der Lithotriptor. Die lokale Untersuchung
hat unter peinlichster Wahrung der Antisepsis nach jeweilig
individuell verschiedener Vorbereitung der Blase zu geschehen.
Die lokale Untersuchung allein ermöglicht es, den Stein
zu entdecken, wenn er noch klein ist und die Blase und
die oberen Harnwege durch ihn noch nicht in Mitleidenschaft
gezogen sind. Daher ist ihn zu erkennen eine der dankbarsten
Aufgaben der ärztlichen Kunst. Nichts schädigt so sehr das
Vertrauen des Patienten zu seinem Arzte, als wenn er einen
Blasenstein, der später von einem anderen Arzt entdeckt wird,
übersehen hat.
Mit dem Bougie ä boule kann man sich über die Beschaffen¬
heit der Harnröhre, etwa vorhandene Strikturen, über die Be¬
schaffenheit der Blase, ihre Ausdehnung, Tiefe etc. informieren,
nimmt auch wohl den Stein durch ein eigenartiges Geräusch,
Rrepitieren wie bei Pleuritis sicca wahr.
Nähere Aufschlüsse erhält man durch die metallene Stein¬
sonde, dem klassischen Instrumente der Untersuchung auf
Blasensteine. Hier kommt es schon darauf an, mit einer ge¬
wissen Methode vorzugehen, will man auch in schwierigen
Fällen Erfolge erzielen und auch verborgene Konkremente
zur Perzeption bringen. Namentlich ist die Aufsuchung der¬
selben an ihren versteckten Lieblingssitzen an der hinteren
und vorderen Blasenwänd, unterhalb der Prostata, speziell auf
deren rechten Seite von Wichtigkeit. Zn hüten hat man sich
bei allen Manipulationen in der Blase, derselben Gewalt an¬
zutun. Denn sie ist immer Herr dessen, was sie zulassen und
was sie verweigern will. Sie reagiert durch Kontraktionen,
welche den Stein einhüllen und dem tastenden Instrument un¬
zugänglich machen. Nicht einmal durch die Narkose sind diese
Kontraktionen völlig zu beeinflussen. Daher müssen die
Blasenspülungen vorsichtig und vor allem mit Spritze und
Katheter geschehen, nicht mit dem Irrigator, wo Druck
und Quantität der Flüssigkeit nicht in jedem Augenblicke zu
bemessen sind. Die Steinsonde gibt jedoch keinen sicheren
Aufschluss über die Grösse des Steines, kann auch bei In¬
krustationen, Balkenblase zu Täuschungen über das Vor¬
handensein eines Steines führen. Daher muss man zum Litho¬
triptor greifen, der von keinem, der eine exakte Steindiagnose
machen will, entbehrt werden kann. Nur zwischen den
Branchen des Lithotryptors kann die Beschaffenheit des Steines
und seine Dimension geprüft werden. Hier besonders aber ist
eine bestimmte Methode notwendig, um nicht planlos herum¬
zuirren. Man unterscheidet zwei Arten der Steinsuchung, eine
direkte; das Instrument geht zum Stein und eine in¬
direkte; der Stein kommt zum Instrument.
Die direkte, die gebräuchlichste, zerfällt in 3 Tempi ;
a) Manöver zwischen vorderer und hinterer Blasen¬
wand ;
b) an der hinteren Wand, da wo sie an die untere grenzt;
c) an der Vorderwand, namentlich unter dem Prostata¬
vorsprung, speziell auf der rechten Seite, dem Prädilektions-
sitz kleinerer Konkremente.
Hierbei sind namentlich zwei Kunstgriffe zu beachten.
Bei a) ist der weibliche Arm der fixierte, welcher an die
hintere Wand angedrängt wird, um den durch die Kontraktion
derselben herangerufenen Sporn nach vorn auszugleichen. Bei
c) wird der männliche Arm an die Vorderwand angedrängt,
der weibliche ist der bewegliche und wird nach hinten ge-
stossen. Bei der indirekten Fassung wird der Schenkel
des Lithotriptors in der Mitte des Blasenbodens etwas ein¬
gedrückt, so dass ein Trichter entsteht, in welchen die Kon¬
kremente hineinrollen, nachdem man dem Gesäss des Patienten
leichte, kurze Stösse mit der flachen Hand erteilt hat.
All diese Manöver werden an der Hand von Abbildungen
demonstiert; dieselben finden sich in dem Werke „Die Technik
der Lithotripsie“, welches Redner nach Guyons Vorträgen
in dessem Aufträge bearbeitet und herausgegeben hat.
Ein hervorragendes diagnostisches Mittel, das allerdings
nur dem Geübtesten gegenwärtig sein wird, ist das Zystoskop.
Durch dasselbe fällt auch der von den Chirurgen so oft ge¬
machte Vorwurf, dass die Lithotripsie ein Arbeiten im Dunklen
ist, fort. Vor der Operation dient es zur Diagnose, nach
derselben zur Revision. Es folgt der Bericht einiger markanter
Fälle aus des Verfassers eigener Praxis. Die Radio¬
graphie, so viel sie auch für die Diagnose der Nierensteine
leistet, hat sich in einem Falle von inkarzeriertem Blasenstein
Redner nicht bewährt.
Redner wendet sich schliesslich zur Therapie. Je früher
der Stein entdeckt wird, um so mehr wird die Lithotomie zu
Gunsten der Lithotripsie zurücktreten, ja dieselbe auf ganz
seltene Fälle, wenn der Stein zu gross, die Blase zu sehr miss¬
gestaltet, nur auf die inkarzerierten Steine beschränkt bleiben.
Je mehr man die Physiologie und Pathologie der Blase be¬
herrscht, auf ihre Reaktionen achtet, methodisch vorgeht, um
so mehr wird die Lithotripsie werden, was sie sein soll, die
Operation der Wahl bei den Blasensteinen.
Diskussion: Herr Hirschberg macht auf das Mikro¬
phon aufmerksam, als ein sehr zuverlässiges Instrument, .selbst
kleinste Blasensteine zu diagnostizieren.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mo. 32.
1500
Herr Treupel: Orthoperkussion, Orthodiagraphie und
relative Herzdämpfung.
Seitdem besonders durch die Untersuchungen von
Moritz die Orthodiagraphie zu einer exakten Methode zur
ürenzbestimmung des Herzens ausgebaut worden ist, ist die
Methode bereits einige Male benutzt worden, um durch sie die
mit anderen Methoden gewonnenen Grenzbestimmungen zu
kontrollieren. Moritz hat zunächst selbst das getan und ge¬
funden, dass bei stärkerer Perkussion die Grenze der
relativen Dämpfung links in 70 Proz. der Fälle, rechts in
68 Proz. und beide Grenzen an demselben Fall in 50 Proz. der
Fälle bis auf Ja cm genau angegeben waren.
De la Camp hat auf dem Kongress für innere Medizin
in Leipzig 1904 die verschiedenen Methoden zur Grenzbestim¬
mung des Herzens ebenfalls an der Hand des Orthodiagramins
nachgeprüft und nächst dem Orthodiagramm als die beste Me¬
thode die Bestimmung der „absoluten“ Herzdämpfung
mittels leisester Perkussion bezeichnet.
Vortr. glaubt, dass das, was De 1 a Camp bestimmt hat,
nicht die absolute Herzdämpfung im Sinne W e i 1 s gewesen
ist, sondern sich schon sehr dem genähert hat, was Gold-
scheider zu Anfang des Jahres 1905 durch seine Methode
der leisesten Perkussion bezüglich der Grenzbestimmung des
Herzens erreicht hat.
Curschmann und S c h 1 a y e r haben in jüngster Zeit
die Goldscheide rsche Methode (leiseste Perkussion in
den Interkostalräumen mit P 1 e s c h scher Fingerhaltung in
sagittaler Richtung) nachgeprüft, ihre im- Liegen der zu Unter¬
suchenden gewonnenen Resultate mit der Herzsilhouette des
Orthodiagrammes verglichen und auf die grosse Ueberein-
stimmung beider Resultate hingewiesen. Diese Autoren haben
die Methode Orthoperkussion genannt, weil bei der
Art der Perkussion (leiseste Perkussion, P 1 e s c h sehe Finger¬
haltung, sagittale Richtung) die durch den Perkussionsstoss
erzeugte Erschütterung das Herz in ähnlicher Richtung trifft,
wie bei der Orthodiagraphie die Strahlen.
Vortr. hat sich bald nach der G o 1 d s c h e i d e r sehen
Veröffentlichung mit der leisesten Perkussion des Herzens be¬
schäftigt und berichtet unter Demonstration einer grossen An¬
zahl von Originalpausen über die Ergebnisse von Unter¬
suchungen, die er gemeinsam mit einem seiner Assistenten
gemacht hat. Bei der Art der starken Perkussion der Herz¬
dämpfung waren die von Moritz gegebenen Regeln irh
wesentlichen massgebend, im übrigen hielt man sich an die
von Goldscheider bezw. von Curschmann und
Schlayer mitgeteilte Methodik.
Um jede Voreingenommenheit auszuschliessen, wurden
zunächst die Herzgrenzen von Dr. E n g e 1 s mittels der Ortho¬
perkussion bestimmt, dann von demselben das Orthodiagramm
aufgenommen und schliesslich vom Vortr., ohne dass ihm die
Resultate der beiden Bestimmungen bekannt waren, die rela¬
tive Herzdämpfung festgestellt. ' Alles wurde direkt auf die
I horaxwand projiziert und von dieser in ein und dieselbe
Pause eingetragen.
Es ergab sich, dass die relative Herzdämpfung und
zwar sowohl an der rechten, wie an der linken Grenze in etwa
V* aller Fälle bis auf 1 cm genau bestimmt werden konnte. Da,
wo die Grenzen dieser Dämpfung die Herzsilhouette des Or-
thodiagramms überschritt oder hinter ihnen zurückblieb (im
Maximum bis zu 2X> cm), liess sich das allermeist durch ab¬
norme Dicke der I horaxwand (Buckelung der Rippen, abnorm
reichliches Fettpolster) oder beinl Zurückbleiben der Grenzen
durch mehr weniger hochgradiges Emphysem erklären. Vortr.
glaubt daher, dass die relative Herzdämpfung, unter den er¬
wähnten Kautelen ausgeführt, ihren klinischen Wert behält.
Weiterhin ergab sich aus den Untersuchungen in Ueber-
emstnnmung mit Goldscheider, Curschmann und
Schlayer, die grosse Genauigkeit und Zuverlässigkeit der
Orthoper kussion, sowie ihre Vorzüge in den Fällen,
wo die relative Herzdämpfung aus den genannten Gründen
unsicher wird oder versagt. Die Orthoperkussion sollte daher
Gemeingut aller Aerzte werden um so mehr, als die Methodik
an sich nicht schwer zu erlernen ist.
Die Bestimmung der absoluten Herzdämpfu n g
im W eil sehen Sinne, d. h. das Verhältnis der Lungenränder
zu dem von Lunge freien Teil des Herzens, hat insofern neben
den anderen Methoden ihre Berechtigung, als, wie auch
Moritz bereits hervorgehoben hat, auf diese Weise eine
Vorstellung erhalten werden kann, um wieviel das Herz von
vorn nach hinten sich vergrössert hat; denn — alle übrigen
Ui Sachen für eine Retraktion der Lungenränder ausge¬
schlossen wird das Herz um so mehr von Lunge ver-
d längen, je mehr es in der Richtung von vorn nach hinten an
Dicke zunimmt.
Die genaueste und für wissenschaftliche Zwecke einwand-
treieste Methode zur Herzgrenzbestimmung ist die Ortho-
d i a g i a p h i e. Auch für den, der sie nicht immer ausführen
kann, wird es nötig sein, sie wenigstens des öfteren zur Kon¬
trolle der von ihm sonst angewandten Methoden heran¬
zuziehen.
Heil Flesch: Ueber Gonokokkenbefunde und Gonor¬
rhöe-Diagnose.
Dei V or trag wird an anderer Stelle ausführlich ver¬
öffentlicht werden.
Medizinischer Verein Greifswald.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 5. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Strübing.
Schriftführer: Herr Jung.
Herr Schultze zeigt einen Fall ungewöhnlich
üermographie bei Hysterie.
intensiver
Hen Schirmer: Experimentelle Untersuchungen über
die Entstehung der Bulbusatrophie. (Erschien ausführlich in
der Deutsch, med. Wochenschr. 1906, No. 20.)
Diskussion: Herren Minkowski, Halben, Schir-
in o t- 7 ’ 111
Hei r Peter: Beitrag zur Vererbungstheorie.
Vortr. berichtet über Experimente, die er bei Echinus-
weibchen und -männchen angestellt hat, um den Anteil des
Eies resp. Spermiums an der Bildung des neuen Individuums
zu eruieren. Unter Benutzung der primären Mesenchymzellen
als Merkmal fand er, dass nur dem Ei, nicht aber dem
Spermium ein Einfluss auf die Zahl dieser Zellen zusteht. Dar
nach kann nicht das Chromatin allein, sondern müssen auch die
übrigen Zellbestandteile auf die Vererbung Einfluss besitzen.
Herr S. Weber: Ueber Beeinflussung der Resorption
durch Diuretica.
Vortr. berichtet über die Ergebnisse von Kaninchenver¬
suchen, welche eine deutliche Beeinflussung der Resorption
subkutan injizierter Salzlösung durch Diuretica (Theophyllin)
ergaben. 7
Sitzung vom 16. Mai 1906.
Vorsitzender : Herr Strübing. •
Schriftführer: Herr Jung.
Heu Strauss: Zur Genese des Rankenneuroms.
Vortragender zeigt ein in der chirurgischen Klinik exstirpiertes
Ilst 6 Y-?,™ der Kreuzbeingegend eines 12 jährigen Knaben,
aas mit Spina bifida occulta kompliziert war. Str. scheidet die Ran-
mrn'nrfT6 H1 xiWei verschiedene Gruppen, die als Rankenneurom
f iNciUru)ni Im engeren Sinne bezeichnet werden können.
(Erscheint ausführlich in der D. Zeitschr. f. Chir., Bd. 83, S. 152.)
Heu Minkowski: Ueber die Registrierung der Herz¬
bewegung am linken Vorhof.
i r ^^e+°eSOphas“s lassen sich die Bewegungen des linken Vor-
nntu i 6g- St[iervn‘ zeigt Kurven, in welchen sich normale und
pathologische Vorgänge am Herzen deutlich widerspiegeln, nament-
komrm^ d'e Ussunfähigkeit der Mitralklappen zum Ausdruck
Herr Wittmack: Zur Kenntnis des Streptococcus
mucosus als Eitererreger der akuten Otitis. (Erscheint aus¬
führlich in der Deutsch, med. Wochenschr.)
Herr Ritter: Demonstration von Lymphdrüsenpräparaten.
„ i n, YenSo. ,wie schon früher bei Mammakarzinom auch bei
anderen, I lattenepithel- und Schleimhautkarzinomen, sowie bei Sar-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1591
7. August 1906.
|a)men, Neubildung von Lymphdriisengewebe im Fettgewebe be¬
obachtet. Er glaubt, dass dies unter dem Reiz des Karzinoms, dessen
Zellen selbst oder dessen Virus, geschieht, und ist der Ansicht, dass
die Verbreitung maligner Tumoren auf dem Lymplnvege durchaus
nicht immer den normaliter vorhandenen Lymphbahnen folgen muss.
Verein der Aerzte in Halle a. S.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 16. M a i 1906.
Vorsitzender: Herr Veit.
Schriftführer: Herr Kohlhardt.
Herr Winternitz: Ueber subkutane Fetternährung.
(Der Vortrag ist ausführlich in der Therapie der Gegenwart
veröffentlicht.)
Diskussion: Herr Schmidt-Rim pler, Menzer,
Lesse r, Veit.
Herr Fromme demonstriert zwei in den letzten Tagen ge¬
wonnene Präparate:
1. Ein am 13. Mai 1905 geborenes und am 15. Mai gestorbenes
Kind einer Erstgebärenden. Die Geburt im VII. Monat erfolgte
spontan. Der Hebamme fiel sofort auf, dass ein Anus fehlte und dass
an Stelle der äusseren Geschlechtsteile nur ein Piirzel mit zentraler
Oeffnung vorhanden war. Sie brachte das Kind in die Klinik, wo
aber infolge des desolaten Zustandes von einer Operation abgesehen
wurde. Das Abdomen des Kindes war stark ausgedehnt, anscheinend
durch einen aus dem kleinen Becken aufsteigenden Tumor. Bei der
Sektion erwies sich der Tumor als Uterus, der hauptsächlich nach
beiden Seiten hin stark ausgedehnt war, anscheinend durch in ihm
befindliche Flüssigkeit, die Blase liegt vor dem Uterus, sie ist kon¬
trahiert aber eleviert, mit dünnem Katheter war von aussen nicht
in sie durch die in dem Piirzel befindliche Oeffnung hereinzukommen.
Das Rektum war nach rechts verdrängt, aber nicht besonders dila-
tiert.
Eine genauere Untersuchung und Veröffentlichung des Falles
soll noch erfolgen. Vortragender weist daraufhin, dass derartige Miss¬
bildungen schon öfters beschrieben worden sind, von ihm selbst im
Jahre 1905 in der Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. Es
unterliegt keinem Zweifel, dass diese Fälle eine wichtige Stütze für
die V e i t - N a g e 1 sehe Theorie über den Hymenalverschluss der
Erwachsenen abgeben. Ist schon in den früheren Perioden des intra¬
uterinen Lebens ein Verschluss des untersten Endes des Genitalkanals,
sei es durch Hymenalatresie oder durch Missbildung vorhanden, so
führt das zu sekundärer Missbildung des Uterus durch Ansammlung
von Schleim in ihm und in der Vagina. Der Schleimuterus und die
Schleimvagina geben aber schon in den ersten Lebenstagen die
Indikation zur Operation ab, sodass das Hymen gespalten oder die
Missbildung operativ beseitigt wird, wie das öfter beschrieben wor¬
den ist. Deshalb müssen die Hymenalatresien, die erst im ge-
schlechtsreifen Alter durch Hämatokolpos und Hämatometra sich be¬
merkbar machen, nicht als intrauterin erworben angesehen werden,
denn sonst hätten sie schon in den ersten Lebenswochen Erschei¬
nungen machen müssen. Sie sind als extrauterin in frühen Lebens¬
jahren erworben zu betrachten und sind zurückzuführen auf ent¬
zündliche Prozesse, die sich an den äusseren Genitalien abgespielt
haben (Diphtherie, Gonorrhoe etc.)
2. Das Präparat einer Extrauteringravidität im 5. Monat. Eine
31 jährige Frau hatte zwei normale Geburten vor 10 und 7 Jahren
durchgemacht. Dezember 1905 letzte Regel, seit Mitte Februar
Schmerzen in beiden Seiten. Bei der Untersuchung fühlt man links
einen weichen, etwas vergrösserten Uterus, rechts an ihn anschlies¬
send einen weichen mannskopfgrossen Tumor, der bis in den Douglas
hinabreicht. Vz Stunde nach der Untersuchung Kollaps; die Diagnose
rechtsseitige Extrauteringravidität wird nun mit Wahrscheinlichkeit
gestellt und sofort zur Laparotomie geschritten. Es handelt sich um
eine Tubargravidität mit lebender Frucht, die während der Operation
durch die abdominale Tubenöffnung entschlüpfte. Die ganze 1 ube ist
in dem Fruchtsack aufgegangen. Interessant sind die Missbildungen
der 23 cm langen Frucht: rechtsseitiger Klumpfuss, Meningozele etc.
Derartige Missbildungen werden häufig an ektopischen Früchten be¬
obachtet und sind von v. W i n c k e 1 genauer beschrieben worden.
Naturhistorisch-Medlzinischer Verein Heidelberg.
(M edizinische Sektion.)
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 26. Juni 1906.
Herr Lei mann: 1. Vorstellung eines 18 jährigen Mädchens
mit Rhachitis tarda. Demonstration der Röntgenaufnahmen.
2. Vorstellung eines 58 jährigen Mannes mit multiplen Haut¬
tumoren. Der Mann gab an, im August 1905 ein Knötchen in der Haut
der linken Gesässgegend bemerkt zu haben, das allmählich taubenei¬
gross wurde und dann vom Arzt exzidiert wurde. März 1906 be¬
merkte der Patient zwei ähnliche Knoten in der Haut des linken Ober¬
armes und einen in der Haut des rechten Oberarmes. Bald darnach
trat auch eine Anschwellung der Füsse auf und 8 Tage vor Eintritt
in die Klinik bemerkte er eine Knotenbildung am linken Oberschenkel.
Die Affektion stellte sich dar als eine multiple Tumorbildung der Haut.
Es handelte sich um taubenei- bis walnussgrosse derbe, tief in der
Kutis sitzende, an der Oberfläche livide verfärbte, zum Durchbruch
neigende, ziemlich scharf umgrenzte, indolente Tumoren, von denen
einer zur mikroskopischen Diagnose exzidiert wurde. Die Affektion
am Penis, die differentialdiagnostisch zu Schwierigkeiten Anlass
geben konnte, bestand in einer diffusen Schwellung und Infiltration
des oberen Teiles der Glans penis, die ihrem Aussehen und ihrer
Konsistenz nach den übrigen Tumoren entsprach und sich von diesen
nur durch die Mazeration der Oberfläche unterschied. Die histo¬
logische Untersuchung ergab, dass die Tumoren aus sarkomatösem
Gewebe bestanden und am meisten dem Bilde der Lymphosarkome
entsprechen. Differentialdiagnostisch kam höchstens tertiäre Lues in
Frage; bei dem Patienten fanden sich aber sonst keinerlei Erschei¬
nungen, die auf tertiäre Lues hingedeutet hätten; die inneren Organe
waren vollständig gesund, es bestand keine Drüsenschwellung und
keine Affektion der Schleimhäute. Auch muss es als unwahrschein¬
lich bezeichnet werden, dass Hautgummata — denn um solche hätte
es sich event. gehandelt — so nahe der Oberfläche sassen, ohne zu
ulzerieren. Die Diagnose wurde demnach auf multiple sarkoide Tu¬
moren der Haut gestellt und die Beziehungen besprochen, die zwi¬
schen dem Auftreten solcher Tumoren und den leukämischen Er¬
krankungen des hämatopoetischen Systems bestehen und auf die Not¬
wendigkeit genauer Kontrolle des Blutbildes hingewiesen. Da eine
rein chirurgische Behandlung teils unmöglich war, teils bei der Multi-
plizität der Affektion unrationell erschien, so wurde auch mit Rück¬
sicht auf eine etwaige Erkrankung der blutbildenden Organe, von der
allerdings zurzeit nichts nachweisbar war, ausser Darreichung von
Eisen Röntgentherapie angewendet.
Diskussion: Herr L o o s e r.
Herr Magnus: Die Wirkung synthetischer Gallensäuren
auf die pankreatische Fettspaltung.
Ebenso wie nach früheren Untersuchungen des Vortragen¬
den die Lipase der Leber durch ein kochbeständiges, alkohol¬
lösliches und ätherunlösliches „Co-Ferment“ aktiviert wird,
ist auch die Substanz in der Galle, welche die pankreatische
Fettspaltung verstärkt, kochbeständig, alkohollöslich und äther¬
unlöslich. Da die gallensauren Alkalien dieses Verhalten zei¬
gen, erhob sich die Frage, ob die Cholate selber die aktivierende
Wirkung besitzen oder ob es sich um eine in kleinen Mengen
wirksame Substanz handelt, die wegen ihrer ähnlichen Eigen¬
schaften bei der Darstellung der Gallensäuren mitgewonnen
wird. Diese Frage liess sich entscheiden mit Hilfe der neuer¬
dings von B o n d i und Müller synthetisch dargestellten
Gallensäuren, die dem Vortragenden freundlichst zur Verfügung
gestellt wurden. Es ergab sich, dass synthetisches taurochol-
und glykocholsaures Natron starke Aktivatoren der pankrea-
tischen Fettspaltung sind und dass die verstärkende Wirkung
der Galle auf diesen Bestandteilen beruht. (Erscheint in Ex¬
tenso in der Zeitschr. f. physiolog. Chemie.)
Herr A. v. Lichtenberg (mit Herrn Werner): Ueber
experimentell erzeugte Hydronephrosen.
Die Naht der Ureteren wird in den letzten Jahren Schritt
haltend mit der Erweiterung der Indikationen der operativen
Gynäkologie immer häufiger ausgeführt. Eine grosse Anzahl
der Methoden wurde dafür angegeben, und verdrängt allmählich
die palliativen Operationen, welche man früher bei einer zu¬
fälligen oder notgedrungenen Durchtrennung der Ureteren an¬
gewendet hat. Meist kontrolliert man in der jüngsten Zeit auch
mit den Mitteln der funktionellen Nierendiagnostik die Re¬
sultate der restituierenden Operation, und konstatiert dabei,
dass diese selbst bei ungestörter, unkomplizierter Wundheilung
nicht in allen Fällen zufriedenstellend sind. Dies gilt haupt¬
sächlich für die Methode der direkten Vereinigung mit zirku¬
lärer Naht, aber auch die anderen Methoden (Implantation
des proximalen Stumpfes in die Blase, oder des distalen
Stumpfes in den proximalen usw.) weisen vielfach Misserfolge
auf. Die Schuld an den schlechten funktionellen Resultaten
trägt wohl das Auftreten einer relativen Narbenstenose an der
Nahtstelle, welche bekanntermassen die Entwicklung einer Hy-
dronephrose sehr begünstigt. Es ist von mir versucht worden,
die zirkuläre Naht bei der End zu Endvereinigung durch eine
Plastik zu umgehen, worüber wir ein anderesmal berichten
werden. Ein anderer Weg zur Umgehung der zirkulären Naht
wäre die Anwendung einer Prothese. Einem Vorschläge
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
Pagers folgend, welcher zur Ausführung der Qefässnaht
als Prothesenmaterial das Magnesium empfahl, wendeten wir
bei unseren Versuchen ebenfalls dieses Metall an.
Wir legten den Ureter transperitoneal frei und durchtrennten
ihn einfach, oder resezierten ein 2 — 3 cm langes Stück davon. Dabei
wurde der Ureter von dem begleitenden Gefässbiindel entweder
sorgfältig isoliert, oder aber wurde dieses auch mit durchtrennt. Auf
die Ureterenstiimpfe wurde die Prothese adaptiert. Diese bestand
aus zwei Magnesiumröhrchen, welche an einem Ende einen etwas
konkaven Rand trugen. In diesem Rande waren gleichweit von¬
einander entfernt vier Löcher gebohrt. Die Ureterenstiimpfe wurden
zweilappig gespalten und jeder Lappen mit je einer Naht an dem Ring
angenäht. Die Nähte wurden an der Aussenseite des Ringes ge¬
knüpft. Hierauf wurden die Prothesen durch die noch vorhandenen
zwei Löcher miteinander vereinigt. Schliesslich wurde noch die
Peritonealwunde genäht, dadurch die Operationsstelle extraperitoneal
gelagert und die Bauchwunde geschlossen. Die ersten Operationen
sind teilweise misslungen, einige unsere Tiere sind eingegangen.
Allmählich entwickelte sich die oben geschilderte Technik, mit welcher
wir sämtliche Tiere erhalten konnten. Wir. haben die Tiere zu ver¬
schiedenem Zeitpunkt nach der ersten Operation relaparotomiert und
die Niere samt Ureter bis unterhalb der Nahtstelle, event. den
ganzen Harnapparat im Zusammenhang exstirpiert.
Die Resultate waren vom Standpunkte der praktischen
Brauchbarkeit betrachtet absolut unzufriedenstellend. Aus¬
nahmslos in jedem Falle entwickelte sich eine schwere Schädi¬
gung der Niere der operierten Seite in der Form einer Hydro-
nephrose. Experimentell wurden schon vielfach Hydronephrosen
erzeugt; in dieser Hinscht würden unsere makroskopischen
Befunde kein besonderes Interesse verdienen. Was ihre Pu¬
blikation rechtfertigt, ist einerseits das sehr schnelle Wachstum
und die exzessive Entwicklung der Hydronephrose, anderer¬
seits der Umstand, dass diese teilweise auch funktionell ge¬
prüft worden sind. (Demonstration der Präparate: Niere vier,
drei, zwei und einen Monat usw. nach der Operation ex¬
stirpiert). Es war im Wesentlichen ganz gleichgültig, wo die
Stenose geschaffen wurde. Das Resultat blieb dasselbe, wenn
man die Prothese im oberen, mittleren oder unteren Drittel des
Ureters anbrachte. Stets war die Wandung des Ureters ober¬
halb der Stenosenstelle stark hypertrophisch, nach 2 — 3 Mo¬
naten auch dilatiert. Es entstand an der Anbringungsstelle der
Prothese nie eine vollständige Obliteration, sie war stets für
eine feine Sonde passierbar. Die Prothese resorbierte sich bis
auf geringe Reste binnen vier Wochen. Ueber die mikrosko¬
pische Beschaffenheit der Stenose und über die Entstehungsart
derselben werden wir in der ausführlichen Publikation be¬
richten. Machte man bei einem nach der oben beschriebenen
Methode operierten Wunde eine künstliche Blasenektopie, so
konnte man die Funktion der Nieren mit der Indigokarmin¬
methode von V o e 1 c k e r und Joseph bequem beobachten.
Wir konnten dabei konstatieren, dass selbst bei fortgeschrit¬
tenen Veränderungen der Niere eine Ausscheidung des Farb¬
stoffes noch stattgefunden hat; allerdings war der Typus der
Ausscheidung und die Konzentration des ausgeschiedenen Farb¬
stoffes verändert. (Demonstration einer solchen Niere.) *)
Man könnte aus dieser experimentellen Tatsache den
Schluss ziehen, dass eine Untersuchung der Nierenfunktion
wenige Monate nach einer Ureterennaht am Menschen nicht
zu der Behauptung berechtigt, dass das funktionelle Resultat
der Operation ein ausreichendes ist, da dazu fast spezialistische
Erfahrung gehört, die beginnende hydronephrotische Schädi¬
gung mit den Farbstoffmethoden diagnostizieren zu können.
Auch die Ausführbarkeit einer Sondierung des Ureters beweist
nicht viel, da die event. geringgradige Stenose der Aufmerk¬
samkeit des Untersuchers entgehen kann. Das funktionelle
Resultat einer Ureterennaht wäre nur dann einwandsfrei als
zufriedenstellend zu betrachten, wenn eine, mindestens ein Jahr
nach der Operation vorgenommene exakte spezialistische Un¬
tersuchung keinerlei Störung der Nierenfunktion nachweisen
kann, eine Forderung, welche nur von einer zu geringen Zahl
der bekannt gemachten Fälle erfüllt wird. (Demonstration
einiger mikroskopischer Präparate. Die Details der mikro¬
skopischen Untersuchung sollen in der ausführlichen Publi¬
kation eingehend berücksichtigt werden.)
Diskussion: Herr V o e 1 c k e r.
*) An diesen Versuchen hat sich auch Herr Privatdozent
Dr. V o e 1 c k e r beteiligt.
Herr Junker: Ueber Tuberkulindiagnostik.
Nach den Erfahrungen der Heidelberger medizinischen Poli¬
klinik ist die diagnostische Tuberkulininjektion ein wertvolles
u. a. unentbehrliches Hilfsmittel zur Frühdiagnose der chroni¬
schen Lungentuberkulose, das bei sachgemässer Anwendung
ungefährlich und auch ambulatorisch durchführbar ist. Auf
Grund einer positiven Tuberkulinreaktion allein kann jedoch
die Diagnose einer behandlungsbedürftigen tuberkulösen Lun¬
generkrankung nicht gestellt und die Einleitung eines Heil¬
verfahrens nicht gerechtfertigt werden, sie muss im Zusammen¬
hang mit Anamnese, Lokalbefund und Allgemeinstatus ver¬
wertet werden. Immerhin bietet die in den letzten Jahren
angewandte Methode (Wo mg — 5/io mg — 1 mg — 5 mg) in
dieser Hinsicht ein besonders schätzenswertes Hilfsmittel, in¬
sofern als sich hat nachweisen lassen, dass frische und aktive,
also in erster Linie behandlungsbedürftige und für Heilstätten
geeignete Fälle vorwiegend auf Dezimilligramme reagieren.
Bleibt bei dieser Methode eine Reaktion auf die Dosis von 5 mg
aus, so beweist dies in den Fällen, die für diagnostische In¬
jektionen in Betracht kommen, die Abwesenheit einer irgendwie
aktiven tuberkulösen Erkrankung.
Naturwissenschaftl.-medizinische Gesellschaft zu Jena.
(Sektion für Heilkunde.)
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 31. Mai 1906.
Herr L o in m e I stellt einige Fälle Von Kehlkopflues und von
Kehlkopfpapillomen vor. Eine junge Frau zeigt eine diffuse gummöse
Infiltration fast des ganzen über den Stimmbändern gelegenen Kehl¬
kopfinneren, die im Verein mit Narbengewebe zu einer beträchtlichen
Stenose geführt hat. Die Besserung unter antiluetischer Behandlung
ist bis jetzt nur gering, da bei solchen Affektionen die an Stelle der
Infiltration auftretenden Narben häufig ungünstige Verhältnisse zu¬
rücklassen, wobei namentlich die Beweglichkeit der Stimmbänder oft
Schaden leidet. Vortr. hat diese diffusen gummösen Infiltrationen im
Kehlkopf häufiger gesehen als umschriebene Qummata. Die Dia¬
gnose kann schwierig sein; häufig, so auch in diesem Fall, führen
analoge Prozesse an der Rachenschleimhaut zur richtigen Beurteilung.
Eine Probeexzision aus dem Taschenband ergab zwischen zellarmem
Bindegewebe einzelne nicht charakteristische Entzündungsherde
und eine beginnende papillomatöse Wucherung der Oberfläche. Als
weiteres Beispiel von Papillombildung auf dem Boden geheilter
luetischer Prozesse stellt L. eine Kranke vor, bei der er im Lauf
mehrerer Jahre an der Stelle eines längst geheilten luetischen Ge¬
schwüres wiederholt rezidivierende Papillome abgetragen hat; gegen¬
wärtig ist nur eine glatte, seit 2 Jahren unveränderte Verdickung zu
sehen. Papillome ohne luetische Vorgeschichte zeigen 2 andere
Fälle. Bei einem Knaben entwickelten sich nach — vielleicht i n -
folge — einer im 6. Jahr überstandenen Diphtherie Kehlkopf¬
papillome, die nach 2 Jahren wegen Stenose zu Thyreotomie zwangen,
nach kurzer Zeit aber rezidivierten; es war dann eine Trachealkanüle
eingelegt worden, die Pat. nach vergeblich versuchter endolaryn-
gealer Operation 5 Jahre lang getragen hatte. Nach dieser Zeit ge¬
langte der Kranke in die Behandlung des Vortr. und fand sich zu der
vorher verweigerten Operation bereit. Es gelang die Entfernung der
die Glottis bei der Inspiration ventilartig schliessenden Papillome
in einer Sitzung und unmittelbar danach die Entfernung der Kanüle.
Das laryngoskopische Bild ist jetzt normal, die Stimme völlig rein.
— Bei einem 22 jährigen Mädchen war wegen angeborener multipler
Papillome in der Kindheit längere Zeit eine Trachealkanüle getragen
worden, spätere Operationsversuche waren unterblieben, da die
völlig aphonische aber nicht dyspnoische Kranke sich mit ihrem Zu¬
stand ab^efunden und ärztliche Hilfe nicht aufgesucht hatte. Bei der
kürzlich vorgenommenen endolaryngealen Operation wurde der Kehl¬
kopf von einer grossen Zahl von Papillomen fast völlig befreit, die
Stimme ist gegenwärtig ziemlich gut. Vortr. erörtert die Indikationen
der verschiedenen operativen Verfahren.
Herr Gerhardt spricht über die Morphiumbehandlung bei
Oesophagusstenosen und demonstriert einen Patienten, der wegen
Carcinoma oesophagi allmählich so starke Schluckbeschwerden be¬
kommen hatte, dass er auch Flüssigkeit nur schluckweise mit grosser
Schwierigkeit hinabbringen konnte, und bei welchem schon nach den
ersten Morphiumdosen (%— 1 cg) eine ganz auffallende Besserung er¬
zielt wurde, so dass er sich wieder reichlich — allerdings nur mit
flüssiger Kost — nähren konnte, an Gewicht zunahm und sich in
seiner Wirtschaft betätigen konnte. Von 2 anderen Patienten der
Poliklinik, über welche G. kurz berichtet,, zeigte der eine ähnlich
günstige Reaktion auf Morphium wie der erste Fall, während der
andere demonstriert, dass man mit ständiger Morphiumbehandlung
einen Oesophaguskarzinomkranken, der sonst heftige Schluckbe¬
schwerden hat, nahezu ein halbes Jahr lang bei leidlichem Schluck¬
vermögen halten kann.
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1593
Herr Wagenmann: Ueber Skleritis posterior. (Er¬
scheint in extenso.)
Medizinische Gesellschaft in Kiel.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 3. Februar 1906 in der Klinik für Haut-
und Geschlechtsleiden.
Herr v. Düring: Ueber die Resultate der Finsenlicht-
behandlung bei Lupus. (Wird in einer Inauguraldissertation
veröffentlicht werden).
Herr F r o h w e i n: Ueber Röntgenbehandlung des Kar¬
zinoms. _ .. , , , „ „ .
Unsere ErfahrungenmitderRontgenbehand-
lungdesKarzinoms erstrecken sich auf 1 Fall von Basal¬
zellenkarzinom und 4 Fälle von Ulcus rodens. Davon ist ein
etwa markstückgrosses Ulcus rodens des Nasenrückens in der
kurzen Zeit von 2 Monaten mit ausgezeichnetem kosmetischen
Erfolge geheilt, 2 weitere versprechen völlige Heilung, wäh¬
rend je ein fast handtellergrosses Ulcus rodens und Basal¬
zellenkarzinom subjektiv und objektiv erheblich gebessert sind.
(Demonstration der Patienten nebst ihrer vor der Behandlung
angefertigten Photographie. Bei dem Fall von Basalzellen¬
karzinom wurde die Wirkung der Strahlen durch Vergleiche
von vor und während der Behandlung gemachter Probein¬
zisionen beobachtet, wobei die von Perthes, Scholz,
Schlesinger, v. Marschalkö u. a. sowohl dui ch 4 ici -
experimente, wie durch Untersuchung bestrahlter Tumoren
gewonnenen Erfahrungen der Degeneration epithelialer Zellen
mit Ersatz von strukturlosem Bindegewebe, sowie der relativ
geringen Tiefenwirkung bestätigt werden konnten. (Demon¬
stration der betr. mikrosk. Präparate.) #
Herr Meyer: Ueber das Quecksilberlicht (Uviollampe).
(Wird in der Medizinischen Klinik veröffentlicht werden).
Herr Froh wein: Ueber Spirochätenbefunde im Ge¬
webe. (Erscheint in der Medizinischen Klinik).
Herr v. Düring stellt noch 3 Fälle von Pemphigus vor.
Sitzung vom 10. März 1906 in der medizinischen Klinik.
Herr Quincke bespricht unter Vorzeigung von Appa¬
raten die mechanische Therapie der Atmungsorgane; zunächst
die einseitige Uebung der Kranken durch Bewegungs-
hemmung der gesunden Seite (Seitenlage etc., Sitz auf schiefei
Ebene, einseitige Pflastereinwicklung, Schreiber sches
Kompressorium, v. C r i e g e r n sches Kompressorium. Unter¬
stützung der Exspiration und Expektoration durch Ausatmung
in verdünnte Luft, Gerhardts manuelle Kompression,
Strümpells Kompressorium, Schreibers elastisches
Korsett, Rossbachs Atmungsstuhl. Quincke sehe
Schräglage mit erhöhtem Becken, Gerhardt sehe Bauchlage
auf Kissenrolle (oder nach Quincke in einer aus bi eitern
Gurt hergestellten Schwebeschlinge); Vornüberbeugen.
Unterstützung der Inspirationsbewegungen: Einatmung
aus Luft mit Ueberdruck (W a 1 d e n b u r g) ; Langerhans-
sches Atmungsbrett. Methodisches Tiefatmen und Bewegung
in frischer Luft. Kalte Waschungen der Brust.
Herr Pfeiffer stellt einen 35 jährigen Patienten mit Bron¬
chitis fibrinosa vor. Die Gestalt der Ausgüsse, der ph\ sikalische
Lungenbefund und die Röntgendurchleuchtung ergaben als Sitz dei
Erkrankung den linken Oberlappen. Demonstration der Bronchial¬
ausgüsse und kurze Besprechung der Aetiologie, Klinik und Iheiapie
der Bronchitis fibrinosa. .
Herr Wandel spricht „Ueber Störungen im Gebiete des
Nervus medianus“.
Ausgehend von allgemeinen Gesichtspunkten über die
Prognose peripherer Lähmungen wird an der Hand von 5 Fällen
von Lähmungen und Neuritiden des Nervus medianus das
Symptomenbild und die Prognose der verschiedenartigen Stö¬
rungen entwickelt.
In Fall 1 handelt es sich um eine Läsion des Medianus dicht ober¬
halb des Handgelenks bei Unterarmfraktur; im Falle 2 um eine Neu¬
ritis mit einem erbsengrossen Knoten am oder in der Nähe des Nerven
(Fibroneurom ?), 10 cm oberhalb des Handgelenks, nach ruckweisei
Ueberstreckung der gebeugten Hand beim Aufhalten eines durch-
gehenden Pferdes. Der Fall 3 betraf eine professionelle Neuiitis und
Parese bei einem Maurer (ursprünglich entstanden als Schlaflähmung,
dann geheilt und nach Monaten allmählich wieder hervorgerufen
durch Arbeiten mit Hammer und Kelle.) Der Fall 4 betraf eine m
zentral sitzende Neuritis mit unbekannter Aetiologie bei einer Frau
mit vasomotorischen und trophischen Storungen H tvprTnrsrunes_
hidrosis und Wachstumsanomalie der Nagel) irP Uv, rl^en ArbeVt^r
gebiet des Medianus. Im 5. Fall war bei einem 47]ahnBen Arbeiter,
31 Jahre nach einer Glasscherbenverletzung 10 cm,ob"'1,^
gelenks, eine seit 3 Jahren allmählich zunehmende Medianuslähmung
mit Parese der vom Medianus versorgten
sensiblen, vasomotorischen und trophischen Storungen
srumrszebiet des Nerven aufgetreten, die durch Schwund der ena
glieder des 2. und 3. Fingers ein den Muülationen der Fmger b
Syringomyelie ähnliches Bild hervorriefen. (Fall L 4 und 5 weraen
demonstriert.) (Die ausführliche Publikation mit 6 weiteren Fallen
erscheint in der D. Zeitschr. f. Nervenheilk.) .
Herr Quincke stellt noch einen Fall von Ben-Ben, sowie
einen Fall von Myxödem vor.
Allgemeiner ärztlicher Verein zu Köln.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 28. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Böse.
Schriftführer: Herr W a r b u r g.
Herr Oberländer: Abdominale Totalexstirpation eines
karzinomatösen Uterus 5 Wochen post partum.
Einleitend wirft Vortragender einen Rückblick auf die Ent¬
wicklung der operativen Gynäkologie in den letzten Jahrzeh
und hebt hervor, dass im Gegensatz zu den gutartigen Erkrankungen
das heutige Bestreben beim Karzinom dahin geht, abdominal-radikal
zu operieren. , , ... . , „
Er stellt den ersten so operierten Fall im Wochenbett voi , der
Verlauf ist folgender:
O. sah Pat. zum ersten Male am 3. September 1905, also vor
% Jahren. Es handelte sich um eine sehr kachektisch aussehende
31 jährige Frau, deren Herz, Lungen und Nieren gesund waren.
4 Wochen vorher, am 3. VIII. 05 Spontangeburt eines 9/s Pfund
schweren, lebenden Kindes. Die Geburt dauerte von Abends 5 bis
folgenden Mittag 2 Uhr. 14 Tage lang vorher Tag und Nacht an¬
haltende Vorwehen. Seit 3 Monaten vor der Entbindung starkei
Ausfluss, der im Wochenbett unerträglich wurde. 2 normale I aitus
sind vorausgegangen, letzter vor 5 Jahren. Eiste Mensti uation im
17. Jahre, in der ersten Zeit stets unregelmässig; letzte Regel am
15. November 1904.
Die innere Untersuchung ergab eine faustgrosse, blumenkohl¬
artige Geschwulst der Portio uteri und Uebergang der Neubildung aut
die hintere Scheidenwand. Am 4. IX. 05 Aufnahme in die Klinik. Am
5. IX. 05 Excochleatio mit scharfem Löffel und 1 amponade mit
Liquor ferri sesquichlor. Wegen des grossen Schwächezustandes
konnte die Radikaloperation erst 10 Tage später, am 15. IX. statt¬
finden. Dieselbe nahm folgenden Verlauf: .
Schnitt in die Linea alba. Unterbindung und Abtragung beidei
Ligamenta lata. Eröffnung des hinteren Scheidengewölbes, wesen
der auf die Vagina übergegriffenen Neubildung besteht Unmöglichkeit
vom Douglas aus eine Umstechung zu machen. Deshalb Schnitt
oberhalb der Blase. Abschieben desselben nach unten. Eröffnung
der Scheide in W Höhe. Ringförmige Umstechung und Umschnei-
dung unter Mitnahme von möglichst viel Parametrium. Wegen des
grossen Schwächezustandes wird von einer ausgiebigen Entfernung
der Drüsen Abstand genommen, nur eine dicke, verdächtige exstir-
piert. Schluss der Scheide und Bauchwunde. Güte 2 stündliche
Chloroformnarkose. Der Verlauf war glatt; höchste Temperatur 37,4.
Seitdem gutes subjektives und objektives Wohlbefinden. Kein Rezidiv.
Die mikroskopische Untersuchung des Herrn Professor .1 o r e s
ergab Plattenepithelkarzinom. J.1 . _ ,. . .
Vortragender tritt für die abdominale-radikale Operation bei
Karzinom ein. Gelingt es doch mit derselben, wie dieser hall wieder
lehrt, selbst die ungünstigsten Fälle operativ günstig zu beeinflussen,
die bei der vaginalen Methode inoperabel seien.
Zum Schluss Vorstellung der Frau, Demonstration der Gebär¬
mutter und des mikroskopischen Präparates.
Herr Hellmann: Demonstrationen.
Herr Czaplewski demonstriert die Spirochaete pallida
im Gewebe und spricht sodann Ueber die Durchführung der
Desinfektion spez. der Wohnungsdesinfektion mit Formaldehyd
auf dem Lande.
Bei der Bekämpfung der Infektionskrankheiten haben sich
als wesentlichste Massregeln erwiesen :
1. sichere und schnelle Diagnose;
2. sichere und schnelle Meldung ;
3. sichere lind schnelle Bekämpfung jedes ein¬
zelnen Falles.
1594
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
Unter den hygienischen Massnahmen ad 3 spielen Iso¬
lierung und Desinfektion die grösste Rolle.
Wie bei der Lösung aller anderen hygienischen Fragen
(z. B. Kanalisation, Wasserversorgung, Beleuchtung etc. etc.)
sind die grossen Städte bahnbrechend zum Teil aus eigener
Initiative vorgegangen. Auch in Köln kann die Frage der
Desinfektion mit der Einführung der Formalindesinfektion, über
deren Anfänge Vortragender 1898 und später im Verein be¬
richtete, als im Wesentlichen gelöst gelten.
Viel schwieriger als in den Städten liegen die Verhältnisse
auf dem Lande. Hier ist der Bedarf an Desinfektionen ge¬
ringer, dementsprechend Mangel an Uebung und — die Geld¬
mittel sind knapp. Andererseits haben wieder
gerade dieStädte dasgrösstelnteresse daran,
dass eine ordentliche und sachgemässe Des¬
infektion auf dem Lande und auch in kleinen
Gemeinden durch geführt wird, weil die In¬
fektionskrankheiten zum grossen Teil immer
wieder von dem Lande in die Städte e i n ge¬
schleppt werden. Es handelt sich also um Aus¬
rottung nicht nur der städtischen, sondern auch der
ländlichen Seuchenherde.
Dazu ist notwendig das geeignete Personal und das
R ü s t z e u g für dieses zu schaffen.
Ueberall sollen nur amtlich geprüfte, voll ausge¬
bildete Desinfektoren zugelassen werden. Die Ausbildung
geschieht zweckmässig nur in einer amtlichen Desin¬
fektorenschule, welche bei einem Hygienischen oder
Bakteriologischen Laboratorium, welches mit einer städtischen
Desinfektionsanstalt in Verbindung steht, begründet wird. Dies
ist jetzt fast in allen Regierungsbezirken bereits durchgeführt.
In Köln besteht die amtliche Desinfektorenschule seit 1903
unter Leitung des Vortragenden. Die Ausbildung dauert
10 Tage, ist kostenlos; Prüfungsgebühr beträgt 10 Mark. Zahl
der Teilnehmer 6 — 10 Tage. Die Prüfung findet unter Vorsitz
des Regierungs- und Medizinalrates Herrn Geh. Rat Dr. B u -
s a k statt. Die geprüften Leute, welche das Examen bestanden
haben, führen den Titel Staatlich geprüfter Desinfektor. Aus¬
bildung durch Kreisärzte empfielt sich nicht, da das Lehr¬
material fehlt. Dagegen sind die Desinfektoren vom Kreisarzt
weiter zu beobachten.
Um das Land mit Desinfektoren zu versehen, empfiehlt
sich (falls nicht Anstellung von grösseren Gemeinden erfolgt)
die Anstellung von Kreisdesinfektoren. Vortr. möchte diese stets
nur im Hauptamt angestellt sehen, da bei Anstellung im
Nebenamt zu leicht Berufskonflikte entstehen. Vielleicht reicht
zunächst ein Kreisdesinfektor aus, dem auch die Verwaltung
der zu schaffenden Desinfektionsanstalt zu übertragen wäre.
Besser sind natürlich zwei ständige Kreisdesinfektoren, wo ge¬
nügend Bedarf ist. Dagegen dürfte es sich empfehlen, neben
diesen etatsmässigen Desinfektoren ausserdem mehrere, 2—6
und mehr nicht etatsmässige aber ebenfalls amtlich geprüfte
Desinfektoren als Hilfsdesinfektoren im Nebenamt auf Tage¬
lohn anzunehmen, welche nach Bedarf verwendet werden. Sie
sind die notwendige Reserve für den Fall von Epidemien.
Das Zentrum des Desinfektionswesens im Kreise ist die
Desinfektionsanstalt. Ihr Hauptstück ist der Dampfapparat; aus
Billigkeitsrücksichten wird sie am besten einem (Kreis-)
Krankenhause oder anderen Anlagen mit D a m p f angegliedert.
1 ransportable Dampfapparate sind weniger empfehlenswert.
Bei dem Dampfapparat muss der Fassungsraum genügend gross
(3—4 cbm!) sein, um auch grosse Objekte aufnehmen und bei
Epidemien ausreichen zu können. Empfehlenswert scheinen
für kleinere Gemeinden auch die schrankartigen, dabei billigen
doppeltürigen Apparate von Guido-Heinz e. Zwei Türen
am Dampfapparat und I rennung der Anstalt in unreine und
reine Seite sind zu fordern.
\oiti. geht dann auf die Formalindesinfektion näher ein.
Von den zahlreichen Verfahren zur Formalindesinfektion sind
alle, welche den Formaldehyd und Methylalkohol oder Trioxy-
ni t tli \ len entwickeln, praktisch zu verwerfen, da sie zu teuer,
unrationell und zum Teil zu unsicher arbeiten. Nur Methoden,’
welche mit flüssigem Formalin arbeiten, sind empfehlens¬
wert. Am rationellsten und sichersten sind die Dampfspray¬
apparate, Lingner (Walter und Schlossman n), Baumann
(P r a u s n i t z), Colonia (C z a p 1 e w s k i).
Die theoretischen gegen die Sprayapparate erhobenen Ein¬
wände sind vollkommen gegenstandslos, da sie sich im Betrieb
vollkommen bewährt haben. In Köln ist seit der Einführung
im Jahre 1898 der Coloniaapparat jetzt über 15 000 mal auf-
gestellt worden, ohne je zu versagen. Ausserdem ist er in den
Rheinlanden in den meisten grösseren Städten (Bonn, Düssel¬
dorf, Barmen, München-Gladbach, Bergisch-Gladbach, Aachen
etc., W iesbaden, in Baden und vielen kleinen Gemeinden offi¬
ziell eingeführt. Dabei ist der Apparat im Betrieb sehr billig.
bür etwas weniger empfehlenswert hält Vortr. die Ver¬
dampfungsapparate. Unter ihnen nimmt der Breslauer Apparat
von Flügge die hervorragendste Rolle ein. Er ist aber in¬
sofern unökonomisch, als er sehr viel Heizspiritus braucht und
man stets einen nicht unbeträchtlichen Ueberschuss von For¬
malin nehmen muss, weil ein Rest des Formalins unverdampft
bleibt. Der Apparat Berolina und der Rapiddesinfektor von
Schneider, welche das Prinzip der Destillation im strömen¬
den Wasserdampf anwenden, haben vor dem F 1 ü g g e sehen
Apparat keinerlei Vorteile.
Vortragender demonstriert den Fl ügg eschen Apparat
in der Ausführung von B o i e - Göttingen und den Röpke -
schen transportablen Formalindesinfektor, welcher den Bres¬
lauer Apparat in kompendiöser Verpackung enthält. Dieser
R ö p k e sehe Apparat ist dazu hergestellt, um vom Desinfektor
auf dem Rücken, im Rucksack und als Koffer getragen zu
werden. Er ist dazu aber viel zu schwer, zum Teil zu zart
geai beitet, ausserdem fehlen bei der Ausstattung wesentliche
Teile (z. B. der vollständige Desinfektorenanzug).
Vortragender hat nach seinen Erfahrungen an dem nicht
kleinen Kölner Material und nach den Berichten aus den Rhein¬
landen keine Veranlassung, vom Coloniaapparat abzugehen.
Für die Durchführung der' Formalindesinfektion auf dem Lande
sind aoei die Kosten für arme Gemeinden noch unerschwing¬
lich. Um diesem offenbaren Bedürfnis abzuhelfen, ist Vortr.
fiii das Land zu dem Prinzip des F 1 ü g g e sehen Breslauer
Apparates zurückgekehrt. Er hat ihn aber entsprechend modifi¬
ziert, dass er 1. leichter, daher bequemer transportabel, dabei
doch 2. wirksam ist, 3. weniger Spiritus verbraucht. (Demon¬
stration des neuen Landapparates, welcher von Boie-
Göttingen gebaut w7ird; der Preis wird sich auf ca. 20 M.
stellen.) Ein Apparat ist auf 50 cbm Raum berechnet, da die
meisten Räume (60 Proz.) kleiner sind. Der Apparat kann
auch als Ammoniakapparat dienen. Drei Apparate für eine
Gemeinde (= Sa. 60 M.) dürften genügen. Die Aus¬
rüstung dazu kostet, in 2 Eimern transportabel, kom¬
plett 30 M. Die Gesamtkosten betragen also nur 90 M. Durch
Engrosbezug der Chemikalien durch die Kreisdesinfektions¬
anstalt und geeignete T arife kann der Betrieb verbilligt werden.
Vielleicht Hesse sich die Unterstützung der Landwirte ge¬
winnen zu gemeinsamer Organisation, da sie zur Seuchen¬
bekämpfung beim Vieh auch Desinfektionen notwendig haben.
Medizinische Gesellschaft zu Leipzig.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 12. Juni 1906.
Vorsitzender: Herr Cursch m a n n.
Schriftführer: Herr R i e c k e.
Herr W ilms: I. Die Ursache der Kolikschrnerzen. Nach
kurzer Erörterung der Entstehung der Kolikschmerzen bei
Nieien- und Gallensteinen, möchte ich darauf hinweisen, dass
die neuerdings von Nothnagel geäusserte Ansicht, dass
die Kolikschmerzen des Darmes entständen durch die bei Kon¬
tiaktion der Muskulatur auftretende Anämie, ebensowenig zu
Recht bestehen kann, wie die Auffassung Lennanders, der
beim Kolikschmerz des Darmes eine grössere Bedeutung dem
D r u c k auf das parietale Peritoneum durch die sich
stellenden Darmschlingen zuweist. In der Erklärung der
Gallenstein- und Nierensteirikolikschmerzen hat sich Len-
nander der schon früher von mir ausgesprochenen Meinung
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1595
augeschlossen, dass die D e h n u n g des Nierenbeckens und
der G^llengänge die Ursache der Schmerzen sei, dagegen
glaubt er, dass beim Darm, der ein bewegliches langes Mesen¬
terium hat, eine Zerrung am Mesenterialansatz durch Kon¬
traktion des gefüllten Darmes nicht eintreten könne, einmal
deshalb, weil unter diesen Verhältnissen Kolikschmerzen nur
auftreten könnten bei einer Kontraktion des Darmes, die z u -
gleich längere Strecken desselben beteiligt, zweitens,
weil bei jedem Kolikanfalle eine Kontraktion der Bauch-
w and eintrete, die eher den Darm dem Mesenterialansatz
nähern müsse, als dass sie einen Zug an demselben gestattete.
Was diese beiden Gründe angeht, so ist zu betonen, dass
bei den echten Kolikschmerzen, wie sie z. B. bei Strikturen auf¬
treten, stets grössere Strecken des Darmes sich zu gleicher
Zeit steifen. Hier liegt also die eine Bedingung, welche
Lennander fordert, sicherlich vor. Der zweite Satz, dass
durch Muskelkontraktion der Bauchwand eine Zerrung am
Mesenterialansatz verhindert würde, ist deshalb nicht richtig,
weil trotz Kontraktion sich der Darm doch in den verschieden¬
sten Formen legen kann, sodass auch dann noch ein Zug, durch
das Bestreben des Darmes, sich bei starker Füllung gerade zu
richten, ausgeübt wird. Ebensowenig wie eine Muskelkon¬
traktion der Bauchwand verhindern kann, dass eine Streckung
und Dehnung der F 1 e x u r a sigmoidea auftritt, eben¬
sowenig kann sie Streckung und Dehnung des Dünndarms ver¬
hindern. Wegen weiterer Einzelheiten verweise ich auf eine
von mir demnächst erscheinende ausführliche Arbeit. Das
Thema wird auch erörtert in dem voraussichtlich September
oder Oktober erscheinenden Bande der Deutschen Chirurgie
über Ileus.
II. Eine besondere Schmerzform am Unterschenkel
(Lymphangitis rheumatica chronica). Unter dieser Be¬
zeichnung möchte ich eine Affektion abgrenzen, die
sich charakterisiert dadurch, dass Patienten und Pa¬
tientinnen, letztere stellen das Hauptkontingent, ii bei
Schmerzen im Fuss, Fussgelenk oder Ferse klagen, während
bei ihnen eine besondere Schmerzzone nachweisbar ist in
bestimmtem Bereich des Unterschenkels.
Während am Fuss und Fussgelenk auf Druck keine Schmerzen
auszulösen sind, zeigt sich stark druckempfindlich die
Region an der Innenseite der Wade, in welcher man
bei Druck die grossen Gefässe, Arteria und Vena posterior
trifft. Manchmal lässt sich der Druckschmerz auch am Ober¬
schenkel verfolgen im Verlaufe der Gefässe bis zum P o u p a i t-
schen Band.
Als Ursache dieser Schmerzen bei Individuen, bei denen
kein Plattfuss vorliegt, noch Krampfadern be¬
stehen, bei denen ferner die Muskeln ebenso wie die
grossen Nervenstämme, speziell Netvus peroneus, aur
Druck auch unempfindlich sind, also Myositis und Neuiitis aus¬
geschlossen werden kann, möchte ich Veränderungen an¬
sprechen, die durch schlechte Zirkulation und Häufung von
Noxen entstehen im Bereich der tiefen Gefässe, wohl be¬
sonders im Lymphgefässystem,
Viele Individuen mit derartigen, leicht zu erkennenden
Schmerzen, die in allen Fällen auffallend gleichartig auftraten,
zeigten zugleich andere chronische rheumatische Störungen,
auch liess sich bei einzelnen ein Zusammenhang mit akutem
Gelenkrheumatismus feststellen. Aus dem Giutide hielt ich die
obige Bezeichnung zur schärferen Fixierung dieser Form von
Schmerzen für angebracht. Die ausführliche A i beit ist in den
„Beiträgen zur klinischen Chirurgie 1906, Juliheft, erschienen.
III. Demonstration eines geheilten Herzschusses. Einschuss mit
6-mm-Revolver, etwa in der Mitte des linken Ventrikels, Ausschuss
an der Rückseite, ebenfalls etwa in der Mitte des linken Ventrikels.
(Operation 2 Stunden nach der Verletzung.) Die gewöhnliche Form
der Lappenbildung mit Stiel am Sternum genügte zur ai
an der Vorderseite (3 Nähte), dagegen konnte die Rückseite erst
genäht werden, nachdem ein langer Einschnitt im -4. Interkos a raum
bis in die Axillarlinie geführt worden, also entsprechend dem i -
kulicz- Sauerbruch sehen Interkostalschnitt Dadurch wurde
der Zugang frei zur hinteren Herzwand (ebenfalls 3 Nahte) Ein- und
Ausschuss am linken Unterlappen der Lunge wurde auch durch eine
Seidennaht versorgt, Perikard und Thorax werden völlig geschlossen,
glatte Heilung.
Auf Grund dieser Erfahrung scheint mir für die Fälle, in denen
man annehmen kann, dass in der hinteren Herzwand auch Nähte
angelegt werden müssen, die Eröffnung des Thorax dui c 1
einen langen Int er kostalschnitt im 4. Zwischenrippenraum
eher angebracht, als eine Lappenbildung in den bekannten Formen,
wie sie bis jetzt ausgeübt worden ist. Um genügenden Eingang iei
dieser Interkostaleröffnung zu haben, kann man je nachdem die 4.
und 5. Rippe neben dem Sternum einkerben, was den Zugang um ein
beträchtliches erleichtert. Die Furcht vor einem Pneumothorax ist,
wie wir jetzt wissen, bei Operationen am Herz unbegründet, da linniei
schon bei Verletzungen des linken Ventrikels ein Pneumothoiax ge¬
steht, oder bei dein. folgenden chirurgischen Eingriff, welcher Art
er auch sei, regelmassig eintritt.
Herr Colmers (a. G.): Kriegschirurgische Erfahrungen
aus dem russisch-japanischen Feldzuge. (Mit Demonstrationen
lind Vorführung von Lichtbildern.)
Vortragender betont die scharfe Gliederung der modernen
Kriegschirurgie in zwei getrennnte Arbeitsgebiete, die sich nicht
nur nach der Art der Tätigkeit, sondern auch nach den leiten¬
den Gesichtspunkten und der chirurgischen Indikationsstellung
unterscheiden: das ist die Chirurgie der Kriegs- und Reserve¬
lazarette und die ärztliche Hilfe auf dem Schlachtfelde und
während des Transportes. Strengster Konservatismus ist in der
Front notwendig; gestattet sind nur Amputationen, Unter¬
bindungen und Trepanationen. Was der Burenkrieg schon an
einzelnen Fällen lehrte, hat dieser erste grosse moderne Feld¬
zug gelehrt als Prinzip aufzustellen: Die Desinfektion frischer
Wunden hat überhaupt zu unterbleiben und nur ihre Einhüllung
in steriles oder antiseptisches Verbandmaterial ist, allerdings
mit grösstmöglichster Sorgfalt, durchzuführen. Von ganz be¬
sonderer Wichtigkeit ist die strenge Durchführung dieses Prin¬
zips bei den Schussfrakturen, bei denen, wie Vortr. bereits
auf den Verhandlungen des diesjährigen Chirurgenkongresses
ausführte1 2), der Hauptwert auf einen gut fixierenden Verband
und raschen Transport in das nächste Kriegslazarett unter Ver¬
meidung jeden Verbandwechsels zu legen ist. Vortr. tritt dafür
ein, dass die Feldärzte für die Behandlung typischer Ver¬
letzungen, wie es namentlich die Schussfrakturen sind, an
ein die Behandlung festlegendes Schema streng gebunden sein
sollten, im Interesse der Einheitlichkeit des Heilverfahren bei
der verhältnismässig grossen Anzahl verschiedenei Aerzte,
durch deren Hände der Verwundete während des Transportes
geht. Nach Schilderung der grossen Schwierigkeiten des ärzt¬
lichen Dienstes in der Front, die Vortr. selbst durch seine Teil¬
nahme an einigen Streifzügen einer vorgeschobenen Kosaken¬
brigade aus eigener Erfahrung kennen lernte, geht er über zur
Chirurgie in den hinter der Front gelegenen Lazaretten. Vortr.
erläutert auf Grund der Arbeit des Deutschen Roten Kreuz¬
lazarettes in Charbin, dem er angehörte, die Tätigkeit des
Lazarettarztes, dessen Bestreben sein soll, in der Art ihrer
Ausübung möglichst sich dem Betriebe eines wohleingerich¬
teten Krankenhauses im Frieden zu nähern.
Am seltensten kommen hier Verletzungen der Bauchein¬
geweide zur chirurgischen Behandlung. Vortr. fand zwei Fälle
bemerkenswert, wo sich ohne auffallende Symptome, vor
allem ohne Fieber, nach scheinbar reaktionslos verlaufenen
Bauchschüssen Abszesse im Douglas gebildet hatten, von denen
der eine, rektal eröffnet, ausheilte, während der andere, ab¬
dominal angegriffen, schliesslich zu Peritonitis und Exitus
letalis führte. Man soll daher auch scheinbar glatt verlaufene
Fälle von Bauchschüssen noch längere Zeit durch rektale
Untersuchung kontrollieren.
Nach einem kurzen Hinweis auf seinen Vorschlag, den
Transport der Bauchverletzten prinzipiell und systematisch
durch Einführung bestimmter Vorschriften zu vermeiden'-),
erörtert Vortr. kurz unter Beziehung auf selbst beobachtete
Fälle die Chirurgie der Kopf-, der Nerven- und Gefässver-
letzungen, bei welch letzteren er eine Anzahl Präparate von
Brentano3) operierter Fälle demonstriert und einen lehr¬
reichen, durch Sektion gewonnenen Fall eines Schrägschusses
*) Verhandlg. d. D. Ges. f. Chir. 1906, II.
2) Ueber den ersten Transport Schwerverwundeter. Deutsche
med. Wochenschr. 1906, No. 14.
3) Verhandlg. d. D. Ges. f. Chir. 1906.
1596
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
durch die Aorta, der 70 Tage nach der Verwundung durch eine
Nachblutung aus der Leber zum Exitus kam.
Auch die Entfernung von Fremdkörpern, in den meisten
Fällen Geschosse und Geschosstrümmer, nimmt einen ziemlich
breiten Raum der Tätigkeit im Lazarett ein. Fremdkörper
sollen, wie auch v. Bergmann betont, nur entfernt werden,
wenn sie zu Eiterungen führen oder wesentliche Beschwerden
machen.
Vortr. demonstriert eine ganze Anzahl solcher von ihm extra¬
hierter Geschosse und Geschossteile unter näherem Eingehen auf
einige interessantere Fälle.
Im Anschluss hieran demonstriert Vortr. in einer Reihe von
Lichtbildern Röntgenogramme, die seine Ausführungen über die Be¬
handlung der Schussfrakturen und der steckengebliebenen Geschosse
erläutern.
In zahlreichen weiteren Lichtbildern erhärtet Vortragender so¬
dann die eingangs geschilderte scharfe Trennung in Lazarett- und
Feldchirurgie, indem er zuerst das musterhaft ausgestattete deutsche
Lazarett, in Charbin vorführt, sodann den Transport der Verwundeten
auf der Eisenbahn und im Felde schildert und schliesslich noch eine
Reihe von Aufnahmen aus den vordersten Linien selbst und von
Schlachtfeldern zeigt.
Aerztlicher Verein München.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 7. März 1906.
Vortrag des Herrn R. G r a s h e y über Fremdkörper und
Röntgenstrahlen (mit Lichtbildern). (Erschien in dieser Wo¬
chenschrift 1906, Nr. 26.)
Vortrag des Herrn S. Oberndorfer: a) Mitteilung
Ueber Divertikel der Appendix und über Schleimbildung in
denselben und in ihrer Umgebung; b) Vortrag Ueber chro¬
nische Appendizitis. (Ausführlich veröffentlicht in den Mit¬
teilungen aus den Grenzgeb. d. Med. u. Chir.).
Vortrag des Herrn Krecke: Können wir die schweren,
die sofortige Operation erfordernden Appendizitisfälle er¬
kennen? (Erschien in dieser Wochenschrift 1906, Nr. 15.)
Diskussion: Herr v. Stubenrauch: Die Technik der
Bauchhöhlenoperationen ist heutzutage derart ausgebildet, dass prin¬
zipielle Reformen in der nächsten Zeit nicht zu erwarten stehen.
Dagegen liegt die Diagnostik der einzelnen Appendizitisfälle noch
recht im Argen. Ich selbst habe mich stets bemüht, mir aus dem Ver¬
laufe der Krankheit, wie den Krankheitserscheinungen ein möglichst
genaues pathologisch-anatomisches Bild von der vorliegenden Erkran¬
kung zu bilden, habe mich aber in einer nicht unbeträchtlichen An¬
zahl von Fällen enttäuscht gesehen. Zweifellos ist unsere Haupt¬
aufgabe für die nächste Zeit, die operationsbedürftigen Fälle dia¬
gnostisch von jenen trennen zu lernen, in welchen vorläufig von einer
Operation abgesehen werden kann und ich halte es wie Herr Kollege
Krecke für sehr praktisch, nach dem Vorschläge von Sprengel
zwei Hauptgruppen der Appendizitis zu unterscheiden, eine Appendi¬
zitis Simplex und eine Appendicitis destructiva. Letztere müssen so¬
fort operiert werden. Nun glaube ich, m. H., dass es mit der Auswahl
eines maximal frühen Zeitpunktes für die Operation, der, wie all¬
gemein anerkannt, die besten unmittelbaren Resultate für die Operier¬
ten gibt, eine Fehldiagnose ab und zu Vorkommen wird. Ich selbst
bin als Anhänger der Frühoperation zweimal in die Lage gekommen,
anstatt eines erkrankten Wurmfortsatzes starke Schwellungen der
ileozoekalen Lymphdriisen mit rein serösem oder trüb serösem Trans¬
sudat in der Bauchhöhle von Kindern anzutreffen, welche mit Ileo-
zoekalschmerz, Fieber, Erbrechen und Kollaps ins Spital gebracht
worden waren. Die Laparotomie hat keinem der beiden Operierten
geschadet.
Was nun die einzelnen Erscheinungen betrifft, welche zur Kon¬
struktion des Bildes Appendicitis destructiva gehören, so muss ich
nach meinen Erfahrungen Herrn Kollegen Krecke zustimmen, wenn
er sagt, dass der schmerzhaften Spannung der Bauchwand für die
Mehrzahl der Fälle die grösste Bedeutung zukommt. Sie fehlt nur
in den seltensten Fällen. Ich muss aber auch sagen, dass ich jeden
Fall, welcher heftige lokalisierte Schmerzen zeigt, als suspekt für
destruktive Prozesse betrachte (Nachtrag: Erst in den jüngsten Tagen
habe ich einen jungen Menschen operiert und geheilt, der bei einer
Pulszahl von 74 — 80, einer Iemperatur von 39° über exzessive, durch
Morfin kaum zu mildernde Zoekalschmerzen klagte: Es lag fou-
droyante Gangrän der Appendix und ihres Gekröses vor, mit be¬
ginnender Peritonitis). Auch das Erbrechen kann für sich allein ein
Zeichen destruktiver Appendizitis sein, wenn es länger als 24 Stunden
dauert. Bezüglich der Temperatur bin ich zu anderer Anschauung ge¬
langt wie früher. Sie bietet wenig Anhaltspunkte; mehr noch der
Puls, obwohl auch dieser recht oft täuschen kann. Ein gewisses
Missverhältnis zwischen Temperatur und Puls in dem Sinne, dass
die Pulszahl zu hoch im Verhältnis zur Körperwärme erscheint, muss
stets zu denken geben. Im allgemeinen stehe ich auch auf dem Stand¬
punkte, nicht zu schematisieren, im Durchschnitt aber doch eine Puls¬
zahl über 100 bei Leuten über 10 Jahren ebenfalls als Indicatio
operationis anzusehen. Die Hauptsache ist: Stets alle verwertbaren
Symptome, schmerzhafte Bauchdeckenspannung, Erbrechen, Schmerz,
Pulsfrequenz, schliesslich auch die Behinderung in den Atemexkur¬
sionen auf der erkrankten Seite genauestens abzuwägen. Es kann
aber ein schlimmes Zeichen allein die sofortige Operation erfordern.
Diese muss selbstverständlich bei gestellter Diagnose: „Appendizitis
destructiva“ sofort gemacht werden. Aus diesem Grunde halte ich
es auch keineswegs für zweckmässig eine Leukozytenzählung vor¬
zunehmen. Eine so unzuverlässige Methode kann nicht in Frage
kommen. Wir wollen operieren, noch ehe eine Gewebsdestruktion
zur Ansammlung grösserer Eitermengen geführt hat. Für die Dia¬
gnose der ersteren ist sie unbrauchbar, weil unzuverlässig.
Herr Decker: Im Verhältnis zur akuten Appendizitis wird im
allgemeinen der chronischen Appendizitis zu wenig Aufmerksamkeit
und auch zu wenig Bedeutung geschenkt. Auch nach meinen Er¬
fahrungen unterliegt es keinem Zweifel, dass in sehr vielen, wenn
nicht in den meisten Fällen die akute Form aus der chronischen sich
entwickelt. Deshalb ist die chronische Appendizitis in diagnostischer
und therapeutischer Beziehung von der grössten Bedeutung. Wird
die chronische Appendizitis frühzeitig erkannt und entsprechend be¬
handelt, dann werden wir mancher akuten Katastrophe mit letalem
Ausgang Vorbeugen können.
Gewöhnlich tritt die chronische Form der Appendizitis unter dem
Bilde eines chronischen Darmkatarrhs auf, der sich jedoch in mehr¬
facher Beziehung von einem gewöhnlichen Darmkatarrh unter¬
scheidet. Der Stuhl ist im allgemeinen retardiert, nicht selten tritt,
ohne dass ein Diätfehler oder eine Erkältung vorausgegangen, eine
meist mit Kolik verbundene heftige Diarrhöe auf, die von einer ge¬
ringen Temperatursteigerung begleitet sein kann, aber nicht immer
begleitet ist. Ich halte es für sehr wichtig, bei diesen akuten Diar¬
rhöeanfällen alle 2 Stunden die Temperatur zu messen; es werden
sich dann gewöhnlich geringe Temperatursteigerungen ergeben, die
differentialdiagnostisch sehr wichtig sind.
Im Verhältnis zu dem auch bei gewöhnlichem Dickdarmkatarrh
bald hier, bald dort hin und wieder auftretenden Schmerzen sind
die Schmerzen bei chronischer Appendizitis mehr lokalisiert, und
zwar zeigt sich diese Lokalisation besonders gern um den Nabel
herum; ausserdem strahlt der .Schmerz gern in die Blase aus, so dass
häufiger Urindrang sich geltend macht.
Objektiv lässt sich in den meisten Fällen eine gewöhnlich am
äusseren Rand des Muse, rectus dexter oder am unteren Ende des
Zoekum gelegene, scharf umschriebene, auf Druck schmerzhafte Stelle
nachweisen, die keine grössere Ausdehnung besitzt als die einer
Fingerkuppe. Für ausschlaggebend halte ich es aber, dass diese
Schmerzzone sich nicht bloss bei einer, sondern bei wiederholten
Untersuchungen nachweisen lässt.
Was die Behandlung der chronischen Appendizitis betrifft, so hat
man in erster Linie für Beseitigung resp. Besserung des begleitenden
Darmkatarrhs und für Regulierung des Stuhls zu sorgen. Aber nur
selten wird es uns gelingen, mit der internen Behandlung weiter zu
kommen. Auch die von Moosburger ^empfohlene Sol. Argent.
colloidal. habe ich wiederholt versucht, aber ohne Erfolg. In den
meisten Fällen kann nur ein chirurgischer Eingriff die Beschwerden
beseitigen. Und in diesem chronischen Stadium der Erkrankung ist
die Operation jedenfalls als eine gefahrlose zu bezeichnen.
Herr G e b e 1 e schliesst an seinen März 1904 gehaltenen Vor¬
trag über Blinddarmentzündung an und berichtet, dass vor Septem¬
ber 1902 an der Münchener chirurgischen Klinik die Operation im
freien Intervall angestrebt wurde. Von akuten Fällen kamen nur
Abszesse und diffuse Eiterungen zur Spaltung. Die Mortalität der
diffusen Eiterungen betrug 85 Proz. Vom September 1902 bis März
1904 wurde die Operation besonders auch in den akuten Fällen aus-
gefiihrt, bei welchen es zu keiner Tumorbildung kam und die Krank¬
heitserscheinungen stürmisch waren. Fälle mit Tumorbildung galten
als gutartig und wurden womöglich ins freie Intervall überführt. Die
Mortalität der diffusen Eiterungen betrug noch 52 Proz. unter radi¬
kaler Freilegung des Eiters. Seit März 1904 wurden nun schwere und
leichte Fälle auseinander gehalten, erstere = 48 Fälle erfuhren früh¬
zeitige Operation, letztere = 9 Fälle konservative Behandlung. Die
Mortalität der diffusen Eiterungen betrug jetzt ca. 42 Proz.
Auf die 48 Frühoperationen trafen 11 Empyeme bezw. gangränes-
zierende Entzündungen des Wurms und 35 Perforationen (26 mal mit
sekundärer diffuser eitriger Peritonitis). Nur in 2 Fällen stellte sich
bei der Operation keine Blinddarmentzündung, sondern eine auf¬
steigende Para- und Perimetritis und eine geplatzte Pyosalpinx
heraus. G e b e 1 e pflichtet auf Grund dieser Erfahrungen Krecke
bei, dass man schwere Fälle, die früh operiert werden müssen, dia¬
gnostizieren könne. Die wichtigsten Symptome eines schweren
Falles sind:
L deutliche reflektorische Spannung und starke Druckempfind¬
lichkeit des Abdomens, besonders rechts.
2. kleiner Puls mit ansteigender Frequenz. Die Frequenz be¬
trägt oft nicht mehr wie 94, 96 Schläge in der Minute.
3. Darmparese und Erbrechen.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1507
August 1906.
4. Trockene, belegte Zunge. .
Hohe Temperatur ist nicht von Belang. Des öfteren wird bei
Frauen eine Blinddarmentzündung bei oder kurz nach Eintritt der
Menses vorgetäuscht. Dringend zu warnen ist bei der Blinddarm¬
entzündung vor der Anwendung des Opium, welches das Krankheits-
bild verdeckt. , .
Geb eie entgegnet Schmitt, dass die Indikationssteilung zur
Operation nach dem Gesichtspunkt Appendizitis mit und ohne Tumor
deswegen nicht zweckmässig sei, weil sich der Tumor in der Regel
erst am 3. Tage bilde, während die Entscheidung zur Operation
schon in den ersten 2 mal 24 Stunden fallen müsse. Der Tumor sei
auch oft, besonders bei starker Bauchmuskelspannung, schwer fühl¬
bar. Retrozoekale Tumoren fühle man überhaupt nicht. Uebrigens
gehörten zu den Fällen ohne Tumor auch die leichten Fälle, die un¬
bedingt konservativ behandelt, aber natürlich genau beobachtet wer-
den müssten. Das Curschmann sehe Phänomen könne gerade
in schweren Fällen von Appendizitis irre führen — normale oder
kaum erhöhte Leukozytenzahl trotz Perforation — und sei deshalb
nur von relativem Wert. T , . , .
Herr Wassermann: M. H.! Ich möchte die Leukozytose bei
Appendizitis auf Grund meiner Erfahrungen, die ich an der Münchener
chirurgischen Klinik zu machen Gelegenheit hatte (cf. Münch, med.
Wochenschr. 1902, No. 17 u. 18) nicht so geringwertig einschatzen,
als es von den Herren Vorrednern geschehen ist. Die Methode der
Leukozytenzählung ist zwar für den Praktiker unbequem, aber m
vielen Fällen lohnt sich die Mühe voll und ganz, denn gerade der
Umstand, dass die Leukozytenzahl unabhängig von den übrigen Er¬
scheinungen, also in Divergenz mit dem Verhalten von Temperatur,
Puls Habitus und örtlichem Befund eine für Eiterung charakte¬
ristische Steigerung haben kann, verleiht ihrer Feststellung in der
Beurteilung zweifelhafter perityphlitischer Prozesse eine Tragweite
von groser Bedeutung. So steht mir ein Fall in Erinnerung (cf. Archiv
f klin Chir., Bd. 69), bei dem das Verhalten von Temperatur und Puls
stets vollständig normal war, der anfangs deutlich Positive palpa-
torische und perkutorische Befund sich gänzlich zurückbildete, dei
allgemeine Habitus aber während der ganzen Krankheitsdauer nicht
im entferntesten eine schwere Affektion im Abdomen vermuten liess.
Die Leukozytenzahlen zeigten dagegen in umgekehrter Proportionali¬
tät zu den übrigen klinischen Symptomen vom 6 Tage unserer Be¬
obachtung an eine erhebliche Steigerung ihrer Werte und blieben
längere Zeit auf gleicher Höhe. Ein auf Grund dieser ratseihatten
Leukozytose vorgenommener operativer Eingriff lehrte, dass wir mit
Recht uns die Erfahrungen früherer Beobachtungen zu Nutze ge¬
macht hatten; denn es fand sich in einer intraabdominellen Abszess¬
höhle ein vollständig zerstörter Wurmfortsatz mit grosser, direkt ins
Zoekum mündender Perforationsöffnung und ausgetretenem Kotstein.
Dass ein derartig schwerer Befund eine direkte Lebensgefahi invol¬
viert und unserem Patienten, wenn er ohne Operation seinem
Wunsche gemäss entlassen worden wäre, hatte verhängnisvoll wer¬
den können, ist selbstverständlich. Der Verlauf dieses Falles durtte
beweisen, dass die Leukozytose nicht allein diagnostische Bedeutung
hat sondern auch recht gut zur absoluten Indikationsstellung eines
operativen Eingriffes herangezogen werden kann Denn wir haben
in der Leukozytenvermehrung eine sichere und feine Reaktion für
das Vorhandensein von Eiter. Freilich gilt dies nur für den positiven
Ausfall, während der Mangel einer Leukozytose nicht das Fehlen von
Eiter beweist. Die Indikationsstellung zur Operation darf daher
natürlich auf Grund eines einzelnen Symptoms nicht schematisch ge-
handhabt werden, insoferne zugegeben werden muss, dass einerseits
Fälle Vorkommen, bei denen zwar der Leukozytenbefund die Dia
gnose Eiterung sichert, nach allgemeiner Würdigung der Lage aber
dennoch auf eine Spontanheilung zu zählen ist, anderersed^ mch
verkannt werden darf, dass manchmal die Leukozytose fehlt obwohl
die übrigen Symptome sehr schwerwiegend sind und auf die Not¬
wendigkeit eines operativen Eingriffs hinweisen. Es entspricht dieses
letztere Verhalten dem Mangel an Reaktionskraft von seiten des
Organismus bei sehr schweren Infektionen, wie solcher auch bei
Pneumonie gerade in letalen Fällen konstatieit wurde.
“ Herr Kr ecke (Schlusswort): Es wäre sehr verführerisch auf
die mancherlei Anregungen der Diskussion noch naher einzugehen.
Bei der vorgeschrittenen Zeit muss ich mich aber darauf beschranken,
nur das Allerwichtigste hervorzuheben. . ,
Die Unterscheidung der Appendizitis mit und ohne umschriebenem
Exsudat halte ich im allgemeinen für eine recht zweckmassige und
glaube, dass die Appendizitis mit umschriebenem Exsudat weit gün¬
stiger beurteilt werden darf. Ein Zuwarten in solchen Fallen ist
wesentlich ungefährlicher, als in den Fällen ohne Exsudat. Mit wach¬
sender Erfahrung bin ich aber doch auf den Standpunkt gekommen,
auch bei diesen' Fällen die baldige Operation grundsätzlich zu em¬
pfehlen da man auch hier vor Ueberraschungen nicht sicher ist Heri
Schmitt hat selbst darauf hingewiesen, dass er zweimal einen
plötzlichen Durchbruch eines solchen Exsudates in die freie Bauch¬
höhle erlebt hat, und vor solchen Zufallen schützt uns nur die baldige
^^Allgemeinen bin ich sehr erfreut bei den anwesenden Herren
Zustimmung zu meinen Ausführungen gefunden zu haben. Einige
der Herren sind radikaler wie ich und wollen jeden Fall operieren.
Ich kann nur wiederholen, dass nach meinen bisherigen Erfahi ungen
die Unterscheidung der leichten und schweren Fälle möglich ist. Ich
glaube ein Recht zu haben, von der Operation in leichten Fällen ab¬
zustehen, so lange meine Erfahrungen gleich günstige sind.
Besonders wichtig scheint mir der Hinweis des Heim G i 1 m e i
zu sein, bei Kindern mit der Diagnose „leichte Appendizitis i echt
vorsichtig zu sein. Bei Kindern unter 10 Jahren übeilege icli es
mir viele Male, bevor ich die Diagnose auf Appendicitis Simplex
stelle. Bei Kindern kommen Täuschungen zu leicht vor und bei Kin¬
dern ist auch die Gefahr der Appendizitis eine besondeis giosse.
Die schwersten in kurzer Zeit zum Tode führenden Peritonitiden
habe ich bei Kindern unter 10 Jahren gesehen.
Besonders hervorheben möchte ich noch einmal, dass ich von
der Verabreichung von Opium dringend warne. Opium oder Mor¬
phium soll man nur dann geben, wenn die heftigen Schnidzen des
Patienten dringend eine solche Medikation verlangen. Mit den hef¬
tigen Schmerzen ist in der Regel die Indikation zur baldigen Opera¬
tion gegeben.
Bezüglich der weissen Blutkörperchen glaube ich auch, dass sie
bei der Frage, ob Abszessbildung oder nicht, unter Umständen von
Bedeutung sein können. Das ist aber immer erst in den späteren
Stadien der Krankheit der Fall. Für die uns hier interessierenden
ersten beiden Tage der Krankheit hat die Blutkörperchenzahlung
meines Erachtens keine Bedeutung. Ich glaube sogar, dass sie untei
Umständen geeignet ist, uns irre zu führen.
Herr Oberndorfer (Schlusswort): Auf die Frage des Herrn
Schmitt erlaube ich mir zu bemerken, das nach meiner Ueber-
zeugung Kotinhalt in der normalen Appendix nicht vorkommt; mir
scheinen hiefür auch die prachtvollen Röntgenbilder des Herrn
Rieder zu sprechen, der nach Wismutbreimahlzeiten z. I . das
ganze Kolon in all seinen anatomischen Details zur Darstellung
bringen konnte, ohne dass der Wurmfortsatz nur einmal sichtbar war.
Aerztlicher Verein in Nürnberg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 19. April 1906.
Vorsitzender : Herr Qoldschmidt.
Herr Bändel stellt einen Fall von Ulcus rodens wieder vor,
der nach 3 Sitzungen geheilt ist.
Herr Port:
1. Referat über den 35. Chirurgenkongress.
2. Ueber Appendizitis.
Herr Port berichtet über seine in den letzten 3 Jahren be¬
obachteten Fälle von Appendizitis bei deren Behandlung er sich nach
den jetzt allgemein gültigen Indikationen gerichtet hat: Venn mög¬
lich Frühoperation innerhalb der ersten 2 läge. Ist diese Zeit vei-
strichen (Intermediärstadium) so Abwarten event. Abszessinzision.
Empfehlung der Intervalloperation.
Es waren im ganzen 36 Kranke, von denen 20 zui Opeiation
kamen^i ^ Fällen hat p seibst die Operation abgelehnt, weil die
günstigen ersten 2 Tage verstrichen waren. Es waren leichte Fälle
mit wenig hohen Temperaturen, sie sind alle glatt geheilt. 8 mal
wurde die vorgeschlagene Operation vom Kranken verweigeit. Da¬
von starben 3 Pat., 5 sind genesen ohne Eingriff. Bei zwei weiteren
Patienten, Rezidiven nach früheren Abszessoperationen, war alles zur
Operation am nächsten Morgen bereit, die Pat. waren aber in der¬
selben Nacht nach reichlichem Stuhlgang fieberfrei geworden, dei
Abszess also wohl in den Darm durchgebrochen. Die Operation
unterblieb, die Pat. genasen.
Von den 20 Operierten waren 3 Intervalloperationen, sie heilten
glatt ohne Drainage. 4 wurden operiert während einei leichten
Exazerbation der chronischen Appendizitis, sie heilten unter Drai¬
nage. 8 Fälle waren Abszessinzisionen, darunter ein Todesiall. Die
Sektion ergab den Durchbruch eines intra vitam nicht diagnosti¬
zierten Magengeschwürs; der Abszess in der Fossa iliaca war voll¬
kommen fest gegen die Bauchhöhle abgekapselt.
Innerhalb der ersten zwei Tage wurden operiert 4 Fälle, sie
sind alle genesen.
Ein Fall, welcher irrtümlicherweise im Intervall radikal operiert
wurde starb: Es handelte sich um einen Jungen, welcher 8 Tage an
unbestimmten Schmerzen im Abdomen mit massigem hiebt i 38, o
erkrankt war, am 8. Tage war das Fieber zur Norm abgefallen. Am
nächsten Tage rasches Ansteigen der Temperatur und Schmerz deut¬
lich am MacBurney sehen Punkt, folgender Tag Schmerz noch
stärker Es wurde angenommen, dass seit gestern sich eine Appen¬
dizitis entwickelt habe im Anschluss an eine gewöhnliche Enteritis.
Operation noch am selben Tage. Der Wurmfortsatz wurde intrapen-
toneal aufgesucht, beim Lösen desselben entleerte sich plötzlich eine
grosse Menge Eiter von dem wohl, trotzdem sorgfältig mit Kom¬
pressen abgedeckt war, etwas in die freie Bauchhöhle geflossen ist.
Tod am nächsten Morgen.
1598
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Aerztlicher Bezirksverein München.
Sitzung vom 25. Juli 1906.
Die Versammlung ist schwach besucht.
Der Verein für Heilung kriippelhafter Kinder gibt von seiner
Gründung und den Zwecken des Vereins Kenntnis.
Der Vorsitzende referiert über die am 20. ds. vom Leipziger
V erband einberufene Aerzteversammlung . Ls wurde der Beschluss
gefasst, dass der Aerztevereinsbundrevers an Stelle des Münchener
Vertrags treten solle. Letzterer bleibt solange in Kraft, bis der Re¬
vers in genügender Zahl unterzeichnet ist.
Die Kasse selbständiger Meister im Lriseurgewerbe ist an die
Vertragskommission herangetreten mit dem Ersuchen eines Vertrags¬
abschlusses auf Grund der Sätze: 2 M. für jeden Besuch, 1 M. für die
Konsultation, Extraleistungen nach der staatlichen Mindesttaxe. Mit
Hinblick auf den Beschluss des Aerztetages hat die Vertragskom¬
mission die Angelegenheit dem Plenum zugeleitet.
Bauer bedauert die Stellung des Aerztetages in der Mittel¬
standskassenfrage. Er befürwortet nach dem Beispiel von Stuttgart
eine üi tliche Regelung. Die hier angebotenen Bedingungen seien
unter Berücksichtigung der sonst in diesen Kreisen üblichen Hono¬
rierung wohl annehmbar. Lehne man ab, so werden viele der Mit¬
glieder in den schon bestehenden Kassen unterzukommen suchen.
Hecht: Von den Friseuren im Zentrum der Stadt besitzen
manche ein^ Reineinkommen über 3000 M. und haben bisher ihren
Arzt resp. Spezialarzt selbst honoriert. Keinesfalls kann heute dar¬
über Beschluss gefasst werden. Bei der prinzipiellen Wichtigkeit ist
dei Punkt auf die lagesordnung zu setzen; so lange ist die definitive
Antwort an die Kasse aufzuschieben.
Wird angenommen.
P u n k t II. Wahlen zur Aerztekammer: An Stelle von
y ecke und Gossmann, die eine Wiederwahl ablehnen, werden
Bezirksarzt Henkel und S t e r n f e 1 d gewählt. Die übrigen Dele¬
gierten Kastl, A. Mueller, Salzer, Fr. Bauer, Hartle wer¬
den wiedergewählt. Als Ersatzmänner werden wie im Vorjahre be¬
stimmt: 1) o e r n b e r g e r, Einhorn, Kustermann, Schnei¬
der, Scholl, Hecht, J o o s.
• Punkt 111. Beantwortung der Broschüren des Neuen
Standesvereins und Vereinigung Münchener Bahnärzte.
Zur Abfassung der in der Versammlung vom 14. II d J be¬
schlossenen Entgegnung waren S t e r n f e 1 d, Joos, Bauer' von
dei Vorstandschaft bestimmt worden.
c i ^|e Y^rlesun& des von der Kommission verfassten umfangreichen
Schriftstückes nimmt geraume Zeit in Anspruch. Im Anschluss daran
wird auch die Entgegnung der Vorstandschaft auf die Broschüre der
Bahnarzte im Wortlaut bekannt gegeben. Dieselbe war bereits im
Oktober v. J. der Aerztekammer Vorgelegen. Von einer Verlesung
und damit der Veroifentlichung im Protokoll war im Interesse der
geplanten Einigungsverhandlungen damals Abstand genommen wor-
i ..rwf rnit ^edali aufgenommenen Darlegungen reiht sich eine
lebhafte Debatte über die Frage, ob die verlesene Entgegnung jetzt
auch veröffentlicht werden soll.
\T Rrecke: Die Hinausgabe wird von neuem dem Unfrieden
Nahiung geben und den Riss nur noch erweitern. Von der Gegen¬
seite wird eine Erwiderung nicht ausbleiben. Unter Anerkennung
der Leistungen der Kommission beantragt er, die Drucklegung der
Broschüre zu unterlassen.
Hecht: Wir haben immer im Interesse des Friedens geschrie¬
ben, aber damit wenig Verständnis beim N. St.-V. gefunden. Ja
von -eite der Bahnärzte sind schwere Vorwürfe gegen Kollegen
B a u e r erhoben worden, ohne dass sie nach Richtigstellung der Tat¬
sachen zuruckgenommen worden sind. Doch scheint der jetzige Zeit-
Veröffentlichung nicht günstig. Er befürwortet auch
mit Hinblick auf den geringen Besuch der Versammlung als Ver¬
mittlungsantrag die Beschlussfassung über die Veröffentlichung bis
zum Herbst aufzuschieben.
a u e r: Beschluss des Bezirksvereins mit 72 gegen
n.ri,tllJ/reAhUfÄb!?SSU1^ einer Entgegnung liegt vor, dies schliesst
auch die Absicht der Klarstellung in der Oeffentlichkeit in sich.
Wn sind es dem Ansehen des Bezirksvereins schuldig, endlich zu
kniZp, i u krnnAuns "icht ^eichgültig sein, dass die auswärtigen
worden sindCh ^ Angnffe der anderen Seite gegen uns beeinflusst
o s: AneL wenn wir nichts tun, werden neue Schläge von der
anderen Seite geführt werden. Antworten wir nicht, so glaubt man
wir haben nichts zu erwidern. s
i" ^eu^a“s: ^an spricht bei uns immer vom Frieden, dabei
vls,s ,de,r N',St'"rV d€jn arasraph seiner Satzungen bestehen, der die
Mitglieder des Bezirksvereins vom N. St.-V. ausschliesst und somit
eine schwere Beschimpfung des Bezirksvereins enthält.
Bezirksarzt Henkel: Will nicht gegen die Veröffentlichung
sprechen, die wir schon den Verfassern der Broschüre schuldig sind
Doch kommt es ja auf Wochen nicht an. Vielleicht ist doch noch
eine Verständigung zu erzielen. Man überschätzt die Einwirkung der
gegnerischen Broschüren auf die auswärtigen Vereine. Er hat nicht
den Eindruck, dass diese Vorwürfe der Anerkennung des mann¬
haften Vorgehens des Bezirksvereins geschadet hätten. Je massvoller
wir handeln, um so mehr wird es uns nützen.
Hofrat May regt an, die Entgegnung nur an die Mitglieder des
Vereins zur Information zu verschicken.
Dem wird entgegnet, dass die Mitglieder im wesentlichen unter¬
richtet sind, dagegen müssen die deutschen Vereine über die Un¬
richtigkeit der Anschuldigungen aufgeklärt werden.
Sternfeld hat damals mit der kleinen Minderheit gegen die
Abfassung der Broschüre gestimmt, da er den Zeitpunkt für verspätet
hielt. Dem wiederholten Drängen der Vorstandschaft, die Broschüre
mitzuverfassen, habe er widerstrebend Folge leisten müssen, persön¬
liche Motive seien ihm völlig ferngelegen. Nachdem der Beschluss
mit grosser Mehrheit gefasst worden sei und auch die Vorstandschaft
auf neuerlich erfolgte Angriffe in der Oeffentlichkeit (Münch, med.
Wochenschr. No. ll)auf die demnächst erscheinende Broschüre hin¬
gewiesen habe, so würde man sich lächerlich machen, wenn man von
ihrer Hinausgabe abstehen wollte. Er stellt den Antrag, an die Aerzte¬
kammer ein Schreiben zu richten, in dem der Aerztliche Bezirksverein
unter Bezugnahme auf den vom N. St.-V. an den Schriftführer der
Kammer gerichteten Brief (Münch, med. Wochenschr. No. 10) auf
die der Aerztekammer überreichte Widerlegung verweist. Sie stellt
die letzte und endgültige Kundgebung des Aerztlichen Bezirksvereins
dar, nachdem es den wiederholten Bemühungen der Kammer nicht
gelungen ist, eine Einigung der beiden Parteien zu erzielen.
Kleinschmidt beantragt, die Entgegnung nur dem N. St.-V.
und der Bahnärztlichen Vereinigung zuzuleiten und nicht damit an die
Oehentl ichkeit zu treten. Es würde so ein Beispiel einer feinfühlenden
Kampfesweise gegeben.
Nadolescny hält es für unangebracht, jetzt noch die Ent¬
gegnung hinauszuschicken, er glaubt nicht an die kochende Arztes¬
seele draussen im Land. Die geringe Beteiligung an der heutigen
Versammlung zeigt, wie das Interesse an diesem Streit auch in der
Münchener Aerzteschaft schwindet. Je gleichgültiger man sich gegen
den neuen Stande'sverein verhalte, um so mehr wird der Streit zur
Versandung gelangen.
Schliesslich werden nach längerer Diskussion die Anträge
K r e c k e, Hecht, Klein Schmidt abgelehnt und der Antrag
Sternfeld angenommen.
Die Entgegnung wird darauf im ganzen genehmigt und die Vor¬
standschaft beauftragt, nach einer letzten redaktionellen Durchfeilung
die Drucklegung und Versendung der Broschüre an alle ihr geeignet
erscheinenden Stellen zu veranlassen. u
Zum Schriftführer der Vertragskommission wird Herr B ay e r e r
gewählt.
Die übrigen Punkte der Tagesordnung werden in Anbetracht
der frühen Stunde auf die nächste Sitzung verschoben.
Schluss gegen 1 Uhr. p. Perutz
Verschiedenes.
N e u i o n a 1 (Bromdiäthylazetamid) ist nach den Beobachtungen
von Dreyfus ein zweckmässiges Schlafmittel bei Geisteskranken,
das in der Wirksamkeit nur vom Veronal übertroffen wird. Man gibt
es in Dosen von 0,5— 1,0, bei erregten Kranken bis zu 2,5. Von
Nebenerscheinungen traten nur zweimal unangenehme Kopfschmerzen
auf. (Ther. Monatsh. 1906, 5.) Kr.
Als Mittel zur internen Behandlung der Syphilis
empfiehlt S. B o s s - Strassburg i. E. auf Grund zweijähriger Ver¬
suche ein neues Antiluetikum M e r g a 1 (cholsaures Quecksilberoxyd).
Das Präparat kann als gutes neues Antiluetikum bezeichnet werden,
das auf das Syphilisvirus ebenso einwirkt wie eine Inunktions- oder
Injektionskur, es wird gut vertragen, erzeugt keine Durchfälle und
keine Nierenreizung und kann daher monatelang genommen werden.
Es ist bei allen Formen der Syphilis angezeigt und eignet sich be¬
sonders zur chronisch-intermittierenden Behandlung. Man gibt die
ersten 4—5 Tage 3 mal täglich eine Kapsel ä 0,05 cholsaures Queck¬
silberoxyd, vom 6. Tage ab 3 mal täglich 2 Kapseln, je nach der
Toleranz des Patienten und der Schwere der Erscheinungen bis vier-
bis fünfmal 2 Kapseln, stets nach dem Essen. Die Dauer der Be¬
handlung soll mindestens 10—12 Wochen betragen (20—25 g chol¬
saures Quecksilberoxyd). Das Präparat wird von der Firma J. D.
Riedel in Berlin hergestellt. (Mediz. Klinik 1906, No. 30.) R. S.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 7. August 1906.
. -Eta Besuch französischer A e r z t e in Berlin ist für
Mitte August in Aussicht genommen. Die französische Vereinigung
für ärztliche Fortbildung, an deren Spitze Prof. Dr. Roux, Direktor
des „Institut Pasteur“ steht, hat sich an den stellvertretenden Vor¬
sitzenden der Aerztekammer, Prof. Dr. Kossmann, mit der Bitte
gewandt, die Organisation des Berliner Studienaufenthalts, der drei
Tage dauern soll, zu übernehmen. Alle von Kossmann ange¬
gangenen Stellen haben mit grösster Bereitwilligkeit die Besichtigung
7. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1599
ihrer Institute gestattet. Am Freitag, 17. August, abends 7 Uhr, wird
die Berliner Aerzteschaft unter Führung der Aerztekammer den 35
bis 40 französischen Kollegen und ihren Damen einen festlichen
Empfang bereiten. '
_ Der Bezirkspräsident von Lothringen erliess auf Anregung
des Metzer Aerztevereins eine Polizeiverordnung, wonach alle öffent¬
lichen Ankündigungen oder Anpreisung von Heilbehand¬
lung von Kranken ohne persönliche Untersuchung (sogen. Fern¬
behandlung), sowie alle Ankündigung von Gegenständen, Mitteln,
Vorrichtungen oder Methoden, die zur Verhütung, Heilung oder Lin¬
derung von Menschen- oder Tierkrankheiten bestimmt sind, verboten
werden. Ebenfalls verboten werden alle Ankündigungen, sowie der
Verkauf von Mitteln, die auf geschlechtliche Dinge Bezug haben.
_ In Dresden wurde eine Gesellschaft für päda¬
gogisch-psychiatrische Forschung auf V eranlassung
des Spezialarztes für Nervenkrankheiten Dr. med. S t a d e 1 m a n n
begründet. Aufgabe der Gesellschaft ist das Studium von schul¬
psychischen Angelegenheiten.
— In Darmstadt fand am 29. Juli die feierliche Eröffnung des
Tuberkulosemuseums der Landesversicherungsanstalt für
das ürossherzogtum Hessen durch den Vorsitzenden der letzteren,
Geh. Regierungsrat Dr. D i e t z, statt.
— Dem Hospitalarzt Dr. med. Ernst M ii n c h in Strassburg i. E.
ist vom Kais. Statthalter der „Professortitel“ verliehen worden, (hc.)
— An der medizinischen Klinik und Poliklinik zu Marburg wird
vom 8. — 17. Oktober ein unentgeltlicher, ärztlicher Fort¬
bildungskurs abgehalten, der sich auf das Thema „T herapie
innerer Krankheiten“ beschränken wird. Durch eine detail¬
lierte Einteilung des Gesamtgebietes in Einzelthemen soll dessen
vollständige Behandlung gewährleistet, andererseits eine Auswahl
einzelner Gebiete ermöglicht werden. Es werden lesen: Dr. Böhme:
Serumtherapie und Serumprophylaxe; Verdauungsstörungen * des
Säuglingsalters; Prof. Brauer: Klinische Besprechungen und De¬
monstrationen; Prof, de la Camp: Erkrankungen der Atmungs¬
organe; Balneologie und Klimatotherapie; Dr. Hess: Geschlechts¬
krankheiten, Krankheiten der Harnorgane, Hautkrankheiten; Prof.
Hildebrand: Behandlung mit Röntgenstrahlen; Dr. Isaac:
Leberkrankheiten, Massage; Dr. Krieger: Spezielle Diätetik, Stoff¬
wechselstörungen; Dr. Port: Hydrotherapie, Thermotherapie, B i e r-
sche Stauung; Dr. van den Velden: Medikamentöse Therapie;
Dr. Vogt: Ernährungslehre, Diätetik und Therapie der Magen- und
Darmkrankheiten. — Anfragen sind an das Geschäftszimmer der medi¬
zinischen Klinik in Marburg a/L. zu .richten.
— In der Zeit vom 4. — 10. September 1906 findet zu Genf der
II. Kongress für Salubrität und Gesundheitspflege
der Wohnung statt. Das Programm des Kongresses umfasst
die Hygiene der Familienwohnungen, der Arbeiterwohnungen und
Wohnungen auf dem Lande, ferner die wohnungshygienischen Ge¬
sichtspunkte in Spitälern, Kasernen, Schulen, Gasthöfen und die Ver¬
kehrshygiene, die Gesetzgebung, Sanitätsverwaltung, Statistik dieser
ganzen Gebiete und die Frage, wie man trotz allen hygienischen Be¬
strebungen im Städtebild das Alte und die Denkmäler der Vergangen¬
heit mit ihrem malerischen und künstlerischen Charakter bewahren
kann. Anmeldungen zur Teilnahme am Kongress sind an Herrn
Zamb a, rue Petitot 12, in Genf zu senden.
— Pest. Türkei. In Djedda wurden in der Zeit vom 9. bis
15. Juli je 9 Erkrankungen und Todesfälle, in Mekka am 10. und
11. Juli 1 Erkrankung und 1 Todesfall an der Pest festgestellt. —
Aegypten. Vom 14. bis 20. Juli sind in Port Said 1, in Alexandrien
2 neue Pesterkrankungen und je 1 Todesfall gemeldet worden. —
Persien. Bis zum 8. April sollen in Seistan seit Beginn der Epidemie
563 Erkrankungen und 483 Todesfälle an der Pest vorgekommen sein.
Für Nasratabad und Hossein-Abad wird die Zahl der Pesttodesfälle
für die Zeit vom 13. bis 23. April auf 28 und 34 beziffert. Die Seuche
breitet sich langsam, aber stetig, zur Zeit in der Richtung auf Cho-
rassan aus. Die Durchführung der Quarantänemassregeln stösst
bei der Bevölkerung auf die grössten Schwierigkeiten. — Britisch-
Ostindien. Während der beiden am 30. Juni und 7. Juli abgelaufenen
Wochen sind in der Präsidentschaft Bombay 196 und 149 Erkran¬
kungen (151 und 106 Todesfälle) an der Pest gemeldet worden. In
Kalkutta starben in der Woche vom 17. bis 23. Juni 29 Personen an
der Pest. In Moulmein sind vom 16. bis 23. Juni 37 Personen an der
Pest gestorben. — Japan. In Kobe sind vom 15. Mai bis 14. Juni
15 neue Erkrankungen und 9 Todesfälle an der Pest angezeigt
worden. Auf Formosa wurden im Mai 1044 Erkrankungen (und 791
Todesfälle) an der Pest bekannt.
_ In der 29. Jahreswoche, vom 15. bis 21. Juli 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblich¬
keit Stettin mit 40,1, die geringste Schöneberg mit 8,5 Todesfällen
pro Jahr 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Gestorbenen
starb an Scharlach in Beuthen, Gleiwitz, Königshütte, Zwickau, an
Keuchhusten in Offenbach. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichte n.)
Berlin Der bisherige Privatdozent für Hygiene und erste
Assistent bei Prof. Kosselam hygienischen Institut der Universität
Giessen, Dr. med. Karl Kisskalt, der erst vor einigen Tagen als
Oberassistent an das Berliner hygienische Institut beiufen wuide,
hat sich mit einer Antrittsvorlesung über „Boden und Wasserver¬
sorgung“ in der medizinischen Fakultät der Friedrich Wilhelms-
Universität als Privatdozent niedergelassen.
Breslau. Das Institut für gerichtliche Medizin, enthaltend
Arbeitsräume, Hörsaal und Direktorialräume, wird zum Herbst d. .1.
unter Dach kommen und im Laufe des Sommersemesters 1907 er¬
öffnet werden. — Zum Dekan in der medizinischen Fakultät für das
neue Studienjahr 1906/07 wurde Geh. Medizinalrat Prof. Dr. v.
Strümpell gewählt.
Greifswald. Anlässlich des 450jährigen Jubiläums der Uni¬
versität Greifswald wurden zu Ehrendoktoren der medizinischen
Fakultät promoviert die Herren Hermann W e v e r, Unterstaats¬
sekretär im Kultusministerium, Wilhelm Schuppe, ord. Professor
der Philosophie in Greifswald, William Keen, Professor der Chirur¬
gie in Philadelphia, Hermann S n e 1 1 e n sen., Professor der Augen¬
heilkunde in Utrecht, Emile Roux, Professor und Direktor des Insti¬
tut Pasteur in Paris, Max K 1 i n g e r, Bildhauer in Leipzig („dem
grossen Meister in der Beherrschung der menschlichen Formengabe,
dem Ergriinder 'und Bildner der tiefsten Regungen des Seelenlebens,
der durch seine anatomische Meisterschaft und Exaktheit neu zu sehen
uns gelehrt hat“). — Prof. K r e h 1 in Strassburg wurde zum Ehren¬
doktor der philosophischen Fakultät promoviert. Als Festgabe er¬
schien eine „Geschichte der medizinischen Fakultät der Universität
Greifswald 1806—1906“ von Prof. Dr. G r a w i t z. — Die Privat¬
dozenten DDr. Karl Ritter (Chirurgie), Philipp Jung (Gynäko¬
logie) und Hermann Schröder (Zahnheilkunde) erhielten den Pro¬
fessortitel.
Leipzig. Zuin Rektor der Universität ist für das Studien¬
jahr 1906,07 Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Heinrich Cursch-
mann gewählt worden.
Marburg. Nachdem Dr. A 1 b r e c h t in Frankfurt a. M. den
Ruf als Nachfolger A s c h o f f s abgelehnt hat, wurde Professor Dr.
David v. Hansemann, Privatdozent für allgemeine Pathologie und
pathologische Anatomie und Prosektor am Rudolf Virchow-Kranken-
haus zu Berlin als Professor der pathologischen Anatomie an die
Universität Marburg berufen.
Tübingen. Prof. Dr. D ö d e r 1 e i n hat den Ruf nach
Rostock abgelehnt. — Als Nachfolger von Prof. Wollenberg
wurde Prof. Dr. B o n h ö ff e r - Breslau zum Vorstand der psych¬
iatrischen Klinik berufen. — Habilitiert hat sich Dr. Conrad Sick,
Assistenzarzt der medizinischen Klinik mit einer Vorlesung über
Experiment und Beobachtung in der Erkenntnis der Verdauungs¬
vorgänge.
Bordeaux. Dr. Denuce wurde zum Professor der Klinik
für Kinderkrankheiten ernannt.
Paris. Dr. A 1 b a r r a n wurde als Nachfolger Guyons zum
Professor der Klinik für Krankheiten der Harnwege, Dr. Thoinot
als Nachfolger Brouardels zum Professor der gerichtlichen Me¬
dizin ernannt.
Toulouse. Dr. C e s t a n wurde zum Professor der chirur¬
gischen Klinik ernannt.
Wien. Vier hervorragende Mitglieder der medizinischen Fa¬
kultät, die ordentlichen Professoren Dr. Moritz Benedikt, der be¬
kannte Psychiatriker und Nervenpathologe, Dr. Adam Politzer,
Direktor der Klinik für Ohrenkranke, Dr. Wilhelm Winternitz,
Baineologe und Hydrotherapeut, und der ausserordentliche Professor
Dr. E. v. S t o f f e 1 a d’A 1 1 a R u p e, Abteilungsvorsteher in der all¬
gemeinen Poliklinik, treten mit Ablauf des Sommersemesters wegen
Erreichung der akademischen Altersgrenze in den Ruhestand.
. Personalnachrichten.
(Bayern.)
Berichtigung. Entgegen den Meldungen in No. 29 und 30
dieser Wochenschrift hat Dr. Hermann Schum seinen Wohnsitz in
Würzburg.
Korrespondenzen.
Zur Frage der Katgutsterilisation.
Bemerkung zu dem Aufsatz des Dr. Otto v. Herff in No. 27
1906 dieser Wochenschrift.
Da Herr Dr. Otto v. Herff in seiner Arbeit über Katgutsterili¬
sation auch von der Verwendung trockenen Jodkatguts spricht,
möchte ich darauf hinweisen, dass ich in No. 51, 1905 der D. med.
Wochenschr. einen längeren Aufsatz über trockenes Jodkatgut und
dessen zweckmässige Verwendung in eigens konstruierten Gefässen
geschrieben habe, welcher Aufsatz dem Herrn Dr. Otto v. Herff
jedenfalls entgangen ist. Das von mir verwandte Jodkatgut bedarf
zur Herstellung keiner besonders patentierten Lösung, sondern jeder
kann es sich leicht selbst durch Hineinlegen des Katguts in die be¬
kannte Claudius sehe Lösung in der von mir geschilderten Weise
herstellen. Hinzufügen möchte ich an dieser Stelle noch die von mir
nachträglich gemachte Feststellung, dass sich durch bakteriologische
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 32.
Prüfung das trockene Jodkatgut auch nach Entfernen des Jods durcli
Ammoniak als völlig steril erwiesen hat, sowie dass ein dicker Jod-
katgutfaden, der unter die Haut einer Maus gebracht war, sich nach
8 Tagen völlig resorbiert hatte.
Oberstabsarzt H e r h o i d - Altona.
Oeffentliche Erklärung
zu der Arbeit des Herrn Dr. A. T r e u 1 1 e i n „Ueber chro¬
nische Oxalsäurevergiftung an Hühnern und deren Beziehung
zur Aetiologie der Beri-Beri“.
Von Dr. Q. Maurer und Prof. Dr. Hermann D ü r c k.
Unter dem obigen Titel hat Herr Dr. Adolf T r e u 1 1 e i n, Ober¬
arzt im k. bayer. 9. Infanterieregiment, zurzeit kommandiert zum
hygienischen Institut der Universität Würzburg, eine Arbeit in den
„Verhandlungen der Phvs.-med. Gesellschaft zu Würzburg“, N. F.,
Bd. XXXVIII, p. 323—346 (Würzburg, A. Stübers Verlag) er¬
scheinen lassen und als Habilitationsschrift der medizinischen Fakultät
der Universität Würzburg vorgelegt.
Leider müssen wir beide zu der Arbeit Stellung nehmen, da
der Verfasser in seinen Ausführungen mit keinem Worte die Ent¬
stehungsgeschichte seiner Untersuchungen erwähnt.
Der eine von uns (Dr. Maurer) sieht sich daher zu folgender
Erklärung veranlasst:
Herr Dr. A. T r e u 1 1 e i n kam im September 1905 zu mir nach
Meran, direkt von seiner Reise um die Erde — wie er mir sagte —
mit dem einzigen Zwecke, um von mir Näheres über meine Beriberi-
studien zu erfahren; ich erteilte ihm auf alle Fragen bereitwilligst Aus¬
kunft und wies ihn, da er wissenschaftlich an der Beriberifrage mit-
arbeiten wollte, auf den grossen Wert der E i j k m a n n sehen Hühner¬
versuche hin und riet ihm insbesondere, meine eigenen Fütte¬
rungsversuche mit Oxalsäure an Hühnern zu wieder¬
holen, um festzustellen, ob den dabei auftretenden Krankheitserschei-
nungen, welche sich hauptsächlich als Lähmungen dokumentierten,
so ausgedehnte Degenerationen der Nerven zugrunde lägen, wie sie
Prof. D ii r c k anatomisch bei Beriberi gefunden hatte. Da mich
dauerndes Unwohlsein hinderte, diese Frage selbst zu lösen, so be-
grüsste ich das Anerbieten Herrn Dr. Treutleins, sich der Be¬
arbeitung dieser Frage unterziehen zu wollen, mit grosser Freude
und sandte ihm, nach München zurückgekehrt, zunächst meine Arbeit
(De aetiologie van beriberi en Psilosis; 1903 in holländischer Sprache
in der Geneeskundig Tijdschrift voor Ned. Ind. erschienen), worin
meine ersten Hühnerversuche beschrieben waren; ferner gab ich ihm
in München, wo er mich im November oder Dezember nochmals
aufsuchte, um über meine Hühnerversuche mit mir zu sprechen, da
er inzwischen in Würzburg mit den Experimenten begonnen hatte,
detaillierte Auskunft über meine Methode, meine Fragestellung und
die von mir noch 1903 erhaltenen, aber noch nicht veröffentlichten
Resultate; bei diesem zweiten Besuche stellte ich Herrn Dr. Treut-
1 e i n auch alle meine Schimmel- und Hefekulturen, welche ich aus
Stühlen von Beriberi und Spruwkranken gezüchtet hatte, zur Ver¬
fügung.
Nun hörte ich nichts mehr von Herrn Dr. T r e u 1 1 e i n, bis mir
vor einigen Tagen ein befreundeter Kollege die in Frage stehende
Arbeit zu kurzer Einsicht iiberliess und ich zu gleicher Zeit in der
Münch, med. Wochenschr. las, dass sich Herr Dr. Treutlein mit
eben dieser Arbeit in Würzburg habilitiert habe.
Die Habilitationsschrift bringt für mich nun eine Reihe der gröss¬
ten Ueberraschungen, auf die ich an dieser Stelle nicht einzeln ein-
gehen kann; ich sehe mich aber gezwungen, vorläufig folgendes fest¬
zustellen:
1. HerrDr. Treutlein verschweigt nicht nur voll¬
ständig die von mir in Obigem mitgeteilte Ent¬
stehungsgeschichte seiner Arbeit, sondern macht
p a g. 327 — 328 selbst den Versuch, die Tatsache direkt
zu verschleiern, dass diese Arbeit eigentlich von
mir ausgeht und nur eine Wiederholung meiner
Versuche ist.
2. Pag. 345 sagt Herr Dr. Treutlein: Neu an meiner
Arbeit ist ... während von den dort angeführten Sätzen
nichts neu ist, ausgenommen die Feststellung, dass die Oxalsäure¬
vergiftung bei Hühnern eine ausgebreitete Degeneration aller peri¬
pheren Nervenelemente zustande bringt; diese Feststellung
ist aber auch nur die Beantwortung einer von mir
gestellten Frage, nachdem die klinischen Erscheinungen schon
vor 3 Jahren diese Nervenerkrankung bei meinen Versuchen über
allen Zweifel erhoben hatten. Alles übrige, was Dr. Treutlein
als n e u für sich in Anspruch zu nehmen versucht, ist teils durch
E i j k m a n, teils durch mich längst festgestellt.
3. Wenn Dr. Treutlein pag. 328, wo er von meinem in Meran
gehaltenen Vortrage „Ueber das Wesen der Beriberi und der indischen
Spruw“ spricht, sagt „Leider verlor sich der Vortragende dabei etwas
in fernliegende Details über Spruw und Psilosis“, so beweist er damit,
dass ihm der springende Punkt in meinen Anschauungen entgangen
ist, ebenso wie schon seine kurzen Auslassungen über Beriberi zei¬
gen, dass er die Literatur trotz „sorgfältigen“ Studiums (p. 323)
nicht genügend kennt; denn niemand darf über Beriberi schreiben,
ohne den Namen S c h e u b e zu nennen.
Mit diesen Feststellungen erhebe ich ganz entschiedenen
Protest gegen die unerhörte Art von Usurpation
der Rechte anderer im allgemeinen und meiner im speziellen,
wie sie Herr Dr. T r e u 1 1 e i n in seiner Arbeit zur Anwendung bringt,
welche ihm die Pforten der akademischen Laufbahn öffnen soll.
Schaftlach, den 1. August 1906. Dr. G. Maurer.
Es erübrigt dem andern von uns (D ii r c k) folgendes festzu¬
stellen :
1. Ich kann die im vorstehenden niedergelegte Entstehungs¬
geschichte der Arbeit des Herrn Dr. Treutlein, über welche mir
Herr Dr. Maurer in allen Phasen berichtete, in allen Details be¬
stätigen.
2. Bei seinen Besuchen in München im November oder Dezem¬
ber 1905 und im April 1906 erhielt Herr Dr. T r e u 1 1 e i n von mir be¬
reitwillige Einsicht in den Stand meiner Untersuchungen über die
Nerven- und Herzveränderungen bei Beriberi.
3. Im Mai 1906 schrieb mir Dr. Treutlein, ich möchte von
meinem Nervenmaterial doch mit Sudan und Hämatoxylin färben,
aber mit der ausdrücklichen Bedingung, ich sollte in meiner Publi¬
kation erwähnen, dass diese Idee von ihm stamme. Ich antwortete
ihm, dass diese Methode für mich wertlos sei, weil die Fettdegenera¬
tion der Nerven bei Beriberi schon von S c h e u b e und B ä 1 z vor
25 Jahren festgelegt wurde und weil ich dieselbe schon an meinen Prä¬
paraten in Meran in der Sitzung der Deutschen pathologischen Ge¬
sellschaft demonstrierte. Trotzdem findet es Herr Dr. Treutlein
für angebracht, in seiner Arbeit pag. 324 zu erklären: „Zu bedauern
ist, dass D ii r c k weder am Herzen noch an Nerven eine typische
Fettfärbung mit Osmium oder Sudan vornahm.“
4. Es verbleibt unumstössliche Tatsache, dass Herr Dr. T reut-
1 e i n* in seiner Arbeit vorsätzlich verschwiegen hat, dass die
Idee zu seiner ganzen Arbeit und die genauen Anweisungen hierzu
das geistige Eigentum eines anderen (Dr. Maurer) waren und sind.
M ü n c h e n, 1. August 1906.
Prof. Dr. Hermann D ii r c k.
Amtliches.
(Bayern.)
Kgl. Staatsministerium des Innern.
Bekanntmachung.
Die Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst im Jahre 1906/07 betr.
Nach Massgabe der §§ 1 und 2 der K. Allerhöchsten Verordnung
vom 6. Februar 1876, die Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst be¬
treffend (Ges. u. VO. Bl. S. 201) wird für das Jahr 1906/07 eine Prü¬
fung für den ärztlichen Staatsdienst abgehalten werden.
Die Gesuche um Zulassung zu derselben sind unter Vorlage der
Originale des Approbationszeugnisses und des Doktordiploms
der medizinischen Fakultät einer Universität des Deutschen Reiches
bei Vermeidung des Ausschlusses von der Prüfung spätestens b i s
30. September 1. .1. bei jener Kreisregierung, Kammer des Innern,
einzureichen, in deren Bezirk der dermalige Wohnsitz des Gesuch¬
stellers sich befindet.
Im Gesuche ist zugleich die Adresse für die seinerzeitige Zu¬
stellung des Zulassungsdekretes genau anzugeben.
M ü n c h e n, den 23. Juli 1906.
Dr. Graf v. Feilitzsch.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 29. Jahreswoche vom 15. bis 21. Juli 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 17 (7*),
Altersschw. (üb. 60 J.) 5 (7), Kindbettfieber — (1), and. Folgen der
Geburt — (— ), Scharlach — (— ), Masern u. Röteln 1 (2), Diphth. u.
Krupp 1 (1), Keuchhusten 1 (2), Typhus — (1), übertragb. Tierkrankh.
— ( — ), Rose (Erysipel) 1 ( — ), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 2 (1), Tuberkul. d. Lungen 20 (27), Tuberkul. and.
Org. 4 (5) Miliartuberkul. — (— ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 13 (10),
Influenza — ( — ), and. übertragb. Krankh. 2 (2), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 5 (5), sonst. Krankh. derselb. 1 (3), organ. Herzleid. 7 (18),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 3 (6), Gehirnschlag
5 (5), Geisteskrankh. 2 (1), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 2 (3), and.
Krankh. d. Nervensystems 7 (4), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 20 (34), Krankh. d. Leber 2 ( — ), Krankheit, des
Bauchfells — (1), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 3 (3), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 3 (6), Krebs (Karzinom, Kankroid) 21 (13),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 4 (21, Selbstmord 7 (1), Tod durch
fremde Hand 1 ( — ), Unglücksfälle 2 (1), alle übrig. Krankh. 6 (5).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 168 (177), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 16,2 (17,0), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 11,9 (11,7).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.Q., München.
bte Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umtang von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 A- ' Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
ö , Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren : Für die Redaktion Arnulf¬
strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 8'/j— 1 Uhr. • Für
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20. * Für
• Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16. *
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
0. t. ingerer, Ch.Bäumler, 0. v. Bollinger, B. Curschmann, E. Helferich, W.t. Leute, 0. Merkel, J. v. Michel, F. Penzoldl, H. v. Ranke, B, Spate, F. ?. Wiackel,
München. Freiburg i. B.
München.
Leipzig.
Kiel.
Würzburg. Nürnberg.
Berlin.
Erlangen. München. München. München.
No. 33. 14. August 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
Originalien.
Aus der chirurgischen Abteilung der Städt. Krankenanstalt
Magdeburg-Sudenburg (Prof. Wendel).
Die modernen Bestrebungen zur Verminderung der
Narkosengefahr. *)
Von Prof. Dr. W. Wendel.
M. H. ! Die ausserordentliche Entwicklung der Chirurgie
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts verdanken
wir der Einführung der allgemeinen Narkose, der L i s t e r -
sehen Wundbehandlung, der E s m a r c h sehen Blutleere. Die
Notwendigkeit möglichster Blutsparung bei den Operationen
und bei der ersten Versorgung schwer blutender Verletzungen
bis zur definitiven Blutstillung ist so unbestritten, die Vorzüge
des Operierens im nicht blutenden Gewebe so einleuchtend,
die Technik so einfach, dass der geniale Gedanke v. Es-
m a r c h s längst Allgemeingut der Aerzte geworden ist. L i -
sters grosse Erfindung hat sich, sobald einmal die Prinzipien
als richtig erkannt waren, in mannigfachen Modifikationen fest
und unumstösslich eingebürgert. Sie erscheint den jüngeren
Generationen als etwas Selbstverständliches, mit der chirur¬
gischen Technik untrennbar Verbundenes, sie hat sich zu einem
sicher fundamentierten, grossen Gebäude ausgewachsen, sie
hat auf alles, was zu dem chirurgischen Kranken in Beziehung
tritt, von der Architektur und Einrichtung des Krankenhauses
bis zu der Vorbereitung des zur Operation und Nachbehandlung
nötigen Personals und Materials bestimmenden Einfluss geübt,
sie ist die Hygiene der Wunden geworden. Ganz anders ist
die Rolle, welche die Narkose gespielt hat und noch spielt. Erst
mit ungläubigem Staunen, dann mit Enthusiasmus begriisst,
ist sie am 50 jährigen Jubiläum ihrer Einführung weiter denn
je davon entfernt gewesen, allgemeine Zustimung zu finden,
als notwendiger Akt für jede Operation anerkannt zu sein.
Man lese nur den Säkularartikel von Schleich in der Ber¬
liner klin. Wochenschr. 1900.
Der Grund ist der, dass die Narkose nicht wie die Asepsis
und die Blutsparung eine modifizierte und verbesserte Ope¬
rationstechnik bedeutet, sondern ein eigener, von der eigent¬
lichen Operation ganz unabhängiger Eingriff in die Unversehrt¬
heit des Körpers ist, dem eigene Gefahren anhaften. Ueber
die Grösse dieser Gefahren haben umfangreiche Statistiken
Aufklärung zu verschaffen gesucht, doch ist es viel schwieriger,
eine klare Vorstellung von der Grösse und der Art der Gefahr,
die den verschiedenen Narkotizis innewohnt, zu erlangen, als
man von vornherein glauben sollte. Denn abgesehen von den
akuten Gefahren, der Schockwirkung, der Synkope, der As¬
phyxie kommen die sekundären Gefahren, die Bronchitis und
Pneumonie, Nieren-, Leber- und Herzveränderungen, zentrale
und periphere Lähmungen usw. in Frage, welche nicht immer
in ihrer Abhängigkeit von der Narkose klar erkennbar sind,
deren vitale Bedeutung erst nach der Operation, vielleicht erst
nach der Entlassung des Kranken aus der Behandlung in die
Erscheinung tritt und sich so der genauen Beobachtung und
richtigen Würdigung entzieht. Hierzu kommt, dass die Technik
für die Gefährlichkeit der Narkose von grösster Bedeutung
*) Nach einem Vortrag in der medizinischen Gesellschaft Magde¬
burg am 31. Mai 1906.
No. 33.
53. Jahrgang.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
ist, und die Beherrschung der Technik wechselt mit der Person
des Narkotisierenden und seiner Vertrautheit mit den einzelnen
Narkotizis. Denn nur so ist es zu erklären, dass viele Sta¬
tistiker, welche eine besondere Art der Narkose ausgebildet
oder bevorzugt haben, mit ungewohnten Methoden schlechtere
Erfahrungen machten, als andere, denen diese die geläufigen
waren.
Die wesentlichste Frage, welche die Statistiken zu beant¬
worten suchten, war, ob Chloroform oder Aether vorzuziehen
sei. Schon die Beantwortung dieser Frage ist nicht ganz ein¬
fach, wie die folgende Statistik zeigt.
Statistik.
Autor
Mortalität der
Aethernarkose | Chloroformnarkose
Poppert .
1 : 1167
1 : 2647
Billroth .
—
1 : 12500
Rendle .
—
1 : 2666
v. Mikulicz .
—
1 : 1683
Easter .
0,065 °/oo
0,582 °/oo
White .
1 : 16000
1 : 3000
Gurlt .
1 : 5112
1 : 2075
Im Hotel Dieu in Lyon sollen 40 000 Aethernarkosen, von
v. Nussbaum 15 000 Chloroformnarkosen ohne Todesfall
gemacht worden sein.
Wenn wir die grösste dieser Statistiken, die von Gurlt1)
im Aufträge der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 7 Jahre
durchgeführte Sammelforschung, etwas näher betrachten, so
ergibt sich, dass unter 330 429 Narkosen etwa 73 Proz. reine
Chloroformnarkosen, etwa 16 Proz. reine Aethernarkosen
waren. Die übrigen waren Mischnarkosen oder mit Brom¬
äthyl und anderen seltener angewandten Mitteln angestellt.
Die Statistik zeigt also, wie sehr das Chloroform den früher
entdeckten Aether verdrängt hatte, wenigstens in Deutschland.
Aber trotzdem diese Statistik die Ueberlegenheit des
Aethers sicher nachzuweisen schien, ist dadurch das Chloro¬
form keineswegs verdrängt worden. Dies zeigt am besten eine
Statistik, welche v. Mikulicz2) im Jahre 1901 gegeben hat.
In seiner Klinik und Poliklinik sind in den Jahren 1896 — 1900
5242 Chloroformnarkosen und nur 438 Aethernarkosen aus¬
geführt worden, d. h. die Aethernarkosen betrugen noch nicht
8 Proz. sämtlicher Inhalationsnarkosen, v. Mikulicz hat
auch eine Sammelstatistik durch Umfrage bei schlesischen
Aerzten angestellt. Er hat dadurch Berichte über 98 539 Nar¬
kosen erhalten. Von diesen waren nur 4 Proz. Aethernarkosen,
6 Proz. Bromäthylnarkosen, fast der ganze Rest Chloroform¬
narkosen.
Dass trotz der G u r 1 1 sehen Statistik die Chloroform¬
narkosen nicht eingeschränkt wurden, beweist, dass man der
Statistik allein nicht traute, da sie eben nur die unmittelbaren
Todesfälle während der Narkose angibt und nicht die Mor¬
talität an postnarkotischen Krankheiten. Und hier hat sich
gerade für den Aether die Ansicht herausgebildet, dass er zu
1) Gurlt: Verh. d. Deutsch. Gesellsch. f. Chirurg. 1891 — 1897.
2) Die Methoden der Schmerzbetäubung und ihre gegenseitige
Abgrenzung. Verhandl. d. Deutsch. Gesellsch. f. Chirurgie 1901, II,
S. 560.
1
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1602
Bronchitis und Pneumonie disponiere und deswegen im ganzen
doch gefährlicher sei als das Chloroform.
Aus den Statistiken konnte man also nur soviel entnehmen,
dass im letzten Dezennium des vorigen Jahrhunderts in Deutsch¬
land die Chloroforrrtnarkose bei weitem am beliebtesten war,
dass beim Aether sich weniger unmittelbare Todesfälle er¬
eigneten, dass beide gefährlich seien, aber über die Art der
Gefahren aus der Statistik keine sichere Auskunft zu ge¬
winnen war.
Es ist keine Frage, dass durch dieses Ergebnis der Sammel¬
forschung eine Beunruhigung in die Aerzteschaft und das
Laienpublikum hineingetragen wurde. Aber sofort setzten die
Bestrebungen an, die Gefahren der Narkose einzuschränken,
Bestrebungen, welche in ihren Anfängen z. T. schon viel weiter
zurückreichert, Es lag auf der Hand, dass für die Erreichung
des gesteckte!! Zieles zwei Wege gegeben waren. Der eine,
durch genaues Studium der unmittelbaren und mittelbaren Ge¬
fahren der Inilalätionsnarkose und darauf basierender Ver¬
besserung der Methodik die Narkose an sich ungefährlicher
zu machen; der andere, die Inhalationsnarkose durch Ein¬
führung und Ausgestaltung anderer, ungefährlicher Arten der
SchmerzbetäubUrlg zu verdrängen.
Hinsichtlich der Methodik der Inhalationsnarkose sind zu¬
nächst die Bestrebungen zu erwähnen, andere Narkotika, als
Chloroform und Aether einzuführen. Sie müssen im allge¬
meinen als gescheitert angesehen werden. Lachgas, Chlor¬
äthyl, Bromäthyl, Bromoform, Pental usw. sind teils viel
zu gefährlich, teils für eine längere Narkose ungeeignet. Sie
werden z. T., namentlich das Bromäthyl in Frankreich, das
Lachgas in England benutzt, um die Narkose einzuleiten, die
dann mit Aether öder Chloroform fortgeführt werden soll.
Ein eklatanter Vorteil ist daraus nicht zu erkennen.
Was dann die Mischnarkosen anbelangt, so ist man von
der ß i 1 1 r o t h sehen Chloroforin-Aether-Alkohol-Mischung
abgekommen, seitdem H e w i 1 1 über 17 Todesfälle berichtet
hat. Die englischen Berichte über die sogen. A.-C.-E.-
Mischung, welche dieselben Medien in anderer Zusammen¬
stellung enthält, sind keineswegs derart, dass sie eine Ueber-
legenheit über das reine Chloroform und Aether, richtige Tech¬
nik vorausgesetzt, ergeben. Die von Schleich eingeführten
Siedegemische aus Chloroform, Aether und Aethylchlorid haben
sich nach L u r i a und S t o n e sehr schlecht bewährt. S t o n e
erlebte unter 141 Narkosen einen Todesfall und 13 schwere
Asphyxien, L u f i a unter 132 Narkosen 10 schwere Kompli¬
kationen. 3)
Die grösste Bedeutung dagegen haben nach meiner Ansicht
die Bestrebungen, die alte Chloroform- und Aethernarkose
selbst zu verbessern. Hier ist zunächst wohl die Vorbereitung
der Inhalationsnarkose durch Morphium zu erwähnen, welche
sich an den Namen v. Nussbaum knüpft. Der Gedanke ist
der, die Reflextätigkeit durch Morphium in unschädlichen Dosen
so herabzusetzen, dass bei der folgenden Inhalationsnarkose
das Stadium der gesteigerten Reflextätigkeit, in welchem am
leichtesten überdosiert wird und die meisten Unfälle sich er¬
eignen, abgekürzt und also das Stadium der Toleranz leichter
und mit kleineren Dosen des Narkotikums erreicht wird. Diese
Methode hat sich mit Recht eingebürgert. Voraussetzung ist
aber natürlich, das Morphium hinreichend früh zu geben, damit
es auf dem Höhepunkte seiner Wirkung steht, wenn die In¬
halationsnarkose beginnt.
Für das Chloroform machte die von Roth angegebene
Chloroform-Sauerstoffnarkose den Anspruch, die Gefährlichkeit
wesentlich herabzusetzen. Die anfänglich vorhandene Be¬
geisterung hat aber nach den Mitteilungen von Wohlge-
m u t h, Michaelis, Lauenstein, Rothfuchs eine
wesentliche Abkühlung erfahren.
Es ist demnach verständlich, wenn eine ganze Anzahl
deutscher Autoren kategorisch verlangte, den Aether als Nor-
•') Allerdings wird durch eine grössere Statistik von Schleich
in jüngster Zeit der Nachweis zu erbringen gesucht, dass seine
Siedegemische ganz unschädlich seien. Er geht sogar soweit, bei
Verwundeten im Felde eine Selbstnarkose mit seinen Gemischen,
welche dazu eigens jedem Soldaten mitgegeben werden sollen, zu
empfehlen. Diese Hyperbel wird kaum geeignet erscheinen, die un¬
günstigen Erfahrungen anderer Autoren wegzudiskutieren.
No. 33.
malnarkotikum einzuführen. Dieses Verlangen stützte sich auf
die Untersuchungen, welche über die dem Aether zugeschrie¬
benen postoperativen Erkrankungen angestellt wurden.
Während bezüglich der Einwirkung auf Herz und Leber
dem Aether die schädigenden Wirkungen, welche das Chloro¬
form häufig hat (Verfettung), nicht zukommen, galten zwei
Organsysteme durch die Aethernarkose für besonders ge¬
fährdet, die Nieren und die Respirationsorgane. Ueber beides
sind unsere Ansichten jetzt wesentlich geklärt.
Durch Untersuchungen von Wunderlich, Eisen -
draht, Lepp m a n n u. a. ist nachgewiesen, dass es eine
eigentliche Aethernephritis nicht gibt, dass vielmehr beim
Aether nur vorübergehend Zylinder und Eiweiss im Urin auf-
treten können und meist schneller wieder verschwinden, als
nach Chloroformdarreichung.
Besonders interessant waren die Studien über die post¬
operativen Erkrankungen der Atmungsorgane. Es erregte Auf¬
sehen, als v. M i k u 1 i c z auf dem Chirurgenkongress von 1901
den exakten Nachweis lieferte, dass für Kropfoperationen und
Laparotomien die Morbidität und Mortalität an Pneumonie nach
der Schleich sehen Infiltrationsanästhesie erheblich grösser
sei, als nach der Inhalationsnarkose. Das Thema der post¬
operativen Pneumonie hat besonders den vorjährigen Chirurgen¬
kongress beschäftigt. Eine völlige Klärung ist nicht erreicht
worden, doch sind wesentliche Gesichtspunkte für weitere For¬
schungen gegeben, besonders durch die Diskussion. Jedenfalls
ist soviel sicher, dass für die postoperativen Pneumonien em-
bolische Prozesse, Fortleitung durch die Stomata des Zwerch¬
felles, Abkühlung, Hypostase, Aspiration, nach Laparotomien
vor allem auch behinderte Zwerchfellatmung (durch den
Schmerz) eine ebenso grosse, ja wahrscheinlich eine grössere
Rolle spielen, als die Inhalationsnarkose. Immerhin bleibt die
Tatsache bestehen, dass der Aether, besonders bei der Ueber-
dosierung, wie sie bei den luftundurchlässigen Masken fast
die Regel bildet, die Sekretion der Luftwege erheblich steigert
und dass infolgedessen die Gefahr wächst, die tieferen, sterilen
Luftwege durch Aspiration .von infektiösem Schleim aus den
oberen Luftwegen zu infizieren. Hier ist es nun das grosse
Verdienst Witzeis und seiner Schüler eine neue Methode
der Aetherdarreichung eingeführt und begründet zu haben, die
Aethertropfmethode. Eine Beschreibung der Methode im ein¬
zelnen würde zu weit führen. Ich verweise auf die Publi¬
kationen W i t z e 1 s und seiner Schüler. 4)
In vielen Hunderten von Narkosen, die ich in derMarburger
chirurgischen Klinik und in meinem jetzigen Wirkungskreise
sah, erlebte ich bei dieser Narkose keinen Todesfall und sah
kaum je eine Komplikation. Allerdings ist auch hier Uebung
nötig, um alle Vorteile der Narkose bis zu dem sparsamen Ver¬
brauch von Aether zu entwickeln. Das Fundamentale der Me¬
thode ist aber, dass es durch die modifizierte Technik möglich
wird, der Inhalationsnarkose mit Aether die Gefahren zu neh¬
men, oder doch auf ein Minimum zu reduzieren. Auch die
Spätfolgen sind bezüglich der Pneumonie nach meiner Er¬
fahrung nicht ungünstiger, als sie bei jeder Narkose oder viel¬
mehr Operation an sich sind. Was speziell die Pneumonie nach
Magenoperationen anbelangt, so habe ich eine Beobachtung,
bei der die Aspiration mit Sicherheit auf den Akt der vor¬
bereitenden Magenspülung geschoben werden muss. Die Sek¬
tion ergab Aspirationspneumonie. Die Narkose selbst und die
Zeit nachher war frei von Erbrechen gewesen. Es dürfte
sich also empfehlen, den Magen nicht gerade durch den jüngsten
und unerfahrensten Assistenten spülen zu lassen.
Schliesslich sei noch erwähnt, dass im Aetherrausch (S u -
deck) sich viele kurzdauernde Eingriffe vornehmen lassen,
für welche die tiefe Narkose unnötig oder die lokale Anästhesie
unmöglich ist (kleine Inzisionen, Einrichten von Frakturen und
Luxationen, Nagelextraktionen, schmerzhafte Akte des Ver¬
bandwechsels etc.). Auch der Aetherrausch läst sich durch
die Tropfmethode ebensogut erreichen, als durch die alte Er¬
stickungsmethode.
4) Nachdem ich den obigen Vortrag gehalten, kam mir die Mono¬
graphie von W i t z e 1, Wenzel und Hackenbruch „Die
Schmerzverhütung in der Chirurgie“, München, Lehmanns Verlag,
zu Händen, ich möchte besonders darauf hinweisen.
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1603
Bevor die Methoden besprochen werden, welche eine
Schmerzbetäubung ohne Narkose, d. h. ohne Ausschaltung des
Bewusstseins, herbeizuführen suchen, sei der Versuch einer
Injektionsnarkose mittels Skopolamins erwähnt (Schneider¬
lin, K o r f f u. a.). Der Gedanke an sich erscheint aus dem
Grunde durchaus rationell, weil das Narkotikum durch die
Blutbahn direkt dem Nervensystem zugeführt wird, ohne die
lebenswichtigen Respirationsorgane in Mitleidenschaft zu
ziehen. Allerdings können die bisherigen Versuche mit Skopo¬
lamin nicht als eine Lösung des Problems angesehen werden.
Aber ob nicht der Gedanke durch Auffindung anderer gefahr¬
loser Stoffe einmal in die Praxis eingeführt wird, kann nie¬
mand in Frage stellen, der die Leistungen der pharmazeutischen
Chemie beim Ersätze anderer Gifte in Rechnung zieht.
Wenden wir uns damit der Schmerzbetäubung ohne Nar¬
kose zu, so werden die in Frage kommenden Methoden unter
dem Namen der lokalen und der Leitungsanästhesie (Brau n)
zusammengefasst; auch die Rückenmarksanästhesie ist ja eine
Leitungsanästhesie. Der Unterschied zwischen beiden besteht
darin, dass bei der lokalen Anästhesie die sensiblen Perzep¬
tionsorgane für den Schmerz am Orte der Operation gelähmt
werden, während bei der Leitungsanästhesie zwischen der
Operationsstelle und dem Gehirn an irgend einer Stelle die
zentripetale Schmerzleitung durch Lähmung der leitenden
Bahnen unterbrochen wird.
Die Lokalanästhesie durch schmerztötende Kataplasmen
(cf. Husemann), durch Kälte (Eis, Aetherspray, Chloräthyl)
seien nur eben erwähnt. In der Hauptsache bestehen die Me¬
thoden, welche eine grössere Bedeutung erlangt haben und
welche mit Recht den Anspruch erheben können, die Narkose
einzuschränken, in der Anwendung von Kokain und seiner Er¬
satzpräparate. R e c 1 u s lehrte zuerst eine methodische In¬
filtrationsanästhesie mit 1 — 2 proz. Kokainlösungen. Schleich
lehrte, die Infiltrationsanästhesie durch Verwendung stark ver¬
dünnter Kokain-Morphin-Kochsalzlösungen absolut von der
Kokaingefahr zu befreien, Braun erreichte dasselbe durch
Einführung der Nebennierenpräparate (Suprarenin, Adrenalin)
in die chirurgische Technik.
Die „regionäre“ Anästhesie von Oberst, die Um¬
spritzungsmethode von Hackenbruch stellen schon Lei¬
tungsanalgesien dar. Hierzu kommt dann vor allem die
Rückenmarksanästhesie von Bier. Gerade für die letztere
ist die Wahl des Präparates von ausschlaggebender Bedeutung
gewesen. Vor dem zuerst von Bier verwendeten Kokain
warnte der Autor selber, ohne dass man in Frankreich (Rec-
1 u s) aufhörte, es zu verwenden. Eukain und besonders Tropa¬
kokain (Schwarz) stellen entschieden Verbesserungen dar.
Augenblicklich kämpfen Stovain und Novokain (Höchst) um die
Palme. Beide sind offenbar vorzügliche Präparate und viele
Autoren verwenden in geeigneten Fällen prinzipiell die Rücken¬
marksanästhesie mittels eines dieser Präparate. Keineswegs ist
der Kampf schon entschieden und ein ganz ideales Mittel bleibt
noch zu finden.
Ich habe in einer grösseren Anzahl von Fällen die Rücken¬
marksanästhesie mit Novokain ausgeführt. Eine ausführliche
Publikation wird in Kürze erscheinen. Ich bin mit den Er¬
fahrungen, welche ich gemacht habe, ganz ausserordentlich zu¬
frieden, da ich nie eine bedrohliche toxische Nebenwirkung
gesehen und bei den technisch fast ausnahmslos gelungenen
Injektionen keinen absoluten Misserfolg erlebt habe. Ich bin
allerdings bisher nicht über eine Dosis von 2K ccm der 4 proz.,
von den Höchster Farbwerken abgegebenen, Novokainlösnng
hinausgegangen und habe, wenn die Anästhesie nicht für die
ganze Operation vorhielt, (je ein Fall von Amputatio recti
und Exstirpatio uteri wegen Karzinom) den Schluss in leichter
W i t z e 1 scher Aethernarkose gemacht. In beiden Fällen ge¬
nügte ganz wenig Aether. Der Narkose fehlte jede Exzitation.
Es handelte sich jedesmal nur um wenige Minuten.
Festzustellen bleibt noch, wie hoch am Körper mit Sicher¬
heit Anästhesie erzielt werden kann. Ich habe beobachtet,
dass die Höhe der Anästhesie individuellen Schwankungen
unterliegt. In einem Falle ist es mir bei absolut in technischer
Beziehung einwandsfreier Injektion von 2V\ ccm, trotz Becken¬
hochlagerung und Halsstauung bei 20 Minuten langem Warten
nicht gelungen, die Inguinalgegend schmerzfrei zu machen. Un¬
mittelbar danach wurde mit 2 ccm Lösung ohne Beckenhoch¬
lagerung und Halsstauung eine doppelseitige Inguinalhernie
völlig schmerzfrei operiert, und zwar begann der Eingriff ge¬
nau 3 Minuten nach Beendigung der Einspritzung. Um diese
Differenz der Wirkung, die auch anderen Autoren aufgefallen
ist, zu erklären, muss aber vielleicht nicht allein individuelle
Disposition des Patienten, sondern auch eine Inkonstanz der
Konzentration des fertig bezogenen Präparates herangezogen
werden. Ich lasse augenblicklich nach dieser Richtung die Prä¬
parate am Tiere prüfen; hiernach scheint eine Differenz der
Präparate vorhanden zu sein.
Von Bier sind gewisse Kontraindikationen für die
Rückenmarksanästhesie aufgestellt worden, welche vor allem
das psychische Verhalten des Patienten betreffen. Es wird der
Zukunft Vorbehalten bleiben, die Indikationen und die Kontra¬
indikationen für das Verfahren genau zu präzisieren, vor allem
Fehler der Technik in der Kritik der Methode richtig zu be¬
werten. Nicht was ausnahmsweise erreicht worden ist, son¬
dern was sicher erreicht werden kann, ist für die allgemeine
Beurteilung von Bedeutung. Dass auch durch diese Methode
die Narkose eingeschränkt werden kann und mehr und mehr
eingeschränkt werden wird, ist schon jetzt sicher. Ungünstige
Erfahrungen sind allerdings gemacht worden. Sie sind bisher
recht selten.
Wie schon aus den von Bier gestellten Kontraindikationen
hervorgeht, eignet sich die Methode nicht für alle Patienten.
Die „geeigneten“ Patienten herauszufinden, wird von der Er¬
fahrung des einzelnen abhängen. Durch die Mitteilung gerade
der schlechten Erfahrungen, welche etwa hier und da ge¬
macht werden, wird die Sicherheit der Methode durch Aus¬
schluss ungeeigneter Fälle gewinnen. Sie wird zugleich das
Streben nach weiteren Verbesserungen besonders der in Frage
kommenden Präparate wachhalten.
Die Methoden, welche eine Operation ohne Schmerz ge¬
statten, sind zahlreich. Nur wer sie alle beherrscht, wird im
einzelnen Falle die beste herausfinden. Der Operateur hat die
Pflicht, nicht in schematischer Weise, sondern streng in¬
dividualisierend die Art der Schmerzbetäubung in jedem Falle
auszuwählen, vor allem sich die Frage zu stellen: Kann ich
nicht ohne allgemeine Narkose auskommen. Das „beste“ Mittel
muss aber den verschiedensten Anforderungen genügen und
alle extremen Bestrebungen, eine der Methoden, sei sie noch
so gefahrlos, über ihren in der gegenseitigen Konkurrenz ge¬
gebenen Verwendungsbereich hinaus anzuwenden, sind als
Schematismus vom wissenschaftlichen Standpunkt ebenso zu
verwerfen, wie die schematisch angewandte Allgemeinnarkose.
Nicht die Gefahrlosigkeit allein ist massgebend; in Betracht
kommt vor allen Dingen die Psyche des Patienten, das heisst
die Forderung der Humanität. Sodann darf aber nicht ver¬
gessen werden, dass die Schmerzbetäubung doch stets Mittel
zum Zweck bleibt und der Zweck ist die Operation, die einen
notwendigen Akt für die Gesundung des Patienten darstellt.
Man soll die Methode der Schmerzbetäubung auch von der
Art der Operation abhängig machen und sich bewusst bleiben,
dass gerade die grössten Erfolge bei Vermeidung jeder Gefahr
nicht zu erreichen sind.
Die Prognose und Therapie der Cholelithiasis im
Lichte der Statistik und Erfahrung.
Von Medizinalrat Dr. Adolf Ritter in Karlsbad.
Die wesentliche Anteilnahme der Chirurgie an der heutigen
Gestaltung der Gallensteinfrage hat die Cholelithiasis endgültig
unter die in das „Grenzgebiet“ fallenden Krankheiten ver¬
wiesen. Den imponierenden Zahlen, welche die Chirurgen für
die Erfolge der operativen Behandlungsmethode aufweisen
können, wissen freilich die inneren Mediziner kein entsprechend
gleichwertiges objektives Beweismaterial zur Stütze des kon¬
servativen Standpunktes entgegenzustellen. Dies kommt wohl
zum Teil daher, dass sich die chirurgischen Erfahrungen auf
diesem Gebiete der Hauptsache nach in den Händen einzelner
Operateure konzentrieren, während sich die innere Behandlung
auf die Gesamtheit der Aerzte verteilt und gerade die inneren
Kliniken und Ki'ankenhausabteilungen als die Stätten der syste-
1*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
1604
malischen Beobachtung und Gestaltung innerer Krankheits¬
bilder an dieser Krankheitsform gewöhnlich sehr arm sind.
So entnehme ich z. B. einer Dissertation von Sundheime r,
welche die auf der I. medizinischen Klinik in München inner¬
halb gewisser Zeitabschnitte vorgekommenen Krankheiten der
Leber- und Gallenwege behandelt, dass während der Jahre
1885—1889, sowie 1890—1895 und 1899—1903, also innerhalb
16 Jahren im ganzen 68 Fälle von Cholelithiasis, je 1 Fall von
Cholezystitis und Hydrops vesicae felleae und 2 Fälle von
Empyem der Gallenblase diagnostiziert und behandelt wurden
und anscheinend in nur 2 Fällen chirurgisches Eingreifen sich
als notwendig erwiesen hat. Auch die zahlreichen Veröffent¬
lichungen innerer Aerzte haben zwar den grundlegenden Be¬
trachtungen N a u n y n s nichts wesentlich Neues hinzugefügt,
wohl aber dadurch, dass sie zumeist die Indikationen für opera¬
tives Vorgehen sehr eingehend behandeln, dabei im Rahmen
allgemeiner Besprechungen gehalten sind und eines zahlen-
mässigen Nachweises über die annähernde Summe der darin
zum Worte kommenden Erfahrung entbehren, vielfach dem
Glauben gedient, als handle es sich bei solchen die Operation
nahelegenden Wahrnehmungen womöglich um alltägliche Er¬
scheinungen. Begründung und Verbreitung der Kenntnis der
Indikationen für Gallensteinoperationen gehören heutzutage
allerdings zu den verhältnismässig leichten Aufgaben der
Gallensteinpathologie; denn wer auch niemals einen Gallen¬
steinkranken oder einen Gallensteinanfali selbst beobachtet hat,
den werden rein theoretische Erwägungen über die Chancen
eines in der Gallenblase verweilenden oder durch die Gallen¬
wege wandernden Steines auf dem Boden der so ziemlich all¬
gemein akzeptierten Grundsätze führen, ja es scheint sogar,
als ob für die Stellungnahme zur Frage „operative oder kon¬
servative Behandlung der Gallensteine“ oft mehr die Theorie
wie die Praxis massgebend gewesen wäre und als ob diese
Theorie das lediglich auf Erfahrung ruhende Vertrauen in die
innere Behandlung bereits stark beeinträchtigt hätte. So wenig¬
stens darf man sich die Tatsache erklären, dass viele innere
Aerzte heutzutage in der Empfehlung der Operation weiter
gehen als die Chirurgen selbst und dass von unseren hervor¬
ragenden Gallensteinchirurgen alljährlich viele Patienten nach
Karlsbad geschickt werden, welche seitens ihrer Aerzte jenen
zur Operation empfohlen worden waren. Diese Widersprüche
erklären sich aus der verschiedenen Handhabung der Indika¬
tionen am Krankenbett, welche dem subjektiven Ermessen in
der Beurteilung innerer Vorgänge und den daraus resultieren¬
den Gefahren einen so weiten Spielraum lässt. Vor Ueber-
schätzungen und Unterschätzungen solcher Gefahren werden
zwar auch die überzeugendsten Abhandlungen nicht schützen,
wohl aber wird ein Austausch und eine Gegenüberstellung posi¬
tiver Erfahrungen unser Handeln mit der Zeit denn doch eine
bestimmtere Richtung finden lassen. So wie der Wert anderer
neuer Heilverfahren sich in einer vergleichenden Gegenüber¬
stellung der Heilerfolge bezw. der Mortalität vor und nach
der Anwendung desselben bei gewissen Krankheiten wieder¬
spiegelt, so konnte man auch von einem Vergleiche der Mor¬
talitätsverhältnisse der Cholelithiasis aus der Zeit vor und
nach Einführung der operativen Behandlungsmethode ein
einigermassen objektives Material für die Beurteilung der neuen
Behandlungsgrundsätze erhoffen. Bot schon eine fast
20 jährige ärztliche Tätigkeit in Karlsbad genug Anregung zu
einem derartigen Vergleiche, so lag derselbe auch deshalb für
mich nahe, weil mir ein Rückblick auf über 4000 Gallenstein¬
fälle, welche ich während dieser Zeit zu behandeln Gelegenheit
hatte, das Krankheitsbild der Cholelithiasis lange nicht so düster
erscheinen lässt, wie dies einem weniger Vertrauten auf Grund
literarischer Eindrücke oder etwaiger unglücklicher Ausgänge
dieser Krankheit, die sich zufällig in seiner Umgebung ab¬
gespielt haben, vorschweben muss.
Ich habe schon vor mehreren Jahren gegenüber Kehr,
als sich derselbe an Ort und Stelle über die Wirkungen der
Karlsbader Quellen orientierte, gesprächsweise äussern können,
dass schwere Koliken im allgemeinen relativ selten in Karls¬
bad Vorkommen, so selten, dass selbst ein beschäftigter Arzt
zuweilen während ganzer Kurperioden nicht in die Lage
kommen könne, die Morphiumspritze aus der Tasche zu ziehen,
und dass das wesentliche Merkmal normaler Kuren entgegen
der überall verbreiteten Ansicht „Ruhe“ im Gallensystem sei.
Die damals vergleichsweise gefallene Bemerkung, dass dem
Wasser eine Art von Opiumwirkung zukomme, kennzeichnet
denn auch das für die heutigen Bestrebungen der inneren Thera¬
pie der Cholelithiasis einzig erreichbare Ziel: „Ruhe“. Wenn
in einer Anzahl von Fällen mit unseren Kuren das Gegenteil er¬
reicht wird, so sind es doch nur Ausnahmsfälle, welche be¬
sonders dann, wenn es sich um jene manchmal vorkommende
ununterbrochene Kette von Koliken handelt, in der Erinnerung
und Ueberlieferung sehr leicht zu übertriebenen und unrichtigen
Vorstellungen führen. Wie immer es übrigens mit dieser
„Ruhe“ bestellt sein möge, wie immer sie zustande kommt,
jedenfalls ist sie bezeichnend für die Seltenheit schwerer An¬
fälle und Komplikationen und die gewiss bemerkenswerte Tat¬
sache, dass mir meine Tätigkeit in Karlsbad im ganzen nur
dreimal Veranlassung gegeben hat, dringende chirurgische Hilfe
für meine Patienten in Anspruch zu nehmen. In 2 Fällen reifte
der Entschluss hierzu auf Grund der Indicatio vitalis, im 3. Falle
nach dem eigenen Wunsche der Patientin, die ihr nahegelegte
Operation sofort vorzunehmen. Aber alle diese 3 Fälle, lehr¬
reich genug zu einer gesonderten Besprechung, typisch in be¬
zug auf das Symptomenbild der Cholelithiasis und keinen Zwei¬
fel an der Diagnose zulassend, der eine der Patienten ein Mann
von 36 Jahren, entpuppten sich bei der Operation als Karzi¬
nome, so dass ich eigentlich sagen müsste: Gallensteine haben
mir überhaupt noch nicht Veranlassung zu einem dringenden
operativen Eingriffe geboten.
Auch von dem Standpunkte, welcher ein operatives Vor¬
gehen gegebenen Falles aus Gründen der Zweckmässigkeit ver¬
langt, habe ich mich alljährlich auf eine 3 — 4 malige Empfehlung
der Operation beschränken können, was wohl zum Teil wenig¬
stens darin begründet sein mag, dass sich bei den die Bäder
aufsuchenden Patienten die „Zweckmässigkeit“ meistens aus
weniger schwerwiegenden Bedenken ergibt als da, wo man
der Gesundheit schon aus äusseren Gründen jedes Opfer zu
bringen jederzeit bereit ist. Wenn nun eine so spärliche In¬
anspruchnahme der Operation bei voller Anerkennung der
massgebenden Indikationen möglich ist, so liegt darin schon ein
Beweis für die grosse Dehnbarkeit in der Handhabung der¬
selben. Gegenüber dem Bedenken aber, dass ein solch zögern¬
der Gebrauch von dem lebensrettenden Hilfsmittel der Opera¬
tion vermutlich Opfer gekostet habe, kann ich mich darauf be¬
rufen, dass ich überhaupt noch keinen Patienten an Chole¬
lithiasis oder deren Komplikationen habe zugrunde gehen sehen.
In ähnlichen Sätzen könnten manche meiner Karlsbader
Kollegen ihre Erfahrungen an Gallensteinkranken zusammen¬
fassen und auch aus dem Munde erfahrenster Kliniker habe
ich berichten hören, dass ihnen schlimme Erfahrungen auf dem
Gebiete der Cholelithiasis so gut wie unbekannt geblieben seien.
So erwähnt auch Leichtenstern, dass er die Mehrzahl
schwerer Gallensteinerkrankungen ohne Operation in Genesung
übergehen sah.
An statistischen Erhebungen über die Mortalität der Chole¬
lithiasis im Verhältnisse zur Häufigkeit der Erkrankung, über
deren Gefährlichkeit also, ist kein Mangel. Das riesige Zahlen¬
material, welches aus zahlreichen Zusammenstellungen zu uns
spricht, berechtigt schon längst zu der Annahme, dass die
Cholelithiasis zu den selten tödlich verlaufenden Krankheiten
gehört, auch dann nicht, wenn wir dieser Annahme die ver-
hältnismäsisg niedrigen Zahlen zu Grunde legen, welche z. B.
im Erlanger pathologischen Institut gewonnen und in der Disser¬
tation von Hirschberg niedergelegt worden sind.
Hirschberg fand bei 2619 Sektionen eines Dezenniums
158 mal Gallensteine, d. h. bei 6,03 Proz. aller Sektionen. Zur
Todesursache ist die Cholelithiasis in 10 Fällen, d. h. 6,3 Proz.
der Gallensteinfälle und 0,4 Proz. der Gesamtsektionszahl ge¬
worden. Aehnliche, meist günstigere Verhältnisse lassen sich
aus anderen statistischen Angaben entnehmen, ja, wenn man
dabei auf die Zeiten zurückgreifen wollte, wo die pathologische
Anatomie den Beziehungen der Cholelithiasis zu den bekannten
Folgezuständen nicht die heutige Aufmerksamkeit schenkte, so
ergäben sich ganz merkwürdige Zahlen. In den Sterblichkeits¬
annalen des Münchener pathologischen Institutes findet sich z. B.
bei 7428 Sektionen während der Jahre 1854 — 1874 die Chole¬
lithiasis nur 6 mal als Todesursache verzeichnet, während
14. August 1906. MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1605
Roth er bei 1034 Sektionen der Jahre 1881 — 1882 Chole-
lithias 5 mal als Todesursache vorfand. Wichtige Anhalts¬
punkte für die Bewertung der Gefährlichkeit der Cholelithiasis
liefern eine Reihe statistischer Nachforschungen, welche sich
mit den Komplikationen der Krankheit befassen. So fand Mink
bei 2068 Sektionen des Münchener Institutes der Jahre 1883
bis 1886 nur einen Fall von Leberabszess. In 180 Fällen von
eitriger Peritonitis, welche B e n d a bei 4184 Sektionen des
Berliner Urban-Krankenhauses zusammenstellte, war dieselbe
nur 3 mal von der Gallenblase ausgegangen und unter 8000
Sektionen der Jahre 1877 — 1896 fand Ullmann 9 Perfora¬
tionen von Gallensteinen in die freie Bauchhöhle, während
Courvoisier bei 255 Gallensteinbefunden, welche nach der
Baseler Gallensteinhäufigkeit einem Sektionsmaterial von ca.
3000 Fällen entstammen dürften, nur 1 Perforation in die freie
Bauchhöhle beobachtete. Erwähnenswert ist hier auch eine
Angabe von Poulsen, welcher bei einer Gallensteinhäufigkeit
von 3,7 Proz. nur in 9 Proz. der Gallensteinfälle dem Sektions¬
befunde klinische Erscheinungen voraüsgehen sah.
Bei der Absicht, den aus der voroperativen Zeit ge¬
wonnenen Zahlen solche aus der Aera der verallgemeinerten
operativen Behandlung der Cholelithiasis gegenüberzustellen,
kam es vor allem auch darauf an, die Erhebungen auf neu¬
tralen Boden zu verlegen, an Orte, wo nicht durch besondere
Umstände eine aussergewöhnliche Verschiebung der normalen
Sterblichkeit durch Gallensteine vorausgesetzt werden kann,
wie dies z. B. in Halberstadt der Fall wäre, wo infolge des
Zusammentreffens Gallensteinkranker zum Zwecke der Ope¬
ration die Sterblichkeitsverhältnisse von jetzt und früher selbst¬
redend nicht miteinander vergleichbar sind. In dieser Be¬
ziehung schien mir das Material der pathologischen Institute
in München und Erlangen vollkommen einwandfrei und auch
deshalb für meinen Zweck besonders geeignet, weil dort den
Forschungen auf dem Gallensteingebiete schon lange ein er¬
höhtes Interesse zugewendet wurde. Aus dem Erlanger In¬
stitute wurde mir sogar, als ich um Ueberlassung des dortigen
Materiales bat, eine meines Wissens nicht in ' die breitere
Ocffentlichkeit gedrungene Dissertation von Kluge (1903) zur
Verfügung gestellt, welche eben das mir gestellte Thema be¬
handelte. In dieser Arbeit finden wir die tödlich verlaufenen
Fälle von Cholelithiasis aus dem Zeiträume von 1862—1900
in 2 Abschnitten einander gegenübergestellt, von denen der
erste die Zeit von 1862—1888, d. i. den Zeitpunkt der ersten
Gallensteinoperation in Erlangen, der zweite die Zeit von 1888
bis 1900 umfasst. Aus den 5317 Sektionen des ersten Ab¬
schnittes ergaben sich 348 Gallensteinbefunde mit 15 Todes¬
fällen durch Gallensteine, worunter jedoch 4 Todesfälle infolge
Karzinoms der Gallenwege eingerechnet sind. Ich habe in
meiner prozentischen Berechnung diese 4 Karzinomfälle ge¬
strichen, somit nur 11 Todesfälle angenommen, weil es meines
Erachtens nicht angeht, die Prophylaxe des Karzinoms der
Gallenwege, dem wir nach Kluge in 1 Proz., nach Bol-
1 i n g e r in 2 Proz. der Gallensteinbefunde begegnen und
welches sich ja ebensogut aus der überwiegenden Zahl der
latenten wie der manifesten Fälle rekrutieren kann, in die Er¬
wägung der operativen Indikationen, d. h. in unsere Betrach¬
tungen einzubeziehen. Auch Kehr ist dieser Ansicht und es
wäre auch in der Tat nicht recht verständlich, die Dringlichkeit
der operativen Gallensteinbehandlung vom Standpunkte der
Karzinomprophylaxe geltend machen zu wollen zu einer Zeit,
wo selbst die für eine prophylaktische Behandlung ungleich
dankbarere Portio vaginalis uteri den Verfolgungen des Messers
entrückt ist. Dass übrigens die Operation auch nach dieser
Seite hin keinen absoluten Schutz bieten würde, lehrt ein von
mir beobachteter Fall, wo 2 Jahre nach der Gallensteinoperation
ein in der Tiefe der Operationsnarbe wachsender Tumor,
zweifellos ein Karzinom, unter Kachexie zum Tode führte. Zu
obenerwähnten Zahlenangaben zurückkehrend, finden wir also
bei 6,5 Proz. Gallensteinhäufigkeit 0,02 Proz. Todesfälle durch
Gallensteine im Verhältnisse zur Gesamtsektionszahl und 3,16
Proz. Todesfälle im Verhältnis zur Anzahl der Gallenstein-
befunde. Demgegenüber weist der Zeitraum von 1888 — 1900
unter 3217 Sektionen 165 Gallensteinbefunde (5,1 Proz.) mit
16 Todesfällen durch Steine, d. h. 0,5 Proz. Todesfälle im Ver¬
hältnis zur gesamten Sektionszahl und 8,7 Proz. Todesfälle
im Verhältnis zur Gesamtzahl der Gallensteinbefunde. Von
diesen 16 Todesfällen sind 5 als im Anschlüsse an die Ope¬
ration erfolgt angeführt. Die Cholelithiasis ist also in der
voroperaiiven Zeit in 3,16 Proz., in der Zeit der operativen
Behandlung in 8,7 I^roz. der Gallensteinbefunde zur Todes¬
ursache geworden.
Für München würde nach' der vorerwähnten Sta¬
tistik von Roth er unter Zugrundelegung von 6,3 Proz.
Gallensteinhäufigkeit in 7,6 Proz. der Fälle die Chole¬
lithiasis tödlich geendet haben, aber da nach späteren
statistischen Aufnahmen aus der Zeit, wo im Münchener patho¬
logischen Institute das Vorhandensein von Gallensteinen und
Komplikationen derselben bei den Sektionen konsequent notiert
wurde, die Häufigkeit der Gallensteine ziemlich konstant
10 Proz. der Sektionen Erwachsener beträgt, was übrigens
auch den in Basel, Wien und Strassburg gewonnenen Zahlen
entspricht, so sind die früher berechneten Mortalitätszahlen
im Allgemeinen zu hoch ausgefallen und auch die soeben an¬
geführte R o t h e r sehe Zahl würde von 7,6 Proz. auf 5 Proz.
zurückzusetzen sein. Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch
Renner auf Grund einer im letzten Jahre durch Herrn Pro¬
fessor B o 1 1 i n g e r veranlassten Zusammenstellung der in
den Jahren 1895 — 1904 auf dem Sektionstische vorgekommenen
Gallensteinkomplikationen, welche 8803 Sektionsbefunden Er¬
wachsener entstammen. In dieser stattlichen Zahlenreihe
sehen wir diffuse eitrige Peritonitis von der Gallenblase aus¬
gehend unter 9 Fällen mit 5 Perforationen 9 mal, zirkumskripte
Peritonitis unter 3 Fällen 3 mal, Verwachsungen unter 25 Fällen
1 mal, eitrige Cholezystitis und Cholangitis nebst Leberabszess
unter 30 Fällen 8 mal, Steine in den Gallenwegen unter 63 Fällen
5 mal die alleinige Todesursache abgeben. Es ergeben sich
demnach für genannten Zeitraum 26 Todesfälle, was bei der
für die gleiche Zeit erwiesenen Gallensteinhäufigkeit von 10
Proz. eine Beteiligung von 0,28 Proz. an der Gesamtmortalität
und eine Sterblichkeit von 2,9 Proz. unter den Gallenstein¬
behafteten allein bedeutet. Die Annahme, dass diese relativ
sehr niedrigen Zahlen unter dem Zeichen der operativen Aera
gediehen seien, trifft gerade für München bestimmt nicht zu.
Aus einer von Herrn Geheimrat v. Angerer mir gütigst zur
Verfügung gestellten Uebersicht über Gallensteinoperationen
auf der Münchener chirurgischen Klinik, von wo aus unsere
Statistik ja naturgemäss beeinflusst worden sein müsste, ent¬
nehme ich nämlich, dass innerhalb des Dezenniums, welchem
unser Sektionsmaterial entnommen ist, nur 14 Fälle zur Ope¬
ration und von diesen nur 2 zur Sektion gekommen sind. Ich
glaube, dass sich angesichts solcher Zahlen ein Einfluss der
Operation auf die Sterblichkeit der Cholelithiasis in München,
wenn überhaupt, dann nur in dem von Kehr gerühmten
Sinne erkennen lässt, wonach die beste Gewähr für die Ver¬
mehrung des Erfolges in einer weisen Beschränkung gegenüber
der Gallensteinoperation gelegen ist. Man könnte die Frage
aufwerfen, ob nicht durch ausgiebigeres Operieren die obige
Mortalitätsziffer noch einer Verbesserung fähig geworden wäre.
Die Antwort auf diese Frage erteilt uns schon ein Blick auf
die Altersverhältnisse unserer Gallensteinopfer, dieses für den
Ausfall der Operation so wichtigen Momentes. Unter diesen
26 Fällen nämlich befand sich einer im Alter von 36 Jahren,
3 zwischen 40 und 50 Jahren, 6 zwischen 50 und 60 Jahren,
10 zwischen 60 und 70 Jahren, 4 zwischen 70 und 80 Jahren,
2 zwischen 80 und 90 Jahren, so dass man also wohl sagen
kann, das Alter allein sei in mehr als der Hälfte der Fälle
gegen die Operation ausschlaggebend gewesen. Aber auch
ganz abgesehen von den Altersrücksichten lässt sich an einer
Sterblichkeit von 2,9 Proz. und selbst von 4 und 5 Proz. durch
operative Hilfe nicht viel verbessern; denn die Auswahl jener
gänzlich unkomplizierten Fälle, welche Kehr wohl nach der
Operation treffen konnte und mittelst deren er seine Mortalität
bei einfacher Zystotomie auf das achtunggebietende Minimum
von 1,8 Proz., bei Zystektomie auf 3,2 Proz., bei Choledocho-
tomie resp. Hepatikusdrainage auf 5 Proz., im Mittel also
bei reiner Gallensteinlaparotomie auf 3,2 Proz. herabsinken
sah, fällt bei der Indikationsstellung vor der Operation weg.
Dieselbe scheitert einfach an der diagnostischen Unzulänglich¬
keit, welche auch dem erfahrensten und geübtesten Diagno¬
stiker und Operateur niemals Ueberraschungen ersparen und
-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
1606
ihn unverhofft jenen Komplikationen gegenüber stellen wird,
welche selbst unter der Hand Rehrs die Mortalität schon
auf 17 Proz. erhöhen, falls sie gutartig sind und nur den
Magen-Darm betreffen, dagegen auf 85 Proz., insofern es sich
um bösartige Komplikationen handelt, unter welche auch die
eitrige Cholangitis gerechnet ist. Mit ausschliesslich reinen
Oallensteinlaparotomien wird man also prognostisch niemals
rechnen können und deshalb wird sich auch die aus der ope¬
rativen Behandlung ergebende Mortalität der Cholelithiasis
günstigsten Falles in der Nähe der natürlichen Mortalität dieser
Krankheit bewegen können, in Wirklichkeit aber dieselbe
wahrscheinlich stets übersteigen.
Von besonderem Interesse erschien mir im Hinblicke auf
die Erfahrungen innerhalb meines persönlichen Wirkungs¬
kreises eine Verfolgung der Mortalitätsbewegung in Karls¬
bad selbst während zweier durch den Beginn der operativen
Behandlungsweise getrennter Perioden. Zur Gegenüberstel¬
lung schien mir der Zeitraum von je 13 Jahren vor, bezw.
nach dem Jahre 1893 als demjenigen Zeitpunkte geeignet, wo
die eigentliche Chirurgie in Karlsbad einzog und seither in
einer Hand vereinigt blieb. Die zur Ermöglichung eines Ver¬
gleiches notwendige Annahme, dass zu den verschiedenen
Zeiten ein gleichbleibender bestimmter Prozentsatz der Be¬
sucher mit Cholelithiasis behaftet gewesen sei, hat wohl etwas
Willkürliches, kann aber doch nur einen relativen Fehler be¬
dingen. Auch Herrmann hat in einer früheren Statistik
ähnlich verfahren müssen, aber den Prozentsatz für Chole¬
lithiasis meines Erachtens für eine allgemeine Beurteilung des
Verhältnisses der Krankheitszustände unter einander viel zu
niedrig gegriffen. Bei den folgenden Berechnungen habe ich,
obwohl sich in meiner eigenen Praxis das Verhältnis der Chole¬
lithiasis zu den übrigen zur Behandlung kommenden Zuständen
noch höher stellt, nur 25 Proz. der sogen. Parteienzahl (nicht
Kopfzahl) der Besucher für die Frequenz der Cholelithiasis
requiriert, gelangte somit für die Zeit von 1880 — 1893 zu einer
Anzahl von 72 757, für die Zeit von 1893 — 1905 zu einer solchen
von 117 008 gallensteinkranken Besuchern Karlsbads, deren
jeder durchschnittlich 4 Wochen lang zur Kur hierselbst ver¬
weilte. Nach den amtlichen Todeslisten entfallen nun auf die
1. Periode im ganzen 18 Todesfälle infolge von Cholelithiasis,
d. h. 0,024 Proz. der Gesamtbesuchszahl, auf die II. Periode
dagegen 71 Todesfälle, d. h. 0,078 Proz. der Gesamtbesuchszahl
der Gallensteinkranken. Wie viele von diesen 71 Todesfällen
im Anschluss an eine Operation erfolgt sind, ist aus den amt¬
lichen Listen nur in Bezug auf die letzten 4 Jahre ersichtlich,
innerhalb welcher 20 operierte Fälle vermerkt sind. Ein be¬
rechtigter Einwand gegen diese statistischen Daten könnte
darin gefunden werden, dass insbesondere in der weniger
kritischen voroperativen Periode hinter den als Todesursache
figurierenden Titeln Leberabszess und Cholämie manche Gal¬
lensteintodesfälle verborgen und zum Nachteile des Zeitab¬
schnittes der Operationen ungezählt geblieben sein könnten.
Aber selbst mit dem Zugeständnisse, dass alle diese verdäch¬
tigen Fälle tatsächlich Todesfälle durch Gallensteine gewesen
sind, stehen im ganzen 38 Todesfälle der voroperativen Periode
mit 0,052 Proz. Sterblichkeit 86 Todesfällen aus der operativer.
Periode mit 0,078 Proz. Sterblichkeit unter den gallenstein¬
kranken Besuchern gegenüber. Also auch dieses Zugeständnis
ändert nichts an der Tatsache, dass die Bewegung in den
Sterblichkeitsverhältnissen der Cholelithiasis auch in Karlsbad
nicht zu gunsten der Operation spricht, und wenn von den
7 Gallensteintodesfällen gerade des letzten Jahres kein einziger
unoperiert gestorben ist, so gemahnt dieser zwar erfreuliche
Beweis eines keineswegs engherzigen Festhaltens der Karls¬
bader Aerzte am traditionellen Wassertrinken denn doch an
jenes „Insichgehen“, das uns v. Bergmann so ein¬
dringlich als den^ ersten Schritt des „Sichbeschränkens“ ans
Herz legt. Das Gebiet der Cholelithiasis ist einmal kein Tum¬
melplatz für lebensrettende Taten und solange die operative
Behandlung nicht eine entschiedene Besserung, sondern nur
eine gewisse Verschiebung der Mortalität in dem Sinne bringt,
dass sie wohl Einzelne vor dem Tode rettet, dafür
aber Andere durch einen unglücklichen Ausgang der
Operation der Möglichkeit beraubt, unoperiert ein viel¬
leicht hohes Alter zu erreichen, solange werden die Be¬
teiligten diesem Eingreifen in des Schicksals Lauf,
dieser Korrektur der Lebenschancen mit Recht zögernd gegen¬
überstehen. Gleichwohl bleibt dem Messer in der Hand des
Meisters ein segensreiches Feld in der Bekämpfung und Lin¬
derung der schweren Leiden und der unhaltbaren Zustände
gesichert, welche im Gefolge der Cholelithiasis das Leben
unter Umständen nicht mehr lebenswert gestalten können.
Gerade in solchen Situationen, wo also nicht direkte Lebens¬
gefahr, sondern das aussichtslose Gesamtbild der Krankheit
oder vielmehr des Kranken zum Handeln auffordern, versagt
auch der starre Wortlaut der Indikationsregeln, in welche sich
schliesslich jeder Gallensteinfall ein oder das andere Mal wäh¬
rend seines wechselvollen Verlaufes hineinpassen lässt. Hier
wird eben das ausschlaggebend, was nach den Worten
v. Berg m a n n s nur der ausschliessliche Erwerb gesicherter
Erfahrung und strenger Prüfung sein kann. Einem Punkte sollte
vor Allem in der Durchführung des Indikationsverfahrens, so¬
fern es sich um die Frage der Zweckmässigkeit einer Operation
handelt, mehr als es meistens geschieht, Rechnung getragen
werden: Dem Standpunkte des Patienten selbst. Denn nicht
dem inneren Mediziner oder dem Chirurgen gehören die Gallen¬
steine, wie Kehr sehr treffend bemerkt, sondern in erster
Linie dem Patienten. Die Bewertung seiner Gesundheit fällt
zunächst in die Kompetenz des Patienten und wer gesund sein
muss, um leben zu können, oder nicht leben will, um zu leiden,
wird in seiner Entscheidung von anderen Motiven geleitet sein
wie derjenige, der Zeit, Geld und Lust hat, die Chancen seines
Leidens zu ertragen und abzuwarten. Dieses Recht, das wir
Aerzte für uns und die Unsrigen gerne in Anspruch nehmen,
wollen wir auch unseren Patienten nicht verkürzen. Um aber
dem Patienten die Tragweite seines Entschlusses zu ermög¬
lichen, bin ich abweichend von der Anschauung Rehrs und
Riedels der Ansicht, man solle ihm alle Chancen des Ope-
rierens und des Zmvartens freimütig eröffnen, auch die Be¬
deutung der oft lästigen Verwachsungen und Hernien nicht
verschweigen, ja sogar die Möglichkeit von Rezidiven unum¬
wunden zugeben. I)er vernünftige Patient wird sich dadurch
nicht leicht abschrecken lassen und dem Unvernünftigen be¬
nehmen wir durch ein solches Verhalten den Vorwurf der Un¬
aufrichtigkeit und der wissentlichen Verschleierung, Vorwürfe,
welche sich zuweilen recht hart anhören. Vor Uebertreibungen
sollte man sich in dieser Beziehung freilich hüten und nament¬
lich die Eventualität der Folgezustände nicht zu hoch veran¬
schlagen, wenn schon eine gegebene Situation zum Handeln
drängt. Eine aus reiflicher Ueberlegung und Beurteilung der
ganzen Situation hervorgegangene Empfehlung der Operation
braucht selbst Rezidive nicht zu scheuen, deren Wiederkehr
nur dann dem ärztlichen Gewissen lästig fallen kann, wenn der
Eingriff nicht um jeden Preis, auch um den eines Rezidives ge¬
boten war. Zu Beobachtungen auf dem Gebiete jener Folge¬
zustände boten mir während der letzten Jahre 28 operierte
Fälle Gelegenheit, von denen einige auf die prinzipielle Frage,
ob überhaupt nach Operationen echte Rezidive Vorkommen,
eine kaum misszuverstehende Antwort erteilen können. Be¬
kanntlich wird diese Frage im Prinzip von Nannyn sowie
auch von Kehr und Riedel bejaht, von letzteren jedoch
mit der Einschränkung, dass Rezidive in praxi nicht Vor¬
kommen. Mit Recht machen die Chirurgen geltend, dass nicht
alle nach Operationen wiederauftretenden Beschwerden ohne
Weiteres als Rezidive angesprochen werden dürfen und dass
einerseits Verwachsungen ganz ähnliche Erscheinungen wie
Steine auslösen, andererseits wirkliche Steinsymptome von
zurückgebliebenen Steinen nach unvollkommener Operation
herrühren können. Mehrfache, auch von Karlsbad ausge¬
gangene Versuche, die Tatsache der Rezidivbildung an be¬
obachteten Fällen zu beweisen, haben Kehr das Substrat zu
einer Entgegnung geliefert, welche den Glauben an das Vor¬
kommen wahrer Rezidive allerdings stark erschüttern müsste,
wenn nicht doch zwingende Argumente wie z. B. das Fortbe¬
stehen von Erblichkeit, von Katarrhen der Gallenw^ege u. a.,
welche eben durch keine Operation zu beseitigen sind, jenen
Glauben a priori stützen würden.
(Schluss folgt.)
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1607
Aus der K. Universitäts-Kinderklinik und dem hygienischen
Institut der Universität in München.
Der Nachweis des Toxins in dem Blute des Diphtherie¬
kranken.*)
Von Dr. Albert Uffenheimer, Privatdozent für Kinder¬
heilkunde in München.
In einer Arbeit: „Zusammenhänge zwischen
Diphtherie und Scharlac h“, die ich vor nahezu
3 Jahren geschrieben habe, sprach ich mich noch mit grosser
Entschiedenheit dahin aus, dass für den geübten Kliniker im
allgemeinen kaum Zweifel bestehen könnten, ob in einem ge¬
gebenen Falle Diphtheriebazillus oder Pseudo-
diphtheriebazillus vorliege. Es genüge vollauf die
Untersuchung des nativen Präparates, das Anlegen von Ham-
melblutserumkulturen und die mikroskopische Prüfung der auf
den letzteren gewachsenen Kolonien (am besten innerhalb der
ersten 24 Stunden), um dem Untersucher eine genügende Auf¬
klärung zu verschaffen. Ich ging zur Stütze dieser Behauptung
damals auf die morphologischen und biologischen Unterschiede
der beiden Mikroben des Näheren ein und glaubte, meiner
Sache recht sicher sein zu können.
Heute stehe ich nicht mehr auf dem gleichen Standpunkte.
Noch nicht veröffentlichte Versuche mit Bakterienkulturen, die
für Diphtherie- resp. Pseudodiphtheriebazillen gehalten waren,
zeigten eine solche Variabilität der Wachstumsverhältnisse auf
den zur Kultivierung benützten Medien und auch des morpho¬
logischen Aussehens, ja bei einem Stamme einen völligen
Uebergang einer charakteristischen Diphtheriebazillenkultur
in eine solche, die aufs genaueste einer Pseudodiphtherie¬
bazillenkultur glich, dass ich in meinen Ansichten immer mehr
wankend wurde. Auch die Heranziehung farbiger Nähr¬
böden, wie des Conradi-Drygalski sehen und des
E n d o sehen zur Differentialdiagnostik liess mich völlig im
Stich. Ich glaubte, das (als durchaus verschieden angenom¬
mene) Säurebildungsvermögen des Diphtherie- und des
Pseudodiphtheriebazillus lasse mit Leichtigkeit eine Unterschei¬
dung dieser beiden Mikroben auf den Earbnährböden zu, wie
sic zwischen K o 1 i - und Typhus bazillen möglich ist, aber
auch in dieser Erwartung sah ich mich völlig enttäuscht — ich
kann auf alle diese Dinge, so interessant sie an und für sich
sind, im Rahmen des heutigen Vortrages nicht näher eingehen
— ich will nur sagen, das Res ultatall dieser meiner
Untersuchungen ist nunmehr, dass ich einen
absoluten Unterschied zwischen Diphtherie¬
bazillus und Pseudodiphtheriebazillus nicht
mehr kenne; alle bisher bekannten bakteriologischen
Methoden (auch Pathogenitäts- und Agglutinationsprüfung, so¬
weit sie nicht positiv ausfallen) scheinen mir eine stichhaltige
Differentialdiagnose nicht zu gestatten.
Ich suchte nun nach neuen Methoden und machte da fol¬
gende Ueberlegung. Das für die Diphtherie Charakteristische
ist, dass sie eine Vergiftungskrankheit ist. Die ört¬
liche Membranbildung entsteht, wie wir durch Ro u x und
Yersin wissen, ebenso durch das bakterienfreie Diphtherie¬
toxin wie die schweren Erscheinungen des Allgemeinbefindens,
wie die Erkrankungen der Kreislauforgane und des Nerven¬
systems. So schien es mir also am wichtigsten, nachdem die
Suche nach dem Bazillus nicht in allen Fällen unsere Zwei¬
fel aufklären konnte, nach dem Diphtheriegift im kran¬
ken Körper zu fahnden. Möglichenfalls konnten auf diese
Weise wichtige diagnostische Fingerzeige gewonnen werden,
vielleicht auch war es möglich, dem Gang der Diphtherie¬
intoxikation genauer zu folgen und so neue Einblicke in die
Pathologie der furchtbaren Krankheit zu gewinnen.
Ich sah die Literatur daraufhin durch und fand zu meiner
Verwunderung, dass man überhaupt noch nicht
versucht hatte, im lebenden Organismus des
diphtheriekranken Men sehen dasDiph therie-
gift nachzuweisen. Wohl waren einige Autoren dem
Schicksal des Toxins im experimentell vergifteten oder bak¬
teriell infizierten Tierkörper nachgegangen. Hierher gehören
in erster Linie Arbeiten von Dönitz, Behring, Wasser-
*) Vortrag, gehalten im Aerztlichen Verein München.
m a n n und Proskauer, Born stein, Croly und
Brunner.
Die Versuche dieser Autoren lassen sich in 2 Gruppen
einteilen. Teils suchte man durch nachträgliche Einspritzung
von Diphtherieantitoxin zu erfahren, ob eine Neutralisation des
zuvor eingeführten Toxins noch möglich sei, teils suchte man
durch direkte Entnahme des Blutes experimentell mit Diph¬
therietoxin vergifteter Tiere und Uebertragung desselben auf
gesunde Tiere zu erfahren, ob auch diese der Erkrankung zum
Opfer fallen. Das Bild der experimentell leicht
hervorzubringenden Diphtherietoxinerkran¬
kung ist, insbesondere bei dem hierfür so sehr geeigneten
Meerschweinchen, ja ein überaus Charakteristisches. Die
hämorrhagischen örtlichen Oedeme, die Hyperämie der Neben¬
nieren und oft auch der Abdominalgefässe überhaupt, die
serösen Ergüsse in Pleura und Herzbeutel sind wohl den
meisten von Ihnen ein geläufiges Bild.
Die Experimente der nach den angegebenen 2 ver¬
schiedenen Richtungen untersuchenden Autoren ergaben ein¬
heitlich, dass das Toxin aus dem Blut sehr rasch verschwinde,
indem es — nach der Ehrlich sehen Auffassung — von den
Rezeptoren der Gewebszellen mit grosser Schnelligkeit an sich
gerissen wird.
In welcher Weise es an die Körperzellen gebunden und
in den Organen verändert wird, davon können wir auch heute
uns noch kein annäherndes Bild machen. Wohl gelang es
Roux und Yersin, aus der Mazerationsflüssigkeit der Milz
eines an Diphtherie verstorbenen Kindes ein Gift zu isolieren,
welches die Versuchstiere kürzere oder längere Zeit nach der
Einspritzung tötete, aber die bei der Obduktion der Tiere ge¬
fundenen Erscheinungen und auch der klinische Verlauf gaben
doch nicht das Bild der voll ausgeprägten
schweren Diphtherievergiftung wieder, es waren
höchstens, wie auch die Autoren selber bemerken, solche Er¬
scheinungen, wie man sie nach Injektion schwach toxischer
diphtherischer Flüssigkeiten (des liquides diphtheriques dont la
toxicite est faible) findet. Auch ein Uebergang des Diphtherie¬
giftes in den Urin eines schwer kranken Kindes wird von
Roux und Yersin angegeben, doch die Durchsicht der bei¬
den Obduktionsprotokolle lässt auch hier die typischen Diph¬
theriegifterscheinungen vermissen. Aehnliches gilt bezüglich
der im übrigen durch ihren Gedankengang ausserordentlich
interessanten Arbeiten von Sidney Martin; nur waren hier
bei dem aus den diphtherischen Membranen gewonnenen Gift¬
stoff solche Veränderungen eingetreten, dass sie viel heftiger
wirkende toxische Erscheinungen hervorriefen als die aus den
Kulturfiltraten gewonnenen Toxine. Entsprechende Befunde
haben Wassermann und Proskauer verzeichnet, die
aus Organen und Blut der an Diphtheriekulturen zugrunde ge¬
gangenen Tiere giftige Substanzen isolieren konnten, die weit
toxischer wirkten als die aus den künstlichen Kulturen isolier-
lierten. Es scheinen eben bald nach der Auf¬
nahme des Giftes in die Organe schwer¬
wiegende Umgestaltungen in seiner Konsti¬
tution einzutreten. Während übrigens Croly nach
einem raschen Verschwinden des grössten Teiles des Toxins
aus der Blutbahn es bei seinen Versuchen auch nicht in den
Organen nachweisen konnte, scheint in einem Falle von
Brunner es sich im Muskelsaft eines (mit Diphtherie¬
toxin vergifteten) Hundes noch unverändert vorgefunden zu
haben. In 2 Beobachtungen von S a 1 1 e r soll im S c h w e i s s
an Diphtherie erkrankter Kinder das Toxin nachgewiesen wor¬
den sein. Allein die Versuchsanordnung dieser beiden Fälle
(die bisher auch noch von keiner anderen Seite bestätigt sind)
ist eine zu grobe, als dass man ihr uneingeschränktes Vertrauen
entgegenbringen dürfte. Insbesondere sind die bei den Tieren
gefundenen Lokalerscheinungen der Diphtherievergiftung gar
nicht darauf untersucht worden, ob nicht etwa Löfflersche
Bazillen in den Herden zu finden waren, eine Möglichkeit, die
bei der Entnahme des Schweisses von der Haut ja durchaus
nicht von der Hand zu weisen ist.
Man beschränkte sich infolge des schnellen Verschwindens
des Toxins aus dem Blute immer mehr darauf, die patho¬
logischen Verhältnisse in den Organen der
Individuen festzustellen, welche der Diphtherievergiftung er-
1608
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
legen waren (H e u b n e r und zahlreiche andere Autoren), und
Eppinger, der schwere Veränderungen des Herzmuskels
als M y o 1 y s e beschrieb, nahm sogar auf Grund seiner patho¬
logisch-anatomischen Studien als wahrscheinlich an, dass das
Toxin sich direkt im Herzmuskel verankere und dadurch die
genannten Erscheinungen erzeuge * *).
Der Umstand, dass nach den Ergebnissen
des Tierversuches die Toxine so rasch aus
dem Blute der experimentell vergifteten
1' i e r e zu verschwinden pflegen, mag wohl den
Grund abgegeben habe n, weshalb beim Men¬
schen gar nicht erst versucht wurde, das
Diphtheriegift im Blute*) nachzu weisen.
Als ich nun meine Versuche (Ende des Jahres 1904) begann,
ging ich von der vorgefassten Meinung aus, dass die im Blute
des Menschen nachweisbaren Toxindosen — falls
überhaupt solche aufzufinden waren — gewiss sehr klein
sein müssten, so klein, dass die Uebertragung des
gewonnenen Serums auf Meerschweinchen
wohl nicht genügen würde, um unter den be¬
kannten klinischen und pathologisch-ana¬
tomischen Erscheinungen den Tod der Tiere
herbeizuführen. Ich erinnerte mich nun einer neuen,
von Marx beschriebenen Methodik des Nachweises kleinster
Diphtherieantitoxinmengen. Dieselbe war damals eben aus¬
gearbeitet und von mir, wie ich kürzlich in der Gesell¬
schaft für Morphologie und Physiologie zu
schildern die Ehre hatte, nachgeprüft und als ausgezeichnet
und überaus exakt befunden worden. Sie nahm als Grund¬
lage des für den Antitoxinnachweis notwendigen Toxin-Serum-
Mischungsversuches (statt der bei der alten Ehrlich-
Kossel-Wassermann sehen Methode gebräuchlichen,
für ein Meerschweinchen 10 fach tödlichen Dosis) nur einen
geringen Teil der einfach tödlichen Dosis an,
und zwar denjenigen Teil, der nur eine ein¬
zige Komponente der Giftwirkung hervor¬
bringt, nämlich die Entstehung eines starken,
sulzigen, mit Hämorrhagien durchsetzten
Oedems des Unterhautzellgewebes. Bei dem
Gift, mit dem ich seinerzeit 3) arbeitete, genügte schon der
10. Teil der für das Meerschweinchen (von- 250 g Gewicht) töd¬
lichen Minimaldosis, um dies Oedem hervorzubringen, bei
anderen Giften auch ein noch geringerer der todbringenden
Dosis (Marx). Auf die gleiche Weise, dachte ich,
müsste nun auch der Nachweis recht kleiner
Mengen von Diphtheriegift im Serum ge¬
lingen. Die Tiere brauchten nach der Ein¬
spritzung keinerlei schwere Krankheits¬
erscheinungen zu zeigen, vielleicht ein
schwaches palpables Infiltrat. Wenn man aber
nach 2 mal 24 Stunden die Tötung des Tieres vornahm, so
musste sich das charakteristische Oedem des Unterhautzell¬
gewebes finden.
In einem ersten Fall von reiner Rachendiphtherie zeigte
sich nach der Tötung des Tieres (2 mal 24 Stunden nach der
Einspritzung einer geringen Serummenge des kranken Kindes)
glatte Resorption, d. h. keine Veränderung an der Injektions¬
1) „Ob nun die Wirksamkeit des diphtheritischen Toxins auf die
Muskelfasern des Herzens direkt erfolgt, oder durch das toxische
Oedem vermittelt wird, bleibt sich schliesslich gleich.“ (Eppinger.)
*) Durch einen Zufall hat Loos einmal (wie ich bei nachträg¬
lichen Literaturstudien fand) im Blut eines Diphtheriekranken das
Toxin nachweisen können. Er suchte im Blute gesunder und diph¬
theriekranker Kinder nach dem Antitoxin; dabei passierte es einmal,
dass von zwei Tieren, die mit Toxin + Serum eines schwer diph¬
theriekranken Kindes gespritzt waren, das mit der grösseren Serum¬
dose behandelte zuerst starb. In einem Kontrollversuch mit 1,9 ccm
reinem Serum des gleichen Ealles starb das Meerschweinchen unter
völlig charakteristischen Erscheinungen nach 12 Tagen. Hieraus ging
hervor, dass im Blut dieses schwerkranken Kindes Diphtherietoxin
vorhanden war. Diese — wie ich nochmals betone — zufällige Be¬
obachtung stand bis jetzt meines Wissens einzig da.
s) Vergl. auch meine Arbeit „Experimentelle Studien über die
Durchgängigkeit der Wandungen des Magendarmkanals neugeborener
Tiere für Bakterien und genuine Eiweissstoffe.“ Archiv für Hygiene,
Bd. 55, Heft 1/2, und Buch, unter dem gleichen Titel erschienen bei
R. Oldenbourg in München 1906.
stelle. Zu meiner freudigen Ueberrasschung
hatte ich aber schon beim 2. untersuchten Fall
einen positiven Erfolg. Es ist nötig, denselben kurz
zu schildern.
Fr. Oskar, 1% Jahre alt, (Journ. No. 934, 1904). Aufnahme in
die Klinik 15. XII. 1904.
Wichtig aus der Anamnese: Am 6. XII. eine Schwester mit
schwerer Rachen- und Kehlkopfdiphtherie in die Klinik aufgenommen.
Vor 6 Wochen litt Patient an eitriger Augenentzniidung, die mit Aus¬
waschungen behandelt wurde, sich jedoch nicht besserte, vor 14 Tagen
Ausschlag in der Gegend des Mundes, Ober- und Unterlippe und
Kinn befallend, den der Arzt mit Puder behandelte und als von der
Zahnung herrührend erklärte. Seit gestern sieht das Ekzem brandig
aus. Seit heute früh Schweratmigkeit. Aus dem Status: Das Kind
bietet mit der in gangränösem Zerfall befindlichen Ober- und Unter-
lipppe, den geschwollenen und stark infiltrierten Augenlidern einen
entsetzlichen Anblick. Die Atmung ist dyspnoisch, stridorös. Ord. :
B. 111. Umschläge um Lippen und Kinn mit übermangansaurem Kali.
Ausspülungen der Lider mit dem gleichen Desinfiziens. Aus dem
ausführlicheren Status am Tag nach der Aufnahme: Die Lippen
bieten einen ebenso merkwürdigen wie scheusslichen Anblick. Ein
Teil der Oberlippe, sowie die ganze Unterlippe ist in gangränösem
Zerfall begriffen, in eine graugrüne aashaft stinkende Masse ver¬
wandelt, die nur noch die Konturen, aber sonst nichts mehr vom nor¬
malen Gewebe erkennen lässt. Auch die Haut des Kinnes ist in
Mitleidenschaft gezogen, doch hat die gestrige graugrüne Färbung
heute einer entzündlichen roten Platz gemacht, indem bereits eine
Reinigung der befallenen Partien begonnen hat. Ein grosser Teil der
Unterlippe ist tief unterminiert; die Lider des linken Auges stark
infiltriert, Schleimhaut mit ziemlich derben Membranen bedeckt. Auf
den Tonsillen flächenhafte schwer abziehbare schmutziggraue Beläge.
In den Lidern und auf den Tonsillen Löffler sehe Bazillen
(L.B.) + sowohl im nativen Präparat wie in der Kultur.
Verlauf: In den ersten Tagen sehr schwere Erkrankung, am
17. XII. wird der Exitus letalis befürchtet; dann allmählich gute Er¬
holung, sodass am 3. I. 05 die Entlassung in gutem Zustande erfolgen
kann.
Diesem Kinde wurde am Aufnahmetag Blut entnommen.
4 Tropfen wurden in etwa 4 ccm NaCl-Lösung dem Meer¬
schweinchen 83, 275 g schwer, subkutan unter die Bauchhaut
injiziert (abends 6 Uhr). Am folgenden Tag morgens 11 Uhr,
also nach 17 Stunden, war bereits ein sehr deutliches Oedem
der Bauchhaut fühlbar, Gewicht des Tieres 260 g. Am 2. Tage
mittags 1 Uhr hatte das Oedem weiter zugenommen, Gewicht
250 g. Das Tier wurde abends 6 Uhr getötet (nach 2 mal
24 Stunden). Die Obduktion ergab ein deutliches
Oedem der gesamten Brust- und Bauchhut,
durchsetzt mit ziemlich starken Hämorrha¬
gien; die inneren Organe waren unverändert. Zum 2. Male
wurde diesem Kinde am 18. XII. 04, also 3 Tage nach der
Heilseruminjektion und einen Tag nach dem schwersten Er¬
griffensein des Allgemeinbefindens (vgl. Krankengeschichte),
Blut entnommen. 0,15 ccm völlig blutkörperchenfreien Serums
wurden ohne Zusatz einem neuen Meerschweinchen 84 (Ge¬
wicht 290 g), subkutan injiziert. Auch hier war bereits nach
24 Stunden ein sehr deutliches Oedem fühlbar, das Tier nahm
ständig an Gewicht ab. Die Obduktion, vorgenommen 48 Stun¬
den nach der Einspritzung, ergab ein sehr deutliches,
s u 1 z i g e s, m it Hämorrhagien der Bauch-, teil¬
weise auch der Brusthaut durchsetztes
O e d e m. Ausstrichpräparate aus dem Oedem zeigten Leuko¬
zyten, keine Löffler sehen Bazillen.
Ein Stück der Bauchhaut, das stark ödematös durchtränkt
war, wurde zerschnitten und im sterilen Mörser zerrieben.
Auch hier zeigte sich der gleiche Befund; zwei davon angelegte
Serumkulturen blieben steril.
Ein gleichzeitiger Versuch mit dem bei der Serumgewin¬
nung zurückgebliebenen und in NaCl-Lösung ausgewaschenen
Blutgerinnsel ergab ein gleiches positives Resultat.
Es wäre vielleicht ganz interessant, ap¬
proximativzubestimmen, wievielDiphtherie-
toxin in dem Gesamtblut des Kindes Vorhän¬
de n w a r.
Setzen wir das in dem Versuch vom 18. XII. gefundene Oedem
als durch den zehnten Teil der für ein Meerschweinchen von 250 g
Gewicht tödlichen Giftdosis erregt an (gemäss den oben beschriebenen
Versuchen mit meinem Diphtherietoxin), so würde, da 0,15 ccm
reines Serum bei diesem Experiment eingespritzt wurden, 1,5 ccm
vom Serum dieses an Diphtherie erkrankten Kindes genügt haben,
um ein Meerschweinchen von 250 g zu töten. Das Kind von 1% Jahren
wog ca. 13 kg, die Menge des Blutserums, entsprechend dem 26.
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1609
Laufende .
No. f
Aufnahme- (
Tag
vlame, Geschlecht,
Alter
Krankennummer)
Krankengeschichte ^
(Wo nicht ausdrücklich anders angegeben ist, wurden die Kinder v
am ersten Erkrankungstag in die Klinik aufgenommen)
Nachweis des T,o xins
Wo keine besondere Bemerkung,
rurde die Blutentnahme, am Auf¬
nahmetag vorgenommen)
1.
X. X. ö\ 8 J.
(poliklinisch)
Diphtheria faucium, mit grossen Belägen, ohne irgend schwere All¬
gemeinerscheinungen, schnell abheilend.
negativ.
2.
(15. XII. 04)
Fruhmann Oskar,
1 3/ 4 J.
(No. 934, 1904)
Di faucium et laryngis. Di. palpebrarum. Di. labiorum. Behring-
Serum No. III (Abkürzung: B. III.)
Löffler-Bazillen (Abkürzung: LB) -f-. Anamnese und Status im Text.
1. positiv (15. XII. 04).
2. positiv (18. XII. 04).
3. negativ (18. I. 05).
3.
(20. XII. 04)
Metschel Anna,
1 J.
(No. 947, 1904)
Erkrankung bereits seit 3 Tagen, bisher ohne Heilseruminjektion.
Moribund eingeliefert. Di. laryngis. Bronchopneumonie. Intubation.
Exitus letalis nach wenigen Stunden. — Anatom. Diagnose.
Kruppöse Laryngotracheitis. Linksseitige ausgedehnte Bronchopneu¬
monie. Gehirnödem.
positiv.
4.
(23. XII. 04)
Steidl Gondoline,
7 Mon.
(No. 943, 1904)
Krupp. Pneumonie (Rhachitis). "f- an Bronchopneumonie. 1
Krankheit begann vor 24 Stunden mit rauhem Husten und Atemnot.
B III LB— . Sehr schwer verlaufender Krupp (481/* Std. Intubat.).
Hinzukommen einer ausgedehnten Pneumonie. Schneller Exitus le¬
talis am 5. Krankheitstag. - Anatom. Diagnose: Kruppöse La¬
ryngitis. Bronchopneumonie des L. Ober- und des R. Ober- und
Mittellappens. Rhachitis.
Blut am Tag nach der Erkrankung
entnommen,
negativ.
5.
(23. XII. 04)
Theter Genoveva,
5 Mon.
(No. 950, 1904)
Krupp. Bronchopneumonie. Enterokatarrh +• Vor 5 Tagen e rk ra: nkt.
Sehr schwer verlaufender Kehlkopfkrupp (198 /* Std. Intub.). B.
LB— . Hinzukommen einer schweren Pneumonie. loa am 15. läge
des Spitalaufenthaltes. — Anat. Diagnose: Abgelaufene kruppöse
Laryngitis. Ausgedehnte Dekubitalgeschwüre der Larynxschleimhaut.
Bronchopneumonie beider Lungen.
wahrsch. negativ.
6.
(28. XII. 04)
Gerstner Ferdin.,
21/ 4 J.
(No. 967, 1904)
Krupp nach Masern. B. III. LB +. Vor 8 Tagen Masern Schwerer
Krupp (7492 Std. Intub.). Leichte Pneumonie. Nach und nach voll¬
kommene Erholung, so dass am 2. II. Entlassung erfolgen kann.
negativ.
7.
(27. XII. 04)
Ernst Maria,
10 Mon.
(No. 962, 1904)
Krupp. Bronchopneumonie +• Aufnahme am 2. Krankheitstag abends
in moribundem Zustande. (Sofortige Intubation ohne grössere Er¬
leichterung B. III. LB— ). Exitus letalis am folgenden Morgen. —
Anat. Diagnose: Krupp des Larynx und der Trachea. Broncho¬
pneumonie des L. Unterlappens. Beginnende Bronchopneumonie des
L. Ober- und R. Unterlappens. Schwellung der Milz. Fettige Dege¬
neration der Leber. Follikularkatarrh des Darms.
negativ?
8.
(28. XII. 04)
Wild Georg,
8 Mon.
(No. 968, 1904)
Krupp. Bronchopneumonie f- Aufnahme am Nachmittag des 8. (!)
Krankheitstages in schlechtestem Zustande (Intubation B III. LB — ).
Noch in der Nacht erfolgt der Exitus letalis. — Anat. Diagnose.
Diphtherie des Larynx und der Trachea mit absteigendem Krupp.
Eitrige Bronchitis. ' Konfluierende Bronchopneumonie beiderseits.
• Milzschwellung. Anämie der Leber.
negativ?
9.
(30. XII. 04)
Hertel Emilie,
21/* J.
(No. 975, 1904)
Di. fauc. et lar. LB +. B. III. 6. Tag der Erkrankung. Leichte
Stenose, keine Intubation. Auf der L. Tonsille kleinster Belag, in
dessen Präparat ausschliesslich LB. Gutartiger, schneller Ab¬
lauf der Erkrankung.
schwach positiv (nach 24 Stunde
Meerschw. getötet).
10.
(3. I. 05)
Winsperger Joh.,
6J/2 J.
(No. 11, 1905)
Di. fauc. Seit 1 Tag krank. Beläge anfangs follikulär. In Präparat
und Kultur keine LB gefunden. Nach dem positiven Befund ergibt
die nochmalige Kultur: LB+. Leichter, gutartiger Verlauf.
schwach positiv.
11.
(4. I. 05)
Kautter Luise,
10 J.
(No. 12, 1905)
Di fauc LB 4-. Seit 5 Tagen krank. Beiderseits membranöse, graue
Beläge. Gutartiger Verlauf.
positiv.
12.
(5. I. 05)
Geyer Marie,
3/i J.
(No. 8, 1905)
Aufeenommen am 5. I. als Gesichtsekzem (teils borkig, teils nässend).
Da sich auf den Konjunktiven leichte Membranbildung zeigt, bakt.
Unters. Nase, Hals, Konjunktivae negativ. yon ,.der Haut wachsen
LB. B. III. (8. I. 05.) Schnelle Heilung.
negativ.
13.
(13. I. 05)
Fischer Lorenz,
1 V* j.
(No. 40, 1905)
Krupp mit schwerstem schnellen Verlauf. Erkrankung Nacht vorher.
B. Ul Intubation. Tod V* Tag nach der Aufnahme an Asphyxie
(Stimmritzenkrampf, der die Intubation unmöglich macht).
negativ?
14.
(16. II. 06)
Mayer Magdal.,
8 J.
(No. 148, 1905)
Septische Diphtherie (5. Tag der Erkrankung) ; Spätnachmittag ein-
geliefert B III Tod noch vor Mitternacht. — Anat. Diagnose.
LUzeröse Diphtherie der Mandeln und des Kehlkopfs mit Membran-
bildungln^der Trachea und den grösseren und mittleren Bronclnen
Bronchopneumonie. Septischer Milztumor.
positiv.
V .... ; ) ■ ' i
2
No. 33.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
1 610
Teil des Körpergewichtes, war demnach 500 g. Darnach würde also
die Menge des am 18. XII. im Serum des Kindes vorhandenen Diph¬
theriegiftes genügt haben, um ungefähr 330 Meerschweinchen von
250 g Gewicht zu töten.
Eine neue Untersuchung des Blutes vier Wochen nach der
letzten vorgenoinmen, als das Kind wegen einer Pneumonie
wiederum in die Klinik aufgenommen war, ergab völliges Frei¬
sein von Diphterietoxin.
Ich habe nun in weiterer Verfolgung die¬
ser Studien das Blut von Gesunden, Rekon¬
valeszenten, vonMasern-undScharlachkran-
ken (bei denen allen die Toxinprobe stets n e -
gativausfiel)undausserdemvonnoch 12 Diph¬
theriekranken, untersucht. Als die beste Me¬
thodik der Blutentnahme ergab sich der Einstich in
die Fingerbeere oder Zehenspitze miteist der F r a n c k e sehen
Nadel (neuer Katalog von Stiefenhofer Nr. 1208) und das Auf¬
fangen des Blutes in ein schmales und kleines Reagenzröhr¬
chen. Wiederholte Kontrolluntersuchungen zeigten, dass ein
Miteinspritzen von roten Blutkörperchen oder gar des ganzen
Blutkuchens störend wirkt, weil die roten Blutkörperchen
schon an und für sich eine leichte Transsudation ins Unter¬
hautzellgewebe hervorrufen und weil infolgedessen event. ein
Oedem vorgetäuscht werden kann, vor allem auch, weil der
Blutkuchen, der unter der Haut fühlbar bleibt, solange das
Tier noch am Leben ist, sich von einem beginnenden ödema-
tösen Infiltrat nicht gut unterscheiden lässt. Ich habe dem¬
zufolge späterhin nur reines Serum zu meinen Ein¬
spritzungen benützt, in Mengen von 0,1— 0,3 ccm, und habe es
mit wechselnden Dosen phys. NaCl-Lösung vorher vermischt.
Das Volumen der letzteren ist von keinerlei Einfluss auf das
Ergebnis des Versuches. Die Flüssigkeit wird den Tieren
subkutan, am besten unter die Bauchhaut, eingesprizt. Bei
irgendwie hochgradigem Oedem kann man dies stets schon
während des Lebens der Tiere konstatieren, auch die Abnahme
des Gewichtes gibt deutliche Fingerzeige für einen positiven
Ausfall der Untersuchung. Als die beste Obduktionszeit erwies
sich das Ende des zweiten Tages. Wenn überhaupt Erschei¬
nungen infolge des injizierten Serums auftreten, so sind sie in
dieser Zeit schon deutlich ausgeprägt. Die Tötung des Tieres
erfolgt am besten durch Nackenschlag. Das Oedem zeigte
sich am schönsten, nachdem man die ganze Brust- und Bauch¬
haut sorgfältig abpräpariert hatte. Sehr interessant war, dass
in einem Fall von Scharlach, solange das Tier noch am Leben
war, es den Anschein hatte, als ob ein Oedem entstünde. Die
Obduktion ergab aber eine beginnende Abscedierung an
der Injektionsstelle, Schwellung der Lymphdrüsen und Milz-
vergröserung. Es gelang Streptokokken aus der Abs¬
zessstelle herauszuzüchten. Bei 2 Fällen, die im Anfang klinisch
für eine Diphtherie gehalten worden waren, ergab der Tier¬
versuch ein negatives Resultat. Der weitere klinische Verlauf
resp. die bakteriologische Untersuchung erwies später, dass
es sich in dem einen Fall um Scharlach, in dem anderen
um eine fieberhafte Angina gehandelt hatte.
Nun zu den 14 echten Fällen von Diphtherie.
EinesicherpositiveReaktionzeigtederTier-
versuch in 6 Fällen, eine sicher negative in
4 Fällen; wahrscheinlich negativ, aber doch
etwas zweifelhaft, war das Resultat bei den
Testierenden 4 Fällen.* Die beigegebene Tabelle
gibt näheren Aufschluss über den Verlauf der einzelnen Be¬
obachtungen und die Reaktion bei demselben.
(Tabelle siehe vorige Seite.)
Es ist sehr interessant zu sehen, dass von den 6 Fällen
mit positivem Toxinnachweis bei dem einen die
Möglichkeit ausgedehnter G i f t r e s o r p t i o n
von der schwer erkrankten Haut aus gegeben war
und dass bei einem 2., der keine schwereren klinischen Er¬
scheinungen hatte, die Löfflerschen Bazillen in
Reinkultur sich fanden. In einem 3. Fall handelte es
sich um eine schwere septische Diphtherie, die bald nach
der Aufnahme in die Klinik verstarb. Der Nachweis des freien
Toxins im Blut bei diesem Fall bestätigt aufs beste die Be¬
funde von Genersich und v. Ranke, dass es sich bei der
septischen Diphtherie nicht um eine Mischinfektion mit Kokken,
sondern lediglich um stark toxische Löfflerbazil¬
lenerkrankungen handele. Noch waren positiv ein Fall
von schwerem Larynxkrup, der kurz nach der Auf¬
nahme starb, weiter ein gutartiger Fall mit grossen mem-
branösen Belägen auf den Tonsillen und schliesslich
eine Beobachtung, in der sich anfangs rein follikuläre
Beläge auf den Mandeln fanden, und in der
weder Präparat noch Kultur Diphtherieba¬
zillen nach weise n konnten. Erst nach dem
positiven Ausfall der Toxin probe gelang es,
auch in einer neu angelegten Kultur die Löff¬
lerbazillen aufzufinden. Ausserordentlich auffallend
ist es, dass fast alle Fälle, in denen das Diphtheriegift im
Blut sich nicht nachweisen liess, resp. wo das Ergebnis der
Toxinprobe ein unsicheres war, schwere Erkran¬
kungen an deszendierendem Krupp waren, von
denen ein grosser Teil starb. Ich glaube, dass der Schluss,
den ich daraus ziehe, nicht zu kühn ist, dass es sich in
diesen Fällen viel weniger um eine Intoxika¬
tion handelt wie in den schweren Fällen der
tonsillaren Diphtherie und dass hier der Tod
anErstickung resp. an derkonsekutiven Bron¬
chopneumonieerfolgt. Es stimmt diese Meinung vor¬
trefflich überein mit dem, was Erik E. Faber anlässlich
seiner statistischen Untersuchungen über den Einfluss der Se¬
rumbehandlung auf die Diphtheriemortalität am Material des
Kopenhagen er Blegdamshospitals gefunden hat.
Der oftmalige Nachweis des freien Toxins im
Blut macht es uns zur Pflicht, dasselbe mög¬
lichst schnell durch Einspritzung des anti¬
toxischen Heilserums abzusättigen, und da
wir aus den Arbeiten von Dönitz insbeson¬
dere wissen, dass grosse Antitoxindosen das
bereits in die Organe ü b e r g e g a n g e n e Toxin
diesen wieder entreissen und darnach neu¬
tralisieren können, so entsteht für uns das Ge¬
bot, in schweren Fällen wiederholte Injek-
tionenvonHeilserumvorzunehmen, um einer¬
seits das neugebildete Toxin, soweit es noch
im Blute befindlich ist, schnell wieder un¬
schädlich zu machen, und um andererseits den
Organen noch möglichst viel des bereits in
ihnen verankerten Toxins wieder abzuneh-
m e n.
Als diagnostischer Faktor hat die beschriebene
Toxinprobe meine Hoffnungen nicht ganz erfüllt, eben weil
sie nicht in allen Fällen positiv verläuft; es be¬
weist aber der oben kurz geschilderte Fall
(Winsperger, No. 10 der Tabelle), dass manch¬
mal die Toxin probe den Nachweis einer Er¬
krankung an echter Diphtherie schneller ge¬
stattet als die bakteriologischen Untersuch¬
ungen.
Literatur:
1. Uffenheimer: Jahrb. f. Kinderheilk. N. F. Bd. LX. Er¬
gänzungsheft pag. 215, ferner 2. Uffenheimer: Verhandl. der 20.
Versamml. der Ges. f. Kinderheilk. usw. Kassel 1903. Wiesbaden,
J. F. Bergmann 1904. — 3. Roux et Yersin: Annales de
l’Institut Pasteur. 1889. T. III. pag. 273. — 4. Roux et Yersin:
Ebenda. 1890. T. IV. pag. 385. — 5. Dönitz: Arch. intern, de Phar-
macodyn. 1899. T. V. pag. 425 (zit. n. Oppenheimer). — 6. B e h -
ring: Geschichte der Diphtherie. Leipzig, Georg Thieme 1893. —
7. Wassermann undProskauer: Deutsche med. Wochenschr.
1891, No. 17 pag 585. — 8. Bomstein: Zentralbl. f. Bakteriologie.
Bd. 23. 1898. pag. 785. — 9. C r o ly: Arch. internat. de Pharmacodyn.
Tome III (zit. n. Oppenheimer). — 10. Brunner: Arch. der biol.
Wissenschaften. Bd. 6, No. 2. St. Petersburg. 1897. (Russisch.)
Ref. von U c k e im Zentralbl. f. Bakteriologie. Bd. 24. pag. 184. —
11. Sidney Martin: The British medical Journal. 1892. Vol. I.
pag. 641, 696, 755. — 12. Salt er: The Lancet. 1898. I. pag. 152. —
13. Heubner: Experimentelle Diphtherie. Leipzig, Veit &. Co.
1883. — 14. Eppinger: Deutsche med. Wochenschr. 1903. No. 15/16
— 15. Loos: Jahrb. f. Kinderheilk. N. F. Bd. XLII. pag. 360. —
16. Marx: Zentralbl. f. Bakteriologie. Bd. 36. pag. 141. — 17.
Uffenheimer: Archiv f. Hygiene. Bd. 55. H. 1/2. pag. 1. —
18. G e n e r s i c h: Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. XXXVIII. H. 2/3. 1894.
— 19. v. Ranke: zit. nach Heubner, Lehrb. d. Kinderheilk. Leip¬
zig, Ambrosius Barth. 1903. — 20. Faber: Jahrbuch f. Kinderheilk.
14. August 1906.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1611
III. F. Bd. IX. pag. 620. — 21. Dönitz: Deutsche med. Wochenschr.
1897. No. 27. pag. 428. — 22. Oppenheimer: Toxine und Anti¬
toxine. Jena, Gustav Fischer. 1904. — 23. Escherich: Aetiologie
und Pathogenese der epid. Diphtherie. I. Der Diphtheriebazillus.
Wien., 1894. Alfred Holder. — 24. Escherich: Diphtherie, Krupp,
Serumtherapie. Wien etc., Prochaska. 1895. — 25. v. Behring:
Diphtherie. Bibliothek v. Coler. Berlin, Aug. Hirschwald. 1901.
Aus dem hygienischen Institute der Universität Halle a/S.
(Direktor: Prof. Dr. C. Fraenkel).
Ueber bemerkenswerte Befunde bei Untersuchungen
auf das Vorhandensein von Typhusbazillenträgern in
einer Irrenanstalt.
Von Dr. A. Nieter, Oberarzt, kommandiert zum Institut und
Dr. H. Lief mann, 1. Assistenten.
In einer Irrenanstalt zu M., die etwa 900 weibliche Insassen
beherbergt, sind seit einer Reihe von Jahren Typhus- und
Ruhrfälle aufgetreten. Eine Verbesserung der hygienischen
Verhältnisse, insbesondere der Abwasserbeseitigung und Trink¬
wasserversorgung, brachte keinen Rückgang der Krankheits¬
zahl. Im allgemeinen war der Typus des Auftretens der beiden
Seuchen ein deutlich kettenförmiger; eine epidemieartige (ex¬
plosive) Steigerung der Krankheitsfälle wurde nicht beobachtet.
Die Mehrzahl der Infektionen ereignete sich in einem Gebäude
der Anstalt, das von ca. 250 Insassen bewohnt wurde. Seit
Jahren fortgeführte Versuche, durch Isolierung aller klinisch
erkennbaren Fälle die Krankheiten zum Erlöschen zu bringen,
hatten keinen vollen Erfolg gehabt. Wenn man sich die un-
gemeinen Schwierigkeiten vergegenwärtigt, welche einer kli¬
nischen Diagnose körperlicher Krankheiten bei Irren er¬
wachsen, wird das kaum wundernehmen können.
Die in den letzten Jahren von verschiedenen Seiten ge¬
machten Beobachtungen über das Vorkommen von Typhus¬
bazillenträgern hatten bei dem Leiter der Anstalt und bei den
Behörden die Vermutung entstehen lassen, dass auch hier viel¬
leicht die Krankheitsfälle durch derartige Krankheitsträger fort¬
gepflanzt würden.
Auf eine von der Behörde ausgesprochene Bitte entschloss
sich Herr Geh. Rat Fraenkel, eine gründliche Untersuchung
der in M. bestehenden Verhältnisse ausführen zu lassen und
beauftragte damit die Verfasser.
Im folgenden sollen aus den dortigen Untersuchungen, so¬
weit sie sich auf die Aufklärung der Typhusfälle bezogen, einige
bemerkenswerte Befunde und Nebenbefunde mitgeteilt werden.
Die Beobachtungen über die in M. ebenfalls endemische Ruhr
sollen später veröffentlicht werden.
Da, wie schon eingangs erwähnt, aus den früheren Be¬
obachtungen hervorging, dass die Infektionen weder durch
Wasser noch durch andere Nahrungsmittel zustande kommen
könnten, war unser Ziel, vor allem in dem den Hauptherd bil¬
denden Gebäude auf Bazillenträger zu fahnden.
Wir gingen zunächst von der Idee aus, dass vielleicht unter
den abgelaufenen klinisch sicheren Typhen der eine oder andere
derartige Fall aufzufinden sein könne. Jedoch glückte es uns
nicht, unter diesen einen einzigen Dauerausscheider zu
eruieren p. Aus diesem Grunde mussten -wir daran denken,
sämtliche 250 Insassen des verseuchten Gebäudes einer bak¬
teriologischen Untersuchung zu unterwerfen. In dieser Absicht
wurden wir bald noch durch einen sehr eigentümlichen Befund
bestärkt.
Bei einer^an akuter Ruhr (mit den charakteristischen Sym¬
ptomen und Stuhlbefunden) erkrankten Irren fanden sich näm¬
lich in den Fäzes T yphusbazillen. Sie waren in reich¬
licher Menge vorhanden, neben ihnen waren allerdings auch
Ruhrbazillen von dem Typus Flexner nachzuweisen.
Es ist dies unseres Wissens eine in der Literatur noch
nicht beschriebene Beobachtung, dass eine unter den
klinischen Erscheinungen der Ruhr er¬
krankte Person daneben als Typhusbazillen¬
träger fungiert. Aber dieser auffällige Befund wird
unseres Erachtens einigermassen erklärlich durch die Verhält-
P Als Nährboden wurden bei den Untersuchungen der v.,Dri-
galski-Conradi sehe, der Endo sehe, und mit besonders gutem
Erfolge der Löffler sehe Malachitgrünagar benützt.
nisse, die in dem verseuchten Hause bestanden. Infolge Platz¬
mangels war eine gründliche Sonderung der an infektiösen
Krankheiten leidenden nicht immer möglich gewesen, und so
hatte es sich z. B. nicht vermeiden lassen, ab und zu Typhus-
und Ruhrkranke zusammen zu legen.
Nun ist in einer Irrenanstalt wohl mehr als irgendwo sonst
auf der Welt die Möglichkeit zu Ansteckungen gegeben. Die
Kranken, die oft jeder Reinlichkeit ermangeln, mit ihrem Kot
alles* mögliche beschmieren, hin und wieder ihn sogar in den
Mund bringen, infizieren nicht nur leicht sich selbst, sondern
bieten auch für ihre Nachbarschaft eine gar nicht zu ermessende
Gefahr. So wird auch die Kranke, die zur Zeit unserer Be¬
obachtung einen akuten Ruhranfall durchmachte, sich früher
mit Typhusbazillen infiziert haben und zum chronischen
Bazillenträger geworden sein. Ihr Serum agglutinierte Typhus¬
bazillen bis 1:100; Ruhrbazillen (Stamm Flexner) bis 1:800.
Dieser Befund ist nun nicht der einzige geblieben. Bei einer
Patientin, die auch an den charakteristischen Erscheinungen
einer Ruhr, aber einer mehr chronischen, litt, fanden wir eben¬
falls Typhusbazillen. Ruhrbazillen konnten bei ihr nicht nach¬
gewiesen werden. Als sie bald darauf starb, ergab sich bei
der Sektion im unteren Abschnitte des Dickdarms ein chro¬
nischer Katarrh; im Dünndarm aber sehr viele alte typische
Typhusnarben. Die Gallenblase zeigte sich gefüllt mit grossen
und kleinen Gallensteinen und bis hinauf in die Gallengänge der
Leber waren Konkremente zu beobachten. Es fanden sich nun
Typhusbazillen nicht nur im Darme, sondern auch in Rein¬
kultur in der Galle. Das Blutserum dieser Kranken
agglutinierte Typhusbazillen nur bis 1:50, Ruhrbazillen (Flex¬
ner) bis 1: 100. Dieser Befund bietet auch neben seinem oben
angedeuteten Interesse einen bemerkenswerten Beitrag zu den
Beobachtungen Försters und seiner Strassburger Mit¬
arbeiter, die in der Gallenblase ein Rezeptakulum für Typhus¬
bazillen erblicken und ihnen eine Bedeutung bei der Bildung
von Gallensteinen beilegen.
Bei unseren weiteren Untersuchungen haben wir unter den
Kranken des genannten Gebäudes noch fünf, im ganzen also
sieben Typhusbazillenträger gefunden. In einem achten
Falle, der auch Bazillen ausschied, bestanden Symptome (leich¬
tes Fieber), die den Verdacht einer akuten Erkrankung nahe
legten.
Diese von uns festgestellten sieben Bazillenträger
waren, wie erwähnt, unter 250 Irren gefunden worden. Dieser
Befund ist im Vergleich zu anderen Untersuchungen, namentlich
zu denen im Südwesten des Reiches, ein auffallend hoher.
Man hat im allgemeinen unter Personen, die in der Umgebung
von Typhuskranken wohnen, nur 0,5 Proz. Bazillenträger ge¬
funden. Dafür, dass wir eine bedeutend höhere Zahl (2,8 Proz.)
fanden, liegt die Erklärung wohl in den folgenden Punkten:
1. Sind sämtliche Untersuchten weiblichen Geschlechtes,
das z. B. nach den Untersuchungen K 1 i n g e r s einen höheren
Prozentsatz zu den chronischen Bazillenträgern stellt als das
männliche. K 1 i n g e r berechnet das Verhältnis wie 3 : 1.
2. Sind, wie bereits angeführt, die Infektionsmöglichkeiten
in einer Irrenanstalt sehr beträchtliche.
3. Wurden in das von uns untersuchte Gebäude seit Jahren
alle abgelaufenen Typhusfälle, von denen manche noch längere
Zeit Typhusbazillen ausgeschieden haben mögen, gelegt, die
dann leicht zur Weiterverbreitung der Krankheit Anlass ge¬
geben haben mögen.
Verhältnismässig wenig Material können unsere Unter¬
suchungen zu der überaus wichtigen und interessanten Frage
beisteuern, wie gross die durch Bazillenträger bedingte Gefahr
beim Typhus sei. Es liess sich wohl des öfteren nachweisen,
dass die klinisch erkennbaren Fälle von Typhus in Sälen auf¬
getreten waren, in denen auch die von uns ermittelten Bazillen¬
träger lagen, aber bei der ungemein häufigen Verlegung der
Kranken, — die aus Rücksicht auf ihr psychisches Verhalten
vorgenommen wird, — sind alle derartigen örtlichen Be¬
ziehungen der Fälle zu einander nur mit grosser Vorsicht zu
verwerten.
Mehr ist vielleicht von einer Beobachtung der Folgen zu
erwarten, welche die Isolierung der 7 ermittelten Fälle zeitigen
wird.
2*
1612
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
Bisher ist der Typhus in der Anstalt zu M. wahrend dieses
Jahres in auffallend geringem Qrade im Verhältnis zu den
Vorjahren aufgetreten. Doch wäre es wohl voi eilig, daraus
den sicheren Schluss ziehen zu wollen, dass dies ein Eifolg
der Isolierung der Bazillenträger sei, und dass dl^fe
die Erkrankungen vermittelt hätten. Denn auch zu Begini
dieses -Jahres waren — vor unseren Untersuchungen — fast
drei Monate lang keine frischen Typhusfalle konstatiert worden.
Dennoch können wir uns nicht der Vorstellung verschliesse ,
dass ein Bazillenträger ebensogut imstande sein müsse, mit
seinen Keimen Gesunde anzustecken, wie ein Typhuskranker.
Fs mehren sich ja auch die Befunde, die dafür sprechen.
Grosse Aehnlichkeit, speziell mit unseren Ermittelungen,
haben die in der Irrenanstalt zu Hördt angestellten, wo z\vei
Bazillenträgen gefunden wurden, nach der Isolierung die
Zahl der Krankheitsfälle sich dort rasch verringerte.
So geben auch wir uns der Hoffnung hin, dass in dei
Anstalt zu M. wenigstens in dem untersuchten Gebäude dem
Typhus die Möglichkeit der Weiterverbreitung unter¬
bunden sei.
Literatur:
K 1 i n g e r P.: Ueber Typhusbazillenträger. Arbeiten a. d. Kais.
~ V 1 1 ££ Rd 24 H l. S. 91. -ForsterundKayser:
Ueber das Vorkommen von Typhusbazillen in der Galle von Typhus-
kranken und „Typhusbazillenträgern“. Münch, med. Wochenschr.
1905. No. 31. S. 1473. - Kayser H.: Ueber die Qe{ahE‘chk^ V°4
„Tvphusbazillenträgern“. Arb a. d Kais. Ges.-A. ^906u _
H 1. S. 176. — Minelli, Spartaco: Ueber "Typhusbazilien
träger“ und ihr Vorkommen unter gesunden Menschen Zentralbl.
f. Bakteriolog. etc. 1906. Abt. I. Bd. 41. H. 4. S. 406.
Aus dem bakteriologischen Institut der medizinischen Gesell¬
schaft in Charkow.
Ueber Antagonismus zwischen normalen und immunen
bakteriziden Sera.
Von Privatdozent Dr. med. S. Korschun.
Es ist leicht zu beweisen, dass die Blutsera von Pferden,
die mit Dysenterie- oder Typhuskulturen vorbehandelt wurden,
die bakterizide Wirkung verschiedener normalen Sera aut die
entsprechenden (Dysenterie-, Typhus-) ^Vn^ndefversuclis"
men. Das Verhalten tritt vor Augen bei folgender Versuchs
anordnung:
In eine Reihe von Reagenzgläschen, von denen jedes 0,2 ccm
normales Serum und 3 Tropfen Bouillon enthielt, wurden absteigend
Quantitäten Immunserum1) gefüllt, das Volum der Fiussigkei mi
Kochsalzlösung (0,85 proz.) bis auf 1 ccm gebracht und aacll ^Bau
von 30 Minuten je 1 ccm Bakterienemulsion ^gesetzt. Weise"
vnn Bakterien bereitete ich nach Shiga in folgender weise.
1 Platinöse eintägiger Agarkultur wurde in 6 ccm Kochsalzlosung
sorgfältig verrieben, davon wurde 1 ccm genommen und in 249 ccm
Kochsalzlösung gebracht. .
Nun wurden die Reagenzgläschen auf 4 Stunden m einen Brut¬
schrank von 37° gebracht und dann je 5 Tropfen mit den Kapillar¬
pipetten auf Agarplatte ausgesät. Gleichzeitig wurde folgende Kon¬
trolle angestellt:
K ± — Wirkung von Ambozeptoren allein (bei 56 0 C 30 Minuten
erwärmtes Immunserum); .
I<2 — Wirkung des normalen Serums allein;
K 3 — Zahl der Bakterien während der Aussaat;
K4 — Keimlosigkeit der beim Versuch gebrauchten Materialien.
Der Versuch war nur dann gültig, wenn die Zahl der Kolonien
in den Kontrollaussaaten folgende war:
Kl oo
K 2 0
Die Resultate der Versuche sind aus folgenden Tabellen er¬
sichtlich.
(Tabelle siehe nebenstehend.)
Also hat wie das Dysenterie-, so auch das
Typhusserum die Eigenschaft, in gewissen
DosendiebakterizideWirkungnormalerbera
auf die entsprechenden Bakterien zu hemmen.
Auf 100° erhitzt verlieren sie diese Eigenschaft.
_ _ _
. .i). Das von mir benutzte Dysenterie- und Typhusimmunserum
wurde 8—12 Monate im Eisschrank aufbewahrt.
Ks
K*
00
0
Tabelle
No. 1.
1 ccm von Dysenteriebazillenaufschvemmung.
-f- normales Serum von Tieren.
Inaktives
-)- Dysenterie¬
serum vom Pferde
(bei 56° inaktiviert)
Normales
Pferdeserum
0,2 ccm
Normales
Pferdeserum
0,4 ccm
Normales
Ziegeserum
0,2 ccm
Normales
Kaninchen-
serurn
0,2 ccm
Normales
Meer¬
schweinchen
serum
0,2 ccm
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
ccm
0,25
0,10
0,05
0,025
0,010
0,005
0,0025
0,001
0,0005
0,00025
00
oo
oo
00
oo
00
Hunderte
0
0
0
oo
oo
oo
oo
Zehner
0
0
0
0
0
oc
oo
oo
oc
oo
Zehner
0
0
0
0
oo
oo
oo
oo
00
0
0
0
0
0
oo
00
oo
00
00
00
Hunderte
Zehner
0
0
Tabelle No. 2.
1 ccm von Typhusbazillenaufschwemmung.
i r\ o nnrnmipe Qprnm vnn Tieren.
Inaktives
Typhusserum
vom Pferde
(bei 56° inaktiviert)
Normafes
Pferdeserum
Normales
Ziegeserum
Normales
Kaninchen¬
serum
Normales Meer¬
schweinchen¬
serum
c. c.
1,0
0,25
0,1
0,05
0,026
0,010
0,005
0,0025
00
00
00
00
00
Einzelne
0
0
oo
oo
oo
00
Hunderte
Einzelne
0
0
00
00
oo
oo
Zehner
Einzelne
0
oc
oo
oo
oo
Einzelne
0
0
Die Abhängigkeit der hemmenden Dosis Immunserum von
der Menge des normalen Serums ist aus folgendem Versuche
zu sehen.
Tabelle No. 3.
1 ccm Dysenteriebazillenaufschwemmung.
-f- Dysenterieserum
(bei 56° inaktiviert)
+ normales Kaninchenserum
0,3 ccm
0,15 ccm
0,05 ccm
ccm
1
0,1
00
00
00
2
0,03
00
00
00
3
0,01
00
oo
oo
4
0,003
0
oo
00
5
0,001
0,0003
0,0001
0
0
00
6
0
0
Tausende
7
0
0
Hunderte
Ki
K 2
00
00
00
—
0
0
Hunderte
Ks
—
00
00
00
K 4
—
0
Ql
0
0
Wenn wir als Erklärung für diese Erscheinung uie Hypo¬
these der Komplementablenkung anwenden wollen, müssten wir
in der Tat zugeben, dass die Komplemente von verschiedenen
Seris ebensogut zu den Dysenterie-, wie zu den Typhusambo¬
zeptoren passen. Also könnten wir erwarten, dass mie Dy¬
senterieambozeptoren die Komplemente der normalen Sera
von Typhusbazillen ablenken und diese vor der bakteriziden
Wirkung der normalen Sera zu schützen imstande sind.
Unsere Versuche aber zeigen, dass ein gewisses Im¬
munserum nur diejenige Art von Mikroorga¬
nismen schützt, die zu seiner Herstellung
diente, d. h. das Dysenterieserum schützt nur
Dysenteriebazil len, das Typhusserum nur 1 y ■
phusbazillen. Das geht auf das Klarste aus folgenden
Tabellen hervor:
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Also geht deutlich aus diesen Versuchen eine Art von
spezifischer Wirkung der Immunsera hervor. Wir konnten
weiter uns leicht überzeugen, dass unser Dysenterieserum in
klaren Extrakten der Dysenteriekulturen ein deutliches Prä¬
zipitat bildet. Folglich ist bei unserer Versuchsanordnung die
Möglichkeit der Präzipitatbildung nicht ausgeschlossen. Wir
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1613
Tabelle No. 4.
1 ccm Dysenteriebazillenaufschwemmung.
+ 0,2 ccm normales Ziegenseruim
-\- Itnmunsera :
Dosis der Immunsera
Typhus¬
immunserum
Schwein¬
rotlauf¬
immunserum
Dysenterie¬
immunserum
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
ccm
i,o
0,5
0,25
0,1
0,05
0,025
0,01
0,005
0,0025
0,001
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
oo
O0
00
00
oo
Tausende
Hunderte
Zehner
0
0
T a b e 1 1 e No. 5.
1 ccm von Typhusbazillenaufschwemmung.
I n O MArmolDC 7iP(TPnQPriim.
-f- Immunsera:
Dosis von Immunsera
ccm
1,0
0,5
0,25
0,10
0,05
0,025
0,01
0,005
Typhus¬
immunserum
Schwein¬
rotlauf¬
immunserum
OO
0
00
0
oo
0
00
0
00
0
Hunderte
0
Einzelne
0
0
0
Dysenterie¬
immunserum
Hunderte
0
0
0
0
0
0
0
wissen aber aus den schönen Versuchen von Morescki un
May, dass die Präzipitate im stände sind, die Komplemente
der normalen Sera zu binden und auf diese Weise sie von
Da das Dysenterieserum Präzipitate nur in Dysenterie¬
kulturen bilden kann, das Typhusserum nur in Typhuskul¬
turen usw., so wird für uns die Spezifität der Schutzwirkung
von Immunsera verständlich.
Zur Kontrolle dieser letzten Voraussetzung machte ich
folgenden Versuch: _ _ . T .
Einem Meerschweinchen injizierte ich einige ^alfn ^ ‘l erü
vallen von einer Woche 3,5 ccm inaktives Ziegenserum. 10 Tage nach
der letzten Injektion wurde von ihm Blut entnommen. Das ge-
wonnene Serum rief im Ziegenserum die Präzipitatbildung hervor.
In eine Reihe von Reagenzgläser mit einer abnehmenden Menge des
oräzinitierenden Meerschweinchenserums fugte ich je 0,2 ccm Ziegen
serum und 3 Tropfen Bouillon hinzu Die ^^‘^^^^^"^ebracht1
Reagenzgläsern wurde mit Kochsalzlosung auf 1,2 ccm gebrac .
Weiter kamen in alle Gläser nach 30 Minuten ie | ccm ^Stunden
Dysenteriebazillen hinzu. Darauf wurden die Glaser Petri
in den Thermostat gestellt und je 5 Tropfen auf Agar in Pet i
schalen ausgesät, wie oben beschrieben, ln eine andere Reihe
von Reagenzgläsern wurde statt Serum des ersten M®®rs^^iaCg|.en^
das Serum eines anderen Meerschweinchens, das mit Pferdeseium
vorbehandelt wurde, hinzugefügt. Im übrigen war gai kein Unter¬
schied von dem eben beschriebenen Versuche.
Tabelle No. 6.
1 ccm von Dysenteriebazillenaufschwemmung
-4- 0,2 ccm normales Ziegenserum
Serum von Meerschweinchen, welche behandelt waren mit
Menge des Meer¬
schweinchenserums
a
b
ccm
1
0,5
OO
0
2
0,25
oo
0
3
0,10
0
0
4
0,05
0
0
5
0,025
0
0
Aus diesem Versuche ist ersichtlich, dass dasjenige Serum
(a), welches im Ziegenserum Präzipitat bildet, die Dysentene-
bazillen vor der bakteriziden Wirkung des normalen Serums
schützt.
Dieser Versuch stimmt überein mit den Versuchen
von Moreschi (Berl. klin Wochenschr 1905, No. 37),
Pfeiffer und Moreschi (Berl. klin. Wochenschr. 1906,
No. 2) und anderen. , . .
Zum Schluss möchte ich noch hinzufugen, dass einige
meiner Versuche gezeigt haben, dass die von mir eben be¬
schriebene Schutzwirkung des Immunserums erhalten bleibt,
nachdem ich seine Ambozeptoren durch grosse Mengen von
Bakterien absorbiert hatte.
Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig.
Ein Beitrag zur Physiologie und Pathologie der
vertikalen Blickbewegungen.*)
Von Dr H S t e i n e r t, Privatdozent und Assistent der Klinik
und Dr. A. Bielschowsky, a. o. Professor und Assistent
der Universitäts-Augenklinik.
Den Anlass zu den nachfolgenden Betrachtungen über
die Physiologie und Pathologie der vertikalen Blickbewegungen
boten einige von uns gemeinsam beobachtete Fälle der mecli-
zinischen Klinik. Besonders der erste, gleich zu besprechende
Kranke zeigte die Erscheinungen der Lähmung der vertikalen
Blickbewegungen in einer kaum je beobachteten Reinheit
und Schönheit. Ein solches physiologisches Experiment -der
Natur fordert dazu auf, zum Ausgangspunkt theoretischer Er¬
örterungen gemacht zu werden.
Wir beginnen mit einer Darstellung der Krankengeschichte
dieses Falles, den wir am 30. I. und 13. II. in der medizinischen
Gesellschaft zu Leipzig demonstriert und besprochen haben.
Der 48jährige Arbeiter B. wurde der Medizinischen
Klinik am 15. X. 05 zugeführt und bis zum 3. III. 06 daselbst behandelt.
Am Tage der Aufnahme ist er früh von seinen An¬
gehörigen „bewusstlos und mit gelahmtem rechten
Arm“ im Bett gefunden worden. Am Tag zuvor hat er
noch bis zum Abend gearbeitet. Die Tochter erzählt, dass der Vater
immer“ etwas gehustet, gelegentlich auch einmal etwas blutigen
Schleim ausgeworfen habe, in den letzten Wochen vor der Erkrankung
habe er viel über Kopfschmerzen geklagt. Sonst sei er aber
bisher gesund gewesen. Der Kranke selbst gibt bis in die
neueste 7eit auf Fragen nach seinem Befinden in der Zeit vor dem
AnfaU immer nur die Antwort: „habe keine Ahnung“. Ueber d.e
fernere Anamnese weiss er besser Bescheid. Er hat mit 21 Jahren
Tripper gehabt und 1S85 eine Strikturoperation durchgemacht. Sonst
erfahren wir nichts von Bedeutung. Für die Annahme der Syphilis
fehlt jeder Anhaltspunkt, Intoxikationen scheinen nicht stattgefunden
zu haben, eine familiäre Belastung ist ebenso wenig erweislich.
Als wir den Kranken, einen kräftig gebauten, gut genährten Mann,
zuerst sahen, war er noch leicht somnolent, sprach auf Auf¬
forderung nur wenige, kaum verständliche. Worte führte aber ein¬
fache Befehle aus. Rotes, heisses Gesicht. Grosse, irreguläre
Atmung. besonders rechts, stark quer gefaltet, die ; ^derk^h'
gezogen Miosis. Die R Pupille > L. Die Lichtreaktion
träge. Die Seitenbewegungen der A u g e n werde :n
schon auf die blosse Aufforderung nach rechts
oder links zu sehen in vollem Umfange aufgebracht,
währen dKonvergenz und V e r t i k alb e w e gn n g en
— auch auf den Befehl, einem bewegten Objekt zu
folgen, _ vollständig fehlen. Normaler Augenhintergund.
~lm Gebiet des Fazialis, der Kaumuskulatur, der Zunge und des
Gaumens keine Lähmungserscheinungen Die Extremitäten werden
im Bett frei und mit guter Kraft und Geschicklichkeit bewegt.
Passive Bewegungen finden keinerlei abnormen Widerstand. Noi-
males^Muskebfolumen. An den Armen sind deutliche Sehnen- und
1 Periostreflexe nicht auslösbar. Patellarreflexe tioimal, ebenso d
Zehenreflexe, die Achillessehnenreflexe waren bei dem etwas un¬
ruhigen Kranken anfangs nicht auslösbar, spater erwiesen sie sic
als normal. , ,, ,
Mammillar- und Bauchdeckenreflexe normal. ■
Innere Organe. Normale Herzgrenzen,- reine Tone. K-ün-
o-fmHpr P Aortenton. Rigide Armarterien. , ...
Tiefstehende Lungenränder, Schachtelton, leises Vesikuläratmen
mit giemenden Geräuschen. T .
Anfangs Secessus nescii, im Urin geringe Eiweissmengen, Leu¬
kozyten und Blasenepithelien, keine Zylinder. Kein Zucker
~B erholte sich in wenigen Tagen aus seinem
somnolenten Zustande. Er entleerte Stuhl und Urin wieder
in normaler Weise, die Atmung nahm den normalen 1 ypus an. Em
leichtes Taumeln, das in den ersten Wochen die Gehversuche beein-
*) Vortrag, gehalten in der Medizinischen Gesellschaft .zu Leip¬
zig, am 30. Januar und 13. Februar 1906.
1614
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
trächtigt hatten, verlor sich völlig. Gehen und Stehen wurden ganz
normal, Pat. hat niemals das Romberg sehe Phänomen, niemals
wieder ataktische Störungen irgend welcher Art, auch nicht bei
schwierigen Gangarten und bei Augenschluss gezeigt. Die Sprache
wurde bald wieder lebhaft und verständlich, blieb aber leicht ver¬
waschen. Bei der Prüfung mit den bekannten Probeworten trat be¬
sonders in der letzten Zeit ein höchst ausgesprochenes
Silben stolpern hervor : Schellfischflosche, Schleppfschiff-,
Dampfschellschleppfahrt usw. Wiederholungen der Uebung Hessen
die Störung nur deutlicher hervortreten. Aphatische Erscheinungen
konnten dagegen in keinem Stadium des Falles nachgewiesen werden.
Sein psychisches Verhalten zeigte dauernd starke Ab¬
weichungen von der Norm. Schon in der ersten Beobachtungszeit
fiel die fast beständig heitere, ja Iäpipsch-humoristische Stimmung
auf. Als er beim Gehen noch Störungen des Gleichgewichts zeigte,
wollte er tanzen und springen. Die ärztliche Visite störte er häufig
durch unpassende Witzchen und Ausbrüche lärmender Heiterkeit. Die
hochgradige Gedächtnisschwäche für die letzte Zeit vor der Er¬
krankung wurde schon erwähnt. Später mehrfach vorgenommene
Intelligenzprüfungen zeigten zunächst eine schwere Störung des
Rechnens. B. vermag nicht aus seinem früheren Tagesverdienst, über
den er übrigens wechselnde Angaben macht, den Wochenlohn zu be¬
rechnen. 70 + 40 kann er nicht addieren. Beim Ausrechnen von
7 X 17 verliert er die Aufgabe. Schon beim kleinen Einmaleins ver¬
sagt er oft.
„Keine Ahnung“ ist häufig seine Auskunft. Auf Kaiser Wilhelm
den I. lässt er Wilhelm II. folgen, der letztere regiere seit 26 Jahren.
Der deutsch-französische Krieg war 1878. Der König von Sachsen
heisst Albert, die Jahreszahl ist ihm unbekannt. Seine Defekte be¬
unruhigen ihn in keiner Weise. Er hält sich für arbeitsfähig.
Die Schrift ist leicht zittrig. Verdoppelung von Buchstaben,
selbst in seinem Namen.
Die Lichtreaktion der Pupillen wurde bis zu¬
letzt meist träge gefunden, währemd die Konver¬
genzreaktion sich mit der Besserung der Konver¬
genzfunktion wieder einstellte und in der letzten
Zeit keinen Defekt gegen die Norm mehr erkennen
1 i e s s. Ueber die Akkommodation folgen später Angaben, sie er¬
wies sich als normal, die anfangs engen Pupillen waren später längere
Zeit leicht erweitert, in den letzten Wochen des Februar hat sich
wieder eine Miosis entwickelt. Am 21. III. im Hellen 2,25 mm, im
Dunklen 4,25 mm Durchmesser. Im Dunkeln erweitern sich die Pu¬
pillen nicht mehr in normalem Umfange, während sie bei greller Be¬
lichtung noch recht ausgiebiger Verengerung fähig sind.
Die weitere Entwicklung der Störungen in der Funktion der
äusseren Augenmuskeln soll gleich noch genau geschildert werden.
Hier sei zunächst über die allgemeinen Verhältnisse des Falls
noch einiges nachgetragen.
Die Sensibilität erwies sich, wie bei der anfänglichen
groben Prüfung, so später bei genauen, nach allen Richtungen durch¬
geführten Untersuchungen als im wesentlichen normal. Die Em¬
pfindung für tiefen Druck (E ulenburgs Barästhesiometer) und
für Stimmgabelschwingungen ist an den unteren Extremitäten viel¬
leicht etwas herabgesetzt, auch die Empfindung für passive Be¬
wegungen in den Hand- und Fussgelenken erscheint etwas unsicher,
was bei der im übrigen recht guten Beobachtungsgabe des Pat.
immerhin erwähnt werden darf.
In der letzten Zeit der Beobachtung bemerkten wir öfters ein
halbseitiges Schwitzen des Gesichts auf der linken
Seite. Nach seiner Angabe hat B. das schon seit Jahren. Auch eine
etwas stärkere Rötung der linken Wange konnte festgestellt werden.
Die eingangs erwähnte Anisokorie (L < R) blieb konstant, die linke
Lidspalte fanden wir zeitweise enger als die rechte, im späteren
Verlauf war ein mässiger Tiefstand beider oberen Lider auffällig.
Es sei beiläufig erwähnt, dass wir in dieser Zeit auch Tränen- und
Speichelsekretion (durch „Auspumpung der Tränendrüse“ und durch
direkte Besichtigung der vorher ausgetrockneten Mundhöhle) georüft
und normal gefunden haben, ebenso wie Geschmack und Geruch.
Dass wir bei unserm Kranken eine progressive Para¬
lyse annehmen müssen, bedarf wohl keiner näheren Begründung.
Eine jüngst noch nachgewiesene Lymphozytose der Zere¬
brospinalflüssigkeit vermag die Diagnose noch weiter
zu stützen.
Der einleitende Insult ist also als paraly¬
tischer Anfall aufzufassen, der als Residuum eine
Störung in der Funktion der V e r t i k a 1 m o t o r e n
hinterlassen hat.
Der erste Befund ist eingangs angegeben. Am
21. X. fanden wir folgendes Bild. Die Stirne wie vordem, besonders
rechts, stark quergefaltet, die rechte Lidspalte weiter als die linke
infolge starker Retraktion des Lides, das kaum den oberen Horn¬
hautrand berührt. Die Ruhelage der Augen leicht gesenkt, die
Seitenwendungen erfolgen sowohl auf blosse Aufforderung, nach
rechts oder links zu sehen, als auch beim Blick auf ein führendes Objekt
in normalem Umfange. Die Konvergenzbewegung stark einge¬
schränkt, jedoch in mittleren Entfernungen anscheinend binokulare
Fixation. Dagegen fehlen willkürliche Vertikal¬
bewegungen auf die Aufforderung, nach oben oder
unten zu sehen, noch völlig. Auch einem bewegten
Objekt vermag Pat. nach oben überhaupt nicht,
nach unten nur in sehr geringem Umfange beson¬
ders dann zu folgen, wenn das Objekt erst seit¬
lich und dann nach unten bewegt wird. Dagegen
erhält man, wenn Pat. ein auffallendes Objekt, wie
einen Auerbrenner fixiert, durch passive He¬
bung und Senkung des Kopfes regelmässig aus¬
giebige entgegengesetzte Vertikalbewegungen
der Augen, wenn auch nicht im normalen Umfange.
Auch die aktive Hebung und Senkung des Kopfes durch den Pat.
vermag diese Augenbewegungen auszulösen. Z. B. bei der Senkung
des Kopfes wird noch unterhalb der für gewöhnlich zu einem Drittel
vom unteren Lid bedeckten Hornhäute ca. 1 mm der Sklera sichtbar.
Sobald die Kopfbewegung bei gesenkter Stellung sistiert, sinken
die Augen langsam aus der gehobenen in die Ruhelage zurück.
Bei der Hebung des Kopfes verhalten sich die Augen durchaus
analog.
Eine Gleichgewichtsstörung im Sinne einer
latenten oder manifesten Schieiablenkung war
bei keiner Blickrichtung weder objektiv — durch ab¬
wechselndes Verdecken der auf ein bestimmtes Objekt gerichteten
Augen — noch subjektiv — durch Prüfung auf Doppeltsehen —
nachweisbar.
Status vom 18. XI.
Mit der Konvergenzbewegung ist die Konvergenzreaktion der
Pupille ausgiebiger geworden, beide haben aber noch nicht den
normalen Umfang.
. Die Blicklinien sind jetzt in der Ruhelage etwas über die Hori¬
zontale erhoben.
Auf die Aufforderung, nach oben zu sehen,
bringt jetzt Pat. eine geringe, sehr schwerfällige
Hebung der Augen auf. eine viel ausgiebigere bei
der Fixation eines führenden Objekts. Zurück zur
Horizontalen gelangen die Augen bei entsorechender Abwärtsbe¬
wegung des fixierten Objekts anscheinend mühelos, wenn auch nicht
mit der Geschwindigkeit einer normalen Blickbewegung. Ohne
solche Führung gelingt dagegen die Senkung der
gehobenen Blicklinien in Horizontalstellung
trotz aller Anstrengung nicht. Die Fähigkeit, die Blick¬
linien unter die Horizontalebene zu senken, hat noch nicht zuge¬
nommen. Viel ausgiebigere Vertikalbewegungen als auf andere
Weise lassen sich auch jetzt durch passive Kopfbewegungen hervor-
rufen. Im Gegensatz zu früher fällt jetzt auf. dass
die Augen die ihnen „reflektorisch“ durch Kopf¬
bewegungen gegebene Stellung längere Zeit bei¬
behalten können, ohne in die Ruhelage zurück¬
zu s i n k e n.
Kein Doopeltsehen. Auch bei Ausschaltung des Fusionszwanges
mittels des Maddoxstäbchens stehen die Augen in den verschiedenen
Blickrichtungen gleich gerichtet. Augenhintergrund beiderseits nor¬
mal. Visus R 7o,«, L mit — 1.0 == 6/«.n. Feinste Druckschrift in
25 — 30 cm Abstand gelesen. Gesichtsfeld für Weiss und Farben nor¬
mal, Herabsetzung der peripheren Sehschärfe nicht nachweisbar.
19. XI. 05. Die Fähigkeit, die Augen auf neripher abgebildete
Objekte (namentlich in der unteren Blickfeldhälfte) durch Vertikal¬
bewegungen einzustellen, ist noch immer sehr beschränkt. Dagegen
können die Augen langsam führenden Objekten jetzt annähernd in
normalem Umfange folgen. Die auf diese Weise gesenkten Augen
können nachher ohne Führung schwerfällig bis zur Ruhelage gehoben
werden, während eine entsprechende Senkung der gehobenen Bulbi
noch immer fast unmöglich ist.
29. I. 06. Die Hebung des Blicks auf Kommando, ohne Führung,
wesentlich besser, doch bei weitem noch nicht in dem anscheinend
normalen, durch die ..Führung“ mittels bewegten Fixationsobiekts
zu erzielenden Umfange möglich. Die soontane Senkung des Blicks
auf Kommando noch immer nur in minimalem Umfange ausführbar.
Wesentliche weitere Veränderungen des Zustandes konnten dann bis
zur Entlassung des Pat. nicht mehr beobachtet werden.
Am 21. ITT. ist auch die willkürliche Senkung des Blicks etwas
ausgiebiger, wenn auch noch immer hochgradig beschränkt und sehr
schwerfällig. Nach Angabe der Frau hat die Imbezillität des Mannes
noch zugenommen. Wegen der Unfähigkeit zu ausgiebiger Senkung
des Blicks ist ihm das Gehen auf der Strasse ohne Begleitung noch
unmöglich, weil er die Einzelheiten des Weges nicht erkennt und leicht
fehltritt. Visus. Akkommodation. Gesichtsfeld, Süiegelbefund normal.
PuDillen im Hellen 2.25 mm, erweitern sich im Dunkelzimmer nur bis
auf 4.25 mm. Konvergenzreaktion deutlich aber gering, entsprechend
der mangelhaften Konvergenzinnervation.
Fassen wir die wesentlichen Merkmale des oben geschil¬
derten Krankheitsbildes, soweit sie einer näheren Erörterung
wert erscheinen, noch einmal kurz zusammen, so bestand also
im Anschluss an einen paralytischen Anfall eine auf die Ver¬
tikalbewegungen beschränkte, streng assoziierte
Blicklähmung. Die gleichsinnigen Lateralbewegungen
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1615
waren vollkommen normal, die Konvergenz erschwert, aber
nie aufgehoben.
Bei keiner Blickrichtung war ein Zurückbleiben des ein¬
zelnen Auges im Vergleich mit dem anderen objektiv oder sub¬
jektiv nachweisbar; spontanes Doppeltsehen fehlte, die durch
Vorsetzen von Prismen erzeugten Doppelbilder brachten in
ihrem Abstand und ihrer Lage .zu einander lediglich das Ab¬
lenkungsvermögen und die Lage des Prismas zum Ausdruck.
Die Lähmung der vertikalen Blickbewegungen war in
keinem Stadium der 4M> Monate währenden Beobachtungszeit
eine absolute. Anfangs waren zwar sowohl die rein will¬
kürlichen (spähenden), als auch die durch sensorische (opti¬
sche, akustische, sensible) Eindrücke ausgelösten, soge¬
nannten reflektorischen Bewegungen in vertikaler Richtung
so gut wie völlig aufgehoben, wohl aber waren Vertikal¬
bewegungen der Augen jederzeit durch passive Hebung bezw.
Senkung des Kopfes hervorzurufen: die auf ein bestimmtes
Objekt gerichteten Augen behielten die Fixation bei, wenn der
Kopf des Kranken plötzlich um die Frontalachse — nach oben
oder unten — gedreht wurde.
Die durch Drehungen des Kopfes veranlassten, in entgegen¬
gesetzter Richtung ablaufenden Augenbewegungen dürften nach den
Untersuchungen von Breuer1) u. 2) hauptsächlich auf Erregungen
der Vestibularisendigungen in den Bogengängen des Labyrinths zu¬
rückzuführen sein, in welchen bei Kopfdrehung Strömungen der Endo¬
lymphe entstehen. Der Vestibularapparat, das „statische Organ“, ver¬
mittelt einerseits die Vorstellung von der Richtung der Bewegung,
andererseits löst er „kompensierende“, der Erhaltung des Gleich¬
gewichts dienende Innervationen der Körpermuskulatur, sowie auch
kompensierende, die Erhaltung der richtigen Orientierung im Raume
anstrebende Innervationen der Augenmuskeln aus. Bei (passiven oder
aktiven) Seitendrehungen des Kopfes bleiben die Augen zunächst in
ihrer Lage, auch ohne absichtliche Fixation eines Gegenstandes (bei
geschlossenen Augen, bei Blinden), drehen sich also in der Orbita im
entgegengesetzten Sinne, dann erst erfolgt ein Ruck in derselben
Richtung, wie die Bewegungen des Kopfes.
Dass das Zurückbleiben der Augen bei Drehung des Kopfes
nicht etwa ein Ausdruck des Beharrungsvermögens ist, geht
schon daraus hervor, dass in Fällen von peripheren bezw.
nuklearen Innervationsstörungen bei passiven Kopfdrehungen
das Exkursionsgebiet des gelähmten Auges ganz dieselbe Ein¬
schränkung zeigt, wie bei allen anderen Untersuchungs¬
methoden.
Schon Senator3) empfahl, auf die unter dem Einfluss
von Kopfdrehungen eintretenden reflektorischen Augenbewe¬
gungen bei Brückenherden im Interesse der topischen Dia¬
gnostik zu achten. Sodann erwähnt J e n d r a s s i k 4) als Be¬
obachtung an einem Falle mit fast völliger Unbeweglichkeit
beider Augen den „interessanten Umstand, der auch eine dia¬
gnostische Wichtigkeit haben könnte, dass die den Lagever¬
änderungen des Körpers entsprechende unwillkürliche Augen¬
bewegung bei dem Kranken vollkommen gut ist“.
Trotz dieser Anregungen scheint jedoch die Prüfung der
reflektorischen Augenbewegungen eine methodische Verwer¬
tung bis vor kurzem nicht gefunden zu haben. Wenigstens
fanden wir unter den zahlreichen Mitteilungen über Blick¬
lähmungen nur bei Roth5 *) diesbezügliche Vermerke. Dieser
Autor stellte bei Kranken mit Ophthalmoplegie fest, dass die
unter anderen Versuchsbedingungen mangelhaften Bewegungen
der Augen fast normalen Umfang erreichten, wenn bei Fixation
eines bestimmten Objektes der Kopf passiv bewegt wurde.
Merkwürdigerweise glaubt Roth diesen Erfolg auf eine „Er¬
leichterung der mechanischen Arbeit für die Augenmuskeln“
zurückführen zu können. Wäre dem so, dann müssten ja bei
0 Breuer: Ueber die Funktion der Bogengänge des Laby¬
rinths. Med. Jahrb. 1874, S. 72.
2) Derselbe: Beitrag zur Lehre vom statischen Sinne
(Gleichgew. -Organ, Vestib. -Apparat d. Ohrlabyr.). Ebenda 1875,
S. 87.^
3) Senator: Zur Diagn. d. Herderkrank, in der Brücke und
d. verläng. Marke. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. XIV, S. 643,
1883.
4) Jendrassik: Vom Verhältnis d. Poliomyelenzephalitis zur
Basedowschen Krankheit. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh.
XVII. 2. 1886.
5) Roth: Demonstr. v. Kranken mit Ophthalmoplegie. Ges. d.
Neuropath. u. Irrenärzte. Moskau. Sitzung v. 25. II. 1901, Ref.: Neu¬
rologisches Zentralbl. 1901, S. 921.
allen Augenmuskelparesen durch die entsprechende Kopf¬
drehung ausgiebigere Augenbewegungen im Wirkungsbereich
der paretischen Muskeln zu bewirken sein, als durch die stärk¬
sten Willensimpulse ! Dass dies aber für Paresen peripheren
bezw. nuklearen Ursprungs gewiss nicht zutrifft, ist bereits
erwähnt worden.
In ganz eklatanter Weise gelang es an einem gemeinsam
von uns ö) u. 7) beobachteten Fall von Encephalitis pontis, der
mit Hinterlassung charakteristischer Ausfallserscheinungen zur
Heilung kam, die Erhaltung der reflektorischen bei fast völliger
Lähmung der willkürlichen Innervation zur Seitenwendung der
Augen nachzuweisen und dadurch sichere Anhaltspunkte für
den Sitz bezw. Umfang der Läsion zu gewinnen. Wir haben
seitdem zu wiederholten Malen Gelegenheit gehabt, die Er¬
haltung der reflektorischen bei Lähmung der willkürlichen Er¬
regbarkeit der Blickwender zu beobachten. Ausser den hier
näher zu besprechenden Fällen war namentlich ein Krankheits¬
bild höchst instruktiv und mag daher kurz referiert werden.
Das 4A jährige Kind wurde am 7. VI. 05 aus der psychia¬
trischen und Nervenklinik dem einen von uns (B.) zur Unter¬
suchung der Augen überwiesen. Ende März 1905 war von den
Eltern das Auftreten der jetzt bestehenden Augenmuskel¬
lähmung bemerkt worden. Später gesellten sich andere Er¬
scheinungen (Taumeln, Schwäche des linken Beines etc.) dazu,
die bei der Untersuchung in der Nervenklinik den Verdacht
einer Erkrankung der Medulla bezw. des Kleinhirns erweckten.
Die Untersuchung der Augen ergab eine starke Ablenkung
des rechten Auges nach innen und völlige Unfähigkeit des¬
selben zur Abduktion, sowohl auf Willensimpulse als auf pas¬
sive (Links-) Drehung des Kopfes, während das linke Auge
dabei — namentlich auf die Drehung des Kopfes — eine sehr
ausgiebige Einwärtsdrehung (Rechtswendung) aufbrachte. Zur
Links Wendung waren beide Augen nur in sehr beschränk¬
tem Masse fähig, sobald dem Kind ein links von ihm gelegenes
Objekt zur Fixation angewiesen oder auch das Fixationsobjekt
von der Mitte nach links geführt wurde. Dagegen er¬
folgte eine Linkswendung beider Augen in
vollem Umfange bei passiver (Rechts-) Dreh¬
ung des Kopfes. Der Unterschied zwischen der Reaktion
auf die willkürliche und die reflektorische Innervation war
ungemein deutlich und konnte wiederholt und zu verschiedenen
Zeiten demonstriert werden.
2 Monate später hatte sich der Zustand des in die Nerven¬
klinik aufgenommenen Kindes erheblich verschlechtert. Es
war leicht somnolent, beide Augen standen stark — das linke
maximal — adduziert, jegliche Fähigkeit zur Abduktion war
aufgehoben, auch bei Kopfdrehung blieb die Reaktion seitens
der Augen aus. Das hieraus und aus dem Hinzutreten einer
beiderseitigen Fazialisparese zu erschliessende Fortschreiten
der vermuteten Geschwulst wurde nach dem Tode des Kindes
durch die Autopsie bestätigt, bei der ein den Pons diffus infil¬
trierender Tumor gefunden wurde.
Die Beobachtung ist namentlich deswegen lehrreich, weil
sie zeigt, wie die in einem früheren Stadium des Krankheits¬
prozesses noch verschonte labyrinthäre Reflexbahn zu den
Seitenwendern der Augen schliesslich auch zerstört, die asso¬
ziierte (supranukleare) in eine periphere (nukleare bezw.
faszikuläre) Lähmung verwandelt wird 8).
In uriserer eingangs mitgeteilten Beobachtung war also die
Lähmung der Blickheber und -senker auf gewisse Innervations¬
wege beschränkt, und damit die Richtigkeit der schon durch
die absolute Gleichartigkeit und Gleichmässigkeit der beider¬
seitigen Beweglichkeitsbeschränkung nahe gelegten Annahme
erwiesen, dass die Läsion oberhalb der Kernregion
zu lokalisieren sei.
6) St e inert: 2 Fälle von Ponserkr. Diese Wochenschr. 1903,
No. 36.
7) A. Bielschowsky: Das klinische Bild d. assoz. Blick¬
lähmung und seine Bedeutung f. d. topische Diagnostik. Ebenda 1903,
No. 39.
8) Natürlich könnte auch bei Intaktheit des Kerns und der
peripheren Nerven das Bild einer peripheren Lähmung durch Unter¬
brechung sämtlicher zum Kerngebiet absteigender Bahnen Zu¬
standekommen.
1616
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
Stand in der ersten Beobachtungszeit die ver¬
schiedenartige Reaktion der Vertikal¬
motoren bei willkürlicher und rein r eil e k -
torischer Innervation im Vordergrund des Krank¬
heitsbildes, so konzentrierte sich späterhin unser Interesse auf
das eigentümliche Verhalten, das der Patient gegenüber den
verschiedenen Anlässen zu w i 1 1 k ü i 1 i c h e n (vertikalen)
Blickbewegungen zeigte und noch jetzt — 434 Monate nach Be¬
ginn der Erkrankung — erkennen lässt. Der Zustand besserte
sich nämlich insofern, als der Kranke die Fähigkeit wieder ge¬
wann, willkürlich — auf Kommando — den Blick etwas zu
heben und zu senken, letzteres allerdings nur in minimalem
Umfange. Hinsichtlich des Umfanges der Blickbewegung
machte es nichts aus, ob seine Aufmerksamkeit auf ein be¬
stimmtes — oben oder unten in seinem Gesichtsfeld gelegenes
_ Objekt gelenkt oder ob er nur aufgefordert wurde, „nach
oben“ oder „unten“ zu sehen. Selbst wenig exzentrisch ge¬
legene, durch Hin- und Herbewegen auffällig gemachte Bildei,
z. B. Lichtreflexe, die mit dem Spiegel von unten her in sein
Auge geworfen wurden, vermochten es nicht, entsprechende
Einstellungsbewegungen auszulösen, durch die sie auf die Netz¬
hautmitte gelangt wären, oder auch nur grössere Exkuisionen
der Augen zu veranlassen, als der Patient sie schon ohne be¬
stimmte optische Anhaltspunkte ausführte. Um so frappieren¬
der war angesichts dieses Verhaltens die Tatsache, dass die
Augen einem zunächst in der ihnen bequem¬
sten — leicht nach oben gerichteten — Blick¬
lagefixierten Objekte, sobald dieses nicht zu
rasch nach oben oder unten bewegt wurde, an¬
scheinend bis zur normalen oberen und
unteren Blickfeldgrenze zu folgen vermoch-
t e n. Bei zu rascher, ruckweiser und plötzlicher Verschiebung
des Objektes blieben die Augen zurück.
Die letzterwähnte Tatsache weist schon darauf hin, dass die
durch Bewegung des Fixationsobjekts erzeugte Blickbewegung nichts
mit derjenigen zu tun hat, die bei passiven Kopfbewegungen die an¬
dauernde Fixation eines ruhenden Objektes ermöglicht. Es ist in¬
dessen vielleicht zweckmässig, die einzelnen Merkmale für die Ver¬
schiedenartigkeit der schon besprochenen Blickbewegungen hier zu¬
sammenzustellen.
Zunächst haben wir schon angeführt, dass in der ersten Zeit
nach Eintritt der Störung vertikale Blickbewegungen lediglich
bei passiver Flebung bezw. Senkung des Kopfes hervorzurufen und
in einem späteren Stadium immer noch erheblich ausgiebiger
waren, als bei sämtlichen anderen zu gleichem Zweck angestellten
Versuchen. Ferner: Die durch plötzliche und rasche (ruckartige)
Kopfdrehung ausgelöste „kompensierende“ Vertikalbewegung der
Augen lief ebenso rasch und ruckartig ab, wie die Kopfdrehung,
während ein in vertikaler Richtung bewegtes Fixationsobjekt nur bei
langsamer gleichmässiger Verschiebung mit den Augen verfolgt
werden konnte. Vor allem anderen aber zeigte sich die grundsätz¬
liche Verschiedenheit im Charakter der auf die eine oder andere Weise
erhaltenen Augenbewegung darin, dass der Kranke zu Anfang, als die
Vertikalmotoren nur auf passive Kopf drehungen
reagierten, die Augen in den hierbei erreichbaren E n d Stel¬
lungen nicht zu erhalten vermochte, sondern un¬
mittelbar nach Aufhören der Kopfdrehung stets
wieder eine (passive) Rückkehr der Augen aus der
gehobenen oder gesenkten Stellung in die Aus¬
gangs- („R u h e -“) Lage erfolgte. In jenen Endstellungen
konnten sie erst dann längere Zeit hindurch verbleiben, als die Be¬
wegung nicht bloss reflektorisch, sondern auch
durch willkürliche Innervation — Verfolgen des be¬
wegten Fixationsobjektes — zustande kam.
Das hier Gesagte ist natürlich nicht so zu verstehen, dass jede
mit einer Kopfdrehung in entgegengesetzter Richtung einhergehende
Augenbewegung als reine Reflexbewegung anzusehen ist. Wird der
Kopf während andauernder Fixation eines Dinges aktiv oder passiv
gedreht, und zwar nicht mit plötzlichem Ruck, sondern gleichmässig
und nicht zu rasch, so sind die Bedingungen für das Zustandekommen
der Augenbewegung die nämlichen, wie wenn bei ruhig bleibendem
Kopf das Objekt in entsprechender Weise verschoben wird; zum
mindesten hat man in solchem Falle an ein Zusammenwirken von
reflektorischer und willkürlicher Innervation zu denken.
(Schluss folgt.)
Aus der deutschen Universitäts-Frauenklinik in Prag (Vorstand
Prof. Dr. O. F r a n q u e).
Ueber die Beziehungen dar Tetanie zum weiblichen
Sexualapparat.
Von Dr. E. Gros s, Assistent der Klinik.
Die Tetanie während der Schwangerschaft, Geburt und
im Wochenbette ist in ihren klinischen Erscheinungen von den
sonstigen Tetaniefällen nicht wesentlich verschieden. Die An¬
führung dieser Fälle in einer besonderen Gruppe ist dem Um¬
stande zuzuschreiben, dass im Anfänge der Kenntnis dieser
Krankheit die besondere Häufigkeit des Zusammentreffens mit
den Maternitätsvorgängen auffiel. Wie aber Neumann be¬
merkte, ist früher wohl mancher Fall von Tetanus oder
Eklampsie als Tetanie beschrieben worden und das Vorkommen
von Tetanie in der Gravidität durchaus nicht häufig. Frankl-
Hochwart stellte bis 1897 49 Fälle aus der Literatur und
12 eigene Beobachtungen zusammen, davon waren 23 Gravide,
10 Fälle post partum und 28 Säugende, während von 1880—1895
im Wiener Krankenhause allein 368 Tetaniekranke zur Auf¬
nahme gelangten.
Neu mann konnte 1895 nur 12 sichere Fälle von Te-
tania gravidarum in der Literatur nachweisen, denen er 2 Fälle
zufügte, die aus dem grossen Materiale der Klinik S c h a u t a
stammten; in dieser Klinik wurden bis 1903, wie Fellner
berichtet, noch weitere 7 Fälle beobachtet.
Im Verhältnis zu der grossen Zahl von Tetaniekranken, die
in Wien beobachtet wurden, ist also die Kombination von Te¬
tanie mit Gravidität gewiss selten, was auch durch die Spär¬
lichkeit der sonstigen bezüglichen Mitteilungen bestätigt wird.
Insbesondere aber wird die Tetanie in der Laktation, welche
Trousseau so häufig sah, dass er die Krankheit „Contracture
des nourrices“ nannte, anscheinend sehr selten mehr be¬
obachtet.
Gleichwohl ist nach den klinischen Beobachtungen und
einigen experimentellen Untersuchungen dem weiblichen Se¬
xualapparat und speziell der Gestation eine nicht unerhebliche
Rolle bei der Pathogenese der Tetanie zuzuweisen. Hiefür
spricht das relativ häufige Vorkommen von Rezidiven bei
neuerlichen Schwangerschaften, sowie der Umstand, dass die
Erkrankung mit dem Eintritte der Geburt in vielen Fällen
aufhört.
Von besonderem Interesse ist ferner die zuerst von Neu¬
mann bei seinen Fällen beschriebene Koinzidenz von
Tetaniekrämpfen mit Uteruskontraktionen,
die ihn zu der Annahme führten, dass der Uterus als Reizaus¬
löser zu fungieren vermag, etwa analog wie beim Trous-
seauschen Phänomen der Druck auf den Plexus brachialis.
Ich gestatte mir, die interessanten Krankengeschichten
Neumanns kurz wiederzugeben :
I. 37 jährige XI. Gravida. In der 5., 6., 9. und 10. Schwanger¬
schaft von der 2. Hälfte an (als Pat. Kindesbewegungen spürte)
Krämpfe, die nach der Geburt aufhörten. Bei der 7. und 8. Schwanger¬
schaft, die im 3. Monate mit Abort endete, keine Krämpfe. In der
11. Schwangerschaft traten im 9. Monat Anfälle auf, es fand sich
typische Tetanie. Neumann beobachtete nun bei jeder Kontraktion
des Uterus Krampfanfälle in den Händen, als er mit dem Finger in
den Zervikalkanal eindrang, auch schweren Laryngospasmus. Nach
2 Tagen Wehen und Krämpfe schwächer, digitale Untersuchung löste
Krämpfe in den Händen aus. Bei (Jen neuerlichen Geburtswehen
abermals Krämpfe in den Händen und Füssen, heftige Anfälle von
Laryngospasmus. Nach der Geburt sistierten die Krämpfe,
Trousseau war stark positiv, mechanische Erregbarkeit der Nerven
erhöht. Im Wochenbett schmerzhafte Nachwehen, noch durch
2 Wochen leichte Krämpfe, nachher noch positives Fazialisphänomen.
II. 30 jährige, VII. Gravida. Am Ende der 1. Schwangerschaft
und im 3. Wochenbette Krämpfe. Jetzt seit 2 Monaten Anfälle.
Sie war gebärend; seit Eintritt der Geburtswehen fast kontinuier¬
lich Krämpfe, die nach der spontanen Entbindung fast völlig sistierten,
es bestanden nachher nur leichte Kontraktionen in den Händen.
3 Stunden p. p. Kollaps, Uterus bis zum Nabel reichend, in der
Scheide Blutkoagula. N e u m a n n ging mit der Hand in den Uterus
ein und räumte den mit Blut erfüllten Genitalschlauch aus, Lysol¬
spülung und Gazetamponade des Uterus unter leichter Massage,
worauf die Blutung stand. Während dieser Manipulation häufig
Krämpfe und Schmerzen in den Händen. Im Wochenbett jedesmal
beim Stillen Krämpfe oder Parästhesien, weshalb Pat. nach 6 Wochen
das Kind absetzte, worauf die Erscheinungen sistierten. Nach
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1617
iS Monaten sah Neu m a n n die Pat. wieder, sie war im -4. Monat
schwanger und hatte positives Fazialis- und T rousseau sches
Phänomen.
Seit Neuma n n ist dieses Symptom, dass sowohl spon¬
tane als auch künstlich hervorgerufene Uteruskontraktionen
Krämpfe oder Parästhesien in den Fingern und von da aus
typische Tetanieanfälle auszulösen imstande sind, von mehreren
Autoren bei Tetania gravidarum beobachtet worden.
So beschrieb Meine rt (1898) eine Tetanie in der
Schwangerschaft nach Kropfexstirpation:
Bei der 35 jährigen Frau wurde im 4. Monate der 10. Schwanger¬
schaft wegen Dyspnoe eine rechtsseitige Kropfzyste entfernt. 3 Tage
post operat. trat Tetanie ein, die 14 Tage dauerte, die Schwangerschaft
endete normal. In der 11. Schwangerschaft von der Mitte derselben
an neuerliche Krampfanfälle. Die Untersuchung ergab, dass vom
linken (bei der Operation zurückgelassenen) Schilddrüsenlappen keine
Spur mehr nachweisbar war. Wegen der Schwere der Anfälle wurde
im 8. Monate die künstliche Frühgeburt mittels Bougies eingeleitet.
Beim Eintritte stärkerer Wehen heftiger Tetanieanfall. Als der
Muttermund fünfmarkstückgross war, wurde die Sprengung der Blase
und Extraktion des in Fusslage befindlichen Kindes ausgeführt, die
Plazenta exprimiert und wegen Blutung der Uterus mit Gaze tam¬
poniert. Während dieser Manipulationen verblieben die Hände der
narkotisierten Patientin in tetanischer Starre, die sich erst nach
Stunden löste. Chvostek sches und T rousseau sches Phä¬
nomen noch lange positiv, 6 Wochen p. part. relative Genesung.
Ganz ähnlich ist der Fall von Dienst:
45 jähr. Frau, die 14 mal spontan geboren und selbst gestillt
hatte. Im 9. Monate der 15. Gravidität wurde wegen Zunahme der
Beschwerden eine seit der 3. Schwangerschaft bestehende, aber
ständig gewachsene Struma operativ entfernt. Nach 9 Tagen typische
Tetanie mit Laryngospasmus, schweren Erstickungs- und Bewusst¬
losigkeitsanfällen. Deswegen und weil gerade durch die Schwanger¬
schaftskontraktionen die tetanischen Anfälle, besonders der Laryngo¬
spasmus ausgelöst erschienen, wurde die künstliche Frühgeburt
mittels Hystereuryse eingeleitet. Während der Geburtswehen
wurden schwere tetanische Erscheinungen, während der nach 4 Stun¬
den durch Wendung und Extraktion beendeten Geburt geradezu
lebensbedrohende Erstickungsanfälle beobachtet. Nach der Ent¬
bindung zunächst kein Krampfanfall. Das Kind wurde nicht angelegt,
trotzdem traten vom 10. Wochenbettstage an Kontrakturen im Ge¬
sicht, später in den Händen auf, dazu kamen trophoneurotische Stö¬
rungen an den Fingernägeln und Polyurie.
Schliesslich finde ich noch eine hiehergehörige Beobach¬
tung von G r i z i o 1 1 i :
35 jähr. tuberkulöse Frau, in der 4., 5. und 7. Schwangerschaft
Tetanie, die nach der Entbindung schwand, während der Laktation
kein Anfall. In der 8. Schwangerschaft abermals typische Tetanie,
die vaginale Untersuchung während der Geburt, besonders in der
Wehe, begünstigste den Eintritt des Anfalls. Wochenbett normal,
nach einigen Monaten abermals Erkrankung, Tod.
In allen diesen Fällen lagen schwere Tetanien vor, die
entweder auch nach den Entbindungen bestehen blieben oder
mit dem Eintritte der nächsten Gravidität wieder auftraten.
Es ist bemerkenswert, dass das Symptom der Auslösbarkeit
von Tetaniekrämpfen durch Uteruskontraktionen sowohl bei
Fällen von Tetanie nach Kropfexstirpationen (M e i n e r t,
Dienst), als auch bei der sogenannten genuinen oder idio¬
pathischen Tetanie (Neumann, Griziotti) beobachtet
wurde.
N e u m a n n nimmt an, dass die Schwangerschaft ent¬
weder eine Prädisposition zur Entstehung der Tetanie schafft,
oder dass es sich um Fälle von bereits bestehender, chronischer
Tetanie handelt, die Schwangerschaft bewirke nur das Wieder¬
eintreten der latenten pathologischen Uebererregbarkeit der
nervösen Apparate, hierauf können geringe mechanische Reize
reflektorisch Krämpfe auslösen; zu solchen gehört ebenso wie
die Kompression des Plexus brachialis (Troussea u) die
spontane oder hervorgerufene Uteruskontraktion. Er bringt
damit in Zusammenhang, dass die Tetanie meist in der zweiten
Hälfte der Schwangerschaft auftritt, wo bereits Uteruskon¬
traktionen beginnen, und mit der Geburt gewöhnlich den Höhe¬
punkt erreicht.
V o e 1 k e r äusserte hierzu auch den Gedanken, dass die
Tetanie der Säugenden eine ähnliche Auslösungsur¬
sache haben könnte, da durch das Saugen Uteruskontraktionen,
die sogen. Nachwehen ausgelöst werden. Die Annahme eines
solchen Zusammenhanges ist in den Fällen berechtigt, wo die
Tetanie die Geburt überdauert oder bald post partum auftritt.
Wahrscheinlich wird dieser Zusammenhang in Fällen wie im
No. 33
II. von N e u m a n n, wo die Krämpfe jedesmal beim Stillen
auftraten und nach dem Absetzen des Kindes verschwanden.
Für diese Auffassung spricht auch der Umstand, dass bei nicht
stillenden Frauen Tetanie nach der Geburt sehr selten ist
(Frankl-Hochwart), obzwar auch bei solchen Fällen die
Auslösung der Anfälle durch die spontanen Nachwehen mög¬
lich ist.
Dagegen kann bei den Fällen, wo nach mehrinonatlichem
Stillen die Krankheit ausbricht, ein Zusammenhang mit reiz-
auslösenden Uteruskontraktionen nicht mehr angenommen wer¬
den; sind doch Intervalle bis zu 8 Monaten beobachtet worden.
Wir hatten Gelegenheit an unserer Klinik bei einer Pa¬
tientin zu beobachten, dass vom Uterus aus und zwar
sowohl vom puerperalen Uterus nach kurzdauernder
Schwangerschaft, als auch vom nichtschwangeren
UterusausdurchErregungvonKontraktionen
Tetanieanfälle ausgelöst werden können.
Die Krankengeschichte ist folgende:
39 jährige verheiratete Postbedienstetensgattin aus Prag-Zizkow.
3 mal spontan geboren, zuletzt vor 2 Jahren, 1 Abortus vor 6 Jahren,
darnach Auskratzung, Menses lVsJahre sehr stark, dann normal.
Letzte regelmässige Periode 1.— 10. April, am 16. Mai starke lVs
Tage dauernde Blutung, seitdem missfärbiger Ausfluss.
Status am 19. Mai 1905: Grosse, magere, schlecht genährte, sehr
anämische Frau. Schilddrüse zeigt in der Mitte oberhalb des Jugu-
lums einen walnussgrossen derben Knoten. Ueber der rechten
Lungenspitze hauchendes Atmen mit spärlichem Rasseln. Herz-
dämpfung nach links verbreitet, Töne rein, Radialarterie rigider. In
den Brüsten milchähnliches Sekret. Abdomen schlaff, alte Striae.
Ren. d. deszendiert, beweglich. Genitalbefund: Schleimhaut blass-
livid, Portio aufgelockert, Muttermund für die Fingerkuppe einlegbar,
Corp. uteri vergrössert, weicher. Aus der Vagina gehen rotbraune
Brockel ab. Diagnose: Abortus imperfectus mens. II.
Einführung eines Laminariastiftes, der am folgenden Tage durch
einen stärkeren ersetzt wird. Auch am 21. Mai ist der Zervikalkanal
noch nicht für den Finger passierbar, die stumpfe Kürette bequem ein¬
führbar, mit der Sonde war vorher die Retention reichlichen Plazen¬
targewebes im Fundus konstatiert worden. Es wird die Aus¬
räumung mit der stumpfen Kürette — ohne Narkose — vorgenommen:
während derselben traten nun Parästhesien, Kriebelgefiihl und
Steifigkeit in den Fingern, schliesslich tonische Krämpfe in
Form der für Tetanie charakteristischen Geburts¬
helferstellung beider Hände auf, die während der folgen¬
den intrauterinen Lysolspiilung und leichten Scheidentamponade (im
ganzen ca. 20 Minuten) anhielten; zugleich gibt Patientin Steifig¬
keit in den Füssen und Zuckungen im Gesichte an,
die mechanische Erregbarkeit der Gesichts nerven
beim Beklopfen gesteigert, Trousseau sches Phänomen
nicht auslösbar. Die Kontraktur der Finger lässt nach, als Pat. ins
Bett gebracht wird, Fazialisphänomen noch einige Zeit auslösbar.
Die Kranke lag 7 Tage, erhielt anfangs Ergotin, dann ein Eisen¬
präparat. Während dieser Zeit keine Krämpfe oder abnorme Sym¬
ptome. Hochgradige Anämie. Am 29. Mai Entlassung, Genitalbefund
normal.
Am 11. Februar 1906 kam Patientin über Aufforderung wieder an
die Klinik; sie gibt an, dass sie seit der Entlassung immer im An¬
schlüsse an die regelmässig alle 4 Wochen erfolgende Periode 8- — 10
Tage lang stark geblutet habe, bisweilen seien Stückchen geronnenen
Blutes abgegangen. Sie ist dadurch sehr heruntergekommen, blass,
schlecht genährt, sehr weinerlich und nervös. Sie leidet an häufigen
Kopfschmerzen, Mattigkeit und Unruhe besonders zur Zeit der
Menses, Zuckungen in den Händen und Füssen, so dass
sie oft nichts fassen kann, Krämpfe seien nie aufgetreten. Die all¬
gemeine Untersuchung bot keine abweichenden Symptome; auffällig
ist, dass die seitlichen Schilddrüsen lappen nicht tastbar
sind, der walnussgrosse mediane Knoten derb, gegen früher nicht
verändert. Sensibilität der Haut und Reflexe normal, ebenso die elektr.
Erregbarkeit der Muskeln. Insbesondere fehlen Chvostek sches
und T rousseau sches Phänomen. Die Sondierung des anteflektiert
liegenden, beweglichen nicht druckschmerzhaften Uterus ergibt, dass
derselbe etwas vergrössert ist, dabei keine abnormen Sensationen.
Anamnese und Befund lassen die Diagnose Endometritis zu. Vom
13. bis 16. Februar Menses, Blutung mässig, Pat. lag und bekam Extr.
fl. hydrastis. Behufs Vorbereitung zur indizierten Abrasio mucosae
wird nach Ablauf der Periode eine Laminaria eingeführt und die
Scheide mit Jodoformgaze leicht tamponiert. In der Nacht treten
zweimal Schwächeanfälle und Parästhesien in den Fingern
(Gefühl von Ameisenkriechen) auf. Am 20. Februar wird das Kuret-
tement ausgeführt und hiebei reichlich Mukosagewebe entfernt, dar¬
nach die Uterushöhle mit Lysollösung ausgespiilt und mittels Play¬
fair scher Sonde mit Karbolalkohol energisch geätzt, Während
dieser Eingriffe, besonders als bei der Ausspülung der Uteruskatheter
an den Fundus uteri stiess, trat ein typischer tetanischer
Anfall ein, der mit Parästhesien, Steifheitsgefühl der Finger be-
3
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
!6I8
Rann und schliesslich zu einem tonischen Krampf der Finger und
Hände mit typischer Qeburtshelferstellung führte. Patientin gab
auch das Gefühl von krampfartiger Spannung in den Beinen an.
Mechanische Erregbarkeit des Fazialis beider¬
seits leicht gesteigert. Trousseau sches Phänomen
nach Ablauf des ca. 10 Minuten währenden Anfalles nicht auslösbar.
Die nach dem Anfalle vorgenommene elektrische Untersuchung ergab
gegen die erste Untersuchung eine Erhöhung der galva¬
nischen Erregbarkeit. Die Rekonvaleszenz verlief normal
ohne Anfälle, auch die übrigen Symptome waren bald geschwunden.
Am 26. Februar intrauterine Aetzung mit Formalin ohne Anfall. Am
28. Februar Entlassung. Histologische Diagnose: Endometritis
interstitialis.
Die Auffassung der Krampfanfälle als Tetanie krämpfe
ist durch den typischen Verlauf derselben und das Auftreten
des Fazialisphänomens während des Anfalles berechtigt. Das
Trousseau sehe Phänomen wird auch bei Tetanie mit spon¬
tanen Krämpfen bisweilen vermisst. So fand v. Jak sch das
T rousseau sehe Phänomen unter 35 Fällen 26mal. Das Vor¬
kommen des Fazialisphänomens bei Neurasthenikern und peri¬
pherer Fazialislähmung wird auch von v. Jaksch bestätigt,
doch ist dann der Verlauf der Krankheit ein derartiger, dass
eine Verwechslung mit Tetanie vollkommen ausgeschlossen ist.
Nach v. Jaksch bildet neben den tonischen Krampfanfällen,
den verschiedenen Sensibilitätsstörungen und dem Trous¬
seau sehen Phänomen das Fazialisphänomen das allerwich¬
tigste und konstanteste Symptom der Tetanie, so dass, falls die
ersten 2 genannten Symptome fehlen, aber Anamnese und Ver¬
lauf für Tetanie spricht, auf Grund des Vorhandenseins dieses
Symptomes die Diagnose Tetanie gerechtfertigt ist.
In unserem Falle kam es nie zu spontanen Krämpfen.
Frankl-Hochwart beschrieb zuerst den tetanoiden
Symptomenkomplex bei Individuen, die nur über Parästhesien
klagten, nie spontane Krämpfe hatten, dagegen positives E rb -
sches und Chvostek sches Phänomen, während das
T rousseau sehe versagt. Derselbe Autor nennt latente
Tetanie die Fälle, bei denen spontan keine Krämpfe auf-
treten, solche aber durch Kompression des Armnervenbündels
nach T rousseau erzeugt werden konnten.
Bei der von uns beobachteten Frau sind die Tetaniekrämpfe
nicht durch das Trousseau sehe Verfahren, sondern durch
Reize vom Uterus aus reflektorisch ausgelöst worden, ganz
analog wie bei den oben zitierten Fällen von Tetanie in der
Schwangerschaft. In Uebereinstimmung mit Neumann
stehe ich nicht an, diese Art der Auslösung der Krämpfe mit
dem T rousseau sehen Phänomen in Parallele zu setzen
und unseren Fall demnach, da spontane Krämpfe nicht be¬
obachtet wurden, wohl aber künstlich auf reflektorischem Wege
tetanische Fälle ausgelöst werden konnten, als latente Te¬
tanie im Sinne von Frankl-Hochwart zu bezeichnen.
Dass die Frau an Tetanie leidet, kann auch nach den in der
Zwischenzeit beobachteten Parästhesien und Anfällen von Stei¬
figkeit in den Fingern angenommen werden, es ist vielleicht
nur von dem Grade der Erkrankung oder dem Fehlen gröberer
Gelegenheitsursachen abhängig, dass es nicht zu spontanen
Krämpfen kam, vielleicht wäre es im weiteren Verlaufe der
Schwangerschaft dazu gekommen.
Ich erinnere hier an die Beobachtung von Schlesin¬
ger, die ein 22 jähriges anämisches Mädchen betrifft, welches
seit Jahren Parästhesien an den Händen und Füssen hatte.
Chvostek sches und Trousseau sches Phänomen. Nach
4 Wochen kam Patientin wieder, vor einigen Tagen Abortus,
ob sie ein Abortivum eingenommen hatte, liess sich nicht
eruieren. Trousseau sches Phänomen leicht auslösbar.
Krämpfe bestanden n i e. 10 Minuten später auf der Klinik
während einer Ohnmacht Auftreten typischer Tetaniekrämpfe
in den oberen Extremitäten. Es ist nicht angegeben, wodurch
die Ohnmacht erfolgte, ob etwa eine Genitaluntersuchung vor¬
genommen wurde und vielleicht ein Zusammenhang des Anfalls
mit dem Sexualsystem angenommen werden kann.
Dieser Zusammenhang ist in unserem Falle zweifellos; die
wie ein Experiment wirkende Wiederholung beim zweiten
Curettement lässt einen Zufall wohl ausschliessen. Weitere
über die therapeutisch direkt indizierten Massnahmen hinaus¬
gehende Eingriffe erschienen mit Rücksicht auf die Patientin,
die durch die Krampfanfälle sichtlich beunruhigt war, nicht zu¬
lässig.
Dass in unserem Falle Kontraktionen des Uterus
reflektorisch die Krämpfe auslösten, erscheint im Hinblick auf
die Beobachtungen bei den Fällen von Schwangerschaftstetanic
am wahrscheinlichsten, obwohl eine direkte Beobachtung von
Kontraktionen bei dem nicht schwangeren Uterus nicht mög¬
lich war; es ist aber sicher, dass nach vorhergegangener all¬
mählicher Dilatation des Uterus bei den beschriebenen intra¬
uterinen Eingriffen kräftige Kontraktionen des Uterus erfolgen.
Schon das Auftreten der Anfälle von Parästhesien und Steif¬
heit der Finger in der der Einführung des Laminariastiftes fol¬
genden Nacht kann nur als durch Zusammenziehungen der Ge¬
bärmutter reflektorisch zustande gekommen erklärt werden.
Die zweite Möglichkeit, dass durch Reizung der infolge der
Retentio placentae (durch 14 Tage), bezw. infolge der beim
2. Aufenthalte konstatierten Endometritis pathologisch erreg¬
baren Uterusschleimhautnerven die Krämpfe ausgelöst wurden,
lässt sich wohl deswegen ausschliessen, weil bei der Ein¬
führung der Laminaria, bei der Sondierung und Aetzung des
Uterus Anfälle auch leichterer Art nicht beobachtet wurden.
Dieselben Momente lassen sich auch gegen die Deutung der
Krämpfe als hysterische anführen, zumal sonstige hysterische
Symptome vollständig fehlten.
Der subkutanen Verabfolgung von je 1 ccm Ergotin
nach jeder Auskratzung kann eine ätiologische Beziehung zu
den Anfällen schon deswegen nicht zugesprochen werden, weil
dieselben jedesmal vor der Injektion auftraten und in der Re¬
konvaleszenz nicht wiederkehrten. Mir erscheint es übrigens
nach den Beobachtungen von Neu mann, der anderen
Autoren und unserem Falle nicht unberechtigt, den von einigen
Forschern vermuteten Zusammenhang zwischen Tetanie und
Ergotindarreichung in den üblichen Dosen auf die durch das
Ergotin hervorgerufenen Uteruskontraktionen zu beziehen.
Die Krämpfe bei schwerem Ergotismus sind allerdings denen
bei Tetanie bisweilen ähnlich, mit Rücksicht auf die übrigen
Symptome ist aber, wie Frankl-Hochwart bemerkt,
ein sicherer Schluss über den Zusammenhang der schweren
Fälle von Ergotinvergiftung mit Tetanie wohl nicht möglich.
Hinsichtlich der von demselben Autor angeführten leich¬
ten Krampfzustände bei Ergotindarreichung ist aber die von mir
angenommene Deutung wohl denkbar. So scheint in einem
Falle von Schlesinger der Zusammenhang der Tetanie¬
anfälle mit Uteruskontraktionen infolge von Sekalewirkung
möglich; derselbe betrifft eine 40jährige Frau mit Myoma
uteri, die seit einem Jahre mit Ergotininjektionen behandelt
wurde und danach Krämpfe in Armen und Beinen sowie Par¬
ästhesien bekam, die sich wieder verloren und nach neuerlichen
Injektionen abermals auftraten.
Die Kranke Ehrendorfers war eine Gebärende mit
engem Becken, die wegen schlechter Wehen 1 g Extract.
secalis corn. pulv. in 10 Dosen innerlich erhielt, die Geburt
wurde mit Kraniotomie beendet, erst am 4. Wochenbettstage
trat der erste Tetanieanfall auf. Ehrendorfer selbst nimmt
(in Anlehnung an die Theorie von N. W e i s s, dass durch Rei¬
zung sympathischer Nervenfasern an der Peripherie eine Stö¬
rung der Gefässinnervation der Zentralorgane resp. ein Reiz¬
zustand in denselben gesetzt wird, als dessen klinischer Aus¬
druck die Symptome der Tetanie auftreten können), für seinen
Fall an, dass die lange Geburt, die langdauernde krampfhafte
Spannung der Uterusmuskulatur, die Einwirkung des Sekale
und die intrauterine Ausspülung Reize auf die sympathischen
Nerven des Uterus abgegeben haben, deren Summe den Aus¬
bruch der Tetanie zur Folge hatte; Ehrendorfer schreibt
dem Sekale also ebenfalls nur eine indirekte Wirkungs¬
weise zu.
In den Fällen Bauers, welche ebenfalls Frauen, davon
eine Gravida betrafen, besteht vielleicht eine direktere Be¬
ziehung zwischen der Ergotinvergiftung und dem Auftreten der
für Tetanie typischen Krämpfe. Wie aber Frankl-Hoch¬
wart (1. c. S. 125) gegenüber der von manchen Autoren auf¬
gestellten Behauptung, dass toxische Substanzen (Ergotin,
Chloroform etc.) Tetanie erzeugen können, hervorhebt, ist
dieses Vorkommnis so selten im Verhältnis zur Häufigkeit des
Gebrauches dieser Mittel, dass ein sicheres Urteil darüber, dass
sie allein den genannten Zustand produzieren können, nicht
abzugeben ist.
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZIN1SCEIE WOCHENSCHRIFT.
1619
Auf die Abhängigkeit bezw. Auslösbarkeit der Tetanie¬
anfälle vom Uterus kann vielleicht auch das Auftreten derselben
zur Zeit der Menstruation bezogen werden. So berichtet
Thomas von einer Kranken mit rezidivierender Schwanger¬
schaftstetanie, welche ausserhalb der Gravidität oft schwere
Anfälle zur Zeit der Periode hatte.
Dagegen lässt sich die aus dem Jahre 1873 stammende Be¬
obachtung Grünewalds, dass eine 22 jährige, bis dahin ge¬
sunde Schauspielerin während einer akuten Endometritis
Tetanie akquirierte, nicht in dem Sinne verwerten, dass
zwischen der Uterusaffektion und dem einmaligen Krampfanfall
ein Zusamenhang bestand. Der genannte Autor selbst zieht zur
Erklärung auch noch eine vorhandene Erkältung (Angina)
heran, zudem ist Hysterie in dem Falle wohl nicht absolut aus-
zuschliessen.
Lässt sich also bezüglich der Tetanie nachweisen, dass bei
derselben Anfälle durch Uteruskontraktionen ausser¬
halb und während der Schwangerschaft ausgelöst werden
können, so gibt es anderseits sicher Fälle von Tetanie bei
Schwangeren, Gebärenden und Säugenden, wo ein solcher Zu¬
sammenhang nicht sichtbar ist. Die Annahme desselben wird
unwahrscheinlich in solchen Fällen, bei denen während der
Gravidität Tetanie auftritt, aber noch vor der Geburt aufhört
und während der Entbindung, also zur Zeit der stärksten
Uteruskontraktionen, keine Anfälle beobachtet werden.
Derartige Fälle sind in der letzten Zeit von Tho m a s,
Schmidlechner und V o e 1 k e r berichtet worden. Wegen
der relativen Seltenheit möchte ich mir erlauben, 2 an unserer
Klinik beobachtete Fälle kurz mitzuteilen. Dieselben kamen
zufällig gleichzeitig in unsere Beobachtung, waren aber zu ver¬
schiedener Zeit erkrankt und stammten aus verschiedenen
Teilen Böhmens.
1.34 jährige verheiratete Papierfabriksarbeiterin aus B. Kam-
nitz, kam atu 19. April 1904 zur Aufnahme, ist wenig intelligent.
1 Menses im 17. Lebensjahr, waren stets regelmässig, 4 tägig, letzte
Periode Oktober 1903. 4 Geburten, während einer vor 3 Jahren
kurzdauernde Krämpfe, 2 mal Abortus; bei der letzten Schwanger¬
schaft in den ersten vier Wochen ähnliche Krämpfe wie jetzt, dieselbe
endete mit Abort. Seit 5 Monaten leidet die Frau an Krämpfen in
beiden oberen Extremitäten, die anfallsweise auftreten und zwar
3 — 4 mal täglich, von 1 — 3 Stunden Dauer. Die Untersuchung er¬
gibt Gravidität im 7. Monate, kindliche Herztöne normal. Patientin,
die mittelgross, mittelkräftig ist, bietet sonst normalen somatischen
Befund. Bei der Aufnahme schwerer Tetanieanfall: beide obere
Extremitäten in krampfhafter Beugestellung, rechts Geburtshelfer¬
stellung der Hand, links die Hand zur Faust geballt. Die unteren
Extremitäten gebeugt, lassen sich nur mit Mühe strecken. Chvo-
s t e k sches Phänomen beiderseits stark positiv. Am nächsten Tage
seltenere Anfälle. Pat. erhält Vollbäder, Brom innerlich.
25. IV. Die Krämpfe haben nachgelassen, Chvostek und
Trousseau positiv, aber schwächer.
29. IV. Befund der Augenklinik des Herrn Prof. Czermak:
Cataracta incipiens bilateralis.
30. IV. Neuerlich Krämpfe, Vorführung der Kranken wegen
schwerer psychischer Depression zur psychiatrischen Klinik, wo die
Diagnose Tetanie bestätigt wird.
In der folgenden Zeit Hessen die Anfälle an Häufigkeit und Dauer
nach, bei der am 21. Mai erfolgten Entlassung ist die Frau vollständig
beschwerdefrei, weder Chvostek noch Trousseau auslösbar. Uterus¬
fundus 3 Querfinger unterhalb des Proc. xiph, Weitere Nachrichten
konnte ich über die Frau leider nicht erhalten.
2. Emilie Z., 27 j. Taglöhnersweib aus Ouzic, wurde am 25. April
1904 an der I. med. Klinik aufgenommen und am 10. Mai 1904 zu
uns transferiert. Der mir durch den Vorstand der Klinik Herrn Hof¬
rat Prof. Pribram gütigst zur Verfügung gestellten Kranken¬
geschichte entnehme ich: Vor ca. 3 Monaten fiel die vorher ganz ge¬
sunde Frau (infolge von Herzleid) bewusstlos zu Boden. Nach ca.
2 — 4 Tagen traten Krämpfe in den Händen auf, seit 14 Tagen falle
ihr das Sprechen und Schlingen schwer, seit derselben Zeit sollen
auch Krämpfe in den Händen und im Gesichte bestehen. Sie hat
2 mal normal geboren, auch die Schwangerschaften und Wochen¬
betten waren normal; letzte Periode Oktober 1903. Als Kind hatte
sie Scharlach, mit 16 Jahren Typhus (?) Aus dem Status der int.
Klinik am 29. April 1904: Mittelgrosse, blasse, schlecht genährte
Frau. Zittern beider Lider. Herzdämpfung vergrössert, Stenosis
ostii venös, sin. mit Mitralinsuffizienz. Uterus vergrössert, ent¬
sprechend einer Gravidität im 8. Monat. Im Harne Eiweiss, im Sedi¬
ment nichts Pathologisches. Hände meist zur Faust geballt, im Hand¬
gelenk dorsalflektiert. Patientin vermag manchmal die Finger aus¬
zustrecken, zeitweise gelingt dies aktiv nicht, beim Versuche der
passiven Beugung äussert Patientin grosse Schmerzen. Untere Extre¬
mitäten meist im Knie und der Hüfte gebeugt, Füsse im Sprung¬
gelenke, Zehen in den Grundgelenken plantarflektiert. Pat. wirft sich
herum, anscheinend unter starken Schmerzen. Im Fazialisgebiete
Chvostek sches, an oberen und unteren Extremitäten Trous¬
seau sches Phänomen.
Sprache schwerfällig, Gedankenablauf langsam. Die Anfälle
wurden allmählich seltener, am 9. Mai finde ich verzeichnet: Aus¬
kultation der Lungen ergibt diffuse bronchitische Geräusche. In
letzter Zeit starke psychische Erregung, Pat. fürchtet sterben zu
müssen, den Depressionszuständen folgen Erregungszustände heiterer
Natur (fällt dem Arzt um den Hals). Die Untersuchung der Nase er¬
gibt Rötung und Schwellung der Mukosa, rechts polypöse Wucherung
derselben.
Befund der Augenklinik des Herrn Prof. Czermak: beiderseits
feine sektorenförmige, streifige bis ins Zentrum reichende Trü¬
bungen: Cataracta incipiens beiderseits.
An unserer Klinik nahmen die Anfälle an Zahl und Intensität
weiter ab, auch die übrigen Symptome schwanden allmählich, die
Gravidität nahm ihre ungestörte Entwicklung. Wegen des Eiweiss¬
gehaltes des Harns (der zwischen 34 bis % Proz. nach Esbach
schwankte) wurde Milchdiät verordnet. Interkurrent bestand stär¬
kere Bronchitis ohne Fieber, vom 12. Mai an traten Furunkel an der
Schulter, am Oberarm und Rücken auf, die mit Salizylseifenpflaster
behandelt, heilten. Vollbäder. Am 2. Juli 4 Uhr 15 früh Spontan¬
geburt eines 2770 g schweren, 46 cm langen Knaben. Während der
Geburt und im Wochenbette, das fieberfrei verlief, wurden keine
Krämpfe beobachtet. Am 18. Juli wurde die Frau geheilt entlassen.
Der Beginn der Erkrankung ist beim 1. Fall im 2. Monate
der Gravidität, beim 2. im 5. Monate gelegen. Der Verlauf ist
bei beiden durch die Schwere der Anfälle bemerkenswert, die
Dauer der Erkrankung betrug im ersten Falle ca. 534 Monate,
ob nach der Entlassung in der späteren Zeit der Gravidität oder
bei der Geburt Anfälle noch auftraten, ist nicht bekannt. Im
2. Falle sistierten die Anfälle im 9. Monate der Schwanger¬
schaft nach ca. 3 34 monatlicher Dauer, Geburt und Wochenbett
verliefen ohne Krämpfe.
Bejüglich der auslösenden Ursache ist die Angabe der
2. Patientin hervorzuheben, die den Beginn auf eine schwere
Gemütsaffektion bezieht. Aehnliche Beobachtungen liegen von
D e 1 p e c h und Frankl-Hochwart (1. c. S. 130) vor.
In unseren beiden Fällen traten ferner ganz ausgeprägte Ver¬
änderungen der Psyche auf, bestehend beim ersten in schwerer
Depression, die schon den Gedanken an die Einleitung der
künstlichen Frühgeburt erwägen liess, beim zweiten Fall
äusserten sie sich abwechselnd in Verstimmungs- und Auf¬
regungszuständen, auch die zuerst angeführte Kranke, die nach
Uterusreizen die Krampfanfälle bekam, war zumeist in depri¬
mierter, weinerlicher Stimmung. Auf das Vorkommen solcher
psychischer Störungen und selbst Psychosen bei Tetanie hat
ebenfalls Frankl-Hochwart aufmerksam gemacht (1. c.
S. 152 ff.).
Alle unsere Fälle gehörten der ärmeren Bevölkerung an
und waren in schlechtem Ernährungszustände. H o f f m a n n
betont besonders, dass die Tetanie meist anämische, ge¬
schwächte Individuen betrifft, vorwiegend der arbeitenden
Klasse. Mir fiel auch auf, dass gerade die schwersten Fälle von
Tetanie in der Schwangerschaft sehr oft geboren hatten, so
waren die Kranken von Meinert zum 11. bezw. 6. Male
gravid, die von Dienst zum 15. Male, ich erwähne ferner
die Fälle von Neumann (11. bezw. 7. Gravidität), V o e 1 k e r
(9.), Schmidlechner (9.), F e r e n c z i (7.), Qriziotti
(8.), Thomas (7.). Unsere 1. und 2. Kranke hatten 6 Schwan¬
gerschaften durchgemacht, die 3. 2 mal geboren, dieselbe litt
auch an einem Herzfehler; bei der ersten fand sich überdies
eine Lungenspitzenaffektion.
Schliesslich sei hervorgehoben, dass bei unseren beiden
Tetaniefällen in der Gravidität beiderseits Cataracta incipiens
konstatiert wurde, was bei Tetanie und besonders auch bei
Tetanie der Schwangeren häufig beobachtet wird, wenn nur
die Fälle regelmässig daraufhin untersucht werden. (Siehe die
bezüglichen Angaben von Peters, Czermak, Zirm u. a.
bei P i n e 1 e s.)
Was die Frage der Einleitung der künstlichen Frühgeburt
anlangt, steht die Berechtigung zu derselben bei schweren
Fällen ausser Zweifel, zumal wenn, wie im Falle von Dienst,
beobachtet wird, dass mit jeder Schwangerschaftskontraktion
die Anfälle schwerer, ja lebensbedrohend auftreten. Für die
theoretische Auffassung der Bedeutung, welche der Schwan¬
gerschaft in den Fällen von Tetanie nach Kropfoperationen zu-
3*
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
kommt, ist es nicht unwichtig zu bemerken, dass auch nach
der Entbindung in den Fällen von M e i n e r t und Dienst
nicht völlige Heilung der Tetanie erfolgte.
Die Ansichten der Autoren über den kausalen Zusammen¬
hang zwischen der Tetanie und der Gravidität stehen auf völlig
hypothetischem Boden, von der Mehrzahl derselben wird die
Schwangerschaft nur als unterstützendes Moment für die Aus¬
lösung der Krämpfe angesehen und darauf bezogen, dass die
Schwangerschaft auch bei anderen nervösen Erkrankungen die
Disposition zu denselben schaffe .
Im Hinblicke auf die grosse Aehnlichkeit der idiopathischen
Tetanie, zu der auch die Tetania gravidarum gezählt wird, mit
der Tetanie nach Kropfoperationen wurde bei der Beschreibung
der Fälle von Schwangerschaftstetanie auch auf Veränderungen
der Schilddrüse als ätiologisches Moment hingewiesen; der
nicht seltene Befund von Strumen bei diesen Tetaniefällen
lässt aber von vorneherein sichere Schlüsse nicht zu, da ja
Schilddrüsenvergrösserung bei Graviden überhaupt häufig ist.
Nach den experimentellen Untersuchungen des' letzten
Jahrzehnts soll nicht die Entfernung der Schilddrüse, sondern
der von Sandström als Glandulae parathyreoideae, von
A. K o h n wegen der von ihm erkannten Selbständigkeit dieser
Nebenorgane gegenüber der Schilddrüse als „Epithel¬
körperchen“ bezeichneten Organe zur Entstehung der
Tetanie in Beziehung stehen. Derartige Versuche wurden zu¬
erst systematisch von V a s s a 1 e und Generali vorge¬
nommen und von einer Reihe von Forschern bestätigt. Ohne
auf diese Versuche näher eingehen zu wollen, möchte ich noch
hervorheben, dass in letzter Zeit besonders P i n e 1 e s klinisch
und experimentell für die einheitliche Auffassung der ver¬
schiedenen Tetanieformen eintrat. Für die Tetanie nach Kropf¬
operationen hält er für bewiesen, dass dieselbe auf den Weg¬
fall der Epithelkörperchen zu beziehen sei, deren Funktion
darin besteht, im Körper entstehende toxische Substanzen un¬
schädlich zu machen. Mit Rücksicht auf die grosse Ueber-
einstimmung der Symptome aller Arten von Tetanie glaubt er,
dass alle durch ein und dasselbe Gift erzeugt werden. Bei
der bisher sog. strumipriven Form ist das Wirksamwerden
dieses supponierten Giftes durch Insuffizienz bezw. Ausfall der
Epithelkörperchen erklärt, bezüglich der anderen Formen bleibt
dies noch zu beweisen.
Es ist für unseren speziellen Gegenstand sehr bemerkens¬
wert, dass Pineies für dieTetanie der Schwangeren den patho¬
logischen Zusammenhang mit einer Insuffizienz der Epithel¬
körper für sehr wahrscheinlich hält. Er stützt sich hierbei auf
eine interessante experimentelle Beobachtung von V a s s a 1 e,
der einer graviden Jagdhündin 2 äussere und 1 inneres Epithel¬
körperchen exstirpierte, die Schilddrüse und das 2. innere
Epithelkörperchen beliess; sie erkrankte vorübergehend an
Tetanie. Nach einem Jahre bekam sie 5 Tage nach einem
neuerlichen Partus, als die 8 Jungen saugten, schwere Te¬
tanie. P i n e 1 e s beobachtete ebenfalls bei einer trächtigen
Katze nach Entfernung von 3 Epithelkörperchen schwerste,
rasch zum Tode führende Tetanie, während 3 andere derart
operierte nicht trächtige Katzen weiterlebten.
Auch die Versuche von Lange, der noch nicht zwischen
Thyreoidea und Epithelkörperchen unterschied und unter
anderem fand, dass trächtige Katzen grössere Mengen von
Thyreoideasubstanz benötigen als nicht trächtige, deutet
P i n e 1 e s zu gunsten seiner Annahme, ebenso die oben zitierte
klinische Beobachtung M e i n e r t s. In der Tat hat dieser Fall
grosse Aehnlichkeit mit dem V a s s a 1 e sehen Experimente,
auch der Fall Dienst gewinnt, von diesem Gesichtspunkte aus
betrachtet, erhöhtes Interesse.
In unserem Falle von Tetaniekrämpfen nach Curettage des
Uterus wurde eine Verkleinerung der Schilddrüse, besonders
der Seitenlappen, beobachtet, es war nur ein median gelegener
Strumaknoten nachweisbar. Ob eine Hypoplasie der Epithel¬
körperchen vorliegt, entzieht sich klinisch natürlich jeder Ver¬
mutung, zur Aufklärung dieser Frage könnte nur sorgfältig
untersuchtes Sektionsmaterial herangezogen werden. Ins¬
besondere aber wird es notwendig sein, durch weitere experi¬
mentelle Untersuchungen an Tieren die vorhandenen Befunde
nachzuprüfen und zu ergänzen, um Licht in die noch dunklen
Beziehungen zwischen den Maternitätsvorgängen und der
Tetanie zu bringen.
Nachtrag.
Kürzlich wurde von T h a 1 e r * *) über Versuche an Ratten
berichtet, die er gemeinsam mit A d 1 e r‘ ausgeführt hat; die¬
selben bestätigen die Ansicht, dass die Graviditätstetanie auf
eine Insuffizienz der Epithelkörperchen zurückzuführen ist.
Trächtige Tiere erkrankten nach teilweiser Zerstörung der¬
selben an schwerster Tetanie, nicht trächtige Tiere bekamen
keine oder nur vorübergehende Tetanie, als dieselben Tiere
gravid wurden, trat stets typische Tetanie ein. Dieselbe be¬
gann gewöhnlich im letzten Drittel der Schwangerschaft und
erreichte mit dem Partus ihr Ende. Frommer *) beobachtete
bei einer trächtigen Hündin nach Entfernung von drei Epithel¬
körperchen postoperativ leichte tetanische Symptome, die wäh¬
rend des Werfens von ausgesprochenem Charakter waren.
Ich habe im März 1. J. bei zwei trächtigen Katzen auf der
einen Seite das äussere, auf der anderen das äussere und
innere Epithelkörperchen entfernt. Die eine Katze war nach
der Operation (26. März) normal bis zum 20. April, zu der Zeit
traten Muskelzuckungen im Fazialisgebiet auf, am 2. Mai
warf sie 3 Junge, zeigte aber an diesem und den folgenden
Tagen keine deutlicheren Symptome, am 11. Mai wurde das
Tier getötet. Das zweite Tier warf 6 Tage nach der Operation
zwei Junge, es blieb stets normal. Dasselbe steht noch in
Beobachtung, ist jetzt wieder gravid, ohne bisher krankhafte
Symptome zu zeigen.
Literatur:
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und Wochenbett. Leipzig u. Wien, F. Deuticke 1903. — Ferenczi:
Durch das Stillen hervorgerufene Tetanie. Bud. kir. Orv. Ref.
Zentral!)!, f. Gynäkol. 190-4, p. 1370. — v. Frankl-Hochwart:
Die Tetanie. In Spez. Pathol. und Ther. von Nothnagel.
XI. Bd., II. Teil, 4. Abt., 1897. — Griziotti: Beitrag zur Kasu¬
istik der Tetanie in der Schwangerschaft. Arch. di ost. e gin. 1904.
Ref. Zentralbl. f. Gynäkol. 1905, H. 32. — Grünewald: Die idio¬
pathischen Muskelkrämpfe. Diss. Berlin 1873. — .1. Hoff mann:
Zur Lehre von der Tetanie. D. Arch. f. klin. Med. 1888, 43. Bd.
— v. Jak sch: Klinische Beiträge zur Kenntnis von der Tetanie.
Zeitschr. f. klin. Med., Suppl. zum XVII. Bd., 1890. — A. Kohn: Die
Epithelkörperchen. Ergehn, der Anat. u. Entw. IX. Bd., 1899. —
Lange: Die Beziehungen der Schilddrüse zur Schwangerschaft.
Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gynäkol., XL. Bd., 1899. — Meine rt:
Tetanie in der Schwangerschaft. Arch. f. Gynäkol., XXX. Bd., H. 3.
Idem. Fall von Tetanie in der Schwangerschaft nach Kropfoperation.
Ibid., Bd. LV, 1893. — Neumann: Zwei Fälle von Tetania gravi¬
darum. Arch. t. Gynäkol., 48. Bd., 1895. — Pineies: Mitteil. a. d.
Grenzgeb. d. Med. u. Chir. Bd. 14, 1905 und Zur Pathogenese der
Tetanie. D. Arch. f. klin. Med., 85. Bd., 1906. — Schmidlechner:
Fall von Tetania gravidarum. Zentralbl. f. Gynäkol. 1905, No. 4. —
Schlesinger: Ueber einige Symptome der Tetanie. Zeitschr. f.
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Hopk. hosp. bull. Nol. VI, p. 85. Frommeis Jahresb. 1895, p. 552 u.
556. — Trousseau: Med. Klinik des Hotel Dieu in Paris. Uebers.
von Culmann. II. Bd. XLII., Tetanie. — V a s s a 1 e und Generali:
Tetanie provoquee par l’allaitement chez une chienne partiellement
parathyreoidectomitee. Arch. ital. de Biol. 1893, Bd. 30. — Voelker:
Tetanie in der Schwangerschaft. Monatschr. f. Geburtsh. u. Gynäkol.,
XIX. Bd., H. 1.
Aus der Universitäts-Frauenklinik zu Leipzig (Direktor:
Geh. Rat Prof. Dr. Z w e i f e 1).
Ueber die Prophylaxe der Blennorrhoe der
Neugeborenen.*)
Von Dr. .1. T h i e s, Assistenzarzt der Klinik.
Seitdem die Silberpräparate als Spezifika gegen die
Blennorrhoe der Neugeborenen angewandt werden, ist die
prophylaktische Behandlung mit Silber in allen möglichen
*) Diskussion zum Vortrage Dr. Erdheims: „Ueber Tetania
parathyreopriva“ in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. Ref.
in der Wiener klin. Wochenschr. 1906, H. 23 — 26.
*) Vortrag, gehalten in der Medizinischen Gesellschaft zu Leipzig
am 26. Juni 1906.
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1621
chemischen Verbindungen und Konzentrationsgraden in ver¬
schiedenen Kliniken ausgeübt worden. In der Julisitzung 1900
der hiesigen geburtshilflichen Gesellschaft ist diese Frage ein¬
gehend nach einem Vortrag von Herrn Geheimrat Zweifel1)
erörtert worden. Von allen untersuchten Präparaten hatte
sich das Silberazetat als das bei weitem brauchbarste erwiesen.
Vom 16. April 1896 bis zum 30. Juli 1900 wurden 5222 Kinder
der prophylaktischen Behandlung mit diesem Präparat unter¬
zogen; von denen 12 = 0,23 Proz. an Ophthalmoblennorrhoe
erkrankten. Der Erfolg mit Argentum nitricum, 2 proz., das
bis dahin angewandt war, war nicht so gut, bei dieser Methode
waren durchschnittlich 0,62 Proz. Blennorrhöen vorhanden.
Als wesentlichen Vorteil betrachtete der Vortr. dass beim Ver¬
dunsten der* Flüssigkeit das überschüssige Salz ausfällt, so dass
nie konzentriertere Lösungen als 1,2 proz. entstehen, und auch
nicht zur Verwendung kommen können, ferner, dass durch
Filtration das ausgefällte Argentum aceticum entfernt werden
und die Lösung wieder brauchbar gemacht werden kann. Die
Häufigkeit der Reizerscheinungen, des Cramer sehen Silber¬
katarrhs, wurden durch Nachspülungen mit ganz dünner, bis
0,6 proz. Kochsalzlösung wesentlich vermindert, während sich
die Wirksamkeit des Silbers in keiner Weise verändert erwies,
d. h. die Zahl der Blennorrhöen war dieselbe, wie vor der Zeit,
in der die Nachspülungen mit dünnen Kochsalzlösungen in der
Klinik noch nicht eingeführt waren. Die Einführung des Ar-
gentumazetats in die Hebammenpraxis wurde in besonderen
Fällen empfohlen. Seit dieser Zeit ist manches für und wider
die Einführung dieses Präparates eingewandt worden..
Scipiades2) und Bischoff3) empfahlen das Argen¬
tum. aceticum. Ersterer glaubte freilich mehr Reizerschei¬
nungen bei nachfolgender Neutralisation beobachtet zu haben.
Letzterer fand bei Silbernitrat einen sehr hohen Prozentsatz,
wenn auch nur geringfügiger Reizerscheinungen, nämlich
80 Proz., beim Argentum aceticum dagegen wesentlich weniger.
Leopold4) dagegen ist der Ansicht, dass die Argentum-
Azetateinträufelungen komplizierter seien, und die Reizerschei¬
nungen bei nachfolgender Kochsalzeinträufelung häufiger be¬
obachtet würden. Ebenso hält D a u b e r 5) das Argentum
nitricum für das bessere Mittel, da er nach Argentum aceticum
in 15 Proz. Argentumkatarrh fand. Andere führen die Reiz¬
erscheinungen auf falsche Bereitung der Lösungen zurück.
Der einzige Grund, nicht dem Argentum aceticum den Vor¬
rang vor dem Argentum nitricum einzuräumen, könnte —
vorausgesetzt, dass jenes Mittel die Blennorrhoe ebenso sicher
verhütet, wie das letztere — der sein, dass die Reizerschei¬
nungen bei seiner Anwendung stärker wären. Um diese Frage
zu entscheiden, wurden bei 2000 Kindern vom 1. Januar 1905
bis 30. Mai 1906 Kontrolleinträufelungen mit Argentum nitricum
vorgenommen. Es wurden die Augen gleich nach der Geburt
mit einem trockenen Läppchen — vom äusseren nach dem
inneren Augenwinkel streifend — abgewischt. Dann wurden
die Lider ein wenig umgestülpt oder auseinander gehalten, und
in das rechte Auge einige Tropfen Argentum aceticum
(1 proz.) und in das linke Argentum nitricum (2 proz.) ein¬
geträufelt. Dann folgten stets die Nachspülungen mit physio¬
logischer Kochsalzlösung. Die Technik ist so einfach, dass
sie ohne irgend welche Bedenken von der Hebamme ausgeführt
werden kann.
Von 2000 Kindern bekamen nur 5 Blennorrhöen, und zwar
trat diese Erkrankung dreimal auf beiden Augen und zweimal
nur auf dem linken Auge auf. Es bestand in 2 Fällen Friih-
infektion, nämlich am 1. und 4. Tage. Wie in diesen beiden
Fällen, so entstand auch in einem dritten Fall die Blennorrhoe
auf beiden Augen. Die beiden Infektionen des linken, also mit
Argentum nitricum eingeträufelten Auges zeigten sich am 6. und
7. Tage. Nach dem Vorschläge von Köstlin0) sollen die
U Zentralbl. f. Gyn. 1900, No. 51.
2) Volkmanns Sammlung klin. Vortr. No. 430 und 345 in
F r o m m e 1 s Jahresbericht 1902.
3) Zentralbl. f. Gyn. Bd. XXVII.
4) Archiv f. Gyn. Bd. LXVI, Heft 2.
5) Münch, med. Wochenschr. Bd. LI.
6) Arch. f. Gyn. 1896, No. 50.
primäre und sekundäre Erkrankung nicht getrennt werden.
Demnach bestand Blennorrhoe in 0,25 Proz. der Fälle. Da
aber der Entscheid darüber gefällt werden soll, welches
Silberpräparat wirksamter sei, so muss konstatiert werden,
dass fünfmal das linke mit Argentum nitricum (2 proz.) be¬
handelte Auge, also in 0,25 Proz. der Fälle erkrankte, dagegen
nur dreimal das rechte Auge, in das Argentum aceticum ein¬
geträufelt war, d. h. 0,15 Proz. Morbidität. Leopold7) hat
in der neuesten Zeit die Resultate mit 1 proz. Argentum nitri-
cum-Lösungen veröffentlicht. Er fand 0,06 Proz. Frühinfek¬
tionen und 0,17 Proz. Spätinfektionen, zusammen 0,23 Proz.
Morbidität. Demgegenüber wäre die Morbidität bei dem Ar¬
gentum aceticum eine noch etwas geringere. In keinem dieser
Fälle war eine schwere Affektion der Kornea vorhanden; also
alle diese Fälle sind als leichtere aufzufassen. Wenn es auch
nach Köstlin wahrscheinlich ist, dass die Erkrankung des
kindlichen Auges bei der Geburt in allen 5 Fällen erworben
ist, so muss man 3 dieser Fälle als auf der Grenze stehend
ansehen (K ü s t n e r, D o n a i s, L e s s e r).
Von diesen Blennorrhöen müssen die Konjunktivitiden, die
lediglich Reizerscheinungen sind, unterschieden werden. Diese
verliefen in allen Fällen harmlos und zeigten sich der Behand¬
lung viel zugänglicher. Nach einigen Tagen war auch eine
etwa vorhanden gewesene Sekretion verschwunden. Ein
Cramer scher Silberkatarrh trat in 45 Fällen auf beiden
Angen auf, ausserdem in 20 Fällen einseitig. Unter den ein¬
seitigen Katarrhen erkrankte 12 mal das linke und 8 mal das
rechte Auge, d. h. der Cramer sehe Silberkatarrh trat auf
beiden Augen ziemlich gleichmässig auf. In 2,65 Proz. zeigte
er sich auf dem mit Argentum aceticum, in 2,85 Proz. auf dem
mit Argentum nitricum behandelten Auge. In dem grössten
Teil der Fälle bestand dieser Katarrh in leichter Injektion und
Rötung der Conjunctiva tarsi oder auch bulbi, die meist nach
kürzerer Frist wieder verschwand, ohne überhaupt zu einer
erheblichen Sekretion geführt zu haben.
Von diesen Fällen sind noch jene zu sondern, in denen nach
der Einträufelung nur eine geringe Rötung und Verklebung der
Lider entstand. Es sind dies ganz geringfügige Reizer-
schemungen, die ohne jede Therapie meist schon nach 12 Stun¬
den vollkommen verschwunden waren. Diese geringfügigen
Ixjeizerscheinungen zeigten sich in 9,3 Proz. auf dem linken
und 8,9 Proz. auf dem rechten Auge, darunter in 4,5 Proz.
doppelseitig.
Es wirkt nach diesen Daten durchweg das Argentum
aceticum noch sicherer wie Argentum nitricum. Wenn auch die
Unterschiede nicht gross sind, so muss festgestellt werden,
dass das 1 proz. Argentum aceticum weniger Reizerschei¬
nungen gemacht hat, dabei aber sicher die Blennorrhoe in
vielen Fällen verhütet hat. Es befanden sich unter den 2000
Kreissenden 108 mit ausgesprochener Gonorrhöe, bei ca. 400
Kreissenden hat vor oder in der Schwangerschaft Brennen
beim Wasserlassen und eitriger Ausfluss bestanden. Wenn die
Wirkung des Argentum aceticum ebenso günstig, ja noch
günstiger ist, wie die des Argentum nitricum, so zeigt sich
jenes Präparat um so brauchbarer, weil es, wenn überhaupt
eine Einführung eines Prophylaktikums in die Praxis nament¬
lich der Hebammen wünschenswert erscheint, noch andere
Eigenschaften zeigt, die es bei der Verwendung in der Praxis
überlegen erscheinen lassen. Das ist die Eigenschaft, dass
es unter keinen Umständen konzentrierter werden kann als
1,2 proz. Das Argentum nitricum ist in Wasser leicht löslich,
und durch Verdunsten können seine Lösungen konzentrierter
werden. Eine andere für die allgemeine Verwendung gleich
ungünstige Eigenschaft ist die, dass bei Verunreinigungen und
Verdünstung Säure abgeschieden werden kann. Die etwa frei¬
werdende Salpetersäure würde aber für das kindliche Auge
ein unvergleichlich stärkerer Reiz sein, wie freiwerdende
Essigsäure. Und dass diese Säuren frei werden, zeigt der Ver¬
such. 8) Einprozentige Lösungen in kleinen offenen Stöpsel-
7) Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 18.
8) Diese Versuche wurden von Herrn Privatdozent Dr. Locke¬
mann vorgenommen.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
1022
flaschen an freier Luft aufbewahrt, zeigten in zwei I agen einen
Verdunstungsverlust von etwa 3 Proz. und damit auch eine
Zunahme der Konzentration.
Um dieser Gefahr aus dem Wege zu gehen, empfahl
Ernst,0) dass die Hebammen angewiesen werden müssten,
wenn des Gläscheninhaltes — er meint eine 10 proz. Lösung
von Argentum nitricum — verbraucht ist, den Rest zu ver¬
nichten. Wenn ein Präparat in der Hebammenpraxis einge¬
führt werden sollte, so muss es ein solches sein, dass die kind¬
liche Kornea etwaigen Verbrennungen unter keinen Umständen
ausgesetzt werden kann. S c h a 1 s c h a 10) erwähnt einen Fall,
wo statt einer 2 proz. eine 20 proz., und Roth* 11) einen
solchen, wo irrtümlich eine 10 proz. Lösung zur Verwendung
kam. Derartige unliebsame Vorkommnisse müssen unmöglich
gemacht werden. Sie würden sicher in grosser Anzahl zu be¬
fürchten sein, wenn eine Verwendung des Argentum nitricum
angeordnet würde. Dann könnte sich manchmal die beab¬
sichtigte Wohltat in das Gegenteil verkehren. Das Prophy-
laktikum muss die Aufgabe erfüllen, auch in der Hand der
Hebamme, die in der Praxis steht, in erster Linie sicher und
unschädlich zu sein, und in zweiter Linie prophylaktisch sicher
zu wirken. Das ist aber von dem Argentum nitricum nicht
vorauszusetzen, mit Sicherheit aber von dem Argentum
aceticum.
Aus der Leipziger medizinischen Universitäts-Poliklinik (Ge¬
heimrat Prof. Dr. Hoff m a n n).
Zur Aetiologie der Prurigo.
Von Dr. med. Ludwig Steiner und Dr. med. Hans V ö r n e r,
Assistenten der Poliklinik.
Unter der Bezeichnung Prurigo (Hebrae) verstehen wir
bekanntlich eine exquisit chronische Hautkrankheit, die bereits
im Kindesalter zur Entwicklung gelangt, intensiv juckt und
daher die befallenen Individuen zum beständigen Kratzen ver¬
anlasst. Ihre Veränderungen auf der Haut bestehen nur selten
in erhaltenen, gewöhnlich in zerkratzten Knötchen und den
Folgen des häufigen Kratzens. Die Affektion besitzt eine
typische Lokalisation an den Streckseiten der Extremitäten,
wobei die unteren am stärksten befallen sind.
Gegenüber diesem in seinen Symptomen wohl charakteri¬
sierten Krankheitsbilde hat man die Diagnose Prurigo auch
auf andere juckende Exantheme, die namentlich bezüglich der
scharfen Lokalisation und der Prognose abweichen, auszu¬
dehnen versucht, indessen ohne gültige Anerkennung zu er¬
reichen (Prurigo temporanea Tommasoli, Prurigo diathesique
Besnier). Dagegen ist selbst von strengen Anhängern der
H e b r a sehen Lehre gelegentlich darauf hingewiesen worden,
dass die Diagnose Prurigo nicht ohne weiteres in Fällen ab¬
zulehnen sei, in welchen das Krankheitsbild später als im
7. Lebensjahre auftritt (J a r i s c h).
Am 2-4. I. dieses Jahres kommt die 26 jährige M. H., Arbeiterin,
zur Sprechstunde mit der Angabe, sie habe seit 2 Tagen einen
Ausschlag, besonders an den Beinen, welcher sehr stark jucke. Am
Abend sei noch nichts zu sehen, am folgenden Morgen sei die Haut
an diesen Stellen schon befallen gewesen. Das Jucken habe sich
seitdem eher gesteigert, sie müsse ihre Arbeit aufgeben, da ihre
Kolleginnen nicht neben ihr bleiben wollten. Sie habe vordem nie¬
mals einen derartigen Ausschlag gehabt auch nicht im frühesten
Kindesalter, was die Mutter der Kranken auch ihrerseits bestätigen
konnte. •
Ausser Ischias und Lumbago hat die Patientin keine ernsteren
Krankheiten durchgemacht. Im übrigen ist sie leidlich genährt,
mittelgross, etwas blass, hat ein Kind von 7 Jahren, das völlig
gesund ist.
Bei Besichtigung des Ausschlages fiel sofort die Aehnlichkeit
mit einer Prurigo auf, doch machte das plötzliche erstmalige Auf¬
treten in dem Alter der Patientin stutzig.
Am folgenden Tage schickte die Patientin die Mitteilung, sie
habe während der Nacht heftige Schmerzen, besonders in der rechten
Bauchseite bekommen und könne nicht aufstehen. Als daraufhin
die Kranke in ihrer Wohnung aufgesucht wurde, teilte diese zu¬
nächst mit, dass sie schon mit Beginn des Exanthems eine gewisse
B) Zentralbl. f. Gyn. Bd. XXVIII.
10) Wochenschr. f. Ther. und Hygiene des Auges, 14. Januar.
11 ) Ophthalm. Klinik, Nov. 1903.
Empfindlichkeit oberhalb des Leistenbandes gespürt habender Sache
aber keine grosse Bedeutung beigemessen und darum dieselbe bei
der gestrigen Konsultation nicht erwähnt habe. Weiterhin gibt die
Patientin an. seit 5 Tagen keinen Stuhl gehabt zu haben.
Die Messung der Temperatur erzielt zunächst 38° C. Das Ab¬
domen ist etwas stärker gewölbt als normal, die Palpation muss sehr
schonend ausgeführt werden. Das Colon ascendens besonders das
Cöcum und auch dessen Umgebung fühlen sich hart an und ist
ausserordentlich druckempfindlich. Die linke Bauchseite tritt etwas
mehr als die rechte hervor. Eine stärkere Dämpfung ist nicht vor¬
handen.
Das Exanthem hat seinen Sitz an den Streckseiten der Arme und
Beine. Am intensivsten ist die Vorderfläche der Unterschenkel be¬
fallen, dann die der Oberschenkel, während die Kniekehle ganz frei
ist. An den Armen sitzt dasselbe hauptsächlich in der Ellenbogen¬
gegend, während die Ellenbeuge wiederum frei ist, ebenso der übrige
Körper. Es besteht in der Hauptsache aus Kratzeffekten; aus Steck¬
nadel- bis hanfkorngrossen frischen, noch blutenden aber mit dünnen
Borken bedeckten Stellen.
Die Kranke erhält Abführmittel, warme Kataplasmen aufs Ab¬
domen und Schwefelsalbe für das Exanthem.
Der Stuhlgang stellte sich sehr bald wieder ein, aber die Darm¬
erscheinungen hielten eine Woche ziemlich unvermindert an, dann
trat Besserung ein und am Ende der zweiten Woche liess die Druck¬
empfindlichkeit nach und die Darmpartien nahmen ihre ursprüngliche
Konsistenz wieder an. Währenddem nahm die Hautaffektion an
Heftigkeit gleichfalls etwas ab, aber sie hörte nie vollständig auf. Es
traten neue Eruptionen nur in etwas geringerer Zahl auf. Die Kranke
stellte sich, nachdem sie das Bett verlassen hatte, alle 8, später alle
14 Tage wieder vor.
Bei jedesmaligem Besuche konnte man feststellen, dass wiederum
neue Kratzeffekte hinzugekommen waren und zwar in der alten
Lokalisation. Nach nunmehr einem halben Jahre ist der Unterschenkel
in seiner Vorderfläche dunkel pigmentiert, ebenso diejenige des Ober¬
schenkels, wobei sich hier die Verfärbung etwas mehr in Flecke und
Striche auflöst. Dazwischen finden sich einige hellere und dunklere
Blutkrüstchen, die auch noch in der Gesässgegend zu konstatieren
sind. Am Arm ist die Gegend um den Ellbogen und die Ulnarfläche
von dunklen Pigmentierungen und wenigen frischen Kratzeffekten
besetzt.
Zuletzt stellte sich die Patientin Ende Juli vor. Es zeigten sich
wiederum neben den alten Veränderungen frische Kratzaffekte an den
früheren Stellen.
Die Kranke sagt selbst aus, dass keine Woche vergeht, ohne dass
ein Nachschub erfolgt.
Das bemerkenswerte an diesem Falle liegt darin, dass ein
Individuum, welches bis zum 26. Lebensjahr frei von Prurigo
war, in dieser Zeit infolge einer Affektion des
Kolon die erwähnte Hautkrankheit akqui¬
rierte. Die Darmaffektion war immerhin schwer aber
vorübergehend, während die Prurigo blieb und voraussichtlich
nicht wieder schwinden wird.
Zwischen Prurigo und Urtikaria besteht eine gewisse Be¬
ziehung. Die Prurigo leitet sich häufig bei Kindern mit urti-
kariellen Erscheinungen ein (Kapos i). Die Effloreszenzen
der Prurigo haben anatomisch die grösste Aehnlichkeit mit
kleinen Urtikariaquaddeln (Riehl). Die Entstehung der Urti¬
karia nimmt häufig ihren Ausgang von der Schleimhaut des
Magens oder Darmes, sei es, dass bestimmte Reize dieselbe
treffen, sei es, dass Erkrankungen derselben bestehen. Auch
vorübergehend können sie langdauernde Eruptionen erzeugen.
Auf Grund der Gleichheit der Effloreszenzen hat man bei beiden
Affektionen auch ähnliche ätiologische Verhältnisse voraus¬
gesetzt.
Man hat die Möglichkeit zu erwägen, dass eine zeitliche
Erkrankung eine dauernde Störung im Resorptionsmechanis¬
mus der Darmschleimhaut des Kolon herbeiführt, sodass nach
einer auch völlig überstandenen Erkrankung dieser Darmpartie
doch noch später beständig Nachschübe von Prurigo entstehen
können.
Dass derartige Kolonaffektionen bei Erwachsenen wie in
unserem Falle auch ohne Prurigo zu erzeugen, Vorkommen,
braucht kaum erwähnt zu werden, da nur Individuen mit Dis¬
position erkranken (cf. Urtikaria) und die meisten, so weit sie
disponieren, schon im frühen Kindesalter ihre Prurigo akqui¬
riert haben werden.
Im Anschluss möchte ich noch folgendes erwähnen;
Die Verhältnisse im Kindesalter liegen nicht so einfach
wie in diesem Falle von Prurigo bei einem Erwachsenen, wo
der interne und externe Arzt von Anfang an die Entwicklung
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1623
der Krankheit verfolgen konnte. Der praktische Arzt, welcher
einen Darmkatarrh bei einem ein- oder zweijährigen Kinde
zu behandeln hat, wird sein Interesse ausschliesslich dem oft
lebensbedrohenden Katarrhe zuwenden und auf einige Quaddeln
oder Prurigoknötchen kaum achten. Wird dann später die
Prurigo lästig und kommt das betreffende Kind zum Arzt, so
lässt im Einzelfalle ein früher überstandener Darmkatarrh
kaum einen Schluss auf die jetzt bestehende Affektion zu.
Etwas mehr würde es schon ins Gewicht fallen, wenn in
jedem Falle einer Prurigo auch ein ehedem überstandener
Darmkatarrh festgestellt werden könnte. Im Anschluss hieran
möchte ich noch kurz auf folgende Beobachtungen hinweisen.
In der hiesigen Poliklinik sehen wir wenig Fälle von
Prurigo. In dieser Zeit (seit Januar) habe ich 3 Fälle gesehen.
Die Eltern dieser Kinder teilten auf Befragen mit, dass Darm¬
katarrhe früher bestanden hätten. Etwas mehr Wert als diese
einfachen anamnestischen Angaben hat die Beobachtung bei
einem jetzt 5 jährigen Mädchen meiner Privatpraxis. Dieses
Kind litt im ersten Lebensjahre eine Zeit lang an Koliken und
Diarrhöen. Im Anschluss hieran wurde es von einer Urtikaria
befallen, die ich selbst zu beobachten und zu behandeln Ge¬
legenheit hatte. Später sah ich dann aus derselben eine
typische noch heute bestehende Prurigo sich entwickeln.
V ö r n e r.
Aus der Leipziger medizinischen Universitäts-Poliklinik (Ge¬
heimrat Prof. Dr. Hoffman n).
Ueber schmerzhafte Drüsenschwellung bei Lues.
Von Dr. Hans V ö r n e r, Assistent für die Abteilung der Haut¬
krankheiten.
Die bei der Sekundärperiode der Syphilis sich entwickelnde
allgemeine Drüsenschwellung besteht gewöhnlich aus ver-
grösserten Lymphdrüsen, die den betreffenden Individuen keine
Beschwerden verursachen, weshalb man ja von indolenter
Drüsenschwellung bei Lues spricht. Gelegentlich kann man
aber auch eine mehr oder weniger hervortretende Schmerz¬
haftigkeit, so namentlich an den Leistendrüsen bemerken. Ein
gleiches Verhalten der Drüsen an anderen Regionen ist viel
seltener, z. B. submandibular und submaxillar. Als Ursache
dieser empfindlichen Schwellung der sonst indolenten luetischen
Drüsen können mitunter Sekundärinfektionen eine Rolle spielen,
wie sie auch in seltenen Fällen die Vereiterung derselben ver¬
anlassen. Eingehender hat über diese Verhältnisse in letzter
Zeit Berg h *) berichtet.
Einen eigenartigen Fall einer schmerzhaft geschwollenen,
umschriebenen Drüsenpartie konnte ich vor einiger Zeit be¬
obachten.
Der betr. Patient kam zunächst auf die Nervenabteilung des
Institutes (Dr. Conzen, Assistent), weil er neben Schmerzen in der
Klavikulargegend über Kraftlosigkeit der Hand, namentlich beim Zu¬
fassen, und über Parästhesien, die hauptsächlich das rechte Medianus¬
gebiet betrafen, klagte. Der Kranke hatte vor einem Jahre ein Ulcus
durum am Genitale gehabt. Einem nachfolgenden Ausschlag mass er
keine Bedeutung bei und machte auch keine allgemeine Kur durch.
Bei der körperlichen Besichtigung des Kranken fanden sich manifeste
Zeichen von Lues, ein deutliches Leukoderma colli, eine umschriebene
Angina mit spezifischen Plaques und eine allgemeine Drüsenschwel¬
lung. Als besonderer Befund ergab sich ein Tumor, welcher hinter
der rechten Klavikel sass. Bei der Palpation hatte er dicht über
und hinter der Klavikel einen Durchmesser von ca. 6 — 7 cm, war von
derber Konsistenz. Der Tumor war nicht zu verschieben, nach oben
zu rundlich, verlor er sich unter die Klavikel nach abwärts, war
sowohl spontan als bei der Berührung empfindlich.
Auf antiluetische Kur ging der Tumor sehr bald zurück und an
seiner Stelle Hessen sich sehr bald die anfänglich noch stark ver-
grösserten, nun beweglichen Supraklavikularlymphdriisen palpieren.
Die durch den Druck des Tumors auf den Nerven verursachten oben
erwähnten Symptome gingen zurück und schwanden schliesslich
ganz.
Fälle, wo bei sekundärer Lues in verschiedenen Regionen
empfindliche Schwellung von Lymphdrüsen vorkommt, sind
offenbar sehr selten, weshalb ich folgende Beobachtung aus
der Poliklinik mitteilen will.
U Bergh: Ueber das Verhältnis des Lymphgefässystems bei
syphilitischer Infektion bei Weibern. Monatsh. 1905.
Der betr. Patient hatte vor einem halben Jahre nach einem
typischen Primäraffekt Roseola und Condylomata lata ad anum ak¬
quiriert. Eine mehrwöchige Schmierkur hatte die Symptome be¬
seitigt. Nachdem er eine Zeitlang symptomfrei geblieben war, suchte
er, von neuem erkrankt, die Poliklinik auf. Er hatte vor allem über
eine sowohl spontan wie auf Berührung schmerzhafte Schwellung der
Lymphdrüsen zu klagen.
Während die Hautoberfläche frei von spezifischen Verände¬
rungen war, fänden sich am Nacken die Zervikaldrüsen (besonders
linkerseits) ganz erheblich geschwollen. Es bestand hier eine halb¬
kugelige Vorwölbung fast von der Grösse einer halben Walnuss.
Auch an den seitlichen Halspartien sind die Drüsen als Pakete direkt
sichtbar, namentlich links befindet sich ein fast apfelgrosses Paket.
Die Drüsen vor und hinter dem Ohr sind wohl zu fühlen, aber bis
auf eine dem rechten Processus mastoideus aufsitzende mandelgrosse
nicht sonderlich geschwollen. Sonst ist noch die Submaxillardrüse
rechts fast walnussgross. Die Drüsen in der Achselhöhle sind nur
zu fühlen. Die Inguinalgegenden sind durch die Drüsen stark vor¬
gewölbt. Im übrigen ist vor allem noch die rechte Kubitaldriise
ganz bedeutend vergrössert, so dass auch hier die Haut deutlich halb¬
kugelig vorgewölbt wird. Während die stark geschwollenen Drüsen
ausserordentlich empfindlich waren, war dies bei den nicht sonder¬
lich geschwollenen kaum der Fall.
Von sonstigen Symptomen war nur eine spezifische Angina zu
bemerken. Auf allgemeine und lokale antiluetische Behandlung
schwand Empfindlichkeit und Schwellung der Drüsen.
Nach N e u m a n n kommt es bisweilen zur Entzündung der
Drüsen bei Luetikern mit gewissen, das allgemeine Befinden
stark beeinflussenden Affektionen, z. B. Potatorium, Skrofu¬
löse und Tuberkulose. Diese und ähnliche Momente konnten
im vorliegenden Falle nicht nachgewiesen werden. Auch lag
eine Entzündung der Drüsen in gewöhnlichem Sinne nicht vor,
da ausser der Empfindlichkeit, andere Symptome fehlten. Eine
spezielle mikroskopische Untersuchung anzustellen, war nicht
angängig, da der Patient Eingriffe irgendwelcher Art nicht
gestattete.
Diese Fälle von schmerzhafter Drüsenschwellung bei
Lues haben eine gewisse Aehnlichkeit mit solchen, bei denen
die Mamma befallen ist. Auch die luetische Mastitis ist im all¬
gemeinen indolent und gilt dieses Symptom differentialdia¬
gnostisch (Albert und v. Z e i s s l).2)
Im Juli vorigen Jahres infizierte sich ein Patient mit Lues, im
August hatte er Primäraffekt, im September Exanthem, im Dezember
Rezidiv, im Februar dieses Jahres Schleimhautplaques, im Juni
klagte er plötzlich über Schmerzen in der linken Brust. Der Warzen¬
hof und die Umgebung desselben war prominent. Die Oberfläche
war soweit unverändert, die Berührung sehr schmerzhaft. Man
fühlte einen zirka 6 cm im Durchmesser betragenden, derben, mit
der Warze verbundenen Tumor von rundlicher Begrenzung. Externe
und interne energische antiluetische Behandlung behoben in wenigen
Tagen die Schmerzen und nach 6 Wocheh war der Tumor ge¬
schwunden.
Einen ähnlichen Fall ebenfalls bei einem Manne hat
Rouanet3) beachtet. Bezüglich der Brustdrüse hat viel¬
leicht bei luetischer Erkrankung derselben der Mann eine
gewisse Disposition zur Schmerzhaftigkeit.
Nach meinen Beobachtungen beruht in diesen Fällen die
Ursache der ungewöhnlichen Schmerzhaftigkeit darin, dass
sich hier die Schwellung der Drüsen beziehentlich der Mamma
zu einem erheblicheren Grade in ausserordentlich rapider
Weise entwickelte.
Ein Fall von Oesophagusstriktur geheilt durch
Fibrolysin.
Von Dr. Weisseiberg in Alterode.
Der Maurer Fr. M. aus A., geb. 8. Oktober 1884, hatte das Un¬
glück, sich am 21. April 1904 eine schwere Verbrennung der Speise¬
röhre durch Natronlauge zuzuziehen. Derselbe hatte sich im Gasthof
eine Flasche Selterswasser bestellt und anstatt des verlangten Selters¬
wassers „Heureka“, eine in hiesiger Gegend vielfach zur Reinigung
der Bierapparate verwendete scharfe Natronlauge erhalten. Ob¬
wohl er nur einen kleinen Schluck davon direkt aus der Flasche ge¬
trunken hatte, waren Lippen, Zunge und die Speiseröhre an mehreren
Stellen verbrannt. Es blieben sehr starre Narben in der Speiseröhre
zurück, die den Durchtritt jeder konsistenteren Nahrung verhinderten.
Am 13. Juni 1904 wurde mit der Sondenbehandlung der Strikturen be-
2) Lehrbücher.
3) Rouanet: De la mastite syphilitique diffuse chez l’homme.
Mercredi medic., Paris 1895, VI, p. 73 — 75.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
gönnen und dann mit seltenen Ausnahmen fast täglich versucht, viel¬
fach freilich erfolglos. Die Sondenbehandlung wurde ununterbrochen
fortgesetzt bis zum 5. September 1905, wo nebenbei mit subkutanen
Einspritzungen von Thiosinamin (Thiosinam. 9,0 Alcoh. absol. 9,0 Aqu.
dest. ad 60) zu 1 ccm angefangen wurde, jedoch auch ohne sichtbaren
Erfolg. Nach 20 Einspritzungen wurde nun mit dem mir von der
Firma Merck in Darmstadt giitigst zur Verfügung gestellten Fibro-
lysin begonnen und zwar wurde in Zwischenräumen von 2 bis 3
Tagen der Inhalt eines Fläschchens, 2,3 ccm unter die Rückenhaut
injiziert. Nach denselben trat zunächst eine Erweiterung der beiden
oberen Narben in der Speiseröhre (23 und 27 cm von der unteren
Zahnreihe entfernt) ein, so dass schliesslich sich die stärksten Sonden
leicht hindurchführen Hessen. Durch die Kardia jedoch Hess sich nicht
einmal die feinste Sonde einführen. Die Speisen, die durch die beiden
oberen Strikturen bis zum Ostium oesophageum glatt hindurch¬
geglitten waren, blieben am Magenmunde sitzen und wurden nach
einiger Zeit wieder erbrochen. Patient konnte öfters nichts ge¬
messen, mitunter, brachte er 8 Tage lang kaum einen Schluck Wasser
hinunter und war körperlich so heruntergekommen, dass er sich zu
Zeiten nur mit Mühe und Not aufrecht erhielt. Er schlich nur noch
einher, wie ein vollständig gebrochener Mensch. Nach 39 Ein¬
spritzungen liess sich zum ersten Mal die feinste Sonde durch die
Kardia einführen und von nun an trat rapide Besserung in dem Be¬
finden des so bedauernswerten Patienten ein. Vom 16. Februar 1906
ab, dem Tage nach der 39. Einspritzung blieb das Erbrechen von
Speisen ganz fort. Das Körpergewicht, welches bis auf 42V2 Kilo
heruntergegangen war, nahm nun schnell zu und erreichte am
14. III. 06 — 55 Kilo — am 30. III. — 59V2 Kilo. Patient kann alles
essen, ohne irgend welche Beschwerden.
Seit dem 1. April ist derselbe bei mir als Kutscher in Dienst und
verrichtet als solcher alle Arbeiten. Er sieht sehr wohl aus und hat
seine frühere Lebenslust wiedererlangt.
Das Körpergewicht schwankt zwischen 59 und 60 Kilo. Im
ganzen wurden 50 Einspritzungen gemacht, die nur geringen, schnell
vorübergehenden Schmerz an der Einstichstelle hervorriefen. Abs¬
zesse wurden nur 2 von ganz geringer Grösse beobachtet.
Ich glaube deshalb berechtigt zu sein, bei durch Aetzungen im
Oesophagus hervorgerufenen Strikturen die Anwendung des Fibro-
lysin aufs wärmste zu empfehlen.
Alterode, 18. Juni 1906. Dr. We iss eiberg.
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Aerzte und Arbeiterversicherungsreform.
Von Dr. Max Goetz in Leipzig-Plagwitz.
In einem in Nr. 25 dieser Wochenschrift abgedruckten Vortrage
übt Herr Dr. B e r g e a t Kritik an den Pfeiffer sehen, für den
Aerztetag in Halle bestimmten Thesen, eine Kritik, der wohl von allen
den Aerzten beigestimmt werden kann, die sich darüber klar sind,
dass die Reform der Arbeiterversicherungsgesetze im Wesentlichen
eine Geldfrage ist. Sozialistische oder sozialhygienische Zu¬
kunftspläne zu machen ist billig, die Arbeiterfürsorge aber weiter
auszudehnen, ist teuer, kostet Geld und nochmals Geld und zu ent¬
scheiden, ob die dafür nötigen Unsummen aufgebracht werden
können, ist nicht Sache des ärztlichen Standes, wenn es auch selbst¬
verständlich jedem einzelnen Arzte unbenommen ist, der Welt die
schönsten Zukunftspläne zu verkünden.
Auch was Herr Dr. Bergeat über die — durch eine lange
Wartezeit verbarrikadierte — freie Arztwahl in München sagt, kann
nur gebilligt werden. Dagegen möchte Unterzeichneter, trotzdem
dass er Mitglied des Vorstandes des Leipziger Verbandes ist, Wider¬
spruch dagegen erheben, wenn Herr Dr. B. meint, dass eine
gesetzliche Festlegung der freien Arztwahl nicht erstrebens¬
wert sei. Er hält den jetzigen Zustand, wo jedesmal die freie Arzt¬
wahl (über den Begriff dürfte Uebereinstimmung bestehen) durch
einen mehr oder weniger heissen Kampf erstritten werden muss, für
besser, als eine Lage, wo über das Prinzip, dass jeder Arzt, wenn
er will und sich den vereinbarten Bedingungen fügt, zur Praxis bei
den Versicherungsorganisationen, insbesondere bei den Kranken¬
kassen, Zugang hat, nicht mehr gekämpft zu werden braucht. Er
führt zur Verteidigung dieser Ansicht den — ich kann nicht anders
sagen — alten Ladenhüter ins Feld, dass es eine unzulässige Be¬
schränkung der persönlichen Freiheit des einzelnen Arztes sei, wenn
er nicht direkt mit den Kassen- etc. Vorständen verhandeln könne.
Herr Dr. B. vergisst dabei leider nur, dass diese persönliche
Freiheit keinen Wert hat, wenn die Kräfteverteilung zwischen Kassen¬
vorstand und Arzt ungefähr der zwischen Ente und Regen¬
wurm entspricht; er vergisst, dass der Leipziger Verband ja
gerade der Erkenntnis, dass der einzelne Arzt gegenüber grossen,
noch dazu vom Staate geschaffenen, Verbänden machtlos ist, seine
Gründung verdankt und er vergisst endlich, dass der Leipziger Ver¬
band doch nicht gegründet worden ist, nur um ein Instrument für
glänzende Kämpfe zu schaffen, sondern dass er eben der Not der
Zeit seine ganz naturgemässe Entstehung und seine Erfolge verdankt.
Ist seine Aufgabe einmal erfüllt, so könnte er unter Umständen getrost
wieder verschwinden; seine Aufgabe wird aber durchaus nicht er¬
füllt sein, wenn die widerwärtigen Kämpfe mit den Krankenkassen
einstens nicht mehr nötig sein sollten. Dann wird die Fürsorge für
das wirtschaftliche Wohl seiner Mitglieder nur andere Formen an¬
nehmen (Invaliden- und Reliktenfiirsorge, Versicherung gegen Un¬
fälle und Haftpflicht, Gründung von Rekonvaleszentenheimen etc.),
ähnlich wie ein geschickter Kaufmann, wenn er sieht, dass der von
ihm bisher betriebene Geschäftszweig nicht mehr recht blüht, es
versteht, seinen Betrieb auf andere, gewinnbringendere Betriebe über¬
zuleiten.
Also, über das Ziel, den Staat zur Anerkennung unserer Forde¬
rungen zu veranlassen, sollte meiner Ansicht nach kein Zweifel sein
(hätte Herr Dr. B. recht, so wäre ja der jetzige Zustand, über den
wir doch immer klagen, der schönste auf der Welt!); nur das wie
möchten wir allmählich in Ueberlegung ziehen, damit wir den Ge¬
setzgebern seinerzeit nicht nur mit Wünschen, sondern mit be¬
stimmt formulierten Vorschlägen nahen können.
Das Krankenversicherungsgesetz vom Jahre 1883 schrieb ohne
weiteres freie ärztliche Behandlung als eine der obliga¬
torischen Leistungen der Krankenkassen vor; es war noch nicht von
der Befugnis der Kassenvorstände, nur bestimmte Aerzte mit
der Behandlung der Kassenmitglieder zu betrauen, die Rede; trotz¬
dem wurden von den Kassenvorständen wohl überall bestimmte
Aerzte angestellt und Kassenmitglieder und Aerzte mussten sich das,
mochten sie wollen oder nicht, dem Zwange der Verhältnisse ent¬
sprechend, gefallen lassen.
Die Novelle zum Krankenversicherungsgesetze vom Jahre 1892
bestimmte jedoch, um jeden Zweifel zu beseitigen, in § 6 a No. 6, dass
die Gemeinden (Kassenvorstände) ermächtigt seien, zu
beschliessen, dass die ärztliche Behandlung....
nur durch bestimmte Aerzte ... zu gewähren sei und
die Bezahlung der durch Inanspruchnahme anderer
Aerzte... entstandenen Kosten, von dringenden
Fällen abgesehen, abgelehnt werden könne.
Hiermit wurde der tatsächlich schon bestehende Zustand, dass
die Kassenvorstände über die Zulassung der Aerzte zur Kassen¬
praxis zu verfügen haben, auch formell bestätigt, so wie es heute
noch Rechtens ist.
Wenn die Aerzte, ehe der wirtschaftliche Verband auf dem Plane
erschien, verlangten, man solle ihnen freie Praxis bei den Kranken¬
kassen gewähren, dann wurde ihnen, wenn sie überhaupt eine Ant¬
wort erhielten, immer mehr oder weniger bedauernd erwidert, die
Krankenkassen seien doch nicht der Aerzte, sondern der Kran¬
ken wegen da. Wie beides, Vermeidung einer Schädigung der
Aerzte und Vorteil für die Kassenmitglieder zu vereinigen sei, da¬
rüber konnten weder die Herren Juristen noch die Herren Kassen¬
vorstände sich klar werden, bis der Leipziger Verband mit derber
Faust den Herren den Weg wies.
Nicht als ob die freie Arztwahl nicht früher schon bei zahl¬
reichen Kassen bestanden und sich gut bewährt hätte, aber bei den
grossen, tonangebenden, von Kommerzienräten oder sozialdemo¬
kratischen Paschas geleiteten Kassen wurde sie aus den bekannten,
angeblich so schwer wiegenden Gründen, vor dem Auftreten des
Leipziger Verbandes nicht eingeführt. Und trotz aller Erfolge des
Verbandes, sind die Verhältnisse jetzt schon befriedigend oder haben
wir Aussicht, die freie Arztwahl in absehbarer Zeit bei den meisten
oder allen Kassen eingeführt zu sehen? Ganz gewiss nicht! Herrn
Dr. B.s Neigung, das allmähliche naturgemässe Wachstum des guten
Prinzipes, teils infolge der zunehmenden Aufklärung der Kassenmit¬
glieder, teils infolge des immer wiederholten Eingreifens des wirt¬
schaftlichen Verbandes, abwarten zu wollen, dürfte ihn auf eine sehr
lange Geduldsprobe stellen. Und das Schlimmste bei der gegen¬
wärtigen Sachlage ist, dass fast alle fixierten und monopolisierten
Kassenärzte die heftigsten und gefährlichsten Gegner der freien Arzt¬
wahl sind und gar noch vom Leipziger Verbände Schutz ihrer „be¬
rechtigten“ Vorzugsstellung verlangen! Der jetzige Zustand schädigt
also die Aerzte als Stand aufs äusserste und teilt sie ausserdem noch
in zwei feindliche Lager, die monopolisierten und die nicht monopoli¬
sierten Aerzte.
Sollte aber in Zunkunft die freie Arztwahl gesetzlich eingeführt
werden, so würden alle ärztlichen Monopole ganz unbedenklich und
ohne Verletzung wirklich berechtigter Ansprüche beseitigt werden
können, weil ja dann nur der durch die Reichsverfassung und die
Gewerbefreiheit uns versprochene freie Betrieb unseres Berufes
wieder hergestellt und das Kassenpublikum ebenso wie das Privat¬
publikum über die Verteilung der Arbeit an die Aerzte zu entscheiden
haben würde. Was aber von den Aerzten einer hier einbiissen
würde, würde er an anderer Stelle wieder gewinnen. Schliesslich
aber fordere ich von jedem Arzte, dass er einsieht, dass jedem Praxis¬
monopole etwas Unanständiges, mindestens etwas Unkollegiales an¬
haftet.
Eine gesetzliche Festlegung der freien Arztwahl dürfte gar nicht
so schwierig sein. § 6 a Abs. 6 des Krankenversicherungsgesetzes
gibt, wie schon erwähnt, gegenwärtig den Kassenvorständen die
Berechtigung, nur bestimmte Aerzte zur Kassenpraxis zuzulassen.
Es wäre nun nur nötig, die Fassung des § 6 a Abs. 6 des Kranken¬
versicherungsgesetzes in der Weise zu ändern, dass gesagt würde:
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1625
Die Gemeinden (Kassenvorstände) sind ermächtigt, zu be¬
schlossen:
.... 6. dass die ärztliche Behandlung nur durch solche
Aerzte zu gewähren ist, die sich den zwischen
Kassen Verwaltung und ärztlicher Standesver¬
tretung vereinbarten Bedingungen unterwerfen.
Der allgemein gültige Zustand würde dann wieder, wie nach der
ersten Fassung des Krankenversicherungsgesetzes, der sein, dass die
Krankenkassen den Mitgliedern freie ärztliche Behandlung zu ge¬
währen hätten (nämlich durch jeden Arzt, den der Versicherte zu¬
zuziehen für gut hält); die Einschränkung des §a No. 6 würde nach,
meinem Vorschläge nicht mehr, wie gegenwärtig, den Kassen das
Recht geben, die ärztliche Behandlung bestimmten Aerzten mit
Ausschluss aller anderen zu übertragen, sondern es würde dann allen
zur Kassenpraxis bereiten Aerzten die Möglichkeit der Mitarbeit offen
stehen. Auch würde der von mir vorgeschlagene Modus durchaus
dem Vorteile der Kassen entsprechen, da die durch die Standesver¬
tretung bezw. die Vertrauensmänner der Kollegenschaft überwachten
Aerzte offenbar für die Kassen vorteilhaftere Mitarbeiter sein werden,
als die ohne sachverständige Kontrolle arbeitenden.
Nur einen Haken hat die Sache — dass es nämlich nicht in allen
Bundesstaaten eine ärztliche Standesvertretung gibt.
Da aber die Reichsregierung damit umgeht, auch den Hand¬
arbeitern in den Berufsvereinen eine Standesvertretung zu
geben (und das mit höchster Berechtigung, da nur in der in neuzeit¬
lichem Geiste umgeschaffenen Standesorganisation die jetzt das Volk
zerwühlenden Kämpfe aufhören oder gemildert werden können), so
ist wohl auch Aussicht vorhanden, dass wir, wenn wir nur so klug
sind, sie zu fordern, auch eine ärztliche Standesvertre¬
tung für ganz Deutschland bekommen werden. Diese zukünftige
deutsche Aerzteordnung brauchte nur einen oder zwei Paragraphen
zu haben, die da lauten könnten:
§ 1. In sämtlichen Bundesstaaten, die keine ärztliche Standes¬
vertretung haben, wählt die Gesamtheit der Praxis übenden appro¬
bierten Aerzte, je nach Bestimmung der betr. Landesregierung ent¬
weder für das gesamte Bundesstaatsgebiet oder für je einen mittleren
oder unteren Verwaltungsbezirk in dreijährigen Zwischenräumen
eine ärztliche Standesvertretung.
§ 2. Die Aufgaben der Standesvertretung sind: die Förderung
der öffentlichen Gesundheitspflege, der ärztlichen Wissenschaft und
Kunst und der wirtschaftlichen Angelegenheiten der Aerzte, die
Pflege des Gemeingeistes und die Aufrechterhaltung und Stärkung der
Standesehre unter den Standesgenossen, die Förderung des gedeih¬
lichen kollegialen Verhältnisses zwischen denselben und die Schlich¬
tung der unter ihnen entstehenden Streitigkeiten, endlich die Für¬
sorge für notleidende oder invalide Aerzte oder deren Hinterlassene.
Insbesondere sind die ärztlichen Standesvertretungen befugt,
gemeinschaftlich mit den Krankenkassen die Bedingungen für die von
diesen zu gewährende ärztliche Behandlung zu regeln und Streitig¬
keiten zwischen Aerzten und Krankenkassen zu schlichten. Kommt
hierbei zwischen den ärztlichen Standesvertretern und den Ver¬
tretern der Krankenkassen keine Einigung zustande, so hat auf An¬
trag eines oder beider Teile unter Vorsitz der Aufsichtsbehörde ein
schiedsgerichtliches Einigungsverfahren stattzufinden.
Um Zweifler an meiner gesetzgeberischen Befähigung zu be¬
ruhigen, bemerke ich, dass § 2 ein fast wörtlicher Abdruck des § 4
der sächsischen Aerzteordnung ist.
Vorbedingung für die Erreichung irgend welchen Erfolges ist
allerdings, dass die deutschen Aerzte über die zu erreichenden Ziele
einigermassen einig sind. Da nun so und so viele deutsche Aerzte-
tage eine deutsche Aerzteordnung verlangt haben, da nicht minder oft
die gesetzliche Festlegung der freien Arztwahl von uns gefordert
worden ist, so ist es doppelt bedauerlich, wenn sich nun wieder
Stimmen erheben, die unsere alten Forderungen ablehnen und den
jetzigen Zustand des fortwährenden Kampfes für den besten er¬
klären.
Gewiss, auch der Krieg hat seine Freuden; aber als ständige
Institution dürfen wir ihn doch nicht begrüssen; der Krieg darf als
Ziel immer nur einen vernünftigen Frieden haben, darf nicht Selbst¬
zweck sein.
Den Herren Sozialpolitikern unter den Aerzten aber, besonders
denen, die selbst Pfeiffers Thesen noch nicht für sozial genug
hielten, gebe ich auch jetzt wieder den Rat, den ärztlichen Stand
doch erst für Erfüllung der ärztlichen Forderungen und dann erst
für das Heil anderer Bevölkerungsklassen mobil zu machen. Das ist
nicht soziale Rückständigkeit, das ist eine einfache Forderung der
praktischen Vernunft.
Referate und Bücheranzeigen.
Emil Fischer: Untersuchungen über Aminosäuren, Poly¬
peptide und Proteine (1899 — 1906). Berlin. Verlag von Jul.
S p r i n g e r 1906. 770 S. Preis 16 M.
In diesem Bande hat E. Fischer die zahlreichen Ar¬
beiten zusammengefasst, durch die er und seine Schüler seit
einer Reihe von Jahren begonnen haben, Licht in das bis¬
herige Dunkel der Konstitution des Eiweissmolekiils zu bringen.
Da diese Arbeiten, die zu den Qrosstaten der Naturwissen¬
schaft gehören, bisher in verschiedenen chemischen Zeit¬
schriften zerstreut und namentlich Nichtchemikern schwer
zugänglich waren, so wird die vorliegende Zusammenfassung
von allen, die sich für Fischers Untersuchungen inter¬
essieren, sehr begrüsst werden. Die Untersuchungen berühren
auch das Gebiet der Medizin eng und kein Physiologe oder
Kliniker kann an denselben vorüber gehen. Denn wie Fischer
sagt, man darf erwarten, ,,dass das ganze, jetzt noch so dunkle
Gebiet chemisches Kulturland wird, aus dem die Biologie
einen grossen Teil der Hilfsmittel beziehen kann, deren sie
zur Lösung ihrer Aufgaben bedarf“. Für Nichtchemiker, die
in das Detail der Untersuchungen nicht einzugehen vermögen,
ist das Werk dadurch besonders wertvoll, dass Fischer
selbst ein Resümee seiner Ergebnisse gibt, indem er seinen
berühmt gewordenen Vortrag in der Deutschen chemischen
Gesellschaft vom 6. Januar 1906 als Einleitung vorausschickt.
Auf den Inhalt des Werkes braucht hier nicht eingegangen zu
werden, nachdem über die Fischer sehen Arbeiten in dieser
Wochenschrift erst vor kurzem von berufener Seite zusam¬
menfassend berichtet wurde. *) Es genügt, Interessenten auf
das Erscheinen des wahrhaft bedeutenden Buches nachdriick-
lichst aufmerksam zu machen.
Georg Pongratz, Lehrer am kgl. Zentral-Taubstummen-
institute in München: Allgemeine Statistik über die Taub¬
stummen Bayerns. Zugleich eine Studie über das Auftreten
der Taubstummheit in Bayern im 19. Jahrhundert. Mit 54 Ta¬
bellen, 9 Kurven, 3 Diagrammen und einer Karte. Max Kel¬
lerers Hof-Buchhandlung, München 1906. 143 S. Preis 6 M.
Aus dem reichhaltigen Material, welches im Aufträge des
K. Staatsministeriums des Innern für Kirchen- und Schul¬
angelegenheiten auf Grund der bei der Volkszählung am 1. De¬
zember 1900 gepflogenen allgemeinen und der 1901/02 und 1905
von den zuständigen Gemeindebehörden und Bezirksärzten
vorgenommenen besonderen Erhebungen über die Taub¬
stummen von dem Verfasser in übersichtlicher Weise mit
grosser Mühe und Fleiss bearbeitet wurde, möchte ich haupt¬
sächlich jenen Teil herausgreifen, welcher auch für den Arzt
von hervorragendem Interesse ist.
In Bayern wurde den Taubstummen schon seit langem besondere
Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die 1. Zählung derselben fand
im Jahre 1801 statt; ferner wurden 1840 und 1858 durch die Gerichts¬
ärzte Erhebungen gepflogen; die letzte in bezug auf ihre Zuverlässig¬
keit sehr zweifelhafte Zählung stammt aus dem Jahre 1871 anlässlich
der damaligen Volkszählung.
Die Volkszählung 1900 ergab für das Königreich Bayern 5494
Taubstumme; die nachträglich durch das statistische Amt gepflogenen
Erhebungen, durch welche einerseits nicht taubstumme Gehörlose,
Schwerhörige und Stumme ausgeschieden wurden, anderseits aber
auch eine Reihe von übersehenen Taubstummen hinzugekommen sind,
ermittelten als wirkliche Zahl der Taubstummen 5281.
Auf die einzelnen Kreise verteilt, finden sich in Oberbayern
weitaus die meisten Taubstummen, darnach folgt Ober- und Mittel¬
franken, während Niederbayern, Oberpfalz und Unterfranken die ge¬
ringsten Zahlen aufweisen.
Eine Vergleichung der Statistiken von 1840 und 1900 zeigt, dass
sich die Zahl der Taubstummen in diesen 60 Jahren fast verdoppelt
hat, während die Einwohnerzahl seit 1818 noch nicht die doppelte
Höhe erreicht hat. Seit 1871 hat die Zahl der Taubstummen prozen¬
tual fast in dem Masse zugenommen, wie die Gesamtbevölkerung.
Auf 100 000 Einwohner treffen 86 — 87 Taubstumme. Das nörd¬
liche Bayern zeigt eine viel grössere Verbreitung der Taubstummheit
als das südliche, jedoch ist dieselbe wohl nur auf grössere, vor dem
Jahre 1871 dort aufgetretene Epidemien von Zerebrospinalmenin-
gitis zurückzuführen.
Die Taubstummheit ist bei der Landbevölkerung viel mehr ver¬
breitet als bei der Stadtbevölkerung. Es treffen bei ersterer auf
10 000 Einwohner 10.0, bei letzterer nur 3,7 Taubstumme.
Aus der Statistik geht hervor, dass ein verhältnismässig kleiner
Prozentsatz der Taubstummen eine Ehe eingeht, nur 5,2 Proz. gegen
39 Proz. der Vollsinnigen; die Zahl der verheirateten taubstummen
Männer übersteigt diejenige der verheirateten Frauen um 38 Proz.
Der Abschnitt über die Verteilung der Geschlechter enthält
manches Beachtenswerte. Während bei der Gesamtbevölkerung
auf 1000 männliche 1039 weibliche Individuen treffen, ist das Ver-
*) Nadine Sieber: Die Untersuchungen von Prof. Emil Fi¬
scher und seiner Schüler „über die Synthese der Polypeptide“.
Diese Wochenschrift, 1906, No. 15.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
1626
luiltnis bei den Taubstummen 1000:902. Im südlichen Bayern sind
die weiblichen, in nördlichen die männlichen Taubstummen in der
Heberzahl, und es konnte von P. für beide Teile eine Grenze ge¬
zogen werden, die sich als eine von Feuchtwangen nach Cham-
rurth ziehende, etwas nach Süden ausbiegende Bogenlinie darstellt.
Bis zum 40. Lebensjahre überwiegen die männlichen, vom 45.
ab die weiblichen Taubstummen; es herrscht sonach beim männlichen
Geschlecht eine stärkere Mortalität.
Auch hinsichtlich der Fälle von erworbener und angeborener
Taubstummheit unterscheiden sich Nord- und Südbayern; in ersterem
ist die erworbene, in letzterem die angeborene Taubstummheit
häufiger vertreten. Da die angeborenen Formen nach den stati¬
stischen Untersuchungen der Ohrenärzte häufiger ansehnliche Hör-
j'este aufweisen als die erworbenen, so ist zu erwarten, dass die
laubstummen Süddeutschlands günstigere Verhältnisse fiy- den
Unterricht bieten.
Eine Zusammenstellung der am 1. Dezember 1900 in den ver¬
schiedenen Staaten Deutschlands gezählten Taubstummen bestätigt
die Tatsache, dass die Taubstummheit in gebirgigen Gegenden häu¬
figer auftritt als in den Ebenen, welche sich einer relativen Immunität
zu erfreuen haben.
Diese allgemeine Erscheinung für das gesamte Deutschland
trifft auch im speziellen für Bayern zu. Aus der am Schlüsse beige¬
gebenen Karte, in welcher übersichtlich die Verbreitung der Taub¬
stummheit im Königreiche dargestellt ist, kann man ersehen, dass
auf der schwäbisch-bayerischen Hochebene die wenigsten, in den
gebirgigen Landstrichen die meisten Taubstummen anzutreffen sind.
Ferner zeigt die Karte, dass die Behauptungen M y g i n d s und
L e m k e s zutreffend sind, dass für die Taubstummheit schlechte öko¬
nomische und ungünstige hygienische Verhältnisse wesentlich in Be¬
tracht kommen; das interessanteste Beispiel bildet hierfür Nieder¬
bayern, wo die wohlhabende Donau- und Isarebene vor dem zumeist
ärmlichen bayerischen Wald beträchtlich absticht. Ein weiterer Be-
w eis dafiii ist auch, dass 54,18 Proz. aller bayerischen Taubstummen
von Bauersleuten, 35,3 Proz. von zumeist auf dem Lande lebenden
(jewerbe- und Handeltreibenden und nur 10,52 Proz. von Eltern
anderer Stände abstammen; unter letzteren sind 3,7 Proz. von Beruf-
osen. 4,9 9 Proz. von niederen Beamten und Bediensteten und nur
1,83 Proz. von Beamten, Offizieren, Lehrern und Künstlern.
Eine grosse Rolle bei der erworbenen Taubstummheit spielen
zweifellos Epidemien, (Meningitis und Scharlach) und dürfte der
Rückgang der Taubstummenquote in fast allen Bundesstaaten mit
dem Ausbleiben der vor 1870 häufigen Epidemien von Blattern,
Schai lach und Meningitis Zusammenhängen. Solche grosse Epi¬
dermen von Meningitis cerebrospin. fanden in den Jahren 1865/66
und 1871 in Bayern statt; namentlich dieienige von 1S65J56 muss be-
SOr]deÄrAid,rlet^r gewesen sein, und zwar hauptsächlich in Ober¬
und Mittelfranken ; 1884—88 scheinen nach der Statistik besonders
in Oberbayern und Schwaben solche Epidemien geherrscht zu haben.
I ie Verschiebungen in den einzelnen Verwaltungsbezirken hinsicht-
ich solcher epidemischer Erkrankungen kann man sehr gut aus den
beigegebenen Kurven (Tafel I— IV) erkennen, da die Erhebungen
über die Normalzahl auf solche Epidemien zurückzuführen sein
durften. Die Bezirksämter Pegnitz, Bayreuth, Nürnberg, Traunstein,
Lindau, Ochsenfurt fallen hier besonders ins Auge.
Auch für den Segen des Impfzwanges bringt die Statistik einen
Beweis; wahrend in den Jahren 1818—1838 unter den Zöglingen der
Taubstummenanstalt Leipzig noch 22,2 Proz. als durch Variola er¬
taubt angeführt wurden, ist diese Krankheit als ätiologisches Moment
heute fast verschwunden.
• • d<rn, ^rzt besonders wertvoll sind auch die Erhebungen, wie
sie in Kapitel X zusammengestellt sind. 0,51 Proz. der Taubstummen
war zugleich blind, 0,44 Proz. irrsinnig und 12,5 Proz. wurden als
geistesschwach, idiotisch, kretinisch, blödsinnig und epileptisch be-
zeichnet; gegenüber der Gesamtbevölkerung ist sonach unter den
Taubstummen die Blindheit 10 mal., der Irrsinn 4% mal und die
jeistessch wache 86 mal so häufig. Die geistesschwachen männ-
lichen l aubstummen sind gegenüber den weiblichen in der Ueber-
SL^rÜaUS grö,sste Xabl an bildungsunfähigen Taubstummen
besitzt Niederbayern, dann Schwaben und die Pfalz.
7,47 Proz. der Taubstummen waren unehelich geboren,
drr TW ^apitel XU mit XV beschäftigen sich mit der Schulbildung
nüt den BorIlf?en ?a£erns’. mit dei; Versorgung in Anstalten, sowie
m t den Berufs- und Erwerbsverhältnissen; den Schluss des Buches
bilclet ein kurzer geschichtlicher Rückblick auf die Entwicklung des
bayer ischen I aubstummenbildungswesens.
H.,f Hie sorgfältige Arbeit von Lehrer Pongratz welche mit
Hilfe amtlicher Stellen durchgeführt wurde, dürfte bei dem Interesse1
welches allerorts neuerdings der Taubstummenfrage entgegen-
die^erste 'stabst!??!!1^ Th' wil,k°mmen sein, um so mehr, als sie
e. „ ®. Statistik ist, welche an einem umfangreichen Material so
schungen'ausgeföhr^wurde”06" Beriicksicll,iS“"ü der modernen For-
ÄS
brauchbare Unterlage, nicht nur für die Amtsärzte, denen die erste
Erhebung über die Taubstummen obliegt, sondern auch für die auf
diesem Gebiete arbeitenden Fachmänner.
Druck und Ausstattung des Buches sind als vorzüglich zu be¬
zeichnen. Privatdozent Dr. W a n n e r - München.
M. van Oordt: Die Handhabung des Wasserheilver¬
fahrens. Ein Leitfaden für Aerzte und Badewartung. 80 Seiten.
Preis 2.50 M. Verlag von Urban &. Schwarzenberg.
Auf Grund der reichen ihm zur Verfügung stehenden Er¬
fahrungen bespricht der Verfasser in knapper präziser Form die
Technik der gesamten Hydrotherapie. Wir finden in dem
Buch tatsächlich alles das, was das Badepersonal theoretisch
v issen und praktisch beherrschen muss, in einer auch für Laien
leicht verständlichen Sprache zusammengestellt und möchten
das van Oordt sehe Buch in erster Linie den Leitern von
physikalischen Heilanstalten und Sanatorien zur Ausbildung
ihres Badepersonals warm empfehlen.
Allgemein eingeführt, würde das van Oordt sehe Buch
eine einheitliche Ausbildung der Badewartung nach ärztlichen
Gesichtspunkten, wie sie auch vom Verein deutscher Heil¬
anstaltsbesitzer und -leiter erstrebt wird, gewährleisten, ein
Vorteil, der nicht hoch genug angeschlagen werden könnte.
Aber auch der Arzt, der in der Privatpraxis Hydrotherapie
betreibt, wird sich über die Ausführung der von ihm ver-
ordneten Prozeduren mit dem Pfleger oder der Pflegerin im
Privathaus rasch verständigen, wenn er seinem Personal den
v a n Oordt sehen Leitfaden in die Hand gibt.
Roemheld - Hornegg.
Gynaecologia Helvetica. Herausgegeben von Dr.
O. B e u 1 1 n e r - Genf. 6. Jahrg. Genf. Henry Kündig,
Verlag. Preis 5 Fr. 343 Seiten.
Der 6. Jahrgang enthält den Bericht über das Jahr 1905
und ist illustriert durch 58 Abbildungen im Text, sowie
2 Porträts der Professoren Gusserow und B r e i sk y die
erste rer von 1867-72 Direktor der Frauenklinik in Zürich’ und
letzterer von 1867—74 in Bern waren. Als Zuwachs des
fiüher schon i eichen Inhaltes ist zu erwähnen, dass die ge¬
burtshilflich-gynäkologische Gesellschaft der Westschweiz ab
Januar dieses Jahres der Gynaecologia Helvetica die Ver¬
öffentlichung ihrer Sitzungsberichte überlässt. Der kongeni¬
talen Erkrankung der Säuglinge (Pylorusstenose, Megalokolon,
Atiesie des Oesophagus und Duodenum) wurde besondere Auf-
mei ksamkeit geschenkt, sowie ferner den Beobachtungen über
„Lungentuberkulose der Schwangerschaft“, da dieselben den
Gedanken aufkommen lassen, dass ein Bruchteil der bis heute
nicht ausiottbaien Morbidität des Wochenbettes auf beginnende
tuberkulöse Erkrankung zurückzuführen sek Ferner wurde
der Anfang gemacht, auch die französische Spezialliteratur zu
berücksichtigen.
Es erhellt daraus, dass auch der 6. Jahrgang der Gynaeco-
logia Helvetica das gehalten hat, was ihre Vorgänger ver-
spiachen, und sich das Werk immer mehr zu einem schätzens¬
werten Nachsehlagebuch entwickelt.
G. Wiener- München.
UiUl •
Deutsches Archiv für klinische Medizin. Bd. 87. 3.-4. Heft.
einfgeweitere 'Beiträge?) mei"en B*,,*lmterSHC*,ungen. (Nachprüfungen;
l-M VcifaSSfr’ der seit längerer Zeit die Veränderungen des Blut-
k des .dea verschiedensten Infektions- bezw. Intoxikationspro-
7Pin-?n Stl!dr,ertJ Unter besonderer Würdigung der neutrophilen Blut-
zellen, welche der mächtigste und mobilste Repräsentant der zur Ver¬
teidigung des Organismus designierten Zellen sind, kommt in vor¬
liegender Arbeit zu folgendem Ergebnis: Es kann vorliegen:
1. Normale Leukozytenzahl (Normozytose) mit a) über die Norm
entwickeltem neutrophilen Blutbild (Hypernormozytosc), b) nor¬
malem neutiophilen Blutbild (Normo[normo]zytose) oder Isonormo-
fi ' (An?son0™m°oS?ose) Pa,hologisch verändertem neutrophilen
N_rnf‘ Vermehrte Leukozytenzahl (Hyperzytose) mit a) über die
Noiin entwickeltem neutrophilen Blutbild (Hyperhyperzytose Di-
hyperzytose), b) normalem neutrophilen Blutbild (Isohyperzytosc)
c) pathologisch verändertem neutrophilen Blutbild (Anisohyperzytose)
3. Verminderte Leukozytenzahl (Hypozytose) mit a) über die
Norm entwickeltem neutrophilen Blutbild (Hyperhypozytose), b) nor-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1627
malem neutrophilen Blutbild (Isohypozytose), c) pathologisch ver¬
ändertem neutrophilen Blutbild (Anisohypozytose).
Einzelheiten sind nachzulesen.
14) D. v. Tabora: Ueber die Beziehungen von Magensau¬
sekretion und Darmfäulnis. (Aus der med. Universitätsklinik zu
Qiessen.) . . , , .
Abgesehen von der direkten Baktcrizidie der abgesonderten
HCl muss der Magensaftsekretion ein weitgehender Einfluss auf den
Ablauf der Fäulnisvorgänge im Darm zuerkannt werden. Die in nor¬
maler Menge vorhandene Salzsäure schützt, wenn nicht absolut, so
doch bis zu einem gewissen Grade vor dem Auftreten vermehrter
Darmfäulnis, zu welcher Sub- und Anazidität im allgemeinen dis¬
poniert. Unter günstigen Umständen, wie passend zusammengesetzte
Kost etc., mag dieser Einfluss entbehrlich sein; er erlangt erst dann
ausschlaggebende Bedeutung, wenn an die gegen Fäulnis gerichteten
autochthonen Schutzkräfte des Darmes abnorm hohe Anforderungen
gestellt bezw. diese Kräfte unter ungünstige Bedingungen für die
Entfaltung voller Aktivität gesetzt werden.
15) K. Iv. Karakascheff: Neue Beiträge zum Verhalten der
Langer h ans scheu Inseln bei Diabetes mellitus und zu ihrer Ent¬
wicklung. (Aus dem pathologischen Institut der Universität Leipzig.)
Die Untersuchung 5 schwerer Diabetesfälle mit Ausgang in
Koma ergab, dass nicht die Lange r h ans sehen Inseln allein, son¬
dern das gesamte Drüsenparenchym in kausaler Beziehung zu dem
sogen. Pankreasdiabetes stehen. Von den L a n g e r h a n s sehen
Inseln unterliegt dabei nur ein Teil den gleichen Verändei ungen, dei
grösste Teil leistet der Schädigung, die auch die Erkrankung des
Driisenparenchyms bedingt, grösseren Widerstand und geht sogai
Veränderungen ein, die in Bildung neuer Acini besteht, und die die
Bedeutung ^eines vikariierenden Ersatzes des zugrunde, gehenden
Driisenparenchyms haben muss. Diese neugebildeten Acini aber ver¬
fallen wieder gleichen Veränderungen wie die zuerst geschädigten,
so dass auf diese Weise kein vollständiger Ersatz zustande kommen
kann. Die Langerhans sehen Inseln erlangen wahrscheinlich ihre
volle Bedeutung schon unter den normalen physiologischen Verhält¬
nissen, wo durch Abnützung ein stetiger Untergang von Drusenazim
erfolgt. Da die fertigen Driisenazini wahrscheinlich regenerations¬
unfähig sind, so wird der Ersatz der zugrunde gehenden von den
Langerhans sehen Inseln her bewirkt, indem sie wuchern und
sich in neue Acini umbilden. Diese Auffassung findet auch ni de i Ent¬
wicklungsgeschichte des Pankreas eine Stütze. In einem Nachtiage
von Marchand wird auch die Möglichkeit einer Umwandlung von
Driisenparenchym in Inseln zugegeben.
16) F. L o m m e 1: Ueber Polyzythämie mit Milztumor. (Aus der
med. Poliklinik zu Jena.) . , . ,
Die enorme Blutüberfüllung aller Gefässe zeigte, dass es sich
im vorliegenden Falle um eine vermehrte Bildung von Erythrozyten
und nicht etwa um einen verminderten Untergang dei selben handelte.
Die ausgedehnte Hunphoide Umwandlung des Knochenmarkes — ein
untrügliches Zeichen lebhafter Zellneubildung — war sekundär be¬
dingt durch eine hochgradige chronische Blutstauung im gesamten
Wurzelgebiete der Pfortader. Das Krankheitsbild „Polyzythämie
mit Milztumor“ kommt vielleicht öfter auf diese Weise zustande.
Die Sauerstoffkapazität des Hämoglobins war auffällig niedrig. Die
Viskosität des Blutes war ausserordentlich erhöht; trotzdem konnte
eine ausreichende Zirkulation ohne Herzhypertrophie aufrecht er¬
halten werden. Es kann also die Herzhypertrophie bei Nephritis
nicht durch die Viskositätszunahme erklärt werden.
17) B. Knapp: Ueber den Nährwert des Glyzerins. (Aus der
med. Klinik zu Tübingen.)
Das Glyzerin hat einen Nährwert, da ihm eine Sparwirkung aut
den Eiweissumsatz des gesunden Organismus zukommt; die schein¬
bare Steigerung des Eiweissumsatzes wird durch Ausschwemmung
harnfähigen N-haltigen Materials vorgetäuscht. .
18) H. Salven di: Ueber die Wirkung der photodynamischen
Substanzen auf weisse Blutkörperchen.
Die Leukozyten des Frosches, sowie die Leukozyten und
Lymphozyten der Warmblüter erleiden ebenso wie Paramäzien und
Flimmerepithel durch die photodynamischen Substanzen im Lichte
eine Schädigung. Dieselbe tritt bei den weissen Blutkörperchen
analog wie beim Flimmerepithel viel langsamer ein als bei den Para¬
mäzien. Bei Lymphozyten ist die Wirkung eine viel weitgehendere
als bei den Leukozyten.
20) R. Dax: Ueber den Ablauf der photodynamischen Erschei¬
nung bei alkalischer, neutraler und sauerer Reaktion.
Die photodynamische Erscheinung ist im wesentlichen un¬
abhängig von der Reaktion. Ihre Intensität ist insbesondere in alka¬
lischen Flüssigkeiten nicht grösser als in neutralen oder sauren, wie
es zu erwarten wäre, wenn zwischen ihr und der unter Säurebildung
einhergehenden Zersetzung der angewandten fluoreszierenden Stoffe
im Lichte ein ursächlicher Zusammenhang bestände.
20) A. Jodlbauer und H. v. Tappeiner: Ueber die Wir¬
kung des ultravioletten Lichtes auf Enzyme (Invertin). (Mit 3 Ab¬
bildungen.)
Im ultraviolettfreien Lichte ist eine Schädigung des Fermentes
in Wasserstoffatmosphäre in merkbarer Weise nicht eingetreten; bei
Sauerstoffgegenwart beträgt dieselbe jedoch 35 Proz. Bei Anwesen¬
heit des ultravioletten Lichtes wurde sie bei CL-Gegenwart wesent¬
lich erhöht; eine bedeutende Schädigung zeigte sich auch in Wasser-
Stoffatmosphäre. Eine ähnliche Schädigung des Inveitins im ultia-
violetten Lichte zeigte sich auch in CCL-Atmosphäre, sowie in bdick-
Stoff- bezw. Wasserstoffatmosphäre. Die Invertinschädigung durch
das ultraviolette Licht in Wasserstoffatmosphäre bei Zusatz von
sauerstoffabsorbierenden Mitteln (Bisulfit, Phosphor) ist in annähernd
gleicher Weise vorhanden. Bei Zusatz fluoresziei endet - tone (r.osin,
Dichloranthracendisulfonat) ist die Schädigung des Invertins duich
das Licht viel geringer als in den Versuchen ohne Zusatz. Fiieiaus
folgt: Die Wirkung des Ultraviolett bei Sauerstoffabwesenheit kann
durch Zusatz fluoreszierender Stoffe nicht beschleunigt (sensibihsiei t
werden, Ihre Anwesenheit wirkt sogar verzögernd. Dies ist ein Be¬
weis dafür, dass die Schädigung des Invertins in Wasserstoff. Stick¬
stoff und CCL nicht durch Spuren von anwesendem Sauerstoff ver¬
ursacht sein kann.
21) L. Jores: Ueber experimentelles, neurotisches Lungen-
Störungen des Gasaustausches sind von keinem Einfluss auf die
Entstehung des Lungenödems. Auch CO-> führt nicht durch direkte
Schädigung der Lungenkapillaren zu Oedem. Durch mechanische
Reizung der Schleimhaut der kleineren Bronchien und Faiadisiciung
des Lungengewebes lässt sich neuropathisches, lokalisiertes Lungen¬
ödem erzeugen. Es sind für die Lungengefässe vasomotoi ische
Fasern vorhanden, die zum Teil im Vagus verlaufen odei wenigstens
von demselben aus erregbar sind. Unter gewissen Kautelen kann man
durch Reizung des peripheren Vagusstumpfes Lungenödem erzeugen.
Für die Erklärung des. menschlichen Lungenödems ist die Tatsache,
dass neuropathisches Lungenödem möglich ist, mehr als bishei hei an¬
zuziehen. , .
22) W. Brasch: Zur Kenntnis des Schwefelstoffwechsels beim
Phthisiker. (Aus der I. med. Universitätsklinik zu München.) (Mit
2 Kurven.) . , . . ..
Die Versuche an 4 Phthisikern ergaben einen gleichmassigen
Gang der N- und S-Ausscheidung. Bei N-Ansatz stand die N- und
S-Retention fast im gleichen Verhältnis, in dem beide Elemente im
Eiweiss enthalten sind. Bei N-Gleichgewicht bestand auch S-Qleich-
gewicht, bei N-Verlust auch S-Verlust und im gleichen Verhältnis,
wie beide im Eiweiss enthalten sind. Das Stadium der Phthise übt
keinen Einfluss auf das Verhältnis N: S aus; ebenso findet bei Phthise
keine nennenswerte Demineralisation statt. Bei gleichaitigei Er¬
nährung kommt dem Harnschwefel die gleiche Bedeutung zu für den
Stoffwechsel, wie dem Harnstickstoff. Aus der Verteilung des Schwe¬
fels in neutralen und Sulfatschwefel lässt sich bei dei Phthise kein
Schluss auf abnormen Ablauf des Eiweissabbaues ziehen.
23) Besprechungen. Bamberger- Kronach.
Zeitschrift für klinische Medizin. 59. Bd. 2., 3. n. 4. Heft.
Festschrift für Bäumler.
9) G. Treupel und W. Engels: Orthoperkussion, Ortho¬
diagraphie und relative Herzdämpiung. (Aus dei med. Abteilung des
Heiliggeisthospitals in Frankfurt a. M.)
Die von den Verfassern angewendeten Untersuchungsmethoden
sind die Bestimmung der relativen Herzdämpfung mittels starkei
Perkussion mit Plessimeter und Hammer, die Orthoperkussion, d. h.
leiseste Perkussion mit P 1 e s c h scher Fingerhaltung (Perkussion
auf die distale Epiphyse der 1. oder 2. Phalanx des rechtwinklig ge¬
beugten Fingers) und die Orthodiagraphie. Die mittels starker Per¬
kussion erhaltene relative Herzdämpfung stimmt mit den durch die
Orthodiagraphie erhaltenen Grenzen in 70 Proz. innerhalb einei
Fehlerbreite von 1 cm überein, wenn die rechte Grenze mit sehr
starker Perkussion bei flacher Atmung, die linke mit weniger starker
Perkussion ebenfalls bei flacher Atmung bestimmt wird. Die absolute
Herzdämpfung mit schwacher Perkussion bestimmt, gestattet, wenn
andere Gründe für die Retraktion der Lungenränder ausgeschlossen
sind, einen Schluss auf die Vergrösserung des Tiefendurchmessers
des Herzens. Die Resultate der Orthoperkussion stimmen sehr genau
mit denen der Orthodiagraphie überein. Die Orthoperkussion über¬
trifft alle bisherigen Perkussionsmethoden an Genauigkeit, liefert auch
da, wo jene versagen, befriedigende Resultate und erlaubt auch, den
Gefässtrunkus, auch wenn er nicht abnorm erweitert ist, darzustellen.
10) P. D i e p g e n und M. Schröder: Ueber das Verhalten der
weiblichen Geschlechtsorgane bei Hysterie, Herzleiden und Chlorose.
(Aus der med. Abteilung des Heiliggeisthospitals in Frankfurt a. M.)
Die Untersuchungen der Verfasser ergaben folgendes: Bei später
hysterisch gewordenen trat die erste Periode viel häufiger verspätet
ein als bei Patientinnen mit intaktem Nervensystem, sie war ferner
sehr häufig schwach und postponierend; dieses Verhalten ist der Aus¬
druck mangelhafter körperlicher Entwicklung. Die Hysterie selbst
verändert die Stärke und das Zeitintervall der Menses nur selten, ist
aber häufig die Ursache des Dysmenorrhoe. Gleichzeitig mit der
Hysterie bestehende gynäkologische Erkrankungen sind meist nur
eine zufällige Begleiterscheinung, höchstens stellen sie das auslösende
Moment für die Hysterie dar. — Ein in der Jugend akquiriertes Vi¬
tium cordis übt auf den Eintritt der ersten Periode häufig eine retar¬
dierende Wirkung aus; bei herzleidenden Frauen bleibt die Periode in
vielen Fällen immer schwach. Auf den bestehenden Menstruations-
1628
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
typus iibt der Herzfehler meist nur einen geringen Hinfluss aus. Zir¬
kulationsstörungen wirken demnach nur indirekt durch Schwächung
des Gesamtorganismus. — Das Durchschnittsalter des ersten Ein¬
tritts der Periode ist bei später an Chlorose Erkrankten erheblich
nach oben verschoben. Die Periode ist häufig dabei von jeher
schwach und postponierend, nicht selten bestehen dysmenorrhoische
Beschwerden; lauter Zeichen einer mangelhaften körperlichen Ent¬
wicklung. Nur in seltenen Fällen wird nach dem Auftreten anderer
klinischer Symptome der Bleichsucht, die Periode in zweiter Linie
beeinflusst. Die sekundären Menstruationsstörungen stehen zum
Hämoglobingehalte durchaus nicht in einem bestimmten Verhältnis.
Die Chlorose i st demnach nicht die Ursache der Menstruations¬
anomalie.
11) H. R e i n h o 1 d - Hannover: Beiträge zur Pathogenese der
paroxysmalen Tachykardie.
Der Verfasser teilt 2 Fälle von paroxysmaler 1 achykardie
nervösen Ursprungs mit. Bei dem ersten handelte es sich um eine
chronische Leptomeningitis des Grosshirns, narbig gummöse Lepto-
meningitits der Brücke und des Rückenmai kes; die Iachykaidic wai
also bulbären Ursprungs, durch die Erkrankung der basalen Gefässe
bedingt. Bei dem 2. Falle handelte es sich um ein in der weissen
Markmasse des linken Scheitelhirns gelegenes Gliom; da das Herz
völlig intakt war, so muss der Gehirntumor als die Ursache der
tachykardischen Anfälle angesprochen werden.
12) Schiile: Zur Kasuistik der Riickenmarkstumoren. (Aus
dem evangel. Diakonissenhaus in Freiburg.)
Zu einem kurzen Referate nicht geeignet.
13) K. M o 1 1 w e i d e: Ueber einen Fall von Typhus abdominalis
mit hyperpyretischen Temperaturen. (Aus dem evangelischen Dia¬
konissenhaus in Freiburg.)
Der Verfasser beschreibt einen Typhusfall, bei dem in der
zweiten Woche 3 mal vorübergehend die Temperatur bis auf 43" C.
in der Achselhöhle anstieg. Die schlechte Prognose der exzessiven
Fiebertemperaturen wurde jedoch nicht bestätigt; nachdem ein am
Ende der dritten Woche manifest gewordenes Empyem operiert
worden war, trat völlige Genesung ein.
14) E. Roos: Zur Kenntnis des Herzblocks beim Menschen
(A d a m s - S t o k e s scher Symptomenkomplex).
Die vom Verfasser bei seinem Fall, einem 72 jährigen, mit Aus¬
nahme des Herzleidens gesunden Manne gleichzeitig aufgenommenen
Kurven des Jugularispulses und des Spitzenstosses bezw. des Karo¬
tidenpulses zeigten deutlich, dass anfangs gewöhnlich auf 2 Vorhofs¬
kontraktionen eine Kammerkontraktion traf; später traten die Kam¬
merkontraktionen völlig unabhängig von den Vorhofskontraktionen
auf, es war also völlige Dissoziation, völlige Leitungsunterbrechung
in dem Uebergangsbiindel eingetreten.
15) A. Edinger und P. Clemens: Weitere Untersuchungen
über die Bedeutung der Rhodanverbindungen im Tierkörper.
Zur Bestimmung der Rhodanverbindungen, welche, wie die
K o c h sehen Untersuchungen zeigen, auch bakterizide Wirkungen
haben, prüften die Verfasser folgende Methode: 50 — 100 ccm klar fil¬
trierten, eventuell durch Kochen von Eiweiss befreiten Harns werden
mit verdünnter Salpetersäure zwecks Verhinderung der Fällung von
sulfidähnlichen Silberverbindungen und mit 100 ccm 3 proz. AgNO?
versetzt; nach dem Absitzen des Niederschlags überzeugt man sich,
dass durch Zusatz von AgNO.t kein neuer Niederschlag entsteht; dann
wird mit einer Pumpe abfiltriert, der Niederschlag mit l proz. Sal¬
petersäure gewaschen und mit dem Filter mit etwas Wasser in ein
weithalsiges 1 Liter fassendes Glasstopfenglas gebracht, mit reinem
Natriumbikarbonat dann alkalisch gemacht (meist reichen 3 g). Man
setzt dann 3 g JK zu, um das AgCl in AgJ überzuführen und lässt
dann solang Vio Normaljodlösung zufliessen, bis die Flüssigkeit braun
bleibt, säuert nach 2 Stunden langem Stehenlassen im Dunkeln mit
10 proz. HCl vorsichtig an, und titriert mit 10o normal Thiosulphat
zurück. 1 ccm der Jodlösung entspricht 0,0009666 g CNS. Die Ver¬
suche mit zugesetzten Mengen CNSK ergaben befriedigende Resul¬
tate; Harnsäure macht keinen Fehler. Aus den Organen werden
durch mehrmaliges Auskochen mit absolutem Alkohol die Rhodan¬
verbindungen extrahiert, dann wie vorher titrimetrisch bestimmt.
Es zeigte sich als konstantes Resultat dieser Untersuchungen nur.
dass in den Speicheldrüsen Rhodanverbindungen so gut wie nicht
Vorkommen. Nach Versuchen von A. Mayer wird im Harn unter
gewöhnlichen Verhältnissen täglich ca. 0,0476 g CNS ausgeschieden.
Ausser desinfektorischen Wirkungen haben die Rhodanverbindungen
einen herabsetzenden Einfluss auf die Azidität des Harns, eine Wir¬
kung, welche bei harnsaurer Diathese schon mit Erfolg verwendet
wurde.
16) P. Clemens: Zum Stoffwechsel bei Morbus Basedow».
(Aus dem Laboratorium der med. Klinik in Freiburg.)
Der Verfasser bestimmte bei einem Basedowkranken neben dem
Körpergewicht die Menge des im Harn ausgeschiedenen Kochsalzes,
des Harnstoffs und der Phosphorsäure. Die erste Periode zeigt den
Einfluss des Wegfalls des Berufs- und Familienlebens, der Ruhe, der
besseren Ernährung und einer leichten Hydrotherapie (kühle Halb¬
bäder) nämlich, Rückgang der Harnmenge, Sinken der Harnstoff- und
Phosphatausscheidung, und eine rasche und stetige Gewichtszu¬
nahme, dann folgte eine 2. Periode unter Behandlung mit Anti-
thyreoidin Möbius, nach einer kurzen arzneifreien Zeit dann eine
3. Periode mit Rodagen, und endlich nach einer längeren Pause die
4. Periode mit der Struniektomie. Während der 2. und 3. Periode
sinkt die Harnstoffausscheidung noch weiter, ebenso die Phosphat¬
ausscheidung, steigt aber wieder an, ehe die höchste Gabe des Medi¬
kaments erreicht ist. Während der 4. Periode endlich sinkt die Harn¬
stoff- und Phosphatmenge noch mehr und erreicht normale Werte.
17) F. B 1 u m - Frankfurt a. M.: Ueber zwei Fälle von Pentosurie
nebst Untersuchungen über ihr Verhalten bei verschiedenen Er¬
nährungsformen.
Der Verfasser fand bei 2 Fällen eine nicht gärende reduzierende
Substanz im Harn, welche die Orzein-Salzsäurereaktion gab und ein
Osazon vom Schmelzpunkt 155" lieferte, also eine Pentose, wahr¬
scheinlich inaktive Arabinose war. Quantitative Bestimmungen durch
Wägung des Phlorogluzids ergaben, dass die Nahrung nahezu ohne
Einfluss auf die Ausscheidung war; auch bei Fortlassung der Kohle¬
hydrate, wie bei völliger Eiweissabstinenz war kein Sinken der Pen-
tosenmenge zu beobachten. Störungen des Allgemeinbefindens durch
die Pentosurie lagen nicht vor.
18) R. Link: Ueber das Auftreten des B a b i n s k i sehen Re¬
flexes nach Skopolamininjektionen. (Aus der med. Klinik Freiburg.)
Bei 37 von 43 Patienten war unter dem Einfluss von Injektionen
von Scopolamin. hydrobromic. der Babinskireflex auszulösen. Die
kleinste Skopolamindosis war 0,0004; bei 19 Patienten wurde 3 mal
in Zwischenräumen von 1 — iVa Stunden 0,00012 Skopolamin und
0,005 Morphium gegeben; bei 9 anderen wurde von 0,0006 bis 0,00125
Skopolamin mit 0,015 bis 0,03 Morphium in einzelnen Abschnitten ge¬
geben. Der Reflex war einmal schon 2 Minuten nach der Injektion zu
beobachten, sonst meist (4 — 1 Stunde nach der Injektion, und konnte
oft mehrere Stunden lang nach der Injektion gelöst werden. Bei den
6 Fällen, in welchen der Reflex nicht gelöst werden konnte, war die
Untersuchung durch verschiedene Momente erschwert. Morphium
allein lässt auch bei sehr grossen Dosen keinen Babinski zustande
kommen. Gleichzeitige allgemeine Reflexsteigerung findet nicht statt.
Das Auftreten des Babinski ist wahrscheinlich auf eine Ausschaltung
der Grosshirnrinde durch das Skopolamin zu beziehen und zeigt das
Vorhandensein einer Skopolaminwirkung mit Sicherheit an.
19) K. Schleip: Zur Diagnose von Knochenmarkstumoren
aus dem Blutbefunde. (Aus der med. Klinik zu Freiburg.)
Bei dem ersten Falle des Verfassers handelte es sich um eine
von einem latent gebliebenen Magenkarzinom ausgegangene aus¬
gedehnte Karzinose der Knocehn; der Blutbefund war dabei folgender:
Bedeutende Verminderung der Erythrozyten, Hämoglobingehalt nicht
entsprechend herabgesetzt; schwache Poikilozytose, zahlreiche
Megalozyten und polychromatophile Erythrozyten, zahlreiche Normo-
blasten, darunter viele Megaloblasten; Myelozyten zuletzt ziemlich
zahlreich, ferner abnorme Formen unter den Leukozyten mit chroma-
tinreichem runden oder ovalen Kern, selten mit gut erhaltenem, dann
schwach basophil sich färbendem Protoplasma ohne Granula, welche
vom Verfasser als Krebszellen angesprochen werden. Bei dem
zweiten Fall, einer Karzinose der Wirbel und des Sternums von einem
Darmkarzinom ausgehend, fanden sich nur mässige Verminderung der
Erythrozytenzahl ohne Verminderung des Hämoglobingehaltes, ge¬
ringe Polychromatophilie und basophile Körnelung der Erythrozyten,
keine Erythroblasten, Vermehrung der kleinen Lymphozyten, verein¬
zelte Myelozyten, keine abnormen Zellformen. Der dritte Fall betraf
eine universelle Sarkomatose des Skelettsystems, der Lymphdriisen
und der Leber, wahrscheinlich von einem Sarkom der Schädelknochen
ausgehend. Das Blut zeigt folgendes Verhalten: Verminderung der
Zahl der Erythrozyten, geringere Verminderung des Hämoglobin¬
gehaltes, Polychromatophilie und basophile Körnelung der Erythro¬
zyten, Megalozyten, einzelne Normoblasten, einige Myelozyten, 35 bis
54 Proz. abnorme Zellformen mit einem voluminösen, plumpen, die
ganze Zelle erfüllenden Kern, der oft in 3 — 5 Kernteile zerfallen ist,
ohne Granulierung des Protoplasmas. Die Zellen stimmten im Aus¬
sehen ganz mit den Tumorzellen überein. Das Auftreten abnormer
Zellformen ist demnach von grosser diagnostischer Bedeutung.
20) D e t e r m a n n - Freiburg: Klinische Untersuchungen der
Viskosität des menschlichen Blutes. (Aus der med. Klinik und dem
physiolog. Institut in Freiburg.)
Zu einem kurzen Referate nicht geeignet.
21) M. O 1 1 o - Freiburg: Ueber die Giftwirkung einiger Stämme
von Aspergillus fumigatus und Pcnicillium glaucum, nebst einigen Be¬
merkungen über Pellagra. (Aus dem patholog. Institut in Freiburg.)
Die Versuche des Verfassers führten zu folgenden Ergebnissen:
Alle 5 untersuchten einheimischen Stämme von Aspergillus fumigatus
erwiesen sich als ungiftig. Von 2 Stämmen derselben Art italienischer
Abkunft zeigten die AJkoholextrakte giftige Eigenschaften bei Meer¬
schweinchen, in geringerem Grade auch bei Kaninchen. Die Symptome
bestanden in Unruhe mit folgendem Zittern, Fluchtversuchen, Retro-
pulsion, heftigen klonischen und tonischen Krämpfen, häufig trat der
Tod ein. Im Winter waren die italienischen Stämme ungiftig. Die
Giftwirkung ging vom Myzel, nicht von den Sporen aus. Der Tod
nach Einverleibung von Sporen ist durch ausgedehnte Aspergillose
in den Organen, bes. in den Nieren, die dabei auftretenden Gleichge¬
wichtsstörungen sind durch Pilzwucherungen im Labyrinth zu erklären.
Die Nährflüssigkeiten, auf denen die giftigen Rasen gewachsen sind,
\4. August 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1629
sind gänzlich ungiftig. Die Keimfähigkeit der Aspergillussporen wird
auf dem Wege durch den Darm geschwächt oder ganz vernichtet.
Auch vom Daim aus kann allgemeine Aspergillose sich entwickeln,
was auch für die menschliche Pathologie von Bedeutung ist. Die
12 isolierten stammen von Pencillium glaucum zeigten eine massige
uiftwirkung, geiinger als^ jene von den italienischen Untersuchern
(C e n i) gefundene. Die Symptome bestanden in Apathie und Sopor,
Piex-x-rr.cgende,n Wirkungen gewisser italienischer Peniciiliumarten
bestätigten sich; es fanden sich aber solche bei keiner einheimischen.
Die (iiftw li kung der Penicillien ist für die Magenpathologie von
einiger Bedeutung. Da gerade die aus Pellagragegenden stammenden
Aspergillen und Penizillien besonders heftige Gifte produzieren, ist
ein Zusammenhang zwischen ihnen und der Pellagra wahrscheinlich.
22) R i s el - Leipzig: Körpergewichte und Milchdiät bei
scharlachkranken Säuglingen.
• f ^*'e Untersuchungen des Verfassers an 82 Kindern ergeben, dass
infolge der prophylaktisch gegen das Eintreten einer Nephritis ge-
gebenen Milchdiät, welche während 3 Wochen streng eingehalten,
*n deur ,W°che diirch Beigabe von Brot und Suppe, in der 5. Woche
dui cli Zulage von Gemüse und kleinen Eleischmengen abwechslungs¬
reicher gestaltet und in der 6. Woche in die gewöhnliche allgemeine
Kost ubergefuhrt wurde, in den ersten 2 Wochen ein Gewichtsverlust
eintritt; dieser wird aber in den nächsten 4 Wochen wieder iiber-
kompensiert, so dass die Kinder mit einer Gewichtszunahme die An¬
stalt verlassen. Die Grösse der Milchzufuhr schwankte individuell in
hohem Masse, so dass in den ersten 10 Tagen meistens Unter¬
ernährung bestand, in den späteren Tagen aber dann ein beträcht-
hcher Ueberschuss an Kalorien (bis 3 Liter Milch und darüber)
zugefuhrt wurde. '
F. 23) W. Hildebrandt: Studien über Urobilinurie und Ikterus,
tin Beitrag zur normalen und pathologischen Physiologie der Leber
(Aus der med. Klinik in Freiburg.)
Zu einem kurzen Referate nicht geeignet.
i „ . B ! 1 de b r a n d t und K. Thomas: Das Verhalten der
Leukozyten bei Röteln. (Aus der med. Klinik in Freiburg )
, . »*v°D den Verfassern gefundenen Veränderungen des Blutes
7vtpn Fa-6? V°", R°teln sind folgende: Die Gesamtzahl der Leuko-
z^ten^ zeigt niedrige normale oder verminderte Werte, nach dem
den 3UlTa0^ nn^7eh,°ner Werte* Das Minimum fällt auf
auf rii'p Hfi'fti nZa 1 der Neutrophilen sinkt gleichmässig, prozentual
aut die Hälfte. Die grossen und kleinen Lymphozyten und die Ueber-
gangsformen nehmen zu, absolut bis auf das Doppelte. T ü r k sehe
Reizungsformen treten bis zu 16,7 Proz. auf und erreichen ein Maxi¬
mum zwischen dem 3. und 5. Tag.
.23) br. Port: Ein Fall von nicht parasitärer Chylurie mit
Sektionsbefund. (Aus der med. Klinik in Freiburg.)
Der Fall des Verfassers betraf einen 63 jährigen Mann, der von
einem kurzen Aufenthalte in New York abgesehen, nie Europa ver¬
lassen hatte. Der Urin war milchig getrübt, gab deutlich Fettreaktion,
enthielt keine Filarien, keine Zylinder. Die Chylurie verschwand
vorübergehend plötzlich ganz. Als Todesursache ergab die Sektion
chronische Mediastinitis infolge Perforation in Oesophagus und
Tiachea, lymphangitische Tuberkulose der rechten Lunge, Karies der
111. Rippe, tuberkulöse Darmgeschwüre, eitrige Prostatitis. Durch die
verkästen Bronchialdriisen, in welche der Duct. thoracicus eingebettet
war, wurde derselbe komprimiert. Dadurch wurde eine Lymph-
Jfauang hervorgerufen welche, wie die Untersuchung zeigte, im
N..er^nbecl5en zum Uebertritt des Chylus führte. Das zeitweise
plotzhche Verschwinden der Chylurie erklärt sich durch den Nachlass
der Kompression des Duct. thoracicus, welcher durch die ver-
Siedeathcb stattgehabten Perforationen der verkästen Drüsen in
den linken Hauptbronchus und den Oesophagus veranlasst wurde.
26) Fr. Port: Beitrag zur Lehre von der Dystrophia muscularis
progressiva. (Aus der med. Klinik zu Freiburg.)
Bei dem Patienten des Verfassers, welcher an der juvenilen
Foi m der Erb sehen Muskeldystrophie über 20 Jahre gelitten hatte
und dann an einem Magenkarzinom zugrunde ging, ergab die Sektion
an den befallenen Muskeln teils Lipomatose, teils Bindegewebsver¬
mehrung starke Grossenunterschiede in den Muskelfasern, einzelne
davon sehr hypertrophisch mit abgerundetem Ouerschnitt, andere sehr
verschmälert, geringe Vermehrung der Muskelkerne; in den Gefässen
der atrophischen Muskeln ziemlich starke Wandverdickung; in dem
Rückenmark nur ziemlich starke Verminderung der Zahl der Ganglien¬
zellen in den Vorderhörnern, besonders in den medialen Partien bei
fikatimieri Be^chaffenheif der erhaltenen Ganglienzellen. Die Rare-
fika ion der Ganglienzellen ohne sonstigen Befund ist nach Striim-
pel! so zu erklären, dass eine nicht sichtbare Schädigung der
janghenzellen zu einer nutritiven Schädigung der Ausläufer des mn
tomcKe,, Neurons führt, an welche sich dann'ers, spat "d e A tr„
der Ganglienzellen anschliesst. p
27) G. Liebermeister-Köln: Ueber die Bedeutung des
Bacterium coli für die menschliche Pathologie, mit besonderer Be¬
rücksichtigung der Infektion der Harnwege und der septischen Er¬
krankungen.
Zu einem kurzen Referate nicht geeignet.
Lindemann - München.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 31.
E. Po Hak- Wien: Ueber Lumbalpunktion bei Eklampsie.
Die von T h i e s (ref. in dieser Wochenschr. No. 25, p. 1223) be¬
obachteten ungünstigen Folgen der Lumbalpunktion werden von P.
durch histologische Untersuchungen einer Serie von 10 Fällen des Zen¬
tralnervensystems von an puerperaler Eklampsie verstorbenen Wöch¬
nerinnen bestätigt. P. fand schwere Veränderungen innerhalb des
Zelleibes im Rückenmark, besonders aber auch an den Kernen der
motorischen Hirnnerven, speziell jener im zentralen Gebiete xder
Atmungsnerven. Die bald nach der Punktion auftretende Abflachung
der Atmung und deren Stillstand hält P. nicht für eine Folge der
Punktion, sondern der degenerativen Veränderungen in den beider¬
seitigen Vaguskernen.
H. P a I m -Berlin: Zur Alexander-Adams sehen Operation.
P. weist die von H. W.Freund (ref. in dieser Wochenschr. No. 22,
p. 1074) der A.-A. sehen Operation gemachten Vorwürfe zurück. Er
stiitzt sich dabei vornehmlich auf eigene Erfahrungen und Beob¬
achtungen in der Praxis von Rumpf. Die von andern beobachteten
schlechten Endresultate fallen nach P. nicht der Operation selbst,
sondern dem Operateur zur Last. Als Ursachen dieser Misserfolge
nennt P. technische Verstösse bei Ausführung der Operation, wofür
er einige Winke gibt, ferner mangelhafte Auswahl der Fälle fiir die
Operation. Fixierte Uteri und Prolapse eignen sich nicht für den
A.-A., der nur zur Heilung der mobilen Retroflexio dienen soll.
H. Rödiger-St. Johann: Ueber einen Fall von ausgetragener
intraligamentärer Schwangerschaft.
Es handelte sich um eine 36jähr., IV. Para, bei der die Diagnose
auf Extrauterinschwangerschaft gestellt worden war. Die Operation
ergab den intraligamentären Sitz des Fruchtsacks, dessen Inhalt ein
ausgetragenes Mädchen in beginnender Mazeration war. Heilungs¬
verlauf ungestört. Der Sack wurde von R. an die Bauchdecken ge¬
naht, dann eröffnet und nach Entleerung mit Jodaformgaze tamponiert.
Die Plazenta wurde am 20. Tage extrahiert; nach weiteren 3 Wochen
war alles verheilt. J a f f e - Hamburg.
Monatsschrift für Kinderheilkunde, Bd. V. No. 3. Juni
1906.
7) F. S i e g e r t - Köln: Angebliches kongenitales Myxödem bei
normaler Schilddrüse.
Beschreibung eines interessanten Falles, bei dem S. in einer
früheren Veröffentlichung auf Grund des Fehlens der Epicanthusbil-
dessen Lider sehr verdickt waren, ferner wegen der
schlaffen myxomartigen Wülste der Haut in der Umgebung der Axilla
und über den Hüften, wegen des ganz apathischen Wesens des Kin¬
des und des permanent offenen Mundes die Fehldiagnose „kongenitale
Myxidiotie gestellt hatte. Es handelte sich aber um ein Mongoloid
(für das die gegebene Abbildung 2 auch typisch ist), was aus der
Köiperüinge, einer leichten Brachycephalie und noch anderen Sym¬
ptomen, und schliesslich aus der bei der Obduktion (Tod an inter¬
kurrenter Krankheit) gefundenen völlig normalen Schilddrüse hervor¬
ging. Sehr bemei kenswert war die ausserordentliche Besserung des
Zustandes nach Einleitung der Organtherapie, die bisher bei dem
Mongoloid nie zu konstatieren war, und der Röntgenbefund der Hand,
der ebenfalls ganz gegen Mongolismus sprach.
8) Leo Loränd: Beitrag zur Kenntnis des Kephalhämatoma
externum. (Mitteilung aus der pädiatrischen Abteilung der Ofen-
Pester Poliklinik. Direktor: Prof. Dr. Julius Eröss.)
Kasuistische Arbeit, die besonderen Wert legt auf ein konserva¬
tives Verfahren, auch bei grossen Kephalhämatomen und nur im Fall
der Vereiterung oder Verjauchung die Operation empfiehlt.
9) Hauser- Berlin: Aetiologie und Infektionsmodus der Kinder¬
tuberkulose.
Sammelreferat, in dem aber eine Reihe wichtigster Arbeiten, spe¬
ziell der beiden letzten Jahre, fehlen.
Albert Uffenheimer.
Jahrbuch für Kinderheilkunde. Bd. 64, Heft 1.
1) L. T o b 1 e r - Heidelberg: Ueber Lymphozytose der Zere¬
brospinalflüssigkeit bei kongenitaler Syphilis und ihre diagnostische
Bedeutung.
Verf. stellte an 16 Fällen von Lues hereditaria zytologische
Untersuchungen der Lumbalflüssigkeit an. Dabei ergab sich in
85,7 Proz. der Fälle eine ausgesprochene Lymphozytose des Liquor
und bei 7 daraufhin untersuchten Fällen fünfmal eine Vermehrung
des Eiweissgehaltes. Demnach sind also charakteristische Ver¬
änderungen des Liquor cerebrospinalis ein häufig vorhandenes Sym¬
ptom ererbter Syphilis. Das Zeichen dürfte nach Verf., da es' als
Frühsymptom anderen manifesten Syphiliserscheinungen um Wochen
voraus ist, von nicht zu unterschätzender diagnostischer Bedeutung
sein. Verf. hofft dem Befunde durch genauere mikroskopische Unter¬
suchungen von Hirn und Rückenmark in Bälde ein anatomisches
Substrat geben zu können. Ueber die Technik sehe man die Ori¬
ginalarbeit ein.
2) Bernheim-Karrer - Zürich : Ueber zwei atypische
Myxödemfälle.
Kasuistische Mitteilung. Die interessanten Einzelheiten sind im
Original nachzulesen.
1630
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
3) F. v. Szontagh -Budapest: Beiträge zur Kenntnis der
Lungenentzündung mit intermittierendem Fieberverlaui.
Die mitgeteilten Fälle lassen einen ätiologischen Zusammen¬
hang mit einer vorangegangenen Intubation bezw. sekundären Tra¬
cheotomie trotz des geraumen Zeitintervalles nach Ansicht des Ref.
nicht ausschliessen, und charakterisieren sich so als sekundäre
suppurative Bronchopneumonien.
4) F. Spieler: Zur familiären Häufung der Scharlachnephritis.
(Aus dem Karolinen-Kinderspitale in Wien. Leiter: Doz. Knöpf el-
macher.) . . , ,
Die an dem Kindermateriale der genannten Anstalt erhobenen
Zahlenverhältnisse berechtigen, von einer familiären Häufung der
Scharlachnephritis zu sprechen, wie sie auch von anderen Autoren
(S e i t z und Tue h) beobachtet wurde. Verf. sieht in einer heredi¬
tären Nierenschwäche die ungezwungenste Erklärung für die merk¬
würdige Erscheinung der familiären Häufung postskarlatinöser
Nierenentzündungen.
5) E. J. Qi n des: Ein Beitrag zur Erläuterung diverser Fragen
aus dem Gebiete der Diphtherieserumtherapie. (Aus der Kinder¬
klinik der „Universität des Hl. Wladimir-1. Vorst.: Prof. W. E.
Tschernhoff.)
Aus der im übrigen nichts Neues bringenden Arbeit sei nur her¬
vorgehoben, dass Verf. mit Recht für möglichst frühzeitige Injektion
in genügend grosser Dosis eintritt (wogegen leider noch immer viel¬
fach gefehlt wird. Ref.).
Literaturbericht. Besprechung. 0. R o m m e 1 - München.
Archiv für Hygiene. 58. Bd. 1. Heft. 1906.
1) R. O. Neumann-Heidelberg: Die Bewertung des Kakaos
als Nahrungs- und Genussmittel.
Experimentelle Versuche am Menschen. I. Teil. Versuche über
den Einfluss der Menge, des Fettgehaltes, des Schalengehaltes des
Kakaos und der mit demselben eingeführten Nahrung auf die Resorp¬
tion und Assimilation desselben.
2) Derselbe: II. Teil. Versuche mit verschiedenen Kakao¬
handelssorten.
Die vom Verfasser an sich selbst ausgeführten Versuche be¬
zweckten, die zum Teil recht vagen Vorstellungen von dem Er-
nährungs- und Genusswert des Kakaos auf eine sicherere Grundlage
zu stellen und an der Hand dieser Ergebnisse verschiedene Handels¬
sorten miteinander zu vergleichen. Ausser den obengenannten Punk¬
ten wurde auch die Temperatur des Kakaogetränkes,
die Suspensionsfähigkeit des Pulvers und seine
Korn grosse, das Aroma, die Bekömmlichkeit und
Verdaulichkeit in Betracht gezogen. Von den Handelssorten
kamen 4 Präparate mit einem höheren Fettgehalt von 27 — 34 Proz.
und 3 Präparate von 12 — 15 Proz. Fettgehalt zur Verwendung. Die
Resorption und Assimilation des Kakaos ist abhängig von
der Menge des eingenommenen Kakaos, dem Fett¬
gehalt desselben und der mit demselben eingeführten
Nahrung. Das Eiweiss der Kakaos wird dementsprechend ver¬
schieden ausgeniitzt. Im Maximum bis zu 75 Proz. Das Fett da¬
gegen mit kleinen Unterschieden genau so gut wie anderes Nahrungs¬
fett. Vor allen Dingen stellte sich heraus, dass der stark entfettete
Kakao dem bisher üblichen Kakao von 27 — 35 Proz. Fettgehalt in
seinem Wert erheblich nachsteht. (Verwiesen sei auf das Referat in
der Münch, med. Wochenschr. No. 10, 1906). Einzelheiten der ausführ¬
lichen Arbeit sind im Original nachzulesen.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Soziale Medizin und Hygiene (vormals: Monatsschrift
für soziale Medizin). (Verlag von Leopold V o s s in Hamburg.)
I. Bd. 6. Heft.
Rechtsanwalt Fu ld-Mainz: Die Bestimmungen des Bürger¬
lichen Gesetzbuches über die unehelichen Kinder in der praktischen
Handhabung.
Salus liberorum summa lex! — Das war die Devise des Neuen
Bürgerlichen Gesetzbuches, indem es die Nachforschung der Vater¬
schaft und die Anerkennung der Rechtspflicht des unehelichen Vaters,
das von ihm erzeugte Kind zu unterhalten, dem Richter zur Pflicht
machte. Allerdings steht das B. G.-B. noch auf dem Standpunkte,
dass nicht die Lebens- und Standesverhältnisse des Vaters, sondern
diejenigen der Mutter den Massstab für den Inhalt der Unterhalts¬
pflicht abgeben. Demgegenüber, sagt F., müsse man bei Anerkennung
der heute gesteigerten Lebensanforderungen bemüht sein, die Unter¬
haltsbeträge nicht zu knapp zu bemessen, noch dazu, wenn es die
Verhältnisse des Vaters erlauben. Auch die Abgabe des Kindes in
den Haushalt des etwa verheirateten unehelichen Vaters soll mög¬
lichst hintangehalten werden, weil die Erfahrung lehrt, dass das un¬
eheliche Kind dabei meist schlecht wegkommt.
J. Waldschmidt: Die Bestrebungen zur Bekämpfung des
Alkoliolismus im Jahre 1905.
Gerade im Jahre 1905 hat der Deutsche Verein gegen den Miss¬
brauch geistiger Getränke manche Propaganda initiativisch ins Werk
gesetzt. Wir erinnern an die Verfügungen der Eisenbahndirektionen
und die Massnahmen derselben, alkoholfreie Getränke überall zu¬
gängig zu machen, ferner an die Jahresversammlung des \ ercins
gegen den Missbrauch geistiger Getränke im letzten Herbste in Mün¬
ster, an die Tagungen der Alkoholgegner in Danzig und Dresden und
an den internationalen Kongress gegen den Alkoholismus in Ofen-
Pest (September 1905); dazu kommen noch viele Zeitschriften und
Flugschriften. Die sogen. Trinkerheilanstalten, welche bis dahin
offenen Charakters waren, haben durch die Erweiterung der durch
den Berliner Bezirksverein gegen den Missbrauch geistiger Getränke
gegründeten Heilstätte „Waldfrieden“ bei Fürstenwalde a. d. Spree
eine Ausgestaltung erfahren, wie sie noch nirgends vorhanden war.
Bei allen den Fortschritten, welche die Organisationen gemacht
haben, muss man aber bemüht sein, die Frau innerhalb ihres eigenen
und hauptsächlichsten Wirkungskreises, innerhalb ihrer Familie,
hauptsächlich zu interessieren; denn die Frau vermag das Vorurteil
am ehesten zu bekämpfen, dass alkoholartige Getränke in den Lebens¬
haushalt gehörten, und sie vermag dafür zu sorgen, dass die Kinder
alkoholfrei erzogen werden und ihnen diese Gewohnheit mit auf den
Lebensweg gegeben wird.
Siegfried Rosenfeld: Zur Gewerbehygieiie in Oesterreich.
Die bisherigen Vorschriften für die Gewerbehygiene in Oester¬
reich gemäss § 74 des Gesetzes vom 8. Mai 1885 waren sehr allgemein
gehalten und Hessen den Aufsichtsorganen viel zu viel Spielraum in
der Auffassung. Daher wurde durch den Handelsminister eine neue
Verordnung unterm 23. November 1905 in zwei Teilen herausgegeben.
Die eigentliche Verordnung enthält die Verpflichtung des Gewerbe¬
inhabers zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der Hilfs¬
arbeiter, der einbekleidende, an die politischen Landesstellen er¬
richtete Erlass, welchem als Beilage „Betriebsvorschriften“ beige¬
geben wurden, hat die Betriebsführung und das Verhalten der Ar¬
beiter zu regeln. R. rügt an diesem Erlasse, dass auch hier bis¬
weilen die Mass- und Grenzbestimmungen zu allgemein gehalten sind
und dass der Arbeiter dabei zu wenig angeredet und herangezogen
wird.
Elsbeth Krukenberg - Kreuznach: Die deutschen Frauen und
die Hebanuuenfrage.
Der Hebammenberuf ist bisher recht wenig beachtet worden
und scheint namentlich immer mehr vergessen zu werden, was um
so bedenklicher auffällt, da nach Frauenberufen gesucht wird. Aber
gebildete Frauen wollen leider noch nichts damit zu tun haben, im
Gegenteil es scheint fast, als ob das Bildungsniveau der Hebammen-
schiilerinnen eher niedriger als höher würde. Das mag daher kommen,
dass bei der Freizügigkeit der Hebammen grosse Missverhältnisse
im Einkommen derselben gegeben sind und dass das Auskommen
mancher Hebamme ein so dürftiges ist, dass die Hebammenfrage leider
mehr eine pekuniäre Frage noch immer ist. Und doch wäre gerade
eine Unterstützung der tüchtigen, gebildeten Hebamme vielleicht durch
Staatszuschuss u. a. recht angebracht, um durch Hebung des He¬
bammenstandes Frauennot und Kinderelend zu mildern. Auf dem
bayerischen Frauentage (Augsburg 1905) ist die Frage der Hebammen¬
reform in leider sehr unzureichender Weise behandelt worden. Der
allgemeine deutsche Frauenverein hat sie sodann auf seiner General¬
versammlung in Halle (Herbst 1905) auf die Tagesordnung gesetzt.
Er beschloss sie weiter zu verfolgen, Material zu sammeln, Interesse
für Anbahnung von Reformen, besonders in Frauenkreisen zu wecken.
Einen gleichen Entschluss hat in seiner Apriltagung in Bielefeld der
Rheinisch-Westfälische Frauenbund gefasst.
L. Kätscher: Ein vorbildliches Mütter- und Säuglingsheim.
In Berlin-Schöneberg wurde im März 1904 ein musterhaftes
Säuglings- und Mütterheim errichtet, das als „Pflanzstätte der Mutter¬
liebe“ eine möglichst weitverbreitete Nachahmung verdient, es wurde
von Frau Fürstenberg, Fanny Steinthal und Adele Schreiber ins Leben
gerufen, es wird von Lissauer geleitet und von Heubner be¬
aufsichtigt. Und was die Hauptsache ist, dort wird jede von der
Heilsarmee oder irgend einer anderen einschlägigen Stelle in das
neue Heim geschickte, verlassene, uneheliche Wöchnerin liebevoll und
ohne Redensarten und harte Vorwürfe angenommen, und sie ver¬
bleibt drei volle Monate — Zeit genug, sich gründlich herzustellen,
das Kind durch Selbststillung und sorgfältige Pflege widerstands¬
fähig zu machen, sich und das Kind durch leichte gesunde Be¬
schäftigung in guter Luft bei tüchtiger Nahrung zu kräftigen, sich
durch Benutzung der Anstaltsbücherei und durch die von einigen
Ausschussdamen fast täglich bewirkten Vorlesestunden geistig zu
heben und durch das Erlernen des Nähens, der Putzmacherei, des
Frisierens, der Kinderpflege usw. später ein leichteres Auskommen
zu finden, zu welchem ihnen die „Arbeitsvermittlungskommission“
nach der Entlassung durch den Stellennachweis verhilft. Den Ent¬
lassenen, die ihre Kinder nicht selbst stillen können, wird bis zur
Vollendung des ersten Lebensjahres die denkbar beste Milch unent¬
geltlich geliefert. Muss eine Entlassene den Säugling, weil sie ihn
ihrer Arbeitsverhältnisse wegen nicht bei sich behalten kann, in
fremde Pflege geben, so sorgt die Leitung des Heims dafür, dass
er in eine verlässliche Familie kommt.
Max Ver s m a n n - Hamburg: Medizinalrat Dr. J. J. Rei-
necke
Kurzes Lebensbild des um die hygienische Entwicklung Ham¬
burgs wohl verdienten Leiters der Medizinalbehörde.
Dr. A. R a li n.
14. August 1 906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1631
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 31. (Fest¬
schrift der Medizinischen Fakultät in Greifswald zur Feier
des 450 jährigen Jubiläums der Universität.
1) P. Qrawitz: Geschichtlicher Ueberblick über die medi¬
zinische Fakultät.
2) Karl Peter: Ein Beitrag zur Vererbungslehre.
Siehe Ref. des Med. Vereins Greifswald, Münch, med. Wochen¬
schrift No. 32, S. 1590.
3) M. B 1 e i b t r e u: Zur Methodik der Untersuchungen der Fett¬
resorption im Darm.
Es gelang Verfasser, an der isolierten, abgebundenen Diinndarm-
schlinge der Katze nach Einbringung von emulgiertem Neutralfett
nebst Pankreas- und Gallenpräparaten das Bild der normalen Fett¬
resorption (weisse Injektion der Chylusgefässe) hervorzurufen. Er
hält daher diese Methode für sehr geeignet zum weiteren Studium der
Fettverdauung.
4) P. Grawitz: Ueber teratoide Geschwülste im Beckenbinde¬
gewebe.
Seltener Fall: Ein Ovarium in ein Kystom verwandelt, das andere
enthält eine ruhende Dermoidanlage und eine schon wuchernde papil¬
läre Adenomgeschwulst; daneben jederseits intraligamentär, anschei¬
nend aus überzähligen Eierstocksanlagen entwickelt, ein Embryom,
d. h. Teratom, aus allen drei Keimblättern gebildet.
5) Thiele und P. Grawitz: Ueber senile Atrophie der
Augenmuskeln.
Bei einer 70 jährigen Frau mit isolierter doppelseitiger Ptosis
zeigten ausser den Levatores palp. auch die übrigen Augenmuskeln
Fettmetamorphose und derselbe Befund ergab sich auch bei anderen
älteren Individuen. Verfasser glauben, dass es sich bei der Ptosis
„amyotrophica“ auch nur um rein senile Atrophie der Augenmuskeln
handelt.
6) H. Schulz: Die Arzneiprüfung am gesunden Menschen.
Verfasser begründet die Unentbehrlichkeit der Versuche an ge¬
sunden Menschen und erläutert die Methodik.
7) Loeffler: Ueber die Veränderung der Pathogenität und
Virulenz pathogener Organismen durch künstliche Fortzüchtung in be¬
stimmten Tierspezies und über die Verwendung solcher Organismen
zu Schutzimpfungszwecken.
Der Erreger der Maul- und Klauenseuche verliert durch Ferkel¬
passage an Pathogenität für das Rind; diesem verleiht die gewonnene
Ferkellymphe sogar mehrmonatige Immunität; die Ferkellymphe kann
jedoch selbst leichte Krankheitserscheinungen hervorrufen, wenn man
nicht gleichzeitig, aber getrennt kleine Mengen hochwirksamen, durch
Vorbehandlung von anderen Rindern mit steigenden Mengen hoch¬
virulenter Lymphe gewonnenen Schutzserums einspritzt.
8) F. Loeffler: Zur G r a m sehen Färbungsmethode.
Von den im Handel erhältlichen Violetts fand L. das Methyl¬
violett 6 B und BN am geeignetsten für die Färbung nach Gram.
9) Uhlenhuth: Komplementablenkung und Bluteiweissdiffe¬
renzierung.
Gelegentlich der Anwendung der Neisser-Sachs sehen Me¬
thode zur forensen Prüfung von Blutflecken in einem Sacktuch stellte
sich heraus, dass ausserhalb des Blutflecks ablenkende Substanzen
vorhanden sein mussten; solche fanden sich dann in den verschieden¬
sten Materialien, in Pappe, Erde, Stroh, Leinwand, Urin, Pepton¬
bouillon u. a. Für die gewöhnliche Praxis hält Verfasser daher die
Präzipitinreaktion für zuverlässiger. Die feineren Methoden der
Komplementwirkung erwiesen sich dagegen für mehr theoretisch¬
wissenschaftliche Versuche als wertvoll, so zur feineren Differen¬
zierung der in der Tierreihe auffallend biologisch einheitlichen Linsen-
eiweisse, auch zur Unterscheidung von Menschen- und Affenblut.
10) Minkowski: Die Registrierung der Herzbewegungen am
linken Vorhof.
Genauere Aufschlüsse als das Spitzenstosskardiogramm gibt di
Autzeichnung der vom Herzen dem Oesophagus mitgeteilten Be
wegungen Zu diesem Zweck wird eine mit Gummiballon armiert
Schlundsonde unter Röntgenschirmkontrolle bis zum 1. Vorhof (ca. 3
bis 35 cm hinter der Zahnreihe) vorgeschoben.
rv VJ e j e 'T Ueber die Beeinflussung der Resorption durc
Diuretika nach der Nierenexstirpation.
Bei Kaninchen mit abgebundenen Nieren zeigte sich, dass Theo
phylhn einen stärkeren Austausch zwischen Blut und Gewebsfliissig
keit hervorruft; die Resorption wird also abgesehen von der Tätig
ei . ei Niejenendothelien auch durch eine Umstimmung der extra
renalen Angiothehen befördert.
12) E Allard und S. Weber: Ueber die Beziehungen de
oence-Jones sehen Albumosurie zum Eiweissstoffwechsel.
In einem genau verfolgten Fall erwies sich die ausgeschieden
Albumosemenge als unabhängig von Menge und Art des aufgenom
menen Eiweisses. Dagegen nimmt die Albumosemenge mit dem Zer
fall von Organeiweiss (Fieber, Unterernährung) zu
13) P. S t r ii b i n g: Ueber Asthma bronchiale.
Kritik der Theorien, Betonung des nervösen Moments Studiun
an Imitationsversuchen gesunder Individuen.
14) I.L. 1 liediich: Ueber die Häufigkeit und operative Pro
gnose der Bauchaktinomykose des Menschen.
3 — 4 Proz. der in den letzten Jahren operierten „Blinddarm¬
entzündungen“ erwiesen sich als durch den Strahlenpilz bedingt; die
Diagnose ist sehr schwierig; Exzision alles Kranken (Darmresek¬
tion z. B.; gibt gute Prognose.
15) C. Ritter: Die Verwertung der Saugapparate zur Dia¬
gnose bei bösartigen Geschwülsten.
Mittels Schröpfkopf lassen sich grössere Massen pathologischen,
zur Untersuchung geeigneten Gewebes aus Fisteln etc. entfernen,
ohne Gefahr der Blutung oder der Wachstumszunahme.
16) Sauerbruch und Ha eck er: Zur Frage des Kardia-
verschlusses der Speiseröhre.
Ausser dem Kardiaringmuskel muss noch ein weiterer Verschluss
des unteren Oesophagusendes vorhanden sein. Die den Oesophagus
umgebende Zwerchfellschlinge kann als solcher wirken; nach Ein¬
pflanzung des resezierten Oesophagus an einer anderen Stelle des
Magens (Hund) kommt eine Art Ventilverschluss zustande.
17) A. Martin: Zur Chorea gravidarum.
Auch in schwereren Fällen empfiehlt M. zunächst einen nachhalti¬
gen Versuch mit Brombehandlung. Schwere Komplikationen, Endo¬
karditis, Meningitis, indizieren Unterbrechung der Schwangerschaft.
18) Ph. Jung: Zur Kolpohysterotomia anterior.
Von 8 Fällen starben 3 an der Komplikation (Eklampsie, Herz¬
fehler, Nephritis). Als Indikation galt: direkte Gefahr für Mutter oder
Kind oder beide, bei unvorbereiteten Weichteilen.
19) O. Schirmer: Prognose und Therapie der perforierenden
infizierten Augapfelverletzungen.
S. empfiehlt möglichst frühzeitige Einleitung einer energischen
Quecksilbereinreibungskur; ist der infizierende Fremdkörper noch
vorhanden, so soll er entfernt werden. Unter 157 so behandelten in¬
fizierten Bulbusverletzungen sah S. nur 2 sympathische Entzündungen,
103 Augen wurden erhalten, davon 90 mit grösserem oder geringerem
Sehvermögen.
20) Wittmaack: Zur Kenntnis des Streptococcus mucosus als
Erreger der akuten Otitis media.
In 55 Fällen akuter Otitis media fand W. 10 mal den Diplococcus
lanceolatus, 24 mal den Streptococcus erysipelatos, 21 mal den
Streptococcus mucosus. Die durch den Mukosus verursachten Oti¬
tiden hatten durchschnittlich die längste Verlaufsdauer und neigten
am meisten zu komplizierender Mastoiditis; sie scheinen sogar primär
in der Schleimhaut der pneumatischen Zellen des Warzenfortsatzes
lokalisiert zu sein.
21) E. Schultze und C. Riihs: Intelligenzprüfung von Re¬
kruten und älteren Mannschaften.
Mitteilung eines erprobten Fragebogens zur Beurteilung der
Wissens- und Urteilsfähigkeit der Soldaten, zur Erkennung von Be¬
schränkten und Imbezillen. Bei den älteren Mannschaften ergab sich
ein bedeutender Fortschritt in der Fähigkeit zu beobachten, aufzu¬
merken, aufzufassen und sich auszudrücken.
22) Schröder: Ein Beitrag zur Diagnostik der Pulpakrank¬
heiten.
Statt des thermischen Reizes benützt Verfasser den Induktions¬
strom, zu feinsten Prüfungen der Sensibilität der Pulpa und Erken¬
nung von Reiz- und Entzündungszuständen.
R. Grashey - München.
Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte. XXXVI. Jahrg.
No. 14. W. Silberschmidt: Mitteilungen über epidemische
Zerebrospinalmeningitis. (Vortrag, gehalten am Schweizer Aerztetag
in Aarau.)
Von der Bedeutung und den Eigenschaften des Meningokokkus,
der Art seines Eindringens in den Körper, der Frage der Kontagiosität
und der Bekämpfung, In der Schweiz wurden im Jahre 1906 bisher
58 Fälle bekannt; in allen im hygienischen Institut Zürich unter¬
suchten Fällen mit der Sektionsdiagnose epidemische Zerebrospinal¬
meningitis wurden intra vitam durch Punktion Meningokokken nach¬
gewiesen.
A. Schönemann-Bern: Ueber den Einfluss der Radikal¬
operation (am Gehörorgan) auf das Hörvermögen. (Nach einem im
mediz.-pharmaz. Bezirksverein Bern gehaltenen Vortrag.)
Die chronischen Mittelohreiterungen, die meist durch Erkrankung
der oberen Paukenräume bedingt sind, sollen durch möglichst genaue
Hörprüfungen überwacht werden; dabei gelangt man zu relativ
frühen Radikaloperationen, die an sich, besonders wenn sich der
Schalleitungsapparat erhalten lässt, das noch vorhandene Hörver¬
mögen nicht schädigen.
No. 15. A. Jaquet: Zur Symptomatologie der abdominalen
Arteriosklerose. (Nach einem in der Versammlung des Zentralver.
in Aarau gehaltenen Vortrag.) (Schluss folgt.)
E. A m m a n n - Winterthur : Zur Wirkung der Röntgenstrahlen
auf das menschliche Auge.
Die Untersuchung eines wegen Aderhautsarkoms einige Male
mit Röntgenstrahlen behandelten und dann enukleierten Auges ergab
keine äussere Reaktion des Bulbus und keine Gefässveränderung, aber
eine die Netzhaut weithin abhebende entzündliche Exsudation, die von
den Kapillaren der Aderhaut ausging. Daher Vorsicht bei Bestrahlung
des Auges. P i s c h i n g e r.
632
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
Ocsterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 31. A. Herz-Wien: Ueber Erscheinungen von Kreislauf¬
störungen bei Miliartuberkulose.
Bei den chronisch-fibrösen Formen der Lungentuberkulose gehört
die Herzinsuffizienz zu den wohlbekannten Folgeerscheinungen; die¬
selbe findet sich, obwohl weniger bekannt, auch gar nicht selten
als Ausdruck der Intoxikation und Folge des Lungenprozesses bei der
miliaren Form der Tuberkulose, wie Verfasser an mehreren Kranken¬
geschichten darlegt. Dilatation des rechten Ventrikels, Tachykardie,
Degeneration des Herzmuskels, Stauung und Druckempfindlichkeit der
Leber, Hautödeme sind die häufigsten Symptome.
H. L ü d k e - Wiirzburg: Ueber den Nachweis von Tuberkel¬
bazillen im Blut bei Lungentuberkulose.
L. s Untersuchungen erstreckten sich auf 14 Fälle von nicht
miliarer Lungentuberkulose, wo 5 — 10 ccm aus einer gestauten Arm¬
vene gewonnenen Blutes Meerschweinchen in die Peritonealhöhle
eingespritzt wurden. 4 mal ergaben diese Versuche ein positives
Resultat.
J. W e c h s b e r g - Wien: Ueber den Nachweis von Azeton bei
Extrauteringravidität.
W. hat die in No. 12 der Wien. klin. Wochenschr. von Baum¬
garten und Popper gemachten Mitteilungen, welche in dem
Azetonnachweis ein wertvolles diagnostisches Hilfsmittel für die
Extrauterinschwangerschaft zu bieten schienen, an 8 Fällen der
C h r o b a k sehen Klinik nachgeprüft. Einer scheidet mangels einer
grösseren Blutung aus, von den 7 anderen- ergaben nur 2 ein ganz
schwaches positives Resultat. Es gibt daher sicher eine beträchtliche
Zahl von Fällen, bei denen der Azetonnachweis nicht gelingt.
M. F r a n k e - Lemberg: Ueber die Wege der Kompensation bei
Fehlern der Trikusoidalklappe.
F.s Untersuchungen, welche an geeigneten Fällen vor allem den
Venen- und Leberpuls bestimmten, führten ihn zu dem Schlüsse, dass
die Trikuspidalfehler für längere Zeit kompensierbar und daher pro¬
gnostisch nicht so ungünstig sind, wie R o m b e r g und K r e h 1 an¬
nehmen; für diese Kompensation kommen in Betracht die Tätigkeit
der rechten Kammer, die Elastizität und passive Resistenz der Venen
und des rechten Vorhofes und die selbständige Tätigkeit des peri¬
pheren Kreislaufes, insonderheit der Leber.
.1. Fein: Die Ozaena und die Stauungstherapie nach Bier.
Da die Anwendung einer eigentlichen Saugwirkung auf die Nase
nicht durchführbar ist, ferner die elastische Kompression des Halses
nur eine ungenügende Stauung in der Nasenschleimhaut hervorruft,
hat F. versucht, durch eine Art B e 1 o c q scher Tamponade das ober¬
flächliche Venensystem dort, wo die Venen über den Rand der
Choanen nach hinten laufen, zu stauen. Bei 4 Patienten wurde dieses
in mehrfacher Beziehung lästige Verfahren angewendet; ein dauern¬
der Erfolg ist nicht erzielt worden, dagegen trat bei 2 Kranken eine
eitrige Mittelohrentzündung bezw. ein Rezidiv einer solchen auf.
Weitere Versuche, die tiefer liegenden Venen am Foramen spheno-
palatinum zu komprimieren, sind misslungen. B e r g e a t.
Englische Literatur.
D'Arcy Power: Zur Chirurgie der Blutgefässe. Lancet,
28. April 1906.
Verf. spricht zuerst über das Zustandekommen des Schocks und
des Kollapses. Beim Schock handelt es sich um eine Erschöpfung der
vasomotorischen Zentren; der Herzmuskel, die Herzzentren und das
Atmungszentrum werden erst sekundär in Mitleidenschaft gezogen.
Kollaps tritt auch infolge von Aufhebung der Herztätigkeit, durch
Lähmung der Vasomotoren oder infolge von Blutung. Strychnin
soll man niemals gegen Schock anwenden, es kann den Tod herbei-
führen oder mindestens die Erschöpfung bedeutend vermehren.
Alle Arzneimittel sind kontraindiziert, auch Kochsalzinfusionen bringen
keinen Nutzen. Bei Kollaps sind sie dagegen ebenso wie die Stimu¬
lanzen von grossem Nutzen. Adrenalin steigert in jedem Falle von
Schock den Blutdruck, leider ist die Wirkung nur von sehr kurzer
Dauer, gibt man aber andauernd grosse Dosen, so wird das Hem¬
mungszentrum des Herzens stimuliert. Das beste Mittel zur Be¬
kämpfung des Schocks ist ein Anzug aus Gummi, den man aufblasen
kann, hierdurch wird ein leicht regulierbarer peripherer Widerstand
geschaffen. Verf. beschreibt dann ausführlich ein Instrument, das
es ermöglicht, einen „Käfig“ von Silberdraht in ein Aneurysma ein¬
zuführen; der „Käfig“ bietet eine sehr grosse Oberfläche und führt
deshalb zu Gerinnungen. Ohne die dem Original beigefügten Ab¬
bildungen ist dies Instrument kaum verständlich.
P. B. Handyside: Hospitalschiffe im Krieg und Frieden.
Ibidem.
Verf. verlangt, dass schon zu Friedenszeiten besondere Hospital¬
schiffe in Dienst gestellt werden, damit dieselben bei Ausbruch eines
Krieges bereit sind. Diese Schiffe begleiten die Flotte auf den Ma¬
növern, ferner können sie dazu dienen, Invalide von ausländischen
Stationen nach Hause zu bringen, auch können sie als schwimmende
Sanatorien für die Marinehospitäler dienen. Ein Hospitalschiff muss
für 200 Kranke eingerichtet sein, es kommen also nur Schiffe von
etwa 8000 Tonnen an in Betracht. Verf. beschreibt dann die genaue
Einrichtung eines solchen Schiffes und seine Besatzung in Friedens¬
und Kriegszeiten. Das Schiff muss eine gute Geschwindigkeit haben,
um der Flotte folgen zu können und um die Verwundeten so rasch
wie möglich zu einem Landhospitale zu bringen.
Robert Sinclair Black: Die Lepra in der Kapkolonie. Ibidem.
Verf. gibt eine vortreffliche Monographie über die Lepra in der
Kapkolonie. Die Krankheit war bei Hottentotten und Buschmännern
unbekannt, bis sie durch die holländischen Ansiedler eingeschleppt
wurde. Diese Kolonisten brachten Malayen aus Java mit, wo die
Seuche seit langem von China her eingeschleppt war. Es gibt viele
sicher beglaubigte Fälle, dass holländische Farmer von einem malay-
ischen Sklaven angesteckt wurden. Verf. beschreibt dann die Le-
proserien in „Hemel en Arde“ (Himmel auf Erden), auf der Robben¬
insel und in Emijanyana. 1891 gab es 626 bekannte Lepröse, 1904 war
die Zahl auf 1230 gestiegen und zwar war sowohl bei Schwarzen wie
auch bei Europäern die Zahl der Erkrankungen sehr gestiegen. Auch
in der Oranjekolonie gibt es etwa 100 Lepröse. Es unterliegt keinem
Zweifel, dass es tatsächlich noch viel mehr Lepröse gibt, denn bei
der gewaltigen Ausdehnung des Landes und der mangelhaften Ver¬
sorgung mit Aerzten werden sicherlich sehr viele Fälle übersehen.
Verf. wendet sich dann scharf gegen die von Hutchinson ver¬
fochtene Lehre von der Entstehung der Lepra durch den Genuss ver¬
dorbener (ungenügend gesalzener) Fische. Hutchinson, der
selbst in Südafrika war, hat eingesehen, dass seine Fischtheorie gerade
auf Südafrika nicht passt und er hat deshalb noch einen zweiten
Entstehungsmodus angegeben. Er spricht jetzt von einer kommen-
salen Uebertragung. Hierbei soll die Uebertragung so zu stände
kommen, dass ein Lepröser mit seiner Hand die Nahrung infiziert,
die er dem Gesunden reicht. Diesen Modus hält Verf. schon deshalb
für ausgeschlossen, weil er bei sehr zahlreichen Sektionen niemals
Lepra des Magendarmkanals fand. Die Eingeweide und die Mesen¬
terialdrüsen waren stets frei von Lepra. In den häufigen Fällen, in
denen Lepra mit Tuberkulose kombiniert ist, findet man oft Tuber¬
kulose, aber nie Lepra des Magendarmkanals. Hierbei erwähnt Verf.
dass die makulo-anästhetische Form der Lepra viel häufiger mit
Tuberkulose kompliziert ist als die knotige Form. Diese letztere
Form kommt bei Europäern am häufigsten vor. Verf. glaubt, dass die
Ansteckung in der Schleimhaut der Nase beginnt; hier kommt es zu
einer Ulzeration, die man mit der Initialsklerose bei Lues vergleichen
könnte. Verf. hat verschiedene Sera (Carasquillas und Her¬
rn a n s Serum) versucht und nie den geringsten Nutzen davon ge¬
sehen. Die besten Erfolge sah er nach der Anwendung von Chaul-
moograöl; derartig behandelte Fälle waren nur selten mit Tuber¬
kulose kompliziert und Tracheotomie wurde nie notwendig. Er
gibt 3 mal täglich 120 Tropfen mit gleichen Teilen Olivenöls. Man
kann auch 3 mal wöchentlich je 10 ccm Oliven- und Chaulmoograöl
subkutan einspritzen. Von der Anwendung der Röntgenstrahlen hat
er nie Nutzen gesehen. Zum Schluss fordert Verf. die Tropenschulen
auf. Expeditionen nach Lepragegenden zu schicken. Ferner warnt er
davor, Hutchinson und seinen Anhängern Glauben zu schenken,
die in einer grossen Zeitungspolemik seit einiger Zeit die Abschaffung
der Leproserien verlangen, da die Lepra nich/ übertragbar sei und
nur durch den Genuss verdorbener Fische entstehe. (Es ist gewiss
bedauerlich, dass Hutchinson seinen grossen Namen dazu be¬
nutzt, um für eine durchaus unbewiesene Sache Propaganda zu
machen. Es ist doch eine unbestrittene Tatsache, dass man in Nor¬
wegen die Lepra eingeschränkt hat, seit man die Kranken isoliert,
trotzdem im ganzen Lande noch ebensoviel schlechter Fisch ge¬
gessen wird wie früher. Refer.)
F. W. Pavy: Die Pathogenese des Diabetes mellitus. Lancet,
5. Mai 1906.
Beim gewöhnlichen Diabetes geht der Glykosurie eine Hyper¬
glykämie voraus. Die Karbohydrate werden im Darm durch Synthese
durch die Lymphozyten der Darmzotten in Proteide und durch die
Wirksamkeit der Zottenepithelien in Fette umgewandelt. Karbo¬
hydrate, die dieser Umwandlung entgehen, gelangen als Zucker durch
die Pfortader in die Leber und werden hier zu Glykogen. Geschieht
dies nicht, so gelangt der Zucker in das Blut und wird durch die
Nieren ausgeschieden, es entsteht eine alimentäre Glykosurie. Es
scheint keinem Zweifel zu unterliegen, dass der Prozess in den Darm¬
zotten zu stände kommt mit Hilfe eines Kofermentes, das in einer
inneren Sekretion des Pankreas gebildet wird. Ein anderer Teil des
Zuckers, sowie die Oxybutter- und Essigsäure, sowie das Azeton
entstehen bei schwerem Diabetes aus den Körpergeweben durch
fehlerhaften Katabolismus. Unter dem Einflüsse nervöser Störungen
kommt es zu vasomotorischer Lähmung inl Gebiete der Chylus
bildenden Organe; das Pfortaderblut wird semiarteriell und die Pas¬
sage dieses Blutes durch die Leber führt zu Glykosurie. Verf. weist
daraufhin, dass die Zunge der Diabetiker besonders rot ist und dass
auch hier Zeichen einer vasomotorischen Störung bemerkbar sind.
Thomas D. Luke; 22 Todesfälle bei Narkose mit Aethylchlorid.
Ibidem.
Verf. stellt 22 Todesfälle aus verschiedenen Ländern zusammen
und berechnet 1 Tod auf 36 000 Narkosen. Er empfiehlt in der zahn¬
ärztlichen Praxis das Aethylchlorid nie allein zu geben, für kurze
Narkosen gibt er es mit Lachgas (er verwendet 2Vs bis 4 ccm); für
längere Narkosen gibt er Aethylchlorid und dann Aether. Sehr’ ge-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1633
14. August 1906.
eignet ist das Mittel zur Narkose bei adenoiden Wucherungen, die
entfernt werden sollen.
William Ewart: Zur Technik der Kolonirrigationen nach Ap-
pendikostomie. Lancet, 12. Mai 1906.
Verf. beschreibt die Behandlung der Kolitis durch Spülungen
von einer Fistel des Wurmfortsatzes aus. Der Wurm wird in eine
kleine Bauchwunde eingenäht, die Spitze entfernt und der Wurm
dann mit einer Kornzange gedehnt. Man kann dann einen Katheter
einführen und grosse Mengen von Flüssigkeiten einlaufen lassen;
dieselben fliessen durch ein per anum eingeführtes Darmrohr wieder
ab. Wenn man den Katheter mit einem Mandrin armiert und um
110° abbiegt, so kann man ihn leicht durch die Bauhinsche Klappe
in das Ileum einführen, führt man zwei Katheter nebeneinander ein,
so kann man leicht das Ileum in seinen unteren Teilen durchspülen.
Verf. empfiehlt allen Ernstes Typhuskranke auf diese Weise zu be¬
handeln, er hofft durch lokale Spülungen der Typhusgeschwüre die
Darmblutungen und die Perforation zu verhüten. (Es sei noch er¬
wähnt, dass Verf. ein älterer Herr, Chefarzt an einem der grossen
Londoner Krankenhäuser und Internist ist. Refer.)
Baron Takaki; Die Erhaltung der Gesundheit bei der japani¬
schen Flotte und dem Heer. Lancet, 19. und 26. Mai 1906.)
Verf. beschreibt, wie er 1872 als Marinearzt eintrat und wie er
sofort begann, nach der Ursache der Beri-Beri zu suchen, die zahl¬
reiche Opfer forderte. Er fand, dass die Krankheit hauptsächlich die
niederen Volksklassen ergriff und zwar besonders Leute, die zu wenig
Stickstoff in ihrer Nahrung aufnahmen. Ein Seemann schied täglich
310 0 Kohlenstoff und 20,0 Stickstoff aus (1 : 15,5). In der Nahrung
der Seeleute verhält sich die Menge des Stickstoffs zum Kohlenstoff
wie 1:17 bis 1:32. Je grösser die Unterschiede in diesen Ver¬
hältnissen, umsomehr Beri-Beri trat auf, je kleiner die Unterschiede,
um so seltener erkrankten die betreffenden Personen an Beri-Beri.
Verf. schloss daraus, dass es der Stickstoffmangel in der Nahrung sei,
der die Krankheit hervorrufe. Es gelang ihm, den Chef der Flotte
für die Frage zu interessieren und es wurden Versuche mit einer
anderen Diät gemacht. Durch Verabreichung von Gerste und Reis
an Stelle der ausschliesslichen Reisnahrung gelang es, die Krankheit
völlig auszurotten. Während des japanisch-chinesischen Kiieges und
im Beginn des russischen Krieges erhielten die Soldaten der Land¬
armee nur Reis und sofort traten viele Fälle von Beri-Beri auf. Sobald
man neben dem Reis Gerste und Fleisch verabreichte, hörte die Krank¬
heit wieder auf. Ein Vergleich zwischen der Erkrankungen im
russischen und im chinesischen Feldzuge zeigt, wieviel eine sorg¬
fältige Hygiene bei den Truppen ausrichten kann. Cholera, die im
chinesischen Feldzuge häufig war, kam im russischen nicht voi, der
Typhus ist von 37,14 auf 9,26 per 1000 Mann heruntergegangen; die
Mortalität an Typhus ist auf die Hälfte heruntergegangen, Dysenterie
trat nur noch bei 10,52 statt bei 108,96 von je 1000 Mann auf, die
Mortalität dieser Krankheit sank von 15,72 auf 2,68 per Tausend;
Malariaerkrankungen gingen von 102,58 auf 1,96 per Tausend herab
und die Sterblichkeit an Malaria war im letzten Kriege gleich Null.
Verf. führt diese glänzenden Erfolge auf die sorgfältige Prophylaxe
zurück, die in Bezug auf Essen und Trinken, auf Kleidung, das
Lager usw. geübt wurde. Ein besonderes Gewicht legt er auch auf
Vernichtung der Fliegen, die er als Uebertrager der Krankheit sehr
fürchtet. Musselinnetze wurden im ausgedehnten Masse gegen Fliegen
und Moskitos verwendet. Jeder gesunde Soldat bekam täglich eine
Kreosotpille als Darmantiseptikum. Ein sehr grosses Gewicht wurde
auf die Wasserversorgung gelegt. Jeder Soldat hatte ein Kochgefäss
und war strengstens angewiesen, nur abgekochtes Wasser zu trinken,
das er meist aus den die Kompagnie stets begleitenden Wasserküchen
bekommen konnte. Die Kleider der Soldaten wurden nicht nur sehi
häufig gewaschen, sondern so oft wie möglich in transportablen Des¬
infektionsapparaten desinfiziert. Vor dem Ausmarsch und vor der
Heimkehr waren alle Soldaten auf das sorgfältigste untersucht und
alle verdächtigen Fälle isoliert. Die Wundbehandlung war so kon¬
servativ wie möglich.
F. C. McCombie: Die Behandlung der Cholera mit Kochsalz¬
infusionen. (Lancet, 26. Mai 1906.)
Verf. verlor bei einer Choleraepidemie von 105 Fällen 25 1 er-
sonen und er schiebt diese günstige Mortalität auf Rechnung der Salz¬
infusionen. Sofort nach der Aufnahme erhielt jeder Kranke eine
Morphiumeinspritzung, danach 4 stündlich 20 Tropfen von Spir. aether.
Ausserdem erhielt er 0,75 Kalomel und 0,75 Natr. bicarb. in einer
Dosis. Sah der Fall schlecht aus, so begann man sofort mit den
Kochsalzinfusionen, manche Kranke bekamen bis 7 Liter. Bei sehr
schweren Fällen soll man die Kochsalzlösung mit Adrenalin versetzen
und intravenös verabreichen.
Anthony A. Bowlby: Die chirurgischen Komplikationen der
Tabes. (Brit. med. Journ., 5. Mai 1906.)
Verf. rät, bei keinem Falle von Tabes die Sache als hoffnungslos
anzusehen, sondern etwaige chirurgische Komplikationen nach den
üblichen Methoden zu behandeln. Von Quecksilber und Jod hat er
höchstens Verschlechterungen gesehen. Viele perforierende Ge¬
schwüre des Fusses heilen erst, wenn man den Alkohol völlig ver¬
bietet. Verf. hat häufig Fälle gesehen, bei denen Inkontinenz der Blase
und des Darmes plötzlich auftraten, um dann wieder für lange Zeit zu
verschwinden.
Chas. H. Benham: Die Bakteriologie der gewöhnlichen Er¬
kältungen. (Ibid.) _ M1 , ...
Verf. fand meist einen diphtheroiden Bazillus, sowie den Micro-
coccus catarrhalis, den Influenzabazillus fand er nur sehr selten. Der
diphtheroide Bazillus liess sich kulturell von dem Diphtheriebazillus,
sowie vom Bac. Xerosis und dem Hof m ann sehen Bazillus unter¬
scheiden. Er scheint hauptsächlich die Erkältungen zu erzeugen, die
mit Halsschmerzen, Husten, Muskelschmerzen und Abgeschlagenheit
verlaufen; der eigentliche Schnupfen scheint mehr durch den Micro-
coccus catarrhalis erzeugt zu werden. .
D. Montgomerie Paton: Serumverabreichung per os. (Ibid.l
Seit 8 Jahren hat Verf. mehrere Hundert Fälle so behandelt.
Er gibt normale Pferde-, Rinder- und Schafsera per os bei verschie¬
denen Krankheiten, ausserdem gibt er bei Diphtherie und anderen
Krankheiten Diphtherieheilserum ebenfalls per os. Er schreibt dieser
Behandlung eine besondere Wirkung auf die Gewebe zu, die wider¬
standsfähiger gegen die Bakterien gemacht werden. Näheres im
Original. .
J. Lynn Thomas: Welchen Einfluss hatte die Entdeckung der
Röntgenstrahlen auf die Behandlung der Frakturen und Luxationen?
^ ^Verf. glaubt, dass in der grossen Mehrzahl der Fälle Luxationen
und Frakturen ohne Anwendung der Röntgenstrahlen genau zu er¬
kennen sind. Bei zweifelhaften Fällen sind sie in Anwendung zu
ziehen. Bei frischen Luxationen kann eine Röntgeni»latte uns die
beste Art der Einrenkung angeben; bei veralteten Luxationen
dagegen kann die Röntgenplatte keinerlei Anhaltspunkte^ für
die Therapie geben. Bei Frakturen kann uns die Skia-
graphie keinen Anhaltspunkt über die Formation des Kallus und
über die Fortschritte der Heilung geben; auch lehrt sie uns nichts
darüber, ob ein gebrochenes Glied nach der Konsolidation wieder ge¬
brauchsfähig ist oder nicht. Die Beurteilung von Röntgenplatten ist
sehr schwierig und führt sehr häufig zu schweren Iritümern. Neue
Behandlungsmethoden bei Frakturen und Luxationen sind durch die
Röntgentechnik nicht hervorgebracht worden. (Verf. hätte noch hin-
zufiigen können, dass die jungen Aerzte mit Einführung der Skia-
graphie noch viel weniger gut wie früher Frakturen und Luxationen
diagnostizieren lernen, da sie sich meist auf die Skiagraphie ver¬
lassen; ausserdem hat die Skiagraphie eine Reihe von Chirurgen ver¬
anlasst, ganz überflüssigerweise jede Fraktur blutig freizulegen und
zu nähen, weil das Skiagramm zeigt, dass die Knochenenden in den
üblichen Verbänden nicht immer anatomisch korrekt aneinander
liegen. Als ob die spätere Funktion allein davon abhinge. Dass das
Publikum selbst jetzt jede Fraktur durchleuchten lässt und allerlei
Entschädigungsansprüche macht, wenn die Knochen nicht ganz ge¬
rade stehen, sei nur nebenbei erwähnt. Refer.) .
Henry Percy Dean: Ueber Rückenmarksanästhesie. (.Brit.
med. Journ., 12. Mai 1906.) . .
Verf. empfiehlt zwischen 3. und 4. Lumbalwirbel einzustechen
und 0,06 Stovain zu injizieren, ist nach 7 Minuten die Anästhesie nicht
tief genug, so injiziert er noch 0,03. Auf diese Weise vermeidet man
am besten Lähmung der Interkostalmuskeln und Atemstörungen. Ei
lässt während der ganzen Operation die Kanüle liegen, so dass er
zu jeder Zeit wieder Stovain injizieren kann. Verf. beschreibt eine
von ihm angegebene biegsame Kanüle und gibt eine Anzahl von
Krankengeschichten. (Er scheint der Meinung zu sein, die Methode
stamme aus Frankreich, wenigstens gibt er einem diesen Eindruck.
B i e r z. B. wird überhaupt nicht erwähnt. Refer.) .
Dan McKenzie: Die lokale Wirkung des Stovains. (Ibid.)
Verf. hat Stovain bei Operationen der Nase, des Kehlkopfs und
des Ohres angewendet und gefunden, dass 5 proz. Lösungen zu
schwach sind, 10 proz. aber für die meisten Fälle genügen. Das Sto¬
vain hat eine ebenso stark anästhesierende Wirkung wie das Kokain
und ruft keinerlei üble Nebenwirkungen auf den Gesamtorganismus
hervor Er führt zur Ischämie erektireler Schleimhautgewebe. Man
muss nur darauf achten, dass das Stovain nicht länger wie 15 Minuten
auf die Schleimhaut einwirkt, da sonst leicht Nekrose und Ulzeration
entsteht. Wenn man es vor Brennoperationen anwendet, so hat dies
natürlich nichts zu sagen. 20 proz. Lösungen werden auch gut ver¬
tragen, sind aber meist überflüssig, da man mit 10 proz. in der Mehr¬
zahl der Fälle auskommt.
Alex. Maden n an: Die Spirochaete palhda und ihre Varia¬
tionen. Ibidem. , . ....
Bei 40 syphilitischen Frauen fand Verf. die Spirochaete palhda
trotz genauer Untersuchung mit den verschiedensten Färbemethoden
nur 8 mal. Einmal konnte er sie aus dem Urinsediment darstellen.
Die besten Erfolge hatte er mit folgender Färbung: Ein Teil ge¬
sättigter Gentianaviolettlösung (Grübler) in Azeton auf 3 Teile
Wasser. Die Lösung wird vor dem Gebrauche filtriert; das Strich¬
präparat wird mit oder ohne vorherige Fixation durch Wärme oder
Alkohol für 3 bis 4 Stunden in die erwärmte Lösung gelegt. Die
Spirochaete pallida färbt sich ziemlich dunkel, die Spirochaete re-
fringens wird fast schwarz. Verf. glaubt, dass die Spirochaete pallida
nur eine Entwicklungsstufe im Leben des die Syphilis hervorrufenden
Organismus ist. Er beschreibt dann und bildet ab allerlei Verän¬
derungen an den Spirochäten, Spaltungen, Knospenbildungen etc.,
sowie kleine Körperchen, die den Leishmann-Donovan sehen
Körperchen gleichen. Näheres im Original.
1634
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
James Hinshelwood: Dionin in der Augenpraxis. Ibidem.
Von allen schmerzstillenden Mitteln bei Iritis, Glaukom, Ge¬
schwüren etc. ist Dionin das beste, es ist ein Analgetikum, aber
kein Anästhetikum. Wenn man mit schwachen Lösungen (1 bis
2 proz.) beginnt, so wird das Mittel gut vertragen, stärkere Mittel
machen oft Chemosis und Brennen. Man steigt dann rasch bis zu
5 prozentigen Lösungen. Bei starkem Tränen der Augen ist es
besser, das Mittel in Salb'enform anzuwenden. Verf. gibt an, dass
Dionin besser wie irgend ein anderes bekanntes Mittel Hornhaut¬
trübungen aufhellt. Er verwendet es deshalb bei allen Formen von
Keratitis.
Peter Tytler: Ein Fall von Kaiserschnitt nach dem Tode.
Ibidem.
Die 26 jährige Frau, die am Ende des 8 Monats schwanger war,
starb in Gegenwart des Verf. an Meningitis. Er versuchte zuerst per
vaginam zu entbinden, doch gelang dies nicht, er machte dann den
Kaiserschnitt vom Bauche aus und entwickelte ein lebendes Kind,
das heute (10 Wochen später) lebt und gut gedeiht.
(Schluss folgt.)
Inauguraldissertationen.
Universität Berlin. Juli 1906.
23. Berschadsky Aron : Darmausschaltungen.
24. Grimm Victor: Versuche über das Absterben von Bakterien in
physiologischer Kochsalzlösung und in Milch bei Kochen unter
erniedrigtem Druck.
25. Kagan Suss: Ueber die manuelle Plazentarlösung.
26. Lewit Ichiel: Tabische Sehnervenatrophie bei hereditärer Lues.
27. Rosenstein Chaim: Ueber Revolverschussverletzungen der
Wirbelsäule im Frieden.
28. Thur sch David: Transformationen im klinischen Verlauf der
Manie.
29. Weckstein Scholem: Die Behandlung der Eihautretention.
30. Z w o n i t z k y Nuchim: Ueber den Einfluss der peripheren Nerven
auf die Wärmeregulierung durch die Hautgefässe.
31. Braunert Maximilian: Ueber die Pubiotomie als entbindende
Operation.
32. Godelstein Sophie: Ueber einen Fall von Meningitis basilaris
syphilitica mit kombinierter Augenmuskellähmung.
33. Feigin Pimhas: Ueber die Hippursäureausscheidung beim hun¬
gernden Menschen.
34. Lewin Jacob: Theorien über die Physiologie und Pathologie
der Hypophysis.
35. Pruschinin Hirsch: Ueber das Verhalten der Sensibilität im
Trigeminusgebiet nach vollständiger Exstirpation des Ganglion
Gasseri.
36. Steinberg Joseph: Kritisch-statistische Betrachtungen über
die in der geburtshilflichen Klinik der K. Charite von 1892 — 1902
beobachteten Eklampsiefälle.
Universität Giessen. Juli 1906.
38. Heidrich Kurt: Anatomisch-physiologische Untersuchungen
über den Schlundkopf des Vogels, mit Berücksichtigung der Mund¬
höhlenschleimhaut und ihrer Drüsen bei Gallus domesticus *).
39. Schmidt Fritz: Immmunisierung gegen Schweinepestbazillen
mit Autolysaten. Schüttelextrakten und Zerreibungsprodukten
dieser Bazillen. *)
40. Schweikert Philipp: Beiträge zur intravenösen Injektion
von Chloralhydrat beim Pferde *).
4L Fresenius Eduard: Zur Reform des Apothekenwesens**).
42. Bon hoff Karl: Bericht über die Wirksamkeit der Universitäts-
Augenklinik zu Giessen vom 1. April 1903 bis zum 31. März 1904.
43. Günter Eugen: Der Chloroformgehalt von Blut, Leber und
Niere während der Narkose.*)
44. Werner August: Kindersterblichkeit bei engem Becken.
45. Kallenbach Heinrich: Der Fettgehalt des Blutserums.*)
46. Behrens Karl: Verel. Untersuchungen über das Isophysostig-
minum sulfuricum (Merck) und das Physostigminum sul-
furicum.*)
47. Vossschulte Karl: Ueber einen Fall von Harnleiterplastik.
*) Ist veterinär-medizin. Dissertation.
**) Ist Dissertation der philosophischen Fakultät.
Universität Tübingen. Juli 1906.
22. Alb recht Walther: Ueber metastatische paranephritische Ab¬
szesse.
23. D o 1 d Hermann: Ueber die Wirkung des Aethylalkohols und ver¬
wandter Alkohole auf das isolierte Froschherz.
24. Kr au ss Rudolf: Ueber die Dauerresultate der Omphalektomie
bei Nabelbrüchen.
25. Müller Paul: Ueber Biegungsbrüche an den langen Röhren¬
knochen der unteren Extremität.
26. Brändle Edgar: Ueber die Tuberkulose der Brustdrüse und die
Dauerresultate ihrer operativen Behandlung.
27. Herr mann Otto: Ueber Vorkommen und Veränderungen von
Myelinsubstanzen in der Nebenniere.
28. H ö r z Walther: Ueber Splenektomie bei traumatischer Milz¬
ruptur.
29. Käppis Max: Experimente über die Ausbreitung der Urogenital¬
tuberkulose bei Sekretstauung.
30. Schweitzer Philipp: Ueber Polyarthritis tuberculosa.
31. V a i h i n g e r Wolfgang: Zur Operation inkarzerierter Zwerchfell¬
hernien.
Habilitationsschriften.
32. Basler Adolf: Ueber Ausscheidung und Resorption in der Niere.
33. Cur sch mann Hans: Beiträge zur Physiologie und Pathologie
der kontralateralen Mitbewegungen.
34. Sick Konrad: Untersuchungen über die Saftabscheidung und die
Bewegungsvorgänge im Fundus- und Pylorusteil des Magens.
Auswärtige Briefe.
Briefe aus Moskau.
(Eigener Bericht.)
Moskau, im Juli 1906.
Aus der seligen Reichsduma. — Herr Exminister Dur-
n o w o, Herr Minister des Innern S t o 1 y p i n und die hungern¬
den Bauern.
Dem russischen Bauern ist das Hungern ebenso eigen¬
tümlich wie das Biertrinken dem Münchener Kindl. Der
russische Bauer isst sich überhaupt nie satt: die hauptsäch¬
lichste Quelle seiner Ernährung bildet sein eigenes Organ-
eiweiss, an welchem er infolge seiner unbeschreiblichen Armut
häufig genug zehren muss. Die Gründe für das chronische
Fasten der russischen Bauernschaft sind ausserordentlich
mannigfaltig und liegen auf wirtschaftlichem, kulturellem, poli¬
tischem und rechtlichem Gebiet. Da sind vor allem die völlige
Landlosigkeit und der erhebliche Landmangel, an welchem der
grösste Teil der ackerbautreibenden Bevölkerung leidet, die
schäm- und gewissenlose Exploitation seitens der umwohnen¬
den Grossgrundbesitzer, welche an den Traditionen der Leib¬
eigenschaft noch zähe festhalten, durch extrem hohe Arrende-
preise die bäuerlichen Pächter, durch abnorm niedrige Lohn¬
sätze die landwirtschaftlichen Arbeiter ausbeuten, die Un¬
wissenheit, Unbildung und Unkultur, in welcher die Land¬
bewohner von der Regierung künstlich gehalten werden, die
politische Knechtung, welche auf ihnen schwer lastet, ihre
absolute Rechtlosigkeit, die unumschränkte Diskretionsgewalt
des Landrats, des Kreispolizeichefs, des Gouverneurs e tutti
quanti. Auf diesen mächtigen Grundpfeilern ruht, einstweilen
noch unerschüttert, das physiologische Elend des russischen
Ackerbauers.
Von dem düsteren Hintergründe der Not, der Armut und
unzureichenden Ernährung heben sich von Zeit zu Zeit in Form
akuter Exazerbationen Missernten und auf sie folgende Hunger¬
jahre hervor. Dann tritt auf gewaltigen Strecken des weiten
russischen Reiches das Gespenst des Hungers nackt in die
Erscheinung, begleitet von den Furien dezimierender Seuchen.
Der hohläugige, bis aufs Skelett abgemagerte Bauer greift
dann in seiner Verzweiflung zu solchen Nahrungsmitteln,
welche in keinem noch so ausführlichen Lehrbuch der Physio¬
logie genannt sind: das berüchtigte „Hungerbrot“ besteht aus
einem Gemisch von Kleie, Mutterkorn, Baumrinde und Sand,
ist hart wie Stein und ebenso verdaulich und nahrhaft wie
dieser. Da der Misswachs gewöhnlich auch die Futterkräuter
betrifft, so deckt der Bauer, um das Vieh vor dem Verhungern
zu retten, seine Hütte ab und versucht seine abgezehrte Kuh,
sein aus Haut und Knochen bestehendes Pferd mit dem Stroh
seines Strohdaches am Leben zu erhalten, was aber natürlicher¬
weise meist nicht gelingt. Die ohnehin unter der wenig wider¬
standsfähigen Landbevölkerung hohe Sterblichkeit nimmt be¬
trächtlich zu, ganz besonders jedoch wütet der Todesengel
unter den Kindern im Alter bis zu 10 Jahren. Die Kindersterb¬
lichkeit erreicht dann Zahlen, wie sie selbst in Korea wohl
kaum beobachtet werden. Im Gefolge der Hungersnot stellen
sich epidemische Krankheiten ein, vor allem der Unterleibs¬
typhus, sodann die beiden Seuchen, auf welche wir Russen ein
trauriges Privileg haben: der Skorbut und der Flecktyphus oder
Hungertyphus.
Aufgabe des Staates ist es ja, den verhängnisvollen Folgen
der Missernten vorzubeugen und für die Verpflegung der von
Hungersnot bedrohten Bevölkerung Sorge zu tragen. Und
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1635
der russische Staat trifft auch seine „Massnahmen“. Vor allem
wurde das gesamte Verpflegungswesen den Händen der länd¬
lichen Selbstverwaltungsorgane, der Semstwos, entzogen und
gänzlich den administrativen Behörden übertragen. Dies war
das weise Werk des weisen Staatsmanns v. P 1 e h w e, der da¬
durch eine allzu starke Annäherung der Selbstverwaltungskör¬
per an das Volk verhüten und etwaigen demagogischen Um¬
trieben der liberalen Semstwomänner wirksam entgegentreten
wollte. Da jedoch die Gefahr bestand, dass von Gemeinsinn
beseelte, um das Volkswohl besorgte Privatpersonen die Sätti¬
gung der Hungrigen, die Pflege der Erkrankten in die Hand
nehmen und gleichzeitig mit dem Stück Brod auch einen Licht¬
strahl in die Bauernhütte hineintragen könnten, so wurde,
ebenfalls vom unvergesslichen v. P 1 e h w e, jegliche private
Wohltätigkeit zur Verpflegung der Hungerleidenden untersagt.
Der eigentliche Kampf gegen die Hungersnot wurde nun von
der Regierung in folgender Weise geführt. Zuvörderst hatte
die Zensur mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass nur ja keine
Mitteilung über die heranrückende Gefahr in die Presse dringe,
und wenn es dessenungeachtet den hauptstädtischen Blättern
bisweilen glückte, die Argusse des Zensurkomitees zu hinter¬
gehen und Nachrichten über drohenden oder bereits aus¬
gebrochenen Hunger an die Oeffentlichkeit zu bringen, so ge¬
schah es in Form solch verschwommener, verschleierter No¬
tizen, dass das grosse Publikum über den wahren Umfang der
Not in Unkenntnis blieb. Die Provinzpresse konnte sich auch
diesen Luxus nicht erlauben und hatte nicht einmal das Recht,
die in den hauptstädtischen sog. „zensurfreien“ Zeitungen er¬
schienenen spärlichen Mitteilungen zu reproduzieren. Die amt¬
lichen Communiques trugen den Charakter sämtlicher russi¬
scher amtlicher Communiques: sie logen gewaltig. Nach der
Darstellung der offiziellen Kundgebungen war die Hungersnot
lange nicht so erheblich, wie sie sich in den Köpfen der „poli¬
tisch unzuverlässigen“, „nicht wohlgesinnten“ Elemente malte.
Die für die Bekämpfung des Volkselends ausgeworfenen Sum¬
men kamen demgemäs erstens viel zu spät und waren zweitens
viel zu ungenügend. Und von diesen unzureichenden Geld¬
mitteln verschwanden überdies, wie gegenwärtig dokumen¬
tarisch nachgewiesen, 75 — 80 Proz. in den Taschen der Be¬
amten. von der höchsten bis zur niedersten Instanz. Das waren
die ..Massregeln“, welche die russische Regierung in Zeiten
der Hungersnot zu ergreifen pflegte.
Als Herr v. P 1 e h w e unfreiwillig das Zeitliche segnete,
veränderte sich das Bild ein wenig zum Bessern. Die Privat¬
initiative durfte nun auch ihr Scherflein zur Linderung des
Elends, zur Behebung der Not beitragen. Gelegenheit dazu bot
sich leider reichlich genug. Im Zeitraum von 1900 bis 1906
gab es v i e r Hungerjahre. Von diesen ragt durch die Grösse
des von Missernte betroffenen Gebietes und durch die Intensität
des Hungers und seiner Folgeerscheinungen das verflossene
Jahr hervor. 24 Gouvernements und 2 umfangreiche Bezirke
waren von Misswachs heimgesucht. Die Erfahrung hatte ge¬
lehrt, dass nicht nur die von der Regierung assignierten Sum¬
men zum allergrössten Teile an den Händen der Beamten kle¬
ben blieben, sondern dass auch das den Bauern zur Verpflegung
oder als Saatfrucht zur Verfügung gestellte Getreide teils un¬
zureichend. teils von sehr schlechter Eigenschaft war. Manche
Landräte händigten das Getreide überhaupt nicht aus und gaben
die hungernde Bevölkerung ihrem Schicksal preis. Diese Er¬
wägungen veranlassten die sog. gesamtlandschaft¬
liche Organisation, den Verband aller Gouvernements-
semstwos, welche sich während des ostasiatischen Krieges zu¬
sammengetan hatten, um mit vereinten Kräften die Pflege der
kranken und verwundeten Krieger zu fördern, auch während
des nun hereingebrochenen Massenelends ihre fruchtbringende
Tätigkeit fortzusetzen, ihre Mittel und Kräfte der Ernährung
der Hungrigen, der Pflege der Erkrankten dienstbar zu machen.
An die Spitze der gesamtlandschaftlichen Organisation traten
behufs erfolgreicher Verwirklichung ihrer neuen Aufgaben die¬
selben Personen, welche auf dem Kriegsschauplatz im fernen
Osten ihre Energie, Umsicht und Sachkenntnis in vorzüglich¬
ster Weise bewährt hatten. Um ihre Wirksamkeit auf dem
Lande möglichst zu erleichtern und in den Augen der Admini¬
stration gewissermassen zu legalisieren, um die gewöhnlichen
Zweifel der Bureaukratie an der „Wohlgesinntheit“ und „poli¬
tischen Zuverlässigkeit“ der Volksküchen und Krippen zu be¬
seitigen, beschloss die Organisation die Gesellschaft vom Roten
Kreuz zur Mitarbeit zu bewegen, sich mit dieser für die bevor¬
stehende Campagne zu vereinigen und sich unter den Schutz
des Banners vom Roten Kreuz zu stellen. Die getroffene Ver¬
einbarung sicherte der gesamtlandschaftlichen Organisation
möglichste Selbständigkeit, dabei aber auch vollsten Schutz
des Roten-Kreuz-Banners zu.
Weite Kreise der russischen Bevölkerung, sowie fast die
gesamte fortschrittliche Presse waren mit diesem Pakt ausser¬
ordentlich unzufrieden. Es wurde geltend gemacht, dass die
Gesellschaft vom Roten Kreuz durch und durch von bureau-,
kratischem Geiste erfüllt sei, dass sie während des Kriegs ihre
Leistungsunfähigkeit deutlich an den Tag gelegt habe, dass be¬
deutende Unterschlagungen in ihr vorgekommen seien, dass
das Volk ihr das grösste Misstrauen entgegenbringe. Die
Aerzte, welche in sämtlichen Hungerjahren in den ersten
Reihen der Kämpfer gegen das Volkselend standen, welche bei¬
nahe die gesamte Last der Verlegung der Hungrigen und Kran¬
ken auf ihren Schultern zu tragen hatten, erwiesen der Ver¬
einigung mit dem Roten Kreuz am meisten Opposition. Da aber
die gesamtlandschaftliche Organisation in dem Roten Kreuz
einen festen Rückhalt zu besitzen wähnte und ihre Verbindung
mit demselben nicht auflösen wollte, so ergriff die Pirogoff-
Aerztegesellschaft die Initiative zur Schaffung einer zweiten
Organisation unter der Bezeichnung : „Soziales Komitee
der Fürsorge für die Hungernde n“. Der Pirogoff-
Gesellschaft schlossen sich an: die Moskauer Landwirtschaft¬
liche Gesellschaft, die Freie Oekonomische Sozietät in Peters¬
burg und etwa 20 andere Körperschaften. Geldmittel waren
bald vorhanden, die Verpflegung wurde sachgemäss organisiert,
unter Leitung von Aerzten stehende Detachements in die hun¬
gernden und von Seuchen betroffenen Ortschaften entsandt,
Volksküchen begründet, Krippen eröffnet, Lazarette und Iso¬
lierungsstationen eingerichtet usw. Beide Vereinigungen —
die gesamtlandschaftliche Organisation und das soziale Für¬
sorgekomitee — arbeiteten unter Anspannung aller Kräfte
nebeneinander zum Wohle der Bevölkerung. Den Aerzten
standen teils Studierende der Medizin, teils opferwillige Män¬
ner, Frauen und junge Mädchen zur Seite, welche von den
humansten Gefühlen beseelt ihre Kräfte in den Dienst der
guten Sache stellten. *
Da wollte es das Verhängnis, dass Russland im Oktober
1905 eine „Verfassung“, sowie sämtliche bürgerliche „Frei¬
heiten“ zugesagt erhielt und auf den Posten des ersten „kon¬
stitutionellen“ Ministers des Innern Se. Exzellenz Herr Ge¬
heimrat Peter Durnowo berufen wurde. Bereits unter
seinem Vorgänger, dem berühmten Schöpfer des nun aus¬
einandergejagten russischen Parlaments, Herrn B u 1 y g i n,
wurden dem sozialen Fürsorgekomitee, wie auch der gesamt¬
landschaftlichen Organisation bei der Bekämpfung von Hun¬
gersnot und Seuchen allerlei Schwierigkeiten in den Weg ge¬
legt, allerlei Hindernisse entgegengesetzt, allerlei Unannehm¬
lichkeiten und Schikanen bereitet. Das alles war jedoch ein
reines Kinderspiel im Vergleich mit den rücksichtslosesten Ver¬
folgungen und den härtesten Bedrückungen, denen gerade in
der konstitutionellen Aera die lokalen Organisationen der bei¬
den Hilfsvereine ausgesetzt waren. Eine Reihe von Gouver¬
neuren gestattete überhaupt nicht die Errichtung von Volks¬
küchen, die Schaffung von Fürsorgestellen und die Entsendung
von ärztlichen Verpflegungsdetachements in die ihnen unter¬
stellten Gebiete. Andere Gouverneure wieder gestatteten nicht
die Einfuhr und die Verteilung des gespendeten Getreides und
Saatguts in den vom Misswachs betroffenen Ortschaften.
Wieder andere Administrativpersonen verboten strengstens
ihren Untergebenen das Sammeln von Geldspenden für die
hungernden Bauern. War das gewissermassen die Defensive,
so gingen die Regierungsbehörden bald zur Offensive über.
Die Leiter und Teilnehmer der ärztlichen Verpflegungs¬
kolonnen, die Organisatoren und Verwalter der Volksküchen
und Krippen: Aerzte. Studenten. Mädchen, Frauen wurden
teils verhaftet und in den zahlreichen russischen Gefängnissen
bis auf weiteres aufgehoben, teils ausgewiesen und aus ihrem
Wirkungskreise per Schub entfernt. Grund für dieses Vor¬
gehen: „Gespräche mit den Bauern“1). An vielen
1636
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
Orten wurden die Volksküchen von den Gouverneuren kraft
der ihnen zustehenden Diskretionsgewalt geschlossen, und
zwar aus dem Grunde, weil die Volksküchen „die G e m ü t e r
erregen und Leidenschaften wachrufen 1).
Besonders zeichnete sich der Gouverneur von Kasan aus. Das
Gouvernement Kasan war ganz besonders schwer von Miss¬
ernte heimgesucht worden, und die Hungersnot hatte dort ge¬
waltige Dimensionen angenommen. Es kamen Fülle vor, dass
Eltern Selbstmord begingen, um nicht die unsäglichen Qualen
ihrer vor Hunger dahinsiechenden Kinder mitansehen zu
müssen. In den Dörfern grassierten Skorbut, Flecktyphus,
Ergotismus. Die Pirogoffgesellschaft hatte dort ein Lokalhilfs¬
komitee eingerichtet, mehrere ärztliche Verpflegungsdetache¬
ments ausgerüstet und 15 Volksküchen eröffnet. Obgleich alle
vom Gesetz vorgeschriebenen Formalitäten dabei auf das pein- |
lichste beobachtet wurden, verfügte trotzdem der Gouverneur
von Kasan am 16. März d. J. die Auflösung des Zweigkomitees
und die Schliessung sämtlicher Volksküchen, wobei die Schlies¬
sung in der denkbar rohesten Form erfolgte: die Suppe wurde
von den Polizeibeamten auf den Fussboden geschüttet, das Brot
den Hunden auf der Strasse vorgeworfen und die hungrigen
Erwachsenen und Kinder hinausgejagt. Kurz darauf begannen
im Gouvernement Kasan Todesfälle an Hunger vor¬
zukommen.
Die Krone des Ganzen bildete jedoch der Erlass des Mi¬
nisters des Innern Herrn Durnowo, vom 24. November v. J.,
durch welchen es untersagt wurde, Bauern, die sich in irgend
einer Weise an Agrarunruhen beteiligt hatten, Verpflegung zu
gewähren oder Saatfrucht zuzuweisen; Hilfe wolle nur den¬
jenigen Bauern zu teil werden, welche der Agrarbewegung
völlig fern standen. Der Sinn des Erlasses ist klar: Massen¬
hinrichtung durch Hunger für politische Ver¬
gehen.
Die Ironie des Schicksals wollte es, dass nicht nur das
unter der Führung der Pirogoffgesellschaft stehende soziale
Fürsorgekomitee, sondern auch die unter dem Schutz des
Banners vom Roten Kreuz stehende gesamtlandschaftliche Or¬
ganisation allen erdenklichen Verfolgungen ausgesetzt war.
Ihre Bevollmächtigten wurden ausgewiesen, ihre Mitarbeiter
verhaftet, ihre Einrichtungen zunichte gemacht. Die höchst
loyalen Herren vom Vorstande der Organisation hielten es
für angebracht beim Minister des Innern über das durch nichts
gerechtfertigte Vorgehen der Administration Beschwerde zu
führen, und am 19. März d. J. erschien bei Herrn Durnowo
der Generalbevollmächtigte der gesamtlandschaftlichen Or¬
ganisation Fürst Orbeliani, um sich persönlich über die gegen
dieselbe gerichteten feindseligen Massnahmen mehrerer Gou¬
verneure zu beklagen. Ich kann mich nicht enthalten, hier das
denkwürdige Gespräch nach dem eigenen Berichte des Fürsten
absolut wortgetreu anzuführen, damit der deutsche Leser sieht,
warum die russische Regierung beim Volke so wenig beliebt
ist, und einen Einblick gewinnt, warum die Reichsduma ein so
vorzeitiges Ende gefunden. Nachdem Fürst Orbeliani seine
Beschwerden vorgetragen, schnauzte ihn Herr Durnowo fol-
gendermassen an:
„Ich werde mit der gesamtlandschaftlichen Organisation
so verfahren, wie Sie sich es gar nicht vorstellen können:
die Organisation wird einfach zu existieren aufhören. Sie
wissen ja ausgezeichnet, wer ich bin und was ich will. Ich
liebe es geradeaus und ohne Umschweife vorzugehen. Wäre
ich früher Minister gewesen, so hätte ich die Schaffung der
landschaftlichen Organisation gar nicht einmal zugelassen, da
ich die Fütterung von Hungrigen für u n -
m oralischhalte . . .“
Der Fürst wagte darauf einzuwenden, dass angesichts der
drohenden Ausbreitung von Seuchen und der verzweiflungs¬
vollen Lage der von Missernte betroffenen Bevölkerung es
überaus schwierig sei, einen anderen Modus der Hilfsaktion
ausfindig zu machen, als eben die private Wohltätigkeit. Wo¬
rauf Herr Durnowo erwiderte :
„Ich werde es für keinen Fall dulden, dass man mit der
einen Hand Brot reicht, mit der anderen eine Proklamation
und mit dem Munde zum Volke noch etwas Schlimmeres
spricht, als was in der Proklamation gedruckt steht.“ Dem
Minister sei es genau bekannt, dass in den Volksküchen einiger
Gouvernements Propaganda betrieben worden sei. „Sie ziehen
zu Ihrer Tätigkeit den dritten Stand heran, gegen den man
ankämpfen muss, anstatt zu seinen Diensten Zuflucht^ zu neh¬
men. Russsland brauchtkeinen dritten Stan d.“
Als dem vor Erstaunen starren Fürsten Orbeliani die
Antwort in der Kehle stecken blieb, setzte der Minister fort:
„Man behauptet, ich hätte viele Personen eingelocht, nein, ich
habe zu wenig eingesperrt2): ich hätte dreimal soviel hinter
Schloss und Riegel setzen müssen. Diejenigen Leute, welche
am 30. Oktober amnestiert worden sind, begannen bereits nach
zwei Tagen Bomben anzufertigen, ungeachtet dessen, dass sie
damals nichts wussten und keine Veranlassung hatten, anzu¬
nehmen, es werde ihnen stets das Recht eingeräumt werden
mit roten Fahnen einherzumarschieren (sic!). Ich habe einen
ganz bestimmten Standpunkt eingenommen und bin der Mei¬
nung, dass ich die Ueberreste der russischen Staatsordnung
vor dem Verderben rette. Ich will, dass die Ausführungs¬
organe des Ministeriums, die Gouverneure, sich wenigstens
zur Hälfte von meinen Ideen durchdringen lassen, aber sie tun
es einstweilen leider bloss zu einem Viertel. Es ist wahr,
bei ihren Handlungen lassen sie sich bisweilen von persön¬
lichen Motiven beeinflussen, und dagegen ist es schwer anzu¬
kämpfen; abgesehen davon gibt es unter meinen Unterstellten,
wie überall, kluge Leute und Dummköpfe. Meine Beamten
wissen, dass zwei Arten von Insubordination existieren: den
Befehl nicht ganz ausführen und ihn viel zu weitgehend aus¬
führen. Im ersten Falle strafe ich sie unbarmherzig, im zweiten
_ _ nehme ich sie unter meinen Schutz. Daher kommt es eben,
dass meine Untergebenen plus royalistes zu sein pflegen que
le roi . . . .“
Also sprach Durnowo.
Die Pirogoffgesellschaft verzichtete darauf, sich von diesem
russischen Staatsmann eine sozialpolitische Vorlesung halten
zu lassen, sondern wartete den Zusammentritt der Reichsduma
ab, welcher sie eine von Dr. D. Schbankoff verfasste und
Unterzeichnete Petition: „Zügelt die Gouverneure“ überreichte.
Die Reichsduma beschloss in ihrer Plenarsitzung die Regierung
wegen der in dieser Denkschrift enthaltenen 1 atsachen zu inter¬
pellieren, und in einer der letzten Sitzungen der Duma beant¬
wortete der neue Minister des Innern S t o 1 y p i n die Inter¬
pellation.
Herr S t o 1 y p i n begann mit der Erklärung, dass die Re¬
gierung auch in diesem Jahre vor die Notwendigkeit gestellt
sei, kolossale Mittel des Reichsbudgets für die Hilfsaktion
zu gunsten der im verflossenen Jahre von Misswachs und
Hunger Heimgesuchten aufzuwenden. In den nächsten Tagen
werde das Ministerium einen Gesetzentwurf betreffend die
Genehmigung einer Ausgabe von vielen Millionen Rubel für
diesen Gegenstand bei der Reichsduma einbringen. Daraus
sei zu ersehen, dass die Hilfsmassnahmen von der Regierung
rechtzeitig in Erwägung gezogen werden. Hierauf entwirft
der Minister ein ausführliches Bild von allen den Vorkeh¬
rungen, welche die Regierung im vorigen Jahre zur Be¬
kämpfung der Hungersnot und ihrer Folgen getroffen habe.
Was die im Gefolge des Hungers aufgetretenen epidemischen
Krankheiten anlange, so seien die in der Presse hierüber ver¬
breiteten Nachrichten grösstenteils übertrieben. Aller¬
dings seien im Gouvernement Woronesch Fälle von Unterleibs¬
typhus, in den Gouvernements Saratow und Kasan Fälle von
Skorbut, wieder anderswo Flecktyphus vorgekommen, aber
dagegen habe die Regierung rechtzeitig Massregeln ergriffen.
Der Ministerialerlass, welcher die in den Agrarunruhen be¬
teiligten Bauern von der Verpflegung ausschliesst, erstrecke
sich nicht auf ihre Familien, sondern auf das Fa¬
milienoberhaupt allein. Was nun die Behinderungen der pri¬
vaten Fürsorgebestrebungen betreffe, so seien nur die¬
jenigen Personen auf gewisse Hindernisse
gestossen, welche ausser der Wohltätigkeit
sich noch mit einer Tätigkeit anderer Art be¬
fassten. So seien z. B. im Gouvernement Kasan einige
2) Die Zahl der Verhafteten betrug damals (im März d. J.) etwa
72 000 Personen.
Q Ipsissima verba offizieller Verfügungen.
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1637
Schwierigkeiten für diejenigen Volksküchen erwachsen, deren
Organisatoren verhaftet und zur gerichtlichen Verantwortung
gezogen wurden (sic!).
Im Kreise Jelissawetgrad habe der Generalgouverneur in
der Tat das Anerbieten der Pirogoffgesellschaft dorthin ein
ärztliches Verpflegungsdetachement zu entsenden abge¬
lehnt, aber das sei dadurch zu erklären, dass der genannte
Kreis mit ärztlicher Hilfe vollauf versorgt gewesen und dort
keinerlei Erkrankungen beobachtet worden seien. Im Kreise
Epiphan seien jüngst den Mitgliedern der Freien ökonomischen
Sozietät deshalb Schwierigkeiten in den Weg gelegt worden,
weil mehrere Personen, welche sich mit der Errichtung von
Volksküchen befassten, vor Gericht gezogen wurden. Dem
Minister scheine es, dass die Nichtausübung der Strafgewalt
gegen solche Personen, welche durch öffentliche Fürsorge¬
tätigkeit ihre gesetzwidrigen Absichten verhüllen, verbreche¬
risch sei. In Zukunft werden weder lokale Institutionen noch
Privatpersonen in ihrer Wirksamkeit für das Gemeinwohl von
den Ortsbehörden behindert werden.
Also sprach Stolypin.
Abgeordneter der Reichsduma Dr. W. Dolshenkow,
der Veteran der Semstwomedizin in Russland, widerlegt den
Minister in allen Punkten. Er weist nach, wie ungenügend die
Regierung ihren Pflichten der hungerleidenden Bevölkerung
gegenüber nachgekommen ist. Er schildert die Wirksamkeit
der Pirogoff-Aerztegesellschaft und legt dar, wie grundlos die
gegen sie erhobenen Anschuldigungen seien. Die Detache¬
ments des sozialen Fürsorgekomitees haben sich mit keiner
politischen Agitation befasst; häufig sei ihre Tätigkeit unter¬
sagt worden, noch ehe sie begonnen habe.
Abgeordneter W a s s i 1 j e w, Mitglied des Kasanschen Füi -
sorgekomitees, stellt die Angaben des Ministers betreffend die
Vorgänge in den Volksküchen des Gouvernements Kasan
zurecht.
Abgeordneter Fürst Lwow, Vorsitzender der gesamt¬
landschaftlichen Organisation, kritisiert die Massnahmen der
Regierung behufs Bekämpfung der Hungersnot, schildert die
grund- und sinnlosen Verfolgungen, denen die Organisation
ausgesetzt war, und widerlegt die vielfachen unrichtigen An¬
gaben des Ministers.
Die Tribüne besteigt der Deputierte A 1 a d j i n, das Enfant
terrible der Duma.
,Die soeben vom Herrn Minister abgegebene Erklärung
kann man füglich in zwei Teile zerlegen: in Eigenlob für die
Vergangenheit und in die Tendenz auch in Zukunft für recht¬
zeitiges Eingreifen Lorbeeren zu ernten . Wenn jemand
das russische Volk an den Bettelstab gebracht hat, so sind das
die Herren (auf die Ministerbank zeigend), welche rechts von
mir sitzen (Bravorufe und Beifall links) . . . Eine der Helden¬
taten dieser Herren werde ich gleich erzählen. Im Verpfle¬
gungskomitee, das beim Ministerium des Innern unter dem
Vorsitz des Herrn Vatazzi besteht, lief ein Antrag des
Herrn Wirkl. Staatsrat G u r k o ein, allen an der Agrarbe¬
wegung beteiligten Bauern die Verpflegung zu entziehen (lär¬
mende Zwischenrufe auf der Linken). Das Komitee lehnte
diesen Antrag ab, sogar das bureaukratische Komitee lehnte
ihn ab! Da unterbreitete Herr Wirkl. Staatsrat G u r k o diesen
Antrag seinem Vorgesetzten, dem Minister des Innern, Herrn
Geheimrat Durnowo (Lärm und Zwischenrufe: nieder mit
ihnen!), und dieser erliess seine bekannte Verfügung. Es muss
noch bemerkt werden, dass Herr Wirkl. Staatsrat Gurko
gegenwärtig zum Leiter des gesamten Verpflegungswesens im
Reiche ernannt ist (Rufe auf der Linken: fort mit ihm! nieder
mit ihm!). Ich werde auch gleich nachweisen, dass nicht nur
den Familienvätern, sondern auch ihren Frauen und Kindern
das Brot entrissen wurde (Pfuirufe).“ Aladjin weist dies
an der Hand von Tatsachen und Dokumenten nach. „Was bei
ihnen unter der Nase vorgeht, wissen die Minister nicht und
werden es auch nicht wissen. Dann sollen sie wenigstens
so viel Anständigkeit besitzen, nicht mit solchen Erklärungen
hier zu erscheinen, auf welche sie kein Anrecht haben. Jetzt
gehe ich zu der künftigen Tätigkeit der Herren Minister über.
Als es sich um Amnestie handelte, um Aufhebung des Kriegs¬
zustandes, des verstärkten Schutzes und der übrigen Aus¬
nahmegesetze, da beeilten sich unsere Herren Minister selbst¬
redend nicht; jetzt dagegen behaupten sie, dass sie sich recht¬
zeitig rüsten, den Hungernden zu Hilfe zu kommen. Unwill¬
kürlich drängt sich die Frage auf: woher diese Eile? Die
Antwort darauf finde ich in der Erklärung des Herrn Ministers:
daher rechtzeitig, weil es sich um die Verausgabung von vielen
Millionen handelt. Jedesmal, wenn viele Millionen zu ver¬
ausgaben sind, erscheinen die Herren Minister rechtzeitig auf
dem Plan (Beifall, Zwischenrufe: sehr wahr!), und wir kennen
sehr gut die Resultate ihres Erscheinens: drei Viertel der
assignierten Gelder bleiben in ihren Taschen, angefangen vom
Ministerium des Innern (Lärmender Beifall, Rufe: sehr wahr!).
Das russische Volk zu plündern versäumen die Minister nie¬
mals . . . Meiner Ansicht nach, meine Herren Abgeordneten,
besteht das wirksamste Mittel dem Volke zu helfen darin, dass
wir diese Volksangelegenheit in unsere eigenen, noch durch
nichts befleckten Hände nehmen . . . (Sich zu den Ministern
wendend:) Wann endlich werden Sie so anständig und ehrlich
sein, um Ihre Plätze zu räumen?“ (Rauschender Beifall, der
in eine Ovation für Aladjin übergeht; Rufe: nieder mit den
Ministern!).
In demselben Sinne sprach noch eine Reihe von Abge¬
ordneten, worauf die Reichsduma folgende Uebergangsformel
annahm :
„In Anbetracht dessen, dass die Hilfsaktion für die hunger¬
leidende Bevölkerung behindert wird durch die Uebergriffe
der Administration, welche sich dabei vom Gesichtspunkte der
politischen Zuverlässigkeit leiten lässt, und dass sie auch
fürderhin behindert werden wird, solange das gegenwärtige
Ministerium im Amte bleibt, ist die Reichsduma der Ansicht,
dass die Hilfstätigkeit unter Beteiligung der gesellschaftlichen
Elemente organisiert und die Ausarbeitung des Organisations¬
planes der Verpflegungskommission der Duma übertragen
werden muss, und geht zur Tagesordnung über“.
Mehrere Tage nach dieser denkwürdigen Dumasitzung
waren im Kreise Chwalynsk, Gouvernement Saratow, wegen
unerträglicher Repressalien seitens der Polizei vier ärztliche
Verpflegungsdetachements der Pirogoffgesellschaft genötigt,
ihre Tätigkeit einzustellen; mehr als 2000 Personen blieben
in tiefster Not hilflos zurück. Wieder einige Tage später, An¬
fang Juli, wurden im Kreise Ranenburg, Gouvernement
Rjäsan, auf Verfügung des Gouverneurs die vom Moskauer
Fürsorgekomitee errichteten Kindervolksküchen geschlossen,
dank dieser Massnahme blieben mehrere Tausend Kinder ohne
zweckmässige Nahrung während der heissesten Jahieszeit.
Die „revolutionäre“ Reichsduma wurde aufgelöst.
Dr. A. Dworetzky.
Vereins- und Kongressberichte.
Berliner medizinische Gesellschaft.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 1. August 1906.
Fortsetzung der Diskussion über die Behandlung der
Wurmfortsatzentzündung.
Herr G u 1 1 s t a d t spricht sich auf Grund der Statistik für eine
mehr operative Therapie aus. x .. ,
Herr Baginsky: Bei Kindern kann die Blinddarmentzündung
ohne akuten Anfall jahrelang larviert verlaufen und die Kinder her¬
unterbringen. Fehldiagnosen werden bei Kindern häufig gestellt
(Verwechslung mit Pneumonie). Gerade bei Kindern muss die Be¬
handlung sehr operativ sein. , T. , ... .nrr ..n
Herr Noeggerath hat Kaninchen nach Unterbindung den
Wurmfortsatz entfernt. In einem Teil der Versuche wurden der
Blinddarm und die Gefässe absichtlich malträtiert. Er kommt zu dem
Schlüsse, dass grosse Blutungen bei schwerer Operation nicht als
pathologische Veränderungen des Wurmfortsatzes aufzufassen sind.
Bei glatter Operation sind Blutungen wohl Zeichen einer patho¬
logischen Veränderung.
Herr Neumann: Es gibt ganz leichte Falle von Blinddarment¬
zündung, die unter dem Bilde eines Magenkatarrhs verlaufen, und
sich nur durch die lokale Schmerzhaftigkeit von diesem unterscheiden.
Solche ganz leichte Fälle, die dem Arzt häufig zur Beobachtung
kommen, heilen oft. , , , . . ir.rll,tipn
Herr Ewald ist ebenfalls für ein mehr abwartendes Verhalten
in leichten Fällen, nur Kinder sollen sofort operiert werden, ln 7y,o
Proz. seiner Fälle fand er- einen akuten Anfang.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
1633
Herr Albu: Die Diagnose ist in 80 — 90 Proz. der Fälle sicher
zu stellen. Er unterscheidet leichte und schwere Fälle (mit peri-
tonitischer Reizung). Nur bei letzteren ist sofortige Operation nötig.
Herr Hermes spricht sich ebenfalls mehr für eine abwartende
Behandlung in leichten Fällen aus. Die Unterscheidung von Adnex¬
erkrankungen ist meist gar nicht so schwer. Die Leukozytose kann
vielleicht doch differentialdiagnostisch verwandt werden; er fand bei
eitriger Blinddarmerkrankung meist nur 20 — 30 000 bis höchstens
45 000, bei eitrigen Adnexerkrankungen 60 000 und mehr Leukozyten.
Herr Henke meint, dass aus den leichtesten anatomischen Ver¬
änderungen des Blinddarms in wenigen Stunden schwere Zer¬
störungen entstehen könnten, dass deshalb die geringfügigen Ver¬
änderungen mancher chirurgisch gewonnener Präparate nichts be¬
weisen. Er spricht sich für die Frühoperation aus.
Herr Seefisch ist für die Operation im anfallsfreien Intervall
unter allen Umständen. J a p h a - Berlin.
Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M.
(Offizielles Protokoll.)
Ordentliche Sitzung vom 2. April 1906.
Vorsitzender: Herr Emanuel Cohn.
Schriftführer: Herr Rosengart.
Herr Boit: Demonstrationen.
Herr Julius Friedländer: Demonstration eines Tumors im
Rückenmarkskanal.
Herr H. J. Rothschild: Zur Bekämpfung der Säug¬
lingssterblichkeit.
Die Säuglingssterblichkeit ist in den letzten 200 Jahren nicht
merklich gesunken (Q o 1 1 s t e i n). Die Todesursachenstatistik ist
unbrauchbar, weil für uneheliche Kinder der Kreisarzt, nicht der be¬
handelnde Arzt, den Todesschein ausfertigt. Man hat viele Jahre
die beste Methode der künstlichen Säuglingsernährung und dann deren
richtige Handhabung herauszufinden gesucht. Jetzt ist man nahezu
allenthalben überzeugt, dass nur die vermehrte Ernährung an der
Mutterbrust die Sterblichkeit herabsetzen wird. (Die nordischen
Länder; Kreis Westerburg, Rgb. Wiesbaden u. a.) Bei den augen¬
blicklich vielerorts einsetzenden Bestrebungen der Säuglingsfürsorge
scheint nicht genügend Wert auf die Förderung des Stillens gelegt
zu werden, abgesehen davon, dass ein Teil des bereits Geschaffenen
oder eben im Entstehen Begriffenen nur den unehelichen Säuglingen
zugute kommen soll. Es ist dringend geboten, dass die Aerzte an die
Spitze dieser Bestrebungen treten und mit Nachdruck auf das Ent¬
schiedenste verlangen, dass bei allen Massnahmen das
Hauptgewicht auf die Förderung des Stillens ge¬
legt wird.
Vortragender bespricht eine Reihe von Massnahmen, bezw.
macht Vorschläge, wie das Stillen zu fördern ist. Aufklärung und
Belehrung der Frauen durch Aerzte und Berufspflegerinnen. Be¬
kämpfung der Reklame für künstliche Nährmittel und „gekünstelte
Milchen“. Ausbildung der Hebammen in der Säuglingsernährung
durch Kinderärzte, nicht durch die „Verwaltungsbeamten“, die Kreis¬
ärzte, wie das jüngst die Regierung im Reichtstag erklärte. Ferner
Belehrung aller Pflegerinnen und Aufsichtsdamen der Hauspflege-,
Wöchnerinnen-, Unterstützungsvereine etc. Verbesserung der Merk¬
blätter. (Das vom Standesamt in Frankfurt verteilte Merkblatt wird
von nur ca. 40 Proz. der dieserhalb befragten Frauen gelesen, nur
von 3 Proz. der Inhalt befolgt.) Broschüren (N e t e r) und Zeitungs¬
artikel sind ziemlich wertlos. Staat und Gesetzgebung leisten in¬
direkt nur Geringes dafür, dass die Frauen stillen können (Wöchne¬
rinnenunterstützung). Der soziale Grund, dass die Frauen nicht
stillen, weil sie ihrem Lebensunterhalt nachgehen müssen, wird für
Frankfurt wie auch anderwärts als nicht sehr schwerwiegend ver¬
anschlagt; es dürften ca. 2000 von 9134 Gebärenden pro 1904 ge¬
zwungen sein, sich ihr Brot selbst zu verdienen. Für diese, wie über¬
haupt für die sozial schlecht gestellten Frauen können die Krippen
viel leisten (Oppenheimer), ferner Vereine, die die Frauen mit
Geld und Naturalien unterstützen. Auch dieser letztere Teil der
Fürsorge muss grundsätzlich durch sachverständige Aerzte geleitet
werden. Polikliniken und Beratungsstellen etc. können für die För¬
derung des Stillens wenig leisten, weil die Kinder meist erst zu einer
Zeit gebracht werden, in der die Mutterbrust bereits versiegt ist.
Vortr. konnte in einem Zeiträume von 8 Jahren in seiner Poliklinik
und Sprechstunde für Säuglingsernährung feststellen, dass auf
ca. 100 kranke Säuglinge nur 1 Säugling wegen Ernährungsfragen ge¬
bracht wird, im Gegensatz zur Privatpraxis. Milchküchen und An¬
stalten und Einrichtungen zur Verteilung von Kindermilch sollen prin¬
zipiell unter ärztliche Aufsicht gestellt werden. Die betr. Aerzte
sollen die Ernährung der Säuglinge streng kontrollieren und mit der
Abgabe der Milch zugunsten der Brusternährung zurückhaltend sein.
(Kongress für Milchbereitung in Paris 1905 über gouttes de lait und
consultations de nourrissons.) Der Wert der letztegenannten Ein¬
richtungen ist bei der Frage der künstlichen Säuglingsernährung zu
erörtern.
Diskussion: Herr Gelhaar: Der Betrieb der Krippen
des hiesigen Krippenvereines wird genau in der von dem Herrn Vor¬
redner als Ideal hingestellten Weise gehandhabt. Den Müttern ist
in der Arbeitspause zum Stillen Gelegenheit gegeben. Eine Störung
des Betriebes wurde hierbei nicht beobachtet. Stillende Mütter er¬
halten als Stillprämie Ende der Woche 10 Pf. pro Tag, die Hälfte des
täglichen Entgeltes, zurück. Belehrende Vorträge sind für die nächste
Zeit in Aussicht genommen. Wegen der Volksvorträge über Säug¬
lingspflege wurde in diesem Winter davon Abstand genommen.
Herr Rosenhaupt: Ich kann die Skepsis des Herrn Roth-
s c li i Id den Erfolgen der Beratungsstellen gegenüber nicht teilen.
Nach meinen Erfahrungen werden sie nicht so selten von Müttern
noch gesunder Säuglinge aufgesucht, wie nach denen des Referenten.
Wiewohl das Betonen des Stillens und die Unterstützung der
natürlichen Ernährung im Vordergrund aller Bestrebungen zur Be¬
kämpfung der Säuglingssterblichkeit stehen muss, so können doch
öffentliche Milchküchen auch etwas leisten, wenn sie organisch
mit Beratungsstellen verbunden sind und im Zusammenhang
mit ihnen immer wieder der Wert der Brustnahrung gepredigt wird,
ein Punkt, auf dem ich bei der letzten Tagung der Vereinigung süd¬
westdeutscher Kinderärzte schon nachdrücklich hingewiesen habe.
Auch von Merkblättern verspreche ich mir mehr als Referent.
Freilich leiden die meisten, auch die der Standesämter, an dem Fehler,
dass sie umfangreiche, detaillierte Vorschrift über die künstliche Er¬
nährung geben. Solche Schemata sind an und für sich gefährlich; denn
die künstliche Ernährung muss im Einzelfall durch den Arzt fest¬
gesetzt werden. Vor allem aber erscheinen sie durch ihren Umfang
als die Hauptsache, der gegenüber die Mahnung zum Stillen ganz
zurücktritt.
Ich erlaube mir nun, Ihnen eine Merktafel vorzulegen, die
ich für die Säuglingspoliklinik und Beratungsstelle für Säuglings¬
ernährung habe anfertigen lassen und die nach Form und Inhalt, wie
ich hoffe, geeignet ist, von den Müttern dauernd beachtet zu werden.
(Vergl. Originalmitteilung in No. 31 der Münch, med. Wochenschr.)
Herr Ei er mann hält das Vorgehen des Vortr. für sehr
dankenswert; denn der Nichtpädiater musste schon seit Jahren den
Eindruck haben, dass sich die ganze Kinderheilkunde in eine Lehre
von der „unnatürlichen“ Säuglingsernährung verliere.' Wenn aber
Herr Rothschild sage, dass an dem jetzigen Zustande auch die
Gynäkologen und Entbindungsärzte ein gut Teil Schuld trügen, so
müsse er dem widersprechen. Im Gegenteil seien es gerade diese,
die seit vielen Jahren immer und immer wieder darauf drängen, dass
die Brusternährung zum wenigsten versucht werde. Doch dürfe
natürlich auch dieser Standpunkt nicht übertrieben werden, wenn
nicht Mutter und Kind darunter leiden sollen. Wenn der Vortr.
aber weiter meine, die sogen, „soziale Frage“ sei nur zum kleinen
Teile dafür verantwortlich zu machen, dass die Mütter ihre Kinder
nicht selbst ernährten, so sei dem entgegen zu halten, dass man den
Begriff der „sozialen Frage“ wesentlich weiter fassen müsse, ais dies
Herr Rothschild getan habe. Denn auch konstitutionelle Erkran¬
kungen, allgemeine Schwäche und dergl. seien — zum mindesten in¬
direkt — oft Folge der sozialen Lage der Mutter oder deren Vor¬
fahren. Berücksichtige man nur dies in gehöriger Weise, dann werde
man ohne weiteres zugeben müssen, dass die „soziale Frage“ ein
ganz wesentlicher, vielleicht der wesentlichste Faktor in dieser
Frage sei.
Endlich ist in der Diskussion von seiten des Herrn Rosen¬
haupt der Vorschlag gemacht worden, die ganze Stadt mit einem
Netz von Säuglingsberatungsstellen zu überziehen. Redner hält diesen
Vorschlag für unnötig. Die gegebenen Beratungsstellen seien der Arzt
und die in hinreichender Zahl bereits vorhandenen Kinder-Polikliniken.
Und etwas wesentlich anderes als Polikliniken würden die Beratungs¬
stellen auch nicht sein. Das, worauf es ankomme, sei, die Eltern
oder Mütter daran zu gewöhnen, dass sie ihre Kinder nicht erst zum
Arzt bringen, wenn sie krank sind, sondern sich schon Rat erholen,
solange ihre Kleinen noch körperlich wohl sind. Dann werde man
in dieser Frage einen gewaltigen Schritt vorwärts gekommen sein.
Herr Albert Feuchtwan ger: Ich bin nicht der Meinung
eines der Herrn Vorredner, dass hauptsächlich soziale Gründe die
Mütter abhalten, ihrer Stillpflicht zu genügen. Die Statistik (z. B.
die Hohlfelds in Leipzig) lehrt, dass von 1000 Frauen nur 146
aus sozialen Gründen nicht stillen konnten. Der wahre Grund des
Nichtstillens ist angebliche Krankheit und vermutliche Stillungs¬
unfähigkeit. Wir müssen mit dem alten Aberglauben brechen, dass
unsere Frauen nicht stillen können. Von 100 Frauen können 95 stillen
und nicht allein dies. Die Erfahrungen in den modernen Säuglings¬
heimen lehren, dass 1 Frau oft 2—3 Kinder genügend stillen kann.
Was die Merkblätter des Frankfurter Standesamts betrifft, so
sind sie unzweckmässig und führen die Mütter irre. Nicht nach dem
Alter, sondern nach dem Gewicht des Kindes richtet sich die
kalorimetrisch berechnete Nahrungsmenge.
Herr Ernst Kahn findet die Säuglingssterblichkeit in Frankfurt
mit 18—20 Proz. hinreichend gross, um mit allen Mitteln auf ihre Be¬
kämpfung hinzuwirken. In den bestehenden Spitälern ist für eine aus¬
reichende Verpflegung kranker Säuglinge nicht genügend Vorsorge
getroffen, da es an ausreichender Ernährung an der Brust mangelt.
Er fordert den ärztlichen Verein auf, seine gewichtige Stimme bei der
14 August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1639
demnächst zu erwartenden Errichtung eines Säuglingsheims, auf
Grund der eingeleiteten Sammlungen, zu erheben, dass unter allen
Umständen in diesem die Ernährung an der Brust zu verlangen sei.
Herr H. Eulda: Die Angriffe des Herrn Deferenten gegen den
hier bestehenden Verein Kinderschutz sind unbegründet. Der Verein
ist hervorgegangen aus der Vormundschaft über jetzt etwa 300 Kinder,
die begreiflicherweise fast alle unehelich sind. Der Verein wäre aber
nach seiner Tendenz gewiss bereit, die ärztliche Aufsicht auch auf
weitere Kreise auszudehnen, wenn ihm die dazu nötigen Mittel zur
Verfügung stünden.
Herr Scholz macht darauf aufmerksam, dass Herr Kahn
das „frankfurter Kinderheim“' vergessen hat. Auch im Erankfurter
Kinderheim ist man bemüht, die natürliche Ernährung nach Möglich¬
keit durchzuführen. Uneheliche Kinder werden nur dann auf¬
genommen, wenn die Mutter durch Eintritt in die Anstalt die natür¬
liche Ernährung des Kindes sichert. Dass nicht immer eine ge¬
nügende Anzahl Ammen vorhanden ist, liegt an besonderen Schwierig¬
keiten, die Frankfurt in dieser Beziehung bietet.
Herr L. J. R o t h - Usingen: Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen
noch Mitteilung von einem Falle von Genickstarre (epidemische
Zerebrospinalmeningitis) bei einem 5 Monate alten Säugling aus
meiner Praxis zu machen, mit der Bitte, auf event. Vorkommen der
Erkrankung in ihrer Praxis aufmerksam zu achten. Die von mir
durch Lumbalpunktion gewonnene Zerebrospinalflüssigkeit
wurde hier (im Senckenberg sehen Institute) untersucht und
der Diplococcus intracellularis meningitis Weichselbaum (Meningo¬
kokkus) von Herrn Boit in Reinkultur gezüchtet (Prä¬
parat sehen Sie dort eingestellt), nachdem in mehreren sehr ver¬
dächtigen Fällen dieser Nachweis nicht gelungen war. Dies ist viel¬
leicht auf die grosse Empfindlichkeit des Erregers gegen Temperatur¬
einflüsse zurückzuführen; es wird daher empfohlen, die Flüssigkeit
möglichst sofort und ohne Wärmeverlust (warmgehalten) der Unter¬
suchungsstelle zuzuführen, event. durch Transport des Gefässes in
der Westen- oder Rocktasche.
Verein der Aerzte in Halle a. S.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 13. Juni 1906.
Herr E. Weber: Zur Funktionsprüfung des Magens
mittels der Sahli sehen Desmoidreaktion.
M. H.! Vor ungefähr 1 Jahr hat Prof. Sahli -Bern im
Korrespondenzbl. f. Schweiz. Aerzte No. 8 eine Methode an¬
gegeben, um den Magenchemismus unter natürlichen Verhält¬
nissen und ohne Anwendung der Schlundsonde einer
Prüfung zu unterziehen. Von den S c h m i d t sehen Unter¬
suchungen ausgehend, dass das rohe Bindegewebe nicht vom
Pankreassaft im Darm, sondern n u r in einem Magensaft von
annähernd normalem Gehalt an Pepsin und namentlich an
freier Salzsäure verdaut wird, benutzte Sahli solch rohes ;
Bindegewebe in Form von feinstem Rohkatgut, um damit aus
einer Kautschukmembran bestehende Beutelchen zu ver-
schliessen. In solches Beutelchen hüllte er eine Methylenblau¬
oder Jodoformpille ein, wie ich sie hier herumgebe. — Werden
solche „Desmoidbeutel“ unmittelbar nach dem gewöhnlichen
Mittagessen vorsichtig mit etwas Wasser geschluckt, nicht ge¬
kaut, so müsste, falls der Magen annähernd normalen Gehalt
an freier Salzsäure zur Verdauung des Katgutfadens hat, sich
das Beutelchen öffnen und das frei gewordene Methylenblau
oder Jodoform resorbiert werden. Für die Praxis ist am ein¬
fachsten die Verwendung von Methylenblau, da es nach seiner
Resorption den ^rin in auffallender Weise grünlich färbt.
Nach Darreichung einer Methylenblaupille fand Sahli bei
normalem Magenmechanismus am Abend desselben oder
spätestens im Verlaufe des nächsten Tages eine Grünfärbung
des Urins. Dieser positive Ausfall der Sahli sehen
Desmoidreaktion beweist demnach, dass der Magensaft einen
genügenden Gehalt an freier Salzsäure hat. Das Aus¬
bleiben der Reaktion deutet darauf hin, dass entweder
der Speisebrei mit Beutelchen zu frühzeitig in den Darm über¬
getreten ist, bevor der Ratgutfaden verdaut und gelöst werden
konnte — oder dass eine Insuffizienz der sekretorischen Funk¬
tion des Magens vorliegt. Geringere Grade von Insuffizienz
werden durch einen verzögerten Eintritt der Reaktion wahr¬
scheinlich gemacht.
Sahli berichtet ferner noch über einige wenige Fälle,
wo bei demselben Kranken die Desmoidreaktion nach einem
Probe f r üh s t ü c k einen negativen, nach einer Probe¬
rn a h 1 z e i t dann aber einen positiven Ausfall gegeben
hat. Er führt diese Differenz darauf zurück, dass das Probe-
frühstück gegenüber einer Probe m a h 1 z e i t nicht den
nötigen Reiz zu einer genügenden Absonderung freier Salz¬
säure auf die Magenschleimhaut abgegeben habe.
Aus diesen Sahli sehen Mitteilungen ist zunächst er¬
sichtlich, dass wir eine genaue Magendiagnose allein durch
die Desmoidreaktion ohne Zuhilfenahme der Sonde
nicht stellen können. Denn der prompte positive Ausfall der
Reaktion gibt uns z. B. über eine Hyperchlorhydrie keinen
Aufschluss und ein negatives Resultat lässt uns schwanken
zwischen der Annahme von Hypermotilität, Sub- oder An¬
azidität, Achylie, Karzinom u. a. mehr. Trotzdem glaubt
Sahli aber diese neue Methode höher zu stellen als die
älteren üblichen Untersuchungsmethoden. Er sagt u. a. ; „Viel¬
mehr glaube ich, dass die Desmoidreaktion im einzelnen Falle
nicht bloss darüber Aufschluss gibt, wie rasch der Magensaft
das Bindegewebe des Katgut zu lösen vermag, sondern in¬
direkt auch darüber, wie vollkommen die betr. Mahlzeit, zu
welcher das Desmoidbeutelchen gegeben wurde, verdaut
worden ist.“
Von verschiedenen Seiten, wie besonders von Eich ler,
Kühn und K a 1 i s k i (Berl. med. Wochenschr. 1905, No. 48,
Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 50 und Deutsche med.
Wochenschr. 1906, No. 5) ist die Sahli sehe Desmoidreaktion
in einer ganzen Reihe von Fällen stets bestätigt ge¬
funden und als ein guter Notbehelf überall da empfohlen worden,
wo aus irgend einem der mannigfachen Gründe eine Sonden¬
untersuchung nicht möglich ist. K a 1 i s k i geht sogar soweit,
dass er die verschiedenen Sekretionsgrade aus der Stärke und
dem zeitlichen Auftreten der Reaktion beurteilen will.
Die Sahli sehe Arbeit wie die Nachuntersuchungen von
Eichler, Kühn und K a 1 i s k i regten mich zur Nachprüfung
der Desmoidreaktion an, da ich an der zur allgemeinen Brauch¬
barkeit nötigen genügenden Sicherheit der Methode zweifelte.
Dank der gütigen Erlaubnis des Herrn Geh. Rat v. M e r i n g
durfte ich an einer Reihe von geeigneten Kranken in der Med.
Klinik meine Beobachtungen anstellen.
Die bei ungefähr 30 Kranken angewandte Sahli sehe
Desmoidreaktion fand sich in vielen Fällen be¬
stätigt unter Kontrolle der chemischen Untersuchung des am
gleichen Tage nach dem Probefrühstück ausgeheberten Magen¬
inhalts. Bei 7 Patienten versagte die Reaktion jedoch
ganz und zeitigte falsche Resultate. Die chemische
Untersuchung des Mageninhaltes nach Probefrühstück ergab
nämlich das F e h 1 e n freier Salzsäure, während die Desmoid¬
reaktion am gleichen Tage freie Salzsäure als vorhanden
vortäuschte. Wurde in mehreren dieser Fälle zur Kontrolle
auch der 4 Stunden nach dem Mittagessen ausgeheberte
Magensaft chemisch auf freie Salzsäure untersucht, so fand
sich ebenfalls keine freie Salzsäure vor; das Fehlen derselben
nach Probefrühstück konnte also nicht auf einen zu schwachen
Reiz der Magenschleimhaut zurückgeführt werden.
M. H.! Ich will Sie nun nicht mit einer genaueren Schilde¬
rung aller der von mir untersuchten Fälle behelligen. In erster
Linie möchte ich die Untersuchungsreihen ausschliessen, wo
die beiden Methoden keine Differenzen zeigten. Ferner sehe
ich auch von den Fällen ab, bei denen es sich um unklare oder
bei mehrfachen Untersuchungen sich untereinander wider¬
sprechende Resultate handelte, sondern führe nur die 7 Fälle
an, wo die Desmoidreaktion sich im Gegensatz zur chemischen
Untersuchung des ausgeheberten Mageninhaltes als direkt
falsch erwies:
Diagnose:
Gesamt-
Azid.
Milchs.
freie HCl.
D.-R.
Carcinoma ventriculi? .
Carcinoma ventr., Tumor,
37
+
—
+ n. 3 St.
Operation ....
#
4-
,
-f- n. 4 St.
Anazidität .
Carcinoma ventr., peri-
28
—
-}- n. 4 St.
tonei. Ascites ....
Carcinoma ventriculi et
•
+
—
4- n. 40 St.
-4- n. 38 St.
hepatis .
.
+
—
2 Tage lang.
Achylia .
10
_
•f n. 6 St.'
Carcinoma ventriculi . .
12
•
—
-1- n. 7 St.
1640
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
Sämtliche 7 Patienten haben die Pillen in der vorgeschrie¬
benen Weise unter Aufsicht mit Wasser geschluckt — nicht ge¬
kaut — und alle Untersuchungen sind genau angestellt worden.
Auch wurde dem Urin wegen Bildung von Chromogen stets
Aufmerksamkeit geschenkt.
Die drei genannten Herren haben die Sahli sehe Methode
als „genial“ bezeichnet. Mag man auch diese Bezeichnung
gelten lassen, so ist die Desmoidreaktion doch nicht nur wegen
einer ungenauen Diagnosenstellung, sondern auch wegen der
angeführten falschen Resultate jedenfalls zu widerraten und
damit ist besonders der hervorgehobene praktische Hauptvor¬
teil, nämlich die gänzliche Vermeidung der
Schlundsonde, durchaus hinfällig. Die Sondenunter¬
suchung bleibt vielmehr vorläufig die einzig zuverlässige Me¬
thode zur Prüfung der motorischen wie der sekretorischen
Funktion des Magens.
Diese Resultate lagen abgeschlossen bei mir zur Veröffent¬
lichung vor, als im vergangenen Monat Prof. Einhorn -New
York in der Deutsch, med. Wochenschr. No. 20 vier den
meinigen gleichartige Fälle veröffentlichte, auf Grund deren
er ebenfalls zu einem absprechenden Urteil über die
Sahli sehe Desmoidreaktion gelangte.
Diskussion: Herr Winternitz: Den Ausführungen des
Herrn Kollegen Weber muss ich auf Grund eigener Beobachtungen
durchaus beistimmen. Ich wende die Sahli sehe Methode seit mehr
als einem halben Jahre an, oder richtiger gesagt, ich verwende sie
nicht mehr, da ich mich davon überzeugt habe, dass sie durchaus
unzuverlässig ist und gerade in zweifelhaften Fällen, wo die anderen
Methoden nicht völlige Klarheit bringen, irreführende Resultate er¬
gibt. Dass sie bei negativem Ausfall keine differentialdiagnostische
Entscheidung ermöglicht zwischen maligner, karzinomatöser An¬
azidität und Anazidität aus anderen Ursachen oder Hypermotilität bei
normaler, bezw. gesteigerter Azidität, damit könnte man sich ab-
finden, wiewohl ja schon damit ihr Wert wesentlich eingeschränkt
wird. Geradezu unbrauchbar wird sie aber, wie Kollege Weber mit
Recht betont hat, dadurch, dass sie positiv ausfallen kann, wo
ein negatives Resultat zu erwarten wäre. Die ganze Methode steht
und fällt mit der Annahme, dass der Katgutfaden nur im Salzsäure
und Ferment führenden Magen gelöst, im Darm aber nicht verdaut
wird. Diese Annahme trifft nun, wie eben Einhorn gezeigt hat,
nicht zu. Dafür spricht auch ein Umstand, der in den vorliegenden
Arbeiten, soweit mir erinnnerlich, gar nicht beachtet worden ist.
Es muss doch sehr auffallen, dass bei normaler Azidität des Magens
der Eintritt der Desmoid- d. i. Methylenblaureaktion oft 10, 12, ja
16 bis 18 Stunden auf sich warten lässt und zwar — das möchte ich
besonders betonen — in Fällen, wo die Motilität des Magens nicht
verzögert ist, wie ich mich durch besondere Versuche bei der¬
artigen Fällen überzeugen konnte. Das spricht dafür, dass die Darm-
verdauung bei der Lösung des Katgutfadens mindestens mitwirkt
und damit wird die Methode eben hinfällig.
Herr L i e f m a n n: Ueber die Rauchplage. (Der Vortrag
wird anderweit veröffentlicht werden.)
Diskussion: Herr H i 1 d e b r a n d t: Die zum Schutze gegen
die Giftwirkungen flüchtiger Körper in chemischen Fabriken
angewandten Massregeln im Betriebe bewähren sich nicht in allen
Fällen; aus den Essen sieht man zu manchen Zeiten rotbraune
Dampfwolken aufsteigen, welche die sehr giftige „salpetrige Säure“,
ev. auch „Stickstoffdioxyd“ enthalten, welche als Blutgifte auch bei
der Inhalation wirken. Auch die vielbenutzte „rauchende Salpeter¬
säure“ enthält letzteres Gas. Gleichzeitig können sich Gifte basischer
Natur, wie Anilin, Toluidin verflüchtigen. Die Inhalationsvergiftung
mit salpetriger Säure namentlich kann einen schleichenden Charakter
haben. Tuberkulöse leiden erfahrungsgemäss schwer beim Auf¬
enthalt in derartiger Atmosphäre. Wenn sie von einem längeren
Erholungsurlaub zurückkehren, verschlechterte sich regelmässig ihr
Gesundheitszustand bedenklich, sobald sie ihre gewohnte Beschäf¬
tigung — namentlich als Chemiker — wieder aufnahmen. Besonders
in solchen chemischen Fabriken, welche in engen Tälern liegen, die
keine Ausdehnung der Anlagen gestatten, kann die Atmosphäre in¬
folge bestimmter Windrichtungen zeitweise unerträglich werden, da
zuweilen selbst aus hohen Schornsteinen die Dämpfe ins Tal herab-
gedriiekt werden. Vom hygienischen Standpunkte ist durchaus zu
verlangen, dass bei der Erlaubnis der Betriebsanlage besondere
Rücksicht auf die örtlichen Verhältnisse genommen wird.
Naturwissenschaftl.-medizinische Gesellschaft zu Jena.
(Sektion für Heilkunde.)
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 21. Juni 1906.
Herr Jacobsthal demonstriert das Röntgenbild eines
47 jährigen Mannes, der seit 10 Jahren an Nierenkolik mit Abgang
von Blut und Steinen leidet. Es zeigt sich in der Gegend der linken
Niere deutlich ein grosses, zackiges Konkrement, das mit seinen
Aesten und Fortsätzen offenbar einen Teil des Nierenbeckens aus¬
füllt.
Herr Jacobsthal demonstriert Photographien und Röntgen¬
aufnahmen zweier Fälle von Verdickung der Tuberositas tibiae.
Analoge Beobachtungen sind von Osgood und Schiatter als
Rissfrakturen des schnabelförmigen Fortsatzes der oberen I ibia-
epiphyse beschrieben worden. Vortragender glaubt, dass fiii die
2 Fälle seiner Beobachtung weder die Anamnese, noch der Verlauf,
noch das Röntgenbild die Annahme einer Fraktur gerechtfertigt er¬
scheinen lässt und glaubt ferner, dass derartige Beobachtungen sich
noch im Laufe der Zeit mehren werden und dass sich eine Gruppe
von Fällen zusammenfassen lassen wird, die das gemeinsame haben,
dass in der Adoleszenz sich spontan allmählich schmerzhafte Schwel¬
lungen der Tuberositas tibiae einseitig oder doppelseitig entwickeln,
die wohl als Störungen der normalen Knochenentwicklung, des Ossi¬
fikationsprozesses aufgefasst werden können. Ob es sich dabei um
entzündliche Veränderungen handelt oder um pathologische Vorgänge
an der Knorpelknochengrenze, die denen bei Genu valgum adoles-
centium nahestehen, das Hesse sich nur durch histologische Untei-
suchungen feststellen, die zurzeit noch nicht vorliegen.
Herr Grober: Zur Frage der Eisenresorption.
Ausgehend von der Berechnung der Eisenmengen in den
verschiedenen Körperteilen, besonders das Eisen des Hämo¬
globins in Betracht ziehend, bespricht der Vortragende die
Organe, in denen das Metall sich bei eisenreicher Nahrung an¬
häuft. Man ist jedoch nicht berechtigt, diese Eisendepots als
Reservelager für die Zeit des Eisenmangels anzusehen. Denn
man weiss bisher über ihr Zustandekommen noch sehr wenig,
jedenfalls ist es noch durchaus unbekannt, ob es sich hier um
eine Ablagerung vor der Ausscheidung oder um eine solche
nach der Aufnahme oder um eine Festlegung des Metalls, das
im Gewebe auch ätzende Wirkungen hervorrufen kann, handelt.
Einzelbestimmungen über die in den Organen enthaltenen
Eisenmengen hegen noch nicht vor. Das Eisen, welches mit
den gewöhnlichen Reagentien nachgewiesen wird (Schwefel¬
ammon und Ferrizyankalium) ist sehr lose gebundenes oder
ganz freies unorganisches Metall, dagegen haben wir viele
Gründe, anzunehmen, dass das wirkliche Reserveeisen des
Organismus in viel fester gebundenen Verbindungen im Körper
verwahrt wird. Solche Verbindungen sind auch schon be¬
kannt, das Hämatogen B u n g e s, das Hepatin Z a 1 e w s k i s
u. a. gehören hierher. Sie sind bisher aber nur in einzelnen
Organen gesucht worden, es erscheint durchaus möglich, dass
auch noch in vielen anderen Geweben und Körperbestandteilen,
z. B. im B 1 u t s e r u m grössere Mengen von Eisen vorhanden
sind. Dass überhaupt Reserveeisen im Körper aufgespeichert
werden muss, zeigt der Vortragende an der Zunahme des
Hämoglobingehalts bei Personen, bei denen er sehr niedrig
war und die bei einer sehr eisenarmen Nahrung oder gar beim
Hunger, doch nur bei entsprechender Ruhebehandlung, an
Hämoglobin zunahm. Weiter sprechen dafür die Erfahrungen
der Physiologen, die hungernde Tiere und Menschen, trotzdem
sie eine bestimmte Menge Eisen täglich mit dem Hungerkot aus¬
führten, doch nicht an Hämoglobin abnehmen sahen. Es ist
die Aufgabe der Klinik, die bei der theoretischen Begründung
der Eisentherapie der Chlorose höchst wichtigen wirk¬
lichen Eisenlager des Organismus zu suchen, und die Form
der Bindung des Metalls festzustellen.
Medizinische Gesellschaft zu Leipzig.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 26. Juni 1906.
Vorsitzender : Herr B a h r d t.
Schriftführer: Herr R i e c k e.
Herr Perthes: 1. Leberresektion. Bei dem vorgestellten
7 jährigen Kinde wurde vor */* Jahren der linke Leberlappen wegen
eines kindskopfgrossen kavernösen Angioms reseziert. Bei der
Operation bewährte sich das Verfahren der intrahepatischen Massen¬
ligaturen von Kusnezof f und P e u s k y gut. Trotzdem nach dem
Präparat die Resektion im gesunden Lebergewebe erfolgt zu sein
scheint, deutet eine jetzt im Epigastrium wieder aufgetretene Resi¬
stenz auf ein Rezidiv hin.
2. Plastik bei Wangentaschenkarzinom. Der gestielte Lappen,
der zur Deckung des Defektes nach Exstirpation eines auf Psoriasis
buccalis entstandenen Wangentaschenkarzinoms verwendet wurde,
wurde vom Halse entnommen und durch die Wunde zur Exstirpation
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1641
der Drüsen in der Submaxillargegend über die Innenfläche des
Kiefers in den Mund geleitet. Der Erfolg war besonders auch in kos¬
metischer Hinsicht sehr befriedigend.
Herr Perthes: Nachkontrolle mit Röntgenstrahlen be¬
handelter Karzinome.
P. gibt eine Uebersicht über die von ihm mit X-Strahlen
bei Karzinomen in den Jahren 1903, 1904 und 1905 erzielten
Resultate, mit besonderer Rücksicht auf die Frage des Rezidivs.
33 Fälle von oberflächlichem Kan.kroid des
Gesichts und Ulcus rodens wurden stets mit starker
Dosis (im allgemeinen 12 H bis 16 H) unter sorgfältiger Ab¬
blendung der Umgebung in einer oder wenigen, rasch auf¬
einanderfolgenden Sitzungen bestrahlt. Nach bedeutender Der¬
matitis in dem bestrahlten Gebiet wurde in allen Fällen dieser
Art rasche Vernarbung vom Rande aus, niemals ein Röntgen-
geschwiir beobachtet. Der kosmetische Effekt war sehr gut,
doch zieht P. die Radiotherapie nur da der viel einfacheren
Operation vor, wo die Erhaltung der natürlichen Form für den
Patienten besonders wichtig ist (z. B. Augenlider, Nase). Von
den im Jahre 1903 und 1904 bestrahlten 25 Fällen wurden im
Mai 1906 20 nachkontrolliert. Davon waren 17 rezidivfrei,
13 mehr als 2 Jahre. Die letzteren Fälle werden zum grössten
Teil vorgestellt. Die in 3 Fällen gefundenen Rezidivknötchen
hatten bis Linsengrösse und wurden durch Exstirpation bezw.
erneute Bestrahlung geheilt.
Von 6 Fällen auf die Schädelknochen, die Tiefe der Orbita
oder des Naseninnern übergreifender Karzinome (davon 4 nach
Operation rezidiviert und inoperabel) wurde trotz vorüber¬
gehender Vernarbung keiner dauernd geheilt.
14 Fälle von Lippenkarzinom kamen nach starker,
zum Teil nur einmaliger Bestrahlung zur Heilung. Die infizier¬
ten Lymphdrüsen wurden nach Heilung des primären Karzi¬
noms exstirpiert. Es resultierte eine normale Lippe mit mini¬
maler Ausbuchtung an der Stelle des früheren Karzinoms. In
3 Fällen wurde mehrere Monate nach der Vernarbung wegen
Rezidivs an der Lippe erneute Bestrahlung notwendig, die
übrigen Fälle sind geheilt geblieben. 2 Fälle, die jetzt 3 J a h r e
r e z i d i v f r e i sind, werden vorgestellt. Bei 2 Fällen wurde
ausnahmsweise und als Versuch auch die Gegend der Drüsen¬
metastasen bestrahlt. In dem einen Fall besteht die Heilung
jetzt 3 Jahre, in dem zweiten trat Drüsenrezidiv ein. JA hält
deshalb Bestrahlung des primären Karzinoms und Exstir¬
pation der Drüsen für das richtige Verfahren. Ein Fall wird
vorgestellt, in dem das Karzinom die ganze Breite der Unter¬
lippe einnahm und auf den Unterkiefer Übergriff. Durch
18 starke Bestrahlungen im Verlauf eines Jahres und Drüsen¬
exstirpation wurde Heilung erzielt, die allerdings erst etwa
1 Jahr kontrolliert ist.
Bei keinem der • — sämtlich inoperablen — Fälle von
Zungenkarzinom (1 Fall), Mundbodenkarzinom (1 Fall) und
Mammakarzinom (12 Fälle) wurde Heilung erzielt. Auch die
Bestrahlung eines inoperablen Mammakarzinomrezidivs in
offener Wunde (12 H in 30 Minuten), nach voraufgegangener
möglichst gründlicher operativer Entfernung des Karzinoms
führte nicht zur Heilung. Eine Patientin, die vor einem Jahre
mit inoperablem, den Rippen adhärenten Mammakarzinom und
grossen Drüsenmetastasen zur Behandlung mit Röntgen¬
strahlen kam, wird vorgestellt. Es sind jetzt keine Drüsen¬
metastasen und nur eine Geschwürsfläche von Fünfmarkstück-
grösse an der gegen die Rippen beweglichen Mamma nach¬
weisbar.
Herr Thies demonstriert die Photographie eines Kindes mit
Herpes zoster occipitocollaris congenitus.
Herr Düms: Handfertigkeits-Beschäftigungsstunden in
Krankenhäusern.
Vortragender berichtet über die Ergebnisse der von ihm
seit 2 Jahren eingeführten Handfertigkeits-Beschäftigungs¬
stunden. Angeregt wurde bei ihm der Gedanke durch die Er¬
fahrung, wie schwer sich in Lazaretten Rekonvaleszenten und
sonstige Kranke ausser Bett selbsttätig zu beschäftigen ver¬
stehen. Eine Beschäftigung und die dadurch herbeigeführte
Ablenkung von ihrem Leiden gehört aber bei vielen Kranken
direkt in den Heilplan. Zumal für die ständig zunehmende
Zahl der nervösen Kranken, die auch in der Armee nicht mehr
zu den Seltenheiten gehören, bedeutet die Arbeit und ins¬
besondere die Freude an der Arbeit eine wertvolle Förderung
ihrer Gesundung. Nicht minder gewinnen die Rekonvales¬
zenten von akuten Krankheiten in demselben Masse leichter das
Vertrauen zu ihrer früheren Leistungsfähigkeit wieder, als sie
Hand und Auge wieder zu gebrauchen lernen. Eine ganz be¬
sondere Bedeutung aber haben die Handfertigkeits-Beschäfti¬
gungsstunden für jene Entzündungen und Verletzungen an den
Armen, Händen und Fingern, die mit einem längeren Ausfall der
Aktivität einhergehen. Hier kommt neben den mannigfachen
natürlichen Bewegungen und Uebungen bei der Handfertig¬
keits-Beschäftigung noch der Umstand fördernd hinzu, dass
im Gegensatz zu den passiven mediko-mechanischen Be¬
wegungen der eigene Wunsch des Kranken den Antrieb ab¬
gibt. Gerade in den Militärlazaretten gibt es eine reichliche
Anzahl von Kranken, die durch diese Art der Beschäftigung
einer rascheren Heilung und Dienstfähigkeit wieder zugeführt
werden können, da hier häufig, nicht wie in den Zivilkranken¬
häusern die Entlassung schon angängig ist, wenn die Kranken
der ärztlichen Behandlung nicht mehr bedürfen. Der aus dem
Lazarett zu entlassende Soldat muss gleich den vollen Anforde¬
rungen des Dienstes gewachsen sein. Natürlich ist die Aus¬
wahl zu den Beschäftigungsstunden, deren Teilnahme auch nur
eine freiwillige sein kann, abhängig von der Entscheidung der
behandelnden Aerzte. Der Vortragende hat zwecks Leitung
und Beaufsichtigung bei den Arbeiten zunächst 2 Sanitätsunter¬
offiziere in dem hiesigen Lehrerseminar für Handfertigkeits-
Unterricht ausbilden lassen. Als Arbeiten wurden gewählt,
Papparbeiten, Holzschnitz- und Schreinerarbeiten, zu welch
letzteren auch eine Hobelbank notwendig war. Es wurden täg¬
lich 2 Stunden hierfür angesetzt, und zwar mittags von 2 bis
4 Uhr, in der warmen Jahreszeit später. Besondere Anziehung
übten die Stunden auch deshalb aus., als alle Gegenstände,
wie Briefmappen, Kammkästen, Bilderrahmen, Uhrgehäuse,
Manschettenkästen, Nähzeugkästen u. dergl. in den Besitz der
Verfertiger übergingen. Das verwendete Material, wie Papp¬
kartons, Zigarrenkisten, Latten u. a. wurde entweder umsonst
oder für ein ganz geringes Entgelt von den Regimentsverkaufs¬
stellen abgegeben. Streng wurde darauf gesehen, dass mit
Einfachstem begonnen und das einmal angefangene auch völlig
zu Ende geführt wurde. Zur Förderung der besonderen mili¬
tärischen Ausbildung wurden kleine Schiesscheiben, Lineale
mit den Abständen der Schiessstände in verschiedenen
Grössenverhältnissen, Modelle für den Pionierdienst bei der
Infanterie u. a. m. angefertigt, wodurch das Verständnis und
die Anschauung für diese Dinge sehr gefördert wurde. Die
Teilnahme war durchweg eine rege, selbst in der heissen
Sommerzeit. Das Gleiche wird auch berichtet aus den anderen
Lazaretten, wo diese Beschäftigungsstunden bisher eingeführt
sind. Einwendungen oder Nachteile hat der Vortragende bis¬
her nicht gehört. Eine Fürsorge für die Kranken einer Kran¬
kenanstalt ausserhalb der durch die Behandlung in Anspruch
genommenen Zeit gehört im modernen Sinne ebenso zu den
ärztlichen Aufgaben wie die Ueberwachung der Ernährung,
der Unterkünfte, des Rettungsdienstes, der Krankenbeförde¬
rung; Aufgaben, die eben nur durch das sachverständige Urteil
des Arztes zu lösen sind.
Herr Thies: Ueber die Prophylaxe der Blennorrhoe der
Neugeborenen. (Befindet sich unter den Originalien dieser
Nummer.)
Diskussion: Herr Zweifel: Es handele sich gegenwärtig
darum, die Credesche Prophylaxis der Augenentzündung Neu¬
geborener auch in die Praxis der Hebammen einzuführen und da
müsse man suchen, alle denkbaren Fehlerquellen, namentlich alle
etwa den Augen gefährlichen auszuschalten.
In den Kliniken habe sich die Einträufelung mit Argentum
nitricum in 1 proz. Lösung durchaus gut bewährt und habe selbst die
2 proz. Lösung, welche früher genommen wurde, zwar oft starke
Reizungen, aber niemals einen Schaden an den Kinderaugen erregt.
Sicher seien auch die Erfolge der Vorbeugung in den Kliniken aus¬
gezeichnet, sodass der Wunsch vollauf berechtigt sei, diese Ver¬
hütung auch in der privaten Praxis der Hebammen einzuführen.
Als Fehlerquellen seien zu beachten, dass die Höllenstein-
1 iö s u n g e n durch Verdunstung s't ä rk er werden
k önne n und dann ätzend auf die Bindehaut der Augen wirken.
Schon bei 4 proz. Höllensteinlösungen sei die Wirkung so stark, dass
sich ein Schorf bilde, der auf den Unkundigen einen erschreckenden
104 2
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
Eindruck mache, wenn auch Redner nie nach der Abstossung solcher
Schorfe einen dauernden Schaden sah.
So werde es notwendig, die Arg. nitricum-Lösung vor Verdunsten
zu bewahren, weil sie dadurch konzentrierter wird. Das ver¬
suchsweise Offenlassen eines Stöpselglases — welchen Versuch Herr
Privatdozent Dr. Lockemann vornahm — hätte binnen zwei
Tagen das Verdunsten von 3 ccm Wasser ergeben. Aus der Ge¬
samtmenge der Lösung resp. der Konzentration derselben lasse sich
beim Verdunsten die Zunahme des Konzentrationsgrades berechnen.
Um der Gefahr, welche damit verbunden, vorzubeugen, habe Redner
seit 3 Jahren das Argentum aceticum in 1 proz. Lösung in
der Leipziger Erauenklinik e i n g e f ii h r t, weil dieses sich bei 15 0 C.
nur zu 1,2 Proz. löse und deswegen nie konzentrierter werden könne.
Damit seien auch die schrecklichen Verätzungen unmöglich ge¬
macht, welche durch Versehen entstanden seien, in denen Apotheker
20 und 10 Proz. statt 2 und 1 Proz. lasen, resp. zehnmal so starke Lö¬
sungen abgaben. Alle solche Reizungen seien bei der Verwendung
von Argentum aceticum, da dieses selbst in Körnchen ins Auge ge¬
bracht, durchaus nicht ätzen könnte, ausgeschlossen. Die prophy¬
laktische Wirkung sei jedenfalls der des Arg. nitricum gleich. End¬
lich sei noch auf die Ausscheidungen von Silberoxyd zu verweisen,
durch welche ein proportionales Quantum Salpetersäure frei
werd e, was durch die beim Stehen langsam eintretende saure Re¬
aktion der Lösung zu beweisen sei. Es komme dies durch das
Hereinfallen von Staub in die Silberlösung und entstehe bei beiden
Präparaten, aber mit dem Unterschied, dass die Salpetersäure viel
stärker als die Essigsäure sei.
Herr S t i m m e 1 trägt, ob Arg. nitricum als „crystallisatum“
oder als „fusum“ verordnet sei, ferner ob die Hebammen auch die
Ektropionierung der Lider vornehmen sollten? Das sei jedenfalls
ein Wagnis, da durch ungeübte Hände dabei leicht Verletzungen der
Kornea herbeigeführt werden könnten. Endlich wünscht Herr St.
zu wissen, ob 1 proz. oder 2 proz. Arg. nitricum eingeträufelt werde?
Herr Thies: Die Hebammen sollen eine Umstülpung der
Lider nicht vornehmen. Arg. nitricum fusum wird benutzt, aber auch
dieses Präparat schliesst Ausscheidungen von Silberoxyd und den
Eintritt saurer Reaktion nicht aus.
Herr Zweifel betont, dass stets Arg. nitricum fusum zu ver¬
schreiben sei, weil das Krystallisatum immer noch freie Salpeter¬
säure enthalte, welche bei dem Schmelzen des Silbersalzes verjagt
werde.
Herr Schwarz frägt, ob 1 proz. oder 2 proz. Arg. nitricum
ordiniert werde?
Herr Zweifel: 1 proz. Lösung.
Medizinische Gesellschaft zu Magdeburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 3. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Un verricht.
Herr Buttenberg demonstriert die mikroskopischen Prä¬
parate folgender von Herrn Purrucker operierten Fälle:
1. Einen Hodenkrebs von einem 19 jährigen Patienten, der in
der ersten Woche des Bemerkens der Hodenerkrankung zur Unter¬
suchung und sogleich, also in einem selten frühen Zustande, zur
Operation kam.
2. Einen von der Harnröhre auf die Eichel übergreifenden Krebs,
bei dem die mikroskopische Untersuchung das For.tschreiten der
Krebswucherung im Corpus cavernosum urethrae nachweisen konnte.
3. Eine Bauchfelltuberkulose mit ausserordentlich zahlreichen und
mächtigen Riesenzellen.
4. Einen auf dem Boden eines Ulcus cruris gewachsenen Haut¬
krebs.
5. Eine klinisch anscheinend primäre, von Herrn T h o r n ope¬
rierte Tuberkulose der Tuben.
Herr Thorn: Klinischer Bericht über die ersten 150 klinischen
Kranken des Jahres 1906.
Sitzung vom 17. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Unverricht.
Herr Buhe stellt einen jetzt 43 jährigen Patienten vor, der
mit ausgedehnten Papillomwucherungen des Kehlkopfes vor
1/3 Jahren in seine Behandlung kam.
Patient, der früher stimmgesund war und beim Militär gedient
hat, bemerkte im Mai 1894 eine allmählich zunehmende Heiserkeit,
die zur vollständigen Stimmlosigkeit führte. Er ist in den Jahren
1 896 — 1904 vielfach intralaryngeal operiert worden, ohne dass die
Stimme wiederkehrte. In den letzten Monaten trat nachts öfters
Atemnot ein.
Die Besichtigung des Kehlkopfes ergab folgendes Bild: Der
ganze Kehlkopf, die Stimmbänder sowohl wie die Taschenbänder,
bis fast hinauf in die ary-epiglottischen Falten waren von Geschwulst¬
massen vollständig überwuchert. (Nur die hintere Wand war, wie
sich später zeigte, frei geblieben.) Bei der Inspiration sah man nur
in einen schmalen unregelmässigen Spalt, ohne in dessen Tiefe etwas
von den Stimmbändern zu sehen oder einen Blick in die Luftröhre
zu gewinnen.
Die mikroskopische Untersuchung der probeweise entnommenen
Stücke ergab in Uebereinstimmung mit der makroskopischen Diagnose
Papillome des Kehlkopfes ohne einen Anhalt für Malignität.
Die Wucherungen sind dann anfänglich in 8 tägigen, später
2 — 4 wöchentlichen Zwischenräumen teils mit der Zange, teils mit der
Doppelkürette abgetragen, überall möglichst bis ins Gesunde hinein
unter Schonung der Stimm- und Taschenbänder. Das laryngo-
skopische Bild zeigt heute in seinen Konturen fast normalen Kehl¬
kopf. Die Wände sind vollkommen glatt, hie und da ist die Schleim¬
haut durch weisses Narbengewebe ersetzt. Die Stimmbänder sowohl
wie die Taschenbänder sind in ihrer Totalität erhalten, die Stimm¬
bänder noch etwas verdickt und gerötet, erscheinen auffallend lang,
dadurch, dass sie weit in die vordere Kommissur hinein haben frei¬
gelegt werden müssen. Die Stimmbänder hält der Vortragende noch
nicht für sicher rezidivfrei, da es in den letzten Monaten hie und da
noch nötig gewesen ist, hier kleine Exkreszentien zu entfernen.
Ebenso ist der untere Rand des linken Taschenbandes noch vor
2 Monaten abgetragen. Alles übrige ist seit etwa 1 Jahr rezidivfrei.
Das funktionelle Resultat ist schon jetzt recüt erfreulich, be¬
sonders forziert, ist die Stimme rein und kräftig.
Der Pat. soll weiter streng beobachtet werden, besonders auch
mikroskopisch.
Der Vortr. geht dann näher auf die Frage ein, ob man in einem
so schweren Falle noch berechtigt sei intralaryngeal zu operieren
oder ob derselbe besser laryngotomiert werde. Er stützt sich in
seinem Vorgehen auf den Ausspruch von v. Bru n s’, der es für
ratsam hält, die Behandlung stets, wenn sie ausführbar, auf laryngo-
skopischem Wege durchzuführen.
Die aus der Freiburger Klinik kürzlich vorgeschlagene innere
Behandlung mit Arsen oder Jodkali würde, falls sich noch öfter Re¬
zidive zeigen sollten, nicht unversucht bleiben.
Herr Junius: Ueber Unfallverletzungen, insbesondere
Augenerkrankungen durch elektrische Starkströme. (Erschien
in extenso in der Ophthalmol. Klinik.)
Herr Sänger: Subjektives Luftbediirfnis.
Neben dem objektiven Luftbedürfnis, das vom Be¬
wusstsein unabhängig ist und auch bei Abwesenheit desselben
das Fortbestehen der Atmung bedingt, gibt es ein subjek¬
tives Luftbedürfnis. Dieses letztere macht sich im Ruhe¬
zustand und bei vollkommener Gesundheit nicht geltend. Da¬
gegen tritt es in Erscheinung bei körperlichen Anstrengungen
sowie bei bestimmten Erkrankungen.
Es kann sowohl über die Norm erhöht als auch unter die
Norm erniedrigt sein.
Eine abnorme Erhöhung des subjektiven Luftbedürf¬
nisses kann nur auf Grund einer vorhandenen nervösen Dis¬
position Vorkommen. Eine der bekanntesten Gelegenheits¬
ursachen, welche einen abnorm hohen subjektiven Lufthunger
bewirken können, ist der Aufenthalt in zugleich sehr warmer
und sehr feuchter Luft. Eine andere, sehr häufige, vom Ver¬
fasser (Münch, med. Wochenschr. 1898, No. 15) nachgewiesene
Gelegenheitsursache ist der trockene Katarrh der obersten Luft¬
wege, insbesondere der Nasenhöhlen.
Eine abnorme Verminderung des subjektiven Luft-
bediirfnisses wirkt kaum jemals nachteilig; sie erweist sich
vielmehr in sehr vielen Fällen als ungemein nützlich. Dies ist
um so höher anzuschlagen, als es in unserer Macht steht, sie
willkürlich herbeizuführen und zu therapeutischen Zwecken zu
verwenden.
Eine Verminderung des subjektiven Luftbedürfnisses —
mit Hilfe von narkotischen Arzneistoffen — erweist sich zu¬
nächst da nützlich, wo es sich darum handelt, die durch soma¬
tische Erkrankungen (Vitium cordis, Morbus Brightii) bedingte
hochgradige Atemnot zu lindern. Sie lässt sich ferner ebenfalls
unter Benutzung narkotischer Mittel zur Verhütung allzu tiefer
Einatmungen bei Schwellungszuständen im Kehlkopf und der
Trachea mit Nutzen verwenden. Denn allzu tiefe Einatmungen
wirken auf die Schleimhäute der Luftwege hyperämisierend.
Zwar weniger schnell, als durch Anwendung von Narkoti-
zis, dafür aber um so nachhaltiger lässt sich eine Verminderung
des subjektiven Luftbedürfnisses durch A u s atmungsgym-
nastik erzielen. Der dadurch erzielte Vorteil besteht darin, dass
man die bei Atemnot, sei es infolge von körperlichen Anstren¬
gungen, sei es infolge von Krankheit, gewohnheitsmässig sich
einstellende fehlerhafte Atmung: allzu tiefe Einatmungen ge¬
folgt von sehr oberflächlichen Aus atmungen, vermeiden lernt.
Dies ist aber von ausserordentlicher Bedeutung deswegen, weil
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1643
eine derartige fehlerhafte Atmung die Ansammlung eines Ueber-
inasses verbrauchter, zur Atmung nicht mehr geeigneter Luft
in unseren Lungen und damit eine ungewöhnliche Steigerung
der bereits vorhandenen Atemnot bewirkt.
Mit Hilfe der Ausatmungsgymnastik vermögen wir also
unsere Leistungsfähigkeit bei Ausübung mancher täglichen Ver¬
richtungen sowie mancher Arten des Sports, z. B. des Treppen¬
steigens, des Bergsteigens, des Radfahrens, des Ruderns, wie
von H o f f m a n n - Baden-Baden nachgewiesen hat, ganz
wesentlich zu erhöhen.
Mit Hilfe dcr Ausatmungsgymnastik lassen sich ferner, wie
der Vortragende in seinen Arbeiten über Asthmabehandlung
(Münch, med. Wochenschr. 1904, No. 8, D. Aerzteztg., 1. Juli
1905 usw.) dargelegt hat, bei Behandlung Asthmakranker
ausserordentlich günstige Heilwirkungen erzielen: durch die
vom Vortragenden empfohlene Ausatmungsgymnastik wird das
krankhaft gesteigerte subjektive Luftbedürfnis sehr schnell er¬
heblich geringer. Die Kranken vermögen die allzu tiefen Ein¬
atmungen während eines Anfalls zu unterdrücken, und durch
kräftigere Ausatmungen eine bessere Entleerung der ange¬
sammelten verbrauchten Luft herbeizuführen. Die Anfälle wer¬
den dadurch leichter. Die asthmagene Reizbarkeit des Zen¬
tralnervensystems nimmt infolgedessen immer mehr ab und
verschwindet schliesslich ganz.
(Erscheint in extenso in der D. Aerzteztg.)
Aerztlicher Verein München.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 31. März 1906.
Demonstration des Herrn R. v. Hösslin: 11 Fälle von Alopecia
areata in einem Knabenpensionat.
Ich möchte mir von Ihnen die Erlaubnis zu einer kurzen De¬
monstration erbitten, bevor wir zur Tagesordnung übergehen. Es
handelt sich bei den fünf Knaben, die ich Ihnen vorstelle, nicht um
eine seltene Krankheit, es sind Fälle von Alopecia areata. Das
bemerkenswerte ist vielmehr, dass hier offenbar ein epidemisches
Auftreten der Krankheit vorliegt. Vor 2 Tagen wurden mir in einem
Internat zwei der Fälle vorgestellt und es fiel mir sofort auf, dass
gleichzeitig 2 Fälle auftraten. Kaposi, der doch ein ungeheueres
Krankenmaterial übersehen konnte, erwähnt, dass er nur einmal in
einer Familie die Krankheit gleichzeitig bei zwei Geschwistern sah
und dass er die Krankheit nicht für ansteckend hält im Gegensatz
zu französischen Autoren, die wiederholt von dem endemischen oder
epidemischen Auftreten der Alopecia areata in Kasernen oder Lyzeen
sprachen. Ebenso hält D ü h r i n g die Krankheit nicht für kontagiös.
len liess nun bei sämtlichen Knaben des Internats nachsehen und
es fanden sich im Ganzen 11 sichere Fälle von Alopecia areata, von
denen ich Ihnen heute die 5 stärker entwickelten vorstelle. Ausser¬
dem war bei mehreren Knaben ein mehr diffuser Haarausfall bemerk¬
bar. Neisser in Breslau stellt sich im Gegensatz zu Kaposi auf
die Seite derer, welche die Kontagiosität der Alopecia areata in
einem Teil der Fälle anerkennen und bei unseren Fällen kann wohl,
nachdem gleichzeitig so viele Erkrankungen Vorkommen, an einer
Kontagiosität kaum gezweifelt werden.
Die Fälle entstammen nicht alle ganz der gleichen Zeit, denn
während Sie bei einigen Kranken die charakteristischen glatten Haut¬
scheiben sehen, ist bei einem der Knaben auf einer Hautscheibe schon
ganz deutlich das Nachwachsen der Haare zu beobachten. Es sieht
aus, als wenn die Haare an dieser Stelle mit der Scheere kurz abge¬
schnitten wären.
Diskussion: Herr C. S e i t z : Ich konnte in den beiden letzten
Jahren dreimal das Erkranken mehrerer Geschwister an Alopecia
areata beobachten, die stets protrahierten Verlauf nahm und in
völlige Heilung ausging.
Vortrag des Herrn Uffenheimer: Der Nachweis des
Toxins im Blute des Diphtheriekranken.
(Der Vortrag befindet sich unter den Originalien dieser
Nummer.)
Diskussion: Herr Trumpp äussert sein Erstaunen, dass
sich bei Fällen, die gewiss mit einer genügend grossen Dosis Heil¬
serum behandelt waren, solche Mengen freien Toxins im Blute fan¬
den. Tr. kritisiert die U.schen Befunde an der Hand der Pauli-
schen Toxin-Antitoxinlehre.
Den von U., vertretenen unitarischen Standpunkt in der Diph¬
therie-Pseudodiphtheriebazillenfrage nimmt Tr. seit 1896 ein, seit es
ihm damals glückte, Bazillen, die alle morphologischen und biologi¬
schen Merkmale der Pseudodiphtheriebazillen boten, durch einen be¬
sonderen Tierversuch in hochvirulente typische Löfflerbazillen umzu¬
wandeln. Bei dem fast ubiquitären Vorkommen diphtheroider Bazillen
(Nase, Konjunktiva, Vulva, selten äussere Haut, fast niemals Rachen)
beanspruchen alle Befunde, welche die Identität dieser mit den
Löfflerbazillen dokumentieren, grosse Bedeutung.
Herr Hecker frägt an, ob durch Kontrollkulturen festgestellt
worden sei, ob das von den Kindern stammende Serum auch ganz
frei von Diphtheriebazillen gewesen sei.
Herr Uffenheimer (Schlusswort): Auf die Anfrage des
Herrn He cker habe ich zu antworten, dass bei dem positiven Befund
der I oxinprobe selbstverständlich die Kontrolle vorgenommen wurde,
ob nicht Löf fl ersehe Bazillen mit dem eingespritzten Blutserum den
Versuchstieren beigebracht wurden. Es wurden nicht nur Ausstrich¬
präparate von dem Oedem angefertigt, sondern die Stellen des Un¬
terhautzellgewebes, die am meisten von dem Oedem durchtränkt
waren, wurden in kleinste Stückchen zerschnitten und im sterilen
Mörser zerrieben. Hievon wurde dann (mit stets negativem Re¬
sultat) auf L ö f f 1 e r sches Blutserum verimpft.
Ich freue mich, aus den Bemerkungen des Herrn Trumpp
entnehmen zu können, das er meinen Standpunkt bezüglich der Un¬
möglichkeit, zwischen Diphtherie- und Pseudodiphtheriebazillen zu
unterscheiden, völlig teilt. Seine Befunde von der ausserordentlichen
Häufigkeit der Diphtheriebazillen, besonders auch in der Nase, haben
ja durch die vor mehreren Jahren publizierten Neumann sehen
Untersuchungen an gesunden und kranken Nasen eine völlige Be¬
stätigung erfahren. Der Umstand, dass in dem Blute des ausführ¬
licher vorgetragenen Falles sich noch 3 Tage nach der Heilserum¬
einspritzung freies Toxin vorfand, wird noch bemerkenswerter, wenn
man sich vorstellt, dass nach den angeführten Berechnungen etwa
3,3 I oxineinheiten des Diphtheriegiftes nachweisbar waren. Mit der
eingespritzten Antitoxindosis konnten aber nach unserer Berechnungs¬
weise 1500 Toxineinheiten abgesättigt werden. Dass bei dem Ex¬
periment eine Täuschung unterlief, ist auszuschliessen. Denn wenn
am dritten Tag nach der Heilseruminjektion noch Antitoxin frei im
Blute des Kindes gewesen wäre, hätte es eben auf keinen Fall zu
einem hämorrhagischen Oedem im Unterhautzellgewebe des Ver¬
suchstieres kommen können. Gerade bei dem vorliegenden Fall, wo
fast die ganze Gesichtshaut in eine resorbierende Fläche umge¬
wandelt war, war eben — auch noch nach der Heilserumeinspritzung
— die Möglichkeit von ausserordentlich reichlichem Eindringen neu¬
gebildeten Toxins in die Blutbahn gegeben, und es ist anzunehmen,
dass schon am 3. Tage nach der Einspritzung die ganze Antitoxin¬
menge teils von dem freien Toxin des Blutes, teils wohl auch von in
die Organe übergegangenem Toxin gebunden war (vergl. hiezu die
Schlussbemerkungen des Vortrags).
Herr Alzheimer: Zur pathologischen Anatomie der
Paralyse und der paralyseähnlichen Erkrankungen.
An der Hand einer grösseren Anzahl von Lichtbildern
werden die anatomischen Kennzeichen der progressiven Pa¬
ralyse besprochen und dargelegt, dass die Paralyse besonders
durch die eigenartigen Veränderungen an den Qefässen: die
Infiltration derLymphscheiden mit Blutelementen (Plasmazellen,
Lymphozyten, Mastzellen), die Wucherung der fixen Zellen
der Qefässwand, die Bildung der sogenannten Stäbchenzellen
und dann auch durch die eigenartigen Veränderungen des Stütz¬
gewebes und manche Besonderheiten in der Art der Be¬
teiligung der nervösen Elemente eine wohl gekennzeichnete
Erkrankung des Qehirn darstelle.
Es sei nicht schwierig, eine Reihe anderer krankhafter
Prozesse davon abzutrennen, zunächst verschiedene Formen
der Lues: eine meningitisch-infiltrative Form und eine endar-
teriitische Form. Die Eigentümlichkeiten der anatomischen
Vorgänge bei der Hirnlues erklärten manche Besonderheiten
des klinischen Bildes und wiesen darauf hin, welchen klinischen
Symptomen bei der oft schwierigen Differentialdiagnose eine
besondere Bedeutung zukomme.
Ebenso liesse sich anatomisch die Arteriosklerose durch
den Mangel einer Infiltration und die ausschliesslich regres¬
siven Gefässveränderungen ohne Schwierigkeiten von der
Paralyse abtrennen. Die herdförmigen Schädigungen des
Rindengewebes, wie sie der Arteriosklerose eigen seien, be¬
dingen gegenüber der diffuseren Erkrankung der Paralyse
eine abweichende Form der Demenz.
Ebenso sei die senile Demenz, wie der Alkoholismus durch
eigenartige Gewebsveränderungen bedingt, die leicht von
denen bei der Paralyse unterschieden werden können.
So liessen sich die Erkrankungen, welche man früher noch
mit der Paralyse zusammenwarf oder kaum von ihr abtrennen
konnte, heute mit Hilfe des Mikroskopes scharf auseinander¬
halten. Es zeigte sich auch, dass noch immer neue seltene
Krankheitsprozesse von diesen paralysenartigen Erkrankungen
abgeschieden werden können.
1644
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
Mit der Möglichkeit, nach dem Tode jede Diagnose durch
den anatomischen Befund zu rektifizieren, lasse sich eine viel
feinere Bewertung der klinischen Symptome für die Diffe¬
rentialdiagnose gewinnen. So sei die pathologische Anatomie
in der Lage, der klinischen Psychiatrie wesentliche Hilfe zu
bringen.
Vortrag des Herrn L. Raab: Die Elektrotherapie der
Kreislaufstörungen. (Erschien in No. 29 und 30 dieser Wochen¬
schrift.)
Sitzung vom 9. Mai 1906.
Vortrag des Herrn Gebele: Ueber Nierenchirurgie.
(Erscheint im Archiv f. klin. Chir.)
Diskussion: Herren Müller, Schlagintweit und
Gebele.
Vortrag des Herrn Schloesser: Ueber die Behandlung
der Neuralgien mit Alkoholinjektionen. (Erscheint als ausführ¬
liche Monographie.)
Diskussion: Herr Gebele erwidert, so kühn und sicher er
den Vortragenden die Injektionen besonders an die tiefliegenden
Nervenaustrittsstellen habe ausführen sehen, so befangen sei e r bei
Anwendung der Methode. Jedenfalls empfehle sich sehr für einen,
der wenig Gelegenheit zu den Einspritzungen habe, das vorherige
Studium an der Leiche. Ohne Zweifel seien die Alkoholinjektionen
der Nervenresektion vorzuziehen.
Münchener Gesellschaft für Kinderheilkunde.
Sitzung vom 12. Juli 1906.
Herr Rein ach berichtet über einen der Gesellschaft bereits
vor 3 Monaten vorgestellten Eall von spastischer Pylorusstenose mit
besonders ausgeprägten Symptomen, die bei künstlich genährtem
Kinde 4 Wochen nach der Geburt begannen. Heilung durch diä¬
tetische Behandlung, Magenspülungen, binnen 4Vz Monaten; Gedeihen.
(Photographien.)
In der Diskussion führt Herr Pfaundler die Unterschei¬
dung der spastisch funktionellen Stenose und der organisch-hyper¬
trophischen angeborenen näher aus.
Herren R e i r. a c h, S e i t z.
Herr R e i n a c h bringt im Beleuchtungsapparat 21 Röntgenbilder
von 7 Säuglingen mit kongenitaler Lues: Ellenbogenschwellungen mit
Par rotscher Lähmung; demonstriert die z. T. hochgradigen osteo-
chondritischen Veränderungen und die Besserung bezw. Heilung unter
spezifischer Behandlung. (Erscheint im Druck.)
Herr R e i n a c h zeigt ferner Skiagramme des der Gesellschaft
vor 1 Jahre vorgestellten Falles von Morbus Barlow. Die Bilder
des geheilten Falles zeigen volle Heilung der Knochenveränderungen,
i. e. Blutung unter das Periost (1. Femur) und Auflockerung der epi-
physären Verkalkungszone.
Herr Mennacher berichtet von einem Falle von Peritonitis
durch Perforation einer 4 Wochen im Darme liegenden Haarnadel.
Diskussion: Herr S e i t z.
Herr W o 1 f f zeigt das Präparat einer Hydropyelonephrose.
Diskussion: Herr Adam, Herr S e i t z berichten über ver¬
wandte Fälle traumatischer Art. Spiegelberg.
Aus den Pariser medizinischen Gesellschaften.
Academie des Sciences.
Sitzung vom 25. Juni 1906.
Zum Studium der Uebertragbarkeit der Tuberkulose durch das Kasein
in der Nahrung.
Marcel Guedras stellte, nachdem Calmette die Virulenz
der Milch tuberkulösen Ursprungs auch nach dem Kochen oder Ste¬
rilisieren konstatiert hatte, Untersuchungen darüber an, ob die für die
Kinder bestimmten Nahrungsmittel, die im Handel unter den ver¬
schiedensten Bezeichnungen Vorkommen und deren Hauptbestandteil
das Kasein der Milch ist, nicht ebenfalls für die Uebertragbarkeit
der Milch in Betracht kommen können. G. hat nun das Kasein in der¬
selben Weise dargestellt, wie es auf industriellem Wege geschieht,
und in der Tat gefunden, dass es Tuberkelbazillen enthalten kann
und dass Meerschweinchen, mit einer Lösung dieses Kaseins in
destilliertem Wasser gefüttert, nach 37 — 38 Tagen zugrunde gingen.
Die Tuberkelbazillen leisten also den verschiedenen Manipulationen,
welche zur Darstellung der Proteidsubstanz der Milch dienten. Wider¬
stand. Man darf also für die Herstellung von Nährstoffen, welche als
Kaseinprodukte oder Eiweisspräparate der Milch gegeben werden
sollen, nur Kaseine nehmen, welche von Milch, die von tuberkulösen
Keimen völlig frei ist, abstammen. Man kann die Aufmerksamkeit
der Hygieniker nicht genug auf die verschiedenen, im Handel vor¬
kommenden Kindernährmittel, deren Grundstoff das sehr wertvolle,
aber, wie gezeigt, zuweilen auch gefährliche Kasein ist, lenken: das
bei niederer Temperatur eingetrocknete Kasein bleibt das Vehikel
für die Koc h sehen Bazillen. St.
Aus italienischen medizinischen Gesellschaften.
Medizinisch-chirurgische Gesellschaft in Modena.
Sitzung vom 4. Juli 1906.
G. Vassale: Schwangerschaftseklampsie und Insuffizienz der
Parathy reoiddrüsen.
Die parathyreoidale Theorie der Schwangerschaftseklampsie,
welche der Verfasser im vergangenen Jahre auf experimenteller Basis
und auf Grund klinischer Beobachtungen formulierte, ist in der
Zwischenzeit bestätigt worden: a) durch pathologisch-anatomische
Beobachtungen, welche an Leichen von Eklamptikerinnen Verände¬
rungen oder kongenitalen Mangel einer oder zweier Parathyreoid-
driisen feststellten (Pepere, Zanf rognini); b) durch neue kli¬
nische Beobachtungen über glückliche Wirkungen der parathyreoi-
dalen Therapie gegen die eklamptischen Krämpfe (Zanfrognini,
Stradivari); c) durch neue experimentelle Untersuchungen an
trächtigen Katzen und Mäusen (Zanfrognini, Erdheim,
T h a 1 e r und Adler), welche beweisen, dass bei der latenten para-
thyreoidalen Insuffizienz, im letzten Drittel der Schwangerschaft,
regelmässig schwere krampfhafte parathyreoprive Erscheinungen (ex¬
perimentelle Eklampsie) auftreten.
Der Verfasser berichtet über 3, in diesem Jahre von ihm durch
Exstirpation dreier Parathyreoiddriisen operierte trächtige Hündinnen.
Die Hündinnen befanden sich bis zu den letzten Tagen der Schwanger¬
schaft wohl. Bei zweien traf die experimentelle Eklampsie
ca. 2 Tage vor dem Partus ein. Bei einer dieser beiden Hündinnen
wurde die parathyreoidale Behandlung per os mit sehr starken Dosen
durchgeführt. Die Krämpfe hörten auf, und immer unter dem Ein¬
fluss des, auch nach dem Aufhören der ersten krampfhaften Anfälle
gegebenen Parathyreoidin, warf die Hündin 3 Junge, welche inner¬
halb dreier Tage aus Mangel an Milchabsonderung der Mutter ein¬
gingen. Bei der anderen Hündin wurde keine parathyreoidale Be¬
handlung durchgeführt; und nach ungefähr 40 Stunden vom Ein¬
treffen des ersten leichten Anfalles der parathyreopriven Tetanie, er¬
lag dieselbe einem neuen heftigen Krampfanfall, ohne dazu zu ge¬
langen, die vollkommen reifen Föten zu werfen.
Die dritte Hündin wurde erst wenige Augenblicke vor dem Par¬
tus von den Krämpfen befallen: Parathyreoidin in starker Dosis wurde
gereicht; und die Hündin konnte 6 Junge werfen, von denen sie 4
säugte und aufzog. Sie zeigte während der Säugling von neuern
einen heftigen Anfall von parathyreopriver Tetanie, der mit starken
Dosen von Parathyreoidin bekämpft wurde; in der Folge war sie,
wie die erste Hündin, immer im besten Zustand.
Der Harn dieser Hündinnen enthielt Albumin (0,5 — 1 Prom.), wel¬
ches sich in den letzten Tagen der Schwangerschaft vermehrte; das
Albumin verschwand nach dem Partus ziemlich rasch. Dem Ein¬
treffen der experimentellen Eklampsie ging bei den Hündinnen eine
Periode von Oligurie oder Anurie voraus.
Der Verfasser lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die klinische
Analogie betreffend die Veränderung der renalen Funktionen, welche
seine Hündinnen gezeigt haben, mit jener, welche man bei eklamp¬
tischen Frauen beobachtet. Bei der Pathogenese der Schwanger¬
schaftsniere, welche die grösste Bedeutung hat, um das Eintreffen der
latenten parathyreoidalen Insuffizienz, und damit der eklamptischen
Krämpfe, hervorzurufen, wirken nicht allein autotoxische Momente,
sondern auch mechanische Momente (Kompression des schwangeren
Uterus) mit, welche in der Nie.re Blutkreislaufstörungen und Harn¬
stauungen produzieren. Der Verfasser konstatiert, dass bei partiell
parathyreoidektomierten Hunden die partielle Okklusion der Ureteren
das rasche Eintreten von schweren parathyreopriven Krämpfen be¬
wirkt. welche die Tiere im Zeitraum von 19 — 20 Stunden töten.
Ausserdem können, wie bekannt, die Muskelanstrengung und die
nervöse Erschöpfung das Eintreffen der parathyreoidalen Insuffizienz
hervorrufen.
Dadurch versteht sich leicht, dass bei der Primipara, bei wel¬
cher die mechanischen Momente durch Druck des schwangeren
Uterus ohne Zweifel erhöhte Bedeutung haben, und ausserdem die
Dauer der Geburt länger ist, die Eklampsie häufiger auftritt, als bei
der Pluripara,
Deutscher Medizinalbeamtenverein.
Fünfte Hauptversammlung
zu Stuttgart am 15. September 1906.
Tagesordnung.
Freitag, den 14. September. 8 Uhr abends: Gesellige
Vereinigung zur Begriissung (mit Damen) in dem kleinen Saale des
oberen Museums (Kanzleistr. Nr. 11).
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1645
Sonnabend, den 15. September. 9 Uhr vormittags: Sitzung
in dem kleinen Saale des oberen Museums (Kanzleistr. Nr. 11).
1. Eröffnung der Versammlung. 2. Geschäfts- und Kassenbericht;
Wahl der Kassenrevisoren. 3. Die Medizinalvisitationen der Ge¬
meinden, ihre Durchführung, Ziele und Erfolge auf Grund einer
30jährigen Erfahrung in Württemberg. Referent: Herr Ob.-Med.-Rat
Dr. S c h e u r 1 e n - Stuttgart. 4. Die gerichtsärztliche Beurteilung
der Testierfähigkeit. Referent: Herr Dr. Marx, Assistent am In¬
stitut für Staatsarzneikunde in Berlin. 5. Die Beaufsichtigung des
Verkehrs mit Arzneimitteln. Referent: Herr Reg.- und Med.-Rat
Dr. S p r i n g f e 1 d - Arnsberg. 6. Vorstandswahl; Bericht der
Kassenrevisoren. — 4 Uhr nachmittags: Festessen mit Damen im
Hotel Marquardt.
Sonntag, den 16. September. Vormittags: Besichtigung
von Museen, Sammlungen usw. nach freier Wahl. Mittagessen
ebenfalls nach freier Wahl. — Nachmittags: Gemeinschaftlicher Aus¬
flug in die Umgegend. — 8 Uhr abends: Begriissungsabend der
Naturforscherversammlung.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Pensionsverein für Witwen und Waisen bayerischer Aerzte.
Bekanntmachung.
Nach Mitteilung der Kreisausschüsse wurden gewählt:
I. Als Abgeordnete für die Delegiertenversamm¬
lung am 22. Oktober 1906, sowie für die Dauer der
nächsten Finanz periode:
in
Oberbayern
Niederbayern
Pfalz
Oberpfalz
Oberfranken
Mittelfranken
Unterfranken
Schwaben
Abgeordneter:
Med. -Rat Dr. Stumpf,
Med. -Rat Dr. Schmid,
Med. -Rat Dr. Ullmann,
Hofrat Dr. Eser,
Dr. Burger,
Dr. F. Giulini,
Prof. Dr. Kirchner,
Hofrat Dr. Troeltsch,
Stellvertreter:
Dr. K. Becker,
Dr. Sandtner,
Hofrat Dr. Kaufmann,
Kr.-M.-R. Dr. Dorffmeister
Dr. Herd,
Hofrat Dr. Beckh,
Dr. Seisser,
Hofrat Dr. Miehr.
II. Als Mitglieder der Kreisausschüsse in
Oberbavern :
Vorstand:
M.-R. Dr. Stumpf,
Kassier: Schriftführer: Ersatzmann:
H.-R. Dr. Daxenberger, B.-A. Dr. v. Dallarmi, B.-A. Dr. Gruber.
Niederbayern :
Dr. Sandtner, B.-A. Dr. Appel, B.-A. Dr. Ertl.
Pfalz :
M.-R. Dr. Ullmann, Dr. Steitz, Dr. Krafft, Hofrat Dr. König,
Oberpfalz:
Dr. Clostermeyer, K.-M.-R.Dr.Dortfmeister, Dr. Köhler.
Oberfranken :
Dr. Burger, Dr. Herd,
Mittelfranken :
Hofrat Dr. Merkel, Dr. F. Giulini, Hofrat Dr. Bockli,
Unterfranken :
M.-R. Dr. Schmid,
Hofrat Dr. Eser,
Dr. Wierrer,
Hofrat Dr. Stengel, Dr. Seisser,
Prof. Dr. Kirchner,
Schwaben :
Hofrat Dr. Miehr, Hofrat Dr. Troeltsch, Hofrat Dr. Krauss,
V erwaltungsrat
des Pensionsvereins für Witwen
bayerischer Aerzte.
Dr. Koller.
B.-A. Dr. Roth.
Hofrat Dr. Dehler.
Hofrat Dr. Curtius.
und Waisen
Verschiedenes.
Aus den Parlamenten.
Der Antrag des Abgeordneten Dr. Rauh, Reform
des bayerischen Medizinalwesens betr., über dessen
Besprechung und Annahme seitens der bayerischen Abgeordneten¬
kammer in No. 29 dieser Wochenschrift ausführlich berichtet wurde,
hat die Zustimmung der Kammer der Reichsräte nicht ge¬
funden; er wurde nach dem Berichte des Referenten, Herrn Reichs¬
rat Dr. Ritter von Buhl ohne weitere Diskussion abgelehnt.
Der Referent machte sich die von dem Herrn Staatsminister des
Innern in der Abgeordnetenkammer vertretene Auffassung zu eigen.
Bei der Wichtigkeit der Frage, die damit nicht zum Stillstände ge¬
kommen sein wird, sondern voraussichtlich noch weiter bearbeitet
werden wird, namentlich von seiten des hierzu besonders berufenen
bayerischen Medizinalbeamtenvereins, bringen wir die Ausführungen
des Referenten nach dem nunmehr vorliegenden stenographischen
Berichte:
„Die Motive, die dem eben verlesenen Antrag beigegeben sind,
anerkenne ich selbst, dass dieses hervorragende Gesetzeswerk den
gegenwärtigen Verhältnissen in seinen allgemeinen Grundsätzen und
organisatorischen Bestimmungen entspreche. Das Edikt, dessen
erster Abschnitt sich mit der Ausübung der Heilkunde im Allgemeinen
befasst und durch spätere Vorschriften völlig ersetzt ist, behandelt
in drei anderen Abschnitten die Gliederung der amtlichen Aerzte im
Anschluss an die Behördenverfassung, die heute noch als eine ganz
entsprechende von sachkundigen Personen bezeichnet wird
Was nun die Bemängelungen hinsichtlich der einzelnen ver¬
alteten Bestimmungen betrifft, so wird der Herr Referent dahin in¬
formiert, dass nur ganz wenige derselben noch in Kraft stehen. Die
Vorschriften, besonders für den Wirkungskreis der amtlichen Aerzte,
sind der Hauptsache nach in neueren Gesetzen, Verordnungen und
Erlassen enthalten, die seitdem ergangen sind. Bei dem Fortschreiten
der ärztlichen Wissenschaft wie der Naturwissenschaften überhaupt,
werden natürlich weitere Massnahmen fortwährend nötig. Wie im
Ausschüsse ausgeführt wurde, ist auf Grund dieser Verhältnisse die
ganze Materie in Fluss begriffen.
Zur Begründung sagt der Herr Antragsteller nur, das Medizinal¬
wesen Bayerns soll vielfach da und dort modernisiert werden. Die
zur Abstellung der vorhandenen Mängel nötigen Massnahmen
scheinen aber nach dem Urteil sachkundiger Personen — zu denen
Referent sich nicht zählt — keine Neugestaltung des gesamten Medi¬
zinalwesens erforderlich zu machen. Das ist der hauptsächliche
Grund, auf den es ankommt, ob eine Neuregelung des gesamten
Medizinalwesens notwendig ist. Der Herr Staatsminister sprach aus,
mit dem vorliegenden generellen Antrag sei eigentlich nichts zu
machen. Er sollte sich darauf beschränken, diese oder jene Richtung
zu bezeichnen, in der eine Besserung gewünscht werde, damit dann,
wenn es notwendig ist, diesen Wünschen durch einzelne Verfügungen,
nötigenfalls auch im Gesetzeswege geholfen werden könne. Ich darf
bemerken, dass Gelegenheit gegeben ist, solche Wünsche vorzu¬
bringen bei den alljährlichen Sitzungen der acht Aerztekammern, wo
die Vertreter der ärztlichen Bezirksvereine versammelt und in der
Lage sind, entsprechende Anträge zu stellen. Der Antrag erwähnt
übrigens selbst, dass diese Körperschaften entsprechend einzuver¬
nehmen seien. Jedenfalls würde es sich hier um ein neues und
schwieriges Gesetzgebungswerk handeln. Im Ausschuss wurden
von hoher Seite lebhafte Bedenken geäussert mit den Worten: Wenn
jemand einen Antrag stelle, so eingewurzelte und bewährte Be¬
stimmungen wie die des bayerischen Medizinalediktes aufzugeben, so
sei er seiner Anschauung nach verpflichtet, zur Begründung ein¬
gehend auf die Mängel der bestehenden Einrichtungen hinzuweisen
und auch die Mittel anzugeben, wie denselben abzuhelfen sei. Er
habe nicht wahrnehmen können, dass seitens der Herren Antrag¬
steller oder von anderer Seite geeignete Vorschläge gemacht worden
seien. Aus diesen Gründen könne er dem Anträge nicht beitreten.
Dem Antrag des Herrn Referenten, dem Antrag des Abgeord¬
neten Dr. Rauh und Genossen nicht beizutreten, wurde im hohen
Ausschuss zugestimmt; er bitte die hohen Herren, das Gleiche zu
beschliessen.“ Dr. Carl Becker.
Therapeutische Notizen.
Das Salimenthol ist der Salizylsäureester des Menthols.
Es ist flüssig, hellgelb, fast geschmacklos und von angertehmem,
schwachem Gerüche. Es kann sowohl innerlich in Kapseln zu 0,25,
als äusserlich in Form einer 25 proz. Salbe „Samol“ angewendet
werden. Reicher (Ther. Monatsh. 6, 06) fand es wirksam bei
Muskel- und Gelenkrheumatismus. Magen- und Darmerscheinungen
blieben bei seiner Anwendung aus. Kr.
ZurBehandlung derBleichsucht empfiehlt H. R o s i n -
Berlin heisseBäder. Während eines Zeitraumes von 4 — 6 Wochen
werden 3 mal wöchentlich heisse Bäder von 40° C. (= 32° R.) ver¬
abfolgt, anfänglich von 10 — 15, später von 20 Minuten Dauer. Der
Kopf wird vor dem Einsteigen in das Bad mit einer kühlen Kopfkappe
oder einem nassen Handtuch bedeckt. Nach dem Verlassen des Bades
wird einige Sekunden lang kühl abgeduscht und trocken gerieben;
dann folgt 1 Stunde Ruhe. Nach 3 — 4 Bädern soll sich eine Besserung
des Allgemeinbefindens zeigen, in vielen Fällen sollen 12 Bäder in
4 Wochen zur Genesung führen. (Therapie d. Gegeinv. 1906, Juli.)
Das von Emil Fischer und v. M e r i n g eingeführte S a j o d i n
ist das Kaliumsalz der Monojodbehensäure. Es kommt in Tabletten
zu 0,5 in den Handel und zeichnet sich durch eine völlige Geruch-
und Geschmacklosigkeit aus. Irgend eine üble Einwirkung auf die
Verdauungswerkzeuge scheint es nicht zu haben. Lublinski-
Berlin hat es bei Arteriosklerose, bei trockenem Lungenkatarrh und
bei Syphilis mit gutem Erfolg gegeben. (Ther. Monatsh. 6, 06.) Es
kommt trotz seines geringen Jodgehaltes den übrigen Jodpräparaten
an Wirksamkeit gleich, wird gut vertragen, schädigt den Magen nicht
und ist frei von üblen Nebenwirkungen. Kr.
An der sächsischen Heil- und Pflegeanstalt Gross-Schweidnitz
wurden Versuche mit Neuronal gemacht, deren Resultate zur
weiteren Empfehlung dieses neuen Narkotikums geeignet sind, ln
leichteren Fällen genügten Dosen von 0,5 — 1,0 zur Erzielung eines
etwa 6 stündigen, erquickenden Schlafes, bei schwereren Erregungs¬
zuständen wurden 1,5 — 2,0 nötig. Unangenehme Nebenwirkungen
kamen so gut wie gar nicht vor; dagegen wurde beobachtet,' dass
die Wirksamkeit des Mittels bei öfterer Darreichung verhältnismässig
rasch nachlässt, selbst wenn zwischen den einzelnen Anwendungen
Tage lagen. Der Preis ist noch recht hoch, 1 g Neuronal in Pulver-
1646
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
form, en gros bezogen, kostet 17!4 Pfg., in Tablettenform (2 Tablet¬
ten) 27 Pfg. (W. H e i n i c k e, Med. Klinik 1906, No. 22.) R. S.
Das Bromotan ist ein Bromtanninderivat und zwar der
Bromtanninmethylenharnstoff. Es ist ein gelbbraunes, in Wasser un¬
lösliches, geruch- und geschmackloses Pulver. Rockstroh - Wies¬
baden hat dasselbe bei juckenden Hauterkrankungen angewendet und
zwar in der Verbindung mit Talkum und Zinkoxyd. (Ther. Monatsh.
1906, 4.) Das Präparat bewährte sich recht gut, besonders bei
nässenden Ekzemen, die durch längeren Reiz von Wundsekret, Darm¬
inhalt, Galle entstanden waren. Zumal der Juckreiz schwand in sehr
kurzer Zeit. Die Zusammensetzung des angewandten Pulvers ist:
Bromotan 10,0
Talei
Zinc. oxydat. aa 45,0. Kr.
Ernst Meyer- Halle a. S. hat in der k. med. Universitäts¬
klinik zu Halle bei einem Fall von Pankreaskarzinom den Stoff¬
wechsel bei Pankreaserkrankung und dessen Be¬
einflussung durch Opium und Pankreaszufuhr
untersucht. Als Pankreaspräparat wurde das Pankreon ver¬
wendet. Es ergab sich als Resultat der Untersuchungen, dass die
Resorption des Eiweisses und der Fette, die beim Darniederliegen der
Pankreasfunktion erheblich geschädigt ist, durch die Darreichung
von Pankreon (3mal 1,0 pro die) eine erhebliche Aufbesserung er¬
fuhr, wie sich auch durch Opiummedikation (3 mal täglich 15 gtt Tr.
Opii spl.) die Verhältnisse günstiger gestalten. Durch jedes der Prä¬
parate wird die Glvkosurie der Pankreasdiabetikers erheblich einge¬
schränkt, die Verwertung der gesamten Nahrung hob sich unter
Pankreon um 50 Proz., unter Opium um weit über 10 Proz. (Zeit¬
schrift f. experim. Pathol. u. Therapie 1906, Heft 1.) R. S.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 14. August 1906.
- Am 3. August wurde die „A u s k u n f t s- und Fürsorge-
stelle für Lungenkranke in N ii r n b e r g“, errichtet und
unterhalten durch den Verein zur Bekämpfung der Tuberkulose, dem
Betrieb übergeben. Die Stelle befindet sich inmitten der Stadt in
einem von der Stadt kostenlos mietweise überlassenen Hause. Das
erste Stockwerk desselben enthält das ärztliche Sprechzimmer mit
2 anstossenden, entsprechend ausgestatteten Untersuchungsräumen,
2 Warteräume, Laboratorium und Schreibzimmer. Im 2. Stockwerk
befindet sich die Wohnung der im Dienste der Stelle stehenden
Schwestern. Die ärztliche Leitung führt Dr. Frankenburger,
unterstützt von Dr. R. Bändel und Dr. H. Worminghaus.
Sprechstunden finden zunächst 2 mal wöchentlich statt. Zur Auf¬
bringung der Betriebsmittel haben bis jetzt die Versicherungsanstalt
für Mittelfranken, der Armenpflegschaftsrat Nürnberg, die Direktion
der Siemens-Schuckert-Werke, die Ortskrankenkasse für die poly¬
graphischen Gewerbe und das Arbeitersekretariat Nürnberg grössere
Zuschüsse zugesichert. Ausserdem stehen die Zinsen einer von
Kommerzienrat W. Gern gros zu Gunsten der Fürsorgestelle er¬
richteten Stiftung zur Verfügung. Der Besuch der ersten Sprech¬
stunden lieferte bereits den Beweis von der Notwendigkeit und
Dringlichkeit der Gründung der Fürsorgestelle, welche als die erste
in Bayern in Betrieb genommen wurde.
— Feuerbestattung in Sachsen. Zur Genehmigung
der Feuerbestattung ist nach § 6 des Gesetzes vom 29. Mai 1906 der
Nachweis der Todesursache notwendig, welche durch übereinstim¬
mende Zeugnisse des behandelnden und eines an der Behandlung nicht
beteiligten beamteten Arztes festgestellt sein muss. Die ärztlichen Zeug¬
nisse dürfen nur nach vorausgegangener Leichenschau, und sofern
auch nur einer der Aerzte es für erforderlich erklärt, nach vorgängiger
Leichenöffnung ausgestellt werden. Dem Erfordernisse der Ueberein-
stimmung der ärztlichen Zeugnisse ist genügt, wenn diese den Ver¬
dacht einer strafbaren Handlung ausschliessen. Wird durch die
Leichenschau oder die Leichenöffnung auch nur bei einem der Aerzte
der Verdacht eines Verbrechens begründet, so ist die Ausstellung
der Zeugnisse und die Genehmigung der Feuerbestattung zu ver¬
weigern und der Ortspolizeibehörde Anzeige zu machen. Den Be¬
zirksärzten steht die medizinalpolizeiliche Aufsicht auch für die
Feuerbestattung zu.
— Der frühere Professor der Geburtshilfe und Gynäkologie in
Königsberg (früher Marburg), Dr. D o h r n, feiert am 24. August in
Schreiberhau seinen 70. Geburtstag.
— Das 50 j ä h r i g e Doktor jubiläum feierten die Geh.
San.-Räte DDr. Volmer, Boas, Kalischer und L i s s a u e r
in Berlin, Geh. Med.-Rat Dr. Brand in Geldern, Dr. Reckmann
in Buer und Geh. San. -Rat Dr. Steinheim in Wiesbaden.
— Der 19. französische Chirurgenkongress wird
am 1. Oktober 1906 zu Paris eröffnet. Auf der Tagesordnung stehen:
1. Chirurgie der dicken Nervenstämme, 2. Ektopie des Hodens und
ihre Komplikationen, 3. Mittel und Wege des Zuganges zum Thorax
vom operativen Gesichtspunkte.
— Im Januar 1907 findet der 3. ärztliche Kongress des
lateinischen Amerika zu Montevideo in Uruguay statt, verbunden mit
einer Ausstellung medizinischer Gegenstände, wie chirurgische In¬
strumente, chemische und pharmazeutische Präparate u. dergl.
— Im Verlage von A. Stüber in Wiirzburg ist das 1. Heft des
„Internationalen Zentralblattes für die gesamte
Tuberkuloseliteratur“ erschienen. Die neue Zeitschrift,
herausgegeben von Prof. B r a u e r - Marburg, Prof, de la Camp-
Marburg und Dr. S c h r ö d e r - Schömberg, redigiert von Dr.
Schröder, gelangt in monatlichen Heften in Archivformat im Um¬
fang von 1 — 2 Bogen zur Ausgabe und kostet 8 Mark pro Jahrgang.
Sie wird nicht nur die in Buchform erscheinende internationale
Literatur behandeln, sondern auch über die in den verschiedensten
Zeitschriften zerstreuten einschlägigen Arbeiten referieren, um so
allen Interessenten zu ermöglichen, sich über alles, was im Kampfe
gegen die Tuberkulose und zu ihrer Erforschung in der ganzen
Kulturwelt geistig geleistet wird, zu unterrichten und auf dem
Laufenden zu erhalten.
— Pest. Türkei. Vom 16. bis 22. Juli wurden in Djedda
11 Erkrankungen und 11 Todesfälle an der Pest festgestellt. —
Aegypten. Vom 21. bis 27. Juli wurden 10 neue Erkrankungen (und
3 Todesfälle) an der Pest gemeldet, davon 5 (2) in Alexandrien, 4 (1)
in Suez. — Britisch-Ostindien. Während der am 14. Juli abgelaufenen
Woche sind in der Präsidentschaft Bombay 247 Erkrankung (und
168 Todesfälle) an der Pest zur Anzeige gekommen. In Kalkutta
starben in der Woche vom 24. bis 30. Juni 23 Personen an der Pest. —
Queensland. Während der am 16. Juni endenden Woche ist in Bris¬
bane ein neuer Pestfall bei einem 15 jährigen Knaben festgestellt
worden. — Westaustralien. Nach einer Mitteilung vom 2. Juli ist in
Fremantle der letzte Pestkranke aus dem Krankenhause als geheilt
entlassen worden.
— In der 30. Jahreswoche, vom 22. bis 28. Juli 1906, hatten von
deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblichkeit
Königshütte mit 37,3, die geringste Dtsch. Wilmersdorf mit 4,6 Todes¬
fällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Ge¬
storbenen starb an Scharlach in Beuthen, an Keuchhusten in Worms.
V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Berlin. Prof. Dr. v. Hansemann hat den Ruf nach Mar¬
burg abgelehnt. — Die medizinische Fakultät stellte als Preisaufgabe
für den königlichen Preis: „Eine vergleichende Untersuchung der
Histogenese der Herzmuskulatur besonders im Hinblick darauf, ob
das Muskelgewebe ein Syncytium darstellt oder sich in Zellterri¬
torien zerlegen lässt“; für den städtischen Preis: „Untersuchungen
zur normalen und pathologischen Anatomie des Wurmfortsatzes“.
Greifswald. Der ausserordentliche Professor in der medi¬
zinischen Fakultät der hiesigen Universität Dr. Ernst S c h u 1 1 z e
wurde zum ordentlichen Professor ernannt.
Heidelberg. Der Direktor der hiesigen medizinischen Klinik
und Ordinarius für spezielle Pathologie und Therapie, Geh. Rat Prof.
Dr. Wilhelm Erb, wird zum Schluss des nächsten Wintersemesters
von beiden Aemtern zurücktreten.
Köln. Dr. med. Hermann P r e y s i n g, ordentlicher Professor
an der hiesigen Akademie für praktische Medizin, hat im Bürgerhospi¬
tal an Stelle des Professors W a 1 b die Abteilung für Ohrenkrank¬
heiten übernommen.
Marburg. In der medizinischen Fakultät der hiesigen Uni¬
versität habilitierte sich Dr. H. Vogt als Privatdozent mit einer An¬
trittsvorlesung „Ueber Wechselbeziehungen bei Herz- und Lungen¬
krankheiten“.
Tübingen. Prof. Dr. A. D ö d e r 1 e i n, der Vorstand der
hiesigen Frauenklinik, hat den Ruf an die Universität Rostock ab¬
gelehnt. — Ausserordentlicher Prof. Dr. S a r w e y, I. Assistent an
der Frauenklinik, erhielt einen Ruf als ordentlicher Professor und
Vorstand der Frauenklinik in Rostock und ' leistet ihm Folge.
Basel. Dr. Fr. S‘u ter habilitierte sich als Privatdozent für
Urologie,
Bologna. Dr. C. Comba wurde zum ausserordentlichen
Professor der Kinderheilkunde ernannt.
Catania. Dr. G. M i r a n d a wurde zum ausserordentlichen
Professor der Geburtshilfe und Gynäkologie ernannt.
Genu a. Dr. C. Ferrarini habilitierte sich als Privatdozent
für Psychiatrie.
Krakau. Der ausserordentliche Prof. Dr. V, Jaworski
wurde an Stelle des verstorbenen Prof. Korczy nski zum Pro¬
fessor der medizinischen Klinik ernannt.
Neapel. Dr. R. C a m i n i t i habilitierte sich als Privatdozent
für externe Pathologie.
Odessa. Dr. N. G a m a 1 e i a habilitierte sich als Privatdozent
für Bakteriologie.
Ofen-Pest. Dr. A. Hasenfeld habilitierte sich als Privat¬
dozent für Krankheiten des Zirkulationsapparates.
Pa via. Dr. U. Mantegazza wurde zum ausserordentlichen
Professor der Dermatologie und Syphiligraphie ernannt.
Philadelphia. Dr. A. Gordon wurde zum ausserordent¬
lichen Professor der Neurologie und Psychiatrie ernannt.
R o m. Der bisherige Privatdozent an der medizinischen Fakultät
zu Genua Dr. G. L o r i g a habilitierte sich als Privatdozent für
Hygiene.
14. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1647
(Todesfälle.)
In Pjatigorsk ist der ordentliche Professor für Pathologie an der
Universität Odessa, Dr. Alexander Bogdanow, 52 Jahre alt, ge¬
storben.
(Berichtigung.) In der Arbeit von Dr. Aronheim in
No. 32 „Ein Fall von Morbus Basedowii ohne Exophthalmus, be¬
handelt mit Antithyreoidin Moebius“ muss es im Nachtrag heissen:
„auf streng wissenschaftlicher“ Basis, nicht auf g r e n z wissenschaft¬
licher Basis.
Personal nachrichten.
(Bayern.)
Verzogen: Georg Dedmann von Lauterhofen (Neu-
markt i/O.) nach Schmidmühlen (Burglengenfeld).
Gestorben: Dr. Gustav Müller, prakt. Arzt in Bobingen,
62 Jahre alt. Dr. Franz Mart h, prakt. Arzt in Bamberg, 43 Jahre alt.
Briefkasten.
Herr Bezirksarzt G. in A. schreibt: „Durch hohe Ministerlaient-
schliessung wurde erklärt, dass für die Vornahme amtsärzt¬
licher Revisionen von Medikamenten und Aerzterechnungen
Gebühren im Betrage von 1 — 3 M. in Ansatz gebracht werden können
und dürfen, doch fragt es sich, welche Krankenkassen bezahlen
müssen und welche gebührenfrei sind?“
Hiezu ist zu bemerken, dass die Amtsärzte für Revision von Medi¬
kamenten und Aerzterechnungen an Krankenkassen Gebühren be¬
anspruchen:
1. wenn die Kosten dafür nicht vom Staate, einer Gemeinde
oder einer Wohltätigkeitsstiftung zu tragen sind (§ 3 der K. A. V.
vom 17. XI. 02);
2. werden die Kosten vom Staate, einer Gemeinde oder einer
Wohltätigkeitsstiftung getragen dann, wenn die Krankenkassen auf
Grund der Arbeiterversicherungsgesetze errichtet
sind (M.-E. vom 25. Mai 1905), dazu gehören einmal die verschiedenen
nach dem Krankenversicherungsgesetz vom vom 15. VII. 1883 und
10. IV 1892 errichteten Kassen, Gemeinde-, Ortskrankenkassen usw.
(s. Spaet-Stenglein S. 7-4 ff.), ferner Unfall- und Invaliden¬
versicherung; bei Kassen, welche nicht auf Grund dieses Kranken¬
versicherungsgesetzes errichtet sind, kann der Bezirksarzt keine
Gebühr für Revision verlangen, wenn der Staat etc. die Kosten trägt,
so nicht bei den Kranken kassen der bayer. Forstverwaltung
(M.-E. | Finanzen! vom 22. IV. 05, s. Münch, med. Wochenschr. No. 21,
1905), anders liegt natürlich die Sache bei Kranken als Angehörige
der Unfall- Berufsgenossenschaften der Forstverwaltungen, weil
es sich hier um eine gesetzliche Arbeiterversicherung handelt;
Rezepte für Dienstboten krankenkassen sind unentgeltlich zu
revidieren, wenn diese Krankenkassen auf Grund des Armen-
gesetzes errichtet sind (§ 21 des Armengesetzes, Spaet-Steng¬
lein S. J0), haben jedoch die Gemeinden auf Grund statutarischer
Bestimmungen die Dienstboten der Gemeinde krankenkasse
unterstellt, so kann für Revision Gebühr beansprucht werden (§ 2,
Abs. 1, Ziff. 6 des Krankenversicherungsgesetzes, s. Spaet-
Stenglein S. 82). Hier handelt es sich dann aber wieder um eine
gesetzliche Arbeiterversicherung, um „Organe der Arbeiterversiche¬
rung“ (§ 7 u. 9 d. K. A. V. v. 17. XI. 02) und bei diesen ist es gleich¬
gültig, wer die Kosten trägt (§ 8 d. zit. V.).
Korrespondenzen.
Zur Frage der Kehlkopf- und Luftröhrenverlagerung bei Ver¬
änderungen der Brustorgane.
Der Assistent der Leipziger medizinischen Poliklinik Herr
Dr. Gröber hat in No. 31 dieser Wochenschrift zwei Fälle von
Luftröhrenverlagerung mitgeteilt. Er erwähnt, dass er zwei weitere
Fälle dieser Art gesehen und dass sein Chef, der seiner Arbeit freund¬
liches Interesse bewiesen, ihm von zwei ähnlichen erzählt habe.
Ich glaube in der Annahme nicht fehl zu gehen, dass der Herr
Verfasser mindestens so grossen Wert wie auf seine beiden Kranken¬
geschichten auf die Mitteilung legt, dass gewisse Lageveränderungen
des Kehlkopfs und der Luftröhre schon vor meiner Veröffentlichung1)
seinem Chef, Herrn Geheimrat H o f f m a n n, bekannt waren.
Dies sei ihm hiermit besonders gerne bestätigt. Herr Hoff-
m ann hat in seiner monographischen Darstellung der Mediastinal-
erkrankungen 2) in der Tat in den beiden Sätzen, die auch Herr
Gröber abdruckt, erwähnt, dass man bei Tumoren des Mediastinum
„Kehlkopf und Trachea ein wenig aus der Mittellinie verschoben oder
die Luftröhre geradezu schräg nach aussen herabsteigen“ sehen könne.
In zwei weiteren Sätzen gedenkt Herr H offmann dabei auch der
I racheoskopie, auf die ich in meiner Arbeit absichtlich nicht ein¬
gegangen war.
Ich habe die Mitteilung des Herrn Hoffmann leider erst aus
dem Gröber sehen Aufsatz kennen gelernt und brauche mich bei
dem literaturkundigen Leser nicht zu entschuldigen, dass die in einer
umfangreichen Monographie enthaltenen wenigen Sätze mir entgangen
waren.
Zur grossen Genugtuung gereicht es mir jedenfalls, dass Herr
Hoffmann und ich, unabhängig von einander, zu ähnlichen Er¬
fahrungen gekommen sind. Wenn ich auch für mich ferner ein kleines
Verdienst in Anspruch nehmen darf, so wäre es das, den Gegenstand
anatomisch und klinisch ausführlich erörtert und insofern auf eine
breitere Grundlage gestellt zu haben, dass neben Affektionen des
Mediastinums eine ganze Reihe anderweitiger Veränderungen inner¬
halb der Brusthöhle (Lunge und Pleura) Verlagerungserscheinungen
am Halsteil der Luftröhre und des Kehlkopfes machen.
Eine grössere Veröffentlichung aus meiner Klinik, die sich in
Vorbereitung befindet, wird hierzu weitere instruktive Beiträge
liefern. H. Curschmann- Leipzig.
Vorläufige Bemerkung zu der öffentlichen Erklärung
der Herren Dr. G. Maurer und Prof. Dr. H. Dürck- München.
Von Dr. Adolf Treutlein, Oberarzt im 9. bayer. Inf.-Reg.
Die öffentliche Erklärung der Herren Dr. G. Maurer und Prof.
Dr. Dürck ist erschienen in No. 32 der Münch, med. Wochenschr.
vom 7. August 1906 und richtet sich gegen meine, der medizinischen
Fakultät der Universität Würzburg vorgelegte Habilitationsschrift
„Ueber chronische Oxalsäurevergiftung an Hühnern und deren Be¬
ziehung zur Aetiologie der Beri-Beri.
Vorausschicken will ich, dass ich mich darauf beschränke, die
Stellen meiner Arbeit, welche Dr. Maurer und Prof. D ü r c k be¬
treffen, wörtlich zu zitieren und mich nicht zu Ausdrücken versteigen
werde, wie „unumstössliche Tatsache“ und „unerhörte Usurpation“.
Der objektive Leser wird sich auch so ein Urteil bilden können.
ad 1. Herr Dr. Maurer schreibt: „Dr. Treutlein ver¬
schweigt nicht nur vollständig die Entstehungsgeschichte seiner Ar¬
beit, sondern er macht den Versuch, die Tatsache direkt zu ver¬
schleiern, dass die Arbeit eigentlich von mir ausgeht und nur eine
Wiederholung meiner Versuche ist“. Herr Dr. Maurer beginnt die
Entstehungsgeschichte meiner Arbeit mit der Unterredung, die ich
mit ihm in Meran hatte (Sept. 1905).
Dem entgegen lasse ich die Stellen aus meiner Arbeit, welche
deren Entstehungsgeschichte betreffen, im Zitat folgen: „Die erste
Anregung, mich dem Studium der Aetiologie der Beriberi zu widmen,
war mir auf meiner tropenhygienischen Studienreise (Herbst 1904 bis
Herbst 1905) durch Robert Koch in Deutsch-Ostafrika geworden.“
(Januar 1905.) Auf Seite 325 und 326 teile ich mit, dass ich bei
dem Kapitän eines chinesischen Küstendampfers an der Halbinsel
Malakka, der an Beriberi litt, im Urin Oxalatkristalle fand, ebenso
bei einem Major auf Java und in meinem eigenen Urin bei einer Er¬
krankung, die ich mir in Java zugezogen hatte. (Mitte Mai 1905,
Anfang und Ende Juni 1905.) Diese 3 Beobachtungen habe ich voll¬
ständig selbständig gemacht ohne jede Kenntnis von Dr. Maurers
Arbeiten. Ich zitiere nun meine Arbeit weiter: „Als ich nach Sin-
gapore zurückgekehrt war (von Java), hörte ich von einem Schiffs¬
arzte, dass Dr. G. Maurer in Deli (Sumatra) im Jahre 1903 in
einer holländisch veröffentlichten Arbeit die Behauptung aufgestellt
habe, dass es sich bei der Beriberi um eine chronische Oxalsäure¬
vergiftung handele, welche dadurch hervorgerufen würde, dass ge¬
wisse Arten von Schimmelpilzen mit der Nahrung in den Magendarm¬
kanal eingefiihrt würden und daselbst Oxalsäure bildeten.“ Ueber
Dr. Maurers Vortrag in Meran (Sept. 1905) schreibe ich auf Seite
327 meiner Arbeit: „Dr. Maurer, der seine 1903 in holländischer
Sprache erschienene Untersuchungen in der Zwischenzeit erweitert
und ausgebaut hatte, teilte der Versammlung mit, dass nicht nur
Schimmelpilze, sondern auch Hefen und gewisse Bakterienarten
Oxalsäure zu bilden vermöchten und vertrat mit voller Bestimmt¬
heit den Standpunkt: „Die Beriberi ist eine chronische Oxalver-
giftung“. Seite 328 schreibe ich: „Einige Wochen später (nach
Meran), nachdem ich meine eigenen Tierexperimente in Gang gesetzt
hatte, erhielt ich von Herrn Dr. Maurer das holländische Original
seiner 1903 erschienenen Arbeit und entnahm derselben, dass auch er
schon verschiedene Fütterungen von Hühnern mit Oxalsäure vor¬
genommen habe und sowohl damit, als durch oxalsäurebildende
Schimmelarten bei Hühnern beriberiähnliche Erscheinungen hervor¬
rief.“ Auf Seite 332 schreibe ich: „Meine eigenen Versuche, für
welche ich nach dem Vorbilde E i j k m a n n s und Maurers
Hühner wählte. ‘
Auf Seite 344 schreibe ich: „Eijkmann fand bei seinen mit
Reis gefütterten Hühnern Symptome, welche er als beriberiähnlich
bezeichnen zu dürfen glaubte. Aehnliche Ergebnisse erhielt Maurer
bei Oxalsäurefütterung.“
Auf Seite 332 schreibe ich: „Auf Rat von Herrn Prof. Dr. K. B..
Lehmann hatte ich, wie oben erwähnt, meine Fütterungen nicht
mit Oxalsäure bildenden, Schimmeln gemacht, die ich teils von Japan
selbst mitgebracht hatte, teils von Dr. Maurer, aus Stühlen Beri-
berikranker gezüchtet, erhalten hatte, sondern mit Oxalsäure selbst.“
1) H. Curschmann: Die Verlagerung der Luftröhre und des
Kehlkopfes als Folge gewisser Veränderungen der Brustorgane. Diese
Wochenschr. 1905, No, 48.
2) Nothnagels Handbuch Bd. XIII.
1648
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
Wenn Dr. Maurer schreibt, dass er seit Dezember 1905 nichts
mehr von mir hörte, so muss ich hier feststellen, dass ich ihm vor
14 Tagen brieflich mitteilte, dass ich ihn an Ostern in München auf¬
suchen wollte und damals, da er selbst nach Sizilien verreist war,
Herrn Professor Dr. D ti rck eine Reihe von Mitteilungen über den
Stand meiner Arbeit machte und vor Allem, dass ich mich Ende
des Sommersemesters auf diese zu habilitieren gedächte. Da aber
Herr Prof. D ii r c k von Herrn Dr. Maurer über alle Phasen meiner
Arbeit unterrichtet wurde, wie er selbst sagt, so musste ich an¬
nehmen, dass er Herrn Dr. Maurer von meinem Münchener Auf¬
enthalt mitteilen würde. Ferner schrieb ich Herrn Dr. Maurer
noch, dass ich wenige Tage nach meinem Habilitationsakt (also etwa
am 20. Juli) ihm meine Arbeit zusandte, leider statt „Herzog Hein¬
richstrasse“ in die „Herzog Wilhelmstrasse“.
Auf Grund dieser Zitate aus meiner Arbeit
glaube ich von der Entstehungsgeschichte der¬
selben Nichts verschwiegen zu haben und die Pri¬
oritätsrechte Dr. Maurers nicht nur nicht verletzt,
sondern dieselben ausdrücklich hervorgehoben
zu haben, indem ich feststelle, dass er schon 1903
die Beriberi als eine chronische Oxalsäurever¬
giftung bezeichnete und du rch Verfiitterung von
Oxalsäure an Hühner bei diesen beriberiähnliche
Symptomehervorrief.
ad 2. Herr Dr. Maurer sagt, dass an meiner Arbeit nichts
neu sei, als die Feststellung, dass die Oxalsäurevergiftung bei Hüh¬
nern eine ausgebreitete Degeneration aller peripheren Nerven-
elemente zustande bringe. Auch diese Feststellung sei nur eine Be¬
antwortung einer von ihm gestellten Frage. Dem gegenüber will
ich kurz feststellen, dass Herr Dr. Mau r e r im Laufe des Gespräches
mir mitteilte, seine pathologische Ausbildung habe nicht genügt, die
Sache auch mikroskopisch zu untersuchen und ich könne vielleicht
durch Untersuchung der Nerven etwas finden. Vom Herzen war
überhaupt nicht die Rede. Eine Methode der Untersuchung oder
einen Hinweis, worauf ich untersuchen sollte, hat mir Dr. Maurer
niemals gegeben. Ich erwiderte ihm damals, dass vom ersten Mo¬
ment an, wo ich auf Kochs Veranlassung mich mit der Sache zu
befassen gedachte, der Angelpunkt für mich darin gelegen sei, meine
in fast 2 jähriger Assistentenzeit bei Professor Dr. G. Hauser in
Erlangen erworbenen pathologischen Kenntnisse durch mikrosko¬
pische Untersuchung der erkrankten Organe zu verwerten.
Hieraus folgt, dass Maurer keinerlei mikroskopisch-patho¬
logische Untersuchungen machte und dass es mir gelungen ist, am
Nerv, ischiadicus und N. vagus, sowie am Herzen durch Anwendung
der spezifischen Sudan - Hämatoxilinmethode eine fettige De¬
generation bei Hühnern, die mit Oxalsäure gefüttert waren, nachzu¬
weisen. Eijkmann, der aber gar nicht mit Oxalsäure arbeitete,
spricht bei seinen mikroskopischen Untersuchungen nur von einer
Form der Polyneuritis und von degenerativen und atrophischen Aen-
derungen. Mikroskopische Herzuntersuchungen hat aber auch Eijk¬
mann nicht gemacht.
Des weiteren möge mir Herr Dr. Maurer aus seinen
oder E i j k m a n n s Arbeiten nachweisen, dass es einen der
beiden Herren gelungen ist, durch weinsaures Natrium die¬
selben beriberiähnlichen Symptome und dementsprechend fettige
Degeneration des Herzens und der Nerv, ischiadici und vagi hervor¬
zurufen, wie durch Oxalsäure oder oxalsaures Natrium, ferner, dass
bei reiner Reisfütterung der Hühner dasselbe sich einstellte, indem
sich im Kropf Oxalsäure entwickelt, wohl durch Bakterieneinwirkung
und drittens, dass ihnen bei oxalsäuregefütterten Hühnern durch
gleichzeitige Gabe von überschüssigem kohlensauren Kalk eine völ¬
lige Hintanhaltung der Erkrankung der Versuchstiere gelungen ist.
Gelingt dieser Nachweis Herrn Dr. Maurer nicht, so stehe ich
nicht an, diese drei Punkte meiner Arbeit als ebenso neu zu be¬
zeichnen, als den mikroskopischen Nachweis der fettigen Degene¬
ration der Nerven und des Herzens bei der Oxalsäurefütterung.
ad 3. Dr. Maurer führt an, dass mir der springende Punkt
seines Meraner Vortrages entgangen sei, da ich über denselben fol¬
genden Passus in meiner Arbeit brachte: „Leider verlor sich der
Vortragende in etwas fernliegende Details über Spruw und Psilosis,
wodurch der Eindruck der Mitteilung etwas beeinträchtigt wurde.“
Ich glaubte mich damit schonend ausgedrückt zu haben, und wenn
auch mir selbst der Zusammenhang zwischen Spruw und Beriberi
geläufig ist und ich auch völlig auf dem Boden der Maurer sehen
Auffassung stehe, so war dies bei dem Auditorium nicht der Fall und
ebenso nicht bei dem Vorsitzenden, der Dr. Maurer eine scharfe
Absage zuteil werden liess.
V enn ich den Namen S c h e u b e bei meinen ganz spärlichen
Angaben aus der Beriberiliteratur nicht erwähnte, so geschah dies
einerseits, weil ich eine Vollständigkeit der Literaturangabe gar
nicht anstrebte, wie ich auf Seite 1 meiner Arbeit ausdrücklich er¬
kläre, .andererseits, weil ich die für mich nötigen Angaben der Mono-
graphie von Bälz und Miura entnahm, die in dem M e u s e sehen
Buch der Tropenkrankheiten erschienen ist, das 10 Jahre jünger ist
als das 1896 erschienene Buch Scheubes.
(Schluss folgt.)
Amtliches.
(Bayer n.)
No. 8542. München, den 5. August 1906.
Kgl. Staatsministerium des Innern.
Betreff:
Die Verhandlungen der Aerztekammern im Jahre 1905.
Auf die Verhandlungen der Aerztekammern Bayerns vom 23. Ok¬
tober 1905 ergeht nach Einvernahme des K. Übermedizinalausschusses
nachstehende Verbescheidung:
1. Der Antrag der oberbayerischen Aerztekammer auf Erhöhung
der Gebühr, welche die Hebammen für Desinfektionsmittel in An¬
rechnung bringen dürfen, wird bei nächster Revision der Gebühren¬
ordnung für die Dienstleistungen der Hebammen Berücksichtigung
finden.
2. Dem Antrag der oberbayerischen Aerztekammer wegen Ein¬
führung der freien Arztwahl bei der neu gegründeten Militärkranken¬
kasse ist unterdessen durch Beschluss der Generalversammlung der
Militärkrankenkasse entsprochen worden.
3. Bezüglich des Antrages der oberfränkischen Aerztekammer,
die staatliche Regelung des Desinfektionswesens betreffend, wird auf
Ziff. 9 der Verbescheidung der Verhandlungen der Aerztekammern im
Jahre 1904 verwiesen, mit dem Beifügen, dass die weitere Aus¬
gestaltung des Desinfektionswesens in Instruktion begriffen ist.
4. Der Antrag der mittelfränkischen Aerztekammer, die Ver¬
leihung der Körperschaftsrechte an die ärztlichen Bezirksvereine be¬
treffend, ist nach Ministerialbekanntmachung vom 10. Dezember 1905,
Gesetz- und Verordnungsblatt S. 693, inzwischen gegenstandslos ge¬
worden.
5. Die oberpfälzische Aerztekammer hat die Bitte gestellt, dem
gegenwärtigen Landtage eine Vorlage zur Gewährung von Mitteln
für das ärztliche Eortbildungswesen auf Grund der von der mittel¬
fränkischen Aerztekammer ausgearbeiteten Denkschrift zu machen.
Hierzu wird bemerkt, dass diese Denkschrift bis jetzt nicht in
Vorlage gekommen ist.
6. Dem Anträge der unterfränkischen Aerztekammer, dahin zu
wirken, dass seitens der Bayern begrenzenden fremdherrlichen
Aemter und Organe bei Ausbruch von Epidemien, wie Typhus u. a.,
die nächstliegenden bayerischen Behörden verständigt werden, ist
entgegenzuhalten, dass eine derartige allgemeine Vorschrift auch
innerhalb Bayerns nicht besteht. Wenn übrigens ein Bedürfnis dieser
Art vorhanden ist, wird zunächst durch unmittelbares Benehmen der
beteiligten Behörden Abhilfe zu versuchen sein.
7. Den zuständigen K. Staatsministerien wurden zur Würdigung
übermittelt die Anträge:
a) an den Landesuniversitäten einen Lehrauftrag für Unfallkunde
Sozialgesetzgebung und Gutachterwesen herbeizuführen;
b) bei der Gewerbeinspektion Aerzte aufzustellen;
c) eine Eihebung über die Zolleinnahmen aus importierten Ge¬
heimmitteln zu veranstalten;
d) die K. Staatsregierung wolle von dem Berichte der Kom¬
mission der Aerztekammer der Provinz Brandenburg und des Stadt¬
kreises Berlin für die Revision des Strafgesetzbuches Kenntnis
nehmen und mitteilen, wie weit sie geneigt sei, die in diesem Berichte
niedergelegten Bestrebungen der Aerzte geeigneten Ortes zu unter¬
stützen.
Dr. Graf v. Feilitzsch.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 30. Jahreswoche vom 22. bis 28. Juli 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 18 (17*)
Altersschw. (üb 60 J.) 8 (5), Kindbettfieber 1 (-), and. Folgen der
Geburt -(—), Scharlach — (— ), Masern u. Röteln 1 (1), Diphth. u.
Krupp 1 (1), Keuchhusten 4 (1), Typhus 1 (— ), übertragb. Tierkrankh.
(.,), R°se (Erysipel) 1 (1), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
n 2 <?>’ , Tuberkul- d- Lungen 33 (20), Tuberkul. and.
Org. 8 (4) Miliartuberkul. 1 (— ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 15 (13),
Influenza ( ), and. übertragb. Krankh. 3 (2), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 1 (5), sonst. Krankh. derselb. 1 (1), organ. Herzleid. 15 (7),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg. (einschl. Herzschlag) 8 (3), Gehirnschlag
'?, , (-‘TSxtTes^rankb- ^ (2), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 4 (2), and.
Krankh. d .Nervensystems 2 (7), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(emschl Abzehrung) 21 (20), Krankh. d. Leber 1 (2), Krankheit, des
Bauchfells 5 (— ), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 2 (3), Krankh. d.
Ha,rn'i u- Qeschlechtsorg. 3 (3), Krebs (Karzinom, Kankroid) 14 (21),
and. Neubildg. (emschl. Sarkom) 7 (4), Selbstmord 1 (7), Tod durch
fremde Hand 1 (1) Unglücksfälle 4 (2), alle übrig. Krankh. 2 (6).
i v, ^IC der Sterbefälle 196 (1681, Verhältniszahl auf das
Janr und 1000 Einwohner im allgemeinen 18,9 (16,2), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 13,9 (11,9).
— - — — . _ ... _ _ _ _ _ ^ Lie eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von j. F.LVhmann in München. - Druck von E. Mühlthalers Buch^Tunstdruckerei A.O.. München. ' “1
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
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Nummer 80 A- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
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MÜNCHENER
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strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 87a— 1 Uhr. • Für
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Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
0. ». Angerer, Gh. Bäumler, O. v. Ballinger, H. Curschmann, B. flellerich, tt.f.Leube, G. Merkel, J. v. Michel, F. Penzoldt, H. r. Ranke, B. Spatz, F.vJiniM
München. Freiburg i. B. 1 ”*-• — • ... . - -- —
München.
I.eipzig.
Würzburg. Nürnberg.
Erlangen. München. München. München.
No. 34. 21. August 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang.
Aus der K. Universitäts-Frauenklinik zu Würzburg.
Ueber Pessarbehandlung.')
Von M. Hofmeier.
M. H. ! Wenn ich mir heute erlauben möchte, über das
viel erörterte und besprochene Kapitel der Pessarbehandlung
zu Ihnen zu sprechen, so geschieht dies im wesentlichen aus
den üblen Erfahrungen heraus, die wir Jahr für Jahr und be¬
sonders wieder in dem letzten Jahr über schlimme Folge¬
zustände der Pessarbehandlung machen konnten. Wir haben
in dem verflossenen Jahr nicht weniger als eine grosse Blasen¬
scheidenfistel und 2 Ureterenscheidenfisteln, in einem Fall
doppelseitig und noch kombiniert mit einer Blasenscheidenfistel,
durch Pessare verursacht gesehen, daneben aber in einer gan¬
zen Anzahl von Fällen die greulichsten Folgezustände von
Pessarbehandlungen in Form weitgehender ulzeröser Zerstö¬
rungen und narbiger Strikturen der Scheide. Da an diesen
üblen Folgen eine ganze Anzahl der überhaupt zur Anwendung
kommenden Scheidenpessare Schuld trägt, da andererseits bei
der Verwendung derselben vielfach Aerzte beteiligt sind, so
gibt mir dies einen willkommenen Anlass, in diesem Kreise zu¬
nächst einmal wieder auf diese verhängnisvollen Folgen auf¬
merksam zu machen und die Grundsätze eingehend darzulegen,
welche mir bei der Pessarbehandlung die richtigen zu sein
scheinen und dieselben hier zur Diskussion zu stellen.
Ich vermeide es dabei ausdrücklich, hier auf die Frage der
operativen Behandlung aller hierbei in Betracht kommenden
Lageveränderungen der inneren Genitalien einzugehen, und
möchte nur erwähnen, dass grundsätzlich alle stärkeren Vor¬
fälle, wenn nicht besondere Gegenanzeigen bestehen, operativ
behandelt werden sollten. Die Dauerresultate dieser opera¬
tiven Behandlung sind besonders unter Zuhilfenahme der
plastischen Verwendung des Uterus nach den Vorschlägen von
FreundundSchaut a, ferner unter Zuhilfenahme der Ven-
trifixur oder, bei ganz grossen Vorfällen, unter Fortnahme des
ganzen Uterus und der Scheide so vortreffliche, dass man
gegenüber den Schwierigkeiten oder der Unmöglichkeit der
Pessarbehandlung in solchen Fällen absolut auf eine operative
Behandlung dringen sollte. Denn es ist ohne weiteres klar,
dass, je bedeutender der Vorfall ist, um so stärker der Gegen¬
druck zu seiner Zurückhaltung sein muss, und dass alle Pessar¬
behandlungen, so weit das Ziel nicht mehr mit den sogen, un¬
gestielten Pessarien erreichbar ist, wegen ihrer Umständlich¬
keit, Unsauberkeit, Kostspieligkeit und auch Gefährlichkeit im
Prinzip zu verwerfen sind. Es bleiben aber immer noch genug
rälle übrig, in denen wir, auch als grundsätzliche und über¬
zeugte Anhänger einer operativen Behandlung zum Pessar
greifen müssen. Auch wenn man den Rückwärtsbeugungen
des Uterus als solchen nicht die grosse Bedeutung zuerkennen
will, die ihnen früher vielfach beigemessen wurde (eine Ansicht,
welche ich vollkommen teile), so bleibt sie als Ausdruck und
Begleiterscheinung einer allgemeinen Enteroptose oder als di¬
rekte Ursache von allerlei Unterleibsbeschwerden doch noch
oft genug Gegenstand unserer Behandlung. Ebenso auch die
r . Vortra* in der XIII. Sitzung der fränkischen Gesellschaft für
ueburtshihe und Frauenkrankheiten in Bamberg am 13. Mai 1906
No. 34J
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
zahlreichen Fälle von leichten Erschlaffungszuständen und
Senkungserscheinungen der inneren Genitalien, besonders bei
jüngeren Frauen, bei welchen weitgehende plastische Opera¬
tionen mit Rücksicht auf neue Schwangerschaften und Geburten
nicht angebracht erscheinen, oder wo aus anderen Gründen
Operationen nicht indiziert sind oder die Frauen selbst sich
zu solchen nicht entschlossen können.
Wenn ich nun kurz die Grundsätze bezeichnen soll, nach
denen wir uns bei der Auswahl der Pessare in solchen Fällen
leiten lassen sollen, so sind es zunächst zwei negative: keine
W eichgummipessare und keine Pessare mit
zu dünnen Bügeln. Die Vorteile, welche die eigent¬
lichen Weichgummipessare (die früher so beliebten Maier-
schen Ringe) und die Weichgummipessare mit Kupferdraht¬
einlagen bieten, liegen ja auf der Fland: es ist die leichtere
Einführbarkeit infolge der Möglichkeit, sie zusammenzubiegen
und die daraus für den weniger Geübten resultierende leichtere
Handhabung und weiter die geringe Gefahr der Verletzung der
Scheide durch das weichere Material. Auer diese Vorteile
werden mehr wie ausgeglichen durch die grossen Nachteile
des Materiales, welches die Scheidenschleimhaut fast immer
in der unangenehmsten Weise reizt und zu übelriechenden
Ausflüssen führt. Auch das beste Material schützt hiervor
nicht, ebensowenig wie reinigende Ausspülungen und ein häu¬
figer Wechsel des Pessars. Wir haben infolgedessen seit einer
grossen Reihe von Jahren die auch von uns früher viel ge¬
brauchten Kautschukpessare mit Kupferdrahteinlage durchaus
vei lassen oder höchstens noch in der Weise verwendet, dass
aus dem biegsamen Material zunächst die passende Form und
Grösse ausprobiert und diese dann in festem Material nach¬
gebildet wurde.
Besonders seit der Einführung der Hartgummiringe und
dei Zelluloidringe, die in kochendem Wasser in wenigen Mi¬
nuten so weich werden, dass man ihnen jede beliebige Form
geben kann, die sie dann nach erfolgter Abkühlung beibehalten,
ist die Handhabung derselben auch viel praktischer und die
Verwendung der Weichgummiringe völlig entbehrlich gewor¬
den. Diese letzteren mit Kupferdrahteinlage haben nebenbei
auch noch die (wenn auch nicht sehr grosse) Gefahr, dass
die Metalleinlagen zerbrechen und perforieren und dadurch
die übelsten Verletzungen machen können.
Dass ein erheblicher Teil der üblen Folgen dieser Weich-
gummipessare daher kommt, dass dieselben ohne Kontrolle zu
^e^en bleiben, soll ohne Weiteres zugegeben werden
Man könnte dies ja auch wohl als einen Beweis für ihre Nütz¬
lichkeit mit anführen; denn wenn sie ihren wesentlichen Zweck
nicht erfüllten, würden ja die Frauen sie nicht so lange liegen
lassen. Aber mit dieser Indolenz vieler Frauen müssen wir
eben rechnen, und sehr oft bedarf es auch derselben durchaus
nicht, um die schon erwähnten üblen Folgen bald herbeizu-
fuhren Vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit eine solche,
duiüi den Bruch und die Perforation des Kupferdrahtes durch
den Kautschuküberzug entstandene Verletzung zu sehen, welche
schliesslich zum Tode der betreffenden Frau führte. Es han¬
delte sich um die Entstehung einer grossen Scheidenmastdarm-
fistel, welche infolge der Perforation eines gebrochenen
Kupierdiahti inges durch das hintere Scheidengewölbe ent¬
standen war. Es wurde zunächst versucht, unter gleichzeitiger
Entfernung des senilen Uterus die Darmfistel zu mobilisieren
1
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
und direkt zu vernähen. Es gelang dies auch ganz gut, aber
die Kranke ging nach 14 Tagen unter lleuserscheinungen zu
Grunde, und es fand sich als Ursache eine feste schwartige
Verwachsung und Einschnürung der Flexur: augenscheinlich
eine Folge der durch die Perforation erzeugten chronischen
Beckenentzündung.
Besteht nun die Schädlichkeit der Weichgummipessare im
Wesentlichen in dem chemischen und, bei längerem Liegen, in
dem einfach mechanischen Reiz, den dieselben auf die Scheiden¬
schleimhaut ausüben, so ist die schlimme Wirkung der dünn-
bügligen Pessare vor allem darin zu suchen, dass sie bei
längerem Liegen und besonders bei stärkerer Spannung der
Scheidenwände nach der Seite, also bei runder Form, in die
Scheidenwände einschneiden und schliesslich vollständig um¬
wuchert werden können. Hierdurch entstehen tiefe Ver¬
letzungen des Bindegewebes und eventuell Perforationen in
die Blase. Wir sahen in der Klinik im letzten Sommer einen
solchen Fall bei einer älteren Frau, welche allerdings 10 Jahre
lang einen solchen harten Ring dauernd in der Scheide ge¬
tragen hatte. Derselbe war fast ringsherum in die Scheide
eingewachsen und hatte nach vorne ein 2—3 Querfinger grosses
Loch in Blase gescheuert.
Dass die technische Entfernung derartiger, oft fast rings¬
herum von der Schleimhaut überwachsener Ringe zuweilen
gleichfalls eine recht schwierige Aufgabe sein kann, soll nur
nebenbei erwähnt sein.
In dieser Beziehung sind gewisse Zelluloidringe, so gut
das Material an sich ist, recht bedenklich, eben weil sie zu dünn
sind. Wir haben aber auch durch die Einwirkung eines
S c h u 1 1 z e sehen 8 Pessars, das wahrscheinlich aus einem
dünnen Kupferdrahtkautschukring gebogen war, eine Ver¬
letzung gesehen, wie ich sie bis dahin noch niemals beobachtet
hatte.
Es war hier augenscheinlich durch die Kreuzungsstelle der
Bügel die Vaginalportion vollkommen stranguliert, das vordere
Scheidengewölbe vollkommen durchtrennt und die Blase von der Zer¬
vix vollkommen abgelöst worden, wobei durch den Druck beiderseits
die Ureteren und links auch noch an der entsprechenden Stelle die
Blase eröffnet war. Die ganze vordere Wand der Zervix lag, voll¬
kommen überhäutet, auf 3—4 cm Ausdehnung dem Auge frei. Ob
hie: zum Zustandekommen dieser äusserst verhängnisvollen und weit¬
gehenden Verletzung noch irgend ein besonderer Umstand mit bei¬
getragen hat, kann ich nicht sagen, da wir selbst das Pessar nicht
entfernt haben. Die Heilung erfolgte durch eine Reihe von Operationen,
durch welche zunächst die abgelöste Blase in ganzer Ausdehnung
wieder auf die Zervixfläche aufgenäht wurde und zugleich nach der
ßandl-Schede sehen Methode die linke Ureterenfistel geschlossen
wurde. Nach einem weiteren misslungenen Versuch, die rechte
Ureterenfistel durch direkte Einpflanzung des Ureter in die Blase zu
heilen, wurde dann auch diese Fistel nach derselben Methode ge¬
schlossen und einige Wochen darauf der wieder kolossal hervor¬
getretene Vorfall durch eine weitgehende Plastik und Ventrifixur be¬
seitigt. Die kürzlich (8 Monate nach der letzten Operation) vor¬
genommene Untersuchung zeigte einen fast vollkommen normalen
Situs. Insbesondere auffällig war die völlige Rückbildung der fast
auf Armdicke angeschwollenen und hypertrophischen Portio. Zysto-
skopisch sah man neben den beiden normalen Ureterenöffnungen die
beiden neugebildeten regelmässig funktionieren.
In die Rubrik der absolut zu verwerfenden Pessare gehört
nun weiter vor Allem das leider immer noch wieder ge¬
brauchte Zwank-Schilling sehe Hysterophor. Es ist fast
unbegreiflich, dass immer wieder auf dieses, wenn nicht ge¬
radezu mörderische, aber doch höchst verhängnisvolle In¬
strument von seiten mancher Aerzte zurückgegriffen wird.
Wir haben im Laufe der Jahre eine solche Fülle der greu¬
lichsten Folgezustände davon gesehen: tiefgehende Zerstö¬
rungen des Beckenbindegewebes, Blasenfisteln und im letzten
Jahre sogar eine hohe linksseitige Ureterenfistel, dass vor
dein Gebrauch dieses Instrumentes nicht genug gewarnt wer¬
den kann.
Der Vorteil dieser Hysterophore soll ja allerdings gerade
darin bestehen, dass sie von den Frauen selbst am Abend
durch Zusammenschrauben der Flügel herausgenommen wer¬
den können. Aber dies geschieht erfahrungsgemäss nicht;
die Folge davon ist, dass die Flügel mit der Zeit tief in das
Bindegewebe eindringen und nun, nachdem die Schrauben ver¬
rostet sind, sich überhaupt nicht mehr zusammenbringen lassen.
Wir haben in solchen Fällen mehrfach mit Hilfe von scharfen
Zangen und ziemlich mühsam die metallenen 'Feile zertrümmern
müssen, um die Bügel aus den tiefen seitlichen Löchern, die
sie sich gebohrt hatten, überhaupt entfernen zu können.
Ich rekapituliere also: fort in erster Linie mit dem Zwank-
Schilling! fort mit allen Weichgummipessaren und mit allen
diinnbügligen Pessaren!
Gehe ich nun zum positiven Teil meiner Auseinander¬
setzungen über, so hätten wir hier in erster Linie prinzipiell
auseinander zu halten die einfachen Retroflexionspessare und
die bei Erschlaffungszuständen der Scheide und des Becken¬
bodens und Bindegewebes anzuwendenden Pessare.
Für die Zustände der ersteren Art, soweit sie überhaupt
einer orthopädischen Behandlung bedürfen und derselben zu¬
gänglich sind (das Letztere sind sie durchaus nicht alle), eignet
sich meiner Meinung nach immer noch am besten das alte
Hodgepessar in seiner bekannten Form und für gewisse Fälle
(besonders von stärkerer Erschlaffung des hinteren Scheiden¬
gewölbes) seine Abart: das Thomaspessar. Ich habe, urn das
Herunterragen des vorderen Bügels des Hodgepessars bis in
den Introitus zu vermeiden, vielfach auch das Wiegenpessar
mit mehr oder weniger starker Aufbiegung des vorderen Bügels
in solchen Fällen angewandt und finde, dass es besonders auch
bei mässiger Erschlaffung der vorderen Scheidenwand recht
gute Dienste leisten kann. Aber es verschiebt sich leicht in
der Scheide, liegt dann vollkommen quer vor der Portio oder
dreht sich wohl auch völlig um und verfehlt somit ganz seinen
Zweck.
Sollen diese Retroflexionspessare gut liegen und wirksam
sein, so muss allerdings der Scheidenschlussapparat bezw.
der Beckenboden noch einigermassen normal funktionieren.
Ist das nicht mehr der Fall, oder handelt es sich um stärkere
Erschlaffungen der Scheidenwände, der Vulva und der Liga¬
mente des Uterus mit Deszensus und Retroversio des letz¬
teren, so bedarf es massigerer Pessare, um die Teile genügend
zu fixieren. Ich finde für diese Zwecke die sogen, exzentri¬
schen Pessare mit einem dünnen hinteren und einem volumi¬
nösen vorderen Bügel sehr brauchbar, wenn sie auch ursprüng¬
lich zu einem ganz anderen Zweck angegeben sind. Liegt der
Uterus einigermassen normal, so ist im hinteren Scheiden¬
gewölbe nicht viel Raum für einen dicken Bügel, und ich habe
immer gefunden, dass die massigen, gleichmässig runden Hart¬
gummiringe wenig gut auf die Dauer liegen und bei der De-
fäktion sich sehr leicht verschieben und dann herausfallen,
während bei diesen exzentrischen Pessaren der dünne Bügel
im hinteren Scheidengewölbe gut Platz findet, während gerade
die vordere erschlaffte Scheidenwand durch den dicken Bügel
gut getragen und zurückgehalten wird. Für ähnliche Zustände
von stärkeren Erschlaffungen und mässigen Vorfällen finde ich
auch von vortrefflicher Wirkung die sog. Schalen- oder Sieb¬
pessare, wie sie seinerzeit von Schatz und Prochow-
n i k angegeben sind. Sie haben einerseits den Vorteil, dass sie
wenig voluminös sind, deswegen unter Umständen die Träge¬
rinnen wenig stören und doch auf ihrer breiten Fläche die er¬
schlaffte vordere Scheidenwand sehr gut und vollkommen
und jedenfalls sich viel besser tragen, wie die einfachen runden
Hartgummiringe. Auch in solchen Fällen, wo geringere ent¬
zündliche Prozesse im Douglas sind, bei denen infolge des
Druckes des hinteren Bügels das Tragen anderer, besonders
länglicher Pessare oft ganz unmöglich wird, werden diese
flachen Schalenpessare noch ganz gut vertragen. Sie haben frei¬
lich neben den grossen Vorteilen, die sie mir zu bieten scheinen,
auch einen Nachteil. Die Scheidenschleimhaut liegt der inneren
Fläche der Pessare in relativ grosser Ausdehnung und oft unter
starkem Druck auf. Sie presst sich gleichsam in die siebartigen
Oeffnungen hinein, und falls dieselben, ebenso wie die äusseren
Ränder des Pessars, nicht gut abgerundet, sondern scharf und
besonders auch etwas gross sind, so kann das wohl zu kleinen
Läsionen führen. Auch wird durch das flache Anliegen an der
Scheidenwand die Fortspülung der stagnierenden Sekrete bei
den regelmässig zu machenden Scheidenspülungen nicht aus¬
giebig besorgt, so dass sich leicht hier auf der Innenfläche,
wenn das Pessar einige Monate gelegen hat, eine relativ reich¬
liche Masse von eingedicktem Sekret, abgestossenen Epi-
thelien etc. findet. Doch lassen sich diese kleinen Unzuträg-
21. August 1906.
"
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1651
lichkeiten durch eine geeignete Beaufsichtigung wohl ganz ver¬
meiden oder auf ein geringes Mass zurückführen.
Es bleiben nun noch diejenigen Pessare zu besprechen,
welche bei giösseren Vorfällen mit weitgehender Erschlaffung
dann anzuwenden sind, wenn keines der genannten Pessare
mehr hält und doch aus irgend einem Grund nicht operativ
vorgegangen werden kann, während, w;ie schon vorher gesagt
die an äusseren Bandagen angebrachten Hysterophore prin¬
zipiell zu verwerfen sind. Für diese Fälle bevorzuge ich und
habe es seit vielen Jahren als sehr brauchbar erprobt das sog.
Loehleinpessar, welches von L o e h 1 e i n seinerzeit nach Ana¬
logie der alten Martin sehen Pessare aus Hartgummi kon¬
struiert wurde. Dies Pessar verfolgt bekanntlich den Zweck
auch grössere Vorfälle dadurch zurückzuhalten, dass durch
einen runden, an dem sehr massiven Ring angebrachten starren
Bügel das Herumwerfen und das dadurch ermöglichte Heraus¬
fallen der Ringe verhindert werden soll. Die einzige allerdings
nicht zu leugnende Unannehmlichkeit beim Einführen und beim
Herausnehmen dieser Pessare ist durch den festen unteren
Bügel gegeben. Diesel Umstand hat bekanntlich Menge ver¬
anlasst, unter Festhalten des Prinzips das Pessar so zu modi¬
fizieren, dass an Stelle dieses festen Bügels eine Art Keule
unten angebracht wurde, welche erst nach dem Einlegen des
Ringes eingefügt und durch eine Art Bajonettverschluss be¬
festigt wird und vor der Entfernung des Ringes wieder ent-
feint werden soll. Persönlich habe ich über die Anwendung
diese l Pessare keine Erfahrung. An den Gebrauch des Loeli-
leinpessars gewöhnt und mit demselben zufrieden, habe ich
dieses vorläufig weiter verwendet. Prinzipiell möchte ich
glauben, dass alle derartigen metallenen Charniere, sobald sie
längere Zeit den Einflüssen der Scheidensekrete ausgesetzt
sind, recht bald rostig werden und nicht mehr funktionieren D
wenngleich die Erleichterung beim Einführen und Herausnehmen
mcht verkannt werden soll. Diese Loehleinpessare haben mir
wie früher übrigens auch die alten Martin sehen Pessare in
vielen Fällen vortreffliche Dienste geleistet, wo alle übrigen
Pessare versagten.
Wenn ich nun nach dem Gesagten durchaus nur für die
Verwendung von hartem Material mit absolut glatten Flächen
eintrat, so soll die etwas grössere Schwierigkeit in der Hand¬
habung desselben gewiss nicht verkannt werden. Das Ein¬
fuhren und Herausnehmen ist nicht immer ganz einfach und
schmerzlos; aber diese Schwierigkeiten lassen sich durch Vor¬
sicht und grössere Uebung überwinden. Die Hartgummipessare
haben aber auch den grossen Vorteil, dass sie nicht so oft ge¬
wechselt zu werden brauchen. Ich teile hierin durchaus die
gelegentlich von F ritsch ausgesprochene Ansicht, dass bei
gutem Liegen des Pessars, von dem man sich freilich durch
eine mehrtägige Beobachtung überzeugt haben muss, und bei
einiger Reinlichkeit seitens der Trägerinnen eine häufige Kon¬
trolle und ein häufiger Wechsel nicht notwendig sind. Diese
sind für die Trägerinnen ja auch äusserst lästig, bei der Ver¬
wendung von Weichgummi freilich unerlässlich. Auf der
anderen Seite aber muss betont werden, dass alle 4 bis
b Monate doch eine Kontrolle stattfinden muss; denn die
individuelle Reizbarkeit der Scheide solchen Fremdkörpern
gegenüber ist doch äusserst verschieden. Und bei allen Pes¬
saren, bei welchen die Schleimhaut, wie z. B. bei den Sieb-
pessaren, aber auch bei den Loehleinpesaren in gröserer
Ausdehnung und fest dem Pessar anliegt, kommt es doch
manchmal schon nach einigen Monaten zum Wundsein und zu
stärkeren Reizungen. Jedenfalls muss man sich in der ersten
cf“ durch eine etwas häufiger ausgeführte Kontrolle davon
uDerzeugen, dass keine solchen üblen Folgen sich einstellen
Auch können unvermutet die Pessare sich einmal verschoben
fiaben und dadurch relativ bedenklich werden. So sahen
wir vor einigen Jahren einen Fall, in dem ein Loehlein¬
pessar sich vollständig umgedreht hatte, mit dem Bügel nach
oben, so dass dieser Bügel in der Art eines Ohrringes in die
vordere Muttermundslippe eingewachsen war. Ein andermal
>an ich von einem umgekehrt, d. h. mit dem dicken Bügel nach
mten, mit dem schmalen spitzen Bügel nach oben im hinteren
’cn
h i)ies nach den in der Diskussion gemachten Bemerkungen
nerrn Menge allerdings nicht zu.
Scheidengewölbe liegenden Thomaspessar eine Perforation des
Douglas, infolge deren dieser spitze Bügel hinten eingedrungen
und von der Scheidenschleimhaut umwachsen war. Nach
Lurchtrennung dieser Schleimhautbrücke und Entfernung des
I essars bestand hier tatsächlich eine Verbindung nach dem
Uavum Douglasii. Auch hat manchmal die Scheide bei älteren
r rauen eine sehr merkwürdige Neigung unter einem eingeleg¬
ten Fremdkörper sich derartig zu verengen, auch ohne dass
eine wirkliche Verwundung der Scheide stattgefunden oder
em Dekubitalgeschwür sich gebildet gehabt hätte, dass es un¬
möglich sein kann, die vor nicht langer Zeit ohne besondere
Schwierigkeiten eingelegten Pessaxe wieder zu entfernen. So
sahen wir z. B. bei einem Loehleinpessar, das 2 Jahre geiegen
hatte, eine derartige Striktur um den unteren Bügel herum
dass es auch in Narkose erst nach der Durchtrennung des
essais mit der G i g 1 i sehen Drahtsäge entfernt werden
konnte. . Und kürzlich erst sahen wir in ähnlicher Weise bei
einem siebartigen, nach Art der Martin sehen Pessare mit
einem daumendicken Hartgummistiel nach Art einer Tulpe ge¬
bildeten Pessar eine solche Verengerung der Scheide um diesen
Stiel, dass es erst nach mehrfachen tiefen Einschnitten in diesen
stnktunerenden Ring und in Narkose möglich war, das In¬
strument zu entfernen. Die über diesen Strikturen befindliche
Schleimhaut war dabei vollkommen normal. Dasselbe sahen
wn noch kürzlich wieder bei einem Schalenpessar, das vor
1A Jahren wegen eines mässigen Deszensus der vorderen
Scheidenwand bei einer Patientin eingelegt war, welche vor
5 .Ja ir^ wegen Vorfall operiert war. Bei der absoluten Un-
moghchkeit, das Pessar zu entfernen, musste es sehr mühsam
mit Hilfe der G i g 1 i sehen Säge verkleinert werden. Dieser
Schrumpfungsvorgang in der Scheide kann unter Umständen
bereits sehr schnell eintreten, so dass man nach einigen Mona-
°n Schwierigkeiten haben kann, die ohne besondere
Muhe eingelegten Pessare wieder herauszunehmen. Es er¬
weist sich im übrigen dieser Prozess als eine Art von Heilungs¬
vorgang, insofern man mit der Zeit mit immer kleineren
Pessaren auskommt.
Als selbstvei stündlich betrachte ich es, dass, so lange ein
Pessar überhaupt in der Scheide liegt, reinigende Ausspülungen
mit Salzwasser, Sodalösungen oder schwachen Desinfizientien
gemacht werden, um den stagnierenden Schleim mit den abge-
stossenen Epithelien etc. zu entfernen. Für nicht notwendig
wurde ich allerdings tägliche Ausspülungen ansehen, wenig-
stens in sehr vielen Fällen. Denn diese täglichen Ausspülungen
sind doch tiir viele Frauen überaus, lästig und bei gutem Mate¬
rial tatsächlich nicht nötig. Wie oft sie gemacht werden sollen
muss von den Verhältnissen des Einzelfalles abhängig gemacht
werden. Im allgemeinen darf man dabei wohl annehmen, dass
die Verordnung^ doch nicht regelmässig ausgeführt wird.
Aus dem Gesagten geht wohl hervor, dass die Pessar¬
behandlung auch mit gutem Material, in vielen Fällen wenig¬
stens, keine ganz gleichgültige Behandlungsmethode ist. Wir
haben sie als ein notwendiges, kleineres oder grösseres Uebel
anzusehen, welches aber für absehbare Zeit in der gynäko¬
logischen Therapie noch nicht wird entbehrt werden können
Den I ragermnen der Pessare muss aber unter allen Umständen
auf das Nachdrücklichste eingeschärft werden, dass eine Kon¬
trolle von Zeit zu Zeit absolut notwendig ist, wenn sie sich nicht
den schlimmsten Folgen aussetzen wollen.
Aus der medizinischen Universitätsklinik Bonn (Direktor- Ge¬
heimrat Prof. Dr. S c h u 1 1 z e).
Das neutrophile Blutbild beim natürlich und beim künst¬
lich ernährten Säugling.*)
Von Privatdozent Dr. E s s e r, Assistenzarzt an der Klinik.
Die sogen, multinukleären oder polymorphkernigen neu¬
trophilen Leukozyten bilden beim Menschen das Gros sämt¬
licher weisser Blutkörperchen. Im Verhältnis zu den anderen
weissen Blutzellen sind sie unter normalen Umständen in einer
Menge von durchschnittlich 70 Proz. vorhanden und nur ifn
Säuglingsalter und darüber hinaus bis etwa zum 3. oder 4.
, Nach- einem am 21. V. 06 in der „Niederrheinischen Gesell-
schalt für Natur- und Heilkunde“ gehaltenen Vortrag.
i*
1652
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
Lebensjahre treten sie vor den in einer Menge von 50 55
Proz. im Blute enthaltenen mononukleären, als Lymphozyten
bezeichneten Zellen zurück.
Die neutrophilen Leukozyten sind bekanntlich Zellen, die
fast doppelt so gross wie ein rotes Blutkörperchen einen äus-
serst vielgestaltigen, oft fragmentierten Kern haben, und deren
Protoplasma erfüllt ist von feinkörnigen Granula, die sich bei
Anwendung von Farbmischungen den neutralen Farbstoff zu
ihrer Tinktion wählen.
Eine Unmenge oft mühevoller Arbeiten beschäftigt sich nun
mit Zählungen der weissen Blutkörperchen im allgemeinen und
ihrer einzelnen Arten im speziellen mit dem wesentlichen Er¬
gebnis, dass sich bei gewissen Zuständen die Menge der
weissen Blutkörperchen oder auch das Mischungsverhältnis
ihrer einzelnen Arten ändern kann. Auf Grund dieses Ergeb¬
nisses wurden eine Reihe von differentialdiagnostischen und
prognostischen Gesichtspunkten geschaffen, von denen ich hier
nur auf die Bedeutung einer Vermehrung oder Verminderung
der Leukozyten zur Unterstützung der Diagnose oder Prognose
bei Infektionskrankheiten, auf die Bedeutung der Eosinophilie
und der Lymphozytose hinweisen will.
In letzter Zeit hat A r n e t h der Forschung ein bis dahin
noch unbekanntes Gebiet eröffnet, indem er speziell die unter
den weissen Blutkörperchen herrschenden neutrophilen Zellen
bezüglich der Zahlenverhältnisse ihrer Kernfragmente stu¬
dierte und fand, dass in diesen sowohl bei physiologischen wie
auch bei gewissen pathologischen Zuständen Ordnung und
Regelmässigkeit herrscht.
Nach seinen Untersuchungen zeigen sich beim normalen
Menschen mit geringen individuellen Schwankungen die Zellen
mit einem, mehr oder weniger tief eingebuchteten Kern in
einer Menge von durchschnittlich 5 Proz., die mit zwei Kern¬
fragmenten betragen etwa 35 Proz., die mit drei 41 Proz., die
mit vier 17 Proz. und schliesslich die mit fünf und mehr Kern¬
teilen nur 2 Proz.
Die Zusammenstellung dieser prozentuarischen Verhält¬
nisse nannte A r n e t h das „neutrophile Blutbild“.
Dieses Bild wird etwas komplizierter, wenn in der ersten
Abteilung der einkernigen neutrophilen Leukozyten noch die
rundkernigen (Myelozyten) von den mit wenig und den mit
tief eingebuchtetem Kern unterschieden werden und in den
weiteren Abteilungen die Kernfragmente getrennt werden nach
ihrer Schlingen- oder Kernform. Hierbei hat sich noch heraus¬
gestellt, dass in der 2. Abteilung die Zellen mit 2 Schlingen
überwiegen und in der 3. Abteilung sich die Zellen mit 2 Ker¬
nen und 1 Schlinge und die mit 2 Schlingen und 1 Kern an
Zahl ungefähr das Gleichgewicht halten, woraus A r n e t h den
Schluss zieht, dass in diesen beiden, die meisten Zellen ent¬
haltenden Abteilungen normalerweise die Achsen liegen, um
die das normale neutrophile Blutbild hin und her balanzieren
kann.
Weiter stellte dann A r n e t h fest, dass bei Infektions¬
krankheiten das neutrophile Blutbild insofern eine auffallende
Veränderung erleidet, als zunächst die Zellen der 5., dann die
der 4. und schliesslich auch die der 3. Abteilung mehr oder
weniger bis zu völligem Verschwinden zu gunsten der ersten
beiden Abteilungen an Zahl zurücktreten, und somit das ganze
neutrophile Blutbild eine Verschiebung nach links erfährt.
Diese Untersuchungsergebnisse wurden in ihren Haupt¬
zügen von F 1 e s c h und Schossberger und auch von
Hille r bestätigt; Differenzen gegenüber Arneth bestehen
hauptsächlich in der Erklärung der Befunde. Eine Reihe
eigener, hierauf gerichteter Untersuchungen stimmen ebenfalls
im wesentlichen mit A r n e t h s Ergebnissen überein.
Auf Einzelheiten will ich aber an dieser Stelle nicht ein-
gehen und nur als Beispiele 2 Tabellen von Arneth an¬
führen, die das soeben in Betreff der Aenderung des neutro¬
philen Blutbildes bei Infektionskrankheiten Gesagte illustrieren
und seine gewaltige Verschiebung bei einem schweren Fall
von Masern und einem solchen von Typhus kundtun:
a) normales neutrophiles Blutbild:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
5 Proz. 35 Proz. 41 Proz. 17 Proz. 2 Proz.
b) Blutbild bei Masern:
ein- zwei- drei-
vier-
fünf- u. mehrkern.
Zellen
33 Proz. 63 Proz.
4 Proz.
0 Proz.
0 Proz.
c) bei Typhus:
ein- zwei-
drei-
vier-
fünf- u. mehrkern.
Zellen
54 Proz. 43 Proz.
3 Proz.
0 Proz.
0 Proz.
Seit längerer Zeit mit dem Studium der Morphologie spez.
des Säuglingsblutes beschäftigt, wandte ich hierbei auch dem
neutrophilen Blutbilde mein Augenmerk zu. Zunächst hatten
die mononukleären Zellen mein Hauptinteresse beansprucht,
die meist unter dem Namen der Lymphozyten zusammenge¬
fasst bezüglich ihrer Kern- und Protoplasmastruktur, ihrer
Affinität zu Farbstoffen und ihres Vorkommens beachtenswerte
Unterschiede zeigen. So finden sich z. B. im Blute normaler
Brustkinder die wohl jedem Untersucher bekannten mono¬
nukleären Zellen mit auffallend blassem, homogenem, bläschen¬
förmigem Kern und stark basophilem, schmalem, oft vorge¬
buchtetem Protoplasmasaum in überwiegender Anzahl, wäh¬
rend beim künstlich ernährten und besonders beim kranken
Säugling diese Zellform nur in geringer, oft verschwindender
Menge angetroffen wird. Ich muss mich hier mit diesem
Hinweis begnügen, um nicht zu weit von meinem eigentlichen
Thema abzuschweifen; bei anderer Gelegenheit denke ich da¬
rauf zurückzukommen.
Hauptsächlich befassen sich die meisten in der Literatur
bekannt gewordenen, morphologischen Untersuchungen des
Säuglingsblutes mit der Feststellung von quantitativen
Veränderungen. So hat man sich auch mit der Frage
einer Verdauungsleukozytose im Säuglingsalter beschäftigt
und eine solche weder beim Brustkinde noch beim Flaschen¬
kinde unter normalen Verhältnissen nachweisen können.
(Gregor, J a p h a). Erst in jüngster Zeit fand M o r o sogar
beim Brustkinde nach der Nahrungsaufnahme eine Leukopenie,
dagegen eine Leukozytose, wenn ihm Kuhmilch gegeben wor¬
den war. M o r o führt diese interessante Erscheinung auf den
Genuss von artfremdem Eiweiss zurück.
Es schien mir daher von Interesse, zu untersuchen, ob
event. schon unter solchen Umständen, ferner, ob bei gewissen
Erkrankungen, insbesondere den Magendarmaffektionen des
Säuglings am neutrophilen Blutbilde, also an anatomischem
Substrat, leicht erkennbare Veränderungen nachzuweisen
waren. *)
Vorab musste ich mich über das normale Blutbild im
Säuglingsalter orientieren, zumal in den bisher erschienenen
Arbeiten hierauf keine besondere Rücksicht genommen ist.
Wohl hatte Arneth das Blut von Kindern bisi zum
8. Lebenstage untersucht und festgestellt, dass die Leukozytose
der Neugeborenen wie die der Schwangeren mit einer erheb¬
lichen Verschiebung des neutrophilen Blutbildes nach links ein¬
hergeht. So hatte nach A r n e t h s Untersuchung ein Kind
2K- Stunden nach der Geburt folgendes Blutbild:
ein- zwei- drei- vier- fünf- n. mehrkern. Zellen
60 Proz. 26 Proz. 12 Proz. 1 Proz. 1 Proz.
und bei einem Kinde von 8 Tagen fand er: >
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
8 Proz. 47 Proz. 28 Proz. 15 Proz. 2 Proz.
Diese Tabellen A r n e t h s zeigen, wie das anfangs erheb¬
lich nach links verschobene neutrophile Blutbild am 8. Tage
schon dem des Erwachsenen ähnlich wird, was ich auf Grund
eigener Untersuchungen, die ich an Kindern in der hiesigen
Frauenklinik machen durfte, nur bestätigen kann. Arneth
ist geneigt, die anfängliche Veränderung des Blutbildes als
Ausdruck der Reaktion auf die im Moment der Geburt spez.
auch an das Blut gestellten Anforderungen anzusehen. Viel¬
leicht spielen aber auch beim Neugeborenen Schädlichkeiten
eine Rolle, die dem in gleicher Weise geänderten Blutbild der
Mutter zu gründe liegen.
Ich untersuchte nun weiterhin eine Reihe von neutrophilen
Blutbildern bei Kindern aus der späteren Zeit des Säuglings¬
alters, und zwar zunächst bei normal ernährten und gut ent-
1 ) Die Färbung der Blutpräparate geschah nach der May-
G r ü n w a 1 d sehen Methode.
Unterstützt wurde ich bei den zeitraubenden Untersuchungen in
dankenswerter Weise von Herrn cand. med. O r 1 a n d.
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1653
wickelten, gesunden Brustkindern, die mir namentlich in der
von der Stadt Bonn eingerichteten Mütterberatungsstelle zur
Verfügung standen. Bei diesen Untersuchungen stellte sich
heraus, dass das neutrophile Blutbild des gesunden Brustkindes
etwa von der 3. — 4. Lebenswoche ab gegenüber dem des
Erwachsenen nach rechts verschoben ist, wie das aus folgen¬
den, aus einer grösseren Serie herausgegriffenen Tabellen her¬
vorgeht. Es fanden sich:
a) bei einem 3 Wochen alten. -4200 g schweren Brustkinde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
8 Proz. 32 Proz. 31 Proz. 24 Proz. 5 Proz.
b) bei einem 4 Wochen alten, 4650 g schweren Brustkinder
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
6 Proz. 29 Proz. 33 Proz. 25 Proz. 7 Proz.
c) bei einem 4 Wochen alten, 4150 g schweren Brustkinde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
8 Proz. 30 Proz. 35 Proz. 21 Proz. 6 Proz.
d) bei einem 6 Wochen alten, 4930 g schweren Brustkinde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
4 Proz. 27 Proz. 35 Proz. 28 Proz. 6 Proz.
e) bei einem 2 Monate alten, 4380 g schweren Brustkinde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
6 Proz. 20 Proz. 40 Proz. 29 Proz. 3 Proz.
f) bei einem 3 Monate alten, 5470 g schweren Brustkinde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
3 Proz. 21 Proz. 36 Proz. 32 Proz. 8 Proz.
g) bei einem 4 Monate alten, 6650 g schweren Brustkinde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
2 Proz. 20 Proz. 33 Proz. 39 Proz. 6 Proz.
h) bei einem 6 Monate alten, 7330 g schweren Brustkinde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
2 Proz. 27 Proz. 31 Proz. 36 Proz. 4 Proz.
i) bei einem 7 Monate alten, 8140 g schweren Brustkinde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
4 Proz. 25 Proz. 40 Proz. 26 Proz 5 Proz.
Mit einem Schlage ändert sich aber dieses Blutbild im
Sinne einer Verschiebung nach links, wenn das Kind einen
lag Kuhmilch in einer dem Alter entsprechenden Verdün¬
nung als Nahrung bekommt. Das unter g) aufgeführte, 4 monat¬
liche Kind hatte danach folgendes Blutbild:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
15 Proz. 44 Proz. 27 Proz. 14 Proz. 0 Proz.
und das unter h) aufgeführte, 6 monatliche Kindl
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
10 Proz. 40 Proz. 36 Proz. 12 Proz. 2 Proz.
Bei dem unter i) aufgeführten, 7 monatlichen Kinde war
die Verschiebung nach Darreichung von 3 mal Kuhmilch und
3 mal Brustnahrung eine geringere:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
9 Proz. 32 Proz. 36 Proz. 20 Proz. 3 Proz.
Ob sich aus der Stärke der Verschiebung praktische
Winke für das Vorgehen beim Abstillen ergeben, müssen
weitere Untersuchungen lehren.
Ferner dürfte es von Interesse sein, festzustellen, welche
Alteration im Blutbilde des Brustkindes nach Darreichung von
Mehlabkochungen etc. eintreten würde. Bei dem mir zur Ver¬
fügung stehenden Material hatte ich bisher keine Gelegenheit,
Untersuchungen unter solchen Bedingungen anzustellen.
Naheliegend war weiterhin die Frage nach dem Verhalten
des Blutbildes von gesunden Säuglingen, bei denen schon seit
längerer Zeit ein allaitement mixte oder völlig künstliche Ernäh¬
rung durchgeführt worden war. Wie aus folgenden Tabellen her¬
vorgeht, gleicht das Blutbild in ersterem Falle, also bei dem
teils mit Muttermilch, teils mit Kuhmilch ernährten Säugling,
mehr oder weniger der von Arneth aufgestellten Durch¬
schnittsnorm für Erwachsene, wohingegen bei völlig künst¬
licher Ernährung grosse Verschiedenheit herrscht, jedenfalls
allem Anschein nach bei jüngeren Säuglingen öfter eine
stärkere Verschiebung nach links beobachtet wird.
a) bei einem 4 monatlichen, 6200 g schweren Kinde, das 1 Monat
lang nur gestillt wurde, dann 4 mal Brust- und 2 mal Kuhmilch bekam:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
7 Proz 37 Proz. 40 Proz. 16 Proz. 0 Proz. 4
b) bei einem 7 monatlichen, 8200 g schweren Kinde, das 3 Monate
lang nur gesäugt wurde, dann 3 mal Brust- und 4 mal Kuhmilch
bekam:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
4 Proz. 38 Proz. 42 Proz. 15 Proz. 1 Proz.
c) bei einem 5 Wochen alten, 4200 g schweren Kinde, das nur
wenige Tage gesäugt, dann künstlich mit Kuhmilchverdünnungen in
3 stiindigen Pausen 7 mal täglich ernährt wurde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
12 Proz. 42 Proz. 36 Proz. 10 Proz. 0 Proz.
d) bei einem 6 Wochen alten, 4850 g schweren Kinde, das nur
künstlich mit Kuhmilchverdünnungen in 3 stiindigen Pausen 7 — 8 mal
täglich ernährt wurde-
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
14 Proz. M Proz. 32 Proz. 10 Proz. 0 Proz.
e) bei einem 3 Monate alten, 5600 g schweren Kinde, das nur
künstlich mit Kuhmilchverdünnungen in 2% — 3 stiindigen Pausen
7 mal täglich ernährt wurde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
8 Proz. 40 Proz. 45 Proz. 7 Proz. 0 Proz.
f) bei einem 7 Monate alten, 6830 g schweren Kinde, das 1 Monat
lang gesäugt, dann künstlich mit Kuhmilchverdiinnungen in 2 — 3
stündigen Pausen 7 mal täglich ernährt wurde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
16 Proz. 38 Proz. 32 Proz. 12 Proz. 0 Proz.
g) bei einem 9 Monate alten, 8500 g schweren Kinde, das nur
künstlich mit Kuhmilchverdiinnungen und seit 1 Monat mit Vollmilch
(1 Liter) ernährt wurde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
13 Proz. 31 Proz. 35 Proz. 19 Proz. 2 Proz.
Schliesslich untersuchte ich eine Reihe magendarmkranker
und atrophischer Säuglinge in bezug auf ihr neutrophiles Blut¬
bild und fand bisher bei allen eine mehr oder weniger hoch¬
gradige Verschiebung des Bildes nach links. Die hierhin ge¬
hörigen Untersuchungen sind noch keineswegs abgeschlossen
und ich will mich auch daher damit begnügen, einige Zahlen an¬
zuführen, welche die erheblichen, hier vorkommenden Diffe¬
renzen illustrieren sollen:
a) bei einem 3 monatlichen, 5750 g schweren Kinde, das 2 Monate
lang gesäugt und 1 Monat lang mit Kuhmilch überfüttert wurde,
fand ich:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
17 Proz 43 Proz. 32 Proz. 8 Proz. 0 Proz.
b) bei einem 3 monatlichen, hochgradig atrophischen, nur 2040 g
schweren Kinde, das in unregelmässigen Pausen mit Kuhmilch-
Schleimverdünnungen überfüttert wurde:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
70 Proz. 27 Proz. 2 Proz. 1 Proz. 0 Proz.
c) bei einem 4 monatlichen, 3820 g schweren Kinde, das an
Enteritis leidend in meine Behandlung kam und sich nach Darreichung
von Malzsuppe langsam erholte:
ein- zwei- drei- vier- fünf- u. mehrkern. Zellen
27 Proz. 58 Proz. 12 Proz. 3 Proz. 0 Proz.
Kurz zusammengefasst, fand ich demnach nach Bestäti¬
gung der von Arneth zuerst beobachteten Regelmässigkeit
in den Zahlenverhältnissen der Kernfragmente bei den neutro¬
philen Leukozyten der Erwachsenen und ihrer Veränderung
beim Befallensein des Körpers von einer Infektionskrankheit
im Blute normaler Brustkinder von etwa der 3.-4. Lebens¬
woche ab, die neutrophilen Leukozyten mit 4 und 5 Kernfrag¬
menten in verhältnismässig grösserer Anzahl vertreten als
bei normalen Erwachsenen; mit anderen Worten: das neutro¬
phile Blutbild des Brustkindes zeigt gegenüber dem des Er¬
wachsenen eine mehr oder weniger deutliche Verschiebung
nach rechts. Eine Veränderung im Sinne einer Verschiebung
nach links, oft weit über das Blutbild des Erwachsenen hinaus,
tritt ein, wenn die Brustnahrung plötzlich durch Kuhmilch er¬
setzt wird, bei längerer Zeit durchgeführtem allaiterpent mixte
gleicht das Blut des Säuglings dem des Erwachsenen, und
grosse Verschiedenheit, deren Ursachen noch unklar sind,
herrscht in den Blutbildern künstlich ernährter Kinder, wenn
auch stets die ersten Abteilungen mit den weniger zahlreichen
Kernfragmenten stärker bevölkert sind als bei Brustkindern.
Schliesslich ergaben meine Untersuchungen erhebliche Ver¬
schiebungen des Blutbildes nach links bei magendarmkranken
und bei atrophischen Säuglingen.
Auf eine Erklärung dieser Befunde möchte ich mich zu¬
nächst nicht einlassen. Erwähnen will ich nur, dass Arneth
1654
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
die vielfragmentierten Zellen als die älteren und reiferen be¬
sonders zur Gegenwehr gegen Schädigungen, die den Organis¬
mus treffen, d. h. besonders zur Produktion von Antikörpern
geeignet hält. Mit ihrem Untergang würden grössere Mengen
Schutzkörper frei und erst, wenn das normale Blutbild wieder
hergestellt wäre, könnte von einer Ueberwindung der Infek¬
tionskrankheit durch seine Schutzmittel die Rede sein.
Andererseits besteht aber auch entgegen dieser Anschau¬
ung die Möglichkeit, dass die viel fragmentierten Zellen als die
älteren hinfälliger sind und deshalb bei einer Schädigung des
Organismus zuerst dem Untergang anheimfallen.
Literatur:
Arneth: a) Die neutrophilen weissen Blutkörperchen bei In¬
fektionskrankheiten. Jena 1904. Fischers Verlag, b) Weiterer Bei¬
trag zum Verhalten der neutrophilen Leukozyten bei Infektionskrank¬
heiten. Münch, med. Wochenschr, 1904, No. 25. c) Die agonale
Leukozytose. Münch, med. Wochenschr. 1904, No. 27. d) Experi¬
mentelle Untersuchungen zum Verhalten der weissen (und roten)
Blutkörperchen bei Infektions- und Intoxikationsversuchen, sowie
nach Einverleibung von Eiweisskörpern und Heilseris. Münch, med.
Wochenschr. 1904, No. 45. e) Die kachektische Leukozytose : Das Ver¬
halten der neutrophilen Leukozyten beim Karzinom. Zeitschr. f. klin.
Ver. 1904. Bd. 54, S. 238. f) Die Leukozytose in der Schwanger¬
schaft, während und nach der Geburt, und die Leukozytose der Neu¬
geborenen. Archiv f. Gynäkol. 1905. Bd. 74, S. 145. — F 1 e s c h
und Schossberger: Die Veränderungen des neutrophilen Blut¬
bildes bei Infektionskrankheiten. Jahrbuch f. Kinderheilkunde 1905.
Bd. 62, S. 249. — Hi 11er: Beiträge zur Morphologie der neutro¬
philen Leukozyten und ihrer klinischen Bedeutung. Folia haema-
tologica 1905. II. Jahrg., S. 85. — Pappen he im: Einige Be¬
merkungen zu vorstehendem Artikel. Ibid. S. 92. — Arneth: Ent¬
gegnung zu dem Artikel von E. H i 1 1 e r. Ibid. S. 169. — Gregor:
Untersuchungen über Verdauungsleukozytose bei magendarmkranken
Säuglingen. Arch. f. Verdauungskrankh. 1898. S. 387. — Jap ha:
Die Leukozyten beim gesunden und kranken Säugling. I. Die Ver¬
dauungsleukozytose. Jahrbuch f. Kinderheilk. Bd. 52, S. 242. —
Moro: Vergleichende Studien über die Verdauungsleukozytose beim
Säugling. Arch. f. Kinderheilk. 1904. Bd. 40, S. 39.
(Aus der Kgl. bakteriologischen Untersuchungsanstalt Neun¬
kirchen.)
Ueber Züchtung von Typhusbazillen aus dem Blut
mittels der Gallenkultur.*)
Von Dr. H. C o n r a d i, Leiter der Anstalt.
Eine der wesentlichen Aufgaben der Typhusbekämpfung
ist die frühzeitige Erkennung der typhösen Krankheitsprozesse.
So einfach auch die Durchführung dieser Aufgabe erscheint,
so haben sich in der Praxis die grössten Schwierigkeiten er¬
geben. Die eine Schwierigkeit beruht auf der Unmöglichkeit,
den typhösen Infekt in jedem Falle mit klinischen Hilfsmitteln
zu erkennen. Zwischen der Nervosa versatilis der älteren
Autoren und dem leichten Magendarmkatarrh typhösen
Ursprungs liegt eine Fülle vielgestaltiger Krankheitsbilder, die
bald als Influenza, als Bronchopneumonie und fieberhafte Bron¬
chitis, bald als Angina ausgesprochen werden. Die andere
Schwierigkeit besteht darin, dass die gegenwärtige bakterio¬
logische Methodik dem Arzte keine unbedingt zuverlässige
Frühdiagnose des typhösen Krankheitsprozesses ermöglicht. Die
Untersuchung der Fäzes in der ersten Krankheitswoche gibt
nach meinen Erfahrungen nur in einem Viertel der Fälle ein
positives Resultat. Von der Gruber-Widal sehen Re¬
aktion ist zur Genüge bekannt, dass sie in der Regel erst
in der zweiten Krankheitswoche auftritt. Ausgezeichnete Er¬
gebnisse brachte dem Kliniker die Blutkultnr. In den Kranken¬
häusern haben sich vor allem die Verfahren von C a s t e 1 1 a n i
und Schottmüller bestens bewährt. Die Blutkultur nach
Ca Stella ni besteht darin, dass 5—6 ccm Venenblut in
300 ccm Nährbouillon verbracht werden. Schottmüller
entnimmt mittels Liier scher Glasspritze einer Armvene
20 ccm Blut, gibt je 2—3 ccm in 6 ccm flüssigen Nähragar
und giesst hieraus Platten. Beide Methoden gestatten fast in
jedem Falle die Frühdiagnose des Typhus. So wertvoll auch
die Verfahren von C a s t e 1 1 a n i und Schottmüller für
*) Vortrag, gehalten in der Jahresversammlung der Freien
Mikrobiologischen Vereinigung in Berlin am 7. Juni
1906.
die Klinik geworden sind, für die Zwecke der Praxis sind sie
nicht anwendbar. Denn es ist ebenso ausgeschlossen, dass
die praktischen Aerzte sich zu der umständlichen Venäpunk-
tion verstehen, wie dass die Patienten ausserhalb des Kranken¬
hauses in die Hergabe einer grösseren Blutmenge einwilligen.
Mein Ziel war daher, die Methodik der Blutkultur derart aus¬
zubauen, dass sie sowohl in der Seuchenbekämpfung und der
Praxis des Arztes, wie in der Klinik sich bewähre.
Es ist hier nicht der Ort, auf die Arbeitshypothesen ein¬
zugehen, die mich zu der eingeschlagenen Methodik veran-
lassten. Nur möchte ich hervorheben, dass das Verfahren sich
auf die von mir 1901 zuerst beschriebene Tatsache stützt, dass
Galle in vitro die Blutgerinnung verhindert.1) Genug, am 14. Sep¬
tember 1904 konnte ich auf der Leiterkonferenz der Typhus¬
stationen in Saarbrücken die Grundzüge meines Verfahrens
mitteilen. Da neuerdings Kayser a. a. O. bei der Nachprüfung
meiner Methode jenen Vortrag beiläufig erwähnt, die von mir
erzielten praktischen Resultate aber völlig verschweigt, so sehe
ich mich veranlasst, seinen wesentlichen Inhalt kurz wiederzu¬
geben. Das Prinzip meines Verfahrens besteht, wie ich damals
ausführte, darin, dass ich einen Teil Blut eines Typhuskranken
in 2 Teile Rindergalle auffing und diese Gallenblutmischung
im Brutschrank ca. 16 Stunden lang anreicherte. Dann
wurden wechselnde Mengen des in Galle angereicherten
Blutes auf Lackmus-Milchzucker-Agarplatten übertragen. Die
Blutentnahme geschah durch Einstich in das Ohrläppchen, das
austretende Blut wurde in Kapillaren aufgefangen und in
flüssigem Zustand in die Gallenröhrchen eingetragen. Um die
Blutentnahme möglichst schonend zu gestalten, entnahm ich
nur 0,5 ccm Blut aus dem Ohrläppchen und brachte es in 1 ccm
sterilisierter Rindergalle. Trotz jenes minimalen Eingriffs
waren damals bereits die erzielten Ergebnisse recht er¬
mutigend. Der Nachweis der Erreger gelang bei 16 Pa¬
tienten: 12 mal wurden Typhus — 4 mal Paratyphusbazillen
im Blute nachgewiesen. Da die Mehrzahl der untersuchten
Personen sich innerhalb der 1. bezw. 2. Krankheitswoche be¬
fanden, so konnte ich schon damals die Brauchbarkeit der
Gallenröhrchen für die Frühdiagnose des Typhus betonen.
Weitere Mitteilungen über diese Methode machte ich dann in
der am 19. Dezember 1904 abgehaltenen Leiterkonferenz in
Strassburg und hob nochmals die im Frühstadium erzielten
Erfolge hervor, die ich sowohl aus der gerinnungshemmenden
Wirkung der Galle, wie aus ihrer wachstumsbefördernden
Eigenschaft erklärte. Im verflossenen Jahre habe ich mich
nun bemüht, das Verfahren der Gallenblutkultur leistungs¬
fähiger zu gestalten. Vor allem schien es mir geboten, die
Gallenmenge zu vergrössern. Ferner erwies es sich als nütz¬
lich, der Galle 10 Proz. Pepton und 10 Proz. Glyzerin hinzuzu¬
fügen. Der Peptonzusatz befördert das Wachstum der Typhus¬
bazillen und verstärkt die gerinnungshemmende Wirkung der
Galle, während der Glyzerinzusatz das Wachstum der Sapro-
phyten hindert. Ueber diese Methode und ihre Anwendung
habe ich Anfang dieses Jahres in der D. med. Wochenschr.
(No. 2) berichtet. Heute möchte ich nun die praktische An¬
wendung der Blutkultur und ihre theoretischen Grundlagen
zusammenhängend besprechen.
Um mit den theoretischen Grundlagen des Verfahrens zu
beginnen, so sei zunächst daran erinnert, dass die Galle das
Wachstum der TyphusbazITlen fördert. Diese begünstigende
Wirkung ist aber geringer als diejenige von Löffler scher
Bouillon. Deswegen habe ich noch 10 Proz. Pepton zur Galle
hinzugefügt. Von wesentlicher Bedeutung ist ferner der ge¬
rinnungswidrige Einfluss der Galle. Denn indem sie die Bil¬
dung von Fibrinnetzen verhindert, sichert sie eine gleich-
P Kayser (diese Wochenschr. 1906, No. 17) gibt an, dass die
Hemmung der Blutgerinnung durch Galle bereits früher bekannt war.
Bei Kenntnisnahme der von ihm zitierten Arbeiten wird jedoch
Kayser finden, dass diese Untersuchungen sich lediglich auf die Auf¬
lösung der Blutkörperchen beziehen. Von einer gerinnungswidrigen
Wirkung der Galle im Reagenzglas ist hier nirgends die Rede. Aller¬
dings habe ich eine Abhandlung von Horaczek aus dem Jahre 1734
nicht auffinden können. Meint etwa Kayser die nach dem Vorgang
von Rywosch falsch zitierte Abhandlung von Horaczek:
„Die gallige Dyskrasie (Ikterus) usw.“, Wien 1843? Auch sie befasst
Sich nicht mit der vorliegenden Frage. »
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1655
mässige Verteilung der Keime. Wie kommt es aber, dass die
Galle die bakterizide Wirkung des extravasalen Blutes hemmt?
Ich habe zunächst daran gedacht, dass die Galle die Bildung
der bakteriziden Serumstoffe hindert. Auf Grund von Ver¬
suchen aber, die ich gemeinsam mit Herrn Dr. Metz vor¬
nahm, bin ich der Auffassung, dass der Gallenzusatz die bak¬
teriziden Leistungen eines Normalserums prompt aufhebt. Wir
haben zunächst festgestellt, dass 0,3ccm normalesMeerschwein-
chenserum noch in einer Verdünnung von 1:80 ca. 20 000
1 yphusbazillen binnen 2 Stunden bei 37 0 abtötet. Fügen wir
zu dem gleichen Normalserum des Meerschweinchens nur
1 — V io ccm Galle, so können wir keine bakterizide Wirkung
mehr feststellen, sondern die eingesäten Typhusbazillen
wachsen ohne jegliche Hemmung. Durch diese Versuche wird
aber bewiesen, dass die Galle deswegen die Blutkultur
der Typhusbazillen ermöglicht, weil sie die Wirkung der
bakteriziden Stoffe des Blutes ausschaltet. Kayser hat
a. a. O. gemeint, dass die Gegenwart der Blutkörperchen
die bakteriziden Wirkungen des Blutes verhindert. Diese
Hypothese ist unhaltbar. Denn Bouillon konserviert die Blut-
zellen wohl besser als Galle und dennoch sind die wohlkonser¬
vierten Blutkörperchen nicht imstande, die Bouillon-Blut¬
mischung vor bakterizider Serumwirkung zu bewahren.
Ich komme nun zu der praktischen Anwendungsweise des
Verfahrens. Wie ich eingangs ausführte, lag es in meiner Absicht,
die Gallenkultur dem Kliniker und insbesondere dem praktischen
Arzt zugänglich zu machen. Ich hoffe dieses Ziel in folgender
Weise erreicht zu haben. Sie sehen hier eine Glasröhre, die mit
10 ccm sterilisierter Rindergalle gefüllt ist. Diese Gallenflüssig¬
keit enthält ausserdem 10 Proz. Pepton und 10 Proz. Glyzerin.
Die Glasröhre ist mit einem eingeschliffenen Glasstöpsel ver-
schliessbar. Der Glasstöpsel weist eine kleine Rille auf, die
einer Oeffnung am Glashals entspricht. Soll die Gallenröhre
sterilisiert werden, so muss der Glasstöpsel so gedreht wer¬
den, dass die Rille des Stöpsels mit der Oeffnung im Glashals
zusammenfällt. Nach beendeter Sterilisierung wird der Glas¬
stöpsel um 90 0 gedreht. Die Gallen röhre ist also
leicht sterilisierbar und versandfähig.2) Die
Eintragung des Blutes in die 10 ccm Flüssigkeit enthaltende
üallenröhre erfolgt nun in folgender Weise: In der Klinik
und dem Krankenhaus wird man sich der Luer sehen
Spritze und der Venaepunktion mit Vorteil bedienen. Die
bei der Venaepunktion leicht erhältliche Blutmenge von
2 — 3 ccm wird sofort in das Gallenröhrchen eingetragen.
Für die Praxis des Arztes wird die Venaepunktion nur aus¬
nahmsweise in Frage kommen. In der Regel wird der prak¬
tische Arzt darauf angewiesen sein, aus dem Ohrläppchen des
Typhuskranken das Blut mit Hilfe eines Lanzettmessers zu ent¬
nehmen. Um diese Entnahme möglichst ergiebig zu gestalten,
habe ich einen besonderen Blutschröpfer angegeben.
Der Blutschröpfer trägt eine 1 cm breite Messerklinge. Das
Vorderteil lässt sich abschrauben und die Klinge verstellen.
Die beiden Seitenteile dienen dazu, eine Führung am Ohr¬
läppchen zu haben. Es gelingt leicht, mit diesem Schröpfer
die erforderliche Menge 0,5 — 2 ccm Blut aus dem Ohrläppchen
zu erhalten. Fliesst das Blut reichlich, so kann man die
Tropfen direkt in das Gallenröhrchen einfliessen lassen. Bei
schwieriger Entnahme bedient sich der Arzt der beid*en in der
Holzhülse beigefügten Pipetten, indem er kleine Blutmengen
mit einer Pipette ansaugt und schnell in das Gallenröhrchen
einträgt. Das Gallenröhrchen wird danach in einer Holz-
hiilse an ein bakteriologisches Institut eingesandt. Zur
Anreicherung verbleibt das Gallenröhrchen ca. 16 Stunden
im Brutschrank bei 37 °. Danach werden fallende Mengen auf
Lackmus-Milchzucker-Agar-Platten übertragen und die Platten
in der üblichen Weise untersucht. Mit Hilfe dieses Verfahrens
sind wir in den Stand gesetzt, nach ca. 30 Stunden bereits die
Typhusdiagnose zu sichern. Bisher erzielte ich in 35 Fällen
ein positives Resultat, 29 mal wurden Typhusbazillen, 6 mal
Paratyphusbazillen aus dem Blut der Patienten gezüchtet. In
13 Fällen gelang der Nachweis in der 1. Krankheitswoche,
7 mal bevor Serumreaktion und Untersuchung der Exkrete
2) Im Notfälle kann jede Tropfflasche verwandt werden. Der
Glyzerinzusatz verhindert das Verkleben des Glasstöpsels.
ein positives Resultat ergaben. Ferner beobachtete ich,
dass auch in der Rekonvaleszenz, im fieberfreien Stadium
Typhusbazillen in der Blutbahn kreisen. Bei 2 Frauen,
die sich am Ende der 4. bezw. 5. Krankheitswoche be¬
fanden und seit wenigen Tagen fieberfrei waren, wurden die
Erreger im Blute nachgewiesen, obschon späterhin kein Rezi¬
div, auftrat. Endlich wurde festgestellt, dass auch bei Typhus
levis die ryphusbazillen in die Blutbahn eindringen. Bei zwei
18 bezw. 20 Jahre alten Leuten, die sich in der Umgebung von
Typhusk ranken befanden und etwa 8 Tage lang über leichte
Darmstörungen klagten, aber nur 2 bezw. 3 Tage lang fieberten
und bettlägerig waren, wurden während des Fieberstadiums
im Blute Typhusbazillen aufgefunden. Diese Beobachtungen
werden durch folgenden interessanten Fall erweitert und er¬
gänzt. Ein 29 jähriger kräftiger Bergmann in N. klagte am
5. und 6. Mai d. J. über leichten Durchfall. Am 5. Mai hatte
er auch Frostgefühl und Kopfschmerz. Am 7. Mai suchte er
den Kreisarzt in der Sprechstunde auf. Dieser entnahm sofort
eine Blutprobe. Da sie gegenüber Typhusbazillen 1:50 positiv
ausfiel, wurde der Bergmann sehr gegen seinen Willen in aas
Knappschaftslazarett Neunkirchen aufgenommen. Am Tage
seiner Einlieferung, am 10. Mai, und am folgenden Tage
noch zeigte er eine Maximaltemperatur von 37,6 °. Am
nächsten fieberfreien Tag wurde eine Gallenblutkultur an¬
gelegt. Sie enthielt eine Reinkultur von Typhusbazillen!
Wenige Tage später wurden an 2 Tagen auch im Urin
Typhusbazillen nachgewiesen. Diese Beobachtung lehrt,
dass auch im fieberfreien Stadium eines Typhus levis
Typhusbazillen im Blute zirkulieren. Ich will hier nur
kurz darauf hinweisen, dass diese Beobachtung der Hypothese
Schottmüllers widerspricht, wonach der Typhus levis
als lokalisierte Infektion des Lymphapparates aufzufassen sei.
Weitere Erfahrungen müssen zeigen, ob die Blutkultur auch die
Erkennung des Abortivtyphus erleichtert. Als wichtigstes Er¬
gebnis meiner bisherigen Erfahrungen möchte ich aber hervor¬
heben, dass die Gallen-Blut-Kultur ein wich¬
tiges Hilfsmittel für die Frühdiagnose des
Unterleibstyphus darstellt. In jüngster Zeit haben
meine diesbezüglichen Erfahrungen durch die Veröffent¬
lichung K a y s e r s eine sehr erwünschte Bestätigung gefunden.
K a y s e r (a. a. O.) hat an dem reichen Material der Strass¬
burger medizinischen Klinik meine Methode der Gallenblut¬
kultur nachgeprüft und innerhalb der ersten Krankheitswoche
bei 21 1 yphusfällen in jedem Falle den Nachweis von Typhus¬
bazillen geführt. Insgesamt erhielt Kayser durch die Gallen¬
kultur unter 120 Typhusfällen 77 mal positive Resultate, d. h.
in 64 Proz. der Fälle. Entsprechend meinen früheren
Angaben, dass 1 Teil Blut in 2 Teilen Gaile auf¬
zufangen sei, hat Kayser, dem ausschliesslich klini¬
sches Material zur Verfügung stand, 2,5 ccm Blut in
5 ccm Galle eingetragen. Es ist absurd, wenn Kayser hier¬
in eine wesentliche Modifikation meines Verfahrens erblickt. 3)
Mein Bestreben war es, in erster Linie die Blutkultur der
Seuchenbekämpfung und- der Praxis des Arztes nutzbar zu
machen. Wenn aber die Blutkultur sich auch ausserhalb der
Spitäler einbürgern soll, so ist die erste Bedingung, die Blut¬
entnahme möglichst schonend zu gestalten. Dieser Forderung
genügt der Blutschröpfer, der ebenso wie die Gallenröhrchen
nebst Holzhülsen von der Firma Lautenschläger in
Berlin bezogen werden kann.
M. H. ! Ich bin am Ende meiner Ausführungen und möchte
nur den Wunsch aussprechen, dass die Methode der Gallen¬
kultur eine vielseitige Nachprüfung erfahren möge. Es ist wohl
möglich, dass das Verfahren auch bei anderen Infektionskrank¬
heiten, der Gruppe der septikämischen Erkrankungen, vielleicht
auch der Pneumonie, seine Anwendung finden wird. Vor allem
aber hoffe ich, dass die Gallen-Blut-Kultur sich eignet, die früh¬
zeitige Diagnose des Typhus am Krankenbett und hiermit die
Typhusbekämpfung zu fördern.
J) Dieser Autor hat die Firma Merck in Darmstadt beauftragt,
mit Galle gefüllt Glasröhrchen in den Handel zu bringen. Hieran bin
ich in keiner Weise beteiligt. Wohl aber habe ich veranlasst, dass die
Firma formell meine Urheberschaft zum Ausdruck bringt, damit ich
nicht meiner Rechte verlustig gehe,
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
1656
Aus der Ohrenstation des Garnisonslazaretts München.
Die Stauungshyperämie bei der Behandlung von
Ohreiterungen.*)
Von Stabsarzt Dr. Hasslauer.
Die von B i e r bei der Behandlung von akuten Eiterungen
eingeführte Stauungshyperämie hat so aufsehenerregende Er¬
folge erzielt, obwohl das Verfahren bei der Stauungsbehand¬
lung unseren in Fleisch und Blut übergegangenen Grundsätzen
der ausgiebigen Bekämpfung mit dem Messer direkt zuwider¬
läuft, dass sie geeignet erscheinen, eine völlige Wandlung in
der Chirurgie hervorzurufen und unsere anscheinend uner¬
schütterlichen Grundsätze zum Wanken zu bringen. Es war
deshalb naheliegend, dass die Stauungshyperämie bei der Be¬
handlung der Ohreiterungen zu Versuchen anregte und die
wenigen bis jetzt vorliegenden Aeusserungen über die erzielten
Resultate scheinen doch auch derart günstig zu sein, dass sie
gerade in unserer noch jungen und in den letzten Jahren so
erfolgreichen Otochirurgie Wandlungen zu schaffen ge¬
eignet sind.
Die erste Anregung zur Behandlung von Ohreiterungen
ging ebenfalls von der Bi er sehen Klinik aus und war die
dort mit grossem Erfolg angewendete Methode der Kopfstauung
die Leitschnur für die Versuche an verschiedenen Kliniken.
Wenn auch das bis jetzt Erzielte nicht auf allen Seiten unge¬
teilten Beifall fand, so lässt sich doch schon das Brauchbare
aus der neuen Behandlungsart herausschälen.
Die erste Arbeit über Stauungsbehandlung eitriger Ohrerkran¬
kungen stammt von Biers Assistent, K e P P 1 e r. Er behandelte
zunächst ohne Auswahl alle mit Ohreiterung zur Aufnahme gelangten
Fälle, ob akut oder chronisch, ob kompliziert oder nicht, mit Stau¬
ungshyperämie. Die Stauung musste entsprechend den anatomischen
Verhältnissen am Halse zur Anwendung kommen und wurde ver¬
mittels eines einfachen Baumwollgummibandes, das nach Art eines
Strumpfbandes um den Hals gelegt wurde, erreicht. Schon eine ge¬
ringe Abschnürung erzielte eine verhältnismässig starke Hyperämie
der abgeschnürten Teile. Um Druckusuren an der empfindlichen Haut
des Halses zu vermeiden, unterfüttert Keppler seine Gummi¬
binden mit einer einfachen Tour einer Mullbinde, die selbstredend
keine Falten bilden darf. Die Stelle, wo die Binde zusammengehakt
wird, hat den stärksten Druck auszuhalten, muss deshalb gut unter¬
polstert werden. Die Unterpolsterung darf nicht zu dick sein, um
den elastischen Druck der Binde nicht zu beeinträchtigen. Zur Ab¬
härtung der Haut empfiehlt Keppler noch tägliche Waschungen
derselben mit Kampherspiritus. Entstehen trotzdem Druckusuren, so
setzt er die Stauung gleichwohl fort, legt nur einige Pausen mehr ein
und die wunden Stellen heilen unter Bepuderung unter der Binde ab.
Die Dauer der Stauung betrug täglich 20 — 22 Stunden. Je nach¬
dem die Besserung des Leidens fortschreitet, werden die Stauungs¬
zeiten abgekürzt, doch soll man mit der Abkürzung nicht zu bald be¬
ginnen und auch dann noch 10—12 Stunden stauen, wenn die ent¬
zündlichen Erscheinungen schon einige Zeit abgeklungen sind.
Die erste und prägnanteste Folge der Stauung ist die rasche
Linderung der Schmerzen und wo diese Linderung ausbleibt, liegt die
Binde nicht richtig, entweder zu fest oder zu locker. Die Binde liegt
richtig, wenn das Gesicht des Kranken leicht bläulichrot verfärbt ist
und ein etwas gedunsenes Aussehen bietet. Keppler hat die ver¬
schiedensten Grade von Oedemen beobachtet, das teilweise so stark
war, dass die Weichteile des Halses in Gestalt ödematöser Säcke
über die Binde herabhingen. Die Linderung der Schmerzen ist eine
so vollständige, dass die Kranken, die bisher vergebens den Schlaf
gesucht, sehr bald Ruhe finden. Bisher äusserst schmerzhafte Kopf¬
bewegungen werden wie in gesunden Zeiten wieder ohne Schmerzen
ausgeführt, die Druckempfindlichkeit bei Warzenfortsatzaffektionen
schwindet sehr bald, über dem Warzenfortsatz wird ein rotes feuriges
Oedem sichtbar. Dass die Schmerzlinderung nur Folge der Stauung
ist, beweist, dass in den Zeiten der Pause die Schmerzen sehr bald
wiederkehren, so dass die Kranken selbst nach der Binde verlangen.
Die Kranken K e p p 1 e r s hatten von der Binde keinerlei Be¬
lästigung, selbst bei Arteriosklerotikern sah er keine schädliche
Wirkung.
Unter dem Einfluss der Stauung wurde die einfache Mittelohr¬
eiterung bald geringer, allmählich serös und hörte bald ganz auf, doch
muss der Eiterabfluss aus der Paukenhöhle genügend frei sein, und
wo dies nicht der Fall ist, die Perforation erweitert werden. Bei
Warzenfortsatzaffektionen, besonders subperiostalen Abszessen, ist
baldigst einzuschneiden, doch werden nur kleine Inzisionen gemacht,
diese nicht drainiert, sondern nur mit einem Schutzverband bedeckt.
Keppler sagt: „Niemals darf man die abwartende Stellung, die
*) Nach einem in der militärärztlichen Gesellschaft München am
28. IV. 06 gehaltenen Vortrag.
man bei der Stauung einzunehmen gezwungen ist, zum Prinzip aus¬
bauen, das Prinzip muss vielmehr das alte bleiben: Ubi pus, ibi
evacua! und zwar sobald als möglich.“ Je akuter ein Fall zur Be¬
handlung gelangt, um so sicherer und bestimmter ist ein Erfolg zu
erwarten. Unter dieser Behandlungsmethode gelangten 12 Fälle
akuter Eiterungen, meist subperiostale Abszesse, zur Abheilung,
während die Erfolge der Stauung bei den chronischen Fällen nicht
sehr ermutigend waren. Abszesse, die bei chronischen Eiterungen
auftraten und ebenso wie akute Abszesse behandelt wurden, heilten
ebenso rasch ab, nicht jedoch die Ohreiterung.
Die erste Nachprüfung dieser so glänzenden Resultate Kepp-
1 e r s nahm Heine vor. Bei Vornahme der Stauung hielt er sich
genau an K e p p 1 e r s Vorschrift. Im ganzen behandelte er so 19 Fälle,
2 Fälle von Otitis media acuta ohne und 3 Fälle mit Perforation,
6 Fälle mit Warzenfortsatzdruckempfindlichkeit, 5 Fälle von Mastoi¬
ditis und Infiltration der Weichteile und 3 Fälle von Mastoiditis mit
Abszessbildung.
In 9 Fällen trat Heilung ein, darunter die Mastoidititen mit Abszess¬
bildung. ln 8 Fällen war die Stauung ohne Erfolg und musste doch
noch operiert werden, darunter eine nicht perforierte akute Mittelohr¬
entzündung, die mit Mastoiditis rezidivierte und ein Fall von Mastoi¬
ditis mit infiltrierten Weichteilen.
ln dem einen Punkte stimmt Heine mit Keppler überein,
dass Mastoiditiden mit Infiltration der Weichteile und Abszessbildung
von der Stauung günstig beeinflusst werden. Im übrigen aber stimmt
er nicht in K e p p 1 e r s Enthusiasmus ein. Heines Patienten emp¬
fanden die Stauung anfangs unbequem und beengend, gewöhnten sich
aber dann daran, im übrigen aber verspürten sie keine Belästigung,
nur in 1 Fall traten Kopfschmerzen auf. Ferner erzielte er trotz
Unterfütterung der Binden mehrere Male Druckusuren und Schniir-
furchen, so dass die Stauung einmal sogar sistiert werden musste.
Des weiteren kann er die prompte Linderung der Schmerzen nicht
bestätigen, zuweilen trat Besserung ein, häufig blieben die Schmerzen
aber unverändert, ja es trat sogar Steigerung ein. Selbst in den ge¬
heilten Fällen scheint Heine nicht völlig von der Wirkung der
Stauungsbehandlung überzeugt zu sein, weil in vielen Fällen, oft
wider Erwarten und auch bei stürmischen Erscheinungen, ohne be¬
sondere Behandlung Heilung eintrat. Eine günstige Beeinflussung
durch Stauung gibt er nur bei Abszessen zu, doch hält er die günstige
Wirkung der Stauung auch da nicht für erwiesen, weil früher auf
den Wilde sehen Schnitt auch Heilungen eintraten.
Wohl waren die Resultate Heines bei weitem nicht so
glänzend wie die K e p p 1 e r s, sodass sein Pessimismus
einigermassen gerechtfertigt ist, doch geht er darin entschieden
zu weit. Vor allem war das Material der beiden Beobachter
ein ungleichartiges. Kepplers Fälle betrafen meist Abs¬
zesse bei akuten Ohreiterungen, bei welcher Komplikation ja
auch Heine seine guten Resultate erzielt hat. Zudem gibt
Keppler selbst zu, dass auch in solchen Fällen einmal die
Stauung versagen kann. Was die nach dem früher so be¬
liebten Wilde sehen Schnitt beobachteten Heilungen betrifft,
so ist eine solche nach Körner höchstens bei Kindern mög¬
lich, wo der Eiter durch die noch offene Fiss. mastoid.-squamosa
durchbricht, eine Knocheneinschmelzung also gar nicht vor¬
hegt. In solchen Fällen ersetzt der Wilde sehe Schnitt den
Spontandurchbruch durch die Haut. In Kepplers Fällen
aber handelte es sich z. T. um Knocheneinschmelzung und
trotzdem trat ohne weitere Operation Heihfng ein.
Mit der Forderung Heines aber, dass, selbst wenn sich
der günstige Einfluss der Stauung auf die Ohreiterungen be¬
stätigen sollte, die Stauungsbehandlung von nur erfahrenen
Aerzten geübt wird, muss man einverstanden sein. Sie ver •
langt nicht nur eine ständige Beobachtung und eine ganz exakte
Ausführung, sie ist auch nicht unbedenklich, weil Gefahr be¬
steht, dass in manchem Fall das Krankheitsbild verschleiert
wird, dass daraus eine Verzögerung einer vielleicht rettenden
Operation entsteht, dass also der richtige Moment zur Operation
verpasst wird.
Auch Vohsen und H i n s b e r g haben Bedenken ge-
äussert über die neue Behandlungsart, während Eschweiler
nach seinen Erfahrungen in Bonn nur günstige Resultate sah.
Weit besser waren die Erfolge Stengers mit der Stau¬
ungshyperämie, ausserdem bedeutet seine Kombination mit
Saugstauung einen grossen Fortschritt zum Besseren, wodurch
er eine oft bedeutende Abkürzung der meist so langwierigen
Nachbehandlung operierter Fälle erzielte.
Er behandelte 11 akute Mittelohreiterungen ohne und 7 mit
Komplikation; es handelte sich nur um primäre, genuine Mittelohr¬
eiterungen. In fast allen Fällen wurde Heilung erzielt, nur 1 Fall kam
zur Operation, in 1 weiteren Fall war die Stauung ohne Erfolg und
in 1 Fall musste die Stauung ausgesetzt werden, weil Reizerschei-
21. August 1906. _ _ _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1657
nungen auf dem anderen Ohr auftraten, eine bis dahin einzige und
auffallende Beobachtung.
S t e n g e r hat in seinen Fällen keine üblen Zufälle beobachtet,
die Stauung wurde als wohltuend empfunden, selbst von kleinen
Kindern, die subjektiven Beschwerden liessen sofort nach und auch
die lokale Druckempfindlichkeit ging zurück. Die Eiterung nahm an¬
fangs zu, dann aber sehr schnell ab, das Fieber ging lytisch zurück.
Mit der Stauung beginnt S t e n g e r erst nach Nachlass der
ersten Krankheitserscheinungen zur Beschleunigung des Heilverlaufes;
voi Beginn der Stauung gebraucht er die bisher übliche Behandlung,
nur bei bedrohlichen Erscheinungen wendet er sie sofort an.
Eine Neuerung in der Stauungsbehandlung bedeutet S t e n g e r s
Behandlung der Warzenfortsatzabszesse mit den Bier sehen Saug¬
näpfen. Zu diesem Zweck macht er eine 2 — 3 cm lange Inzision,
schiebt das Periost zur Seite und nimmt eine sorgfältige Blutstillung
vor. Ist noch keine Fistel in der äusseren Knochenschale, so legt
er eine solche mit einem schmalen Meissei an in der Richtung gegen
das Antrum, bis zu welchem die Fistel jedoch nicht zu gehen braucht.
Er kratzt die schon vorhandene oder geschaffene Fistel nun aus, führt
einen Gazestreifen locker ein und setzt nun auf die gut getrocknete
Umgebung der Inzision den Saugnapf auf, um den herum man behufs
Erzielung eines sicheren luftdichten Abschlusses etwas Salbe streicht-
zum Schluss kommt ein Verband um den Napf. Sobald der Saugnapf
sich gefüllt hat, wird er abgenommen, darf jedoch nicht länger als
3 Stunden liegen. In den nächsten Tagen wird die Saugzeit immer
mehr abgekürzt, weil bei längerem Liegenlassen und wiederholter
Saugung Schmerzen auftreten. Sobald keine Flüssigkeit mehr an¬
gesaugt wird und die kleine Knochenwunde sich mit Wucherungen
füllt, wird mit dem Aufsetzen des Saugnapfes aufgehört.
S t e n g e r kommt auf Grund seiner Erfahrungen zu dem
Schlüsse, dass die Stauungsbehandlung ein hervorragender Faktor
in der Behandlung der Ohrkrankheiten ist.
Weitere Beobachtungen liegen nicht vor, bezw. sind nicht
bekannt. Durch die Erfolge, die in der Chirurgie erzielt wur¬
den, sowie durch die eben erörterten Beobachtungen angeregt,
unterzog ich im Laufe dieses Winters 36 Fälle der Behandlung
mit der Stauungsbinde, 3 Fälle gleichzeitig mit der Saugstauung
nach S t e n g e r.
Es handelte sich um 14 Fälle chronischer Mittelohreiterung,
die in den meisten Fällen seit der Kindheit bestand und zeit¬
weise immer wieder aussetzte. In 9 Fällen konnte eine Ur¬
sache für das Ohrleiden nicht angegeben werden, 1 mal wird
die Mittelohreiterung auf Erkältung, 3 mal auf eine in der
Jugend erlittene Verletzung zurückgeführt. In 2 Fällen zeigte
sich das Trommelfell bis auf die Randpartien zerstört und be¬
fand sich die Paukenschleimhaut in gewuchertem Zustand, in
3 weiteren Fällen fanden sich grössere Wucherungen, in den
übrigen 8 Fällen bestand eine mehr oder weniger grosse Per¬
foration in der unteren Hälfte.
Bei 4 Fällen handelte es je 2 mal um die gleichen Patienten,
die im Laufe des Winterhalbjahres mit Rezidiven ankamen.
Eine Wirkung der Stauungshyperämie auf die Eiterung
wie auf die Wucherungen war kaum festzustellen, in den
ersten Tagen schien die Eiterung weniger zu werden, um dann
aber wieder in der alten Stärke wiederzukehren. Nach mehr¬
wöchentlicher Stauungsbehandlung wurde die alte Behandlung
mit Spülungen, Aetzungen und Pulvereinblasungen wieder auf¬
genommen und damit die Eiterung zum Aufhören gebracht.
Nur in einem Falle konnte anscheinend ein Erfolg der Stauung
festgestellt werden. Die Eiterung hörte in diesem Falle am
9. Tage auf und blieb auch weg. Die Binde blieb bis zum
15. Krankheitstage liegen, wurde dann entfernt und auch dann
blieb die Eiterung aus. Der Mann wurde mit trockener Per¬
foration entlassen.
In einem weiteren Falle hörte die Eiterung am 6. Tage auf, das
Ohr blieb 3 Tage trocken, begann dann wieder 2 Tage abzusondern,
um dann wieder 5 Tage vollkommen trocken zu bleiben. Am nächsten
Tage trat unter Einsetzen einer heftigen Mandelentzündung wieder
ein profuser Ohrenfluss ein. Die Stauungsbinde war nach der fünf¬
tägigen Pause des Ohrenflusses wieder entfernt worden; ob das der
Grund des Wiedereinsetzens der Eiterung war, möchte ich bei der
gleichzeitigen Mandelentzündung bezweifeln. Die Binde wurde nun¬
mehr wieder angelegt und schon am nächsten Tag hatte die Absonde¬
rung bedeutend abgenommen, um nach 4 Tagen ganz aufzuhören.
Nun blieb die Binde weitere 6 Tage liegen, das Ohr blieb volle 14 Tage
trocken, um dann plötzlich für 3 Tage wieder abzusondern, dann
aber trat definitive Heilung ein.
Dieser Fall kann der Stauungsbehandlung nicht zur Last
gerechnet bezw. kann in diesem Fall von einem Misserfolg
der Stauung nicht gesprochen werden, denn die rezidivieren¬
den Eiterungen, die immer akut einsetzten, wurden prompt
No. 34
durch die Stauung beeinflusst. Die Disposition zu Rezidiven
der Ohreiterung bestand schon vor Anwendung der Stauungs¬
behandlung und bleibt auch bestehen wie in den anderen chro¬
nischen Fällen, solange es nicht gelingt, die persistieren¬
den Trommelfellöffnungen zum bleibenden Verschluss zu
bringen. Und soweit geht eben der Einfluss der Stauung nicht.
In einem weiteren Fall bestanden Verhaltungserscheinungen
mit Druckempfindlichkeit des Warzenfortsatzes, so dass die Para¬
zentese gemacht werden musste. Erst nach dieser begann sich die
Schmerzhaftigkeit zu bessern, die Ohreiterung selbst aber trieb das
gleiche Spiel wie im vorher geschilderten Fall, bald war das Ohr
tiocken, bald trat starke Absonderung ein, erst nach 25 Krankheits¬
tagen war Heilung eingetreten.
Von einer günstigen Wirkung der Stauung auf die chroni¬
schen Eiterungen kann also nicht gesprochen werden, weil
der Krankheitsverlauf bei der Stauung in nichts von dem
dieser Form sonst eigentümlichen Verlauf abwich, nur in den
sogen, akuten Nachschüben der chronischen Eiterungen zeigt
die Stauungshyperämie die gleiche günstige Einwirkung wie in
den reinen akuten Fällen. Im Gegenteil muss der Stauung
eine ungünstige Wirkung zugeschrieben werden deshalb, weil
allein in 6 Fällen zu der chronischen Eiterung eine diffuse Ent¬
zündung des äusseren Gehörganges hinzutrat, die in diesem
gehäuften Auftreten doch wohl auffallend erscheint. Eine Ge¬
hörgangsentzündung im Verlauf einer chronischen, lange Zeit
nicht behandelten Ohreiterung ist wohl nichts Ungewöhnliches,
diese Voraussetzung traf jedoch in unserem Falle nicht zu,
nachdem die Eiterung, die in allen Fällen sehr mässig war,
nach der Vorschrift K e p p 1 e r s mit sterilen Tüpfern sorg¬
fältig jeden Tag entfernt wurde. Die Stauungsbehandlung nach
chronischen Ohreiterungen habe ich deshalb ganz aufgegeben
und seitdem eine Gehörgangsentzündung auch nicht mehr ge--
sehen.
Weit bessere Erfolge brachte die Stauungsbehandlung der
akuten Ohreiterungen. Im ganzen kamen 23 Fälle zur Be¬
handlung, davon 16 noch im ersten Stadium der Entzündung
mit nicht perforiertem Trommelfell.
Von diesen 16 Fällen waren 14 primäre genuine, 2 sekun¬
däre Otitiden nach Pneumonie bezw. Influenza.
In 4 Fällen handelte es sich um eine Entzündung leichteren
Grades, Entzündungserscheinungen ohne Vorwölbung des
Trommelfelles oder Vorwölbungen leichterer Art. In diesem
Stadium der Mittelohrentzündung war ich bis jetzt gewohnt,
die bekannten Z a u f a 1 sehen Ohrbäder mit lauwarmer essig¬
saurer Tonerde oder Burowscher Lösung zu machen und
mit der Parazentese zu warten. Auf diese Weise gehen eine
ganz erstaunliche Anzahl von Mittelohrentzündungen in voll¬
kommene Heilung über. An Stelle der Ohrbäder wurde nun
die Stauungsbinde um den Hals gelegt und das Ohr selbst in
Ruhe gelassen. 3 Fälle waren so nach 4, 6 bezw. 7 Tagen
mit normaler Hörfähigkeit abgeheilt, im anderen Falle musste
die Parazentese gemacht werden, worauf die vorhandene
Druckempfindlichkeit des Warzenfortsatzes verschwand und
nach 11 Tagen Heilung eintrat. Die Absonderung hatte schon
am 4. Tag aufgehört. Schon einige Stunden nach Anlegen
der Binde waren die Patienten schmerzfrei.
Die anderen 12 Fälle zeigten hochgradige, zum Teil stür<
mische Entzündungserscheinungen mit Blasenbildung, teilweise
in der hämorrhagischen Form; 8 mal beteiligte sich der War-
zenfoitsatz an der Entzündung. In diesem Stadium war bisher
von dem Zuwarten mit der Parazentese keine Rede mehr. Ich
versuchte es gleichwohl mit der Stauungshyperämie allein,
ohne wie K e P P 1 e r verlangt, die Parazentese voraus¬
zuschicken und hatte in 4 Fällen, darunter 3 mal bei der hä¬
morrhagischen Form, die Freude, vollständige Rückbildung der
Entzündungserscheinungen und Resorption des Exsudats zu
ei zielen. In einem Falle war die Mittelohrentzündung einer
heftigen akuten Kieferhöhleneiterung und einem Tonsillar-
abszess gefolgt, welche Erscheinungen ebenfalls prompt mit-
verschv an<Jen. In den 4 Fällen erfolgte in durchschnittlich
8 Tagen die Heilung.
In den übrigen 8 Fällen, darunter eine doppelseitige Mittel-
oln entzündung, musste die Parazentese am nächsten Tag oder
naS,h e^n*2en Tagen doch noch gemacht werden, worauf noch
5 Fälle nach durchschnittlich 16,4 Tagen abgeheilt waren. In
2
muenchener medizinische Wochenschrift.
Mo. 34.
1658
dem einen Falle flackerte der nach 4 Tagen zurückgegangene
Prozess am 10. Krankheitstage trotz umliegender Binde noch¬
mals heftig auf, ging aber dann nach zweimaligem Trommel¬
fellschnitt in 19 Tagen endgültig in Heilung über. In 2 Fällen
stellt sich während des Krankheitsverlaufes eine komplizierende
Oehörgangsentzündung ein, die erst unter der bisher üblichen
Behandlungsweise abheilte, während die Otitis vorher längst
zurückgegangen war.
Ein Fall mit grossen Blasen trotzte der Stauungsbehandlung.
Die Otitis war nach der Parazentese nach 13 Tagen abgeheilt und
die Binde abgenommen worden. Am 17. Tag plötzliches Wiederein¬
setzen stürmischer Erscheinungen mit Blasenbildung und Warzenteil¬
affektion. Trotz Stauung keinerlei Beeinflussung der Schmerzen und
Entzündungserscheinungen, so dass der Trommelfellschnitt 8 mal ge¬
macht werden musste. Dann allerdings trat ohne weitere Kompli¬
kation nach 51 Tagen völlige Heilung ein.
Ein weiterer Fall von hämorrhagischer Otitis mit äusserst stür¬
mischen Erscheinungen. Trommelfellschnitt, Stauungsbinde. Rück¬
gang der Schmelzen und Warzenfortsatzaffektion, nur die Temperatur
blieb hoch (39,4) und die Eiterung äusserst profus. Als sich am
10. Tage trotz Stauung wieder Druckempfindlichkeit des Warzenteils
einstellte, wurde die Aufmeisselung ausgeführt.
In einem weiteren Falle hämorrhagischer Influenzaotitis mit
\\ ai zenfortsatzaffektion gingen auf Stauungsbinde und Parazentese
wohl die schmerzhaften Entzündungserscheinungen zurück, nur die
Eiterung blieb äusserst stark und rein eitrig. Alsbald zeigte sich
wieder Druckschmerzhaftigkeit des Warzenteiles; worauf ich die
oben erwähnte Behandlung nach St eng er mit Anlegung einer
Knochenfistel und Aufsetzen des Saugnapfes aufnahm mit dem Er¬
folg, dass nunmehr glatte Heilung eintrat. In den ersten Tagen emp¬
fand Patient das Aufsetzen des Saugnapfes sehr schmerzhaft, sobald
aber die Eiterabsonderung nachliess, schwanden auch diese Schmer¬
zen. Nach 11 Tagen saugte der Napf nichts mehr an und blieb nun
weg; die Mittelohreiterung hielt aber noch an. Als nun die Stauungs-
bmde wieder angelegt wurde, ging die Heilung rasch von statten und
nach 36 Tagen war Heilung eingetreten mit kaum sichtbarer Narbe.
Schliesslich .wurden noch 7 Fälle von akuter Mittelohreiterung
der Stauungsbehandlung unterzogen.
3 Fälle ohne Komplikation waren nach durchschnittlich 10 Tagen
abgeheilt. In den ersten Tagen der Stauung nahm die Eiterung etwas
zu, dann aber rasch ab.
2 Fälle mit Warzenfortsatzaffektion Hessen keinen besonderen
Einfluss der Stauung erkennen und kamen zur Operation.
1 Fall mit Warzenfortsatzbeteiligung gelangte nach der
Stenger sehen Methode wie der oben geschilderte Fall zur Heilung.
Schliesslich kam eine chronische Mittelohreiterung mit grosser
Peiforation zur Behandlung, die während der Behandlung eine heftige
akute Steigerung mit Beteiligung des Warzenteiles infolge eines
starken Nasenkatarrhs erfuhr. Im profusen Ohr- und Nasensekret
fand sich der Micrococcus catarrhalis Pfeiffer, ein bis jetzt im Ohr
noch nie gesehener Mikroorganismus. Die Stauungsbinde brachte
wohl die Schmerzen und die Absonderung zum Stillstand, nicht aber
die Mastoiditis. Diese ging auf Inzision ohne Anlegung einer Knochen¬
fistel, aber mit Aufsetzen des Saugnapfes schnell zurück und war mit
Heilung der Inzision nach 2 I agen wieder geheilt. Nunmehr bestand
wieder der schon vor der Exazerbation vorhandene Befund. Die
\\ arzenfoi tsatzkomplikation ist abgeheilt, nicht aber die chronische
Ohreiterung.
Uebersehen wir nochmals die 23 Fälle akuter Mittelohr¬
prozesse, um ein Bild von der Wirkung der Stauungsbehand¬
lung zu bekommen, so finden wir, selbst wenn wir die beiden
ersten Fälle leichter Mittelohrentzündung wegnehmen, weil
diese auch ohne Behandlung eventuell zurückgegangen wären,
dass von 14 Fällen starker Mittelohrentzündung teilweiser
hämoi i hagischer Form allein 5 Fälle lediglich unter der Stau¬
ungsbehandlung vollkommen abheilten. In diesen Fällen hätte
ich ohne die Stauung selbst keine Ohrbäder mehr gemacht,
sondern sofort parazentesiert. Der Rückgang der entzünd¬
lichen Erscheinungen und die Resorption des Exsudats im
Mittelohr gingen auffallend rasch vor sich.
In den übrigen 9 Fällen musste die Parazentese der Stau¬
ungsbehandlung, wie es K e p p 1 e r verlangt, vorausgeschickt
werden und gelangten auf diese Weise noch 5 Fälle sehr schnell
zur Heilung, ebenso 3 Fälle unkomplizierter Mittelohreiterung.
3 Fälle gelangten zur Operation, doch bin ich nicht be¬
rechtigt, diese beiden Fälle als einen Misserfolg der Stauungs¬
behandlung anzurechnen. Im Anfang meiner Versuche stand
ich noch zu sehr im Banne der bis jetzt üblichen Behandlungs¬
methode, die mich in der Befürchtung durch längeres Zögern
den richtigen Moment zur Operation zu verpassen, voreilig
zum Messer greifen liess.
3 spätere Fälle, die mit der Stenger sehen Saugstauung
rasch und glatt geheilt wurden, lehrten mich, dass ich zu
voreilig war und mit der gleichen Behandlung vielleicht rascher
zum Ziele gelangt wäre. Denn die Stenger sehe Methode
bedeutet gegenüber der bisher üblichen ausgiebigen Ausräu¬
mung des Warzenfortsatzes einen erheblichen Fortschritt in
der Behandlung der Warzenfortsatzkomplikationen. Wohl
fällt das Fieber nur lytisch ab, nicht wie bei der unkompli¬
zierten Aufmeisselung kritisch, dafür aber wird kein nennens¬
werter Defekt im Knochen gesetzt, die Heilung geht also viel
rascher und ohne eine besondere Narbe zu hinterlassen vor
sich. Allein unangenehm an der Saugstauung ist nur die
Schmerzhaftigkeit in den ersten Tagen, die durch das Auf¬
setzen der Saugnäpfe auftritt, nach Abnehmen derselben aber
wird ein sofortiges Gefühl der Erleichterung angegeben.
Bei Ausführung der Stauungshyperämie und Saugstauung
hielt ich mich strikte an die von K e p p 1 e r und Stenger
geschilderte Methode. Die Stauungsbinden aus schwarzem
Gummi mit Oesen und Druckknopf verloren jedoch sehr bald
ihre Elastizität und wurden unbrauchbar. Nach längeren Ver¬
suchen gelang es mir dann, eine allen Anforderungen ent¬
sprechende Binde aus gewebtem Gummiband herzustellen mit
einer einfachen Schnalle und einem Leinenband als leicht ver¬
stellbarem Verschluss. Nicht nur dass diese Binden sich gleich-
mässiger um den Hals legten und dadurch eine verlässige Stau¬
ung sicherten, es war auch eine Unterpolsterung gegen Druck-
usuren und Schnürfurchen unnötig.
Die Stauung wurde durchweg von allen Patienten gut ver-
tragen, machte nur am ersten Tag einiges aber nicht nennens¬
wertes unangenehmes Gefühl und das nur bei einigen ängst¬
lichen Patienten. Diese klagten über etwas Beklemmung und
Angstgefühl, am zweiten Tag fühlten sie sich jedoch vollkom¬
men wohl. Nur ein Patient klagte einen Tag lang über Kopf¬
schmerzen, 2 sprachen solange die Binde umlag heiser, und
1 Patient sprach die ersten 2 Tage mit etwas nasalem Beiklang.
Bei dem einen Mann zeigten die Stimmbänder eine leichte Röte
und das Bild der Transversusparese, dem anderen schwollen
die falschen Stimmbänder etwas an und waren gerötet, im
3. Fall endlich waren die Nasenmuscheln etwas gequollen.
Nach Tieferlegen der Binde unterhalb des Kehlkopfes waren
diese Erscheinungen bald beseitigt. Druckusur der Haut trotz
Unterpolsterung sah ich nur einmal, solange ich die Gummi¬
binden noch in Gebrauch hatte, seit Verwendung der Binden
aus gewebtem Gummiband nie mehr.
Die Dauer der Stauung betrug nach K e p p 1 e r s Vorschrift
täglich 22 Stunden, in der Pause wurde die Haut des Halses
mit Kampherspiritus abgewaschen. Je nach den Fortschritten
des Krankheitsverlaufes wurde die Stauung allmählich immer
mehr abgekürzt, aber nach Ablauf der Entzündungserschei¬
nungen immer noch einige Tage getragen.
In fast allen Fällen kann ich die prompte schmerzlindernde
Wirkung der Stauung bestätigen, die Patienten verlangten
sogar vor Ablauf der Pausen nach der Binde, weil sich in der
Pause Schmerzen einstellten. Nur in einem Falle zeigte sich
gar keine Linderung. In einigen Fällen war auch eine gewisse
Verschleierung des Prozesses zu bemerken, indem eine schein¬
bare Heilung vorgetäuscht wurde, nach Weglassen der Binde
entfachte sich jedoch der Entzündungsprozess von Neuem.
Vielleicht auch nahm ich die Binde zu früh ab.
Am unangenehmsten empfand ich die verhältnismässig
häufigen Gehörgangsentzündungen, für deren Zustandekommen
ich keine Erklärung habe. Nach K e p p 1 e r s Vorschrift wurde
der Gehörgang genau wie bei der weit verbreiteten Trocken¬
behandlung der akuten Mittelohreiterung behandelt, wobei ein
derart gehäuftes Auftreten von Gehörgangs entzündungen nicht
bekannt ist, auch bei der Behandlung mit Spülungen, besonders
bei den chronischen Eiterungen, wird die Gehörgangsentzün¬
dung fast nie gesehen. Ich selbst behandle die akute Mittel¬
ohreiterung stets trocken und habe nie Gehörgangsentzün¬
dungen erlebt. Es muss also wohl die Stauungshyperämie die
Ursache sein, der gegenüber sich die Gehörgangsentzündung
auch sehr hartnäckig verhält.
Die Ohreiterung war in den ersten Tagen nach der Stauung
vermehrt, versiegte dann allmählich und nahm rasch ab. Im
21. August 1906.
Durchschnitt heilt der Prozess in kürzerer Zeit ab, wie bei der
akuten Mittelohreiterung bisher bekannt war.
Die ausgezeichneten Erfolge der S t e n g e r sehen Saug¬
behandlung, an dessen Vorschrift ich mich genau hielt, kann
ich nur vollauf bestätigen. Sie bedeutet eine wesentliche Ab¬
kürzung der Behandlung, weil die lange Nachbehandlung weg¬
fällt und der Ohrprozess ohne die oft entstellende Narbe und
ohne Defekt im Warzenfortsatz ausheilt, was für unsere mili¬
tärischen Verhältnisse von Bedeutung ist, denn die Zahl der
Dienstuntauglichen wird dadurch verringert.
Nach meinen Erfahrungen muss also die Behandlung der
Ohreiterungen mit der Stauung als ein bedeutender Fortschritt
erklärt werden. Wenn sie auch kein Allheilmittel für sämt¬
liche Eiterprozesse des Ohres ist, so muss man doch die
Erfolge die bei der akuten Otitis media non perforativa und
bei den Warzenfortsatzeiterungen unstreitig erzielt wurden,
selbst wenn in dem einen oder anderen Fall einmal die Stau¬
ung versagen sollte, freudigst begrüssen. Ein abschliessendes
Urteil lässt sich freilich bis jetzt noch nicht aussprechen, dafür
ist die Zahl der bis jetzt bekannten Fälle noch viel zu gering.
Nachtrag bei der Korrektur!
Während Drucklegung der Arbeit erschien ein weiterer
Bericht von Fleischmann aus der Klinik von Politzer,
der wieder weniger günstig lautet. Von 9 unkomplizierten
Mittelohreiterungen wurden 6 geheilt, die übrigen 3 r alle
blieben unbeeinflusst, heilten aber nach der bisher ublic len
Therapie. Er sah keine Abkürzung der Heilungsdauer, die
Stauungsbehandlung ergibt nach ihm also keine bess(^n
sultate Von 12 akuten Mastoiditiden kamen 5 zur Heilung,
die 7 anderen Fälle gelangten zur Operation, weil der Zustand
sich verschlimmerte, dafür war der Eingriff grosser, die Nach¬
behandlung länger. In 7 Fällen bestand bei Begmn der S au-
ungsbehandlung keine Indikation zur Aufmeisselung, solche
Mastoiditiden gehen auch bei der bisherigen konservativen
Therapie zurück. In 2 Fällen gibt er dem Zuwarten bei der
Stauungsbehandlung Schuld an der Ausbreitung des Krank¬
heitsprozesses, so dass er den geeigneten Moment zum Ein¬
griff nahezu versäumte. 2 chronische Mittelohreiterungen un
2 Perichondritiden blieben unbeeinflusst. 7 Falle von 12 ge¬
langten also zur Operation, trotzdem genau nach Kepplers
Vorschrift verfahren wurde, im Gegenteil wurde durch das ; Zu¬
warten das Weiterschreiten der Krankheit begünstigt,
Fleischmann hält deshalb die Stauungshyperamie au
unserem Gebiet für bedenklich, weil der richtige Moment zun
Eingriff versäumt würde; sie nimmt die Akuität des Krankhei s-
bildes macht aus der manifesten eine latente Form und ver¬
lockt uns zu einer für den Patienten eventuell verhängnisvollen
Zögerung Eine günstige Beeinflussung der Mastoiditiden gibt
aber auch er zu. Stengers Methode hat F 1 e l s c h m an n
nicht nachgeprüft, findet sie gleichwohl zu kompliziert, das
Auffinden des Antrums erschwert, die Narkose nicht erspart,
die Nachbehandlung unangenehm 0 b F 1 e i s c h m a n n z
seiner ungünstigen Beurteilung der Stauungsbehandl dichte
Grund seiner wenig günstigen Erfolge berechtigt ist, moc
Rh sehr bezweifeln, weil er in seinen Fällen, was nie gediehen
dürfte die Stauung ambulatorisch vornahm, also eine Kontrolle
über eine richtig durchgeführte Stauung gar nicht ausuben
konnte. Wie unbehaglich ihm zu Mut gewesen sein mag, geht
aus seinen Worten hervor, dass eine Kopfstauung ohne ständige
ärztliche Kontrolle immerhin gewisse Besorgnisse einflosst, er
kommt also zu einem ähnlichen Schluss wie H e i n e und ich
selbst Ausserdem bekam er die meisten seiner ungünstig be¬
wussten Fälle erst nach ca. 1 monatlicher Dauer der • Eiterung
zur Stauungsbehandlung, einer Zeit also, in der der Kraul
Prozess schon sehr weit fortgeschritten sein konnte.
Ein Fall von Abortus per rectum mit günstigem
Ausgang.
Von Dr. K. Martin in Velden.
Da in letzter Zeit der Extrauteringravidität, ihren Sym-
ptomen, ihrem Verlaufe und .hrer Therapie ein erhöhtes Inter¬
esse zugewandt wird, möchte ich nicht versäumen, einen K
zu veröffentlichen, den ich vor einigen Jahren zu beobachten
Gelegenheit hatte. Soviel ich die Literatur über deiaitige Fäl q
einsehen konnte, steht er zwar nicht vereinzelt da, hat aber
doch einige Besonderheiten, die unter Umständen fiii Diagnose
und Therapie von Bedeutung werden könnten.
Am 20. Dezember 1903 wurde ich über Land zu dei Frau des
Dorfhirten H. gerufen. Die Frau lag zu Bett und klagte über Be¬
schwerden in der Ileocoekalgegend, die seit 8 Tagen aufgeti eten
wären und sich stetig gesteigert hätten, ohne von besonderer ne lg-
keit zu sein. Die Frau war mässig gut genährt, von derber Mus¬
kulatur und kräftigem Knochenbau, 32 Jahre alt. Sie hatte 4 mal ohne
jede Störung geboren, war jetzt wieder gravid und hatte bis eben vor
8 Tagen trotz schwerer Arbeit keinerlei Beschwerden gehabt. Die
Untersuchung ergab eine mässige 1 emperatursteigeiung (Notiz da¬
rüber fehlt); der Uterus ist vergrössert und reicht bis über die
Mitte des Nabelsymphysenabstandes, eine Vergrößerung, die also
mindestens dem 5. Schwangerschaftsmonat entspncnt. Neben der
rechten Spin, iliac. sup. fühlt man bei vorsichtiger Palpation in der
Tiefe einen etwa faustgrossen, von der Umgebung nicht deutlich ab¬
zugrenzenden Tumor von teigischer Konsistenz. Die ganze hegend
ist druckempfindlich, jedoch durchaus nicht in besondeiem Masse.
Nach diesem Befund glaubte ich nicht fehl zu gehen mit der An¬
nahme einer Perityphlitis. Ich richtete auch meine Massnahmen und
Verordnungen darnach ein. Da in der hiesigen, sehr wenig wohl¬
habenden Gegend häufige Besuche nicht üblich sind, bestelle ich den
Mann zur Benachrichtigung auf den 2. Tag. Er kommt und teilt
mit dass ich nicht mehr nachzusehen brauche, da es seiner Frau be¬
deutend besser gehe. Ich war natürlich sehr erstaunt über diese
rasche Besserung, die ich meiner Iherapie doch gewiss nicht zu¬
schreiben durfte. Erst am 30. Dezember werde ich wieder gerufen
und zwar nicht wegen der „Blinddarmentzündung“, sondern zum
Katheterisieren, weil die Frau seit 24 Stunden nicht mehr urimeit
hat Ich katheterisiere also, finde den lumor noch, die Gegend
noch druckempfindlich, die Temperatur 38,2 und schimpfe Die Frau
war inzwischen wieder einige Tage ihrer Hausarbeit nachgegangen.
Ich mache also gebührenderweise auf die Gefahren dei Blind¬
darmentzündung aufmerksam und erkläre, jetzt selbst die ^wendig-
keit meiner Besuche bestimmen zu wollen. „Therapie . üp um pur.
in Pulverform und sehr mässigen Dosen, Kataplasmen, Regelung der
Diät. Am nächsten Tag ist das Fieber etwas gestiegen, 38,8 am
Abend, die Blasenstörung nicht wiedergekehrt.
Am 1. Januar 1904 werde ich frühzeitig gerufen wegen stärkerer
Schmerzen in der Blinddarmgegend. Die Frau sieht sehr bleich und
eingefallen aus, der Puls ist jagend, nur wenig fühlbar, die lem-
peratur subnormal. Die Tumorgegend ist exzessiv druckempfindlich,
der Tumor noch zu fühlen. Ich denke natürlich an Darmruptur, kann
mir aber das Fortbestehen des Tumors, der sich doch dann entleert
haben müsste, nicht gut erklären. Eisblase Eismilch. Am nächsten
Tage wird mir sofort berichtet, dass eine Menge dunklen Blutes mit
dem Stuhlgang entleert worden sei; ich konnte es nicht mehl zu
Gesicht bekommen. Die Frau ist sehr schwach der Puis aber etwas
besser die Temperatur 39. Der Tumor ist nicht mehr zu fühlen. Die
Frau klagt über Druck auf den Darm zu. Ich nehme an, dass der
Eiter sich oberhalb des Sphinkters angesammelt und zu Entzündung
Veranlassung gegeben habe. Ich verordne also kalte Sodaklystiere.
Dem Mann erkläre ich natürlich, dass bei dem vorliegenden Darm-
Hnrrhhruch eine Hoffnung auf Wiederherstellung ausgeschlossen sei.
Durch Sudwe“ verSfe ich „och die Herztätigkeit über Wasser
zu halten und durch ständige Eisblase auf den Leib die Peritonitis
vielleicht etwas milder zu gestalten.
Am 3 Januar ist die Patientin zwar noch recht schwach, aber
zu meinem Erstaunen nicht merkbar verschlechtert. Der Leib ist
überall jedoch nur wenig druckempfindlich. Die Schmerzen und das
Druckgefühl auf das Rektum zu sind sehr heftig geworden. Da
die anwesende Amme erklärt, dass die Klystiere durchaus nicht be¬
halten würden, untersuche ich per rektum und fühle einen rundlichen
Ballen von grosser Härte. Ich freue mich in ihm wohl den ver¬
härteten Kotballen vor mir zu haben, der die ganze Sache ver¬
schuldet hat. Versuche ihn herauszubefördern sind jedoch vergeblich.
Ich verordne also Oelklystiere und gebe strenge Weisung, mir den
den glücklich erfolgten Stuhl:
in grossen schwarzen Blutgerinnseln finde ich zu meinem begreif¬
lichen Erstaunen zunächst den vermeintlichen Kotballen als Schad -
knorpel und daran den ganz in die Länge gezogenen Körper eines
ca 5 monatlichen Fötus mit Nabelschnur und Plazenta!
' Die Frau befindet sich verhältnismässig wohl, Temperatur 37,5
am Nachmittag. Der Leib ist nicht mehr druckempfindlich. Am
1? Januar schon mache ich meinen letzten Besuch und die Frau
verlässt am 15. bereits das Bett. Da ich noch immer an die Mög¬
lichkeit dachte dass der Uterus am Ende ebenfalls gravid sein konnte,
erkundige Rh itüch in gewissen Zeiträumen und erfahre, dass der
dicke Leib“ ohne irgendwelche Erscheinungen verschwunden sei.
Die Frau ist seitdem völlig gesund geblieben, hat insbesondere
keinerlei Darmstörungen bekommen und seitdem nicht mehr ko
ZiP'eWenn man diesen Verlauf der Ereignisse überblickt, war eine
Verwechslung mit Perityphlitis noch der ganzen Lage der D g
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
1660
den weniger Erfahrenen leicht möglich. Man kann aus dem vor¬
liegenden Fall erkennen, wie wenig charakteristisch die Erscheinungen
einer Extrauteringravidität sogar schon in vorgerückterem Stadium
sein können und wie man diese Möglichkeit sich insbesondere in
allen denjenigen Fällen von „Blinddarmentzündung“ bei Frauen vor
Augen halten muss, die ohne beträchtliche Temperaturerhöhung ver¬
laufen.
In unserm Fall betrug ja die höchste beobachtete Temperatur
39°. Sind niedrige Temperaturen auch nicht gerade selten bei Perity¬
phlitis, so dürfte doch in Fällen mit derartigem Tumor die Temperatur
in der Mehrzahl der Fälle 39 überschreiten. Die niedrige Tem¬
peratur könnte also in zweifelhaften Fällen einen gewissen Finger¬
zeig geben.
Freilich ist stets grosse Vorsicht bei der Beurteilung aller Er¬
krankungen in der rechten Ileocoekalgegend notwendig, da ja bekannt¬
lich rechtsseitige Salpingitis oder Oophoritis ebenfalls leicht an die
Entzündung einer etwas verlagerten Appendix denken lassen können,
zumal es weiterhin im Anschluss an die genannten Leiden nicht selten
zu einer sekundären Perityphlitis kommt.
Will man also in diesen komplizierten Verhältnissen sich nicht
grossen Irrtümern aussetzen, so muss man stets durch kombinierte
Untersuchung die verschiedenen Möglichkeiten auszuschliessen ver¬
suchen.
Suchen wir uns jedoch die tatsächlichen Verhältnisse epikritisch
klar zu machen, so handelt es sich zweifellos um eine rechtsseitige
Abdominalgravidität, deren ursprüngliche Insertionsstelle sich nicht
genau feststellen lässt. Der Kopf des Fötus muss in der nächsten
Nachbarschaft des Blinddarms gelegen und einen Druck auf die Wand
des letzteren ausgeübt haben. Dieser Druck führte wohl zu Er¬
nährungsstörungen in der Darmwand, sodass Darmbakterien in die¬
selbe einwandern und die lokale Nekrose verursachen konnten, die
schliesslich dem Kopf des Fötus den Durchtritt frei machte. Wahr¬
scheinlich handelte es sich bei der bakteriellen Einwirkung lediglich
um B. coli, da sonst die Fieberbewegungen wohl stärker gewesen
wären. Der Durchbruch erfolgte jedenfalls bereits am 1. Januar;
die Durchbruchstelle kann nicht klein gewesen sein, da der 5 monat¬
liche Fötus samt der Nachgeburt anstandslos hindurchtreten konnte.
Um so merkwürdiger sind der rasche und vollständige Verschluss
der Perforationsöffnung und die gewiss geringfügigen Folgen des
ganzen Vorgangs. Der Fötus brauchte dann zur vollständigen Durch¬
wanderung des Kolons noch einen und zur schliesslichen „Geburt“
per rektum noch einen zweiten Tag.
Es ist vielleicht gestattet noch hervorzuheben, dass im vorliegen¬
den Fall der Uterus das Wachstum bis zur Grösse eines im 5. Monat
graviden fortgesetzt hat. Ich betone dies deshalb, weil ich in Lehr¬
büchern die Angabe fand, dass bei Extrauteringravidität der Uterus
„selbst die Grösse eines im 4. Monat schwangeren erreichen kann.“
Es dürfte also interessant sein, festzustellen, dass der Uterus noch
über den 4. Monat hinaus sein Wachstum fortsetzen kann.
Ein Sedimentierungsverfahren des Auswurfs mit
Wasserstoffsuperoxyd.
Von Oberarzt Dr. Sachs-Müke.
Der häufig negative Ausfall der Untersuchung eines ein¬
fachen Ausstrichpräparates auf Tuberkelbazillen bei unzweifel¬
haften Fällen von Lungenschwindsucht hat zwecks Stellung
der so überaus wichtigen Frühdiagnose zu den Sedimentie-
rungs- und Anreicherungsverfahren geführt, ihnen jedoch in
der allgemeinen Praxis nicht zu der wünschenswerten Ver¬
breitung und Anerkennung verholten. Dies liegt teils in der für
den praktischen Arzt mehr oder weniger grossen Umständlich¬
keit ihrer Anwendung, teils auch, sofern es sich um eine Unter¬
suchung in einer bakteriologischen Zentralstelle handelt, in
der Empfehlung, möglichst frisches Material frisch zu unter¬
suchen, weil sonst durch Wucherung schnell wachsender Arten
das Bild total verändert werden kann. *) Sowohl aus diesem
Grunde als auch wegen der bestehenden Infektionsgefahr war
bis jetzt die einwandfreie Untersuchung der gesamten Tages¬
menge des Auswurfs ausgeschlossen. Eine solche einwand¬
freie Untersuchung wird gewährleistet durch das nachbezeich-
nete Verfahren, das ich im Garnisonslazarett zu Magdeburg
mit bestem Erfolge angewandt habe. Fügt man zu einem
Auswurf Wasserstoffsuperoxyd hinzu, so entwickelt sich als¬
bald unter stürmischem, zum Teil explosionsartigem Auf¬
brausen Wasser und Sauerstoff. Bei diesem Vorgänge werden
die Zellen zerrissen und sämtliche etwa vorhandenen Tuberkel¬
bazillen beweglich gemacht. Durch kräftiges Umrühren mit
0 Czaplewski: Die bakteriologische Untersuchung des
Sputums. In E u 1 e n b u r g, K o 1 1 e, Weintraud: Lehrbuch der
klinischen Untersuchungsmethoden, Bd. I, S. 389.
0 Anweisung zur Bekämpfung der Pest. Amtliche Ausgabe.
Berlin. Verlag von Julius Springer.
einem Glasstabe bringt man das Wasserstoffsuperoxyd in
ausreichende Berührung mit allen Teilen des Auswurfs. Auch
die zähesten Ballen werden auf diese Weise — gegebenenfalls
unter weiterem Zusatz von Wasserstoffsuperoxyd — mühelos
aufgelöst.
In dem so gewonnenen Sediment, das eine fast völlig
gleichmässige, nur mit wenigen Zellkernen versehene Masse
bildet, lassen sich vorhandene Tuberkelbazillen leicht nach-
weisen. Bei reichlichem Vorhandensein derselben gelingt es,
sie unmittelbar in dem aufsteigenden Sauerstoffschaum zu
finden. Bekanntlich ist die Desinfektion der eiterigen Aus-
wurfballen infolge der Gerinnung des Eiweisses, die dem des¬
infizierenden Mittel den Zugang zu dem Inneren des Ballens
verwehrt, ungenügend. Ist der Auswurf aber durch Wasser¬
stoffsuperoxyd gleichmässig aufgelöst, so kann das Desinfiziens
an alle Bestandteile und auch an die freigewordenen Tuberkel¬
bazillen in ausreichender Weise herantreten.
Da Sublimat und Wasserstoffsuperoxyd keine chemische
Verbindung miteinander eingehen, so liegt es nahe, sie von
vornherein in einer Mischung von etwa gleichen Teilen in die
Speigläser zu füllen. Der in diese entleerte Auswurf wird
sofort von dem Wasserstoffsuperoxyd aufgelöst, wodurch es
dem Sublimat erst möglich wird, seine volle Wirksamkeit zu
entfalten. Die in den aufsteigenden Sauerstoffblasen ent¬
haltenen Bakterien werden, wie verschiedene Versuche ge¬
zeigt haben, durch das Wasserstoffsuperoxyd zwar bereits in
ihrer Entwicklung gehemmt, können aber durch kurzes Um¬
rühren mit einem am Speiglasdeckel befestigten Holzstabe
ebenfalls mit dem Sublimat in Berührung gebracht und ab¬
getötet werden. Da bei dieser einfachen und völlig aus¬
reichenden Desinfektion auch den gesetzlichen Bestimmungen
betreffs Untersuchung ansteckenden Materials genügt wird,
und die Färbbarkeit der Tuberkelbazillen weder durch Wasser¬
stoffsuperoxyd noch durch eine 1 prom. Sublimatlösung leidet,
so steht der Untersuchung der ganzen Tagesmenge des Aus¬
wurfs nichts mehr im Wege.
Die auf oben beschriebene Weise erhaltene 24stündige
Auswurfsmenge sedimentiert sich rasch und ist dreischichtig.
Zu oberst befindet sich eine aus Sauerstoff bestehende Schaum¬
schicht, dann kommt Flüssigkeit und zu unterst die schwere,
gleichmässige Masse der zerrissenen oder gänzlich aufgelösten
Auswurfsbestandteile. Oft ist die Sedimentierung bereits in
dem Auffangeglas vor sich gegangen, sodass ohne weitere Ver¬
arbeitung untersucht werden kann.
Die angegebene Methode, bei der man weder zu kochen,
noch zu neutralisieren braucht, gestattet bei ihrer Einfachheit
sowohl die sofortige, gründliche Untersuchung des gesamten
zur Verfügung stehenden, frischen Materials, als auch aus den
oben erörterten Gründen einwandsfrei diejenigen der ganzen
I agesmenge. Gerade hierin ist ihr Vorzug zu erblicken.
Auch Herr Dr. Gerber hat mit der Methode auf der
unter Leitung des Herrn Oberarztes Dr. Schreiber stehen¬
den Abteilung des Krankenhauses Magdeburg-Altstadt recht
befriedigende Ergebnisse erzielt.
Aus der chirurgischen Abteilung des Spitals der barmherzigen
Brüder in Graz (Primararzt Dr. Ludwig Luk sch)/
Ein neues Instrumentarium für Lumbalanästhesie.
Von Dr. Benno R. v. A r 1 1, Sekundärarzt.
Die von Bier 1899 angegebene Lumbalanästhesie hat ihren
dauernden Platz in der Reihe der Anästhesierungsmethoden erobert.
Sie ergibt aber bisher weder gleichmässige, noch von üblen Neben¬
wirkungen freie Erfolge. '
Diese Schattenseiten der Methodik sind einerseits begründet in
der Art des Anästhetikums, andererseits in der Technik der Aus¬
führung.
Auf eine Erörterung über den Wert oder Unwert des einen oder
anderen Anästhetikums soll hier nicht eingegangen werden. Ich
bemerke dazu nur, dass wir bisher im Vergleich der Statistiken über
andere Anästhetika (Stovain, Kokain mit Adrenalin u. a.) keinen
Grund fanden, von dem von Schwarz in Agram zuerst empfohlenen
Tropakokain abzugehen.
Ausführlich soll im folgenden nur von der Technik gesprochen
werden. Dieselbe wird von den einzelnen Operateuren in sehr ver¬
schiedener Weise geübt, ohne dass man aus den differenten Angaben
ein einheitliches Prinzip erkennen könnte.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1661
Die Technik der Injektion muss vor allem ein absolut sicher
keimfreies Arbeiten gewährleisten, ferner soll der verwendete Apparat
jederzeit gebrauchsfertig und auch transportabel sein.
Ein diesen Anforderungen streng entsprechendes Instrumen¬
tarium ist meinem Wissen nach bisher nicht bekannt geworden und
erlaube ich mir deshalb, das näher zu beschreibende Instrumentarium
für Lumbalanästhesierung bekannt zugeben und der Nachprüfung zu
empfehlen.
Beschreibung des Instrumentariums:
In einer gut verschliessbaren Nickelkassette befinden sich in
federnden Klammern gehalten zehn Phiolen. Fig. III. Dieselben
sind aus Glas geblasen und bestehen aus einem zylindrischen 1 eile c,
zur Aufnahme des Tropakokains bestimmt, einem konischen, ge¬
bogenen Ansatzteil, der mit einer mattgeschliffenen Spitze d endigt.
Darauf passt ein Metalldeckel e. Am anderen Ende ist durch eine
Verjüngung des Rohres eine Hohlkugel b abgegrenzt, welche in ein
trichterförmiges Mundstück a übergeht. Die Phiole passt an die mit
Hahn versehene Nadel Fig. II a mit Mandrin b. Die Nadel ist 10 cm
lang mit Zentimetermarken versehen. Der Schliff der Spitze ist
kurz und hohl (D ö n i t z). An das konische Mundstück Fig. III a
passt das konische Ansatzröhrchen des Ballons Fig. IV. Fig. I zeigt
die zur Inejktion zusammengefügte Spritze, bestehend aus Hohlnadel,
Phiole und Gummiballon Fig. II a, III a, b, c, d, IV.
Gebrauchsanweisung: . . , ., A ,,
1. Füllung des Apparates. In die gut gereinigten, mit Aether-
alkohol durchgespülten und im Trockenschrank getrockneten Phiolen,
auf deren Spitze Fig. III d der Deckel e gesetzt ist, fülle man vom
Mundstück a aus 7 (5) Zentigramme Tropakokain (^zw. ein anderes
Anästhetikum). Die Hohlkugel Fig. III b wird mit Watte leicht aus¬
gestopft. Die so beschickten Phiolen werden in die Klammern der
KaSS2ttSte?iliesierang: Diese soll in einem guten Thermostaten bei
120° C. durch 30 bis 60 Minuten geschehen. .
Die Injektionsnadel wird mit den zur betreffenden Operation
benötigten Instrumenten ausgekocht. Ebenso der Gummiballon.
3. Technik der Lumbalanästhesie bei Anwendung meines In-
Patient mit gebeugtem Rücken sitzend oder liegend. Desinfek¬
tion der Haut. Anästhesierung der Punktionsstelle — knaPf neben
oder in der Mittellinie zwischen 2.-3., 3.-4. oder auch 1.— 2. Lencjen'
Wirbel. Vs bis V». cm lange Inzision. Dann führe man die Lumbal¬
punktion aus. Die Nadel wird bis zum 4. bis 3. Teilstrich einge-
schoben. Entfernung des Mandrins. Sobald man an dem Ausfliessen
des Liquor cerebrospinalis erkennt, dass die Nadel im Duralsack ein
gedrungen ist, schliesse man den Hahn. Der Operateur oder Instru-
mentarius entnimmt nun der geöffneten Kassette eine Phio e, konz -
triert durch leichtes Klopfen das etwa an der Wand verstreut an¬
haftende Pulver gegen den konischen Ansatzteil und setzt nach
fernung des Metalldeckels die Phiole an die Nadel an und öffnet
Je" DasVopakokain löst sich nun sehr rasch in dem eindringenden
Liquor cerebrospinalis, was durch öfteres Oeffnen und I Schlüssen des
Hahnes und Hin- und Herneigen der Phiole noch beschleunigt werden
kann 3—4 ccm (d. i. halbe Füllung des zylindrischen Teiles Fig. III c)
genügen vollauf zur Lösung. Bei geringer Menge von Liquor braucht
die Lösung längere Zeit. Sobald genügend Flüssigkeit eingestromt
ist schliesse man den Hahn und warte, bis keine ungelösten Körnchen
des Tropakokains mehr vorhanden sind. Dann setze man den Gurnmi-
ballnn an _ wie Fig I zeigt — und offne den Hahn der Nadel. Durch
leichtes Zusammendrücken des Ballons injiziert man nun langsam d.e
Lösung die andere Hand am Hahne, um vor Abfluss dei letzten
Tropfen denselben schnell zu schliessen, wodurch leicht und sichei
das Eindringen von Luft in den Duralraum vermieden wird. Heiaus-
ziehen der Nadel. Pflasterverband. . . ,
Als besondere Vorteile des Instrumentariums hebe ich hervor .
1. Das verwendete Tropakokain wird in demselben Gefass, m
dem es sterilisiert und aufbewahrt wurde, gelöst, kommt daher mit
keinem anderen Körper in Berührung Dadurch wird die ; Keimfmheit
des Präparates gesichert, Schädigung desselben durch Hinzutreten von
Sodalösung u. dergl. vermieden und verhindert, dass von den Händen
oder Instrumenten Lysol- oder Sublimatlösung hineintropft.
2. Der Verlust an Liquor cerebrospinalis und Tropakokainlösung
ist fast null.
3. Sehr rasche und einfache Ausführung.
4. Ist die Möglichkeit geboten, ohne grosse Schwierigkeiten und
ohne Gefahr für die Asepsis die Lumbalinjektion auch aussei halb dei
Anstalt auszuführen.
5. Der Operateur kann die Anästhesierung ohne jede Assistenz
ausführen, da alles, was er in die Hand zu nehmen hat, steiilisieit
ist. Dabei ist vorausgesetzt, dass die Phiolen mit reinem Instrument
bezw. Hand herausgenommen und die Kassette geschlossen aut-
bewahrt wird.
Auf der chirurgischen Abteilung des Grazer Barmherzigen-
Spitales wurden bisher ca. 150 Lumbalinjektionen mit diesem Instru¬
mentarium ausgeführt. Ich will vorläufig nur berichten, dass wir mit
den Erfolgen in bezug auf Nebenwirkungen und Eintritt der
Anästhesie weitaus besser zufrieden waren, als vor Anwendung dieses
Apparates. Eine ausführliche Mitteilung über die Erfolge bei bisher
ungefähr 500 Lumbalanästhesien soll in nächster Zeit erscheinen. )
Ein Apparat zur schnellen und beinahe kostenlosen
Beschaffung von sterilem Verband- und Tamponade¬
material.
Von Dr. Alex Schmidt in Altona.
Der hier abgebildete speziell für den Landarzt erdachte kleine
Apparat ermöglicht es, überall, wo schnell steriles Verband- oder
Tamponadematerial notwendig ist, dieses in wenigen Minuten aus
irgend einer beliebigen Mullbinde herzifstellen. Das Instrument,
dessen Anwendungsweise aus beistehenden Abbildungen leicht er¬
sichtlich ist, ähnelt einem starken
und breiten Nussknacker, zwischen
dessen Branchen sich zur Auf¬
nahme und späteren Abrollung der
zu benutzenden Binden zwei je
nach der Breite der Binde ver¬
schiebbare Spitzen befinden. Diese
Spitzen bilden die Achse der auf¬
zunehmenden Mullbinde. Mit der
Binde ausgerüstet wird der ganze
Apparat vor der Oäeration oder
vor Beginn der Sprechstunde mit
den übrigen Instrumenten zusammen gekocht und die nasse Binde
ztlschen den sehr starken Branchen mit aller Kraft trocken gepresst.
Sind die Handgriffe noch sehr heiss, umwickelt man diese mit einem
Handtuch. Die durch das Kochen sterilisierte Binde kann dann direkt
vom Apparat abgerollt zur Tamponade (Uterus, Wundhohlen usw.)
benutzt werden, auch lässt sie sich sehr bequem in Stucke zer¬
schnitten, als steriles Tupfmaterial und als Krullgaze für die eiste
Lage bei der Bedeckung von Wunden gebrauchen.
Ganz besonders hat sich mir die Sache für den Sprechstunden¬
bedarf bewährt. Eine Binde vor Beginn der Sprechstunde gekocht
bleibt im Apparat und man schneidet sich von Fall zu Fall de
nötigen Bedarf davon ab. Die Instrumentenfirma Leonhard Schmidt
& Co., Hamburg, hat die Herstellung und den Vertrieb des Apparates
übernommen.
*) Der Apparat wird von der Firma Max K ahnemann in
Berlin hergestellt. Die Fabrik liefert denselben gebrauchsfertig
(sterilisiert). Die grösseren Anstalten werden sich zweckmassig me
Nachfüllung und Trockensterilisierung selbst besorgen — - wie es bei
uns bisher geschah — , für praktische Aerzte und Anstalten ohne ge¬
eignete Vorrichtungen kann dies auf Wunsch auch von der Fabuk
besorgt werden.
1662
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
Oie Prognose und Therapie der Cholelithiasis im
Lichte der Statistik und Erfahrung.
Von Medizinalrat Dr. Adolf Ritter in Karlsbad.
(Schluss.)
Was lehren nun die erwähnten 28 Fälle hinsichtlich der
Frage der Rezidive?
In 2 Fällen habe ich nach 4 bezw. 5 Jahren vollkommenes
Verschontsein von Beschwerden seit dem Tage der Operation
rühmen hören.
Diesen Fällen am nächsten stehen 2 weitere, welche vor
12, bezw. 14 Jahren operiert wurden und von denen der eine
nur in den ersten Jahren nach der Operation, wie ich annehme,
Verwachsungerscheinungen verspürte, der andere noch wäh¬
rend der Wundheilung einen heftigen Anfall erlitt und, nachdem
eine abermalige Oeffnung resultatlos geblieben war, seither
frei geblieben ist. Alle diese Fälle habe ich in der Zwischen¬
zeit öfter gesehen und mit negativem Ergebnisse untersucht.
Ueber das Wiederauftreten leichterer Beschwerden inner¬
halb 6, 10 und 12 Monaten nach der Operation wurde in
4 Fällen geklagt, ohne dass diese Beschwerden, wenigstens
in den 2 Fällen, welche ich seit 5 bezw. 6 Jahren beobachtete,
den Verdacht eines Rezidives rechtfertigen und neben dyspep¬
tischen Beschwerden eher Verwachsungen vermuten lassen.
Starke und lästige Erscheinungen, welche die Patienten
an den Zustand vor der Operation erinnerten, wurden in
4 Fällen innerhalb 1 — 2 Jahren nach der Operation gemeldet,
wovon ich 1 mit Bestimmtheit, 2 mit Wahrscheinlichkeit auf
Verwachsungen beziehe, während im 4. Falle, wo übrigens noch
während der Wundheilung ein Stein abging, die sehr klaren
und nüchternen Angaben kaum anders als mit wirklichen Stein¬
beschwerden in Verbindung zu bringen sind, vielleicht von
zurückgebliebenen Steinen.
Aehnliche Beschwerden zeigten sich in einem Falle, wo
eine Gallenfistel zurückgeblieben war, deren Abfluss nach
aussen zeitweise unterbrochen zu sein schien und wo die
Sekretstauung dann heftige Schmerzen bereitete.
,, Genau dieselben Anfälle wie früher“ war die Klage in den
Angaben von 7 Patienten, von welchen 3 noch während der
Wundheilung Steinabgang hatten und seither (15 Jahre) von
atypischen Beschwerden belästigt sind. Bei 3 anderen dieser
Fälle haben sich die Koliken A, 2 bezw. 4 Jahre nach der
Operation wieder eingestellt und seitdem zu wiederholten
Kuren in Karlsbad Veranlassung gegeben. Im letzten dieser
7 Fälle endlich ist nach einer erfolglosen Operation eine zweite
ausgeführt, bei dieser ein grosser Stein entfernt worden und
VA Jahre später ein ausgesprochener Gallensteinanfall der
früheren Art aufgetreten.
Anfälle mit Ikterus, Fieber und Schüttelfrösten sind auf¬
getreten und von mir zum Teil selbst beobachtet worden bei
6 Fällen. Von 4 derselben, welche innerhalb des 1. Jahres
nach der Operation von neuerlichen Beschwerden heimgesucht
wurden, starb 1 nach einer zweiten Operation, ein zweiter
unterzog sich ebenfalls einer nochmaligen Operation, die beiden
anderen unterliegen seit Jahren wechselndem Befinden. Bei
dem 5. und 6. Falle waren die Erscheinungen nach 7 jähriger
vollkommener Latenz plötzlich mit der alten Vehemenz wieder
aufgetreten.
Wenn nun alle die bisher besprochenen Fälle keineswegs
Beweise für die Rezidivbildung liefern, ja sogar den Gedanken
an eine solche teilweise ausschliessen, so scheint mir dennoch
ein Sträuben gegen die Annahme eines Rezidivs gerade in
den beiden letzterwähnten Fällen kaum verständlich. Oder
sollte wirklich die Vorstellung plausibler sein, dass ein bis zum
Momente der Operation manifester Gallensteinfall unvoll¬
ständig operiert, von da ab durch 7 Jahre vollkommen latent
geblieben und dann plötzlich wieder manifest geworden sein
soll? Ich halte die Annahme einer völlig gelungenen Opera¬
tion. und eines nach 7 Jahren in die Erscheinung getretenen
Rezidivs für die weitaus wahrscheinlichere.
In dieselbe Kategorie möchte ich einen Fall verweisen,
wo 3 Jahre nach der ersten Operation der erste neue Gallen-
steinamall einsetzte und nach vielfachen Wiederholungen im
8. Jahre zum Abgang eines grossen Steines führte.
Wer aber trotzdem an dem Vorkommen echter Rezidive
noch zweifeln sollte, den dürfte wohl der letzte noch anzu¬
führende Fall von seinen Zweifeln befreien. Es handelt sich um
eine junge Frau, bei welcher sich schon wenige Monate nach
der Operation neue Beschwerden einstellten und nach Ablauf
eines Jahres nach einem schweren Anfall ein bohnengrosser
Stein abging, der an einem kurzen Seidenfaden — einer von
der Operation herrührenden Ligatur — pendelte, welcher sich
mitten durch das Konkrement hindurchzog. Diesem Konkre¬
mente, das offenbar den Zystikus teilweise verlegt hatte, folgten
noch mehrere andere nach, darunter eines von der Grösse
einer Haselnuss.
Diese interessante Entstehungsart eines Steines deutet zu¬
gleich aber auch deren Abhängigkeit von der einer Operation
selbstredend unzugänglichen Qualität der Galle an, welche,
wo sie einmal vorhanden ist, offenbar mit jedem festen Punkte
vorlieb nimmt, um an ihn den Ueberschuss ihres schwerlös¬
lichen Materials anzulagern. Fast alle diese Patienten, von
denen soeben die Rede war, haben sich zur Kur dahier ge¬
stellt in der Angst vor Rezidiven oder in dem Glauben, von
solchen bereits befallen zu sein. Für sie alle und im Grunde
für uns alle ist es auch praktisch genommen ganz gleichgültig,
ob es sich hier um wahre Rezidive oder um zurückgebliebene
Steine oder anderweitige Folgezustände handelte, der Zweck
der Operation wurde jedenfalls nicht erreicht. Dennoch würde
ich in der Mehrzahl dieser Fälle, welche ich zum Teil schon
vor der Operation gekannt und leiden gesehen habe, auch heute
wiederum die Operation in Vorschlag bringen.
Angesichts solcher noch nicht abgeschlossener und nicht
durchaus befriedigender Resultate der operativen Therapie der
Cholelithiasis ist es jedenfalls begreiflich, dass auch Chirurgen
den Ergebnissen der konservativen Behandlung nachzugehen
und — wie Fink dies tat — aus der Beantwortung einer Um¬
frage an behandelte Patienten einen Einblick in die Erfolge
früher absolvierter Karlsbader Kuren zu gewinnen bemüht sind.
Wenn nun freilich einer solchen Art der Feststellung auch
keine ideale Beweiskraft zukommt und das Laienurteil des zu¬
mal aus der Ferne Gefragten dabei leicht zu unrichtigen An¬
gaben führt, so scheint mir dieser Weg, von dem auch Kehr
u. a. Gebrauch machen, doch noch der beste zu sein, um zu
einer annähernd richtigen Vorstellung über diese Dinge zu ge¬
langen. Fink kam auf diese Weise zu dem Schlüsse, dass in
ca. 80 Proz. seiner Fälle seit dem Gebrauche der Kur Latenz
der Gallensteinerscheinungen eingetreten sei und wenn ich den
Weg, der zu dieser Zahl geführt hat, als nicht ganz ideal be¬
zeichne, so geschieht es namentlich auch deshalb, weil nach
meiner eigenen Erfahrung der Prozentsatz der durch unsere
Kuren sowie durch konservative Behandlung überhaupt
latent oder wenigstens erträglich sich gestaltenden Fälle
ein noch höherer sein müsste. Eine Erklärung für
die weniger günstigen Erfahrungen F i n k s kann aller¬
dings darin gefunden werden, dass der Chirurg von
vornherein mehr schwerere Fälle in seiner Praxis vereinigt.
Der Umstand, dass die Beurteilung therapeutischer Effekte bei
der Cholelithiasis auf den unsicheren Begriff „Latenz“ ange¬
wiesen ist, welche über Nacht Lügen gestraft werden kann,
lässt gegen den Wert dieses Massstabes freilich allerlei Be¬
denken zu, aber daran krankt jede therapeutische Berechnung
bei dieser Krankheit, auch die chirurgische. Viel mehr noch
als der schwankende Begriff Latenz erschwert dem inneren
Mediziner die Verteidigung seiner Therapie der Mangel einer
unanfechtbaren Erklärung der Wirkungsweise seiner Mittel.
Dies gilt namentlich auch von den Karlsbader Quellen und
besonders für die dortigen Aerzte ist es eine bittere Entsagung,
auf das Argument der Cholagogen Wirkung seiner Thermen,
auf welches eine 200 jährige Empirie sowie auch neuere Be¬
obachtungen an Operierten mit Gallenfisteln immer wieder hin¬
weist, welches sie geradezu fordert, verzichten zu müssen und
sich sogar mit einer Erklärung abfinden zu sollen, die unter
Berufung auf das Tierexperiment gerade das Gegenteil einer
Cholagogen Wirkung voraussetzt. Wer freilich die Schwierig¬
keiten solcher Tierexperimente und einer richtigen Deutung
derselben kennt, wird sich in seiner Vorstellung von der Wir-
kungsweise unserer Kuren zurzeit noch kaum so gebunden
fühlen, dass er nicht von einer gründlichen Neubearbeitung
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZIN1SCEIE WOCHENSCHRIFT.
1663
dieser Frage einige Aufklärung erhoffen dürfte. Dieser Hoff¬
nung gebe auch ich mich hin auf Grund mehrjähriger tierexperi¬
menteller Studien über Salzwirkungen auf die Gallensekretion,
welche ich im physiologischen Institute zu München an der
Seite von Prof. Otto Frank anzustellen Gelegenheit hatte,
durch dessen Berufung nach Giessen die Arbeit eine vorüber¬
gehende Unterbrechung erfahren musste. So lange wir aber
einer sicheren Basis für die Beurteilung jener Salzwirkungen
entbehren, bietet immerhin die Tatsache einer offenkundigen,
mächtigen allgemeinen Schleimhautwirkung, bei welcher die
Rolle des Glaubersalzes bisher vielleicht unterschätzt wurde,
ausserdem aber die Möglichkeit einer günstigen Beeinflussung
begleitender Magendarmstörungen mittels der in Frage kom¬
menden Salze Grund genug, an der in langer und vorurteils¬
freier Erfahrung bewährten Anwendung derselben festzuhalten.
Deshalb hat auch jeder Versuch, in der Anwendungsweise
der Heilquellen von anderen Gesichtspunkten auszugehen als
den durch die Erfahrung gesicherten, etwas willkürliches an
sich. Wenn sich ein gewisses Reformbedürfnis gegen den
schablonenhaften Gebrauch der Trinkkuren wendet und hierin
einer mehr individualisierenden Behandlung das Wort redet,
ist gewiss nichts dagegen einzuwenden, wenn aber diese Be¬
strebungen lediglich dazu führen, an Stelle der alten Schablone
eine neue, unbegründete zu setzen oder wenn andererseits
das Individualisieren ein diagnostisches Zartgefühl verlangt,
welches nicht viele für sich beanspruchen- werden, dann
ist wohl kein allgemeiner Gewinn aus solchen Neue¬
rungen zu erwarten. Unter diese Gesichtspunkte
fallen meines Erachtens die Vorschläge von Fink und
Decker, welche auf Veränderungen in der Kurdauer und die
bei der Kur einzuhaltenden Trinkmengen hinauslaufen. Fink
will unter Einteilung der Krankheitsfälle in verschiedene objek¬
tiv getrennte Gruppen die Kurdauer der Hauptsache nach von
den durch die Kur erzielten und noch zu erzielenden objektiv
nachweisbaren Veränderungen an Leber, Gallenblase usw. ab¬
hängig machen und verlangt so im allgemeinen eine wesentliche
Verlängerung der Kurdauer, eventuell 2 malige Kuren im
Jahre. Ist es nun auch zweifellos richtig, dass sich
mit den Veränderungen im subjektiven Befinden wahrend
einer Kur auch materielle Veränderungen im Bereiche
der erkrankten Gallenwege vollziehen, so ist es doch gewiss
nicht minder richtig, dass eben diese Veränderungen dem gro¬
ben objektiven Nachweise in der Mehrzahl der Falle entzogen
bleiben und der vermeintliche Nachweis derselben sehr häutig
eine Täuschung ist; ganz abgesehen davon, dass selbst schwere
Formen der Cholelithiasis vielfach ohne jede objektiv nachweis¬
baren Veränderungen einhergehen. Die Geschichte dei An-
und Abschwellungen der Leber und der Gallenblase sowie des
Tastens von Steinen, von Verwachsungen und Narben wurde
sich in exakter Beleuchtung als eine Kette solcher Täuschungen
offenbaren. Ob eine Kur kürzer oder länger zu dauern hat,
darüber dürfte trotz aller technischen Fertigkeit im Untersuchen
mindestens ebensosehr das Allgemeinbefinden des Patienten wie
die tastende Hand des Arztes zu befragen sein, so berechtigt
auch ein Mahnruf gegenüber der Eile ist, mit welcher
solche Kuren heutzutage abgemacht werden wollen. Line
Verlängerung derselben über die in der Erfahrung zur Norm
gewordenen 4 Wochen hinaus oder gar zweimalige Kuren
im Jahre wie sie in den glücklicherweise seltenen schweren
Fällen am Platze sein mögen, würden übrigens in den meisten
Fällen schon an der Leistungsfähigkeit eines Durchschnitts¬
magens scheitern, welche mit einer ausgiebigen vierwochent-
lichen Trinkkur gewöhnlich erschöpft ist. Immerhin sollen
auch diese unsere Kurbestrebungen im Einklänge bleiben mit
der Vorstellung, dass sie gegen eine nach allgemeiner Ansicht
ungefährliche Krankheit gerichtet sind, deren Bekämpfung ge¬
wiss Opfer wert ist, aber doch keine Opfer, deren Unerträglich¬
keit und Unerschwinglichkeit schliesslich noch zur tuftigsten
Indikation für eine weitgehende operative Behandlungswelse
werden müsste
Auch dem Verlangen nach Verordnung grösserer Mengen
Mineralwassers bei den Kuren steht keine plausible Begrün¬
dung zur Seite. Es hat bekanntlich Zeiten gegeben, wo das
von Decker vorgeschlagene Durchschmttsmass von zirka
1 34 Liter pro Tag das Minimum der verordneten Tagesdosen
war; aus jenen Zeiten stammt der schlechte Ruf Karlsbads und
die üble Nachrede von der Gefährlichkeit seiner Quellen, die
heute noch in vielen Köpfen Misstrauen und Voi urteil ei zeugt.
Die heutige Trinkweise, welche sich aus der Erfahrung dei
letzten Dezennien herausgebildet hat, begnügt sich durch¬
schnittlich mit einer Tagesmenge von 600 100 ccm, also doch
etwas mehr als den von Decker beanstandeten „obligaten
3 Bechern“. Uebrigens könnte es uns ja gewiss gleichgültig
sein, beliebige Mengen von dem Ueberflusse zu veiordnen,
wenn dies wirklich und nachgewiesenermassen zum Wohle
unserer Patienten geschehen könnte und es mit der Menge des
Wassers allein getan wäre. Aber eine generelle .Verwendung
des Decker sehen Masses Hesse in erster Linie die Rück¬
sicht auf die Magen- und Darmstörungen ausser Auge, welche
in der Hälfte der Gallensteinfälle im Vordergründe der Behand¬
lung zu stehen haben und hinsichtlich der Menge und Tempera¬
tur des verabreichten Wassers jene individualisierenden Ab¬
stufungen verlangen, deren Durchführung gerade die ver¬
schieden temperierten Quellen Karlsbads so wesentlich erleich¬
tern. Ich möchte nicht unterlassen, bei dieser Gelegenheit auf
die auch in Aerztekreisen verbreitete, meiner Erfahrung nach
irrtümliche Anschauung hinzuweisen, als ob bei Gallenstein¬
kuren das Wasser unter allen Umständen so heiss als mög¬
lich getrunken werden müsse. In vielen, vielleicht der Mehi-
zahl der Fälle, scheint die beruhigende und dabei doch nicht
verstopfende Wirkung des Sprudels (58 0 R.) tatsächlich gegen¬
über den etwas kühleren Quellen in die Augen zu springen,
häufig aber kommt man zweifellos mit den letzteren weiter,
besonders bei erregbaren Patienten, in der heissen Jahreszeit
und besonders dann, wenn die heissen Quellen stopfen und so
vermutlich auch die Peristaltik der Gallenblase beeinträchtigen.
Geradezu bedenklich würde aber bei älteren Leuten mit nicht
ganz intaktem Gefässystem die Anwendung heisser Quellen in
den von Decker gewünschten Quantitäten sein.. Solche
Quantitäten schienen mir auch dann nicht ohne weiteres ge¬
boten, wenn man im Prinzip mit einer direkten Vermehrung
der Gallensekretion durch unsere Wässer rechnen könnte.
Denn indem ja das Wasser an sich die Gallensekretion un¬
beeinflusst lässt, könnte eine Vermehrung derselben doch wohl
nur das Resultat einer Drüsenreizung durch die Salze oder aber
rein osmotischer Vorgänge in der Leber sein. Im er steren
Falle bliebe es immerhin sehr fraglich, ob nicht milde Reize
zweckmässiger seien als starke, ob nicht kleinere Quantitäten
Wassers grösseren vorzuziehen seien; für den Fall aber, als
die Salze auf dem Wege einer Osmose die Sekretion der Galle
erhöhen sollten, müsste eine grössere Wassermenge eher hin¬
derlich wie fördernd werden. In diesem Falle müsste man,
theoretisch genommen, vielmehr daran denken, die gegenübei
hem Blute noch hypotonische Salzlösung des Karlsbader
Wassers (0,6 Proz.) durch mässige Erhöhung der Konzentra¬
tion, d. h. durch Zusatz von Karlsbader Salz unter entsprechen¬
der Berücksichtigung seines osmotischen Verhaltens zu einer
isotonischen (0,9 Proz.) zu steigern und auf diese Weise —
wie neuere Untersuchungen aus der Klinik von Kraus an¬
deuten — zugleich die Bedingungen für eine raschere Resorp¬
tion im Magen zu verbessern. So ist denn wirklich kein Grund
ersichtlich, von der Anwendungsweise, mittels deren sich
unsere Quellen das Vertrauen von Aerzten und Patienten ver¬
dient haben, abzuweichen, im Gegenteil muss davor gewarnt
werden, den Wert eines so geschätzten und verbreiteten Heil¬
mittels durch eine keineswegs allgemein erprobte Verordnungs¬
weise zu gefährden. Dies zu verhüten ist um so wichtiger, als
eine ganze Industrie eifrig bemüht ist, an Stelle der bewährten
alten unbewährte neue Mittel zu setzen oder vielmehr alte,
zum Teil verlassene Mittel eine Wiedergeburt feiern zu lassen,
deren schwierigster Akt allerdings in der Entdeckung eines
vielversprechenden, die ganze Wirkung verheissenden Namens
besteht. Mit Recht fordert Kehr unter speziellem Hinweise
auf das Chologen die Aerzte auf, solchen Industrieprodukten
ihre Unterstützung zu versagen, obwohl gerade das Chologen
eine geschickte Zusammenstellung von Mitteln sein soll (Podo-
phyllin, Kalomel), welche sich gewiss nicht ohne Grund in
der Gallensteintherapie besonders der nichtdeutschen medizini¬
schen Schulen eines fortgesetzten Vertrauens erfreuen. Soweit die
I Mitteilungen zahlreicher Patienten über die Erfolge der von
1664
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
ihnen versuchten Mittel ein Urteil zulassen, müsste ich wahr-
heitsgemäss dem Chologen den Vorrang unter den ver¬
schiedenen Mitteln zusprechen. Jedenfalls sind günstige Be¬
richte über das Chologen relativ häufiger als solche über Chole-
lysin, Eunatrol, Uricedin u. dergl., nur scheint mir gegenüber
der von der Ursprungsstätte des Mittels empfohlenen Dosierung
einige Vorsicht geboten.
Als ein würdiges Beispiel von Industrialisierung eines alt¬
bekannten Heilprinzips kann ich übrigens an dieser Stelle das
Uricedin mit einem gewissen Vorrechte deshalb anführen, weil
ich dasselbe gleichsam unter meinen Augen entstehen sah in
dem Momente, wo ich dem späteren Erzeuger desselben an
Stelle der ihm nicht bekömmlichen Natronwässer den Gebrauch
des aus Zitronensaft und doppeltkohlensaurem Natron zu be¬
reitenden zitronensauren Natriums empfohlen habe — "eine
kleine Indiskretion aus dem Sprechzimmer, welche nach
13 jährigem Schweigen wenigstens den Verdacht ehrgeiziger
oder gewinnsuchender Absichten von mir fernhalten wird.
Eine Anwendung des bekanntlich schon von W ö h 1 e r erkann¬
ten alkalisierenden Prinzips der fruchtsauren Salze wird
namentlich von englischen Aerzten seit langem geübt bei den
unter der Plagge „bilious“ und ,,gout“ segelnden Zuständen.
Von einer Uebertragung desselben an das Krankenbett der
Cholelithiasis habe ich keine nennenswerten Erfolge rühmen
hören, so unbestritten den fruchtsauren Salzen selbst unter
dem Pseudonym Uricedin ein Platz in der Behandlung der
harnsauren Diathese gebührt. Auffallenderweise habe ich in
2 Fällen nach längerem Gebrauche des Uricedins vollständige
Acholie eintreten und nach Aussetzen des Mittels verschwinden
sehen. Dasselbe hat als vollkommen gesättigtes dreibasisches
Salz der Zitronensäure vielleicht doch den Nachteil, zu stark
alkalisch zu sein und so möglicherweise bei längerer Anwen¬
dung die Lebertätigkeit zu stören.
Die Terpentin-Aetherbehandlung der Cholelithiasis, von
welcher man ab und zu noch Günstiges vernimmt, scheint
durch die neueren Mittel in den Hintergrund gedrängt zu sein,
wogegen man die Erfolge der Salizylsäure bezw. des Salizyl¬
säuren Natrons nicht selten rühmen hört.
Eine Besprechung der Gallensteinmittel sollte eigentlich
entsprechend seiner Popularität mit dem Olivenöle beginnen.
Wenn ich dasselbe an das Ende meiner Betrachtungen stelle,
so geschieht es, weil sich den widersprechenden Angaben über
dessen Gebrauch sehr schwer eine richtige Meinung über seinen
spezifischen Wert als Gallensteinmittel entnehmen lässt und nur
soviel mit Bestimmtheit aus ihnen hervorgeht, dass mit diesem
Mittel intra et extra muros vielfach ein recht plumper Miss¬
brauch getrieben wird, wenigstens hinsichtlich dessen, was
seitens der getäuschten Patienten als „abgetriebene Steine“
sorgfältig aufbewahrt und gelegentlich präsentiert wird. Dem¬
gegenüber begegnet man jedenfalls wirklichen Steinen, welche
nach Oelgebrauch abgegangen sind, so selten, dass man sich
des Gedankens nicht erwehren kann, als spiele das
Oel dabei nur eine Rolle, wie sie in den Anamnesen der
Gallensteinkranken bald diesem bald jenem Nahrungsmittel
oder Getränke mit absoluter Sicherheit zugeschrieben und
dann allerdings nicht als gallensteinabtreibende Mittel ge¬
priesen, sondern als Diätfehler gefürchtet werden. Wenn zu¬
weilen selbst von berufener Seite der Einfluss der Diät auf die
Gallensteinkrankheit geleugnet wird, so mag dies zwar insofern
zutreffen, als sich tatsächlich keine alleinseligmachende Lebens¬
weise für Gallensteinleidende aufstellen lässt, wohl aber in den
allermeisten Fällen eine dem individuellen Zustande des Kran¬
ken angepasste Ernährungsweise. Die meisten Patienten
kennen ihre Schwächen und es ist nicht zu verkennen, dass
in dieser Beziehung gerade die Fette einen schlechten
Leumund gemessen. Sicherlich spielt speziell auch dem
Fette gegenüber, wie überhaupt in den Beziehungen der
Diät zur ganzen Kolikfrage, das psychische Moment
eine grosse Rolle und wer aus eigener Erfahrung weiss,
welcher Widerwille bei vielen Menschen im Genüsse von Fett
und noch dazu von Oel zu überwinden ist, kann sich nicht
w undern, dass gegen eine derartige mit Gewalt durchgesetzte
Zumutung der ganze Verdauungstraktüs samt der Gallen¬
blase zuweilen revoltiert. Was in solchen Fällen das
Oel im Sinne eines Diätfehlers bewirkt, würden gewiss
viele andere Dinge ebenso prompt, zuwege bringen und
zweifellos würde man eine ganze Reihe von Koliken aus-
lösen können, wenn man einer Anzahl von Gallenstein¬
kranken systematisch ekelerregende oder für ihre Person un¬
verdauliche Dinge, wie z. B. eine Schüssel Gurkensalat u. dergl.,
vorsetzen würde. Wenn man trotzdem dem Oele und dem
Fette überhaupt eine gewisse Bedeutung in der Therapie der
Cholelithiasis nicht absprechen kann, so darf dieselbe gewiss
nicht darin gesucht werden, dass sie unter Umständen geeignet
sind, einen in seinen Folgen unberechenbaren Sturm im Gallen¬
system zu entfesseln, ein Ziel, welches einer vernünftigen
Therapie überhaupt nicht vorschweben kann, weil sie es ver¬
schmähen muss, einen Patienten durch Veranlassung eines
Steinabganges dem Walten des blinden Zufalls auszuliefern.
Nicht der kritiklose Genuss reichlicher Fettmengen, sondern
das Fett im Rahmen einer vernünftigen Diät ist es, was zwei¬
fellos der Cholelithiasis sehr häufig gute Dienste leistet, nament¬
lich in der Bekämpfung der so ganz gewöhnlich be¬
stehenden Stuhlverstopfung, sowie auch der sehr häufigen
Hyperazidität. Den günstigen Einfluss, den man öfters von
dem dauernden Gebrauch kleiner Mengen Oel (esslöffelweise)
rühmen hört, erkläre ich mir auf diese Weise, sei es nun, dass
hier das Oel direkt auf die Peristaltik wirkt oder auf dem Um¬
wege einer vermehrten Gallensekretion die Darmverdauung
gebessert wird. Von letzterem Gesichtspunkte aus — und es
gibt kaum einen anderen — erscheint denn auch die Verwen¬
dung von Gallenmitteln, welche, wie das Eunatrol und Chole-
lysin, verseifte Fette darstellen, geradezu paradox; denn wenn
nach teleologischer Auffassung, wie sie sich aus den Unter¬
suchungen P a w 1 o w s ergibt, das Oel deshalb gallentreibend
wirkt, weil es zu seiner Verseifung im Darme zum Teil auch
auf die Galle angewiesen ist, dann wäre ja eine vermehrte
Gallenbildung nach fertig eingeführten Seifen eine ganz nutz¬
lose und überflüssige Arbeit.
Eine Wirkung haben dessenungeachtet alle diese und
andere Mittel miteinander gemein und sie entschuldigt trotz
entgegenstehender Bedenken eine vorsichtige, von wachsamer
Skepsis geleitete Anwendung derselben: sie bringen Zeitgewinn.
Wer dem Verlaufe solcher Erkrankungen, welche die Geduld und
den Vorrat an Hilfsmitteln gleichmässig erschöpfen, öfter zu¬
schauen muss, weiss den Zeitgewinn zu schätzen und weiss
auch, dass hier die Zeit so manches leistet, was der gute Glaube
einem zufällig gebrauchten Mittel gutzuschreiben geneigt ist.
Und so kann es denn kommen, dass selbst die Säfte des Rettichs
und der gelben Rübe, welche unter der Patronanz distinguierter
Leidensgenossen oder schlauer Geschäftsleute ihre gläubige
Gemeinde finden, zu rechter Zeit genommen die grössten thera¬
peutischen Triumphe feiern.
Ewald nennt die innere Behandlung der Gallensteine eine
Lotterie, in welche die Kranken einsetzen. Ich glaube diesem
Vergleiche auf Grund obiger Ausführungen mit dem Zusatze
beistimmen zu dürfen, dass bei dieser Lotterie das grosse Los
den grössten Verlust bedeutet und weitaus die Mehrzahl der
Spiele i als glückliche Gewinner aus derselben hervorgehen.
Mag eine solche Anschauung vielleicht gegen die Ueberzeugung
einzelner verstossen, die aus ihrem Beobachtungsmaterial un¬
günstigere Eindrücke empfangen haben, die Erfüllung einer un¬
erlässlichen Vorbedingung glaube ich für meine Anschauung
in Anspruch nehmen zu dürfen, dass nämlich die Grösse meines
Mateiials annähernd den Anforderungen entspricht, welche
„das Gesetz der grossen Zahlen“ an eine Statistik stellt die
einige Gewähr gegen Trugschlüsse bieten will.
Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig.
Ein Beitrag zur Physiologie und Pathologie der
vertikalen Blickbewegungen.
Von Dr. H. S t e i n e r t, Privatdozent und Assistent der Klinik
und Dr. A. Bielschowsky, a. o. Professor und Assistent
der Universitäts-Augenklinik.
(Schluss.)
Wenden \\ ii uns jetzt zu dem Verhalten, das unser Patient
gegenüber den verschiedenartigen Anlässen zu Augenbewe¬
gungen bei unveränderter Kopfhaltung zeigte, so lag os nahe,
die bereits erwähnten Ergebnisse unserer Beobachtungen mit
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
21. August 1906. _ ___
den verschiedenartigen Funktionen der einzelnen kortikalen
Bahnen und Zentren für die assoziierten Augenbewegungen in
Zusammenhang zu bringen.
Die physiologische Forschung hat an der Hirnrinde jeder
Hemisphäre bekanntlich 3 Reizstellen oder Zentren für asso¬
ziierte Augenbewegungen ermittelt: die Funktion des vor¬
deren (frontalen), jederseits am Fuss der zweiten atirn-
windung gelegenen Stellenpaares sieht Tschermak ), über¬
einstimmend mit Roux10), in der Beherrschung der
spähenden bezw. willkürlichen (Kopf- und)
Augenbewegungen, „wobei ein optischei
akustischer oder taktiler Anhaltspu n k t n o c h
nicht gegeben sind“. Das hintere (okzipi¬
tale) Zentrum wird durch die motorischen Ze Ile
derSeh Sphäre (Fissura calcarina und deren nächste Um¬
gebung) gebildet und spricht offenbar nur auf optische
Eindrücke an, welche „die Aufmerksa m k eit und da¬
mit den Blick förmlich auf dem Wege des Re¬
flexes auf sich ziehen und auch bei Ortsbewe¬
gungen an sich gefesselt halt en“; daher auch die
Bezeichnung „optische R e f 1 e x b a h n . Die m de
Schläfenlappen gelegenen Blickzentren durften die Re¬
aktion auf akustische Eindrücke vermitteln.
Roux zitiert mehrere Beobachtungen aus der Literatur
wonach bei Unfähigkeit zu willkürlichen Bewegungen
der Zunge, Lippen, Gesichts- und Augenmuskeln durch
die von der Netzhaut übermittelten („reflektori¬
schen“) Eindrücke prompte Augenbewegungen ausgelost
wurden. Ein derartiges Verhalten der letzteren lasst Roux
durch einen Ausfall der beiden vorderen okulomotorischen Zen¬
tren bedingt sein. Die nämlichen Merkmale seitens der Augen
zeigt eine Beobachtung Feilchenfeld s11): bei einem
Tabiker ist die Lage der Augen relativ zueinander so lange nor¬
mal als dieselben auf ein fernes oder nahes, in beliebiger Rich¬
tung befindliches Objekt gerichtet sind oder von einem auf
ein anderes, in der Peripherie des Gesichtsfeldes gelegenes
Ding blicken sollen. Auch bleibt die Fixation erhalten, wenn
der Kopf aktiv oder passiv bewegt wird. Sobald aber der
Kranke angewiesen wird, nach rechts oder links, oben oder
unten zu sehen, ohne dass durch bestimmte optische Eindrücke
Anhaltspunkte für die Blickbewegung geboten werden tritt ein
Konvergenzkrampf“ ein, der erst dann weicht wenn die Auf¬
merksamkeit des Kranken spontan oder
Untersuchenden auf einen Gegenstand gelenkt wird, woiant
die richtige Einstellung der Augen erfolgt.
Für dieses Symptomenbild, das nach der oben wieder¬
gegebenen Anschauung von Roux, Tschermak u. a. au
einen Ausfall der Funktion der vorderen (frontalen) Bhck¬
zentren zu beziehen wäre, glaubt Feilchenfeld eine S
rung in den zentripetalen, der Auslösung von Augenbewe¬
gungen dienenden Bahnen verantwortlich machen zu müssen.
Nach seiner Ansicht liegt der Störung eine „sensorische Ataxi
der Augenmuskeln zugrunde: die durch die Muskeltätigkejt
entstehenden kinästhetischen Empfindungen, die bei Ausschal¬
tung des Gesichtssinns eine Kontrolle der in Ausführung be¬
griffenen Bewegungen ermöglichen, sind erloschen.
Dieser Deutung des interessanten Krankheitsbildes vermögen wir
njcv.t anzuschliessen, einerseits weil die Lokalisation der Storung
£ z ent rip et alen Bahnen zum Verständnis der Symptome keines¬
wegs notwendig ist. andererseits weil jene Symptome die wesent
liehen Merkmale der sensorischen Ataxie
Dip hauntsächlichsten, an jenem Kranken beobachteten crscneinui g
sind auchfn jenen Fällen zu finden, in denen wir keinerlei Anhalts-
mmkt dafür haben, andere als Läsionen in den motorischen Zentren
oder ^den zentrifugalen Nervenbahnen für die Augenbewegungen an-
ZU"e Konvergenzbewegungen an Stelle von erschwerten oder auf-
sioneneaen Ä
worden, so bei dem schon erwähnten Fall einer assoziierten kuck
9) T s c~h e r m a k: Die Physiologie des Gehirns. Nagels Handb.
d- P^)SRoux-BDoubleHäcen:rf0dMnnerv. cortieale oculo-motrice.
ArCL)deFneiTe0henfefdfEin' FaU von > sensor Ataxie der Augen-
muskeln. Zeitschr. f. klm. Med. 56, Heft 3 u. 4, 1904.
No. 34.
1665
lähmung12) infolge von Ponsläsion, ferner bei der zuerst von
Möbius13) beschriebenen Form der angeborenen totalen Lähmung
der Seitenwendungen bei erhaltener Konvergenzfunktion der Augen,
sodann bei bilateraler Blicklähmung im Anschluss an Läsionen des
Labyrinths 14) endlich in dem am Schluss dieser Abhandlung noch in
Kürze erwähnten, von uns beobachteten Falle, in welchem die Läsion
zweifellos im Kerngebiet des III. Nervenpaares sass.
- a upVi der Fall Feile henfelds hat, wenigstens zeitweise,
wie aus der MitteUunV von Hans Curschmann «) ersichtlich ist,
deutliche Störungen im peripheren Abschnitt der absteigenden o ku o-
motorischen Bahnen erkennen lassen.
nich^als^Krämpf^^dsdfu^t^Da^BTgriKsmerknfar'de^lJnwnjkür-
lichkeit kommt ihnen zum mindesten nur in beschränktem Wortsinne
zu sofern nämlich sie allerdings ungewollt sind. Sie ti eteu
aber bei bestimmten Innervationsanstrengungen ein und werden in dei
Regel sofort unterbrochen, wenn jene Anstrengungen aufgegeben
werden Es können vielmehr derartige Erscheinungen einer bc
stimmten Gruppe von Mitbewegungen ohne jeden Zwang sub¬
sumiert werden, jenen nämlich, bei denen wir annehmen, dass ein
starker, auf einen gelähmten Mechanismus gerichteter und darum
vergeblicher Innervationsimpuls auf einen anderen benachbarten und
besonders gut gebahnten Weg abfliesst. So treten andere als die ge¬
wollten, sogenannte Ersatzbewegungen, auf.
Von dieser naheliegenden Auffassung im Falle Feilen en-
felds abzugehen und eine sensorische Ataxie anzunehmen, ist abei
unseres Erachtens vor allem auch deshalb nicht zulässig, weil alle
Charaktere einer sensorisch-ataktischen Bewegung fehlen. Die ge¬
wollten Bewegungen verlaufen in jenem Falle nicht ataktisch, soi -
den! sie fallen einfach aus und werden durch Konvergenzbewegungen
ersetzt Wenn gelegentlich einige Zuckungen der Bulbi in der Rich¬
tung der gewollten Bewegung nebenher gingen, so dürfen wir darin
jene nystagmusartigen Zuckungen sehen, wie wir sie so häufig bei
dem Versuche beobachten, die Augen in der Richtung paretischer und
gelähmter Muskeln oder Blickbewegungen zu mnervieren.
Endlich aber scheint für diejenige Beobachtungszeit, während
deren Feilchenfeld seine Befunde erhoben hat, der Gedanke an
eine psychogene, vielleicht hysterische Störung doch naher zu liegen,
als dass er ohne eingehende Begründung abgelehnt werden durfte. ^
Dieser Einwand ist auch einem ähnlichen Falle von Roth *’)
gegenüber notwendig. Der Autor beschreibt einen Kranken mit
mehreren schlagähnlichen Anfällen, die auf doppelseitige Läsionen der
Grosshirnhemisphären zu beziehen waren. Es bestand danach Unfähig¬
keit zu willkürlichen Augenbewegungen „auf Kommando , d. h. ohne
Bezeichnung des zu fixierenden Objekts, während die Augen einem
fixierten Gegenstände, wenn er bewegt wurde, zu folgen vermochten
Die Blickbewegung gelang aber auch dann, wenn der Kranke s
bloss ein in der Blickfeldperipherie gelegenes Objekt v o r s t e 11 1 e
auf welches er den Blick richten wollte. Aus der Mittei ung
F e i 1 c h e n f e 1 d s ist nicht ersichtlich, wie sich sein Patient m
diesem Punkte verhielt.
Feilchenfeld selbst meint, dass bei seinem Kranken zwischen
verschiedenen Versuchsbedingungen — der blossen Aufforderung,
nach links rechts usw. zu blicken, und der Aufgabe, ein auf pen-
oheren Netzhautstellen abgebildetes Objekt zu fixieren „nui ein
psychologischer“ Unterschied bestünde. Uebrigens findet man selbst
ear nicht selten gesunde Personen, die ihre Augen auf blosses Kom¬
mando, ohne Bezeichnung eines bestimmten Fixationsobjekts, nur
höchst unvollkommen zu bewegen imstande sind. Andererseits wissen
wir dass in den Fällen mit zweifellos organischen Läsionen dei
kortiko-okulomotorischen Bahnen für bestimmte Blickrichtung
regelmässig auch die motorische Reaktion auf gewisse optische Ein¬
drücke Schaden erleidet. Nach dem und allem, was wir heute vom
zentralen okiüomoto rischen Apparate wissen, erscheinen uns orga¬
nische Störungen als kaum verstellbar, die die bisher moghche reine
Späh- und Kommandobewegung in al 1 en B 1 1 ck r ich tun g en
vollständig aufhöben, während jede sich eines optischen Anhalts¬
punkts bedienende Blickbewegung ebenso vollständig norma ge¬
blieben wäre. Sollte sich nachweisen lassen, dass die Falle mit Unter¬
brechungen der der Spähbewegung dienenden motorischen Bahn sich
in der Weise verschieden verhielten, dass in der Regel zwar 2 -
wisse optische Hilfen (periphere Fixationsobjekte) ebenfalls unwirk-
Tam würden, manchmal aber in der Tat nur die reine Kommando-
bewegung ausfiele, so wäre dafür wohl nur eine Erklärung möglich.
Mnn müsste annehmen, dass individuelle Unterschiede in dei In-
SrSnahme (!, Bahnung“) der nervösen Wege für bestrafte
okulomotorische Funktionen bestünden.
12) A Bielschowsky: diese Wochenschr. 1903, No. 39.
13) Möbius: Ueber angeb. doppelseit. Abd.-Faz.-Lahmung.
Diese Wochenschr. 1888, 6 u. 7. R1;„vv.p
14) M. Sachs: Ueber labyrinthogene Storungen der Blickbe
wegungen. X. internat. Ophthalmolog. Kongr. Luzern 190 .
«) Hans Curschmann: Ueber Konvergenzkrampfe bei lab -
dors. Neurol. Zentralbl. ’ 1905, No. 1.
16) 1. c. — •
566
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
Bei unserem Kranken war also — wie wir mit Bezug auf
die vorstehenden Erörterungen jetzt nochmals feststellen
v ollen — die Fähigkeit, auf Kommando „nach oben“ oder
„nach unten“ zu blicken, zwar beschränkt, jedoch nicht in
höherem Masse als wenn er zur Fixation von bestimmten
bjekten, die ober- oder unterhalb seiner Augenhöhe lagen, auf¬
gefordert wurde. Annähernd normalen Umfang erreichten die
Vertikalbewegungen erst bei Verschiebung des
fixierten Gegenstandes nach oben oder unten.
Aehnliche Befunde sind auch an anderen Kranken erhoben
oi° i ,e-v VOn uns selbst schon in dem zitierten Fall von pontiner
Blicklähmung. Während die Augen zur Linkswendung so gut
wie unfähig waren, wenn dieKranke „nach links sehen“ oder aut
ein bestimmtes in ihrer linken Blickfeldhälfte gelegenes Objekt
blicken sollte, gingen die Augen dem von rechts nach links
bewegten Fixationsobjekte nach, wenn auch nicht bis zur nor¬
malen Bhckfeldgrenze. Auch bei einigen Patienten von Roth
U. c.) waren Augenbewegungen nur durch Verschiebung des
Fixationsobjektes auszulösen, wenngleich nicht in dem Um-
iange*Vre, bei passiven Drehungen des Kopfes. Gelegentlich
dei Mitteilung eines Falles von traumatischem linksseitigen
Hirnabszess erwähnt UhthoffJ7) die „zeitweise ausge¬
sprochenen Schwierigkeiten; auf willkürliche Aufforderung hin,
d. h ohne dass ihm ein zu fixierendes Objekt vorübergeführt
winde, che Augen in assoziiertem Sinne nach rechts zu wen¬
den, wahrend er beim Fixieren eines nach rechts geführten
Gegenstandes die Rechtswendung der Augen ohne Schwierig¬
keit ausfuhrte.
Wenn unser Kranker einer Tafel mit Sehproben gegenüber-
sass, dei en oberste Reihe in der Höhe seiner Augen lag so er¬
kannte er zunächst nur diese oberste Reihe. Dass keine
schwerere zentrale Sehstörung vorlag, liess sich aber
leicht nachweisen: wurde die Tafel gehoben, so las der Kranke
auch die tieferen Reihen; ebenso hatten Prismen, die — bei
unokularer Prüfung — mit nach aufwärts liegender Kante vor¬
gehalten wurden, zur Folge, dass bei gleichbleibender Lage der
Sehproben um so tiefer gelegene Reihen gelesen wurden, je
starker das Ablenkungsvermögen des Prismas war. Wurde
dagegen ein Prisma mit der Kante nach unten vor das Auge
gehalten, so vermochte der Kranke auch die in Augenhöhe be-
a ui i en ^e^Pr°t)en nicht mehr zu erkennen, auch wenn das
Ablenkungsvermögen des Prismas nicht mehr wie 5° betrug
Dabei war das Gesichtsfeld in jeder Beziehung nor-
m a 1, so dass zur Erklärung des im ersten Moment über¬
raschenden Befundes eine Störung der Funktion der unteren
Netzhauthälfte gar nicht in Frage kam. Das U n deutlich -
werden der Sehproben bei Vorhalten des nach
ijuten ab lenkenden Prismas brachte lediglich
die Unfähigkeit zum Ausdruck, das von der
Netzhautmitte (nach oben) verschobene Bild
durch Senkung des Blicks in die ursprüng-
Dche Lage zurückzubringen. Während es unter
den nämlichen Bedingungen einem normalen Individuum ge¬
radezu schwer wird, dem Impuls zu der das Prisma kom¬
pensierenden „Einsteilungsbewegung“ zu widerstehen, blieben
die stärksten Netzhauteindrücke bei unserem Kranken ohne
motorischen Effekt, wenn sie auch von nur wenig unterhalb
der Bhckebene gelegenen Objekten herrührten.
allen vergeblichen Bemühungen, den Blick auf
solche Objekte zu richten, eine anscheinend mühelose Senkung
ei Augen in last normalem Umfange beim Verfolgen des _
aus der primären Blickebene — nach unten bewegten Fixations¬
objektes !
Das lässt daran denken, dass die durch optische Eindrücke
Aeranlassten Bewegungsimpulse auf verschiedenen Bahnen
ablaufen, dass speziell das „Nachblicken“ bei bewegte m
Fixationsobjekt von einem anderen Zentrum vermittelt wird
wie die Einstellung auf ein exzentrisch abgebildetes, ruhen-
d e s Objekt. Man wird aber kaum versucht sein, die Ver¬
se uedenai tigkeit der genannten Vorgänge dadurch zu charak¬
terisieren, dass man das eine Mal die Bewegung aus einer
1 Uh t hoff: Ein Beitrag zur Kenntnis der Sehstörungen nach
hirnverletzungen. Ber. üb. d. 30. Vers, d.* ophthalmolog. Gesellsch.
Heioelberg 1902.
reflektorischen, das andere Mal aus einer willkür¬
lichen Innervation hervorgehen lässt.
Zwar kann man, wie F e i 1 c h e n f e 1 d (1. c) im Anschluss
an M a c h ausführt, in dem Sinne von „optischen Re¬
flexen sprechen, dass es „neben den willkürlichen und be¬
absichtigten Augenbewegungen auch solche gibt, bei denen
die vorbereitenden Gefühle der Entscheidung und Ent-
schliessung fortfallen, die also triebartig erfolgen und einen
flicssenden Uebergang bilden zwischen den rein willkürlichen
und rein reflektorischen Bewegungsarten, je nachdem der be-
v usste V ille mehr oder weniger in den Vordergrund tritt“
Derartige „reflektorische“ Erregungen — z. B. plötzliche
Belichtung einer Stelle der oberen Netzhauthälfte mittels
Augenspiegels im Dunkelzimmer — hatten bei unserem Kran¬
ken ebenso geringen Erfolg wie das Bestreben zur Einstellung
dei Augen auf ein unterhalb der Blickebene gelegenes Objekt,
auf welches die Aufmerksamkeit gelenkt wurde. Will man das
durch Verschieben des fixierten Objektes bewirkte Nachblicken
als „Reflex“ ansehen, so kann zum mindesten von einem prin¬
zipiellen Unterschied zwischen der Entstehung eines sol¬
chen und der von peripheren Netzhauterregungen „ausgelösten“
Einstellungsbewegung nicht die Rede sein.
Zu der hier erörterten Frage hat sich der eine von uns
(B i e 1 s c h o w s k y, 1. c.) bereits früher geäussert. Nach
seinei Ansicht ist in Fällen, wie dem hier näher besprochenen
die motorische Bahn, welche den Augenmuskelkernen die durch
optische Eindrücke veranlasste Innervation zuzuführen hat,
derart geschädigt, dass sie zur Vermittlung des motorischen
Effekts peripherer Netzhauterregungen unfähig geworden
ist, ausgenomme n, wenn die Erregung von parazen -
t r a 1 e n, den Netzhautmitten zunächst gelegenen Stellen aus¬
geht, also nur Einstellungsbewegungen kleinsten Umfangs er¬
fordert. An dem Erfolge solcher parazentraler Eindrücke hat
wohl auch das grössere Gewicht, mit dem sie — im Vergleich
zu penphereren Netzhauterregungen — ins Bewusstsein tre¬
ten, einen Anteil. Bei langsamer Verschiebung eines binokular
fixierten Objekts rücken die zugehörigen Netzhautbilder zu¬
nächst auf die den Netzhautmitten unmittelbar benachbarten
J eile, von denen sie in jeder Phase der Verschiebung immer
wieder durch kleinste Einstellungsinnervationen auf die Mitten
zurückgebracht werden. So summieren sich die immer nur
sehr kleinen Innervationszuwüchse nach und nach zu einem
Betrage wie er wegen der erschwerten Innervationsleitung
von Anfang an und auf einmal auch nicht annähernd erreich¬
bar war.
Ein ähnliches Verhalten kann ein jeder bei der Erzeugung
ungewöhnlicher, dem Willen nicht unterstellter (Fu sions-)
Bewegungen der Augen beobachten.
Entfernt man beispielsweise zwei im Stereoskop ver¬
schmolzene Halbbilder sehr allmählich voneinander, so bleibt
das binokulare Verschmelzungsbild eine Zeitlang erhalten was
nur mogheh ist dadurch, dass die Augen, den auseinander'
ruckenden Halbbildern folgend, in eine divergente Stellung über¬
gehen. L le auf diese Weise erreichbare Divergenz möge in
einem bestirnten Falle einem Winkel von 6° entsprechen
Stellt man aber die Halbbilder vonAnfangan so ein, dass
zm binokularen Verschmelzung eine Divergenz der Gesichts.-
hmen von nur 3° nötig wäre, so ist diese Leistung trotz aller
Anstrengung nicht aufzubringen.
aac^ derartige schwierige Augenbewegungen sind
nur ausnihrbar, wenn die Anregung dazu während der ganzen
Lauer des Versuchs immer nur von parazentralen Netzhaut¬
stellen ausgeht.
In Kiankheitsfällen, wie dem oben besprochenen, wäre wohl auch
an die Möglichkeit zu denken, dass eine verschieden starke
1 0 J. de/T v°n, den Totorischen Zellen der Sehsphäre ausgehenden
Easein die Unterlage für den verschiedenartigen motorischen Effekt
optischer Eindrücke abgäbe, je nachdem diese von peripheren oder
parazentralen Netzhautstellen herstammten. Die aus dem Gebiet der
Makulazentren in der Sehsphäre entspringenden motorischen Fasern
konnten durch den in der Nachbarschaft der Kernregion zu lokali¬
sierenden Krankheitsherd weniger geschädigt sein, als diejenigen Teile
der Innervationsbahn, denen die motorische Vertretung der Netzhaut-
peripherie zukommt, vielleicht wegen grösserer Widerstandsfähigkeit
oder geschützterer Lage der ersteren. K
No th wendig ist eine derartige Annahme zum Verständnis
der vorliegenden Verhältnisse nicht. Von einer gewissen Be-
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1667
deutuim ist jedoch ohne Zweifel der schon oben angedeutete Umstand,
dass auch normalerweise die motorische Bahn des Sehorgans auf para¬
zentrale Netzhauterregungen viel leichter als auf periphere anspricht.
Während man relativ leicht der Versuchung, auf ein in der Peripherie
des Gesichtsfeldes auftauchendes Objekt hinzublicken, widerstehen
kann, muss man sich geradezu Gewalt antun, wenn man dem fixierten
Objekt, sobald es in Bewegung gesetzt wird, nicht nachblicken will,
es sei denn, dass man während des Versuchs seine Aufmerksamkeit
absichtlich auf ein anderes Objekt lenkt.
Da bei unserem Kranken der okulomotorisehe Apparat auf
Gehörs eindrücke nicht besser reagierte, als auf optische Ein¬
drücke, so hätten wir also eine Schädigung sämtlicher
kortikaler Bahnen für die Vertikalmotoren
anzunehmen. Für einen einzelnen Krankheitsherd sprechen
die absolute Gleichmässigkeit des Beweg-
lichkeitsdefektesan beiden Augen und das F ehlen
anderer Symptome. Angesichts der zu keiner Zeit gestörten
Reaktion der Vertikalmotoren auf reflektorische (labyrintho-
gene) Erregungen einerseits, der beschränkten, zeitweilig auf¬
gehobenen Funktion sämtlicher übrigen Innervationswege
andererseits, muss die Läsion in die nächste Nachbarschaft des
III. Kernpaares lokalisiert werden, an eine Stelle, wo die von
den verschiedenen Rindengebieten ausgehenden Bahnen ein¬
ander schon sehr nahe gerückt sind. Bestimmtere Angaben
darüber sind zurzeit noch nicht möglich, da die neueren ex¬
perimentellen Ergebnisse Bernheimers 1S), der nach Ab¬
tragung des vorderen Vierhügelpaares bis zum Aquaeductus
Sylvii noch assoziierte Augenbewegungen vom Gyrus angu¬
laris beider Seiten hervorzurufen vermochte, der früheren An¬
schauung entgegenstehen, nach welcher die vorderen Vier¬
hügel die Durchgangsstelle (Reflexzentrum) für die Inner¬
vationen zu assoziierten Blickbewegungen bilden sollten.
Mit einigen Worten möchten wir noch auf die Bedeutung
hinweisen, die einzelne Züge in dem oben geschilderten Krank¬
heitsbild noch für ein weiteres Kapitel der Physiologie der
Augenbewegungen besitzen.
Hatte man die Augen des Kranken durch entsprechende
Bewegung des Fixationsobjektes nach oben „geführt“, so ver¬
mochte er der Aufforderung, nunmehr auf einen in Augenhöhe
befindlichen Gegenstand zu blicken, ohne Zuhilfenahme einer
unterstützenden Kopfbewegung (Senkung) nicht nachzukom¬
men. Als Ausdruck für die von ihm gemachte Anstrengung
sah man nur ein Hin- und Hergehen der Augen in lateraler
Richtung, allenfalls eine unvollkommene, in schwerfälligen
kleinen Rucken ablaufenden Abwärtsbewegung, ohne dass die
Blicklinien die horizontale Lage erreichten. Nur ein bewegtes
Objekt vermochte die gehobenen Bulbi in die Primärstellung
zurückzuführen.
Die Lähmung der Blicksenker ist für sich allein nicht aus¬
reichend zur Erklärung, warum die Blicklinien aus der ge¬
hobenen nicht bis zur horizontalen Stellung überführt werden
können. Denken wir uns die analoge Aufgabe in einem Falle
von Lähmung des rechten Muse. r. lateralis: die adduzierte
(nach einwärts gerichtete) rechte Blicklinie soll bis zur Mittel¬
stellung gebracht werden. Solange keine Sekundärkontraktur
des Antagonisten (Muse. r. medialis) eingetreten ist, ist die
geforderte Bewegung auch ohne Mitwirkung des R. lateralis
prompt auszuführen, weil die beim Impuls zur Rechtswendung
eintretende Erschlaffung des rechten R. medialis im Verein
mit der rein mechanischen Wirkung der elastischen Gewebe
(Muskeln, Faszien etc.) die Geradeausstellung der rechten Blick¬
linie bewirkt.
Dementsprechend wäre zu erwarten, dass 1 1 o t z Läh¬
mung der Senker die durch den Impuls zur
Senkung bewirkteErschlaffung der Heber die
Rückkehr der Augen aus der gehobenen in die
Ruhelage ermöglichen müsste. Warum das n 1 c h t
geschieht ist an der Hand der interessanten Versuche von
Sh er rin g t o n 19) und Topolanski 20) leicht zu verstehen.
HRemheimer: Diö Wurzelgebiete der Augennerven etc.
O r a e f e - S S m Vs ™h’ Handb. d. ges. Augenheilk. II. Aufl. 16. L.efg.
10!,?S h e r ri n g t o n : Proceed. Roy. Soc. LIII. S. 407. 1S94.
-°) T opolansky: Das Verhalten der Augenmuskeln bei i zenti .
Reizung, v. G r a e f e s Arch, f. Ophth. XLVI. 2. S. 452. 189b.
Nachdem die sämtlichen Augenmuskelnerven einer Seite mit
Ausnahme des N. abducens durchschnitten waren, stand das
betr. Auge durch den allein wirksam gebliebenen Reet, lateralis
stark nach aussen abgelenkt. Wurde nun diejenige Stelle dei
Hirnrinde gereizt, von der aus bei intakter Motilität
Einwärtsbewegung des betr. Auges zu er zielen
war, so ging dieses aus der a b d u z i e r t e n i n die M l . t -
telstellung, trotzdem alle Muskeln mit adduzierender Wir¬
kung ausgeschaltet waren: ein Beweis, dass die Inner \ a-
t i o n, die den Antagonisten (Reet, medialis) zur
Kontraktion veranlasst, von dem nämlichen
Rinden Zentrum ausgeht und — bis zur Kern-
r e g i o n — die nämliche B ä h n durchläuft, wie
die dem Antagonisten (Reet, lateralis) zu-
gehende „Erschlaffungs“-Innervation.
Bei unserem Kranken war die Bahn, die den Impuls zui
Blick Senkung vermittelt, am stärksten geschädigt. Ebenso
behindert, wie die Innervation zur Senkung muss also auch die
gleichzeitig mit ihr entstehende, von der gleichen Rindenstelle
ausgehende Innervation gewesen sein, die bei Intaktheit
der Bahn einen Nachlass des Tonus der Heber
v e r a n 1 a's s t h ä 1 1 e. 21)
Anhangsweise sei noch die Krankengeschichte
eines Falles kurz mitgeteilt, der neben einer Läh¬
mung der Blickhebung eine Parese einzelner
der in Betracht kommenden Muskeln zeigt.
Gerade dieser Fall lehrt, wie die Phänomene
der erhaltenen „reflektorischen“ Beweglich¬
keit die Diagnose der konjugierten Lähmung
auch in komplizierten Fällen zu erleichtern
und zu sichern geeignet sind.
Der 42 j ä h r i g e Werkführer V., in die medizinische
Klinik zum ersten Male aufgenommen am 27. XI. 03, gab damals an,
seit Jahren an heftigen Kopfschmerzen, seit 6 Wochen an
plötzlich eingetretenem Doppeltsehen, seit dem
26. XI. an einer ebenfalls plötzlich in wachem Zu-
stände ein getretenen Lähmung der linken Glied-
massenzuleiden. , , , , .
Der gut genährte, durch enorme Kopfschmerzen schwer beein¬
trächtigte Patient bot das Bild starker peripherer Arteriosklerose,
hochgradiger Hypertrophie des linken Ventiikels, den Harnbefund dei
Schrumpfniere. . , ,
Auf den typischen Befund einer zerebralen
Halbseitenlähmung brauche ich nicht näher einzugehen.
Die Aufnahme des Augenbefundes war anfangs durch den Allge¬
meinzustand erschwert. In den ersten Tagen gab Pat. Doppelbilder
in. allen Blickrichtungen an. Die Augenbewegungen erschienen ein¬
geschränkt, doch konnte nur beim Blick nach rechts oben ein Zurück¬
bleiben eines Auges, des rechten, konstatiert werden. Das Bild des
rechten Auges stand dabei höher als das des linken und mit seinem
oberen Ende nach links geneigt. Im Laufe des Dezember besserte
sich das Doppeltsehen nach der Angabe des Patienten. Nur die Er¬
scheinungen einer Parese des rechten Rectus superior waren bei der
Untersuchung auf Störungen des Muskelgleichgewichtes konstant und
mit Sicherheit festzustellen. . , „ . ... ,
Anfang Januar hatte sich das Allgemeinbefinden wesentlich ge¬
bessert Pat. machte Gehversuche. Die Blickbewegungen
nach den Seiten und nach unten werden auf die
blosse Aufforderung und. auf Vorhalten eines nxen
Obiekts jetzt in vollem Umfange aufgebracht. Da-
eesren vermag Pat. auf die Aufforderung nach oben
zu sehen oder ein in der oberen Blickfeld hälfte ge¬
legenes Objekt anzusehen, nur eine sehr geringe
Hebung der B 1 i c k 1 i n i e n zu bewirken. Bei dem Ver¬
such tritt eine leichte Konvergenzbewegung ein.
Bei der Fixation eines führenden Objekts folgen
die Augen aber ausgiebig nach oben, eine noch
etwas umfangreichere Hebung der Augen lasst
sich erzielen, wenn man den Pat. ein annähernd in
Augenhöhe gelegenes Objekt scharf fixiere n 1 a sst
und dann den Kopf des Kranken nach unten dreht,
während er sich bemüht, die Fixation beizube-
halte n. Die auf eine dieser Weisen erzielte Hebung der Bulbi
wird nur ganz vorübergehend festgehalten, die Augen sinken rasch
wieder herab. Bei allen diesen verschiedenen Hebungsver¬
suchen treten di e Erscheinungen einer fast reinen
geringen Parese des rechten Rectus superior deut-
21 ) Der eine von uns (St.) hat früher (Deutsche Zeitschr. für
Nervenheilkunde XXIV, pag. 11) darauf hingewiesen, dass offenbar
ganz analoge Störungen der Erschlaffungsinnervation auch bei zeie«
b.-alen Lähmungen der Extremitäten Vorkommen.
3*
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
i()68
lieh hervor. Später konnte auch eine leichte Pa¬
rese des . linken Rectus superior festgestellt
werden.
Bei der Pupillenprüfung fiel von anfang an neben einer leichten
Anisokorie (L > R) auf, dass bei normalen Verhältnissen auf der
linken Seite die rechte Pupille bei direkter Belichtung träge, bei kon-
sensueller Prüfung ebenso wie auf Konvergenz aber prompt rea¬
gierte. Die Sehprüfung ergibt nur auf dem rechten Auge eine tem¬
porale Hemiachromatopsie in Form eines grossen, sektorenförmigen
Ausfalls, der nur einen kleinen Bezirk der unteren Gesichtsfeldhälfte
intakt lässt. Der Augenhintergrund ist links normal, rechts ist die
Papille leicht verwaschen, aussen oben von ihr finden sich kleine,
wie gespritzt aussehende Blutungen und einige gelbliche retinale
Herde.
Wir dürfen von diesem, für unsere Frage belanglosen Befunde
hier absehen und möchten nur nachtragen, dass der Augenbefund eine
wesentliche Aenderung nicht mehr erfahren hat. Wir konnten den
Kranken im Juli 1904 das letzte Mal untersuchen. Kurz nachher starb
er infolge von Herzschwäche. Im Gebiet der rechten inneren Kapsel
fand sich ein älterer Erweichungsherd. Der Hirnstamm wurde im
ganzen konserviert. Sollte seine mikroskopische Untersuchung, die
noch nicht beendet ist, bemerkenswerte Resultate ergeben, so würden
wir darüber später berichten.
Nachtrag bei der Korrektur.
ln den letzten Wochen hatten wir Gelegenheit einen
neuen Fall zu beobachten, der wieder die hier besprochenen
Phänomene in ausgezeichnet schöner Weise darbietet.
Der 44 Jahre alte Pat., Arteriosklerotiker, hat am 1. Juli auf
einer Partie einen leichten apoplektiformen Insult erlitten, der von
einer motorischen und sensiblen Schwäche der rechten Körperhälfte
und von Doppeltsehen gefolgt war. Bei der Aufnahme in die
Medizinische Klinik am 9. VII. war bei dem psychisch intakten
Patienten eine motorische Störung der Gliedmassen nicht mehr
nachweisbar, nur noch eine geringe halbseitige Steigerung der
Sehnenreflexe bei abgeschwächtem Fussohlenreflex, kein Babinski.
Dagegen bestand eine hochgradige Hypalgesie der ganzen rechten
Körperhälfte und eine Aufhebung der Temperaturempfindlichkeit im
selben Gebiet, während die übrigen Sinnesqualitäten kaum oder nur
sehr wenig gelitten hatten. Die Störung der Schmerzempfindung
war an den distalen Teilen am stärksten ausgesprochen, relativ ge¬
ring in der Nähe der Körpermittellinie.
Der Augenbefund war folgender:
Ganz geringe Pupillendifferenz (R > L), träge Lichtreaktion,
deutliche Konvergenzreaktion. Die Blickrichtung der Augen ist in
der Ruhelage leicht gesenkt. Die Konvergenz mässig beschränkt, die
Seitenwendungen normal. Dagegen ist Pat. ausser Stande, die Augen
auf blosses Kommando oder auf Bezeichnung exzentrisch abgebildeter
Objekte hin zu heben oder mehr als in minimalem Umfange zu
senken. Bei den Versuchen treten leichte nystagmusähnliche hori¬
zontale Zuckungen der Bulbi auf. Wohl aber vermag der Kranke
an feststehenden Objekten (Möbeln, Sehproben) um etwa 10 0 lang¬
sam, unter sichtlicher Anstrengung „in die Höhe zu klettern“. Bei
diesem Versuche spannt Pat. beiderseits den Orbicularis oculi sicht¬
bar an. Wenn ihm gestattet wird, lebhaft zu blinzeln, gelingt dieses
„Klettern“ leichter und in etwas grösserem Umfange.
Durch Führung der Augen mittels aus der Primärstellung be¬
wegten Fixationsobjektes lassen sich dagegen wesentlich aus-
g^bigere Vertikalbewegungen in beiden Richtungen erzielen, wobei
jedoch die Augen in der gehobenen Stellung nur sehr kurze Zeit
festgehalten werden können, sie sinken rasch in die Ruhelage zurück.
Noch ausgiebigere, wenn auch noch nicht normale, Vertikalbe-
\v egungen sind endlich durch passive Kopfbewegungen herbeizu-
fuhren. Auch bei diesen Versuchen kann die gehobene Blicklage nur
beschränkte Zeit festgehalten werden, wenn auch etwas länger als
nach der „Führung“.
Neben diesen Störungen der Blickbewegungen ist eine leichte
rechtsseitige Trochleansparese festzustellen. Der Augenhinter¬
grund ist normal, die Sehschärfe rechts mit — 0,75 = %, links = 6/e.
Der Befund hat sich seit Beginn der noch nicht abgeschlossenen
Beobachtung nicht in bemerkenswerter Weise verändert. Der Fall
ist unter anderem auch dadurch interessant, dass, ähnlich wie in dem
zuletzt besprochenen, für die Lokalisation des Herdes in der Troch-
learisparese und der dissoziierten Hemianästhesie wichtige Anhalts-
punkte gegeben sind. Als auf eine interessante Besonderheit des
i alles sei auf seine Fähigkeit, unter Anspannung der Augenschliess-
muskeln an Gesichtsobjekten „in die Höhe zu klettern“, noch be¬
sonders hingewiesen.
Zur Geschichte der Lumbalanästhesie.
Erwiderung an Herrn August B i e r - Bonn auf seinen Artikel
in der Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 22.
Von Dr. P h. Bockenheime r, I. klinischer Assistent der
K. Chirurg. Universitätsklinik Berlin (Exz. v. Bergmann).
Die Geschichte der Rückenmarksanästhesie ist erst kürzlich von
Hildebrandt (Berl. klin. Wochenschr. 1906, No. 27) so klar
dargelegt, dass ich mich auf einige Worte beschränken kann. Aus
allem geht jedenfalls hervor, dass es bisher Vielen nicht bekannt
war, dass der New Yorker Neurologe Corning seine Versuche
einm?’ nicht an Tieren, sondern an Menschen gemacht hat,
und dann, dass er das Kokain zur Anästhesierung nicht
nur in die Nähe des Rückenmarks, sondern tatsächlich in den
Lumbalsack spritzte. Die Unkenntnis dieser Tatsachen, die
bei Herrn Bier zu einer Zeit noch bestand, wo er bereits die Priori¬
tät für die C o r n i n g sehe Methode beanspruchte, dürfte die meiner
Meinung nach noch herrschende falsche Auffassung erzeugt haben,
dass Corning kein Recht auf die Erfindung der Lumbalanästhesie
zu beanspruchen habe. C o r n i n g hat die Methode nicht zufällig ent¬
deckt, sondern er hat auf Grund einer Reihe hochinteressanter,
exakter wissenschaftlicher Versuche genau den Weg gezeigt, den
man dabei gehen muss und den andere später ohne wesentliche Modi¬
fikationen gegangen sind und noch heute gehen. Wer das Werk
Comings „Pain“, Philadelphia 1894 (cf. Kap. 16, S. 241 ff.) genau
studiert — ein Studium, das zur Beurteilung der Geschichte der Lum¬
balanästhesie unbedingt erforderlich ist, wird bald erkennen, dass C.
nicht nur die genaue Anatomie der Wirbelsäule und des Rücken¬
marks beschreibt, sondern auch alles für die Technik
Nötige bereits angibt. Er sagt da folgendes: Zwischen 1. und
2. Lendenwirbel kann ich ungehindert in den Lumbalsack Flüssigkeit
einspritzen, denn hier ist kein Rückenmark mehr, sondern bereits
Cauda equina. — Eine Anspiessung eines Nerven hierselbst ist aber,
wie er aus den Untersuchungen von Weir-Mitchell folgert
(„Injuries of nerv and their consequences“, W. M., Philadelphia 1872,
p. 92), ungefährlich. Aber nicht nur die anatomische Grundlage der
Methode hat Corning festgelegt, sondern auch die Technik. Er
nimmt zwar bei seinen Injektionen einen Troikart und spritzt dann
durch diesen mit einer langen Spritze die Flüssigkeit in den Lumbal¬
sack, erreicht aber damit genau dasselbe, was andere später erreicht
haben. Auch die Injektion von Kokain, unter Zusatz von
anderen Substanzen, stammt bereits von Corning:
„I have employed the procedure many times, sometimes using cocain
alone and sometimes combined with the tincture of aconite or pyro-
gallic acid, antipyrin, methoxycoffeine, or strychnine“ (cf. „Pain“,
S. 246). Als Corning seine Injektionen in den Lumbalsack am
Menschen zu therapeutischen Zwecken mit Erfolg gemacht hatte und
eine Anästhesie der unteren Körper regio n be¬
obachtete, hat er sofort dieTragweite seinerMethode
erkannt und will sie als Ersatz für die allgemeine
Anästhesie mit folgenden Worten eingeführt wissen: „Wether the
method will ever find an application as a substitute for etherisation
in genito-urinary or other branches of surgery, further experiences
alone can show“ (New York medical Journal, 31. Oktober 1885).
Bier hat zwar diese Worte Cornings selbst angeführt (Chirur¬
genkongress 1901), hat aber den Schluss daraus, dass tatsächlich
Corning das Verdienst der Entdeckung der Me¬
thode hat, nicht gezogen, obwohl eine Modifikation derselben
doch sicherlich den fundamentalen Versuch Cornings nicht aufhebt.
Was nun die Einführung der Methode in die Chirurgie betrifft,
so hat Bier allerdings zuerst, 5 Jahre nach den Versuchen Cor¬
nings, mit der Methode die bekannten Operationen auszuführen
den Mut gehabt. Seine schlechten Erfahrungen Hessen ihn dann aber
die Methode verwerfen (Versuche über Kokainisierung des Rücken-
marks; D. Zeitschr. f. Chir., Bd. 51). I uffier jedoch und. ameri¬
kanische Aerzte Hessen sich durch ähnliche Misserfolge nicht ent¬
mutigen. Und so hatte Tuff i er bereits ca. 300 m a 1 bei
Operationen die Corningsche Methode angewandt,
bis Bier wieder das Verfahren von neuem aufgriff.
Auch R e c 1 u s, den Bier als Zeugen für sich anführt, schreibt in
seinem Buch „L’anaesthesie localisee par la cocaine“, Paris, Masson
& Cie., 1903, p. 14, En aoüt 1898: „Bier, precede peut-etre
par Corning, eut l’idee d’injecter une solution de cocain dans le
canal rachidien, au niveau de la region lombaire etc. — II fut imite
par Seldowitzsch et par Zeidler puis en France, par T uf¬
fier, q u i, des 1 a f i n de 1899 et au commencement de
1900, avait eu recours plus de 300 fois aux injections
lombaires et par ses nombreuses notes ä la presse
scientifique, vulgarisait la question.
T uffier hat die Lumbalanästhesie an einer grossen Anzahl
von Fällen studiert und sich dadurch ein nicht zu unter-
LChÄtZJendes Verdienst um die Propagation der
Methode erworben. So kam es, dass eine Zeitlang in Deutschland
ausschliesslich die Lumbalanästhesie in der von
Tuffi er angegebenen Weise, in sitzender Stellung usw.
(L’analgesie chirurgicale par voie rachidienne, Paris 1902), an einer
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1669
Reihe von Kliniken, so auch ander v. Be r g m a n nsc h e n
kr 1 i n i k ausgeführt wurde. Dass die Methode allmählich zu einer
leidlich brauchbaren geworden ist, verdanken wir wohl Braun,
durch die Erfindung der die Giftwirkung des Kokains herabsetzenden
Nebenni'erenpräparate. Im allgemeinen aber ist die Methode ,n
ihren Hauptgrundzügen so bestehen geblieben,
wie sie Corning zuerst angegeben hat. Auch B r a u n
(in seinem bekannten Buch über Lokalanästhesie), Cat hei in (Die
cpiduraler Injektionen; übersetzt von A. S t r a u s s, Stuttgart, Ver-
i-ie Enke 1903), Dumont (Handbuch der Anästhesie; Berlin, Ver¬
las: Urban & Schwarzenberg, 1903) und selbst Reclus (cf. oben)
f ii h ren in erster Linie Corning an. Bier durfte daraus
ersehen, dass mir die Literatur in dieser Angelegenheit wohl be¬
kannt war. Wären ihm die Arbeiten Comings etwas früher be¬
kannt geworden, so wären sie sicher von ihm gleich von Anfang an
zitiert worden. Dadurch würde jeder die Verdienste B i e rs um
die Verbesserung und Einführung bei uns in Deutschland richtig ge¬
schätzt und wohl anerkannt haben.
In demselben Weise drückt sich auch Dumont aus, nachdem ei
die Entdeckung der Methode Corning zugeschrieben hat (cf. Hand¬
buch der allgemeinen und lokalen Anästhesie, 1903), wenn er sagt.
Wir haben also hier den sicheren Beweis, dass erst durch die Mit¬
teilung Biers die ganze Frage der Medulläranästhesie in Fluss
kam und wir stehen daher nicht an, ihm das Verdienst der
Einführung der Methode zuzuschreiben.“
Zurzeit scheint es mir richtiger, die Methode noch weiter
zu verbessern und festzustellen, ob sie nicht doch grossere
Nachteile wie die allgemeine Narkose hat — denn es häufen sich in
letzter Zeit Mitteilungen über schlechte Erfahrungen mit dei Lumbal¬
anästhesie — , als fruchtlose Prioritätsstreitigkeiten
zu führen.
Erwiderung auf vorstehenden Artikel Bockenheimers.
Von Professor Dr. August Bier in Bonn.
Auf vorstehenden Artikel Bockenheimers antworte ich
lediglich, um eine völlig unrichtige Bemerkung richtig zu stellen.
Bockenheimer behauptet, meine schlechten Erfahrungen haben
mich die Methode der Rückenmarksanästhesie verwerfen lassen,
Tuff i er jedoch und amerikanische Aerzte Hessen sich durch ähn¬
liche Misserfolge nicht entmutigen“. Diese Behauptung ist gänzlich
aus der Luft gegriffen. Ich habe die Methode der Riickenmaiks-
anästhesie nie verworfen oder verlassen, sondern lediglich die An¬
wendung reinen Kokains ohne besondere Vorsichtsmassregeln. Die
reine Kokainanästhesie habe ich allerdings mehrfach für unbrauchbai
erklärt, wozu die französischen und amerikanischen Aerzte sich eben¬
falls nach den Erfahrungen in mehr als 1200 Fällen gezwungen sahen:
Soll mir nun etwa ein Vorwurf daraus gemacht werden, dass ich das
nach 8 Versuchen bereits erkannte, wozu andere 1200 notig hatten.
Dass ich die Rückenmarksanästhesie nie verlassen, sondern bald nach
dem Erscheinen meiner ersten Mitteilung an ihrer Verbesserung ge¬
arbeitet habe, geht doch aus meiner etwa A - Jahre spater ge¬
schriebenen Abhandlung1 2) in dieser Wochenschritt vom Jahre 19
hervor. Dort steht zu lesen: „Ich habe inzwischen meine Versuche
mit grosser Vorsicht fortgesetzt, daher auch keine der (von anderen)
beschriebenen gefahrdrohenden Zufälle gesehen, und gleichzeitig
meinen Assistenten Herrn Dr. Eden veranlasst, durch ausgedehnte
Tierversuche die Wirkung der Kokainisierung des Rückenmarks zu
studieren und zu versuchen, auch mit allerlei anderen Mitteln eine
ungefährliche Anästhesie zu erzeugen.“ , ■,
Und weiter: Im Jahre 1901 erkannten auch die Lobredner der
reinen Kokainanästhesie, dass dieser Weg ungangbar sei, und dass
das Verfahren in dieser Form viel grössere Gefahren und Unbequem¬
lichkeiten nach sich zöge, als die Allgemeinnarkose. Man fing deshalb
auch von Seite der französischen und amerikanischen Aerzte an, die
Rückenmarksanästhesie zu verlassen und zu verdammen. Damals
berichtete ich auf dem deutschen Chirurgenkongresse-) über weitere
Versuche mit RückenmarKsanästhesie und sagte unter anderem.
„Mein Urteil über den Wert der Rückenmarksanasthesie wie ich
es aus meinen und Anderer Erfahrungen mir gebildet habe geht
dahin, dass es ein Verfahren ist, welches noch durchaus nicht für
den allgemeinen Gebrauch reif ist, und sich noch gänzlich in dei Ent¬
wicklung befindet. So, wie es in der überwiegenden Mehrzahl der
operierten Fälle angewandt ist, ist es noch völlig ungenügend. Icl
halte es für sehr verhängnisvoll, dass trotz meiner zweimaligen War¬
nung vor Uebereilungen von verschiedenen Seiten die Sache so dar¬
gestellt ist, als handele es sich hier um ein verhältnismässig harm¬
loses und ungefährliches Verfahren. Davor will ich zum dritten Male
warnen. Ich hoffe allerdings und vertraue, dass wir noch zu einem
befriedigenden Verfahren mit der Zeit kommen werden, und meine
selbst auf die geschilderten Weisen schon Fortschritte gemacht zu
*) Bemerkungen zur Kokainisierung des Rückenmarks. Diese
Wochenschr. 1900, No. 36. .. ,, . T
2) Weitere Mitteilungen über Rückenmarksanasthesie. v. Langen-
becks Arch., 64. Bd., 1. H., 1901.
haben. Aber Vorsicht ist hier sehr notwendig, und weitere kritisch
und vorsichtig angestellte Versuche sind noch durchaus wünschens¬
wert. Für ebenso bedauerlich aber wie den Uebe -
eifer einiger begeisterter Apostel eines un
gen Verfahrens würde ich es halten, wenn man sich
verleiten Hesse diese in den gut gelingenden
Fällen wirklich’ glänzende Methode, vor deren
schmerzstillenden Leistungen Lokal¬
anästhesie verblassen muss, einfach abzutun und
von der Hand zu weise n.“
Im übrigen habe ich keinerlei Anlass, auf Bockenheimers
oder Hildebrandts3) Entgegnungen einzugehen. Sie beide ver¬
schweigen, dass Cornings neurologische Versuche von niemandem
beachtet und von niemandem nachgemacht sind, und ich unabhängig
von Corning auf den Gedanken der Rückenmarksanasthesie ge¬
kommen bin und für chirurgische Operationen das Verfahren eingefuhrt
habe. Es sind ja in der nächsten Zeit über Rückenmarksanasthesie,
der ich eine glänzende Zukunft prophezeie, zahlreiche Veröffent¬
lichungen zu erwarten und ich überlasse es anderen Unparteiischen zu
entscheiden, auf welcher Seite das Recht liegt.
- -a®t> - -
Theodor Puschmann und die Aufgaben der
Geschichte der Medizin.
Eine akademische Antrittsvorlesung. *)
Von Kurl Sudhoff.
Wenn ich hier als erster etatsmässiger Professor für Ge¬
schichte der Medizin zu Ihnen spreche, läge die Verführung
nahe, etwa mit den Worten zu beginnen:
„Ersichtlich ist das Interesse für historisch-medizinische
Studien allerorten im Wachsen begriffen“
und niemand würde mir ernstlich widersprechen. Offensicht¬
lich sind ja Zeichen einer zunehmenden Berücksichtigung una
Bewertung historischer Forschung auch in der Medizin zu
bemerken !
Doch gerade eine intimere Kenntnis der Geschichte
meiner Wissenschaft macht mich stutzig, indem ich diese Wen¬
dung aussprechen will; denn der nämliche Gedanke ist im ver-
gangenen Jahrhundert schon des öfteren laut geworden: fast
jedesmal, wenn ein Vertreter der medizinischen Geschichte
ein weitausschauendes Unternehmen begann ! — und dann — ist
doch immer alles beim alten geblieben, muss die
übelnachhinkende historische Kritik betonen.
Dafür ein paar Beispiele!
Als der verdiente Breslauer Hochschullehrer August "Wil-
heim Eduard Theodor Henschel, damals 55 jährig, mit der
Herausgabe seiner „Zeitschrift für Geschichte un
Literatur der Medizin“ im Verein mit allen damals
namhaften engeren Fachgenossen vor nunmehr sechzig Jahren
an die Oeffentlichkeit trat, gab er dem verdienstvollen Unter¬
nehmen folgendes Geleitswort mit auf den Weg:
^'V*Das Studium der Geschichte der Medizin hat in unseren
Tagen eine so beträchtliche Anzahl von achtbaren Bearbeitern
gefunden, dass es dadurch endlich in die Geltung getreten ist, che
ihm im Kreise der übrigen ärztlichen Disziplinen zukommt. Zahl¬
reicherer Freunde als je darf es sich jetzt unter den Eingeweihten
der Kunst erfreuen, ja immer weiter ist die Ueberzeugung vor¬
gedrungen, dass kein Arzt, der auf den Namen eines wissenschaft¬
lich ausgebildeten Anspruch macht, seiner entraten kann, und
selbst über den Kreis der Medizin hinaus, im Gebiete der allge¬
meinen Geschichtsforschung, der Sprach- und Altertumswissen¬
schaft und der Völkerkunde, erwachen ihm da und dort freundliche
Förderer und teilnehmende. Wie unter jenen die Einsicht Raum
gewonnen, dass ohne die Kenntnis der Vergangenheit das Wissen
selbst unserer erleuchteten Gegenwart alles festen Grundes . . .
ermangelt“ usw.
Das alles könnte auch heute gesagt sein — nur die
erleuchtete Gegenwart“ würde aus dem modernen Rahmen
herausfallen. Alles atmet bei H e n s c h e 1 fröhliche Hoffnung
des Gelingens und helle Freude am lebhaft erstarkten histori¬
schen Sinn seiner ärztlichen Zeitgenossen - und wie bald
ist ein rauher Reif gefallen auf sein rückwärts-vorwärts ge¬
wendetes historisches Unternehmen!! -
3) Zur Geschichte der Lumbalanästhesie. Berl. klin. Wochenschr.
1906, No. 27.
*) Gehalten am 14. Februar 1906.
1670
No. 34.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mehr als dreissig Jahre später gibt ein scharfer Beobachter
der Strömungen seiner Zeit und ein scharfer Kritiker derselben
fast der nämlichen Ueberlegung Ausdruck, der begabte Schüler
vom Göttinger „Marx d e'm Einzige n“, der Historiker
Heinrich Rohlfs, nur mit etwas anderen Worten.
R o h 1 f s sagt im ersten Hefte seines „Deutschen Archivs für
Geschichte der Medizin“:
„Die Anschauung von der Berechtigung, der Notwendigkeit
der geschichtlichen Studien hat sich auf allen Gebieten des Wis¬
sens Bahn gebrochen, und fast zu keiner Zeit regte sich ein so
allgemeiner Eifer, alle einzelnen Wissenszweige historisch zu be¬
arbeiten. An dieser kulturhistorischen Strömung nahm die Me¬
dizin gleichfalls teil nicht bloss in Deutschland . . .
Bei der deutschen Medizin wurde diese historisch-kritische
Richtung nicht durch den äusseren Einfluss des kulturhistorischen
Zeitgeistes herbeigeführt, sondern sie entwickelte sich von innen
heraus. Alle einsichtsvollen Aerzte sind von der Notwendigkeit
des historischen Studiums durchdrungen und hegen die Ueber-
zeugung, dass nur der historisch gebildete Arzt auf den
Namen eines wissenschaftlichen Anspruch machen kann.“
So lautete Rohlfs Diktum, vor bald 30 Jahren — sein
„Archiv“ ist jedoch schon vor mehr als zwanzig Jahren ein¬
gegangen. Hat sich denn aber in den letztvergangenen
30 Jahren die Zahl der geschichtskundigen, der mit dem Hi¬
storischen ihrer Wissenschaft einigermassen vertrauten Aerzte
wirklich erheblich vermehrt? — Ich fürchte sie hat nicht ein¬
mal prozentualiter mit der so ungeheueren Zunahme der deut¬
schen Aerzte in dem genannten Zeitraum Schritt gehalten! -
Um die selbe Zeit, als der 50jährige Heinrich Rohlfs
diese eben mitgeteilten Worte schrieb, begann der fähigste
Vertreter der Geschichte der Heilkunde im letzten Viertel des
19. Jahrhunderts die Herausgabe seines Alexander T ral-
1 i a n u s, der 33 jährige Schlesier Theodor Puschmann,
damals
„praktischer Arzt und Spezialarzt für Psychiatrie“
in München 1).
Geboren zu Löwenberg am 4. Mai 1844 als einziger Sohn
eines dortigen Ratsherrn und Gutsbesitzers, hatte er die Gym¬
nasiallaufbahn wegen Kränklichkeit unterbrechen und vorüber¬
gehend der Landwirtschaft sich zuwenden müssen. Später, direkt
nach der Promotion in Marburg im August 1869, nach vorher¬
gegangenen Studien in Berlin und München, wurde Pusch-
m a n n von Bluthusten befallen, der sich mehrfach wiederholte,
sodass er einen einjährigen Aufenthalt in Aegypten nehmen
musste. Der Krieg gegen Frankreich rief ihn im August 1870
in die Heimat, wo er als Assistenzarzt in Nassau an einem
Reservelazarett Verwendung fand für kurze Zeit, da er bald
wieder erkrankte. Nach glücklich in München endlich absol¬
viertem Staatsexamen besuchte Puschmann in Wien zwei
Semester die Kliniken, arbeitete namentlich unter Theodor
M e y n e r t und liess sich dann in München nieder, neben
spärlicher Praxis seine Zeit zwischen Arbeiten im physiolo¬
gischen Institut und auf der wundervollen Hof- und Staats¬
bibliothek teilend.
Geistvoll aber schroff griff er damals in die alle Welt,
namentlich das schöne München, bewegende Wagnerfrage ein
mit einer kleinen Brochüre, betitelt:
„Richard Wagner. Eine psychiatrische
S t u d i e,“
die in Berlin bei B. B e h r 1873 erschien, begreifliches Aufsehen
erregte und schnell drei Auflagen erlebte 2).
Der noch nicht 30 jährige Psychiater (ohne nennenswerte
eigene Spezialerfahrung) suchte den Nachweis zu erbringen,
dass der Meister der Töne kein Genie, sondern ein Wahn¬
sinniger sei.
I) Wo die folgende Lebensskizze Puschmanns von den be¬
kannten Nekrologen Neuburgers (Wien. med. Presse 1899,
No. 41), Pagels (Berl. klin. Wochenschr. 1899, No. 41; Janus 1899,
S. 567), Senfeiders (Wien. klin. Rundschau 1899) und v. T ö p 1 y s
(Wien. klin. Wochenschr. 1899, No. 40) abweicht, stützt sie sich auf
seine eigenen Angaben in seinem Lebenslauf, wie er sich unter den
Personalakten der Leipziger medizinischen Fakultät von seiner Hand
geschrieben vorfindet.
J) 69 S. kl. 8°; alle 3 Auflagen 1873 erschienen.
Er kommt wörtlich zu folgendem Ergebnis:
„Die Verstandstätigkeit Wagners ist nicht mehr eine nor¬
male, er leidet an Wahnideen, deren Folge einen deletären Einfluss
ausgeübt hat.“ (S. 53.)
Viel Freude wird Puschman n an dieser, in der Wagner¬
literatur berüchtigten kleinen Arbeit, ausser der Lust des er¬
folgreichen Ausgestaltens der eigenen Gedanken, nicht erlebt
haben — jedenfalls hat er sich vom Lärm des Tages dauernd
zurückgezogen und sich in die Geschichte seiner Wissen¬
schaft mit Eifer zu vertiefen begonnen und mit Erfolg.
Er hat es einmal selbst ausgesprochen, dass er zu Ende des
Jahres 1873 nach allerhand tastenden Umwegen erkannt habe,
wie ihn seine Veranlagung vorwiegend auf das historisch-
linguistische Gebiet verwies, dem er denn auch bis an
sein Lebensende treu blieb.
Die im Januar 1874 von dem bedeutenden medizinischen
Historiker Heinrich Häser in Breslau ihm gestellte Aufgabe,
den Alexandros aus Tralleis neu herauszugeben, be-
griisste er mit Begeisterung. Mit Eifer begann er, immer
noch in München, das Handschriftenmaterial der Werke dieses
bedeutenden lydischen Arztes aus dem 6. nachchristlichen Jahr¬
hundert (ca. 525 bis ca. 605) zusammenzutragen. Die Ma¬
nuskripte aus Paris und Cambridge konnte er in München selbst
bearbeiten; die Schätze der Bibliotheken von Venedig, Mai¬
land, Florenz und Rom musste er an Ort und Stelle heben.
Nach fast 4 Jahren angestrengtester Arbeit konnte er den
ersten Band dieser heute noch als Musterleistung anerkannten
kommentierten Ausgabe 1877 von München aus erscheinen
lassen — das Vorwort des zweiten Bandes aus dem Jahre 1878
ist schon von Leipzig datiert. Musterhaft ist in diesem
P u s c h m a n n sehen „Alexander von Tralleis“ nicht nur die
Gestaltung des Textes, welchen Iwan Müller, damals in
Erlangen, einer letzten Durchsicht unterzogen hat, wie denn
der medizinische Historiker niemals ohne die Mitarbeit eines
berufenen Philologen des betreffenden Sprachgebietes bei der
Textredaktion eines medizinischen Schriftstellers auszukommen
versuchen sollte — - musterhaft ist auch die beigegebene deutsche
Uebersetzung, die den Kommentar wesentlich vereinfacht und
das Werk erst gebrauchsfertig macht — musterhaft ist vor
allem die historische Einleitung, die zunächst eine
lichtvolle Darstellung der Griechenmedizin bis in das 6. Jahr¬
hundert nach Christo liefert, woran sich eine eindringende Un¬
tersuchung der Lebens- und Zeitverhältnisse des Alexan¬
dros von Tralleis und seiner Schriften schliesst, endlich eine
ganz vortreffliche Analyse der Anschauungen des Alexandros
über Pathologie und Therapie der Krankheiten der einzelnen
Organe — einer der wertvollsten Beiträge zur Geschichte der
Krankheiten überhaupt.
Diese meisterhafte Einleitung zu seiner Alexandros Tral-
lianosausgabe, welche die Hälfte des ersten der zwei Bände
ausmacht, hat denn auch für die Leipziger medizinische Fa¬
kultät im März 1878 die Grundlage gebildet für ihren Antrag
auf Genehmigung der Privatdozentur für Geschichte der Me¬
dizin. Weiteres von Puschmann lag nicht vor, aber eine
bessere Legitimation lässt sich auch kaum denken.
Mit einer Probevorlesung vom 9. Mai 1878 trat Pusch-
m a n n sein Lehramt an. Im Lektionskatalog vom Winter¬
semester 1878/79 tritt sein Name zum ersten Male auf mit drei
Kollegien:
Geschichte der Medizin, zweistündig (Mittwoch
und Sonnabend 5 — 6 Uhr), publice.
Medizinische Hodegetik, Sonnabend 9—10 Uhr,
publice.
Medizinische Statistik, Montag 3—4 Uhr, publice.
Für das Sommersemerster 1879 zeigte er ein zweistündiges
Publikum über
Geschichte der Medizin während der Neu¬
zeit
in noch zu bestimmenden Stunden an, das nicht zu stände kam,
da Puschmann für diesen Sommer Urlaub erhalten hatte
zu einer wissenschaftlichen Reise nach Italien und Spanien.
Eigentlich ist Puschmann überhaupt nicht mehr nach
Leipzig zurückgekehrt, wo er in der Dresdenerstrasse
41 Parterre gewohnt hatte.
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1671
Sein Alexander Trallianus war indessen vollständig er¬
schienen; auf dem Titelblatt des zweiten Bandes ist seine
kurze Leipziger Dozententätigkeit verewigt. Dieser zweite
Band diente als Grundlage für Puschmanns Berufung nach
Wien, wie der erste seine Leipziger Habilitionsschrift gebildet
hatte. _ _
In Wien war mit dem Sommersemester 1879 der ver¬
diente greise Historiker der Medizin, Romeo S e 1 i g m a n n
siebenzigjährig in den Ruhestand getreten; gelebt hat er noch
bis zum 15. September 1892. , . D . .
Auf seinen Lehrstuhl wurde nun unser Leipziger 1 rivat-
dozent berufen, der für das kommende Wintersemester noch
ein zweistündiges Privatkolleg über Geschichte dei
Medizin angemeldet hatte. Am 19. August 1879 her bei der
Leipziger medizinischen Fakultät ein Schreiben Iu sch -
man ns ein, dass er als „besoldeter ausserordentlicher Pro¬
fessor für Geschichte der Medizin“ an die Universität Wien be¬
rufen sei, und dass diese Berufung die Kaiserliche Bestätigung
Mit einem Vortrag über „die Geschichte dei Me¬
dizin als akademischen Lehrgegenstand ) tiat
er zu Beginn des Wintersemesters, am 27. Oktober 1879 sein
Amt in Wien an, ein gern gehörter Lehrer, namentlich in
seinen hodegetischen Vorlesungen. Dort in Wien hat er bis
an sein Ende erfolgreich gewirkt, seit 1888 als ordentlicher
Professor gelegentlich als überaus liebenswürdiger Dekan,
zuletzt als k. k. Hof rat — zweifellos der glänzendste Vertreter
seines Faches.
Von seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich ausserdem
bald mit der Pest, bald mit Impf u n g s - und A n
steckungs - und B e s c h n e i d u n g s fragen, bald mit der
Influenza und der S y p h i 1 i s beschäftigten, erlangten be¬
sondere Bedeutung seine Studien zur Vergangenheit d e i
Medizin in Wien in ihrem Ehrenlaufe vom ausgehenden
Mittelalter bis zur Regierung Kaiser Franz Josephs und
seine Forschungen zur Geschichte des medizinischen
U n t e r r i c h t e s überhaupt. .
Hat er auf ersterem Gebiete nur eine Reihe von Einzel¬
arbeiten geliefert (wie über die Heilkunde in Wien im Mittel,
alter über die Blüteperiode der ersten Wiener Schule, über die
Medizin in Wien in den letzten 100 Jahren) ohne eine zu¬
sammenfassende Darstellung zu erreichen, so gelangte er aut
dem zweiten Gebiete zu einem vollen Erfolg.
Zunächst behandelte er die Fragen des medizinischen Unter¬
richts in einer Reihe von Einzelstudien über die aktuellen Be¬
dürfnisse der Vorbildung und Ausbildung und des ärztlichen
Vereinswesens, über die medizinischen Unterrichtsverhaltnisse
fremder Länder, ferner Zeitperioden, z. B. des Mittelalters,
über die Entwicklung des klinischen Unterrichtes im all¬
gemeinen und speziell in Oesterreich und gab zum Schlüsse
eine fesselnde Gesamtschilderung vom Gange des medizinischen
Unterrichtes seit den frühesten Perioden menschlicher Kultur
bis ziun Ende des 19. Jahrhunderts und gewann aus diesen
historischen Betrachtungen klärende Gesichtspunkte für die
Streitfragen des Tages im medizinischen Unterrichtswesen.
Puschman n s „Geschichte des medizinischen Unterrichts
erschien im Jahre 1889; sie nimmt in der Reihe der damals
publizierten Darstellungen der Entwicklung des gelehrten Un¬
terrichtes sicher nicht die letzte Stelle ein.
Anknüpfend an seine grosse Publikation über Alexan-
dros von Tralleis hatte er in den „Berliner Studien für
klassische Philologie“ die vorhandenen Fragmente des I hi-
1 u m enos und P h i 1 a g r i o s samt einer noch ungedruckten
Abhandlung über Augenkrankheiten mit deutscher Ueber-
setzung herausgegeben und jedes Jahr eine kritische Ueber-
sicht über die Literatur seines Faches in Virchow-Hirschs
Jahresbericht erscheinen lassen, die immer wieder durch die
Reife und Sicherheit des Urteils, wie durch die Vollständigkeit
des Gebotenen überraschte. .
Alle Arbeiten Puschmanns, die grossen wie die klein¬
sten, zeichnen sich durch die gleiche minutiöse Quellenforschung
und durch die Grösse seiner historischen Gesichtspunkte wie
durch die prächtige Herausarbeitung in künstlerisch befriedi¬
gender Form aus unter meisterhafter Handhabung des kost¬
baren Werkzeugs der Sprache! — - -
Schweren Herzens werfen wir einen leidvollen Blick aut
traurige Wirrungen seines häuslichen Lebens, dem Kinder
leider versagt geblieben waren, dem endlich in schiillstem
Missklang ein vorzeitig Ende beschieden war, das ei zuletzt
noch mit einer autobiographischen Novelle „Leonie zu be¬
schwören versucht hatte4) — — umsonst unsiihnbar . —
Und wem dann ein Blättchen seiner Hand aus diesen Jahren
vor Augen kam, dem sagte es leise, aber vernehmlich, dass
schon die Schatten des Todes heraufzuziehen begannen, die
nach Jahre langen Leiden endlich am 28. September 1899 das
ewige Dunkel brachten
„mit milder Freundeshand“.
Doch wir sind bei der Schilderung seines Lebensganges
an einem der Höhepunkte seiner Betätigung vorbeigegangen.
Es war gerade 10 Jahre von seinem Tode, als er in der Blüte
-einer Kraft, auf der Höhe seines Könnens zu Heidelberg auf
der Naturforscherversammlung zum zweiten Male eine Lanze
brach für sein Sonderfach in der bekannten Rede über „die
Bedeutung der Geschichte für die Medizin
und die Naturwissenschafte n“.
Hält man die im Inhalt sich enge damit berührende Wiener
Antrittsvorlesung vom Jahre 1879 über die Geschichte
der Medizin als akademischen Lehrgegen¬
stand neben diese Heidelberger Rede, so tritt die vor¬
geschrittene Reife und Durchbildung deutlich zu Tage, ebenso
die gewonnene grössere Weite des Blickes und die vielseitigere
Durchdringung des wertvollen Details. Freilich, die auf den
ersten Blick imponierende Erweiterung des Themas durch die
Mithereinbeziehung der Naturwissenschaften erweist sich bei
näherem Zusehen mehr als eine Konzession an das aus beiden
Fakultäten gemischte Auditorium. Sie ist mehr äusserlich an¬
gefügt und ergibt sich nicht mit zwingender innerer Not¬
wendigkeit. Und doch ist der Schade, den der so stolz und
selbstsicher blühenden Naturwissenschaft die Vernachlässigung
ihrer Geschichte gebracht hat und täglich bringt, sicher nicht
gering anzuschlagen.
In einer Hinsicht freilich sind die Naturwissenschaften in
ihrer Lehr- und Forscherbetätigung einfacher, ja besser ge¬
stellt, nämlich darin, dass der Physiker, der Chemiker, der
Botaniker, der Zoologe nicht nebenbei einen Stand erziehen
muss, wie den der A e r z t e, an den mit vollem Rechte nicht
nur in wissenschaftlicher, sondern auch in ethischer Hinsicht
die allerhöchsten Anforderungen gestellt werden, ja gestellt
werden müssen — und dazu hat die Medizin ihie Ge¬
schichte noch ganz besonders nötig! —
Es würde mich zu weit führen, wollte ich Sie etwa einen
vergleichenden Einblick in die Werkstatt Puschman ti ¬
schen Geistes tun lassen, indem ich Ihnen die doppelte Behand¬
lung des nämlichen Themas in 10 jährigem Abstand zer¬
gliedernd vorführte, auch ist es gar nicht meine Absicht, Ihnen
nach dem Muster Puschmanns und anderer Apologeten
der historia medicinae den Nutzen und die Vorteile historisch¬
medizinischer Studien und Lehre in erschöpfender Weise dar¬
zulegen. Ich müsste ja auch im Wesentlichen nur andere und
mich selbst wiederholen. Und wenn man auch wichtige
Wahrheiten vielleicht solange wiederholen sollte, bis sie
Gemeingut aller Denkenden geworden sind, so möchte ich
mich doch darauf beschränken, ein paar Gedanken über Auf¬
gaben und Stellung der Geschichte der Medizin zum Ausdruck
zu bringen, die sonst meist nur angedeutet oder überhaupt
nicht berührt wurden und doch wohl Beachtung verdienen, ja
wohl gar aktuelles Interesse besitzen! —
Ich bin nämlich der festen Ueberzeugung, dass nicht nur
die medizinische W issen schaft, sondern auch der aus¬
übende Arzt seine Geschichte nötig hat, ja dieser
gegenwärtig vielleicht mehr, als jemals im ganzen Laufe seiner
Vergangenheit! -
3) Gedruckt „Wiener medizinische Blätter“ 1879, No. 44 und 45.
4) ,jNord und Süd“, 1896, Juniheft,
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
t /
Io/ 2
Für alle Geisteswissenschaften steht ja die Notwendigkeit
der Pflege ihrer Geschichte ausser Frage: vom Standpunkte
der Universitas literarum gesehen, sollte sie auch für die Na¬
turwissenschaften einschliesslich der Medizin ausser Frage
stehen. Auch hier gilt doch das Goethe wort, dass die
Geschichte einer Wissenschaft die Wissenschaft selber ist;
zum mindesten steht bei der mangelhaften Pflege ihrer Ge¬
schichte bei den nomothetischen Wissenschaften ebenso wie
bei den idiographischen das nämliche kostbare Gut auf dem
Spiele — es droht der Verlust eben des Charakters der
Wissenschäft.
Darum ist es auch von vornherein eine verkehrte Frage¬
stellung, wenn man immer zuerst den Nutzen nachgewiesen
haben will. Sollte nicht vielleicht darin, dass die Vertreter der
medizinischen Wissenschaft immer und immer wieder den
Nachweis ihrer Nützlichkeit von der Geschichte ihrer Fächer
verlangt haben, schon ein mahnendes Zeichen eines leichten
Herabgleitens von den reinen Höhen der Wissenschaft zu
finden gewesen sein? —
Wollte man an den Universitäten nur nach den praktischen
Gesichtspunkten des Nutzens oder der Erspriesslichkeit fragen,
wo blieben wir denn da mit einer ganzen Reihe von Wissens¬
zweigen, die glänzend blühen in der Hand hervorragender
Zierden unserer Hochschulen, wo blieben beispielweise die
Assyriologie, die Aegyptologie, die Sanskritforschung und Un¬
zähliges andere?
Mit demselben Rechte dürfte wohl die Geschichte der
Medizin akademisches Bürgerrecht beanspruchen, rein als
Wissenschaft betrachtet, als einer der bedeutungsvollsten
Zweige der kulturhistorischen Forschung, der auch an Lei¬
stungen hinter anderen Zweigen der Kulturgeschichte nicht
zurücksteht, der ausserdem im Verein mit anderen modernsten
Bestrebungen die gewaltige Lücke auszufüllen berufen ist, die
zwischen der Medizin und den Geisteswissenschaften klafft,
derart also an ihrem bescheidenen Teile zur Verwirklichung
des hehren Gedankens der Einheit der Wissenschaften mit bei¬
zutragen, wie sie selber nur gedeihen kann, indem sie mit
Theologie, Philosophie und Jurisprudenz und speziell mit allen
historischen und philologischen Disziplinen engste Gemein¬
schaft pflegt, nicht nur, weil sie auf ihrer aller Mitarbeit
täglich, ja stündlich angewiesen ist.
Mir scheint, sie ist berufen, auch diesen Gedanken des Zu¬
sammenhanges aller Wissenschaften dadurch in die Tat um¬
zusetzen, dass sie ihn unvermerkt in die Kreise der angehen¬
den. Mediziner trägt und den künftigen Aerzten ideale Güter
vermittelt, die sie wohl ebenso segensreich hinausgeleiten
werden in ihren dornenvollen Beruf, wie die Ausrüstung an
positivem Wissen, die sie befähigt, zu raten, zu helfen, zu
nützen, zu heilen bei mancherlei Leiden ihrer bedrängten Mit¬
menschen.
Wahrlich, wer da hinaussieht ins Land und warmen Her¬
zens das Schicksal des Aerztestandes von heute miterlebt, der
wird sich bald darüber klar werden, dass dem Arzt von heute
neben dem ersten Kardinal erfordernis einer absolut erst¬
klassischen wissenschaftlichen und praktischen Ausbildung
noch z w e i D i n g e mit auf den Weg gegeben werden sollten,
für welche die bisherige so vorzügliche Fachausbildung viel¬
leicht doch nicht völlig genügen möchte — eine hohe
Allgemeinbildung und ein unerschöpflicher
Schatz von Idealismus.
Oder ist es etwa nicht wahr, dass dem Mediziner von
heute, dem Lasttier des Tatsachenmaterials in seiner er¬
drückenden Fülle, anderen akademisch Gebildeten gegenüber
eine gewisse Einseitigkeit, ein Mangel an Allgemeinbildung viel¬
fach wenig vorteilhaft anhaftet, dass es dem Arzt um dessent-
willen nur schwer, nur ausnahmsweise gelingt, die gesellschaft¬
liche Stellung einzunehmen, welche ihm nicht nur zukommt,
sondern ihm auch erst die Möglichkeit gibt, seinen so unendlich
vielseitigen und wichtigen Aufgaben im Gemeinwesen, in der
ganzen menschlichen Gesellschaft voll gerecht zu werden.
Spricht sich dieser nicht wegzuleugnende Mangel nicht des
öfteren schon darin aus, dass man im Leben draussen der
medizinischen Wissenschaft nicht mehr allenthalben die
volle Geltung zuerkennen will, die sie früher unbestritten be-
sass? Ja selbst die Ueberhandnahme der Wertschätzung der
sogen. Laienmedizin ist zu einem immerhin beachtenswerten
Teile auf diese verminderte Bewertung und auf eine gewisse
Isolierung der ärztlichen Wissenschaft zurückzuführen, die zu¬
zunehmen scheint, wie die Medizin immer noch mehr in ein¬
zelne Sonderdisziplinen auseinanderfällt. Neben den an¬
deren grundlegenden theoretischen Fächern der Medizin ist
auch ihre Geschichte berufen, hier segensreich zu wir¬
ken, indem sie ein Band um alle die zahlreichen medizinischen
und naturwissenschaftlichen Sonderdisziplinen schlingt durch
den Nachweis des gemeinsamen Ursprungs ihrer aller aus
einer Wurzel und durch die gemeinsame Pflege ihrer glor¬
reichen Vergangenheit.
Bitter not tut aber auch fernerhin dem jungen wie dem
alten Mediziner von heute die Stärkungseinesidealen
Sinnes.
Ist es denn etwa irgend fraglich, dass der heutige Staat
der Mitarbeit des Arztes mehr bedarf wie je,
vor allem zur Ausführung der allein von der wissenschaft¬
lichen Medizin ihn gelehrten volkshygienischen Massnahmen
in der Abwehr und Bekämpfung der grossen Volkskrankheiten,
akuter wie chronischer — zu deren Gesamtverständnis, ganz
nebenbei bemerkt, die Geschichte dieser Krank¬
heiten genau ebenso notwendig ist wie ihre Bakteriologie. —
Was hat die Sanierung der' Städte in den letzten Jahr¬
zehnten nicht für Fortschritte gemacht, dank der opferfreudigen
Vorarbeit und Mitarbeit der Aerzte!
Noch unendlich eingreifender und vielseitiger gestaltete
sich die Mitwirkung des Arztes in der Ausführung der grossen,
weitschichtigen, weitumfassenden und unendlich differenzierten
sozialpolitischen Gesetzgebung der letzten 20 Jahre. Fast ein
Menschenalter lang hat die deutsche Gesetzgebung Jahr für
Jahr den deutschen Aerzten neue Pflichten auferlegt — still¬
schweigend und ohne alle Bedenklichkeiten davon überzeugt,
dass der deutsche Arzt seine Schuldigkeit tun und alle ihm
auferlegten neuen Pflichten geduldig erfüllen, alle in ihn ge¬
setzten Erwartungen prompt einlösen würde — und hat er
sie nicht glänzend gelöst, alle ihm gestellten neuen Aufgaben,
glänzend und opferfreudig?! Man wagt demgegenüber kaum
die Frage, wie sich denn der Staat in all der Zeit zu den Aerzten
gestellt hat! -
Einer mit typischer Regelmässigkeit und eiserner Not¬
wendigkeit sich wiederholenden Erschwerung der Examens¬
bedingungen geht eine täglich wachsende Erschwerung aller
seiner Existenzbedingungen parallel, welche den Aerztestand
genötigt hat, seine Sache selbst in die Hand zu nehmen und
sich zum wirtschaftlichen Schutze zu organisieren — meint
man denn aber, dass dieses tägliche Kämpfen eines ganzen
Standes um minimalste Besserstellungen, um kleine Not- und
Brotfragen des Lebens die sonst so nötige ideale Gesinnung
stärkt? Etwa nach dem alten Rezept, dass Hunger und Idealis¬
mus Hand in Hand durchs Leben gehen müssen? Nein, man
glaube nicht, dass dieser tägliche Kampf für ein Mindestmass
von Existenzmöglichkeit, dies Pfennigfeilschen mit anderen
wirtschaftlichen Interessengruppen den Idealismus des Arztes
hebt, besonders wenn er sehen muss, wie die gesetzgebenden
Faktoren dem Kampf der Aerzte mit der gewerbsmässigen
Laienmedizin mit verschränkten Armen Zusehen, als wenn es
sich dabei um einen Kampf für den Geldbeutel der Aerzte
handelte, und nicht vielmehr um einen Kampf um die wich¬
tigsten Fragen der Volksgesundheit.
Alles drängt darauf hin, dem deutschen Arzte seinen
Idealismus in Grund und Boden zu zerstören, den er doch heute
nötiger hat als je, den sein Beruf dringender erfordert als der
jedes anderen Standes. Hält man doch selbst die unerschöpf¬
liche Quelle des Idealismus, die in der unvergleichlichen ästhe¬
tischen und ethischen Grösse der Antike sprudelt, für den
angehenden Arzt nicht mehr für nötig — da kann neben dem
persönlichen Einfluss der Lehrer der Heilkunde an unseren
deutschen Hochschulen, in ihrem hohen Beispiel unermüdlicher
Pflichterfüllung und ständiger Betätigung edler Menschen¬
freundlichkeit und ihrem mahnenden, begeisternden Worte, nur
das Studium der Geschichte des ärztlichen Standes und
der medizinischen Wissenschaft einigermassen Ersatz bieten
mit ihrer gewaltigen Erweiterung des Gesichtskreises, mit
ihrem Nachweise des kulturgeschichtlichen Zusammenhanges
aller geistigen Errungenschaften der Menschheit, mit ihrer
Fülle von Vorbildern herrlichster Betätigung aller ärztlichen
Tugenden, ärztlichen Wirkens und Schaffens in nimmer rasten¬
der Opferfreudigkeit — zweifellos di e b e s t e S c h u 1 e ärzt¬
licher Ethik. Insofern hat auch der moderne Staat
ein Interesse an der Pflege historischer Forschung und Lehre in
der Medizin, historischen Sinnes in der deutschen Aeizte-
welt! —
Warum aber dem Arzte der Historiker seines Faches auch
aus praktischen Gründen heute besonders nötig ist, das hat
für den, der sehen will, gerade auch das schon mehrfach herein¬
gezogene Ku r pfu s che rtum gelehrt.
Neben gründlichster Fachkenntnis, welche dem Heil -
stiimper in jedem einzelnen Falle das Schädigende, also
Verwerfliche seines täppischen Eingreifens in den feinen Or-
ganismus des Lebens nachweist, neben dem geübten D.alek-
tiker der unerbittlich alle Trugschlüsse aufdeckt, die de
Apostel einer einseitigen Heilalleinseligkeit den gläubigen
Seelen vorredet, bedarf der Arzt gerade in diesem Kampfe
des medizinischen Historikers und Kulturhistorikers, der ihm
immer wieder den Nachweis liefert, wie alle gewerbsmässige
Laienmedizin nur ein Diebstahl ist an der Allmutter Medizin,
dass es sich immer und immer wieder nur um Abwege handelt,
die zu Irrwegen werden wollten in der historischen Entwick¬
lung der Heilkunde, die darum von der einsichtigen und vor¬
sichtigen Heil Wissenschaft rechtzeitig verlassen wurden
zum Segen der kranken Menschheit und die nun wieder der¬
selben leidenden Menschheit von wissenschaftsfeindlichen
Fanatikern als die einzigen Wege zur Wahrheit vorgerede
werden, während sie nur tiefer und rettungsloser ins
strüpp führen, als es die gut beratene medizinische Wissen¬
schaft jemals mitgetan hätte und mitgetan hat. Schon der
einzige, nur historisch zu führende Nachweis, dass Mies das
ienige was die heilbeflissenen Gegner der wisenschafthchen
Medizin als heilendes Evangelium mit Erlösermiene Predigen
für eben diese befehdete wissenschaftliche Heilkunde gar
nichts Neues i s t, sondern einfache, dreiste Entlehnung aus
früheren Zeiten der medizinischen Entwicklung, schon dieser
einfache Nachweis nimmt dem Kurpfuschertum fast alle seine
Trümpfe aus der Hand, mehr noch der Nachweis, wie man
vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten diese so „heilsamen
Lehren gewissenhaft und gründlich geprüft und als irreleitend
und in ihrem extremen Ausbau als überaus schädlich für die
Funktionen des menschlichen Körpers und ihr harmonisches
Ineinandergreifen erkannt hat. H
So kann sich also die historische Erforschung dei Heil¬
kunde auch ihren in der Praxis stehenden Jüngern von heute
dienstbar und hilfreich erweisen.
Eine Beobachtung aus den letzten Monaten gibt mir Ver¬
anlassung, zum Schlüsse noch eine Frage zu streifen deren
Beantwortung sich grossenteils schon aus meinen bisherigen
Ausführungen ergibt. . , . .
Vor einigen Monaten hatte ich in einer deutschen Haupt¬
stadt Gelegenheit, dem wunderlichen Schauspiel beizu¬
wohnen, wie einer unserer feinsten naturwissenschaftlichen Ge¬
lehrtenköpfe, vor eine durchaus nicht besonders verwickelte
historische Aufgabe gestellt, völlig versagte. Das war mir
ein neuer Beweis, dass die Annahme, man brauche keine
gesonderten Vertreter der Geschichte der Medizin an den Hoch¬
schulen. jeder tüchtige Lehrer eines Spezialfaches, der an
dessen Fortschritten hervorragend beteiligt ist, könne auch ohne
weiteres dessen Geschichte lehren, irrig ist. Dazu ist doch
eine ganz besondere Vorbereitung nötig, ein ganz beson¬
deres Studium, welches zunächst viel Zeit in Anspruch nimmt,
die unsern Vertretern der medizinischen Spezialfächern allen
nicht im Ueberfluss zur Verfügung steht, viel Zeit und noch
manches andere Erfordernis, das ich hier im einzelnen mchi
vorführen will. Tjr , „
Freilich hat die Medaille auch ihre Kehrseite. Auch de
Universalhistoriker der Medizin ist nicht soohneWeitci es
berufen, eingehend und erschöpfend die Geschichte jeder Sou
derdisziplin zu schreiben allein aus seiner Mstor^ch-medi-
zinischen Allgemeinkenntnis heraus. Dazu bedarf es zunac ^
und vor allem noch der eigenen eindringenden Spezialaus¬
bildung in dem betreffenden Fach, wie sie nur -durch Jahre
lange Ausübung desselben gewonnen werden kann. Nur ein
Augenarzt wird eine Geschichte seiner Dtsaphn schreiben
können, die diesen Namen wirklich verdient nur em Chirurg
eine ernst zu nehmende Geschichte dei Chiiu g >
schichte einer Krankheit wird fruchtbringend nur der Arzt zu
schreiben vermögen, der sie aus eigener Behandlung von ihr
Er8SÄ dfe "Bedeutung des Fachvertreters den
«£ dS Ät loh seh7aaSn,Zw“’ Je oj
schichtederMedizinselber. Der Umversalhistonk er
der Medizin hat als Lehrer und Forscher immer noch Aibeit
genug, wenn er die so weit zerstreuten Materialien sammelt,
neue Quellen erschliesst und herausgibt und den Spez
his+orikern der einzelnen Disziplinen alles wohl vorbereitet
darbietet wessen sie zu ihrer Spezialforschungen und Spe¬
zialdarstellungen benötigen, alles in der großen Zusammen¬
hänge seiner Wissenschaft und der allgemeinen Kultuient-
wicklung stellt und Einzeluntersuchung an Einzeluntersuchung
reiht und immer neu die Fäden blosslegt, die von einer Wissen¬
schaft zur andern führen, auf dass die Einheit des Ganzen sich
immer neu erweise und vor allem das ganze medizinische und
naturwissenschaftliche Denken und A rbe 1 1 en wiederum
mit historischem Geiste durchdrungen werde
zur Vertiefung dieser wichtigen Zweige menschlichen M lssens
und zur kräftigen Neubelebung des Gedankens der Univer¬
sitas literarum!
So soll der Historiker der Medizin im wesentlichen fer¬
mentativ wirken im wissenschaftlichen Lehrkörper seiner
Hochschule — ein kleines dienendes Glied zum Wohle des
^ Gelingt mir dies auch nur in geringem Grade, hier in dieser
illustren Vereinigung der Alma mater Lipsiensis, so ist mein
Leben, mein Arbeiten hier nicht umsonst gewesen.
Referate und Bücheranzeigen.
Medizinalberichte über die deutschen Schutzgebiete für das
Jahr 1903/04. Herausgegeben von der Kolomalabteilung e
Auswärtigen Amts. Berlin 1905. Ernst Siegfried Mittler
& S Die "Medizinalberichte über die deutschen Schutzgebiete
beanspruchen deswegen ein' erhöhtes # Interesse, wci die
einzigen Unterlagen sind, auf denen sich em Urteil über de
Gesundheitszustand der Schutzgebiete frei v0"ie^er flauen
färberei und auch frei von jeder Schwarzseherei auf baue
kann. Der vorliegende Bericht behandelt das Berichtsia
1903/04. Zweifellos liegt ein durch die Verhältnisse gegebener
und unmöglich zu überwindender Nachteil dann dass d e be¬
handelte Zeit bei Erscheinen des Berichtes 1—2 Jahr zurucK
liegt; doch wird für jeden, der in eigenem Interesse Rat sucht,
der Nachteil dadurch aufgehoben, dass bei dem meist fru -
baren Streben der in den Kolonien tätigen Aerzte ein Fort¬
schritt zum Besseren inzwischen zu vermuten und meist auc
eingetreten ist. Auch darin, dass der Bericht nur gewisse,
oft sehr geringfügige Teile eines grossen Landes beruc -
sichtigt liegt praktisch kaum em Nachteil, da naturgemass
gerade die Teile behandelt sind, die zur Besiedlung zunächst
in Betracht kommen. Ausser Tsingtau, über das im Sanitats-
bericht der Marine Näheres zu finden ist, werden sämtliche
deutschen Schutzgebiete behandelt. Die Tierkrankheiten
werden ihrem eminenten Einfluss auf die Fortentwicklung
unserer Schutzgebiete gemäss mit herangezogen, rui buü-
West-Afrika gestatteten die kriegerischen Verhältnisse die
Vorlage eines Jahresberichtes noch nicht. Das Verzeichnis
der im Berichtsjahr gestorbenen Weissen bringt vieie gewalt¬
same Todesarten und recht wenig Malaria. Deutsch-Ust-
Afrika, das mehr als ein Drittel des Buches für. sich bea -
sprucht, steht unter dem Zeichen Kochs und seiner Schn .
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
1674
Man glaubt unter dem Kampf mit Chinin ein Zurückweichen
der Malaria zu bemerken. Für Schwarwasserfieberkranke be¬
währt sich die Chiningewöhnungskur. Die Pocken werden
infolge natürlicher Durchseuchung und vermehrter Impfung
geringer. Das Rückfallfieber tritt zum ersten Mal in grösserem
Umfang auf. Dysenterie ist verbreitet und besonders den Ein¬
geborenen verderblich. Ueber Schlafkrankheit und Trypano-
somiasis berichtet ausführlich und vortrefflich Feldmann,
der in Bukoba stationiert war. Die Pestherde im Innern, der
eine in Kisiba (Bezirk Bukoba), der zweite neuentdeckte in
Iringa (Uhehe) bedrohen bei der ihnen geschenkten Aufmerk¬
samkeit das Schutzgebiet nicht wesentlich. Lepra kommt im
ganzen Schutzgebiet vor. Geschlechtskrankheiten werden
eine Landplage genannt. Bilharzia, Filaria und Ankylostoma
kommen vor. Das Studium der Tierkrankheiten findet all¬
seitige Unterstützung und wird nach Kräften gefördert. Aus
Kamerun berichtet über Duala Ziemann; es gelang ihm,
der Malaria gegenüber, wesentliche Fortschritte zu erzielen.
Auch das Schwarzwasserfieber lässt an Häufigkeit nach. Uner¬
müdlich wiederholte Belehrungen und Vorschriften, die vom
Gouvernement erwirkt wurden, tragen dazu bei, bei Euro¬
päern wie bei Farbigen Verständnis und Fortschritte in hy¬
gienischen Fragen zu erzielen. Der Viehhaltung widmete
Z i e m a n n viel Zeit und Arbeit. Ueber Viktoria berichtet
Hofft, über K ribi Hösemann; in beiden Städten stand der
Kampf gegen die Malaria im Vordergrund. In Togo (H i n t z e)
zeigt die Malaria ebenfalls leicht abnehmende Zahlen. Lome,
wo die Moskitobrigade wirkt, ist fast malariafrei. Zahl und
Schwere der Dysenterieerkrankungen scheint zuzunehmen.
Schlafkrankheit kommt in geringer Ausdehnung vor. Tier¬
lymphe gelang es im Lande herzustellen. Geschlechtskrank¬
heiten sind weit verbreitet. Unter den Viehseuchen (Schil¬
ling) spielt die Nagana die grösste Rolle. Aus deutsch Neu-
Guinea berichtet W e n d 1 a n d über Herbertshöhe; der wich¬
tigste Fortschritt in sanitärer Hinsicht ist die Eröffnung eines
Gouvernementskrankenhauses für Europäer und eines zweiten
für Farbige. Bei der Malaria ist quartana nicht selten. Lepra
kommt nicht vor, dagegen Beriberi eingeschleppt; Geschlechts¬
krankheiten sind nicht zu häufig. Die nicht als Arbeiter ange-
worbenen Eingeborenen lieben es nicht, die Hilfe des Arztes
in Anspruch zu nehmen. In Friedrich-Wilhelmshafen ist nach
Hoffmann Beriberi nicht heimisch und tritt fast nur unter
den eingeführten Arbeitern auf. Malaria ist die grösste Feindin
der Weissen; Prophylaxe wird empfohlen. Masern treten in
nicht seltenen Epidemien auf; Ankylostoma ist sehr verbreitet,
Geschlechtskrankheiten wenig; venerisches Granulom kommt
eingeschleppt vor. Auf den Karolinen spielen Frambösie,
leichte Dysenterie und Neigung zu Mundentzündungen schon
bei geringsten Quecksilbergaben die Hauptrolle. Malaria und
Geschlechtskrankheiten kommen nur eingeschleppt vor. Auf
den Marshallinseln fehlt Malaria; Geschlechtskrankheiten und
Frambösie, ebenso die sogenannten Erkältungskrankheiten
sind häufig. Auf Samoa endlich spielten Krankheiten der Ver-
dauungs- und Atmungsorgane (Influenzaepidemie) neben Ge¬
schlechtskrankheiten die Hauptrolle.
Alles in allem zeugt der Bericht von Arbeit und Streben
nach jeder Seite, über deren Erfolg der nächste Bericht Kunde
bringen wird. zur Verth.
Friedrich Plehn: Tropenhygiene, mit spezieller Berück¬
sichtigung der deutschen Kolonien. II. Auflage, neu bearbeitet
von Albert P 1 e h n, mit 6 Tafeln und 5 Abbildungen im Text.
305 Seiten. 5 Mk. Gustav Fischer, Jena, 1906.
Die vorliegende 2. Auflage der bekannten Tropenhygiene
von Friedrich Plehn, welcher leider zu früh der Wissen¬
schaft durch den Tod entrissen wurde, besorgte Albert
Plehn, dem ebenfalls reiche, in den Tropen gesammelte Er¬
fahrungen zur Seite stehen. Da beide Forscher auf gleichem
Gebiete sich betätigten und gleiche Anschauungen vertraten, so
ist das neue Buch in dem früheren Sinne fortgeführt worden.
Dem neueren wissenschaftlichen Standpunkt entsprechend, sind
einzelne Kapitel, wie Malaria und Dysenterie völlig umgeändert,
ebenso haben einzelne Kapitel über die eigentliche Tropen¬
hygiene wesentliche Aenderungen, Verbesserungen und Er¬
weiterungen erfahren. Sehr zu begrüssen ist das neue Kapitel
über die Behandlung der Eingebornen und die
Eingebornenhygiene, welches, aus eigener Erfahrung
heraus geschrieben, eine Menge brauchbarer Ratschläge gibt,
die besonders dem neu Eingewanderten sehr wertvoll sein
können. Es reiht sich den wichtigen Vorlesungen über das
tropische Stationsleben, die Expeditionshygiene und die Sta¬
tionsanlagen in den Tropen ebenbürtig an.
R. O. N e u m ann- Heidelberg.
Max Haudeck: Grundriss der orthopädischen Chirurgie.
Mit 198 Abbildungen im Text. Stuttgart, Verlag von Fer¬
dinand E n k e. 1906. Preis 8 M.
Der Verf. ist ein Schüler Hof fas und gibt in seinem
Grundriss die Anschauungen der H o f f a sehen Schule wieder.
Das Buch wendet sich vor allem an diejenigen Aerzte und
Studierenden, denen das H o f f a sehe Lehrbuch zu umfang¬
reich ist, die sich aber für die Bedürfnisse der allgemeinen
Praxis schnell über orthopädische Fragen orientieren möchten.
Deshalb ist besonderer Wert auf die Besprechung der Dif¬
ferentialdiagnosen und der therapeutischen Massnahmen gelegt.
Doch finden auch die ätiologischen und die pathologisch-anato¬
mischen Verhältnisse eine kurze Berücksichtigung. Die Sprache
des Buches ist klar und fliessend; die Abbildungen, von denen ein
Teil Originalaufnahmen des Verfasssers darstellen, sind zahl¬
reich und charakteristisch. Dass die Ausstattung, welche der
Enke sehe Verlag "dem Buche gegeben hat, gut ist, bedarf
kaum der besonderen Erwähnung. F. Lange- München.
Max David: Grundriss der orthopädischen Chirurgie.
Mit 184 Abbildungen. Zweite, wesentlich vermehrte und ver¬
besserte Auflage. Berlin 1906. Verlag von S. K a r g e r. Preis
6 Mark.
Das Buch Davids ist, ebenso wie das von Hau dek,
für den Praktiker geschrieben. Der nur 240 Seiten umfassende
Grundriss beschränkt sich auf die Beschreibung derjenigen
Methoden, welche leicht ausgeführt werden können und
bringt nur soviel theoretische Ausführungen, als zum Ver¬
ständnis der therapeutischen Eingriffe notwendig sind.
Dass das Buch in seiner kurzen Form dem Bedürfnisse
vieler Aerzte entspricht, zeigt die nach 6 Jahren notwendig ge¬
wordene, zweite Auflage. Auf Einzelheiten kann natürlich an
dieser Stelle nicht eingegangen werden. Nur e i n Punkt
scheint mir wichtig genug, hervorgehoben zu werden.
David beschreibt in seinem Buche die K 1 a p p sehe
Kriechbehandlung der Skoliose. Das Verfahren ist durch
seine Einfachheit so bestechend, dass sich mancher praktische
Arzt dadurch verleiten lassen kann, die Kriechmethode an¬
zuwenden.
Gerade deshalb hätte selbst in einem so kurzen Grundriss
eine Kritik an der Methode geübt wrerden müssen. Es sollte
mindestens hervorgehoben sein, dass das Verfahren nur für
einfache Totalskoliosen, mit Hochstand der Schulter auf der
konvexen Seite, in Frage kommen kann. Wenn man aber von
jeder Skoliose eine genaue Zeichnung anfertigt und nicht etwa
die Diagnose nach dem Bandmasse oder nach der blossen Be¬
sichtigung stellt, so zeigt sich, dass die Zahl dieser reinen
Totalskoliosen sehr gering ist.
In der Praxis des Referenten beträgt die Zahl solcher sich
zur Kriechbehandlung eignenden Totalskoliosen etwa 10 Proz.
Für diese könnte jeder Arzt, welcher die Umbiegung der Wir¬
belsäule nach dem Typus des Vierfüsslers bevorzugt, das
Klapp sehe Verfahren anwenden, wenn es auch wrohl keine
Vorzüge vor anderen gymnastischen Uebungen hat, welche
eine Ueberkorrektur der Skoliose erreichen.
Für die anderen Skoliosen aber, bei denen nur ein Teil
der Wirbelsäule eine Biegung zeigt, besteht die Gefahr, dass
durch das K 1 a p p sehe Verfahren eine Gegenbiegung ge¬
schaffen wird und bei denen, welche bereits eine Gegenbiegung
haben, ist eine Verstärkung dieser Gegenbiegung mit Sicher¬
heit zu erwarten. Bei 90 Proz. der Skoliosen ist deshalb
dringend vor der Anwendung des Klapp sehen Verfahrens
zu warnen.
Das hätte dem Praktiker, für den das Klapp sehe Ver¬
fahren im David sehen Grundriss beschrieben wird, wohl
auch mitgeteilt werden müssen.
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1675
Kurze Grundrisse müssen mit der Empfehlung von neuen
Methoden viel vorsichtiger sein, als umfangreiche Lehrbücher,
die sich an den Facharzt wenden, der auf Grund reicher Spe¬
zialerfahrungen leichter Kritik an einer Methode üben kann,
als der vielbeschäftigte praktische Arzt.
F. Lange- München.
Dr. Oscar Frankl- Wien: Die physikalischen Heilmetho¬
den in der Gynäkologie. Mit 62 Textfiguren. 1906. Verlag
von Urban &. Schwarzenberg. Berlin-Wien. 216 S.
Preis 6 M. , ,
Geheimrat v. W i n c k e 1 - München hat dem Buche em
sehr empfehlendes Vorwort mitgegeben, auf welches sich der
Verfasser bezieht, indem er schreibt: „Wenn die physikalische
Therapie von den in der Praxis stehenden Frauenärzten all¬
gemein akzeptiert werde, dann müsse sich die Zahl jenei vei -
ringern, von denen Win ekel sagt, dass sie den alten Satz.
Qui bene distinguit, bene medebitur, um jeden Preis in die
Formel umwandeln wollen: Qui cito et tuto incidit, bene
sanabit.
Das Buch umfasst: . .
DieThermotherapie. 1. Aerothermtherapie (rteiss-
luftbehandlung, Klimatotherapie). 2. Die Hydrothermtherapie.
a) Hydrotherapie (Sitz-, Voll- und Halbbäder, Abreibungen,
Umschläge, Duschen, Verwendung des Wassers in Dampf-
form), b) Balneo- und Thalassotherapie (Stahl-, Schwefel-, See-,
Moor-, Eisenbäder, alkalische Quellen, Schlammbäder, Fango¬
therapie). c) Statothermtherapie (Sandbäder, statothermische
Kompressen, Vaginalapparate und Intrauterinapparate).
Die Mechanotherapie. 1. Massage (Bauchmassage,
vaginale manuelle Behandlung, intravaginale Vibiation). 2.
Heilgymnastik. 3. Belastung. 4. Lagerung. 5. Suktion. 6.
Pessartherapie. 7. Tamponade. 8. Unblutige Dilatation. 9.
Bandagierung.
Die Elektrotherapie. Die verschiedenen Strome,
Kataphorese, Franklinisation, Mortonisation.
Die Photo-, Röntgen - und Radiumtherapie.
In eingehender Weise werden alle Indikationen für sämt¬
liche obige Behandlungsmethoden besprochen, wobei sich der
Verfasser, wie auch W i nc k e 1 in dem Vorwort betont, sehr
gut bewusst ist, dass die Hauptklippe derselben in ihrer
Ueberschätzung besteht, und daher bemüht ist, die Grenzen
ihrer Leistungsfähigkeit festzustellen und darzutun, welche Zu¬
stände sie nicht zu beeinflussen imstande sind, um dadmci
überflüssige oder schädliche Versuche zu vermeiden.
G. W i e n e r - München.
Neueste Journalliteratur.
Zentralblatt für innere Medizin. No. 16, bis 31, 1906.
No. 16. Adam R. v. Kobaczkowski: Besteht ein Zu¬
sammenhang zwischen dem Blutbefunde und dem Aziditätsgiade des
Magensaftes? (Aus der med. Klinik in Lemberg.)
Die Behauptung R o 1 1 i e s, dass bei der Hyperaziditat ziemlich
normale Blutverhältnisse mit hohem Hämoglobingehalt, bei Sub¬
azidität anämische Beschaffenheit sich finden, ist in diesem Umfange
nicht zutreffend. , , ,.
No. 17. J. Pie sch- Ofen-Pest: Ueber die Diazobenzolreaktion
der Gallenfarbstoffe. M .
Die Diazoreaktion ist für Gallenfarbstoff (Bilirubin) im Harn be¬
weisend, aber der G m e 1 i n sehen und der Jodreaktion nicht über¬
legen.
No. 18. Ohne Originalartikel.
No. 19. Johannes Ruppert: Untersuchungen über den Ureh-
nystagmus. (Aus der Krankenanstalt Magdebui g-Sudenbui g.)
Entstehen nach Aufhören einer Drehbewegung um die Körper-
längsaxe schon nach wenigen Umdrehungen nystaktische Augen¬
bewegungen, und zeichnen sich diese womöglich noch durch die
Raschheit ihrer Zuckungen aus, so lässt sich aus diesem Umstande
auf eine erhöhte nervöse Reizbarkeit der gedrehten Person schliessen.
No. 20. F. Schilling-Leipzig: Rezidivierende Stomatitis
aphthosa. „ , ,
Das Leiden kommt vor infolge von Zahnkaries, besonders wenn
ein künstliches Gebiss nicht ganz passend auf den noch vorhandenen
Zahnstümpfen sitzt. Sorgfältige zahnärztliche Behandlung, nament¬
lich Mundspülungen mit 3 proz. Wasserstoffsuperoxydlösung, Ein¬
legen des Gebisses in 4 proz. Formaldehydlösung, beseitigt die lästige
Erkrankung.
No. 21, 22, 23 ohne Originalartikel.
No. 24. J. B o a s: Ein neues Reagens für den Nachweis okkulter
Blutanwesenheit im Mageninhalt und in den Fäzes.
Das Reagens besteht aus einer verdünnten P.-Phenyldiamin-
lösung und Zusatz von Wasserstoffsuperoxyd, welches dem Aether-
extrakt des Mageninhalts zugesetzt wird. Ro ,.
Mo — 31 ohne Orieinalartikel. W. Z l n n - Berlin.
Klinisches Jahrbuch. 15. Band, 4 Heft.
M. Westenhoeffer: Pathologisch-anatomische Ergebnisse
der oberschlesischen Genickstarreepidemie von 1905.
W. berichtet über die pathologisch-anatomischen Unter¬
suchungen, die von ihm im Aufträge des Kultusministeriums während
der oberschlesischen Genickstarreepidemie gemacht wurden. Nach
ausführlicher Wiedergabe von 29 Sektionsprotokollen teilt W. die
mikroskopischen Untersuchungen von 22 Fällen mit und bespricht die
Veränderungen Organ für Organ durch. Für die primäre Lokalisation
des Infektionserregers ergaben sich neue Momente. W. konnte nach-
weisen, dass die Keime die vorderen Nasenabschnitte passieren und
sich erst im lymphatischen Nasen-Rachenring, speziell in der Rachen¬
tonsille festsetzen; von hier aus erfolgt die Infektion des Ohres und
der Keilbeinhöhle. Fs genügt daher nicht die Untersuchung des Nasen¬
sekrets, sondern es muss vor allem die des Rachenseki ets hei an¬
gezogen werden (siehe dazu auch die schon refeiierte Arbeit von
L i n g e 1 s h e i m). Flügge empfiehlt zu diesem Zweck eine bieg¬
same Sonde vom Mund in den Schlundkopf zu führen. Die Infektion
der Meningen kommt dann auf dem Lymph- oder Blutweg zustande.
Der erste Weg ist der bevorzugte, daher auch die ausgedehnte Er¬
krankung der Lymphraumhaut des Gehirns im Vergleich zur Ge-
fässhaut Die Infektionspforte erklärt auch die enorme Wichtig¬
keit des Lvmphatismus als disponierendes Moment. W. glaubt sich
zur Aufstellung des Satzes berechtigt: „Die übertragbare Genickstat ic
befällt vor allem Menschen mit Lymphatismus.“ Während der Epi¬
demie machten sich empfindliche hygienische Mängel auf dem Gebiet
der Pflege und des Transportwesens bemerkbar, ebenso ein erheb¬
liches Defizit an Betten und Isolierbaracken. W. empfiehlt dahei die
Beschaffung von Baracken und Krankentransportwagen an jedem Re¬
gierungssitz, die für Epidemien irgend welcher Alt zui Veifügung
stehen. Leider ist eine Erklärung der Zeichnungen am Schluss der
Arbeit zu vermissen. . ^
W. Kirchner: Die übertragbare Genickstarre in Preussen
iin Jahre 1905 und ihre Bekämpfung.
Resümee über die in den letzten Heften des Jahrbuchs ei-
schienenen Arbeiten, bezw. Schilderung der Tätigkeit dei obersten
Medizinalbehörde, durch welche die einzelnen Arbeiten veranlasst
wurden. Die wichtigsten Ergebnisse der gesamten geleisteten Arbeit
sind ausser der definitiven Feststellung des Weichselbaum sehen
Diplokokkus als Erreger der Krankheit der Nachweis des Nasenrachen¬
raums als Eingangspforte durch Westenhoeffer, der Nachweis
der gesunden Bazillenträger, die für die Weiterverbreitung in Be-
tracht kommen. Auch für die Desinfektion haben sich wertvolle An¬
haltspunkte ergeben, besonders da der Kokkus ausserhalb des mensch-
liehen Körpers enorm hinfällig ist und durch Austrocknen in kürzester
Zeit zugrunde geht. Auf Grund der erlangten Erfahrungen wird in
kurzer Zeit eine Anweisung zur Bekämpfung der übertragbaren Ge¬
nickstarre erscheinen. R- S e g g e 1 - Geestemünde.
Zentralblatt für Chirurgie. 1906. No. 32.
O. W i t z e 1 - Bonn : Zur Gallenblasenexstirpation.
W i t z e 1 empfiehlt in der Ueberzeugung, dass die immer mehr
Anhänger findende Gallenblasenexstirpation bei Cholelithiasis am
sichersten Rezidive verhütet, ein Vorgehen, das aseptisch ohne Blu¬
tung durchzuführen, eine glatte Nahtlinie über einem gut versorgten
Stiel hinterlässt und die Bauchhöhle ohne Tamponade zu schliessen
ermöglicht.
W. löst die Gallenblase stumpf aus dem lockeren Bmdegewebs-
lager, in dem sie subperitoneal sowohl als auch gegen die Leber zu
liegt, indem er mit einem zu 2/a oberhalb, zu 1ia unterhalb des Rippen¬
bogenrandes liegenden, der Mitte des Rektus entsprechenden Schnitt
eingeht, resp. den Rektus stumpf durchtrennt und den Schnitt mit me¬
dialer Abweichung oben durch das Peritoneum führt. Nach vorsichtig
tastender Feststellung der Veränderungen und entsprechend breitem
Auseinanderhalten (mit Fassen des Bauchfells durch Hakenklemmen)
wird das Operationsgebiet vorsichtig mit feuchten warmen Kom¬
pressen umstopft, die Leber mittels eines Gazelappens gefasst, der
Rand herausgekippt, so dass die frei zutage tretende Gallenblase zu
sicherer Hantierung vorliegt. Erst jetzt wird die subperitoneale Aus¬
lösung der Gallenblase begonnen, mit einer Klemmzange wird der
Zystikus gefasst, die Serosa über dem mittleren Drittel der Gallen¬
blase, dann weiter nach dem Zystikus hin gespalten und das lockere
Bindegewebslager mit grösster Sorgfalt mit zwei anatomischen Pin¬
zetten auseinandergezogen, beiderseits der Schnittrand gelüftet, so
dass mit Kocher scher Sonde, dann dem Finger vorsichtig die
Gallenblase ausgeschält werden kann; nun wird der Inhalt kuppen-
wärts verdrängt und eine Zange angelegt und 1 cm vom Zystikus-
beginn die Amputation der Gallenblase ausgeführt. Der innere Mu¬
kosatrichter lässt sich leicht stumpf bis zu der provisorischen Ab¬
schlussstelle herausnehmen, die fibromuköse Manschette einstülpen
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
1676
lind mit feinen Nähten sicher abschliessen und der Stumpf durch
weitere Nähte immer mehr gegen den Choledochus hindrücken und
das kleine klumpige Gebilde fest in sich zusammennähen (um dauernde
Obliteration des Zystikusrestes zu sichern). Die Ränder des Serosa-
lappens werden dann von der Zystikusgegend beginnend durch einige
Lembertnähte eingestiilpt, eine zweite Serosanaht angelegt und der
Bauchschnitt ohne Drain etc. vernäht. Sehr.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 32.
E. Bumm: Die Pubotomie mit der Nadel.
Bumm bespricht noch einmal die Vorteile der Pubotomie, wie
dies bereits Stöckel (ref. in dieser Wochenschr. No. 5, p. 228) an
der Hand eines Falles getan hat. Seitdem sind 13 neue Fälle hinzu¬
gekommen. Die Heilung der Knochenwunde erfolgte jedesmal reak¬
tionslos mit geringem Kallus. Je weiter die Sägelinie nach aussen
lag, um so geringer war die Neigung zum Klaffen. Der Erfolg ist um
so besser, je länger man warten kann. Unter B u m m s 14 Fällen
wurde 4 mal die spontane Geburt abgewartet, 9 mal mit der Zange
und 1 mal mit Wendung und Extraktion am Fuss entbunden. 12 Kin¬
der sind lebend und gesund entlassen worden, die Mütter alle genesen.
R. Dohrn: Erfahrungen bei Prüfungen und dem Nachexamen
der Hebammen.
Diese hochinteressanten Erinnerungen des alten Dohrn, der über
eine mehr als 40 jährige Tätigkeit als Hebammenlehrer zurückblickt
und mehrere Tausende von Hebammen aus seiner Schule hervor¬
gehen sah, eignen sich leider nicht zum kurzen Referat, sind aber
jedem, dem das Original zugänglich ist, zur Durchsicht zu empfehlen.
K. R e i n e c k e - Hameln: Dermoide des Beckenbindegewebes.
Dermoide der Ovarien sind bekanntlich relativ häufig (7% Proz.
aller Ovarialtumoren), Dermoide im Beckenbindegewebe dagegen
sehr selten. R e i n e c k e fand in der Literatur nur 28 Fälle. Rein¬
ecke beschreibt dann einen mit glücklichem Ausgang durch Colpo-
tomia posterior von ihm operierten Fall bei einer 50 jährigen Frau,
nach seiner Angabe der einzige, in welchem die Exstirpation der Der¬
moidzyste durch Colpotomia posterior ausgeführt ist. In einer
Epikrise werden dann noch die Symptome der Beckenbindegewebs-
dermoide und die diagnostische Schwierigkeit in Reineckes
eigenem Fall eingehend besprochen. J a f f e - Hamburg.
Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten. 54. Bd
1. Heft. 1906.
1) Robert Koch-Berlin: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte
der Piroplasmen.
Die bisher nur in den Blutkörperchen der kranken Tiere bekann¬
ten Parasiten hat Koch im Blut von weiblichen erwachsenen Tieren,
die sich ganz vollgesogen hatten, weiter verfolgt. Nach Verlassen
der Blutkörperchen entstehen kleinere oder grössere Anhäufungen
von Parasiten, die mit spiessähnlichen Fortsätzen versehen sind.
Diese Fortsätze nehmen die Chromatinfärbung nicht an, entsprechen
also nicht den Geissein der Trypanosomen. Zum Teil zeigen diese
Fortsätze amöboide Bewegung. Die Strahlen nehmen an Länge und
Zahl immer mehr ab, bis der Parasit eine ziemliche Kugelgestalt an¬
genommen hat. Die Kugeln zeigen dann eine schwammige Struktur
und Chromatinfärbung. Am 3. Tage treten daneben neue Formen auf,
von denen es noch nicht festgestellt ist, wie sie aus den Kugeln
entstehen. Sie zeigen amöboid gestaltete Formen, die allmählich
Keulenform annehmen. Solche Keulenformen lassen sich auch in den
Zeckeneiern auffinden: ob nun diese Formen einen bestimmten Sitz
in dem Embryo haben, konnte bisher nicht ermittelt werden.
Bei K ü s t e n f i e b e r konnten ganz ähnliche Formen aufge¬
funden worden.
2) F. K. K 1 e i n e - Berlin: Kultivierungsversuche der Hunde-
piroplasmen.
Die Kultivierung gelang im Blut infizierter Hunde, welches de-
fibriniert wurde und dem man zu je 0,5 ccm 0,5 ccm Kochsalzlösung
zusetzte. Nach 18 Stunden findet man dann im Bodensatz die oben
beschriebenen Gebilde. Eine weitere Vermehrung liess sich dagegen
nicht feststellen.
3) Hugo P r i b r a m - Prag: Ueber die Eigenschaften des
Eberth-Gaffky sehen Bazillus.
In einer lesenswerten Studie stellt Verfasser auf Grund eigener
Beobachtungen nochmals alle morphologischen und biologischen
Eigenschaften des Tvphusbazillus und seiner Verwandten zusammen
und gibt dann ein Schema, um die einzelnen Arten zu diagnostizieren.
4) Leon Karwecki - Warschau : Ueber die Schutzimpfung
gegen Cholera vom Standpunkte der spezifischen humoralen Verände¬
rungen.
Bei den gegen Cholera Geimpften wächst die Agglutination ziem¬
lich langsam. Daher dürfen spezifische Stoffe in den ersten Tagen
im Organismus kaum erwartet werden. Für die Serodiagnostik bei
Cholera dürften daher bei akuten Fällen keine genügenden festen
Grundlagen vorhanden sein. Die zweimalige Impfung gegen Cholera
nähert sich vom Standounkt der Antikörperbildung den Verhältnissen,
welche wir bei den Cholerarekonvaleszenten antreffen.
Karl R e u t e r - Hamburg: Neue Befunde von Spirochaete paliida
(Schaudinn) im menschlichen Körper und ihre Bedeutung für
die Aetiologie der Syphilis.
Bei des Verf. Untersuchungen handelt es sich um positive Spi-
i ochätenbefunde in der Aorta. Bei seinen Studien kpmmt R zu der
Ueberzeugung, dass, wenn auch die endgültigen Beweise für die
Erregernatur der Spirochaete paliida für die Syphilis noch fehlen,
doch denselben eine grosse Bedeutung beigemessen werden muss
Aus Papelsaft gelang es ihm, die Spirochäten einige Tage am Leben
zu erhalten.
6) S c h u m a c h e r - Hamburg: Die Differentialdiagnose von
Cholera- und choleraähnlichen Vibrionen durch Blutagar.
Die verschiedenen Ansichten und Resultate, welche die ver¬
schiedenen Untersucher, die sich mit der Differentialdiagnose von
echten Cholera- und choleraähnlichen Vibrionen befassten, erhalten
haben, klärt Verf. dahin auf, dass dies z. T. an den durch das Alter
veränderten Cholerastämmen und an dem zur Untersuchung benützten
Blut gelegen habe. Am geeignetsten sei das Kalbsblut und mit diesem
könne auch eine Differentialdiagnose gestellt werden, da echte Cholera
in der Tat Hämolyse zeige.
7 ) H. Trautmann - Hamburg r Bakterien derParatyphusgruppe
als Rattenschädlinge und Rattenvertilger.
Verf. hält, gestützt auf ein grösseres Untersuchungsmaterial, es
fiii wahrscheinlich, dass die als Rattenschädlinge und Rattenvertilger
zum Teil in Hamburg, z. T. anderweitig gezüchteten, zur Paratyphus-
giuppe gehörigen Bakterien epidemiologisch mit dem menschenpatho¬
genen Paratyphus in Beziehung stehen.
• Jaroslav H 1 a d i k - Wien: Ist frisch geschlagenes Ochsen-
fleisch geniessbar und der Gesundheit zuträglich?
Der landläufigen Meinung zuwider stellt H 1 a d i k durch Versuche
fest, dass frisch geschlagenes Fleisch keineswegs schwerer verdau¬
lich ist, als abgelegenes. Auch wird es ohne Schaden, selbst nach
grösseren Mengen und öfteren Mahlzeiten durchaus gut vom Or-
I ganismus aufgenommen und verwertet.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Soziale Medizin und Hygiene (vormals: Monatsschrift
für soziale Medizin). (Verlag von Leopold Voss in Hamburg )
I. Bd. 7. Heft.
# H. Seyfarth - Hamburg: Soziale Fürsorge zur Verhütung der
Kriminalität Jugendlicher unter besonderer Berücksichtigung Ham¬
burger Verhältnisse.
Als Pastor am Hamburger Zentralgefängnis geht S. der Frage
nach, wie man bei der grossen Gefahr, die eine einmal durchlebte
Gefängnisstrafe für das soziale Empfinden und Milieu des also Be¬
straften mit sich bringt, prophylaktisch auf die Einschränkung der
Vergehen und Verbrechen hinwirken kann. Vorbildlich war darin
England mit seiner Reform des Gefängniswesens und der Rettung
verwahrloster Kinder, beide Institutionen gingen dort von Frauen
aus. Man bildete in England Schulschiffe zu Erziehungsanstalten
aus; ebenso stellte Frankreich ein Segelschiff in Dienst, das neben
einer geringen Besatzung an erwachsenen Seeleuten von Fürsorge¬
zöglingen bedient wird.
In Deutschland war es in erster Linie Hamburg beschieden, die
Eursorge der gefährdeten und verwahrlosten Jugendlichen praktisch
zu gestalten, und es wurde das Verdienst der inneren Mission, das
Rettungshauswesen immer weiter ausgebaut zu haben, so dass gegen¬
wärtig mehr als 300 Anstalten der inneren Mission mit etwa 15 000
Plätzen existieren, welche nicht konfirmierte, sittlich gefährdete oder
bereits gefallene Kinder aufnehmen. Die Führung hatte das von
Wiehern im Jahre 1833 gegründete Rauhe Haus zu Horn bei
Hamburg, welches innerhalb einer grossen Anstaltsgemeinde kleine
Eamilien aus einem Hausvater und 12—15 Knaben bestehend, bildet
und dadurch gleichsam die Anstaltserziehung mit der Familiener¬
ziehung verbindet. In neuerer Zeit hat die innere Mission ihre Arbeit
auch auf Konfirmierte ausgedehnt, da sich herausstellte, dass dies
ein dringendes Bedürfnis war, und es entstanden 22 Rettungshäuser
mit etwa 800 Plätzen für konfirmierte Zöglinge.
Es kommt aber nun bei aller solcher Fürsorge besonders auch
auf die rechtzeitige Unterbringung der Kinder an; daher ist das
neue Hamburger Gesetz vom Oktober 1904 mit Genugtuung zu
begriissen, da es nicht erst die Verwahrlosung abwartet, sondern
schon dann eine Zwangserziehung vorbereitet, wenn das Belassen der
Kinder bei ihren Eltern die Gefahr nahe legt, dass sie moralisch zu
gründe gehen. Die Erziehung auch solcher Kinder liegt am besten
dem Waisenhauskollegium ab.
Bela R e v e s z - Bekesgyula (Ungarn): Auf welche Weise
könnte man hygienische und prophylaktische Prinzipien breiteren
Volksschichten zugänglich machen?
Zunächst ist guter Wille des Hörers und weniger Prüderie,
andererseits aber auch eine grössere Zuhörerschaft von nöten, um
allmählich mehr und mehr die hygienischen Kenntnisse und besonders
prophylaktische Massregeln in breiteren Bevölkerungsschichten Platz
greifen zu lassen. Grössere Menschenmassen, welche längere Zeit
in Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen usw. zusammmengehalten
werden, müssten kurz vor dem Verlassen der betreffenden Gemein-
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1677
schäften in kurzer, bündiger, leicht fasslicher Weise über alles
Wissenswerte in Hygiene und Prophylaxis der Krankheiten aufge¬
klärt werden; natürlich ihrem geistigen Niveau entsprechend und mit
möglichst grossem didaktischen Geschick seitens der Vortragenden.
Siegfried Rosenfeld: Zur Gewerbehygiene in Oesterreich.
Fortsetzung und weitere Besprechung der einzelnen Paragraphen
und deren Ausführungsbestimmungen in Sachen der österreichischen
Gewerbehygiene; da und dort erfolgt auch hier der Einwand, dass
bestimmte Einzelheiten, Mass- und Zahlenangaben genauer hätten
präzisiert werden können.
Julie E i c h h o 1 z - Hamburg: Zur Reform der höheren Mädchen¬
schule vom gesundheitlichen Standpunkt.
In dem Entwürfe eines neuen Lehrplanes für Mädchenreform¬
schulen ist zum ersten Male von sachverständigen Frauen ein Lehr¬
plan geschaffen worden, in dem sie darlegen, was sie für die Er¬
ziehung ihres Geschlechtes für notwendig und erspriesslich halten.
Vor allem ist die Schulzeit durch einen dreijährigen Aufbau ver¬
längert worden. Dann soll aber auch eine gymnastische Ausbildung
Gesundheit, Kraft und Schönheit im Auge halten, und Schwimmen,
Turnen und Turnspiele sollen ohne athletische Uebertreibungen auch
für die weibliche Jugend dienst- und nutzbar gemacht werden. Dazu
gehören auch Turnhallen und turnerisch vorgebildete Lehrerinnen.
Dr. A. Rah n.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 32 u. 33.
No. 32. 1) 0. H i 1 d e b r a n d t - Berlin: Die beiderseitige Ober-
kieferresektion.
Die von H. mitgeteilte Methode, deren Technik und Erfolg aus
2 Krankengeschichten — jedesmal Karzinom des Gesichts — des
näheren zu ersehen ist, besteht darin, dass bei Erkrankung des Ueber-
zugs des harten Gaumens der gesunde weiche Gaumen samt Zäpfchen
quer abgetrennt wird, dass dann nach der Resektion die Wundränder
der Wangenschleimhaut zum Teil untereinander, zum Teil mit dem
Wundrand des weichen Gaumens vernäht werden. So lässt sich ein
gutes kosmetisches und funktionelles Resultat erzielen.
2) Th. Landau-Berlin: lieber einen neuen Fall von vor¬
geschrittener Extrauteringravidität bei lebendem Kinde.
Die betr. 39 jährige Frau, bei der die verschiedensten Diagnosen
gestellt worden waren, wurde von L. per laparotomiam von einem
lebenden Kinde entbunden. Der weitere Verlauf war glatt, das Kind
gedieh. Verf. fasst den seltenen Fall so auf, dass im 2.-3. Schwanger¬
schaftsmonate eine Tubenruptur eintrat und dann eine interligamen-
täre Fruchtentwicklung folgte. Besprechung der Diagnose. Die Be¬
handlung muss rechtzeitig operativ sein.
3) Hans H i r s c h f e 1 d - Berlin: Weiteres zur Kenntnis der
myeloiden Umwandlung.
In 3 neubeobachteten Fällen von lymphatischer Leukämie, die
näher mitgeteilt werden, gelang der Nachweis, dass auch bei dieser
Erkrankung myeloide Umwandlung der Milz wie der Lymphdriisen
Vorkommen kann. Die Fälle sind zugleich ein Beweis dafür, dass die
scharfe Trennung zwischen Lymphozyten und Granulozyten end¬
gültig aufzugeben ist.
4) Zondek: Ueber einen Fall von Sinus in der linken Parotis-
gegend.
Vergl. Referat in No. 27 der Münch, med. Wochenschr. über die
Sitzung der Berl. med. Gesellsch. vom 27. Juni 1906.
5) L. Kast-Berlin: Zur theoretischen und praktischen Be¬
deutung Head scher Zonen bei Erkrankung der Verdauungsorgane.
Nach kurzer Darstellung der Head sehen Befunde und ihrer
Erklärung bespricht K. seine eigenen Erfahrungen an 300 resp. 209
untersuchten magendarmkranken Fällen. Nach diesen erstreckt sich
die Hypersensibilität der H. sehen Zonen nicht selten auch auf die Be¬
rührungsempfindung. Die hyperalgetische Zone wird in ihrem Wesen
mit „lokaler Neurasthenie“ verglichen. Eingehend wird -das Zustande¬
kommen der Zonenempfindungen, sowie die event. Perzeption von
Reizen aus inneren Organen besprochen, worüber noch recht diffe¬
rente Erklärungen vorliegen. Zu „Zonen“ können verschiedene Reize
führen. Eine Unterscheidung, die der Diagnose zugute käme, ist noch
nicht bestimmt möglich. Hinsichtlich der viszeralen Organe spricht
K. die Annahme aus, dass sie ihre spezifischen Schmerzempfindungen
haben. Bei Fällen von Magenkarzinom fand Verf. nur einmal eine
H. sehen Zone. Die Lokalisation eines Prozesses nach Massgabe der
Situation einer Zone hält K. für unzuverlässig. Die Zonen sind kein
pathognostisches Zeichen in Bezug auf ein bestimmtes Organ, können
aber hie und da differentialdiagnostisch verwertet werden.
6) H. Eckstein - Berlin : Paraffininjektionen und -Implanta¬
tionen bei Nasen- und Gesichtsplastiken.
Vergl. Bericht in No. 19 der Münch, med. Wochenschr. über die
Sitzung der Berl. med. Gesellsch. vom 2. Mai 1906. Der Artikel bringt
auch zahlreiche Abbildungen behandelter Fälle.
7) C. Posner - Berlin : Enuresis ureterica.
Besprechung der Symptomatologie und Diagnose der ange¬
borenen falschen Implantation des Ureters, ein Leiden, für dessen
Therapie in erster Linie die Einpflanzung des Harnleiters in die Blase
durch Operation in Betracht kommt.
No. 33. 1) H. C u r s c h in a n n - Leipzig: Ueber Polyarthritis
chronica deformans.
Wie schon früher tritt C. auch hier für eine strikte Trennung
dieses eminent chronischen Leidens vom akuten und chronischen
Rheumatismus ein. Gestützt auf 167 selbst beobachtete 1 alle und an
der Hand zahlreicher Röntgenogramme bespricht Verfasser die Ent¬
wicklungsstadien der Polyarthritis deformans, die schon in sein
frühem Alter auftreten kann und das weibliche Geschlecht häufiger
betrifft als das männliche. Nach Darstellung der allmählichen Ent¬
wicklung der Gestaltveränderungen der befallenen Gelenke wiid be¬
sonders auf die — peripher bedingte Atrophie der kleinen Hand-
und Fussmuskeln, sowie auf die eintretende Osteoporose diagnosti¬
sches Gewicht gelegt. Aetiologisch ist da wenig bekannt. Die Haut
an den betroffenen Gelenken zeigt oft trophische Störungen, Erytheme
und Urtikaria kommen gehäuft wor.
2) W a d s a c k - Berlin: Ein solitärer Echmokokk der linken
Lunge, durch Aushusten spontan geheilt.
Vortrag, gehalten in der Gesellschaft der Chariteärzte am 31. Mai
1906. , ... „
3) L. d’A m a t o - Neapel: Weitere Untersuchungen über die von
den Nebennierenextrakten bewirkten Veränderungen der Blutgefässe
und anderer Organe. (Schluss folgt.)
4) H. Trautmann - Hamburg : Fleischvergiftung und Para-
typhus. , TT ,
Unter Hinweis auf seine früheren Arbeiten und neueren Unter¬
suchungen auf diesem Gebiete betont Verf. die ätiologische Einheit¬
lichkeit bei beiden genannten Erkrankungsformen. Bei der Fleisch¬
vergiftung kommt es im Menschen sehr rasch zur heftigen Toxin-
wirkung, nachdem das Inkubationsstadium bereits in dem zur Schlach¬
tung gelangten Tiere, dessen Fleisch verzehrt wird, durchgemacht
worden ist. Beim Paratyphus, wo das nicht der Fall ist, ist der Ent¬
wicklungsgang dementsprechend langsamer und milder. Fr. erörtert
crpo-pnQ+f>hpnrif'n Anschauungen anderer
Autoren, besonders Schottmüllers.
5) S. Rosen b erg: Ueber Zuckerbestimmung im Harne.
Demonstrationsvortrag in der Berl. med. Gesellsch. am 13. Juni
1906. Vergl. Sitzungsbericht in No. 26 der Münch, med. Wochenschr.
6) B. B o s s e - Berlin: Die Allgemeinnarkose.
Das anästhesierende Mittel muss vor allem richtig ausgewählt
werden. Mit Rücksicht darauf werden die Indikationen und Kontra¬
indikationen für Aether und Chloroform kurz besprochen und dann für
die Einleitung und Ausführung der Narkose die bekannten Ratschläge
in kurzem Referate zusammengestellt. Empfohlen wird der B r a u n -
sehe Narkoseapparat, ferner die Anwendung des O-Aether-Chloro-
form-Apparates nach Roth-Draeger-Krönig. Für die
W i t z e 1 sehe forcierte Reklination tritt B. nicht ein.
Dr. G r a s s m a n n - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 32
1) E. O pitz- Marburg: Ueber einige Fortschritte auf geburts¬
hilflichem Gebiete. (Fortsetzung folgt.) Fortbildungsvortrag.
2) F. Blumenthal- Berlin : Ueber Lysolvergiftung. Vor¬
trag im Verein für innere Medizin 7. V. 06. Ref. s. Münch, med.
Wochenschr. 1906, No. 20, S. 997 (Magenspülung.)
3) M. P f i s t e r - Heidelberg: Einige seltene Nachkrankheiten
im Verlauf des Typhus abdominalis.
3 Fälle: a) leichter Typhus, Ende der 2. Woche Pneumonie des
rechten Unterlappens, Uebergang in Lungenabszess, b) In der fieber¬
freien Konvaleszenzzeit Auftreten einer Enteritis membranacea.
c) Pyämisches Fieber, vermutlich infolge Sekundärinfektion (Strepto¬
kokken) mit Abszessbildung in irgend einem Organ, d) Vom 7. Tage
an zunehmende Somnolenz, Blässe. Sektion: ausgedehnte menin-
geale Blutung, zahlreiche Hämorrhagien in den übrigen Organen
(Lues), e) Am 23. Tage unter Fieber Abortus, dann eitrige Parotitis,
hochgradige Anämie. .
4) Karrenstein - Altona : Ist die Blinddarmentzündung bei
Männern oder bei Frauen häufiger?
Statistische Nachforschung ergab ungefähr gleiche Beteiligung
beider Geschlechter.
5) L. Mo 11- Prag: Weitere Mitteilung über die Verwendung
der alkalisierten Buttermilch als Säuglingsnahrung und über die
Dauerpräparate der alkalisierten Buttermilch.
Die Anwendung der alkalisierten Buttermilch bewährte sich: als
Beinahrung bei gesunden Brustkindern wegen Insuffizienz der Mutter,
als ausschliessliches Nährmittel für gesunde Kinder mit gestörter
Verdauung, sowie für lebensschwache Frühgeborne, als Beinahrung
neben der Brust oder ausschliessliche Nahrung bei atrophischen,
durch chronische Enteritis herabgekommenen Kindern, als Diätetikum
bei nicht mehr akuten Dyspepsien, namentlich bei gestörter Fett¬
verdauung. Auch bei poliklinischer Behandlung erwies sich das
billige, einfach zu bereitende Nährmittel als brauchbar. Für Dauer¬
präparate eignete sich die kondensierte und die Pulverform.
6) G. R i 1 1 e r - Berlin: Eine neue Methode zur Erhaltung der
vorderen Stirnhöhlenwand bei Radikaloperationen chronischer Stirn¬
höhleneiterungen.
Verf. eröffnet von der orbitalen Wand aus, besichtigt die event.
anzugreifenden Infundibularzellen und bohrt bei sehr hohen Stirn¬
höhlen am höchsten Punkt oder etwas tiefer einen Kanal schräg ab¬
wärts, von dem aus die Kürettage und Drainage erfolgt.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
7) B. G o 1 d b e r g - Wildlingen: Die Anzeigen zur Radikal¬
operation der Prostatiker.
Goldberg vertritt folgenden Standpunkt: Ohne Harnver¬
haltung besteht keine Anzeige zur Operation der Prostatahytrophie.
Auch bei akuter Retention ist die Prognose ohne Operation besser.
Bei chronischer Retention ohne Distension ist Prostatokaustik be¬
dingungsweise (zunehmende Schwierigkeiten des Katheterismus
u. a.) indiziert. Bei chronischer inkompletter Retention und chro¬
nischer Distension kann Prostatokaustik angezeigt sein, wenn noch
keine Infektion, Kachexie oder Urämie besteht.
R. ürashey - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 32. G. Nobl-Wien: Ueber das Scliutzvermögen der sub¬
kutanen Vakzineinsertion.
Durch Versuche an 79 Impflingen kommt N. zu dem Ergebnis,
dass die Vakzine auch durch subkutane Einverleibung ihre immuni¬
sierende Wirkung entfaltet, dabei wären als Vorteile dieser An¬
wendung die annähernde Dosierbarkeit der Lymphe, der mildere
klinische Verlauf, das Fehlen von Sekundärinfektionen und Auto¬
inokulationen sowie der entstellenden Narben zu bezeichnen; dagegen
fehlen bis jetzt die genügend sicheren klinischen Kriterien für den
Erfolg der Impfung, so dass zunächst bei der Unmöglichkeit von
Kontrollimpfungen an die Einführung in die Praxis nicht herangetreten
werden kann. Der lokale Erfolg der Injektion bestand in einem etwa
vom 10. bis 14. Tage auftretenden, bisweilen von Hauterythem be¬
gleiteten druckempfindlichen Infiltrat, das nach Ablauf der akuten Er¬
scheinungen in seinen Residuen noch wochenlang nachzuweisen ist.
Die zur Prüfung der erfolgten Immunisierung gemachten epi-
dermoidalen Sukzessivrevakzinationen ergaben bis zum 9. Tage
typische Vakzinepusteln, während vom 10. Tage an der Erfolg jedes¬
mal negativ war.
K. F ü r n t r a 1 1 - Graz: Die Bakteriologie des Typhus und ihre
Bedeutung für dessen Bekämpfung.
F. gibt einen Ueberblick über die Methoden zum Nachweis der
Typhusbazillen, ferner über ihr Vorkommen in den Exkrementen,
ihre weitere Verbreitung und die Wege der Infektion. Die Bekämp¬
fung des Typhus erfolgt, wie das die Organisation der „Typhusämter“
im Westen Deutschlands gezeigt hat, am besten durch strenge Ueber-
wachung und Isolierung der Kranken und des Pflegepersonales mit
peinlichster Reinlichkeit und sorgfältiger Durchführung der Desinfek¬
tion. Wo das Trinkwasser als Verbreiter der Epidemie in Betracht
kommt, ist natürlich hier sofort zur Beseitigung der Gefahr einzu¬
schreiten.
M. Biach-Wien: Ein Fall von Arsenkeratose.
Der hier beschriebene Fall ist bemerkenswert durch die seltene
Lokalisation der Hautverdickungen auch an den Dorsal flächen der
Zehen und der Finger, ferner durch die zweijährige Pause, welche
zwischen dem gewöhnlich gleichzeitigen Auftreten der Melanose und
der Keratose lag. Bei der relativen Seltenheit der Arsendermatosen
muss man an eine besondere Disposition der betreffenden Kranken
denken.
M. Oppenheim: Der gegenwärtige Stand der Syphilis¬
therapie. (Fortsetzung folgt.)
Wiener medizinische Wochenschrift.
No. 30. F. K o r n f e 1 d - Wien: Zur Kasuistik der Bakteriurie.
Zwei Krankengeschichten. Die eine gibt Anlass, die häufige Ver¬
wechslung des Leidens mit Zystitis oder Pyelitis zu betonen. Bei der
Behandlung des jahrelang bestehenden Leidens bewährte sich vorzüg¬
lich als Spülmittel eine Lösung von Hydrarg. oxycyanatum (1:5000
bis 2000). Trotz langen Bestehens war auch hier die Bakteriurie
nicht aszendiert, alle begleitenden fieberhaften Magendarm- und ner¬
vösen Störungen schwanden mit der Bakteriurie. Der zweite Fall
bot ein pyämieartiges schweres Krankheitsbild bei einem jungen Mäd¬
chen und war auf eine lange vernachlässigte Obstipation zurückzu¬
führen. Verfasser nimmt eine Infektion mit dem Bact. coli auf dem
Wege der Blutbahn an. Unter Kollargolklysmen und Hetralindar-
reichung schwand die Bakteriurie und leichte Albuminurie.
No. 31. H. G o 1 d m a n - Brennberg: Die Impfung unter Rot¬
licht.
In Fortsetzung seiner Versuche hat Verfasser weitere 40 Kinder
in der Dunkelkammer bei Rotlicht geimpft und dann bei einem Teile
die Impfstelle mit in 10 proz. Eosinlösung gefärbten Binden ver¬
bunden, welche 3 Wochen liegen blieben. Dabei hat sich ergeben,
dass bei diesen Kindern der Ablauf der Erscheinungen ein durchaus
milderer und die Narbenbildung schwächer ist. Die im Jahre 1904
in dieser Weise erzielte Immunität ist bis heute erhalten.
No. 32. A. S t e n c z e 1 - Wien: Zur Kasuistik der Obturations-
stenosen der Harnröhre.
Nach jahrelangem Bestand und langwieriger Behandlung der
Strikturerscheinungen kamen dieselben plötzlich zum Abschluss, als
ein inkrustierter, jedenfalls von einem Bougie herrührender Beinknopf
mit dem Urin aus der Harnröhre entleert wurde.
M. M e i s s n e r - Wien: Ein Fall von einseitigem Empyem der
Nebenhöhlen der Nase mit Beteiligung des Auges.
Wie mehrfach in ähnlichen Fällen ist auch diese Kranke erst
durch die nahezu völlige Erblindung zum Arzt geführt worden. Die
ätiologisch anfangs unklare Neuritis retrobulbaris fand dann ihre Er¬
klärung in dem Nachweis des Empyems der Nebenhöhlen der Nase.
Nach Abtragung eines grossen Teiles der mittleren Muschel und
Freilegung der Siebbeinzellen war dem Eiter, welcher nach der
Orbita durchzubrechen drohte, freier Abfluss gegeben und trat auch
eine rasche Besserung des Sehvermögens ein. B e r g e a t.
Englische Literatur.
(Schluss.)
G. E. Armstrong: Lungenkomplikationen nach Operationen
mit Narkose. Brit. Med. Journal, 19. Mai 1906.
Verf. untersuchte 2500 Fälle, die eine Aethernarkose (Clo ver¬
sehe Maske) durchgemacht hatten. 55 (2,2 Proz.) zeigten Lungen¬
komplikationen. Das Alter dieser Kranken schwankte zwischen 1 und
78 Jahren. Von den 55 Fällen ereigneten sich 33 während der kalten
Wintermonate; 40 Kranke waren Männer, 15 Weiber. Die Lungen¬
komplikationen traten stets innerhalb der ersten 48 Stunden nach der
Narkose auf; 37 Kranke hatten schon vor der Narkose einen sep¬
tischen Herd im Körper. Die Narkose an sich hatte nach Verf.
Meinung nur wenig Einfluss auf das Zustandekommen der Lungen¬
komplikation; vielfach war es die Art der Grundkrankheit, die dafür
verantwortlich zu machen ist, so traten bei 39 Trepanationen 8 Pneu¬
monien auf (20,5 Proz.). Bei den Fällen, die zur Sektion kamen, fand
man, dass es sich um Aspirationspneumonien durch verschluckte
Speisen oder Erbrochenes handelte. Nach den Trepanationen liefer¬
ten die Fälle von allgemeiner oder lokaler Peritonitis die meisten
Lungenkomplikationen. Verf. empfiehlt den Pat. schon am Tage vor
der Operation nur noch sterilisiertes Wasser zu geben und sie häufig
mit antiseptischem Mundwasser spülen zu lassen. Bei eiligen Fällen,
die nicht genügend vorbereitet werden können, spüle man vor Be¬
ginn der Narkose den Magen leer. Die Kranken sind während und
nach der Operation sehr warm zu halten.
Lewis Beestey: Ueber die nach Narkosen auftretende Aze-
tonurie. Ibidem.
Es gibt zwei Arten der Azetonurie, eine akute und eine chro¬
nische; Aether und Chloroform rufen in jedem Falle eine temponäre
akute Azetonurie hervor, die selbst einem scheinbar gesunden Or¬
ganismus gefährlich werden kann. Wenn die Nieren das übermässig
gebildete Azeton nicht rasch genug ausscheiden können, so kommt
es zu Symptomen der Säurevergiftung und zum Tode. Obwohl
Aether leichter Azetonurie hervorruft als Chloroform, so ist Aether
doch ungefährlicher, da er die Leber und Nierenzellen weniger an¬
greift und diese Exkretionsorgane ungeschädigt lässt. Je rascher
und reichlicher die Ausscheidung des Azetons vor sich geht, um so
ungefährlicher ist die Vergiftung. Die Vergiftungserscheinungen
werden am besten durch Alkalien bekämpft, die man in gefährdeten
Fällen schon vor der Narkose verabreicht. Chronische Azetonurie,
die vor der Narkose bestand, erhöht die Gefahren der Narkose nicht,
akute Azetonurie dagegen ist besonders gefährlich, wenn man Chloro¬
form gebrauchen will. Die Schlüsse des Verf. stützen sich auf eine
grosse Reihe eigener Beobachtungen.
P. J. Cammidge: Eine verbesserte Methode zur Ausführung
der Pankreasreaktion im Urin. Ibidem.
Verf. hat die schon früher von ihm angegebene Pankreasreaktion
jetzt vereinfacht. Man nimmt eine Probe des 24 stündigen Urins,
filtriert ihn mehrfach durch dasselbe Filter und untersucht ihn auf
Eiweiss, Zucker, Galle, Urobilin und Indikan. Dann macht man eine
quantitative Bestimmung der Chloride, Phosphate und des Harnstoffes
und untersucht den zentrifugierten Rückstand auf Krystalle von oxal-
saurem Kalk. Ist der Urin sauer und frei von Eiweiss und Zucker,
so versetzt man 20 ccm des klaren Filtrates mit 1 ccm starker Salz¬
säure (spez. Gewicht 1,16); die Mischung wird in einer langhalsigen
Flasche 10 Minuten lang auf dem Sandbade gekocht, unter Wasser¬
strahl abgekühlt und die Menge durch Zusatz von kaltem, destillierten
Wasser wieder auf 20 ccm gebracht. Man neutralisiert dann durch
vorsichtigen Zusatz von 4,0 Plumb. acet. Die nochmals abgekühlte
Flüssigkeit wird nach kurzem Stehen durch ein feuchtes, enges Filter
filtriert. Das Filtrat wird mit 4,0 Plumb. acet. tribasicum gut ge¬
schüttelt und wiederum mehrfach bis zur völligen Klärung filtriert.
Das im Filtrat vorhandene Blei wird als Sulphat gefällt und beseitigt
durch Schütteln mit 2,0 feingepulverten Natriumsulphates und nach-
heriger Filtration. Nun werden 10 ccm des klaren Filtrates mit 8 ccm
destillierten Wassers und 0,8 Phenylhydracin. hydrochlor. versetzt;
dazu gibt man 2,0 pulverisierten Natr. acetic. und 1 ccm einer
50 proz. Lösung von Essigsäure. Das ganze wird in einer kleinen
Flasche mit aufgesetztem Trichter, der als Kondensator dient, 10 Mi¬
nuten lang gekocht und dann heiss durch ein feuchtes Filter gegeben.
Man lässt das Filtrat in eine Reagenzröhre laufen, die bei 15 ccm eine
Markierung enthält, ist zu wenig Filtrat da, so wird es mit heissem
destillierten Wasser bis zu 15 ccm gebracht. In wenigen Stunden
formt sich bei positivem Ausfall der Reaktion ein leichtgelbes, flockiges
Präzipitat, das unter dem Mikroskop lange, hellgelbe, biegsame,
haarähnliche Krystalle zeigt, die in Bündelform angeordnet sind und'
bei Zusatz von 33 proz. schwefliger Säure nach 10 bis 15 Sekunden
verschwinden. Um etwa übersehene Zuckerspuren mit Sicherheit
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1679
auszuschliessen, wird ein Kontrolpräparat desselben Urines genau
so behandelt, nur ohne Zusatz von Salzsäure. Der zu der Reaktion
benützte Urin muss frisch sein, sauer reagieren und darf keinen Zucker
enthalten; im anderen Falle muss derselbe nach dem Säurezusatz
durch Gärung entfernt werden. Die vorherige Verabreichung von
Chlorkalzium stört die Reaktion. Verf. hat eine grosse Anzahl von
Kranken auf diese Weise untersucht, die später meist von dem be¬
kannten Chirurgen Mayo R o b s o n operiert wurden. Bei 29 von
100 Fällen war die Reaktion positiv und in allen diesen Fällen handelte
es sich um chronisch entzündliche Veränderungen des Pankreaskopfes.
Verf. gibt gleichzeitig noch eine Methode der Stuhluntersuchung an
und behauptet, dass seine Pankreasreaktion in Verbindung mit der
Stuhluntersuchung in vielen Fällen die Stellung einer sonst unmög-
. liehen Diagnose ermöglicht habe.
Henry T. Butlin: Ueber sehr frühzeitig erkannte Zungen¬
krebse. (Brit. med. Journ., 26. Mai 1906.)
Verf., der in England wohl die grösste Erfahrung auf dem Ge¬
biete der Zungenerkrankungen hat, gibt in dieser Arbeit 7 Kranken¬
geschichten mit Abbildungen der Zungen und der mikroskopischen
Präparate. Die mikroskopischen Untersuchungen wurden von
Bashford, dem Direktor des englischen Krebsinstitutes, gemacht.
Butlin sagt, dass er in jedem der Fälle die Erkrankung der Zunge
für ein präkarzinomatöses Stadium gehalten haben würde; er emp¬
fiehlt daher, in jedem Falle von sog. präkarzinomatösen Warzen,
Papeln etc. den erkrankten Teil der Zunge zu exzidieren und gleich¬
zeitig die regionären Drüsen auszuräumen.
G. Lenthal Cheatle: Die frühzeitige Erkennung der Brust¬
krebse. (Ibid.) .
Auch diese Arbeit lässt sich, wie vorher erwähnte, nicht gut
referieren. Verf. rät aber in allen zweifelhaften Fällen (besonders
auch bei Blutungen aus der Warze) folgende Operation zu machen.
Man umschneidet eine Hautlippe über der verdächtigen Stelle, unter¬
miniert von hier aus die umliegende Haut und entfernt die Hälfte der
Brust mit der darunter liegenden Faszie. Die Höhle wird mit einer
Sublimatkompresse (1:500) tamponiert und der Tumor genau unter¬
sucht. Handelt es sich um Krebs, so macht man nach Wechseln der
Instrumente und Handschuhe die gewöhnliche radikale Operation.
E. F. Bashford: Zur Verimpfung des Krebses. (Ibid.)
Verf. fand 28 mal bei Mäusen ein sporadisches Karzinom; er
machte viele Impfversuche mit diesen Tumoren, doch wuchsen die¬
selben viel langsamer und seltener als die Krebse, die bei englischen
Mäusen durch Verimpfungen des J e n s e n sehen Tumors entstanden.
Dieser letztere Tumor wächst bei etwa 90 Proz. der geimpften Iiere
und macht ganz kolossale Tumoren und Metastasen. Die Versuche
haben ergeben, dass diese Tumoren bei Mäusen weder bestimmte
Allgemeinsymptome, noch eine Kachexie hervorrufen. So lange die
Tumoren nicht ulzerieren, magern die Mäuse selbst dann nicht ab,
wenn die Tumoren die Hälfte ihres Körpergewichtes wiegen. Selbst
kleine Ulzerationen bei kleinen Tumoren genügen, um in wenigen
Tagen starke Abmagerung hervorzurufen. Die experimentell erzeug¬
ten Tumoren sind ganz schmerzlos.
J. Hutchinson jun.: Die Operation der Krebse der Unter¬
lippe. (Ibid.) , _ .
Verf. empfiehlt in jedem Falle die Unterkieferdrusen beider Sei¬
ten durch einen Bogenschnitt von Kieferwinkel zu Kieferwinkel im
Zusammenhänge herauszunehmen; man muss bis zur leilungssteile
der Karotis gehen.
.1. Bland S u 1 1 o n : Das sekundäre Karzinom der Ovarien. (Ibid.)
Verf. hat aus seinem grossen Material den Schluss gezogen, dass
die Mehrzahl der soliden doppelseitigen Ovariengeschwülste Krebse,
und zwar metastatische Krebse sind. Sehr häufig findet man dabei
Magenkrebse. Bei Sektionen wegen Magenkrebsen findet man bei
Frauen in mindestens 10 Proz. der Fälle Metastasen in den Eier¬
stöcken. Seiner Meinung nach wächst der Krebs aus Magen oder
Darm infiltrativ allmählich bis zum Peritoneum. Die losgelösten
Krebszellen fallen in das kleine Becken und siedeln sich auf den Eier¬
stöcken an, wo sie neue Tumoren erzeugen.
Archibald Cuff: Zur operativen Behandlung der puerperalen
Pyämie. (Journal of Obstetrics and Gynaecology, Mai 1906.)
Verf. operierte einen Fall von puerperaler Pyämie nach der von
Trendelen bürg angegebenen Weise mit transperitonealer Unter¬
bindung der Vena spermatica, die bis zur Einmündungsstelle in die
Cava thrombosiert war. Die Kranke hatte keine Schüttelfröste mehr
und genas vollkommen. Dies ist der 7. Fall, der bisher mit Erfolg
auf diese Weise behandelt wurde. Verf. rät, transperitoneal vor¬
zugehen.
Alice M. Hutchinson: Zur Kenntnis des Hämatoms der Dezi¬
dua (Blutmole). (Ibid.)
Die Verf. glaubt, dass es sich bei diesen Fällen stets um eine
voraufgegangene pathologische Veränderung des Endometriums han¬
delt; infolgedessen wird das Ei weniger Halt gewinnen und es kommt
zu Blutungen in die Dezidua mit Thrombenbildung in den intervillösen
Räumen; die Zotten werden zum Teil losgelöst und komprimiert
und der fötale Kreislauf wird beeinträchtigt. Ist der Embryo jung,
stirbt er ab und wird mehr oder weniger resorbiert, ist er älter, so
entwickelt er sich, wenn auch unvollkommen, weiter. Die Blutung
und die Thrombose zusammen führen zur Bildung des Sackes.
G. Scott Macgregor: Zur Frage des Uterus duplex. (Ibid.)
Auf Grund von 3 eigenen und 100 aus der Literatur übersicht¬
lich zusammengestellten Fällen sucht Verf. zu entscheiden, ob der
Uterus duplex zur Sterilität disponiert und ob im anderen Falle die
Schwangerschaft besondere Gefahren mit sich bringt. Es scheint nun
das Vorhandensein dieser Deformität die Chancen einer Befruchtung
nicht zu vermindern, auch ist die Entbindung meist leicht, ausser in
den Fällen, in denen der Fötus im rudimentären Horn eines Uterus
duplex liegt.
A. W. Russell: Der Mechanismus, die Diagnose und Behand¬
lung der occipito-posterioren Lage. (Glasgow med. Journ., Mai 1906.)
Verf. legt grosses Gewicht auf die Prophylaxe. Er lässt die
Schwangere während der letzten 14 Tage (wenn es gelang, die Lage
festzustellen) vor der Geburt täglich 1—2 mal jeweils mehrere Minu¬
ten lang die Kniebrust- oder Knieellenbogenlage einnehmen und nach¬
her auf der Seite liegen, nach welcher das Hinterhaupt gerichtet ist.
Die Gefahr für die Mutter liegt in der langen Dauer der Geburt und
der infolge davon häufig auftretenden Drucknekrosen. Für die Kin¬
der beträgt die Sterblichkeit etwa 10 Proz. Verf. rät, vor allem an
die Mutter zu denken und dieselbe vor schweren Zerreissungen zu
schützen. Steht der Scheitel noch über dem Beckeneingang und be¬
stehen keine bedrohlichen Symptome, so ist es am besten, abzuwarten,
und nur durch geeignete Lagerung oder äusseren Druck zu versuchen,
den Kopf in eine günstigere Lage zu bringen. Gelingt dies nicht, so
zieht Verf. es vor, die Zange anzulegen, statt die Wendung zu machen.
Er dreht zuerst durch bimanuelle Manipulationen (eine Hand im
Uterus) das Hinterhaupt nach vorn und legt dann die Zange an. Steht
der Kopf schon im Becken, so zieht er mit einem Zangenlöffel das
Hinterhaupt nach unten, auch drückt er die Stirne nach oben. Gelingt
die Rotation nicht, so lege man die Zange an, ist die Mutter gefährdet,
so perforiere man, ehe man die Zange anlegt. Steht der Kopf schon
im Beckenausgang, so legt er ebenfalls die Zange an und sucht eine
allmähliche Drehung herbeizuführen.
T. M. Bride: Die hysterische Taubheit. Edinburgh Medical-
Journal. Mai 1906.
Verf glaubt, dass man die Diagnose meist stellen kann, wenn
man auf folgende Punkte achtet. Besteht ein wesentlicher Gegensatz
zwischen der Krankengeschichte und den Ergebnissen der objektiven
Untersuchung? Finden sich bei dem Kranken Spuren von Hysterie?
Entsprechen die Anamnese und die Untersuchungsergebnisse einer
der bekannten Formen organischer Taubheit? Wird das Hörver¬
mögen plötzlich besser, wenn es gelingt, den Kranken für etwas
zu interessieren? Ergeben verschiedene Hörproben dieselben Re¬
sultate? Hört der Kranke, wen das gesunde Ohr geschlossen ist,
eine Stimme nicht, die er eigentlich unter diesen Umständen hören
sollte? Hört er die Stimmgabel durch Knochenleitung schlechter,
wenn das gute Ohr geschlossen ist?
John S. McArdle: Die Radikaloneration der Inguinalhernie.
Ibidem.
Nach genauer Besprechung der gebräuchlicheren Methoden ver¬
wirft Verf. alle Operationen, die wie die Kocher sehe den Inguinal¬
kanal nicht spalten. Es ist einerlei, was man mit dem Sack tut, wenn
man ihn nur hoch oben abbindet und die Bildung eines peritonealen
Trichters verhütet. Verf. verwirft die Verlagerung des Samen¬
stranges nach B a s s i n i. Er näht den Obliquus internus, den 1 rans-
versus und die Sehne an das Poupartsche Band und näht dann
die Pfeiler des äusseren Leistenringes aufeinander. Abbildungen im
Original. . .
G. A. Moynihan: Ueber Ausnahmen des Courvoisier-
schen Gesetzes. Ibidem.
Courvoisier hat bekanntlich die Regel aufgestellt, dass eine
grosse, prall gefüllte Gallenblase bei chronischem Ikterus für Krebs,
eine kleine nicht fühlbare für Steinverschluss im Ductus choledochus
spricht. Moynihan hat bei seinen zahlreichen Operationen ge¬
funden, dass diese Regel für 90 Proz. der Fälle passt. Ausnahmen
kommen vor, wenn ein Stein oder eine Stenose im Zystikus zu
Hydrops oder Empyem der Gallenblase führt und eine akute Steinein¬
klemmung im Zystikus besteht, oder wenn ein Zystikusstein den
Ductus choledochus komprimiert. Wenn bei Steinverschluss des
Choledochus eine akute Cholezystitis auftritt. Bei chronischer Ver¬
härtung des Pankreaskopfes und Stein im Choledochus und schliess¬
lich bei Krebs des Choledochus oder Pankreaskopfes und gleich¬
zeitiger sklerosierender Cholezystitis.
R. T. Willi amson: Zur Behandlung des Diabetes mellitus. Me¬
dical Chronicle. Mai 1906.
Verf. empfiehlt in seiner Arbeit das Aspirin, das in nulden Fällen
gute Erfolge gibt. Als billigen und schmackhaften Ersatz des Brotes
empfiehlt er Kokosnusskuchen und Pudding. Der Kuchen wird fol-
gendermassen gemacht: 30,0 Hefe, 4 Esslöffel lauwarmen Wassers.
Vs Liter getrockneten Kokosnusspulvers. Man macht eine Paste und
fügt noch etwas warmes Wasser hinzu und lässt den Teig 30 Minuten
lang an einem warmen Orte stehen. Nun schlägt man 2 Eier in
3 _ 4 Esslöffeln Milch und fügt dies und etwas Salz unter gutem Um¬
rühren dem Teige bei. Den Teig füllt man in 16 gut mit Butter
ausgestrichene Formen und bäckt 20 bis 30 Minuten lang in mittel¬
warmem Ofen. Zum Pudding nimmt man 15,0 Hefe und mischt sie
mit lauwarmen Wasser und % Pfund getrockneten Kokosnusspulvers.
Die Mischung lässt man 30 Minuten lang an einem warmen Platze
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
1680
stehen und fügt 15,0 Butter, etwas Salz und wenig Milch hinzu.
Nach gutem Umrühren backt man das ganze in einer Puddingform
20 bis 30 Minuten lang in einem nicht zu heissen Ofen. Der Pud¬
ding kann warm oder kalt gegessen und mit Saccharin gestisst
werden.
Andrew Cassels Brown: Ueber Pellagra in England. Prac-
titioner. Mai 1906.
Verf beschreibt einen Fall von Pellagra, den er in England bei
einem jungen Mädchen beobachtete, die längere Zeit hindurch rohes
Mais gegessen hätte, das sie zur Fütterung der Hühner verwenden
sollte. Der Mais war „schimmelig“ gewesen. Das Mädchen genas.
Es ist dies der erste in England veröffentlichte Fall von Pellagra.
John Eason: Die Pathologie der paroxysmalen Hämoglobinurie.
Journal of Pathology. Mai 1906.
Verf. glaubt aus zahlreichen, ausführlich mitgeteilten Versuchen
schliessen zu dürfen, dass der intermediäre Körper sich mit den roten
Blutkörperchen verbindet, wenn sie zusammen einer Temperatur aus¬
gesetzt sind, die tiefer liegt, wie die normale Körpertemperatur.
Die chemische Natur des Toxins ist unbekannt. Erkältung und Er¬
müdung können den Anfall hervorrufen. Hauptsächlich ist es die
Kälte und es ist möglich, dass ein abnormes Ermüdungsprodukt einen
vasomotorischen Spasmus herbeiruft, der das Kältegefühl bei der
Ermüdung verursacht. Bei Pferden wird zweifelsohne die Hämo¬
globinurie durch Uebermüdung hervorgerufen. Malaria und Syphilis
können das Hämolysin erzeugen, doch kommen oft Fälle von Hämo¬
globinurie vor, die nichts mit diesen Erkrankungen zu tun haben.
Hämoglobinurie kann einem traumatischen Blutergusse folgen und
zwar bildet sich dann ein Z a r i scher (Anti-) Körper, der nicht nur
auf das ergossene, sondern auch auf das zirkulierende Blut wirkt.
Phagozytische Resorption des Blutergusses hat sicherlich nichts mit
dem Auftreten der Hämoglobinurie zu tun. Verf. hat dann noch eine
grosse Anzahl von Stoffwechselversuchen ausgeführt, über die im
Originale nachzulesen ist.
Mercier Gamble: Studien über die Alkalinität des Blutes.
Ibidem.
Verf. hat, wie er glaubt, die En ge Ische Methode der Be¬
stimmung des Alkaligehaltes des Blutes verbessert und beschreibt
diese Methode. Er hat gefunden, dass beim gesunden Erwachsenen
die Alkalinität des Blutes 30Ü mg NaOH per 100 ccm beträgt. Bei
Gesunden schwankt der Alkaligehalt nur sehr wenig, nach der
Mittagsmahlzeit steigt er etwas. Bei Krankheiten ist der Alkali¬
gehalt des Blutes geringer und zwar um so geringer, je grösser die
Anämie ist. Bei Chlorose, Leukozythämie und Diabetes mellitus
wurden die niedrigsten Werte gefunden. .1. P. zum Busch.
Auswärtige Briefe.
Berliner Briefe.
(Eigener Bericht.)
Berlin, den 9. August 1906.
Zur Frage der Mittelstandskassen. — Walderholungsstätte
für Säuglinge. — Heim für Taubstummenblinde.
Schon lange, ehe der Beschluss des Aerztetages urbi et
orbi verkündete, dass kein Arzt mit einer Vereinigung Verträge
abschliessen dürfe, welche andere als nach dem Gesetz ver¬
sicherungspflichtige Mitglieder umfasse, hatte die Berliner
Aerzteschaft sich nahezu vollzählig durch Revers in gleichem
Sinne verpflichtet, und diese Tatsache wurde auch alsbald
öffentlich bekannt gegeben. Nichtsdestoweniger wandte sich
im Juni d. J. der Polizeipräsident von Berlin an eine Reihe von
Aerzten mit dem Anerbieten, zu bestimmten, sehr gering¬
fügigen Honorarsätzen bei der Medizinkasse der Berliner
Feuerwehr die ärztliche Behandlung der Mitglieder zu über¬
nehmen. Zu den Mitgliedern gehören Offiziere, Bureaubeamte
und Mannschaften, und die zum Hausstande der Mitglieder ge¬
hörigen Personen sollen ebenfalls mitbehandelt werden. Es
ist klar, dass es sich hier um eine Krankenkasse nicht ver¬
sicherungspflichtiger, zum Teil sogar den bemittelten Klassen
angehöriger Personen handelt; und es ist nur zu verwundern,
dass von einer Behörde überhaupt ein solches Anerbieten an
die Aerzte gerichtet wurde. Die Vertrauenskommission der
Aerztekammer, welcher der Vertrag zur Prüfung vorgelegt
wurde, erklärte, dass die Annahme einer Kassenarztstelle
unter derartigen Bedingungen im Widerspruch mit dem von
der Aerzteschaft von Gross-Berlin unterschriebenen Revers,
betreffend Mittelstandskassen, steht. Man kann somit die be¬
stimmte Erwartung hegen, dass auch dieser Versuch, für eine
zu begründende Mittelstandskasse Aerzte zu gewinnen, dank
der ärztlichen Organisation scheitern wird, wie es vor einigen
Monaten bei dem gleichen Versuch des Verbandes reisender
Kaufleute der Fall gewesen war. •
Der Ring sozialer Fürsorgestellen, welcher Berlin seit
einer Reihe von Jahren umgibt, ist neuerdings durch zwei
weitere Einrichtungen erweitert worden. In der Walder¬
holungsstätte für Frauen wurde die Erfahrung gemacht, dass
Säuglinge, welche von ihren kranken Müttern mit in den Wald
gebracht wurden, besonders gut gediehen und die für Kinder
dieses Alters so gefährliche Hochsommerzeit besser Über¬
stunden, als andere Kinder gleichen Alters. Für die schwäch¬
lichen Frauen war es aber oft schwierig, sich auf dem Hin-
und Rückweg mit dem Kinde zu belasten; sollte also beiden
Teilen der Nutzen der Erholungsstätte zu Gute kommen, so
musste dieMöglichkeit beschafft werden, dieKinder auch nachts
unter der Obhut einer Schwester draussen zu lassen. Das
ist in sehr einfacher Weise durch Errichtung einer Döck er¬
sehen Baracke geschehen, welche für 12 Säuglinge Platz bietet.
Ausserdem wurde eine Schutzhalle gebaut, welche für 30
Mütter mit ihren Kindern ausreicht. Es ist nun für 4 Kate¬
gorien von Säuglingen in verschiedener Weise gesorgt: für
solche, die Tag und Nacht in der Erholungsstätte bleiben,
während die Mütter nur während des Tages bei ihnen sind;
ferner für Säuglinge, deren Mütter zu krank sind, um den Weg
täglich 2 mal zurücklegen zu können, und deshalb in der Ba¬
racke schlafen müssen. Eine dritte Gruppe bilden rekon¬
valeszente Kinder, die vorher im Krankenhaus gewesen waren
und ohne die Mütter in der Erholungsstätte verpflegt werden,
und eine vierte Gruppe endlich sind solche Säuglinge, welche
morgens mit ihren Müttern in die Erholungsstätte kommen
und abends mit ihnen in ihre Häuslichkeit zurückkehren. Diese
Kinder erhalten einwandsfreie Milch, und zwar werden ihnen
abends auch 2 Flaschen sterilisierter Milch mitgegeben, damit
nicht durch unzweckmässige Ernährung verdorben wird, was
durch gute Luft erreicht ist. Die Erfolge, die bis jetzt erzielt
sind, sind vorzügliche; die kleinen Patienten vertauschen sehr
bald ihre bleiche Stadtfarbe mit einem kräftigen ländlichen
Braun und gedeihen in der frischen Landluft recht gut. Die
Einrichtung stellt in ihrer jetzigen Form noch eine Art Ver¬
suchsstation dar, und weitere Erfahrungen müssen lehren,
welche von den 4 Kategorien den überwiegenden Anteil bean¬
spruchen wird.
Ein Institut anderer Art, welches kürzlich unter Mithilfe
der Provinzialverwaltungen und der Stadt Berlin ins Leben
gerufen ist, ist den Elendsten unter den Elenden gewidmet, ein
Heim für Taubstummenblinde. Die Anstalt ist zunächst für
15 Plätze eingerichtet, doch ist Vorsorge getroffen, dass sie
nach Bedürfnis erweitert werden kann. Die Taubstummen¬
blinden sollen dort eine sachgemässe Pflege und planvolle Er¬
ziehung erhalten, und mit einem methodischen Unterricht soll
der Versuch verbunden werden, sie, soweit das möglich ist,
zu einer praktischen Tätigkeit auszubilden. M. K.
Vereins- und Kongressberichte.
Freie Vereinigung für Mikrobiologie.
Erste Tagung im Institut für Infektionskrankheiten zu B e r 1 i n
am 7., 8. und 9. Juni 1906.
Bericht, erstattet von dem Schriftführer A. Wassermann.
Im Laufe des Jahres 1905/06 hat sich eine freie Vereinigung für
Mikrobiologie gebildet, welcher die grösste Anzahl der die Bakterien¬
oder Protistenkunde beruflich ausübenden Gelehrten der Länder
deutscher Zunge angehört. Diese freie Vereinigung hielt in den drei
letzten Tagen der diesjährigen Pfingstwoche ihre erste Zusammen¬
kunft, welche der Behandlung von wissenschaftlichen Fachfragen
gewidmet war, im Institut für Infektionskrankheiten zu Berlin ab.
Seitens der Versammlung wurde beschlossen, dass ein durch den
Schriftführer A. Wassermann anzufertigender offizieller Ueber-
sichtsbericht über die Verhandlungen, welcher hier folgt, zu ver¬
öffentlichen sei. Der ausführliche Verhandlungsbericht, bestehend aus
den Originalvorträgen bezw. Autoreferaten der Vortragenden und
Diskussionsredner soll nach dem Beschlüsse der Versammlung all¬
jährlich in einem besonderen Heft des Zentralbl. f. Bakteriol. er¬
scheinen.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1681
1. Verhandlungstag, 7. Juni 1906.
Vorsitzende: F 1 ii g g e - Breslau, G a r t n e r - Jena.
Herr Flügge eröffnet die Zusammenkunft mit einer Ansprache,
worin er Zweck und Ziel der freien Vereinigung für Mikrobiologie
auseinandersetzt.
Herr Gaffky heisst die Teilnehmer in den Raumen des In¬
stituts für Infektionskrankheiten willkommen.
Offizielles Referat:
Die Fortschritte der Immunitätsforschung im Jahre 1905/06.
Referent: Herr R. Kr aus- Wien.
Aus dem umfassenden Referat, das fast alle gegenwärtig in
Diskussion befindlichen Punkte der Immunitätslehre umfasste, seien
einige, weitere medizinische Kreise besonders interessierende Punkte
hier herausgegriffen: Die lange Zeit zwischen Ehrlich und seinen
Anhängern einerseits, Arrhenius und M a d s e n andererseits be¬
stehende Streitfrage über die gegenseitigen Beziehungen von J o x i n
und Antitoxin erklärt Referent als zu Ungunsten des Massen¬
wirkungsgesetzes entschieden. Bezüglich der in den letzten Jahren
hervorgetretenen Neigung, die Reaktionen gewisser Kolloide auf die
Immunitätslehre zu übertragen, steht Kraus auf dem Standpunkt,
dass die Kolloide wohl gewisse Analogien mit denjenigen Substanzen
bieten, welche im Immunserum Vorkommen, dass man aber mit der
unmittelbaren Uebertragung dieser Ergebnisse auf das Immunitäts¬
gebiet sehr vorsichtig sein müsse. Zu demselben Schluss kommt
Referent für die Lehre der Lipoide und Antito> ine. Die Spezifizität
der Immunsubstanzen ist vorläufig durch alle diese Studien nicht
geklärt und bis jetzt nur mit E h r 1 i c h s Theorie verständlich. Als
besonders wichtig für die kurative Verwendbarkeit der Antitoxine hält
Kraus den Nachweis, dass diese Substanzen ihre Avidität ändern
können. Einen Ausblick zur Erweiterung der Antitoxintherapie
scheint ihm die Tatsache zu bieten, dass einzelne Stämme echter
Choleravibrionen ein lösliches, filtrierbares Toxin bilden. Man
könne deshalb daran denken, eine spezifische antitoxische Serum¬
therapie gegenüber Cholera zu erreichen.
In die Lehre der A g g 1 u t i n i n e und Präzipitine haben
die Untersuchungen von P o r g e s eine Aenderung gebracht. Nach
diesen Untersuchungen sei es nicht mehr aufrecht zu erhalten, dass
bei der Agglutination 4 Gruppen, nämlich 2 bindende und je eine
fällende und fällbare in Tätigkeit treten. Die Arbeiten von Pick
und Obermeier haben nachgewiesen, dass bei Serumpräzipitinen
der physikalische Zustand des zur Behandlung des Tieres gewählten
Eiweissmaterials eine grosse Rolle spielt. Vorher erhitztes Serum
liefert ein qualitativ anderes präzipitierendes Serum als nicht er¬
hitztes. Betreffs der Agglutininprobe erklärt Kraus den Versuch
Zupniks, die Grundlagen der Serodiagnostik zu erschüttern, als
gescheitert. Auf die praktische Bedeutung des in allerjüngster Zeit
auf Grund der Arbeiten von Bordet, Gengou, Moreschi u. a.
so eifrig bearbeiteten Phänomens der Komplementablenkung geht der
Referent angesichts der Unabgeschlossenheit dieses Gebietes noch
nicht ein. Er hält die Methode eventueh für geeignet, um unser
Wissen bei solchen Krankheiten, deren Erreger bisher unbekannt
sind, zu fördern. Das Bestehen von Antikomplementen hält er dutcli
die Studien mittels der Komplementablenkung für erschüttert. Ob
dies auch für die Antiambozeptoren zutrifft, will er vorläufig dahin¬
gestellt lassen.
Ueber die neueren Arbeiten auf dem Gebiete der Phago¬
zytose (W right, Neufeld und Rim p au) gibt der Referent
eine Uebersicht. Kraus lässt die Möglichkeit einer Verschieden¬
heit zwischen bakteriotropen und bakteriziden Substanzen offen. Er
sieht in den neueren Arbeiten die Möglichkeit einei Ueberbriickung
der bisher eingenommenen Standpunkte von Metschnikoff und
Pfeiffer. . , ... ,
Die Agg ressine von Bail und dessen Mitarbeitern erklär t
der Referent als nicht bestehend. Auf Grund der Arbeiten^ von D ö r i
schliesst er sich der Ansicht von Wassermann und C i t r o n an,
dass es sich bei den B a i 1 sehen Aggressinen um die Wiikung aufge¬
löster Bakteriensubstanzen handle. Die infektionsbefördernde Wii¬
kung der Aggressine sei keine spezifische, sondern die in den Exsu¬
daten aufgelösten Substanzen seien toxisch. Diese schädliche Wii¬
kung summiert sich zu derjenigen einer an und für sich untertödliclien
Dosis der lebenden Infektionserreger. Durch diese Summieiung
werde diese zu einer tödlichen. — Dies sei nichts Spezifisches, denn
Dörr habe beispielsweise bei Dysenterie den von Bail als spezi¬
fische Aggressinwirkung betrachteten infektionsei höhenden Effekt
mit heterologen Substanzen wie Diphtheriegift usw. erreichen können.
Die sogenannte Aggressinimmunität sei eine Immunität durch gelöste
Bakteriensubstanzen im Sinne von Wassermann und Citron.
Herr Flügge dankt dem Referenten für das klare, umfassende
Referat.
Herr G r u b e r - München in Gemeinschaft mit Futaki über:
Infektion und Resistenz bei Milzbrand. T
Gr über bemerkte einleitend, dass bei der intravenösen In¬
jektion von Typhusbazillen bei Kaninchen diese massenhaft von den
Leukozyten aufgenommen werden. Diese starke Phagozytose von
Typhusbazillen kann man mittelst normalen Kaninchensei ums auch
im Reagenzglas demonstrieren. Das normale Serum verliert in¬
dessen diese Wirkung, wenn es bei 55° inaktiviert wird. Die be¬
treffende Substanz ist demnach thermolabil. Sie wirkt am die
Bakterien und nicht auf die Leukozyten (Opsonin). Die Substanz ist
vom Alexir. verschieden. Im Immunserum kommen thermostabile
Substanzen aer gleichen Wirkung vor. Eingehend hat sich der Vm-
tragende mit den Ursachen der Immunität gegen Milzbrand be¬
schäftigt. Hier spielt weder die thermolabile noch thermostabile
Substanz des Serums, welche die Phagozytierbarkeit der Bakterien
ermöglichen, die ausschlaggebende Rolle. Vielmehr ist hier aus¬
schlaggebend die Kapselbildung der Milzbrandbazillen. Mit Kapseln
versehene Bazillen werden im Tierkörper weder von gelosten Stoffen
der Körpersäfte noch von Leukozyten abgetötet.
Herr Dörr- Wien: Ueber Aggressine.
Aggressine im Sinne Bails existieren nicht. Die von Bail als
Aggressine angesprochene Exsudatwirkung ist durch gelöste Bak¬
teriensubstanzen hervorgerufen. Diese sind toxisch. Infolgedessen
erhöhen sich die Infektionswirkung einer an sich nicht tödlichen In¬
fektionsmenge. Diese Wirkung ist nicht spezifisch. Sie kann durch
Diphtherie- und Choleratoxin auf alle möglichen Halbparasiten her¬
vorgebracht werden. ... , . 0
Herr R. Pfeiffer und R. Scheller - Königsberg i. Pr. .
Ueber Immunisierungsversuche an Tauben gegen Vibrio Metschnikoff.
Die Verfasser prüften die Bai Ische Aggressinhypothese an
Vibrio Metschnikoff bei Tauben, also einem Ganzparasiten für diese
Tierart. Die Aggressine wurde aus der Oedemflüssigkeit des inji¬
zierten Brustmuskels gewonnen. Diese Flüssigkeit wurde durch
Pukallsche Filter filtriert. Trotz Verwendung grosser Mengen
von Exsudat wurde keine Spur von Immunität erzielt, wogegen mini¬
male Mengen abgetöteter Vibrionen stets Immunität hervorriefen.
Die Verfasser sprechen sich deshalb gegen die Bail sehe Aggressin-
theorie aus. , . , , . , ,, ...
Herr Landsteiner-Wien: A) Ueber Adsorptionsverbindungen .
Toxine haben besondere Affinität zu Lipoiden ( I etanus-, Botu¬
lismus-Toxin und Hämotoxine). . .
Dies ist besonders wichtig für die Erklärung des Hirntetanus¬
versuchs von Wassermann und T a k a k i, der deshalb nicht
ohne weiteres zur Stütze der Ehr lieh sehen Theorie zu verwenden
sei. Agglutinine haben dagegen Adsorptionsaffinität zu Eiweiss¬
substanzen, Komplemente zu zahlreichen Substanzen koUoidalei Art,
sowohl eiweissartiger als lipoider Natur, wie z. B. Cholestearin,
Peptone, Glykogen etc.
B) Ueber den Immunisierungsprozess.
Vortragendem ist es gelungen, Unterschiede zwischen den noi-
malen und den immunisatorisch erzielten Hämagglutininen aufzu¬
finden. Die normalen sind nur in geringem Grade, die immunisa¬
torisch erzielten in hohem Grade spezifisch. Bei der Immunisation
entstehen also im Organismus ganz neue Substanzen. _
Herr Neufeld und H ü b n e r - Berlin: Ueber die Rolle der
Phagozytose bei der Immunität gegen Cholera-, Typhus- und Para¬
typhusbazillen.
Der Vortragende (N e u f e 1 d) kommt zum Schlüsse, dass auch
durch das Typhus- und Choleraimmunserum neben der spezifischen
Bakteriolyse eine spezifische Phagozytose hervorgerufen wird, und
dass beide Vorgänge nebeneinander als gleichberechtigt anzusehen
seien. Ob die bakteriotropen und bakteriziden Substanzen identisch
seien, könne noch nicht mit Sicherheit gesagt werden. Eine Reihe
von Tatsachen spricht dagegen.
Herr L ö h 1 e i n - Leipzig: Einiges über Phagozytose von Pest-
und Milzbrandbazillen.
Vortragender bemerkt, dass das Ausbleiben der Phagozytose .von
Pestbazillen im Meerschweinchenperitoneum nicht völlig geklärt sei.
Sicherlich beruhe es nicht auf einer allgemeinen Schädigung der
Leukozyten. Vortragender sieht die eventuellen Ursachen dafür ent¬
weder in der Kapselbildung der Pestbazillen oder aber darin, dass
die Pestbazillen besondere Stoffe haben, welche die Phagozytose ver¬
hindern. Bei Milzbrand ist die Ursache des Ausbleibens der Phago¬
zytose die Kapselbildung der Bazillen. .
Herr U h 1 e n h u t h - Greifswald: Ueber die Verwertbarkeit der
Komplementablenkung für die forensische Praxis und die Differen¬
zierung verwandter Blutarten. t
Uhlenhuth hat das Ne i ss e r - S ach s sehe Verfahren be¬
nutzt, um im Serum von mit menschlichem Eiweiss vorbehandelten
Affen Substanzen nachzuweisen, welche menschliches Eiweiss, aber
nicht dasjenige von Affen spezifisch beeinflussen. Er bestätigt also
mit diesem neuen Verfahren seine früheren mit der Präzipitierungs-
methode gewonnenen Resultate, wonach durch kreuzweise Immuni¬
sierung streng artspezifische Sera gewonnen werden können, welche
auch auf sehr nahestehende Arten (wie Hase— Kaninchen, Mensch-
Affe) nicht wirken. Auch seine früheren Befunde über das allen
Tieren gemeinsame Eiweiss der Linse konnte er mittels des
Neisser - Sachs sehen Verfahrens betätigen. In Bezug auf die
Brauchbarkeit der Neisser-Sachs sehen Methode für forensische
Zwecke der Eiweissdifferenzierung kommt Uhlenhuth zu folgen¬
dem Schluss: , _ .....
Die N e i s s e r - S a c h s sehe Methode ist als Bestatigungs-
reaktion für die Präzipitierungsreaktion anzusehen. Nur bei un¬
zweifelhaft positivem Ausfall der Präzipitierungsreaktion kann die
1682
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCEIENSCHRIFT.
No. 34.
i\ c i s s e r - S a c h s sehe Methode als Kontrollreaktion in Frage
kommen. Bei negativer Präzipitierungsreaktion ist auf einen event.
positiven Ausfall der Neisser-Sachs sehen Methode kein Urteil
abzugeben, da wir über die komplementablenkenden Substanzen noch
nichts bestimmtes wissen.
Ueber das Referat und die vorstehenden, zum Gebiete der
Immunität gehörenden Vorträge fand eine gemeinsame Diskussion
statt.
Diskussion: Herr R. Pfeiffer- Königsberg: Die Existenz
echter Choleraantiambozeptoren ist nicht erschüttert, wohl aber glaubt
Pfeiffer im Gegensätze zur neueren Auffassung Ehrlichs, dass
der Angriffspunkt der Antiambozeptoren an der zytophilen Gruppe
sitzt. Betreffs der Opsonine möchte es Pfeifer noch dahingestellt
sein lassen, ob diese selbständige Substanzen oder ob sie nicht viel¬
mehr identisch mit den bakteriolytischen Substanzen normaler Blut¬
sera sind. Zur Theorie der Aggressine übergehend, glaubt Pfeiffer,
dass die Substanzen im Bail sehen Sinne nicht existieren. Bezüg¬
lich der allgemeinen Immunitätslehre ist Pfeiffer der Ansicht, dass
die Tatsachen, welche beim Studium der Antiambozeptoren, Anti¬
komplemente und antagonistischen Substanzen in neuester Zeit fest¬
gestellt wurden, sich nur schwer durch die Ehrlichsche Theorie
erklären lassen.
Herr L ö h l e i n - Leipzig entgegnet Pfeiffer, dass fast alle
Autoren darin übereinstimmen, die Opsonine und bakteriolytischen
Ambozeptoren nicht für identisch zu erklären. Dagegen pflichtet er
Kraus bei, wonach die Opsonine wahrscheinlich mit dem
M e ts c h n i k o ff sehen „Fixateur“ (sensibilatrice phagocytaire)
identisch sei. yiele Meinungsdifferenzen über die Bedeutung einer¬
seits der Bakteriolyse, andererseits der Phagozytose erklären sich da¬
durch, dass irrtümlich vielfach die sensibilatrice phagocytaire mit dem
bakteriolytischen Ambozeptor identifiziert werde.
Herr H a h n - München: Die Aggressine seien keine neuen Sub¬
stanzen.. Hahn erinnert in dieser Beziehung an eine Arbeit von
S c h n e i d e r, die unter Büchners Leitung (Archiv für Hygiene
1897) angefertigt wurde. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass alte
filtrierte, auf 60° erhitzte Bouillonkulturen von Tvohus und Cholera
beim Zusatz von Immunserum die bakterizide Wirkung desselben
aufheben.
Herr A. Wassermann - Berlin führt aus. dass er, wie das
ja aus seinen Arbeiten mit Citron hervorgehe, in den Aggressinen
nur die Wirkung von gelösten Bakteriensubstanzen sehe. Trotzdem
aber müsse er für die hier so hart verurteilten Aggressine bis zu
einem gewissen Punkte als Fürsprecher auftreten. Für die infektions¬
erhöhende Wirkung könne er nicht wie Dörr die Summierung des
in den Exsudaten enthaltenen Toxins heranziehen. Denn durch
J o b 1 i n g habe er bei Diphtherie in einer allerdings noch nicht ver¬
öffentlichten Arbeit folgendes zeigen lassen: Wenn man aus zwei ver¬
schiedenen Diphtheriekulturen, von denen die eine sehr toxisch, die
andere dagegen sehr wenig toxisch, dafür aber sehr infektiös ist*
künstliche Aggressine herstelle, so zeige sich, dass die sehr toxische
Kultur Extrakte liefert, welche nicht stärker infektionserhöhend
wirken, als die sehr wenig toxische, im Gegenteil ist meistens das
Umgekehrte der Fall. Daraus gehe mit Sicherheit hervor, dass die
Substanzen, welche im Aggressin infektionserhöhend wirken, ver¬
schieden sind yon dem eigentlichen Toxin. Auf die praktische
W ichtigkeit für die Gewinnung eines qualitativ von dem Antitoxin ver¬
schiedenen Diphtherieserums durch Vorbehandlung von Tieren mit den
nach der Methode von W assermann und Citron gewonnenen
Extrakten aus sehr infektiösen Diphtheriebazillen will Wasser¬
mann hier nicht eingehen. Jedenfalls hat die Aufstellung der
Aggressinlehre durch Bail das Verdienst, dass wir teils durch Bail
selbst, teils durch die Autoren, welche infolge der Bai Ischen Ver¬
öffentlichungen in die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Frage ein-
griffen, sichere aktive Immunisierungsmethoden für eine Reihe von
Infektionen kennen lernten, für die das bisher sehr schwierig war.
Im Anschluss an das Referat von Kraus macht Wasser¬
mann auf das übereinstimmende Ergebnis einer Reihe von Arbeiten
des letzten Jahres aufmerksam, dass es eine Gruppe von Bakterien
gibt, zu denen der menschliche Paratyphus, der Mäusetyphus, die
Schweinepestbazillen u. a. gehören, welche trotz ihrer verschiedenen
spontanen Pathogenität und ihres verschiedenen Fundortes in Bezug
auf die spezifischen Serumreaktionen sich ganz gleichartig verhalten.
Das ist ein sehr wichtiges Faktum und lehrt uns jedenfalls, dass wir
uns davor hüten sollen, neben den spezifischen Serumreaktionen etwa
konstante Pathogenitätsverhältnisse zu unterschätzen.
Gegenüber den Ausführungen Landsteiners betreffs der
Adsorptionsaffinität des Tetanusgiftes zu Lipoiden und den Be¬
ziehungen, in welche Landsteiner sie mit dem Gehirntetanus-
versuch gebracht hat, erklärt Wassermann folgendes: Es scheine
ihm möglich, dass die Absorptionsaffinität des Tetanustoxins zu den
Lipoiden für den Transport des Tetanusgiftes zu den giftempfind¬
lichen Zellen in Betracht komme. Die Bindung in den letzteren sei
aber mit der Lipoidadsorption Landsteiners nicht identisch.
Dies gehe daraus hervor, dass nach Versuchen von Dönitz die an
Lipoiden so ungemein reiche weisse Substanz des Gehirnes das
1 ctanusgift nicht echt zu binden vermöge und daher im Tierversuch
keinen Schutz ausübe, was allein die zellreiche graue Substanz ver¬
möge. In den Zellen müssen also bei diesem Phänomen noch andere
Faktoren mitwirken als einfache Lipoide. — Im Anschluss an die Aus¬
führungen von Uhlenhuth sagt Wassermann, dass die
, e i s s e i - , aclis sehe Methode wie jede Methode, welche auf
der Komplementablenkung aufgebaut ist, leicht zu Fehlerquellen Ver¬
anlassung gibt und deshalb einen mit diesen Dingen durchaus ver¬
trauten Arbeiter erfordert, dass sie aber prinzipiell vollkommen zu¬
verlässig und sicher arbeitet'. Speziell die von Uhlenhuth an-
gefüht ten Falle, wonach schon der Extrakt von allen möglichen
Gegenständen, also Sackleinwand usw., die Hämolyse hemme, lassen
sich durch geeignete Verdünnung fast stets ausschalten und ent¬
scheiden.
Herr G r u b e r - München teilt vollkommen die Ansicht von
v\ assermann und Citron sowie Dörr, indem er ausführt,
dass es keine besondere Aggressinimmunität gibt, sondern dass es
sich im wesentlichen dabei um die Wirkung gelöster Bakteriensub-
s tanzen handelt. G r u b e r konnte weiterhin zeigen, dass durch diese
die Opsonine des normalen sowie des Immunserums gebunden werden *
wodurch die Phagozytose aufgehoben oder eingeschränkt wird. Da¬
gegen hält auch er praktisch die Methode für sehr brauchbar, was
sich besonders bei Immunisierungsversuchen gegenüber Cholera zeigt.
,. .H,eiT J- 9 1 0 11 " Ber]ia: Gegen die Auffassung Dörrs, wonach
die infektionsbefördernde Wirkung der Aggressine durch die Hinzu-
addierung eines toxisches Effektes zu einer sonst nicht tödlichen in¬
te ktiosen Dosis entstehe, spräche seine Beobachtung, wonach bei
bchweineseuche künstlich hergestellte wässerige Aggressine stärker
toxisch und weniger infektionserhöhend, wogegen die mit normalem
Serum hergestellten weniger giftig und stärker infektionsbefördernd
sind. Die Beobachtungen von Pfeiffer und Scheller, wonach
diese Autoren bei ihren Versuchen mit Vibrio Metschnikoff keine
Immunität mittels der natürlichen und nur schwache mittels der künst¬
lichen wässerigen Aggressine erzielten, führt Citron darauf zurück,
dass diese Autoren die Flüssigkeit vorher durch Bakterienfilter fil-
tnerten. Dadurch wird der grösste Teil der wirksamen Stoffe im
biltei zui iickgehalten. — Betreffs der von Gr über demonstrierten
Kontaktwirkung der Leukozyten bei Milzbrand erinnert Citron
an ähnliche von ihm bei Experimenten an Favus- und Trichophyton-
pilzen gemachten Beobachtungen, sowie an ältere Versuche
R l b b e r t s.
Herr K r u s e - Bonn ist mit Pfeiffer einig in der kritischen
Stellung gegenüber der Ehrlichschen Theorie. Gegenüber Neu¬
feld betont er das Vorkommen spezifischer bakteriolytischer Ein¬
flüsse im Pneumokokkenserum. Mit K r a u s ist K r u s e einig darin,
dass im Ruhrserum antitoxische Stoffe Vorkommen. Daneben finden
sich abei stets bakteriolytische Stoffe. Welche von beiden vor-
wiegend beim Kranken zur Wirkung kommen, sei nicht zu sagen.
Bezüglich der Aggressinetheorie Bails erklärt Kruse, dass diese
wohi widerlegt sei, nicht aber die Existenz aggressiver Stoffe oder
vielleicht sogar spezifischer Aggressine.
Herr W e i c h h a r d t - Erlangen bemerkt im Anschluss an das
Referat, dass das Heufieberserum kein antitoxisches sei.
Herr R. Pfeiffer - Königsberg glaubt, dass das von Wasser¬
mann zur Erörterung gestellte Verhalten der Hog-Cholera-, Para¬
typhus-, Mäusetyphusbazillen etc. nicht gegen die Bedeutung der
spezifischen Serumdiagnostik spreche. Es sei dies ein Verhalten
ähnlich wie bei den verschiedenen Tuberkelbazillenarten, indem sich
die Rassen einer Spezies durch vielleicht jahrhundertelange Passage
an eine bestimmte Tierart adaptiert haben. Vielleicht sind doch noch
bei weiterem Eindringen auch mittels der Serumdiagnostik Unter¬
schiede zwischen den einzelnen Rassen zu finden, ähnlich wie dies
Uhlenhuth für die einander so nahestehenden Eiweissarten von
Mensch und Affe, Kaninchen und Hase gelungen ist. Gegenüber
V assermann glaubt Pfeiffer, dass die Landsteiner sehen
Beobachtungen nicht mit der Deutung des Tetanushirnversuchs zu
gunsten der Ehrlich sehen Theorie vereinbar sind. Gegenüber
N e u f e 1 d betont Pfeiffer, dass opsonihische resp. bakteriotrope
Wirkungen vielleicht dadurch hervorgerufen werden, dass die Leuko¬
zyten Komplemente enthalten. Diese können die Bakterien „andauen“
und dadurch einen chemotaktischen Reiz setzen. Im allgemeinen
warnt Pfeiffer vor der wiederaufstehenden Phagozytoselehre.
Denn mit der Phagozvtose sei nichts erklärt. Warum gehen die Bak¬
terien im Innern der Zelle zugrunde? Das sei das Wichtigste. Dabei
spielen aber höchstwahrscheinlich die Stoffe eine Rolle, welche die
Bakterien aus dem Serum, in dem sie sich mit denselben beladen, in
die Zellen bringen. Gegenüber Citron bemerkt Pfeiffer, dass
P f e i f f e r und Scheller bei ihren Versuchen mit Vibrio Metschni¬
koff die Flüssigkeit absichtlich filtriert haben, da ja äusserst geringe
Mengen ( /ioo Oese) abgetöteter Vibrionen sicher immunisieren. Da
aber trotzdem die Filtrate selbst in sehr grossen Dosen nicht wirkten,
so sei eben damit bewiesen, dass in den Exsudaten keine nennens¬
werten Stoffe im Sinne Bails vorhanden seien, die neu und von den
bisherig bekannten verschieden seien.
Herr M o r g e n r o t h - Berlin erinnert an die Versuche von
K y e s und Sachs über Kobragifte. Die Existenz der Antiambozep¬
toren hält er für sicher, diejenige der Antikomplemente für zweifel¬
haft. Zum U h 1 e n h u t h sehen Vortrag bemerkt er, dass zur Aus¬
führung der N e i s s e r - S a c h s sehen Methode stets ein durch Im¬
munisierung gewonnenes hämolytisches Serum zu empfehlen sei.
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1683
Gegenüber Pfeiffer verteidigt Morgenroth die Seitenketten¬
theorie.
Herr F r i e d b e r g e r - Königsberg weist hinsichtlich der
Neisser-Sachs sehen Methode auf deren grosse Empfindlichkeit
hin, so dass selbst Schweiss bis zu einer Verdünnung von 1 :1000 die
Reaktion gebe. Deshalb solle man für die Praxis die Sera nicht zu
hoch wirksam nehmen. Bezüglich der von Uhlenhuth erwähnten
Fälle, dass die heterogensten Dinge eine Komplementablenkung geben
können, glaubt auch Friedberger, dass dieses Vorkommnis leicht
zu vermeiden ist und zu Irrtümern wohl nie Veranlassung gebe. Die
scheinbare Komplementablenkung durch Urin erklärt Friedber¬
ger durch die die Hämolyse hemmende Wirkung konzentrierter Salz¬
lösungen. Gegenüber Morgenroth macht Friedberger Aus¬
führungen, die in das spezielle Immunitätsgebiet einschlagen, so dass
sie zu kurzem Referat nicht geeignet sind.
Herr L ö h 1 e i n - Leipzig bemerkt, dass bei Milzbrand und Best
völliger Parallelismus zwischen Phagozytose in vitro und vivo be-
StehHerr G r u b e r - München bemerkt, dass es von örtlichen und
zeitlichen Umständen der Infektion abhänge, ob Phagozytose oder
Bakteriolyse eintrete. Betreffs der Bemerkung C i t r o n s stimmt er
diesem zu, dass die von C i t r o n bei Favus gemachten Beobach¬
tungen mit seinen eigenen und mit der R i b b e r t sehen Ummantelung.
Gegenüber Pfeiffer bemerkt G r u b e r, die Leukozyten seien
wohl imstande, geringe thermostabile Substanzen abzuscheiden, da¬
gegen sei es bisher nicht gelungen, nachzuweisen, dass sie thermo¬
labile (Opsonine, Alexine) abspalten. , .
Herr Kraus- Wien bemerkt gegenüber Krus e, dass ihm keine
Arbeit bekannt sei, worin Kruse von Antitoxin im Dysenteriesei um
bisher berichtet habe. Kraus schlägt weiterhin vor, dass Wasser¬
mann und Citron den bisher gewählten Ausdruck „künstliche
Aggressine“ aufgeben und statt dessen vorderhand lieber die Stoffe
als das, was sie sind, Bakterienextrakte, bezeichnen mögen.
Herr Ostertag - Berlin berichtet, dass er Hog-Cholera-Bazil-
len Mäusetyphusbazillen und Paratyphusbazillen an Schweine ver¬
füttert habe. In diesen Versuchen zeigte sich Mäusetyphus und Para¬
typhus für diese Tierart nicht pathogen, Hog-Cholera dagegen ja.
Daraus folge, dass diese Bakterien praktisch als verschieden aufzu¬
fassen sind. Auch die Epidemiologie ergibt dies. Noch niemals sei
es beobachtet worden, dass in schweinepestverseuchten Geholten
Paratyphuserkrankungen vorgekommen seien. Noch nie sei nacn
Genuss schweinepesterkrankter Tiere Paratyphus aufgetreten. 1 ie
neue amerikanische Schweinepest habe mit unserer Schweinepest
nichts zu tun. Betreffs der Aggressine hat O s t e r t a g bei Schweine¬
pest und Schweineseuche die gleiche Beobachtung _ gemacht wie
Wassermann und Citron. Ostertag hat weiterhin in prak-
tischen Versuchen an Schweinen festgestellt, dass es möglich ist,
mit unfiltrierten Extrakten von Schweineseuche Bakterien zu im¬
munisieren. Dagegen waren die filtrierten viel weniger wirksam
oder sogar ganz unwirksam. (Schluss folgt.;
Verein der Aerzte in Halle a. S.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung am 4. Juli 1906.
Vorsitzender: Herr Veit.
Schriftführer: Herr Kohlhardt.
Herr Schwartze: Klinische Erfahrungen mit der
Stauungshyperämie bei der Behandlung der akuten Otitis
media.
Verf. kommt dabei zu folgenden Schlussätzen:
1. Die Behandlung akuter Otitis media mit oder ohne
Mastoiditis durch Stauungshyperämie ist in ihren Folgen noch
nicht genügend erprobt, um dem praktischen Arzt empfehlen
zu können, dieselbe in seiner Praxis anzuwenden.
2. Die Stauung ist nicht ungefährlich, weil unter der ver¬
trauensvollen Beschränkung auf diese Therapie die recht¬
zeitige Anwendung notwendiger chirurgischer Eingriffe ver¬
absäumt werden kann, was für den Ausgang der Erkrankung
verhängnisvoll werden kann. _ .
3. Es muss der weiteren klinischen Prüfung in den OHren-
kliniken Vorbehalten bleiben, zu entscheiden, für welche Formen
der Entzündung und in welchem Stadium ein Versuch mit
der Stauungshyperämie zulässig, und wie lange derselbe fort¬
gesetzt werden darf, ehe die operative Therapie zur Anwen¬
dung kommen muss.
4. Besonders gefahrvoll erscheint die protrahierte. Anwen¬
dung der Stauungshyperämie bei Dipl oko k k e n o t i t i s, die
wir schon lange als durch besondere klinische Merkmale cha¬
rakterisiert kennen.
5. Absolut verwerflich ist jeder Versuch der Stauungs¬
behandlung beim Vorhandensein von Arteriosklerose und intra¬
kraniellen Komplikationen (extraduralen Abszess, Hirnabszess,
Sinusthrombose, Meningitis).
Diskussion: Herr Leser: Ich muss mich auf das Leb¬
hafteste dagegen verwahren, dass ich in dem Vortrag über Stauungs¬
hyperämie, welchen ich im Mai auf Wunsch des Vorsitzenden des
Aerztevereins Merseburg-Anhalt hielt, die Hyperämie als besonders
erfolgreich bei Otitis media acuta und chronica den Kollegen emp¬
fohlen habe. Ich wüsste gar nicht, wie ich als Chirurg dazu käme,
der unter den hiesigen Verhältnissen über den Verlauf und Charakter
der Otitis sich gar kein Urteil hat bilden können. Nach einer Huldi¬
gung des Verfahrens als Chirurg habe ich in dem Vortrag nur gesagt,
dass man auch bei anderen Prozessen, akuten wie chronischen, so z. I .
auch bei der Otitis, dieses Stauungsverfahren versucht habe. Wei¬
teres zu sagen, insbesondere aber diese Methode den Aerzten zu
empfehlen ist mir nicht eingefallen.
Herren Herrschei und Anton.
Herr Leo: Ueber mentoposteriore Stirnlagen. (Wird
anderweitig publiziert werden.)
Herr Veit: Hämolyse und Eklampsie.
Im Anschluss an die Arbeiten von Dienst und
Liepmann bespricht V. das Vorkommen von Hämo¬
lyse und Hämoglobinämie, sowie Hämoglobinurie bei
Eklampsie. Er freut sich, dass seine Angaben, dass
die Hämolyse nicht zum Krankheitsbilde der Eklampsie
gehört, von Liepmann bestätigt ist. Hämoglobinin ie kann
bei Eklampsie allerdings Vorkommen, aber das ist nicht das
gewöhnliche. Hämoglobinurie mit Blutungen und dem Bilde
des Morbus maculosus kann auch ohne Eklampsie auftreten.
Vortr. demonstriert die Abbildungen eines solchen Falles, bei
dem auch das Kind Hautblutungen hatte.
Theoretisch und praktisch ist beides von grossem .In¬
teresse, theoretisch, weil man sich die Frage vorlegen
muss, ob das Eklampsiegift, das doch nach der Annahme des
Vortr. in die Kategorie der Zytotoxine gehört, auch hämo¬
lytisch wirkt oder nicht. Vortr. hält diese Frage noch nicht für
entscheidbar. Es kann sein, dass ebenso wie andere spezifische
Zytotoxine hämolytisch wirken, es ebenso das Eklampsiegift
in grossen Mengen oder unter besonderen Verhältnissen tun
kann; es kann aber auch sein, dass in den Fällen, in denen es
zur Hämolyse kommt, ein weiteres Gift auf gleichem oder
ähnlichem Wege produziert wird. Vortr. hält letzteres für
das wahrscheinlichere. Praktisch rät er noch viel mehr,
als bei den einfachen Fällen von Eklampsie, bei Komplikation
mit Hämoglobinurie zur schleunigen Entbindung.
Vortr. berichtet kurz über eine Beobachtung aus seiner
Klinik, bei der er Eklampsie und Hämoglobinurie fand und
demonstriert die Leber des Falles. Er betont, dass die in man¬
chem Fall von Eklampsie gefundenen Blutungen sich gewiss
nicht selten leicht durch die hämolytische Beschaffenheit des
Serums der betreffenden Fälle erklären.
Diskussion: Herr Kn eise: Der von Herrn Geheimrat
Veit soeben vorgetragene Fall. m. H., hat nach dem Gehörten für
mich ein doppeltes Interesse, sofern ich die Frau gesehen und unter¬
sucht habe, ehe sie nach der Kgl. Frauenklinik geschafft wurde, und
weil ich sie bei meiner Untersuchung nicht eklampsieverdächtig ge¬
funden habe.
Ich sah die Pat. in jener Nacht 3—4 Stunden vor ihrem Tode,
der, wie auch Herr Geh.-Rat Veit sagt, unter ganz merkwürdigen
und ungewöhnlichen Erscheinungen eingetreten ist. Ich fand eine
ausserordentlich unruhige Frau mit heftigem Bewegungsdrang, die
mir schon beim Eintritt zurief: „Herr Doktor, ich bin vergiftet , und
viel vom „Sterben-Miissen“ redete. Die objektive Untersuchung er¬
gab, dass es sich um eine gravida mens. X. mit abgestorbenen Zwil¬
lingen handelte, die, soweit ich das durch die allein vorgenommene
äussere Untersuchung feststellen konnte, sich noch nicht in der Ge¬
burt befand. Ich dachte, da Pat. sich selbst vergiftet fühlte, natür¬
licherweise zunächst an Eklampsie, jedoch hatte Pat., die schon
einmal eine solche durchgemacht hatte, keinerlei Prodromal-
erscheinungen. Sie sah gut, hörte gut, war vollkommen klar, wai im
Gesicht nicht gedunsen, hatte — bis auf geschwollene Beine — sonst
keine Oedeme, kurz, das ganze Bild war keinesfalls das einer
Eklampsie. Ich fahndete infolgedessen weiter und erfuhr, dass Pat.
Tags zuvor von nicht abgekochten Büchsenbohnen frischen Salat
bereitet und — soweit das festzustellen war — allein von der Familie
von diesem Salat gegessen hatte. Da Pat. auch Diarrhöen gehabt
hatte, nahm ich eine von diesem Salat herrührende heftige Magen¬
darmerkrankung, bezw. Vergiftung an. und führte die übrigen Sym¬
ptome, die Kurzatmigkeit, die Schwellung der Beine etc. auf den
riesigen Leibesumfang der Frau, die dadurch bedingten Stauungser¬
scheinungen und den Zwerchfellhochstand zurück und ordnete, falls
nicht alsbald die Geburt in Gang käme und damit eine Besserung
1684
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
einträte, die Ueberfiihrung der Frau in meine Klinik an. Sie kam
jedoch nicht, und ich erfuhr später, dass sie 3 — 4 Stunden nach meiner
Untersuchung in der Kgl. Frauenklinik bereits verstorben sei, und
zwar unter Bluterbrechen und im eklamptischen Anfall.
Das alles, m. H., regt mich zu der Frage an, ob es sich hier
wirklich um eine Eklampsie gehandelt hat, oder ob die Frau an einer
anderen Intoxikation zu Grunde gegangen ist, vielleicht an einer
Intoxikation mit Bakteriengiften, die den Konservebohnen ent¬
stammten. Das Bild, unter dem die Frau noch kurz vor ihrem Tode
stand, ist jedenfalls von dem einer typischen Eklampsie weit ent¬
fernt, — ich erinnere nur an die Diarrhöen und das heftige Blut¬
erbrechen — , andererseits würde es mit einer Vergiftung, wie ich sie
annehmen zu können glaube, gut in Einklang zu bringen sein. Leider
fehlen mir ja alle Beweise, — ich hatte, wie gesagt, den Transport
in meine Klinik empfohlen — , und ich kann daher keine Behauptungen
aufstellen, jedenfalls aber möchte ich Ihnen, m. H., meine Annahme
und Vermutungen, die gewiss Interesse beanspruchen dürfen, nicht
vorenthalten.
Herr Sobernhe im: Vergiftungserscheinungen nach dem Ge¬
nuss von Nahrungsmitteln können, soweit sie auf bakterielle Ursache
zurückführen, in verschiedener Form auftreten. Das Bakteriengift
bezw. die Bakterienart, die im einzelnen Falle wirksam sind, ent¬
scheiden. Anäeroben und äerobe Bakterien sind als Erreger derartiger
Vergiftungen („Fleischvergiftung“) bekannt. Dass gelegentlich ein
Krankheitsbild beobachtet werden kann, das mit den Symptomen
eines schweren Magendarmkatarrhs, mit Durchfall, Erbrechen, Mus¬
kelschwäche, Albuminurie, auch Blutungen in der Haut usw. einher¬
geht, entspricht der Erfahrung. Natürlich ist immer nur auf Grund
genauer bakteriologischer Untersuchung und unter Berücksichtigung
epidemiologischer Momente (Massenerkrankungen) die Diagnose zu
stellen.
Veit: In der Klinik sind keinerlei Zeichen für eine Bohnen¬
vergiftung konstatiert worden.
• Herr Veit: Bericht über den 34. Aerztetag.
Unter Hinweis auf die in den medizinischen Zeitungen schon
publizierten Berichte spricht Referent die Hoffnung aus, dass grössere
Erfolge auf zukünftigen Aerztetagen dadurch erreicht werden mögen,
dass mehr positive Beschlüsse gefasst werden; dies lässt sich da¬
durch erreichen, dass, ebenso wie auf wissenschaftlichen Versamm¬
lungen, die Gegenstände, über die verhandelt werden soll, an Re¬
ferent und Korreferent verteilt werden, und dass deren ausführliche
Referate allen Vereinen rechtzeitig zugänglich gemacht werden, so
dass dann auf dem Tage selber Referent und Korreferent nur noch
das Schluswort nach den Bemerkungen der verschiedenen Redner
erhalten und daher die Diskussion ergiebiger wird; es will doch
scheinen, dass das Verlangen nach Hinzuziehen ärztlicher Sach¬
verständiger zu staatlichen Kommissionen über Krankenversicherung
etc. dann weniger auf Widerstand bei den Regierungen stossen wird,
wenn die letzteren sehen, dass der Aerztetag selbst zu festen Be¬
schlüssen kam.
Die Forderung nach Professuren über soziale Medizin ist ja sehr
populär und in befürwortendem Sinne vielfach besprochen worden;
V. möchte aber auch an die Bedenken erinnern, die in einer weiteren
Erschwerung des medizinischen Studiums liegen müssen, wenn mit
der Einführung der Professur ein neues Examenfach kommt; es kann
dann leicht so gehen, wie mit dem praktischen Jahr, das einzelne
am liebsten auch schon wieder beseitigen wollen! V. rät, den Unter¬
richt in der sozialen Medizin in dieses praktische Jahr zu verlegen;
er gibt wenigstens seinen Medizinalpraktikanten möglichst die Ge¬
legenheit zur Abfassung von Gutachten, die dann gemeinschaftlich
besprochen werden. V. behält sich vor, für den nächstjährigen Aerzte¬
tag mit derartigen Anträgen an die Versammlung heranzutreten.
Diskussion: Herr Schmidt-Rimpler.
Medizinische Gesellschaft in Kiel.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 5. Mai 1906 in der psychiatrischen Klinik.
Herr Siemerling demonstriert 1. die Präparate eines Falles von
früh (im 3. Lebensjahre) entstandener, isoliert verlaufender Augen-
lnuskellähmung. Es handelt sich um Zerstörung eines ausgedehnten
Gebietes im Bereich der Trochlearis- und Okulomotoriuskerne durch
Hämorrhagie. (Der Fall ist ausführlich veröffentlicht im Archiv f.
Psych., Bd. 40, H. 1.)
2. Perniziöse Anämie mit spinaler Erkrankung und Geistes¬
störung.
39 jähriger Gastwirt, aufgenommen 10. VIII. 04, + 20. XI. 04.
Vater + an I abcs. 2 Geschwister t an Diabetes. Vor 10 Jahren
Lues. Früher als Techniker flott gelebt, getrunken. 2 gesunde Kinder.
Seit 6 Jahren Gastwirt. Seit 5 Jahren im ganzen Wesen stiller,
grübelte viel. Im Sommer 1903 müde, schläfrig. Gelbliche Gesichts¬
farbe. Kriebeln in den Fingerspitzen. Im Stuhlgang häufig Blut¬
punkte. Längere Krankcnhausbehatidlung. Nach Entlassung aus dem
Krankenhause in häuslicher Behandlung. Es stellte sich Oedem der
unteren Extremitäten und des Skrotums ein, zeitweilig auch des
Augenlides. Sehr blasse Farbe. Psychisch: sehr finster, verschlossen,
wollte nichts essen, keine Medizin nehmen, klagte, dass er seine
Angehörgien schlecht behandelt habe.
Bei seiner Aufnahme am 10. VIII. 04: stupurös, reagiert nicht.
Unsicherer Gang. Gesteigerte Reflexe. Kein Babinski. Blutunter¬
suchung: keine Geldrollenblidung. 2 800 000 rote Blutkörperchen im
Kubikmillimeter. Poikilozytose. Megaloblasten. Keine Vermehrung
der weissen. Eosinophile Zellen. Hb. 44 Proz.
Am 8. X. 2 200 000 rote Blutkörperchen im Kubikmillimeter.
17. XI. 3 388 000 rote, 5200 weisse. Geldrollenbildung. Geringe
Poikilozytose. Keine kernhaltigen roten Blutkörperchen. Hb 82 Proz.
Psychisch immer still, sehr starr. Selten Aeusserungen: er habe
Gift an den Händen, Gas im Körper, es werde etwas hineingestreut,
er habe Glasröhrchen im Leibe.
Die Haut leicht ikterisch. Im Urin kein Gallenfarbstoff, zuletzt
Eiweiss, Zylinder.
Die Parese der unteren Extremitäten nahm zu. Am 17. X. schon
Babinski nachweisbar.
Status am 17. XI. 04: Temp. 39,9. Oedeme der Füsse. De¬
kubitus am linken Knöchel, am Kreuzbein und beiden Trochanteren.
Beine etwas mager. Passive Bewegungen der unteren Ex¬
tremitäten frei. Keine Spasmen. Parese der unteren Extremitäten,
Die Fiisse kann er nicht von der Unterlage abheben. Kniephänomene
gesteigert. Kein Patellarklonus. Achillessehnenphänomen deutlich.
Kein Fusskionus. Kremasterreflex rechts schwach, links nicht. Ba¬
binski beiderseits, r > 1. Pinselberührungen, Nadelstiche an den un¬
teren Extremitäten nicht empfunden.
Tremor der rechten Hand. Unsicherheit der oberen Extremi¬
täten. Händedruck minimal. Grobe Kraft herabgesetzt. Reflexe an
den oberen Extremitäten lebhaft. Zunge, gerade hervorgestreckt.
Augenhintergrund: Reste alter Blutungen.
Urinträufeln. Incontinentia alvi. Abdomen aufgetrieben. Urin
sauer, Eiweiss, Zylinder, Indoxyl. Leber vergrössert. Puls be¬
schleunigt. Dämpfung über beiden Lungen hinten unten. Tem¬
peratur in letzter Zeit immer etwas gesteigert, seit 10. XI. über 38,2.
Puls zwischen 80 und 100. Urinmenge 1400 — 1800.
Gewicht von 57 kg auf 63,6 kg gestiegen.
Auffallend war die Besserung im Blutbefund
beim Fortschreiten der spinalen Erscheinungen.
In den letzten Tagen benommen, schläft viel. Exitus am 20. XI.
Schädeldach schwer. Diploe fast geschwunden. Pia verdickt. Ge-
fässe des Gehirns ohne Besonderheiten.
Rückenmark gelbbräunlich im Hals und unteren Dorsalteil. Ge¬
gend des Hinter- und Seitenstranges rötlich. Körnchenzellen dort.
Mikroskopisch: Degenerationsherde myelitischen Charak¬
ters in Hinter-, Seiten- und Vordersträngen. Herde älteren und
neueren Datums. An den älteren Stellen starker Ausfall von Nerven¬
fasern. Vermehrung der Glia. An den frischen Stellen: Quellung
der Markscheiden, der Achsenzylinder. Körnchenzellen hier sehr
zahlreich. Kleinere Herde zuweilen den Septen folgend. In den
Py. vorn kleinere frische Herde.
G e f ä s s e verdickt, infiltriert, obliteriert, besonders an den
kranken Partien. Blutungen sehr vereinzelt.
Ganglienzellen geringe Veränderungen. Pia an den Hinter¬
strängen im unteren Dorsalteil leicht verdickt.
Leichte Veränderungen in den hinteren Wurzeln im unteren
Dorsalteil und oberen Lendenteil. Durch das Zusammenfliessen der
Herde in den 'Hinter- und Seitensträngen sind diese in grosser Aus¬
dehnung zerstört.
(Ausführliche Veröffentlichung folgt im Arch. f. Psych.)
3. Einen Fall von älterer Serratuslähmung, in welchem der
Arm über die Horizontale gehoben werden konnte. 21 jähriger Ma¬
trose. 1902 bei der Sturzwelle an Ringen fühlte er einen Knacks
in der linken Nackengegend. Nachts stechender Schmerz dort. Konnte
3 Wochen nicht arbeiten (Schmied). Kann jetzt Uebungen mit dem
Gewehr schlecht ausführen.
Muskelpartie in der linken Axillarlinie und die Zacken des Ser-
ratus links weniger gut entwickelt als rechts. Der untere Winkel
des Schulterblatts steht links ab. Starkes, flügelförmiges Abheben
des Schulterblattes. Will er den vorwärtsgestreckten Arm weiter
emporheben, geschieht es unter starker Biegung des Rumpfes nach
hinten. Heben geschieht links langsamer als rechts. Abstand des
inneren Randes des Schulterblattes von der Wirbelsäule beiderseits
9 cm. Elektrisch keine Veränderung im Serratus.
Herr R a e c k e stellt einen Fall von Friedreich scher Krank¬
heit vor bei einem 14 jährigen Knaben, bei dem sich das Leiden vor
5 Jahren im Anschluss an eine Diphtherie entwickelt hat. Es finden
sich Nystagmus, choreiforme Bewegungsunruhe, langsame, nasale
Sprache, Ataxie aller Extremitäten, Fehlen der Sehnenreflexe, breit-
beiniger schwankender Gang mit völligem. Gleichgewichtsverlust bei
Augenschluss, Hohlfussstellung mit Hyperextension der grossen Zehe
beiderseits, Babinski, leichte Skoliose nach rechts. Dagegen sind
Pupillen, Augenhintergrund, Sensibilität, Blasen-, Mastdarmfunktioneii
und die Psyche nicht gestört. Die differentialdiagnostische Ab¬
grenzung gegen die akute Ataxie nach Infektionskrankheiten, gegen
multiple Sklerose, Kleinhirntumor, Tabes, H u n t i n g t o n sehe
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1685
Chorea und das Verhältnis zur Heredoataxie cerebelleuse von M a r i e
werden eingehend erörtert.
Herr Germanus Fla tau: Demonstration eines Falles von
Tumor cerebri.
F. N„ 31 jährige Mechanikersfrau, stiess sich im April 1905 mit
der rechten Kopfseite heftig gegen eine Gaskrone, ohne sich direkt zu
verletzen, hatte nur Schmerzen und eine Beule. Seit dieser Zeit
klagte sie über immer heftiger werdende Kopfschmerzen.
Nach den Symptomen: Kopfschmerzen, lokale Klopf- und Druck¬
empfindlichkeit rechts, Erbrechen, Krampfanfall, Pulsverlangsamung,
stark erhöhter Lumbaldruck (Lumbalpunktion), Moria wurde an eine
Neubildung, vielleicht gummöser Natur, im Bereich des rechten Stirn¬
hirns gedacht.
Wegen drohender Erblindung wurde die eingeleitete Inunktions-
kur unterbrochen und als Palliativoperation eine Trepanation (rechts
Lappenschnitt vom Tuber frontale zum Tuber parietale, Basis nahe
über dem rechten Ohr und der rechten Augenbraue) vorgenommen.
Es wurde kein Tumor gefunden, die Kopfschmerzen verschwanden,
auch die Moria. Trotz der Trepanation kam es zu Atrophia nervi
optici beiderseits, da die Schädlichkeit wahrscheinlich zu Irrige aut
den Sehnerv eingewirkt hatte. Der Hirnprolaps nahm allmählich zu.
Zurzeit stehen folgende Symptome im Vordergrund: Leichte Ptosis
rechts, motorische und sensible Lähmung links.
Herr Raecke: Das Verhalten der Neurofibrillen bei der
progressiven Paralyse. .... .
Vortr. demonstriert zahlreiche Neurofibrillenpräparate, die nach
der Methode von Bielschowski aus der Gehirnrinde von Nor¬
malen und Paralytikern gewonnen sind. Die letzteren zeigen in der
Mehrzahl noch ein überraschend reiches Flechtwerk, wie man es aui
Grund entsprechender Markscheidenpräparate nicht erwarten sollte.
Dennoch lehrt der Vergleich mit den normalen Präparaten, dass be¬
reits ein beträchtlicher Ausfall feinster Fäserchen stattgehabt hat.
Die Veränderungen beginnen vor allem innerhalb der Ganglienzellen,
die zum Teil wie ausgehöhlt erscheinen oder nur noch in Kornei
zerfallene Fibrillen enthalten. Erst später geht' das extrazellulare
Fibrillennetz in grösserem Massstabe zugrunde. Interessant ist das
lange Erhaltenbleiben von Achsenzylindern nach Verlust der Mark¬
scheiden, das vielleicht zur Erklärung von Remissionen herangezogen
werden kann, und der Beginn des Zerfallsprozesses innerhalb der
Ganglienzellen, ein Anzeichen, dass die Neurofibrillen doch nicht ganz
unabhängig von diesen sind.
Die einschlägige Literatur, zumal die trefflichen Arbeiten von
Bielschowski und Brodmann, werden kurz besprochen.^
Herr Henckel: Untersuchungen der Zerebrospinalflüs¬
sigkeit bei Geistes- und Nervenkrankheiten.
Vortr. kommt auf Grund seiner Untersuchungen zu folgen¬
dem Resultat. Regelmässig war erhebliche Zellvermehrung,
Serumalbumin und Vermehrungen des Globulins vorhan¬
den bei progressiver Paralyse, Tabes, Lues cerebri und cere_
brospinalis und Meningitis der verschiedensten Formen. Kon¬
stant waren diese Erscheinungen auch bei Tumor cerebri,
jedoch geringeren Grades. Aehnlich verhielt es sich bei Mye¬
litis. Hier war jedoch auffallend die starke Eiweissvermehrung
im Gegensatz zu der relativ geringen Zeilenzahl. Wechselnd
war das Verhalten bei Erkrankungen arteriosklerotischer Art,
multipler Sklerose, Syringomyelie. Vielleicht war hier der Sitz
der Herde massgebend. Bei früherer Lues ohne Organei -
krankung war zuweilen eine geringe Lymphozytose vorhanden.
Negativ fielen die Befunde aus bei zerebraler Kinderlähmung
und allen funktionellen Erkrankungen. Man hatte den Eindruck,
dass bei chronischen Prozessen einkernige Elemente, bei akuten
Prozessen mehrkernige Zellen in überwiegender Mehrzahl vor¬
handen waren. Ueber das Zustandekommen der Zellvermeh¬
rung im Liquor cerebrospinalis lässt sich zur Zeh noch ^eitl
sicheres Urteil abgeben. Es scheinen jedoch entzündliche Vor¬
gänge der verschiedensten Art dabei mitzuwirken. Art und
Grade der Veränderungen der Zerebrospinalflüssigkeit lassen
zuweilen Rückschlüsse auf die Natur des Leidens zu. Dadurch
gewinnt die diagnostische Bedeutung der Lumbalpunktion, die
natürlich nur unter Berücksichtigung aller anderen Symptome
herangezogen werden darf, an Wert. Die Untersuchung
des Liquor, der post mortem gewonnen ist, ist nicht einwands-
frei. (Der Vortrag erscheint in extenso an anderer Stelle.)
Physiologischer Verein in Kiel.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 15. Januar 1906.
Herr H o e h n e berichtet unter Bezugnahme auf seine Arbeit
„Zur Frage der Entstehung intramuskulärer Abzweigungen des 1 u-
benlumens, Archiv f. Gyn., Bd. 74, Heft 1“ über 2 Fälle von Extra¬
uteringravidität. In beiden Fällen handelte es sich um Ruptur mit
abuntanter freier Blutung in die Bauchhöhle, das eine Mal bei am¬
pullärem, das andere Mal bei istfimischem Eisitz. Beide Flauen
starben an dem ungewöhnlich starken Blutverluste. Infolgedessen
konnten auch die anderseitigen nichtgraviden Iuben
einer genauen Untersuchung unterzogen werden. Ihr Lumen wuide
vom Ostium abdominale aus mit einer Meninge-Injektionsmasse aus¬
gefüllt, und alsdann eine Röntgenaufnahme der injizier¬
te n T u b e n gemacht. Das Photogramm der einen Tube ergab sehr
reichliche unregelmässig verzweigte, z. 1 . bis dicht unter die Ober¬
fläche reichende Nebengänge, während in dem anderen Fall sich das in¬
jizierte Lumen gegenüber der Wand völlig scharf begrenzt zeigte.
Die mikroskopische Untersuchung liess in beiden Eileitern
und ebenso in den dazugehörigen schwangeren
Tuben Zeichen chronischer Entzündung erkennen.
Eine ausführliche Publikation folgt später.
Herr Star gar dt: Ueber Nekrosen nach Suprarenin-
injektionen. (Publiziert in Klin. Monatsbl. f. Augenheilkunde,
XLIV. Jahrg., 1906, S. 213.)
Derselbe: Ueber Flächensarkom des Auges (vgl. die
Arbeit von Dr. H. L u e d d e in v. G r a e f e s Archiv f. Oph¬
thalmologie, LXIII. Bd., 3. Heft, S. 468).
Sitzung vom 28. Januat 1906.
Herr Göbelt: Ueber Ileus (publiziert in der Deutschen
Zeitschr. f. Chirurgie, Bd. LXXXII, S. 416).
Sitzungvom 12. Februar 1906.
Herr Hoppe-Seyler: Ueber den Nachweis der Ar¬
teriosklerose im Röntgenbild.
H.-S. hat schon 1896 nach Versuchen, die mit Herrn
Boas, dem damaligen Assistenten des physikalischen Insti¬
tuts zu Kiel, unter Leitung von Herrn Professor E b e r t vor-
genommenwurden, zuerst denNachweisder arteriosklerotischen
Veränderungen im Röntgenbilde beschrieben. Es gelang, ver¬
kalkte Gefässe sowohl an toten wie an lebenden Extremitäten
auf der Platte zur Darstellung zu bringen.^ Später ist von
zahlreichen anderen Autoren (Opitz, Schmilinsky,
Beck, Saenger, Freund, Krause, Dudley Tait,
Garrigow, Barthelemy, Imbert u. a.) dieses Ver¬
fahren angewandt worden und wird jetzt wohl allgemein be¬
nutzt, um in der Tiefe von Extremitäten verkalkte Gefässe
nachzuweisen. Besonders bei seniler Gangrän und dem in¬
termittierenden Hinken der Arteriosklerotiker kann man deut¬
liche Bilder der geschlängelten Arterien und ihrer Kalkplatten
erhalten. Namentlich bei letzterer Krankheit gelingt es aber
nicht immer, solche Bilder zu erhalten, weil zwar eine Ver¬
dickung und Verengung der Arterien besteht, aber ohne Kalk¬
ablagerung.
Es werden Aufnahmen gezeigt, wie sie im städtischen
Kr,ankenhause, besonders von Herrn Oberarzt Dr. T o 1 1 e n s,
bei Arteriosklerotikern erhalten sind, so von einem Mann von
86 Jahren und einem von 63 Jahren, die beide an starker Ar¬
teriosklerose der Extremitäten mit konsekutiver Gangrän ein¬
zelner Zehen litten, ferner von einer 80 jährigen Frau mit
rheumatoiden Beschwerden, bei der der schwächere rechte
Radialpuls seine Erklärung in der stärkeren Veränderung der
Arterien gegenüber der linken Seite findet. Bei einer anderen
Frau trat eine Hautgangrän am linken Unterschenkel auf. Im
Röntgenbild waren keine verkalkten Arterien nachweisbar,
doch waren allerhand Zeichnungen, die in der Haut sich
zeigten, als Ausdruck der Verdickung der Gefässe aufzufassen;
in dem post mortem exstirpierten nekrotischen Hautstück war
dies besonders deutlich zu sehen, und es fanden sich auch die
Meinen Arterien deutlich stärker verdickt, aber nicht verkalkt.
Besonders deutliche Gefässbilder lieferte dagegen ein Fall
von weitverbreiteter Verkalkung auch der feineren Gefqsse bei
einer 32 Jahre alten, an verjauchtem Uteruskarzinom leidenden
Frau (näher geschildert in der Dissertation von Delven-
^ _ mufnchenfr medizinische Wochenschrift. No. m.
~ ' — ■ ■ . - - * : -A — - ---
t h a 1). Hier sieht man die Hautgefässe deutlich auf der Platte
in zierlicher Anordnung. Der Sitz der Verkalkung und der
zahlreich aufgetretenen Nekrose war in der Media; von den
inneren Arterien waren nur wenige und diese ziemlich gering
verändert.
Wenn es bisher einwandsfrei eigentlich nur möglich ist,
verkalkte Gefässe nachzuweisen, so erscheint es nicht aus¬
geschlossen, auch fibrös verdickte, wie in dem einen unserer
Fälle, zur Darstellung zu bringen. Während bei der Gangrän
ganzer Zehen die tieferen grösseren Aeste der Arterien ver¬
ändert zu sein pflegten, scheint es bei der oberflächlichen Haut¬
gangrän sich mehr um kleinere, oberflächliche, verdickte oder
verstopfte Arterien zu handeln.
Herr R. Rössle: Die vergleichende Pathologie der
niederen Wirbeltiere.
Vortragender bespricht einleitungsweise den Wert der ver¬
gleichenden Pathologie und gibt nach einem kurzen geschicht¬
lichen Ueberblick über das Verhältnis der Tiermedizin zur
menschlichen Krankheitslehre eine Uebersicht über die Ent¬
wicklung unserer Kenntnisse von den Erkrankungen der niede¬
ren Wirbeltiere. Er betont, dass diese Kenntnisse mehr von
theoretischer als praktischer Bedeutung sind, da zwischen
Menschen und Kaltblütern für gewöhnlich nur eine sehr lockere
Lebensgemeinschaft besteht und trotz eines intensiveren Stu¬
diums der Pathologie der Fische, Amphibien und Reptilien
keine weiteren Fälle von Krankheitsiibertragung von ihnen auf
den Menschen bekannt geworden sind; es ist z. B. — trotz
vermehrten Konsums von Fischfleisch — bis jetzt bei dem ein¬
zigen Fall der Bothriocephalusinfektion durch Genuss von
Fischfleisch geblieben.
Was die Zahl der bei niederen Wirbeltieren vorkommen¬
den Erkrankungen anlangt, so wird sie wohl keine geringere
als beim Menschen sein, doch überwiegen anscheinend weitaus
alle diejenigen Formen, die man nach Hellers Vorgang als
Invasionskrankheiten bezeichnen kann. Vortragender weist
dann auf den Wert der Fische als Versuchstiere hin. Ent¬
sprechend ihrer seltenen Verwendung als solcher ist auch noch
wenig über die biochemischen Eigenschaften des Organismus
der Kaltblüter bekannt. Vortragender zitiert die wenigen ein¬
schlägigen Erfahrungen von Wilde-Schillinger (über
die Bakterizidie des Fischblutes), von Metschnikoff (Pro¬
duktion von Tetanusantitoxin beim Alligator), von v. Dün¬
gern (Unmöglichkeit, bei Haien hämolytische und präzipi-
tieronde Sera zu erhalten) und erwähnt eigene Versuche, bei
denen es gelang, vom Karpfen ein gegen Rinderblut gerichtetes,
hämolytisches Serum zu ■ gewinnen. Er geht weiter auf das
Vorkommen von spontaner Tuberkulose bei Kaltblütern ein
(Fälle von Bataillon, Dubard und T e r c, sowie von
Fried mann und von Rupprecht und Küster).
Wegen der Bedeutung, die der Tierkrebs neuerdings für
die Karzinomfrage gewonnen hat, bespricht Vortragender aus¬
führlich das Vorkommen von Tumoren bei den niederen Wir-
biltieren, deren Studium ihm durch das freundliche Entgegen¬
kommen von Prof. Hofer und Frl. Dr. Marianne P 1 e h n an
der k. bayerischen Fischereiversuchsstation möglich war.
Nach den heutigen Erfahrungen P 1 e h n s gibt es keine Ge¬
schwulst, die nicht auch bei Kaltblütern vorkäme: Fibrome,
Myome, Myxome, Sarkome in verschiedenen Erscheinungs¬
formen und Kombinationen, echte Karzinome mit einem kein
Gewebe verschonenden infiltrativen Wachstum. Vor allem
werden die Erfahrungen von P 1 e h n und Pick, sowie von
G i 1 r u t h über den Schilddrüsenkrebs der Salmoniden er¬
örtert und ihre Bedeutung für die Theorie des Krebses. Ins¬
besondere wird betont, dass das auffallende gehäufte, oft en¬
demische Vorkommen des Fischkarzinoms nicht für die para¬
sitäre I heorie zu sprechen braucht, u. a. auch deshalb, weil
durch das vom Vortragenden selbst festgestellte Vorkommen
von versprengten Keimen bei Fischen (mikroskopischen Ge-
websmissbildungen) auch für die Anhänger der Cohnheim-
schen Anschauungen bereits Anhaltspunkte vorliegen. Es wer¬
den dann die bei primitiveren Wirbeltieren beobachteten grö¬
beren Missbildungen und schliesslich kurz die bisher gesehenen
und insbesondere von Hofer beschriebenen Erkrankungen der
einzelnen Organe besprochen.
Allgemeiner ärztlicher Verein zu Köln.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 18. Juni 1906.
Vorsitzender: Herr Böse.
Schriftführer: Herr W a r b u r g.
Ueber Pleuritis.
Herr Matthes: Der Referent bespricht zunächst die
pathologisch-physiologischen Tatsachen, die bei Erkrankungen
der Pleura, insbesondere den entzündlichen, von Wichtigkeit
sind. Die Folgen der Beschränkung der respiratorischen
Fläche durch einen Erguss oder Pneumothorax auf die Sauer¬
stoffversorgung der Gewebe werden durch die Kompensations¬
einrichtung des Organismus fast völlig ausgeglichen, so dass
z. B. der respiratorische Gaswechsel vor und nach einer Punk¬
tion fast unverändert ist. Das arterielle Blut wird freilich bei
diesen Erkrankungen nicht so gut mit Sauerstoff versehen, wie
in der Norm. Für die Verhältnisse des Pneumothorax stehen
zur Zeit die Ansichten von Sauerbruch und H o f b a u e r
sich gegenüber. Sauerbach schreibt die schlechtere Ar¬
terialisierung des Blutes nicht nur der Beschränkung der re¬
spiratorischen Fläche bei Pneumothorax zu, sondern auch der
stärkeren Durchblutung der Lunge der kranken Seite be¬
ziehentlich der Anämie der gesunden Lunge.
Hofbauer legt den grösseren Wert auf die von ihm
gefundene exspiratorische Erschwerung der Atmung, welche
auch die Lunge der gesunden Seite zeigt. Die Zirkulation
wird nach Gerhardt nicht dadurch bei Pleuritis beein¬
trächtigt, dass die Lungenblutbahn eingeengt wird, sondern
durch eine Steigerung des Thoraxbinnendrucks. Die Herz¬
arbeit ist nach Gerhardt dabei nicht erschwert. Dem
widerspricht Referent durch Hinweis auf eine klinische Er¬
fahrung und auf eine experimentelle Arbeit Taubers.
Referent bespricht weiter die neueren Arbeiten, die sich
mit der Resorptionsfähigkeit der Pleura beschäftigen (Grober,
Gogitidze, Berger) und erwähnt kurz die Erfahrungen
über die Schmerzempfindlichkeit der Pleura (Lenander und
P e r n i c e). Der klinische Teil beginnt mit der Besprechung
der Aetiologie. 50 Proz. der Pleuritiden sind nach den Sta¬
tistiken von Grober und Wolfram tuberkulös, 20 Proz.
metapneumonisch, der Rest verteilt sich auf die rheumatischen
Formen und Infektionen mit anderweitigen Mikroorganismen.
Erwähnt werden die halbentzündlichen Ergüsse bei Nephri¬
tiden und der rechtsseitige Erguss bei manchen Herzer¬
krankungen (Gerhardt, Esser) endlich die pleuritischen
Ergüsse bei Pseudoleukämie und Leukämie (Monographie von
S i g n o r e 1 1 i). Es werden dann die Infektionswege der
Pleura geschildert. (Von der Lunge, vom Bauchfell, von der
Tonsille.) Für die Erkennung der Art der Infektion leistet die
Bakteriologie nur selten ausreichendes, mehr der Impfver¬
such, der allerdings erst nach Wochen ein- Ergebnis liefert.
Bequemer aber nicht ganz eindeutig ist die Zytodiagnostik der
Ergüsse. Hier und da gibt auch die Blutuntersuchung Anhalts¬
punkte (S a g i a n z). Die Bestimmung der Gefrierpunktser¬
niedrigung pleuritischer Ergüsse hat diagnostisch oder pro¬
gnostisch wertvolle Schlüsse nicht erbracht, da die molekulare
Konzentration von komplizierten Faktoren abhängig ist.
(Rothschild, Kelly und Torday, Meyer und H i s.)
Auch die Röntgenuntersuchung ist nur beschränkt verwertbar.
Man sieht die obere Grenze des Exsudats als lateralwärts an¬
steigende Linie, Damoiseaus Linie. Interessant ist das
Kienböck sehe Phänomen der paradoxen Zwerchfellkon¬
traktion bei Pneumothorax, das kürzlich von Hofbauer in
befriedigender Weise erklärt worden ist. Wichtiger ist die
Röntgenuntersuchung für die Erkennung der interlobären und
Basisempyeme, deren Diagnostik Referent dann ausführlich be¬
spricht. Erwähnt werden dann die von May und Gebhardt
geschilderten falschen Pneumothoraxformen, die durch gas¬
bildende Bakterien hervorgerufen werden. Ferner werden die
diagnostischen Schwierigkeiten bei Pneumothorax geschildert,
die durch Fangen von Luftblasen unter Adhäsionen bedingt
werden, wie sie kürzlich von B ä u m 1 e r beschrieben sind.
Endlich wird das Verhalten der Ergüsse bei jüngeren Kindern
und die Polyserositis besprochen. Zum Schluss werden einige
MUENcHfiNER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1687
21. August 1906.
merkwürdige neuere Beobachtungen erwähnt (Q r o c c o s
Symptom der paravertebralen dreieckigen Dämpfungszone,
die von T ravisanello beschriebene Pleurahernie, endlich
der Pleura-Echinokokkus [Urtikariaausbruch nach Punktion]).
Für die Therapie werden zunächst die physiologischen Fest¬
stellungen über Eindringen von Wärme und Kälte bis zur
Pleura über die Steigerung der Resorption durch lokale Hitze
(Klapp) besprochen, alsdann die medikamentösen, insbeson¬
dere die Salizylbehandlung, die Autoserotherapie und ferner die
Indikationen sowie die Ausführung der Punktion, endlich die
Nachbehandlung (lokale Heissluftbäder, Atmungsübung, Fest¬
stellung der gesunden Seite, Pneumatotherapie, Hydrotherapie,
insbesondere die Duschenbehandlung).
Herr F. C a h e n bespricht die Differentialdiagnose zwi¬
schen Empyem einerseits, Peripleuritis und subphrenischem
Abszess andererseits. Die Behandlung des Empyems muss
zwei Gesichtspunkte im Auge behalten: vollständige Entleerung
des intrathorakalen Abszesses und Entfaltung der komprimier¬
ten atelektatischen Lunge. Je früher der Eiter entleert wird,
je weniger die Lunge durch schwartige Verdickungen der
Pleura eingeschnürt ist, um so schneller kommt es zur Aus¬
heilung der Abszesshöhle, um so leichter werden die schweren
Verunstaltungen der Wirbelsäule und des Brustkorbs ver¬
mieden. Die beste Prognose bei rechtzeitiger Operation geben
die metapneumonischen Empyeme; jauchige Empyeme im An¬
schluss an Lungenabszesse oder -gangrän bergen auch nach der
Eröffnung die Gefahr der Sepsis. Tuberkulöse Empyeme sind
nur bei relativ intakten Lungen Gegenstand von eingreifenden
chirurgischen Massnahmen.
Zur Eiterentleerung kommen in Betracht die B ü 1 a u sehe
Heberdrainage, die Inzision durch den Interkostalraum und
die Rippenresektion. Die B ü 1 a u sehe Methode hat sich durch
die häufige Verstopfung der Drainage unter den Chirurgen nie¬
mals Freunde erworben.
Die zweite Methode lässt sich mit Lokalanästhesie aus¬
führen und eignet sich deshalb für stark heruntergekommene
Leute, denen man keine Narkose mehr Zutrauen will; sie ge¬
währt nur für kurze Zeit einen genügenden Eiterabfluss und
muss bei Hebung des Kräftezustandes durch die Rippenresek¬
tion ersetzt werden. Bei der Resektion soll die Opera¬
tionswunde nach Schede möglichst an die tiefste Stelle der
Abszesshöhle verlegt werden, um günstige Abflussbedingungen
zu schaffen.
Kommt die Empyemhöhle nicht zur Ausheilung, so kann ein
Versuch mit Perthes Aspirationsdrainage gemacht werden.
Führt auch diese nicht zum Ziel, so bleiben noch die Simon-
Küster sehe ausgedehnte Rippenresektion und die S c h e d e -
sehe Thorakoplastik zur Erzwingung der Ausheilung übrig.
Die guten Resultate dieser letzteren, zwar eingreifenden,
aber sehr erfolgreichen Methode werden an 3 Patienten, deren
Röntgenaufnahmen vorliegen, demonstriert.
1. 9 jähriger Knabe, vor 5 Jahren wegen eines abgesackten,
schwer erkennbaren linksseitigen Empyems operiert, % Jahr nach
dem ersten Eingriff Resektion der 7., 8., 9., 10. Rippe. Völlige Aus¬
heilung mit ganz geringer Skoliose. Auf dem Skiagramm deutliche
Neubildung der im Jahre 1900 entfernten 7. und S. Rippe.
2. 17 jähriger junger Mann mit linksseitigem Totalempyem vor
Vü Jahre nach Schede mit Resektion der 6., 7., 8., 9. Rippe und
gründlicher Exstierpation der Schwarten operiert. Ausgeheilt bis
auf eine kleine Granulationswunde, kaum merkliche Skoliose.
3. 27 jähriger Pat., bei dem 1903 wegen Rippenkaries die r.
5. und 6. Rippe an der Vorderseite der Thorax reseziert und wegen
grossem rechtsseitigen tuberkulösen Empyem Thorakoplastik mit
Resektion der 6., 7., 8., 9., 10. und 11. Rippe ausgeführt wurde. Pat.
arbeitet seit Ostern 1905 als Schneider mit verheilten Wunden.
Seitl4 Tagen kleine, wenig sezernierende Fistel in der Narbe.
Medizinische Gesellschaft zu Magdeburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 31. Mai 1906.
Vorsitzender : Herr Unverricht.
Herr Sandmann demonstriert: 1. Frisches Trachom.
2. Exophthalmus des rechten Auges von ca. 3 cm. Derselbe
Soll vor 12 Jahren begonnen haben; zur Zeit ist die ganze Orbita von
Tumormassen ausgefüllt und das Schläfenbein und ein Teil des Ober¬
kiefers verdickt und erweicht. Das untere Lid ist von chemotischer
Konjunktiva überlagert, das obere deckt noch den Bulbus, beim Hoch¬
heben desselben luxiert der Augapfel aber sofort.
Herr E. Schreiber demonstriert a) Pemphigus syphiliticus
(bei einem älteren Mann) und b) Pemphigus chronicus.
Herr Blencke: 1. Eine seltene Erkrankung am Knie.
Bl. stellt einen 14 jährigen Jungen vor, der seit ungefähr vier
Wochen über eine Schwäche in beiden Knien klagt; namentlich
beim Treppensteigen ermüde er sehr leicht, desgleichen bei längerem
Stehen. Die Untersuchung ergab, dass die Tuberositas tibiae beider¬
seits sehr stark prominierte in Gestalt eines Längsovales, das etwa
Pflaumengrösse hatte und auf Druck etwas empfindlich war. Es
handelte sich in dem vorliegenden Lalle um eine Abhebelung des von
der genualen Tibiaepiphyse nach abwärts herabsteigenden schnabel¬
förmigen Fortsatzes, wie sie von Schiatter, v. Lesser u. a.
beschrieben worden ist. Zum Einriss derselben war es in diesem
Falle noch nicht gekommen, sondern nur erst zur Abknickung. Da
auch hier kein Trauma vorlag, und die Erkrankung symmetrisch
war, ist Bl. der gleichen Ansicht wie die genannten Autoren, dass
hierbei ein Missverhältnis zwischen der im Pubertätsalter sich kräf¬
tiger entwickelnden Oberschenkelstreckmuskulatur und der nicht
gleichen Schritt haltenden Verknöcherung am genualen Tibiaende in
Frage kommt. Daneben spielen auch Erblichkeit und Zugehörigkeit
zu einem bestimmten Volksstamm eine gewisse Rolle. Dass diese
Erkrankung bisher nur bei Knaben beobachtet wurde, ist wohl darauf
zurückzuführen, dass beim weiblichen Geschlecht das Auftreten und
die Verknöcherung eine frühere ist als beim männlichen. Auch in
diesem Falle war die Therapie eine abwartende wegen der äusserst
geringen Beschwerden. Die Röntgenbilder lassen die Erkrankung
deutlich erkennen.
2. Nearthrose bei einer angeblichen Hüitiuxation.
Bl. zeigt das Röntgenbild eines 12 jährigen Mädchens mit an¬
geblicher Hüftgelenksluxation. Oberhalb des alten Pfannenortes, der
vollkommen verstrichen war, hatte sich eine neue tiefe Pfanne ge¬
bildet. Es muss also hier die Kapsel durchrieben sein, sodass auf diese
Weise Knochen an Knochen kam, wodurch dann die Neubildung der
gut ausgeprägten Pfanne ermöglicht wurde.
3. Eine seltene Talusfraktur .
Bl. zeigt die Röntgenbilder einer Talusfraktur bei einem 23jähr.
Mädchen, das aus einer beträchlichen Höhe herab von der Leiter
gefallen war. Sie hatte sich ausser einem inneren Knöchelbruch auch
noch einen Bruch des gleichseitigen Talus zugezogen und zwar war
letztere in 2 ganz gleiche seitliche Teile durch eine Bruchlinie ge¬
teilt, die von vorn nach hinten ging.
Herr Wendel demonstriert :
1. Eine kindskopfgrosse Erweichungszyste des rechten Schild¬
drüsenlappens, welche innerhalb weniger Tage durch Blutung bei
einer 5U jährigen Patientin entstanden war, welche vorher nicht
wusste, dass sie eine Struma hätte. Die zunehmende Atemnot drängte
die Trägerin zur Operation. Die Patientin konnte 5 Tage nach der
unter Lokalanästhesie (Schleich) vorgenommmenen Enukleation
geheilt entlassen werden.
2. Ein Karzinom des Rektum, welches er bei einem 67 jährigen
Manne unter Rückenmarksanästhesie entfernt hatte. Die Operation
— Amputatio recti vom Damm aus — wurde vorzüglich überstanden.
Das Karzinom hatte seine untere Grenze 6 cm oberhalb des Sphinkter.
Deshalb war im Bereiche des Sphinkter nur die Rektalschkimhaut
entfernt worden. Die zirkuläre Naht, welche nach der Entfernung des
unteren Rektalabschnittes (Verlagerung der Umschlagsstelle des
Bauchfells nach oben) das Rektum an die Analhaut fixierte, heilte
per primam. Die Kontinenz war 4 Wochen nach der Operation ganz
vorzüglich.
3. Einen Fall von Poiyposis recti. (Erscheint unter den Ori-
ginalien dieser Wochenschrift.)
4. Eine durch Resektion geheilte gangränöse Hernie.
Eine etwa 15 cm lange Dünndarmschlinge war in einer
schon seit langen Jahren bestehenden Schenkelhernie eingeklemmt
worden. Die ursprüngliche Hernie war eine faustgrosse reine Netz¬
hernie gewesen. Das Netz war mit dem Bruchsack fest verwachsen.
Die Gangrän der eingeklemmten Schlinge war nicht an den Schnür-
ringen eingetreten, sondern gegenüber dem Mesenterialansatz in
ihrer Mitte. Offenbar war an den deutlich sichtbaren Schnürringen
infolge der Netzpolsterung der Druck nicht so gross gewesen, dass
es zur Gangrän kam; es handelte sich vielmehr in der maximal
gefüllten Schlinge um eine Dehnungsgangrän.
5. Ein nach Gastroenterostomie wegen narbiger Pylorusstenose
entstandenes Ulcus jejuni. Das Geschwür sass 30 cm unterhalb
der Anastomose und war in die Bauchdecken perforiert. Die
Operation bestand in Exzision und Naht. Die sehr elende Patientin
erlag einer hypostatischen Pneumonie.
6. Mikroskopische Präparate eines Karzinoms der Kardia, welche
bei einem 26 jährigen ( !) Patienten durch ösophagoskopische
Probeexzision gewonnen waren. Der Patient war lange Zeit sondiert
worden, da man bei seiner Jugend die Stenose der Kardia ilir gut¬
artig hielt. Erst die vom Vortr. vorgenommene Oesophagoskopie
und im Oesophagoskop vorgenommene Probeexzision sicherte die
Diagnose. ...... _ »
1688
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
Nachtrag: Pat. wurde später im Brauer sehen Ueberdruck-
kasten operiert. Die nähere Beschreibung folgt an anderem Orte.
Herr Ruppert demonstriert einen Fall von zerebraler Kinder¬
lähmung.
Herr Krüger demonstriert einen Fall von Skorbut.
Herr Wendel: Die modernen Bestrebungen zur Ver¬
minderung der Narkosengefahr. (Erschien in No. 33 dieser
Wochenschrift.)
Diskussion: Herr Blencke macht auf die neueste Arbeit
von Schleich aufmerksam, in der er sein narkotisches Siede¬
gemisch (Aethylchlorid 2, Chloroform 4, Aether 12) als vollkommen
ungefährlich empfiehlt, als so ungefährlich, dass er sogar den Vor¬
schlag macht, dies in geeigneter Verpackung jedem einzelnen Soldaten
im Kriege mitzugeben, damit er sich event. über die Schmerzen der
Verwundung solange hinweghelfen kann, bis er von den Sanitäts¬
mannschaften an den Ort gebracht wird, wo ihm die nötige Hilfe zu
teil werden kann
Herr 1 horn: Mit den Narkosestatistiken ist es eine eigene
Sache; es kommen zu viel Imponderabilien in Betracht, die in jenen
keinen Ausdruck finden und zuguterletzt hat Jeder seine eigene
Statistik, auf die er sich verlässt. Vor allem ist zu berücksichtigen,
dass vielfach nicht oder wenig qualifizierte Personen, junge Volontäre,
Schwestern, Wärter etc. mit der Narkose betraut werden, sodass
weniger den Narkosenmitteln, als der Ausführung der Narkose die
Schuld an Unglücksfällen beizumessen ist. Th. hält in seiner Klinik
darauf, dass möglichst ein und dieselbe Person auf lange Zeit hinaus
die Narkosen ausführt. Th. hat niemals einen Narkosentod bei Ope¬
ration erlebt. ^ Asphyxien, auch schwere hat Th. erlebt, wie Jeder,
auch einige Spätkollapse nach reinen Aethernarkosen. Schon seit
vielen Jahren, lange vor Witzeis Publikation, lässt Th. den Aether
auf die gewöhnliche Maske tropfen und es wird je nachdem Aether
oder Chloroform, vielfach beides neben einander, bei Bronchitiden etc.
nur Chloroform, verwandt.
Ungemein wichtig ist das Verhalten der Psyche und das trifft
insonderheit für die Frauen zu; Th. lässt alle zu Operierenden im Bett
narkotisieren, sodass die Kranken den Operationsraum überhaupt
nicht sehen. Th. glaubt nicht, dass die Bier sehe Anästhesierung
in der Gynäkologie viel Verwendung finden wird, höchstens bei Pro¬
lapsoperationen bei alten Weibern, Dekrepiden und Aehnlichem. La¬
parotomien damit auszuführen, widerstrebt Th., zumal aus psychischen
Gründen und weil man auch vor unangenehmen Störungen und
Folgen nicht gefeit ist; darin kann Th. auch die neuliche Publikation
Krönigs nicht anderen Sinnes machen. Die massvolle Art, wie der
Herr Vortragende die B i e r sehe Methode angewandt wissen will,
wird gewiss nur Zustimmung verdienen.
Herr J schmarke: Der Streit über die zur allgemeinen Nar-
kose verwandten Mittel ist so alt, wie die Narkotika selbst. Eine
Diskussion über diesen Gegenstand ist selten fruchtbringend; es
bleibt eben doch jeder bei der ihm vertraut gewordenen Methode.
Eine Reihe von Unglücksfällen während der Narkose fällt sicher dem
Narkotiseur zur Last. Die Gefahren der Allgemeinnarkose sind jetzt
sehr reduziert worden, bestehen aber noch fort. Man muss daher
jeden Vorschlag freudig begrtissen, der die Zahl der Allgemeinnarkosen
herabzusetzen geeignet ist. Die Prüfung solcher neuen Methoden wie
der Rückenmarkanästhesie nach Bier sollte aber zunächst nur in
grossen Kliniken und Krankenhäusern geschehen. P. warnt vor
zu schneller Verallgemeinerung und vor der Auffassung, als sei die
1 unktion des Rückenmarkkanals und die Injektion irgend einer Flüssig¬
keit ein gleichgültiger Eingriff und sofort von jedem Arzt auszuführen.
Pem 0 11 s t r a t i o n; Herr Sandmann: Ich wurde am
-/. IV. 06 zu einem Patienten des Herrn Oberarztes Dr. Habs auf die
chirurgische Abteilung des Krankenhauses Altstadt geholt, welcher
am 18. IV. unter Lumbalanästhesie mit Stovain-Adrenalin kastriert
über undeutliches Sehen klagte. — Die Untersuchung der Augen ergab
bei sonstigem normalen Befund eine rechtsseitige Abduzensparese. —
Bei Durchsicht der Literatur fand ich, dass bereits mehrmals nach
Lumbalanästhesie — und zwar meist nach 5 — 8 Tagen — Erkran¬
kungen dei Augen beobachtet worden sind, und zwar handelte es sich
rast immer um Affektionen der Augenmuskeln. Sonnenbnirg be-
richtet auch über einen Fall von beiderseitiger Amaurose nach Lum-
uilanasthesie, ohne jedoch zu erwähnen, ob und welcher ophthal¬
moskopische Befund erhoben worden ist. — Die Prognose dieser
Augenaffektionen scheint eine durchaus gute zu sein; die bisher ver¬
öffentlichten Fälle gelangten alle nach einigen Wochen zur Heilung. —
Aetiologisch muss man wohl annehmen, dass die zur Anästhesie
benutzte Flüssigkeit eine toxische Wirkung speziell auf die Kerne der
Augenmuskeln ausübt, welche ja gegen gewisse Gifte besonders
empfindlich sind. — Jedenfalls aber besteht ein Zusammenhang
zwischen Lumbalanästhesie und Augenaffektion und der Operateur
muss mit dieser Komplikation rechnen.
Aerztlicher Verein in Nürnberg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 3. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Qoldschmidt.
Herr Thorei demonstriert:
1. Einen Fall von isolierter Gefässverkalkung des Gehirns; der
Fall betraf einen moribund in das Krankenhaus eingelieferten und
rasch unter den Erscheinungen von Herzschwäche verstorbenen
57 jährigen Arbeiter, bei welchem ausser Lungenemphysem mit
doppelseitiger zirrhotischer Spitzentuberkulose, starker Hypertrophie
des rechten Ventrikels und strangförmigen Synechien des Herzbeutels
eine ausgedehnte Verkalkung der Gefässe in der weissen Marksub¬
stanz des Gehirns vorhanden war; wie in ähnlichen Beobachtungen
von Virchow und Hanse mann (Verhandl. d. pathol. Gesellsch.
II, 1900) ragten auch hier über die Schnittfläche des Centrum semi¬
orale zahlreiche feinste, seltener dickere, borstenförmige Kalkspiesse
hervor, die sich zum Teil samt ihren Verzweigungen in bis Zentimeter
langen Stücken aus dem Gehirn herausziehen Hessen. Die graue
Rindensubstanz war makroskopisch frei von Veränderungen, doch
fanden sich mikroskopisch auch in ihr ähnliche, vorwiegend die Media
betreffende Gefässverkalkungen vor; analog früheren Beobachtungen
waren auch hier die grossen Basisgefässe des Gehirns normal, ebenso
wie die Aorta, abgesehen von einer halbmondförmigen Kalkspange im
Arcus, lediglich eine diffuse, fettig glänzende Verdickung der Intima
mit einigen wenigen kleinen polsterförmigen Verdickungen zeigte.
Als Ausgangspunkt dieser isolierten Gehirngefässverkalkung Hess sich
eine ausgesprochene Atrophie des Schädeldaches mit Rarefikation
insbesondere der Tabula interna konstatieren. Ausführliches wird an
anderer Stelle später publiziert.
2. einen Fall von multiplen Aneurysmen der Aortenklappen; in
diesem Falle, welcher ein 21 jähriges, an Mitralinsuffizienz ver¬
storbenes Mädchen betraf, fand sich ausser der Sklerose und Ver¬
wachsung der Mitralzipfel an jeder Aortenklappe eine kleine sack-
oder divertikelartige Ausbuchtung von Halberbsen- bis Erbsen¬
grösse vor; auffallend war, dass die hintere Aortenklappe mitsamt
ihrer kleinen beutelförmigen Ausstülpung vollkommen intakt war und
geradezu auffallend zart erschien, während das Endokard über den
Aneurysmen der anderen Klappen in mehr oder weniger starker -Ver¬
dickung begriffen war.
3. ein Herz mit vierteiligen Pulmonalklappen, von einer 32jähr.
Frau stammend, die an Mammakarzinom gestorben war; an Stelle der
linken Klappe fanden sich zwei völlig von einander gesonderte kleine,
aber unter sich wieder ungleich grosse Klappen vor, von denen die
eine am Rande verdickt war; der rechte Ventrikel zeigte eine starke
Dilatation, für die sich keine andere Ursache als die Klappenanomalie
feststellen Hess.
4. ein Originalpräparat von Gierke: Spirochaete pallida in der
Leber bei kongenitaler Syphilis.
Herr Treumann: Referat über den diesjährigen Kongress
für innere Medizin in München.
Sitzung vom 17. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Qoldschmidt.
Herr Hagen: Ueber blutige Verletzungen der Hand und
Finger.
Herr Stein: Ueber Fleisch- und Fischvergiftungen.
Hei r F. Merkel demonstiert mehrere operativ gewonnene
gynäkologische Präparate.
Sitzung vom 7. Juni 1906.
Vorsitzender: Herr v. Rad, später Herr Qoldschmidt.
Herr Rad demonstriert einen Fall von Tabes dorsalis, kombiniert
mit Myositis luetica des M. biceps.
Es handelt sich um eine 55 jährige Frau, welche an Tabes leidet
und deren Mann an progressiver Paralyse zugrunde gegangen ist.
1 ie I atientin erkrankte vor ca. 4 Monaten an sehr heftigen
Schmerzen an der Beugeseite des linken Oberarmes, die sich bei Be¬
wegungen und auf Druck sehr steigerten und in ausgesprochenem
Masse zu nächtlichen Exazerbationen neigten. Etwa 8—10 Wochen
nach dem Begum der Schmerzen soll sich eine Beugekontraktur im
linken Arm entwickelt haben. Bei der Untersuchung bestand eine
deuthehe Kontraktur des linken M. biceps. Derselbe erschien ver-
aiCk>iUhlie,Slch t>re^hart an, war auf Druck, namentlich in der Ge¬
gend des Sehnenansatzes sehr empfindlich. Eine geringe Beugung im
Gelenk war noch ausführbar, Streckung gänzlich unmöglich. Die
Sehne trat wie eine fest gespannte Saite in der Kubitalgegend hervor,
war nirgends adhärent; die darüber liegende Haut, die Umgebung des
Muskels ergaben keinerlei Veränderungen. Die Sensibilität war am
Oberarm normal, die elektrische Erregbarkeit des Muskels etwas
herabgesetzt. Die Röntgenuntersuchung des linken Ellbogengelenkes
(Dr. Port) ergab durchaus normale Verhältnisse. Die übrige Unter¬
suchung ergab die für Tabes charakteristischen Erscheinungen an den
’l. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1689
3UOiUen den Sehnenreflexen und der Sensibilität. Die Tabes selbst
nachte sehr wenig Beschwerden. Es bestanden keine lanzinierenden
Schmerzen, keine Blasenstörungen, keine Ataxie.
In Anbetracht des Umstandes, dass die Patientin an Tabes litt
md ihr Mann an Paralyse gestorben war, wurden sofort grosse Jod-
inspii siegeben, worauf ein ganz bedeutendei Ei folg auftiat. Die
Shmerzen Hessen wesentlich nach, der Muskel wurde weicher, war
ücht mehr so druckempfindlich. Die Kontrakturstellung selbst blieb
a.werändandeit $jcj1 jer wohl zweifellos um eine luetische Myositis,
iei der es nachdem eine Wucherung des interstitiellen Bindegewebes
mui deichzeitige Atrophie der Muskelsubstanz wohl vorangegangen
waren zu einer schwieligen Entartung des Muskels kam, die durch
Petraktion des Bindegewebes zu der hochgradigen Kontraktur führte.
K Im Anschluss daran bespricht Vortragender die syphilitischen
Muskelerkrankungen. . .
Herr Bändel demonstriert einen 60 jährigen Mann mit einem
sehr ausgedehnten, seit 20 Jahren bestehenden Ulcus rodens am linken
Ohr das mit Röntgenstrahlen behandelt werden soll.
Herr Lindenstein: Erfahrungen mit der Bier sehen
Stauung. (Der Vortrag erscheint in dieser Wochenschrift.)
Herr Butters berichtet über einen Fall von Abreissung der
Streckaponeurose der Endphalanx des linken Zeigefingers und re¬
feriert weiter über 2 Fälle von Darmwandbrüchen bei Leistenhernien
unter Vorzeigung eines Präparates.
Sitzung vom 21. Juni 1906.
Vorsitzender : Herr G o 1 d s c h m i d t.
Herr Epstein: Die interne Anwendung des Quecksilbers
bei Syphilis.
Herr Alexander demonstriert: , ...
a) einen Fall (Fräulein) von Mitbewegung des linken Oberlides
beim Kauen. — Eine Ptosis besteht nicht.
b) den rechten Augapfel mit epibulbärem kirschgrossen Tumor
der Ziliargegend und einen apfelgrossen Tumor im rechten Stirnhirn
bei einem 3% jährigen Kinde. — Wegen Verwachsungen der Iris war
ophthalmoskopisch rechts kein genauer Befund bei dem Kinde zu
erheben. Auf dem linken Auge bestand keine Stauungspapille. —
lieber die Art des Tumors wird später berichtet werden.
Sitzung vom 5. Juli 1906.
Vorsitzender: Herr Goldschmidt.
Herr Plitt stellt eine 16jährige Fabrikarbeiterin vor, bei
welcher ein minimaler Kupferdrahtsplitter im unteren Kammerwinkel
festgestellt werden konnte.
Die klinisch schon fast zweifellose Diagnose wurde noch be¬
stätigt durch sehr deutliche Röntgenbilder, welche Herr Dr.
T. Schilling in zahlreichen Aufnahmen anfertigte.
Am 9. Juni war der Patientin, welche in einer leonischen Draht-
Warenfabrik arbeitete, von der Maschine mit grösstei Gewalt ein
Stückchen Kupferdraht gegen das rechte Auge geschleudert worden
Am 13. Juni kam sie in spezialistische Behandlung. Es fand sich
mässige Injektion des Bulbus und iritische Reizung. 3 mm unteihalb
der Korneamitte kaum 1 mm lange, tiefe Kornealwunde. Im unteren
Kammerwinkel zirka stecknadelkopfgrosse Exsudatflocke. Von Corp.
al. nichts zu sehen, doch bestand Verdacht, dass es in dei Exsudat¬
flocke eingebettet liege. ..
Nach 3 tägiger exspektativer Behandlung blieb Patientin aus. Sie
hatte eine auswärtige Klinik konsultiert, wo ihr bedeutet wurde, es
sei kein Splitter im Auge. Sie bekam gelbe Salbe und Brille für ihren
Astigmatismus. . . ,
Nach 14 Tagen kam sie wieder zu mir, weil sie mit der Brille
nicht zufrieden sei. Ueber die Eremdkörperverletzung klagte sie
nicht mehr. _ . ..
Das Auge fand sich am unteren Limbus eine Spur injiziert. Die
Exsudatflocke im unteren Kammerfalz hatte sich in ein deutliches
braunrotes Granulationsgewebe umgewandelt, und war wesentlich
grösser geworden. Die Iris sonst ganz reizlos, Visus normal.
Differentialdiagnostisch käme tuberkulöse oder syphilitische
Granulationsgeschwulst oder ein nicht pigmentiertes Sarkom in Frage.
Das Röntgenbild beseitigte in idealer Deutlichkeit jeden Zweifel.
Bei der bekannten Gefährlichkeit von Kupferdrahtsplittern für das
Auge soll schon am nächsten Tage der Versuch gemacht werden,
den Splitter zu entfernen.
Herr Hub rieh demonstriert einen Fall von Metallsplitterver¬
letzung des Auges, wobei die Linse durchdrungen wurde, die aber
ohne Kataraktbildung heilte.
Herr Thorei demonstiert: 1. Präparate von solitären, mul¬
tiplen und bis walnussgrossen Zystofibromen der retrotrachealen
Schleimdrüsen und berührt ihre Beziehungen zum Vagus und Re-
kurrens.
2. bespricht er unter Hinweis auf die experimentelle Seite der
Frage die Beziehungen zwischen Leberzirrhose und Alkoholismus,
wobei er im wesentlichen zu einem negativen Ergebnis kommt.
Verein deutscher Aerzte in Prag.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 23. Februar 19U6.
Herr Eckstein: Demonstration eines Falles von multiplen
Lipomen nach Trauma. . ..... ...
E. negiert die traumatische Entstehung, sieht hereditäre Dick¬
leibigkeit als ätiologisches Moment an.
Herr Schleissner stellt einen 14 jährigen Patitenten mit Sig¬
matismus nasalis vor. „ .
Herr Eckstein spricht über das H e s s i n g sehe Huftbugel-
korsett.
Der Vortragende beschreibt im Detail die Art und Weise der
Herstellung eines Hüftbügelkorsettes, erwähnt die Vorzüge dieses
im Gegensatz zu den Nachteilen andersartig gebauter Korsette, be¬
spricht die Indikationen der Hüftbiigelkorsette und weist insbe¬
sondere auf die grossen Vorteile für den Patienten hin, wenn er
sich dem orthopädischen Arzte und nicht dem Bandagisten anver¬
traut, weil letzterer das Korsett dem Patienten als ausschliessliches
Heilmittel empfiehlt. Die Wirkung des Hüftbiigelkorsetts wird am
Patienten und im Röntgenbilde demonstriert.
Im Anschlüsse daran bespricht Herr Eckstein die Herstellung
von Plattfusseinlagen nach Lange und zeigt die Wirkung solcher
Einlagen.
Sitzung vom 2. März 1906.
Herr A. Hock: Störungen im Bereiche des Harnapparates bei
Hysterie.
H. bespricht die Manifestationen der Hysterie im Bereiche der
Nieren, der Blase, und der Harnröhre, unter Anführung von Bei¬
spielen aus der Literatur und eigenen Beobachtungen. In ausführ¬
licher Weise erörtert er die hysterische Nierenkolik und hysterische
Nierenblutung; beider Vorkommen ist in den letzten Jahren in Zweifel
gezogen worden auf Grund von Befunden, welche bei Nierenope¬
rationen in hierhergehörigen Fällen gemacht worden sind. Für H.
ist das Vorkommen hysterischer Nierenkolik zweifellos erwiesen,
während das Vorkommen hysterischer Nierenblutung noch nicht ein¬
wandfrei dargetan erscheint. Ebenso wie Hysterie zur Diagnose
Nierenstein und Wanderniere leitet, kann umgekehrt irrtümlich
Nierentuberkulose mit Hysterie verwechselt werden. Bei hysteri¬
scher Blasenlähmung kann der zystoskopische Befund differential¬
diagnostisch insofern verwendet werden, da das Vorkommen einei
Balkenblase gegen Hysterie spricht. Das Vorkommen hysterischer
Inkontinenz, das von deutschen Autoren überhaupt in Zweifel ge¬
zogen wird, ist für H. erwiesen und führt derselbe zwei eigene
Beobachtungen dieses seltenen Zustandes an. In vielen Fällen, so
auch in den beiden selbstbeobachteten von hysterischer Inkontinenz
hat die Form derselben etwas charakteristisches; es gehen grössere
Mengen Harns mehrmals des Tages sowie während des Schlafes ab
bei vollständig fehlendem Harndrang.
Herr Bischitzky berichtet über einen Fall von Throtnbosis
venae haemorrhoidalis infolge Typhus abdominalis.
Sitzung vom 9. März 1906.
Herr Leopold Fischl: „Nervöse Dyspepsie.“
Die ursprüngliche Auffassung der nervösen Dyspepsie als Neu¬
rose ohne objektive Veränderungen hat man, seitdem die grosse Zahl
von Sekretions- und Motilitätsstörungen des Magens, die sich sehi oft
mit der nervösen Dyspepsie kombinieren, bekannt sind, fallen ge¬
lassen. Dieser Umstand zwingt uns auch, beim Vorherrschen ner¬
vöser Erscheinungen genau die Funktion des Magens zu untersuchen,
da diese sehr oft die Handhabe für eine richtige symptomatische The¬
rapie bietet. Vortr. bespricht zuerst die bisher üblichen Methoden
der Untersuchung der sekretorischen Funktion des Magens, besonders
aber die neueren, in erster Linie die Sahli sehe Desinoidreaktion,
deren positiven Ausfall er für beweisend für normale oder ver¬
mehrte Azidität hält, während der negative für Anazidität oder mo¬
torische Insuffizienz nicht absolut beweisend ist. Die von
G. Schwarz angegebene Untersuchungsmethode der Verdauung
mittelst Röntgenstrahlen und Wismuth im Goldschlägerhäutchen ist
gegenwärtig noch nicht für die Praxis zu verwenden. Auch die Untei-
suchung der Motilität ist notwendig, da, wie Herr Fischl an der
Hand von Krankengeschichten schildert, Fälle von hochgradiger mo¬
torischer Insuffizienz intermittierender Art Vorkommen, die man nur
durch zeitweilige Paresen der motorischen Nerven des Magens er¬
klären kann.
Sitzung vom 16. März 1906.
Herr Schulz: „Ueber ökonomische Verschreibung.“
Herr Sch. zeigt an einer Reihe von Beispielen, wie es möglich,
in der allgemeinen Praxis durch ökonomische Verordnung bedeutende
Ersparnisse zu erzielen, wobei die genaue Kenntnis der jeweilig be¬
stehenden Taxe für Rezepturarbeiten und der sich alljährlich (wenig¬
stens in Oesterreich, Anm. d. Ref.) ändernden Arzneitaxe not¬
wendig ist.
1690
MUENCHENER MEDIZINISCEIE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
Aus den Pariser medizinischen Gesellschaften.
Acad6mie de medecine.
Sitzung vom 3. und ID. Juli 1906.
Die Malaria auf Madagaskar.
Blanchard berichtet, dass gegenwärtig die Todesfälle an
Malaria auf Madagaskar eine beträchtliche Höhe erreichen; in Tanana-
rivo, einer hochgelegenen, bis jetzt sehr gesunden Stadt, stiegen sie
von -48 im Jahre 1900 allmählich auf 686 im Jahre 1905 und haben in
den ersten 4 Monaten dieses Jahres bereits 980 auf 40 000 Einwohner
erreicht. B. führt diese erschreckende Zunahme, welche eine wahre
Epidemie zeige, auf die grossen, in den letzten Jahren ausgeführten,
öffentlichen Arbeiten, wie Strassen- und Eisenbahnbau, zurück. Aehn-
lich sei es mit dem Gelbfieber in Amerika gewesen, als man die Bahn
von Vera-Cruz nach Mexiko baute. In dem Masse, als obige Arbeiten
Fortschritte machten, wurden die Arbeiter von 2, bis dahin in Tanana-
rivo unbekannten Moskitoarten, Pyretophorus costalis und Myzomya
funesta verfolgt Die bisher vorgenommenen Massnahmen sind er¬
folglos geblieben. Bl. empfiehlt aber die nach Laverans Rat in
Havanna mit so viel Erfolg angewandten, d. s. 1. völlige, durch Aus¬
füllung und Petroleumübergiessung zu bewerkstelligende Zerstörung
aller Moskitoherde und 2. Gebrauch von Metallnetzen von 1 mm Dicke
au allen Türen und Fenstern.
Zur Prophylaxe der Malaria und des Gelbfiebers im Senegal.
Kermorgant berichtet über die guten Erfolge, welche die
Eisenbahngesellschaft Dakar-St. Louis (im Senegal) bei ihrem Perso¬
nal durch die Aufstellung von Metallnetzen an allen Oeffnungen der
Bahnhöfe und der Wohnungen erzielt hat. Vor Einführung dieser
Schutzmassregeln hatte man an einer Station 10 kranke Leute mit
139 Tagen Krankenhausbehandlung und 44 Tagen weiterer Arbeits¬
unfähigkeit, nach derselben nur je 13 Tage Krankenhausbehandlung
und Arbeitsunfähigkeit auf 2 Patienten; ähnlich wurde das Verhältnis
an den anderen Stationen.
Der Schluss der Diskussion über Appendizitis und Typhlo-
kolitis brachte noch einen interessanten Bericht von Blanchard,
welcher für die Aetiologie der Appendizitis die wichtige Rolle der
Eingeweidewürmer, der Askaris, Oxyuris, Trichokephalus, hervor¬
hebt. Diese Würmer, weit entfernt unschädlich zu sein, verursachen
Erosionen der Schleimhaut, welche an sich und durch die Reizung
der Nervenendigungen sehr schädlich wirken. In 3 Fällen wieder¬
holter Appendizitis, welche Metschnikoff beobachtete, führte
die Darreichung von Anthelmintizis zur Heilung der Anfälle; manche
Fälle von Append.izitiseoidemien, sei es in Familien, sei es zu gewissen
Jahreszeiten (Sommer) sind sehr wohl durch diese Eingeweide¬
würmer zu erklären. Blanchard hebt schliesslich als Verhiitungs-
massregeln hervor: !. Rieselfelder, Gebrauch von Menschenjauche
sollte strenge überwacht und wenigstens für die Gemüse und Früchte,
welche roh genossen werden, verboten werden. 2. Da die Parasiten
der genannten Arten durch das Trinkwasser und besonders jenes der
Brunnen verbreitet werden, sollte man den Genuss solchen Wassers
verbieten. 3. Alle Fälle von Appendizitis mit Anthelminthizis be¬
handeln, und zwar, da es sich meist um den Trichokephalus handelt,
mit Thymol, welches sowohl Kinder wie Erwachsene gut vertragen.
Huchard zeigt, dass der Schmerzpunkt der Appendizitis am
Epigastrium sitzen kann; man glaubt dann entweder an eine Dyspepsie
mit Hyperazidität oder an Hypochondrie. Er glaubt, bezüglich der
Appendizitis und Tvphlokolitis, der Meinungsunterschied sei durch die
Tatsache, dass es 2 Arten von Typhlokolitis gäbe, zu erklären. Die
erste, von Blondel beschriebene Art ist ein einfacher Krampf mit
sekretorischer Störung ohne Entzündung oder Infektion. Die zweite
hingegen beruht auf Entzündung und Infektion und nur diese kann
durch Ausdehnung der letzteren von Appendizitis begleitet sein.
Sitzung vom 17. Juli 1906.
Die Malaria auf Madagaskar.
Kermorgant bemerkt, dass trotz aller behördlichen Mass¬
nahmen zur Regenzeit die Malaria immer zunehme, und zwar auch
auf den Höhenlagen; diese Ausbreitung der Malaria beobachtet man
auch in Tonkin und La Reunion, was damit zusammenhängt, dass die
Anopheles allmählich die Hochebenen erreicht haben. Ein gutes
Mittel im Kampfe gegen dieselben sind die Metallnet^e an allen Fen¬
stern und Türen, aber man kann dieses Mittel nur in grösseren Orten
anwenden, denn sogar die Kolonialtruppen hätten mit den Bajonetten
die Netze entfernt, um wie' viel weniger könnten sich die Eingeborenen
mit dieser Art Prophylaxe befreunden.
Laveran ist zwar der Ansicht Blanchards bezüglich der
prophylaktischen Massnahmen, hält es aber für sehr schwierig, in
einem Lande, dessen Ausdehnung grösser wie die Frankreichs ist
(600 000 qkm) alle stehenden Gewässer auszufüllen und mit Petroleum
zu übergiessen, zumal damit eine Zerstörung der Reiskulturen einher¬
gehen und die Eingeborenen ihres Hauptnahrungsmittels beraubt
werden würden. Laveran hält es für viel wichtiger, der Not der
Eingeborenen zu steuern und manche Orte, welche zu nahe an den
Reiskulturen angelegt sind, zu verlegen.
Blanchard stimmt darin bei, dass man nicht alle stehenden
Wässer wegen der Reispflanzungen ausfüllen könne, aber dies sollte
wenigstens bei jenen, die in der Nähe menschlicher Ansiedlungen sich
befinden, geschehen. In Italien hat übrigens die Aufstellung der Netze
an Türen und Fenstern seit mehreren Jahren vorzügliche Erfolge ge¬
geben.
Es wird eine Kommission zur Formulierung entsprechender Vor¬
schläge an die Regierung eingesetzt.
Academie des Sciences.
Sitzung vom 16. Juli 1906.
Pigmentierung der Kopf- und Barthaare durch die Röntgenstrahlen.
A. Imbert und H. Marques haben konstatiert, dass bei
einem von ihnen, der sich seit 10 Jahren mit der medizinischen An¬
wendung von Röntgenstrahlen beschäftigt, die völlig weiss ge¬
wesenen Haare allmählich wieder schwarz geworden sind, und zwar
dunkler als sie ehedem waren. Ferner waren bei einem 55 jährigen
Mann, der wegen Lupus der Wange mit Röntgenstrahlen behandelt
wurde, die Haare im Umkreis von einigen Zentimeter am korrespon¬
dierenden Ohre ausgegangen, aber wieder nachgewachsen, und zwar
entsprechend dieser Stelle völlig schwarz, während die von der Ein¬
wirkungsstelle der Röntgenstrahlen entfernter gelegenen Schnurrbart¬
haare nicht ausfielen und viel weisser waren. Noch andere Be¬
obachtungen haben gezeigt, dass die Farbe der blonden Haare unter
dem Einflüsse der Röntgenstrahlen dunkler wird. Eine genauere Er¬
klärung über den Mechanismus dieser Pigmentierung — direkte Wir¬
kung auf die Chromophagen oder andersartige — vermögen Bericht¬
erstatter noch nicht zu geben. §t.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Aerztlicher Bezirksverein Nürnberg.
Sitzung v o in 26. Juli 1906.
Herr Neuberger berichtet über den Deutschen Aerztetag
in Halle. Die Verhandlungen sind durch Drucklegung bekannt. Wenn
sich die Ergebnisse nicht in Beschlüssen und Resolutionen formu¬
lieren Hessen, so hat der Aerztetag doch viel positive Arbeit geleistet,
indem die Diskussion die schwebenden Fragen klärte und für die
weitere Arbeit den Weg zeigte. Referent betont, dass es für die Ver¬
handlungen des Aerztetages sehr zweckmässig wäre, wenn alle
Referate vor der Diskussion gedruckt in den Händen der Delegierten
wären.
Es wird einstimmig folgende Resolution angenommen:
Der Aerztliche Bezirksverein Nürnberg beauftragt die Vorstand¬
schaft, dem Pensionsverein für Witwen und Waisen
bayerischer A e r z t e mitzuteilen, dass sie nicht in der Lage ist,
den Mitgliedern des Bezirksvereins den Beitritt zum Pensionsverein
zu empfehlen, so lange nicht die Satzungen dahin geändert sind,
dass dem Ehemann, wenn er der überlebende Teil ist, ein
Prozentsatz der eingezahlten Beträge zurückerstattet wird.,
dass ferner die Mitgliedschaft allen in Bayern ansässigen
Aerzten ermöglicht wird.
Herr Neuberg er berichtet über den ärztlichen Rechtsschutz¬
verein. Nach der Neuregelung wickeln sich die Geschäfte zur vollen
Zufriedenheit ab und die Beteiligung der Kollegen an dem Verein
nimmt zu. Die zufriedenstellende Erledigung der Geschäfte wird von
mehreren Seiten in der Diskussion bestätigt.
Herr Stich und Herr Staudter berichten über die Ver¬
sammlung süddeutscher Bahnärzte. Die Ergebnisse der Versammlung
sind aus den Berichten der Münch, med. Wochenschr. bekannt.
Julius Herbst.
Verschiedenes.
Therapeutische Notizen.
Die Radiotherapie der Fibrome empfiehlt Foveau de
Cour me II es (Revue de therapeutique medico-chirurgiale, 15. Juni
1906) besonders für jene Fälle, wo wiederholt Peritonitis vorange-
gegangen ist und wo die Patientinnen durchaus die radikale Ent¬
fernung, die natürlich meist in erster Linie in Betracht kommt, ver¬
weigern. Von 45 mit Röntgenstrahlen behandelten Fällen von
Uterusfibrom erfuhren 38 bedeutende Besserung, die schon von der
ersten Sitzung an vor allem in Linderung der Schmerzen besteht, ein
ball wurde vollständig geheilt, in den anderen Fällen trat Ein¬
kapselung und dadurch Unschädlichkeit der Fibrome ein. Diese
Fibrome, welche so gut auf Röntgenstrahlen reagiert haben, wären,
wie Courmelles annimmt, maligne Tumoren geworden und da¬
mit hatte man auch eine Art diagnostisches Mittel. Er benützt eine
Rolle von 0,5 m Funkenlänge und im übrigen den Apparat, welcher
zur Röntgendiagnose dient, bezüglich der Länge der Sitzungen, deren
Wiederholung und der Stromstärke lässt er sich von den Allgemein-
und nicht der lokalen Reaktion leiten: erstere bekundet sich durch
Fieber, wenn die Strahlen zu intensiv, die Sitzungen zu oft wiederholt
oder zu lang dauernd sind; auf diese Allgemeinreaktion und die indi-
21. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1691
viduelle Empfänglichkeit möchte C. mehr Gewicht gelegt wissen als
auf die verschiedenen, noch unsicheren Messinstrumente. Natürlich
beginne man mit möglichst kleinen Dosen! Misserfolge hatte C. nur
bei sehr grossen Tumoren, wo Operation verweigert wurde und
die relative Nutzlosigkeit der Röntgenstrahlen von Anfang an fest
stand. Neben den Schmerzen hörten auch die Blutungen auf, kurz,
fast alle subjektiven Beschwerden, so dass — durch die Verkleinerung
und Involution der Geschwulst — die Patientinnen in den genannten
38 Fällen oft die Illusion völliger Heilung bekamen. St.
Im Mai- und Juniheft des Zentralblattes für die gesamte Therapie
bringt Werner Runge- Heidelberg eine umfangreiche Arbeit über
die Therapie der genuinen Epilepsie, nebst einem
Anhang über die Therapie der übrigen Epilepsie¬
formen, mit Berücksichtigung der Literatur der letzten 15 Jahre.
Er fasst die Resultate der gründlichen Arbeit, welcher nicht weniger
als 9 Seiten Literaturangaben beigegeben sind, in folgenden Sätzen
zusammen. 1. Bei der allgemeinen traumatischen Epilepsie ist mehr
zu raten zu einer Brombehandlung, besonders dann, wenn sofort nach
einem Trauma allgemeine Konvulsionen mit Bewusstlosigkeit auf¬
traten. Dagegen ist eine Trepanation vielleicht zu versuchen, wenn
früher nur partielle Epilepsie da war, wenn der Krampf jedesmal in
einer bestimmten Muskelgruppe beginnt oder durch eine Aura auf
eine bestimmte Lokalisation geschlossen werden kann, hauptsächlich,
wenn diese Aura durch Druck auf eine Narbe am Schädel ausgelost
wird. Die Aussicht auf Erfolg ist gering. 2. Die typische J a c k -
s o n sehe Epilepsie, sei sie traumatisch oder nicht traumatisch, soll,
da eine genaue Lokalisation möglich ist, immer mit der 1 repanation
behandelt werden, und zwar so früh es irgend geht nach Auftreten
der epileptischen Krämpfe; die Rindenexzision nach Horsley wird
hier am meisten empfohlen. Der Operation soll eine daueinde Brom¬
behandlung zur Unterstützung der operativen Jherapie, folgen.
3 Bei der Reflexepilepsie muss die die Anfälle auslösende Schädigung
(Narbe etc.) möglichst früh operativ entfernt werden, wenn sicher
festgestellt ist, dass keine andere Ursache der Epilepsie vorliegt.
4 Auch bei diesen Formen der Epilepsie muss, wie bei der genuinen
Epilepsie, für eine zweckentsprechende Ernährung und Lebensweise
gesorgt werden, da sie die spezifische Therapie auf das Wirksamste
unterstützen. .
Bei der genuinen Epilepsie ist die Brombehandlung, und zwai
möglichst früh, indiziert. Es soll die geringste Dosis von Brom¬
salzen angewandt werden, die zur Unterdrückung der Anfälle aus¬
reicht. Die Behandlung hat mehrere Jahre nach Unterdrückung dei
Anfälle anzudauern und darf nie plötzlich unterbrochen werden, son¬
dern soll zuletzt in allmählich absteigenden Dosen zu Ende geführt
werden Bleibt die Brombehandlung erfolglos, so kann man Ver¬
suche mit dem Verfahren von Toulouse und R i c h e t, mit der
Opiumbrombehandlung, mit der Bechterewschen Kombination
und schliesslich mit den übrigen Medikamenten machen, die auch
dann, wenn das Brom und seine neuen Verbindungen (Bromipin etc.)
nicht mehr vertragen werden, angewandt werden müssen. Von einer
Trepanation ist nach den bisherigen Resultaten abzuraten, ebenso
von der Sympathikusresektion, es sei denn, dass in ganz verzweife -
ten Fällen, wo psychische Degeneration unabwendbar ist, diese als
letzter Versuch ausgeführt werden könnte. r. L.
E. Trautwein hat an der M. Joseph sehen Poliklinik in
Berlin therapeutische Versuche mit Eupizinpra-
paraten angestellt und berichtet darüber in seiner Dissertation
(Leipzig). Er gebrauchte das Mittel, welches aus dem offizinellen
Nadelholzteer, der Pix liquida der Pharmakopoe, mit Hilfe von Eor-
maldehyd und einigen Kondensationsmitteln hergestellt wird und in
reinem Zustand ein hellgraues, feines Pulver von schwachem Geruch
bildet, in folgenden Verbindungen; Eupizinsalbe 5, 10 und 20 proz.,
Eupizintinktur 10 proz., Eupizinazeton 10 proz., Eupizinemulsion 2/2,
5 und 10 proz., Eupizinseife (flüssig) 10 proz. und Eupizinparaplast
5, 10 und 20 proz. Besonders günstig war die Wirkung des Eupt-
z’inazetons auf das Ekzema seborrhoicum; in fast allen Fällen trat der
jucklindernde Einfluss in den Vordergrund. Beim chronischen Ekzem
ist die Wirkung ungünstig. Während bei den akuten und chronischen
Urtikariafällen' sehr gute Resultate erzielt wurden, sind die Ergeb¬
nisse bei Prurigo und bei Pruritus wenig befriedigend. Die Eupizin-
medikation bei Pityriasis rosea und versikoloi leistet nicht mehr als
die ß-Naphtholverordnung, doch wurde auch hier der jucklindernde
Einfluss von den Patienten besonders hervorgehoben. E- L.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 21. August 1906.
— Das Deutsche Zentralkomitee zurBekämpfung
der Tuberkulose hat, um vor allen die Mütter über die Ge¬
fahren der Tuberkulose und die Mittel zur Verhütung dei An-
steckung zu unterrichten, ein künstlerisch ausgestattetes 1 1 a k a t
nach dem Entwurf von Professor Doepler d. J. hei ausgegeben.
welches geeignet ist, in jedem öffentlichen Lokal, wie in den
Wohnungen der Arbeiter aufgehängt zu werden, und welches in
kurzen Sätzen die Mütter belehren und dauernd an ihre I flicht : er¬
innern soll. Das Zentralkomitee ersucht alle Faktoren der öffentlichen
Wohlfahrtspflege wie alle Wohlfahrtsvereine und Arbeitgeber um
möglichste Verbreitung des Blattes unter den Frauen der Arbeiter¬
bevölkerung. Der Versand erfolgt durch das Komitee (Berlin W 9,
Eichhornstr. 9) franko in Rollen von 25 Stuck gegen Nachnahme von
2 Mk., bei 100 Stück von 6.50 Mk., bei 1000 Stuck von 60 Mk.
_ Aerztliche Studienreise 1906. Der Grossherzog
von Baden hat den Wunsch geäussert, die Teilnehmer auf der Insel
Mainau zu sehen und das Komitee zu empfangen. Io das I logiamm
der diesjährigen Reise ist ferner der Besuch von Glotterbad, Sulz¬
bürg Sigmaringen, Donaueschingen und Diirrheim aufgenommen
worden. Meldungen werden noch bis zum 25. August angenommen
und sind nach Berlin, Kaiserin-Friedrich-Haus, Luisenplatz ,4 zu
richten. _ , .. . D
— AdolfWitzel — Stiftung. Der am 12. Juli in Bonn ver¬
storbene a. o. Professor der Zahnheilkunde Dr. med. Adolf Witze,
hat dem Zentralverein deutscher Zahnärzte in Berlin den Betrag von
10 000 M. zur Begründung einer Adolf Witzel-Stift u in g letzt¬
willig vermacht. Die Stiftung ist zur Förderung des Studiums der
Zahnheilkunde an deutschen Hochschulen bestimmt, (hc.)
— Dem Leiter des Hamburgischen Medizinalamts, des Seemanns¬
krankenhauses und des Instituts für Schiffs- und Tropenkrankheiten in
Hamburg, Physikus und Generaloberarzt der Seewehr, Medizinalrax
Dr. med. Bernhard Albrecht N o c h t, ist der Professortitel verliehen
worden, (hc.) , T_ _ . a
— Das goldene Doktorjubiläum feierten der K. Regierungs- und
Kreismedizinalrat Dr. Gregor Schmitt in Wiirzburg und Di. 1 ei-
dinand Heraucourt in Mutzig.
— An der Kölner Akademie für praktische Medizin findet vom
8. bis 27. Oktober ein unentgeltlicher Fortbildungs¬
kurs für auswärtige praktische Aerzte statt.
_ Cholera. Philippinen. Vom 16. bis 30. Juni wurden in
Manila 58 Choleraerkrankungen mit 53 Todesfällen gemeldet; am
30. Juni und 1. Juli wurden dort weitere 38 Cholerakranke den
Choleraabteilungen zugeführt. In den Provinzen waren vom 1. Apiil
bis zum 2. Juni 982 Cholerafälle, davon 675 mit tödlichem Ausgang,
zur Anzeige gekommen.
_ Pest. Türkei. In Djedda sind vom 24. bis 27. Juli 5 Erkran¬
kungen und 5 Todesfälle an der Pest festgestellt worden. Im Ge¬
fängnisse zu Trapezunt wurden vom 6. bis 8. August 6 Pestfalle, von
denen 1 tödlich verlief, beobachtet. — Aegypten. Vom 28. Juli bis
3 August wurden 8 neue Erkrankungen (und 6 Todesfälle) an der
Pest gemeldet. — In Kalkutta starben in der Woche vom 1. bis 7. Juli
9 Personen an der Pest. — Hongkong. Während der fünf Wochen
vom 27. Mai bis 30. Juni sind nacheinander 73—51—57—34—21 Er¬
krankungen und insgesamt 213 Todesfälle an der Pest gemeldet. —
Philippinen. Während der Monate April, Mai und Juni sind in Manila
2 tödlich verlaufene Pestfälle gemeldet worden. Neu-Siid-Wales.
In Sydney sind vom 11. bis 25. Juni 4 Personen an der Pest erkrankt.
— Queensland. In Brisbane erkrankte am 20. Juni an der.Pest ein
chinesischer Koch; er ist am folgenden Tage im Pestspital gestorben.
— Pocken. Deutsches Reich. In der Woche vom 5. bis
11. August sind in der Stadt Metz 3 Pockenfälle zui Anzeige gelangt.
_ In der 31. Jahreswoche, vom 29. Juli bis 4. August 1906,
hatten von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste
Sterblichkeit Lichtenberg mit 46,7, die geringste Deutsch Wilmers¬
dorf mit 7,7 Todesfällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein
Zehntel aller Gestorbenen starb an Scharlach in Königshütte, an
Keuchhusten in Gleiwitz. v- d- K-
(Hochschulnachrichten.) .
Freiburg i. Br. Dem Privatdozenten für Chemie in der med.
Fakultät der Universität Freiburg i. Br. Dr. Adolf Windaus (aus
Berlin) ist der Titel ausserordentlicher Professor verliehen
worden, (hc.) . . . , _
Halle a. S. Dem Privatdozenten für Anatomie, histologischen
Prosektor und Abteilungsvorstand am anatomischen Institut der Uni¬
versität Halle a. S., Dr. med. Walter Gebhardt, wurde der Pro¬
fessortitel verliehen, (hc.)
Strassburg. Professor Dr. von Recklinghausen,
Direktor des pathologisch-anatomischen Instituts, scheidet aus dem
Lehrkörper der Universität, der er seit ihrer Begründung angehörte,
mit Schluss des Semesters aus, wird aber auch im Wintersemester
noch eine Vorlesung abhalten. — Der ausserordentliche Professor
der pathologischen Anatomie, Dr. M. B. Schmidt, hat einen Ruf an
die Akademie für praktische Medizin zu Düsseldorf angenommen.
Amiens. Dr. B e r n a r d wurde zum Professor der medi¬
zinischen Klinik an der med. Schule ernannt. .
C 1 e r m o n t. Dr. Buy wurde zum Professor der Anatomie
an der med. Schule ernannt. *
Modena. Der ausserordentliche Professor der Physiologie
Dr M. P a t r i z i wurde zum ordentlichen Professor ernannt.
P a d u a. Dr. G. Favaro habilitierte sich als Privatdozent für
Anatomie.
1692
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 34.
Par m a. Dr. A. B e r t i n o habilitierte sich als Privatdozent
für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Siena. Dr. E. C e n t a n n i wurde zum ausserordentlichen
Professor der allgemeinen Pathologie ernannt.
(Todesfälle.)
In Dresden starb Sanitätsrat Dr. P i e r s o n, Besitzer der Heil¬
anstalt Lindenhof bei Koswig.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Gestorben: Dr. Georg Hammermayer, Ohrenarzt in
Regensburg, 57 Jahre alt.
Militärsanitätswesen.
Abschied bewilligt: dem Generaloberarzt Dr. Höhn e,
Chefarzt des Garnisonslazaretts Neu-Ulm.
Ernannt: der Oberarzt Dr. Landgraf des 19. Inf.-Reg.
unter Beförderung zum Stabsarzt zum Bataillonsarzt im 2. Fuss-Art.-
Reg. — Seitens des Generalstabsarztes der Armee wurde unterm
9. d. Mts. der einjährig-freiwillige Arzt Dr. August P ö h 1 m a n n des
1. Schweren Reit.-Reg. zum Unterarzt im 1. Chev.-Reg. ernannt.
Versetzt: der Stabsarzt Dr. v. R e i t z, Bataillonsarzt im
2. Fuss-Art.-Reg. zur Equit.-Anst. und der Oberarzt Dr. B r e n n -
fleck von der Equit.-Anst. zum 1. Schweren Reit.-Reg.
Wieder an gestellt: der Oberarzt a. D. Dr. Eduard Aig¬
ner in der Landwehr 1. Aufgebots (I. München) mit seinem früheren
Patente.
Vorläufige Bemerkung zu der öffentlichen Erklärung
der Herren Dr. G. Maurer und Prof. Dr. H. Dürck -München.
Von Dr. AdolfTreutlein, Oberarzt im 9. bayer. Inf.-Reg.
(Schluss.)
Mit Herrn Prof. Dr. Dürck glaube ich mich wissenschaftlich
weit kürzer auseinandersetzen zu können:
ad 1. Die Darlegung der Entstehungsgeschichte meiner Arbeit,
wie ich sie für die Widerlegung Dr. Maurers wiederholte, gilt auch
für Herrn Prof. Dürck.
ad 2. Für die bereitwilligst gewährte Einsicht in den Stand der
Untersuchungen des Herrn Prof. Dürck schulde ich diesem Dank,
indem ich einige hübsche Präparate sehen durfte vom N. ulnaris und
Herzmuskel von Beriberikranken. Es waren dies jedoch keine typi¬
schen Fettfärbungen mit Osmium oder Sudan.
ad 3. Wenn Herr Prof. Diirck schreibt, er habe mir brieflich
mitgeteilt, dass die von mir angeregte Sudan-Hämatoxilinfärbung
seines Nerven- und Herzmaterials von Beriberi für ihn wertlos sei,
so entspricht dies nicht dem Wortlaut des Briefes, in dem er sagt:
..Das von mir konservierte Nerven- und Organmaterial liegt seit
langer Zeit in Alkohol, so dass ich glaube, dass mit Sudan nicht mehr
viel Ausbeute zu erzielen ist.“ Da aber Herrn Prof. Dürck die von
S c h e u b e und B ä 1 z vor 25 Jahren festgelegte Fettdegeneration der
Nerven bei Beriberi bekannt war, so bleibt nach wie vor zu bedauern,
dass er nur eine Alkoholkonservierung seines Materials vornahm,
die ihm theroretisch eine Fettfärbung mit Osmium oder Sudan un¬
möglich machen musste. Wenn Herr Prof. Dürck jetzt nachträglich
doch noch an seinem alten Alkoholmaterial eine Sudanfärbung vor¬
nahm, wovon er mir gütigst ein Präparat zuschickte, so wird dies
wohl kaum jemand mehr viel beweisen. Wenn ferner Herr Prof.
Dürck in dem oben erwähnten Brief schreibt: „Im Herzen habe
ich Fettdegeneration niemals gefunden“, so bleibt er damit hinter dem
zurück, was in der Literatur festgelegt ist in der Beriberimonographie
von Bälz und Miura bei M e n s e, wo es heisst: „Das Myo-
kardium sieht bald normal aus, bald ist es trüb oder hat gelbliche
Flecken und Streifen an den Papillarmuskeln, die sich als diffuse oder
zirkumskripte fettige Entartung der Muskelfasern erweisen.
ad 4. Was die Behauptung Prof. Dürcks betrifft, es sei eine
unumstössliche Tatsache, dass ich in meiner Arbeit vorsätzlich ver¬
schwiegen habe, dass die Idee zu meiner ganzen Arbeit geistiges
Eigentum Dr. Maurers sei, glaube ich des öfteren in der Arbeit
auf die Priorität Dr. Maurers aus dem Jahre 1903 -hingewiesen zu
haben. Ich habe riickhaltPos zugegeben, dass Dr.
Maurer als erster die Beriberi als eine chronische
Oxalatsäurevergiftung ansprach und dass er als
erst e r durch Verfütterung von Oxalsäure an
Hühner bei diesen beriberiähnliche klinische Er¬
scheinungen hervorrief. Ebenso strikte muss ich
aber auch darauf bestehen, dass ich im Ausbau
der M au r ersehe n Grundidee als erster die fettige
Degeneration von Nerven und Herz bei
oxalsäuregefütterten Hühnern nachwies, Ver-
ä n d crungen, wie sie von den Autoritäten auf die¬
sem Gebiet bei der menschlichen Beriberi ge¬
funden w u r d e n.
Ebenso strikte muss ich festhalten an den
übrigen drei von mir in dieser Frage neugefun¬
denen Punkten, wie ich sie oben erwähnte, von
denen der dritte vielleicht noch einmal von der
grössten Bedeutung für die Therapie der Beriberi
werden kann.
Zum Schlüsse musste ich mir die Frage vorlegen, welche Motive
Prof. Dürck überhaupt veranlassen konnten, an einer ihn selbst
nicht direkt brennenden Frage sich derart intensiv zu beteiligen
nachdem er auf dem Kongress in Meran in seinem Beriberivortrag
die Arbeiten „seines verehrten Freundes Dr. Maure r, auf dessen
Initiative er nach Sumatra eingeladen wurde“ völlig totschwieg. Es
hegt mir fern, die Details eines im Dezember 1905 in München statt¬
gefundenen Privatgespräches mit Prof. Diirck über diesen Punkt
hier wiederzugeben, soviel aber entnahm ich seinen Worten, dass er
die Befunde Dr. Maurers damals nicht für genügend fundiert er¬
achtete, um ihnen in einer so wichtigen Frage absolute Beweiskraft
beizumessen. Heute, nachdem ich den von mir nachgeprüften Teil der
Maurer sehen Untersuchungen vollauf bestätigen konnte, scheint
auch Hei r Prof. D ii r c k anderer Ansicht geworden zu sein.
Generalkrankenrapport über die K. Bayer. Armee
für den Monat Juni 1906.
Iststärke des Heeres:
69495 Mann, 182 Kadetten, 143 Unteroffiziersvorschüler.
1. Bestand waren
am 31. Mai 1906:
Mann
Kadetten
Unteroffiz. -
vorschüler
1280
_
im Lazarett:
954
2
6
2. Zugang:
im Revier:
1420
7
in Summa:
2374
9
6
Im ganzen sind behandelt:
3654
9
6
°/oo der Iststärke :
55,0
49,5
42,0
dienstfähig:
2269
6
5
°/oo der Erkrankten:
621,0
666,7
833,3
3. Abgang:
gestorben :
11
*) Darunter 16 un-
u/oo der Erkrankten :
3,0
—
.
mittelbar nach
invalide:
36
_
der Einstellung.
dienstunbrauchbar:
18*)
_
anderweitig:
130
1
in Summa:
2464
7
5
4. Bestand
in Summa:
1190
2
1
bleiben am
°/oo der Iststärke:
17,9
11,0
7,0
30. Juni 06
davon im Lazarett:
894
1
1
davon im Revier:
296
1
Von den in Ziffer 3 aufgeführten Gestorbenen haben gelitten an:
Lungentuberkulose 5, Lungenentzündung 1, Strahlenpilzerkrankung 1,
Niei enabszess 1, chionischer Herzmuskelentzündung 1, perniziöser
Anämie 1 und Quetschung der Gehirnmasse mit Zerstörung wichtiger
Zentren des Zentralnervensystems 1.
Ausserdem kamen noch 3 Todesfälle ausserhalb der ärztlichen
Behandlung infolge von Selbstmord (2 Erschiessen, 1 Stich in den
Unterleib) vor.
, , „Per Gesarr|tverlust der Armee durch Tod betrug demnach im Juni
14 Mann.
UeDersicbt der Sterbefälle in München
während der 31. Jahreswoche vom 29. Juli bis 4. August 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 16 (18*)
Altersschw. (üb 60 J.) 6 (8), Kindbettfieber 1 (1), and. Folgen der
Geburt — (—), Scharlach — (-), Masern u. Röteln 1 (1), Diphth. u.
Krupp - (1), Keuchhusten 3 (4), Typhus 2 (1), übertragb. Tierkrankh.
R°sf (Erysipel) 2 (1), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
n E 2M] ’ , Tuberkul- d- Lungen 32 (33), Tuberkul. and.
Urg. 3 (8) Mihartuberkul. 1 (1), Lungenentzünd. (Pneumon.) 14 (15),
Influenza — ( ), and. übertragb. Krankh. 2 (3), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 3(1), sonst. Krankh. derselb. 1 (1), organ. Herzleid. 11 (15),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 8 (8), Gehirnschlag
° ’r ,(^ls.tTeskrankl1- -■ (2), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 1 (4), and.
Krankh d Nervensystems 4 (2), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl Abzehrung) 41 (21), Krankh. d. Leber 1 (1), Krankheit, des
Bauchfells 1 (5), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 2 (2), Krankh. d.
Ha,rn" U't Qfscblechtsor£- 8 Krebs (Karzinom, Kankroid) 15 (14),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 4 (7), Selbstmord 6 (1), Tod durch
fremde Hand —(1), Unglücksfälle 6 (4). alle übrig. Krankh. 5 (2).
i u Die P*;sZ^ahl der Sterbefälle 209 (196), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 20,1 (18,9), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 12,7 (13,9).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Beilage zu No. 34 der Münchener medizinischen Woehensehrii’t.
78. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Stuttgart
vom 16. bis 22. September 1906.
Allgemeine Tagesordnung.
Sonntag, den 16. September. Vormittags 10 Uhr:
Sitzung des Vorstandes der Gesellschaft. — llVa Uhr: Sitzung des
Vorstandes mit dem wissenschaftlichen Ausschuss. — Abends 8/2 Uhr:
Zwangloser Begriissungsabend für Damen und Herren in der
Liederhalle. .
Montag, den 17. September. Vormittags 9Vz Uhr : erste
allgemeine Versammlung im Festsaal der Liederhalle. 1. Begrüs-
sungsansprachen. 2. Vorträge von Professor Dr. Qutzmei - Halle.
Bericht der Unterrichtskommission deutscher Naturforscher und
Aerzte und von Professor Dr. Th. L i p p s - München: Naturwissen¬
schaft und Weltanschauung. — Nachmittags 3 Uhr: Konstituierung der
Abteilungen, Abteilungssitzungen. — Abends 8 Uhr: Gartenkonzert
mit festlicher Beleuchtung und Feuerwerk in den Kuranlagen von
Cannstatt. , ...
Dienstag, den 18. September. Vor- und Nachmittags.
Sitzung der einzelnen Abteilungen und gemeinschaftliche Sitzungen
mehrerer Abteilungen. — Abends 7 Uhr: Festmahl in der Liederhalle.
Mittwoch, den 19. September. V or- und nachmittags .
Sitzungen der einzelnen Abteilungen und gemeinschaftliche Sitzungen
mehrerer Abteilungen. — Abends: Festvorstellungen in den beiden
Kgl Theatern (Interimstheater und Wilhelmatheater).
Donnerstag, den 20. September. Morgens 8% Uhr:
Geschäftssitzung in der Liederhalle (Wahl des Versammlungsortes für
1907, der Geschäftsführer für 1907, Neuwahlen in den Vorstand und
den ’ wissenschaftlichen Ausschuss, Kassenbericht. — Vormittags
10 Uhr: Gemeinschaftliche Sitzung der beiden Hauptgruppen im Fest-
saal der Liederhalle. Vorträge von Professor Dr. Korschelt-
Marburg: Regeneration und Transplantation im Tierreich, Professor
Dr. Spemann- Würzburg: Embryonale Transplantation, Professor
Dr G a r r e -Breslau: Transplantationen in der Chirurgie. — Nach¬
mittags 3 Uhr: Einzelsitzungen der beiden Hauptgruppen: a) Der
naturwissenschaftlichen Hauptgruppe im grossen Saal des Museums.
Vorträge von Professor Dr. Zsigmondy-Jena und Privatdozent
Dr. Pauli - Wien, b) Der medizinischen Hauptgruppe im Konzert¬
saal der Liederhalle. Vorträge von Professor S t a r 1 i n g - London,
Professor Dr. v. K r e h 1 - Strassburg: Ueber chemische Korrela¬
tionen im tierischen Organismus. — Abends 8 Uhr: Empfang auf dem
Rathaus, veranstaltet von der Stadtverwaltung.
Freitag, den 21. September. Vormittags 10 Uhr: Zweite
allgemeine Versammlung im Festsaale der Liederhalle. Vorträge von
Professor Dr. B ä 1 z - Stuttgart: Die Besessenheit und verwandte Zu¬
stände auf Grund eigener Beobachtungen, Professor Dr. Loeb-
Berkeley (Kalifornien): Ueber künstliche Parthenogenese, Professor
Dr. A. P e n c k - Berlin : Südafrika und Sambesifälle (mit Lichtbildern).
— Nachmittags 3 Uhr: Abteilungssitzungen bezw. Besichtigungen. —
Abends 8 Uhr: Konzert im Stadtgarten.
Samstag, den 22. September. Tagesausflüge: 1. Nach
Tübingen und Hohenzollern; 2. nach Lichtenstein, Reutlingen und
Tübingen; 3. nach Hohenneuffen, Heidengraben und Urach.
Erläuterungen und Mitteilungen.
Die Lösung der Teilnehmer- und Damenkarten, sowie die Aus¬
gabe der Festabzeichen erfolgt von Samstag, den 15. September ab
ausschliesslich in der Hauptgeschäftsstelle, Baugewerkeschule Kanz¬
leistrasse. Daselbst werden vom gleichen Tage ab auch Anmeldungen
zur Mitgliedschaft bei der Gesellschaft entgegengenommen und die
Mitgliedskarten ausgegeben.
In der Hauptgeschäftsstelle erfolgt auch die Ausgabe des Tage¬
blattes, der Festgaben und sonstigen Drucksachen, Ausweise usw.,
die auf Grund der Teilnehmer- und Damenkarten verabfolgt werden.
Mitglieder der Gesellschaft können alle diejenigen werden, welche
sich wissenschaftlich mit Naturforschung und Medizin beschäftigen.
Anmeldungen zur Mitgliedschaft vor der Versammlung haben
schriftlich beim Schatzmeister der Gesellschaft, Verlagsbuch¬
händler Karl Friedrich Lampe in Leipzig, Schillerstrasse 8, zu
erfolgen.
Teilnehmer an der Versammlung kann, auch ohne Mitglied der
Gesellschaft zu sein, jeder werden, der sich für Naturwissenschaften
und Medizin interessiert.
Auskünfte. Anfragen in geschäftlichen, bezw. wissenschaftlichen
Angelegenheiten allgemeiner Natur sind an die „Geschäfts¬
führung der 78. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte,
Stuttgart, Rathaus“ zu richten. — Auskünfte betreffs der einzelnen
wissenschaftlichen Abteilungen werden ausschliesslich
durch die bezüglichen Einführenden erteilt Alle derartigen An¬
fragen, sowie weitere Vortragsanmeldungen sind nur an diese Herren
zu richten. — Alle übrigen Anfragen, wie hinsichtlich der Festlich¬
keiten, Vergnügungen, Wohnungen usw. wolle man unmittelbar an die
betreffenden Unterausschüsse richten. _ _ .
Zur Vermittelung von Wohnungen ist ein Ausschuss in l atigkeit
getreten, der Anmeldungen entgegennimmt. Die Adresse ist aus¬
schliesslich : „Geschäftsstelle der 78. V ers a m ra 1 u n g
Deutscher Naturforscher und Aerzte (Wohnungs¬
ausschuss), Rathaus, Stuttgart“. E 1 n .e 1 fmd°H n'ee n d
frühzeitige Bestellung von Zimmern ist dringend
Die allgemeinen Versammlungen, sowie die Gesamt¬
sitzung beider Hauptgruppen am Donnerstag finden in dem rest¬
saal der Liederhalle statt. .... .
Mit der Versammlung ist eine Ausstellung naturwissenschaftliche!
und medizinisch-chirurgischer Gegenstände, sowie clJe™1^“Ptiar^“
zeutischer Präparate und naturwissenschaftlicher Lehrmittel ver¬
bunden, die in erster Linie Neuheiten der letzten Jahre auf diesem
Gebiet umfassen soll. Die Ausstellung findet in dem Landesgewerbe¬
museum, Kanzleistrasse, statt. Ueber diese Ausstellung wird ein
Katalog erscheinen. . , . ,
Die Stadtverwaltung hat auf ihre Kosten einen naturwissenschaft¬
lichen Führer durch Stuttgart und Umgebung hersteHen lassen welcher
allen Teilnehmern der Versammlung als bleibendes Ermnerungs
Zeichen überreicht werden wird.
Gemeinschaftliche Sitzungen mehrerer Abteilungen:
der Abteilungen 10 und 14.
Przibra m-Wien: Die Regeneration als allgemeine Erscheinung
in den drei Reichen, mit Demonstrationen von Zeichnungen und Pra-
paraten - S p e mkn n - Würzburg: Ueber Versuche an Amphibien-
embryonen (Demonstration).
der Abteilungen 11 und 14,
zu welcher auch die Abteilung 10 eingeladen ist.
1. Bälz-Stuttgart: Ueber mechanische Einflüsse auf ' die
Srhädelform — 2. F i s c h er - Freiburg: Anatomische Untei-
sSu"„™n Negerföten. - 3 K o 1 1 m a n „ - Basel: Die Bewertung
bestimmter Körperformen als Rassenmerkmale. - 4 Stephani
Mannheim: Ueber Körpermessungen und einen neuen Messapparat
_ 5 w a 1 c h e r - Stuttgart: Willkürlich erzeugte dohchozephale und
brachizephale Kinderschädel.
der Abteilungen 16, 17, 18, 19, 21, 24, 25, 27, 29 und 31.
Dienstag den 18. September, Vormittags 9 v h r : (
Die Errungenschaften der modernen Syphilisforschung . .
Neisser- Breslau : Experimentelle Syphilis. H o f f m a n n - Bei u .
Aetiologie der Syphilis.
der Abteilungen 14, 15, 16, 17, 18, 27.
Dienstag den 18. September, vormittags 11% Uhr:
Ueber die Lage des menschlichen Magens“: hroriep-
Tübingen, Schürmayer - Berlin, Holzknecht - Wien.
Simmonds -Hamburg: Ueber Anomalien der Form und Lage des
Magens und Dickdarms.
der Abteilungen 16, 18, 19, 21, 24 und 27.
Dienstag den 18. September, nachmittags 3 Uhr:
Ueber den Einfluss der neueren deutschen Unfallgesetzgebung
auf Heilbarkeit und Unheilbarkeit der Krankheiten“: Bonhole r-
Breslau- für Psychiatrie. N 0 n n e - Hamburg: für posttraumatische
organische Erkrankungen im Rückenmark (mit ücmonstratioiien);
Sarwey- Tübingen: für Gynäkologie. Y h 1 e m - Kottbus. tm
Chirurgie.
der Abteilungen 16, 17, 18, 19, 21, 22, 24 und 27.
Mittwoch den 19. September, vormittags 9 Uhr:
, Ueber die operative Behandlung der Hirn- und Rückenmarks¬
tumoren“ : Referate von F. Krause - Berlin, S c h u 1 1 z e- Bonn.
O p p e n h e i m - Berlin: Ergänzungsreferat mit besonderer Berück-
Beilage Zur Münchener medizinischen Wochenschrift.
No. 34.
sichtigung der gemeinschaftlich mit F. Krause angestellten Be¬
obachtungen. S ä n g e r - Hamburg: Ueber Palliativtrepanation bei
inoperablen Hirntumoren, v. B r a m a n n - Halle a/S.. Beitrag zur
Hirnchirurgie.
der Abteilungen 15, 16, 17, 18, 22, 23, 24, 27, 29.
Mittwoch den 19. September, vormittags lP/2 Uhr:
Referat von W e s t e n h 0 e f f e r - Friedenau-Berlin: Ueber den
gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse von der übertragbaren Ge¬
nickstarre. L. .1 e h 1 e - Wien: Ueber das Entstehen der Genickstarre¬
epidemien. W i n k 1 e r - Breslau: Die Genickstarre in Breslau im
Jahr 1905,06. J a e g e r - Strassburg: Zur Agglutinationspriifung der
Meningokokken.
der Abteilungen 21 und 28.
1. Ueber den Geisteszustand bei Warenhausdiebstählen. Re¬
ferenten: L e p p m a n n - Berlin und G u d d e n - München. —
2. Ueber die Zeugungsfähigkeit Schwachsinniger. Referent: Kreu-
s e r- Winnenthal. — 3. A s c h a f f e n b u r g - Köln: Ueber homo¬
sexuelles Empfinden und strafrechtliches Handeln. — 4. C i m b e 1 -
Altona: Die antisozialen Wirkungen des chronischen Alkoholmiss¬
brauchs. — 5. Julius B u r g e r - Steglitz: Abschaffung der Strafe
für alkoholische Vergehen.
der Abteilungen 23 und 24.
G r ii n w a 1 d - Reichenhall-München : Ueber subokzipitale Ent¬
zündungen. — Siebenmann - Basel : Erkrankungen der oberen
Luftwege bei Hodgkin scher Krankheit und der Leukämie.
der Abteilungen 24 und 27.
H ö 1 s c h e r - Ulm: Die Behinderung der Nasenatmung und ihre
Bedeutung für die Militärdienstfähigkeit. — Q s t m a n n - Marburg:
Ueber einheitliche Hörmessung (mit Demonstration).
Medizinische Iiauptgruppe.
14. Abteilung: Anatomie, Histologie, Embryologie und Physiologie.
1. H. F r i e d e n t h a 1 - Berlin : Ueber die Behaarung des Men¬
schen und verschiedener Affenarten. — 2. F r 0 r i e p - Tübingen: Zur
Anatomie der Aszidienlarve. — 3. Ko 1 1 m a n n -Basel: Varietäten
an der Wirbelsäule des Menschen und ihre Deutung. — 4. Suss ■
d o r f - Stuttgart: Ueber die Pleiodaktylie beim Pferde. — 5. Hans
A r o n - Berlin-Charlottenburg: Ueber die’ Lichtabsorption des Blut¬
farbstoffs. — 6. L. Asher-Bern: Experimentelle Untersuchungen
über das Scheidevermögen der Drüsen. — 7. B r a u s - Heidelberg:
Demonstration von Transplantationsergebnissen an Amphibienlarven.
— 8. B ii r k e r - Tübingen: Experimentelle Untersuchungen über die
Muskelwärme. — 9. H. Friedenthal - Berlin : Ueber die Verteilung
der Reaktionsstufen auf Tier- und Pflanzenwelt. — 10. R. Fuchs-
Erlangen : Zur Physiologie der Pigmentzellen. — 11. Jaeger - Frank¬
furt: Ueber die Physiologie der Schwimmblase der Fische. —
12. O p p e n h e i m e r - Berlin : Ueber die Frage der Anteilnahme des
elementaren Stickstoffs am Stoffwechsel der Tiere. — 13. Suss-
d o r f - Stuttgart: Grösse und Beschaffenheit der respirierenden
Oberfläche der Lunge einiger Tiere. — 14. W. G e b h a r d -Halle a/S.:
Ueber Präzision in der Natur und Technik. — 15. v. Grützner-
Tübingen: Thema Vorbehalten.
15. Abteilung: Allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie,
1. B 0 r s t - Göttingen: Referat über Teratome und ihre
Stellung zu anderen Geschwülsten. — 2. A s c h 0 f f - Marburg: Das
Dentin der Gebrauchsperiode (nach gemeinsamen Untersuchungen
mit Dr. Reich). — 3. Derselbe: Ein Beitrag zur Myelinfrage
(nach gemeinsamen Untersuchungen mit Prof. A d a m i - Montreux).
— 4. A s k a n a z y - Genf : Thema Vorbehalten. — 5. Wakelin
B a r r a t - London: Ueber erythrozytale Opsonine. — 6. Bastel¬
fi d i u s - Wien : Zur Tuberkulosefrage. — 7. v. Baumgarte n-
Tübingen: Neue Experimente über passive Immunisierung gegen
Tuberkulose. — 8. Derselbe: Experimente über hämatogene
Lymphdrüsentuberkulose. — 9. Derselbe: Onkologische Mit¬
teilungen. — 10. B e s t - Dresden: Ueber Phloridzindiabetes. • —
11. B o r r m a n n - Braunschweig: Demonstration einiger interessan¬
ter Missbildungen. — 12. Walter D i b b e 1 1 - Tübingen: Bakterio¬
logische Mitteilungen. — 13. Dietrich- Tübingen : Ueber die Quer¬
linien des Herzmuskels. — 14. Derselbe: Demonstration einiger Prä¬
parate. — 15. E r n s t - Zürich: Demonstration einer Struktur der
Markscheide des Nerven. — 16. H e n k e 1 - Charlottenburg: Beiträge
zur Frage der primären Darmtuberkulose. • — 17. D e r s e 1 b e: Studien
über die Mäusekarzinome. — 18. Derselbe: Demonstrationen. —
19. Martin H e y d e - Tübingen : Experimente über Biersche Stauung.
— 20. H i p p e 1 - Heidelberg: Ueber den Einfluss des Cholin auf den
Ablauf der Gravidität. — 21. Derselbe: Demonstration eines ex¬
perimentell erzeugten Teratoms. — 22. Alfred Jäger-Frank¬
furt a. M.: Ueber das intestinale Emphysem der Suiden. —
23. E. K a u f m a n 11 - Basel: Beobachtungen über das Kehlkopfskelett
bei Osteomalazie. — 24. Derselbe: Ungewöhnliche Form multipler
Knochenzysten. — 25. K r e t z - Wien: Ueber Appendizitis und Angina.
■ — 26. K o c h - Elberfeld: Thema Vorbehalten. — 27. M. Löhlein-
Leipzig: Ueber die entzündlichen Veränderungen der Malpighischen
Körperchen der Nieren. (Mit Demonstration.) — 28. L ii p k e - Stutt¬
gart: Ueber Periarteriitis nodosa bei Axishirschen. — 29. L u -
b a r s c h - Zwickau: Ueber heterotope Epithelwucherung und Krebs.
30. Derselbe: Einiges zur Metaplasiefrage. — 31. March an d-
Leipzig: Ueber eigentümliche Pigmentkristalle der Lungen bei Stau¬
ung. — 32. Derselbe: Ueber Regeneration der Nerven. (Nach
Untersuchungen von Dr. P o s c h a r i s s k y - Kiew.) — 33. Mühl¬
mann - Balachani (Kaukasus): Zur Frage der Bantischen Krankheit.
— 34. Derselbe: Untersuchungen über Leberabszess. —
35. O b e r n d 0 r f e r - München: Ueber Divertikel der Appendix und
die Schleimbildung in denselben. — 36. A. P 1 e h n - Berlin: Ueber
die Wasserbilanz des Blutes. — 37. P 0 n f i c k - Breslau: Parallelis¬
mus und Antagonismus zwischen Wachstum und Rückgang am Schä¬
del und Gehirn. — 38. E. Schwalbe- Heidelberg: Ueber parasitäre
Missbildungen und deren Bedeutung für die Geschwulstlehre und
Entwicklungsmechanik. — 39. C. S t e r n b e r g - Brünn: Ueber die
pathologische Anatomie der perniziösen Anämie. — 40. Derselbe:
Demonstrationen. — 4L W a 1 z - Stuttgart: Ueber Plazentar¬
geschwülste. — 42. Weichselbaum - Wien: Thema Vorbehalten.
— 43. A. W 0 1 f - Berlin : Ueber die Endotoxinlehre. — 44. W i n k 1 e r -
Breslau: Zur Pathologie der Thymus. — 45. Derselbe: Aneurysma
der Art. coronaria cordis.
16. Abteilung: Innere Medizin, Pharmakologie, Balneologie und
Hydrotherapie.
1. K r a f t - Strassburg: Sensibilisierungs- und Strahlungs¬
therapie. — 2. E. L a v e s - Hannover: Ueber das Erhitzen der Milch
im Haushalt und die dazu verwendeten Apparate. — 3. Derselbe:
Ueber die Vorsicht eines neutralen und geschmacklosen Liquor ferri
albuminati in der Eisentherapie. — 4. Julian Marcuse - Ebenhausen-
München: Zur therapeutischen Verwertung der Luft- und Sonnen¬
bäder. — 5. R ö s e - Dresden: Ueber die Pathologie der Kalkarmut. —
6. Alfr. S c h i 1 1 e n h e 1 m - Berlin: Theoretisches über die Gicht. —
7. Ad. S c h ii t z e - Kosen: Hautreize in der Therapie. — 8. Alfr.
W o 1 f - Charlottenburg: Endotoxinlehre und ihre Bedeutung für Bak¬
teriologie und Klinik. — 9. L e n h a r t z - Hamburg: Thema Vor¬
behalten. — 10. B r ii h 1 - Schöneberg: Ueber Agglutination bei
Tuberkulose. — 11. Carlos K r ä m e r - Böblingen: Ueber Disposition
oder angeborene Tuberkulose. — 12. V 0 1 1 a n d - Davos: Ueber die
Verwendung des Kamphers bei Lungenkranken. — 13. Weiss-
mann-Liederfels: Die Hetolbehandlung der Tuberkulose. —
14. Moritz W 0 1 f f - Elberfeld: Tuberkulinbehandlung, insbesondere
Perlsuchttherapie. — 15. B r ii g e 1 - Tübingen: Ueber den systolischen
und diastolischen Blutdruck bei Herzkranken. — 16. Hoffmann-
Diisseldorf: Ueber die klinische Bedeutung der Herzarrhythmie. —
17. Alfr. L u s t i g - Meran: Ueber die Arteriosklerose und deren Be¬
ziehungen zu den Erkrankungen der Niere. Behandlung der letzteren.
— 18. Derselbe. Ueber die Bedeutung der Blutdruckmessungen
für die klinische Diagnostik. — 19. R o s e n f e 1 d - Stuttgart:
Therapie der Aortenaneurysmen. — 20. R u m p f - Bonn: Zur Therapie
der Herzkrankheiten. — 21. S c h i c k 1 e r - Stuttgart: Ueber Blut¬
entziehung. — 22. T u s z k a i - Ofen-Pest : Puls- und Blutdruck¬
erscheinungen bei Volumsveränderungen des Herzens. — 23. Walter
Nie. C 1 e m m - Darmstadt : Ueber die Behandlungen von Magen- und
Darmerkrankungen mittelst Kohlensäuremassage. — 24. S i c k - Tü¬
bingen: Experimentelles zur Prüfung der Magenfunktionen. — 25.
David W e i s s - Karlsbad: Die Arbeit des gesunden und des kranken
Dickdarms. — 26. Ad. .1 oll es- Wien: Ueber eine einfache Methode
zur Bestimmung der gepaarten Schwefelsäuren im Harn. — 27. Man-
kiewicz- Berlin : Ueber ein neues Harnantiseptikum. — 28. R 0 ru¬
ber g - Tübingen : Ueber die Diagnose der beginnenden Schrumpf¬
niere. — 29. Alfr. Baur-Schw. Gmünd: Ermüdungsmessungen bei
Schülern unter Zuhilfenahme des Scheinerschen Versuchs. — 30. H.
D e 1 i u s - Hannover : Thema aus dem Gebiet der Psychotherapie
Vorbehalten. — 31. E b s t e i n - Eisenach : Ueber die medizinische
Bedeutung von Eisenach. — - 32. B. Schmirtz - Wildungen: Beitrag
zur Mineralbädertherapie. — 33. S c h w a r z - Stuttgart: Das Karls¬
bad Mergentheim. — 34. S t a r k - Marienbad: Systematische Unter¬
suchungen über Mineralmoor und Mineralmoorbäder.
17. Abteilung: Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften.
1. D i e r g a r t - Berlin: Versuch einer Geschichte des Satzes:
Keine Gärung ohne Organismen. — 2. Derselbe: Die Arbeiten von
G. F. Hch. Schröder und von L. Pasteur. — 3. Derselbe: Einige
Grundsätze in der naturwissenschaftlichen Geschichtsforschung und
-Schreibung. — 4. Derselbe: Ueber die Anlage der vorbereiteten
Gedenkschrift für weil. Herrn Kahlbaum, und Abhandlungen zur
Geschichte der Chemie, ein Beitrag zur Geschichte der Naturwissen¬
schaften. — 5. v. G y ö r y - Ofen-Pest: Thema Vorbehalten. —
6. H o 1 1 ä n de r - Berlin: Thema Vorbehalten. — 7. Julian Mar¬
cus e - Ebenhausen-Miinchen : Zur Geschichte der physikalischen Be¬
handlungsmethoden. — 8. H. N ä g e 1 i - A c k e r b 1 o m- Genf :
Mediko-historischer Beitrag zur Frage der erblichen Belastung. —
9. Neuburger - Wien : Thema Vorbehalten. — 10. B. G. Reben-
Genf: Ueber den Wert von Sammlungen betreffend die Geschichte
der Medizin. — 11. Derselbe: Thema Vorbehalten. — 12. Paul
2\. August 1906.
Beilage zur Münchener medizinischen Wochenschrift. 1695
Richter-Berlin: Ueber die Entwicklung des aristotelischen Be¬
griffs der Tumores praeter naturam. — 13. E. S c h ä r - Strassburg:
Notizen über die Geschichte des Lackharzes und des Siegellacks. —
14. S c h e 1 e n z - Kassel : Ueber die Geschichte des sogen. Natur¬
selbstdrucks. — 15. S t a d 1 e r - München: Albertus Magnus und
Thomas Cantimpratensis. — 16. S u d h o f f - Leipzig: Medizinisches
aus Papyrusurkunden. — 17. Derselbe: Weiblicher Eingeweide-
situs. — 18. von Töply-Wien: Kunstgeschichtliche Varia (mit
Demonstrationen). — 19. V i e r o r d t - Tübingen: Württembergs
Anteil an der Geschichte der Medizin.
18. Abteilung: Chirurgie.
1. Defranceschi - Rudolfswert, Krain : Bericht über weitere
200 Fälle von Lumbalanästhesie mit Tropakokain. — 2. Gluck-
Berlin: Die Verhütung der Schluckpneumonie bei Operationen. —
3. Jordan- Heidelberg: Erfahrungen über die Tropfnarkose mit
Chloroform und Aether. — 4. H. v. L i c h t e n b e r g - Heidelberg:
Experimentelle Beiträge zur Frage der Entstehung der Pneumonie
nach Chloroformnarkosen (mit Demonstrationen). — 5. Mulga-
Königsberg: Ueber kapilläre Thrombosen bei experimenteller Nar¬
kose. — 6. Kuhn-Kassel: Die Asepsis des Operationsfeldes. —
7. v. 0 e 1 1 i n g e n - Berlin: Ueber Wundbehandlung mit Kollargol.
— 8. G 1 u c k - Berlin: Ueber Transplantation, Eremdkörpertherapie
und Gewebszüchtung. — 9. S p i t z y - Graz): Neue Gesichtspunkte
und therapeutische Erfolge in der Nervenplastik. — 10. W u 1 1 s t e i n-
Halle a. S.: Ueber Transplantation und über Züchtung plastischer
Lappen. — 11. Bernays-St. Louis: Die Zukunft der pathologischen
und chirurgischen Forschung. — 12. v. H o v o r k a - Wien : Ueber die
Wichtigkeit der Ausfüllung hohler Räume in der Chirurgie. —
13. W i c h m a n n - Hamburg: Beitrag zur Behandlung inoperabler
Geschwülste mittelst Röntgenstrahlen. — 14. W u 1 1 s t e i n - Halle
a. S.: Ueber Blutleere an innern Organen. - — 15. Defranceschi-
Rudolfswert, Krain: Ueber Schädeltrepanation ohne feste Deckung
— 16. Kuhn -Kassel: Die Operation des Wolfsrachens mittelst
peroraler Intubation. — 17. S c h m i d t - Stuttgart: Pankreasfistel
nach hämorrhagischer akuter Pankreatitis. — 18. Trukart - Dorpat.
Aetiologie und Pathogenese der Pankreashämorrhagien. — - 19. G ö -
bel-Breslau: Zur Aetiologie der Rektumstrikturen. — 20. C a s p e r-
Berlin: Ueber ungewöhnliche Nieren- und Nierenbeckenblutungen.
— 21. R o t h s c h i 1 d - Berlin: Zur Frage der Bedeutung der funk¬
tioneilen Nierendiagnostik für die Nierenchirurgie. — 22. v. Tre-
mann-Köln: Ueber partielle Nierenresektion. — 23. Maxm.
Hirsch- Wien: Zur Frage vom Mechanismus des Harnblasenver¬
schlusses. — 24. G o 1 d b e r g - Wildungen: Das Verhältnis der Pro¬
statitis zur Prostatahypertrophie. — 25. L e s e r - Halle a. S.: Zur
operativen Behandlung der Prostatahypertrophie und ihrer Folgen.
— 26. B r i g e 1 - Stuttgart: Isolierte Frakturen von Handwurzel¬
knochen und ihre eventuelle operative Behandlung. — 27. Maxm.
Hirsch- Wien: Isolierte subkutane Frakturen einzelner Hand¬
wurzelknochen. — 28. G ö b e 1 - Breslau: Untersuchungen über die
Entstehung des Schiefhalses. — 29. Reiner- Wien: Neue Prin¬
zipien der Skoliosenbehandlung. — 30. G u r a d z e - Wiesbaden: Be¬
handlung des Genu valgum (mit Demonstrationen). — 31. Müller-
Stuttgart: Die operative Behandlung des Plattfusses (Krankenvor¬
stellung). — 32. M u s k a t - Berlin: Die Prophylaxe des Plattfusses
zur Erhaltung der Wehrfähigkeit. — 33. Hau dek- Wien: Der
Spätrachitis als Entstehungsursache der Deformitäten. — 34. B a d e-
Hannover: Zur Lehre von der angeborenen Hüftverrenkung. —
35. B o r c h a r d - Posen: Ueber juvenile Arthritis deformans. —
36. H a r t m a n n - Kassel: Kongenitale Hiiftgelenksluxation vorge¬
täuscht durch vollständiges Fehlen des Schenkelkopfs- und Halses.
— 37. Lorenz-Wien: Ueber die Behandlung der Arthritis defor¬
mans coxae. — 38. K ü h 1 e r - Kreuznach: Ueber angeborene Miss¬
bildungen beobachtet im Kreuznacher Krüppelheim (mit Lichtbildern).
— 39. R o s e n f e 1 d - Nürnberg: Ueber Krüppelfürsorge. — 40.
L e x e r - Königsberg : Thema Vorbehalten. - — 4L Payr -Graz:
Thema Vorbehalten. — 42. R e h n - Frankfurt a. M.: Thema Vor¬
behalten. — Nachträglich angemeldete Vorträge: L. Arnsperger-
Heidelberg: Die Diagnose des funktionellen Ikterus. — Ritter-
Greifswald: Die Neubildung von Lymphdrüsen im Fettgewebe bei
Karzinom und Sarkom.
19. Abteilung: Geburtshilfe und Gynäkologie.
1. F e h 1 i n g - Strassburg: Pubiotomie und künstliche Früh¬
geburt. — 2. W. F r e u n d - Strassburg: Beiträge zur Eklampsie.
— 3. G u t b r o d - Heilbronn: Tuberkulose und Schwangerschaft. —
4. L a b h a r d t - Basel: Ueber die Extraktion nach Müller. —
5. P f a n n e n s t i e 1 - Giessen: Die Indikationsstellung zur Behand¬
lung der Geburt bei Beckenenge. — 6. S c h a t z - Rostock: Ueber
die Wege der Puerperalfieberinfektion. — 7. S c h i ck e 1 e - Strass¬
burg: Ueber die Implantation des Eies im Ovarium. — 8. Sippel-
Frankfurt a. M.: Ueber einen neuen Vorschlag zur Bekämpfung
schwerster Eklampsieformen. — 9. V e i t - Halle a. S. : Tuberkulose
und Schwangerschaft. — 10. W a 1 c h e r - Stuttgart: Ernährung der
Wöchnerinnen und Stillvermögen. — 11. F e h 1 i n g - Strassburg:
Zur Frage der konservativen Myomoperationen. — 12. Haiban-
T a n d 1 e r - Wien: Zur Anatomie und Aetiologie der Genitalprolapse.
— 13. K r o e n i g - Freiburg: Weitere Erfahrungen über die Kom¬
bination des Skopolamin-Morphium-Dämmerschlafs mit der Rücken¬
marksanästhesie bei Laparotomien. — 14. N e n a d o v i c s - Fran¬
zensbad: Zur Behandlung der Endometritis mit üuajakolvasogen und
der Erosionen mit Nodusan. — 15. P a n k o w - Freiburg: Zur Be¬
handlung peritonealer Wunden. — 16. S c h a e f f e r - Heidelberg:
Ueber den histologischen Aufbau und die Ernährungsstörungen intra¬
ligamentärer Tumoren. — 17. S c h a 1 1 e r - Stuttgart: Zur Vapori¬
sationsfrage. — 18. Z i e g e n s p e c k - München: Ueber Pessarien.
— 19. Fromme-Halle a. S.: Macht Blut in der Bauchhöhle Adhä¬
sionen? — 20. E. K e h r e r - Heidelberg: Physiologie und Pharma¬
kologie der Uterusbewegungen. — 21. P a n k o w - Freiburg: Ueber
Implantation der Ovarien. — 22. T u s z k a i- Marienbad: Versuche
mit Ovariumtransplantation. — 23. E v e r k e - Bochum: Demon¬
strationen. — 24. W. F r e u n d - Strassburg: Demonstrationen. —
25. Gutbrod - Heilbronn : Demonstrationen. — 26. E. K e h r e r -
Heidelberg : Demonstrationen. — 27. Pfannenstiel - Giessen :
Demonstrationen. — 28. R o i t h - Heidelberg: Demonstrationen. —
29. S c h a 1 1 e r - Stuttgart : Demonstrationen. — 30. Schott-
1 a e n d e r - Heidelberg: Demonstrationen. — A m a n n - München:
Thema Vorbehalten. — 32. E v e r k e - Bochum: Thema Vorbehalten.
— 33. R. Freund - Halle a. S.: Thema Vorbehalten. — 34. v. H e r f f -
Basel: Thema Vorbehalten.
20. Abteilung: Kinderheilkunde.
1. Referatthema: „Einfluss der Blutsverwandtschaft auf die
Kinder.“ Referenten : Feer- Basel und Unruh- Dresden. —
2. Bernheim-Karrer - Zürich : Mitteilung über Hirschsprung-
sche Krankheit. — 3. Camerer jr.-Stuttgart: Die Tätigkeit der Stutt¬
garter Kindermilchküche mit Demonstration derselben. — Der¬
selbe: Untersuchungen über die Ausscheidung des Milchfettes. —
5. Dornberger - München : Beobachtungen an Ferienkolonisten.
— 6. .1. D r e s e k e - Hamburg: Zur Kenntnis der Rachitis. —
7. E s c h e r i c h - Wien: Ueber Isolierung und Kontaktverhütung im
Kinderspital. — 8. F i n k e 1 s t e i n - Berlin: Zur Aetiologie der Er¬
nährungsstörungen im Zöglingsalter. — 9. Fritz Förster - Dresden:
Thema Vorbehalten. — Franz Hamburger - Wien: Ueber Eiweiss¬
resorption beim Säugling. — 11. Derselbe: Die Wirkungssphäre
des Perkussionsstosses. — 12. H e u b n e r - Berlin: Ueber Pyloro-
spasmus. — 13. H o c h s i n g e r - Wien: Beiträge zur mongoloiden
Idiotie. — 14. H o h 1 f e 1 d - Leipzig: Ueber den Fettgehalt des Kolo¬
strums. — 15. H o 1 z - Stuttgart: Zur Rachitis beim Hunde, Hasen
und Reh. — 16. Joseph Langer- Prag: Zur Frage der Ableitung auf
den Darm. — 17. L a n g s t e i n - Berlin: Das Verhalten der Milch¬
eiweisskörper bei der enzymatischen Spaltung. (Nach Versuchen mit
Zentner.) — 18. Derselbe: Beurteilung der Fäulnis bei ver¬
schiedenartiger Ernährung. (Nach Versuchen mit Sold in.) —
19. L. M e y e r - Berlin: Beitrag zur Kenntnis der Unterschiede zwi¬
schen natürlicher und künstlicher Ernährung. — 20. Moro-Graz:
Darmdesinfektion. — 21. Neurath - Wien : Beitrag zur Pathogenese
kongenitaler Hirnverletzungen. — 22. S. Oberndorfer- München :
Herzhypertrophien im frühesten Kindesalter. — 23. v. Pirquet-
Wien: Galvanische Untersuchungen im Säuglingsalter. — 24. Rey-
her - Berlin: Zur Kenntnis der orthotischen Albuminurie. — 25. R i e t-
s c h e 1 - Berlin: Ueber den Stoffwechsel bei Morbus caeruleus. —
26. Eug. S c h 1 e s i n g e r -'Strassburg: Aus der Anamnese und dem
Status praesens Schwachbegabter Schulkinder. — 27. Schloss¬
mann - Düsseldorf: Thema Vorbehalten. — 28. Siegert - Köln: Das
Nahrungsbedürfnis der Brustkinder im ersten Säuglingsquartal. —
29. Stöltzner - Halle: Zur Kenntnis der Vakzinekörperchen. —
30. M. T h i e m i c h - Breslau: Ueber die Entwicklung eklamptischer
Säuglinge in der späteren Kindheit. — 31. T o b 1 e r - Heidelberg:
Magenverdauung der Milch. — 32. Uffenheimer - München :
Thema Vorbehalten. — Nachträglich angemeldeter Vortrag: Engel:
Ueber Kindermilch.
21. Abteilung: Neurologie und Psychiatrie,
a) Referate: 1. Cohn -Berlin: Was wissen wir von spe¬
zifischen Heilwirkungen der Elektrotherapie bei inneren und Nerven¬
krankheiten? — 2. F i n c k h - Tübingen: Die psychischen Symptome
bei Lues. b) Vorträge: 1. A s c h a f f e n b u r g - Köln: Die
Ideenflucht. — 2. D e g e n k o 1 b - Roda: Beitrag zur Anthropologie
der Idiotie. — 3. F a u s e r - Stuttgart: a) Zur Kenntnis der Melan¬
cholie, b) Demonstration: Einrichtungen und Betrieb der Irren¬
abteilung des Biirgerhospitales. . — 4. G a u p p - München : Klinische
Untersuchungen über die Ursachen und die Motive des Selbstmordes.
— 5. Hartmann-Graz: Thema Vorbehalten. — 6. Hellpach-
Karlsruhe: Das geo-psycho-physische Problem. — 7. Kauffmann-
Halle a. S.: Physiologisch-chemische Untersuchungen bei der pro¬
gressiven Paralyse. — 8. P f i s t e r - Freiburg: Ueber Leitungs-
aphasie. — 9. S o m m e r - Giessen: Die Beziehungen der Zwangs¬
erscheinungen zur Neurologie und Psychiatrie. — 10. Eulenburg-
Berlin: a) Ueber permanente Schlafzustände, b) Ueber einige neuere
Behandlungsmethoden bei Epileptischen. — 11. Stadelm an n-
Dresden: Zerebrale Kinderlähmung und Epilepsie. — 12. Dölken-
Leipzig: Verschiedene Arten der Reifung des Zentralnervensystems.
(Neue Beiträge zur Flechsigschen Methode.) — 13. Dräseke - Ham¬
burg: Demonstration betreffend: Befunde am Rückenmark bei
Knochenerkrankungen. — 14. Olga v. L e o n o e v o - Moskau: a) Das
Beilage zur Münchener medizinischen Wochenschrift.
1696
Rückenmark und die Spinalganglien in einem Fall von Amyelie (Am-
putatio spontanea). b) Das Verhalten der Rinde der Sulci calcarini
in einem Fall von Microphthalmia bilateralis congenita. - 15. Mona¬
kow- Zürich : Thema Vorbehalten. — 16. N i e s s 1 v. Mayendorf-
fiamburg: Die Organe des menschlichen Gedächtnisses. — 17. Prob st-
Wien: Ueber die zentralen Sinnesbahnen des menschlichen Gehirns.
22. Abteilung: Augenheilkunde.
1. A x e n f e 1 d t - Freiburg i. B.: Operative Mitteilungen. —
2. Derselbe: Demonstrationen. — 3. B ac h - Marburg: Ueber
absolute Pupillenstarre. — 4. B o n d i - Iglau: Augenentzündungen bei
Geisteskranken. — 5. F 1 ei s c h e r - Tübingen: Thema Vorbehalten.
— 6. F r e u n d - Reichenberg: Statistischer Bericht über die Dauer
der Erfolge bei Schieioperationen. — 7. Harms - Tübingen : Thema
Vorbehalten. — 8. Heller -Wien: Ueber den Erfolg systematischer
Sehübungen in einem Falle von scheinbar vollständiger Blindheit. —
9. Hess- Wiirzburg : Thema Vorbehalten. — 10. K a u f f m a n n -
Cannstatt: Ueber rezidivierende Erosionen. — 11. Königshöfer-
Stuttgart: Ein neues Phantom zur Darstellung der optischen und
muskulären Funktionen des Auges. — 12. D e r s e 1 b e: Demon¬
strationen. — 13. P r e t o r i - Reichenberg: Zur Keratitis superficialis.
— 14. P r e t o r i - Reichenberg: Zur Behandlung der Tränensack¬
entzündungen. — 15. Pretori und F r e u n d - Reichenberg: Bei¬
träge zu den Missbildungen des Auges. — 16. Pretori und
Freund- Reichenberg: Die Beziehungen zwischen Lues und Augen¬
krankheiten. — 17. R a e h 1 m a n n - Weimar: Ueber die Theorie der
Farbenempfindung. — 18. S c h 1 e i c h - Tübingen: Thema Vorbehalten.
— 19. Weiss- Gmünd: Metallophon.
23. Abteilung: Hals- und Nasenkrankheiten.
1. Bayer - Brüssel: Ueber die Bedeutung der Lymphdriisen und
Lymphgefässe des Halses in der Pathologie der Nasen-, Ohren-,
Rachen- und Kehlkopfkrankheiten; von der äusseren Untersuchung
und Behandlung; Mitteilung einiger Fälle. — 2. v. Eiken-Frei-
burg i. Br. : Thema Vorbehalten. — 3. P. Heymann - Berlin : Thema
Vorbehalten. — 4. J u r a s z - Heidelberg: Thema Vorbehalten.
24. Abteilung: Ohrenheilkunde.
1. E s c h w e i 1 e r - Bonn: Thema Vorbehalten. — 2. Hart¬
mann-Berlin: Die Notwendigkeit der Behandlung schwerhöriger
Schulkinder. — 3. Derselbe: Beitrag zur Gehörgangsplastik bei der
Radikaloperation. — 4. Haug - München: Bemerkungen zur Trocken¬
behandlung der akuten Mittelohreiterung. — 5. Derselbe: Lokale
Anästhesie bei Ohroperationen (Novokokain). — 6. Derselbe:
Mikroskopische Präparate von Tumoren des Ohres. — 7. Der¬
selbe: Mikroskopische Präparate über die Transplantation der
Schalenhaut des Hühnereis. — 8. Katz-Berlin: Histologische De¬
monstrationen über das innere Ohr einiger kleiner Säuger (Cortisches
Organ). — 9. Nadoleczny - München: Das künstliche Trommelfell
und sein Einfluss auf die Resultate der Hörprüfung. — 10. Stefan
Rontaler - Warschau: Gehörverbesserung bei Trommelfelldestruk¬
tion nach Scharlach und Fehlen der Gehörknöchelchen mittels Gaze¬
tamponade des Atticus. — 11. Schönemann - Bern: Demonstration
von Plattenmodellen des menschlichen Gehörorgans. — 12. Sieben-
m an n -Basel: Ueber das Gehörorgan eines athyreotischen Neu¬
geborenen (mit Demonstration). — 13. S z e n e s - Ofen-Pest: Ueber
Retentionserscheinungen vortäuschende Veränderungen am Warzen¬
fortsatze, verursacht durch Konkrementanhäufung im äussern Gehör¬
gang. — 14. Derselbe: Ueber ein einfaches Verfahren zur Be¬
hebung von Retentionserscheinungen, die sich während der Nach¬
behandlung von Warzenfortsatzoperationen einstellen können. —
15. Derselbe: Kasuistische Mitteilungen zur operativen Behand¬
lung der Mittelohrräume.
25. Abteilung: Dermatologie und Syphilidologie.
1. A. P 1 a s c h k o - Berlin: Zur Abortivbehandlung der Gonor¬
rhöe. — 2. Derselbe: Prognose der Syphilis. — 3. Derselbe:
Demonstration von Präparaten zur Spirochätenfrage. — 4. F. Dom-
mer-Dresden: Weitere Mitteilungen über die Handhabung der Kon¬
struktion desDommerschenUrethrotomes zur Beseitigung weiter Strik-
turen.: — 5. G a l e w s k y - Dresden : Tabes im ersten Jahre nach der
Infektion. — 6. G o 1 1 s c h a 1 k - Stuttgart: Erfolge und Ziele der
Radiotherapie und Lichtbehandlung mit Krankenvorstellung und De¬
monstrationen. — 7. H a m m e r - Stuttgart: Krankenvorstellung. —
8. H. H ü b n e r - Frankfurt a. M.: Röntgenbehandlung der Bubonen.
— 9. L i n s e r - Tübingen : Thema Vorbehalten. — 10. Neuburger-
Niirnberg: Bemerkungen zur Psoriasistherapie. — 11. Derselbe:
Die Differentialdiagnose seltener sich ähnelnder Exanthemformen von
Lues und Lichen ruber planus. — 12. Nobl-Wien: Ueber die post-
blennorrhoische Wegsamkeit des Nebenhodens. — 13. Derselbe:
Zur Kenntnis der Ansiedelungsbezirke des Vakzinekontagiums. —
14. Derselbe: Demonstration von Moulagen in mikroskopischen
Präparaten. — 15. H. P f e i f f e r - Graz: Weitere experimentelle
Studien über die Aetiologie des primären Verbrühungstodes. —
16. H. P i n k u s - Berlin: Ueber Naevus acneiformis. — 17. C. S t e r n-
Diisseldorf : Ueber subkutane Verkalkungen. — 18. Derselbe: Bei¬
trag zur Kenntnis der Leukämie der Haut. — 19. H. S t r e b e 1 - Mün¬
chen: Die Bedeutung des Lichtes für die Therapie der Haut. —
20. A. S t r a u s s - Barmen: Resultate der Uviollichtbehandlung bei
No. 34.
Harnkrankheiten. — 21. Derselbe: Ueber prophylaktische Queck¬
silberinfiltration des syphilitischen Schankers. — 22. Th. Veiel und
Fr. V e i e 1 - Cannstatt: Ueber Lupustherapie mit Demonstrationen.
— 23. H. V i e t h - Ludwigshafen: Neue Forschungen zur Wirkungs¬
weise der Balsamika. — 24. W i c h m a n n - Hamburg : Zur Radium¬
behandlung des Lupus.
26. Abteilung: Zahnheilkunde.
1. K e r s t i n g - Aachen: Speicheldrüsenausgänge in der Unter¬
lippe bei einer Wolfsrachenfamilie. — 2. M o r g e n s t e r n - Strass¬
burg: Neue Ergebnisse über den Nachweis von Nerven und lympha¬
tischen Saftbahnen in den Zähnen. Projektionsvortrag. — 3. Senn-
Zürich: Weitere Beiträge zur Therapie der Pyorrhoea alveolaris. —
4. Berten- München : Thema Vorbehalten. — 5. v. Klingel-
höfer-St. Petersburg: Demonstration schwerer Kieferverletzungen
während des russisch-japanischen Krieges. — 6. Metz- Meran: In¬
dikationsstellung zur Wurzelresektion. — 7. Derselbe: Die Medizin
in der Zahnheilkunde. — 8. P o r t - Heidelberg: Thema Vorbehalten.
— 9. R ö m e r - Strassburg: Die pathologisch-anatomischen Verände¬
rungen bei Alveolarpyorrhöe. Projektionsvortrag. — 10. Senn-
Zürich: Asepsis und Antisepsis in der zahnärztlichen Praxis. — ■
11. S t e h r - Roermond (Holland): Thema Vorbehalten.
27. Abteilung: Militärsanitätswesen.
1. B i e c k - Mörchingen: Die Körperpflege des Soldaten. —
2. F i s c h e r - Ludwigsburg: Erfahrungen über die Biersche Stauung.
— 3. Hopfengärtner - Stuttgart : Zur Entstehung von Waden¬
beinbrüchen. — 4. J a e g e r - Strassburg: Die Bedeutung der rekon¬
valeszenten und gesunden Infektionsträger für die Prophylaxe der
Infektionskrankheiten. — 5. v. Oettingen - Steglitz: Haben wir im
russisch-japanischen Kriege zugelernt? — 6. S c h 1 a y e r - Tübingen:
Thema Vorbehalten. — 7. S e e 1 - Stuttgart: Ueber Arzneitabletten.
28. Abteilung: Gerichtliche Medizin.
a) Referate: Die Diagnose des Ertrinkungstodes. Referenten:
Wach holz - Krakau, Z i e m k e - Halle, Reuter- Wien, b) Vor¬
träge: 1. G e o r g i i - Maulbronn : Ueber den Wasserschuss. —
2. Derselbe: Ueber die gerichtsärztliche Bedeutung der Flobert-
schusswunden. — 3. H a b e r d a - Wien: Unzucht mit Tieren. —
4. I p s e ii - Innsbruck: Zur Mechanik der Knochenbrüche. • — 5. Der¬
selbe: Untersuchungen über das Verhalten und die Aufteilung des
Strychnins im menschlichen Körper. — 6. Kenperes - Klausenburg:
Bericht über einige Erfahrungen in der gerichtlichen Medizin. —
7. K r a 1 1 e r - Graz: Thema Vorbehalten. — 8. Derselbe und
H. P f e i f f e r - Graz: Kasuistisches aus dem Institut für gerichtliche
Medizin in Graz. — 9. O. L e e r s - Berlin: Ueber die Beziehungen
zwischen traumatischen Neurosen und Arteriosklerose. — 10. Moli¬
tor i s - Innsbruck : Experimentelle Beiträge zur Frage über die
Fäulnis an Lungen Neugeborener. — 11. Derselbe: Toxikologische
Mitteilungen. — 12. H. P f e i f f e r - Graz: Ueber das Prinzip und über
die Leistungsfähigkeit der Blutdifferenzierungsmethode nach Neisser
und Sachs. — 13. P u p p e - Königsberg: Die Diagnose der gewalt¬
samen Erstickung durch weiche Bedeckungen. — 14. Reuter-
Wien: Ueber den anatomischen Befund bei der Benzinvergiftung. —
15. St r a s s m a n n - Berlin: Ueber unvollständige Magenzerreissung.
— 16. W a c h h o 1 z - Krakau: Die modifizierte Tanninprobe.
29. Abteilung: Hygiene und Bakteriologie.
1. Am E n d e - Dresden: Die Bedeutung der Barakenbauten ins¬
besondere für Kurorte. — 2. K- B. L e h m a n n - Wiirzburg: Die
Aufnahme der Fabrikgifte durch Lunge und Haut. -—3. Derselbe:
Die nitrosen Gase. — 4. Schottelius - Freiburg i. B.: Giftige Kon¬
serven. — 5. W e i c h a r d t - Erlangen: Ueber Ermüdungstoxine und
deren Hemmungskörper. — 6. Th. W e y 1 - Charlottenburg: Hygiene
und Technik in historischer Darstellung (mit Lichtbildern). —
7. Scheurlen - Stuttgart : Ueber Ziegenmilch. — 8. Küster-
Freiburg i. B. : Neuere Untersuchungen über tuberkulöse Erkrankung
bei Kaltblütern. — 9. L. R a b i n o w i t s c h - Berlin: Neuere experi¬
mentelle Untersuchungen über Tuberkulose. — 10. W e b e r - Berlin:
Die Perlsuchtinfektion des Menschen. — 11. Z w i c k - Stuttgart: Bei¬
trag zur Kenntnis der Beziehungen zwischen Menschen- und Rinder¬
tuberkulose. — 12. B r a u n s - Hannover : Die Aetiologie der Eklam¬
psie. — 13. F u h r m a n n - Graz: Entwicklungszyklen bei Bakterien.
— 14. S c h m i d t - Köln: Ueber künstlich bei Tieren erzeugte Neu¬
bildungen und die Steigerung ihrer Malignität durch fortgesetzte
Transplantationen. — 15. A. W o 1 f f - Charlottenburg: Untersuchungen
über Empfänglichkeit und natürliche Immunität gegenüber Toxinen. -—
16. Scheurlen - Stuttgart: Zur Kenntnis der Bakteriologie der epi¬
demischen Schweisskrankheiten. — 17. B o n h o f f - Marburg: Thema
Vorbehalten. — 18. J. Förster- Strassburg: Thema Vorbehalten.
— 19. v. Wunschheim - Innsbruck : Thema Vorbehalten.
30. Abteilung: Tropenhygiene.
1. F ü 1 l e b o r n - Hamburg: Thema Vorbehalten. (Aus dem
Gebiete der Tropenhygiene und der Tropenkrankheiten in Britisch-
Ostindien und Afrika.) — 2. M e y e r - Hamburg: Thema Vorbehalten.
— 3. Otto -Hamburg: Ueber gelbes Fieber in Afrika. — 4. Vier¬
eck-Hamburg: Ueber Amöbendi-senterie. — 5. Stabsarzt der Kais.
Schutztruppen Werner: Ueber Elephantiasisoperationen. _
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Herausgegeben von
B. v. Anoerer, CUäumler, IU Hoger, ii. Cursclimaee, B. Helfend), W.v.Lenbe, G. Merkel, J. t. Michel, F. Penzoldt, B. v. Ranke, B. Spaiz, F.vJinckel,
München. Freiburg ;. B.
München.
Leipzig.
Kiel.
Würzburg. Nürnberg.
Berlin.
Erlangen. München. München. München.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang.
No. 35. 28. August 1906.
Originalien.
Alkohol und Neurosen *)
Von L. Loewenfeld.
M. H. ! Wenn wir die Beziehungen zwischen Alkohol und
Neurosen studieren wollen, drängen sich uns drei Fragen auf,
in deren Beantwortung die Autoren betreffs der einzelnen Neu¬
rosen mehr oder weniger auseinandergehen1
1. Welche Bedeutung kommt dem Alkohol in der Aetiologie
der Neurose zu?
2. Welchen Einfluss äussert der Alkohol auf die bestehende,
durch anderweitige Momente herbeigeführte Neurose?
3. Welchen Einfluss äussert die Neurose auf den Konsum
geistiger Getränke? (Beziehungen zwischen Neurose und
Trunksucht.)
Treten wir zunächst der Beantwortung der ersten Frage
in Betreff der Neurasthenie näher, so bildet nach meinen Er¬
fahrungen, die sich begreiflicherweise vorwaltend auf Ange¬
hörige der süddeutschen Bevölkerung beziehen, der Alkohol¬
missbrauch bei von Haus aus gesunden, nicht mit hereditärer
oder akquirierter neuropathischer Disposition behafteten Indi¬
viduen nur selten die einzige Ursache der Neurasthenie.
Ungleich häufiger begegnen wir dem Alkoholmissbrauch
neben verschiedenen anderen Schädlichkeiten, wobei der Ein¬
fluss der einzelnen Noxen nicht immer abzuschätzen ist. Be¬
sonders häufig ist bekanntlich die Kombination von Exzessen
in baccho et venere, sowie von Exzessen in alcoholicis und
im Rauchen. In den Fällen, in welchen der Abusus spirituo-
sorum neurasthenische Folgen nach sich zieht, handelt es sich
meistens um mässige Exzesse, da die höheren Grade des Pota-
toriums zumeist zu erheblicheren Schädigungen des Nerven¬
systems, organischen Erkrankungen des Gehirns, Rücken¬
marks und der peripheren Nerven oder Alkoholpsychosen,
führen. Die Folgen lange fortgesetzter mässiger Alkohol¬
exzesse bei Individuen mit von Haus aus normalem Nerven¬
system kennen zu lernen, hat man insbesonders bei unserer
studierenden Jugend in Anbetracht der bei derselben noch so
verbreiteten leidigen Trinksitten Gelegenheit. Es zeigt sich da
nur zu häufig, dass die jungen Leute, die sich ihrer anscheinen¬
den Ti inkfestigkeit erfreiien, und wegen derselben auch oft
eine törichte Anerkennung finden, durch ihre Trinkgewohn¬
heiten ihr Nervensystem entschieden schädigen. Der Nachteil
den sie sich zufügen, gibt sich zumeist jedoch erst kund, wenn
der Ernst des Lebens in Form der Examensanforderungen an
den flotten Studenten herantritt. Dann erweist sich die geistige
Arbeitskraft mehr oder weniger herabgesetzt; die Anstren¬
gungen des Vorlesungsbesuches und des häuslichen Studiums
erzeugten Kopfbeschwerden und Schlafmangel, die, zunächst
transitorisch, später dauernder werden und die psychische
Leistungsfähigkeit noch weiter herabsetzen. Den intellektuell
schwacher Veranlagten gelingt es unter diesen Verhältnissen
häufig auch bei wiederholtem Versuche nicht, den Anforde¬
rungen eines Schlussexamens zu genügen, sie vermehren wie
ich mich schon anderen Orts1) ausdrückte, die Zahl der durch
*) Vortrag, gehalten im ärztlichen Verein München am 24 Fe¬
bruar 1906.
No. 35.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Neurasthenie verunglückten Existenzen. Auch bei an Jahren
vorgeschrittenen, mässigem Alkoholmissbrauch ergebenen
Männern machen wir die gleichen Erfahrungen; sie mögen
jahrelang täglich z. B. 3 — 4 Liter Bier konsumieren, scheinbar
ohne einen Nachteil davonzutragen, dann kommen Zeiten,
welche erhöhte berufliche Anstrengungen oder andauernde
peinliche gemütliche Erregungen infolge familiärer oder ge¬
schäftlicher Verhältnisse bringen, und über kurz oder lang
macht sich eine Fülle neu rasthenischer Beschwerden geltend. In
diesen Fällen habe ich insbesonders das Hervortreten von Sym¬
ptomen seitens des Herzens und des Gefässnervenapparates
(Schwindel, Kongestionsanfälle, nervöse Herzstörungen) be¬
obachtet. Bei den dem Alkoholmissbrauch ergebenen Arbei¬
tern geben Unfälle häufig den Anstoss zur Entwicklung einer
Neurasthenie, für welche der Alkohol den Boden vorbereitet
hat. Anders gestalten sich die Dinge bei von Haus aus neuro-
pathisch veranlagten Individuen, bei welchen sehr häufig eine
verminderte Toleranz für geistige Getränke besteht. Bei sol¬
chen bedarf es nicht lange fortgesetzter Völlerei, um die vor¬
handene Prädisposition in einen ausgesprochenen neur-
asthenischen Zustand überzuführen. Häufigere Exzesse im
Verlaufe einiger Wochen oder Monate genügen hierzu bereits,
und in manchen Fällen treten diese ungünstigen Folgen bei dem
Konsum von Quantitäten geistiger Getränke ein (1—2 Liter Bier
z. B. täglich), die bei dem gesunden Durchschnittsmenschen
keine Störung des Befindens nach sich ziehen. Auch derartige
Erfahrungen macht man vorzugsweise bei Studierenden, und
manche dieser müssen nach einigen Wochen bereits auf die
Teilnahme an einem Korporationsleben verzichten, weil sie zur
Erkenntnis gelangen, dass der hiermit verknüpfte Trinkzwang
den Ruin ihrer Nerven zur Folge haben müsste.
Es erhebt sich nunmehr die Frage, ob die Fälle von Neur¬
asthenie, bei welchen Alkoholmissbrauch (neben der vor¬
handenen Prädisposition) als ausschliesslicher oder wenigstens
weit prädominierender ätiologischer Faktor sich geltend macht
durch eine besondere klinische Gestaltung sich auszeichnen,
so dass man aus den vorhandenen Symptomen einen Rück¬
schluss auf die Verursachung ziehen kann. In einem Teile der
hierhergehörigen Fälle finden sich in der Tat sowohl auf soma¬
tischem wie auf psychischem Gebiete Erscheinungen, die in
gewissem Masse charakteristisch für den Alkoholismus sind.
Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die in Frage stehende
klinische Gestaltung auch in Fällen angetroffen wird, in welchen
sich der Alkoholismus erst zu einer durch andere Momente
herbeigeführten Neurasthenie gesellte. Unter den somatischen
Erscheinungen kommt in erster Linie der Tremor in Betracht;
dieser mangelt auch in Fällen von Neurasthenie nicht alko¬
holischer Provenienz nicht völlig, tritt jedoch hier gewöhnlich
nur vorübergehend, insbesonders unter dem Einflüsse gemüt¬
licher Erregungen oder bei Bewegungen, die eine besondere
Präzision oder Kraftaufwand erheischen, auf. Bei den Pota¬
toren kann sich der Tremor dagegen mehr andauernd und selbst
bei völligem Ruhezustände geltend machen und nicht nur die
Extremitäten, sondern auch die Augen- und die Zungenmuskeln
befallen (Freyhan 2).
U Löwenfeld: Pathologie und Therapie der Neurasthenie
und Hysterie, S, 53.
*) Freyhan: Ueber nervöse Störungen im Gefolge von Alko-
hohsmus. Deutsch. Arch. f. klin. Med., 51. Bd., 6. Heft, 1893.
1
1698
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
Aul psychischem Gebiete finden wir neben Angst- und Ver¬
stimmungszuständen Herabsetzung der intellektuellen Lei¬
stungsfähigkeit und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit,
Erscheinungen, die auch bei anderen Neuasthenikern nicht man¬
geln, als charakteristische Symptome eine ausgesprochene
Willensschwäche und Energielosigkeit sowie eine Veränderung
•des Charakters in pejus, die auf einer ethischen Abstumpfung
(verminderter Wirksamkeit der ethischen Vorstellungen und
Gefühle) in erster Linie beruht. Der Potator mag heute die
Schädlichkeit seiner Trinkgewohnheiten in vollem Masse er¬
kennen und die besten Vorsätze fassen, ein momentanes Uebel-
befinden oder das Zureden eines gewissenlosen Freundes ver¬
anlasst ihn morgen zu neuen Exzessen. Die sittliche Minder¬
wertigkeit, Unzuverlässigkeit und Haltlosigkeit der Trinker sind
ja auch genügend bekannt.
Die Pathogenese der neurasthenischen Zustände alkoholi¬
schen Ursprungs ist nicht immer die gleiche. In einem Teile
der Fälle kommt ausschliesslich die direkte Wirkung des
Alkohols auf das Nervensystem in Betracht. Dies gilt nament¬
lich für die Fälle mit geringer Alkoholtoleranz. In einem
anderen Teile der Fälle spielen aber auch die durch den Alko¬
holmissbrauch verursachten gastrischen Störungen mit dem
begleitenden Appetitmangel eine Rolle, indem hiedurch die
Allgemeinernährung und damit auch die Ernährung des Nerven¬
systems beeinträchtigt wird.
Wir haben im vorstehenden bereits erwähnt, dass sich der
Alkoholismus zur Neurasthenie gesellen kann. B e a r d 3) be-
zeichnete die Trunksucht als eine „sehr gewöhnliche“ Folge der
Neurasthenie und glaubte die Zunahme dieses Uebels in den
Vereinigten Staaten und anderen hochzivilisierten Ländern auf
das Anwachsen der Nervosität zurückführen zu dürfen. Nach
seinen Mitteilungen soll sich insbesonders bei den durch Hitze¬
einwirkung verursachten neurasthenischen Zuständen ein un¬
widerstehliches Verlangen nach geistigen Getränken geltend
machen. Auch Arndt war der Ansicht, dass unter den sog.
Gewohnheitstrinkern die grösste Mehrzahl Neurastheniker sind
und überhaupt nur solche zur Trunksucht zu neigen scheinen.
So schlimm, wie B e a r d die Sache darstellt, ist es nach meinen
Wahrnehmungen in Deutschland nicht. Es ist zwar nicht in
Abrede zu stellen, dass nicht wenige Neurasthenische durch die
günstige Wirkung, welche der Alkohol auf ihr Befinden tem¬
porär ausübt, dazu veranlasst werden, Quantitäten geistiger
Getränke zu konsumieren, die über das in gesunden Tagen ge¬
wohnte Quantum mehr oder weniger hinausgehen. Die am
Biertische oder im Weinlokale verbrachten Abendstunden bil¬
den ihre beste Zeit; die Gefühle der Abspannung und Hinfällig¬
keit, welche die Tagesarbeit hinterliess, schwinden und an ihre
Stelle tritt eine behagliche Verfassung. Die Sorgen, welche
ihnen untertags ihr Befinden bereitet, weichen, Angstzustände
und Depressionen machen einer frohen, zuversichtlichen Stim¬
mung Platz, und der Schlaf, der ohne vorhergehende Libationen
nur zögernd und mangelhaft sich einstellte, umfängt den heim¬
gekehrten Zecher mit unwiderstehlicher Gewalt. Es ist be¬
greiflich, dass von dem Mittel, welches anscheinend so günstige
Wirkungen äussert, gerne und reichlich und zum Teil auch
untertags gegen vorhandene Beschwerden Gebrauch gemacht
wird. Indes erfolgt hier auf die künstliche Stimulation, wie
ich schon anderen Orts bemerkte, mit grausamer Regelmässig¬
keit die funktionelle Ebbe im Nervensystem; je grösser das Be¬
hagen und je froher die Stimmung am Abend, um so düsterer
erscheint die Welt am Morgen, um so öder ist der Kopf, um
so schwerer vollzieht sich die Arbeit. Das Bedürfnis einer
erneuten Stimulation macht sich daher alsbald wieder geltend,
und wenn die früher wirksame Alkoholquantität sich hiebei un¬
zulänglich erweist, wird dieselbe gesteigert. Trotz alledem
kommt es in dieser Weise, wenigstens bei Neurasthenischen
der gebildeten Stände, nur relativ selten zur Entwicklung aus¬
gesprochener Trunksucht. Die meisten dieser Patienten sehen
früher oder später die Schädlichkeit ihrer Trinkgewohnheiten
ein und besitzen wenigstens so viel Willenskraft, dass sie ihren
Alkoholkonsum auf ein gewisses Mass beschränken.
:|) Beard: Practical Treatise on Nervous Exhaustion (Neur-
asthenia) 1892, S. 165.
Neben den Fällen, in welchen ein Konsum geistiger Ge¬
tränke, der das gewohnte Quantum mehr oder weniger über¬
steigt, den neurasthenischen Zustand verschlimmert, begegnen
wir jedoch mindestens ebenso häufig solchen, in welchen die
Fortsetzung des habituellen, relativ mässigen Alkoholgenusses
die gleiche Wirkung äussert. Die Toleranz für den Alkohol
nimmt mit der Entwicklung der Neurasthenie oft deutlich ab,
so dass insbesonders vasomotorische Störungen (Schwindel,
Kongestionszustände etc.) bei der Aufnahme von Alkoholquanti¬
täten auftreten, die früher keine derartige Wirkung äusserten.
Doch auch bei Neurasthenischen, welche anscheinend ihre
Alkoholtoleranz bewahrt haben, erweist sich bei genauer Be¬
obachtung die Fortsetzung des gewohnten Alkoholgebrauchs
von entschieden ungünstiger Wirkung, insbesonders wird hie¬
durch die Neigung zu Kopfbeschwerden, Schwindelanwand-
lungen und nervösen Herzbeschwerden gefördert; auch bei
sexuellen Reizzuständen sind ungünstige Wirkungen von
mässigen Alkoholquantitäten häufig unverkennbar.
Unsere Anschauungen über die Aetiologie der Hysterie und
den Mechanismus ihrer einzelnen Symptome sind zurzeit an
einen Wendepunkt gelangt. Neben den älteren, in ihren Einzel¬
heiten mehr oder weniger voneinander abweichenden Auf¬
fassungen der Autoren, die zurzeit noch das Feld beherrschen,
hat sich die von Freud vertretene Theorie in den letzten
Jahren in einer Weise weiterentwickelt, die zur Beantwortung
der Frage drängt, ob man genötigt ist, das früher Angenommene
zu gunsten der Freud sehen Theorie einfach aufzugeben oder
ob eine Verknüpfung beider Gruppen von Ansichten, genauer
gesagt eine Umgestaltung der älteren Auffassung auf Grund der
Ergebnisse der Freud sehen Forschungen möglich ist.
Ich habe mich in einer vor kurzem veröffentlichten Arbeit4)
für diese Möglichkeit ausgesprochen. Meine eigene Auffassung
bezüglich der Hysterie ging bisher dahin, dass wir zum Ver¬
ständnis der hysterischen Erscheinungen nur dann gelangen
können, wenn wir zwischen 2 Momenten unterscheiden: dem
andauernden, jedoch mehr oder minder labilen psychisch-ner¬
vösen Zustande, welcher das Auftreten hysterischer Sym¬
ptome ermöglicht, der hysterischen Konstitution oder Diathese,
und den Krankheitserscheinungen, die sich zeitweilig auf dieser
Basis entwickeln. Die hysterische Konstitution führt an sich
nicht notwendig zur Entstehung hysterischer Symptome; das
Auftreten letzterer ist von der Einwirkung veranlassender
Momente abhängig, deren Beschaffenheit in weitgehendem
Masse auch die spezielle Gestaltung der Symptome beeinflusst.
Freud nimmt ebenfalls zurzeit eine konstitutionelle Grund¬
lage der Hysterie an, doch erblickt er diese nicht wie die
meisten Autoren in der neuropathischen Disposition, sondern
in einer gewissen sexuellen Konstitution. Diese aber wird nach
Freuds Auffassung nicht durch ein rein somatisches, sondern
ein gewisses psycho-sexuales Verhalten, genauer gesagt, die
psychische Reaktion auf infantile sexuelle Erlebnisse gebildet.
Die infantilen sexuellen Erlebnisse der Hysterischen, welche
für die Entwicklung der Erkrankung bestimmend sind, müssen
nicht von denen Gesunder sich unterscheiden . Verschieden ist
lediglich die psychische Reaktion auf dieselben, die von der
psychischen Konstitution des Individuums abhängt. Man könnte
sich daher sehr wohl vorstellen, dass die überwiegende Dis¬
position des weiblichen Geschlechtes für die Hysterie darauf
beruht, dass bei demselben infolge seiner besonderen seelischen
Artung die für die Entwicklung der Hysterie bestimmende Re¬
aktion auf infantile Sexualerlebnisse (Verdrängungsneigung)
leichter und häufiger zustande kommt, als beim männlichen Ge-
schlechte. Die Bedeutung der Gelegenheitsursachen (ver¬
anlassenden Momente) der einzelnen hysterischen Symptome
wird von F re u d ebenfalls nicht einfach negiert, er glaubt nur,
dass mit denselben immer eine gewisse, lediglich durch die
Psychoanalyse eruierbare sexuelle Komponente verbunden ist,
welche zur Auslösung des Symptoms führt.
Die Deutung der Rolle, welche dem Alkohol in der Aetio¬
logie der Hysterie zukommt, wird durch die Freudsche
4) Löwenfeld: Sexualleben und Nervenleiden. 4. Auflage,
1905, S. 235.
28. August 1906.
MÜENcHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1699
Theorie, wie wir nicht verkennen dürfen, nicht erleichtert, son¬
dern eher erschwert. In der französischen Literatur der 70 er
und 80 er Jahre des verflossenen Jahrhunderts bildeten die Be¬
ziehungen zwischen Alkohol und Hysterie den Gegenstand zahl¬
reicher Erörterungen. Die Vertreter der Schule der Salpetriere,
vor allem Gilles de 1 a Tourette5 6), glaubten, es sei die
Sachlage durch die Annahme Charcots völlig geklärt, dass
dem Alkohol wie anderen Giften, Blei, Quecksilber etc., ledig¬
lich die Bedeutung eines agent provocateur zukomme, dessen
Wirksamkeit von dem Vorhandensein einer gewissen Prädis¬
position abhängt. In der Tat bezeichnete auch diese Annahme
einen gewissen Fortschritt, sofern manche französische
Autoren, Debove8 9), A c h a r d 7), L e t u 1 1 e 8) u. a., sich zu
der Anschauung bekannt hatten, dass der Alkohol und andere
Gifte, Blei, Quecksilber etc., imstande seien, auch bei Nicht¬
prädisponierten Hysterie hervorzurufen, und jede dieser toxi¬
schen Hysterien eine besondere klinische Gestaltung besitze.
Wie wenig durch die C h a r c o t sehe Annahme, der auch
P i t r e s H) im wesentlichen beitrat, die Sachlage geklärt wurde,
erhellt aus dem Umstande, dass es sich nach Binswanger10)
„bei den in der Literatur mitgeteilten Fällen toxischer Hysterie
entweder um die Entstehung rein symptomatischer toxischer
Konvulsionen oder um die Entwicklung der hysterischen Ver¬
änderung handelt, welche dann die für die Krankheit charakte¬
ristischen paroxystischen und interparoxystischen Erschei¬
nungen unter dem Einflüsse der verschiedensten Gelegenheits¬
ursachen hervorrufen kann, ohne dass das prädisponierende
Moment (z. B. Alkoholismus) zum Fortbestand des Leidens
notwendig ist.“
Der Autor hält demnach die Entwicklung der hysterischen
Konstitution unter dem Einflüsse des Alkohols für möglich und
äst nicht geneigt, demselben lediglich die Rolle eines agent pro¬
vocateur zuzuschreiben.
Raiman n (Die hysterischen Geistesstörungen, 1904) da¬
gegen schreibt dem Alkohol sowohl eine Bedeutung für die
Entwicklung der hysterischen Disposition, wie als agent pro¬
vocateur der Hysterie zu. Er betont, dass der Alkoholismus
sowohl die Widerstandskraft des Nervensystems, als die so¬
ziale Stellung untergräbt. Die bei Trinkern zu beobachtende
und wohl auf Alkoholwirkung zurückzuführende leichte An-
sprechbarkeit der Affekte scheint nach R a i m a n n eine Brücke
zu bilden zur Uebererregbarkeit der affektiven Sphäre der
Hysterie; daneben spielt der akute Alkoholismus eine Rolle als
determinierendes Moment.
Wenn wir einen Einblick in die Bedeutung des Alkohols
für die Hysterie gewinnen wollen, müssen wir zwischen dem
Einflüsse .gelegentlicher, vorübergehender Alkoholexzesse und
dem des chronischen Alkoholismus unterscheiden. Was erstere
Momente anbelangt, so habe ich mehrfach Fälle beobachtet,
in welchen nach Alkoholexzessen bei an mässigen Alkohol¬
genuss gewöhnten weiblichen Personen Lach- und Weinkrisen
auftraten. Bei einer der von mir beobachteten Patientinnen
stellten sich regelmässig nach etwas erheblicherer Ueber-
schreitung des gewohnten abendlichen Bierquantums von ein
Liter längerdauernde Lachkrisen ein, so dass man diese Er¬
scheinung experimentell hervorrufen konnte. Es wäre sehr
irrig, wenn man diese Krisen mit der durch den Alkohol er¬
zeugten euphorischen Gemütslage in Verbindung bringen
wollte. Die Stimmung der Patientin ist während dieser An¬
fälle gewöhnlich eine sehr peinliche, viel mehr dem Weinen,
als dem Lachen, das sie nicht unterdrücken kann, zuneigende.
Auch ernstere Formen hysterischer Anfälle können durch vor¬
5) Gilles de la Tourette: Traite clinique et therapeutique
de l’Hysterie d’apres l’enseignement de la Salpetriere; Bd. 1. Paris
1891, S. 106.
6) Debove: De l’apoplexie hysterique. Soc. medicale des
höpitaux, August 1886.
7) Achard: De l’apoplexie hysterique. Arch. gener. de mede-
cine, Januar u. Februar 1887 und These de Paris 1887.
8) Le tu Ile: De l’hysterie dans le saturnisme. Bull, medical
1887, No. 46 u. 47.
9) Pit res: Legons cliniques sur Hysterie et l’hypnotisme.
Bd. 1, S. 35, Paris 1891.
lu) Binswanger: Die Hysterie. Wien 1904, S. 51.
übergehende Alkoholexzcsse herbeigeführt werden. Leuch11)
berichtet über den Fall eines 14 jährigen erblich belasteten,
doch früher von hysterischen Zufällen freien Knaben, bei
welchem übermässiger Weingenuss einen schweren hyste¬
rischen Anfall nach sich zog, an welchen sich nach einem
längeren freien Intervall eine Weitere Reihe von Anfällen an¬
schloss. „Der Alkoholexzess gab hier“, bemerkt der Autor,
„die direkte Ursache für das Eintreten der Hysterie bei dem
erblich belasteten Jungen ab. Es gelangte hier die hysterische
Neurose auf Grund einer akuten Alkoholintoxikation zum
Ausbruch“.
Bei einer Hysterischen meiner Beobachtung mit Diabetes
insipidus, welche gewohnheitsmässig ansehnliche Quantitäten
von Bier und Wein konsumierte, kam es wahrscheinlich infolge
eines Alkoholexzesses zu einem Dämmerzustände mit eigen¬
tümlichen Halluzinationen, der über mehrere Tage sich er¬
streckte. R a i m a n n erwähnt, dass ein einmaliger Alkohol¬
exzess bei Hysterischen häufig Anfälle auslöst und namentlich
die traumatische Hysterie durch den Alkohol akut gesteigert
wird.
Ueberblicken wir die zur Zeit bekannten Tatsachen, so ist
als sichergestellt zu erachten, dass die Alkoholintoxikation im¬
stande ist, verschiedene Formen hysterischer Anfälle bei an
Hysterie Leidenden oder wenigstens mit hysterischer Konsti¬
tution Behafteten hervorzu rufen. Es ist dies auch insofern
verständlich, als die verschiedenen Arten des hysterischen
Anfalls als Gemeinsames eine psychische Veränderung be¬
sitzen, und der Alkohol eine solche herbeizuführen vermag.
Je nach dem Quantum des konsumierten Alkohols und der Ent¬
wicklung der hysterischen Konstitution, muss natürlich die
durch den Exzess verursachte psychische Veränderung
schwanken, und hieraus mag sich die Verschiedenheit der in
den einzelnen Fällen beobachteten Anfälle erklären. Inwie¬
weit hiebei die von Freud angenommenen sexuellen Mo¬
mente als ätiologische Zwischenglieder eine Rolle spielen
mögen, muss zur Zeit dahingestellt bleiben.
Bezüglich des Einflusses des chronischen Alkoholismus
auf die Ausbildung der hysterischen Konstitution im gewöhn¬
lichen oder Freud sehen Sinne gestatten dagegen die zurzeit
vorliegenden Erfahrungen kein gleich bestimmtes Urteil. Dass
bei von Haus aus normal veranlagten Individuen der Alkoholis¬
mus allein eine hysterische Konstitution hervorrufen kann, ist
jedenfalls sehr unwahrscheinlich; dagegen darf man wohl an¬
nehmen, dass er eine vorhandene hysterische Konstitution er¬
heblich zu steigern vermag. Ob hiebei die Einwirkung auf die
sexuellen Funktionen nach Freud oder auf die gemütliche
Erregbarkeit, wie sie Raimann hervorhebt, das wesentliche
Moment bildet, oder eine Kombination beider Einwirkungen
anzunehmen ist, ist zur Zeit ebenfalls nicht zu entscheiden.
In der Aetiologie der Angstneurose (in dem von mir an¬
genommenen Sinne), spielt der Alkohol nicht dieselbe Rolle,
wie in der der Neurasthenie. Meine Untersuchungen haben,
im Wesentlichen übereinstimmend mit den Freud sehen Be¬
obachtungen, ergeben, dass die neurotischen Angstzustände,
soweit dieselben nicht emotionellen Ursprungs sind, soma¬
tischen, dem Gebiete des Sexuallebens angehörigen Störungen
entspringen. 12) Dass der Alkoholmissbrauch unmittelbar zu
einer Angstneurose führt, erscheint mir daher ausgeschlossen,
dagegen ist derselbe sehr wohl geeignet, eine vorhandene
Angstneurose wesentlich zu verschlimmern, wie auch die
Neigung zu neurasthenischen Angstzuständen zu steigern. Zu
derartigen Verschlimmerungen gibt der momentan günstige
Einfluss des Alkohols auf Angstzustände häufig den Anstoss.
Nicht wenige der Patienten, welche an Phobien leiden und die
Erfahrung gemacht haben, dass geistige Getränke nicht nur
vorhandene Angstzustände abzukürzen, sondern auch deren
Eintritt zu verhindern vermögen, lassen sich dazu verleiten, von
dem Mittel einen verhängisvollen Gebrauch zu machen. Sie
verfallen hiedurch mehr und mehr dem Alkoholismus, wodurch
u) Leuch: Kasuistische Beiträge zur Hysteria virilis. D. Zeit¬
schrift f. Nervenheilk., 1. Bd., 1891, S. 506.
12) s. Löewenfeld: Sexualleben und Nervenleiden; 4. Aufl.,
S. 256 u. f.
1700
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
ihr Zustand wesentlich verschlechtert wird. Ich bin mit Rück¬
sicht auf diesen Umstand schon seit einer Reihe von Jahren
gänzlich davon abgekommen, an Phobien leidenden Individuen
als Mittel zur Verhütung oder Erleichterung von Angstzu¬
ständen Alkohol in irgend einer Form zu empfehlen, und er¬
ziele die zu wünschende Wirkung durch den Gebrauch von
Tabletten mit einigen Tropfen Liquor Ammon, anis.
Die Aetiologie der Zwangsneurose ist zur Zeit noch nicht
in dem Masse aufgeklärt, wie die der Angstneurose, doch ist
es mir wenigstens wahrscheinlich geworden, dass für dieselbe
die F r e u d sehe Theorie, nach welcher die Zwangsvorstellung
von verdrängten Erinnerungen des Sexuallebens abstammen,
in der Hauptsache zutrifft. Jedenfalls kann Alkoholmissbrauch
nicht zu den Ursachen der reinen Zwangsneurose gezählt
werden. Dass dieselbe durch Alkoholmissbrauch verschlim¬
mert werden kann, unterliegt dagegen nach meinen Erfahrungen
ebenfalls keinem Zweifel. Zu einem solchen Missbrauch gibt
mitunter wie bei der Angstneurose die Erleichterung Anlass,
welche der Alkohol dem durch Zwangsvorstellungen fort¬
während Belästigten gewährt. Der momentan günstige Ein¬
fluss verhindert auch hier nicht schädigende Nachwirkungen.
Man hat früher vielfach angenommen, dass die Dipsomanie auf
einem periodisch sich geltend machenden Zwangstriebe be¬
ruhe; dies hat sich als irrtümlich erwiesen. Die echte Dipso¬
manie gehört, wie wir später sehen werden, dem Gebiete der
Epilepsie an. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass auch unab¬
hängig von Epilepsie Alkoholexzesse von kürzerer Dauer
durch Zwangsimpulse herbeigeführt werden.
In der Aetiologie der Epilepsie finden wir die Alkohol¬
intoxikation als einen Faktor, der in zwei Richtungen von Be¬
deutung ist. Die statistischen Ermittlungen der Neuzeit haben
in unwiderleglicher Weise ergeben, dass in der Aszendenz der
Epileptischen Alkoholismus reichlich vertreten ist, mit anderen
Worten, dass der chronische Alkoholismus eines Individuums
zur Entwicklung der epileptischen Disposition wie anderer
degenerativer Anomalien des Nervensystems bei dessen Nach¬
kommenschaft führen mag. Eine Reihe von Beobachtungen
spricht aber auch dafür, dass ein während des Zeugungsaktes
bestehender Rauschzustand die gleichen Folgen nach sich
ziehen kann, was sich aus dem schädigenden Einfluss des Alko¬
hols auf das Keimplasma zur Genüge erklärt. Der Alkohol¬
missbrauch zählt aber auch zu den wichtigsten direkten Ur¬
sachen der Epilepsie. Wie häufig sich der Alkoholismus mit
der Epilepsie vergesellschaftet, zeigen die Erhebungen, welche
M o e 1 i in der Berliner Charite anstellte. Er fand, dass 30 bis
40 Proz. Deliranten epileptisch waren und in 10 Proz. der Fälle
von Alkoholpsychosen Epilepsie bestand. Am häufigsten wurde
Epilepsie bei rückfälligen Potatoren getroffen. 13) Die Rolle,
welche dem Alkohol in den einzelnen Fällen von Epilepsie zu¬
fällt, ist jedoch eine verschiedene. Bei Hereditariern kann die
Alkoholintoxikation zum Auftreten des ersten epileptischen An¬
falls führen und in der Folge auch regelmässig Anfälle hervor-
rufen. Es bedarf in derartigen Fällen, wie die Beobachtungen
von B r a t z 14)-Wnhlgarten zeigen, nicht immer lange fort¬
gesetzter Exzesse. In einem Teile der Fälle tritt jedoch die
Epilepsie erst nach langjährigem Alkoholmissbrauch in Er¬
scheinung. Während in den ersterwähnten Fällen die Ab¬
stinenz zur Beseitigung der epileptischen Zufälle führt, äussert
dieselbe nach den Erfahrungen von B r a t z in den Fällen von
langjährigem Missbrauch keinen derartigen günstigen Einfluss.
Der Alkoholismus kann sich aber auch zu einer bestehenden,
durch andere Ursachen herbeigeführten Epilepsie gesellen, in
welchem Falle er eine bedeutende Verschlimmerung des Lei¬
dens herbeiführt. Auch vorübergehende Alkoholexzesse be¬
kunden bei Epileptischen gewöhnlich einen ungünstigen Ein-
13) Von grossem Interesse sind auch die von Witten mit¬
geteilten statistischen Ermittlungen in Betreff des Epileptikermaterials
der Bielefelder Anstalten. Alkoholmissbrauch bestand nach dem
Autor bei den Patienten selbst in 23,07 Proz., bei den Vätern der
Patienten in 25 Proz. und anderen Familienmitgliedern der Patien¬
ten in 20,2 Proz. der Fälle (Verwaltungsbericht der Anstalten Bethel,
Sarepta und Nazareth f. d. Jahr 1904/05).
14) B ratz: Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 56, S. 334.
15) R. Qaupp: Die Dipsomanie, eine klinische Studie; Jena 1901.
floss; dabei ist bemerkenswert, dass epileptische Anfälle nicht
immer direkt durch den Rauschzustand hervorgerufen werden,
sondern an denselben mitunter erst am folgenden Tage sich
anschliessen. Besonders möchte ich jedoch betonen, dass auch
der sogenannte mässige Alkoholgenuss für Epileptiker von
entschieden nachteiliger Wirkung ist. In diesem Punkte
stimmen die Erfahrungen aller kompetenten Beobachter über¬
ein. Wenn auch der tägliche Genuss eines gewissen Alkohol¬
quantums unmittelbar keine auffälligen Erscheinungen hervor-
ruft, so zeigt doch ein Vergleich alkoholfreier Perioden mit
solchen des Alkoholgenusses, dass auch der Konsum mässiger
Alkoholquantitäten Zahl und Intensität der Anfälle steigert. In
den Anstalten für Epileptische wird auch beobachtet, dass
manche Kranke während des Aufenthaltes in denselben von
Anfällen fast verschont bleiben, nach der Rückehr in ihre
häuslichen Verhältnisse jedoch alsbald wieder von zahlreichen
Anfällen heimgesucht werden, wobei die Wiederaufnahme des
Alkoholgenusses die Hauptrolle spielt. Diese Tatsachen er¬
klären sich zum grossen Teil wenigstens aus dem Umstande,
dass sehr viele Epileptische eine geringe Toleranz für Alkohol
besitzen. Hiezu kommt, dass wie bei Neurasthenischen auch
bei Epileptischen ungünstiges momentanes Befinden, insbe-
sonders Depressionszustände, zur Benützung des Alkohols als
Stimulans Veranlassung geben, wobei die anfänglich hin¬
reichende Quantität im Laufe der Zeit infolge der Gewöhnung
mehr und mehr gesteigert werden muss.
Unter den epileptischen Anfällen begegnen wir einer Form,
in welcher Alkoholexzesse sinnlosester Art eine ganz auffällige
Rolle spielen. Es sind dies die als Dipsomanie beschriebenen
Zustände, bei denen es sich nach den Beobachtungen K r ä p e -
lins, Aschaffenburgs, Smiths und insbesonders den
eingehenden Untersuchungen Gaupps15) um Anfälle psy¬
chischer Epilepsie handelt, bei welchen ein einleitender Ver-
stimmungszustand den Trieb zum fortwährenden Genüsse
geistiger Getränke weckt. Im Anfall besteht mehr oder
weniger ausgesprochene Bewusstseinstrübung oder entwickelt
sich allmählich solche. Die Anfälle variieren in ihrer Dauer
von einigen Tagen bis zu mehreren Wochen und enden gewöhn¬
lich spontan.
Neben den Dipsomanen, welche auch andere Erschei¬
nungen der Epilepsie darbieten, mangelt es nicht an solchen,
bei welchen der dipsomanische Anfall die einzige Aeusserung
des Leidens bildet. Letztere Fälle haben vielfach zu Miss¬
deutungen Anlass gegeben. Endlich kommt noch in Betracht,
dass die Epilepsie auch das Auftreten pathologischer Rausch¬
zustände begünstigt, die für das Individuum dadurch verhäng¬
nisvoll werden können, dass sie zu kriminellen Akten führen.
Wenn wir das Angeführte überblicken, so lässt
sich nicht verkennen, dass der Alkoholismus in der
Aetiologie der Neurosen einen höchst gewichtigen Fak¬
tor bildet, höchst gewichtig nicht nur wegen der Häufig¬
keit seiner Einwirkung, sondern auch wegen der Schwere
seiner Folgen. Er kann ohne Prädisposition zur Neurasthenie
führen, bei Hereditariern die Entwicklung der epileptischen
Veränderung bedingen und eine bestehende Epilepsie ausser¬
ordentlich verschlimmern, die hysterische Konstitution steigern
und das Auftreten akuter leichter wie schwerer hysterischer
Zufälle verursachen, auch auf die Angst- und Zwangsneurose
einen sehr ungünstigen Einfluss äussern. Gemeinschaftlich
allen diesen Neurosen ist gewissermassen, dass sie die Neigung
zum Alkoholmissbrauch fördern. Hieraus ergeben sich für
unser Handeln in der Praxis einige Fingerzeige. Man braucht
nicht Vertreter der strikten Alkoholabstinenz zu sein, um einzu¬
sehen, dass bei allen Neurosen der Verzicht auf geistige Ge¬
tränke das für den Patienten Vorteilhaftere ist; doch ergeben
sich bezüglich der einzelnen Neurosen Unterschiede speziell in
Bezug auf den sogenannten mässigen Alkoholgenuss. Während
man bei der Epilepsie durch die Gestattung gelegentlicher mäs¬
siger Alkoholquantitäten schon schaden mag, ist dies bei der
Hysterie, gewissen Formen der Neurasthenie sowie der
Zwangs- und Angstneurose nicht zu befürchten, und der Arzt
kann hier, ohne sein Gewissen zu belasten, mitunter kleine
Konzessionen machen. Dagegen scheint mir die Zulassung des
28. August 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1701
habituellen massigen Alkoholgenusses bei allen Neurosen mit
Rücksicht auf den heutigen Stand unserer Kenntnisse der Al¬
koholwirkung gleich unratsam. Mehr und mehr drängt die
neuere Forschung zu der Annahme, dass bei den verschiedenen
Neurosen I oxinwirkungen eine wesentliche Rolle spielen, und
die Aufgabe, die wir hier zu lösen haben, wird uns jedenfalls
erschwert, wenn wir die ständige Zufuhr eines toxischen Agens
von der Art des Alkohols gestatten.
Aus dem hygienisch-bakteriologischen Institut der Universität
Erlangen (Direktor: Prof. Dr. Heim).
Studien mit einem neuen Hemmungskörper.
Fünfte Mitteilung
von Dr. Wolfgang Weichardt, Privatdozent.
Wie Verfasser in No. 1 1906 dieser Wochenschrift mit-
geteilt hat, entstehen bei mässiger Erschütterung von Eiweiss,
z. B. mittels Elektrolyse oder mittels Einwirkung von Reduk-
tions-, sowie von Oxydationsmitteln Antigene. *)
Wie Verfasser ferner in der Sitzung des ärztlichen Bezirks¬
vereins zu Erlangen am 19. Februar 1906 (cf. No. 23 dieser
Wochenschrift) mitzuteilen in der Lage war, ging eines Tages
zufällig die Temperatur der zur Herstellung dieser Antigene
bestimmten Mischung höher als beabsichtigt war — bis zum
Siedepunkte. Hierdurch hatte die Flüssigkeit entgegengesetzte
Eigenschaften angenommen, sie wirkte deutlich antitoxisch. Es
war also infolge des Erhitzens der toxinhaltigen Mischung zum
Sieden ein Hemmungskörper gegen das Ermüdungstoxin ent¬
standen.
Da nun ähnliches bereits auf einem ganz anderen Gebiete,
auf dem der Fermente, beobachtet worden ist, besonders von
Schülern Hofmeisters, die z. B. nach Erhitzen von Pepsin¬
lösung einen Körper auftreten sahen, welcher Pepsinwirkung
aufzuheben imstande war2), so wurde der obige Versuch
Ermüdungstoxin gewonnene Antitoxin, wie sich bei Wieder¬
holung der früher beschriebenen Versuche, die mit der dort
angegebenen Technik ausgeführt wurden, herausstellte.
Als Paradigma dieser Versuche möge an dieser Stelle der
von mir bis dahin des genaueren noch nicht beschriebene Ver¬
such mit kolloidalem Palladium besprochen werden.
Das kolloidale Palladium, welches mir in liebenswürdiger
Weise von Herrn Prof. Paal zur Verfügung gestellt wurde,
hat, wie letzterer u. a. angibt 3), die Eigenschaft, Wasserstoff zu
aktivieren. Hiernach wirkt derselbe stark reduzierend.
Schon früher konnte Verfasser zeigen, dass mittels des
kolloidalen Palladiums, ebenso wie durch andere Reduktions¬
mittel aus Eiweissmolekülen Antigene abgespalten werden.
Derselbe Vorgang spielt sich aber auch ab, wenn frisches kol¬
loidales Palladium Tieren injiziert wird. Die Tiere werden
dann nach kurzer Zeit schlaff und müde, ihre Körpertemperatur
sinkt, ihre Atmung wird verlangsamt, ja es kann nach Injektion
von nicht zu geringen Dosen zum Stillstand der Atmung
kommen4) (s. No. 26 d. Wochenschr. : Demonstration im ärztl.
Bezirksverein zu Erlangen am 19. Februar 1906).
Versuch: Von zwei Mäusen erhielt die eine kleine Mengen des
neuen Hemmungskörpers 24 Stunden lang mit ihrem Futter, dann
jede der beiden 0,2 g ganz frisch bereiteten kolloidalen Palladiums in
a) 15 g schwere Maus,
4 Stdn. nach intraperitonealer
Injektion von 0,2 ccm frisch
hergestellten Pallad. colloidale.
Technik.
b) 15 g schwere, mit dem Hemmungskörper immunisierte Maus, 4_Stdn. nach Injektion der gleichen Dosis desselben Pallad. colloidale.
c) Aktive Immunisierung. ^Maus, 17 g schwer, 2\24 Stunden nach Injektiou von 0,3 g schwach^wirkenden colloidalen Palladiums.
wiederholt und in der aufgekochten Mischung von gleicher Zu¬
sammensetzung wiederum eine nicht unbeträchtliche Menge
des neuen Hemmungskörpers festgestellt. Derselbe ist dialy-
sabel, in Azeton unverändert löslich und zeigt beim biologischen
Versuch ähnliche Eigenschaften, wie das durch Injektion von
D Antigene = antikörperbildende Substanzen.
2) Beiträge zur ehern. Physiologie u. Pathologie. Bd. VII.
die Bauchhöhle gespritzt. Nur die nicht vorbehandelte Maus er¬
müdete unter Verlangsamung der Atmung, wie durch die beistehende
kurze Gastroknemiusermüdungszuckungskurve (Kurve a) mit ihrem
schnell abfallenden Hubhöhen sehr deutlich illustriert wird5).
3) cf. Paal: Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft.
Jahrg. XXXVII, 124, XXXVIII, 1398, 1406.
4) Kolloidale Palladiumpräparate wirken, auch wenn sie frisch
und stets in ganz gleicher Weise hergestellt sind, nicht immer gleich
1/02
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
Die andere, durch den Hemmungskörper geschützte Maus blieb
nach der Injektion des kolloidalen Palladiums munter, ihre Atmung
änderte sich nicht und die Gastrocnemiuszuckungskurve glich der
Kurve einer normalen, nicht ermüdeten Maus mit langsam abfallen¬
den Hubhöhen. (Kurve b.)
Aus diesem Versuche geht hervor, dass der neue Hem-
mungskörper geeignet ist, die Wirkung der durch das kolloidale
Palladium im lebenden Tiere aus Eiweissmolekülen abgespal¬
tenen Antigene zu verhindern.
Ferner spricht für die Auffassung, dass frisch hergestelltes
kolloidales Palladium, Tieren injiziert, aus deren Eiweissmole¬
külen Antigene abspaltet, die Tatsache, dass es gelingt, mit ge¬
ringen, nicht schädigenden Dosen des kolloidalen Palladiums
die Tiere in unserem Sinne aktiv zu immunisieren.
Kurve c stammt von einer Maus, der zweimal 24 Stunden
vorher eine derartige geringe, die lebenden Zellen nicht schädi¬
gende Menge kolloidalen Palladiums injiziert worden war.
Diese Kurve zeigt infolge der mit kolloidalem Palladium herbei-
geftihrten aktiven Immunität viel höhere Endwerte der Hub¬
höhen. Gleiche Aktivimmunzuckungskurven erhält man von
Mäusen, die 48 Stunden vorher mit geringen Dosen Ermüdungs¬
toxin injiziert worden sind.
Uebrigens finden sich toxische Abspaltungsprodukte der
Eiweissmoleküle sicherlich viel häufiger, als man bisher an¬
zunehmen geneigt war. Verf. hat auch schon wiederholt
darauf hingewiesen, dass dieselben als 1 eilgifte bekannter
Endotoxine0) biologisch nachgewiesen werden können.
Ja sogar echte wasserlösliche Toxine scheinen von diesen
so streng charakterisierten, so leicht und in so einfacher Weise
aus den Eiweissmolekülen sich abspaltenden Teilgiften nicht
immer frei zu sein.
So lassen sich die Wirkungen solcher Teilgifte, wie Ver¬
fasser in jüngster Zeit feststellen konnte, sogar bei Giftkom¬
plexen mit überaus deletär wirkenden Komponenten, z. B. bei
manchen Schlangengiften, zur Anschauung bringen, wenn man
sich des bis zu einem gewissen Grade, wie es scheint, elek-
tiven Konjunktivalfilters der Versuchstiere bedient.
Wird zwei kleineren, unter 15 g schweren Mäusen, von
denen die eine durch Zufügen einer geringen Quantität unseres
neuen Hemmungskörpers zum Futter 48 Stunden lang per os
immunisiert worden ist, ein minimales Quantum eines solchen
Schlangengiftes in wässeriger Lösung vorsichtig in die Augen
gebracht, so lässt sich die Wirkung des Hemmungskörpers
schon im Verlaufe der nächsten Stunden an dem Verhalten
der beiden Tiere nachweisen: die nicht vorbehandelte Maus
bekommt Verlangsamung der Atmung und die mit Hilfe der
schon früher von mir angegebenen Kriterien ') feststellbaren
Zeichen von Ermüdung. Die Atmung der mit dem Hemmungs¬
körper per os passiv immunisierten Maus ist dagegen, wie das
sonstige Verhalten des Tieres, unverändert geblieben. Wird
nun die Einträufelung des Schlangengiftes wiederholt, so treten
die Unterschiede noch deutlicher hervor. Bei öfterer Wieder¬
holung durchdringen freilich endlich auch die schwer deletären,
durch unseren Hemmungskörper nicht mehr zu beeinflussenden
Komponenten des Schlangengiftes das Konjunktivalfilter. Die
Tiere sterben dann unter Krämpfen bezw. an Lähmungen.
Nach einer Reihe derartiger Versuche mit dem Giftkom¬
plexe des Schangengiftes stellte Verfasser ähnliche Versuche
mit anderen Giftkomplexen an, besonders mit den Endo¬
toxinen der Tuberkelbazillen.
In diesen Tuberkelbazillenendotoxinen ist ein Teilgift,
welches dem unter normalen Verhältnissen entstehenden Er¬
müdungstoxin (Eiweissabspaltungsantigen) insofern ganz be¬
sonders ähnelt, als es in recht weitgehender Weise von unserem
neuen Hemmungskörper beeinflusst wird. Auch das kann mit
Hilfe des Konjunktivalfilters an Mäusen gut zur Anschauung ge¬
bracht werden. Allerdings muss man dazu öfter nicht zu
stark. Es ist bisher noch nicht gelungen, den Grund hierfür äufzu-
finden. Doch sind mit ganz reinen Reagentien hergestellte Präparate
im allgemeinen stärker und gleichmässiger. Verunreinigungen wie
z. B. von Arsen scheinen geradezu als Paralysatoren zu wirken.
s) Technik cf. Serolog. Studien auf d. Gebiete der experim.
Therapie. Stuttgart, bei Eerd. Enke, 1906.
B) cf. No. 16 dieser Wochenschr. 1906.
7) Serolog. Stud. etc. p. 23,
kleine Dosen von Tuberkulin in die Augen von Mäusen ein-
bringen, die nicht zu gross (10 — 15 g schwer), lebhaft und die
zum Teil unvorbehandelt, zum Teil 48 Stunden per os mit
unserem Hemmungskörper immunisiert worden sind.
Injektionsversuche eignen sich weniger, weil bei ihnen die
Wirkung der deletären, durch unseren Hemmungskörper nicht
zu beeinflussenden Teilgifte der Tuberkelbazillen in den Vor-
dergund tritt. Immerhin liess sich ein bis zu einem gewissen
Grade dadurch erlangter Schutz bei grösseren Versuchsreihen
nicht verkennen; denn die vorbehandelten, im übrigen normalen
(nicht tuberkulösen) Tiere zeigten ein geringeres, mitunter
sogar kein Herabgehen der Körpertemperatur nach Injektion
nicht zu geringer Mengen von Tuberkelbazillenendotoxinen.8)
Im höchsten Grade auffallend war aber
dem gegenüber der Schutz durch unseren
Hemmungskörper gegen Temperaturerhöh¬
ungen tuberkulöser Versuchstiere, wie sie
erfahrungsgemäss einzutreten pflegen, wenn
Tuberkelbazillenendotoxine bei tuberku¬
lösen Individuen in den Kreislauf kommen.
In der Tat scheint fast ausnahmslos die Temperatursteige¬
rung nach der erstmaligen Tuberkulininjektion wegzufallen,
wenn die erkrankten Individuen durch Aufnahme des neuen
Hemmungskörpers per os geschützt worden sind.
Eine ansehnliche Reihe von fieberfrei verlaufenen erst¬
maligen probatorischen Tuberkulinimpfungen, welche Herr
Distriktstierarzt F 1 u h r e r in Gräfenberg an sicher tuber¬
kulösen Rindern aller Stadien, die vorher mit dem Hemmungs¬
körper per os immunisiert worden waren, anstellte, legt von
dieser Eigenschaft unseres Hemmungskörpers Zeugnis ab.
Herr Distriktstierarzt F 1 u h r e r wird in einer demnächst
erscheinenden Veröffentlichung: „Ueber die Wirkungen des
W e i c h a r d t sehen Hemmungskörpers bei Tuberkulininjek¬
tionen“ die Einzelheiten seiner Beobachtungen darlegen.
Auch einige sicher tuberkulöse menschliche Individuen
haben bereits ebenso prompt und in gleicher Weise reagiert,
d. h. also, es blieb bei ihnen nach der erstmaligen Tuberkulin¬
impfung ein Temperaturanstieg aus, wenn sie vor der
Injektion einige Gramm des neuen Hemmungskörpers ein¬
genommen hatten.
Dieses im hohen Grade bemerkenswerte Wegfallen der
Temperaturerhöhung ist zweifellos so zu erklären:
Durch den dialysierbaren Hemmungskörper der, wie Ver¬
fasser schon früher nachgewiesen hat, die Magenwände leicht
und schnell durchdringt, werden Teilgifte der in das Blut ge¬
langenden Tuberkelbazillenendotoxine abgefangen, so dass
deren temperaturerhöhende Wirkung aufgehoben ist.
Dieser, wie es scheint, mit nahezu mathematischer Sicher¬
heit eintretende Vorgang deutet auf eine eventuelle thera¬
peutische Verwendung des neuen Hemmungskörpers hin.
Aus dem pathologischen Institut der Universität Freiburg i. B.
(stellvertretender Direktor: Privatdozent Dr. E. G i e r k e).
Giebt es einen intestinalen Ursprung der Lungen¬
anthrakose ?
(Vorläufige Mitteilung.)
Von Dr. Walter H. Schultz e, Assistent am Institut.
Vor kurzem haben zwei Schüler Calinettes, Van-
steenberghe und G r y s e z, die bekannte V i 1 1 a r e t sehe
Lehre vom intestinalen Ursprung der Lungenanthrakose, ge¬
stützt auf Tierexperimente, wieder zur Geltung bringen wollen.
Bei Kaninchen und Meerschweinchen, denen sie Kohle oder
chinesische Tusche unter das Futter mischten oder bei denen
sie diese Substanzen direkt mit der Schlundsonde in den Magen
brachten, konnten sie eine Ablagerung der Substanzen nur in
der Lunge auffinden, während alle übrigen Organe, auch die
Mesenterialdrüsen, wenigstens bei älteren Tieren vollständig
8) Geeignetere Präparate für diese Injektionsversuche mit Tu¬
berkelbazillenendotoxinen werden erhalten, wenn man Tuberkulin II
gegen fliessendes steriles destilliertes Wasser dialysiert und die nicht
dialysablen Bestandteile injiziert.
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1703
frei blieben. Dasselbe Resultat erzielten sie durch intraperi¬
toneale Injektion. Schon 24 bis 48 Stunden nach der Injektion
eines einzigen Kubikzentimeter chinesischer Tusche in die
Bauchhöhle konnten sie eine körnige Anthrakose der Lunge
und der tracheo-bronchialen Lytnphdrüsen bei Freisein aller
übrigen Organe nachweiseti. Auf Grund dieser Experimente
kamen die französischen Autoren zu der Ansicht, dass die
Lungenanthrakose nicht, wie man gewöhnlich annimmt, durch
Inhalation der in der Luft suspendierten Russ- und Kohle¬
teilchen entstände, sondern durch Resorption vom Darmkanale
aus. Die verschluckten Kohleteilchen sollen die normale Darm¬
wand durchdringen, Lymphgefässe, Mesenterialdrüsen und
Ductus thoracicus ungehindert passieren und über die Venen
und das rechte Herz in die Lunge gelangen, erst hier zu dauern¬
der Ablagerung kommen. „L’anthracose physiologique est
due, dans la plupart des cas, ä l’absorption intestinale des parti-
cules charbonneuses.“
Bei der Wichtigkeit, die diese Resultate für die ganze Frage
der Lungenanthrakose und die damit eng verbundene Frage
nach der Entstehung der Lungentuberkulose und dem Eintritts¬
ort des Tuberkulosebazillus haben, schien es mir wert, die
Versuche der Franzosen einer Nachprüfung zu unterziehen.
Ist es Tatsache, dass die Darmschleimhaut für so grosse korpus¬
kulare Elemente, wie es Tusche- und Kohleteilchen sind, durch¬
gängig ist, so ist eine korpuskulare Aufnahme von Fett und
eine Durchgängigkeit von Bakterien wohl mit Leichtigkeit vor¬
stellbar, Punkte, über die noch zahlreiche Meinungsver¬
schiedenheiten herrschen. Entsteht die Lungenanthrakose tat¬
sächlich in den meisten Fällen vom Darm aus, dann kommt ein
wichtiges Beweismittel in Wegfall, das von den Anhängern der
Inhalationslehre der Lungentuberkulose immer zur Stütze ihrer
Ansicht angeführt wird, die Tatsache nämlich, dass mit der
Luft feinste Teilchen bis in die Alveolen gelangen, gleiches also
auch vom Tuberkelbazillus angenommen werden muss.
Eine ausführliche Besprechung meiner Versuche und die
dabei erzielten Ergebnisse beabsichtige ich an anderer Stelle zu
veröffentlichen. Hier möchte ich nur in Kürze die wichtigsten
Resultate mitteilen. Auf die Inhalationsversuche, die V. und
G. ebenfalls angestellt haben, möchte ich nicht eingehen, da ich
selbst keine Inhalationsversuche gemacht habe und die der
Franzosen bei den unnatürlichen Verhältnissen, unter denen
sie unternommen wurden, mit ihrem negativen Ergebnis in
keiner Weise gegenüber den ausgedehnten, exakten Versuchen
Arnolds in die Wagschale fallen können.
Nach intraperitonealer Injektion konnte ich für die zeit¬
lichen und örtlichen Verhältnisse in der Ablagerung der ein¬
geführten körperlichen Elemente ungefähr die gleichen Tat¬
sachen feststellen, wie sie unlängst in einer Arbeit von Mus-
catello niedergelegt sind. Tuscheteilchen, die ich in die
Bauchhöhle injizierte, konnte ich sehr bald in der Lunge wieder¬
finden, eine besondere Prädisposition der Lunge in der Ab¬
lagerung der Teilchen niemals konstatieren. Im Gegenteil ent¬
hielt die Lunge viel weniger Körperchen als z. B. die Milz und
Leber, die nach intraperitonealer Injektion die Tusche immer
am reichlichsten enthalten. Die Verteilung der nach Passieren
des Ductus thoracicus von der Bauchhöhle aus in das Blut
gelangten Teilchen ist genau dieselbe, wie bei direkter Injektion
von Tusche in die Venen, wie wir es durch Versuche von
Ponfick, Hoffmann und Langerhans wissen.
Nach Fütterungen von Kohle, Zinnober und Tusche bei
Kaninchen und Meerschweinchen konnte ich nach gewisser Zeit
die Teilchen in der Lunge und nur hier wiederfinden, während
alle anderen Organe, auch die Mesenterialdrüsen, vollständig
frei waren. Schon das spricht dafür, dass die Körperchen nicht
auf dem Blutwege in die Lunge gelangt sein können, was doch
geschehen müsste, wenn sie vom Darm aus resorbiert würden;
denn dann müsste man die Teilchen auch in anderen Organen
auffinden, da ein grösserer Teil stets die relativ weiten Lungen¬
kapillaren passieren würde. Ausserdem konnte ich bei der
mikroskopischen Untersuchung der Lungen stets reichlich
Kohlepartikelchen im Bronchiallumen auffinden, in Zellen ein¬
geschlossen, ferner in Alveolarepithelien und im interstitiellen
Gewebe, kurz das Bild der physiologischen Anthrakose, wie
man es experimentell durch Inhalation auch beim Tier erzielen
kann, während sich durch Injektion in das Blut eine derartige
Ablagerung in der Lunge nie erreichen lässt. Einen weiteren
Beweis, dass die Tiere bei derartigen Fütterungen tatsächlich
inhalieren, konnte ich dadurch geben, dass ich bei einem Kanin¬
chen 2 Monate lang durch eine Gastrotomieöffnung die Teil¬
chen einführte. Dieses Tier wies bei der Sektion in der Lunge
keine Ablagerung der Substanzen auf.
Aus meinen Ergebnissen lassen sich also die Resultate der
Franzosen sehr gut erklären. Sowohl nach intraperitonealer
Injektion wie nach Fütterung kann man Kohleteilchen in der
Lunge wiederfinden. Bei der ersten Versuchsanordnung ent¬
steht aber keine echte Lungenanthrakose. Bei Fütterung ent¬
steht die Lungenanthrakose durch Inhalation. Die Versuche
von Vansteenberghe und Grysez können demnach
die Lehre von der Lungenanthrakose nicht erschüttern, sondern
vielmehr befestigen.
Der Umstand, dass man bei einfacher Fütterung von kohle¬
haltiger Nahrung Kohleteilchen stets in der Lunge wiederfindet,
also dadurch eine gleichzeitige Inhalation bei der Fütterung be¬
wiesen ist, gibt zu denken Anlass und zeigt, wie vorsichtig man
in der Verwertung und Beurteilung von Fütterungsexperimen-
ien sein muss. So sind auch die neuen Versuche Calmettes,
der bei Ziegen Lungentuberkulose nach Einbringen von Tuber¬
kelbazillen mittels Schlundsonde in den Magen beobachtete,
ohne irgend eine Erkrankung des Darmtraktus oder der Mesen¬
terialdrüsen, auf Inhalation verdächtig, denn auch bei Ein¬
führung durch die Schlundsonde ist man vor Inhalation nicht
geschützt, wie ich mich selbst an einem Versuche überzeugen
konnte. Aehnliche Einwände Hessen sich auch gegenüber den
Resultaten anderer Forscher erheben. Nur Experimente mit
völliger Ausschaltung der Inhalationsmöglichkeit können be¬
weisend sein.
Dass die Arbeit von V. und G., wie ich vermutete, als
Beweismittel von den Gegnern der Inhalationsentstehungslehre
der Lungentuberkulose benützt werden würde, ersah ich kürz¬
lich aus einer Diskussionsbemerkung Römers, von der ich
erst nach Abschluss meiner Experimente durch die Liebens¬
würdigkeit von Herrn Prof. A s c h o f f Kenntnis erhielt. An¬
lässlich eines Vortrages von A s c h o f f in der Sitzung der Ge¬
sellschaft zur Beförderung der gesamten Naturwissenschaften
zu Marburg vom 13. Juni 1906 „Ueber Untersuchungen des
Herrn Dr. B e n n e c k e, die Einwanderung von Russ in die
Lungen betreffend“, referierte R ö m e r die Versuche der Fran¬
zosen in eingehender Weise und machte sie gegen die Resultate
A s c h o f f s, die hauptsächlich eine Bestätigung der Arnold-
schen Experimente über Staubinhalation ergeben, geltend.
A s c h o f f hat dann in treffender Weise auf alle schwachen
Punkte der französischen Arbeit hingewiesen und sich beson¬
ders gegen deren Inhalationsexperimente gewandt. Ich freue
mich, dass ich durch meine Versuche die damals ausge¬
sprochenen Vermutungen Aschoffsin fast allen Punkten be¬
stätigen kann.
Wegen einzelner Ergebnisse, die ich bei Ausführung meiner
Versuche erzielte, Ablagerung von Tusche in den Mesenterial¬
drüsen bei intraperitonealer Injektion und in den P e y e r sehen
Plaques bei Fütterung, muss ich auf meine demnächst er¬
scheinende ausführliche Mitteilung verweisen.
Literatur:
1. Arnold: Untersuchungen über Staubinhalation und Staub¬
metastase. Leipzig 1885. — 2. Asch off: Sitzungsberichte der
Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Naturwissenschaften.
Marburg. No. 6, 1906. — 3. Calmette et Guerin: Origine in¬
testinale de la tuberculose pulmonaire. Annales de l’institut Pasteur.
19, 1905, pg. 601. — 4. Muscatello: Ueber den Bau und das Auf¬
saugungsvermögen des Peritoneums. Virchows Arch. 152, 1895. —
5, Römer: cf. Aschoff. — 6. Vansteenberghe et Grysez:
Sur l’origine intestinale de l’anthracose pulmonaire. Annales de
l’institut Pasteur XIX, 12, 1905.
1704
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
Aus der chirurg.-orthopäd. Klinik des Geh. Medizinalrat Prof.
Dr. Albert Hoffa in Berlin.
Der Verlauf der intramuskulären Nervenbahnen und
seine Bedeutung für die Sehnenplastik.
Von Dr. Gustav Albert Wollenberg, Assistent.
Jedem Operateur, der sich zum Ersatz gelähmter Muskeln
der Funktionsübertragung durch Teilung des Kraftspenders,
also der partiellen absteigenden Ueberpflanzung, bedient hat,
wird gelegentlich die Inkongruenz seiner Erwartungen und der
tatsächlichen Operationsresultate aufgefallen sein.
Die erreichten Resultate kann man in 3 Gruppen einteilen:
1. Der abgespaltene Teil lernt es, selbständig zu
arbeiten.
2. Der abgespaltene Teil arbeitet mit dem Hauptteil zu¬
sammen.
3. Der abgespaltene Teil wird funktionsunfähig, d. h. er
macht nur passiv die Bewegungen des Hauptteiles mit, ohne
sich selbst zu kontrahieren.
Die erste von diesen 3 Möglichkeiten ist gewiss die sel¬
tenere. Lange1) kommt bei der Untersuchung seiner
Operationsresultate bezüglich der Selbständigkeit des abge¬
spaltenen Muskelteiles sogar zu dem Ergebnis, dass schein¬
bar nur beim Tibialis anticus es vorkomme, dass der abge¬
spaltene Teil unabhängig vom Hauptteile arbeiten lerne,
während bei den vielen anderen Muskeln, von welchen er ab¬
gespalten und verpflanzt habe, bisher nie funktionelle Selbst¬
ständigkeit beobachtet werden konnte.
Was die zweite der angeführten Möglichkeiten betrifft,
so ist diese als die häufigste Folge der Muskelabspaltungen zu
bezeichnen. Wurde die partielle Ueberpflanzung auf einen
funktionsverwandten Muskel gemacht, so ist dieses Operations¬
resultat, also die Mitbewegung des überpflanzten Teiles mit
dem Hauptmuskel, immerhin als ein brauchbares zu be¬
zeichnen; die Verhältnisse liegen dann ähnlich, als wenn wir
lediglich einen Sehnenzipfel — ohne Spaltung des Muskel¬
bauches — auf den Kraftnehmer verpflanzt hätten. Wurde
aber der Muskelsehnenzipfel auf einen Antagonisten ver¬
pflanzt, so ergibt sich bei jeder Muskelaktion eine Bewegung
des Kraftspenders und seines Antagonisten zugleich ■ — also
Bewegungen, welche sich gegenseitig aufheben, wenn beide
Muskelteile gleich kräftig arbeiten, während bei Ueberwiegen
eines der beiden Muskelteile eine Stellungsanomalie des be¬
treffenden Gliedes resultiert. Wir haben also im ersteren Falle
nur eine tendinöse Fixation in günstiger Stellung zu erwarten,
im letzteren aber weit ungünstigere Verhältnisse.
Das an dritter Stelle genannte Resultat, die Funktions¬
unfähigkeit des abgespaltenen Muskelzipfels, ist zum Glücke
nicht so sehr häufig, aber man beobachtet es doch hin und
wieder. Es beruht, wie ich annehme, auf einer durch die Spal¬
tung des Muskels verursachten Unterbrechung der intramusku¬
lären Nervenbahnen, derart, dass die Nervenanastomosen nicht
für die Innervation des abgespaltenen Muskelbauches ausreichen.
In diesem Falle liegen die Verhältnisse natürlich noch weit
schlechter, als wenn wir lediglich einen Sehnenzipfel abge¬
spalten hätten; denn der gelähmte Muskelbauch des abge¬
spaltenen Zipfels verfällt der Atrophie; er ist dehnbar und
nachgiebig und bildet kein festes, brauchbares Bindeglied
zwischen dem ursprünglichen Kraftspender und der Sehne des
Kraftnehmers.
Obwohl man nun natürlich stets Muskeln zur Funktions¬
teilung durch hohe Abspaltung heranzieht, deren Intaktsein
durch die klinische Untersuchung und durch die Autopsie
während der Operation gewährleistet ist, so kann man doch
meistens nicht Vorhersagen, welche der drei oben erwähnten
Möglichkeiten im Einzelfalle tatsächlich eintreten wird. Dieser
Umstand hat bei vielen Operateuren die partielle Muskelab¬
spaltung in Misskredit gebracht.
Obwohl ich persönlich die partielle Verpflanzung, wenig¬
stens die Bildung von Muskelsehnenlappen, jetzt fast gar nicht
mehr anwende, habe ich mich eingehender mit den uns hier
interessierenden Fragen beschäftigt. Ich habe nach Gründen
für die Verschiedenheit unserer Resultate gesucht und bin
J) Lance: Die Sehnenverpflanzung. 2. Kongress der Deutschen
Gesellschaft f. orth. Chir. 1903. F. Enke. Stuttgart.
zu der Ueberzeugung gekommen, dass der Verlauf der intra¬
muskulären Nervenbahnen für die in Rede stehenden Ope¬
rationsresultate von grösster Bedeutung ist. Wenn wir auch
den genaueren Verlauf der Nervenbahnen im Muskel nicht
kennen, so haben wir doch gewichtige Anhaltspunkte für
denselben :
In den meisten Organen des Körpers verlaufen die Haupt-
nervenäste zusammen mit den Hauptgefässen ; ich habe nun
zahlreiche Schnitte durch verschiedene Muskeln gemacht und
konnte an den mikroskopischen Präparaten sehen, dass auch im
Muskel die Nerven fast stets denselben Verlauf nehmen, wie die
Gefässe, und dass beide Gebilde, meist dicht zusammenliegend,
in den gleichen, den Muskel teilenden, bindegewebigen Septen
verlaufen. In einer früheren Arbeit2) habe ich nun die langen
Muskeln der unteren Extremität mit Hilfe des Röntgenver¬
fahrens nach vorheriger Quecksilberinjektion auf den Verlauf
der Arterien hin untersucht und gezeigt, dass die Haupt¬
stämme der Arterien in den Muskeln einen durchaus charak¬
teristischen und scheinbar konstanten Verlauf aufweisen. Bei
Betrachtung der Bilder (ich verweise hierbei auf die Ab¬
bildungen in meiner erwähnten Arbeit) ergibt sich nun, dass
die Mehrzahl der langen Muskeln einen zu ihrer Längsrichtung
quer gerichteten Verlauf der Hauptarterienstämme dar¬
bietet. Nur wenige Muskeln zeigen ausgesprochene Längs¬
richtung der Hauptarterien; ich nenne von letzteren den
M. gracilis und Triceps surae; auch der M. semitendinosus hat
im unteren Drittel einen nach unten gestreckten Hauptast. Als
Beispiele dieser verschiedenen Arten der Gefässversorgung
bilde ich in Fig. 1 den M. biceps femoris mit seinen querge¬
stellten, in Fig. 2 den M. gracilis mit seinen längsgestellten
Hauptarterien ab.
(Abbildungen siehe nächste Seite.)
Da wir uns nun den Verlauf der intramus-
kulären Nervenbahnen in der gleichen An¬
ordnung zu denken haben, so ergibt schon die
blosse Betrachtung der Bilder, dass eine Durchtren¬
nung des Muskelbauches in seiner Längsrichtung bei den
Muskeln mit quergestellten Hauptarterien und -Nerven die
letzteren in viel grösserer Ausdehnung verletzen wird, als bei
den Muskeln mit längsverlaufenden Gefässen und Nerven.
Diese Bilder erklären auch die Willkür, welche in den er¬
reichten Operationsresultaten scheinbar obwaltet; wurden die
Hauptbahnen der intramuskulären Nerven zufällig durch¬
schnitten, derart, dass die Anastomosen nicht mehr für die
Innervation des abgespaltenen Muskelbauches ausreichten, so
muss der letztere mit seiner Sehne lediglich ein passives
Bindeglied zwischen dem Kraftgeber und dem neugeschaffenen
Insertionspunkte werden; wurden diese Nervenbahnen zu¬
fällig nicht durchtrennt, oder nur so weit, dass die feineren
Anastomosen noch eine Reizleitung vermitteln konnten, so
blieb der abgespaltene Muskelteil innerviert.
Es ergibt sich also aus unseren Betrachtungen, dass wir
bei den Muskeln, welche längsverlaufende Hauptgefässe und
-Nerven haben, wenigstens etwas weniger vom Zufall ab¬
hängig sind, obwohl wir den letzteren selbst hier nicht ganz
auszuschalten imstande sind.
Ich habe nun das Verhalten der abgespaltenen Muskel¬
zipfel auf ihren Zusammenhang mit der zentralen Nerven¬
leitung experimentell geprüft; die Versuchsanordnung war die,
dass bei Kaninchen in Narkose die Unterschenkelmuskulatur
freigelegt wurde, ebenso die Nil. tibialis und peroneus. Sodann
wurden zunächst vom Triceps surae, später auch vom Extensor
digitorum und Tibialis anticus, Sehnen-Muskel-Zipfel abgespal¬
ten, w-'obei die Breite und vor allem die Länge der Muskel¬
zipfel variiert wurde. Damit die abgespaltenen Muskelzipfel
nicht zusamenschnurrten und so eine weitere Kontraktions¬
fähigkeit einbüssten, wurden sie durch angebundene Gurmni-
bändchen gespannt gehalten. Nun wurde der den betreffenden
Muskel innervierende Hauptnervenstamm durch eine elek¬
trische Sonde gereizt, wobei beobachtet wurde, ob der Bauch
des abgespaltenen Muskelzipfels mit dem Hauptmuskel zu¬
sammen sich kontrahierte oder ob lediglich eine Mitbewegung
2) Wollenberg: Die Arterienversorgung 'von Muskeln und
Sehnen. Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. XIV., 1905.
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT
1705
des ersteren mit letzterem erzielt wurde; hierbei wurde die Be¬
trachtung mit der Lupe zu Hilfe genommen.
Das Ergebnis dieser Versuche ist nun folgendes:
^astr°knemius zuckte der auf ca. K der Dicke des
Muskels aogespaltene Muskelzipfel bei Spaltung bis etwa zur
Hälfte prompt mit; je höher hinauf die Abspaltung vorgenommen
wurde, desto mehr Substanz vom unteren Bezirk des Muskel¬
zipfels nahm nicht mehr Teil an der Zuckung; wurde der Zipfel
bis nahe an die obere Insertion des Muskels gespalten, so blieb
jede Zuckung desselben aus. Je schmäler die abgespaltenen
Zipfel gewählt wurden, desto früher hörten die Zuckungen im
unteren Bei eiche des Muskelzipfels auf, ohne dass jedoch
direkte Proportionen zwischen Schmalheit des Zipfels und
Fig. 1.
Fig. 2.
Breite des Lähmungsbezirkes obwalteten. An den Muskeln
der Streckseite fanden sich dieselben Verhältnisse, nur schien
es mir, als ob die vollständige Lähmung der abgespaltenen
Muskelzipfel bereits bei weniger hoher Abspaltung, als beim
Gastroknemius, auftrat.
Zur Ergänzung dieser Versuche führte ich noch bei einem
Kaninchen die Verpflanzung eines schmalen Zipfels des Gastro¬
knemius auf die Extensoren aus, und untersuchte die Nerven¬
leitung 3 Tage nach der Operation in der oben geschilderten
Weise. Hierbei ergab sich, dass der Zipfel nur in seinem ober-
No. 35
sten Teil Mitzuckung zeigte. Der abgespaltene Muskelzipfel
war auch direkt in seiner Erregbarkeit durch den galvanischen
Strom herabgesetzt.
Bevor ich nun auf die Schlüsse, die wir aus diesen Ver¬
suchen ziehen können, eingehe, will ich hier gleich einwenden,
dass ja die partielle Unterbrechung der Leitung vom Zentral¬
organ zum abgespalteten Muskel keine dauernde zu sein
braucht, dass sich vielmehr wahrscheinlich mit der Zeit die
Leitung wiederherstellen kann, sei es durch Regeneration neuer
Nervenbahnen oder sei es durch Ausbildung der vorhandenen
Nervenanastomosen. Trotzdem aber müssen wir festhalten,
dass der abgespaltete Muskelzipfel von An¬
fang an bessere Funktionsbedingungen hat,
wenn die zu ihm führenden Hauptnerven¬
bahnen intakt gelassen wurden.
Weiter ist aber hervorzuheben, dass diese Versuche am
Kaninchen nicht ohne weiteres auf den Menschen zu übertragen
sind, denn, wie ich durch Röntgenuntersuchung von mit Queck¬
silber injizierten Kaninchenmuskeln nachweisen konnte, ver¬
laufen die Hauptäste der Arterien, und damit auch die der
Nerven fast alle ziemlich gestreckt von oben nach unten; man
wird also bei Abspaltungen an Kaninchenmuskeln lange nicht
so leicht die Hauptnervenbahnen durchtrennen, als beim Men¬
schen. Bei letzterem liegen also die Verhältnisse noch etwas
ungünstiger. Aus meinen Ausführungen und Versuchen ergibt
sich also, dass sich beim Menschen nur wenige lange Muskeln
der unteren Extremität theoretisch für eine hohe Abspaltung
eignen, nämlich der Gracilis, der Semitendinosus (dieser aber
nur im unteren Drittel), der Gastroknemius und vielleicht auch
die Peroneen und der Tibialis anticus (der hauptsächlich die
Peripherie des Muskelbauches umgreifende Hauptäste hat).
Von allen diesen Muskeln kommt praktisch wohl meistens der
Gastroknemius zur Verwendung, da derselbe langgestreckte,
zahlreiche, von oben nach unten verlaufende Hauptäste hat; bei
allen anderen Muskeln wenigstens ist es kaum möglich, das
blinde Spiel des Zufalles von unseren Operationen fernzuhalten.
Zum Schlüsse will ich noch einmal kurz die Punkte her¬
vorheben, die mir für ein brauchbares Resultat bei Abspaltung
von Sehnen-Muskel-Zipfeln wichtig scheinen:
1. Der abgespaltene Teil darf nicht zu schmal sein.
2. Die Abspaltung darf nicht höher, als bis etwa in die
Mitte des Muskelbauches, geführt werden.
3. Schmälere Muskelzipfel sollen nur bei solchen Muskeln,
die längsgerichtete Hauptnervenbahnen besitzen, angewandt
werden.
Dass die Mobilisation eines zur Verpflanzung kommenden
Muskels nicht über die Mitte des Muskelbauches hinaus vor¬
genommen werden soll, bedarf wohl kaum der Erwähnung;
denn etwa im geometrischen Mittelpunkt des Muskelbauches
treten die Gefässe und Nerven in denselben ein.
Aus der chirurgischen Privatklinik von Dr. A. Krecke in
München.
7 Fälle operativ behandelter hyperplastisch-
stenosierender lleozökaltuberkulose.
Von Dr. H. Baum in München.
Wie sehr der tuberkulöse Ileozoekaltumor auch heute noch
im Vordergründe des Interesses auf dem Gebiete der Darm¬
chirurgie steht, das bezeugen die verhältnismässig zahlreichen
Arbeiten über diesen Gegenstand, welche die Oeffent-
lichkeit erblickten, seit Gonrath im Jahre 1898 eine Zu¬
sammenstellung von 81 bis dahin bekannt gewordenen Fällen
geben konnte. Die Anschauungen, welche C o n r a t h über
das Wesen der hypertrophischen Zoekumtuberkulose vertrat,
die Grundsätze, welche er für die Therapie dieser merkwür¬
digen Erkrankung aufstellte, sind im grossen ganzen leitend
geblieben für diejenigen, welche sich nach ihm mit dem gleichen
Gegenstände des Näheren befassten. Erst in allerneuester Zeit
haben die Ansichten Conraths auf vielen Punkten in W i e -
t i n g einen entschiedenen Gegner gefunden, und abermals ins
Ungewisse gerückt erscheint die befriedigende Antwort auf die
Fragen: sekundäre oder primäre Darmtuberkulose? Infektion
durch die regionären Mesenterialdrüsen oder alimentäre In-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
1706
fektion vom Darm aus? Beginn der Erkrankung auf der
Serosa oder in der Mukosa? Die Verschiedenheit in der Wahl
des vorzunehmenden operativen Eingriffes mag eine Folge
persönlicher Erfahrungen sein. Einstimmigkeit besteht am
ehesten in dem Geständnis der Unmöglichkeit, das Tuberkulom
der Ueozoekalgegend gegen die anderen hier vorkommenden
echten, entzündlichen oder parasitären Geschwulstbildungen
mit Sicherheit diagnostisch abzugrenzen; daran wird auch
die von französischen Autoren in Anwendung gezogene Probe
auf Agglutination von Tuberkelbazillen in homogener Kultur
nichts zu ändern vermögen.
Solange noch eine solche Ungewissheit in der Erkenntnis
der Aetiologie besteht, und man ausserdem klinisch mehr oder
weniger auf eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose angewiesen
bleibt, wird man es nicht zu bedauern haben, wenn immer wieder
kasuistische Mitteilungen bekannt werden; vielleicht gelingt es
dann später doch einmal aus einer grossen Summe von Er¬
fahrungen heraus, den ätiologisch wichtigen Vorgängen wie
den diagnostisch massgebenden Symptomen etwas genauer als
bisher auf die Spur zu kommen.
In Folgendem soll zunächst über zwei Fälle von tuber¬
kulösem Ileozoekaltumor berichtet werden, der die Radikal¬
operation zugängig waren und histologisch untersucht werden
konnten; im Anschluss daran können auch noch 5 weitere Fälle,
bei denen ein weniger energisches Vorgehen angezeigt schien,
eine kurze Besprechung finden.
1. Rosa Q., 12 Jahre alt, stammt aus einer angeblich nicht
tuberkulösen Familie. Vor 6 Jahren bekam sie zum ersten
Male plötzlich heftige Leibschmerzen, vornehm¬
lich in der rechten Unterleibsgegend, mit Er¬
brechen und Fieber; derartige Anfälle wiederholten sich seit¬
dem häufig mit Zwischenpausen von einigen Wochen. Auch in
solchen anfallsfreien Zwischenzeiten bekam Pat. Schmerzen an der
erwähnten Stelle, wenn sie längere Zeit gegangen war. Seit 14
Tagen ist Pat. neuerdings unter starken, ziemlich gleich bleibenden
Schmerzen in der rechten Unterbauchgegend erkrankt; kein Er¬
brechen diesmal, nur sehr herabgesetzter Appetit; Stuhlgang
angeblich nicht gestört, dagegen auffallend häufiger Urin¬
drang. Von früheren Krankheiten ist nur allenfalls eine Augenent-
ziindung erwähnenswert.
Befund: Patientin ist für ihr Alter gehörig entwickelt,
von mittlerem Ernährungszustände, blasser Hautfarbe. Lungen
und Herz ohne Besonderheiten. Das Abdomen ist nicht
aufgetrieben, nur die rechte Fossa iliaca erscheint ein wenig
vorgewölbt; oberhalb des Lig. inguinale fühlt man
daselbst eine Resistenz, über der die Bauchdecken
sehr stark gespannt sind; Pat. zuckt bei der Untersuchung
lebhaft zusammen. Hin und wieder meint man ziemlich weit nach
oben und einwärts von der Spina iliaca ant. sup. einen eiförmigen,
etwas über taubeneigrossen Tumor zu fühlen ; an
dieser Stelle besteht auch die lebhafteste Schmerzempfindung. Die
Zervikaldrüsen sind mässig geschwollen.
Eine 7 tägige Beobachtung fördert nichts wesentlich neues zu
Jage; von Zeit zu Zeit stellen sich heftige Schmerzen in der rechten
Unterbauchgegend ein, namentlich auch auf Druck. Stuhlgang regel¬
recht alle Tage. Einmal wird nach vorn und oben von der Spin. il.
ant. sup. eine strangförmige, 5 cm lange, dem Lig. inguin. parallel
laufende ausserordentlich druckempfindliche Resistenz getastet.
Nähere Aufschlüsse sind wegen der Spannung der Bauchdecken nicht
zu gewinnen. Temperatur unregelmässig, Abends bis
38,5 °, Puls ca. 100.
Narkose: man fühlt in der rechten fossa iliaca etwas unter¬
halb des McBurney sehen Punktes einen über walnuss-
grossen rundlichen Tumor, der sich leicht nach allen
Seiten in mässigen Grenzen verschieben lässt.
Operation am 23. I. 1904: Eröffnung der Bauchhöhle durch
einen dem rechten Lig. inguin. parallel geführten Schnitt; alsbald
kommt die Gegend des Zoekum zu Gesicht und es fällt hier besonders
auf, dass die letzte Dünndarm schlinge ausserordent¬
lich s t a r k v e r d i c k t ist und sich hart und schwer
an fühlt; diese Verdickung erstreckt sich noch bis
etwa 20 cm oberhalb der Valvula ileocoecalis, um
von da langsam geringer zu werden. Das Zoekum
lässt sich nicht genau abgrenzen; der mittlere
Abschnitt des Colon ascendens zeigt sich unver¬
ändert, um dann oralwärts in eine derbe Masse
überzugehen, von der nicht gesagt werden kann,
^ e ^ Zoekum oder der Appendix an gehört.
Nach Durchtrennung eines über die Zoekalgegend
herübergeschlagenen und mit ihr verwachsenen
Netzzipfels sieht man, wie die vordere Tänie des
Kolon in ein Gebilde übergeht, das gut kirschen¬
gross ist und eine etwa dreikantige Form hat, aber
mit Zoekum und Ile um innig verwachsen zu sein
scheint.
Auf Grund der hochgradigen Hypertrophie des Dünndarmes
muss eine Stenose angenommen werden, über deren Natur man sich
auch jetzt noch kein bestimmtes Urteil bilden kann ; vermutungs¬
weise wird sie als das Resultat einer rezidivieren¬
den Appendizitis angesprochen. Eine Exstirpation der
Appendix erscheint, wenn überhaupt ausführbar, nur mit Verletzung
des Dünn- oder Dickdarmes möglich; eine Enteroanastomose würde
wohl die Stenose umgehen, allein es würde die Appendix und damit
ein Herd für immer wiederkehrende Entzündungen Zurückbleiben.
Daher Resektion des ganzen ileozoekalen Ab¬
schnittes: Durchtrennung des Dünndarmes 12 cm oberhalb,
des Dickdarmes 8 cm unterhalb der Klappe und Vereinigung der
offenen Darmrohre End zu End mit doppelter Seidennaht. Vioform-
gazetampon auf die Nahtlinie. Naht der Bauchwunde mit Katgut-
schichtnähten.
Verlauf: Pat. erholt sich ausserordentlich rasch von der
Operation; bereits am 2. Tage erfolgt ordentlicher Stuhlgang, der
von da ab regelmässig bleibt. Anfängliche Druckempfindlichkeit des
Leibes und vermehrter schmerzhafter Urindrang verlieren sich bald;
eine nennenswerte Temperatursteigerung findet nie statt. Am 8. Tage
Entfernung der Fäden und erstmaliger Wechsel des Tampons; unbe¬
deutende Sekretion. Am 15. und 18. Tage kurze aber ziemlich heftige
Anfälle von Leibschmerzen. Am 19. Tage zeigt sich auch die Stelle,
wo der Tampon lag, verheilt; Pat. steht auf, ohne irgend welche
Beschwerden zu bekommen, und wird am 22. Tage entlassen, nach¬
dem sie bereits 2 Pfund zugenommen hat. Seither sind fast 2 Jahre
verflossen; das Mädchen hat eine leistungsfähige Narbe, regel¬
mässigen Stuhlgang, keinerlei Beschwerden, kurz, sie erfreut sich,
wie ich mich jüngst persönlich überzeugen konnte, des denkbar
besten Wohlseins; eine Lungenaffektion konnte
auch bei dieser Nachuntersuchung nicht gefunden
werden.
2. Robert O., 21 Jahre alt (der Klinik überwiesen durch
Herrn Dr. v. Franque), ist früher angeblich immer gesund ge¬
wesen; auch die Familienanamnese ist ohne Belang. Vor 4 Monaten
bekam Pat. etwa 3 — 4 Stunden nach dem Mittagessen heftige,
krampfartige Schmerzen im Leib, die mit laute m
Kollern verbunden waren; dabei war der Leib auf-
g e t r i e b e n, doch sollten Stuhl und Flatus abgegangen sein. Kein
Fieber, kein Erbrechen aber auch kein Appetit; keine Urinbeschwer¬
den. Solche Schmerzanfälle waren zunächst drei Tage
hintereinander vorhanden, dauerten immer einige Minuten, worauf
dann nach vielem Kollern % bis Vz Stunde lang Ruhe war. Es folgten
zwei beschwerdefreie Tage, worauf die Schmerzen wiederkehrten
und seitdem an Stärke mit der Zeit zunehmend als richtige
Kolikanfälle jeden Tag durchschnittlich 10 mal
sich wiederholten; dabei soll der Stuhlgang in den letzten Wochen
sehr häufig und sehr dünn gewesen sein. Abmagerung seit Be¬
ginn der Erkrankung um etwa 6 Pfund.
Befund: Pat. zeigt mittleren Ernährungszustand, blasse
Hautfarbe. Lungen und Herz ohne nachweisbare Ver¬
änderungen. Abdomen zunächst nicht aufgetrieben, mit weichen,
leicht eindrückbaren Bauchdecken; beim Abklopfen des Hypo¬
gastrium wird ein lautes Sukkussionsgeräusch hörbar. Drückt man
nach unten und rechts vom Nabel tief und fest ein, so klagt der Pat.
über lebhaften Schmerz; nach einigem Zuwarten zeigt sich plötzlich
unter heftigen kolikartigen Schmerzen unter¬
halb des Nabels eine bis zur Symphyse reichende,
länglich-rundliche Auftreibung, über der nun¬
mehr die Bauch decken stark gespannt und sehr
di uckempfindlich sind. Nach einigen Sekunden
verschwindet diese Vorwölbung wieder unter
lebhaften quatschenden Geräuschen und Nach¬
lassen der Schmerzen. Die gleiche Erscheinung der Auf¬
blähung und Steifung einer Darmschlinge zwischen Nabel und Sym¬
physe wurde des öfteren beobachtet. Am Schlüsse der stärksten
Kontraktion, wenn schon die Spannung etwas nachlässt, fühlt man
in der rechten Fossa iliaca eine längliche, schlaffe
Geschwulst, die sich mit den Fingern gewisser-
massen verdrücken lässt.
.. . Operation am 27. I. 1904: Längsschnitt neben der Mittel-
lmie, die Fasern des rechten Rektus stumpf durchtrennend. Nach
Eröffnung der Bauchhöhle zeigt sich alsbald eine mindestens
auf das Dreifache erweiterte (doppelte Breite = 12 cm)
F) ii n n da r m schlinge, die letzte Ileumschlinge, in der sich die¬
selben Geräusche hervorrufen lassen, wie vor der Operation durch
Beklopfen des Bauches; die Erweiterung geht genau bis
ans Zoekum heran und verliert sich allmählich
50 cm magenwärts. Das Zoekum selbst erscheint
beträchtlich verdickt mit Auflagerungen der Serosa; ein
peritonealer Strang zieht darüber hinweg, die Beweglichkeit hem-
mend. Zwischen Zoekum und Ileum ragt die Appendix, an der
Basis daumendick, nach der Spitze zu allmählich
dünner werdend, etwa 5 cm lang, wie ein gekrümm¬
ter kleiner Finger starr hervor.
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1707
Resektion der Pars ileocoecalis: Durchtrennung
des Ileuni 10 cm oberhalb des Colon ascendens, 8 cm unterhalb der
Klappe. Verschluss des Kolonstumpfes und seitliche Einfügung des
Ileuniendes mit doppelten Seidennähten. Schluss der Bauchwunde.
Verlauf: Pat. erholt sich erst nur langsam, später ganz
ordentlich von dem Eingriffe. Am 2. Tage gehen Winde, am 4. Stuhl
ab; bis zum 6. Tage noch öfters heftiges Leibweh; von dort an keine
wesentlichen Beschwerden mehr; höchste Temperatur 37,9° am
2. Tage. Entfernung der Fäden am 9. Tage; Wunde reaktionslos ver¬
heilt. Pat. verträgt gewöhnliche Kost anstandslos; Stuhlgang bedarf
immer einer kleinen Anregung. Appetit gut. Am 16. Tage steht Pat.
ohne jegliche Beschwerden auf und wird am 18. Tage bei bestem
Wohlbefinden entlassen.
Eine Nachuntersuchung konnte ich heute, nahezu 2 Jahre später,
leider nicht vornehmen, da O. eine Geschäftsreise nach Wien unter¬
nommen hat: ein wenn auch mangelhafter Beweis für einen be¬
friedigenden Zustand.
Präparat I (siehe Figur) zeigt etwa 7 cm lleum und recht¬
winkelig anschliessend 6 cm Colon ascendens. An Stelle des
Zoekum findet sich ein kleinhühnereigrosser
derber Tumor, in dessen Serosaüberzug kleine
gelbliche Knoten wie halbierte Erbsen ein-
Appendix epip!oica|[
Sonde
in der
Valvula
Dünn¬
darm
Dickdarm
Tumor
i
gelagert sind. Der Ileozoekalwinkel ist ausgefüllt von einer
Masse, die sich zum Teil aus verdickten Appendices epiploicae, zum
Teil aus Resten des adhärent gewesenen Netzes und aus geschwol¬
lenen Lymphdriisen zusammensetzt. Ein Wurmfortsatz
kann nicht entdeckt werden. Bei einem Durch¬
spülungsversuche mit Wasser sickert dieses nur
eben tropfenweise vom Dünndarm nach dem Dick-
darm durch. Besonders auf einem Längsschnitt durch beide
Darmlumina ist zu erkennen, wie sehr die Wand des lleum derb und
verdickt ist; beträgt doch die Stärke der Muskulatur hier 3 mm
gegen 1 mm im Kolon; auch das Lumen des Dünndarmes erscheint
erweitert, während dasjenige des Dickdarms leicht kollabiert ist.
Die Mukosa ist in beiden Darmabschnitten erheblich verdickt und
weist namentlich im Kolon zahlreiche polypenartige Wucherungen auf;
GeschwiVre sind nirgends zu finden. Die Serosa zeigt
eine von beiden Seiten her nach dem Ileozoekalwinkel hin zu¬
nehmende inässige Verdickung. In der Gegend der Val¬
vula gehen alle 3 Schichten des Darmrohres spur¬
los in dem erwähnten Tumor auf, der die Lichtung
des Darmes bis auf zwei für Violinsaiten eben
durchgängige Kanäle verlegt. Die Schnittfläche dieses
Tumors, der sich ausserordentlich derb schneidet, ist ziemlich gleich-
mässig grauweiss glänzend und lässt eine Zusammensetzung aus
narbigen, an den Randpartien parallel verlaufenden, in der Mitte eng
verflochtenen Faserzügen unterscheiden. Die Lymphdriisen sind auf
dem Durchschnitt blass, etwas marmoriert, die Knötchen in der Serosa
gleichmüssig graugelb. Nirgends ist die Spur einer Ver¬
käsung wahrnehmbar.
Der mikroskopische Befund war im wesentlichen
folgender: Die mesenterialen Lymphdriisen sind durch¬
gängig in mässigem Grade vergrössert, zeigen eine verdickte, klein¬
zellig infiltrierte Kapsel und gequollene Follikel mit besonderer Ver¬
mehrung der Zellen im Keimzentrum; in einer Drüse findet sich
ganz diskrete Tuberkelbildung ohne Riesen-
zellen. Zahlreiche aus verschiedenen Stellen des resezierten Darin-
stiickes entnommene Schnitte lassen schon mit unbewaffnetem Auge
eine erhebliche Verstärkung sämtlicher 3 Schich¬
ten erkennen, deren Aufbau unter dem Mikroskop durchaus ver¬
schieden von einander erscheint. Die Mukosa und nament¬
lich auch die Submukosa ist von massenhaften
Leukozyten so dicht wie nur möglich durchsetzt,
so dass stellenweise die Drüsenschläuche förmlich zusammengedrückt
erscheinen und die Darmfollikel als solche nicht mehr zu unter¬
scheiden sind; die Stellen, wo sie zu suchen wären, sind durch Haufen
grösserer blasser Zellen angedeutet. Hier und dort liegen ver¬
einzelte Riesenzellen. Die leukozytäre Infiltration der
Schleimhaut lässt sich weiterhin strichweise in die Muskulatur
hinein verfolgen, parallel oder mehr weniger senkrecht zu den Fasern
verlaufend, entsprechend den Lymphräumen, welche teils selbständig,
teils die Gefässe umscheidend die Muskularis durchziehen.
Diese selber weist namentlich in ihrer zirkulären Schicht echte
Hypertrophie auf, wenn auch ein Teil der Verdickung auf
Kosten zahlreicher zwischengelagerter junger
Bindege webselemente zu setzen ist. Die Grenze zwischen
Ring- und Längsmuskelschjchte ist durch ein dichteres Leukozyten¬
lager ausgezeichnet; hier findet sich auch einmal ein thrombo-
siertes Gefäss mit schon ziemlich vorgeschrittener Organi¬
sation. Die Serosa endlich zeigt eine mässige Vermehrung ihres
Bindegewebes, ebenfalls Leukozyteninfiltrationen, die sich aber hier
besonders in der Nachbarschaft der Gefässe stellenweise zu rund¬
lichen Haufen verdichtet. Die Gefässe, besonders die
Arterien, sind namentlich in ihren beiden inneren
Schichten auffallend verdickt. Ausschliesslich
in der Serosa findet sich nun charakteristische
Tuberkelbildung mit aussseror den Mich schönen
Exemplaren von Riesen zellen; die Tuberkel liegen teils
einzeln, teils zu grösseren Knoten beisammen, die dann makro¬
skopisch den Vergleich mit halbierten Erbsen anregten. Eine Ver¬
käsung ist hier ebenso wenig wie anderswo er¬
kennbar, höchstens dass die Kerne an ihrer Färbbarkeit eingebiisst
haben und hie und da etwas angefressen erscheinen. Da das Prä¬
parat nach der Methode Kaiserling konserviert worden ist, misslang
die Färbung auf Tuberkelbazillen.
Präparat II (siehe Figur) zeigt äusserlich den mächtig er¬
weiterten und verdickten Dünndarm, den schmächtigen Dickdarm; an
der Vereinigungsstelle beider fühlt man einen fast hühnerei¬
grossen derben glatten Tumor, aus dem nach a b -
A. Unaufgeschnitten.
Tumor Appendix
wärts die starre Appendix hervorragt; sonst ist
ausser einigen geschwellten, bis bohnengrossen, auf dem Durch¬
schnitt gelb und braun marmoriert erscheinenden Mesenterialdrüsen
und Netzadhäsionen nichts Besonderes zu sehen. Der Durchschnitt
gibt im wesentlichen dasselbe Bild, wie bei dem ersten Präparat:
Schwellung sämtlicher 3 Schichten, der Muskularis
besonders im Dünndarm, der Mukosa hauptsächlich im Dickdarm,
der Serosa dort, wo sie die äussere Schichte des Tumors bildet.
Dieser scheint die Lichtung des Darmes vollständig zu verlegen,
wenigstens gelingt weder die Durchspülung mit
Wasser (vor dem Aufschneiden) noch die Son¬
dierung; makroskopisch ist der Tumor aus einem grobfaserigen
grauweisslichen Gewebe zusammengesetzt und zeigt in den Rand¬
partien ein dünnes muskuläres Band, das stellenweise von jenen. Faser¬
zügen durchsetzt erscheint. Eine polypöse Wucherung der Mukosa
findet sich oberhalb wie unterhalb des Tumors, jedoch nur in seiner
nächsten Nachbarschaft. Auch die Einmündungstelle der Appendix
2*
1708
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
ist durch den Tumor verdeckt. Der Durchschnitt des
Wurmfortsatzes zeigt, wie der übrige Darm dieses Bereiches
eine beträchtliche Verdickung seiner 3 Schichten; das Lumen er¬
scheint dabei stark verengt und ist mit der oSnde zoekalwärts nicht
zu verfolgen; im äusseren Drittel findet sich eine deutliche wie
B. Aufgeschnitten.
Dickdarm
narbige Einschnürung, der proximal ein bohnengrosser
K o t s t e i n vorgelagert ist. Verkäsung oder Geschwürs¬
bildung ist hier ebenso wenig, wie in dem übrigen
resezierten Darmstück zu erkennen.
Mikroskopisch gelang zunächst, trotz vielen Suchens,
nichts weiter, als das Vorhandensein einer chronischen Entzündung
festzustellen : reichliche Infiltration mit Leukozyten,
diffus namentlich in Mukosa und Submukosa, mit starker Quel¬
lung der Follikel, mehr herdweise in der Muskularis und
Serosa, entsprechend dem Verlaufe der Gefässe. Das Epithel
war überall intakt, zeigte zahlreiche Becherzellen und massen¬
haft auf der Durchwanderung begriffene Leukozyten. In der Folge
fand man zunächst in den Lymphdrüsen, die in den
ersten Präparaten nur das Bild grosszeiliger Hyperplasie
erkennen Hessen, zweifellos Tuberkel mit gut ausgebildeten,
nicht sehr zahlreichen Riesenzellen. Fast das gleiche Bild gross-
zeiliger Hyperplasie bot der gesamte Follikelapparat des Darmes;
ein einziger typischer Tuberkel mit mehreren
Riesen zellen und beginnender Kernfragmentation
fand sich erst in einem der letzten Schnitte in der
Submukosa des Zoekum; vereinzelte Riesenzellen waren
ausserdem der Subserosa eingefügt; hier lagen auch, wie schon an¬
gedeutet, in unmittelbarer Nachbarschaft der Gefäsäe herdförmige
Leukozytenanhäufungen teils mit, teils ohne einen Kern epitheloider
Zellen. — In der Appendix blieb alles Suchen nach
vollendeten Tuberkeln erfolglos; ausser einigen
selbständigen Riesenzellen fiel hier nur die Infiltration
der Mukosa mit Leukozyten auf, die so beträchtlich war, dass sie im
Verein mit starker Gefässerweiterung eine förmliche Kompression des
Drüsenapparates bewirkt zu haben schien. Die Gefässe, nament¬
lich die Arterien, zeigten allenthalben, wie auch im ersten Falle, eine
erhebliche Dickenzunahme ihrer Wandungen, stellenweise sah man
förmlich endarteriitische Veränderungen. Die
Tuberkelbazillenfärbung versagte hier aus dem gleichen Grunde, wie
oben.
Das klinische Bild sowohl, wie der makroskopische und
mikroskopische Befund und der glückliche therapeutische Erfolg
lassen uns hier wohl mit Recht vermuten, dass wir es in
beiden Fähen mit besonders gutartigen tuberku¬
lösen Veränderungen zu tun hatten ; dafür sprach die
Abwesenheit solcher Darmerscheinungen, welche auf eine aus¬
gedehntere organische Läsion des Darmes hätten schliessen
lassen, dafür spricht das Fehlen jeder Qeschwürsbildung und
Verkäsung, die spärliche Anzahl von Tuberkeln; dafür spricht
endlich die vorläufig dauernde Wiederherstellung des Patienten
durch die Operation zu anscheinend vollkommener Gesundheit.
Damit stimmt auch die von verschiedenen Forschern ge¬
fundene Tatsache überein, dass in allen Fällen von rein hyper¬
trophischer Zoekaltuberkulose die Menge der nachweisbaren
Tuberkelbazillen sehr gering ist; ob über deren Virulenz Unter¬
suchungen angesteht worden sind, entzieht sich meiner Kennt¬
nis; jedenfalls ist wiederholt eine geringe Virulenz im Verein
mit der Armut an Bazillen verantwortlich dafür gemacht wor¬
den, dass sich an Stelle der gewöhnlichen tuber¬
kulösen Geschwürsbildung ein fibrös-narbi-
gerVorgang einstellt, wobei man nicht unzweckmässig
auf die Theorie R e c 1 u s’ über die Entstehung der Holzphleg¬
mone hingewiesen hat; allerdings bedarf es ausserdem für die
lebhafte bindegewebige Neubildung, welche bei der pseudo¬
neoplastischen Zoekaltuberkulose die hauptsächlichste Ver¬
änderung darsteht, eines reaktionskräftigen Orga¬
nismus, dessen Darm nicht schon durch eine voraufgehende
mehr weniger langwierige Lungentuberkulose empfindlich in
seiner Lebensfähigkeit geschädigt ist.
Nachdem noch C o n r a t h mit aller Entschiedenheit sich
für die ausserordentliche Seltenheit der primären, d. h.
nicht im Gefolge von Lungentuberkulose auftretenden Darm¬
tuberkulose ausgesprochen hatte — K 1 e b s stellte sie
überhaupt in Abrede — , mehren sich neuerdings die Mit¬
teilungen nicht nur von klinischen Beobachtungen, sondern
auch von Sektionsbefunden, in denen wohl zweifellos die pri¬
märe Ansiedelung der Tuberkulose im Darme zu suchen war;
Ibsen vertrat sogar auf dem internationalen Tuberkulose¬
kongress in Paris die Anschauung, dass die primäre Darm¬
tuberkulose beim Erwachsenen wie beim Kinde ein sehr häufi¬
ges Vorkommnis sei.
Der Weg, auf dem in solchen Fällen die Infektion
erfolgt, wäre etwa so zu denken, dass infektionstüchtiges
Material meist durch Uebertragung von Mensch auf Mensch
(Typus humanus), seltener von Tier auf Mensch (Typus bo-
vinus) mit der Nahrung in den Darm gelangt, in dessen lym¬
phatischem Apparate es dann die ihm eigentümlichen Vorgänge
auszulösen imstande ist. Möglicherweise wandert aber der
Bazillus ohne eine Störung hervorzurufen durch die Darm¬
wand durch in die mesenterialen Lymphdrüsen hinein, die ent¬
sprechend der Virulenz des Eindringlings reagieren. Es wäre
nun nicht undenkbar, dass in verhältnismässig wenig veränder¬
ten Mesenterialdrüsen lebensfähige Bazillen aufgespeichert
liegen bleiben, um bei irgend einem äusseren Anlasse mit einem
retrograden Lymphstrome (B u 1 1 e r s a c k) neuerdings in die
Darmwand einzubrechen und jetzt vielleicht die Bedingungen
zu finden, die ihrem Zerstörungswerke günstig sind. So findet
man bei V i r c h o w Mitteilungen von Fällen, in denen von
einer latenten Tuberkulose der mesenterialen Lymphdrüsen
ausgehend infolge mehrfacher Schädigungen, infolge eines ein¬
maligen I raumas die Drüsentuberkulose neu entflammt wurde
und zu einer Tuberkulose des Peritoneums und der Subserosa
am Zoekum führte.
Soweit sich das klinisch nachweisen lässt, handelte es sich
in unseren beiden Fällen um primäre Darmtuberku¬
lose; beidemale fanden sich bei der Operation ausgedehnte
Lymphdrüsenschwellungen bis zu Haselnussgrösse im Mesen¬
terium; mikroskopisch fanden wir chronische (hyaline Degene¬
ration des Retikulum!) tuberkulöse grosszellige Hyperplasie.
Am Zoekum war der Hauptsitz tuberkulöser Veränderungen
bei Fall G. in der Serosa bezw. Subserosa, bei Fall O. gleich-
inässig in Subserosa und Submukosa gelegen. Auffallend
war das Verhalten der Appendix: während sie im
ersten Falle überhaupt nicht auffindbar war, vielmehr ver¬
mutlich in dem Pseudotumor untergegangen zu sein schien, bot
sie im anderen Falle alle Zeichen einer lebhaften Entzündung,
deren tuberkulöser Charakter bis zur Stunde nicht mit Sicher¬
heit nachzuweisen war; dass an diesem Wurmfortsatz schon
vor längerer Zeit einmal entzündliche Vorgänge gespielt haben
müssen, das beweist die narbige Einziehung an der Appendix¬
spitze; allerdings lässt hier die Anamnese bis zum Auftreten
der Stenoseerscheinungen im Stich, während im Falle G. an¬
fänglich, d. h. 6 Jahre vor Ausführung der Operation ganz
typische Symptome von Appendizitis vorhanden waren.
Bei der wichtigen Rolle, welche heutzutage die Appen-
dizitis zu spielen berufen ist, liegt der Gedanke nicht allzu
fern, sie in einen ursächlichen Zusammenhang mit der hyper¬
plastischen Ileozoekaltuberkulose zu bringen, und nicht ganz so
unwahrscheinlich, wie die Sache vielleicht von vornherein aus¬
sieht, ist am Ende folgender Vorgang: in den mesenterialen
Lymphdrüsen lagern (gleichgültig jetzt, wie sie dahin gelangt
sein mögen) Tuberkelbazillen geringer Virulenz; auf irgend
Tumor
Appendix mit Kotstein
Dünndarm
28. August 1906. MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1709
eine Weise entwickelt sich eine Appendizitis; die entzündliche
Erweiterung der Qefässe des erkrankten Gebietes vermag wohl
eine retrograde Lymphbewegung zu veranlassen, wodurch
einige jener Tuberkelbazillen in den Darm zurückgeschwemmt
werden; der Umstand, dass der hier beschriebene Weg un¬
gewöhnlich ist, findet, wie es scheinen will, seine Illustration
in der ausserordentlich geringen Zahl von
Tuberkeln, welche wir entdecken konnten, im Gegensätze
zu fast sämtlichen anderen Autoren, welche von massenhaften
Tuberkeln berichtet haben. Die solchermassen verschleppten
_ nichts weniger als vollvirulenten — - Tuberkelbazillen treffen
auf bereits zur Verteidigung gerüstetes Gewebe (Leukozyten¬
infiltration!): das Resultat ist eine lebhafte entzündlich¬
bindegewebige Neubildung, eben der tuber¬
kulöse Ileozoekaltumor.
Eine gute Anschauung von dem Wesen dieses Prozesses
gewinnt man, wenn man nach dem Vorgänge von Langer-
h a n s diese hyperplastische Darmtuberkulose mit dem
L u p u s an Haut und Schleimhaut, namentlich in seiner hyper¬
trophischen Form vergleicht. Diese charakterisiert sich nach
D ii r c k durch die Entwicklung primär in dem Papillarkörper
sitzender, aus epithelioiden und Rundzellen aufgebauter, von
einem Wall von Rundzellen umgebener Tuberkel. „Tuberkel¬
bazillen sind meistens sehr spärlich nachweisbar. Dazwischen
findet sich ein mehr diffuses Granulationsgewebe, welches das
ganze Korium durchsetzt, zu starken Verbreiterungen und Ver¬
dickungen desselben führt und hierdurch das befallene Gebiet
über das Niveau der übrigen Haut erhebt.“ Mutatis mutandis
finden wir bei unserer Erkrankung ganz die nämlichen Verhält¬
nisse; es fehlt auch nicht die Gemeinsamkeit des ausserordent¬
lich chronischen Verlaufes sowie der durchaus gleichen Be¬
ziehungen zu anderweitig lokalisierter, insbesondere zu der
Lungentuberkulose.
Hat sich einmal der tuberkulöse Ileozoekaltumor heraus¬
gebildet, so wird für die Weiterentwicklung der Erkrankung
massgebend sein, wer in dem Kampfe Sieger bleibt, der mensch¬
liche Organismus oder der Bazillus; im ersteren Falle, auf den,
als den günstigeren, man bei intakten Lungen hoffen darf, wird
es eine Narbenbildung mit nachfolgender Stenose geben —
hierher gehörten unsere beiden Patienten — ; im zweiten Falle
kommt es zu fortschreitender Geschwürsbildung und ausge¬
dehnter abdomineller Tuberkulose.
Unter jeder Bedingung wird man zum Zwecke eines aus¬
sichtsvollen therapeutischen Handelns versuchen müssen, mög¬
lichst bald mit der Diagnose ins Klare zu kommen. Dies
ist nun keineswegs leicht, selbst wenn der Tumor deutlich fühl¬
bar ist; denn der Tumoren und ähnlicher Gebilde in der rechten
Fossa iliaca sind nicht wenige und sie unterscheiden sich durch
die Bauchdecken hindurch kaum sehr erheblich voneinander;
eine genaue Anamnese wird hier von ganz besonderer
Wichtigkeit sein.
König hat die folgenden Merkmale für das Vor¬
handensein eines tuberkulösen Ileozoekal¬
tumor s aufgestellt: jugendliches Alter des Patienten; die oft
mehrere Jahre lange Dauer, welche ein tuberkulöser Tumor zu
seiner Entwicklung braucht; eigentliche Schmerzhaftigkeit nur
in Kolikanfällen; als Symptome eines solchen Anfalles Auf¬
treibung des Leibes, sichtbare Peristaltik, allerlei lärmende Ge¬
räusche, schliesslich das der „entleerten Spritze“, worauf die
Schmerzen vergehen, der Leib wieder einsinkt; niemals oder
nur selten Blut im Stuhl; anderweitig im Körper nachweisbare
Tuberkulose; Heredität; allenfalls noch der Erfolg einer Tuber¬
kulininjektion oder die Agglutinationsprobe, die nach
Arloing-Courmont gerade bei der Eingeweidetuberku¬
lose unfehlbar sein soll. Der Nachweis von Tuberkelbazillen
in den Fäzes ist insofern von ziemlich illusorischem Werte, als
er voraussichtlich nur da gelingen kann, wo gleichzeitig Ge¬
schwürsbildung im Darm vorliegt; er kommt also für die rein
hyperplastische Form der Tuberkulose kaum in Betracht. Die
obenerwähnten Merkmale sind im einzelnen natürlich weit ent¬
fernt, irgendwie pathognomonisch zu sein; in ihrer Gesamt¬
heit bieten sie eine wertvolle Handhabe zur Beurteilung des je¬
weils vorliegenden Falles. Verwechslungen sind um so ver¬
ständlicher, wenn man bedenkt, dass, wie in unseren beiden
Fällen, selbst bei hochgradiger Stenose entsprechende Erschei¬
nungen erst in verhältnismässig späten Stadien auftreten
können, dass ferner so ziemlich jedes Unterleibsorgan gelegent¬
lich einmal in der rechten Fossa iliaca erscheinen kann, dass
andererseits das Zoekum bei frei beweglichem Mesocolon
ascendens (also besonders bei Kindern) nicht in der rechten
Darmbeingrube zu liegen braucht, dass endlich die verschieden¬
sten pathologischen Produkte einen Tumor daselbst Vor¬
täuschen können: Sonnenburg erwähnt eine Dermoid¬
zyste, D i e u 1 a f o y eine Echinokokkusblase.
In unserem Falle G. war die Diagnose auf chronische
rezidivierende Appendizitis gestellt worden; jedenfalls forderte
die Anamnese dazu auf. Es kam hier offenbar im Verlaufe der
chronischen Ileozoekaltuberkulose zu wiederholten akut ent¬
zündlichen Anfällen perityphlitischen Charakters, wie sie auch
W i e t i n g bei 2 Patienten beobachten konnte. Die bei der
weiteren Beobachtung festgestellte sehr druckempfindliche Re¬
sistenz in der rechten Fossa iliaca im Verein mit der Spannung
der darüberliegenden Bauchdecken konnte sehr wohl auf ein
Exsudat in der Umgebung des Wurmfortsatzes zurückzuführen
sein. Erst als es in der Narkose gelang, deutlich einen allerseits
gut beweglichen Tumor zu umgreifen, hätte man angesichts
der zervikalen Drüsentuberkulose einen tuberkulösen Ileozoe¬
kaltumor erwarten können, der dann auch in der Tat gefunden
wurde. Der zweite, beiläufig 4 Tage später operierte Fall 0.
ging mit weit bezeichnenderen Merkmalen einher: allerdings
verhältnismässig schnelle Entwicklung der Erscheinungen, aber
typische Stenosensymptome mit Kolikanfällen, Darmsteifung,
lauten plätschernden Geräuschen, Gegenwart einer beweglichen
schlaffen Geschwulst in der rechten Darmbeingrube. Mit
Rücksicht auf die Tatsache, dass sonst im Körper keine auf
Tuberkulose verdächtigen Veränderungen gefunden wurden
und auch die Anamnese in dieser Hinsicht vollkommen negativ
war, glaubten wir auch hier nicht mit Bestimmtheit die Dia¬
gnose auf hyperplastische Tuberkulose der Ileozoekalgegend
stellen zu können. Die unzweifelhafte Erkenntnis ,dass es sich
in beiden Fällen um eine Neubildung auf tuberkulöser Grund¬
lage handelte, war beide Male nur mit Hilfe des Mikroskops
möglich.
(Schluss folgt.)
Aus der inneren Abteilung des Stadtkrankenhauses Johannstadt
zu Dresden (Geh. Medizinalrat Dr. S c h m a 1 1 z).
Zur Frage der Heilbarkeit und der Therapie der
tuberkulösen Meningitis*)
Von Dr. med. Georg R i e b o 1 d, II. Arzt.
Die Prognose der tuberkulösen Meningitis wurde von der
Mehrzahl der Autoren noch bis vor kurzem als eine absolut
infauste angesehen.
Die ziemlich zahlreichen Mitteilungen über angebliche Hei¬
lungen1) konnten sämtlich einer strengen Kritik nicht stand¬
halten, abgesehen vielleicht von einigen Fällen, die durch den
Nachweis von Chorioidealtuberkeln sichergestellt schienen
(z. B. der Fall von Dujardin-Beaumetz, oder von
T h o m a 1 1 a 2) oder von dem Fall Mermanns3), in dem
4 Monate nach der angeblichen Heilung der tuberkulösen
Meningitis ein Rezidiv zum Exitus führte, und die Diagnose
durch die Autopsie bestätigt wurde.
Auch die Fälle von leichten meningealen Reizerschei-
nungen, die bei Tuberkulösen gelegentlich auftreten, und
*) Vorgetragen in der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde zu
Dresden am 3. März 1906.
P Dujardin-Beaumetz, zitiert bei Henkel cf. unten.
— Barthez u. Rilliet: Kinderkrankheiten. — Henoch: Vor¬
lesungen über Kinderkrankheiten. — Leube: Ein Fall von geheilter
tub. Meningitis, Sitzungsberichte der Würzburger phys.-med. Ges.
1889. — Janssen: D. med. Wochenschr. 1896, No. 11. — S e p e t:
Zentralbl. f. inn. Med. 1902, S. 1219. — Sänger: Münch, med.
Wochenschr. 1903, No. 22. — Avanzino: Zentralbl. 1904, S. 112.
— Jirasek: Zentralbl. 1904, S. 1062. — Jellinek: Wien. klin.
Wochenschr. 1904, No. 22 u. a.
2) Thomalla: Zentralbl. f. inn. Med. 1902, S. 963.
3) Mer mann: Zur Frage der Heilbarkeit der tub. Meningitis.
Beitr. zur klin. Chir. 1902, ref. in Schmidts Jahrbüchern 1903, Bd. 279,
S. 179.
1710
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
wieder vorübergehen (Oppenheim, Neumann4) u. a.)
hätten, falls die Auffassung berechtigt ist, dass es sich dabei
um eine im Entstehen begriffene und im Keime unterdrückte,
also um eine abortive tuberkulöse Meningitis 5 *) gehandelt habe,
im Sinne der Rückbildungsfähigkeit resp. Heilbarkeit dieser
Krankheit verwertet werden können.
Aber erst als in Fällen, die unter dem klinischen Bild der
tuberkulösen Meningitis auftraten und die zur Heilung kamen,
Tuberkelbazillen in der durch die Spinalpunktion gewonnenen
Punktionsflüssigkeit nachgewiesen wurden, konnte an der Tat¬
sache nicht mehr gezweifelt werden, dass das Leiden in Hei¬
lung ausgehen k a n n. In den letzten Jahren sind nun 4 der¬
artige Fälle publiziert worden.
Die ersten beiden Fälle von F r e y h a n “) (1894) und
Henkel 7) (1900) werden von Oppenheim u. a. als ein¬
wandfrei anerkannt.
Aber S c h u 1 1 z e n) erhebt Zweifel an der tuberkulösen
Natur der Meningitis im F r e y h a n sehen Falle, „weil das
klinische Bild der Erkrankung durchaus für eine sporadische
epidemische Meningitis sprach, und weil Tuberkelbazillen in
dem benützen Apparate von einem etwaigen Gebrauche bei der
Punktion eines anderweitigen tuberkulösen meningitischen
Exsudates zurückgeblieben sein konnten.“
Der Barthsche Fall8) (1902) wird von der Kritik9) an-
gezweifelt. Der jüngste Fall von Gross 10) (1902), der aus
der Quincke sehen Klinik stammt, kann wohl als ganz zu¬
verlässig gelten.
Wenn es somit als erwiesen anzusehen ist, dass die tuber¬
kulöse Meningitis heilen kann, so sind doch die Aussichten auf
Heilung äusserst gering. In 12 Jahren sind nur 4 einigermassen
sichere Fälle von Heilung der so ungemein häufigen Krankheit
bekannt geworden.
Von den therapeutischen Massnahmen, die
zur Behandlung der tuberkulösen Meningitis empfohlen
werden, vermögen wohl örtliche Blutentziehungen, Ein¬
reibung von Unguentum cinereum, innerliche Darreichung von
Kreosot oder Jodkalium u. a. kaum den Krankheitsprozess zu
beeinflussen.
Nur durch die S p i n a 1 p u n k t i o n, die von allen in Frage
kommenden Eingriffen (Trepanation u. a.) zweifellos den harm¬
losesten und den einzig für die Praxis in Betracht kommenden
darstellt, vermag man den Krankheitsherd selbst anzugreifen.
Es wird auch von vielen Seiten angegeben, dass die dadurch
geschaffene Herabminderung des Gehirndrucks in manchen
Fällen eine vorübergehende Besserung zur Folge
4) Oppenheim: Lehrbuch der Nervenkrankheiten 1902,
S. 681. — Neumann: Ein Fall abortiver Meningitis tub. Zeitschr.
f. Tuberk. u. Heilst., IV, 1, 1902.
5) Eine andere Deutung dieser Fälle ist die, dass das tuber¬
kulöse Qift vielleicht auch direkt zerebrale Symptome von passagerem
Bestand hervorrufen kann. (Oppenheim.) Uns erscheint die
Annahme am wahrscheinlichsten, dass diese Fälle als nervöse
Meningitiden aufzufassen sind, die nicht durch lokale Ansied¬
lung von Tuberkelbazillen in den Meningen entstehen, sondern durch
eine Toxinwirkung von den primär erkrankten Organen aus (cf. R i e -
bold: Ueber seröse Meningitis; Deutsche med. Wochenschr. 1906).
Dass durch eine derartige seröse Meningitis einer nachträg¬
lichen Ansiedlung von Tuberkelbazillen der Boden geebnet wird, d. h.
dass 1 uberkulöse, die bereits flüchtige meningitische Erscheinungen
gezeigt haben, schliesslich an einer echten tuberkulösen
Meningitis erkranken können, hat durchaus nichts Befremdendes.
Eine eigene hierhergehörige Beobachtung sei kurz angeführt: Ein 14jähr.
Junge mit Knochentuberkulose und Lungentuberkulose (II. Stadium)
erkrankte plötzlich unter meningitischen Symptomen (heftigen Kopf¬
schmerzen, leichtem Schwindelgefühl, „Taumligkeit“, beiderseitiger,
besonders links stark ausgesprochener Ptosis. Nach 3 Tagen
waren die gesamten Erscheinungen spontan völ¬
lig vorübergegangen. 4 Wochen später kam es zu einer
sehr rasch sich entwickelnden und innerhalb einiger Tage zum Exitus
führenden Meningitis, die sich bei der Sektion als tuberkulöse erwies.
u) Frey hau: D. med. Wochenschr. 1894, Ng. 36.
') Henkel: Münch, med. Wochenschr. 1900, S. 799.
u) Schultze: Die Krankheiten der Hirnhäute und die Hydro-
kcphalie, 1901.
s) Barth: Münch, med. Wochenschr. 1902, No. 21.
9) Wiener klin. Wochenschr. 1902, No. 42.
ia) Gross: Berl. klin. Wochenschr. 1902, No. 33, S. 776.
haben kann (O p p e n h e i m, Moritz, Heubner,
Quincke, S t i n t z i n g u. a.12)
Dass man durch eine einmalige oder nur gelegent¬
lich wiederholte Spinalpunktion einen nennenswerten Einfluss
auf den Verlauf der Krankheit auszuüben vermöchte, ist
höchst unwahrscheinlich. Das meningeale Exsudat sammelt
sich ja doch so rasch wieder an, dass kurze Zeit nach der Punk¬
tion wieder der frühere Zustand geschaffen wird. In Fällen
nun, in denen die Intoxikation keine allzu schwere, der Ent-
ztindungsprozess nicht zu ausgedehnt ist, vermag man, theo¬
retisch gedacht, durch dauernde Beseitigung des hohen
intrakraniellen Drucks, der zweifellos in manchen Fällen
a 1 1 e i n die Ursache für den Tod abgibt, mindestens das Leben
zu verlängern, vielleicht aber auch, bei Wegfall der Schädlich¬
keit, die im gegebenen Falle die haupsächlichste darstellt, eine
Heilung zu ermöglichen. Vorbedingung für dauernde Be¬
seitigung des Hirndruckes sind aber regelmässig und
h ä n f i g, mindestens täglich13) wiederholte Lumbal¬
punktionen, wie sie u. a. W e r t h e i m b e r H) bei der
Behandlung der einfach serösen, und L e n h a r t z 15) bei
der Behandlung der epidemischenMeningitis mit Er¬
folg anwendeten und wie sie neuerdings mein hochverehrter
Chef, Herr Geh. Medizinalrat Dr. S c h m a 1 1 z, auch in Fällen
von tuberkulöser Meningitis vornehmen lässt.
Der erste auf diese Weise behandelte Fall betraf einen 7 jährigen
Knaben, der mit den ausgeprägten Symptomen einer schweren tuber¬
kulösen Meningitis ins Haus kam.
Der Knabe wurde 11 mal punktiert; dabei wurden im ganzen
355 ccm Zerebrospinalflüssigkeit unter einem Druck von 27 — 45 cm
Wasser abgelassen.
Nach der 5. bis 6. Punktion war der Gesamteindruck des Kranken
ein auffallend viel besserer, von da ab trat aber rasche Verschlechte¬
rung ein bis zum Exitus, der am Ende der 3. Woche erfolgte.
Bei der Sektion erwiesen sich die Windungen nur m ä s s i g
abgeplattet, die Furchen kaum verstrichen, die Seiten¬
ventrikel nur m ä s s i g erweitert. An der Basis zeigten sich
ganz ungewöhnlich (Vs cm) dicke, sulzige, tuberkulöse In¬
filtrate der weichen Häute fast ausschliesslich in der
Umgebung der Hypophyse und im Anfangsteil beider Fossae Sylvii.
Es hatte den Anschein, als wäre der tuberkulöse Prozess auf diese
eine Stelle beschränkt geblieben, und hätte sich hier wesentlich stär¬
ker entwickelt, als man dies sonst gewöhnlich zu sehen bekommt. In
den meisten Fällen erfolgt wohl der Tod früher, bevor derartig dicke
Infiltrate sich ausbilden können.
Es bleibe dahingestellt, ob der ungewöhnliche Sektionsbefund
durch die häufigen Spinalpunktionen, die dadurch geschaffene Herab-
, Setzung des Gehirndrucks und den dadurch zweifellos etwas hin¬
gezogenen Krankheitsverlauf zu erklären war.
Der zweite von uns mit täglichen Spinalpunktionen be¬
handelte Fall von tuberkulöser Meningitis, über den ich aus¬
führlicher berichten möchte, ist erfreulicherweise zur Hei¬
lung gekommen.
Es handelt sich um ein 16 jähriges Mädchen, das am 10. Januar
1906 ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
Aus der A n a m n e s e ist nur folgendes zu erwähnen: Die Kranke
ist unehelich geboren; ihre Mutter ist vor 6 Jahren an Phthise ge¬
storben. Pat. ist unter Not und Entbehrungen aufgewachsen. Sie
war von Kindheit an schwächlich aber niemals krank; ist noch nicht
menstruiert. Seit 2 Jahren hat sie als Magd auf einem Gute schwer
arbeiten müssen. In der zweiten Hälfte des Dezember 1905 fühlte
sie sich schon unwohl, ohne dass sie bestimmte Klagen gehabt hätte.
Sie gab deshalb ihre Stellung am 31. Dezember 1905 auf.
Der Grossmutter, zu der sie am 1. Januar 1906 kam, fiel nament¬
lich ihr ausserordentlich geringer Appetit auf.
Am 3. I. klagte Pat. über heftige Kopfschmerzen, die in den
nächsten lagen anhielten; am 6. I. trat wiederholtes Erbrechen ein;
12) Gum p recht: Technik der spez. Therapie.
1 ) Durch tägliches Wiederholen der Punktionen glauben
wir auch den Abschluss der Schädelhöhle von dem spinalen Teil des
Duralsacks verhüten zu können, der nach Quincke (Deutsche med.
Wochenschr. 1905, No. 46, S. 1827) auf verschiedene Weise u. a. da¬
durch zustande kommt, dass durch Ventrikelerweiterung der Aquae¬
ductus Sylvii abgeknickt, oder das Zerebellum so fest in das Foramen
magnum hineingepresst werden kann, dass es, zusammen mit der
Medulla oblongata dieses Loch wie durch einen Pfropf verschliesst.
14) Werthei mber: Ueber den diagnost. u. therap. Wert der
Lumbalpunktion bei der Meningitis. Münch, med. Wochenschr 1904
S. 1004.
U Lenhartz: Zur Behandlung der epidem. Genickstarre,
Münch, med. Wochenschr. 1905, S. 537.
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1711
Pat. legte sich zu Bett und schlief viel mit halboffenen und verdrehten
Augen.
Am 7. I. war sie vollständig benommen, redete gar nicht mehr,
stöhnte aber, und schrie gelegentlich laut auf.
Am 9. I. versuchte sie wieder zu reden, brachte aber nur ganz
unverständliche Brocken heraus.
Bei der Aufnahme am 10. I. wurde folgender Befund erhoben:
Pat. ist für ihr Alter gross, schwächlich gebaut, dürftig genährt.
Die Temperatur ist mässig erhöht (37,6). Nackenstarre ist angedeutet.
Der Puls ist ziemlich frequent (108).
An den inneren Organen (Herz, Lungen, Nieren) sind keine
Veränderungen nachweisbar.
Die Pupillen sind different, die rechte weiter als die linke, re¬
agieren aber prompt. Die Bulbi stehen unkoordiniert, der rechte Bulbus
weicht nach aussen ab. Links findet sich eine geringe Ptosis. Der
rechte untere Fazialis ist ausgesprochen paretisch. Die Parese
tritt weniger in der Ruhe, als bei willkürlicher und unwillkürlicher
Innervation auf. Die Zunge weicht wenig nach rechts ab.
Patellar- und Achillesreflex sind rechts wesentlich lebhafter als
links. Rechts findet sich Babinski und Fussklonus, links normaler
Fussohlenreflex.
Die Kranke blickt verständnislos um sich; auf Fragen antwortet
sie nicht; Aufforderungen selbst einfachster Art befolgt sie nicht,
^ie versucht manchmal zu sprechen, bringt aber nur sinnlose, un¬
zusammenhängende Silben hervor. Das Sensorium ist anscheinend
mässig stark benommen. ,
Ophthalmoskopischer Befund; Beide Papillen sind etwas ver¬
waschen und leicht prominent, aber nicht besonders hyperämisch.
Spezialärztliche Untersuchung der Ohren ergibt normalen Be-
fund. . f
Nach einer äusserst unruhigen Nacht, in der die Kranke fort¬
während stöhnt und jammert, wird am 11. I. erstmalig die Lumbal¬
punktion16) gemacht. _ t . . . .,
Der Druck ist erhöht (28 cm). Die Zerebrospinalflüssigkeit
ist klar, enthält zahlreiche kleine Flöckchen; die Eiweissreaktion mit
Acid. acet.-Ferrozyankalium fällt stark positiv aus. Im gefärbten
Ausstrichpräparat des Sediments finden sich spärliche Lymphozyten,
keine Tuberkelbazillen oder sonstige Bakterien.
Nach der Punktion schläft Pat. einige Stunden ruhig. Die
Nahrungsaufnahme ist im Laufe des 1 ags reichlich. Die Nacht zum
folgenden Tag ist wieder sehr unruhig. Pat. geift immer nach dem
Kopf, runzelt die Stirn, stöhnt laut; hat offenbar sehr heftige Kopf¬
schmerzen.
Am 12. I. wird wiederum die Spinalpunktion gemacht. Dies¬
mal gelingt es, im Ausstrichpräparat sichere Tu¬
berkelbazillen (Entfärbung in Salzsäure und Alkohol) nach¬
zuweisen. Auf dem einen Objektträger findet. sich
eine Fibrinflocke, die mit etwa 30 Tuberkelbazillen
besetzt ist. An einer anderen Stelle liegen etwa
10 Tuberkelbazillen frei nebeneinander. Aut
einem anderen Objektträger lassen sich noch
2 Tuberkelbazillen nachweisen17).
Zellige Elemente sind wiederum nur spärlich vorhanden, und
zwar handelt es sich fast ausschliesslich um Lympho¬
zyten und nur um ganz vereinzelte polymorphkernige Leukozyten.
Agarplatten bleiben, ebenso wie bei 5 späteren Unter¬
suchungen steril (bei der erstmaligen Plattenkultur waren Staphylo¬
kokken gewachsen, die mit grösster Wahrscheinlichkeit auf Vei-
unreinigungen zurückzuführen waren.
Die quantitative Eiweissbestimmung1) ergab
2 Prom.
Wir haben nun bei unserer Kranken bis zum
29. 1. täglich, und von da ab bis zum 12. II. seltener, im
ganzen 24 m a 1 die Spinalpunktion vorgenommen,
und dabei 574 ccm Zerebrospinalflüssigkeit ent¬
leert. Die einzelnen Befunde, die sich auf Anfangs- und Enddruck,
entnommene Menge und Eiweissgehalt beziehen, sind auf der bei¬
liegenden Kurve verzeichnet.
Aus dem Krankheitsverlauf sei nur das Allerwesentlichste her¬
vorgehoben :
In den ersten Tagen bleibt der Zustand ziemlich unverändert;
die Herdsymptome sind die gleichen wie im Anfang.
1S) Für diese und die folgenden Lumbalpunktionen wurden neue
Nadeln und ein neues Steigrohr benützt, was mit Rücksicht auf die
S c h u 1 1 z e sehe Kritik des Freyhan sehen Falles (cf. oben) be¬
sonders betont sei.
17) Herr Dr. Q e i p e 1, Prosektor am Krankenhaus, hatte die
Liebenswürdigkeit, die Präparate anzusehen; er erkannte die Tu¬
berkelbazillen als absolut einwandfrei an. Die tuberkulöse Natur
der Meningitis ist im übrigen auch durch das Tierexperiment er¬
härtet worden, cf. unten.
18) Durch direktes Abwägen bestimmt, da man, wie wir uns
überzeugen konnten, bei Eiweissbestimmungen der Zerebrospinal¬
flüssigkeit im Esbac h sehen Röhrchen unzuverlässige Resultate
bekommt.
Die psychische Störung stellt sich als eine komplizierte, fast
vollständige motorische und sensorische Aphasie dar, verbunden mit
Worttaubheit, bei einer anscheinend nur geringfügigen Trübung des
Sensoriums.
Dass das Sensorium nicht sehr stark benommen ist, geht u. a.
daraus hervor, dass Pat. fast nie Stuhl und Urin unter sich lässt,
und dass sie sehr wohl bemerkt, wenn die Spinalpunktion vor¬
bereitet wird und ihrer Angst dabei Ausdruck verleiht („jetzt nichts,
jetzt doch nicht so“).
Die Nächte sind sehr wechselnd. Die Temperatur er¬
reicht keine sehr hohen Grade, cf. Kurve. Der Puls geht meist
nach der Punktion herunter (128—96), bleibt aber immer etwas fre¬
quent.
Januar Febr
Im allgemeinen macht sich fast stets nach der Punktion eine ge¬
wisse Besserung des Zustandes insofern bemerkbar, als die Kopf¬
schmerzen nachlassen und die Kranke einige Stunden Schlaf findet.
Am 13. I. einmaliges Erbrechen, das sich in den nächsten Tagen
nicht wiederholt.
Bis zum 18. I. ist eine entschiedene Besserung bemerkbar: die
Fazialisparese ist geringer, Babinski nicht mehr auslösbar. Die
Nackenstarre ist geschwunden.
Pat. lernt besser verstehen; versucht zu reden, entgleist aber
immer dabei, und sucht oft vergeblich nach Worten; sie zeigt Teil¬
nahme für ihre Umgebung. Das Sensorium ist fast völlig frei. Die
Kopfschmerzen sind wechselnd, meist erträglich; der Appetit ist gut.
Am 19. I. früh wieder enorm heftige Kopfschmerzen, stärkere
Parese des rechten Fazialis; Pat. ist apathisch, leicht benommen,
nimmt fast nichts zu sich.
Nach der Spinalpunktion keine wesentliche Aenderung.
20. I. Nach einer äusserst unruhigen Nacht, in der Pat. wieder¬
holt vor Schmerzen schreit, tritt heute im Laufe des Vormittags
wiederholtes, heftiges Erbrechen ein. Pat. ist ganz apathisch, macht
einen sehr schlechten Eindruck (Zyanose, beschleunigte Atmung). Die
Pupillen sind sehr weit, different, reagieren schlecht.
Nach der Spinalpunktion erfolgt noch einmal Erbrechen, und dann
hat Pat. für mehrere Stunden Schlaf.
Nach dem Erwachen bietet sie ein ganz anderes Bild dar:
Pat. ist wieder teilnehmend, antwortet auf Fragen nach dem Befinden
(jetzt ist’s wieder hübsch“). Der Kopfschmerz ist geschwunden;
die Kranke trinkt wieder Milch, ohne zu erbrechen. Die Pupillen sind
wesentlich enger, reagieren besser. In den nächsten Tagen bessert
sich der Zustand weiter. Die Kranke wird lebhaft, bekommt guten
Appetit.
Status am 25. I.: Die Pupillen sind noch zeitweise sehr weit,
gehen regelmässig nach der Punktion zusammen; rechts weiter als
links. Die Fazialisparese tritt nur noch beim Lachen hervor. Die
Ptosis ist kaum noch angedeutet; die Bulbi bewegen sich durchaus
koordiniert. Babinski und Steigerung der Reflexe auf der rechten
Seite ist nicht mehr nachweisbar. Das Wortverständnis ist viel
besser; Pat. versteht jetzt alle einfacheren Fragen und Aufforde¬
rungen. Auch die Sprachstörung hat sich sehr gebessert. Pat. ver¬
mag zahlreiche Worte und selbst Sätze fehlerfrei auszusprechen;
häufig kommen aber noch Fehler vor, auch beim Nachsprechen, z. B.
Gresden statt Dresden, Merstipt statt Bleistift. Manche Worte, die
sie auf Vorsprechen nicht hervorbringt, kann sie fehlerfrei aus¬
sprechen, wenn sie sie geschrieben sieht. Viele Worte findet sie nicht.
Vom 28. 1. ab ist Pat. vollkommen fieberfrei. Der Zustand ist
immer noch schwankend, bessert sich aber doch allmählich in jeder
Richtung. . , A , ,
Am 5. II. sind irgend welche Herdsymptome nicht mehr nach¬
weisbar, nur die rechte Pupille ist noch eine Spur weiter, als die linke.
Kopfschmerzen treten nur noch zeitweise auf.
Am 27. II. erstmaliges Aufstehen, das gut vertragen wird.
Anfang März: Die Kranke ist wohl als geheilt anzusehen.
Sie hat sich körperlich ausserordentlich erholt, hat bis jetzt 8 Pfd.
an Gewicht zugenommen. Sie ist dauernd beim besten Wohlbefinden,
hat schon seit langem keine Kopfschmerzen mehr gehabt. Der Augen¬
hintergrund ist jetzt völlig normal.
Das Wortverständnis ist vollkommen wiedergekehrt.
Die Aphasie ist nur noch so geringfügig, dass sie selten zu beobachten
ist. Viele Worte fehlen der Kranken noch, sie weiss aber die De¬
fekte durch passende Umschreibungen zu ersetzen. Gelegentlich fin¬
den sich auch noch motorische Sprachstörungen, so sagte sie z. B.
„Tante“ statt „Tinte“, „benosen“ statt „beniesen“, „Pluppe“ statt
„Puppe“. , „ . ,
Nennenswerte psychische Defekte scheinen als rolge aer
Krankheit nicht zurückgeblieben zu sein. Die Kranke ist, wie wir
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
erfahren haben, von jeher etwas imbezill gewesen, so dass jetzt
darauf nicht viel zu geben ist, dass ihr z. B. das Kopfrechnen grosse
Schwierigkeiten macht, dass ihr Gedächtnis recht schwach ist, dass
ihre allgemeinen Kenntnisse selbst für ein Mädchen vom Lande
äusserst geringe sind, dass sie manchmal ein recht kindliches oder
auch kindisches Benehmen zeigt, und ohne tiefe Affekte ist. Sie kann
aber gut lesen, nach Diktat und Vordruck leidlich gut schreiben, sie
beschäftigt sich mit Handarbeiten, häkelt z. B. komplizierte Muster
nach, sucht behilflich zu sein, wo sie nur kann, interessiert sich für
ihre Umgebung, kennt die Namen ihrer Mitkranken, ist von rührender
Anhänglichkeit und Dankbarkeit gegen die Stationsschwester und
das Pflegepersonal und hält sich immer äusserst sauber und ordent¬
lich. Zu bemerken ist noch, dass keine sonstige tuberkulöse Er¬
krankung, namentlich keine Affektion der Lungen nachweisbar ist.
Die Frage, ob die Heilung eine dauernde bleiben
wird, müssen wir mit Rücksicht auf die in der Literatur mit¬
geteilten Fälle, in denen nach angeblicher Heilung ein Rezidiv
auftrat (Mermann, J i r a s e k u. a.), noch offen lassen.
E p i k r i t i s c h ist zu unserem Falle nicht viel zu be¬
merken. Die Diagnose einer tuberkulösen Meningitis konnte
schon nach dem klinischen Bild mit grösster Wahrscheinlich¬
keit gestellt werden. Die einzige, nicht ganz gewöhnliche Er¬
scheinung war die Sprachstörung, die aber nach Z a p p e r t
(zit. bei O p p e n h e i m), Sinclair19) u. a., ebenso wie son¬
stige kortikale Erscheinungen gelegentlich sogar als initiales
Symptom einer tuberkulösen Meningitis auftreten kann, und
in unserem Falle bei der relativ raschen und fast völligen Rück¬
bildung wahrscheinlich nicht auf eine lokale Meningo¬
encephalitis, sondern nur auf eine örtliche Druckwirkung
des meningealen Exsudats zurückzuführen war.
Die Tuberkeleruption muss in unserem Fall wohl besonders
stark die Gegend der linken Fossa Sylvii betroffen haben, so
dass das dicht benachbarte motorische und sensorische Sprach¬
zentrum mit geschädigt wurde.
Den positiven rechtsseitigen B a b i n s k i sehen Reflex und
die Steigerung der Sehnenreflexe auf der rechten Seite kann
man wohl in gleicher Weise auf eine funktionelle Schädigung,
auf einen Ausfall der entsprechenden Rindengebiete der linken
Hemisphäre beziehen.
Neuerdings 20) ist überhaupt die Vermutung ausgesprochen
worden, dass viele der sog. basalen Symptome der tuberku¬
lösen Meningitis rein kortikalen Ursprungs seien. In
unserem Falle hätte die rechtsseitige Fazialisparese in diesem
Sinne ebenfalls auf eine Schädigung der der S y 1 v i u s sehen
Furche benachbarten linksseitigen motorischen Region hin-
weisen können.
Da wir in unserem Falle Tuberkelbazillen nach-
weisen konnten, ist die Diagnose einer tuberkulösen
Meningitis ausser Frage gestellt, und wir können
hiermit einen weiteren Beitrag zur Kasuistik der Heilbar¬
keit der tuberkulösen Meningitis liefern. Wir
können aber unsere Diagnose auch noch anderweit stützen:
2 Meerschweinchen, die am 23. I. und 26. I. 06 mit
Zerebrospinalflüssigkeit von unserer Kranken intraperitoneal
geimpft wurden, sind tuberkulös geworden. Sie zeig¬
ten bei der Sektion, die nach 6 Wochen gemacht wurde, beide
das typische Bild einer frischen Impftuberkulose. Die Tuber¬
kulose wurde auch durch mikroskopische Untersuchung sicher¬
gestellt. (Dr. G e i p e 1.)
Was uns aber den Fall ganz besonders bemerkenswert er¬
scheinen lässt, ist der zweifellos günstige Einfluss, den
die regelmässigen Spinalpunktionen auf den
Krankheitsverlauf ausübten. Besonders auffallend war dies,
wie geschildert, am 20. I., wo der Zustand ein äusserst bedroh¬
licher war und nach der Punktion sich in jeder Weise zum
Bessern wendete. Von da ab datierte der weitere allmähliche
Fortschritt der Besserung bis zur endgültigen Heilung. Der
Einwand, dass die Kranke vielleicht auch ohne Lumbalpunk¬
tionen hätte genesen können, lässt sich im Hinblick auf die mit¬
geteilten spontanen Heilungsfälle nicht widerlegen. Wir sind
aber der festen Ueberzeugung, dass, gerade wie in
19) Sinclair: Zentralbl. f. inn. Med. 1903. S. -406.
20) Armand Delille: Röle des poisons du bacille de Koch
dans la rneningite tuberculeuse et la tuberculose des centres nerveuses.
Paris 1903. Ref. in Schmidts Jahrb. 1904, Bd. 283, S. 105.
den Wertheimber sehen und Lenhartz sehen Fällen,
so auch in unserem Falle durch die regelmässige Ent¬
lastung der Gehirnhöhle durch tägliche Spi¬
nalpunktionen der schliessliche günstige
Verlauf der Krankheit herbeigeführt wurde, und wir
geben der Hoffnung Ausdruck, dass bei dieser
Th erapie doch vielleicht der eine oder andere
sonst verlorene Fall von tuberkulöser Menin¬
gitis gerettet werden kann.
Was die Häufigkeit der Lumbalpunktionen
anbelangt, so werden sich allgemein gültige Regeln kaum auf¬
stellen lassen. Es wird vornehmlich darauf ankommen, mit
welcher Geschwindigkeit sich das Exsudat wieder ansammelt.
Im allgemeinen kann man sich vielleicht folgendes zur Norm
machen: So lange der Druck 25 — 30 cm Wasser übersteigt,
so lange die auf einen Enddruck von 10 — 12 cm a b f 1 i e s -
sendeMenge der Zerebrospinalflüssigkeit noch 25 — 30 ccm
oder mehr beträgt, wird man unbedingt täglich punktieren
müssen.
Aber auch andere Gesichtspunkte werden in Betracht
kommen, namentlich das subjektive Befinden der
Kranken, das Vorhandensein von Hirndrucksympto¬
men, Kopfschmerzen usw.
Auch aus dem Verhalten des Eiweissgehaltes der Zere¬
brospinalflüssigkeit und der Temperatur kann man gewisse
Anhaltspunkte gewinnen. Wenn der Eiweissgehalt zurück¬
geht, wenn das Fieber schwindet, kann man erwarten, dass
auch die entzündliche Exsudation nachlässt und man kann dann
daran denken, die Punktion seltener auszuführen.
Nachtrag bei der Korrektur: Die Kranke ist bis
heute (15. VIII. 06) rezidivfrei geblieben. Sie ist vorläufig in einem
Siechenhaus untergebracht, wo sie mit leichter Hausarbeit beschäftigt
wird. — 3 weitere Fälle von tuberkulöser Meningitis, die
seither mit täglichen Spinalpunktionen behandelt wurden, sind zum
Exitus gekommen. Durch die Punktionen wurde aber fast regel¬
mässig eine vorübergehende Besserung einzelner Symptome erzielt.
Aus der Universitäts-Augenklinik in Heidelberg.
Ueber das Vorkommen von Netzhautblutungen bei
Miliartuberkulose.
Von Dr. Hermann Marx, Assistenzarzt der Klinik.
Die Entdeckung des miliaren Tuberkels in der Chorioidea
bei der allgemeinen Miliartuberkulose bedeutete einen grossen
Fortschritt in der Klinik dieser Erkrankung. War doch hier¬
durch die Möglichkeit gegeben, in den der Diagnose oft grosse
Schwierigkeit bereitenden Fällen die tuberkulösen Gebilde
direkt zu sehen und dadurch die Natur der Krankheit festzu¬
stellen und andere Erkrankungen wie Sepsis, Typhus etc. aus-
zuschliessen. Allerdings haben sich die Erwartungen, die man
nach den ersten Publikationen hegte, nicht in vollkommenem
Masse erfüllt. Die Tatsache, dass Cohnheim1) bei seinen
anatomischen Untersuchungen von 18 Fällen von Miliartuber¬
kulose in keinem der Fälle Tuberkel der Chorioidea vermisste,
berechtigte zu der Annahme, diese als einen konstanten Ab¬
lagerungsplatz der Tuberkel anzusehen und es war zu hoffen,
dieselben mit dem Augenspiegel in allen, oder doch in den
meisten Fällen von Miliartuberkulose nachweisen zu können.
Nun sind aber einerseits Fälle ohne Vorkommen von Cho-
rioidealtuberkel nicht sehr selten, weiter können aber auch
dieselben bei tatsächlichem Vorhandensein ophthalmoskopisch
nicht nachweisbar sein. Schon v. G r a e f e und Leber2),
die als erste einen Fall von Miliartuberkulose der Chorioidea
ophthalmoskopisch diagnostizierten und später anatomisch
untersuchten, fanden bei der anatomischen Untersuchung eine
Anzahl von Tuberkeln, die der ophthalmoskopischen Unter¬
suchung entgangen waren. Sie führen dies darauf zurück,
dass wegen der Schwäche des Patienten die Peripherie des
Augenhintergrundes nicht genau abgesucht werden konnte,
betonen jedoch, dass eine Differenz zwischen dem ophthalmo¬
skopischen und anatomischen Befund durch das Verhalten des
x) Ueber Tuberkulose der Chorioidea. Virchöws Archiv, 39,
p. 49.
2) Graefes Archiv, XIV, 1.
28. August ll)06.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1713
Pigmentepithels wohl eine Erklärung finden kann. Ist dieses
unverändert, so wird das Knötchen kaum sichtbar werden,
ist es zerstört, was vielleicht in der Umgebung der Papille
häufiger der Fall ist, so wird es sichtbar. In ihrem Falle
konnte das Verhalten des Pigmentbelags nicht genauer er¬
mittelt werden, da derselbe bei Herausnahme des hinteren
Bulbusabschnittes abgelöst und teilweise zerstört war. Spätere
Untersuchungen (Stricker1), W e i s s "), Dinkler®),
Steffen0) u. a.) haben dann gezeigt, dass tatsächlich nicht
selten auch bei genauer ophthalmoskopischer Untersuchung
Chorioidealtuberkel nicht nachweisbar sind; so konnte
Stricker unter 20 Fällen 12 mal anatomisch Chorioideal¬
tuberkel nachweisen, während der Befund mit dem Augen¬
spiegel in nur 3 Fällen ein positiver war. Allerdings betreffen
diese Fälle nicht allein die allgemeine Miliartuberkulose, son¬
dern es werden Miliartuberkulose, tuberkulöse Meningitis und
verbreitete chronische Tuberkulose zusammengefasst, wie dies
leider bei den meisten Arbeiten, die sich mit der Frage
beschäftigen, der Fall ist. Deshalb ist es auch schwer
nach der Literatur über die Häufigkeit der Chorioidealtuberkel
bei der Miliartuberkulose überhaupt einen bestimmten Schluss
zu ziehen. Groenouw3 4 * 6 7) berechnet aus einer Zusammen¬
stellung von 222 Fällen dieselbe auf 44 Proz. Doch sind hierbei
die anatomischen und ophthalmoskopischen Befunde zusam¬
mengefasst. Wenn auch demnach der ophthalmoskopische Be¬
fund kein konstanter ist, so ist er in positiven Fällen doch von
ausschlaggebender Bedeutung in diagnostischer Beziehung.
Dass immerhin auch das ophthalmoskopische Bild täuschen kann,
zeigt eine Mitteilung von Mendel8). Derselbe demonstrierte
in der Berl. ophthalmol. Gesellschaft zwei Bulbi. „Bei den
Patienten hatte der Augenhintergrund intra vitam kleine weisse
Herde gezeigt, die in beiden Fällen Miliartuberkeln ähnlich
sahen. Die Sektion ergab in dem einen Falle wirklich Miliar¬
tuberkulose, im anderen aber septische Retinitis“. Eine ge¬
nauere Beschreibung ist nicht angegeben und auch nichts von
Blutungen erwähnt.
Diese gehören ja bekanntlich mit zum Bilde der R e t i -
nitis septica und sind neben den weissen, sogen. R o t h -
sehen Flecken typisch für dieselbe. Da ja in differential¬
diagnostischer Beziehung bei Miliartuberkulose oft gerade sep¬
tische Erkrankungen in Betracht kommen, hat man stets diesen
Hämorrhagien grossen Wert beigelegt und man ist geneigt,
bei Vorhandensein von solchen eine Miliartuberkulose auszu-
schliessen und eine Sepsis anzunehmen.
Ein in dieser Beziehung lehrreicher Fall, der anatomisch
untersucht werden konnte, sei des differentialdiagnostischen
Interesses wegen hier in Kürze mitgeteilt.
Es handelt sich um ein 18 jähriges, früher immer ge¬
sundes Mädchen, das akut mit hohem, intermittierendem
Fieber erkrankte. Die klinische Diagnose (Med. Klinik Heidel¬
berg) war nicht mit Sicherheit zu stellen. Typhus war
dem ganzen Krankheitsbild nach auszuschliessen. Für kryptoge¬
netische Sepsis sprach das Fieber, dagegen etwas der sonstige
Befund, besonders die Beschränkung auf die Lungen. Für Miliar¬
tuberkulose war eigentlich zu wenig Tachypnoe und Dyspnoe
vorhanden, auch fehlten die sonstigen Zeichen einer miliaren Aus¬
saat, besonders meningitische Symptome. Die Wahrscheinlichkeits¬
diagnose lautete: Allgemeine akute Miliartuberkulose (?), besonders
der Lungen mit teilweisem Infiltrat des rechten Mittellappens.
Lungenödem (?) Nephritis parenchymatosa. Herzinsuffizienz.
Bei der ophthalmoskopischen Untersuchung
vier Tage vor dem Tode konnte eine pathologische Veränderung
nicht nachgewiesen werden. — Bei erneuter Untersuchung, 3 Tage
später, fanden sich beiderseits direkt an der Papille beginnend und
noch etwas auf dieselbe übergreifend, streifige und mehr flächen¬
förmige Hämorrhagien, die in einer Ausdehnung von ca. einem Papillen¬
durchmesser nach oben und unten sich erstreckten. Die Papillen
selbst hyperämisch, nicht prominent, Netzhautgefässe besonders
Venen etwas dilatiert. Links ausserdem etwas temporal von der
Papille zwei kleine, gelbweisse, rundliche Fleckchen, die ziemlich
scharf begrenzt sind.
Die Sektion bestätigte die klinische Wahrscheinlichkeitsdiagnose.
Die anatomische Diagnose lautete : Disseminierte
3) Charite-Annalen, I, 1876.
4) Graefes Archiv, XXIII, 4.
B) Graefes Archiv, XXXV, 4.
6) Jahrb. f. Kinderheilk., N. F., II.
7) Graefe-Saemisch’ Handbuch, II. Aufl., XI. Bd., I, p. 703.
8) Zentralbl. f. Augenheilk. 1901.
No. 35.
Tuberkulose des Peritoneum, der Pleuren, des Perikards, der
Lungen, Milz, Leber, Nieren, Bronchialdrüsen. 1 uberkulöser Abszess
im Douglas sehen Raum, wahrscheinlich Pyosalpinx der rechten
Tube. Oedem der Lungen. Pneumonischer Herd im rechten Unter¬
lappen. Chronische adhäsive Pleuritis, Perikarditis, Peritonitis, Pe¬
rimetritis. Hämorrhagien des Perikards. Septische Milz. Nephritis
parenchymatosa.
Zur anatomischen Untersuchung durften nur die hinteren Bulbus¬
abschnitte verwandt werden. Beim Abtragen derselben löste sich
die Retina fast in toto ab.
Der anatomische Befund ist folgender :
Auf Vertikalschnitten, die durch die Papille des rechten
Auges gehen, sieht man die Retina leicht trichterförmig artifiziell
abgehoben, das Pigmentepithel ist mit Ausnahme von kleinen Stellen
an der Chorioidea haften geblieben. Der Sehnervenkopf zeigt nor¬
male Verhältnisse, keine Schwellung. Direkt an der Papille be¬
ginnend findet sich in mässiger Ausdehnung, besonders nach oben
und unten, ein präretinaler Bluterguss. Die Hauptmasse der gut er¬
haltenen Blutkörperchen ist zwischen Nervenfaserschicht und Mem¬
brana hyaloidea abgelagert, in die Faserschicht selbst tritt die
Blutung kaum ein, nur wenige Blutzellen finden sich zwischen den
Nervenfasern. Eine weitere Blutung hat ihren Sitz in den tieferen
Schichten der Retina, ebenfalls direkt neben der Papille. Hier finden
sich Blutkörperchen besonders in der Zwischenkörnerschicht ein¬
gelagert, die Radiärfasern bogenförmig auseinander treibend, auch
zwischen den Körnern selbst liegen spärlich rote Blutkörper, noch
spärlicher in der inneren molekulären Schicht. Ein Zusammenhang
dieser zweiten Hämorrhagie mit der präretinalen ist nicht nachzuweisen.
Sonst erscheint die Retina, mit Ausnahme einer starken Hyperämie
der Gefässe, besonders der Venen, im Wesentlichen normal. Leichte
Veränderungen, so ein „Oedem“ der Zwischenkörnerschicht sind
wohl als postmortal anzusprechen; eine Veränderung der Gefäss-
wände ist nicht zu konstatieren, besonders keinerlei tuberkulöse Pro¬
zesse. — Der Optikus zeigt ebenfalls normale Verhältnisse, die Zen-
tralgefässe keine Thromben, keine Wandveränderungen. Die Chori¬
oidea erscheint auf Schnitten, die die Papille treffen, nur hochgradig
hyperämisch. Bei genauer Durchsicht der übrigen Präparate findet
sich weiter peripher eine zirkumskripte, dichte Zellanhäufung in der
Chorioicapillaris. Die Zellen haben den Charakter von mononu¬
kleären Leukozyten, einzelne mehr epitheloide Gebilde liegen da¬
zwischen. Die Chorioidea erscheint kaum verdickt an dieser Stelle,
das Pigmentepithel zieht unverändert darüber weg. Noch weiter
peripher nahe dem Aequator finden sich 3 typische miliare 1 uberkel
die ganze Dicke der Chorioidea durchsetzend. Dieselben zeigen den
bekannten Bau, in der Peripherie mehr Rundzellen, weiter epi¬
theloide Zellen und einzelne Langhans sehe Riesenzellen. In
der Umgebung sind die Kapillaren der Chorioidea hochgradig dila¬
tiert. Die Chorioidea erscheint hierdurch und durch die Einlagerung
der Tuberkel stark verdickt. Das Pigmentepithel auch hier unver¬
ändert. —
Das linke Auge gibt im Wesentlichen denselben Befund, nur
finden sich hier auch in der Nähe der Papille zwei mehr flächen¬
förmige, ziemlich ausgedehnte Infiltrate von Rundzellen und einzelnen
Epitheloidzellen, Riesenzellen sind hier nicht nachweisbar. Das Pig¬
mentepithel erscheint nur in sofern verändert, dass es sich teilweise
über den Knötchen mit der Retina ablöst, an der es haftet. — In der
Peripherie finden sich noch mehrere zum Teil typische kleinste Tu¬
berkel, die nicht wesentlich prominieren.
Tuberkelbazillen konnten in beiden Augen nicht nachgewiesen
werden.
Wir finden also anatomisch neben den Netzhautblutungen
noch eine Miliartuberkulose der Chorioidea. Die beiden mit
dem Augenspiegel gesehenen gelb-weissen Fleckchen zwischen
den Hämorrhagien links haben offenbar die tuberkulösen In¬
filtrate der Chorioidea als anatomische Grundlage, während die
übrigen Miliartuberkel entweder erst kurz vor dem Tode auf¬
geschossen sind oder aber durch das intakte Pigmentepithel
dem Blick entzogen waren.
Das Studium der Literatur zeigt, dass Blutungen bei
Miliartuberkulose ein zwar sehr seltener Befund sind, dass aber
einzelne derartige Fälle anatomisch schon vor langen Jahren
bekannt waren und nur scheinbar wenig beachtet worden sind.
Schon Cohnheim9) beschreibt in seiner zitierten Arbeit
einen solchen Fall: „In beiden Hintergründen erscheinen die Ge¬
fässe der Retina stark mit Blut gefüllt, und in der Nähe einiger
grösserer Stämme sieht man beiderseits mehrfache, verwaschene,
begrenzte Hämorrhagien in der Netzhaut“. Weiter erwähnt Wei¬
gert 10) in seiner berühmten Arbeit über die Pathogenese der Miliar¬
tuberkulose in seinem Falle II in beiden Retinae in der Nähe der Pa¬
pillen kleine Blutungen. Einen weiteren Fall, bei dem die Blutungen
auch ophthalmoskopisch gesehen waren, teilt Stricker31) mit; es
9) 1. c.
10) Virchows Archiv, Bd. 77.
11) I. c.
w l-t _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 35.
handelte sich um tuberkulöse Meningitis und um disseminierteTuberku-
lose des Mesenterium. Bei dem anderen Fall, den er anführt, handelt
es sich nicht um Miliartuberkulose, sondern nur um tuberkulöse
Meningitis. Chorioidealtuberkel fehlten in diesen Fällen. Ebenso
in einem von E vv e r 12) mitgeteilten Falle, der das Bild einer Retinitis
septica gab. Endlich ist noch ein Fall von Litten 13) zu erwähnen,
bei dem die Diagnose, ob Sepsis oder Miliartuberkulose, intra vitam
nicht gestellt werden konnte. Ophthalmoskopisch waren Retina¬
blutungen nachweisbar und bei der anatomischen Untersuchung „fan¬
den sich Hämorrhagien mit weissgrauen Zentren, welche sich als
kleinste verkäste Tuberkel nachweisen Hessen“. (Der Fall von
N e s r o w i c, der von Qroenouw in Graefe-Saemisch’ Handbuch,
II. Aufl., zitiert ist, gehört nicht hierher, da es sich dem Sektions¬
bericht nach um eine eitrige Meningitis infolge einer eitrigen Otitis
media und nicht um Tuberkulose handelt.)
Aus diesen Tatsachen geht hervor, dass wir bei der Dif¬
ferentialdiagnose zwischen Miliartuberkulose und Sepsis mit
der Verwertung des ophthalmoskopischen Befundes sehr vor¬
sichtig sein müssen. Entscheidend ist nur der Befund von
ganz typischen Chorioidealtuberkeln, dagegen sind Netzhaut¬
blutungen, wie die mitgeteilten Erfahrungen beweisen, in keiner
bestimmten Richtung diagnostisch verwertbar.
Aus dem St. Joseph-Hospital in Duisburg-Laar.
Ueber 7 Fälle von epidemischer Genickstarre im
niederrheinischen Endustriebezirk.
Von Dr. Emil K r ö b e r.
Wenn man die Literatur über die epidemische Genickstarre
durchliest, so überrascht es, dass trotz der Veröffentlichungen,
die besonders seit der Zeit der grossen amerikanischen und
oberschlesischen Epidemien erschienen sind, in bezug auf Sym¬
ptome und Verlauf der Erkrankung nicht in allen Punkten eine
Uebereinstimmung der Beobachter besteht. Es scheint mit¬
hin ein Unterschied zwischen den verschiedenen Epidemien zu
existieren. Im folgenden gestatte ich mir, die Beobachtungen,
die wir an dem uns zur Verfügung stehenden Material gemacht
haben, mitzuteilen. Während in dem benachbarten Schmidt¬
horst und Hamborn schon seit Monaten die epidemische Ge¬
nickstarre wütet, blieben die unmittelbar an diese Orte angren¬
zenden Vororte von Duisburg Stockum und Laar von dieser
tückischen Krankheit lange Zeit verschont. Erst im Mai dieses
Jahres wurde bei uns der erste Fall von Meningitis epidemica
festgestellt. Im Juni mehrte sich die Zahl der Erkrankungen.
Bis jetzt sind 7 Fälle in unsere Behandlung gekommen. Es
wurden nur Kinder betroffen, und zwar im Alter von 7 Monaten
bis 12 Jahren. Die Krankheit zeigte ein auffallend elektives
Verhalten. In ganz entgegengesetzten Stadtvierteln suchte sich
die Krankheit ihre Opfer, nur in einem einzigen Falle erkrank¬
ten in einem Hause 2 Kinder aus verschiedenen Familien. In
bezug auf die Frage des Prädisposition möchte ich hervor¬
heben, dass unsere sämtlichen kleinen Patienten aus kinder¬
reichen Arbeiterfamilien stammen, die enge zusammenwohnen
und ihren Kindern die nötige Hygiene nicht angedeihen lassen
können. Ein Patient litt an Skrofulöse, einer an Bronchiolitis
diffusa. Ein Status thymicus kam nicht in unsere Beobachtung.
4 unserer Kranken waren männlichen und 3 weiblichen Ge¬
schlechts. Der Beginn der ersten Erscheinungen bis zum voll¬
ständigen Ausbruch der Krankheit schwankte zwischen 1 bis
3 Tagen. Von unseren Fällen endeten 5 letal, 2 Kinder liegen
noch im Hospital. Diese beiden können bald als geheilt ent¬
lassen werden. In dem Falle, wo 2 Kinder in einem Hause er¬
krankten, starb das eine wenige Stunden nachdem der Arzt
hinzugezogen war, noch bevor es ins Krankenhaus eingeliefert
werden konnte. Bei 2 Kindern trat der Tod nach 3 Tagen, bei
einem nach 3K Tagen ein. Ein Kind starb nach 26 Tagen.
Als Vorboten der Erkrankung stellten sich in allen Fällen
heftiger Kopf- und Rückenschmerz, Abgeschlagenheit und Er¬
brechen ein. In 6 Fällen begann die Krankheit sofort mit
Fieber. Ein jetzt noch lebender Junge hatte anfangs kein Fie¬
ber, auch während des übrigen Verlaufes der Krankheit zeig¬
ten sich nur ab und zu ganz leichte Temperaturerhöhungen.
Ein S y m p t o m, welches sich in allen Fällen gleich nach den
ersten Vorboten einstellte, war eine mehr oder weniger starke
“) Dissertation, Berlin 1900.
13) D. med. Wochenschr. 1902.
Nackensteifigkeit. Dieselbe war in der Hälfte der Fälle, sehr
stark ausgeprägt, die Kinder bohrten den zurückgeworfenen
Kopf tief in das Kissen ein. Während man bei dem Versuche,
den Kopf des Kindes nach vorne zu beugen, den ganzen Ober¬
körper aufhob, waren seitliche passive Bewegungen des Kopfes
sehr wohl möglich. Das Fieber zeigte eine vollkommen un-
charakteristische Kurve. Bei dem einen, fast fieberlos ver¬
laufenden Falle war die höchste Erhebung 37,9 °. In den übri¬
gen Fällen bewegte sich das Fieber zwischen 38° und 40°. Die
Frequenz des Pulses war in diesen Fällen beschleunigt, aber
nicht immer der Fieberhöhe entsprechend. Eine Unregel¬
mässigkeit (Aussetzen eines Schlages) fiel in 2 Fällen auf. Ein
ganz normales Verhalten des Pulses zeigte der fast fieberlose
Fall. Das Bewusstsein war bei allen Kindern beeinträchtigt.
Völlig benommen waren die Kinder, welche in 3 — 4 Tagen ad
exitum kamen. Stuhl und Urin wurden spontan ins Bett ent¬
leert, nur ein noch lebendes Mädchen meldete im Anfang der
Erkrankung Stuhl- und Urindrang der Pflegerin. Bei allen
unseren Patienten bestand eine derartige Hyperästhesie, dass
ein einfaches Berühren der Haut als äusserst schmerzhaft emp¬
funden wurde. Die Furcht vor der passiven Kopfbewegung
war so stark, dass die Kinder laut aufschrieen und weinten,
wenn der Arzt das Zimmer betrat. Bei 3 Kindern stellten sich
öfters sehr heftige Erregungszustände ein. Die Kleinen tobten
und schrieen und versuchten aus dem Bett zu springen.
Krämpfe wurden bei dem Säugling beobachtet, der am
26. Krankheitstag ad exitum kam. Die Pupillenreaktion fehlte
nur in einem Falle. Die Prüfung der Sehnenreflexe zeigte bei
allen Kindern ein normales Verhalten. Hervorheben möchte
ich, dass das Kernig sehe Symptom, welches von einigen
Autoren öfters vermisst wurde, in allen unseren Fällen deutlich
ausgesprochen war. Herpes labialis zeigte sich mir in einem
Falle. Bei einem Knaben trat ein juckendes Ekzem in der Glu-
tealgegend auf. Eine Vergrösserung der Rachenmandel war
nur in einem Falle auffällig. 3 Kinder litten an starker Hyper¬
sekretion der Nasenschleimhaut. Der noch lebende Junge ist
im Verlauf der Krankheit erblindet. Eine öfters versuchte
Untersuchung des Augenhintergrundes scheiterte an der Un¬
ruhe des Kleinen. Bei diesem Kinde ist auffallend ein oft sich
zeigendes Erythema fugax beider Wangen. Die Lumbal-
p u n k t i o n wurde zu diagnostischen Zwecken bei allen Kran¬
ken sofort vorgenommen. Dieser bei richtiger Ausführung
ziemlich leichte Eingriff ergab in allen Fällen eine starke Ver¬
mehrung der Lumbalflüssigkeit und eine damit Hand in Hand
gehende oft enorme Erhöhung des intralumbalen Druckes bei
horizontaler Seitenlage. In allen Fällen betrug der Druck über
350 mm. Erst nachdem ca. 10—15 ccm Flüssigkeit abgelassen
waren, sank der Druck auf 100 — 140 mm. Es wurde jedesmal
so viel Flüssigkeit abgelassen, bis der intralumbale Druck unter
die Norm auf 90 — 100 mm gefallen war. Ueble Folgen wurden
dabei niemals beobachtet. Das Aussehen der Flüssigkeit war
leicht getrübt bis rein eiterig. Bei dem noch lebenden Mädchen
ergab eine 3 Wochen später zu therapeutischen Zwecken vor¬
genommene Punktion einen wasserklaren Liquor cerebro¬
spinalis. Bei der mikroskopischen Untersuchung fand sich
stets der Micrococcus intracellularis meningitidis und in 2 Fäl¬
len daneben noch Gram-negative Diplokokken. Die Sektion
konnte leider nur in einem einzigen Falle vorgenommen wer¬
den. Es fand sich dabei eine diffuse eiterige Entzündung der
weichen Hirn- und Rückenmarkshäute.
Unsere J herapie besteht in sorgfältiger Körperpflege
und Ernährung. Wenn die Kinder nach jeder Nahrungsauf¬
nahme erbrachen, bekamen sie Nährklysmen, die sie sehr gut
vertrugen. Traten im Verlauf der Krankheit Zeichen eines ge¬
steigerten intrakraniellen Druckes auf, so wurde zur thera¬
peutischen Lumbalpunktion geschritten. Auch bei ihr wurde
so viel Flüssigkeit abgelassen, bis der Druck unter die Norm
gesunken war. Aber irgend einen Heilerfolg nach der Lumbal¬
punktion haben wir in keinem einzigen der Fälle beobachtet.
Weder die Nackensteifigkeit noch das Erbrechen Hessen nach,
auch die Hyperästhesie wurden in keiner Weise durch den Ein¬
griff beeinflusst. Wir wirkten antiphlogistisch, indem wir den
kahlgeschorenen Kopf des kranken Kindes in Eis packten. Die
Kinder lagen permanent in der Eishülle. Innerlich gaben wir
das von einigen Seiten warm empfohlene Natrium jodatum.
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1715
Bei Erregungszuständen machten wir von dem Chloralhydrat
Gebrauch. Das Pilokarpin haben wir bei dem jetzt fast ge¬
nesenen Mädchen versucht. Veranlassung dazu gab uns eine
Exazerbation des Fiebers und eine damit verbundene Steige¬
rung der Krankheitssymptome. Es stellte sich merkwürdiger¬
weise kein Schweissausbruch ein, aber nach 2 Tagen fiel das
Fieber und die Krankheitssymptome Hessen nach. Von dem
Tage ab machte das Kind deutliche Fortschritte in der Ge¬
nesung, derart, dass heute die Nackensteifigkeit fast völlig
verschwunden ist. Es besteht nur noch eine mässige Hyper¬
ästhesie. Ob in diesem Falle das Pilokarpin diese günstige
Wendung hervorgerufen hat, erscheint mir zweifelhaft, da kein
Schweissausbruch stattgefunden hat. Von dem Natrium jodi-
cum haben wir keinen Erfolg gesehen. Leider konnten wir
seinerzeit das Meningokokkenserum nicht schnell genug be¬
schaffen, um es im Beginn der Krankheit anwenden zu können.
Hoffentlich gelingt es der Wissenschaft, ein Spezifikum gegen
diese tückische Krankheit zu finden, der wir bis jetzt noch fast
waffenlos gegenüberstehen.
Die Genickstarre beim 1. Train-Bataillon München
im Januar und Februar 1906.*)
Von Dr. Dieudonne, Dr. Wöscher und Dr. Würdinger.
In der Max II-Kaserne, wo ausser dem Trainbataillon eine Reihe
anderer Truppenteile (1., 3. und 7. Feldartillerieregiment, Equitations-
anstalt, Telegraphen- und eine Pionierkompagnie) untergebracht ist,
kam epidemische Genickstarre bis zum Jahre 1906 in 9 erklärten
Fällen zur Beobachtung, wovon 4 auf das 1. Feld-Art. -Rgt., 1 auf die
Telegr.-Komp. und 4 auf das 1. Trainbataillon treffen. Während in
früheren Jahren die Erkrankungen in grösseren Zwischenräumen auf¬
einander folgten und es sich nur im Jahre 1900 um 2, sonst aber bloss
um je einen Fall gehandelt hatte, waren im Jahre 1905 bereits 3 Fälle
von Genickstarre zu verzeichnen, wobei erwähnt zu werden verdient,
dass der Erkrankung im Jahre 1905 beim 1. Trainbataillon in der Früh¬
jahrszeit (der Mann erkrankte am 28. IV.) ziemlich erhebliche bau¬
liche Aenderungen im Kasernteil des Bataillons und auch in der Ge¬
gend jener Stube vorausgingen, in welcher der Erkrankte unter¬
gebracht gewesen war. Die jetzige kleine Epidemie begann am
23. Januar 1906, an welchem der Trainsoldat W. der 2. Komp, aus
Stube 153/11 morgens ganz plötzlich Krankheitszeichen darbot, welche
die sofortige Stellung der Diagnose „epidemische Genickstarre“ ge¬
statteten. Am 26. I. erkrankte ein Mann der gleichen Kompagnie
aus dem räumlich weit entfernten Saal 174/III unter ähnlichen Er¬
scheinungen und am 30. I. abends musste der Trainsoldat Str. dieser
Kompagnie aus 170/UI, der sich seit 25. I. zur Beobachtung seines
Geisteszustandes im Garnisonslazarett befunden hatte, wegen Ver¬
dachts auf Genickstarre auf eine andere Station verlegt werden.
Nach 9 tägiger Pause (den Str. als 2. Fall gerechnet, wenn er nicht
überhaupt schon als 1. Fall zu rechnen ist) ging am 3. II. der Train¬
soldat H. der 1. Kompagnie aus Saal 136/11 zu; ihm folgte nach
weiteren 9 Tagen am 12. II. morgens der Trainsoldat A. der 1. Kom¬
pagnie, auch aus Stube 136/11, der vom 5. mit 9. II. wegen Brust¬
katarrhs ohne Erhöhung der Körperwärme in Revierbehandlung ge¬
standen und am 10. und 11. II. im inneren Dienst verwendet war, am
17. II. der Trainsoldat St. der 3. Kompagnie aus Saal 83/1. Von da ab
kamen weitere Erkrankungen nicht mehr vor. Es sind also in dem
Zeitabschnitt vom 23. I. mit 17. II. 6 Mann des Bataillons = 1,7 Proz.
der Kopfstärke erkrankt, die alle im 1. Dienstjahr standen, wie auch
die oben erwähnten 9 Fälle früherer Jahre bis auf einen dem 1. Dienst¬
jahr angehörten. Von den Erkrankten sind 2 gestorben, 4 wurden in
die Genesungsanstalt Benediktbeuren übergeführt. Die Ansteckungs¬
quelle für die Erkrankungen konnte mit Sicherheit nicht festgestellt
werden. Die 3 zuerst Erkrankten waren an Weihnachten nicht be¬
urlaubt, in ihrer Heimat und an anderen Orten, woher sie ihre Pakete
erhalten hatten, waren Fälle von Genickstarre nicht gemeldet. Ihre
Erkrankung kann auch nicht in Beziehung mit den verschiedenen
Genickstarrefällen gebracht werden, die von Anfang des Monats
Februar ab unter der Zivilbevölkerung des Standortes München zur
Anzeige gelangten. Es dürfte deshalb die Ansteckungsquelle wenig¬
stens für den 1. Fall in der Kaserne selbst zu suchen sein, wobei zu
erwähnen ist, dass zwar die Zimmer 153/11, 174/III und 170/III der
2. Kompagnie, wo die ersten 3 Leute erkrankten, parkettiert sind,
dass aber der Boden des Ganges 172 mit Brettern aus Weichholz ge¬
dielt, stellenweise äusserst schlecht ist und weite Fugen aufweist.
Auf diesem sehr dunklen Gang werden die Appelle der Kompagnie
abgehalten. Nach dem Aufbrechen des Bodens an mehreren Stellen,
auch da, wo ganz neue ausgewechselte Bretter lagen, war die an sich
trockene und saubere Kiesfüllung an der Oberfläche teils mit zu¬
sammengebackenen, verfilzten Schmutzkrusten überdeckt, an einer
*) Nach 3 Vorträgen in der militärärztl. Gesellschaft München
im März 1906.
Stelle lag auf dem Kies in dicker Schicht der reinste Humus. Aehn-
liohe Verhältnisse im Aussehen des Fehlbodens traten im Saal 136/11
zutage, der noch einen
sehr schlechten Bretter¬
boden aus Weichholz be¬
sitzt. Bei der bakterio¬
logischen Untersuchung
der Fehlbodenproben ge¬
lang es nicht, den Meningo¬
kokkus festzustellen, doch
sei bemerkt, dass im De¬
zember 1900 nach einem
Fall von epidemischer Ge¬
nickstarre im hochgradig
verunreinigten Fehlboden
des Zimmers 137/11 Me-
ningokokken-ähnliche Di¬
plokokken gefunden wur¬
den. Nach den derzeitigen
Anschauungen erfolgt die
Uebertragung der Genick- ■■ ßenic&s?ccrre 7906
starre hauptsächlich durch _ ,
den Kontakt und durch ÜÜi JW minpo ccccen tragrer
Tröpfcheninfektion. Da¬
für scheint auch der Ausfall unserer bakteriologischen Unter¬
suchung sämtlicher 39 Mannschaften des Saales 136/11 zu sprechen,
aus dem zwei Fälle zugegangen waren. Hierbei fanden sich bei
5 Mann, die vollkommen gpsund waren, mit Sicherheit Meningo¬
kokken. Wie aus der anliegenden Skizze hervorgeht, waren diese
Kokkenträger zum Teil Bettnachbarn, so dass eine Kontaktinfektion
wohl möglich war. Bei den anderen in der Kaserne untergebrachten
Truppenteilen kamen keine Erkrankungen vor, trotzdem zu einer Ueber¬
tragung durch die verwickelten Belegungsverhältnisse reichlich Ge¬
legenleit gegeben war. Die Vorbeugungsmassnahmen erstreckten
sich auf sofortige Räumung der Zimmer und die übliche Desinfektion
mit Formalin und Kresolseifenlösung, namentlich auch der Wasche
nicht nur der Erkrankten, sondern auch sämtlicher Kokkenträger
und der Verdächtigen. Bis zur gründlichen Sanierung der Kasern-
räume sind die Mannschaften in Docker sehen Baracken unter¬
gebracht.
Klinisches.
Nachdem am 23. und 26. Januar je ein Mann zugegangen
war, wurde im Garnisonlazarett eine eigene Abteilung er¬
richtet. Von 3 nebeneinanderliegenden Sälen des Erdgeschosses
wurde der erste zur Aufnahme aller Zugänge des Bataillons mit
inneren Krankheiten, der zweite für die ausgesprochenen Ge¬
nickstarrefälle und der dritte als Beobachtungsstation vor der
Entlassung eingerichtet.
Krankengeschichten.
1. Trainsoldat W. ging am 23. I. bewusstlos zu, er zeigte bei
einer Temperatur von 38,8 grosse Unruhe, Pupillenstarre, Nacken¬
steifigkeit, Kernig sches Symptom, sehr lebhaften Kniescheiben¬
reflex und Babinski. Tags darauf kehrte das Bewusstsein zurück und
ging die Erholung ungestört vor sich. Weder im Nasenschleim noch
itn Blute waren mikroskopisch oder durch Züchtung Meningokokken
nachzuweisen.
2. Trainsoldat Sta. ging am 26. I. vollständig bewusstlos
mit heftigen Krämpfen zu, T. 39,6. In der Nacht wiederholtes Er¬
brechen. Am nächsten Morgen grosse Unruhe, sehr enge, reaktions¬
lose Pupillen, Strabismus divergens, Fehlen des Hoden-, Bauch-,
Kniesehnenreflexes, Nackensteifigkeit. Abends Rückkehr des Be¬
wusstseins und der Reflexe. Rückgang des Schielens. Im Nasen¬
schleim Meningokokken. Beginnender Dekubitus am Gesäss, den
Knieen und Ellenbogen, beim Bestreichen der Haut kein Nachröten,
Kernig sches Symptom vorhanden. In den nächsten Tagen blieb
das Bewusstsein wechselnd, bald frei, bald benommen. Die Tem¬
peratur war dabei mässig hoch fiebernd, Kopfschmerz, Nacken¬
steifigkeit hielten an. Die aufgelegenen Stellen heilten. Am 5. Fe¬
bruar trat Schwerhörigkeit auf dem rechten Ohr ein, welche sich
bis zu seiner Entlassung in unveränderter Weise hielt. Temperatur
war vom 13. an normal. An den aufgelegenen Stellen und an dem
Schulterblatt bildeten sich eine grosse Anzahl von Furunkeln. Vom
10. bis 15. ausgesprochene Urtikaria. Im Blut und Furunkeleiter
fanden sich Meningokokken. 11. April nach Benediktbeuern entlassen.
3. Trainsoldat Str. war am 25. I. zur Beobachtung seines Geistes¬
zustandes in das Lazarett verbracht worden und erkrankte daselbst
am 30. plötzlich an Kopfschmerezn und Erbrechen grüner Massen.
Abends bereits bei der Temperatur von 39,0 Nackensteifigkeit, in der
Nacht grosse Unruhe. 31. begann unter Fortdauer der starken Rück¬
wärtsbeugung des Kopfes Bewusstlosigkeit. Dieser Zustand hielt an,
bis am 3. II. Morgens der Tod eintrat. Die Sektion ergab reichliche
eitrige Exsudatbildung am Gehirngrund und längs des ganzen Rücken¬
markes und septische Lungenentzündung. Die Untersuchung des
Exsudates ergab Meningokokken und im Lungensaft Pneumokokken
und Meningokokken.
3*
1716
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
4. Trainsoldat H. ging am 3. II. in stark benommenem Zustande
zu, Kopfschmerz und Nackensteifigkeit, Ueberempfindlichkeit der
Haut, Kernig. Vom 7. an ungestörte Erholung. Im Blut und Nasen¬
sekret Meningokokken; am 21. März nach Benediktbeuern entlassen.
5. Trainsoldat A. ging am 12. II zu. nachdem er vorher 10 Tage
wegen Bronchialkatarrhs im Revierkrankenzimmer des Bataillons ge¬
legen war. Er erkrankte mit Kopfschmerz und Erbrechen grüner
Massen. Bei der Aufnahme wurde über Kopfschmerz geklagt und
der Kopf stark nach hinten gebeugt gehalten; im Nasenschleim
Meningokokken. In den nächsten Tagen wiederholte sich das Er¬
brechen und nahm die Nackensteifigkeit zu, dabei trat Bläschenaus¬
schlag an Lippe und Nase auf und wurden zeitweise Muskelzuckungen
im Gesicht und den Gliedmassen beobachtet. Nach 21 tägigem Fieber
3 Tage lang Fieberlosigkeit, jedoch vom 9. auf 10. erneuter Anstieg
auf 39,5, um dann bis zu dem am 1. IV. erfogtem Tode um 38° zu
schwanken. Dabei war der Kranke immer schlafsüchtig, die Nacken¬
steifigkeit und Ueberempfindlichkeit der Haut hielt an. Die Sektion
ergab ausser eitrigen Ausschwitzungen in der weichen Haut des
Rückenmarkes und Gehirngrundes eine ganz enorme Blutüberfüllung
in den Blutgefässen der weichen Hirnhäute beider Hirnhalbkugeln,
sodass dieselben grossenteils korkzieherartig gewunden waren,
und hochgradigen inneren Wasserkopf.
6. Trainsoldat Stre., am 17. zugegangen, zeigte ausser Kopf¬
schmerzen, Schwindel und Mattigkeit geringe Nackensteifigkeit und
Kernig, im Nasenschleime Meningokokken. Nach 6 tägigem geringen
Fieber normale Körperwärme, welche nur durch eine leichte Mandel¬
entzündung 3 Tage lang wieder erhöht wurde. Am 1. IV. nach
Benediktbeuern entlassen.
Wie aus obigem ersichtlich, boten die Krankheitsfälle im
allgemeinen Verlaufe kein besonderes Interesse. Es bewahr¬
heitete sich die auch von anderen Seiten beobachtete Bös¬
artigkeit der Mischinfektion von Pneumo- und Meningokokken,
indem der Fall Str. ungemein schwer, nach 8 Tagen tödlich
verlief und auch die Massenhaftigkeit der Ausschwitzungen in
den Hirnhäuten auffallend war.
Desgleichen wurde wieder beobachtet, dass Fälle, welche
einmal über 3 Wochen fiebern, wegen der hochgradigen Zirku¬
lationsstörungen im Gehirne entweder nur mit schweren blei¬
benden Nachteilen heilen oder zugrunde gehen. Betreff der
Vorgeschichte der beiden tödlich endenden Fälle mag von
Interesse sein, dass es sich bei beiden wohl um nicht ganz
regelrechte Gehirne gehandelt hat. Str. war nach Schilde¬
rungen seiner Eltern und Kameraden seit früher Jugend ein
sonderbarer Mensch, der zur Beobachtung seines Geisteszu¬
standes auf die Geisteskrankenstation aufgenommen wurde;
A. war nach Mitteilung seines Vaters immer ein sehr wenig
begabter, verschlossener Mann, der noch dazu 8 Monate vor
seiner Erkrankung gelegentlich einer Rauferei Schläge auf den
Kopf bekommen hatte, welche mehrere Wochen an seinem
Aufkommen zweifeln liessen (er selbst hatte davon nie etwas
angegeben).
Was die Vorboten betrifft, so war in 5 Fällen die Er¬
krankung jäh mit Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen und
Schüttelfrost aufgetreten, während sie in einem Falle, der auch
sonst sehr leicht verlief, allmählich sich ausbildete.
Von Seite der Haut konnte bei Sta. trotz Ueberempfindlich¬
keit der Haut eine hochgradige Neigung zum Aufliegen und Fu¬
runkelbildung festgestellt werden, welche wohl darauf zurück¬
zuführen ist, dass eine vollständige Reaktionslosigkeit der Ge-
fässe auf äussere Reize vorhanden war (kein Nachröten auf
Streichen der Haut). Derselbe hatte auch 5 tägige Urtikaria.
Herpes trat in 3 Fällen auf, Ueberempfindlichkeit der Haut in
allen Fällen. Die verschiedenen Reflexe zeigten kein typisches
Verhalten, indem sie in dem einen Falle vermehrt, in dem
anderen vermindert waren. Kernig fand sich in 5 Fällen.
Ungemein charakteristisch war in allen Fällen die Stellung
der Kranken im Bette. Sie lagen mit zurückgebeugtem Kopfe
auf der Seite, die Knie angezogen und die Hände zwischen den
Oberschenkeln. (Position en chien de fusil.)
Die Ernährungsstörung zeigte sich in den länger verlaufen¬
den Fällen A. und Sta. in auffälligster Weise, trotzdem die
Nahrungsaufnahme eine anscheinend durchaus genügende war.
A. verlor vom 3. II. bis zu seinem Tode am 1. IV. 23 kg,
Sta. vom 27. I. bis 16. II. 8 kg, er erholte sich aber in der
Zeit bis zum 11. IV. so, dass er wieder 10 kg gewann. Im
Harne trat in 4 Fällen Eiweiss auf. Von Seite der Ohren
wurde bei dem tödlichen Falle A. doppelseitige Herabsetzung,
bei Sta. eine bleibende Herabsetzung der Hörschärfe auf dem
rechten Ohre festgestellt. Strabismus und Nystagmus wurde
in den beiden schweren Fällen A. und Sta. vorübergehend be¬
obachtet.
Bei dem tödlich endenden Falle Str. trat am letzten Tage
vor dem Ende eine Lungenentzündung auf.
Die Behandlung bestand in Anwendung des Eisbeutels
auf Kopf und Nacken, Einreibung von grauer Salbe längs der
Wirbelsäule und in Lumbalpunktion. 2 mal wurden im akuten
Stadium heisse Bäder angewendet, von fernerer Anwendung
aber abgestanden, da in beiden Fällen Erhöhung des Fiebers
folgte und das Verbringen der so schwer beweglichen Kranken
in das Bad mit zu grossen Schmerzen für dieselben verbunden
war. In der Rekonvaleszenz aber wirkten heisse Bäder ent¬
schieden wohltuend. Die Lumbalpunktion, welche in der Mit¬
tellinie sehr leicht auszuführen ist, schien vorübergehend Er¬
leichterung, Verminderung der Schlafsucht zu bewirken, war
jedoch für das Endergebnis des Falles von keinem deutlichen
Erfolge. Wiederholte Kochsalz- und Kochsalz-Traubenzucker¬
infusionen konnten im Falle A. den rapiden Rückgang des Er-
ernährungsstandes nicht aufhalten, wenn auch vorübergehend
eine Besserung des Allgemeinbefindens einzutreten schien.
Es bleiben nur noch ein paar Worte über die im Lazarette
aufgenommenen Meningokokkenträger. Von ihnen litten 3 an
sehr heftigem Schnupfen, bei 2 von diesen trat ein Bläschen¬
ausschlag an Nase und Lippe auf, welcher in dem Falle W.
die ganze Nase, Ober- und Unterlippe, Kinn und sogar die
mittlere Nasenmuschel bedeckte. In 2 weiteren Fällen bestand
nebenbei sehr heftiger Kehlkopfkatarrh. In 3 Fällen waren gar
keine anderen krankhaften Erscheinungen nachzuweisen.
Bakteriologisches.
Die bakteriologischen Kenntnisse über den Erreger der
Meningitis cerebrospinalis epidemica sind durch die Unter¬
suchungen bei den grossen Epidemien der letzten Jahre sehr
geklärt worden.
Während vereinzelte Fälle von Meningitis durch eine Reihe
von Bakterien, durch Streptokokken, Pneumokokken, In¬
fluenzabazillen u. a. verursacht sein können, ist die Ursache
der epidemischen Genickstarre in dem von Weichselbau m
beobachteten und von J a e g e r bei einer grösseren Epidemie
genauer studierten Mikrokokkus meningitidis intracellulans,
dem Meningokokkus nachgewiesen. Bei allen epidemisch
auftretenden Genickstarrefällen wurde er fast konstant ge¬
funden.
Dass aber auch zur Zeit einer Genickstarreepidemie ein¬
zelne Fälle von Meningitis Vorkommen können, die durch
Pneumokokken verursacht sind, beweist der Fall M. des 2. Inf.-
Regts., der kurz vor der Epidemie im Trainbataillon dem hie¬
sigen Garnisonlazarett zuging und die typischen Symptome
der Meningitis darbot. Hier wurden bei wiederholten Unter¬
suchungen nur Diplokokken mit Kapseln mikroskopisch und
kulturell nachgewiesen und zwar im Nasensekret, im zirku¬
lierenden Blut, im Eiter eines Abszesses an der Hand, ein
Beweis, dass es sich um eine Pneumokokkensepsis handelte,
später wurden die Pneumokokken auch im hämorrhagischen
Harn, besonders in den darin enthaltenen eitrigen Bestandteilen
gefunden. Bei der Sektion enthielt der Eiter des Nieren-
abszesses Pneumokokken in Reinkultur, dagegen war das Herz¬
blut und die Milz steril, ein Zeichen, dass der eigentliche
septische Prozess abgelaufen war. Die Pneumokokken hatten
also auf dem Blutweg zuerst eine Meningitis und dann eine
Niereneiterung hervorgerufen. Solche vereinzelte Fälle sollte
man nicht als Genickstarre, sondern als Meningitis, in diesem
Fall als Pneumokokkenmeningitis bezeichnen.
Bei den Genickstarrefällen des Trainbataillons wurden mit
einer Ausnahme stets die Meningokokken, teilweise in grossen
Mengen gefunden. Die erste Kultur wurde erhalten aus der
Lumbalflüssigkeit und dem Blut des Soldaten Str., ferner fanden
sie sich bei der Sektion in Reinkultur in grossen Mengen in
dem dicken Eiter an der Gehirnbasis und im Rückenmark. In
den Ausstrichen der septischen Pneumonie wurden neben we¬
nigen .Meningokokken zahlreiche Pneumokokken gefunden,
ebenso in dem aus Mund und Nase ausfliessenden Nasensekret
und Lungenödem. Die kaffeebohnenförmigen Kokken lagen
/n grossen Mengen meist intrazellulär, manchmal auch extra¬
zellulär, sehr oft zu Tetraden vereinigt; besonders schön sicht-
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1717
bar sind sie bei Färbung mit eosinsaurem Methylenblau nach
M a y, wobei sich die dunkelblau gefärbten Kokken von dem
rötlichen Saum der Leukozyten deutlich abheben. Nach der
Gram sehen Färbung entfärbten sie sich. Zur Kultur eignet
sich am besten Aszites- oder Serumagar und Löfflerserum, auf
gewöhnlichem Agar ging eine Kultur aus dem Eiter gezüchtet
nicht an. Nach 24 Stunden im Brutschrank entwickelt sich
ein äusserst zarter Rasen, der aus feinsten Kolonien besteht,
erst nach 2 — 3 Tagen zeigt sich etwas deutlicheres, aber immer
noch zartes Wachstum. Ausstriche aus den Kulturen zeigen
die Kokken meist als Diplo- oder Tetrakokken, niemals in
Kettenformen angeordnet, oft sieht man aufgetriebene, schlecht
färbbare oder ungleichmässig gefärbte Kokken, die nach K o 1 1 e
als Involutions- oder Degenerationsformen aufzufassen sind.
Nach Gram entfärben sie sich stets. Die Kulturen sind an¬
fangs so empfindlich, dass man sie immer bei 37 0 halten und
täglich abstechen muss, eine im Schrank bei Zimmertemperatur
24 Stunden lang aufbewahrte Kultur ging nicht mehr an. Bei
späterem Fortzüchten der Kultur werden die Kolonien all¬
mählich stärker, und grösser, sodass man oft an eine Verun¬
reinigung denken könnte; sie sind dann auch nicht mehr so
empfindlich und brauchen nur alle 7 — 8 Tage abgestochen zu
werden, dagegen sind sie auch jetzt noch gegen Kälte emp¬
findlich. Die länger fortgezüchteten Kulturen wachsen nun
auch auf Glyzerinagar und gewöhnlichem Agar; die aus solchen
Agarkulturen ausgestrichenen Kokken sind auch gegen Gram
negativ, nur macht es den Eindruck, dass die Entfärbung nicht
so deutlich war wie bei den jüngeren Kulturen (die Gram sehe
Färbung war folgende: 3 Min. Karbol-Gentianaviolett, 2 Min.
Lugol sehe Lösung, kurzes Auswaschen in 3 proz. Azeton¬
alkohol, solange Farbstoff abgeht, Abspülen im Wasser, Nach¬
färben mit verdünnter Zi eh 1 scher Lösung; zur Kontrolle
wurden auf demselben Objektträger Staphylokokken mitge¬
färbt). Bei 22 0 wurde bei den jüngeren Kulturen niemals, bei
den älteren nur sehr spärliches Wachstum erzielt. Für Meer¬
schweinchen und Mäuse waren die Kulturen bei subkutaner
und intralumbaler Injektion nicht pathogen.
Eingehende Untersuchungen wurden über das Vorkommen
der Meningokokken im Nasen- und Rachensekret ausgeführt,
da hier allgemein die Eintrittspforte der Erreger angenommen
wird. Unter Benützung des Nasenspekulums wurde von Stabs¬
arzt Hasslauer mit einer kräftigen langen Platinöse durch
die Nase bis zur hinteren Rachenwand eingegangen und das
hängengebliebene Sekret auf Objektträger und Serumagai-
platten ausgestrichen. Nach den Untersuchungen von Lin-
gelsheim ist die Entnahme von den hinteren Partien der
Rachenwand notwendig, da hier hauptsächlich die Meningo¬
kokken in grösseren Mengen sich finden. Von den 6 Fällen
wurden 4 mal mikroskopisch und kulturell Meningokokken im
Nasensekret nachgewiesen, 2 mal nicht. Die mikroskopische
Untersuchung allein genügt nicht, da in der Nase oft Kokken,
namentlich der Micrococcus catarrhalis, vorhanden sind, die
nicht von den Meningokokken unterschieden werden können.
Die erhaltenen Kulturen wurden mittels eines Immunserums, das
durch dreimalige Injektion abgetöteter Kulturen bei Kaninchen
gewonnen war, später auch mit einem hochwertigen Serum
vom Institut für Infektionskrankheiten, sowie von der Firma
Merck näher geprüft; nur solche Kulturen, die in einer Serum¬
verdünnung von 1 : 100 bis 1 : 200 agglutiniert waren, wur¬
den als Meningokokken anerkannt. Die Züchtung aus der
Nase ist oft schwer, da die langsam und schwach wachsenden
Meningokokken durch andere Bakterien, namentlich Staphylo¬
kokken überwuchert werden; unsere negativen Resultate lassen
sich dadurch erklären. Jedenfalls finden sich aber die spezi¬
fischen Erreger sehr häufig im Nasen- und Rachensekret,
halten sich dort aber nicht lange; nach v. Lingelsheim
verschwinden sie aus der Nase in 30 Proz. der Fälle schon in
den ersten Krankheitstagen, in 50 Proz. in 10 — 14 Jagen, in
10 Proz. waren sie länger, bis zu einem Monat nachweisbar.
.1 a k o b i t z hat auf das Vorkommen der Meningokokken
im zirkulierenden Blut hingewiesen und es wurden daher sämt¬
liche Fälle im Beginn und im späteren Verlauf der Krankheit
darauf untersucht; grössere Menge Blut wurde mittelst Spritze
aus der Armvene entnommen und auf Serumagarplatten aus¬
gestrichen. Von 5 untersuchten Fällen waren 4 mal die Me¬
ningokokken kulturell nachweisbar, darunter in einem Fall,
bei dem im Nasensekret diese fehlten; mikroskopisch konnten
sie auch mit der May sehen Färbung nicht nachgewiesen wer¬
den. Im Falle St. wurden Meningokokken ausser im zirku¬
lierenden Blut auch im Eiter eines Karbunkels mit Sicherheit
durch Kulturverfahren und Serumdiagnose festgestellt; die Me¬
ningokokken finden sich also häufig im kreisenden Blut und
können, wie Strepto- und Pneumokokken zu lokaler Eiterung
führen. Die Verbreitung der Meningokokken auf dem Blutwege
von der Nase aus ist daher sehr wahrscheinlich. In den
späteren Stadien der Krankheit und in der Rekonvaleszenz
fanden sich die Kokken nicht mehr. Die bakteriologische Un¬
tersuchung des Blutes ist für diagnostische Zwecke sehr zu
empfehlen, da ein Ueberwuchern durch andere Keime nicht
stattfindet; auch scheinen die aus dem Blute gezüchteten Me¬
ningokokken kräftiger auf den Serumagarplatten zu wachsen.
Das von den Kranken gewonnene Blut kann man ausser¬
dem noch zur Serodiagnose verwenden; 3 der untersuchten
6 Fälle zeigten Agglutination mit echten Meningokokken bei
einer Serumverdünnung von 1 : 60 bis 1 : 100. Die Beobach¬
tung ist schwieriger als bei J'yphus und man muss wiederholt,
nach 2, nach 4 und 24 Stunden untersuchen. In zweifelhaften
Fällen kann die Serumreaktion wichtig sein.
In der Lumbalflüssigkeit wurden Meningokokken bei dem
einen untersuchten Fall nachgewiesen, in der Lumbalflüssigkeit
eines chronisch verlaufenden Falles, der tödlich verlief, waren
sie weder mit direkter Kultur noch nach Anreicherung nach¬
weisbar; auch zeigte die Flüssigkeit keine Agglutination. Bei
der Sektion fanden sich in der Ventrikelflüssigkeit und in den
eitrigen Membranen des Rückenmarks mikroskopisch verein¬
zelte Meningokokken; auf Aszitesagar wuchsen die Kokken
aber nicht mehr, sie waren also in ihrer Lebensfähigkeit ab¬
geschwächt. Im Inhalt von Herpesbläschen konnten die Kokken
nicht festgestellt werden.
Bei den letzten Epidemien wurden oft Meningokokken im
Nasensekret von Gesunden aus der Umgebung von Erkrank¬
ten, sowie von leicht an Schnupfen, an Kehlkopf- und Rachen¬
katarrh Erkrankten nachgewiesen. Es wurden daher bei allen
vom Trainbataillon im Lazarett wegen derartiger katarrha¬
lischer Erscheinungen zugegangenen Soldaten, im ganzen bei
29, das Nasensekret in der früher beschriebenen Weise mikro¬
skopisch und kulturell untersucht. Dabei fanden sich bei 4,
also in 13,7 Proz., mikroskopisch und durch Kulturverfahren
Meningokokken, ohne dass sie später an Meningitis erkrankten.
In einem Fall wurden mikroskopisch intrazelluläre Kokken ge¬
funden, die Kultur ergab aber, dass es sich um den in der Nase
öfter vorkommenden Mikrokokkus catarrhalis Pfeiffer handelte.
Diese von G h o n und Pfeiffer genau untersuchte Kokken¬
art ist mikroskopisch vom Meningokokkus nicht zu unterschei¬
den, sie entfärbt sich auch nach Gram, zeigt aber kulturell
dadurch Unterschiede, dass sie auf allen Nährböden, auch auf
gewöhnlichem Agar gut wächst, dickere Auflagerung zeigt und
auch bei Temperaturen unter 20° gedeiht, auch auf Gelatine,
also durchweg viel widerstandsfähiger ist als der Meningo¬
kokkus. In einem Fall wurde aus der Nase eine Streptokokken¬
art gezüchtet, die nach ihrer Lagerung in Diplokokken- oder
Kettenform, durch das regelmässige Vorhandensein einer
Kapsel auch bei längerer Fortzüchtung auf Serumagar und die
schleimige Beschaffenheit der Kultur als der von Schott¬
müller beschriebene Streptococcus mucosus angesehen wer¬
den musste. Die von den meisten früheren Untersuchern aus¬
geführte mikroskopische Untersuchung allein berechtigt also
noch nicht zu der Diagnose, dass es sich um Meningokokken
handelt.
Endlich wurden noch 14 Mann, die mit einem Kranken im
Revier gelegen hatten, ferner 6 Wärter aus dem Meningitissaal
und 1 Arzt untersucht, sämtliche mit negativem Erfolg.
Weiterhin wurden bei sämtlichen Mannschaften des Zim¬
mers 136, aus dem mehrere Fälle zugegangen waren, im gan¬
zen bei 39 Mann, das Nasen- und Rachensekret untersucht.
Mit der langen Oese wurde unter Spiegelbeleuchtung bis zur
hinteren Rachenwand gegangen und von jedem Nasenloch ein
Ausstrich auf einen Objektträger und auf eine Platte gemacht.
Bei 5 Mann wurden mikroskopisch und kulturell mit Sicherheit
Meningokokken nachgewiesen; einer davon erkrankte 2 Tage
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
1718
nach der Sekretentnahme mit Kopfweh und Erbrechen, doch
zeigten sich weiterhin keine Zeichen von Meningitis mehr, alle
5 wurden dem Lazarett überwiesen, bei 2 davon ergab eine
spätere Untersuchung nochmals Meningokokken, sie wurden
erst entlassen, als die wiederholte Untersuchung des Nasen¬
sekretes ein negatives Resultat ergeben hatte. In 3 Fällen
wurden mikroskopisch Gram-negative intrazelluläre Kokken
nachgewiesen, auf den Platten aber keine Meningokokken ge¬
funden und deswegen nicht als positiv angesehen. In einem
Fall wurden mikroskopisch anscheinend typische Meningo¬
kokken in geradezu enormen Mengen gefunden, auf den Plat¬
ten aber der Micrococcus catarrhalis nachgewiesen. In 3 Se¬
kreten wurden Pneumokokken in sehr grossen Mengen gefun¬
den. Bei der nur einmaligen Untersuchung der Mannschaften
eines Zimmers, in dem Fälle von Meningitis vorkamen, wurden
also bei 5 Gesunden (12,8 Proz.) die spezifischen Erreger fest¬
gestellt; zweifellos wäre diese Zahl bei wiederholter Unter¬
suchung noch grösser geworden. Wie bei Typhus und Cholera
finden sich also auch bei der Genickstarre Bazillenträger, die
die Krankheit verschleppen können. Derartige Untersuchungen
wurden bis jetzt nur vereinzelt ausgeführt, zuerst von
A 1 b r e c h t und G h o n, die von 15 Untersuchten einmal die
Kokken fanden, v. Lingelsheim fand sie bei 346 Gesunden
aus der Umgebung des Kranken 24 mal, J a e g e r und seine
Mitarbeiter bei 43 Mann 13 mal sicher, bei 9 Mann sehr wahr¬
scheinlich (nur mikroskopische Untersuchung), J a k o b i t z bei
62 von 190 Mann (nur mikroskopisch), Ostermann bei
6 Familien mit 24 Mitgliedern 17 mal. Die Meningokokken sind
also in der Nase Gesunder unter Umständen in grossen Mengen
vorhanden, ohne Meningitis zu erzeugen; warum die Kokken
nur in einzelnen Fällen auf die Meningen übergreifen, ob da¬
zu noch bestimmte Schädigungen notwendig sind und welche,
das wissen wir ebensowenig, als den Grund, warum die in der
Mundhöhle so verbreiteten Pneumokokken in die Lunge oder
in den Blutkreislauf gelangen. Offenbar bedarf es zum Zu¬
standekommen der Genickstarre ausser den spezifischen Er¬
regern noch gewisser disponierender Ursachen; eine derselben
scheint das Trauma zu sein, nach Kopferschütterungen oder
-Verletzungen wurde öfters Genickstarre beobachtet; ob die
Erkältung eine Rolle spielt, wissen wir nicht. Von den unter¬
suchten 39 Mann des Zimmers 136 hatten fast alle die Erschei¬
nungen eines Nasen- und Rachenkatarrhs.
Weitere Untersuchungen wurden angestellt über das Vor¬
handensein von Meningokokken im Nasensekret von Gesunden,
die keine Berührung mit Genickstarreerkrankten hatten, und
zwar bei einem Truppenteil, bei dem keinerlei Erkrankungen
vorgekommen waren. Bei 20 Mann wurde das Nasensekret
wie früher entnommen, nur in 2 Fällen fanden sich mikro¬
skopisch intrazelluläre Gram-negative Kokken in sehr grossen
Mengen, die ohne weiteres sicher als Meningokokken ange¬
sprochen worden wären, aber die Kultur ergab den Micro¬
coccus catarrhalis. Auch v. Lingelsheim und J a k o b i t z
fanden bei ihren Kontrolluntersuchungen wiederholt solche
intrazelluläre Kokken, die aber keine Meningokokken waren.
Man sieht daraus die Bedeutung des Kulturverfahrens, die
mikroskopische Untersuchung allein erlaubt keine Diagnose.
Derartige Kontrolluntersuchungen sind noch nicht zahlreich ge¬
nug angestellt, um sichere Schlüsse zu erlauben, doch kann
man nach den seitherigen Untersuchungen wohl sagen, dass
Meningokokken bei Gesunden, die keine Beziehung zu Menin¬
gitiskranken hatten, nicht Vorkommen. Die Behauptung von
Vansteenberghe und G r y s e z, dass sie in der normalen
Nasenhöhle so häufig Vorkommen wie die Pneumokokken in
der Mundhöhle und dass sie wie diese durch Erkältung patho¬
gen wirken, ist nach den in Deutschland gemachten Unter¬
suchungen nicht richtig.
Die Resistenz der Meningokokken gegen Austrocknen ist
sehr gering bei den frisch aus dem Körper gezüchteten Kul¬
turen; an Deckgläsern angetrockneteKulturen waren schon nach
24 Stunden bei 22 11 abgestorben, dagegen zeigten die längere
Zeit auf künstlichen Nährböden fortgezüchteten Kulturen etwas
grössere Widerstandsfähigkeit und blieben bis zu 3 Tagen an
Deckgläschen angetrocknet lebensfähig, am 4. Tage waren sie
abgestorben. Ob diese Empfindlichkeit aber auch bei den
mit dem Nasensekret auf den Boden entleerten Meningokokken
besteht, lässt sich doch wohl nicht sicher sagen, man muss be¬
denken, dass unsere künstlichen Nährböden keine günstigen
Lebensbedingungen für die Kokken bieten, wie aus den zahl¬
reichen Degenerationsformen in den mikroskopischen Präpa¬
raten hervorgeht, und dass diese schon an und für sich wenig
lebensfähigen Kokken bei schädlichen Einwirkungen bald ab¬
sterben. Im Staub des Zimmers 136, der an einer dunklen, dem
Licht wenig zugänglichen Stelle entnommen war, wurden auf
den Serumagarplatten Kokken isoliert, die anfangs grosse
Aehnlichkeit mit den Meningokokken zeigten, aber durch
Serum nicht agglutiniert wurden, man kann sie daher nicht als
Meningokokken ansprechen. In verschiedenen Fehlboden¬
proben fanden sich keine verdächtigen Kokken.
Die Frage nach der Resistenz gegen Austrocknung ist epi¬
demiologisch wichtig, weil sie entscheidet, ob die Genickstarre
von Person zu Person durch Tröpfcheninfektion beim Husten
oder Niessen, eventuell durch Kokkenträger, oder ob sie auch
durch Inhalation von kokkenhaltigem Staub, Fehlbodeninhalt
oder dergl. verbreitet wird. Nach den bei den letzten grossen
Epidemien gewonnenen Erfahrungen erfolgt die Uebertragung
hauptsächlich von Person zu Person durch ausgehustete Tröpf¬
chen oder durch frisch entleerten Nasen- und Rachenschleim,
der durch Vermittlung der Finger oder durch Gebrauchsgegen¬
stände in Nase und Mund gelangt. Ostermann hat fest¬
gestellt, dass Kokkenträger die Meningokokken beim Husten
bis zu einem halben und einem Meter verspritzen. Ausserhalb
des Körpers gehen die Meningokokken wohl bald zugrunde,
so dass sie im Staub selten Vorkommen, dagegen ist es doch
wohl möglich, dass sie in kompakteren Massen, z. B. mit dem
Nasensekret entleert, durch das schleimige Sekret geschützt
sind und eine gewisse Zeit in einem Fussboden mit zahlreichen
Rissen sich lebend halten; bei starken Erschütterungen, z. B.
beim Kehrtmachen beim Appell, können sie dann wohl auf¬
gewirbelt werden. Doch dürfte diese Verbreitungsart selten
sein im Vergleich zu der durch direkten Verkehr durch An¬
husten und durch Kontakt (Uebertragung durch Finger).
Durch den Nachweis der Kokkenträger ist die Bekämpfung
der Genickstarre schwieriger und umständlicher geworden.
Seither bestand sie in der Isolierung der Kranken im Lazarett,
der Desinfektion des Zimmers, der Wäsche und der Gebrauchs¬
gegenstände, sowie der Wäsche der Zimmerkameraden, der
Beobachtung aller Leute, die mit dem Kranken in Berührung
gekommen waren und der Verbringung aller mit Schnupfen,
Rachen- und Mandelentzündungen in das Lazarett; dies wird
auch fernerhin beibehalten werden müssen. Nun hat sich aber
bei unserer Untersuchung herausgestellt, dass auch Leute ohne
jede katarrhalische Erscheinungen Meningokokken in der Nase
beherbergten; diese wurden dann auch sofort im Lazarett iso¬
liert, so lange Kokken nachweisbar waren. Ohne die bakterio¬
logische Untersuchung wären diese nicht entdeckt worden;
man müsste also bei einer Epidemie sämtliche Mannschaften
des infizierten Truppenteils bakteriologisch durchuntersuchen,
was bei den grossen Schwierigkeiten der Züchtung und Identi¬
fizierung nur mit Heranziehung einer grossen Zahl von Hilfs¬
kräften durchgeführt werden könnte, und auch dann noch hätte
man nicht die Sicherheit, dass bei einmaliger Unter¬
suchung und bei der Entnahme eines winzigen Teiles des Nasen¬
sekrets wirklich alle Kokkenträger entdeckt würden. Aus¬
sichtsvoller erscheint dagegen die Anwendung eines Mittels,
das die Meningokokken in der Nase rasch und sicher abtötet;
da der Nasenrachenraum wohl sicher die Eintrittspforte dar¬
stellt, so haben wir bei der Genickstarre die Möglichkeit einer
lokalen Behandlung mehr als bei manchen anderen Infektions¬
krankheiten. Bei der Epidemie beim Trainbataillon wurde ein
Sozojodolschnupfpulver verwendet, ursprünglich nur bei den
Kokkenträgern, später bei sämtlichen Mannschaften. Nach
Ostermann werden eingehende Versuche über wirksame Stoffe
angestellt; H2O2 hat sich nicht bewährt. Man müsste dieses
Mittel bei allen Leuten anwenden, da die Zahl der Kokkenträger
wahrscheinlich eine grössere ist als wir vermuten. Bis dahin
wird es aber bei den seitherigen Massnahmen bleiben müssen;
besonders wichtig wäre noch die täglich mehrmalige gründ¬
liche Desinfektion des Fussbodens mit Kresolseifen- oder einer
Kaliseifenlösung, die Belehrung der Mannschaften über die Ver¬
breitungsart, insbesondere über die Gefahren des Ausspuckens
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1719
auf den Boden und des gegenseitigen Anhustens, über die Be¬
nützung der Spucknäpfe, ferner die Desinfektion der Taschen¬
tücher, die jeden Abend abzugeben und von einem Wärter in
Kresolseifenlösung zu legen wären.
Ob die Serumbehandlung etwas leistet, ist noch fraglich;
das Merck sehe Meningokokkenserum könnte vielleicht pro¬
phylaktisch im getrockneten Zustand als Pulver verwendet
werden, um die Kokken abzutöten.
Epileptiforme Krämpfe bei Diabetes mellitus. )
Von Dr. Alfons S t a u d e r in Nürnberg.
Seit Claude Bernards berühmtem Zuckerstich sind
unter dem Heere von Begleiterscheinungen, welche der Dia¬
betes mellitus mit sich bringt, die in seinem Verlaufe vor¬
kommenden Gehirnerkrankungen von grossem Interesse. Wir
wissen, dass unter den bei Diabetikern angetroffenen orga¬
nischen Erkrankungen des Gehirns verhältnismässig selten
solche verkommen, die in spezifischer Abhängigkeit vom Dia¬
betes stehen; hier sind die durch den schädigenden Einfluss des
Diabetes auf die Gefässwand bedingten Blutungen und Er¬
weichungsherde des Gehirns einzureihen, ferner die als chro¬
nische Vergiftungserscheinungen gedeuteten Fälle von ana¬
tomischer Erkrankung des Zentralnervensystems und Rücken¬
marks (N o o r d e n). Daneben existieren nun Fälle, bei wel¬
chen charakteristische Hirnsymptome Vorkommen, jedoch bei
der später- erfolgten Sektion die erwartete Herderkrankung
völlig fehlt. Diese Fälle sind in Analogie zu setzen den bei
Diabetikern ohne nachweisbare Neuritis bestehenden peri¬
pheren Nervenstörungen toxischen Ursprungs, dem Fehlen der
Patellarreflexe ohne Erkrankung der Nervi crurales, wie
Nonne solche Krankheitsbilder schildert, ferner den Fällen
von Pseudotabes diabetica (Althaus, v. Hösslin, v. Noor¬
den), die zwar alle Charakteristika einer Tabes, Störungen
der Sensibilität, Fehlen der Patellarreflexe, Neuralgien auf¬
weisen, jedoch ohne typische Erkrankungsherde im Rücken¬
mark. Unter den Gehirnsymptomen ohne Herderkrankung, die
nur selten zur Beobachtung kommen, sind Hemiplegien, Mono¬
plegien, Aphasie, Hemianopsie und lokalisierte Krämpfe nach
Art der J a c k s o n sehen Rindenepilepsie zu erwähnen. Hier¬
her gehören die von Buerschaper, Seegen und Red¬
lich beobachteten Lähmungen, bei denen eine anatomische
Ursache für die bestehenden Symptome durch die Sektion aus¬
geschlossen werden konnte, so dass für diese Fälle die An¬
sicht Schiubachs, der solche Hemiplegien als toxische er¬
klärt, zu Recht besteht. Eine andere Theorie zur Erklärung
dieser rätselhaften Lähmung stellt Fiitterer auf, der eine
glykogene Degeneration der Hirngefässe fand, die Störungen
in der Blutversorgung im Hirn hervorzurufen imstande sein
dürfte. Im Falle R e d 1 i c h s, der einen 35 jährigen Diabetiker
schwerster Art mit ca. 400 g täglicher Zuckerausscheidung
betraf, fanden sich rechtsseitige Hemiparesen und Aphasie,
welche in ihrer Intensität ungemein wechselten. Die Sektion
ergab im Zentralnervensystem weder makroskopisch noch
mikroskopisch pathologische Veränderungen mit Ausnahme
einer stärkeren Füllung der gröseren und kleineren Blut¬
gefässe, wie sie F r e r i c h s nahezu konstant bei Diabetikern
im verlängerten Mark fand.
R e d 1 i c h s Fall ist nun auch noch in anderer Beziehung
interessant, da in seiner Arbeit ein Symptom Erwähnung findet,
das nur in wenigen Krankheitsgeschichten wiederkehlt; ei
schreibt nämlich, dass in der hemiparetischen Körperhälfte
plötzlich Krämpfe einsetzten, welche anfallsweise auftreten.
,, Dieselben beginnen mit tiefen, von lautem Geräusch begleite¬
ten Inspirationen, darauf folgt ein kurzdauerndes Stadium
tonischer Krämpfe im rechten Fazialis und in der rechten
Halsmuskulatur, an das sich ein länger dauerndes Sta¬
dium klonischer Krämpfe anschliesst, und zwar im rechten
Fazialis und der rechten Kiefermuskulatur, wobei das Gesicht
und Kinn nach rechts verzogen wird, Krämpfe in der rechten
Halsmuskulatur mit Auf- und Absteigen des Kehlkopfes, Zuk-
kungen im rechten Arm.“
*) Vortrag, gehalten in der Medizinischen Gesellschaft und Poli¬
klinik am 15. III. 1906.
Auch für diese bis ans Lebensende sehr häufig wieder¬
kehrenden Krampfanfälle konnte auf dem Sektionstisch keine
pathologische Veränderung gefunden werden, wenn man nicht
die Hyperämie des Gehirns analog der starken Füllung der
Blutgefässe des Gehirns bei Kranken, welche an epileptischen
Anfällen oder Tetanus starben, als Effekt dieser Krämpfe deuten
will.
Der dieser Arbeit zugrunde liegende Fall weist nun eben¬
falls Krampfanfälle bestimmter Muskelgruppen auf, wie folgt:
Es handelt sich um eine 53 jährige, sehr korpulente Sacknäherin
W., deren Mutter gichtleidend war; 1904 litt diese Patientin neben
heftigem Durst, der sie zwang, bis zu 30 Liter Wasser täglich zu
trinken, an einem sehr heftigem Pruritus vaginae, welcher sich bis
auf die Innenseite der, Schenkel erstreckte und sehr quälend war. Der
konsultierte Frauenarzt Dr. Flatau fand als Ursache dieses sehr
hartnäckigen Leidens einen sehr hohen Zuckergehalt des Urins
(6,6 Proz.), Azeton und Azetessigsäure fehlten. Eine geeignete
Behandlung erzielte eine Besserung des Pruritus, sowie ein Sinken
der ausgeschiedenen Zuckermengen bis auf 2,6 Proz.; jedoch war die
Tagesmenge des ausgeschiedenen Zuckers dauernd eine beträchtliche,
da Pat. ständig infolge ihres grossen Durstes, der zwar bedeutend
nachliess, immerhin aber immer noch zu sehr reichlichem Trinken
zwang, grosse Urinmengen, 3 — 6 Liter täglich, absonderte. Der Pro¬
zentgehalt an Zucker betrug im November 1904 zwischen 4,2 und 5,2,
im Februar 1905 3,8, im März 4,5. Azeton und Azetessigsäure fehlten
dauernd. Erst Ende März 1905 trat eine dauernde Besserung ein;
der Durst reduzierte sich beträchtlich, der Juckreiz hörte ganz auf.
Patientin, welche sich bis dahin sehr streng gehalten hatte, ass nun¬
mehr nach und nach eine mehr Kohlehydrate enthaltende Kost. —
Am 19. Februar 1906 stellten sich nunmehr heftige Schwindelanfälle
mit dumpfen Stirnkopfschmerzen ein, das linke Auge sieht schlechter;
beim Bücken entstehen starke Krampfanfälle, welche den Kopf
nach links drehen und auf die linke Schulter und den Arm
übergreifen. Dieselben gehen mit Schmerzen in der linken Halsseite
und Schulter einher. Am 19. Februar zwei solche Anfälle, die jedes¬
mal 3 — 5 Minuten anhalten; am 21. Februar zwei Krämpfe.
Befund am 22. Februar 1906: Mittelgrosse, dicke Patientin von
gutem Ernährungszustand; ein für Azeton ziemlich charakteristischer
Geruch aus dem Munde; klagt über heftige Kopf- und Schulter¬
schmerzen. Pupillarreflex und Augenbewegungen normal. Fazialis
ohne Befund. Stirnrunzeln und Augenschliessen beiderseits gleich,
ebenso Gehör, Geruch und Geschmack. Zunge wird gerade vor¬
gestreckt, kein Tremor. Der linke Arm schwächer als der rechte.
Herz, Lunge, Abdomen ohne Befund. Urinbefund; Tagesquantum
ca. 3000, spez. Gewicht 1036, Reaktion sauer, Prozentgehalt Zucker
= 6,8, Tagesmenge des ausgeschiedenen Zuckers 204 g, kein Azeton,
keine Azetessigsäure, kein Eiweiss.
Am 23. Februar bekommt Patientin einen ca. 3 Minuten währen¬
den Anfall in der Sprechstunde; inmitten des Gespräches stockt die
Sprache, Patientin vermag nicht mehr zu antworten, reagiert auch
für die erste Minute sonst nicht auf Anrufen oder Berührung; das
Bewusstsein ist erloschen, wie Patientin nach Ablauf des Anfalles
selbst bestätigt. Der Kopf wird krampfhaft nach links
gedreht, bis er ‘ in einer Richtung mit der Schulter steht, dort
wird er starr festgehalten, bei passiver Drehung nach vorn, die nur
mit ziemlicher Anstrengung möglich ist, klagt Patientin über starke
Schmerzen; sobald der Kopf wieder frei ist, wendet er sich wieder
nach links. Zugleich stehen beide Augen ebenfalls starr
im linken Augenwinkel, soweit gedreht, dass nur die Sklera
sichtbar ist. Nach ca. 1 Minute wird plötzlich der linke Arm er¬
griffen, derselbe wird rechtwinklig gebeugt und pro-
niert bis zur Horizontalen erhoben; die Muskulatur des
Unterarmes ist schlaff, die Oberarmmuskulatur ist starr kontrahiert,
beim Andrücken des Armes an die Seite hebt auch er sich sofort
wieder; starker Tremor der linken Hand. Fazialis völlig unbeteiligt.
Kein Speichelfluss. Gesichtsmuskulatur ganz ruhig. In der zweiten
und dritten Minute vermag Patientin auf Fragen und Anrufen lallend
und noch etwas verworren und schwerfällig Bescheid zu sagen.
Nach Ablauf des Anfalles besteht noch für 3 Minuten Verwirrung.
Sofortige Bettruhe, grosse Mengen Alkali, viel Milch
und Selters, strenge Diät. Im Laufe des Tages wiederholen sich die
Krämpfe unter grossen Schmerzen noch 5 mal. Am 24. Febr. findet
nur noch 1 mal, am 25. Febr. der letzte Anfall statt; insgesamt vom
19. — 25. Febr. 13 Anfälle. Langsames Nachlassen der Schulter¬
schmerzen, noch lange andauernde heftige Kopfschmerzen, ca. 8 Tage
besteht eine Schwäche des linken Armes, der nur mühsam und mit
Unterstützung bewegt, speziell gehoben werden kann.
Am 5. März Urinmenge 2750 g, Reaktion: schwach alkalisch,
spez. Gewicht 1028, Zuckergehalt 2,3, entspricht 63 g Zucker im
Tagesurin. Zum ersten Male Azeton, Azetessigsäure,
minimale Spuren, quantitativ nicht bestimmt, von Eiweiss.
Am 13. März Tagesurin 1250 g; Reaktion neutral, Eiweiss, Azeton,
Azetessigsäure fehlen, Zuckergehalt = 3,3 Proz., entspricht einem täg¬
lichen Zuckerverlust von 41 g. Nur noch geringe Kopfschmerzen.
Eine vom Nervenarzt Dr. Fiirnrohr vorgenommene Nach¬
prüfung am 8. März ergibt kein einziges für eine Blutung oder einen
1720
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
Tumor des Gehirns charakteristisches Symptom. Sämtliche Gehirn¬
nerven ohne Befund. Es bestehen lediglich geringe Sensibilitäts¬
unterschiede im linken Vorderarm und Fehlen des Achillessehnen¬
reflexes.
Der vorliegende Fall hat mit dem R e d 1 i c h s viele Aehn-
lichkeiten. Hier wie dort halbseitige Krämpfe in den Hals¬
muskeln, welche in unserem Falle nur noch isolierter auftreten
und sich lediglich auf die Seitwärtsdreher des Halses, die Mm.
sternocleidomastoideus, obliquus capit. infer. und obliquus colli,
beschränken. Hier wie dort sind die den Arm erhebenden
Schultermuskeln, ferner die Oberarmmuskulatur in die Krämpfe
miteinbegriffen; dagegen fehlt in dem Falle W. die Beteiligung
des Fazialis, der Speichelfluss, alle die zum Tode führenden
schweren Symptome, Hemiparese, Aphasie, während im Falle
R e d 1 i c h s eine Beteiligung der Augenmuskulatur nicht er¬
wähnt ist.
Zunächst war man gezwungen, den eigenartigen Sym-
ptomenkomplex auf eine besondere Erkrankung der Hirnrinde,
auf eine im Bereich der vorderen Zentralwindung der rechten
Hemisphäre streng lokalisierte Blutung oder auf einen Er¬
weichungsherd zu beziehen. Die Diagnose erfuhr jedoch
eine wesentliche Aenderung, als nur wenige Tage nach An¬
wendung grosser Alkalimengen die Krämpfe und die Schmer¬
zen in Kopf und Schulter verschwanden, sowie die leichte
Parese des linken Armes sich zurückbildete. Das Fehlen jeg¬
licher Ausfallerscheinungen 11 Tage nach dem letzten Anfall
zwingt dazu, eine anatomische Störung des Gehirns als Ursache
der Krämpfe für unwahrscheinlich zu erachten.
Nur noch 1 Fall in der Literatur hat in bezug auf die Lokali¬
sation der Krämpfe Aehnlichkeit mit dem vorliegenden und
dem Falle Redlich s. Frerichs berichtet ebenfalls über
einen Diabetiker, bei dem neben Behinderung der Sprache und
Parese des rechten Fazialis chronische Krämpfe der rechten
Gesichts- und Halsmuskulatur eintraten. Hier wurde jedoch
ein pathologischer Befund bei der Sektion gefunden, nämlich
Zystizerken an verschiedenen Stellen des Gehirns mit teil¬
weiser Vereiterung des Kleinhirns.
Halbseitige, die Muskulatur einer Körperhälfte er¬
greifende, epileptiforme Krämpfe bei Diabetikern dagegen sind
wiederholt beschrieben worden. Abbe beschreibt einen
solchen Fall mit Krämpfen der ganzen rechten Körperhälfte,
auch der Gesichtsmuskulatur, Aphasie, mässiger Parese und
Hyperästhesie der rechten Seite. Eine Trepanation in der
Gegend des Sprachzentrums ergab völlig normale Verhält¬
nisse, Dura und Arachnoidea von gesundem Aussehen, der
vermutete Eiterherd oder Blutung fehlten. Kurz vor dem
Tode Krämpfe in beiden Körperhälften. Ebstein beschreibt
ebenfalls 4 Fälle von epileptischen Krämpfen bei Diabetikern,
darunter einen mit Hemiplegie und Anfällen von Jackson¬
scher Epilepsie in der gelähmten Seite. Fälle von epilep-
tiformen Krämpfen im ganzen Körper sind von J a k o b y,
v. Jaksch, Grenier u. a. beschrieben. Hierher gehören
auch die im Coma diabeticum auftretenden Krämpfe, von denen
Lepine, Dreschfeld und Kraus berichten.
v. Jaksch und M e t z le r haben nun durch Tierver¬
suche bewiesen, dass diese Krämpfe toxischer Natur sind, be¬
dingt durch Azeton. Bei Einspritzung von Azeton ins
Blut von Tieren waren bei denselben typische epileptiforme
Krämpfe zu beobachten. Ebstein und J a k o b y nennen
deshalb solche Krämpfe bedingt durch Azetonämie,
J a k o b y berichtet von einem Fall von intermittierender
Azetonämie, in welchem nur in der Zeit der Krampfanfälle
Azeton im Urin auftrat.
Auch vorliegender Fall dürfte verursacht sein durch eine
starke Vermehrung des Azetongehaltes des Blutes; es wurde
erst nach Ablauf der Krämpfe Azeton und Azetessigsäure im
Urin gefunden; in allen vorhergehenden Untersuchungen, ja
selbst in dem während der Krämpfe am 2. II. abgesonderten
Urin fehlt Azeton ständig.
Die Prognose solcher mit toxischen Krämpfen einher¬
gehenden Diabetesformen ist durchschnittlich eine schlechte;
es handelt sich immer um schwere Formen des Diabetes; je¬
doch sind Besserungen, wie dies ja der vorliegende Fall be¬
weist, nicht ausgeschlossen. Inwieweit diese Krampfzustände
als Frühsymptom eines drohenden Komas zu gelten haben,
lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls ist es in
solchen Fällen unter allen Umständen indiziert, die Patienten
als beginnend komatös zu behandeln, nämlich mit Zufuhr
grosser Mengen Milch, Selters und Alkali (80—100 g pro die),
ferner nach Ablauf der schweren Symptome mit strengster
Kohlehydratentziehung, Einschiebung von Gemüsetagen und
eventueller Reduktion des Eiweissquantums in der täglichen
Nahrung, um eine Entzuckerung möglichst zu erzielen. Auch
in vorliegendem Falle ist so mindestens dazu beigetragen
worden, den gefahrvollen Zustand fürs erste zu bessern; doch
ist die Kranke unter dauernder Kontrolle zu halten.
Aus der medizinischen Universitäts-Poliklinik in Heidelberg
(Direktor: Geh. Hofrat Vierordt).
Ueber das Jodpräparat Sajodin.
Von Dr. Fritz Junker, Assistenzarzt.
Die Jodtherapie war von jeher eine crux der Aerzte. So
vielfach indiziert die Anwendung von Jodpräparaten ist, so
häufig ist die gebräuchliche Medikation in Form der Jodalkalien
von Verdauungsstörungen und den unangenehmen Neben¬
wirkungen des Jodismus begleitet. Von den vorgeschlagenen
Ersatzmitteln hat bis jetzt nur das Jodipin weitergehende Be¬
achtung gefunden. Dieses Additionsprodukt von Jod an
Sesamöl ist nach unseren Erfahrungen wegen seines schlechten
Geschmacks und der so häufig auftretenden Magenstörungen
bei der Verwendung per os kaum als Fortschritt zu
betrachten, subkutan appliziert ruft es entschieden we¬
niger Nebenerscheinungen hervor als die innerliche Ver¬
ordnung von Jodkalium und Jodnatrium; die oft recht
heftigen Schmerzen an der Injektionsstelle sind allerdings eine
recht unangenehme Beigabe dieser Applikationsweise. Die
perkutane Verwendung von Jodpräparaten hat ebenfalls nur
ein beschränktes Indikationsgebiet.
Es musste deshalb die grösste Aufmerksamkeit erregen,
als Emil Fischer und J. v. M e r i n g [l], denen wir bereits
andere Bereicherungen des Arzneischatzes von bleibendem
Wert (z. B. Veronal) verdanken; eine neue intern
verwendbare organische Jodverbindung bekannt gaben, die
frei sein sollte von den lästigen Nebenwirkungen der Jod¬
alkalien. Unter mehreren Salzen hochmolekularer Monojod¬
fettsäuren hatte sich ihnen am praktischsten erwiesen das
monojodbehensaure Kalzium (C22H42 0 2j)2Ca, dem
der Name Sajodin gegeben wurde (zusammengezogen aus
Sapo und Jod wegen seiner seifenähnlichen Konstitution). Es
enthält 26 Proz. Jod, ist ein völlig geschmackloses, in Wasser
unlösliches, durchaus haltbares, weisses Pulver, das von den
Höchster Farbwerken und den Elberfelder Farbenfabriken in
Pulverform und in Tabletten ä 0,5 g in den Handel gebracht
wird.
Wir haben das Sajodin in der medizinischen Poliklinik
nunmehr bei einigen 50 Patienten angewandt, wobei besonders
solche Fälle ausgewählt wurden, die die frühere Jodmedikation
nicht gut ertragen hatten. In Anbetracht der wenigen Nach¬
prüfungen, die bis jetzt vorliegen, sollen unsere Erfahrungen
im Folgenden kurz mitgeteilt werden; sie sind recht
günstig ausgefallen, so dass wir kein Bedenken tragen, das
Mittel zu empfehlen. Es wurde gegeben bei sekundärer und
tertiärer Syphilis, Arteriosklerose in ihren verschiedenen Er¬
scheinungsformen, Bronchialasthma, chronischer Bronchitis,
Lungenemphysem, chronischer Gicht, chronischen Gelenk¬
erkrankungen, chronischer Bleiintoxikation und chronischen
Erkrankungen des Zentralnervensystems. Die Dosierung war
1,5 bis 3 g pro die (also ungefähr entsprechend der des Jod¬
kaliums), in einzelnen Fällen bis 5 g pro die.
Als Beispiele seien zunächst im folgenden einige kurze
Krankengeschichtenauszüge angeführt :
1. Wilhelm W., Buchhalter. Diagnose: Diabetes mellitus, Arthri¬
tis urica, Nephritis chronica, Arteriosklerose. Hat stets Jodkalium
oder Jodnatrium sehr schlecht ertragen, z. B. am 6. IV. 06 nach 2 g
Jodnatrium heftige Kopfschmerzen und Schnupfen. 14. IV. 06: Ordi¬
nation: Sajodin 2 g pro die. 18. IV: Etwas Schnupfen, kein Kopfweh.
Ordination: 3 g pro die. 15. V.: Hat jetzt 40 g Sajodin im ganzen er¬
halten, etwas Schnupfen und Kopfschmerzen machten sich ebenfalls
bemerkbar, aber viel weniger wie früher.
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1721
2. J. T., 53 J., Taglöhner. Diagnose: Emphysema pulmonum,
Bronchitis, Arteriosklerose, Myodegeneratio cordis. 10. III. 06: Jod¬
natrium 2 g pro die (daneben Digitalis). 15. III.: Hat heftige Kopf¬
schmerzen, Uebelkeit und Schnupfen bekommen. 20. III.: Sajodin 2 g
pro die. 10. IV.: Hat jetzt 30 g Sajodin erhalten ohne jegliche Neben¬
erscheinungen. 15. IV.: Erhält weiter Jodkali, das jetzt besser er¬
tragen wird wie früher.
3. H. W., 44 J., Metallgiesser. Diagnose: Asthma bronchiale,
Emphysema pulmonum, Bronchitis chronica. 1. IV. 06: Hat früher
auf Jodkali stets starkes Nasenlaufen bekommen. Auf grössere
Dosen auch Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit; erhält wegen starker
Dyspnoe seit 2 Monaten kleine Dosen Morphium, kein Jod mehr.
Ordination: Sajodin 2 g pro die. 5. IV.: Bis jetzt 10 g. Kein Nasen¬
laufen. Dyspnoe hat nachgelassen, Expektoration bedeutend er¬
leichtert. Weiter 3 g pro die. 15. IV.: Hat jedesmal nach dem
Pulver etwas Schnupfen und Durchfall bekommen. Einige Tage Aus¬
setzen. 25. IV.: Sajodin 2 g pro die, kein Durchfall, aber etwas
Schnupfen. 5. V.: Hat im ganzen 50 g Sajodin erhalten, ausser ge¬
ringem Schnupfen hat er keine unangenehmen Nebenwirkungen ver¬
spürt, lobt das Sajodin spontan ausserordentlich gegenüber früheren
Jodkuren.
4. J. B., 39 J., Dienstmann. Diagnose: Emphysema pulmonum,
Bronchitis chronica. Jodkalimedikation konnte bisher nie durch¬
geführt werden wegen heftigsten Jodismus. 14. IV.: Nach 1,5 g Jod¬
kalium heftige Kopfschmerzen, Schnupfen und Konjunktivitis. Aus¬
setzen. 19. IV.: Sajodin 2 g pro die. 19. V.: Hat jetzt 60 g Sajodin
ohne jede Erscheinung von Jodismus erhalten.
5. B. M., 31 J., Schuhmacher. Diagnose: Asthma bronchiale.
Ausserordenlich starke Jodidiosynkrasie auch auf subkutane Jodipin-
injektion (starke Kopfschmerzen, Schnupfen, Brechreiz). 2. IV. 06:
Ordination: Sajodin 2 g pro die. 14. IV.: Hat jetzt 20 g Sajodin er¬
halten, etwas Schnupfen war aufgetreten, sonst keine Nebenerschei¬
nungen.
6. P. G., 47 J., Hausierer. Diagnose: Lues III. Gumma
Iinguae, multiple Gummata der Extremitäten, gelappte grosse Leber,
Nephritis chronica. 26. III. 06: Hat in 3 Monaten 100 g Jod¬
kali genommen, hat an starkem Jodismus während der Zeit ge¬
litten, Appetitlosigkeit, Speichelfluss, Magendrücken, Kopfschmerzen,
Schnupfen, Augenlaufen, übler Geschmack im Munde, ist da¬
durch jetzt sehr heruntergekommen (Jodkachexie). 2. IV. 06:
Beginn mit Sajodin 2 g pro die. 10. VI.: Hat jetzt 80 g
Sajodin erhalten, etwas Schnupfen und Augenlaufen sind ebenfalls
aufgetreten, aber weniger stark, keine Kopfschmerzen und keine Er¬
scheinungen von Seite des Verdauungsapparates. Appetit und All¬
gemeinbefinden bedeutend gehoben. Lebervergrösserung deutlich
zurückgegangen, Gummata geschwunden.
7. J. G., 33 J., Buchhalter. Diagnose: Asthma bronchiale
(typische Anfälle seit dem 6. Lebensjahre), Volumen pulmonum acu¬
tum, zurzeit fieberhafte Bronchitis sicca, starke Dyspnoe (protra¬
hierter Anfall); auf Jodkuren früher stets Verminderung der Anfälle,
Jodkali wurde gut ertragen. 22. III. 06: Sajodin 2 g pro die, im gan¬
zen 15 g. Darauf Nachlassen der Atemnot, Erleichterung der Ex¬
pektoration, Entfieberung. Keine Nebenerscheinungen.
8. J. L., 33 J., Fuhrmann. Diagnose: Lues III., Gumma der hin¬
teren Rachenwand, Affectio apicis dextri, Cystitis chronica. Im
Dezember 1904 wegen Periostitis luetica tibiae mit Schmierkur und
Jodkali behandelt, geheilt, Jodkali gut ertragen. 21. III. 06: Nach
30 g Sajodin Gumma der hinteren Rachenwand völlig vernarbt.
9. A. N., 49 J., Glaser. Diagnose: Neurosis traumatica (Hypo¬
chondrie), Verdacht auf Hämatom der Dura. Auf Jodkali starker
Schnupfen. 1. IV. 06: Hat innerhalb 4 Wochen 50 g Sajodin ge¬
nommen, ohne dass Schnupfen aufgetreten wäre.
10. K. N., 40 J., Tapezierer. Diagnose: Emphysema pulmonum.
Bronchitis chronica, Bronchiektasien. Hat schon viel Jodkali ge¬
nommen, bekam stets mässigen Schnupfen. 27. III. 06: Nach 30 g
Sajodin kein Schnupfen. Expektoration erleichtert, Dyspnoe bedeu¬
tend gebessert.
11. W. G., 55 J., Fuhrmann. Diagnose: Bronchitis sicca sub-
chronica, etwas Volumen pulmonum acutum. 2. IV.: Nach 20 g Sajo¬
din (3 g pro die) bedeutende Besserung. Nachlassen des Hustens
und der Atemnot, Auswurf flüssiger.
12. E. L., 31 J., Hausbursche. Diagnose: Emphysem pulmo¬
num, Bronchitis chronica, hat schon öfter Jodkali erhalten.
Zuweilen etwas Schnupfen danach, sonst aber gut ertragen. 6. IV. 06:
Zurzeit starke Dyspnoe, Expektoration sehr zäh und erschwert.
Ordination: Sajodin 4 g pro die. 11. IV.: Expektoration erleichtert,
reichlicher und flüssiger, Atemnot geschwunden, objektiv, Bronchitis
bedeutend zurückgegangen. Appetit seit Einnahme des Pulvers etwas
schlechter.
13. F. J., 29 J., Kaufmannsfrau. Diagnose: Thrombosierende Phle¬
bitis. Nach Jodkali Magenstörungen (Appetitlosigkeit, Aufstossen,
Drücken). 15. IV. 06: Sajodin 2 g pro die. 21. IV.: Nach 10 g typische
Jodakne. Aussetzen. 2. V.: Nach 5 g wiederum Akne. Magen¬
störungen waren keine aufgetreten. Sajodin ausgesetzt. 5. V.: Er¬
hält wieder Jodkali, das jetzt besser ertragen wird, danach keine
Akne.
14. W. F., 67 .1., Mechaniker. Diagnose: Arteriosklerose, starke
Gastrektasie und Gastritis chronica. Jodkali oder Jodnatrium konn¬
ten wegen bald auftretender Verschlimmerung der Magenerschei¬
nungen nur kurze Zeit gegeben werden. 7. III. 06: Sajodin 1,5 pro die.
10. IV. 06: Hat 50 g Sajodin erhalten, ohne dass die Magenerschei¬
nungen wir früher stets auf Jodmedikation sich verstärkt hätten.
15. R. N., 24 J., Dachdecker. Diagnose: Lues II. Vor einem
Jahr Infektion, damals Schmierkur. Jetzt: Papulae madidantes ani,
Angina specifica, nächtliche Kopfschmerzen. 16. V. 06: 'Sajodin 2 g
pro die. 20. V.: Kopfschmerzen geschwunden. Unter Sajodin und
Schmierkur Verschwinden der übrigen Erscheinungen, keinerlei
Nebenwirkungen.
16. H. S., 40 J., Fabrikarbeiter. Diagnose: Lues III. Ulcera an
beiden Unterschenkeln. Hat 50 g Jodkali gut ertragen (Beginn der
Kur am 20. IV. 06). Geschwüre in Vernarbung begriffen. 7. VI.:
Fortsetzung der Jodmedikation in Gestalt von Sajodin. 29. VI.:
Geschwüre völlig vernarbt.
17. G. M., 57 J., Heizer. Diagnose: Arteriosklerosis cordis,
häufige stenokardische Anfälle. Bisher auf längeren Jodkaligebrauch
stets Verminderung der Anfälle. 27. V. 06: Hat 40 g Sajodin erhalten,
die Anfälle, die in der letzten Zeit sehr häufig waren, sind fast völlig
geschwunden.
18. J. W., 58 J., Schneider. Diagnose: Arteriosklerose, Myo-
carditis chronica, Verdacht auf luetische Grundlage. Seit 2 Jahren
anfallsweise auftretende Erscheinungen von Herzinsuffizienz, die
Hauptstörungen wurden durch Digitalis jedesmal gehoben. 6. II. 06:
Auf 4 g Digitalis Verschwinden der leichten Oedeme und der Er¬
scheinungen von Stauungsniere. Ordination: Sajodin 0,5, 3 mal täg¬
lich. Puls noch unregelmässig. 25. II. 06: Nach 25 g Sajodin, völlig
beschwerdefrei, Puls regelmässig.
19. W. G., 55 J., Fuhrmann. Diagnose: Emphysema pulmonum,
Bronchitis chronica. Hat auf Jod jedesmal Schnupfen bekommen,
nach längerem Gebrauch auch Appetitlosigkeit. 6. V. 06: Hat 30 g
Sajodin ohne Nebenerscheinungen ertragen. 8. V. 06: Erhält weiter
Jodkali 2.5 pro die-. 15. V. 06: Diesmal kein Schnupfen.
20. G. U., 69 J., Taglöhner. Diagnose: Arteriosklerose. Auf Jod¬
kali früher stets Appetitlosigkeit und Magendrücken. 10. VI. 06: Hat
15 g Jodkali (3 g pro die) ohne Magenerscheinungen ertragen.
21. H. W., 53 J., Fabrikarbeiter. Diagnose: Emphysema pulmon.,
Bronchitis chronica. Die anfallsweisen Verschlimmerungen mit starker
Dyspnoe werden durch Jodkali jedesmal prompt gebessert. 10. V. 06:
Wieder Exazerbation. Ordinat. : Sajodin 1,5 g pro die. Keine Besse¬
rung der Beschwerden. 13. V.: 3 g pro die. 18. V.: Da ebenfalls
kein wesentlicher Erfolg, wieder Jodkali, 2 g pro die. Darauf
Besserung.
Von allen unseren Patienten wurde das Mittel wegen
seiner völligen Geschmacklosigkeit gern und ohne
Anstand genommen. Es kann direkt ohne Oblaten auf die
Zunge genommen und mit einem Schluck Wasser herunter¬
gespült werden. Dadurch zeichnet es sich von vornherein vor
allen Jodpräparaten in der vorteilhaftesten Weise aus; alle Pa¬
tienten, die früher schon andere Jodmittel genommen hatten,
rühmten spontan diesen Vorzug.
Des weiteren bestätigte sich, dass das Mittel ungefähr¬
lich ist und keinerlei Vergiftungserscheinungen hervorruft. Dass
es resorbiert wird und Jodwirkung entfalten kann, konnte durch
die bald auftretende Jodreaktion des Harns nachgewiesen
werden.
Die Behauptung der Entdecker und der übrigen Autoren
(Mayer [2], Roscher [3], L u b 1 i n s k i [4]), dass das
neue Präparat keine oder wenigstens viel weniger
Nebenerscheinungen macht, deckt sich ebenfalls mit
unseren Erfahrungen. Auch aus der Arbeit Kochs [5], der
sich zwar im Allgemeinen zurückhaltender über die Eigen¬
schaft des Mittels, Jodismus zu verhüten, ausspricht, als die
obigen Autoren, geht hervor, dass immerhin das Sajodin in
dieser Beziehung den Jodalkalien überlegen ist. Bei uns kamen
leichte Erscheinungen von Jodismus in ein¬
zelnen Fällen zwar zur Beobachtung, jedoch
nicht im entferntesten in den Graden wie bei den Jodalkalien.
Insbesondere war es auffallend, dass Patienten, die früher hoch¬
gradige Jodidiosynkrasie gezeigt hatten, Sajodin längere Zeit
und in grossen Dosen anstandslos nehmen konnten (z. B.
Fall 2 u. 4). In einem Falle (No. 5) erwies es sich sogar der
subkutanen Jodipininjektion weit überlegen. Erscheinungen
von Seite des Verdauungskanales, Durchfall und Appetitlosig¬
keit, traten nur sehr selten und in ganz leichter und trotz Fort¬
gabe des Mittels vorübergehender Art auf. Die hochgradige
Appetitlosigkeit, die sich früher oft bei Gebrauch von Jod¬
salzen bemerkbar gemacht hatte, zeigte sich nie beim Sajodin.
Es konnte auch bei bestehenden Magenstörungen ohne Schaden
1722
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
gegeben werden (Fall 14). Besondere Diätvorschriften (Ver¬
bot saurer Speisen) erwiesen sich als entbehrlich. Von den
Erscheinungen des Jodisrnus war in einzelnen Fällen leichter
Schnupfen zu konstatieren, der sich aber niemals zu höheren
Graden steigerte und vor allem nicht den mit unerträglichen
Kopfschmerzen verbundenen Stirnhöhlenkatarrh, worunter die
jodnehmenden Patienten früher oft zu leiden hatten, im Gefolge
hatte (z. B. Fall l). Leichte Konjunktivitis trat nur einmal auf.
Bei dem einen Falle (No. 13), wo nach Sajodingebrauch
2 mal Jodakne auftrat, bei Jodkaligebrauch jedoch nicht, ist
natürlich mit Sicherheit nicht zu entscheiden, ob hier das Sa-
jodin schlechter ertragen wurde und eher Intoxikation setzte
als Jodkali oder ob nur zufälligerweise die allmähliche Ge¬
wöhnung an Jod sich gerade beim Wechsel der Medikation gel¬
tend machte. Nach den übrigen Erfahrungen ist mir das letz¬
tere wahrscheinlicher. Denn es schien öfter, als ob durch die
mildere Jodmedikation in Gestalt des Sajodin der Organismus
eine grössere Toleranz gegen Jodpräparate überhaupt all¬
mählich gewinnen könne. Wenigstens konnte in einzelnen
Fällen, bei denen früher nach längerem Jodgebrauch keine Ge¬
wöhnung, sondern im Gegenteil immer steigende Erschei¬
nungen von Jodismus aufgetreten waren, nunmehr, nachdem
eine Zeitlang Sajodin oft ohne Nebenerscheinungen gegeben
war, die Jodmedikation in Gestalt des weniger teuren Jodkali
wieder fortgesetzt werden, ohne dass die Beschwerden den
Grad wie früher erreicht hätten, z. B. Fall 2 und 19.
Ob es überhaupt jemals möglich sein wird, durch ein Prä¬
parat die Nebenerscheinungen des Jod in allen Fällen ganz zu
vermeiden, erscheint zweifelhaft. Auf jeden Fall ist das Sajo¬
din allen bisherigen Jodmitteln in dieser Hinsicht weit überlegen.
Was die therapeutischen Erfolge betrifft, so ist
zunächst zu bedenken, dass ein greifbarer Effekt der Jodthera¬
pie bei manchen Erkrankungen, wo wir sie nach althergebrach¬
ter Indikation anzuwenden pflegen (z. B. den chronischen nicht
syphilitischen Erkrankungen des Nervensystems und der Ge¬
lenke) oft schwer zu beweisen ist. Von den Krankheiten, bei
denen die Jodwirkung schon besser gesichert erscheint, sahen
wir bei Arteriosklerose und Lungenemphysem gute Erfolge.
Noch greifbarer ist die Jodwirkung beim Asthma bronchiale,
wo in mehreren Fällen ein schnelleres Abklingen und deutliches
Seltenerwerden der Anfälle zu konstatieren waren. Das gleiche
gilt von der chronischen Bronchititis, insbesondere den
trockeneren Formen, wo bedeutende Erleichterungen erzielt
wurden. Jedenfalls stand bei all diesen Erkrankungen die
Wirkung des Sajodins der des Jodkalis in gleicher Dosis nicht
nach, nur einmal (No. 21) schien es zu versagen.
Den feinsten und einen durchaus zuverlässigen Indikator
für Jodwirkung besitzen wir jedoch in dem Einfluss auf die
Produkte der tertiären Syphilis. Unsere dahin gehenden Er¬
fahrungen (z. B. No. 6, 8, 16) decken sich mit denen Roschers
aus der Lesserschen und Mayers aus der Lassarschen Klinik
in Berlin. Der heilende Einfluss des Sajodins war deutlich zu
konstatieren in gleicher Dosis wie bei Jodkali.
Trotzdem das Sajodin nur den dritten Teil Jod enthält
wie Jodkali, hat es sich auch uns, in gleicher Dosis wie dieses
gegeben, bezüglich der therapeutischen Wirkung als völlig
gleichwertig erwiesen. Da es ungleich besser ertragen wird,
kann es unter Umständen in grösseren Tagesdosen und viel
länger verordnet werden, so dass es energischere Jodkuren
und eine Steigerung des therapeutischen Effekts ermöglicht.
Die bis jetzt vorliegenden wenigen Untersuchungen sind
natürlich noch nicht hinreichend, um ein v ö 1 1 i g abschliessen¬
des Urteil über das Mittel, insbesondere darüber, ob es die Jod¬
alkalien in jedem Falle zu ersetzen vermag, zu fällen. Aber
schon jetzt kann gesagt werden, dass es einen zweifellosen
Fortschritt in der Jodtherapie bedeutet und ausgedehnte wei¬
tere Nachprüfungen verdient.
Literatur:
1. Emil Fischer und E. v. M e r i n g: Ueber eine neue Klasse
von jodhaltigen Mitteln. Med. Klinik 1906, No. 7. — 2. May e r: Der¬
matol. Zeitschr. 1906, No. 3. — 3. Roscher: Med. Klinik 1906, No. 7.
— 4. Lublinski: Therapeut. Monatsh. 1906, H. 6 — 5. Koch:
Therapie der Gegenwart, Juni 1906.
Der Alkoholismus in München.
Von Dr. V o c k e in Eglfing.
Zur Ergänzung der Mitteilungen Kraepelins im Aerzt-
lichen Verein München (s. diese Wochenschrift No. 16, S. 737)
erscheint es nicht unangebracht, auch darüber Aufschluss zu
geben, wie viele Personen im Jahre 1905 wegen einer durch
Alkoholmissbrauch bedingten Geistesstörung in der Irrenanstalt
München bezw. Heil- und Pflegeanstalt Eglfing verpflegt wur¬
den und welche Summe für ihre Unterbringung und Verpfle¬
gung vom Kreise Oberbayern, den Armenpflegen, der Staats¬
kasse, von Privaten oder Krankenkassen aufgewendet werden
mussten.
Laut Uebersicht I waren es 124 Männer = 18 Proz. aller männ¬
lichen Anstaltsptleglinge im Jahre 1905, welche insgesamt 26,798 Ver¬
pflegstage erforderten, was einem Durchschnittsbestand von 74 Kran¬
ken entspricht.
Für 24 601 Verpflegstage wurden nur 1 M. 10 Pf. bezahlt, für
1556 Tage täglich 2 M. und für 641 Verpflegstage in der II. Klasse
täglich 2 M. 50 Pf., insgesamt 31 194 M.
Die Zahlen der alkoholkranken Frauen sind beträchtlich geringer.
10 Kranke erforderten 2389 Verpflegstage und 3430 M. 50 Pf. an Ver-
pflegsgeldern.
Tabelle I.
Krankheiten, Verpflegungstage und Verpfleggelder
der im Jahre 1905 in der Kreisirrenanstalt München bezw. Heil- und Pflegeanstalt Eglfing verpflegten Alkoholkranken.
Zahl der
Kranken
Verpflegungstage
Summa der gezahlten Verpfleggelder
Krankheit
ä
lM.lOPf.
ä
2 M. und
mehr
Summa
Armenpflege
Staatskasse
Private
Kranken¬
kassen
Summa
M.
Pf.
M.
Pf.
M.
Pf.
M.
Pf.
M.
Pf.
1.
Chronischer Alkoholismus .
66
10 647
871
11 518
11 139
60
124
30
1 026
80
1 232
13 522
70
2.
Korsakow- und chron. Alkoholpsvch.
18
5 106
162
5 268
4813
40
—
—
803
_
324
—
5 940
40
3.
Patholog. Rauschzustände ....
3
389
91
480
427
70
—
—
—
—
182
—
609
70
4.
Imbezille mit Alkoholismus od. Rausch¬
exzessen .
16
3 309
557
3 956
2 916
10
53
90
1 629
10
388
4 987
10
5.
Epileptiker .
15
3 565
471
4 036
3 386
90
—
—
166
20
824
—
4 377
10
6.
Psychopathen .
6
1 495
45
1 540
803
114
40
839
60
—
1 757
—
a) Summa der Männer
124
24 601
2 197
26 798
23 486
70
292
60
4 464
70
2 950
—
31 194
—
b) für Frauen
10
2 125
264
2 389
1 708
40
303
60
1 418
50
—
—
3 430
50
Summa
134
26 726
2 461
29 187
25 195
10
596
20
5 883
20
2 950
_
34 624
50
Von auswärtigen Armenpflegen
. -
—
—
—
3 624
30
Von Armenpflege^Miinchen
—
—
—
—
21 570
80
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1723
Alle Alkoholkranke belegten demnach das ganze Jahr hindurch
ständig 80 Betten und erheischten einen Aufwand von 34 624 M. 50 Pf.
für Verpflegsgelder. Von dieser Summe hatten aufzubringen:
die Staatskasse .
596
M.
20 Pf.
- 1,7
Krankenkassen .
. 2 950
V
V
= 8,5
auswärtige Armenpflegen .
. 3 624
V
30 „
= 10,5
Private ........
. 5 883
20 „
= 17,0
die Armenpflege München
. 21 570
V
80 „
= 62,3
Hiermit sind die Aufwendungen für die alkoholkranken Pfleglinge
unserer Anstalt in einem Jahre keineswegs erschöpft. Einerseits
haben wir nur jene Kranke in Berechnung gezogen, die ohne Trunk¬
sucht oder bei völliger Abstinenz der Anstaltspflege sicher nicht
anheimgefallen wären, während bei einer grösseren Zahl von nicht-
beriicksichtigten Kranken höchst wahrscheinlich ebenfalls nur
der Alkohol die Ursache der jetzigen Geistesstörung und Anstalts¬
bedürftigkeit ist.
Andererseits ist es klar, dass der Einnahmebetrag von
1 M. 10 Pf. pro Verpflegstag die wirklichen Betriebsausgaben der
Anstalt nicht deckt. In der Tat zahlt der Kreis Oberbayern alljährlich
einen sehr hohen Zuschuss zur Deckung des Defizites zwischen Ein¬
nahmen und Ausgaben. Letztere stellen sich für einen Kranken
III. Klasse pro Tag nicht unter 2 M. 20 Pf., so dass der Kreis bei einer
Einnahme von 1 M. 10 Pf. gerade denselben Betrag zuschiessen muss
_ und bei einem Tagessatz von 2 M. in der III. und 2 M. 50 Pf. in
der II. Klasse mindestens noch 20 Pf. pro Verpflegstag. Dieser Zu¬
schuss des Kreises beträgt demnach für die in Rede stehenden Kran¬
ken im Jahre 1905
für 26 726 Verpflegungstage ä 1 M. 10 Pf. tgl. = 29 398 M. 60 Pf.
und für 2 461 Verpflegungstage ä 0,20 M. tgl. — 492 „ 20 „
also in Summa: 29 890 M. 80 Pf.
Ausserdem hat der Kreis die Verzinsung des Anlagekapitals zu
tragen, das pro Bett in Eglfing rund 7000 M., für 80 Betten also
560 000 M. beträgt. Rechnet man 4 Proz. Zinsen, so macht das jähr¬
lich 22 400 M. für Verzinsung aus und die Gesamtaufwendungen be¬
ziffern sich — wie Uebersicht II zeigt — alsdann pro 1905 auf
86 915 M. 30 Pf.
T a b e 1 1 e, II.
Berechnung der Gesamtauslagen
für alle im Jahre 1905 in der Anstalt München bezw. Eglfing unter¬
gebrachten Alkoholkranken.
Art der Ausgabe
Summa
M.
Pf.
Verpfleggelder von Armenpflege .
21 570
80
„ auswärtigen Armenpflegen ....
3 624
30
„ der Staatskasse .
596
20
„ Privaten .
5 883
20
„ Krankenkassen .
2 950
—
Betriebszuschuss des Kreises Oberbayern .
Verzinsung von 80 Betten ä 7000 M. zu 4 Proz. durch
29 890
80
den Kreis Oberbayern .
22 400
—
Kosten für Alkoholkranke im Jahre 1905: Summa
| 86 915
30
Hievon trägt der Kreis faktisch:
Betriebszuschuss .
29 890
80
Verzinsung von 80 Betten ä 7000 M. zu 4 Proz. . . .
22 400
—
Rückersatz an Armenpflege München drei Viertel von
21 570 M. 80 Pf .
16 178
10
Summa
68 468
90
Der Hauptanteil hievon entfällt auf die allerdings kräftigen Schul¬
tern des Kreises, denn neben den letzterwähnten 2 Posten hat er an
jene Gemeinden, die mit Armenlasten überbürdet sind, drei Viertteile
der durch Unterbringung von Geisteskranken erwachsenen Kosten
zurückzuersetzen. Die Armenpflege München erhält somit von ihren
Aufwendungen für die in unserer Anstalt im Jahre 1905 verpflegten
Alkoholkranken 16 178 M. 10 Pf. vom Kreise zurück, so dass diese
Kranken dem Kreise allein nahezu 70 000 M. in einem Jahre gekostet
haben.
Auch unsere Zahlen sprechen deutlich für die Notwendig¬
keit der Errichtung von Trinkerheilstätten, für die ökono¬
mischen Schäden, die der Alkohol verursacht und das mate¬
rielle Interesse der Kreise, Kommunen und Krankenkassen an
der Bekämpfung dieses Volksübels.
Afrikanische Aerzte.
Von Bernhard Struck.
Bei allen Naturvölkern findet sich der Glaube, dass Unglück,
Tod und Krankheiten durch überirdische Wesen, seien es nun Gott¬
heiten, Ahnengeister oder Dämonen, veranlasst werden. Hilfe und
. Heilung sucht man bei Mittelspersonen, die durch ihre übernatürlichen
Kräfte imstande sind, mit den Geistern in direkten Verkehr zu treten,
sie zu versöhnen oder zu bezwingen. Daher finden wir häufig die
Funktionen von Priester, Arzt, ja auch Zauberer und Wahrsager so
vereint, so durcheinander geschoben, dass es selbst dem geübten
Ethnologen schwer wird, bestimmte Grenzen zu ziehen.
Verhältnismässig leicht lässt sich der Unterschied bei den Neger¬
völkern des afrikanischen Kontinents festlegen. Wohl kommt es ver¬
einzelt vor, dass die Aemter des Priesters, Arztes, Zauberers in einer
Person sich vereinigen, aber die überwiegende Mehrzahl hat für ihren
Verkehr mit der Geisterwelt, je nach dessen verschiedener Art, be¬
sondere Vermittler.
Sind die Fetischpriester die Diener der Gottheit durch Opfer und
Gebet, so bedienen sich vielmehr die Wunderdoktoren oder Fetisch¬
ärzte — Nganga o. ähnl. ist das Wort, mit dem die Völker des grossen
südafrikanischen Sprachstammes sie bezeichnen — ihrer Fetische, und
zwingen den Geist kraft ihrer Zaubermittel und Sprüche in geheimnis¬
voller Weise in ihre Macht, und heilen die Krankheit, indem sie den
bösen Geist bannen oder versöhnen. Es versteht sich von selbst, dass
die Aerzte neben diesem geheimnisvollen Schwindel über aus¬
gebreitete Kenntnisse der einheimischen Heilpflanzen und Gifte ver¬
fügen müssen, und in der Tat vertrauen sich deshalb mitunter auch
Europäer ihrer Kunst an — aber was ihnen bei der unwissenden
Menge Ansehen und Einfluss verschafft, ist immer der Schein des
Wunders und der höheren Macht. Infolgedessen muss der afrikanische
Arzt vor allem darauf bedacht sein, das Vertrauen seiner Kunden zu
seiner Person, ihren Glauben an seine innigen Beziehungen zur Götter¬
welt zu erhalten und zu befestigen.
Als charakteristisch für ihre soziale Stellung mögen die Angaben
gelten, die schon der alte Pater Zucchelli (1698 — 1702) über einen
Medizinmann des unteren Kongo macht: „Er hatte sich in ein solch
Ansehen beym Volcke gebracht / dass wenn er an das Meer gieng /
oder an einen Fluss / musten sie ihm Fische geben / so viel er nur
verlangte / ohn einige Bezahlung / und niemand unterstunde sich ihm
etwas zu sagen. Also wenn er sonsten was benöthiget war / von
Speiss und Tranck / von Melaffo / Ziegen und Hühnern, oder Zu-
gemüsse / oder anderen Früchten von dem Felde /durffte er sie nur nach
seinem Gefallen nehmen / wo er sie bekommen kunte / ohne einiges
Widersprechen.“ Die afrikanischen Aerzte üben sogar einen weit
grösseren Einfluss aus als die Häuptlinge, so dass ein Häuptling, der
zugleich Medizinmann ist, wirklich unumschränkte Gewalt besitzt.
Welche Macht aber der Medizinmann, wenn er mit seinem Amte
das des Fetischpriesters verbindet, über Leben und Tod seiner Volks¬
genossen hat, hat schon Dr. Karl Pototzky in seinem Aufsatz über
die „Gottesurteile der Afrikaner“1) betont.
Um das Volk in seinem Glauben zu bestärken, erhält nun alles,
was den Zauberdoktor umgibt, Kleidung, Wohnung und Lebensweise,
einen Anstrich des Phantastisch-Mystischen. In grellfarbige Ge¬
wänder gekleidet, im Gesicht bemalt, mit dichtem Federschmuck auf
dem Kopf, um den Hals an Schüren und Riemchen Knochenteile und
die bekannten, mit dem Zauberbrei gefüllten Antilopenhörnchen, so
begibt sich der afrikanische Arzt zu seinem Patienten. Selbst einen
besonderen Berufsnamen legt er sich bei, wie „Allüberwinder“,
„Schlangenauge“ etc.
Auch die Honorarfrage sei hier kurz beleuchtet! Vielfach treffen
wir hier den Grundsatz, dass überhaupt nur dann bezahlt wird, wenn
die Behandlung von Erfolg begleitet war; die Kuren sind dann ziem¬
lich kostspielig. Oder aber die Vergütung des Arztes selbst ist gering;
dann müssen jedoch dem Arzt (dessen Funktionen hier bereits in die
des Priesters übergehen) für den Fetisch allerlei Opfergaben über¬
geben werden, über deren weiteres Schicksal natürlich kein Zweifel
herrschen kann.
So sehr sich hier die Afrikaner von unserem „Brauch“ entfernen,
so lassen sich doch in manch anderer Hinsicht Parallelen zwischen
ihnen und unserer modernen Aerzteschaft aufstellen. So kennen sie
z. B. die Einrichtung spezialistischer ärztlicher Ausbildung. Fuaga,
ein Medizinmann in Ostafrika, erzählte Dr. Kersting, es gäbe in
der Natur Medizinen ohne Zahl. Die Materia medica sei zu gross, um
von einem Medizinmann allein, und sei es der begabteste, gekannt
zu werden. Es gibt daher nur Medizinmänner für einzelne Teile des
Wissens. So zählt Kropf bei den Kaffern nicht weniger als acht
verschiedene Arten von Doktoren auf, und an der Kongomündung
finden wir Spezialisten für Bauchkrankheiten, Beulen und Augen¬
krankheiten. Die Spezialisierung wird aber auch dadurch begünstigt,
dass nur ganz bestimmte Fetische und die bestimmten Aerzte, die
Macht über sie haben, die Heilung bestimmter Krankheiten bewirken.
Als Assistenten dienen häufig — Musiker, offenbar in der Erkenntnis
der beruhigenden Wirkung der Musik bei Operationen. Auch eine
andere unserer neuesten Errungenschaften, das Frauenstudium, ist bei
1) „Umschau“ 1906, No. 16.
1724
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
den Negern — und schon seit langen Zeiten — bekannt. Hier sei nur
an die weiblichen Aerzte bei den Warundi in Deutsch-Ostafrika er¬
innert.
Betrachtet man die Beweggründe, die einen jungen Afrikaner dem
ärztlichen Berufe zuführen, so könnte man drei Arten unterscheiden.
Entweder, und dies findet sich bei einer Anzahl von Stämmen Süd¬
afrikas und des oberen Kongo, ist das Amt des Arztes erblich. Man
könnte fast sagen, dass dieser Brauch eine gewisse Berechtigung hat;
denn die durch die andauernde Erregung in Tänzen und Ekstasen ent¬
standene nervöse Reizbarkeit des Vaters kann sich vererben und er¬
leichtert dadurch dem Sohne die Uebernahme des väterlichen Berufs.
Eerner geben gewisse Zufälle der Natur die Veranlassung zur Wahl
des Arztberufes, so z. B. sind in Liberia die Zwillinge dazu prädispo¬
niert, da man ihnen besondere Heilkräfte zuschreibt. Endlich wird
nach der Ansicht der Mehrzahl der afrikanischen Stämme der zu¬
künftige Doktor durch übernatürliche Kraft berufen, und erlangt seine
Kenntnisse durch Offenbarung, die ihm die Geister zuteil werden
lassen.
Wer sich so berufen fühlt, d. h. wer so intelligent ist, den
Fetischschwindel zu durchschauen und an seiner Einträglichkeit teil-
nehmen zu wollen, zieht zu den weithin bekannten, in gewissen Zen¬
tren, „Universitäten“, zusammenwohnenden Medizinmännern und be¬
ginnt das Studium. Man lernt nur bei einem, weil es, wie der er¬
wähnte „Dr.“ Fuaga sagte, doch wohl nur wenigen gelingen würde,
mehr als eines grossen Mannes Geist zu erschöpfen. Ausserdem
würde die Sache zu kostspielig werden; der einjährige Besuch eines
„Kollegs“ muss z. B. bei den Basorongo mit rund 95 M. vergütet
werden, eine für Afrikaner doch recht beträchtliche Summe. Die
Lehrzeit ist in den einzelnen Gegenden von verschiedener Dauer,
etwa 1 — 5 Jahre.
Was die Art der Ausbildung anbetrifft, so werden die Zöglinge
theoretisch in Vorträgen unterwiesen und dann praktisch im Auffinden
der Medizinen in Wald und Feld unterrichtet. Ausserdem darf der
„Student“ den Lehrer mitunter ans Krankenlager begleiten, wo er
dann sorgsam auch die notwendigen Zeremonien und Zaubereien sich
anzueignen sucht.
Die „Abschlussprüfung“ endlich findet gelegentlich eines
„Aerztekongresses“ statt, der zu bestimmten Zeiten im Walde tagt.
Es werden dabei althergebrachte Bräuche gepflegt, und Arzneien
werden mitgebracht und besprochen. Die Kandidaten werden nun
einem regelrechten Examen unterworfen, entweder theoretisch (Kräu¬
terkunde) oder an einem schweren Krankheitsfall. Hier kann der
„Student“ zeigen, was er gelernt hat. Bei nicht genügenden Kennt¬
nissen muss er sich noch weiteren Unterricht erteilen lassen und sich
später noch einmal der Prüfung unterziehen. Ein abermaliges Durch¬
fallen macht den Schüler jedoch, wie von den Kaffern berichtet wird,
untauglich für den ärztlichen Stand. Erweist er dagegen genügende
Kenntnisse, so erfolgt seine Approbation. Vielfach erhält er ein
äusseres Abzeichen seiner neuen Würde, so z. B. bei den Wassumbwa
(Deutsch-Ostafrika) eine Löwenklaue, die man ihm an eine Stirnlocke
bindet.
Der neue Doktor kehrt dann zu seinem Stamme zurück. In
abenteuerlicher Kleidung, von dem afrikanischen Nationalinstrument,
der Trommel, begleitet, tritt er in der Versammlung seiner Dorf¬
genossen auf und führt sich nun, wie Missionar Bohner2) uns von
der Goldküste schildert, durch eine Reihe verblüffender Zauberstück¬
chen bei ihnen ein. Von jetzt ab erblicken sie in ihm eine geschickte
und geeignete Persönlichkeit, um die Heilkunst auszuüben, und ver¬
fehlen auch sonst nicht, ihn zu allerlei, besondere Kräfte erfordern¬
den Unternehmungen als Rater und Helfer beizuziehen. Seine Tätig¬
keit hat begonnen.
Die oben erwähnten Aerzteversammlungen dienen aber auch der
Regelung von Standesangelegenheiten. Der Aerztestand bildet so
stets eine geschlossene Macht, für jeden Kollegen tritt, wenn es gilt,
die gesamte Aerzteschaft ohne Zögern ein. Denn auch ihnen droht
oft Gefahr. Abgesehen davon, dass mit der fortschreitenden neuen
afrikanischen Kultur das Volk dem Treiben der Fetischärzte mit
stets wachsender Kritik zuschauen wird, so gibt es für die Aerzte¬
schaft noch einen Feind, den wir ja leider auch bei uns nur allzu
gut kennen: das Kurpfuschertum. Und dessen Vertreter verstehen es
auch dort, den Mangel an wirklichen Kenntnissen durch ein Plus an
Hokuspokus zu verdecken. Dass nun die Kurpfuscher Afrikas mit
nicht geringerem Erfolge arbeiten werden als die des „aufgeklärten“
Europa — bedarf wohl keiner besonderen Versicherung!
Referate und Bücheranzeigen.
K. v. Bardeleben: Lehrbuch der systematischen Ana¬
tomie des Menschen für Studierende und Aerzte. 2. Hälfte
(Darmsystem, Harn- und Geschlechtsorgane, Gefässystem,
Nervensystem, Haut- und Sinnesorgane). Urban &. Schwar¬
zenberg, Berlin-Wien. 1906. S. 405 — 996 (XI S.), 7 Figuren.
Preis 12 M. (das ganze Buch — beide Abteilungen — 22 M.
geheftet, 24.50 M. gebunden).
*’) „Im Lande des Fetisches.“ Zweite Auflage. Basel 1905.
Die vorliegende Lieferung ist die unmittelbare Fortsetzung
der bereits ausführlich besprochenen ersten Hälfte des Werkes.
Es gilt auch für diesen Teil des Buches ungefähr das Gleiche,
was über den ersten hier gesagt wurde. Auf eine ausführliche
Besprechung kann daher wohl verzichtet werden. Besonders
merkwürdig berührt die sehr ungleiche Behandlung der Litera¬
tur. Bald wird viel und ganz Nebensächliches zitiert, bald der
bemerkenswertesten und grundlegenden Untersuchungen über
einen Gegenstand gar nicht einmal gedacht. Der Preis von
12 M. kann nicht als niedrig bezeichnet werden, da nur wenige
(7) ganz einfache Abbildungen im ganzen Buche (das ganze
kostet 24 K> M.) enthalten sind. Das soeben erschienene Buch
von Rauber-Kopsch zeigt, dass man für billiges Geld
auch Vorzügliches liefern kann. J. S o b o 1 1 a - Würzburg.
Rauber-Kopsch: Lehrbuch der Anatomie. VII. Auf¬
lage. In 6 Abteilungen. Leipzig, Georg T h i e m e, 1906. Ab¬
teilung I: Allgemeiner Teil. 180 Seiten, 221 Abbildungen.
Preis 5 Mk. Abteilung II; Knochen, Bänder S. 181 — 510. 425
Abbildungen. Preis 8 Mk.
In vollständig neuem und — das muss rückhaltlos aner¬
kannt werden — ausserordentlich verschöntem Gewände er¬
scheint das Lehrbuch von Räuber in der Neubearbeitung
von K o p s c h - Berlin. Bis jetzt liegen die beiden ersten
Lieferungen vor. Der Autor hat sich in der richtigen Erkennt¬
nis, dass das so inhaltreiche Lehrbuch von Räuber einen
nicht annähernd den modernen Anforderungen entsprechenden
Bilderschmuck zeigte, als erste Aufgabe gestellt, die fast
durchweg schlechten Abbildungen bei Bearbeitung der Neuauf¬
lage zu ersetzen. Dass der Autor seiner Aufgabe voll und
ganz gerecht geworden ist, zeigt der erste Vergleich zwischen
dem alten und dem neuen Lehrbuch. Die grosse Mehrzahl der
Abbildungen im Rauber-Kopsch sehen Buche, soweit es
bis jetzt vorliegt, muss als vorzüglich bezeichnet werden. Die
Vergrösserung des Buchformates hat dabei gleichzeitig ermög¬
licht, auch wesentlich grössere Abbildungen zu bringen als
bisher. Die Abbildungen sind mittels sehr sauberer, teilweise
sogar mustergültig guter Reproduktion in Autotypie hergestellt
(soweit sie erneuert wurden). Zum Teil wurden mehrfarbige
Bilder benutzt.
Im allgemeinen Teil ist die Mehrzahl der Bilder anderen
Autoren entlehnt, in der zweiten Lieferung sind die neuge¬
schaffenen Bilder nach Originalpräparaten gezeichnet und auf
besondere Tafeln (Kunstdruckpapier) gedruckt. Obwohl vieles
wirklich mustergültig reproduziert ist, sind auch Bilder dar¬
unter, die nicht auf der Höhe stehen, wie Fig. 310, namentlich
311, 332—335, 354, 368 u. a. Fig. 381—384 sind nicht nur un¬
schön, sondern auch unkünstlerisch, aber das sind schliesslich
Ausnahmen. Der an und für sich sehr praktische Eindruck der
Namen in die Figuren ist leider oft nicht recht geglückt. In
Fig. 392 ist die Schrift kaum lesbar, auch sonst bleibt dieses
Bild weit hinter dem Durchschnitt zurück.
Als ganz besonders vorzüglich muss die Ausstattung des
Buches angesichts des sehr billigen Preises bezeichnet werden.
Hoffentlich werden die folgenden Lieferungen ebenso gut wie
die zur Zeit vorliegenden. Da in diesen der Mehrzahl nach die
alten Räuber sehen Bilder benutzt werden sollen, dürfte das
doch recht zweifelhaft erscheinen. Die Ankündigung der Ver¬
lagsfirma, dass Rauber-Kopsch die Benutzung von At¬
lanten unnötig macht, dürfte wohl zu weit gehen. Der Atlas
bleibt handlicher als das Lehrbuch. Auch dürfte trotz aller
Vorzüglichkeit der Reproduktion das Rauber-Kopsch-
sche Lehrbuch doch hinter den besten neueren Atlanten selbst
in den vorliegenden Lieferungen noch etwas zurückstehen.
Man vergleiche z. B. die Darstellung der Schädelknochen mit
der in neueren Atlanten. Und was die folgenden leisten werden,
muss man abwarten. Jedenfalls aber ist durch die K o p s c h -
sehe Neubearbeitung das alte Räuber sehe Lehrbuch ge¬
waltig in seinem Werte gestiegen. Es muss namentlich in
Rücksicht auf den bildnerischen Schmuck als das schönste
Lehrbuch der Anatomie bezeichnet Werden (soweit es zum Teil
fertiggestellt ist). J. S o b o 1 1 a - Würzburg.
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1725
G. v. Bunge -Basel: Lehrbuch der Physiologie des
Menschen. Zwei Bände. 1. Band: 29 Vorträge, 436 Seiten mit
67 Abbildungen im Text und zwei Tafeln. 2. Band: 36 Vor¬
träge, 670 Seiten mit 12 Abbildungen im Text. Zweite ver¬
mehrte und verbesserte Auflage. Verlag von F. C. N. V o g e 1,
Leipzig 1905. Preis 28 M.
Vor 5 Jahren hat Q. v. Bunge sein bekanntes Lehrbuch
der physiologischen und pathologischen Chemie in erweiterter
Form als Lehrbuch der Physiologie des Menschen heraus¬
gegeben. Ein unparteiischer Beurteiler, A. H a r n a c k, schrieb
damals in „der christlichen Welt“ darüber: „Ich darf bezeugen,
dass ich in meinen Mussestunden seit Jahren nichts Anziehen¬
deres und Aufklärenderes gelesen habe als diese Vorlesungen.
. . . Man kann jede Vorlesung für sich gemessen und so langsam
das Buch durcharbeiten; aber man wird es nicht leicht aus der
Hand lassen, wenn man die Lektüre begonnen hat.“ Nunmehr
ist das Buch in zweiter Auflage erschienen, die eine vermehrte
und verbesserte genannt wird.
Ein ausführliches Referat wurde seinerzeit an dieser Stelle
(Jahrgang 1901, S. 1454 und Jahrgang 1903, S. 1432) beim Er¬
scheinen der ersten Auflage erstattet. Durchgreifende Aende-
rungen hat seitdem das Buch nicht erfahren. Zwar wurde im
1. Bande ein neuer Vortrag über den Tod eingeschaltet, auch
sonst der Text in diesem Bande vielfach erweitert und im
zweiten Bande neben anderem die neueren Arbeiten über die
Spaltung der Eiweisskörper, über Antifermente, über Zymase,
über die Theorie der Fermentwirkungen, über Wiederbelebung
des Herzens und über Oxydationsfermente berücksichtigt, aber
der grössere Teil der Seitenvermehrung in beiden Bänden ist
auf veränderten, und zwar besseren Druck zurückzuführen.
Das Buch setzt Kenntnisse in Anatomie, Histologie, Physik
und Chemie voraus und verzichtet unter ausgiebigem Hinweis
auf die Literatur auf eine langatmige Beschreibung von Me¬
thoden und Apparaten. Aus diesem Grunde und weil es ferner
ein äusserst anziehendes Bild der Gesamtphysiologie entrollt,
wurde das Buch seinerzeit als besonders für den praktischen
Arzt geeignet bezeichnet. In diesem Urteil hat den Referenten
die Lektüre des neu erschienenen Buches nur bestärkt.
K. Bürker - Tübingen.
L. P f a u n d 1 e r-Graz, Müller-Pouillets: Lehrbuch
der Physik und Meteorologie in vier Bänden. 1. Band: Me¬
chanik und Akustik von L. P f a u n d 1 e r. 10. umgearbeitete
und vermehrte Auflage. 802 Seiten mit 838 Abbildungen.
Verlag von F. Vieweg & Sohn, Braunschweig 1905. Preis
10.50 Mk.
Wenn ein Lehrbuch von dem Umfange des vorliegenden
— es erscheint in vier starken Bänden mit über 3000 Ab¬
bildungen und Tafeln — die 10. Auflage erlebt, dann muss es
Besonderes bieten und das tut es auch, gibt es doch wohl
kaum ein Lehrbuch der Physik, das in den Kreisen, an welche
es sich richtet wie an Naturhistoriker, Mediziner, Pharma¬
zeuten und Mechaniker, sich solcher Sympathien erfreut wie
das zuerst von J. Müller, dann seit der 8. Auflage von L.
Pfaundler und später unter Mitwirkung von O. Lummer-
Breslau, A. Wassmuth - Graz, J. M. Pernter - Wien,
K. Drucker - Leipzig, W. Kaufmann- Bonn, A. Nip-
p o 1 d t - Potsdam bearbeitete und wesentlich umgestaltete
P o u i 1 1 e t sehe Lehrbuch.
Mit Rücksicht darauf, dass, „so lange das vor¬
herrschende Philologentum alle Gymnasiasten zwingt,
ihre schönsten Jahre der Erlernung der Grammatik toter
Sprachen zu opfern, keine Aussicht ist, den Maturanten
die Elemente der Analysis beizubringen“, wird bei Erörterung
der physikalischen Probleme nur elementare Mathematik
vorausgesetzt und in dem bis jetzt erschienenen von L.
Pfaundler bearbeiteten ersten Bande nach einer Einleitung
über die Grundlagen der Physik in zwei Abteilungen die Me¬
chanik und Akustik in geradezu mustergültiger Weise abge¬
handelt. Die 1. Abteilung umfasst 6 Kapitel (Von der Messung
der Längen, Flächen, Volumina, Winkel, Zeiten und Massen —
Von den Bewegungen und den Kräften im allgemeinen —
Vom Gleichgewicht und den Bewegungen der festen Körper —
Mechanik nicht starrer, fester Körper — Mechanik flüssiger
Körper - Mechanik gasförmiger Körper), die 2. Abteilung
4 Kapitel (Von den Schallwellen — Von den Tönen — Von den
tönenden Körpern — von dem Zusammenwirken der Töne).
Auf nicht weniger als 838 meist ausgezeichnete Abbildungen
kann dabei der Verfasser zum Verständnis des Textes ver¬
weisen.
Es ist fast unbegreiflich, wie die Verlagsbuchhandlung bei
einem Preise von nur 10.50 M. für diesen Band all dies bieten
kann; um so mehr Berücksichtigung verdient das Buch, das
als eine Zierde des deutschen Buchhandels bezeichnet werden
muss. Bürker.
Dr. Georg Hauberrisser: Verbesserung mangelhafter
Negative. Leipzig 1906. Ed. Liesegangs Verlag M.
Eger. 75 Seiten, 11 Abbildungen. Preis 2.50 Mk.
Empfehlenswerte Anleitung, zunächst für Amateurphoto¬
graphen, aber auch für röntgenographische Zwecke sehr
brauchbar.
Neueste Journalliteratur.
Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und
Chirurgie. 16. Band, 3. Heft. Jena 1906, Gustav Fischer.
15) Th. Wette: Ueber Appendizitis. (Stadt. Krankenhaus
Weimar.)
Verf. ist Anhänger der Frühoperation. Bei der zirkumskripten
Form (92 Fälle) ergab sie ein absolut günstiges Resultat, bei diffuser
Peritonitis (27 Fälle) wurden bei Operation in den 2 ersten Tagen
87,5 Proz., am 3. Tag nur mehr 44 Proz. geheilt. Je früher man
operiert, desto sicherer findet man freies Sekret, die Lokalisierung
durch Verwachsungen ist meist das Sekundäre und lässt sich absolut
nicht voraussehen. Zirkumskripte ganz extreme Druckempfindlich¬
keit in der Blinddarmgegend bei schwerem Krankheitsbild scheint für
akute Gangrän des Wurms zu sprechen. W. geht noch näher ein
auf Differentialdiagnose, Komplikationen, unter Mitteilung bemerkens¬
werter Fälle. Im freien Intervall operierte W. 51 mal; er rät jedem,
der einen Anfall überstanden hat, dringend zur Operation.
16) v. Habe rer: Ein seltener Fall von Stenose des Magens
und des obersten Dünndarms. (I. Chirurg. Klinik in Wien.)
Der auf der vorjährigen Naturforscherversammlung mitgeteilte
Fall von Gastroenteroanastomose wegen Stenose des Magens und
des obersten Dünndarms durch einen anscheinend tuberkulösen Tumor
wurde wegen abermaliger Beschwerden relaparotomiert. Der Tumor
hatte sich verkleinert, erwies sich aber (Resektion) als Lympho¬
sarkom. Auch die geschwellten Mesenterialdrüsen waren nach der
ersten, palliativen Operation zurückgegangen.
17) A. Rittershaus: Beiträge zur Embolie und Thrombose
der Mesenterialgefässe. (Chirurg. Abteilung der Huyssens-Stiftung
Essen-Ruhr.)
Zwei Fälle: a) 71 jähriger Mann mit hämorrhagischer Nekrose
des untersten Ileums infolge Embolie mehrerer Mesenterialarterien¬
äste und Atheromatose der Aorta, b) 46 jähr. Mann, Insuffizienz des
Herzens, Lungeninfarkte, Embolus in der Art. mes. inf., aus der hoch¬
gradig atheromatösen Aorta stammend. Der erste Fall machte Ileus-
erscheinungen, konnte aber durch Darmresektion nicht gerettet wer¬
den. Beim zweiten war eine ziemlich plötzlich einsetzende Schmerz¬
haftigkeit in der linken Unterbauchseite das einzige auffällige
Symptom.
18) Karrenstein: Zur Frage der Rezidive nach Blinddarm¬
entzündung. (Sanitätsamt Altona.)
Ausgedehnte Nachuntersuchungen hatten folgende Ergebnisse:
Die Hälfte aller Blinddarmentzündungen rezidiviert, fieberlose und
mittelhoch fiebernde Ersterkrankungen mit kurzer Behandlungsdauer
am häufigsten, sehr hoch fiebernde am seltensten. Das Rezidiv ver¬
läuft in 58 Proz. leichtej, in 28 Proz. schwerer, in 14 Proz. ebenso
wie der 1. Anfall, es kommt in 60 Proz. innerhalb des ersten, in
20 Proz. innerhalb des zweiten Jahres, in 20 Proz. noch später nach
der Ersterkrankung zum Rezidiv. Die Krankheit kommt in 1/a der
Fälle nach dem 1. Rückfall, in 20 Proz. nach dem 2. — 4. zum Still¬
stand; in der Hälfte der Fälle kommen 5 und mehr Rezidive. Mit
der Zahl der Rezidive sinkt die Aussicht auf Dauerheilung. Nach
alledem hält Verf. die Intervalloperation schon nach dem ersten Anfall
für indiziert.
19) R a u t e.n b e r g: Die Folgen des zeitweiligen Ureterver¬
schlusses. (Med. Klinik Königsberg.)
Zeitweiliger Ureterverschluss führt beim Kaninchen zunächst zu
Atrophie und Bindegewebsvermehrung, später erholt sich das Paren¬
chym; von der Pyramidenspitze aus wuchern solide Epithelstränge
in die geraden Harnkanälchen hinein, vor allem kommt es aber auf¬
fälliger Weise zu selbständiger Regeneration völlig normaler Harn¬
kanälchen. Das regenerierte Parenchym scheint aber nicht lebens¬
fähig zu sein; an seiner Rückbildung beteiligt sich dann auch gesundes
Nachbargewebe und es bleibt eine dauernde funktionelle Schädigung
1726
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
(Albuminurie) zurück. Bei Versuchen an Katzen zeigten sich viel
grössere individuelle Verschiedenheiten.
20) M. B e r n h a r d t - Berlin: Ueber Nervenpfropfung bei peri¬
pherischer Fazialislähmung vorwiegend vom neurologischen Stand¬
punkte.
Verf. glaubt, dass sich der Hypoglossus eher zur Nerven¬
pfropfung eigne als der Akzessorius; übrigens kämen auch Stand und
Beruf in Betracht; ob sich Anfrischung oder gänzliche Durchschnei¬
dung mehr empfehle, möchte B. noch nicht entscheiden. Er geht ein
auf die strittigen Regenerationsvorgänge, die zurückbleibenden stö¬
renden Mitbewegungen, die Theorie und Methode des sogen. Um¬
lernens. Eine Operation hält er dann für angezeigt, wenn monate¬
lange innere Behandlung, Elektrizität etc. erfolglos war. Auch jahre¬
langes Bestehen der Paralyse ist kein absolutes Hindernis, die Lei¬
tungsfähigkeit ist wiederherstellbar. Es ist schon ein wesentlicher
Gewinn, wenn in Ruhelage des Gesichtes die bisherige Asymmetrie
ausgeglichen wird. R. Grashey - München.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 33.
H. Fiith-Köln: lieber die desinfektorische Wirkung des Alko¬
hols und ihre Ursachen.
E. hat auf Grund einer Anregung von Zweifel die A h 1 f e 1 d -
sehen Versuche genau nach dessen Anordnungen nachgeprüft. Er
fand ähnlich wie S a r w e y, dass der Alkohol keimvermindernde
Eigenschaften besitzt und A h 1 f e 1 d auch recht hat, wenn er ihm
eine desinfektorische Wirkung zluschreibt. Aber er warnt ebenso wie
S a r w e y vor einer Ueberschätzung der Methode und gibt letz¬
terem recht, dass Ahlfelds Versuchsanordnung unrichtig sei, weil
er ausschliesslich flüssige Nährböden verwendet hat. Die desinfek¬
torische Wirkung des Alkohols sucht F. ausser in der von ihm be¬
wirkten Wasserentziehung und Lösung der Fette noch in der bei
seiner Anwendung entstehenden Wärmeentwicklung, die bis
zu 9 0 C. betragen und die Hauttemperatur weit über 40 u erhöhen
kann. Es erscheint F. durchaus möglich, dass bei solchen Tempera¬
turen Bakterien in ihrer Entwicklung gehemmt werden können.
G u t b r o d- Heilbronn: „Amasira“, ein innerliches Mittel bei
Dysmenorrhöe.
G. empfiehlt das von der Firma A. Locher in Stuttgart in den
Handel gebrachte Mittel bei Dysmenorrhöe, die nicht auf mechanischer
Ursache beruht. Leider gibt G. nicht die Zusammensetzung des
Mittels an, sondern erwähnt nur, dass dieselbe auf jeder Schachtel
angegeben sei, „so dass jederzeit im pharmazeutischen Laboratorium
festgestellt werden kann, welche Bestandteile die heilenden sind“.
Warum G. die Leser des Zentralblattes auf die Schachteln des Fabri¬
kanten und das Laboratorium der Pharmazeuten verweist, ist Ref.
unverständlich geblieben.
E. Hoerschelmann - Rappin : Ueber Benutzung des stump¬
fen Hakens zur Erleichterung der Armlösung.
H. empfiehlt bei schwierigen Fällen als Notbehelf den stumpfen
Haken zum lieferziehen der Schulter, wodurch die Armlösung er¬
leichtert wird. H. hat den Haken in 2 Fällen erfolgreich und ohne
Nebenverletzungen benutzt. Uebrigens hat auch Fritsch, wie H.
angibt, den stumpfen Haken in seiner Klinik der geburtshilflichen
Operationen zu demselben Zwecke empfohlen.
J a f f e - Hamburg.
Jahrbuch für Kinderheilkunde. Bd. 64, Ergänzungsheft. —
Arbeiten aus der königl. Universitäts-Kinderklinik zu Berlin
(Geheimrat Heubner).
6) Hans Rietschel: Ueber den Reststickstoff der Frauen¬
milch.
Der Reststickstoff der Frauenmilch beträgt nach dem Verfasser
durch Fällung mit Phosphorwolframsäure etwa 18—19 Proz. des Ge-
stamtstickstoffs. Der Reststickstoff enthält keine oder nur ganz ge¬
ringe Mengen von Ammoniak; der weitaus grösste Teil (über 80 Proz.)
entfällt auf Harnstoff, dessen Quantitativer Nachweis durch die An¬
wesenheit des Milchzuckers nicht möglich ist. Ein geringer Teil
des Reststickstoffs, namentlich bei Frühmilchen, reagiert mit Nauli¬
tz lisozyänat beim Schütteln und wird vom Verfasser als Eiweiss-
ahbauprodukt Aminosäure, Peptid oder Peptoid — angesprochen.
7) Leo Langstein: Die Eiweissverdauung im Magen des
Säuglings.
Verfasser suchte auf Anregung Heubners mit Hilfe der
modernen exakten chemischen Methoden das Schicksal der per os
eingeführten stickstoffhaltigen Substanzen festzustellen. Die teils
an gesunden, teils an magendarmkranken Kindern in 20 Fällen vor¬
genommene Magenausheberung Hess regelmässig Albumosen- und
Peptonbildung erkennen. Aminosäuren lassen sich im Magen nicht
nachweisen. Frauenmilch und Kuhmilch verhalten sich in bezug auf
die Peptonbildung im Magen ungefähr gleich. Eine Verschiedenheit
der Verdaulichkeit der verschiedenen Kaseine im Säuglingsmagen
kann jedenfalls nach den vorliegenden Versuchen nicht angenommen
werden. Die Tryptophanreaktion, welche beim Erwachsenen bei
Störungen des Magenchemismus manchmal gefunden wurde, wird im
Säuglingsalter stets vermisst.
8) Leo Langstein: Eiweissabbau und -aufbau bei natür¬
licher und künstlicher Ernährung.
Aus den am Kalbe angestellten Versuchen geht nach dem Verf.
hervor, dass nicht nur das artfremde, sondern auch das arteigene
Milcheiweiss (Kasein und Albumin) nicht nur in lösliche Form über¬
geführt wird, sondern teilweise wenigstens bis zu den Aminosäuren
abgebaut wird. Die Versuche haben keinen Anhaltspunkt dafür er¬
geben, dass das arteigene Eiweiss der Verdauung gegenüber eine
Sonderstellung einnimmt. Langstein wendet sich dann gegen die
durch „nichts“ (? Ref.) gestützte Hypothese Hamburgers von
der giftigen Wirkung des artfremden Eiweisses.
9) Hermann M. A d 1 e r - New York: Zur Kenntnis der stick-
stofihaltigen Bestandteile der Säuglingsfäzes.
Aus den Ergebnissen dieser Untersuchungen sei hervorgehoben,
dass sich unter normalen und pathologischen Verhältnissen ein durch
Essigsäure fällbarer Eiweisskörper, der aber nicht mit Kasein zu
identifizieren ist, nachweisen lässt. Daneben finden sich im Stuhle
ein oder mehrere koagulable Eiweisskörper, welche nach Verf. unter
die Albumine zu rechnen sind. Albumosen und Peptone werden unter
physiologischen Verhältnissen nicht gefunden, dagegen wurden
Aminosäuren und Tyrosin in minimaler Menge nachgewiesen. Unter
pathologischen Verhältnissen, z. B. beim Enterokatarrh scheint eine
vermehrte Albumosenausscheidung möglich zu sein.
10) O. Heubner und L* Langstein: Entgegnung auf den
Aufsatz des Herrn Geheimrat Biedert „Die Musteranstalt für Be¬
kämpfung der Säuglingssterblichkeit, die klinische Beobachtung und
die historische Betrachtung“.
Polemik von ungewöhnlicher Schärfe in Form und Ausdruck
gegen „einen älteren Pädiater und angesehenen Kollegen“, welche der
sachlichen Widerlegung durch die vorstehenden Arbeiten
kaum etwas hinzufügt.
11) Julius Parker S e d g w i c k - Minneapolis: Die Fettspaltung
im Magen des Säuglings.
Verf. konnte beim Säugling frühzeitig, zumindest in der zweiten
Lebenswoche ein fettspaltendes Ferment nachweisen. Das Enzym,
welches seine Tätigkeit im Magen entfaltet, kann höhere Grade der
Wirksamkeit erreichen als die Lipase des Erwachsenen und erklärt
sich so wahrscheinlich die relativ hohe Azidität im Säulingsmagen.
12) A. Book man n - New York: Die physiologische Bedeutung
und der klinische Wert der E h r I i c h sehen Dimethylaminobenzalde-
hydreaktion im Kindesalter.
Verf. prüfte dieseReaktion (auf Urobilinogen — Ref.) beiScharlach
und Diphtherie. Bei letzterer fand Verf. die Reaktion stets positiv,
während er sie beim Scharlach öfters vermisste. Irgend welcher Zu¬
sammenhang zwischen Krankheitsverlauf und Aldehydreaktion konnte
nicht abgeleitet werden.
13) Louis Baumann-New York City: Ein Beitrag zur
Kenntnis der Beschaffenheit des Urins bei der Rachitis.
Verf. konnte bei den darauf untersuchten Fällen von Rachitis
niemals einen eigentümlichen „spezifischen“ Geruch des Urins als
charakteristisch für den rachitischen Krankheitsprozess feststellen.
Der frisch entleerte Urin war fast stets sauer, die Ammoniakaus¬
scheidung nicht vermehrt, der NH3-Koeffizient (NHs:N) relativ
niedrig.
14) Paul Reyher: Ueber den Wert orthodiagraphischer Herz¬
untersuchungen bei Kindern. (Mit 4 Figuren.)
Arbeit von vorwiegend methodischem Interesse, welche dar¬
tut, dass die von Moritz angegebene Methode gut auch fürs
Kindesalter verwendbar ist. Mitteilung über die Herzmasse normaler
Kinder. Ausblicke in das Gebiet orthodiagraphischer Herzunter¬
suchungen unter pathologischen Verhältnissen. Literatur.
Uebersicht aus der nordischen pädiatrischen Literatur unter
Redaktion von Axel Johannessen. Gesellschaftsbericht.
O. Rommel- München.
Virchows Archiv. Bd. 184. Heft 2.
8) B. P. Sormani: Ueber Plasmazellen in dem entzündlichen
Infiltrate eines Krebstumors des Magens. (Chirurg. Klinik zu Am¬
sterdam.)
Auf Grund der Untersuchungen an einem (!) Falle spricht sich
S. für die Abstammung der Plasmazellen von Lymphozyten aus und
glaubt, dass ein Teil der Zellen zum Aufbau des Bindegewebes
beiträgt.
9) P. Frangenheim: Multiple Primärtumoren. (Städt.
Krankenhaus Altona.)
1. 63 jähr. Frau, polypöses, polymorphzelliges Sarkom und
Pflasterepithelkrebs des Oesophagus. 2. 66 jähr. Mann, Pflasterepi¬
thelkrebs des weichen Gaumens und Gallertkrebs der Ileozökalgegend.
3. 70 jähr. Frau, Ovarialkarzinom und Endotheliom der Dura mater.
10) O. Lubarsch: Zur Myelomfrage.
Nach Lubarsch’ Ansicht ist das Myelom kein echtes Blastom,
sondern gehört in das Gebiet der Systemerkrankungen des lympha-
tisch-hämatopoetischen Apparates
11) D. Veszpr emi: Beiträge zur Histologie der sogenannten
„akuten Leukämie“. (Patholog. Institut zu Klausenburg.)
Mitteilung von drei Fällen, bei denen das gesamte Knochenmark
von grauroter Beschaffenheit war. Sowohl im Knochenmark, wie
28. August 1906.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
auch in Lymphknoten und Milz und in ähnlicher Weise in den
anderen Organen, fand sich ein histologisches Bild, das ausser zahl¬
reichen Knochenrnarksriesenzeüen sich nur aufbaute aus Zellen,
welche Verf. als „Stammzellen“ bezeichnen möchte. Nach der ganzen
Schilderung handelt es sich hier um eine Myeloblastenleukämie,
welche, wie auch V. betont, in ihrem histologischen Verhalten ab¬
solut verschieden erscheint von der lymphoiden Leukämie. Be¬
merkenswert ist, dass in den betr. Zellen sich zahlreiche Kern¬
teilungsfiguren fanden. Bei der ersten Beobachtung, bei der allein
eine Blutuntersuchung vorgenommen wurde, machte diese Zellart
86 Proz. der farblosen Blutelemente aus.
12) Fritz Scholz: Einige Bemerkungen über das meningeale
Cholesteatom im Anschluss an einen Fall von Cholesteatom des
3. Ventrikels. (Patholog. Institut in Breslau.)
Auf Grund der Untersuchung eines Falles (30jähr. Mann) spricht
sich Verf. dafür aus, dass die echten Cholesteatome oder Epidermoide
des Gehirns ihr Entstehen ausnahmslos einer epithelialen Keimver¬
lagerung verdanken. Diese Keimverlagerung findet während des
Fötallebens statt, entweder zur Zeit der Abschnürung des Medullar-
rohres oder vielleicht auch der Mundbucht. Die eigentliche Todes¬
ursache ist gewöhnlich nicht der Tumor selbst, sondern der durch
ihn bedingte akute Hydrocephalus internus.
13) Fahr: Ueber die sogen. Klappenhämatome am Herzen der
Neugeborenen. (Patholog. Institut des Krankenhauses St. Georg
in Hamburg.
Die kleinen Blutknötchen, welche man an den Klappen der Neu¬
geborenen beobachtet, sind durchweg Kapillarektasien, welche, so¬
lange die Klappen vaskularisiert sind, beim Anspannen derselben
auf traumatischem Wege entstehen und die verschwinden, sobald
das Gefässnetz der Klappen zu veröden beginnt.
14) M. Otten: Ueber bakteriologische Blutuntersuchungan an
der Leiche. (Patholog. Institut zu Eppendorf.)
Die Untersuchungen wurden fast ausnahmslos angestellt an aus
dem rechten Ventrikel entnommenem Blute. Selten wurde das Blut
auch aus dem linken Ventrikel oder aus den peripheren Venen ge¬
wonnen. Verf. zeigt, dass die Entnahme des Leichenblutes am
Herzen ebenso zuverlässig ist wie an den peripheren Venen. Die
im Blute von innerhalb 36 bis 48 Stunden nach dem Tode unter¬
suchten Leichen gefundenen Bakterien sind nicht erst postmortal,
sondern schon vital ins Blut gelangt.
15) Felix Klopstock: Alkoholismus und Leberzirrhose.
(Krankenhaus Friedrichshein-Berlin.)
Der Alkoholismus stellt bei der Leberzirrhose ein disponierendes,
nicht ein ätiologisches Moment dar. S c h r i d e - Marburg.
Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie.
54. Bd. 1906.
1) S. W e b e r - Greifswald: Experimentelle Untersuchungen
zur Physiologie und Pathologie der Niereniunktionen.
Die Frage, ob bei der Harnabsonderung die Zirkulation in der
Niere und eine Harnfiltration oder eine spezifische sekretorische
Leistung der Nierenepithelien den wesentlichen Vorgang darstellen,
ist bekanntlich seit Aufstellung der physikalischen Theorie durch
Ludwig und der physiologischen Theorie durch Bowmann-
Heidenhain Gegenstand häufiger Erörterungen gewesen und ist es
noch. Während nun in neuerer Zeit sich die Anhänger der rein
physikalisch-chemischen Erklärung mehrten, hat Weber in vor¬
liegender Arbeit, gestützt auf ein sehr reiches Versuchsmaterial, die
Theorie Bowmann-Heidenhains von neuem auf den Schild
erhoben. Seine Beobachtungen über die Diurese bei gesunden
Hunden und solchen, deren Harnkanälchenapparat durch chromsaures
Kali vernichtet worden war, führen ihn zu der Ueberzeugung von der
Unhaltbarkeit der nach der Ludwig sehen Theorie notwendigen An¬
nahme einer Rückresorption des Glomerulusfiltrates in den Tubuli
contorti. Weber sieht wie W. Bowmann-Heidenhain in der
Harnabsonderung einen sekretorischen Drüsenvorgang, der einer rein
physikalisch-chemischen Erklärung noch nicht zugänglich ist. Salze
und Diuretika wirken durch direkte Reizung des sezernierenden Epi¬
thels diuretisch, die von den Anhängern der Filtrations¬
hypothese postulierte Annahme der Lähmung der Rückresorption in
den Tubuli contorti durch Diuretika ist nach Webers Versuchen
hinfällig. Bezüglich der Einzelheiten der interessanten, in Min¬
kowskis Laboratorium entstandenen Arbeit sei auf das Original
verwiesen.
2) C. Beck und C. H i r s c h - Leipzig: Die Viskosität des
Blutes.
Die Ausführungen der beiden Autoren stellen eine Erwiderung
auf H e u b n e r s an dieser Stelle referierte Arbeit (Arch. f. experim,
Path. u. Pharmak., Bd. 53) dar und gipfeln in einer Aufrechthaltung
ihrer im Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 69 u. 72 niedergelegten
Anschauungen. Sie halten die genaue Kenntnis des Viskositäts¬
koeffizienten des Bluts für einen wichtigen Faktor der hämodynami-
schen Probleme und erklären, dass derselbe mit Flilfe des Poi-
s e u i 1 1 e sehen Gesetzes und der darauf gegründeten Methoden ein¬
wandsfrei zu bestimmen sei.
3) A. F. D r s c h e w e t z k y - Petersburg: Ueber das Verhalten
der roten Blutkörperchen zum Wechselstrom.
1 727
Der Verfasser führt den experimentellen Nachweis, dass die
Auflösung roter Blutkörperchen bei Einwirkung elektrischer Ströme
ausbleibt, wenn man den Einfluss der Elektrolyse und der Erwärmung
ausschaltet. Möglicherweise fällt der Einfluss fort, weil die roten
Blutkörperchen den elektrischen Strom nicht leiten.
4) J. I g e r s h e i m e r - Strassburg: Ueber die Wirkung des
Strychnins auf das Kalt- und Warmblüterherz.
Strychnin übt auf das Frosch- und Kaninchenherz in grossen
Dosen durch Einwirkung auf die nervösen Herzzentren einen lähmen¬
den Einfluss aus. Diese Herzlähmung steht aber in keinem ursäch¬
lichen Zusammenhang mit der allgemeinen zentralen Lähmung bei
Strychninvergiftung.
5) P. Morawitz und R. D i e t s c h y - Strassburg: Ueber
Albumosurie, nebst Bemerkungen über das Vorkommen von Albu-
mosen im Blut.
K r e h 1 und M a 1 1 h e s hatten angenommen, dass beim Fieber¬
prozess ein qualitativ veränderter Eiweissabbau stattfände, dass Ei-
weiss abnormerweise hydrolytisch gespalten werde und dass die
gebildeten Albumosen zur Erhöhung der Körpertemperatur führen.
Diese „Lehre von der febrilen Albumosurie“ fand in den Befunden
anderer Autoren nur eine teilweise Stütze. Deshalb gaben K r e h 1
selbst und Hofmeister den Verfassern die Anregung, die Frage
mit einer verbesserten Methode des Albumosennachweises in Urin
und Blut nachzuprüfen. Es ergab sich als wesentliches Resultat der
Untersuchungsreihe, dass die Lehre von der febrilen Albumosurie
bisher nicht hinreichend begründet ist. Man hat vorläufig keinen
Grund, das Auftreten von Albumosen im Harn von anderen Momenten
als von der Resorption zerfallenen Zellenmaterials abhängig zu
machen.
6) E. R o h d e - Heidelberg: Ueber die Einwirkung des Chloral-
hydrats auf die charakteristischen Merkmale der Herzbewegung.
Durch Chloralhydratvergiftung gehen, ähnlich wie bei anderen
Vergiftungen, eine Reihe charakteristischer Merkmale der Herz¬
bewegung verloren, so die refraktäre Periode und die Rhythmizität
auf Dauerreiz, während die Reizbarkeit, Erregungsleitung und Kon¬
traktilität erhalten bleibt. Der Herzmuskel verhält sich bei der
Chloralvergiftung also wie ein Darmstück oder wie ein Limulusherz,
die man ihrer Zentren beraubt hat. Der Verfasser schliesst hieraus,
dass das Chloralhydrat, als ein die allgemeinen Zentren zuerst
lähmendes Gift eine funktionelle Ausschaltung der anatomisch nicht
abtrennbaren Zentren der untersuchten Herzspitze herbeiführt und
deutet seine Beobachtungen im Sinne der neurogenen Theorie der
Herzbewegung.
7) K. K r e s s - Heidelberg: Ueber die Beziehung der Speichel¬
sekretion zur Verdünnung des Magensaftes.
Es wurde die Frage geprüft, ob bei der Verdünnung hypertoni¬
scher Flüssigkeiten im Magen vielleicht auch eine reflektorische Er¬
regung der Speicheldrüsen und Verschlucken des sezernierten
Speichels eine Rolle spiele. Entsprechende Versuche an Fistelhunden
Hessen aber nie einen solchen Einfluss hypertonischer MgSÜ4-
Lösungen auf die Speichelsekretion erkennen.
8) H. Hildebrandt - Halle : Untersuchungen über die Wir¬
kungsweise einiger sekundärer Amine der Fettreihe und ihre Beein¬
flussung durch Einführen von Atomkomplexen der aromatischen und
alipathischen Reihe.
Zu kurzem Referat ungeeignet.
9) S c h w a r t z - Strassburg: Zur Kenntnis der Behandlung
akuter und chronischer Kreislaufstörungen.
S c h w a r t z untersuchte bei einer Reihe von Infektionskrank¬
heiten mit mehr weniger schweren akuten Kreislaufstörungen, ferner
bei chronischer Herzinsuffizienz und bei einzelnen Gesunden den Ein¬
fluss der gebräuchlichen Herz- und Gefässmittel, indem er den Blut¬
druck nach R i v a - R o c c i, die übrigen Pulsqualitäten durch sorg¬
fältige Palpation feststellte. In vielen Fällen ist bei Infektionskrank¬
heiten ein günstiger Einfluss auf die Zirkulation wahrnehmbar, indem
der Puls besser, voller, event. auch äqualer und regulärer, sowie
weniger frequent wird. Bei Typhus und bei Pneumonie erwies sich
Digitalis, meist in Form von Digalen subkutan verabreicht, am wirk¬
samsten; in zweiter und dritter Linie kommen Kampher und Koffein.
Bei Tuberkulose übertreffen letztere Mittel die Digitalis. Die nach
den Medikamenten beobachteten Druckerhöhungen sind so gering,
dass sie nicht für die Besserung verantwortlich gemacht werden
können; nicht selten ging der Druck mit eintretender Besserung
herunter.
Bekommen bei Infektionskrankheiten die Patienten einen
„schlechten“, d. h. kleinen, weichen, weniger vollen und frequenten
Puls, so liegt nach S c h w a r t z zunächst eine Verminderung des
Herzschlagvolumens vor, während der vasomotorische Apparat
normal funktioniert. In diesem ersten Stadium der Kreislaufstörung
bringt eine Kräftigung des Herzens durch Kardiotonika oft Besserung.
Handelt es sich aber um ausgesprochene Gefässlähmung bei blass und
verfallen aussehenden Kranken mit sehr kleinem, sehr weichem und
beschleunigtem Puls und starker Erniedrigung des arteriellen Drucks,
so sind unsere Mittel meist völlig machtlos, da sich entweder eine
deutliche Schädigung der Gefässzentren überhaupt nicht mehr bessern
lässt, oder weil die verabreichten Substanzen bei der schweren Be¬
einträchtigung des Kreislaufs nicht mehr verarbeitet werden. Was
1728
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
die Art der Wirkung von Digitalis und den anderen Kreislaufmitteln
betrifft, so ist es wahrscheinlich, dass sie sämtlich sowohl auf das
Herz als auf die Gefässe im Sinne einer Regulierung der Zirkulation
wirken.
10) W. H e u b n e r - Zürich: Die Viskosität des Blutes.
Entgegnung auf oben referierten Aufsatz von Beck und
Hirsch.
11) J. B a e r - Strassburg: Ueber das Verhalten verschiedener
Säugetierklassen bei Kohlehydratentziehung.
Die Vermehrung der NHa-Ausscheidung und das Auftreten
grösserer Säuremengen im Harn bei kohlehydratfreier Nahrung findet
sich beim Menschen und nach des Verfassers Beobachtungen auch
beim Affen, das Schwein zeigt dies Verhalten erst bei gänzlicher
Nahrungsentziehung und Ziegen und Kaninchen erst unter Phloridzin¬
wirkung im Hunger oder bei N-Verlust. Der Einfluss der kohlehydrat¬
freien Kost ist also ein durchaus verschiedener bei den einzelnen
Tierklassen. Bemerkenswert ist ferner, dass bei einer Ziege im
Hunger und unter Phloridzinwirkung statt ß-Oxybuttersäure grössere
Mengen d-Milchsäure im Harn auftraten.
12) Schwenkenbecher und I n a g a k i - Strassburg : Ueber
den Wasserwechsel bei fiebernden Menschen.
Die Verfasser stellten sich die Frage, ob im Fieber das Ver¬
hältnis zwischen aufgenommenem und ausgeschiedenem Wasser im
Sinne einer Wasserretention verändert ist. Durch Bestimmung des
Wassergehalts der Nahrung und Berechnung des durch Oxydation der
Nahrung entstehenden Wassers, sowie durch genaue Wägungen der
Versuchsperson ermittelten sie, dass im Verlaufe des Typhus abdomi¬
nalis eine absolute Wasserretention in der Regel nicht stattfindet, ein
Ergebnis, das mit den vorliegenden Tierversuchen und Angaben
G a r r a t s über den Wasserwechsel des fiebernden Menschen über¬
einstimmt.
13) M. Cloetta: Ueber die Ursache der Angewöhnung an
Arsenik.
Menschen, Hunde und Kaninchen erwerben eine deutliche
Toleranz gegen selbst sehr hohe Dosen von Arsenik, vorausgesetzt,
dass die Darreichung innerlich und in Form von Pulver geschieht.
So konnte Cloetta einen Hund an die enorme tägliche Dose von
2,5 g As-Os gewöhnen. Diese Giftfestigkeit ist aber nur eine schein¬
bare und besteht in einer sich steigernden Ablehnung der Resorption von
seiten des Darms. So wurden bei täglicher Gabe von 25 mg 20 Proz.
resorbiert, bei täglicher Gabe von 2500 mg nur 0,25 Proz. Dar¬
reichung in gelöster Form verbessert die Resorption, es lässt sich aber
auf diese Weise auch keine so starke Immunität erzielen. Der Hund,
welcher 2,5 g AS2O5 per os ohne Schaden vertrug, wurde durch den
62. Teil dieser Tagesdose bei subkutaner Verabreichung in 5 Stunden
getötet.
Als Gewinn für die Therapie ergibt sich aus diesen interessanten
Untersuchungen Cloettas, dass zur Erzielung steigernder Arsen¬
wirkung die Verabreichung in Lösung den Vorzug vor der Darreichung
in fester Form verdient. Die sicherste Art der Einverleibung bleibt
die subkutane Form, doch bedarf die Dosierung bei derselben einer
Revision auf Grund dieser neuen Ergebnisse.
14) A. S e e 1 i g - Königsberg: Ueber den Einfluss der Nahrung
auf die Aetherglykosurie.
Aus den Resultaten dieser Untersuchung sei hervorgehoben, dass
Hunde, welche genügend lange mit Kohlehydraten gefüttert sind, bei
Aethernarkose keinen Zucker ausscheiden, falls diese 22 — 24 Stunden
nach der letzten Nahrungsaufnahme erfolgt. Eine frühere Narkose
führt stets zur Glykosurie, ebenso reagieren fleischgefütterte Hunde
immer mit Glykosurie, unabhängig von der Zeit der Narkose.
15) A. Schittenhelm und A. B 0 d 0 n y - Göttingen : Bei¬
träge zur Frage der Blutgerinnung, mit besonderer Berücksichtigung
der Hirudinwirkung.
Zu kurzem Referat nicht geeignet.
16) J. B r a n d 1 - München: Ueber Sapotoxin und Sapogenin von
Agrostemma Githago.
Pharmakologische Untersuchungen über die Gifte des Kornrade¬
samens.
17) S. W e i 1 - Strassburg: Ueber Apnoe und Kohlensäuregehalt
der Atmungsluft.
Auf Grund der Literaturangaben und eigener Versuche kommt
Weil zu der Anschauung, dass die Apnoe nicht durch eine Os-Ver-
mehrung des Blutes, sondern durch eine COs-Verminderung her¬
vorgerufen wird.
18) M. Cloetta und H. F. Fischer: Ueber das Verhalten
des Digitoxins im Organismus.
Das Herz besitzt eine deutliche, aber nur langsam eintretende
Fixierungsfähigkeit für den wichtigsten Bestandteil der Digitalis¬
blätter, das Digitoxin, bei Versuchen mit dem isolierten Organ. Diese
Fähigkeit teilt es mit der Leber Da nun bei digitoxinvergifteten
Tieren auffallenderweise trotz starker Giftdosen nie Digitoxin im
Herzen gefunden wird und da ferner eine Oxydation des Digitoxins
im Herzen sich nicht nachweisen lässt, so wird man an einer höhere
Giftempfindlichkeit des Herzens für Digitoxin denken. Bei der ge¬
wöhnlichen internen Verabreichung findet eine langsame Summation
von Reizen statt und diese wirkt anscheinend intersiver, als die ein¬
malige intravenöse Verabreichung einer gleichen oder auch grösseren
Gabe. Da bei intravenöser Injektion auch die Ausscheidung viel
rascher verläuft, so ist dies eine weitere Erklärung für die klinisch
festgestelltc Notwendigkeit grösserer Digitoxindosen bei diesem
Applikationsmodus.
19) A. L 0 e b- Strassburg: Beiträge zur Physiologie der Niere.
Zu kurzem Referate nicht geeignet.
20) K. K o 1 1 m a n n - Bern: Ueber die Bestimmung der Blut¬
menge beim Menschen und Tier unter Anwendung eines neuen Prä¬
zisionshämatokriten.
Ko tt mann will in Anlehnung an analoge ältere Versuche die
Blutmenge im lebenden Organismus dadurch bestimmen, dass er das
Blut durch intravenöse Einspritzung einer bekannten Menge physio¬
logischer Kochsalzlösung verdünnt und aus der eintretenden Ver¬
dünnung die Gesamtblutmenge berechnet. Die Verdünnung wird mit¬
tels eines Hämatokrits, der eine besonders feine Ablesung gestattet,
unter Anwendung von Hirudin festgestellt. Beim Menschen werden
300 ccm physiologischer Kochsalzlösung infundiert, was gewöhnlich
von Kopfschmerzen und leichtem Fieber gefolgt wird. Die bei 4 Ge¬
sunden in angegebener Weise festgestellten Blutmengen betragen
11,5—13 Proz. des Körpergewichts.
21) F. W 0 h 1 w i 1 1 - Strassburg: Der Kaliumgehalt des mensch¬
lichen Harns bei wechselnden Zirkulationsverhältnissen in der Niere.
Der Verfasser untersuchte bei 4 Personen mit orthostatischer
Albuminurie die Ausscheidung von Harnwasser, Chlor, Kalium, Phos¬
phorsäure und bestimmte zugleich die Gefrierpunktserniedrigung und
die Azidität. Es ergab sich, dass mit dem Auftreten der Albuminurie
bei aufrechter Körperstellung, welche nach der jetzt vorwiegenden
Anschauung bei den disponierten Personen zu einer Zirkulations¬
störung in der Niere führt, die Ausscheidung des Wassers und Koch¬
salzes eine beträchtliche Abnahme erfährt, während die übrigen
• Harnbestandteile im grossen ganzen der Konzentration entsprechend
steigen. Wohl will schliesst aus diesem Verhalten auf eine Ver¬
langsamung der Blutströmung in jenem Teil der Niere, wo Wasser
und Kochsalz ausgeschieden werden, im Glomerulus. Eine Herz¬
kranke zeigte ganz analoge Verhältnisse der Ausscheidung.
22) A. W r z o s e k - Krakau: Die Bedeutung der Luftwege als
Eingangspforte für Mikroben in den Organismus unter normalen Ver¬
hältnissen.
Aus Inhalationsversuchen mit zerstäubten Bakterienkulturen
■zieht Verfasser folgende Schlüsse: Saprophyten (Bact. Kiliense),
welche mit der Luft in den Respirationsapparat erwachsener oder
junger Tiere gelangen, gehen unter normalen Verhältnissen von da
aus weder in das Blut noch in die inneren Organe über. Dagegen
können solche Mikroben, (B. Kiliense, B. fluorescens non liquef.) bei
pathologischen Verhältnissen, z. B. bei vorhandenen Lungenstörungen,
aus der Lunge nicht nur in die Bronchialdrüsen, sondern auch in die
Organe der Bauchhöhle übergehen.
C. Jakobj und H. W a 1 b a um - Göttingen: Zur Bestimmung
der Grenze der Gesundheitsschädlichkeit der schwefligen Säure in
Nahrungsmitteln.
Die Verfasser empfehlen wegen der grossen Giftigkeit der
schwefligen Säure jeden direkten Zusatz derselben oder ihrer Salze
zu Nahrungs- und Genussmitteln zum Zwecke der Konservierung
oder Schonung prinzipiell zu untersagen und den Gebrauch der
schwefligen Säure lediglich auf ein inässiges Schwefeln der für die
Aufnahme von Nahrungmitteln bestimmten Behälter, Weinfässer, Ein¬
machgläser usw. zu beschränken.
24) E. B ii r g i - Bern : Ueber die Methoden der Quecksilber¬
bestimmung im Urin.
Besprechung der vorhandenen Methoden und Anwendung der
Methode von F a r u p auf eine Anzahl Kranker, denen Quecksilber
in verschiedener Weise zugeführt wurde. Der Hg-Gehalt des Harns
ist gering, aber sehr konstant bei der Schmierkur und Welan-
ders Säckchenbehandlung; bei interner Verabreichung, besonders
bei Kalomelgebrauch in abführenden Dosen, und bei intramuskulärer
Injektion ist er bedeutend höher. Bei letzterer Anwendung werden
während der Kur ca. 25 Proz. der eingeführten Hg-Menge durch den
Harn ausgeschieden, am meisten am Tage der Injektion.
25) H. Marx-Berlin: Ueber die Wirkung des Chinins auf den
Blutfarbstoff.
Starke Chininlösung dem Blut zugesetzt führt zur Bildung braun¬
goldiger, makroskopisch sichtbarer Kristalle, die Marx als Häma¬
tin identifiziert. J. M ii 1 1 e r - Würzburg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 34.
1) V. Babes und Th. M i r 0 n e s c u - Bukarest: Ueber Syphi-
lome innerer Organe Neugeborener und ihre Beziehungen zur Spiro-
chaete pallida.
Die Verfasser konnten feststellen, dass auch bei neugeborenen
Syphilitischen die inneren Organe oft in Form von Knotenbildung
erkranken. Sie berichten eingehend über den inakro- und mikro¬
skopischen Befund bei 2 derartigen Fällen. Die Lungenknoten des
einen Falles repräsentierten wahre Kolonien der eingelagerten Spiro¬
chäten, im anderen Falle war besonders der Leberbefund durch die
Beziehungen der Parenchymveränderungen zu den zahlreichen Spiro-
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1729
chäten bemerkenswert. Letztere fanden sich auch wieder im Blute,
des Quinquaud sehen Zeichens. (Schluss folgt.)
2) E. Lauschner - Königsberg: Zur Statistik und Pathogenese
3) M. H a a 1 a n d - Christiania (Frankfurt a. M.): Ueber Meta-
stasenbiidung bei transplantierten Sarkomen der Maus.
Ehrlich und A p o 1 a n t haben die Entwicklung sarkom-,
artiger Tumoren auf dem Boden transplantierter Karzinome der Maus
beobachtet: doch wurde die eigentliche Sarkomnatur dieser Ge¬
schwülste von anderer Seite bestritten. Als einer der Beweise, dass
es sich um echte Sarkome handelt, wird nun von H. der Nachweis
geführt, dass jene Geschwülste die Fähigkeit besitzen, durch Zell-
embolien Metastasen zu bilden. Durch systematische Durchforschung
von Schnitten konnte er bei den Mäusen Lungenmetastasen (in den
kleinen Arterienästen der Lungen) nachweisen. Auch in den Lymph-
driisen kommen solche Metastasen unzweifelhaft vor.
4) M. E i n h o r n - NewYork: Fälle von Enteroptose und Kar-
dioptose mit Rückkehr zur Norm.
5 kurze Krankengeschichten werden mitgeteilt, aus denen her¬
vorgeht, dass die ptotischen Organe völlig in die normale Lage
zurückkehren können. Therapeutisch spielt, neben dem Tragen einer
passenden Leibbinde die Erhöhung des Körpergewichtes durch reich¬
liche Ernährung die Hauptrolle.
5) B u s a 1 1 a - Hannover : Zur Bewertung des Antistreptokokken-
scrums für die Behandlung des Puerperalfiebers auf Grund statisti¬
scher Untersuchungen.
B. führt aus, dass die kürzlich (No. 26 der Bert. klin. Wochen¬
schrift) von Martin angegebenen Zahlen ihm noch nicht für die
Wirksamkeit de- Serums beim Puerperalfieber zu sprechen scheinen.
Er schlägt vor, für die Statistik eine Ausscheidung nach leichten und
schweren Fällen, je nach der Pulsfrequenz, vorzunehmen.
6) L. d’A m a t o - Neapel: Weitere Untersuchungen über die von
den Nebennierencxtrakten bewirkten Veränderungen der Blutgefässe
und anderer Organe.
Die bei Kaninchen durch endoveröse Adrenalininjektionen be¬
wirkten Veränderungen in der Aorta lassen sich auch stomachal (auch
durch Paraganglin) erzielen, wenn man hohe Dosen lang genug fort¬
gibt. Die Steigerung des Blutdruckes scheint nicht die Ursache dieser
Veränderungen zu sein. Die Wirkungen der genannten Präparate er¬
strecken sich auch, per os beigebracht, auf die Lungenarterie, Hohl¬
venen: auch das Myokard zeigt Veränderungen der gestreiften
Fasern; ferner zeigen Magen, Darm und Blase nekrotische Verän¬
derungen einzelner Elemente. Darauf ist bei langer Einnahme hoher
Dosen Rücksicht zu nehmen. Warum die stärkste Wirkung, die mit
Atheromatose übrigens nicht identisch ist, gerade auf die Aorta er¬
folgt, ist noch nicht deutlich ersichtlich.
Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 33
1) H. K ü m m e 1 1 - Hamburg-Eppendorf : Resultate der Früh-
operation bei Appendizitis.
Von 97 Frühoperationen starben 9; darunter waren sehr schwere
Fälle, ln Anbetracht dieser relativ günstigen Ziffer, der Unsicherheit
der klinischen Symptome und der Rezidivgefahr tritt K. nochmals
mit Nachdruck für die Frühoperation ein. Er betont auch, dass der
scheinbare Anfang der Perityphlitis vielfach nur die dem Träger sich
bemerkbar machende, lange Zeit vorhandene und lange im Körper
schlummernde Krankheit ist.
2) A. Bi ekel- Berlin: Experimentelle Untersuchungen über die
Magensaftsekretion beim Menschen.
Vortrag auf dem Kongress für innere Medizin 1906, referiert
Münch, med. Wochenschr. No. 22, S. 1082.
3) H. M ey e r - Dresden: Ueber chronische Dysenterie und ihre
Behandlung.
Verf. berichtet über 3 unter dem Bilde der einfachen Diarrhöe
verlaufende Fälle von Amöbendysenterie und empfiehlt Ipekakuanha
und Klystiere mit Jodoformemulsion.
4 ) Leuchs - Berlin: Ueber Malachitgrünnährböden zum Nach¬
weis von Typhus- und Paratyphusbazillen.
Zur Erzielung gleichwertiger Nährsubstrate verwendet Verf.
statt der gebräuchlichen unreinen Präparate technisch reine Malachit¬
grünmarken allein oder in Verbindung mit einem abschwächenden
Zusatz, ebenfalls in Form eines reinen Präparates (Dextrin).
5) O p i t z - Marburg: Ueber einige Fortschritte auf geburts¬
hilflichem Gebiete. (Schluss folgt). Fortbildungsvortrag.
6) E. Jacobsohn - Breslau : Stichverletzung des graviden
Uterus.
Gravida im 7. Monat erhielt einen Messerstich in den Unterleib.
Laparotomie. Der Uterus, nahe dem Fundus getroffen, hatte stark
geblutet, wurde vernäht. Die Eihäute waren eingerissen. 24 Tage
später erfolgte Frühgeburt, das Kind starb alsbald; Verf. betont, dass
sich allgemeine .Regeln für das Operationsverfahren nicht aufstellen
lassen; man müsse individualisieren.
7) J. Sklodowski Warschau: Beitrag zur Behandlung Ba¬
sedow scher Krankheit mit Röntgenstrahlen.
In einem Fall stellte sich Besserung des nervösen Allgemein¬
zustandes und starke Gewichtszunahme ein (15 jähr. Mädchen).
8) N. W a 1 k o w i t s c h - Kiew: Ueber den Zickzackschnitt bei
Appendizitisoperation.
Angabe, dass derselbe von Mac Burney (1894) stammt.
R. Grashey - München.
I
Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte. XXXVI. Jahrg.
No. 16. 1906.
R. H o 1 1 i n g e r und O. Kollbrunner- Zürich : Zur Frage
der Kathetersterilisation.
Die bakteriologischen Untersuchungen (infizierte Fäden und Ka¬
theter, Agar und Bouillon) ergaben, dass das von W o 1 f f eingeführte
Sublimat-Glyzerin (1 Prom. Glyzerin und Wasser aa) bei vorher¬
gehender mechanischer Reinigung und bei gutem Kathetermaterial
eine den praktischen Bedürfnissen entsprechende Desinfektionskraft
besitzt.
A. Jaquet: Zur Symptomalogie der abdominalen Arterio-
Sklerose
Verfasser bespricht einige typische Fälle der Literatur und drei
eigene Fälle (ohne Obduktion). Die wesentlichen örtlichen Symptome
sind anfallsweise Schmerzen im Epigastrium und in der Nabelgegend,
welche mit Gefässkrämpfen Zusammenhängen und deren Bedeutung
als Ausdruck sekundärer Neuralgie des Lendensympathikus nach
Buch wahrscheinlich ist. Therapie: Jodkali kombiniert mit Kalium¬
nitrat und Natriumnitrit oder mit Diuretin. D. O. Pischinger.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 33. H. v. Schrott er- Wien: Zur diagnostischen Ver¬
wendung der Endoskopie bei Lungenkrankheiten.
Verfasser erörtert an 2 Krankengeschichten die Wichtigkeit der
Bronchoskopie als diagnostischen Hilfsmittels bei zweifelhaften Sym-
ptomenkomplexen. In dem einen Falle konnte mit ihrer Hilfe eine
Probeexzision aus dem Bronchus gemacht und so mit Sicherheit
ein Plattenepithelkarzinom an der Bifurkation nachgewiesen werden,
in dem andern — abgesacktes Empyem in der rechten Brusthöhle —
liess der negative bronchoskopische Befund einen Pleuratumor mit
grosser Wahrscheinlichkeit ausschliessen.
K. Bucura-Wien: Ein Fall von Uterus rudimentarius cum
vagina rudimentaria solida mit akzessorischem Vorhofafter.
Der Fall ist durch die Ueberschrift charakterisiert. In der ge¬
nauen Erörterung und Vergleichung mit ähnlichen Fällen spricht sich
Verfasser gegen eine traumatische und für eine kongenitale Ent¬
stehung aus, wodurch der Fall sich den 3 Fällen Reichels,
v. Rosthorns und Caradecs angliedern würde.
H. Fritsch- Wien: Kephaldol, ein neues Antipyretikum und
Antineuralgikum und seine Wirkung als Anthidrotikum.
Das Mittel wurde an 60 Fällen der O r t n e r sehen Klinik ver¬
sucht. Ein mildes, prompt wirkendes Antipyretikum hat es auch in
den grössten Gaben keine üble Nebenwirkung (pro dos. 1 — 2 g, pro
die 5 g). In allen Fällen von echter Neuralgie hat es sich als wirksam
erwiesen. Ebenso hat bei 5 Tuberkulösen eine exakte Schweiss-
stillung stattgefunden und Verfasser hat bei Versuchen an sich selbst
dem starken Schweissausbruch nach 1 g Natr. salicyl. durch eine
gleichzeitige Gabe von 1 g Kephaldol Vorbeugen können.
M. Oppenheim - Wien : Der gegenwärtige Stand der Syphilis¬
therapie. (Fortsetzung.)
Wiener medizinische Presse.
No. 30/31. P. P r e n z o w s k i - Lemberg: Ueber Kontraktionen
des Dickdarms.
P. hat an 96 Leichen Erwachsener eingehende Messungen an den
verschiedenen Abschnitten des Dickdarms vorgenommen, um Mate¬
rial speziell zur Pathologie der Obstipation zu erhalten. In etwa
86 Proz. aller Fälle fanden sich Kontraktion bezw. Verengerung des
Dickdarmes, und zwar viel häufiger in den unteren als in den oberen
Abschnitten; dabei fanden sich Faltungen der Schleimhaut, bei den
starken Graden der Zusammenziehung besonders in der Längsrich¬
tung, doch fehlte trotz starker Zusammenziehung bisweilen die Fal¬
tung. Bei der klinischen Verwertung der Befunde ist noch Vorsicht
geboten, doch ist die Häufigkeit der Zusammenziehungen bei gleich¬
zeitigem Emphysema pulmon. zu betonen und wenn die Verhältnisse
am Lebenden analog den anatomischen Befunden sind, wäre anzu¬
nehmen, dass die spastischen Formen der Obstipation wesentlich
häufiger Vorkommen als die atonischen.
No. 30. J. M y g g e - Kopenhagen: Die meteorologischen Be¬
dingungen für das epidemische Auftreten der Influenza.
Zu den für die Epidemiologie wichtigen meteorologischen Fak¬
toren rechnet Verfasser auch die dynamische Luftelektrizität. Fort¬
gesetzte, dreimal täglich gemachte Bestimmungen derselben mittels
des O s t w a 1 d sehen Kapillarelektrometers haben ihn zu der
Auffassung gebracht, dass, kurz ausgedrückt, zunehmende Werte für
die dynamische Luftelektrizität zusammen mit hohem Luftdruck und
geringem oder fehlendem Sonnenschein die für die Entwicklung einer
Influenzaepidemie günstigen meteorologischen Momente sind.
B e r g e a t.
1730
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
Französische Literatur.
L e n o r m aut- Paris: Die Massage des Herzens, speziell bei
Chloroformzufällen. (Revue de Chirurgie, März 1906.)
Die operativen Zugangswege zur Vornahme der Herzmassage
sind der sterno-kostale, bis jetzt am häufigsten angewandt, der
abdominal-diaphragmatische und der abdominal-infra-diaphragmati-
sclie. L. bespricht ausführlichst diese drei Operationsverfahren und
kommt zu dem, auch durch die Erfolge bestätigten, Schluss, dass das
letztgenannte den anderen vorzuziehen, leichter, rascher auszuführen
und am wenigsten gefährlich sei. In Voraussetzung dieser Operation
erklärt L. die Massage des Herzens für gefahrlos und leicht ausführ¬
bar und für ein Verfahren, welches in allen Fällen von plötzlichem
Stillstand der Herzaktion und zwar speziell bei der Chloroform¬
synkope angezeigt ist; dasselbe hat, von den zweifelhaften Fällen
abgesehen, schon in 4 Fällen zeitweises Wiederaufleben und in einem
balle definitive und unbestreitbare Heilung gebracht. Neben der
Herzmassage muss man aber bei drohender Todesgefahr vor allem
auch die künstliche Atmung und ausserdem vielleicht noch intra¬
arterielle (zentripetale) Seruminjektionen, welch letztere dazu bei¬
tragen würden, den Blutdruck sofort zu steigern, anwenden.
Lecene- Paris: Die Mischgeschwiilste der Brust, (Ibid.)
Im Vergleich zu den einfachen gut- und bösartigen Tumoren der
Brustdrüse sind diese aus verschiedenem Gewebe bestehenden Ge-
schwülste sein selten; es sind etwa 20 Fälle dieser Art publiziert
w oi den und Verfasser fügt ihnen 2 neue eigene Beobachtungen bei,
von welchen der eine eine 25 jähr., der andere eine 54 jähr. Frau be¬
trafen. Histologisch findet man hierbei Gewebe, welches normaler¬
weise in der Brustdrüse nicht vorkommt; es sind das Osteo-chondro-
myxo-Sarkome mit oder ohne Epithelialbildung (Adenome) oder Sar¬
kome, welche mit Pflasterepithel ausgekleidete Hohlzysten enthalten.
Diese Geschwülste, wahrscheinlich auf embryonaler Anlage sich ent-
w ickelnd, haben klinisch in ihrer Entwicklung, ihren äusseren Merk¬
malen und der prognostischen Bedeutung grosse Aehnlichkeit mit den
gewöhnlichen, eingekapselten Tumoren (Adenofibromen, Adeno¬
sarkomen) der Brust und nur die histologische Untersuchung ermög¬
licht die Differentialdiagnose. Die einfache Ausschälung genügt in
den meisten dieser Fälle; zuweilen, wenn die Geschwulst sehr aus¬
gedehnt ist, muss die Brust in toto amputiert werden, meist aber, ohne
dass auch Pektoralis oder Achseldrüsen entfernt werden müssen.
Le Damany: Die rationelle Behandlung der angeborenen Hüft¬
gelenksluxation. (Revue de Chirurgie, Februar und März 1906.)
Aus der ausführlichen, die Behandlung mit 44 Abbildungen illu-
stiiei enden Arbeit seien nur die hauptsächlichsten Schlussfolgerungen
wiedergegeben. Die anthropologische Luxation des Hüftgelenks voll¬
zieht sich nach der Geburt im ersten Lebensjahr; die Idealbehandlung
wäre die in dieser Zeit vorzunehmende prophylaktische. Immerhin
ist die Heilung noch eine sehr leichte, wenn im Verlaufe des zweiten
Lebensjahres mit der Behandlung begonnen wird. Nur die Sorge für
Reinlichkeit erfordert eine ständige Ueberwachung und ist in manchen
Fällen sehr schwer zu bewerkstelligen. Die Fixierung der Reduktion
ist etwas schwieriger und vollzieht sich langsamer bei ganz kleinen
Kindern (mit 15 30 Monaten), als es nach dem 3. Lebensjahre der
Fall ist. Dann aber nehmen die Schwierigkeiten der Reposition und
der Heilung mit dem Alter zu. In einem gegebenen Moment, der
sehr variabel je nach dem Individuum ist, zuweilen auffallend früh
tmit 3 Jahren), zuweilen ausserordentlich spät sich einstellt, können
ausnahmsweise blutige Eingriffe für die Heilung notwendig werden.
Immer ist die angeborene Luxation des Hüftgelenkes, so lautet des
\ ci fassers Schlussatz, anatomisch und funktionell völlig zu heilen,
vorausgesetzt, dass sie einer methodischen, frühzeitig einsetzenden
Behandlung unterzogen wird, d. h. einer solchen, welche in rationeller
Weise die ursächlichen und gleichzeitig die sekundären Deformationen
korrigiert.
L. Babonneix: Die Grössenideen bei der progressiven, allge¬
meinen Paralyse des jugendlichen Alters. (Revue mensuelle des ma-
ladies de Tenfance, März 1906.)
B. hat aus der Literatur 14 Fälle von progressiver Paralyse bei
jugendlichen Individuen (unter 20 Jahren) zusammengestellt und in
all diesen Fällen Grössenideen gefunden. Dieselben sind zwar nicht
häufig, aber auch nicht so selten, wie man allgemein annimmt; denn
cntspi cchend dei Zahl der bisher veröffentlichten Fälle von Paralyse
im Kindesalter (nach Fournier 117) würde das einem Prozentsatz
von 12 14 entsprechen. Diese Grössenideen verleihen dem Kindes¬
aller ihren speziellen Charakter, indem die Patienten eben dem Alter
cntspi echend die Zahlen der Reichtümer usw., die sie besitzen, be¬
scheidener, als es bei Erwachsenen der Fall ist, angeben. Ausser
bei dci allgemeinen Paralyse kommen nur bei der Dementia praecox
noch Grössenideen im Alter unter 20 Jahren vor.
Laper sonne: Syphilis und Myopie. (Presse medicale 1905,
No. 104.
\ ci lasse i weist darauf hin, dass man bei den Untersuchungen
\°u Myopen sich nicht damit begnügen, ein entsprechendes Glas zu
\ c i sein eilien, sondern ihr Allgemeinbefinden in Betracht und nach
m.ektiösen Ursachen, speziell hereditärer Syphilis forschen solle. Bei
ci w oi benci Syphilis Erwachsener müsse man doppelt vorsichtig sein:
cnc! gische und regelmässige Hg-Behandlung und Ausw'ahl geeigneter
Gläsei für die Ferne wie Nähe, völlige Korrektion des Astigmatismus,
häufige Ruhe beim Sehen. Denn man darf sich nicht verhehlen, dass
bei eintretenden Komplikationen, wie makulärer Hämorrhagie oder
Ablösung der Retina die Sehfähigkeit in höchster Gefahr ist; auch
bezüglich der Augenkomplikationen ist die Präventivbehandlung von
grösster Bedeutung.
August Benoit: Das Karzinom, die vermehrte Häufigkeit des¬
selben, Aetiologie, Therapie. (Revue de Therapeutique medico-
chirurgicale, 15. Januar 1906.)
Verfasser macht in erster Linie seinen Landsleuten den Vorwurf,
dass sic die Karzinomfrage und vor allem die ständige Zunahme dieses
Leidens nicht so ernstlich in Betracht zögen, wie es z. B. in England
und Deutschland der Fall sei. Sodann erklärt er, dass die Aetiologie
der gut- und bösartigen Tumoren eine völlig gemeinsame sei und
belegt seine Ansicht mit Anführung vieler Geschwulstarten, besonders
an den Knochen, wo man die gutartige, umschriebene Geschwulst bis
zu jenen verfolgen kann, welche ständig weiter wachsen und nach
der Abtragung ständig rezidivieren. Die fibrinösen Tumoren, die
Adenokarzinome, die multilokulären Zysten des Unterkiefers, das
Chorionepitheliom gehören in diese Gruppe der Uebergangstumoren.
Da nun jede Neubildung am Anfang eine lokale, umschriebene ist, so
ist und bleibt es unsere Pflicht, dieselbe möglichst frühzeitig zu ent¬
fernen, zumal wir noch kein Mittel haben, auf irgend eine andere
Weise das Karzinom zu heilen. Daneben und ebenso auch bei in¬
operablen Karzinomen empfiehlt B. aufs wärmste die Anwendung des
spezifischen Heilserums von Adamkiewicz, mit welchem wir eine
genügende Waffe besässen, den schlechten Zustand der Krebskranken
einigermassen zu bessern.
Canoy-la Malou: Die psychische Reedukation, ihr Zweck,
Indikation und Resultate. (Revue de therapeutique medico-chirurgi-
cale, 1. Februar 1906.)
Die Reedukation, welche man nicht mit der schwedischen Gym¬
nastik und der Mechanotherapie verwechseln darf, ist bei einer Reihe
von Koordinationsstörungen, bei Störungen der motorischen und sen¬
siblen Funktionen, wie bei Tabes dorsalis, Hemiplegie, Chorea, bei
Beschäftigungskrämpfen, bei Astasie, Abasie u. a. m. angezeigt. Die
Reedukation, auf deren Einzelheiten hier nicht eingegangen werden
kann und zu deren Ausführung C. auch spezielle Apparate angegeben
hat, bessert die angegebenen Störungen sowohl an Ober- wie Unter-
exti emitäten, sowie auch die den Rumpf und die inneren Organe be-
treffenden und konnte C. im Laufe der letzten 6 Jahre eine grosse An¬
zahl von Fällen von Ataxie und Hemiplegie verfolgen, welche all¬
mählich in solchem Grade gebessert wurden, sowohl bezüglich der
eigentlichen Bewegungserscheinungen wie der Schrift und Sprache,
dass sie dei Norm ziemlich nahe kamen. Die Reedukation hat den
Zweck, nicht nur Stärkung und Gleichgewicht des Muskelsystems
herbeizuführen, sondern auch das Nervensystem zu üben und den
Patienten zur Regulierung der vielfachen Sensationen zu erziehen.
C. erklärt sie für ein unentbehrliches Hilfsmittel bei allen Affek¬
tionen des Nervensystems oder auf diesen beruhenden Störungen
innerer Organe.
E. Marchouxund P. L.Simmond: Studien über das Gelb¬
fieber. (Annales de Tinstitut Pasteur. März 1906.)
Vorliegende Arbeit bildet das Schlusskapitel der eingehenden
^ tudien, welche Verfasser über das Gelbfieber angestellt haben und
über deren Hauptergebnis in dieser Wochenschrift (s. No. 29 d. J.,
S. 1431) bereits berichtet wurde, bringt die genaue Beschreibung
dei bei Gelbfieber vorhandenen mikroskopischen Erscheinungen, er¬
läutert durch eine grosse Anzahl (22 Tafeln) farbiger, trefflich ge-
lungenei Abbildungen der Schnitte und eine nochmalige Schluss¬
betrachtung über das Gesamtresultat der Forschungen beider Autoren.
Es sei hier nur das Wichtigste bezüglich der Prophylaxe wieder¬
gegeben. Dieselbe ist eine verschiedene, je nachdem es sich darum
handelt, einen vorhandenen Gelbfieberherd auszurotten oder eine
Gegend gegen die Neueinschleppung zu schützen. Im ersteren Falle
müssen die Massnahmen gegen die Moskitos, wie die Kranken o-jeich
streng gehandhabt werden : Zerstörung der Larven in allen stehenden
Gewässern, der ausgewachsenen Stegomyia fasciata in den mensch¬
lichen Wohnungen und Schutzvorrichtungen gegen deren Zutritt, be¬
sonders bei Nacht; strenge Isolierung eines jeden Falles von Gelb¬
heber, nicht wegen der Gefahr der Uebertragung auf den Menschen,
sondern dei Zugänglichkeit der Stegomyia. Verschwinden die letz-
teien odei werden sie seltener, so bildet das ebenfalls einen Schutz
gegen die Epidemie. Zu der zweiten Art Prophylaxe gehört sodann
sti enge Ueberwachung der von Gelbfieberherden Kommenden und
zwar bis zum 13. Jage nach ihrer Abreise von diesen; bei der ge-
i ingsten Fiebererscheinung müssen sie an einem Orte untergebracht
werden, wo die Stegomyia keinen Zutritt hat. Die Schiffe, welche von
einem Gelbfieberherde kommen, müssen eingehend darauf untersucht
v ei den, ob Stegomyia f. an Bord sich findet. Im negativen Falle
Kann ohne Gefahi die Ausschiffung der Waren erfolgen, im positiven
müssen aber vor derselben sämtliche Schiffsräume desinfiziert werden,
nachdem Besatzung und Passagiere entfernt sind. Die Quarantäne
an sich bietet keineswegs eine Garantie gegen das Gelbfieber; sie
hat u. a. den grossen Nachteil, eine trügerische Sicherheit ein-
zuflössen.
Kraus und Schiffmann: Der Ursprung der Antikörper, der
Präzipitine und Agglutinine. (Ibid.)
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1731
Die’ Untersuchungen, welche Verfasser am Kaiserl. Institut für
Serumtherapie zu Wien in Fortsetzung früherer, mit Levaditi am
Metschnikoff sehen Laboratorium zu Paris unternommenen
Arbeiten anstellten, fühlten zu dem Ergebnisse, dass die Präzipitine
und Agglutinine im Gefässystem sich bilden, während die bakteri¬
ziden Antikörper in der Milz, im Knochenmark und den Lymphdriisen
entstehen. Ob diese Präzipitine und Agglutinine in einer primären
Form, ähnlich den Profermenten, in gewissen Organen auftreten, ver¬
mögen Verfasser gegenwärtig noch nicht zu sagen.
J. J. Vassal: Die Trypanosoiniasis der Pferde in Annam.
(Annaies de l’institut Pasteur, April 1906.)
A. L a v e r a n und F. M e s n i 1: Experimentelle Untersuchungen
über die Trypanosomiasis der Pferde in Annam. Vergleich mit Surra.
^ Beide Arbeiten liefern einen interessanten Beitrag zum Studium
dieser Epizootie, deren Erreger die grösste Aehnlichkeit mit jenen
des Surra hat. Das Studium dieser Frage ist von grosser Wichtigkeit
für die Landwirtschaft in den indisch-chinesischen Kolonien.
Besredka: Die löslichen Endotoxine des Typhus, der Pest
und der Dysenterie. (Ibid.) .
B. gelang es, diese 3 Endotoxine darzustellen und bespricht deren
Bedeutung zur Gewinnung von Antiendotoxinen, zur Bestimmung dei
spezifischen Toxine u. a. m. Stern.
Ophthalmologie.
H. Sattler: Zur Behandlung der Myopie. Offizieller Vortrag
vorn internationalen medizinischen Kongress in Lissabon, 22. April
1906. (Klin. Monatsbl. f. Augenheilk., Juni 1906, S. 465.)
Der wesentliche Inhalt dieses hochinteressanten Vortrages ist
in nachstehende Schlussfolgerungen niedergelegt:
I. Es ist möglich, bei Einhaltung eines genügenden Aibeits-
abstandes und Vermeidung einer zu starken Senkung der Blickebene
durch die dauernde Vollkorrektion der Myopie deren Fortschreiten zu
hemmen. „ .... .
2. Bei jugendlichen Individuen wird selbst bei Myopie von iO D.
und mehr nicht selten die Vollkorrektion vertragen.
3. Findet dennoch eine Progression statt, so ist sie in der Regel
4. Auch bei hohen Graden der Myopie ist es erforderlich, durch
eine entsprechende Korrektion einen Arbeitsabstand von mindestens
20—25 cm herbeizuführen. . ,
5. Eine rechtzeitige, richtige Korrektion scheint ein Schutzmittel
gegen die dem kurzsichtigen Auge drohenden Gefällten zu sein.
6. Die Insuffizienz der Konvergenz wird durch die Vollkorrektion
der Myopie in der Regel genügend behoben, um keine Beschwerden
her vorzu rufen. , , ..
7. Muskuläre asthenopische Störungen erfordern neben der Kor¬
rektion der Myopie bei einem genügend grossen Grad von Exophorie
die Rücklagerung eines oder beider äusseren geraden Augenmuskeln,
ohne jene eine entsprechende Prismenkombination.
8. Bei höchstgradiger Kurzsichtigkeit (18 D. und mehr) ist bei
jugendlichen Individuen bis gegen Ende der dreissiger Jahre die
Extraktion der durchsichtigen Linse mittels der Hohllampe zu emp-
9. Die primäre Extraktion ist der Fuk a 1 a sehen Methode der
primären Diszission überlegen a) durch die geringe Zahl der Eingriffe,
b) durch die weit raschere Herstellung eines guten Visus, c) durch
die viel grössere Sicherheit vor Glaskörperverlust, d) durch die Ver¬
meidung von Drucksteigerungen und ihrer Folgen, endlich c) wie es
scheint auch durch die geringere Gefahr einer postoperativen Netz¬
hautablösung.
Rohm er: Arteriosklerose und Auge. Kongress der Societe
frangaise d’Ophthalmologie 1906. (Die ophthalmol. Klinik 1906, No. 13,
S. 462. . ■ .
Die Arteriosklerose ist eine Krankheit des Alters; tritt sie bei
jüngeren Individuen auf, so kann man sie als Symptom vorzeitiger
Senilität auffassen. Sie tritt im allgemeinen als progressive, oblite¬
rierende Endo- und Periarteriitis, an den grossen Blutgefässen da¬
gegen auch in zirkumskripten Herden, als Atherom, auf.
Die arteriosklerotischen Veränderungen des Auges lassen sich in
folgende Rubriken einordnen:
1. Das senile Auge,
2. Allgemeine Arteriosklerose des Auges,
3. Verschluss der Zentralgefässe,
4. Blutungen,
5. Glaukom,
6. Retinitis circinata.
1. Das senile Auge stellt das Uebergangsstadium von der
Norm zur eigentlichen „pathologischen“ Arteriosklerose dar. Dahin
gehört das Brüchigwerden der Bindehautgefässe, die Trägheit der
Pupille, häufig verbunden mit ausgesprochener Miosis, die Sklero¬
sierung der Linse, die Ischämie der Netzhaut. Infolge dieser senilen
Veränderungen nimmt die Sehschärfe ab, das" Gesichtsfeld wird enger,
der Farbensinn erleidet Veränderungen, die ihren Ausdruck u. a. in
der senilen Manier mancher Maler finden. Nicht auf Arteriosklerose
beruhen der Greisenbogen und das senile Tränen.
2. Die allgemeine Arteriosklerose des Auges.
Man findet an den Arterien Wandverdickungen durch Wucherung des
Bindegewebes und des elastischen Gewebes in verschiedenartige!
Verteilung, die zu einer Verkleinerung des Gefässlumens fiihien, und
an den Venen Faltenbildungen und Wandverdickungen, die denselben
Effekt haben; ausserdem u. a. eine konstante, mit zunehmendem
Lebensalter fortschreitende allgemeine Vermehrung des elastischen
Gewebes und des „Kalibers der Gefässe“. Die miliaren Aneurysmen
der Retinalgefässe sind viel häufiger, als man bisher annahm, bie
sollen diagnostisch wichtig sein, da sie für den gleichen Befund im
Gehirn sprechen. „ _ , ,
3. Verschluss der Zentralgefässe. Er erzeugt das
Krankheitsbild, das nach Graefe gewöhnlich als Embolie der Zen¬
tralarterie bezeichnet wird. Neuere Untersuchungen haben ergeben,
dass eine primäre Schädigung der Gefässwand und anschliessende
Thrombosierung den meisten Fällen dieser Art zugrunde liegt.
4. Netzhautblutungen. Man kann sie nach dem Mecha¬
nismus ihrer Entstehung in 4 Gruppen einteilen: a) Blutungen in¬
folge von Zerreissbarkeit der Netzhautgefässe, b) durch Venenthrom¬
bose, c) durch Arterienthrombose, d) durch gleichzeitige Obstruktion
beider Gefässe. _ . ,
5. Glaukom. Es ist zweifellos, dass enge Beziehungen
zwischen Glaukom und Arteriosklerose bestehen. Man hat hierüber
folgende Hypothesen aufgestellt:
a) Kreislaufshindernis von Seite der Ziliarvenen,
b) Alterationen der intraokularen Flüssigkeiten,
c) Steigerung des arteriellen Druckes,
d) Verminderung des arteriellen Druckes,
e) Oedem des Glaskörpers.
Die Mitwirkung der Arteriosklerose beim Zustandekommen des
Glaukoms ist nach R. zweifellos, aber Herzfunktion, Blutzusammen¬
setzung, Sympathikus, Nierenfunktion wirken alle noch mit.
6. Retinitis circinata. Dieses Krankheitsbild entsteht
nach R.s Annahme durch Anhäufung von fetthaltigen Zellen in der
Umgebung alter Blutungen.
Pick: I. Zur Behandlung von Hornhauttrübungen. (Zentralöl.
f. prakt. Augenheilk., Juni 1906, S. 176.)
P. wendet seit mehreren Jahren bei veralteten Hornhauttrübungen
ein Mittel an, das G u i 1 1 e r y für die Aufhellung von Kalktrübungen
der Hornhaut angegeben hat — den Salmiak (Ammonium chloratum)
Von der käuflichen Salmiakwasserlösung werden 1—3 Theelöffel in
einer Tasse abgekochten lauen Wassers aufgelöst und damit Um¬
schläge 3— 4 mal täglich etwa 20 Minuten gemacht; den Patienten
wird vorgeschrieben, dass sie die Augen etwas darin baden sollen;
die Lider ab und zu öffnen, so dass die Flüssigkeit direkt auf die Horn¬
haut wirken kann. Das Verfahren ist schmerzlos, es hat nur ein ge¬
ringfügiges Brennen zur Folge, das von den Patienten ausnahmslos
gut vertragen wird. Die objektiven Reizsymptome sind ganz ge¬
ringfügig und verschwinden stets einige Minuten nach Beendigung
der Prozedur. , ' , ...
Werden die Salmiakumschläge einige Wochen regelmassig an¬
gewandt, so beobachtet man fast stets eine mehr oder weniger starke
Aufhellung der Hornhaut, die sich auch ziffernmässig in Erhöhung der
Sehschärfe nachweisen lässt. Das Mittel wirkt noch günstiger, wenn
durch alle anderen Agentien, wie Dionin, subkonjunktivale Injektionen,
Massage mit den verschiedenen Salben, keine Besserung mehr er¬
zielt wird. XT , .. .,
Kontraindiziert sind frische Trübungen; die Narben müssen alt
P. ist der Anschauung, dass vielleicht eine direkte chemische Ein¬
wirkung auf das pathologisch veränderte Hornhautgewebe eintritt,
indem gewisse Einlagerungen, die einen Teil der Undurchsichtigkeit
verursachen, aufgelöst werden. Für diese Annahme spricht, dass der
Haupteffekt innerhalb 4 — 6 Wochen eintritt.
II. Zur Wirkung des Windes auf die Augen.
P. hat an sich selbst die Beobachtung gemacht, dass bei einer
mehrere Stunden betragenden Seefahrt im scharfen Wind, eine rrü-
bung in seinem myopischen rechten Auge auftrat, die sich als blutige
Glaskörperflocke erwies. Er hat ferner beobachtet, dass duich Rad¬
fahren auch beim Emmetropen Glaskörpertrübung auftrat und erblickt
die Ursache in dem anhaltenden Winddruck, der auf den Augaptel
Wi'k\Vicheskiewicz: Weitere Erfahrungen über den Wert des
Pyoktanins in der Augentherapie. Sitzungsber. d. XV. internat. med.
Kongresses in Lissabon. (Klin. Monatsbl. f. Augenheilk., Juni 1906,
S. 551.)
W. hat das von S t i 1 1 i n g zuerst gegen eitrige Prozesse emp¬
fohlene Pyoktanin bei verschiedenen infektiösen Hornhauterkran-
kungen erprobt und betrachtet das Mittel nicht nur als das mäch¬
tigste gegen Hornhautgeschwüre und infizierte Augenwunden, son¬
dern hat es auch als sehr wirkungsvoll gefunden gegen eitrige Pro¬
zesse des Tränensackes, gegen Phlegmonen in der Augenhöhle, gegen
Empyeme der Nachbarhöhlen. Um in den letzteren Fallen das Mittel
in seiner Wirkung zu erhöhen, resp. um es den Geweben zugänglich
zu machen, wird vorher die eitrige Höhle solange mit Wasserstoff¬
superoxyd ausgespült, bis nur reine Flüssigkeit abfliesst. Bei Horn¬
hautgeschwüren wird der Effekt des Mittels sehr bedeutend erhöht
durch die gleichzeitige Anwendung des Dionins, und zwar sotoit nacn
1732
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
der Pyoktaninapplikation. Dionin erleichtert durch Ljonphstauung
das tiefere Eindringen des Pyoktanins in die Gewebe. Das Mittel
wird in 1 proz. Lösung angewandt.
B o r s c h k a - Wien: Eine einfache Methode zur Prüfung der
binokularen Tiefenwahrnehmung. (Zentralbl. f. prakt. Augenheilk.,
Mai 1906, S. 147.)
Wenn man sich bei einem Patienten über das Vorhandensein
oder Nichtvorhandensein einer binokularen Tiefenwahrnehmung rasch
orientieren will und diesem Zweck dienende Stereoskopbilder oder
den Apparat zum Hering sehen Fallversuch nicht bei der Hand hat,
kann man auf folgende Weise leicht Aufschluss erhalten.
Man gebe dem Patienten in jede Hand ein möglichst dünnes,
spitz zulaufendes, nicht zu kurzes Instrument (z. B. Zupfnadeln, wie
sie zur Herstellung mikroskopischer Präparate verwendet werden,
Hutnadeln, Drahtstückchen öder auch lang und dünn zugespitzte Blei¬
stifte) und fordere ihn auf, die Spitzen der Instrumente in Leseweite
derart zu nähern, dass sie noch einen kleinen Abstand von etwa
1 mm behalten, sich jedoch nicht berühren.
Einer Versuchsperson mit binokularer Tiefenwahrnehmung wird
dies ohne Schwierigkeit jedesmal gelingen, während eine solche mit
nur monokularem Sehen mehr oder minder grosse Fehler (Entfernung
der Spitzen bis etwa 20 mm) machen und während der Ausführung
des Versuches grosse Unsicherheit zur Schau tragen wird. Nur durch
einen seltenen Zufall könnte es geschehen, dass auch eine Versuchs¬
person, die nicht binokular sieht, die richtige Einstellung der Spitzen
trifft. Eine Wiederholung des Versuches wird aber regelmässig den
Mangel der Tiefenwahrnehmung erkennen lassen.
Die anderen Momente, aus welchen der monokular Sehende
Tiefenentfernungen erschliessen kann, wie Schärfe und Grösse der
Netzhautbilder oder das Muskelgefühl, genügen bei weitem nicht, die
bei dem beschriebenen Versuche gestellten Anforderungen zu er¬
füllen. Nur der Schlagschatten muss, insbesondere bei Verwendung
von dicken Instrumenten vermieden werden. Dies geschieht am
einfachsten dadurch, dass der Untersuchte der Lichtauelle (dem
Fenster) direkt gegenübersteht, so dass eine seitliche Beleuchtung
ausgeschlossen erscheint.
Auch zu Demonstrationszwecken lässt sich der beschriebene
Versuch verwenden. Ein Normalsichtiger, der ein Auge schliesst,
ist nicht im Stande, die gestellte Aufgabe zu lösen, erst wenn er das
zweite Auge geöffnet hat, sieht er die groben Fehler, die ihm unter¬
laufen sind.
Oppenheimer: Ueber Pflege und Aufbewahrung des künst¬
lichen Auges. (Zentralbl. f. Optik und Mechanik 1906, No. 11.)
Künstliche Augen sollen Nachts immer entfernt werden, obwohl
es kein Fehler ist, wenn dies hie und da unterlassen wird. Infolge
des längeren Tragens geht die Politur viel rascher verloren, als
wenn Pausen dazwischen sind. Bei dauerndem Tragen des
künstlichen Auges stellen sich die heftigsten Entzündungen in der
die Augenhöhle auskleidenden Schleimhaut ein. Jedes Glasauge muss
in tadelloser Verfassung erhalten werden; gleich beim Herausnehmen
muss es in Borlösung oder in abgekochtem Wasser sorgfältig ge¬
waschen, mit einem feinen Leintuch getrocknet und an einen staub¬
sicheren Ort gelegt werden. Es soll nicht, wie das so oft ge¬
schieht, nachts in Wasser gelegt werden, da die kalkhaltigen und
andere Ingredienzien des Wassers den Schmelz angreifen und die
Haltbarkeit des Auges verkürzen. Selbst auskochen kann man das
Glasauge z. B. bei Gefahr der Infektion, nur muss man es zuerst in
kaltes Wasser legen und dieses allmählich erhitzen.
Um einem etwas verbrauchten Glasauge einen künstlichen Glanz
zu verleihen, kann man es mit einer dünnen Schicht Oel oder Vaseline
überziehen, was überhaupt zu empfehlen ist. Bei der Herausnahme
und dem Einsetzen eines künstlichen Auges muss der Patient (oder
Arzt) sich jedesmal gründlich die Hände waschen, denn es sind Fälle
bekannt, wo schwere Infektionen durch das Glasauge weiter ver¬
breitet wurden. Auch etwaige Instrumente, die bei der Heraus¬
nahme des Auges benutzt werden, müssen des öfteren ausgekocht
werden. —
Patienten sollten stets mehrere Glasaugen in Bereitschaft halten,
im Falle das eine verloren geht oder zerbricht, namentlich wenn sie
auf dem Lande wohnen.
Schliesslich muss man dem Träger eines Glasauges den Rat
veben, die Lidränder gewohnheitsmässig abzutrocknen, so oft sich die
Notwendigkeit zeigt, indem sie von der Schläfenseite nach der Nase
zu wischen, andernfalls ist ein Herausgleiten des Glasauges möglich.
Rhein.
Auswärtige Briefe.
Berliner Briefe.
(Eigener Bericht.)
Der Besuch der französischen Aerzte in Berlin.
Mit dem Gefühl eines gastlichen Wirtes, der sich redlich
Mühe gegeben hat, seinen Gästen Gutes zu bieten, und beim
Abschied sieht, dass ihm dies gelungen ist, haben wir unsere
französischen Gäste von uns scheiden sehen. Wenn sie beim
schäumenden Pokal ihrer Anerkennung und ihrem Dank be¬
geisterten Ausdruck gaben, so dürfen wir ihnen glauben, dass
es mehr als konventionelle Höflichkeit, dass es ihre wirkliche
und aufrichtige Meinung war, die aus ihnen sprach. Denn wir
können uns ohne Ueberhebung sagen, sie sind gut aufgenommen
worden, nicht bloss mit leiblichen Genüssen, obwohl es auch
daran nicht fehlte, sondern wir konnten ihnen viel Interessantes
und Lehrreiches zeigen, vieles, was sie in der Heimat zu sehen
nicht Gelegenheit hatten. Es kam hinzu, dass die gesamte
Tagespresse die fremden Aerzte mit warmen Worten begrüsste,
dass ihnen auf Schritt und Tritt Sympathiekundgebungen zuteil
wurden, dass die für Berlin geplanten Besichtigungen meister¬
haft organisiert waren und dass die Berliner Aerzte sich ihnen
während des ganzen Aufenthalts in echter Kollegialität wid¬
meten.
Was ihnen, wie allen Fremden, wohl am meisten im¬
ponierte, war die Fülle von Licht und Luft, die das ganze Stadt¬
bild Berlins wie alle Einrichtungen beherrscht. Licht und Luft
auf allen Strassen und Plätzen, Licht und Luft in jedem Raum
eines jeden Krankenhauses, Licht und Luft auch in allen wissen¬
schaftlichen Anstalten und Laboratorien. Es kommt uns hier
zu Gute, dass Berlin erst vor 30 Jahren angefangen hat, Welt¬
stadt zu werden, dass der grösste Teil sowohl der Strassen
wie auch der Krankenhäuser und wissenschaftlichen Institute
verhältnismässig neueren Datums ist und darum bei der An¬
lage alle Errungenschaften der Neuzeit verwertet werden
konnten.
Dass wir mit einigem Stolz unsere grossen Kranken¬
anstalten zeigen können, ist bekannt, aber ähnliche sind auch
im Auslande zu sehen. Dagegen finden die auf der Studienreise
begriffenen Kollegen nirgends ausserhalb Deutschlands die Ein¬
richtungen, die der Entwicklung der sozialen Gesetzgebung ihre
Entstehung verdanken. Darum erregte z. B. die Lungenheil¬
stätte in Beelitz ihr ganz besonderes Interesse, und im An¬
schluss daran die Walderholungsstätten, von denen eine der
Kindererholungsstätten zur Besichtigung gewählt war.
Schliesslich boten etwas Neuartiges und für Berlin Spe¬
zifisches die Einrichtungen, welche der allgemeinen Wohlfahrt
und der ärztlichen Fortbildung gewidmet sind, nämlich die
Rettungsgesellschaft und das Kaiserin-Friedrich-Haus; auch
diese wurden in allen Einzelheiten geschildert und gezeigt und
mit grossem Interesse in Augenschein genommen.
Es würde zu weit führen, wenn wir den ganzen Verlauf
des Berliner Aufenthalts unserer französischen Kollegen schil¬
deren wollten, zumal uns ja das Meiste von dem, was sie ge¬
sehen, bekannt ist. Wir dürfen hoffen, dass sie von hier
dauernde Eindrücke mitgenommen haben, dass aber auch die
freundschaftlichen und kollegialen Beziehungen, die zwischen
den Aerzten beider Länder angeknüpft wurden, von bleibendem
Wert sein werden. Ein greifbares Ergebnis dieser Studienfahrt
ist bereits zu konstatieren. Bei der Abschiedsfeier wurde der
Vorschlag gemacht, dass die Studienkomitees der verschie¬
denen Länder sich zu einem internationalen Komitee vereinigen
sollten. Dieser Vorschlag fiel auf fruchtbaren Boden, so dass
man sofort die vorbereitenden Schritte zu seiner Ausführung
tat. Es wurde ein provisorischer Ausschuss und zu dessen
Vorsitzenden Prof. Kossmann - Berlin gewählt; aus diesem
provisorischen Ausschuss soll dann ein definitiver mit einer
grösseren Zahl von Mitgliedern und Ehrenmitgliedern aus allen
Kulturländern hervorgehen. M. K.
Vereins- und Kongressberichte.
Freie Vereinigung für Mikrobiologie.
Erste Tagung im Institut für Infektionskrankheiten zu B e r 1 i n
am 7., 8. und 9. Juni 1906.
Bericht, erstattet von dem Schriftführer A. Wassermann.
(Schluss.)
Zweiter Verhandlungstag, 8. Juni 1906.
V orsitzende : Löffler- Greifswald, G r u b e r - München.
Die Versammlung setzt zunächst die Diskussion zu den Vor¬
trägen des ersten Tages, betreffend das Gebiet der Immunisierung,
fort.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
28. August 1906. _
Herr Löffler- Greifswald hält Mäusetyphus und Paratyphus
(ranz sicher für verschieden. Die beiden Arten unterscheiden sich
auch kulturell in einer bestimmt zusammengesetzten Malachitgrun-
hmiillon. Paratyphus lässt diese Lösung klar, Mäusetyphus erzeugt
in ihr eine Trübung. Löffler schliesst hieraus, dass unsere bis¬
herigen Differenzierungsmethoden als nicht ausreichend erachtet wer-
den süssem g u ^ g j d _ Berün betont gegenüber P f e i f f e r, es sei
nach seinen Beobachtungen ausgeschlossen, dass die Bakterien pri¬
mär ausserhalb der Leukozyten abgetötet und dann erst sekundär
von den Zellen aufgenommen werden. Er hält es für berechtigt, die
Leukozytenversuche im Reagenzglase auf Vorgänge im lebenden
Organismus zu übertragen.
Herr S c h e 1 1 e r - Königsberg schliesst sich den Ausführungen
Pfeiffers betreffend die Filtration der Vibrio-Metschmkoff-
Aggressine an.
Herr L an d s t e i n e r - Wien verteidigt gegenüber Morgen¬
rot h seinen Standpunkt betreffs der Lipoidadsorption und der Ana¬
logie der Kolloide mit Immunsubstanzen.
Herr Pick- Wien glaubt auf Grund von Versuchen, die er zu¬
sammen mit Obermaier mittels Diazobenzols an verschiedenen
Toxinen angestellt hat, dass die Bindung von Toxinen nn Organismus
ein für jedes Toxin besonderer Vorgang sei und nicht mit den all¬
gemeinen physikalischen Adsorptionen allem ihre Erklärung {inde-
Uhlenhuth - Greifswald bemerkt, dass er bereits in seinem
Vortrage in Uebereinstimmung mit Wassermann gesagt habe,
dass sich die Hemmung seitens fremder Stoffe durch Verdünnung ver¬
meiden lasse Statt die Verdünnung anzuwenden, könne man das
hämolytische' System verstärken. Auch er sei der Meinung dass
man stets ein durch Immunisierung gewonnenes hämolytisches
Svstem verwenden müsse. „ . ...
Y Herr Kruse- Bonn legt keinen Wert auf die Priorität der Anti¬
toxine im Ruhrserum gegenüber K r a u s. K r u s e halt die : Be eu-
tung des Antitoxins im Ruhrserum überhaupt für zweifelhaft. Die
Unterscheidung von Aggressinen und anderen Bakterienprodukten
erachtet rer^fü N g j s sSe r _ Frankfurt a. M. betont gegenüber den
U h 1 e n h u t h sehen Ausführungen, dass man nicht spezinsche Hem¬
mungsstoffe von spezifischen stets leicht dadurch unterscheiden könne,
dass die ersten kochbeständig, die letzteren dies nicht sind. Bezüg¬
lich der Unterscheidung von Paratyphus- und Hog-Cholera-Bazillen
ist auch N e i s s e r der Ansicht, dass die Pathogenität ausschlag¬
gebend sei. Die Serumreaktion führe hier nicht zum Ziel.
Herr K u t s c h e r - Berlin bemerkt, dass manche Stämme von
Mäusetyphus und Paratyphus sich auch durch die Pathogemtats-
prüfung nicht unterscheiden lassen, indem beide gleichmassig Ver¬
suchstiere bei der Verfütterung töten. .
Herr L ö f f 1 e r - Greifswald steht bezüglich des Neisser-
Sachs sehen Verfahrens auf dem Standpunkte, dass es weit kompli¬
zierter sei und mehr Fehlerquellen biete als das bisherige F raziP1'
tierungsverfahren. Dieses letztere habe sich in der Praxis bewahrt
und das Zutrauen zu demselben darf deshalb nicht im geringsten
erschüttert werden. Daneben sei sicherlich zur weiteren Stutze des
Präzipitierungsergebnisses die Neisser-Sachs sehe Methode als
Bestätigungsreaktion zu empfehlen.
Herr F 1 ü g g e - Breslau: Ueber quantitative Beziehungen der
Infektion durch Tuberkelbazillen. , „ ,
Findel konnte im Institute von F 1 ü g g e zeigen, dass 1 uber-
kelbazillen bei Inhalation seitens tracheotomierter Tiere unter Be¬
dingungen, bei denen weder die Rachenorgane noch der Darm mit
den Bazillen in Berührung kommen konnten, die höchste Infektiosität
bewiesen. Derselbe Autor führte in Versuchen an Meerschweinchen
die zahlenmässige Bestimmung der geringsten Menge iuberkel-
bazillen aus, welche bei Inhalation und derjenigen, welche bei Ver-
fütterung zu tödlicher Tuberkelbazilleninfektion führen. Die Resultate
waren folgende: Sichere Infektion der Tiere trat ein bei der In¬
halation von 90 Tuberkelbazillen. Dagegen trat bei der Verfütterung
selbst der 5500 fachen Menge keine Tuberkulose oder Drüsenschwel¬
lung auf. Vielmehr ist erst bei millionenfacher Steigerung der Dosis
das Resultat ein sicher positives. Die Inhalation ist also der gefähi-
lichste Infektionsmodus. Die zur Infektion per inhalationem nötige
Grenzzahl kann sich, wie Z i e s c h e im Flügge sehen Institut häufig
feststellte, in den von Tuberkulösen ausgestreuten Tröpfchen finden.
Z i e s c h e fand bei Untersuchungen an 30 Patienten auf Entfernungen
von 40—80 cm in den Tröpfchen im Mittel mehrere Hundert Tuberkel¬
bazillen. Die Frage, woher es komme, dass Aerzte, welche Tuberku¬
löse mit dem Kehlkopfspiegel untersuchen, trotzdem so selten an
Tuberkulose erkranken, erklärt Ziesche, indem er durch Versuche
feststellte, dass bei dieser Untersuchungsmethode es nicht zum Aus¬
schleudern bazillenhaltiger Tröpfchen kommen kann, so lange die
Kehlkopfspiegeluntersuchung dauert, da bei offener Stimmritze der
intratracheale Druck zum Ausschleudern der Tröpfchen nicht genügt.
Diskussion: Herr C. F r a e n k e 1 - Halle erinnert an die
Bi rch-Hir schfeld sehen Versuche, welche bereits die Gefahr
der Inhalation bei Tuberkulose klar bewiesen haben. Er selbst habe
sich lange Zeit mit Versuchen über die Virulenz der Tuberkelbazillen
beschäftigt und habe gefunden, dass diese sehr konstant sei.
1733
Herr B o n g e r t - Berlin ist auf Grund eigener Versuche mit
Milch von tuberkulösen Kühen und auf Grund der Versuche von
P r e i s s gleichfalls der Ansicht, dass die Gefahr der Inhalation weit
grösser ist, als die der Verfütterung der 1 uberkelbazillen und dass
die Lungentuberkulose durch ersteren und nicht durch letzteren In-
lektionsmodus entsteht. „ „ , _ ,
Herr Schütz- Berlin berichtet gleichfalls über Beobachtungen
und Versuche, welche diese Ansicht beweisen.
Herr O. Müller- Königsberg schliesst sich auf Grund seiner
Beobachtungen bei Gelegenheit der lilgung von I uberkulose untei
Rindern Flügges Ansicht von der Inhalationsentstehung der Lun¬
gentuberkulose an.
Herr C z a p 1 e w s k i - Köln teilt mit, dass nach seinen in Gor-
bersdorf ausgeführten früheren Untersuchungen die Anzahl der in¬
fizierenden Tuberkelbazillen grossen Einfluss auf den Verlauf der
Tuberkulose habe.
Herr H e i m - Erlangen: Ueber Asbestfilter.
Heim beschreibt und demonstriert ein von ihm mittels Asbest
konstruiertes Filter. Dasselbe arbeitet für die Zwecke der Bak¬
terienfiltration sehr zuverlässig. Das Filter ist leicht anzufertigen.
Die dazugehörigen Teile sind von der Firma F. und M. Lauten¬
schläger in Berlin zu beziehen.
Herr C o n r a d i - Neunkirchen: Ueber Züchtung von Typhus-
bazillen aus dem Blut mittelst der Gallenkulturen.
Der Vortrag wird in dieser Wochenschrift erscheinen.
Diskussion: Herr R. Müller- Kiel hat in Gemeinschaft mit
G r ä f statt der Galle Hirudin zu dem Untersuchungsblut zwecks
Gerinnungshemmung zugesetzt. Es hat sich indessen gezeigt, dass
ein solcher Zusatz gar nicht nötig ist, denn die Typhusbazillen halten
sich auch im Blutkuchen noch lebend, sodass man sie durch Aus¬
streichen des Blutgerinnsels gewinnen kann. Dieses ist das ein¬
fachste Verfahren, da man auf diese Weise das Serum zur Agglu¬
tination und den Blutkuchen zur Züchtung verwenden kann.
Herr F r ä n k e 1 - Halle hat Bedenken, ob in praxi die Aerzte
genügend Blut für die C o n r a d i sehe Methode von ihren Patienten
erhalten können. „ _ ,.
Herr Len tz- Saarbrücken fand bei Nachprüfungen dieüonradi-
sche Gällenmethode als gut. Aber in praxi ist es sehr schwer, Blut
zur Untersuchung zu erlangen. Deshalb ist auch das neue Instiument
von Conradi seiner Ansicht nach nicht brauchbar. Er hat weiter¬
hin die Methode Müller-Gräf geprüft. Unter 100 Fällen hatte
er damit 12 mal positive Resultate.
Herr P f e i f f e r - Königsberg fragt an, wie bei Züchtung von
Typhusbazillen aus Blutkuchen die bakterizide Wirkung des normalen
Blutserums verhütet wird.
Herr Conradi erwidert darauf, dass die im Blutkuchen einge¬
schlossenen Typhusbazillen vor dem bakteriziden Serum geschützt
sind. Es sei dies ähnlich wie bei den seinerzeitigen Versuchen
Büchners mit in Wattebäuschchen eingeschlossenen Bakterien.
Sein Blutschnepper sei nicht unentbehrlich, aber er erleichtere die
Blutentnahme. Er glaubt, dass in der Praxis genügend Blut für
Züchtungszwecke zu haben ist. Der Methode Müller-Gräf fehlt
der Vorteil der Anreicherung. Eventuell kann man versuchen, den
Blutkuchen zu seinem Gallenpräparat zuzusetzen.
Herr C z a p 1 e w s k i - Köln: Zur Technik der Typhusdiagnose.
Vortragender demonstriert und empfiehlt praktische Modifi¬
kationen zur Herstellung des von D r y g a 1 s k i - C o n r a di sehen
Agars. Ferner empfiehlt er zur Unterscheidung von Koli und Typhus
statt Neutralrotagar Neutralrotgelatine. Beim Pipettieren infek¬
tiösen Materials hat er die Strohschein sehe Pipette als sehr
praktisch gefunden.
Diskussion: Herr Scheller- Königsberg zieht den E n d o-
schen Agar demjenigen von Drygalski-Conradi vor.
Herr Th. Müll er- Graz: Auch in Graz habe man mit dem
Endo sehen Nährboden bessere Erfahrungen gemacht.
Herr L e n t z - Neunkirchen : Ueber Paratyphus.
Lentz bespricht die Differentialdiagnose des Paratyphus. Die
wichtigsten klinischen Symptome dieser Krankheit sind nach ihm:
1 Das plötzliche Einsetzen der Erkrankung, wie Schüttelfrost,
Erbrechen, Durchfall, der rapide Temperaturanstieg, und 2. das Auf¬
treten eines Herpes labialis im Beginn der Krankheit. 3. Staik faku-
lent bis faulig riechende, oft sehr viel Schleim enthaltende Darment¬
leerungen 4 Entweder sehr zahlreiche kleine oder wenige sehr
grosse (P/a cm Durchmesser) Roseolen. 5. Meist nur vom 3. bis
5 Tage der Krankheit deutlicher, sehr harter Milztumor, der weiter¬
hin sehr schnell verschwindet, so dass in späteren Stadien der Krank¬
heit Milztumor fehlt. 6. Unregelmässiger atypischer Fieberverlaut
zuweilen mit allabendlichen Schweissausbrüchen vergesellschaftet.
7. Leichter Krankheitsverlauf. , . , T , ,
Für den Verlauf der W i d a 1 sehen Reaktion stellt Lentz den
Satz auf, dass die Agglutination von Paratyphusbazillen durch solche
Paratyphussera, welche das Paratyphusagglutinin als Hauptagglutnmi
enthalten, bei makroskopischer Beobachtung in etwa /s Stunde bei
Zimmertemperatur vollständig bis zum Serumtiter abläuft, dagegen
mit Typhusseris, welche Paratyphusagglutinin als Nebenagglutmin ent¬
halten, erst nach zweistündigem Aufenthalt der Proben im Brut-
schrank von 37° die Titergrenze erreichen.
1734
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCEIRIFT.
No. 35.
Eine sichere Unterscheidung des Bazillus Paratyphi von den
übrigen Mitgliedern der sogenannten Hog-Choleragruppe ist Lentz
nicht gelungen. Er erwarte die Entscheidung über die Frage nach
der Identität dieser Stämme von einer Untersuchung mit feineren
kulturellen Methoden.
Diskussion: Herr K r u s e - Bonn verteidigt die Castel-
1 a n i sehe Reaktion bei der Differentialdiagnose von Typhus und
Paratyphus. Es sei dabei nur starke Absättigung oder die Ver¬
wendung möglichst verdünnten Serums nötig.
Herr Conradi - Neunkirchen stimmt mit den klinischen Aus¬
führungen von Lentz nicht überein. Dagegen stimmt er Lentz
bei, dass zur Identifizierung neben den biologischen Methoden auch
sorgfältige kulturelle Untersuchungen nötig sind.
Herr S c h e 1 1 e r - Königsberg hat die Erfahrung gemacht, dass
auch bei verschiedenen Stämmen einwandsfreier Typhusbazillen die
Schnelligkeit des Agglutinationseintrittes sehr verschieden sein kann.
Er hält daher bei der Verwertung dieses Symptoms für die Diffe¬
rentialdiagnose von Typhus und Paratyphus Vorsicht für geboten.
Herr Löffler- Greifswald weist darauf hin, dass es mit Hilfe
seiner Grünlösungen mit der grössten Leichtigkeit gelingt, Typhus
und Paratyphus zu unterscheiden. Auch mittels der Grüngelatine
könne man dasselbe erreichen. Er sei damit beschäftigt, die Grün¬
gelatine mittels eines neuen von den Höchster Farbwerken erhaltenen
Malachitgrüns zu verbessern. Löffler verspricht Mitteilung dar¬
über nach Beendigung seiner Versuche.
Herr G a f f k y - Berlin macht darauf aufmerksam, dass Para¬
typhus, wie im Vorjahre im Kreise Kottbus beobachtet wurde,
epidemisch akut unter Cholerasymptomen auftreten kann. Bei der
Untersuchung von choleraverdächtigem Material müsse man daher
auch immer an Paratyphuserkrankungen denken.
Herr M. N e i s s e r - Frankfurt a. M. empfiehlt zur Differential¬
diagnose von Typhus, Dysenterie, Paratyphus und Kolibazillen 1 proz.
Milchzuckeragar.
Herr Vagedes - Berlin weist betreffs des Auftretens von
Paratyphus als Brechdurchfall auf eine Anzahl von ihm beobachteter
Fälle hin, die sich an eine Infektion mit Mehlspeisen anschlossen. Zur
Differentialdiagnose bewährte sich ihm das C a s t e 1 1 a n i sehe Ver¬
fahren gut. Er verwendete dazu stark verdünntes Serum.
Herr Finkler- Bonn: Es ist praktisch wichtig zu wissen, dass
alle I yphus und Paratyphusfälle unter ganz verschiedenen Sym¬
ptomen einsetzen können. Es müssten daher die Aerzte auch bei
dem leisesten Verdacht auf eine dieser Krankheiten Material ein¬
senden.
Herr Lentz (Schlusswort) erwidert auf die gestellten Fragen.
Herr Kraus- Wien: Ueber Vibrionen-Toxine und Hämotoxine.
Kraus unterscheidet bei Vibrionen die Bildung eines filtrier¬
baren Hämotoxins für rote Blutkörperchen, sowie eines filtrierbaren,
Kaninchen, Meerschweinchen akut tötenden echten Toxins (intra¬
venöse Injektion). Das erstere fand er bisher nur bei solchen Vibri¬
onen, die nicht echte Choleravibrionen sind. Dagegen zeigten die
sechs in El For von Gottschlich isolierten aus dem Darm von
klinisch an Dysenterie und Kolitis, aber nicht an Cholera erkrankten
Pilgern stammenden sogenannten El Torstämme Hämolysinbildung und
echte Toxinbildung. Diese Stämme verhalten sich bei der Agglu¬
tination und im Pfeifferschen Versuch wie echte Choleravibri¬
onen und wurden deshalb von G o 1 1 s c h 1 i c h, K o 1 1 e u. a. als echte
Cholerastämme erklärt. Kraus ist nun der Ansicht, dass die Tat¬
sache der Bildung eines filtrierbaren Hämotoxins und echten Toxins,
was sich bisher bei zweifellosen Choleravibrionen nicht fand, so
auffallend ist, dass er besonders in Anbetracht des Fundortes der El
Torstämme Zweifel für berechtigt hält, ob diese trotz ihres Ver¬
haltens zum spezifischen Serum echte Cholerastämme sind. Zur
Stütze seiner Ansicht führt er weiter an, dass mit Toxin von solchen
Vibrionen, welche sicher nicht Cholera sind, hergestellte Antitoxine
das Toxin der als Cholera angesprochenen El Torstämme neutrali¬
sieren. Kraus hält deshalb bei Zweifeln über die Choleranatur von
Vibrionen neben den Serumprüfungen die Untersuchung auf Bildung
filtrierbaren Hämolysins für wichtig. Betreffs der Bildung echter fil¬
trierbarer I oxine bemerkt Kraus, dass in jüngster Zeit, Brau und
V e n i e r, bei Choleravibrionen (Cholera Saigon) der Nachweis der
Toxine gelungen ist; seine Nachprüfungen mit solchen Stämmen be¬
stätigen die Versuche von Brau und V e n i e r. Er hält diesen Nach¬
weis, dass auch der Vibrio der Cholera asiatica echtes Toxin in Kul¬
turen zu bilden vermag, für prinzipiell wichtig im Hinblick auf die
eventuelle Gewinnung eines antitoxen Choleraserums für die The¬
rapie, was bisher mit den von R. Pfeiffer als Choleragift ange¬
sprochenen Endotoxinen nicht möglich war.
Diskussion: Herr E. G o 1 1 s c h 1 i c h - Alexandrien hält mit
Rücksicht auf den positiven Ausfall der Serumreaktionen, deren be¬
weisende Kraft^ unerschüttert dastehe, daran fest, dass die El Tor¬
stämme echte Choleravibrionen sind. Dafür spreche weiter das kul¬
turelle Verhalten und vor allem die epidemiologische Betrachtung.
Alle El I orstämme seien nämlich bei Russen und Türken gefunden,
nie bei Egyptern, also nur bei Leuten, die Gelegenheit hatten, sich
in ihrer Heimat mit Cholera zu infizieren.
Auf die Bildung eines Hämolysins und filtrierbaren Toxins könne
man im Vergleich zur tausendfach bewährten Serumreaktion nichts
geben. Denn diese von Kraus gefundenen Eigenschaften seien sehr
inkonstant. Alle Vibrionen, die miteinander gar nichts zu tun
haben, wie Vibrio Metschnikoff und Vibrio Finkler, liefern- ein und
dasselbe Toxin. Es scheint dies eine allgemeine Rasseneigenschaft
zu sein, die nichts mit den spezifischen Eigenschaften einer be¬
stimmten Vibriospezies zu tun hat. Die abweichenden Eigenschaften
der El Torstämme von echter Cholera erklären sich durch Mutation
infolge langen Aufenthalts im menschlichen Darm.
Herr P f e i f f e r - Königsberg erklärt gleichfalls die seit über
10 Jahren erprobte Spezifizität der Serumreaktion bei der Cholera¬
diagnose durch die K r a u s sehen Beobachtungen an den El Tor¬
stämmen für unerschüttert. Besonders eingehend hat sich Pfeiffer
schon vor Jahren mit der Frage beschäftigt, ob bei der Cholera die
Bildung eines echten Toxins vorkomme und es möglich sei, ein Anti¬
toxin zu gewinnen. Er hält das sogenannte filtrierbare Toxin für
autolytisch in Freiheit und Lösung gegangene toxische Substanz des
Bakterienleibes. Pfeiffer kann, wie schon 1903 auf dem Kon¬
gress in Brüssel auseinandergesetzt, einen prinzipiellen Unterschied
zwischen bakterizider und antitoxischer Funktion bei Cholera nicht
anerkennen. Bei aktiv immunisierten Tieren seien auch schon jetzt
Anzeichen von antitoxischer Immunität beobachtet worden. Für die
Richtigkeit seiner Endotoxinlehre sei beweisend, dass Meerschwein¬
chen mit massenhaft lebenden Choleravibrionen im Peritoneum keine
Krankheitssymptome zeigen, dass diese aber sofort auftreten, wenn
durch Injektionen bakteriziden Choleraserums die bisher wohler¬
haltenen Choleravibrionen aufgelöst und so die Endotoxine frei
werden. Für die Rolle der Leibessubstanz (Endotoxin) der Cholera¬
vibrionen in der menschlichen Pathologie spricht weiter das Auf¬
treten der bakteriziden Stoffe im Blute der Cholerarekonvaleszenten.
Kraus müsste erst beweisen, dass im Rekonvaleszentenserum auch
Antitoxin gegen sein Toxin sich bilde.
Herr Liefmann - Halle bestätigt nach seinen im hygienischen
Institut zu Halle gemachten Versuchen die Angaben von Kraus
bezüglich der Hämolysin- und Toxinbildung der El Torstämme.
Herr G a f f k y - Berlin führt aus, dass die spezifische Serum¬
reaktion bei Cholera sich so ausgezeichnet bewährt habe, dass es
ihm berechtigt erscheine, die El Torstämme zu Cholera zu rechnen,
auch wenn sie Hämolysin und Toxin bilden.
Herr G r u b e r - München betont zunächst gegenüber Gott-
schlich, dass die P e 1 1 e n k o f e r sehe Lehre, so weit sie eine
zeitliche Disposition zum Zustandekommen einer Choleraepidemie
fordere, durchaus nicht widerlegt sei. Auch Gr über warnt vor
dem Verlassen der spezifischen diagnostischen Bedeutung der Serum¬
reaktion bei Cholera. — Im übrigen begrüsst G r u b e r den Nach¬
weis eines echten filtrierbaren Toxins auch bei einem unzweifelhaften
Cholerastamm (Cholera Saigon) mit grosser Freude. Denn er habe
Pfeiffers Endotoxinlehre seit jeher bekämpft und an die Se¬
kretion eines echten Toxins seitens der Choleravibrionen geglaubt.
Er sei der Meinung, dass das von Pfeiffer angeführte Experiment
nicht gegen die Sekretion eines echten Choleratoxins spreche. Denn
wenn auch in den mittelst Glaskapillaren aus der Meerschweinchen¬
bauchhöhle entzogenen Exsudaten scheinbar alle Choleravibrionen
aufgelöst sind, so seien doch stets an der Bauchwand und dem Netz
noch zahlreiche wohlerhaltene lebende Vibrionen vorhanden, von
welchen dann eine Sekretion echten Toxins ausgehen kann. G r u b e r
hofft, für die nächstjährige Tagung neues Material gegen die Endo--
toxinlehre auf Grund neuer Versuche bringen zu können.
Herr Pal tauf- Wien macht darauf aufmerksam, dass Kraus
nicht gegen die Bedeutung der Serumreaktionen bei Cholera gesprochen
habe. Das Anerkennen der praktischen Wichtigkeit der Serum¬
reaktionen hindere aber nicht, dass man daneben die durch Kraus
neugefundenen I atsachen in der Lehre der Vibrionen intensiv weiter
verfolge. Bezüglich der Choleratoxinfrage neigt Pal tauf mehr zu
dem Standpunkt, dass die Toxine durch Antolyse der Bakterien
frei werden.
Herr G a f f k y - Berlin weist auf die wichtige Tatsache hin,
dass bisher in cholerafreien Zeiten niemals Vibrionen gefunden
wurden, welche sich in bezug auf Agglutination und im Pfeiffer¬
schen Versuch wie echte Cholera verhalten.
Herr Pfeiffer- Königsberg verteidigt gegenüber G r u b e r
nochmals die Endotoxinlehre.
Herr Kraus- Wien erklärt, dass er sich nicht gegen die prak¬
tische Brauchbarkeit der Serumreaktionen in der Choleradiagnostik
ausgesprochen habe. Dagegen hält er daneben bei Zweifeln über die
Choleranatur die Prüfung auf Bildung löslichen Hämotoxins für ge¬
boten. Diese Eigenschaft der Hämotoxinbildung müsse er Gott¬
schi i c h gegenüber als nicht variabel bezeichnen, denn er habe
sie nie bei unzweifelhaften Cholerastämmen gefunden. Deshalb sei
er trotz aller Argumente Gottschlichs nicht davon . überzeugt,
dass die El Torstämme echte Cholera seien. Die epidemiologischen
Ausführungen Gottschlichs ändern daran nichts. Die El Tor¬
vibrionen müssen noch weiter untersucht werden. Sie können viel¬
leicht die Ursache der bei ihren Trägern vorhanden gewesenen Dy¬
senterie und Kolitis sein. Gegenüber Pfeiffer verweist er auf die
Arbeiten über Choleratoxine in der Wiener Klinischen Wochenschrift
1906, No. 22.
Herr L a n d s t e i n e r - Wien macht darauf aufmerksam, dass
die Milzbrandbazillen in Nährböden, die bestimmte Peptone enthalten,
Hämotoxine bilden. Mit Rücksicht auf die Kr aus sehen Befunde
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1735
wäre es interessant zu untersuchen.
durch ein Antihämolysin der Heubazillen neutrali-
Mitteilungen über
. . ob das Hämotoxin der Milz¬
brandbazillen
siert wird. .... . , ... ..
Herr M o r e s c h i - Königsberg: Weitere
M o*r e s c h i kommt auf Grund seiner Versuche zum Schlüsse,
dass die Präzipitatbildung bei der Komplementablenkung keine Rolle
spiele und dass die Pluralität der Komplemente im Sinne E h r 1 1 c h s
besteht.
Dritter Verhandlungstag, 9. Juni 1906.
Vorsitzende: Pal tauf -Wien und P f e i f f e r - Königsberg. ^
Herr M, N e i s s e r - Frankfurt a. M.: Ein Fall von Mutation
nach de V r i e s bei Bakterien und andere Demonstrationen.
Herr M a s s i n i zeigte unter N e i s s e r s Leitung im E h r 1 i c ti¬
schen Institut bei einer Koliart (Bacillus coli mutabilis), die aut
Endo schein Agar farblos wuchs, dass beim Abstechen von einer
farblosen Kolonie am ersten Tag nur immer wieder farblose Kolonien,
dass dagegen beim Abstechen von einer farblosen Kolonie am
3 oder 4. Tage des Wachstums ausser farblosen stets auch
rote Kolonien mit intensivem Fuchsinglanz aufgingen. Die roten
Kolonien blieben dann bei weiterem Verimpfen ausschliesslich stets
rot ganz gleichgültig, ob sie am 1., 3. Tage oder später abgestochen
wurden. Es ist dies also ein Fall echter Mutation.
2 Herr E k e r s d o r f f konnte unter N e i s s e r s Leitung
zeigen dass die von Bang auf Sauerstoffverhältnisse zurückgefuhrte
Niveaubildung (intensivstes Wachstum an der Wachstumsgrenze) bei
anaeroben Bakterien ihre Ursache in Saurebildung seitens dei Bak¬
terien hat. Die Säure wird an der Grenze des Wachstums durch das
Alkali des Nährbodens neutralisiert. Deshalb dort das üppige \\ achs-
tum Auch bei aeroben Bakterien konnte bei Züchtung in hoher
Schicht Niveaubildung erzeugt werden, wenn sie mit Desinfektions¬
mitteln überschüttet wurden. Die Ursache ist hier eine komplexe,
indem die Wachstumserscheinungen an der Grenze die besten sind
und vielleicht auch der Giftreiz einer untertödhchen Dose des Des¬
infektionsmittels hinzukommt.
Herr Neisser demonstriert überzeugende Beispiele des nak-
Im Aufträge von Ehrlich demonstriert Herr Neisser
Trypanosomenpräparate, die mit einer neuen Farbe gefärbt sind. .
ist dies das Dimethyl-Thionin von der Firma Cassella in Frankfurt a.M.
Ehrlich empfiehlt dasselbe als billigen und bequemen Ersatz von
Methylenazur. ... . Q
Demonstration eines zur Paratyphusgruppe gehörigen Bazillus,
der bei Meerschweinchen Ursache einer pseudotuberkulösen Er¬
krankung ist. Derselbe ist taubenpathogen. An erkrankten Meer¬
schweinchen zeigt sich nach Analogie mit dem Tuberkulin eine spe¬
zifische Ueberempfindlichkeit gegen die abgetöteten Bakterien.
Diskussion: Herr Schottelius - Freiburg i. Br. erinnert
an Analoga von N e i s s e r s Mutation bei Bacillus prodigiosus und
Pest Auch in der Botanik gibt es zahlreiche Beispiele von Muta¬
tion, so z. B. die plötzliche Produktion bitterer Mandeln an buss¬
mandelbäumen, fernerhin das Auftreten farbigen Maises.
Herr G r u b e r - München erinnert an Beobachtungen seines
Schülers F i r t s c h, welcher beim Finklervibrio Mutation beobachtete.
Derselbe konnte aus alten Kulturen drei atypische Rassen gewinnen,
die ihren neuen Charakter hartnäckig beibehielten. . .
Herr Kruse-Bonn bemerkt, dass ähnliche Variationen vielfach
beobachtet und beschrieben wurden.
Herr G o 1 1 s c h 1 i c h - Alexandrien hat bei Pestbazillen in zwei
noch nicht veröffentlichten Fällen sprunghafte Mutationen beobachtet.
Die Abart unterschied sich durch Aussehen, Wachstum auf Agar, das
Fehlen jeder Virulenz und in Abweichungen bezüglich der Aggluti¬
nation von echter Pest. Mischkultur oder Irrtum ist dabei aus¬
geschlossen. Die Zugehörigkeit der Abart zur echten Pest konnte
zwingend nachgewiesen werden.
Herr L ö f f 1 e r - Greifswald beobachtete bei Wachstum von Koli
auf Malachitgrünagar das Entstehen verschiedener Rassen, die sich als
solche weiterzüchten Hessen. Die Mutation sei interessant für die
Erklärung der Umwandlung des Pockenvirus in Vakzine.
Herr Neisser- Frankfurt a. M. weist auf den Unterschied hin,
der zwischen Variation und Mutation bestehe. Echte Mutation scheine
ihm nur der von ihm vorgetragene und der von G r u b e r in der
Diskussion erwähnte Fall zu sein.
Herr C z a p 1 e w s k i - Köln hat bei Bacillus prodigiosus Mu¬
tation beobachtet. Die Ursache des Niveauwachstums sehe er darin,
dass an der Wachstumsgrenze wenige, dafür aber grössere Kulturen
entstehen.
Herren Friedberger und M o r e s c h i - Königsberg : Beitrag
zur Immunisierung des Menschen gegen Typhus.
Die Autoren haben 14 Menschen je 1Uooo Oese Typhusbazillen
intravenös injiziert. Die Typhusbazillen waren nach der Methode
Löffler abgetötet und in trockenem Zustande bei 120 u erhitzt
worden. Trotz dieser äusserst geringen Dose erhielten sie im Blut¬
serum der Geimpften recht beträchtliche Anhäufungen bakterizider
Schutzstoffe. Selbst noch V2000 Oese erzeugte bei den Geimpften
Fieber. Friedberger und Moreschi gehen weiterhin auf die
von ihnen veröffentlichte Tatsache ein, dass der sogen. Stamm
Typhus Sprunk im Reagensglase keine bindenden Eigenschaften zeige,
trotzdem aber beim Menschen bakterizide Schutzstoffe auslöse. Dies
spräche gegen die Ehrlich sehe 1 heorie und gegen die Ansicht von
Wassermann, dass die in vitro bindenden Gruppen identisch seien
mit den in vivo die Immunität auslösenden.
Diskussion: Herr Wassermann - Berlin will in Ab¬
wesenheit und Vertretung von K 0 1 1 e, der ja in diesem Punkte be¬
sonders interessiert sei, zur Frage der Verwendung von grossen odei
kleinen Dosen bei der Typhusschutzimpfung das Wort ergreifen. Es
könne sich bei der Typlmsschutzimpfung in der Praxis wohl nur um
subkutane Einverleibung des Impfstoffes handeln. Die von dem Vor¬
redner gebrauchte intravenöse Methode dürfte praktisch nui seht
schwer ausführbar sein. Für die subkutane Impfung aber hätten die
Untersuchungen von K 0 1 1 e eine entschiedene Ueberlegenheit dei
grossen Dosen ergeben und Wassermann warnt deshalb davor,
diese bisher bewährte Methode zu gunsten der nicht genügend ei-
probten kleinen Dosen zu verlassen. Bezüglich der von dem Vor¬
redner an den Typhus Sprunk geknüpften Zweifel der Richtigkeit der
Seitenkettentheorie mache er darauf aufmerksam, dass der Typhus
Sprunk sich anders verhalte als alle von ihm bisher untersuchten
Typhusstämme. Er zeige für Meerschweinchen eine so hohe Patho¬
genität, wie sie bisher von keinem Typhusstamm beschrieben worden
sei. Wassermann hält daher gerade diesen Typhusstamm nicht
für geeignet, um so weitgehende Schlussfolgerungen an ihn zu
knüpfen. Uebrigens beweise die Tatsache, dass ein Bakterienstamm
in vitro nicht binde, nichts gegen die Bindung in vivo. So habe
Wassermann durch J 0 b 1 i n g zeigen lassen, dass man durch
geeignete Vorbehandlung (Erwärmen, Zentrifugieren und Waschen)
einem Typhusstamm seine bindenden Eigenschaften in vitro nehmen
könne und trotzdem immunisiere er noch in vivo. Dabei handele es
sich, wie nachgewiesen werden konnte, aber nur um quantitative, nicht
um qualitative Veränderungen in der bindenden Substanz. \ or allen
Dingen müsse deshalb untersucht werden, ob auch die freien Rezep¬
toren des Typhus Sprunk, d. h. die aufgelösten Typhusbazillen, keine
Bindung in vitro ergeben. .
Herr P f e i f f e r - Königsberg weist auf den wissenschaftlichen
Wert der Untersuchungen von Friedberger und M 0 re sch i hin.
Vor allem ergäbe sich daraus die höchste Empfindlichkeit des
Menschen gegen Endotoxine. Nach seiner Ansicht sind die mit dem
Typhus Sprunk gewonnenen Tatsachen nur schwer mit der Seiten¬
kettentheorie in Einklang zu bringen. Praktisch sei alleidings die
intravenöse Injektion kleinster Dosen schwer durchführbar. Aber
diese Methode biete gegenüber der subkutanen Vorteile. 1 rotzdem
ist auch Pfeiffer dafür, die bisherige Methode der subkutan ge¬
gebenen grossen Dosen in der Praxis beizubehalten.
Herr Friedberger - Königsberg führt gegenüber Wasser¬
mann aus, dass durch die Erhitzung die haptophore Gruppe nicht
verändert werde. Bei seiner Versuchsanordnung, nämlich dem Zentri¬
fugieren von Serum mit grossen Mengen des Typhus Spiunk, seien
sicher eine Menge Bakterien aufgelöst worden. Trotzdem habe sich
keine Bindung in vitro nachweisen lassen. Die Virulenz des lyphus
Sprunk bei Meerschweinchen betrage Vso Oese bei der Einspritzung
in die Bauchhöhle. Er weist nochmals auf die grossen Vorteile hin,
welche die intravenöse Injektion kleiner Dosen Typhus zwecks
Schutzimpfung des Menschen biete. , . .
Herr N e i s s e r - Frankfurt a. M. weist kurz darauf hin, dass
die mangelnde Bindungsfähigkeit dieses Typhusstammes vielleicht nui
eine scheinbare sei. Durch Veränderung der Versuchsanordnung sei
diese eventuell auszuschliessen. Jedenfalls könne er sich nicht davon
überzeugen, dass die Versuche gegen die Seitenkettentheorie sprachen.
Herr K u t s c h e r - Berlin erklärt, dass praktisch nach seinen
Erfahrungen die intravenöse Typhusimpfung unausführbar sei.
Herr L e n t z - Saarbrücken bemerkt, dass Antikörperproduktion
und Fieber nach seinen Beobachtungen bei Typhus nicht parallel
p-pji p n
Herr S c h n ü r e r - Wien schliesst sich dem auf Grund von Be¬
obachtungen an rotzkranken Pferden an.
Herr Löffler- Greifswald weist auf seine und W asser¬
mann s und Citrons Versuche hin, welche das Vorhandensein
einer lokalen Immunität der Gewebe bei Typhus ergeben haben. L es-
halb könne man daran denken, eine Schutzimpfung bei Typhus mittels
abgetöteter Kulturen per os durch lokale Immunisierung der Eingangs¬
pforte, d. h. des Darmes, zu erzielen.
Herr F r i e d b e r g e r - Königsberg erwidert, dass er bei Ver-
fütterung von abgetötetem Typhus bei Kaninchen nur minimale
Schutzwerte des Serums erzielt habe. Die Resultate waren besser,
wenn er den Darm der Tiere vorher mit Krotonöl reizte.
Herr L ö f f 1 e r - Greifswald: Der Mensch verhalte sich anders
als das Kaninchen. „ . , T
Herr Wassermann-Berlin: Bei dem Vorschläge Lot t-
lers handelt es sich um die Erzielung einer lokalen Immunität, d. h.
einer Gewebsimmunität des Darmes. Diese sei aber das Wichtigste,
nicht die Antikörperproduktion. Der menschliche Darm verhalte sich,
wie die Pathologie lehre, dem Typhusbazillus gegenüber schon von
Hause aus so, wie der Kaninchendarm erst nach starken Reizungen,
beispielsweise durch Krotonöl.
Herr Kraus- Wien schliesst sich Wasser man n an, dass es
durchaus nicht gleichgültig sei, an welcher Stelle des Körpers ein
1736
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
Antigen eingeführt wird. Es gebe eine lokale Immunität der Gewebe.
Dies bewiesen neben älteren Versuchen von Koch, von van Er¬
men g h e m die neueren Untersuchungen von Kraus über Vakzine
und Syphilis.
Herr Landsteiner und Herr Finger- Wien : Ueber Im¬
munität bei Syphilis.
Bei Affen sei öfters beim Erscheinen des Primäraffektes die
Immunität gegen Reinfektion noch nicht entwickelt. Die Reinfektion
sei in solchen Fällen möglich. Auch beim Menschen ist nach den
Erfahrungen von Landsteiner und Finger Reinfektion in allen
Stadien der Krankheit möglich und zwar reagiere der Syphilitische
auf das neue von aussen eingeführte Virus nicht anders als auf das
in seinem Körper befindliche. Tertiäre reagieren auf Reinfektion so¬
fort mit Ulcera gummosa oder Tubercula cutanea. Die tertiären Er¬
scheinungen seien also eine besondere Form der Reaktion des lange
unter syphilitischem Virus gestandenen Organismus. Der Organismus
des Tertiärsyphilitischen reagiere auf gewöhnliches Virus sofort mit
tertiären Erscheinungen.
Herr H o f f m a n n - Berlin: Mitteilungen und Demonstrationen
über experimentelle Syphilis, Spirochaete pallida und andere Spiro¬
chätenarten.
Hoff mann berichtet zunächst über Verimpfung des Materials
syphilitischer Menschen auf Affen. Blut ist positiv, tertiäre Pro¬
dukte teils positiv, teils negativ, Spinalprodukte beim papulösen
Syphilitischen positiv, Sperma Syphilitischer war in seinen Ver¬
suchen negativ. Vortragender demonstriert die gelungenen Versuche
B e r t a r e 1 1 i s der Syphilisüberimpfung auf die Kaninchenhornhaut
mit massenhafter Vermehrung der Spirochäten in der Kornea. Weiter¬
hin bespricht er die Differentialdiagnose der Spirochaete pallida für
andere Spirochäten. Er erwähnt ferner die Beobachtungen von
Provaczek, dass das Serum Syphilitischer (6 — 8 Monate alte
unbehandelte Fälle) die Spirochäten unbeweglich mache und schwach
agglutiniere. Das Serum von Gesunden tue dies nicht.
Demonstration von Affen und Abbildungen.
Herr Landsteiner - Wien erwidert Hoff mann auf dessen
Einwendungen betr. die Landsteiner und Finger gelungene
positive Ueberimpfung des Hodensekretes Syphilitischer auf Affen.
Herr P. Th. Müll er- Graz: Ueber den Einfluss des Staphylo-
coccus aureus auf die Fibrinogenproduktion.
Die schon früher beobachtete fibrinogenvermehrende Wirkung
des Staphylokokkus ist keine vitale Leistung, sondern durch che¬
mische Stoffe hervorgerufen. Diese sind bei älteren Kulturen filtrier¬
bar, hitzebeständig und nicht identisch mit dem Staphylolysin und
Leukozidin. Immunisierung dagegen sei unmöglich. Weitere Ver¬
suche zu näherem Studium sind im Gange.
Herr S o b e r n h e i m - Halle: Ueber einige Eigenschaften des
Tuberkuloseserums.
Das Serum wurde durch wiederholte Kulturinjektionen von
menschlichen Tuberkelbazillen an Pferden gewonnen. Die Test¬
flüssigkeit wurde nach Koch bereitet, indem die Bazillenmasse im
Mörser mit Karbolkochsalzlösung fein verrieben wurde. Es wurden
verschiedene Stämme untersucht, darunter drei von Menschen stam¬
mende, direkt aus Sputum gezüchtete, Rindertuberkulose 3, Geflügel¬
tuberkulose 2, Blindschleichentuberkulose 1, Typus Arloing-Cour-
mont 3, säurefeste 8. Das Ergebnis war: Alle menschlichen Stämme
wurden von dem Immunserum bis zu einer Verdünnung von 1:1000
agglutiniert, normales Pferdeserum wirkte .auf dieselben nur in einer
Verdünnung 1:50 bis 1:100, Rindertuberkulose wurde genau ebenso
agglutiniert, dagegen reagierten alle anderen Gruppen anders. Nach
ihrem Verhalten kann man sie in drei Gruppen einteilen. Die Stämme
der ersten Gruppe wurden weder von normalem, noch von Immun¬
serum beeinflusst; die der zweiten Gruppe wurden sowohl durch
normales als durch Immunserum in sehr hohen Verdünnungen beein¬
flusst. Die Stämme der dritten Gruppe wurden zwar stärker durch
das Tuberkuloseserum als durch das normale agglutiniert, trotzdem
aber zeigte sich ein deutlicher Unterschied, indem die Agglutination
nie so leicht und komplett eintrat, wie dies bei den echten Stämmen
der Haustiertuberkelbazillen der Fall ist. Das Koch sehe alte Tuber¬
kulin und das Tuberkulol ergaben mit dem Tuberkuloseserum bis zu
einer Verdünnung von 1:10 000 starke Niederschlagsbildungen. Nor¬
males Serum erzielte nur schwache Präzipitation. Die bakteriotrope
Wirkung des Tuberkuloseserums konnte deutlich nachgewiesen
werden. Diese ist aber für die verschiedenen Tuberkulosestämme und
die säurefesten Bazillen differentialdiagnostisch nicht verwertbar. Auen
die Komplementablenkung erweist sich als negativ.
Herr R. Müller-Kiel: Die Aetiologie der Geflügeldiphtherie.
Müller untersuchte die krankhaften Produkte bei Hühner¬
diphtherie. Er fand bei 6 Hühnern aus drei verschiedenen Seuchen¬
herden Stäbchen. Die Stäbchen wachsen auf Blut- und Milchagar,
aber nicht auf gewöhnlichem Agar und Gelatine. In Symbiose mit
anderen Bakterien wachsen sie auch auf gewöhnlichen Nährböden.
Die gefundenen Bazillen stehen den Löffler sehen Diphtherie¬
bazillen nahe, lassen sich aber biologisch von ihnen unterscheiden.
Mittels Reinkulturen liess sich die Krankheit bei Hühnern erzeugen.
Herr D ö n i t z - Berlin demonstriert in Vertretung des er¬
krankten Herrn Z e 1 1 n o w die von letzterem angefertigten Diaposi¬
tive von Mikrophotogrammen, betr. die Geisselbildung bei Spirochäten.
Herr Pfeiffer- Königsberg schliesst die Tagung und dankt den
Erschienenen für die so reichhaltigen Mitteilungen und weist auf das
anregende und klärende Ergebnis derselben hin.
Herr Löffler- Greifswald dankt den mit der Vorbereitung zu
der Tagung beschäftigt gewesenen Herren.
XIII. Versammlung süddeutscher Laryngologen*)
am 4. Juni 1906.
Vorsitzender: Herr W i n c k 1 e r - Bremen.
Offizieller Bericht des Schriftführers Dr. B 1 u m e n f e 1 d- Wiesbaden.
1) Herr G u t z m a n n - Berlin: Ueber die Tonlage der Sprech-
stimme.
Nach eingehender Würdigung der Untersuchungen Merkels,
Paulsens u. a. bespricht G. die Methodik der einschlägigen Ver¬
suche. Wesentlich ist, dass der zu Untersuchende den Kontrollton
nicht wahrnimmt. G. bediente sich zur Untersuchung der Sprech¬
tonhöhe des von G r u b e r und Wirth im Wundt sehen Labo¬
ratorium angegebenen Kehltonschreibers. Daneben leistete auch die
einfache Kontrolle bei gutem musikalischem Gehör gute Dienste. Die
persönliche Fehlerquelle Gs. war, wie Kontrollversuche zeigten, sehr
gering. G. fasst seine Untersuchungsresultate wie folgt zusammen:
1. Die Untersuchung auf die durchschnittliche Tonlage der Sprech¬
stimme muss möglichst ohne Wissen des zu Untersuchenden vorge¬
nommen werden und nach genügender Feststellung muss die Prüfung
des Tonumfanges angeschlossen werden.
2. Die durchschnittliche Tonlage ist bei normal sprechenden
Männern, Frauen und Kindern an der unteren Grenze des Tonum¬
fanges zu suchen und liegt bei Männern zwischen A und e, bei
Frauen und Kindern zwischen a und e1.
3. Die Sprechtonlage entspricht keiner bestimmten Tonart.
4. Die ruhige Sprechstimme geht im Grossen und Ganzen in
Kadenzen der kleinen Terz vonstatten, und zwar nach den von
H e 1 m h o 1 1 z bereits angegebenen Regeln, wenn wir den musi¬
kalischen Wert des ganzen Satzes in Betracht ziehen. Innerhalb der
einzelnen Silben jedoch schwanken die Tonhöhen flüssig ineinander.
5. In pathologischen Fällen handelt es sich gewöhnlich um eine
Erhöhung der Tonlage, nur selten um eine Vertiefung, die gewöhnlich
mit einer auffallenden Rauhigkeit des Klanges verbunden ist.
6. Die Kadenzen sind bei pathologischen Fällen erheblich grösser,
nicht selten so gross wie beim Rufen.
Diskussion: Herr K i 1 1 i a n - Freiburg: Bei hysterisch
Aphonischen kommt es vor, dass beim Wiederbeginn des Sprechens
eine gewisse Schwierigkeit besteht, in der natürlichen Tonlage zu
sprechen. K. gab diesen Kranken Stimmgabeln mit, deren Tonhöhe
der zu gewinnenden Höhe der Stimme annähernd entsprach. Die
Tonhöhe stellte sich meist in kurzer Zeit wieder richtig ein.
Herr J u r a s z - Heidelberg fand, dass bei der Pathologie des
Stimmwechsels immer eine Tonerhöhung stattfindet.
Herr W i n c k 1 e r - Bremen empfiehlt bei Kehlkopfdrücken
Sprechübungen, bei denen der Kranke ein Streichhölzchen zwischen
den Zähnen hält.
Herr Gutzmann (Schlusswort) stimmt zu, dass beim patho¬
logischen Stimmwechsel vorwiegend Erhöhung eintritt, mit seltenen
Ausnahmefällen. Beim Pressen und Drücken der Stimme kommt es
in erster Linie darauf an, den harten Stimmansatz zu beseitigen.
2) Herr K i 1 1 i a n - Freiburg: I. Ein Nasenoperationsstativ für
Untersuchungszwecke.
Um einerseits dem Schüler Operationen, die im Naseninnern
gemacht werden, zu demonstrieren und andererseits die Uebungen
der Schüler direkt zu kontrollieren, hat K- mit Instrumentenmacher
Fischer-Freiburg ein Stativ konstruiert. Eine Kopfhälfte wird
mittelst Kette an einer vertikal stehenden Eisenplatte befestigt. Die
Platte besitzt der Lage des Naseninnern entsprechend einen Aus¬
schnitt, der mit einer Glasscheibe gedeckt wird. Von aussen wird
über das Präparat eine aus Metallblech gestanzte Kopfhälfte ge¬
zogen. Ein geeigneter Schirm hält störendes Nebenlicht fern. Der
Apparat ist für Nasenoperationskurse sehr geeignet.
II. Die B a 1 1 e n g e r sehe Modifikation meines Septummessers.
Das bekannte K sehe Instrument hat B. in der Weise modifiziert,
dass er die Schneide drehbar machte. Damit sie sich von selber
auf die Schnittrichtung unter dem Einflüsse des jeweiligen ausge¬
übten Druckes einstellt, ist sie nicht gerade, sondern gebogen ge¬
staltet mit der Konkavität nach vorne. Das Messerchen erlaubt die
ganze zu resezierende Knorpelplatte mit einmal zu resezieren.
III. T-förmige Kanülen aus Gummi zur Behandlung von Iaryngo-
trachealen Stenosen.
Zur Dilatation von narbigen Veränderungen des Kehlkopfes und
der Luftröhre benutzt K. statt des harten Materiales weichen Gummi.
Die rote Sorte ist vorzuziehen. Entzündliche Veränderungen, Ge¬
schwüre entstanden durch den Reiz scharfer Trachealkanülen, kann
man beseitigen, wenn man in die Luftröhre einen Gummischlauch
einführt, der an einer Kanülenplatte befestigt ist und der über die
*) Der ausführliche Verhandlungsbericht erscheint bei Stüber
(C. Kabitzsc h)-Würzburg.
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1737
verengte Stelle hinausreicht. Difformitäten und Stenosen im Bereich
der Trachealwunde können mit derartigen T-förmigen Kanülen be¬
handelt werden Man kann dieselben gegebenenfalls von oben her
mittelst Kaden durch den Larynx ziehen und in die richtige Lage
bringen. —
IV. Bronchoskopisches. a) Ein Kragenknopf im linken Haupt-
bröncfuis interessante Fall muss im Original nachgelesen werden.
Die Entfernung des anscheinend leicht zu fassenden Fremdkörpers
gelang weder mit dem einfachen Häkchen, noch mit dem List er¬
sten da die Instrumente an dem mit der Platte vorliegenden Knopt
immer wieder abglitten. Nachdem die ersten mit oberer Bron¬
choskopie gemachten Versuche fehlgeschlagen waren, wurde die
Tracheotomie gemacht. Es gelang sodann nach verschiedenen Lage¬
veränderungen des Knopfes denselben mit dem Häkchen zu entfernen.
Die Schwierigkeit, welche sich bot, lag darin, dass der, aus weisset
Glasporzellanmasse bestehende Knopf sehr glatt war, so dass er
keinem Instrumente rechten Halt gewährte. Der weitere Veilauf des
Falles war durchaus günstig. Diese Erfahrung führte Herrn Gutbert
Morton zur Konstruktion eines Hakens, den K. den Morton sehen
Spiesshaken nennt. Derselbe ist in dem 21. Bande des „Journal of
Laryngology Rhinologie and Otology“ genauer beschrieben.
b) Ein Knochenstück im rechten Hauptbronchus.
Versuche, den Fremdkörper durch obere Bronchoskopie in
Chloroformnarkose (Skopolamin-Morphium) zu entfernen, misslangen
infolge der Reizbarkeit des Kranken. Tracheotomie, Nach einigen
Tagen untere Bronchoskopie, wobei sich zeigte, dass das Knochen¬
stückchen tief im rechten Stammbronchus steckte. Dasselbe ver¬
stopfte den Bronchus ganz. Wegen Schwellung der Schleimhaut zu¬
nächst Einführung eines 7 mm dicken Rohres. Nachdem der Fremd¬
körper über die Verengte Stelle hinweg gebracht, gelang es mittelst
des List er sehen Häkchens und eines 9 mm Rohres denselben
definitiv zu entfernen. Die Schwierigkeit, welche dieser 13 mm lange,
ebenso breite und 7 mm dicke Fremdkörper bot, lag wesentlich darin,
dass er den Bronchialast vollständig obturierte. Um an derartig ob¬
turierenden Fremdkörpern besser vorbeizukommen, konstruierte K.
ein verstellbares Häkchen, das sich gerade gestreckt an dem I iemd-
körper vorbeiführen lässt, und sich in der Tiefe rechtwinkehg auf
Druck umbiegt.
V. Probebissen, ......
Bei funktionellen Störungen des Schluckaktes genügt die übliche
Inspektion der Mundrachenhöhle, Speiseröhre, Bougierung und
Röntgenuntersuchung nicht. Vielmehr muss die Funktion der Kau-
und Schlundwerkzeuge geprüft werden K. gibt deshalb einen soge¬
nannten Probebissen (Milchbrötchen). Die Zeit, welche zur Be¬
wältigung desselben durch die Kauwerkzeuge benötigt wird, ist in¬
dividuell sehr verschieden. Um die Frage, ob der Probebissen normal
zerkleinert wurde, exakt entscheiden zu können, hat K. einen Kau¬
becher machen lassen. Derselbe enthält übereinander 5 Siebe, deren
Lochweite vom obersten zum untersten allmählich abnimmt. Wenn
man den Probebissen in den Becher bringt, und unter der Regen¬
dusche zerteilt, so sondern sich seine Bestandteile in sehr übersicht¬
licher Weise auf die verschiedenen Siebe.
Diskussion: Herr v. S c h r ö 1 1 e r - Wien: Kautschuk
leistete in einzelnen Fällen ausgezeichnete Dienste, doch können auch
flexible Metalltuben mit gutem Erfolg verwendet werden. Die Dila¬
tationstherapie soll man nicht schematisieren; die Laryngofissur als
Mittel zur Dilatation ist im Allgemeinen nicht zu empfehlen.
Herr Lindt-Bern berichtet von einem Fremdkörperfall im
rechten Hauptbronchus, bei dem bei Anwendung eines lOproz. Ko¬
kainspray Exitus letalis unter Krämpfen eintrat, nachdem der Fremd¬
körper glücklich entfernt war.
Herr Keimer - Düsseldorf bestätigt die günstigen Erfahrungen
K s. über die Gummikanülen.
Herr v. W i 1 d - Frankfurt a. M. (zu V) weist darauf hin, dass
schwere Magendarmstörungen durch mangelnde Achtsamkeit auf ein
hinreichendes Kauen entstehen können.
Herr Werner -Mannheim (zu III) hat in einem Fall von
Stenose des Kehlkopfes in den gespaltenen Kehlkopf nach Ausräumung
stenosierender Gewebe Epidermis transplantiert. Der Erfolg ist
jetzt, nach 6 Jahren, überraschend gut geblieben.
Ferner: Herren v. S c h r ö 1 1 e r - Wien; K i 1 1 i a n (Schluss¬
wort).
3) Herr Kuhn-Kassel: Perorale Tubage in der Pbaryngologie.
Von den in. Betracht kommenden Methoden hat die perorale
Intubation folgende Vorzüge:
1. Leichte Zugänglichkeit des Operationsfeldes (event. mit Längs¬
oder Ouerspaltung des weichen Gaumens resp. des Oberkiefers).
2. Sie führt keine Verstümmelung herbei.
3. Sie schützt vor der Gefahr der Aspiration.
4. Es bedarf keiner vorbereitenden Hilfsoperationen.
Die Narkose ist bei der peroralen Intubation ruhig und sicher.
Erbrechen kann durch Druck auf die Tamponade hintangehalten
werden. In Bezug auf die Technik der Intubation wird auf frühere
Arbeiten K s. verwiesen.
Diskussion: Herr W i n c k 1 e r - Bremen.
4) Herr Fischenich - Wiesbaden : Syphilis des Nasenrachen¬
raumes mit Exitus letalis.
Patient hatte vor 7 Jahren Lues aquiriert. Vielfache Behand¬
lung mit Hg und Jod, aber keine lokale Behandlung der seit 3Vs Jahren
aufgetretenen Erscheinungen im Nasenrachenraum. 'Verschiedentlich
wurden kleine Sequester vom hinteren Teile des Septums und vom
Keilbein spontan abgestossen. Es bestanden Kopfschmerzen. Plötz¬
lich spontan auftretend schwere Blutung, die sich trotz Tamponade
etc. verschiedentlich wiederholte und zum Tode führte. F. nimmt
an, dass es sich um eine Blutung aus dem Sinus cavernosus oder
petrosus handelte. Der Mangel einer früheren geeigneten lokalen
Behandlung ist nach F i sehen ich s Ansicht für den üblen Ans¬
gang verantwortlich zu machen.
Diskussion: Herr K i 1 1 i a n - Freiburg.
5) Herr v. E i c k e n - Freiburg i. B.: I. Zur Diagnose der Stirn¬
höhlenerkrankungen.
Diejenigen Erscheinungen, welche man in Schulfällen im Nasen-
innern. antrifft, werden bei Stirnhöhleneiterungen unter Umständen
vermisst. Auch die kleinen Hilfsoperationen, wie Abtragung der
mittleren Muschel etc., welche die Stirnhöhlen zugänglich machen
sollen, sichern die Diagnose nicht immer einwandfrei. Eiter kann im
mittleren Nasengang ganz fehlen bei kompliziertem Bau der Stirn¬
höhle und hochgradiger Schwellung der Schleimhaut derselben. In
derartigen Fällen kann die Durchleuchtung zur Ergänzung der Dia¬
gnose dienen. Dieselbe muss, wie schon Goldmann gezeigt hat,
in posterior anteriorer Richtung gemacht werden. Bisweilen sieht
man eine exquisite Verdunkelung der kranken Seite. Die Konturen
derselben sind weniger scharf. Hat man durch das Röntgenbild die
Ueberzeugung gewonnen, dass beide Stirnhöhlen gleich gross sind,
so gewinnt die Durchleuchtung einen gewissen Wert, indem eine
ausgesprochene Verdunkelung einer Seite in dem Sinne gedeutet
werden kanm dass eine Erkrankung der Stirnhöhle vorliegt. Es folgt
eine Demonstration von 3 Röntgendiapositiven der Stirnhöhle: das 1.
zeigt zwei normale, grosse, helle Stirnhöhlen; das 2. zwei normale
Stirnhöhlen, in einer von diesen liegt eine Sonde; das 3, eine deut¬
liche Verdunkelung der einen Seite mit unscharfen Konturen.
II. Die Trachea im Röntgenbild.
Verengerungen der Trachea lassen sich auf dem Röntgenbild
erkennen. Man kann auf diese Weise bei Trachealstenosen ver¬
schiedener Art Uebersichtsbilder gewinnen. Die Tracheoskopie kann
in gewissen Fällen durch dieses Verfahren ersetzt werden.
Diskussion: Herr W i n c k 1 e r. Herr v. Schr.ötter.
6) Herr v. Schrötter jun. -Wien: Zur Klinik der Bron¬
choskopie.
An . der Hand von Zeichnungen und farbigen Abbildungen bringt
Redner einen Beitrag zur Verwendung der Bronchoskopie für die
innere Medizin, wobei er insbesondere die Differentialdiagnose des
Aneurysmas und der Geschwülste des Bronchialbaumes auf Grund
reicher Erfahrungen, welche er an der k. k. III. Universitätsklinik
in Wien zu sammeln in der Lage war, erörterte. Der folgende Fall,
der einen Tumor der Lunge aus der letzten Beobachtungszeit be¬
trifft, wird einer näheren Mitteilung unterzogen.
44 jähriger Mann, bei dem die physikalische Untersuchung das
Bestehen einer Neubildung im Bereiche der rechten Lunge nahe
legte. Die Bronchoskopie ergab einen Tumor an der vorderen Um¬
randung des rechten Hauptbronchus gegenüber der Abgangsstelle des
oberen Lappenastes. Mehrfache Probeexzisionen ergaben ein
Plattenepithelkarzinom mit reichlicher Glykogenbildung. Es handelte
sich um ein primäres Bronchialkarzinom.
1. Im Anschluss an diesen Fall bespricht v. Schrötter die
Differentialdiagnose der primären Lungen- und Bronchialtumoren
gegenüber dem Lymphosarkome des Mediastinums, der chronischen
Tuberkulose, der tracheo-bronchialen Lymphdriisen und dem Kar¬
zinome der Speiseröhre.
2. demonstriert Redner eine von L. v. Schrötter angegebene
Beleuchtungsvorrichtung für die Untersuchung der Bronchien und der
Speiseröhre und bemerkt hierzu nach kurzen technischen Erläute¬
rungen, dass wir in diesem Instrument ein Mittel besitzen, durch
Welches die Schwierigkeit einer hinreichenden Beleuchtung des
Arbeitsfeldes beseitigt ist. Die Intensität des Lichtes am distalen
Rohrende ist weit intensiver als bei den früheren Belcuchtungs-
methoden. Die Gefahr, „das Licht zu verlieren“, ist bei dem vor¬
liegenden Verfahren ausgeschlossen, wodurch die Sicherheit des
Operierens wesentlich erhöht ist.
Diskussion: Herr Killian - Freiburg weist darauf hin,
dass die Tracheoskopie, die indirekte sowohl wie die direkte, dazu
berufen ist, bei den Aortenaneurysmen eine grosse diagnostische
Hilfe zu leisten.
7) Herr L. P o I y ä k - Ofen-Pest : Handgriff und Operations-
instrumentarium für bronchoskopische Zwecke.
Demonstration einiger Instrumente, welche auf den Krause-
schen Handgriff armiert werden können und welche im Anschluss an
die Killian sehen Instrumente eine wesentliche Vereinfachung des
bronchoskopischen Instrumentariums darstellen. Dieselben werden
von der Firma Oaray & Co. in Ofen-Pest verfertigt.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
173
8
8) Herr W i n c k I e r - Bremen: Ueber das Larynxkarzinom.
(Vorbemerkung zum folgenden Vortrag.)
Bei der grossen Verschiedenheit, welche die Larynxkarzinome
in Bezug auf ihre Malignität aufweisen, ist die Frage, ob Totalexstir¬
pation oder Laryngofissur, noch immer strittig. Wie der vor¬
liegende Fall zeigt, kann auch bei ausgedehnter Exenteration der einen
Larynxhälfte, die 1-4 Monate hindurch rezidivfrei geblieben war, noch
ein Rückfall eintreten. Es bedarf zur Lösung der gedachten Fragen
des gemeinsamen Arbeitens und Sammelns namentlich auch der nach
der Laryngofissur ungünstig verlaufenden Fälle.
9) Herr Schilling- Freiburg: Bericht über den weiteren Ver¬
lauf eines von Dr. W i n c k 1 e r - Bremen durch Laryngofissur ope¬
rierten Falles von Kehlkoofkarzinom.
20. VI. 1905 Laryngofissur nach S e m o n s Vorschrift bei einem
60jähr. Mann mit Tumor des linken Stimmbandes (Plattenepithel¬
krebs). Zunächst glatte Heilung, später Resektion der linken Epi¬
glottishälfte. Mikroskopische Untersuchung derselben ergibt karzi-
nomfreies Gewebe. Unter steter Beobachtung des Kehlkopfbildes
zeigte sich allmählich eine starke Neigung zur Verengerung des
Luftrohres, hauptsächlich subglottisch und in der Trachea. Später
auch eine Vorwölbung an der äusseren Kehlkopfseite, so dass ein
Rezidiv zweifellos wurde. Totalexstirpation. Exitus letalis. Die
Sektion ergab karzinomatöse Infiltration der ganzen vorderen Hals¬
partie.
10) Herr D r e y f u s - Strassburg: Demonstration eines ope¬
rierten Falles von tiefsitzendem Pharynxkarzinom.
Es handelte sich um ein Karzinom des laryngealen Teiles des
Pharynx. D. hat ein Dilatatorium konstruiert in der Form einer
frontal sich öffnenden Kehlkopfzange, die zwei Bügel anstatt der
Zangenbranchen trägt. Bei Einführung des Instrumentes in den Hypo¬
pharynx nahm man einen höckerigen Tumor an der hinteren pharyn¬
gealen Fläche des Kehlkopfes wahr. Probeexzision ergab Kankroid.
Pharyngotomia lateralis. Bisher Heilung.
11) Herr B I u m e n f e I d - Wiesbaden : Zur Diagnose des tief¬
sitzenden Pharynxkarzinoms.
Die Diagnose dieser Karzinome hat besondere Schwierigkeiten,
wie ein näher beschriebener Fall darlegt. Charakteristisch ist, dass
sämtliche Erscheinungen auf den Kehlkopf, nicht auf den Anfangsteii
des Oesophagus hinweisen. Im Kehlkopf starres, blasses Oedem, Vor¬
wölbung der hinteren Larynxwand, die wie im vorliegenden Falle,
zu totaler Stenose führen kann. Medianstellung eines oder beider
Stimmbänder ist vielfach beobachtet worden.
Diskussion: Herr K i 1 1 i a n - Freiburg: Einige Karzinome,
welche wir als vom Larynx ausgehend betrachten, sind zweifellos
in Wahrheit solche des Pharynx.
Herr v. E i c k e n - Freiburg empfiehlt zur Inspektion der
pharyngealen Fläche der Hinterwand des Kehlkopfes lange Röhren¬
spatel.
12) Herr D r e y f u s - Strassburg: Die Stellung der Laryngo-
logie bei der Bekämpfung der Tuberkulose.
1. Bei der Bekämpfung der Tuberkulose sind die Vertreter der
Laryngologie im besonderen berufen, mitzuwirken in dem Sinne, dass
sie durch Propaganda dafür sorgen, dass die Kehlkopftuberkulösen
frühzeitig einer Spezialbehandlung unterzogen werden; dann
2. durch die Frühdiagnose ist man imstande, einem nicht un¬
beträchtlichen Teil der Kehlkopftuberkulösen das Leben zu ver¬
längern, sie event. zu heilen.
3. Die leichteren Fälle von Larynxtuberkulose eignen sich be¬
sonders zur Heilstättenbehandlung.
4. Diejenigen Fälle, die chirurgisch zu behandeln sind, sollten
nicht ambulant, sondern in einem Krankenhaus behandelt und mög¬
lichst frühzeitig darauf einer Lungenheilstätte überwiesen werden.
5. Wo die örtlichen Verhältnisse es ermöglichen, die chirurgische
Behandlung von Anfang an in der Lungenheilanstalt durchzuführen,
ist dies wünschenswert. Jedenfalls sollte jeder Heilstätte ein
Laryngologe (im Nebenamt) aggregiert werden.
6. Es ist anzustreben, dass die Landesversicherungsanstalten
ihren Standpunkt, bei der Aufnahme von Kehlkopftuberkulösen in
ihre Heilstätten, sich finanziell nicht mitzubeteiligen, in dem Sinne
modifizieren, dass bei der Entscheidung im einzelnen Falle die An¬
sicht eines Larjmgologen jeweils gehört wird.
13) Herr B r ü h 1 - Schömberg: Zur Behandlung der Larynx¬
tuberkulose in Heilstätten.
Unter Zurückweisung des von B a r t h - Leipzig auf der I. Ver¬
sammlung der Deutschen laryngologischen Gesellschaft 1905 gegen
die Anstalten ganz allgemein erhobenen Vorwurfes einer minder¬
wertigen Behandlung der Larynxtuberkulose erörtert B. in kurzen
Zügen den Standpunkt der Anstaltsärzte zur Larynxtuberkulose.
1. Jeder Larynxtuberkulose ist praktisch auch lungenkrank.
2. Demgemäss ist auch für ihn die Allgemeinbehandlung, d. h.
die Anstaltsbehandlung die bestmögliche, denn deren Heilfaktoren
erfüllen sowohl die allgemeinen Indikationen der Tuberkulose als auch
die speziellen der Larynxtuberkulose.
3. Neben der Allgemeinbehandlung ist die gerade in der Anstalt
am ehesten individuell zu dosierende Lokalbehandlung unbedingt er¬
forderlich. Nur phthiseotherapeutisch und laryngologisch gebildete
Aerzte sind an Anstalten anzustellen.
4. Oberster Grundsatz der Lokalbehandlung muss stets die Rück¬
sicht auf den Allgemein- und den Lungenzustand sein. Fiebernde
Phthisiker dürfen nicht eingreifend behandelt werden. Jeder
energische Eingriff ist nur unter Kontrolle der Temperatur vor¬
zunehmen.
5. Die Anstalten sind am ehesten in der Lage, die milderen Me¬
thoden der Behandlung, speziell auch die Lichtbehandlung aus¬
zubilden und auf ihre Wirkung zu kontrollieren. Pie Inhalation ist
wegen der durch forcierte Inspiration der kranken Lunge event.
drohenden Schädigung als mildes Mittel nicht anzusehen.
6. Curettage und Galvanokaustik ergänzen sich bei der Behand¬
lung der Larynxtuberkulose in vorzüglicher Weise.
7. Die Erfolge der Anstaltsbehandlung der Larynxphthisc sind
nachweisbar recht gut.
H) Herr S c h i 1 1 i n g - Freiburg: Tuberkulöser Tumor des
Rachendaches.
Bericht und Demonstration eines tuberkulösen Tumors des
Rachendaches bei einer 50jähr. Patientin ohne sonstige Tuberkulose.
Entfernung mit der Glühschlinge, ein späteres Rezidiv kaustisch zer¬
stört. S. glaubt, dass die Tumorform der Tuberkulose des Rachen¬
daches aus der nicht so seltenen latenten Tuberkulose der Rachen¬
mandel, von der sie sich histologisch nur graduell unterscheidet,
hervorgehen kann. Klinische, mit Wahrscheinlichkeit auf den Tumor
zurückzuführende Symptome waren neben oft rezidivierendem
Schnupfen vor allem Ohrschmerzen und öfter Mittelohrentzündung.
Seit der Entfernung des Tumors ist Patientin beschwerdefrei.
Diskussion: Herr W i n c k 1 e r - Bremen berichtet von
einem Falle von isolierter Tuberkulose einer Gaumentonsille und
gibt weiter die Resultate ausgedehnter bakteriologischer Unter¬
suchungen der Mandeln. Die isolierte Tuberkulose des lymphatischen
Rachenringes, welche nach bisherigen Anschauungen in vielen Fällen
die Eintrittspforte für den Tuberkel bildet, ist eine seltene Erkrankung.
Ferner : Herr Rotschild - Soden.
15) Herr E. J. M i n k - Deventer : Einfache Hilfsmittel der Rhino-
logie.
Empfehlung der Auskultation der Kieferhöhle. Wenn man einen
der Ansätze des Otoskops durch ein Ohrenspekulum ersetzt, so ist
es möglich, von der Fossa canina aus Flüssigkeit in der Oberkiefer¬
höhle, die sich durch Rasselgeräusche verrät, zu auskultieren. Auch
besteht die Möglichkeit, die tieferen Atmungswege von der Nasen¬
öffnung aus zu auskultieren. Auch die Auskultation der Stirnhöhle
ist möglich, wenn man durch ein in den Stirnhöhlengang eingeführtes
Röhrchen eine Luftströmung in dieser Höhle erzeugt. Ferner emp¬
fiehlt M. einen aus biegsamem Silberdraht gefertigten katheter¬
förmigen Nasenpinsel. Derselbe kann sowohl zur Sondierung wie zur
Applikation von Medikamenten benutzt werden und zwar besonders
für die Gegend der pharyngealen Tubenmündung, der Rosen¬
müller sehen Gruben etc.
16) Herr W i n c k 1 e r - Bremen: Bakteriologische Befunde bei
Erkrankungen der oberen Luftwege nebst einigen Schlussfolgerungen
für die Praxis.
Mitteilungen eines grossen Untersuchungsmateriales, worüber
im Original nachgelesen werden muss. Eingriffe nach akuten Anginen
müssen recht lange nach völligem Abklingen der entzündlichen Er¬
scheinungen gesetzt werden, da wir nicht wissen, wie lange die
Streptokokken in den Tonsillen noch virulent sind, wegen der Ge¬
fahr, eine im Ablauf begriffene Streptokokkeninfektion zu erneuter
Inflammation zu bringen, unter Mobilisierung der Krankheitserreger.
Die Ausschälung der Gaumenmandeln (Hopmann-Winckler)
ist zu bevorzugen in solchen Fällen, weil sie glattere Wunden schafft.
Nebenhöhlenerkrankungen sind angesichts der Hartnäckigkeit der¬
artiger Streptokokkeninfektionen nicht mit halben Massnahmen zu
behandeln. W. verwirft die an unrichtiger Stelle verordneten Gurge¬
lungen mit Adstringentien, essigsaurer Tonerde etc. Eine Desinfek¬
tion der infizierten Schleimhäute ist unmöglich, die vorhandene Ab¬
wehrtätigkeit ist zu unterstützen, die Beschwerden sind zu lindern.
Auf die Bier sehe Stauung wird verwiesen. Bei schweren Zu¬
ständen, welche bereits an eine Aufnahme des Krankheitserregers in
die Blutbahn denken lassen, ist eine frühzeitige Anwendung des Anti¬
streptokokkenserums am Platz.
Medizinischer Verein Greifswald.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 7. Juli 1906.
Herr Friedrich stellt einen 16 jährigen geheilten Patienten
vor, der vor 3 Monaten einen Stich mit der Mistgabel durch die rechte
Orbita erlitten hatte. Tractus opticus und Chiasma verletzt, Vor¬
dringen bis zur Pyramidenbahn. Erörterung der Symptomatik und
Begründung des abwartenden, nicht operativen Verfahrens.
Diskussion: Herr Schirmer erläutert die von dem Pa¬
tienten erhaltenen Gesichtsfelder, welche komplette rechtsseitige
homogene Hemianopsie zeigen mit starker Einschränkung auch der
erhaltenen Gesichtshälfte, weshalb wohl der linke Tractus opticus
völlig durchtrennt ist; doch müssen auch die rechten Bahnen ge¬
schädigt sein.
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1739
Herr Haiban zeigt Apparate zur künstlichen Hyperämisierung des
Auges zu therapeutischen Zwecken. H. hat bisher nur mehr wenige
pathologische Fälle mit Hyperämie behandelt, er will daher zunächst
nur die physiologischen Wirkungen des Verfahrens besprechen. Er
hat sich Apparate konstruiert, um auf den Bulbus selbst zu wirken.
Sie gestatten, den Bulbus mit einem Teil der Lider oder auch, unter
diesem angesetzt, ersteren allein zu beeinflussen und erzeugen eine
passive Hyperämie. Die Form der Apparate sowie die Applikation
wird am Menschen demonstriert. Ein schädlicher Einfluss des Ver¬
fahrens hat sich nicht herausgestellt.
Auch eine arterielle Hyperämie, zugleich Hyperämisierung der
ganzen Orbita durch Hervorziehen des Bulbus hat sich, wenn auch
mit Schwierigkeiten, erreichen lassen.
Für die Behandlung mit der Hyperämie kommen in Betracht
alle entzündlichen Erkrankungen an Lidern, Konjunktiva, Tränen¬
apparat, Orbita, Sklera, Kornea, Ziliarkörper, Chorioidea, Retina,
Optikus, Erkrankungen an Glaskörper und Linse, Glaukom sowie
Ablatio retinae. . , . , x .
(Die sehr ausführlichen Darlegungen eignen sich nicht zu kurzem
Referat.) „ , M
Herr Grawitz: Ueber Ovarialteratoine und ihr Her-
vorgehen aus einer dreikeimblätterigen Anlage.
(Erscheint ausführlich in der D. med. Wochenschr.)
Diskussion: Herr Ritter, Herr Jung.
Herr Allard: Ueber die Beziehungen der Umgebungs¬
temperatur zur Zuckerausscheidung beim Diabetes.
A. hat die Versuche Lüthjes über diesen Gegenstand
nachgeprüft lind kann dessen Resultate nicht bestätigen.
3 durch totale Pankreasexstirpation diabetisch gemachte
Hunde zeigten keine den Schwankungen der Umgebungs¬
temperatur entsprechende Schwankungen der Zuckerausschei¬
dung, dagegen zeigte ein nur partiell (durch Resektion des Pan¬
kreas) diabetisch gemachter Hund das gleiche Verhalten, wie
bei Lüthje. A. erörterfauf Grund von stoffwechselphysio¬
logischen Erwägungen eingehend die Ursache dieses Verhaltens
seiner Versuchstiere.
Medizinisch -Naturwissenschaftlicher Verein Tübingen.
(Offizielles Protokoll.)
Medizinische Sitzung vom 28. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Romberg.
Schriftführer: Herr B 1 a u e 1.
Herr Fr o r ie p:
M. H.! Vor allem muss ich dem Herrn Vorsitzenden
danken für die Erlaubnis, vor Beginn der heutigen Sitzung, in
Gegenwart des versammelten medizinisch-naturwissenschaft¬
lichen Vereins die Porträts von Luschka und von Henke
hier im Hörsaal des Institutes, dessen Leiter sie gewesen sind,
enthüllen zu dürfen. Es befreit mich dies aus einer gewissen
Schwierigkeit. Denn einerseits erschien es mir zu anspruchs¬
voll, eine eigentliche Enthiillungsfeier zu veranstalten, anderer¬
seits widerstrebte es mir, ganz ohne dieser Männer würdige
Zeugen ihre Bilder an die Wand zu hängen. Welch würdigeren,
welch verständnisvolleren Kreis aber hätte ich einladen können,
als gerade unseren Verein, gerade Sie, meine Herren, von
denen manche die beiden Männer gekannt haben, und Vielen
wenigstens Henke noch in lebhafter Erinnerung steht. So
lasse ich denn vor Ihnen die Hüllen entfernen, und darf Ihrer
Zustimmung wohl das Zeugnis entnehmen, dass beide Bild¬
nisse die Dahingeschiedenen in sprechender Aehnlichkeit ver¬
gegenwärtigen.
Luschka war Badener. Der Name zwar soll aus
Böhmen stammen, die Familie aber war seit Generationen in
Konstanz ansässig, wo auch Hubert Luschka 1820 geboren
wurde. Von seinem Lehrer Fr. Arnold, bei dem er während
seiner Studienzeit in Freiburg Assistent gewesen war, wurde er
1849 als Prosektor nach Tübingen berufen. Nach Arnolds
Weggang nach Heidelberg wurde Luschka 1853 Vorstand
der anatomischen Anstalt und blieb als solcher tätig bis zu
seinem infolge einer Apoplexie 1875 erfolgten Tode.
Luschkas Prosektor, Emil D u r s y, scheint trotz der
hohen wissenschaftlichen Begabung, die seine entwicklungs-
geschichtlichen Arbeiten bekunden, doch nicht die für die Nach¬
folge im Ordinariat geeignete Persönlichkeit gewesen zu sein,
denn nach Luschkas Tod wurde Wilhelm Henke hierher
berufen, der nicht in Beziehung zuLuschka gestanden hatte.
Henke war 1834 in Jena geboren, aber, seit seinem
5. Lebensjahr ganz in Marburg aufgewachsen, betrachtete er
dies als seine Vaterstadt. In Marburg begann er auch, 24 Jahre
alt, seine anatomische Laufbahn als Privatdozent unter Ludwig
Fick. Schon im Jahre 1865, d. h. mit 31 Jahren, kam er als
Ordinarius nach Rostock, 1872 nach Prag und 1875, wie er¬
wähnt, von Prag nach Tübingen, wo er bis zu seinem ebenfalls
durch Apoplexien vorzeitig herbeigeführten Lebensende ver¬
blieb. Schon 1894 stellten sich die ersten Anffälle ein mit
Hemianopsie und Aphasie, 1895 trat er in den Ruhestand und
am 17. Mai 1896 wurde er von anderthalbjährigem Leiden durch
den Tod erlöst.
Luschka und Henke waren beide grosse Anatomen.
Mit W. Braune vertraten diese Drei in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts in hervorragendem Masse die reine Anthro-
potornie oder sogen, grobe Anatomie. In einer Zeit, wo sich
das allgemeine Interesse der Forscher immer mehr und zeit¬
weise fast ausschliesslich der Histologie und Entwicklungs¬
geschichte zuwandte, haben sie gezeigt, wie viele und lohnende
Aufgaben die fachmännische Arbeit auch im Gebiet der deskrip¬
tiven und topographischen Anatomie fand. Ihre besondere per¬
sönliche Begabung war dabei recht verschieden. Man könnte
sagen : Luschka ging mit Vorliebe ins Kleine, Henke ins
Grosse. Luschkas Schriften enthalten eine erstaunliche
Menge genauer und hervorragend zuverlässiger Einzel¬
angaben, dafür fehlt bisweilen der grosse Ueberblick; Henke
dagegen lässt bei speziellen Fragen, wie sie insbesondere die
praktische Chirurgie und Medizin stellen, vielleicht da oder
dort im Stiche, dafür baut sich aber in seiner Darstellung der
menschliche Körper in dem Ineinandergreifen der Organ¬
systeme in überraschender Anschaulichkeit vor dem Lesei und
Beschauer seiner Tafeln auf. .
Ich schätze mich glücklich, Beide zu meinen Lehrern
zählen zu dürfen. Bei Luschka hörte ich als Student topo¬
graphische Anatomie; bei Henke habe ich zwar kein Kol cg
gehört, aber in langjähriger Tätigkeit als sein Prosektor habe
ich viel von ihm gelernt und werde ihm zeitlebens tieue An¬
hänglichkeit und Dankbarkeit bewahren.
Es ist mir daher eine lebhafte Befriedigung, diese Bildnisse
hier im Hörsaal angebracht zu sehen. Möchten dieselben den
nachwachsenden Generationen der Studierenden die beiden
Meister als leuchtende Vorbilder gegenwärtig erhalten!
Herr Romberg: A ,
M. H.! Die heutige Sitzung möchte ich mit Worten des
Dankes eröffnen, zunächst an Herrn Froriep, dass Sie
unseren Verein an der Enthüllung der Bildnisse von Luschka
und Henke teilnehmen liessen. Wir freuen uns, dass uns das
vergönnt war. Aus den beiden Bildern spricht ja ein bedeut¬
sames Stück der Tübinger medizinischen Vergangenheit. Und
für ein Kollegium, wie die Medizinische Fakultät, und für ihre
Institute gilt in übertragenem Sinne das Wort des Dichters:
Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt. Dieser beiden
Männer, deren Bilder auf uns niederschauen, werden wir
Tübinger immer dankbar uns erinnern und stets stolz sein,
dass sie die Unserigen waren.
Zu danken habe ich ferner den Herren Kollegen der Um¬
gebung, die unserer Einladung gefolgt sind. Besonders danke
ich Herrn Stein brück - Reutlingen und Herrn Stauss-
Hechingen, die unsere Einladung in entgegenkommendster
Weise beantwortet haben. Ich drücke den aufrichtigen Wunsch
unseres Vereins aus, dass die Herren recht oft zu uns kommen
möchten.
Herr Froriep: Ueber den Ursprung des Wirbeltier¬
auges.
Die Entwicklungsgeschichte schien uns bisher in der Frage
der ersten Entstehung des Auges im Stiche zu lassen.
Während für die anderen Sinnesorgane der Satz begründet
werden konnte, dass das Organ dort entsteht, wo der Reiz
einwirkt, schien gerade die Embryologie zu zeigen, dass dieser
Satz fürs Auge nicht zutrifft. Denn die Retina entsteht bekannt¬
lich durch eine blasenförmige Ausstülpung der Gehirnwand,
liphf np ruinieren den Elemente, die Sehzellen mit Stäbchen
1740
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 35.
und Zapfen, bilden sich aus Ependyrnzellen, die die Gehirn¬
ventrikel auskleidcn und bei keinem Wirbeltier durch Licht¬
strahlen direkt erreichbar sind.
Die Vorgänge, durch die aus der Augenblase Retina und Seh¬
nerv hervorgehen, werden durch Demonstration einer Reihe von
Schnitt- und Modellbildern mittelst des Projektionsapparates erläutert.
Der ganze Verlauf der Um- und Ausgestaltung war ver¬
ständlich, nur am Beginn lag das Rätsel: wie kommt die Innen¬
wand des embryonalen Gehirnrohres zu der Fähigkeit, gerade
ein Lichtempfindungsorgan hervorzubringen?
Aufklärung in dieser Frage brachte erst der Nachweis,
dass die Anlage der Retina schon vor dem Schluss des Gehirn¬
rohres kenntlich wird als Sehgrube an der freien
Fläche der offenen Med ullarplatte. Dies war
schon früher mehrfach bemerkt worden, die Allgemeinheit des
Befundes und seine prinzipielle Bedeutung wurde kürzlich
durch die betr. Darstellung des Vortragenden im Hertwig-
schen Handbuch der Entwicklungslehre nachgewiesen. Da¬
durch wird unsere Auffassung nicht unwesentlich verändert,
da nunmehr die Entstehung des lichtempfindlichen
Organs hinausverlegt erscheint an die licht e m p f a n g e n d e
Körperoberfläche.
Denn die Tatsache, dass als erstes Stadium der Ontogenese
des Vertebratenauges ganz allgemein eine Sehgrube an der
Oberfläche der offenen Gehirnplatte auftritt, nötigt uns zu der
Annahme, dass in der Phylogenese des Wirbeltierstammes ein
Organisationszustand existiert haben muss, bei dem das ner¬
vöse Zentralorgan wenigstens in seinem vordersten Abschnitt
sich nicht zum Rohre schloss und auf der offen ausgebreiteten
Platte des Vorderhirns bilateral symmetrisch zwei Augen be-
sass. Dies müssen primäre Grubenaugen gewesen sein, wie
solche bei Wirbellosen in weiter Verbreitung Vorkommen, d. h.
Einsenkungen des Ektoderms, deren Grund sich unter der
direkten Einwirkung der Lichtstrahlen zu einem spezifischen
lichtempfindlichen Epithel entwickeln konnte.
Die Sehgruben der Embryonen verschiedener Wirbeltierklassen
werden an Schnitten und Modellbildern mittelst Projektion de¬
monstriert.
Waren diese Sehgruben bei den Vorfahren wirklich Augen,
dann wird man vermuten dürfen, dass in denselben, w ie bei
den entsprechenden Augen Wirbelloser, an den freien Enden
der lichtempfindlichen Zellen Pigment, vielleicht auch eine
kutikulare oder zelluläre Linse vorhanden war, und man wird
nach Resten solcher Bildungen auch in den Sehgruben der
Vertebratenembryomen suchen. Zwar von Linsen oder ähn¬
lichen lichtbrechenden Körpern ist bisher bei keinem Wirbel¬
tierembryo eine Spur gefunden werden, wohl aber hat
Eycleshymer bei den Embryonen von zwei Batrachier-
arten im Grunde der Sehgrube in den freien Enden der Epithel¬
zellen Pigment gesehen, ein Befund, der die Auffassung der
Sehgruben als Repräsentanten eines phylogenetischen Ent¬
wicklungsstadiums des Vertebratenauges sehr nachdrücklich
unterstützt.
Die Reihe von Umgestaltungen, durch die ein solches
Grubenauge der Vorfahren zur Augenblase, und diese wieder
zum invertierten, doppelwandigen Augenbecher der Wirbel¬
tiere werden musste, kann man sich unschwer vergegen¬
wärtigen. Das wichtigste Moment dabei ist der Schluss
des Gehirnrohres, denn durch dieses Ereignis wurde
jenes primitive Auge aller direkt einfallender und die empfind¬
lichen peripherischen Zellenenden unmittelbar treffender Licht¬
strahlen völlig beraubt. Eine Erregung dieser Zellenenden
konnte von da ab nur noch auf indirektem Wege zustande
kommen. Unter solchen indirekten Lichtstrahlen werden aber
diejenigen die begünstigten gewesen sein, die das Sehepithel
von aussen, d. h. von der Körperoberfläche her erreichten.
Denn, wie wir an den Embryonen sehen, liegt der Grund der
Sehgruben, ohne dass Mesodermgewebe zwischenträte, un¬
mittelbar der Epidermis an und drängt sich beim Abschluss
des Gehirnrohres nur desto fester an dieselbe hin. So darf
man wohl annehmen, dass das lichtempfindliche Epithel der
Sehgrube, wenn es von der ventrikulären Fläche her in Dunkel
gehüllt wurde, um so eher durch jene von aussen her nur die
Epidermjs und die ihr anliegende Grubenwand durchsetzenden
Strahlen erregt werden konnte. Allerdings kamen diese
Strahlen nun von der der ursprünglichen Einfallsrichtung ent-
gegengestzten, d. h. basalen Seite des Epithels und mussten
sowohl die unterliegenden Schichten der Medullarwand wie
auch die Körper der Sehzellen selbst durchsetzen, ehe sie
deren sensible Enden erreichten. Dass dies jedoch kein Hin¬
dernis normaler optischer Erregung bildet, erkennen wir zur
Genüge an der bei gleicher Einrichtung bewährten Leistungs¬
fähigkeit unseres eigenen Auges.
Wenn wir demnach zu der Annahme berechtigt sind, dass
das Sinnesepithel der Sehgrube, nachdem es durch den Ab¬
schluss des Gehirnrohres in die Tiefe verlagert worden war,
unter dem Einfluss der von aussen durch die Epidermis zu ihm
dringenden Lichtstrahlen weiter funktionieren konnte, dann
dürfen wir auch alle Anpassungen an die neue Einfallsrichtung
des Lichtes als Verbesserungen auffassen, die auf dem Wege
der Selektion entstehen konnten. So werden die Eigentümlich¬
keiten der Augenentwicklung verständlich, zunächst die Ver¬
dickung des betreffenden Epidermisbezirks zu einer licht¬
brechenden Linse, und weiterhin die Inversion der Retina, d. h.
die Einziehung des Sehgrubengrundes zur Herstellung einer
konkaven Bildrezeptionsfläche im Grunde eines doppelwan¬
digen Augenbechers mit einer die Sehnervenfasern auf dem
kürzesten Wege zum Gehirn hin leitenden Spalte und Rinne.
Es entsteht nun die Frage: existieren in der Tierreihe
Organisationszustände, die als Uebergangsformen
zwischen der primitiven medullären Seh-
grübe und dem typischen Vertebratenauge
und somit als Merksteine des geschilderten hypothetischen
Entwicklungsverlaufes gelten könnten?
Innerhalb des eigentlichen Wirbeltierstammes, d. h. bei
kranioten Wirbeltieren werden wir vergeblich danach suchen.
Denn das ist ja vergleich. -anatomisch die merkwürdigste Be¬
sonderheit des Vertebratenauges, dass es, im Gegensatz zu
anderen Organen, innerhalb des ganzen Stammes, soweit es
überhaupt vorhanden ist, keine wesentlichen Variationen zeigt,
sondern wie aus dem Nichts geschaffen fertig dasteht.
Ausserhalb des Stammes der kranioten Wirbeltiere dürfen
wir aber nur in sehr beschränktem Umkreis suchen. Denn
die erste Bedingung, um ein Auge mit der Sehgrube oder
Augenblase eines Vertebratenembryos homologisieren zu
dürfen, wäre offenbar die, dass das betreffende Auge an der
homologen Stelle sässe, also an der Innenfläche
eines dem Medullarrohr der kranioten Wir¬
beltiere gleichwertigen Neuralrohres. Solche
Neuralrohre aber kennen wir nur zwei, nämlich: 1. das
Rückenmark des Amphioxus, und 2. das Neuralrohr der As-
zidienlarve.
Für A m p h i o x u s, der, wie bekannt, offenkundige Augen
nicht besitzt, hat Boveri (1904) die Anfänge solcher auf¬
zudecken versucht. R. Hesse (1898) hatte im Rückenmark
des Amphioxus kleine lichtempfindliche Organe nachgewiesen,
bestehend je aus einer becherförmigen Pigmentzelle und einer
in deren Vertiefung eingelagerten Sehzelle mit Nervenfortsatz.
Diese letzteren Zellen hält Boveri für homolog den Stäb¬
chen- und Zapfenzellen und schildert den Weg, wie möglicher¬
weise eine Gruppe solcher H e s s e sehen Zellen nach Art der
Augenblase sich aus der Medullarwand hervorgedrängt und
zum Retinalepithel umgestaltet haben könnten. Die mancher¬
lei Bedenken, die dieser Hypothese entgegenstehen, brauchen
hier nicht angeführt zu werden, da der Ausgangspunkt der letz¬
teren, d. h. der bei Amphioxus vorliegende Befund ja noch
nicht einmal eine Sehgrube nachweist, sondern nur Zeilen, die
vielleicht bei Deszendenten eine Sehgrube hätten bilden
können; hier aber handelt es sich um die Auffindung von An¬
ordnungen, die als Uebergangsformen von der Sehgrube auf¬
wärts zu höher entwickelten Augen angesprochen werden
könnten.
So bleibt uns als einziges heranziehbares Objekt das
Auge der Aszidienlarve, dieses aber bietet in der Tat
Bedingungen, die eine Vergleichung berechtigt erscheinen
lassen. Freilich ist das Zentralnervensystem dieser Tiere sehr
rudimentär. Aber trotzdem kann man sagen: hier liegt ein
28. August 1906.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1741
unzweifelhaft als Auge und zwar als primitives Grubenauge
charakterisiertes Organ vor mit Retina, Pigmentschicht und
lichtbrechendem Apparat; dieses Auge befindet sich an der
Innenwand des Neuralrohres und zwar desjenigen Abschnittes
desselben, der mit grosser Wahrscheinlichkeit dem Gehirn der
Vertebraten verglichen werden darf; es ist durch Differen¬
zierung aus der Wand des Neuralrohres entstanden und mit
seiner Lichtrezeptionsfläche dem Binnenraum des Gehirnven¬
trikels zugekehrt.
Ray Lankester (1880) hat die Hypothese der Her¬
leitung des Wirbeltierauges vom Auge der Aszidienlarve auf¬
gestellt; dieselbe wurde dann von Balfour, Dohm, von
Kennel, auch von dem Vortragenden im Hertwigschen
Handbuch diskutiert und kürzlich hat Jelgersma einen
Aufsatz im Morphologischen Jahrbuch veröffentlicht, in dem er
die gleiche Theorie, ohne Kenntnis der einschlägigen Literatur
als neu aufstellt und in anregender Weise erörtert.
Keiner von all diesen Autoren jedoch fusst auf eigener
Untersuchung des Aszidienauges, alle gehen vielmehr einfach
von den Beschreibungen aus, die Kowalevsky (1866 und
J 871) und K u p f f e r (1872) gegeben haben. Diese sind ja nun
mit vollem Rechte auch heute noch klassisch zu nennen. Aber
die bahnbrechenden Anschauungen dieser Forscher beruhten
im wesentlichen auf der mikroskopischen Untersuchung der
unzerlegten durchsichtigen Larven. Und da die neueren, mit
Hülfe der Schnittserientechnik ausgeführten Untersuchungen,
insbesondere von S e e 1 i g e r und von S a 1 e n s k y, auf das
Auge weniger eingegangen sind, so empfand der Vortragende
das Bedürfnis eigener Untersuchung, die in einigen Punkten
neues ergeben hat.
Der Bau der Aszidienlarve und ihres Auges wird an Demon¬
strationstafeln und durch Projektion von Schnittbildern erläutert.
Man hat bisher die sogen. Sinnesblase (den Gehirn¬
ventrikel) und mit ihr das Auge für ein unpaares Organ ge¬
halten und hieraus den Haupteinwand gegen eine Herleitung
des paarigen Vertrebratenauges vom Aszidienauge entnom¬
men. Aus dem gleichen Grunde hat Salensky das As¬
zidienauge dem Parietalorgan (Zirbelauge) der Wirbeltiere
verglichen.
Der Vortragende zeigt dagegen, dass die Sinnesblase
kein unpaares, d. h. medianes Organ ist, sondern ein
unilateral rechtsseitiges. Der Gedanke ist daher
naheliegend, dass das bilateral hinzugehörige linksseitige
wahrscheinlich durch Degeneration verloren gegangen ist.
Ein Moment, durch welches dieser Schwund mit bedingt ge¬
wesen sein könnte, ist durch die Tatsache gegeben, dass ein
voluminöser Gehirnlappen (das Kopfganglion der Autoren, das
zum bleibenden Ganglion der Aszidie wird), am Neuralrohr
nach links verschoben, linkerseits denjenigen Raum einnimmt,
in dem rechts das Auge liegt. Des weiteren findet sich links
neben diesem Gehirnlappen eine kompaktere Zellengruppe mit
einem vom Rumpfganglion zu ihr hintretenden Nerven, welche
durch ihre ungefähr symmetrische Lagerung zu Sinnesblase
und N. opticus der rechten Seite den Gedanken wachruft,
dass in ihr vielleicht ein Ueberrest des in der Phylogenese ver¬
loren gegangenen linksseitigen Auges vorliegt.
Durch die Auffassung des Auges der Aszidienlarve als
eines lateralen Organes erhält die Homologi¬
sierung dieses Auges mit der Au gen blase der
Vertebratenembryo neneinewirksameStütze.
Die Frage dagegen, ob dieses laterale Gehirnauge der As¬
zidienlarve nun als die Ursprungsform des Vertebraten¬
auges angesehen werden dürfe, verneint der Vortragende und
zwar aus folgenden Gründen.
Lankester und mit ihm alle Anhänger seiner Hypo¬
these gehen aus von der Vorstellung, als ob die optische Orien¬
tierung des Aszidienlarvenauges nach dem Lumen der Sinnes¬
blase, d. h. also nach dem Körperinnern gerichtet wäre. Dies
war der Ausgangspunkt der Theorie. Das Rätsel der Ent¬
stehung des lichtperzipierenden Sinnesepithels der Vertebraten
an der Innenwand des Gehirnrohres an einer Stelle, die bei
keinem Wirbeltier durch Lichtstrahlen direkt erreicht werden
kann, schien gelöst. Denn hier sah man ein I ier vor sich,
dessen Auge eben gerade an der Innenwand der Gehirnblase
sitzt und für ein ausreichendes Funktionieren scheinbar keines
direkten, sondern nur des durch den transparenten Leib der
Larve in die Tiefe dringenden Lichtes bedarf. Man folgerte,
dies müsse die ursprüngliche Form des Vertebratenauges ge¬
wesen sein und sah umgekehrt in dieser letzteren Auffassung
den Hinweis darauf, dass die Vorfahren der Vertebraten trans¬
parente Tiere gewesen sein müssten, wie die Aszidienlarven.
Dem gegenüber haben nun die Untersuchungen des Vor¬
tragenden ergeben, dass die optische Orientierung
des Aszidienlarvenauges, sobald der lichtbrechende
Apparat auf tritt, nicht wie es von Kowalevsky und von
K u p f f e r dargestellt und seither gelehrt wurde, nach dem
Körperinnern, sondern schief, lateral-dorsal und vor¬
wärts, nach aussen gerichtet ist. Der lichtbrechende
Apparat besteht zuerst aus einer ungefähr kugeligen Linse, auf
die sich sukzessiv ein oder zwei konkav-konvexe Menisken
auflagern; letztere entstehen aus Zellen der Retina und die
konvexe Endfläche des ganzen Systems legt sich unter Ver¬
mittelung einer weiteren, ebenfalls konkav-konvex geformten
Retinalzelle unmittelbar an die Epidermis an ohne dass Pig¬
ment dazwischen träte.
Dieser Befund erscheint theoretisch nicht unwichtig. So¬
lange man glaubte, dass das Auge eingestellt wäre für Licht¬
strahlen, die vorher den durchsichtigen Leib der Larve durch¬
setzt haben, so lange konnte man dies Auge und seine Lage für
primitiv halten. Zeigt sich nun, dass diese Orientierung phy¬
siologisch nicht genügt und dass der lichtbrechende Apparat
sich gegen die Zeit der Reife verschiebt, um Lichtstrahlen
direkt von aussen aufzufangen, so müssen wir daraus schlos¬
sen, dass auch dieses Auge nicht im Binnen-
raum der Gehirnhöhle entstanden sein kann,
sondern sich an der freien Oberfläche des Körpers gebildet
haben muss unter direkter Einwirkung der Lichtstrahlen.
Die Hypothese von Lankester wird hierdurch hin¬
fällig. Man kann nicht mehr annehmen, dass ein Auge von der
Art und Lage des Aszidienlarvenauges die Urform des Verte¬
bratenauges gewesen wäre.
Wohl aber weisen beide Formen auf eine ge¬
meinsame Urform hin, von der beide abweichen infolge
sekundärer Anpassung an die veränderte Einfallsrichtung der
Lichtstrahlen. Für beide ist Voraussetzung: die
frühere Existenz von Grubenaugen an der ur¬
sprünglich offenen ventrikulären Ober¬
fläche der Medullarplatte.
Von diesen Vorfahrenformen ist das Auge der Aszidien¬
larve aber ebenso weit, ja sogar weiter entfernt, als das
Wirbeltierauge. Denn während dieses letztere ontogenetisch
in der Tat als freiliegende Sehgrube an der Oberfläche der
offenen Gehirnplatte beginnt, bildet sich das Aszidienauge erst
verhältnismässig spät an der Innenwand des abgeschlossenen
Neuralrohres.
Bei der Aszidienlarve ist also der ältere primitive Zu¬
stand, der in der Sehgrube der Vertebratenembryonen sich
noch erhalten hat, phylogenetisch völlig verloren gegangen,
dagegen führt uns dieselbe den gesuchten Uebergangs-
zustand vor, nämlich : das von der Oberfläche,
wo es entstanden war, in die Tiefe des Gehirnventrikels
hinab verlagerte Gruben au ge, welches, den hier
gegebenen Bedingungen nicht mehr gewachsen, demUnter-
gang verfällt, vielleicht eben, weil es die so erfolgreiche
Anpassung, die das Wirbeltierauge durchmacht, nicht ge¬
funden hat.
Diskussion: Herr U ii 1 o w macht darauf aufmerksam, dass
man das Aszidienauge wohl nur dann als dem Vertebiatenauge eng
verwandt ansehen könne, wenn der Nervus opticus die Retina durch¬
breche und sich von oben her über sie ausbreite. Bei Inverte¬
braten liege, soviel ihm bekannt, die Sache so, dass mit nur einei
einzigen Ausnahme ein solcher Durchbruch nicht stattfinde und diese
Ausnahme sei das Rücken au ge von Onchidium.
Es sei demnach wohl unerlässlich, diesem prinzipiellen untei-
schied erhöhte Bedeutung für den behandelten Fall beizumessen.
Herr Froriep erwidert, dass es sich bei der erörterten krage
nicht sowohl um die Auffindung eines mit dem fertigen VVrtebraten-
auge übereinstimmenden Invertebratenauges, als vielmehr um den
1742
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Nachweis eines Vorläuferstadiums des Vertebratenauges handelt.
Dieses dürfe, sofern es den primitiven, noch nicht invertierten Zustand
darbiete, die für das fertige Vertebratenauge charakteristische Durch¬
bohrung der Retina von seiten des N. opticus noch nicht zeigen.
Denn letztere stellt sich beim Vertebratenauge erst im Lauf der Ent¬
wickelung sekundär her, Sehgrube und Augenblase zeigen sie noch
nicht, erst durch die Umgestaltung der Augenblase zum Augenbecher
kommt sie zustande.
Das Auge der Aszidienlarve kann nur mit der Augenblase ver¬
glichen werden, d. h. mit dem durch Schluss des Medullarrohrs in die
Tiefe verlagerten Grubenauge, an dessen perzipierende Epithelzellen
der Sehnerv sich natürlich von aussen anlegt. Der weitere Ent¬
wicklungsgang, der, in Anpassung an die umgekehrte Einfallsrichtung
des Lichts, zur Inversion des Sehepithels geführt und die „Durch¬
bohrung“ hergestellt hätte, bleibt beim Aszidienauge aus.
Das Rückenauge von Onchidium mit seinen verkehrt stehenden
Sehzellen und seinem blinden Fleck wäre im Hinblick auf diese
Aehnlichkeiten mit dem Wirbeltierauge überaus interessant; da wir
aber über seine Entwickelung gar nichts wissen, so ist vorläufig
nichts damit anzufangen.
(Schluss folgt.)
Aus den Pariser medizinischen Gesellschaften.
Academie de medecine.
Sitzung vom 24. Juli 1906.
Die in der vorigen Sitzung zum Studium der Malaria auf Mada¬
gaskar eingesetzte Kommission erklärt es für notwendig, dass eine
Kommission an Ort und Stelle, d. i. in Tananarivo eingesetzt werde,
um die Ursachen der Ausbreitung der Seuche und deren Bekämpfung
zu studieren.
Chante messe und B o r e 1 besprechen in ausführlicher
Weise die Gefährlichkeit der Auswanderung für die öffentliche Ge¬
sundheit und deren Durchzug durch Frankreich (nach Havre) und
vor allem die miserablen sanitären Zustände in Marseille. Die Aus¬
wanderer sind in den dortigen Logierhäusern in viel grösserer An¬
zahl, als es eigentlich polizeilich erlaubt ist, und unter den denkbar
schlechtesten hygienischen Verhältnissen untergebracht, so dass bei
Ausbruch einer Seuche, Cholera usw., auch die einheimische Bevölke¬
rung in hohem Masse bedroht ist. Berichterstatter fordern daher
wiederholt eine gründliche Reform der veralteten französischen Ge¬
setze über das Auswandererwesen.
Kermorgant, Chef des Sanitätsdienstes im Kolonialmini¬
sterium, berichtet über die Tätigkeit der Sanitätsverwaltung in Indo-
♦china. Um die Eingeborenen vor den sie dezimierenden Krankheiten
zu schützen, wurde ein Ueberwachungssystem, nicht nur an den See-
und Landgrenzen, sondern auch im Innern durch ärztliche Beobach¬
tungsposten und Isolierlazarette eingerichtet. Den Konsulaten von
China und Siam wurden Aerzte zugeteilt, welche die grössten Dienste
durch Benachrichtigung über Epidemien usw., Aufklärung und Behand¬
lung der einheimischen Bevölkerung u. a. leisten. Es wurden zen¬
trale Impfinstitute, Untersuchungslaboratorien für die Menschen- und
Viehseuchen gegründet, die Ueberwachung des Trinkwassers in die
Wege geleitet und durch Gründung von Wöchnerinnenheimen die
Kindersterblichkeit bedeutend vermindert.
Sitzung vom 31. Juli 1906.
C o r n i 1 berichtet über eine Arbeit von Romain Vigouroux,
betitelt: Das Karzinom als konstitutionelle Krankheit betrachtet. Ver¬
fasser versucht darin den Nachweis zu liefern, dass beim Krebs eine
allgemeine Dyskrasie vorhanden ist, deren Folge und nicht die Ur¬
sache das Neoplasma ist. Diese Dyskrasie stünde in Beziehung mit
den auf arthritischer Grundlage beruhenden Affektionen, mit chro¬
nischem Rheumatismus u. a. m. (Eine genauere Definition dieser
Lehre findet sich in keinem der Referenten zu Verfügung stehenden
Sitzungsberichte der Academie.)
Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege.
31. Versammlung in Augsburg am 12., 13., 14. und
15. September 1906.
Tagesordnung.
Dienstag, den 11. September 1906, 7 Uhr abends: Ge¬
sellige Vereinigung zur Begriissung im Schiessgrabensaale.
Mittwoch, den 12. September 1906, 9 Uhr vormittags:
Erste Sitzung im Schiessgrabensaale. Tagesordnung: Eröffnung der
Versammlung. Rechenschaftsbericht und geschäftliche Mitteilungen.
I. Die Bekämpfung der Tollwut. Referent: Prof. Dr. Frosch-
Berlin. II. Die Milchversorgung der Städte mit besonderer Berück¬
sichtigung der Säuglingsernährung. .-Referenten Stadtbezirksarzt Dr.
P o e 1 1 e r - Chemnitz, Beigeordneter B r u g g e r- Köln. _ 3 Uhr
nachmittags: Besichtigungen unter sachkundiger Führung. — 7 Uhr
abends: Festessen mit Damen im Stadtgarten. (Preis des Gedecks
ohne Getränk 5 Mk.)
No. 3l
D o n n erstag.de n 13. Septenibe r 1906, 9 Uhr vormittags-
Zweite Sitzung im Schiessgrabensaale. Tagesordnung: III. Wald¬
erholungsstätten und Genesungsheime. Referent: Dr. R. Len n h o f f-
Berlin. IV. Die Bekämpfung des Staubes im Hause und auf der
Strasse. Referenten: Professor Dr. H e i m - Erlangen, Stadtbau-
meister N i e r - Dresden. — 3 Uhr nachmittags: Besichtigungen.
Freitag, den 14. September 1906, 9 Uhr vormittags*
Dritte Sitzung im Schiessgrabensaale. Tagesordnung: V. Welche
Mindestforderungen sind an die Beschaffenheit der Wohnungen ins¬
besondere der Kleinwohnungen zu stellen? Referent: Regierungs¬
baumeister a. D. Beigeordneter S ch i 11 i n g - Trier. — 1214 Uhr
mittags: Frühstück im Goldenen Saale des Rathauses, gegeben von
der Stadt. — 3 Uhr nachmittags: Fahrt mit der Strassenbahn nach
Göggingen und Besichtigung der Hessingschen orthopädischen
Heilanstalt. — Abends: Unterhaltung daselbst.
Samstag, den 15. September 1906. Gemeinsamer Aus¬
flug nach Hohenschwangau. (Näheres siehe Spezialprogramm.)
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Pensionsverein für Witwen und Waisen bayerischer Aerzte.
Wie in No. 34 dieser Wochenschrift mitgeteilt wurde, hat der
ärztliche Bezirksverein Nürnberg in seiner Sitzung vom 26. Juli 1906
eine Resolution angenommen,, welche dem Wunsche Ausdruck gibt,
die Satzungen des Pensionsvereins, dahin zu ändern *), „dass dem
Ehemann, wenn er der überlebende Teil ist, ein
Prozentsatz der eingezahlten Beträge zurück¬
erstattet wer d e.“ a
Entsprechend einem in der ausserordentlichen Generalversamm¬
lung des Vereins im Jahre 1904 gestellten und angenommenen Antrag
der in ähnlichem Sinne lautete, hat der Verwaltungsrat des Pensions-
yereins ein technisches Gutachten eingeholt, welches als Grundlage
für die im Oktober dieses Jahres stattfindende Beratung und Be¬
schlussfassung von seiten der 9. ordentlichen Delegiertenversamm¬
lung zu dienen hat. Mit Rücksicht auf die Bedeutung der aufge¬
worfenen Frage und zur Orientierung der Vereinsmitglieder er¬
scheint es angezeigt, das in Rede stehende Gutachten, welches von
Herrn W. Kuny, Oberbeamter der bayerischen Versicherungsbank
in München, unterm 6. Juli 1906 erstattet wurde, im Wortlaut zu
veröffentlichen. Dasselbe lautet:
„Die wiederholt angeregte Frage, einer „wenigstens teilweisen“
Rückerstattung der zum Pensionsverein geleisteten Mitgliederbei¬
träge für den Fall des Vorablebens der Versorgten hat den Ver-
waltungsiat des Pensionsvereins für Witwen und Waisen bayerischer
Aerzte veranlasst, ein sachverständiges Gutachten einzuholen.
Die Mittel, aus welchen die gewünschten Beitragsrückerstat¬
tungen zu bestreiten wären, müssten von denjenigen Mitgliedern, die
eine derartige Mehrleistung des Vereins für den Fall, dass sie ihre
Frauen überleben sollten, beanspruchen, durch entsprechende Bei¬
tragserhöhungen aufgebracht werden. Denn aus den noch vorhan¬
denen Mitteln des Vereins könnten höchstens die Erträgnisse des
Stockfonds in Fiage kommen. Fiir diese sind aber nur die durch
die Satzungen vorgeschriebenen Verwendungsarten zulässig, solange
nicht durch eine Aenderung der Satzungen eine andere Möglichkeit
geschaffen wird. Eine Erweiterung der Satzungen nach dieser Rich¬
tung erscheint jedoch nicht rätlich und erstrebenswert. Vielmehr
sollte vor Allem darnach getrachtet werden, die Erträgnisse des
Stockfonds, soweit es ohne Schädigung der dauern¬
den Leistungsfähigkeit des Pensionsfonds ge¬
schehen kann, möglichst nur zur Gewährung einer Dividende,
ü. h. von Zuschüssen zu den Pensionen, zu verwenden. Dies schuldet
der Verein nicht nur denjenigen Wohltätern, welche durch ihre
dankenswerten Zuwendungen an den Stockfonds in erster Linie den
Hinterbliebenen der Mitglieder eine tunlichst weitgehende Beihilfe
zukommen lassen wollten, sondern auch dem Vereine selbst im In¬
tel esse seines weiteren Wachstums, das zweifellos am besten ge¬
fördert wird, wenn die Dividende möglichst wenig geschmälert wird.
I alls abei die Mittel des Stockfonds zu einer Beitragsrückerstattung
im Falle des Vorablebens der Ehefrauen der Mitglieder in Anspruch
genommen würden, so müsste hiedurch naturgemäss seine sonstige
Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werden. Zur Beurteilung, in wel¬
chem Masse dies der Fall wäre, sei darauf hingewiesen, dass nach
einer Zusammenstellung des Geschäftsführers des Pensionsvereins,
Herrn Hof rat Dr. Daxenberger, bei voller Rückgewähr der
fraglichen Beiträge in den letzten 6 Jahren mehr als 36 000 Mk. oder
uurchschnittlich ein Jahr über 6000 Mk. hätten zurückvergütet wer¬
den müssen und bei halber Rückgewähr mehr als 3000 Mk. jährlich,,
a. i. beispielsweise im Vergleich zur Dividende des letzten Jahres,
welche bei 10 Proz. einen Aufwand von rund 5300 Mk. erforderte
erheblich mehr als die Hälfte derselben.
Hiezu kommt, dass, wie die Erfahrung zeigt, diese Beträge in
Gen einzelnen Jahren mitunter sehr grossen Schwankungen unter-
.. A?/Ur Venneidung von Missverständnissen sei bemerkt, dass
die Abänderung der Satzung nicht Sache des Verwaltungsrates, son¬
dern ausschliesslich diejenige der Delegiertenversammlung ist.'
28. August 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1743
lieSrCn _ während sie z. B. im Jahre 1900 nur wenig mehr als
1300 Mk. betragen hätten, wären in 1905 rund 9400 Mk. zu erstatten
gewesen — und dass wegen der gänzlichen Umgestaltung der Bei-
tragsleistungen für die seit 1901 zugegangenen Mitglieder über die
künftige Höhe der etwaigen Rückzahlungen aus den Erfahrungen der
Vergangenheit eine Schätzung zur Zeit und noch auf Jahre hinaus
nicht möglich ist. Die Folge davon aber müsste notwendig sein, dass
ein Voranschlag über die Gesamtleistungen des Stockfonds und
mittelbar insbesondere für die mögliche Höhe der zu gewährenden
Dividende nur mit Schwierigkeit und ziemlicher Unsicherheit aufge¬
stellt werden könnte und dass daher die Dividende nur mit grösster
Vorsicht, d. h. verhältnismässig nieder bemessen werden dürfte, wenn
sich der Verein nicht unter Umständen der ihn sicherlich schwer
schädigenden Nottwendigkeit einer Dividendenreduktion aussetzen
wollte. , „ , ,
Grossen Schwierigkeiten dürfte es auch begegnen, die Bedin¬
gungen, unter welchen die Rückvergütung aus den Mitteln des Stock¬
fonds zu erfolgen hätte, derart festzustellen, dass Härten und Un¬
gerechtigkeiten ausgeschlossen wären.
Und endlich ist es fraglich, ob zu der notwendigen Satzungs¬
änderung die erforderliche Stimmenzahl erzielt würde. Denn es
muss doch wohl auch mit der Tatsache gerechnet werden, dass eine
grosse Anzahl der Mitglieder dem Verein in der berechtigten Er¬
wartung beigetreten ist, dass die verfügbaren Mittel des Vereinsver¬
mögens" und insonderheit des Stockfonds vor allem ihren dereinstigen
Hinterbliebenen zu gute kommen und dass sie geradeso, wie sie selbst
im Falle des Vorablebens ihrer Ehefrauen für ihre eigene Person auf
eine Rückvergütung aus ihren Beitragsleistungen Verzicht zu leisten
und diese den Relikten ihrer Kollegen zu teil werden zu lassen ge¬
sonnen waren, das gleiche auch im umgekehrten Falle zu verlangen
befugt sind.
Anders würde die Sache dagegen liegen und vom Standpunkt
der Billigkeit hinsichtlich det Rechte und Pflichten das einzig und
allein Richtige wäre es, wenn diejenigen Mitglieder, welche eine
derartige Mehrleistung vom Vereine verlangen, entsprechend höhere
Beiträge zu zahlen verpflichtet wären als jene Mitglieder, welche
solche Ansprüche nicht erheben.
In weichem Masse die Beiträge . eine Erhöhung zu erfahren
hätten, geht aus den nachstehend für einige Beitrittsalter von Mann
und Frau angegebenen Zahlen hervor, welche berechnet sind unter
der Annahme, dass die Zusatzvei Sicherung der Beitragsrückgewähr
für alle künftigen Zugänge obligatorisch eingeführt würde.
Jahresbeiträge
Die Erhöhung beträgt
Beitrittsalter
ohne
mit Rückgewähr, falls die
in Proz. der bisherigen
Beiträge bei
von
Frau früher sterben sollte
Rückgewähr
im vollen
zur Hälfte
voller
halber
Mann
Frau
(wie bisher)
Betrag
Rückj.
währ
1
2
3
4
5
6
7
M.
M.
M.
rund
rund
25
20
79.80
91.80
85.40
15
7
25
71.40
86.00
78.00
20
9
30
63.00
80.60
70.80
28
12
35
30
99.40
117.40
107.60
18
8
35
86.80
108.80
96.60
25
11
40
74.40
100.80
85.80
35
15
45
40
124.60
151.20
136.60
21
10
45
105.40
137.80
119.40
31
13
50
86.40
125.40
102.40
45
18
Für diejenigen Alter, mit welchen nach den Erfahrungen des
Vereins die Zugänge im Durchschnitt stattfinden, nämlich von etwa
35 Jahren beim Mann und 30 Jahren bei der Frau, wäre also für die
eventuelle Rückerstattung der vollen oder halben Summe der ge¬
leisteten Einzahlungen eine Erhöhung der Jahresbeiträge um rund
18 Proz. bezw. 8 Proz. erforderlich; für andere Alterskombinationen
bewegen sich die notwendigen Erhöhungen, wie man sieht, in ziemlich
weiten Grenzen. Ob und in welcher Weise eine Modifikation dieser
Erhöhungen einzutreten hätte, wenn die Zusatzversicherung der
Beitragsrückgewähr fakultativ sein sollte, wäre noch weiteren Er¬
wägungen vorzubehalten, ebenso, welche Vorsichtsmassregeln an¬
zuwenden wären, wenn die Zusatzversicherung etwa rückwirkend auf
frühere Zugänge ausgedehnt werden wollte. In letzterer Hinsicht
möge aber schon jetzt bemerkt werden, dass dies aus naheliegenden
Gründen nur in äusserst beschränktem Umfang geschehen könnte,
wobei von Fall zu Fall besondere Beitragsberechnung vorzunehmen
wäre.
Aber auch wenn wegen der Beschaffung der Mittel für die
Beitragsrückgewähr in der beschriebenen, theoretisch und praktisch
einzig einwandfreien Weise Uebereinstimmung herrschen sollte, so
wäre doch noch reiflich zu überlegen, ob Aussicht besteht, dass der
Verein mit dieser Erweiterung seiner Versicherungseinrichtungen die
erhoffte Steigerung des Zuganges — denn lediglich nur derentwillen
wurde sie doch wohl angeregt und wäre sie in Erwägung zu ziehen
— erzielen und dadurch ein Aequivalent für die mit der Neuein¬
führung verbundenen einmaligen und dauernden Mehrkosten erhalten
würde. Denn es wäre, um nur dies hervorzuheben, eine Aendenmg
und ein Neudruck der Satzungen wohl kaum zu umgehen und die
Berechnung der neuen Beitragsskalen würde, wenn sie einigermassen
korrekt durchgeführt werden sollte, neuerdings einen grossen Zeit-
und Kostenaufwand verursachen. Ferner wäre -mit den unerläss¬
lichen, periodisch wiederkehrenden, versicherungstechnischen Prü¬
fungen des Pensionsfonds auf seine Leistungsfähigkeit infolge der
Notwendigkeit, auch die Verpflichtungen bezüglich der Beitragsrück-
gewähr zu berücksichtigen, eine, wie uns der zugezogene Sachver¬
ständige versichert, jeweils sehr erhebliche Mehrarbeit verknüpft,
für deren Kosten billigerweise diejenigen Mitglieder aufkommen
müssten, welche sie veranlassen. Doch selbst wenn man diese Aus¬
gaben der Allgemeinheit aufbiirden könnte und wollte, bleibt es
immerhin noch sehr fraglich, ob durch die Beitragserhöhung in dem
oben angegebenen Masse nicht ebensoviel oder vielleicht sogar mehr
Mitglieder vom Beitritt abgehalten als dafür gewonnen würden.“
Verschiedenes.
Therapeutische Notizen.
A. Schütz beantwortet die Frage, ob der Katheteris¬
mus (Luftdusche) bei der akuten Otitis media puru-
lenta wegen einer komplizierenden Mastoiditis
indiziert oder kontraindiziert ist, auf Grund von Unter¬
suchungen an der Berner Poliklinik für Oto-Laryngologie dahin, dass
die Luftdusche zu verwerfen sei, wenn nicht eine grosse Perforations¬
öffnung im Trommelfell bestehe. Bei grosser Perforation und nicht
zu starkem Katheterismus kann letzterer eventuell Gutes leisten und
ohne Gefahr ausgeführt werden. Die Hauptdomäne des Katheterismus
bleibt immerhin das Nachbehandlungsstadium. (Dissertation, Bern
1905.) F- L-
Exodin hat sich nach den Erfahrungen von Schmechei
(Dissertation, München 1905) auch für Wöchnerinnen als ein leicht
zu nehmendes Abführmittel erwiesen, welches den Magen nicht
belästigt und vollkommen reizlos, ohne jeden schädigenden Einfluss
auf den Verlauf des Wochenbettes wirkt. Als notwendige Dosis hat
sich eine solche von 4 Tabletten = 2 g herausgestellt, wenn man
einigermassen sicher auf Erfolg rechnen will. F. L.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 28. August 1906.
— Das frühere Deutsche Zentralkomitee zur Errichtung von
Heilstätten für Lungenkranke heisst gemäss Beschluss der letzten»
Generalversammlung, nachdem die Genehmigung zu dieser Namens¬
änderung in diesen Tagen erteilt ist, nunmehr Deutsches Zen¬
tralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose.
- • Die 5 internationale Tuberkulosekonferenz
findet am 6., 7. und 8. September d. J. im Haag statt. Die Tages¬
ordnung umfasst Referate über* Infektionswege (Ref. Cal-
mette -Lille, F 1 i c k - Philadelphia, S p r o n c k - Utrecht); spe¬
zifische Therapie (Brown- Caranac Lake, Maragliano-
Genua, Wa s sie rm an n -Berlin)- Anzeigepflicht (Biggs-
NcwYork, v. Glasena p p -Rixdorf, H o 1 m b o e - Christiama,
R a w - Liverpool) ; Armee (Fischer- Berlin, Martin- Brussel) ;
Prostitution (S p i 1 1 m a n n-Nancy); Gefängnisse (Herve-
L a m o 1 1 e-Beuvron, K u t h y-Ofen-Pest) ; Heilstätte n k o s t e n
(K 1 e b s - Chicago, L o r e n t z e n - Kopenhagen, P a n n w i t z - Ber¬
lin, Schmid- Bern, W a 1 s h - Philadelphia) ; Fürsor ges t e 1 1 e n
(D e w e z -Mons, Kayserling - Berlin, Phil i'p - Edinburgh ) ;
Tuberkulose im Kindesalter (Dietri c h - Bei lin, Leon
Petit- Paris, Schlossmann - Dresden) ; Erziehung (He-
r o n - London, P annwitz- Berlin).
— In Rom hat sich eine Gesellschaft gebildet zur Förderung
des Studiums der Photo-Radiotherapie. Dieselbe er¬
öffnet in nächsten Tagen eine eigene Heilstätte zu diesem Zwecke
unter der Leitung des Dr. Rudolf Steiner, eines Wiener Dermato¬
logen der auch vom römischen Landtage mit der systematischen
Bekämpfung des Favus mittelst Strahlen in der Provinz Rom. wo
über 10 000 Kinder von dieser Krankheit befallen sind, beauftragt
wurde. . _
_ Internationaler Trachompre#is. Der königliche
ungarische Minister des Innern schreibt einen Preis von 1000 Kronen
für das beste Werk über die Aetiologie des Trachoms aus. Als Be¬
dingung wird gefordert, dass die selbständige Arbeit einen wertvollen
Fortschritt enthält. Als Einsendungstermin ist der 31. Dezember 1908
bestimmt. (Adresse: OfenPest, I., Var, Beliigyministerium.) Es
können auch im Drucke bereits erschienene Arbeiten eingesendet
werden, wenn dieselben zum erstenmale in 1907 oder 1908 publiziert
wurden. Die Autoren können sich der ungarischen, deutschen, fran¬
zösischen oder englischen Sprache bedienen. Die Ernennung oer
Jury erfolgt durch den königl. ungarischen Minister des Innern.
Das Urteil der Jury wird am XVI. internationalen medizinischen
Kongress im September 1909 publiziert werden.
1744-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
— In Erlangen findet vom 22. bis 27. Oktober ein unentgeltlicher
Fortbildungskurs für Aerzte statt, abgehalten von den Professoren
DDr. Denker, Qraser, Hauser, Heim, v. Kryger, Lüthje,
Menge, O e 1 1 e r, I3 e n z o 1 d t, Specht und V o i t. Einschreibe¬
gebühr 5 Mk. Anmeldungen sind an Hofrat Dr. Schuh, Nürnberg,
Hauptmarkt 26 zu richten.
— Prof. Dr. Hermann Oppenheim in Berlin ist zum Ehren¬
mitglied der Neurologischen Gesellschaft in Tokio ernannt worden.
— Pest. Türkei. Nach dem amtlichen Ausweise sind in
Trapezunt vom 6. bis zum 12. August insgesamt 7 Pestfälle, darunter
2 mit tödlichem Ausgang, vorgekommen. Aegypten. Vom 4. — 10.
August wurden 14 neue Erkrankungen (und 10 Todesfälle) an der
Pest gemeldet, darunter 9 (6) in Alexandrien, 5 (4) in Suez. —
Britisch-Ostindien. Während der am 21. und am 28. Juli abgelaufenen
Wochen sind in der Präsidentschaft Bombay 289 und 325 Erkran¬
kungen (200 und 262 Todesfälle) an der Pest zur Anzeige gelangt.
In Kalkutta starben in der Woche vom 8. bis 14. Juli 10 Personen
an der Pest. — Japan. In Schimonoseki und 2 benachbarten Ort¬
schaften sind vom 8. bis 30. Juni 6 tötliche Pestfälle aufgetreten. —
Brasilien. In Rio de Janeiro sind vom 25. Juni bis zum 22. Juli
6 Personen an der Pest erkrankt und 2 gestorben. • — Neu-Siid-Wales.
Ein weiterer Todesfall in Sydney vom 24. Juni hat sich nachträglich
als Pesttodesfall erwiesen; auch 2 Angehörige dieses Verstorbenen
sind am 29. und 30. Juni der Pest erlegen.
— In der 32. Jahreswoche, vom 5— 11. August 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterb¬
lichkeit Ludwigshafen mit 42,5, die geringste Deutsch Wilmersdorf
mit 10,8 Todesfällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein
Zehntel aller Gestorbenen starb an Scharlach in Posen.
V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
München. Professor Dr. med et phil. Johannes Ranke, Or¬
dinarius für Anthropologie und allgemeine Naturgeschichte an der
Münchener Universität, feiert am 23. August seinen 70. Geburtstag.
T ii b i n g e n. Nachdem Prof, Dr. B o n h ö f f e r den an ihn
ergangenen Ruf ablehnte, wurde Privatdozent Dr. Rob. G a u p p,
Assistent von Prof. Kraepelin- München, zum ordentl. Professor
für Psychiatrie und Vorstand der psychiatrischen Klinik berufen und
hat den Ruf angenommen.
W ii rzbu r g. Als Nachfolger des in den Ruhestand getretenen
Pathologen Geheimrat Professor G. E. v. Rindfleisch hat Pro¬
fessor Dr. Gustav Hauser von Erlangen einen Ruf an die hiesige
Universität erhalten.
Baltimore. Dr. Th. M c C r a e wurde zum ausserordent¬
lichen Professor der Medizin an Johns Hopkins University ernannt.
Basel. Der hohe Regierungsrat hat als Nachfolger des nach
Göttingen berufenen Prof. H i s Herrn Prof. Dr. V o i t in Erlangen
Ernannt. Mit ihm stand primo loco et ex aequo Prof. Gerhardt
in Jena.
Catania. Dr. Rocco De Luca wurde zum ausserordent¬
lichen Professor der Dermatologie und Syphiligraphie ernannt.
Florenz. Dr. L. B o r r i, Professor an der med. Fakultät zu
Modena, wurde zum ausserordentlichen Professor der gerichtlichen
Medizin ernannt.
Indianopolis. Dr. M. A. Austin wurde zum Professor
der Chirurgie am Medical College of Indiana ernannt.
Kopenhagen. 24 männliche, 2 weibliche Studenten haben
die medizinische Staatsprüfung diesen Sommer bestanden.
N e w H a v e n. Dr. Gg. Blum er, früher Professor am Al¬
bany Medical College, wurde zum Professor der Medizin an Yale
Medical School ernannt.
P h i 1 a d e 1 p h i a. Der Professor der pathologischen Anatomie
Dr. A. A. Stevens wurde zum Professor der Therapeutik und
Materia medica an Womans Medical College of Pennsylvania ernannt.
St. Petersburg. Der a. o. Professor der Anatomie Dr. J.
Chawtowsky wurde zum ordentlichen Professor an der militär-
medizinischen Akademie ernannt.
(Todesfälle.)
Dr. Salvatore 1 omaselli, Professor der medizinischen Klinik
zu Catania.
Dr. Edward M a c k e y, früher Professor der Materia medica
und 1 herapeutik an Queens College zu Birmingham.
Dr. Nina R o d r i g u e s, Professor der gerichtlichen Medizin
zu Bahia.
Dr. Alexander Herzen, Professor der Physiologie an der Uni¬
versität Lausanne.
(Berichtigungen.) Bei dem Referat über die Demonstra¬
tio n eines Falles von Tumor c e r e b r i von Dr. Germanus
F 1 a t a u in No. 34, S. 1685, 1. Sp., ist in Zeile 9 v. oben hinter Kopf¬
schmerzen einzuschalten: Stauungspapille.
In der Arbeit „Zur Kasuistik der subkutanen Geschwülste an
den Fingern“ (diese Wochenschrift No. 32) ist bei dem histologischen
Befunde Seite 1572, Spalte 1, Zeile 13 von oben, zu lesen: „Es gleicht
der Tumor in histologischer Beziehung einerseits den Desrnoiden — “
(nicht Dermoiden).
In der vorliegenden Nummer ist auf S. 1733, Sp. 2 zu bemerken,
dass der Vortrag von Conradi- Neunkirchen bereits in No. 34 d. W.
veröffentlicht ist.
No. 35.
Personal nach richten.
(Bayern.)
Bewilligt: dem ausserordentlichen Professor für klinische
Propädeutik und Geschichte der Medizin an der Kgl. Universität Er¬
langen, Dr. Hugo Lüthje, die nachgesuchte Enthebung von seiner
Stelle.
Berufen: der Landgerichtsarzt am Landgerichte München II,
Dr. Wilhelm W e t z e 1, seiner Bitte entsprechend, zum Bezirksarzt
1. Klasse bei dem Bezirksamte Nürnberg.
Gestorben: Dr. Josef Schuster, prakt. Arzt und Ober¬
arzt der Feuerwehren Münchens, 59 Jahre alt, zu München.
Korrespondenz.
Plastische Röntgenbilder.
Zu dem Artikel in No. 31 der „Münch, med. Wochenschr.“ vom
31. Juli über „plastische Röntgenbilder“ schreibt uns Herr Dr. Wolf
H e s e k i e 1 in Berlin : „Wenngleich die von Herrn Dr. A. E. S t e i n
angegebene Methode zur Herstellung solcher Bilder schon bedeutend
einfacher ist, als die von Schellenberg, Albers-Schön¬
berg und L e w i s o h n vorgeschlagenen, so möchte ich doch nicht
unterlassen, darauf hinzuweisen, dass man noch viel leichter bessere
Resultate erhält, wenn man sogenanntes abziehbares Bromsilber¬
papier in Verwendung nimmt für die Herstellung des benötigten Dia¬
positivs. Ein Transparentmachen, welches wegen der dazu benötigten
Stoffe stets lästig ist, fällt bei dem abziehbaren Bromsilberpapier
ganz fort, da sich nach Fertigstellung und Trocknung des Bildes die
vollkommen transparente Bildschicht auf leichteste Weise vom Papier
abziehen lässt. Man legt dieselbe alsdann auf das Negativ und kopiert
Negativ und Diapositiv gleichzeitig auf irgend ein photographisches
Papier.“
Amtliches.
(Bayern.)
No. 17991. München, den 22. August 1906.
Kgl. Staatsministerium des Innern.
Betreff:
Die Verhandlungen der Aerztekammern im Jahre 1905.
Im Nachgang zur Ministerialentschliessung vom 5. August 1. Js.
No. 8542 wird eröffnet, dass nach Mitteilung des K. Staatsministeriums
der Finanzen die Mengen der aus dem Auslande in das deutsche Zoll¬
gebiet eingeführten Geheimmittel den vom Kais. Statistischen Amt
herausgegebenen monatlichen Nachweisen über den auswärtigen Han¬
del Deutschlands entnomen werden können.
Nach der Aufstellung im Juniheft 1906 (S. 142, statistische
No. 389) dieser Nachweise sind in den Monaten März mit Juni d. Js.
134 D.-Z. Geheimmittel zum Eingänge in das deutsche Zollgebiet ver¬
zollt worden, was bei einem Zollsätze von 500 M. für 1 D.-Z. einer
Zolleinnahme von 67 000 M. entspricht.
Die näheren Vorschriften darüber, welche Zubereitungen als Ge¬
heimmittel im Sinne der No. 389 des Zolltarifs zu behandeln sind, fin¬
den sich in der Anleitung für die Zollabfertigung, Teil III, Ziffer 105.
I. V. : Krazeisen.
Uebersicht der Sferbefälle in München
während der 32. Jahreswoche vom 5. bis 11. August 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 12 (16*),
Altersschw. (üb. 60 J.) 3 (6), Kindbettfieber — (1), and. Folgen der
Geburt — (— ), Scharlach — (— ), Masern u. Röteln — (1), Diphth. u.
Krupp 1 (2), Keuchhusten 1 (3), Typhus 1 (2), übertragb. Tierkrankh.
— ( — ), Rose (Erysipel) — (2), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 2 (2), Tuberkul. d. Lungen 26 (32), Tuberkul. and.
Org. 1 (3) Miliartuberkul. — (1), Lungenentzünd. (Pneumon.) 6 (14),
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. — (2), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 3(3), sonst. Krankh. derselb. 1 (1), organ. Herzleid. 12 (11),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 2 18), Gehirnschlag
5 (5), Geisteskrankh. 1 (--), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 4(1), and.
Krankh. d. Nervensystems 2 (4), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 45 (41), Krankh. d. Leber 6 (1), Krankheit, des
Bauchfells 2 (1), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 3 (2), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 5 (8), Krebs (Karzinom, Kankroid) 12 (15),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 1 (4), Selbstmord 2 (6), Tod durch
fremde Hand — (— ), Unglücksfälle 1 (6), alle übrig. Krankh. 8 (5).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 168 (209), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 16,2 (20,1), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 10,6 (12,7).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.G., München.
fw Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
• lfmfaSir von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
J™ 4 * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
Nummer^ Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren : Pur die Redaktion Arnulf¬
strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 81/*— 1 Uhr. • rur
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20. • Pur
• Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16. *
Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
n v Anaerer ßh Bäumler, O.v.Bollinger, B. Cupschmann, H. Helfericli, W.v.Leube, G. Merkel, J. v. Michel, F. Penzoldt, H. v. Ranke, B.Spaiz, F.vJinckel,
' Freiburg LB.* München“ Leipzig, Kid. Würzburg. Nürnberg. Berlin. __E^_M^n._ München. München^
No. 36. 4. September 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlas: I. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang
Originalien.
Aus der medizinischen Klinik in Breslau (Direktor: Geheimrat
Prof. Dr. von Strümpell).
Ueber Schädigungen innerer Organe durch Röntgen¬
bestrahlung und Schutzmassnahmen dagegen.*)
Von Dr Paul Krause, Privatdozent und Oberarzt der
Klinik.
I.
Die Einwirkung der Röntgenstrahlen auf tierische und
menschliche Haut ist schon seit Jahren in klinischer, thera¬
peutischer und experimenteller Hinsicht in erschöpfender
Weise studiert.
Dass die Wirkung der Röntgenstrahlen aut innere
Organe in den letzten Jahren genauer bekannt und experi¬
mentell untersucht wurde, liegt in der Entwicklung der
Röntgenwissenschaft begründet.
Es waren zuerst französische Autoren,1) welche aus
klinischen Symptomen wie Kopfschmerzen, Herzpalpitationen,
Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen, die sich bei einzelnen
Patienten im Anschlüsse an diagnostische oder therapeutische
Bestrahlungen zeigten, den Schluss zogen, dass die Röntgen¬
strahlen auch innere Organe zu schädigen imstande wären.
Barthelemy und Darier berichten von Durchfällen, von
„viszeralen Zufällen“ und führen diese Erscheinungen auf eine
Beeinflussung des N. sympathicus seitens der Röntgenstrahlen
zurück. Auch von Störungen der Harnblase, der Menstruation,
selbst der Schwangerschaft wird in der französischen Literatur
berichtet.
Ledere* 2) studierte an Kaninchen den Einfluss der Bestrahlung
auf die K ö r p e r w ä r m e, sie erfährt eine anfängliche Herabsetzung,
später eine Steigerung über den anfänglichen Stand. Die Wärme¬
ausstrahlung des Körpers wird durch Bestrahlung gesteigert, während
die Hautausdünstung eine Herabsetzung erfährt: Beide Verände¬
rungen bleiben längere Zeit über die Bestrahlungsdauer hinaus be¬
stehen.
Tarkhanoff3) erzielte durch Röntgenbestrahlung von Ge¬
hirnen bei Fröschen eine Herabsetzung der Reflexerregbar¬
keit.
Rodet et Bert in4) konnten bei Meerschweinchen durch
intensive Bestrahlung Lähmungen und Krämpfe erzeugen.
Bei der Autopsie fand sich Meningomyelitis, welche nach ihrer
Ansicht durch Röntgenwirkung zu erklären ist, nicht durch Sepsis
(von den bestehenden Hautulzera ausgehend), da die bakteriologische
Untersuchung ein negatives Ergebnis hatte.
D a 1 e, 5) W a 1 s c h 6 *) berichten von Magenaffek-
t i o n e n und dem Sonnenstiche ähnlichen Erschei-
*) Vortrag, gehalten in der Sitzung der Breslauer Röntgenver¬
einigung am 8. Mai 1906.
0 Gaston Legny, Quenissent: Compt. rend., 124. Bd.,
p. 790; Destot: Ibidem, p. 981; Oudin, Barthelemy et
Darier: Monatsh. f. prakt. Dermat., 25. Bd., Heft 9; Ausset-
Lille, Lecercle: Compt. rend., 125. Bd., p. 234; Oudin: Inter¬
nation. Kongress f. med. Elektr. u. Radiol. in Bern 1902. Referate:
Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, Bd. I, II, III.
2) Compt. rendus 1897 vom 16. Juli.
3) (Russisch) Referat: Wien. med. Wochenschr. 1887, No. 12.
4) Presse medicale 1898 vom 11. Mai.
5) Medical News 1897, p. 111.
9) British med. Journal 1897, I.
No. 36.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
nungen nach Röntgenbestrahlungen. Deutsche Autoren ver¬
halten sich diesen Angaben gegenüber sehr skeptisch, so z. B.
F r e u n d in seinem bekannten Grundrisse.') Auch wir müssen
bekennen, dass wir Symptome, wie die oben erwähnten, bei
vielen hunderten von Patienten, welche wir zu diagnostischen
und therapeutischen Zwecken bestrahlten, nicht beobachteten.
Vereinzelt hatten nervöse oder ängstliche Personen starkes
Herzklopfen oder waren etwas aufgeregt, besonders wenn das
Zimmer völlig verdunkelt wurde; wir können aber nicht be¬
haupten, dass solches als Wirkung der Röntgenstrahlen aufzu¬
fassen wäre. Schär8) -Bern scheint dagegen gleichfalls
schwere nervöse Störungen beobachtet zu haben. Franzö¬
sische Autoren9) berichten, dass speziell Röntgenographen
wiederholt von schweren nervösen Herzstörungen mit Aryth-
mie, von frühzeitiger Arteriosklerose mit auffallend schnellem
Verlaufe, von starken Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen,
von Depressionszuständen resp. Erregungszuständen befallen
worden sind. Es ist aus den vorliegenden Berichten schwer
zu ersehen, inwieweit diese Störungen als Wirkungen der
Röntgenstrahlen aufzufassen sind. Wir glauben aber, dass wir
ohne klinische Erfahrungen nicht berechtigt sind, diese Beob¬
achtungen in das Bereich der Fabel zu verweisen.
Sichere, beweiskräftige, experimentelle wie zum Teil auch
klinische Grundlagen haben wir für die schädigende Ein¬
wirkung der Röntgenstrahlen auf innere Organe eist durch
folgende Entdeckungen erhalten. Es ist ein grosses Verdienst
von Albers-Schönberg10) nachgewiesen zu haben, dass
die Röntgenstrahlen imstande sind, die Hoden von Meer¬
schweinchen und Kaninchen derart zu schädigen, dass sie ihre
Zeugungskraft verlieren. Die Ursache dei Sterilität ist eine
Abtötung der Spermatozoen, infolge deren es schliesslich zu
einer vollständigen Azoospermie kommt; 195 Minuten lange
Bestrahlungen führen noch nicht zu einer absoluten Azoo¬
spermie, während eine Bestrahlung von ca. 370 Minuten an
aufwärts prompt völlige Azoospermie erzeugt.
Die histologischen Untersuchungen E riebe ns11) er¬
brachten den anatomischen Beweis, S e 1 d i n, 1_) S c h o 1 1 z )
bestätigten diese Befunde. Nachzutragen wäre noch, dass
Hautveränderungen bei den Tieren fehlen.
Dass die Röntgenstrahlen auch beim Menschen Azoo¬
spermie resp. Nekrospermie erzeugen können, be¬
weisen die Beobachtungen von P h i 1 i’p p u) und F i 1 d e n
Brown and Alfred T. Osgoo d.1’)
Brown und Osgood fanden bei Untersuchung des Spermas
von 18 Männern, welche berufsmässig seit mehr als 3 Jahren in der
Röntgenindustrie beschäftigt waren, teils Azoospermie, teils Oligo-
nekrospermie. Letztere betraf einige Männer, welche sich nur kürzere
Zeit und zwar mit grösster Vorsicht den Röntgenstrahlen ausgesetzt
7) Grundriss der gesamten Radiotherapie 1903. Berlin und Wien
bei Urban & Schwarzenberg.
8) Fragebogen (April 1906). _ mos q
») Archives d’electricite experimentale et chmques 1905, S. tUJ.
lu) Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 43.
11 ) Ibidem 1903, No. 52.
12) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, Bd. vii.
13) Deutsche med. Wochenschr. 1904, No. 25.
14) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, Bd. V 111,
S. 114.
15’) American Journal of surgery, Vol. XVIII, 1905, No. 9.
1
1746
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
hatten. Sehr bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich die Azoo¬
spermie ohne subjektive oder objektive Symptome an Skrotalhaut
und Hoden entwickelt hatte und vor allem, dass keine Impotentia
coeundi herbeigeführt wurde.
Die Autoren erwähnen ferner einen hierhergehörigen Fall von
Dr. L a p o w s k i : Der Patient wurde wegen Pruritus ani bei
abgedecktem Skrotum röntgenisiert. Während der Spermabefund vor¬
her ein normaler war, zeigte sich nach 2 Bestrahlungen von 10 bis
15 Minuten bei 15 cm Röhrenabstand Nekrospermie. Nach 20 tägiger
Pause wurde der Patient wiederum in gleicherweise röntgenisiert. Die
Untersuchung des Samens ergab völlige Azoospermie. Sehr inter¬
essant ist die Angabe, dass 5 Monate später wieder lebende Spermato-
zoen gefunden wurden.
Philipp16) konnte bei 2 Männern, welche er 365 resp.
195 Minuten bestrahlte, völlige Azoospermie erzielen, ohne dass die
Potentia coeundi gelitten hatte. Die Hoden waren nicht verkleinert.
Die Wirkung wurde etwa Vs Jahr nach der Bestrahlung beobachtet.
Im Anschlüsse hieran erwähnen wir, dass Halber-
staedter17) bei Röntgenbestrahlung von Kaninchen starke
Veränderungen der Ovarien, nämlich Schwund der
G r a a f sehen F o 1 1 i k e 1 und Verkleinerung der gan¬
zen Organe erzielte.
Eine weitere wichtige Entdeckung über die Einwirkung
der Röntgenstrahlen auf innere Organe machte H. H e i n e k e.
In mehreren grundlegenden Arbeiten18) konnte er den Nach¬
weis führen, dass auch an den inneren Organen die Röntgen¬
strahlen anatomische Veränderungen auszulösen imstande
sind, welche von den Vorgängen am Deckepithel völlig unab¬
hängig sind. Diese Veränderungen scheinen ausschliesslich
diejenigen Organe zu betreffen, welche in Beziehung zur Blut-
bereitung stehen; sie äussern sich nach zweierlei Richtungen,
einerseits in der Vernichtung des lymphatischen Gewebes,
andererseits in dem Untergange der Zellen des Knochenmarkes
und der Milzpulpa.
H e i n e k e sieht in der Reaktion des lymphoiden Gewebes eine
spezifische Wirkung der Röntgenstrahlen und zwar deshalb, weil sie
zu einer Zeit verläuft, zu der an keinem anderen gleichzeitig be-
S/ra , ,e? Organ Veränderungen vor sich gehen. Er hebt ferner aus-
drticklich die zeitlichen Verhältnisse dieser Reaktion hervor, weil sie
in Widerspruch zu allem stehen, was wir bisher über die Bedingungen
der Strahlenwirkung gewusst haben: „Das Fehlen der Latenzzeit, der
Beginn schon nach etlichen Stunden, der stürmische Verlauf, der
\\r iei\lge Abschluss, das Fehlen einer Nachwirkung und die schnelle
Wiederherstellung des Zerstörten“ (s. unter 17., No. 3, S. 92).
In der letzten Arbeit (s. unter 17., No. 4) beschäftigt sich
Heineke mit experimentellen Untersuchungen über die Einwirkung
der Rontgenstrahlen auf das Knochenmark und stellt als Schluss¬
sätze auf:
1. Bei Meerschweinchen gehen nach mehrstündiger Bestrahlung
des ganzen Körpers die weissen Zellen des Knochenmarkes bis auf
geringe Reste zugrunde.
2 Die Zerstörung der weissen Markzellen beginnt etwa 2V-z bis
3 Stunden nach dem Anfänge der Bestrahlung; erreicht nach 10 bis
J- Stunden ihren Höhepunkt und ist nach 5-6 Tagen abgeschlossen.
mit .wVl Vorgange am Knochenmark sind nicht gleichbedeutend
mit der Vernichtung des Lebens des betreffenden Tieres.
beteiligt ZerIf Un Slnd ,alle dem Mark angehörigen Zellformen
Sicht verschwinden die einzelnen Formen
liprtpn’ m'i-p1 Ste t LiniC zerfallenT die Lymphozyten und die ungranu-
RiesenzHhM "‘i z'veiter LlIlle eosinophile und Mastzellen und
am 'lanesten inTakt Weihen. 'leu,rophile"' Polymorphkernigen Zellen
zwar6b?ff1nnfdipÖIpi Knochfenmark ist der Regeneration fähig, und
zwar beginnt die Regeneration schon nach 2— 2Vs Wochen und ist
nach 3 1 Wochen bereits abgeschlossen.
7. Bei der Regeneration erscheinen im Marke zuerst die nn
Äer en„ZelIf0rmen. und die Riesenzellen, während eosinophT
und Mastzellen erst später die normale Zahl erreichen.
w ebes 6 auf U Pö ntw! d*e F ede u t u n g de r Reaktion des lymphoiden Ge-
\\ ebts auf Rontgenstrahlen auch für den Menschen hervor meint
du ch ^ zfr’stÄune^erTv50 Hte ,!)der gar Sprüche Nebenwirkungen
lianden seien ^ LymphzeUerr im menschlichen Körper nicht vor-
Die theoretische wie praktische Wichtigkeit der Befunde
H e i n e k e s liegt klar zutage, deshalb haben wir den Inhalt etwas
ausführlicher wiedergegeben.
In den letzten Monaten sind noch weitere Schädigungen
innerer Organe durch Röntgenstrahlen bekannt geworden.
Birch-Hirschfeld1H) erzielte bei Kaninchen, welche
er bei 8-10 cm Röhrenabstand mit mittelweicher Röhre ca.
30 Minuten lang bestrahlte, ausser ulzeröser Blepharitis
mit Wimperverlust und Conjunctivitis mem-
branacea, Trübung in der Kornea und Iritis. Diese Er¬
scheinungen gingen nach einigen Tagen bis Wochen wieder
zurück. Etwa 39—60 Tage nachher trat, ohne dass die Netz¬
haut und Aderhaut sichtbare Veränderungen darboten, Atro¬
phie des Nervus opticus auf.
Atrophie der Netzhautganglienzellen und
zystoide Entartung der Makula wurden auch bei 3 m e n sch¬
lichen Augen nachgewiesen, in welchen die Röntgenstrahlen
therapeutisch in Anwendung gekommen waren. Ein Fall da¬
von gelangte auch zur anatomischen Untersuchung.
• Hippel erzeugte durch Röntgenbestrahlung von Ka¬
ninchenembryonen im Mutterleibe angeborenen Schicht- und
Zentralstar.
Zahlreich sind, seit die Leukämie mit Röntgenstrahlen be¬
handelt wird, die Angaben über die Einwirkung der Röntgen¬
strahlen auf das menschliche und tierische Blut. 21)
Aus den Mitteilungen über die Erfolge der Röntgentherapie
auf die Leukämie geht hervor, dass die Erythrozyten morpho¬
logisch in den allermeisten Fällen nicht beeinflusst werden,
dagegen ihre Zahl zum Teil recht beträchtlich in die Höhe geht.
Die Leukozyten erfahren meist eine weitgehende Zer¬
störung; bei der myeloiden Form der Leukämie zerfallen die
Myelozyten, zum Teil auch die Lymphozyten am ehesten
und leichtesten, während die polynukleären viel widerstands¬
fähiger sind. Bei der lymphatischen Leukämie gelang es uns
auch bei günstigem Heilerfolge nie, die Lymphozyten völlig
zum Verschwinden zu bringen: sie beherrschten an Zahl (pro-
zentualisch und absolut) das histologische Bild. Die Gesamt¬
zahl der Leukozyten wird in dem grössten Teil der Fälle schnell
durch die Röntgenstrahlen herabgedrückt.
In Fällen, in welchen die Zahl der Erythrozyten zunimmt,
steigt dementsprechend auch der Hämoglobingehalt.
Auch experimentell wurde der Einfluss der Röntgen¬
strahlen auf das Blut von Tieren (Ratten, Kaninchen, Hunden)
studiert.
L i n s e r und H e 1 b e r ■•) fanden, dass die weissen
Blutkörperchen im Organismus in elektiver Weise zerstört
werden, und zwar im kreisenden Blute am stärksten; von den
verschiedenen Leukozytenformen sind die Lymphozyten am
wenigsten gegen Röntgenstrahlen widerstandsfähig.
Die genannten Autoren geben ferner an, dass durch den Zerfall
der weissen Blutkörperchen im kreisenden Blute (wie ausserhalb des
Körpers in leukozytenreichen Flüssigkeiten) im Serum ein Leuko-
toxin entsteht. Durch Injektion eines solchen Serums wird bei
anderen I ieren im kreisenden Blute ein starker Leukozytenzerfall
hervorgerufen. Dieses Leukotoxin ruft seinerseits eine Immunität
Segen weitere Einwirkung des Leukotoxin hervor. Es lässt sich durch
Erwärmung auf 55—60° inaktivieren; es geht auf plazentarem Wege
vom Muttertier auf den Fötus über.
Als eine Angabe von'weitgehender praktischer Bedeutung
ist es zu bezeichnen, dass nach Röntgenbestrahlungen nach
Linser und He Iber Nephritiden auftreten sollen, welche
nicht durch direkte Einwirkung der Strahlen auf die
Nieren bedingt sind, sondern erst durch Einwirkung des
Leukotoxin entstehen sollen. Auf rote Blutkörperchen, Blut¬
plättchen, Hämoglobingehalt haben die Röntgenstrahlen nur
geringen schädigenden Einfluss. Die Blutgerinnung erleidet
durch den reichlichen Leukozytenzerfall keine Beschleunigung.
S 114^ Fo,tSchritte aid dern Gebiete der Rontgenstrahlen, Bd. VIII
’T Berl. klin. Wochenschr. 1905, No. 3
xv u] ^ ■ Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 48. - 2. Münch, med
|V °CJleiiSchr- 19,°1tLNo- 18- ~ 3- Mitteilungen aus den Grenzgebietei
der Medizin und Chirurgie, XIV. Bd., Heft 1 u. 2. - 4. Deutsche Zeit
Schrift f. Chirurg., Bd. 78, S. 195.
1M) 1. Münch, med. Wochenschr. 1904, No. 27. — 2. Archiv f.
Ophthalmol. 1904, Bd. 59, Heft 2.
•") Bericht über die XXII. Versammlung der ophthalmologischen
Gesellschaft, Heidelberg 1905, S. 163.
) Literatur: loitschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen,
Bd. VII.
-'*) 1. Verhandl. d. Kongr.. f. innere Med. 1905. — 2. Archiv f
klm. Med.
Die Zerstörung der Zellen im kreisenden Blute wurde
durch Zählung der Leukozyten der Versuchstiere nachge¬
wiesen. Zahlenangaben über die Zerstörung der Leukozyten
in vitro nach Zusatz von bestrahltem Serum fehlen. Dass eine
Immunisierung gegen das Leukotoxin erfolge, schliessen L 1 n -
s e r und H e 1 b e r aus der Beobachtung, dass bei kräftigen
Tieren trotz Bestrahlung nach anfänglichem Abfalle der Leu¬
kozyten wieder ein Anstieg stattfindet.
Curschmann und Qaupp 23) haben dieses Röntgen¬
toxin in einem Falle von menschlicher Leukämie durch Ver¬
suche in vitro und Tierexperiment nachgewiesen.
Rlieneberger und Zoeppritz J4) konnten diese
Angaben nicht bestätigen.
Ob Quadrone25) seine Versuche über den Einfluss der
Röntgenstrahlen auf die Leukozyten und die aktiven Sera fort¬
geführt hat, ist uns nicht bekannt. Nach einer vorläufigen Mit¬
teilung hatte er wenig befriedigende Resultate.
Zum Schlüsse dieser Ausführungen sei noch kurz der An¬
gabe Heiles 26) gedacht, dass man durch Röntgenbestrahlung
eine Steigerung der auto lytischen Vorgänge im leben¬
den Tiere erzielen kann und in der Weise, dass nicht nur die
Zellen der betreffenden Gewebe selbst zu Grunde gehen, son¬
dern, dass auch durch Einwanderung später zerfallender Leu¬
kozyten eine Anreicherung von Enzymen erfolgt. Auch die
Mitteilungen von F ö r s t e r 1 i n g 27) sind erwähnenswert, dass
durch dauernde Bestrahlungen recht beträchtliche Wachstums¬
störungen z. B. an den Händen zu konstatiei en sind.
Einen Hinweis verdient die 1 atsache, dass durch Be¬
strahlung auch eine mächtige Aenderung des S t o f f w e c h -
sels bei Leukämie- und Pseudoleukämiekranken erzielt
worden ist. v , ,
Paul K r a u se und Z i e gl e r 2S) konnten in ausgedehnten
Untersuchungen an Mäusen, Ratten, Meerschweinchen, Kanin¬
chen, Hunden den Nachweis erbringen, dass die Röntgen¬
strahlen eine starke Schädigung auf Milz, Lymphdrüsen,
Knochenmark, Darmfollikel, auf Hoden und
Ovarien dieser Tiere auszuüben imstande ist; auch das
Blut wird in sehr erheblicher Weise alteriert.
Andere Organe, wie Schilddrüse, Pankreas, Magen, Darm¬
kanal, ferner auch das Zentralnervensystem erleidet keine Ver¬
änderungen, soweit durch die angewandten Methoden nach¬
zuweisen möglich war.
Besonders hervorzuheben ist, dass niemals ein Ein¬
fluss der Röntgenbestrahlung auf die Niere
zu erzielen war.
Aus dieser kurzen Uebersicht geht so viel zur Genüge her¬
vor, dass nicht bloss Schädigungen der Haut, sondern auch
ernste Beeinflussung innerer Organe durch Röntgenbestrahlung
bei Menschen (wie bei Tieren) verursacht werden.
Jene Spötter, welche vor mehr als 2 Jahren die voraus¬
blickenden, ernst gemeinten Ratschläge Albers-Schön¬
bergs zur Herstellung von Schutzmassnahmen als über¬
trieben ins Lächerliche zu ziehen suchten, sind verstummt. Die
Wucht der neugefundenen Tatsachen spricht eine zu deutliche,
unerbittliche Sprache: Alle, welche sich täglich den Röntgen¬
strahlen aussetzen müssen, sind heute verpflichtet, die weit¬
gehendsten Schutzmassregeln zü treffen; die meisten Röntgeno¬
graphen tun es schon.
II.
Es ist nicht meine Absicht, Ihnen, meine Herren, alle in der
Literatur beschriebenen Vorschläge zum Schutze gegen
Röntgenschädigungen aufzuzählen; ich beschränke mich darauf,
diejenigen zu demonstrieren, welche sich in der Bres¬
lauer medizinischen Klinik seit längerer Zeit als praktisch be¬
währt haben, und zwar sind es folgende:
I. Schutzhäuschen aus Holz, für die Person,
welche den Apparat bedient; es ist 186 cm hoch, 126 cm lang,
106 cm breit, so dass bequem der grosse Schalttisch von
23) Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 50.
24) Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 18.
2r>) Zentralbl. f. innere Med. 1905, No. 24.
20) Zeitschr. f. klin. Med., 55. Bd.
27) Zentralbl. f. Chirurgie 1906.
28) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, Bd. X.
Seifert, ein Quecksilberstrahlenunterbrecher mit Konden¬
sator, ein Stuhl und 1 — 2 Personen darin Platz finden. Das
Häuschen ist mit dicken Bleiplatten ausgeschlagen und völlig
undurchdringlich für Röntgenstrahlen; tibei den Bleiplatten
findet sich eine Schicht dicken W achstuches, um zu
verhindern, dass eine Berührung mit Blei statthat. Zui Be¬
obachtung der Röntgenröhre sind zwei kleine Fensterchen
aus Bleiglas (8:6 cm) angebracht. In diesem Schutzhäuschen
findet sich die Person, welche den Apparat beim Betiiebc be¬
dient; sie ist gegen die Einwirkung der Röntgenstrahlen völlig
geschützt, sie kann aber ausser dem Apparat auch 2 Glüh¬
lampen (eine ist an der Decke, die andere ist transportabel) von
innen her bedienen.
II. Blenden kästen: Die Klinik hat seit mehr als
2 K> Jahren einen recht grossen (54:52:95 cm) in Gebrauch,
Welcher innen mit dicken Bleiplatten ausgeschlagen ist. Auch
die grössten Modelle von Röntgenröhren können darin zur Ver¬
wendung kommen. An der Vorderwand findet sich die
Blendeneinrichtung. Es können verschieden grosse Rund¬
blenden aus Blei, eine Irisblende oder eine aus Blech an¬
gefertigte Schlitzblende in Form des A u b e r t sehen Fensters
eingesetzt werden. Besonders letztere hat sich bei Durch¬
leuchtungen sehr bewährt.
Der Blendenkasten ist sowohl als ganzes im Zimmer, als
auch wenn er feststeht, leicht und bequem auf und nieder zu
bewegen. In seiner Rückseite ist zur Beobachtung der Rohre
ein Bleiglasfensterchen mit Schieber eingelassen. Abgesehen
von dem Schutz gegen Röntgenstrahlen ist dadurch auch
vollständige Verdunkelung bei Durchleuchtungen
leicht zu erzielen.
III. Zum Schutze des Untersuchers sind in Ge¬
brauch: . . .
1. Schutzgummimantel, aus einem mit Blei imprägnierten
Gummi hergestellt, welcher von M e i s e 1 - Breslau erfunden,
von mir vor ca. 1 J4 Jahren schon als brauchbar erprobt worden
ist. Der Schutzstoff wird von der bekannten Röntgenrohren¬
fabrik Müller- Hamburg in den Handel gebracht.
2. Schutzhandschuhe — ich habe jetzt fast ausschliesslich
Fausthandschuhe aus dem eben erwähnten Bleigummi in Ge¬
brauch; seitdem bessert sich eine chronische, bei mir seit
langem bestehende Röntgendermatitis der linken Hand sehr be¬
trächtlich. .
Handschuhe, welche mit Bleistücken beschlagen sind, zu
verwenden, halte ich für weniger praktisch, einerseits v egen
der Berühung mit Blei, andererseits verbiegen sich die Blei¬
stückchen bald und gewähren dann wegen entstehender Lücken
keinen vollständigen Schutz mehr.
Wie ausgiebig die Abhaltung der Röntgenstrahlen durch
die von Müller gelieferten Schutzhandschuhe geschieht,
sehen Sie aus folgender Photographie.
Hand ohne Schutz.
■
■■Hl
mmmrw
Hand mit Schutzhandschuhe.
Fig. 1.
J*
748
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
3. Bleischutzbrillen — eine von Reiniger,
Qebbert & Schall gelieferte bietet einen guten und voll¬
ständigen Schutz, wie beifolgendes Röntgenogramm zeigt:
Röntgenphotographie
a eines gewöhnlichen Zwickers, b einer Bleibrille.
Fig. 2.
Allerdings stört mich häufig die verhältnismässig starke
Fluoreszenz und greift durch starke Blendung meine Augen an.
4. Bleischutzbrillen werden überflüssig, wenn man sich
einen Fluoreszenzschirm anfertigen lässt, welcher mit
einer Bleiglasscheibe bedeckt ist, wie ihn die Firma Reiniger,
Qebbert & Schall u. a. solche auf Bestellung liefern.
Der Schirm wird zwar dadurch recht beträchtlich schwerer;
dieser Nachteil wird aber voll und ganz aufgewogen durch den
grossen Vorteil, dass zu gleicher Zeit sämtliche Beobachter vor
Röntgenlicht geschützt sind, zudem kommt als weiterer Gewinn
noch dazu, dass man auf das Schutzglas des Schirmes bequem
Skizzen einzeichnen kann. Der ganze Schirm kann ja, wenn
gewünscht, an einem billigen Gestell leicht beweglich auf¬
gehängt werden; dadurch werden die Schutzschilde zum An¬
fassen des Schirmes meist überflüssig.
5. Von „Kopfschutz“ habe ich bisher keinen Gebrauch
gemacht. Ossig empfiehlt die Herstellung eines solchen aus
einer mit Bleistanniolplatten austapezierten Reisemütze.
Die Anwendung von „Bleischürzen“ zum Schutze der
Keimdrüsen ist bei der Mehrzahl der Beobachter im Röntgen¬
laboratorium nicht gerade beliebt; trotzdem suche ich immer
wieder alle im Röntgenlaboratorium der Klinik tätigen Herren
auf die Notwendigkeit ihres Gebrauches hinzuweisen.
IV. Zu therapeutischen Bestrahlungen benutze ich seit
ca. 12 Monaten fast ausschliesslich eine Wasserkühlröhre mit
Gummischutzmantel nach Angabe von W i c h m a n n und zwar
mit gutem Erfolge. Der Schutz der Patienten ist dabei ein
recht vollkommener; es versteht sich von selbst, dass die
Kranken, soweit als irgend möglich, sorgfältig vor der Ein¬
wirkung der Röntgenstrahlen geschützt werden und zwar ge¬
schieht es durch zweifache Bleistanniolplatten; sie sind nach
meiner Erfahrung am besten in Wachstuch oder abwaschbares
Gummituch einzunähen, Schutzbeutel aus Leinwand oder
Billrothbattist sind weniger vorteilhaft. Dass der dadurch be¬
wirkte Schutz ein recht guter ist, sehen Sie aus Röntgenphoto¬
gramm 3.
Sehr unangenehm wird es von den Patienten resp.
Patientinnen empfunden, dass während und nach der Röntgen¬
behandlung die bestrahlte Hautpartie eine mehr oder minder
braune Farbe annimmt. Es war mir möglich, bei der grösseren
Anzahl der zuletzt behandelten Fälle durch Bedeckung
der Haut mit Leinwand (Hemd) oder dünnem Papier
(Pergament- oder Seidenpapier) die Hautbräunung fast voll¬
ständig zu vermeiden.
Fig. 3.
Auf die Dosierung der Röntgenbestrahlung bei internen Er¬
krankungen gehe ich absichtlich an dieser Stelle nicht ein, trotzdem
die zurzeit gebräuchlichen Methoden schliesslich in weiterem Sinne
ja auch zu den „Schutzmassregeln“ gehören.
Eine Bemerkung ist noch besonders hervorzuheben: Wir
brauchen bei allen unseren Schutzmassregeln mehr oder minder
bleihaltige Stoffe — hüten wir uns, dass wir
den Teufel der Röntgenschädigung nicht
durch den Beizebub der chronischen Blei¬
intoxikation vertreiben. Die Gefahr liegt offen zu
Tage, ebenso auch die Wege zur Abwehr: Alle irgend¬
wie Blei enthaltenden Stoffe sind mit un¬
durchlässigem .Tuche (Wachstuch, wasserdichtes
Gummituch) zu bedecken, so dass eine direkte Berührung
ausgeschlossen ist.
Wenn wir wenigstens die erwähnten Schutzmassregeln
mit Bedacht und Vorsicht anwenden, werden wir zweifellos
unsere Patienten, wie uns selbst und die den Röntgenapparat
bedienenden Personen vor Schädigungen schützen.
Wie notwendig diese Schutzmassnahmen auch vom
juristischen Standpunkte aus sind, beweisen die in den
letzten Jahren häufiger werdenden Entschädigungsklagen
seitens von geschädigten Patienten. Es unterliegt keinem
Zweifel, dass jeder Arzt, welcher keinen genügenden Schutz
gegen die unliebsamen Wirkungen der Röntgenstrahlen an¬
gewandt hat, nur zu leicht zu recht erheblichen Strafen ver¬
urteilt werden kann 29).
Nach den so überzeugenden Ausführungen Kirchbergs
sind auch die Direktoren und Chefärzte von Krankenhäusern,
in welchen Röntgenlaboratorien in Betrieb sind, gesetzlich ver¬
pflichtet, alle Massregeln zu treffen, welche notwendig sind,
um Schädigungen ihrer Assistenten und Röntgenlaboratoriums¬
diener zu vermeiden; andernfalls haften sie nach §618 u. f.
des B. G.-B. für etwaige Schädigungen 30).
Es ergibt sich aus diesen Ausführungen weiterhin, dass
nach dem Stande unserer Kenntnisse als konsequente Folgerung
abgeleitet werden muss : Die Ausübung derRöntgen-
bestrahlung zu diagnostischen und thera¬
peutischen Zwecken an Menschen darf nur
dem Arzt gestattet werden, nicht wie es bisher noch
häufig geschieht, Technikern oder Instrumentenmachern.
Andererseits können wir aber auch mit Fug und Recht
behaupten, dass die Patienten von der Anwendung der
Röntgenstrahlen in den Händen von ausgebildeten, gewissen¬
haften Aerzten nichts zu fürchten haben; je mehr wir ihre
29) s. Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 22, S. 1081. Der be¬
kannte Röntgenologe Holzknecht wurde zu 30 000 Kronen ver¬
urteilt, weil einer seiner Patienten nach der Behandlung ein Röntgen-
ulcus bekam.
30) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, Bd. IX.
Nebenwirkungen kennen lernen, desto mehr werden wir auch
Schutzmassnahmen finden, zum Teil sind sie schon gefunden
und schon in Gebrauch.
Eingehende, weitere Studien über die biologischen Wir¬
kungen der Röntgenstrahlen sind allerdings noch dringend
nötig, es harren noch viele Fragen einer gründlichen Beant¬
wortung.
Aus dem Röntgenlaboratorium der Kgl. Chirurgischen Klinik
Breslau (Direktor: Geh. Rat G a r r e).
Beitrag zur Blendentechnik.
Von Dr. med. Alfred Machol, Assistenzarzt.
In allen Disziplinen der Medizin sind die Fortschritte,
welche sich an die Inaugurierung neuer Methoden — seien sie
nun diagnostischer oder therapeutischer Art — knüpfen, eng
verbunden einerseits mit der Bereicherung des allgemeinen —
durch die Arbeit der Einzelnen gesammelten Erfahrungs¬
schatzes, andererseits mit der Zunahme der persönlichen tech¬
nischen Gewandtheit in Anwendung und Ausführung und end¬
lich abhängig von dem Ausbau der technischen Hilfsmittel.
Während auf anderen Gebieten aus hier nicht weiter zu
erörternden Ursachen das Ineinandergreifen dieser drei Fak¬
toren zeitlich sich erst in relativ grossen Zwischenräumen voll¬
zog. hat einer der jüngsten Sprossen, die Röntgenologie, in unge¬
ahnt kurzer Frist der gleichmässigen und schnellen Entwick¬
lung dieser drei Kraftquellen seine von Erfolg zu Erfolg
führende Siegesbahn zu danken. Wo und wie immer auch
die Röntgenologie unser Wissen und Können gefördert, immer
ist es geschehen durch die zunehmende Erfahrung der Unter¬
sucher in verschiedentlicher Hinsicht, durch die Steigerung
ihres technischen Könnens durch die Vervollkommnung der
Hilfsmittel, des Instrumentariums, bei dessen — und wohl weil
bei dessen — Ausbau Aerzte, Physiker und Ingenieure in
gleicher Weise beteiligt gewesen sind.
Abgesehen von der Verbesserung der Rohren, der Er¬
höhung ihrer Belastungs- und Leistungsfähigkeit und ihrer
Lebensdauer, abgesehen von den Fortschritten in der Kon¬
struktion des Induktoriums und der Unterbrecher, hat die
Röntgenologie nichts so sehr gefördert, als die Einführung und
der Ausbau der Blendentechnik. Man wird Albers-Schön¬
berg1) ohne weiteres zustimmen, dass es das Blendenver¬
fahren ist, welches eigentlich erst die Röntgenuntersuchung zu
einer wirklich brauchbaren, d. h. exakten Methode gemacht
hat. — ...
Wenn auch die Verbesserung des Röhrenmateriales uns in
den Stand gesetzt hat, brauchbare Uebersichtsbilder ohne Ab¬
blendung zu erhalten, Bilder, welche zu ihrer richtigen Den-
tung weniger die Phantasie ihrer Interpreten beanspruchen,
als dies in den ersten Jahren nach Bekanntgabe von Röntgens
Entdeckung nötig gewesen, wenn statt des „Ahnens ein „Er¬
kennen“ möglich geworden, so sind wir vorerst doch nicht
imstande — sobald schwierigere Aufgaben uns gestellt werden,
_ ohne Blendenbild eine auf Exaktheit Anspruch erheben¬
dürfende Aeusserung abzugeben. Stellen wir die mikro¬
skopische und röntgenologische Diagnostik in Parallele, so ver¬
schafft das heutige Uebersichtsbild etwa eine dem Lupenbild
entsprechende Deutungsmöglichkeit des Präparates, während
die Blende den feineren Systemen des Mikroskopes entspricht.
_ _ Diesen Vergleich habe ich nicht ohne Absicht gewählt, denn
ähnlich wie die histologische Diagnostik verlangt, dass eine
allgemeine Orientierung der speziellen Einstellung vorangehen
muss, wird der Röntgenologe mit grossem Vorteil sich des
gleichen Verfahrens bedienen, am orientierenden Uebersichts¬
bild erkennen, wo überall die Aufklärung feinerer Details ge¬
boten. Für bestimmte und nicht wenige Erkrankungsgruppen
und Körperregionen wird man diesen Untersuchungsweg direkt
zum Postulat erheben müssen. Wenn also die Blendentechnik
nicht nur einen wesentlichen Vorteil für die allgemeine, gröbere
Diagnostik der Röntgenographie wie Röntgenoskopie darstellt,
wenn sie sich mit Rücksicht auf die Untersuchungen Walters
PH. Albers-Schönberg: Die Röntgentechnik. II. Aufl.
Hamburg 1906.
über die Sekundärstrahlung auch auf dieser ersten Stufe der
Röntgenologie geradezu von selbst versteht, so wären ohne sie
die spezielleren röntgenologischen Arbeitsgebiete, die Ortho-
röntgenologie, die verfeinerte Röntgenoskopie übeihaupt nicht
zu erschliessen gewesen.
Um so seltsamer ist es, dass das Blendenveriahien noch
lange nicht in dem Umfange zur Anwendung gelangt, als
seiner eben skizzierten Bedeutung zukommt, dass noch vielfach
die Blendentechnik kaum geübt wird. Suchen wir nach den
Gründen dieser merkwürdigen Erscheinung, so kommt einer¬
seits in Betracht, dass trotz der eminent praktischen Bedeutung
der röntgenologischen Methoden ihre anfangs in weiten Kreisen
aufgenommene Anwendung Einschränkung erfahren hat, einer¬
seits, weil die ersten Ergebnisse nicht derart waren, ja sein
konnten — um weitergehende wesentliche Unterstützung dem
Praktiker zu bieten, andererseits, weil mit dem Ausbau der
Entdeckung und ihrer Anwendung — mit der Entwicklung zu
einer Spezialdisziplin — zur Erhaltung brauchbarer Resultate
eine mehr minder intensive Beschäftigung mit dieser Methode,
ein mehr als ein gelegentliches „Dann und wann-Ausüben
sich ergab. Es erforderte die Deutung der Bilder eine gewisse,
auf der Menge des Geschauten sich aufbauende Sicherheit, der
Ausschluss technischer, zur Irreführung geeigneter Fehler eine
ausgedehntere Uebung, beides Faktoren, die an die Zeit der
Untersucher hohe Anforderungen stellten, endlich war. die un¬
bedingt notwendige Bereicherung des ursprünglich einfachen
Instrumentariums ein Umstand, der die Ansprüche an Raum
und Geldmittel erheblich steigerte. — Wenn also im grossen
und ganzen eine relative Einengung der Anwendung sich kon¬
statieren lässt, wenn die Röntgenologie mehr und mehr ein di¬
rektes Spezialfach, oder doch nur von gewissen Spezialfächern
eingehender gebrauchtes Verfahren geworden, so ist es dann
um so auffallender, dass einer der wesentlichsten Fortschritte,
die auf diesem Gebiete gemacht, der Gebrauch der Blende,
nicht sozusagen Allgemeingut geworden ist.
Daran, dass die m e i s t e n der heute in Gebrauch befind¬
lichen Blenden unhandlich und schwer zu dirigieren sind, wie
Albers-Schönberg meint, liegt es allein sicher nicht
denn es stünden ja dann noch immer die handlichen und leie
zu dirigierenden zur Verfügung. Ohne Zweifel ist der ange¬
führte Grund ein sehr wesentlicher, aber nicht ohne Bedeutung
dürfte der Umstand sein, dass die brauchbaren Blenden se r
kostspielig sind, dass ihre Anschaffung, da ihr Preis als Patent¬
instrument ein sehr hoher, nur Spezialinstituten im allgemeinen
lohnen wird. — Es liegt nicht in meiner Absicht eine Ueber-
sicht über die bisher konstruierten Blenden zu geben, noch die
Konstruktionsgrundlagen des Blendenverfahrens zu erörtern.
Ueber beides kann man sich unschwer in den Handbüchern
und der Literatur informieren. — Nur insoweit ich mich nach¬
her auf Bekanntes berufen muss, sei dasseld.e zavor ,in. .Azer
abgehandelt! — Wie bei jedem Instrument bildet auch bei der
Blende den Massstab seiner Güte: erstens die Vollkommenhei ,
mit welchen es den Einzelanforderungen, die seine Anwendung
empfiehlt, entspricht, und zweitens wenn mehrere Bedl^ungen
gleichzeitig zu erfüllen, die Zahl der Punkte, denen tat¬
sächlich genügt wird. Im Röntgenverfahren bestehen die Vor¬
teile der Blendenanwendung in:
a) Möglichster Ausschaltung des störenden Einflusses
der sogenannten Sekundärstrahlen. . ,
b) Reduktion des Durchmessers des zu durchdringenden
Organes.
c) Fixation des Objektes. . ..
d) Herbeiführung richtig zentrierter Röhreneinstellung zur
Vermeidung grober Projektionsfehler. —
Diese vier Postulate sind innerlich eng verwandt, und
eines greift in das andere über; die beiden letzteren stehen in
loserem, die beiden ersteren in unmittelbarerem Zusammen¬
hang mit der Blendentechnik sensu strictiori: Fixation des UD-
jektes und richtige Röhreneinstellung ist auch beim Debet -
sichtsbild eine conditio sine qua non zur Erhaltung °.rautll^^r
Aufnahmen, nur wird die Forderung dringlicher bei der Blen¬
denanwendung einerseits, weil die Feinheit der Wiedergabe
eine weitgehendere sein muss, weil die Vorteile der Blende
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
ohne Fixation und Zentrierung illusorisch würden, anderer¬
seits, weil die beschränkte Uebersicht, die Kleinheit der Region,
welche sich als direkte Folge der Blende ergibt, den Spielraum
innerhalb welchem Bewegung des Objektes und Projektions¬
fehler erträglich, wesentlich einengt. — Beseitigung der Se¬
kundärstrahlung und Reduktion des Durchmessers des aufzu¬
nehmenden Organes hängt darum eng zusammen, weil einer¬
seits mit der Dicke des aufzunehmenden Objektes die Pene¬
trationskraft der Strahlen ansteigen, die Röhren „härter“
sein müssen, und mit der Zunahme der Röhrenhärte, der
Evakuierung der Röhre, damit der Durchdringungsfähigkeit
der Strahlen die Sekundärstrahlenbildung ansteigt; anderer¬
seits mit der Kompression eine Reduktion des Blut- und
Lymphgehaltes, des Qewebes, sowie eine teilweise Verdrän¬
gung des Fettpolsters statt hat, — beides Substanzen, in denen
sehr stark Sekundärstrahlen entstehen. Diese, die störendsten
und schädlichsten Momente jeder Röntgenuntersuchung hinan¬
zuhalten, ist und bleibt die wesentlichste Bedeutung der
Blende. —
Wenn man die vorhandenen Blendensysteme daraufhin
betrachtet, inwieweit sie imstande sind, den eben fixierten Be¬
dingungen zu genügen, so kann man ohne Zwang zwei Gruppen
unterscheiden:
a) Apparate, bei denen nur ein Blendendiaphragma vor¬
handen,
b) Apparate, bei denen Blendendiaphragma und Kom¬
pressionsvorrichtung kombiniert ist. —
Zu der ersten Gruppe gehören auch alle jene Vor¬
richtungen, bei denen die Röhre in ein für die Strahlen undurch¬
lässiges Gehäuse eingeschlossen, das verschieden grosse Aus¬
trittsöffnungen enthält. Zwei schematische Figuren demon¬
strieren die Wirkungsweise der Gruppen ohne Weiteres. —
Fig. I zeigt, dass die Blendenebene zwar einen Teil der Se¬
kundärstrahlen zurückhält, jedoch noch die ganze Gruppe der
zwischen Schenkel c und d gelegenen zur Wirkung gelangen
lässt; Fig. II dagegen, dass der röhrenförmige Teil der Blende
die Sekundärstrahlung praktisch so gut wie ausschaltet.
Wenn ein kleiner Teil der nachteiligen Strahlen ohne Zweifel
auch die röhrenförmige Blende passiert, so ist die Menge und
Intensität dieses Restes so gering, dass er vernachlässigt
werden kann, zumal diese Sekundärstrahlen von Bleiwänden
ausgehen und ihre Penetrationskraft abnimmt mit der Zunahme
des Atomgewichtes des aussendenden Mediums. Schon diese
Ueberlegung allein sichert der Röhrenblende eine bedeutende
Ueberlegenheit über das einfache Bleidiaphragma. Dazu
kommt, dass eigentlich nur diese Anordnung ausgiebige Kom¬
pression und Fixation des Objektes bisher gestattet hat. Darum
hat die von Albers-Schönberg angegebene Kon¬
struktion der Kompressionsblende, weil sie den erörterten An¬
forderungen so ungemein entgegen kommt, einen wesentlichen
Fortschritt für die Röntgenologie bedeutet. Jedoch haften
auch ihr Nachteile an: Ihre Ausnutzung verlangt viel
7 echnik und Uebung an dem speziellen Instrumente, ist
durch die konstruktive Anordnung (zu geringe Länge
des Schlittens) beschränkt, das starre Rohr mit der
ebenen, harten Bodenfläche stellt Anforderungen an die
Toleranz der Patienten und vor allem steht der hohe Preis des
Apparates seiner allgemein ausgedehnten Anwendung entgegen.
Es ist darum leicht verständlich, dass man vielfach bestrebt
gewesen, ein Instrument herzustellen, das die Vorteile der
Blende in vollem Umfang bietet, und dessen Anschaffung in
materieller Hinsicht auch weiteren Kreisen möglich wäre.
Die einzelnen Modelle will ich hier nicht aufführen, sondern in
folgendem einen Apparat beschreiben, den ich mir gebaut, und der
sich als praktisch und brauchbar erwiesen hat. Die Blende kann
allein angewendet werden, ich gebrauche sie als Teilstück meines
Universal-Röntgentisches (demonstriert in der II. Sitzung vo_m
17. VI. 06 der Breslauer Röntgenvereinigung). An anderem Orte
habe ich meinen Tisch, der als gewöhnlicher Aufnahmetisch, als
Instrument nach Art des Trochoskopes, als Durchleuchtungskasten
und als Orthodiagraph benutzt werden kann, beschrieben und die
Technik seiner Anwendung erläutert2). Ich unterlasse darum an
dieser Stelle die Schilderung des Gesamtapparates und beschränke
mich auf die Darstellung der Blende und deren Anwendungsweise.
Fig. III zeigt dieselbe schematisch im Druchschnitte, Fig. IV als
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Ganzes in photographischer Wiedergabe. In Fig. III stellt A. einen
gewöhnlichen Tisch dar, dessen Platte (No. 11) durch einen Schlitz
von dem Balkengestell (No. 14—16) getrennt ist. In diesem Schlitz
liegt ein durch Zapfen (No. 15) in seinem Lauf reguliertes Brett
(No. 12), das beiderseits einige Zentimeter die Tischplatte überragt.
3
W
unterer
Rahmen
Ballon
Schnur¬
ge¬
stänge
Gebläse Pixationsstab
Fig. IV.
An den 4 vorragenden Ecken sind 4 Löcher eingestemmt, durch
welche 4 Säulen (No. 7) laufen, deren Höhe variabel und durch Zapfen
(No. 13) fixierbar ist. Auf diesen Säulen liegt oben ein viereckiger
") Zeitschr. f. Elektrotherapie und Elektrodiagnostik mit Ein¬
schluss der Röntgentherapie. Leipzig 1906, Bd. 8, H. 9.
1751
Holzrahmen (No. 4), dessen Leisten eine | stufenförmige Gestalt
haben und deren innere tiefere Stufe als Gleitschiene dient,
dieser' Gleitschiene läuft ein rechteckiger, kleinerer Doppelrahmen
(No 2) dessen beide Teile durch einen Schlitz getrennt sind. In
diesen Schlitz wird eine Bleiplatte (No. 3) mit auswechselbarem Dia-
nhrasrma eingeschoben (I. Blende). Die zwei Breitseiten des oberen
Rahmens tragen die beiden Röhrenhalter (No. l)3). An den vier
unteren Seiten des Rahmens ist eine ziehharmonikaartige Hülse
(Balken) "anmontiert, an der jeder Balz ein Bleiplättchen in seiner
Lranzen Länge derart trägt, dass die Blättchen an ihren Kanten dicht
aufeinander stossen. Am unteren Ende der Harmonika befindet sich
ein dem oberen Doppelrahmen entsprechender II. gleichartig ge¬
schlitzter Rahmen (No. 10), in dessen Schlitz abermals eine mit
verstellbarem Diaphragma versehbare Bleiplatte (No^ 9) einge-
schoben werden kann. Die Breitseiten der unteren Hälfte des Rahmens
tragen an den vier Ecken vier seitliche Haken (a), in welche Gurten
(e__ f) eingehängt werden, welche durch 2 Halter (g) an dem unter
der Tischplatte verschiebbaren Brett hindurchgeleitet, durch Schlitze
der Säulen nach einer an der einen Breitseite der Säulen angeln ach¬
ten Kurbel (No. 7) ziehen und durch Drehen derselben gespannt wer¬
den können. Die Unterfläche des zweiten Rahmens ist von einem
dünnen Seidenstoff (b) fest überspannt, der die obere Wand eines
nach unten sich fortsetzenden Sackes bildet, in welchen ein Ballon
aus Paragummi (c) hineinpasst, der mit Hilfe eines einfachen Gumnn-
gebläses (d.) sich aufblähen ‘ lässt. Ausserdem trägt ie eme Längs¬
seite des I. und II. Doppelrahmens einen kurzen, rund durchbohrten
Fortsatz, durch welchen ein Holzstab (No. 5) hindurchgeht, der duich
je eine Schraube in der Hülse fixierbar ist.
Ein Blick auf das Bild erklärt die Technik der Anwendung
des Apparates. Es ist ohne weiteres verständlich dass der
unter dem Ballon liegende Patient in jeder Lage fest fixiert
werden kann und zwar lässt sich durch die Verwendung des
Schmiegsamen Gummiballons jede, auch die unebenste Region
des Körpers - kleine und flache Mulden — unverrückbar
fixieren, leichter und dosierbarer und auch zugleich milder für
den Patienten, wie dies mit der röhrenförmigen harten Kom¬
pressionsblende möglich ist. — Die Fixierung ist eine doppelte,
erstens durch die an die Kurbel und den unteren Rahmen an¬
geschlossenen Bänder, die sich durch die Anordnung und die
dadurch gegebene gleichmässige Wirkung wesentlich von der
einfachen Fixationsbinde, die von Fall zu Fall in zeitraubender
Weise adaptiert werden muss, unterscheidet. — Diese rixa-
tionsvorrichtung ist ferner stets gebrauchsfertig, durch ihre
leichte Konstruktion ohne Schwierigkeiten und Muhe verstell¬
bar und durch die Ueberfiihrung auf die Kurbel, auf der die von
beiden Seiten kommenden Stränge in absolut gleicher Weise
angezogen werden, sofort wirksam. Mit diesem Schnur¬
gestänge wird die grobe Fixation und Kompression besorgt
und dies dann vermehrt durch Aufblähung des Luftkissens.
Dieser Ballon soll nun nicht übermässig beansprucht werden,
sondern nur die letzte Einstellung und Kompression besorgen.
An Regionen, wo knöcherne Prominenzen unregelmässige,
kleinere Weichteilbezirke begrenzen, wo der Ring der Kom¬
pressionsblende z. B. überhaupt nicht mehr in Aktion treten
kann, erzielt das Luftkissen noch eine bemerkenswerte Druck -
und Verdrängungswirkung. Bei Extremitäten andererseits
wird durch die Adaptierung, die der Ballon an das Glied voll¬
zieht, eine kreisförmige Fixation gewährleistet, die darum selbst
bei starker Gewalt weit weniger schmerzhaft empfunden wird,
als der nur von oben drückende Ring anderer Blenden. Die
Verwendung von Gummiballons hat zuerst C a 1 d w e 1 1 für die
Untersuchung des Abdomens empfohlen. Doch hat, soweit
wenigstens die Literatur über die Verfahren der Praxis Auf¬
schluss gibt, die Methode wenig Anwendung gefunden. — Ge¬
wiss mit Unrecht, denn die von Hirschmann4) auf dem ersten
Röntgenkongress demonstrierten Resultate, welche durch Kom¬
pression des darzustellenden Körperteiles mittels Aufpressens
von Gummibällen erzielt waren, Hessen an Vorzüglichkeit nichts
zu wünschen übrig. Neuerdings hat dann D r ü ner 5) bestätigt,
dass seine Aufnahmen, die er mit Hilfe komprimierender
Gummibälle gemacht, an Schärfe und Kontrastreichtum den
besten Blendenbildern nicht nachstehen und auch den von uns
_ ■ i • m ' ™
3) Wegen der speziellen Konstruktion des Röhrenhalters ver¬
weise ich auf meine oben zitierte Arbeit.
’) Verhandlungen der Deutschen Röntgengesellschaft, Hamburg
1905. „ J n
5) Fortschritte aus dem Gebiete der Röntgenstrahlen, Bd. 9,
Hamburg 1906.
bereits gewürdigten Umstand, dass die Gummibälle die Weich¬
teile in viel schonenderer Weise als die Kompressionsblendc
verdrängen, hervorgehoben. Ich kann auf Grund zahlreicher
Versuche, vor allem auf Grund direkt zum Vergleich dar¬
gestellter Bilder, Drüner nur beistimmen. Meine Versuche
haben mich jedoch gelehrt, dass auch bei Verwendung des
Gummiballons, ähnlich wie bei dem Schnurgestänge, gewisse
konstruktive Bedingungen erfüllt werden müssen, wenn diese
Methode über den Stand der Improvisation hinausgehoben, zu
exakt wirkenden, stets gebrauchsfertigen Instrumenten aus¬
gebildet werden' soll. Vor allem kann nicht ohne weiteres jedci
im Handel erhältliche Ballon Verwendung finden, denn die
marktmässige Darstellung der Gummibälle benutzt teils zui
Färbung, teils zur Imprägnation Stoffe, die Schatten abgeben,
jedenfalls den Strahlengang hindern. Weiterhin müssen die
Ballons nahtlos sein, denn auch beim durchlässigsten Gummi
treten die Stellen, wo Schicht auf Schicht aufliegt, als Streifen
im Bilde hervor. Darum muss zur Erlangung tadelloser Bilder
im Bereich der Blende der komprimierende Teil des Ballons
eine vollkommen glatte, aus einem Stück bestehende Gummi¬
fläche darstellen. Das wird dadurch erreicht, dass man dem
Gummisack keine runde, sondern eine rechteckige Gestalt gibt,
dass er also aus zwei Gummiplatten besteht, die an den
4 Kanten mit breiter Fläche aufeinander geklebt sind. Diese
Kanten bilden dann die Befestigungsstelle an dem Blenden-
rahmen, so dass das f r e i e F e l d des Rahmens von ein¬
heitlicher glatter Gummifläche erfüllt ist.
obere untere
Platte
Rahmen
Kante (bestehend aus oberer und
unterer Platte)
Fig. V.
Weiterhin muss die obere Platte eine ebene Fläche bleiben,
bei der Aufblähung darf keine allseitige Ausdehnung erfolgen,
die Kugelbildung muss verhütet, die Ausdehnung nur nach
der Körperseite ermöglicht werden. Wie ich aus Ver¬
suchen, die zu ganz anderem Zweck unternommen waren,
ersehen konnte, wird gleichmässige Aufblähung eines Gummi¬
sackes dann erreicht, wenn man in das Innere des Ballons einen
feinsten Trikot einlegt, der die jeweils gewünschte Gestalt vor¬
her erhalten. Wird alsdann die Aufblähung vorgenommen,
so passt sich die Gestalt des Gummisackes vollkommen dei des
Einlagetrikots an. Das Gleiche wird erreicht durch die an
meiner Blende angebrachte Form der Spannung des Seiden¬
sackes. Dieser ist straff gespannt an der Unterfläche des
Rahmens eingenietet, ausdehnbar nur körperwärts, und diese
ihm vorgeschriebene Ausdehnungsbahn verfolgt der Gummi¬
ballon ohne weiteres. Durch diesen dem Rahmen fest auf¬
montierten Seidenstoff (am zweckmässigsten ist die farblose,
sogen, rohe Seide), der an seinen Kanten Knopflöcher tiägt,
ist auch die Auswechslung des Ballonsackes durch An- und
Abknöpfen sehr einfach. Als ausserordentlich brauchbar hat
sich mir für bestimmte Zwecke z. B. die Verwendung eines
aufblähbaren Ringes statt des Kissens erwiesen. Dieser Ring
ist dann in eine kragenartige Seidenhülle eingeschoben, die
am Rahmen angeknöpft werden kann, und ist durch ein
an einem Ende eingefügtes Gebläse in gleicher Weise wie
das Kissen aufblähbar. Es lassen sich auf diese Weise ganz
zirkumskripte Partien mit, auf anderem Wege nicht zu er¬
haltender, Deutlichkeit und Schärfe darstellen.
X
Rahmen
■ Seidenplatte
i-- Knopfverschluss
( II > A - S e i d e n k r a e e n h i i 1
Seidenkragenhülle
Gummiring
Fig. VI.
Auf diesen Fixations- und Konipressionsteil des Blenden¬
instrumentes setzt .sich der eigentliche Teil der Blende
auf. Für gewöhnlich genügt das Diaphragma, das im oberen
Blendenrahmen eingeschoben ist. Der untere Rahmen wird rrut
einem Diaphragma in besonderen Fällen armiert, zunächst
1752
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
wenn besonders kleine Blendenausschnitte angewendet werden
sollen, dann wenn annähernd mit dem senkrechten Röntgen¬
strahl gearbeitet werden muss. Fig. VII zeigt, dass durch das
zweite Diaphragma nur ein Teil der Fokusstrahlen an das Ob¬
jekt herantritt — nur ein Teil der Blendenstrahlen des oberen
Diaphragmas • — , und da direkt über dem Objekt der
Diaphragmadurchmesser sehr klein genommen werden kann,
kommen praktisch diese, durch die kleine Blende gehenden'
Strahlen dem senkrechten Röntgenstrahl beinahe gleich.
Eine weitere Verwendung findet die untere Blende dann,
wenn an Extremitäten beide Seiten gleichzeitig und unter ab¬
solut gleichen Bedingungen aufgenommen werden sollen, eine
Möglichkeit, die z. B. bei der Kompressionsblende durch die
Enge des Zylinders ausgeschlossen ist. — Denken wir uns zwei
a — ai = Sekundärstrahlen.
b — bi = Fokusstrahlen¬
bündel d. oberen
Diaphragmas.
c — ci = Verkleinerung des
Strahlenbündels
durch das untere
Diaphragma.
R = senkrechter Strahl.
- = Strahlengang bei
Verschiebung der
Röhren um die
halbe Diaphragma¬
weite.
Gang der Untersuchung:
a) Zentrierung von Fokus und Mitte des oberen D. Mitte des unteren D.
b) Verschiebung des oberen und der Röhre um y2 Diaphragmaweite (Radius) nach R
oder L.
c) Der direkt dem Diaphragmarand anliegende Strahl ist der S. R., mit ihm wird die
Organgren^e eingestellt, alsdann die Gesamtblende hinter dem Objekt verschoben.
Der äusserte Strahl bleibt der S. R.
Kniegelenke, die bei ventro-dorsalem Strahlengang dargestellt
werden sollen. Hierbei werden beide Gelenke dicht neben¬
einander durch das Schnurgestänge und das Kissen fixiert,
hierauf in den unteren Rahmenschlitz eine Bleiplatte ein¬
geschoben, die über je einem Gelenk ein Diaphragma trägt, das
direkt über dem Gelenk gelegen, und dessen Durchmesser ge¬
nau gewählt werden kann. Der obere Rahmen wird mit der
gewöhnlichen einblendigen Bleiplatte armiert, und so erreicht
man, dass die Fokusstrahlen als Ganzes bis zur unteren Platte
gelangen, wo aus ihrem Kegel wieder zwei, durch die unteren
Diaphragmas bestimmte, Teilsektoren ausgeschnitten werden.
Somit erhalte ich von beiden Gelenken in einer
Aufnahme unter absolut gleichen Verhält¬
nissen und Bedingungen gewonnene Bilder.
Fig. VIII demonstriert diesen Anwendungsmodus. Die II. Blende
✓ V.
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oberes Diaphragma
R
Fig. VII
t - =■ unteres Diaphrag.
R
findet ferner Anwendung bei der Darstellung symmetrischer
Körperstellen am Abdomen, weiterhin zu gleichzeitiger Auf¬
nahme entfernterer Punkte eines Organes. Es gibt noch
diverse Veranlassungen, bei denen ein konformes Vorgehen
gute Resultate verspricht. Da ich jedoch darüber praktische
Erfahrungen noch nicht gesammelt, unterlasse ich deren Auf¬
zählung.
Die ganze Blende ist, wie das aus der obigen Beschreibung
erhellt, über dem Patienten verschiebbar, von einer Kante
des Tisches bis zur anderen und mit dem Gestell über die ganze
Länge des Tisches hin; eine Senkung seitlich lässt sich dadurch
erreichen, dass die Säulen der einen Seite tiefer gestellt, eine
Senkung von oben hinten nach unten vorne und umgekehrt
damit, dass je die beiden distalen oder proximalen Säulen tiefer
herabgelassen werden. Soll eine Annäherung der Röhren an
das Objekt stattfinden, werden alle vier Säulen tiefer gestellt.
Hierbei zeigt sich ein grosser Vorteil der Harmonikaanordnung
vor der starren Röhre. Bei dieser ist die Entfernung zwischen
Fokus und Blende resp. Objekt ein für allemal fixiert, die Har¬
monika dagegen legt sich platt und glatt zusammen, entfaltet
sich ebenso mühelos wieder, und übertrifft damit auch die Re¬
gulierfähigkeit der Robinsohn sehen Faszikelblende6). —
Die unleugbaren Vorzüge der röhrenförmigen Kompressions¬
blende aber, die Abhaltung der Sekundärstrahlen, resp. die
Unschädlichmachung der durchtretenden infolge der Reflexion
von dem mit hohem Atomgewicht ausgestatteten Bleibelage,
wie das oben erörtert worden, besitzt die Harmonikablende
durchaus. Die etwa zu befürchtende Unruhe infolge der be¬
weglichen Teile, aus denen die Harmonika zusammengesetzt,
was praktisch wegen der Schwere jedoch nicht in Frage
kommt, ist durch die Fixation des Rahmens gegeneinander
mit Hilfe des verstellbaren, an ihnen befestigten Stabes (Fig. III,
No. 5) verhütet. Einen weiteren Vorzug bietet jedoch die
Harmonika dadurch, dass mit ihr stereoskopische Aufnahmen
sehr erleichtert werden. Am Schieberahmen, der auf den
Säulen ruht, ist ein gewöhnliches Massband angenietet. Man
stellt nun auf einen fixierten Punkt die Mitte einer Längsseite
des oberen Blendenrahmens ein, alsdann wird dieser in der
herkömmlichen Weise um die bestimmte Distanz nach rechts,
später nach links verschoben. Es bewegt sich dabei nurder
obere Teil der Blende mit der Harmonika, deren Wände
sich in schräger Linie anspannen, der untere Teil bleibt mit
der Fixierung völlig unberührt. Cf. Fig. IX.
Fig. IX.
(Stereoskopie.)
M = Ausgangsstellung.
I = Verschiebung nach
rechts.
II = Verschiebung nach
links.
- = senkrechter
Fokusstrahl.
Dabei benutze ich eine von mir hierzu konstruierte Kassette
von folgender Anordnung.
Kassette
: 1 — 1 Sitz in erster Position.
: 2—2 „ „ zweiter
x x Zapfen.
Fig. X.
In einer Pappkassette befindet sich ein dem Volk m ann-
schen schiefen Sitz gleiches Gestell, das zuerst mit links, dann
mit rechts erhöhter Seite eingeschoben wird. An der Platte
dieses schiefen Sitzes sind entsprechend den gebräuchlichen
Plattengrössen je 4 Löcher eingebohrt, die mit kleinen Zapfen
6) Wiener klin. Rundschau 1905, No. 16.
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
armiert sind, zwischen denen die Platte Halt bildet. Dieselbe
liegt also bald in rechter, bald in linker Neigung zum Objekt,
und ist sehr leicht auszuwechseln. Die Anordnung der Kassette
imd die leichte Verschiebbarkeit der Blende bei völlig
unberührter Fixation und Kompression des
Objektes vereinfachen die stereoskopische Aufnahme
wesentlich, und da in vielen Fragen das stereoskopische
Bild uns eine wesentlich erweitertere Aufklärung gibt, als
die einfache Aufnahme, so sehe ich auch darin einen Vorzug
der Harmonikablende vor der Röhrenblende, da letztere
in der Anordnung zur Stereoskopie zwar leicht die Winkel¬
verstellung gestattet, aber bei der Umstellung die Kompression
und Fixation aufhebt, damit also unwillkürlich zur Unruhe und
Bewegung des Objektes anregt.
Wenn ich zusammenfassend die Eigenschaften des be¬
schriebenen Instrumentes wiederhole, so gestattet die Har¬
monikablende:
a) eine absolute Fixation des Objektes, die erstens eine
doppelte, zweitens eine leicht handbare, für den Patienten
schonende ist; , ,
b) eine bequeme Reduktion des Durchmessers des aut-
zuuehmenden Objektes, die ebenfalls den Patienten w enig be¬
lästigt und bequem für alle Qrössenverhältnisse adaptierbar ist;
c) eine genaue Abblendung und Zentrierung und für prak¬
tische Anforderungen nahezu vollkommene Ausschaltung der
Sekundärstrahlen;
d) eine leichte Variierung des Fokusabstandes vom und
eine beliebige Winkelstellung und Neigung des Instrumentes
zum Objekt;
e) eine wesentliche Erleichterung und Beschleunigung
steroskopischer Aufnahmen.
Aber nicht nur für die Röntgenographie, sondern auch für
die Röntgenoskopie stellt das Instrument ein brauchbares Hilfs¬
mittel dar. Diese letztere Methode gewinnt in neuerer Zeit
namentlich im Gebiete der inneren Medizin, jedoch auch für die
Chirurgie immer mehr an Bedeutung, und vor allem ist es die
Kompressionsröntgenoskopie, die voraussichtlich sehr bald als
Ergänzung der einfachen Blendendurchleuchtung notwendig
werden wird. Für diesen Zweck hat mein Instrument bei
Versuchen sich als durchaus praktisch erwiesen, und
es lässt sich ohne weiteres dafür adaptieren. Dazu ist
nur nötig, die Lampenträger auszuschrauben und an ihre Stelle
den Bariumplatinzyanürschirm einzusetzen. Wird alsdann die
Röhre mit Strahlengang nach oben unter das Objekt gebracht,
die Säulen tief gestellt, derart, dass ihr oberer Verbindungs¬
rahmen dem Patienten nahezu anliegt, so schiebt sich die Har¬
monika zusammen, der Schirm und unter ihm die Blenden ruhen
nahezu direkt auf dem Patienten, der immer noch fixiert und
komprimiert ist, sowohl durch Gummiballon wie Schnur¬
gestänge. Die Strahlen, die sowohl durch Gummiballon wie
Schirm gehen, passieren also ein im Durchmesser reduziertes
und abgeblendetes Objekt, und das Schirmbild wird daduich
wesentlich klarer. Für ganz einfache, im Stehen vor¬
zunehmende Durchleuchtungen lässt sich der Apparat derart
verwenden, dass die Fixationsschnüre vom Gestänge gelöst, um
den Patienten geschlungen und geknüpft werden. Dann legt
sich der untere Blendenrahmen dem Patienten an, der Ballon
wird aufgebläht und komprimiert die Organe; die Harmonika
ward ganz zusammengelegt, so dass oberer und unterer Rahmen
sich berühren, und damit der dem oberen Rahmen auf¬
geschraubte Schirm dem Objekt genähert. Einfacher lässt
sich für die letztere Art der Untersuchung Aehnliches erzielen,
wenn man an den Rahmen eines gewöhnlichen Schirmes ein
Stück Trikotschlauch anheftet, an dessen Enden Bänder zur
Fixation am Patienten geknüpft werden, und den Schlauch nur
mit einem aufblähbaren Ballon oder gewöhnlichen Gummiball
füllt. Die letztere Anordnung stellt natürlich nur einen Not¬
behelf, eine Improvisation dar, während die Harmonikablende
ein stabiles Instrument gewährleistet. Die Verwendbarkeit der
Blende zu röntgenoskopischen Zwecken wäre demnach als ein
weiterer Vorteil des Apparates zu bezeichnen, der sich an die
obigen anfügt.
Das Instrument als Ganzes erfüllt somit die Bedingungen,
welche für die Verwendbarkeit zweckmässiger Blenden er-
No. 36.
1 753.
hoben werden müssen und sein im Vergleich zu den bisherigen
brauchbaren Instrumenten sehr geringer Preis macht es zur
Anschaffung auch für kleinere Institute geeignet. So möge cs
denn beitragen, zur Erfüllung des Wunsches, dass das Blendcn-
verfahren so allgemein werde, wie es seiner Bedeutung für die
Röntgenologie entspricht.
Am Ende meiner Ausführungen bleibt mir nur noch die
angenehme Pflicht, meinem hochverehrten Chef, Herrn Ge¬
heimrat Garre, für das liebenswürdige Entgegenkommen, mit
dem er meine Konstruktionsversuche gefördert hat, herzlich zu
danken.
Der Fabrikant, Tischlermeister Faulhaber, Breslau 16, Max¬
strasse 18, liefert meine neue Blende zum Preise von ca. 50 M.
Aus der Ambulanz der medizinischen Klinik zu Bonn (Direktor:
Geheimrat S c h u 1 1 z e).
Zur Diagnose der Aortenaneurysmen.*)
Von
Privatdozent Dr. J. S t r a s bu r g e r, Leiter der Ambulanz.
M. H.! Die graphische Darstellung der Bewegungserschei¬
nungen am Gefässystem hat in den letzten Jahren für die Klinik
ein erneutes Interesse gewonnen, seitdem wir Instrumente be¬
sitzen, die es leichter als ehedem ermöglichen, 2 oder auch
3 Kurven von verschiedenen Punkten des Gefässystems gleich¬
zeitig zu schreiben und in ihrem zeitlichen Ablauf miteinander
zu vergleichen. Es ergibt sich dabei die Möglichkeit vei-
schiedenartiger Kombinationen, die unter Umständen zu dia¬
gnostisch wichtigen Schlüssen führen. Eine solche Kurve, die
in ihrer Art etwas neues bringen dürfte, möchte ich Ihnen,
m. H., heute demonstrieren.
(Kurve siehe nächste Seite.)
Sie stammt von einem 45 jährigen Manne, den ich am 5. Apiil
d. J. in der Ambulanz der medizinischen Klinik zu Bonn untersuchte.
Der Kranke gab an, seit 4 — 5 Jahren an heftigen, allmählich zunehmen¬
den Schmerzen in der linken Seite und im Leib, sowie an Herzklopfen
zu leiden. Zuerst war die Diagnose auf Magenkarzinom, spätei aut
Aneurysma gestellt worden. Vor 20 Jahren hatte er sich in den
Tropen mit Syphilis und Gonorrhöe infiziert und eine Schmierkur
durchgemacht. 4 Jahre später will er einige Wochen lang an Malaria
gelitten haben. , , .
Die Untersuchung ergab auskultatorisch die Anwesenheit einer
Aorteninsuffizienz; ferner war die Herzdämpfung mässig nach links,
stark nach rechts (bis zur Parasternallinie) verbreitert. Auch über den
. ciph o ii ccrpcnrnrh p.Tl P. D:imn umr.
Im Jugulum fühlte man Pulsation. , ,
In der Höhe des 10. Brustwirbeldorns fand sich links neben der
Wirbelsäule eine flache umschriebene Vorwölbung von etwa 5 cm
Durchmesser, die kräftig pulsierte, hauptsächlich in der Richtung von
vorn nach hinten, aber auch nach den Seiten. Die Umgebung der
pulsierenden Stelle, nicht dagegen ihre Höhe erwies sich als stark
druckempfindlich. Der 10. Zwischenrippenraum zeigte sich links hin¬
ten beträchtlich weiter als rechts. Die seitlichen und hinteren 1 ar-
tien des Brustkorbes waren links, von der 7. Rippe an nach abwaits,
deutlich vorgewölbt.
Ich nahm nun mit Hilfe des Jaquetschen Sphygmokardio-
graphen eine Kurve des Spitzenstosses, der deutlich hebend
war, sowie der pulsierenden Stelle am Rücken auf. Die beiden
Schreibhebel standen genau senkrecht übereinander, wir
sehen auf der oberen Hälfte des Bildes ein typisches, plateau¬
förmiges Kardiogramm; auf der unteren Hälfte die Kurve des
Aneurysmas. Ihr Beginn markiert sich1) im Mittel 0,122 Se¬
kunden nach dem Anfang des Spitzenstosses. Diese Puls¬
verspätung wird bekanntlich durch die Verschlusszeit des Ven¬
trikels und die Zeit, welche die Fortpflanzung der Welle im Ge¬
fässystem beansprucht, bedingt. Nun fällt aber bei weiteiei
Betrachtung der Kurve sofort auf, dass jeder Pulsation des
Aneurysmas ganz regelmässig eine kleinere, aber recht deut¬
liche Welle voraufgeht, die annähernd synchron mit dem He-
*) Nach einem in der Rheinisch-westfälischen Gesellschaft für
nere Medizin und Nervenheilkunde am 17. Juni 1906 gehaltenen
jrtpSDa die Zeitschreibung des Apparates nur Vs Sekunden angibt,
, ist die Messung natürlich nicht absolut exakt; immerhin ist bu
hneller Gangart des vorzüglichen Instrumentes eine Auswertung ai
wo Sekunden sehr wohl möglich. ?
1754
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
ginn des Kardiogramms verläuft. Bei genauerem Zusehen fin¬
det man, dass auch sie ein wenig, etwa 0,015 — 0,02 Sekunden
nach Beginn des Spitzenstosses kommt. Auf alle Fälle liegt
ihr Anfang aber noch im Bereiche der Verschlusszeit des Her¬
zens. Aus diesem Grunde sehe ich die einzig mögliche Er¬
klärung für ihr Auftreten in folgendem: Abgesehen von der
durch das Gefässystem geleiteten Welle, übertrug sich die Pul¬
sation des Herzens auch durch unmittelbaren Kontakt auf das
Aneurysma. Obwohl also die am Rücken pulsierende Stelle
nur etwa apfelgross war, nahm ich doch an, dass ein sehr
grosses Aneurysma vorliegen müsse, so gross, dass es nach
vorn zu dem Herzen anlagerte und von hier aus bis zur Hin¬
terwand des Brustkorbes reichen musste. Wegen dieser Lage
und seiner Grösse stellte ich die Diagnose auf ein Aneurysma
der Aorta selbst, nicht einer Interkostalarterie. Ohne Kennt¬
nis der Pulskurve lag es nahe, an letztere zu denken, wenn
auch eine Durchsicht der spärlichen Literaturangaben 2) uns
lehrt, dass Aneurysmen der Inte-rkostalarterien recht selten
lassen; eine Retardation zu Anfang der Welle konnten sie
nicht beobachten, v. Ziemssen zeigte ausserdem, dass die
Postposition des Gipfels kein beweisendes Zeichen für eine
Erweiterung der Arterie sei, vielmehr gerade durch Verenge¬
rungen hervorgerufen werde. Der Zusammenhang mit Aneu¬
rysmen sei nur darin zu erblicken, dass bei ihnen die Oeff-
nungen abgehender Gefässe sehr oft verengt oder schlitzförmig
verzogen seien.
In unserem Falle liess sich folgendes feststellen: die Länge
des Weges von den Aortenklappen bis zum Abgang des Aneu¬
rysmas (nach der Sektion gemessen) betrug 23 cm, von hier
durch die Dicke des Sackes bis zu der pulsierenden Stelle am
Rücken 12 cm, also zusammen 35 cm. Die Pulsverspätung
gegenüber dem Herzspitzenstoss belief sich auf 0,122 Sekunden.
Wollen wir die Zeit finden, welche die Pulswelle brauchte, um
die Strecke von 35 cm zurückzulegen, so müssen wir die Ver¬
schlusszeit des Herzens in Abzug bringen. Nun sind wir auf
Grund der kardiographischen Kurve allein allerdings nicht in
Spitzenstoss
Aneurysma
beobachtet werden. Der Kranke wurde dann in die Klinik
aufgenommen; sein Zustand verschlechterte sich aber. Da
immerhin noch die Möglichkeit eines Interkostalarterienaneu¬
rysmas ins Auge zu fassen war und der Patient eine Operation
verlangte, so überwiesen wir ihn der chirurgischen Klinik. Der
Versuch eines operativen Eingriffes führte aber zu keinem
günstigen Resultat und der Kranke starb bald darauf.
Die Leichenöffnung bestätigte vollauf die oben ausge-
psrochene Annahme: Es fanden sich ein ausserordentlich grosses
Aneurysma der Aorta thoracica und der Aorta abdominalis, von
der Rückseite der Arterie ausgehend. Das hypertrophische
Herz lag dem oberen Aneurysma unmittelbar auf und war von
ihm so stark nach vorn gedrängt, dass die Lunge sich voll¬
ständig zurückgezogen hatte. Daraus erklärte sich die Ver¬
breitung der Dämpfung nach rechts und oben, sowie die Pul¬
sation im Jugulum.
Da das Herz seine Pulsation auf das Aneurysma übertrug,
so musste dieses auch umgekehrt seine Pulsation dem Herzen
mitteilen und man hätte erwarten können, hiervon in der Kurve
des Spitzenstosses etwas wiederzufinden. Wenn dies nicht
der Fall war, so dürfte die Erklärung darin zu suchen sein, dass
das Herz zu diesem Zeitpunkt noch stark kontrahiert war,
während umgekehrt der Beginn der Herzkontraktion das Aneu¬
rysma in seiner Diastole traf, also zu einer Zeit, wo es am
wenigsten gespannt war.
Der vorliegende Fall ist geeignet, zur Entscheidung einer
weiteren Frage beizutragen.
Schon lange hatte man durch Palpation die Beobachtung
gemacht, dass die Pulswelle bei ihrem Weg durch das Aneu¬
rysma eine Verspätung erfuhr, und es war dies ein wesent¬
liches Hilfsmittel für die Diagnose. M a r e y 3) und Francois
F r a n c k 4) zeigten alsdann durch graphische Registrierung,
dass neben der tatsächlichen Verspätung der ganzen Welle der
langsamere Anstieg des Pulses und damit die Verspätung des
Gipfels für das Phänomen verantwortlich zu machen sei. Dem¬
gegenüber wollten v. Ziemssen5) und in jüngster Zeit
Mackenzie6 *) überhaupt nur die Gipfelverspätung gelten
2) Riedinger: Deutsche Chirurgie, Lief. 42, S. 107.
3) Vergl. : La circulation du sang ä l’etat physiologique et dans
les maladies. Paris 1881, S. 634.
“) Journal de l’anatomie et de la Physiologie, T. XIV (1878),
pag. 113.
5) D. Archiv f. klin. Med., Bd. 46 (1890), S. 285,
°)j. Mackenzie: Die Lehre vom Puls (Deutsch von
Ad. Deutsch) . Frankfurt 1904, S. 144.
der Lage, ganz sicher zu bestimmen, wann die Eröffnung der
Semilunarklappen stattgefunden hat. Wir können aber die
möglichen Grenzwerte angeben, denn es geht aus den Unter¬
suchungen massgebender Autoren T) hervor, dass der Zeitpunkt
der Klappeneröffnung entweder an der Grenze zwischen mitt¬
lerem und oberem Drittel des Kardiogrammschenkels oder spä¬
testens am Anfang des Plateaus zu finden ist. Messen wir diese
Strecke aus, so stellen wir fest, dass die Verschlusszeit
zwischen 0,04 und 0,059 Sekunden liegen muss. Demnach blei¬
ben für die Fortpflanzung der Welle 0,082 bis 0,063 Sekunden.
Hieraus berechnet sich eine durchschnittliche Geschwindigkeit
der Pulswelle von 4 34 bis höchstens 534 m pro Sekunde. Nun
wissen wir aber aus zahlreichen physiologischen Angaben,
dass die Pulswelle eine Geschwindigkeit von 7 — 10, durch¬
schnittlich 8 m besitzt. Die geringen Werte finden sich ausser¬
dem nur bei niedrigem Blutdruck, der bei unserem Kranken
nicht vorlag. Es zeigt sich also in sehr auffälliger Weise eine
wirkliche Verspätung der ganzen Welle durch das Aneurysma,
denn bei normaler Geschwindigkeit von 8 m hätte die Pulswelle
nicht 35 cm, sondern eine Strecke von 50 — 66 cm durchlaufen
müssen. Diese Tatsache ist offenbar von diagnostischer Be¬
deutung. Wir werden nämlich auf Grund des zurzeit vor¬
liegenden Materials daran denken dürfen, dass eine wirkliche
Verspätung der Pulswelle, so wie in unserem Falle, für Er¬
weiterung der Arterie, eine scheinbare Verspätung, nur durch
Postposition des Gipfels bedingt, für Verengerung spricht.
Letztere kann nun -wieder auch durch ein Aneurysma, aber
auch durch andere Momente, vor allem Sklerose des Gefässes
verursacht sein.
Aus der medizinischen Klinik zu Marburg.
Ueber den Zwerchfellreflex und die Zwerchfell¬
innervation. *)
Von Privatdozent Dr. Otto Hess.
M. H. ! Ich habe Ihnen soeben klinisch und auf dem Rönt¬
genschirm die Zwerchfellbewegung unter normalen
und pathologischen Verhältnissen (totale Zwerchfellähmung,
paradoxe Zwerchfellkontraktion bei Pyopneumothorax etc.) de¬
monstriert und erinnere Sie noch einmal an den eigenartigen
7) cf. Fr. Müller: Berl. klin. Wochenschr. 1895, S. 783.
*) Vortrag, gehalten im ärztlichen Vereine zu Marburg in der
Sitzung vom 20. Juni 1906 (cf. Sitzungsbericht Miinch. med. Wochen¬
schr. 1906, No. — ).
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1755
Krankheitsfall von Huntington scher Chorea, kombiniert
mit völliger, augenscheinlich angeborener Funktions-
untüchtigkeit beider P h r e n i c i.
Der Kranke bietet den charakteristischen Atemtypus der Zwerch¬
fellähmung: inspiratorisch starke Ausdehnung des Brustkorbes, dabet
Einsinken des Bauches und Hochsteigen der Lungenränder, exspira-
torisch Zusammensinken des Brustkorbs mit Vorwölbung des Bauches
und Hinuntersinken der Lungenränder. — Auf dem Röntgenschirm
zeigt das Zwerchfell bei oberflächlicher Atmung ganz leichte Ex¬
kursionen in normaler Richtung; bei tiefer Atmung dagegen steigt es
inspiratorisch stark in die Höhe, um sich exspiratorisch wieder zu
senken. . _
Im Anschluss an diese Beobachtung, auf die ich zum
Schluss zurückkomme, will ich Ihnen über eine eigentümliche
reflektorische Bewegungserscheinung am Zwerchfell berichten;
Das Zwerchfell kontrahiert sich in seinen
vorderen Abschnitten bei Perkussion der
Brustwarze. .
Ueber diesen ,,Z w e r c h f e 1 1 r e f 1 e x“ habe ich bereits
auf dem letzten Kongress für innere Medizin in München einige
Mitteilungen gemacht und seitdem ergänzende Beobachtungen
angestellt. .
Der Reflex wird durch Berührung, leichte Perkussion oder
schwache elektrische Reizung der Brustwarze (von der linken
etwas leichter, wie von der rechten) ausgelöst und dokumen¬
tiert sich fürdasAuge durch eine blitzartig auftretende und
sofort wieder schwindende muldenförmige deutliche Ein¬
senkung des obersten Epigastriums infolge Einwärtsziehung des
Processus ensiformis durch die sich reflektorisch kontrahieren¬
den Muskelfasern der Pars sternalis des Zwerch¬
fells. Zieht man die Palpation zur Kontrolle heran, so
fühlt der aufgelegte Finger deutlich, wie der Processus, be¬
sonders seine Spitze, durch Zugwirkung fast senkrecht zurück¬
weicht (ein klein wenig nach hinten links bei Perkussion der
linken und nach hinten rechts bei Perkussion der rechten Brust¬
warze) und fast momentan wieder vorfedert. Auf diese Rück¬
wärtsbewegung des Processus kommt es, wie wir sehen wer¬
den, zur Differenzierung des Reflexes von anderen Bewegungs¬
erscheinungen im Epigastrium sehr wesentlich an. Auch
graphisch lässt sich der Reflex leicht darstellen; auf dieser
Kurve, welche von der Spitze des Processus ensiformis ge¬
schrieben ist, sehen sie die Kurve der Atem- und der ihnen auf¬
gesetzten Pulswellen im Momente der Auslösung des Reflexes
jedesmal durch einen senkrechten Absturz unterbrochen, und
Sie erkennen weiter, dass der Reflex in jeder Phase der Re¬
spiration, also ganz unabhängig von der Atmung ausgelöst wer¬
den kann, ferner dass er auf der Höhe der Inspiration am aus¬
giebigsten ist. Letzteres wird noch zu erklären sein.
Der Reflex ist, wie sich aus der Darstellung schon ergibt,
nur erzielbar bei Menschen mit elastischem (d. h. knorpeligem),
nicht zu kurzem und einigermassen normal gelagertem Pro¬
cessus ensiformis; er findet sich daher bei den meisten Kindern
und jugendlichen Individuen, er fehlt dagegen, resp. ist nicht
nachweisbar bei starrem Thorax mit verkalktem Prozessus und
natürlich auch bei Mangel des Prozessus.
Die Untersuchung eines grossen poliklinischen Kranken¬
materiales ergab, dass der Reflex bei Vorhandensein der ge¬
nannten für seine Sichtbarmachung notwendigen Bedingungen
recht häufig ist; er ist, wie andere Hautreflexe, vom Tem¬
perament abhängig, deshalb bei lebhaften Menschen und Neu¬
rasthenikern besonders deutlich; er teilt auch mit den Haut¬
reflexen die Ermüdbarkeit, d. h. er verschwindet nach mehr¬
facher Auslösung oder wird sehr abgeschwächt, um nach
kurzer Pause in alter Stärke wiederzukehren. — Leicht aus¬
lösbar ist er meist bei magern, anämischen und kachektischen
Individuen.
Wie erwähnt, darf der Reflex nicht mit anderen Be¬
wegungsvorgängen in der Gegend des Epigastriums ver¬
wechselt werden; da kommt zuerst der oberste Teil des
Bauchreflexes, vielfach „e p i g a s t r i s c h e r“ genannt,
in Betracht, der bei einer grossen Anzahl von Menschen aus¬
lösbar ist. 1)
D Zu den 3 für gewöhnlich geprüften sehr konstanten Bauch¬
reflexen, dem oberen, mittleren und unteren Bauch¬
reflex, welche durch Bestreichen des Epi-, Meso- und Hypo-
Dieser „e p i g a s t r i s c h e“ Reflex wird durch Be¬
streichen der Haut der seitlichen Thoraxwand in der Höhe der
3. — 6. Rippe ausgelöst, führt zu Kontraktion der obersten Fa¬
sern des Rectus abdominis und Obliquus abdominis externus
und bewirkt eine leichte Einsenkung des Epigastriums. Dieser
Reflex lässt sich, wie ich mich überzeugt habe, bei vielen Indi¬
viduen besonders leicht von der Umgebung der Mammilla und
von der Mammilla selbst, hier gerade wie der „Zwerchfell¬
reflex“ durch Perkussion oder elektrische Reize auslösen.
Mitunter, besonders bei stärkeren Reizen werden reflektorisch
nicht nur die genannten beiden Bauchmuskeln (Rektus und
Obliquus externus), sondern, wie sich aus der Depression der
oberen Bauchwand, der Einziehung des Rippenbogens und der
3 . — 6. Rippe neben dem Sternum ergibt, auch die übrigen
Bauchmuskeln in ihren oberen Teilen (Obliquus internus, tran-
versus abdominis) inkl. der zum Transversus abdominis ge¬
hörige, nur durch die Zwerchfellansätze von ihm getrennte
Muse, transversus thoracis 2) in Kontraktion versetzt. — Diese
Muskeln stehen sämtlich in Beziehung zum Processus ensifor¬
mis; die oberen Fasern des Rektus, in die Rektusscheide ge¬
hüllt, steigen zu beiden Seiten der an der Spitze des Processus
ensiformis sich anheftenden Linea alba, den Processus
zwischen sich fassend, zur 5. — 7. Rippe empor; die oberen
Bündel des Obliquus abdominis externus laufen von der
5. Rippe von aussen oben medianwärts zur vorderen Rektus¬
scheide und an die Vorderfläche des Processus ensiformis; die
oberen Fasern des Obliquus internus von unten aussen zur
vorderen und hinteren Rektusscheide und damit zur Vorder¬
fläche und zum Seitenrande des Processus ensiformis, der
Transversus abdominis und Tranversus thoracis endlich an der
Innenwand der Bauch- und Brusthöhle horizontral von aussen
und schräg von oben zum seitlichen und oberen Rande des
Processus ensiformis. — Diese Muskeln können einzeln oder
gemeinsam eine leichte Einziehung des Epigastriums, welche
allerdings zum Teil durch die Vorwölbung der oberen Rektus-
bäuche vorgetäuscht wird, hervorrufen (sie verziehen dabei
die Linea alba etwas nach der gereizten Seite), sie können
ferner den Processus ensiformis etwas zur Seite, und wenn
der Processus etwas tiefer unter dem Niveau des 7. Rippen¬
paares, wie gewöhnlich liegt, seitlich und gleichzeitig ein wenig
schräg nach hinten bewegen ; aber sie sind niemals im¬
stande, den Prozessus senkrecht nach hinten
zu bewegen.
Das ist ausschliesslich eine Funktion der
Partes sternales des Zwerchfells, welche sich
hinten an der Spitze des Processus ensiformis ansetzen und
an der Rückseite desselben sanft aufsteigend sich im Centrum
tendineum des Zwerchfells verlieren; diese Fasern können auf
der Höhe der Inspiration, wo sie durch die Hebung des Rippen¬
bogens fast horizontal und senkrecht zum Processus ensiformis
gestellt werden, ihre grösste Wirksamkeit entfalten; so erklärt
sich die auffallende Stärke des „Z w e r chf e 1 1 r ef 1 ex e s“
auf der Höhe der Inspiration3).
gastriums, also der Bauchwand unterhalb des Rippenbogens,
ausgelöst werden und zu Muskelkontrationen in diesen 3 Höhen
führen (Einziehung der Bauchwand, Verziehung und leichte Ein¬
senkung der Linea alba) gehört 4. weiter abwärts der Q e i g e 1 sehe
(Qeigel: Klinische Prüfung der Hautreflexe. D. med. Wochenschr.
1892, 8, S. 166), von D i n k 1 e r, v. Qehuchten, C r o c q,
Bechterew geprüfte Obliquus internus oder Hypo-
g a s t r i k u s - oder Leistenreflex (er ist durch Bestreichen der
Innenfläche des Oberschenkels oder der Genitalien bei beiden Ge¬
schlechtern auszulösen, führt zu Verziehung des Leistenbandes nach
oben innen und steht in Beziehung zum diagnostisch richtigen Kre¬
masterreflex) und 5. weiter aufwärts der von der seitlichen B ru st-
wand ausgelöste, uns hier interessierende „e p i g a s t r i s c h e"
Reflex.
2) Transversus abdominis und Transversus thoracis sind Be¬
standteile einer Gesamtheit und werden von Rosenmüller unter
dem gemeinsamen Namen M. sterno-abdominalis geführt.
3) In seltenen Fällen entspringt eine Zacke der Pars costalis des
Zwerchfells in der Nähe des Processus ensiformis von der Rückseite
der Aponeurose des Transversus abdominis (cf. Luschka: Ana¬
tomie des Menschen, II, 1, S. 112). Diese wird bei ihrer Kontraktion
eine besonders starke Einziehung des Epigastriums bewirken können»
1756
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mo. 36.
Durch genaue Beobachtung der Bewegung
des Processus ensifor m i s ist man somit imstande,
einer Verwechslung der beiden Reflexe, des Zwerchfellreflexes
und des epigastrischen vorzubeugen. Dazu kommt noch fol¬
gendes : der Z w e r c h f e 1 1 r e f 1 e x ist ausschliesslich von
der Mammilla, und hier meist schon durch leichte taktile Reize,
dagegen niemals von der Umgebung der Mammilla, selbst nicht
durch stärkere elektrische oder Schmerzreize auszulösen; der
epigastrische Reflex ist daher sowohl von der Mam¬
milla, wie von einer grossen Partie der seitlichen Brustwand
zu erzielen; die Einsenkung des Epigastriums ferner ist bei dem
Zwerchfellreflex tiefer, muldenförmig und liegt in der Median¬
linie; bei dem epigastrischen ist sie seichter und wird mit der
Linea alba mehr oder weniger nach der gereizten Seite ver¬
zogen. — Kompliziert werden die Verhältnisse mitunter da¬
durch, dass beide Reflexe gleichzeitig durch Perkussion der
Mammilla ausgelöst werden; es lässt sich jedoch auch meist in
diesen Fällen durch leichte Perkussion der Zwerchfellreflex
isolieren. — Man verfährt am besten so, dass man leiseste
Reize zunächst in der Umgebung der Mammilla derart appli¬
ziert, dass keinerlei Bewegungserscheinung ausgelöst wird;
appliziert man jetzt denselben Reiz an der Mammilla, so tritt
der „Zwerchfellreflex“, d. h. die Einziehung des oberen Epi¬
gastriums, meist prompt ein.
Neben diesen reflektorischen Muskelkontraktionen
können auch direkte, durch die Perkussionsschläge bedingte
me chanische Muskelzuckungen zur Täuschung führen :
insbesondere kommen schon dicht unterhalb der Mammilla oder
auch von der Mammilla aus die obersten Fasern des Obliquus
abdominis externus, welche von der 5. Rippe entspringend teils
fast horizontal zum Processus ensiformis, teils in leichtem nach
oben konkaven Bogen schräg auf- und medianwärts zum
unteren Teile der Vorderfläche des Corpus sterni aufsteigen
und sich mit den Fasern der anderen Seite durchkreuzen (cf.
Luschka: Anatomie des Menschen, II, 1, S. 103, Abbildung),
zur Kontraktion bringen; man kann ferner von derselben Stelle
aus in einzelnen Fällen ein Bündel des Pectoralis major,
welches, die erwähnte Endausbreitung des Obliquus abdominis
externus schräg überbrückend, zum Epigastrium verläuft,
mechanisch erregen (cf. Abbildung bei L u s c h k a, II, 1, S. 103
und R ü d i n g e r: Anatomie der Rückenmarksnerven, F. VIII)
und in beiden Fällen eine Bewegungserscheinung im Epi¬
gastrium wahrnehmen.
Diese interessanten Muskelbewegungen, die bei den ein¬
zelnen Menschen sehr variieren, können unter Zuhilfenahme der
elektrischen Reizung gut studiert und differenziert werden.
Das Tierexperiment ergibt folgendes: Beim weib¬
lichen säugenden oder hochträchtigen Hunde (nur unter diesen
Bedingungen und nicht beim männlichen Hunde) konnte ich
regelmässig durch faradische Reizung des 2., dem Epigastrium
am nächsten gelegenen Brustzitzenpaares leicht den „e p i -
gastrischen Refle x“, d. h. wie beim Menschen eine Kon¬
traktion des Rectus, Obliquus abdominis externus, internus,
transversus (ausserdem des am unteren Teile des Sternums
entspringenden, zur oberen Extremität ziehenden Pectoralis
minor und des grossen Hautmuskels) und die ganz analoge Be¬
wegung im Epigastrium mit leichter seitlicher Dislokation des
Processus ensiformis erzielen. Dass es sich um einen Reflex
handelt, geht daraus hervor, dass ich auch bei völliger Unter¬
minierung der Mamma von der Medianlinie her und Loslösung
von der Unterlage die Muskelkontraktionen bekam. — Auf¬
fallenderweise ist dagegen der Zwerchfellreflex beim Hunde
nicht auslösbar: bei Reizung der Zitzen wird weder der Pro¬
cessus ensiformis nach rückwärts gezogen, noch fühlt der durch
eine kleine Oeffnung des Epigastriums eingeführte Finger irgend
eine Kontraktion der Zwerchfellfasern.
Auf welchem Wege kommt der Zwerchfell¬
reflex zustande? Wenn der Reflex zentrifugal durch
den Nervus phrenicus verläuft, so müsste man sich vor¬
stellen, dass die Mammilla durch ein spezifisches sensibles
Bündel versorgt würde, welches zentripetal durch den Inter¬
kostalnerven und das Brustmark auf irgend einem Wege in
reflektorische Beziehungen zu den Ganglienzellen des Nervus
phrenicus im Vorderhorne des 4. (seltener 3. und 4.) Zervikal¬
segmentes tritt1) — oder aber es könnte ein direkter Weg von
der Mammilla hinauf zur Halswirbelsäule in Frage kommen;
einmal die Bahn der Nervi supraclaviculares, welche vom 4.
(seltener 3. und 4.) Zervikalsegment entspringen und bis zur
Haut der Brustdrüse ausstrahlen; es könnte ferner die zen¬
tripetale Bahn im Verlaufe sympathischer Bahnen liegen: die
Brustwarze unterscheidet sich ja von der umgebenden Haut
durch ihren Reichtum an glatten Muskelfasern und damit an
sympathischen Elementen; diese sympathische Bahn könnten
die langen, aus der Subklavia und Axillaris entspringenden,
an der vorderen Brustwand herabziehenden üefässe, die
Arteriae thoracicae longae und die Mammariae internae,
welche besonders beim Weibe starke Aeste an die Brustdrüse
abgeben, vermitteln.
Grosse Wahrscheinlichkeit hat dieser komplizierte, durch
den Nervus phrenicus vermittelte Reflexweg jedoch
nicht für sich. Es sprechen aber auch andere Gründe da¬
gegen, dass der Phrenikus überhaupt bei dem Reflex in Frage
kommt: Elektrische Reizung des Nervus phrenicus am Halse
führt bekanntlich zu einer Vorwölbung des Epigastriums infolge
Tiefertreten der Zwerchfellkuppeln; diese Abwärtsbewegung
des Zwerchfells ist eine langsame (sie dauert 4 bis 8 mal so
lang, wie eine andere Muskelzuckung) und kann auf dem
Röntgenschirm als Senkung des Zwerchfellschattens gut ver¬
folgt werden.
Im Gegensatz hierzu kann der „Zwerchfellrefle x“,
d. h. die Einsenkung des Epigastriums, durch elektrische
Phrenikusreizung nicht ausgelöst werden; auch eine Abwärts¬
bewegung der Zwerchfellkuppeln ist bei Auslösen des Reflexes
von der Mammilla aus auf dem Röntgenschirme nicht sichtbar;
eine solche ist auch gar nicht zu erwarten; denn die Reflex¬
zuckung erfolgt im Gegensätze zu der durch Phrenikusreizung
vermittelten Zwerchfellkontraktion so kurz und ruckartig und
geht so schnell vorüber, dass eine grössere Formveränderung
des Zwerchfells im Sinne einer Abflachung und Abwärts-
drängung der Bauchorgane nicht möglich ist; es dient hier das
Centrum tendineum als fest auf den Bauchorganen ruhendes
Punctum fixum, und die blitzartige Kontraktion der Zwerchfell¬
fasern muss sich daher als kurzdauernder Zug an den Zwerch¬
fellansätzen äussern und dort sichtbare Bewegungserschei-
nungen machen, wo die nachgiebigste Stelle der unteren Brust¬
apertur ist und die dort ansetzenden Muskelfasern den kürze¬
sten r>) geradlinigen Verlauf haben: das ist der Processus ensi¬
formis. — Nur in wenigen Fällen konnte ich am elastischen
Kinderthorax auch eine der Kontraktion der kostalen Zwerch¬
fellansätze entsprechende reflektorische Einziehung des Rippen¬
bogens beobachten.
Suchen wir nach einer anderen, einfacheren Reflexbahn,
so ist daran zu erinnern, dass der „Z w e r c h f e 11 r e f 1 e x“
von derselben Stelle wie der „e p i g a s t r i s c h e“ und auch
gleichzeitig mit demselben ausgelöst werden kann. Letzterer
Reflex hat sein spinales Zentrum im 4.-6. Dorsalsegment; die
zentrifugale Bahn verläuft in den Interkostalnerven (bereits der
4. Interkostalnerv gibt Zweige an den obersten Teil des Rektus
und Triangularis sterni ab und der 5. an den Obliquus ex¬
ternus) und es wäre somit ein einfacher Weg für den Zwerch¬
fellreflex gefunden, wenn man den Interkostal-
nerven motorische Fasern für das Zwerchfell
z u e r k e n n t.
Bei dieser Voraussetzung würde das 5. Dorsal¬
segment das spinale Zentrum für den Zwerch¬
fellreflex sein; denn einerseits wird die Mammilla von
sensiblen Zweigen des 5. Interkostalnerven, welche Fröh¬
lich und Grosser (Abbildung S. 455 der Arbeit) präpariert
haben ''), versorgt, und andrerseits entsendet der 5. Interkostal¬
nerv motorische Zweige an die oberen Teile der beschriebenen
4) Ein komplizierter Weg besteht ja bei vielen Reflexen; ich
erinnere an den Pupillarreflex.
r>) Die Partes sternales sind nur 5 cm lang und 2 cm breit.
") A. Fröhlich und O. Grosser: Beiträge zur metameren
Innervation der Haut. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. XXIII, 19U3,
5. 441.
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1757
Bauchmuskeln, welche die Pars sternalis und die oberen
Partes costales des Zwerchfells zwischen sich fassen und direkt
mit ihnen verbunden sind.
Die Innervation der kostalen Randpar-
tien des Zwerchfells durch Interkostal¬
nerven scheint mir anatomisch und funk¬
tionell sichergestellt. — Baur (1818), Meckel,
Valentin, Luschka (1853), C a v a 1 i e haben feine Aeste
dgf 6_7 unteren Interkostalnerven, die in die Zwerchfellansätze
eindringen, präpariert, Luschka mehrere 100. Am ein¬
gehendsten hat C a v a li c in einer Reihe von Arbeiten diese
Verhältnisse an den verschiedensten Tierklassen und beim
Menschen studiert. Er gibt Seite 42/43, Tafel II seiner Disser¬
tation * * * * 7), welche auch die übrige Literatur enthält, gute Ab¬
bildungen dieser Aeste, welche zusammen mit kleinen Aesten
der Interkostalgefässe verlaufen und sich von den Interkostal¬
nerven dort abzweigen, wo diese durch die Zwerchfellansätze
hindurch von der Brust- zur Bauchhöhlenwand dringen.
Aus den Arbeiten Cava lies hebe ich folgendes hervor: Bei
den niederen Wirbeltieren und den Vögeln, welche keinen Phrenikus
besitzen, spielt die interkostale Innervation des Zwerchfells
die grösste Rolle; bei den Vögeln tritt als wichtiger Nerv der Sym¬
pathikus hinzu. Bei den Säugetieren und beim Menschen sind
interkostale und sympathische Nerven (bei einzelnen Säugern auch
Vagusfasern) im Zwerchfell ebenfalls noch vorhanden; dazu
kommt der hochdifferenzierte Nervus p h r e n i c u s. Beim Men¬
schen sind die Interkostalnervenfasern auf die Randpartien des
Zwerchfells beschränkt und anastomosieren nicht mit den Nervi
phrenici; beim Säugetier versorgen sie einen grösseren Bezirk und
gehen, besonders beim Kaninchen, zahlreiche Anastomosen mit den
Phrenici ein. — C. konnte beim Hunde durch elekti ische Reizung der
unteren Interkostalnerven nach vorheriger Durchschneidung beider
Phrenici deutliche Muskelkontraktionen der Zwerchfellansätze her-
vorrufen; er fand diese Kontraktionen besonders stark bei Tieren,
denen er bereits vor längerer Zeit die Phrenici reseziert hatte; er
sah ferner nach Durchschneidung der unteren Interkostalnerven
Degeneration der Zwerchfellfasern eintreten. Doppelseitige Phrenikus¬
resektion in einer Sitzung wurde von Tieren mit kostoabdomineller
Atmung (Hunden) ertragen8), indem die interkostale Innervation
dem Zwerchfell einen gewissen Tonus gab, so dass die Tiere nach
14 Tagen wieder ohne Beschwerden atmeten, allerdings dauernd einen
invertierten Atemtypus (Aspiration des Zwerchfells mit Einsinken
des Bauches bei der Inspiration) beibehielten; bei der Sektion dieser
Tiere, welche stark abmagerten, fand sich nur eine partielle
Atrophie der Zwerchfellfasern.
Aus diesen Versuchen Cavalies geht hervor, dass die
Interkostalnerven des Säugetieres bei der Zwerchfellbewegung
schon eine gwisse Rolle spielen, die Phrenikusinnervation je¬
doch nicht völlig ersetzen können.
Auch für den Menschen dürfen wir auf Grund des ana¬
tomischen Befundes und des Tierexperimentes ähnliche Ver¬
hältnisse annehmen. — Ich glaube daher, dass der „Zwerch¬
fellreflex“ des Menschen zwanglos in dieses
Innervationssystem eingereiht werden kann,
dass seine Reflexbahn in den Interkostal¬
nerven (spez. im 5. Interkostalnerve n) ver-
I ä u f t. Als wesentliche Stützen dieser Annahme betrachte
ich, wie ausgeführt, einmal die nahen Beziehungen des
,,Z w e r c h f e 1 1 r e f 1 e x e s“ zu dem sicher durch die Inter¬
kostalnerven vermittelten „epigastrischen Reflex“ und ferner
die totale Verschiedenheit der kurzen, blitzartigen reflek¬
torischen Zwerchfellbewegung von der durch Phrenikusinner¬
vation bewirkten langsamen, mit Formveränderung des
Zwerchfells einhergehenden Kontraktion.
Die klinische Beobachtung bestätigt somit anatomische
Tatsachen und experimentelle Ergebnisse.
Die Lage der Mammilla befindet sich nach Head, Camp¬
bell, S e i f f e r, B o 1 k zwischen 4. und 5., nach Kocher, Wich-
mann in der Mitte der 4. Thorakalzone. Literatur bei Fröhlich
und Grosser.
7) M. Cavalie: De l’innervation du diaphragme (etude ana-
tomique et physiologique). These Toulouse 1898.
8) Tiere mit rein abdomineller Atmung (Kaninchen, Meer¬
schweinchen) starben dagegen in 24 Stunden. — Doppelseitige
Phrenikusresektion in 2 Sitzungen vertragen beide Tierklassen; nach
der Durchschneidung des 2. Phrenikus trat der invertierte Atem¬
typus auf.
Ich glaube, man kann sogar versuchen, die normale
Zwerchfellbewegung in zwei verschieden innervierte
Komponenten zu zerlegen. — Bekanntlich verhalten sich die
vorderen und hinteren Zwerchfellpartien
funktionell völlig verschieden; während die
vorderen sternalen und kostalen Teile bei der In¬
spiration zunächst passiv gehoben und mehr horizon¬
tal gestellt werden und dann bei ihrer Kontraktion das
Centrum tendineum spannen und nach vorne ziehen, steigen
die hinteren und seitlichen Teile des Zwerchfells herab und ver¬
drängen die Bauchorgane nach unten und vorne. Eine durch
die Kieferwinkel gelegte Erontalebene bildet etwa die Grenz¬
linie dieser funktionell verschiedenen Zwerchfellpartien
(Hasse9).
Berücksichtigt man ferner, dass die vorderen und seitlichen
Randpartien des Zwerchfells neben dieser gesonderten
Funktion auch entwicklungsgeschichtlich eine
Sonderstellung gegenüber den anderen Zwerchfellteilen ein¬
nehmen (sie sind Derivate der vorderen und seitlichen Körper¬
wand 10), ferner eigene, nicht mit dem Phrenikus anastomo-
sierende Nerven (Interkostalnerven) besitzen, dass sie
endlich synchron mit der Hebung des Rippenbogens (Inter-
kostalnervenwirkung) in Tätigkeit treten, so kann aus alledem
vielleicht folgender Schluss gezogen werden:
Der funktionellen Verschiedenheit der
vorderen und hinteren Zwerchfellteile ent¬
spricht eine verschiedene Innervation; die
ersteren werden durch Interkostalnerven,
die letzteren durch die Phrenici innerviert.
M. H. ! Ich glaube der Ihnen demonstrierte Kranke mit
angeborener völliger Funktionsunfähigkeit beider Phrenici kann
zur Stütze dieser Auffassung herangezogen werden. Die ge¬
ringen Exkursionen des Zwerchfells in normaler Richtung,
welche der Kranke bei oberflächlicher Atmung zeigt, möchte
ich auf interkostale Innervation zurückführen; bei tiefer
Atmung reicht diese Innervation wie Sie sehen, nicht aus; es
wird dabei das Zwerchfell in den sich stark erweiternden
Thorax aspiriert.
Aus der chirurgischen Abteilung des Friedrich-Wilhelm-Ho-
spitals in Bonn (Leiter: Prof. O. W i t z e 1).
Rektumamputation nach Witzei mit Erhaltung des
Sphinkter externus.*)
Von Dr. Friedrich Wenzel.
In einer Arbeit „Wie lässt sich die Rektumamputation zu
einer aseptischen und unblutigen Operation gestalten?“ (Münch,
med. Wochenschr. 1903, No. 10) habe ich gezeigt, wie den
beiden grossen Gefahren, welche der Operation der intermedi¬
ären, am Uebergang des mittleren Rektumteils (Pars ampul-
laris s. pelvina recti) zum Colon pelvinum liegenden Mastdarm¬
karzinomen zugegebenermassen anhaften — Gefahr der
Blutung und der septischen Infektion — zu begegnen ist durch
das von Witzei geübte Verfahren der hohen Rektumampu¬
tation mit nachfolgender Bildung eines Anus glutaealis. Weit
mehr als Blutung und postoperativer Kollaps, welch beide bei
guter Technik und Narkose (event. dort, wo Kontraindikationen
gegen die Aethertropfnarkose bestehen sollten, unter Be¬
nutzung der Bier sehen Lumbalanästhesie) zu vermeiden
sind, ist es die Gefahr der Wundinfektion, welche die radikalen
Eingriffe bei den hochsitzenden Rektumkarzinomen bedenklich
erscheinen Hess.
9) C. Hasse: Die Formen des menschlichen Körpers und die
Formveränderungen bei der Atmung.
10) cf. Br oman: Ueber die Entwicklung des Zwerchfells beim
Menschen. Verhandl. d. anatom. Gesellsch. 16. Versamml., April 1902.
*) Die Arbeit P. Popper ts: Zur Frage der Erhaltung des
Schliessmuskels bei der Exstirpation des Mastdarmkrebses, welche
in No. 31. am 31. Juli erschien, würdigt die einschlägigen Fragen in
einer Weise, die wir gern als sachlich berechtigt anerkennen. Es
ist uns eine Freude, da wo P. eine Vervollkommnung des operativen
Verfahrens als wünschenwert dartut, eine solche gerade jetzt auf
Grund von inzwischen gemachter Erfahrung bringen zu .können.
Möge die so verbesserte, den Sphinkterschluss erhaltende Ampu¬
tationsmethode eine vorurteilsfreie Nachprüfung erfahren. Witze!.
1758
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
Zwar hatte auch hier die Vervollkommnung der asep¬
tischen Technik allmählich bessere Resultate gezeitigt. Es
kann die Auslösung des den Tumor einschliessenden Dannab¬
schnittes in der Kontinuität zweifellos gelingen unter voll¬
ständiger Wahrung der Wundsauberkeit. In dem Momente
aber, wo wir das Darmlumen zum Zwecke der Resektion er¬
öffnen, hört die Möglichkeit auf, die Aseptik der Operation und
ihres Verlaufs strictissisimo sensu durchzuführen, mag auch
der Wundschutz in der Wunde selbst ein besonders umsichtiger
sein. Selbst wenn es gelänge, während der Resektion die
grosse Wundhöhle, Hände und Instrumente vollständig sauber
zu halten, — die Endzuendnaht des Darmes wird, der Sicherung
durch einen Peritonalüberzug meist entbehrend, einen Bak¬
teriendurchtritt stets zulassen. Mit der Möglichkeit der Ent¬
stehung einer den Patienten schwer gefährdenden, progre¬
dienten Phlegmone muss daher gerechnet werden. —
Auch dass in einer grossen Reihe der Fälle eine Fistelbildung
eintritt, wird allgemein zugegeben. Diese Gefahr, dieser
höchst belästigende Folgezustand, ist nur dann zu vermeiden,
wenn man auf die Resektion grundsätzlich verzichtet. —
Der Rektumamputation kommt der weitere Vorzug zu,
dass durch sie dem Rezidiv am besten vorgebeugt wird. Sie
erlaubt einmal zentralwärts bei geschickter Rücksichtnahme
auf die Gefässversorgung das Operieren im Gesunden in ziem¬
lich unbeschränktem Masse. Da die Rücksicht auf die Not¬
wendigkeit der zirkulären Darmnaht und die damit verbundene
Spannung fortfällt, kann der Darmschlauch beliebig hoch über
dem Tumor abgetragen werden. Auch die Ausräumung des
Mesorektums und Mesosigmoideums ist nicht an enge Grenzen
gebunden, da die Sorge um die Ernährung des oberen Darm¬
stumpfes bei der Amputation in weit geringerem Masse be¬
steht, als bei der Resektion, wo gerade sie von ausschlagend-
gebender Bedeutung für die Suffizienz der Darmnaht wird.
Die Entfernung des distalen Rektalab¬
schnittes muss nach neueren Beobachtungen
als durchaus zweckmässig, ja erforderlich
gelten, sofern man radikal operieren will.
J a f f e hat auf dem letzten Chirurgenkongress darauf
hingewiesen, dass in dem unteren Abschnitte des Mast¬
darmes Implantationsmetastasen Vorkommen, welche da¬
durch entstehen, dass aus dem höher gelegenen Abschnitte
zerfallene Tumorteile sich loslösen, heruntergleiten und sich
weiter unten auf der Mukosa festsetzen.
Ich selbst habe mich kürzlich von der Richtigkeit dieser Beob¬
achtung überzeugen können. Obwohl der primäre Tumor etwa 10
bis 12 cm oberhalb des Analringes lag, fanden sich dennoch, sowohl
in der Pars ampullaris als auch analwärts von derselben mehrere
Schleimhautmetastasen, welche trotz mehrfacher Palpation nicht ge¬
fühlt waren. Ob es mit Hilfe der Rektoskopie möglich ist, diese
kleinen Metastasen festzustellen, kann ich aus eigener Erfahrung nicht
beurteilen.
Es scheint aber nach solchen Beobachtungen gefährlich,
den unteren Mastdarmteil zum Zwecke der Durchführung einer
Resektion zu erhalten. Derselbe ist für das Zustandekommen
eines Rezidivs geradezu prädisponiert.
Neuerdings hat sich nun Kraske gegen W i t z e 1 s Me¬
thode gewendet, dieselbe allerdings nur in dem einen Punkte
angegriffen, dass der Verschlussapparat des Rektums geopfert
wird, auch dann, wenn er nachweislich gesund ist und weit
entfernt vom primären Karzinom liegt. — Leugnen lässt sich
nicht, dass die Entfernung des gesunden Analteiles ein Nach¬
teil der W i t z e 1 sehen Amputationsmethode war. Wenn wir
trotzdem an derselben festgehalten haben, so geschah es aus
der Ueberzeugung, dass dieser Nachteil gegenüber dem un¬
zweifelhaften Vorzüge, die Operation aseptisch durchzuführen
und beendigen zu können, nur wenig in die Wagschale fallen
konnte, zumal wenn man berücksichtigt, dass die Endresultate
bei der Resektion hinsichtlich der erzielten Kontinenz sehr viel
zu wünschen übrig Hessen, wie Witzei anderen Ortes
betont hat. (Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 10). Trotz¬
dem haben wir in jedem Falle nur mit der Em¬
pfindung tiefen Bedauerns den muskulären
Schlussapparat geopfert. Stets hat es uns als er¬
strebenswert erschienen, unter Beibehaltung der Vorzüge der
Amputation, die sich uns und anderen Chirurgen bewährten,
unter Wahrung der aseptischen Durchführung das Verfahren
dahin abzuändern, dass der Sphinkterschluss erhalten bleibt.
Das gelingt durch ein Verfahren, wie es jetzt von Witzei
geübt wird.
Anatomisch liegen die Verhältnisse am Mastdarmausgange
folgendermassen:
Die Mukosa (m) des Darmes setzt sich in die Haut des Dammes
fort, unter ihr liegt eine dünne Submukosa. Nach aussen folgt die
Ringfaserschicht des Rektums (c), welche hier stärker ausgebildet
ist und dadurch zum inneren Schliessmuskel (s. i) formiert wird.
Diese zirkuläre Schicht ist nach aussen bedeckt von einer dünnen,
im Gegensatz zu der starken Ringfaserschicht nur schwach ent¬
wickelten, muskulären Längsfaserschicht (i), von der einzelne Bündel
in die Ringfaserschicht übertreten. Es folgt nunmehr ein flächen-
haftes, interstitielles Bindegewebslager (x), welches die lockere Ver¬
bindung zwischen dem Sphincter internus (s. i) und dem eigentlichen
Schliessmuskel des Afters, dem Sphincter externus (s. e) dar¬
stellt. Diese bindegewebige Lage bedeckt innen ohne deutliche
Faszienbildung die Längsfasermuskelschicht, verdichtet sich aber
aussen dort, wo sie dem Sphincter externus aufliegt zu einer deut¬
lichen Faszie, welche als eine Fortsetzung der Fascia hypogastrica
(f. h.) [Gegenbau r] aufzufassen ist. Dem Trichter, welcher oben
durch den Levator ani als eigentlichem konischen Trichterstück und
dem Sphincter ani externus als Ansatzstück gebildet wird, liegt also
innen, ebenfalls in der Form eines Trichters, eine entsprechende
Faszie auf. — Das lockereBindegewebslager, welches
zwischen der Faszie x und dem unteren Darmende
liegt, ist es, in welchem wir die Auslösung des
Mastdarmes vorzunehmen haben; es gelingt, das
Darmrohr als Ganzes geschlossen durch Ampu¬
tation zu entfernen, den äusseren muskulären
Schlussapparat aber zu erhalten.
Die Erhaltung des Sphinkter bedeutet eine wesentliche
Abänderung am Schlüsse des Verfahrens, das im übrigen das¬
selbe geblieben ist. *)
Durch eine Voroperation, von einem zweiten Assistenten
ausgeführt, verschliessen wir das Foramen anale. Es wird
ein mittelgrosser Tampon (Vioformgaze) in das Rektum ein¬
geführt und dann die Analöffnung mit mehreren
Nähten zirkulär und kreuzweise fest zusam¬
mengezogen. Zum Zwecke der Naht wird die Anal¬
schleimhaut ektropioniert, dann werden die Nähte in doppelter
Etage so angelegt, dass sie den Tampon mitfassen, damit er
nicht in die Ampulle zurückfallen kann. Der Nahtverschluss
des Anus muss absolut gas- und flüssigkeitsdicht sein, damit
eine Beschmutzung des Operationsfeldes durch Austreten von
Tumorsekret und von flüssigen Kotteilen bei dem weiteren
Manipulieren und Drücken am Darmschlauch mit Sicherheit
vermieden wird. — Erst nach Vernähung der Afteröffnung wird
die letzte Säuberung des Operationsfeldes vorgenommen.
Die Operation beginnt dann mit dem 1. Akt: Längs¬
schnittinder hinteren RapheundExstirpation
des Steissbeines.
Als 2. Akt schliesst sich daran die Mobili¬
sierung der Pars ampullaris, erst hinten aus der
Kreuzbeinhöhlung bis zum Promontorium hinauf, dann seit¬
lich, indem die gekrümmten Zeigefinger dicht am Knochen
hinter dem Darmrohr Vordringen, schliesslich dasselbe vorn
von der Vagina, resp. von der Prostata und Samenblasen los-
1) Die Einzelheiten und die nähere Begründung unseres Modus
procedendi, der bis zur Auslösung der Portio analis in jedem Augen¬
blick ein Aufgeben der irgendwie als nicht durchführbar sich er¬
weisenden Radikaloperation und vollständigen Nahtverschluss der
aseptischen Wunde zulässt, ist in meiner früheren Mitteilung ein¬
zusehen.
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1759
lösen. _ So früh wie möglich, sobald erkennbar, wird das
Peritoneum seitlich in Höhe des unteren Ligamentrandes er¬
öffnet; oft findet man es leichter seitlich, als vorn.
Erst nachdem dann eine weitere vom Douglasraum aus¬
geführte Palpation nochmals festgestellt hat, dass der
Tumor wirklich radikal zu entfernen ist, erfolgt im 3. Akte
dieAuslösungderParsanalis. — Zu diesem Zwecke
dringt der Schnitt unten in der Mittellinie durch das Unter¬
hautfettgewebe und die Faszien weiter in die Tiefe, er durch¬
trennt oben die Levatormuskulatur, dann nach unten zu den
Sphincter externus bis auf die oben erwähnte Fascia hypo-
gastrica, welche nach dem seitlichen Zurückweichen der
Fasern des Externus sich über dem Rektum ausspannt. Oben,
wo sie dem Levator ani innen aufliegt, ist sie am deutlichsten
erkennbar und lässt sich daher von hier aus am leichtesten nach
unten verfolgen. Sie wird ebenfalls scharf durchtrennt und
weicht von selbst beiderseits mit der Muskulatur zurück. Von
einer gelblich lockeren Bindgewebslage bedeckt, liegt nun¬
mehr der untere Dammabschnitt vor uns. — Jetzt Vorsicht,
um ihn nicht zu verletzen. Weiter stumpf vordringend, oder
auch scharf mit der krummen Schere arbeitend, kann man die
Analpartie unter Innehaltung der lockeren Schicht auslösen,
nachdem der hintere Rapheschnitt in ellipsoidem Bogen
um das geschlossene Analloch herumgeführt ist. Diese Um¬
schneidung _der vernähten Analöffnung geschieht unter An¬
ziehen des Fadenbündels der Verschlussnaht leicht, man durch¬
trennt nur die Kutis und das Unterhautfettgewebe; beide
Schichten werden schnell durch einige Nähte vereinigt, um den
ersten Nahtschluss des Analteiles noch zu verstärken. — Bei
der Auslösung des Darmes, die bald von unten nach oben, bald
in umgekehrter Richtung leichter erscheint, blutet es auffallend
wenig, da keine grösseren Gefässe verletzt werden.
Ist die Auslösung vollendet, dann treten die Nates beider¬
seits zurück, mit ihnen auf der Schnittfläche deutlich sichtbar
die Aftermuskeln, oben der Levator ani, unten der
Sphinkter, beide in vollem Zusammenhänge
mit ihren Nervenverbindungen. Da diese seitlich
herantreten, werden sie von dem die Mittellinie innehaltenden
Schnitt nicht getroffen, sodass Muskeln und Nerven in unge¬
störtem Zusammenhang bleiben. In der grossen Wunde liegt
das Darmrohr, in seinem unteren Teile gut eingehüllt, vor.
Im 4. Akte der Operation erfolgt dann schritt¬
weise die Unterbindung des Mesorektums und
Mesosigmoideums nach oben hinauf so weit, als es die
Invasion der Lymphbahnen erfordert. — Dann lässt sich der
Darm immer mehr herunterholen, sodass seine Abtiagung im
Gesunden weit oberhalb des primären Tumors möglich wird.
— Noch ist das Darmrohr nicht eröffnet.
Den letzten 5. Akt bildet der Abschluss der
grossen W undhöhle nach dem Bauchraume zu
durch eine fortlaufende Naht und die Bildung des neuen
Anus. — Bekanntlich behält der Darm, selbst wenn er weit
genug heruntergeholt war, das starke Bestreben sich nach
oben zurückzuziehen. Damit würde eine unkontrollierbare
Zerrung gegeben sein, wenn wir eine einfache Einnähung des
Darmes am Damme versuchen wollten. Wir heben des¬
halb die Sphinkterengegend seitwärts empor,
dem Darme entgegen und fixieren die Teile in
dieser Lage durch Suspensionsnähte.
Mit grössten Nadeln führen wir haltbaren Draht seitlich durch
die Nates von aussen nach innen ein, gehen mit der Nadel durch das
Ligamentum tuberoso-sacrum und stechen in der Nähe des Ein¬
stiches wieder aus. Um ein Durchschneiden zu verhüten, knoten wir
die Fäden über einer kleinen Gazerolle. Es rückt der Sphinkter dann
bei kräftig verstärktem Zug bis zum Kreuzbein empor. Die Wund¬
höhle am Sakrum wird hierdurch schon beträchtlich verkleinert. Wir
führen durch ein an geeigneter Stelle angelegtes Knopfloch seitlich
ein kurzes, dickes Glasdrainrohr neben dem Sakrum ein, ziehen um
das Darmrohr die Teile noch etwas heran durch Nähte, die ihrerseits
noch der Suspension der Pars sphincterica dienern Durch feine, fort¬
laufende Längsnähte wird der nach Gersuny % um seine Längs¬
achse gedrehte und ohne jede Spannung in die offene Rinne des
Sphincter externus gelagerte Darm erst vorn median, dann seitlich
und endlich hinten unter Schluss der Rinne in seinem neuen Lager be¬
festigt. Es folgt dann noch eine feine zirkuläre Naht unten wo die
Haut an den Darm herantritt.
Durch das seitliche Drainrohr ist der Sekretabfluss ge¬
sichert, einer Hämatom- oder Serom. -Bildung vorgebeugt; es
wird dabei die mediane Inzisionswunde ganz zugenäht.
Erst nach Anlegung eines sicher haftenden und bis zur After¬
öffnung hin abschliessenden Gazeheftpflasterverbandes wird
der Darm aussen abgetragen, die aseptische Amputation des
Mastdarmrohres mit Erhaltung eines funktionsfähigen Sphink¬
ter ist vollendet. — In das Darmrohr wird ein Stück Schlund¬
sonde eingeführt. —
Es lässt sich auf diese Weise die Aseptik bis zum Schlüsse
des Eingriffes durchführen; die Wunde ist einer Heilung prima
intentione fähig.
Der weitere Verlauf bietet noch eine kleine und zwar an¬
genehme Ueberraschung. Wenn nach 10 — 12 Jagen die Sus¬
pensionsnähte herausgenommen werden, dann lockert sich die
Verbindung am Ligamentum tuberosa-sacrum wieder, die Nates
senken sich, der Schwere, der elastischen Spannung, der Mus¬
kelwirkung folgend, ganz allmählich, abwärts und ziehen das
eingenähte Darmstück nach sich, sodass schliesslich der After
fast ganz wieder an normaler Stelle liegt.
Aus der Kgl. Universitäts-Poliklinik für Frauenleiden in
München (Vorstand: G. Klein).
Ein Beitrag zur Lehre von den Mesenterialzysten.
Von Dr. Wilhelm Evelt, Spezialarzt für Frauenleiden in
München.
In der chirurgischen sowohl wie in der gynäkologischen
Literatur ist der Mesenterialzysten bisher so selten
Erwähnung getan, dass ich mich für berechtigt halte, im Nach¬
stehenden einen von mir vor einigen Jahren aus der Kgl-
gynäkologischen Universitäts-Poliklinik München beobachteten
und operierten Fall einer Mesenterialzyste, der in Heilung aus¬
ging, zu publizieren, zumal derselbe durch Grösse der Zyste
(ca. 30 Pfund), enorme Darmkompression usw. meines Er¬
achtens genug des Interessanten bietet. Zudem dürfte schon
infolge der immerhin bei den meisten Fällen sehr schwierigen
Diagnose jeder weitere Beitrag zur Aufklärung von Wert
sein. —
Der Grund, weshalb wir einer eingehenderen Beschreibung
der Mesenterialzysten in den Lehrbüchern so selten begegnen,
ist wohl hauptsächlich in der bisher immer noch geringen An¬
zahl von Beobachtungen solcher Zysten — speziell im- Ver¬
hältnis zu den übrigen Abdominaltumoren zu suchen, ln
der mir zur Verfügung stehenden Literatur der letzten 26
Jahre konnte ich nur 25 Fälle ausfindig machen. In dem doch
gewiss gross und ausführlich angelegten Lehrbuch der
Chirurgie von H. Tillmunns (Ausgabe 1897) fand ich nur
8 Fälle von primären Mesenterialzysten erwähnt.
Zum genauen Verständnis der später folgenden Aus¬
führungen will ich gleich die Krankengeschichte
unseres Falles vorwegnehmen.
Anamnese: Frau R. L., 45 Jahre alt, war mit 15 Jahren zum
ersten Male menstruiert; Menses immer regelmassig alle 4 Wochen,
4 Tage dauernd. Letzte Menses vor 14 Tagen (Aufnahme der Pa¬
tientin 11. VIII. 03); Dauer derselben 14 Tage, ohne Krämpfe oder
sonstige Beschwerden. Pat. hat 13 mal geboren und einmal abortiert.
Die Geburten verliefen alle ebenso wie die Wochenbetten glatt ohne
ärztliche Hilfe. Die Kinder waren alle ausgetragen. Letzte Geburt
15 Wochen vor der Aufnahme. Kurz nach dieser Geburt bemerkte
Pat. ein starkes Druckgefühl im Unterleib, das mit einer rapiden Zu¬
nahme des Leibesumfanges einherging. Kein Herzklopfen, keine
Atembeschwerden. Appetit gut; Stuhl geregelt. Urinentleerung
ohne Beschwerden. Oedeme bestanden nie. Ausser dem oben an-
gegebenen Druckgefühl im Unterleib keine Beschwerden. Schleimiger
Fluor. Familienanamnese ohne Belang.
Status praesens; Mittelgrosse, magere Frau von sonst ge¬
sundem Aussehen. Puls kräftig, 100 in der Minute. Respiration 16.
Temperatur 36,5 (in der Achselhöhle). Herztone rein, nur etwas
akzentuiert. Lungen ohne besonderen Befund. Urin hell, klar, kein
Eiweiss, kein Zucker. Leber nicht vergrössert, Rippenbogen nicht
überragend. Aus den Mammae ist ohne Mühe reichlich Milch aus¬
zudrücken. — Abdomen prall gespannt, enorm stark, gleichmassig
kugelig vorgewölbt; zahlreiche Striae. An den abhängigen I artien
in Rückenlage tympanitischer, sonst überall — von der Symphyse bis
2 Querfinger unter dem Proz. ensiform. und seitlich bis eine halbe
Hand breit ausserhalb der Mammillarlinie — gedampfter Schall uast
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
I ton). Der tympanitische Schall der Seitenpartien bleibt
auch bei Latfcwechsel beiderseits bestehen. An der Grenze des
Schallwechsels hört scharf die Fluktuation für die palpierende Hand
auf. Schräg über das Abdomen, vom linken Rippenbogen, rechts
neben dem Nabel zur rechten Spina ant. sup. zieht ein doppeltfinger¬
dicker, ziemlich harter Strang (siehe Fig. 1) über dem ganz schwach
tympanitischer Schall zu perkntieren ist und der für Darm ange¬
sprochen wird. Taillenumfang:
109 cm. Hüftumfang: 105 cm.
Symphyse bis Nabel: 26 cm.
Nabel bis Proc. ensiform. 27 cm.
— Vulva klafft weit; geringe In¬
version der vorderen und hin¬
teren Vaginalwand. Vagina sehr
weit. Portio retroponiert; Mut¬
termund Querspalte; beide Kom¬
missuren eingerissen. Corpus
Uteri in Anteflexion III. Grades,
beweglich, weich, nicht vergrös-
sert, nicht druckempfindlich, nur
von der Vagina aus zu tasten.
Adnexe sind nicht zu tuschieren.
Bei Beckenhochlagerung be¬
kommt man über der Symphyse
eine kleine Zone (ca. 2 Quer¬
finger breit) tympanitischen
Schalls, was für ein Heraus¬
sinken des Tumors aus dem
Becken gegen das Zwerchfell zu
spricht.
Diagnose: Ovarialkystom
(eventuell retroperitoneale Zyste
^ wegen des der Bauchwand ange¬
lagerten Darms und wegen des
Eig. 1. Auftretens einer Zone tympani¬
tischen Schalls über der Sym¬
physe bei Beckenhochlagerung.
Da die Patientin mit der Operation einverstanden ist, machte ich
am 12. VIII. 03 in Chloroform-Aethernarkose (ana) die Laparo¬
tomie. — Medianer Bauchschnitt von der Symphyse bis 4 Quer¬
finger über den Nabel. Eröffnung des Peritoneum zwischen zwei
Pinzetten. Uterus und Ovarien erweisen sich als intakt. Die Zyste
ist zwischen beiden Peritonealblättern des Dünndarmmesenterium
entwickelt, reicht bis zur Zwerchfellkuppe und ist von einem ca. 40 cm
langen Stück Dünndarm überlagert, welch letzteres innig mit ihr ver-
verwachsen ist (siehe Fig. II). Auch hinten und seitlich ist die Zysten¬
kapsel (i. e. enorm gedehntes Mesenterium) auf zum Teil beträcht¬
lichen Flächen unlöslich mit Darm und parietalem Peritoneum ver-
Fig. II.
wachsen. Nach Einschneidung der Zystenkapsel (i. e. Mesenterium)
lässt sich die Zyste stumpf mit der Hand ausschälen (siehe Fig. II),
wobei sie allerdings einreisst und ihren dünnflüssigen, bräunlichen,
nicht fadenziehenden Inhalt entleert (15 Liter!). Durch vorheriges
peinlich genaues Abdecken der übrigen Bauchhöhle mit Servietten
wurde ein Einfliessen des Zysteninhaltes in dieselbe gänzlich ver¬
mieden. Nachdem der dünnwandige Zystensack völlig stumpf aus¬
geschält ist, wird die Zystenkapsel — Mesenterium rechts bis an den
Dünndarm, links bis an das Peritoneum parietale (da sie, wie oben
erwähnt, mit diesem unlösbar verwachsen ist) nach partienweiser
Unterbindung mit Katgut mit der Schere reseziert. Die Höhle der
Zystenkapsel (= Raum zwischen den beiden Mesenterialblättern) wird
sodann trocken getupft und der Schlitz der Kapsel mit fortlaufender
Katgutnaht vereinigt. Das nicht inzidierte zweite Mesenterialblatt
ist nicht lädiert worden. Processus vermiformis und Leber erweisen
sich intakt. Darm wurde nicht verletzt. Naht der Bauchwunde
(28 cm lang): Peritoneum mit fortlaufender Katgutnaht, Faszien mit
27 Silk- und Katgutknopfnähten (auf 1 Silknaht 2 Katgutruihte), Haut
mit Silkknopfnähten. Auf die Wunde sterile Gaze und Watte; Binden¬
verband. Dauer der Operation (inkl. Bauchdeckennaht): 75 Minuten.
Pat. erholte sich rasch nach der Operation. Erbrechen stellte
sich nicht ein. Die höchste Temperatur betrug 38,3 (in der Achsel¬
höhle), die höchste Pulszahl 120. — Am 14. Tage war Pat. ausser Bett,
nachdem am 9. Tag die erste, am 13. Tag die zweite Hälfte der Nähte
entfernt worden war. Am 21. Tag wurde sie mit linearer, per primam
geheilter Narbe ohne Verband bei 36,3 Temperatur und 74 Puls ent¬
lassen. Zum Schutz der Narbe (bezw. zur Vermeidung einer Hernien¬
bildung) musste Pat. für ein halbes Jahr eine Beel y binde mit
Hüftumfang 80! (gegen 105 cm v o r der Operation) tragen.
Die Zy sten fl iissigkeit wurde 1. ohne Zusatz, 2. mit
Alkohol, 3. mit Essigsäure gekocht; es trat nie ein Niederschlag oder
eine Trübung auf.
Die Zysten wand bestand mikroskopisch aus (innen) jungem
und (aussen) altem Bindegewebe ohne Endo- oder Epithel.
An der Hand obiger Krankengeschichte und der mir in der
zugängigen Literatur untergelaufenen Fälle, möchte ich mir
nun erlauben, im Folgenden einen kurzen Ueberblick über
Aetiologie, Diagnostik und Therapie der Me¬
senterialzysten anzuknüpfen.
In unserem Falle gelang es mir nicht, eine wirklich stich¬
haltige Entstehungsursache oder einen Anhaltspunkt
für den Entstehungsort ausfindig zu machen. Die 15
Wochen vor unserer Beobachtung stattgehabte Geburt für das
Entstehen des Tumors verantwortlich zu machen, das wäre
doch zu weit hergeholt. Wie sollte dieselbe überhaupt in
diesem Sinne gewirkt haben? Etwa durch Kompression von
Mcsenterialgefässen von seiten des graviden Uterus? Das
halte ich für völlig ausgeschlossen. Denn dann hätten wir
doch wahrscheinlich zu erwarten gehabt: 1. Beschwerden
während der Gravidität (diese bestanden nicht). 2. Ernährungs¬
störungen von seiten des Darmes. (Diesbezüglich war nichts
nachzuweisen: Stuhl war immer geregelt, der Appetit gut;
nie war Blut im Stuhl). 3. Aszites. (Es war weder vor noch
b c i der Operation eine Spur davon vorhanden.) 4. Oedeme
der unteren Extremitäten. Auch diese haben nie bestanden.
Und anzunehmen wäre doch, dass wenn der gravide Uterus
einen derartigen Druck auf die Mesenterialgefässe ausgeübt
hätte, er auch die übrigen Gefässe im Abdomen komprimiert
hätte. — Ausserdem müsste man doch annehmen, dass, wenn
es sich um ein Transsudat zwischen die beiden Mesenterial¬
blätter gehandelt hätte, dasselbe nach erfolgter Geburt doch
zurückgegangen oder wenigstens zum Stillstand gekommen
wäre; es war dies aber keineswegs der Fall; im Gegenteil —
die Flüssigkeitsansammlung nahm erst nach erfolgter Geburt
rapid zu. Zudem handelte es sich ja überhaupt nicht um ein
Transsudat zwischen die beiden Peritonealblätter (cs
wies ja auch die Flüssigkeit kein Eiweiss auf), sondern um
eine, wenn auch dünnwandige, so doch in toto getrennt von
den Mesenterialblättern ausschälbare Zyste. Weshalb sollte
auch mit einem Male die 12. Gravidität, die eben so glatten
Verlauf nahm, wie die 11 vorausgegangenen, eine Kompression
der Mesenterialgefässe hervorrufen ? Eher scheint mir das
rapide Wachtstum im Anschluss an die letzte Geburt dadurch
erklärlich, dass die schon vorher vorhandene aber noch kleine
Geschwulst durch den grossen graviden Uterus direkt me¬
chanisch am Wachstum gehindert worden ist. Dabei kann
dann der ständige Druck des Uterus quasi als chronisches
Trauma für das nach seiner Entleerung sofort eintretende rapide
Wachstum des Tumors das auslösende Moment gewesen sein.
Damit sind wir aber nur der Ursache des raschen
Wachstums, aber nicht der Entsteh ungs Ursache
der Zyste nähergerückt. — Auch dass der Druck des graviden
Uterus auf eine Mesenterialdrüse den Grund zur zystischen
Degeneration einer solchen abgegeben haben sollte, erachte
4. September 19U6.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1761
ist als nicht wahrscheinlich, denn wie viele Mehrgebärende
müssten dann Trägerinnen von Mesenterialzysten sein. Und
warum sollte wiederum gerade die 12. Schwangerschaft, die
ebenso beschwerdefrei verlief wie die 11 vorhergehenden, die
Schuld hieran haben? Eher dürfte vielleicht die allgemeine
Hyperämie der Abdominalorgane während der Schwanger¬
schaft überhaupt als prädisponierendes Moment für Tumoren¬
bildung im Abdomen in Betracht kommen. Dass auch dies
nur eine Hypothese ist, beweist am besten der Umstand, dass
in 6 Fällen aus der Literatur es sich um männliche Pa¬
tienten handelte und dass in den übrigen Fällen bei keinem ein
unmittelbarer Zusammenhang mit einer Schwangerschaft be¬
stand, ausser vielleicht bei dem von Joh. Hahn beschriebenen,
dessen Patientin 5 Tage nach der Entbindung zum ersten Male
Beschwerden fühlte, die auf die nachher bei ihr gefundene
Mesenterialzyste zurückzuführen sind. — Die Familienanam-
nese ist in unserem Falle gar nicht für die Aetiologie zu ver¬
werten. Auch vorhergegangene Erkrankungen kommen nicht
in Betracht, da Pat. bis zur Entstehung des Tumors immer
völlig gesund war, wie denn ja auch bei der Untersuchung die
Brust- und Bauchorgane keinerlei pathologischen Befund auf-
wiesen. — Durch die Untersuchung der Zystenwand und des
Zysteninhaltes sind wir der Lösung der Frage nach der Ent¬
stehungsursache auch nicht näher gerückt; der Inhalt war
bräunlich, klar, fadenziehend und gab weder auf Kochen allein,
noch auf Kochen mit Essigsäure und auf Kochen mit Alkohol
einen Niederschlag. — Die Zystenwand bestand mikroskopisch
aus altem und jungem Bindegewebe ohne Epi- oder Endothel.
— Zur Klärung der Aetiologie lässt sich also unser Fall
so gut wie gar nicht verwerten. — Was die übrigen Beobachter
anlangt, so nehmen dieselben — soweit sie bezüglich der
Aetiologie überhaupt zu einem Resultat kommen — folgende
Entstehungsorte bezw. -Ursachen an:
a) Mesenteriallymphdrüsen (Q. Werth, V. Rubeska,
Miliar d-Tillaux);
b) die Cisterna chyli (F. Bramann);
c) Zerreissung von Mesenteriallymphgefässen im An¬
schluss an ein Trauma (A. Rasch);
d) verlagerte Eierstocks- bezw. Darmanlagen (Charles
N. D o w d);
e) Verschluss des Ductus thoracicus (Rokitansky,
V i r c h o w, W i n i w a r t e r).
Bezüglich der Diagnostik der Mesenterialzysten fand
ich bei der Durchsicht der Literatur, dass die Schwierigkeit
derselben wie uns so auch einen Teil der übrigen Beobachter
zu Fehldiagnosen verleitete. Die Tumoren wurden für Wan¬
derniere bezw. Invagination (M i 1 1 a r d - T i 1 1 a u x), für
Ovarialkystom (Charles H. C a r t e r), für Zyste des Lig. latum,
für Magen- bezw. Gallensteinleiden usw. gehalten.
In unserem Falle machte schon die riesige Grösse
der Zyste eine präzisere Diagnose bezüglich ihrer Abstam¬
mung fast unmöglich. Da ein bimanuelles Abtasten der Adnexe
nicht möglich war, der Uterus selbst nur von der Vagina aus
deutlich zu tasten war, so lag die Vermutung — zumal bei der
grossen Häufigkeit der Ovarialzysten — sehr nahe, dass es
sich um ein Ovarialkystom handeln könne. Das geringe Her¬
aussinken des Tumors aus dem Becken bei Beckenhochlage¬
rung sprach nicht dagegen, da man es auch manchmal bei
Ovarialtumoren, zumal wenn sie nicht zu sehr durch Ad¬
häsionen fixiert sind, beobachten kartn. Auch der Nachweis an
der an der vorderen Bauchwand fest anliegenden Darm¬
schlinge, die vor dem Tumor liegen musste, entkräftigte
unsere Diagnose nicht, zumal es sich ja ganz gut um eine der
Vorderwand des Ovarialkystoms adhärente Darmschlinge
handeln konnte.
Alles in allem dürfte die Häufigkeit der Fehldiagnosen bei
Mesenterialzysten beweisen, wie schwierig dieselben in den
meisten Fällen als solche zu erkennen sind.
Hier zugleich noch ein Wort über die Probepunktion. Ich
möchte dieselbe in keinem Falle empfehlen. Ist der Tumor als
Zyste erkannt, was wohl in den meisten Fällen gelingen dürfte,
so haben wir von dem Inhalt der Zyste, den wir ja höchstens
durch die Probepunktion erhalten, nicht viel Aufschluss zu
erwarten. Vielmehr möchte ich hier der Probelaparotomie, die
No. 36.
heute im Zeitalter der Asepsis doch sich relativer Ungefähr¬
lichkeit erfreut, entschieden das Wort reden.
Nun zum Schluss noch einige Worte über die T h e r a p i e
der Mesenterialzysten. — Die idealste und am meisten Aussicht
auf Dauerheilung bietende Behandlung ist unbestreitbar die
totale Entfernung des Tumors. Dies ist uns in unserem Falle
zum Glück für die Patientin vollständig gelungen und sie er¬
freut sich denn auch seit ihrer Entlassung vollsten Wohl¬
befindens. Speziell die Darmfunktion war seit der Operation
eine ausgezeichnete. Kräftezustand und Arbeitsfähigkeit haben
sich in erfreulicher Weise gehoben. — Machen unlösbare Ad¬
häsionen eine vollständige Entfernung des Tumors unmöglich,
so käme als Nächstbestes das Einnähen der Zyste in die
Bauchwunde, Drainage derselben und Versuch, dieselbe all¬
mählich zu veröden, in Frage. — Sollte in ganz verzweifelten
Fällen der Kräftezustand der Patienten auch diesen Eingriff
als zu gefährlich verbieten, so käme als ultima ratio die ein¬
fache, unter Umständen zu wiederholende Punktion (wohl nur
bei grossen Zysten) in Betracht, die dann wenigstens in
manchen Fällen momentan und auf einige Zeit Erleichteiung
der Beschwerden verschaffen wird. — Nach diesen Gesichts¬
punkten scheinen auch die meisten Fälle, die ich in der Literatur
beschrieben fand, behandelt worden zu sein.
Meinem verehrten früheren Chef, Herrn Prof. Dr. Klein,
spreche ich auch an dieser Stelle für die Ueberlassung des
Falles meinen besten Dank aus.
Literatur:
Hahn: Berl. klin. Wochenschr. 1887, XXIV. — J. Lauen¬
stein: Inaug.-Dissert. 1893. — Schmidts Jahrbücher: 203, 214,
215, 227, 228, 229, 234, 243, 254, 255, 262, 271, 273, 277. — H. r Hi¬
rn an n s: Lehrbuch der spez. Chirurgie 1897. — H. Schmaus: Lehr¬
buch der pathol. Anatomie. — J. Veit: Handbuch der Gynäkologie.
Zentralblatt für Chirurgie 1880 (41), 1885 (52). — Mün¬
chener medizinische Wochenschrift 1905.
Aus der Universitätspoliklinik für innere und Kinderkrankheiten,
Strassburg i. E. (Direktor: Prof. Dr. 0. K o h t s).
Hefetherapie der Gastroenteritis im Kindesalter.
Von Dr. Paul Sittler, Assistenten der Poliklinik.
Infolge einer von C o m b e - Lausanne in seinem kürzlich ei-
schienenen Werke „L’Auto-Intoxication intestinale (Paiis, Bailiiere
gegebenen Anregung wurde in letzter Zeit auf der hiesigen Poliklinik
bei Gastroenteritiden jüngerer und älterer Kinder neben den bishei
üblichen Behandlungsmethoden auch die Anwendung von Hefeprä¬
paraten versucht.
Die Erfolge dieser Behandlungsweise waren gute, zum I eil sogar
sehr befriedigende, so dass bei der Iherapie der Gastroenteiitis die
Verwendung der Hefe wohl berücksichtigt zu werden verdient.
Angewandt wurden drei verschiedene Hefepräparate: Le v ur i-
nose Levure Adrian (beide in Pulvern zu je 1 g) und Le-
vure’tin (in Tabletten von 0,5 g). Das letzte Präparat, eine
„trockene lebenskräftige Bierhefe“, dessen Verwendung infolge dei
Tablettenpackung für die poliklinische Praxis am einfachsten war,
schien sich auch in therapeutischer Hinsicht am besten von den drei
angewandten Präparaten zu bewähren. Ueber die Verwendbarkeit der
übrigen im Handel befindlichen Hefepräparate müssen weitere Ver¬
suche entscheiden. — Die Dosis betrug bei den beiden erstgenannten
Präparaten 1—2—3 g täglich, beim Levuretin 3—4—5 Tabletten, je
nach dem Alter des Kindes. Die Präparate wurden fast immer an¬
standslos genommen und gut ertragen; nur ein 19 Monate altes Kind
brach, nachdem ihm von der Mutter trotz Widerstrebens die Hefe
eingeflösst worden war. • — Die meisten der behandelten Patienten
befanden sich im ersten Lebensjahr, das jüngste (mit Ei folg) be¬
handelte Kind war 2 Wochen alt.
Die Behandlung wurde derart durchgeführt, dass neben diäte¬
tischer Behandlung — Aussetzen der Milch; an deren Stelle: Thee,
Eiweisszuckerwasser, cvent. Kindermehlabkochungen; spätei : Milch-
Mehlmischungen; bei älteren Kindern: Schleimdiät — das Hefe¬
präparat fein verrührt in abgekühltem gesiissten Thee oder Zucker¬
wasser gegeben wurde; nötigenfalls wurden noch andere medikamen¬
töse Präparate oder Magen- und Darmspülungen daneben angewandt.
Auffallend war der Erfolg der Hefetherapie bei den mit starker
Fäulnis des Darminhaltes einhergehenden Enteritiden. Der schlechte
Geruch der Stühle besserte sich fast immer gleichzeitig mit einer Ver¬
minderung der Zahl derselben. Auch die anderen Enteritiden reagier¬
ten meist gut auf Hefe. Bei Gastroenteritis hörte das Brechen prompt
auf. — in einigen Fällen wurde die Gastroenteritis oder Enteritis
durch Hefeverabreichung allein zur Heilung gebracht; daruntei
befanden sich schwere, mit hohem Fieber und sonstigen Zeichen
ernster Erkrankung einhergehende Fälle, die weder aut Kalomei,
3
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
v\ ismut oder Tannalbin, noch auf Darmspiilung reagiert hatten. In
anderen Fällen wurde vor der Hefe Kalomel oder Purgen, in wieder
anderen nachher oder gleichzeitig Wismut, Bisrnutose oder Tannalbin
(Kombinationen, die sich sehr gut bewährten) mit Erfolg gegeben,
während vorher (ohne Ilefetherapie) dieselben Präparate bei den be¬
treffenden Patienten unwirksam geblieben waren. — Stärkerwerden
des Durchfalls habe ich nur einmal gesehen bei der Enteritis eines
2jährigen Kindes (infolge Diätfehlers: Obst), das 4 g Levurinose be¬
kommen hatte. Weitere unangenehme Nebenwirkungen der Therapie
mit Hefe habe ich bei den Kindern nicht beobachtet, so dass be¬
sonders bei hartnäckigen, aber auch bei leich¬
teren Gastroenteritiden ein Versuch mit der Hefe¬
therapie nur empfohlen werden kann. — Hervorgehoben
sei noch, dass die (schwach) saure Reaktion des Darminhaltes bei
Enteritis die Wirkung der Hefe begünstigt.
Ob auch bei Enteritiden der Erwachsenen und bei den mit starken
Darmerscheinungen einhergehenden Infektionskrankheiten sich die
Hefetherapie bewährt, müssen weitere Untersuchungen lehren. Be¬
züglich der Vornahme von Versuchen beim Typhus abdominalis sei
nur auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die sich bei der Hefe¬
gärung im Intestinaltraktus entwickelnde Kohlensäure event. durch
Dehnung der Darmwandungen zu Zerreissungen kleiner Gefässe in
den Geschwüren und so zu Darmblutungen führen könnte.
Aus der K. psychiatrischen Klinik Königsberg i. Pr. (Direktor:
Prof. E. Meyer).
Ueber einen Fall von akutem umschriebenen Oedem
bei Tabes dorsalis.
Von Dr. Kürbitz, I. Assistenzarzt der Klinik.
Krankengeschichte: Am 1. Mai d. J. wurde die
48 jährige Stütze S. vom Schiedsgericht zur Begutachtung auf In¬
validität in die hiesige Klinik gesandt. S. war schon wiederholt
untersucht, da sie wegen eines hartnäckigen Ausschlages an den
Händen Invalidenrente beantragt hatte.
Am 29. April 1904 war sie, ohne Zusammenhang mit dem Renten¬
verfahren, in der hiesigen Poliklinik gewesen. Dort klagte sie über
heftigen Kopfschmerz, verbunden mit Kopfdruck, zeitweise Unruhe
und Herzklopfen, zuweilen Schwindel. Schlaf schlecht, Appetit
massig. Es bestand damals völlige Pupillenstarre, geringer Ex¬
ophthalmus, Fehlen der Patellarreflexe, Puls 100. Die Diagnose wurde
auf Tabes dorsalis gestellt.
Bei ihrer jetzigen Aufnahme in die Klinik ergab die körperliche
Untersuchung:
Mittelgrosse, kräftig gebaute Person in gutem Ernährungs¬
zustand. Kopfperkussion nicht schmerzhaft; Druck auf die Trige¬
minusäste angeblich „etwas schmerzhaft“, VII frei.
Pupillen etwas über mittelweit, 1. = r., RL— , geringer Ex¬
ophthalmus. Zunge kommt gerade, Gaumen-Rachenrefiex +.
Keine Struma. K n p h. — , Patkl. — , AchsR. +, Bab. — , Opph. — ,
Romberg +. Reflexe d. o. E. o. E.: o. B.
Sensibilität überall normal.
Die inneren Organe gesund; Puls schwankt zwischen 8 0—1 0 0.
Die subjektiven Beschwerden bestanden in einem seit Jahren
vorhandenen hartnäckigen Kopfschmerz mit zeitweisem „Kopfdruck“,
der oft so heftig auftritt, dass S. zu keiner Arbeit fähig ist und
keinen klaren Gedanken fassen kann. Sodann klagte sie über rheu¬
matismusartige Schmerzen in den Oberschenkeln; eigentliche lanzi-
nierende Schmerzen waren nie vorhanden. An den Fingerspitzen
und an den Zehen oft Kriebeln, das in letzter Zeit zugenommen hat.
An den Dorsalflächen der Hände besteht seit 3 Jahren ein jucken¬
des, schuppendes Ekzem, das trotz langdauernder Behandlung
wohl gebessert, aber nie ganz geschwunden ist.
Psychisch ist S. völlig klar, nur fällt eine gewisse Erregbarkeit
und Empfindlichkeit auf: sie ist gereizt und mürrisch, gibt auf die an
sie gerichteten Fragen nur in kurz angebundenem Ton Antwort etc.
Bis zum 9. M a i nachmittags trat keine Aenderung im Befinden
dei Kranken ein. An diesem I age fand ich sie beständig halblaut vor
sich hinstöhnend im Bett mit geschwollenem Gesicht, und zwar han¬
delte es sich um eine Schwellung, die vor allem die Oberlippe
und dje beiden Oberlider betroffen hatte. Die Gefässe der Konjunk-
tiva waren stark injiziert. Die erkrankten Partien zeigten eine blasse,
wachsgelbe Farbe, auf welcher der Druck des Fingers nicht stehen
blieb; nirgends entzündliche Röte wahrnehmbar; das Oedem war
zur Umgebung scharf abgesetzt, juckte nicht, es bestand nur ein Ge¬
fühl des Gespanntseins. Alle Erscheinungen traten rechts deut-
üp h d r zutage als links. Dabei hatte sich der Kopfschmerz, der am
Mot gen schon stärker als sonst gewesen war, noch mehr gesteigert.
Am 10. V. vormittags bot S. ein Bild, wie es Abbildung 1 darstellt.
Die Schwellung der Oberlippe und der beiden Oberlider ist ein
klein \\ eilig gegen gestern zurückgegangen, dagegen ist jetzt auch
die rechte Wange und das rechte untere Augenlid in Mitleidenschaft
gezogen (cfr. Bild 1). Eine heute vorgenommene Messung mit dem
l lautthermometer ergibt, dass die Haut über den erkrankten Stellen
' io— /io höher ist als an gesunden Partien des Gesichts. S. klagt
u. a. jetzt auch über heftiges Jucken in den Händen und man sieht
links am 3. und 4. Finger 2 kleine bläschenartige Erhebungen der Haut.
Die Herzaktion ist eine beschleunigte, 114—128; Urin wird in ge¬
wöhnlicher Menge gelassen und enthält weder Alb. noch Sacch. Am
Nachmittag treten Magenschmerzen auf, völlige Appetitlosigkeit und
einmaliges Erbrechen von hellem Schleim; keine Diarrhöen. Die
Körpertemperatur ist nicht erhöht.
Eig- 1. Fig. 2.
Am folgenden Tage (11. V.) geht die Schwellung überall all¬
mählich zurück, besonders an der Wange und an den Lidern, nur die
Kopfschmerzen bestehen unvermindert weiter. S. nimmt fast keine
Nahrung zu sich, nur etwas Kaffee mit Milch; muss 2 mal brechen.
Am 12. V. mittags sind alle Schwellungen geschwunden (cfr.
Bild 2), die Kopfschmerzen haben wesentlich nachgelassen, der Appe¬
tit stellt sich wieder ein.
Aus den Angaben der S. will ich noch folgende Punkte hervor¬
heben, ehe ich auf das Krankheitsbild selbst eingehe. Auf Befragen
erzählt sie uns, dass eine solche Schwellung zuerst vor 3 bis
4 Jahren ohne irgendwelche äussere Veranlassung aufgetreten sei,
wobei dieselben Stellen im Gesicht betroffen waren wie jetzt. Erst
seltener, dann allmählich immer häufiger (in diesem Jahr schon
4— 5 mal) trat die Erkrankung auf und zugleich stellten sich Magen¬
beschwerden mit Erbrechen ein; stets waren die Kopfschmerzen in¬
tensiv gesteigert und der Allgemeinzustand ganz erheblich beeinträch¬
tigt. Die Schwellung im Gesicht begann immer mit einem geringen
Brennen, eine Rötung hat S. niemals bemerkt; am 3. Tage wieder
gesund.
Es handelt sich hier offenbar um das akute um¬
schriebene Oedem, das zuerst von Quincke, S trü¬
bin g etc. genau beobachtet und beschrieben ist. Die um¬
schriebenen Schwellungen, die ganz akut auftreten und all¬
mählich wieder zurückgehen — ohne Entzündung etwa phleg¬
monöser oder erysipelatöser Natur — lassen eine andere Deu¬
tung nicht zu.
Das akute umschriebene Oedem steht immer in Zu¬
sammenhang mit anderen Erkrankungen, wobei ich einmal be¬
tone, dass die Krankheiten, bei denen wir es besonders oft auf¬
treten sehen, das Blut und, den Stoffwechsel betreffen, und
ferner Erkrankungen des nervösen Apparates sind.
C a s s i r e r, der in seiner eingehenden Monographie über ,,die
vasomotorisch trophischen Neurosen“, dem akuten Oedem eine
ausführliche Besprechung widmet, nennt als disponierende
Momente von seiten des Nervensystems besonders Tabes dors.,
Morb. Basedowii, Hysterie, Neurasthenie, extra- und intra¬
medulläre Tumoren des Rückenmarks, Myxödem, Psychosen
der verschiedensten Art, psychische Erschütterungen (Schreck,
Aergei). Relativ häufig sind akute umschriebene Oedeme im
Anschluss an Morb. Basedowii erwähnt, so z. B. von M a u d e,
Milleiand, Joseph u. a. Bei S. fand sich nun zwar
auch geringer Exophthalmus und etwas Pulsbeschleunigung,
doch haben wir keine genügenden Anhaltspunkte, einen Morb.
Basedowii als ätiologisches Moment anzusehen, vielmehr liegt
der Gedanke näher, die Schwellung als Ausdruck
der I abes dors. aufzufassen, für deren unbedingtes
Bestehen die Pupillenstarre und das Fehlen des Kniescheiben¬
reflexes spricht; ferner passen dazu die beständigen Kopf¬
schmerzen, das Kriebeln in den Fingerspitzen und in den Zehen
und die rheumatismusartigen Schmerzen in den Oberschenkeln.
Auch ist die Möglichkeit sehr wohl zu erwägen, dass der Aus-
4. September 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
schlag an den Händen — es ist nach Ansicht von Prof.
Scholz- Königsberg ein leichtes chronisches Ekzem — mit
dem Rückenmarksleiden in Zusammenhang steht, wofür ja
mancherlei spricht. Die ersten Erscheinungen traten vor
ca> 3 _ 4 Jahren auf, also zu einer Zeit, als die Tabes dors. schon
vorhanden war. Sodann konnte trotz eingehender Behand¬
lung mit Röntgenstrahlen, Salben, Ruhe etc. nur vorüber¬
gehende Besserung, aber keine Heilung erzielt werden. Bei
längerer Beschäftigung, besonders mit Wasser, trat sofort eine
wesentliche Verschlimmerung ein. Endlich spricht für die
gleiche Grundlage des akuten umschriebenen Oedems und des
Ekzems noch das Auftreten der Bläschen an den Händen zur
Zeit der Schwellung, die mit deren Abklingen wieder schwan¬
den. ^ . . ,
Wenden wir noch einen Blick auf das Oedem selbst.
Wir fanden, um das noch einmal ganz kurz zusammenzufassen,
eine plötzlich auftretende, scharf umgrenzte, schmerzlose
Schwellung der Oberlippe und der Oberlider, deren Vorläufer
ein wenige Stunden vorher einsetzender intensiver Kopf¬
schmerz war. Die Farbe war blassgelb, nirgends sah man
Zeichen einer Entzündung; um so auffälliger war eine, wenn
auch nur geringe 1 emperatursteigerung im Vei -
gleich zu der gesunden Umgebung. Bei den sonst in der
Literatur beschriebenen Fällen war nur dann eine Erhöhung der
Temperatur vorhanden, wenn eine entzündliche Rötung die
Schwellung begleitete; eine Erklärung für das abweichende Er¬
gebnis bei unserer Kranken vermag ich nicht zu geben. Der
Druck des untersuchenden Fingers trat charakteristischerweise
nicht zutage, im Gegensatz zu einem Vitium cordis oder einer
Nephritis. Da man wohl, wie oben ausgeführt, in der Annahme
nicht fehlgeht, dass das akute umschriebene Oedem in unserem
Fall mit der Tabes dorsalis in ursächlichen Zusammenhang ge¬
bracht werden muss, so nimmt es uns auch nicht wunder,
wenn wir auch sonst Störungen nervöser Art während der
3 Krankheitstage finden. Ausser den prodromalen und bis zum
Abklingen der Schwellung bestehenden, äusserst heftigen Kopf¬
schmerzen und der in dieser Zeit nachgewiesenen Puls¬
beschleunigung (114 — 128) muss man auch die Erschei¬
nungen von seiten des Magens noch hervorheben.
Nachdem nämlich das Oedem bereits einige Stunden bestan¬
den hatte, „ trat eine sich allmählich steigernde Unlust zur
Nahrungsaufnahme ein mit Neigung zum Brechen, ja 3 mal
wurde auch tatsächlich Schleim erbrochen. Der Daimkanal
war anscheinend intakt, denn die von anderer Seite be¬
obachteten Diarrhöen zeigten sich hier nicht; desgleichen fehl¬
ten Meteorismus, Druckempfindlichkeit des Abdomens und ver¬
mehrtes Durstgefühl. Finger und Sehnenscheiden waren auch
nicht betroffen, desgleichen sah ich nirgends Gelenkschwel¬
lungen. Eine Reizung der Nieren bestand auch nicht, da sich
trotz mehrfacher Harnuntersuchung kein Albumen fand, auch
war die Menge des Urins nicht vermehrt. Fieber war nicht da,
desgleichen traten keine Krämpfe auf. Dass das Ekzem der
Hände heftigere Erscheinungen machte, erwähnte ich bereits.
Eine besondere Reizbarkeit oder Depression bestand vorher
nicht, wohl aber fiel zurzeit des Oedems grosse Mattigkeit auf
und eine niedergedrückte, weinerliche Stimmung mit Unlust¬
gefühl, Erscheinungen, die wir zweifellos als Allgemeinsym¬
ptome deuten müssen.
Am meisten hat man das akute umschriebene Oedem mit
der Urtikaria in Verbindung gebracht und wohl mit vollem
Recht, denn manche in der Literatur niedergelegten Fälle zeigen
uns direkt fliessende Uebergänge zwischen beiden Krankheiten.
Diese bestehen nun bei uns aber keineswegs: während man
bei der Urtikaria mehr oder weniger ausgeprägte Röte, Hitze
und Jucken findet, trat hier eine völlig reizlose Blässe zutage.
Hervorzuheben ist ferner noch das charakteristische Wechseln
des Oedems: am 2. Tage waren die zuerst vorwiegend ge¬
schwollenen Partien an der Oberlippe und den beiden Ober¬
lidern etwas zurückgegangen, während andere Stellen, näm¬
lich die rechte Wange und das rechte untere Augenlid frisch
erkrankt waren.
Nach all dem dürfte es keinem Zweifel unterliegen, dass
wir es mit einem akuten umschriebenen Oedem bei bestehender
Tabes dorsalis zu tun hatten.
Am Schlüsse dieser Ausführungen spreche ich meinem
hochverehrten Chef, Herrn Prof. E. Meyer, für die gütige
Ueberlassung des Falles meinen ergebensten Dank aus.
Eine neue Form hysterischer Zustände bei Schul¬
kindern.
Von Dr. med. P. Schütte.
Die unter dem Namen „Zitterkrankheit“ gegenwärtig in
einigen Schulen der Stadt Meissen epidemisch auftretende ner¬
vöse Krankheitserscheinung, welche bereits seit Dezember
vorigen Jahres besteht und einen ziemlich bedeutenden Um¬
fang angenommen hat, kann man, wie so viele andere moderne
Leiden, als ein Zeichen unserer Zeit, des Zeitalters der Ner¬
vosität, auffassen. In der „Chorea“ haben wir allerdings ein
uns längst bekanntes, ähnliches Krankheitsbild, wenigstens in¬
soweit, als es auf die nervösen Zuckungen und die Zitterbe¬
wegungen ankommt, jedoch handelt es sich bei dieser um ein
chronisch verlaufendes Nervenleiden, welches neben der auf¬
fallenden Muskelunruhe und den in Form von willenlosen und
nicht zu unterdrückenden Bewegungen der verschiedenen Mus¬
kelgruppen einhergehenden Koordinationsstörungen noch man¬
cherlei andere Symptome und Veränderungen in lebenswich¬
tigen Organen, am Herzen, im Gehirn und Rückenmark, als
deren Folge- oder Begleiterscheinungen die nervösen Zuckun¬
gen vielfach anzusehen sind, aufweist, während wir es bei dei
„Zitterkrankheit“ mit einem akut auftretenden Symptomenbild
zu tun haben, welches meist bisher ganz gesunde Kinder befällt
und ausser den Zitterbewegungen keinerlei Nebenei scheinungen
zeigt. Das eigenartige bei der „Zitterkrankheit“ ist, dass sie
in epidemischer Form auftritt, also von einer Person auf die
andere übertragen wird. Die Erkrankten sind meist Kinder im
Alter von 9 bis 13 Jahren, und zwar vorzugsweise Mädchen
der einfachen und mittleren zweiten Bürgerschule, die zu¬
sammen mit 35 Klassen sich in demselben Gebäude befinden.
Ihrer ganzen Symptomatologie und den sehr naheliegenden
ursächlichen Momenten nach charakterisiert sich die „Zittei-
krankheit“ als eine ausgesprochene Schulkrankheit, die mit¬
unter gewissen Vorbedingungen, die allein der Schulbesuch
und das stundenlange zwangsmässige Beisammensein einer
grösseren Anzahl von Kindern mit sich bringt, sich entwickeln
kann. Den eigentlichen Zittererscheinungen geht eine gewisse
nervöse Unruhe der Kinder voraus, welche dieselben von ihrer
gewohnten Aufmerksamkeit ablenkt und sie in ihrem Pflicht¬
eifer mehr oder weniger beeinträchtigt. Die charakteristischen
Symptome machen sich zuerst durch ein leises Zittern der
rechten Hand bemerkbar, die immer nur in der Richtung von
der radialen zur ulnaren Seite hin und her geschüttelt wird.
Das Erzittern geht oft auf den Unterarm über und ergreift
zuweilen auch die linke Seite. In solchen schweren Fällen wer¬
den beide Unterarme stark geschüttelt. Anderweitige Symp¬
tome sind dabei nicht beobachtet worden, und das Allgemein¬
befinden war meist ein gutes. Die Zittererscheinungen tieten
verschieden häufig auf, zuweilen auch nachts, und haben eine
Dauer von wenigen Minuten bis zu einer halben Stunde. . In
den anfallsfreien Pausen fühlen sich die Kinder bis auf eine
gewisse nervöse Erregung meist ganz wohl, bis die Anfälle mit
mehr oder minder erneuter Kraft wieder einsetzen. Dieser
Zustand kann sich wochen- und monatelang hinziehen, zumal
wenn die Kranken nicht rechtzeitig den die Krankheit be¬
günstigenden Einflüssen entzogen werden.
Da es sich bei der „Zitterkrankheit“ um ein rein nervöses
Leiden handelt, so sind die ursächlichen Momente für die Ent¬
stehung derselben sehr naheliegende. Schon der Schulbesuch
allein und die nicht unbeträchtlichen Anforderungen, die durch
diesen an die körperlichen und geistigen Kräfte der Kinder ge¬
stellt werden, das frühere Aufstehen und das vorbereitende
Hasten und Jagen, um rechtzeitig in der Schule zu sein, die
vielerlei Gemütsaufregungen, die die Erfüllung der Schul¬
pflichten mit sich bringt, und all’ die grossen und kleinen böi¬
gen, die vom ersten Schulgange an das Kinderherz beschweren,
bringen es mit sich, dass b&i einer ganzen Anzahl von Kindern
sich schon frühzeitig eine gewisse Nervosität bemerkbar macht.
Diese Nervosität kann sich bei, besonders dazu veranlagten
. . ' * 3
1764
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
Kindern unter Umständen bis zu einem Grade steigern, dass sie
schon mit Zittern und Zagen in die Schule gehen. Oft trägt
auch die Furcht vor der Strenge des Lehrers, die eigene Un¬
sicherheit und die Vorausahnung etwa zu erwartender Strafen
zur Erhöhung solcher Zustände bei. Selbstverständlich spielt
dabei die ganze geistige und Gemütsveranlagung, sowie Cha¬
rakter und Temperament des Kindes eine grosse Rolle. Das
eine Kind fasst seine Aufgaben schwerer auf, macht sich um
jede Kleinigkeit Sorgen und Kopfschmerzen, muss auch seine
geistigen Kräfte mehr anstrengen, um mit seinen Mitschülern
gleichen Schritt halten zu können, das andere geht leichter über
alles hinweg, beherrscht spielend das Pensum und bewahrt
stets ein sorgloses und heiteres Gemüt.
Eine von Hause aus bestehende oder ererbte nervöse
Disposition wird natürlich die Neigung zu solchen Zufällen,
wie die „Zitterkrankheit“ sie darstellt, wesentlich begünstigen.
Da von der „Zitterkrankheit“ hauptsächlich Mädchen befallen
sind, so werden auch konstitutionelle Leiden, wie Blutarmut,
Bleichsucht, skrofulöse Veranlagung und die verschiedenen
Entwicklungskrankheiten, die vornehmlich dem weiblichen Ge¬
schlecht eigentümlich sind, bei der Entwicklung dieser hysteri¬
schen Zustände eine Rolle spielen. Auch ungünstige Ernäh-
rungs- und Wohnungsverhältnisse stellen einen nicht zu unter¬
schätzenden Faktor in der Aetiologie der nervösen Erkran¬
kungen dar. Dazu kommt noch, dass Kinder, besonders der
niederen Volksklassen, vielfach schon frühzeitig zu allerhand
schweren Arbeiten, die der Leistungsfähigkeit ihres jugend¬
lichen Alters noch gar nicht entsprechen, mit herangezogen
werden, was auch mit dazu beiträgt, dass die jungen Wesen
schon vor der Zeit unter den Druck einer gewissen nervösen
Erschlaffung kommen. Endlich mag auch der Alkohol, der
heutzutage in Gestalt von verschiedenen Getränken vielfach
schon Kindern ziemlich jungen Alters dargereicht wird, seine
schädlichen Wirkungen auf das Nervensystem derselben nicht
verfehlen.
Alle diese Faktoren sind geeignet, entweder im einzelnen
oder zu mehreren zusammen, unter Hinzutritt irgend einer Ge¬
legenheitsursache, die in einer plötzlichen heftigen Gemütsauf¬
regung, einer zufälligen körperlichen Indisposition oder son¬
stigen Impulsen bestehen kann, ein nervöses Symptomenbild
hervorzurufen, wie es gegenwärtig als sogenannte „Zitterkrank¬
heit“ unter den Meissener Schulkindern krassiert.
Dass das Leiden sich von einem Kinde auf das andere
überträgt und somit einen epidemischen Charakter angenommen
hat, ist keinesfalls auf bazilläre Ursachen oder andere infektiöse
Einflüsse zurückzuführen, sondern erklärt sich lediglich durch
die Einwirkung der Autosuggestion. Dass der Mensch einen
hohen Grad von Nachahmungsautomatik besitzt, der beim
Kinde besonders stark ausgeprägt ist, ist bekannt. Dies zeigt
sich in eklatantester Weise bei der Erscheinung des Gähnens.
Denn wenn ein Mensch einen anderen gähnen sieht, wird er
unwillkürlich dazu gezwungen, diesen Akt ebenfalls auszuüben.
Es ist ausserdem eine unbestrittene Tatsache, dass ein ner¬
vöser, hysterischer Mensch andere Personen, die fortwährend
gewohnheitsmässig mit ihm Zusammensein und täglich mit ihm
verkehren müssen, mit der Zeit ebenfalls nervös macht, und
dass dieselben gewisse nervöse Eigenheiten und Unarten von
dem ersteren gewissermassen annehmen und sich ebenfalls
zu eigen machen. Meist gehört ein grosser Posten Energie
und Selbsterziehung dazu, sich derartige nervöse Unarten, die
leicht einen krankhaften Charakter annehmen können, wieder
abzugewöhnen. Beim Kinde ist die Gefahr für die Heraus¬
bildung solcher nervöser fetände auf dem Wege der Auto¬
suggestion eine noch viel grössere. Ein Kind braucht, zumal
wenn es die Disposition zu nervösen Anwandlungen in sich
trägt, nur wiederholt bei seinem Nachbar oder Vordermann
auf der Schulbank irgendwelche ihm auffallende, ausserge-
wöhnliche Bewegungen, nervöse Zuckungen oder Zitterbe¬
wegungen bestimmter Muskelgruppen vor Augen zu haben,
sofort wird der Nachahmungstrieb erwachen, es wird unwill¬
kürlich versuchen, diese Bewegungen mitzumachen und sich
durch immerwährende Wiederholung allmählich so in diesen
Zustand hineinleben, dass es ihm nicht mehr möglich ist, davon
zu lassen, und schliesslich eine ursprünglich üble Angewohn¬
heit in einen oft sehr schwer zu beseitigenden krankhaften
Zustand ausartet.
Wie schwer solche nervöse Schäden wieder zu heilen sind,
beweist das lange Anhalten der Epidemie in Meissen, infolge
deren gegenwärtig noch eine grosse Anzahl von Schulkindern
vom Schulbesuch ausgeschlossen werden muss. Die dortigen
Aerzte glaubten anfänglich, mit der Krankheit leicht fertig
werden zu können, jedoch hat der bisherige Verlauf gezeigt,
dass man sich in dieser Beziehung allzu optimistischen Illu¬
sionen hingegeben hat.
Bei der Behandlung des Leidens ist das Zunächstliegende,
dass man die Kinder den schädlichen Einflüssen, aus denen die
krankhaften Symptome hervorgegangen sind, tunlichst rasch
entzieht, sie also eine Zeit lang vom Schulbesuch gänzlich aus-
schliesst. Dann ist die grösstmögliche Ruhe und Schonung
geboten, die man am ausgiebigsten dadurch erzielt, dass man
die Kranken ins Bett steckt und viel schlafen lässt. Später
lässt man die Kinder sich fleissig im Freien bewegen und sucht
durch geregelte gymnastische Uebungen, Turnen, Rudern,
Hanteln usw. die erkrankten Muskelgruppen zu stärken.
Schwächliche und in der Ernährung zurückgekommene Kinder
schickt man mehrere Wochen aufs Land, in den Wald oder
an die See, lässt sie neben einer kräftigen diätetischen Er¬
nährung fleissig Milch trinken, verabreicht ihnen täglich Bäder,
von denen schon einfache laue Wasservollbäder, gegebenen¬
falls mit kalten Uebergiessungen, äusserst beruhigend auf das
Nervensystem einwirken. Bei skrofulösen Kindern sind Sole¬
bäder vorzuziehen, bei blutarmen und bleichsüchtigen Stahl-
und Eisenbäder. Im Uebrigen wird man durch sorgfältige
Ueberwachung der Kinder und Anhalten derselben zur Selbst¬
erziehung und Selbstbeobachtung zur Abschwächung und Be¬
seitigung der Zittervorgänge wesentlich beitragen.
Von direkten Einwirkungen auf die alterierten Muskel¬
gruppen dürfte die Anwendung der Elektrizität in Form des
konstanten Stromes von mässiger Stärke zu empfehlen sein.
Man setzt dabei den positiven Pol auf den Nacken und den
negativen auf die erkrankten Nerven und Muskeln der Hand und
des Unterarmes. Sitzungsdauer täglich 5—10 Minuten. Neben
der Elektrizität leistet auch eine aktive und passive Gymnastik
und Massage der beteiligten Muskelgruppen o£t recht gute
Dienste. Von innerlichen Mitteln ist ausser von roborierenden
wenig Erfolg zu erwarten.
Aus der inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses zu
Wiesbaden' (Prof. Dr. W eint rau d).
Eine Ringprobe auf Azeton.
Von Dr. F. Lang e.
Der zu untersuchende Harn wird im Reagenzglase mit einem
Schuss Eisessig versetzt; nach Zusatz einiger Tropfen einer frisch
bereiteten Natriumnitroprussid-Lösung lässt man einige Kubik-
zentimetei Ammoniak vorsichtig zufliessen. Dieser bleibt wegen
seines geringeren spezifischen Gewichts ohne weiteres über dem
schweren Urin-Säure-Gemisch stehen. Bei Anwesenheit von Azeton
in dem untersuchten Urin erscheint an der Berührungsstelle der bei¬
den Flüssigkeiten ein intensiv violetter Ring.
Diese Probe ist eine, wie ich glaube, recht vorteilhafte Abände¬
rung der üblichen Legal sehen oder richtiger der von Le Nobel
angegebenen Reaktion. Mit letzterer, die ja die gleichen Reaktive
Natrium nitro-pi ussicum, NH3 und Essigsäure), jedoch in anderer
Reihenfolge, verwendet, teilt sie den grossen Vorzug vor der
L e g a 1 sehen, dass sie durch Anwendung von Ammoniak, an Stelle
der Natronlauge, die störende Kreatininreaktion vermeidet. Kreatinin
ist in geringerer oder grösserer Menge stets im Harn zugegen. Die
durch diesen Körper verursachte (Rubin-) Rotfärbung bei Anwesen¬
heit von Natriumnitroprussid und Lauge ist, besonders bei Inanitions-
resp. Eieberharnen, eine so intensive, dass die Karmoisinfarbe der
Azetonreaktion unter Umständen dadurch verdeckt wird. Mindestens
aber ist die Differenzierung der beiden Rots für das ungeübte Auge
des Anfängers in klinischer Chemie, und da wiederum bei künst¬
licher Beleuchtung in ganz besonders hohem Masse, schwierig und
unsicher. • • «•
Aber neben diesem zweifellosem Vorteil der Vermeidung jener
Nebenreaktion hat die Ringprobe noch den grossen Vorzug anderer
Schichtproben, dass das Reaktionsresultat gewissermassen in kon¬
zentrierter borm geboten wird. Man sieht nämlich den anfangs viel¬
leicht nur schwach gefärbten Ring in kürzester Zeit immer intensiver
violett, schliesslich fast schwarz werden, ohne dass er in der Breite
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1765
wesentlich zunimmt. Offenbar wird durch die Diffusion an der Be¬
rührungsstelle ein Reaktionsoptimum geschaffen, sodass aus dem
Harn immer wieder frische Azetonmoleküle verarbeitet werden. Da¬
raus geht auch hervor, dass Mengenverhältnisse hier nicht solche
Rolle spielen, wie bei einer mit Totalquanten ausgeführten Reaktion.
Ich habe mich experimentell überzeugt, dass die Probe am em¬
pfindlichsten ist. wenn das Verhältnis 15 ccm Urin : 0,5— 1 ccm Eis¬
essig ungefähr eingehalten wird. Die Menge des Natriumnitroprussids
ist ohne nachweisbaren Einfluss, nur ist es von Vorteil, grosse Mengen
wegen der Eigenfarbe des Stoffes zu vermeiden.
Was die Empfindlichkeit an sich anlangt, so gelingt es mit der
beschriebenen. Probe Azeton in Verdünnungen bis 1/wo Proz. sicher
nachzuweisen. Sie ist also durchaus genügend empfindlich, min¬
destens ebenso wie die Legal sehe. . , ,
Sie ist ferner eindeutig: Alkohol und Aldehyd geben sie nicht.
Das hat sie also auch vor der Liebenschen Jodoformreaktion voraus,
mit der sie sich aber an Empfindlichkeit natürlich nicht messen kann,
denn diese letztere fällt bei Mengen von 0,001—0.0001 mg, wenn
auch oft erst nach 24 Stunden, noch positiv aus fv. Jak sch: Ueber
Azetonurie und Diazeturie, Berlin 1885).
Alles in allem glaube ich die Ringprobe als zuverlässig, ge¬
nügend empfindlich, leicht ausführbar und namentlich für den klinischen
Unterricht überaus demonstrativ der allgemeinen Beachtung em¬
pfehlen zu dürfen.
Aus dem städtischen Krankenhause zu Barmen (Oberarzt:
Geh. San.-Rat Prof. Dr. H e u s n e r).
Der extravesikale Urinseparator nach Heusner*)
Von Dr. F. T r o m p, Assistent.
Zahlreich sind im Laufe der letzten Jahre die Vor¬
schläge geworden, des Urins jeder Niere gesondert habhaft
zu werden. Dies zeugt einerseits von dem lebhaften Be¬
dürfnis. welches hierfür vorliegt, andererseits beweist es, dass
allen bisher konstruierten Apparaten noch Missstände anhaften
Die ältesten Versuche suchten diesen Zweck zu erreichen durch
temporären Verschluss eines Ureters. Ich erwähne S i 1 b e r -
manns Versuch, einen kleinen Gnmmiballon durch das Fen¬
ster eines doppelläufigen Metallkatheters in der Gegend einer
Ureterenöffnung austreten zu lassen und durch eine rüllung
desselben mit 20 ccm Quecksilber diese zu verschliessen
Röchet befestigt an einer Sonde einen Ballon. Dieser wird
aufgebläht und durch eine seitliche Bewegung die Mündung des
Ureters komprimiert. W e i r empfahl die Benützung des von
Daw für die Kompression der Iliaka bei der Hüftgelenks¬
exartikulation angegebenen Rektalstabes in etwas veränderter
Form für die zeitweise Kompression eines Ureters.
Schon früh wurde auch die Ausbildung der Methode ver¬
sucht, die ja eigentlich am nächsten lag, des Katheterismus der
Ureteren. c , , , TT .
Wenn sie auch heute alle anderen Methoden, den Urin
beider Nieren gesondert aufzufangen, verdrängt hat, so darf
man doch seinen Wert nicht überschätzen. Man kann nicht
die Gefahren der Ureterenkatheterisation leugnen, ohne sich
über die Grundlagen der allgemeinen Chirurgie hinweg¬
zusetzen. Es ist nicht möglich, eine Blase mit eitrigem Inhalt
vor dem Durchführen des Ureterenkatheters durch die Blase
steril zu machen. Geübte Spezialisten haben alleidings den
Ureterenkatheterismus hunderte von Malen ausgeführt, ohne
Infektionen zu erleben. Aber die Methode kann nicht in jeder
Hand dasselbe leisten, und insbesondere ist bei Blasentuber¬
kulose oder Verdacht auf solche der doppelseitige Katheteris¬
mus als gefährlich zu betrachten und, wie von fast allen Sei¬
ten zugegeben wird, nicht erlaubt. Auch erfordert die Hand¬
habung des Ureterenkatheters eine grosse Gewandtheit, die
nur durch grosse Uebung zu erreichen, und eine Geschicklich¬
keit, die nicht jedem gegeben ist. Ein anhaltend trüber und
blutiger Urin kann an sich jede kystoskopische Untersuchung
und damit auch jeden Ureterenkatheterismus unmöglich
machen. Verlust der Ausdehnungsfähigkeit der Blase, wie sie
beispielsweise bei tuberkulösen Erkrankungen typisch ist, aber
auch sonst beobachtet wird, kann die Entdeckung der Ure-
terenmündungen verhindern. Ausserdem ist der Ureteren-
katheter dem Uebelstande unterworfen, Blutungen zu erzeugen,
kann man mit Misstrauen betrachten.
*) Vorgetragen in der niederrheinisch-westfälischen Gesellschaft
für Chirurgie am 10. Juni 1906.
Diese Gründe führten dazu, das Ureterkystoskop durch
Instrumente zu ersetzen, die eine künstliche Scheidewand in
der Blase selbst errichteten. Bei den Instrumenten von
Harris und Hock soll eine Trennung des Urins beider
Nieren durch Aufschrauben einer Scheidewand vom Mastdarm
oder von der Scheide aus ermöglicht werden. Luys und
Cathel in suchen den Urin beider Nieren getrennt aufzu¬
fangen durch Errichten einer Scheidewand, bestehend aus einer
Kautschuckmembran in der Blase selbst. Doch ist die Teilung
bei allen diesen Apparaten selten exakt und dann auch nur
für kurze Zeit durchzuführen, und alle Versuche, durch Harn¬
separatoren den Urin beider Nieren in der Blase zu trennen,
kann man als gescheitert betrachten.
Kapsammer weist an der Hand des Luys sehen Wer¬
kes über die Harnscheidung nach, dass Luys selbst mit dieser
Methode nicht nur wiederholt falsche Diagnosen gestellt und
daraufhin zwecklos operiert, sondern auch in einem Falle dem
Patienten direkt Schaden zugefügt hat. In vielen Fällen kann
weder der Ureterenkatheterismus noch ein intravesikaler Harn¬
scheider angewendet werden, z. B. bei Kindern und Patienten
mit Harnröhrenstrikturen. Cathelin erwähnt auf dem
XV. internationalen medizinischen Kongress in Lissabon, dass
er sich in einem Drittel seiner Fälle mit der früher üblichen
klinischen Untersuchung begnügen musste, weil er mit seinem
Harnscheider oder dem Ureterenkatheterismus nicht zum Ziele
kam.
Neuerdings ist von meinem Chef, Herrn Prof. Heusner,
ein extravesikaler Harnseparator angegeben worden. Er be¬
ruht auf der Tatsache, dass es möglich ist, die Ureteren von
aussen her abzuschliessen. Entdeckt haben dies G i o r d a n o
1878 und Doyen 1886. N i c o 1 i c h hat sich 1904 diese Er¬
fahrung zu Nutze gemacht bei der Diagnose einseitiger Nieren¬
erkrankungen. Nach einer gründlichen Spülung der Blase
führte er einen Katheter in die Blase ein. Durch lumboabdomi-
nale Massage übte er einen Druck auf eine Niere aus, während
ein Assistent in der Darmbeinkammgegend den Ureter der
anderen Seite komprimierte. Er fing dann für einige Minuten
den Urin, welcher dem Katheter entlief, auf und wiederholte
den nämlichen Vorgang auf der anderen Seite, nachdem er die
Blase, wenn nötig, wieder ausgewaschen hatte. Er hat so in
12 Fällen durch Operation oder Ureterenkatheterismus be¬
stätigte positive Resultate erhalten.
Unabhängig von diesen Autoren stellte Heusner durch
Leichenversuche fest, dass, wenn man die Ausflussspitze eines
Irrigatorschlauches dicht unterhalb der Niere in einen Ureter
einbindet und durch Erheben des Gefässes einen Flüssigkeits¬
strom hindurchtreibt, man durch Druck mit der Hand ohne
Schwierigkeit das Abfliessen des Wassers in die Blase verhin¬
dern kann. Die Stelle, an welcher der Druck ausgeübt werden
muss, entspricht der Nische seitlich vom 5. Lendenwirbel, wo
der Ureter über den Psoas in das kleine Becken hinabsteigt.
Der Apparat, den Heusner konstruierte (s. Abbildung), besteht
aus einem den Bauch überspanuenden Metallgewölbe, welches ab¬
nehmbar befestigt ist an einer zur Unterlage mit Eilz bedeckten
Platte aus Eisenblech. Auf letzterer ragen zwei nach innen konkav
gebogene Pelotten zur Einspannung für das Becken hervor, welche
verschoben und in jeder Entfernung von einandei festgestellt werden
können. Auf dem Metallgewölbe ruhen zwei eiserne Schlitten, von
denen jeder an seiner unteren Seite eine faustgrosse Druckpelotte
trägt, welche zur Kompression der Ureteren bestimmt sind. Die sehr
weich gepolsterten Pelotten sind drehbar an den unteren Enden von
Schraubenspindeln befestigt, die an ihrem oberen Ende Handgriffe
zum Vor- und Rückwärtsdrehen besitzen. Mit Hilfe der Schlitten
können die Druckpelotten einander genähert oder von einander ent¬
fernt werden. Der Patient wird in den Apparat gelagert und mit
Hilfe der Beckenfixatoren in der Mitte des Gewölbes festgehalten.
Die Pelotten werden so eingestellt, dass sie gleichweit von der Mittel¬
linie entfernt sind, und die Spindeln 12 cm Abstand von einandei
haben. Eine Kompression der Ureteren wird vorerst nicht ausgeubt.
Es wird ein Katheter — am brauchbarsten erwiesen sich uns flache,
seidene Prostatakatheter mit doppeltem Auge — in die Blase em-
gefiihrt und mit dem Schnabel nach unten gedreht. Nacn
Entleerung des in der Blase enthaltenen Urins wird
nun zunächst bestimmt, wieviel Urin in einer bestimmten Zeit aus-
fliesst, d. h. wieviel beide Nieren in dieser Zeit ausscheiaen.
Nunmehr werden beide Ureteren durch erst rasches, dann langsames
Herunterdrehen der Pelotten komprimiert, bis der Untersuchte ant.ingt,
über stärkeren Druck zu klagen. Der Mittelpunkt der I elotten so!
etwa 3 Querfinger von der Mittellinie entfernt sein und ebensoviel
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
1766
unterhalb der Nabelhöhe liegen. Es entleeren sich noch einige Urin¬
tropfen und bald versiegt der Abfluss. Man kann das langsame Ab-
flicssen des Residualharncs beschleunigen durch Druck auf die Blase,
oder besser durch vorsichtiges Ansaugen mit einer Saugspritze. Ist
man sicher, beide Urcteren komprimiert zu haben, wird einePelotte ge¬
lüftet, und es entleert sich meist sofort in verstärktem Tempo Urin,
vielleicht wegen der vorangegangenen Aufstauung. Nachdem nach
kurzer Zeit ein gleichmässiges Abtropfen eingetreten ist, wird der
Urin wieder dieselbe Zeit hindurch aufgefangen. War der vermischte
Urin beider Nieren trübe und eiweisshaltig, muss man nach Verschluss
beider Ureteren die Blase gründlich spülen. Man benutzt dazu am
besten gefärbte (Karbolfuchsin) Flüssigkeit, um entscheiden zu
können, wann alle Spülflüssigkeit abgeflossen ist. Bevor der Urin der
zweiten Niere aufgefangen wird, werden wieder beide Ureteren kom¬
primiert, und es wird eventuell noch einmal die Blase gespült. Häufig
haben wir erlebt, dass nach Lüften der zweiten Pelotte, also nach dem
Freigeben des am längsten verschlossenen Ureters 1 — 2 Minuten gar
kein Urin entleert wurde. Diese auffallende Erscheinung mag ihre
Ursache haben in einem krampfhaften Verschluss des Ureters und ist
meist bei dem länger komprimierten Ureter in verstärktem Masse zu
beobachten. Zur Beschleunigung der Untersuchung haben wir häufig
die Patienten vorher eine Flasche Bier oder Wildunger Wasser trinken
lassen. Die meisten Patienten haben die Kompression, ohne stärkere
Schmerzen zu äussern, ausgehalten. Bei sehr empfindlichen Patienten
empfehlen wir vorher Morphium-Skopolamin zu geben oder die
Untersuchung in Narkose vorzunehmen. Durch den Druck der Pelotte
wird nicht nur der Ureter, sondern auch die grossen Qefässe kom¬
primiert. Wir konnten häufig beobachten, dass der Puls der Art femo¬
ralis nicht mehr fühlbar war bei Kompression des Ureters auf der¬
selben Seite.
Die Brauchbarkeit des Instrumentes beweist die Tatsache,
dass es uns in jedem Falle gelungen ist, auch bei den kräftigsten
Leuten mit gut entwickeltem Fettpolster, den Ureter zu kom¬
primieren. Die Vorzüge bestehen in der einfachen Handhabung,
der leichten Erlernung der Technik, seiner Verwendung bei
Kindern und Patienten mit Verengerungen der Harnröhre und
in dem Fehlen der Infektionsgefahr, die beim Ureterenkathe-
terismus droht. Ein Nachteil besteht darin, dass bei hoch¬
gradiger Zystitis auch nach gründlicher Spülung der entleerte
Urin von der Harnblasenwand noch pathologische Beimen¬
gungen erhalten kann. So konnten wir in einigen Fällen nur
mit Wahrscheinlichkeit entscheiden, ob eine Trübung bei der
Eiweissprobe auf eine Erkrankung der Blase oder der Niere
hinwies.
Die drei aufgefangenen Urinproben werden einer genauen
physikalischen, chemischen und mikroskopischen Untersuchung
unterzogen und so nachgewiesen, ob bei scheinbar einseitiger
Erkrankung die andere Niere gesund ist. Um zu entscheiden,
wie viel Arbeit jede einzelne Niere noch leistet, und ob für
den Fall einseitiger Nierenexstirpation die andere Niere die ge¬
samte Nierenfunktion noch zu übernehmen vermag, kann
man noch andere Hilfsmittel zu Rate ziehen. Ist man sicher,
dass in dem Harn keine pathologischen Beimengungen der
Harnblasenwand enthalten sind, kann die Harnkryoskopie zur
Entscheidung herangezogen werden. Zuverlässig scheint die
Phloridzinprobe die Frage nach der Suffizienz oder Insuffizienz
jeder einzelnen Niere zu beantworten, und diese kann man
ohne weiteres mit der Untersuchung mit dem H e u s n e r sehen
Urinseparator verbinden. Man injiziert 0,005 — 0,01 Phloridzin
in wässeriger Lösung, und es erscheint der Zucker 12 bis
15 Minuten nach der Injektion. Kapsammer gibt an, dass
die Funktionsfähigkeit der Niere gestört ist, wenn die Zucker¬
reaktion erst 20 — 30 Minuten nach der Injektion eintritt, und
eine Nephrektomie nicht mehr vorgenommen werden soll, wenn
erst später Zucker im Harn erscheint. Man wird auf die Zeit
des Auftretens der Qlykosurie achten und die von beiden Nieren
ausgeschiedenen Zuckermengen vergleichen. Mit dem Ureter¬
katheter ist es nicht möglich, wie mit dem Harnseparator, in
jedem Fall den absoluten Zuckergehalt zu bestimmen, da häufig
Harn neben dem Katheter abfliesst. Allerdings können wir auch
bei gesunder Niere einen abnorm geringen Zuckergehalt finden,
bedingt durch eine reflektorische Polyurie, die nach unseren Be¬
obachtungen ebenso wie durch den Reiz des Ureterenkatheters
durch eine Kompression des Ureters hervorgerufen werden
kann. Zur Funktionsprüfung kann man auch die Methylenblau-
und die Indigokarminprobe benützen.
Schlüsse aus der ausgeschiedenen Urinmenge auf die Funk¬
tion einer Niere zu ziehen, ist bei der verhältnismässig kurzen
Beobachtungsdauer nicht erlaubt. Schon normale Nieren schei¬
den in der gleichen Zeit ungleiche Mengen aus. Durchschnitt¬
lich sezerniert eine Niere in einer Minute 0,5 ccm.
Zum Schlüsse meiner Arbeit möchte ich Ihnen die Kran¬
kengeschichte einiger Fälle mitteilen, bei denen sich der
Heusner sehe Urinseparator bewährt hat.
1. F a 1 1. E. D., 21 jähriges Mädchen. Früher gesund, litt sie
seit 2 Jahren an öfter sich wiederholenden, sehr heftigen, anfallsweise
auftretenden, krampfartigen Schmerzen in der linken Lendengegend,
von mehreren Stunden Dauer. Der letzte Anfall dieser Art einige
Tage vor der Aufnahme. Nach den meisten Anfällen Blut im Urin.
In der Zwischenzeit immer Gefühl von Druck und dumpfe Schmerzen
in der linken Lendengegend, die in letzter Zeit unerträglich wurden.
Aufnahme 5. II. 06.
Status: Knochenbau grazil, leidlicher Kräfte- und Ernährungs¬
zustand. Brustorgane normal. Tiefer Druck von vorn her gegen
den Hilus der linken Niere sehr empfindlich, ebenfalls starke Per¬
kussion der linken Lendengegend an der Stelle der Niere. Der Urin
ist trübe und enthält ziemlich reichlich Eiweiss. Mikroskopisch ver¬
einzelt rote, zahlreiche weisse Blutkörperchen und Epithelien der
Harnwege.
Untersuchung durch den Harnseparator am 5. II. 06. Vorher hat
Patientin eine Flasche Wildunger Helenenquelle getrunken. Beide
Nieren entleeren in 5 Minuten 16 ccm, die linke 8, die rechte ebenfalls
8 ccm. Urin der linken Niere trübe, eiweisshaltig und zeigt mikro¬
skopisch denselben Befund wie der gemischte Urin. Urin der rechten
Niere klar, eiweissfrei. Vor dem Freigeben eines Ureters Spülung der
Blase. Im Röntgenbilde in der Gegend des linken Nierenbeckens ein
kleinwalnussgrosser Stein. Dieser wird am 6. II. 06 durch Nephro¬
tomie entfernt. Heilung glatt. Am 21. II. wird Patientin geheilt ent¬
lassen. Urin frei von Beimengungen.
2. Fall. 12 jähriges Mädchen, E. G. Vor einem Jahre wegen
linksseitiger Nephrolithiasis operiert, ohne dass ein Stein gefunden
wurde. Nach der Operation immer noch starke Schmerzen in der
linken Lendengegend. Blutungen, die vorher vorhanden waren, traten
nicht mehr auf. Urinentleerung schmerzhaft, häufiger Urindrang,
Schmerzen in der Harnröhre am Schlüsse der Miktion, Harnträufeln.
Urin trübe. Aufnahme 26. II. 06.
Status: Grazil gebautes Kind, von mässigem Kräfte- und Er¬
nährungszustand. Herztätigkeit etwas beschleunigt, im übrigen Herz
und Lunge ohne Befund. Linke Nieren- und Blasengegend sehr
druckempfindlich.
Untersuchung mit dem Separator am 27. II. 06 in Narkose. In
10 Minuten entleeren sich aus beiden Nieren 8 ccm. Urin trübe,
filtriert fast klar und enthält reichlich Eiweiss. Mikroskopisch zahl¬
reiche weisse Blutkörperchen, Blasen- und Nierenepithelien, keine
roten Blutkörperchen. Urin der rechten Niere — vorher Blasen¬
spülung — normal, in 10 Minuten 5 ccm. Urin der linken Niere trübe,
zeigt dieselben Verhältnisse wie der Mischurin, in 10 Minuten 4 ccm.
Das Röntgenbild zeigt links einen kirschkerngrossen Nierenstein.
Die Eltern verweigerten die Operation und nahmen das Kind am
3. III. 06 nach Hause.
3. Fall. E. A., 40jährige Frau, die bis vor einem Jahre gesund
war. Damals traten Schmerzen in der linken Seite des Leibes und
im Rücken auf. Es wurde im November von anderer Seite eine
Gastroenterostomie und eine Ventrifixatio uteri gemacht, ohne dass
die Beschwerden nachliessen. Anfang dieses Jahres sehr heftige
Schmerzanfälle in der rechten Lendengegend, ausstrahlend nach der
Blase Meist dabei erhöhte Temperatur. In den letzten Wochen
kontinuierlicher, durch jede Bewegung unerträglich werdender
Schmerz in der rechten Lendengegend. Aufnahme am 13. 111. Ob.
Pat. ist kräftig gebaut und leidlich genährt. Brustorgane normal.
Rechts unterer Nierenpol palpabel, sehr druckempfindlich.
Am 15. III. Untersuchung mit dem Harnseparator in Narkose.
Gemeinsamer Urin beider Nieren sehr trübe, eiweisshaltig, enthalt
zahlreiche weisse Blutkörperchen, spärlich rote, reichlich Epithelien
der Harnwege. Urin der rechten Niere stärker getrübt als der beider
Nieren. Mikroskopisch derselbe Befund. Urin der linken Niere wenig
trübe, klarer als der der rechten Niere. Er wird fast klar nach einer
zweiten gründlichen Blasenspülung. . , , .
Wir nahmen an, dass die linke Niere gesund sei, es uns aber bei
dem starken Blasenkatarrh nicht möglich war, durch eine Spülung
abnorme Beimengungen fernzuhalten. Dass diese Annahme richtig
war, zeigte eine Untersuchung mit dem Separator nach der Operation.
Im Röntgenbild rechts ein Nierenstein zu sehen. Am 16. 111. wurde
durch Nephrotomie aus dem rechten Nierenbecken ein haselnuss¬
grosser Stein entfernt. Es bildete sich eine stark sezeimerende
Nierenfistel, die sich erst allmählich schloss. Am 10. IV. nochmalige
Untersuchung mit dem Harnseparator im Morphium-Skopolamin-
Schlaf Aus beiden Nieren entleeren sich in 5 Minuten 5 ccm, aus
der rechten 2Vz, aus der linken 3 ccm. Urin der drei Proben normal.
Entlassen am 23. IV. Nachuntersuchung am 20. V.: ristel ge¬
schlossen. Urin normal. Patientin ist beschwerdefrei.
4. F a 1 1. Frl. E. D., 28 Jahre alt. Aufnahme am 28. VI. 06. Ge¬
wicht 196 Pfd. Seit längerer Zeit Schmerzen bei Anstrengungen in
der linken Lendengegend. Dreimal heftige Schmerzanfälle von der
linken Lendengegend ausstrahlend nach der Blase. Nach einem der¬
artigen Anfall Blut im Urin. Die Untersuchung mit dem Kystoskop
durch einen Spezialisten ergab: Nephrolithiasis sinistra, Zystitis, Ent¬
leerung von trübem Urin aus der linken Papille, von klaiem aus
der rechten. Durch eine Untersuchung mit dem Harnsepa¬
rator kamen wir zu demselben Resultat. Urin der linken Niere trübe
und eiweisshaltig, enthält mikroskopisch rote und weisse Blutkörper¬
chen und Epithelien der Harnwege. Urin der rechten Niere normal.
Die Operation bestätigte die Richtigkeit der Diagnose. Patientin
ist geheilt entlassen, der Urin normal.
Noch in anderen Fällen kamen wir durch die Untersuchung
mit dem Harnseparator zu einer genaueren Diagnose. Doch
mögen diese 4 Fälle genügen, um Ihnen die Brauchbarkeit des
Instrumentes zu beweisen. Es sollen nur Beispiele sein da¬
für, dass man mit dem Instrumente arbeiten und zum Ziele
kommen kann. Ich glaube, dass der extravesikale Urinsepara¬
tor sich neben dem Ureterkystoskop trotz aller neuesten Vei-
vollkommnungen desselben einen Platz sichern wird. In ge¬
übten Händen wird ja wahrscheinlich das letztere immer den
Vorzug der absoluten Zuverlässigkeit besitzen.
Beitrag zum Instrumentarium für die Pubiotomie.
Von Dr. Otto Q e i s s 1 e r, Schöneberg-Berlin.
Seitdem die Pubiotomie sich mehr und mehr Eingang verschafft
hat, sind eine ganze Reihe von Instrumenten zur Ausführung dieser
Operation angegeben worden. Als eines der brauchbarsten unter
ihnen möchte ich das D ö d e r 1 e i n sehe ansehen, dem meiner An¬
sicht nach jedoch zwei Fehler anhaften, die ich, wie die nach¬
stehenden Zeilen zeigen sollen, zu beseitigen versucht habe.
Das D ö d e r 1 e i n sehe Instrument hat am Ende seiner Führungs¬
nadel einen Haken, der einem Häkelhaken sehr ähnlich ist und der
dazu bestimmt ist, die G i g 1 i sehe Säge hinter dem Knochen herum¬
zuziehen. Dieser Haken scheint mir ein sicheres Herumführen der
Säge nicht zu gewährleisten, da schon eine kleine Verschiebung
oder ein Nachlassen der Spannung ein Abgleiten der Säge bewirken
können. Ausserdem kann gelegentlich dieser Haken — vollends wenn
die Säge abgeglitten und das Abgleiten nicht sogleich bemerkt ist —
sich mehr oder weniger im Nachbargewebe festhaken, dann dieses
Gewebe zerreissen und so den Wundheilungsverlauf erschweren.
Diesen Nachteilen habe ich dadurch abzuhelfen gesucht, dass ich
die Führungsnadel an ihrem freien Ende schlingenförmig umgebogen
habe. Da das ganze Instrument aus gutem Stahl besteht, so federt
das freie Ende der Schlinge und fügt sich in eine Rinne an der
Führungsnadel ein. Ist die Schlinge um den Knochen herumgeführt
und in der Ausstichöffnung erschienen, so wird mit einer Pinzette
ihr freies Ende etwas abgehoben, die Oese der Drahtsäge über das¬
selbe gezogen und dann die Pinzette entfernt, worauf letzteres sich
wieder in die Rinne einschmiegt und, ohne auch nur den geiingstcn
Vorsprung zu hinterlassen, gleichsam ein Stück mit dem längeien
Ende der Führungsnadel bildet.
Eine Verletzung von Weichteilen
durch das zurückgeführte Instru¬
ment oder ein Abgleiten der Säge
ist unter diesen Umständen ab¬
solut ausgeschlossen. Durch Ver¬
suche an Leichen, die ich teils
gemeinsam mit Herrn Kollegen
H e i n s i u s, teils allein aus¬
führte, bei denen an die Operation
die Sektion angeschlossen wurde,
konnte ich mich von der Brauchbarkeit des Instrumentes überzeugen.
Einen zweiten Nachteil des Döderlein sehen Instrumentes
möchte ich in seinem Griff erblicken, der bei der Ausfiihi ung der
Operation, die ja immerhin etwas Kraft verlangt, wegen seiner
schmalen Form Hand und Finger erheblich drückt. Durch die Ab¬
änderung des Griffes in der aus der Figur ersichtlichen Weise hoffe
ich, diesem Nachteil abgeholfen zu haben. Von meinen Versuchen
her wenigstens kann ich berichten, dass dieser Griff sich in die riand
gut einfügte und dadurch die Ausführung der Operation weit leichter
gelang als mit dem früheren. tt „ , .
Die Anfertigung des Instrumentes hat Herr Georg H a e r t e 1
in Breslau übernommen.
Aus der chirurgischen Privatklinik von Dr. A. Krecke in
München.
7 Fälle operativ behandelter hyperplastisch-
stenosierender lleokökaltuberkulose.
Von Dr. H. Baum in München.
(Schluss.)
Woraus sich ein solcher tuberkulöser
Ileozoekaltumor aufbaut — um auch diese Frage
mit ein paar Worten zu berühren — so sind die in der Literatur
mitgeteilten Befunde nicht ganz übereinstimmend. Beteiligt
waren in unseren beiden Fällen Ileum, Zoekum und Processus
vermiformis; makroskopisch erkennbar war eine diffuse kon¬
zentrische wie exzentrische Hyperplasie aller 3 Darmschichten,
dazu kamen die geschwellten und verwachsenen Drusen des
Ileozoekalwinkels, verdickte Appendices epiploicae und Netz¬
adhäsionen; mikroskopisch fand sich massenhaftes, in den
ersten Anfängen der Narbenbildung begriffenes Granulations¬
gewebe und nur spärliche, nicht sehr grosse Tuberkel. Dem¬
gegenüber stehen unter anderem eine Reihe von Beobachtungen
Dieulafoys, wo nie' das Ileum, ausnahmsweise dei
Wurmfortsatz erkrankt war; ferner der meist gemachte Be¬
fund von massenhaften, teilweise sehr grossen Tuberkelknoten,
der in seltsamem Widerspruche mit der geringen Zahl nach¬
weisbarer Bazillen steht. Es ist hier vielleicht der Ort darauf
hinzuweisen, dass W t i n g, dessen Angaben sich un grossen
ganzen fast völlig mit unseren Beobachtungen decken, davor
warnt, jeden geschwollenen Follikel bei einer im übrigen nach¬
weislich tuberkulösen Affektion als Tuberkel zu erklären.
Wenn nun auch, wie wir gesehen haben, die Diagnose des
tuberkulösen Ileozoekaltumors etwas zweifelhafter Natur sein
kann so werden doch die jeweils in Frage kommenden Sym¬
ptome in den allermeisten Fällen schwerwiegend genug sein,
um uns, ohne operationswütig zu erscheinen, das Messei zui
Hand nehmen zu lassen. Seit man sich gewöhnt hat,
der erkrankten Appendix etwas energischer
zu Leibe zu gehen, ist auch die Ileozoekal
tuberkulöse häufiger Gegenstand eines radi¬
kalen Vorgehens geworden.
Hier müssen wir nun, gestützt auf den guten Erfolg
unseren beiden Fällen, der einzeilig ausgeführten
Resectio ileocoecalis unbedingt den Vorzug vor allen
übrigen Operationsverfahren geben, ein Standpunkt, der auch
hingst auf dem internationalen Tuberkulosekongress vertreten
wurde. Die z w e i z e i t i g e M e t h o d e, der besonders von
Mikulicz das Wort geredet wurde, besitzt neben unleug¬
baren Vorteilen den einen, im Interesse des Patienten nicht
schwer genug zu nehmenden Nachteil, dass eben z wei
Operationen vorgenommen werden muss®“*
Wo es irgend angängig ist, d. h. wo der Kraftezustand de.,
Patienten genügend ist, sollte man doch versuchen, den Kran-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
ken mit einem Schlage von seinem Uebel zu befreien, erspart
man ihm doch dadurch die Aufregung, sich abermals operieren
lassen zu müssen, und den für manche Naturen zweifellos sehr
deprimierenden Zustand des Anus praeternaturalis; übrigens
stellen beide Methoden ganz die gleichen Anforderungen an
die Geschicklichkeit des Operateurs. Bei dem heutigen Stande
der T echnik ist ferner dietotaleResektion der Pars
ileocoecalis überhaupt das souveräne Ver¬
fahren in der Behandlung der rein hyper¬
plastischen Form auf die Ileozoekalgegend
beschränkter Tuberkulose, besonders dann, wenn
eine tuberkulöse Affektion der Lungen nicht vorzuliegen scheint.
Von Einzelheiten dieser Operation sei nur erwähnt, dass die
Lösung der Verwachsungen dort, wo ein gut beweglicher
Tumor vorliegt (z. B. in unseren beiden Fällen) keinerlei er¬
hebliche Schwierigkeiten machen wird. Nach sorgfältiger,
schrittweiser Abbindung und Durchtrennung der entsprechen¬
den Teile des Mesenterium und Mesokolon, wobei vorhandene
kranke Drüsen tunlichst mitentfernt werden, folgt mit oder ohne
Zuhilfenahme Doyen scher Darmklemmen die Resektion am
lleum wie am Kolon. Die Vereinigung der Darmenden richtet
sich in ihrer Art je nach der Sachlage; in unserem ersten Falle
gelang die zirkuläre Naht sehr gut, während bei dem zweiten
wegen des Unterschiedes in der Weite der beiden Darmlumina
die seitliche Implantation geboten war; der Erfolg war, wie
schon berichtet, in beiden Fällen tadellos,
Wenn man nach solchen Resektionen das beruhigende Be¬
wusstsein hat, den Patienten nach Möglichkeit vollständig von
seinem Krankheitsherde befreit zu haben, ist dies weniger der
Fall dort, wo man darauf zugunsten eines weniger radikalen
Vorgehens verzichten musste. Gleichwohl gibt die inkom¬
plette Darmausschaltung, die Enteroanasto-
mose - denn um diese handelt es sich hier — in bezug auf
unmittelbare wie auf Spätresultate durchaus gute Aussichten,
wie C o n r a t h in seiner Zusammenstellung betont, und wie
auch wir an folgenden eigenen Fällen erleben konnten.
3. Genoveva W., 18 .1 a h r e a 1 1, erblich nach ihren Angaben
nicht belastet, erkrankte vor 3 Jahren an krampfartigen
Schmerzen in der rechten Seite des Unterleibes,
die öfters im Tage auftreten konnten und bis 5 Minuten dauerten; ge¬
legentlich bekam Patientin für einige Wochen Ruhe. Stuhlgang war
nicht angehalten; bisweilen soll Fieber vorhanden gewesen sein; ein¬
maliges Erbrechen. Verstopfung und Schmerzanfälle
dauern fort.
Befund: Abdomen leicht aufgetrieben: in der rechten Seite,
am äusseren Rektusrande und etwa in Nabelhöhe findet man einen
hühnereigrossen, von unten nach oben etwas
breiter werdenden, undeutlich zu begrenzenden
I u m o r von glatter Oberfläche, ausgesprochener Druckempfindlich¬
keit, geringer Verschieblichkeit. Lungen frei.
Diagnose: Appendizitis? Tuberkulose?
Operation am 16. VII. 1904: Eröffnung der Bauchhöhle durch
15 cm langen Schnitt am rechten äusseren Rektusrande; in grosser
Ausdehnung zeigt sich das Netz mit dem Peritoneum parietale teils
fest, teils leicht verwachsen. Nach Zurückschlagen des Netzes liegt
ein Knäuel von mehreren Dünndarmschlingen vor. ganz übersät von
hirsekorngrossen, grauweissen Knötchen. An der
Stelle des Coekum fühlt man einen walnussgrossen, derben
I umor, der zum Teil durch hinter dem Coekum gelegene geschwellte
Drüsen bedingt zu sein scheint. Wegen der wahrscheinlich vor¬
handenen Stenose einerseits, der ausgebreiteten Peritonealerkrankung
andererseits wird eine Anastomose zwischen der letzten
gesunden Dünndarmschlinge und dem Colon trans-
versum angelegt.
Verla uf: Am 2. Tage gehen bereits Flatus ab; anfänglich vor¬
handene empfindliche Schmerzen lind Spannung des Leibes nehmen
bald ab. Am 6. I age, nach ausgiebiger Stuhlentleerung durch Einlauf,
ganz vorübergehend einmal 38.8 °, sonst immer normale Temperaturen.
Am 10. läge Entfernung der Nähte: Die Wunde ist reaktionslos ver¬
heilt. Am 17. Tage steht Patientin auf und wird am 23. Tage be¬
schwerdefrei nach Hause entlassen, nachdem sie in den letzten
5 Tagen 2 Pfund zugenommen hatte.
Ein verwandtes Krankheitsbild bot der nächste Patient:
4. Joseph K-, .15 Jahre alt. von Herrn Dr. Loeb der An¬
stalt zugewiesen, litt seit 2 Jahren, mit gelegentlichen Unter¬
brechungen von der Dauer bis zu einem Vierteljahr, an starken
Leib schmer z^e n, verbunden mit Stuhlverstopfung,
Erbrechen, Fieber bis 39 °. Mit der Zeit waren die
Schmerzen hauptsächlich in der rechten Unterbauchgegend fühlbar,
traten in Anfällen von mehrtägiger Dauer auf, und Patient kam in
'-einer Ernährung stark herunter, — Keine nennenswerten ander¬
weitigen Erkrankungen. Ein Bruder hatte Halsdrüsentuberkulose.
Befund: Abdomen nicht aufgetrieben, Bauchdecken weich.
In der rechten Fossa iliaca fühlt man eine in Nabelhöhe beginnende
und von hier nach dem kleinen Becken ziehende wurstförmige
Resisten z, die ziemlich derb, auf Druck mässig empfindlich, gegen
die rückwärtige Bauchwand fast gar nicht verschieblich ist; näher
lässt sich diese Resistenz nicht bestimmen. Halsdrüsentuber-
ku lose.
Diagnose: Tuberkulose der Ileocoekalgegend.
Operation am 23. VIII. 04: Schnitt am äusseren rechten
Rektusrande; das Netz ist durch mehrere Stränge mit dem Coekum
verwachsen; nach Durchtrennung dieser Verwachsungen erscheint die
Serosa parietalis unverändert, dagegen sieht man auf der Serosa viscer.
des Colon ascendens und der letzten Dünndarmschlinge zahlreiche
hirsekor n- bis linsen grosse grauweisse Knötchen
in Gruppen beisammenstehen. An einer Stelle, etwa 20 cm vom Kolon
entfernt, umgeben zahlreiche Knötchen ringförmig den Dünndarm,
der an dieser Stelle ziemlich stark zirkulär ein¬
geengt erscheint. Das Coekum selbst, an dem eine
Appendix nicht sichtbar ist, zeigt sich stark ver¬
dickt und an dem ebenfalls verdickten Mesozoekum starr fixiert.
Wegen der Ausdehnung des tuberkulösen Prozesses und wegen der
festen Verwachsungen erscheint die radikale Exstirpation der kranken
Teile ausgeschlossen, und es wird eine Anastomose zwi¬
schen dem Ileu m, 30 cm oberhalb der Valvula Bauhini (also vor
der erwähnten Stenose) mit dem oberen Teile des Colon
ascendens hergestellt.
Verlauf: Temperaturen normal bei frequentem Puls; erste
Flatus am 2. Tage, erster Stuhlgang auf Einlauf am 5. Tage. Am
8. Tage gewöhnliche Kost, die gut vertragen wird. Am 10. Tage Ent¬
fernung der Fäden, Wunde reaktionslos verheilt; am 14. Tage steht
Patient auf und wird am 15. Tage beschwerdefrei entlassen.
5 Wochen später bildete sich in der Narbe ein Abszess, der alsbald
durchbrach und Kot und Eiter entleerte; abgesehen hiervon und von
nur selten vorhandenen Leibschmerzen war Patient ganz wohl, hatte
guten Appetit, regelmässigen Stuhlgang. Zur Ausschaltung
des kranken Darmabschnittes und damit der Kot¬
fistel wurde am 29. III. 1905 folgendermassen vorgegangen: Nach
sorgfältiger Desinfektion der Haut und Bedeckung der Fistel mit
Billrothbattist wird das Abdomen nunmehr links von der Mittellinie
durch den Rektus hindurch mit einem Längsschnitt eröffnet. Man
findet die bei der ersten Operation angelegte Kom¬
munikation zwischen lleum und Colon ascendens
vollkommen reaktionslos. Der zwischen Fistel und
Coekum gelegene Darmabschnitt ist mit dem Colon ascendens mehr¬
fach verwachsen und zeigt sich alsbald hinter der Enteroanastomose
stark verdickt und von zahlreichen bis linsengrossen grauweissen
Knötchen bedeckt. Die ursprünglich geplante Durchtrennung des
Dünndarmes erscheint daher unmöglich, es wird vielmehr eine neue
Kommunikation zwischen Dünndarm und Quer¬
kolon in der Weise angelegt, dass der Dünndarm
ganz durchtrennt, sein abführendes Ende voll¬
kommen verschlossen und das zu führen de Ende
frei in das Colon transversum eingepflanzt wird.
In den ersten 10 Tagen will die Darmtätigkeit gar nicht recht in
Ordnung kommen; Flatus und Stuhl gehen nur bei Nachhilfe mit Ein¬
lauf etc. ab. es findet öfters Erbrechen statt und aus der Fistel geht
viel Kot und Eiter, manchmal auch die Einlaufsflüssigkeit ab. Lanaro-
tomiewunde ist völlig reaktionslos geheilt. Etwa von der 3. Woche
an. als man Abführmittel nicht mehr zu scheuen braucht, findet reich¬
liche Stuhlentleerung statt und dementsprechend nimmt die Kot-
absonderung aus der Fistel bedeutend ab: sie verliert sich ganz, wenn
Patient aufrecht geht, sie tritt wieder in Erscheinung, wenn Patient
sich niedergelegt hat. Am 25. Tage wird Patient mit ganz wenig kot-
und eiterabsondernder Fistel, im übrigen aber bei gutem Allgemein¬
befinden entlassen. Patient sieht jetzt, d. h. % Jahre später, blühend
aus, hat 12 Pfund zugenommen. Aus der hanfkorngrossen Fistel¬
öffnung fliesst ständig ein wenig Eiter, höchst selten Spuren ,von
Kot ab.
Gerade dieser letzte Fall zeigt Vorteile und Nachteile
der Methode der Darmausschaltung im rechten Licht: die
Operation ist schnell und einfach zu machen, sie stellt an die
Kräfte des Patienten kaum die Hälfte der Anforderungen, wie
die Resektion und schafft quoad funktionem durchaus be¬
friedigende Resultate. Aber es bleibt eben der tuber-
kulöseHerdim Organismuszurück, und wenn auch
nicht alle derartigen Patienten mit einer Kotfistel geplagt sind,
so ist diese doch nur ein Symptom dafür, wie das Uebel
in der Tiefe unbehelligt sein Zerstörungswerk weiter fortsetzt.
Wie vorsichtig man übrigens in der Wahl auch derjenigen
Fälle sein muss, bei denen man die Ausführung der Entero¬
anastomose wagen zu können glaubt, lehrt der folgende Fall:
5. Isidor G.. 45 Jahre a 1 1, durch Herrn Hofrat Dr. Crae-
mer der Klinik übergeben; persönliche und Familienanamnese frei
von tuberkulösen Momenten. Seit einem halben Jahre litt er an
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1769
heftigen Leibschmerzen und Stuhlverhaltung;
Abmagerung um 25 — 30 Pfund.
Befund; Ueber beiden Lungenspitzen verlängertes
undverschärftes Exspirium. Abdomen nicht aufgetrieben.
Bauchdecken weich. In der rechten Fossa iliaca fühlt
man von unten nach oben verlaufend, einen wurst-
förmigen, über hühnereigrossen Tumor von derber
Konsistenz, leicht unregelmässiger Oberfläche, ausgesprochener Druck¬
empfindlichkeit, der gegen die rückwärtige Bauchwand nicht ver¬
schieblich erscheint und gedämpft tympanitischen Perkussionsschah
S ' O p e r a t i o n am 9. V. 1903: Schnitt durch den rechten Rektus.
Das Bauchfell ist allenthalben mit grauen miliaren
Knötchen über sät; in der Gegend des Coekum stösst man aut
eine gut daumendicke Geschwulst, mit der das Netz ebenso
wie mit dem Kolon fest verwachsen ist; auch die Diinndarmschlingen
sind vielfach adhärent. Bei dem Versuche, die Geschwulst zu iso¬
lieren, reisst diese ein und man entdeckt innerhalb einer Granulations¬
höhle' die geschwürig zerfallene und verengerte
Valvu;,la Bauhini; diese wird nunmehr exzidiert,
beide Darmstümpfe für sich blind vernäht; endlich
wird eine seitliche Anastomose zwischen der näch¬
sten Dünndarmschlinge und dem Colon ascendens
angelegt. Tamponade der Coekalgegend. Am 9. Tage kommt
dünnflüssiger Kot aus der Wunde heraus. Patient
kommt mehr und mehr herunter, weshalb am 19. Tage die v o 1 1 -
ständige Ausschaltung des unteren Ileumstuckes
ausgeführt wird, mit dem Erfolge, dass nicht nur die alte K o 1 1 i s t e 1
bestehen bleibt, sondern sich in der neuen Laparotomie-
wunde eine neue Kotfistel ausbildet, aus der reichlich Dunn-
darminhalt abgeht; höchst mangelhafter Stuhlgang. Es stosst sich
ein 5 cm langes nekrotisches Darmstück ab. Eine dritte Operation
am 34. Tage zeigt, dass die Darmfistel nach rechts in das Kolon, nach
links in das Ileum hineinführt, dass also die Gangrän des Darmes
gerade am Orte der Ileokolostomie eingetreten sein muss. Es wird
darum der ganze ileocoekale Teil ausgeschal tet
und der Dünndarm neuerdings in den oberen T eil
des Colon ascendens seitlich implantiert. Es folgte
andauerndes Erbrechen, obwohl am 3. Tage Flatus abgingen. Am
9. Tage erschien abermals reichlicher Dünndarminhalt in der W unde.
Septische Temperaturen; Patient fiel rapid zusammen und wurde auT
sein Verlangen nach Hause entlassen, wo er dann alsbald seinem
Leiden erlag.
Angesichts der ausgedehnten Erkrankung des Peritoneums
hätte man besser von einer Enteroanastomose abgesehen; denn
unter solchen Bedingungen pflegen die plastischen Fähigkeiten
des Bauchfells bereits allzusehr beeinträchtigt zu sein, um
das Dichthalten einer Darmnaht gewährleisten zu können.
Der folgende Fall von Tuberkulose der Ileokökal-
gegend ist insofern besonders interessant, als er klinisch wenig
charakteristische Erscheinungen bot, in. deren Vordergründe
Magenbeschwerden standen; er befand sich in Behandlung des
Herrn Dr. Decker und wurde auch in dessen Anstalt durch
Herrn Dr. K r e c k e operiert.
6. M a t h i a s S., 34 J a h r e a 1 1, war seit einem Jahre m a g e n -
leidend: fortwährendes Drücken im Magen, das sich allmählich zu
heftigen Schmerzen steigert, häufiges Aufstossen, jedoch kein Er¬
brechen. Stuhlgang regelmässig und in genügender Menge. Ge¬
wichtsabnahme um 14 — 16 Pfund. Sonstige Anamnese ohne Belang.
Befund: Patient ist von stark herabgesetztem Ernährungs¬
zustände. Abdomen leicht aufgetrieben, gespannt, mässig druck¬
empfindlich. Im Epigastrium starker Druckschmerz; keine freie
Salzsäure im Magensaft. Probemahlzeit nach 6 Stunden
sehr schlecht verdaut. Ueber beiden Lungen hinten unten schnur¬
rende Geräusche.
Operation am 20. IV. 1904: Schnitt in der Mittellinie; der
Magen ist vollkommen frei. Dagegen findet sich in der
Ileocoekalgegend ein derbes Infiltrat nebst mehreren
unter einander verbackenen Darmschlingen, auf deren Serosa zahl¬
reiche grauweisse hirsekorngrosse und grössere Knöt¬
chen sichtbar sind. Anlegung einer Anastomose zwi¬
schen der letzten Ileum schlinge und dem Quer¬
kolon. Patient war schon zur Zeit der Operation so elend, dass
er sich von dieser, trotz gut funktionierender Anastomose, nicht
mehr recht erholte und seinem Leiden wenige Wochen später erlag.
Ein letzter Fall von Tuberkulose der Ileokökalgegend liess
wegen der schweren Veränderungen an der Serosa sowohl als
wegen einer floriden Lungenphthise von einem operativen Ein¬
griffe am Darm selber abstehen und lediglich die Lapa¬
rotomie vornehmen.
7. Josephine K., 55 Jahre, hereditär belastet, zugewiesen durch
Herrn Dr. Struppler; seit 3 Wochen Schmerzen im Leib, die sich
anfallsweise steigern, verbunden mit Auftreibung des Lei¬
bes und Verstopfung; häufiges saures Aufstossen, dagegen kein Er¬
brechen, keine Durchfälle. Ständige Abnahme des Körpergewichtes.
Husten mit Auswurf, Nachtschweisse. — Vor 10 Jahren Blinddarm¬
entzündung.
Befund: Abdomen leicht aufgetrieben, zumal unterhalb des
Nabels. Bauchdecken zunächst weich, nur in der rechten Regio meso-
gastrica auf Druck etwas mehr gespannt und empfindlich; weder hier
noch in der Fossa iliaca ist ein eigentlicher Tumor fühlbar. Von Zeit
zu Zeit sieht man unter den Bauchdecken wurst förmige
Schwellungen auftreten, welche einige Zeit unter gleichzeitigen
kneifenden Schmerzen im Leib bestehen blieben, uni dann unter nach¬
lassenden Schmerzen wieder zu verschwinden. Dämpfung und ver¬
schärftes Atemgeräusch auf der linken Lungenspitze.
Operation am 6. IX. 1905: Schnitt am äusseren Rande des
rechten Rektus. Nach der Eröffnung der Bauchhöhle zeigen sich auf
der Serosa des Darmes und dem Mesenterium überall grauweisse
stecknadelkopfgrosse und. kleinere Knötchen.
Diese sind besonders zahlreich an den letzten Dünn¬
darmschlingen und hier zeigen sie sich an ein¬
zelnen Stellen zu Haufen von fast Kirschengrösse
angewachsen. Die Darmwand ist hier stark infiltriert, das¬
selbe gilt vom Coekum und Ileum in der Nachbarschaft der Valvula
Bauhini. Die Appendix liegt etwa 3 cm lang an der hinteren Wand
des Coekum fest verwachsen. Aus den bereits angeführten Gründen
wird von einem Eingriff zur Beseitigung der anscheinend vorhandenen
durch die zweifellos bestehenden Schleimhautulzerationen ausgelösten
spastischen Stenose Abstand genommen, zumal die Darmschlingen
zurzeit in keiner Weise gebläht sind (cf. Fall von Bat d). Die
Laparotomiewunde heilte reaktionslos. trotz reichlichen Hustens
wegen einer Pneumonie rechts unten. Ein Erfolg war insofern zu ver¬
zeichnen, als bis zur Entlassung aus der Anstalt am 20. Tage keine
Stenosenerscheinungen mehr aufgetreten waren.
Die 5 zuletzt entworfenen Bilder von Tuberkulose der
Ileokökalgegend stellen sich wesentlich verschieden dar von
den ersten beiden. Neben einer mehr oder wenigei ausge¬
prägten Tumorbildung imponiert hier vor allem die ausge¬
dehnte Knötchenbildung auf der Serosa des Darmes. Wir
stehen hier offenbar einem weit lebhafter sich abspielenden
Krankheitsprozesse gegenüber (dafür spricht schon die stärkere
Injektion der Serosa) und dieser ist zu denken entweder als d a s
Resultat einer von vornherein virulenteren
Infektion, möglicherweise sekundärer Art von der Lunge
aus (hieher dürfte Fall 6 und 7 zu rechnen sein) oder als
die Folge der abnehmenden Widerstands¬
fähigkeit des Organismus, die wahrscheinlich immer
erlahmen wird, wenn die pseudoneoplastische Tuberkulose sich
selbst überlassen bleibt; sie geht alsdann in die ulzeröse Form
über mit Ausbreitung miliarer Knötchen in der Umgebung
des primären Herdes. Es ist somit als ein Glück füi
den Patienten zu betrachten, wenn ihn eine
frühzeitig auftretende Stenose zwingt, sich
dem Chirurgen anzuvertrauen, der eben, das
sei nochmals betont, in den Fällen primärer
rein hyperplastischer Tuberkulose hoffen
darf das Uebel mit der Wurzel auszurotten,
während es sonst, wo die krankhaften Verän¬
derungen zu schwerer oder zu ausgebreiteter
Natur sind, mit dem weniger radikalen Vor¬
gehen der Anastomosenbildung oder gar nur
der einfachen Laparotomie im günstigsten
Falle möglich ist, lediglich einen symptoma¬
tischen Erfolg zu verzeichnen.
Schlussätze;
1. Der tuberkulöse Ileokökaltumor Kar'ttoyrjv ist als eine
relativ gutartige, rein hyperplastische Form von primärer
Darmtuberknlose aufzufassen; bei der Entwicklung spielt mög¬
licherweise die gewöhnliche Appendizitis eine gewisse Rolle.
2. Der mikroskopische Befund hat mit dem bei Lupus
hypertrophicus zu sehenden eine grosse Aehnlichkeit; wir
fanden nur spärliche Tuberkelbildung.
3. Die teils durch die Bindegewebsneubildung, teils durch
narbige Schrumpfung (in der Submukosa) entstehende Darm¬
stenose beherrscht die nicht besonders charakteristische
Symptomengruppe.
4. Als die in solchen Fällen beste Operation kommt, wenn
irgend angängig, die e i n z e i t i g e Resektion des Ileokökums
in Betracht. , ,,
5. Die lediglich palliative Operation der Darmausschaltum
I ist bei elenden Patienten und schwererer Erkrankung (Ver-
1770
MUENCFLENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
wachsungen, Ulzerationen, multiple Stenosen) zu wählen.
6. Mit der einfachen Laparotomie begnüge man sich in
allen Fällen ausgedehnterer Peritonealtuberkulose.
Literatur:
Bard: Les phenomenes de Stenose dans les ulcerations tub.
de l’intestin. Sem. med. 1903, No. 23. — Buttersack: Wie erfolgt
die Infektion des Darmes? Zeitschr. f. Tub. u. Heilst. 1900, I. —
Conrath: Ueber die lokale chronische Zoekumtuberkulose und ihre
Behandlung. Beitr. zur klin. Chir., Bd. 21. — Dieulafoy: Tuber-
culome hypertrophique du coecum; diagnostic des tumeurs de la fosse
iliaque droite. Sem. med. 1902, No. 41. — Dürck: Atlas der patho¬
logischen Histologie. — Gehle: Zur Kasuistik der chronischen
Zoekumtuberkulose. Beitr. z. klin. Chir., Bd. 34. — König: Die
strikturierende Tuberkulose des Darmes und ihre Behandlung.
Deutsche Zeitschr f. Chir., Bd. 34. — Körte: Zur chir. Behandlung
der Geschwülste der Ileozoekalgegend. Deutsche Zeitschr. f. Chir.,
Bd. 40. — M a e d e r: Beitrag zur lokalen Zoekumtuberkulose. Diss.,
Leipzig 1904. — Passow: Beitrag zur operativen Behandlung des
sogen. Ileozoekaltumors. Diss., Rostock 1905. — P o 1 1 a c k: Beiträge
zur Kenntnis des tuberkulösen Ileocoekaltumors. Diss., Breslau 1903.
— Sonnenburg: Pathologie und Therapie der Perityphlitis 1905.
— Wieting: Beiträge zur Pathogenese und Anatomie der auf ent¬
zündlicher, namentlich tuberkulöser Basis entstandenen Darmstrik-
turen usw. Deutsche Zeitschr. f. Chir., 78 Bd.
Referate und Bücheranzeigen.
Alfred Wolff-Eisner: Das Heufieber, sein Wesen und
seine Behandlung. Mit 10 Kurven und Abbildungen und
2 grossen Tabellen. München 1906. J. F. Lehmanns Ver¬
lag. 139 Seiten. Preis 3.60 M.
Seit D u n b a r im Jahre 1903 in seiner Monographie „Zur
Ursache und spezifischen Heilung des Heufiebers“ die Richtig¬
keit der Pollentheorie experimentell beweisen konnte und zu¬
gleich mit der Herstellung eines spezifischen Serums gegen
das Heufieber hervortrat, hat sich das Interesse in erhöhtem
Masse dem Heufieber und der praktischen Anwendung des
Serums zugewandt. Wolff-Eisner hat an einem eigenen
Material von fast 100 Heufieberfällen eine Sammelforschung
veranstaltet und legt die dabei gewonnenen Erfahrungen in dem
vorliegenden Werke nieder.
Nach einem erschöpfenden historischen Rückblick kommt
er bei Besprechung der verschiedenen Theorien über das Heu¬
fieber zu dem Schluss, dass an der ätiologischen Bedeutung
der Pollen und des in ihnen befindlichen Toxalbumins für das
Heufieber nicht mehr gezweifelt werden könne. Sehr be-
grüssenswert ist die Einteilung der Fälle in 3 Qrade nach der
Schwere der Heufiebererkrankung, da hiedurch ein einheitlicher
Boden für die Beurteilung der Erfolge jeder Therapie gegeben
ist und sich daraus auch am besten die widersprechenden Be¬
richte über die Wirksamkeit von Pollantin und Qraminol er¬
klären. In differentialdiagnostisch zweifelhaften Fällen, be¬
sonders bei den schweren, mit Asthma kombinierten, empfiehlt
er sehr die Anstellung des Pollenversuches.
Gegenüber D u n b a r, der sein Pollantin als Antitoxin be¬
zeichnet, hält es Wolff-Eisner auf Grund längerer Aus¬
führungen, wobei er sich auf die neueren Forschungen über
Eiweissimmunität stützt, für ein sogen, lytisches Serum, das
durch Lösung der Pollengiftstoffe eigentlich die Giftwirkung
verstärken müsste, in weitaus der Mehrzahl der Fälle aber die
hierzu noch nötige aktivierende Substanz im Körper nicht an¬
trifft, weshalb fast immer diese Verschlimmerung ausbleibt.
Die Wirksamkeit des Pollantin führt er auf das Vorhandensein
von zahlreichen reaktionshindernden kolloidalen Stoffen zu¬
rück, ebenso wie die des Graminols, dem er im allgemeinen
den Vorzug gibt.
Der Klimatotherapie, besonders dem Aufsuchen temporär
immuner Orte, wird grosser Wert beigelegt, da vor allem auf
diese Weise dem Entstehen einer verstärkten Empfindlichkeit
vorgebeugt werden kann, die als Ursache für die fast stets im
Laufe der Jahre schwerer werdenden klinischen Erscheinungen
angesprochen werden muss.
Neben einer eingehenden Uebersicht über die von Wolff-
Eisner beobachteten Fälle und verschiedenen einschlägigen
Tabellen über die Giftigkeit der einzelnen Pollensorten, über
sogen, immune Orte, über die Heufiebertermine in einzelnen
No. 36.
Städten usw. bringt das Buch noch so viel Bemerkenswertes
und zu weiterer Forschung Anregendes, dass es als ein wesent¬
licher Fortschritt in der Erkenntnis vom Wesen des Heufiebers
bezeichnet werden darf. Dr. v. Ruppert - München.
Reinhold Rüge: Einführung in das Studium der Malaria¬
krankheiten, mit besonderer Berücksichtigung der Technik.
2. Auflage mit 5 teils photographischen, teils lithographischen
Tafeln in Farbendruck, 124 Abbildungen und 23 Fieberkurven
im Text. Jena, Gustav Fischer. 420 Seiten. 11 M.
Die zweite Auflage des bekannten Buches ist eine voll¬
ständig neue Bearbeitung der ersten, welche bei ihrem da¬
maligen Erscheinen bereits die beste Zusammenfassung über
Malariakrankheiten darstellte. Wir können bei dem neuen
Buch dasselbe sagen und noch hinzufügen, dass in der Art der
Darstellung, der kritischen Würdigung aller verdienstvollen
Arbeiten auf diesem Gebiete und der wissenschaftlichen Ob¬
jektivität das Buch unübertroffen ist. Des Verfassers reiche
Erfahrung drückt der Darstellung den Stempel auf. Die
Tafeln und Abbildungen sind vorzüglich und machen auch der
Verlagsbuchhandlung alle Ehre. Lobend hervorzuheben ist
ausserdem noch das umfassende Literaturverzeichnis.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Achilles Rose and Rob. Coleman Kemp: Atonia gastrica
(abdominal relaxation). (Funk u. Wagnalls Company, 1905.
NewYork and London, pag. 203. Price 1 Shill.)
Vorliegende Monographie beschäftigt sich im ersten ihrer
sechs Kapitel mit einer eingehenden Darstellung des eigent¬
lichen Wesens dieser Krankheit und gibt hiebei eine fast lücken¬
lose Zusammenstellung der Ansichten der verschiedenen auf
diesem Gebiete tätigen Autoren. So erfreulich es ist, dass auch
diese beiden Verfasser der nervösen Dyspepsie zu Leibe gehen
und sie als ein Ding bezeichnen, an dessen Existenz sie nicht
glauben, so wenig angängig ist meines Erachtens die allent¬
halben zu tage tretende Ueberschätzung des Magenplätscherns
(splashing sound) zur Diagnosenstellung und gar erst die Be¬
hauptung, dass es keine Gastroptose ohne Dilatation gebe,
fordert zu lebhaftestem Widerspruch heraus. Dies hindert
jedoch nicht, in einem der späteren Kapitel, das von einer
neuen Behandlungsmethode bei Atonie handelt, und eigentlich
den Hauptinhalt des ganzen Buches bildet, nämlich dem voij
Rose und gleichzeitig auch von Rose wate r erstmalig
angegebenen Heftpflasterverband, völlig auf Seite der Ver¬
fasser zu stehen. Habe doch auch ich in verschiedenen Fällen
von Magen- bezw. Eingeweidesenkung mit Heftpflasterver¬
bänden (ich verwendete die auf dem gleichen Prinzip be¬
ruhenden Simplexverbände von Helfenberg) sehr gute und
dauernde Resultate erzielt; wenn ich auch nicht, wie es bei
beiden Verfassern fast etwas den Anschein hat, in diesen Ver¬
bänden gleich eine Panazee zu erblicken vermag, die noch,
wenn gar nichts mehr helfen wollte, sich bewährte. Auch
mit der Behauptung auf pag. 114, woselbst es heisst, dass
Probemahlzeiten bei Viszeralptosis völlig zwecklos wären, da
mit Korrektur der Ptosis gewöhnlich auch die funktionellen
Störungen verschwänden, kann ich mich nicht einverstanden
erklären. Es folgt dann weiter eine genaue Beschreibung und
Indikationsstellung für die Anlage der Heftpflasterverbände und
im nächsten Kapitel noch eine ausführliche Abhandlung über
Wanderniere und deren unblutige Fixation ebenfalls mittelst
Heftpflasterverband. Der den letzten Abschnitt bildende hi¬
storische Rückblick mit Literaturangabe wäre der Ueber-
sichtlichkeit halber wohl besser auch gleich im ersten Kapitel
behandelt worden. So viel ist sicher, dass in den geschilderten
Fällen die Anwendung von Heftpflasterverbänden die weiteste
Beachtung in ärztlichen Kreisen verdient, umsomehr, als diese
Verbände von der überwiegenden Mehrzahl der Patienten ohne
jegliche Störung oder Unbequemlichkeit getragen werden
können. A. Jordan- München.
R. Oster tag: Bibliographie der Fleischbeschau. Zu¬
gleich eine Ergänzung zum Handbuch der Fleischbeschau des¬
selben Verfassers. Stuttgart, Enke, 1905. 446 Seiten, gr. 8.
Das bisher unübertroffene Handbuch der Fleischbeschau
hat seit 1892 nicht weniger als fünf Auflagen erlebt und wird
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1771
besonders von den Amtsärzten gern zu Rate gezogen. Die
Vergehen gegen das Nahrungsmittelgesetz kommen ja bei den
Gerichtshöfen so häufig zur Verhandlung, dass man oft Anlass
hat, sich nach dem besten Ratgeber umzusehen. Dieser ist
aber O s t e r t a g, welcher jetzt in der „Bibliographie“ den¬
jenigen Aerzten, die sich über bestimmte Materien (z.B. Fleisch¬
vergiftung u. dergl.) weiter unterrichten wollen, einen be¬
quemen und verlässlichen Führer darbietet, der in Bezug auf
Genauigkeit und Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig lässt.
Wie das klassische Handbuch, muss auch die literarische Er¬
gänzung dringendst empfohlen werden.
Dr. Huber- Memmingen.
Dr. M. Epstein: Bericht der Kommission für Arbeiter¬
hygiene und Statistik der Abteilung für freie Arztwahl in
München 1904—1906. Mit einem Anhang: Die Enquete im
Schneidergewerbe. Verlag von Seitz&Schauer, München
1906. 102 Seiten. TT u uv i
Die vorliegende Zusammenstellung gibt einen Ueberblick
über die Tätigkeit der Kommission von ihrer Gründung im
Juli 1904 bis zum Mai 1. J. In dieser Zeit beschäftigte sie sich
u. a. mit der Frage der Milchversorgung, der Fleischnot, der
Säuglingsfürsorge, des Krippenwesens, der Blennonhöebe-
kämpfung, weiter wurden Referate erstattet über die Grün¬
dung eines Ortsgesundheitsrates, über die Ausbildung von Ge¬
werbeärzten, über soziale Museen, über die Verhütung der
Bleivergiftung. Die betreffenden Ausführungen sind teils im
Original, teils in kurzen Berichten samt den von der Kom¬
mission den massgebenden Stellen zugeleiteten Resolutionen
zum Abdruck gebracht. Wie aus dem Bericht hervorgeht, ist
die Gründung einer Zentrale für Säuglingsfürsorge, die Er¬
richtung einer Zentrale zum Nachweis von Pflegepersonal für
Unbemittelte, die Einführung der unentgeltlichen Desinfektion
der Hebammen den Bemühungen der Kommission zusammen
mit dem Verein für Volkshygiene zu danken. Auch eine rege
Aufklärungsarbeit wurde zusammen mit dem genannten Verein
durch öffentliche Vorträge entfaltet.
Die im Anhang beigefügte Enquete im Schneidergewerbe
umfasst 50 Fälle. Die Fragebogen wurden grösstenteils von
Aerzten ausgefüllt. Aus den Ergebnissen ist hervorzuheben,
dass der Arbeitsraum, der häufig als Wohn- und Schlafzimmer
dient, 17 mal auch Kranke beherbergte, darunter Masern-, Diph¬
therie- und Lungenkranke, ein weiterer Beitrag für die Ge¬
fahren, die die Hausindustrie in ihrer jetzigen Form für die
Allgemeinheit in sich schliesst.
Der Bericht zeigt, wie viele Aufgaben auf dem Feld der
Prophylaxe und der sozialen Hygiene sich den ärztlichen
Organisationen eröffnen. Rege Mitarbeit auf diesen Ge¬
bieten wird den Aerzten den ihnen in der Oeffentlichkeit ge¬
bührenden Einfluss am besten verschaffen.
F. P e r u t z - München.
Neueste Journalliteratur.
Zeitschrift für klinische Medizin. 59. Bd. 5. u. 6. Heft.
28) Wilhelm S t e r n b e r g - Berlin : Subjektive Geschmacks¬
empfindungen. (Glycogeusia subjectiva, Cacogeusia subjectiva.)
Die eingehend besprochene Literatur bereichert der Verfasser
durch die Krankengeschichte einer 30 jährigen Patientin, welche als
einzige pathologische Erscheinung Klagen über einen intensiv süssen
Geschmack im Munde darbot. Der süsse Geschmack war Tag und
Nacht vorhanden, bei jeder Art von Speisen, besonders stark bei
sauren Speisen; der Speichel wurde als siiss schmeckend angegeben;
objektive Prüfung ergab keinen süssen Geschmack desselben. Ein¬
reibung der Zunge mit Gymnemasäurelösung (5 proz. in 58 proz.
Alkohol) hatte für kurze Zeit Ageusie für Süss zur Folge. Längere
Ausspülung des Mundes mit derselben Lösung hatte die Wirkung,
dass wenigstens für einige Zeit wieder bitterer Geschmack wahr¬
genommen werden konnte. Spätere Wiederholungen des Versuches
waren erfolglos. Kokain war auch erfolglos. Ebenso örtlich reizende
ätherische Oele; subkutane Injektionen von Saccharin bezw. dem
Ammoniumsalz des Saccharins hatte Steigerung der Glykogeusic zur
Folge. Injektion von Chinin, lactic. und von Chinin, bimuriatico-
carbamidat. hatten gar keinen Effekt.
29) Rudolf A. Abeies: Das Verhalten des Hameiseiis bei
Hyperglobulie. (Aus dem Laboratorium der allgemeinen Poliklinik in
Wien.)
Bei zwei Fällen von Hyperglobulie bestimmte der Verf. das Ge¬
samteisen im Harn nach Veraschung auf nassem Wege nach Neu¬
mann jodometrisch, bei dem zweiten Falle auch das locker ge¬
bundene Eisen durch Fällung mit Schwefelammonium nach H u e c k.
ln normalem Harn wurden 0,90 mg Gesamteisen pro die gefunden,
locker gebundenes war nicht zu finden; bei beiden I allen von Hvpei-
globulie fand sich das Gesamteisen deutlich vermehit, lockei ge¬
bundenes (beim 2. Fall) war nur an zwei Tagen zu finden, ohne dass
eine Ursache für sein Auftreten oder Verschwinden zu eruieren war.
30) P. Fleischmann: Ueber die präzipitinogene Eigenschaft
trypsinverdauten Rinderserums. (Aus der I. med. Klinik in Berlin.)
Zu einem kurzen Referate nicht geeignet.
31) J. Ohm: Beitrag zur Klinik der Zwerchfellähmungen. (Aus
der II. med. Klinik in Berlin.) .
Der erste Fall des Verfassers betraf einen 16 jährigen Kellner,
welcher an Gelenkrheumatismus mit Endokarditis und Myokarditis
erkrankt war. Die infolge einer Neuritis der Nervi phremci ein¬
tretende Zwerchfellähmung machte sich folgendermassen bemerkbar.
Die Ausdehnung der unteren Brustapertur, die Vorwolbung der
Rippenbögen und des Epigastriums bei ruhiger Atmung fehlen. Bei
stärkerer Atmung wird die Vorwölbung der oberen Brusthälfte noch
stärker, am Epigastrium treten Singultbewegungen auf. Das Ge r -
hardt-Litten sehe Zwerchfellphänomen fehlt beiderseits. Per-
kussorisch beiderseits Hochstand des Zwerchfells und Unverschieb¬
lichkeit der Lungengrenzen. Der Röntgenbefund ergibt dasselbe. Die
Nervi phrenici waren elektrisch unerregbar. Die 3 übrigen Fälle be¬
treffen einseitige Zwerchfellähmungen durch linksseitige Pleuritis,
plötzlich auftretend unter heftigen Schmerzen und hochgradiger
Dyspnoe und Pulsbeschleunigung. Die linke Brusthalfte blieb bei der
Atmung zurück, das Litten sehe Zwerchfellphänomen fehlte links.
Die Perkussion ergab von der 4. Rippe ab tief tympanitischen, dem
Pneumothorax ähnlichen Schall, der nach abwärts in den Magenscha
überging mit den Phänomenen des Metallklangs. Bei der Inspiration
Fehlen der Vorwölbung des linken Epichondriums. Das Rontgenbild
ergab Hochstand der linken Zwerchfellhälfte.^ Bei dem 3. Fall trat
später noch ein Pneumothorax der linken Seite hinzu; die obere
Exsudatgrenze stellte sich horizontal ein; die Tympanie in den
unteren Partien der linken Thoraxhälfte, herrührend von lufthaltigen
Baucheingeweiden, verschwand nicht, das Zwerchfell behielt seinen
hohen Stand, wie die Durchleuchtung zeigte.
32) Goldscheider: Ueber Dikrotie bei Aorteninsuffizienz,
(Aus dem Krankenhause Moabit.) .
Bei dem ersten Fall des Verfassers handelte es sich um eine
im Anschluss an Gelenkrheumatismus aufgetretene venuköse Endo¬
karditis sämtlicher Klappen mit Perikarditis und Myokarditis, bei
welcher eine so ausgesprochene Dikrotie an der Radialis gefunden
wurde, dass die Kurve der eines Pulsus alternans glich Da die
Aortenklappen völlig zerstört waren, wie die Sektion ergab, konnte
die Dikrotie nicht durch Rückstoss an den Aortenklappen erklai t
werden. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass die gleichzeitig be¬
stehende Mitralinsuffizienz dafür verantwortlich zu machen ist; da in¬
folge letzterer von dem Vorhofe aus die diastolische Füllung mit
grösserem Druck und steilerem Gefäll als bei unkomplizierter Aorten¬
insuffizienz geschieht, so findet das aus der Aorta regurgitierende
Blut einen schnell wachsenden Widerstand, und dadurch kommt es
zu einer positiven Welle. Bei dem zweiten Fall war ebenfalls Peri¬
karditis und verruköse Endokarditis der Aorta und der Mitiahs vor¬
handen Beim dritten Fall war wahrscheinlich auch eine Mitral¬
insuffizienz neben der Aorteninsuffizienz vorhanden. Das Auftreten
der Dikrotie ist daher wahrscheinlich auch bei diesen Fällen durch die
Mitralinsuffizienz bedingt. Das Auftreten ausgesprochener Dikrotie
bei Aorteninsuffizienz würde sich demnach wahrscheinlich diagnostisch
für das Hinzutreten einer Mitralinsuffizienz verwerten lassen.
33) W. Scholz- Graz: Ueber Miliaria epidemica.
Der Verfasser beschreibt eine im Bezirk Rudolfswerth aut-
getretene Epidemie, welche im Mai 1905 ihren Anfang nahm. Fs er¬
krankten 126 Personen, darunter nur 3 männlichen Geschlechtes. 1 ie
Mortalität betrug 16,8 Proz. Der ganze Verlauf lässt 3 Stadien unter¬
scheiden: I. Stadium des Schweisses, 2. Stadium des Ausschlags,
3 Stadium der Rekonvaleszenz. Ein Prodromalstadium ist nicht
immer vorhanden. Unter Hitzegefühl oder Frösteln, seltener unter
Schüttelfrost bricht plötzlich ein profuser Schweiss aus; die Schweisse
sind hochgradig und dauern mehrere Tage (bis zu 10) an und
schwächen die Kranken ungemein. Die 1 emperatur übersteigt dabei
selten 38°, Schmerzen in der Magengegend treten häufig auf, dazu
Herzklopfen, manchmal auch Herzschwäche mit Exitus letalis. An
diese Periode schliesst sich meist eine 3—8 1 age dauernde I ei lode
trockener Hitze mit Temperaturen bis 41,0° C. und Somnolenz; dann
stellt sich das Exanthem ein, bestehend aus Bläschen, am Halse be¬
ginnend und auf den Stamm übergehend, seltener auf die Extremitäten
übergreifend und noch seltener auch das Gesicht befallend. Der seröse
Inhalt der Bläschen trübt sich, wird eiterähnlich und dickt sich ein.
selten konfluieren die Bläschen zu grösseren Pusteln wie bei du
Variola. Das Sekret trocknet zu Borken ein. Nach dem Abfall der
Borken bleiben pigmentierte Stellen längere Zeit zuruck und kommt
es oft zu kleienförmiger Schuppung. Das Fieoer lasst nach, die
Schmerzen werden geringer, manchmal kommen aber Nachschübe und
kommt es auch im Exanthemstadium zum Exitus letalis- 1 f
schliesst sich ein langwieriges Rekonvaleszenzstadium mit sein la g
1772
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
sanier Rückkehr der Kräfte. Die Blutuntersuchungen ergaben eine
Verminderung der weissen Blutkörperchen mit relativer Vermehrung
der Lymphozyten und eosinophilen Zellen. Im Bläscheninhalte fanden
sich reichlich eosinophile Zellen, zahlreiche Kokken und kleine Stäb¬
chen, vielleicht identisch mit den von Eppinger näher studierten
Bazillen. Für die Entstehung der Epidemie wird der sehr feuchte
lehmige Boden mit hohem Grundwasserstand herangezogen. Direkte
Uebertragung von Person zu Person ist nach dem amtlichen Bericht
nicht anzunehmen, kann aber doch nicht völlig ausgeschlossen werden.
Therapeutische Massnahmen von Wert konnten bei der geistigen
Rückständigkeit der Bevölkerung meist nicht angewendet werden.
Die Kranken hüllten sich meist in dicke Decken ein. hielten jeden
Luftzug fern und Hessen noch überdies einheizen. Prophylaktisch
kommt hauptsächlich Isolierung der Kranken in Betracht. Die Durch¬
führung derselben, soweit es möglich war, brachte auch die Epi¬
demie zum Erlöschen. Lindemann - München.
Zeitschrift für Heilkunde. Herausgegeben von C h i a r i
in Prag. XXVII. Bd. (Neue Folge, VII. Bd.) Jahrg. 1906,
Heft 7.
1) Perusini: Ueber die Veränderungen des Achsenzylinders
und der Markscheide im Rückenmark bei der Formoliixierung. (Aus
der Prosektur von Schmaus in München.) Mit Abbildungen.
Die Anschwellungen und Schlängelungen an den Markscheiden
und Achsenzylindern von Nervenfasern sind nicht kadaveröse Ver¬
änderungen, sondern entstehen in der Fixierungsflüssigkeit. Die
Stärke der Veränderung ist proportional der Konzentration der ver¬
wendeten Formollösung. Die bei Formolhärtung entstehenden Bilder
dürfen mit denen anderer Fixierungsflüssigkeit nicht ohne weiteres
verglichen werden.
2) Liebscher: Zur Kenntnis der Mikrogyrie nebst einigen
Bemerkungen über die sogenannten Heterotopien im Rückenmarke
des Menschen. (Aus der Landesirrenanstalt in Brünn.) Mit Ab¬
bildungen.
Ein Fall von wahrer Mikrogyrie, wohl entstanden durch primäre
Entwicklungshemmung des Markes verbunden mit He-terotopien
grauer Substanz im Rückenmark, die sich als zarte Ausläufer der
Hinterhörner erkennen Hessen.
3) Löwit: Ueber pendelnde Blutbewegung bei venöser Stau¬
ung. (Aus dlem pathologischen Institut in Innsbruck.) Mit Abbil¬
dungen.
Die rlivthmisch pulsierende Blutströmung in den kleinsten Ge-
fässen im Gefolge der venösen Stauung ist als der zirkulatorische
Ausdruck für den fortschreitenden Ausgleich der normalen Druck¬
differenzen innerhalb der verschiedenen Abschnitte der Strombahn
bei noch bestehendem, wenn auch verringertem Druckgefälle von
den Arterien zu den Venen anzusprechen. Bei der pendelnden Blut¬
bewegung hat jedoch die Blutströmung mehr oder weniger aufge¬
hört, es besteht vorwiegend nur Blutbewegung ohne wesentlichen
Ortswechsel der Blutteilchen, das ist vorwiegend Wellenbewegung
der Blutsäule, die einen völligen oder nahezu völligen Ausgleich der
Druckdifferenzen zwischen Arterien und Venen voraussetzt, und die
durch den noch wirkenden Antrieb seitens des Herzens ausgelöst
wird.
4 ) Wiesel: Die Erkrankungen arterieller Gefässe im Verlaufe
akuter Infektionen. II. Teil. (Aus der Kretzschen Prosektur in
Wien.) Mit 1 Tafel.
Die Untersuchungen W.s sind eine Fortsetzung seiner Gefäss-
untersuchungen beim TyDhus abdominalis (ref. Münch, med. Wochen¬
schrift 1905, S. 467). Das Ergebnis fasst W. folgetidermassen zu¬
sammen: Im Verlaufe der verschiedensten Infektionskrankheiten er¬
scheint das arterielle Gefässystem in anatomisch gut erkennbarer
Art geschädigt. Die Erkrankung manifestiert sich als ein Degenera¬
tionsprozess der glatten Muskulatur und der elastischen Fasern, tritt
immer zuerst ausschliesslich in der Gefässmedia auf und bleibt in
der Mehrzahl der Fälle auf diesen Gefässabschnitt beschränkt. Die
Degeneration tritt in Herden auf. die in den einzelnen Gefässen recht
zahlreich sein können, und führt bei besonders schweren Fällen zu
veritablen Nekrosen der Gefässwand; diese Nekrosen heilen dann
entweder durch Narben oder Restitutio ad integrum aus, in manchen
Fällen greift aber der Prozess auch auf die Intima über, wobei es
dann in diesem Gefässabschnitt zu narbigen Veränderungen kommt,
wodurch das Entstehen bleibender Gefässschädigung eingeleitet er¬
scheint.
Bei hochgradiger Ausbildung der Erkrankung sind auch makro¬
skopisch Veränderungen sichtbar. Die Erkrankung befällt alle ar¬
teriellen Gefässe bis zu einem gewissen Kaliber (ungefähr dem einer
Dieitalarterie): allerdings ist die Verteilung der Herde von Fall zu
Fall verschieden: auch die Aorta, die zerebralen und die Herzarterien
beteiligen sich in hervorragendem Masse am Prozess.
Nach den einzelnen pathologischen Bildern gesondert lassen sich
zwei Grußpen aufstellen: Erkrankungen mit besonders starker Be¬
teiligung der elastischen Elemente: Diphtherie. Tvphus. Influenza und
Pneumonie, und solche, bei denen die Muskulatur besonders ge¬
schädigt erscheint: Scharlach, septisch-pyämische Erkrankungen.
Zur ersten Gruppe wären auch die Prozesse, hervorgerufen durch
pflanzliche Gifte, zu rechnen.
Als Folge dieser infektiösen Arterienerkrankung, welche haupt¬
sächlich die Media betrifft, die gewöhnliche Arteriosklerose .zu be¬
trachten, ist nicht ohne weiteres allgemein zulässig, da diese zuerst
und hauptsächlich die Intima betrifft. Eher Hesse sich die syphilitische
Arteriosklerose, die sich vorzugsweise in der Media abzuspielen
scheint, auf Prozesse der beschriebenen Art zurückführen. Dagegen
geben die mit Adrenalin und anderen Giften erzeugten Arterienver¬
änderungen sehr ähnliche Bilder wie die infektiösen Arterienerkran¬
kungen. Darauf, dass auch klinisch im Verlaufe von Infektionskrank¬
heiten Symptome auftreten. die sich auf anatomische Veränderungen
des peripheren Gefässystems beziehen lassen, hat 0 r t n e r hin¬
gewiesen. Bändel- Nürnberg.
Beiträge zur klinischen Chirurgie, red. von P. v. B r u n s.
49. Band. Jubiläumsband für R. U. Krönlein. Tübingen,
L a u p p , 1 906.
In dem R. U. K r ö n 1 e i n zu seinem 25 jährigen Jubiläum als
Direktor der Züricher Klinik gewidmeten und mit seinem Porträt ge¬
schmückten Bande berichtet zunächst Prof. K- Schiatter über
die Darinfunktion nach ausgedehnten Dünndarmresektionen und be¬
spricht u. a. einen erfolgreichen Fall von Resektion von ca. 2 m
Ileum wegen gangränösem Darmprolaps nach Stichverletzung; seit
seiner Arbeit im Schweizer Korrespondenzbl. ist die Zahl der über
1 m betragenden erfolgreichen Resektionen auf 20 angewachsen. Schl,
teilt die Resultate von Stoffwechseluntersuchungen des vor 7 Jahren
resezierten Falles mit und kommt nach den bisher bekannten Stoff¬
wechseluntersuchungen etc. zu dem Schluss, dass Dünndarm¬
kürzungen von ca. 2 m Länge gewöhnlich unauffällige oder leicht
zu kompensierende Störungen der Darmfunktion zur Folge haben, dass
sich aber ein festes Gesetz über die Zulässigkeit ausgedehnter Darm¬
resektionen nicht aufstellen lasse. Schl, teilt u. a. einen Fall von be¬
drohlichen Ausfallserscheinungen (Diarrhöen und hochgradige Inani-
tion) nach Resektion von 150 cm wegen Volvulus mit Ileus und Gan¬
grän mit, in welchem Peritonitis früher vorausgegangen war und
ausgedehnte Darmverwachsungen wohl zu einer Herabsetzung der
Resorptionsfähigkeit des Dannrohres geführt hatten.
H. Zuppinger bespricht die Dislokationen der Knochenbrüche
an der Hand des grossen Materials der Züricher Klinik; er gibt die
Eindrücke, die er speziell bei der röntgenographischen Kontrolle vieler
Hunderte von Frakturen gesammelt und knüpft entsprechende Vor¬
schläge daran. Z. bespricht die verschiedenen Arten der Dislokation,
die Entstehung und Korrektur derselben im allgemeinen und kommt
u. a. zu dem Schluss, dass die Frakturen mit Verkürzung (sei diese
winklig oder durch Verschiebung entstanden), die am 3. Tag nicht
reponiert sind, nur noch mit grosser Mühe oder gar nicht mehr re-
poniert werden, dass Reoositionsversuche in der 2. oder 3. Woche
meist die Stellung verschlimmern und immer die Konsolidation ver¬
zögern: geht auf die einzelnen Frakturen näher ein. Die Tibiadia-
physenfraktur im mittleren und unteren Drittel u. a. ist bei flek¬
tiertem Knie und bei geringer Flexion des Fussgelenks zu behandeln,
erhebliche Supination des Fusses ist zu unterlassen.
De.r gleiche Autor verbreitet sich über die Grenzen der radio¬
graphischen Differenzierung und studiert den Einfluss des Objekts,
der Strahlen, der photographischen Schicht und Expositionszeit.
Luc. S p e n g 1 e r - Davos gibt eine Mitteilung zur Chirurgie des
Pneumothorax, worin er unter Mitteilung der Krankengeschichten
über 10 eigene Fälle von geheiltem tuberkulösem Pneumothorax (ver¬
bunden in 6 Fällen mit gleichzeitiger Heilung der Lungentuberkulose)
berichtet. In sämtlichen Fällen waren Exsudate vorhanden (5 mal
rein serös, 4 mal serös eitrig). Die Komoression der Lunge ist auf
den Verlauf der Tuberkulose von ausschlaggebendem Einfluss, die
Entfaltungsfähigkeit der Lunge ist selbst bei Tuberkulösen viel länger
erhalten als man glaubt, nach 3 — 6 monatlicher Kompression ent¬
faltet sie sich wieder. Aeussere Thoraxfistel sollte nur bei fieber¬
haftem eitrigem oder jauchigem Exsudat angelegt werden: wo Auf¬
treten und Verlauf des Pneumothorax wenig stürmisch und die Ver¬
drängungserscheinungen langsam zurückgehen, ist es nicht nötig, den
lufterfüllten Thorax zu punktieren, bei normaler oder gering gesteiger¬
ter Temperatur ist, wenn immer möglich, der Versuch zu machen,
auch ein eitriges, besonders steril eitriges Exsudat durch wiederholte
Punktion zu heilen. Wenn die Verdrängungserscheinungen keine Ent¬
lastungspunktion erfordern, so nimmt So. erst 2 — 3 Wochen nach er¬
folgter vollständiger Resorntion der Luft die erste Punktion vor
(meist nur 500 g. damit die Lungenfistel sich nicht wieder öffnet), je
nach Umständen lässt er schon nach 1 — 2 Wochen etwas ausgiebigere
(700 — 1000 g) folgen und führt die 3. ausgiebige Punktion aus, sobald
es ihm geboten erscheint. Ist die Infektion der Pleura eine schwere,
so würde sich Sp. nur gezwungen mit der Bül au sehen Methode
begnügen und wenn die noch funktionierende Lunge gesund oder nur
leicht erkrankt, zur breiten Eröffnung des Thorax event. Thorako-
plastik und Naht der Lungenfistel schreiten.
E. Köhl gibt einen Beitrag zur retrobulbären Chirurgie der
Orbita und teilt 2 Fälle von retrobulbären Tumoren mit, deren einer
mit Resektion des Margo infraorbit., der andere nach K r ö n 1 e i n
operiert wurde, welch letzteres Endresultat in kosmetischer Hinsicht
K. hervorhebt.
4. September 1006.
1773
MUENCHENEk MEDIZINISCHE WOCHENSCHRlF'i .
A. L ii n i n g gibt einen Beitrag zur Nieren- und Ureterchirurgie
und teilt u. a. einen Fall von Verletzung von Mastdarm, Blase und
Harnleiter durch forcierte Zangenentbindung bei gesunder Erst¬
gebärender mit, in dem aufsteigende schwere Infektion beider Nieren
(doppelseitige Pyonephrose mit Steinbildung) Nephrostomie zuerst
der einen, dann der anderen Seite nötig machten und dann die Un¬
wegsamkeit des rechten Ureters durch Neueinpflanzung desselben
in die Blase behoben wurde, weiterhin wurde dann (mit Lumbal¬
anästhesie) die Blasenscheidenfistel beseitigt und schliesslich Perineo¬
plastik ausgeführt, die Patientin nach 14 monatlicher Behandlung
und 22 monatlichem Krankenlager geheilt entlassen, wobei auch be¬
sonders der interessante zystoskopische Befund geschildert wird.
R. S t i e r 1 i n gibt Erfahrungen mit der B o 1 1 i n i sehen Opera¬
tion bei Prostatahypertrophie, er glaubt nicht, dass die Bott i n i -
sehe Operation durch die Prostatektomie verdrängt wird, das Gros
der Prostatiker, meist Leute über 65 Jahre mit Emphysem und
Arteriosklerose will er nach wie vor mit B o 1 1 i n i scher Operation
behandeln. Von 11 mitgeteilten Fällen sah St. in 6 vorzüglichen Er¬
folg, 1 guten, 2 mittelmässige, insgesamt waren nur 2 Misserfolge;
9 urinierten sofort oder bald nach der Operation spontan. Misslingt
die Operation, so ist (je nach dem Zustand des Patienten etc.) die
galvanokaustische Inzision zu wiederholen oder die Radikalopera¬
tion auszuführen. Sehr wichtig ist es nach St., jeden Patienten, der
schon längere Zeit vor dem Spitaleintritt eine maximal gefüllte Blase
hatte, durch Verweilkatheter auf den Eingriff vorzubereiten, damit
die Blasenmuskulatur ihren Tonus wieder erlangen kann.
P. Wiesmann — über einen Fall doppelseitiger Bizepsruptur
— bespricht im Anschluss an einen betreffenden Fall, in dem die von
der Tub. rad. abgerissene distale Sehne erfolgreich wieder angenäht
resp. durch Naht in der Spalte zwischen M. supinator long. und pro-
nator teres fixiert wurde, (da zur direkten Annäherung am Radius
nicht genügend Gewebe mit der Nadel zu fassen war).
J. Michalski bespricht die Therapie des Morbus Basedowii
und erwähnt unter Mitteilung eines Falles von Spontanheilung und
verschiedener diesbezüglicher Krankengeschichten sowohl die Effekte
der Hydrotherapie und elektrischen Behandlung als der partiellen
Strumektomie. Die Indikationsstellung zur Operation, die M. gegeben
sieht, wenn interne und symptomatische Behandlung nicht in 3 bis
4 Wochen ein wenn auch geringes Resultat erzielten, ist noch keine
einheitliche. Tracheostenose und maligne Tumoren sind als absolute
Indikation aufzufassen, sonst rät M. nach Mikulicz die Operation
zu wählen, die als kleinster Eingriff zu betrachten ist.
Oscar Wyss gibt einen Beitrag zur Entstehung des Röntgen¬
karzinoms der Haut und zur Entstehung des Karzinoms im all¬
gemeinen, im Anschluss an eine eigene Beobachtung von Auftreten
dreier primärer Karzinome und eines vierten kontemporär mit dem
dritten unmittelbar nach mehrmaliger Röntgenbehandlung eines Lupus
erythematos. an der Stelle, wo am intensivsten bestrahlt wurde, wo¬
bei die histologischen Befunde genau besprochen und den sukzessiven
Gefässobliterationen (Intimawucherungen) eine grosse Bedeutung für
das Freiwerden der Karzinomzelle zuerkannt wird. Das Karzinom
entsteht nach W. dadurch, dass die Epithelzellen ihren Charakter
verändern, sich schrankenlos zu teilen beginnen infolge mangelnder
Ernährung einer Epithelzellengruppe mit Blut (dadurch zustande
kommend, dass die Gefässe unter dem Epithel allmählich enger wer¬
den und obliterieren), wodurch die Epithelzellen genötigt werden,
ihre Nahrung aus den ihnen zunächst liegenden Zellen und Geweben
zu entnehmen, d. i. zu Parasiten werden — ein Entstehungsmodus,
den W. auch für andere Karzinome gelten lassen möchte.
K. Henschen berichtet über Struma suprarenalis cystica
haemorrhagica (ein Beitrag zur Pathologie und Chirurgie der Neben¬
nieren) im Anschluss an einen transperitoneal operierten Fall solcher
Zyste, deren verschiedene Formen und Operationen unter Berück¬
sichtigung der betreffenden Literatur besprochen werden.
Hans Brunn gibt einen Beitrag zur Chirurgie der subkutanen
Nierenzerreissungen unter Mitteilung eines Falles von Nierenruptur
(direkte Fraktur der Niere), bei dem konservative Operation (Naht),
trotz zeitweiser Urinfistel, zur vollständigen Genesung führte und der
in solchen Fällen retroperitoneales und soweit als möglich konser¬
vierendes Vorgehen in solchen Fällen ratsam erscheinen lässt.
Carl Schiatter — über die Frakturen der Mittelhandknochen
— analysiert u. a. 21 Fälle von Metakarpalfrakturen und betont, dass
solche selbst bei Röntgendurchleuchtung leicht übersehen werden
können, dass speziell die Torsionsbrüche an der äusseren Hälfte der
Hand, besonders am 5., weniger am 4. und 3. Metakarpus nicht selten
sind, während der 2. und 3. Metakarpus die meisten Querfrakturen auf¬
weisen. ln 5 Fällen von Torsionsbruch des 5. Metakarpus war Fall
auf die Hand die Ursache.
E. M o n n i e r berichtet über einen Fall von sog. Medianspalte
und geht auf die bei dieser Missbildung vorliegenden anatomischen
Einzelheiten näher ein.
Schönholzer bringt eine klinische Studie über Kryptorchismus
und gibt im Anschluss an 42 in den letzten 20 Jahren in der Krön-
lein sehen Klinik beobachtete resp. operierte Fälle seine An¬
schauungen über die Häufigkeit von Hernien, Atrophie des Hodens etc.
bei dieser Affektion. 17 mal wurde der Hode innerhalb der Bauch¬
decken in das properitoneale Gewebe gelagert, nur 3 mal wurde
Orchidopexie vorgenommen, 13 mal wurde der atrophische Hoden,
der sich bei der Operation des Leistenbruchs als hinderlich erwies,
entfernt; im allgemeinen ist, wenn ein Inguinaltestis nach
Spaltung der Tunica vag. comm. und des Proc. vagin. sich nicht leicht
und ohne zu grosse Spannung des Samenstrangs ins Skrotum bringen
lässt, auf Orchidopexie zu verzichten und der Hode am besten mit
einem Teil des Processus vaginalis in das properitoneale Bindegewebe
innerhalb der Bauchdecken zu verlagern und nach Verschluss des
Bruchsackes der Leistenkanal in ganzer Länge nach B a s s i n i zu
verschliessen.
Alb. Wett st ein bespricht das Wetter und die chirurgischen
Hautinfektionen, speziell an der Hand des betreffs Furunkel und
Karbunkel und teilweise betreffs der Panaritien vorliegenden Mate¬
riales und ist geneigt, der Temperatur, der relativen Feuchtigkeit und
Windstärke dabei einen gewissen Einfluss zuzuerkennen.
Ferd. Kreuzer bespricht die chirurgische Behandlung des
runden Magengeschwürs und seiner Folgezustände an der Krön-
1 ein sehen Klinik in Zürich in den Jahren 1887—1904 und gibt unter
Besprechung von 116 Fällen eine Ergänzung zu der 1903 publizierten
Arbeit von Schönholzer über die Chirurgie des Magenkrebses
an der betreffenden Klinik. Davon entfallen 92 Fälle mit 13 Todes¬
fällen auf das Ulc. ventriculi mit und ohne Stenose, 14 auf Perfora¬
tionen (mit 13 t), 2 auf Verletzungen und Verätzungen, 4 auf Ulc. duo-
deni. Von 109 Operationen (mit 25 +) entfallen 66 auf Gastroentero¬
stomie nach Hacker (77 Proz.), 4 auf Resektionen des Pylorus; bloss
für Magengeschwür und Folgezustände berechnet sich eine Mortalität
von 15,3 Proz. Kr. geht auf die einzelnen Gruppen näher ein, bespricht
u. a. Aetiologie, Pathologie und Verlauf des Ulcus und die Art des
Vorgehens und die Daueresultate und gibt eine Uebersicht der Kran¬
kengeschichten der betreffenden Fälle. Betreffs der Operationen ist
bei dem Ulcus ventr. mit oder ohne Stenose die Gastroenterostomie
als das Normalverfahren anzusehen und scheint die Gastroentero¬
stomie nach v. H a c k e r die besseren Resultate aufzuweisen,
während die Wölf ler sehe Methode dann am Platze ist, wenn
bestimmte anatomische Verhältnisse erstere nicht gestatten. Die
Pyloroplastik kann in manchen dafür besonders geeigneten Fällen in
jeder Beziehung guten Erfolg haben, lässt sich jedoch in den meisten
Fällen mit ebenso gutem Resultat durch die Gastroenterostomie er¬
setzen. Die Exzision des Geschwürs dürfte nur in Ausnahmsfällen
bei günstiger Lage des Ulcus sicheren dauernden Erfolg versprechen,
während die Resektion bei Stenosen und einfachem Ulcus dann in
Betracht kommt, wenn Verdacht auf Karzinom besteht (um so eher,
je günstiger die Verhältnisse für de Resektion). Die Gastrolyse ver¬
wirft Kr. Absolute Indikation zu chirurgischem Eingreifen sieht Kr.
in jeder sicher nachgewiesenen Stenose, ob erheblichen oder leichteren
Grades, wenn eine, längere Zeit systematisch durchgeführte, interne
Therapie und Magenspülungen wesentlichen Erfolg nicht erzielten, in
öfters rezidivierenden, abundanten bedrohlichen Blutungen, in Fällen
mit Verdacht auf Karzinom, bei Ulcusperforation. Relative Indikation
zu chirurgischem Eingriff besteht nach Kr. bei ein- oder mehrmaliger
Blutung, wenn das Leben stark gefährdet ist und andere thera¬
peutische Massregeln ohne Erfolg angewendet wurden, bei dem mit
schweren Erscheinungen (heftigen Schmerzen, häufigem Erbrechen)
komplizierten Ulcus, wenn dasselbe längere Zeit in der gleichen
Intensität besteht, die Therapie keinen oder nur geringen Erfolg hat,
— bei dem einfachen unkomplizierten Ulcus mit sehr langer Leidens¬
dauer, fortschreitender Verschlimmerung trotz entsprechender The¬
rapie, wenn die soziale Stellung des Kranken eine Besserung des
Zustandes dringend verlangt — bei Fällen mit funktioneller moto¬
rischer Insuffizienz erheblichen Grades unter ähnlicher Voraussetzung.
Conr. Brunner gibt eine Mitteilung über Keimprophylaxis,
Technik, Wundverlauf und Wundfieber bei aseptisch angelegten Ein¬
griffen am Magen und die unmittelbaren und späteren Resultate
seiner Magenoperationen und damit auch eine Uebersicht der in den
Jahren 1896—1905 ausgeführten Operationen am Magen. Nämlich
18 Karzinomresektionen mit 13 Heilungen, 1 Resektion wegen Endo-
theliom, 52 Gastroenterostomien (30 wegen Karzinom, 22 wegen
nichtkarzinomatösen Affektionen) mit 45 Heilungen, 3 Pyloro-
plastiken und 8 Operationen bei schon vorhandener peritonealer In¬
fektion mit 4 Heilungen. Br. geht auf das Studium der pathogenen
Magenkeime näher ein und auf die Technik der Keimprophylaxis, er
verwirft im allgemeinen Operationshandschuhe und legt grosses Ge¬
wicht auf den Abschluss von Magen und Darm vor der Naht, er
bedient sich u. a. zum Verschluss des Duodenums bei der Magen¬
resektion einer besonderen „Bajonettzange“, die auch zum Abschluss
des Magens bei der Gastroenterostomie zweckmässig verwendet
wird, während er zum Abschluss des Jejunum hiebei runden sterili¬
sierten Lampendocht verwendet, mit dem man die angelegte Schlinge
frei drehen und wenden kann. Br. verbindet die sorgfältigste Pro¬
phylaxis mit einer beschränkten lokalen Antiseptik und reinigt mit
1 proz. Aktollösung die Magen- und Darmwunden und das benach¬
barte Peritoneum von dem anzunehmen, dass es mit Keimen in Be¬
rührung kommt. Bei Billroth II-Methode lagert Br. den geschlossenen
Duodenalstumpf extraperitoneal und hat von 10 nach dieser Methode
resezierten Fällen nur 1 (an Pneumonie) verloren. Br. bespricht das
postoperative Fieber und betrachtet es als Regel, dass nach allen
• grösseren Operationen bei ganz ungestörtem Wundverlauf eine Eie-
774
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
vation der Temperaturkurve über das vor der Operation einge¬
nommene Niveau eintritt und geht aut die Temperatur- und Puls¬
verhältnisse bei Probelaparotomien, Gastroenterostomien und Re¬
sektionen näher ein unter Beigabe tabellarischer Uebersichten und
Temperaturkurven. Die Mortalität seiner Resektionen berechnet Br.
mit 26,3 Proz., betreffs der Dauerresultate ist allerdings Rezidiv die
Regel, doch hat er unter 19 Resezierten 1, der jetzt 7 Jahre seit der
Operation gesund geblieben, als Mittel der Lebensdauer von 11 +
Fällen von Karzinom berechnet sich 1 Jahr 4 Monate. Wie bei allen
Karzinomen kann auch hier nur das Heil in Operation im frühen
Stadium und weit im gesunden liegen. Betreffs der Gastroentero¬
stomien hat Br. 12 nach Wölf ler (mit 2 t), 9 antekolika mit
B r a u n scher Enteroanastomose (mit 2 t), 28 retrokolika nach
v. Hacker (mit 3 +) und 3 nach Wölfler-Roux (retrocol.
en Y) angewandt, zusammen 52 Fälle mit 7 Todesfällen, als Mittel
der Lebensverlängerung bei Karzinom berechnet Br. nach seinen Er¬
fahrungen 170 Tage, von 18 wegen Ulcusstenose üastroenterosto-
mierten, von denen von 17 spätere Nachrichten vorliegen, sind 5
gestorben, wovon 2 höchst wahrscheinlich auf Karzinom zuriickzu-
führen sind. Sehr.
Archiv für Gynäkologie. Bd. 79, Heft 1. Berlin 1906.
1) Neuman n Julius: Die Sectio caesarea an der Klinik Schauta.
Die Arbeit berichtet über 175 Kaiserschnitte an der Lebenden
und 5 nach eingetrenem Tode und umfasst Schau tas Material von
1885 bis 1905. Es trifft ein Kaiserschnitt auf 290 Geburten. Das
Material ist einmal vom klinischen Standpunkt (Indikation) gruppiert
und dann vom operationstechnischen Standpunkt, hier wird auch die
geübte Technik eingehend geschildert. 141 Fälle wurden nach S a en¬
ge r operiert, 15 mit nachfolgender supravaginaler Amputation des
Uterus nach P o r r o. In 18 Fällen wurde die Sectio caesarea zum
zweiten Male ausgeführt.
N. empfiehlt, den Uterusschnitt hoch und sagittal anzulegen.
Das Operationsresultat für die Mütter besteht in 161 Heilungen
und 14 Verlusten; von den Kindern wurden 161 lebend aus der Klinik
entlassen.
Es folgen 180 Auszüge aus den Geburtsgeschichten.
Die Arbeit bringt die grösste, unter Leitung eines Operateurs
ausgeführte und mitgeteilte Reihe von Kaiserschnittsfällen und bietet
entsprechend reiche Behandlung von Einzelnfragen.
2) B a b Hans: Ueber Melanosarcoma ovarii. Gleichzeitig ein
Beitrag zur Physiologie des Pigments. (Aus dler Universitäts-Frauen¬
klinik der Charite zu Berlin. Direktor: Geh. Med. -Rat Prof. Dr. E,
Bum m.)
ln dem mitgeteilten Falle besteht die Möglichkeit, dass ein Me-
lanosarkom bei einer 39 jährigen Frau primär in einem Ovarium ent¬
standen ist und dass von dem Ovarium aus auf retrogradem Lymph-
wege Drüsen- und Hautmetastasen gebildet wurden; es muss jedoch
auch die Annahme offen gelassen werden, dass es sich um primäres
Hautmelanom handelt, das Metastasen in selbständige zystische Tu¬
moren der Ovarien gesetzt hat. Literatur über Pigmententstehung,
-bedeutung und -funktion.
3) F. Fromme: Studien zum klinischen und pathologisch¬
anatomischen Verhalten der Lymphdrüsen bei malignen Erkrankungen,
hauptsächlich dem Carcinoma colli uteri. (Aus der kgl. Universitäts-
Frauenklinik zu Halle a. S.)
F. stellte sich die Aufgabe, die Fiebersteigerungen zu erklären,
die bei Krebsen in jedem Stadium öfter Vorkommen; er untersuchte
das pathologisch-anatomische Verhalten der Drüsen vor und während
der Krebsinvasion; ferner dehnte er die Untersuchungen aus auf die
entzündliche Reaktion, die Beteiligung der verschiedenen Zellen an
ihr, hauptsächlich der im Blute und Bindegewebe enthaltenen (Mast¬
zellen und weisse Blutkörperchen), ihre Ueberwanderung oder
Neubildung in den Drüsen bei karzinomatöser Degeneration oder bei
einfacher Hyperplasie. Es wurden insgesamt von 30 Karzinomkranken
die bei der Operation frisch gewonnenen Drüsen auf bakterielle In¬
vasion untersucht (Untersuchung im Schnitt), bei 4 Kranken konnte
eine mehr oder weniger starke Infektion konstatiert werden. Die
bakterielle Infektion der Drüsen erscheint unabhängig von der Aus¬
breitung des Karzinoms und kann hyperplastische wie karzinomatöse
Drüsen befallen. Die Entstehung des Fiebers beim Karzinom erklärt
F. durch starke bakterielle Infektion der Drüsen, deren Widerstände
dabei überwunden werden müssen. Die Arbeit gelangt zu bestimmten
Schlüssen.
4) P. Mat lies: Erwiderung:
Gerichtet gegen Hoermann. Die Redaktion schliesst damit
die Erörterung. Anton Hengge - München.
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. LVIII . Band
1. Heft. Stuttgart, F. Enke, 1906.
1) Do ca- Berlin: Ein Fall von diffusem Myom mit beginnendem
Karzinom in der hyperplastischen Uterusschleimhaut. Genaue histo¬
logische Untersuchung des seltenen Falles. 6 Illustrationen.
2) Esch-Berlin: Ueber Eklampsie.
Das riesige Eklampsiematerial der Ols hausen sehen Klinik
ist von diesem' selbst 1892 und dann von seinem Schüler Goedecke
1901 publiziert worden. Eine Fortsetzung bildet die vorliegende Sta¬
tistik, die die 6 Jahre 1900 — 1905 mit 496 Fällen umfasst. Sehr
interessant ist ein Vergleich der Zahlen dieser 3 Beobachtungs¬
perioden. Die Gefahr der Krankheit ist auch jetzt, wo die Therapie
viel aktiver geworden ist und die Schnellentbindung zur Methode
entwickelt ist, noch recht bedeutend. Ein Allheilmittel ist die
schleunige Entbindung nicht, wenn auch % der Gebärenden nach
der Entbindung anfallsfrei werden. Lesenswert ist die Kritik der
verschiedenen therapeutischen Vorschläge, die bei dem grossen Ma¬
terial sehr exakt klinisch erprobt werden konnten.
3) Georg Burckard: Experimentelle Untersuchungen über das
Verhalten der Ovarien und Tuben, sowie des Uterusrestes nach voll¬
ständiger, resp. teilweiser Entfernung des Uterus bei Kaninchen.
Die Experimente bezweckten, das Verhalten der Ovarien und
Tuben nach Uterusexstirpation zu studieren. Verf. kommt zu ähn¬
lichen Ergebnissen, wie Mandl und Bürger und andere Unter¬
sucher. Die Befunde dieser Autoren werden ergänzt und etwas
modifiziert, dadurch dass Verf. die operierten Kaninchen noch länger
— bis zu 5 Jahren — am Leben Hess.
4) Leo- Halle: Stirnlage mit mentoposteriorem Austrittsmecha¬
nismus.
Kasuistischer Beitrag zum Studium des Geburtsmechanismus bei
Deflexionshaltung. I. Para mit mässig platt verengtem Becken. Stirn¬
lage, die in Gesichtslage umzuwandeln misslingt. Es erfolgt spontan
die Geburt eines kräftigen lebenden Kindes unter Vorantritt der vor¬
deren Ecke der Scheitelbeine, voran das rechte. Dann tritt Stirn
und Gesicht, zuletzt das Kinn über den Damm. Schliesslich wird
das bis dahin unter der Symphyse versteckt gewesene Hinterhaupt
durch Senken des Kopfes geboren.
5) B r ö s e - Berlin: Ueber Endometritis atrophica purulenta
foetida.
In 2 Fällen erkrankten alte Frauen an einem profusen, eitrigen,
dünnflüssigen, aashaft stinkenden Ausfluss, der aus dem Corpus uteri
stammte, den Verdacht eines Korpuskarzinoms erregte. Die genaue
Untersuchung des Kürettenmateriales gab für eine maligne Degenera¬
tion keinen Anhaltspunkt. Verf. stellt di» seltene Erkrankung in Pa¬
rallele mit der Stinknase und schlägt den Namen „Hysterozaena“ für
diese Fälle vor. Die Therapie: Lysold'uschen, Jodoformgazetam¬
ponade, Uterusspülungen mit Holzessig beseitigte das lästige, in einem
Falle auch schmerzhafte Leiden.
6) Robert M e y e r - Berlin : Zur Kenntnis der benignen chorio-
epithelialen Zellinvasion in die Wand des Uterus und der Tuben.
Die Befunde des Verfassers sind ganz besonders wertvoll und
tragen ausserordentlich zum Verständnis dieser allmählig immer mehr
studierten und besser gekannten Verhältnisse bei. Meyer fand eine
ausgedehnte Durchtränkung des mütterlichen Gewebes mit fötalen
epithelialen synzytialen Massen. Die Differentialdiagnose, inwieweit
diese Befunde zur Norm gehören und wo das maligne Chorion¬
epitheliom anfängt, kann unter Umständen sehr schwierig werden.
Die Details der wertvollen Arbeit eignen sich nicht zum kurzen Re¬
ferat. Werner- Hamburg.
Archiv für Hygiene. 58 Bd. 2. Heft. 1906.
1) E. K u h t z - Berlin : Die Vergärung des Traubenzuckers
unter Entwicklung von Gasen durch Bacterium coli commune ist an die
lebende Zelle gebunden, da Bacterium coli im Gegensatz zu Hefe
zur Gärung unbedingt Stickstoffnahrung nötig hat.
Analog den Büchner sehen Ermittelungen über die Gärung
des Hefepressaftes, die erwiesen, dass die alkoholische Gärung des
Zuckers durch Hefe nicht an die Zelle gebunden sei, konnte ange¬
nommen werden, dass bei den Bakterien dieselben Verhältnisse
statthaben würden. Verf. vermochte aber beim Bacterium coli zu be¬
weisen, dass die Abtrennung des Gärungsenzyms sich nicht erreichen
lässt, weil Bacterium coli unbedingt stickstoffhaltige Stoffe zur Er¬
nährung braucht. Möglicherweise ist auch die Milchsäurebildung
des Bacterium coli an die Zelle gebunden.
2) Max L i s s a u e r -Berlin: Ueber den Bakteriengehalt mensch¬
licher und tierischer Fäzes.
Der trockene Kot gesunder Erwachsener besteht bei gemischter
Kost aus rund 9 Proz. trockenen Bakterien. Diese Zahl bleibt sowohl
bei rein vegetabilischer, wie bei rein animalischer Kost dieselbe.
Auch bei Hunden ,die mit Fleisch oder Brot oder Kartoffeln gefüttert
wurden, bleibt die Anzahl der Kotbakterien dieselbe. Kaninchen haben
im Gegensatz zu den Herbivoren sehr wenig Bakterien.
3) C. E y k m a n n - Utrecht: Ueber Ernährungspolyneuritis.
Die Versuche, welche vom Verf. neuerdings wieder angestellt
wurden, sind ein weiterer Beitrag zu seinen früheren Fütterungs¬
versuchen an Hühnern, die z. T. Maurer, z. T. G r y n s bestätigt
hatten. Eykmann konnte nachweisen, dass geschälter Reis jeder
Herkunft oder Güte nach 3—4 Wochen Polyneuritis bei Hühnern
hervorrief. In ungeschältem Zustande trat dagegen keine Erkrankung
ein, sogar schon kranke Tiere konnten geheilt werden. Gryns
fand ausserdem, dass sterilisiertes Fleisch ebenfalls Polyneuritis her¬
vorrief und konnte zeigen, dass auch bei Tieren ohne Kropf, z. B.
bei Enten mit Reis Polyneuritis auftrat. Von den weiteren in¬
teressanten Beobachtungen von Gryns, dass ungeschälter Reis,
wenn er auf 120 0 erhitzt worden war, ebenfalls Polyneuritis hervor-
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1775
rufen könne, konnte Eykmann in seinen neuen Untersuchungen
bestätigen, aber nicht die von Qryns gefundene Tatsache von der
Wirkung des Fleisches. Bei Gerste, Roggen und Hirse wurden
dieselben Resultate erzielt, wie bei Reis.
4) Hans Reibmayr - Innsbruck : Beleuchtungsverhältnisse bei
direktem Hochlicht. '
Die ausführlichen Untersuchungen ergaben, dass durch direktes
Hochlicht eine allen hygienischen Anforderungen entsprechende Be¬
leuchtung erzielt werden kann, die für Schulen, Auditorien, Zeichen¬
säle usw. hinreichend ist. Die Beleuchtungskörper müssen möglichst
hoch angebracht werden und gleichmässig verteilt sein. Wände und
Decke müssen weiss gestrichen sein.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 35.
1) H o c h e i s e n - Berlin: Geburtsstörung nach Ventrifixation
des Uterus.
In dem 1. der 2 von H. mitgeteilten Fälle war bei der 31 jähr.
Frau vor 12 Jahren eine Ventrifixation gemacht worden. Die Ent¬
bindung musste auf operativem Wege derart vorgenommen werden,
dass der oberste Teil der Scheide, die Zervix und die vordere Uterus¬
wand von der Vagina aus durchtrennt wurden, worauf die Entwick¬
lung des lebenden Kindes gelang. Die Blasenverletzung konnte ver¬
mieden werden. Heilung. Verf. bespricht den Mechanismus der vor¬
liegenden Geburtsstörung und teilt noch einen 2. Fall mit, wo bei
einer Frau mit rachitisch plattem Becken, bei der schon 1903 die
Sectio caesarea ausgeführt worden war, letztere wegen der Vagini-
fixatio mit günstigem Erfolge wiederholt wurde.
2) G e r o n n e - Berlin: Miliartuberkulose und Skorbut.
Mitteilung der Krankengeschichte eines Falles (61 jähr. Frau),
bei welcher sich primär eine später miliar werdende Tuberkulose
entwickelte, auf deren Boden dann, wie G. annimmt, ein Skorbut auf¬
trat, der zum Tode führte. Die gewöhnlich für das Entstehen des
Skorbuts angeführten Schädlichkeiten Hessen sich hier nicht auffinden,
sodass G. die Miliartuberkulose als ätiologischen Faktor heranzieht.
Auch andere Fälle sporadischen Skorbuts sind wohl aus diesem Zu¬
sammenhänge zu erklären.
3) St. v. H o r o s z k i e w i c z - Krakau und H. Marx -Berlin:
Ueber die Wirkung des Chinins auf den Blutfarbstoff nebst Mitteilung
einer einfachen Methode zum Nachweis von Kohlenoxyd im Blut.
10 — 15 proz. Chininlösungen erweisen sich als sehr brauchbares
Extraktionsmittel für alte Blutflecke. Verfasser fanden, dass die Um¬
wandlung des Blutes in das „Chininblut“ in der Hitze sehr rasch
vor sich geht. H. und M. prüften das Verhalten des letzteren zum
Kohlenoxyd und erhielten sehr prägnante spektroskopische Merkmale.
Ueber die darauf basierte Methode ist das Original zu vergleichen.
4) 0. Rosenbach: Genügt die moderne Diagnose syphili¬
tischer Erkrankung wissenschaftlichen Forderungen? Schluss folgt.
5) S. Re in es- Wien: Ueber die kombinierte Resorzin- und
Röntgenbehandlung des Lupus vulgaris nach Ehrmann.
Unter Einfügung einiger kurzer Krankengeschichten wird über
die günstigen, in relativ kurzer Zeit erreichbaren Erfolge dieser kom¬
binierten Behandlung berichtet. Das Auflegen der 33 proz. Resorzin¬
paste, abwechselnd mit indifferenter Salbenbehandlung, bewirkt Ab-
stossung der oberflächlichen Knötchen- und Epidermisschichten, so dass
die Einwirkung der Röntgenstrahlen leichter, resp. intensiver vor sich
geht. Die „Sensibilisierung“ der betr. Hautstellen unterstützte den
Heilerfolg öfter in bemerkbarem Grad.
6) E. Lauschner - Königsberg: Zur Statistik und Pathogenese
des Quinquaud sehen Zeichens.
Ausgedehnte Selbstuntersuchungen verwertend, kommt L. zu¬
nächst zu folgenden Schlüssen. Bei den Männern lässt Fehlen des
Q. sehen Zeichens, sowie ein mässiger oder intensiver Grad desselben
keinerlei Schlüsse auf Abstinenz resp. Mässigkeit oder Alkoholmiss¬
brauch zu. Ein intensiver Grad findet sich ungefähr gleich häufig bei
Alkoholisten und Abstinenten, bezw. Mässigen. Dasselbe gilt, vom
letzten Zusatz abgesehen, auch von den Frauen. Bei Hysterie und
Neurasthenie kam das Zeichen besonders häufig vor. Es folgen Zu¬
sammenstellungen über das Vorkommen in den einzelnen Alters¬
klassen. Weder das Q. sehe Zeichen noch der Tremor gestatten allein
für sich Schlüsse auf Alkoholmissbrauch. In der Besprechung der
Ansichten, betr. der Pathogenese des Zeichens, lehnt L. speziell die
Herz sehe Ansicht, das Q. sehe Zeichen sei ein spontanes Sehnen¬
schwirren an den Sehnen der Fingerbeuger, sehr bestimmt ab. L.
erklärt es für ein Krepitieren von Gelenkflächen, das wahrscheinlich
durch seitliche Verschiebungen der Interphanlangealgelenke entsteht,
wie sie durch Wirkungen der Mm. interossei hervorgerufen werden
können.
7) L. Mohr-Berlin: Die modernen Grundlagen der Balneologie.
Dieselben ruhen hauptsächlich in den neuen physikalisch-chemi¬
schen Vorstellungen und Methoden. Die Bestimung der Ionen -in
den Salzlösungen der Mineralwässer hat zu einer neuen Einteilung
unserer Heilquellen die Veranlassung gegeben. Für die Wirkung der
Wässer werden jetzt herangezogen einmal osmotische Vorgänge,
dann die Wirkung der freien Ionen, katalytisch auf chemische Vor¬
gänge im Organismus zu wirken, endlich das Vorhandensein der
radioaktiven Substanzen. Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 34
1) R i e d i n g e r -'Würzburg: Ueber Behandlung der Hämor¬
rhoiden. Klinischer Vortrag.
2) H. E 1 s n e r - Berlin: Ein modifiziertes Mastdarmspekulum.
Modell nach Herzstein, aber konisch und mit seitlichen Schiebe¬
fenstern (abgebildet).
3) R u p p e 1 - Höchst: Ueber den Diplococcus intracellularis
meningitidis und seine Beziehungen zu den Gonokokken.
Während achtmonatiger Züchtung auf künstlichem, flüssigem
Nährboden änderte sich der Meningokokkus mikroskopisch nicht, da¬
gegen wurde er hochvirulent für alle gebräuchlichen Versuchstiere.
Aus dem pleuritischen Exsudat, aus Herzblut und Zerebrospinalflüssig¬
keit dieser Tiere konnte er in Reinkultur gezüchtet werden; Mäuse
und, Kaninchen wurden durch subkutane Injektion avirulenter Meningo¬
kokken gegen hochvirulente Stämme immunisiert (zugleich eine Probe
zur Identifizierung echter Meningokokken), die absolut gleiche immuni¬
sierende Fähigkeit kommt merkwürdigerweise den Gonokokken zu,
was für eine sehr nahe Verwandtschaft beider Kulturen spricht. Spe¬
zifische Immunsera wurden vom Pferd für weisse Mäuse und Ka¬
ninchen erhalten. Das Serum äussert auch Heilwirkungen, eignet sich
ferner zur Agglutinationsprobe zwecks Differenzierung echter Me¬
ningokokkenstämme.
4) C. B r u c k - Breslau: Ueber spezifische Immunkörper gegen
Gonokokken.
Unter 6 Fällen sicherer gonorrhoischer Adnexerkrankung gelang
es Verf. bei zweien, spezifische Immunkörper im Blute nachzuweisen.
Er betont, dass die mittels der Komplementablenkungsmethode in
den Seren solcher Kranken sowie in den Seren gonokokkenimmuni¬
sierter Tiere gefundenen Antikörper „Ambozeptoren“ seien, wie solche
in Gonokokkenimmunseren bisher noch nicht nachgewiesen werden
konnten.
5) H. A r o n s o n - Charlottenburg: Ueber die therapeutische
Wirkung des Antistreptokokkenserums.
A. nimmt Stellung zu den Versuchen Zangemeisters (Ver¬
sagen prophylaktischer Injektionen mit dem Serum bei Karzinom¬
kranken), deren Beweiskraft er nicht anerkennt.
6) S t r ü b i n g - Greifswald: Ueber Asthma bronchiale (Schluss).
Verf. bespricht noch die Therapie: Atemgymnastik, Narkotika,
Jod, A.tropin, T u c k e r scher Apparat.
7) Groedel II und Groedel III-Bad Nauheim: Die Wirkung
kohlensäurehaltiger Thermalsolbäder auf den übernormalen Blutdruck.
Verf. bestreiten, dass Bedenken gegen kohlensäurehaltige Bäder
bei Arteriosklerose bestehen. Die zu Beginn des Bades auftretende
Erhöhung des übernormalen Blutdruckes sei unbedeutend und rasch
vorübergehend, und werde von einer Verminderung gefolgt, die auch
nach dem Bade noch ziemlich lange anhalte.
8) Brentano - Berlin: Ein neuer Waschtisch für den Opera¬
tionsraum in Feld- und Kriegslazaretten.
Vorzüge: bequem zusammenlegbar und transportabel, haltbar,
billig.
9) M. J o s e p h - Berlin: Die Leukoplakie der Mundhöhle.
Therapie: Rauchverbot, Gurgelwasser, Zahnwasser, Aetzungen.
Vermeidung von Reizwirkung (Karzinom!). Keine antiluetische Be¬
handlung.
10) O p i t z - Marburg: Ueber einige Fortschritte auf geburtshilf¬
lichem Gebiete (Schluss). Fortbildungsvortag.
R. Grashey - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 34. S. B o n d i und C. R u d i n g e r - Wien: Ueber die Be¬
einflussung der Zuckerausscheidung durch Fettzufuhr.
Den Fetten kommt nicht nur eine grosse Bedeutung für die Er¬
nährung des Diabetikers zu, es mehren sich auch die Beobachtungen,
wonach bei leichteren, bisweilen auch ziemlich schweren Fällen durch
gesteigerte Fettgaben bei gleichbleibender Kohlehydratzufuhr die
Zuckerausscheidung erheblich herabgesetzt werden kann. Die Ver¬
fasser geben hierfür mehrere tabellarisch zusammengestellte klinische
Beiträge. Es lässt sich bereits jetzt aussprechen, dass die Toleranz¬
grösse für Kohlehydrate beim Diabetiker nur bei gleichzeitiger Fest¬
stellung der Fettzufuhr ermittelt werden kann.
S. Z y p k i n - Moskau : Ueber pseudochylöse Ergüsse.
Verf. beschreibt zwei Fälle von Tuberkulose, welche u. a. auch
mit chronischer Peritonitis einherging, wobei sich milchige Ergüsse
in der Bauchhöhle fanden, die, wie die nähere Untersuchung ergab,
als pseudochylöse zu bezeichnen waren; dagegen hat auch die ge¬
naueste chemische Prüfung des einen Falles über die eigentliche Ur¬
sache der milchigen Trübung keinen sicheren Aufschluss gegeben.
Es gibt nur zwei Vermutungen, entweder enthalten solche Ergüsse
eine bisher nicht feststellbare besondere Substanz oder es handelt
sich um Veränderungen der Löslichkeitsverhältnisse von Körpern,
welche auch in milchigen Ergüssen Vorkommen (Lezithin, Globulin,
Nukleoalbumin, Mukoidstoffe). Bemerkenswert ist in letzterer Hin¬
sicht, dass in beiden Fällen mit der Zunahme des Eiweissgehaltes
I der Aszitesflüssigkeit deren Opaleszenz eine Abnahme erfuhr.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
776
R. Doerr: Erwiderung auf den Artikel von Salus „Ueber
Aggressine“ und die Bemerkungen von Bail in No. 27 dieser
Wochenschrift.
Diese Auseinandersetzungen eignen sich nicht zu kurzer Wieder¬
gabe.
M. Oppenheim - Wien: Der gegenwärtige Stand der Syphilis¬
therapie. (Fortsetzung.)
Wiener klinische Rundschau.
No. 29. A. H e y m a n n - Düsseldorf : Heterotypischer Pseudo-
herniaphroditismus femininus externus.
Für den hier beschriebenen Fall hat Verfasser ein anatomisches
Analogon nur in einem von Versen beschriebenen Fötus auffinden
können. Fr betrifft ein 17 jähriges Individuum, das als Mann auf¬
gewachsen, äusserlich in den sekundären Charakteren vollständig
weiblich ist. Die äusseren Genitalien zeigen einen penisartigen, von
einer Urethra vollständig durchbohrten Körper und ein rudimentäres
Skrotum ohne Inhalt. Bei der Rektaluntersuchung fand sich ein
ziemlich entwickelter Uterus mit Adnexen. Seit einiger Zeit er¬
folgten durch die Urethra regelmässig menstruelle Blutungen mit
typischen Beschwerden, welche den Kranken zum Arzt führten. Auf
sein und seiner Eltern Verlangen wurden zur Beseitigung dieser Be¬
schwerden durch Laparotomie die beiderseitigen Adnexe entfernt, an
denen sich einerseits ein normales Ovarium, anderseits ein zystischer
Körper ohne Keimgewebe nachweisen liess. Die Menses blieben aus
und die Beschwerden nahmen ab; Patient scheint weiter als Mann
leben zu wollen.
0. Lederer - Wien : Ueber die Dauerresultate der v. L a n g e n-
b e c k sehen Hämorrhoidenoperation.
L. hat bei 60 Fällen der Lotheissen sehen Abteilung den Er¬
folg der Operation nachprüfen und in 90 Proz. völlige Heilung fest¬
stellen können, 6,7 Proz. waren gebessert, 3,3 Proz. ungeheilt, darunter
ein von vornherein nur unvollständig operierter. Wenn auch die
Exzisionsmethode warm empfohlen wird und in der Hand geschulter
Operateure sehr Gutes leistet, so ist doch das L a n g e n b e c k sehe
das Normalverfahren. Die ihm zum Vorwurf gemachte Nachblutung
wurde unter 115 Fällen nur einmal gesehen, die Schmerzen nach der
Operation lassen sich durch Anästhesin wesentlich mildern.
No. 32. G. S t e i n e r - Ybbs: Zum Verlaufe der progressiven
Paralyse.
Heilungen oder vorübergehende Besserungen von Geisteskrank¬
heiten, anschliessend an eine interkurrente Infektionskrankheit, sind
bereits wiederholt beschrieben worden. Einen solchen Stillstand, ja
wesentliche Besserung hat St. bei einem 47 jährigen Manne mit einer
sehr rasch verlaufenden progressiven Paralyse in vorgeschrittenem
Stadium im Anschluss an ein mehrtägiges Erysipel beobachtet. Der
hochgradig demente, apathische, bettlägerige, unreine Kranke kommt
wieder ausser Bett, wird regsam, arbeitet und führt sich vollständig
zufriedenstellend, eine leichte Demenz besteht fort, ebenso gewisse
somatische Störungen. Die Besserung vollzog sich innerhalb mehrerer
Monate; diese langsamen Besserungen sind im allgemeinen günstiger
als plötzliche. Um von einer Heilung zu sprechen, ist die Beob¬
achtung (2Vz Jahre) noch zu kurz. Jedenfalls ist eine so erhebliche
Besserung gerade bei der dementen Form der Paralyse überaus selten
und bemerkenswert.
No. 33. K. S p e n g 1 e r - Davos: Die Doppelätiologie der tuber¬
kulösen Phthise und die Vakzinationsbehandlung.
Sp. hat durch genaue Untersuchung der Sputa an 112 Phthisikern
folgendes ermittelt: 78, d. i. 61 Proz., wiesen Tuberkel- und Perl¬
suchtbazillen in symbiotischem Zusammenwirken auf, durchwegs
chronisch verlaufende Fälle. 22, d. i. 20 Proz., hatten nur Tuberkel¬
bazillen, fast ausschliesslich fiebernde Fälle von schlechter Prognose;
6, d. i. 5 Proz., hatten nur Perlsuchtbazillen, fieberten, zeigten aber
gutartigen Verlauf; 16, d. i. 14 Proz. hatten nur Bazillensplitter und
kleine Stäbchen, waren kräftige Menschen ohne äussere Phthisis-
zeichen, mit gutem Aussehen, aber Sputum und physikalischem Befund.
Demnach würde die Phthise in den meisten Fällen auf einer sym¬
biotischen und zwar antagonistischen Infektion von Tuberkel- und
Perlsuchtbazillen beruhen, je mehr an die Stelle dieser Symbiose
die singuläre Infektion tritt, um so ungünstiger wird, zumal bei reiner
Tuberkelbazilleninfektion der Krankheitsverlauf. Ueber das Zustande¬
kommen der reinen Perlsuchtinfektion herrscht Unklarheit; denn in
der Regel ist der Bac. bovinus an sich unschädlich. Die Toxine der
Perlsucht und Tuberkulose wirken antagonistisch und dieses Moment
ist von grosser Bedeutung für die Therapie. „Zur Tuberkulinbehand¬
lung muss primär stets dasjenige Toxin gewählt werden, welches
nicht febril toxisch wirkt und das subjektive Befinden überhaupt
wenig beeinträchtigt. Dieser Stoff ist das Vakzin, das Derivat der¬
jenigen Bakterienart — Tuberkel- oder Perlsuchtbazillen — , welches
bei der Gestaltung des Krankheitsbildes nicht dominiert. Erst
sekundär, nach Vorimmunisierung mit dem Vakzin ist die Anwendung
des eigentlichen Giftes statthaft und meist vorteilhaft.“
B e r g e a t.
Italienische Literatur.
De Francesco: Ueber einen Fall von Cholecysto-Gastro-
stomie. (üazzetta degli osped. 1906, No. 33.)
In Fällen von Verschluss der Gallenblase hat man, je nachdem
es erforderlich schien, den Fundus der Gallenblase mit dem Darm
vereinigt, um der Galle einen Abfluss zu verschaffen. Die Resultate
waren bei Einleitung der Galle in den Dünndarm nicht immer er¬
mutigend; die Vereinigung der Gallenblase mit dem Dickdarm gibt
leicht zu aufsteigenden eitrigen Affektionen in der Leber Ver¬
anlassung.
Die Anastomose der Gallenblase mit dem Magen wurde in der
Anschauung, dass die Galle einen schädigenden Einfluss auf die
Magenfunktion habe, perhorresziert. Nach Oddis Vorgang 1887,
welchem im Laufe der Jahre eine Reihe anderer Autoren nachfolgten,
erwies sich diese Anschauung nicht als berechtigt.
De Francesco stellte im Hospital zu Venedig in einem Falle
von narbiger Verengerung der Gallenwege eine Anastomose der
Gallenblase mit dem Antrum pyloricum des Magens her, und zwar
mit einem vollständigen Erfolg. Die Magenverdauung erwies sich
dauernd als nicht beeinträchtigt.
Dies Resultat entspricht dem durch O d d i auf experimentellem
Wege an Hunden gewonnenen und der Autor glaubt die Hypothese
aufstellen zu können, dass durch die Mischung des Mageninhaltes
mit der Galle kurz vor seinem Durchgang ins Duodenum der Galle
jede toxische Eigenschaft genommen und die Verdauung günstig be¬
einflusst wird.
Viscontini: Ueber primäres Pankreaskarzinom. (Gazzetta
degli osped. 1906, No. 30.)
Die Diagnose war im Lebenden gestellt worden, allerdings mit
der Annahme, dass auch die kleine Kurvatur des Magens beteiligt
sei. Die Probelaparotomie ergab einen zitronengrossen Tumor,
welcher sich auf das ganze Korpus des Pankreas erstreckte und auf
den hintersten Teil des Kopfes; er war eingefasst von der Kurvatur
des Duodenums. Magen, Leber, Gallenblase, Milz normal.
Karzinome des Pankreaskörpers sind viel seltener als die des
Kopfes.
Es fehlte demnach auch das Symptom, durch welches sich die
Fälle von Neoplasmen des Kopfes auszeichnen: der Ikterus, welcher
von leichten Graden bis zum Icterus nerus gehen kann. Die Ampulla
Vateri hatte sich als frei von karzinomatöser Infiltration erwiesen.
Dagegen war ülykosurie vorhanden, welche bei Neoplasmen des
Kopfes selten angetroffen wird. Die glykolytische Funktion scheint
in der Tat mehr ein Produkt der inneren Pankreassekretion zu sein.
Dieselbe fehlte, weil fast die ganze Drüse zerstört war.
Es war dagegen vorhanden die sehr rapide Abmagerung, welche
typisch für Karzinom des Pankreas, und zwar des Körpers wie des
Kopfes ist. Auch bei diesem Symptom soll nach den neuesten An¬
schauungen wesentlich das Fehlen der inneren Pankreassekretion
mitspielen. Am bemerkenswertesten aber und dunkel in bezug auf
ihre Erklärung ist die intensive Bronzefarbe, welche mehrfach bei
Karzinom des Pankreaskopfes erwähnt wird.
Es fehlte Speichelfluss, der ab und zu bei Pankreaskarzinom be¬
obachtet wird und die Anwesenheit von Fett in den Fäzes; vielleicht
weil der nicht gehinderte Gallenabfluss zur Verseifung der Fette ge¬
nügend war.
Die Sahli sehe Gluteidkapselnreaktion war positiv, und zwar
18 Stunden nach ihrer Einverleibung; das würde im Gegensatz zu
einem in der Klinik B a c c e 1 1 i s beobachteten Falle für ihre Brauch¬
barkeit sprechen.
M a r c h i c i o : Ueber primäre Pneumokokkeninfektion des
Magens und Darms — sekundäre Peritonitiden und Pneumonien.
(Gazzetta degli osped. 1906, No. 18.)
M., Primärarzt am Stadthospital zu Como, berichtet über 5 Fälle
von extrapulmonärer Lokalisation des Pneumokokkus, wie sie bis¬
her wenig bekannt sind. In allen handelte es sich um Magen- oder
Darmulzera. 2 Fälle waren kompliziert mit eitriger Peritonitis, einer
sog. primitiven, und 3 mit Pneumonie, von denen einer zugleich zu
perforierender Peritonitis, einer zu Peritonitis lenta führte. Alle 5 im
Zeitraum von 3 Monaten auftretende Fälle boten etwas so stereotypes,
dass für alle dasselbe infizierende Agens, Pneumokokkus, angenommen
werden musste. Der Autor beruft sich auf die Veröffentlichungen
Dieulafoys über den gleichen Gegenstand. Von D. wurden in
den Rändern dieser Ulzera Pneumokokken fast in Reinkultur an¬
getroffen, desgleichen in den bei denselben Individuen vorhandenen
Pleuritiden, Peritonitiden und Perikarditiden.
Die Bildung und Entwicklung dieser Ulzera durch Pneumo¬
kokkus ist eine schnelle, wie der Verlauf der Pneumonie und man
hat sich die Frage vorzulegen, ob die Pneumokokkeninfektion nicht
häufiger als auf dem Blutwege, wie man bisher für die Pneumonie
annimmt, durch infizierende Pneumokokken bedingt sein kann, welche
vom Munde in den Magendarmkanal gelangen. Die während der
Magenverdauung saure Reaktion des Mageninhalts würde gegen eine
solche Ansicht nach M. nicht ins Feld zu führen sein. Die Unter¬
suchungen namentlich französischer Autoren über die Pathogenese
der Ulcera gastrica (Le tu Ile, Gaudy, Donati u. a.) haben in
den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht und die herrschende
Anschauung, dass sie das Resultat eines infektiös-toxischen Prozesses
L
September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1777
'ind welcher zur Nekrose der Magenschleimhaut führt, macht es
wahrscheinlich, dass manche Peritonitiden und Pneumonien der
mteren Lappen von den gleichen Infektionsträgern dieses primären
rierdeSuherrühreröffentiicht aus der Klinik Genuas bakteriologische
Untersuchungen über die Typhusinfektion und behandelt einige
anomale Kriterien, welche der aus dem Blute und der Milz Typhus¬
kranker isolierte E b e r t h sehe Bazillus zeigen kann. (Gazzetta
degli osped. 1906, No. 16.)
Es gelang ihm verschiedene Typen darzustellen, welche sowohl
in kultureller als biologischer Beziehung, als auch in bezug auf Agglu¬
tination sich einer gewissen Selbständigkeit erfreuen. Indessen ge¬
ling es doch durch gewisse Kunstgriffe, diese anomalen bormen aut
den klassischen Eberth sehen Typus zurückzubringen und auch
durch methodische Injektionen bei Tieren ihre agglutinierenden Eigen¬
schaften klarzustellen. Es zeigte sich dabei, dass das Verschwinden
des Agglutinationsvermögens in direktem Verhältnis zur Erhöhung
der Virulenz steht und dass diese beiden Bedingungen bei dem be¬
fallenen Individuum Hand in Hand gehen. c , , ,
Die Darstellung dieser Variabilität der Charaktere des c bei t n -
sehen Bazillus ist geeignet, den neuerdings aufgestellten Formen von
Paratyphus I und II, Paracoli, Coli similis in ihrer Existenz a s be¬
sondere spezifische Infektionsträger zweifelhaft erscheinen zu lassen
und für einen Unizismus aller Bakterien dieser Art zu sprechen.
Minciotti: Das Palma-Plantar-Symptom von Philippo-
wich bei der Typhusinfektion. (Gazzetta degli osped. 1906, No. 36.)
Im Jahre 1893 machte Philippowich auf ein Symptom auf¬
merksam, welches er als pathognomonisch für Typhus ansah. Das¬
selbe besteht in einer eigentümlich schmutzig gelben Verfärbung der
Handfläche und der Planta pedis von grösserer oder geringerer Inten-
sität, vergleichbar einer Verfärbung durch Salpetersäure oder duich
Pikrinsäure. Eine Reihe von französischen Autoren bestätigten seit¬
dem das Phänomen, so Quentin, Brouardel, T o i n ot. Der
Italiener Motta-Coco fand es ebenfalls bei den meisten Typhus¬
kranken, und zwar am häufigsten und stärksten bei Kindern, feiner
bei Frauen, am wenigsten bei Männern. ,
M wurde zur erneuten Beachtung dieses ihm bei Typhuskranken
geläufigen Symptoms durch einen Fall geführt, in welchem dasselbe
mit starken Schmerzen verbunden war, welche die Nachtruhe raubten.
Von einigen Autoren wird die Entstehung des Symptoms auf
Toxine zurückgeführt, welche, im Blute kreisend, die Ernährung der
Gewebe stören sollen, namentlich bei ihrer Ausscheidung durch die
Haut. Andere sahen in demselben eine Form des hämatogenen
Ikterus, welchen man bei Leberaffektionen, bei den verschiedensten
Intoxikationen, Saturnismus, Alkoholismus, auch bei einer Reihe von
Infektionen, so bei Gelenkrheumatismus, Pneumonie, Typhus und den
verschiedensten Krankheitszuständen antreffen könne.
M. kommt zu dem Schlüsse, dass das Symptom, wenn es auch
sich sehr häufig beim Typhus finde, keinesfalls fiii denselben als
pathognomonisch aufgefasst werden kann; so fand ei es in einem
Fall von Milzbrand; man sieht es ferner bei Miliartuberkulose, bei
rnetapneumonischer, eitriger Pleuritis. Was den nnt besondeici
Schmerzhaftigkeit verlaufenden, von ihm beobachteten Fall anbelangt,
so würde derselbe für die auch von Quentin vertretene Anschau¬
ung sprechen, dass es sich um eine Störung der normalen Einahiung
der Gewebe durch Toxine handle und durch diese bewirkte Störungen
der sensiblen Nervenendigungen. _ . ,
Materazzi bringt aus der Klinik Catanias einen kritisch-
experimentellen Beitrag zum Studium der Lyssaätiologie. (Gazzetta
degli osped. 1906, No. 36.) .
Die von N e g r i - Pavia 1903 entdeckten sog. Negri sehen
Körperchen hätten sich als die spezifischen Mikroorganismen diesei
Krankheit allenthalben bestätigt. 1. Sie hätten sich bisher in allen
Fällen nachweisen lassen; dort, wo sie zu fehlen schienen und die
biologische Probe doch die Diagnose Rabies rechtfertigte, habe es
sich immer um ungenügende Untersuchungen des Zentralnerven¬
systems gehandelt. Diese Untersuchungen hätten sich entweder nur
auf die Prädilektionsstellen des Nervensystems, die Ammonshörner,
erstreckt, oder die Tiere seien bei den ersten Anfällen der Krankheit
getötet worden, ehe es zur Lokalisation der Parasiten im Nerven¬
system gekommen sei. 2. Sie fanden sich bisher bei keiner anderen
Krankheit — entgegengesetzte Angaben sind von keiner Seite sicher
bestätigt. 3. Die Ueberimpfung der Körperchen auf andere 1 iere
reproduziert die Krankheit. Etwa 14 Tage nach der Impfung gelingt
der Nachweis der Negri sehen Körperchen bei Kaninchen in ver¬
schiedenen Regionen des Zentralnervensystems.
L i v i e r a t o : Parenchymatöse intrapulmonale Injektionen von
Maragliano schem Serum, Bakteriolysin genannt. (Gazzetta
degli osped. 1906, No. 21.)
Dies Verfahren wurde in der Klinik in schwersten Fällen von
tuberkulösen Lungenzerstörungen, die auf keine Weise therapeutisch
zugängig erschienen, versucht. Die mit den nötigen Kautelen vor¬
genommenen Injektionen sollen sich als gut verträglich und vollständig
gefahrlos erwiesen haben; in manchen Fällen wurden bis zu 70 ccm
injiziert. Der Einfluss auf alle Symptome der Krankheit soll ein
durchaus evidenter gewesen sein.
Berti: Ueber ein spezifisches Serum gegen schwere Fälle von
Ankylostomaanämie. (Gazzetta degli osped. 1906, No. 21.)
Das Serum ist im pathologischen Institut zu Padua untei D acu¬
te 1 1 os Leitung gewonnen ; von dem Eh r 1 i c h sehen Komplement
wurde es durch ein geeignetes Verfahren befreit und konnte so
Tieren in wachsender Dosis injiziert werden.
Das so von den Tieren gewonnene antitoxische Serum zeigte in
schweren Fällen von Ankylostomaanämie deutlich therapeutische
Eigenschaften, so dass sich eine Fortführung diesei Kui neben andeien
die Blutbildung begünstigenden Mitteln zu verlohnen scheint.
Nicol in i: Heilung des Prolapsus recti durch Paraganghu
Vassale. (Gazzetta degli osped. 1906, No. 15.)
Das Mittel ist per Klysma oder intern anzuwenden. Letztere
Anwendung erscheint vorzuziehen. N. gab
Kinde 35—40 Tropfen innerhalb 24 Stunden
Wirkung. Von italienischen Autoren sollen
bei dieser Behandlung gehellt sein.
bei einem lVa jährigen
und rühmt die prompte
eine Reihe von Fällen
Hager- Magdeburg.
37.
38.
39.
40,
17.
18.
19.
20.
21,
Inauguraldissertationen.
Universität Berlin. August 1906.
Christofidis Christodulos: Ueber die Behandlung grüsseiei
Knochendefekte. .. ... f
Kagan Schmuei: Ueber den Einfluss der venösen Hyperämie aut
das Zustandekommen und die Zusammensetzung der Transsudate
bei der ac. Urannephritis. „ , 1f , n ,
Schitomirsky Jakob: Beitrag zur Behandlung der Pylorus-
verengung im Säuglingsalter durch künstliche Ernähiung.
Gutherz Siegfried: Zur Kenntnis der Heterochromosomen.
Universität Göttingen. Juli bis 15. August 1906.
Golowinski J.: Beitrag zur Kenntnis vom feineren Bau der
Blutgefässe der äusseren männlichen und weiblichen Genitalien.
Kerckhoff B.: Ueber eine neue quantitative Zuckerbestim¬
mung im Harn und ihre Anwendung für den praktischen Arzt _
Pomy L.: Ueber 40 Fälle von Eklampsie aus der Göttinger Uni¬
versitäts-Frauenklinik. . „
Richard R.: Ueberblick über den heutigen Stand der Fiage
nach der Lokalisation in der Grosshirnrinde und ihre Anwendung
in der forensischen Praxis.
Schüttrumpf A.: Ueber die vom L Januar 1901 bis Ende
März 1906 in der Göttinger medizinischen Klinik behandelten Falle
an Typhus abdominalis.
Universität Greifswald. Juni 1906 (Nachtrag).
Juli 1906.
R i n t e 1 e n Kurt Otto: Der paravaginale Hilfsschnitt nach Sch u-
chardt, nach den Erfahrungen der Universitats-Frauen-Klmik
Büs ch^r Friedrich: Zur Frage der Extrauteringravidität.
Haedicke Georg: Ueber die Bärentraubenblatter und ihre
Präparate, insbesondere über Uropural.
Lüders Otto: Zur operativen Behandlung maligner Geschwülste
der Harnblase.
Universität Halle. Juli und August 1906.
12 Bo ss er Karl: Versuche zur Züchtung der Choleravibrionen.
IT Davin Carl: Ueber einen Fall von Hernia obturatoria mcarce-
14. Hoefer Paul: Beitrag zur Lehre vom Augenmass bei zwei¬
äugigem und einäugigem Sehen.
15 Kohlhage Theodor: Ueber fötalen Riesenwuchs. - .
16. Muskulus Walter: Beiträge zur Behandlung der Extrauterin¬
schwangerschaft. ^ .
17 Reuper Erich: Ueber einen Fall von Hirnzystt.
18. Sennert Paul : Typhöser Leberabszess im Anschluss an ein
19. Stade Carl: Der augenblickliche Stand der hygienischen Ein¬
richtungen an Bord der Schiffe. , . ,
20. The ile mann Otto: Ueber einen Fall von Chylune und den
Nachweis des Nahrungsfettes im Harn mittels Jodipin.
21. Walther Franz: Ueber Halsrippen.
22. Wolff Walther: Ueber metapneumatische Abszesse.
Universität HeideUberg. Juni— August 1906.
16. Kress Karl: Wirkungsweise einiger Gifte auf den isolierten
Dünndarm von Kaninchen und Hunden.
17 Chacön Roberto: Die konservative Behandlung der chronisch
entzündlichen ^Adnextumoren nebst Statistik der He.delberger
Frauenklinik in den Jtihren 1903 1905. . . ,
18 Runge Werner: Die Therapie der genuinen Epilepsie nebst
’ einem Anhang über die Therapie der übrigen Epilepsieformen.
io Seufert Otto: Kritische Untersuchungen über den Ersatz du
’ Ehr lieh sehen Diazoreaktion durch die Russosche Methj lc
20 K a"nr gTe s s e r Anna Martha: Ueber intermittierende und
zyklisch-orthotische Albuminurie TWmctfirnneen der
Schabort .1. P.: Beiträge zur Kenntnis der Darmstorungen uc.
Säuglinge und der Säuglingssterblichkeit.
17.
18.
19.
20.
1778
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
Universität Kiel. Mai (Nachtrag) und Juni 1906.
17. Meyer Friedrich: Ueber ein zystisches Embryom des Testikels.
18. Linnich Carl: Ein seltener Fall eines Bauchdeckendesmoids.
19. Schubert Curt: Ein Fall von hysterischer Aphasie im Kindes¬
alter.
20. Stromer Wilhelm: Ueber einen Fall von Tumor cerebri im
rechten Sehhügel mit halbseitigen Gefühlsstörungen.
21. Junge Wilhelm: Ein Fall von Angiosarkom (Peritheliom) am
Halse bei einem 7 Monate alten Kinde.
22. Mennenga Heyo: Ein Fall von sehr kleinem primären Hoden¬
krebse mit sehr grossen Metastasen der Lunge.
23. Friedhof Theodor: Ein Fall von Prolapsus coli invaginati be¬
dingt durch ein submuköses Lipom.
24. Papendieck Emil: 21 Fälle von Resektion des Fussgelenks.
25. Reimer Karl: Ueber Zuckergussleber und fibröse Polyserositis.
26. König Ludwig: Pfortaderthrombose nach Perityphlitis.
27. H i n t z Otto: Zur Kasuistik der traumatischen Epiphysen¬
trennung am oberen Humerusende mit besonderer Berück¬
sichtigung der Diagnose im Röntgenbild.
28. Faust Johannes: Die instrumentelle Beckenmessung seit dem
Jahre 1886 und eine Vereinfachung der v. Bylickischen Becken¬
messmethode.
Juli 1906.
29. Tietjen Johann: Beitrag zur Kasuistik des mechanischen Ileus
nach Appendizitis.
30. Starke Erich: Ein Beitrag zur Aetiologie der freien Gelenk¬
körper.
31. Gebauer Paul: Operation und Heilung eines Falles von Ulcus
duodeni perforatum.
Universität Leipzig. Juni 1906.
89. Bebert Kurt: Ueber die sogenannte Bennettsche Fraktur
des 1. Metakarpalknochens.
90. Kahle Martin: Ueber subkutane traumatische Rupturen des
Musculus biceps brachii.
91. Lassocinski Stanislaus: Ueber eigentümliche Wachstums¬
störung im Bereiche der genualen Tibiaepiphyse.
92. Pohl Alfred: Beiträge zu einer örtlichen Diagnostik am Ver-
dauungstraktus.
93. Schickendantz Emil : Beitrag zur Rekurrenslähmung mit
50 neuen Fällen.
94. Hohenhaus Ernst: Ueber die Beziehungen der Rinder- und
Menschentuberkelbazillen sowie deren Infektionswege im mensch¬
lichen Körper.
95. von Linck Oskar: Ueber Kraurosis vulvae.
96. Voigt Albert: Die Milchsterilisierung in ihrer gesundheitlichen
und praktischen Ausführung.
Juli 1906.
97. Grischow Robert: Die Bedeutung der Zellulose für den
tierischen und menschlichen Organismus mit Berücksichtigung
der Methoden zur qrantitativen Bestimmung derselben.
98. Heilmann Adolf: Beitrag zur Pathologie und Therapie der
habituellen Schultergelenksluxationen.
99. Moses Bruno: Die Fettleibigkeit in ihrer Beziehung zur Lebens¬
dauer und Todesursache.
100. Rauch Eberhard: Ueber die katatonen Symptome.
101. Seibt Walter: Thrombosen und Embolieen nach Perityphlitis¬
operationen.
102. Bach Erich: Ein Fall von Atrophia cutis idiopathica (Typus
Herxheimer).
103. Hadra Edmund: Die Untersuchung des kleinen Beckens an der
Lebenden zu geburtshilflichen Zwecken.
10*4. Hodesmann Benjamin: Der gegenwärtige Stand der Tuber¬
kulosebehandlung unter besonderer Berücksichtigung des Tuber¬
kulins, Hetols und des Marmorek sehen Serums.
105. Jäger Oscar: Ueber den Einfluss der Dyspnoe auf den
Blutdruck.
106. Mohr Richard: Ueber subkutane Perforationen des Magen¬
darmkanals mit besonderer Berücksichtigung eines Falles von
Ruptur des Rektum nach schwerem Heben.
107. Strube Ewald: Ueber den Lichen ruber planus mit besonderer
Lokalisation an den Schleimhäuten und Handtellern.
108. Cords Richard: Ein Fall von postdiphtherischer Gehirn¬
erkrankung mit besonderer Berücksichtigung unserer heutigen
Kenntnisse vom Zwangslachen.
109. Jakobius Salo: Untersuchungen über das Hirnwindungsrelief
an der Aussenseite des menschlichen Schädels.
110. Jastrowitz Hermann: Ueber die Hemmung der Verdauung
infolge der Bindung freier Salzsäure durch amphotere Amino-
körper.
111. Leszcynski William: Ueber die Analogien im Verhalten des
Tierkörpers bei der Entgiftung chemischer und bakterieller
Gifte.
112. Neu mark Hermann: Plastische Induration des Penis.
113. Reiter Hans: Nephritis und Tuberkulose.
114. Zwirn Isaak: Das Genu recurvatum acquisitum.
August 1906.
115. Birckenstädt August: Ueber Athetose.
116. Conradi Erich: Klinische Analyse und therapeutische Be¬
merkungen über 2500 Fälle aus der Dermatologischen Abteilung
der Wiener Allgemeinen Poliklinik (gewesener Vorstand: Prof.
Dr. Rille) beobachtet im Studienjahre 1897/1898.
117. Gieseler Rudolf: Ueber Jodbehandlung des Lichen ruber.
118. Lehmann Willy: Ein Fall von hämorrhagischem Infarkt und
Nekrose des Hodens.
119. Meyer Robert: Ueber Rekurrenslähmung im Kindesalter.
120. Teichmann Friedrich: Die Hämaturie der Phthisiker.
121. Henschke Isidor: Ueber einen Fall von angeborener doppel¬
seitiger Kniegelenksluxation nach vorn.
122. Herr mann Karl: Ueber die Einwirkung medizinischer Seifen
bei Hautkrankheiten mit besonderer Berücksichtigung der
Töpfer sehen Keraminseife.
123. Kölle William: Experimentelle Untersuchungen an Tieren zur
Kenntnis der Wirkungen des Abyssinins.
124. Liebmann Harry: Das Rhinophyma und seine chirurgische
Behandlung.
125. Pirwass Walter: Zwillinge in einer Amnionhöhle.
126. Wiese Friedrich: Ueber die ankylosierende Steifigkeit der
Wirbelsäule und der grossen Gelenke. (Strümpell-Mari e-
B e c h t e r e w.)
127. Hau Schild Heinrich: Ueber Herzwunden und deren Be¬
handlung.
128. S t a r k o w s k i Stanislaus: Plattfusstherapie unter Berück¬
sichtigung verbesserter Einlagen.
Universität Marburg. Juni, Juli und August 1906.
15. Kau Ibach Jos.: Ein Fall von multipler Neurofibromatose des
peripheren Nervensystems, kombiniert mit Fibromen der Nerven¬
wurzeln.
16. Schumann Georg: Ueber Komplikation von Schwangerschaft
mit Ovarialtumoren nebst Mitteilung von 12 Fällen.
17. Keese Beruh.: Ueber Kampherwirkung auf das Herz und die
Gefässe der Säugetiere.
18. Happel Otto: Ueber die Folgen der Unterbindung der Aus¬
führungsgänge des Pankreas beim Hunde.
19. Oh ly Adolf: Ueber die Lebensfähigkeit des Vakzinevirus im
Kaninchenkörper.
20. Mappes Heinrich: Zur Physiologie der Irisbewegung.
21. Sieckel Otto: Die okularen Symptome bei Erkrankungen des
knöchernen Schädels.
22. Klimpel Erich: Lassen sich die Imbibitionserscheinungen an
den brechenden Medien mazerierter Kinder zur Bestimmung der
Zeit des intrauterinen Todes verwenden?
23. Wolde Oskar: Ueber Pseudodysenteriebazillen.
Auswärtige Briefe.
Wiener Briefe.
(Eigener Bericht.)
Wien, Ende August 1906.
Von der Resistenzbewegung der niederösterreichischen
Landärzte. — Erfolge dieser Bewegung. — Aerztliche Organi¬
sationen in Oesterreich. — Erfolge dieser Organisationen. —
Exempla trahunt. — Die praktischen Aerzte und die Toten¬
beschauer. — Ein Erlass des Justizministers. — Aerzte für die
k, k. Landwehr. — Ein neues Kinderspital in Wien.
Die Resistenzbewegung unter den niederösterreichischen
Landärzten dauert an. Sie wurde noch etwas verschärft, in¬
dem beim Ausstellen der Infektionsanzeigen statt der Diagnose
nicht mehr „Verdacht auf . . .“, sondern bloss das Wort „In¬
fektionskrankheit“ geschrieben wurde, dass in den nicht
seltenen Fällen, in denen der Amtsarzt derartige Anzeigen nicht
erledigte, kein Wochenbericht seitens des Gemeindearztes aus¬
gestellt werden durfte, dass für den Amtsarzt, der da und dort
mit Hilfe von Hebammen die öffentliche Impfung der Kinder vor¬
nahm, kein Arzt die Nachschau vornahm, dass Berichte über
Privat impfungen von den Aerzten überhaupt bedingungslos
verweigert wurden u. dergl. mehr. Den äussersten Schritt, die
Kündigung ihrer Stellen, haben die Gemeindeärzte Nieder¬
österreichs noch nicht getan, weil sie ihn noch nicht für op¬
portun halten und weil sich die Erscheinungen mehren, dass
er ihnen wohl erspart werden dürfte.
Der bisherige Erfolg der ganzen Bewegung besteht
darin, dass die öffentliche Impfung tatsächlich nicht mehr um
20 Heller pro Kind verrichtet, die Schüblingsuntersuchung
nicht mehr um 36 Heller gemacht und dass die Findlingsbe¬
handlung besser honoriert wird. Freilich trägt das Land
4 September 1906. _ MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
noch nicht die Mehrleistung an die Aerzte, vielmehr einzelne
einsichtige Gemeinden, doch das mag den Aerzten ganz gleich¬
gültig sein. Weiters wurde die Gesamtorganisation der prak¬
tizierenden Aerzte in Niederösterreich vom Statthalter ver¬
ständigt, dass der niederösterreichische Landesausschuss, der
sich bisher ganz passiv benahm, als ob ihn die Sache gar nicht
anginge, über Auftrag der Statthalterei das gesamte Akten¬
material betreffend die Schaffung einer Altersversorgung der
Gemeindeärzte, sowie einer Versorgung der Witwen und
Waisen der Statthalterei übermittelt habe und dass das Ma¬
terial dem Ministerium des Innern behufs Prüfung durch das
versicherungstechnische Departement des genannten Mini¬
steriums vorgelegt wurde. Ferner ist die Statthalterei, wie sie
mitteilt, neuerdings an den Landtag mit dem Anträge heran¬
getreten, bezüglich einzelner, für den Entwurf eines Landes¬
sanitätsgesetzes in Betracht kommender Fragen eine gemein¬
same Besprechung zu pflegen, deren Ergebnis dem Landtag
als Substrat für die seinerzeitige Beratung zu dienen hätte.
Und hiebei muss die Frage der Altersversorgung der Ge¬
meindeärzte und die Versorgung ihrer Witwen und Waisen in
Fluss kommen.
Einen tieferen und nachhaltigeren Erfolg dieser Resistenz¬
bewegung der Aerzte Niederösterreichs erblickt man allseits
darin, dass seither — noch ist kein Jahr seit der ersten Enun-
ziation verflossen — die Solidaritätsbestrebungen der Aerzte
in den meisten Kronländern unseres Reiches sich siegreich
durchgerungen haben. Ueber alles Erwarten rasch wurden
Woche um Woche neue freie Organisationen von Distrikts¬
oder Gemeindeärzten gebildet, oder es haben sich schlecht-
wegs alle Landärzte eines Kronlandes zu einer freien Organi¬
sation zusammengetan. Da gibt es freie Organisationen der
Distrikts- und Gemeindeärzte in Böhmen und Steier¬
mark, die zwei Organisationen der Gemeinde- und Landärzte
in Niederösterreich, eine Gesamtorganisation der
Aerzte in Schlesien und überdies eine freie Organisation
der dortigen Gemeindeärzte, eine freie Organisation der Di¬
striktsärzte in K r a i n, der Gemeindeärzte in Obeiöster¬
reich, der praktischen Aerzte Kärntens, der Gemeinde¬
ärzte Deutschtirols, eine Organisation der Aerzte von
Graz, während eine wirtschaftliche Organisation der Aerzte
in Mähren und der Aerzte Wiens im Zuge ist. Die ein¬
zelnen Aerzte-Organisationen sollen nunmehr unter einheit¬
liche und zielbewusste Leitung gestellt werden und zu diesem
Zwecke wurde ein „österreichischer ärztlicher Reichsverband“
gegründet und dessen Statuten stehen derzeit schon zur Dis¬
kussion. Das ist ein grosser Erfolg und den Organisatoren
der Aerztevereinigungen Niederösterreichs gebührt unstreitig
das Verdienst, diese mächtige Bewegung zur „Förderung und
Vertretung der gesamtärztlichen Standesinteressen“ (Zweck
des Reichsverbandes, § 2) in ganz Oesterreich angeregt zu
haben.
Einzelne der oberwähnten Aerzteorganisation haben aber
auch schon für ihre Angehörigen hübsche Erfolge erzielt.
Und dies trotz der kurzen Zeit ihres Bestandes. So richtete die
Organisation der Gemeindeärzte Schlesiens bald nach ihrer
Konstituierung an ihren Landesausschuss eine Eingabe, in
welcher die Erlassung eines Landessanitätsgesetzes dringend
gefordert und zugleich ein bezüglicher Entwurf vorgelegt
wurde. Und der Landesausschuss erbat sich sofort die Zu¬
sendung aller bezüglicher statistischer und sonstiger Mate¬
rialien, ferner eine Begründung der einzelnen Bestimmungen
des Entwurfes etc., da er in eine Beratung dieses Entwurfes
einzugehen gedenke. Wir wissen wohl, dass damit noch nicht
ein Landessanitätsgesetz für Schlesien geschaffen ist, es ist da¬
mit nur der erste Schritt auf dem Wege getan worden, der zur
Befriedigung der langjährigen Wünsche und Forderungen der
schlesischen Gemeindeärzte führen wird. Den gleichen Erfolg
hatte auch die freie Organisation der Gemeindeärzte in Ober¬
österreich aufzuweisen. Auch hier soll schon in der nächsten
Landtagssession (im September 1. J.) seitens des Landesaus¬
schusses ein Antrag auf Verbesserung der sozialen und mate¬
riellen Stellung der Gemeindeärzte (eine Impf- und eine Alters¬
versorgungsvorlage) eingebracht werden. Wie gemeldet
wird, hat der Landeshauptmann in Linz sämtlichen Sanitäts¬
gemeinden Oberösterreichs den Auftrag erteilt, den Beschluss
zu fassen, ob dieselben eine Pensionsberechtigung^ der Ge¬
meindeärzte prinzipiell anerkennen und auch der Statthalter
Oberösterreichs hat sich den Forderungen der Aerzte gegen¬
über überaus wohlwollend geäussert. In Steiermark kam dei
Entwurf eines Sanitätsgesetzes, welchen die Organisation der
dortigen Gemeinde- und Distriktsärzte ausgearbeitet hatten,
bereits zur Beratung und wurde sodann einem Komitee, in
welchem sich auch der Obmann der Organisation als Mitglied
befindet, zur weiteren Beratung übergeben, mit dein Auftiage,
dass die Arbeit des Komitees bis Ende September 1. J. abge¬
schlossen sein müsste.
Auch sonst wirkt die Resistenzbewegung der Aerzte
Niederösterreichs richtungsgebend. So hat die Aerztekammei
von Graz und Gradiska Ende Juni 1. J. den Beschluss gefasst,
den diesem Kammersprengel angehörigen Aerzten die Vor¬
nahme der öffentlichen Impfung unter Androhung des
ehrenrätlichen Verfahrens zu untersagen, insolange
nicht seitens der kompetenten Faktoren die Flonorierung der
Impfung standeswürdig geregelt sein würde. Der Grund
zu dieser Massnahme besteht darin, dass, während die Impfung
nicht honoriert und bloss ein bescheidenes Tages- und Reise¬
geld für Impflinge ausserhalb des Wohnortes des Arztes ge¬
zahlt wird, die einzelnen Impfrayons in den letzten Jahren auf
weit abgelegenen Dörfer derart ausgedehnt wurden, dass ein¬
zelne Impfärzte infolge der grossen Entfernungen per Impf¬
ling K bis 2 Heller (!) erhielten.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass sich die Aerzte nicht
mehr alles bieten lassen wollen und allenthalben auf standes¬
würdiger Honorierung bestehen, bietet das Land Steiermark.
Die dortige Aerztekammer hatte im Laufe dieses Jahres ein¬
stimmig die Honoraransätze des Tarifes der Wiener Findel¬
anstalt för „standesunwürdig“ erklärt. Es werden eben Kinder
der Wiener Findelanstalt vielfach auch in Steiermark unter¬
gebracht, im Erkrankungsfalle also auf Kosten des nieder¬
österreichischen Landes von steiermärkischen Aerzten be¬
handelt. Und das Land Niederösterreich zahlt bekanntlich
allen Aerzten für eine solche Behandlung — Schundhonorare.
Die Statthalterei in Graz, die der Kammer Vorgesetzte Behörde,
nahm diesen einmütigen Beschluss offenbar krumm auf, denn
sie forderte in einer Note die Aerztekammer auf, ihi daiiibei
eingehende Mitteilung zu machen unter Anschluss aller Ver¬
handlungsakten. Die Aerztekammer kam diesem Aufträge
nach und motivierte ihren Beschluss in einer längeren Ein¬
gabe, in welcher sie auch darauf hinwies, dass für Steiermark
nur der — steiermärkische Honorartarif gelten könne, nicht
aber der Niederösterreichs oder — Frankreichs. 50 Heller für
eine Visite und 40 Heller für eine Ordination, das sei keine
würdige Entlohnung eines Arztes, die Aerztekammer habe das
Recht und die Pflicht darüber zu wachen, dass die Leistungen
der Aerzte entsprechend bezahlt würden. Die Kammer glaube,
durch ihr Vorgehen weder ihren Wirkungskreis überschritten,
noch gesetz- oder vorschriftswidrig gehandelt zu haben. (Das
sind zumeist die Handhaben der Behörden, wenn sie einen
Aerztekammerbeschluss aufheben will.) Auf diese Eingabe
hat die Grazer Statthalterei bisher noch nicht geantwortet.
Dass die Statthaltereien mit dem „Aufheben“ von Be¬
schlüssen der Aerztekammer schnell zur Hand sind, das hat
jüngst wieder die Wiener Aerztekammer erfahren müssen.
Im April 1. J. verlautbarte die Wiener Aerztekammer folgendes:
Es ist den Amtsärzten anlässlich der Vornahme einer Toten¬
beschau nicht gestattet, nach der Behandlungsweise zu
fragen, da durch unvorsichtige Fragestellung der behandelnde
Arzt Schaden erleiden kann“. Wir glauben nicht, dass die
Wiener Aerztekammer diese Verlautbarung ganz ohne Grund
erliess, es ist höchst wahrscheinlich, dass sie es erst über vor¬
gebrachte Klagen seitens einzelne Mitglieder tat, welche sich
durch „unvorsichtige Fragen“ seitens der ärztlichen Toten¬
beschauer geschädigt glaubten. Wie denn immer, einige
Wochen darnach teilte die niederösterreichische Statthalterei
der Aerztekammer mit, dass diese Bekanntmachung der In¬
struktion über die Totenbeschau widerspreche, dass daher der
bezügliche Beschluss des Kammervorstandes vollständig
aufgehoben werden müsse. Nunmehr hat das Wiener
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
I /SO
c-iadtphysikat ihren städtischen Acrzten für Totenbeschau
..empfohlen, bei Erhebungen aus Anlass einer Toten¬
beschau mit der unbedingt nötigen Vorsicht vorzugehen und
das Ansehen des behandelnden Arztes so weit zu schonen, als
es die Umstände des Falles nur immer gestatten“. Das Stadt-
physikat fügt bei. dass der Amtsarzt nicht nur berechtigt,
sondern in vielen Fällen sogar verpflichtet sei, durch an die
Angehörigen des Verstorbenen zu stellende Fragen und son¬
stige Erhebungen die näheren Umstände des Todesfalles auf¬
zuklären. Das ist gewiss richtig, anderseits hat das Stadt-
physikat im obigen Erlasse an die Amtsärzte dennoch der
Anschauung der Aerztekarnmer und den Wünschen der prak¬
tischen Aerztc Wiens Rechnung getragen.
Im österreichischen Abgeordnetenhause wurde Ende Mai
1. J. der Justizminister in betreff des gerichtsärztlichen Ge¬
bührentarifs im Strafverfahren und über die Wahrung der ge¬
botenen sanitären Vorsichten bei Vornahme von gerichtsärzt¬
lichen Untersuchungen interpelliert. Ende Juli beantwortete
der Justizminister diese Interpellation und berief sich dabei auf
einen Erlass des Justizministeriums an die Oberlandesgerichts¬
präsidenten vom 16. Juli 1. J. Dieser Erlass ist jüngst ver¬
öffentlicht worden und wir entnehmen demselben folgendes:
Den Sachverständigen gebührt der Ersatz der für die Vor¬
nahme einer Verrichtung (Leicheneröffnung, Untersuchung)
notwendigen Barauslagen, so für Desinfektionsmittel u. dergl.
mein. Auch dem zweiten Arzte (bei einer Sektion), soferne
dieser gleichfalls Desinfektionsmittel auf seine Kosten ange¬
wendet hat. „Die Entfernung eines Verbandes zum Behufe einer
gerichtsärztlichen Untersuchung darf nur vorgenommen
werden, wenn die Abnahme des Verbandes nach ärztlichem
Befund ohne Gefährdung des Verletzten geschehen kann. Die
Abnahme komplizierter Verbände oder solcher Verbände, die
grössere Körperteile decken, wird daher in der Regel zu unter¬
bleiben haben.“ Für die bei Erneuerung eines Verbandes auf¬
gewendeten Verbandmaterialien und für die etwaige „be¬
sondere Mühewaltung und den Zeitverlust“ kann der Gerichts¬
arzt entsprechend Entlohnung fordern. Die Gerichte, welche
häufig derlei Verbandmateriale nötig haben, sollen ’ sie auf
Staatskosten vorrätig halten. Im Weiteren beschäftigt sich der
Erlass mit der Uebergabe der Akten an die Sachverständigen,
der Richter möge, wenn eine solche Uebergabe nicht statt¬
finden kann, sich zuvor selbst aus den Akten gehörig instru¬
ieren und den Sachverständigen die für die Beurteilung des
Falles wichtigen Umstände in Kürze mitteilen. Schliesslich
werden Bestimmungen getroffen, unter welchen Umständen die
aus 4 Mitgliedern bestehende Kommission (Richter, Schrift¬
führer und zwei Sachverständige) auch zwei Wagen be¬
nützen und verrechnen dürfe. Z. B. bei Behinderung der bei¬
gezogenen Aerzte in ihrer Privatpraxis, wenn die vom Richter
am Kommissionsorte nach Durchsuchung des Sachverstän¬
digenbeweises sonst noch vorzunehmenden Geschäfte eine
lange Zeit in Anspruch nehmen. Der ganze Erlass ist in einem
den Gerichtsärzten wohlwollenden Tone abgefasst.
Bei der k. k. Landwehr ist in jüngster Zeit wieder ein Be¬
darf an aktiven Aerzten eingetreten, der sich voraussichtlich in
den nächsten Jahren noch steigern dürfte. Die Bedingungen
für den Eintritt in die Landwehr sind für Aerzte besonders gün¬
stig und vorteilhaft. Alle neu eintretenden Aerzte erhalten
einen Studienkostenersatz von 6000 Kronen; jenen, welche be¬
reits in öffentlichen Krankenanstalten tätig waren, wird diese
Dienstleistung bei Festsetzung ihres Ranges eingerechnet, so
dass sie schon nach kurzer Dienstzeit in die Charge eines Re-
gimentsai ztes vorrücken. Die eintretenden Aerzte verbleiben
während der ersten zwei Dienstjahre in Wien und werden auf
Kosten des Aerars fortgebildet. Die weitere fachtechnische
Ausbildung wird durch Kommandierung auf Universitäts¬
kliniken wesentlich gefördert.
Am 15. August, am Geburtstage unseres Kaisers, ist Wien
um ein neues Kinderspital bereichert worden. Es besteht aus
- I a\ illons, welche dem Franz Josefsspitale adjungiert sind
und für 54 grössere Kinder und für 15 Säuglinge Platz bieten'
Das neue Kinderspital, in allen Details mustergültig einge-
i ich tet, ist die Stiftung eines Wohltäters und seiner Gattin
(Bernhard und Rcgine Pollak). Ein Pavillon (für 50 Kinder) ist
nur für tuberkulöse und skrophulöse Kinder bestimmt, während
der zweite Pavillon für Säuglinge und lebensschwache Kinder
(Boxes mit warmer Luft und entsprechender Ventilation) ein¬
gerichtet ist. Die Krankenbetten können auf grosse, mit
Blumen geschmückte Veranden hinausgeführt werden, in der
Säuglingsabteilung gibt es eigene Räume zur Milchvorbe-
reitung, einen Waschraum für die Gefässe, einen Sterilisier¬
raum und eine Kühlkammer. Auch ein Turnsaal wurde ein¬
gerichtet. Bei dem grossen Mangel an Betten für kranke
Kinder in Wien wird das neue Kinderspital allseits freudig
begriisst.
Vereins- und Kongressberichte.
XV. Versammlung der Deutschen otologischen Gesell-
schaft
in W i e n am 1. und 2. Juni 1906.
Nach dem offiziellen Berichte von Prof. Denker- Erlangen.
Die Versammlung der Deutschen otologischen Gesellschaft fand
in diesem Jahre unter dem Vorsitze von Prof. Hartmann - Berlin
statt. Als nächster Versammlungsort wurde Bremen bestimmt.
Das Referat über die Labyrintheiterungen erstattete Herr
ri i n s b e r g - Breslau.
Nach kurzen statistischen Bemerkungen berichtet H. über die
pathologische Anatomie der Labyrintheiterungen; die Infektion des
Labyrinths kann einerseits vom Mittelohr aus nach traumatischer oder
üuich entzündliche Prozesse liervorgerufener Zerstörung der Laby-
rinthwand, andererseits durch Einbruch eines tiefen Extradural¬
abszesses von dei hinteren Pyramidenfläche zustande kommen
Als Prädilektionsstellen für den Einbruch vom Mittelohr ins
Labyrinth haben sich die beiden Paukenfenster, das Promontorium
und der Wulst des horizontalen Bogenganges herausgestellt.
Auf Grund seiner Beobachtungen glaubt H., dass der Durch-
M uch durch den Bogengang eine der häufigsten Infektionsweisen ist,
wenn auch nicht so häufig, wie früher angenommen wurde; als wei¬
terer Weg scheint zunächst das ovale, dann das runde Fenster und
endlich eine Fistel im Promontorium in Betracht zu kommen.
Für die Ausbreitung der Infektion im Labyrinth sind massgebend
Art und Virulenz der Infektionserreger, Widerstandsfähigkeit des
Organismus, Lokalisation des Durchbruchs und Abflussbedingungen
für den Eiter. Es kann zu diffuser oder zirkumskripter Labyrinth¬
eiterung kommen. Häufig schreitet der Krankheitsprozess vom
Labyrinth auf die Meningen fort und zwar entweder 1. durch spon¬
tane Dehiszenzen an der Kuppe des hinteren oder oberen Bogen¬
ganges, 2. entlang des Nerv, acustic. oder 3. durch die Aquaedukte.
H. bespricht sodann bei der Klinik der Labyrintheiterung die
Rtizs\ mptome von Seite des statischen Organs sowie die nach seiner
Zerstörung auftretenden Ausfallserscheinungen; ferner gibt er ein
Bild von dem Verlauf und Ausgang der Erkrankung.
Bei der Besprechung der Diagnostik wird die Untersuchung
der statischen Funktion durch statische und dynamische Prüfungen,
sowie die unter allen Umständen vorzunehmende exakte Hörprüfung
geschildert.
Die Mortalität der diffusen Labyrintheiterung schätzt H auf
mindestens 15 — 20 Proz.
Durch die Therapie muss den im Labyrinth vorhandenen
Futziindungsprodukten möglichst freier Abzug nach aussen geschaffen
und dem Nachschübe neuer Infektionserreger vom Mittelohr aus vor¬
gebeugt werden. In einer Reihe von Fällen muss neben Freilegung
der Mittelohrräume auch eine möglichst weite Eröffnung des Laby¬
rinths vom Mittelohr aus vorgenommen werden; dadurch wird nach
H.s Ansicht die Sterblichkeit wesentlich vermindert (unter 70 ope¬
rierten Fällen 67 Heilungen, 3 Todesfälle).
Zum Schlüsse werden die Operationstechnik, die unmittelbaren
Folgen der Labyrintheröffnung und die Nachbehandlung geschildert.
Herr H e r z o g - München: Tuberkulöse Labyrintheiterung mit
Ausgang in Heilung.
I ubei ktilöse Mittelohreiterungen greifen häufig auf das innere
Ohr über. Untersuchungen an Phthisikern stellten fest, dass 5 Proz.
a 1 lei männlichen Patienten mit Labyrintheiterungen behaftet
waren. H. belichtet über den seltenen Verlauf einer doppelseitigen
tuberkulösen Mittelohreiterung bei einem 43 jährigen Phthisiker.
L: Tairbheit, R: hochgradig herabgesetztes Hörvermögen; eine be-
gleitende Mastoiditis erforderte Eröffnung des Warzenfortsatzes
rechts, 4 Monate nachher Taubheit auf diesem Ohre, nach einiger
Zeit erscheinen wieder Hörreste (zunächst Lücken), welche allmählich
so Zunahmen, dass eine Hörstrecke von der kleinen Oktave bis nahe
an die^ normale obere Grenze vorhanden war. Subjektive und objek¬
tive Erscheinungen von Seite des Vestibularapparates fehlten voll¬
kommen. Nach dem makroskopischen Sektionsbefunde erfolgte der
Durchbruch der Mittelohreiterung in das Labyrinth wahrscheinlich
durch die Promontorialwand. Die histologische Untersuchung steht
noch aus.
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1781
Herr R. P a n s e - Dresden: Hör- und Gleichgewichtsprüfungen
und histologische Befunde.
P. weist auf die Wichtigkeit und Möglichkeit der Erkenntnis
von Erkrankungen einzelner Labyrinthteile hin und belegt deren Vor¬
kommen mit mikroskopischen Präparaten. P. empfiehlt ein von ihm
ausgearbeitetes Schema zur Prüfung.
Herr Denker- Erlangen : Demonstration einer neuen Opera¬
tionsmethode für die malignen Tumoren der Nase. (Cf. Münch, med.
Wochenschr. 1906, No. 20.)
Herr Z i m m e r in a n n - Dresden: Zur Physiologie der Schall¬
leitung.
Z. wendet sich dagegen, dass der Knochen, in dem das Endorgan
liegt, gar nicht oder wenig geeignet sei, Schall aufzunehmen und ab¬
zugeben und dass immer nur aus dem Labyrinthwasser die per-
zipierenden Fasern ihre letzten Impulse erhalten könnten.
Ferner sucht Z. nachzuweisen, dass bei der Schallfortpflanzung
es sich um rein molekulare Bewegungen handelt, die als solche gar
keine Verschiebung eines Knöchelchens gegen das andere oder eines
Knöchelchens gegen den Knochen, in den es eingelassen ist, hervor-
rufen.
Die Kette wird messbar an der Steigbiigelfussplatte nicht mehr
bewegt als der Knochen des Promontoriums. Diese ist in letzter In¬
stanz immer die letzte Etappe des zu den Fasern zutretenden Schalles.
Z. glaubt, dass bei direkter Zuleitung des Schalles auf den Knochen
dieser Weg der einzig wirksame ist, dass aber beim Aufsetzen einer
Stimmgabel in der Schädelkapsel ausserdem noch stehende Schwin¬
gungen ausgelöst werden.
Der zweite Teil des Vortrages beschäftigt sich mit den An¬
sichten Z.s über die Leistungen des Labyrinthwassers.
Herr Gutzmann - Berlin : Lieber die Bedeutung des Vibrations¬
gefühls für die Stimmbildung Taubstummer und Schwerhöriger.
G. untersuchte zunächst die Unterschiedsempfindlichkeit für das
Vibrationsgefühl, indem er die Vibrationen zweier elektrisch be¬
triebener Stimmgabeln auf eine Luftkapsel übertragen iiess, und
bald die eine, bald die andere Zuleitung unterbrach. Die Differenz
eines ganzen Tones wird von dem tastenden Finger meist ohne
Schwierigkeit wahrgenommen. Das Vibrationsgefühl für Tonhöhen
und -differenzen kann in den geschilderten Grenzen eingeübt werden.
Während beim Hörenden die Kontrolle der Stimmhöhe und -stärke
durch das Ohr geschieht, lässt sich beim taubstummen Kinde viel¬
leicht eine exaktere Kontrolle der eigenen Sprachproduktion durch
das Vibrationsgefühl erzielen. Bei den ersten Stimmentwicklungs¬
versuchen bei taubstummen Kindern sollen hörende Kinder des
gleichen Alters als „adäquate“ Vorbilder für die Vibration genommen
werden; das erste Einüben soll möglichst früh, im vorschulpflichtigen
Alter, beginnen. Bei genügender und frühzeitiger Einübung des
Vibrationsgefühls werden dann auch die in den Hohlräumen des
Sprechapparates entstehenden Vibrationen besser zum Bewusstsein
gelangen und als Ersatz für die fehlende Hörkontrolle dienen können,
so dass Stimmhöhe, -stärke und -einsatz auch bei der spontanen
Sprache des taubstummen Kindes unter Selbstkontrolle gemacht
werden.
Herr A 1 e x a n d e r - Wien demonstriert an 70 Diapositiven die
Entwicklung, normale, vergleichende und pathologische Anatomie (mit
Ausschluss der entzündlichen Erkrankungen) des Vestibularapparates.
Herr v. Frankl-Hoch wart - Wien : Die Diagnose und
Differentialdiagnose des Meniere sehen Schwindels.
F.-H. bespricht in der Einleitung seine Einteilung des
Meniere sehen Symptomenkomplexes. Einerseits die apoplek-
tische Form bei Individuen, die früher ohrgesund waren, die ohne
oder nach Trauma auftreten kann, anderseits die akzessorische Form
— jener Schwindel, wie er bei bestehendem Ohrenleiden sich ent¬
wickelt; ausserdem der Schwindel bei Eingriffen in das Ohr und bei
Schaukelbewegungen. Ferner erwähnt E.-H. noch die pseudo-
Meniere sehen Attacken, paroxysmales Auftreten von Schwindel,
Ohrensausen und Erbrechen bei intaktem Ohre, bei Neurose — als
Aura des hysterischen und epileptischen Anfalles.
E.-H. schildert die Hauptsymptome des Anfalls; nicht selten sind
vasomotorische Begleiterscheinungen, Pulsanomalien, Diarrhöen und
Kopfdruck zu beobachten. In den anfallfreien Zeiten ist ausser der
Hörstörung meist nichts nachzuweisen, höchstens geringe Grade von
Ataxie und Nystagmus.
Leicht ist die Erkenntnis der Meniere sehen Apoplexie, da bei
zerebralen Insulten schwere Bewusstseinsstörungen und Lähmungen,
plötzliches Ertauben dagegen für gewöhnlich nicht beobachtet
wird.
Schwieriger ist es, die Vertigo auralis der akzessorischen Form
zu erkennen. Der Internist ist verpflichtet, bei jedem Patienten, der
über Schwindel klagt, das Ohr zu untersuchen. Wo keine Schwer¬
hörigkeit, da ist der Vestibularschwindel sehr unwahrscheinlich.
Weiter bespricht F.-H. die Differentialdiagnose mit den anderen
Schwindelformen; bei Augenmuskellähmungen und Refraktionsano¬
malien, bei akuten Infektionskrankheiten und der Lues, ferner von
Vertigo e stomacho laeso, bei Arteriosklerotikern, den eigentlichen Ge¬
hirnerkrankungen, z. B. Blutungen, Erweichungen, Tumoren, Ab¬
szessen, ferner bei Zerebrospinalerkrankungen; besonders ist hier die
Tabes zu erwähnen, bei welcher durch Erkrankung des Labyrinths
und Akustikus echte Paroxysmen auftreten können. Weiters ist der
neurasthenische Schwindel, die Differentialdiagnose bei Hysterie und
Epilepsie zu erwähnen.
Ausserdem erinnert F.-H. an die von ihm zuerst beschriebene
Polyneuritis cerebralis menieriformis. Das akute Auftreten, die Kom¬
bination von nervöser Hörstörung, Ohrensausen, Drehschwindel mit
Herpes und totaler Fazialislähmung macht die Erkennung leicht.
F.-H. erwähnt noch der Schwierigkeit, die durch die Lonnes
frustes der Meniereanfälle entsteht. Es gibt Vertigo auralis ohne
Schwerhörigkeit, vermutlich auf Läsion des Vestibularapparates bei
freiem Kochlearapparate beruhend; manchmal nehmen bei den Paro¬
xysmen die subjektiven Geräusche nicht nur nicht zu, sondern ver¬
schwinden sogar; es gibt sogar Fälle ohne Tinnitus. Ferner gibt es
Aequivalente des Anfalls, bei welchen nur ein gewisses Taumel¬
gefühl auftritt, bisweilen sogar nur Kopfweh mit Verdunklung vor
den Augen.
Herr Kr ei dl- Wien demonstriert an operierten Tauben und
Fröschen sowie an Tanzmäusen die bekannten Labyrintherschei-
nungen.
Herr B r ü h I - Berlin: Beiträge zur pathologischen Anatomie des
Gehörorgans.
B. demonstriert Diapositive mit dem Projektionsapparat von:
1. einem im Laufe von Tabes ertaubten Kranken; neben Degeneration
in den Wurzelgebieten des Hörnerven sind hochgradige atrophische
Veränderungen (namentlich Gangl. spir.) vorhanden. 2. einer Anky¬
lose des Hammers mit dem kariösen Ambos, Obliteration der Fossula
fen. cochl. durch Bindegewebe, Atrophie des Gangl. spir., die klinisch
als Stapesfixation mit nervöser Schwerhörigkeit angesehen wurde.
3. Schneckenpräparaten einer „nervösen Schwerhörigkeit“ mit Atro¬
phie des Gangl. spir. und des Nerv, cochl., besonders in der. ersten
Windung. 4. Schneckenpräparaten einer professionellen Schwer¬
hörigkeit bei einem Schmied mit Atrophie des Gangl. spir., Nerv,
cochl. und Defekt des C o r t i sehen Organs in der Basalwindung.
Herr Nager- Basel demonstriert mikroskopische Präparate von
Erkrankungen des inneren Ohres bei Genickstarre, Tuberkulose,
Syphilis, Cholesteatom, angeborener und erworbener Taubstummheit
nach Meningitis und Trauma.
Herr P a s s o w - Berlin:
Das Trommelfellbild, das wir beim Spiegeln erhalten, entspricht
nicht der Wirklichkeit. Das Bild ist um so verzerrter, je enger der
Gehörgang ist und je mehr die Membran in derselben Ebene liegt wie
die obere Wand des Gehörgangs; diese Verzerrung ist dem Ohren¬
arzte bekannt.
P. zeigt an einer Reihe gemalter Bilder den Unterschied zwischen
dem an Leichen mit dem Spiegel gewonnenen und dem nach Heraus¬
nahme des Felsenbeins und Abtragung der vorderen Gehörgangswand
freiliegenden Trommelfellbild.
Daraus geht hervor, dass Narben, Reste, Perforationen, Verkal¬
kungen in Wahrheit eine ganz andere Gestalt haben, als es durch
den Trichter erscheint; manche Narben sind beim Spiegeln überhaupt
nicht erkennbar.
Ferner hat P. gefunden, dass unsere jetzige Trommelfelleinteilung,
welche der anatomischen nicht entspricht, zu fehlerhaften Bezeich¬
nungen Anlass gibt, namentlich wenn der Hammer retrahiert ist.
Die Einteilung Politzers, der vom Umbo aus eine Senkrechte nach
der Peripherie zieht und eine Wagrechte durch den Umbo legt, ergibt,
wenngleich auch sie Mängel hat, richtigere Resultate.
Herr v. S c h r ö 1 1 e r - Wien demonstriert Röhren für Oeso-
phagoskopie und Bronchoskopie. Dieselben bestehen aus einer
äusseren Metall- und inneren Glasröhre, die auf der der Lichtung
zugekehrten Fläche einen dunklen Anstrich erhält. An dem oberen
verbreiterten Ende des Apparates sind kleine Gliihlämpchen so ange¬
bracht, dass sie beim Hineinblicken von oben nicht gesehen werden,
das Licht aber die innere Glasröhre entlang am unteren Ende der
Röhre erstrahlen lassen; dadurch wird das Rohr nur am unteren Ende
beleuchtet.
Herr B e h m - Wien-Moedling hält einen Experimentalvortrag
über Akustotechnik und Schallmessung. Die von B. konstruierten
Schallmessinstrumente gestatten an einer Skala direkt die Schallstärke
eines beliebigen Tones abzulesen; ferner kann mit den Apparaten
eine Analyse des Schalles vorgenommen und z. B. ziffernmässig
festgestellt werden, wie viel Schall durch eine Wand hindurchdringt
und wie viel dabei von anderen Konstruktionsteilen übertragen wor¬
den ist. Mit diesem Schallmesser können Schallwellen jeder Ton¬
höhe in Luft oder festen Körpern ihrer Intensität nach gemessen wer¬
den; ferner ist es möglich, die Schwingimgszahl einer jeden Schall¬
welle zu bestimmen und die Schwingungsvorgänge in Luft und festen
Körpern zu untersuchen, sowie die Schwingungsform derselben sicht¬
bar zu machen.
Herr B 1 a u - Görlitz: Experimenteller Verschluss des runden
Fensters. Die Tiere sind dem Schall gegenüber völlig reaktionslos,
sobald sie doppelseitig operiert sind. Demonstration einschlägiger
mikroskopischer Präparate.
Herr B 1 a u - Görlitz: Form der Ohrmuschel bei Geisteskranken
und Verbrechern.
Messungen bezw. Untersuchungen an 206 Normalen, 210 Geistes¬
kranken, 243 Strafgefangenen. Die Lamina auris ist bei Geistes-
'82
MUMNCHFNER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
Mauken und Verbrechern durchschnittlich weit grösser, also funk¬
tionell vollkommener; „wahre Ohrbreite“ und „wahre Ohrlämre“
grösser.
Herr G o e r k e - Breslau: 1. Labyrintliveränderungen bei Ge¬
nickstarre.
Bie histologische Untersuchung von 19 Schläfenbeinen ergab in
1/ hallen ausgedehnte Veränderungen entzündlicher Natur in den ver¬
schiedenen Teilen des Labyrinthes, meist mit bindegewebiger und
knöcherner Konsolidierung des Exsudats. Fast in allen Fällen waren
einzelne 1 eile verschont geblieben, in allen Fällen einzelne Teile ver¬
schieden stark beteiligt. Infektionsweg: dreimal Aquaeduktus cochl
einmal Aquaeduktus vestib., elfmal der Nerv; in den übrigen Fällen
ungewiss.
2. Demonstration mikroskopischer Präparate von:
a) Empyem des Saccus endolymphaticus bei Labyrintheiterung.
b) Isolierte Fistel des horizontalen Bogenganges.
c) Völlige bindegewebige und knöcherne Verödung des Laby¬
rinths bei Mittelohrtuberkulose.
Herr H ö I s c h e r - Ulm : Ueber eine Erweiterung des Opera¬
tionsgebietes des Ohren-, Nasen- und Halsarztes.
H. hat seit 4, .fahren zuerst die Chirurgie der nichtotogenen
Schädel- und Gehirnerkrankungen und später des Halses (insbe¬
sondere Kröpfe) usw. hinzugenommen.
Kirchner- Würzburg: Apparat zu Operationsübungen
am Schläfenbein.
Oer Apparat verfolgt den Zweck, die schwierigen Operationen
am Ohre auf bequeme und einfache Weise, der natürlichen Lage am
Lebenden möglichst angepasst, an Schläfenbeinpräparaten einzuüben.
Man kann den Apparat in dieselben Lagerungs- und Beleuchtungs¬
verhaltnisse bringen wie die Patienten bei der Operation.
Auch für andere Präparier- und Operationsübungen lässt sich
dieser Apparat verwenden und nach Bedarf in verschiedenen Di¬
mensionen herstellen.
Hei i Sc hoenemann- Bern : Demonstration mikroskopischer
Präparate über die pathologische Anatomie der Rachenmandel¬
hyperplasie.
Vorläufige Mitteilung mikroskopischer Befunde, welche zeigen,
dass bei den lymphoiden Organen des Rachens die Lymphozyten auch
durch Zerstörung des Epithels an die Oberfläche gelangen können.
Heil S c h o e n e m a n n - Bern : Zur Erhaltung des schalleiten¬
den Apparates bei der Radikaloperation.
2 Fälle, bei welchen Sch. in der gleichen Narkose auf einer Seite
die typische Radikaloperation, auf der anderen dieselbe mit Schonung
dei ( jlIiöi knöchelchenkette ausführte. Neben Sch.’ Operationsver¬
fahren wird die krage der Metaplasierung der Paukenhöhlenschleim¬
haut besprochen.
Herr Habermann-Graz: Zur Lehre von der professionellen
Schwerhörigkeit.
H. berichtet über die Ergebnisse teils klinischer, teils patho¬
logisch-anatomischer Untersuchungen dieser Krankheitsform. Erstere
umfassten 107 Fälle; das Gehör nahm zunächst besonders für die
hohen I öne ab, die Schwerhörigkeit war aber nie so, dass Flüster¬
sprache nicht mehr gehört worden wäre.
Ferner bringt H. die genaue klinische und histologische Unter¬
suchung von 5 Fällen, von denen 2 ausserdem an Arteriosklerose,
1 an Neuntis akustica infolge septischer Meningitis und 2 an Tabes
gelitten hatten. Bei allen fand sich Atrophie des C o r t i sehen Or¬
gans fortschreitend auf die Nerven der Lamina spiralis, die Ganglien¬
zellen im Spiralkanal waren meist gut erhalten. Eine umschriebene
o I-°n 16 U1.ld Zystenbildung in der Stria vascularis in den ersten
w k allen wird aut die Arteriosklerose zurückgeführt, ebenso die In¬
filtration mit Rundzellen im Nerven und einmal in der Stria auf die
Tabes der beiden letzten Fälle. In einem dieser Fälle, bei dem
Schwindel mit Erbrechen und Auf- und Abschweben der Gegenstände
vor den Augen beobachtet worden war, wurde eine starke Infiltration
mit Lymphozyten im Nervenzweig der hinteren Ampulle gefunden.
Herr B I o c h - Freiburg i. B.: Ueber Schwerhörigkeit bei Re¬
tinitis pigmentosa.
hei Vu°A- 8pFä!’en von Pigmentdegeneration der Netzhaut,
eichen durch die Funktionsprüfung eine, mitunter nur unerhebliche
nervöse Schwerhörigkeit, ermittelt wurde. In einem Falle war sie
Sh m i!n iC n,ut Hyperostose der Labyrinthkapsel und beginnender
den vorgeschrittenen Fällen bestand,
rMc hH de.r,konzentrischen Einengung des Gesichtsfeldes, eine solche
des Horfeldes, jeweils ohne Erkrankung des Schalleitungsapparates.
In - Fallen war Konsanguinität der Ehen der Ahnen, in 3 weiteren
Erkrankungen des Sehorgans Blutsverwandtschaft zu ermitteln.
Heu K ü m m e I - Heidelberg: Bakteriologisch-klinische Unter¬
suchungen bei akuter Otitis media. umer
Die bisher gebräuchliche Einteilung der akuten Mittelohrent¬
zündungen nach der Beschaffenheit des gebildeten Exsudats
(v. Troeltsch) ist nicht mehr haltbar gemiaeten Exsudats
Man muss unterscheiden:
a) Den einfachen Tubenkatarrh, ohne eigentliche Entzündung
ersehe, nungen in der Paukenhöhle und ihren Nebenräumen; Sekret
b) Hie niesotympanische Otitis media; die Entzündungserschei¬
nungen sind ausschliesslich oder doch wesentlich im Hauptraum der
I aukenhöhle („Mesotympanum“) ; sie ist charakterisiert durch das
kehlen umschriebener Vorwölbungen und Entzündungen am Trom¬
melfell.
c) Die epitympanische Otitis media; die Nebenräume der Pauken¬
höhle sind von vornherein wesentlich miterkrankt; charakteri¬
siert durch erkennbare Entzündungserscheinungen am Warzenfortsatz,
gewöhnlich noch früher durch umschriebene Entzündung und Vor¬
wölbung am Trommelfell, regelmässig lokalisiert im hinteren oberen
Ouadranten, selten an der S h r a p n e 1 1 sehen Membran.
... Die, Prognose ist abhängig von dem Typus: gefährlich quoad
u arzenfortsatzaffektion ist fast nur die epitympanische Form; hiebei
sind der Streptococcus pyogenes und mucosus am gefährlichsten,
während sich Staphyiococcus aureus bei rund 50 Abimpfungen trotz
grosser Virulenz nur bei relativ leicht verlaufenden Erkrankungen
land. Operationen erfolgten nur bei Streptokokkenotitiden, in 1 Falle
handelte es sich um Symbiose mit Pneumokokkus Fränkcl-
Weichselbaum. Mitteilung der Abimpfungstechnik und der
bakteriologischen Befunde und anatomischen Gründe für die Unter¬
scheidung der unter a) und b) aufgeführten Typen.
Herr R. H o f f m a n n - Dresden : Zur Kenntnis des Fiebers und
seiner Ursache beim otitischen Hirnabszess.
3 Fälle von Hirnabszess mit vorübergehendem hohem Fieber
und meningitischen Symptomen. Die Ursache hiefiir sucht H auf
Grund der Lumbalpunktionsbefunde in eitriger Meningitis.
..... !ierr W a nn e r - München: Ein Fall zur Illustration des Ver¬
hältnisses von Ton- und Sprachgehör.
W. fand bei seinen Untersuchungen einen erwachsenen Patienten
auf dessen linkem Ohr in der Tonskala die Strecke von 16 Doppcl-
schwmgungen — gis’ gehört wurde, dann kam eine Lücke, dann
wieder von g bis Galton 10,5. Die Schwerhörigkeit des rechten
Uhres war so hochgradig, dass ein Hinüberhören ausgeschlossen
\v a r.
Demonstration einer 1 abeile, auf welcher in die gesamte Skala
neben der von dem kranken Ohre perzipierten Strecke die Lage der
o\ale und Konsonanten nach B e z o 1 d, sowie des Konsonanten
R nach O. Wolf eingetragen ist.
In die Lücke fällt gerade das nach Bezold für die Sprache
notwendige Gebiet von b — g“, ausserdem die Grundtöne aller Vokale
und Konsonanten ausser R; dementsprechend wurde von dem Pat
auch nur R verstanden.
Dieser F’all beweist somit nicht nur die Richtigkeit von Be-
z o 1 d s und Wolfs Untersuchungen, sondern bestätigt auch B e -
z o 1 d s Behauptung, dass ein Ohr für Sprache taub ist, wenn eine
unbelastete a -Stimmgabel durch Luftleitung nicht mehr gehört wird.
Privatdozent Dr. W a n n e r - München.
Verein der Aerzte in Halle a. S.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 18. Juli 1906.
Vorsitzender: Herr Veit. Schriftführer: Herr Kohlhardt.
Herr Stieda: Ueber Blitzschlag. (Mit Krankenvor¬
stellung.)
Der Vortragende berichtet über einen Fall von Ver¬
letzung durch Blitzschlag, der wegen der mecha¬
nischen Wirkung des Blitzes besonderes Interesse dar-
bietet. Zuvor wird der physikalischen Vorgänge insoweit ge¬
dacht, als es zum Verständnis der Wirkung des Blitzstrahles
auf den menschlichen Körper nötig ist. Es kommen nur die
zickzackförmigen Blitze als die allein zündenden und
zerstörenden in Betracht. In einzelnen Fällen hinterlässt der
Blitz auf dem Wege, den er durch den menschlichen Körper
nimmt, eigenartige Spuren auf der Haut, sogen. Blitz-
figui e n, über die in früherer Zeit ganz phantastische Vor¬
stellungen bestanden (photographisch-kaustische Wirkung des
itzes, Vergleich mit den Lichtenberg sehen Figuren, mit
den elektrischen Hauchbildern u. a. m.). Man hat diese Blitz-
hguren in Qestait der steril- und baumartig verzweigten Linien
wohl als die Spuren der durch den Blitz hervorgerufenen Ver-
sengung der Oberhaut zu betrachten. Irgend ein Zusammen-
liang mit dem Verlauf der Blutgefässe der Haut liegt jeden¬
falls nicht vor.
Es handelte sich in dem beobachteten Falle um einen ldjähr.
der Blltz auf dem Felde beim Jäten traf. Der Knabe
stand mit nach vorn gebeugtem Oberkörper da. Der
Blitz schlug in den Steiss, als den gerade höchsten Punkt, und fuhr
fnmHreChtei!i Beine hinab in die Erde- Am Anus entstand ein Einriss
in der vorderen und hinteren Zirkumferenz und ausserdem eine zir¬
kular herumgehende Abreissung des Afters. Der Verletzte war zu
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1783
Boden geschleudert worden, für kurze Zeit bewusstlos, und von
Nabelhöhe etwa abwärts von seinen Kleidern entblösst. Den oberen
Teil des Hemdes, sowie der Weste und einer gestrickten Jacke hatte
er noch an, ebenso den linken Strumpf und den linken — ebenfalls
zerrissenen — Stiefel. Alle übrigen Kleidungsstücke lagen in einer
Entfernung bis zu 30 Schritt im Umkreise zerfetzt und zerrissen
umher. Die Taschenuhr des Verletzten lag an der Erde, war zum
Teil zertrümmert und im Augenblicke des Blitzschlages stehen ge¬
blieben. Bei der Tags darauf erfolgten Aufnahme in die Klinik zeigte
sich von Nabelhöhe abwärts eine braunrote Verfärbung der Haut
um Leib und Becken herum, ferner ein breiter roter Streifen, der über
die Trochanterengegend hin, mit mehreren seitlichen Ausläufern, an
der Aussen- und Hinterseite des rechten Oberschenkels bis in die
Kniekehle verlief. Die Haut des Unterschenkels war fast völlig rot
bis braunrot, und etwas nach vorn vom äusseren Knöchel befand sich
ein ca. talergrosser, tiefer, runder Hautdefekt, in dessen Grund die
Sehnen der Extensoren sichtbar waren. Die Ränder dieses Loches
waren schwärzlich. Die Verbrennung der Haut war zumeist I. und
II. Grades, aber ohne Blasenbildung. Dort, wo die Kleidungsstücke
fester der Haut angelegen hatten, und die Leitung in der Haut er¬
schwert war, (am Trochanter majör,. am Fibulaköpfchen, auf dem
Fussrücken) war die Verbrennung am intensivsten.
Zudem bestand eine deutlich ausgesprochene Lähmung im Ge¬
biete des Nervus peroneus, die allmählich ohne besondere Therapie
zurückging. Die Wunden sind inzwischen ebenfalls geheilt, so dass
der Knabe jetzt wieder vollständig gesund sich vorstellen kann.
Auch in diesem Falle konnte man die 3 Hauptwir¬
kungen des Blitzes deutlich erkennen. Die mecha-
nisch-zerreissende war jedenfalls eine auffallend
grosse. Die Kleidungsstücke waren dem Knaben vom Leibe
gerissen und weit fortgeschleudert, der After war aus seiner
Umgebung gelöst (voraussichtlich ist hier infolge des in der
Rima ani vorhandenen Schweisses ein besonders günstiges Feld
für die Leitung gegeben gewesen), und die Absprungstelle des
Blitzes dokumentierte sich durch einen tiefgreifenden Substanz¬
verlust am Fussrücken.
Die elektrisch erschütternde Wirkung be¬
stand in einer verhältnismässig rasch vorübergehenden Be¬
täubung und in einer vollständigen Amnesie über den Vorgang
während des Blitzschlages. Störungen der Nervenfunktionen,
die anfangs in fast allen Fällen vorhanden sind, zeigten sich nur
in einer Lähmung des Peroneusgebietes. Die Prognose solcher
Paresen oder Paralysen ist fast stets eine günstige.
Die dritte Wirkung, die verbrennende, liess sich in
allen Graden erkennen.
Der Vortragende referiert noch aus der nicht allzu um¬
fangreichen Literatur über einige Sektionsbefunde bei Blitz¬
schlag und gibt zum Schluss einige Bemerkungen über die
Mortalität bei Blitzschlagverletzung überhaupt. Wenn jemand
nicht sofort vom Blitz getötet wird, so scheint die mehr weniger
baldige Wiederherstellung die Regel zu sein.
Diskussion: Herr N e b e 1 1 h a u weist auf die Bedeutung
der Blitzfiguren bei Keraunoneurosen hin, wenn es sich um die Ent¬
scheidung der Frage handelt, ob der menschliche Körper direkt vom
Blitz getroffen wurde, oder ob eine indirekte Wirkung des Blitzes
vorlag.
Die Blitzfiguren sind in Unfallsfragen, zumal wenn keine Zeugen
vorhanden sind, ein sehr wichtiges im positiven Sinne zu verwerten¬
des Symptom. Fehlen aber Blitzfiguren und ist nur das Bild der trau¬
matischen Neurose vorhanden, dessen Entstehung von Patienten auf
Blitzschlag zurückgeführt wird, so ist dieser Zusammenhang unter
Umständen nicht leicht festzustellen.
Folgender Fall kam kürzlich in der Poliklinik zur Beurteilung:
Am 16. Mai stellte sich der Arbeiter N. vor mit der Behauptung,
er sei am 12. Mai vom Blitz getroffen, als er, mit der rechten Hand
den eisernen Griff einer Winde haltend, damit beschäftigt war, Ton
aus einer Grube hochzuwinden. Er habe einen Ruck im rechten
Arm verspürt und dann 10 Minuten das Bewusstsein verloren. Der
Arm sei gelähmt worden und es haben sich Schmerzen und Taubheit
eingestellt. Der Schlaf sei in der ersten Nacht tief und anhaltend
gewesen, später unruhig. Patient zeigte auf dem behaarten Kopf 10
bis 12 verschiedene grosse kahle Stellen, welche seiner Angabe nach
durch den Blitzschlag entstanden seien; sonst keinerlei Veränderung
auf der Haut. Der rechte Arm war ad motum et sensum paretisch.
Die Sensibilitätsstörung, für alle Qualitäten gleichmässig vorhanden,
nahm bis zum 18. Mai an Ausdehnung zu, sie erstreckte sich nach
oben bis an den Hals, nach unten bis an den Rippenbogen median-
wärts vorn bis an den rechten Sternalrand, hinten bis zur Mittellinie.
Trigeminus radialis und Ulnaris auf Druck schmerzhaft, ebenso Ge¬
lenke und Muskeln bei Bewegungen. Elektrische Erregbarkeit ohne
Störung. Stimme schwach, Stimmung deprimiert. Der Patient bot
also das Bild der traumatischen Neurose.
Die Vernehmung von Zeugen ergab, dass tatsächlich ein sehi
heftiger Blitz und Donnerschlag erfolgt war, so dass auch die Um¬
gebung des Patienten sehr erschreckt wurde und den Eindruck ge¬
wonnen hatte, es habe eingeschlagen.
Die Besinnung hatte Patient nicht verloren; schon in der ersten
Nacht nach dem Gewitter war grosse Unruhe bei ihm eingetreten.
Die Alopezia war schon vor dem Unfallstag vorhanden.
In dem vorliegenden Falle ist also direkte Blitzeinwirkung weder
durch Zeugen, noch durch Blitzfiguren erwiesen. Möglicherweise
hatte der Blitz die Winde getroffen und damit auch den Patienten
erschüttert, oder aber es hatte der Patient, durch den Blitzschlag
erschrocken, eine ungeschickte Bewegung mit dem rechten Arm aus¬
geführt, die zu dem Gefühl eines erhaltenen Schlages und dann zur
beschriebenen Neurose führte. (Schockwirkung.)
Diese Annahme einer indirekten Blitzwirkung bei mangelnden
Blitzfiguren erklärt in befriedigender Weise das vorliegende Krank¬
heitsbild. _ , .
In anderen Fällen sind keine Anhaltspunkte für die Berechtigung
einer solchen Auffassung vorhanden, und es bleibt die Frage, ob
direkte oder indirekte Blitzwirkung vorliegt, offen.
Was die Alopecia areata anbetrifft, so scheint es von vornherein
nicht ganz ausgeschlossen, dass sie nach Blitzschlag eintreten kann.
Stricker (Virchows Archiv 1861) erwähnt eine solche Be¬
obachtung; unser Fall ist aber nach den Aussagen der Zeugen nicht
beweiskräftig.
Herr Sobernheim: Neuere Ergebnisse der Immunitäts-
forschung.
Vortr. weist zunächst darauf hin, dass die Immunitäts¬
reaktion des Organismus ein physiologischer Vorgang ist, den
man nach Einverleibung der verschiedenartigsten gelösten Sub¬
stanzen (Eiweissstoffe, Fermente etc.) oder geformter zeitiger
Elemente (Blutkörperchen, Epithelzellen, Spermatozoen usw.)
beobachten kann. Die Immunität gegen Bakterien und Bak¬
teriengifte stellt nur einen Spezialfall dar. Kurze Besprechung
des Begriffes der Antigene und Antikörper, im besonderen Er¬
läuterung der Präzipitation und Hämolyse. Vortr. geht als¬
dann näher auf das Phänomen der Komplementablenkung oder
Komplementbindung nach Gengou-Moreschi ein und
hebt namentlich dessen diagnostische Bedeutung für viele Fälle
hervor. Demonstration. Zum Schlüsse wird die Lehre
Bails von den Aggressinen nach ihren wichtigsten Gesichts¬
punkten kurz erörtert. Tatsache ist, dass die Untersuchungen
B.s und seiner Mitarbeiter eine Reihe wichtiger und neuer Be¬
funde gebracht haben, über deren Deutung aber erst die weitere
Forschung ein abschliessendes Urteil gestatten dürfte.
Naturhistorisch-Medizinischer Verein Heidelberg.
(Medizinische Sektion.)
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 12. Juni 1906.
Herr Lewisohn: Zur Herstellung plastisch wirkender
Röntgenogramme. (cf. Deutsche med. Wochenschr., 1906,
No. 26.)
Herr Schwalbe: Entwicklungsstörungen im Zentral¬
nervensystem bei Spina bifida lumbosacralis. (Erscheint aus¬
führlich in Zieglers Beiträge.)
Diskussion: Herren v. Hippel, Völcker, Nissl,
Schwalbe.
Herr Looser: I. Ueber Spätrachitis und Osteomalazie.
II. Ueber Osteomalazie.
I Mikroskopische Demonstration eines Falles von Spätrachitis
bei einem 15 jährigen Knaben, bei dem sich die Krankheit anscheinend
aus früher Jugend bis in das Pubertätsalter fortgeschleppt hat und
hier eine schwere Exazerbation erleidet. Neben Verbiegungen dei
langen Knochen und der Wirbelsäule, Auftreibungen der Epiphysen
und einer hochgradigen Muskelunruhe und Muskelerregbarkeit^ ent¬
wickelt sich eine hochgradige Knochenbrüchigkeit. (Später Spon¬
tanheilung ) Ein auf dex Höhe der Erkrankung amputiertes Bein zeigt
eine extreme Knochenatrophie, überall ziemlich schmale osteoide
Säume (10— 40 /Q mit reichlichem Osteoblastenbesatz und keine ver¬
mehrte Resorption. Das untere Tibia- und Fibulaende zeigt eine
tumorartige Knorpelwucherung an Stelle der Epiphysenscheibe und
einen hochgradigen Schwund der vorläufigen Verkalkungszone, die
Epiphysenfuge eines Metatarsalknochens, leichtere rachitische Ver¬
änderungen. Diese Befunde weichen in manchem vom Bilde der
infantilen Rachitis ab, zeigen aber klinisch und grobanatomisch eine
auffallende Uebereinstimmung mit dem Bilde der Osteomalazie. Die
bisher als Spätrachitis und juvenile Osteomalazie beschriebenen halle
bilden klinisch und anatomisch eine einheitliche, untrennbare KranK-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT
No. 36.
Jieitsgruppe, in der die rachitische Knorpelstörung und die Knochen¬
atrophie niemals fehlt, ln den ganz vereinzelten Mitteilungen von
anscheinend hierher gehörenden Erkrankungen ohne Knorpelverände-
rungen [Axhausen handelt es sich um Verwechslung mit einem
anderen Krankheitshilde, der Osteogenesis imperfecta tarda lOsteo-
psathrosis]).
II. Anatomische Untersuchungen an mehreren Fällen von
Osteomalazie führen L. zu einer vollen Bestätigung der von
C o h n h e i m geäusserten und von Pom m e r begründeten An¬
sicht, dass eine Entkalkung bei der Osteomalazie nicht anzu¬
nehmen, dass das kalklose Gewebe vielmehr neugebildetes
sei. Danach sind Rachitis und Osteomalazie identische oder
zum mindesten sehr nahe verwandte Affektionen. Nähere Be¬
gründung dieser Ansicht (mit Demonstrationen) und Kritik
der Entkalkungstheorie (zu einem kurzen Referate ungeeignet).
Es ist ein scharfer Unterschied zwischen dem lamellösen
und dem geflechtsartigen Knochen zu machen, da diese unter
ganz verschiedenen Bedingungen entstehen. Als die Haupt¬
vorgänge bei der rachitischen und osteomalazischen Knochen-
störung sind anzusehen: 1. eine kalklose und zugleich ver-
minderte Apposition von lamellösem Knochen (osteoide Säume
und Atrophie des alten Knochens bei Rachitis und Osteo¬
malazie). Die Atrophie des Knochens beruht nicht auf einer
vermehrten Resorption, sondern (wie bei der einfachen Kno¬
chenatrophie) auf einem Missverhältnis zwischen der vermin¬
derten Apposition und der annähernd normalen lakunären Re¬
sorption; 2. eine als kompensatorisch aufzufassende Bildung
von getlechtartigem Knochen im wuchernden Periost und im
ribrosen Mark (Osteophyten und myelogene Bälkchen). Diese
Art der Knochenbildung, die namentlich an allen mechanisch
gere'zten Stellen auftritt, ist bei der Rachitis stark, bei der
Spatrachitis und Osteomalazie mässig, bei der senilen Osteo¬
malazie fehlt sie fast ganz. An den Stellen, wo Infraktionen
und einfache Verbiegungen stattfinden, schwindet der alte
Knochen und es tritt an seine Stelle, oft unter Verminderung
seines Volumens, ein feinporiges Netzwerk von geflechtartigem
Bau Erst nach Aufhören des Biegungsreizes tritt wieder la¬
meloser Knochen auf (Biegungsstellen und Infraktionen bei
Rachitis und Osteomalazie, Kraniotabes). Die Hinweise auf
die Identität von Rachitis und Osteomalazie, die sich schon
aus der Übereinstimmung der histologischen Vorgänge ergibt
sind sehr zahlreich (klinische Beobachtungen, Tierpatho-
ogie etc.). Als besonders bezeichnend muss aber der Umstand
angesehen werden, dass die Spätrachitis sowohl klinisch wie
auch anatomisch ganz unmerklich vom Bilde der Rachitis zum
Bilde der Osteomalazie hinüberleitet, also ein mittleres Stadium
der beiden Affektionen darstellt und sich anders als auf Grund
einer umtarischen Auffassung der beiden Affektionen in be¬
friedigender Weise nicht erklären lässt.
Diskussion: Herr Hoff mann stimmt den Ausführungen
des Vortragenden über die Entstehung des osteoiden Gewebes durch
kalklose Apposition bei. In betreff der Identifizierung von Rachitis
und Osteomalazie halt er die Folgerungen von L o o s e r vorläufig
noch nicht für beweisend,^ möchte vielmehr besonderen Wert auf
die \ erscfnedenheit der Eisenablagerung bei Rachitis und Osteo-
malazie legen. Wahrend bei Osteomalazie eine eisenhaltige Grenz¬
schicht zwischen kalkhaltiger und kalkloser Zone sich befindet fehlt
eme solche konstant bei florider Rachitis (Untersuchungen von
. c h m o i 1, (j i e r k e und Spin tor). Durch diesen Befund wird
ni-m sUh Cpr^tdenihf ]ti dCS Elsenstof£wechsels festgestellt, mit welchem
,s, t UT* abfindei? musste, ehe man eine Identifizierung beider
Krankheitsbilder vornehmen dürfte.
Ein 1 i sch ler: Das Urobilin und seine klinische Be¬
deutung.
Nach Erörterung der allgemeinen Eigenschaften, Nach¬
weismethoden und des Vorkommens des Urobilins und Uro-
bilinogens wird der Symptomenkomplex der Urobilinurie bei
Kiankheiten besprochen. Diese Beobachtungen führten zu ver¬
schiedenen I heorien der Genese des Harnurobilins. Unter
diesen stellt die von Fr. Müller durch entsprechende Ex-
pei imente gesicherte intraabdominale Theorie das einzig Tat¬
sächliche dar. Aber auch sie reicht nicht zu einer vollkom¬
menen Erklärung der auftretenden Urobilinurien aus.
Aus Beobachtungen und Ueberlegungen resultiert die
Ei age, ob nicht unter gewissen Umständen eine extraintestinale
Genese des Urobilins anzunehmen sei. Als Ort dafür kommt am
meisten die Leber in Betracht.
Unter gewissen Kautelen gelingt es nun bei Tieren mit
kompletter Gallenfistel durch Vergiftung mit Phosphor, Amyl¬
alkohol und Tofuilendiamin ein Auftreten von Urobilin und
Urobilinogen in der Galle konstatieren zu können, das nicht
intestinalen Ursprungs ist. Zugleich tritt auf der Höhe der Ver¬
giftung Urobilin im Harn in Spuren auf.
Damit ist festgestellt, dass die Leber unter gewissen Be¬
dingungen der Ursprungsort einer Urobilinurie werden kann.
Aber auch sonst ganz allgemein ist die Leber verantwort¬
lich zu machen für auftretende Urobilinurie. Normalerweise
sammelt die Leber das mit dem Blutstrom zur Galle gelangende
Urobilin, das aus dem Darm stammt, und scheidet es mit der
Galle wieder dorthin aus. Wird der Leberfilter für Urobilin
aber durchlässig, was offenbar durch sehr viele Umstände ver¬
anlasst werden kann, so tritt das Urobilin in die allgemeine
Blutbahn über und wird mit dem Harn ausgeschieden. Denn
bringt man I ieren subkutan oder intraperitoneal Urobilin bei,
so tritt Urobilinurie auf. Es geht daraus hervor, dass eine
Insuffizienz des Mechanismus in der Leber, der unter nor¬
malen Umständen das Urobilin sammelt, zur Urobilinurie
führen muss.
Experimentell lässt sich der Beweis an Tieren mit kom¬
pletter Gallenfistel erbringen, deren Lebern schon so schwer
geschädigt sind, dass sie auf Intoxikationen mit Phosphor und
Amylalkohol mit Urobilinproduktion in der Galle antworten.
Führt man diesen Tieren Ochsengalle in den Magen ein, so
tritt Urobilin in Spuren im Harn auf, lässt man sie ihre eigene
Galle auflecken, so bekommen sie ebenfalls Urobilinurie, wenn
auch sehr schwach. Erzeugt man bei diesen Tieren eine ex¬
perimentelle Hämoglobinämie, so tritt ebenfalls in der vorher
urobilinfreien Galle Urobilin auf, mit anderen Worten, die Leber
ist nicht mehr imstande, die normale Muttersubstanz des Bili¬
rubins, das Hämoglobin, richtig zu verarbeiten und bildet statt
dessen Urobilin.
Unsere klinischen Anschauungen werden durch diese An¬
sicht wesentlich berührt.
D 1 s xn s s i o n: Herr Ludwig Arnsperger weist auf die
grosse Bedeutung hin, die die Ausführungen des Vortragenden auch
rur die Chirurgie der Leber und Gallenwege haben können. Einer¬
seits ist für die I rognose operativer Eingriffe am Gallensystem, be¬
sonders bei Ikterus die Kenntnis des funktionellen Zustandes der
Leber sehr wichtig; andererseits kann der Urobilinnachweis bei Fällen
von Ikterus ohne mechanisches Hindernis die Diagnose auf funk¬
tionellen Ikterus infolge von Lebererkrankung sichern und damit eine
erfolglose und sogar schädliche Operation verhüten.
Physiologischer Verein in Kiel.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 26. Februar 1906.
Heu Raecke: Psychische Störungen bei der multiplen
Sklerose.
Die multiple Sklerose ist eine organische Zerebrospinal-
erkrankung, die bei geeignetem Sitz und Ausdehnung der
Grosshirnveränderungen, ebensowohl wie die progressive
I aialyse, neben allmählich fortschreitender Verblödung ein
wechselvolles psychisches Krankheitsbild hervorbringen kann.
Während es sich bei den psychischen Störungen des Initial¬
stadiums in erster Linie um depressive und maniakalische
Krankheitsbilder, zum Teil unter Beimischung deliranter Epi-
soden mit Verwirrtheit, Sinnestäuschungen und nur vereinzel¬
ten Wahnideen handelt, steht in späteren Stadien der Krankheit
geiade die Wahnbildung im Vordergründe, und es kann zu ganz
masslosen Grössenideen, wie bei der Paralyse kommen,
charakteristisch ist aber die Passivität solcher expansiven
Vorstellungen.
Sitzung vom 7. Mai 1906.
Herr Heermann: Ueber einen Fall von Rhinosklerom.
Hu ! Reiner Müller: Zur Aetiologie der Geflügelcholera.
Mehrere verschiedene Krankheiten sind als „Geflügel¬
diphtherie beschrieben worden. Bei der gewöhnlichsten der¬
selben, der Diphtherie der Hühner, war bis jetzt die Aetiologie
nicht aufgeklart. Vortragender fand in allen diphtherischen
Belagen der untersuchten Tiere, die aus 3 Epizootien stammten
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1785
ein Stäbchen, welches morphologisch dem Erreger der mensch¬
lichen Diphtherie nahesteht; es fand sich nie bei gesunden oder
anders erkrankten Tieren. Es gelang mit Reinkulturen das
typische Krankheitsbild zu erzeugen. Dieser „Hühnerdiph¬
theriebazillus“ ist kleiner als der Diphtheriebazillus. Zur Iso¬
lierung dienten Blutagarplatten, wo er durch seine Hofbildung
auffällt. Auf Agar wächst er oberflächlich nicht, wohl aber
in der Tiefe; hier zeigt er, z. B. in Schüttelröhrchen, die neu¬
artige Erscheinung, dass er nur in 2 — 3 durch kolonienfreie
Intervalle getrennten Schichten wächst, also nur bei bestimm¬
ten verschiedenen Sauerstoffkonzentrationen. In Symbiose
mit gewissen anderen Keimen vermag das Stäbchen auch in
Agarplatten zu gedeihen; Kulturfiltrate solcher Keime er¬
möglichen dies ebenfalls.
Vortr. demonstriert ferner ein Präparat vom Mandelbelage eines
8 jährigen Mädchens, dessen Angina augenscheinlich durch den Ne¬
krosebazillus (Erreger der Kälberdiphtherie) hervorgerufen war, der
bisweilen sekundär auch bei der Qefliigeldiphtherie vorkommt. (Er¬
scheint ausführlich im Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 41.)
Sitzung vom 21. Mai 1906.
Herr Külbs: Experimentelles über Herzmuskel und
Arbeit. (Erscheint im Archiv f. experiment. Pathol. u. Phar-
makol.)
Herr Piper: Ueber das Hörvermögen der Fische.
Die Frage, ob Fische vermittels ihres Labyrinthes den
Schall zu perzipieren vermögen, hat ihr besonderes Interesse in
demUmstand, dass imLabyrinth dieserTiere eineSchneckevoll-
ständig fehlt und als Nervenendapparate nur im Sacculus zwei,
im Ventriculus eine mit Otholithen belastete Macula acustica,
und ferner in den drei Ampullen der halbzirkelförmigen Kanäle
die Cristae acusticae vorhanden sind. Es könnten also nur
diese Organe im Labyrinth für die Schallperzeption in Betracht
kommen, Nervenendapparate also, denen bekanntlich von
vielen Seiten jede akustische Funktion abgesprochen wird und
welche gemäss der von Mach und Breuer ausgebauten
Theorie nur dem Raumsinne dienen sollen.
Z e n n e c k zeigte nun, dass Fische sehr prompt auf Schall
reagieren und Parker bewies, dass die Schallperzeption
durch das Labyrinth geschehen müsse, denn bestimmte
typische Schallreflexe, Bewegungen der Kiemen und Flossen
blieben nach Ausschaltung des Labyrinthes aus, waren aber
erhalten, wenn das Labyrinth intakt gelassen wurde, die Haut¬
sinnesorgane aber durch Resektion der zugehörigen Nerven
ausser Funktion gesetzt wurden.
Das Hörvermögen der Fische dürfte nur dadurch sicher¬
gestellt sein, dass sich am Labyrinth bei Schallreizung objektive
funktionelle Veränderungen direkt nachweisen lassen. Ich
konnte nämlich am Gehörorgan des Hechtes bei Schallreizung
Aktionsströme, also Veränderungen des elektromotorischen
Verhaltens des Organes zeigen, welche sich unter die allgemein
gültigen Regeln, die über derartige funktionelle Zustandsände-
rungen lebender Gewebe bekannt sind, ohne Schwierigkeit
unterordnen lassen.
Die Versuche sind folgende: Das Tier wurde dekapitiert, der Kopf
median durchschnitten und das Gehirn herausgenominen. Dann
sieht man den bei Fischen sehr grossen Otholithen des Sakkulus, der
nur von der Schädelhöhle und durch dünne durchsichtige Membranen
abgeschlossen ist, vorliegen. Das Präparat wurde auf einem Rahmen
gelagert, der in ein grosses Wasserbassin soweit eingetaucht wurde,
dass die nach unten gekehrte Seitenfläche des Kopfes im Wasser war,
der übrige Teil des Präparates, insbesondere die Schädelinnenfläche
sich über Wasser befand. Nachdem mit einer Elektrode vom Otho¬
lithen und mit der zweiten von einer indifferenten Stelle in der Um¬
gebung des Gehörorganes zu einem Deprez-d’Arsonval-Galvanometer
abgeleitet war, wurde durch verschiedenartige Schallerzeugung, u. a.
durch Anblasen unter Wasser tönender Membranpfeifen, der Reiz dem
Labyrinth zugeleitet.
Nach Anlegung der Elektroden wurde zunächst ein Ruhestrom
konstatiert, welcher in der Norm im Galvanometerstromkreis von der
„indifferenten Stelle“ zum Otholithen floss; letzterer war also elektro-
negativ. Nur wenn die eine Elektrode am frischen Querschnitt des
Nervus acusticus, die andere auf dem Otholithen lag, zeigte sich der
Otholith positiv zur anderen Ableitungsstelle. Das negative Potential
am Akustikusquerschnitt, die typische Demarkationserscheinung, nahm
indessen schnell ab, und wurde dann positiv, sodass alsbald der Ruhe¬
strom in typischer Richtung, also zum nunmehr negativ ge¬
wordenen Potential des Otholithen hinfloss.
Bei Schallreizung, Ertönen der Membranpfeifen, leises Klopfen
an die Glaswände des Bassins etc. trat eine positive Schwankung
des normal gerichteten Ruhestromes auf, die bei Aufhören des Reizes
wieder zurückging. War bei Anlegung einer Elektrode an den
frischen Akustikusquerschnitt umgekehrte Ruhestromrichtung vor¬
handen, so zeigte sich der Akustikusstrom bei Reizung in Form einer
negativen Schwankung. Ist also am Otholithen das negative Po¬
tential, so wird dieses bei Reizung grösser; ist der Otholith positiv,
so nimmt die Positivität bei Reizung ab. Diese auch am Auge kon¬
statierte Erscheinung, wurde von Kühne als „Gesetz der konstanten
Spannungsänderung“ bezeichnet.
Schalllose Erschütterungen des Präparates durch Umriihren des
Wassers, ruckweises Durchbiegen der Blechunterlage etc. ist elektro¬
motorisch unwirksam. Schallreizung ist ohne elektromotorischen
Erfolg, wenn sich das Gehörorgan nicht in der intrapolaren Strecke
befindet.
Diese leicht nachzumachenden Versuche beweisen, dass
funktionelle Veränderungen, Erregung, in den Ampullen- oder
Otholithen-Endapparaten des Nervus octavus auf Schallreizung
bei den Fischen ablaufen ; H e n s e n und D e e t h j e n zeigten,
dass bei Schallapplikation auf das Trommelfell die Perilymphe
im knöchernen Labyrinth, insbesondere in den halbinselförmi¬
gen Kanälen bei Vögeln und Säugern kräftig strömt und in mole¬
kulare Schwingungen gerät. Es treten also gerade die Zu¬
standsänderungen bei Schallreizung auf, welche nach der
Mach-Breuer sehen Theorie bei Kopfbewegungen sich
einstellen und Raumsinnempfindungen über Haltung und Liegen
des Kopfes ergänzen sollten. Bei Fischen traten die Raum¬
sinnstörungen nach Labyrinthexstirpation oder Verletzung in
ganz auffallender Intensität auf. Wie die nachgewiesene Schall¬
perzeption in den Otholithen- oder Ammillenendorganen mit
den ebenso sicher erwiesenen Raumsinnfunktionen dieser Ge¬
bilde vereinbart, und wie diese zwei adäquaten Reize nnd zwei
„spezifischen Sinnesenergien“ eines Sinnes theoretisch aufzu¬
fassen sind, ist eine schwierige und vorläufig nicht beantwort¬
bare Frage; jedenfalls scheinen mir in den vorliegenden Tat¬
sachen über die Art der Schadwirkung im inneren Ohr erheb¬
liche Schwierigkeiten für die Mach-Breuer sehe Theorie
der Labyrinthfunktion begründet zu liegen.
Allgemeiner ärztlicher Verein zu Köln.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 2. Juli 1906.
Vorsitzender: Herr Böse.
Schriftführer; Herr War bürg.
Herr D r e y e r demonstriert Spirochäten im Schnitt zweier
Ulcera dura.
Das eine Präparat ist nach der alten Levaditimethode gefärbt,
das andere nach der neueren Pvridinmethode. Besonders dieses
zeigt die Spirochäten in grosser Menge und zwar hauptsächlich in
den oberen Kutislagen in der Umrandung des eigentlichen Plasmoms,
sowie in den Venenwänden. Durchschnittlich sind die Spirochäten
nicht in solcher Anzahl wie in den früher von anderer Seite demon¬
strierten Organschnitten der hereditären Lues vorhanden, die als
akute Spirillose mit Recht bezeichnet ist. Die grosse Bedeutung der
meist leicht im Schanker auffindbaren Spirochäten für die Früh¬
diagnose macht sich in der Praxis geltend und hat eine prophylak¬
tische Wirkung. Im Sekundärstadium kann der Nachweis bei
schwach ausgebildeten Svmptomen (vereinzelte schlecht ausgebildete
Papeln), bei differentielldiagnostisch unsicheren Fällen (namentlich
Schleimhautaffektionen) manches Mal. wie Vortragender in der Pra¬
xis erfahren hat, aufklärend wirken. Die Fragen der Abortivbehand¬
lung, der Dauer der Kontagiosität, der Kontagiosität der einzelnen
Erscheinungen und Sekrete und viele andere Fragen yvet'den nun¬
mehr eine leichtere Erledigung finden oder haben sie bereits ge¬
funden.
Herr Funck: Ueber Leukämie und Wirkung der Rönt¬
genstrahlen.
Nach einer Uebersicht über den Einfluss der Röntgen¬
strahlen auf die gesunde und kranke Zelle im allgemeinen, so¬
wie über ihre elektive Wirkungen bespricht Vortragender die
verschiedenen Theorien, welche zur Erklärung der Besserung
Leukämischer durch Röntgenisierung aufgestellt worden sind.
Die Verminderung der weissen Blutzellen im Blut bei Rönt¬
genisierung der Leukämie ist weder eine Folge ihrer Zerstö¬
rung im Blut, noch der Bildung eines Röntgentoxins, noch eine
bakterizide Wirkung.
Die Ursache der qualitativen und quanti¬
tativen Veränderung im Blutbilde liegt in
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
d e ni häinatopoetischen Apparate selbst und
i s t a 1 s e i n e ni a I i g n e N e u b i 1 d u n g i n d e n h ä m a to-
poetischen Organen zu deuten. Wie an anderen
bösartig erkrankten Zellkomplexen beobachten wir bei der
Leukämie eine zwecklose Massenproduktion un¬
fertigen, oft undifferenzierten Zellmaterials.
Zum Schlüsse erörtert Vortragender die Frage, in welcher
Beziehung Myelomatose, Lymphosarkome, Chlorome, Leu¬
kämie, Pseudoleukämie und perniziöse Anämie zueinander
stehen, ihre scheinbar verwandte Histiogenese, die oft undeut¬
lichen und ungedeuteten, oft erwiesenen (z. B. von Pseudo¬
leukämie in Lymphosarkom) Uebergänge einer dieser Krank¬
heiten in die andere und weist auf die bei Pseudole'ukämie so
oft übersehene prozentuale Lymphozytenvermehrung im
Blut hin.
Herr Ingenieur Berger (als Gast) bespricht die neuzeitliche
Entwicklung der Röntgentechnik und demonstriert das Verfahren zur
Herstellung plastischer Röntgenphotographien.
Gesellschaft für Morphologie und Physiologie in
München.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 17. Juli 1906.
Herr Eugen Neresheimer: Der Zeugungskreis von
Opalina.
M. H. ! Unter den als Ziliophoren zusammengefassten
Protozoen nahmen von jeher die Opalinen eine Sonderstellung
ein, sowohl auf Grund anatomischer Merkmale — ich erinnere
an ihre bläschenförmigen Kerne, wie wir sie sonst meist bei
den Plasmodromen zu finden gewohnt sind, an das Fehlen
eines Zytostoms und einer Zytopyge, sowie einer kontraktilen
Vakuole, vor allen Dingen aber auch an das Fehlen eines Mikro¬
nukleus — , als auch wegen der merkwürdigen Fortpflanzungs¬
erscheinungen. die hauptsächlich durch die schönen Unter¬
suchungen Zellers 1877, jedoch leider nur zum Teil, bekannt
geworden sind. Schon 1902 hat D o f 1 e i n darauf hingewiesen,
dass diese Abweichungen es zweifelhaft erscheinen lassen, ob
die Opalinen wirkliche Infusorien sind, und hat auch nach¬
drücklich darauf aufmerksam gemacht, dass das Merkmal, dem
die Opaliniden ihre Einordnung in diese Gruppe verdanken —
die Zilien — , wenn es ohne die anderen Merkmale anftritt,
keinen entscheidenden Wert beanspruchen kann.
Unter diesen Umständen und bei der grossen Bedeutung,
die die Fortpflanzungsweise neuerlich für die Systematik der
Protozoen gewonnen hat, schien es angezeigt, diese Verhält¬
nisse wieder zu untersuchen.
Gestatten Sie mir, m. H., zunächst einen kurzen Rückblick
auf das, was bisher über diesen Gegenstand bekannt geworden
ist. Die ersten Nachrichten verdanken wir Engelmann
(1876) über O. dimidiata aus Rana Esculenta. Er wies nach,
dass die Infektion an Kaulquappen vor sich geht. Im Mast¬
darm junger Froschlarven fand er kleine, runde, einkernige
Zysten, aus denen ein bewimpertes, einkerniges Tierchen aus¬
schlüpfte, das unter wiederholten Kernteilungen rasch zur
typischen Opalina heranwuchs.
An diese Entdeckung knüpfte die schon erwähnte muster¬
gültige Untersuchung Zellers an, der zuerst Opalina ranarum
aus Rana temporaria, dann aber alle anderen bekannten
Arten aus unseren einheimischen Batrachiern in Betracht zog.
Zeller konstatierte, dass die Zysten im Mastdarm der alten
Frösche zur Laichzeit entstehen. Die grossen Opalinen teilen
sich zu dieser Zeit in rascher Aufeinanderfolge vielemale hinter¬
einander, und zwar in ganz merkwürdiger Weise. Die erste
1 eihing ist immer eine Schrägteilung (Längsteilung). Während
nun das aus der hinteren Hälfte entstandene Individuum sich
wieder ebenso teilt, teilt sich das vordere quer. Von den
hieraus entstandenen I eilstücken spaltet sich wiederum das
hintere längs, das vordere quer, und so geht der Prozess
weiter, bis sehr kleine, etwa 2 — 10 kernige Individuen ent¬
stehen, die sich nunmehr enzystieren. Die Zysten gelangen mit
dem Kot ins Freie, werden von den jungen Kaulquappen ge¬
fressen, die Tiere schlüpfen aus und entwickeln sich hier wieder
zu jungen Opalinen. Soviel erkannte Zeller. Aber eine-
Lücke blieb — die Zysten im Froschdarm waren vielkernig,
die im Kaulquappendarm, aus denen die jungen Opalinen aus-
schlüpfen, waren nach E n g e 1 m a n n einkernig. Dies be¬
stätigte auch Zeller, ohne aber sagen zu können, wie diese
Umwandlung vor sich ging. Er fand allerdings in der Kaul¬
quappe einigemale Zysten mit undeutlichen Kernen, einige
auch, in denen gar keine Kerne zu finden waren, und neigte
daher zu der Annahme einer Kernverschmelzung.
Es liegt noch eine ausserordentlich kurze Mitteilung von
T ö n n i g e s (1899) vor, die nur besagt, dass in der Zyste die
Kerne „unter sehr bemerkenswerten Erscheinungen“ ver¬
schmelzen, und dass die jungen einkernigen Tiere nach dem
Ausschlüpfen konjugieren, hierauf sich lebhaft vermehren und
heranwachsen. Schliesslich erwähnt noch D o f 1 e i n in seinem
Protozoenwerk (1901) eine — wohl mündliche — Mitteilung
Przesmickis, nach der sich die mehrkernigen Tiere in
der Zyste teilen sollen.
Soviel war mir über den Gegenstand bekannt ge¬
worden, als ich im Frühjahr vorigen Jahres meine Unter¬
suchungen an 0. ranarum begann. Den von Zeller ge¬
schilderten Zerfall in viele kleine wenigkernige Individuen
kann ich bestätigen. Jedoch zeigten mir die von Zeller noch
nicht angewendeten Färbungsmethoden noch einen weiteren
wichtigen Umstand. Während des ganzen Sommers, Herbstes
und Winters findet man die vielen Kerne stets äusserst schwach
färbbar, fast chromatinfrei. Sie teilen sich durch eine primi¬
tive Mitose, wobei 12 Chromosome auftreten. Der erste Punkt
ändert sich zu Beginn der Fortpflanzungszeit. Die Kerne
werden nun stärker färbbar, schliesslich bei Boraxkarmin¬
färbung intensiv rot gefärbt, und stossen nun grosse
Klumpen chromatischer Substanz ins Plasma aus. Von diesen
Chromidien geht ein Teil unter Pigmentbildung zugrunde, der
Rest verteilt sich in feinen Körnchen durch das ganze Ento-
plasma. Die Kerne sind nun wieder ganz blass geworden, sie
teilen sich noch zeitweise wie vorher, werden aber während
der folgenden Zellteilungen immer blasser und sind schliesslich
ganz verschwunden. Ein geringer Prozentsatz derselben hat
den ganzen Prozess nicht mitgemacht, verschwindet aber
ebenso wie die übrigen. In den inzwischen durch die be¬
ständigen Teilungen viel kleiner gewordenen Tieren bilden
sich nun aber aus den fein verteilten Chromidien kleine
Klumpen, die sich abrunden, eine Kernmembran erzeugen und
als typische kleine stark färbbare Kerne neben den zu Grunde
gehenden alten Kernen liegen. Sie wachsen rasch etwa zur
halben Grösse der alten Kerne heran und beginnen sich lebhaft
zu vermehren, und zwar gleichfalls nach einer Art primitiver
Mitose ohne Zentrosomen, mit wahrscheinlich 24 Chro¬
mosomen.
Schliesslich finden wir in den kleinen, zur Enzystierung
fertigen Tieren 2—10 solcher Kerne, die alten sind nun ver¬
schwunden. Ich schicke gleich voraus, dass diese neuen Kerne
die Geschlechtskerne sind; die Chromidien waren also Ge-
schlechtschromiden, Sporetien (Goldschmidt 1904). In
diesen Kernen lagert sich der grösste Teil nun in Form zweier
charakteristischer Kappen dicht an die Kernmembran an,
worauf bald eine dieser Kalotten als ein stark färbbares
Kügelchen ins Plasma ausgestossen wird,1) wo es verschwin¬
det. Nun hören die Kernteilungen auf, das Tierchen enzystiert
sich, und die Zyste wird mit dem Kot ins Wasser entleert.
Hier erfolgt in derselben Weise die Eliminierung des zweiten
chromatischen Käppchens, und die Zyste wird von der Kaul¬
quappe aufgenommen.
Bis hierher war ich im vorigen Frühjahr gekommen, und
war nun gespannt auf die Art und Weise, wie die vielkernigc
Zyste einkernig werden sollte, ein Vorgang, in dem ich eine
Art Selbstbefruchung vermuten zu sollen glaubte. Ich konnte
aber nichts dergleichen finden. Bei meinen Infektionsver¬
suchen schlüpften die Tiere ebenso vielkernig aus, wie sie sich
enzystiert hatten, so dass ich, auf eine Bemerkung Zellers
gestützt, glaubte, ich hätte die Zysten zu früh verfüttert. Aber
U Dieser Vorgang wurde von Löwenthal 1904 als Mikro- ,
nukleusbildung beschrieben.
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1787
bei zu langem Liegen im Wasser starben sie mir ab. Versuche
mit 0. dimidiata zeigten kein anderes Resultat; die bisher be¬
schriebenen Vorgänge verliefen in genau derselben Weise,
wie bei 0. ranarum.
Ich begann daher in diesem Jahre von neuem an dieser
Stelle. Da ich aber während der Laichzeit von Rana tem-
poraria durch Krankheit verhindert war, war ich auf O. dimi¬
diata angewiesen, weshalb der Zyklus, den ich Ihnen hier vor¬
führe, von hier an auf Beobachtungen an letzterer Art basiert,
der erste Teil bezieht sich auf 0. ranarum. Doch werden die
Unterschiede wohl sehr unwichtig sein.
Schema der Fortpflanzung der Opanna.
a— h im Frosch, i im Wasser, k — q in der Kaulquappe, a Agamont;
hier gehört die Schizogonie her. b, c, d Zerfall in Gametozyten und
Sporetienbildung. e Bildung der Geschlechtskerne, t — i Abstossung
der Chromatinkappen, h, i Infektionszyste, k ausschlüpfender Gameto-
zyt; 1, m Gametenbildung, n Kopulation, o, p Kopulationszyste,
q junger, frisch ausgeschlüpfter Agamont. Der Pfeil i — p deutet an,
dass Zeller diese beiden Stadien direkt aufeinander folgen liess.
Ich fasse mich über die diesjährigen Ergebnisse kurz, da
ich erst vor wenigen Tagen zu einem Verständnis derselben
gelangt bin und die Details noch nicht untersuchen konnte.
Die Tiere verlassen die Zyste tatsächlich gerade so vielkernig,
wie sie zuvor waren, beginnen dann aber sofort sich zu teilen
bis winzige, langgeschwänzte Formen mit nur einem Kern ent¬
standen sind. Das sind die Gameten, und zwar Isogameten
mit verhältnismässig wenigen langen Zilien, die äusserlich fast
an Trypanosomen erinnern, — übrigens auch wie diese agglo¬
merieren, indem sie sich mit den spitzen Enden verbinden.
Diese Gameten kopulieren nun, wobei sie vollständig ver¬
schmelzen. Die Kopula rundet sich ab und bildet eine Kopu¬
lationszyste, (wie es scheint unter Verlust der Zilien) in der
die beiden spindelförmig gewordenen Kerne verschmelzen.
Dies ist jedenfalls die einkernige Zyste Engelmanns und
Zellers, auf die sich wohl auch die Angabe von T öntiige s
über die Kernverschmelzung bezieht. Die erste Zyste war
eine reine Infektionszyste, die für das Verständnis der Vor¬
gänge keine weitere Bedeutung hat. Aus der Kopulations¬
zyste schlüpfen nun die jungen Tiere aus, die sich unter
raschem Wachstum und intensiver Kernvermehrung direkt
zu typischen Opalinen ausbilden.
Ich glaube davon absehen zu dürfen, m. H., mich über die
Bedeutung dieser Vorgänge zu verbreiten, da die grund¬
legenden Arbeiten R. H e r t w i g s und des unvergesslichen
Fritz Schau dinn über Chromidien bei Protozoen und die
Fortpflanzung der Protozoen ja wohl Gemeingut auch der
Mediziner geworden sind und sie sofort die grosse Ueberein-
stimmung dieses Zeugungskreises mit dem der verschiedensten
Plasmodromen erkennen lassen. Betreffs der systematischen
Stellung der Opaliniden kann man nun wohl mit Bestimmtheit
aussprechen, dass wir es hier nicht mit einem Ziliaten, sondern
mit einer den Amöben und Flagellaten nahestehenden Form zu
tun haben.
Medizinisch -Naturwissenschaftlicher Verein Tübingen.
(Offizielles Protokoll.)
Medizinische Sitzung vom 28. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr Romberg.
Schriftführer : Herr B 1 a u e 1.
(Schluss.)
Herr Muthmann demonstriert das Präparat einer typischen
Hufeisenniere. Die unteren Pole der beiden Nieren sind verwachsen,
die Verwachsungslinie ist äusserlich zu erkennen. Der Nierenhilus
liegt beiderseits vorn, das Nierenbecken vor den im Hilus eintreten¬
den Gefässen, der untere Pol des Organs an der Teilungsstelle der
Aorta.
Die Arterien kommen von der Aorta, es sind vorhanden 2 Ar-
teriae renales dextrae, 1 sinistra, 1 communis.
Ueber die Ursache der Verwachsung liegt ein Anhaltspunkt
nicht vor.
Aus der Lage des Organs und der Gefässversorgung lässt sich
mit Hilfe entwicklungsgeschichtlicher Daten schliessen, dass die Ver¬
wachsung im zweiten Monat erfolgt ist.
(Erscheint ausführlich in den „Anatomischen Heften“.)
Herr Friedrich Müller demonstriert eine Anzahl topo¬
graphischer Präparate über die Lage der Brusteingeweide und eins
über die Lage der Nieren.
Die Präparate sind .sämtlich in der Weise hergestellt, dass die
Leiche zunächst mit lOproz. Formalinlösung injiziert und dann auf
längere Zeit, mindestens ein halbes Jahr, in starken Alkohol gelegt
wurde. Die einzelnen Organe werden dadurch in ihrer Lage fixiert
und so gehärtet, dass die ganze Leiche steif wird; in günstigen Fällen
wird diese Steifigkeit so gross, dass der Körper, an Kopf und Füssen
unterstützt, sich kaum durchbiegt. Dieser ideale Zustand wird aber
nur bei lebensfrisch behandelten Leichen erreicht, bei älterem Material
ist die Festigkeit etwas geringer.
Die Beschaffenheit der meisten Organe des Körpers ist bei An¬
wendung dieser Methode eine sehr günstige, ganz anders als etwa bei
Benutzung der Chromsäure, welche die Gewebe fest, aber auch
brüchig macht. Bei der Formalinmethode behalten die Organe eine
hohe Elastizität und Geschmeidigkeit, und ein besonderer Vorzug ist
es, dass nach Verschiebung und Verdrückung der einzelnen Teile, wie
es bei einer Demonstration unvermeidlich ist, im Alkohol nach kurzer
Zeit die richtige Gestalt wiederkehrt, Eindrücke verschwinden usw.;
die Präüarate sind deshalb sehr lange brauchbar.
Auf diese Art lassen sich erstens Präparate herstellen, welche
die Lage der einzelnen Organe einer Körperregion bis ins kleinste
genau zeigen, zweitens Uebersichtspräparate. welche die Form der
Organe in vollendeter Weise zur Anschauung bringen und sich in ihre
Teile zerlegen lassen. Diese zweite Gruppe von Präparaten liefert
den besten Ersatz für die Gips- und Wachsmodelle älterer Zeiten
und bildet naturgemäss ein viel wertvolleres und überzeugenderes
Anschauungsmaterial für den Unterricht, als jene.
Ein Uebersichtspräparat für die Brustorgane wird als erstes vor¬
geführt; es dient zur Orientierung über die allgemeinen Lageverhält¬
nisse und die Form der Organe. Der vordere Teil des Brustskeletts
bis zur Axillarlinie ist von Weichteilen befreit, so dass in den Inter¬
kostalräumen die Grenzen der Lungen und des Herzens sichtbar wer-,
den. Nach der Abnahme des ganzen vorderen Skeletts erscheinen
seitlich die Lungen mit den Rippenabdrücken und den Incisurae inter-
lobares; die beiden vorderen scharfen Lungenränder verdecken zum
Teil das Herz, von dem nur ein dreiseitiger Teil der Vorderfläche
oberhalb des Zwerchfells sichtbar ist. Oberhalb des Herzens,' zum
grössten Teil hinter dem Manubrium sterni, liegt die Thymus, von
welcher ein bedeutendes Stück, wie der. Abdruck der Oberkante des
Sternums zeigt, der Halsgegend angehört. (Das Präparat stammt
1788
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
von einem 15 Jahre alten Knaben.) Herz, Thymus und Lungen sind
herausnehmbar, so dass schliesslich der hintere Teil des Media¬
stinums mit dem Lungenhilus und die Pleurahöhlen mit allen Einzel¬
heiten betrachtet werden können. Auseinandernehmen des Präparates
wie Zusammensetzen geht schnell und leicht vor sich, so dass im
Unterricht keine Verzögerung entsteht.
Drei weitere Präparate betreffen den Verlauf der grossen Ner-
venstämme am Halse und im Mediastinum, besonders des N. vagus.
Sie bieten Ansichten von links, rechts und von hinten her bei Ent¬
fernung der betreffenden oberflächlicher liegenden Teile, besonders
des Skeletts. Es erscheinen die Vagusstämme am Halse in Beglei¬
tung der Blutgefässe, sind dem Sympathikus nahe und hängen durch
Anastomosen mit ihm zusammen, müssen aber topographisch von
ihm getrennt werden, da beide Nerven sich bei Bewegung der Hals¬
eingeweide in seitlicher Richtung unabhängig voneinander ver¬
schieben.
Der Sympathikus bleibt stets in der Nähe der For. interverte-
bralia, weil er von dort die R. communicantes bekommt; der N. vagus
dagegen ist eingeschlossen in die Qefässscheide der Karotis und
Jugularis int. und nimmt an deren Bewegungen Teil. Im Thorax wird
besonders auf die Lage des Oesophagus und N. vagus aufmerksam
gemacht. Der Verlauf des N. vagus wird bestimmt durch 3 Punkte,
nämlich die Abgabe des N. recurrens, des Plexus pulmonalis und des
Plexus oesophageus.
Das fünfte Präparat zeigt die Lage des Herzens zum Brustbein
resp. zu den Rippen und die grossen Qefässe. In bezug auf die Ab¬
messungen, Grenzen und die Projektion auf die vordere Thorax¬
fläche verdient das Objekt deshalb Beachtung, weil es durchaus
typisch ist. Ueberraschend kommt bei derartigen Präparaten die
schiefe Lage des Herzens in der Richtung von vorne unten nach
riickwärts-aufwärts zur Geltung; die A. pulmonalis z. B. findet man
in grosser Tiefe, was sich einfach dadurch erklärt, dass die Lungen¬
wurzel nahe der Wirbelsäule, entfernt von der vorderen Wand des
J horax liegt. Die Venen dieses Präparates sind ganz besonders schön
sichtbar, weil sie durch natürliche Injektion mit geronnenem Blut
prall gefüllt und hart sind.
Die Lage der Nieren veranschaulicht das letzte Präparat, und
zwar in der Ansicht von hinten her. Links ist der M. sacrospinalis
und quadratus lumb. erhalten, rechts ist die ganze Muskulatur mit
Ausnahme des M. psoas entfernt. Beiderseits lehnt sich an die late¬
rale Seite der Niere das Kolon an, welches in diesem Falle gefüllt ist.
Das sichtbare Stück der Niere ist jederseits merkwürdig klein, auch
rechts, wo ja die umgebenden Weichteile in grösserem Umfange
beseitigt sind, vor allem, wenn man in Betracht zieht, wie leicht
man die Niere beim Lebenden erreichen und mit der ganzen Hand
umfassen kann. Die Lage ist im gegebenen Falle durchaus normal
und typisch, und die geringe Sichtbarkeit kann nicht wundernehmen,
da das Organ sich mit seiner sog. hinteren Fläche im wesentlichen
an die laterale Fläche des M. psoas anlegt und nur mit der lateral¬
hinteren Kante über den M. quadratus lumb. lateralwärts hervorragt.
Die leichte Erreichbarkeit am Lebenden erklärt sich erstens aus
der Weichheit der Organe und vor allem des Nierenfettes, ausserdem
dadurch, dass man eine besondere Lagerung des Körpers vornimmt,
durch welche die Niere seitwärts stärker hervortritt, die Muskeln
aber durch Dehnung schmaler werden, so dass ein kleinerer Teil der
Niere verdeckt wird.
Herr M. Heidenhain demonstriert eine grössere Anzahl von
Präparaten zur mikroskopischen Anatomie des Menschen. Das Ma¬
terial der vorgelegten Objekte wurde gelegentlich mehrerer Hin¬
richtungen, welche während der letzten Jahre in Tübingen statt¬
fanden, in lebensfrischem Zustande dem Kadaver entnommen und
unmittelbar sofort nach verschiedenen Verfahrungsweisen konser¬
viert. Die diesmalige Vorführung bezweckte, einige neuere Methoden
der Fixierung und Färbung, sowie einige weniger, bezw. noch nicht
bekannte Einzelheiten der Struktur menschlicher Organe und Gewebe
zur Anschauung zu bringen. Vorgelegt wurden unter anderem die
folgendem Präparate.
No. 1 — 7. Sublingualis und Submaxillaris. Fixie¬
rung in Alkohol, Sublimat oder Trichloressigsäure, Färbung mit
Chromhämatoxylin oder Eisenhämatoxylin, z. T. Nachfärbung ver¬
mittelst Chromotrop. Die Präparate zeigen die bisher beschriebenen
Verhältnisse (Drüsengranula, Schlussleisten, Sekretkapillaren etc.) in
trefflicher Weise. Ausserdem wurden in den Speichelröhren die
Zentralkörper sehr klar und deutlich dargestellt; sie liegen hier an
dem für zylindrische Epithelzellen typischen Orte, nämlich unmittelbar
an der freien Oberfläche der Zellen.
No. 8 — 12. Magen. Fixierung in Sublimat oder Sublimat
mit Osmiumsäure; Färbung in Haematox. plus Kongo-Korinth, bezw.
Chromotrop, oder Eisenhämatoxylin. An osmierten Präparaten wur¬
den durch Eisenhämatoxylin die Granula der Hauptzellen der Fundus-
driisen in massenhafter Weise dargestellt, die Belegzellen färbten sich
kräftig gelbrot in Kongo-Korinth, die Schleimkelche des Oberflächen¬
epithels wurden durch Chromotrop prachtvoll rubinrot fingiert.
Ausserdem gelang die Darstellung der Zentralkörper in den sezer-
nierenden Zellen der Kardiadrüsen (v. K u.p f f e r sehe Drüsen); sie
liegen auch hier unmittelbar an der freien Zellfläche.
No. 13. D i c k d a r m. Die in Sublimat fixierten, durch Eisen¬
hämatoxylin gefärbten Schnitte zeigen in prächtiger Weise die Z i m -
m e r m a n n sehen Säume des Dickdarmepithels. Das Zellenproto¬
plasma konnte bis zur Farblosigkeit extrahiert werden, während die
Säume ihre tiefschwarze Farbe beibehielten. Sie erinnern nach den
vorliegenden Bildern wenig an das Stäbchenorgan des Darmepithels;
vielmehr scheint es sich um einen sehr zarten, flockigen, flaumigen,
sammetartigen, leicht verletzlichen Besatz zu handeln, welcher be¬
rufen ist, den unterliegenden Zellen einen gewissen Schutz zu ge¬
währen.
No. 14 — 16. Nebenhoden. Fixierung in Sublimat, Färbung
in Hämatox. plus Benzopurpurin, bezw. Azokarmin oder Eisenhäma¬
toxylin oder Violettschwarz. Die Präparate demonstrieren die eigen¬
artigen Epithelverhältnisse im Kopf und Körper des Nebenhodens
entsprechend den Berichten der neueren Arbeiten. In den Lobuli
epid.idymidis wurden durch Eisenhämatoxylin die beiderlei Arten von
Zellen, flimmernde und nicht flimmernde, erstere mit Basalkörperchen,
letztere mit Zentralkörpern nächst der freien Zelloberfläche sehr
schön dargestellt. Beide Zellarten enthalten grobe, durch Violett¬
schwarz und Azokarmin gut färbbare Granula, welche den Driisen-
granulis sezernierender Zellen ähnlich sehen. Im Körper des Neben¬
hodens wurden die Pseudozilien der Epithelzellen durch Benzo¬
purpurin sehr hübsch herausdifferenziert.
No. 17 und 18. Schilddrüse. Ein Flachschnitt durch die
Wand eines Follikels zeigt vortrefflich die Schlussleisten und die
Zentralkörper in oberflächlicher Stellung. Ein anderer Schnitt
(F 1 e m m i n g sehe Mischung, Chromhämatoxylin) lässt im Epithel
selbst einzelne anscheinend in Kolloid verwandelte, schwarz gefärbte,
jedesfalls in Untergang begriffene und mit der im Binnenraum des
Follikels befindlichen Sekretmasse ganz und gar verschmolzene Zellen
erkennen. Die in diesem Zustande befindlichen Zellenterritorien
sehen demnach aus wie kolloidführende Kanäle, welche durch das
Epithel hindurch bis auf die Basalmembran herabreichen. Ausserdem
zeigte sich an mit Eisenhämatoxylin gefärbten Präparaten, dass die
schrumpfende Sekretmasse allüberall aufs innigste mit den Schluss¬
leisten zusammenhängt und nur sehr schwer von diesen sich ablöst.
No. 19. Larynx. Dieses Präparat zeigt auf dem falschen
Stimmbande (Plica ventricularis) geschichtetes Plattenepithel.
No. 20 und 21. Lung e. Alkohol, Borax-Karmin, Hämatoxylin.
In der Lunge fanden sich Unmassen glatter Muskulatur an Stellen, an
denen sie nicht vermutet wurde. Es ziehen nämlich parallel den
grossen Bronchien, zwischen diesen und den Gefässen, jedoch unab¬
hängig von beiden, ungemein reiche und starke Züge glatter Mus¬
kulatur entlang, welche bei mittlerer Vergrösserung schon ganze
Gesichtsfelder füllen. Von der genannten Gegend her strahlen dann
weiterhin feinere Züge glatter Muskulatur in die derberen Scheide¬
wände der Lungenläppchen weithin aus; so konnten glatte Muskel¬
zellen bis zu IV2 cm entfernt an den grossen Bronchien, scheinbar
mitten im Lungenparenchym gefunden werden.
No. 22 — 27. Myokardium. Demonstriert wurden neuere
Färbungen der Schaltstücke vermittelst Blauschwarz, Brillantschwarz
plus Phenosafranin, Hämatoxylin plus Azokarmin. Einige Herzmuskel¬
querschnitte (Coeurlei'n etc.) zeigen ferner, dass das Bindegewebe im
Herzmuskel nur sehr wenig entwickelt ist und sich auf allerfeinste La¬
mellen zwischen den kontraktilen Fasern beschränkt, dies im Gegen¬
satz zu den Abbildungen der Lehr- und Handbücher, welche zwischen
den Fasern meist weite, angeblich von interstitiellem Bindegewebe er¬
füllte Räume aufweisen. Letztere kommen in Wahrheit teils durch
Schrumpfung der Fasern, teils durch Dissoziation der Gewebsmasse
(Auseinanderweichen ihrer Teile) zustande.
Ausserdem wurden Präparate gezeigt von der Nebenniere
(Trichloressigsäure, Karmin, Violettschwarz: dunkel blauschwarze
Färbung der Marksubstanz, helle Färbung der Rinde), der Speise¬
röhre (Chromhämatoxylin, schöne Lamelierung der oberen Schich¬
ten des Epithels), der Substantia compacta des Knochens
(verschiedenfarbige Differenzierung der Lamellensysteme mit Karmin
und Hämatoxylin nach Trichloressigsäure), der Substantia
spongiosa an den Gelenkenden (mit Knorpelresten beim Erwachsenen),
der Thymus (Durchwanderung der Leukozyten durch die Epithelien
der H a s s a 1 sehen Körper), der Tonsillen, der Haut am Fin¬
ger (Tastleisten und Koriumleisten), der Leber (Färbung der
Gallenkapillaren mit Toluidinblau), der Balgdrüsen (mit Flim¬
merepithel am Boden der Fossulae linguales) etc.
Physikalisch-medizinische Gesellschaft zu Würzburg.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 12. Juli 1906.
Herr Hess: Ueber die Wirkung ultravioletter Strahlen
auf die Linse. (Demonstration).
Von den Forschern, die sich mit dem Einflüsse kurz¬
welligen Lichtes auf die Linse beschäftigen, hat nur W i d -
mark positive Ergebnisse erhalten, bei Anwendung einer
JOOOkerzigen Lampe, deren Strahlen durch Quarzlinsen kon¬
zentriert waren. Alle anderen Forscher sahen keine Linsen¬
veränderungen. Hess konnte bei Bestrahlung mit der
Schott sehen Uviollampe regelmässig ausgiebige und merk-
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1789
würdige Veränderungen im Pupillargebiete der Linsenkapsel
hervorrufen: mehr oder weniger starke Schädigung bis zu voll¬
ständigem Untergange der Zellen, der von überraschend leb¬
haften Regenerationsvorgängen (ungemein reichlichen Mi¬
tosenbildungen) gefolgt ist; in der Gegend des Pupillarrandes
tritt bald ein starker, dicker Zellwall auf, dessen Entstehung
noch nicht ganz klar ist; die Veränderungen werden an einer
Reihe von Präparaten demonstriert. Eine gewöhnliche Glas¬
platte absorbiert die Strahlen so weit, dass ein durch sie ge¬
schütztes Auge auch bei 20 Stunden dauernder Bestrahlung frei
von Linsenveränderungen bleibt. Hess weist darauf hin,
dass es mit der geschilderten Methode leicht ist, die intra-
lentalen Lebensvorgänge in abstufbarer Weise zu beeinflussen
und erläutert die Beziehungen der geschilderten Vorgänge zu
einigen Fragen aus der Lehre von der Starbildung.
Herr v. L e u b e:
a) Ueber einen seltenen Fall von Pneumokokkenerysipel.
Derselbe betraf einen 19 jährigen Patienten, bei dem im Ver¬
lauf einer schweren Pneumokokkenpneumonie ein vom Nasenrücken
ausgehendes Erysipelas faciei auftrat. Aus einer Bulla desselben
wurde eine Reinkultur von Pneumokokken gezüchtet, die auf Ka¬
ninchen verimpft regelmässig ein typisches Erysipel erzeugten. Die
Verbreitung der Pneumokokken durch das Blut konnte im vorliegen¬
den Falle ausgeschlossen, dagegen eine Verschleppung des Pneu¬
mokokken haltenden Materials aus der Lunge in die Nase, an deren
Schleimhaut es nicht an Läsionen fehlte, nachgewiesen werden.
b) Ueber die Beharrungstendenz der Zelltätigkeit, speziell
in ihrer Beziehung zur Immunität.
Leube vertritt seit mehr als 12 Jahren (s. spezielle
Diagnose I. Aufl. u. a.) die Ansicht, dass die spezifische Tätig¬
keit der Körperzellen eine Beharrungstendenz zeigt, derzufolge
die Zellen die ihnen durch ihre Organisation zukommende oder
im Verlauf des Lebens gewonnene Arbeitsrichtung konsequent
d. h. mit einer gewissen Zähigkeit enthalten. Er erörtert aus
der Physiologie und Pathologie (Gicht, Basedowkrankheit,
Fettsucht u. a.) die Berechtigung dieser Annahme und kommt
hierauf auf die richtige Rolle, welche diese Beharrungstendenz
der Zelltätigkeitsrichtung bei den Infektionskrankheiten spielt,
zu sprechen. Indem die Zellen durch die natürliche oder die
künstliche aktive Immunisierung zur Bildung von Antikörpern
angeregt werden, halten sie entsprechend jener Tenazität der
Zelltätigkeitsrichtung längere Zeit daran fest. Ist die fort¬
gesetzte Abstossung von Antikörpern vom Zellprotoplasma
mit der Zeit geringer geworden oder gar nicht mehr nachweis¬
bar, so kann die spezifische Tätigkeit der Zellen, nachdem sie
einmal als Reaktion gegen die Bakterieninfektion wachgerufen
und erlernt ist, leicht d. h. leichter und energischer als das
erste Mal durch Bakterien und Bakterienextrakte gesteigert
bezw. aufs neue in Gang gebracht werden. So erklärt es sich,
dass bei mit Typhus vorbehandelten Kaninchen eine minimale
Menge von Typhuskultur, die beim intakten Tier keine Agglu¬
tination hervorruft, die abgesunkene Agglutinationsfähigkeit
mächtig hinaufzutreiben vermag. (Rufus J. C o 1 e.) Auch nicht¬
spezifische Reize scheinen die einmal angeregte Bildung von
Schutzstoffen steigern zu können, wofür die Tierversuche von
Salomonsohn und M a d s e n und von F u n c k sprechen,
die durch Pilokarpininjektionen den Antitoxin- und Agglutinin¬
gehalt des Blutes bei immunisierten Tieren zu erhöhen ver¬
mochten. Leube hat am Menschen Versuche angestellt und
gefunden, dass bei Menschen, die einen Typhus überstanden
hatten, der Agglutiningehalt des Blutes durch reichliche
Nahrungszufuhr, B i e rsche Stauungen u. a. gesteigert oder in
Fällen, wo keine Agglutinine mehr im Blut nachweisbar waren,
wieder evident (1 : 100 Verdünnung) gemacht werden konnte.
Ferner erklärt Leube mit seiner Theorie auch das Verhalten
der Rezidive des Typhus u. a. Er behält sich die ausführliche
Begründung der Bedeutung der Beharrungstendenz der Zell¬
tätigkeit durch weitere Versuche und ebenso die therapeutische
Verwertung seiner Versuchsresultate vor.
Verein deutscher Aerzte in Prag.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 23. März 1906.
Herr Rudolf Pollak: „Herz und Schwangerschaft.“
Besteht auch die alte französische Lehre von der physiologischen
Hypertrophie des linken Ventrikels in der Schwangerschaft nicht
mehr zu recht, so sprechen doch einzelne Tatsachen für eine Beein¬
flussung des Herzens durch die Gravidität: die akzidentellen Herz¬
geräusche und die puerperale Bradykardie.
Den schädlichen Einfluss der Schwangerschaft versuchten zwei
Theorien zu erklären. Die Spiegelberg sehe nahm an, dass der
Blutdruck nach der Entbindung abnimmt, die von Fritsch ver¬
fochtene hingegen behauptete, dass das Gegenteil der Fall ist. Beiden
Lehren gemeinsam ist die Annahme des erhöhten Blutdruckes in der
Gravidität.
Die am häufigsten beobachteten Herzklappenfehler sind die
mitralen; die Frequenz der eine Schwangerschaft komplizierenden
Vitien überhaupt unbedeutend, 0,3 — 0,9 Proz., wobei aber zweifellos
eine grosse Zahl, weil symptomlos, unerkannt bleibt.
Gut kompensierte Vitien vertragen Schwangerschaft und Ent¬
bindung in der Regel gut, wenn auch wiederholte Graviditäten
Schaden stiften können.
Bei schwereren Herzfehlern zeigt sich ausnahmsweise schon in
der Schwangerschaft eine Verschlimmerung, im allgemeinen aber
beginnt die Gefahr erst in der Geburt, besonders ist Cie zweite
Geburtsperiode vielen herzkranken Frauen verhänignisvoll geworden.
Auch ein Einfluss des Vitium auf die Schwangerschaft ist oft
genug zu konstatieren, der sich in Blutungen, vorzeitiger Plazenta¬
lösung, Schwangerschaftsunterbrechungen äussert.
Ueber die Prognose sind die widersprechendsten Anschauungen
ausgesprochen worden; während einige Autoren das Zusammen¬
treffen mit Gravidität als etwas durchaus Harmloses betrachten, ist
es für andere eine Quelle der schlimmsten Befürchtungen. Kompli¬
kationen, besonders Erkrankungen des Respirationstraktus und der
Nieren trüben die Prognose.
Prophylaktisch wird von vielen Autoren das Heiratsverbot auf¬
gestellt, was von anderer für eine übertriebene Massregel ge¬
halten wird.
Therapeutisch kommen bei den Beschwerden in der Schwanger¬
schaft medikamentöse und diätetische Massnahmen, bei Erfolglosig¬
keit derselben die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft in
Betracht, in Bezug auf die letztere herrscht ebenfalls eine grosse
Divergenz in den Anschauungen.
Für die Entbindung ist das Herz stetig zu kontrollieren. Im
Wochenbett ist durch längere Zeit strengste Ruhe zu pflegen.
Herr G r ü n h u t demonstriert ein nach seinen Angaben kon¬
struiertes Membranstethoskop „Perfekt“, bei dem eine auswechsel¬
bare Pergamentmembran vorhanden ist, die nach dem Gebrauch bei
Infektionskranken verbrannt wird.
Sitzung vom 30. März 1906.
Herr Viktor Band ler: Ueber Spirochätenbefunde bei Lues
und über neuere Syphilisforschungen.
Sitzung vom 27. April 1906.
Herr Ign. Raubitschek: I. Vorführung eines mittelst kalter
Bäder geheilten Malariafalles (tertiana). II. Besserung eines auf¬
gegebenen Falles von Arteriosklerose des Herzens und der Lungen
durch Anregung der Tätigkeit des Hausherzens.
Sitzung vom 25. Mai 1906.
Herr R. Imhofer: Die Ohrmuschel bei Schwachsinnigen.
I m h o f e r gibt eine kurze Darstellung der Entwicklungsge¬
schichte und vergleichenden Anatomie der Ohrmuschel, sowie der
anthropologischen Messung derselben. Bei Schwachsinnigen fand
er 1. relativ niedrigen morphologischen Index; 2. besonders Häufig¬
keit der Satyrspitze und des hinteren unteren Winkels (Schwalbe);
3. desshalb so häufig Henkelohr als beim Normalen.
Dem sogenannten W i 1 d e r m u t h sehen Ohr spricht I. jegliche
Bedeutung als Degenerationszeichen ab.
Herr Leopold F i s c h 1 demonstriert Präparate von Appendizitis,
a) Appendizitisperforation. Wurmfortsatz von enormer Grösse, aus¬
geprägte Muskelstauung, b) Appendicitis larvata leichte Tem¬
peratursteigerung im Rektum, c) Append. mit Ikterus, d) Append.
mit Ulcus ventriculi. Ferner einen Fall von Hypersekretion des
Magens, der nüchtern 250 ccm Magensaft von normaler Azidität hat.
Dr. O. Wiener.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
1790
Verschiedenes.
Tagesgeschichtliche Notizen.
Krankheit und Selbstmord, Beiträge zur Be¬
urteilung ihres ursächlichen Zusammenhanges,
lautet der Titel einer beachtenswerten Dissertation von Kurt Ollen-
dorff (aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde in Berlin).
Aus der Arbeit geht hervor, dass sich in den 5 Jahren 1898 — 1902 nach
der amtlichen preussischen Statistik fast 5 mal so viel Männer das
Leben nahmen als Frauen. Nach dem Material aus obigem Instiut
in den Jahren 1898 — 1904 (inkl.) fast 4 mal so viel Männer als Frauen.
Von den im Institut in diesen 7 Jahren vorgenommenen 689 Sektionen
betrafen 362, d. h. über die Hälfte, Selbstmörderleichen; männlichen
Geschlechts waren 283 = 78,18 Proz.; weiblich waren 79 — 21,82 Proz.
Von den weiblichen Personen waren 51 = 64,56 Proz. verheiratet
bezw. verwitwet, gegenüber 28 — 35,44 Proz., die ledig waren, d. h.
das Verhältnis ist fast wie 2: 1. (Dissertation, Greifswald 1905.)
F. L.
Therapeutische Notizen.
Mangelsdorf berichtet in seiner Dissertation (Leipzig 1905)
über die an der Idiotenanstalt Kückenmühle bei Stettin mit Isopral
gemachten Erfahrungen. In allen Fällen, in denen es gilt, einfache
Agrypnie oder solche auf der Basis melancholischer oder manischer
Zustände, ferner Erregungszustände aller Art bis zu den schwersten
furibunden zu bekämpfen, zeigte sich das Isopral als wertvolles
Medikament. Es versagt teilweise nur in solchen Fällen von Er¬
regungen höchsten Grades, wo auch die sonstigen Mittel nicht im¬
stande sind, eine erhebliche Beruhigung herbeizuführen und in denen
das Skopolamin seine bisherige Stellung als ultimum refugium be¬
hält. Die Intensität der Isopral Wirkung ist nach Mangels-
d o r f etwa doppelt so gross wie die des Chlorais, welches bisher
an sedativer Kraft in der Reihe der ähnlich wirkenden Mittel ziemlich
obenan stand, unterscheidet sich aber von ihm durch die Art der
Wirkung, die einen dem physiologischen so gut wie völlig gleichen¬
den Schlaf bedingt, und durch das Fehlen schädlicher Nebenwirkungen.
Nach Rai mann s Vorschlag zu 0,5 g als Kügelchen, in Gelatine¬
kapseln gehüllt (zur Verdeckung des Geruches und Geschmackes)
könnte man nach Mange lsdorf das Isopral in der Praxis
elegantissima dem verwöhntesten und empfindlichsten Patienten mit
schweren Herz- und Lungenleiden unbedenklich verordnen. r. L.
Alfred Blanc hat das Maretin frei von unerwünschten
Nebenwirkungen gefunden und empfiehlt es besonders bei bazillärem
Fieber, bei akuten Affektionen der Luftwege (antithermische und
sedative Wirkung), bei akutem Gelenkrheumatismus und bei neural¬
gischen Beschwerden. Eine kumulative Wirkung sei dem Mittel nicht
eigen. (These de Montpellier 1905.) F. L.
L. C a y 1 a empfiehlt in seiner These den Gebrauch des Kollar-
g o ls bei der Behandlung der Variola. Es beschleunige
die Resorption, sei von Wert zur Bekämpfung des Eiterfiebers und
übe anscheinend einen günstigen Einfluss auf die Narben aus. (Mont¬
pellier 1905.) F. l.
Die durch das Laboratorium von Dr. Frey und Dr. König in
München in den Handel gebrachte Injektionsgelatine wird
nach folgendem Verfahren hergestellt: Die beste Marke der reinsten
Gelatine wird angewandt. Davon werden je nach Bedarf 2—20 g zu
100 g Wasser abgewogen und 12 Stunden lang der Quellung über¬
lassen. Dann wird nach Zusatz von 0,6 Proz. NaCl in gelinder Wärme
gelöst, nach dem Lösen mit Eiweiss gut durchgeschüttelt, zirka
1 Stunde im Dampftopf gekocht und filtriert. Die klare Lösung wird
nun durch Impfung an Tieren auf Abwesenheit von Tetanusbazillen
oder Toxinen geprüft. Ist sie einwandsfrei, so wird sie in Gläser
oder Röhren gefüllt und sterilisiert. (Zentralbl. f. d. ges. Therapie
1905.) p. l.
Garimo n d empfiehlt das N a r c y l (Aethylnarceinum hydro-
chloricum), ein Opiumalkaloid, als brauchbares Äntispasmotikum in
der Behandlung der Lungenaffektionen. Bei Tuber¬
kulose hat er einen vorzüglichen sedativen Einfluss auf den Husten
wahrgenommen. Die Dosen schwanken bei Tuberkulose Erwachsener
zwischen 0,06 und 0,12 g. (These de Montpellier 1905.) F. L.
Das G o n o s a n rühmt Renault in einer längeren Be¬
sprechung in der Pariser Societe de Therapeutique (Sitzung vom
27. Juni 1906) als ein vorzügliches inneres Mittel gegen die Gonorrhoe,
das hervorragende schmerzstillende Eigenschaften (gegen die
Schmerzen beim Urinieren und die Erektionen) habe, den Ausfluss
günstig beeinflusse, vielleicht auch die Dauer der Erkrankung ab¬
kürze und vor allem in keiner Weise schädliche Nebenwirkungen auf
Magen, Darm, Nieren und Haut habe. Gegenüber den anderen bal¬
samischen Mitteln besitze es daher den grossen Vorteil, dass es gleich
bei Beginn der Erkrankung genommen werden könne. R. hält es
nach seinen Erfahrungen sogar für möglich, dass das Gonosan allein
— ohne Einspritzungen — die Gonorrhoe zur Heilung bringt. St.
München, 4. September 1906.
— Der Zentralverband der deutschen Orts¬
krankenkassen hat am 20. und 21. v. Mts. seine diesjährige
Hauptversammlung in Düsseldorf abgehalten. Die Verhandlungen
boten wiederum mancherlei Interessantes, auch für Aerzte. An der
Spitze stand ein sozial-hygienisches Thema: „Wohnungsfrage und
Ortskrankenkassen“. Dr. v. Mangold, Sekretär des Vereins
„Reichswohnungsgesetz“, erstattete ein Referat, das die Aufgaben der
Krankenkassen dem Wohnungselend gegenüber auseinandersetzte.
Die Pflicht der Kassen, das ihrige zur Besserung beizutragen, wurde
auch in einer zur Annahme gelangten Resolution anerkannt. Dann
folgten einige kassentechnische Fragen. Die interessantesten Debat¬
ten aber gingen über das Thema: Wie schützen wir uns vor Miss¬
erfolgen im Kampfe mit den Aerzten? Zunächst wurden, anknüpfend
an die Konflikte der letzten Jahre, Massnahmen zum Schutze der
Krankenkassen gegen Eingriffe der Aufsichtsbehörden in das Selbst¬
verwaltungsrecht besprochen. Ein angenommener Antrag verlangt,
dass die Behörden nur provisorisch eingreifen dürfen und dass ihre
Massnahmen solange keine rechtliche Wirkung haben, bis das ein¬
geleitete Verwaltungsstreitverfahren beendet ist.
Von grösster Wichtigkeit aber für uns ist die Diskussion über
folgenden Antrag der Zentralkommission der Krankenkassen Berlins:
„Die Krankenkassen erachten eine Aenderung der sich auf den ärzt¬
lichen Beruf erstreckenden Bestimmungen der Gewerbeordnung für
geboten, da die Krankenkassen gesetzlich zur Gewährung ärztlicher
Hilfeleistung gezwungen und somit den Aerzten gegenüber
w ehrlos gemacht sind. Der Staat, der den Krankenkassen die
Gewährung dieser Leistungen direkt auferlegt, muss auch gesetzlich
für die Möglichkeit ihrer Erfüllung dadurch Sorge tragen, dass er die
Aerzte gegen die Bezahlung staatlicher Taxen zur ärztlichen Hilfe¬
leistung gegenüber den Krankenkassenmitgliedern verpflichtet.“
Dieser Antrag fordert nichts Geringeres als die Einführung des Kurier¬
zwanges der Aerzte den Krankenkassen gegenüber. In der Dis¬
kussion wurde allgemein die Notwendigkeit gesetzgeberischer Mass-
regeln anerkannt, um der unbequemen Tatsache abzuhelfen, dass zwar
den Aerzten die Behandlung der Kassenmitglieder freisteht, dagegen
die Kassen zur Gewährung freier ärztlicher Behandlung gezwungen
sind. Es gelangte folgende Resolution zur Annahme:
„Die Jahresversammlung von Ortskrankenkassen im Deutschen
Reiche steht nach wie vor prinzipiell auf dem Boden der vom Leip¬
ziger Krankenkassenkongress am 25. Januar 1904 zur Arztfrage in
Punkt 10 formulierten Forderung:
,Die Krankenkassenvertreter erachten eine Aenderung der sich
auf den ärztlichen Beruf erstreckenden Bestimmungen der Gewerbe¬
ordnung für geboten, da die Krankenkassen gesetzlich zur Ge¬
währung ärztlicher Hilfeleistung gezwungen und somit den Aerzten
gegenüber wehrlos gemacht sind. Der Staat, der den Krankenkassen
die Gewährung dieser Leistungen direkt auferlegt, muss auch gesetz¬
lich für die Möglichkeit ihrer Erfüllung dadurch Sorge tragen, dass
er die Aerzte gegen die Bezahlung staatlicher Taxen zur ärztlichen
Hilfeleistung gegenüber den Krankenkassenmitgliedern verpflichtet.1
Sie nimmt mit Befriedigung davon Kenntnis, dass inzwischen der
Verband rheinisch-westfälischer Betriebskrankenkassen diese Forde¬
rung gleichfalls erhoben hat, und dass auch der Reichstagsabgeordnete
Dr. Mugdan in dem Referat des jüngst stattgehabten Aerztetages
laut Bericht der Medizinischen Reform (No. 26, 1906) die Notwendig¬
keit anerkannt hat, die Behandlung der Krankenkassenmitglieder bei
Differenzen zwischen Kassen und Aerzten sicher zu stellen.
Da jedoch von der grossen Majorität der Aerzteschaft die Forde¬
rung auf Kurierzwang für Kassenkranke als Eingriff in die Gewerbe¬
freiheit bekämpft wird, erklärt die Jahresversammlung der Orts-
krankenkassen es als Konsequenz der Ablehnung des Kurierzwanges,
dass bei einer Neuordnung des Arbeiterversicherungswesens die
Organe der Krankenversicherung von der Gewährung freier ärzt¬
licher Behandlung und freier Arznei entbunden werden. Diese früher
bei den Hilfskassen bestehende Regelung hat sich bei diesen be¬
währt. Gegenüber den Mittelstands- und Beamtenkrankenkassen er¬
strebt gegenwärtig die Aerzteschaft selbst diese Forderung. Die für
die Krankenversicherung erforderliche Aufsicht ist durch Ausbau des
Instituts der Vertrauensärzte und durchgreifende Krankenkontrolle
durchzuführen. Die von der Aerzteschaft verlangte freie Arzt¬
wahl kommt in vollendeter Form zur Durchführung, die Differen¬
zen zwischen den Kassen, Aerzten und Aufsichtsbehörden verlieren
ihre Unterlage.
Die Jahresversammlung begriisst es mit Genugtuung, dass in der
Oeffentlichkeit das Wesen des gegenwärtigen unhaltbaren Zustandes:
Zwang für die Kassen, ärztliche Hilfe zu gewähren, Freiheit für die
Aerzte, sie zu verweigern, mehr und mehr anerkannt wird. Sie ver¬
langt, dass für beide Interessentengruppen entweder der Zwang oder
die Freiheit gleichmässig durchgeführt werde.“
Die Wichtigkeit der in dieser Resolution enthaltenen Forde¬
rungen für den ärztlichen Stand wie für die Krankenversicherung be¬
darf keiner Betonung. Die Einführung des Kurierzwanges zwar ist
eine Utopie, die ernstlich nicht erörtert zu werden braucht. Kein
Gesetzgeber wird einen solchen Eingriff in die persönliche Freiheit
4. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1791
eines grossen Standes zu unternehmen wagen. Die Aufhebung der
Verpflichtung der Krankenkassen zur Gewährung ärztlicher Hilfe¬
leistung dagegen könnte, angesichts der geringen Einschätzung des
Wertes der ärztlichen Kunst in weiteren Bevölkerungsklassen, viel¬
leicht eher Anklang in gewissen Kreisen finden. Es ist klar, dass
unsere hochentwickelte Fürsorge für den kranken Arbeiter damit dem
Ruin entgegengeführt und der Volksgesundheit unendlicher Schaden
zugefügt würde. So ferne die Verwirklichung der Pläne des Zentral¬
verbandes der deutschen Ortskrankenkassen zurzeit auch zu liegen
scheint, verdienen sie immerhin die Aufmerksamkeit der Aerzte.
— Das Geschäftskomitee des Kongresses für innere
Medizin veranstaltet jetzt die vom Münchener Kongress be¬
schlossene schriftliche Abstimmung über den Antrag Nothnagel,
v. L e u b e, v. Leyden, nach dem der Kongress in Zukunft nicht
mehr, wie bisher, bald in Wiesbaden, bald in München, Leipzig, Wien
und Berlin, sondern ständig, d. h. alljährlich in Wiesbaden abgehalten
werden soll. Man konnte bis vor kurzem über den Ausfall dieser
Abstimmung zweifelhaft sein, nachdem in der Fachpresse mehrfach
Widerspruch gegen die geplante Aenderung hervorgetreten war. Der
jetzt bekannt werdende Modus der Abstimmung beseitigt diese
Zweifel und stellt die Annahme des Antrages im voraus sicher. Es
werden nämlich alle Mitglieder, die bis 15. September nicht geant¬
wortet haben, als f ii r den Antrag stimmend gezählt werden. Wenn
man bedenkt, dass sehr viele Kongressmitglieder zurzeit verreist
sind und die Zuschrift des Komitees trotz des Vermerks „Nach¬
senden“ nicht erhalten werden, viele andere aber teils aus Gleich¬
gültigkeit, teils weil sie sich über den Antrag kein eigenes Urteil
gebildet haben, sich der Abstimmung enthalten werden, so lässt sich,
wenn alle diese für den Antrag gezählt werden, in der Tat eine grosse
Mehrheit für diesen voraussehen. Als die unzweideutige Meinungs¬
äusserung der Mehrheit der Kongressmitglieder wird man diese Ab¬
stimmung aber nicht betrachten.
— Ein internationaler Kurs der gerichtlichen
Psychologie und Psychiatrie wird im April 1907 von
Prof. Sommer in Giessen veranstaltet werden. Dieser Kurs wird
ein Gegenstück sein zu dem im Frühjahr d. J. ebenfalls von Prof.
Sommer veranstalteten Kurs der medizinischen Psychologie mit Be¬
zug auf Behandlung und Erziehung der angeboren Schwachsinnigen,
über dessen grossen Erfolg wir seinerzeit berichteten. Letzterer war
vorwiegend von Aerzten und Lehrern besucht; der nächstjährige ist
für Aerzte und Juristen bestimmt. Als Aufgaben des auf 7 Tage be¬
rechneten Kurses nennt das vorläufige Programm folgende: 1. Die
Formen der Kriminalität bei den verschiedenen Arten von Geistes¬
störung. 2. Die Bedeutung des Alkoholismus in der Kriminalität und
Psychopatholgoie, mit bezug auf die psychophysiologischen Wir¬
kungen des Alkohols, die klinischen Formen des Alkoholismus, die
strafrechtliche und soziale Seite desselben. 3. Die Epilepsie als Mo¬
ment der Kriminalität und Psychopathologie. 4. Die hysterischen
(psjxhogenen) Störungen. 5. Der angeborene Schwachsinn in bezug
auf Kriminalität und Psychiatrie. 6. Die angeborenen moralischen Ab¬
normitäten mit bezug auf die Lehre vom geborenen Verbrecher.
7. Die Bedeutung der morphologischen Abnormitäten bei den ver¬
schiedenen Arten des angeborenen Schwachsinns. 8. Determinismus
und Strafe. 9. Die verschiedenen Strafrechtstheorien. 10. Die Psycho¬
logie der Aussage. 11. Die psychologischen Momente im Zivil- und
Strafprozess. 12. Die strafrechtliche Untersuchung. 13. Die Psycho¬
logie im Polizeiwesen. 14. Die verschiedenen Formen der Kriminali¬
tät. 15. Bedeutung von Anlage und Milieu in der Kriminalität. Ausser
Prof. Sommer werden sich die Herren Dr. M i 1 1 e r m a i e r, Pro¬
fessor des Strafrechts in Giessen, Prof. Dr. Aschaffenburg in
Köln a. Rh. und Dr. Dannemann, Privatdozent speziell für foren¬
sische Psychiatrie als Lehrende beteiligen. Wie bei dem Kurs der
medizinischen Psychologie im April 1906 wird eine Einschreibgebühr
von 20 M. zur Deckung der Kosten erhoben. Vorläufige Anmeldungen
ohne Verbindlichkeit sind an Professor Sommer in Giessen zu
richten.
— Für die Internationale Konferenz für Krebs¬
forschung, welche bei Gelegenheit der Eröffnung des Institutes
für Krebsforschung in Heidelberg vom 24. bis 27. September in Heidel¬
berg und Frankfurt a. M. stattfinden wird, ist eine grosse Zahl von
Zusagen auf die ausgesendeten Einladungen eingelaufen. Von Reichs¬
und Staatsbehörden wird der Reichskanzler, Graf v. Posadowsky,
das Kaiserliche Gesundheitsamt, das Preussische Kultusministerium]
das Bayerische, Sächsische, Wiirttembergische, Badische Ministerium
des Innern, der Senat von Bremen u. a. Vertreter entsenden. Zahl¬
reiche hervorragende Fachgelehrte des In- und Auslandes haben ihre
Teilnahme zugesagt. Das Bureau der Konferenz befindet sich bis
zum 21. September in Berlin, Bendlerstr. 13, von da ab in den Kon¬
ferenzstädten.
— Dem Arzt Dr. med. Ferdinand Schnitze in Duisburg ist
vom preuss. Kultusminister der Professortitel verliehen worden, (hc.)
— Wie in Deutschland, so hat sich jetzt auch in England ein
Komitee gebildet zur Sammlung einer Ehrengabe für die Witwe des
so rasch aus dem Leben geschiedenen Forschers Dr. Schaudinn.
Der Münchener Pettenkoferpreis von 1200 Mk. wurde Schaudinn
zuerkannt und an seine Witwe zur Auszahlung gebracht.
— Die bekannten elektrotechnischen Firmen: Elektrotech¬
nisches Institut Frankfurt, G. m. b. H. und Elektrotechnisches
Laboratorium Aschaffenburg (Friedrich Dessauer) haben sich I
zusammengeschlossen, um unter dem Namen Vereinigte elek¬
trotechnische Institute Frankfurt a. M. — Aschaffenburg m. b. H.
(Veifa-Werke) die sämtlichen Unternehmungen und Betriebe der
vorgenannten Firmen weiter zu führen. Laut Gesellschaftsvertrag
bezwecken die V. E. I. F. A. die wissenschaftliche, technische und
gewerbliche Bearbeitung der technischen Physik, speziell der Radio¬
logie (Röntgen- und Radiumforschung) und des gesamten physikalisch¬
medizinischen Grenzgebietes. Ein Teil der Erträgnisse der Gesell¬
schaft soll zu wissenschaftlichen Arbeiten und zur Unterstützung
solcher Arbeiten benutzt werden.
— Der Wohnungsausschuss der Naturforscherver¬
sammlung in Stuttgart teilt mit, dass zwar eine ausreichende
Anzahl von Wohnungen, auch Privatwohnungen, zur Verfügung steht,
dass es aber trotzdem erwünscht sei, die Anmeldungen frühzeitig
zu betätigen.
— Der XIV. internationale Kongress für Hygiene
und Demographie findet vom 23. bis 29. September in Berlin
statt.
— Die Verhandlungen des II. Röntgenkongresses
am 1. und 2. April 1. J. in Berlin sind soeben als Band II der
„Verhandlungen der Deutschen Röntgen-Gesellschaft“ im Verlag von
Lucas Gräfe und Sillem erschienen. Der Bericht ist von Dr. Albers-
Schönberg in Hamburg redigiert. Der Preis beträgt 4 Mk.
— Pest. Aegypten. Vom 11. bis 17. August wurden 9 neue
Erkrankungen (und 5 Todesfälle) an der Pest gemeldet. — Britisch-
Ostindien. In Moulmein sind vom 23. Juni bis 21. Juli 107 Per¬
sonen an der Pest gestorben. In Kalkutta starben vom 15. bis
21. Juni nach den amtlichen Wochenausweisen 8 Personen an der
Pest. - — Brasilien. In der Stadt Campos der Provinz Rio de Janeiro
ist zufolge Mitteilung vom 21. August die Pest aufgetreten. —
Queensland. Während der ersten Juliwoche starben in Brisbane und
in Rockhampton je 4 Personen an der Pest, doch wurden neue Pest¬
fälle nicht gemeldet.
— Cholera. Britisch-Ostindien. In der Zeit vom 7. bis
21. Juli sind aus Moulmein 2 Choleratodesfälle gemeldet worden.
— In der 33. Jahreswoche, vom 12. bis 18. August 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblichkeit
Hamborn mit 49,4, die geringste Schöneberg mit 10,0 Todesfällen
pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Gestorbenen
starb an Scharlach in Beuthen, an Masern und Röteln in Oberhausen,
Ulm, an Diphtherie und Krupp in Schwerin. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Bern. Privatdozent Dr. E. B ü r g i wurde zum ausserordent¬
lichen Professor der med. Chemie und Pharmakologie ernannt als
Nachfolger des nach Marburg übersiedelnden ord. Professors Dr. A.
Heffter. Die Fakultät hatte für das Ordinariat vorgeschlagen:
primo loco: Prof. Dr. F a u s t - Strassburg, secundo et aegno loco:
Privatdozent Dr. E 1 1 i n g e r - Königsberg, Prof. Dr. Jacoby-
Heidelberg, Prof. Dr. S p i r o - Strassburg.
Krakau. Dr. A. Wrzosek habilitierte sich als Privatdozent
für allgemeine und experimentelle Pathologie.
Neapel. Dr. S. P a n s i n i wurde zum ausserordentlichen
Professor der medizinischen Semiologie ernannt. Als Privatdozenten
habilitierten sich Dr. S. La Franca für interne Pathologie, Dr. D.
T a n t u r r i für Laryngologie.
Ofen-Pest. Dr. J. L o v r i c h habilitierte sich als Privatdozent
für Geburtshilfe.
Zürich. Nach eingeholtem Gutachten der med. Fakultät und
auf deren Vorschlag hin hat der Regierungsrat beschlossen: I. An
der kantonalen Hochschule wird ein Lehrstuhl für physikalische Heil¬
methoden errichtet. II. Als a. o. Professor für physikalische The¬
rapie an der medizinischen Fakultät der Hochschule und als Leiter
der betreffenden poliklinischen Kurse mit Amtsantritt auf 15. Ok¬
tober 1906 wird gewählt: Herr Dr. Ernst Sommer in Winterthur.
(Todesfälle.)
Am 31. August 1. J. verschied infolge Herzlähmung Hofrat Pro¬
fessor Dr. Isidor N e u m a n n, Edler v. H e i 1 w a r t, im 74. Lebens-
jahree. v. Neumann war mehr als zwanzig Jahre lang Leiter der
Klinik für Syphilis in Wien. Er hat als solcher eine Reihe hervor¬
ragende Schüler herangebildet, von welchen wir bloss seinen Nach¬
folger E. Finger, sodann Rille in Leipzig, Ehrmann und
Matzenauer in Wien, Glück in Sarajewo nennen. Er war ein
ausgezeichneter Diagnostiker, leider kein guter Redner, wenn auch
seine Vorlesungen, durch geistreiche Einfälle und witzige Bemer¬
kungen gewürzt, überaus gut besucht waren. Ueber seine wissen¬
schaftliche Tätigkeit wollen wir nächstens eingehend berichten.
Dr. M o r a c h e, Professor der gerichtlichen Medizin an der
med. Fakultät zu Bordeaux.
(Berichtigung.) In No. 35 fehlt in der Arbeit von Dr.
W e i ch a r d t auf S. 1701 bei Kurve a hinter „Technik“ der Hinweis
auf Anmerkung 5.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Niederlassung: Dr. Georg Hofbauer, appr. 1902, in
Bamberg als Spezialarzt für Frauenkrankheiten. — Siegbert Loe-
b i n g e r, appr. 1894, in Nürnberg.
1792
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 36.
Erledigt: die Landgerichtsarztstelle bei dem K. Landgerichte
München II. Bewerber um dieselbe haben ihre vorschriftsmässig be¬
legten Gesuche bei der ihnen Vorgesetzten K. Regierung, K. d. 1., bis
zum 13. September 1. .1. einzureichen.
Auszeichnungen: Den nachgenannten Angehörigen der
Kaiserlichen Schutztruppen wurden in Anerkennung hervorragender
kriegerischer Leistungen allergnädigst verliehen: der Militärverdienst¬
orden 4. Klasse mit Schwertern den Stabsärzten Dr. Weindel und
Dr. Lion und dem Oberarzt Dr. Heim.
Gestorben. Medizinalrat Dr. Georg T e i c h e r, k. Bezirks¬
arzt a. D., 67 Jahre alt in Nürnberg.
Briefkasten.
Unterzeichneter richtet an die Leser dieser Wochenschrift die
höfliche Anfrage, ob schon beobachtet ist, dass bei Personen, welche
das Symptom der Dermographie bieten, während des Kulmi¬
nationspunktes einer Leuchtgasvergiftung durch S t r e i -
chenderHaut mit dem Fingernagel nicht die bekannte Hyperämie,
sondern Hämorrhagien hervorgerufen werden können; ferner,
ob es theoretisch im Bereiche der Möglichkeit liegt, dass
in einem derartigen Zustande durch einfaches Streichen der
Haut strichförmige Blutungen erzeugt werden können.
Da eine solche Beobachtung bezw. die Wahrscheinlichkeit eines
solchen Befundes im vorliegenden Falle Aufschluss über die Täter¬
schaft eines Mordversuchs geben könnte, so wäre Unter¬
zeichneter für jede Auskunft dankbar.
Dr. Arthur Hofmann,
I. Assistent der Chirurg. Abteilung des städt. Krankenhauses in
Karlsruhe.
Korrespondenz.
Erwiderung an Herrn Dr. A. T r e u 1 1 e i n.
Die „vorläufige Bemerkung“ des Herrn Dr. T r e u 1 1 e i n in
No. 33 und 34 der Münchener med. Wochenschrift ist alles andere
als eine Erwiderung auf die von uns erhobenen Vorwürfe; sie geht auf
den Kernpunkt der Sache überhaupt gar nicht ein, sucht vielmehr
von demselben durch Heranziehung anderer Dinge, nämlich der
Frage nach dem „Prioritätsrecht“, von dem in unserer Erklärung nie
die Rede war, abzulenken.
Herr Dr. T r e u 1 1 e i n führt eine Reihe von Zitaten aus seiner
Arbeit an, aus welchen hervorgehen soll, dass er von der Entstehungs¬
geschichte seiner Arbeit nichts verschwiegen habe; kein einziges
Wort jener Zitate lässt aber auch nur ahnen, dass Herr Dr. Treut-
1 e i n das Thema seiner Arbeit sowohl inhaltlich als hinsichtlich der
Fragestellung fertig übernommen hat.
Nicht darum — wie wir klar hervorhoben und wie wir ausser¬
dem Herrn Dr. T r e u 1 1 e i n auch schrieben — handelt es sich, ob
und wie oft die früher publizierte Arbeit Maurers zitiert und be¬
rücksichtigt ist (ob z. B. hervorgehoben ist, dass Maurer als erster
die Beri-Beri als eine chronische Oxalsäurevergiftung ansprach),
sondern einzig und allein darum, dass Herr Dr. T r e u 1 1 e i n nach
dem Hergang der Dinge an den Anfang seiner Arbeit die Angabe
stellen musste, dass Maurer ihm persönlich die Anleitung zu
seiner Untersuchung und sogar die Winke für die Vornahme aller
Einzelheiten derselben gab. Das ist nicht geschehen. Aus
den Darlegungen des Herrn Dr. T r e u 1 1 e i n ergibt sich, dass diese
Angabe absichtlich unterblieb.
Diese Art des Vorgehens richtet sich von selbst.
Der Hergang der Dinge ist ein sehr klarer und einfacher:
Scheube und B ä 1 z haben nachgewiesen, dass bei Beri-Beri
fettige Degeneration der Nerven und des Myokard besteht. E i j k -
mann hat die gleichen Veränderungen bei Hühnern durch Reis¬
fütterung erzielt und anatomisch festgestellt. Maurer hat be¬
hauptet, dass die Beri-Beri eine chronische Oxalsäurevergiftung sei,
hat durch Darreichung von Oxalsäure bei Hühnern beri-beriähnliche
Lähmungen hervorgerufen und hat Herrn Dr. T r e u 1 1 e i n veranlasst,
nachzusehen, ob bei mit Oxalsäure vergifteten Hühnern sich die
gleichen anatomischen Veränderungen auffinden lassen wie bei Beri-
Beri. Diese von Maurer gestellte Frage konnte Herr Dr. Treut-
1 e i n bejahen — das ist das „N e u e“ an Herrn Dr. T r e u 1 1 e i n s
Arbeit.
Wir haben Herrn Dr. Treutlein (schon vor Erscheinen unserer
Erklärung) brieflich mitgeteilt, wie sich nach unserer Auffassung sein
Vorgehen qualifiziert und schliessen hiemit unsererseits die öffentliche
Diskussion in dieser Sache.
Dr. G. Maurer und Prof. Dr. Hermann D ii r c k.
Ein hochgeschätzter Mitarbeiter unseres Blattes übersendet uns
folgenden Ausschnitt aus den „Aerztlichen Mitteilungen“, dem offi¬
ziellen Organ des Leipziger Verbandes:
Frage 394. Welche Zeitschrift ist für den in der allgemeinen
Praxis stehenden Arzt am meisten zu empfehlen? Ich lese die
„Münchener med. Wochenschrift“, um mich wenigstens wissen¬
schaftlich auf der Höhe zu halten, allein einen praktischen Wert
hat sie ja nicht. Für gütige Beantwortung der Anfrage besten
Dank. Dr. E. in D.
Der Kollege schreibt dazu: „Nun bleibt Ihnen nichts übrig, als
einen Fragekasten zu eröffnen, in dem auf die so beliebten Anfragen:
Welches ist das beste Mittel gegen Hautjucken, Gallensteine, Magen-
karzinom? Wie behandelt man „die Querlage“, „den Abort“, „den
Typhus“ etc. eine lapidare Antwort gegeben wird. Ferner sollten
Sie ein Auskunftsbureau über Autos, Motoren etc. eröffnen und
einen Rechtskonsulenten engagieren, der über die Feinheiten der
Taxe und die Liquidationsmöglichkeiten Bescheid gibt“. Wir danken
für den freundlichen Rat, werden ihn aber nicht befolgen. Mit der
Errichtung eines solchen Fragekastens würden wir uns ja auf das
eigenste Gebiet der „Aerztlichen Mitteilungen“ begeben. Wir wollen
uns aber dem Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs nicht aussetzen.
Red.
Amtliches.
(Bayern.)
Kgl. Staatsministerium des Innern.
Bekanntmachung.
Bakteriologische Untersuchungen, hier Postversand von infektiösem
Material betreffend.
Auf Anregung des Reichsamts des Innern werden unter Bezug¬
nahme auf die Ministerialbekanntmachung vom 28. Juli 1905 (M. A. Bl.
S. 35S) für die Verpackung des in Briefen versandten infektiösen
Materiales (mit Ausnahme des Materiales von Pest, Cholera und
Rotz) die nachstehenden ergänzenden Vorschriften erlassen:
Die Verpackung hat in der Weise zu erfolgen, dass jedes Aus¬
flüssen oder Herausfallen ausgeschlossen wird.
Zu diesem Zweck ist bei der Versendung von flüssigem oder halb¬
flüssigem (feuchtem) Infektionsmaterial entweder die Verwendung von
Glas und anderen zerbrechlichen Stoffen ganz zu vermeiden oder
darauf Bedacht zu nehmen, dass Gefässe aus solchem Material durch
eine doppelte Hülle von Holz oder Blech geschützt sind und dass
eine unmittelbare Berührung des zerbrechlichen Behältnisses mit der
sie zunächst umgebenden, in der Regel aus Blech bestehenden Hülle
durch eine Zwischenschicht aus weichem Stoffe verhindert wird. Eine
bestimmte Form der Versandgefässe ist hierbei nicht vorgeschrieben.
Jedoch sollen nur Behältnisse gebraucht werden, die volle Sicherheit
gegen die Verschleppung von Krankheitskeimen bieten.
Bei der Versendung von völlig trockenem Infektionsmaterial,
z. B. von Blut, das an Deckgläschen, Gipsstäbchen, Seidenfäden oder
Eliesspapier angetrocknet ist, oder von ebenso angetrocknetem Ge¬
webesaft, hat die Verpackung in der Weise zu erfolgen, dass die
Untersuchungsproben in Pergament oder in einen ähnlichen undurch¬
lässigen Stoff eingeschlossen und in Blechkästchen mit übergreifendem
Deckel gelegt werden. Auf den Briefumschlägen, die zur Verpackung
der Behälter dienen, soll die zum Abstempeln bestimmte Stelle tun¬
lichst durch einen vorgedruckten Kreis besonders gekennzeichnet sein.
Im übrigen ist der jetzt gebräuchliche Briefumschlag und der
Vordruck auf den Gefässen selbst: „Vorsicht! Infektiöses Material!“
beizubehalten.
M ii n c h e n, den 30. Juli 1906.
Dr. Graf v. F e i 1 i t z s c h.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 33. Jahreswoche vom 12. bis 18. August 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 12 (12*/
Altersschw. (üb. 60 J.) 6 (3), Kindbettfieber — (— ), and. Folgen der
Geburt 1 (— ), Scharlach — (— ), Masern u. Röteln 1 (— ), Diphth. u.
Krupp 1(1), Keuchhusten 2 (1), Typhus — (1), übertragb. Tierkrankh.
— (— ), Rose (Erysipel) 1 (— ), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 2 (2), Tuberkul. d. Lungen 23 (26), Tuberkul. and.
Org. 4 (1) Miliartuberkul. — (— ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 11 (6),
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. 1 (— ), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 2(3), sonst. Krankh. derselb. —(1), organ. Herzleid. 17 (12),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 4 (2), Gehirnschlag
9 (5), Geisteskrankh. 1 (1), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 1 (4), and.
Krankh. d. Nervensystems 5 (2), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 43 (45), Krankh. d. Leber 1 (6), Krankheit, des
Bauchfells 1 (2), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 3 (3), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 3 (5), Krebs (Karzinom, Kankroid) 12 (12),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 4 (1), Selbstmord 5 (2), Tod durch
fremde Hand — (— ), Unglücksfälle 5 (1), alle übrig. Krankh. 3 (8).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 184 (168), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 17,7 (16,2), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 11,9 (10,6).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Miihlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.G.. München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich -«« »-»tit ATTT^iTTirv Zusendungen sind zu adressieren: für die Redaktion Arnulf-
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Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
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München. _ Leipzig. _ Kiel. Würzburg. Nürnberg. Berlin. Erlangen. München. München. München.
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Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang.
No. 37. 11. September 1906.
Originalien.
Die Beziehungen des sexuellen Lebens zur Entstehung
von Nerven- und Geisteskrankheiten.*)
Von Professor Dr. med. Gustav Aschaffenburg, Köln.
I.
Der Titel des Vortrages könnte den Anschein erwecken,
als wollte ich das unerschöpfliche Thema nach allen Seiten
hin besprechen und erörtern. Es wäre dabei vor allen Dingen
wohl — ausser zu der etwas abgedroschenen Frage nach dem
Zusammenhang zwischen Hysterie und Genitalerkrankungen —
Stellung zu nehmen zu dem bedeutsamen Probleme, welchen
Einfluss die Pubertät einerseits, das Klimakterium anderer¬
seits auf das Zustandekommen nervöser und geistiger Stö¬
rungen ausiibt. Soweit möchte ich aber heute mein Thema
nicht ausdehnen. Den Anlass zu dieser Studie schöpfe ich
vielmehr aus den Bedürfnissen der Praxis, die zu einer Stel¬
lungnahme zu der Frage zwingen, welche Bedeutung der Be¬
tätigung sexueller Bedürfnisse zuzumessen ist.
Jeder kennt aus der täglichen Erfahrung die Neurasthe¬
niker, die mit wenigen, meist genau umschriebenen und einander
sehr ähnlichen Klagen den Arzt aufsuchen, Kopfschmerzen oder
Eingenommenheit des Kopfes, Rückenschmerzen, Mattigkeit,
schlechtes Aussehen, und vor allen Dingen das Gefühl der
Arbeitsunfähigkeit und Herabsetzung der Merkfähigkeit und des
Gedächtnisses in beredten Worten schildern. Geht man diesen
Klagen nach und fragt man ohne Umschweife nach Onanie,
so erhält man mit einem Aufseufzen der Erleichterung die Ant¬
wort, dass das tatsächlich das Hauptleiden sei, auf das alles
andere zurückgeführt werden müsse. Solche Kranke ziehen
oft von einem Arzte zum anderen, ohne sich durch ein Ge¬
ständnis ihrer Masturbation von der drückenden Angst befreit
zu haben, weil ihnen leider der Mut fehlt, diese Neigung einzu¬
gestehen, zuweilen auch der Mut, ihr Todesurteil, das ihnen
ihrer Ansicht nach in Gestalt von Rückenmarksschwindsucht
und unheilbarer Geistesstörung droht, entgegenzunehmen.
Eine unerschöpfliche Quelle dieser hypochondrischen Be¬
fürchtungen sind die bekannten Schriften, unter denen
Retaus Selbstbewahrung wohl den ersten Rang ein-
nimmt. Ich habe aber nicht selten den gleichen Symptomen-
komplex bei Leuten gefunden, die nie ein derartiges Werk ge¬
sehen und auch das Konversationslexikon nicht als Quelle
ihrer Beschwerden anzugeben wussten. Sie schöpfen ihre
Ueberzeugung von den traurigen Folgen der Onanie aus jenen
unzähligen Annoncen, die in allen Blättern „Rat bei Mannes¬
schwäche“ ankündigen, und deren Zahl und Häufigkeit den
Kranken auf ein dringendes Bedürfnis hinzuweisen scheint.
Leider ist aber damit die Quelle aller dieser ängstlichen und
nervösen Beschwerden nicht erschöpft. Vor Jahren habe ich
es erlebt, dass ein zweifellos sehr gut gemeinter Vortrag eines
Geistlichen in den nächsten Tagen eine ganze Reihe von Stu¬
denten und junge Männer zu mir führte, denen die Schreckens¬
bilder des Vortrages in die Glieder gefahren waren. Und
*) Nach einem auf der 31. Versammlung der südwestdeutschen
Neurologen und Irrenärzte am 27. V. 06 in Baden-Baden gehaltenen
Vortrage.
No. 37.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
schliesslich stehen auch immer noch viele Aerzte auf dem
Standpunkte, die Onanie schädige den Körper und Geist in
hohem Masse, und ihre Bemerkungen steigern dann oft die Be¬
fürchtungen der Kranken ins Unermessene.
Was ist nun richtig an dieser Auffassung? Löwen¬
feld1) nennt „die Zahl der Fälle geistiger Erkrankung, bei
welchen Masturbation als ursächlicher Faktor wirksam ist,
auch nach den genaueren Erhebungen der Neuzeit immerhin
beachtenswert“. Auch Ziehen2) hat sich noch in der
neuesten Auflage seines Lehrbuches dahin ausgesprochen, dass
die ätiologische Bedeutung der Onanie sehr gering sei, fährt
aber dann fort: „Doch ist es nicht ausgeschlossen, dass in ein¬
zelnen Fällen exzessive Onanie durch ihren erschöpfenden Ein¬
fluss und die mit ihr verbundene abnorme psychische Erregung
zur Entstehung einer Psychose beiträgt.“
Das entspricht meinen Erfahrungen nicht. Ich habe mich
bisher noch in keinem Falle davon überzeugen können, dass
diese Anschauung für den Verfall in geistige Erkrankung be¬
rechtigt ist, und bin weiterhin auch der Ansicht, dass nervöse
Störungen nicht oder nur selten als Folge von Onanie ent¬
stehen. Und doch besteht zweifellos ein ursächlicher Zu¬
sammenhang. Dieser Widerspruch bedarf der Aufklärung. Wir
müssen dabei unterscheiden zwischen der einfachen onanisti-
schen Manipulation und den damit verbundenen psychischen
Erregungen. Wäre die Onanie geeignet, in der ihr zugeschrie¬
benen Weise die körperliche und geistige Gesundheit zu unter¬
graben, so wäre die Zahl der Kranken unermesslich. Es ist
bekanntlich ausserordentlich schwer, sichere Anhaltspunkte
für die Häufigkeit der Onanie zu gewinnen. Ich habe persön¬
lich schon seit langen Jahren überall da, wo ich es in un¬
befangener Weise tun konnte, nach dem Vorkommen von
Onanie gefragt. Auch in meiner Tätigkeit als Gefängnisarzt
habe ich vielfach Nachforschungen in dieser Richtung angestellt.
Wenn ich dabei den kleinen Kunstgriff anwendete, nicht zu
fragen, ob der Befragte onaniert habe, sondern ob er sich in
besonders starkem oder nur in bescheidenem Masse der Onanie
ergeben habe, so blieb die bejahende Antwort fast nie aus. Ich
erinnere mich nur zweier Fälle, in denen Männer mit voller
Bestimmtheit und Glaubwürdigkeit jeden Versuch der Onanie
in Abrede stellten, und beide waren in sexueller Hinsicht an¬
scheinend völlig unentwickelte Personen. Ich habe ferner bei
zwei katholischen Geistlichen Erkundigungen eingezogen. Der
eine bezifferte die Zahl der Onanisten auf höchstens 50 Proz.
aller Männer, wobei er meine gegenteilige Ansicht auf die
Eigenart des von mir befragten Materials — Gefangene und
Kranke — zurückzuführen geneigt war. Dagegen hielt ein
anderer Geistlicher 90 Proz. für zu niedrig gegriffen.
So wird man sich wohl mit der Tatsache begnügen müssen,
dass eine ausserordentlich grosse Zahl von Menschen mastur¬
biert haben, die einen vielleicht nur einige Male in ihrem Leben,
andere in gewissen Perioden der Entwicklungszeit täglich oder
gar mehrmals täglich. Die Tatsache, dass die meisten männ¬
lichen Personen 3) onaniert haben, widerlegt nun zwar keines-
Q Sexualleben und Nervenleiden. 4. Aufl., S. 137.
2) Psychiatrie 1902, S. 256.
3) Ich gehe hier absichtlich nicht auf das weibliche Geschlecht
ein. Bei diesem fehlt es ganz an sicheren Anhaltspunkten für die
Häufigkeit der Onanie.
1
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
1794
wegs die Möglichkeit, dass die Onanie Schaden stiften könnte,
so wenig wie die Tatsache, dass Millionen von Menschen täg¬
lich ohne jeden sichtbaren Schaden Alkohol zu sich nehmen,
ein Gegenbeweis gegen das Vorhandensein von Alkohol¬
psychosen ist4). Immerhin würden wir genötigt sein, einen
schädigenden Einfluss nur dann anzunehmen, wenn entweder
die Masturbation in der unsinnigsten Weise getrieben worden
wäre, oder wenn sie bei einem durch schwere erbliche Be¬
lastung disponierten Individuum vorgekommen ist. Es würde
damit von vornherein die gelegentliche Onanie des körperlich
und geistig gesunden Menschen aus unserer Betrachtung aus-
scheiden, und wir würden uns nur mit den Fällen zu beschäf¬
tigen haben, in denen die Art der Onanie oder die Person des
Onanisten auffällig sind.
Nun lehrt aber die Erfahrung, dass diejenigen Patienten, die
mit ihren Klagen über nervöse Störungen nach Onanie den Arzt
aufsuchen, durchaus nicht die gleichen sind, die besonders
eifrig masturbiert haben. Im Gegenteil, meist haben sie schon
früh einen sehr lebhaften Kampf gegen ihre Neigung geführt,
der, wenn er auch gerade nicht bis zur Unterdrückung der
Neigung siegreich blieb, doch die Handlungen selbst aus ge-
wohnheitsmässigen zu gelegentlichen machte. Damit will ich
aber nicht in Abrede stellen, dass ab und zu junge Leute in
einer geradezu unsinnigen Weise masturbieren. Wo dies aber
geschieht, und vor allen Dingen, wo es in der gleichen Weise
fortgesetzt wird, auch dann, wenn Ermahnungen seitens der
Geistlichen und Lehrer, Belehrungen seitens des Arztes ihre
warnende Stimme erhoben haben, da dürfen wir mit vollem
Recht wohl behaupten, dass die Onanie nicht Ursache, sondern
Erscheinung einer in der Entwicklung begriffenen Erkrankung
oder einer dauernd bestehenden degenerativen Veranlagung
sei. Diesen Standpunkt vertritt übrigens auch Ziehen, indem
er sich dahin ausspricht: „In sehr vielen Fällen ist eine ex¬
zessive, schon sehr früh auftretende Onanie ein Symptom einer
bereits vorliegenden Erkrankung.“
Ebensowenig wie man berechtigt ist, derartige Fälle noch
als im Bereich der Norm befindlich zu betrachten, so wenig
gilt das für diejenigen, bei denen die Art der Masturbation
selbst auf eine enorm gesteigerte sexuelle Erregbarkeit hin¬
weist. H e 1 1 p a c h r>) schreibt: „Es ist bekannt, dass Knaben,
die zu masturbieren angefangen haben, dies vielfach unter den
schwierigsten äusseren Umständen tun, z. B. am Tische
während des Familienessens, oder in der Klasse, oder beim
Turnen an der Kletterstange, oder selbst beim Spielen.“ Man
wird sich doch füglich fragen müssen, ob das psychische Gleich¬
gewicht der geschilderten Jungen als normal betrachtet werden
darf. Es fehlt doch wahrlich nicht an Gelegenheit zum Allein¬
sein, und wenn ein Junge nicht imstande ist, seine Begierde
bis zu diesem Alleinsein zu zügeln, so weist das eben darauf
hin, dass entweder die sxuelle Erregung ungewöhnlich stark
oder die Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, ungewöhnlich
schwach ist. Hier trägt die Art der Selbstbefriedigung, dort die
Häufigkeit den Stempel der nervösen Reaktion', d. h. der Ueber-
treibung.
Ich bin entschieden der Ansicht und zwar einer Ansicht,
die sich auf sorgfältigste Prüfung einer grossen Anzahl von
Beobachtungen stütz-t, dass H e 1 1 p a c h s' Schilderung nur auf
nervöse Kinder zutrifft, dass demnach bei ihnen nicht die
Nervosität eine Folge der Masturbation sein kann. Ganz anders
ist die Sachlage bei den oben erwähnten Neurasthenikern zu
beurteilen, die den Arzt aufsuchen in völliger Kenntnis der
Symptome, der Aetiologie und der Therapie. Wenigstens geben
diese Kranken an, dass sie, wenn es ihnen einmal geglückt sei,
dem I riebe der Masturbation einige Wochen zu widerstehen,
eine erhebliche Besserung ihrer Beschwerden gefühlt hätten.
Leider ist diese Besserung nur selten von Dauer, denn selbst
dann, wenn es ihnen glückt, auch weiterhin ihre sexuelle Er-
‘) Es ist eigentlich wohl eine selbstverständliche Forderung medi¬
zinischen Denkens, dass wir nur da von einer „Ursache“ einer Er¬
krankung reden dürfen, wo die anscheinende Ursache eine unbe¬
dingte Voraussetzung der Folgeerscheinungen ist; diese Forderung
wird leider nirgendwo 'so oft vernachlässigt, wie auf dem Gebiete der
nervösen Störungen.
5) Grundlinien einer Psychologie der Hysterie, S. 414
regung zu zügeln, pflegen doch die Beschwerden allmählich
wiederzukommen, unter denen dann die Furcht vor Tabes in
den Vordergrund tritt. Den Schlüssel zu der Schwierigkeit,
diese Zustände zu erklären, bieten uns diejenigen Fälle, in denen
Nervöse auch nach der Verheiratung, oder auch wenn sie
ausserehelich regelmässigen Geschlechtsverkehr pflegen, noch
ab und zu das Verlangen nach Masturbation empfinden und
ihm nachgeben. Auch dann entwickelt sich der gleiche Syin-
ptomenkomplex, wenn auch die einzelnen masturbatorischen
Akte wochen- und monatelang auseinanderliegen, so dass von
einer körperlichen Schädigung ernstlich nicht geredet werden
kann.
Ist diese denn überhaupt bei der Masturbation zu er¬
warten? Gewiss wird es für einen in der Entwicklung be¬
griffenen Körper nicht förderlich sein, wenn die Keimdrüsen
zur Produktion häufiger angereizt werden, als der natürlichen
Entwicklung entspricht. Aber wenn wir mit diesen Onanisten
die zahlreichen jungen Leute vergleichen, die normalen Ge¬
schlechtsverkehr pflegen, und zwar mit dem ganzen Ungestüm
unvernünftiger Jugend, die dabei vielleicht wochenlang einen
Teil der Nachtruhe opfern und trotzdem, frisch und elastisch,
keine Spur von Ueberanstrengung, Leistungsunfähigkeit oder
körperlichen Zusammenbruchs zeigen, so müssen wir uns doch
fragen, ob denn tatsächlich die Verausgabung von Sperma von
so grosser Bedeutung ist. Meines Erachtens spielen diese Fak¬
toren kaum eine Rolle gegenüber der Grösse des psychischen
Anteils. Fast stets bringt die onanistische Manipulation schon
dadurch eine gewisse Aufregung mit sich, dass der Onanierende
sich vor Entdeckung fürchtet, die Gelegenheit abpassen muss,
in der er sich unbeobachtet glaubt, und auch dabei von der
meist übertriebenen Furcht, entdeckt zu werden, geplagt wird.
Viel stärker wirkt das Gefühl der Scham. Die Onanie gilt als
eine widernatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes, und
dies Bewusstsein des moralisch Verwerflichen und Unerlaubten
quält und peinigt den Handelnden umsomehr, je sensitiver seine
ganze Natur veranlagt ist. Nicht selten drückt ihn auch dauernd
die Furcht, man könne ihm sein Tun und Treiben ansehen,
dunkle Ringe um die Augen, müder Ausdruck, schlaffe Haltung
könnten ihn verraten. Den letzten Rest gibt dann dem unter
all diesen Eindrücken leidenden Nervensystem das Gefühl
mangelnder Willensstärke. Jeder Onanist nimmt
sich jedesmal von neuem vor, nunmehr von der Neigung ab¬
zustehen und die Versuchung zu überwinden, jedesmal mit
dem gleichen geringen Erfolge; und jedesmal erhebt sich un¬
mittelbar darnach die lähmende Empfindung, wieder einmal
nicht genug Energie gezeigt zu haben, wdeder einmal schwach
geworden zu sein. Daraus entwickelt sich dann immer stärker,
immer störender und lähmender die Ueberzeugung, der Willens¬
kraft zu ermangeln, und aus dieser Empfindung heraus das Ge¬
fühl, auch sonst nicht leistungsfähig zu sein.
Wer sich Mühe gibt, den Gedankengängen eines Onanisten
nachzugehen, der wird schliesslich immer an diesem Punkt Halt
machen und hier die Quelle aller dieser hypochondrischen und
sonstigen Beschwerden erkennen. Den Bewreis für die Richtig¬
keit zu führen, ist vielfach gar nicht schwer. Es ist mir oft
geglückt, in ein- oder zweimaliger Unterredung, in denen ich
die Folgen der Masturbation auf das richtige Mass zurückführte
und dem Patienten die psychische Genese seiner Beschwerden
klar machte, die sämtlichen Erscheinungen zum Verschwinden
zu bringen. Ich habe Viele dieser Patienten noch monatelang
nachher gesehen; die Erscheinungen blieben weg, obgleich
durchaus nicht alle von da ab die Neigung zur Onanie besiegt
hatten.
H e 1 1 p a c h hat im Anschluss an die Freud sehen Ge¬
dankengänge die Vorstellung entwickelt, dass der Masturbant
und zwar besonders dann, wenn er unter den oben geschilderten
äusseren Umständen onaniert, zur Unterdrückung der Gefühls¬
erlebnisse und der zu diesen gehörigen Ausdruckserscheinungen
gezwungen sei, und dass dadurch gemäss der Erscheinung der
„Affektverdrängung“ und der „Verhinderung der Ausdrucks¬
erscheinungen“ sich durch Konversion ein nervöses Symptom
entwickeln müsse. Ich sehe diese Notwendigkeit absolut nicht
ein. Mir genügt meine Auffassung zur Deutung der Symptome
und was wichtiger ist, zu ihrer Erklärung und Beseitigung.
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1795
Soll man nun den Masturbanten anraten, die Onanie voll¬
ständig zu unterlassen? Ich halte mich als Arzt nicht für be¬
rechtigt, in der Behandlung von Kranken, die bei uns Hilfe
suchen, die moralischen Gesichtspunkte gegenüber den ärzt¬
lichen in den Vordergrund zu schieben. Ich pflege gleichwohl
meinen Kranken die Onanie zu untersagen, allerdings nicht in
einer sehr schroffen Form, denn ich rechne damit, dass es
durchaus nicht jedem Menschen gegeben ist, sich auf diesem
Gebiete zu beherrschen, und halte es für unrichtig, die von mir
mit Recht so gefürchtete Empfindung der Willensschwäche
durch meine Anordnung zu steigern. Ich habe es aber oft er¬
lebt, dass es den Kranken viel leichter geworden ist, von dem
Augenblicke an sich zu überwinden, wo sie die Masturbation
nicht mehr als etwas so Gefährliches und Entsetzliches be¬
trachteten. So lange sie durch jeden einzelnen Rückfall ihr
Rückenmark zu schädigen fürchten, so lange denken sie fort¬
während an die Möglichkeit der Wiederholung. Ist diese
Furcht verblasst, so schwindet auch dieses zwangartig auf¬
tretende Denken an die Onanie.
Zu einem ganz ähnlichen Standpunkt bin ich bezüglich der
Schädigungen gekommen, die von manchen Seiten (Marcuse* * 6)
der Enthaltung vom Geschlechtsverkehr zugeschrieben werden.
Ich glaube, dass auch für diejenigen Fälle, in denen der völlige
Verzicht auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse nervöse
Störungen auslöst, die Hauptquelle nicht in der Enthaltsamkeit
als solcher gelegen ist, d. h. in der Aufspeicherung von Sperma,
dessen sich ja der Körper auf natürliche Weise zu entledigen
weiss, oder gar in dem Mangel an sexueller Befriedigung. Viel¬
mehr sind es auch hier die Vorstellungen, die sich am gefähr¬
lichsten erweisen. Nicht diejenigen werden nervös, die ge¬
legentlich langer Reisen und Trennung von der Frau sexuell
abstinent leben oder sich während des grössten Teiles der
Schwangerschaft und in den ersten Monaten nach der¬
selben zurückhalten, sondern diejenigen, die durch ein Gelübde
— Zölibat — oder infolge freiwilligen Entschlusses zu dauern¬
dem Verzicht auf den Geschlechtsverkehr gezwungen sind.
Wer sich bewusst ist, dass die Abstinenz jederzeit beendet
werden kann, oder wenigstens den Termin der Beendigung
voraussieht, befindet sich dabei unter ganz anderen psychischen
Bedingungen, wie derjenige, der zu dauernder Abstinenz ge¬
zwungen ist. Wenn es auch den meisten glückt, allmählich ihr
Verlangen nach geschlechtlichem Verkehr zu überwinden, und
wenn schliesslich auch die sexuellen Begierden immer
schwächer werden, so dass sie kaum mehr lästig fallen, so gibt
es doch auch Ausnahmen, die einen fortdauernden Kampf be¬
stehen, und bei denen gerade die Furcht vor dem Unterliegen
und die Aussicht auf die Endlosigkeit des Kampfes die Auf¬
merksamkeit zwangsweise stärker und stärker auf das sexuelle
Gebiet hinlenkt, bis sie entweder der Versuchung unterliegen
oder bis sich nervöse Beschwerden entwickeln.
Löwenfeld7), der nicht ganz abgeneigt ist, der Ab¬
stinenz schädigende Wirkungen zuzuschreiben, fasst seine Auf¬
fassung schliesslich doch in den Worten zusammen: „Der
sexuell normal veranlagte Mann, der seine Widerstandsfähig¬
keit gegen sinnlich erregende Eindrücke nicht durch sexuellen
Missbrauch herabgedrückt hat, kann sogar bei arbeitsamer,
hygienisch geregelter Lebensweise die Abstinenz dauernd ohne
nennenswerte Molesten ertragen, und sicher fällt die Enthalt¬
samkeit im allgemeinen um so leichter, je konsequenter dieselbe
unter allen Verhältnissen durchgeführt wird.“
Ich möchte noch weiter gehen und diese Auffassung auch
auf die nervös Prädisponierten übertragen, vorausgesetzt, dass
man in ihnen nicht die Vorstellung weckt und unterhält, dass
die Abstinenz etwas Schädliches sein könne. Ganz gewiss aber
ist es unrichtig, dass Freud der sexuellen Abstinenz eine so
bedeutsame Rolle zuweist; er sieht in ihr einen der „häufigsten
Anlässe zur Angstneigung“ und spricht sich an anderer Stelle
dahin aus8): „Die hysterischen Symptome treten fast niemals
8) Darf der Arzt zum ausserehelichen Geschlechtsverkehr raten?
Leipzig 1904 und Monatsschr. f. Harnkrankh. u. sexuelle Hygiene
1905, Heft 8, 9.
7) Sexualleben und Nervenleiden, S. 88.
s) Bruchstück einer Hysterieanalyse. Monatsschr. f. Psychiatrie,
Bd. 18, S. 437.
auf, so lange die Kinder masturbieren, sondern erst in der Ab¬
stinenz, sie drücken einen Ersatz für die masturbatorische Be¬
friedigung aus.“ In einer Fussnote fügt er dem bei, dass für
Erwachsene prinzipiell dasselbe gelte, doch reiche hier schon
relative Abstinenz und Einschränkung der Masturbation aus.
Ich verstehe nicht, wie Freud der Unterdrückung der
Masturbation diese Wirkung zuschreiben kann. Ich könnte ihm
Hysterische (ebenso natürlich auch Neurastheniker) genug vor¬
führen, bei denen es mir ohne erhebliche Schwierigkeiten ge¬
lungen ist, die Masturbation ganz zu unterdrücken oder auf ver¬
einzelte Fälle zu beschränken, und in denen gerade das dadurch
gewonnene Gefühl des Selbstvertrauens erheblich dazu beitrug,
eine Reihe der hysterischen Erscheinungen zum Verschwinden
zu bringen.
Nicht ob jemand masturbiert oder ganz auf sexuelle Betäti¬
gung verzichtet, ist von Bedeutung für die Entstehung nervöser
Krankheitserscheinungen, sondern ob er von der Masturbation
oder der Abstinenz schädliche Folgen befürchtet. Nicht die
Onanie macht krank, noch die Abstinenz, sondern die Vor¬
stellungen, die daran geknüpft werden.
II.
Durch Freuds Arbeiten ist in den letzten Jahren das
ganze Sexualleben in einer überaus aufdringlichen Weise in den
Vordergrund der Auffassung der Neurosen geschoben worden.
Freud hat bekanntlich vor mehr als 10 Jahren in
seinen Studien über Hysterie 9 *) die Behauptung auf¬
gestellt, der Hysterische leide grösstenteils an Reminis¬
zenzen. In der letzten Zeit hat sich nun seine Auf¬
fassung mehr und mehr dahin zugespitzt: „In keinem einzigen
Falle von Hysterie 10) habe ich jene psychische Bedeutung ver¬
misst, welche die Studien postulieren, das psychische Trauma,
den Konflikt der Affekte und, wie ich in späteren Publikationen
hinzugefügt habe, die Ergriffenheit der Sexualsphäre.“
Weiter11): „Nach einer Regel, die ich immer wieder bestätigt
gefunden, bedeutet ein Symptom die Darstellung einer Phan¬
tasie mit sexuellem Inhalt.“ Und schliesslich12): „Die Krank¬
heitserscheinungen sind, geradezu gesagt, die sexuelle Be¬
tätigung des Kranken.“
Wenn Freud nur solche Fälle als hysterische bezeichnen
würde, bei denen er diese sexuellen Ursachen auffinden kann,
so würde es ihm ein leichtes sein, allen Einwänden zu begegnen,
indem er die nicht sexuellen Fälle der Neurasthenie und den
Angstneurosen usw. zuweisen würde. Das tut er aber nicht;
im Gegenteil sind gerade Neurasthenie und Angstzustände für
ihn immer auf eine sexuelle Ursache zurückzuführen. „Es er¬
gab sich, dass die Form der Erkrankung, ob Neurasthenie oder
Angstneurose, eine konstante Beziehung zur Art der sexuellen
Schädlichkeit zeigte“13)- „DasWesen der Psychoneurosen liegt
in Störungen der Sexualvorgänge, jener Vorgänge im Organis¬
mus, welche die Bildung und Verwendung der geschlechtlichen
Libido bestimmen.“ „In den typischen Fällen der Neurasthenie
war regelmässig Masturbation oder gehäufte Pollutionen, bei
der Angstneurose waren Faktoren wie der Coitus interruptus,
die frustrane Erregung und andere nachweisbar, an denen das
Moment der ungenügenden Abfuhr der erzeugten Libido das
Gemeinsame schien,“
Wer die Freud sehen Veröffentlichungen aus den letzten
12 Jahren verfolgt hat, wird sich über die Betonung des
sexuellen Vorstellungslebens nicht wundern. Hat Freud es
doch in seinem neuesten Werke so weit gebracht, Onanie und
sexuelle Perversion schon im Säuglingsalter nachzuweisen 14)
9) Breuer-Freud: Studien über Hysterie, 1895, S. 5 ff.
10) Breuer-Freud: Studien über Hysterie, 1895, S. 297.
11 ) Breuer-Freud: Studien über Hysterie, 1895, S. 413.
12) Breuer-Freud: Studien über Hysterie, 1895, S. 461.
13) Freud bei Löwenfeld: Sexualleben und Nervenleiden.
4. Aufl., S. 243.
14) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905: „Die erste und
lebenswichtigste Tätigkeit des Kindes, das Saugen an der Mutter¬
brust (oder an ihren Surrogaten) muss es bereits mit dieser Lust
(gemeint ist die autoerotische Befriedigung) vertraut gemacht haben“
(S. 37). „Der Säuglingsonanie entgeht kaum ein Individuum“ (S. 42).
„Die Enuresis nocturna entspricht, wo sie nicht einen epileptischen
Anfall darstellt, einer Pollution“ (S. 43). Die Liebe des Sohnes für
1*
i/yo
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
und aus diesen psychischen Erlebnissen für die weitere Ent¬
wicklung des Individuums die wichtigsten Schlüsse zu ziehen.
So lange Freud mit seiner Behauptung allein stand,
t konnte man sich darauf beschränken, seinen zweifellos recht
* interessanten Gedankengängen nachzugehen, vielleicht auch,
wenn man sich dazu berufen fühlte, an einem oder dem anderen
Falle den Wert seiner Theorie und seiner Behandlungsmethode
zu versuchen. Nachdem aber neuerdings namhafte Autoren,
unter denen ich besonders neben Loewenfeld und Hell-
pach die Züricher Psychiater Bleuler und Jung nennen
will, für Freud eingetreten sind, dürfte es an der Zeit sein,
zu den Freud sehen Behauptungen auch öffentlich Stellung zu
nehmen.
Freuds Gedankengang ist in Kürze gesagt, folgender:
Das Gedankenleben der Hysterischen ist erfüllt von Re¬
miniszenzen, in denen in keinem Falle das psychische Trauma,
und zwar das sexuelle vermisst wird. Die sexuellen Erlebnisse,
gleichgültig ob es sich um das Erblicken einer obszönen Situa¬
tion, um einen sexuellen Angriff, um masturbatorische Hand¬
lungen oder auch nur um Vorstellungen handelt, die den Kran¬
ken zu irgend einer Zeit von der frühesten Kindheit an aufwärts
durch den Kopf gegangen sind, rufen einen lebhaften Affekt her¬
vor. Da dieser Affekt in den seltensten Fällen genügend kör¬
perlichen Ausdruck (durch Weinen, Schreien usw.) finden, sich
nicht ausreichend austoben kann, so wird er verdrängt und
auf dem Wege der Konversion, wofür wir wohl richtiger
Umwandlung sagen würden, umgestaltet. An die Stelle der Vor¬
stellungen, die dem Bewusstsein entschwunden zu sein pflegen,
treten Empfindungen (Globus, Clavus, Zusammenschnüren der
Brust), Bewegungen, Lähmungen, Anfälle usw. Gelingt es
nun, bei solchen Kranken bis zur Quelle der Beschwerden vor¬
zudringen, so wird durch das Aussprechen die früher ent¬
standene verdrängte Affekterregung zur Lösung gebracht, ab¬
reagiert, wie Freud das nennt, und damit ist das Symptom
beseitigt.
Ich will hier gleich vorwegnehmen, dass in diesem Ge¬
dankengange ein richtiger Kern steckt, der wohl erklärt, warum
ein sonst so nüchterner Beobachter wie Bleuler für Freud
eintritt. Besonders bei den Angstneurosen finden wir ebenso
wie bei der traumatischen Hysterie als Ausgangspunkt der
Beschwerden, affektive Erlebnisse. Sehr häufig haben diese
Beschwerden mit dem ursprünglichen Erlebnisse nichts zu tun,
nicht selten stehen sie auch in einem direkten Zusammenhänge,
dessen sich dann allerdings der Kranke meist vollauf bewusst ist,
so dass von einer Verdrängung gar keine Rede sein kann. Eine
ruhige Aussprache über das ursächliche Erlebnis, besonders
aber die aufklärende Beseitigung der sich an das Erlebnis an-
knüpfenden hypochondrischen Vorstellungen — ich verweise
hier auf das oben von der Onanie Gesagte — wirkt in solchen
Fällen wie das Oeffnen eines Ventils bei einem überheizten
Dampfkessel. Die Spannung löst sich, und es tritt oft wie mit
einem Zauberschlage eine völlige Beruhigung der Kranken ein,
die krankhaften Symptome verschwinden.
Ich halte es geradezu für einen Gewinn, sowohl für die
Kenntnis vom Wesen der Hysterie, wie für das Verständnis der
einzelnen Erscheinungen und endlich am meisten für die Be¬
seitigung einzelner Erscheinungen, wenn jeder, der sich mit der
Hysteriebehandlung beschäftigt, versuchen würde, sich den
erwähnten guten Kern der Freud sehen Lehre zu eigen zu
machen. Die Hysterie ist eine psychische Er¬
krankung, der nur von der psychischen Seite
beizukommen ist, und das mit aller Entschiedenheit be¬
tont zu haben, wird auch der als ein Verdienst Freuds an¬
erkennen müssen, der im übrigen den Freud sehen Anschau¬
ungen keinerlei Allgemeingültigkeit zuerkennen will.
Freud behauptet, dass in jedem Falle ein sexuelles
Trauma der Entstehung einer Hysterie vorangehen müsse. So¬
fort erhebt sich die Frage, wie er dann das ganze grosse Ge¬
biet der traumatischen Hysterie erklären will, wo die sexuelle
Aetiologie zu suchen ist, wenn sich an einen Schlag auf den
Arm eine Lähmung des Armes einstellt, nach einem Fall die
die Mutter, der Tochter für den Vater ist „eine deutlich inzestuöse
Phantasie“ (S. 67).
Beine gelähmt sind, wenn ein Eisenbahnzusammenstoss einen
Dämmerzustand, ein herunterfallender Blumentopf vor die
Fiisse eines Vorbeigehenden eine Stimmbandlähmung hervor¬
ruft. Andererseits bedarf es zur Heilung des Symptoms auch
nicht des umständlichen Weges der Psychoanalyse, wie uns
täglich die blendenden Erfolge von Kurpfuschern, der blauen
Elektrizität und aller möglicher mystischen Behandlungsarten
lehren können.
Um Freud ganz zu verstehen, ist es notwendig, auf die
Art und Weise einzugehen, wie er zu seiner Anschauung ge¬
kommen ist.
Freud 15) forscht seine Kranken in der Weise aus, dass
er sie ausfragt, und zwar nicht nur, indem er sich einfach be¬
richten lässt, was sie bewusst in der Erinnerung haben, son¬
dern indem er sie in der Hypnose oder in einer Art Wach-
träumens erzählen lässt, was ihnen in bestimmten Situationen
einfällt. Zu dem gleichen Zwecke lässt er sich Berichte von
dem machen, was die Patienten träumen. Er benutzt nun ein¬
zelne Worte, die er in seiner Weise deutet, um bis zu den
letzten Quellen der Erscheinung vorzugehen. Hier muss nun
die Kritik einsetzen. Liest man die sämtlichen F r e u d sehen
Veröffentlichungen, so kann man sich des Gedankens wohl nicht
einen Augenblick erwehren, dass Freud in die Worte der
Kranken einen Sinn hineinlegt, der nicht darin liegt, wenigstens
nicht von vornherein liegen muss.
Einen neuen Weg, in das Denken des Menschen einzu¬
dringen, hat neuerdings Jung 16) empfohlen. Er lässt auf eine
Reihe von Worten Assoziationen bilden, deren Zeitdauer er mit
der Fünftelsekundenuhr misst. Nachher lässt er dann die Re¬
aktionsworte reproduzieren. Sowohl die Art der Reaktion, wie
die Dauer der Reaktionszeit, wie endlich die Fehler der Repro¬
duktion weisen auf Vorstellungskomplexe hin, die störend in
die Vorstellungsbildung eingegriffen haben. J u n g benutzt
dann die so gewonnenen Hinweise, um weiteres von den unter¬
suchten Personen zu erfahren. Da diese Methode erst in einem
Falle angewendet worden ist, so lässt sich über ihre Brauch¬
barkeit einstweilen noch nichts sagen.
Freud hat in jedem Fall als Endausgang aller nervösen
Beschwerden sexuelle Erlebnisse gefunden. Wir werden daher
der Frage nicht aus dem Wege gehen können, wie diese auf¬
fallenden Ergebnisse, deren Allgemeingültigkeit ich durchaus
bestreiten muss, zustande kamen. Loewenfeld17) glaubt
die F r e u d sehe Auffassung nur dadurch erklären zu können,
dass ein seltsamer Zufall ihm ein Krankenmaterial zuführt, bei
welchem lediglich solche Momente Vorlagen.
Ich halte diese Erklärung für njeht zutreffend. Es ist ja
sehr begreiflich, dass der Ruf Freuds ihm leicht Leute zu¬
führt, in deren Leben sexuelle Vorgänge eine besondere Rolle
gespielt haben, und die davon befreit werden möchten, aber
dass nur solche Fälle zu ihm kommen, ist doch wohl kaum
anzunehmen.
Ebensowenig kann ich Loewenfelds Ansicht zu der
mehligen machen, dass Freud die Technik der psychoana¬
lytischen Methode zur Zeit allein beherrscht, ,,so dass eine
Nachprüfung seiner Befunde vorerst ausgeschlossen ist“. Ge¬
wiss ist es nicht jedermanns Sache, aus kleinen Andeutungew
ein Bild von der Person zu gewinnen, aber so besonders schwer
ist das auch nicht, sonst müssten wir in der Psychiatrie von
vornherein die Waffen strecken. Mir scheint eine derartige
künstliche Erklärung der Verschiedenheit der Ergebnisse
Freuds und anderer leicht begreiflich, wenn man von den Er¬
fahrungen ausgeht, die man bei Assoziationsexperimenten
machen kann.
15) „Es gibt nur ein Mittel, über das Geschlechtsleben der sog.
Psychoneurotiker (Hysterie, Zwangsneurose, fälschlich sog. Neur¬
asthenie, wahrscheinlich auch Paranoia) gründliche und nicht irre¬
leitende Aufschlüsse zu erhalten, nämlich wenn man sie der psycho¬
analytischen Erforschung unterwirft, deren sich das von
J. Breuer und mir 1893 eingesetzte kathartische Heilverfahren
bedient.“ (Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie; S. 22.)
16) Jung: Diagnostische Assoziationsstudien. Psychoanalyse
und Assoziationsexperiment. Journal f. Psychol. u. Neurol., VI. Bd„
H. 1 u. 2.
17) Loewenfeld: Sexualleben und Nervenleiden, 4. Aufl.,
S. 254, spricht an dieser Stelle nur von Neurasthenie im engeren Sinne.
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1797
Jedes Wort ruft in dem Hörenden eine Fülle von Vorstel¬
lungen wach. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass
das zuerst klarwerdende, in den Vordergrund tretende Wort
durchaus nicht zufällig zu dieser Stellung kommt. Wenn ich
mich eine Stunde lang mit Musik beschäftigt habe, und es fällt
dann das Wort „Ton“, so wird die auftauchende Vorstellung
wahrscheinlich dem Gebiete der Musik entnommen sein. Habe
ich gerade kurz vorher mich mit Bildhauerei beschäftigt, so
liegt die Vorstellung „Ton“ als in der Plastik verwendete Sub¬
stanz näher. In unserem Denken wird fortdauernd das Anein¬
anderknüpfen der Vorstellungen durch diejenige Gedanken¬
gruppe beeinflusst, die zurzeit im Vordergründe des Bewusst¬
seins steht. Noch deutlicher tritt das hervor bei der sog. fort¬
laufenden Assoziationsmethode, bei der ein Wort als Ausgangs¬
punkt einer langen Reihe hintereinander folgender Assozia¬
tionen gilt. In solchen Fällen sehen wir oft Assoziationen
hintereinander auftauchen, die deutlich ein bestimmtes Lebens¬
ereignis wiederspiegeln.
Nun unterscheidet sich Freuds Psychoanalyse kaum von
einem solchen Assoziationsexperiment. Er lässt die unter¬
suchte Person frei fortlaufend assoziieren, nur dass er hier und
da, wenn er einen bestimmten Hinweis zu entdecken glaubt,
die Aufmerksamkeit der Patienten darauf hinlenkt, und nun
von diesem neugewonnenen Ausgangspunkte weiter assoziieren
lässt. Die meisten Kranken, die zu F r e u d gehen, wissen aber
schon im voraus, worauf Freud hinaus will und dieser Ge¬
danke ruft sofort den Vorstellungskomplex des sexuellen
Lebens wach. Soweit das nicht spontan der Fall ist, hilft
Freud eingreifend nach, der jedes Wort, das sich sexuell
deuten lässt, sofort festnagelt, und zwar, indem er unverhohlen
die sexuelle Erklärung gibt. Dadurch wird die Konstellation:
„Sexualleben“ sofort so in den Vordergrund gestellt, dass nur
derjenige davon freibleiben könnte, der überhaupt keine sexuel¬
len Vorstellungen hat. Nimmt man schliesslich dazu noch die
absolut willkürliche Deutung — ich kann nicht umhin, das
Wort in seiner ganzen Schärfe zu gebrauchen 18) — , mit der
Freud allen möglichen harmlosen Vorgängen einen sexuellen
Sinn unterlegt, so ist es selbstverständlich, dass er immer
wieder auf sexuelle Erlebnisse seine Psychoanalyse begründen
muss.
Gegen diese Erklärung lässt sich nur ein Einwand erheben,
der nämlich, dass die Kranken ihm selbst die Richtigkeit seiner
Anschauungen bestätigen. Aber auch diese Erklärung ist wenig
stichhaltig. Erleben wir es doch alle Tage, dass Kranke und
Gesunde Erklärungen für Geschehnisse aussprechen und von
anderen annehmen, die mehr als thöricht sind. Es hiesse übri¬
gens die Macht des Einflusses vollständig verkennen, den der
Arzt auf seine Patienten ausiibt, besonders wenn man hinzu-
18) Ich weiss sehr wohl, dass einzelne der Deutungen, aus dem
Zusammenhang gerissen, noch absurder klingen; wenn ich daher zum
Beweise einige besonders willkürlich gedeutete Stellen erwähne, so
bitte ich alle die, denen eine ernstliche Nachprüfung Gewissenspflicht
ist, die betreffenden Stellen im Originale zu lesen. Der Traum, dass
ein Fleischhauer sagt, das Gewünschte sei nicht mehr zu haben, weist
darauf hin, dass jemand die Hose nicht ordentlich geschlossen hat;
ein Gemüse, schwarz und in Bündeln zusammengebunden, weist auf
Spargel und Rettich, i. e. auf den Penis hin (Die Traumdeutung, S. 125).
Eine Schachtel = (engl.) box — Büchse = weiblicher Geschlechtsteil
(a. a. O. S. 107). „Wenn eine Frauensperson vom Fallen träumt, so
hat das wohl regelmässig einen sexuellen Sinn, sie wird eine Ge¬
fallene“ (S. 139). Zimmer = Frauenzimmer (S. 147). „Ob ein
(Zimmer =) Frauenzimmer , offen* oder .verschlossen* ist, kann natür¬
lich nicht gleichgültig sein. Auch welcher , Schlüssel* in diesem Fall
öffnet, ist wohlbekannt.“ (Bruchstück einer Hysterieanalyse. Monats¬
schrift f. Psychiatrie, XVIII, S. 427.) Bahnhof und Friedhof = Vorhof
der weiblichen Genitalien. „Nymphen“ im Hintergründe eines „dich¬
ten Waldes“ (NB. auf einem Bilde): „symbolische Sexualgeographie“
(a. a. 0. S. 450). Weitere Beispiele in der gleichen Arbeit S. 443 An¬
merkung und besonders S. 414, wo das Wort „vermögend“ so lange
umgedeutet wird, bis es den Schlüssel zu einem nervösen Husten
bildet, der der Vorstellung der sexuellen Befriedigung in ore (!)
entspringt Ganz ins Gebiet der Mystik möchte ich die Deu¬
tung des Vergessens (Zur Psychopathologie des Alltagslebens, S. 10)
und die des Vergreifens (S. 60, 61) und der Symptomhandlungen
(S. 66) verweisen. Ich halte die ablehnende Stellung, die Spiel-
m e y e r (Zentralbl. f. Nervenheilk. 1906, S. 322) zu den Freud sehen
Deutungsbestrebungen einnimmt, für durchaus zutreffend.
nimmt, dass Freud selbst von der Richtigkeit seiner An¬
schauung überzeugt und seine Patienten hysterisch sind, wollte
man darauf viel Wert legen, dass die Kranken seinen Er¬
klärungen zustimmen.
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass Freuds
Kranke ihn bewusst oder unbewusst belogen haben, und ebenso¬
wenig, dass nicht ab und zu Freud mit seiner Methode auch
einmal auf den richtigen Kern kommt. Wenn aber bei ihm
dauernd immer als Endergebnisse seiner Psychoanalyse das
sexuelle Trauma erscheint, so ermöglicht für meinen Begriff
nur eins eine ausreichende Erklärung, die Auffassung nämlich,
dass Freud sowohl, wie seine Patienten einer Auto¬
suggestion unterliegen.
F r e u d hat seiner Behauptung nach mit seinem Verfahren
ausgezeichnete therapeutische Erfolge gehabt, und
das ist derjenige Punkt, der am meisten Beachtung verdient.
Wir sind in der Hysteriebehandlung soweit entfernt, für jeden
Fall denjenigen Weg zu kennen, der mit Sicherheit zum Ziele
führt, dass wir mit Freude jeden Fingerzeig benützen müssen,
der zum Besten unserer Kranken verwertet werden kann. Wir
würden deshalb auch unbedenklich die Schattenseiten mit in
Kauf nehmen müssen, die mit Freuds Behandlung verbunden
sind. Die Anwendung der Hypnose bei Hysterischen wird
von vielen als prinzipiell bedenklich verworfen, besonders
von Seiten derer, die mit C h a r c o t in der Hypnose ein
hysterisches Symptom erblicken. Soweit möchte ich nicht
gehen. Ich habe in einzelnen Fällen zur Beseitigung eines
besonders lästigen und hartnäckigen Symptoms die Hypnose
auch bei Hysterischen mit bestem Erfolge angewandt. Immer¬
hin halte ich die Hypnose für nicht so gleichgültig, die mit
ihr verbundene Aufregung, das Gefühl der Abhängigkeit vom
Hypnotisierenden für zu bedenklich, um nicht vor häufiger
Anwendung bei Hysterie warnen zu müssen. Fast noch mehr
gilt das für das Wachträumen. Die Hypnose hat ein einiger-
niassen geübter Hypnotiseur in seiner Gewalt. Gewöhnt er
aber seinen Patienten das Wachträumen an, so kann das für
diesen nur schädlich sein. Ich halte diese Dressur, seinen Ge¬
danken ziellos freien Lauf zu lassen, für ausserordentlich un¬
geeignet bei solchen Kranken, bei denen es gerade unsere Pflicht
ist, sie zu einem klaren, ruhigen und vor allem zu einem ob¬
jektiven Denken zu erziehen. Neben diese Schattenseiten der
Freud sehen Methode möchte ich als dritte die starke Be¬
vorzugung der sexuellen Gesprächsgegenstände stellen. Es
gehört wirklich nicht zu den Annehmlichkeiten, wenn man ge¬
zwungen ist, etwa in einem Falle von perverser Sexual¬
empfindung oder bei der Begutachtung von Sittlichkeitsver¬
brechern sich mit allen Einzelheiten des sexuellen Lebens zu
beschäftigen. Aber immerhin ist das noch etwas anderes, wie
dieses behagliche Breittreten der intimsten sexuellen Einzel¬
heiten und alles dessen, was eine Kranke sich vom sexuellen
Leben vorstellt.
Auf die Gefahr hin, von Freud und seinen Anhängern für
unwissenschaftlich erklärt zu werden, muss ich gestehen, dass
mir die Breite, mit der Freud in dem Falle, den er in seiner
Arbeit: Bruchstück einer Hysterieanalyse.19) schildert, das
Geschlechtsleben erörtert und die Einzelheiten, über die dabei
gesprochen wurde, zumal bei einer 18 jährigen Patientin, einen
nachhaltigen Widerwillen erregt haben. Und doch würde mich
das nicht einen Moment verhindern können, die Methode an¬
zuwenden, wenn ihr Erfolg so überaus glänzend und sie ausser¬
dem die einzige wäre, die zum Ziele führt. Das ist aber nicht
der Fall. Gerade der eben erwähnte Fall ist kein glänzender
Beweis für die therapeutische Wirksamkeit der Psychoanalyse.
Ich bezweifle aber gar nicht,' dass Freud eine Reihe der
glänzendsten Erfolge aufweisen kann, Erfolge, wie sie viel¬
leicht wenige erreicht haben. Nur ist die Erklärung dafür eine
ganz andere, als diejenige, die Freud annimmt. Die Wirk¬
samkeit des Vorgehens Freuds beruht auf der Zeit, die er
auf seine Patienten verwendet und auf dem Interesse für
ihre Persönlichkeit, das er durch das sorgsame Erörtern des
ganzen Innenlebens der Kranken beweist. Zur Behandlung
Neurasthenischer, von Zwangsvorstellungen und der Hysterie
19) Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 1905, S. 285.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
1798
ist das wichtigste Mittel Zeit und abermals Zeit. Nur wer sich
die Mühe gibt, seine Kranken genau zu studieren, nur wer
die Mühe nicht scheut, auch den kleineren Vorgängen des
Seelenlebens Beachtung zu schenken, nur der wird nachhaltige
Erfolge erzielen. Ich betone ausdrücklich die Nachhaltig¬
keit der Erfolge. Denn in der Zauberwirkuiig, mit der ein¬
zelne Symptome der suggestiven Behandlung weichen, über¬
treffen uns Aerzte manche Kurpfuscher. Die Suggestion von
der Wirksamkeit der jeweiligen Behandlungsmethode können
wir in der Behandlung der Nervösen gar nicht missen, und
auch Freud macht bewusst oder unbewusst davon einen
ausserordentlich ausgeprägten Gebrauch. Seine Kranken
wissen von vornherein, dass sein Bestreben dahin geht, das
psychische Trauma zu finden, dessen Verdrängung und Um¬
wandlung die bestehenden Erscheinungen hervorgerufen hat.
Wenn nun wochenlang die Aufmerksamkeit auf diesen Augen¬
blick hingelenkt, die Erwartung aufs höchste gespannt wird,
so muss das endliche Erreichen dieses Moments eine erlösende
und wenigstens für den Augenblick bessernde, wenn nicht
heilende Wirkung hervorrufen. Heilung für das Symptom,
nicht für die bestehende, meiner Meinung nach überhaupt
nicht ganz zu beseitigende hysterische Veranlagung.
Freud hat niemals veröffentlicht, wie viel Fälle er mit
seiner Methode behandelt und welche Erfolge er erzielt hat.
Ich bin sicher, dass seine Erfolge sogar überraschend grosse
sind. Aber ich behaupte, dass die gleichen Erfolge für jeden
zu erreichen sind, der Psychotherapie zu treiben versteht, und
der, so befähigt, die zur Behandlung erforderliche Zeit seinen
Kranken widmet. Er wird dabei auch das Gebiet des Ge¬
schlechtslebens nicht ausser Acht lassen dürfen, aber er wird
bestrebt sein müssen, die Aufmerksamkeit der Kranken von
dem sexuellen Leben und den damit verknüpften Vorstellungen
abzu lenke n, nicht aber geradezu darauf hinzulenken.
Der Arzt hat vor allem die Pflicht, nicht zu schaden, und
diese Gefahr kann bei der F r e u d sehen Methode unmöglich
völlig vermieden werden. So wenig wie man vor der Lebens¬
gefahr einer Operation zurückschrecken wird, wenn sie das
einzige Mittel zur Rettung ist, so wenig dürften alle Bedenken
uns von der Anwendung des Freud sehen Heilverfahrens ab¬
halten, wenn es das einzige Mittel wäre, die Kranken der Ge¬
nesung entgegenzuführen. Aber gerade das halte ich für
falsch. Wir wollen gerne von Freud lernen, dass es unsere
Pflicht ist, das ganze Denken und Handeln unserer Kranken
sorgfältig zu analysieren; aber ich halte es ebenso für unsere
Pflicht, den bedenklichen Uebertreibungen und Einseitigkeiten
Freuds aufs allerentschiedenste entgegenzutreten. Seine Me¬
thode ist — davon haben mich Versuche und Erfahrungen
überzeugt — , für die meisten Fälle unrichtig, für viele be¬
denklich und für alle — entbehrlich.
Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig.
Ueber eine Massenvergiftungsepidemie mit Bohnen¬
gemüse.
[Bact. coli und Bact. paratyphi B.] *)
Von Privatdozent Dr. R o 1 1 y, Assistenten der Klinik.
Am 22. I. 06 nachmittags resp. in der darauffolgenden Nacht
erkrankten eine grosse Anzahl (250) Angestellter eines Waren¬
hauses zu Leipzig. Die betreffenden Patienten hatten am Mit¬
tag desselben Tages zwischen 1 und 3 Uhr in dem Waren¬
hause teils Schmorbraten mit grünem Bohnengemüse und Salz¬
kartoffeln, teils nur Schmorbraten und Bohnen oder auch ge¬
kochtes Rindfleisch mit Bohnengemüse gegessen. Nach Aus¬
sage der Patienten hatte das Essen einen ganz vorzüglichen und
keineswegs widerwärtigen Geschmack gehabt.
Frühestens 4 Stunden nach Einnehmen dieser gemeinsamen
Mahlzeit stellten sich nun bei einer Reihe dieser Personen Leib¬
schmerzen, Frösteln, Uebelkeit, Aufstossen, Brechreiz, Kopf¬
schmerzen, Schwindel etc. ein. Bei einem Teil der so Er¬
krankten waren diese Erscheinungen sofort mit Durchfällen be¬
*) Nach einem am 10. VII. 06 in der Med. Gesellschaft zu Leipzig
gehaltenen Vortrag.
gleitet, bei einem Teil stellten sich die Durchfälle erst in der
darauffolgenden Nacht oder am folgenden Morgen ein, einige
wenige klagten über Leibschmerzen ohne jegliche Durchfälle;
Erbrechen bestand nur vereinzelt.
Ohne mich hier weiter auf die klinischen Details einzu¬
lassen, besonders da dieselben von anderer Seite bearbeitet
werden, möchte ich hier nur soviel mitteilen, dass alle Patien¬
ten, 250 an der Zahl, an einer mehr oder weniger heftigen Ente¬
ritis nach Einnahme der oben angeführten Mahlzeit erkrankt
waren. Die Erscheinungen hielten 2 — 4 Tage lang an und gin¬
gen alsdann sämtlich in Genesung über.
Es trug sich nun, welche Ursachen dieser Massenerkran¬
kung zugrunde lagen. Wie oben schon angedeutet, hatten sämt¬
liche Patienten Fleisch (Rind- und Hammelfleisch) und grünes
Bohnengemüse zu sich genommen. Da ein Teil der Patien¬
ten aber nur Rindfleisch, ein anderer dagegen nur Hammel¬
fleisch gegessen hatte, so sprechen schon diese Angaben gegen
eine Vergiftung mit diesen verschiedenen Fleischsorten.
Gleichwohl habe ich das Fleisch einer näheren Unter¬
suchung unterzogen, ich konnte aber nichts irgendwie Ver¬
dächtiges an demselben entdecken. Das von dem Wirte mir
zur Untersuchung übergebene Fleisch, welches von der frag¬
lichen Mahlzeit herrührte, war in jeder Beziehung einwands¬
frei, es fanden sich keine metallischen Gifte in demselben, die
angestellten bakteriologischen Untersuchungen verliefen resul¬
tatlos, insofern weder bei aerober noch anaerober Züchtung
Bakterien gefunden werden konnten, ebenso zeigten die mit
demselben gefütterten Mäuse und Ratten keinerlei Krankheits¬
symptome.
So blieb denn als ursächliches Moment der Massenvergif¬
tung nur der Genuss des Bohnengemüses übrig. Dasselbe
stammte aus verschiedenen Konservenbüchsen, welche direkt
vor der Bereitung des Essens geöffnet und alsdann eine Weile
in Wasser von ca. 80° C. gestellt worden waren. Es wurde
bei dem Erhitzen die Siedetemperatur des Wassers vermieden,
insofern nämlich die Konserveschnittbohnen schon an und für
sich sehr weich sind und bei nur kürzere Zeit währendem
Kochen dieselben zu einer musartigen Masse verfallen würden.
Waren alsdann in dem Wasser von ca. 80 0 C. die Bohnen¬
konserven heiss geworden, so wurden die einzelnen Büchsen
aus dem Wasser herausgenommen und in einen grösseren
Kessel, der angewärmt war und noch weiterhin unter Feuer
gehalten wurde, zusammengeschüttet. Aus diesem Kessel wur¬
den die Bohnen direkt in das betreffende Warenhaus trans¬
portiert und daselbst gegessen.
Die Bohnenkonserven wurden also weder in dem Wasser
noch in dem Kessel bis zur Siedetemperatur erhitzt. Jedoch
auch wenn die Bohnen eine derartig hohe Temperatur von
100 0 C. erreicht hätten, so hätte dieser Umstand auf den Gang
der Vergiftung, wie wir später noch sehen werden, kaum irgend
welchen Einfluss gehabt. Nur wäre vielleicht die Untersuchung
in diesem Falle viel schwieriger und vielleicht überhaupt resul¬
tatlos verlaufen.
Der Gang der Untersuchung war nun folgender: Es wurden
sofort nach Einlieferung der ersten Erkrankungsfälle in die
medizinische Klinik (ca. 20 Stunden nach dem Genüsse des
Bohnengemüses) von den noch übrig gebliebenen Bohnen Aus¬
strichpräparate gemacht. Dieselben ergaben bei mikroskopischer
Untersuchung zahlreiche Stäbchen, die anscheinend in Reinkul¬
tur neben Bestandteilen der Schnittbohnen vorhanden waren.
Bei Untersuchung dieser Stäbchen im hängenden Tropfen zeig¬
ten dieselben durchweg ausserordentlich lebhafte Bewegung,
nur einige wenige waren zu kleinen Häufchen spontan agglu-
tiniert und weniger lebhaft beweglich.
Nach dieser vorläufigen Untersuchung schien es sich nur
um eine Art von Bakterien zu handeln, besonders da auch
noch die G r a m sehe Färbung in eindeutigem Sinne, d. h. nega¬
tiv ausfiel. Die weitere kulturelle Differenzierung zeigte je¬
doch, dass zwei verschiedene Bakterien, das Bact. cohi
commune und Bact. paratyphiTyp. B Vorlagen. Und
zwar fanden sich in einer Oese des Bohnengemüses auf Agar¬
platten bei aerober Züchtung nicht weniger als 180 000 bis
320 000 entwicklungsfähige Keime. In dieser Unmenge von
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1799
Bakterien auf den Platten war das Verhältnis der beiden Bak¬
terienarten ungefähr so, dass auf 1 Bact. paratyphi 3 Bact. coli
commune gezählt werden konnten.
Allerdings muss an dieser Stelle hervorgehoben werden,
dass bei dem Einnehmen der Mahlzeit die Anzahl der Bakterien
viel geringer gewesen sein muss, da das Bohnengemüse erst
20 Stunden nach dem Essen bakteriologisch untersucht werden
konnte und in dieser Zeit die Bakterien sich sicherlich reichlich
vermehrt hatten.
Wie stand es nun aber mit der Anzahl der Bakterien vor
dem Erhitzen?
Ueber diesen Punkt können wir hier nur Vermutungen aus¬
sprechen. Es kann sehr leicht der Fall sein, dass nur eine Kon¬
servenbüchse mit den beiden Bakterienarten infiziert war. Da
durch das Wachstum dieser Bakterien weder der Geruch noch
das Aussehen noch auch der Geschmack in irgendwie erkenn¬
barer Weise alteriert wird, so wurde diese Büchse anstandslos
den übrigen in dem Kessel beigefügt und mit denselben ver¬
mischt. Ebenso ist es auch möglich, dass mehrere Büchsen
infiziert gewesen sind.
Mit Sicherheit kann jedoch angenomen werden, dass vor
der Erhitzung der Bohnenkonserven in einer oder mehreren
Büchsen die Bakterien in grosser Anzahl vorhanden waren,
dass durch die Erhitzung die meisten Bakterien abgetötet wur¬
den und nur noch verhältnismässig wenige entwicklungsfähige
übrigblieben. Diese letzteren haben sich alsdann bis zu dem
Zeitpunkt der bakteriologischen Untersuchung wieder vermehrt
und konten so in Unmassen nachgewiesen werden.
Eine nachträgliche Verunreinigung des Bohnengemüses ist
absolut ausgeschlossen, insofern das Material zur bakterio¬
logischen Untersuchung unmittelbar aus dem Kessel, in wel¬
chem die Bohnenkonserven am vorhergehenden I age warm¬
gestellt waren, entnommen werden konnte und sofort nach der
Entnahme verarbeitet wurde. Auch spricht schon der Umstand
gegen eine Verunreinigung, dass in allen Schichten, sowohl an
der Oberfläche wie auch in der Tiefe des Bohnengemüses beide
Bakterienarten, ohne dass eine Vermengung durch Um¬
rühren etc. stattgefunden hatte, in gleicher Anzahl vorhanden
waren. Läge eine nachträgliche Infektion vor, so würden
sicherlich nicht in allen Teilen des Bohnengemüses die zwei
Bakterienarten in ungefähr gleicher Anzahl und auch ungefähr
gleicher Verhältniszahl (1:3) angetroffen worden sein.
Natürlich wurden die Bohnen sofort bei ihrer Entnahme
auch auf die Anwesenheit von Anaerobiern untersucht. Es
konnte bei den verschiedensten Methoden der Züchtung unter
Ausschluss von O, in einer Wasserstoffatmosphäre, in Nähr¬
böden, welche mit indigschwefelsaurem Natrium, Zucker und
anderen reduzierenden Substanzen versetzt waren, kein an¬
aerober Bazillus entdeckt werden.
Auch die klinischen Erscheinungen sprachen schon am
1. Tag nach der Vergiftung gegen eine derartige Vermutung,
insofern eine Vergiftung mit anaeroben Bazillen oder deren
Toxinen ganz andere Krankheitssymptome hervorgerufen
hätte. Wir hätten da bei einer Vergiftung mit dem Bac. botu-
linns van Ermengems z. B., einem obligaten Anaerobier,
vor allen Dingen motorische Lähmungen hauptsächlich ver¬
schiedener Hirnnerven, sekretorische Störungen, Dysphagie
und andere solche nervöse und zentral bedingte Erscheinungen
auftreten sehen. Bei unserer Epidemie jedoch konnten wir in
keinem einzigen Falle etwas derartiges beobachten.
Da nun die klinischen Erscheinungen im allgemeinen das
Bild einer Enteritis darboten, so mussten wir uns auch die
Frage vorlegen, ob nicht vielleicht Metallsalze oder etwas
Aehnliches die Ursache der Erkrankungen abgegeben haben
könnte. Die in der Apotheke des Krankenhauses in dieser
Richtung ausgeführten chemischen Untersuchungen verliefen
völlig resultatlos.
Auch der Tierversuch wurde zur Klärung der Aetiologie
der Vergiftung herangezogen. Es wurden weisse Mäuse und
weisse Ratten mit dem Bohnengemüse 3 Tage lang gefüttert.
Die Ratten fühlten sich völlig wohl dabei. Die weissen Mäuse
schienen 1—2 Tage lang krank zu sein, indem sie ruhig, in
sich gekauert, mit struppigen Haaren in ihrem Käfige sassen.
Alsdann aber erholten sie sich wieder und vertrugen die letzte
Portion der Bohnen anscheinend gut. Leider konnte die Fütte¬
rung dieser Tiere nicht länger fortgesetzt werden, da nicht
mehr Material zur Verfügung stand. Ich werde übrigens auf
den Tierversuch noch einmal zurückkommen.
So mussten also nach Ausschluss aller
anderer Ursachen bei den Massenerkran¬
kungen das Bact. coli und paratyphi B. oder
deren Stoffwechselprodukte als alleiniges
ätiologisches Moment angesprochen werden.
Bevor ich aber auf die Deutung der ganzen Vergiftung hier
näher eingehe, sei es mir erlaubt, an dieser Stelle über einige
sehr interessante kulturelle Beobachtungen dieser beiden Bak¬
terien, welche ich aus dem Bohnensalat züchtete, zu referieren.
Ich beginne mit dem Ba ct. c o 1 i.
Wie schon oben erwähnt, fiel bei diesem Bakterium die
starke Beweglichkeit sowohl in dem Salat als auch in den
ersten von der Differqnzierungsplatte abgeimpften Bouillon¬
kulturen auf. Aber schon sehr bald, nach 3 — 4 Umimpfungen,
verlor sich dieselbe und machte einer beschränkten Beweg¬
lichkeit Platz, wie wir sie meist bei dem Bacterium coli com¬
mune zu sehen gewohnt sind.
Ziemlich parallel mit dem verschiedenen Grade der Be¬
weglichkeit ging derjenige der Virulenz, indem die direkt aus
dem Salat isolierten Stämme bei subkutaner Infektion Meer¬
schweinchen gegenüber virulenter sich erwiesen, als die 4.
oder 5. Generation dieses Bakteriums. Während nämlich schon
0,5 ccm einer 24 ständigen Bakterienbouillonkultur der ersten
Generation einem Meerschweinchen subkutan injiziert den Tod
desselben innerhalb 2A Tagen hervorrief, gelang dies bei der
4 .oder 5. Generation nicht mehr, vielmehr waren hier 4 ccm
einer 24 ständigen Bouillonkultur nötig.
Dass eine gesteigerte Beweglichkeit stets mit einer Er¬
höhung der Virulenz verbunden sein muss, will ich damit nicht
behaupten, besonders da in der Literatur z. B. von G a b r i -
tschewsky1) ein derartiges Verhalten nicht konstatiert
werden konnte. Jedenfalls ist das in dem Bohnensalat be¬
findliche Bact. coli Meerschweinchen gegenüber bei subkutaner
Injektion als auffallend virulent zu bezeichnen, wenn man die
Angaben anderer Autoren, die Virulenzbestimmungen bei Bac¬
terium coli machten, mit unseren Versuchsresultaten vergleicht.
Versuche, Meerschweinchen und weisse Mäuse durch Bei¬
mengung von Bouillonkulturen des Bact. coli zum Futter krank
zu machen, blieb ohne jeglichen Erfolg.
Eigenartig war fernerhin das Wachstum des Bakteriums
in Milch. Die erste Generation, d. h. die frisch aus dem Bohnen¬
salat gezüchteten Stämme koagulierten die Milch auffallend
langsam; erst nach 4 bis 7 Tagen war dieselbe bei Brutofen¬
temperatur geronnen. Aber schon nach dreimaligem Um¬
züchten auf Agar und Bouillon verlor sich diese Langsamkeit
der Koagulation, sodass das betr. Bakterium alsdann gewöhn¬
lich schon nach \A— 2 Tagen die Milch vollständig zu koagu¬
lieren imstande war.
Der Umstand, dass manche Bact. coli, wie in unserem
Falle, so ausserordentlich langsam die Milch gelegentlich koa¬
gulieren, mahnt dazu, die Milchkulturen möglichst lange zu
kontrollieren. Man könnte sonst leicht versucht sein, bei ober¬
flächlicher Beobachtung diese Mikroorganismen in das Gebiet
der Paratyphusbakterien zu rechnen.
Das übrige Wachstum des aus dem Bohnengemüse ge¬
züchteten Bact. coli auf Gelatine, Agar, Kartoffel, Lackmus¬
molke, Serum und zuckerhaltigen Nährböden zeigte sich als
völlig normal. Zu erwähnen wäre vielleicht noch, dass die
erste Generation ausserordentlich wenig Indol bildete; erst
die 4. und 5. Generation zeigte in dieser Beziehung wieder ein
normales Verhalten.
Wir haben es also bei den vorliegenden Untersuchungen
mit dem gewöhnlichen Bact. coli commune zu tun, dessen Ver¬
halten insofern etwas abweichend von der Norm war, als die
ersten Generationen desselben eine auffallend rasche Beweg-
*) Ref. im Zentralbl. f. Bacteriol. 1895, p. ,833. — Siehe ferner
Literatur über alle einschlägigen Fragen in Kolle-Wassermanns
Handbuch der pathogenen Mikroorganismen, Bd. II, p. 334: Bacterium
coli commune von E § c h e r i c h und Pfaundler.
11 _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCEIRIFT. No. 37.
lichkeit im hängenden Tropfen, eine abnorm gesteigerte Viru¬
lenz bei subkutaner Infektion Meerschweinchen gegenüber, eine
beträchtliche Verzögerung in der Koagulation der Milch und
eine verminderte Indolbildungsfähigkeit aufwiesen. Alle diese
Erscheinungen verschwanden nach 4 — 5 Umzüchtungen und
machten einem normalen Verhalten Platz.
Es verdienen diese anfänglichen kulturellen Abweichungen
von dem normalen Verhalten um so mehr hier hervorgehoben
zu werden, als gerade infolge dieser abnormen Eigenschaften
das Bact. coli sehr leicht als ein Bact. paratyphi B hätte
angesprochen werden können. Irgendwelche Schlüsse können
v ir aus derartigen Befunden vorläufig nicht ziehen, wir können
dieselben nur registrieren und müssen es weiteren For¬
schungen überlassen, die Bedingungen zu studieren, bei welchen
ein ähnliches Abweichen des kulturellen Verhalten von der
Norm bei dem Bact. coli vorzukommen pflegt.
Neben diesem Bact. coli commune fand sich nun, wie
schon oben erwähnt, das Bact. paratyphi Typ. B. in dem
Bohnengemüse. Es charakterisierte sich bei der bakteriolo¬
gischen Untersuchung durch diffuse Trübung der Bouillon,
konstante rasche Beweglichkeit im hängenden Tropfen, Nicht¬
verflüssigung der Gelatine, Gasbildung in zuckerhaltigen Nähr¬
böden, Nichtkoagulation der Milch, — letztere wurde nach ca.
6 Tagen aufgehellt — , braunes Oberflächenwachstum auf Kar¬
toffelnährböden, anfängliche Säurung und spätere Alkalibildung
in Lackmusmolke, negative Indolbildung etc.
Ausserdem wurde zur Sicherstellung der Diagnose noch
das Agglutinationsphänomen herangezogen. Ein Serum eines
Kaninchens, welches den von Kral bezogenen Stamm Bact.
paratyphi B. Schottmüller in einer Verdünnung von
1 : 400 agglutinierte, agglutinierte diesen aus dem Bohnen¬
gemüse gezüchteten Stamm ebenfalls in einer Verdünnung von
1 : 360. Es kann somit an der Diagnose des Bakteriums nicht
der geringste Zweifel bestehen.
Was die Viru le n z des aus dem Bohnengemüse ge¬
züchteten Bact. paratyphi anlangt, so zeigte sich dieselbe
Mäusen und Meerschweinchen gegenüber bei subkutaner Im¬
pfung als ziemlich beträchtlich. 0,5 ccm einer 24 stündigen
Bouillonkultur töteten weisse Mäuse bei subkutaner Injektion
binnen 2 — 3 Tagen, nach einer subkutanen Injektion von 2 ccm
derselben Bouillonkultur starben kräftige Meerschweinchen
innerhalb 4 — 6 Tagen. In dem Herzblut dieser Tiere fanden
sich die Infektionserreger in Reinkultur; auch im übrigen boten
die Sektionen den für diese Infektionen typischen Befund2):
Es fand sich ein eitrig fibrinöses, manchmal hämorrhagisches
Infiltrat an der Injektionsstelle, Enteritis, Hämorrhagien am
Darm, Trübung der parenchymatösen Elemente der verschie¬
densten Organe usw.
Interesant war nun das Verhalten der Virulenz der Bak¬
terien bei intrastomachaler Einverleibung resp. die Infektiosität
den Versuchstieren gegenüber bei Fütterung. Wie eingangs
schon bemerkt, wurden bei 3 tägiger Fütterung des Bohnen¬
gemüses weisse Ratten überhaupt nicht krank, die weissen
Mäuse schienen vorübergehend 1/4 Tage lang krank gewesen
zu sein. Dieselben erholten sich jedoch wieder und waren
nach Verzehrung der letzten Portion der Bohnen völlig gesund.
In einer zweiten Versuchsreihe verfütterte ich 10 Tage lang
Reinkulturen von den aus dem Bohnengemüse gezüchteten
Paratyphusbakterien, ich erreichte aber auch hier kein anderes
Resultat, insofern die beiden Mäuse und 2 Ratten die Bakterien
anscheinend ohne Nachteil verzehrten.
Anders gestaltete sich nun der Versuch, nachdem ich das
betr. Bact. paratyphi dreimal durch den Mäuseorganismus ge¬
schickt hatte. Diese so behandelten Bakterien waren durch
diesen Prozess so virulent geworden, dass es nun auch gelang,
2 Mäuse mit denselben durch Verfütterung zu infizieren. Die¬
selben starben am 4. resp. 7. Versuchstage und die Sektion
bot den schon vorhin skizzierten typischen Befund dar. Da¬
gegen gelang es mir nicht, 2 weisse Ratten auf dieselbe Weise
durch Verfütterung dieser, mittelst Passage durch den Mäuse-
2) Nähere Beschreibung und Literatur bei Rolly: Zur Kennt¬
nis der durch das sog. Bact. paratyphi hervorgerufenen Krankheiten.
D. Archiv f. klin. Med. 1906, Bd. 87, pag. 595.
Organismus virulent gemachten, Bakterien krank zu machen
und zu töten.
Da, wie wir hier sehen, die Mäuse erst nach längerer Zeit
bei stomachaler Einverleibung der Bakterien erlagen, so ist
natürlich der Gedanke nicht gänzlich von der Hand zu weisen,
dass die Tiere bei längerer Fütterung mit dem Bohnengemüse
in dem früher erwähnten Versuche doch noch der Infektion
zum Opfer gefallen wären. Weiterhin scheint auch der Magen
und Darmkanal des Menschen weit empfindlicher zu sein, als
der der Tiere und die Menschen reagieren offenbar schon auf
eine geringe Menge Gift, welche die Tiere noch sehr gut ver¬
tragen. Es beweist also der bis zu einem gewissen Grad an¬
fänglich negative Tierversuch gar nichts, umgekehrt würde
natürlich ein sofortiger positiver Ausfall des früheren Ver¬
suches uns über die Aetiologie der Vergiftung sofort aufgeklärt
haben.
Sehr wichtig für das Verständnis und die Auffassung der
ganzen Vergiftungsepidemie ist nun die Tatsache, dass ge¬
wöhnlich das Bact. paratyphi bei seiner Vermehrung in einem
Nährmedium Gifte3) bildet, welche zum grössten Teile hitze¬
beständig sind. Zur Prüfung dieses Verhaltens bei unserem
Bakterium nahm ich 2 Tage alte Bouillonkulturen des direkt
aus den Bohnen gezüchteten Bact. paratyphi, stellte dieselben
15 Minuten lang in kochendes Wasser. Durch Aussaat auf
Platten überzeugte ich mich, dass in diesen erhitzten Bouillon¬
kulturen keine lebensfähigen Bakterien mehr vorhanden waren.
Nach subkutaner Injektion von 1,5 ccm dieser abgetöteten
Bouillonkulturen starb eine weisse Maus nach 2 Tagen, ein
Meerschweinchen brauchte behufs Tötung in 3 Tagen 3 ccm
derselben Injektionsflüssigkeit. Der Autopsiebefund bei diesen
Tieren war genau derselbe wie der früher erwähnte bei In¬
jektion mit lebenden Bazillen, nur dass hier keine Bazillen
natürlich im Blute der Versuchstiere vorhanden waren.
Durch diese Versuchsresultate wird die Art und der ganze
Infektionsmodus der Massenvergiftung bei den 250 Personen
klargestellt. Die Bakterien, welche vor dem Erhitzen jedenfalls
zahlreich in dem Bohnengemüse vorhanden waren, wurden
durch das Erhitzen zum grössten Teile abgetötet. Einige
wenige blieben am Leben, vermehrten sich in den folgenden
20 Stunden sehr rasch und konnten alsdann in so grossen
Massen nachgewiesen werden. Das eigen tlicheKrank-
heitsbild aber wurde durch die hitzebestän¬
digen giftigen Stoffwechsel Produkte dieser
Bakterien hervorgerufen, wobei die wenigen
noch lebenden Bakterien entweder gar keine
oder nur eine untergeordnete Rolle spielten.
Schon klinisch wäre es undenkbar, dass die vorliegende
Vergiftung durch die direkte Lebenstätigkeit von Bakterien im
Organismus der Patienten hervorgerufen wäre. Dagegen
spricht vor allen Dingen die kurze Inkubationszeit, das so
plötzliche Auftreten und das schnelle Verschwinden der
Symptome. Hätten wir es mit einer rein bakteriellen Infektion
zu tun, so hätte die Inkubationszeit Tage und Wochen dauern
müssen, die eingeführten Bakterien hätten zuerst im Magen¬
darm und überhaupt im Organismus in dieser Zeit einmal festen
Fuss fassen müssen.
Nun ist es aber auch von dem Bakt. paratyphi bekannt,
dass es die Ursache von b a k t e r i e 1 1 e n Infektionen
abgeben kann. Wir sehen in diesem Falle Krankheitsbilder,
die unter dem Bild des Unterleibstyphus verlaufen. 4) Je nach¬
dem also mehr die Bakterien an und für sich oder deren Toxine
ätiologisch eine Rolle spielen, werden die Krankheitsbilder
wechseln, wir werden in dem einen Falle eine typhöse Form,
im anderen Falle mehr die gastrische Erkrankungsform durch
das Bact. paratyphi hervorgerufen sehen.
Diese beiden verschiedenen Erkrankungsformen können
nun bei den einzelnen Epidemien, die früher in der Literatur
allgemein auch unter dem Namen „Fleischvergiftungen“ be¬
zeichnet worden sind, jede für sich allein, oder auch beide zu-
3) Ueber Ausnahmen von dieser Regel s. z. B. Kurth: D. med.
Wochenschr. 1901, p. 501.
0 Literatur s. bei Rolly: 1. c.
1. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1801
aimnen Vorkommen, schliesslich können alle möglichen Ueber-
.angsformen wahrgenommen werden.
Hier bei unserer Epidemie handelt es sich
m die rein gastrische Erkrankungsfor m, d. h.
.Iso um diejenige Form, welche durch die
; o x i n e allein verursacht ist. Natürlich sind Zü¬
rich mit den Toxinen auch Bakterien in den Magen der
•50 Personen eingeführt worden; dieselben waren aber offen¬
er in so geringer Menge in dem Bohnengemüse zur Zeit der
Aahlzeit vorhanden, dass der Magen oder Darm sehr leicht
hrer Herr werden und sie unschädlich machen und vernichten
;onnte.
Einen direkten Beweis für eine derartige Annahme bilden
luch die bakteriologischen Fäzesuntersuchungen der in die
nedizinische Klinik aufgenommenen Patienten, insofern in
;einem Stuhl der Erkrankten die Paratyphusbazillen bei sorg-
ältiger Untersuchung nachgewiesen werden konnten.
Anfänglich glaubte ich zwar, in dem Stuhl einer Patientin
las Bact. paratyphi B. isoliert und gefunden zu haben. Bei
läherer Untersuchung stellte sich jedoch heraus, dass ich eine
Voteusform vor mir hatte, die auf den verschiedenen Nähr-
>öden ganz ähnlich wie Bact. paratyphi sich verhielt, welche
.ber nicht von dem spez. Serum agglutiniert wurde und dann
loch feinere Unterschiede in dem Wachstum auf den Nährböden
:rkennen liess. Es weist dieser Befund wieder darauf hin, bei
ler Diagnose „Bact. paratyphi“ sehr vorsichtig zu sein und vor
dien Dingen stets die Agglutination dabei zu Hilfe zu nehmen.
Vus der Universitäts-Frauenklinik der Kgl. Charite. (Direktor:
Geh. Medizinalrat Professor Dr. Bum m.)
Geburten mit Skopolamin-Morphium.
/on Stabsarzt Dr. H o c h e i s e n, kommandiert als Assistent
der Klinik.
Der Skopolamin-Morphium-Halb- oder Dämmerschlaf bei
ihysiologischen Geburten beginnt in der O Öffentlichkeit eine
Rolle zu spielen, so dass es dem Geburtshelfer in der Privat-
iraxis schon leicht passieren kann, dass die Klientel, durch
Nachrichten in der Tagespresse über die ganz ungefährliche
ind so angenehme Wunderwirkung bei den Geburtsschmerzen
veranlasst, ihn zur Anwendung des Skopolamins zwingt. Um
hm dies zu erleichtern, ist auch schon durch C r e m e r ein
)harmakologisches Besteck zusammengestellt, das in der Pri-
/atpraxis die jederzeitige Herstellung und Injektion von Mor¬
phium- und Skopolaminlösung ermöglicht. Das Skopolamin,
iezw. das ganz oder fast identische Hyoszin gilt als eines der
urchtbarsten und in der Wirkung ganz unberechenbaren
jifte und der gewissenhafte Arzt muss sich die Frage vorlegen,
>b 1. die bei anderen Anwendungsarten des Skopolamins ge¬
nachten Erfahrungen seine Anwendung bei normalem und
iller Voraussicht nach glattem Geburtsverlauf erlauben und
1. ob bei den unter Skopolamin-Morphium abgelaufenen Ge¬
iurten die Ergebnisse derart waren, dass der Halb- oder
)ämmerschlaf der Allgemeineheit empfohlen werden darf. Die
hnführung des Skopolamins in die Therapie verdankt es seinen
lie Pupillen erweiternden Eigenschaften und dem Umstand,
lass die Wirkung viel rascher vorübergeht als bei Atropin.
Vber die Augenärzte haben bei blosser Einträufelung ins Auge
echt bedenkliche Vergiftungserscheinungen gesehen. Ebenso
laben die Psychiater, die es bei motorisch unruhigen Geistes¬
kranken, gewissermassen an Stelle der unmodernen Zwangs¬
acke als Disziplinierungsmittel gebraucht haben, manchmal un¬
angenehme Erfahrungen gemacht. Nach einer Dosis von 0,001
Skopolamin hört innerhalb 20 — 30 Minuten das Toben auf, die
(ranken lallen nur noch, taumeln und sinken dann wie be-
runken zusammen. In anderen Fällen aber stürzen die Kranken
Ge vom Schlag getroffen um, und liegen betäubt 1 — 2 Stunden
nit gerötetem, gedunsenen Gesicht, stertorösem Atmen und
rerlangsamten Puls da. Die toxische Wirkung bezw. Neben-
virkung nach L e w i n und Liebreich - Langaard ist
ine Herabsetzung der motorischen Erregbarkeit der Groshirn-
inde, Pupillenerweiterung und Akkomodationslähmung, Herab-
etzung der Sekretion der Drüsen, Verlangsamung der Atmung,
No. 37.
hierauf Beschleunigung, ebenso erst Verlangsamung der Herz¬
aktion, dann Beschleunigung; in grossen Dosen Sopor, Atmung
immer langsamer, der Puls wird klein und unregelmässig, der
Tod erfolgt ohne Konvulsionen. Lewin sagt in seinen
Nebenwirkungen der Arzneimittel, dass das Skopolamin manch¬
mal ungeahnt heftig auf gewisse Organfunktionen wirke, dass
das Skopolamin bei dem einzelnen, ja sogar zu verschiedenen
Zeiten bei dem gleichen Menschen ungemein wechselnde Wir¬
kung habe. 0,6 mg erzielen einmal Schlaf, 0,8 mg ein anderes
Mal Delirium. Es ist ganz unberechenbar; es gibt mehr Men¬
schen, die es schlecht, als solche, die es gut vertragen. Ueble
Nebenwirkungen treten in 25 — 70 Proz. der Fälle auf. 2/io mg
können beim Erwachsenen enorm, beim Kind gar nicht wirken.
Der Skopolaminschlaf ist nicht erquickend, das Gesicht ist
gerötet, oft extrem gedunsen. Hitzegefühl im Körper, dabei
Trockenheit im Hals, Schluckbeschwerden, Uebelkeit, Er¬
brechen, Diarrhöen. Der Tod kann bei 0,001 Skopolamin ein-
treten, auffällige Blässe und Kühle verraten den drohenden
Kollaps, der besonders auch nach plötzlicher Entziehung des
Mittels, an das rasch Gewöhnung erfolgt, zu befürchten ist.
Ohnmächten treten bei Frauen häufiger auf als bei Männern.
Sehstörungen, Gehörstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel,
Unbesinnlichkeit sind auch nach Augeneinträufelungen be¬
obachtet, der Skopolaminschlaf wird durch das leiseste Geräusch
gestört. Der Schlaf kann aber auch ausbleiben und statt dessen
Delirien, Unruhe, Halluzinationen, Zittern, klonische und te-
tanische Krämpfe sich zeigen. Unter den Nachwirkungen sind
Eingenommensein, Schwindel, Bewegungsstörungen, leichte
Pharynxlähmungen, Verwirrungszustände bekannt geworden.
Alles in allem ist das Skopolamin ein in seiner Wirkung
unsicheres Alkaloid, das das Bewusstsein trübt und die moto¬
rischen Funktionen der quergestreiften Muskulatur lähmt.
Trotzdem hat es Eingang in die Physiologie der Geburt ge¬
funden. Der Weg ging über die Skopolamin-Morphiumnarkose
von Schneiderlin und K o r f f. Die Beifügung des zweiten
antagonistischen Alkaloids Morphium sollte die toxischen Wir¬
kungen auf Atmung und Kreislauf ausgleichen, während sich
die hypnotischen und anästhesierenden Eigenschaften sum¬
mieren. Die Vorteile sollten sein, Vermeidung der postnar¬
kotischen Pneumonie und Bronchitis, da das Skopolamin die
Sekretion von Speichel und Schleim herabsetze, keine Ex¬
zitation vor der Narkose, Ueberflüssigwerden des Narkotiseurs,
Anwendbarkeit in Fällen wo Chloroform und Aether nicht an¬
zuwenden sind, keine postnarkotischen Beschwerden. Wie es
jetzt üblich bei allen neuen Mitteln, gingen die Wogen der
Begeisterung anfänglich sehr hoch, um ebenso rasch sich zu
legen. Die Unberechenbarkeit des Mittels zeigt sich in der
Unmöglichkeit, mit einer gleichartigen Dosierung auszukom¬
men. So kam Korff zu seiner letzten Vorschrift, vor der
Operation 2/4, 114 und ih Stunde vorher je 0,00033 Skopolamin
+ 0,007 Morphium zu geben, um eine ausreichende Narkose
zu erzielen, die eine Wohltat für den Arzt und den Patienten
sei. Reiche das nicht aus, so genügen einige Tropfen Chloro¬
form. Dies ist der Uebergang zur gemischten Chloroform- oder
Aether-Skopolamin-Morphiumnarkose. Wo nicht nach der
Korff sehen Vorschrift dreimal die Dosen gegeben wurden,
wurde auch 14 Stunde vor der Inhalationsnarkose die ein¬
malige Dosis von 0,01—0,03 Morphium und 0,00012 — 0,001 Sko¬
polamin gegeben. Der Vorteil soll ein ganz geringer Verbrauch
von Chloroform und Aether sein; wie verschieden die Wirkung
sein muss, zeigt sich wieder auch darin, dass die einen sagen,
Chloroform sei hierbei kontraindiziert, die anderen aber den
Aether für gefährlich erklären, und in der Verschiedenheit der
angewandten Dosierung. Als angebliche Vorteile bleiben dem¬
nach nur noch Beseitigung der Exzitation und der postnarkoti¬
schen Beschwerden, des Wundschmerzes nach der Operation,
da die Kranken nach ihr noch in langem Schlaf liegen, Herab¬
setzung der Menge des Inhalationsanästhetikums. Demgegen¬
über betonen F 1 a t a u und G r e v s e n, dass mit der Sko¬
polamineinverleibung der eminente Nachteil verbunden sei, dass
es, wenn üble Zustände eintreten, nicht wie die Chloroform¬
maske jederzeit entfernt werden könne. Beide halten diese
Narkose, trotz im allgemeinen günstiger Resultate jedenfalls für
das Gebiet der Geburtshilfe vorläufig ungeeignet und ge-
2
1802
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
jährlich. Auch die Gynäkologen haben mit Skopolamin-
Morphimn-Narkose operiert und verschiedene Urteile darüber
gefällt; die grosse Mehrzahl hat sie aber wieder verlassen.
Welche Gefahren die Morphium-Skopolaminnarkose bietet, er¬
hellt aus den Zusammenstellungen, die V i r o n und Morel
im Progres medical 1906 veröffentlicht haben; unter 2000 Nar¬
kosen 25 Todesfälle und sehr viele üble Nachwirkungen.
R o i t h hat 4000 Narkosen gesammelt mit 18 Todesfällen, die
er allerdings nicht alle gerade dem Skopolamin in die Schuhe
geschoben wissen will. Ich lasse seine Zusammenstellung
folgen, da sie gerade für mein Thema von Interesse ist. Es
starben :
4
Fälle bei
einer
Dosis
0,5-1
mg + 2,0
cg
M. 2
Stunden
1
Fall
ff
V
ff
1,0
ff
— 2,75
yy
4
ff
1
ff
r>
V
v
0,9
fj
— 2,0
yy
5
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1
yy
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V
ff
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V
- 3,5
V
6
V
1
„
ff
ff
1,0
v
- 2,0
V
6
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1
V
V
yy
ff
1,5
yy
— 9
yy
7
ff
3
Fälle
yy
yy
7f
1,0
yy
- 2,5
yy
8-
■10 „
1
Fall
V
V
ff
3,6
V
— 3
yy
10
yy
1
V
V
V
1,0
V
- 2,5
yy
21
yy
2
Fälle
ff
ff
V
1,0
yy
- 2,5
V
2.
Tag
2
V
V
V
V
0,8
V
- 2,0
yy
4.
V
Unter diesen 18 Todesfällen sind 11 mit Skopolamindosen
von 0,5 — 1 mg. Noch geringer war die Dosis bei einem von
T o t h beschriebenen Fall von 0,0003 Skopolamin. Man kann
ruhig annehmen, dass nicht alle Todesfälle in Morphium-
Skopolaminarkose bekannt werden, die Mortalität jedenfalls
noch höher ist und könnte die Verwendung des Skopolamins
in der Geburtshilfe einfach damit abtun, dass es nicht gestattet
sei, statt des Chloroforms, das die Gebärenden doch aner-
kanntermassen gut vertragen, ein anderes, gefährlicheres Nar¬
kotikum einzuführen. Aber genau das Gegenteil entspricht den
Tatsachen, das Skopolamin wird nicht nur bei geburtshilflichen
Operationen, sondern für jede Geburt zur Anästhesierung emp¬
fohlen und dafür der Name: Halbnarkose bezw. Dämmer¬
schlaf angegeben.
Ziffer hat an der Landeshebammenschule in Ofen-Pest
31 Geburten beobachtet, bei denen er 1—3 mal 3/io mg Skopola¬
min mit 0,01 Morphium gegeben hat. Die Wirkung sei sehr
gut, die Narkose ungefährlich. Die Uteruskontraktionen wurden
in der Fälle kürzer und seltener, ohne dass hierdurch der
Geburtsakt gestört wurde. Verzögerung 5 mal, aber wohl aus
anderer Ursache, denn nach Aufhören mit den Dosen blieb die
Wehenschwäche bestehen. Die Wehen waren in 7 Fällen
normal, in 16 Fällen gesteigert, in 6 Fällen exzessiv. 5 mal
war der Fötus asphyktisch, einer ist gestorben, einmal ato-
nische Nachblutung. Einige Male versagte die Bauchpresse.
Ziffer empfiehlt die Halbnarkose bei grossem Wehen¬
schmerz, krankhafter Wehenschwäche, Tetanie des Uterus, bei
deliriumartigen Zuständen, eine Kontraindikation für die An¬
wendung bestehe nicht.
Steinbüchel in Graz hat unter 20 Geburten (0,0003
Skopolamin + 0,01 Morphium, Wirkung in 1/4 — 2 Stunden,
event. wiederholt) keine Schwächung der Geburtsarbeit und
keine Intoxikation der Frucht gesehen; die Schmerzen werden
ohne Bewusstseinsstörung herabgesetzt.
Aus Jena berichtet Wartapetian, der 0,0003 + 0,01,
bis höchstens 5 mal gibt, dass 50 Proz. der Kinder benommen
auf die Welt kommen; er schiebt dies aber der Morphium¬
wirkung zu. Ebendaher berichtet R e i n i n g über 36 Fälle, in
denen der Wehenschmerz 24 mal gut, 4 mal mässig und 3 mal
ungenügend beeinflusst war. Ernstliche Komplikationen traten
nie, gelegentlich Aufregungs- und Verwirrungszustände ein.
In vielen Fällen deutliche Geburtsverzögerung. Das Kind ist
bei umsichtigem Verfahren und guten Präparaten nicht ge¬
fährdet.
Weingarten aus Giessen hat 45 mal Herabsetzung des
Wehenschmerzes gesehen und glaubt, eine Wehenregulierung
beobachtet zu haben, so dass die Geburt schneller vor sich
ging. Bei Gaben von 0,0003 + 0,01 nie Schädigung der Mutter
oder Frucht.
Pu sehnig verwendet nur einmalige Dosen von 0,0005
H“ 0,01 und betrachtet jede abnorme Steigerung der Wehen¬
schmerzen als Indikation. Laurendean berichtet günstig,
hat aber alle Fälle mit Wendung oder Zange beendet. Er hat
einen 12 — 18 ständigen Schlaf erzielt. Respiration verlangsamt,
Puls beschleunigt. Manche Kinder asphyktisch. Pita-
z e w s k i schliesst aus 3 Fällen, in denen einer eine Zangen¬
geburt ist, auf günstige Einwirkung. Crem er hat bis zu
9 Injektionen von 0,0003 Skopolamin + 0,01 Morphium bei
mehrtägiger Geburtsdauer gemacht und ist sehr dafür ein¬
genommen. Die grösste Arbeit und die grösste Zahl von be¬
obachteten Fällen hat aber Gauss in Freiburg veröffentlicht,
der den bisherigen etwa 300 Fällen weitere 500 beifügte. Seine
günstigen Ergebnisse haben Herrn Geheimrat Bumm ver¬
anlasst, den Dämmerschlaf nach Gauss (Krönig verwendet
auch die Lumbalanästhesie im Anschluss an Morphium-Sko¬
polamin) auch in der Charite zu versuchen und ich möchte
über unsere ersten 100 Halbschlafgeburten berichten. Die
ersten Fälle bleiben weg, da wir vorher eine gewisse Erfahrung
sammeln wollten. Von mir sind etwa 60, von Herrn v. Barde¬
leben ebenfalls 60 Halbnarkosen beobachtet.
Gauss stellt als Forderung für eine Halbnarkose auf:
I. Es muss eine erhebliche Schmerzbeeinflussung für die
Ki'eissende erzielt werden.
II. Es dürfen keine schädlichen Nebenwirkungen vorhanden
sein oder diese dürfen in keinem Missverhältnisse zu dem er¬
reichten Grade der Schmerzlinderung stehen. Dahin gehört:
1. keine beträchtliche Störung des subjektiven Allgemein¬
befindens,
2. keine ungünstige Beeinflussung der Geburt:
a) der Wehentätigkeit,
b) der Bauchpresse,
c) der Nachgeburtswehen,
d) der Rückbildung des Uterus und des Stillgeschäftes;
3. kein Schaden des Kindes
a) intrauterin.
b) extrauterin.
Diese Forderungen sind ungemein streng und können glatt
akzeptiert werden. Seine Erfahrungen führen Gauss zu dem
Schluss, dass das Skopolamin-Morphium die Qualen der ge¬
bärenden Frau auf das denkbar geringste Mass herabsetzt und
zwar ohne wesentliche Beeinträchtigung der Geburtsarbeit,
ohne Gefährdung der Mutter und des Kindes und ohne un¬
angenehme Nebenwirkungen auf das subjektive Befinden der
Kreissenden. Wir haben unsere Fälle möglichst den Angaben
von Gauss entsprechend behandelt und haben ebenfalls das
Merck sehe Präparat gewählt. Die Dosierung gibt Gauss
so an, dass er zu Anfang 0,00045 — 0,0006 S + 0,01 M gibt, je
nach Konstitution und Reaktionsfähigkeit, die V\ — 3 Stunden
wirkt. Wenn kein Erfolg, eine 2. Dosis von 0,00015 — 0,0003 M.
Nach 2 Stunden event. eine neue Dosis in dem Fall angepasster
Menge. Die grösste angewandte Menge war 0,0031 S
+ 0,0475 M in 48 Stunden, 0,00315 S + 0,025 M in 47 Stunden
und 0,0036 S allein über 36 Stunden. Wir haben uns 14 mal
mit einer Dosis von 0,0003 begnügt, 30 mal 0,00045, 31 mal
0,0005, ..8 mal 0,0006, 12 mal 0,0007, 0,0009 lmal in 28 Stunden,
1 mg, 2 mal, 1,3 und 2 mg je lmal. Unsere Dosen sind kleiner
als die von Gauss, weil wir mit Rücksicht auf die in der
Chirurgie beobachteten Todesfälle grössere Vorsicht walten
Hessen und weil wir bei den grösseren Dosen gerade ganz aus¬
geprägte unangenehme Fälle von Wehenschwäche sahen. Da
Gauss viele der ungünstigen Nebenwirkungen dem Morphium
zuschiebt, sind wir nie über 0,02 (nur einmal 0,025) Morphium
hinausgegangen. Die Dauer der Geburt nach der Injektion
schwankte zwischen 15 Minuten und 79 Stunden.
Unter unserem Material befinden sich 70 Erst-, und 30 Mehr¬
gebärende, nach Kindeslagen 74 linke, 22 rechte Hinterhaupts¬
lagen, 3 Steisslagen, 1 Gesichtslage. Pathologische Fälle sind
wohl auch einzelne eingespritzt; diese werden aber getrennt
behandelt werden, da es uns vor allem darauf ankommt, die
Wirkung des Dämmerschlafes bei der normalen physiologischen
Geburt zu beobachten. Gauss hat nach seiner Angabe die
Injektion erst dann gemacht, wenn vorher zu sehen war, dass
die Geburt bei irgend welcher unvorhergesehener Störung
jederzeit durch einen ungefährlichen Eingriff zu beendigen war.
Diese Angabe gibt den Stand der Geburt bei der Injektion nicht
II. September 1906.
1806
MUFNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
an, da unter seinen Fällen 4 Hebotomien, 1 vaginaler und
1 klassischer Kaiserschnitt, 12 Wendungen und 49 Zangen sind.
Einen ungefährlichen Eingriff nenne ich in der Geburtshilfe
höchstens eine leichte Beckenausgangszange und jeder Ge¬
burtshelfer weiss, dass man auch hier die unangenehmsten
Ueberraschungen erleben kann. Wir haben nur eingespritzt
bei feststehendem Kopf und mindestens fünfmarkstückgrossem
Muttermund und nahezu oder ganz entfalteter Zervix. Gauss
hat solches Zutrauen in das Skopolamin erhalten, dass er jetzt
bei jedem Stand der Geburt ohne Rücksicht auf die Kompli¬
kationen mit den Injektionen beginnt, sobald regelmässige
schmerzhafte Wehen einsetzen. Die Wirkung des Skopolamins
ist die, dass die Frauen rasch, gewöhnlich in 14 Stunde, müde
und schläfrig werden, und nach Gauss dann in einen ruhigen
Schlaf verfallen, der die Wehenpause hindurch anhält, aus dem
sie aber bei jeder Wehe aufgeschreckt werden. Der Wehen¬
schmerz wird empfunden, ist aber herabgesetzt. Wird die
Dosis verstärkt, so hält auch während der Wehen der Schlaf
an, es erfolgen keine Schmerzäusserungen mehr, nur ein Ver¬
ziehen des Gesichtes deutet die Wehe an, bei völlig erhaltenem
Bewusstsein. Hier geht Gauss noch einen Schritt weiter,
von dieser Halbnarkose zu dem künstlichen Dämmerschlaf
durch eine Vertiefung des Schlafes bis zu dem Punkt, dass
in den günstigsten Fällen eine völlige Amnesie für die ganze Ge¬
burt erreicht wird, ohne dass das Bewusstsein gänzlich auf¬
gehoben wird. Merkwürdigerweise sind auch in diesem Sta¬
dium mit den Wehen oft mehr oder weniger deutliche Schmerz¬
äusserungen vorhanden, trotzdem wissen die Frauen nachher
gar nicht, dass sie überhaupt geboren haben. Durch den Weg¬
fall der Erinnerungsbilder bleibt aber die psychische Er¬
schöpfung während der Geburt, also die Ursache der sekun¬
dären Wehenschwäche, aus und bei psychisch disponierten
Frauen fällt die häufige Wirkung der Geburt als Trauma für
das Nervensystem fort. Trotz richtig eingetretenen Dämmer¬
schlafes genügt dieser aber doch nicht zur Ausführung von
Operationen, es muss noch eine Ergänzung durch Inhalation
oder Lumbalanästhesie geschaffen werden. Das letztere vor¬
wegnehmend bestätige ich dies, wir haben Chloroform oder
Aether oder Mischnarkose genommen, die Narkose verlief sehr
leicht, man brauchte sehr wenig des narkotischen Mittels. Aber
wie alles bei Skopolamin unberechenbar ist, so haben wir bei
10 Narkosen doch auch 2 mal sehr bedeutende Mengen (85 und
50 g Chloroform in der Stunde) gebraucht und dabei noch trotz
14 mg S + 1 cg M 134 Stunde vorher ein recht erhebliches Ex¬
zitationsstadium erlebt. Den Frauen mit der Lumbalanästhesie
noch ein 3. Alkaloid einzuverleiben, konnten wir uns nicht ent-
schliessen, besonders mit Rücksicht auf einen vor 2 Jahren er¬
lebten Todesfall durch Lumbalanästhesie. Die Ausführungen
von Gauss über herabgesetzte Merkfähigkeit, summarische
Erinnerung bei partiellem Dämmerschlaf, Beteiligung der ein¬
zelnen Sinnesorgane übergehe ich, da der Skopolaminschlaf bei
unseren Frauen so verschiedenartige Erscheinungen aufwies,
dass ich aus unseren Fällen wenigstens so feine physi'ologisch-
psychiatrische Beobachtungen als Norm nicht aufstelien kann.
Diese Ungleichmässigkeit geht aber aus den Zahlen aus Frei¬
burg auch hervor, und für den Arzt der Praxis, für den diese
Ausführungen bestimmt sind, kommen diese feinen Unterschei¬
dungen nicht in Betracht. Unter den 500 Geburten aus Frei¬
burg sind 28 — 5,6 Proz. ohne' Wirkung, weil zn spät ein^
gespritzt, 91 — 18,2 F*roz. nicht genügend tief, 381 = 16,2 Proz.
im Dämmerschlaf, „wenigstens zeitweise“ gewesen. 7 Frauen
hatten recht erhebliche Unruhe und Delirien, so dass teilweise
die Hände gefesselt werden mussten. Nach der Geburt war
die Erinnerung an die Delirien verschwunden. Unter unseren
100 Fällen war 18 mal der Effekt negativ hinsichtlich des
Wehenschmerzes, dabei aber die später zu beschreibenden
Nebenerscheinungen (Unruhe, Durst, rotes gedunsenes Gesicht,
Wirkung auf Dauer der Entbindung, auf das Kind) doch einige-
male vertreten. Ferner entfallen diese Misserfolge nicht auf
geringe Skopolamindosen, sondern es sind Frauen mit 6/io bis
9/io mg dabei; der Schlaf zwischen den Wehen war von recht
verschiedener Tiefe. Mittlere Herabsetzung des Wehen¬
schmerzes zeigten 21 Frauen mit lebhaften Schmerzäusse¬
rungen in der Austreibungsperiode, aber doch sicher herab¬
gesetzter Schmerzempfindung, 55 Frauen hatten gute Wirkung,
stöhnten nur leise ohne rechte Empfindung, 6 Frauen waren
ohne Wehenschmerz. In dem sog. Dämmerschlaf nach Gauss
waren etwa 45 Frauen „wenigstens zeitweise“. Ist man mit
einem kurzen vorübergehenden Dämmerschlaf, zufrieden, der
etwa 34 Stunde nach der Einspritzung eintritt, aber je nach In¬
tensität der Wehen wieder abnimmt, so kommen noch etwa
20 Frauen dazu, bei denen wir aus äusseren Gründen Bedenken
hatten, noch weiter erneut Skopolamin zu geben, somit zeit¬
weiser Dämmerschlaf bei 65 Proz. Völlige Amnesie der Ge¬
burt bestand bei 6 Frauen; von den 30 Mehrgebärenden mach¬
ten leider nur 12 zuverlässige Angaben: eine sagte, die erste
Geburt hätte weniger geschmerzt, 4 fanden keinen Unterschied,
7 fanden die Schmerzen viel geringer. Der Grad der Wirkung
ist auch hier nicht proportional der eingespritzten Skopolamin¬
menge. Die begünstigende Wirkung der Absonderung der
Frauen konnten wir nicht durchführen, schwarze Brillen,
Gummiplatten über die Ohrmuschel und Antiphone in die Ge¬
hörgänge haben wir absichtlich nicht verwandt, weil sie uns
für die Praxis unverwendbar und nur für klinische Versuche
angebracht erschienen.
Zusammengenommen sind unsere Resultate und Er¬
fahrungen von den G a u s s sehen nicht allzu verschieden und
wir stimmen damit überein, dass es mit Skopolamin-Morphium
möglich ist; die Geburtsschmerzen bei einer grossen Anzahl
von Frauen bedeutend, ja fast ganz herabzusetzen und dass es
nur bedauerlich ist, dass Skopolamin ein so gefährliches Mittel
und dass die Reaktion auf die Einzelgabe individuell so ver¬
schieden ist. (Schluss folgt.)
Aus der medizinischen Klinik zu Heidelberg (Direktor Geh.
Rat E r b).
Ueber reflektorische Hemmung der Nierensekretion
während der Zystoskopie.
Von Dr. Georg Grund, Assistenten der Klinik.
Dass die Sekretionstätigkeit der Niere in hohem Masse
von nervösen Einflüssen abhängig ist, ist eine lange bekannte
und sichere Tatsache. Die nähere Analysierung dieser Ab¬
hängigkeit lässt aber noch vieles zu wünschen übrig. Auf die
experimentelle Grundlage der Frage will ich hier nicht näher
eingehen. *) Jedenfalls glaube ich das eine sagen zu dürfen,
dass die experimentell gefunden Tatsachen keineswegs so klar
und eindeutig sind, dass sie nicht durch klinische Beobach¬
tungen in wesentlichen Punkten ergänzt werden könnten, ge¬
schweige denn, dass sie ausreichten, um alle klinischen Be¬
obachtungen zn erklären.
Wenn man von den Anomalien der Nierensekretion bei Er¬
krankungen des Zentralnervensystems absieht, sind es im
wesentlichen reflektorische Beeinflussungen der Nierensekre¬
tion, die klinisch beobachtet sind und klinisch das grösste In¬
teresse erfordern. Die wichtigste Erscheinung der Art ist
zweifellos die reflektorische Anurie beider Nieren bei Stein¬
verschluss auch nur eines Ureters.* 2 *) So wichtig diese Be¬
obachtung nun ist, so vieldeutig ist sie, wenn man sich fragt,
von welcher Stelle aus der Reflex ausgelöst worden ist; denn
wir können nicht trennen, was Wirkung des lokalen Reizes,
was 'Wirkung der zentral sich fortsetzenden Stauung und der
sekundären Nierenläsion ist.
Klarer sind in der Hinsicht die Vorgänge, die beim Ure-
terenkatheterismus beobachtet worden sind, da wir hier mit
Sicherheit den lokalen Reiz des Ureterenkatheters als das aus¬
lösende Moment anzusprechen haben. In einer Anzahl von
Fällen ist hier erhebliche Polyurie beobachtet worden (K a p -
s a m m e r :t), andere Beobachter sahen auch Oligurie mässigen
Grades (A 1 b a r r a n 4).
0 S. u. a. bei Heidenhain in Hermanns Handbuch der
Physiologie, V, 1, p. 362; Metzner in Nagels Handbuch der Physio¬
logie des Menschen, II, 1, p. 280.
2) S. besonders J. Israel: D. med. Wochenschr. 1888, p. 4;
ferner Schede im Handb. d. prakt. Chirurgie, II. Auf!., p. 1017.
:1) Kapsammer: Wiener klin. Wochenschr. 1904, No. 4 u. 28.
4) Al bar ran: Exploration des fonctions renales. Paris 1905,
p. 338 ff. : /\
2*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
Dass auch von der Blase aus die Nierentätigkeit reflek¬
torisch beeinflusst werden kann, zeigen die Beobachtungen mit
dem L u y s sehen Harnsegregator. Hier trat während des Lie-
gens des Instrumentes in der Blase vorübergehende oder dau¬
ernde Oligurie ein (K e y d e 1* * 5 *), Albarran4). In einigen
Fällen Keydels wurde einseitige, in einem Falle während
einer halben Stunde doppelseitige Anurie beobachtet. Da in
letzterem Falle die Tagesmenge des Urins nur 150 g betrug,
will diese Beobachtung allerdings nicht viel sagen.
Genauere Anschauungen über den Verlauf der Sekretions¬
störung sind in allen diesen Fällen nicht gewonnen worden,
weil die beste Kontrolle dafür, die Beobachtung der Funktion
der Ureteren nicht gleichzeitig stattfinden konnte. Hier müssen
zystoskopische Beobachtungen einsetzen.
Leichtere Anomalien der Nierensekretion während der
Zystoskopie sind öfter gefunden worden. So geben Voelcker
und Joseph“) an, dass bei sensiblen Patientinnen nach Ein¬
führung des Zystoskops gelegentlich abnorm lange Pausen in
der Funktion der Ureteren eintraten, bis zu 3 Minuten, ohne
dass die Ursache in den Nieren selbst zu suchen gewesen
wäre. Schwere Sekretionsstörungen dagegen sind meines
Wissens in der Literatur bisher nicht bekannt.
Daher scheint mir die folgende Beobachtung ihrer Eigenart
wegen genügend praktisches wie theoretisches Interesse zu
verdienen, dass sie einer kurzen Mitteilung wert ist.
W. K-, 26 jähriger Schlosser.
Familienanamnese ohne Belang. Als Kind Ausschlag auf dem
Kopfe. Seit Mai 1905 allmählich Brennen beim Wasserlassen, trüber
Urin wird alle 1 — P/2 Stunden entleert. Nach 2 Monaten Besserung.
Dezember 1905 wieder Zunahme des Harndranges, Brennen dabei
und trüber Urin. Oefter geringe Blutbeimengung am Ende der Harn¬
entleerung. Seit Anfang Februar 1906 nachts alle % Stunden, tags
alle 1 — P/2 Stunden Harnentleerung mit starken Schmerzen in der
rechten Seite, keine Koliken. Keine Erscheinungen seitens der Brust¬
organe, keine Nachtschweisse, keine Gewichtsabnahme. Kein Tripper.
Aufnahme in die medizinische Klinik am 19. II. 1906.
Befund: Etwas blasser, ängstlicher und leicht aufgeregter Mann.
Hals, Rachen, Lungen ohne jeden krankhaften Befund. Herz nicht
vergrössert, Herztöne rein, 2. Aortenton klappend. Radialis etwas
sklerotisch, Puls voll, nicht gespannt. Blutdruck nach Gärtner
110 mm Hg. Körpergewicht 64,3 kg. Temperatur dauernd unter 37,0.
Blasengegend kaum empfindlich. Nierengegend rechts hinten
deutlich schmerzempfindlich. Sonst kein krankhafter Befund seitens
der Abdominalorgane. Kopf des rechten Nebenhodens hart, etwas
empfindlich. Prostata stark druckempfindlich, im linken Lappen
etwas verhärtet.
Urin: Trüb, neutral, V2 — P/2 Prom. Alb. enthaltend, kein Zucker;
Menge schwankend zwischen 1500 und 2800 ccm, spez. Gew. 1012 bis
1021.
Mikroskopischer Urinbefund: Sehr reichlich Eiterkörperchen,
Epithelien der Harnwege in mässiger Zahl, keine Zylinder, mässige
Zahl Erythrozyten. Im steril entnommenen Katheterurin Tuberkel¬
bazillen in typischer Lagerung.
Zystoskopie (20. II.): Blase fasst ca. 200 ccm. Eiführung des
Zystoskops etwas schmerzhaft. Blasenhals stark injiziert, leicht
blutend, weniger starke Injektion der übrigen Blasenschleimhaut.
Zahlreiche polypöse Schleimhautwucherungen, keine sicheren Ge¬
schwüre. Rechter Ureter kraterförmig vertieft; linker Ureter nur
andeutungsweise als kleines Grübchen zu sehen. Keine sichere Funk¬
tion der Ureteren.
Chromozystoskopie nach Voelcker-, Joseph7) (23. II.) :
Blasenbefund wie vorher. Bis 35 Minuten nach der Injektion des
Indigkarmins ist nicht die Spur von gefärbtem Urinstrahle zu sehen.
Ueber die Funktion des rechten Ureters ist kein sicheres Urteil zu
gewinnen, da seine Mündung stark verändert ist (s. 0.); jedenfalls
sezerniert er keinen Farbstoff. Linker Ureter deutlich zu beobachten,
sezerniert überhaupt nicht. Mässige Schmerzäusserung während
der Untersuchung. Der Blaseninhalt wird nicht direkt nach der
Zystoskopie abgelassen. Als Patient ca. 10 Minuten nach der Ent¬
fernung des Zystoskops spontan Urin entleert, fällt auf, dass derselbe
gut blau gefärbt ist.
, Nach diesem Ergebnis wird von einer weiteren Untersuchung
vorläufig abgesehen. Diagnose: Blasentuberkulose, rechtsseitige
Hodentuberkulose, luberkulose der Nieren, vorwiegend der rech-
s) Keydel: Zentralbl. f. d. Krankheiten d. Harn- u. Sexual¬
organe, XVI, p. 225.
a) Voelcker und Joseph: Münch, med. Wochenschr. 1903,
p. 2081,
7) Voelcker und Joseph: 1. c.; s. a. Voelcker: Diagnose
d r chirurgischen Nierenerkrankungen unter Verwertung der Chromo-
:T iskopie, Wiesbaden 1906.
ten (?). Behandlung mit Wildunger Wasser, Helmithol, lokal mit
Jodoforminstillationen. Darunter mässige Besserung, so dass der
Patient den Urin unter tags 2 Stunden halten kann. Zunahme des
Gewichts auf 66 kg.
Wiederholung der Chromozystoskopie am 22. III.: Mit der Ein¬
führung des Zystoskops nach der Injektion des Indigkarmins wird
etwas länger gewartet. Als die Blase 10 Minuten nach der
Injektion entleert wird, / fällt auf, dass der Urin bereits
gut blau gefärbt ist. Gute Spülung der Blase; Einführung des
Zystoskops. Trotz sorgfältiger Beobachtung kann in den 10 folgen¬
den Minuten nirgends ein gefärbter oder ungefärbter Urinstrahl be¬
merkt werden, auch keine Kontraktion der deutlich sichtbaren Ure-
terenmiindungen. Zur Kontrolle, ob wirklich nichts sezerniert wor¬
den ist, wird ein Teil des Blaseninhalts durch die Spiilvorrrichtung
abgelassen: Blaseninhalt leicht trüb, völlig ungefärbt. Erneute Auf¬
füllung: auch jetzt nichts von Sekretion zu sehen. 25 Minuten
nach der Einführung des Zystoskops erneute völlige
Entleerung durch die Spülvorrichtung: Blaseninhalt gänz¬
lich ungefärbt. Blase wird nur ganz wenig gefüllt, so dass
eine Beobachtung eben noch möglich ist. Jetzt endlich fängt der linke
Ureter an, in erst schwachen, allmählich stärker werdenden Stössen
in normalen Abständen gut blau gefärbten Harn zu sezernieren. Am
rechten Ureter ist keine Funktion wahrzunehmen. 40 Minuten nach
der Einführung des Zystoskops völlige Blasenentleerung: Inhalt gut
blau gefärbt. Während der ganzen Untersuchung äusserte Patient
ziemlich lebhafte Schmerzen, klagte über Harndrang; beides nicht in
einer für Blasentuberkulose ungewöhnlichen Weise. Doch war er
im ganzen sehr unruhig und aufgeregt.
Es wird daraufhin die Diagnose auf eine rechtsseitige Nieren¬
tuberkulose bei relativer Intaktheit der linken Niere gestellt. Eine
Verlegung auf die chirurgische Klinik zwecks Vornahme der Nephrek¬
tomie verweigert Patient. Entlassung am 24. III.
Die wesentliche Beobachtung ist die dritte Zystoskopie,
durch die auch der Befund bei der zweiten seine Erklärung
findet. Ich beziehe mich also nur auf diese. Die gute Färbung
des Blasenurins 10 Minuten nach der Injektion des Farbstoffes
beweist, dass die Funktion einer Niere wenigstens vor der
Einführung des Zystoskops normal war. Wenn nun in den
folgenden 25 Minuten weder eine Funktion der Ureteren be¬
obachtet werden konnte noch der abgelassene Blaseninhalt
irgendwelche blaue Färbung aufwies, so geht daraus unmittel¬
bar hervor, dass die Zystoskopie oder eine mit ihr verbundene
Manipulation den Eintritt des Urins in die Blase verhindert hat.
Dass nicht ein zu hoher Innendruck der Blase das Hindernis
gewesen sein kann, braucht bei der durchaus nicht über¬
mässigen Füllung nicht ernstlich diskutiert werden. Auch ein
reiner Verschluss des Ureters aus anderen Gründen eventuell
reflektorischen Einflüssen ist abzulehnen, abgesehen von seiner
Unwahrscheinlichkeit an sich schon deswegen, weil bei der
eintretenden Funktion des linken Ureters keineswegs abnorm
grosse Mengen entleert wurden, wie es bei einer 25 Minuten
dauernden Retention im Ureter und Nierenbecken hätte der
Fall sein müssen. Es muss also eine Sekretionsstörung der
Nieren Vorgelegen haben und da wir keinen anderen Weg
einer derartigen Beeinflussung der Nieren seitens der Blase
uns vorstellen können, muss sie eine nervöse, eine reflek¬
torische gewesen sein. Fraglich ist nur, ob der Reiz des
Instrumentes oder der Reiz der Blasenfüllung den Reflex aus¬
gelöst haben. Das zu entscheiden dürfte schwer sein; dass
bei einer erheblichen Minderung des Blaseninhalts endlich trotz
dauernd liegenden Zystoskops normale Sekretion einsetzte,
spricht dafür, dass die Füllung der Blase den wesentlichen
Reiz abgab, ist aber nicht beweisend, da ja auch die Hemmungs¬
wirkung aus anderen Gründen allmählich hätte überwunden
sein können. Prinzipiell ist das aber auch nicht so wichtig,
da jedenfalls beides einen Reiz der Blase vorzugsweise des
Blasenhalses darstellt.
Zweifellos müssen wir nach Hilfsursachen suchen, die in
diesem Falle den ungewöhnlich starken Reflex zustande kom¬
men Hessen. Die wesentlichste ist natürlich die Erkrankung
der Blase und des Blasenhalses; weniger scheint es möglich,
an eine schwerere Erkrankung auch der linken Niere zu denken,
da dieselbe nach dem Abklingen des Reflexes durchaus normale
Funktion zeigte, auch das gute Allgemeinbefinden des Patien¬
ten mit einer doppelseitigen schweren Nierenerkrankung kaum
in Einklang zu bringen gewesen wäre. Wichtig ist sicher,
und das möchte ich betonen, dass der Patient an und für sich
sehr sensibel war und während der ganzen Untersuchung ein
ziemlich aufgeregtes Wesen an den Tag legte. Es entspricht
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1805
das der oben erwähnten Beobachtung von V o e 1 c k e r und
Joseph. Immerhin bleibt die Erscheinung in ihrer Selten¬
heit gegenüber den vielen Zystoskopien in ähnlichen Fällen, wo
derartige Beobachtungen nicht gemacht worden sind, merk¬
würdig genug.
Weitere theoretische Erörterungen hieran zu knüpfen, er¬
übrigt sich. Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, dass auch
praktisch solche Erscheinungen nicht bedeutungslos sind. Sie
legen dar, dass auch diejenige Manipulation, die die Vorbe¬
dingung für alle getrennten funktionellen Untersuchungen der
Nieren ist, unter Umständen eine schwere Funktionsstörung
während der Untersuchung bedingen und dadurch erhebliche
Irrtümer hervorrufen kann. Ob solche Störungen wirklich
so abnorm selten sind, wie es den Anschein hat, oder ob sie
nur deswegen der Feststellung entgangen sind, weil sie nur
bei einer bestimmten, der gewöhnlichen Regel nicht ent¬
sprechen Untersuchungsanordnung aufzuklären sind, muss ich
dahingestellt sein lassen. 8)
Günstige Beeinflussung der chronischen Bronchitis und
des Bronchialasthmas durch Röntgenstrahlen.* *)
Von Dr. Theodor Schilling, Arzt für innere Medizin in
Nürnberg.
M. H.! Als vor 11 Jahren Röntgen seine erste Mit¬
teilung über die neuen Strahlen brachte, war ihre hohe dia¬
gnostische Bedeutung für die Medizin jedem Arzte klar.
Die verfeinerte Technik hatte bald zur Folge, dass nicht nur
die Chirurgie, sondern auch die innere Medizin sich des neuen
wichtigen diagnostischen Mittels bediente. Wesentlich lang¬
samer waren die Fortschritte, die die Röntgenstrahlen als
therapeutisch wichtiges Agens zu verzeichnen hatten.
Das liegt daran, dass die therapeutischen Erfolge weniger
sinnenfällig sind, und eine weitgehende Skepsis an und für sich
am Platze scheint. Da man aber von der Einwirkung ver¬
schiedener Lichtquellen bisher zuweilen günstige Erfolge ge¬
sehen hatte, war es nicht auffällig, dass man auch von den
Röntgenstrahlen sich mancherlei für Heilzwecke erhoffte.
Schon im Jahre 1896 wurden Erfolge bei Behandlung von
Tumoren mitgeteilt, und es scheinen nach den neuesten Ver¬
öffentlichungen die Resultate besonders bei Sarkomen sehr be¬
friedigend. Doch wird es wohl noch mancher Erfahrung be¬
dürfen, bis hier, gegenüber den Wünschen der Chirurgie, das
Grenzgebiet neu abgegrenzt sein wird. Unbestrittener sind
heute schon die Erfolge, die man bei Hautkrankheiten erzielt
hat. Hier ist nicht der Platz, auf die zahlreichen, bis jetzt
mitgeteilten Beobachtungen einzugehen.
Es ist noch nicht drei Jahre her, dass Senn 0 die Ein¬
wirkung der Röntgenstrahlen auf die Leukämie entdeckte.
Durch umfangreiche tierexperimentelle Studien hat Heineke2)
dieser Beobachtung eine sichere Basis gegeben. Die dann
folgenden zahlreichen kasuistischen Veröffentlichungen be¬
richteten von vielen Erfolgen, was Rückbildung der Milz und
Lymphdrüsen und Normalwerden des Blutlebens anlangt. Dass
aber eine gewisse Skepsis berechtigt war, zeigte der Mangel
an Dauerheilungen. Nach einer jüngst mitgeteilten Zusammen¬
stellung von Cramer3) kann vorläufig von einer Heilung in
keinem Falle gesprochen werden, wenn auch bei ständiger Be¬
obachtung des Patienten und rechtzeitiger, vielleicht not¬
8) Casper (Handbuch der Zystoskopie, II. Aufl., 1905, p. 101)
erwähnt Fälle, in denen die Ureteren bei exaktester Beobachtung
nicht sichtbar arbeiteten, und sagt weiter: „Da in zahlreichen solchen
Fällen erwiesenermassen Harn in die Blase kommt, so ist dadurch
dargetan, dass die Ureteren zuweilen Harn in die Blase entleeren,
ohne dass die Wand eine sichbare Veränderung annimmt.“ Es liegt
mir fern, die bestimmt ausgesprochene Begründung dieses Satzes in
Zweifel zu ziehen; ich möchte aber auf die Möglichkeit hinweisen,
dass wenigstens während eines Teiles der Beobachtungszeit auch
hier den oben mitgeteilten analoge Vorgänge eine Rolle gespielt
haben.
*) Vorgetragen im Aerztlichen Verein Nürnberg am 5. April 1906
und auf dem Kongress für Innere Medizin in München am 25. April 1906.
1) Medical Record 1903.
2) Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie, Bd. 78.
3) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, Bd. 9, S. 115.
wendiger Fortsetzung der Bestrahlung das Leben des Patienten
eventuell auf Jahre hinaus verlängert werden kann. Voriges
Jahr veröffentlichte ferner Beck4) seine Beobachtungen über
Kleinerwerden der Struma bei Basedow scher Krankheit, in
Verfolgung der Erfahrungen über das Parenchym anderer.
Drüsen; analoge Resultate brachte unabhängig von ihm
G ö r 1 5 *) und Stegmann °) zu gleicher Zeit. Bisher ist über
die Strahlen nur noch bekannt, dass sie, wie Albers-
Schönberg fand, eine schädigende Wirkung auf die Keim¬
drüsen mancher Tiere entfalten, und dass die Prostatahyper¬
trophie günstig beeinflusst zu werden scheint 7).
Aus Gründen, die ich nachher erörtere, wollte ich gelegent¬
lich eine Bestrahlung bei chronischer Bronchitis versuchen,
und der Zufall kam mir vor zwei Monaten zu Hilfe.
Herr Kollege Bauer hatte die Liebenswürdigkeit, mir einen
Patienten zuzuweisen, dem wegen heftiger asthmatischer Anfälle
30 — 40 Polypen aus der Nase entfernt worden waren. Darauf war
stets insofern Besserung eingetreten, als durch 8 Tage die Asthma¬
anfälle an Heftigkeit einbiissten, aber nicht ausblieben. In den letzten
Tagen nun war Schwellung der Unterschenkel eingetreten.
Es fanden sich bei ihm etwas tiefstehende Lungengrenzen und
fast überall auf den Lungen war teils fein-, teils grobblasiges Rasseln
zu hören. Die Menge des Sputums betrug angeblich täglich fast einen
Schoppen. Es war zäh, fadenziehend, von weisser Farbe mit wenig
gelben Flocken und enthielt zahlreiche Curschmann sehe
Spiralen. Der Blutdruck war gesteigert (175 mm nach v. R e c k 1 i n g-
ha usen), im Urin waren 4 Prom. Eiweiss nach Esbach und
viele Zylinder.
Da ich einen Fremdkörper im Bronchialbaum ausschliessen
wollte, nahm ich ein Röntgenbild des Brustkorbs auf. Verordnung:
Jodnatriumlösung, Diät, Bettruhe.
Nach 5 Wochen stellte sich der Patient, der von auswärts war,
wieder vor. Er erzählte, dass die Atemnot völlig verschwunden sei.
Dabei seien die Anfälle früher so heftig gewesen, dass er sich vor
Luftmangel stets eine halbe Stunde nicht von der Stelle bewegen,
und dass er während des Zustandes Kot und Urin nicht halten konnte;
sie hätten sich früher täglich zweimal und noch öfters in der Nacht
eingestellt. Er sei von jeder Gesellschaft ausgeschlossen gewesen.
Besonders machte der Patient darauf aufmerksam, dass er in
der Nacht nach der Röntgenaufnahme und am folgenden Tag das erste
Mal seit 3 Jahren fast keinen Auswurf gehabt hatte; von der Arznei
habe er erst am nächsten Tage genommen.
Der objektive Befund über den Lungen war deutlich gebessert;
Curschmann sehe Spiralen wurden nicht gefunden. In der
nächsten Zeit konnte der Patient in einer Woche nicht so viel Sputum
sammeln, als er sonst an einem Tage hatte.
Da der Patient schon früher Jodkali und alle möglichen Ex-
pektorantien ohne viel Erfolg bekommen hatte, ist es nicht sehr wahr¬
scheinlich, dass das Jodnatrium allein ihn so stark gebessert hatte.
Dass er am Tag nach der Bestrahlung keinen Auswurf hatte, konnte
eine Folge der Aufregungen der Reise oder der an diesem Tage ver¬
änderten Lebensbedingungen sein. Jedenfalls musste ich an reineren
Fällen der auffallenden Beobachtung nachgehen. Ich wandte mich
deshalb an Herrn Hofrat Dr. Schuh, um an Patienten des von
ihm geleiteten Sebastiansspitals weitere Versuche anzustellen; ich
danke ihm an dieser Stelle herzlichst für die freundliche Erlaubnis.
Einen guten objektiven Anhaltspunkt für die Beurteilung
der Heilwirkung bei Bronchitis bietet die Messung der Sputum¬
mengen. Doch ist dabei zu berücksichtigen, dass viele Huster
ihr Sputum teilweise verschlucken, was stören würde, wenn
die verschluckten Mengen an verschiedenen Tagen quantitativ
verschieden wären. Die Beobachtung einer Reihe von Vor¬
tagen zeigte aber die expektorierte Sputummenge ziem¬
lich gleich. Ausserdem aber waren zwei Patienten, die länger
beobachtet wurden, und bei denen der Bestrahlungseffekt am
stärksten ist, gewissenhafte Leute, die ihr Sputum in Taschen¬
fläschchen und Schalen sammelten. Ferner bemerke ich, dass
die Patienten 14 Tage und mehr vor der Bestrahlung, und
während der folgenden Wochen keine inneren Mittel erhielten.
Weiter musste ich den Einfluss, den Witterung und Feuch¬
tigkeitsgehalt der Luft erfahrungsgemäss auf die Bronchial¬
sekretion ausüben, möglichst ausschalten. Deswegen be¬
strahlte ich die Patienten nicht alle an einem Tage, sondern in
vier Gruppen. Es war diese Vorsichtsmassregel vielleicht des¬
wegen nicht nötig, weil die Behandlung während des letzten
Monats (März) geschah, dessen Witterung möglichst ungünstig
4) Berl. klin. Wochenschr. 1905, No. 20.
5) Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 20.
e) Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 26.
7) Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 29.
ibUü
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIET.
No. 37.
war, wie Sie sich Alle erinnern. Der Einwand in dieser Rich¬
tung ist schon in Anbetracht dessen hinfällig, dass die starke
Dronchorrhöe, die teilweise viele Monate bestanden hatte, sich
sofort nach der Bestrahlung verminderte. Wichtig war endlich
der Ausschluss jeder Suggestivwirkung. Die Leute wussten
nicht, worum es sich handle und wissen es noch heute nicht.
Sie sahen auch die Strahlen nicht, weil ihr Gesicht wegen der
Ausschaltung der Strahlenwirkung abgedeckt war. An und
für sich ist die Suggestivwirkung von Mitteln gering, bei deren
Anwendung der Patient nicht das geringste spürt. Auch
später ist keiner von den Patienten aus dem Spital auf den Ge¬
danken gekommen, dass die Bestrahlung mit der Besserung Zu¬
sammenhänge.
Ich will Sie nicht mit meinen Krankengeschichten ermüden
und bringe nur kurze Notizen der hier wesentlichen Punkte:
Mayer
L. L.
L.
Mattes
Leberle
No. 2
No. 3
No. 4
No. 5
No. 6
Sputummengen in ccm
(Die Bestrahlung wurde am Ende des Tages vorgenommen, an dem die Sputumzahlen
Sternchen tragen,)
März
12
140
160
—
—
—
13
160
160
—
—
—
14
150*
170*
—
—
—
15
120
140
— -
—
—
16
90
110
—
—
17
80
120
_
—
—
18
—
100
110
100
—
19
—
90
110
105
—
20
—
70
100
100
—
21
—
50
100
105
—
22.
—
70
140*
100*
—
23
—
70
70
90
—
24
—
80
70
90
—
25
—
70
70
90
150 ca.
26
—
60
80
90
150*
27
—
60
50
80
150
28
—
50
50
70
90
29
—
50
50
.70
100
30
—
40
50
70
100
31
—
—
—
—
90
April
1
—
—
40
—
90
2
—
—
30-40
—
—
3
—
30
—
—
—
20
—
0
—
—
—
Bei dem ersten Patienten (M.) sehen Sie sofort nach der Be¬
strahlung ein Absinken der Sputummenge; nach 3 Tagen wurden
nur noch 80 ccm gegen 150 — 160 an den Vortagen ausgehustet. Hier
musste die Beobachtung abgebrochen werden, da der Patient die
Treppe hinabfiel und sich an einer Rippe verletzte.
Der 2. Patient der ersten Gruppe ist der 62 jährige Gärtner des
Spitals L. L., der seit 2 Jahren im Spital ist und solide lebt. Er
hatte seit Monaten starken Husten und Auswurf. Sie sehen an den
3 Vortagen eine Menge von 160 — 170 ccm. Nachweisbar war, wie bei
dem ersten Patienten, ein ausgesprochenes Emphysem der Lungen,
eine Verbreiterung der Herzdämpfung nach links; hinten über dem
Hilus, rechts hinten unten, rechts seitlich und rechts vorne war
diffuses, dichtes, grobes, feuchtes Rasseln zu hören. Es bestand
starke Dyspnoe und das Rasseln war auf Entfernung hörbar. Am
Morgen nach der Bestrahlung war schon der Auswurf bedeutend ge¬
ringer und in der zweiten Nacht trat ganz wesentliche Besserung ein,
die von Tag zu Tag fortschritt. Nach 3 Wochen war der Patient
ganz ohne Auswurf, was seit Monaten nicht mehr der Fall gewesen
war. „Er fühle sich wie im Himmel“; während er sonst unzählige
Male aufwachte und sich, um zu expektorieren, erheben musste,
hatte er letzteres bald gar nicht mehr nötig. Der Auswurf, der
zuerst zu gleichen Teilen schleimig und eitrig geschichtet war, ver¬
änderte sich in der Weise, dass der eitrige, münzenförmige Teil nach
etwa 10 Tagen völlig verschwand.
Der erste Patient der zweiten Gruppe (L.) ist ebenfalls ein
solider Patient, der seinen Auswurf vollständig in einer Taschen¬
flasche sammelte. Seit fast 2 Monaten ist der Auswurf so massig
wie jetzt. Die 5 Vortage ergeben als Durchschnitt 110 ccm Sputum
pro Tag. Die HO ccm am Tage vor der Durchleuchtung rühren daher,
dass er durch die Bauchlage während der Bestrahlung heftig
husten musste. Bei ihm sind die Symptome des Lungenemphysems
nachweisbar und rechts hinten unten und um den Hilus mässig viel
zähes Rasseln und Giemen zu hören. Das Sputum ist geschichtet;
die eine Hälfte ist schleimig-wässerig, die andere besteht aus eitrigep,
münzenförmigen Ballen.
Auch hier sehen Sie eine starke Abnahme der Sputummenge; das
münzenförmige Sputum verschwand fast völlig. Wie im oben be¬
schriebenen Falle trat ganz wesentliche Erleichterung der Be¬
schwerden ein.
Beim nächsten Patienten, dem 81 jährigen, etwas dekrepiden
Pfründner Ms., sehen Sie ein Sinken der Sputummenge von 100 auf
70 ccm. Doch ist dieser Fall vielleicht deswegen weniger geeignet,
weil das Sputum rein wässerig war; ausserdem war es mit Speichel
vermengt. Es war bei Ms. über der Lunge nur ganz wenig Giemen
zu hören. Ausser dem mässigen Emphysem der Lungen bestand
starke Verbreiterung der Herzdämpfung beiderseits und im Harn war
etwas Albumen nachweisbar.
Im 6. Fall bestand neben einer alten Spitzenaffektion dichtes
grobes Rasseln links hinten unten bis zum Angulus scapulae, ferner
rechts hinten unten und überm Sternum kleinblasiges Rasseln. Der
linke Oberarm war wegen Knochenkaries amputiert. Trotzdem hier
die tuberkulöse Natur der Bronchitis nicht sicher, doch wahrschein¬
lich auszuschliessen war, wurde die Brust des Patienten ebenfalls be¬
strahlt. Auch hier sehen Sie ein deutliches Absinken der Sputum¬
menge vom Tage der Bestrahlung ab. Hier wurde die Beobachtung
abgebrochen, weil der Patient am Ersten des Monats Geld bekam,
und die störende Wirkung eines Alkoholexzesses vermieden werden
sollte.
Ich schliesse hieran noch einen 7. Fall:
Revisionsoberaufseher W. leidet seit 5 Monaten an einer heftigen
Bronchitis mit besonders am Morgen starkem Auswurf (Vs bis
V-i Schoppen, weiss mit gelben Flocken). Schlaf schlecht; besonders
in den letzten 2 Wochen konnte er fast nie schlafen, wegen fort¬
währender heftiger Hustenanfälle, die ihn sich aufzusetzen zwangen
und ihm den Atem raubten.
Befund 11. April: Dyspnoisch, Anspannen der Atemhilfsmuskeln,
Rasseln beim Atmen auf Entfernung hörbar. Dichtes mittelblasiges
Rasseln über linkem Unterlappen bis Angulus scapulae. Giemen über
linkem Oberlappen. Lungenemphysem, Verbreiterung der Herz¬
dämpfung um 2 Querfinger nach rechts. Röntgenbestrahlung von
15 Minuten Dauer.
Am nächsten Tage kommt der Patient spontan in die Sprech¬
stunde. Er ahbe die erste Nacht seit Monaten wieder geschlafen,
habe kaum etwas Auswurf und fühle sich ganz leicht und wohl, wie
wenn er gesund wäre.
20. IV. 06. Der Patient schläft die ganze Nacht, hat keinen Aus¬
wurf mehr („er spuckt so viel aus, wie ein Gesunder“), besonders
freut er sich, dass das Asthma völlig verschwunden ist. An der
Lungengrenze links hinten ist an einer kaum 2 Querfinger breiten
Zone noch mittelblasiges Rasseln hörbar.
Ausser diesen Fällen wurden noch eine Reihe anderer
Patienten bestrahlt, über die später berichtet werden soll; in
allen Fällen liess sich eine Beeinflussung erkennen. Die Besse¬
rung bezw. das völlige Nachlassen der Bronchorrhöe und des
Asthmas hält in einigen Fällen 2 — 3 Monate an.
M. H. ! Sie sehen, dass die Einwirkung der Strahlen aut die
krankhafte Bronchialsekretion und ihre Folgen zweifellos
scheint. Nur ist die Frage der Erklärung nicht leicht. Als die
Röntgenstrahlen eben entdeckt waren, glaubte man von ihnen
keimtötende Wirkungen erhoffen zu dürfen. Die Versuche fielen
in gerade entgegengesetztem Sinne aus; es zeigten z. B. be¬
strahlte Tuberkelbazillenkulturen, verglichen mit anderen, ein
stärkeres Wachstum, wenn auch die einzelnen Stäbchen etwas
merkwürdige Formen annahmen. So wird auch bei der chro¬
nischen Bronchitis die Strahlenwirkung keine bakterizide sein,
sondern wir müssen ihren Angriffspunkt anderwärts suchen.
Es wird wohl eine Wirkung auf Körperzellen sein. Ich habe
Ihnen hier das mikroskopische Bild einer Bronchitis abge¬
zeichnet. (Zieglers Lehrbuch, 8. Aufl., S. 640; Demon¬
stration.)
Es war nun mein Gedanke, als ich der ganzen Frage nahe
trat, dass vielleicht die in den Bronchialwandungen gelegenen
Zellen, seien es die Becherzellen oder jene der kleinen Schleim-
driischen, auf die Strahlen reagieren würden. Ob diese Ein¬
wirkung nur in einer Verminderung der Vakuolenbildung bezw.
Schleimabsonderung der Zellen oder in einer leichten Schädi¬
gung des Zelleibs besteht, muss nach unserem heutigen Wissen
als unentschieden gelten. Möglicherweise könnten auch die
Strahlen auf die Eiterzellcn des Sputums analog destruierend
wirken, wie sie es bei den Leukozyten tun. Am wahrschein¬
lichsten ist aber wohl eine Beeinflussung jener proliferierenden
Zellen des Bronchialbaumes; die Richtigkeit dieser Annahme
vorausgesetzt, hätten wir hier das gleiche beobachtet, was wir
bei Lymphomen, Strumen, der Basedowschen Krankheit,
bei Hoden und der hypertrophischen Prostata schon kennen.
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1807
Freilich lag uns dies bisher deswegen etwas fern, weil eswinzige
und nur mikroskopisch wahrnehmbare Drüschen sind, deren
proliferierende Zellen auf die Strahlen zu reagieren scheinen.
Während wir bei jenen Geschwülsten nach der Bestrahlung
eine mit dem Metermass oder dem photographischen Apparate
fixierbare Veränderung sehen, müssen wir hier aus der Ver¬
minderung der Sputummengen, wie aus der Besserung der
Attnungsverhältnisse die Beeinflussung des Zellebens be¬
obachten. Freilich wird hiedurch die Beobachtung etwas kom¬
plizierter; aber andererseits war der Erfolg stets so augen¬
fällig, dass mir eine Beeinflussung zweifellos erscheint.
Ich weise hier gleich darauf hin, dass die Reaktion auf die
Strahlen sofort zu beginnen scheint. Bekanntermassen hat
uns bisher die Erfahrung zweierlei gelehrt: Die Wirkung auf
die Haut, die Hautkrankheiten und die Haare zeigt sich erst
nach 10 — 20 Tagen, während das Blutbild bei Tieren sich schon
nach 4 Stunden ändert, ebenso wie wir bei gewissen Tu¬
moren eine fast augenblickliche Wirkung sehen. Die eben
beschriebene Veränderung der Bronchialsekretion gehört also
zu der letzteren Gruppe. Es scheint ferner die zeitweilig ver¬
tretene Annahme, dass die Strahlen besonders auf blutreiche
oder blutbildende Organe wirken, auch nach diesen Er¬
fahrungen zu gunsten jener Auffassung weichen zu müssen, die
rasch wachsende und proliferierende Zellen als für die Rönt¬
genstrahlenwirkung besonders zugänglich hält.
Sicher spielt bei der Bestrahlung der Brust die starke
Durchlässigkeit der Lunge für Röntgenstrahlen eine wesent¬
liche Rolle, so dass ein Versuch, ähnliche Wirkungen auf ähn¬
lich veränderte Zellen im Darm hervorzu rufen, wegen der
Dicke der zu durchdringenden Weichteile nicht den gleichen
Erfolg haben wird.
Dagegen wird man bei den verschiedenen Formen der
Bronchitis die Anwendung versuchen. Dabei ist es natürlich
von vorneherein sicher, dass man bei Stauungsbronchitis wie
bei der diffusen Bronchitis, die bei tuberkulösen Spitzenaffek¬
tionen vorkommt, nur Erfolge erzielt, wenn man gleichzeitig ge¬
eignete Massnahmen gegen das Grundleiden ergreift. Fälle von
chronischer Bronchitis aber, die mit leichtem Emphysem ein¬
hergehen, werden ebenso ein dankbares Feld abgeben, wie die
Asthmaanfälle, die sich als Folge einer Bronchitis oder exsuda¬
tiven Bronchiolitis, wie sie C u r s c h mann 8) beschrieben
hat, einstellen. Gerade bei letzterer versagen, wie bekannt, oft
Expektorantien wie Emetika, und oft auch die Narkotika, die
übrigens nicht selten dann dauernd gebraucht werden. Viel¬
leicht auch wird der Keuchhusten zu beeinflussen sein.
Ich bin hier, um Nachprüfungen zu ermöglichen, verpflich¬
tet, kurz die Technik zu streifen. Benützt wurde ein 30-cm-
Induktorium. Jeder Patient wurde in einer Sitzung bestrahlt.
Die ersten 6 Patienten lagen während der Bestrahlung. Prak¬
tischer scheint es mir jetzt aber, die Patienten sitzen zu lassen.
Die Patienten wurden von 2 — 4 und mehr Seiten bestrahlt,
wobei immer darauf geachtet wurde, dass die Stellen, wo am
meisten Rasseln zu hören war, bevorzugt und jene, wo die
dicksten Muskelschichten zu durchdringen waren, gemieden
wurden. Es wird die Bestrahlung von verschiedenen Seiten
zweckmässig sein, weil man dadurch die Haut schont. Jene
Hautpartien, die schräg von den Strahlen getroffen werden und
die nur dicke Muskellagen, aber wenig Lunge bergen, kann man
abdecken. In einem Fall bestand die Bronchitis nur auf einer
Seite, die dann mit Erfolg allein bestrahlt wurde. Die Dauer
der mit einer Wasserkühlröhre vorgenommenen Bestrahlung
betrug in den ersten 7 Fällen vorne und hinten je 5 — lYi
= 10 — 15 Minuten, in einem 8. Fall zusammen 20 Minuten. Ich
nahm kurzen Hautglaswandabstand (15 cm) und belastete meist
die Röhre voll. Als Dosimeter benützte ich das Radiometer von
Sabouraud und N o i r e, wobei ich als ungefähres Kriterium
der Strahlenwirkung angeben kann, dass die Summe der
2—4 und mehr Bestrahlungen die Maximaldosis nicht iiber-
I schritt. Dabei ist freilich daran zu erinnern, dass man mit dem
Dosimeter ja nur die Oberflächenwirkung misst. Die Be¬
lastung des sekundären Stromkreises betrug 1 — 2 K Milli¬
ampere.
Um eine geeignete Tiefenwirkung zu erzielen, gebrauchte
ich eine harte Röhre (Abstufung No. 2 = H des Schemas, etwa
12 Wehnelteinheiten entsprechend), die bei manchen Bestrah¬
lungen vor der jedesmaligen Regeneration so luftleer geworden
war, dass sie knisterte, ein Zeichen für die starke Erhöhung
ihres Vakuums. In Fall 5 und 6 ist möglicherweise die geringe
Reaktion auf die Benützung einer weicheren Röhre zurück¬
zuführen.
Unangenehme Nebenwirkungen, besonders auf der Haut,
fehlten mir bei der Bestrahlung. Eine Grenze für die Anwen¬
dung im allgemeinen werden vielleicht die Kosten sein; da
es jedoch wahrscheinlich ist, dass eine einmalige Bestrahlung
einen deutlichen Einfluss zeigt, und es sich stets um Fälle
handeln wird, die anderer Behandlung getrotzt haben, wird
man über diesen Punkt hinwegsehen können.
M. H. ! Es ist unmöglich, dass ich hier, bei der ersten Mit¬
teilung dieser neuen Beobachtung, Stellung dazu nehme, ob sie
therapeutischen Wert besitzt, besonders da meine Beobach¬
tungszeit relativ kurz ist; trotzdem die grosse Erleichterung,
die mit Wegfall der starken Bronchialsekretion und vor allem
des quälenden Asthmas eintritt, eine grosse Wohltat für den
Leidenden darstellt, möchte ich mich in dieser Richtung noch
reserviert verhalten. Da aber die Beobachtung sicher wissen¬
schaftlich interessant erscheint und ich zur weiteren Verfolgung
anregen möchte, bringe ich sie heute schon vor Ihr Forum.
Aus dem pathologischen Institut zu Erlangen.
lieber einem Fall von Treitzscher Hernie mit
Bruchsackberstung.*)
Von Privatdozent Dr. Hermann Merkel.
Von den intraabdominellen Hernien sind die¬
jenigen der Regio duodenojejunalis zweifellos die häufigsten
und die interessantesten; sie verdanken ihre Entstehung einer
daselbst gelegenen Peritonealtasche, die zuerst von H u s c h k e
(1826) als Fossa duodenojejunalis bezeichnet, aber erst 1857
von T r e i t z genauer beschrieben und als Ausgangspunkt für
gewisse retroperitoneale Hernien angesprochen wurde. Zahl¬
reiche weitere Autoren, wie Gr über, Waldeyer, Roki¬
tansky, Jonesco, Landzert, Brösike, Scheja,
Abbee u. a. haben in der Folgezeit nicht nur kasuistisches
Material beigebracht, sondern sich auch mit dem Studium dieser
Bauchfelltasche und ihrer Beziehung zur Hernienbildung be¬
schäftigt, während T o 1 d t die entwicklungsgeschichtlichen
Grundlagen dafür beigebracht hat.
Wie kompliziert die Verhältnisse der Regio duodeno¬
jejunalis sind, geht schon daraus hervor, dass Brösike auf
Grund seiner Untersuchungen an 500 Leichen mehr oder
weniger konstant wiederkehrend 7 Rezessus in der Regio
duodenojejunalis feststellen konnte! Indesen kommen für die
Bildung der dort auftretenden retoperitonealen Hernien
freilich nur 2 oder höchstens 3 dieser Rezessus in Be¬
tracht und zwar für die typischen sogen. T r e i t z sehen
Hernien nach allgemeiner Uebereinstimmung ausschliesslich
der Recessus duodenojejunalis sinister oder
venosus. Derselbe ist nach rechts und unten offen und
wird nach vorne begrenzt von einer halbmondförmigen Falte,
der sogen. Plica venosa; in dem freien Rand dieser Plica venosa
— oder in seiner Nähe — verläuft, worauf schon T r e i t z hin¬
wies, oben eine Vene, nämlich die Vena mesenterica
inferior (V. m. i.), seitlich und unten mehr oder weniger
nahe dem freien Rande und nicht konstant die A r t e r i a
coli s i n i s t r a (A. c. s.), wie die beigegebene schematische
Abbildung 1 zeigt.
Da sich nun eine hier event. entstehende Hernie von rechts
nach links in den hinter dieser Plica venosa gelegenen Peri-
tonealrezessus einstülpt, so besitzt die typische T reitzsche
Hernie eine Bruchpforte, die nach rechts hin offen sein
muss und die hinten von der Rückwand der Leibeshöhle und
vorne von der genannten Plica venosa begrenzt ist, in deren
*) Entnommen- aus einem im Aerztl. Bezirksverein zu Erlangen
gehaltenen Vortrag (cf. diese Wochenschrift 1906, pag. 548).
b) Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 32, S. 1.
J808
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37
freiem Rande die beiden genannten Qefässe verlaufen, während
sich der Bruch sack zumeist in der linken Seite der Leibes¬
höhle, d. h. hinter dem Mesocolon transversum bezw. des-
cendens vorfinden wird. Naturgemäss besteht er aus einer
doppelten Peritoneallage, d. h. dem abgehobenen Mesokolon
und dem eigentlichen gedehnten, den ursprünglichen Rezessus
bildenden Peritonealsack. Durch diesen dünnen, doppelblätte¬
rigen Bruchsack schimmert der Inhalt wie durch zarte Eihäute
hindurch; dieser Bruchinhalt wird stets nur gebildet durch
Dünndarmschlingen, nie findet sich Dickdarm vor, dagegen
kann u. U. das ganze Dünndarmpaket bis zur letzten Ileum-
schlinge in dem stark gedehnten Bruchsack Aufnahme finden.
Was die Lagerung und Ausdehnung des Bruch¬
sackes betrifft, so ist sie natürlich in erster Linie von der
Grösse des Inhaltes abhängig; so kann sich derselbe nach links
unter Abhebelung des ganzen Colon descendens bis zur Aussen-
seite desselben erstrecken, nach oben bis hinter das Colon des¬
cendens, ja er kann unter Verdrängung des Magens bis zur
kleinen Kurvatur desselben und hinter das Pankreas (S c h e j a)
emporsteigen usw. ; in anderen Fällen wieder erstreckt er
sich nach abwärts bis ins kleine Becken (R ü p i n g), ja
er kann in der Schenkelbeuge links als Bruchsack zutage
treten (Brüning) und bei der Operation durch seinen
dreifachen Bruchsack für die Diagnostik grosse Schwierig¬
keiten bieten ! Ganz charakteristisch ist ferner für die T r e i t z -
sehe Hernie, ebenso wie für alle Brüche der Regio duodeno-
jejunalis, dass der zuführende Darmschenkel hinten in der Tiefe
des Bruchsackes selbst in denselben eintritt, so dass durch die
sogen. Bruchpforte nunmehr e i n Schenkel und zwar der ab¬
führende hindurchzieht.
Abbildung 1.
(Venen gestrichelt, Arterien ausgezogen dargestellt.)
Dieser letztere Umstand, ferner die Lage¬
rung und das eigentümliche Aussehen des
Bruchsackes, sowie die Gestalt der Bruch¬
pforte und ihre Beziehung zu den oben ge¬
nannten Gefässen, lassen die Diagnose der
T reitzschen Hernie an der Leiche mit grosser
Sicherheit stellen, während von eine klinisch sicher¬
gestellten Diagnose kaum jemals die Rede sein dürfte.
Nicht selten finden sich nun sekundäre peritonitische Ver¬
wachsungen des Bruchinhaltes mit dem Bruchsack oder mit der
Bruchpforte; ist das aber nicht der Fall, dann gelingt es sehr
leicht, durch Herausziehen der Dünndarmschlingen den ganzen
Bruchsack seines Inhaltes zu entleeren und den häutigen kolla¬
bierten peritonealen Beutel in der linken Seite der Leibeshöhle
darzustellen.
Nach dieser kurzen Skizzierung der typischen T reitz¬
schen Hernie in anatomischer und diagnostischer Beziehung,
möchte ich nunmehr die Aufmerksamkeit auf eine besondere
Komplikation derselben hinlenken, nämlich auf dieBerstung
des Brucksackes. Während bis jetzt weit über
50 1’ r e i t z sehe Hernien beschrieben sein mögen, finden sich
solche mit Bruchsackberstung ausserordenlich selten. Es
dürfte deshalb der folgende von mir jüngst beobachtete der¬
artige Fall der Mitteilung entschieden wert sein:
46 jährige Zugführersgattin Bab. E., aus Nürnberg, gestorbei
am 23. April 1906 in der Erlanger Kreisirrenanstalt; sie war daselbs-
das erstemal vom 27. August bis 22. November 1902 und das zweite¬
mal vom 8. Januar bis 23. April 1906 in Verpflegung gewesen.
Klinische Diagnose: Progressive Paralyse.
Bei der am 24. April von mir vorgenommenen Autopsie ergal:
sich im allgemeinen folgender Befund, wie er aus der Leichen¬
diagnose ersichtlich ist:
Leichendiagnose: Atrophie des Gehirns; dif¬
fuse Pachymeningitis haemorrhagica interna:
chronische diffuse Leptomeningitis mit hoch¬
gradigem Oedem der weichen Häute; mässiger
Hydrocephalus internus; Ependy mitis granularis.
— Lobulär-pneumonische Infiltrate in sämtlichen
Lungen lappen mit beginnender fibrinöser Pleu¬
ritis über beiden Unterlappen und dem rechten
Mittellappen; hypostatisches Oedem der Unter¬
lappen; linksseitige Spitzennarbe mit einge¬
schlossenen Kalkherden. — Verfettung des Herz¬
muskels. — Mässige Stauungsleber und Stauungs¬
nieren. — Endometritis; solitäre Ovarialzysten. —
Leichte Balkenblase.
Was den Befund am Darmkanal betrifft, so möchte
ich auf denselben in folgendem näher eingehen: Nach dem
Hinaufschlagen des mässig fettreichen, grossen Netzes erschien
zunächst der Situs des Dünndarms völlig normal; die Darm-
serosa überall glatt und spiegelnd, keine freie Flüssigkeit im
Abdomen. Auffallend war nur, dass das grosse Netz nicht nur
am Colon transversum inserierte, sondern auch an der Aussen-
seite des Colon ascendens bis ca. 10 cm oberhalb des Zoekums,
allmählich schmäler werdend, verlief und andererseits auch an
der Aussenseite des Colon descendens noch ein gutes Stück sich
anheftete. Beim Herüberschlagen des Dünndarmpaketes nach
links fand sich nun eine eigenartige Strangulation der untersten
Ileumschlinge (s. Abbildung 2 0, indem ein aus dem unteren
Blatt des Mesokolon entspringender Strang, oben hoch be¬
ginnend und allmählich sich verjüngend, aber auch verdickend,
quer über das Ileum (J.) (ca. 8 cm vor dessen Einmündung in
das Zoekum) frei ohne jede Verwachsung hinüberzog, um sich
jenseits desselben wieder in der Hinterwand der Leibeshöhle
zu verlieren und zwar unter Bildung zweier Schenkel, von
denen der eine nach rechts, d. h. nach dem Zoekum zu, der
andere nach der Flexura sigmoidea hinzu verlief. Der erstere
trat in eigentümliche Beziehung zum Wurmfortsatz, indem er
an der Bildung von dessen Mesenteriolum teilnahm. Wie aus
den Figuren 2 und 3 ersichtlich, besass der Processus
vermiformis nämlich ein doppelblätteriges Mesenterium, dessen
oberes Blatt direkt aus dem Peritonealüberzug des Zoekum
und der untersten Ileumschlinge hervorging, während das
untere von dem oben erwähnten rechten Schenkel des Strangu¬
lationsstranges gebildet wurde.
Beim Herüberschlagen des ganzen Dünndarmpaketes in
die rechte Seite der Leibeshöhle ergab sich ein recht eigen-
*) Abb. 2 und 3 sind von mir ausgeführt nach einer durch Herrn
Prof. Dr. Spuler giitigst an Ort und Stelle aufgenommenen Skizze.
11. September 1906.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1809
artiges Verhalten der hinteren Peritonealwand im Bereich des
Mesocolon transversum lind descendens. Es fand sich nämlich
in der linken Bauchseite ein zusammengefallener häutiger Sack
vor; derselbe liess sich zu einer ca. mannskopfgrossen halb¬
kugeligen Blase rekonstruieren, die durch eine schräg von
rechts unten nach links oben verlaufende Kontinuitätstrenmmg
in eine obere und eine untere Kugelkalotte getrennt wurde. Wie
die beigegebenen Abbildungen zeigen, ging die obere Sack¬
hälfte direkt in den oberen Teil des erwähnten Strangulations¬
stranges über, während die untere Hälfte von dessen unterem
Ende, und zwar von seinem linken Schenkel gebildet wurde.
In diesem häutigen Sack (SSi), der lediglich aus einer
dünnen Peritonealduplikatur bestand, liess sich nun ohne Mühe
der grösste Teil der Dünndarmschlingen hineinstopfen und
so entstand ein ungemein charakteristisches Bild, wie es Abb. 3
Abbildung 3.
darstellt. Es konnte somit nicht zweifelhaft sein, dass hier
eine retroperitoneale Hernie mit Ruptur des Brucksackes und
Rückperforation des Bruchinhaltes (d. h. also der Dünndarm¬
schlingen) in die freie Bauchhöhle vorlag; die Rissränder zeig¬
ten eine völlig zarte dünne Beschaffenheit, es musste also diese
Ruptur ganz allmählich durch Dehnungsatrophie des Bruch¬
sackes zustande gekommen sein. Nun zeigte sich allerdings
noch eine zweite kleinere Kommunikation des Sackes mit der
freien Bauchhöhle, und zwar am unteren Ende desselben,
unmittelbar da, wo sich der linke Schenkel des strangulieren¬
den Stranges von dem rechten abgezweigt hatte; an dieser
Stelle, die aus Abb. 2 u. 3 ebenfalls sehr deutlich zu erkennen
ist, fand sich aber eine starke, fast schwielige Veränderung des
oberen Rissrandes und ausserdem bestand als letzter Rest der
eingerissenen Sackwand ein kleiner, feiner, septumartiger
Strang, der diese Rupturöffnung in eine rechte und in eine linke
Hälfte teilte (Abb. 3). Durch diese untere kleinere Perforations¬
öffnung war nun aber bei der Sektion kein Brnchinhalt aus¬
getreten gewesen, sondern die Darmschlingen hatten die
grössere und leichter passierbare obere Oeffnung zum Rück¬
tritt in die freie Bauchhöhle benützt.
Sehen wir zunächst von dieser eigenartigen Komplikation
derBerstung des Bruchsackes ab, so handelte es sich nun im vor¬
liegenden Fall um eine retroperitoneale, in der linken Seite
der Leibeshöhle gelegene Hernie, deren Inhalt wohl ursprüng¬
lich aus dem ganzen Dünndarm bis zur untersten Ileumschlinge
bestanden hatte; da die Bruchpforte — ungefähr für 3 Finger
gut passierbar — zwischen dem Mesocolon ascendens und dem
erwähnten strangulierenden Strang gelegen und nach rechts hin
offen war, so war die Diagnose einer Duodenojejunalhernie
um so wahrscheinlicher, als kein durch die Bruchpforte e i n -
tretender, sondern nur ein austretender Schenkel
(nämlich das untere Ileum) konstatiert werden konnte, ein,
wie erwähnt, für diese Brüche durchaus typischer Befund!
Die Diagnose einer sog. T reitzschen Hernie konnte
hier nun aber dadurch noch mit absoluter Sicherheit gestellt
werden, dass im rechten lateralen Rand des Strangulations-
No. 37.
ringes, d. h. im vorderen Teil des Bruchpfortenringes die für
diese Hernie charakteristischen Qefässe (Vena mesenterica
inf. und Arteria colica sinistra) nachgewiesen werden konnten.
Damit war der im ersten Augenblick schwer deutbare Sek¬
tionsbefund vollständig klargestellt; besonders war der strangu¬
lierende fibröse Strang zunächst schwierig zu erklären gewesen,
denn erst das Vorhandensein des rudimentären Bruchsackes in
der linken Seite der Leibeshöhle gab den richtigen Aufschluss
über seine Entstehung und erlaubte dann rasch eine präzise
richtige Diagnose.
Wenn dagegen der geborstene Brucksack infolge sehr
frühzeitiger (d, h. schon bald nach der Ausbildung einer kleinen
retroperitonealen Hernie erfolgter) Berstung nur wenig deutlich
ist oder wenn derselbe vom Obduzenten übersehen wird, dann
könnte sehr wohl die Deutung des Befundes ausserordentlich
schwierig sein.
Was nun ähnliche Beobachtungen betrifft, so
fand ich in dem von Palla (Virchows Archiv, Bd. 166,
1901) beschriebenen Fall nur noch eine Andeutung von dem ge¬
borstenen Bruchsack vor und zudem war dort die Erklärung
noch besonders erschwert, da die im vorderen Bruchpforten¬
ring (d. h. im Strangulationsband) verlaufenden und für die
T r e i t z sehe Hernie typischen Qefässe völlig obliteriert
waren; doch konnte Palla durch Injektion der Anastomosen
diese Obliteration in sehr hübscher und absolut einwandsfreier
Art nachweisen. Ausser dieser Beobachtung berichtet nur
noch Hesselbach von einem analogen Fall, in dem freilich
nur von dem fibrösen Strangulationsband die Rede ist; eine
später von Hauff gegebene, leider weniger klare Mitteilung
bietet insoferne kompliziertere Verhältnisse, als sich der retro¬
peritoneale Bruchsack hinter das Colon descendens geschoben
haben mag und hier erst, also jenseits des Colon descendens
die Rückperforation in die freie Bauchhöhle eintrat. Ganz ab¬
sonderlich endlich lagen freilich die Verhältnisse in einem von
Narath beschriebenen Fall; denn hier hatte der Bruchsack der
T r e i t z sehen Hernie seinen Weg nach oben, hinter Colon
transversum und Magen, genommen und es war, wie es die in
der Arbeit gegebene Abbildung ausserordentlich anschaulich
darstellt, die Perforation des Dünndarmpacketes durch das
Omentum minus hindurch in die freie Bauchhöhle erfolgt!
Mit diesen wenigen Angaben ist die ganze Literatur über
Bruchsackberstungen bei T r e i t z sehen Hernien, wie es
scheint, völlig erschöpft; es stellen dieselben also eine recht sel¬
ten beobachtetes und schon deswegen wohl mitteilenswertes
Ereignis dar.
Bei der relativ grossen Seltenheit der T r e i t z sehen
Hernien aber scheint es mir nicht ausgeschlossen, dass
solche Folgezustände nach Bruchsackberstungen auch ab und
zu einmal selbst von erfahrenen Operateuren oder Obduzenten
nicht richtig erkannt, vielleicht als eigenartige peritonitische
Residuen oder ähnlich aufgefasst werden könnten und es scheint
mir daher wünschenswert, gerade an dieser Stelle auf diese
merkwürdigen und in der Diagnose schwierigen Befunde die
allgemeine Aufmerksamkeit zu lenken!
Ueber die klinische Seite bin ich leider nicht in der
Lage nähere Angaben machen zu können, sowohl der Befund
Pallas wie der ineinige wurden zufällig erhoben; in der
Krankengeschichte meines Falles, die mir Herr Direktor Medi¬
zinalrat Dr. Würschmidt gütigst zur Einsicht überliess, fan¬
den sich gar keine Anhaltspunkte für die Annahme schwererer
klinischer Erscheinungen von Seite des Darmkanals, doch könn¬
ten dieselben freilich auch in viel frühere Jahre, d. h. vor der
Anstaltsbehandlung zurückzuverlegen sein. Jedenfalls fanden
sich bei der Autopsie gar keine älteren peritonitischen Residuen,
mit Ausnahme jener geschilderten Verhältnisse an der nach
dem Beckeneingang zu gelegenen zweiten Perforationsstelle,
ebensowenig fand sich aber auch eine tatsächliche Strangulation
an der überbrückten Ileumschlinge, die völlig frei unten hin¬
wegzog. Dagegen scheint allerdings in der zitierten Beobach¬
tung von Hesselbach der Tod durch Strangulationsileus
bedingt gewesen zu sein.
3
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
J810|
Literatur.
1. Hesselbach: Lehre von den Eingeweidebrüchen. Würz¬
burg J829. Bd. I. — 2. Hauff: Beiträge zur pathol. Anatomie.
Schmidts Jahrbücher, Bd. 23, 1839, p. 184. — 3. Treitz: Hernia
i etroperitonealis. Ein Beitrag zur Geschichte innerer Hernien. Prag
1857. — 4. Brüning: Ein Fall von Hernia duodenojejunalis sinistra
(Hernia retroperitonealis Treitzii). Inaug.-Diss., Würzburg 1894,95.
5. Rüping: Ein Fall von Hernia retroperitonealis Treitzii, eine
Ovarialzyste vortäuschend. Inaug.-Diss., Tübingen 1894 95. —
6. Narath: Zur Pathologie und Chirurgie der Hernia duodeno¬
jejunalis. Archiv f. klin. Chir., Bd. 71, 1903, p. 911.
Aus der inneren Abteilung des Altstädter Krankenhauses zu
Magdeburg (Oberarzt Dr. Schreiber).
Ein neuer Fall von traumatischer Lungenhernie ohne
penetrierende Thoraxverletzung.
Von Dr. Germer, Assistenzarzt.
Lungenhernien im Anschlüsse an penetrierende Ver¬
letzungen des Thorax sind oft beschrieben worden und keines¬
wegs seltene Erscheinungen; eine Lungenhernie aber, die sich
entwickelt nach einem Trauma, ohne dass es dabei zu einer
Läsion der äusseren Hautdecken gekommen, ist ein selten vor¬
kommendes Ereignis.
In der mir zugängigen Literatur habe ich bisher nur 14 Fälle
beschrieben gefunden, die übersichtlich in der Inauguraldisser¬
tation von Lewer, Göttingen 1904, zusammengestellt sind.
Fast alle diese Fälle haben das gemeinsame, dass es sich
bei ihnen gleichzeitig um eine mehr oder weniger ausgedehnte
subkutane Zertrümmerung des knöchernen Thorax handelt,
und nur der eine Fall, den Roche im Bulletin medical de la
societe de 1 Yvonne 1881 beschreibt, scheint dem von mir be¬
obachteten am ähnlichsten zu sein.
Roche berichtet von einem Maurer, der aus einer Höhe
von 10 m auf ein eisernes Gitter gefallen war, ohne dass es
dabei zu einer Zerstörung der Knochen und der häutigen Um¬
hüllung des Thorax gekommen war, und bei dem am 5. Tage
nach der Verletzung eine Zerreissung der Interkostalmuskeln
und eine durch die entstandene Lücke herausgetretene Hernia
pulmonalis konstatiert werden konnte.
Die Rissstelle in seinem und in meinem Falle entspricht der
Stelle, wo die Thoraxwand zwischen der 7., 8. und 9. Rippe
nur von den Mm. mtercostales ext. gebildet wird, ungefähr
am Insertionspunkte der Rippenknorpel an die knöchernen
Rippen; hier findet sich also ein Locus minoris resistentiae.
Vielleicht aber ist in dem gleich zu beschreibendem Falle
die durch das I rauma bewirkte Läsion eines Interkostalnerven
mit nachfolgender Atrophie des zugehörigen Muskels und se¬
kundärem Heraustreten der Hernie durch die hier ihrer Elastizi¬
tät verlustig gegangene I horaxwand die richtigere Erklärung.
Anamnese: Der Arbeiter A. K. aus Magdeburg wurde am
“F Fb auf die innere Station des Altstädter Krankenhauses wegen
eines akuten Bronchialkatarrhs aufgenommen. Mit 28 Jahren hatte
er eine Lungenentzündung, sonst will er nie ernstlich krank gewesen
sein. Im Eiiihjahr 1903 stürzte er infolge Scheuens seines Reitpferdes
mit demselben und kam unter das Tier zu liegen, und zwar mit der
linken Seite auf die Erde. Er konnte sich sofort wieder aufraffen
und das Pferd nach Hause führen. Bald jedoch bemerkte er Schmer¬
zen in der linken Seite. Er achtete anfangs nicht weiter darauf, bis
nach einigen Wochen eine etwa walnussgrosse Geschwulst bei
Hustenstössen oder schwerem Heben in der linken Seite ihm immer
heftigere Schmerzen machte. Jetzt zog er einen Arzt zu Rate, der ihn
mit Illastern und Einreibungen behandelte. Bald aber achtete er
geil nicht mehr auf die Geschwulst, die mit der Zeit immer grösser
wurde, ihn aber nur bei schwererer Arbeit belästigte. Ende Januar
zog er sich eine heftige Erkältung zu und kam deswegen ins Kranken¬
haus.
Status: Der Patient ist ein kräftig gebauter, mittelmässig er¬
nährter Mann. Der Diorax ist breit, gut gewölbt, nur in den oberen
Partien etwas flach. Der Klopfschall ist überall normal, das Atmen
vesikulär. Dicht unter der Herzdämpfung, zwischen der 6. und
7. Rippe, findet sich ein länglicher Tumor von 9 cm Länge, der sich
teigig elastisch anfühlt und in der Richtung des Interkostalraumes
\ erläuft. Beim Pressen und Husten tritt die Geschwulst stärker aus
dem I horax heraus. Der Perkussionsschall ergibt über dem Tumor
hellen Lungenschall. Das vorsichtig, ohne Druck auszuiiben, auf¬
gesetzte Stetoskop lässt ganz feines Vesikuläratmen erkennen. Eine
Reposition der vorspringenden Geschwulst ist nicht ganz möglich, ver¬
mutlich wegen der mit der Zeit eingetretenen Verwachsungen der
beiden Pleurablätter an der Bruchpfortc. Diese letztere lässt sich
ziemlich gut abtasten zwischen 6. und 7. Rippe. Die Rippen selbst
erscheinen vollständig glatt und auch die von der Stelle aufgenom¬
mene Röntgenphotographie ergibt ein vollständig normales Bild des
Thorax; das Zwerchfell verläuft unterhalb der Geschwulst.
Die Herzgrenzen zeigen normales Verhalten, der Spitzenstoss ist
im 5. Interkostalraum in der Mammillarlinie fühlbar. Die Herztöne
sind rein. Der Puls ist gut gespannt und gefüllt, regelmässig.
Die übrigen Organe des Patienten ergaben nicht Krankhaftes.
Demzufolge handelt es sich bei ihm um eine Lungenhernie,
die unzweifelhaft durch das Trauma entstanden ist, eine Ver¬
letzung des knöchernen Thoraxgerüstes und der Hautdecken
ist nicht vorhanden gewesen. Nach Anlegung einer mit einer
Pelotte versehenen Bandage ist der Patient nahezu schmerzfrei
und kann als arbeitsfähig aus dem Krankenhause entlassen
werden.
Differentialdiagnostisch käme nur ein Lipom in Betracht,
das aber dann mit der Thoraxhöhle in Verbindung stände, da
beim Pressen und Husten die Geschwulst stärker hervortritt.
Nach meiner Ueberzeugung sichert aber Perkussion und Aus¬
kultation die Diagnose Lungenhernie.
Aus der medizinischen Universitäts-Poliklinik zu Leipzig
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. F. A. Hoff mann).
Bemerkenswerter Fall von tuberkulösem Hautexanthem.
Von Dr. Hans Vorn er, Assistent für die dermatologische
Abteilung.
In Nummer 6 der Wochenschrift dieses Jahrganges hatte
Herr Kollege A. Bittorf einen Artikel unter dem Titel: Zur
Pathogenese der angeborenen Stuhlverstopfung (Hirsch-
s p r u n g sehe Krankheit) publiziert.
Es handelte sich um ein Kind, welches ca. 15 Wochen alt war,
als es in die Behandlung der Poliklinik bezw. speziell in diejenige des
internen Assistenten, Herrn B i 1 1 o r f, kam. Es wurde bei gelegent¬
lichen Vorstellungen durch die Mutter und Besuchen in der Woh-
ung bis zu seinem Ableben beobachtet, welches im Alter von 19%
Wochen erfolgte.
Das Kind stammte von tuberkulösen Eltern ab und zeigte von
Geburt an die ausgesprochenen Symptome der sogen. Hirsch-
Sprung sehen Krankheit, über die Kollege B i 1 1 o r f des näheren
berichtet. Vorausgegangene Erkrankungen der Haut (Ekzem, akutes
Exanthem) waren auszuschliessen. In diesem Krankenbericht steht
mm folgender Satz: „Eine eigenartige Follikulitis trat auf, die Herr
Dr. Vor ne r als eventuell tuberkulös bezeichnete.“ Diese kurz ge¬
fasste Bemerkung möchte ich im folgenden noch mit einigen Worten
erläutern.
Bereits in den ersten Tagen der poliklinischen Behandlung
machte mir Herr Bittorf von einem Exanthem Mitteilung und
bald darauf stellte er mir den Fall vor. Bei der Besichtigung der
Haut fanden sich am Stamm einige zerstreute Gruppen von Efflores-
zenzen und zwar eine am Bauch, zwei auf der Brust und auf dem
Rücken. Diese Gruppen bestanden aus ca. einem halben bis ganzen
Dutzend Einzeleffloreszenzen, die bald weiter, bald dichter standen, zum
Teil sogar sich berührten. Sie waren im Durchmesser stecknadelkopf-
bis fast linsengross und bildeten Knötchen von dieser Grösse, die ver¬
schieden hoch dlas Hautniveau überragten, mitunter auch sehr flach
waren. Im Zentrum zeigten die grösseren gewöhnlich eine weissliche
trübe Verfärbung. Die Farbe war bei allen nicht etwa lebhaft rot,
sondern bräunlich dunkelrot. Sie war so auffallend, dass Kollege
Bittorf die Möglichkeit einer gleichzeitigen Lues ins Auge fasste
(die Tuberkulose der inneren Organe war noch nicht festgestellt)
und aus diesem Grunde mich um meine Ansicht befragte. — Auf
Finger- oder Glasdruck liess sich leicht nachweisen, dass die Farbe
der Effloreszenzen nicht schwand, sondern es blieb eine gelbliche
bis bräunliche Verfärbung zurück, deren Sitz die Kutis war. Bei
sorgfältiger Betastung liess sich an den Knötchen keine Resistenz
bemerken, sondern dieselbe war weicher als die Umgebung. Sym¬
ptome von Lues fehlten beim Kind wie bei den Eltern.
Auf Grund dieses Befundes äusserte ich mich Herrn Kollegen
B i 1 1 o r f gegenüber, dass es sich in diiesem Palle um eine Affektion
handeln könne, bei welcher der Tuberkelbazillus eine Rolle spiele,
und an die Möglichkeit, dass die pathogene Ursache von anderer
Stelle mit dem Blutwege an die betreffenden Hautpartien gelangt sei,
müsse man denken. Dazu kam, dass das Kind in der letzten Zeit
an Husten litt, wie uns dlie Mutter mitteilte.
Bisher hatten am Kinde hauptsächlich die Symptome der
Hirschsprung sehen Erkrankung Interesse erregt und auf das
Verhalten der inneren Organe im übrigen war weniger Gewicht ge¬
legt worden. Die vom Kollegen Bittorf im Anschlüsse an die
Hautbeobachtung vorgenommene weitere Untersuchung ergab jetzt
das Vorhandensein von bronchopneumonischen Herden und die
Röntgenuntersuchung liess Trübungen der Lungenfelder erkennen.
II. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1811
Dazu gesellten sich noch gegen das Ende der Beobachtung nienin-
gitische Erscheinungen, die sich allmählich steigerten (Fieber, Nacken¬
starre und Krämpfe der Körpermuskulatur) und schliesslich zuni
Exitus führten.
Während der ganzen Zeit der Beobachtung hatte sich die Haut-
affektion so gut wie nicht geändert, sondern bot vielmehr immer das
gleiche Bild. Nur am letzten Tage, kurz vor dem Tode, hatten die
Effloreszenzen nicht mehr die frühere Frische, sie waren auffallend
livid, eine Erscheinung, die wohl auf veränderten, durch die ausser¬
ordentlich hohe Temperatur und die vorhandene Herzschwäche her¬
beigeführten Zirkulationsverhältnissen beruhen mochte.
Durch die Sektion wurde neben dem interessanten Befund der
der Hirschsprung sehen Erkrankung zuzusprechenden Ver¬
änderungen auch eine fortgeschrittene tuberkulöse Erkrankung der
Lunge festgestellt. „Alle Lungenlappen waren durchsetzt von reich¬
lichen, teilweise konfluierenden, kleinerbsengrossen, verkäsenden
(mikroskopisch zahlreiche Bazillen enthaltenden) Tuberkeln, meist
peribronchial gelagert.“ Von der Sektion, die im hiesigen patho¬
logischen Institut ausgeführt wurde, brachte mir Herr B i 1 1 o r f
auch ein Stückchen Haut mit, welches eine typische Hauteffloreszenz
mit reichlicher Umgebung enthielt.
Dieses Stückchen legte ich zunächst in Formalin, behandelte es
dann weiter mit Alkohol und schliesslich nach der Paraffineinbettungs¬
methode, um es in Serien zu zerschneiden. Die Durchsicht der
Schnitte ergibt an den Randpartien, dass dieselben aus Epidermis,
Kutis und den obersten Schichten dies subkutanen Fettgewebes be¬
stehen. Das letztere ist kernreich. Grosse wohlgefüllte Fettzellen
sind zum Teil vorhanden, aber nur in geringer Menge, die meisten
enthalten nur kleine Quantitäten von Fett oder dasselbe fehlt voll¬
ständig. Der Sitz der Veränderung ist vor allem die Kutis.
Dieselbe besteht an Stelle des Knötchens aus nach allen Rich¬
tungen dicht durchflechtenden blassen Spindelzellen, zwischen denen
Plasmazellen von verschiedener Grösse bezw. Entwicklung liegen.
Gelegentlich finden sich Mastzellen, polynukleäre Lymphozyten fehlen.
Riesenzellen sind selten. Im Zentrum ziehen dünne Bindegewebsziige
durch, die Zellen in Gestalt von Herden von einander trennend. Nach
abwärts ist die Begrenzung scharf, nach den seitlichen Partien we¬
niger. Die Infiltratzellen verbreiten sich iher namentlich längs der
Kapillaren in kleinen strichförmigen Herden.
Kapillaren finden sich auch häufig in der Veränderung selbst. Im
Zentrum derselben, etwas mehr nach abwärts bemerkt man ein kleines
Blutgefäss. Verfolgt man dasselbe aus dem Gesunden, so sieht man
das Lumen im Knötchen an Durchmesser zunehmen, eine grössere
Menge von roten Blutzellen enthaltend. Am Gefäss selbst ist die
Intima nicht verändert, die bindegewebige Hülle desselben ist stark
verbreitert, in der Färbbarkeit abgeschwächt; die äusseren Zellen
derselben gehen in die Spindelzellen der Geschwulst über. Der In¬
halt des Gefässes lässt nichts Auffälliges bemerken. Die roten Blut¬
körperchen zeigen genau dasselbe Verhalten wie diejenigen in den
normalen Gefässen.
Die Epidermis zeigt über den unveränderten Partien der Um¬
gebung ein normales Verhalten. Ueber dem Knötchen erscheinen die
Epithelzellen etwas blasser, um die Kerne sind zahlreiche runde
Lücken, die Hornschicht ist unregelmässig dick, die Keratohyalin-
menge wechselnd, stellenweise vermehrt oder vermindert. Im Zen¬
trum der Knötchen fehlt die Oberhaut, sie schlägt sich am Rande
der Stelle, die in vivo als feinstes, rundliches, eingezogenes Pünktchen
erschien, etwas nach einwärts, um in feiner Spitze zu enden. Die
Epidermis umrandet somit einen feinsten rundlichen Defekt, Der
Boden desselben wird von den obersten Infiltratzellen selbst gebildet.
Die Untersuchung auf Bakterien (Tuberkelbazillen, Eiter¬
erreger, Hefepilze) fiel negativ aus.
Der mikroskopische Befund widerspricht nicht dem kli¬
nischen Verhalten. Der pathologische Teil der Schnitte zeigt
Details, die einer tuberkulösen Hauteffloreszenz zukommen
können. Es fragt sich nun in diesem Falle, ob eine inzipiente
tuberkulöse oder lupöse Form oder ein Tuberkulid vorliegt.
Die Beobachtung von 4 Wochen war zu kurz, um durch den
Verlauf etwas sicheres feststellen zu können. Das Aussehen
der Knötchen spricht für letztere Ansicht.
Interessant ist an dieser Beobachtung, dass der Haut¬
befund frühzeitig auf den tuberkulösen Zustand der inneren
Organe aufmerksam machte, der sonst wohl noch länger von den
Symptomen der vorhandenen Hirschsprung sehen Krank¬
heit verdeckt worden wäre.
Prostatitis chronica „cystoparetica“.
Von Dr. B e r t h o 1 d G o 1 d b e r g in Wildungen.
Die Forschungen des letzten Jahrzehntes haben über die
Erscheinungsformen und die pathologische Bedeutung der
Prostatitiden uns soweit aufgeklärt,- dass bei einiger Kenntnis
der einschlägigen Arbeiten fehlerhafte Auffassungen bezüglich
Diagnose und Therapie kaum noch Vorkommen dürften.
Aber es gibt eine Form der chronischen Prostatitis, welche
sehr selten ist, und welche, wenngleich erfahrenen Urologen
nicht unbekannt, eine klare Sonderung bisher nicht ge¬
funden hat.
Es ist dies die mit Retentio urinae chro¬
nica verbundene schwerste chronische Pro¬
statitis, welche ich der Kürze halber, und um
in dem Namen gleich ihr Wesen zu kennzeich¬
nen, „Prostatitis chronica cystoparetica“ zu nennen vor¬
schlage.
Unter beiläufig 4000 an Harn- und Geschlechtskrankheiten
leidenden männlichen Personen habe ich sie ein dutzendmal
gesehen, also in einem Verhältnis von 3 Prom.. Diese 12 Fälle
machten beiläufig 2 Proz der beobachteten Prostatitiden aus.
Es handelt sich also um eine seltene Krankheit.
Aber ihr Interesse geht über das einer kasuistischen Be¬
sonderheit weit hinaus.
Schildern wir zunächst ihre Erscheinungen an der Hand
unserer 12 Fälle. Die Patienten stehen im Alter von 25 bis
45 Jahren; das Durchschnittsalter ist 37. Sie haben meistens
— keineswegs immer — an - chronischer Gonorrhöe gelitten,
oder leiden noch daran. Ihr Allgemeinzustand ist in den ersten
Jahren der Krankheit im ganzen ungestört, in späteren Zeiten
meist unbefriedigend.
Sie klagen über Störungen der Harnentleerung, Häufigkeit,
Schwierigkeit, Schmerzhaftigkeit der Miktion, über Ausflüsse
aus dem Glied, über Trübung des Harns. Starke oder anfalls¬
weise auftretende Schmerzen im Bereich der Harn- und Ge¬
schlechtsorgane werden nicht berichtet, ebensowenig Blut-
harnen. Die Beschwerden haben in der Regel in den 30 er
Jahren eingesetzt und sind, trotz aller Behandlung, geblieben,
bald in ewigem Einerlei, bald langsam, aber mit den Jahren
merklich zunehmend.
Impotenz wird nicht berichtet.
Die objektiven örtlichen Erscheinungen beziehen sich auf
Prostata, Urethra, Vesica urinaria, Harn.
Die Vorsteherdrüse hat, soweit es die rektale Pal¬
pation erkennen lässt, einen mittleren oder verminderten Um¬
fang; 5 mal ist notiert mittelgross, 3 mal mässig gross, 4 mal
klein.
Ihre Form ist stets unregelmässig; ungleichmässig, asym¬
metrisch, vielknollig, kleinknollig, einige Male geradezu form¬
los: aus einigen verstreuten Erbschen und Wülstchen be¬
stehend.
Ihre Konsistenz trägt dieselben Charaktere des Un¬
bestimmten: auf harte und weiche, derbe und teigige, stein¬
harte und fluktuierende Stellen stösst der suchende Finger;
doch kommt auch harte Kugelform — wie bei Prostatahyper¬
trophie! — zur Beobachtung; in diesen Fällen ist dann wohl
eine auffallende Glättung und Unverschieblichkeit des über¬
liegenden Rektum deutlich.
Die endourethrale Untersuchung der Prostata durch Be¬
tastung der Urethra prostatica mit Knopfsonde oder Katheter
ergibt in einigen Fällen ein Hindernis in der Passage, entweder
Enge oder Deviation, Verlängerung oder Verkürzung, in den
meisten Fällen sind aber mittlere halbweiche Katheter (Char-
riere 20) leicht in die Blase zu bringen. Die urethroskopische
Prüfung bezüglich der Prostata war in meinen Fällen durch
die Beschaffenheit der Urethra posterior aussichtslos. Die
zystoskopische Untersuchung, welche ich in etwa der Hälfte
der Fälle vorgenommen habe, ergab bezüglich der Prostata
keine besonders charakteristischen Befunde: Uebergangsfalte
nicht glatt, eingekerbt, wellig, wulstig, derbweiss durchsetzt,
aber nicht mehr, als bei der alltäglichen Form der chronischen
Prostatitis auch.
Das Prostatasekret war immer eitrig.
3*
iÖ 12
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
Bei einigen Patienten war starker und lang fortgesetzter,
die ganze Zirkumferenz der Prostata treffender Druck not¬
wendig, um Sekret zum Vorschein zu bringen; in diesen Fällen
war die Menge des erhältlichen Sekretes eine minimale, kaum
ein Tropfen zähen Schleims am Orifizium oder kaum ein paar
Flöckchen im Harn, der post expressionem entleert wurde.
Bei zweien strömten, kaum dass der Finger die Prostata er¬
reicht, die gelbrötlichen oder gelbgrauen Tropfen in ununter¬
brochener Folge aus der Harnröhre, bis zu 5 ccm jedesmal.
Dazwischen liegen bezüglich Ausdriickbarkeit und Menge
des Saftes die anderen Prostatitiden.
Die makroskopische Beschaffenheit des Saftes war durch
dasselbe Kennzeichen zu bestimmen, welches ich allgemein als
Charakter des Sekrets entzündeter Vorsteherdrüsen fixiert
habe, den Mangel der Homogenität. Trüb, graugelblich, gelb¬
lich, rötlichgelblich; dünnflüssig, dickrahmig, zähschleimig;
wässrig sandig, wässrig flockig, milchig dickflockig: aber kaum
einmal die gute Emulsion dünner Milch — die das normale Pro¬
statasekret darstellt.
Mikroskopisch enthält dieses Sekret vorwiegend, in der
Mehrzahl der Fälle fast ausschliesslich polynukleäre Leuko¬
zyten. Ausserdem finden sich, meist in sehr geringen Mengen,
Epithelien, Lezithinkörnchen, Erythrozyten, Spermatozoen.
Die Harnröhre war in ihrem vor dem Sphinkter ge¬
legenen Abschnitt — bezüglich des hinteren s. o. — zwar
meistens chronisch entzündet, aber in keinem Fall dauernd
striktu riert. Diese Feststellung ist für das von mir beschriebene
Krankheitsbild wesentlich; denn wenn wir eine richtige enge
Urethralstriktur haben u n d eine chronische Prostatitis „cysto-
paretica“, so können wir den Anteil des einen und des anderen
Faktors an der Zystoparese nicht bestimmen.
Bis hierher haben wir nur das Krankheitsbild einer nach
Ausbreitung und Dauer schweren chronischen Prostatitis: erst,
was jetzt hinzukommt, die Retentio urinae chronica, schafft das
neue Krankheitsbild der Prostatitis chronica „cystoparetica“.
Keiner der Patienten vermag spontan seine Blase gänzlich
zu leeren. Die Menge des Residualurins einer Miktion betrug
4 mal bis zu 50 ccm, 2 mal um 100, 6 mal 200 — 300 ccm.
Diese Retentio urinae incompleta ist nur bei 4 Patienten,
die noch nicht 40 Jahre alt waren, im Laufe längerer Behand¬
lung geschwunden ; bei allen anderen ist sie ge¬
blieben; die Dauer meiner Beobachtung hat sich bei fast
allen über eine Reihe von Jahren erstreckt. Zwar schwankt
sie — wie bei den meisten Patienten mit Prostatahypertrophie
auch in ziemlich weiten Grenzen; die falsche Ausdrucksweise,
die Menge absolut, statt in Prozenten des Spontanurins an¬
zugeben, trägt aber mehr Schuld an diesem vermeintlichen
Wechsel der Entleerbarkeit in jedem einzelnen Falle.
Der Verlauf der Zystoparese war 4 mal so, dass akute
Verschlimmerungen, ähnlich den Anfällen akuter Retention der
Prostatiker, vorkamen, im übrigen in den 30 er, 40 er Jahren
stationär, nicht progressiv. Einmal wurde dabei hochgradige
Inkontinenz beobachtet. Der Einfluss des regelmässigen Kathe¬
terismus auf die Zystoparese ist in den meisten Fällen, d. h.
bei der zu A bis der Gesamtentleerung gediehenen Verhal¬
tung, ein geringer.
Der Verlauf ist also ein von dem Verlauf der Striktu r-
retention durchaus verschiedener. Die Retention ist die Ur¬
sache der oben geschilderten subjektiven Störungen der Harn¬
entleerung; die subjektiven Störungen allein können nie¬
mals die Berechtigung geben, eine chronische Prostatitis in
unsere Gruppe einzureihen.
Sehen wir von der Eiterung der Prostata und der Urethra
ab, die ja selbstverständlich ist, so bestand in 10 der 12 Fälle
eine Infektion der Harnwege.
Zystitis bestand 10 mal, und meistens chronische, refrak¬
täre, kaum gänzlich heilbare Zystitis, nur 2 mal nicht. Zu
dieser Zystitis hatte sich 4 mal Pyelitis, 4 mal rekurrierende
Epididymitis hinzugesellt. Die Epididymitis heilte ja immer
wieder ab, bewirkte aber, falls sie sich nicht an 1 Seite hält,
bald Sterilität. Die Pyelitis kann man in dieser Kombination
mit schwerster Prostatitis nur auf Grund eindeutiger objektiver
Befunde diagnostizieren; ich habe sie 2 mal zystoskopisch fest¬
gestellt. Einmal konnte ich sie heilen. Die Infektion der Harn¬
wege hatte 2 mal zu chronischer Urosepsis leichteren Grades
geführt; durch die evakuatorisch-desinfizierende Therapie der
Harnwege habe ich dieselbe heilen können. Gar nicht selten
sind die Anfälle provozierter leichter akuter Urobakteriämie,
welche man „akutes Katheterfieber“ zu nennen pflegt.
Die Beschaffenheit des Harns entspricht den vorstehend
angegebenen Befunden. Entweder dauernd oder inter¬
mittierend enthält der Harn Eiter, und zwar alle Portionen des
spontan entleerten Harns ebenso, wie der mit Katheter ent¬
leerte Harn. Die Menge des Eiters ist besonders gross bei
komplizierender Pyelitis; die Intermittenz der Pyurie ist nicht
Zeichen von Harnleiterverschluss und Harnleiteröffnung bei
Pyelitis, sondern Zeichen der Beimengung oder des Fehlens
des eitrigen Drüseninhalts beim Blaseninhalt.
In einem Drittel der Fälle enthielt der frisch entleerte
Harn ausserdem massenhaft Bakterien; diese Zystitiden sind
ganz besonders refraktär. Einige Erythrozyten fehlten selten;
aber Blutharnen wurde nie gesehen.
Bei den mit Pyelitis kombinierten Zystitiden enthielt das
Harnfiltrat lA — 1 Prom. Albumin.
Die Reaktion des Harns war meist sauer, einigemal al¬
kalisch.
Die sonstigen Eigenschaften des Harns — 24 ständige
Menge, Farbstoffgehalt, spezifisches Gewicht, Konzentration,
Satzgehalt — boten keine auffälligen oder regelmässigen Be¬
sonderheiten.
Die genitalen Funktionen der Kranken wiesen insofern
keine groben Störungen auf, als alle potent, die meisten ver¬
heiratet, von den 8 verheirateten 6 Väter waren. Auf sexual¬
psychologische Details will ich hier, als objektiver Wert¬
schätzung für unser Krankheitsbild vorläufig unzugänglich,
mich nicht einlassen.
Man kann die Prostatitis chronica cystoparetica nur dia¬
gnostizieren, wenn man alle Erkrankungen, welche er-
fahrungsgemäss zu Zystoparese führen können, sorgfältig aus¬
geschlossen hat. Keiner meiner Patienten litt an Erkran¬
kungen des zentralen Nervensystems, keiner an Harnröhren¬
verengerung in klinischem Sinne, keiner an Prostatahyper¬
trophie; ich habe nur Fälle aus dein präklimakterischen (sit
venia verbo) Alter beschrieben.
Unsere Krankheit bildet ein Mittelding zwischen der Pro¬
statitis chronica diffusa Simplex und der Prostatahypertrophie;
mit der letzteren teilt sie alle Folgeerscheinungen bezüglich der
Harnentleerung, mit der ersteren die pathologisch-anatomischen
Charaktere der Organaffektion; nur sind diese immer in den
höchsten Graden vorhanden; so zeigte es mir die objektive
Untersuchung am Lebenden; die Vorsteherdrüse ist in dieser
Hinsicht der Erkenntnis recht zugänglich. Wenn man aus der
Prostata Eiter auspresst, so müssen wohl endoglanduläre Eite¬
rungen vorliegen; wenn man vom Rektum aus eine fluktuierende
Stelle mit dem Finger in der Prostata fühlt, und auf leichtes
Pressen ein Schuss trüben Eiters aus der Harnröhre quillt, so
muss wohl eine mit derUrethra kommunizierendeZyste oderKa-
verne da sein; wenn man eine glatte, grosse, harte Masse derb¬
ster Beschafienheit fühlt und immer trotz heissen Bemühens
nur Spuren Sekretes zu gewinnen sind, so müssen wohl die
Ausführungsgänge verschlossen (periglanduläre Infiltration)
oder die Drüsenabsonderung verödet sein. Wenn der gleiche
Absonderungsmangel festgestellt wird, während die bimanuelle
rektoabdominale Palpation ein wirres Konglomerat von Strän¬
gen und Knollen feststellt, so ist an der Richtigkeit der patho¬
logischen Diagnose: narbige Schrumpfung, parenchymatöse
Verödung, auch wohl nicht zu zweifeln. An Abbildungen von
Präparaten, die er bei operativer Behandlung chronischer Pro¬
statitis gewonnen hat, hat v. Frisch diese anatomischen Be¬
funde dargestellt (Handbuch der Urologie, III. Bd., S. 669—676,
1906).
Das Alter der Patienten bei Beginn der Erkrankung, ihre
lange, unbegrenzte Dauer, das Stationäre, nicht Progressive des
Befundes an der Prostata unterscheidet die Prostatitis chro¬
nica „cystoparetica“ vom Prostatakarzinom. Von der be-
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1813
ginnenden Prostatatnberkulose sie zu unterscheiden, kann aber
sehr schwierig werden. Mehrfach haben andere Kollegen und
ich selbst, der ich sehr viele Urogenitaltuberkulosen gesehen
und studiert habe, in der Diagnose geschwankt und Tuberku¬
loseverdacht gehabt; meistens freilich sind die Tuberkel
vorwiegend peripher, lateral, die Entzündungsknoten überall
oder zentral gelegen; meistens sind die Tuberkel eckig,
steinhart, die Entzündungsherde rundlicher und nicht gar so
hart; meistens sind, natürlich erst nach Oeffnung eines Tu¬
berkels in die Urethra, blutige Beimengungen zum Harn bei
'Tuberkulose die Regel, bei unserer Krankheit die Ausnahme:
meiste n s, aber nicht immer. In zweifelhaften Fällen muss
man das Sekret auf Tuberkelbazillen untersuchen. Uebrigens
besteht bei beginnender Prostatatuberkulose sehr selten Re-
tentio urinae.
Die Prognose der Prostatitis chronica cystoparetica
ist quoad vitam bei fehlender oder unrichtiger Behandlung eine
nicht ganz günstige, weil die alsdann auf die Dauer unaus¬
bleibliche chronische Urosepsis zum Tode führen würde; bei
richtiger Behandlung (s. u.) aber ist die Prognose quoad vitam
gut.
Quoad sanationem dagegen kann, wenn einmal einige Jahre
lang 160 — 200 ccm Residualharn bestanden haben, die Pro¬
gnose nur ungünstig gestellt werden; es gelingt, die Männer
beschwerdefrei, erwerbsfähig und lebensfroh zu machen, aber
es gelingt nicht, sie vom Katheter und vom Arzt zu befreien.
In den ersten Jahren aber, wenn es sich nur um Esslöffel Rest¬
harn und um eine noch nicht gänzlich zerstörte Drüse handelt,
ist, wie bei 4 von meinen 12 Fällen, funktionelle Heilung er¬
reichbar.
Die Behandlung muss eine dauernde, eine gewandte
und eine allseitige sein.
Dauernd: Wir haben es mit einer anatomisch unheil¬
baren Krankheit zu tun; an eine Regeneration einer normalen
Prostata aus diesen uralten Vernarbungen etc. ist gar nicht zu
denken; also der Patient muss sich damit abfinden und der Arzt
muss es sich nicht verdriessen lassen, dauernd das Nötige
zu tun.
Gewandt: Da so oft 2 Herde der Infektion, die eiter¬
erfüllte Prostata und die eiternde Oberfläche der Harnwege
nebeneinander bestehen, ist Katheterfieber schwer zu vermei¬
den; jedoch bei einer guten Technik gelingt diese Aufgabe: man
verfahre antiseptisch, zart, gründlich.
Allseitig: Einigen meiner Patienten ging es schlecht,
weil man jahrelang zwar ihre Prostata exprimiert und ihre
Harnröhre gespült, aber das eitrige Urinresiduum nicht erkannt
und in der Blase belassen hatte. Anderen wieder war Monat
für Monat die Blase mit Katheter gespült, aber die Eiterquelle,
die Prostata, zu säubern bezw. auszudrücken war unterlassen
worden; auch ihnen brachte erst die Kombination der Prostata-
und Blasenbehandlung Besserung. So lange ich die Krankheit
noch nicht kannte, ging es mir selbst so.
Die Aufgaben der Behandlung sind folgende:
1. Heilung bezw. Besserung der Prostatitis. Regelmässige
Expression des Sekrets; Applikatiort verdunstender Desinfizien-
tien — ich brauche Wasserstoffsuperoxyd 1 — 3 proz. — in die
Urethra posterior; resorbierende, erweichende mechanische,
thermische und chemische Applikationen auf die Prostata per
rectum (sehr heisses Wasser durch Rheophor oder Klysma,
Ichthyol, Jodkali, Jodipinöl in Mikroklysmen), rektoabdominale
und rektoperineale Faradisation der Prostata. Die Einzelheiten
der Therapeutik fallen mit derjenigen der gewöhnlichen chro¬
nischen Prostatitis zusammen; ihre Handhabung muss man an
ihr erlernt haben, um sie der Heilung dieser schweren Krank¬
heit nutzbar machen zu können 1).
2. Regelmässige Evakuation der Blase; anfangs, so lange
der Zustand stabilen Gleichgewichts, dauernd gleiches Resi¬
duum, noch nicht erreicht ist, soll der Arzt, nachher der Patient
katheterisieren, nicht dann und wann mal, sondern alle Tage,
U Vgl. hierüber Schar ff, Zentralbl. f. Harnkr. 1899, S. 507,
Qoldberg, 1. c. 1899, S. 283, Q o 1 d b e r g, Wien, klin.-therap.
Wochenschr. 1901, H. 5, 6, 7.
dabei stets mit desinfizierenden Lösungen, die Blase und die
Harnröhre spülen.
3. Dauernde interne Antisepis; man muss mit Salol, Chinin,
Urotropin, Hetralin abwechseln; ob dabei nicht bloss der Harn,
sondern auch die Prostata desinfiziert wird, weiss ich nicht;
dass aber die jahrelange desinfizierende Medikation nützlich
ist, habe ich wiederholt festgestellt. Der Pyelitis kann man
ja nur so — durch innere Mittel — Herr werden.
So undiskutierbar für mich der Vorschlag ist, die ge¬
wöhnliche Prostatitis durch Prostatektomie zu behandeln,
so begreiflich erscheint es mir, dass der Versuch gemacht
worden ist, die zystoparetische Prostatitis chronica mit
operativen Heilverfahren zu bekämpfen. Die conditio sine qua
non einer Operation ist aber jahrelange allseitige und gewandte
Therapie in obigem Sinne ohne Besserung der Retentio urinae
und zweifellose Chronizität dieser Retentio urinae.
In Betracht kämen folgende Operationen:
1. Endourethrale Galvanokaustik der Pro¬
stata. Dieselbe ist in einem meiner Fälle ohne jeden Erfolg
versucht worden. Ich halte sie bei der Prostatitis für irratio¬
nell, weil eine infizierende vielfächerige Eiterhöhle dabei ent¬
weder gar nicht oder in verkehrter Weise, teilweise und nicht
nach aussen, eröffnet wird.
2. Resektion der I^rostata nach perinealer Frei¬
legung. Eine Resektion erscheint ratsam, da man junge Männer
nicht gern gänzlich eines wichtigen Organs beraubt; Zucker¬
kand 1 (Wiener klin. Wochenschr. 1903, No. 50) und Desnos
(Annales des maladies genito-urinaires 1906, März, V) haben je
einen 27 und 45 jährigen Mann durch diese Operation von der
Retentio urinae geheilt. Ebenso verfügt v. Frisch (Hand¬
buch 1. c.) über Heilungen.
3. Prostatektomie. Die Rücksicht auf die konseku¬
tive Impotenz ist hier sehr schwerwiegend; bei der Prostata¬
hypertrophie handelt es sich um Alte, hier um Junge! Ein
36 jähriger Patient Le Fürs (Annales des maladies genito-
urinaires 1905, 1. p. 1), der aber ausserdem Strikturen hatte,
starb nach der Prostatektomie. Ein 27 jähriger Patient
Albarrans, der seit einem Vierteljahr an kompletter Re¬
tentio urinae gelitten hatte, wurde durch die Prostatektomie ge¬
heilt; die Prostata wog 10 g (M. J. Petit, These de Paris 1902).
Meine Absicht ist es heute lediglich gewesen, für die
Praxis das noch recht unbekannte Bild dieser schweren
Krankheit in scharfen Umrissen zu zeichnen; die Erörterung
der zahlreichen hochinteressanten theoretischen Fragen, zu
welchen seine Kenntnis Anlass gibt, will ich ebenso, wie die
Mitteilung aller Details, einer demnächstigen Publikation Vor¬
behalten.
Die Unterbindung der Beckenvenen bei der pyämischen
Form des Kindbettfiebers.
Von Dr. Georg Friedemann in Stettin.
Die Behandlung des Kindbettfiebers gehört nicht zu den
Glanzleistungen der ärztlichen Kunst. Zwar ist auch auf diesem
Gebiete erhebliches gebessert worden durch eine sorgfältige
hygienisch-diätetische Allgemeinbehandlung der Kranken in
Verbindung mit einer aufmerksamen, aber massvollen Lokal¬
therapie. Trotzdem bleiben doch immer noch genug Fälle zu¬
rück, in denen unser Rüstzeug versagt. In den letzten Jahren
hat man nach zwei Richtungen hin eine Erweiterung unseres
Könnens erstrebt: einmal durch direkte Beeinflussung der ein¬
gedrungenen Spaltpilze und ihrer giftigen Produkte, sodann
durch chirurgische Massnahmen. Ich rechne zur ersteren die
Silberbehandlung nach C r e d e, sodann die Versuche mit den
verschiedenen Sorten von Heilserum. Unzweideutige Erfolge
sind auf diesem Wege bis jetzt noch nicht erzielt worden.
Von chirurgischen Massnahmen nenne ich ausser den
längst anerkannten gelegentlichen Eingriffen — Abszess¬
öffnungen u. dergl. — das Curettement bei septischer Endo¬
metritis und die Uterusexstirpation. Beide Verfahren haben bis
jetzt keine glänzenden Resultate aufzuweisen, obgleich die Ex¬
stirpation immerhin in ganz besonderen, sehr seltenen Fällen
Erfolg zu haben scheint. Nur bei einer bestimmten Form des
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No.' 37.
Kindbettfiebers haben wir, wie es scheint, einen kleinen Fort¬
schritt zu verzeichnen, ich meine die Unterbindung der Becken¬
venen bei der thrombophlebitischen Form des Puerperal¬
fiebers.
W. A. Freund machte den Vorschlag, bei dieser Form,
die unter dem Bilde der Pyämie im alten Sinne mit Schüttel¬
frösten und Metastasen verläuft, die beiden Spermatikalvenen
zu unterbinden und damit den weiteren Uebertritt septischer
Massen in die allgemeine Blutbahn zu verhindern. Dieser Vor¬
schlag wurde zuerst von Trendelenburg ausgeführt, nach
dem die Operation dann auch meistens benannt wurde.
Die Erfolge waren zunächst wenig ermutigend, und dazu
kam noch die grosse Schwierigkeit, den richtigen Zeitpunkt
für die Operation zu finden. Der Rat Trendelenburg s,
nach dem zweiten Schüttelfrost zu operieren, war zu schema¬
tisch und zu willkürlich, deshalb auch entschieden unrichtig.
Viele Kranke werden unter der alten Behandlung, trotz sehr
vieler Frostanfälle, schliesslich doch gesund, und andrerseits
war selbst eine so frühzeitige Operation durchaus nicht immer
imstande, das Leben zu erhalten.
Nun ist in jüngster Zeit diese prinzipiell sehr einleuchtende
Operation nach zwei Seiten hin verbessert worden:
1. Die Unterbindung der Vena spermatica genügt nicht
immer. Das venöse Blut aus dem Uterus und dem Becken¬
bindegewebe ergiesst sich nur zum kleineren Teil in diese Ge-
fässe, zum grösseren Teil wird es zur Vena hypogastrica hin¬
geleitet. Man muss also auch diese berücksichtigen und
schlimmsten Falls alle 4 Venenstämme unterbinden, was er-
fahrungsgemäss, abgesehen von einem vorübergehenden Oedem
der äusseren Genitalien, gut vertragen wird.
2. Die Indikation musste enger gesteckt werden. Es hatte
sich gezeigt, dass die Aussichten bei der akuten Form der
puerperalen Pyämie äusserst schlecht waren. Bis jetzt ist nur
in einem einzigen akuten Fall durch Operation Heilung erzielt
worden — Bumm — und das war ein septischer Abort. Es
liegt dieses daran, dass sich hier die Sepsis nicht nur im Innern
des Venenlumens abspielt, sondern dass sie meist auch die
Wandung der Venen und das zwischenliegende Bindegewebe
ergreift. Bei einer transperitonealen Venenunterbindung gibt
es dann leicht Peritonitis. Wenn man überhaupt schon akute
Fälle operieren will, so wäre dann wohl ein retroperitoneales
Freilegen der Venen mehr am Platz. Ferner schliessen schwere
Metastasen, besonders aber ulzeröse Endokarditis, die Opera¬
tion absolut aus.
Um die Herausbildung und Betonung dieser Grundsätze
hat sich besonders Prof. B u m m - Berlin verdient gemacht.
Im November 1904 konnte er über zwei geheilte Fälle berichten;
es sind dann von ihm und anderen noch einige hinzugekommen,
z. B. berichtet H a e c k e 1 - Stettin über zwei derartige Fälle,
von denen einer geheilt wurde. Im ganzen ist aber die Zahl
der nach diesen Grundsätzen Operierten noch sehr gering, und
es scheint deshalb wohl angebracht, folgenden Fall zu be¬
richten :
Frau Z., 27 Jahre alt. Vorausgegangen 1 Entbindung, 1 Abort.
Sie wird am 17. XII. 05 von einer 614 monatlichen Frucht entbunden.
Die Plazenta ist adhärent, muss vom Arzt in Narkose gelöst werden.
Die nächsten Tage verlaufen gut, am 23. XII. heftiger Schüttelfrost.
Diese Fröste wiederholen sich von da ab täglich mehrmals. Vom
3. I. bis 7. I. 06 vorübergehende Besserung, keine Fröste. Am 8. I.
schwerer Anfall von Embolie eines mittleren Astes der Lungenarterie
mit grosser Angst und Atemnot. Seitdem wieder täglich Frostanfälle;
zugleich stellten sich allmählich Husten, Auswurf, rechtsseitige Brust¬
stiche ein. Schwerer Dekubitus. Am 19. I. kommt sie in meine Klinik.
Sie ist aufs äusserste abgezehrt, hat einen Dekubitus, der bis auf
das Kreuzbein reicht. Lieber der Lunge rechts hinten unten leichte
Dämpfung, etwas Rasseln. Auswurf nicht reichlich, aber deutlich
dreischichtig und putride. An den Genitalien ist nichts Besonderes
zu finden, namentlich auch keine Resistenz in den Parametrien. Am
20. I. Schüttelfrost mit Temperatur 40,8 und raschem Abfall bis auf
37,3. Am 22. I. Operation: Laparotomie. Deutliche Thromben in
den Venen des Beckenbindegewebes, besonders im Gebiet der linken
Spermatika. Ich unterbinde rechts beide Venen, links nur die Sper-
matika, da mir das Gebiet der Hypogastrika frei erscheint. Die
Venen werden nur mit Katgut unterbunden, nicht exzidiert.
Der Verlauf war günstig. Ein Schüttelfrost kehrte nicht wieder,
bis zur völligen Entfieberung verging aber noch einige Zeit. Die
höchste Temperatur betrug 38,9 am 26. I.; an diesem Tage trat zu¬
gleich eine Thrombose der rechten Schenkelvene ein. Ich nahm an,
dass sich an der Unterbindungsstelle der Hypogastrika ein Thrombus
gebildet hat und dass dieser dann in die Vena iliaca externa hineinge¬
wachsen ist. Unter Hochlagerung des Beines Hessen die Erschei¬
nungen allmählich nach, auch der Prozess in der Lunge besserte
sich bald. Vom 4. II. ab war sie definitiv fieberfrei. Anfang März
stand sie zum ersten Male auf, jetzt — Ende März — ist sie als völlig
geheilt anzusehen. £ ie sieht blühend aus, ist den grössten Teil des
Tages ausser Bett, fängt bereits an auszugehen. Das Bein schwillt
nicht mehr, der Prozess in der Lunge ist erloschen, nur der Dekubitus
ist noch nicht ganz vernarbt.
Es handelte sich zweifellos um einen sehr schweren
Fall. Das beweist die ganz ausserordentliche Abmagerung, die
vielen Fröste, der schwere Dekubitus und die schon nicht mehr
ganz leichte Metastase in der Lunge. Um so bemerkenswerter
ist die glatte und verhältnismässig auch rasche Heilung.
Ueber die Verbreitung der natürlichen und künstlichen
Ernährung in Stadt- und Landbezirk Kaiserslautern und
ihren Einfluss auf den Ernährungszustand der Säuglinge.
Eine statistische Studie.
Von Dr. J. Dreyfuss, prakt. Arzt in Kaiserslautern.
Martin Hahn1 2) hat zuerst den seht beachtens- und be-
folgenswerten Vorschlag gemacht, die öffentlichen Impftermine
zu statistischen Erhebungen in bezug auf die Ernährung der
Säuglinge zu benützen. Auf seine Anregung hat Groth*’)
dann bei der öffentlichen Impfung in München den ersten der¬
artigen Versuch gemacht, indem er bei 2816 Kindern, d. i.
21 Proz. der im Jahr Geborenen und 37 Proz. der öffentlich
Geimpften entsprechende Fragen stellte und das Material mit
demjenigen der Säuglingstotenscheine, die in München auch
eine Rubrik „Ernährung“ enthalten, verglich. Mit Recht macht
er darauf aufmerksam, dass man, wenn man den Einfluss der
Ernährung an den gestorbenen Säuglingen allein und nicht zu¬
gleich auch an den lebenden studiert, ein unrichtiges Bild be¬
kommen muss, denn unter den Gestorbenen sind natürlich die
ungünstig Ernährten mehr vertreten. Dem Einwand, dass bei
der öffentlichen Impfung nur die Kinder aus den weniger gut
situierten Bevölkerungsklassen in Betracht kommen, begegnet
G r o t h mit dem Hinweis, dass ja die öffentliche Säuglings¬
hygiene sich auch nur diesen Klassen zuwende. Auch werden
die Zahlen der Bevölkerungsstatistik hauptsächlich durch die
grossen Massen der Bevölkerung bedingt und durch den kleinen
Teil der besser Situierten kaum wesentlich beeinflusst.
In folgendem soll nun eine ähnliche Untersuchung für
Kaiserslautern Stadt und Landbezirk veranstaltet werden. Im
Gegensatz zu München handelt es sich in der Pfalz um eine
Gegend, wo die Säuglingssterblichkeit für heutige Verhältnisse
eine günstige genannt werden muss. Dabei ist sie im west¬
lichen, gebirgigen, klimatisch rauheren Teil der Pfalz geringer
als in der Vorderpfalz. Im Bezirksamt Kaiserslautern, das zum
Westrich gehört, betrug sie im Durchschnitt der Jahre 1891 bis
1895 auf 100 Lebendgeborenen 14,8, in der Stadt Kaiserslautern
allein in der gleichen Zeit'16,0.3)
Nun lässt sich leider für unseren Bezirk die Methode, die
Zahl der natürlich und künstlich ernährten lebenden mit der
Zahl der entsprechend ernährten gestorbenen Säuglinge in Ver¬
gleich zu setzen, leider nicht anwenden. Denn die Totenscheine
entbehren hier einer Rubrik, welche die Ernährungsart angäbe.
Wir sind deshalb ausserstande, zu vergleichen, wie viele von
deai natürlich und wie viele von den künstlich Genährten ge¬
storben sind, und wTir vergleichen dafür den Ernährungszustand
der längere, kürzere Zeit und gar nicht natürlich Ernährten
x) Statistik auf öffentlichen Impfterminen. Münch, med. Wochen¬
schrift 1904, S. 923.
2) Verbreitung der natürlichen und künstlichen Ernährung in
München und ihr Einfluss auf die Säuglingssterblichkeit. Ibid.,
S. 924.
•*) J. Dreyfuss: Ueber die Sterblichkeitsabnahme in pfäl¬
zischen Städten während der letzten Dezennien. Vereinsbl. d. Pfälz.
Aerzte 1900.
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1815
I. Aufnahme des Materials.
Herr Landgerichtsarzt Dr. Zahn stellte bei der öffentlichen
Impfung des Jahres 1905 an die das Kind zur Impfung bringende er¬
wachsene Person, meist die Mutter, die Frage nach der Art der Er¬
nährung und der Zeitdauer der eventuellen Brustnahrung und be¬
trachtete dann das betreffende Kind in Bezug auf seinen Ernährungs¬
zustand. Sodann notierte er das Ergebnis in der Impfliste und zwar
im Interesse der Schnelligkeit folgendermassen mit Buchstaben:
A bedeutet über 4 Monate Brustnahrung.
B * 1 bis 4
C „ keine oder bis 1 Monat Brustnahrung,
a „ gut genährt
b „ mittelmässig genährt
c < „ schlecht genährt.
Der Ernährungszustand eines Kindes bedeutet allerdings keine
so fest umschriebene, bestimmte Grösse, wie z. B. Leben und Tod,
aber wenn die Feststellung durch einen Arzt geschieht, der seit über
drei Jahrzehnten, zum Teil an amtlich wichtiger Stelle, seine Er¬
fahrungen gesammelt hat, dann dürfen wir das Material immerhin
für ein statistisch brauchbares erachten. Dieses so gewonnene Ma¬
terial wurde sodann von dem Verfasser dieser Zeilen bearbeitet.
Die Einrichtung obiger drei Rubriken in Bezug auf die Dauer der
Brusternährung darf wohl als genügend bezeichnet werden, denn bei
weniger als einmonatlicher Dauer ist von einem Vorteil für das
Kind kaum die Rede, bei länger als einmonatlicher Dauer ist immer¬
hin ein Nutzen schon sehr wahrscheinlich. Wird aber ein Kind
länger als vier Monate gestillt, so ist von der Natur selbst eine Ein¬
teilungsgrenze insofern gegeben, als nach dieser Zeit die Verdauungs¬
tätigkeit des Kindes bereits ausser Milch auch andere, speziell Stärke¬
mehlnahrung, zu bewältigen vermag.
Der hiesige Impfbezirk umfasst die Stadt Kaiserslautern und
18 Landgemeinden. In die Impflisten waren im Jahre 1905 in der
Stadt 1731, in den 18 Dörfern zusammen 764 Kinder eingetragen, je¬
doch wurden von den letzteren nur 10 Gemeinden mit zusammen
555 Kindern in die Beobachtung einbezogen, so dass in Stadt und
Land zusammen 2286 in die Impflisten eingetragene Kinder in Be¬
tracht kommen.
Von diesen kommen dann die infolge von Tod, Kranksein, Ver¬
ziehen an einen anderen Ort oder vorhergehender Privatimpfung nicht
zur öffentlichen Impfung Erschienenen, sowie einige, bei denen keine
Angaben vorliegen, in Abzug und zwar bei der Stadt 716, beim
Land 141, so dass wir in der Stadt schliesslich noch 1015 und in den
Landgemeinden 414, zusammen also 1429 Kinder zu betrachten haben.
II. Die Verbreitung der natürlichen und künstlichen Ernährung.
Es waren an der Brust genährt:
Tabelle 1.
■
Stadt
Land
Znsammen
Absol.
Proz.
Absol.
Proz.
Absol.
Proz.
nicht oder unter 1 Monat .
174
17,1
40
9,7
214
13,4
1 —4 Monate .
220
21,7
90
21,7
310
21,7
über 4 Monate .
621
61,2
284
68,6
905
64,9
1015
100,0
414
100,0
1429
100,0
Wie aus vorstehender Tabelle hervorgeht, wurden im ganzen
Bezirk 64,9 Proz. der Neugeborenen länger als 4 Monate, 86,6 Proz.
länger als 1 Monat an der Brust genährt, und nur 13,4 Proz. er¬
hielten die Muttermilch gar nicht oder weniger als 1 Monat. Das
sind Zahlen, mit denen wir einigermassen zufrieden sein können, denn
wir ersehen daraus, dass in unserer Gegend die Sitte des Stillens
sehr verbreitet ist, zumal wenn man bedenkt, dass bei der hier
ziemlich ausgedehnten, zum Teil auswärts ausgeübten Tätigkeit der
Frauen in den Fabriken viele derselben am Stillen gehindert sind.
Freilich dürfen wir nicht übersehen, dass die Ziffer der Nichtgestillten
in der Stadt mit 17,1 Proz. die entsprechende im Landbezirk mit
9,7 Proz. fast um das Doppelte übertrifft, eine Erscheinung, die wir
zum Teil auf die grössere Verbreitung der weiblichen Fabriktätigkeit
in der Stadt, zum Teil aber auch sicherlich auf grössere Bequemlich¬
keit und geringeren Willen zum Stillen, vielleicht auch auf eine bei
der Stadtbevölkerung bereits eingetretene häufigere physische Un¬
fähigkeit zum Stillen zurückführen müssen.
Jedenfalls geht aus den Zahlen, da die Gefahr naheliegt, dass die
Stadtsitte auch auf dem Lande nachgeahmt werde, die Notwendigkeit
hervor, in der Stadt von seiten der Aerzte und Hebammen aufs leb¬
hafteste für das Stillen der Kinder einzutreten.
III. Der Ernährungszustand Im allgemeinen.
Tabelle 2.
Stadt
Land
Absol.
Proz.
Absol.
Proz.
Ernährungszustand :
gut .
421
41,5
195
47,1
mittel .
560
55,2
202
48,8
schlecht ....
34
3,3
17
4,1
1015
100,0
414
100,0
Der Ernährungszustand ist also bei der grössten Zahl der Kinder
mittelmässig, bei einer ebenfalls grossen Zahl gut und nur in relativ
wenigen Fällen schlecht.
Die Unterschiede zwischen Stadt und Land in Bezug auf den
Ernährungszustand der Säuglinge sind nicht sehr gross. Die Zahl der
gut und die der schlecht genährten Kinder ist auf dem Land etwas
grösser, während die Zahl der mittelmässig genährten in der Stadt
etwas überwiegt. Einen genaueren Einblick werden wir erst bei der
Betrachtung der einzelnen Kategorien der längere, mittlere Zeit und
gar nicht Gestillten erhalten.
IV. Einfluss der Ernährungsart auf den Ernährungszustand.
Wir bringen zuerst in den Tabellen 3 — 8 die absoluten Zahlen
und. die daraus berechneten Verhältniszahlen, und zwar betrachten
wir in Tabelle 3, 4 und 5 den Ernährungszustand der verschieden
lange Zeit Gestillten, in Tabelle 6, 7 und 8 die Stillungsdauer der einen
verschiedenen Ernährungszustand darbietenden Säuglinge.
. In den beiden Haupttabellen 9 und 10 folgen dann Zusammen¬
stellungen der aus den Tabellen 3 — 8 hervorgehenden Resultate.
T a b e 1 1 e 3.
Bei den über 4 Monate Gestillten war die Ernährung:
gut .
mittel ....
schlecht . . .
Stadt
Land
Zusammen
Absol.
Proz.
Absol.
Proz.
Prozent
287
327
7
46,2
52.7
M
160
116
8
56,4
40,8
2,8
51,3
46,7
2,0
Ueber 4 Monate gestillt
621
100,0
284
100,0
100,00
Tabelle 4.
Bei den 1 — 4 Monate Gestillten war die Ernährung:
Stadt
Land
Zusammen
Absol.
Proz.
Absol.
Proz.
Prozent
gut .
80
36,4
32
35,6
36,0
mittel ....
132
60,0
55
61,1
60,6
schlecht . . .
8
3,6
3
3,3
3,4
1 — 4 Monate gestillt
220
100,0
90
100,0
100,0
Tabelle 5.
Bei den weniger als 1 Monat oder gar nicht Gestillten war die
Ernährung:
Stadt
Land
Zusammen
Absol.
Proz.
Absol.
Proz.
Prozent
gut .
54
31,0
3
7,5
19,2
mittel ....
101
58,0
31
77,5
68,3
schlecht . . .
19
10,0
6
15,0
12,5
Unter 1 Monat oder gar
nicht gestillt
174
100,0
40
100,0
100,0
Tabelle 6.
Von den gut Genährten waren:
Stadt
Land
Zusammen
Absol.
Proz.
Absol.
Proz.
Prozent
Ueber 4 Monate gestillt . .
287
68,2
160
82,1
75,1
1 — 4 Monate gestillt . . .
80
19,0
32
16,4
17,7
Weniger oder nicht gestillt
54
12,8
3
1,5
■ 7,2
Gut genährt
421
100,0
195
100,0
100,0
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
Tabelle 7.
Von den mittelrnässig Genährten waren:
Stadt
Land
Zusammen
Absol.
Proz.
Absol.
Proz.
Prozent
Ueber 4 Monate gestillt . .
327
58,4
116
57,4
57,9
1—4 Monate gestillt . . .
132
23,6
55
27,2
25,4
Weniger oder nicht gestillt
101
18,0
31
15,4
16,7
Mittelrnässig genährt
560
100,0
202
100,0
100,0
Tabelle 8.
Von den schlecht Genährten waren:
Stadt
Land
Zusammen
Absol.
Proz.
Absol.
Proz.
Prozent
Ueber 4 Monate gestillt . .
7
20,6
8
47,2
33,9
1 — 4 Monate gestillt . .
8
23,5
3
17,6
20,5
Weniger oder nicht gestillt
19
55,9
6
35,2
45,6
Schlecht genährt
34
100,0
17
100,0
100,0
Tabelle 9.
Es waren:
Gut genährt
Mittel genährt
Schlecht genährt
4-3
ci
i
§ ö
ci <x>
HP
ci
•■p
ci o
-4-3
rÖ
ci
P
P
ä a
ci <x>
Z/2
P P
cs:
Z/2
i-3
P <— <
CS
zn
p s
CS!
Von 100 länger gestillten
46,2
56,4
51,3
52,7
40,8
46,7
1,1
2,8
2,0
Von 100 1 — 4 Monate
36,4
35,6
36,0
60,0
61,1
60,6
3,6
3,3
3,4
gestillten .
Von 100 weniger oder
31,0
7,5
19,2
58,0
77,5
68,3
10,0
15,0
12,5
nicht gestillten . .
Tabelle 10.
Es waren:
Länger gestillt
1-
4 Monate
gestillt
Weniger oder
nicht gestillt
43
'■p
H=!
i
3 ö
4-3
3 a
4-3
P
'"P
P
ci
GO P
ci
4->
P
ci
ci CL>
m <3
ci
4-3
P
ci
ci 3
GO P
P
CS!
Z/2
:
,5 a
Z/2
CS ~
Von. 100 Gutge¬
nährten .
68,2
82,1
75,1
19,0
16,4
17,7
12,8
1,5
7,2
Voh 100 Mittel¬
genährten .
58,4
57,4
57,9
23,6
27,2
25,4
18,0
15,4
16,7
Von 100 Schlecht¬
genährten .
20,6
47,2
33,9
23,5
17,6
20,5
55,9
35,2
45,6
Der nun folgenden Besprechung werden wir die Tabellen 9
und 10 zugrunde legen, die eine geeignete Zusammenstellung der
Resultate bringen. Die Tabellen 3 — 8 wurden nur wegen der abso¬
luten Zahlen und der daraus folgenden Berechnungen hierhergesetzt.
Die Ergebnisse der Tabelle 9 wurden ausserdem auf nachstehen¬
der Tabelle auf Massstäbe aufgezeichnet, die ein sehr charakte¬
ristisches Bild darbieten. Jede Massstabsäule bezeichnet 100 Säug-
(Siehe nebenstehende Abbildung.)
linge, und man kann darauf erkennen, wieviel in jeder Gruppe von
auf verschiedene Art Ernährten gut, mittel und schlecht genährt
waren. Die Doppelsäulen zeigen den Unterschied von Stadt und Land.
A. Zusammenhang von Ernährungsart und Zustand
im allgemeinen.
Wie aus Tabelle 9 hervorgeht, waren von 100 Säuglingen, die
länger als 4 Monate gestillt waren, über die Hälfte (51,3) gut genährt.
Von 100 1 — 4 Monate Gestillten zeigten dagegen nur etwas über ein
Drittel (36,0) und von 100 weniger oder gar nicht Gestillten nicht
einmal der fünfte Teil (19,2) ein gutes Aussehen. Andererseits finden
sich unter 100 Längergestillten nur 2, unter 100 1—4 Monate Gestill¬
ten 3,4, unter 100 weniger oder gar nicht Gestillten jedoch 12,5
Schlechtgenährte.
Zu genau dem gleichen Resultate gelangen wir, wenn wir Ta¬
belle 10 betrachten. Von 100 gut genährten Säuglingen waren drei
Viertel (75,1) längere, 17,7 mittlere Zeit gestillt und nur 7,2 waren
solche, die wenig oder gar keine Brustnahrung bekommen und es
doch, zu einer guten Ernährung gebracht hatten, dagegen waren unter
100 mittelrnässig Genährten bereits mehr als doppelt soviel (16,7),
die nur wenig oder nicht gestillt waren und die Schlechtgenährten
vollends bieten ein noch nicht viel deutlicheres Bild von dem Ein¬
fluss des Stillens, denn unter 100 von ihnen war kaum mehr als ein
Drittel (33,9) längere Zeit gestillt worden, während fast die Hälfte
(45,6) die Brustnahrung ganz oder fast ganz entbehrt hatten.
A Uber 4 Monate Gestillte ■ gut genährt
B Ibis 4 Monate Gestillte H mittelmäfsig genährt
C Weniger oder nicht Gestillte □ schlecht genährt
Jede Säule bezeichnet 100 Säuglinge, die Doppelsäulen Stadt und Land.
Wir können also aus den Tabellen 9 und 10 zahlenmässig fol¬
gende Sätze ableiten:
1. Je länger eine Gruppe von Säuglingen ge¬
stillt worden ist, desto mehr gut Genährte und
desto weniger schlecht Genährte findet man
darunter.
2. Je besser genährt eine Gruppe von Säug¬
lingen ist, desto mehr längere Zeit Gestillte und
desto weniger nicht Gestillte findet man darunter.
3. Aus diesen beiden Sätzen dürfen wir wohl ohne Wider¬
spruch den weiteren ableiten:
Je länger ein Säugling gestillt wird, desto
besser ist sein Ernährungszustand.
Selbstverständlich wird dadurch die Möglichkeit nicht berührt,
dass einmal ein Kind unter günstigen Umständen (Naturanlage und
Pflege) auch ohne Brustnahrung gut gedeihen kann, sowie dass trotz
Brustnahrung einzelne Kinder, die von vornherein nicht recht ent¬
wicklungsfähig sind, oder für die die gereichte Brustnahrung nicht
geeignet ist, nicht gedeihen. Aber zweifellos sind unter sonst glei¬
chen Umständen, und ganz besonders unter denjenigen Umständen,
die bei der grossen Masse der Bevölkerung bestehen, die an der
Brust genährten Säuglinge in bezug auf ihre Ernährung im Vorteil.
B. Stadt und Land.
Die absoluten Zahlen, die für das Land zur Verfügung stehen,
sind zwar etwas klein, doch geben sie immerhin einen Einblick in die
Verhältnisse. Wir heben folgendes hervor:
Nach Tabelle 9 waren von 100 länger Gestillten auf dem Land
56,4, in der Stadt nur 46,2 gutgenährt, was wohl darauf zurück¬
zuführen ist, dass auf dem Lande die stillende Mutter durch die land¬
wirtschaftliche Arbeit weniger von der regelmässigen Stilltätigkeit
abgehalten wird als diejenige in der Stadt, die mehr industrieller
Tätigkeit nachgeht und nur zu gewissen Stunden stillen kann. Falls
dagegen die Kinder nicht gestillt werden, sind sie in der Stadt sicher
besser daran als auf dem Land, denn von 100 wenig oder nicht Ge¬
stillten waren in der Stadt mehr als 4 mal soviel gut genährt als
auf dem Land (31,0:7,5 Proz.), wahrscheinlich wohl deshalb, weil
die Mütter in der Stadt, wenn sie nicht stillen können, den modernen
Prinzipien der Säuglingsernährung mehr Verständnis entgegenbringen
und sie mit mehr Eifer anwenden. Wenn das nicht der Fall wäre,
dann wäre bei den erwähnten Stillhindernissen der industriell tätigen
Städterinnen wahrscheinlich obiger Unterschied der gut Genährten
unter den länger Gestillten in Stadt und Land noch grösser als er in
der 1 at ist (46,2 : 56,4 Proz.). So aber wird ein grosser Teil des
Schadens, der den Kindern der Industriearbeiterinnen in der Stadt
durch die seltenere Darreichung der Brust zugefügt wird, durch eine
richtigere Zubereitung etwaiger Beikost wieder ausgeglichen.
Uebrigens kommt jenes Minus an gut Genährten unter den
länger Gestillten der Stadt wieder zum Vorschein bei den mittel-
mässig Genährten, denn hier überwiegt die Stadt mit 52,7 über das
Land mit 40,8 Proz. Auf das Ueberwiegen der schlecht genährten
länger Gestillten auf dem Land gegenüber der Stadt (2,8: 1,1) wollen
wir bei der Kleinheit der Zahlen kein zu grosses Gewicht legen, da¬
gegen muss erwähnt werden, dass unter den wenig oder nicht Ge¬
stillten ebenso wie in der Stadt mehr gut Genährte getroffen
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1817
wurden, so auf dem Land die schlecht Genährten zahlreicher sind
U5,0: 10,0 Proz.). Auch dies darf wohl als ein Beweis für die obige
Behauptung gelten, dass dort, wo nicht gestillt wird, die Ernährung
in der Stadt eine bessere ist.
Tabelle 10 ist für den Vergleich zwischen Stadt und Land weni¬
ger gut zu verwenden, weil ja in der Stadt doppelt soviel Kinder als
auf dem Land nicht gestillt wurden,, und deshalb ein Vergleich nur ge¬
zogen werden kann, wenn, wie in Tabelle 9, von einer Einheit von
Gestillten ausgegangen wird. Nur auf ein Ergebnis der Tabelle 10
möchte ich hinweisen. In der Stadt gibt es, wie gesagt, ungefähr
doppelt soviel nicht Gestillte wie auf dem Land. Dementsprechend
müssten wir rechnungsmässig das gleiche Verhältnis auch in den ein¬
zelnen Kategorien finden. Unter den 100 gut Genährten z. B. auf dem
Land finden wir 1,5 nicht Gestillte. Unter 100 gut Genährten in der
Stadt müssten also rechnungsmässig 3,0 nicht Gestillte sein. In der
Tat sind es aber 12,8, also über 4 mal soviel, d. h. von den Säug¬
lingen, die des Vorteils der Brustnahrung ganz oder fast ganz ent¬
behren müssen, bringen es in der Stadt 4 mal soviel als auf dem
Lande trotzdem zu einem guten Ernährungszustand. Auch hier haben
wir wiederum einen Beweis, dass die nicht Gestillten in der Stadt
im Vorteil sind gegenüber denen auf dem Land, weil die künstliche
Ernährung dort eine richtigere zu sein pflegt.
Wir können also aus diesen Tatsachen folgenden weiteren vierten
Satz ableiten:
Unter den längere Zeit gestillten Säuglingen
sind diejenigen auf dem Lande im Vorteil (wahr¬
scheinlich durch die häufigere Ausschliesslichkeit der Brustnahrung).
Unter den künstlich genährten Säuglingen
sind die in der Stadt im Vorteil (wahrscheinlich durch rich¬
tigere künstliche Ernährung).
Schluss.
Als Ergebnisse unserer Arbeit schwebten uns nicht neue
wichtige Fortschritte unserer sozialhygienischen Einsicht vor,
vielmehr kam es uns darauf an, unsere alten Ansichten der
Probe der statistischen Untersuchung zu unterwerfen. Und
wir dürfen am Schlüsse als durch das Experiment der Zahlen
bewiesenes Resultat unserer Untersuchungen wiederholen:
1. Je länger ein Kind Brustnahrung bekommt, desto besser
ist im Durchschnitt seine Ernährung.
2. Die Brustkinder haben auf dem Lande von der Brust¬
nahrung mehr Vorteil als in der Stadt, die künstlich Ernährten
zeigen in der Stadt einen besseren Ernährungszustand als auf
dem Lande.
Wir haben ferner für unseren Bezirk (Stadt und Land
Kaiserslautern) gefunden, dass die alte, gute Sitte des Stillens
glücklicherweise noch eine ziemlich ausgebreitete ist. Im gan¬
zen Bezirk wurden von 100 Kindern 65 länger als 4 Monate,
22 wurden 1—4 Monate und nur 13 unter 1 Monat oder gar
nicht gestillt. Die Nichtgestillten verteilten sich auf Stadt und
Land derart, dass sie in der Stadt mit 17,1 Proz., die auf dem
Land mit 9,7 Proz. fast um das Doppelte überwogen.
Wir sehen also auch hier den ungünstigen Einfluss der
Stadt auf die ethischen und gesundheitlichen Faktoren unseres
Volkslebens in der Form einer Abnahme der Stilltätigkeit sich
entwickeln. Freilich wird ein Teil dieses ungünstigen Ein¬
flusses dadurch wieder aufgewogen, dass in der Stadt den
Nichtgestillten eine bessere künstliche Ernährung zuteil wird
als den Nichtgestillten auf dem Land. Aber wir müssen da¬
nach streben, dass wir die Vorteile der fortschreitenden Kultur,
die uns in Form einer besseren künstlichen Ernährung der
Säuglinge geboten werden, nicht erkaufen mit einem Verlust
der alten Vorteile des Naturlebens, nämlich der natürlichen
Brustnahrung, die ja von den höchst entwickelten Kunstpro¬
dukten doch niemals völlig wird ersetzt werden können. Denn
wenn auch die künstlich Genährten in der Stadt einen besseren
Zustand darbieten als die auf dem Land, so ergibt unsere Sta¬
tistik doch, dass auch in der Stadt die natürlich Ernährten
immer noch den Nichtgestillten gegenüber um ein Bedeutendes
im Vorteil sind.
Herrn Landgerichtsarzt Dr. Z a h n, hier, sei für die freund¬
liche Ueberlassung des Materials der beste Dank ausgesprochen.
Ein Fall von gleichzeitiger intra- und extrauteriner
Schwangerschaft.
Von Dr. Fleurent, Frauenarzt in Colmar.
Das Vorkommen gleichzeitiger intra- und extrauteriner
Schwangerschaft galt früher als eine grosse Seltenheit; erst
seit dem Aufschwung der operativen Gynäkologie, speziell
in den zehn letzten Jahren wird diese Erkrankung häufiger
beobachtet, so dass in einer vor kurzem erschienenen, zu¬
sammenfassenden Darstellung über diesen Gegenstand im
Ganzen 119 bis jetzt veröffentlichte Fälle gesammelt werden
konnten. 0 Immerhin ist diese Zahl noch nicht sehr hoch, und
dabei sind die bis jetzt in der Literatur niedergelegten Kranken¬
geschichten — besonders die älteren unter denselben - — z. T.
noch so ungenau und so wenig eingehend mitgeteilt, dass die
Publikation eines jeden exakt beobachteten und beschriebenen
Falles von Interesse erscheint.
Eine solche doppelte Gravidität hatte ich vor kurzem Ge¬
legenheit zu behandeln und zu operieren; ihr Verlauf war fol¬
gender:
Frau N. aus W., 23 Jahre alt, Fabrikarbeiterin. Seit mehreren
Jahren verheiratet; will früher immer gesund gewesen sein. Menses
treten mit 14 Jahren ein, immer regelmässig, ohne Beschwerden.
Erste normale Geburt vor 4 Jahren, Wochenbett fieberfrei. Seitdem
keine Schwangerschaft mehr.
Letzte Periode Ende Mai 1905. Am 20. Juli erkrankt die Frau
plötzlich unter sehr heftigen Schmerzen im Unterleib und Ohnmachts¬
anfall; dabei besteht blutiger Ausfluss. Der behandelnde Arzt denkt
gleich an eine Extrauteringravidität und will Pat. sofort in ein Kran¬
kenhaus aufnehmen lassen zur eventuellen Ausführung einer Opera¬
tion; doch willigt sie nicht ein, und ihr Zustand bessert sich wieder
für einige Tage. Erst bei Wiedereintritt derselben sehr starken
Schmerzen unter erneutem Blutabgang, auch wegen grosser Schwäche,
begibt sich Pat. am 1. VIII. 1905 in meine Behandlung.
Status: kleine, schmächtige, schlecht genährte und anämische
Person, Temperatur nicht erhöht, Puls etwas frequent und klein.
Organbefund normal. Die Palpation des Unterleibes ergibt eine
grosse druckempfindliche Resistenz oberhalb der linken Darmbein¬
schaufel, in der Mittellinie noch 2 Finger hoch über der Symphyse zu
fühlen, und sich allmählich nach rechts verlierend.
Innere Untersuchung: Aeussere Genitalien einer Mehr¬
gebärenden. Leicht blutiger Ausfluss. Vaginalschleimhaut bläulich
gefärbt, weich aufgelockert. Portio steht direkt hinter der Symphyse;
Uterus gross, weich, eleviert und durch einen fast kindskopfgrossen
weichen Tumor anteponiert, der die ganze linke Hälfte des kleinen
Beckens ausfüllt und den Douglas hervorwölbt; der Uterus ist von
den weichen, ihn umgebenden Massen nicht sicher abzugrenzen.
Diagnose: Linksseitige Tubargravidität. Tubarabort mit
retrouteriner Hämatozele.
5. VIII. 05. Operation. Aether-Chloroformnarkose, Beckenhoch¬
lagerung. Nach Eröffnung der Bauchhöhle in der Medianlinie präsen¬
tiert sich zuerst der etwa faustdicke Uterus, links davon der grosse
Hämatozelensack. Der Uterus ist so gross und wTeich, dass jetzt
sofort das Bestehen einer intrauterinen Gravidität neben der extra¬
uterinen erkannt wird. Ausräumung des teils flüssigen, teils ge¬
ronnenen Blutes der Hämatozele, deren oberes Dach durch ver¬
wachsene Darmschlingen gebildet wird. Entfernung des Hämatozelen-
sackes. Abtragung der linken Adnexe; die Tube ist in ihrem uterinen
Abschnitt unverändert, während die abdominelle Partie etwa hühnerei¬
dick angeschwollen ist. Die rechten Adnexe sind normal. Schluss
der Bauchhöhle. Glatte, fieberfreie Nachbehandlung.
15. VIII. 06. Bereits am 10. Tage nach der Operation verlässt
die sehr unverständige Kranke trotz Abraten meinerseits das Kranken¬
haus und kehrt in ihr mehrere Kilometer entferntes Dorf zurück.
Anfangs Oktober zeigt sie sich wieder; seit der Operation war
es ihr sehr gut gegangen, so dass sie bald wieder ohne Schonung
ihren Geschäften nachging; doch waren seit einigen Tagen wieder
geringe Blutungen eingetreten unter ziehenden Schmerzen im Kreuz
und im Unterleib, weshalb sie mich wieder aufsucht.
Die Untersuchung ergibt, dass der Uterus inzwischen gewachsen
ist, sein Fundus steht etwas unterhalb des Nabels; Herztöne einer
Frucht sind nicht zu hören; bei innerer Untersuchung nichts Abnormes
zu konstatieren; Portio für Fingerkuppe eingängig; Os internum ge¬
schlossen.
Trotz dringender Aufforderung meinerseits zur Ruhe und Scho¬
nung, tut dies die Frau keineswegs, und so kommt es Ende Oktober
zur Fehlgeburt, Ausstossung einer etwa fünfmonatlichen Frucht männ¬
lichen Geschlechts; ärztliche Hilfe zur manuellen Entfernung der
adhärenten Plazenta. Darauf hat sich die Frau gut erholt (nach Mit¬
teilung im Februar 1906).
Weibel: Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie,
Dezemberheft 1905.
1818
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
Im vorliegenden Falle bestehen also nebeneinander eine i
extra- und eine intrauterine Gravidität. Die erste 2) endigt
durch Tubarabort und Häniatozelenbildung, was den opera¬
tiven Eingriff bedingt, letztere verläuft nach dieser Operation
zuerst ungestört weiter und endigt dann drei Monate später
durch Fehlgeburt. Beide Schwangerschaften sind wohl gleich-
alterig und bestehen zur Zeit der Operation seit etwa 6 bis 8
Wochen gleichzeitig nebeneinander.
Der Verlauf einer solchen Zwillingsschwangerschaft ist
nun von Fall zu Fall verschieden; nur wenige Male sind beide
Schwangerschaften nebeneinander ausgetragen worden; ziem¬
lich häufig wird durch einen intrauterinen Abort eine Unter¬
brechung der ektopischen Gravidität hervorgerufen, oder um¬
gekehrt die intrauterine Gravidität durch Tubarabort oder
Tubarruptur gestört; dann ist auch beschrieben worden3),
wenn auch seltener, dass Veränderungen in dem einen Ei die
Weiterentwicklung des anderen nicht beeinflusst haben, dass,
wie in unserem Falle der Tubarabort und die darauf folgende
operative Entfernung des tubaren Fruchtsackes und der Härna-
tozele den Weitergang der intrauterinen Gravidität nicht hin¬
derten. Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass bei einiger Ruhe
und Schonung auch unsere Kranke ihre Gebärmutterschwanger¬
schaft sehr wohl hätte austragen können, nachdem die erste
Zeit nach der Operation glücklich überstanden war.
Ganz ohne Einfluss ist, wie wir aus der Krankengeschichte
ersehen, der Tubarabort auf die uterine Gravidität nicht ge¬
blieben. Blutabgang und blutiger Ausfluss aus der Vagina
waren vorhanden, also hatten Kontraktionen des Uterus statt¬
gefunden; offenbar ist aber der Reiz nicht stark genug gewesen,
um die Gebärmutterschwangerschaft zu unterbrechen. In die¬
sem Vorgang sehen wir eine Bestätigung der Ansicht Wert-
h c i m s 4), der eine gewisse Unabhängigkeit in der Entwicklung
des intrauterinen und des extrauterinen Eies annimmt, gleich¬
zeitig aber auch das Bestehen einer Wechselwirkung in dem
Sinne zugibt, dass jede Störung in der Entwicklung des einen
zur Störung des anderen führen kann.
Was die Diagnose dieser doppelten Schwangerschaft an¬
belangt, so ist sie in unserem Falle ebensowenig gestellt wor¬
den als in fast allen anderen bis jetzt beschriebenen mit nur
ganz wenig Ausnahmen. Zwar hätte die auffallende Grösse und
Weichheit des Uterus den Gedanken an eine gleichzeitige
intrauterine Gravidität nahelegen sollen, doch konnte dieser
Zustand der Gebärmutter, deren Grenzen auch nicht ganz ge¬
nau festzustellen waren, sehr wohl als Begleiterscheinung der
ektopischen Gravidität aufgefasst werden; um so mehr als man
bei Bestehen einer Hämatozele nur sehr vorsichtig palpieren
darf, um ein Platzen des Blutsackes zu vermeiden. Auch wurde
bei der Untersuchung überhaupt nicht an die Möglichkeit einer
zweiten Gravidität gedacht, wie es in anderen Fällen ebenfalls
passierte 5). So kam es, dass die volle, richtige Diagnose erst
nach Eröffnung des Abdomens gestellt worden ist. Obgleich
also unter solchen Umständen eine exakte Diagnosenstellung
wegen des Fehlens sicherer Merkmale und Anhaltspunkte
schwierig ist, so werden doch, wenn man künftig mehr als
bisher die Möglichkeit des Vorkommens dieser Zwillings -
Schwangerschaft berücksichtigt, manche Fälle frühzeitig als
solche erkannt werden; hat sich doch die Anzahl derselben
von 38 im Jahre 1900 auf 129 im Jahre 1905 vermehrt, und
dabei sind noch Veröffentlichungen von weiteren kasuistischen
Mitteilungen bereits angekündigt.
Als Therapie dieser Anomalie empfiehlt sich eine möglichst
frühzeitige Entfernung des ektopischen Fruchtsackes, und zwar
durch Laparotomie; bei einer derartigen Behandlung sind im
allgemeinen recht gute Resultate erzielt worden. W e r t h e i m
(1. c.) befürwortet sogar ein noch aktiveres Vorgehen als bei
einfacher Extrauteringravidität, weil es bei recht frühem Ein¬
greifen wohl öfter als bisher gelingen werde, die intrauterine
Gravidität zu erhalten. Auch in unserem Falle ist durch die
2) Herr Prof. v. Recklinghausen hatte die Güte, die exstir-
pierte Tube zu untersuchen und bestätigte die Diagnose Extrauterin¬
schwangerschaft.
3) Mond: Miinch. med. Wochenschr., 1899, No. 37.
4) Winckel: Handbuch der Geburtshilfe, II. Bd„ I. Teil. pag. 517.
5) Münchener med. Wochenschrift 1. c.
Operation selbst die weitere Entwickelung der Gebärmutter¬
schwangerschaft nicht gefährdet worden; die Fehlgeburt, die
3 Monate später stattgefunden hat, ist wohl auf äussere un¬
günstige Umstände zurückzuführen.
Epileptiker als Autofahrer.
Von Dr. Franz Thalwitzer, Kötzschenbroda-Naundorf.
Mitte Juni d. J. wurde ich zu einem verunglückten Automobil-
selbstfahrer gerufen, den ich neben seinem hart mitgenommenen
Wagen in einem Ackerfelde liegend vorfand. Er war leicht be¬
nommen, erholte sich aber schnell und kam während der Versorgung
seiner unbedeutenden Kopfverletzungen völlig zu sich. Für die Ent¬
stehung seines Unfalles — er war nach Bericht von Augenzeugen
auf tadellos glatter, freier Eahrstrasse bei massigem Tempo in den
Chausseegraben abgebogen — wusste er keinen Grund anzugeben,
sondern erkundigte sich selbst interessiert bei den Umstehendien.
Unser eigenes Kausalitätsbediirfnis war, in Anbetracht der leichten
Folgen, nicht übermässig gross.
Am 8. Juli d. .1. wurden wir wiederum zu einem Kraftfahrer ge¬
rufen, der gestürzt sei, auf einer Wiese liege und wohl inzwischen
tot sein werde. Nach höchstens 5 Minuten traf ich den Verletzten noch
lebend, schwer bewusstlos mit stertoröser Atmung, aus Mund und
Nase blutend, an. In etwa 6 m weitem Bogen war er über den
Chausseegraben auf sein Lager, dien weichen Wiesenboden, geflogen.
Während der Untersuchung wurde er stark zyanotisch, bekam klo¬
nische Allgemeinkrämpfe und hätte in jeder anderen Situation wohl
sofort den Eindruck eines Epileptikers im schweren Anfall hervor¬
gerufen. Wir machen uns keinen Vorwurf, dass uns hier die Prog¬
nosis pessima schien. Bald lösten sich aber die Krampferscheinungen,
der Verletzte schlug die Augen auf und reagierte auf die Aufforderung,
den Mund zu öffnen. Eine etwa 1 cm lange Bisswunde in der Zunge
war die einzige Verletzung. Er trank Wasser und verlangte nach
Hause. Etwa 40 Minuten nach dem Sturz Hess er sich nicht ab¬
halten, auf seinem nur unbedeutend beschädigten Motorrade nach
Hause zu fahren. Dort gab er zu, seit Jahren, angeblich im Anschluss
an einen Sonnenstich (?) „öfters an solchen Anfällen“ zu leiden.
Unserer selbstverständlichen Ermahnung, bei „solchen Anfällen“ dlas
Kraftfahren, wenn nicht im eigenen, so im Interesse seiner Neben¬
menschen aufzugeben, brachte er kein Verständnis entgegen.
Nach dieser Beobachtung gewann allerdings Fall I erneutes
Interesse. In der Tat stellten wir fest, dass der Verletzte zu I an
epileptiformen Anfällen gelitten, längere Bromkuren gemacht und
mit Rücksicht auf seinen Zustand auf Ausübung eines bestimmten
Berufes verzichtet hatte, seit Jahr und Tag aber gesund war. Es
ist kein Zweifel, dass eine Petit-Mal-Hemmung die dunkle Ursache
seines Unfalles gewesen war.
Wir glaubten, diese „Duplizität“ mitteilen zu sollen. Die „Auto¬
mobil-Welt“, der wir das Faktum schrieben, erhebt die Forderung,
durch Gesetz oder auf dem Verordnungswege einen Zwang dahin
auszuüben, dass Epileptiker ein Kraftfahrzeug nicht steuern dürfen.
Diese Forderung erscheint nur selbstverständlich. Theoretisch hätte
man meinen sollen, die Selbstbescheidung der Kranken und ihr eigenes
Interesse sollte besondere Massregeln erübrigen. Die Art der
Durchführung dieser Forderung zu besprechen, ist hier nicht der Ort.
- -0@0- -
„Oie Krankheit Schopenhauers im lahre 1823“.
Der „Berliner Brief“ in No. 28 der „Münch, med. Wochenschr.“
(10. Juli 1906) enthält ein Referat über einen Vortrag, den Jwan
Bloch in der „Berliner Gesellschaft für Geschichte der Natur¬
wissenschaften und Medizin“ über „Schopenhauers Krankheit im
Jahre 1823“ gehalten hat. Aus dem Umstande, dass man in Schopen¬
hauers Nachlass ärztliche Verordnungen gefunden habe, die eine
typische antisyphilitische Kur zum Inhalt haben, sowie aus ver¬
schiedenen Stellen seiner Werke folgert Bloch, dass Schopen¬
hauer im Jahre 1823, während seines Aufenthaltes in München, an
Syphilis gelitten habe. Bloch glaubt, dass diese Krankheit von nicht
geringem Einfluss auf die Entwicklung der pessimistischen Welt¬
anschauung des Philosophen gewesen sei.
Die kulturhistorische Bedeutung Schopenhauers, dessen
Name und Lehren in die weitesten Volksschichten gedrungen sind, der
einen Richard Wagner, Nietzsche und Tolstoi auf das Tiefste
beeinflusst hat, sowie das Interesse, welches die krankhafte geistige
Sonderart des grossen Mannes bei dem Arzte herausfordert, mögen
es rechtfertigen, wenn ich mir erlaube, die Hypothesen B 1 o c h s,
soweit sie die Philosophie Schopenhauers betreffen, an dieser
Stelle einer kritischen Beleuchtung zu unterziehen. Misslich ist es
freilich, dass ich meinen Ausführungen nicht den Vortrag im Original,
sondern nur ein Referat von dritter Hand zu Grunde legen kann.
Ich setze jedoch voraus, dass dasselbe den Inhalt des Bloch sehen
Vortrags sinngetreu, wenn auch nicht in extenso wiedergegeben hat.
Und nun zur Sache! Zugegeben, es habe sich bei der Krankheit
Schopenhauers wirklich um Lues gehandelt, so darf doch die
Schlussfolgerung, die Bloch aus dieser vermeintlichen Tatsache
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1819
zieht, nicht unwiderspiochen bleiben. Schopenhauer stand im
Jahre 1823 in seinem 35. Lebensjahre. Es ist aber durch authentische
biographische Daten erwiesen, dass sich bei ihm schon in frühester
Jugend ein elementarer Hang zu trübsinnigem Philosophieren be-
merklich machte, und eine eingehende Beschäftigung mit der geistigen
Eigenart, dem Charakter und dem Lebensgang des genialen Mannes
lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sein Pessimismus ledig¬
lich aus seinei angeborenen psychopathischen Veranlagung etnporge-
wachsen ist. Schon der Jüngling Schopenhauer quälte sich
und andere mit weltschmerzlichen Grübeleien. In seinem späteren
Mannesalter schrieb er, auf diese Zeit zurückblickend, in einem seiner
Manuskriptbücher folgende ergreifende Stelle nieder: „In meinem
17. Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer
der Welt so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krank¬
heit, Alter, Schmerz und 1 od erblickte. Die Wahrheit, welche laut
und deutlich aus dei Welt sprach, überwand bald die auch mir einge¬
prägten jüdischen Dogmen, und mein Resultat war, dass diese
Welt kein Werk eines allgütigen Wesens sein könnte, wohl aber das
eines Teufels, der Geschöpfe ins Dasein gerufen, um am Anblick ihrer
Qual sich zu weiden. Darauf deuteten die Data, und der Glaube, dass
es so sei, gewannn die Oberhand.“
Zwei Jahre später, im Jahre 1807, sah sich Schopenhauers
Mutter genötigt, den jugendlichen Sohn aus ihrem Hause zu ent¬
fernen, weil ihr seine „finsteren Gesichter, seine Klagen über un¬
vermeidliche Dinge, seine bizarren Urteile, die wie Orakelsprüche
von ihm ausgesprochen würden“, unerträglich waren. Sie schrieb
in einem an ihn gerichteten Brief: „An meinen Gesellschaftstagen
kannst du Abends bei mir essen, wenn Du Dich dabei des leidigen
Disputierens wie auch alles Lamentierens über die dumme Welt und
das menschliche Elend enthalten willst, weil mir das immer eine
schlechte Nacht und üble Träume macht und ich gern gut schlafe.“
Und doch hatte sie erst wenige Monate vorher den Sohn mit
der Erlaubnis beglückt, den verhassten Kaufmannsberuf mit den
innigst ersehnten wissenschaftlichen Studien vertauschen zu dürfen.
Die Tatsache vollends, dass der erste Band von Schopenhauers
Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, in welchem sein
philosophisches System des Pessimismus und der Askese bereits in
seiner schärfsten Prägung niedergelegt ist, im Jahre 1818 im Druck
erchien, schliesst die Möglichkeit aus, dass eine 5 Jahre später ein¬
getretene Erkrankung einen wesentlichen Einfluss auf die Entwick¬
lung seiner pessimistischen Weltanschauung ausgeübt habe. Auch
die „Parerga und Paralipomena“, aus welchen Bloch mehrfach ge¬
schöpft zu haben scheint, sind nicht geeignet, seine These zu stützen.
Denn diese Sammlung kleinerer philosophischer Abhandlungen, Scho¬
penhauers „Philosoph für die Welt“, ist in dem abgeklärten,
leidenschaftslosen späteren Mannesalter des Weltweisen, fast an der
Schwelle seines Greisenalters entstanden, und bedeutet keine Ver¬
tiefung seiner Weltauffassung, bietet vielmehr nur in bunten Arabesken
die belebende Ornamentik zu dem düster-ernsten Monumentalbau
seines Hauptwerkes.
Weiterhin finden sich in dem Referate über Blochs Vortrag
folgende Bemerkungen: „Schopenhauer war eine stark sinnliche
Natur und in der Praxis durchaus nicht zur Askese geneigt; unter
dem unmittelbaren Einfluss seiner Leiden und Leidenschaften kam
jedoch in seinen Schriften die pessimistische Anschauung zum Aus¬
druck. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er von seiner
Krankheit völlig geheilt wurde. Er spricht die Ansicht aus, dass
die natürlichen Strafen des Lasters, insbesondere die venerische
Krankheit, Moralität zum Zwecke haben, und dass sie ein natürlicher
Damm gegen die Triebe der Menschen seien. Es ist somit wohl der
Schluss berechtigt, dass die syphilitische Erkrankung des Philosophen
zur Entwicklung seiner pessimistischen und asketischen Weltauffas¬
sung beigetragen habe.“ Soweit das Referat.
Die Kennzeichnung Schopenhauers als eines Mannes von
starker Sinnlichkeit, der sexuellen Genüssen durchaus nicht abhold
gewesen, mag zu Recht bestehen. Aber die mit dieser Feststellung
und mit der angeblichen luetischen Erkrankung verknüpfte psycho¬
logische Deutung seiner Lehren muss als verfehlt zurückgewiesen
werden. Weder der Lebensgang noch die Werke des Philosophen
bieten eine Handhabe für die Annahme, dass ihm aus seinen sinn¬
lichen Leidenschaften körperliche oder seelische Leiden von be¬
stimmenden Einfluss auf seine Weltanschauung erwachsen seien.
Manche zuverlässige Daten aus seinem Leben lassen vielmehr auf
das Gegenteil schliessen. Nur in der Pubertät scheint der erwachende
Sexualtrieb dem heranwachsenden Jüngling seelische Qualen bereitet
zu haben. In den Dresdener Jahren dagegen, als der junge Philosoph
in einem andauernden Zustande schaffensfreudiger Begeisterung an
der Errichtung seines gewaltigen Lehrgebäudes arbeitete, gingen
mit einer ins Höchste gesteigerten geistigen Tätigkeit heftige An¬
wandlungen sexueller Erregung einher, die nach seinem eigenen Be¬
kenntnis fördernd auf seine geistige Produktivität einwirkten. M ö -
b i u s vergleicht in seiner ausgezeichneten psychiatrisch-philosophi¬
schen Monographie über Schopenhauer diese Periode mit der
Wertherzejt des jungen Goethe: „Wie dieser machte Schopen¬
hauer seine Jahre des Sturmes und Dranges durch, auch in ihm
wallte und siedete es, auch er hatte das Gefühl der Inspiration,
auch er glich zeitweise einem Nachtwandler, auch bei ihm war das
geistige Schaffen mit der erotischen Erregung verknüpft. Das System
des Philosophen ist ja tatsächlich eine Art von Dichtung. Schopen¬
hauer wusste das selbst sehr wohl, und gerade in den Aufzeich¬
nungen seiner Jugend wiederholt er oft, die Philosophie sei eigentlich
eine Kunst. Er fühlte sich als Künstler, und er glich in seinem Wesen
einem solchen.“
Sehr beachtenswert ist ferner die Tatsache, dass Schopen¬
hauer während seines zweiten Berliner Aufenthaltes, 1825 — 31, also
nach dem ominösen Jahre 1823, zu einem Mitglied der Königlichen
I heater, Fräulein M. in dauernden zarten Beziehungen gestanden
hat, die ein so gutes und bleibendes Andenken bei ihm hinterliessen,
dass er mehr als 30 Jahre später in einem Testamentskodizill der
ehemaligen Freundin ein Legat aussetzte.
Ueber seelische Nachwirkungen der mysteriösen Erkrankung
vom Jahre 1823 ist nichts bekannt, wie man denn bis zur Ent¬
deckung Blochs auch über den Charakter dieser Krankheit nichts
wusste. Schopenhauer selbst schrieb am 20. März 1824 an
seinen Freund Osann: Vor einem Jahre kam ich hierher (nach
München) und etwa 6 Wochen darauf, als ich weiter wollte, fing
eine Verkettung von Krankheiten an . ich habe den ganzen
Winter in der Stube zugebracht und sehr gelitten. Seit einem Monat
bin ich hergestellt, aber noch so nervenschwach, dass ich vor Zittern
der Hände erst jetzt ihren Brief und zwar mit vieler Mühe beant¬
worten kann, mich matt dahinschleppe und bei Tage einschlafe. Dabei
ist das rechte Ohr ganz taub. Allen diesen Uebeln soll das berühmte
Bad Gastein in Süd-Oesterreich abhelfen .... nach der Badekur
muss ich hierher zurück, werde mich aber in diesem Höllenklima
nicht wieder aufhalten, sondern an den Rhein gehen. Behüten Sie
in alle Wege als den grössten Schatz Ihre Gesundheit, alles andere ist
nichts dagegen.“ In einem Briefe an T h i e r s c h grüsst er seinen
Arzt G r o s s i, den „Zeugen seiner schweren Leiden“.
Möbius, der treffliche Kenner Schopenhauers, des Men¬
schen wie des Philosophen, meint, es liege am Nächsten, an einen
Münchener Typhus zu denken, gesteht jedoch, dass er nichts darüber
wisse.
Die Möglichkeit, dass eine luetische Infektion Vorgelegen habe,
soll hier nicht in Abrede gestellt werden, wie ich es überhaupt ver¬
meide, Blochs Belege für diese These, soweit sie in dem Referate
vorliegen, einer Kritik zu unterziehen, obwohl dieselben teilweise
sehr zum Widerspruch herausfordern.
Die Frage, ob Schopenhauer irgend einmal in seinem Leben
vorübergehend luetisch gewesen sei, ist, abgesehen vom rein mensch¬
lichen Standpunkte, belanglos, ob aber diese Krankheit, wenn sie vor¬
handen war, als eine der Hauptquellen seines weltbewegenden Le¬
benswerkes zu betrachten sei oder nicht, die Entscheidung dieser
Frage ist für die kulturhistorische Wertung desselben ganz und gar
nicht gleichgültig. Und es soll gerade hier nachgewiesen werden, dass
der von Bloch behauptete Zusammenhang der Philosophie Scho¬
penhauers mit einer derartigen Erkrankung nicht bestanden hat
und nicht bestanden haben kann. Die pessimistische Färbung mancher
seiner Aeusserungen über die venerische Krankheit und andere
sexuelle Probleme, und seine Philosophie der Askese zwingen nicht
zu Rückschlüssen auf sein persönliches Sexualleben, erklären sich viel¬
mehr ungezwungen aus dem pessimistischen Grundcharakter seines
philosophischen Systems. Die pessimistische Gesamtrichtung seines
Gedankenlebens aber war etwas seinem Geiste Immanentes, das
keiner Entwicklung durch zufällige äussere Einflüsse bedurfte. Schuf
doch der Philosoph sein weltschmerzerfülltes, lebensfeindliches
Hauptwerk als Sohn aus reichem Patrizierhause, nach einer an schönen
und erhebenden Eindrücken ungewöhnlich reichen Jugend, in der Voll¬
kraft blühender Männlichkeit und unter den günstigsten äusseren
Lebens Verhältnissen. Traurige Erlebnisse persönlicher Art, an wel¬
chen es allerdings nicht mangelte, vermochten in seinem Geiste nur
die Variationen auszulösen zu den aus dem Unbewussten empor¬
steigenden, immer wiederkehrenden Leitmotiven seiner pessimisti¬
schen Gedankengänge. Frauenstaedt fragte Schopenhauer
einmal, ob er etwa in seiner Jugend viel gelitten habe und daraus
sein Pessimismus zu erklären sei, und Schopenhauer antwortete:
„Gar nicht, ich war als Jüngling immer sehr melancholisch“. Der
kühne Denker gehörte eben zu der grossen Reihe der psychopathi¬
schen Genies, jener ebenso beklagenswerten wie bewunderungswür¬
digen Märtyrer, die ihre unsterblichen Werke aus krankhaft-kreissen-
der Seele gebären. Der angeborene pathologische Grundzug seines
Gefühlslebens wies seinem Denken kategorisch die Wege. Lom-
b r o s o, der in seinem Werke „Genie und Irrsinn“ unseren Philo¬
sophen mehrfach als Beispiel für seine bekannten Theorien zitiert,
bezeichnet ihn an einer Stelle seines Buches geradezu als einen
Menschen, der ein Genie und zugleich ein Wahnsinniger gewesen
sei. L o m b r o s o macht sich mit diesem Urteil freilich einer starken
Uebertreibung schuldig, die nur dadurch in milderem Lichte erscheint,
dass er gleichzeitig einen Mann wie den Reformator Luther un¬
seren erstaunten Blicken als wahnsinniges Genie präsentiert. Als in
jeder Richtung trefrend und erschöpfend kann die Charakteristik
gelten, die M ö b i u s in seiner bereits mehrfach zitierten tiefgrün¬
digen Arbeit über Schopenhauer entwickelt. Es seien mir
einige kurze Auszüge aus dem interessanten Werke gestattet. Es
heisst dort zunächst in dem Vorworte zur neuen Auflage: „Scho-
1820
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
penhauer ist der Philosoph des Pessimismus geworden, weil er
von Anfang an krankhaft war. Nicht die Erkenntnis der Uebel in
der Welt hat ihn dazu gemacht, sondern er hat die Uebel aufgesucht
und geschildert, weil er Belege für seine lebensfeindliche Stimmung
brauchte. Diese war schon bei dem Knaben vorhanden als schlimmes
Erbteil von väterlicher Seite, und die krankhafte Stimmung wies
seinem Denken die Wege.“ - „Er suchte nach Erklärungen für
sein Wehgefühl, für seine Lebensangst, und er fand seinen Pes¬
simismus. Tatsächlich ist dieser das älteste Stück seiner Philosophie
und hat seine Gedanken nach den verschiedensten Richtungen hin be¬
stimmt.“ — Und in dem Buche sagt Möbius: „Der Pessimismus bei
B u d d h a, bei Schopenhauer und anderen berühmten Pessi¬
misten ist eine Sache nicht des Intellekts, sondern des Willens, in
moderner Sprache: er ist kein Ergebnis persönlicher Erkenntnis, er
stammt aus dem Unbewussten, aus angeborener, und zwar patho¬
logischer Anlage.“ — Die unbefangene Aufdeckung des Pathologischen
an Schopenhauer hindert aber Möbius nicht, die strahlende
Reinheit der seelischen Motive, denen das lebenfüllende Glaubens¬
bekenntnis des grossen Weltweisen entsprungen, in folgenden schönen
und treffenden Ausführungen zu feiern: „Wenn einer die Werke
Schopenhauers gelesen hätte und sonst nichts von Schopen¬
hauer wüsste, so müsste er nicht nur Ehrfurcht vor seinem ueiste
empfinden, sondern auch in gewissem Grade ein Bild des Menschen
Schopenhauer vor sich haben. Er wüsste dann, dass diese
Schriften ein hartnäckiger, heftiger, misstrauischer, manchmal rasch
aburteilender, aber auch im höchsten Sinne ehrlicher, vornehmer,
uneigennütziger, tapferer, humorvoller Mann geschrieben hat. -
So ist es auch. Wir finden einen ganzen Mann, der von der frühesten
.lugend bis in das hohe Alter nur ein Ziel hat, zu erkennen, und
das Erkannte zu überliefern, einen Mann, der nichts sucht als die
Wahrheit, und der seine Aufgabe mit einem Ernste und einer Treue
ohne Gleichen erfüllt hat.
Nach dem Erscheinen der Parerga schrieb Schopenhauer
an Frauenstaedt: „Ich bin wirklich froh, die Geburt meines
letzten Kindes noch zu erleben, womit ich meine Mission auf dieser
Welt vollbracht sehe. Wirklich fühle ich jetzt eine Last, die ich
seit meinem 24. Jahre getragen und schwer gespürt habe, von mir
genommen. Das kann sich keiner denken, wie es ist.“ Aehnliches
drückte er aus, als er kurz vor seinem Tode sagte, er habe ein
reines intellektuelles Gewissen. Er war in der Tat getreu bis zum
Tode, und sein Leben darf mit vollem Recht heldenhaft genannt
werden. Ein Mann wie Schopenhauer ist etwa einem zu
vergleichen, der den Auftrag hat, ein kostbares Glasgefäss auf die
Spitze eines Berges zu tragen. Er kann unterwegs nicht andere
führen, noch sich durch die, die am Wege sind, aufhalten lassen,
stetig, ohne Nebenrücksicht und ohne vom Wege zu weichen, muss
er seine Last tragen, bis er mit ihr sein Ziel erreicht.“ —
Dabei bekennt sich Möbius zwar als treuen Verehrer, aber
keineswegs als eigentlichen Anhänger Schopenhauers, füllt
vielmehr den grössten Teil seiner Monographie mit einer kritisch¬
philosophischen Abhandlung über das System des bewunderten
Meisters.
Zum Schlüsse möchte ich darauf hinweisen, dass kein Anderer als
Schopenhauer die Psychopathographie inauguriert hat. In dem
dritten Buche der „Welt als Wille und Vorstellung“ spricht er von
der nahen Verwandtschaft, die zwischen Genie und Wahnsinn be¬
stehe, und beleuchtet seine Theorie durch verschiedene Beispiele
aus der Literaturgeschichte und durch eine Reihe von Zitaten aus
der klassischen Literatur. In dem Ergänzungsbande zu dem ge¬
nannten Werke widmet er demselben Gegenstände eine eingehendere
Behandlung in dem Kapitel über das Genie, welches trotz der vielen
schönen, wahren und tiefen Gedanken, die es enthält, wie Möbius
mit Recht betont, nicht einwandfrei ist. da Schopenhauers
metaphysische Definition vom Wesen der Kunst und der Künstler von
falschen Voraussetzungen ausgeht. Auch in den Parerga finden wir
das Thema vom Pathologischen hervorragend begabter Menschen
mehrfach variiert. Eine psychiatrische Vertiefung und Erweiterung
erfuhr diese Lehre allerdings erst durch die systematischen Arbeiten
von Lombroso und Möbius, besonders durch letzteren in seinen
Schriften über Goethe, Rousseau, Nietzsche und Scho¬
penhauer.
Dr. Julius Wolf in Obertshausen (Hessen).
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Sanitätsverhältnisse auf Deutschen Schiffen.
Zwecks Erprobung eines Verfahrens gegen die auf Schlaffheit
des Magens und seiner Aufhängebänder beruhenden Formen der See¬
krankheit — denn dieses Uebel stellt sich keinesfalls als ein durch ein¬
heitliche zentrale Ursache bedingtes dar — unternahm ich im Mai
und Juni d. Js. eine Reise nach Amerika. Da mir die Wahl des
Schiffes in liebenswürdigster Weise vom Chefarzt der Hamburg-
Amerika-Linie freieestellt war. ergriff ich mit Freuden die Gelegen¬
heit, auf dem berühmten, eine Zeitlang das grösste aller fahrenden
Schiffe darstellenden Dampfer „Amerika“ meine Ueberfahrt zu machen.
Es ist offenbar die Auffassung der Deutschen Schiffahrtsver¬
waltungen, dass der Schiffsarzt — wenigstens gegenüber den Kajiits-
passagieren — mehr oder minder nur eine Staffagefigur vorstellt, und
dass es daher genügt, dort, wo sich am besten ein Plätzchen entbehren
und heraussparen lässt, die Aerzte und die von ihnen benötigten
Räume unterzubringen.
Auf der mit fürstlicher Pracht ausgestatteten „Amerika“, auf
welcher ein zweistöckiger Rauchsalon dem elegantesten Wirtsraume
an Land in seiner hochgediegenen Einrichtung überlegen erscheint,
auf welcher ein prachtvoller Speisesaal von einem noch prunk¬
volleren Restaurant übertroffen wird, auf der ein entzückend ein¬
gerichtetes Kinderzimmer, eine wahre Perle auf diesem Gebiete, dem
überaus vornehmen Damenschreibzimmer, welches an den prächtigen
Damensalon mit Bibliothek anstösst, sich an die Seite stellt, auf
welcher ferner ein Personenaufzug solchen, welche für das Steigen
der unvergleichlich bequemen, gummibelegten Freitreppen zu bequem
sind, zur Verfügung steht — auf diesem Prachtschiff fehlen ein ärzt¬
licher Untersuchungsraum, ein Operations- und Verbandsaal, ein
Laboratorium, ein Hospital I. Klasse, j a n u r e i n eingerichtetes
ärztliches Sprechzimmer vollständig! Und doch hätte
sich wohl sich wohl schon für den Preis der zum Teil herrlichen Oel-
gemälde, welche den erwähnten Räumen zum erlesenen Schmucke
dienen, mit Leichtigkeit all das beschaffen lassen!
Während in den Luxuszimmern bequeme Betten wie im Hotel¬
zimmer der Gäste harren mit daneben stehenden Nachttischen,
während in diesen Schlafzimmern kaltes und warmes Wasser in
elegante Umsturzwaschbecken jederzeit von der Leitung kann ge¬
zapft werden, und ausserdem mit jeder Bequemlichkeit ausgestattctc
Badezimmer sich daran anschliessen, so ist das für ansteckende
Krankheiten der Kajütspassagiere, deren gegen 600 etwa aufgenommen
werden können — in I. und II. Klasse zusammen — im Kapitäns- und
Offizierhause auf dem Sonnendeck zur Verfügung stehende „Isolier¬
spital“ mit vier gewöhnlichen Schiffskojen, in denen ein starker Mann
nur mit Miihe eine erträgliche Ruhelage einnehmen kann, ausgestattet.
Die untere dieser, je zwei übereinander befindlichen, Kojen ist zudem
so dicht unter der oberen befindlich, dass man sich darin nicht auf¬
richten kann, ohne gegen den Bettrost der oberen anzustossen; in
dieselben hineinzuliegen, bedarf es aber einer besonderen turnerischen
Gewandheit, oder man muss auf Seebeinen geboren sein. — Eine Um¬
bettung fiebernder Kranken ist aber schlechtweg ein Ding der Un¬
möglichkeit, zumal auch jedes Sofa fehlt und auch der Platz für Auf¬
steilung einer Krankenbahre oder dergleichen mangelt. Die Wasch¬
vorrichtung gar besteht aus einem einzigen Waschbecken, wie sie in
den älteren Eisenbahnwagen sich befinden, mit in der Mitte ziehbarem
Auslaufstopfen — so dass dasselbe nie ganz leer läuft und stets
Seifeschaumreste etc. dem Stopfen und seiner Kette anhängen bleiben;
— und die Füllung geschieht wie dort aus Blechkannen, während z. B.
nebenan der Kapitän laufendes Kalt- und Warmwasser in seinem
erheblich grösseren eleganten mit Kloset ausgestattetem Badezimmer
hat und obendrein in seinem Schlafsalon, an den sich ein prachtvolles
Wohnzimmer anschliesst, noch über die modernste Wascheinrichtung
verfügt. — Auf den insgesamt sechs Decks, welche dieser Koloss, diese
schwimmende Stadt mit etwa viertausend Einwohnern (ein¬
schliesslich der Zwischendecker und der Besatzung), zur Aufnahme
dieser besitzt, - — mit Franklin- unten beginnend und über Cleveland-,
Roosevelt-, Washington-, Kaiserdeck zum Sonnen- oder Bootsdeck
aufsteigend — sind die Aerztewohnungen und -räume, Sprech- und
Untersuchungszimmer samt Apotheke auf einen kleineren Raum zu¬
sammengedrängt als die eine Kapitänswohnung oder eines der er¬
wähnten Luxusappartements ihn erfordert! Für ein „Gymnasion“
dagegen, einen mit Zanderapparaten reich ausgerüsteten Uebungs-
raum. ist übrig Platz genug zur Verwendung gelangt.
Der erste Arzt hat ein Sprechzimmer mit 2 runden Aussenfenstern
(„Bullaugen“), in dem ein Sofa und ein Schreibtisch sich befinden samt
kleinem Schranke. Ein Wandbecken mit laufendem Wasser muss als
Ausguss und als Waschbecken gleichzeitig dienen — sofern für
letzteren Zweck der Arzt nicht immer in seine Schlafkabine nebenan
gehen will. Ein Tisch, um Instrumente aufzulegen oder um eine
Sublimatschale hinzustellen, ist nicht vorhanden; auch wäre kein Platz
dafür da. — Nebenan hat der Arzt seine Schlafkabine von
möglichst bescheidenen Ausmessungen und Ausrüstung, natürlich
ohne Badegelegenheit, Kloset etc.! Und der ständige Schiffsarzt
ist doch schlieslich ebenso sehr auf seine Schiffswohnung
angewiesen, wie der Kapitän, dem gegenüber er nach seinem Bil¬
dungsgänge doch wenigstens die gleichen, wenn nicht überlegene An¬
sprüche zu stellen hätte, und muss in derselben gar noch seine Be¬
rufsarbeit ableisten mit ihren oft so belästigenden Gerüchen und Aus¬
dünstungen.
Daneben folgt des zweiten Arztes Behausung — und der Mensch
versuche die Götter nicht . . .!: Ein aufs Zwischendeck mit den ihm
entsteigenden infernalen Düften hinausgehendes und deshalb niemals
zu öffnendes „Bullauge“ bildet seine Licht- und Luftquelle. Zumeist
ist daher dieses Atelier von einem ewigen Lämplein erhellt. An einem
Schreibtischlein hat der Arzt der zweiten Kajüte und der Zwischen¬
decker seine ganze Tätigkeit abzuleisten. Ein Möbel, auf dem ein
Patient untersucht werden könnte, fehlt gänzlich; denn das soge¬
nannte „Sofa“ ist ein Dingelchen, auf dem allenfalls ein Säugling in
der zusammengekrümmten Körperhaltung des intrauterinen Fötus Platz
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1821
findet, £ein Erwachsener! Die Koje des Arztes ist in demselben
Raume befindlich; im Schlafzimmer des Arztes untersucht zu werden,
^ nicht nach dem Geschmack jeder Dame. — Laufendes Wasser
fehlt Inei gänzlich; das zuriickklappbare Umsturzwaschbecken, aus
kleinem Behaltei gespeist, ist alles, was dem Arzte zur Verfügung
steht für sich und seine Patienten bezw. deren Behandlung.
Wo nun machen die Herren ihre Harn- und anderen Unter¬
suchungen Nun, über den Gang hinüber liegt die „Apotheke“. Hier
ist ui der Ecke neben der liir ein Waschbecken von der Grösse etwa
dei Urinmerbecken in den „Pissorten“ der bayerischen Eisenbahn¬
wagen, daiuber zwei Hahnen mit laufendem Wasser, welches durch
Lruck auf einen tief über dem Becken an dem Rohre angebrachten
Knopf ausstromt: Eine Hand also ist ständig an die Leitung gebunden,
"glühnhln frei frUr ,Al'beit’ wie Spülung der Reagiergläser und
-Kölbchen, der Arzneifläschchen etc., so man überhaupt in dem Winkel
zwischen Tur ausgezogenem Tisch und Waschbecken Platz findet
seine eigene I erson hinzupflanzen. In schönen Mahagonischränken
sind der Wand entlang die Medikamente, Drogen, Verbandzeug u. s f
aufbewahrt. An diesen bchränken lassen sich prächtig polierte Tisch¬
platten ausziehen^ wäre der gesuchte Laboratoriums- und
Verbandraum endlich gefunden?! Ich will ja nun nicht beanspruchen,
dass mein Leibesumfang zwischen ausgezogenem Tisch und Wand
I latz finde aber um in diesem Atelier zu arbeiten, muss schon
ein Kollege aus der vierten Dimension sich bereit finden!
Ein Mikroskop wäre nirgends unterzubringen; es ist wohl auch
nicht daran gedacht worden, dieses unerlässliche Rüstzeug des
wissenschaftlichen Arztes an Bord angewendet zu sehen. Ergibt sich
gar die Notwendigkeit, die Rettung eines Menschenlebens z. B. wegen
eingeklemmten Bruches, Darm- oder Blasenverschluss,' Blinddarm¬
entzündung oder dergl. im Bauchschnitte zu versuchen, — wo soll
derselben genügt werden?! Mangels Operationsbettes oder -Tisches
musste dies in der Koje geschehen, wo keine Assistenz von der Gegen¬
seite möglich wäre, (weil die Betten an der Wand fest sind), wo der
( pei ateur sich selbst im Lichte stünde, wo kein Instrumententisch in
der Koje aufgestellt werden könnte, wo keine Sterilisation von In¬
strumenten und Verbandstoffen mangels jedweder Vorrichtung hie¬
zu durchgefuhrt werden könnte etc. etc. — lasciate ogni sperenza!
■ Und wie leicht wäre wenigstens bei den grandiosen Dampf-
ai lagen eines solchen Riesenwerkes die Anbringung eines guten Ste-
rihsationsraumes und aller hiefür nötigen Einrichtungen gewesen' —
Instrumente sind übrigens auch so gut wie keine an Bord- Mit¬
bringen eines chirurgischen T a s c h e n besteckes, von Kehikopf-
Nasen- und Augenspiegel ist dem Arzte vorgeschrieben. - So siehts
für die Kajutspassagiere aus auf dem Dampfer, dessen grossartige
such ab zu st a*t m n [ 6 ° Veranlasst hat’ ihm einen zweitägigen Be-
Und die geschilderten Verhältnisse sollen auf dem ganz neu er-
torTa^1’ nnf? ,gewaItlgcTen Ozeanriesen, der „Kaiserin Augusta Vik¬
toria , noch trauriger hegen! -
tt. Fürs Zwischendeck befinden sich Isolierspitäler im Vorder- und
ninterschirf: In gesonderten Räumen ist da für ansteckende Krank¬
heiten eine Anzahl Betten bereit, ein Bad und Klosett.
Als eigentliches Mannschaftshospital, für Männer und
Frauen getrennt, liegen mittschiffs an Backbord auf Franklindeck zwei
neue, gut luftbare Räume, zum 1 eil mit Schwebebetten ausgestattet
deren emige von allen Seiten zugängig sind. Auch hier fehlt jedoch
sowohl Operationstisch als -bett und -Stuhl; vergleicht man dagegen
den hochelegant mit umlegbaren Patentstühlen ausgestatteten Bar-
öierraum, so ist man schier versucht anzunehmen, dass dem Barbier
ach dem altem Dorfbrauch die Chirurgie mit zugewiesen sei.
Ausser einem einfachen Schreibtisch mit zwei feststehenden
Banken an den Längsseiten, Holzschrank für Instrumente und Schalen
und Holzkasten für Verbandzeug befinden sich zwei blecherne Wand¬
wasserbehälter in diesem Raume mit zwei winzigkleinen, schlecht
verzinnten Umsturzwaschbecken aus Kupfer, die nicht sauber zu
ki legen und zu halten sind: Auf jeder grösseren Bahnstation ist heute
esser gesorgt, und da handelt es sich doch höchstens um flüchtige
Notbehandlung da die Stadt mit ihren vielseitigen ärztlichen Ein¬
richtungen die Patienten sofort aufnimmt!
Während endlich im ganzen Schiff Fayencebadewannen stets
sauber und blank zur Benutzung stehen, hat für das Hospital Gusseisen
mit Oelfarbenanstrich genügt, den das Salzwaser da und dort durch¬
gefressen hat, so dass das rostige Eisen allenthalben zu Tage tritt
um so den Patienten zu eisenhaltigen Bädern zu verhelfen, deren An¬
wendung jedoch bei der Kürze der Ueberfahrtszeit wenig baineo¬
therapeutischen Nutzen bringen dürfte! —
Wenn unsere Schiffsärzte vielleicht manches Mal sich Verstösse
zu Schulden kommen lassen gegen unsere Anforderungen an Feinheit
der Untersuchung und der darauf begründeten Krankheitserkennung
oder an sterile bezw. aseptische Wundbehandlung — wer trägt daran
die Schuld? Der Arzt oder die den Arzt als Nebenperson behandelnde
Schiitsleitung?! Wen trifft die Verantwortung, wenn Pest, Cholera
oder ähnliche Menschenwürger auf einem solchen Schiffe einmal
wüten, ohne dass rechtzeitig und vom ersten Auftreten an der un-
ubersteigliche Damm der Isolierung und Sterilisierung gegen sie auf¬
geworfen ward?!
Es würden auch mehr tüchtige Aerzte sich diesen Beruf er¬
wählen, wenn er ihnen die innere Befriedigung auf die Dauer zu ge¬
währen vermöchte.
Charakteristisch ist auch, wenn Schiffsoffiziere sich ihrer medi¬
zinischen Grosstaten rühmen und Kapitäne sich einbilden können,
medizinische Lichter zu sein: Sie haben eben niemals einen Begriff
davon bekommen, was ärztliche Wissenschaft ist, sie haben dieselbe
unter äusseren Verhältnissen ausiiben sehen, wie sie etwa vor der
Aera Semmelweiss-Koch Brauch waren, wie sie heute auf dem
ganzen Erdball für längst überwundene mittelalterliche Zustände an¬
gesehen werden! —
Um so peinlicher aber berühren den deutschen Arzt diese
Verhältnisse, wenn er damit vergleicht, was dagegen auf ita¬
lienischen Schiffen in Schiffshygiene und ärztlichen Einrichtungen
geleistet wird: Da sind vollständig eingerichtete Hospitäler, wie sie
die Neuzeit verlangt, und ein Staatsarzt ist mit der Ueberwachung
des Ganzen betraut, während zwei Kollegen die Praxis auszuüben
haben. Und die Leitung gerade der Hamburg-Amerika-Linie hätte
besonders gute Gelegenheit, sich hierüber zu belehren, da auf den
eigenen Schiffen dieser Linie, die nach Neapel-Genua von New York
aus fahren, auf Veranlassung der italienischen Regierung für bei
weitem bessere sanitäre Zustände gesorgt werden muss und gesorgt
ist. —
Unter was für Verhätnissen gar die Postbeamten ihre schwere
Arbeit ableisten müssen, das spottet jeder Beschreibung!
Einen Lichtpunkt will ich noch ans Ende dieser Kritik setzen,
welcher den sich vorbereitenden Aufgang der Sonne besserer Er¬
kenntnis andeutet: Auf der „Amerika“ ist das System der Massen-
zusammenpferchung von Menschen im „Zwischendeck“ probeweise
durchbrochen worden, indem daneben eine „Zwischenklasse“ ein¬
geführt ist, in welcher Kabinen zu 2, 4, 6 Kojen eine Trennung der
Menschen nach Familien oder Freundesgruppen ermöglicht, in welcher
Badegelegenheit für Männer und Weiber geboten ist, und in welcher
sich ein Speisesaal und Aufenthaltsraum unter Deck bei schlechtem
Wetter befindet: Möchte dieser Versuch mit der menschenunwürdigen
Einrichtung des „Zwischendecks“, wie sie heute noch überall besteht,
trotz des finanziellen Ausfalls, der dadurch den Schiffahrtsgesell¬
schaften entsteht, bald aufräumen!
Referate und Bücheranzeigen.
K. S e u b e r t - Hannover: Ira Remse ns Anorganische
Chemie. Selbständig bearbeitete dritte Auflage der deutschen
Ausgabe. 528 Seiten mit 2 Tafeln und 21 Textabbildungen.
Verlag der H. L a u p p sehen Buchhandlung. Tübingen 1906.
Preis 9.40 M.
Das vorliegende Buch, welches als Leitfaden in der Vor¬
lesung und als Repetitorium dienen soll, ist besonders charak¬
terisiert durch die auf das natürliche System der chemischen
Elemente sich gründende streng systematische und ver¬
gleichende Behandlung des chemischen Lehrstoffes.
Eine durchgreifende Neubearbeitung hat das Buch ge¬
legentlich dieser Neuauflage erfahren, so wurden erweitert
die Abschnitte „Seltene Erden“, „Argongruppe“ und „Ermitt¬
lung des Molekulargewichts“, neu eingefügt die Kapitel „Um¬
kehrbare Reaktionen, Massenwirkung, Phasenregel“, „Elek¬
trolyse und elektrolytische Dissoziation, Jonenreaktionen“, als
Anhang beigefügt „Thermochemie“. Durch verschieden grossen
Druck werden im Buche die elementaren Tatsachen gegen¬
über den weniger elementaren kenntlich gemacht. Die Zahl
der Abbildungen ist von 14 auf 21 gestiegen. Ein sehr aus¬
führliches Register erleichtert wesentlich die Orientierung.
Für den Mediziner, der sich auf den verschiedenen Ge¬
bieten der Naturwissenschaften umsehen soll und der daher
ohne viel Umwege zum Ziele zu gelangen wünscht, kann eine
streng systematische Behandlung des Stoffes, insbesondere
wenn sie sich, wie im vorliegenden Falle, aus einer inneren
Notwendigkeit ergibt, nur von Vorteil sein. Da ferner in dem
Buche die modernen physikalisch-chemischen Probleme in
ebenso klarer und gründlicher Weise behandelt werden wie
die schon älteren chemischen Grundtatsachen, so wird sich
der Mediziner mit besonderem Nutzen dieses modernen,
tüchtigen Buches bedienen. B ü r k e r - Tübingen.
Pen ta: Die Simulation von Geisteskrankheit. Mit einem
Anhang: Die Geisteskrankheit in den Gefängnissen. Ueber-
setzt von R. ü a n t e r. A. S t u b e r s Verlag. Wiirzburg 1906.
214 S. M. 3.50.
Der neapolitanische Gerichtsarzt P e n t a bespricht auf
Gi und seines allerdings aussergewöhnlich reichen Beobach-
1822 MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 37.
tungsmaterials (12U Fälle von Simulation in 4 Jahren) die Simu¬
lation von Geisteskrankheit in einer ebenso klaren wie er¬
schöpfenden Weise. Aber nicht darin, nicht in der unbedingt
wissenschaftlichen Bedeutung möchte ich den Hauptwert des
Buches sehen, der vielmehr meiner Ansicht nach in der Frei¬
mütigkeit zu suchen ist, womit P e n t a seine Ansicht äussert.
Denn es gehört heutzutage wirklich Mut dazu, der allgemeinen
Strömung entgegenzutreten, die in dem Simulanten durchweg
einen Geisteskranken sieht, der als solcher für sein Verbrechen
nicht verantwortlich gemacht werden kann.
Ganz gewiss wird der Vollblutmensch bei seiner Verteidi¬
gung nicht zu Lüge und Simulation greifen, das kann er gar
nicht, aber ebensowenig kann er aus demselben Grunde zum
Gewohnheitsverbrecher werden, und die Simulation wird da¬
her von vorneherein wohl zu einer abnormen Erscheinung,
aber damit noch nicht zu einer Geistesstörung.
Impulsivität und Zornmütigkeit bilden an sich schon eine
Charaktereigentümlichkeit des Verbrechers, ebenso wie der
Hang zur Lüge und zur Verstellung. Was Wunder, wenn er
diesem Hange nachgibt, und in bewusster Absicht die Eigen¬
schaften übertreibt, die er ohnehin besitzt.
Die Simulation wird somit zu einem spezifisch klinischen
und für den Verbrecher charakteristischen Krankheitsbilde,
zu einer besonderen klinischen Einheit, deren einzelne Elemente
der Verbrecher anfangs wenigstens noch auseinander halten
kann.
Bei der Beurteilung und der Zumessung der Strafart wird
man diese Eigentümlichkeit zu berücksichtigen und ihr Rech¬
nung zu tragen haben. Aber sicherlich nicht durch Frei¬
sprechung und noch weniger durch die Fiktion einer ver¬
minderten Zurechnungsfähigkeit, und nirgends stehen sich die
Ansichten der neuen Schule und der alten Strafrechtspflege
schroffer und unversöhnlicher gegenüber als gerade hier.
Ich gestehe gerne, dass mir die Begutachtung eines Ver¬
brechers fast in jedem einzelnen Falle einen schweren inneren
Kampf kostet, und die Anpassung an die veralteten und meiner
Ansicht nach durchaus unhaltbaren Anschauungen der klassi¬
schen Schule sich mir von Fall zu Fall schwieriger gestalten
will.
So lange aber die alten Fragen an uns gestellt werden,
haben wir sie in der alten Weise zu beantworten und damit
die verd . Pflicht und Schuldigkeit, den Simulanten als
einen der schwersten, d. h. der gemeingefährlichsten Ver¬
brecher der schwersten Strafe nicht zu entziehen.
Aus diesem Grunde möchte ich das Buch allen denen
empfehlen, die es angeht, in erster Linie also den Gerichts¬
ärzten, vielleicht dass sie ihre Ansichten an der Hand P e n t a s
einer Revision unterziehen, was der gefährdeten Gesellschaft
sicherlich nur zum Wohle gereichen würde.
P e 1 m a n - Bonn.
Die Orthodiagraphie. Ein Lehrbuch für Aerzte. Mit 75
Abbildungen und 3 Tafeln. Von Dr. K. Francke, Spezial¬
arzt für innere Leiden in München. Verlag von J. F. Leh-
m a n n, München. 1906. Preis 4 M.
Dass aus dem Gesamtgebiete der Röntgentechnik, wie sie
z. B. in dem bekannten Lehrbuch von Albers-Schön¬
berg u. a. zusammengefasst ist, schon jetzt einzelne Kapitel
abgetrennt werden können und sich zu selbständigen Mono¬
graphien weiterentwickeln, beweist am Besten den rasch wach¬
senden Umfang dieses diagnostischen Neulandes. Für die
Orthodiagraphie liegt eine gewisse vermehrte Berechtigung
zur Selbständigkeit in dem Umstand, dass sie ein im Allge¬
meinen streng abgeschlossenes diagnostisches Gebiet, näm¬
lich vorläufig das der Organe der Brusthöhle, betrifft. Ob
heute schon ein eigentliches Lehrbuch darüber geschrieben
werden kann, möchte Ref. als eine offene Frage betrachten
und im Grossen und Ganzen ist das F.sche Buch, das sich auf
Resultaten an ca. 2000 Untersuchten aufbaut, in erster Linie
eine Zusammenstellung der persönlichen, allerdings höchst
mühsamen und fleissigen Forschungsergebnisse des Verf. Die
Darstellung seiner Arbeiten gliedert sich in 4 Abschnitte, deren
erster allgemeine Gesichtspunkte des Themas erörtert und
eine kurze Einführung über die bei den Untersuchungen zur
Verwendung gelangten Apparate bringt. Verf. hat sich be¬
sonders des Moritz sehen Tisches bedient, der ja inzwischen
auch schon wieder manche Modifikation erfahren hat. Die
Technik der Aufnahmen und die Analyse der erhaltenen Ortho-
diagramme bilden den Inhalt des 2. Abschnittes. Nach Schil¬
derung der vor und nach der Aufnahme einzuhaltenden Mass-
regeln — Verf. betont ganz besonders eindringlich die Not¬
wendigkeit, die orthodiagraphischen Aufzeichnungen in der At-
mungspause zu machen — werden die Aufnahmen in der wich¬
tigen sagittalen, dann in der vertikalen und frontalen Projek¬
tion im Einzelnen besprochen. Für die Vertikalaufnahme hat
Verf. zur noch sichereren Feststellung des Körpers eigene Hüft¬
stützen angegeben. Hinsichtlich der von Verf. geübten Auf¬
nahmemethode ist anzuführen, dass er mit fein zeichnenden
Schreibstiften auf Pauspapier zu übertragen pflegt und be¬
sonders auch darauf Wert legt, dass die Konturen der beiden
Lungen miteingezeichnet werden. In dem 3. Abschnitte, wo die
Einflüsse der Lagerung des Körpers, der Atmung etc. auf die
Gestalt des Herzens eingehender besprochen werden, wird die
diagnostische Auswertung der Lungenaufnahmen im Einzelnen
vorgenommen. In der Zergliederung der Orthodiagramme
durch Messlinien und in der Auflösung der erhaltenen Schatten¬
flächen in eine Menge von Detailbezirken ist Verf. wahrhaft
unermüdlich. Man kann darüber streiten, ob die minutiöse Aus¬
wertung in Zahlen nicht den Ueberblick über die hauptsäch¬
lichsten Resultate der Messungen erschweren kann, jeden¬
falls ist Verf. hierin, wie Seite 29 und 30 zeigen, nahe bis an die
äusserste Grenze des zunraglichen gekommen. Auf die Aus¬
messung der Herzschattenfläche wird ein sehr grosser Wert
gelegt. Für gesunde erwachsene Männer hat Verf. 113 qcm,
für Frauen entsprechend 104 qcm Herzfläche gefunden. Dass
Verf. übrigens, wie aus einer Anführung Seite 48 hervorgeht,
aus einem „lauten systolischen Mitralgeräusch“ auf einen „be¬
trächtlichen Mangel von Klappenverschluss“ schliessen will,
erscheint nicht ohne weiteres zulässig. Interessant ist die An¬
gabe, dass Frauen, welche eine grössere Zahl von Entbindungen
hinter sich haben, eine verhältnismässig grössere Herzfläche
zeigen, interessant besonders deswegen, weil ein Einfluss der
Schwangerschaft auf die Herzgrösse von sehr kompetenter Seite
in Abrede gestellt wird. Fr. bestätigt auch seinerseits die Wir¬
kungen, welche die liegende oder stehende Haltung des Kör¬
pers auf die Form und Grösse des Herzens haben, seine An¬
gaben decken sich da mit den von Moritz gemachten. Be¬
treff der orthodiagraphischen Grössenbestimmungen des Her¬
zens wäre es vielleicht von Interesse gewesen, die Ergebnisse
der Perkussion damit in Vergleich zu setzen, wie das auch
schon Moritz getan hat. Eigene Abschnitte sind den Verhält¬
nissen des Mittelschattens, des Zwerchfells und der Pleuren
gewidmet.
Fast ein Drittel des (tanzen ist durch die Reproduktion von
Orthodiagrammen eingenommen, die Verf. durch systematische
Untersuchungen an Gesunden und Kranken gewonnen hat. Sie
sind auf ein Drittel linearer Ausdehnung der Originale ver¬
kleinert wiedergegeben. Die Ergebnisse der zahlenmässigen
Berechnungen aus denselben sind auf 3 Tafeln am Schlüsse
der Monographie zusammengestellt. Wie eingehend Verf.
hierin zu Werke gegangen ist, ergibt sich daraus, dass über
jeden einzelnen Fall 42 Zahlenverhältnisse angegeben sind,
gewiss eine sehr stattliche Anzahl ! Da Verf. 50 gesunde Männer
und ebensoviele gesunde Frauen in dieser Weise, untersucht
und in den einschlägigen Verhältnissen genau berechnet hat,
darf er für die gefundenen Werte wohl beanspruchen, dass
seine erhaltenen Mittelzahlen als Normalzahlen respektiert wer¬
den. Sie stimmen mit den von Moritz gegebenen überein.
Ihre Festlegung bedeutet für die Verwertung der durch die
Orthodiagraphie gefundenen Masse ein erhebliches Verdienst.
Für die praktische Verwendung der Tafeln wäre es aber sehr
wünschenswert, durch einen entsprechenden Hinweis auf Bild 9
die Bedeutung der in einer Querkolumne stehenden Buchstaben
A-0 dem Leser leichter ersichtlich zu machen, als es in der
jetzigen Form der Fall ist. Hinsichtlich der Abbildungen halte
ich das Bild 16 nicht für sehr übersichtlich, auch sind die zahl¬
reichen Buchstabenabkürzungen etwas störend. Die prozen¬
tische Berechnung erkrankter Lungenflächen, wie sie Fr. vor¬
nimmt, kann ich praktisch für nicht so wichtig halten, das er¬
haltene Prozent der Gesamtfläche braucht auch mit dem Pro-
11. September 1906.
muenchener medizinische Wochenschrift.
1823
zent des Oesamtvolumens der betreffenden erkrankten Lunge
tatsächlich nicht in einem geraden Verhältnis zu stehen. Wich¬
tig wäre es zu wissen, wie viel Prozent vom Volumen der
Lunge von Krankheitsherden durchsetzt sind.
Grassmann - München.
Neueste Journalliteratur.
Zentralblatt für innere Medizin. No. 35, 1906.
No. 35. F. S c h i 1 1 i n g - Leipzig: Gibt es therapeutisch brauch¬
bare schleimlösende Mittel?
Die hier gebräuchlichen Mittel, Alkalien, Kochsalzlösung, Natr.
bicarb., Kailsbader Salz usw., erfüllen ihren Zweck ebensowenig wie
die bekannten Mineralwässer, alkalisch-muriatischen Quellen u. a.
Zahlreiche Vei suche mit warmen und kalten Lösungen der genannten
Mittel in allen möglichen Variationen ergaben stets dasselbe Resultat:
die daiin aufbewahrten Schleimfetzen blieben auch nach Stunden noch
unverändert. Hartmann.
Beiträge zur Klinik der Tuberkulose. Herausgeg. von
Prof. L. Brauer. Band VI. Heft I.
Bandelier: Die Tonsillen als Eingangspforte der Tuberkel¬
bazillen.
B. hat an einem grossen Heilstättenmaterial sämtliche hyper¬
trophischen Tonsillen amputiert; die in Serienschnitten erfolgende
Untersuchung auf Tuberkulose geschah unter P. Grawitz Die —
aui Grund von 100 derartigen Fällen — sich ergebenden Resultate sind
folgende: Die Tonsillartuberkulose entwickelt sich auf dem Boden
einet chronischen Entzündung und ist nur mikroskopisch zu diagnosti-
zieren; sie zeigt eine auffallend leichte Erkrankungsform. Tonsillar-
tuberkulose ist bei Lungentuberkulose häufig, meist ist sie eine sekun¬
däre Sputuminfektion. Die Entstehung einer sekundären Tonsillar¬
tuberkulose auf dem retrograden Lymphwege von den Lungen aus
ist unwahi scheinlich. Piimäre ronsillartuberkulose — als Aspirations¬
und h iitterungstubei kulose nachzuweisen • — ist nicht so enorm selten
als bisher angenommen. Bei der Skrofulöse der Kinder spielen neben
kleinen W unden der Haut, der Nasen- und Mundhöhle etc. auch die
1 onsillen eine Rolle. Für die tuberkulöse Infektion der Lungen Er¬
wachsener ist den Tonsillen als Eingangspforte eine grosse Be¬
deutung nicht beizumessen.
Bandelier: Die Maximaldosis in der Tuberkulindiagnostik.
Verf. tritt u. a. gestützt auf die serologischen Resultate von
Wassermann und Bruck (Antituberkulinbildung) und die der¬
matologischen Untersuchungen von K 1 i n g m ü 1 1 e r (an Lupus)
energisch fiii die Spezifizität der I uberkulinreaktion ein. Er betont
unter Hinweis auf die Arbeiten der ersten Autoren und die von
Low enstein und Rappaport die Notwendigkeit der Wieder¬
holung derselben diagnostischen Dosis von 10 mg bei einmaligem
Ausbleiben der Reaktion. Verf. kommt zu dem Schluss, dass die alte
Koch sehe Methode der diagnostischen Tuberkulinreaktionen allein
die zuverlässigsten Resultate gibt, dass mit anderen Worten die
Maximaldosis von 10 mg in der Tuberkulindiagnostik nicht zu ent¬
behren ist.
Bandelier: Der diagnostische Wert der Tuberkulininhalation.
Verf. gibt zuerst einen dankenswerten Ueberblick über die meist
trustranen Versuche, Tuberkulin zu diagnostischen oder immuni¬
satorischen Zwecken intravenös, stomachal (Freymu t), perkutan
(bpengler) oder gar als Lungeninfusion (Jakob) zu verwenden
Sodann berichtet er über seine Nachprüfung der Versuche von
M1bral'k; U1?d H- v- Schroetter, bei Tuberkulösen durch In-
naiation 1 uberkulinreaktion zu erzielen und kann die positiven Be¬
funde dieser Autoren in diagnostischer Beziehung im wesentlichen be¬
stätigen wenn er auch in der Dosierung, dem Verhältnis der sub-
,u!ai]“n(^ inhalatorisch erforderlichen Minimaldosen von ihnen wesent-
hch differiert. Mit Recht protestiert Verf. gegen die Verwendung der in-
nalatorischen Methode zu Immunisierungszwecken, weil sie auf der
absolut unbewiesenen und vagen Vorstellung des Heilungsvorganges
durch direkte Kontaktwirkung beruht, die mit der herrschenden
wissenschaftlichen Auffassung von den Immunisierungsvorgängen im
Organismus unvereinbar ist.
Bandelier: Zur Heilwirkung des Tuberkulins.
Verf. berichtet über die Dauerheilung eines schweren ulzerösen
Gesichtslupus bei bestehender Lungenphthise durch Tuberkulin, be¬
spricht die Art der Wirkung in biologischer Hinsicht und kommt nach
ausgedehnten eigenen Erfahrungen — gegen Köhler vor allen pole¬
misierend — zu dem Schluss, dass das Tuberkulin — in Verbindung
mit klimatischen Heilfaktoren — für die beginnende und nicht zu
weit vorgeschrittene Lungentuberkulose heute noch das beste Heil¬
mittel sei. Curschmann - Tübingen.
Archiv für klinische Chirurgie. 80. Band, 1. Heft. Berlin.
Hirschwald, 1906.
I) Petermann: Ueber Mastdarmkrebs. (Chirurgische Ab¬
teilung des St. Hedwigkrankenhauses in Berlin.)
Statistischer Bericht über die von R o 1 1 e r ausgeführten RadikaL
Operationen, 110 Fälle. 45 mal wurde die Resektion, 40 mal die Ampu¬
tation ausgeführt (25 kombiniert operierte Fälle sind hier nicht mit
berücksichtigt). Die Nachuntersuchungen ergaben — auf sämtliche
Operierten, einschliesslich der gestorbenen berechnet — 27,8 Proz.
dauernd, d. h. über 3 Jahre Geheilte.
P. tritt sehr für die Resektion des Mastdarms ein, die quoad
funktionen der Amputation weit vorzuziehen ist. Von 35 resezierten
und geheilten Fällen wurde bei 22 volle Kontinenz erzielt, also ein
vorzügliches Resultat. Die Versuche, nach der Amputation Kontinenz
zu erreichen (Gersunysche Drehung, Witzei scher Glutäal-
after etc.) haben fast nie ein befriedigendes Ergebnis gehabt.
4) Bogoljuboff: Zur Chirurgie der Nebennierengeschwülste.
Kasuistische Mitteilung. Sehr grosser, solider, 4,5 kg schwerer
Iumor der Nebenniere bei einer 42jährigen Frau, von Rasu-
mowsky mit Erfolg exstirpiert. Die Kranke ist seit 7 Jahren
geheilt. Histologische Diagnose: Adenoma suprarenale enchondro-
matodes.
7) Pels-Leusden: Ueber papilläre Wucherungen in der
Gallenblase und ihre Beziehungen zur Cholelithäasis und zum Kar¬
zinom. (Chirurgische Klinik der Charite in Berlin.)
P. hatte Gelegenheit, einen Fall von ausgedehnten papillären
Wucherungen in der Gallenblase zu beobachten, als deren Ursache
bei der Autopsie ein im Choledochus eingekeilter Stein gefunden
wurde. Der Kracke wurde wegen chronischen Ikterus mit Chole-
zystotomie behandelt und hatte mit der Gallenfistel noch mehrere
Jahre ohne wesentliche Beschwerden gelebt; der Tod war an Lungen¬
tuberkulose erfolgt. Diese Beobachtung wurde für P. Veranlassung,
die chronisch-entzündlichen Veränderungen bei Cholelithiasis einer ge¬
nauen histologischen Untersuchung zu unterwerfen, als deren Re¬
sultat (unter Berücksichtigung der gleichzeitig veröffentlichten Unter¬
suchungen von Asch off) P. folgende Schlussätze aufstellt: Bei
chronischen Gallensteinleiden kommt es in der Schleimhaut der Gallen¬
blase sehr häufig zu atypischen Epithelwucherungen in der Tiefe
und zu papillären Wucherungen an der Oberfläche. Nicht der un¬
mittelbare, mechanische Reiz der Gallensteine allein kann die Ur¬
sache dieser Epithelwucherungen sein, da sie sich auch finden, wenn
der Choledochus nur den Sitz der Konkremente darstellt. Zu dem
mechanischen Reiz kommen noch hinzu entzündliche Reize durch
Bakterien und die in ihrer Zusammensetzung veränderte Galle, sowie
auch der Reiz der Gallenstauung, welcher ja auch innerhalb der
Leber zu einer Wucherung in den kleinen Gallengängen führt.
Die Bedeutung dieser Wucherungen liegt nach P. nun darin,
dass sich alle Uebergänge zwischen ihnen und wirklichen Karzi¬
nomen feststellen lassen; die Epithelwucherungen scheinen also
in hohem Masse zur Karzinomentwicklung in der Gallenblase zu dis¬
ponieren. Die schon längst bekannte häufige Entstehung der Gallen¬
blasenkarzinome auf dem Boden der Cholelithiasis wird also durch
diese Befunde dem Verständnis wesentlich näher gerückt.
Die Gefahr der Karzinomentwicklung ist eine Indikation mehr
zur Entfernung der chronisch entzündlich veränderten Gallenblase
selbst in den weniger vorgeschrittenen Fällen.
10) K 1 o s e - Berlin: Ein auf intravesikalem Wege durch das
Operationskystoskop geheilter Fall einer Harnleiterzyste.
Typischer Fall einer Zyste am vesikalen Ureterenende. Die
Beschwerden bestanden in Schmerzen in der Leisten- und der Nieren¬
gegend und in Harndrang und Brennen beim Wasserlassen. K. kau-
terisierte eine Stelle an der Vorderseite der Zystenwand im Opera-
tionszystoskop und durchstiess den Schorf nach einigen Tagen mit
der Sonde; es bildete sich daraufhin eine weite Kommunikation
zwischen Zyste und Blase und die Kranke wurde vollkommen geheilt.
14) Kleinere Mitteilungen.
Beck- NewYork : Ueber eine neue Methode der Deckung von
Schädeldefekten.
Ein Defekt des Scheitelbeines wurde durch einen Lappen aus
dem Musculus temp. geschlossen; der Lappen wurde so umge¬
schlagen, dass die Aussenseite, d. h. die Faszie auf das Gehirn zu
liegen kam, während das mit dem Muskellappen abgelöste Periost
nach aussen lag. B. hoffte auf diese Weise eine Verwachsung des
Lappens mit dem Gehirn am besten zu verhindern (es handelte sich
um eine Operation wegen J a c k s o n scher Epilepsie nach kompli¬
zierter Fraktur). Der Erfolg war in jeder Beziehung ausgezeichnet.
Neuschäfer - Steinbrücken : Ein Fall von Lyssa.
F r i e d e 1 - Stendal: Ein Fall von schnellendem Finger.
Ein partiell durchschnittener Sehnenzipfel hatte sich zusammen¬
gerollt und bildete ein Knötchen, das sich am Lig. transversum fest¬
hakte. Heilung nach Exstirpation.
2) Bornhaupt - Riga: Die Schussverletzungen der Gelenke im
russisch-japanischen Kriege 1904 — 1905.
3) Klapp- Bonn: Die Behandlung der chirurgischen Tuber¬
kulose mit dem Schröpfverfahren.
5) K ö n i g - Altona : Ueber traumatische Osteome, frakturlose
Kallusgeschwülste.
6) K e 1 1 i n g - Dresden : Ueber eine neue hämolytische Reaktion
des Blutserums bei malignen Geschwülsten (und bei malignen Blut¬
krankheiten) und über ihre diagnostische und statistische Verwendung
in der Chirurgie.
8) v. Oettingen - Berlin: Die Schussverletzungen des Bauches
nach Erfahrungen im russisch-japanischen Kriege 1904—1905.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
1824
9) Goldammer-Hamburg: Erfahrungen mit trockener
Wundbehandlung im südwestafrikanischen Kriege.
11) Wendel-Magdeburg: Zur Chirurgie des Herzens.
12) Sprengel - Braunschweig: Zur Technik der operativen
Behandlung der Schenkelhernien.
13) Küster-Marburg: Die Silberdrahtnaht als perkutane
Tiefennaht.
Vorträge auf dem 35. Chirurgenkongress. Referate siehe No. 16
bis 23 dieser Wochenschrift. Heineke - Leipzig.
Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bd. XXIII,
Heft 5.
1) R o s t h o r n - Heidelberg: Tuberkulose und Schwangerschaft.
Die Tuberkulose kann im Verlauf einer Gravidität zum ersten Mai
in Erscheinung treten oder eine bestehende kann progredient werden.
Andererseits können bei bestehender Tuberkulose eine und ev.
mehrere Schwangerschaften absolviert werden, ohne dass die Tuber¬
kulose ungünstig beeinflusst wird.
Die Gravidität scheint für die Tuberkulösen relativ ungefähr¬
lich zu sein a) in den Fällen, in denen Frauen jahrelang stationär
lungenkrank sind oder als „relativ geheilt“ gelten, und zwar bei gün¬
stigem objektivem Lungenbefund mit und ohne Tivberkelbazillen im
Auswurf, gutem Ernährungszustand, Fehlen von Blutung und Fieber¬
freiheit über 1 Jahr; b) kann der Verlauf gut sein bei frischeren, aber
gut lokalisierten Spitzenprozessen mit Fieberfreiheit und gutem un¬
verändertem Ernährungszustand.
Unter allen Umständen gefahrbringend erscheint die Gravidität
a) bei floriden Prozessen (rascher Zerfall, dauernd hohes Fieber), b)
auch bei geringem objektiven Befund, wenn Fieber, auch ganz leichtes,
besteht, das bei geeigneter Pflege (Heilstätten, Kurorte) nicht ver¬
schwindet, c) bei Mitbeteiligung des Mittel- und Unterlappens, d) bei
Komplikation durch Herz-, Nieren- oder Darmerkrankungen, e) bei
Larynxphthise und f) bei schwerer hereditärer Belastung.
' Bei Tuberkulose in der Schwangerschaft wird man sich im allge¬
meinen zunächst rein exspektativ verhalten und der Tuberkulose
selbst die grösste Aufmerksamkeit zuwenden (Ruhe, klimakterische
Anstaltskuren), der künstliche Abortus ist der künstlichen Frühgeburt
als das weniger eingreifende Verfahren vorzuziehen; er kann und muss
diskutiert werden a) bei allen destruktiven fieberhaften Prozessen
frischen und älteren Datums, b) bei den erwähnten Komplikationen,
besonders bei Tuberkulose des Aryknorpel, c) bei relativ geheilten
Fällen, wenn trotz aller hygienisch-diätetischen Massnahmen fort¬
schreitende Abmagerung eintritt.
Bestimmte Normen über die Notwendigkeit des künstlichen
Abortus und den Zeitpunkt der Einleitung gibt es zur Zeit nicht, die
Entscheidung sollte im Einzelfalle vom Gynäkologen im Verein mit
einem erfahrenen Internisten getroffen werden.
2) P f a n n e n s t i e 1 - Giessen: Zur Frage der Atrnocausis uteri.
Die Wirkung der Vaporisation auf das Endometrium erwies sich
Verf. trotz aller Sorgfalt der Technik in 6 Fällen als eine nicht zu¬
verlässige. Das Fundus cavum kann vollkommen unberührt bleiben,
die Tubenecken bleiben fast regelmässig unbeeinflusst. Eine Oblitera¬
tion kann daher nicht mit Sicherheit angestrebt werden. In Bezug
auf Dauererfolg ist die A. einer sorgfältig ausgeführten Abrasio
nicht wesentlich überlegen; ausserdem ist sie nicht frei von uner¬
wünschten und zum Teil recht bedenklichen Nebeneinwirkungen.
Dahin gehören Stenosierungen der oberen Zervixpartie, die zusammen
mit Schleimzystenbildung etwas Typisches darzustellen scheinen.
Noch bedenklicher ist die Infektionsgefahr durch Aszendieren von
Scheidenkeimen. Für Verf. ist die Atmokausis zunächst abgetan,
kommt er mit den gewöhnlichen allgemeinen und lokalen Mass¬
nahmen nicht aus, dann bevorzugt P. operatives Vorgehen, event.
vaginale Spaltung des Uterus mit tiefer Exzision der Schleimhaut.
3) B o 1 d t - NewYork: Kaiserschnitt wegen schwerer puer¬
peraler Eklampsie, ausgeführt an einem zwölf Jahre acht Monate alten
Kinde mit engem Becken.
Die Mutter starb einen Tag nach der Operation an Eklampsie.
Das Kind lebte. Im Anschluss an die Mitteilung Bemerkungen über
die forensische Seite (amerikanische Verhältnisse).
4 ) Bau er- Breslau: Ueber Sehstörung bei der Geburt.
Gesunde Frau, seit 3 Jahren zunehmende Kopfschmerzen, be¬
sonders heftig Ende der 7. Schwangerschaft. Am Tage vor der
Geburt Uebelkeit und Magenschmerzen. Rasche Geburt mit starkem
Blutverlust. Sub partu plötzliche Erblindung, die am 5. Tag post
partum in Hemianopsie übergeht. 4 Wochen später normales Ge¬
sichtsfeld und Sehvermögen. Rasch vorübergehende reichliche Al¬
buminurie nach der Geburt, 9 tägiges hohes Fieber, was Verf. auf
eine Endometritis, Parametritis und diffuse Bronchitis zurückführt.
Zur Erklärung der zerebralen Symptome nimmt Verf. Eklampsie
ohne Krämpfe an.
5) Schlapoberski - Schaulen : Ueber zwei seltenere kasuisti¬
sche Fälle.
I. Fall: Zerreissung des hinteren Scheidengewölbes sub coiitu
bei einer 31 jährigen Frau. Tamponade.
II. Fall. Scheinzwitter (Pseudohermaphroditismus spurius mas-
culinus). -
6) G 6 t h - Klausenburg: Ueber Endometritis haemorrhagica, mit
besonderer Berücksichtigung der histologischen Form.
Nach Kürettage verzögert sich die erste Menstruation mehr oder
weniger. Sie erscheint meist ohne profuse Blutung. Die Endometritis
haemorrhagica kommt hauptsächlich bei gebärfähigen Frauen vor.
Voraufgegangene Schwangerschaften spielen ätiologisch eine be¬
deutende Rolle. Die „hypertrophische“ Form kommt mehr in jün¬
geren, die „diffuse“ Form nach den 30 Jahren vor; erstere doppelt so
häufig bei Nulliparen, wie nach Geburten, letztere 4 mal so häufig
nach Geburten. Die histologische Struktur der Endometritis wird
durch andere Erkrankung an oder neben der Gebärmutter nicht be¬
einflusst, die verschiedenen Formen der Endometritis gestatten kein
Urteil in Bezug auf Prognose , Heilungsdauer oder Neigung zu Re¬
zidiven; ebensowenig beeinflussen sie die Möglichkeit einer Kon¬
zeption nach Ausschabung der Gebärmutter.
7) K e h r e r - Heidelberg: Ueber heterologe mesodermale Neu¬
bildungen der weiblichen Genitalien. (Schluss im nächsten Heft.)
Weinbrenner - Magdeburg.
Zentralblatt fiir Gynäkologie. No. 34.
H. Sutter-St. Gallen: Weiterer Beitrag zur Kasuistik der
nervösen Erkrankungen im Wochenbett.
S. berichtet über einen Fall von zweifelloser Hysterie in der
2. Woche des Puerperiums. Er betraf eine 22 jährige I. Para, nicht
verheiratet, die vor Gericht erscheinen sollte und plötzlich eine an¬
scheinend totale Lähmung bekam. Die Anfälle wiederholten sich
2 Monate lang mit grossen Pausen, schwanden dann aber völlig und
kehrten nicht wieder.
Als Ursache betont S. u. a. das psychische Trauma, das durch
die illegitime Geburt und die bevorstehende Gerichtsverhandlung
hinlänglich gekennzeichnet war. Vergl. auch den Vortrag von
H. Fiith (ref. in diesem Blatt 1906, No. 23, p. 1124).
Hans Meyer-Riigg - Zürich : Perniziöse Anämie im Wochen¬
bett, kompliziert mit septischer Infektion.
Der Fall betraf eine 26 jährige I. Para, die 2 Tage vor der Ge¬
burt starkes Nasenbluten bekam. Nach der spontanen leichten Ge¬
burt trat Apathie, Schlafsucht und Temperatursteigerung ein. Am
5. Tage des Wochenbettes heftiges Nasenbluten, das Tamponade er¬
forderte. Zunahme der Temperatur und Puls, Bild der perniziösen
Anämie, trotzdem die Blutuntersuchung starke Vermehrung der
Leukozyten ergab. Exitus im Koma am 12. Tage. Die Sektion be¬
stätigte die Annahme der perniziösen Anämie und brachte für die
Leukozytose eine Erklärung in thrombophlebitischen Vorgängen der
Uteruswand und des Plexus pampiniformis sin.
J a f f e - Hamburg.
Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. 30. Band. 5. u
6. Heft.
J. K o 1 1 a r i t s - Ofen-Pest: Beiträge zur Kenntnis der vererbten
Nervenkrankheiten.
Auf Grund der Erfahrungen an dem ausserordentlich
reichhaltigen Material ererbter Nervenkrankheiten in der Uni-
versitäts-Nervenklinik zu Ofen-Pest kommt der Verfasser zu
der Ueberzeugung, dass die einzelnen Typen der vererbten
Degenerationen, wie der spastischen Spinalparalyse, der amyo-
trophischen Lateralsklerose, der verschiedenen Formen der pro¬
gressiven Muskelatrophien, der Friedreich sehen Ataxie, der
familiären Optikusatrophie ohne Grenzen ineinander übergehen.
Zwischenformen, welche nicht als typische Fälle dieser oder jener
Krankheit angesprochen werden können, beanspruchen als Binde¬
glieder der grossen Kette der vererbten Krankheiten besonderen
Wert. Die „Heredodegenerationen“ können alle einzelnen Gewebs-
arten des Körpers betreffen, so entsteht Muskelatrophie, Obesitas,
Achondroplasie, Osteodystrophie, Sehnervenatrophie usw. Die Intelli¬
genz dieser Kranken ist meistens gut erhalten. Die gemeinschaft¬
liche pathologisch-anatomische Grundlage dieser Krankheiten ist eine
fehlerhafte Entwicklung der erkrankten Organe. Diese verfallen im
Laufe der Zeit der einfachen Degeneration und zwar bei Mitgliedern
einer Familie beiläufig im selben Alter. Blutsverwandtschaft der
Eltern und grosser Altersunterschied der Eltern sind für die Ent¬
stehung der Krankheiten entschieden von Bedeutung.
F i s c h 1 e r - Heidelberg: Ein Beitrag zur Kenntnis der trau¬
matischen Konusläsionen.
Zwei Kranke, die beim Sturz auf die Füsse zu stehen kamen,
dann auf den Steiss fielen und nach vorne „zusammengestaucht“
wurden, boten, ohne dass es zu einem Wirbelsäulenbruch kam, das
typische Bild einer Konusaffektion. Diese Beobachtungen veranlassten
den Autor, aus der Literatur weitere Fälle, in denen traumatische
Konusläsionen ohne Verletzung der Wirbelsäule zustande gekommen
waren, zu sammeln. Auf Grund dieser Mitteilungen glaubt F. an¬
nehmen zu müssen, dass bei starker Abbiegung der Wirbelsäule, wie
sie das „Zusammenstauchen“ bedinge, die Nervenwurzeln der Cauda
equina eine Zugwirkung auf den Konus ausüben, die dort Zerreissungen
und sekundären Bluterguss bedingt. Bei schwereren Fällen führt,
wie Fischler auch aus der Literatur nachweisen kann, derselbe
Mechanismus zur Kompressionsfraktur des 1. Lendenwirbels.
11* September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1825
L. M i n o r - Moskau : Zur Patholgie des Epiconus inedullaris.
Als Epik onus bezeichnet der Autor den über dem Konus ge¬
legenen Rückenmarksabschnitt; er rechnet dazu die drei oberen
Sakralsegmente und das 5. Lumbalsegment. Die Erkrankung dieses
Rückenmarksteiles bietet ein bestimmtes klinisches Bild: Ausfalls¬
erscheinungen im Bereich des Plexus sacralis; besonders ist das vom
Nervus peroneus motorisch und sensibel versorgte Gebiet ergriffen.
Dabei bleiben die Patellarreflexe erhalten und wenn es sich um keine
Querschnittsläsion handelt (wie z. B. bei Poliomyelitis), bleibt auch
die Funktion der Sphinkteren, der Blase und des Mastdarmes intakt.
Drei Beobachtungen von Epikonusläsionen dienen dem Autor dazu,
um aus der Gruppierung der gelähmten Muskeln Schlüsse auf die
segmentäre Anordnung der Muskelkerne im Rückenmark zu ziehen.
L. R. M ü 1 1 e r - Augsburg: Ueber die Exstirpation der unteren
Hälfte des Rückenmarkes und deren Folgererscheinungen.
.. Die Herausnahme der kaudalen Hälfte der Medulla spinalis hat
natürlich völlige Lähmung der quergestreiften Muskeln der unteren
Körperhälfte und völliges Erlöschen der Hautsensibilität dort zur
Folge. Die vegetativen Funktionen bleiben aber erhalten, so ist
die Verdauung, die Harnbildung und auch die Geschlechtslust normal,
auch in der Ernährung der Haut und der Haare der anästhetischen
Partien ist kein Unterschied gegen die normal innervierte Haut¬
bedeckung festzustellen. Die Muskeln sind im Bereich der Lähmung
in besonders reiches Fettgewebe eingehüllt, sie selbst sind von so
hellgelber glänzender Farbe, so dass sie kaum von diesem unterschieden
werden können, auch mikroskopisch bestehen sie fast nur aus Fett¬
zellen; dort aber, wo Muskelzellen erhalten sind, kann noch Längs¬
und Querstreifung an ihnen nachgewiesen werden. Die Knochen der
gelähmten hinteren Extremitäten sind leichter und für Röntgenstrahlen
durchlässiger als die der vorderen. Der Schwund der Muskeln und
der Knochen ist nicht, wie das bisher angenommen worden ist, durch
trophische Störungen bedingt, sondern lediglich auf den Funktions¬
ausfall zurückzuführen.
Gr ob er- Jena: Zur Kasuistik der neuritischen Plexuslähmung
(Plexus brachialis).
Das hier besprochene komplizierte Krankheitsbild, welches mit
Schwindel, Kopfweh, Augenflimmern, Doppelbildern, Fazialiskrampf
und Fazialislähmung, einseitig verminderter Speichelsekretion und
Parese sämtlicher Muskeln, die vom linken Plexus brachialis versorgt
werden, einherging, konnte weder in Beziehung auf die Aetiologie,
noch auf die pathologische Anatomie geklärt werden. Die Lähmungs¬
erscheinungen des linken Armes glaubt Gr. auf eine Neuritis zurück¬
führen zu müssen.
Mingazzini und Ascenzi-Rom: Klinischer Beitrag zum
Studium der Hemiatrophie der Zunge supranuklearen Ursprungs.
Eine in der Kindheit erworbene Hemiplegie führte ausser zum
Schwund der Muskulatur der Extremitäten auch zu einseitiger
Zungenatrophie. Wenn auch der anatomische- Befund fehlt, so lässt
sich doch aus den klinischen Tatsachen die supranukleare Natur des
Zungenschwundes herleiten (der Herd ist im vorliegendem Falle in
das Centrum ovale zu verlegen). Die Art der Atrophie ist eine anders¬
artige als bei Erkrankungen der Medulla oblongata. Während bei den
bulbären Affektionen ebenso wie bei den radikulären Läsionen oder
bei den peripherischen Erkrankungen des Hypoglossus die Schleim¬
haut der Zunge infolge des Schwundes der Papillen glatt und glän¬
zend wird und die Oberfläche der Zunge von wellenförmigen Furchen
durchzogen ist, kommt es beim Zungenschwund supranuklearen Ur¬
sprungs lediglich zur einfachen Atrophie.
Bregmann - Warschau: Ueber eine diffuse Enzephalitis der
Brücke mit Ausgang in Heilung.
Gekreuzte Lähmung (Paralyse des linken Abduzens, des
linken Fazialis, Parese der rechtsseitigen Extremitäten) bei An¬
ästhesie der rechten Körperhälfte Hessen die Erkrankung in den
Pons verlegen. Erhöhung der Körpertemperatur und verhältnis¬
mässig rascher Nachlass der Ausfallserscheinungen machte es wahr¬
scheinlich, dass das eingehend geschilderte Krankheitbild durch einen
entzündlichen, der Rückbildung fähigen Prozess (Encephalitis pontis
non purulenta) bedingt war.
Friedmann - Mannheim : Ueber die nicht epileptischen Ab¬
senzen oder kurzen narkoleptischen Anfälle.
Bericht über kurze, eigentümliche Anfälle, welche dem Petit mal
der Epileptiker ähnlich sind, diesem aber weder symptomatisch ganz
gleichen, noch überhaupt mit der Epilepsie ätiologisch Zusammen¬
hängen. Es handelt sich um kurze Starrzustände mit Hemmung
des Denkens und Verlust der Herrschaft über Sprache und Glieder.
Meist tritt ein ganz kurzer Schlafzustand ein, weshalb Gelineau,
welcher als erster das Symptomenbild schilderte, dieses als Narko¬
lepsie bezeichnet hat. Die Bewusstseinstörung soll nur eine partielle
sein: die Willkür ist erlahmt, die Leute sind denkunfähig, doch bleiben
sie ihres Zustandes sich bewusst und behalten volle Erinnerungsfähig¬
keit an ihn. Friedmann bringt die Krankengeschichten von
11 solchen Beobachtungen. Ob es sich bei all diesen Kranken wirk¬
lich um ein von der Epilepsie und von der Hysterie scharf zu tren¬
nendes Leiden handelt, scheint dem Referenten fraglich. Die Schil¬
derungen stimmen auch nicht alle mit dem von Gelineau ge¬
schilderten Krankheitsbild überein und der Autor sieht sich selbst
veranlasst, dreierlei verschiedene Formen dieses Leidens aufzustellen.
L. R. Mülle r.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 36.
A. M a r m o r e k - Paris: Resorption toter Tuberkelbazillen.
Verfasser ist es, entgegen der herrschenden Anschauung, ge¬
lungen, abgetötete Tuberkelbazillen zur Resorption zu bringen und
die sonst regelmässige Bildung kalter Abszesse zu verhindern. Das
erste Erfordernis ist die Verwendung einer besonders feinen Emulsion
zur Injektion, ausserdem werden junge primitive Bazillen wesentlich
leichter resorbiert als die älteren; auch diese wurden, wenn nicht in
zu grossen Mengen injiziert, leicht resorbiert, bei gleichzeitiger In¬
jektion von Verfassers Antituberkuloseserum, welche auch die Re¬
sorption der jungen Bazillen ungemein erleichterte. Im allgemeinen
gelang die Resorption viel leichter bei Kaninchen als bei Meer¬
schweinchen.
R. Bing-Basel: Blutuntersuchungen an Nervenkranken.
Verfasser hat an einer Reihe von vasomotorischen, vor allem
traumatischen Neurasthenien der Oppenheim sehen Klinik unter
Vergleichung mit funktionellen Neurosen nicht vasomotorischer Art
Blutdruckmessungen mit dem Gaertner sehen Tonometer gemacht.
Ohne auf Einzelnes einzugehen, ist hervorzuheben, dass bei den vaso¬
motorischen, besonders traumatischen Neurosen sowohl der Blut¬
druck, als auch die Variabilität desselben an verschiedenen Tagen
wie auch seine Labilität bei Lagewechsel und Arbeitsleistung, end¬
lich der Trigeminusversuch besonders hohe Werte ergeben. In
dieser Steigerung aller Blutdrucksymptome liegt ein wertvolles objek¬
tives Moment für die Diagnostik, freilich wiesen die Fälle auch son¬
stige objektive Merkmale auf. Erwähnt seien noch 2 Fälle, wo die
Erhöhung des Blutdruckes beim Trigeminusreflex sich nur von dem
einen Nasenloch aus hervorrufen Hess.
E. D a v i d s o h n - Berlin : Erkrankung der Caruncula sub-
lingualis.
D. beschreibt hier einen Fall von entzündlicher Erkrankung der
Caruncula sublingualis, der dem von Heller in No. 30 publizierten
sehr ähnlich ist; dagegen fand sich für eine luetische Ursache der
Affektion, die nach mehrtägiger Behandlung (geringe Dosen grauer
Salbe) vollständig ausheilte, kein Anhaltspunkt. Vielleicht lag auch
in Hellers Fall nur eine einfache Entzündung vor.
W. Weichardt - Erlangen : Zur Serumbehandlung des Heu¬
fiebers.
W. erörtert den auffallenden Unterschied in den Berichten über
die Wirkungen des Graminol und des Pollantin. Die Erfahrungen
der Senator sehen Klinik sprechen übereinstimmend mit der Sta¬
tistik des Deutschen Heufieberbundes zugunsten des Graminols. Die
Herstellung des Heufieberserums durch Konzentrieren von Hemmungs¬
körpern des normalen Serums von Pflanzenfressern ist jedenfalls
der Injektion von Pollenaufschwemmungen vorzuziehen.
A. Keller- Magdeburg: Mehlkinder.
Zweck des Aufsatzes ist, auf die Schädlichkeit der länger fort¬
gesetzten milchfreien Mehlernährung der Säuglinge hinzuweisen.
Zur Bekämpfung der sommerlichen Diarrhöen wird oft die Milch¬
ernährung mit Erfolg durch Mehlabkochungen ersetzt, es aber unter¬
lassen, zur rechten Zeit zur Milch zurückzukehren. Erst allmählich
stellen sich dann nach scheinbarem gutem Gedeihen die bedrohlichen
Zeichen der Unterernährung ein, die durch das fast völlige Fehlen
der Fette und Salze bedingt wird. Der Arzt, welcher die Mehl¬
nahrung verordnet, soll darauf bedacht sein, dass sie nur vorüber¬
gehend durchgeführt und dem Säugling nicht schwere Schädigung zu¬
gefügt wird.
O. Rosenbach: Genügt die moderne Diagnose syphilitischer
Erkrankung wissenschaftlichen Forderungen? (Schluss.)
Verfasser verneint die Frage, indem er an der Hand von Bei¬
spielen jüngster Publikation lebhaft die Leichtigkeit kritisiert, mit
der gegenwärtig häufig nur auf Grund einzelner Symptome und bei
oft völlig negativer Anamnese die Diagnose Lues ausgesprochen und
zur Grundlage ätiologischer Deduktionen und therapeutischer Ein¬
griffe gemacht wird. Bei der Suche nach dem Erreger der Syphilis
wird oft der Fehler gemacht, dass der Erreger überhaupt nur in Ge¬
weben gesucht werde, die von vornherein als syphilitisch angesehen
werden und dann der positive Befund wiederum als Stütze für die
Diagnose Lues gelten muss. Voraussetzung wäre überhaupt vor
allem eine genaue Feststellung, inwieweit die betreffenden Mikro¬
organismen auch bei anderartigen Affektionen angetroffen werden.
B e r g e a t.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 35.
1) F o r 1 a n i n i - Pavia : Zur Behandlung der Lungenschwind¬
sucht durch künstlich erzeugten Pneumothorax.
F, berichtet über Erfolge seiner seit 14 Jahren geübten Methode.
Erzeugt man durch Stickstoffeinblasungen allmählich einen Pneumo¬
thorax, den man auch weiterhin konstant erhält, so heilt die immo¬
bilisierte Lunge, verwandelt sich in derbes Narbengewebe mit abge¬
kapselten Käseherden, Auswurf und Fieber verschwinden, die Lei¬
stungsfähigkeit des Körpers nimmt zu; die Behandlung dauert ca.
8 Monate.
2) Ru ge -Kiel: Die Malaria-Moskito-Lehre und die epidemio¬
logische Malariakurve.
Kurven, welche Neuerkrankungen und Rückfälle in willkürlicher
Weise von einander trennen, sind nicht verwertbar gegen die An¬
nahme einer Uebertragung ausschliesslich durch Stechmücken.
iö2b
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No.'37.
3) H e 1 s i n g i u s - Kiew: Zur Frage der Ley de rischen Hc-
rnisystolie.
Bei 2 Fällen sprachen die Sphygmogramme, welche deutlich den
Uebergang von ausgesprochenen zweiten Wellen bis zu deren völ¬
ligem Verschwinden zeigten, im Sinne der R i e g e 1 sehen Bigeminie
und gegen die Leyden sehe Hemisystolie.
-4) H a m d i - Konstantinopel: Eine seltene Aortenanomalie.
Verdoppelung des Bogens. Der vordere gibt die linken, der
hintere die rechtsseitigen Aeste ab; zwischen beiden Bögen treten
Trachea und Oesophagus durch.
5) W. Mühsam- Berlin: Augenrnuskellähmung nach Rücken-
marksanästhesie.
2 Fälle von rechtsseitiger Abduzenslähmung, welche erst am
3. bezw. 10. Tag nach der Injektion (0,15 Novokain mit Adrenalin —
bezw. 0,08 Stovain mit Suprarenin) auftrat und schnell vorüberging.
6) Heinr. L a n g - Hamburg: Lähmungen nach Lumbalanästhesie
mit Novokain und Stovain.
2 Fälle, Auftreten am 11. Tag nach der Injektion von 3 ccm
5 proz. Novokain-Suprareninlösung, nach 10 Tagen allmähliche Rück¬
bildung.
7) H e i 1 e - Wiesbaden : Bemerkungen zur praktischen Anwen¬
dung des Isoforms.
Das Mittel ist stark antiseptisch, eignet sich vor allem für in¬
fizierte, stark eiternde Wunden, ist ungiftig, reizt die intakte Haut
nicht, ätzt frische Wunden leicht, kann aber entsprechend verdünnt
werden.
8) O. M e n d e 1 s s o h n - Berlin: Zur Frage der Glykosurie bei
Quecksilberkuren.
M. misst dem seltenen Vorkommen von Zucker keine praktische
Bedeutung bei. Ein besonders toxisches Hg-Präparat könne viel¬
leicht durch Nierenschädigung Glykosurie erzeugen, ebenso wie man
bisweilen Albumen beobachtet.
9) Herrn. Cohn-Berlin: Ein Fall von Tracheostenose und plötz¬
lichem Tode durch Thymusschwellung.
8 monatiges Kind, hypertrophische vereiterte Thymus drückte
auf Trachea und Gefässe.
10) O. R e u n e r t - Hamburg: Erstickungstod durch eine seque¬
strierte Bronchialdrüse.
Bei dem erstickten Knaben fand sich dicht unterhalb des Ring¬
knorpels der käsige PropF im rechten Hauptbronchus die Perforation.
11) G. S t e i n i t z - Berlin: Ein Fall von Tetanus puerperalis.
Die Frau, welche mit Gartenarbeiten sich beschäftigte, hatte sich
nach einem Abortus vaginale Spülungen gemacht, schon 9 Tage
später Kieferklemme, Tod nach 5 Tagen, trotz Tetanusantitoxin.
12) H. S t e i n h e i 1 - Stuttgart: Ausgebreitete Keloidbildung nach
Verbrennung. •
3jähr. Knabe, Verbrühung, nach 1 Jahr hochgradige Keloide
(abgebildet). R. G r a s h e y - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 35. V. R o s c u 1 e t - Jassy : Die Aetiologie und die ätio¬
logische Therapie der epidemischen Dysenterie in Rumänien.
Bei den fast regelmässig im Spätsommer auftretenden Dysenterie¬
epidemien hat Verfasser sehr häufig den Bazillus Shiga-Kruse nach¬
gewiesen, bisher aber noch nie den F 1 e x n e r sehen Bazillus ge¬
funden, ohne die Möglichkeit seines Vorkommens zu leugnen. Von
besonderer Bedeutung sind die sehr günstigen Erfolge der Therapie
mit einem Wiener Serum, das durch Immunisierung von Pferden mit I
Kulturen genannter Bazillen gewonnen wird. 47 Fälle, welche teils !
mit, teils ohne gleichzeitige innere oder diätetische Verordnung mit
diesem Serum behandelt wurden, genasen vollständig, während die
gleichzeitig ohne Serum behandelten Kranken 7,4 Proz. Mortalität
hatten. Die Wirkung bestand in baldigem Verschwinden der
Schmerzen und des Tenesmus, rascher Besserung des Allgemein¬
zustandes und der Diarrhöen, Verkürzung der Krankheitszeit minde¬
stens um ein Drittel. Die an 18 Personen gemachten Präventivinjek¬
tionen hatten zur Folge, dass keine derselben an Dysenterie erkrankte.
N. Jagic-Wien: Klinische Beiträge zur Aetiologie und Patho¬
genese der Leberzirrhose.
Verfasser skizziert zunächst 17 Fälle von Leberzirrhose bei
starken Alkoholikern und betont dabei das fast ausnahmslose Auf¬
treten von Ikterus und von krampfartigen Schmerzen in der Leber¬
gegend, Symptome, die für die von Naunyn hervorgehobene Be¬
deutung der komplizierenden Cholangitis sprechen. Vielleicht kommt
einer Infektion der Gallenwege von dem Magendarmkanal aus gerade
bei der Trinkerzirrhose eine gewisse nicht nur komplizierende, son¬
dern ätiologische Bedeutung zu. Im Gegensatz hierzu besteht die bei
Tuberkulose (5 Krankengeschichten) beobachtete Zirrhose der Leber,
welche wohl als Teilerscheinung der Tuberkulose gelten muss; in
allen hier beschriebenen Fällen fehlte sowohl der Ikterus als die
Leberschmerzen.- Ausnahmsweise können hier auch diese Erschei¬
nungen sekundär auftreten. Neben dieser echten Leberzirrhose bei
Tuberkulose gibt es noch Fälle von interstitieller Hepatitis, wo zahl¬
reiche tuberkulöse Herde die Leber durchsetzen.
L. Telcky: Ein Beitrag zur Kenntnis der Verbreitung der
Phosphornekrose.
Um ein richtiges Bild über die Verbreitung der Phosphornekrose
zu gewinnen, hat Verfasser einen der Industriebezirke Böhmens be¬
reist und seine Erhebungen persönlich unter den Arbeitern angestellt.
Dabei fand er eine etwa dreimal so grosse Zahl von Krankheits¬
fällen als die offiziellen Berichte auswiesen und, was auch die Be¬
richte der Inspektoren immer betonen, eine durchwegs ganz un¬
genügende Beachtung der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen.
Auf Näheres kann hier nicht eingegangen werden. Verfasser kommt
zu der Forderung eines Verbotes der Verwendung von gelbem Phos¬
phor zur Zündholzfabrikation, wie solches bereits in anderen Staaten
durchgeführt oder vorgesehen ist.
No. 32 — 35. M. Oppenheim - Wien: Der gegenwärtige Stand
der Syphilistherapie.
Uebersicht über alle therapeutischen Bestrebungen mit An¬
führung zahlreicher Auszüge aus der Literatur der letzten Jahre.
Die Quecksilbertherapie (Injektion schwerlöslicher Verbindungen und
Inunktion) und das Jodkali stehen bis auf weiteres noch vollständig
in ihrem alten Rechte. B e r g e a t.
Russische Literatur.
A. Schmidt: Ueber ein für periphere Nerven toxisches
Serum. (Medizinskoje Obosrenije 1906, No. 3.)
Dem Autor gelang es, ein für periphere Nerven und zwar für
Myelinfasern toxisches Serum herzustellen. Als Versuchstiere
dienten ihm Frösche; eine Emulsion aus deren Nn. ischiadici wurde
3 Meerschweinchen 6— 8 mal intraperitoneal injiziert. Die Injektionen
wurden in Zwischenräumen von 7 — 9 Tagen ausgeführt, das Blut etwa
eine Woche nach der letzten Injektion entnommen. Das gewonnene
Serum wurde nun Fröschen (von 18 — 25 g Gewicht) teils subkutan,
teil intramuskulär eingespritzt. Die Versuche ergaben, dass in dem
Serum Stoffe enthalten waren, welche auf die peripheren Nerven des
Frosches eine zerstörende Wirkung ausübten. Diese Wirkung
äus"Serte sich sowohl physiologisch — durch Störung und Aufhebung
der normalen Bewegungsfunktionen, wie auch anatomisch — durch
tiefgreifende Veränderungen in der Myelinhülle, Kernwucherung in der
Sch wann sehen Scheide und durch Zerfall des Achsenzylinders in
einzelne Segmente. Ausser den bezeichneten toxischen Eigenschaften
besitzt das Serum die Fähigkeit, eine Emulsion von peripheren
Froschnerven zu agglutinieren. Ferner ist das gewonnene Serum
nicht nur neurotoxisch, sondern auch schwach hämolytisch, wobei
jedoch, wie Kontrollversuche lehrten, diese letztere Eigenschaft beim
Zustandekommen der genannten pathologischen Erscheinungen nicht
die geringste Rolle spielt. Schliesslich konnte festgestellt werden,
dass einige Zeit nach Einspritzung der Emulsion von peripheren
Nerven in die Kaninchenbauchhöhle keine Myelinpartikelchen mehr
in freiem Zustande aufzufinden sind: alle sind sie von den Leuko¬
zyten aufgenommen.
A. Lapschin: Ueber die Krankenhausbehandlung Schwind¬
süchtiger. (Medizinskoje Obosrenije 1906, No. 6.)
Lapschin, Leiter der inneren Abteilung am Alten Katha¬
rinenhospital in Moskau, tritt sehr warm für die Einrichtung spe¬
zieller, reichlich mit Licht und Luft versorgter Isolierabteilungen für
Tuberkulöse an den allgemeinen Krankenhäusern ein. Sogar in dem
Alten Katharinenhospital, in welchem sämtliche Vorbedingungen für
die strikte Durchführung der physikalisch-diätetischen Tuberkulose¬
behandlung gänzlich fehlen, in welchem die hygienischen Verhält¬
nisse kaum den bescheidensten Anforderungen genügen, ist es dem
Verfasser durch ein systematisches, konsequentes, die verschieden¬
sten Behandlungsmethoden kombinierendes Vorgehen geglückt, eine
Reihe von Schwindsuchtsfällen der Heilung entgegenzuführen. Zum
Beweise dafür, dass auch in den allgemeinen Krankenhäusern bei
zweckmässigem und zielbewusstem Vorgehen Lungentuberkulose
auslieilen kann, führt Autor 5 Krankengeschichten an. Die Behand¬
lung in diesen Fällen bestand: in dauernder Darreichung von Nux
vomica bei Appetitmangel und schwacher Magentätigkeit, in lang¬
anhaltender Zufuhr von Leberthran bei ungenügendem Fettgehalt der
Krankenhauskost, in der Verschreibung von allen möglichen Deri-
vantien und Anästheticis bei Brust- oder Riickenschmerzen, in täg¬
lichen Abreibungen oder Bädern behufs Hautpflege, in Darreichung
von rohem Fleisch und Fleischsaft und in subkutanen Injektionen von
Natrium cacodylicum. Die Erfolge waren überraschend gut; noch
besser würden sie natürlich in besonderen Isolierabteilungen bei
gleichzeitiger ausgedehnterer Anwendung der physikalisch-diä¬
tetischen Heilmethode sein.
N. Pereschiwkin: Ueber Peripleuritis. (Russky Wratsch
1906, No. 1.)
In der chirurgischen Hospitalklinik der militär-medizinischen
Akademie zu St. Petersburg beobachtete der Autor im Laufe des
vorigen Jahres 3 Fälle von peripleuritischem Abszess, auf Grund
welcher er zu folgenden Schlüssen kommt. Die Entstehung und Aus¬
breitung der peripleuritischen Abszesse, der sog. Abszesse der
Fascia endothoracica — „abszedierende Peripleuritis“ der älteren
Autoren — ist zurückzuführen auf eine entzündliche Infil¬
tration der interkostalen Lymphdrüsen und den kon¬
sekutiven eitrigen Zerfall der umgebenden Gewebe (Mm. intercostales
interni, Fascia endothoracica), weswegen auch der eitrige Prozess
unmittelbar über der Pleura costalis konzentriert ist. Da der primäre
Herd der sog. Peripleuritis .in den interkostalen und peripleuralen
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Lyrnphdriiscn belegen ist, so ist cs auch leicht erklärlich, warum bei
Ausbreitung des Prozesses per continuitatem in dem umgebenden Ge¬
webe der Abszess nicht durch die Pleura costalis durchbricht, son¬
dern der Eiter sich durch die Fascia endothoracica und die inneren
Interkostalmuskeln in das Unterhautzellgewebe einen Weg bahnt.
Was nun die Pathogenese des peripleuritischen Abszesses betrifft, so
ist sein Entstehen am einfachsten durch Metastase einer tuber¬
kulösen Infektion, am häufigsten von den Lungen her, zu erklären.
In 2 Fällen des Autors handelte es sich um eine primäre tuberkulöse
Affektion der Lungenspitzen, welcher sich nach Verlauf einer gewissen
Zeit die Bildung von Abszessen in der Brustwand anschloss. Der bei
der Operation entleerte Eiter besass alle Eigenschaften und Charak¬
tere der tuberkulösen Zerfallsprodukte. Die Behandlung der Peri¬
pleuritis soll in einem möglichst frühzeitigen chirurgischen Eingriff
bestehen, nötigenfalls mit Resektion einer oder mehrerer Rippen.
Bei chirurgischem Vorgehen ist die Prognose eine günstige. Die
Diagnose ist eine recht schwierige, besonders schwer ist die Peri¬
pleuritis von Rippenkaries zu unterscheiden.
Th. Rybakow: Geistesstörungen im Gefolge der gegenwärti¬
gen politischen Vorgänge. (Russky Wratsch 1906, No. 3.)
Th. Rybakow: Geistesstörungen im Gefolge der letzten poli¬
tischen Ereignisse. (Ibidem, 1906, No. 8).
N. Skliar: Ueber den Einfluss der gegenwärtigen politischen
Vorgänge auf psychische Erkrankungen. (Ibidem, 1906, No. 8.)
Bereits Ende vorigen Jahres hatte Privatdozent Rybakow
aus der Moskauer psychiatrischen Klinik mehrere Beobachtungen über
psychische Erkrankungen veröffentlicht, welche mit diesen oder jenen
Vorgängen im gegenwärtigen politischen Leben Russlands in unmittel¬
barem Zusammenhänge standen, wobei diesen Geistesstörungen fol¬
gende gemeinsame Merkmale zukamen: 1. Neigung zum paranoialen
Typus; wenn auch die Krankheit nicht immer den Charakter einer
typischen Paranoia trug, so konnte doch in deren Gesamtbilde ein
mehr minder scharf ausgeprägtes paranoiales Element (Vesania me-
lancholica, Vesania maniacalis) konstatiert werden, wobei unter den
Wahnvorstellungen, wenigstens zu Beginn der Erkrankung, im Zu¬
sammenhänge mit den sich abspielenden politischen Ereignissen
stehende Verfolgungsideen, wie Gewärtigung von Krawallen, Gewalt¬
tätigkeiten, Verfolgung seitens der „schwarzen Bande“, der Streiken¬
den, seitens Kosaken u. a. vorherrschten; 2. schneller Beginn und
rasche Entwicklung der Krankheit; 3. ein deutlich ausgesprochenes
Element psychischer Depression, sowie der Angst, Aufregung und
Erwartung, dass etwas Entsetzliches ausbrechen würde; 4. zahlreiche
halluzinatorische und besonders Illusionserscheinungen und 5. Wech¬
sel des Krankheitsbildes und Veränderlichkeit der Wahnideen. In
der in der Ueberschrift zuerst genannten Arbeit teilt nun R y b a k o.w
5 weitere Fälle von Geistesstörung mit, deren vornehmste und ein¬
zige auslösende Ursache in den in Russland sich abspielenden poli¬
tischen Vorgängen zu erblicken ist. In sämtlichen Fällen war die Er¬
krankung zum ersten Male bei dem betreffenden Individuum auf¬
getreten; in sämtlichen Fällen war eine Neigung des Krankheitsbildes
zum paranoialen Typus (Verfolgungswahn) bemerkbar; stets wurden
mit den politisch-sozialen Verhältnissen im engsten Zusammenhang
stehende Wahnideen und Halluzinationen (Ausstände, Spitzel, Sozial¬
demokraten, Maschinengeschütze, Schreie und Drohungen seitens der
Volksmenge u. dergl.) beobachtet; in fast sämtlichen Fällen war das
Element des Entsetzens und der Angst, in der Mehrzahl von ihnen
auch das der psychischen Depression deutlich ausgeprägt. Alle diese
Erscheinungen finden, wie der Autor ausführt, in der ausschliesslichen
Besonderheit des psychischen Traumas ihre ausreichende Erklärung.
Früher war der Verfasser auf Grund seiner ersten Beobachtungen
geneigt anzunehmen, dass dieses psychische Trauma bei genügender
Intensität schon an und für sich ausreichen könnte, auch gesunde
Personen aus dem geistigen Gleichgewicht zu bringen. Die Annahme
stützte sich auf die Tatsache, dass von den 7 zuerst beobachteten
Fällen bei 3 keinerlei Hinweise auf hereditäre Belastung zu eruieren
waren. Die 5 in der Folge behandelten Fälle waren jedoch sämtlich
erblich belastet, was dem Verfasser Anlass gibt, seine Ansicht dahin
zu modifizieren, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die
im Gefolge und unter der Einwirkung politischer Ereignisse auf¬
tretende Geistesstörung sich nur bei solchen Personen entwickelt,
welche vom Hause aus für psychische Erkrankungen prädisponiert
oder bereits ein wenig psychopathisch sind. In dem zweiten Aufsatze
teilt R y b a k o w mit, dass von seinen 12 Patienten 8 völlig ge¬
nesen sind.
Skliar hat in der Kolonie für Geisteskranke Buraschewo bei
Twer ebenfalls 4 Fälle von psychischer Erkrankung im Anschluss an
die politischen Vorgänge des letzten Halbjahrs beobachtet. Er be¬
streitet es jedoch auf das entschiedenste, dass die Ereignisse auf
politischem oder sozialem Gebiet die vornehmste oder gar einzige aus¬
lösende Ursache von Geistesstörungen abgeben .könnten. Stets
müsse erbliche Belastung, entsprechende Veranlagung hinzukommen.
Das von Rybakow beschriebene Krankheitsbild trage nichts
charakteristisches an sich, und es liege keine Veranlassung vor, diese
Psychose in eine besondere Form auszuscheiden, ln der Mehrzahl
ler Fälle handele es sich um eine gewöhnliche Dementia praecox oder
katatonische Amentia.
J. Zelenkowsky: Ueber die Anwendung von Becquerel¬
strahlen (Radium) bei der Behandlung von Augenkrankheiten. Be-
1827
Handlung der granulösen Form des Trachoms. (Russky Wratsch 1906,
No. 7—9.)
K. Kardo-Ssyssojew: Radium bei verschiedenen Trachom¬
formen. (Ibidem, 1906, No. 20.)
Nach zahlreichen Versuchen an Tieren, sowie teilweise an den
Augen gesunder Personen (auch am eigenen Auge) trat Zelen¬
kowsky in der ophthalmologischen Hospitalklinik des Prof. L. Bel¬
li a r m i n o w an der militär-medizinischen Akademie an die Behand¬
lung der granulösen Form des Trachoms mit Radium heran. Sein
Material umfasst 25 Fälle, auf Grund deren er zu folgenden Schlüssen
kommt. Die Belichtung der Schleimhaut der umgestülpten Augen¬
lider durch höchstens 10 mg Radium im Laufe von höchstens 10 Minu¬
ten für jedes Augenlid und mit Intervallen von 2 — 3 Tagen zwischen
den einzelnen Sitzungen bietet für den menschlichen Augapfel im all¬
gemeinen und für die Schleimhaut selbst im besonderen keinerlei Ge¬
fahr dar. Im Gegenteil, das Radium repräsentiert ein sehr wirk¬
sames Heilmittel bei der granulösen Form des Trachoms, die ohne
hochgradige katarrhalische Erscheinungen einhergeht. Die Körner
schwinden, ohne Narben oder sonstige pathologische Veränderungen
in der Schleimhaut zu hinterlassen und ohne dass sich Rezidive ein¬
stellen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Becquerelstrahlen
sich auch bei der narbigen Form des Trachoms als nutzbringend er¬
weisen werden, und zwar durch ihre Beeinflussung der allgemeinen
Infiltration der Schleimhaut. So viel steht jedoch bereits jetzt fest,
dass bei der granulösen Form das Radium den üblichen Behandlungs¬
methoden nicht nur nicht nachsteht, sondern ihnen überlegen ist.
Kardo-Ssyssojew setzte die Untersuchungen Zelen-
kowskys fort und dehnte sie auch auf die übrigen Formen des
Trachoms, die mit reichlichem Sekret, mit Narbenbildung, mit Infil¬
tration der Lidknorpel, mit Pannus usw. einhergehen, aus. Der
Radiumbehandlung wurden 38 Patienten unterzogen. Die Sitzungen
wurden nicht häufiger als einmal wöchentlich wiederholt, ihre Dauer
betrug 5 — 8 Minuten. Auf Narben übte das Radium nicht die ge¬
ringste Wirkung aus. In sämtlichen Fällen hingegen ohne Ausnahme
konnte eine unbedingt günstige Wirkung desselben sowohl auf die
Körner, als auch auf die papillären Wucherungen und die diffuse In¬
filtration beobachtet werden. Besonders deutlich trat der Heileffekt
zutage bei starkem Pannus mit hochgradigen Reizerscheinungen; hier
war bereits am Tage nach der ersten Belichtung eine erhebliche
Besserung zu bemerken, welche in rasche Genesung überging.
M. Mühl mann: Ueber Syphilisbakterien. (Russky Wratsch
1906. No. 7.)
Zunächst teilt Verfasser das Ergebnis seiner Untersuchungen
über das Vorkommen der Spirochaete pallida mit. Zur Untersuchung
gelangten die Krankheitsprodukte von 28 Patienten, von denen bei
2-4 sekundäre Lues diagnostiziert werden konnte, bei 4 hingegen Ver¬
dacht auf Lues vorlag. Als Untersuchungsmaterial dienten Roseolen,
Papeln, breite Kondylome. Ferner wurde in sämtlichen Fällen das
Gewebe vergrösserter Inguinaldrüsen untersucht, welches vermittels
einer sterilisierten 10-g-Spritze mit weiter Kanüle angesaugt wurde.
Schliesslich wurde noch in mehreren Fällen Blut der Fingerbeere
entnommen. Im ganzen durchmusterte der Autor auf das allersorg¬
fältigste mehr als 400 Präparate. Das Ergebnis war allerdings ein
recht geringfügiges: von 24 Fällen unzweifelhafter Syphilis wurde
die Spirochaete pallida bloss in 5 gefunden, am allerhäufigsten in
bi eiten Kondylomen, während sie im Blute kein einziges Mal gesehen
wurde Dagegen lenkt M ii h 1 m a n n die Aufmerksamkeit auf eine
andere Erscheinung, welche er in Präparaten aus syphilitischem Ma¬
terial bereits seit langem zu konstatieren Gelegenheit hatte. In Prä¬
paraten aus luetischen Papeln, Kondylomen, Geschwüren und Bu¬
bonen, die in frischem Zustande zur Untersuchung gelangen, werden
nämlich glänzende Gebilde von runder, ei-, birnen- oder kegelförmiger
Gestalt und geringer Grösse (etwa 2 — 3 F im grössten Durchmesser)
angetroffen, welche sich durch aussergewöhnliche Beweglichkeit aus¬
zeichnen. Die Gebilde sind äusserst polymorph, ihr Körper kontrak¬
til. Sie besitzen eine dünne Geissei, welche ebenso lang ist, wie der
Körper selbst. Die bezeichneten Gebilde sind sehr schwer färbbar;
am zweckmässigsten erwies sich die Sporenfärbung nach Büchner,
wobei sie sich nach Vorbehandlung mit Schwefelsäure prächtig mit
Karbolfuchsin färbten. Sie werden sowohl in freiem Zustand, als auch
intrazellulär in Epithel-, Rund- wie Lymphzellen angetroffen. In
2 Fallen (Präparate aus Bubonen) befanden sie sich innerhalb grosser
amöboider Zellen. Mühl mann ist der Ueberzeugung, dass diese
eigentümlichen Gebilde weder mit dem von . K 1 e b s zuerst be¬
obachteten, in der Folge von Döhle genauer beschriebenen Mikro¬
organismus, noch mit dem Cytorrhyctes luis Siegel identisch seien;
alles spreche dafür, dass es sich hier um eine Art Zoosporen mit
Amöbosporidien handle.
W. Tomaschewsky: Ueber die Behandlung akuter infek¬
tiöser chirurgischer Erkrankungen mit Stauungshyperämie. (Russky
Wratsch 1906, No, 12.)
In der I. chirurgischen Klinik der militär-medizinischen Akademie
(Direktor: Prof. N. Weljaminow) behandelte der Autor ins¬
gesamt 65 Fälle mit Stauungshyperämie nach Bier, und zwar
22 Fälle von Furunkel, 2 von Karbunkel, 14 von Abszessen und Lymph¬
adenitis verschiedenen Ursprungs, 15 von Phlegmone, 5 von Mastitis,
5 von Panaritium, 1 von Geschwür der Oberlippe und 1 von Fistel
nach Schussverletzung des Fingers. Die Ergebnisse waren durchaus
1828
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37
zufriedenstellende. Verfasser hebt die schmerzlindernde oder sogar
schmerzstillende, sodann die bakterientötende, resorptionsbeför¬
dernde. lösende und verflüssigende Wirkung der neuen Behandlungs¬
methode hervor, welche auch die Ernährungsverhältnisse in den Ge¬
weben erheblich bessert.
J. Fedulow: Die chemische Natur des Hefeenzyms. Die En-
zynibehandlung des Erysipels. (Wratschebnaja Gaseta 1906, No. 9.)
Eingangs seiner Arbeit beschreibt Fedulow die Einwirkung
des von ihm in chemisch reiner Form dargestellten Hefeenzyms auf
Typhusbazillen im hängenden Tropfen. Diese Wirkung äussert sich
hauptsächlich darin, dass die Bazillen sowohl ihre Vermehrungs- als
auch Bewegungsfähigkeit einbiissen und der Involution unterliegen.
Was die chemische Natur des Hefeenzyms anlangt, so gelang es dem
Verfasser nachzuweisen, dass dasselbe aus Nuklein besteht, wobei er
cs für ausgemacht hält, dass dieses Nuklein mit der Metschni-
k o w sehen Mikrozytase, dem Büchner sehen Alexin oder dem
Ehrlich sehen Komplement völlig identisch ist. Ferner führt der
Autor 8 weitere Fälle von Gelenkrheumatismus an, welche er erfolg¬
reich mit subkutanen Injektionen von Hefeenzym behandelt hat, und
beschreibt schliesslich 12 Fälle von Erysipel, in welchen dieselbe Be¬
handlung ganz vorzügliche Resultate aufzuweisen hatte. Von diesen
12 Fällen schwand das Erysipel in 8 nach einer einzigen Einspritzung
von 0,06 Enzym, wobei der gesamte Prozess, wie Röte, erhöhte
Temperatur, gesteigerte Pulsfrequenz usw., bereits 24 Stunden nach
der Injektion seinen Abschluss fand. In mehreren von den bezeich-
neten Fällen war ein Erfolg bereits nach 12 Stunden zu verzeichnen;
die Temperatur stieg Abends lange nicht so hoch wie am Abend vor¬
her, der Schüttelfrost blieb aus, der Allgemeinzustand hatte sich
sichtlich gebessert. In 2 Fällen schwand das Erysipel erst nach zwei
Injektionen. In den beiden übrigen Fällen hatte das Erysipel eine
Lungentuberkulose kompliziert. Stets wurde das Allgemeinbefinden
bereits durch die erste Injektion bedeutend gebessert, nach 24, höch¬
stens 36 Stunden stellte sich guter Appetit ein. Abszesse als Folge
der Enzymeinspritzungen wurden bei keinem einzigen Kranken be¬
obachtet.
S. Zlatogorow: lieber Streptokokkenvakzine bei Scharlach.
(Wratschebnaja Gaseta. 1906, No. 12.)
Vor etwa einem Jahre empfahl Prof. G. Gabriczewsky,
Leiter des Moskauer bakteriologischen Institutes, die Anwendung
einer von ihm dargestellten .Streptokokkenvakzine gegen die Strepto-
kokkenseptikämie bei Scharlach. Im Petersburger städtischen Kinder¬
krankenhause unternahm es nun Privatdozent S. Zlatogorow,
die Frage der Lösung näher zu bringen, inwieweit die Streptokokken¬
vakzine prophylaktische Eigenschaften in bezug auf den Scharlach
besitzt, und vor allem zu eruieren, ob sie innerhalb des Kranken¬
hauses die Pfleglinge vor Scharlachinfektionen zu schlitzen vermag.
Die Beobachtungen wurden in verschiedenen Abteilungen des Kran¬
kenhauses angestellt: in der infektiösen (an 425 Kindern), der innern
(an 18). der chirurgischen (an 59) und ausserhalb der Krankensäle
in den Wohnräumen des Pflegepersonals (an 28 Personen); ins¬
gesamt wurden 530 Personen geimpft. Sobald bei irgend einem der
Pfleglinge in der inneren oder chirurgischen Abteilung Scharlach auf¬
trat, wurden nach Ueberführung des Erkrankten in die infektiöse Ab¬
teilung sämtlichen in demselben Sale befindlichen Kindern subkutane
Injektionen der Vakzine gemacht. Ebenso verfuhr man in den Wohn¬
räumen des Pflegepersonals. Was nun die infektiöse Abteilung be¬
trifft, so wurde angesichts der Häufigkeit von konsekutivem Scharlach
bei Diphtheriekranken beschlossen, sämtliche in die Diphtheriestation
eingelieferten Kranken zu vakzinieren. Die Vakzine wurde unter die
Haut des Oberschenkels in einer Menge von 0,2 bis 0,6 ccm (je nach
dem Alter) appliziert. Nach einer Woche folgte eine zweite Impfung
unter die Haut des anderen Oberschenkels in einer um das anderthalb¬
fache grösseren Dosis. Die zweite Impfung gelang es jedoch lange
nicht in allen Fällen auszuführen. Die durch die Streptokokkenvakzine
hervorgerufene Reaktion ist als eine recht geringfügige zu be¬
zeichnen. An der Einstichstelle beginnt nach 4 — 8 Stunden ein dumpfer
Schmerz, welcher 12 — 24 — 48 Stunden anhält. In 10 Proz. der Fälle
wurde völliges Fehlen von Schmerzhaftigkeit und sonstigen lokalen Er¬
scheinungen beobachtet. In der Mehrzahl der Fälle hingegen trat
an der Injektionsstelle nach 14 — 18 Stunden eine zirkumskripte Röte
und eine leicht schmerzhafte, geringe Schwellung auf, welche Er¬
scheinungen in 24 — 48 Stunden zu verschwinden pflegten. Verhältnis¬
mässig selten, etwa in 12 Proz., war die örtliche Reaktion eine
erheblichere. 7 Male (1,3 Proz.) waren Abszesse am Orte der Ein¬
spritzung zu vermerken. Eine Allgemeinreaktion (Temperatur¬
steigerung von kurzer Dauer) stellte sich in 10,4 Proz. der Fälle ein.
Die Ergebnisse gestalteten sich folgendermassen.
In den Wohnräumen des Pflegepersonals traten kurz nach¬
einander zwei Scharlachfälle auf; 28 Kinder wurden je einmal geimpft;
keines erkrankte. Auf der inneren Station ereigneten sich
in verschiedenen Sälen zu verschiedenen Zeiten Scharlacherkran¬
kungen; dreimal nahm der Autor zu Vakzinationen seine Zuflucht,
wobei von den geimpften Kindern keines erkrankte. Auf der
chirurgischen Station hatten zwei Beobachtungen das gleiche Re¬
sultat : von den geimpften erkrankte niemand. Auf der Station
für Infektionskranke wurden bloss Diphtheriekinder vakziniert. Hier
trat bei einer gewissen Anzahl von Kranken einen Tag und mehr
nach der Impfung am ganzen Körper ein punktförmiges erythema-
töses Exanthem auf, welches dem Scharlachausschlag ausserordentlicl
glich; gleichzeitig damit stellte sich eine katarrhalische Angina ein
wobei die Temperatur häufig gar nicht stieg oder sich 1 — 2 Tage lang
in niedrigen Grenzen hielt. In vielen Fällen verschwand das Exan¬
them bereits nach 24 — 48 Stunden. Im ganzen wiesen von 425 ge¬
impften Diphthereikindern 62 (14 Proz.) Scharlachausschläge auf, voi
denen 10 (16 Proz.) starben. Heber die Ursache dieser Erscheinung
vermag der Autor kein abschliessendes Urteil zu fällen.
M. Lion: Zur Behandlung der Epilepsie. (Prakticzesky Wratscl
1906, No. 7—9.)
Die Behandlungsmethode Lions, welche er auf das ange
legentlichste empfiehlt und als seine eigene betrachtet, besteht ii
einer Kombination von Zerebrinum-Poehl, geregelter Diät und even¬
tueller Darreichung von Bromnatrium. Das Zerebrin wird entwedei
in Form von Tabletten zu je 0,2 und 0,3, in Pulverform für Klysmei
oder als physiologische sterilisierte 2 prozentige Lösung für sub¬
kutane Injektionen in Ampullen verordnet. Die Regelung der Diä'
beschränkt sich auf die Entziehung von Kochsalz und Fleisch bis
zur eingetretenen Besserung. Das Natriumbromid gelangt nur ir
dringenden Fällen zur Anwendung, sonst wird es bloss in ganz mini¬
malen Dosen verabreicht und schliesslich ganz ausgesetzt. Der Vert
teilt die Krankengeschichten von 20 nach dieser Methode behandelter
Epileptikern mit, von denen 18 völlig genasen, 1 der Genesung ent¬
gegengeht und 1 sich ganz bedeutend gebessert hat. Der Autoi
sucht seine Methode theoretisch zu begründen.
A. Dworetzky- Moskau.
Inauguraldissertationen.
Universität Freiburg. August 1906.
40. Günther Johannes Peters: Ueber spontanen Geburtsverlauf be
verengtem Becken.
4L Henes Carl: Das pathologische Lügen der Hysterischen.
42. Frischbier Gerhard: Der Einfluss von Schwangerschaft, Ent¬
bindung und Wochenbett auf die Lungen- und Kehlkopftuberkulose
43. Schalle Albert: Die therapeutische Bedeutung der heissei
Bäder.
44. Schwarzkopf Gustav: Vergleichende Statistik der gynäko¬
logischen Operationen nach Inhalationsnarkose und Rückenmarks¬
anästhesie.
Universität Rostock. Juli 1906.
15. Hotli Fritz: Statistischer Beitrag zur Dementia praecox (Jugend-
Irresein).
16. Rosenblatt Meyer: Beitrag zur Kenntnis der chronischer
Bleivergiftung.
17. B o 1 d t Richard: Die Abtragung der Epiglottis wegen Tuberkulose
18. Pawlicki Franz: Die Veränderungen der Niere des Kaninchens
nach 2 ständiger Unterbindung der Vena renalis.
19. Meissner Leo: Ueber Trübungen und Entzündungen der Horn¬
haut nach Traumen.
20. Aliendorff Fritz: Untersuchungen und Erfahrungen mil
Neuronal (Bromdiäthylazetamid).
21. Zeh den Arthur: Zur Kenntnis freier Knochen-Knorpel-Körper
in Schleimbeuteln.
22. B a u m a n n Julius: Typhus und Psychose.
23. Schmidt Rudolf: Zur Kasuistik und Statistik der Knochen¬
tumoren (Klavikula) mit Schilddrüsenbau.
24. Herrnberg Alfred: Ein Beitrag zur Kenntnis der Hemiatrophia
faciei.
25. Piotrowski Alexander: Untersuchungen über das Verhalten
der Nervenfasern in der abgeklemmten Herzspitze.
26. Hieronymus Wolfgang: Historisches und Statistisches zur
Frauenparalyse.
27. Krölls Hermann: Ueber Hautausschläge nach dem Gebrauche
von Tannin.
28. Praetorius Georg: Ueber Muskelgummen im Frühstadium der
Syphilis.
29. May weg Wilhelm: Einige erfolgreiche Operationen bei totalem
Symblepharon zur Bildung einer Höhle für das Glasauge durch
Ueberpflanzung von gestielten Hautlappen.
30. Glette Luiz Raoul: Beiträge zur Kenntnis einiger Pyrazolon-
derivate.
Auswärtige Briefe.
Wiener Briefe.
. (Eigener Bericht.)
Wien, anfangs September 1906.
Professor Dr. Isidor v. Neu m a n n f. — Eine neue Am¬
bulatorienordnung. — Aerzte vor Gericht. — Ein Radium¬
kurort in Oesterreich.
Hofrat Professor Dr. v. N e u m a n n, der gewesene lang¬
jährige Leiter der Universitätsklinik für Hautkrankheiten und
11. September 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Syphilis im allgemeinen Krankenhause, ist am 31. v. Mts plötz¬
lich einem Herzschlage erlegen. 1837 geboren, studierte N e u-
m a n n in Wien unter Skoda, Rokitansky und H e b r a
wurde bald der Assistent H e b r a s, habilitierte sich 1861 als
Dozent für Dermatologie und Syphilis, wurde 1873 zum a o
Professor dieser Fächer, 1881 zum Vorstand der Klinik (als
Nachfolger v. Siegmunds), 1883 zum ordentlichen Pro¬
fessor ernannt.
Schon früh vertiefte sich Neu m a n n, unter Anleitung
W e d 1 s, der damals an der Wiener Schule als unübertroffener
Meister der mikroskopischen Gewebsuntersuchungen galt, in
das histologische Studium und bemühte sich, die durch Haut¬
krankheiten gesetzten geweblichen Veränderungen zu er¬
forschen und darzulegen. Er publizierte hierüber eine ganze
Reihe von Arbeiten, von welchen wir hier seinen „Beitrag zur
Kenntnis des Lichen exsudativus ruber“ (1868), „über die Ver¬
breitung der organischen Muskelfasern in der Haut des Men¬
schen (1868) und „über die senilen Veränderungen der Haut
des Menschen“ (1869) erwähnen wollen. Er und sein ungleich
Degabterer Rivale, Moriz Kaposi, der Nachfolger Hebras
an der^ dermatologischen Universitätsklinik, ergänzten mit
diesen Studien die bahnbrechenden klinischen Beobachtungen
and Lehren H e b r a s und mehrten durch ihre Publikationen,
durch ihre auf reiche Erfahrungen an einem riesigen Materiale
aufgebauten, vor zahlreichen Hörern gehaltenen Vorlesungen
den Glanz der damaligen Wiener Schule. Neumann galt
als ein ausgezeichneter Diagnostiker und tüchtiger Therapeut,
ar war ein sehr beliebter Lehrer und Konsiliararzt und bildete
auch tüchtige Schüler heran. Trotz H e b r a, der später sein
ärgster Gegner wurde, erlangte er die a. o. Professur seiner
Fächer und — als H e b r a gestorben war — wurde Neu-
mann zum Vorstand einer Universitätsklinik ernannt. 1868
erschien Neu mann s „Lehrbuch der Hautkrankheiten“ in
erster und 1880 in fünfter Auflage. Ausserdem erschien sein
, Atlas der Hautkrankheiten“ (1881), später sein „Handbuch der
venerischen Krankheiten und der Syphilis“ etc. Bis in die
ietzten Tage hinein betätigte er sich in der Praxis und be¬
ledigte sich lebhaft am wissenschaftlichen Leben, zumal bei
len Verhandlungen der Dermatologischen Gesellschaft, deren
Präsident er war, und der Gesellschaft der Aerzte, als deren
erster Sekretär er Jahre lang funktioniert hatte. Als er 1903
n seinem 71. Lebensjahre vom Lehramte und von der Leitung
der Klinik zurücktreten musste, empfand er es als ein ihm an¬
getanes Unrecht, da sein Arbeitswille und seine Energie noch
ungebrochen waren und nach weiterer intensiver Betätigung
drängten.
Noch Eines wäre zu erwähnen. Als Oesterreich Bosnien
ind die Herzegowina okkupiert hatte, galt es unter Anderem,
n diesen zwei Ländern auch eine geregelte Sanitätspflege ein-
^uführen. Neumann organisierte sie als Sanitätsreferent im
grossen Stile, er schuf neue prächtige Spitäler und befür¬
wortete beim Minister die Heranziehung tüchtiger Aerzte, er
setzte sich für die Impfung der dortigen Bevölkerung und für
nehrere andere modern-hygienische Einrichtungen ein. Er
uwarb sich um diese Länder grosse Verdienste, welche vom
(aiser auch belohnt wurden, indem er Neumann adelte und
hin das Prädikat „von Heilwart“ verlieh. Die zahlreichen
"reunde und Schüler Neumanns werden seiner dankend
gedenken.
An seinem Leichenbegängnisse, welches am 26. August in
Anwesenheit zahlreicher Professoren und Aerzte stattfand,
sprach namens der medizinischen Fakultät Hof rat Professor
Uhrobak, sodann hielten ehrende Nachrufe die Professoren
5 P i e g 1 e r und Ehrman n, Dr. Brandweiner und
lozent Dr. Oppenheimer.
Die niederösterreichische Statthalterei hat jüngst eine
Kundmachung über den Ambulatorienbesuch in den Wiener
vrankenanstalten mit Ausnahme der Universitätskliniken ver-
autbart. Es soll mit der neuen Ambulatorienvorschrift dem
mfuge gesteuert werden, dass anerkannt zahlungsfähige Per-
onen die vom Staate oder der öffentlichen Wohltätigkeit er-
laltenen Ambulatorien frequentieren und sie dabei zu Un-
.unsten der wahrhaft Hilfsbedürftigen überlasten. Auch Mit¬
1829
glieder von Krankenkassen werden in der Regel vom Besuche
der Ambulatorien ausgeschlossen. Die Kundmachung lautet:
„Die Ambulatorien sind Einrichtungen für unentgeltliche
ärztliche Behandlung von nicht bettlägerigen bedürftigen
Kranken. Die ärztliche Behandlung findet nur während der
hiefiir festgesetzten Stunden statt. Wenn die Ambulatorien
auch nur für bedürftige Kranke bestimmt sind, so wird doch die
unbedingt notwendige erste ärztliche Hilfe niemals
verweigert und steht dem Ambulatoriumsvorstand das Recht
zu, erforderlichenfalls den in Behandlung genommenen Kran¬
ken auch noch ein zweitesmal zum Zwecke der Nachschau
kommen zu lassen. Ausgeschlossen von der Behand¬
lung in den Ambulatorien sind alle Fälle von anzeigepflichtigen
akuten Infektionskrankheiten, wie Blattern, Diphtherie, Masern,
Scharlach, Keuchhusten, Flecktyphus, Rotlauf u. dergl. Per¬
sonen, die mit solchen Krankheiten behaftet sind, dürfen sich
in den Ambulatorien und in den Wartezimmern nicht aufhalten.
Bei Inanspruchnahme der Ambulatorien ist ausser dem Falle
der ersten ärztlichen Hilfe von den Ambulatoriumbesuchern,
die nicht in der Lage sind, ein legales Armutszeugnis
vorzuweisen, eine Bestätigung des zuständigen
Aimenrates über die Bedürftigkeit beizubringen.
A u s n a h m e n vom Nachweis der Bedürftigkeit sind, abge¬
sehen vom Falle der ersten ärztlichen Hilfe, zulässig: a) wenn
neue Behandlungsmethoden mit solchen Behelfen
unbedingt erforderlich sind, die zur Zeit in privaten Ordi¬
nationen nicht zur Verfügung stehen; b) bei der ambu¬
latorischen Nachbehandlung entlassener Patienten der
dritten Verpflegskiasse in jener Krankenanstalt, in
der sie behandelt wurden; c) wenn eine besonders lang¬
wierige ambulatorische Behandlung, die spe-
zialistische Kenntnisse erfordert (zum Beispiel, bei Speise-
i Öhren- und anderen Strikturen) Anwendung finden muss.
Personen, die gegen Krankheit versichert sind, sind mit
Ausnahme des Falles der ersten ärztlichen Hilfe von der Be¬
handlung in den Ambulatorien im allgemeinen ausge¬
schlossen und dürfen nur dann zugelassen werden, wenn
sie mit einer begründeten Anweisung des Kassen¬
arztes erscheinen. Diejenigen Ambulatoriumbesucher, die
einer fortgesetzten Behandlung bedürfen, erhalten beim ersten
Besuch eine Ambulanzkarte, die bei jedem folgenden
Besuch mitzubringen ist. Aerztliche Zeugnisse und Behand¬
lungsscheine für Ambulatoriumbesucher werden nicht ausge¬
stellt. In allen Räumen des Krankenhauses ist von den Ambu¬
latoriumsbesuchern strengste Reinlichkeit einzuhalten. Lautes .
Sprechen, Rauchen und freies Ausspucken sind verboten. Per¬
sonen, die sich eines Missbrauches der Ambulatorien schuldig
machen, können vom Vorstand abgewiesen werden“.
Da der Erlass für die Universitätskliniken, aber auch für
alle privaten Anstalten und Ambulatorien keine Geltung
hat, auch nicht für sämtliche Kinderspitäler (mit Ausnahme des
Wilhelminenspitals), da überdies einzelne Vorstände solcher
öffentlicher Ambulatorien gar nicht gewillt sind, sich — wie
sie sagen — ihr „Material“ einschränken zu lassen, so schreibt
man in Wiener Aerztekreisen der Kundmachung keine be¬
sondere J rag weite zu. Dass manche Aerzte die ärgsten
Feinde ihrer Kollegen sind, das zeigt sich auch bei diesem
Anlasse.
Einen sonderbaren Eindruck machte jüngst eine Gerichts¬
verhandlung, welche bei einem Bezirksgerichte Wiens ab¬
gehalten vmrde. Kläger war der Oberbezirksarzt in Bruck
a. d. Leitha, Dr. H. Bin m e n f e 1 d, Angeklagte waren die
zwei Gemeindeärzte Dr. L. N e k o w i t s c h und Dr. F. Ja¬
ne c z e k, die Gründer und tapferen Vorkämpfer der zwei
niederösterreichischen Aerzteorganisationen. Diese hatten in
einer Eingabe an die niederösterreichische Statthalterei gesagt,
dass Dr. B. in einem Orte Niederösterreichs die öffentliche
Impfung vorgenonunen, die Nachschau hinsichtlich der Wir¬
kung der von ihm vorgenommenen Impfung den H e b a m m e n
tibei lassen habe. Die Organisation erblicke hierin eine Schä¬
digung des Ansehens der Aerzteschaft sowie auch eine Gefahr
für die geimpften Kinder. Der Amtsarzt klagte auf Ehren-
beleidigung, weil ihm eine Verletzung seiner Amtspflicht vor-
gewoifen wurde. Die Verhandlung ergab, dass der Amtsarzt
1830
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
tatsächlich die Revision von 7 Nachzüglern einer Hebamme
übertragen habe, während er die erste Revision selbst vor¬
nahm; zu einer zweiten Revision habe er keine Zeit, beziehe
hiefiir auch keine Diäten etc. Der Richter sprach die beiden
Angeklagten frei mit der Begründung, dass der Inhalt der
inkriminierten Beschwerden nach dem eigenen Zugeständnisse
des Klägers den wahren Tatsachen entspreche. Der
Kläger meldete gegen den Freispruch die Berufung an.
Oesterreich soll einen Radiumkurort bekommen, der Ziel¬
punkt der Errichtung desselben ist freilich noch nicht zu fi¬
xieren. Vor mehr als 2 Jahren hatte die Wiener Akademie der
Wissenschaften vom Ministerium aus dem Joachimstaler Berg¬
betrieb 10 000 Kilogramm Uranerz zur Untersuchung und zum
Studium des Radiums erhalten. Waggonweise kam die Un-
massevon Rohmaterial nach Wien und wurde hier in der üas-
gliihlichtgesellschaft v. Auer durch den Leiter Dr. Hei-
t i n g e r zur Gewinnung reinen Radiums bearbeitet. Diese Ar¬
beiten sind jetzt dem Abschlüsse so ziemlich nahe und es wurde
ein reines Radium erzeugt (nach dem heutigen Marktpreis im
Werte von 1 Million Kronen), welches zunächst wissenschaft¬
lichen Instituten als Material übergeben werden soll. So will
man zunächst in hiesigen physikalischen Instituten die Frage
über die Wärmeentwicklung des Radiums vermöge einer neuen
Methode der Lösung zuführen. In Joachimstal soll ferner ein
eigenes Laboratorium zur Herstellung von Radiumsalzen er¬
richtet werden, sodann wird der Gedanke erwogen, die Quellen
in den Schächten zu Joachimstal zu Heilbädern zu verwerten,
eventuell deren stark radioaktives Wasser zu Trinkkuren zu
verwenden. Zu diesem Zwecke werden diese Wasser in
Wien genau analysiert, um deren mineralische Bestandteile
festzustellen. Sobald alle diese Untersuchungen abgeschlossen
und auch die erforderlichen Arbeiten in der Grube durchge¬
führt sein werden, soll auch an die Erichtung einer K u r a n -
s t a 1 1 in Joachimstal geschritten werden. Wir fügen bei, dass
wir es hier mit einer offiziellen Kundgebung zu tun haben, dass
demnach die Richtigkeit der ganzen Mitteilung nicht zu be¬
zweifeln ist.
Vereins- und Kongressberichte.
33. Versammlung der Ophthalmologischen Gesellschaft
zu Heidelberg vom 6. — 8. August 1906.
Referent: Oberarzt Dr. v. H e u s s - München.
Die Versammlung gewann besondere Bedeutung durch die Ver¬
leihung der Graefemedaille, der höchsten Auszeichnung, die die Ge¬
sellschaft zu vergeben hat.
Die zum letzten Male vor 10 Jahren Professor L e b e r - Heidel¬
berg zuerkannte Medaille wurde diesmal Professor Hering- Leipzig
verliehen.
Die Versammlung wurde am 6. VIII. 1906 in der Aula der Uni¬
versität mit einer Festsitzung zum Gedächtnis Albrecht v. Graefes
eröffnet. Nach kurzer Begriissung der in reicher Zahl Anwesenden
hielt L e b e r - Heidelberg die Gedächtnisrede auf Albrecht v. Graefe
und im Anschluss daran die Rede auf Hering unter besonderer
Würdigung dessen wissenschaftlicher Verdienste auf dem Gebiete des
Farben- und Lichtsinnes.
Unter grossem Beifall erfolgte die feierliche Ueberreichung der
goldenen Medaille an den Geehrten. In bedeutender, auf sein ganzes
wissenschaftliches Leben rückblickender Rede dankte Hering für
die* gewordene Auszeichnung.
> Hierauf trat die Versammlung in die erste wissenschaftliche
Sitzung ein.
Der Kongress hielt im ganzen 5 Sitzungen ab: 3 Vormittags¬
sitzungen für Vorträge (Präsidenten: Straub-Amsterdam, Uhthoff-
Breslau, H e s s b e r g - Essen) und 2 Nachmittagssitzungen für De¬
monstrationen (Präsidenten : Eversbusch- München, E. v. Hip¬
pel- Heidelberg).
Herr N a g e 1 - Berlin : Ein Beitrag zur Kenntnis des Sehens der
Deuteranopen.
Vortragender macht Mitteilungen über das Sehen man¬
cher Dichromaten (speziell Grünblinder) bei gleichzeitiger Rei¬
zung grösserer Netzhautflächen. Personen, die bei rein fovealem
Sehen typisch deuteranopisches Farbensystem aufweisen, machen bei
Sehen auf grösserem Feld Farbenunterscheidungen, die das Vorhan¬
densein eines trichromatischen Systems voraussetzen lassen. Ob es
sich um ein normales oder anomales System handelt, steht noch
nicht fest. Rot wird unter dem Gesichtswinkel von mindestens zehn
Grad sicher von allen anderen Farben unterschieden. Grün weit
weniger sicher; dagegen löst Grün ein deutlich rotes Nachbild aus.
Die Minimalzeit für Farbenunterscheidung ist wie beim a. T. bedeutend
vergrössert.
Derselbe demonstriert einen kleinen Spezialfarbenlichtapparat,
speziell für Zwecke der klinischen Diagnostik; ausserdem einen als
Adaptometer bezeichneten Apparat zur quantitativen Untersuchung
des Lichtsinnes nebst Fixierpunktsvorrichtung.
Herr Fuchs- Wien: Zur Aetiologie der Katarakt.
Fuchs beobachtete, dass bei Heterochromie au dem helleren,
gewöhnlich blauen Auge Präzipitate an der hinteren Hör n-
hautwand und S t a r b i 1 d u n g Vorkommen. Solche Personen
haben in der Regel schwarze Haare. Vortr. nimmt an, dass die
helle Farbe der Iris durch pathologischen Einfluss entsteht, welcher
die gehörige Ausbildung des Pigments verhindert. Ausgeschnittene
Irisstückchen zeigten in den pathologischen Fällen mässige Kern¬
wucherung in den vorderen Schichten der Iris und der Pupillarzone,
ausserdem Mastzellen.
Der Vortragende kommt zu dem Schluss, dass Personen mit
schwarzen Haaren und blauer Iris eine Disposition haben, an chro¬
nischer Zyklitis mit Bildung von Beschlägen an der Hornhaut und an
Katarakt zu erkranken.
Herr R ö m e r - Wiirzburg: Stoffwechsel der Linse und Gift¬
wirkung auf dieselbe.
R.s Untersuchungen stützen sich auf Versuche an 30 000 Linsen.
Die Ergebnisse dieser Versuche werden in einer Reihe von Thesen
mitgeteilt. (Bezüglich des ausgedehnten interessanten Inhalts des
Vortrages muss auf die Fachzeitschriften verwiesen werden.) Es
seien hier nur einige der Thesen bezw. Ergebnisse mitgeteilt:
Die Art der Entnahme der Linse aus dem Auge ist von Einfluss
auf die Gewichtsverhältnisse und die Aufnahme der Substanzen.' — Für
das Verständnis der Vorgänge beim Alterstar musste die Grundlage
einer Toxikologie der Linse gelegt werden. — Weitere Fortschritte
in der Erkenntnis der Pathologie der Linse sind nur auf dem Wege
der Linsenimmunisierung zu erreichen. — Mit dem von
Römer hergestellten Linsen an tiserum kann das E i w e i s s
der Linse in spezifischer Weise erkannt werden.
Die Linsenimmunisierung hat ferner die Möglichkeit geliefert,
in die Beziehungen der Linse zum Serum weiter einzudringen.
Im Serum der erwachsenen Menschen erscheinen Autoantikörper,
die gegen die eigene Linse gerichtet sind. Dieselben tragen das Ge¬
präge von Ambozeptoren und fehlen noch im Blute des gesunden
Fötus. Die Untersuchungen über die Aufnahme der Antikörper in
die Linse ergeben das neue Gesetz, dass die Linsenkapsel nur von
solchen Rezeptoren des Serums passiert werden kann, für welche
in der Linsenkapsel spezifische Affinitäten vorhanden sind.
Derselbe: Intraokulare Protozoeninfektion im Auge.
R. fand, dass Trypanosomen nach intraokularer Verimpfung ihren
Weg in den Kreislauf finden.
Ferner Hess sich nachweisen, dass Trypanosomen im Augen-
innern schwere Entzündungen herbeiführen, während dieselben im
Blute Serumschmarotzer sind. Es erhalten damit einzelne Beobach¬
tungen von Afrikaforschern über Augenerscheinungen bei Trypano¬
somenerkrankungen experimentelle Bestätigungen.
Ferner fand R., dass sich Tiere vom intakten Bindehautsack aus
mit Trypanosomen infizieren lassen. Dieser Infektionsweg verdient
in der Pathogenese der menschlichen Schlafkrankheit, deren Zu¬
sammenhang mit Trypanosomen nachgewiesen ist, Beachtung. Wei¬
tere Versuche hat R. mit einem Spirochätenstamm angestellt, der von
Schau di nn stammt und im Organismus des Kanarienvogels von
ihm weiter gezüchtet wird. Die Versuche sind noch nicht abge¬
schlossen. es fragt sich, ob dieser Stamm imstande ist, in der Kornea
empfänglicher Tiere interstitielle Keratitis zu erzeugen. Diese Spiro¬
chäten werden demonstriert.
Herr Stock- Freiburg: Eine besondere Form der familiären
amaurotische Idiotie.
Vortr. hat 3 Kinder 'einer Familie untersucht, welche alle im
6. Lebensjahre verblödeten und zugleich blind wurden. Lähmungen
traten nicht auf. Die Erblindung wurde erst im 7. Lebensjahre voll¬
ständig. Die Untersuchung des Gehirns ergab normales Faser¬
system, nur die Ganglienzelle selbst ist in ihrem Innern geschädigt.
In den Augen fehlt die Stäbchen- und Za pT e n sc h i c h t
vollständig. Die Ganglienzellen sind grösstenteils erhalten, jedoch
in ihrem Innern verändert. Nervenfaserschicht und Sehnerv sind
normal. Sekundär ist in 2 Fällen Pigment in die Retina eingewandert,
so dass das Bild der Retinitis pigmentosa entstand. Die Chorioi-
d e a, besonders die Choriokapillaris, ist auf weite Strecken normal,
so dass eine primäre Erkrankung der Stäbchen- und Zapfenschicht
vorliegt. Vortr. erörtert noch eingehender den Unterschied zwischen
seinen Befunden und dem Tay-Sachs sehen Typus der familiären
amaurotischen Idiotie.
Derselbe: Ueber hämatogene Tuberkulose des Auges und
der Lider beim Kaninchen.
Vortragender demonstriert eine Abbildung von Kaninchenlidern,
in welchen klinisch Knötchen zu sehen waren, die sich von Chalazien
nicht unterschieden. Pathologisch-anatomisch wurde eine T arsitis
tuberculosa (Tuberkelbazillen sind zu sehen) festgestellt.
Dann werden Abbildungen einer sklerosierenden Kera¬
titis bei einem in die Blutbahn mit Tuberkulose infizierten Kaninchen
gezeigt. Diese sklerosiercnde Keratitis ist pathologisch-anatomisch
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1831
eine vom Ziliarkörper ausgehende Tuberkulose, die auf die Sklera
und Kornea übergegriffen hat.
Ferner demonstriert Vortrag. Präparate von experimenteller
Keratitis parenchymatosa durch Allgemeininfektion mit Trypanosoma
Brucci beim Hund.
Heri E. H e r t e I - Jena: Experimentelles über die Verengerung
der Pupille auf Lichtreize.
Vortr. berichtet über eine Reihe von Experimenten, durch die
es ihm gelungen ist, an Kaninchen, Katzen und Menschen auch
nach Unterbrechung der okulopupillären Reflex¬
bahnen durch Belichtung eine Verengerung der
Pupillen zu erzielen, ähnlich wie sie für Fische und Amphi¬
bien schon beschrieben worden sind. (Ausführliches hierüber ist in
den Referaten der Fachzeitschriften einzusehen.)
Herr K rückmann- Leipzig : Ueber Netzliautdegeneration, ins¬
besondere im Anschluss an Arteriosklerose (mit Demonstration von
Präparaten).
Alle histologisch nachweisbaren Formen der Netzhautdegenera-
ration können im Anschluss an die Arteriosklerose des Flintergrundes
Vorkommen. Die degenerierten Stellen sind zusammengesetzt aus
weissen hellglänzenden Flecken, aus Pigmentierungen und aus den
perivaskulären Gliamänteln. Die weissen Netzhautflecke bestehen
aus Fettkörnchenzelleu. Diese Fettkörnchenzellen sind Mitglieder
oder Abkömmlinge der Neuroglia, und daher identisch mit fett¬
körnchenhaltigen Gliazellen. Ihre Tätigkeit beruht auf der Resorption
von degenerierten Nervenelementen und insbesondere von sogen,
varikösen Nervenfasern. Weiter werden auch intraretinale Blutungen
und homogene Eiweissmassen in grosser Menge von ihnen beseitigt.
Als Folgezustände der Arteriosklerose werden u. a. die Netzhautver¬
änderungen bei chronischen Nierenerkrankungen, beim Diabetes und
bei der sogen. Retinitis circinnata angesprochen. Die senile Form
der Arteriosklerose wird als eine ausserordentlich häufige, aber im
allgemeinen als eine verhältnismässig unschädliche Affektion be¬
schrieben, dagegen werden die senilen Makulaveränderungen in erster
Linie auf Arteriosklerose zurückgeführt.
Herr E. v. H i p p e 1 - Heidelberg: Ueber die Bedeutung des
Trauma in der Aetiologie der Keratitis parenchymatosa.
Vortr. wünscht vor allem eine scharfe Fassung des Begriffes
Keratitis parenchymatosa nach Trauma. Parenchymatöse Trübungen
durch Fremdkörper, nach chemischer Einwirkung, Keratitis disciformis
und durch Endothelläsionen entstandene Trübung bei gewissen Kon¬
tusionen sind auszuschalten. Der Zusammenhang mit dem Trauma
braucht bei ihnen nicht erst bewiesen zu werden. Diese Fälle dürfen
nicht verwertet werden, um den traumatischen Ursprung der typi¬
schen, meist auf hereditärer, selten auf erworbener Lues und auf
Tuberkulose beruhender Keratitis parenchymatosa zu beweisen. In
12 Fällen der letzteren Zeit, in denen die Erkrankung immer beide
Augen nacheinander befiel, ist der traumatische Ursprung behauptet
worden und sogar die Erkrankung des zweiten Auges
mit dem Trauma vom ersten in ursächlichen Zu¬
sammenhang gebracht worden.
Vortr. führt eine Reihe wichtiger Gründe gegen diese Auffas¬
sung an. Es sei z. B. nicht in allen Fällen sicher, dass der Beginn
der Keratitis nicht bereits vor dem Trauma vorhanden war. v. H.
kommt zu dem Schluss, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwi¬
schen Trauma und typischer Keratitis parenchymatosa durch das bis¬
her vorliegende Material nicht erwiesen sei.
Derselbe berichtet über: Neue experimentelle teratologische
Befunde:
1. ein epibulbäres Teratom mit ganz verschie¬
denen Gewebselementen wurde durch Injektion der zer¬
riebenen Kopfes eines 12 tägigen Kaninchenembryo erhalten.
2. Nach Röntgenbestrahlung trächtiger Kaninchen wurden bei
den Neugeborenen in 2 Fällen grosse Liddefekte gefunden.
3., Ebenfalls nach Röntgenbestrahlung kamen grosse Blutungen
iin vorderer und hinterer Kammer bei neugeborenen Tieren zur Be¬
obachtung.
4. Einmal fand sich nach — Röntgenbestrahlung Mikrophthalmus
und Kolobom auf beiden Augen eines neugeborenen Kaninchens (wohl
zufälliger Befund)- , , -r 4 ,
Herr P f a 1 z - Düsseldorf : Ueber doppelseitige Keratitis paren¬
chymatosa (sympathica?) nach oberflächlicher Epithelverletzung des
Auges.
Vortr. sah bei einem 30 jährigen, sonst gesunden Mann im An¬
schluss an eine oberflächliche Fremdkörperverletzung des rechten
Auges nach 8 Tagen eine Keratitis parenchymatosa sich entwickeln.
Nach 4 Wochen folgte das gesunde linke Auge mit der gleichen Er¬
krankung nach. Heilung des rechten Auges nach Vs Jahre. Links
verlief die Erkrankung unter dem Bilde einer Keratitis annularis und
heilte nach iVz Monaten. Vortr. vertritt den Standpunkt, dass das
Trauma die Ursache der Erkrankung beider Augen sei und denkt an
die Möglichkeit einer sympathischen Erkrankung des zweiten Auges,
wenngleich er nicht die Mitbeteiligung von Tuberkulose oder Lues
ganz auszuschliessen vermag.
Herr E r d m a n n - Rostock: Ueber experimentelles Glaukom.
E. sah nach Elektrolyse des Kammerwassers eines
. Kaninchens (positive Elektrode: eine in die Vorderkammer ein-
iv. ii n geführte Stahlnadel; negative Elektrode: eine auf dem Rücken be-
| festigte Platte) Glaukom auftreten. Er führt dies zurück auf eine
dauernde Verlegung der Abflusswege durch das in die Fontanaschen
Räume eindringende und zu Zellproliferation führende, an der posi¬
tiven Elektrode ausgeschiedene feinkörnige Oxydationsprodukt des
Stahles. Ferner wurde aufgefangenes Kaninchenkammerwasser, das
der Elektrolyse unterworfen worden war, in die Vorderkammer eines
Tieres injiziert; es entstand Vergrösserung des Augapfels und Ex¬
kavation der Pupille unter entzündlichen Erscheinungen, die nach
1 — 2 Wochen wichen. Die Kornea hellte sich auf und der Prozess
wurde chronisch. E. weist auf die Aehnlichkeit dieses Vorganges
mit der Entwicklung des menschlichen Buphthalmus hin. (Ausführ¬
liche Mitteilung der interessanten Arbeit folgt.)
Herr H o 1 1 h - Christiania; Ein neues Prinzip der operativen Be¬
handlung des Glaukoms.
H. legt eine subkonjunktivale Korneoskleralwunde an. In diese
zieht er eine Falte der Iris und führt auf diese Art eine künstliche Ein¬
klemmung herbei. Dadurch entsteht in der Regel eine von Pigment¬
epithel ausgekleidete Fistel, die eine Verbindung vermittelt zwischen
der Vorderkammer und den subkonjunktivalen Lymphbalmen. H.
will günstige Erfolge dieser Operation in einer Reihe von Fällen ge¬
habt haben.
Herr S t r a u b - Amsterdam: Ueber die Formel der Refraktions¬
anomalien (mit Demonstrationen).
Herr Schinnes - Greifswald: Zur Prognose des traumatischen
'Glaskörperabszesses.
Sch. berichtet über die Heilerfolge, die er beim traumatischen
Glaskörperabszess mit der von ihm angegebenen Methode der hohen
Quecksilberdosen erzielt hat.
Von 50 Fällen wurden 24 == 48 Proz. nicht geheilt, sondern
mussten wegen Panophthalmie exenteriert oder wegen Uebergang in
chronische Entzündung enukleiert oder reseziert werden. In den
übrigen 52 Proz. kam die Entzündung zur völligen
Ausheilung, hiervon in 36 Proz. mit Erhaltung von Sehvermögen.
Bei 22 Abszessen, die einen Fremdkörper enthielten, betrug der Pro¬
zentsatz der Heilungen sogar 59 Proz., was wohl auf die Gering¬
fügigkeit der mechanischen Verletzung zurückzuführen ist. Splitter
wurden stets möglichst frühzeitig extrahiert. — Ungenügende
Funktionen bei der Aufnahme schliessen durchaus
nicht die Hoffnung auf Wiederherstellung guten
Sehvermögens aus; es handelt sich hier häufig nur um eine
toxische Lähmung der nervösen Netzhautelemente.
Herr W e s s e 1 y - Berlin: Ueber die Wirkung der B i e r sehen
Kopfstauung auf das Auge im Tierexperiment.
W. hat sich die Aufgabe gestellt, zunächst einmal experimentell
festzustellen, inwieweit sich das Auge an der Stauungshyperämie des
Kopfes beteiligt. Er benutzte zu seinen Versuchen Kaninchen, die die
Kopfstauung sehr gut vertragen, selbst wenn diese so stark ist, dass
dadurch beträchtliches Oedem der Kopfhaut entsteht. Das Auge be¬
teiligt sich daran nur mit Exophthalmus und Chemosis der Konjunk-
tiva, eine Hyperämie der inneren Gefässe ist dagegen nicht nach¬
zuweisen, speziell fehlt der vermehrte Eiweissfluoreszeinaustritt aus
Iris und Ziliarfortsätzen, den wir bei der inneren Hyperämie des Auges
stets sehen. Bei Anwendung der Saugglocke ist die Protrusio bulbi
und Chemosis viel stärker, der Augendruck steigt enorm, um bald
einem Weicherwerden des Bulbus Platz zu machen, aber auch hier
tritt meist bei den höheren Graden der Ansaugung vermehrte Eiweiss¬
und Fluoreszeinausscheidung im Auge auf, und selbst dann in viel ge¬
ringerem Masse als nach Punktion der Vorderkammer oder nach sub¬
konjunktivalen Kochsalzinjektionen. Ueber den Wert der beiden Ver¬
fahren wird natürlich erst die Erfahrung am Krankenbett das defini¬
tive Urteil geben können, aber W. glaubt nach seinen Versuchen
doch, dass ihre Anwendung eine beschränkte bleiben wird und die
gefahrloseren, lokale Hyperämie erzeugenden Methoden in der Oph¬
thalmologie den Vorrang behalten werden.
Derselbe: Zur Wirkung einer der gebräuchlichsten thera¬
peutischen Massnahmen auf künstlich erzeugte Netzhautablösung.
W. konnte feststellen, dass der Druckverband keinen merklichen
Einfluss auf die Wiederanlegung der abgelösten Netzhaut ausiibe.
Herr O n o d i - Ofen-Pest: Ueber die Aetiologie der kontra¬
lateralen Sehstörungen und Erblindungen nasalen Ursprunges.
O. führt diese Sehstörungen auf anatomische Verhältnisse des
Canalis opticus izurück und demonstriert die verschieden mögliche Bil¬
dung dieser Kanäle, die Möglichkeit eines Zusammenhanges dieser
Kanäle untereinander und damit das Uebergreifen einer Affektion von
einem Optikus auf den anderen ohne scheinbare äussere Ursache an
sehr interessanten Präparaten.
Herr G r u n e r t - Bremen : Das Thiosinamin in der Augenheil¬
kunde.
G. berichtet über seine Erfolge mit Thios.-Behandlung bei lupösen
Hautnarben und bei postneuritischer Optikusatrophie (Thiosinamin 4,0,
Glyzerin 8,0, Aq. dest. ad 40,0). Bei postneuritischer Atro¬
phie setzt er dieser Lösung 0,2 Strychnin, nitr. zu. Hiervon werden
etwa 1 ccm anfangs täglich, dann in allmählich grösser werdenden
Zwischenräumen, intramuskulär, meistens in die Armmuskulatur, in¬
jiziert. Das Thiosinamin hat die Wirkung, Narben jedweder Pro¬
venienz und Lokalisation vom Blutwege aus weicher und beweglicher
zu machen und allmählich zu verkleinern. In diesem Sinne wirkt es
auf die postneuritische Bindegewebsbildung im Sehnerven ein. Der
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Zusatz von Strychnin kam nur für die erste Zeit der Behandlung in
Anwendung. War keine weitere Besserung mehr zu erreichen, dann
liess sich der Zustand durch Anwendung reiner Thiosinaminlösung
erhalten. Zu frühes Aufhören der Behandlung hatte stets Verschlech¬
terung zur Folge. Kontraindikation wegen der hyperämisierenden
Wirkung des Thiosinamins: Netzhautablösung, Glaskörpertrüb¬
ungen etc.
Herr Levinsohn - Berlin : Experimenteller Beitrag zur Patho¬
genese der Stauungspapille.
Vort. kommt auf Grund seiner Experimente zu folgendem
Schluss: Die Entstehung der Stauungspapille wird durch das Zu¬
sammenwirken von 3 Faktoren veranlasst, von denen 2 primären
Ursprungs (intrakranieller Druck und entzündliche Veränderungen der
zerebrospinalen Lymphe), der 3. sekundären Ursprungs ist (Stauung
der Papille durch Zerrung des Glaskörperlymphabflusses).
Herr Dimmer- Graz: Die Macula lutea der menschlichen Netz¬
haut.
D. stellt auf Grund ophthalmoskopischer Untersuchungen und von
ihm gefertigter Photogramme des Hintergrundes im Gegensatz zu
anderen Anschauungen fest, dass es einen gelben Fleck im mensch¬
lichen Auge gibt.
Derselbe zeigt Photographien des Augenhintergrundes, die mit
seinem zu diesem Zweck erfundenen Apparate hergestellt sind; ausser¬
dem demonstriert der Vortr. Präparate von partieller Evulsio nervi
optici und Höhlenbildung im Sehnerven, hervorgerufen durch Här¬
tungsflüssigkeiten (Formol und Sublimat).
Herr B e s t - Dresden: Zur Pathogenese der Netzhautablösung.
Durch subkutane Einspritzung von Phloridzin gelingt es bei
Kaninchen eine Exsudation zwischen Pigmentepithel und Stäbchen¬
zapfenschicht zu erhalten. Aehnliche Exsudate erhält man durch sub-
konjunktivale Injektion reizender Substanzen. Auf Grund dieser
experimentellen Resultate sowie der Befunde an enukleierten Augen
sieht Vortr. die Netzhautablösung bei Diabetes, Albuminurie sowie
nach chronischer Iridozyklitis als durch Exsudation hervorgerufen an.
Die spontane Netzhautablösung dagegen ist das Resultat des Zuges
eines pathologisch veränderten Glaskörpers bei den Bewegungen des
Auges an Netzhautstellen, die durch atrophische oder abgelaufene ent¬
zündliche Prozesse verschmälert oder weniger widerstandsfähig ge¬
worden sind.
Herr U h t h o f f - Breslau: Zur Lehre vom metastatischen Kar¬
zinom der Aderhaut.
U. berichtet über einen neuen Sektionsbefund von doppelseitigem
metastatischem Karzinom der Aderhaut nach Mammakarzinom. Die
Entwickelung des Karzinoms konnte 3 Monate beobachtet werden.
Ferner demonstrierte U. ein Hintergrundbild von sog. Polyzythämie.
Herr Th. L e b e r - Heidelberg: Ueber höchstgradige Hyper-
metropie bei Vorhandensein der Kristallinse.
Bekanntlich kommen ausnahmsweise so hohe Grade von Hyper-
metropie durch Achsenverlängerung vor, wie sonst nur bei Verlust
der Krystallinse. Vortragender hat 16 derartige Fälle gesammelt, bei
denen die Hypermetropie zwischen 8 und 16 Dioptrien betrug. (Von
anderen sind vereinzelt noch höhere Grade, bis zu 27 Dioptrien be¬
obachtet worden.)
Messung der Hornhautkrümmung ergab, dass der besonders
hohe Grad der Hypermetropie nicht darauf beruht, dass zu der Wir¬
kung der zu geringen Achsenlänge noch die einer aussergewöhnlich
schwachen Hornhautkrümmung hinzukommt; vielmehr waren die
Hornhautradien durchweg kurz. Besonders auffallend war dies bei
den höchsten Graden der Hypermetropie. Die Achsenlänge solcher
Augen muss also in höherem Masse verkürzt sein, als der Hyper¬
metropie entspricht, weil die starke Hornhautkrümmung eine be¬
trächtliche Zunahme der Brechkraft des Auges bewirken müsste.
Auf Grund weiterer Ueberlegungen und Berechnungen kommt Vor¬
tragender zu dem Schluss, dass es sich bei diesen hohen Graden von
Hypermetropie um einen gewissen Grad von Mikrophthalmus
handeln müsse, was sich auch durch direkte Beobachtung, unter
anderem durch das Vorhandensein eines ungewöhnlich geringen Horn¬
hautdurchmessers bestätigen liess.
Derselbe: Demonstration einer Patientin mit Conjunctivitis
petrificans. Vortr. hat schon vor 11 und 6 Jahren ausführlich über
diese Pat. berichtet. Sie ist seit lVz Jahren wegen schwerer Rück¬
fälle am linken Auge wieder in klinischer Behandlung. Am rechten
Auge ist der Prozess seit langem abgelaufen. Vortr. demonstriert
eine während der letzten klinischen Behandlung beobachtete intensiv
sauere Reaktion der zerfallenen Teile des Bindehautgewebes und der
Bindehautflüssigkeit, welche von einem Gehalt an freier Schwefel¬
säure herrührt.
Herr zur Nedden-Bonn: Ueber den therapeutischen und
diagnostischen Wert der frühzeitigen Punktion der Vorderkammer
bei Iritis.
Experimentelle Untersuchungen bei akuter endogener Kaninchen¬
iritis ergaben, dass frühzeitige Parazentese den Krankheitsprozess
günstig beeinflusst. Dies erklärt sich durch Erneuerung des Kammer¬
wassers, welches bei Entzündungsprozessen die im normalen Blut
enthaltenen Schutzstoffe aufnimmt, sowie durch die mit der Parazen¬
tese verbundene Hyperämie, die ja nach den Entdeckungen Biers
als das zweckmässigste Fleilmittel bei infektiösen Prozessen anzu¬
sehen ist. Auch am menschlichen Auge wurde die Iritis in
mehreren Fällen, in denen die Parazentese im Beginn der Krankheit
ausgeführt und einigemale in kurzen Zwischenräumen wiederholt
worden war, in kurzer Zeit -geheilt. — In einem Falle von luetischer
Iritis konnten im Kammerwasser mit Giemsas Farblösung Spirochäten
nachgewiesen werden, deren Identität mit der Spirochaeta pallida
der Vortragende glaubt mit Sicherheit annehmen zu dürfen. Zur
Kenntnis der Aetiologie der Iritis empfiehlt z. N. Vornahme
bakteriologischer Blutuntersuchungen.
Herr Bielschowsky - Leipzig: Ueber Störung der absoluten
Lokalisation.
B. hat an 25 Lähmungen der Augenmuskeln die Störung der
absoluten Lokalisation („fehlerhafte Projektion des Gesichtsfeldes“)
untersucht und teilt die Resultate mit.
Herr S t a r g a r d - Kiel: Ueber Protozoen im Auge.
Demonstration einer Anzahl von Bildern, die im Anschluss an
ausgedehnte experimentelle Untersuchungen mit Trypanosamen ge¬
wonnen wurden.
Herr S a 1 z e r - München: Anatomische Untersuchungen über
die durch parasitierende Würmer verursachte Augenerkrankung bei
Forellen.
In der Linse einer Anzahl von Forellen fanden sich die als
Diplostomum volvens resp. Monostomum lentis bekannten Trema-
todenlarven, in einem Fall in lebendfrischem Zustand, in anderen
Fällen abgestorben. Die Parasiten gelangen offenbar auf dem Blut¬
oder Lymphweg ins Auge und bohren sich durch die Linsenkapsel
mit Hilfe ihrer gewebserweichenden Säfte hindurch. Sie halten sich
dicht unter der Kapsel in der Rindensubstanz auf; letztere zeigt eigen¬
tümliche Spalten und Risse, die meist radiär verlaufen und bis in den
Kern hineinreichen können. Man findet in solchen Gängen noch deut¬
liche Parasiten oder auch nur körnige und fädige Massen. Wenn
durch Zerstörung der Kapsel sich die Wurmmassen und Zerfalls¬
produkte der Rinde in dem vorderen Augenabschnitt entleeren, ent¬
steht eine starke Iritis, sowie ein eitriges Hornhautgeschwür, welches
zur Perforation kommt. Dabei entleeren sich die mit Wurmteilen
vermischten Linsenreste nach aussen. Vortragender empfiehlt, bei
gewissen Fällen von Katarakt auf das Vorkommen von Parasiten zu
untersuchen, sowie bei Staren die mit Entzündung einhergehen, an die
Möglichkeit einer solchen Affektion zu denken. Die Infektion könne
bei Menschen ebenso wie beim Fisch durch die im Wasser befind¬
lichen Eier des bei Wasservögeln als Darmparasit lebenden reifen
Wurmes erfolgen.
Herr Fleischer - Tübingen : Ueber Mikrophthalmus.
Befundergebnisse der Augen einer menschlichen Missgeburt und
3 mikrophthalmischer Augenpaare vom Hunde mit Demonstrationen.
Herr W 0 lf r u m - Leipzig: Zur Genese des Glaskörpers.
W. ist auf Grund seiner Untersuchungen an Embryonen von
Schweinen, Kaninchen, Schafen, weissen Ratten und auch mensch¬
lichen Embryonen zu dem Resultate gekommen, dass der Glaskörper
nur von der Netzhaut stammt, also ein rein ektodermales Gebilde ist.
Er unterscheidet wie von K ö 1 1 i k e r zwischen einem primären und
einem dauernden Glaskörper. Der primäre Glaskörper wird gebildet
durch protoplasmatische Ausläufer, die ursprünglich aus Linse und
Netzhaut, später aber nur aus der Netzhaut entstehen, und den ganzen
Hohlraum zwischen Linsen und Netzhautanlage ausfüllen. Gleich¬
zeitig mit dem Einwachsen der Gefässe, aber unabhängig von dem¬
selben, findet ein Umbau des radiär gerichteten Fasersystems in ein
konzentrisches parallel zur Netzhautinnenfläche liegendes statt.
Dieses Fasersystem bildet zusammen mit der vom Umschlagsrande
der sekundären Augenblase kommenden und später zu dem der pars
ciliaris retinae werdenden Fasermasse die erste Anlage des bleiben¬
den Glaskörpers.
W. demonstriert eine Reihe von Mikrophotogrammen,
die das Auswachsen der Protoplasmafasern aus Linsen und Netzhaut¬
anlage zeigen.
Herr Lohmann - München : Ueber Helladaptation.
Vortragender zeigt Kurven, die den zeitlichen Verlauf der Hell¬
adaptation veranschaulichen sollen. Während die Empfindlichkeits¬
abnahme des Auges schwachen Reizen gegenüber im ersten Drittel
der ersten Minute beim Uebergang von guter Dunkeladaptation zum
hellen einen jäh abfallenden Verlauf nimmt, zeigt dieser in den folgen¬
den Minuten einen immer langsameren Charakter. Noch nach ca.
einer Vz Stunde ist die Helladaptation nicht völlig vollendet. Da
namentlich im ersten Anfang der Verlauf der Helladaptation ein
schneller ist, wurden die Kurven nicht aus der Beobachtung eines
Helladaptationsprozesses gewonnen, sondern sind das Ergebnis einer
fraktionierten Bestimmung. Es wurden Kurven für verschiedene
Helligkeiten aufgenommen, die zwar ihrem allgemeinen Charakter
nach gleich waren, jedoch ein verschiedenes Plateau des Endlaufs
ergaben und somit dartun, dass es nicht eine Helladaptation, sondern
Helladaptationen gibt.
Herr H a r m s - Tübingen: Zur Aetiologie der momentanen
Obskurationen bei Stauungspapille.
H. hatte Gelegenheit, in der Tübinger Klinik einen Pat. mit
doppelseitiger Stauungspapille während eines Anfalles plötzlicher Er¬
blindung auf dem linken Auge ophthalmoskopisch zu untersuchen.
Es handelte sich um ein dO jähriges Fräulein, bei dem eine Optikus¬
schwellung von 3 — d Dioptrien auf dem linken, und von 3 Dioptrien
auf dem rechten Auge vorhanden war. Seit 3 Jahren linksseitige
11. September 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1833
Kopfschmerzen, vor 3 Wochen Lähmung des rechten Arms, die nach
einer Woche von selbst wieder verschwand. Seit 14 Tagen hie und
da auftretende plötzliche Verdunkelungen des linken Auges. Bei der
ophthalmoskopischen Untersuchung während eines solchen Anfalles
Hess sich als Ursache für denselben eine vollkommene Blut¬
leere der Netzhautarterien bei unveränderter Füllung der
Venen nachweisen. Nach einigen Minuten trat unter den Augen des
Beobachters eine langsame Wiederherstellung der Netzhautzirkulation
mit Besserung des Sehvermögens ein. Diese Erscheinung konnte
nach 5 lagen noch zweimal mit dem Augenspiegel beobachtet
werden. Als Ursache für die Stauungspapille waren zerebrale Herd¬
symptome neurologisch nicht nachzuweisen, dagegen bestand akute
parenchymatöse Nephritis. Zeichen für Retinitis albuminurica (weisse
Herde, Blutungen) waren nicht vorhanden. Als Ursache nimmt H.
Arterienkrampf an.
Derselbe demonstriert ausserdem Präparate von hämor¬
rhagischer Retinalapoplexie.
Herr Bernheiraer - Innsbruck : Anophthalmus congenitus
und die Sehbahn (mit Projektionsbildern).
B. berichtet über Untersuchungen von Gehirnen bei angeborener
einseitiger Anophthalmie. Er fand unter anderem, dass auch bei den
Nagetieren eine ansehnliche Menge von ungekreuzten Sehfasern vor¬
handen ist. Ein Befund, der bestätigt, dass alle Tiere, welche ver¬
möge ihrer Augenstellung ein gemeinschaftliches Gesichtsfeld be¬
sitzen, ungekreuzte Sehfasern führen und dass die Menge derselben
mit der Grösse des Gesichtsfeldes zunimmt. (Eingehenderes hierüber
in den Referaten der Fachzeitschriften.)
Herr L. S c h r e i b e r - Heidelberg: Ueber Drusenbildung des
Pigmentepithels nach experimenteller Ziliararteriendurchschneidung
beim Kaninchen.
Vortr. demonstriert mikroskopische Präparate von Drusen¬
bildung des Pigmentepithels der Netzhaut, die er bei einem jungen
Kaninchen — sechs Monate nach partieller Ziliararteriendurch¬
schneidung — beobachtet hat. — Dieser Befund ist in mehrfacher Hin¬
sicht bemerkenswert: einmal sind Drusen bei Tieren bisher noch
nicht beschrieben; ferner haben sich diese Gebilde als Folge eines
experimentellen Eingriffs (Ziliararteriendurchschneidung) entwickelt
und drittens ist die Lokalisation der Drusen ungewöhnlich. Dieselben
sind in enger Beziehung zum Pigmentepithel, nicht nur an der Aussen-
fläche der Netzhaut, sondern auch innerhalb derselbe n, ja
sogar schliesslich nach innen von der Netzhaut unmittelbar unter der
Limitans interno gefunden worden.
Herr Peters- Rostock demonstriert mikroskopische Präparate
von Geburtsverletzung der Hornhaut.
Herr Wagenmann - Jena demonstriert
1. Präparate eines gestielten Polypen des Tränensacks, der ab¬
gesehen von der Seltenheit der Tränensackpolypen bemerkenswert
ist, einmal wegen seiner Grösse (6 mm Länge, 3 mm Dicke und 3 mm
Breite), sodann wegen des Vorkommens bei einem jugendlichen Indi¬
viduum (15 jähr. Mädchen, und schliesslich, weil er möglicherweise
traumatischen Ursprungs (nach Operationsschnitt) ist.
2. Präparate von Tränensacktuberkulose.
Herr Bach -Jena demonstriert eine neue einfache Methode der
Pupillenuntersuchung.
Herr S e e f e 1 d e r - Leipzig demonstriert Präparate von einer
Keratoiritis in dem rechten und einer Iritis in dem linken Auge eines
8 monatlichen menschlichen Fötus, ferner einer Keratitis in den beiden
Augen eines 7 monatlichen Fötus. Er nimmt eine endogene Infektion,
für deren Art sich keine bestimmten Anhaltspunkte gewinnen Hessen,
als vorliegend an.
Herr Wintersteiner - Wien demonstriert Präparate von
idiopathischen Pigmentzysten der Iris.
Herr G r e e f und Herr Clausen- Berlin demonstrieren Prä¬
parate von experimenteller interstitieller Hornhautentzündung mit
Spirochaetenbefund.
Verein Freiburger Aerzte.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 16. März 1906. *)
Herr H o c h e demonstriert einen Fall (R e b a y) von Myotonia
acquisita bei Muskeldystrophie, der auf seiner Wanderung durch
Kliniken und Krankenhäuser eine Zeitlang hier Aufnahme gefunden
hat. Das besondere Interesse liegt in der Beteiligung des Ziliar-
muskels an der myotonischen Funktionsart, ein Beweis, dass die¬
selbe nicht an die quergestreifte Muskulatur gebunden ist.
Diskussion: Herr Stock, Herr A x e n f e 1 d.
Herr Clemens: Ueber den Stoffwechsel bei Morbus Ba-
sedowii.
Manche schweren Fälle von Morbus Basedowii gehen mit
erhöhtem Konsum von stickstoffhaltigem Material, mit erhöhter
Ausfuhr von N und P2O5 im Harn einher. Schon Ruhe und kühle
Halbbäder wirken, wie an Kurven der Ausscheidungen gezeigt
*) Der Redaktion zugegangen am 20. August 1. Js.
wird, normalisierend. Die sogenannten Spezifika, Rodagen
und Antithyreoidin, zeigen keinen deutlichen Einfluss, wohl aber
die partielle Entfernung der Schilddrüse, wie schon M a 1 1 h e s
gezeigt hat. (Die Arbeit erscheint ausführlich in der Festschrift
für Bäu ml er, Zeitschrift für klin. Med., Bd. 59, H. 2 — 4).
Herr Link: Ueber einen Fall von Schwarzwasserfieber.
Nach kurzen einleitenden Bemerkungen über Begriff und
Pathogenese des Schwarzwasserfiebers Mitteilung der Kran¬
kengeschichte :
S., 27 Jahre alt, Kaufmann. Früher stets gesund. Mai 1897
Infektion mit Lues. Herbst 1897 Schmierkur. Seither keine Er¬
scheinungen mehr von Lues bis auf die bei der Aufnahme vorhandenen.
Seit Januar 1904 in Süd-Kamerun, meist in sehr moskitoreicher und
feuchter Gegend. Nimmt prophylaktisch gegen Malaria jeden 5. Tag
1,0 Chinin, muriat Seit Anfang März 1905 Malariaanfälle, die in un¬
regelmässigen Intervallen von 8 — 10 Tagen wiederkehren. Nahm bei
denselben, nachdem das Fieber auf 38° zurückgegangen, 2 Tage
morgens und abends je 1,0 Chinin.
Anfang Mai 1905 erster Schwarzwasserfieberanfall. Vor dem¬
selben 8 — 10 Tage lang kein Chinin genommen, weil er seinen Vorrat
nach einer benachbarten Faktorei abgegeben hatte. Ob er vorher
Antipyrin nahm, weiss er nicht mehr, da er gewohnt war, dies Medi¬
kament zu nehmen, wenn er gerade Kopfschmerzen hatte. Blutiger
Urin 8 — 10 Tage lang; Urin wiedef ganz hell erst nach 3 Wochen.
Anfangs 2 Tage lang bewusstlos. Nahm auch während des Anfalles
aus dem oben angeführten Grunde kein Chinin, nur einen Fieberkraut-
thee der Eingeborenen. Mai, Juni, Juli wieder Malariaanfälle und
Chininprophylaxe wie vorher. Anfang August zweiter Schwarz¬
wasserfieberanfall; am Abend vorher 1,0 Chinin genommen, am
nächsten Nachmittag blutiger Urin, der nach 6 Tagen wieder ganz
hell war. Keine Bewusstlosigkeit. Von Mitte Oktober bis Mitte
November Ueberfahrt nach Hamburg, nachdem bis Mitte Oktober
wieder die Malariaanfälle wie vorher aufgetreten waren. Plasmodien
im Blut konstatiert. Seither öfters „versteckte“ Anfälle, die er stets
mit 1,0 Chinin unterdrückte. Am 7. oder 8. I. 06 1,0 Chinin, um
einen Anfall zu unterdrücken, am 10. I. nachmittags plötzlich 40°,
nachdem er morgens bei 38° 1,0 Chinin genommen hatte, blutiger
Urin; Dauer 2 Tage.
Bei der Aufnahme (22. I. 06) fieberfrei, etwas blass, Milz 7: 13,
Leber etwas vefgrössert; in dem hellen Urin Spur Eiweiss, schwache
Urobilinreaktion, zweifelhafte Blutreaktion, sonst nichts Abnormes.
Am rechten Unterschenkel und an der Haargrenze serpiginöses
Syphilid, deshalb Jodkali. Blut in den ersten Tagen nach der Auf¬
nahme: 100 Proz. Hämoglobin (Sahli), 4 806 000 Erythrozyten,
9000 Leukozyten, keine Plasmodien. Blieb zunächst dauernd fieber¬
frei, Pulsfrequenz öfters etwas gesteigert, 72 — 96.
6. II. 06, 11 Uhr vormittags 1,0 Chinin, muriat. Darauf Ausbruch
eines schweren Schwarzwasserfieberanfalles. 1 Uhr Frieren, nachdem
er schon mit schlechtem Appetit zu Mittag gegessen hatte, 3 Uhr Er¬
brechen, 3 Uhr 15 Min. dunkelroter, blutiger Urin. Temperaturanstieg
bis 40,3°. Der Urin blieb 5 Tage lang blutrot, am 6. allmähliche Ab¬
nahme (Demonstration von Proben der einzelnen Entleerungen und
der 24 ständigen Mengen usw.). Enthielt sehr reichlich gelöstes
Hämoglobin (spektroskopischer Nachweis und sehr intensive Heller-
sche Blutprobe), zum Teil war dasselbe in gelbbraunen Schollen aus¬
gefallen. Keine roten Blutkörperchen im Urin (Untersuchung jeder
einzelnen Entleerung), nur ganz vereinzelte Blutkörperchenschatten.
Von vorneherein einige schollige Hämoglobinzylinder. Intensive
Urobilinreaktion (Probe mit Zinc. acetic. in alkoholischer Lösung und
spektroskopischer Nachweis), Bilirubin negativ. Reichlich Eiweiss:
auf die 24 ständige Menge berechnet in den ersten 24 Stunden 6 Prom.,
am nächsten Tage 1,6 Prom., dann langsames Absinken, am 12. II. 06
Kochprobe negativ. Bei einer Entleerung, 6. II. nachmittags, ca.
25 Prom. Eiweiss. 10. II. nachmittags massenhaft Nierenepithelien,
Epithelzylinder, auch Erythrozyten und einige Blasenepithelien.
Diese Beimengungen gingen sehr schnell zurück und waren nach
2 Tagen nur mehr in Spuren nachweisbar. Die 24 ständigen Harn¬
mengen betrugen — bei reichlicher Flüssigkeitszufuhr — 3000, 2300,
3000,1600,2100,1800,2500 und blieben dann noch einige Tage auf dieser
Höhe. — Eine Eisenbestimmung (Prof. Clemens) ergab in 500 ccm
Urin 0,0343 Fe; das würde, eine gleichbleibende Ausscheidung von
Hämoglobin in 5 Tagen vorausgesetzt, ca. 1,6 kg Blut entsprechen.
Temperaturverlauf und Pulsfrequenz siehe beifolgende Kurve:
(Kurve siehe nächste Seite.)
Tiefster Stand der Erythrozyten und der Hämoglobinmenge
(1 950 000 bezw. 47 Proz.) am 12. II. Im Blut bei häufiger Unter¬
suchung niemals Plasmodien gefunden, dagegen Hämoglobinschollen.
Das abgesetzte Serum dunkelgelb, nicht rubinrot.
Vom 12. II. ab schnelle Rekonvaleszenz, am 19. II. in gutem Zu¬
stande entlassen (82 Proz. Hämoglobin, 3 470 000 Erythrozyten, ziem¬
lich viel Blutplättchen). Milz und Leber annähernd auf dem früheren
Stand.
Es handelte sich somit um eine schwere Hämoglobinurie,
bei der etwas über die Hälfte der roten Blutkörperchen zerstört
worden ist, ausgelöst mit Sicherheit durch 1,0 Chinin, muriat.
1834
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
Die massenhafte Abscheidung des Hämoglobins veranlasste
dabei nach 4 Tagen eine schnell vorübergehende erhebliche
Nierenreizung. Besprechung der verschiedenen Theorien über
den Zusammenhang von Malaria und Schwarzwasserfieber,
speziell Hervorhebung der von N och t (No. 1 dieser Wochen¬
schrift, 1906) mitgeteilten Beobachtungen und Experimente.
Freilich werden alle Rätsel auch durch diese Theorie nicht ge-
Andeutung von Rosenkranz auf; die Klavikeln springen stark
S-förmig gekrümmt vor. Das Becken ist hochgradig ver¬
ändert, von den Seiten zusammengedrückt; die Symphyse
springt stark schnabelartig vor; innere Abtastung unmöglich,
da fast das ganze kleine Becken von einem knochenharten
Tumor ausgefüllt ist. Bei der rektalen Untersuchung stösst man
bei intaktem, nur sehr verengtem Darm gleich auf eine glatte
derbe Geschwulst, die vom Kreuzbein ausgehend, sich kugelig
(nach links mehr als nach rechts) ins Becken erstreckt. Der Tumor
wird seiner Lokalisation, Form und Konfiguration nach als Enchon-
d r o m angesehen, besonders mit Rücksicht auf die hier sehr nahe¬
Eryfhroc
**OOOQOO
3000000
6.11.
7.
IT.
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U.
9. n.
10. II.
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sei.
= ‘*£06000
i
Hämo$lobir>(zb I
= 100%)
-
Kurve 2.
löst, da ein gewisser Prozentsatz von Europäern in Malaria¬
gegenden bei Malaria und — regelmässigem oder unregelmäs¬
sigem — Chiningebrauch von Schwarzwasserfieber nicht be¬
fallen wird, und ferner, worauf Koch (Zeitschr. f. Hyg. u. In-
fektionskrankh., 1899, S. 295 ff.) aufmerksam macht, in ge¬
wissen Ländern, in denen bei Malaria gleichfalls Chinin ge¬
nommen wird, Schwarzwasserfieber unbekannt ist. Als wei¬
terer ätiologischer Faktor ist ausser Malaria und Chiningebrauch
im mitgeteilten Falle vielleicht die Lues in Betracht zu ziehen,
die schon für sich allein (Murri) Hämoglobinurie erzeugen
kann.
Herr Rauscher: Zur Diagnose und Therapie gewisser
Erkrankungen des Ureters und der Harnblase beim Weibe.
Diskussion: Herr K r ö n i g. .
Sitzung vom 25. Mai 1906.
Herr R o o s: Ueber den Adams-Stokes sehen Sym-
ptomenkomplex. (Der Vortrag ist ausführlich a. a. 0. er¬
schienen.)
Naturhistorisch-Medizinischer Verein Heidelberg.
(Medizinische Sektion.)
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 10. Juli 1906.
Herr Leo Müller: Rhachitis tarda mit Enchondrom des
Beckens.
Der 30 jährige Patient stammt aus gesunder Familie, hatte keine
Kinderkrankheiten, vor allem früher nichts von englischer
Krankheit durchgemacht.
Musste vom 14. "Lebensjahr an schwer arbeiten unter sehr
schlechten äusseren Lebensbedingungen.
Vom 17. Lebensjahr an Gang etwas „wackelig“, doch erst vom
20. Jahre an subjektive Beschwerden : Leichte Ermüdbarkeit
und Steifigkeit in dien Beinen; ziehende Schmerzen in
den Knien und Knöcheln, mit zunehmendem Dicker¬
werden derselben. Später langsam eintretende Verkrümmung
der Beine, die — „früher ganz gerade“ — schliesslich zu aus¬
gesprochenen „O - B e i n e n“ wurden. Pat. wurde deutlich kleiner,
der Brustkorb bog sich auffallend nach vorn aus und der
Rücken wurde leicht gekrümmt. In den letzten Jahren be¬
sonders in den Hüften stärkere Schmerzen und Steifig¬
keit. — Im letzten halben Jahr auch in den oberen Extremi¬
täten dieselben Beschwerden (bes. beim Aufstützen mit den Armen)
und — auch für den Patienten merkbares Dickerwerden der
Handgelenke.
Zuletzt Gehen und Stehen ohne Unterstützung ganz un¬
möglich; auch Allgemeinzustand schwer beeinträchtigt.
Der objektive Befund zeigt das Bild der typischen rha-
chitischen Knochen Veränderung: Starkes Hervortreten
der verdickten Epiphysen (besonders der distalen), an den
langen Röhrenknocheil, besonders deutlich an den Vorder¬
arme n, den distalen Epiphysen der Femura und den Epiphysen
der Unterschenkelknochen; ausgesprochenes Genu v a -
r u m und leichter Plattfuss. Die Wirbelsäule zeigt leichte
Kyphose der Brust und stärkere Lordose der Lendenwirbel.
Der Thbrax im unteren Teil stark auseinandergetrieben — weist
liegende Möglichkeit der Entstehung desselben aus noch
Testierenden versprengten Knorpelkeimen. Dieser Be¬
fund liefert zugleich eine hochinteressante und wichtige Illustra¬
tion zu der alten V i r c h o w sehen Hypothese über die Ent¬
stehung solcher Tumoren; denn schon V i r c h o w erblickt
in den postembryonalen Entwicklungsstörungen,
besonders „in den rhachitischen Wachstumsstörungen
den Hauptfaktor für die Genese der Enchondrome“,
Die Demonstration der Röntgenbilder (die ich Herrn Dr.
Lewisohns Liebenswürdigkeit verdanke) bestätigt die Annahme
der rhachitischen Veränderung. So zeigt sich z. B. an
den Vorderarmknochen eine deutliche unregelmässige Ver¬
breiterung der Epiphysen grenze mit kleineren, zer¬
streuten Knorpelherden; auch zeigt sich besonders am
Radius ein deutliches, wenn auch geringgradiges Absetzen der
Epiphyse. — Noch auffallender ist das Radiogramm des
Beckens, das zunächst die hochgradige Veränderung
der Becken form zum Schnabelbecken veranschaulicht,
dann aber — bis im aufsteigenden Schambeinast noch grosse
offene Knorpelfugen erkennen lässt; charakteristisch ist auch
die sehr deutliche Rarefizierung der Spongiosa an den
Femurköpfen und die doppeltkonturierte schmale Kortikalis.
Sehr deutlich ist auch der Ausgangspunkt des Knoche n-
tumors vom S a k r u m aus zu erkennen, das in der Mitte eine
starke, scharf begrenzte Aufhellung zeigt und von da eine
diffuse Verbreitung des Tumorschattens nach hinten oben und be¬
sonders in der linken Seite erkennen lässt. —
Erwähnenswert ist noch der völlig normale Befund der
inneren Organe, des Blutes, der Drüsen etc. — Nur das
Nervensystem zeigt eine gewisse Neigung zu leicht
spastischen Zuständen, besonders in der Muskulatur der
unteren Extremitäten, die auch eine erhebliche Beweglich¬
keitsbeschränkung der Hüftgelenke verursachen ; auch
findet sich P a t e 1 1 a r - und Fussklonus und zwar ander am
stärksten rhachitisch veränderten Extremität am
deutlichsten; dafür jedoch keine qualitative Veränderung dör
Hautreflexe noch andere Anzeichen einer organischnervösen Er¬
krankung.
Eine differentialdiagnostische Abgrenzung des Falles
erscheint unnötig, da das klinische und anatomische Bild
durchaus eindeutig erscheint, vor allem muss aus diesem Grunde
auch die sonst nicht fern liegende Annahme einer jugendlichen
Osteomalazie ab gelehnt werden.
Die Prognose scheint trotz der Dauer des Leidens (ca. 10
Jahre) relativ günstig, da die erst jetzt zum ersten Male einge¬
leitete Phosphortherapie bereits in kurzer Zeit sehr erheb¬
liche Besserung gezeitigt hat. —
Diskussion: Herren Loose r, Czerny, Leo Müller,
L e w i s o h n.
Sitzung vom 17. Juli 1906.
Herr A. v. Lichtenberg spricht über Hydrops des Wurm¬
fortsatzes. Nach einer kurzen Uebersicht der Literatur geht er an
die Schilderung dreier in der Heidelberger chirurgischen Klinik in den
letzten Monaten beobachteten Fälle. Alle drei verursachten die Be¬
schwerden einer chronischen Appendizitis. In zwei Fällen konnte
man eine strangförmige Resistenz an der typischen Stelle feststellen.
In einem Falle konnte man bei der Operation die Drehung des hydro-
pischen Wurmfortsatzes um 180° im Sinne des Uhrzeigers konsta¬
tieren, die Detorquation ging nach Lösung einiger Adhäsionen leicht
von statten. Auch die anderen Fälle waren durch periappendikuläre
Adhäsionen leicht fixiert, aber man konnte bei ihnen keine besondere
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1835
• Knickung nachweisen. Die anatomischen Präparate boten drei ver¬
schiedene Arten der hydropischen Erkrankung dar. Sie waren alle
mit Divertikeln kombiniert. Der Inhalt erwies sich in allen drei
Fällen als steril. Der histologische Befund sowie die nähere Be¬
schreibung der Fälle wird in einer ausführlichen Arbeit publiziert
(Demonstration der Präparate.)
Herr Hirsch 1: Demonstration eines Präparates von enormem
Hydrops des Wurmfortsatzes.
Herr Ludwig Arnsperger: Zur Differentialdiagnose
des Ikterus.
Vortragender betont, dass bei jedem Ikte rusfall eine ge¬
naue Differentialdiagnose versucht werden sollte, da dieselbe
für Prognose und Therapie ausschlaggebend ist. Er befür¬
wortet die strenge Scheidung von mechanischem und funk¬
tionellem Ikterus, welche sich allerdings in späteren Stadien
kombinieren können. Letzterer ist der chirurgischen Therapie
unzugänglich.
Die Diagnose berücksichtigt zunächst eine möglichst ein¬
gehende Anamnese, dann eine genaue objektive allgemeine
Untersuchung. Verf. weist dabei besonders auf die Wichtig¬
keit der relativen Intensität des Ikterus zur Färbung des
Stuhles, sowie auf das Courvoisier sehe Symptom hin.
Sodann bespricht er eingehend die Untersuchung des Urins, der
Fäzes und des Blutes. Ein Auftreten von Urobilin im Urin
spricht besonders bei Fehlen von Bilirubin im Urin und bei
Fehlen von völliger Acholie der Fäzes für einen funktionellen
Ikterus infolge Läsion der Leberfunktion. Eine Verlängerung
der Gerinnungszeit des Blutes über 12 Minuten ist für die
Prognose eines chirurgischen Eingriffes ungünstig.
Zum Schlüsse gibt Verf. drei typische Bilder der wichtig¬
sten Ikterusformen :
1. des Choledochussteines. Er weist auf die Kombination
dieser Erkrankung mit sekundärem funktionellem Ikterus und
mit Karzinom der Gallenblase hin und betont die Häufigkeit der
Choledochussteine ohne Ikterus (15,5 Proz.).
2. der Choledochuskompression durch einen Tumor oder
chronische Pankreatitis und
3. des Ikterus infolge Funktionsstörung der Leber ohne
mechanisches Hindernis.
Diskussion: Herren F i s c h 1 e r, Hans Arnsperger.
Naturwissenschaftl.-medizinische Gesellschaft zu Jena.
(Sektion für Heilkunde»)
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 19. Juli 1906.
Herr Franz: Zur Chirurgie des Ureters. (Erscheint aus¬
führlich.)
Herr Franke: 2 Fälle von Geh- und Schreibstörung.
Demonstration zweier Kranker mit spastischer, einer organischen
sehr ähnlichen Gehstörung. Es findet sich jedoch kein Anhaltspunkt
für eine organische Erkrankung, vielmehr lässt die Beobachtung ihre
funktionelle Natur erkennen. Die Fälle werden der Nonne-
Für s t n er sehen Pseudoparesis spastica zugewiesen, mit der sie
auch den Schütteltremor gemein haben. Daneben bestand in beiden
Fällen eine eigenartige funktionelle Schreibstörung.
Herr Friedei: Traumatische Neurose nach Halswirbelver¬
letzung.
50 jähriger Mann, der vor 13 Jahren eine schwere Nacken¬
quetschung erlitt, die als Luxation gedeutet wurde. Seitdem wech¬
selnde, inkonstante Erscheinungen von Paresen, Parästhesien, Sprach¬
störungen. Gegenwärtig Tremor der Arme, Kontrakturen in den
Halsmuskeln. Fehlen organischer Veränderungen durch Untersuchung
in Narkose und mit Röntgenstrahlen gesichert, der ganze Zustand
somit im wesentlichen psychogen.
Herr Spiethoff stellt vor: 1. einen Patienten mit Lichen
ruber verrucosus, der sich in mächtig entwickelten, bis flachhand¬
grossen Herden auf einem varikösen Unterschenkel präsentiert. Pat.
leidet ausserdem an einer Dystrophia muscul. juvenil. Unter Arsen-
und Röntgenbehandlung Rückgang der Hauterscheinungen.
2. einen Patienten mit Pruritus. Ein ständig abnorm hoher
Indikangehalt des Urins war zunächst der einzige ätiologische
Anhaltspunkt. Ueber Verdauungsstörungen irgend welcher Art hatte
der Pat. nicht zu klagen. Wegen des hohen Indikangehaltes wurden
neben einer blanden Diät die verschiedensten Darmdesinfizienten ge¬
reicht, u. a. auch das von Singer besonders empfohlene Menthol,
aber ohne eine Abnahme des Indikans im Urin und ein Nachlassen
des Pruritus zu erreichen. Wegen der Erfolglosigkeit dieser Therapie
wurde nunmehr der Ursache des hohen Indikangehaltes nachgegangen,
hn Urin konnte däs Pepsin, welches' normaliter fast konstant am-
zutreffen ist. nie nachgewiesen werden, eine Magenuntersuchung
ergab den Symptomenkomplex der Achylia gastrica. Dass
bei dieser Sekretionsstörung die Darmfäulnis vermehrt ist, und dass
der Salzsäuremangel im Magen in gewissen Beziehungen zur Darm¬
fäulnis steht, ist bekannt, Pat. nahm zu jeder Mahlzeit Salzsäure,
und es konnte in den täglich vorgenommenen Urinuntersuchungen ein
langsames, aber stetes Sinken des Indikans festgestellt werden. Nach
etwa 10 Tagen war der Urin zum ersten Male völlig frei von diesem
Körper. Mit dem Indikan schwand ebenso allmählich der Pruritus.
Pat. nahm auch nach seiner Entlassung aus dem Krankenhause die
Salzsäure zunächst regelmässig weiter. Die einige Wochen später
erfolgte Nachuntersuchung fand den Urin frei von Indikan und den
Pruritus nicht wieder aufgetreten. Pat. hielt sich nun für geheilt und
liess die Salzsäure eigenmächtig fort. Aber schon nach 8 Tagen
stellte er sich mit Klagen über heftiges Jucken vor, Indikan im Urin
war ausserordentlich vermehrt. Die nun wieder aufgenommene Salz¬
säure brachte beide Erscheinungen, Indikan und Pruritus, allmählich
zum Verschwinden.
3. eine Patientin, die an dem Symptomenkomplex der Urticaria
chronica perstans cum pigmentatione leidet. Ausser einem hohen
Indikangehalt des Urins Hessen sich irgendwie für die Aetiologie ver¬
wertbare Symptome nicht eruieren. Die bisher angewendete The¬
rapie blieb völlig erfolglos, sie bestand in Verabreichung von Darm-
desinfizientien, Organpräparaten-, Ovarial-, Pankreontabletten- und
diätetischen Kuren.
Herr Busse: Ueber Lumbalanästhesie in Verbindung mit
Morphiuniskopolamininjektionen.
(Vortrag erscheint in der Miinchn. med. Wochenschrift.)
Gesellschaft für Morphologie und Physiologie in
München.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 3. Juli 1906.
Herr K. Hörmann: Ueber deziduale Bildungen im
Ovarium Schwangerer.
Beim Menschen erfährt während der Schwangerschaft
nicht nur die Schleimhaut des Uterus eine deziduale Umwand¬
lung, sondern es tritt fast regelmässig auch an anderen Stellen
des Genitaltraktus und seiner Nachbarschaft deziduaähnliches
Gewebe auf. Hier soll nur von den entsprechenden Ver¬
änderungen in den Ovarien die Rede sein. S c h m o r 1 hat zu¬
erst deziduaähnliche Herde in den Ovarien gravider Frauen
nachgewiesen und seine Angaben haben seither mehrfach Be¬
stätigung, vor allem durch Kinoshit a, Schnell, Rabl,
und Lindenthal, gefunden. Die fraglichen Zellgruppen
liegen meist dicht unter dem Keimepithel, aber auch tiefer, und
werden vom 5. Monat ab als Knötchen von blassgrauer Farbe
häufig schon makroskopisch sichtbar. Charakteristisch für die
in Frage stehende Gewebsveränderung ist ihr Entstehen
während der Schwangerschaft, ihr Verschwinden am Ende
derselben und ihre grosse morphologische Aehnlichkeit mit
dem Deziduagewebe der Uterusschleimhaut bei intrauteriner
Gravidität.
Die histologische Struktur der in voller Ausbildung be¬
findlichen grosszeiligen Herde wird von den früheren Autoren,
soweit sie sich eingehender mit diesen Bildungen beschäftigt
haben, nicht ganz übereinstimmend geschildert. Dieser Um¬
stand, sowie der Wunsch, eventuell sichere histologische An¬
haltspunkte für die Identität der grossen Zellen mit den Ele¬
menten der Decidua uterina aufzufinden, veranlassten mich,
diese eigenartigen Bildungen genauer zu untersuchen. Im
folgenden sei es mir gestattet, meine Resultate mitzuteilen.
Alle untersuchten Objekte waren ganz frisch gewonnen
und in 5 proz. Formollösung fixiert worden. Die Färbung der
Schnitte geschah zum Teil nach den gewöhnlichen Methoden
z. B. mit Hämatoxylin-Eosin, zum Teil aber wurden spezielle
Färbemethoden angewendet, die allein gewisse Details in ge¬
nügender Deutlichkeit erkennen Hessen. Sie sind bei Be¬
schreibung der entsprechenden Befunde aufgeführt.
Die meisten der Zellen in den Knoten erinnern nach Form,
Grösse, Anordnung, Beschaffenheit des Kernes und Verhältnis
desselben zum Zellenleib ohne weiteres an die so charakte¬
ristischen Zellen der Decidua uterina: sie sind sehr vielgestaltig
(unregelmässig rundlich, oval, kurzspindelig, kolbig, bimförmig)
und auffallend gross (s. Fig. a). Die Zellen liegen in vielen
Knoten so dicht aneinander, dass man bei oberflächlicher Be¬
trachtung den Eindruck gewinnt, als ob man esimit geschichte-
1836
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
tem Plattenepithel zu tun hätte. Sobald man aber eine spe¬
zifische Bindegewebsfärbung vornimmt, tritt zwischen den
Zellen aufs deutlichste eine sehr feinfaserige Inter¬
zellularsubstanz hervor. S c h m o r 1 hat dieselbe
mittels der van Q i e s o n sehen Färbemethode nachgewiesen;
ich habe meine Präparate nach M a r e s c h behandelt, der auf
eine für Bindegewebsfasern sehr brauchbare Modifikation der
Bielschowsky sehen Nervenfibrillenfärbungsmethode hin¬
gewiesen hat. Ueberall sieht man (cfr. .Fig. b) aufs
schärfste zwischen den grossen Z e 1 1 en ein
Netzwerk von feinsten Fasern mit dazu gehörigen
Fibroblasten, so dass die Zellen von diesem Filzwerk um¬
sponnen werden. Ich kann also gegenüber Li.ndenthal,
der eine solche different gefärbte Zwischensubstanz niemals
nachweisen konnte, die Angaben von Schmorl und Kino-
s h i t a durch unzweideutige Präparate bestätigen.
Der Versuch, auch zwischen den Zellen der Dezidua com-
pacta dasselbe Faserwerk wie in den ovariellen Haufen nach¬
zuweisen, gelang ebenfalls mittels der oben erwähnten Methode
nach M a r e s c h an 2 ganz frisch gewonnenen Deziduen. Doch
sind die Fasern hier etwas weniger zahlreich. Die gewöhnliche
Darstellung, als ob die Deziduazellen der Mucosa uteri ohne
faserige Interzellularsubstanz dicht aneinander lägen, ist also
nicht richtig, und die Analogie zwischen den dezi-
dualen Haufen im Ovarium und der uterinen
Decidua (com pacta) wird durch den mitge¬
teilten Befund eines interzellulären Faser-
Werkes nicht beeinträchtigt, im Gegenteil ge¬
festigt.
Die grossen, auffallenden Zellen in den ovariellen Haufen
haben, wie die uterinen Deziduazellen, einen grossen, gut färb¬
baren Kern; auch 2 und 3 kernige Zellen und grosse Riesen¬
zellen kommen vor. Mitosen sind nur ganz ausnahmsweise zu
sehen. Der Zellenleib ist häufig homogen und mit Eosin gleich-
mässig färbbar, nicht selten aber nimmt das Protoplasma eine
netzförmige, schaumige Struktur an, die wohl auf degenera-
tive Prozesse zurückzuführen ist.
Insbesondere ist hervorzuheben, dass in den Zellhaufen
ausser diesen den „Deziduazellen“ im engeren Sinne so ähn¬
lichen Elementen auch synzytiale Zellen in grosser Zahl
Vorkommen (Fig. c), der synzytiale Charakter der Zellen ist
ausserordentlich deutlich; ihre Tinktionsfähigkeit mit bestimm¬
ten Farbstoffen ist eine auffallend starke.
Dczidualer Herd aus dem Ovarium einer Gravida vom 10. Monat.
Schematisch.
Das Vorkommen von synzytialen Zellen in den ovariellen
Haufen wurde bisher von keinem Beobachter ausdrücklich be¬
tont; da auch in der uterinen Dezidua solche synzytiale Bil¬
dungen nichts seltenes sind, so kann uns dieser Befund bei der
angenommenen Analogie nicht überraschen.
In den „dezidualen“ Zellen der ovariellen Haufen hat sich
weiterhin fast konstant ein auffallender Befund ergeben; in
beinahe allen Hessen sich nämlich mit grösster Leichtigkeit
und Deutlichkeit Centrosomen darstellen (cfr. Fig. a, in
der Fortsetzung der Striche).
Dieselben liegen in einem heller gefärbten Hof, der Centro-
sphäre. Sehr häufig waren 2 Centrosomen neben einem ruhen¬
den Kern zu sehen (cfr. Fig. a, in der Fortsetzung des unteren
Striches), und zwar manchmal ganz nahe beisammen, manch¬
mal aber auch auffallend weit voneinander entfernt. Im
ersteren Falle haben beide Centrosomen des öfteren eine ge¬
meinsame Sphäre mit sanduhrförmiger Einschnürung, woraus
auf eine vor sich gehende Teilung des Centrosoma mit Be¬
teiligung der Sphäre geschlossen werden könnte; im letzteren
Falle hat jedes Centrosom seine eigene Sphäre. Bemerkens¬
wert ist die Lage der Centrosomen, insofern sie auffallend
weit von dem stets in Ruhe befindlichen Kern entfernt sind,
sowie ihre bedeutende Grösse. Sie lassen sich sehr leicht
darstellen mit M. Heidenhains Eisen-Hämatoxylin-Fär-
bung, aber auch mit anderen Färbemethoden, z. B. nach
Mallory, Biondi-Ehrlich-Heidenhain.
Da sich die Centrosomen fast ausschliesslich in Zellen fin¬
den, welche die unverkennbaren Zeichen der Degeneration
tragen (Vakuolisierung des Protoplasmas, Karyolysen,
Pyknose n), so lässt sich in unserem Falle aus der An¬
wesenheit dieser Gebilde nicht etwa auf eine ausgedehnte pro¬
duktive Tätigkeit in den ovariellen Haufen schliessen; man
kann nur sagen, dass sie sich auffallend lange und gut auch in
untergehenden Zellen erhalten können; ihre bedeutende Grösse
könnte mit einer Quellung vor ihrem Untergange Zusammen¬
hängen.
Die bisher beschriebenen Befunde wurden zunächst alle
an einem Ovarium vom Ende der Gravidität erhoben. Die
Konstanz dieser histologischen Strukturverhältnisse wurde an
vier weiteren Ovarien, vom 6. bezw. 10. Monate der Gravidi¬
tät nachgeprüft, und in jeder Weise bestätigt.
Um ausser den bisher erörterten morphologischen Ana¬
logien zwischen den Deziduazellen des Uterus und jenen
grossen Zellen in den Ovarien noch weitere Stützpunkte für
ihre eventuelle Identität zu gewinnen, wurden auch die
uterinen Deziduazellen auf Centrosomen
untersucht. In 2 ganz frisch gewonnenen Deciduae ge¬
lang der Nachweis der Centrosomen ebenso konstant
wie in den ovariellen Haufenzellen. Häufig fiel hier eine eigen¬
tümliche Form der Centrosomen auf, indem sie das Aussehen
von Hufeisen oder Stäbchen hatten; im übrigen waren solche
Formen bei nochmaliger Durchsicht der Präparate auch in
den ovariellen Deziduazellen zu finden, wenn auch hier die
kreisrunden bezw. kugeligen Bilder in der Ueberzahl waren.
Nach dem Resultate meiner Untersuchungen kann ich der
Ansicht der früheren Autoren, welche jene eigentümlichen
grosszelligen Herde im Ovarium mit der uterinen Dezidua-
bildung in Parallele setzten, vollkommen beistimmen. A 1 s
weitere Stützpunkte fii r die Identität der bei¬
den Bildungen glaube ich folgende gemein¬
same Befunde erbracht zu haben:
1. den Nachweis eines feinen interzellulären Faserwerkes,
2. das Vorhandensein von synzytialen Zellen neben den
„Deziduazellen“ im engeren Sinn,
3. das fast konstante Vorkommen von ausserordentlich
leicht darstellbaren Centrosomen in den grossen dezidualen
Zellen.
Nürnberger medizinische Gesellschaft und Poliklinik.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 7. Juni 1906.
Herr Kronheimer demonstriert:
1) einen Fall von Myositis ossificans. Bei einem 36 jährigen
Schlosser waren in den letzten 4 Jahren ohne erkennbare äussere
Ursache und ohne Reizerscheinung an ganz verschiedenen Körper¬
stellen unterhalb des Unterhautzellgewebes in der Gegend der Fas¬
zien und im Perimysium der Muskeln Knochenbildungen in Form
von Platten und Spangen aufgetreten. Die davon befallenen Körper¬
gegenden sind die Regio lumbalis sin., Reg. poplitea sin., die rechte
innere Oberschenkelgegend und der rechte Daumenballen. Die Ver-
11, September 1906. _ MUCNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1837
knöcherungen fühlen sich als harte, teilweise spitz auslaufende, deut¬
lich abgrenzbare, verschiebliche, dünne Platten an. Die 6 cm lange,
4 cm breite und bis zu 3 mm dicke Knochenplatte aus der linken
Lendengegend und die mandelgrosse Knochenbildung aus dem rechten
Daumenballen sind wegen leichter Schmerzempfindlichkeit bei der
Arbeit von K. vor 6 Wochen exstirpiert worden und werden demon¬
striert. Die anderen konstatiertem Knochenbildungen wurden im
Körper belassen, da sie dem Patienten keinerlei Beschwerden machen
und wie die heutige Palpation der linken Lendengegend über der
per primam geheilten Exzisionsnarbe beweist, zur Rezidivierung
neigen. K- glaubt, dass dieser doch mehr vereinzelt auftretende
Knochenbildungsprozess seines Patienten verschieden ist von der
Myositis ossificans progressiva, jener eigenartigen Erkrankung jugend¬
licher Individuen, die sich mehr im intermuskulären Bindegewebe
entwickelt, nach und nach in der ganzen Körpermuskulatur sich aus¬
breitet und diese verdrängt.
2) mikroskopische Präparate von dem Tumor, den Herr Hein-
lein bei einer Perityphlitisoperation an der Valvula Bauhini ge¬
funden und mit dem Wurmfortsatz exstirpiert hatte (cf. Sitzung vom
19. April). Der Tumor erweist sich als ein echter Darmpolyp mit
stark hypertrophischen Follikeln und vermehrtem Drüsengewebe.
Merkwürdig ist nur die eigentümliche Lage des Polypen, der im
Intestinum gerade an der Abgangstelle des Proc. vermiformis aufsitzt.
Herr A. Stauder berichtet ausführlich über Nebennierentuber¬
kulose.
An Hand der einschlägigen Literatur wird die Physiologie und
Pathologie der Nebenniere, das Symptomenbild und die Diagnose der
eigenartigen Erkrankung ausführlich besprochen. Ein selbst be¬
obachteter Fall verlief folgendermassen: 59 Jahre alter Herr, der an
Jahre alter Bronchitis und häufigen Mastdarmblutungen litt, als Kind
von der Amme luetisch infiziert gewesen, erkrankt November
1905 mit Fieber, heftigen Koliken, schmerzhaftem Druck in der Gallen¬
blasengegend, Stuhlverstopfung und unstillbarem Erbrechen. Als
Cholezystitis mit Ruhe, Breiumschlägen, Karlsbader Miihlbrunnen
typisch behandelt, alle Erscheinungen nach ca. 2 Wochen zurückge¬
gangen, mit Ausnahme eines sehr hartnäckigen Erbrechens, das regel¬
mässig morgens beim Aufstehen, beim Hinausgehen auf den .unge¬
heizten Gang mit vorhergehendem heftigen Hustenreiz eintritt. Es
wird dabei Galle und Schleim erbrochen. Auf der Lunge fehlt
weiterer örtlicher Befund, mit Ausnahme eines konstant vorhandenen
kleinblasigen Rasseins rechts hinten am Angulus scapulae. Der Aus¬
wurf ist zäh, schleimig, frei von Tuberkelbazillen, Urin ohne
jede Besonderheit; der Magen enthält noch Probefrühstück, nur sehr
geringe Mengen eines sehr zähen, schleimigen Mageninhaltes, Lackmus
rötend, jede freie Salzsäure fehlt, keine Milchsäure, keine
Motilitätsstörung. Im Januar 1906 hat sich Patient wieder sehr erholt,
das Erbrechen nicht mehr täglich, dann aber immer nach dem Auf¬
stehen; Appetit wechselnd, grosser Widerwille gegen Fleisch. Ab
Februar langsame Abmagerung, weinerliche Stimmung, immer mehr
sich steigernde 'Depression, ständiges Jammern, zunehmende
Schwäche, Sterbegedanken, Sinken des Gedächtnisses. Daneben
diffuse Schmerzen unter der rechten Brust, Schmerzen in Schulter
und Arm und besonders im Rücken, grosse Empfindlichkeit am ganzen
Körper bei der leichtesten Berührung, ausserdem ist es Patienten
nicht möglich, sich im Bett aufzusetzen; er muss
jedesmal die Beine zum Bett heraushängen lassen. Bei im Hüftgelenk
rechtwinklig, ventralwärts adduziertem, im Kniegelenk gestrecktem
Beine, wie dies beim Sitzen im Bett der Fall ist, empfindet Patient
starke Schmerzen, er vermag diese Stellung selbständig überhaupt
nicht1 einzunehmen, behauptet, er werde in letzter Zeit zu „steif“.
Bei wiederholter Untersuchung nirgends im Leib eine Tumeszenz,
speziell Magen, Nieren, Gallenblase frei von fühlbaren Tumoren, nur
zeitweise bei tiefem Druck auf die Gallenblase geringer Schmerz. An
Ostern zweite akut, jedoch viel heftiger einsetzende Attacke von
unstillbarem Erbrechen, anfänglichen Koliken und ca. 8 tägigem Fieber
bis zu 39,3; heftige Steigerung der Bronchitis, sehr viel Auswurf, Un¬
möglichkeit der Nahrungsaufnahme, grosser Ekel vor jedem Essen,
nur Durst; ausser dem konstant vorhandenen Rasseln rechts hinten
nirgends Symptome irgend einer anderen Ursache für Fieber und
Erbrechen. Da das unstillbare Erbrechen immer auf jeden Husten-
stoss wiederkehrt, ferner sonst im Leibe ausser einer heftigen Ver¬
stopfung ein Befund nicht besteht, mit Ausnahme der anaziden Ga¬
stritis,- ein Tumor maligner Art, der die grosse Mazies und Apathie
erklären könnte, nicht zu finden, die luetische Infektion aber bekannt
war, für Lungentuberkulose, Magenkarzinom klinische Beweise
fehlten, so wurde in der Vermutung, es könne sich eventuell um
syphilitische Veränderungen in der Lunge bei dem ständigen massigen
und eitrigen Auswurf und Husten ohne besonderem Befund handeln,
mit Einverständnis von Prof. Penzoldt Jod versuchsweise in
Form von Schleimklysmen mit je 1 g Natrium jodatum verordnet.
Patient reagiert auf die ersten 2 g Jodnatrium mit einem überaus
heftigen Jodismus, Verschwellung der Schleimhäute, Steigerung des
Erbrechens, erneutes Fieber bis über 39, völliger Kräfteverfall. Das
Rasseln rechts hinten auf der Lunge ist jedoch seitdem völlig ver¬
schwunden, die Bronchitis bessert sich bedeutend, statt des zähen,
eitrigen Schleimes nur sehr wenig dünnflüssiger Auswurf. Nach
8 tägiger Pause wird der Versuch bei dem jetzt völlig entkräfteten,
über eine Unsumme von nervösen Beschwerden klagenden Patienten
nach Absinken des Fiebers und Nachlassen des Erbrechens mit
0,25 Sajodin im Klysma 1 mal täglich wiederholt, jedoch infolge des
immer zunehmenden Verfalles bald eingestellt. Am 25. V. nur noch
rektale Ernährung, da alles erbrochen wird; völlige hartnäckige Ver¬
stopfung bis zum Tode, der unter den Erscheinungen tiefen Komas
mit Cheyne-Stokes scher Atmung am 29. V. eintritt. Es war
bis zu seinem Tode eine sichere Diagnose nicht zu stellen, ausser des
geringen Lungenbefundes und des sichergestellten alten anaziden
Magenkatarrhs kein sicheres Symptom. Die Diagnose schwankte
zwischen einem nicht tastbaren Tumor am Magen, Gallenblase, Niere
und der Vermutung einer Syphilis der Lungen. Hautverfärbungen
waren nicht eingetreten.
Sektion; Tuberkulose des rechten oberen Lungenlappens mit
mehreren kleinen Kavernen. Ausgedehnte pleuritische Adhäsionen
beider Lungen, breite Verwachsung des Herzens mit dem Perikard,
namentlich an der Herzspitze. Das Herz atrophisch, sehr erschlafft,
speziell die Muskulatur des rechten Ventrikels; markstückgrosser
Sehnenfleck der hinteren Aortenklappe. Leber und Milz tiefblau,
Stauung. Im Magen einige Ekchymosen, Nieren ohne Befund,
rechte Nebenniere gänseeigross, mit verkästen, schmierigen
Massen gefüllt ohne jede Struktur, in der normal grossen linken
Nebenniere eine erbsengrosse Verkäsung. Das Präparat wurde dem
Erlanger pathologischen Institut überwiesen.
Dieser Fall von Nebennierentuberkulose verdient nach vielfacher
Hinsicht Interesse. Zunächst ist es das Fehlen jeglicher Pigmen¬
tierung, die nur in 28 Proz. der Fälle fehlt; ferner ist die Diagnose
durch die gleichzeitige Affektion der Lunge einerseits, des Magens
andererseits, endlich durch die luetische Infektion im Säuglingsalter,
die im Alter von 18 Jahren zu schweren Augenstörungen führte, sehr
kompliziert und völlig unmöglich geworden. Dass die häufig be¬
obachtete hartnäckige Obstipation bis zum letalen Ausgange des
Leidens anhielt, gehört nach N e u s s e r „zu den grossen Selten¬
heiten“. Die im Endstadium des Leidens sonst häufig beobachteten
„hochgradigen, profusen, in vielen Fällen direkt als unstillbar be-
zeichneten Diarrhöen" fehlten völlig. Nur in ganz vereinzelten Fällen
(Leichtenstern, Kahler, Minke 1, Brauer) konnte ein
Fehlen der freien Salzsäure konstatiert werden, im vorliegenden
Falle komplizierte die Anazidität ständig die Diagnose. Ferner wurden
im Gegensatz zu den bei Nebennierentuberkulose beobachteten ab¬
norm niedrigen Temperaturen dreimal Perioden von hohen Tem¬
peraturen beobachtet, welche sich vielleicht durch die allerdings sehr
wenig ausgedehnte Phthise erklären Hessen. Endlich beansprucht
das bisher noch nicht erwähnte Symptom Erwähnung,
dass Patient bei gestreckten Beinen nicht im
Bett sitzen konnte. Es scheint durch die starke Anspannung
der vorderen Hüftmuskeln (Iliacus internus und Psoas major) ein
zu starker Druck auf die ohnedies gespannte Kapsel der enorm ver-
grösserten Nebenniere ausgeübt worden zu sein.
Herr Stauder spricht sodann über seine Erfahrungen mit
1. den Sahli sehen Desmoidpillen. Dieselben stellen eine be-
griissenswerte Bereicherung der Methoden des Nachweises von Salz¬
säure im Mageninhalte dar; ihre Anwendung sollte sich jedoch ledig¬
lich auf die Fälle beschränken, in welchen die Sondierung des Magens
infolge bestimmter Kontraindikationen oder infolge Verweigerung der
trotz reichlicher Fehlerquellen immer noch besten Methode der
Magenfunktionsprüfung unmöglich ist. Anwendung verdient die Me¬
thode sicherlich neben der bisher gebräuchlichen Probefrühstück¬
untersuchung, weil dadurch Irrtümer in der Beurteilung der Leistungs¬
fähigkeit des Magens schnell aufgeklärt werden. So kann man durch
Gegenüberstellung der beiden Methoden, Sondierung des Magens
nach Probefrühstück und Desmoidprobe häufig bei einer nach der
ersten Methode als Gastritis anacida diagnostizierten Magenerkran¬
kung eine nach kurzer Zeit auftretende Anwesenheit von Methylen-
• blau im Urin nachweisen, wodurch prognostisch und in diagnostischer
Hinsicht wesentlich andere Vorstellungen über die sekretorische Tätig¬
keit des Magens Platz greifen. Immerhin ist die Desmoidprobe auch
nicht völlig eindeutig; unter den Fällen des Vortragenden befinden
sich folgende:
a) F., 63 Jahre alt, Carcinoma ventriculi; freie Säure bei wieder¬
holten Untersuchungen nach Probefrühstück und Probemahlzeit nega¬
tiv; Milchsäure positiv. S a 1 o m o n sehe Probe negativ. Des¬
moidprobe positiv nach 39 Stunden. Dauer der Re¬
aktion ca. 48 Stunden.
b) B., 43 Jahre alt; Gastritis anacida. Freie Salzsäure fehlt;
ebenso Milchsäure. Desmoidprobe 2 mal negativ, 1 mal nach
44 Stunden positiv.
Dass nach dieser langen Zeit endlich die Lösung des Katgut-
fadens infolge Sekretion eines sauren Magensaftes eintritt, ist wohl
nicht glaubhaft; eher anzunehmen ist eine rein mechanische Lösung
des nicht genügend fest angebrachten Fadens oder eine bei manchen
Pillen mögliche Durchlässigkeit der Gummibeutelchen. Eine
genauere Prüfung jeder einzelnen Pille auf ihre Durchlässigkeit durch
Einlegen in Wasser 24 Stunden vor Gebrauch ist deshalb empfehlens¬
wert, um fehlerhaften positiven Ausfall der Reaktion zu vermeiden.
2. Ueber Regulin und Pararegulin. Das erstere stellt ein aus¬
gezeichnetes Mittel dar zur Herbeiführung weicher Stühle bei der
reinen habituellen Obstipation und auch bei manchen Fällen von
Obstipation bei Kolitis. Absolut unschädlich und frei von Neben-
1S38
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
Wirkungen wird es gern genommen; das Pararegulin stösst jedoch
in seiner Darreichung in Kapseln von erheblicher Grösse auf Wider- '
stand von seiten der Kranken. Die Resultate mit Regulin sind fast
durchwegs gute.
3. Ueber Azidol, eine von F 1 a t o w empfohlene feste Dar¬
reichungsform der reinen Salzsäure; ein infolge der Tablettenform
und deshalb genaueren Dosierbarkeit, Transportfähigkeit auf Reisen
und seines angenehmeren Geschmackes sehr begrüssenwertes Er¬
satzpräparat für die bessere Klientel.
Einweihungsfeier des Instituts für Krebsforschung zu
Heidelberg und Internationale Konferenz für Krebs¬
forschung zu Heidelberg — Frankfurt a. M.,
25. — 27. September 1906.
Programm:
Heidelberg. Büro : im Hotel Lang.
Montag, den 2-1. September, abends 9 Uhr: Zwanglose Zu¬
sammenkunft der Teilnehmer in Heidelberg im Artushof (Hotel Lang).
Dienstag, den 25. September, vormittags IOV2 Uhr: Fest¬
sitzung in der Aula der Universität (Gesellschaftsanzug). Zu dieser
Festsitzung haben die Höchsten Herrschaften Ihr Erscheinen zuge¬
sagt. Ansprache des Prorektors Prof. Dr. T roeltsch. Ansprache
des Vorsitzenden des Zentralkomitees für Krebsforschung Geh. Med.-
Rat Prof. Dr. v. Leyden. Begriissung der Teilnehmer durch Ex¬
zellenz Prof. Dr. Czerny. Bericht über die Internationale Konferenz
für Krebsforschung von Prof. Dr. George Meyer. Ansprache der
Vertreter der Behörden. Besichtigung des neuen Institutes für Krebs¬
forschung. — Nachmittags 3 Uhr: Vorträge. (Sitzungssaal wird
noch bekannt gegeben.) Geh. Med.-Rat Pröf. Dr. v. Leyden: Ueber
das Problem der kurativen Behandlung der Karzinome des Menschen.
Exzellenz Prof. Dr. Czerny: Ueber unerwartete Krebsheilungen.
Dr. Frhr. v. Düngern - Heidelberg: Verwertung spezifischer Serum¬
reaktionen für Karzinomforschung. Dr. R. W e r n e r - Heidelberg:
Zur Genese der Malignität der Tumoren. Dr. F r 0 m m e - Halle:
Demonstration über das Verhalten der Mastzellen beim Karzinom
(mit Projektionen). Prof. Dr. G 0 1 d m a n n - Freiburg: Die Be¬
ziehungen der Karzinome zu den Gefässen (mit Projektionen). Prof.
Dr. V ö 1 c k e r - Heidelberg: Demonstration von Magen- und Darm¬
krebsen. Dr. v. W a s i e 1 e w s k i - Heidelberg: Thema Vorbehalten.
Dr. L e w i s 0 h n - Heidelberg: Zur Behandlung maligner Tumoren
mit Röntgenstrahlen. — Abends: Bengalische Beleuchtung der beiden
Brücken sowie der Neckarufer, dann 8 20 Uhr: Fahrt nach Frankfurt,
Ankunft daselbst 9 58 Uhr (oder Abfahrt am 26. September morgens
8:i Uhr, Ankunft in Frankfurt 9 20 Uhr).
Frankfurt a. M. Büro und Sitzungssaal: im Senckenbergischen
Institut Eschenheimerstrasse 76 (am Eschenheimer Tor).
Mittwoch, den 26. September, vormittags 10 Uhr: Begrüssung
der Teilnehmer durch Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ehrlich. Be¬
licht über die Untersuchungen des Institutes für experimentelle The¬
rapie. Demonstration der Präparate der Sammlung des Instituts für
experimentelle Therapie (in Gemeinschaft mit Dr. A p o 1 a n t). Vor¬
träge. Prof. Dr. H e r x h e i m e r und Dr. H ü b n e r - Frankfurt:
Ueber die Röntgentherapie der Hautkarzinome mit Demonstrationen
behandelter Fälle aus dem Lichtheilinstitut der Hautkrankenstation.
Prof. Dr. S p i e s s - Frankfurt: Experimentelle Heilversuche an
Mäusekarzinomen. — Nachmittags 3 Uhr: Prof. Dr. H e n k e - Char¬
lottenburg: Zur pathologischen Anatomie der Mäusekarzinome. Prof.
Dr. Lubarsch - Zwickau : Ueber destruierendes Wachstum und
Bösartigkeit der Geschwülste. Dr. H a a I an d - Christiania: Ueber
Metastasenbildung bei transplantierten Sarkomen der Maus (mit De¬
monstration). Dr. Zimmermann - Ofen-Pest: Die Entstehung des
Krebses; Histogenese multipler Hautkrebse. Prof. Dr. Albrecht-
Frankfurt: Vorschläge zu einem natürlichen System der Geschwülste.
Derqonstratiop seltener Geschwülste. Dr. Leaf- London: The cause
of CanCfer of the, Breast (clinical) with some remarks upon the Con¬
nection between irritation and the production of malignant growth
(experimental). — Abends 7 Uhr: Festessen im Hotel Fürstenhof,
Ecke Gallusanlage und Kronprinzenstrasse.
Donnerstag, den 27. September, vormittags 9 Uhr: Prof.
Dr. B 1 u m e n t h a 1 - Berlin : Die chemische Abartung der Zellen
beim Krebs. Dr. L. M i c h a e 1 i s - Berlin : a) Ueber Versuche zur
Erzielung einer Krebsimmunität bei Mäusen; b) Transplantierbares
Rattenkarzinom. Dr. W. Loewenthal - Berlin : a) Untersuchungen
über die Taubenpocke; b) Demonstration von Zellen mit Kernver¬
änderungen in der Karpfenpocke. Dr. B e r g e 1 1 - Berlin: Zur Chemie
der Krebsgeschwülste. Dr. Carl L e w i n - Berlin: Ueber Versuche,
durch Uebertragung vom menschlichen Krebsmaterial verimpfbare
Geschwülste bei Tieren zu erzielen. Dr. A. Sticker- Berlin : Ueber
endemisches Vorkommen des Krebses. Geh. Med.-Rat Dr. Behla-
Stralsund: Ueber Beziehungen zwischen Wasser und Krebs mit karto¬
graphischen Demonstrationen. Dr. P r i n z i n g - Ulm : Das Gebiet
hoher Krebssterblichkeit im südlichen Deutschland und in den angren¬
zenden Teilen Oesterreichs und der Schweiz. Prof. Dr. D 0 1 1 i n g e r-
Ofen-Pest: Ein Ergebnis der vom Komitee für Krebsforschung des
Ofen-Pester Königlichen Acrztevereins veranstalteten Sammclfor-
schung. Prof. Dr. George M e y e r - Berlin: Ueber die Versorgung
Krebskranker.
E. v. Leyden - Berlin, P. Ehrlich- Frankfurt a. M., V. Czerny-
Heidelberg, George Meyer, Generalsekretär, Berlin, Bendlerstr. 13.
Verschiedenes.
Zur Geschichte der Opotherapie.
In seiner, auch für den Praktiker höchst interessanten und so
verdienstvollen Zusammenfassung der Bestrebungen und Aussichten
der Organo- oder Opotherapie (nach einem in Magdeburg gehaltenen
Vortrage abgedruckt in No. 15 der Münch, med. Wochenschr. vom
10. April 1906), hat San. -Rat Dr. Hager einleitend die Bemerkung
einfliessen lassen, diese therapeutische Methode müsse nach ihrem
Wesen uralt sein und führt dann im Verlaufe der Abhandlung die
schönen Resultate der von Prof. P 0 e h 1 - St. Petersburg neuerdings
inszenierten Spermintherapie an, welche auf der Anregung von Oxy-
dationsprozessen in der Zelle, auf beschleunigter Zellenatmung zu
beruhen scheinen.
Wie lange schon vor Brown-Sequards und d’A rson vals
Experimenten mit dem Hodenextrakt diesbezügliche Erfahrungen, die
natürlich nur oberflächliche sein konnten, gemacht wurden, ist wohl
nicht eruierbar. Umso mehr dürfte jeder Beitrag, der auch in dieser
Richtung einiges Licht zu verbreiten geeignet scheint, für die Ge¬
schichte der Medizin von Wert sein.
So finde ich denn, und es ist mir nicht bekannt, dass irgendwo
davon Notiz genommen worden wäre, in einem alten, d. h. anno 1613,
also vor nahezu dreihundert Jahren zu Darmstadt erschienenen, in
Schweinsleder gebundenen Werke schon Andeutungen von organo-
therapeutischen Kenntnissen, die jedenfalls damals weit verbreitet
gewesen sein mussten.
Das Buch, welches als Anhang noch den Hexenhammer enthält,
betitelt sich:
Magia naturalis, d. i. Kunst- und Wunderbuch, darin begriffen
wunderbare Secreta, Geheimnusse und Kunststücke etc., jetzo aufs
neu revidiret, corrigiret und vermehret, zum 3. mal in Druck gegeben
durch Wolfgang Hildebrandum Gebesensem Tyregetam.
Darin heisst es: „Dieses will ich alten Kämpfern so in bellis
nocturnis nicht wol fortkommen können, zu gefallen anhero setzen:
„Das weisse von Eyern die wol gebraten seynd, frische Butter,
Stierhoden oder dürre Bibergeyl, Galgent, Satyrion, Ingber, Car-
damomum, Valeriana, Marubi, Taubenhirn, Spatzenhirn, die einwenig
n Schaf- oder Gaissmilch gekocht sevn aa 5 Hi, Boracis 3 j.
nucis muscati, piperis longi, anisi, Hirschbrunst ää 3 li-
Diese in aqua oder branntwein impastiret, daraus Pillen gemacht
und deren eines 1 gran schwer genommen, wirst Du gewaltig und
mächtig in der Arbeit und Streitt seyn ohne allen Schaden die gantze
nacht.
„Joh. Wittichus, aus dem amato Lusitano, schreibt, dass man
die t e s t i c u ! o s G a 1 1 0 r u m nützen soll in der Speis. Dahero
diese facetissima historia:
„Eyne adelige Frau bereitet von den Geylen der Hanen, so sie
hatte cappaunen lassen, ihrem Manne ein gut Gericht mit Honig,
Pfeffer und ander köstliche Gewürze zum Abendmal.
„Und als der kräftig zugesprochen, bekam er in derselbigen
Nacht so heftige Begier nach den ehelichen Werken, dass die Frau
des Handels satt wurde und entfloh. Er ihr nach, kommt aber in eine
Kammer mit 4 Viehmägden (verbotenus!) und treibt darinnen der¬
gleichen Kurzweil, bis auch sie des Handels müde geworden. — Der
Arzt musste ihm am morgen die irritamentia Veneris stillen.
„Kdine unglaubliche Historia bropter testiculös gällorum exemptos
optimi enim succi nutrimentum Draebent.“ Soweit Hildebrand.
Es geht daraus hervor, dass man damals und schon früher eine
opotherapeutische Wirkung des Hodensaftes von Stier und Hahn
kannte und würdigte, sowie dass man das beabsichtigte Ziel da¬
mit erreichte, auch wenn er in alle mögliche,!} Ingredienzien ein¬
gehüllt per os verabreicht wurde. Ja, man konstatierte sogar, dass
allzu grosse, freilich unbekannte Dosen, wenigstens des Hodensaftes
vom Hahn dem Menschen schaden können, da in einem Falle der
Arzt zugezogen werden musste.
An der derben, unserer Zeitperiode laszive erscheinenden Schilde¬
rung der Wirkung darf man sich nicht stossen, weil bekanntlich die
Alten das Kind stets beim richtigen Namen zu nennen pflegten ohne
jegliche Prüderie. Also: honny soit qui mal y pense!
Dr. Stöcker - Grosswangen.
Therapeutische Notizen.
Behandlung des Keuchhustens mit Arsenik
empfiehlt Jacques de Nittis (in der Gesellschaft der Pariser Spi¬
talärzte, Sitzung vom 27. Juli 1906) und zwar ausgehend von den
guten Erfolgen, welche Arsenik bei Chorea und Asthma gehabt hat.
Man gibt 14 Tage hindurch 1 Tropfen der F o w 1 e r sehen Lösung pro
Tag und Lebensjahr des Kindes. Wenn Aufgedunsenheit des Gesichts
sich einstellt, eine Erscheinung, die übrigens ohne Bedeutung ist, so
stellt man die Arsentherapie auf 3 — 4 Tage ein. Bei einem Rückfall
11. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1839
des Keuchhustens wendet man von neuem die Arsentropfen auf einige
Zeit an. Dank dieser Methode, erklärt de N i 1 1 i s, beobachtet man
nur gutartige Fälle von Keuchhusten ohne ausgesprochene Krampf¬
anfälle und gleichsam verwischte Formen. St.
Vis vit — von vis vitae, Lebenskraft! — , ein neues Nährpräpa¬
rat, wurde bei einigen Patientinnen der v. L e y d e n sehen Klinik
mit gutem Erfolg gegeben und scheint nach den klinischen Beobach¬
tungen wohl geeignet, bei Schwächezuständen, in der Rekonvales¬
zenz, bei darniederliegendem Appetit recht gute Dienste zu leisten.
Das Präparat ist ein graugelbliches Pulver von angenehmem Ge¬
schmack, welches, mit Wasser kalt angerührt und mit heisser Milch,
Kaffee oder Bouillon vermischt genommen wird, und zwar täglich
50 g auf 3 — 4 mal. Der Preis — 100 g 3 M., 1000 g 27 M. 50 Pf. —
dürfte bei längerem Gebrauch manchem Patienten beschwerlich wer¬
den. (J. Maass: Visvit, ein neues Nährmittel. Med. Klinik 1906,
No. 28.) R. S.
Die proktogene Obstipation ist nach Strauss - Berlin
kein sehr häufiges Leiden (Ther. Mon.-Hefte 8, 1906). Bei mehr
als 200 Rektumuntersuchungen fand er in 10 Prozent mehrfach
grössere harte Knollen oder einen einzelnen grossen harten Kot¬
zylinder. Kleinere, mehr oder weniger weiche oder mehr oder
weniger an der Wand klebende Kotreste fanden sich natürlich häufig,
solche sind aber nicht von Bedeutung. Wohlgemerkt handelte es
sich bei den Personen mit den harten Kotballen um solche, welche
keinen Stuhldrang empfinden.
Unter den Ursachen dieses Zustandes spielte die gewohnheits-
mässige Unterdrückung des Stuhlganges (Aerzte, Lehrer, Diener,
Strassenbahnbedienstete) eine grosse Rolle, ferner die chronische
Prostatitis und gynäkologische Erkrankungen.
Bei der Behandlung des Leidens spielen die Hauptrolle: 1) die
systematische Erziehung des Patienten zur rechtzeitigen Defäkation.
2) eine entsprechende Lokalbehandlung. An jedem Tage zur be¬
stimmten Stunde muss der Versuch der Defäkation gemacht werden.
Die verloren gegangene Reizbarkeit des Rektums soll durch Eara-
disation, Vibrationsmassage, kalte Klysmen, Massage, Kühlapparate
wieder hergestellt werden. Etwaige Eissuren.. Hämorrhoidalknoten
sind gründlich zu behandeln. Sehr wichtig ist eine gründliche Ein¬
fettung der Ampulle und des Canalis ano-ampullaris. Zur Einführung
von Salben dienen Salbenspritzen, den Salben kann man Anästhesin,
Adrenalin zusetzen. Zu Oelklystieren verwendet St. gern das Men¬
tholöl (1 Esslöffel einer Lösung von 1,0 Menthol auf 150,0 Olivenöl),
die Verabreichung geschieht mittels des Oelsyphons (Haertel, Ber¬
lin, Karlsstrasse 19). Von Glyzerineinspritzungen hat St. grundsätz¬
lich Abstand genommen. Auch von einer allzu schlackenreichen Kost
rät er ab und beschränkt sich in der Hauptsache auf die Dar¬
reichung von Buttermilch, von Milch oder von Fruchtsäften mit
Laevulosezusatz, Apfelmus, Pflaumenmus, ln schweren Fällen ist die
Ausräumung der Kotballen notwendig.
Besteht nebenbei eine aszendierende Kotstase, so ist eine gründ¬
liche Entleerung des Kolons mit Seifenklystieren, Rizinusklystieren,
Molkenklystieren notwendig. Kr.
Die Eicheln in der Behandlung der Hämoptyse.
Nachdem dieses Mittel gegen Lungenblutungen bereits von eng¬
lischen und amerikanischen Aerzten angewandt worden, hat es neuer¬
dings Rene G a u 1 1 i e r nach einem Bericht in der Pariser Societe
de Therapeutique ( Sitzung vom 27. Juni 1906) mit grossem Erfolg
bei Hämoptoe von Tuberkulösen in Anwendung gebracht. Er hat
sich des Aetherextrakts der Mistel bedient und lässt davon 0,8 pro
Tag in Pillenform nehmen. Unter 7 von 8 Fällen kam die Blutung
sehr rasch zum Stillstand und nur in einem Falle, wo dieselbe Folge
eines ausgedehnten Aneurysmas war, blieb der Erfolg aus. Die blut¬
stillende Wirkung des Eichelextrakts schien G. auf Herabsetzung
des arteriellen Druckes zurückzuführen zu sein. St.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 11. September 1906.
— Im Jahre 1905 kamen in Preussen 368 Verletzungen von Men¬
schen durch tolle oder der Tollwut verdächtige Tiere zur amt¬
lichen Kenntnis; hiervon betrafen 71,2 Proz. männliche, 28,8 Proz.
weibliche Personen. Die Verletzungen wurden meist durch Hunde,
ferner durch Katzen (7), Rinder (4) und Pferde (2) herbeigeführt.
In 5 Fällen lagen keine Bissverletzungen vor, sondern die Infektion
ei folgte bei der Wartung der tollwütigen Tiere, einmal bei der
Sektion eines solchen. — Von den 368 Verletzten begaben sich 323 =
87,8 Proz. zur Vornahme der Schutzimpfung nach Pasteur in das In¬
stitut für Infektionskrankheiten zu Berlin; von den 45 nicht Geimpften
wurden 22 zu Hause ärztlich behandelt, 23 blieben ohne Behandlung.
11 Verletzte erkrankten an Tollwut und starben in wenigen Tagen;
3 von diesen hatten sich der Schutzimpfung unterzogen, 4 waren
ärztlich behandelt, vier ohne Behandlung geblieben. — Der Erfolg des
Impfverfahrens nach Pasteur ist auch in dem Berichtsjahr ausser¬
ordentlich günstig: es starben von den 323 Geimpften 3 = 0,93 Proz.,
von den 45 Nichtgeimpften 8 = 17,8 Proz. Es muss daher dafür
Sorge getragen werden, dass jeder, der von einem tollen oder der
Tollwut verdächtigen Tier verletzt wird, sich unverzüglich der Schutz¬
impfung unterzieht. (Min. -Bl. für Medizinal- etc. Angelegenheiten
1906, No. 15.)
— Am 31. Dezember 1906 verjähren die ärztlichen For¬
cierungen aus dem Jahre 1904. Die Verjährung wird unterbrochen
durch Anerkenntnis, Zustellung des Zahlungsbefehls oder der Klage
und Anmeldung zum Konkurse.
— Das Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen in
Preussen veranstaltet im kommenden Wintersemester wieder un¬
entgeltliche Fortbildungskurse für praktische Aerzte in
Berlin und Provinz Brandenburg. Karten hierzu, sowie die Verzeich¬
nisse der Fortbildungskurse undVorträge sind im Bureau des Kaiserin-
Friedrich-Hauses für das ärztliche Fortbildungswesen gegen eine Ein¬
schreibgebühr von 2 M. zu erhalten, wo auch Auskunft über die
Kurse erteilt wird (nur schriftlich, oder wochentäglich 9 — 2 Uhr per¬
sönlich). Beginn der Meldungen am 24. September, Schluss am
1. November. Alle Zuschriften sind zu richten an das: Bureau des
Zentralkomitees, NW. 6, Luisenplatz 2 — 4 (Kaiserin-Friedrich-Haus für
das ärztliche Fortbildungswesen).
— Der XIV. Internationale Kongress für Hygiene
undDemographie, der zu Berlin vom 23. bis 29. September 1907
stattfindet, hat nachstehende Sektionseinteilung: Sektion I, Hygie¬
nische Mikrobiologie und Parasitologie. (Präsident: Geh. Medizinalrat
Dr. Flügge, Breslau, Maxstr. 4. Sekretär: Regierungsrat Dr. We¬
ber, Gross-Lichterfelde-West, Bötticherstr.) Sektion II, Ernährungs¬
hygiene und hygienische Physiologie. (Präsident: Geh. Medizinalrat
Dr. R u b n e r, Berlin N. 4, Hessische Strasse 4. Sekretär: Privat¬
dozent Dr. K i s s k a 1 1, Berlin N. 4, Hessische Strasse 4.) Sektion III,
Hygiene des Kindesalters und der Schule. (Präsident: Geh. Medizinal¬
rat Dr. H e u b n e r, Berlin NW. 40, Kronprinzenufer 12. Sekretär:
Dr. Leo Langstein, Berlin W. 30, Motzstr. 74.) Sektion IV, Be¬
rufshygiene und Fürsorge für die arbeitenden Klassen. (Präsident:
Geh. Medizinalrat Dr. Renk, Dresden, Miinchenerstr. 9. Sekretär:
Dr. A. Kayserling, Berlin W. 62, Burggrafenstr. 16.) Sektion V,
Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten und Fürsorge für Kranke.
(Präsident: Geh. Medizinalrat Dr. G a f f k y, Berlin N. 39, Nordufer.
Sekretär: Dr. L e n t z, Charlottenburg, Luisenplatz 4.) Sektion VI,
A. Wohnungshygiene und Hygiene der Ortschaften und der Gewässer.
(Präsident: Hofrat Dr. Gruber, München. Sekretär: Dr. R. Lenn-
h o f f, Berlin SO. 16, Schmidstr. 37.) B. Hygiene des Verkehrswesens.
(Präsident: Geh. Sanitätsrat Dr. Schwechten, Berlin W. 35,
Derfflingerstr. 5. Sekretär: Sanitätsrat Dr. Ramm, Charlottenburg-
Westend, Spandauerberg 28.) Sektion VII, Militärhygiene, Kolonial-
und Schiffshygiene. (Präsident: Generalarzt Prof. Dr. Kern, Ber¬
lin NW. 7, Friedrichstr. 141. Sekretär: Stabsarzt Dr. Kuhn, Gross-
Lichterfelde, Mittelstr. 15.) Sektion VIII, Demographie. (Präsident:
(Präsident Dr. van der B o r g h t, Berlin W. 10, Liitzow-Ufer 6 — 8.
Sekretär: Regierungsrat Dr. Leo, Berlin-Dahlem, Parkstr. 26.)
— Anlässlich der in Stuttgart tagenden 78. Versammlung
deutscher Naturforscher und Aerzte hat die Stadt¬
gemeinde Stuttgart die Herausgabe eines Führers veranlasst,
den sie den Teilnehmern an der Versammlung widmet. In diesem
Führer wird durch sachverständige Kräfte über alles berichtet, was
in Stuttgart vom medizinischen und naturwissenschaftlichen Stand¬
punkt aus von Interesse ist. Zahlreiche Abbildungen und Karten, so¬
wohl Stadtpläne, wie Karten, welche insbesondere die Kanalisation
und Wasserversorgung, Milchversorgung, Krankenhausanlagen etc.
veranschaulichen, sind beigegeben. Der Ladenpreis des Führers be¬
trägt im Buchhandel 2 M.
— Unter dem Titel : „Premier Congres de la Societe
internationale de Chirurgie“ liegen jetzt die ausführlichen
Verhandlungen dieses vom 18. bis 23. September 1905 in Brüssel ab¬
gehaltenen Kongresses in einem starken Bande vor (Brüssel 1906).
Herausgeber ist der Generalsekretär des Kongresses, Dr. A. D e -
page.
— Von den „S tu dies from the Rockefeiler Institute
f o r Medical Research“ ist der V. Band erschienen. Wie' die
früheren bildet er eine Sammlung vieler aus dem Institut hervor¬
gegangener, an anderen Stellen zuerst erschienener Arbeiten.
— Die Genickstarre in Schlesien zeigt in neuerer Zeit
eine sehr beträchtliche Abnahme. Während z. B. im Kreise Kattowitz
von Januar bis Juni 113 Erkrankungen (und 71 Todesfälle) vorge¬
kommen waren, sind vom 1. Juli bis 18. August nur noch 11 (bezw.
7 Fälle) gemeldet; im Kreise Ratibor mit 118 (63) Fällen von Januar
bis Juni wurden vom 1. Juli bis 18. August nur noch 2 (l) Fälle
gezählt. Aehnlich in den anderen befallenen Kreisen des Reg.-Bez.
Oppeln. In der ganzen Provinz Schlesien kamen im Monat Juli
noch 31 (15) Fälle vor. In der Rheinprovinz betrug die Zahl der Fälle
im Juli 18 (4), in Westfalen 22 (6).
— Pest. Türkei. In Trapezunt wurde am 18. August ein weiterer
Pestfall bei einem Insassen des Gefängnisses festgestellt, ln Djedda
galt am 23. August die Pest als erloschen, nachdem seit mehr als
20 Tagen kein neuer Pestfall angezeigt worden war. Am 26. August
wurden 2 pestverdächtige Fälle qus Adalia gemeldet. — Aegypten.
Vom 18. bis 24. August wurden' 11 jieye Erkrankungen (und 6 Todes¬
fälle) an der Pest gemeldet, darunter 8 (3) in Alexandrien und 3 (3)
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 37.
in Suez. — Britisch-Ostindien. Während der am 4. August abge¬
laufenen Woche sind in der Präsidentschaft Bombay 494 Erkran¬
kungen (und 351 Todesfälle) an der Pest zur Anzeige gelangt. In
Kalkutta starben in der Woche vom 22. bis 28. Juli 9 Personen an
der Pest. Aus Aden war in der bezeichneten Woche ein einge¬
schleppter Pestfall gemeldet. — Japan. Vom 15. bis 30. Juni wurden
aus Kobe 11 Pestfälle, aus Osaka nur noch 1 Pestfall gemeldet. Hierzu
kam während der ersten Hälfte des Juli eine neue Pesterkrankung
in Kobe, so dass die Gesamtzahl aller Pestfälle seit dem August v. J.
bis zum 15. Juli in Kobe (Hiogo) 151 und in Osaka (mit nächster Um¬
gebung) 170 betrug. Gestorben sind etwa 74 bis 80 Proz. der an
der Seuche Erkrankten. Auf Formosa wurden im Juni 605 neue Er¬
krankungen (und 516 Todesfälle) an der Pest bekannt.
— ln der 34. Jahreswoche, vom 19. bis 25. August 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblichkeit
Hamborn mit 48,0, die geringste Schöneberg mit 7,5 Todesfällen pro
Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Gestorbenen
starb an Keuchhusten in Flensburg, Worms. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Erlangen. Herr Prof. Hauser hat den an ihn ergangenen
Ruf nach Wiirzburg nunmehr definitiv abgelehnt. — Herr Prol V o i t
dagegen hat die Berufung nach Basel (an die Stelle von Prof. H i s)
angenommen; ob seine Uebersiedlung nach dorten noch vor Beginn
des Wintersemesters stattfindet, ist noch unentschieden. — Der Pri-
• vatdozent und Oberarzt an der medizinischen Klinik, Dr. J a m i n,
ist zum ausserordentlichen Professor mit dem Lehrauftrag für medi¬
zinische Propädeutik und Geschichte der Medizin ernannt an Stelle
des nach Frankfurt a. M. berufenen Professors Dr. Lüthje.
G ö 1 1 i n g e n. Der Physikus Dr. med. E. H. Theodor Lochte
in Hamburg, der als Nachfolger von Prof. Dr. P. Stolper zum
Extraordinarius für gerichtliche Medizin an der Universität Göttingen
ausersehen ist, wurde zum Kreisarzt ernannt und mit der Verwaltung
des Kreisarztbezirks Stadt- und Landkreis Göttingen beauftragt.
München. An der Universität München wurde eine ausser¬
ordentliche Professur für Orthopädie errichtet und der Privatdozent
für Orthopädie mit dem Titel und Rang eines a. o. Professors an der
Universität München Dr. Fritz Lange zum a. o. Professor für
Orthopädie in der medizinischen Fakultät der Universität München
ernannt und ihm die Leitung der orthopädischen Poliklinik der Uni¬
versität übertragen.
Würzburg. An der Universität Wiirzburg wurde eine ausser¬
ordentliche Professur für Haut- und Geschlechtskrankheiten errichtet
und der Privatdozent mit dem Titel und Rang eines a. o. Professors
in der Universität Würzburg, Dr. Otto Seifert, zum a. o. Professor
an der medizinischen Fakultät der Universität Wiirzburg ernannt
und ihm Haut- und Geschlechtskrankheiten, sowie Nasen- und Kehl¬
kopfkrankheiten als Lehraufgabe übertragen.
Baltimore. Dr. W. W. Ford wurde zum ausserordent¬
lichen Professor der Bakteriologie an der John Hopkins-Universität
ernannt.
Brün n. Der Prosektor der allgemeinen Krankenanstalten in
Brünn, Dr. Karl Sternberg, hat sich als Privatdozent für ange¬
wandte Mykologie an der deutschen technischen Hochschule habilitiert.
Florenz. Dr. L. B o r r i wurde zum ordentlichen Professor
der gerichtlichen Medizin ernannt.
Innsbruck. Die Venia legendi des Privatdozenten für Dia¬
gnostik und Therapie der inneren Krankheiten, Dr. Adolf P o s s e 1 1,
wurde auf das Gesamtgebiet der internen Medizin erweitert.
Krakau. Der Privatdozent für Hautkrankheiten und Syphilis,
Dr. Fr. Krzysztalo wicz erhielt den Titel eines ausserordent¬
lichen Professors.
Neapel. Habilitiert: DDr. A. V i r n i c c h i (chirurgische Ana¬
tomie); S. Baglioni (experimentelle Physiologie); N. S. Scog-
n a m i gl i o (allgemeine Pathologie); M. B u c c o (interne Pathologie).
P a v i a. Habilitiert : DDr. G. de Francisco und B. R o s s i
(operative Medizin); E. Medea (Neurologie und Psychiatrie); R.
Mazza De Piccioli (Hygiene). Der Privatdozent an der med.
Fakultät zu Genua Dr. C. Tarchetti habilitierte sich für interne
Pathologie.
Prag. Der a. o. Professor für Dermatologie und Syphilis an der
Universität in Graz, Dr. Karl K r e i b i c h, wurde zum a. o. Professor
dieser Fächer an der deutschen Universität in Prag ernannt. Dem
in den Ruhestand tretenden ordentlichen Professor für Hautkrank¬
heiten, Hofrat Dr. Philipp Joseph Pick, wurde die allerhöchste An¬
erkennung ausgesprochen. An der tschechischen medizinischen Fakul¬
tät wurde der Privatdozent für Neurologie, Dr. L. Haskovec zum
ausserordentlichen Professor ernannt, Dr. J. C i s 1 e r habilitierte sich
als Privatdozent für Laryngologie und Rhinologie.
R o m. Die Privatdozenten DDr. R. Alessandri (externe
Pathologie), G. Ferreri (Oto-Rhino-Laryngologie), D. Lo Mo¬
naco (physiologische Chemie) wurden zu ausserordentlichen Pro¬
fessoren ernannt. Dr. E. C o v a habilitierte sich als Privatdozent für
Geburtshilfe und Gynäkologie.
T u r i n. Dr. G. V o 1 p i n o habilitierte sich als Privatdozent
für Hygiene und Sanitätspolizei.
W i e n. Dr. Heinrich K e i 1 1 e r hat sich als Privatdozent für
Geburtshilfe und Gynäkologie, Dr. Hugo Frey als Privatdozent für
Ohrenheilkunde an der medizinischen Fakultät habilitiert.
(Todesfälle.)
Der Direktor der Universitäts-Poliklinik in Heidelberg, Geh.
Hofrat O. V i e r o r d t, ist am 2. September während der Empfangs¬
sitzung zu Ehren der Mitglieder der ärztlichen Studienreise plötzlich
einem Herzschlag erlegen. Ein Nekrolog folgt.
Dr. J a u m e s, früher Professor der gerichtlichen Medizin und
Toxikologie zu Montpellier.
Dr. W. E. T a y 1 o r. früher Professor der Chirurgie an der
California-Universität zu San Francisco.
(Berichtigung.) In der Arbeit des Herrn Dr. Evelt in
No. 36 dieser Wochenschr. : „Ein Beitrag zur Lehre von den Me¬
senterialzysten“ muss es auf Seite 1761, Zeile 24/25 (links) heissen:
„Der Inhalt war bräunlich, klar, nicht fadenziehend und gab . . .“
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Niederlassung. Dr. Wilh. L e w y, appr. 1904, in Nürnberg.
Verzogen. Dr. Paul D ii 1 1 von Ippesheim nach Herrnbrecht¬
heim.
In den Ruhestand auf die Dauer eines Jahres
wurde versetzt: Der Bezirksarzt I. Klässe Dr. Johann Baptist
S t ö c k 1 in Neunburg v. W., seiner Bitte entsprechend, wegen
Krankheit und hierdurch bedingter Dienstesunfähigkeit.
Erledigt. Die Bezirksarztstelle I. Klasse in Neunburg v. W.
Bewerber um dieselbe haben ihre vorschriftsmässig belegten Gesuche
bei der ihnen Vorgesetzten Kgl. Kreisregierung, Kammer des Innern,
bis zum 24. September 1. J. einzureichen.
Korrespondenz.
Notiz zu meiner Arbeit „Der Nachweis des Toxins in dem Blute des
Diphtheriekranken. (Diese Wochenschrift No. 33, pag. 1607.)
Von Privatdozent Dr. Albert Uff enheimer in München.
In der obigen Arbeit hatte ich angeführt, dass es vor mir nur
Loos einmal geglückt sei, im Blut eines Diphtheriekranken das
Toxin durch einen Zufall nachzuweisen. Wie ich nun aus einer
gütigen brieflichen Mitteilung des Herrn Geheimrats Prof. Dr. Brie-
ger in Berlin ersehe, hat auch er bereits zusammen mit seinem
damaligen Assistenten Wassermann in einer Arbeit „Be¬
obachtungen über das Auftreten von Toxalbuminen beim
Menschen“ (Charite-Annalen, XVII. Jahrgang) den Nachweis
des Diphtheriegiftes im menschlichen Blute führen können. Ich be¬
eile mich, dies mitzuteilen. Da mir jedoch hier in der Sommerfrische
es nicht möglich ist, Einblick in die betreffende Veröffentlichung zu
erhalten, kann ich über den Umfang des Toxinnachweises durch
B r i e g e r und Wassermann nichts Näheres angeben, ebenso¬
wenig über ihre Methodik. Keinesfalls werden aber dadurch die
Hauptpunkte meiner Arbeit berührt werden, insbesondere nicht die
Angabe einer einfachen Methode, um ganz geringe, für Meerschwein¬
chen nicht tödliche Mengen des Toxins im Blutserum des Kranken
nachzuweisen.
Ich freue mich, durch diese Notiz zum Bekanntwerden der
Brieger-Wassermann sehen Arbeit beitragen zu können,
deren Resultate (wohl dadurch, dass sie in den nicht sehr ver¬
breiteten Charite-Annalen veröffentlicht wurden) bisher nicht Auf¬
nahme in die Lehrbücher über die Diphtherie und die Toxinlehre ge¬
funden haben.
Weesen in der Schweiz, den 5. September 1906.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 34. Jahreswoche vom 19. bis 25. August 1906.
Bevölkerungszahl 540 000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 20 (12*/
Altersschw. (üb. 60 J.) 7 (6), Kindbettfieber — ( — ), and. Folgen der
Geburt 2 (1), Scharlach 1 (— ), Masern u. Röteln — (1), Diphth. u.
Krupp — (1), Keuchhusten 3 (2), Typhus — ( — ), übertragb. Tierkrankh.
— ( — ), Rose (Erysipel) 1 (1), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 2 (2), Tuberkul. d. Lungen 21 (23), Tuberkul. and.
Org. 2 (4) Miliartuberkul. — ( — ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 8 (11),
Influenza — ( — ), and. übertragb. Krankh. 3 (1), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 2 (2), sonst. Krankh. derselb. 1 (— ), organ. Herzleid. 10 (17),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 6 (4), Gehirnschlag
7 (9), Geisteskrankh. — (1), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 4 (1), and.
Krankh. d. Nervensystems 1 (5), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 37 (43), Krankh. d. Leber 3 (1), Krankheit, des
Bauchfells 1 (1), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 4 (3), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 6 (3), Krebs (Karzinom, Kankroid) 16 (12),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) — (4), Selbstmord 2 (5), Tod durch
fremde Hand — ( — ), Unglücksfälle 3 (5), alle übrig. Krankh. 2 (3).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 175 (184), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 16,9 (17,7), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 10,2 (11,9).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.Q.. München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchantlich
im Umfang’ von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 4. » Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
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Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
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Herausgegeben von
0. v. Angeper, Ch.Bäumler, ö. v.Bollingep, H. Curschmann, fl.HeIferich, W.v.Leube, G. Merkel, J. v. Michel, F. Penzoldl, H. v. Ranke, B.Spalz, F.f.flinßkel,
München. Freiburg i. B. München. Leipzig. Kiel. Wiirzburg. Nürnberg. Berlin. Erlangen. München. München. München.
No. 38. 18. September 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang.
Originalien.
Aus der chirurgischen Universitätsklinik in Bonn (Direktor:
Qeheimrat Bier).
Ueber die frühzeitige und prophylaktische Wirkung der
Stauungshyperämie auf infizierte Wunden.
Von Dr. med. Eugen Joseph.
Schwere Infektionen in Weichteilen und Knochen sind
durch die Stauungshyperämie allein, oder in Verbindung mit
geringfügigen chirurgischen Eingriffen unterdrückt worden,
sobald sie frühzeitig zur Behandlung kamen. Die Heilung trat
zuweilen so rasch und definitiv ein, dass man zweifelhaft
werden konnte, ob wirklich die Stauungshyperämie eine
Abortivkur geleistet hatte, und namentlich in denjenigen Fällen
entstanden diagnostische Bedenken, welche ohne chirurgische
Massnahmen heilten, welche keine Gelegenheit boten, die Aus¬
dehnung des infektiösen Prozesses durch das Auge oder den
Finger abzuschätzen. Sichere Beweise für die coupierende
Wirkung der Hyperämie aufzufinden, glückte nur bei relativ
seltenen Gelegenheiten, so, wenn ein heisser Abszess, durch
Aspiration und Kultur erwiesen, nach einiger Zeit der Behand¬
lung erkaltete und resorbiert wurde, oder wenn eine mächtige
Hyperostose und im Röntgenbild deutlich sichtbare eingeheilte
Sequester bewiesen, dass die vermutete schwere Osteomyelitis
sich tatsächlich abgespielt hatte. Diese Erfahrung belehrte uns,
wie viel für den Erfolg der Stauung von der frühzeitigen Be¬
handlung abhängig war, wie selbst die schwersten infektiösen
Prozesse von ihr im Keime erstickt wurden, denen sie in einem
späteren Stadium weit weniger machtvoll gegenüber stand.
1. Die 11jährige C. S. litt seit langer Zeit an einem nässenden
Ausschlag der behaarten Kopfhaut. Seit 3 Tagen hatte das Kind
Schmerzen im Nacken und den Kopf steif halten müssen.
5. V. Nachdem, dlie Haare kurz geschoren sind, liegt ein aus¬
gedehntes Ekzem zutage, dessen Entstehung Pediculi capitis ver¬
schuldet haben. Unterhalb der Linea nuchae nimmt eine starke
Schwellung den Nacken ein. Seitlich und nach unten vom Ansatz
des rechten Sternokleidomastoideus ist die Haut leicht gerötet, etwa
im Umfange eines Zweimarkstückes, und gegen stärkere Berührung
sehr empfindlich. Das Zentrum dieser Gegend fühlt sich weicher an,
als die Peripherie. Ein Punktionsversuch daselbst liefert dicken Eiter,
dessen bakteriologische Untersuchung Staphylokokken ergibt. Tem¬
peratur = 38,5 °.
Es wird sofort Kopfstauung eingeleitet, welche das Gesicht des
Kindes leicht zyanotisch werden lässt. Die Stauung wird täglicli
22 Stunden durchgeführt. Am 15. V. ist die Schwellung gänzlich
verschwunden und der Kopf nach allen Seiten frei beweglich. Das
Gewebe in der Umgebung der Punktionsstelle fühlt sich bretthart an
und ist auf stärksten Druck unempfindlich. Das Kind, welches seit
mehreren Tagen fieberlos ist, wird heute geheilt entlassen.
2. *) Der 28 jährige Ackerer W. wurde wegen einer akuten Ent¬
zündung des rechten Armes und des rechten Schultergelenkes in die
Klinik aufgenommen. Die starke Röte, die Schmerzhaftigkeit, die
gewaltige Schwellung des erkrankten Gliedes und das hohe Fieber
wiesen auf eine akute, eitrige Osteomyelitis hin. Unter Stauungs¬
hyperämie bildeten sich sämtliche lokale und allgemeine Erschei¬
nungen so plötzlich in wenigen Tagen zurück, dass man an der Dia¬
gnose unsicher werden konnte, bis einige Wochen später eine
*) Die mit einem Stern bezeichneten Krankengeschichten sind
bereits in der letzten Auflage von Biers Monographie (Leipzig,
Vogel) „Hyperämie als Heilmittel“ veröffentlicht.
No. 38.
(Nachdruck der Opiginalartikel ist nicht gestattet.)
mächtige Hyperostose und ein grosser, im Röntgenbild sichtbarer,
eingeheilter Sequester ih're Richtigkeit erwiesen.
Ein ähnlicher Fall ist zur Zeit noch in Behandlung.
Schwere infizierte Verletzungen mussten demgemäss ein
günstiges Objekt für die Bindenstauung sein. Menschen, die
ein derartiges Unglück trifft, werden zumeist sofort mit einem
Notverband versehen, ohne weitere Manipulationen in die
Klinik gebracht und haben nicht, wie leider häufig, Phlegmonen
und Osteomyelitiden, viele Tage misslungener Behandlung
hinter sich. Wir haben deshalb in letzter Zeit bei schweren,
offenbar infizierten Verletzungen die zu erwartende Infektion
durch prophylaktische Stauungshyperämie zu bekämpfen ver¬
sucht. Gelang dieser Versuch, so standen verschiedene Vor¬
teile zu erwarten. Einmal wurde die alte Streitfrage, ob man
noch eine Desinfektion des infizierten Gebietes versuchen sollte,
von Anfang an dahin entschieden, dass man sich mit der Ent¬
fernung des gröbsten makroskopischen Schmutzes und der
Abtragung von zerfetztem, in seiner Ernährung bedrohtem Ge¬
webe begnügte, und zweitens konnte man sogleich die gestörte
Punktion des verletzten Gliedes durch chirurgischen Eingriff
wieder hersteilen und brauchte nicht erst auf den Zeitpunkt zu
harren, wo die erwartete Infektion abgelaufen oder sogar die
Wunde geschlossen war, um die Operation dann unter asep¬
tischen Bedingungen auszuführen.
Gute Erfolge zeigten bei dieser Art der Behandlung die
Verletzungen der Sehnen, ähnlich wie die Sehnenscheidenphleg¬
monen bei bereits fertiger Infektion. — Es hat bisher als
strenges Gebot gegolten, durchtrennte Sehnen nur in einer
Wunde zu nähen, deren aseptische Heilung zu erwarten stand,
also in frischen, glatten, sauberen Schnittwunden. Besonders
galten verunreinigte, gequetschte, zerrissene oder ältere Wun¬
den als ungeeignet für den frühzeitigen Eingriff. In der Hoff¬
nung auf die Wirkung der Stauungshyperämie haben wir uns
an diese Vorschrift bisweilen nicht gehalten und die Wieder¬
herstellung der Funktion auch unter ungünstigen Bedingungen
zu erreichen versucht.
3. Der 31 jährige Arbeiter J. M. geriet am 3. II. 06 mit der linken
Hand zwischen ein Wagenrad und die scharfen Blechplatten mit denen
die Karre beladen war. Einige Stunden später wurde er in die
Klinik aufgenommen.
9. II. Der Rücken der von Schmutz starrenden schwarzen
Arbeiterhand ist wie von einer Kammradmaschine zerfetzt. In der
Richtung der Metakarpen verlaufend und nur durch schmale Haut¬
brücken getrennt, haben mehrere annähernd parallele Wunden die
Haut des Handrückens zerrissen. Die Wunde über dem mittleren
Metakarpus geht auf den Finger selbst über. Der 2., 3. und 4. Finger
kann nicht gestreckt werden. Die Wunden sind sämtlich stark ver¬
unreinigt. Nachdem die Umgebung mit Aether und Benzin annähernd
gesäubert und der grösste Schmutz mit feuchten Sublimattupfern ent¬
fernt wurde, werden die Wunden mit Haken auseinander gehalten.
Sämtliche Wunden gehen bis auf den Knochen und zum Teil tief in
die Knochensubstanz hinein. Das 3. und 4. Metakarpophalangeal-
gelenk ist eröffnet, das Köpfchen des 3. Metakarpus derart zermalmt,
dass nach Entfernung der lockeren Splitter nur noch ein winziger
Rest übrig bleibt. Die Strecksehnen des 2., 3. und 4. Fingers sind
durchtrennt. Ihre zerfetzten Enden werden zurechtgestutzt und mit
Katgutnähten vereinigt. Die Hautwunden werden bis auf 2 Pfennig¬
stück grosse Stellen, an denen die Haut fortgerissen ist, durch zahl¬
reiche Nähte so gut als es die zerfetzten Ränder zulassen, ver¬
schlossen. In starker Streckstellung wird die Hand auf eine volar-
wärts angelegte Schiene gelagert und nach Anlegung eines Kompres¬
sionsverbandes suspendiert. Nach 2 Stunden wird der Verband ge-
1
1842
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
lockert, die Hand tiefgelagert und Dauerstauung angewendet. Injek¬
tion von Tetanusserum. Am 12. II. wird der Verband abgenommen.
Er enthält ziemlich viel dünnes Blut und ist vollkommen geruchlos.
Die Wunden haben das Aussehen einer Prima intentio. Nur ist die
Hand und der Unterarm gerötet und gedunsen. Die Dauerstauung
wird fortgesetzt und die Hand ganz locker auf die Schiene gelagert.
Am 17. II werden die Nähte entfernt, sie sind sämtlich trocken und
nicht gereizt. Die grosse Wunde ist bis auf die kleinen Stellen ver¬
heilt, an denen die Haut durch die Verletzung verloren gegangen ist;
da die Sehnennähte gehalten haben, kann der Patient Streck¬
bewegungen in mässigen Grenzen ausführen. Jeder fixierende Ver¬
band wird von heute an fortgelassen und die Stauung abgebrochen.
Am 23. II. ist die Beweglichkeit bereits besser geworden. Patient
wird in ambulante Behandlung zur Uebung im Handsaugglas ent¬
lassen. Eine Nachuntersuchung ergibt, dass die Wunden völlig ver¬
heilt sind. Der Patient kann die Finger zur Faust zusammenschlagen;
nur die Spitze des Mittelfingers bleibt um Fingerbreite von der Hohl¬
hand entfernt. Die Streckung der Finger ist normal.
Die Stauungshyperämie hat dem Patienten verschiedene
Vorteile gebracht. Er ist den Gefahren der Infektion entgangen,
welche, nach der Art der Verletzung und der heissen Form der
Stauung zu urteilen, ihn erwarteten, und hat die Gebrauchs¬
fähigkeit seiner Hand rascher wieder erlangt, als wenn er nach
Ablauf der Infektion und Heilung der Wunden operiert worden
wäre, und man die geschrumpften Sehnenstümpfe aus dem
bindegewebigen Kallus hätte isolieren müssen.
4. Ein 2. ähnlicher Fall kam im Johanneshospital zur Behandlung.
Ein 35 jähriger Schreiner wurde am 8. II. 06 durch eine abspringende
Bandsäge an der rechten Hand verletzt, und 10 Stunden später auf¬
genommen. In der 6 cm langen unreinen Wunde wurden an der
radialen Seite des Handgelenks die Sehnen des M. abd. poll. long. und
brev., des M. ext. carp. rad. long. und brev., des ext. poll. long. und
des M. ext. digit. com. und ind. durchtrennt gefunden und durch
Nähte vereinigt. Das Handgelenk war eröffnet. Der Kapselriss wird
durch 2 Nähte verschlossen. Die Wunde, welche ohne Tamponade
dicht zusammengenäht wurde, heilte unter der Stauungshyperämie
per primam. Die Funktion der Hand stellte sich in vollem Umfange
wieder her.
In einem dritten und vierten Falle gelang die primäre Ver¬
einigung der Sehnen unter Stauungshyperämie ebenfalls, trotz
starker Verunreinigung der Wunden. Bei zwei anderen Pa¬
tienten lag die Verletzung bereits zwei Tage zurück und die
Wunden sonderten ein dünnes Sekret ab, als zur Sehnennaht
geschritten wurde. In diesen Fällen war die Reaktion auf die
postoperative Stauungshyperämie besonders heftig. Das ganze
Operationsgebiet und seine Umgebung wurde rot, heiss und
nahm ein phlegmonisches Aussehen an. Eine gewaltige
Schwellung überzog den Arm bis an die Binde. Es trat jedoch
nur eine vorübergehende und spärliche Eiterung ein, welche
zwischen den Nahtlücken austrat und die genähten Sehnen¬
stümpfe nicht auseinandersprengte.
In einem 7. Falle hatten wir allen Grund, auf einen asep¬
tischen Wundverlauf zu rechnen, da die Verletzung durch einen
glatten Beilhieb herbeigeführt, die Wunde nicht verschmutzt
und frühzeitig zur Behandlung gekommen war. Gegen unsere
Annahme trat eine Infektion der Wunde ein, welche, mit Stau¬
ungshyperämie sehr wirksam bekämpft, das Resultat der
Sehnennaht nicht beeinträchtigte. Der Fall ist folgender.
7. *) Ein Beilhieb, welcher schräg über den Handrücken vom
kleinen Fingergrundgelenk zum Daumengrundgelenk verlief, hatte
sämtliche Strecksehnen durchtrennt, die Metakarpalknochen ange¬
schlagen und einige Karpalgelenke darunter das Radiokarpalgelenk
eröffnet. Die Sehnen wurden mit Katgut vereinigt und die Hautwunde
geschlossen; die Hand auf eine Schiene gelagert. 2 Tage später
zeigte sich, dass die Wunde infiziert war. Der Patient bekam Fieber
bis 39° und heftige Schmerzen in der ganzen linken Hand. Nach Ab¬
nahme des Verbandes strömte auf Druck zwischen den Nähten Eiter
hervor. Da wo die Sekretion am stärksten ist, am radialen Teile der
Wunde, wurde eine Hautnaht entfernt, im übrigen auf jede Drainage
verzichtet und die locker verbundene Hand mit Dauerstauung be¬
handelt. Die Temperatur fiel in wenigen Tagen staffelförmig ab.
Die Schmerzen hörten auf und der profuse dickflüssige Eiter wurde
zu spärlichem serösem Sekret. 3 Wochen nach der Verletzung war
die Wunde verheilt bis auf die Stelle, wo die Naht entfernt
wurde. Da die Sehnennähte trotz der Infektion gehalten hatten,
konnte Patient seine Finger in mässigen Grenzen strecken und nach
14 Tagen methodischer Uebung in ambulante Behandlung entlassen
werden.
Hätte uns die Stauungshyperämie in diesem Falle nicht zur
Verfügung gestanden, so wären wir gezwungen worden, die
Wunde aufzutrennen, durch Tamponade und Drainage offen zu
halten und hätten wahrscheinlich den Erfolg der Sehnennaht
durch langwierige Eiterung eingebüsst, welchen die durch
Stauungshyperämie gemilderte Infektion nicht verderben
konnte.
Die Chirurgie ist in der Behandlung der Fingerverletzungen
mit Recht konservativ geworden, weil jeder Verlust an Fingern
oder Fingergliedern auch einen Verlust für die Erwerbsfähigkeit
der Arbeiterhand bedeutet. Die Erhaltung gequetschter, ver¬
schmutzter, zertrümmerter Glieder erscheint aber nicht ange¬
bracht, sobald durch sie für die übrige unversehrte Hand Ge¬
fahren entstehen. Wenn Sehnenscheiden weithin eröffnet, die
Phalangen fraktuiert sind, die Gelenke klaffen, und die ganze
Wunde auf das Gröbste verunreinigt ist, hat man sich bisher
lieber entschlossen, sofort die geschädigten Teile zu opfern
und einfache, glatte Wundverhältnisse zu schaffen. Wer die
infektionshemmende Stauungshyperämie anzuwenden pflegt,
braucht für die übrige Hand jedenfalls nicht zu fürchten, kann
äusserst konservativ bleiben und die bedrohten Glieder zu er¬
halten versuchen:
8. Ein 16 jähriger Bäckerjunge geriet mit seiner rechten Hand
in eine Brotmaschine und kam unmittelbar nach der Verletzung in
unsere Behandlung. Der Daumen der Hand hatte keinen Schaden
gelitten. Die Verletzung der übrigen Finger war ziemlich gleich¬
förmig. Von der Volarseite war ein dicker Weichteillappen von der
Form eines Hyazinthenblattes in der Längsrichtung der Finger los¬
gerissen worden. Die Basis der Lappen lag in der Gegend der mitt¬
leren Fingergelenke, ihre Spitze in den Fingerkuppen. Die Sehnen
waren weithin entblösst, in der Längsrichtung zerfasert und ihrer
Scheiden beraubt. Die Gelenke klafften weit und die Endphalangen
wären zum Teil in ihnen um 90° gedreht; die Phalangen selbst frak-
turiert und gesplittert, die Nägel blau von unterlaufenem Blut. An
den Wunden klebte der Brotteig überall so fest, dass seine Ent¬
fernung unmöglich war. Trotzdem wurde konservativ vorgegangen,
die Phalangen einigermassen richtig gestellt und die Weichteillappen
durch zahlreiche Nähte möglichst an ihre alte Stelle reponiert. In¬
jektion von Tetanusserum. Dauerstauung, welche Hand und Unter¬
arm in heftige Reaktion versetzt. In den ersten Tagen bekam Pat.
geringe Temperaturen bis 38,2° und der Verband musste mehrfach
gewechselt werden, da er säuerlich-fade, nach gegorenem Brotteig
roch, welcher sich unter der Wärme der bedeckenden Gaze und
Watte von den Fingern losschälte. Die Wunden sezernierten einige
Zeitlang dünnen Eiter, die Nägel und kleine Stückchen der Phalangen
stiessen sich ab. Schliesslich heilten die Endglieder etwas schief und
krallenförmig an, aber, wie der Patient angibt, für die Arbeit, zum
Hantieren und Greifen gut tauglich. Nur am 5. Finger war der
Wundverlauf stärker gestört. Dort stiessen sich kleine Stückchen
der Beugesehne der Finger ab, so dass seine Beugefunktion be¬
schränkt geblieben ist.
Schwere komplizierte Frakturen bereiten unserem Be¬
streben, das Glied zu erhalten und wieder funktionstüchtig zu
machen, die grössten Schwierigkeiten und nicht selten ent-
schliessen wir uns, das Glied von Anfang an zu opfern, weil
nach der ganzen Art der Verletzung die Gefahr der Allgemein¬
infektion eine zu grosse ist. In anderen Fällen ist eine anfäng¬
liche Entscheidung, ob Amputation oder Konservierung, kaum
möglich, und erst nach einigen Tagen wird unsere Hoffnung auf
Erhaltung des Gliedes getäuscht und uns die Amputation unter
viel ungünstigeren Bedingungen aufgezwungen. Aus dieser
Verlegenheit der chirurgischen Entschliessung hat uns gelegent¬
lich die Stauungshyperämie mit Glück herausgeholfen.
9. Der 17 jährige M. K. wurde am 29. VII. 05 von einem Böller¬
schuss in den rechten Unterschenkel getroffen. Die Ladung bestand
aus Sprengpulver, Papier und Erde.
30. VII. Die Mitte des rechten Unterschenkels wird von einer
15 cm langen, tiefen Wunde mit zerfetzten Rändern umfasst. Muskel¬
trümmer, Blutkoagula, grössere, bis 5 cm lange, und kleinere Knochen¬
splitter füllen die Wunde aus. Die bedeckende Haut ist zerrissen
und zum Teil verloren gegangen, die ganze Wunde auf das gröbste
verunreinigt . Das Röntgenbild zeigt einen Splitterbruch der Tibia.
Die Fibula ist nicht frakturiert.
Die Wunde wird unverändert gelassen und steril verbunden, das
Bein locker in eine Schiene gelegt. Injektion von Tetanusserum.
Dauerstauung am Oberschenkel. Abwärts von der Staubinde wird
das ganze Glied rot, heiss und ödematös.
7. VIII. Das Allgemeinbefinden war die ganze Woche hindurch
vorzüglich, die Temperatur normal, nur zur Zeit der Hochlagerung in
der staufreien Zeit geringfügig gesteigert. Die Wunde war anfangs
trocken, schwärzlich-gangränös und äusserst übelriechend. Jetzt
sezerniert sie reichlich und hat ihren fötiden Geruch verloren. Die
Granulationen sind noch grau und welk.
18. September 1%6. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
15. VIII. Die Wunde hat sich völlig gereinigt und ist von guten
Granulationen überall bedeckt. Sie sondert ein reichliches dünnes
Sekret ab. Die Knochensplitter sind noch nicht gelöst und’ werden
deshalb in ihrei Lage vorläufig gelassen. Seit einigen Tagen nur noch
Inständige Stauung.
Nach der sonst üblichen Behandlung hätten wir die ge¬
splitterte und verunreinigte Fraktur revidieren, ihre Rnochen-
und Weichteiltrümmer beseitigen müssen. Ob dadurch die
drohende Infektion sich so sicher hätte aufhalten lassen, wie
ohne Revision, allein durch die Stauungshyperämie, bleibt in
Anbetracht der starken Verunreinigung und Quetschung der
Gewebe sehr zweifelhaft.
Diese Erfahrungen, welche wir an den Verletzungen des
Zufalles machten, bestimmten uns zu einem ähnlichen chirur¬
gischen Handeln jedesmal, wo wir selbst aus irgend einem
Grunde gezwungen waren, ausgedehnte Verletzung in infizier¬
tem oder von der Infektion bedrohtem Gebiete anzulegen, so
in folgenden Fällen.
10. Der 12 jährige Knabe F. U. hatte sich 14 Tage vor seiner
Aufnahme in die linke Hohlhand geschossen. Er kam am 16. II. 06
in die Poliklinik, als die ganze Hand bereits entzündlich geschwollen
war. Es wurde sofort ein Versuch gemacht, die Kugel zu extrahieren,
\v eiche nach dem Röntgenbilde im Os multangulum majus sass.
Der Versuch misslang. Am folgenden Tage wurde der Extraktions¬
versuch in Narkose wiederholt. Die Wunde, in deren Umgebung sich
alle Zeichen der Entzündung, Reizung, Schwellung und Schmerz¬
haftigkeit eingestellt hatten, wurde aufgetrennt und das Os multan¬
gulum majus freigelegt. Die Kugel sass in der Substanz dieses
Knochens und wurde mit dem scharfen Löffel herausgeholt. Nach
ihrer Entfernung wurde die ganze Wunde dicht durch Nähte ver¬
schlossen. Als man die Borke, welche die Einschussöffnung bedeckte,
entfernt hatte, quoll aus der Tiefe ein Tropfen Eiter hervor. Unter
Stauungshyperämie heilte die Wunde nahezu per primam. Nur
2 Nähte schnitten durch. Die höchste Temperatur betrug 38,3°. Am
28. II. wurde der Patient geheilt entlassen. Die Funktion der Hand
hat keine Schädigung erfahren.
11. Ein 9 jähriger Junge wurde 5 Tage vor seiner Aufnahme mit
einem Teschin in den rechten Oberschenkel geschossen. Nach dem
Röntgenbilde sass die Kugel an der Innenseite des Oberschenkels.
Der Patient war fieberlos und die Umgebung des Schusskanals nicht
entzündet. Da er aber Schmerzen und Behinderung beim gehen
hatte, wurde die Extraktion vorgenommen. Bei der Operation zeigte
es sich, dass in der Tiefe der Muskulatur in der Gegend des Adduk¬
torenschlitzes einige Kleiderfetzen hafteten. Die Muskulatur selbst
war entzündlich gequollen und eitrig infiltriert. Nach Entfernung
des Geschosses wurde die Haut ohne Tamponade zugenäht und ein
Kompressionsverband angelegt, welcher 3 Stunden später gelockert
wurde. Es wird Dauerstauung eingeleitet. Am Tage nach der
Operation hatte Patient eine Temperatur von 38°. Die übrige Zeit
war er vollkommen fieberlos. Die Wunde heilte per primam. Der
Patient wurde am 7. Tage entlassen.
Regelmässig wandten wir die Stauungshyperämie nach
Sequestrotomien nach Eröffnung von Knochenabszessen etc. an.
Gerade hier, wo wir gezwungen sind in schwer infiziertem
Gebiete eine grosse frische Wundfläche anzulegen, neue Blut-
und Lymphspalten den Erregern zu eröffnen, ist die Anlegung
der Staubinde besonders empfehlenswert. Die Kranken
reagieren fast ausnahmslos auf solche Eingriffe mit beträcht¬
lichem Fieber, weil eine frische Infektion eingetreten ist und
wohl zahlreiche Erreger in die Blutbahn geschlüpft sind.
Aus technischen Gründen sind wir hier in eine Lage ver¬
setzt, welche vor der Einführung der Stauungshyperämie bei
jeder schweren eitrigen Entzündung, Phlegmone, Mastitis oder
Osteomyelitis unvermeidlich war. Grosse Schnitte mussten
vom gesunden durch das kranke bis in das gesunde Gewebe
angelegt und die natürlichen Grenzen und Schutzvorrichtungen
des Körpers, der Granulationswall, die Abszessmenbran durf¬
ten nicht geschont werden. Die Nachteile dieser Behandlungs¬
methode zeigten sich ganz besonders an den riesigen Wund¬
flächen, wie sie nach der frühzeitigen Trepanation eitriger
Osteomyelitiden und der Auslöffelung des eitrigen Knochen¬
marks entstehen. Hier war die reichliche Resorption von viru¬
lentem Bakterienmaterial auf keine Weise, selbst nicht
durch ausgiebige Tamponade, zu vermeiden und die grossen
Ansprüche, welche diese Behandlungsmethode an die bakteri¬
zide Kraft des Blutes stellte, äusserten sich nicht selten dahin,
dass eine eitrige Knochenmetastase nach der andern im Kran¬
kenhause selbst oft in unmittelbarem Anschluss an die Tre¬
panation erfolgte. Die in der Literatur niedergelegten Er¬
fahrungen über die Behandlung eitriger Osteomyelitiden zeigen
deutlich, wie wenig man mit der frühzeitigen Trepanation er¬
reicht hat, und ich selbst erinnere mich aus der Zeit, wo die
Behandlung mit Stauungshyperämie noch unbekannt war und
in der Heidelberger Klinik nach den damals üblichen Grund¬
sätzen verfahren wurde, dass die Osteomyelitiden im Kranken¬
hause gerade im Anschluss an die Trepanation nicht selten
multipel wurden. Dieses Ereignis habe ich hier in Bonn nicht
mehr erlebt, obwohl die bei uns behandelten Fälle sicher z. T.
recht schwere Infektionen waren.
3 mal war das Kniegelenk und 1 mal das Sprunggelenk ver¬
eitert. In 2 Fällen wurden die Kinder bereits mit multipler
Osteomyelitis aufgenommen. Wir haben immer nur die ver¬
eiterten Gelenke punktiert, ihren Inhalt nach Möglichkeit ausge¬
drückt und durch Bewegungen ausgeschwenkt, die Abszesse
durch mässige Inzisionen eröffnet, die Knocheneiterung selbst
aber, welche nach der Abszessinzision nicht selten spontan
verschwindet, der Wirkung der Stauungshyperämie überlassen.
Die primäre Aufmeisselung haben wir so stets vermeiden kön¬
nen. Allerdings, um die Knochennekrose zu verhindern, müssen
die Fälle frühzeitig, womöglich schon 24 Stunden nach den
ersten Anzeichen, in unsere Behandlung kommen.
Bei den Sequestrotomien lassen sich nun einmal ausge¬
dehnte Gewebsverletzungen nicht vermeiden. Glücklicher¬
weise haben die Erreger in diesem Stadium der Krankheit an
Virulenz bereits erheblich eingebüsst und die infektionsgewohn¬
ten Gewebe der Umgebung an lokaler Immunität gewonnen.
Der bakterielle Einfluss wird unter günstigen örtlichen Ver¬
hältnissen durch die Stauungshyperämie völlig unterdrückt und
eine Art von prima intentio nach den Nekroseoperationen er¬
zielt. Allerdings ist dazu erforderlich, dass man alles kranke
und abgestorbene entfernt und genügend Hautmaterial zur
Verfügung hat, um den Defekt zu bedecken und grössere Hohl¬
räume auszuschalten. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, so
kann man auch hier im Vertrauen auf die Wirkung der Stau¬
ungshyperämie das infizierte Gebiet durch die Naht schliessen.
Wenn auch einige Fäden frühzeitig durchschneiden und zwi¬
schen den Nähten seröses Sekret oder Eiter durchtritt, so geht
die Heilung doch viel schneller von statten und wird durch
den Verzicht auf Tamponade für den Kranken in angenehmerer
Weise erreicht, als es früher geschehen konnte. Besonders
eignen sich Nekrosen der Fibula, der Klavikula und anderer
schlanker Knochen für dieses Verfahren, weil man hier ohne
eine spätere funktionelle Schädigung befürchten zu müssen, den
Knochen in ganzer Ausdehnung resezieren, den zurückge¬
bliebenen Periostschlauch und die Haut vernähen kann. Bei
den Nekroseoperationen an grösseren Knochen, an denen eine
Resektion natürlich nicht zur Ausführung kommen kann, muss
man mit Sicherheit auf die Entfernung alles krankhaften und
toten Gewebes rechnen und den Defekt durch Neuber sehe
Einstülpung oder osteoplastische Lappenbildung decken kön¬
nen, wenn man unter Stauungshyperämie eine annähernd pri¬
märe Heilung erreichen will. Gelegentlich ist auch früher
unter diesen Umständen ohne Stauungshyperämie ein ähnliches
Resultat erzielt worden. Liegen die Wundverhältnisse un¬
günstiger, bleibt es zweifelhaft, ob wirklich jede Nekrose ent¬
deckt oder entfernt wurde, sind durch die vorhergehende
Eiterung grössere Stücke der bedeckenden Haut verloren ge¬
gangen und nicht zu ersetzen, so wird mit Hilfe der post¬
operativen Stauungshyperämie wenigstens die Infektion rasch
überwunden und die Temperatur zur Norm gesenkt. Auch in
diesen Fällen haben wir uns der Tamponade enthalten, die ja
ebenso wie auf die Sehnen auch auf den Knochen austrocknend
und nekrotisierend wirken muss.
12. Bei der 9 jährigen Ch. F. hatte sich 10 Tage vor der Auf¬
nahme eine Osteomyelitis des rechten Fusses und Unterschenkels
entwickelt. Während der Eisenbahnfahrt nach Bonn durchbrach der
Eiter die Haut am äuseren Knöchel. Die Kranke hatte bei ihrer Auf¬
nahme eine Temperatur von 39,2°, einen Puls von 128. Die Zunge ist
trocken, die Lippen borkig, das Sensorium frei. Bei der Operation
wurden grosse Abszesse über der Tibia und Fibula gespalten. Beide
Knochen waren weithin von Periost entblösst. Das Sprunggelenk
war vereitert und krepitierte deutlich. Die Inzisionswunde über der
Tibia schloss sich unter der Stauungshyperämie sehr bald und die
T ibia blieb vor Nekrose bewahrt; dagegen wurde die Fibula nekro¬
tisch und, als 10 Wochen nach der Aufnahme das Röntgenbild eine
deutliche Totenlade zeigte, sequestrotomiert. Der Knochen wurde
1*
1S44
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
in ganzer Ausdehnung durch einen 22 cm langen Schnitt freigelegt
und entfernt. Die schlechten Granulationen wurden mit dem Löffel
sorgfältig entfernt, die Wunde durch Spülung gereinigt und durch
Silberdrahtnähte vereinigt, welche im Abstand von etwa 2 cm ge¬
legt wurden. 5 Stunden nach der Operation wurde Dauerstauung
eingeleitet. Am näch¬
sten Tag« war die
Wunde und ihre Um¬
gebung bis nahe an die
Binde in voller Stau¬
ungsreaktion: heiss, rot
und phlegmonös ge¬
schwollen. Die Tem¬
peratur betrug 39,4 °.
Sie fiel in 5 Tagen zur
Norm ab, während sich
aus den Nahtlücken
reichlich Eiter entleerte.
Trotzdem blieb über
die Hälfte der Wunde
geschlossen, der Rest
klaffte etwa bleistift¬
breit. 4. Wochen nach der Sequestrotomie war die Wunde bis auf
einen schmalen Saum guter Granulationen verheilt.
Inzwischen hatte sich im Bereiche des Sprunggelenkes ein
Fistelgang in der Richtung der Malleolenlinie gebildet. Ein Sequestei
im Talus unterhielt nach dem Röntgenbilde die Sekretion dieser
Fistel. Am 18. V. wurde durch 2 seitliche Schnitte das Fussgelenk
eröffnet und der haselnuss¬
grosse Talussequester entfernt.
Die Fistelgänge werden mit
dem scharfen Löffel gereinigt
und nach Spülung der Wund¬
höhle die Resektionsschnitte
wieder vernäht. Auf jede Tam¬
ponade wird verzichtet. Am
Tage nach der Operation hat
die Patientin eine Temperatur
von 39°. Nach 5 Tagen ist
sie annähernd fieberfrei. Die
Wunde, welche anfangs unter
der Stauung wiederum die
Kurve 2. phlegmonöse Reaktion zeigt®,
ist jetzt, am 7. VI., nahezu
verheilt, die Fisteln haben sich geschlossen. Das Sprunggelenk wurde
vom Tage der Operation an aktiv und passiv bewegt und ist leidlich
beweglich geblieben.
Wie die Stauungsbinde, so schränken auch die Sauggläser
die beginnende Wundinfektion ein. Gleich bei den ersten
Versuchen, die K 1 a p p mit der Saugbehandlung anstellte, wur¬
den über kleinere infizierte Wunden, derentwegen häufig poli¬
klinische Hilfe verlangt wird, Schröpfköpfe gestülpt und nicht
selten schon nach einer Sitzung erreicht, dass die Wunde am
nächsten Tage nicht mehr schmerzhaft war und ein reineres
Aussehen hatte. Auch grössere Wunden *) sind der Wirkung
des Schröpfkopfes zugänglich. Bei einer akuten Osteomyelitis
der Klavikula haben wir nach Entfernung des Knochens die
Wunde ohne Tamponade durch die Naht geschlossen und täglich
die ganze Wundlinie mittelst verschieden geformter Schröpf¬
kopfmodelle nach der Klapp sehen Vorschrift gesaugt. Der
Fall hatte folgenden Verlauf.
13. Der 14 jährige Steinbrucharbeiter J. B. pflegte schweres
Gerüstholz auf der rechten Schulter zu tragen. 14 Tage vor seiner
Aufnahme fing die Schulter zu schmerzen an. Er begab sich später
zum Arzt, welcher durch eine Inzision einen Abszess entleerte, und
da die Wunde nicht heilen und das Fieber nicht abfallen wollte, den
Eintritt in die Klinik veranlasste.
22. IV. Der kräftige, etwas rhachitische Junge hat gesunde
innere Organe. Temperatur 39,6°. Die rechte Schlüsselbeingegend
ist stark geschwollen. Das seitliche Halsdreieck und die Mohren-
h e i m sehe Grube werden von der Schwellung ganz ausgefüllt. Die
Konturen der Klavikula sind verwischt. Stärkere Elevation des
Armes wird vor Schmerzen gemieden. Die ganze Gegend ist heiss,
gerötet und auf Druck schmerzhaft. Ueber der Klavikula in der Nähe
des Akromion befindet sich eine 2 cm lange missfarbige Wunde,
deren Ränder von dickem Eiter belegt sind. Eine in die Wunde ein¬
geführte Sonde stösst auf rauhen Knochen.
24. IV. Operation in Chloroformnarkose: Die Wunde wird in der
Richtung der Klavikula erweitert und mit Haken auseinander gehalten.
Die rauhe, von Periost entblösste Klavikula wird aufgemeisselt. Sie
ist im Inneren von zahlreichen Eiterherden durchsetzt. Der Schnitt
') Vereiterte Herniotomiewunden werden durch die Saugbehand¬
lung so günstig beeinflusst, dass gelegentlich selbst versenkte Seiden¬
fäden einheilen.
Kurve 1.
wird deshalb erweitert und die Klavikula, soweit sie vom Periost ent-
blösst ist und ein Stück darüber hinaus, reseziert. Es fällt auf diese
Weise etwas mehr als die akromiale Hälfte der Klavikula fort. Der
leere Periostschlauch und die Taschen der Wunde werden sorgfältig
von den schlechten Granulationen mit dem scharfen Löffel befreit und
die ganze Wunde, nachdem sie mit Sublimatlösung ausgespült und ihre
ulzerierten Ränder exzidiert wurden, durch Silber- und Seidennähte
ohne Drainage verschlossen. Die Nähte werden im Abstand von
lVs cm gelegt.
25. IV. Zwei passende Schröpfköpfe werden über die Wunde ge¬
stülpt. Sie saugen zwischen den Nähten reichlich dünnes Sekret
heraus und hyperämi-
sieren die Wundlinie.
Die Wunde wird 45 Mi¬
nuten mit den üblichen
Unterbrechungen ge¬
schröpft. Temperatur bis
39,4 °.
27. IV. Gestern und
heute wieder Saugbe¬
handlung. Zwischen den
Nähten strömt aus den
Lücken Eiter hervor.
Temperatur 38,5°.
29. IV. Einige Nähte
haben durchgeschnitten
und müssen entfernt werden. Auch heute wieder Saugbehandlung.
3. V. Die Temperatur ist nahezu normal. Die Wunde sieht in
ihrem akromialen Teile besser aus, als in ihrem sternalen. Im Be¬
reiche des ersteren ist sie nahezu verheilt. Im Bereiche des letzteren
noch phlegmonös geschwollen und liefert auf Druck Eiter.
20. V. Die Resektionswunde ist verheilt. Der Patient fieberlos,
Der zurückgebliebene Teil der Klavikula ist offenbar krank. Ueber
dem Sternoklavikulargelenk hat sich ein Abszess gebildet, der durch
eine Stichinzision eröffnet und ausgesaugt wird. An der Grenze
zwischen reseziertem und nicht reseziertem Teil besteht eine Knochen¬
fistel. Rings um den Rest der Klavikula sind die Weichteile entzünd¬
lich infiltriert.
22. V. 2. Operation: Es wird zunächst auf den zurück¬
gebliebenen sternalen Teil der Klavikula eingegangen. Derselbe ist
vollkommen nekrotisch und zerbröckelt bei der Extraktion in zahl¬
reiche grössere und kleinere Splitter. Der akromiale Teil ist bereits
neugebildet und fest mit dem sternalen Teil verwachsen. Es wird
deshalb die frühere Resektionswunde gespalten und der akromiale
Teil ebenfalls reseziert, so dass die ganze Klavikula entfernt ist. Die
grosse, 16 cm lange, in der Mitte 4 cm breite Wunde wird nach Ent¬
fernung der schlechten Granulation und Exzision der Wundränder
und nach Spülung mit Sublimatlösung durch zahlreiche Silber- und
Seidennähte, welche im Abstand von 1—2 cm gelegt werden, dicht
ohne Tamponade zugenäht.
23. V. Heute Morgen (19 Stunden nach der Operation) werden
über die ganze Wundlinie Schröpfköpfe gestülpt. Sie saugen eine
Unmenge von blutigem Serum heraus, welches das Aussehen von
hämorrhagischem Aszites hat.
25. V. Die Wunde sieht etwas phlegmonös aus, doch entleert
sich beim Saugen nur dünnes Serum und sehr wenig Eiter. Tem¬
peratur 39°.
Kurve 3.
19/y.
20.
21.
22.
23.
21.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
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Kurve 4.
27. V. Die Temperatur ist abgefallen. In der Mitte der Klavi¬
kula saugt der Schröpfkopf noch dünnen Eiter hervor. Die Sekretion
von seiten der anderen Teile ist nur sehr gering. Ein Teil der Nähte
ist durchgeschnitten und wird entfernt.
28. V. Der Patient ist vollkommen fieberlos. Der Rest der Nähte
wird entfernt. Die Wunde ist nicht auseinander gegangen, die Wund¬
ränder sind an den breitesten Stellen nicht weiter als 3 — 4 mm von
einander entfernt.
4. VI. Die Wunde ist verheilt. Ihre Umgebung und ihre Unter¬
lage ist auffällig derb und hart. Von heute an wird nur noch Heiss¬
luftmassage gegen die Infiltration der Umgebung angewandt. Der
Arm kann vollkommen normal gehoben werden.
Bei der ersten Operation hatten wir die Ausdehnung der
Knochenerkrankung nicht richtig abgeschätzt und gegen die
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1845
Vorschrift verstossen, dass man der Entfernung von allem
toten Qewebe sicher sein soll, wenn man die Naht des infi¬
zierten Gebietes wagt und durch die passive Hyperämie den
Wundverschluss der Infektion gegenüber behaupten will. Ob¬
wohl dieser Fehler begangen und die erste Operation im Sta¬
dium der akuten Inflammation in einem ungünstigeren Zeit¬
punkte vorgenommen wurde, als er gewöhnlich sich für die
Ausführung einer Sequestrotomie bietet, heilte die Wunde we¬
nigstens so weit als in ihrem Untergrund die Knochennekrose
entfernt war.
Nachdem durch die zweite Operation der tote Knochen
radikal beseitigt wurde, gelangte die grosse infizierte Wund¬
höhle unter Anwendung der Schröpfköpfe in 14 Tagen zum
völligen Verschluss. Diesesmal kam es nur zu einer ganz
unbedeutenden Absonderung von dünnem Eiter. Zum grössten
Teile wurde nur blutiges Serum ausgesaugt.
(Schluss folgt.)
Aus der chirurgischen Abteilung des städtischen Krankenhauses
Nürnberg (Hofrat Dr. Gosche 1).
Erfahrungen mit der Bierschen Stauung.*)
Von Dr. Lindenstein, Assistenzarzt.
M. H.! Als zu Beginn des vorigen Jahres Bier mit
seinen Erfahrungen über die Behandlung akuter Entzündungen
mittels venöser Stauungshyperämie vor das Forum der
Oeffenthciikeit trat, herrschte bei vielen Aerzten, die diese
Publikationen verfolgten, Ueberraschung und zweifelndes Kopf¬
schütteln. Wurde doch gerade durch diese neue Behandlungs¬
weise unsere bisherige Anschauung über Entzündung, deren
Folgen und ihre Therapie über den Haufen geworfen. Was
bisher als feste Regel gegolten hatte und überall gelehrt wurde,
sollte mit einem Male seine Gültigkeit verloren haben. Die
Zumutung, die einst einem Sigamberer König bei der Taufe
gestellt wurde, sollte jetzt die ärztliche Wissenschaft befolgen:
„Verbrenne ,was du angebetet, und bete an, was du ver¬
brannt hast.“
Allein der Name des genialen Forschers Bier konnte zu¬
nächst die Methode vor einer vorzeitigen Verurteilung retten.
Aber zur Nachprüfung dürften sich vorerst wohl nur wenige
und die zögernd entschlossen haben. Erst als auf dem vor¬
jährigen Chirurgenkongress Bier seine neue Behandlungs¬
methode an Kranken der Bergmannschen Klinik demon¬
strieren konnte, war vielen Eachchirurgen Gelegenheit gegeben,
sich von ihrem Wesen und ihrer Technik persönlich zu über¬
zeugen und damit war wohl auch der Boden für eine aus¬
gedehnte Nachprüfung des Verfahrens geschaffen, und die zahl¬
reichen Veröffentlichungen im Laufe des letzten Jahres haben
hinlänglich bewiesen, mit welch regem Eifer und Fleiss die
Behandlung mit der Bier sehen Stauung allenthalben prüfend
angewandt wurde. Neben den rein praktischen Erfahrungen
und Erfolgen wurden auch wiederholt theoretische Erklärungen
für die Wirkung des Verfahrens versucht. Ich habe um so
weniger Veranlassung, vor Ihnen die Literatur darüber zu be¬
handeln, als eine kritische Besprechung derselben im vergan¬
genen Winter durch Herrn Dr. Koch hier stattgefunden hat.
Auf dem diesjährigen Chirurgenkongress ergriffen einige
20 Redner in der Diskussion über die Stauungsbehandlung das
Wort und sprachen sich bis auf 2 Herren- alle äusserst günstig
über das Verfahren aus. Allein Prof. L e x e r - Königsberg
äusserte beachtenswerte Bedenken, und sein neuester Vor¬
schlag, in allen Fällen, die der Behandlung mit Bier scher
Stauung unterzogen würden, bakteriologische Untersuchungen
des Eiters zu veranlassen, verdient Berücksichtigung und Un¬
terstützung.
In manchen Punkten hat sich im Laufe des Jahres auch
die Technik bei dem Stauungsverfahren geändert. Während
Bier in seinen ersten Veröffentlichungen für überhaupt keine
oder doch nur stichförmige Inzisionen plädierte, hat sich in¬
zwischen die Ausdehnung der jeweiligen Inzision immer mehr
vergrössert und die alte chirurgische Regel ubi pus, ibi evacua,
die einige Zeit gefährdet schien, besteht wieder zu Recht.
*) Vortrag, gehalten im ärztlichen Verein Nürnberg am
7. Juni 1906.
No. 38.
Ferner war in den ersten Veröffentlichungen wenigstens
nicht scharf genug hervorgehoben, dass bei Anwendung der
Stauung jede Tamponade der Wunde unterbleiben muss.
Es ist dies ein Umstand, der insofern eine angenehme Seite
der Stauungsbehandlung bildet, als der Verbandwechsel beim
Fortfällen der Tamponade absolut schmerzlos ist, eine nicht zu
unterschätzende Annehmlichkeit für Arzt und Patienten, wenn
Sie sich erinnern wollen, mit wie viel Unzuträglichkeiten diese
Manipulation verknüpft ist. Bezüglich der Dauer der Stauung
erscheint es ratsam, auch einige Tage nach Ablauf der ent¬
zündlichen Erscheinungen damit fortzufahren, um ein Wieder¬
aufflackern derselben sicher zu vermeiden. Es sind natürlich
auch Misserfolge, ja sogar Verschlimmerungen bei der Be¬
handlung nicht ausgeblieben und alle Veröffentlichungen haben
von mehr oder weniger solchen Fällen zu berichten. Ich will
nur an das Auftreten von Erysipel und den Ausgang einiger
Fälle, besonders bei Mastitis, in Sepsis erwähnen.
Ja bei manchen Erkrankungen, die Bier als geeignet zur
Stauungsbehandlung aufführte, scheint eine Kontraindikation zu
bestehen; so bei der akuten Osteomyelitis, bei der nur un¬
günstige Resultate durch die Stauung erreicht wurden.
Aber auch sonst ist die Methode noch kein fertiges Ganzes
und bildet noch kein abgeschlossenes Kapitel und es wird noch
mancher durch Misserfolge erkaufter Erfahrung bedürfen, bis
die neue Lehre ein festgefügter Stein im Gebäude der modernen
Chirurgie wird. Aber allenthalben wird am Ausbau gearbeitet
und es steht zu erwarten, dass mit der wachsenden Erfahrung
sich immer umschriebenere und festere Normen für die neue
Lehre herausbilden werden.
Die Erfahrungen, die seit einem Jahr an der chirurgischen
Abteilung des städtischen Krankenhauses gesammelt wurden,
mit den Erfolgen und Misserfolgen, die sich uns dabei ergeben
haben, will ich Ihnen im folgenden referieren.
Bezüglich der Technik haben wir uns strikte an die B i e r -
sehen Vorschriften gehalten und den Grad der zulässigen Stau¬
ung nach dem Verschwinden der Schmerzen, der Farbe und
dem Grad des auftretenden Oedems bemessen. Aber ich will
schon hier vorweg nehmen und betonen, dass diese Aufgabe
durchaus nicht leicht ist und neben sorgfältigster, fortwähren¬
der Kontrolle längerer Uebung und Erfahrung bedarf. Im An¬
fang ist man stets geneigt, die Binde zu fest anzuziehen und
ich stehe nicht an, offen und freimütig zu bekennen, dass ein
Teil unserer Misserfolge sicher Fehlern in der Technik zuzu¬
schreiben ist.
Im ganzen habe ich Ihnen über 100 einschlägige Fälle zu
berichten, die ich nach der Art der Erkrankung in 11 Unter¬
abteilungen geteilt habe, und die ich Ihnen an der Hand dieser
Gruppierung kurz schildern kann.
I. Von Furunkeln und Karbunkeln wurden 15 Fälle
mit den Klapp sehen Saugapparaten behandelt. Die Erfolge damit
waren durchweg zufriedenstellend. In einem Fall, der meine Person
selbst betraf, gelang es, einen Furunkel am Oberschenkel, der bereits
in der Ausdehnung eines 2-Markstückes einen entzündlichen Hof besass,
ohne Inzision oder spontane Perforation zur Rückbildung zu bringen.
In den übrigen Fällen wurde entweder durch eine kleine Inzision
oder durch spontan entstandene Perforationsöffnung der Eiter ab¬
gesaugt. Die Heilung vollzog sich innerhalb von 3 — 5 Tagen.
Bei den Karbunkeln wurden die bekannten kreuzförmigen In¬
zisionen beibehalten. In einem Falle konnte ich gut beobachten,
wie sich unter der Saugung die Heilung rascher und angenehmer voll¬
zog als ohne diese Therapie. Ein Patient ging zu mit je einem Kar¬
bunkel am Hals und Oberschenkel. Beide wurden in gleicher Weise
ausgiebig inzidiert. Aus äusseren Gründen war aber eine Saugbehand¬
lung am Oberschenkel nicht tunlich, während am Halse täglich die
Saugglocke 1 Stunde in Anwendung kam. Die Heilung des Halskar¬
bunkels vollzog sich rasch innerhalb von 8 Tagen, während die Eite¬
rung am Oberschenkel mehr als die doppelte Zeit andauerte.
II. Panaritien kamen 25 zur Behandlung; davon waren
20 subkutane und 5 periostale.
Die subkutanen Panaritien wurden nach genügend grosser In¬
zision jeweilig gestaut oder gesaugt; zuweilen wurden auch beide Ver¬
fahren abwechselnd angewandt. Die Heilung vollzog sich bei allen
Fällen innerhalb weniger Tage.
Bei einem Kollegen war ausgehend von einem Panaritium am
Endglied des Zeigefingers die entzündliche Schwellung bereits über
das Mittelglied hinausgegangen und es gelang durch kombinierte
Saugung und Stauung den Erkrankungsherd auf das Endglied zu be¬
schränken und nach Eröffnung und Entleerung eines kleinen Abszesses
erfolgte rasche Heilung.
2
1846
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
Von den periostalen Panaritien heilten 2 mit Erhaltung des
Knochens; in 3 Fällen erfolgte die Ausheilung erst, nachdem sich
das nekrotisch gewordene Endglied des erkrankten Fingers abge-
stossen hatte.
III. Eiterungen, die im Anschluss an Verletzungen, meist infolge
Vernachlässigung der Wunden, entstanden waren, kamen 5 zur Be¬
handlung.
In 2 Fällen handelte es sich um komplizierte Verletzungen der
Handwurzelknochen, die z. T. entfernt werden mussten. Die trotz
der Behandlung mit Perubalsam auftretende Eiterung konnte durch
die Stauung auf den Herd beschränkt werden und kam rasch, ohne
ihre gewebszerstörende Wirkung entfalten zu können, zum Abklingen.
In einem Fall konnte bei einer vernachlässigten Verletzung des
Daumenballens eine Sehnennaht zur Heilung gebracht werden, trotz¬
dem bei der Operation bereits starke reaktive Entzündung der Um¬
gebung aufgetreten war.
In einem 4. Falle konnte bei einer eiternden Wunde nach Ab¬
quetschung des Endgliedes am Zeigefinger eine Propagation der ent¬
zündlichen Erscheinungen hintan gehalten werden und eine bereits
in Erscheinung getretene Empfindlichkeit und Schwellung entlang der
Sehne verschwand unter der Stauung bald wieder.
Nur in einem Fall, der noch dazu bald nach der Verletzung in Be¬
handlung kam, gelang es nicht, die Eiterung, die von einer Ab¬
quetschung der Zeigefingerkuppe ausging, zu sistieren und es musste,
um die Erkrankung zu kupieren, die Absetzung des verletzten Fingers
vorgenommen werden.
IV. Reine Lymphangitis wurde nur einmal mit dem Stauungs¬
verfahren behandelt und kam nach 3 tägiger Anwendung der Binde
mit je 20 Stunden zur Heilung.
Lymphangitische Abszesse wurden 4 behandelt. In 2 Fällen
gelang die Heilung mit verhältnismässig kleinen Inzisionen, in zwei
anderen Fällen dagegen brachten erst ausgedehnte Inzisionen mit
Tamponade der Wundhöhle Heilung, nachdem kleinere Inzisionen mit
regelrecht ausgeführter Stauung im Stich gelassen hatten.
V. Phlegmonen kamen in 18 Fällen zur Beobachtung. Darunter
waren 7 Interdigitalphlegmonen, die durch ihren glänzenden Verlauf
ein beredtes Zeugnis für die Wirksamkeit der Stauungshyperämie ab-
legen. In allen Fällen gelang die Heilung in kürzester Zeit ohne jede
Funktionsstörung oder störende Narbenbildung. Die Fälle kamen
mit erheblicher Temperatursteigerung und starker Schwellung des
Handrückens zur Aufnahme und die Behandlung bestand allein in
systematischer Anlegung der Stauungsbinde, verbunden mit kleinsten
Inzisionen der entzündeten Schwimmhaut, wenn nicht bereits eine
spontane Perforation erfolgt war.
4 Phlegmonen des Handrückens, die ihren Ausgang vom Daumen
genommen hatten, heilten ebenso unter der Stauung mit kleinen In¬
zisionen in wenigen Tagen und gleichfalls weitere 6 Phlegmonen
des Handrückens, bei denen eine Fingeraffektion nicht nachweis¬
bar war.
Nur in einem Fall von Phlegmone des Fussriickens, ausgehend
von einer Verletzung der grossen Zehe, erzielte die Behandlung, ob¬
wohl längere Zeit systematisch fortgeführt, nicht den gewünschten
Erfolg. Erst ausgedehnte Inzisionen und Absetzung der erkrankten
grossen Zehe im Tarso- und Metatarsalgelenk brachten Heilung.
VI. Wenig erfreuliche Resultate hat uns die Behandlung von
Sehnenscheidenphlegmonen gebracht. Von 11 hierher gehörigen
Fällen gelang es nur einmal, die erkrankte Sehne funktionsfähig zu
erhalten; viermal schritt der entzündliche Prozess trotz Stauung
fort, so dass ausgedehnte Inzisionen entlang des Vorderarmes nötig
waren und selbst damit nicht genug, musste in 2 Fällen je eine
Exartikulation und Amputation der drohenden Sepsis wegen vorge¬
nommen werden.
In den übrigen 6 Fällen blieb der entzündliche Prozess we¬
nigstens auf die erkrankte Sehnenscheide beschränkt, aber trotz aus¬
giebiger Inzision und Stauung gelang es nicht, die Sehnen zu er¬
halten. In allen Fällen trat Nekrose ein und damit war das Schicksal
des erkrankten Fingers besiegelt: seine dauernde Steifheit mit meist
empfindlicher, wulstartig hervorspringender Narbe.
Der Grund für diese Misserfolge ist mir noch nicht recht klar.
Vielleicht oder vielmehr sicher ist z. T. daran schuld, dass die
Fälle alle sehr spät in unsere Behandlung kamen und der Erkran¬
kungsprozess schon weit vorgeschritten war. Weiter werden wir in
Zukunft darauf achten müssen, ob es sich nicht um ausgesprochene
Streptokokkeninfektionen handelt, wofür die Bösartigkeit der vier
progredienten Fälle spricht; und dann würden wir uns der Lex er¬
sehen Auffassung über die Unwirksamkeit der Stauung bei Strepto¬
kokkeninfektionen anschliessen müssen.
VII. Weit günstigeres kann ich Ihnen bei der Vereiterung grosser
Gelenke mit der Stauungsbehandlung berichten. Ueber einen ein¬
schlägigen Fall hat Ihnen bereits im vorigen Jahre Herr Hofrat Dr.
G ö s c h el referiert.
Es handelte sich dabei um eine vereitertes Ellbogengelenk im
Anschluss an einen Hufschlag. Die durch 14 Tage fortgesetzte Stau¬
ung hatte ein ideales Resultat ergeben.
Wenige Wochen nach der Entlassung kam Patient wieder zur
Aufnahme und wurde nach Entfernung eines nekrotischen Knorpel¬
stückchens nochmals 8 Tage gestaut, da sich bei der Inzision wieder
trübseröse Flüssigkeit entleert hatte. Die Entlassung erfolgte mit
nur wenig gestörter Bewegungsfähigkeit im Ellbogengelenk.
In einem 2. Fall, der noch in unserer Behandlung steht, handelt
es sich um eine komplizierte Oberarmfraktur gleichfalls mit Ver¬
eiterung des Ellbogengelenkes. Auch hier gelang es nach breiter
Inzision und Drainage, allein durch die Bier sehe Stauung, die 16
Tage hindurch fortgesetzt wurde, die Eiterung zu beschränken und
zum Abklingen zu bringen, ohne dass eine grössere Zerstörung im
Gelenk erfolgt wäre. Die Wunde heilt jetzt per granulationem und
die Beweglichkeit im Ellbogengelenk ist, wenn auch nur gering, so
doch nicht ganz aufgehoben. Vielleicht lässt sich nach Heilung der
Wunde durch mediko-mechanische Nachbehandlung noch ein besseres
funktionelles Endresultat erreichen.
Im 3. Fall handelt es sich um eine Eiterung im Kniegelenk nach
operativer Eröffnung desselben zwecks Entfernung einer diagnosti¬
zierten Gelenkmaus. Auch hier gelang es uns durch sorgfältig fort¬
gesetzte Stauung in Kombination mit der Injektion von Antistrepto¬
kokkenserum, das Gelenk zu erhalten und durch entsprechende Nach¬
behandlung, "die in Anwendung heisser Luft, Massage und heilgym¬
nastischer Uebungen bestand, die Beweglichkeit wenigstens in be¬
scheidenem Umfang wieder herzustellen.
VIII. Postpuerperale Mastitis wurde in 3 Fällen behandelt, ein¬
mal handelte es sich um eine doppelseitige und zweimal um eine
einseitige Erkrankung. In allen Fällen gelang durch den Klapp-
schen Saugapparat und kleine Inzisionen die Heilung, wenn auch in
zwei Fällen erst nach längerer Zeit. Aber das Endresultat war doch
ein befriedigendes, indem die Drüse ihrer Funktion erhalten blieb
ohne tiefgreifende und entstellende Narben.
IX. Die Kopfstauung wurde in 4 Fällen angewandt, die ich
mehr der Vollständigkeit wegen aufführe, als dass sich aus ihnen
irgendwelche Schlüsse ziehen liessen.
2 Fälle betrafen Patienten mit Parulis. Nach Entfernung der
erkrankten Zähne ging unter Anwendung der Halsbinde die Gesichts-
schwellung rasch zurück.
In einem Falle von hochgradiger Parulis wurde das Halsband
nach ausgiebiger Inzision angewandt und förderte hier die Eiter¬
sekretion und Abstossung des nekrotischen Gewebes.
Ein Fall von Otitis media wurde durch die Stauung gar nicht be¬
einflusst.
X. Stauung zur Förderung der Konsolidation schlecht heilender
Frakturen wurde zweimal angewandt und führte zum erwünschten
Ziel.
XI. Als Behandlung von Gelenk- und Knochenerkrankungen kam
die Stauung 9 mal in Anwendung.
6 Fälle betrafen tuberkulöse Gelenksveränderungen. In 3 Fällen
mit Erguss im Gelenk, es handelte sich um das Kniegelenk, wurde die
Stauung neben der Punktion und mehrmaligen Injektion von Jodo¬
formglyzerin gebraucht. Bei der Entlassung zeigte sich jedesmal
eine Besserung, wenn auch die Funktionsfähigkeit nicht vollständig
wiederhergestellt war. ,,,
Von 3 Fällen tuberkulöser Gelenkserkrankung ohne Erguss musste
einmal wegen Fussgelenkstuberkulose mit Rücksicht auf den Allge¬
meinzustand des Patienten die Amputation ausgeführt werden.
Zwei Fälle von Handgelenkstuberkulose wurden durch wochen¬
lang fortgesetzte Stauung durchaus günstig beeinflusst. Die Heilung
wurde durch das Röntgenbild kontrolliert und habe ich Ihnen je zwei
Bilder vor und nach der Stauungsbehandlung mitgebracht. Sie wer¬
den bemerken, dass in den Aufnahmen nach mehrwöchentlicher Stau¬
ung die vorher verwaschenen Gelenkslinien wieder schärfer hervor¬
treten. 1) Dementsprechend war auch der klinische Befund geändert.
Die Schwellung war zurückgegangen und die Bewegungsfähigkeit,
die vorher vollkommen aufgehoben war, näherte sich wieder der
Norm.
Eine gonorrhoische Kniegelenksentzündung, die noch in Be¬
handlung ist, wurde durch die Stauung günstig beeinflusst und
ebenso ein Fall von nichttraumatischem Erguss im Kniegelenk, bei
dem Tuberkulose und Gonorrhöe auszuschliessen waren.
Endlich habe ich noch einen etwas unklaren Fall einer Gelenks¬
erkrankung im Knie, der im Anschluss an ein Wochenbett auftrat,
zu erwähnen. Durch das Röntgenbild konnte keine Knochenerkran¬
kung nachgewiesen werden. Die ganz enorme Schmerzhaftigkeit
und Schwellung des Gelenkes, sowie die ganz aufgehobene Be¬
wegungsfähigkeit, besserten sich unter der Stauung stetig, sodass
Patientin bei der Entlassung ohne Stütze gehen konnte und eine
nahezu freie Beweglichkeit im Gelenk besass.
Es sind dies durchaus keine glänzenden Erfolge, die ich
Ihnen berichten konnte, aber immerhin finden sich unter un¬
seren Fällen genug, bei denen wir den sicheren Eindruck ge¬
wonnen haben, dass eben nur durch die Stauung ein günstiger
Ausgang erzielt wurde. Die Misserfolge bei der Behandlung
der Sehnenscheidenphlegmone lehren uns aber, dass wir auch
in der Bier sehen Stauungshyperämie kein Allheilmittel zur
1) Ich verzichte hier auf die Wiedergabe der Bilder, da die feinen
Veränderungen bei verkleinerten Kopien verloren gehen würden.
13. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Verfügung haben, das alle und besonders schon weit vorge¬
schrittene Fälle noch zur sicheren Heilung führt.
Wenn auch noch Verbesserungen und Modifikationen zu¬
gänglich, so wird doch diese neue Therapie ihren Platz bei der
Behandlung akuter Entzündungsprozesse behaupten zum Wohl
und Nutzen unserer Kranken.
Eine Empfehlung zur Anwendung für die allgemeine Praxis
wage ich nicht zu geben, da die Beobachtung der gestauten
Fälle einer fortwährenden Kontrolle bedarf und leicht aus einer
falsch angelegten Stauungsbinde schwere Schäden entstehen
können.
Auch die neuerdings empfohlenen Binden, die gewisser-
massen eine automatische Regulierung des angewandten
Druckes vorsehen, etwa nach Art des Riva-Rocc ischen
Blutdruckmessers, entheben dieser Schwierigkeit nicht, da sich
oft eine Aenderung in dem Anlegen der Binde während der ein¬
zelnen Stauungsperiode geltend macht, je nach dem Auftreten
des Oedems, indem infolge davon die Binde dann einen stär¬
keren Druck als beabsichtigt war, ausübt. Und gerade die zu
feste Stauung ist das schadenstiftende bei dem Verfahren. Den
besten Wertmesser für den richtigen Grad der Stauung bildet
noch immer die subjektive Angabe des Patienten über mangeln¬
dem Druck und Schwinden der Schmerzen. Doch kann man
sich eben hier nur auf einigermassen intelligente Patienten ver¬
lassen, denn sowohl von übersensibelen wie torpiden Menschen
sind nur unzuverlässige Aussagen zu erhalten. Eine andere
Kategorie bringt dem Verfahren a priori ein gewisses, aller¬
dings unverständliches Misstrauen entgegen und leitet uns ab¬
sichtlich durch ihre Angaben irre.
Aus dem pathologischen Institut der Universität Marburg.
Zur Frage der Cholesterinbildung in der Gallenblase.*)
Von Prof. L. A s c h o f f.
Auf der letzten Tagung der deutschen pathologischen Ge¬
sellschaft in Meran habe ich die Aufmerksamkeit auf die schon
V i r c h o w gut bekannte Fettresorption in den Epithelien und
Lymphgefässen der Gallenblasenschleimhaut gelenkt. Ich hielt
dieselbe für ein wichtiges Phänomen, insofern die Fette Lö¬
sungsmittel für das Cholesterin sind und eine Verarmung der
Galle an Neutralfetten ein Ausfallen des Cholesterin begünstigen
muss. Ausserdem abet betonte ich, dass unzweifelhaft ein an¬
dauernder, wenn auch geringfügiger Zerfall von Gallenblasen-
epithelien an der normalen Gallenblase stattfindet, so dass die
Bildung der nötigen Eiweissskelette für die Gallensteine oder
des (pholesterinmaterials auch ohne Entzündung vor sich gehen
und bei einfacher Stockung der Galle das Entstehen der Gallen¬
steine begünstigen könne. Auf Grund histologischer Unter¬
suchungen an dem reichen Material des Herrn Kollegen Kehr
war ich zu der Ueberzeugung gelangt, dass der entzündliche
Katarrh der Gallenblase nicht die grosse Bedeutung für die
Bildung der Gallensteine besitzt, welche man heute demselben
zuschreibt. Auch hat ja die experimentelle Forschung gezeigt,
dass jede stärkere Entzündung der Gallenblase die Bildung der
Gallensteine hindert, so dass man zur Annahme einer chro¬
nischen, schleichenden Infektion seine Zuflucht nehmen musste.
Ich halte den Beweis dafür, dass in jedem Falle die Stein¬
bildung auf einen chronisch-infektiösen Katarrh der Gallenblase
zurückzuführen ist, für nicht erbracht und befinde mich da in
erfreulicher Uebereinstimmung mit unser aller Meister auf
diesem Gebiete, dem Schöpfer der Klinik der Cholelithiasis,
welcher zwar die infektiöse Genese für die wichtigste, aber
auch eine andere Entstehung für möglich hält.
Für diese Fälle sollte nun meine Annahme gelten, dass be¬
sonders günstige Resorptionsprozesse für Fette in der Schleim¬
haut bei gleichzeitiger Gallenstockung ein Ausfallen des Chole¬
sterins herbeiführen könnten.
Wenn aber, wie Naunyn annimmt, das Cholesterin von
den Gallenblasenepithelien stammt, so musste bei der Stockung
der Galle dauernd Cholesterin von den Epithelien abgegeben,
gleichzeitig aber, wie meine Beobachtungen zeigten, chole¬
*) Auf Grund gemeinsam mit Herrn K ü 1 1 n e r unternommener
Experimente. Vorgetragen im Aerztlichen Verein zu Marburg am
18. Juli 1906.
1847
sterinlösendes Fett aufgenommen werden, so dass also erst
recht eine Cholesterinausfällung eintreten würde. So ver¬
lockend dieser weitere Ausbau der Nau n y n sehen Hypothese
war, so musste doch erst der sichere Beweis dafür erbracht
werden
1. dass wirklich die in den Epithelien gefundenen fettähn¬
lichen Tropfen, desgleichen die fettähnlichen Substanzen in den
Lymphgefässendothelien resorbierte Neutralfette darstellen und
nicht etwa, wenigstens in den Epithelien, Sekretionsprodukte
sind, etwa Vorstufen des Cholesterin;
2. dass das in den Zellen vorhandene Cholesterin wirklich
sezerniert wird.
Diesem Zwecke diente eine Anzahl von Versuchen, welche
Herr Kollege Kiittner in bereitwilliger Weise an Hunden
unternahm, wofür ich ihm zu besonderem Danke verpflichtet
bin. Sämtliche Gallenblasen wurden in Formol Müller gehärtet,
mit dem Gefriermikrotom geschnitten, auf Fett mit Sudan, auf
Schleim mit Muzikarmin etc. gefärbt.
1. Hund VI, 12. März 1906. Um festzustellen, ob durch Resorption
von Neutralfetten das in denselben gelöste Cholesterin zur Aus¬
füllung gebracht werden könnte, wurde nach Resektion des Ductus
cysticus mit Cholesterin gesättigtes, auf Körpertemperatur erwärm¬
tes Olivenöl in die durch Aspiration entleerte Gallenblase einge¬
spritzt. Resektion der Gallenblase nach 11 Tagen. Es fanden sich
mehrere kleine weisse Brockel aus Fettsäurenadeln und grösseren
Schollen bestehend, die aber keine sichere mikrochemische Reaktion
auf Cholesterin geben, wahrscheinlich Fettsäureverbindungen des
Cholesterin darstellten. Die Epithelien der Gallenblase, besonders
auf der Höhe der Falten viel stärker als in der Norm mit Fett¬
tropfen gefüllt.
2. Hund II, 15. Februar 1906. Ductus cysticus reseziert. Gallen¬
blaseninhalt aspiriert. Geschmolzene Butter in steriler Bouillon
emulgiert in die entleerte Gallenblase eingespritzt. 3 Tage später tot
aufgefunden. Keine Todesursache nachweisbar. In der Gallenblase
zäher, etwas blutig gefärbter Inhalt mit weissen Bröckelchen, welche
mikroskopisch aus Fettsäurenadeln bestehen. Schon frisch an den
Epithelien enorme Füllung mit Fetttropfen nachweisbar. In den mit
Hämatoxylin-Sudan gefärbten Schnitten vom gehärteten Präparat
sieht man die Epithelien, besonders auf der Höhe der Falten bis
zum Bersten mit Fetttropfen gefüllt. Den Epithelien liegt eine dicke
Schleimschicht auf, die keine Spur von Cholesterin enthält. Dann
folgt im Zentrum der Gallenblasenhöhle das mit Blut durchmischte
rotgefärbte Butterfett, von dem aus durch die Schleimschicht hindurch
rotgefärbte Fettstreifen bis zu den Faltenhöhen ziehen.
3. Hund IV, 22. Februar 1906. Ductus cysticus re¬
seziert. Gallenblaseninhalt aspiriert, dafür sterilisierte Milch
eingebracht. Zelluloidfenster in die Bauchwand eingesetzt.
Am 1. VI. 06 getötet. Gallenblase völlig leer, eingebacken
in tuberkulöse Schwielenbildung, ausgehend von einer tuberkulösen
Infektion der Bauchwunde. In mikroskopischen Schnitten durch die
Gallenblasenwand erweisen sich die Epithelien z. Teil als völlig
frei von Fett. Dafür waren deutliche mit Muzikarmin rötlich gefärbte
Schleimpfröpfe in den Epithelien zu sehen, welche kontinuierlich in
die den Epithelien aufliegende Schleimdecke übergingen. An anderen
Stellen enthalten die Epithelien noch deutlich Fett, aber kaum mehr,
als unter normalen Verhältnissen. Keine Spur von Cholesterin in
dem Schleim zu finden.
4. Hund I, 15. Februar 1906. Ductus cysticus reseziert, Gallen¬
blaseninhalt soweit möglich aspiriert. Leere Blase zurückgelassen.
Resektion der Gallenblase am 23. III. 06. Gallenblase klein, wie ge¬
schrumpft aussehend, fühlt sich hart an. Auf dem Durchschnitt sieht
man die Gallenblase ausgefüllt mit stark eingedickter, fast fester
Galle, in welcher mikroskopisch deutlich Cholesterintafeln nachzu¬
weisen sind. Zahlreiche nicht doppeltbrechende Fetttropfen, die sich
mit Sudan rot färben, liegen zwischen den Kristallen.
An mikroskopischen Schnitten sieht man die eingedickte Galle
von der Schleimhaut weggedrängt durch eine breite Schleimschicht,
welche den Epithelien aufliegt. In den Epithelzellen reichliche Fett¬
tropfen, aber nicht wesentlich stärker als unter normalen Verhält¬
nissen. Der freie Saum der Zellen färbt sich mit Muzikarmin lebhaft
rot, desgleichen der ausserhalb der Zellen liegende Schleim. In dieser
Schleimzone keine Spur von Cholesterin, wohl aber in der einge¬
dickten Galle, welche daneben reichliche Mengen von Fetttropfen
aufweist, die in der Schleimzone ebenfalls fehlen.
5. Hund V, 5. März 1906. Ductus cysticus reseziert. Gallen¬
blase in die Bauchwand eingenäht. Drainrohr eingelegt. Die Fistel
schliesst sich später nach Entfernung des Drainrohres. Getötet am
1. Juni 1906. Gallenblase pflaumengross, prall gespannt. Beim Ein¬
schneiden entleert sich eine wasserklare Flüssigkeit (20 ccm) mit
geringem flockigen Bodensatz, der sich mikroskopisch als Leukozyten¬
haufen erweist. Im frischen Abstrichpräparat in den Epithelien kein
Fett nachzuweisen. In den mikroskopischen Schnitten sieht man
starke Verdickung der Falten durch rundzellige Infiltrationen, drüsen¬
artige Wucherungen an der Basis der Falten, aber keine echte Schleim-
2*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
1848
drüsenbildung. Nur die freien Säume der Epithelien sind überall
mit Muzikarmin rot gefärbt. Starke Durchwanderung lymphozytärer
und leukozytärer Elemente durch das Epithel. In den Epithelzellen
keine Spur von Fettkörnchen. Im Schleimhautbindegewebe verein¬
zelte Fettkörnchenzellen.
6. Hund VIII, 23. März 1906. Resektion des Ductus cysticus.
Die stark gefüllte Gallenblase wird wieder versenkt. 31. V. 06 getötet.
Die noch immer prall gefüllte Gallenblase enthält äusserst zähe, faden¬
ziehende Galle. In der Galle mikroskopisch kein Cholesterin,
aber freie Fetttröpfchen, die nicht doppeltbrechend sind. In den Epi-
thelien reichliche Mengen von Eetttropfen. Bei Essigsäurezusatz ge¬
rinnt die Galle fädig-körnig. Myelinfiguren werden bei Wasserzusatz
nirgends gefunden. In den Schnitten sieht man deutliche Schleim¬
färbung in den oberflächlichen Protaplasmaschichten der Epithelien,
Eetttropfen in der mittleren Schleimzone auf den Epithelien. Kein
Cholesterin darin zu finden.
Die angeführten Experimente zeigen folgendes: Bei Ein¬
führung von Fetten (Milch, Butter) in die Gallenblase tritt eine
starke Vermehrung der Fetttropfen in den Epithelzellen der
Gallcnblasenschleimhaut auf. Sie füllen sich bis zum Bersten
mit Fett. Das spricht durchaus für die Annahme einer auch
physiologisch stattfindenden Fettresorption. Berücksichtigt
man ferner, dass in den Fällen, wo keine Galle oder fettführende
Flüssigkeit in der Gallenblase vorhanden war, auch das Fett in
den Epithelien sehr spärlich anzutreffen war oder völlig fehlte,
so lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass das Fett in den
Epithelien, und erst recht das Fett in den Bindegewebszellen
der Schleimhaut und den Endothelien der Lymphgefässe, einem
Resorptionsprozess und keinem Sekretionsvorgang seine Ent¬
stehung verdankt. Ob freilich die resorbierten Eettmassen
wirklich Neutralfette sind, ist durch diese Untersuchungen nicht
bewiesen. Ich kann auch auf Grund anderer Beobachtungen be¬
haupten, dass nicht nur Neutralfette, sondern sicherlich auch
Cholesterinester der Fettsäuren von den Epithelien und den
Lymphbahnen der Gallenblase aus resorbiert werden. In Ver¬
suchen, die ich gemeinschaftlich mit Professor Adami aus¬
führte, und über die wir kurz in der Royal Society in London
berichtet haben, konnten wir zeigen, dass zu den doppelt¬
brechenden Substanzen, d. h. den flüssigen Kristallen, welche
man künstlich herstellen kann, und welche bei Körpertem¬
peratur ihre Doppelbrechung behalten, vor allem die Chole¬
sterin- und Cholinoleate gehören. So handelt es sich bei den
doppeltbrechenden Substanzen in der Intima der Aorta bei der
Atheromatose derselben höchst wahrscheinlich um Chole-
sterinoleate, aus denen bei der Zersetzung das Cholesterin
frei wird. Adami und ich konnten es ferner wahrscheinlich
machen, dass es sich bei den doppeltbrechenden Substanzen
meist um Gemische von Neutralfetten und Cholesterinfettsäure¬
estern oder Cholinfettsäurestern handelt, weil man künstlich
diese Mischungen herstellen und durch den Zusatz von Neutral-
fetten den Schmelzpunkt der flüssigen Kristalle willkürlich
ändern kann. Die Doppelbrechung zeigt also nur an, dass in
den fettähnlichen Tropfen neben Neutralfetten auch Chole¬
sterin- oder Cholinester vorhanden sind. Diese können aber
auch vorhanden sein, ohne dass Doppelbrechung eintritt, wenn
eben der Schmelzpunkt infolge der Mischung bis unter die
Körpertemperatur erniedrigt ist. Ich habe mich nun bemüht,
in den Epithelien der tierischen und menschlichen Gallenblase,
sowie in den fettführenden Lymphgefässendothelien doppelt¬
brechende Substanzen nachzuweisen. Zunächst gelang das
nicht. Aber bald fanden sich Fälle, insbesondere solche, wo
infolge leichter Gallenstauung die Lymphbahnen stark mit Fett
überladen waren, welche an fast allen Tropfen das zierliche
Kreuz im Polarisationsmikroskop auftreten liessen. Damit war
bewiesen, dass in diesen Fällen cholesterinhaltige Gemische
von Neutralfetten resorbiert worden waren, und ferner sehr
wahrscheinlich gemacht, dass auch in allen anderen Fällen in
der Gallenblasenwand schon physiologischer Weise eine Re¬
sorption cholestearinführender Fettlösungen vor sich gellt.
Nur ist der Cholesteringehalt meist so gering, dass er sich
nicht durch Doppelbrechung kundgibt, wächst aber bei Gallen¬
stauung so an, dass er nun auch physikalisch sichtbar wird.
Die Galle enthält also Mischungen von Neutralfetten und Chole¬
sterin, welche von der Schleimhaut dauernd resorbiert
werden. Es ist sehr wohl denkbar, dass dabei die Mischung
in den Epithelien zerlegt, und die Neutralfette schneller weiter¬
gegeben werden, oder dass überhaupt schon in der Galle eine
gewisse Dissoziation vor sich geht, und Neutralfette allein in
grösserer Menge resorbiert werden als das Gemisch selbst.
Somit scheint mir der Beweis für die resorptive Tätigkeit
der Gallcnblasenschleimhaut für die Neutralfette und Chole¬
steringemische der Neutralfette erbracht.
Wie verhält es sich nun aber mit der Cholesterinpro¬
duktion seitens der Epithelien, welche nach Naunyn die
Hauptquelle des ganzen Cholesteringehaltes der Gallenblasen¬
galle sind? Findet neben der Resorption der Cholesterinester-
Neutralfettgemische noch eine Abgabe von Cholesterin statt?
Die oben angeführten Experimente beweisen meiner Meinung
nach eine Tatsache, dass nämlich die Epithelien der gallen¬
freien Gallenblase wohl Schleim, aber kein Cholesterin zu
produzieren imstande sind, oder doch wenigstens nicht in
irgendwie nachweisbarer Form. Niemals fanden sich in den
Schleimmassen die geringsten Spuren von Cholesterin oder
deren Muttersubstanz, der Cholesterinester - Neutralfettlö¬
sungen. Also blieb nur noch die Möglichkeit, dass die Epithelien,
da sie selbst kein Cholesterin in • nennenswertem Umfange
produzieren, die Cholesterinester-Neutralfettgemische resor¬
bieren, spalten, die Neutralfette an die Lymphe, das Chole¬
sterin an die Galle abgeben. Die von Naunyn wiederholt
beobachtete Tatsache, dass aus den Epithelien Myelinformen
austreten, kann ich insofern bestätigen, als in den Fällen, wo
eben doppeltbrechende Substanzen, d. h. cholesterinhaltige
Fetttropfen in den Epithelien vorhanden waren, diese bei Wasser¬
zusatz aufquollen und myelinartige Formen annahmen. Dieser
wichtigen Beobachtung Naunyns muss ich aber eine andere
Deutung geben, als er. Die myelinartigen Massen sind kein
Produkt der Zellen, sondern eine durch Resorption aus der
Galle entstandene Ablagerung in denselben.
Treten diese resorbierten Cholesterinmassen etwa nach
einer in den Epithelien vorausgegangenen Abspaltung von den
Neutralfetten aus diesen auch in dem lebenden Organismus aus,
etwa durch Zerfall der Zelle? Diese Möglichkeit muss zu¬
gegeben werden, und die Naunyn sehe Hypothese würde
trotz des Nachweises einer anderen Quelle des Cholesterins
ihre Gültigkeit behalten. Das Cholesterin stammt aus der
Galle, nicht aus den Gallenblasenepithelien, es wird aber von
den letzteren in Form eines Cholesterinester - Neutralfett¬
gemisches resorbiert und nach Spaltung des Gemisches wieder
an die Galle abgegeben. Für diese Hypothese, welche nichts
anderes als eine Erweiterung des Naunyn sehen Grund¬
gedankens wäre, vermag ich aber keinen Beweis zu erbringen.
Ich habe an lebenswarmem Material bis jetzt niemals chole¬
sterinhaltiges Material, also sogen. Myelin, spontan aus den
Epithelien austreten sehen. Ob bei der physiologisch vor¬
kommenden Epithelmauserung der Gallenblasenschleimhaut
die absterbenden Epithelien noch ,, Myelin“ enthalten, erscheint
mir nach meinen histologischen Befunden an menschlichem,
lebenswarm fixierten Gallenblasenmaterial fraglich. Auch
spricht das Fehlen des Cholesterins in den Schleimmassen der
abgebundenen Hundegallenblasen trotz der vor der Abbindung
vorhanden gewesenen Fettanhäufung in den Epithelien gegen
eine solche Abspaltung und Rückgabe des Cholesterins an den
Gallenblaseninhalt. Ich kann daher die obige Hypothese nicht
stützen, sondern muss bekennen, dass es mir bisher nicht ge¬
lungen ist, für eine Cholesterinproduktion seitens der Epi¬
thelien auch in der von vermuteten Form einen sicheren Be¬
weis zu erbringen. Ob die gefundenen Tatsachen für die Lehre
von der Gallensteipbildung Bedeutung haben können, müssen
weitere Untersuchungen lehren.
Indikationen für die Auswahl von Mineralwässern zu
Trinkkuren bei Verdauungskrankheiten und Stoffwechsel¬
störungen.*)
Von Dr. W i 1 h. F 1 e i n e r in Heidelberg.
M. H. ! Die diesjährige ärztliche Studienreise führt Sie in
die herrlichen Täler des Schwarzwaldes, an Orte, deren Natur¬
schönheit an Lieblichkeit und Romantik ihresgleichen sucht
*) Nach einem für die 6. ärztliche Studienreise bestimmten Vor¬
trage.
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1849
und in ganz hervorragendem Masse geeignet ist, auf Leib und
Seele der Heilsuchenden erhebend einzuwirken.
Sie werden Badestädte finden, deren Heilquellen schon
den Legionen des Augustus und den römischen Siedlern aus
jener Zeit bekannt waren — auch herrliche Orte, die Heil¬
quellen zwar entbehren, aber durch die Vorzüge ihrer Lage
und durch die physikalisch-therapeutischen Hilfsmittel der
Neuzeit zu Heilstätten und Kurorten von hervorragender Be¬
deutung geworden sind.
Gestatten Sie mir einige Minuten Zeit, um Ihnen — bevor
ich mich zürn eigentlichen Thema wende — in kurzen Zügen
die historische Entwicklung der Heilquellen-
lehre zu schildern. Ueber die Heilquellen und über die Luft¬
kurorte, an welchen vorwiegend die physikalischen Heil¬
methoden zur Anwendung kommen, werden Ihnen an den be¬
treffenden Orten die leitenden Aerzte speziellere Vorträge
halten.
Im Altertum lag wohl die Hauptwirkung der Heil¬
quellen auf psychischem Gebiete. Zuerst hat das poetische Emp¬
finden des Volkes den eigenartigen Zauber, den eine aus dem
Boden hervorsprudelnde Quelle einer Landschaft verleiht, dem
gütigen Walten einer Gottheit zugeschrieben. Besonders
mächtig musste eine solche Gottheit sein, welche an Stellen
waltete, wo ein salziger oder ein heisser Quell aus dem Ge¬
steine hervorbrach, und ein mystischer Schauer umgab die
Stätten, wo geheimnisvolle Dünste die Sinne umfingen. Früh¬
zeitig im Altertum verwerteten die Priestei; diese psychi¬
sche Wirkung von Mineralquellen und vereinigten den Ge¬
brauch derselben mit einem religiösen Kultus: Ueber dem
kastalischen Quell im Tempel des Apollo zu Delphi war der
Sitz der Pythia. „Lethe“ und „Mnemosyne“ tranken die das
Orakel Befragenden aus den Quellen bei der Dunsthöhle des
Trophonius in Böotien (cf. Haeser: Geschichte der Medizin
I, 494/5).
Jahrtausende hindurch haben die Wasser des Jordans und
des Ganges ihre mystische Kraft bewahrt. Auch noch im
20. Jahrhundert glauben Viele an die Wunderkraft einiger, von
der Madonna besonders begnadeter Quellen.
Es wäre töricht, die suggestive Wirkung des Wassers von
Lourdcs auf die gläubigen Herzens dorthin wallfahrenden
Kranken leugnen zu wollen.
Aller priesterlichen und religiösen Beeinflussungen ent¬
kleidet, entbehren aber auch unsere modernen Badekuren
keineswegs der suggestiven Wirkung, ebensowenig wie eine
Konsultation bei einem berühmten Arzte oder eine Wallfahrt.
Der Glaube an die Heilwässer kommt demjenigen an Arzneien
und Rezepte gleich, übertrifft diesen sogar viefach. Welcher
Trost und welche Hoffnung liegt für manchen schwer und lang
geprüften Kranken allein schon im Gedanken, bald ein Bad auf¬
suchen zu dürfen, um dort ausschliesslich seiner Gesundheit zu
leben und die lang ersehnte Genesung zu suchen!
Der Gebrauch der natürlichen Thermal b ä d e r erreichte
übrigens in früheren Zeiten, zumal im Altertum, eine viel
grössere Ausdehnung, als die Benützung mineralischer
Trink quellen. Es scheint sogar, meint Haeser, dass die
letzteren dem Volke genauer bekannt waren, als den Aerzten.
Selbst Hippokratesist kein Freund der Mineralquellen ge¬
wesen, war ihm doch für die Güte des Wassers lediglich dessen
Frische, Klarheit, Süssigkeit und Weichheit und für die Schlech¬
tigkeit des Wassers dessen Härte, Salzgehalt und Wärme mass¬
gebend.
In seinem Buche über „Luft, Wasser und Oertlichkeit“ sagt
er (Kap. VII):
„Am besten ist das Wasser, welches aus hochgelegenen Ge¬
genden und von Erderhebungen hervorkommt, denn es ist an sich
süss und dünnflüssig und kann eine geringe Menge Weins vertragen;
ferner ist es im Winter warm, im Sommer aber kühl, weil es aus den
tiefsten Quellen kommt.“ . . . Auch das Regenwasser schätzt Hippo-
krates sehr hoch, weil es am leichtesten, süssesten, dünnsten und
klarsten ist — im Gegensatz zu dem Schmelzwasser des Schnees
und des Eises.
„Das sumpfige, stehende Wasser und das Wasser aus Teichen,
welche keinen Abfluss haben“ . . . „halte ich“ — sagt Hippokrates
— „in jeder Beziehung für schlecht“ — nächstdem aber solches,
dessen Quellen aus dem Gestein hervorspringen — denn dann muss
es unbedingt hart sein — oder die aus dem Erdboden hervorkommen,
wo es warme Gewässer gibt oder Eisen, Kupfer, Silber, Gold,
Schwefel, Alaun, Erdpech oder Nitrum vorhanden ist . . . ., denn
solches Wasser ist hart, verursacht Hitze, ruft Urinbeschwerden
hervor und hindert den Stuhlgang“.
„Wer übrigens gesund und kräftig ist, braucht nicht wählerisch
zu sein, sondern kann das Wasser, welches gerade zur Stelle ist,
ruhig trinken. Kranke hingegen müssen, um gesund zu werden, das
süsseste, leichteste und klarste Wasser trinken, wenn sie einen harten
Leib haben und zu Hitze neigen und das härteste, am wenigsten
leicht zu erweichende und salzige Wasser, wenn ihr Unterleib feucht
und reich an Schleim ist“. (Hippokrates.)
Auch die Aerzte der späteren Zeit widmen den minerali¬
schen Trinkquellen, deren Gebrauch bei dem Mangel jeder
näheren Kenntnis ihrer Zusammensetzung fast nur dem Zufall
oder der Willkür überlassen blieb, verhältnismässig nur geringe
Beachtung. Selbst noch zur Zeit G a 1 e n s scheinen sie, wie
noch jetzt der gemeine Mann, den Wert der Mineralquellen
hauptsächlich nach dem Effekte ihrer reinigenden Kräfte be¬
messen zu haben (IJ a e s e r).
Viele von unseren Heilquellen und Badestädten — u. a.
die Thermen von Baden-Baden und Badenweiler —
waren schon im Altertum bekannt, und der Gebrauch, den die
Alten von ihnen machten, vererbte sich auch auf die Folgezeit.
Mit dem Untergang des römischen Reiches kamen sie vorüber
gehend in Verfall, um im Mittelalter mit einer grossen Zahl von
anderen zu neuer Blüte zu gelangen. Im Mittelalter
kamen die Wildbäder im Gegensatz zu den Bädern in den Bade¬
stuben in Gebrauch und die B a d e f a h r t e n, welche nach dem
Beispiel der Italiener vom 13. — 16. Jahrhundert im Frühling
stattfanden. Erst später wurde nördlich der Alpen die Saison
vom Frühling auf den Somer verlegt. Ein Luxus und eine
Ueppigkeit soll sich da in vielen deutschen Bädern auf diesen
Badeiahrten entwickelt haben, der in unseren Tagen kaum
übertroffen werden kann. In den Thermen verweilte man, ohne
Trennung der Geschlechter, tagelang bei Essen und Trinken
und jeder Art Kurzweil. Albrecht Dürer hat durch eine
Zeichnung das Badeleben, wie es in Aachen betrieben wurde,
verewigt. Aehnliche Bilder von gemeinsamen Bädern mit
Schmauserei und Musik finden sich im III. Bande der Mono¬
graphien zur deutschen Kulturgeschichte. (H. Peters: Der
Arzt und die Heilkunde in der deutschen Vergangenheit. Leip¬
zig, Eugen Diederichs, 1900.) In den oft kunstvollen Gefässen
und Humpen, die den im Bade verweilenden Männlein und
Weiblein auf jenen Bildern dargereicht werden, scheint kein
Wasser gewesen zu sein. Auch die im Bade dargebotenen
Speisen werden wohl weniger der Diätetik als einem genuss¬
süchtigen Gaumen entsprochen haben.
Die Trinkkuren kamen viel später in Gebrauch, als die
Badekuren. Sogar in Karlsbad war noch im Anfang des
16. Jahrhunderts das Baden die Hauptsache. Man betrieb das¬
selbe, wie später das Trinken, mit solcher Energie, dass die
Bezeichnungen „Hautfresserkur“ und „Saufkur“ gebräuchlich
wurden (cf. Haeser: Bd. I und II).
Eine neue Zeit begann für die gesamte Heilkunde ein¬
schliesslich der Balneotherapie mit dem Aufschwung der
Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert. Die von den Alten
vererbten Dogmen wurden erst kritisiert, dann bekämpft und
schliesslich verworfen — am heftigsten und folgenreichsten
wohl von Paracelsus (1491—1541), dem aufgeklärten, weit¬
blickenden medizinischen Reformator von Einsiedeln, der von
den Alten nur Hippokrates gelten liess. Den Galenismus
und die galenischen Präparate, von welchen wir heute noch
manche in den Apotheken finden, verachtete Paracelsus
tief, denn : „ie länger Geschrift, desto kleiner der Verstand“,
„je länger Rezepten, je weniger Tugend“. Das Hauptgewicht
legte er auf die einheimischen Arzneistoffe in einfachster Ver¬
ordnung und die logische Folge seiner, den Neuplatonikern
entnommenen Weltanschauung war die hohe Meinung von den
natürlichen Heilquellen. „Die Heilquellen sind die
natürlichen Composita Gottes: sie sind voll¬
kommener an Tugend und Krafft denn Alles
a n d e r e“, sagt Paracelsus, und wir müssen ihm diese
schönen Worte doppelt hoch bewerten, weil sie seiner Ueber-
zeugung entspringen und von der sonst 'Jt recht derben
Schreibweise des viel verkannten und verbiv erten Kraftgenies
gewaltig abstechen.
1850
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
Der theosophische Standpunkt des Paracelsus hindert
ihn aber nicht, die Entstehung und Zusammensetzung der
Mineralquellen zu erforschen und die letztere nicht nur zu thera¬
peutischen Indikationen, sondern auch zu Nachahmungen zu
verwerten. In seinem „Bäderbüchlein“ aus dem Jahre 1562
spricht Paracelsus den genialen Gedanken aus, dass die
Thermen von Niederbaden1), Wildbad (und Lieben-
z e 1 1) eines Ursprungs seien und ihre Wärme vom „Kalch-
stein“ haben, durch welchen sie fliessen 2).
„Mit jeglichem Wasser, das gewärmbt wird oder über
Kalchstein gegossen, theilen sie die Eigenschaft, C o 1 i c a zu
stillen — vergleichbar den Kamillen und ein wenig der Iva
arthetica“ (Paracelsus).
Für das beste aller Wässer hielt er das von St. Moritz
im Engadin, von dessen Quellen die eine jetzt noch Para¬
celsus’ Namen trägt. Den Eisengehalt von Heilquellen —
die St. Moritzer sind eisenhaltige, alkalisch-salinische Säuer¬
linge — wies Paracelsus mit Galläpfeltinktur nach, einem
Mittel, das die Chemie lange Zeit als Reagens beibehalten und
die 'I echriik zur Herstellung von Tinte aus Eisenvitriollösungen
benützt hat.
Diese naturwissenschaftlichen Anschauungen haben sich rasch
verbreitet und wie populär schon im 17. Jahrhunderte die Kenntnisse
von der Entstehung der Mineralquellen waren, möge Ihnen eine
Szene aus dem berühmten Simplicissimus zeigen, die Sie viel¬
leicht auch noch aus dem Grunde besonders interessieren dürfte, dass
sie im Schwarzwald am Sagenreichen Mummelsee und im Kniebis¬
gebiet sich abspielt, das Sie in den nächsten Tagen durchwandern
werden.
Dort frägt der Simplizissimus Teutsch den Fürst des Mummel¬
sees . . . „Warum sich die Wasser, die doch alle vom Oceanos
kommen, nicht alle gleich befinden, beides, an Geruch und Geschmack
und der Kraft der Wirkung“ . . . „denn etliche Quellen sind liebliche
Sauerbrunnen und taugen zu der Gesundheit, etliche sind zwar sauer,
aber unfreundlich und schädlich zu trinken, und andere sind gar
tödlich und vergiftet, wie derjenige Brunnen in Arcadia, damit Jolla
Alexander den Grossen vergiftet haben soll“ . . . Etliche Brunnen¬
quellen sind lau, etliche siedend heiss und andere eiskalt. . . . Etliche
Wasser werden zu Stein, andere zu Salz und etliche zu Vitriol. . . .
Die Antwort lautet: „Wenn ein Wasser .... bis zu seinem
Auslauf, welchen wir die Quelle nenneten, nur durch allerhand Stein
laufe, so bleibe es allerdings kalt und süss; dafern es aber auf
solchem Wege durch die Metalle passiere (denn der grosse Bauch
der Erden sei innerlich nicht an einem Ort wie am anderen be¬
schaffen), als da sind Gold, Silber, Zinn, Kupfer, Blei, Eisen, Queck¬
silber usw. oder durch die halben Mineralia, nämlich
Schwefel, Salz mit allen seinen Gattungen . . ., so nehme es deren
Geschmack, Geruch, Art, Kraft und Wirkung an sich, also dass es
den Menschen entweder heilsam oder schädlich werde. Und eben
daher häten wir so verschiedene Salze, denn etliches sei gut und
etliches schlecht. . . . Betreffend aber die warmen Wasser, so nehmen
dieselben ihre Hitze von dem Feuer an sich, das in der Erde brennt,
welches so wol als unsere Seen hin und wieder seine Luftlöcher und
Kamine hat, wie man am berühmten Berg Aetna in Sicilia, Hecla
in Island . . . und anderen mehr abnehmen kann.
Der Verfasser des Simplicissimus — Grimmelshausen —
nach langen Kriegsfahrten Schultheiss von Renchen (1669) am West-
abhange des Schwarzwalds, wo das bäderreiche Renchtal sich nach
der Rheinebene öffnet, kannte aber nicht nur die Entstehung der
Heilquellen und das Leben und Treiben in den Bädern, sondern
wusste auch sehr gut den Nutzen einzuschätzen, den ein sog. Gesund¬
brunnen seinem glücklichen Besitzer bringt. „Keine grössere Gnade“
lässt er seinen realistischen Helden zum Könige der Gewässer im
Centrum terrae sagen, „könnte mir wiederfahren, als wenn er mir
einen rechtschaffenen medicinalischen Sauer¬
brunnen auf meinem Hof zukommen lassen wiird e“.
Diese Gnade wird ihm gewährt; aber während sich Simplicissi¬
mus auf dem Heimwege vom Mummelsee nach Seebach im Wolfsthale
überlegt: „durch was für Schmieralia er die Aerzte überzeugen
wollte, dass sie seinen neuen „Wundersauerbrunnen“ allen anderen,
ja gar dem Schwalb ach er vorziehen und ihm einen Haufen
reicher Badegäste verschaffen sollten . . . und wie die Medici • — um
die Gebühr — ihm eine herrliche Abhandlung von seinem Brunnen
und dessen köstlichen Qualitäten zu Papier bringen sollten, welche er
alsdann mit einem schönen Kupferstich, darin sein Bauernhof ab-
*) Unser heutiges Baden-Baden wurde im Gegensätze zu Ober-
Baden bei Zürich als Nieder-Baden bezeichnet.
2) „Diese drey Baeder Niderbaden, Wildbad und Zellerbad haben
einen Ursprung... und lauffen durch einen Kalchstein, dadurch sie die
Wärme enipfalen . . . Zellerbad wird gar abgekült mit den zufailen-
den Wassern und laufft auch durch die Reuhe (d. i. durch das
Rauhe) ... Im Anfang ist es ein gemein Wasser . . . (Cfr. Dr. Roess-
ler: No. 8 u. 9 der Mitteil, aus u. für Baden 1904.)
gebildet und dessen Grundriss gezeichnet, drucken lassen wollte, . . .
aus welcher ein jeder abwesende Kranke sich gleichsam halb
gesund lesen und hoffen könnte... (XVII. Cap.)... „ver¬
zettelt“ auf diesem Heimwege Simplicissimus „seinen recht¬
schaffenen medicinalischen Sauerbrunnen“ irgend¬
wo im Kniebisgebiete.
Ob ihn wohl später der Mönch R i p p o 1 d wiedergefunden oder
ob er seinen Lauf nach dem Renchtal zu genommen hat?
Sehr grosse Verdienste 3), die grössten vielleicht, welche
jemals in medizinischer Beziehung um diesen Gegenstand er¬
worben worden sind, hat der Hallenser Friedrich Hoff-
mann (1660 — 1742) um die Heilquellenlehre.
Es wies zuerst das Vorkommen von Alkalien in den Säuer¬
lingen nach; er trennte zuerst die Magnesiasalze von den
übrigen mit ihnen zusammengeworfenen Alkalien. Für den
wichtigsten Bestandteil der Mineralquellen hält H o f f m a n n
ein „Principium aereo-aethereo-elasticum“ von saurer Be¬
schaffenheit — die Kohlensäure — , welches namentlich dazu
dient, die festen Bestandteile des ersteren in Lösung zu er¬
halten. Mit der Bestimmung der Gewichtsmengen der festen
und der flüssigen Bestandteile durch langsames Abdampfen
machte Hoffmann den Anfang zur quantitativen Analyse
der Mineralwässer. Die einzelnen Salze werden durch Tren¬
nung der löslichen und unlöslichen vermittels der Kristallisation
von einander geschieden. Ferner lehrte Hoffmann zuerst
die Bereitung des Sal Sedlizense, des Sal thermarum Caro-
linensium und die Nachahmung der Säuerlirfge (vergl.
H a e s e r: 1. c.).
Im 19. Jahuhundert kamen wir dank der mächtigen Ent¬
wickelung der Chemie in den Besitz der bis zur 5. Dezimal¬
stelle genauen quantitativen Analysen aller vorhandenen
Mineralquellen. Auf Grund derselben war 'es dann für jeden
Apotheker ein leichtes, Standardlösungen für die Fabrikation
aller möglichen künstlichen Mineralwässer oder künstlichen
Mineral- oder Quellsalze herzustellen. Tatsächlich waren eine
Zeitlang solche künstliche Mineralwässer vielfach im Ge¬
brauche; ich selbst erinnere mich noch gerne an die Zeit, wo
ich in meiner väterlichen Apotheke als Lehrling und Gehilfe
auf Grund L i e b i g scher oder Bunsen scher Analysen die
Lösungen für solche künstliche Wässer bereitete. Die un¬
geheuere Ausdehnung und Erleichterung der Verkehrsver¬
hältnisse, die es jetzt den Kranken gestatten, auch fernliegende
Heilquellen aufzusuchen oder die zu Trinkkuren benötigten
natürlichen Mineralwässer jederzeit frisch zu beziehen, hat
— ganz abgesehen von anderen Gründen — die künstlichen
Wässer bis auf die einfachen kohlensauren Getränke so ziem¬
lich überflüssig gemacht. Künstliche Salze dagegen scheinen
sich aus pekuniären Gründen heutzutage noch mehr als die
natürlichen Quellenprodukte des Beifalls von Aerzten und
Laien zu erfreuen.
Wenn man nun glaubte, mit dem Einblick in die ehe¬
rn i s c h e Zusammensetzung einer Heilquelle am Ende des
19. Jahrhunderts zu deren richtigen und völligen Erkenntnis ge¬
kommen zu sein, so war das eine Täuschung — denn die rastlos
fortschreitende Wissenschaft hat uns mit dem Beginn des
20. Jahrhunderts vor ganz neue Fragen gestellt. Neue Ele¬
mente wurden in den Gasen mancher Heilquellen gefunden:
Argon und Helium und die Emanationen des Radiums.
Von diesem wunderbaren Stoffe, der sich vielleicht im Innern
der Erde im Laufe von Jahrmillionen unter ungeheurem Drucke
entwickelt hat, gehen allerkleinste Materienteilchen — Uratome,
Elektronen — mit Lichtgeschwindigkeit in die Umgebung aus:
eine zerfallende Atomwelt. Die Verwandtschaft zwischen
Radiumemanation und Helium hat R a m s a y nachgewiesen.
Dass ein Atom Helium aus 4 Atomen H (Wasserstoff) besteht, ist
möglich, aber noch nicht erwiesen. (Vergl. Wilh. Meyer:
Kosmos „Weltschöpfung“. Franckhs Verlag, Stuttgart.)
Weitere, für unsere Zwecke zunächst viel wichtigere
Fragen hat uns der neueste Zweig der Naturwissenschaft, die
physikalische Chemie, gestellt. Die Lehre vom os¬
motischen Druck, vom isotonischen Koeffi¬
zienten, von der elektrolytischen Dissoziation
und den lone n, die sich an die Namen von van t’H off, de
i _ *
3) Vergl. Hapser, Bd. , II, pag. 517. . ,
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIET.
1851
V r i e s, Arrhenius, Kohlrausch, Ostwald u. a.
knüpfen, sind gerade für die Salzlösungen, wie sie die Mineral¬
wässer vorstellen, für die Physiologie und Pathologie von aller¬
grösster Bedeutung.
Die neuesten Analysen der Heilwässer nehmen Rücksicht
auf die Errungenschaften der heutigen physikalisch-chemischen
Wissenschaft, besonders auf die Radioaktivität; auch werden
die neuentdeckten Elemente in den Badeschriften zur Erklärung
der aus der einfachen chemischen Analyse nicht immer er¬
sichtlichen Heilkraft der Quellen herangezogen; ein gewisser
Spielraum für den besonders wohltätigen, mystischen
„Brunnengeist“ einer Heilquelle bleibt aber trotzdem immer
noch frei.
In gleichem Masse, wie die Abneigung gegen Arzneien
ist bei Aerzten und Laien die Vorliebe für Mineralwässer und
Brunnenkuren gewachsen. Jedenfalls erfreuen sich in der mo¬
dernen Therapie neben den diätetisch-physikalischen Heil¬
methoden die natürlichen Heilquellen grosser Beliebtheit und
häufiger denn je wird jetzt der Arzt vor die Frage gestellt, über
die Wahl eines heilsamen Brunnens zu entscheiden. Manchmal
ist zwar heute noch, wie in den früheren Zeiten, lediglich die
Empirie bei einer solchen Wahl ausschlaggebend. Die Em¬
pirie allein befriedigt uns aber nicht und ganz gewiss ent¬
täuscht sie oftmals denjenigen, welchem die Routine bei der
Perzeption eines Herzgeräusches — schnell wie ein Reflex —
Nauheim, beim Erkennen einer ikterischen Hautfarbe oder
beim Nachweis von Druckschmerz in der Gallenblasengegend
Karlsbad und endlich bei irgend welchen Veränderungen
in der Harnbeschaffenheit gleich W i 1 d u n g e n als Verordnung
aufkommen lässt. Fast will es scheinen, als ob die Empirie
zwischen diagnostischen und therapeutischen Vorstellungen
allzu leicht leitende Assoziationsbahnen entstehen liesse.
Es liegt mir nun ganz ferne, den Wert der Empirie zu unter¬
schätzen — aber wer nimmt heutzutage die Erfahrung eines
anderen zur eigenen Richtschnur? Den Autoritätsglauben
kennt unsere Zeit nicht mehr — wir wollen nach genauer
Kenntnis der Sachlage eines Falles, zu welcher uns die moderne
Diagnostik verhilft, mit der Therapie individualisieren, d. h.
genau nach den gefundenen Indikationen handeln. Nur unter
diesen Voraussetzungen rechnen wir mit Zuversicht auf den
Erfolg unserer Verordnungen und tragen wir gerne die Ver¬
antwortung für dieselben.
Indikationen allgemeiner Art sind für den Ge¬
brauch ihrer Heilquellen in den Prospekten aller Kurorte zu
finden, die Ihnen als erste Frühlingsboten alljährlich zu Dutzen¬
den zugehen, noch zu einerZeit, wo die Winterstürme den Schnee
um das Haus wirbeln. Manch einem erscheint es vielleicht im
Hinblick auf die so sehr verschiedenen chemischen und physi¬
kalischen Eigenschaften der Heilquellen auffällig, dass diese mit
wenigen Ausnahmen gerade bei Krankheiten der Ver¬
dauungsorgane und bei Stoffwechselstö¬
rn n g e n vorzügliche Wirkungen entfalten sollen.
In der Tat ist es aber so, denn alles getrunkene Wasser,
ob es nun einer Mineralquelle oder einem einfachen Brunnen
entstammt, ist in erster Linie eine Spülflüssigkeit.
Diese entfaltet ihre reinigende Wirkung aber nicht nur im
Munde, im Schlunde, in der Speiseröhre und im Magen, son¬
dern auch im oberen Dünndarme, wo die Resorption erfolgt
und in den Geweben, welche das resorbierte Wasser durch¬
strömt, zumal im Blute, aus welchem es unter rasch vorüber¬
gehender Drucksteigerung ein entsprechendes Quantum mit
harnfähigen Stoffen beladener Flüssigkeit verdrängt und durch
die Nieren zur Ausscheidung gelangen lässt. Alle T r i n k -
kuren sind demnach S p ü 1 k u r e n und nicht nur Spülkuren
für die oberen Abschnitte des Verdauungsrohres, besonders für
den Magen, den oberen Dünndarm und die Leber, sondern auch
solche für den ganzen Organismus und dessen Säfte. Im
Gegensatz zu den Magenspülungen vermittelst des Schlauches
— den künstlichen — habe ich immer die Trink¬
kuren als natürliche Spülungen unterschieden.
Vorbedingungen für die Zulässigkeit und auch für
den Nutzen einer Trinkkur — einer natürlichen
Körperspülung — sind: 1. eine zur Fortschaffung des ge¬
trunkenen Wassers ausreichende motorische Kraft des Magens,
2. eine entsprechende Resorptionsfähigkeit des Dünndarmes,
3. eine zur Fortbewegung der vorübergehend vermehrten Blut-
menge hinreichende Herzkraft zugleich mit einem den Druck¬
schwankungen gewachsenen Arteriensystem und 4. eine in¬
takte Ausscheidungsfähigkeit der Nieren verbunden mit nor¬
maler Funktion der Blase. Künstliche Spülungen,
Magenspülungen sowohl als auch Darmspülungen sind von den
genannten Vorbedingungen fast ganz unabhängig, denn die
Spülflüssigkeit verlässt das Organ grösstenteils auf demselben
Wege wieder, auf welchem es einverleibt wurde, durch den
Schlauch.
Wir haben also Kontraindikationen für T rink¬
kuren überhaupt oder wenigstens individuelle Einschränkungen
für die letzteren, wenn die verlangten Vorbedingungen fehlen
oder nur teilweise erfüllt sind. Das erstere ist der Fall bei der
motorischen Insuffizienz des Magens, der In¬
suffizienz des Herzens und der Nieren, das
letztere bei entsprechenden Schwächezuständen der
genannten Organe. Um etwas spezieller zu sein, möchte ich
zunächst bezüglich des Magens an die von dem franzö¬
sischen Kliniker Chomel aufgestellte Dyspepsie des
liquides erinnern, an jene Zustände des Magens, bei
welchen irgendwie nennenswerte Flüssigkeitsmengen im
Magen längere Zeit liegen bleiben, allerhand Beschwerden ver¬
ursachen und welche sich durch den Nachweis von lautem
Plätschergeräusch in grosser Ausdehnung erkennen lassen.
Gewöhnlich handelt es sich um atonische Zustände der Magen¬
wand, Dehnung des Magens infolge der Erschlaffung seiner
muskulären Wandung, um Tiefstand und Vertikalstellung des
Magens. Selten werden in solchen Fällen grössere Flüssig¬
keitsmengen gut ertragen; kleinere, in angemessenen Abständen
gereichte Portionen werden aber noch gut aus dem Magen in
den Darm geschoben. Zwischen solchen Zuständen der mo¬
torischen Schwäche und der motorischen Insuffizienz des
Magens gibt es gar mancherlei Abstufungen, welche in jedem
Falle individuell berücksichtigt werden müssen. Flüssigkeits¬
mengen, welche im Liegen von einem muskelschwachen Magen
noch bewältigt werden, können bei der morgendlichen Brun¬
nenpromenade leicht im Magen verbleiben, das Organ über¬
lasten und dessen Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Dann
bleibt nichts übrig, als eine Trinkkur abzubrechen oder die
natürliche Spülung durch die künstliche (mit der Sonde) zu
ersetzen, wie es bei motorischer Insuffizienz infolge von Py¬
lorusstenose und sekundärer Gastrektasie immer der Fall ist.
Was die Krankheiten des Herzens und der Ar¬
terien anbetrifft, so ist die muskuläre Insuffizienz wohl immer
eine Kontraindikation für reguläre Trinkkuren, ebenso die
hochgradige Arteriosklerose. In der Behandlung von Herz¬
krankheiten und Zirkulationsstörungen nach dem Prinzip von
Oertel ist die Beschränkung der Flüssigkeits¬
zufuhr neben Diät und Terrainkur wohl der wichtigste
Faktor. Hält man trotzdem eine Heilquelle für nötig, so muss
eine entsprechende Flüssigkeitsmenge anderweitig in Abzug
gebracht werden. Wer hat es nicht schon erlebt, dass unkon¬
trolliertes, unsinniges Brunnentrinken bei korpulenten, üppig
lebenden Myokarditikern oder Arteriosklerotikern gefährliche
Herzerscheinungen hervorrief? Für Nierenkranke mit sekun¬
dären Herzaffektionen gelten dieselben Bedenken und für
solche mit Hydrops infolge von Niereninsuffizienz ist es oft
wichtiger, das zur Spülung der Nieren in bester Absicht ge¬
nommene Mineralwasser zu inhibieren, sogar die Milchdiät auf
das richtige Mass zu beschränken, bevor diuretische und dia¬
phoretische Mittel verordnet werden. Endlich mahnt mich
eine nach forcierten Trinkkuren bei Prostatikern wiederholt
gesehene Lähmung und Ueberdehnung der Blase mit Ischuria
Paradoxa daran, auch auf diese Zustände hinzuweisen.
Neben der Spülwirkung hat das Wasser jeglicher Her¬
kunft die physiologische Wirkung eines spezifischen
Erregers für die Absonderung von Magensaft und von pankrea-
tischem Safte (P a w 1 o w). Wahrscheinlich erstreckt sich
diese sekretionserregende Wirkung des Wassers auf alle drü¬
sigen Organe. —
(Schluss folgt.)
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
Aus der Würzburger Universitäts-Frauenklinik.
Die künstliche Frühgeburt in der Praxis.*)
Von Dr. O. P o 1 a n o, Privatdozent und Oberarzt.
Bei unserem letzen Zusammensein in Nürnberg berichtete
Herr Geheimrat H o f m e i e r über einen forensischen Fall, der
ihm als Sachverständigen zur Begutachtung zugewiesen war.
Ein Kollege glaubte bei einer tuberkulösen Schwangeren die
künstliche Frühgeburt einleiten zu müssen; durch wochenlanges
Einlegen von Laminariastiften gelang es ihm endlich, die Geburt
in Gang zu bringen. Die Frau ging im Wochenbett septisch
zu Grunde und der Fall hatte, wie gesagt, ein juristisches Nach¬
spiel. In der Diskussion zu diesen Ausführungen wurde von
verschiedener Seite die Frage aufgeworfen: wie soll sich der
ausserhalb der Klinik stehende Praktiker rein technisch
verhalten, wenn er glaubt die künstliche Frühgeburt einleiten
zu müssen? Die folgenden Ausführungen bezwecken, diese
Frage auf Grund eigener Erfahrung, wie wir sie im besonderen
in den letzten drei Jahren an der Würzburger Frauenklinik
gesammelt haben, zu beantworten.
Rein theoretisch betrachtet muss d i e Methode zur Ein¬
leitung der Frühgeburt die beste sein, welche den physio¬
logischen Vorgängen beim Zustandekommen des normalen Par¬
tus am meisten ähnelt, d. h. eine regelmässige Wehentätigkeit
bedingt, ohne das Uterusinnere selber zu berühren. Mannig¬
fache Vorschläge sind gemacht worden, um durch Reizwirkung
von der Scheide aus oder auf indirektem Wege z. B. von den
Mammaorganen aus die Geburt einzuleiten. Das Gesamt¬
ergebnis aller dieser Versuche lautet aber: Die Gebärmutter
verhält sich während der Schwangerschaft in den einzelnen
Fällen hinsichtlich ihrer Erregbarkeit so verschieden, dass uns
diese Methoden keinen regelmässigen Erfolg gewährleisten.
Zum sicheren Zustandekommen der Frühgeburt ist ein an¬
haltender grober Reiz nötig, der auf das Uterusinnere
selber ausgeübt wird. Die drei Verfahren, welche von allen
hierher gehörigen Methoden sich in der Praxis erhalten haben,
sind 1. die Bougiebehandlung, 2. der Blasenstich und 3. die
Metreuryse.
Die früher allgemein geübte Bougiemethode, d. h. das Ein¬
legen elastischer Stäbchen (am besten die von Knapp emp¬
fohlenen, leicht sterilisierbaren Metallspiralen) zwischen Ei¬
blase und Uteruswand ist an den meisten Kliniken aufgegeben
worden. Wenn auch das Verfahren technisch leicht auszu¬
führen ist, sich also für die Praxis gut eignen würde, so haften
ihm doch eine Reihe von Missständen an. In erster Reihe
gehört hierher die Unsicherheit der Methode; ich selber habe
Fälle erlebt, in denen nach vierzehntägiger Bougieeinlegung
keine Frühgeburt zustande kam und nunmehr zur Metreuryse
geschritten werden musste. Von anderer Seite wird die Gefahr
der Infektion und der Blutung durch plazentare Verletzung
neben der Unsicherheit hervorgehoben (vergl. v. Her ff: über
kiinstl. Frühgeburt bei Beckenenge: Volkmanns klin. Vortr.
No. 386), alles Momente, welche viele dieses Verfahren auf¬
geben liessen.
Als zweite Methode habe ich den Blasenstich angeführt,
ein Verfahren, das vor 150 Jahren bereits von Scheel em¬
pfohlen wurde, dann aber wohl allseitig aufgegeben wurde, bis
vor kurzem v. H e r f f (1. c.) wieder warm für dasselbe einge¬
treten ist. Unzweifelhaft ist der Eihautstich die einfachste und
• schonendste aller Massnahmen, die das Uterusinnere treffen
und sicherlich für den Praktiker und Kliniker die Methode der
Zukunft, wenn sie wenigstens für die überwiegende Mehrzahl
der Fälle eine Sicherheit des Erfolges gewährleistet. Da ich
vorderhand nicht über eigene Erfahrung verfüge, halte ich
jede theoretische Kritik für unangebracht. Nur ein Missstand
scheint mit dem Verfahren verbunden zu sein, den v. H e r f f
selber hervorhebt: die relativ lange Zeit, die zwischen Eihaut¬
stich und Geburt liegt und die im Durchschnitt 77—80 Stunden
beträgt. Gerade der Praktiker wird diesen Missstand schwerer
als die Kliniker empfinden. Weniger Wert möchte ich auf zwei
*) Nach einem am 13. Mai 1906 in der fränkischen Gesellschaft
für Geburtshilfe und Frauenheilkunde zu Bamberg gehaltenen
Vortrag.
von v. H e r f f erwähnte Fälle legen, in denen am achtzehnten
Tage nach erfolgtem Blasenstich die Geburt auf andere Weise
beendet werden musste. Es gibt eben Uteri, die sich auf keine
Weise zur richtigen Wehentätigkeit ante terminum anregen
lassen; wenn ein Verfahren unter hundert Fällen nur viermal
im Stich lässt, im übrigen aber sich als brauchbar erweist, so
kann dies keinen Hinderungsgrund für seine allgemeine An¬
wendung abgeben, zumal das Hinzuziehen einer anderen Me¬
thode nicht ausgeschlossen ist. Vielleicht gelingt es durch die
Zuhilfenahme der technisch so einfachen Kolpeuryse, d. h. durch
das Einlegen elastischer Ballons in die Scheide die Wirkung des
Eihautstiches zu verstärken und hierdurch die Zeit der Geburt
abzukürzen. Die weitere Erfahrung kann erst den Wert dieser
ältesten und zugleich neuesten Methode klarstellen.
Worüber ich Ihnen heute berichten möchte, betrifft nun
die dritte der zur Zeit üblichen Verfahren zur Einleitung der
Frühgeburt, die Metreuryse, also das Einlegen von Gummi¬
blasen zwischen Eiblase und Gebärmutterwand. Wenngleich
die Metreuryse von den meisten als die weitaus beste Methode
hierfür betrachtet wird, so sind die Ansichten über die Technik
der Anwendung doch durchaus geteilt. Wenn wir von tech¬
nischen Kleinigkeiten, die z. B. in der Wahl der Ballons, der
Art ihrer Einführung und ihrer Füllung bestehen, absehen, so
gibt es doch in der modernen Geburtshilfe zwei Richtungen,
von denen die eine ein abwartendes, die andere ein aktives
Vorgehen, d. h. die prinzipielle Wendung und Extraktion nach
Ausstossen des Ballons bevorzugt, der den Muttermund hin¬
reichend erweitert hat. In der bereits erwähnten v. H e r f f -
sehen Arbeit finden Sie diesbezügliche Literaturangaben mit
gleichzeitigen Statistiken beider Richtungen, die beweisen, dass
jede der beiden Methoden für Mutter und Kind die beste ist.
Wir haben an der Würzburger Frauenklinik in den letzten
drei Jahren versucht, durch Anwendung des abwartenden und
aktiven Verfahrens nebeneinander ein möglichst objektives Bild
von dem Wert der beiden Methoden zu gewinnen. Hervor¬
heben möchte ich aber, dass Herr Geheimrat H o f m e i e r auf
Grund naheliegender theoretischer Bedenken durchaus für das
den physiologischen Verhältnissen näherkommende abwartende
Verfahren eingenommen war und erst auf Grund verschiedener
Ereignisse seinen Standpunkt geändert hat. (Vergl. Bollen-
h a g e n Ztschr. f. Geburtshilfe Bd. 41.) Unsere Beobachtungen,
die ich in einer Tabelle am Schlüsse dieser Ausführungen kurz
zusammengestellt habe, sind in den letzten drei Jahren, während
deren ich an der Klinik tätig war, nicht zahlreich genug ge¬
wesen, um den Wert einer grösseren Statistik zu beanspruchen.
Ich möchte bei den folgenden Ausführungen vielmehr den Nach¬
druck auf die Misserfolge und unangenehmen Zufälle legen,
die wir in dieser Zeit bei unseren künstlichen Frühgeburten
erlebt haben und die zahlreich genug sind, daraus allgemeine
Schlüsse ableiten zu können.
Aus der sicherlich bescheidenen Zahl von 18 Fällen, die
wir unter 1952 Geburten des gleichen Zeitraumes, darunter
119 enge Becken, für die Einleitung der künstlichen Frühgeburt
geeignet hielten, geht wohl hinreichend hervor, dass wir mit
der Indikationsstellung zu diesem Vorgehen ziemlich zurück¬
haltend sind und nur Fälle verwenden, bei denen entweder All¬
gemeinerkrankungen der Frau ein Weiterbestehen der Schwan¬
gerschaft kontraindizieren oder bei denen die genaue Unter¬
suchung ein gröberes Missverhältnis zwischen der Grösse des
Kindes und des Beckens wahrscheinlich macht. Für die Be¬
wertung der vorliegenden Statistiken sind diese Punkte aus¬
schlaggebend. Wer sich leicht zur künstlichen Frühgeburt ent-
schliesst, wird mit jedem Verfahren selbstredend bessere Re¬
sultate für Mutter und Kind zeitigen, als wer nur zögernd
und in schwierigen Fällen daran geht. Und die Schwierigkeit
im einzelnen Fall ermisst nur der betreffende Geburtshelfer,
mit den kurzen Notizen aus den Geburtsgeschichten ist bei der
Unsicherheit unserer heutigen Beckenmessung und den indi¬
viduellen Verschiedenheiten der Kreissenden (vergl. Hannes,
XI. Gynäkol. Kongress zu Kiel) für eine vergleichende Kritik
wenig gewonnen.
Ueberblicken wir zunächst die 9 Fälle, bei denen nach Er¬
weiterung des Muttermundes durch die Gummiblase prinzipiell
Statistik der künstlichen Fruhgeourt an der WurzDurger Frauenklinik lVUd — 1MU5.
I. Fälle mit aktivem Verfahren.
18. September 1906.
muenchener medizinische Wochenschrift.
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die Blase gesprengt und das Kind extrahiert wurde. Sinai
handelt es sich um platte Becken, einmal um ein Carcinoma
ventriculi. Die Zeitdauer der Geburt schwankt zwischen 7K-
und 48 Stunden, alle Mütter und Kinder blieben gesund, bis auf
einen Fall von Fraktura humeri bei Beckenendlage. Ihnen
gegenüber stehen 9 Fälle, in denen zunächst versucht wurde,
nach Ausstossen der Gummiblase, ermutigt durch die bis dahin
bestehende gute Wehentätigkeit, den spontanen Verlauf der
Geburt abzuwarten. Ein Blick auf unsere Tabelle zeigt zu¬
nächst die weitaus grössere Durchschnittsdauer der Geburt
gegenüber dem aktiven Vorgehen, wie dies ja selbstverständ¬
lich. Zugleich sehen wir aber, dass wir bei 6 Mehrgebärenden
mit engem Becken trotz beabsichtigter abwartender Leitung der
Geburt 4 mal gezwungen wurden, im Interesse von Mutter oder
Kind aktiv vorzugehen, wodurch es dann 3 mal noch gelang,
lebende Kinder zu entwickeln. Nur zweimal wurde wirklich
bis zum spontanen Ausstossen des Kindes gewartet und ein
mazeriertes, ferner ein intra partum abgestorbenes Kind ge¬
boren. Auch bei den drei Primiparae versagte einmal beim
rachitisch-platten Becken die Methode, es musste zur Zange
und als diese nicht gelang, im Interesse der Mutter zur Per¬
foration des lebenden Kindes geschritten werden. Dass wir
nach diesen üblen Erfahrungen uns nunmehr dem aktiven Vor¬
gehen zugewandt haben, ist wohl begreiflich. Wenn wir die
in der Tabelle nur auszugsweise anfiihrbaren Geburtsge¬
schichten unserer Fälle einmal kritisch durchmustern, so er¬
geben sich im besonderen aus den Misserfolgen einige Er¬
fahrungsgrundsätze für die Leitung der künstlichen Frühgeburt
beim engen Becken, die ich hier in Kürze anführen möchte.
1. Um in verhältnismässig kurzer Zeit beim graviden
Uterus ante terminum eine gute und anhaltende Wehentätigkeit
hervorzurufen, bedarf es gröberer, am besten wechselnder
Reize (vergl. spätere technische Ausführungen) auf das Uterus¬
innere:
2. Derartig durch grobe Reize gleichsam abgestumpfte
Uteri reagieren hinterher auf feinere Reize wie Blasenspren¬
gung, heisse Vaginaldouchen usw. häufig nicht mehr, so dass
nach Ausstossen des Ballons eine absolute Wehenschwäche oft
tagelang bestehen kann.
3. Der bereits völlig erweiterte Muttermund kann nach
Ausstossen des Ballons sich später wieder völlig zusammen¬
ziehen und somit noch nachträglich der Fruchtentwicklung die
grössten Schwierigkeiten bereiten.
4. Durch die nach Ausstossen des Ballons erfolgende
Druckschwankung wird das kindliche Leben des öfteren ge¬
fährdet, eine Tatsache, die sich klinisch in den Schwankungen
der Herztöne bis zum intrauterinen Absterben äussert.
Um allen diesen Eventualitäten zu ent¬
gehen, empfiehlt es sich, prinzipiell nach Aus¬
stossen des Ballons, der den Muttermund ge¬
nügend erweitert hat, die Geburt sofort zu be¬
endigen.
Tm Anschluss an diese entsprechend einer kurzen Ueber-
sicht etwas aphoristischen Ausführungen, möchte ich noch kurz
die Technik der Metreuryse selber anführen, die nach meinen
persönlichen Erfahrungen am schnellsten und schonendsten die
gewünschte völlige Erweiterung der Zervix ermöglicht. Diese
deckt sich mit der seinerzeit von Dr. S c h e f f e n an der
L ö h lein sehen Klinik ausgearbeiteten Methode, die sich auch
in der Nachfolge Pfannenstiels (vergl. K r ö m e r, Mo-
natsschr. f. Geb. Bd. 20, 1904) gut bewährt hat.
Vorbereitung der Frau durch möglichst heisse Scheiden-
duschen (Lysol) und Vollbäder am Vorabend und Morgen des
Operationstages. Hierdurch fast regelmässig Anregung einer
leichten Wehentätigkeit, die das Einführen eines grösseren,
600 ccm Flüssigkeit fassenden, Metreurynters durch die Zervix
bei angehackter Portio mit Spekulum gestattet. Bei aus¬
nahmsweise zu enger Zervix äusserst leichte Dilatation des
Zervikalkanals mit Metalldilatatorien bis Fingerdicke. Der
ausgekochte, oder mit Seife, Alkohol und Sublimat gründlich
abgebürstete oder in einer Sublimatglyzerinlösung (Sublimat
[1 : 1000 ]l Teil, Glyzerin 2 Teile) aufbewahrte Metreurynter,
dessen Zirkumferenz im gefüllten Zustande am besten 35 cm
18. September 1906.
1855
müenchener medizinische Wochenschrift.
betragen muss (vorherige Kontrolle des Ballons mit graduierter
Spritze), wird zigarrenförmig zusammengedreht und falls mög¬
lich manuell, sonst mit einer gebogenen Kornzange vorsichtig
über den inneren Muttermund geschoben und sofort ad maxi-
mum ausgefüllt. Es gelingt eigentlich regelmässig, durch Ver¬
änderungen des nunmehr auf das Uterusinnere wirkenden
Reizes die Wehentätigkeit in den Gang zu bringen und auf¬
recht zu erhalten, wie dies speziell von Scheffen angegeben
wurde. Diese Reizvariationen können durch wechselnden Zug
an dem Ballonschlauch und später durch Ablassen von 100 ccm
Flüssigkeit bewirkt werden. Bei stark geneigtem Becken emp¬
fiehlt sich eine starke Erhöhung desselben, um die Zug¬
wirkung nach unten zu ermöglichen. Ist der Muttermund hin¬
reichend erweitert, und dies kann geschehen, ohne dass der
Ballon geboren zu werden gebraucht (deshalb häufigeres Unter¬
suchen), wird der Metreurynter entfernt und sofort in Narkose
nach Blasensprengung die Frucht, falls nötig, gewendet und
extrahiert. Eine Art Ausnahmestellung gegenüber den Frauen
mit engem Becken nehmen die Kreissenden ein, bei denen in¬
folge einer organischen Erkrankung (cf. Tabelle: Carcinoma
ventriculi, Nephritis) die Frühgeburt eingeleitet wurde. Das bei
der ersten Gruppe so häufig beobachtete Aufhören der Wehen
nach Ausstossen des Ballons scheint bei normalem Becken aus¬
zubleiben, so dass wir bei diesen Frauen, die noch dazu
häufiger Primiparae sind, ein abwartendes Verfahren empfehlen
möchten. Wie Herr Prof. Menge- Erlangen in der Dis¬
kussion zu diesen Ausführungen hervorhob, liegt die Ursache
zu diesem verschiedenen Verhalten des kreissenden Uterus
nach Ausstossen des Metreurynters voraussichtlich in dem
Hochstand des kindlichen Schädels beim
engen Becken begründet. Hierdurch fällt der Druck auf
die nervösen Elemente, welche die Wehen zum Teil auslösen,
fort.
Wenden wir uns nun wiederum der Frage zu, von der wir
ausgegangen: Wie soll sich der Praktiker, d. h. der ausserhalb
einer Klinik stehende Arzt, technisch zur Frage der künstlichen
Frühgeburt stellen? Das oben geschilderte Verfahren stellt
unzweifelhaft an die Zeit und Geschicklichkeit des Ausführen¬
den grössere Anforderungen. Wenigstens beim engen Becken,
das doch in der Mehrzahl der Fälle die Indikation zu diesem
Vorgehen bildet, kann die Extraktion selbst dem Geübten ganz
beträchtliche Schwierigkeiten machen. Auch bei den anderen
Methoden können recht schwierige Situationen Vorkommen,
wie übereinstimmend aus allen Arbeiten über diese Frage her¬
vorgeht. Daraus ergibt sich : die künstliche Früh¬
geburt ist durchaus keine einfache Opera¬
tion, sondern stellt an die Zeit und das tech¬
nische Können des Arztes öfters grössere
A n f o r d e r u n g e n. Auf der anderen Seite ist sie keine
reine Klinikoperation, wie der Kaiserschnitt und zurzeit noch
die Pubiotomie. In der Hand des erfahrenen Geburtshelfers
vermag sie häufig für Mutter und Kind gute Resultate zu
zeitigen, wie die mannigfache Erfahrung beweist.
Es ist in neuerer Zeit von verschiedener Seite die Be¬
rechtigung dieser Operation für die Klinik in Frage gestellt
worden und speziell beim engen Becken hat man geglaubt,
durch Kaiserschnitt und Pubiotomie, dank der heutigen tech¬
nischen Sicherheit, bessere Resultate zu erreichen. Man
braucht nun in keiner Weise Frühgeburtsfanatiker zu sein und
kann ruhig gestehen, dass neben manchem Erfolg immer wieder
hierbei ein Misserfolg unterlaufen wird, wenigstens was das
kindliche Leben angeht. Aber gibt es eine geburthilfliche
Operation, bei der dies nicht der Fall ist? Im übrigen liegen
doch zurzeit die Verhältnisse so, dass die weitaus grösste Zahl
aller pathologischen Geburten in den Händen des Praktikers
liegt. Als klinische Lehrer glauben wir daher nicht auf ein
Verfahren verzichten zu dürfen, das in der Praxis von ge¬
schickter Hand unter richtigen Voraussetzungen ausgeführt,
manchen Erfolg gewährleistet, der sonst nur durch grosseKlinik-
operationen zu erreichen ist, genau so wenig, wie wir trotz der
Trefflichkeit aller Aether-Chloroform-Sauerstoffapparate auf ge¬
legentliche Anwendung der einfachen Tropfnarkose verzichten.
Zum Schluss noch einige Worte über die Technik bei der Ein¬
leitung des künstlichen Abortes. Durch einfache dauernde
Tamponade der Zervix oder wie in dem anfangs erwähnten
Fall durch tage-, wochenlanges Liegenlassen von Quellstiften
die spontane Ausstossung der Frucht endlich zu bewirken,
halten wir wegen der hierbei vorhandenen Infektionsgefahr
für unzweckmässig. Auch hier entspricht unser mehr aktives
Verfahren in seinen Grundzügen der oben angeführten Methode
bei der künstlichen Frühgeburt: Erweiterung der Zervix bis
zur Durchgängigkeit für einen kleinen Metreurynter durch
Laminaria, Glyzeringazetampon oder Dilatatorien und Aus¬
räumung der Gebärmutter, nach Ausstossung des Ballons.
Ueber vaginalen Bauchschnitt.
Von Prof Dr. Dührssen in Berlin.
Seit ich im Jahre 1891 die Bauchhöhle vom vorderen
Scheidengewölbe aus öffnete, um eine konservative Operation
am Uterus, nämlich die Naht einer Uterusperforation, vorzu¬
nehmen, und damit die konservative vaginale Coe-
1 i o t o m i e begründete, habe ich diese Operation in 1600 Fällen
mit einer Gesamtmortalität von 2 Proz. ausgeführt. Da die
wenigen Fachgenossen, welche sich zunächst für die Operation
erwärmten, erst im Jahre 1894 zu operieren anfingen, so
steht mir sowohl die längste Beobachtungsdauer, als auch die
grösste Zahl von Fällen zur Verfügung — und diese sorgfältig
und lange beobachteten Fälle haben die Richtigkeit des von
mir bereits im Jahre 1894 Q aufgestellten Satzes dargetan,
„dass die vaginale Coeliotomie eine Konkurrenzoperation der
ventralen Laparotomie darstelle, welche geeignet sei, die Häu¬
figkeit der letzteren ganz bedeutend einzuschränken“. Es ist
mir nämlich durch wachsende Uebung gelungen, die Zahl der
Fälle, in welchen ich genötigt bin, die Bauchhöhle von oben
her zu öffnen, auf ca. 20 Proz. zu reduzieren. Diese Tat¬
sache bedeutet also, dass 80 Proz. aller gynäkolo¬
gischen Erkrankungen, bei denen eine Eröff¬
nung der Bauchhöhle nötig ist, geheilt werden
können, ohne dass die Kranken vorher die
Angst durchmachen, dass ihnen der Leib auf¬
geschnitten wird, und ohne dass sie nachher
an ihrem Körper durch eine sichtbare Narbe
oder gar eine Narbenhernie in unliebsamer
Weise an die frühere Operation erinnert
werden.
Eine Narbenhernie nach vaginaler Coeliotomie ist unmög¬
lich — ebenso eine Netzverwachsung mit der Scheidennarbe,
da der den vorderen Douglas überdachende Uterus eine solche
Verwachsung verhindert, während bekanntlich das Netz mit
einer Bauchnarbe gar nicht selten verwächst und diese Ver¬
wachsungen unter Umständen grössere Beschwerden erzeugen
können, als diejenigen waren, wegen deren der Bauchschnitt
unternommen wurde. Ob die Mortalität der ventralen Coelio¬
tomie eine grössere ist, als die der vaginalen, will ich dahin¬
gestellt lassen, die Tatsache ist jedoch unbestreitbar, dass die
Arbeitsfähigkeit nach vaginaler Coeliotomie bedeutend
schneller wieder hergestellt wird, als nach ventraler, und dass
postoperative Exsudate — die sich eventuell im Anschluss
an die Exstirpation eitriger Adnextumoren bilden — nach vagi¬
naler Coeliotomie fast ausnahmslos spontan nach der Scheide
hin durchbrechen und keinerlei weitere operative Massnahmen
erfordern. —
Da in die Frage der vaginalen Coeliotomie mancherlei
Verwirrung hineingebracht ist, so will ich zuerst auf
den Namen der Operation eingehen. Ich hatte die
Operation zunächst vaginale Laparotomie getauft: So wie
aber der Name schon für die ventrale entsprechende Operation,
die Eröffnung der Bauchhöhle in der Linea alba, unrichtig ist,
da Laparotomie Flankenschnitt bedeutet, so ist er noch weniger
passend für die vaginale Eröffnung der Bauchhöhle. Ich
akzeptierte daher für die letztere den Namen vaginale Coelio¬
tomie oder Kolpocoeliotomie. Nachdem im Anschluss an meine
1) Ueber eine neue Methode der Laparotomie (vaginale Coelio¬
tomie). Berl. klin. Wochenschr. 1894, No. 29 u. 30.
3*
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
Methode, die Eröffnung der Bauchhöhle vom vorderen Schei¬
dengewölbe aus, die alten Versuche, Ovarialzysten vom
hinteren Scheidengewölbe aus zu exstirpieren, wieder auf¬
genommen waren, musste eine weitere Differenzierung der
Kolpocoeliotomie in eine anteriore (meine Methode) und eine
posteriore (die alte amerikanische Methode) erfolgen. Da die
letztere lange nicht die Uebersicht gewährt, wie die Kolpo-
coeliotomia anterior und da sie eine Lagekorrektur des retro-
vertierten oder retroflektierten Uterus gänzlich ausschliesst, so
wird ihr Anwendungsgebiet nur ein beschränktes bleiben. Ich
empfehle sie nur für die Exstirpation von Ovarialzysten in der
Schwangerschaft.
Unglücklicherweise ist die V a g i n i f i x u r des retro-
flektierten Uterus in einer so innigen Weise mit der
vaginalen Coeliotomie verquickt worden, dass die nach
Vaginifixur beobachteten üeburtsstörungen zu einem Ver¬
dammungsurteil der vaginalen Coeliotomie überhaupt geführt
haben. Man hat hierbei ganz meinen 1894 aufgestellten Grund¬
satz ausser acht gelassen, dass „die vaginale Coelio¬
tomie die Beckenorgane so sichtbar macht,
dass sich an ihnen alle Operationen ausführen
lassen, zu denen man bisher die ventrale
Laparotomie benötigt e“. Fürchtete man also spätere
Geburtsstörungen von der direkten Annähung des Uterus an
die Scheide, so konnte man die vaginale Coeliotomie dennoch
für die Lagekorrektur des retroflektierten Uterus verwerten,
indem man mit ihrer Hilfe Verfahren gebrauchte, welche bei der
ventralen Coeliotomie oder vom Leistenkanal aus niemals zu
Geburtstörungen geführt hatten. Als solche Verfahren boten
sich die Vesicifixura uteri, die Fixur und die Verkürzung der
Ligamenta rotunda dar, welche sich ebenso leicht mittels der
vaginalen, wie mit der ventralen Coeliotomie ausführen lassen.
Ich selbst habe die vaginale Vesicifixur bevorzugt
und dieselbe in zwei Modifikationen ausgeführt, nämlich so,
dass ein oder zwei Katgutfäden durch den oberen Teil der
vorderen Korpuswand und das Blasenperitoneum gelegt
wurden, und zweitens so, dass ein Silkwormfaden durch die
oben genannte Uteruspartie, das Blasenperitoneum und die
vordere Scheidenwand gelegt und nach 6 Wochen entfernt
wurde. Bei beiden Modifikationen legte ich den Hauptwert
auf eine isolierte Vernähung der peritonealen Oeffnung. Hier¬
durch wurde es erreicht, dass auch bei der Durchführung des
Fixationsfadens durch die Scheide der Uteruskörper nur mit
dem Blasenperitoneum verwachsen und sich infolgedessen nur
eine seroso-seröse Verwachsung bilden konnte. Diese Ver¬
wachsung war fest genug, um den Uterus in Anteversion zu
halten und andererseits locker genug, um durch den graviden
Uterus ohne Schwierigkeit gedehnt zu werden. Dies be¬
weisen über 100 normale Geburten, welche ich
nach der zweiten Modifikation beobachtet
habe. Für diese zweite Modifikation habe ich aus alter An¬
hänglichkeit den Namen der Vaginifixura uteri beibehalten,
tatsächlich ist sie aber eine Vesicifixur oder, nach amerikani¬
scher Bezeichnung, eine Suspensio uteri. Der durch die Scheide
durchgeführte Faden bewirkt lediglich eine Verwachsung
des Blasenperitoneums mit der vorderen Scheidenwand und
liefert so ein Punctum fixum für die Vesicifixur: Legt man den
Eixationsfaden nur durch den Uterus und das Blasenperitoneum,
so bleibt zwar die Verbindung des letzteren mit dem ersteren
an dieser Stelle bestehen, aber irgend eine den Uterus nach
hinten ziehende Fixation kann diese Stelle, des Peritoneums
von der benachbarten Harnblase abziehen und zu einem Re¬
zidiv der Retroflexio führen, wie ich das bereits 1897 2) betont
habe. Die reine Vesicifixura uteri passt daher nur für ganz
mobile Retroflexionen.
Die Dauererfolge der beschriebenen Vaginivesicifixur sind
ausgezeichnete: Der Uterus bleibt in ganz normaler Ante-
versioflexio liegen, und die Scheidennarbe verschwindet so
vollständig, dass sie oft überhaupt nicht mehr gefühlt werden
kann. Ob jedoch die von mir seit 1895 immer wieder be¬
richteten Erfolge dieser Vaginivesicifixur das blinde Vorurteil
2) Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie,
Bd. VII.
gegen dieselbe beseitigen werden, erscheint mir zweifelhaft;
dagegen frage ich, was in aller Welt die Gegner
der Vaginifixur gegen die vaginale Verkür¬
zung der Ligamenta rotunda einzuwenden
haben, wie sie von W e r t h e i m und G o f f e empfohlen
worden ist . Diese Operation stellt einen vaginalen Alexander-
Adams dar, hat aber vor dem eigentlichen Alexander-
Adams den Vorteil voraus, dass ihr Vorakt, nämlich die
vaginale Coeliotomie, einen genauen Ueberblick über die ge¬
samten Beckenorgane und die Beseitigung krankhafter Ver¬
änderungen an ihnen gestattet. Wer viele vaginale Coelio-
tomien macht, weiss ja, wie häufig Komplikationen bei
einer scheinbar unkomplizierten Retroflexio vorhanden sind.
Die Beseitigung dieser Komplikationen ist oft wichtiger als die
der Lageanomalie. Als solche Komplikation nenne ich zarte,
die Tuben oder die Ovarien umspinnende perimetritische
Fäden — Trägerinnen solcher Filamente werden wegen ihrer
Schmerzen ohne objektivem Tastbefund oft als Hysterische be¬
zeichnet — , schlaffe Hydrosalpingen, kleine Ovarialdermoide,
beginnende Oberflächenpapillome und kleinzystische Degene¬
ration der Ovarien. Letztere erzeugt oft die schwersten Menor¬
rhagien, die nur durch Resektion der Ovarien beseitigt werden
können.
Diese wichtigen Erkrankungen habe ich bei Patienten ge¬
funden, bei denen von anderer Seite die Alexander-
Adams sehe Operation — natürlich ohne jeden Erfolg — aus¬
geführt worden war.
Man hat der vaginalen Coeliotomie den Vorwurf gemacht,
dass sie unchirurgisch sei, weil man bei ihr im Blinden arbeite.
Nun, ich habe schon im Jahre 1894 durch Momentphotographien
den Beweis geliefert, dass man bei richtiger Technik durch die
vaginale Coeliotomie die Beckenorgane ebenso gut sichtbar
machen kann, als bei der ventralen Coeliotomie. Den Vorwurf
einer unchirurgischen Operation muss ich dagegen der gerade
von Chirurgen geübten Alexander-Ada ms sehen Opera¬
tion machen, weil sie die bei der Retroflexio erkrankten
Beckenorgane, nämlich den Uterus, das Peritoneum und die
Adnexe, gar nicht zu Gesicht bringt.
Durch das Vorurteil gegen die Vaginifixur ist es gekommen,
dass die Behandlung der Retroflexio uteri, selbst von spe-
zialistisch er Seite, heutzutage nicht auf der Höhe steht, auf de'-
sie stehen könnte. Die Alexander-Adams sehe Opera¬
tion führt in den so häufigen Fällen, wo Komplikationen vor¬
handen sind, nicht zur Heilung, während die ventrale Coelio¬
tomie entweder von den Operateuren selbst oder von den
Patienten als ein zu grosser Eingriff perhorresziert wird. So
kommt es denn, dass viele Patientinnen mit fixierter Retro¬
flexio als invalide Frauen ein elendes Dasein führen, dass sic
mit Ringen, Massage, Heissluftbehandlung und Belastungs¬
therapie gequält werden, während die vaginale Coeliotomie
mit Durchtrennung der vorhandenen Adhäsionen, mit der Re¬
sektion zystisch degenerierter Ovarien und mit der Lagekor¬
rektur des Uterus nicht nur die Beschwerden der Patienten be¬
seitigt, sondern vielfach auch die ersehnte Konzeption ermög¬
licht. Hierfür kann ich viele Beispiele aus meiner Erfahrung
anführen.
Nach meiner Ansicht darf der praktische
Arzt nicht zu geben, dass seinen Patientinnen
wegen einer Retroflexio uteri eine Alexander-
Adamssche Operation oder eine ventrale
Coeliotomie gemacht wird — die erstere nicht
wegen ihrer mangelhaften Erfolge, die letztere nicht wegen
des unnötig grossen Eingriffes. Vielmehr muss für
die operative Behandlung der Retroflexio
die vaginale Coeliotomie die Operation der
Wahl werden, wobei es dem einzelnen Opera¬
teur völlig überlassen bleibt, in welcher
Weise er die operative Lagekorrektur des
Uterus vornehmen will. Es stehen ihm hierfür alle
die verschiedenen bei der ventralen Coeliotomie üblichen Ver¬
fahren zur Verfügung, und keines dieser Verfahren wird zu
irgend welchen späteren Geburtsstörungen führen, falls die
peritoneale Oeffnung im vorderen Douglas nur für sich wieder
geschlossen wird.
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1857
Allerdings ist für eine erfolgreiche vaginale Coeliotomie
die Innehaltung einer bestimmten Technik nötig, wie ich sie bis
ins kleinste Detail ausgearbeitet, in einem eigenen Buch 3) be¬
schrieben und auf 20 photographischen Tafeln zur gynäko¬
logischen Operationslehre4) dargestellt habe. Es ist daher
nicht richtig, wenn Wertheim erklärt, eine systematische
Darstellung der vaginalen Bauchhöhlenoperationen liege bis
jetzt nicht vor. Die W e r t h e i m sehen Tafeln können viel¬
mehr nicht den Beweis für die Leistungsfähigkeit der vaginalen
Coeliotomie erbringen, denn sie sind von Leichen gewonnen,
denen die Symphyse durchschnitten ist. An Leichen aber und
nach Durchschneidung der Symphyse kann man manche Opera¬
tionen vornehmen, die an der Lebenden und ohne Durch¬
schneidung der Symphyse nicht möglich sind. Die Wert-
h eim sehen Tafeln und der begleitende Text geben ferner nur
eine unvollständige Anleitung zur Technik der vaginalen
Coeliotomie, al s verschiedene Hilfsschnitte nicht erwähnt sind,
nämlich der umgekehrte T-Schnitt der vorderen Vaginalwand,
welcher die Blase so freilegt, dass eine Verletzung derselben
bei der Kolpocoeliotomia anterior ausgeschlossen ist, und daher
in jedem Fall auszuführen ist; die Scheidenspaltung, welche
selbst bei Kindern und Virgines intactae die vaginale Exstir¬
pation umfangreicher Ovarialzysten gestattet und endlich die
von mir als Kolpocoeliotomia anterior-lateralis bezeichnete
völlige Abtrennung des einen Ligamentum latum vom Uterus.
Wie gross die Leistungsfähigkeit dieser letzteren Methode
ist, die meines Wissens noch von keinem Fachgenossen pro-
bieit worden ist, möge folgender Fall beweisen, der mir als
letzter besonders lebhaft in der Erinnerung steht:
20. IV. 06. Bei der 33 jährigen II. Para, Frau B., war am 15. II. 06
von ihrem Arzt wegen Verdachtes auf Abortblutung eine Abrasio ge¬
macht worden. Danach traten 5 tägige rasende Schmerzen und ein
6 tägiges Fieber auf. welches am 2. Tage 40 erreichte. Es blieben
Schmerzen in der linken Seite zurück und eine bedeutende Schwäche.
Status: Grosse Anämie. Uterus anteflektiert, beide Adnexe in
hiihnereigrosse, schmerzhafte, fixierte Tumoren verwandelt.
Diagnose: Salpingo-Ooophoritis duplex septica.
21. IV. 06. Eröffnung des vorderen Scheidengewölbes durch
- Schnitt. Abschieben der Blase, quere Eröffnung der Plica vesico-
uterina, Extraktion des Uteruskörpers mit Kugelzangen und mit Faden-
ziigeln, welche zum Teil wegen der Weichheit des Uterus und des¬
wegen ausrissen, weil der Uterus durch das eitrig infiltrierte linke
Lig. latum nach links hinten fixiert ist. Trotzdem lassen sich beide
Adnexe, die auf der Hinterfläche der Ligamenta lata und rechts mit
dem Wurmfortsatz verwachsen sind, unter Leitung des Auges aus
diesen Verwachsungen lösen und links mitsamt dem ganzen eitrig in¬
filtrierten Lig. latum exstirpieren, während rechts nur die entzündete
Tube und eine Zyste aus dem Ovarium exstirpiert wird. Der Stumpf
des linken Lig. latum wird mit dem linken Scheidenlappen vernäht und
der entzündete Wurmfortsatz in typischer Weise so exstirpiert, dass
zunächst nach Versorgung und Durchtrennung des Mesenteriums eine
Peritoneal-Muskelmanschette gebildet, der Prozessus dicht am Kolon
abgebunden und mittels Paquelin durchtrennt und zum Schluss die
Peritonealmanschette über den kurzen Appendixstumpf vernäht wird.
Den Schluss der Operation bildet die Vaginifixur des Uterus
durch einen Katgutfaden und die Naht der peritonealen Oeffnung, in
der links nur eine Lücke für eine Drainagestreifen gelassen wird.
Der Verlauf war, abgesehen von leichten Fieberbewegungen in
den ersten Tagen, ein ganz normaler, am 12. Mai wurde Patientin ge¬
heilt entlassen.
11. VII. 06. Patientin hat sich sehr erholt und klagt nur über
menstruelle Wallungen, da die Menstruation noch nicht dagewesen
ist. Uterus in normaler Lage, klein, Parametrien frei von Ver¬
dickungen, rechtes Ovarium haselnussgross, frei beweglich,
schmerzlos.
Der berichtete Fall beweist die Leistungsfähigkeit der kon¬
servativen vaginalen Coeliotomie bei entzündlichen Adnexer¬
krankungen, Pelveoperitonitis chron., Parametritis suppurativa
und Appendizitis. Ich bin überzeugt, dass die ventralen Ope¬
rateure hier beide Adnexe und die radikalen vaginalen Ope¬
rateure hier den Uterus mitsamt den Adnexen exstirpiert
hätten. Wenn wirklich einem Operateur in einem solchen
Fall mal die Durchführung der konservativen Operation nicht
gelingt und er gegen seine Absicht und die der Patientin den
Uterus opfern muss, so ist das Unglück wirklich nicht gross.
Mit zunehmender Uebung und sorgfältiger Beachtung meiner
Vorschriften werden solche Fälle übrigens immer seltener.
0 Die Einschränkung des Bauchschnitts etc. Karger, 1899
4) 1902, Karger.
Hat nicht die Ausbildung der ventralen Coeliotomie ganz
andere Verluste, nicht von Uteri, sondern von Menschenleben
gefordert, als die der vaginalen Coeliotomie? Auch in solchen
Fällen kann man übrigens die konservative Operation noch
durchführen, wenn man von vornherein bei jeder vaginalen
Coeliotomie auf den Uebergang zur ventralen Coeliotomie ge¬
rüstet ist. Durch den vaginalen Beginn der Operation hat man
den Vorteil erzielt, dass der Eiter — denn in diesen Fällen
handelt es sich in der Regel um eitrige Adnexerkrankungen —
unschädlich nach unten hin entleert, bezw. dass nach der
Vagina hin bereits eine Oeffnung für eine gute Drainage ange¬
legt worden ist.
Man hat den konservativen Adnexoperationen, auch
den ventralen, den Vorwurf gemacht, dass sie die Be¬
schwerden der Kranken nicht beseitigen. Dieser Vorwurf Ist
hinfällig, wenn man bei der Hauptoperation alle krankhaften
Veränderungen beseitigt, speziell den entzündeten Uterus
kürettiert, auch den interstitiellen Tubenabschnitt aus den
Uterushörnern exzidiert, nur Katgut als Nahtmaterial verwendet
und als Abschluss jeder Adnexexstirpation, auch bei anteflek-
tiertem Uterus, den Uterus vaginifixiert oder die Ligamenta
rotunda verkürzt, um einer späteren, durch die Retraktion der
Ligamentnarben bedingten Retroversion und späteren, aus
dieser Lageanomalie resultierenden Beschwerden vorzubeugen.
Die Technik der vaginalen Coeliotomie ist bei Tuben¬
schwangerschaft der ersten Monate dieselbe
wie bei den entzündlichen Adnexerkrankungen. Man muss nur
die brüchigen Organe zart behandeln, damit nicht das Liga¬
mentum infundibulopelvicum durchreisst. Der vaginalen
Operation lassen sich sowohl frisch rupturierte Tubensäcke
mit innerer Blutung als auch Tubenmolen mit Hämatom- resp.
Flämatozelenbildung unterziehen. Die vaginale Operation hat
hier neben der geringeren Schockwirkung den Vorzug, dass sie
eine gründliche und leichte Entfernung des ergossenen Blutes
ermöglicht, welches durch sein Zurückbleiben unangenehme
peritoneale Reizerscheinungen auslösen kann.
Bedeutend leichter als die Exstirpation verwachsener Sak-
tosalpingen oder entzündlicher Ovarialzysten ist diejenige von
wirklichen Ovarialgesch Wülsten — selbst wenn
dieselben bis zum Proc. xyphoides reichen. Der untere Pol
der zystischen Geschwulst wird eventuell schon vor der Ex¬
traktion des Uterus mit Spiegeln eingestellt, punktiert und der
Tumor dann extrahiert. Diese vaginale Ovariotomie imponiert
den Zuschauern gewöhnlich am meisten, weil die Technik eine
so überaus einfache ist.
Subseröse Myome der vorderen Uteruswand werden
gleichfalls schon vor der Entwicklung des Uterusfundus mit
Zangen gefasst und extrahiert oder gleich abgetragen. Man
kann dann an die höheren Fundusmyome und an die Myome
der hinteren Korpuswand herankommen. Sind sie zu gross für
die Extraktion, so werden sie morzelliert. Interstitielle oder
submuköse Myome der vorderen Korpuswand werden durch
Spaltung der letzteren freigelegt und in toto enukleiert oder
durch Morcellement entwickelt. Dasselbe geschieht mit den
Myomen der hinteren Korpuswand, falls zuvor der Uterus¬
körper extrahiert werden konnte. Ist dies nicht möglich, so
habe ich gelegentlich zunächst die Korpushöhle durch Längs¬
schnitt eröffnet und dann von der Schleimhautseite aus auch
die hintere Korpuswand behufs Enukleation oder Morcellement
des Myoms gespalten.
Doch möchte ich betonen, dass nach meinen Erfahrungen
sowohl die ventrale wie vaginale Enukleation grösserer
Myome eine viel gefährlichere Operation darstellt als die Ex¬
stirpation des myomatösen Uterus. Ich wende die Enukleation
daher auch nur an, wo grosser Wert auf eine spätere Konzep¬
tion gelegt wird, und habe in der Tat in solchen Fällen mehr¬
fach Schwangerschaft eintreten sehen. _
Man kann sich über die Vorteile neuer Methoden die
Finger wundschreiben, ohne dass die Fachgenossen von den
Methoden Notiz nehmen. In solchen Fällen kann nur die di¬
rekte Demonstration der betreffenden Methoden die Vorurteile
gegen dieselben zerstreuen. So bin ich mit Vergnügen einer
Einladung nach Amerika gefolgt, um dort, wo die ventrale
Coeliotomie noch die alleinherrschende Methode ist, die vagi-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
nale Coeliotomie zu demonstrieren. Ich habe daselbst in
4 Wochen in New York, Baltimore, Washington, St. Louis und
Chicago 34 Operationen ausgeführt. Unter diesen befand sich
ein vaginaler Kaiserschnitt wegen Eklampsie (St. Marks Ho¬
spital, New York; Chefärzte Dr. von Ramdohr und Dr.
Beck). In 16 Fällen nahm ich eine konservative vaginale
Coeliotomie vor, bei der mindestens der Uterus und ein Ova-
rialrest zurückgelassen wurde. Unter diesen Fällen handelte
es sich nur einmal um eine fixierte Rctroflexio, bei der nichts
weiter nötig war, als den Uterus und die Ovarien aus ihren
Verwachsungen auszulösen, bei einer zweiten Retroflexio
operierte ich mit Hilfe einer Dammspaltung eine Virgo, welcher
ich dann noch das eine zystische Ovarium resezierte. In 3
Fällen operierte ich grosse Prolapse, bei denen ich die Zysto-
zcle nach meiner Methode dadurch beseitigte, dass ich die
Harnblase bis zu den, dem Auditorium demonstrierten Ureteren
hinauf aus all ihren Verbindungen löste. Unter diesen 3 Fällen
ereignete sich der einzige Todesfall — 8 Tage nach der Ope¬
ration infolge einer Embolie von der Perineoplastik aus. Bei
einem dieser 3 Fälle war eine doppelseitige Ovariotomie vor¬
ausgegangen, infolgedessen eine Verwachsung einer Dünn¬
darmschlinge mit der hinteren Korpuswand eingetreten war.
Ich konnte diese Verwachsungsstelle und ihre scharfe Durch¬
trennung dem ganzen Auditorium demonstrieren. Zweimal
exstirpierte ich Tubenmolen, nachdem ich in dem einen Fall
zunächst eine grosse Hämatozele vom hinteren Scheiden¬
gewölbe aus entleert hatte. 1 mal exstirpierte ich beide Tuben
wegen Tuberkulose. Dieser Operation wohnte der berühmte
Chirurg Richardson aus Boston bei, mit welchem zu¬
sammen ich in zwei Gesellschaften von St. Louis Vorträge ge¬
halten hatte. Richardson hatte für die ventrale Coeli¬
otomie bei gynäkologischen Erkrankungen plädiert, wunderte
sich dann aber sehr über die gute Uebersicht, welche die vagi¬
nale Coeliotomie über die gesamten Beckenorgane gewährte.
In 3 Fällen exstirpierte ich eine Ovarialzyste und beide Tuben
wegen Hydrosalpinx, in 3 anderen Fällen beide Tuben wegen
P.yosalpinx. 2 dieser Fälle waren noch mit einer Dermoid¬
zyste kombiniert, die gleichfalls entfernt wurde. Da ich in
diesen Fällen auch Zähne entfernte, so machte ich damit das
seit Jahren über mich in Amerika kursierende Witzwort wahr,
dass ich sogar die Zähne durch die Vagina extrahierte. Einer
dieser zwei letzten Fälle wies ausserdem eine mit Eiter gefüllte
und entzündete Appendix auf, die ich vaginal exstirpierte und
deren Stumpf ist nach der Scheide hin (durch Eröffnung des
hinteren Douglas) drainierte. Nur an den Ovarien operierte
ich noch in 2 Fällen, in welchen ich das eine zystische Ovarium
exstirpierte und (in einem Fall) das andere resezierte.
In 12 Fällen exstirpierte ich den Uterus und die Adnexe
vaginal, 1 mal wegen Korpuskarzinom, 2 mal wegen manns¬
kopfgrosser Myome, 1 mal wegen Retroflexio und Oophoritis
bei einer älteren Frau, der ich auch den entzündeten Wurm¬
fortsatz vaginal entfernte, 4 mal wegen grosser Ovarialzysten
und 4 mal wegen Vereiterung der gesamten Beckenorgane.
Bei all diesen Fällen kam ein konservatives Verfahren, obgleich
es teilweise technisch möglich war, nicht in Frage, in zwei
Fällen von Ovarialzysten z. B. deswegen nicht, weil bereits
eine unilaterale ventrale Ovariotomie vorausgegangen war.
Ventrale Coeliotomien nahm ich ganzen 5 vor, eine Uterus¬
exstirpation wegen Zervixkarzinoms, eine Adnexexstirpation
wegen Pyosalpinx und Pyoovarium, bei welcher ich, wie vor¬
ausgesetzt, nur den Uterus vaginal exstirpieren konnte, ferner
2 Pyosalpinx- und Wurmfortsatzexstirpationen und eine
Ovariotomie in der Schwangerschaft mit Stieltorsion. In diesem
letzteren Fall wurde auch der entzündete Wurmfortsatz ent¬
fernt und eine Corpus luteumzyste des anderen Ovariums re¬
seziert.
Nach den Grundsätzen der amerikanischen Operateure
wäre in allen diesen Fällen die ventrale Coeliotomie gemacht
worden. Mir gelang es, 27 (84 Proz.) von 32 Fällen durch die
vaginale Freilegung resp. Exstirpation der kranken Organe zu
operieren und, abgesehen von 2 vorgeschrittenen Karzinomen,
von ihren meist sehr schweren Erkrankungen zu heilen. Als
Hilfsschnitt benützte ich in mehreren Fällen die von mir zuerst
angegebene Durchtrennung des Levator ani, welcher ganz zu
Unrecht unter dem Namen der Schuchardt sehen Methode
geht.
Ich ergreife gerne die Gelegenheit, um den Kollegen, in
deren Hospitälern, resp. mit deren Assistenz ich operierte,
meinen Dank für die vielen mir erwiesenen Freundlichkeiten
auszusprechen. Er sind dies in New York die Herren DDr.
B a n d 1 e r, B o 1 d t, Bretthauer, Brothers, Ewald,
Förster, G o f f e, v. Ramdohr, W a 1 d o, Walser, in
Baltimore Dr. K e 1 1 y, in Washington Dr. Bovc e, in St. Louis
Dr. Brown, Dr. Fischei, Dr. Gellhorn, Dr. Smith,
in Chicago die DDr. Bacon, Lewis, Newman, Zum
speziellen Dank bin ich der Deutschen medizinischen Gesell¬
schaft in New York verpflichtet, welche unter ihrem Präsi¬
denten, Dr. Schmidt, zu meinen Ehren ein Festessen und
eine Festsitzung veranstaltete.
Zum Schluss gebe ich meiner Ucberzcugung dahin Aus¬
druck, dass jeder Gynäkologe, resp. jeder, der gynäkologische
Fälle operiert, die konservative vaginale Coeliotomie in seinen
operativen Heilschatz aufnehmen muss, falls er im 20. Jahr¬
hundert als ein moderner Gynäkologe betrachtet werden will!
Aus der Universitätsfrauenklinik zu Jena (Direktor: Prof.
Fran z).
Uebsr die Verbindung von Morphium - Skopolamin-
Injektionen mit Rückenmarksanästhesie bei gynäkolo¬
gischen Operationen
an der Hand von 150 Fällen. *)
Von Dr. W. Busse, Assistent der Klinik.
M. H. ! Die bisher gebräuchlichen Inhalationsnarkotika
erreichen die Ausschaltung von Schmerz und Sinneseindrücken
durch dasselbe Mittel und beseitigen somit gleichzeitig durch
die Nichtwahrnehmung des körperlichen den psychischen
Insult.
Man mag den letzteren nach Geschlecht und Bevölkerung
verschieden hoch bewerten, für die wohl fast durchweg ner¬
vösen und überängstlichen Frauen Thüringens macht er die
Anwendung einer örtlichen Schmerzbetäubung untunlich.
Bevor die segensreiche Entdeckung Biers, dass es ge¬
lingt, eine Anästhesie durch Einspritzungen gewisser Gifte in
den Rückenmarkskanal zu erzeugen, für uns brauchbar ge¬
macht werden konnte, handelte es sich darum, eine Kombi¬
nation ausfindig zu machen, welche es ermöglichte, auch das
Sehen und Hören auszuschalten.
Vorhergegangene Versuchsreihen — unter anderen auch
aus der hiesigen Frauenklinik von Voigt — Hessen die Mor-
phium-Skopolamin-Injektionen hierzu geeignet erscheinen, da
deren Anwendung u n s wenigstens keine Bedenken gegen eine
weitergehende Verwendung gemacht hatte.
Ich gebe zu, dass theoretisch grosse Bedenken bestehen, in Form
einer nicht schnell ausschaltbaren Injektion drei verschiedene Gifte
dem Kranken einzuverleiben, besonders wenn es sich zeigt, dass
eventuell noch eine Inhalationsnarkose nötig sein sollte, aber in praxi
haben wir bisher, nachdem wir uns wie andere einmal entschlossen
hatten, den entscheidenden Schritt zu tun, keine bedrohlichen Erschei¬
nungen erlebt.
Wir verwenden also seit 26. April die Verbindung von
subkutanen Morphium-Skopolamin-Injektionen mit Rücken-
marksanästhesie zur Narkose und haben bisher bei ca. 175
gynäkologischen und 5 geburtshilflichen Operationen gute Er¬
fahrungen damit gemacht.
Mein heutiger Bericht soll sich auf die ersten 150 Fälle gynäko¬
logischer Operationen beziehen.
Gestatten Sie mir zunächst einige Worte über unsere
Anwendungsweise.
Die Forderung der Durchführung der Narkose mit möglichst
geringen Mengen des Narkotikums besteht natürlich auch bei dieser
Narkose zu Recht und deshalb versuchten wir zunächst mit einer,
dann 2 Injektionen des Morphin-Skopolamin-Gemisches auszukommen,
haben aber bald davon Abstand genommen, da nach der Operation
fast stets Erinnerungsbilder vorhanden waren, welche die Vorgänge
bei der Operation gut Wiedergaben und die Patientinnen meist zu
schrecklichen Beschreibungen veranlassten.
*) Vortrag, gehalten am 19. Juli 1906 in der Sektion für Heilkunde.
18. September 19(16.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1859
Wir haben also nur bei 4 Operationen 1 Injektion, bei 14
davon 2 angewandt, bei 128 drei und bei 7 vier ohne Nachteil
für die Kranke.
Zur Dosierung der einzelnen Bestandteile der ersten Kom¬
ponente will ich bemerken, dass wir nur die Hälfte der sonst
üblichen Morphiumdosis, nämlich 34 cg pro injektione ver¬
wendet haben, um die schädigende Wirkung auf die Peristaltik
möglichst auszuschalten, ohne dass wir Nachteile in der Wir¬
kung des Gemisches davon gesehen haben.
Die Skopolamindosen haben wir etwas höher gewählt wie
sonst meist üblich, nämlich halbe Milligramme und glauben
auch damit eine bessere Wirkung erhalten zu haben.
Nicht unwiethig erscheint es, von der Kranken störende Gehörs-
und Qesichtseindriicke möglichst fernzuhalten, da gerade diese sicher
in den Erinnerungsbildern auftauchen.
Nach den verschiedensten Versuchen über die zweck-
mässigste Anordnung der Desinfektion und anderer notwen¬
diger Manipulationen hat sich bei uns folgender Modus heraus¬
gebildet.
Die Kranke#wird vor der ersten Injektion vollständig desin¬
fiziert, in sterile Hüllen eingewickelt und ins Bett zurück¬
gebracht. Dann bekommt sie zur Erzielung des Schlafes 3 In¬
jektionen von 0,005 Morph, mur. + 0,0005 Scopolamin hydro-
brom. und zwar 234, 1 34, 34 — 1 Stunde vor dem Operations¬
beginn.
Eine Verschiebung der Injektionszeiten selbst um eine Stunde
scheint keinen grossen Einfluss auf die Tiefe des Schlafes auszuüben
und ist daher nicht schlimm.
Wir pflegen uns die Skopolaminlösung selbst herzustellen
und die Mischung mit Morphium in der Spritze vorzunehmen.
Für jeden Operationstag frische Skopolaminlösung zu be¬
reiten, ist nicht erforderlich, es hält sich nach unseren Er¬
fahrungen die Lösung wochenlang unverändert.
Dagegen möchte ich bezüglich der verschiedenen Arten
des Skopolamins bemerken, dass wir uns für das optisch-inak¬
tive Präparat von Boehringer, welches Herr Professor
K i o n k a uns freundlichst zur Verfügung gestellt hat, ent¬
schieden haben, nachdem wir dieses und das Merck sehe
versucht haben und zwar das letztere in 48, das erste in 102
Fällen.
Der Grund ist der, dass die unangenehmen Nebenerscheinungen
des Skopolamins, Halluzinationen, Pulssteigerung und Gesichtsröte,
sowie das folgende Durstgefühl sich bei dem Merck sehen Präparate
häufiger und intensiver fand. Die einschläfernde Wirkung scheint die
gleiche zu sein.
Nach der ersten Injektion wird ein Tuch auf das Gesicht
gelegt und die Kranke möglichst in Ruhe gelassen.
Seit einiger Zeit verwenden wir nach dem Vorschläge von
K r ö n i g auch Antiphone, haben aber einen Unterschied gegen früher
nicht gesehen.
Die Kranke wird ca. 30 Minuten nach der 3. Injektion in
das Narkosenzimmer gebracht, dort der Rücken desinfiziert und
die Lumbalinjektion in Seitenlage vorgenommen.
Als wertvoll erwies sich in den Fällen, in welchen es wegen
grosser Fettanhäufung in den Bauchdecken schwierig war, einen
Zwischendornenraum zu finden, den Kopf und Nacken der Patientin
stark der unteren Körperhälfte zu nähern und ein rundes Kissen unter
die Körpermitte zu schieben.
Der Einstich wurde genau in der Medianlinie vorge¬
nommen und zwar zwischen dem 2. und 3. Lendenwirbel nach
der von T u f f i e r angegebenen Bestimmung.
Wenn hier ein Zwischendornenraum nicht fühlbar war, haben
wir uns nicht gescheut, oberhalb oder unterhalb zu punktieren.
Die wenigstens in neuerer Zeit fast stets benutzte, mit
dem Mandrin armierte Nadel — wir verwenden diese, da wir
nicht selten vorher Verlegung der Nadel durch Blutgerinnsel
gesehen haben — wurde eingestochen und der Mandrin ent¬
fernt, nachdem man das Gefühl des Durchdringens der Lig.
flava gehabt hatte. Dann wurde die Nadel weiter eingeführt
bis Liquor -v meist in starkem Strahl — abfloss. Sodann
wurde langsam die Injektion vorgenommen.
Gewartet wurde stets, bis der Liquor ganz klar war und nur
in einem Falle wurde die Injektion ohne vorherigen Liquorabfluss
ausgeführt mit guter Anästhesie.
Bemerken will ich gleich hier, dass es uns bei 6 sehr fetten
Frauen nicht gelang, eine erfolgreiche Punktion vorzunehmen. Wenn
diese Fälle auch dem Beginn der Punktionen angehören, so muss ich
sie doch erwähnen.
Als Injektionsflüssigkeit haben wir in 19 Fällen Stovain,
später stets Novokain angewandt; Stovain wurde in den von
der Firma Riedel in Berlin gebrauchsfertig versandten Tuben
ä 0,04, Novokain anfangs auch, in Tuben verwandt, später
haben wir es uns selbst hergestellt, indem wir von den fertigen
von der Firma Meister Lucius & Brüning gelieferten
Tabletten durchschnittlich 3 in 3ccm sterilen Wassers aufgekocht
verwandten. Für reine vaginale Operationen haben wir 2,5 ccm
injiziert. Die für Laparotomien verwandte Dosis beträgt 0,15
Novokain mit Zusatz von 0,000324 Suprar. boric.
Bemerken will ich, dass die Vorschrift, diese Lösung nur einmal
zu kochen richtig zu sein scheint, in 2 Fällen haben wir 2 direkt auf¬
einander folgende Misserfolge gehabt nach 2 maligem Kochen der
Lösung.
Bezüglich der anästhesierenden Wirkung sind
beide Präparate gleich gut, dagegen hatte ich den Eindruck,
als ob bei Stovaininjektionen die Puls Qualität besser wäre
und sich nach der Injektion oft hob.
Nach der Injektion wurde die Kranke auf den Rücken zu¬
rückgelegt, die eventuell noch nötige Scheidendesinfektion vor¬
genommen und die Frau dann in den Operationssaal gefahren,
mit sterilen Strümpfen bekleidet und auf den Operationstisch
gehoben.
Eine Beckenhochlagerung nach der Lumbalinjektion
machen wir erst seit kurzer Zeit und hoffen so die teilweise
bezüglich der Höhe nicht ausreichenden Anästhesien zu ver¬
meiden, welche wir auffallend oft bei horizontaler Lagerung
der Frau bei vaginaler mit folgender suprapubischer Operation
gesehen haben.
Am Damm ist die Anästhesie genügend, während oberhalb der
Schamfuge Schmerzen geäussert werden.
Die mit grosser Regelmässigkeit beobachteten Schmerzäusse¬
rungen bei der vaginalen Totalexstirpation im Momente des Zerrens
am Peritoneum beim Vorwälzen des Uterus sind auch wohl so zu er¬
klären, dass die Anästhesie nicht hoch genug hinaufreicht.
Ein unbestreitbarer Nachteil bei der Beckenhochlagerung
ist nach unserer Erfahrung der leichte Eintritt von Würgen und
Erbrechen; haben wir doch nach Vornahme der Beckenhoch¬
lagerung sogleich nach der Injektion bei 15 unter 50 Opera¬
tionen diesen Zufall eintreten sehen, während vorher unter 100
nur 7 mal intra opertionem etwas derartiges auftrat.
Eine Prüfung der Anästhesie haben wir vor der Operation
nicht vorgenommen, um den Schlafzustand nicht zu stören.
An der Stelle der Lumbalinjektion haben wir Entzündungserschei¬
nungen nicht gesehen, auch nicht an den Injektionsstellen der Mor-
phium-Skopolamin-Lösung, nur dass hier als regelmässige Erschei¬
nung eine Quaddelbildung eintrat.
Angewandt haben wir die Narkose bei 6 Kolporrhaphien
und Dammplastiken (1 mal mit Hernienoperation, 2 mal bei
komplettem Riss), 18 mal bei Alexander-Adams sehen
Operationen (1 mal in Verbindung mit Hernienoperation), 16 mal
bei Alexander-Adams mit Kolporrhaphie und Dammplastik
(dabei 3 Hernien), 24 mal bei Operationen an den Adnexen
durch Bauchschnitt (12 Kystome, 2 Dermoide, 2 Fibrome der
Ovarien, 10 Pyosalpingen, 2 Tubaraborte), 3 mal bei vaginalen
Zystenoperationen, 17 mal bei vaginalen Totalexstirpationen
wegen Myom- und Korpuskarzinom, 9 mal bei vaginalen Total¬
exstirpationen mit scheidenverengernden Operationen wegen
Prolaps, 8 mal bei Ventrofixationen (1 mal mit Dammplastik
und Kolporrhaphie), 25 mal bei abdominalen Karzinomope¬
rationen (darunter 7 Rezidivoperationen), 18 mal bei anderen
Eingriffen (3 Vulvakarzinome, 2 Zervikalpolypen, 2 Abrasionen,
1 Blasenfistel, 4 Appendizektomien mit Adnexoperationen, 6
Probelaparotomien), 6 mal bei abdominalen Myomoperationen.
Bei der Besprechung unserer Beobachtungen muss ich
unterscheiden zwischen der Morphium-Skopolamin- und der
Lumbalanästhesierungswirkung.
Die Skopolaminwirkung zeigt sich rein vor der Lumbal¬
anästhesie, ist aber auch nach dieser gut kenntlich; sie besteht
neben der Einschläferung in mehr oder wenig starker Rötung
des Gesichtes und Pulsbeschleunigung, sowie gelegentlich in
Unruhe und Verwirrtheit, die sich bis zu typischen Halluzi¬
nationen steigern kann.
Bespreche ich zunächst diese Erscheinungen, so finden wir in
fast der Hälfte der Fälle die Rötung des Gesichtes. Die Steigerung
der Pulsfrequenz — in ihren höchsten Werten bis zu 180 p. m. —
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
trat ein in über der Hälfte aller Fälle (80 von 150), hielt sich aller¬
dings fast stets in Grenzen bis zu 100—108.
Unruhe haben wir in 28 Proz. der Fälle beobachtet, Halluzina¬
tionen in 12 Proz., und zwar waren die letzten beiden störenden
Erscheinungen hauptsächlich vorhanden bei Anwendung des Merck-
schen Präparates, nämlich in 14 Fällen.
Wenn man es nicht als Zufall betrachten will, so muss man
darin dem optisch inaktiven Boehringer sehen Präparate den
Vorzug geben. Ein definitives Urteil will ich mir aber nicht erlauben,
da die übrigen 34 Fälle von Anwendung Merck sehen Skopolamins
diese Nebenwirkung nicht zeigten. Bemerkenswert ist, dass in bei¬
nahe allen Fällen diese Unruhe aufhörte, sobald die Lumbalinjektion
gemacht war. Die Patientinnen murmelten dann noch gelegentlich,
schliefen dann aber fest. Nur in 5 Fällen mussten wir, um Stilliegen
zu erzielen, einige Tropfen Aether geben.
Was die Erinnerungsbilder anlangt, so waren sie bei 1 und
2 Injektionen meist so deutlich, dass wir, wie schon gesagt,
und entschlossen, prinzipiell 3 Einspritzungen zu machen.
Aber auch hier war in 28 Fällen ein zwar verwischtes, aber
erkennbares Bild vorhanden, die Patientinnen hatten z. B. den Schnitt
gespürt, gefühlt, dass der Bauch offen gehalten wurde usw.
Auch bei 4 Einspritzungen waren 3 mal unter 7 unklare Erinne¬
rungen vorhanden, so dass wir auf weitere Injektionen verzichteten,
da daraus sich kein Vorteil ergab.
Im ganzen war in 95 Fällen eine totale Amnesie vorhanden.
Gelegentlich beobachteten wir Erinnerungstäuschungen, das Ge¬
fühl von Karussellfahren, vom Gewitter hören und ähnliches.
Die schlaf machende Wirkung der Injektionen trat
gegenüber den unerwünschten Nebenwirkungen besonders bei
schwer nervösen und aufgeregten Personen in den Hinter¬
grund, sodass in diesen Fällen ein Mangel der Anwendung sich
geltend machte.
Ich komme jetzt zur Wirkung der Lumbalinjektionen und
zwar zunächst in Bezug auf die erzielte Anästhesie.
Dass wir in 6 Fällen einen Liquorabfluss nicht erzielten
und Inhalationsnarkose anwendeten, erwähnte ich schon.
Da muss ich nun zunächst über 7 vollständige Versager
berichten, trotz scheinbar einwandsfreien Gelingens der Lum¬
balpunktion und Injektion und zwar bei:
1 Alexander-Adams, 5 kleinen Laparotomien, 1 abdominalen
Karzinomoperation. In 2 Fällen mag die mehrfache Sterilisation der
Novokainlösung daran Schuld gewesen sein, den Misserfolg der
übrigen Fälle können wir nicht erklären, doch bin ich überzeugt, dass
technische Fehler Vorgelegen haben, zumal unsere Resultate mit der
Anzahl der Operationen besser geworden sind.
In diesen Fällen haben wir eine Inhalationsnarkose verwandt,
ohne dass die geringste Schädigung erkennbar gewesen wäre, aller¬
dings sind wir — bis auf 1 Fall — mit sehr geringen Mengen des
Narkotikums ausgekommen.
Unvollständige Anästhesien haben wir 13 mal beobachtet
und zwar jedesmal, wenn einer inguinalen Operation oder
einer Laparotomie ein vaginaler Eingriff voranging.
Es ist wohl so zu erklären, dass die für die vaginale Operation
ausreichende Anästhesie sich bis oberhalb der Symphyse nicht er¬
streckte. Seitdem wir Beckenhochlagerung nach der Injektion an¬
wenden, ist diese Beobachtung kaum noch gemacht worden.
In 9 Fällen sehr ausgedehnter Karzinom- und Rezidiv¬
operationen mussten wir nach frühestens 1 Stunde 20 Minuten
eine Inhalationsnarkose einleiten, ohne dass wir davon die ge¬
ringste Schädigung für die Kranke sahen.
Kurz will ich bemerken, dass wir eine Dauer der Anästhesie
schon bis über 2 Stunden 10 Minuten beobachtet haben.
Der Eintritt der Unempfindlichkeit erfolgte frühestens nach
4 Minuten, einmal nach 20 Minuten.
Unter den üblen Ereignissen während der Operation
haben wir Erbrechen und Würgen in 22 Fällen beobachtet und
zwar sowohl beim Stovain wie beim Novokain; es erfolgte
fast stets 1 oder höchstens 2 — 3 Mal.
In 7 Fällen haben wir ein vorübergehendes Schlechter¬
werden des Pulses gesehen und zwar nur bei Novokainanwen¬
dung, während ich bei Stovaingebrauch den Eindruck hatte, als
ob der Puls sich hebe.
Nach der Operation ist im allgemeinen das Befinden der
Pat. ein viel besseres, als nach Inhalationsnarkosen. Solche,
die nach beiden Methoden narkotisiert sind, heben meist spon¬
tan den grossen Unterschied hervor.
23 der Frauen haben nach der Operation Erbrechen ge¬
habt und zwar meist nur einmal. 2 Tage dauerndes Erbrechen
haben wir in drei Fällen gesehen.
Kopfschmerzen traten in 13 Fällen auf, aber nur 2 mal
dauerten sie länger an.
Wenn diese Patientinnen auch früher schon an lange dauern¬
den Kopfschmerzen gelitten hatten, so ist doch die Möglichkeit nicht
von der Hand zu weisen, dass die Lumbalanästhesie diese wieder
ausgelöst hat.
Häufig klagen die Frauen über Kreuz- und Rücken-
schmerzen, doch habe ich den Eindruck, als ob dies nicht
häufiger ist wie auch sonst bei Operationen im kleinen Becken.
Stechen auf der Brust und unter dem Rippenbogen haben
wir einige Male gesehen, doch verschwand dies sogleich nach
Verabfolgung eines Priessnitzschen Umschlages: es handelte
sich wohl um kapillare Embolien.
In 3 Fällen trat Nackensteifigkeit auf, die 1 mal länger an¬
hielt und eine Verlängerung des klinischen Aufenthaltes um ca.
8 Tage bedingte.
Eine fast regelmässige Erscheinung war das Auftreten von
mehr oder weniger starkem Durst, eine reine Skopolamin¬
wirkung. Doch konnten wir den Kranken sehr früh Flüssigkeit
nach Belieben zuführen, und so die Leiden mildern.
Hiermit haüe ich die Aufzählung der Schattenseiten er-
schöpfr.
Als grossen Vorteil und Annehmlichkeit für die Kranken
haben wir es schätzen gelernt, dass in 28 Fällen von 74 in¬
guinalen und vaginalen Operationen (inklusive Totalexstir¬
pationen), bei 9 von 24 kleinen Laparotomien und 3 von
25 abdominalen Karzinomoperationen die Darmtätigkeit am 1.
(2 mal) oder 2. (38 mal) Tage von selbst einsetzte. Wir ent¬
schlossen uns daher, statt am 5. schon am 3. Morgen die Frauen
abfiihren zu lassen und haben in den ersten 150 Fällen nur 4
Misserfolge gesehen.
Lassen Sie mich kurz unsere Erfahrungen zusammen¬
fassen.
Eine Kontraindikation sehe ich in grosser Fettleibigkeit
wegen der technischen Schwierigkeit der Lumbalinjektion, und
in schlechter Pulsfüllung — wenigstens bei Novokainanwen¬
dung — • für die Lumbalanästhesierung, sehr hochgradiger Ner¬
vosität und Aufgeregtheit für den Skopolamingebrauch. Nicht
angebracht ist sie bei kleinen Eingriffen, die sich in Aether-
rausch erledigen lassen.
Indiziert ist diese Art der Narkose bei Herzfehlern mit
guter Pulsqualität, Lungenleiden, Arteriosklerose, hohem
Alter. Sie ermöglicht uns, ohne Schaden sgoar mehrfache
Operationen dabei vorzunehmen.
Die Folgen der Narkose für den kranken Organismus
scheinen weniger unangenehm zu sein.
Auszusetzen habe ich die subtile Technik, Unsicherheit des
Erfolges und einige lästige Begleiterscheinungen während der
Operation an der Lumbalanästhesierung, an der Morphium-
Skopolamin-Verwendung die Unsicherheit der Wirkung und die
Nebenerscheinungen. Diese Mängel möglichst auszuschalten
müssen wir uns bemühen, sei es durch Vervollkommnung der
Technik, sei es durch Anwendung besserer Präparate.
Erst dann wird der Fortschritt, den die Methode sicher
bedeutet, ganz zur Geltung kommen können.
Aus dem Laboratorium der k. k. Pädiatrischen Klinik in Wien
(Vorstand: Hofrat Prof. Dr. Escherich) und dem Röntgen¬
laboratorium des k. k. Wiener allgemeinen Krankenhauses
(Vorstand: Dozent Dr. Holzknecht).
Röntgenstrahlen und Stoffwechsel,
Von Dr. E. B e n j a m i n und Dr. A. v. R e u s s.
Vor kurzem konnten wir nachweisen, dass die zum ersten
Male von G. Schwarz am Hühnereigelb beobachtete Spal¬
tung des Lezithins unter der Einwirkung der Röntgenstrahlen
auch im lebenden Organismus eintritt. Es gelang uns, das
Spaltungsprodukt des Lezithins, das Cholin, im Blut und in den
Organen intensiv bestrahlter Kaninchen nachzuweisen.
Es war nun anzunehmen, dass wir hierin nicht die einzige
Wirkung der Röntgenstrahlen auf den Stoffwechsel zu sehen
haben. Schon die zahlreichen Stoffwechseluntersuchungen an
bestrahlten Leukämikern sprechen dafür, dass der Stickstoff¬
wechsel durch die Bestrahlung mit Röntgenlicht beeinflusst
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
wird. Die Arbeiten von Lossen und Morawitz, Heile,
Rosenberger, Quadrone, Rosenstern führten zu
dem übereinstimmenden Resultat, dass die Harnsäureaus¬
scheidung unter dem Einflüsse der Bestrahlung ansteigt. Von
einigen Autoren wurde eine dieser Vermehrung folgende Ver¬
minderung der Harnsäureausscheidung beobachtet. Auch nach
Bestrahlung anderer Kranker fand Heile eine Erhöhung der
Harnsäurewerte, Baermann und Linser eine 2—3 Tage
andauernde Steigerung der Stickstoffausscheidung. Von be¬
sonderem Interesse ist der Versuch B 1 o c h s an einem als
normal anzusehenden Menschen (Eczema chron.), welcher eine
geringe Steigerung des basischen Harnstickstoffes und eine
Vermehrung der Phosphorsäure des Harns unter dem Einflüsse
wiederholter Bestrahlungen ergab.
Wenn auch die Resultate der angeführten Arbeiten uns
mit sehr interessanten Tatsachen bekannt gemacht haben, so
fehlte bisher ein exakter Stoffwechselversuch am gesunden
Individuum, um uns über die physiologische Wirkung der
Röntgenstrahlen zu belehren. Da es wünschenswert erschien,
zu diesem Zwecke möglichst grosse Dosen Röntgenlicht in An¬
wendung zu bringen, verbot es sich von vornherein, einen
solchen Versuch am Menschen anzustellen. Wir gingen des¬
halb daran, die Vorgänge am Tier näher zu studieren.
Als Versuchstier diente uns ein 19,5 kg schwerer Hund (Bul-
dogg, 6 ). Er erhielt seinem Qewicht entsprechend täglich 100 g
mageres Fleisch und 150 g Speck. Der Versuchstag begann um
8 Uhr morgens. Eine Entleerung der Blase mittelst Katheter war
nicht notwendig, da das Tier allmorgentlich seinen Harn in ein
bereit gehaltenes Qefäss entleerte. So gelang es in geradezu idealer
Weise, die 24 ständige Harnmenge zu erhalten.
Der Versuch wurde am- 1. Juli begonnen. Nach 12 Tagen war
das Tier annähernd im Stickstoff-Gleichgewicht; am 15. Juli wurde
die erste Bestrahlung vorgenommen. Sie geschah im Stoffwechsel¬
käfig ohne jegliche Fesselung des Hundes bei einfacher Raumbe¬
schränkung. Die Röntgenröhre befand sich in ca. 25 cm Abstand
vom Rücken des Tieres. Die Dosis, die wir dabei applizierten, mag
30 bis 50 H betragen haben, ohne dass wir Genaueres angeben
könnten, da der Hund während der Bestrahlung seine Lage wechseln
konnte. Nach einer Woche, am 22. Juli, wurde abermals eine Be¬
strahlung vorgenommen; um eine extrem-intensive, messbare Be¬
strahlung vornehmen zu können, wurde das Tier nach subkutaner
Injektion von 0,5 g Morphin am Spannbrett in rechter Seitenlage
gefesselt und Milz- und Oberbauchgegend mit einer, Dosis von
120 H (!) beschickt.1) Die Untersuchungen wurden bis zum 14. Tage
nach der zweiten Bestrahlung ausgedehnt.
Der N wurde nach Kjeldahl bestimmt, die N-Verteilung im
Harn nach der im Hofmeister sehen Institut üblichen, im wesent¬
lichen von Pfaundler ausgearbeiteten Methode (Trennung in „basi¬
schen“ und „nichtbasischen“ N durch Phosphor-Wolfram-Säure und
Bestimmung des Harnsäurestickstoffes im Filtrat, das Ammoniak
durch Destillation mit Magnesia im Vakuum2), der Phosphor der
Nahrung und des Stuhles nach Neumann (feuchte Veraschung
und Fällung als phosphorsaures Ammoniummolybdat), die P2O5 des
Harnes durch Titration mit essigsaurem Uranoxyd.
Die Resultate des Versuches sind in folgender Tabelle zusammen¬
gestellt.
(Tabelle siehe nebenstehend.)
Wie man sieht, sind die Einwirkungen beider Bestrah¬
lungen auf den Stoffwechsel analoge gewesen.
T Während nach der ersten Bestrahlung im Verhalten des Tieres
keine auffallende Veränderung eintrat, zeigte es diesmal am folgen¬
den Tage grosse Mattigkeit, Verminderung der Fresslust und inten¬
sives Durstgefühl. Diese Erscheinungen dürften nur zum Teil als
Röntgenwirkung zu deuten und eher auf das Morphin zu beziehen sein.
Eine Störung des Stoffwechselversuches durch dasselbe brauchten
wir nicht zu befürchten, da die vorliegenden Untersuchungen nur
von einer Herabsetzung der Stickstoffausscheidung berichten, und
wir nach dem Ergebnis der ersten Bestrahlung das Gegenteil er¬
warten mussten. Es ist auch zu berücksichtigen, dass die Dosis
von 0,5 g Morphin für einen Hund bekanntlich keineswegs eine be¬
sonders grosse ist.
2) Auf eine gesonderte Bestimmung der Harnsäure glaubten wir
verzichten zu können. Die Beziehungen zwischen Gewebszerfall
und Harnsäureausscheidung sind noch keineswegs klar gelegt; kommt
es auch zu einer vermehrten Bildung von Harnsäure im Organismus,
so ist eine intermediäre Zerstörung derselben — zumal beim Hunde —
gewiss nicht ausgeschlossen. Jedenfalls glauben wir, dass uns die
Bestimmung des „basischen“ N im allgemeinen, welcher die ge¬
samten Harnpurine umfasst, für die in Betracht kommende Frage
wertvollere Aufschlüsse gibt, wie die spezielle Registrierung der
Harnsäurewerte.
No. 38.
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0,31
4,04
0,19
3,89
0,62
15.
0
0
460
4,69
0,38
4,31
—
4,1 7| 0,68
19,400
Bestrahlung von 4 U. bis
9 U. 40!
16.
ä ■ •
660
5,26
0,87
4,33
0,25
4,00
0,83
17.
18.
19.
20.
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0,40
0,27
0,31
4,16
4,37
4,20
4,03
0,32
0,26
0,21
0,21
3,67
3,67
3,78
3,69
0,80
0,66
0,57
0,53
■ 0,32
0,13
19,500
19,500
19,500
21.
(verl. ge¬
gangen)
Bestrahlung von 1 U. bis
7 U. 30!
22.
600
5,78
0,46
5,32
0,22
5,02
1,60
]
18,700
23.
600
5,63
0,70
4,93
0,35
4,26
0,55
0,31
0,14
24.
750
5,39
0,83
4,56
0,38
4,42
0,54
18,800
25.
390
5,95
1,11
4,84
0,26
4,48
0,73
26.
470
4,69
0,32
4,37
0,25
4,03
0,47
19,000
27.
570
5,25
0,56
4,69
0,23
4,21
0,45
28.
460
4,79
0,51
4,28
0,21
4,11
0,43
19,200
29.
610
4,96
0,54
4,42
0,22
4,09
—
30.
615
4,67
0,51
4,16
—
4,02
—
■ 0,23
0,11
31.
590
4,66
0,46
4,20
—
3,89
0,41
VIII.
1.
430
4,34
—
—
—
—
—
2.
470
4,49
—
—
—
—
0,46
3.
375
4,50
—
—
—
—
—
Hinsichtlich des N-Stoffwechsels bestehen sie in folgen¬
dem: Der Gesamt-N zeigte beidemale eine unmittelbar auf die
Bestrahlung folgende, im ersten Falle rasch vorübergehende, im
zweiten durch mehrere Tage andauernde Vermehrung, aller¬
dings nicht sehr erheblichen Grades (im Maximum kaum 1 g
gegen die Zahlen der Vorperiode). Diese Vermehrung des
Gesamt-N verteilte sich so ziemlich auf alle Komponenten.
Am stärksten beteiligt erscheint der durch Phosphorwolf¬
ramsäure fällbare N, welcher bekanntlich im wesentlichen
Harnsäure, Purinbasen und Ammoniak umfasst. 3) Die Ver¬
mehrung dauerte, — wenigstens nach der zweiten, intensiven
Bestrahlung — , mit geringen Schwankungen ca. 6 Tage an, um
dann auf normale Werte zu sinken. Ein Sinken des Gesamt-N
oder einer seiner Komponenten unter normale Werte konnten
wir während der ganzen Versuchsperiode nicht beobachten.
Wie die gesonderte Bestimmung des Ammoniak-N ergab,
nimmt dieser eine Sonderstellung insoferne ein, als die Stei¬
gerung seines Wertes beidemale um einen Tag später eintrat,
wie die des Gesamt-N und sehr rasch vorüberging. Bemer¬
kenswert ist, dass während der Tage nach den Bestrahlungen
auch der N des Kotes eine erhebliche Steigerung erfuhr.
Die P2 Os des Harnes stieg beidemale unmittelbar nach der
Bestrahlung erheblich an, das erstemal etwa um K des
früheren Wertes, um diesen am dritten Tage wieder zu er¬
reichen, das zweitemal um das dreifache der Norm, auf die sich
das Tier schon am nächsten Tage wieder einstellte, allerdings
nur für wenige Tage. Am 5. Tage sinken die Werte unter den
Durchschnitt, ohne ihn bis zum Ende des Versuchs zu er¬
reichen.4) Die P2 Os des Kotes blieb während des ganzen
Versuches konstant.
3) Albuminurie wurde während des Versuches niemals be¬
obachtet.
4) Bei dem abnorm hohen Werte des zweiten Versuches könnte
wohl auch das Morphin eine Rolle spielen, obzwar die vorliegen¬
den Untersuchungen nicht dafür sprechen. Jedenfalls könnte es bloss
als unterstützendes Moment in Frage kommen, gab doch unser Vor¬
versuch ein analoges Resultat.
4
MUENCriENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
1862
Wenn wir das Resultat unserer Untersuchungen ver¬
werten wollen, müssen wir es in Beziehung bringen zu
den vorliegenden anatomischen und hämatologischen Unter¬
suchungen. In erster Linie kommen hiebei die am nor¬
male n Organismus angestellten in Betracht, wie sie in den
Arbeiten von Heineke, Linse r und Helber, Ben-
i a 111 i n und S 1 u k a nicdergelegt sind. Die Versuche der letzt¬
genannten Autoren er-
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den nach der Bestrah-
lung auftretende, bald
verschwindende poly¬
nukleäre Hyperleuko-
zytose, der eine (schon
von Linser und Hel¬
ber beobachtete) durch
mehrere Tage andau-
erndeVerminderung der
Leukozyten folgt. Las-
sen sich nun zwischen
diesen Veränderungen
des Blutbildes und dem
Ergebnis des Stoffwech¬
selversuches Bezieh¬
ungen herstellen? Die
Erhöhung der N-Werte
im Anschlüsse an die
Bestrahlung spräche
nicht gegen die Her¬
kunft des N aus zer¬
fallenden Leukozyten.
Das Andauern der
hohen N-Werte wäh¬
rend der folgenden
Tage, also auch wäh¬
rend der Zeit der Leu¬
kopenie, lässt jedoch die
Auffassung nicht zu, als
seien die Leukozyten
die alleinige Quelle des
Mehr an N. Auch die
von Heineke be¬
schriebene schnell ein-
LEUCOCYTEM
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N
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1.50
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0.75
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Hi.
5.0
Ges. N.
40
3.0
2.0
1.0
_
tretende intensive Zerstörung des lymphoiden Gewebes kann
uns, da sie nach 24 bis 36 Stunden bereits ihren Abschluss er¬
reicht hat, hiefiir keine befriedigende Erklärung geben.
Den Parallelismus mit Blut- und Organveränderungen, den
wir beim N vermissen, finden wir bei der P2 Os in der schönsten
Weise ausgeprägt. Die explosionsartige Zerstörung des lym¬
phoiden Gewebes, die rasch vorübergehende „Röntgenisierungs-
leukozytose", das mit beiden Veränderungen einhergehende An¬
steigen und Absinken der P2 Os, das kürzlich von uns beob¬
achtete rasch vorübergehende Auftreten von Cholin in der
Blutbahn bildet offenbar einen Symptomenkomplex.
Die beifolgenden Kurven mögen das differente Verhalten
der P2 Os und des N in ihrer Beziehung zu den Blutverän¬
derungen veranschaulichen.
Als Hauptangriffspunkte für die Röntgenstrahlen haben wir
demnach die Lezithine (bekanntlich Verbindungen von
Fettsäuren, Glyzerinphosphorsäure und Cholin) und andere
lipoidc Sustanzen anzusehen, denn die erhöhte Mehraus¬
scheidung von P2 Os fällt wohl zusammen mit dem Auftreten
von Cholin, scheint aber in keiner Beziehung zum N-Stoff-
wechscl und den Nukleinsubstanzen zu stehen. Die Spaltung
des Lezithins ist also offenbar das Primäre, und vielleicht hat
Heile 1 echt, wenn er die (bei bestrahlten Kranken) gefundene
N-Vermehrung auf eine intravitale Beeinflussung autolytischcr
Vorgänge im beschleunigenden Sinn (Freiwerden von En¬
zymen) zurückführt, die dann in ihrer Wirkung naturgemäss
tagelang anhält.
Die in den eingangs erwähnten Arbeiten an Kranken er¬
hobenen Befunde haben mit den unserigen manches gemein¬
same. Fast alle Autoren fanden eine Beeinflussung der Harn¬
säure und Purinbasenausscheidung; soweit Untersuchungen
der P2 Oo vorliegen, wurde regelmässig ein vorübergehendes
Ansteigen derselben beobachtet. Auch Bloch fand ein
solches bei seinem Versuch an Gesunden und weist schon
darauf hin, dass die Werte der Pa Oö zu hoch sind, als dass sie
nur aus den Nukleinsubstanzen stammen könnten.
Das Ergebnis unseres Versuches ist demnach in Kürze
folgendes:
1. Der normale Organismus reagiert auf
intensiveRöntgenbestrahlung mit einer (nicli t
sehr erheblichen) Vermehrung des ausge¬
schiedenen N (und zwar vorwiegend des ba¬
sischen N), welche, unmittelbar nach der Be¬
strahlung e i n s e t z e 11 d, durch mehrere T a g e
andauert, um dann wieder auf normale Werte
zurückzugehen; und mit einer rasch ein¬
setzenden und rasch vorübergehenden Ver-
m e h r 11 n g der P2 Os-A u s s c h e i d u n g, der sich eine
länger andauernde Verminderung der P2 Oö-
werte a 11 s c h 1 i e s s t.
2. Der Parallelismus, welcher zwischen
den Veränderungen im Blut (rasch vorübergehende
Hyperleukozytose), den anatomischen Veränder¬
ung e n („explosionsartige Zerstörung des lymphoiden Ge¬
webes, die nach 24 bis 36 Stunden ihren Abschluss erreicht
hat“), dem Auftreten und raschen Wiedervei
schwinden des Cholins im Blut und der P2O.-.-
Vermehrung im Harn herrscht, scheint uns
darauf hin zu weisen, dass die Lezithine und
die ihnen verwandten Substanzen den Haupt-
angriffspunktfürdieRönt genstrahlen bilden.
Literatur.
1) Baermann und Linser: Münch, med. Wochenschr. 1904,
23. - — 2) Benjamin, R e u s s, S 1 u k a, Schwarz: Wiener klin.
Wochenschr. 1906, 26. — 3) Bloch: Arch. f. klin. Med. 1905, 83. —
4) Heile: Zeitschr. f. klin. Med. 1904, 55. — 5) Heineke: Mit¬
teilungen a. d. Grenzgebiet, d. Med. u. Chir. 1905, 14. — 6) Helber
und Lins e r: Münch, med. Wochenschr. 1904, 23; 1905, 15; Deutsches
Arch. f. klin. Med. 1905, 83. — 7) Lossen und Morawitz:
Deutsches Arch. _f. klin. Med. 1905, 83.- 8) Quadrone: Zentralbl.
f. inn. Med. 1905, 21 und 24. — 9) Rosenberger: Zentralbl. f.
inn. Med. 1905, 40. — 10) Rosenstern: Münch, med. Wochenschr.
1906, 21 und 22.
Die Literatur über die Einwirkung der Röntgenstrahlen auf das
Lezithin findet sich in der unter 2) zitierten Arbeit zusammengestellt.
Aus der bakteriologischen Anstalt für Unter-Elsass
(Oberleiter; Prof. Dr. Förster).
Die Präzipitatreaktion.
Ein Beitrag zur Frühdiagnose bei Typhus und anderen Infek¬
tionskrankheiten.
Von Oberarzt Dr. W. Fornet, Assistent der Anstalt.
Seit der Entdeckung der „spezifischen Niederschläge“
durch Kraus im Jahre 1897 haben zwar die sogen. Eiweiss¬
präzipitine auf Grund der Untersuchungen von Tchisto-
witsch, Bordet, Wassermann und Uhlenhuth eine
ungeahnte Bedeutung zur biologischen Differenzierung orga¬
nischer Stoffe erlangt, dagegen haben die eigentlichen Bak¬
terie 11 p r ä z i p i t i 11 e bis jetzt kaum eine praktische An¬
wendung gefunden. Ihrer diagnostischen Verwertung am
Krankenbett steht in der lat, ganz abgesehen von technischen
Schwierigkeiten, der Umstand im Wege, dass zu gleicher Zeit
mit ihnen im infizierten Organismus andere Antikörper ent¬
stehen, welche sich leichter und bequemer nachweisen lassen.
Auffallender Weise sind nun die Bakterie npräzi-
pitinogene überhaupt noch nicht zur Diagnose herange¬
zogen worden. Die Präzipitinogene bedingen aber erst die
Bildung der Präzipitine; sie müssen also vor diesen im infi¬
zierten Körper auftreten und möglicherweise auch nachweisbar
sein, und zwar zu einer Zeit, wo ihre Antistoffc, die Pdäzipitine,
noch fehlen.
Krau s hatte bekanntlich das Präzipitinogen in Filtraten
von Baktcricnkulturen und das Präzipitin in einem mit dem
homologen Mikroorganismus im I ierkörper erzeugten Immun-
serum gefunden. Wollte man daher in einem bestimmten
18. September 1006.
Patieiitensei um iigend ein Bakterienpräzipitinogen nachweisen,
so musste mau dieses Patientenserum, nicht wie bisher mit
dem homologen Bakterienfiltrat, sondern mit einem ent¬
sprechenden Immunserum zusammenbringen j nur dieses
konnte mit dem im Patientenserum vermuteten Bakterienpräzi-
pitmogen einen spezifischen Niederschlag erzeugen. Mathe¬
matisch ausgedi iickt ist also die Summe, d. h. das Präzipitat,
dieselbe geblieben, dagegen wird von den beiden Faktoren’
nicht wie bisher das Bakterienpräzipitin, sondern das Bak-
terienpi äzipitinogen als die Unbekannte x angesehen. Streng
genommen müsste daher die Reaktion ,,Präzipitinogenreaktion“
heissen, doch ist der Kürze halber die nichts präjudizierende
Bezeichnung „Präzipitatreaktion“ gewählt worden.
Um die Richtigkeit der theoretischen Erwägungen zu
piiifen, winde einem Kaninchen 34 Typhusagarkultur intra¬
venös injiziert und das Tier nach 12 Stunden verblutet. Das
so gewonnene „Infektionsserum“ bildete in der Tat, wie aus
der beifolgenden labelle I hervorgeht, mit einem ebenfalls vom
Kaninchen stammenden Typhusimmumserunr, oder wie ich es
sachlicher lieber bezeichnen möchte „Typhusreaktionsserum“
spezifische Präzipitate. Dagegen besass es noch keine agglu¬
tinierenden oder spezifisch bakteriziden Eigenschaften, welche
sonst seine Beziehungen zum Typhusbazillus hätten verraten
können. Es liessen sich also wirklich die angenommenen
Antigene schon zu einer Zeit im infizierten Organismus nach¬
weisen, wo die entsprechenden Antikörper noch nicht aufge¬
treten waren.
Tabelle I.
No.
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4 Std. Aufenthalt
bei 37°
10 Minuten langem
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2
0,5
0,5
—
—
1 r ü b e , ganz dichte,
feine gleichmässige
Körnung, daneb. grobk.
ungleiche Flocken
Atn Boden ziemlich festhaftender,
„landkartenförmig begrenzter“,
ausgedehnter Bodensatz
0,5
0,5
—
Klar nur grobe un-
gleichmässige Flocken
(ieringer, loser Bodensatz
von unbestimmter Form
3
0,5
—
—
0,5
Klar sonst wie 2
wie 2 -
4
—
0,5
0,5
—
Klar sonst wie 2
wie 2
5
—
0,5
—
0,5
Klar sonst wie 2
wie 2
6
—
—
0,5
0,5
Klar sonst wie 2
wie 2
Zahlreiche andere Versuche, bei deren Ausführung und
Beurteilung ich mich immer der Unterstützung Von Herrn Pro¬
fessor Dr. Förster erfreuen durfte, hatten stets das gleiche
Ergebnis: immer gab das Typhusinfektionsserum mit dem
Typhusreaktionsserum eine in feiner Trübung und feinster,
gleichmässig verteilter Körnung bestehende Reaktion, welche
in den Kontrollröhrchen vermisst wurde.
Die Erfahrung zeigte, dass ein wirksames „Typhusreak-
tionsserum“ am besten in der Weise erzielt wird, dass Ka¬
ninchen längere Zeit hindurch grosse Mengen sterilen Filtrats
von 4 tägigen Typhusbouillonkulturen injiziert werden. Diese
Immunisierung hat leider den Nachteil, dass die Tiere häufig
an hochgradiger Abmagerung eingehen. Man ist daher ge¬
zwungen, die Kaninchen nach der letzten Injektion verbluten
zu lassen.
Zur Gewinnung eines möglichst klaren Serums liessen
wir einer Empfehlung Uhlenhuths folgend, die Tiere vor
der Blutentnahme einen Tag lang hungern. Zur Konservierung
der Sera bewährte sich für unsere Zwecke ganz besonders ein
Zusatz von Formalin im Verhältnis von 1 : 5000. Trübe Sera
konnten fast immer mittelst Filtration durch feines Filtrier¬
papier (Schleicher und Schüll) und nachfolgendes Zentri¬
fugieren bei hoher Tourenzahl vollkommen geklärt werden.
Durch das liebenswürdige Entgegenkommen von Herrn
Dr. H o e p f f n e r, Assistenten an der von K r e h 1 sehen Klinik,
welchem ich auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank
ausspreche, wurde mir dann die Möglichkeit gegeben, die
„Präzipitatreaktion“ in zwei Fällen von Typhusverdacht zu
1868
erproben. Beide Fälle befanden sich in den ersten Krankheits¬
tagen, stammten aus der Umgebung von sicheren Typhusfällen
und boten auch klinisch das Bild eines Typhus abdominalis dar.
In beiden Fällen fehlte zur Zeit der Untersuchung des Serums
die Gruber-Widal sehe Reaktion noch vollkommen,
während die „Präzipitatreaktion,, beidemal positiv ausfiel, wie
das beifolgende Protokoll zeigt.
Tabelle II.
No.
Patienten¬
serum Ga.
Norm, menschl.j
Serum Dr. H.
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GO ZZ
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Aufenthalt
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0,5
—
0,5
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Feinste gleichmässige
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gröbere Flocken
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—
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0,5
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Tabelle III.
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Körnung, daneb.
gröbere Flocken
„landkarten-
förmig begrenz¬
ter“ Bodensatz
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—
—
0,5
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L e i c h 1 1 r ü b e
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Nur gröbere Flocken
Geringer Boden¬
satz ohne be¬
stimmte Form
Klar
4
—
0,5
0,5
—
—
wie 3 a
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Klar
5
—
0,5
—
0,5
—
wie 3 a
wie 3 b
Klar
6
—
0,5
—
—
0,5
wie 3 a
wie 3b
Klar
Bei beiden Patienten konnte die mittelst der „Präzipitat¬
reaktion“ gestellte Diagnose auf Typhus abdominalis durch
Züchtung der Typhusbazillen aus dem Blut im Kayser-
C o n r a d i sehen Typhusgallenröhrchen (cf. Miinchn. Med.
Wochenschr. 1906 No. 17), deren Verwendung sich auch sonst
vielfach in den ersten Krankheitstagen bewährt hat, bestätigt
werden.
Um etwaige Hemmungen zu vermeiden, wurden mehrfach
Versuche gemacht, das „Typhusreaktionsserum“ zu verdünnen,
jedoch ohne Erfolg, da dann die Reaktion meist ausblieb. Zur
praktischen Verwendung der „Präzipitatreaktion“ wäre es je¬
doch wünschenswert, ein hochwertiges „Reaktionsserum“ her¬
zustellen, welches auch noch in stärkerer Verdünnung wirksam
bleibt. Inzwischen ist dies teilweise gelungen.
Zur Sichtbarmachung der in den Tabellen II und III er¬
wähnten, charakteristischen „gleichmässig verteilten, feinsten
Körnung“ empfiehlt es sich ebenso wie bei der makrosko¬
pischen Beurteilung der Agglutination, das von der Zimmer¬
decke reflektierte Tageslicht durch das Röhrchen fallen zu
lassen und das direkte Tageslicht mit der Hand abzublenden.
Zur Erzielung des „landkartenförmig begrenzten“ Bodensatzes
können die Gläschen entweder ca. 24 Stunden im Eisschrank
aufbewahrt werden oder sie werden, wie dies Gaehtgens
in einer ebenfalls aus dem Forst ersehen Institut hervor¬
gegangenen Arbeit zur Beschleunigung der Agglutination
empfiehlt, 10 Minuten lang zentrifugiert.
Da auch spontan beim Zusammentreffen zweier ver¬
schiedener Sera Trübungen aller Art auftreten können, ist es
unbedingt erforderlich, dass alle in Tabelle II und III ausge¬
führte Kontrollen angesetzt werden und dass sie die für den
positiven Ausfall der Reaktion charakteristischen Merkmale:
„Trübung“, „gleichmässig verteilte, feinste Körnung“ und
4*
Mt 1ENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
1864
eventuell „landkartenförmig begrenzter Bodensatz“ vermissen
lassen.
Weitere Einzelheiten über die Technik der „Präzipitat¬
reaktion“ und über die Möglichkeit ihrer praktischen Ver¬
wertung bei Typhus werde ich erst später in einer ausführ¬
lichen Arbeit auf Grund längerer Erfahrung veröffentlichen
können. Jedoch erschien mir die Tatsache, dass sich beim
Typhus abdominalis bisher nicht beachtete, spezifische Bak¬
terienprodukte im Serum der Patienten ebenso wie in der fil¬
trierten Bouillonkultur durch Zuhilfenahme eines entsprechen¬
den „Typhusreaktionsserums“ nachweisen lassen, immerhin
wichtig genug, um schon jetzt kurz darüber zu berichten und
zur Nachprüfung anzuregen; bringt doch dieser Befund einen
neuen Beweis für die von Förster und seinen Schülern ver¬
tretene Anschauung, dass der Eberth-Gaffky sehe Ba¬
zillus zuerst in der Blutbahn und später erst im Darmtraktus
auftritt.
Es spricht manches dafür, dass die durch Kraus in dem
Filtrat von Typhusbouillonkulturen und durch obige Versuche
im Serum des mit Typhus infizierten Organismus nachge-'
wiesenen Bakterienpräzipitinogene zu den von E. L e v y und
mir nachgewiesenen „aggressiven“ Eigenschaften von Bouil¬
lonkulturfiltraten in einer gewissen Beziehung stehen.
Versuche, die „Präzipitatreaktion“ auch zur Frühdiagnose
bei Tuberkulose und Karzinom zu verwerten, sind im Gange
und wird über deren Ergebnis ebenfalls später berichtet
werden.
Während der Ausführung der bereits im Januar d. J. mit
Herrn Professor Dr. Förster besprochenen und begonnenen
Versuche, welche wegen anderweitiger Arbeiten nur langsam
gefördert werden konnten, erschienen von Wassermann,
N e i s s e r und Bruck Veröffentlichungen, welche den Nach¬
weis von kleinsten Mengen gelöster Bakteriensubstanzen in
Körperflüssigkeit zum Gegenstand haben. Die genannten Au¬
toren weisen jedoch diese Stoffe nicht direkt durch Präzi¬
pitation, sondern mittelbar durch Komplementbindung mittelst
einer von Bordet ausgearbeiteten Methodik nach. Ueber
eine praktische Verwertung dieser Methode zur Frühdiagnose
bei Typhus liegen bis jetzt noch keine Mitteilungen vor.
Nachtrag bei der Korrektur.
Inzwischen habe ich in 4 weiteren Typhus-Verdachts-Fällen das
Patientenserum auf seinen Gehalt an spezifischen Typhuspräzipitino-
genen prüfen können. Bei sämtlichen 4 Fällen fiel die Präzipitat¬
reaktion positiv aus, während die zu gleicher Zeit angestellte G r u -
b e r - W i d a 1 sehe Reaktion noch negativ blieb. Die Richtigkeit
der auf Grund der positiven Präzipitatreaktion gestellten Diagnose:
l'yphus abdominalis wurde in jedem einzelnen Falle am folgenden
oder übernächsten Tage durch die gleichzeitig unternommene Züch¬
tung von Typhusbazillen aus dem Blut bestätigt. 4 andere
Blutproben, welche von nicht typhösen, fieberhaften Erkrankungen
aller Art herrührten, und welche ich der Liebenswürdigkeit von
Herrn Assistenzarzt Dr. Schellhorn zu verdanken hatte, Hessen
die Präzipitatreaktion ebenso vermissen, wie verschiedene Proben
normalen, menschlichen Blutserums.
Ferner ist es mir seitdem in einem Falle gelungen, Typhus-
präzipitinogene auch im Harn eines Typhuskranken nachzuweisen,
und zwar ebenfalls zu einer Zeit, wo die Agglutinationsreaktion des
Blutserums noch negativ ausfiel; als Kontrolle diente ein anderer, nicht
von einem I yphuskranken stammender Fieberharn mit dem gleichen Ei¬
weissgehalt. Sollten sich im weiteren Verlauf der Untersuchungen
spezifische Bakterienpräzipitinogene regelmässig in den ersten Krank¬
heitstagen im Urin nachweisen lassen, so würde dies im Hinblick auf
die Leichtigkeit der Materialbeschaffung die Ausführung der Präzipi¬
tatreaktion und damit, wie ich hoffe, die Frühdiagnose von Typhus
und wahrscheinlich auch anderer Infektionskrankheiten wesentlich
erleichtern. Ueber die Technik der Präzipitatreaktion bei Verwen¬
dung von Urin an Stelle von Blutserum werde ich ebenfalls später
eingehend berichten. — Für die gütige Ueberlassung des ein¬
schlägigen Untersuchungsmaterials habe ich wiederum Herrn
Dr. H o e p f f n e r zu danken.
Literatur:
Rudolf Kraus: Ueber spezifische Reaktionen in keimfreien Fil¬
traten aus Cholera-, Typhus- und Pestbouillonkulturen. Wiener klin.
Wochenschr. 1897, No. 32. — T c h i s t o w i t s c h: Etudes sur l’im-
munisation contre le serum d’anguilles. Annales de l’Institut Pasteur
1899, p. 413. — Jules Bordet: Mecanisme de l’agglutination. An¬
nales de l’Institut Pasteur 1899, p. 240. — Wassermann: Ver¬
handlungen des Kongresses für Innere Medizin 1900, p. 501. — Uhlen¬
hut: Neuer Beitrag zum spezifischen Nachweis von Eiereiweiss auf
biologischem Wege. Deutsche med. Wochenschr. 1900, No. 46, pag.
754. — W. Gaehtgens: Beitrag zur Agglutinationstechnik. Münch,
med. Wochenschr. 1906, No. 28. — Förster und Kays er: Ueber
das Vorkommen von Typhusbazillen in der Galle von Typhuskranken
und „Typhusbazillenträgern“. — E. Levy und W. Fornet: Nah¬
rungsmittelvergiftung und Paratyphus. Zentralbl. f. Bakt. I. Abt.
Originale, Bd. XLI, 1906, Heft 2. — E. Levy und W. Fornet:
Ueber Filtrataggressine. Deutsche med. Wochenschr. 1906, No. 26.
— Wassermann und Bruck: Experimentelle Studien über die
Wirkung von Tuberkelbazillenpräparaten auf den tuberkulös er¬
krankten Organismus. Deutsche med. Wochenschr. 1906, No. 12. —
Wassermann, Neisser und Bruck: Eine serodiagnostische
Reaktion bei Syphilis. Ibidem 1906, No. 19. — Bruck:" Zur bio¬
logischen Diagnose von Infektionskrankheiten. Ibidem 1906, No. 24.
Aus dem bakteriologischen Laboratorium der Stadt Köln
(Direktor : Dr. Czaplewski).
Ueber Typhusanreicherung.
Vorläufige -Mitteilung.
Von Dr. Wilhelm Meyerstein, Assistenzarzt am
Laboratorium.
Nachdem C o n r a d i, später auch Kayser, gezeigt
hatten, dass man aus dem Blute von Typhuskranken durch
Zusatz von Galle mit Sicherheit Typhusbazillen bezw. Para¬
typhusbazillen züchten kann, schien es mir von Bedeutung, zu
untersuchen, welche Bestandteile der Galle diese deutliche
Anreicherung bedingten. Wir vermuteten, dass der hauptsäch¬
lichste und spezifische Bestandteil der Galle, die gallensauren
Salze, das wirksame Moment darstellten. Meine Versuche be¬
stätigen diese Annahme, und zwar gelang mir der Nachweis
von Typhusbazillen zu einer Zeit, wo die Gruber-Widal-Probe
noch nicht oder nur schwach positiv war.
Um die gallensauren Salze zu erhalten, bewährte sich am besten
folgendes bekannte Verfahren. Ochsengalle wird mit Tierkohle auf
dem Wasserbade bis zur Trockne eingedampft. Der Trockenrück¬
stand wird mit Alkohol aufgenommen, das Ganze filtriert und zum
etwas eingeengten Filtrat ziemlich viel Aether zugegeben. Dadurch
werden die gallensauren Salze als Brei von seidenglänzenden Kri¬
stallen ausgefällt (sogen, kristallisierte Galle). Dieser wird ge¬
trocknet und pulverisiert. Das weitere Verfahren um das taurochol-
saure Salz vom glykocholsauren zu trennen, übergehen wir hier.
Wir versuchten auch, einfach getrocknete Galle, die ja die gallen¬
sauren Salze in sehr konzentrierter Menge enthält, zu verwenden.
Zwar gelingt die Anreicherung damit ebenfalls, aber das Produkt
enthält störende Verunreinigungen und ist auch schlechter löslich.
Von den pulverisierten gallensauren Salzen gab ich 1 — 2
Messerspitzen in ein steriles Reagenzglas, fügte 2 — 4 ccm
Blut hinzu und setzte dies 12 — 16 Stunden in den Brutschrank.
Eine Aussaat auf Conradi-Drigalsky-Nährboden ergab dann die
Anwesenheit von einer grossen Menge Typhusbazillen.
Es leuchtet ein, dass diese Methode gegenüber der bis¬
herigen grosse Vorteile bietet, da man der Besorgung von Galle
auf Schlachthöfen, des Abfüllens und Sterilisierens überhoben
ist. Die Gallenröhre von Kayser-Conradi (Münch, med.
Wochenschr. 1906, No. 17), die die Galle schon sterilisiert und
in kleine Portionen abgefüllt im Reagenzglas enthält, ist für den
Laboratoriumsbetrieb immerhin zu teuer und für den prakt.
Arzt immer noch nicht bequem genug.
Um nun meine Methode möglichst handlich zu gestalten,
löste ich die kristallisierte Galle in Glyzerin (Glyc. Aqu.
dest. aa), was bei leichtem Erhitzen anscheinend in jedem
Verhältnis möglich ist. Ich stellte mir eine Lösung her,
die etwa 30 — 40 Proz. gallensaure Salze enthält. Von dieser
Lösung, die auf kleine I ropfflaschen abgefüllt wurde und deren
Haltbarkeit durch den grossen Gehalt an Glyzerin und die hohe
Konzentration der gallensauren Salze gesichert wird, gab
ich einige Tropfen in ein Reagenzglas, fügte das Blut hinzu
(auf 1 ccm Blut etwa 1 — 2 Tropfen). Dann war nach 12 bis
16 Stunden die Anreicherung so stark, dass man schon im ein¬
fachen Ausstrichpräparat, wie auch im hängenden Tropfen (im
letzteren Fall sind die Bazillen zum grossen Teil agglutiniert)
die Typhusbazillen sehr reichlich auffinden konnte. Die Aus¬
saat bestätigte die bedeutende Anreicherung.
Mein Verfahren würde sich demnach für die Praxis fol-
gendermassen gestalten: Von einer Zentrale werden Tropf¬
fläschchen mit etwa 20 ccm obiger Flüssigkeit, die für eine
grosse Zahl (50—100) Untersuchungen ausreichen, abgegeben.
18. September J906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1865
Vor Gebrauch wird die Ausflussöffnung leicht flambiert, in
ein Reagenzglas 4—5 Tropfen der Flüssigkeit und 2—3 ccm
des zu untersuchenden Blutes gegeben. Nach 12—16 Stunden,
vielleicht noch früher und zwar auch in Fällen, wo die Ag¬
glutinationsprobe noch nicht positiv ist, kann sich auch der
Ungeübte durch Beobachtung des mit Methylenblau oder
Fuchsin gefärbten Ausstrichpräparates (ein Tropfen Blut, von
der Oberfläche entnommen, wird in bekannter Weise zwischen
zwei Objektträgern dünn ausgestrichen) von der Anwesenheit
verdächtiger Bazillen überzeugen, deren Identifizierung durch
die Nichtfärbbarkeit nach Gram, sowie durch die Aussaat mit
Leichtigkeit gelingt.
Ob die gallensauren Salze an sich einen güten Nährboden
für Mikroorganismen darstellen, oder ob sie nur durch Auf¬
hebung der Gerinnung und Bakterizidität des Blutes wirken,
ferner ob sich das glykocholsaure Salz vom taurocholsauren
Salz in der Wirkung unterscheidet, darüber sind Unter¬
suchungen im Gange.
Untersuchungen über den Einfluss grosser Körper¬
anstrengungen auf Zirkulationsapparat, Nieren und
Nervensystem.
Von Dr. Baldes, Dr. Heichelheim und Dr. Metzger
in Frankfurt a. M.
Gelegentlich des von der Frankfurter Vegetarischen Ge¬
sellschaft veranstalteten Dauermarsches über 100 km war es
uns ermöglicht, eine grössere Anzahl der Teilnehmer unmittel¬
bar vor dem Marsche sowie direkt nach der Ankunft, einzelne
auch noch einige Tage später zum zweiten Male zu untersuchen.
Derartige Untersuchungen sind unseres Wissens bisher in
solchem Umfange noch nicht angestellt resp. veröffentlicht.
Wohl hat Leube1) an Soldaten vor und nach dem Marsche
Urinuntersuchungen vorgenommen und leichte Eiweissaus¬
scheidungen beobachten können, später hat auch J. Müller2)
bei Radfahrern nach Wettfahrten Nierenveränderungen ge¬
funden (auf welche noch später eingegangen werden soll).
Unsere Beobachtungen beziehen sich dagegen nicht nur auf
die chemische und mikroskopische Urinuntersuchung, sondern
auch auf Veränderungen am Zirkulationsapparat (Herzgrösse,
Blutdruck usf.).
An dem Marsche beteiligten sich etwa 30 junge Leute, von
denen aber nur etwa 16 zum Ziele gelangten. Es handelte sich
bei dem Wettgehen darum, die Strecke von 100 km in mög¬
lichst kurzer Zeit zu passieren, daher gingen die meisten der
Teilnehmer ununterbrochen, ohne eine Minute auszusetzen.
Die Kleidung war die denkbar leichteste, Gepäck war nicht zu
*) Virchows Archiv, Bd. 72.
2) Münch, med. Wochenschr. 1896, No. 48.
tragen, jeder Geher war von einem Schrittmacher begleitet.
Die Wettgeher waren durchschnittlich junge, kräftige Leute im
Alter von 17 — 27 Jahren und zeigten bis auf einen Teilnehmer
vor dem Marsche keinerlei nachweisbare Krankheitssym¬
ptome; bei diesem einen war vor dem Marsch eine leichte
Albuminurie ohne Formelemente zu finden.
Wir haben im ganzen 12 Teilnehmer genauer untersuchen
können. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen sind in nach¬
folgender Tabelle zusammengestellt.
Auf den Einfluss der Ernährung auf die Leistungsfähigkeit
des Einzelnen (hinsichtlich Vegetarismus oder gemischte Kost)
soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden; jedoch wollen
wir nicht unterlassen, zu erwähnen, dass ein Teil der Leute
Vegetarier und abstinent waren und sich unterwegs durch
Früchte, Schokolade usf. ernährten; auch von denen, die sonst
nicht abstinent waren, nahm nur einer während des Marsches
Alkohol in grösseren Mengen (22 Glas Bier und gegen Schluss
des Marsches % Flasche Malaga).
Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass ausser einem Teil¬
nehmer (No. 7) sämtliche anderen vor dem Marsche einen ei¬
weissfreien Urin hatten. Nach dem Marsche fand sich in allen
Fällen Eiweiss in wechselnder Menge von leichter Opaleszenz
bis ca. /4 Prom. Esbach. In 4 Fällen war durch chemische
Reaktion Blut in beträchtlicher Menge nachzuweisen. Das spe¬
zifische Gewicht des Urins war in allen Fällen sehr hoch.
Mikroskopisch waren nur in 3 Fällen keine Zylinder zu
finden (No. 1, 4 und 7); von den hier sich im Sediment verein¬
zelt zeigenden Epithelien konnte man nicht mit Sicherheit sagen,
dass sie aus den Nieren stammten. In allen übrigen Fällen
fanden sich Zylinder der verschiedensten Art und Nieren-
epithelien, am zahlreichsten in den Fällen, wo auch durch die
chemische Reaktion Blut gefunden wurde. Wurde durch che¬
mische Reaktion Blut nachgewiesen, so fanden sich auch im
Sediment rote Blutkörperchen.
Zur Bestimmung der Herzgrenzen haben wir ausschliess¬
lich die absolute Dämpfung festgestellt. Während vor dem
Marsche bei allen Teilnehmern normale Herzgrenzen sich nach-
weisen liessen, konnten wir nach der Ankunft bedeutende Ver¬
breiterungen nach rechts und links beobachten. Wir sind uns
wohl bewusst, dass zur exakten Untersuchung des Herzens die
äusseren Bedingungen uns nicht günstig lagen und dadurch
kleine Fehler eventuell mit einschlüpfen konnten, dass ferner
heutzutage die orthodiagraphische Bestimmung der Herz¬
grenzen notwendig ist. Trotzdem können wir bei den aus¬
gesprochenen Herzgrössenveränderungen vor und nach dem
Marsche auch aus unseren Untersuchungen schliessen, dass bei
einigen derTeilnehmer eine Herzverbreiterung eingetreten war.
Wir müssen demnach in der Streitfrage: Gibt es eine akute
Herzdilatation bei Herzgesunden oder nicht?, als deren Ver¬
fechter einerseits Moritz, Hoffman n, de 1 a Camp u. a.,
Name
Alter
Gewicht
Blutdruck
Puls
Urin
Herzbefund
Mikroskop. Befund des Urins
vor
nach
vor
nach
vor
nach
vor
nach
nach dem Marsche
1
Wilh.
19
3 Pfund
110
100
72
120
Kein
Opales-
IV.— VI. Rippe; Mitte des
Vereinzelte Epithelien, keine Zylinder.
Abnahme
Eiweiss
zenz
Sternum bis ausserhalb der
Mammillarlinie.
2
Ra.
22
159
154
85
60
80
120
dto
Eiweiss
Nach links bis z. Mammillar-
Epithelien, granulierte und Epithelialzylinder
4-
iinie.
keine roten Blutkörperchen.
3
Pr.
_
_
2 Pfund
90
65
76
116
dto.
Opalesz.
Rechter Sternalrand , nach
Nierenepithelien, mässig zahlreiche gekörnte
Abnahme
links nicht verbreitert.
Zylinder.
4
Reh.
24
121
119
75
75
84
116
dto.
Blut
Ohne Veränderung.
Massenhaft rote Blutkörperchen, vereinzelte
Trübung
Epithelzylinder.
5
Wim.
—
—
—
—
—
—
—
dto.
—
Vereinzelte Epithelien, keine Zylinder.
6
Cz.
—
—
■ —
—
—
68
120
dto.
Blut
Ohne Veränderung.
Rote Blutkörp. Hyaline, Epithelialzylinder.
7
Jes.
133
130
108
70
92
120
Eiweiss
Eiweiss
Mammillarlinie , Mitte des
Vereinzelte hyaline Zylinder. (Vor dem
+
Kein
+
1 r iibung
Sternum.
Marsche im Sediment keine Formele . r eute.)
8
Rsehl.
_
—
—
80
65
72
120
Mitte des Sternum.
Epithelien, keine Zylinder.
Eiweiss
9
Dy.
_
_
_
—
—
—
—
dto.
Blut
—
Mässig gekörnte und Epithelialzylinder,
10
dto.
Blut
rote Blutkörperchen.
Sch.
—
—
—
—
- r
—
—
—
Massenhaft rote Blutkörp., Epithelialzylind.
11
Schwz.
—
—
—
—
—
—
—
dto.
Eiweiss
~F
Leichte
—
Epithelien, hyaline u. gekörnte Zylinder.
12
Don.
—
—
—
—
—
—
—
dto.
.
Vereinzelte Epithelialzylinder.
Trübung
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
andererseits Schott und neuerdings S t a r c k anzuführen
sind, nach unseren Beobachtungen den Standpunkt vertreten,
dass nach grösseren körperlichen Anstrengunge bei Herz¬
gesunden eine akute Dilatation des Herzens tatsächlich ein-
treten kann.
Der Blutdruck, der bei den Einzelnen sehr verschieden war.
fand sich nach dein Marsche bei allen Teilnehmern bedeutend
gesunken (Ma::imum bis 25 Proz.). Die Pulszahl war beträcht¬
lich gestiegen: die Form des Pulses war für das Gefühl nicht
nennenswert verändert.
Bei allen Wettgehern war nach dem Marsch ein Gewichts¬
verlust von durchschnittlich 4 Pfund zu konstatieren, eine Tat¬
sache. die wohl keiner weiteren Erläuterung bedarf. Was das
subjektive Befinden betrifft, so fand sich bei den meisten ausser
einer natureremässen Müdigkeit und Ruhebedürfnis nichts be¬
sonderes. Kopfschmerz, Herzklopfen, Pulsation der Schläfen¬
arterien wurde nicht geklagt: es waren auch keine Zeichen
einer abnorm gesteigerten Atmungstätigkeit zu konstatieren.
Die Gesichtsfarbe war bei den meisten etwas blass, jedoch
keineswegs zyanotisch. Nur ein Teilnehmer wurde von einer
leichten, schnell vorübergehenden Ohnmacht befallen.
Mehrere Tage nach dem Marsche konnten wir Teilnehmer
I, II und III nochmals untersuchen und vollkommen normalen
Befund naclnveisen; alle bei diesen unmittelbar nach dem
Marsche beobachteten Störungen waren wieder geschwunden.
Wir haben' also als unmittelbare Folgen des Marsches
neben der Herzdilatation wesentliche, allerdings vorüber¬
gehende Veränderungen an den Nieren beobachtet. Aehnliche
Befunde wie wir hat J. Müller3) bei Radfahrern nach Wett¬
fahrten erhoben, nur mit dem Unterschied, dass in seinen
Fällen nie Blut im Urin sich fand. Weitere Beobachtungen
liegen von McFarlane4) vor, der bei Fussballspielern Ei-
weiss und Zylinder im Urin fand. Unseres Wissens sind dies
die beiden einzigen Beobachtungen, welche dartun, dass nach
körperlichen Anstrengungen Formelemente im Urin neben Ei-
weiss gefunden wurden.
Während J. Mülle r eine Erklärung seiner Befunde nicht
gibt, hält es McFarlane für möglich, dass der grössere Salz¬
gehalt des konzentrierten Urins Schuld sei an der reichlichen
Transsudation von Eiweiss, neigt indessen mehr der Annahme
zu, dass es sich bei dem stärkeren Blutzufluss während der
Anstrengung lediglich um ein stärkeres Abstossen von Nieren-
enithelien handle, ähnlich wie nach einem Dampfbad sich die
Haut in grösseren Fetzen abstosse.
Die Autoren, welche sich mit der Frage der physiologischen
Albuminurie5) befasst haben — zu welchen wir unsere Fälle,
die ia mikroskopisch das Bild einer akuten parenchymatösen
Nephritis geben, nicht rechnen können — , suchen das Auftreten
von Eiweiss zum Teil durch Zirkulationsstörungen infolge
Schädigung des Herzmuskels zu erklären. Unserer Ansicht
nach müssen den verschiedenen Veränderungen verschiedene
Ursachen zugrunde liegen. Zunächst erscheint es merkwürdig,
dass der Blutdruck bei der angestrengten Körperleistung ver¬
mindert ist, während doch sonst eine Blutdrucksteigerung bei
körperlicher Arbeit gefunden wird. Da ist jedoch zu berück¬
sichtigen dass Herz und Gefässystem erschlafft sind, wie die
von uns nachgewiesene Dilatation des Herzens beweist. Weiter¬
hin muss in Betracht gezogen werden, dass die Blutmengen bei
den Untersuchten sicher durch Eindickung eine verminderte
gewesen sein muss, da ja eine Gewichtsabnahme von durch¬
schnittlich 4 Pfund bei den durchaus nicht fetten Personen zu
konstatieren war. Zum Teil wird wohl die Eiweiss- und Blut¬
ausscheidung durch die Nieren auch auf Kosten der mangel¬
haften Zirkulation zu setzen sein. Doch spricht das mikro¬
skopische Bild, welches vollkommen das einer akuten paren¬
chymatösen Nephritis war. dafür, dass bei der geleisteten
gewaltigen Muskelarbeit Stoffe im Körner gebildet worden sind,
welche bei ihrer Ausscheidung das Nierenparenchym gereizt
und lädiert haben.
Auf ihre Sehnen reflexe wurden die Wettgeher von Herrn
Dr. Schilling, damaligem Assistenten des Herrn Professor
3) 1. c.
B Medical Record 1895.
D Literatur bei Lcubc, Die Therapie der Gegenwart, Okt. 1902.
E d i n g e r, untersucht. Das Ergebnis dieser Untersuchungen
ist uns von Herrn Professor Dr. E d i n g e r zur Verfügung
gestellt. Im ganzen wurden vor dem Marsche 12 Personen
untersucht, welche alle normale Reflexe hatten. Infolge des
Marsches schwächten sich bei 8 die Sehnenreflexe ab, bei 1
gingen sie ganz verloren, nur bei 3 blieben sie normal. Es
handelt sich um Aufbrauchserscheinungen, die um so wichtiger
hier sind, weil sie bei Leuten aufgetreten, welche gerade für
den betreffenden Fall sich gekräftigt und trainiert hatten. Der
Achillessehnenreflex war und blieb bei allen Teilnehmern nor¬
mal. Die Pupillenreflexe hatten sich nicht geändert, im Gegen¬
teil trat bei 10 Leuten Nystagmus und Fixationsschwäche aut.
Sämtliche Untersuchten waren Abstinenten, die meisten auch
Vegetarier. Der Teilnehmer, bei welchem die Reflexe voll¬
ständig geschwunden waren, hatte schon vor dem Marsche
relativ schwache Reflexe.
Es hat sich uns also bei unseren Beobachtungen gezeigt, dass
derartige Gewaltleistungen keineswegs ohne vorübergehende
Schädigungen des Organismus ertragen werden. Allerdings
ist dabei zu berücksichtigen, dass die Teilnehmer den Marsch
fast ohne die geringste Ruhepause durchführten. Interessant
wäre es, zu beobachten, ob bei vernünftig, d. h. mit Einschal¬
tung von kurzen Ruhepausen, wie dies z. B. die Felddienst¬
ordnung vorschreibt, durchgeführten Märschen bei Leistungen
gleicher Art die von uns beobachteten Störungen auch ein-
treten, oder ob es bei einer leichten (physiologischen) Albu¬
minurie, wie sie L e u b e beobachtet hat, bleibt.
Aus der chirurgischen Klinik zu Leipzig.
Embolische Nekrose der Glutaealmuskulatur.
Von Dr. H. H e i n e k e, Privatdozent und Assistent der Klinik.
Die embolische Verstopfung von Muskelarterien, an deren
häufigem Vorkommen man ia nicht zweifeln kann, scheint, wenn
es sich um blande Emboli handelt, so gut wie niemals klinische
Symptome zu machen. Die ausserordentlich reiche Entwick¬
lung von Kollateralbahnen in den Muskelarterien gleicht offen¬
bar auch bei Verstopfung von grossen Muskdlästen die Zirku¬
lationsstörung in so kurzer Zeit wieder aus, dass es nicht zur
Infarktbildung, geschweige denn zur Nekrotisierung grösserer
Muskelpartien kommt. Mikroskopische Zerfallserscheinungen
in der Muskulatur werden allerdings nach grösseren Embolien
nicht fehlen, aber klinische Erscheinungen sind wir davon nicht
zu sehen gewohnt.
Infizierte Embolien der Muskelgefässe führen zur Bildung
von Muskelabszessen, die man bei pyämischen Prozessen ja
nicht selten beobachtet; zur nekrotischen Ausstossung grös¬
serer Muskelpartien kommt es aber auch bei septischen Em¬
bolien so gut wie niemals. Nur kleinere Muskelsequester —
etwa bis Kirschkerngrösse — werden in metastatischen Muskel -
abszessen hie und da gefunden; Lorenz1) beschreibt z. B.
solche Fälle. Die Sequestrierung eines grossen Muskelstückes
wie in dem hier zu beschreibenden Falle scheint aber bisher
nicht beobachtet oder wenigstens nicht publiziert zu sein. Wir
sahen die Sequestrierung fast des ganzen G 1 u -
taeus maximus im Verlaufe einer Erkrankung, die nur
als Embolie aufgefasst werden kann.
E. L., 31 Jahre. Schaffner.
Anamnese: Pat. hat vor 13 Jahren einen schweren TvdIujs durch¬
gemacht, der aber ohne Komplikationen verlaufen ist. Vor 10 Jahren
Gonorrhoe, die niemals ganz ausgeheilt ist. Vor 6 Jahren schwere
Pneumonie, mit mehrwöchentlichem Krankenlager. Vor 8 Wochen
akut erkrankt mit heftigen Schmerzen in der Zoekalgegend und Er¬
brechen: nach 2 Tagen wieder schmerzfrei. Am 19. Februar d. J.
wieder erkrankt unter den gleichen Erscheinungen, war bis 21. Fe¬
bruar im Krankenhaus und wurde, wieder schmerzfrei, auf seinen
Wunsch entlassen. Bald nach der Entlassung wieder neue Schmerzen,
die seitdem an dauern. Hat trotz der Schmerzen gearbeitet. Auf¬
nahme am 5. 111. 06.
Status nraesens: Grosser, gut genährter, ziemlich kräftiger Man".
Lungen und Herz gesund. Der Leib ist ganz weich und unempfindlich,
nur in der Zoekalgegend bei tiefem Eindrücken etwas schmerzhafte
Empfindung: eine abnorme Resistenz ist nicht zu fühlen.
9. III. 06: Operation in Chloroformnarkose. Schnitt am rechten
Rektusrand. Peritoneum vollkommen reizlos. Der Wurmfortsatz
’) Lorenz: Muskelerkrankungcn in Nothnagels Sammel¬
werk.
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
186'/
liegt ganz frei und ohne jede Spur von Verwachsungen an der nor¬
malen Stelle. Auch am Peritoneum in der Umgehung und am Mesen¬
terium keine Spur alter Entzündungsprozesse. Resektion des Wurm¬
fortsatzes und Uebernähung des Stumpfes, Bauchnaht. Dauer der
Operation: 20 Minuten.
Der resezierte Wurmfortsatz ist nahe der Ansatzstelle striktu riert
und nur für feinste Sonde durchgängig. Peripher von dieser Stelle
ist er sehr stark ausgedehnt und prall gefüllt mit schleimigserösem
Inhalt. Die Wand ist stark verdünnt. Die Serosa und das Mesen¬
terium des Wurmes ohne Veränderungen.
Am Abend nach der Operation tadelloses Befinden. Kein Er¬
brechen.
10. III. 06: Früh 5 Uhr wird der Pat.. der kurz vorher noch ganz
ruhig geschlafen hatte, laut röchelnd und bewusstlos gefunden.
Bei starken Reizen kaum Reaktion. Ausgedehntes Lungenödem,
lautes Rasseln über allen Lungenlappen. Puls leidlich voll, be¬
schleunigt. Am Bauche nichts besonderes nachweisbar.
Gegen Mittag erwacht Pat. ganz allmählich aus dem Koma und
ist am Abend wieder fast ganz klar. Das Lungenödem ist zurück¬
gegangen und nur noch auf der linken Seite stärker ausgesprochen.
Starke Dyspnoe und Zyanose. Reichlich blutigschaumiges Sputum.
Eine Parese der Extremitäten ist nicht nachweisbar, doch fällt eine
leichte Erschwerung der Sprache und häufiges Versorechen
auf. Der Puls ist wesentlich kleiner und weicher als am Morgen.
Temperatur: 39,2. Digaleti intravenös; Kampher.
11. III.: Sensorium frei. Pat. sehr matt, aber Puls viel besser.
Noch zeitweise Rasseln und reichlich blutigschaumiges Sputum. Am
Bauche nichts besonderes.
12. III.: Allgemeinbefinden leidlich, aber immer noch zeitweise
leichte Attacken von Lungenödem mit starker Dyspnoe. Sputum
schaumigserös, nur wenig rötlich gefärbt. Puls gut. Temperatur
normal.
13. III. : Pat. hat ausgedehnte Infiltrate in beiden
Unterlanpen: eigentliches Infarktsputum ist nie beobachtet.
Sensorium frei. Es besteht noch immer eine leichte Sprach¬
störung. in häufigem Versprechen sich äussernd. Pat. macht
heute auf eine leichte Parese des rechten 4. und 5. Fin¬
gers aufmerksam, die bisher nicht bemerkt worden war. Klagt
zeitweise über starke Kopfschmerzen. Die Bauchwunde reaktionslos.
Pat. klagt über Schmerzen in der Olutäalgegend.
Die Haut ist im Gebiete beider Glutäen leicht blau
verfärbt: die tieferen Weichteile sind beiderseits
in ganzer Ausdehnung der Glutäalmuskeln. rechts
etwas stärker als links, derb infiltriert und auf Druck
empfindlich.
15. III. 06. Die Schwellung und Infiltration der Glutäalregion
hat noch etwas zugenommen. Die Haut ist im 7entrum ganz ober¬
flächlich etwas wund. Temperatur abends 38.0°.
20. III. 06. Zustand der Glutäalgegend ziemlich unverändert.
Der oberflächliche Dekubitus hat keine Fortschritte gemacht: die
derbe und druckempfindliche Infiltration der tieferen Weichteile und
die blaue Verfärbung bestehen noch.
Die Lungenerscheinungen stehen jetzt ganz im Vordergrund. Im
Gebiete beider Unterlanpen Infiltration und Bronchialatmen, kein In¬
farktsputum. dagegen viel schleimigeitriger Auswurf. Starke Dyspnoe,
Hustenreiz. Stiche in beiden Seiten.
Die Snrachstörune ist verschwunden, das Sensorium ist voll¬
kommen klar. Die leichte Parese des rechten 4. und 5. Fingers ist
unverändert.
Puls stark beschleunigt, sehr weich. Beide Beine gleichmässig
etwas ödematös: Thrombosen sind nicht nachweisbar. Temperatur
steigt abends bis 39.5 °.
Die Bauchwunde ist ganz per nrimam geheilt.
23. III. 06. In beiden Pleurahöhlen ist neben der Infiltration der
UnterlaDnen ein Erguss nachweisbar, der hinten bis zum Ang. scap.
heranfreioht. Vorne beiderseits lautes nleuritisches Reiben.
26. IH. 06. Die Temneratur schwankt dauernd um 39°. Das
Exsudat in der rechten Pleura ist zurückgegangen. Links ist das
Exsudat grösser geworden.
Allgemeinbefinden schlecht, sehr kleiner, stark beschleunigter
Puls, starke Dvspnoe. Zyanose.
Die Infiltration der Glutäalgegend e.n besteht noch
immer ziemlich unverändert weiter. Der oberflächliche De¬
kubitus ist nicht grösser geworden.
Die Parese der rechten Hand ist kaum mehr nachweisbar.
27. IIT. 06. Probepunktioti der linken Pleura ergibt stin¬
kenden Eiter. Resektion eines Stückes der 10. Rinne in der
hinteren Axillarlinie. Entleerung von über 1 Liter stinkenden Eiters.
31. ITT. 06. Pat. hat siejr nach der Entleerung des Emnvems
schnell erholt. Noch sehr starke jauchige Sekretion aus der Pleura.
Die Infiltration und Schmerzhaftigkeit der rechten Glutäalregion
nimmt langsam ab. Links ist der Zustand unverändert. Temperatur
noch immer zwischen 37 und 38°.
5. IV. 06. Allgemeinbefinden und Herztätigkeit wesentlich ge-
bossert. Die Sekretion aus der Pleura lässt nach. Temperatur
abends noch 39.4°.
Die Infiltration in der rechten Glutäalregion ist
fast ganz zurückgegangen: nur in der Tiefe ist noch ein
kleines Infiltrat nachzuweisen, ausserdem eine oberflächliche Haut¬
erosion. Auf der linken Seite hat die Schwellung und
Infiltration in den letzten Tagen zugenommen, im
Zentrum der Schwellung ist Fluktuation nachweisbar. I n -
z i s i o n entleert ca. Vz Liter dicken geruchlosen
Eiter. Drainage.
7. IV. 06 : Aus der Inzisionswunde in der linken
Glutäalgegend entleeren sich kleine nekrotische
Fetzen; Erweiterung der Inzision und breite Frei¬
legung der grossen in der Muskulatur gelegenen
Abszesshöhle. In derselben liegt vollkommen lose
ein fast faustgrosser nekrotischer Muskelse¬
quester.
20. IV. 06. Pat. hat sich ausgezeichnet erholt und hat sehr an
Gewicht zugenommen. Temp. immer normal. Die Empyemhöhle
hat sich sehr verkleinert und sezerniert nur noch wenig. Der Glu-
täalabszess ist fast ausgeheilt.
15. V. 06. Die Empyemhöhle ist geschlossen, die Wunde geheilt.
Auch der Glutäalabszess ist ganz ausgeheilt.
Die Motilität der rechten Hand ist wieder ganz normal, doch
klagt Pat. noch über Kältegefühl in der rechten Hand.
2. VI. 06. Geheilt und ganz beschwerdefrei entlassen.
Es handelt sich hier also um das Auftreten multipler Em¬
bolien wenige Stunden nach einer ganz unkomplizierten und
glatt verlaufenen Resektion des Wurmfortsatzes im anfalls¬
freien Intervall und zwar um Embolien in beiden Lungenunter¬
lappen, im Gehirn und in der Glutäalmuskulatur auf beiden
Seiten. Dass die Lungen- und Gehirnerscheinungen nur als
embolische gedeutet werden können, kann keinem Zweifel un¬
terliegen, ich glaube aber auch die Affektion an den Glutäen
bestimmt als embolische auffassen zu müssen. Allerdings sind
die Veränderungen am Gesäss erst 3 Tage nach dem Auftreten
der anderen Embolien bemerkt worden, das erklärt sich aber,
weil der Kranke einen Tag lang bewusstlos und auch in den
nächsten Tagen noch äusserst apathisch und hinfällig war.
Dabei ist die Glutäalgegend natürlich in den ersten Tagen nicht
untersucht worden, um den Patienten nicht zu bewegen. Um
einen Dekubitus kann es sich nicht gehandelt haben; dagegen
sprechen verschiedene Gründe: die von Anfang an bestehende
und sicher nicht erst von dem Tage der Untersuchung da¬
tierende. ausgedehnte Infiltration der ganzen Glutäalregion.
ferner das Intaktbleiben der Haut — nur die Epidermis war
etwas erodiert — , endlich das später erfolgende Ausstossen
des grossen Muskelsequesters. Ein solches Verhalten be¬
obachten wir bei Dekubitus nie. Es scheint mir demnach keine
andere Erklärung möglich als die einer Embolie der die Glu¬
täalmuskeln versorgenden Arterien, also der Arteriae glut. supp,
und inff., eventuell auch eine Verstopfung des Stammes der
Arteriae hypogastricae. Auffallend bleibt ja allerdings die
Doppelseitigkeit der Affektion, lässt sich aber doch nicht mit
Bestimmtheit gegen die Annahme einer Embolie ins Feld
führen.
Aus welchem Grunde ist es nun in diesem Falle zur Se¬
questrierung der von der Embolie befallenen Muskelpartien
gekommen, während man dies Verhalten sonst niemals be¬
obachtet, andererseits aber doch an dem häufigen Vorkommen
von Muskelembolien nicht zweifeln kann? Verschiedene Mo¬
mente werden dabei wohl zusammengewirkt haben; in erster
Linie dürfte das Darniederliegen der Zirkulation bei dem in¬
folge der schweren Lungenembolien fast moribunden Patienten
dafür verantwortlich zu machen sein, in zweiter Linie der me¬
chanische Druck auf die erkrankte Partie durch die Lage des
Patienten: beide Momente müssen der Ausbildung eines- Kol-
lateralkreislaufes hinderlich gewesen sein und die Nekroti¬
sierung begünstigt haben.
Ob die Eiterung wesentlich bei der Sequestrierung des
Glutäus mitgewirkt hat, ist zweifelhaft; die Eiterung ist wahr¬
scheinlich erst eine sekundäre, der Embolus selbst sicher nicht
infektiös gewesen. Denn einmal fehlt ja jeder Anhaltspunkt
für das Bestehen einer infektiösen Thrombose, da das Opera¬
tionsgebiet vollkommen aseptisch war und zweitens sind ja auch
die Embolien im Gehirn und in der rechten Lunge ohne Eite¬
rung verlaufen. Die Entstehung der Eiterung im linken Glutäal-
gebiet dürfte also so zu erklären sein, dass zuerst von der
Lunge aus eine Infektion der linken Pleura erfolgt ist und erst
von hier aus Infektionserreger in die nekrotisierte Glutäal-
MUENCHENER MEDIZINISCEIE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
1 868 1
muskulatur übertragen worden sind. Dieser Annahme ent¬
spricht auch der ganze Verlauf.
Als Ausgangspunkt der Embolie können nur in Frage
kommen das Gebiet der Cava inf. und das Herz; weder für
das eine noch für das andere liegt der geringste Anhaltspunkt
vor: Thrombosen waren in den Schenkelvenen nicht nachweis¬
bar und das Herz war klinisch ganz gesund.
Vielleicht haben Thromben in den Venen des kleinen
Beckens Vorgelegen, die sich ja meist unserem Nachweis ent¬
ziehen. Ganz ungewöhnlich ist allerdings das Entstehen von
solchen Thrombosen und von Embolien schon wenige Stunden
nach einer Operation, noch dazu nach einem so glatt und schnell
verlaufenen Eingriff, bei einem vorher nicht bettlägerigen Pa¬
tienten. Bekanntlich sieht man Embolien in der Regel erst
mehrere Tage nach der Operation, sehr häufig erst viel später
auftreten.
Das gleichzeitige Einsetzen von Embolien im kleinen und
grossen Kreislauf muss durch ein offenes Foramen ovale er¬
klärt werden, wenn man nicht auf die Annahme von Throm¬
bosen in beiden Herzhälften zurückgreifen will.
Aus dem Institut für chirurgische Pathologie der K. Universität
in Pavia.
Brucheinklemmung der Appendices epiploicae und ihre
Folgen.
Klinische Mitteilung von Prof. G. Muscatello.
In zwei neuerdings in der Münch, med. Wochenschr. er¬
schienenen Artikeln haben zwei erfahrene deutsche Chirurgen,
Riedel und v. Bruns, die Aufmerksamkeit der Praktiker
auf die bisher fast gänzlich vernachlässigt gebliebene Patho¬
logie der Appendices epiploicae gelenkt.
Riedel1) weist auf die praktische Bedeutung hin, welche
die intra- und extraabdominale (herniäre) Drehung der Appen¬
dices epiploicae als direkte oder indirekte Ursache von in der
Form, dem Grade und den Folgen verschiedenen Krankheits¬
erscheinungen hat.
Als direkte Ursache, indem der keulenförmige Endteil der
gedrehten Appendix epiploica infolge von Nekrose des Stiels
sich lostrennen und dann, als freier Fettkörper in der Bauch¬
höhle, bald unbestimmte, in unregelmässigen Intervallen auf¬
tretende Schmerzen, bald heftige, den biliären oder appendiku-
lären ähnliche Kolikanfälle, bald Peritonitiserscheinungen und
wahrscheinlich auch eine tödliche Peritonitis purulenta (ob¬
gleich Beweise zu gunsten. dieser letzteren von ihm an¬
genommenen Eventualität bisher weder von Riedel selbst
noch von anderen beigebracht worden sind) veranlassen kann.
Als indirekte Ursache, indem die gedrehte Appendix epi¬
ploica oder ihr Stiel (nachdem sich die Pars terminalis los¬
getrennt hat), mit einem benachbarten Organ (dem Darm, dem
Mesenterium, der anderen Appendix epiploica, dem parietalen
Peritoneum usw.) verwachsend, günstige Verhältnisse zur Ein¬
klemmung einer Darmschlinge schaffen können. Hierfür sind
undiskutierbare klinische Beweise vorhanden.
Endlich kann es geschehen, dass die Drehung der Appen¬
dices epiploicae innerhalb des Sackes einer äusseren Hernie
stattfindet, oder dass die abgedrehtc Pars terminalis derselben
in den Brucksack eindringt und hier als freier Körper verbleibt,
ln dem einen wie in dem anderen Falle kann der Patient mehr
oder weniger schwere Erscheinungen (Schmerzen, Bruchent-
ziindungssymptome) aufweisen.
Dies, in kurzer Zusammenfassung, die Riedel sehe Mit¬
teilung. Um unsere noch sehr unvollkommenen Kenntnisse
über die Pathologie der Appendices epiploicae nach einer neuen
1 ) Riedel: Ueber die Drehung der Appendices
epiploicae und ihre Folgen (Münch, med. Wochenschr.
19U5, No. 48, S. 2308. Der Fall von intrasakulärer Drehung einer
Appendix epiploica, den Lorenz am 15. Dezember 1905, zwei
Wochen nach Veröffentlichung des R i e d e 1 sehen Artikels, der K.
K. Gesellschaft der Aerzte in Wien mitteilte, lasse ich absichtlich un¬
berücksichtigt. Der Fall ist nicht beweiskräftig; mit demselben
werde ich mich in einer weiteren Mitteilung, die demnächst der vor¬
liegenden folgen soll, beschäftigen.
Richtung hin zu vermehren, kommt v. Bruns2) mit der Mit¬
teilung eines Falles von isolierter Brucheinklemmung einer
Appendix epiploica. Er behauptet, dass in der medizinischen
Literatur bisher kein Fall vorkomme, der dem seinigen ähnlich
sei, dessen praktische Bedeutung, hinsichtlich der Prognose,
hauptsächlich in der Gefahr bestehe, dass die Einklemmung die
Gangrän der Appendix epiploica veranlasse, mit der möglichen
Folge einer eitrigen oder auch jauchigen Bruchentzündung.
Zur Kenntnis der Brucheinklemmung von Appendices epi¬
ploicae und ihrer Folgen bin ich in der Lage, mit zwei von mir
selbst beobachteten klinischen Fällen beizutragen. Der eine be¬
trifft die akute Brucheinklemmung von Appendices epiploicae
allein und ist dem v. Bruns sehen Falle, dem einzig in der
Literatur dastehenden, sehr ähnlich. Der andere, komplizier¬
tere, tut etwas kund, dessen die zitierten Autoren nicht Er¬
wähnung tun: nämlich die tardive Manifestation von lokalen
anatomischen und funktionellen Veränderungen infolge einer
Brucheinklemmung von Appendices epiploicae, auch in Fällen,
in denen diese sich spontan gelöst und keine erheblichen akuten
lokalen Erscheinungen dargeboten haben.
I. Fall. Johanna Cr. aus Semiana, 56 Jahre alt, verheiratet,
■ wurde am 6. März 1905 in die klinische Abteilung des Instituts für
chirurgische Pathologie aufgenommen.
Nach ihrer Aussage war sie vorher nie krank gewesen und hat
auch nie bemerkt, dass sie an Bruch leide.
Vor 2 Tagen wurde sie, ohne scheinbare Ursache, während
sie die häuslichen Geschäfte besorgte, von heftigen Schmerzen in
der linken Leistenschenkelgegend befallen, die in kurzem sich über
den ganzen Bauch erstreckten und rasch derart Zunahmen, dass sie
nach wenigen Stunden nicht mehr zu gehen und sich aufrecht zu er¬
halten vermochte und gezwungen war, sich zu Bette zu legen. Der
Bauch schwoll indessen nicht auf, Erbrechen fand nicht statt, nur
Darmgase wurden hin und wieder ausgestossen und am darauffolgen¬
den Morgen kam es zu einer spontanen Stuhlentleerung. Da aber die
Schmerzen den Tag und die Nacht über, trotz offenen Stuhls, unver¬
ändert anhielten, wurde am Morgen des zweiten Tages (ungefähr
40 Stunden nach Auftreten der Schmerzen) der Arzt gerufen, der die
Diagnose auf eingeklemmten Schenkelbruch stellte und die Patientin
in aller Eile ins Krankenhaus schickte.
Bei ihrer Aufnahme in die Klinik klagt Patientin noch immer
über Schmerzen in der linken Leistenschenkelgegend, Schmerzen,
die sich über den Bauch, besonders über den ganzen linken unteren
Quadranten ausbreiten und nach der Nabelgegend und dem linken
Hypochondrium hin ausstrahlen. Ausser etwas Unruhe ist der All¬
gemeinzustand der Patientin ein guter, kein Erbrechen, Unterleib
offen für die Gase, Puls voll, rhythmisch, 86; Temperatur normal;
Harn normal. Bauch nicht aufgeschwollen, weich, dem Drucke nach¬
gebend; bei mässigem Druck nimmt der Schmerz in der spontan
schmerzenden Zone etwas zu. In der linken Schenkelgegend, gleich
unterhalb des Ligamentum inguinale, findet sich eine hühnereigrosse,
mit normal aussehender Haut bedeckte, glitscherige Masse, die sich
mittelst Falte in die Höhe heben lässt. Die Masse ist elastisch ge¬
spannt, gelappt wie eine Fettgewebsmasse; der auf sie ausgeübte
Druck ruft heftige lokale Schmerzen hervor, die nach dem Bauche
hin ausstrahlen; sie lässt sich nicht verschieben und setzt sich in einen
Stiel fort, der in den Schenkelring ausläuft; sie lässt sich nicht redu¬
zieren und nimmt bei Husten nicht an Volumen zu.
Da die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf Hernia cruralis epiploica
incarcerata lautet, nehme ich sogleich unter lokaler Kokainadrenalin¬
anästhesie, die Operation vor. Ich stosse auf ein präseröses Lipom,
das einen dünnen, walnussgrossen Bruchsack vollständig umgibt und
mit diesem verwachsen ist. Der Bruchsack enthält etwas klare, ge¬
ruchlose, zitronengelbe Flüssigkeit und zwei länglich runde Fett¬
körper, von denen der eine 2 cm, der andere ungefähr lYa cm in der
Länge misst und die das Aussehen von Appendices epiploicae haben
und mit einem dünneren Stiel endigen, der sich in den Mund des
Sackes nach der Peritonealhöhle schiebt. Von den beiden Fett¬
körpern hat der eine eine rotgelbe, der andere (grössere), infolge von
Stase und hämorrhagischer Infiltration, eine dunkelbraune Färbung.
Ich mache einen Einschnitt in die sehr enge Bruchpforte (Herniotomia
operta), worauf sich der nicht verdickte Sackhals leicht ausbreiten
lässt, und man sieht nun, dass die Körper wirklich zwei an der Basis,
ungefähr Va cm von ihrer Insertion an der Wand des Colon sig-
moideum eingeklemmte Appendices epiploicae sind; am Stiel weisen
sie keine Spur von Drehung auf. Den Darm herausziehend, sehe ich,
dass seine Serosa, um die Insertionsstelle der dunkelbraun gefärbten
Appendix herum, etwas hyperämisch ist, während sie an der In¬
sertionsstelle der anderen Appendix keine Zirkulationsstörungen auf¬
weist.
2) v. Bruns: Brucheinklemmung einer Appendix epiploica
(Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 2, S. 16).
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1869
Abtragung der beiden Appendices nach Unterbindung des Stiels,
Reposition des Darms, Abtragung des Sackes und Verschliessung der
kruralen Bruchpforte nach B a s s i n i.
Die Schmerzen hören sofort auf. Die Wunde heilt durch pri¬
märe Vereinigung.
Dieser Fall und der v. Br uns sehe, die beiden einzigen
bisher beschriebenen Beobachtungen von isolierter Bruchein¬
klemmung von Appendices epiploicae, sind, wie ich schon sagte,
einander sehr ähnlich. Sie unterscheiden sich nur darin von
einander, dass es sich in meinem Falle um Kruralhernie
mit seit zwei Tagen datierenden Beschwerden handelte,
während in dem v. Bruns sehen Falle eine' Leisten¬
hernie vorlag und die Beschwerden seit acht Tagen
datierten. Ausgenommen diesen kleinen Unterschied, stimmen
die beiden Beobachtungen fast vollkommen überein.
In jedem der beiden Fälle handelte es sich um eine im
reifen Alter stehende (55 — 56 jährige) Frau, die vorher nicht
bemerkt hatte, dass sie an Bruch leide. In beiden Fällen be¬
standen die Beschwerden in plötzlichem Auftreten und Per¬
sistenz der Bauchschmerzen, ohne Meteorismus, ohne Er¬
brechen, ohne Erscheinungen von Darmverschluss. In beiden
Fällen war der (Leisten- resp. Schenkel-) Bruch auf der linken
Seite. Beide Hernien enthielten eine resp. zwei durch eine
ganz enge Bruchpforte eingeklemmte Appendices epiploicae
des Colon sigmoideum. In meinem Falle sprechen das Vor¬
handsein eines verhältnismässig grossen präserösen Lipoms,
sowie der kleine dünnwandige Sack mit nicht verdicktem Sack¬
hals für die rezente Bildung eines Bruchsackes durch Traktion,
in welchen, vielleicht während einer kleinen, nicht in Betracht
gezogenen Anstrengung, zwei Appendices epiploicae ein¬
drangen und durch die elastische Konstriktion der engen
Bruchpforte eingeklemmt wurden.
Der Symptomenkomplex, der ein ähnlicher ist wie bei
Inkarzeration des Epiploon, der Tube, des Wurmfortsatzes
(die bekanntlich auch linkerseits beobachtet wurde) und wie
bei Einklemmung eines Darmwandbruchs, vermag kein Moment
zu einer sicheren Diagnose zu geben.
Was indessen die Prognose betrifft, muss ich gänzlich
v. Bruns beistimmen und gleich ihm auf die praktische Be¬
deutung der Einklemmung der Appendices epiploicae hin-
weisen, die in diesen Gangrän hervorrufen kann, mit nach¬
folgender eiteriger oder jauchiger Bruchentzündung. In seinem
Falle war eben die Appendix epiploica gangränös und die
Bruchhöhlen wiesen entzündliche Veränderungen auf, die sich
bis zur Haut erstreckten, letztere war gerötet und ödematös.
Aber auch wenn es nicht zu solchen äussersten akuten
Manifestationen kommt, kann die Brucheinklemmung der Ap¬
pendices epiploicae doch Ursache von tardiv auftretenden lo¬
kalen Veränderungen sein. Hierfür ist der folgende Fall ein
Beleg.
II. Fall. Ludwig Ma. aus Barbianello, Bauer, 32 Jahre alt, hat
keine erwähnenswerte Krankheit durchgemacht und in früherer Zeit
nicht bemerkt, dass er an Bruch leide. Vor sechs Monaten,
während er auf dem Felde arbeitete, verspürte er, wie es scheint,
infolge einer Anstrengung, in der linken Leistengegend einen heftigen
Schmerz, der einige Tage lang in ziemlich starkem Grade anhielt,
nach dem Nabel ausstrahlend, und in gewissen Augenblicken so lästig
wurde, dass Patient (von durchaus nicht zarter Empfindlichkeit)
mehrmals die Arbeit einstellen musste. Nach etwa einer Woche
nahm der Schmerz allmählich ab, bis er, gegen Ende der darauf¬
folgenden Woche, ganz aufhörte.
Fast einen Monat nach Aufhören des Schmerzes tat sich in der¬
selben Leistengegend eine kleine, etwa mandelgrosse Schwellung
kund, die weder spontan noch bei Druck schmerzte und dem Patienten
durchaus keine Beschwerden verursachte. Die Schwellung nahm,
trotz Gebrauch eines Gürtels, langsam aber fortschreitend an Vo¬
lumen zu und erreichte in etwa vier Monaten die gegenwärtige
Grös&D. Beim Aufrechtstehen vergrössert sie sich und verursacht
dem Patienten ein sehr lästiges Gefühl von Schwere; beim Ruhen
tritt sie spontan in den Bauch zurück
Bei der lokalen Untersuchung konstatiert man eine freie Hernia
inguinoscrotalis obliqua externa enteroepiploica von länglicher Zy¬
linderform, die durch eine seichte Querfurche in zwei Lappen geteilt
ist: der obere Lappen befindet sich in der Leistengegend, der untere
steigt ins Skrotum hinab bis fast auf den Boden und ist durch eine
Furche vom Hoden getrennt. Die Haut ist leicht gespannt, sonst
normal. Die Schwellung ist von weichelastischer Konsistenz, steht
mit dem Hoden nicht in Beziehung, vergrössert sich beim Husten,
lässt sich leicht in Totalität in den Bauch zurückbringen, gibt einen
leicht tympanitischen Schall, ist nicht transparent. Die Wandung des
Leistenkanals ist schwach; der äussere Leistenring gestattet die Ein¬
führung von zwei Fingern.
Am 9. Dezember 1905 nehme ich die R a d i k a 1 o p e r a t i o n
vor. Bruchsack gross, zylinderförmig, dünnwandig, aussen ohne
Fettgewebe, an den Elementen des Samenstranges adhärierend.
Während sich der Sackhals an seinem vorderen Teile leicht los¬
trennen lässt, gelingt es mir nicht, ihn an seinem posteromedialen
Teile zu isolieren, welcher, verdickt, infiltriert und von speckartigem
Aussehen, der Bruchpforte fest anhaftet und bei den Lostrennungs¬
versuchen zerreisst.
Nach Eröffnung des Sackes und Reposition eines darin ent¬
haltenen freien Netzlappens konstatiere ich, dass die Sacköffnung so
weit ist, dass man drei Fingerspitzen hineinstecken kann.
Dem posteromedialen Rande des Sackhalses haftet an der Innen¬
fläche ein länglicher, rotgelb gefärbter, mit kleinen Hämorrhagien
besäter Fettkörper fest an, den man leicht als eine Appendix epi¬
ploica erkennt; die Basis desselben weist, in Yz cm Entfernung von der
Insertion am Colon sigmoideum, eine Einklemmung auf, die genau in
der Höhe des inneren Sackhalsrandes liegt. Auch die Wand des
Colon sigmoideum haftet, an ihrem dem Meso benachbarten Teile,
auf einer ungefähr 3 cm langen Strecke, dem Sackhalsrande und
einige Zentimeter weit oberhalb des Sackhalses, dem parietalen Peri¬
toneum der Fossa iliaca fest an. Die übrige Wand des Colon sig¬
moideum hat normales Aussehen.
Ein anderer länglicher, birnenförmiger, braungelber Fettkörper
haftet mit seinem dünnen, spitz auslaufenden und gegen den Sack¬
hals gerichteten Stiel, Yz cm unterhalb des Sackhalses, der inneren
Fläche des Sackes an; auch er lässt sich leicht als eine losgetrennte
Appendix epiploica erkennen.
Das Colon sigmoideum lässt sich von dem Sackhalse und dem
parietalen Pertoneum wegen der festen Verwachsung und der Zer-
reissbarkeit der Darmwand und des Sackhalses, die beide entzündlich
infiltriert sind, nur schwer lospräparieren. Nach Reposition des
Darmes muss ich, da der hintere Sackhalsrand sich nicht von der
Bruchpforte lostrennen lässt, mich damit begnügen, den Sackhals
mittelst einer fortlaufenden Naht in situ zu verschliessen. Hierauf
isoliere und entferne ich den Rest des Sackes, dessen Boden der
Tunica vaginalis testis so fest anhaftet, dass diese bei der Lospräpa-
rierung zerreisst und mit einigen Nähten verschlossen werden muss.
In der Mitte seines Körpers weist der Sack eine durch ein durch-
lochtes membranöses Septum erzeugte Verengerung auf, welche bei
der Untersuchung die Bruchgeschwulst als aus zwei Lappen be¬
stehend erscheinen Hess.
Wiederherstellung des Leistenkanals nach B a s s i n i. Primäre
Vereinigung der Wunde.
Dieser zweite Fall ist etwas komplizierter als der erste
und deshalb habe ich ihn auch ausführlicher beschrieben; denn
wenn die kleinsten Einzelheiten auf den ersten Blick über¬
flüssig scheinen konnten, so waren sie in Wirklichkeit zum ge¬
nauen Verständnis der Affektion und zur Erklärung der kli¬
nischen Erscheinungen doch notwendig.
Zwei Appendices epiploicae des Colon sigmoideum waren
durch feste bindegewebige Verklebungen an den Hals eines
Bruchsackes von offenbar kongenitalem Ursprung geheftet (der
Bruchsack war zylindrisch, dünnwandig, adhärierte an den
Elementen des Samenstranges, hatte kein subseröses Fett, hing
mit der Tunica vaginalis testis zusammen, war durch ein durch-
lochtes membranöses Septum in der Quere geteilt). Die eine
Appendix war gänzlich vom Darme losgetrennt, die andere
hing noch mit ihm zusammen, und nahe der Basis dieser letz¬
teren adhärierte auch die Wand des Darms (Colon sigmoideum)
am Sackhalse und, oberhalb desselben, am parietalen Peri¬
toneum. Der weite Sackhals erschien noch in seinem postero¬
medialen Teile (nahe seiner Adhäsion an der Appendix epiploica
und dem Darme) entzündlich infiltriert.
Bringen wir nun die vom Patienten aufgewiesenen kli¬
nischen Symptome mit dem bei der Operation gemachten Be¬
fund in Beziehung, so können wir uns über die Pathogenese und
den Verlauf der Affektion im vorliegenden Falle Rechenschaft
geben, da der bestimmende Anteil, den dabei die Appendices
epiploicae gehabt haben, sich ganz deutlich ergibt.
Bei dem 32 jährigen Patienten war die ganze Pars funi-
cularis des Canalis vaginalis peritonei offen geblieben und kom¬
munizierte mit der Bauchhöhle durch eine Oeffnung, die sehr
eng sein musste, da sie — in 32 Jahren und trotz des mühsamen
Berufs des Patienten — nie gestattete, dass ein Bauchein¬
geweide in den Sack eindränge, und deshalb hatte sich nie eine
äussere Hernie gebildet.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
1870
Die Erscheinungen, die vor 6 Monaten, wie es scheint in¬
folge einer Anstrengung, ganz plötzlich auftraten (Schmerzen
usw.) gleichen (wenn auch in massigerem Grade) den von
meinem I. und vom v. Bruns sehen Falle aufgewiesenen und
müssen als die klinische Manifestation der Einklemmung von
im Augenblick der Anstrengung in die enge Sackhalsöffnung ein-
gedrungenen Appendices epiploicae gedeutet werden. Und die
verhältnismässige Milde der Symptome, sowie ihr Zurück-
gehen und das Fehlen weiterer akuter Komplikationen lassen
cs als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass die Einklemmung
in diesem Falle durch den engen Sackhals und nicht durch die
ßruchpforte bedingt war.
Diesen Beginn vorausgesetzt, erklärt sich der weitere
Verlauf der Krankheit. Infolge der Zirkulationsstörungen, die
in den eingeklemmten Appendices stattfanden, entwickelte sich
in ihnen ein mässiger Entziindungsprozess, der, auf den Sack¬
hals und die Darmwand übergreifend, bewirkte, dass diese
Teile miteinander verwuchsen. Die Infiltration und das ent¬
zündliche Oedem des Sackhalses, die sich auf die Bruchpforte
verbreiteten, machten diese Teile widerstandsfähig gegen den
endoabdominalen Druck, zumal da das Colon sigmoideum, das
mit dem Sackhalsrande verwachsen war, den bei jeder An¬
strengung zunehmenden abdominalen Druck leichter fort¬
pflanzte. Und so erweiterten sich der Sackhals und die Bruch¬
pforte, immer mehr nachgebend, nach und nach derart, dass sie
das Eindringen von Epiploon oder einer Dünndarmschlinge in
den Sack gestatteten, worauf die Baucheingeweide, die Bruch¬
inhalt geworden waren, den Sackhals, die Bruchpforte und den
kongenitalen dünnwandigen Bruchsack rasch ausdehnten. Auf
diese Weise kam in kurzer Zeit die voluminöse Hernia entero-
epiploica zustande, die zu unserer Beobachtung gelangte.
Wenn nun auch — kurz zusammengefasst — in diesem
Falle das Eindringen der Appendices epiploicae in den Bruch¬
sack und deren Einklemmung keine jener vorhin erwähnten
schweren akuten Folgen bewirkte, so war es doch Ursache
einer subakuten entzündlichen Veränderung des Halses bei
einem kongenitalen aber bis dahin leer gebliebenen Bruchsack.
Und diese entzündliche Veränderung, die sich auf die Gewebe
der Bruchpforte fortpflanzte, bewirkte, dass der Sackhals und
die Bruchpforte, indem sie weniger resistent gegen den abdo¬
minalen Druck wurden, das Eindringen vor Baucheingeweiden
in den Sack und das Zustandekommen einer voluminösen
äusseren Hernie gestatteten.
Meine oben dargelegten klinischen Beobachtungen be¬
stätigen also und erweitern die v. B r u n s sehen.
Einerseits bringen sie einen neuen Beweis herbei, dass eine
Brucheinklemmung von isolierten Appen¬
dices epiploicae wirklich vor kommt, deren
Symptomenkomplex indessen nichts Charakteristisches dar¬
bietet, weil er dem von der Einklemmung des Epiploon, des
Wurmfortsatzes, der Tuba uterina oder eines Darmwand-
bruches gegebenen ähnlich ist.
Andererseits stellt mein zweiter Fall eine neue (von
Anderen bis jetzt noch nicht wahrgenommene) klinische Tat¬
sache fest, dass nämlich die Brucheinklemmung der
Appendices epiploicae, auch wenn sie, ohne
unmittelbare schwere lokale Wirkungen (auf
welche v. B r u n s mit Recht die Aufmerksamkeit lenkt) her¬
vor z u b r i n g e n, sich spontan löst, doch immer
tardiv auftretende sekundär eVeränder ungen,
wie Verwachsung des Darmes mit de m Sack-
halse, Nachgeben des Sackhalses und der
Bruch pforte und Zustandeko m men einer äus¬
seren Hernie oder rasche Volumszunahme eines schon
zustande gekommenen Bruches, als Folge haben kann.
Wenn wir bedenken, wie relativ häufig, unter normalen
Verhältnissen, die Appendices epiploicae, besonders die des
Colon sigmoideum, eine verhältnismässige Länge aufweisen,
und wenn wir andererseits in Anschlag bringen, wie leicht die
Pars pelvica des Colon sigmoideum sicli verschiebt, so scheint
es uns sehr wahrscheinlich, dass das Eindringen von Appen¬
dices epiploicae in leere Bruchsäcke und ihre Einklemmung
(besonders in mit kleiner Oeffnung versehenen kongenitalen
Säcken) häufiger Vorkommen müsse als bisher wahrgenommen
wurde. Und ich bin der Meinung, dass, wenn die Chirurgen
ihre Aufmerksamkeit, mehr als es bisher geschehen, auf die
Veränderungen der Appendices epiploicae mit Bezug auf die
äusseren Hernien lenken, die Pathologie dieser Organe viel¬
leicht in kurzer Zeit sich mit neuen klinischen und anatomischen
Daten bereichern wird.
Aus der akademischen Kinderklinik in Köln.
Ein Fall von Masernübertragung durch eine gesunde
Mittelsperson auf weite Entfernung.
Von F. S i e g e r t.
Die Möglichkeit der Uebertragung der Masern auf grössere
Entfernung erscheint schon deshalb gering, weil der Krank¬
heitserreger so wenig resistent ist, dass einige Stunden des
Durchzugs zur sicheren Desinfektion eines vorher von Masern¬
kranken belegten Zimmers nach Ansicht der kompetentesten
Kenner genügen. Dass eine Uebertragung durch Gesunde auf
kürzeste Entfernung, etwa über einen Korridor möglich ist, wird
von französischen Autoren (B a r d, C o m b y, Graueber,
Sevestre) als erwiesen angesehen, aber als seltene Aus¬
nahme bezeichnet. Bei uns erklärt Wasserfuhr (Berl. klin.
Wochenschr. 1886) die Uebertragung durch Dritte für ausge¬
schlossen, von den Lehrbüchern sagen H e n o c h und H e u b -
n e r nichts über diesen Punkt, Baginsky, Riedert-
Fischl, Uffelmann-Bendix, Gerhardt-Seiffert
halten die Uebertragung durch Gesunde aus der Umgebung für
erwiesen, ohne Beweise anzuführen. B e n d i x nennt als Be¬
weis den Erreger der Panumschen Epidemie, der in Kopen¬
hagen infiziert, auf den Faroerinseln aber selbst als erster
erkrankte. P a n u m glaubte in wenigen Fällen damals eine
Uebertragung durch Gesunde , .augenscheinlich“ gesehen zu
haben. Bohn in Gerhardts Handbuch Jbezieht sich darauf
und erklärt diese Uebertragungsart für selten, aber nimmer¬
mehr zu leugnen (1877). Im neuen ,, Handbuch der Kinderheil¬
kunde“ sagt Moser: es ist nicht möglich, den Masernerreger
durch Mittelpersonen oder mit Hilfe von Gegenständen a u f
weite Entfernung lebend zu übertragen ; etwas später
allerdings: Uebertragung erfolgt auch durch Mittelpersonen,
also wohl auf kurze Entfernung. Die gleiche Anschauung ver¬
tritt Comby im Traite des Mal. de l’enfance.
Eine einzige positive Beobachtung finde ich in der Se-
maine medicale 1885 von Dr. J o e 1 in Lausanne. Ein Mädchen
seiner internen Abteilung — eine Infektionsabteilung war nicht
in seinem Hospital — erkrankt an Masern. Bei genauer Unter¬
suchung ergibt sich, dass am typischen Infektionstag der Vater
das Kind besucht hat, der am gleichen Tage zwei Geschwister
mit Masern im Floritionsstadium zu Hause pflegte. Ein zweiter,
sicherer Fall ist der folgende:
Anna Z., geb. am 17. IX. 05 kommt wegen chronischer Dyspepsie
und Atrophie am 5. III. 06 bei uns zur Aufnahme. Gew. *4600 g.
Fieberfrei und mit regelmässiger Zunahme von ca. 22 g pro Tag in
den letzten 3 Wochen, erkrankt sie mit Temperatur 38,1° am 10. V.,
wird mit 39,5° Temperatur am 11. V. mit Koplik ins Augustahospital
verlegt, da wir keine Infektionsabteilungen haben. Von dort kehrt
sie mit Masernpneumonie und Enteritis am 24. V. mit minus 1100 g
zurück und erliegt ihrer Bronchopneumonie am 11. VI. Da kein Fall
von Masern, weder auf dem betr. Saal, noch im Hause zur Zeit der
event. Infektion oder vorher vorgekommen war, wurden die An¬
gehörigen bestellt. Es ergab sich, dass die Mutter am Sonntag, den
29. IV. das jüngste Kind besucht und etwa 10 Minuten herumgetragen
hatte, nachdem zu Hause die 3 älteren Geschwister tags vorher ihr
Masernexanthem gezeigt hatten und fiebernd zu Bett lagen. Sie
hatte gehofft, dass wegen der Trennung das jüngste Kind verschont
bleibe, aber die Erkrankung der Geschwister verschwiegen, um nicht
vom Besuch ausgeschlossen zu werden. Die Konjunktivitis und Rhi¬
nitis, sowie KoDlik veranlassten uns trotz fehlendem Fieber zur Iso¬
lierung am 10. V. morgens, abends begann das Fieber, das Exanthem
erschien erst am 12. V., am 13. — 14. Tag nach geschehener Infektion.
Also: floride Masern bei 3 Geschwistern am 29. IV., Be¬
such der Mutter, die über 15 Minuten zum Hospital zu gehen
hatte, am gleichen Tag, Infektion des 7 monatlichen jüngsten
Kindes, mit vollständigen Prodromen am 11., Exanthem am
13. Tag. Eine Uebertragung durch gesunde Mittelpersonen,
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1871
also auch durch den Arzt, ist auf weite Entfernung demnach
möglich, aber ungemein selten und für die Praxis so gut wie
belanglos. Die frühzeitige Erkennung der kommenden Masern
auf Grund der vor 30 Jahren von Gerhardt entdeckten
„Kopliks“, ermöglicht heute fast stets die Vermeidung des Aus¬
bruchs der Hau'sepidemie.
Ein neues Couveusenmodell für die Behandlung früh¬
geborener und debiler Kinder.
Von Otto Rommel in München.
Die Tatsache, dass die künstliche Erwärmung in der Be¬
handlung kleiner Frühgeburten eine wichtige Rolle spielt, ist
seit langem bekannt und wird davon ja auch in der Praxis in
dieser oder jener Form häufig Gebrauch gemacht. Die Vor¬
richtungen, welche diesem Zwecke dienen, sind sehr ver¬
schieden; einfache Wärmkriige und Wärmwannen bis zur
„Thermostatic nurse“ und „Chambre couveuse“, in D-zug-
artiger Anordnung, wie sie in einem modernen Säuglingsspital
im Bau sind.
Wenn sich trotz der unleugbaren Erfolge, die mit dem
Gebrauch der Couveusen, zumal von französischer Seite, er¬
zielt wurden, in deutschen pädiatrischen Kreisen eine gewisse
Abneigung gegen dieselben geltend gemacht hat und tunlichste
Beschränkung ihrer Anwendung empfohlen wird, so ist das
einmal der zunehmenden Vertiefung unserer Kenntnisse (Indi¬
kationsstellung), zum anderen aber den Mängeln — um nicht zu
sagen Schädlichkeiten — zuzuschreiben, welche allen Cou¬
veusen und ihrer Anwendung anhafteten.
Die zahlreichen Modelle lassen erkennen, dass von ver¬
schiedensten Seiten an der Lösung dieser Frage mit mehr oder
weniger Erfolg gearbeitet worden ist. Leider muss man ge¬
stehen, dass trotz der aufgewandten Mühen kaum eines der be¬
stehenden Modelle völlig entspricht.
Mehrjährige Erfahrungen auf diesem Gebiet veranlassten
mich, einen von mir konstruierten Wärmeschrank soweit zu
vervollkommnen, dass ich ihn im folgenden kurz beschreiben
und empfehlen möchte, nachdem er sich im praktischen Ge¬
brauch im „Säuglingsheim-München“ zur vollsten Zufriedenheit
bewährt hat.
Die Anforderungen, welche man prinzipiell an eine Cou¬
veuse stellen muss, wurden von mir an anderer Stelle 1) dar¬
gelegt. • Es sind: 1. Einfachheit und Sicherheit im Betriebe.
2. Sterilisierbarkeit. 3. Genügende Helligkeit, Ventilation und
Luftfeuchtigkeit. 4. Genaue Einstellung der Temperatur bezw.
Dosierbarkeit der Wärmezufuhr. Dass das nachstehend be¬
schriebene Modell tatsächlich diesen Forderungen entspricht,
braucht wohl kaum versichert zu werden.
Beschreibung. Der Wärmeschrank ist aus starkem Metall
hergestellt und ruht auf einem mit Gummirollen versehenem Stativ.
Sauberkeit und Sterilisierbarkeit sind durch feuerfesten weissen
Emailanstrich sowie Vernickelung prominenter und beweglicher Teile
gewährleistet. Abgerundete oder abgeschrägte Ecken erleichtern
die unbedingt notwendige peinlichste Reinhaltung. Der Schrank
zerfällt in den Aufnahmeraum (A) für das Kind, den Heisswasser-
rauin (B) und den Heizraum (C) mit Abzug (D).
Der Aufnahmeraum für das Kind ist 0.83 am gross und von
drei Seiten - — auch oben — mit Spiegelglas abgeschlossen, um starke
Belichtung und Kontrolle des Kindes zu ermöglichen. Die vordere
Spiegelscheibe dient, wenn heruntergeklanpt, als Wickeltisch (E).
Die Ventilation, mittels Anemometer geprüft, ergab eine 100 — 120 mal
in der Stunde erfolgende Erneuerung der Couveusenluft. was als
eine wesentliche Verbesserung gegenüber ähnlichen, auch dem
eigenen früheren Modell hervorgehoben zu werden verdient.
Daneben ist besonders für genügenden und regulierbaren Feuchtig¬
keitsgehalt Sorge getragen, eine Frage, die bislang zur Zufrieden¬
heit noch nicht gelöst war. Durch einfache Hebeldrehung (f u. g)
ist eine Regulierung um 25 — 30 Hygrometergrade (h) möglich und
gelingt es leicht, den Feuchtigkeitsgehalt der Couveuse auf 85" zu
steigern und so die von B o n n a i r e und G a g e y empfohlene „Cou¬
veuse humide“ zu improvisieren. (Bekanntlich gelingt es bei man¬
chen kleinen Frühgeburten nicht, durch einfache Erhöhung der Cou-
veusetemneratur die Körpertemperatur zur Norm zu bringen, sondern
erst hei Steigerung der Luftfeuchtigkeit.)
Was die genaue Einstellung der Temperatur bezw. Dosierbarkeit
der Wärmezufuhr anbetrifft, so wurde von einem Termoregulator
1) Handbuch der Kinderheilkunde von Pfaundler und
Schloss in a n n, pag. 500.
oder einem Alarmwerk wie das einige französische Couveusen haben,
aus folgenden Gründen Abstand genommen. Es muss verlangt
werden, dass jede Frühgeburt 3 s t ü n d 1. anal ge¬
messen wird und danach die Wärme der Couveuse als Heil¬
faktor dosiert werde.
Säuglinge und besonders Frühgeborene haben
sehr labile Körpertemperaturen und verlangen ein
— individuell innerhalb weniger Temperatur¬
grade begrenztes — Temperaturoptimum; es ist
also sinnlos, die Couveusentemperatur tagelang
beispielsweise auf 25° oder 30 0 C einzustellen,
wobei dem Kinde ebenso durch Abkühlung wie
durch Ueberhitzung geschadet werden kann.
Eingehende Beobachtungen haben mich davon des
öfteren mit Sicherheit überzeugt.
Die Konstanz der gewünschten Temperatur
wird bei dem neben-
bezeichneten Modell
durch einen grossen
Vorrat von Wärme
15 — 20 Liter im Heiss¬
wasserraum!) ge¬
währleistet und be¬
tragen die nyktheme-
ralen Temperatur¬
schwankungen bei
nicht allzu grossen
Differenzen der Zim¬
mertemperatur höch¬
stens 1 °. Die Heizung
des Wärmeschrankes
erfolgt durch Glüh¬
lampen, und zwar
sind zwei 25 kerzige
und zwei 16 kerzige
mattglasige Lampen
im Heizraum ange¬
bracht. Durch ver¬
schiedene Kombina¬
tion mittels gewöhn¬
licher Schalter kann
man 16 — 82 Kerzen
einschalten und so die
Temperatur im
Schrank zum Steigen
oder Sinken bringen.
Eine Temperatur von
30 0 wird von ca. 50
Kerzen erhalten.
Ueber 36 0 vermögen
die angebrachten
Heizkörper den
Schrank nicht zu bringen, womit jede Gefahr bei Lässigkeit des
Wartepersonals ausgeschlossen ist. Der Kostenaufwand ist bei
50 Kerzen in 24 Stunden, als Kraftstrom gerechnet, nach der Mün¬
chener Taxe 60 Pf., bei Lichtstrom entsprechend höher.
Als Notheizung ist dem Apparat eine Spiritusgaslampe (J) beige¬
geben, welche einen Tagesverbrauch von 40 — 50 Pf. hat. Die Re¬
gulierung erfolgt hierbei durch Auf- und Niederstellen der Lampe —
auch kann dem Heisswasserraum heisses oder kaltes Wasser nach
Entnahme des gleichen Quantums zugefüllt werden. Eine Geruchbe¬
lästigung durch Abgase ist bei der getroffenen Anordnung völlig-
ausgeschlossen 2).
Gelang es mit dem Gebrauch der Couveuse die Sterblich¬
keit der Frühgeburten von 66 Proz. auf 36 Proz., ja noch weit
tiefer herabzudrücken (H u t i n e 1 und D e 1 e s t r e berichten
von nur 14 Proz. Mortalität), so sollte es mich freuen, mit der
Angabe und Beschreibung eines neuen und brauchbaren
Modelles einigen Nutzen gestiftet zu haben. Gebäranstalten
und Säuglingsheime werden ja in der Lage sein, von dem
Wärmeschrank Gebrauch zu machen und meine Angaben zu
bestätigen.
Auf die Behandlung kleiner Frühgeburten näher cin-
zugehen, muss ich mir hier versagen und verweise auf die an¬
geführte Abhandlung — nur möchte ich, um nicht missver¬
standen zu werden, ausdrücklich betonen, dass ich mit der
Couveusebehandlung die Pflege kleiner Frühgeburten nicht er¬
schöpft wissen möchte, sondern auf die Ernährung an der
Brust und Vermeidung jedweder Infektion einen m iude-
s t e n s gleichgrossen Wert lege.
■) Der Apparat ist erhältlich bei der Fabrik für chirurg. Instru¬
mente C. S t i e f c n h o f e r, München, Karlsplatz.
1872
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
Aus der Universitäts-Frauenklinik der Kgl- Charite. (Direktor:
Geh. Medizinalrat Professor Dr. Bum m.)
Geburten mit Skopolamin-Morphium.
Von Stabsarzt Dr. Hocheisen, kommandiert als Assistent
der Klinik.
(Schluss.)
Gehen wir zu den Nebenwirkungen über, so kann ich auch
hier nur die genaue Beobachtung von Gauss anerkennen,
der wir eigentlich nichts beizufügen haben. Nur hat Gauss
nach den Injektionen kein Erbrechen gesehen, während wir
6 mal solches beobachtet haben, und zwar erst nach den In¬
jektionen. 60 Proz. der Frauen bekamen einen roten Kopf, der
manchmal recht beängstigend aussah und einmal zu Nasen¬
bluten führte. Schwindelgefühl 2 mal, starker Kopfschmerz in
und nach der Geburt 6 mal-, Durst 45 mal, 10 mal ganz exzessiv,
so dass die dauernde Zuführung von Flüssigkeit den Eintritt
des Dämmerschlafes beeinträchtigte, starker Schweissausbruch
2 mal, grosse Unruhe 10 mal, davon 2 mal sehr stark, halluzi¬
natorische Delirien 4 mal, klonische Zuckungen beträchtlichen
Grades 3 mal.
Für die Frauen haben diese Wirkungen nicht viel zu be¬
deuten, da sie die Erinnerung daran nicht bewahren, wohl aber
glaube ich, und das ist für die Einführung in die Privatpraxis
wichtig, für das umgebende Laienpublikum. Dieses erwartet
eine schmerzlose Geburt, einen physiologischen Schlaf. Statt
dessen häufig ein Schlaf mit rotem Gesicht, der für jeden Laien
den Eindruck der Unnatur, der Vergiftung macht. Bei jeder
Wehe wacht die Frau auf, stöhnt mehr oder weniger, ja schreit
auf, der Laie schliesst also, dass die Frau empfindet, die Ein¬
spritzung nichts genützt hat. Kommt nun der grosse Durst und
motorische Unruhe hinzu, vielleicht auch noch Delirien, so wird
die Familie dem Arzt wenig Dank wissen, vollends wenn er
noch im Vertrauen auf die Wirkung des Skopolamins nach Haus
gegangen ist. Auch dem Verlangen von Gauss, bei jeder
noch unter Skopolaminwirkung stehenden Frau und Kind dau¬
ernd in der Nähe zu bleiben, kann der Praktiker nicht leicht ent¬
sprechen.
Nunmehr sollen der Reihe nach die objektiven Neben-
wii kungen kommen.
1. Die Wehen.
Gauss hat in 8 Fällen eine Verschlechterung, in 42 Fällen
eine ausgesprochene Verbesserung gefunden. Die Verschlech¬
terung soll den zu grossen Morphiumdosen zuzuschreiben sein.
Der grösseren Wehenpause entspricht eine Verlängerung der
Wehendauer, sowie eine Regelung der vorher unregelmäsigen
Wehen. Wir haben vor der Einspritzung die Wehen kontrol¬
liert, indem die Hand dauernd auf den Uterus aufgelegt wurde,
Beginn, Höhepunkt und Ablauf der Wehen genau notiert und
ebenso nach der Einspritzung verfahren. Die ausgesprochen¬
sten Fälle von Beeinflussung der Wehen sind:
1. Fall. M. B., 21jährige Zweitgebärende. Leichte Wehen
seit 22. VI. 1906, 11 Uhr nachts. 23. VI., 4 Uhr nachmittags Mutter¬
mund völlig erweitert. Steiss fest im Beckeneingang. Blase steht.
Regelmässige, kräftige Wehen alle 3 Minuten. Um 6 Uhr erhält die
Frau 0,0005 Skopolamin und 0,01 Morphium. Eine halbe Stunde später
werden die Wehen langsamer und seltener; Ruhepause steigt von
3 Minuten auf 7 und 8 Minuten, Wehendauer von 1 Minute auf
PA Minuten; dabei werden die Kontraktionen nicht so kräftig, der
Uterus ist auf der Höhe der Wehe nicht so fest kontrahiert. Die
Frau liegt mit gerötetem Gesicht, hat Durst, schläft in der Wehen¬
pause, stöhnt leise bei der Wehe, während sie vorher sehr unruhig
war und laut brüllte. Um 8% Uhr abends nur noch alle 7 — 10 Minuten
Wehen. Von 11 Uhr abends ganz unregelmässiger Wehentypus, nicht
schmerzhaft. Am 24. VI. 06, 1 Uhr morgens werden die Wehen wieder
kräftiger aber nicht häufiger, die Frau immer noch schläfrig; um 2 Uhr
völliges Sistieren der Wehen und ruhiger Schlaf, kein Skopolamin¬
schlaf. Um 5 Uhr wieder Wehen alle 4 Minuten, aber wenig aus¬
giebig; Patientin kann sichtlich die Bauchpresse nicht anspannen.
Um 5 Uhr 15 Min. wird die Blase gesprengt, trotzdem keine Besse¬
rung der Wehen. Die Wehen lassen wieder ganz nach, der Steiss
ist seit gestern Abend noch nicht einmal in die Beckenmitte getreten.
Um 7 Uhr 45 Min. in der Frühe Wehen alle 5 Minuten, Dauer nur
% Minuten und führen nicht zu kräftiger Kontraktion. Die Frau
presst sichtlich mit, es sieht aber aus, als ob sich die Bauchmuskeln
nicht kontrahieren könnten. Da die Herztöne wechselnd werden,
wird der Steiss durch Druck von aussen tiefer gepresst und dann
durch Zug am hochstehenden Steiss das Kind extrahiert. Kind leicht
asphyktisch. Also die vorher guten und kräftigen Wehen werden
schlechter, verzögerter Blasensprung; auch die Sprengung der Blase
hat keine Wirkung, der Steiss muss extrahiert werden. Ebenso dauert
es 60 Minuten, bis die Plazenta gelöst ist und exprimiert werden
kann.
2. Fall. Frieda K-, Erstgebärende. Kopf fest im Beckenein¬
gang, Muttermund fünfmarkstückgross, Zervix entfaltet, Blase steht.
Wehen seit 18. VI., abends 6 Uhr. Am 19. VI., vormittags 11 Uhr
40 Min. 0,0005 S + 0,01 M. Wehen bisher alle 5 Minuten, 1 Minute
Dauer. Die Wehen zunächst unbeeinflusst, alle 5 Minuten. Gesicht
gerötet, Schmerz herabgesetzt, schläfrig. 4 Uhr nachmittags werden
die Schmerzen wieder kräftiger, deshalb 4 Uhr 30 Min. 0,0002 S
+ 0,005 M; nachher grosse Unruhe, klonisches Zittern, keine Herab¬
setzung des Schmerzes. 5 Uhr 0,0003 S + 0,01 M. Befund unver¬
ändert, Pfeilnaht quer. Seit 11 Uhr abends ausgesprochener Dämmer¬
schlaf. Wehen alle 10 Minuten, dann grosse motorische Unruhe. Am
20. VI., morgens 4 Uhr, 0,0001 S. Von 7 Uhr ab wieder Wehen alle
6 Minuten, sobald der Schmerz wieder zunimmt noch 2 mal 0,0001 S.
Wehendauer 2 Minuten, alle 7 Minuten. Am 21. VI., 10 Uhr mor¬
gens Blasensprung, Muttermund handtellergross, Beckenmitte. Kein
Skopolamin mehr, da auch starke Kopfschmerzen. Nachmittags 2 Uhr
15 Min. Patientin völlig bewusstlos. Kind unter lebhafter Reaktion
der Frau spontan geboren. Insgesamt 0,0013 S + 0,025 M. Dauer
der Eröffnung des Muttermundes von Fünfmarkstück- bis Handteller¬
grösse und Blasensprung 22 Stunden 20 Minuten, der Austreibung
4 Stunden 15 Minuten, der Plazentarperiode 1 Stunde.
Fall 3. 19jährige Erstgebärende. Blasensprung 5. VI., 10 Uhr
vormittags. Lagerung wegen kräftiger Wehen 8% Uhr nachmittags.
Wehen alle 10 Minuten, kräftig, Dauer U/s— 2 Minuten, schmerzhaft.
Kopf fest im Beckeneingang, Pfeilnaht quer, Muttermund talergross.
Zervix verstrichen. 9 Uhr 18 Min. nachmittags 0,0005 S + 0,01 M.
Wehen alle 7 Minuten, Schmerzäusserung, Schlaf in Wehenpause.
11 Uhr 15 Min. nachts 0,0001 S. Wehen werden immer schlechter,
schliesslich nur noch alle % Stunden. Völlige Wehenpause, Schlaf bis
6. VI., 4 Uhr morgens. Wehen alle 10 Minuten, kraftlos. Um 11 Uhr
vormittags kräftig, alle 3 Minuten, starke Schmerzäusserung,
0,0002 S, darauf Dämmerschlaf bis 1 Uhr 30 Min. nachmittags, dann
Erwachen, sehr lebhafte Schmerzäusserung, Muttermund handteller¬
gross. 1 Uhr 45 Min. nachmittags 0,0001 S, nach 5 Minuten wieder
Ruhe. Wehen alle 5 Minuten, Erbrechen. Da die Skopolaminwirkung
nachlässt, 5 Uhr 35 Min. nachmittags 0,0002 S. Dämmerschlaf mit
Phantasieren. 7 Uhr Uhr 35 nachmittags 0,0001 S, darauf Schlaf, aber
Sistieren der Wehen. So geht es weiter. Endlich am 7. VI.. 94 12 Uhr
vormittags, da die Skopolaminwirkung abgeklungen, lässt man die
Frau aufstehen und umhergehen, darauf kräftige Wehen und das
Kind ist 2 Stunden später geboren. Dauer der Eröffnung nach In¬
jektion bei gesprungener Blase, verstrichener Zervix und talergrossem
Muttermund 16% Stunden, der Austreibung 24% Stunden.
Diese Fälle könnten noch leicht vermehrt werden; nicht be¬
einflusst wurde die Wehentätigkeit in 64 Fällen, einigemale
ist auch die Beobachtung von Gauss gemacht, dass die
Wehen ruhiger- und kräftiger wurden. In der Eröffnungsperiode
wurde die Wehentätigkeit bedeutend herabgesetzt 21 mal;
5 mal sistierten sie längere Zeit ganz, der Blasensprung wurde
4 mal verzögert; in der Austreibungsperiode trat eine schlechte
Beeinflussung 15 mal auf, darunter 3 mal ein völliges Aufhören.
2. Die Bauchpresse.
Gauss sah in 3,5 Proz. der Fälle ein reflektorisches Ein¬
setzen der Bauchpresse nicht eintreten und in 1,7 Proz. war
auch durch Zureden eine gute Wirkung nicht zu erzielen. Auf¬
zeichnungen hat er über 460 Geburten, darunter ist die Aktion
der Bauchpresse 160 mal als vorzüglich, 267 mal als gut und
38 mal als schlecht bezeichnet. Den Grund sucht Gauss in
den Morphiumgaben, die er deshalb immer mehr herabgesetzt
hat. Wir haben von vornherein weniger Morphium genommen
und sahen trotzdem in 24 Proz. die Bauchpresse erheblich be¬
einflusst. Zweifellos etwas herabgesetzt war sie 15 mal, sehr
herabgesetzt 4 mal, aufgehoben, aber durch Zureden in Aktion
gesetzt, 1 mal, nicht zu erzielen 4 mal, so dass der Kopf ex¬
primiert werden musste. In diesen Fällen war es merkwürdig,
die Anstrengungen der Frauen zu sehen und doch keine Kon¬
traktion, so dass nur eine motorische Insuffizienz bezw. eine
Innervationsstörung dies deuten kann. Den Psychiatern ist
aber wohl bekannt, dass Skopolamin in erster Linie ein moto¬
risches Gift ist, und es ist nicht ersichtlich, weshalb diese Wir¬
kung nicht auch in der geburtshilflichen Anwendung sich zeigen
soll.
3. Operationsfrequenz.
Gauss hat unter 483 Schädellagen 49 Zangen gemacht,
darunter 14 mal auf Grund einer strikten Indikation von Seite
IS. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1873
der Mutter, 22 mal von Seite des Kindes und wegen zögernden
Austreibungsmechanismus 14 mal (zusammen 50). Wir haben
gemacht wegen zögernder Austreibung mit Rücksicht auf die
kindlichen Herztöne 5 Beckenausgangszangen und 1 Zange
aus Beckenmitte, sowie 1 Extraktion am hochstehenden Steiss.
Unter den von mir beobachteten Fällen ist nur 1 Zange und
1 Extraktion am Steiss. Ich hätte aber wohl wegen Sinken und
Wechseln der kindlichen Herztöne gut 10 Zangen mit völliger
Indikation machen können, ich wollte es aber auf das äusserste
ankommen lassen, um nicht durch viele Zangen die Ergebnisse
zu verschleiern und nicht den Anschein zu erwecken, als ob
ich durch vergrösserte Zangenindikation dem Skopolamin
etwas am Zeug flicken wolle. Es waren aber oft beängstigende
Minuten, wenn wir die Herztöne kontrollierend das Bett um¬
standen, Zange bereit liegend, die Frau einigemale zur Vorsicht
fertig desinfiziert und nun die Frau zur Anwendung der Bauch¬
presse ermunterten oder den Kopf durch Druck auf den Steiss
tiefer pressten oder vom Hinterdamm aus entwickelten. Ich
musste hierbei manchen vorwurfsvollen Blick der Hebamme
ertragen. Das plötzliche Absterben des Kindes war immer
möglich; in einem Fall, wo Herr v. B a r d e 1 e b e n die Zange
anlegte, kam das Kind frischtot zur Welt; ein Kind starb weiter
nach 75 Minuten (Lues), 1 nach 24 Stunden, diese sämtlichen
Kinder waren asphyktisch.
Bei geringerer Ausdauer und Geduld kann ein Geburts¬
helfer bei Skopolamingeburten wohl 20—25 Proz. der Geburten
mit der Zange beendigen müssen, und zwar bei ganz aus¬
reichend zu rechtfertigender Indikation, wegen der häufig stark
verlangsamten und unregelmässigen Herztöne.
Wegen verzögerten Blasensprungs musste 4 mal die Blase
bei längst völlig erweitertem Muttermund gesprengt werden;
bei einer der Zangen war durch die Geburtsverzögerung Zer¬
setzung des Fruchtwassers eingetreten.
4. Geburtsdauer.
Die von uns beobachtete bedeutende Beeinflussung der
Wehen und der Bauchpresse muss ganz objektiv in den Zahlen
der Geburtsdauer zum Ausdruck kommen. Die Mittelwerte der
Geburtsdauer berechnet Bumm auf 12 Stunden 30 Minuten
(die höchsten angegebenen Durchschnittsberechnungen ergeben
19 Stunden) für unkomplizierte Schädellagen; die Austreibungs¬
methode berechnen Bumm und Veit durchschnittlich auf
1% Stunden. Die Zahlen für die Skopolamingeburten sind:
Austreibungsperiode:
1. Erste Injektion bei völlig erweitertem Muttermund und
im Beckeneingang stehenden Kopf. Geburt nach 6 Stunden
15 Minuten durchschnittlich.
2. Erste Injektion bei völlig erweitertem Muttermund und
in Beckenmitte stehendem Kopf. Geburt nach 6 Stunden
15 Minuten.
3. Erste Injektion bei Beckenausgang. Geburt nach 3 Stun¬
den 10 Minuten.
Unter 1 fallen 6 Fälle mit der geringsten Dauer von 1A,
der grössten von 20 Stunden, unter 2 gehören 19 Fälle mit der
geringsten Dauer von 1 Stunde, der grössten von 15 Stunden.
Unter 3 sind 37 Fälle mit geringster Dauer von 15 Minuten,
der grössten von 18 Stunden. Unter der Gesamtzahl von 62
Fällen waren 34, also über 50 Proz., bei denen die Aus¬
treibungsperiode bedeutend mehr Zeit als die Bumm sehen
Durchschnittswerte erforderte.
Eröffnungsperiode. Da wir die Geburtsdauer von
der 1. Injektion an berechneten und diese erst bei völlig oder
nahezu verstrichener Zervix und fünfmarkstückgrossem
Muttermund vornehmen, ist ein bedeutender Teil der Er¬
öffnungsperiode schon vorbei und die Skopolaminzahlen müssen
niedriger als die B u m m sehen Durchschnittszahlen sein.
4. Kopf im Beckeneingang in der Eröffnungsperiode.
28 Fälle mit durchschnittlich 14 Stunden 50 Minuten Ge¬
burtsdauer nach der 1. Injektion.
5. Kopf in Beckenmitte nicht völlig eröffnet.
19 Fälle mit 6 Stunden 15 Minuten Geburtsdauer.
Demnach ist auch hier eine Verlängerung der Geburtsdauer
unter 4 deutlich, bei 5 war die Geburt schon zu weit vorge¬
schritten, um noch hier mitgezählt werden zu können.
Die pathologischen und die mit Zange beendigten Geburten
sind nicht eingerechnet, nur unkomplizierte, spontan verlaufene,
Schädellagen. Die Zange wurde angelegt 40'%, 15, 79, 4%,
lA und 26 Stunden nach der 1. Injektion.
Im Beckenausgang war die Austreibung unter 37 Fällen
auf mehr als 6 Stunden fünfmal verlängert.
Ich glaube nicht, dass diese Zahlen noch eines Kommen¬
tares bedürfen. G a u s s rechnet die pathologischen Fälle mit
und betont ebenfalls eine geringe Differenz zu Ungunsten des
Skopolamins, die aber gegenüber den Vorteilen des Dämmer¬
schlafes nicht in Betracht komme und hauptsächlich Morphium¬
wirkung sei. Ausserdem könne, wenn Wehenschwäche ein¬
trete, das Skopolamin ausgesetzt werden. Nach unseren Er¬
fahrungen bleibt die Wehentätigkeit aber auch nachher noch
längere Zeit beeinflusst. Wir müssen demnach sagen, das
Skopolamin verschlechtert häufig Wehentätigkeit und Bauch¬
presse so, dass nicht nur eine durchschnittliche, sondern oft
ganz exzessive Verlängerung der Geburtsdauer zustande
kommt, die für Mutter und Kind nicht gleichgültig sein kann.
5. Plazentarperiode .
G a u s s hat unter 495 nicht operativ beendigten Geburten
20 mal eine stärkere Blutung gehabt, die einmal zur Plazentar¬
lösung führte; die Plazenta musste noch in 2 anderen Fällen
aus anderer Indikation gelöst werden; 29 mal war eine ge¬
ringere Blutung vorhanden, die auf Massage des Uterus stand.
Unter unseren 100 Fällen sind 5 Atonien, die dreimal zur Tam¬
ponade führten; ob bei einem Todesfall an Atonie und Ver¬
blutung das Skopolamin mitgewirkt hat, soll dahingestellt
bleiben. Der Blutverlust war nicht so gross, dass der Tod un¬
bedingt erfolgen musste und die Erscheinungen, unter denen
der Tod eintrat, entsprachen eher dem Skopolamintod als dem
Anämietod. Die Obduktion ergab eine mittelschwere Anämie
und Erstickungstod und liess keine Entscheidung zu. 4 mal
musste die Plazenta wegen geringer Blutung exprimiert wer¬
den. Im allgemeinen aber hatten wir den Eindruck, dass die
Plazentarperiode sorgsam überwacht werden musste und dass
der Uterus häufiger durch Massage zu besseren Kontraktionen
angeregt werden musste. Die spontane Lösung der Plazenta
erforderte 13 mal mehr als 1 Stunde, darunter 2 mal über 3
Stunden. Sehr günstig ist das Gesamtverhalten der Plazentar¬
periode nicht und würde die Beobachtung von Terrier und
D e s j a r d i n bestätigen, dass das Skopolamin eine Gefäss-
dilatation verursache und Neigung zu Blutungen mache.
6. Puerperale Funktionen.
Die mangelhafte Kontraktionsfähigkeit des Uterus und die
Neigung zu Blutung müsste sich im Wochenbett äussern,
G a u s s hat nichts derart gefunden. Bei unseren Wöch¬
nerinnen pflegt bei 95 Proz. die Blutung am 5.-6. Tag auf¬
zuhören und die Lochien schleimig zu werden. Am Tag der
Entlassung, 9.— 10. Tag, ist der Uterus hinter der Schossfuge
verschwunden in ebenfalls 95 Proz. Bei den Skopolamin¬
frauen ist aber 15 mal der Uterus zu dieser Zeit mehr als
kindskopfgross und grösser, weich, mit reinem oder vorwiegend
blutigen Lochialfluss gefunden worden, so dass unbedenklich
eine Nachwirkung des Skopolamins in Form der verzögerten
und mangelhaften Rückbildung und protrahierten Blutung an¬
zunehmen ist. Eine Frau hatte eine leichte Schenkelthrombose,
Beeinflussung des Stillgeschäftes ist nicht aufgefallen, das
könnten nur sehr schwierige Messungen feststellen.
7. Skopolaminwirkung auf das Herz und die
Nieren.
Obgleich Skopolamin als schweres Herzgift gefürchtet ist
und die Psychiater die Gefährdung des Herzens recht gut
kennen, sodass die Toxikologie vor der Anwendung bei Herz-
und Nierenerkrankungen warnt, wird doch in der Geburtshilfe
dies übergangen, ja sogar manchmal direkt ausgesprochen,
dass diese Leiden keine Gegenindikationen seien. Wie falsch
das ist, haben wir um ein Haar mit einem Todesfall büssen
müssen. Eine 19 jährige Näherin mit Spuren von Eiweiss, ge¬
ringen Oedemen an den Füssen, keiner Herzverbreiterung und
keinem Herzgeräusch wird mit kräftigen Wehen aufgenommen,
Kopf fest, Muttermund fünfmarkstückgross, Blase steht. Um
10 Uhr 56 Minuten Vormittags 0,0005 Skopolamin + 0,01 Mor-
1674
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 38.
phium. Wellen bleiben kräftig, regelmässig, werden em-
pfunden, Schmerz jedenfalls nur wenig herabgesetzt. Dagegen
grosse Unruhe, stöhnt bei den Wehen, schläft in den Pausen,
will aus dem Bett. Wegen zunehmender Unruhe um 3 Uhr
3U Minuten Nachmittags 34 cg Morphium. 5 34 Uhr Nach¬
mittag spontane Geburt. Nachher Schlaf mit langsamer At¬
mung und langsamen Puls. Um 634 Uhr sucht sich Patientin
aufzurichten und bekommt einen schweren Anfall von Dyspnoe
mit Zyanose, inspiratorischer Einziehung, Nasenflügelatmen.
Erst in zweiter Linie enorme Herzaktion, ca. 200 in der Mi¬
nute, der Radialispuls weniger frequent als der Spitzenstoss,
120 — 150. Herzaktion ganz arythmisch, es ist eine völlige
Perturbatio cordis. Dieser Zustand dauert eine Stunde und
lässt dann etwas nach. Doch ist erst nach 7 Stunden die Pa¬
tientin so weit, dass von einer momentanen Gefahr nicht mehr
geredet werden kann. Herzwickel versagten völlig, Linderung
trat erst nach 1 cg Morphium ein. Am andern Tag Lungen¬
befund normal, vom Herzen präsystolisches Geräusch, 2. Ton
gespalten. Mitralstenose, die auch im Röntgenbild durch eine
Ausbuchtung des Herzens nach links nachgewiesen wird. Es
handelte sich zweifellos um eine latente Mitralstenose und die
Störung muss meiner Meinung nach dem Skopolamin zuge¬
schoben werden obgleich nachträglich bekannt wurde, dass sie
schon früher 2 leichtere stenokardische Anfälle gehabt hat.
Der Zustand ähnelte der einer tödlichen Lungenembolie, jedoch
habe ich noch keine Embolie, die einen solchen Zustand machte,
am Leben bleiben sehen, auch war am andern Tag der Lungen-
befund normal. Der Verlauf entspricht auch dem Skopolamin,
erst Atmung, dann Herz. Es wurde von dieser Zeit an niemand
mehr injiziert, der den geringsten Verdacht einer Herzver¬
änderung organischen oder anorganischen Charakters zeigte.
Die Wirkung auf das Herz war während des Kreissens deut¬
lich, 20 Proz. der Frauen hatten eine Verlangsamung des Pulses
auf 60 und gleichzeitig nach jedem 4 — 6 Pulsschlag setzte der
Puls aus. Im Wochenbett war bei 5 Frauen Arythmie mit Be¬
schleunigung, bei 7 auffallende Beschleunigung allein ohne
Genitalbefund. Unter diesen Umständen bin ich auch geneigt,
bei einer 19 jährigen Erstgebärenden, die 0,0004 Skopolamin
+ 0,01 Morphium erhalten hatte, eine kolossale Arythmie und
Labilität des Pulses vom 5. Tage an, da sich kein Zeichen von
Thrombose oder Embolie findet, als Störung der Herzinner¬
vation durch Skopolamin aufzufassen. Der Puls schwankte
zwischen 90 und 160 Schlägen, ist gewöhnlich 100 — 130 und .
bis jetzt, am 15. Wochenbettstage, durch Digitalis und Eis¬
blase noch nicht zu beeinflussen gewesen.
Die Atmung wurde sehr ungünstig beeinflusst bei einer
Frau mit Schwangerschaftsniere. Oedem, Zyanose, Stauungs-
bronchitis. Kräftige Wehen, Kopf fest auf dem Beckenein¬
gang, Muttermund für 1 Finger durchgängig, Blasensprung
vor 3 Tagen. Temperatur 38,2. Um ihr die Perzeption der
üeburtsarbeit zu ersparen, 0,0003 Skopolamin + 0,01 Mor¬
phium. Eine halbe Stunde später sehr starke Dyspnoe und auf¬
fallende Gesichtsblässe, deshalb wird in leichter Chloroform¬
narkose mit Bossi und hoher Zange entbunden. 3 Stunden
später Besserung. Ich habe die Ueberzeugung, dass ohne
Skopolamin ruhig abgewartet werden konnte, bis günstige
Bedingungen zur Zange geschaffen waren, und das Kind, das an
den Folgen der Zange gestorben ist, wahrscheinlich am Leben
erhalten werden konnte.
8. Kontraindikationen.
Gauss führt als solche an primäre Wehenschwäche,
Schwächezustände, fieberhafte Erkrankungen, Anämie, somno-
lente Zustände mit Ausnahme der Eklampsie. Zunächst möchte
ich gerade die Eklampsie als Gegenindikation beanspruchen,
da es mir nicht angezeigt erscheint, hiebei ein wehenhemmen¬
des, für Atmung und Herz eventuell nachteiliges Mittel anzu¬
wenden. Ferner ist das Mittel gefährlich bei allen Herzkrank-
heitenheiten, auch der leichtesten Art, Stauungen im Respira-
tions- und Zirkulationssystem. Geburtshilfliche Gegenanzeige
besteht in allen Fällen, wo eine Geburtsverzögerung Gefahren
für Mutter und Kind bringen kann, also vor allen Dingen bei
vorzeitigem Blasensprung. Angewandt kann es mit Vorteil,
wenn die anderen Mittel versagen, dann werden, wenn bei
grosser Unruhe der Frau und sehr starken Wehen vorzeitiger
Blasensprung verhütet werden soll, so bei Querlage und engem
Becken. In zwei Fällen von Pubiotomie hat es uns hier gute
Dienste geleistet und wir konnten die Frauen so lange hin-
halten, bis der Muttermund völlig erweitert war und der Kopf
sich zu konfigurieren begonnen hatte. Diesen Zustand suchen
wir zur Ausführung der Pubiotomie zu erreichen.
9. K i n d.
Bei Gauss zeigten 119 = 23,8 Proz. der Lebendgeborenen
eine Art Rauschzustand, den er hauptsächlich der Morphium-
wirkung zuschreibt, aber auch nach Skopolamindosen allein
gesehen hat. Die Kinder schreien einmal nach der Geburt und
hören dann zu atmen auf; das Herz schlägt langsam, bis zu
60 herabsinkend; die Augenlider werden geöffnet und fallen
dann wieder zu. Ab und zu ein Atemzug, dazwischen Zyanose
bis zum nächsten Atemzug. In verschiedener Zeit (1 — 20 Mi¬
nuten) wird die Atmung regelmässig; Behandlung ist gar nicht
nötig, in einigen schweren Fällen genügen Hautreize und Herz¬
massage. Unter 100 lebend geborenen Kindern zeigten uns
diesen Zustand 14, hiezu kommen noch 4 = 18 Proz., die zu¬
gleich asphyktisch waren. Sehr stark ausgeprägt war der
Rausch- oder Schlafzustand 4 mal und dauerte 34 Stunde. 2 mal
trat der Zustand erst 34 Stunde nach der Geburt auf. Diese
Kinder sind zweifellos vergiftet und zwar weniger durch
Morphium, da wir analoge Zustände beim Morphium nicht
sehen, und der sehr seltene Morphiumschlaf der Neugeborenen
anders aussieht, als durch Skopolamin. Wie rasch die Ver¬
giftung vor sich geht, zeigt ein Kind, das 15 Minuten nach der
ersten Einspritzung von 0,0003 S + 0,01 M geboren wurde und
20 Minuten lang oiigopnoisch und asphyktisch war. Da einige
intelligente Mütter mir die Beobachtung mitteilten, dass die
Kinder noch 3 und 4 Tage nach der Geburt schlecht die Brust
nehmen, weil sie immer wieder einschlafen, ohne gesättigt zu
sein, halten die Vergiftungserscheinungen länger an, als es
äusserlich erscheint.
Asphyktisch kamen 15 Kinder zur Welt, darunter 3 schwer
(bei Gauss 13 Proz.). Die Geburtsdauer war durch Wehen¬
schwäche nach Skopolamin verzögert, somit hat das Skopola¬
min dies indirekt verursacht. Die Asphyxien sind nicht so leicht
zu nehmen, da durch die Wiederbelebungsversuche Abkühlung,
durch die künstliche Atmung Atelektase und Bronchitis ein-
treten kann. 4 der Kinder hatten nachher eine kräftige Bron¬
chitis, 3 starben. Das eine war sehr kräftig, hatte aber kon¬
genitale Lues und Bronchitis, starb nach 5/« Stunden; das zweite
starb nach 24 Stunden an im Mutterleib aspiriertem Frucht¬
wasser und dadurch erworbener ausgedehnter Atelektasie; das
dritte Kind starb an einer Bronchitis nach Schleimaspiration.
Zwei sind wohl indirekt nach dem Skopolamin gestorben, für
das Luetische ist es zweifelhaft, aber nicht unmöglich.
Ferner ist ein Kind totgeboren, das in utero abgestorben
ist und nicht mehr nach Zangenextraktion wiederbelebt werden
konnte. Das Kind war lebend, als bei völliger Eröffnung in
Beckenmitte 0,0005 S + 0,01 M eingespritzt wurden. Völlige
Geburtsamnesie, also starke Reaktion, dabei Unruhe. Die
Herztöne waren ca. 34 Stunde lang wechselnd und blieben
dann weg. Zange 4/4 Stunden. Es sind insgesamt 3, vielleicht
nach der Injektion 4 tote Kinder. Es bleibe dahingestellt, ob
es für die geistige und körperliche Entwicklung der zarten
Organismen gleichgültig ist, dass ihnen schon in utero ein so
gefährliches Gift einverleibt wird.
Bei Gauss sind 5 Kinder nach Asphyxie gestorben, 4 in
der Geburt; er sucht die Ursache aber in anderen Gründen.
Können wir auf Grund unserer Erfahrungen bei 100 un¬
komplizierten Geburten bestätigen, dass der Skopolamin-
Morphium-Dämmerschlaf eine für Arzt, Patientin, Lehrer und
Schüler segenbringende Methode ohne unangenehme Neben¬
wirkung, ohne Beeinträchtigung der Geburtsarbeit, ohne Ge¬
fährdung von Mutter und Kind ist? In unseren Fällen war er
in 18 Proz. negativ bezüglich des Wehenschmerzes,
in 21 Proz. mässig,
in 61 Proz. gut wirkend, L j
IS. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
in 65 Proz. zeitweiliger Dämmerschlaf,
in mehi als 70 Proz. traten Nebenwirkungen auf.
Abweichungen vom normalen Geburtsverlauf hatten wir
50 mal Verlängerung der Geburtsdauer in verschiedenem
Grade,
5 mal atonische Nachblutungen,
4 mal Expression der Plazenta wegen massiger Blutung,
13 mal verzögerte Lösung der Plazenta,
15 mal verzögerte Rückbildung des Uterus,
1 stenokardischer Anfall nach der Geburt bei latenter
Mitralstenose,
1 Herzneurose im Wochenbett,
1 Schenkelthrombose im Wochenbett,
18 Proz. oligopnoische Kinder,
15 Proz. asphyktische Kinder,
1 Kind in der Geburt gestorben,
3 Kinder nach der Geburt gestorben,
6 Zangen aus Indikation für das Kind,
1 Extraktion am hochstehenden Steiss.
Dies ist für 100 unkomplizierte physiologische Geburten
eine reiche Musterkarte von Ereignissen, welche wohl im Ein¬
zelnen nicht alle gerade direkt durch das Skopolamin bedingt
sind, deren Häufung aber doch die von anderer Seite ange¬
gebene Ungefährlichkeit des Skopolamins im allerhöchsten
Grade zweifelhaft erscheinen lässt. Vor allen Dingen lasse
der gewissenhafte Arzt in der Praxis die Hand vom Dämmer¬
schlaf, bis eine eindeutig günstige Wirkung sicher steht und
die Skopolaminwirkung auf den Menschen eine konstante
Grösse ist. Solange Dosen angewandt werden müssen, bei
denen, wenn auch nur einmal, ein Todesfall beobachtet ist.
(Toth, 0,0003), ist das Skopolamin in seiner jetzigen Be¬
schaffenheit zu verwerfen.
Zum Schluss erfülle ich die angenehme Pflicht, Herrn
Geheimrat B u m m für die Anregung zu und die Unterstützung
bei dieser Arbeit zu danken. Herrn v. Bardeleben danke
ich ebenfalls für seine sorgfältige Mitarbeit bei der Beobachtung
unserer Patientinnen.
Literatur:
Lewin: Die Nebenwirkungen der Arzneimittel. — Lieb
reich, Langgaard: Kompendium der Arzneiverordnung. —
h lat au. Ueber die Anwendung der Morphium-Skopolaminnarkose
Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 28. — Urevsen: Nochmals
die Morphium-Skopolaminnarkose. Ebenda 1903, No. 32. _ K o r f f
Ebenda No. 46. — Roith: Zur Morphium-Skopolaminnarkose
Ebenda No. 46. — Merck: Jahresberichte. — Puschnig: Uebei
neuere Narkosemittel. Wien. klin. Wochenschr. 1905, No. 16. _
Kor ff: Berl. klin. Wochenschr. 1904, No. 33. — klein: Die
Skopolaminnarkose. Aerztliche Vierteljahresrundschau 1906, No. 2,
— Steinbüchel: Schmerzverminderung und Narkose in der Ge¬
burtshilfe. Wien 1903. — Ziffer: Skopolamin-Morphiumnarkose.
Monatsschr. f. Qeburtsh. u. Gynäkol., Bd. 21. — W artapetian-
Dissertation 1905. Zentralbl. f. üynäk. 1905, No. 49. — L a u r e n d e a u •
Zentralbl. f. Gynäkol. 1906, No. 21. - Viron und Morel: Die Ge¬
fahren der Morphium-Skopolaminnarkose. Progres medicale 1906
No. 7. — Reining: Zentralbl. f. Gynäk., 1905, No. 47. — Wein¬
garten: Dissertation, Giessen 1904. Zentralbl. f. Gynäk 1905
S. 1579. — Toth: Zentralbl. f. Gynäk. 1905, No. 18. — Gauss:
Geburten und künstlicher Dämmerschlaf. Arch. f. Gynäk 78 Bd
3 Heft. ’ '
- «=*$*= -
Die Hilfsmassnahmen bei der Zerstörung von
San Francisco.
Von Carl Beck.
Die Katastrophe, welche die prächtige Stadt am goldenen Thor
vom Erdboden wegfegte, steht in ihrem Umfang einzig in der Welt¬
geschichte da. Zwar stieg die Zahl der Opfer des Erdbebens merk¬
würdigerweise nur auf 485, während frühere Unglücksfälle ähnlicher
Art Tausende von Menschenleben forderten. In Rücksicht auf die
durch das hinzutretende Feuer verursachte Ausdehnung der Zer¬
störung erscheinen jedoch selbst die Kalamitäten, wie sie uns aus
Pompeji, Mont Pelee oder von Lissabon berichtet werden, als reine
Kinderspiele.
Denn man muss bedenken, dass es sich um eine Stadt von
nahezu 500,000 Einwohnern handelt, welche mit unbedeutenden Aus¬
nahmen völlig in Trümmern und Asche liegt
Kein öffentliches Gebäude, kein Geschäftshaus von Bedeutung,
keine Bank, kein Detailgeschäft, kein Hotel, kein besseres Restaurant,
1875
kein Theater, welches dem Verhängnis entronnen wäre. Nur wenige
Wohnhäuser, welche entweder durch eine kleine hügelige Ab¬
schweifung oder die temporäre Laune der Windrichtung vor völliger
Zerstörung bewahrt blieben. Alle Wasserwerke demoliert, die
Röhren geborsten, die Strassenbahnschienen umgebogen wie Blei¬
stäbe. Sämtliche Elektrizitätsquellen, alle Gasanlagen, Telegraphen-
und Postämter vernichtet, kein Wasser, kein Feuer, kein Licht — nichts
übrig von dem grossen Handelsemporium, von der herrlich leuch¬
tenden Perle des stillen Ozean, als ein ekler rauchender Leichnam
von 6 Quadratmeilen Umfang.
Wahrlich genug des Elends, um das Blut in den Adern erstarren
zu machen! Und dennoch, wer die Unglücklichen sieht, welche eben
noch dem Todesschrecken entronnen, all ihr Hab und Gut auf immer
verloren sehen, sucht vergebens nach verzweifelten Mienen. Gross
fürwahr ist das Unglück, aber unendlich viel grösser ist der Mensch!
Denn die Art, wie die schwergeprüften Bewohner sich gegenseitig
unterstützten, wie Tausende ihrer Nächsten wegen das eigene Leben
aufs Spiel setzten, stellt alle antike Seelengrösse in den Schatten.
Wer an der Menschheit zweifelnd auf dem Wege ist, Pessimist
zu werden, wie es Mode zu werden scheint, der gehe nach San Fran¬
cisco und lerne sich tief in seine Seele hinein schämen. Denn eine
solche Fülle von Selbstlosigkeit, Tapferkeit, Entsagung und Gleich¬
mut in dieser Zeit der 1 rübsal ist einfach überwältigend.
steht man staunend inmitten der Tragödie und statt zu trauern,
fühlt man sich in mächtiger Ergriffenheit in die Höhe gerissen unu
das Herz schwillt voll freudigen Stolzes ob so vielen Heldentums.
Es ist als hätte die ungeheure Heimsuchung alle schlechten Seiten
des menschlichen Charakters wie mit einem Zauberschlage abstreiten
lassen und die elementaren Gewalten, die im tierzen wunderbar
schliefen, auf einmal tief unter der Rinde blossgelegt und zu herr¬
lichen laten verwandelt. Her kleine, unbeachtete Mann wurde zum
Riesen, der Nörgler zum Wohltäter, der Tagedieb zum Pflicht-
menschen. Wie wahr ist doch das S c h i 1 1 e r sene Wort: „Es wächst
der Mensch mit seinen höh’ren Zwecken.“ Der Reiche fraternisiert
mit dem Armen, alte Feinde versöhnen sich, Konkurrenten ver¬
binden sich unter einander, enragierte politische Gegner legen in
liebender Gemeinschaft kräftig Hand an, verbissene Fanatiker ver¬
gessen alles Zeremoniell und vereinigen sich zu dem einen Zweck, zu
neuen. Hysterische Frauen vergessen zu klagen und stellen sich in
Reih und Glied zu den Helfern. Selbst die chinesischen Kaufleute,
weiche man in den lagen des Glanzes ä la Shylock zu behandeln
gewohnt war, begruben ihren schlecht verhehlten Groll und steuern
in grossherziger Weise zum allgemeinen Hilfsfond bei.
Gottlob, die alte Ritterlichkeit, sie war nicht ausgestorben. Sie
hat nur eine Weile still gelegen. Und heiler hat sie auch zu Zeiten
Uottmeds von Bouillon mcni geleucntet, als in diesen lagen auf der
Schutthaufenstadt. Es würde zu weit führen, alle die einzelnen
Heldentaten, wie sie in den Zeitungen mehr oder weniger schon ge¬
schildert sind, zu berichten. Wir beschränken uns deshalb auf die
Konstatierung folgender Tatsachen:
L»as nrnoeben begann am 18. April um 5 Uhr 15 Min. morgens,
also zu einer Zeit, da alles in tiefem Schlafe lag. Die Stösse waren
von solcher Heftigkeit, dass die Leute aus den netten fielen und zum
4 eil in den Zimmern herumrollten. Das Gefühl, welches man empfand,
wird deiart geschildert, als ob die Häuser hin- und hergeschüttelt
würden, wie wenn man Aepfel vom Baume schüttelt. Unter solchen
Umständen begreift man wonl, warum die meisten ins Freie flüchteten,
ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre Blossen zu decken. Unsere be¬
rühmte deutsche Uperngesehschait, welche gerade in San Fran¬
cisco gastierte, zeichnete sich rühmiichst dadurch aus, dass sie, mit
ihren trefflichen Kapellmeistern an der Spitze, ihre Flucht in vor-
scnriftsmässiger Weise antrat, ihre Habe verlor das leichtbeschwingte
Völkchen gänzlich, den Humor aber nicht. Das erste, was Caruso tat,
war, ein hohes C zu schmettern, um sich zu vergewissern dass er
noch im Vollbesitz seines gottbegnadeten Tenors war. Kaum hatten
die Erdstosse nachgelassen, als das verheerende Feuer ausbrach und
sich mit rasender Geschwindigkeit verbreitete. Da sämtliche Wasser¬
rohren durch die Erderschütterung demoliert waren, so erwies sich
die brave Feuerwehr als völlig machtlos. Das rasch herbeigeeilte
Militär war mit seinen Sprengungsversuchen ebenfalls erfolglos Hätte
man einige Strassenviertel in die Luft gesprengt, noch ehe das Ele¬
ment sie ei reichte, würde man mit anderen Worten, im gesunden
operiert haben, so wären grosse Häuserzonen gerettet worden So aber
geschah dem gefrässigen Element erst dann Einhalt, als es keine
Nahrung mehr fand.
Da, wo das Feuer zunächst am wenigstens wütete, fanden die
Bewohner Gelegenheit, einen Teil ihrer beweglichen Habe zu retten,
und sich in die öffentlichen Parkanlagen oder nach dem durch einen
Wasserstreifen getrennten gegenüberliegenden üakland zu flüchten.
Wie wenig die meisten zu bergen imstande waren, konnte man am
besten daran erkennen, dass nur ein geringer Teil der im Freien
vampiei enden Flüchtlinge über mehr als ihre Nachtgewänder ver¬
fugten. Dieser Mangel wurde in Anbetracht der kühlen Nächte be¬
sonders druckend empfunden.
Dei kommandierende General, Funston ist der Name dieses
wackeren Haudegens, war der Held des ersten Tages: Seine Truppen
hielten die Ordnung unter den schwierigsten Verhältnissen aufrecht.
10/ 6
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT .
No. 38.
Mit ihnen vereinigte sich die ins Gewehr gerufene Nationalgarde, um
den Schwachen, namentlich Weibern und Kindern, zu Hilfe zu eilen
und Nahrungsmittel, Zelte und Decken zu verteilen, welche rasch aus
den Arsenalen und den Nachbarstädten requiriert wurden. Die aus
nur 600 Mann bestehende Polizeimacht konnte unter den Umständen
kaum in Betracht kommen.
Um 5 Uhr morgens verspürte man den ersten Erdstoss, um
Mittag schon war es dem Bürgermeister Schmitz gelungen, ein
Hilfskomitee zu organisieren. Unter seiner trefflichen Aegide wurden
zunächst 150 Hilfsstationen errichtet, welche unter dem Oberbefehl
bekannter Bürger standen. Jeder war ein Arzt beigegeben. Dorthin
hatten sich alle Hilfsbedürftigen zu wenden. Wer immer im Besitz
eines Vehikels geblieben war, sei es ein Automobil oder ein Karren
gewesen, der stellte es der Station zur Verfügung, belud es mit
Nahrungsmitteln und Bekleidungsstücken und verteilte es unter seinen
Nachbarn. Trotz der enormen Zahl der Applikanten wurde man fast
allen gerecht. Keiner, der um Brot oder Milch bat, welcher es
nicht sofort umsonst erhielt. Gehungert haben also nur wenige
und diese höchstens am ersten Tage des Unglücks.
Aus Türen, Teppichen, Brettern, Blechplatten und Decken kom¬
ponierte man alsbald Hütten, welche genügenden Schutz boten. Viele
derselben fielen durch humoristische Inschriften auf.
Der Umsicht der Aerzte ist es wunderbarerweise gelungen, jeg¬
liche Epidemie von dieser gewaltigen Brutstätte fernzuhalten. Be¬
sonders war es der ubiquitäre Typhus, vor dessen Verbreitung man
sich fürchtete. Es war ein glücklicher Gedanke, sofort Latrinen
zu errichten, allen Abfall sogleich auf Schiffe zu verladen und die
provisorischen Bäckereien, Metzgereien und sonstigen Nahrungs¬
mittelhandlungen unter militärische Aufsicht zu stellen. Auf diese
Weise konnten die nötigen hygienischen Massregeln prompt durch¬
geführt werden.
Das Kriegsrecht wurde allgemein als eine Segnung empfunden
und sind irgendwelche Anstrengungen, sich demselben zu wider¬
setzen, nicht bekannt geworden.
Drei Tage nach der Katastrophe begann die Gesellschaft des
Roten Kreuzes, welche aus allen Teilen der Vereinigten Staaten Ab¬
geordnete sandte, ihre Samaritertätigkeit. Im Verein mit den städti¬
schen und militärischen Behörden etablierte dieselbe ein muster¬
haftes System. Der ganze Bezirk wurde in sieben grosse Sektionen
eingeteilt und jede derselben einem höheren Offizier unterstellt, dem
ein Exekutivbeamter der Gesellschaft als Berater zur Seite stand.
Diese Sektionen kontrollierten nun die bereits erwähnten Hilfs¬
stationen. Die Beiträge, welche nun aus dem ganzen grossen Lande
in reichlichem Masse flössen, wurden in diesen Sektionen geordnet
und verteilt. Das Militär überwachte vornehmlich das Eigentum,
die Lebensmittel, wie sie an der Eisenbahn oder am Hafen anlangten,
während die Repräsentanten des Roten Kreuzes die Verantwortlich¬
keit für die Personen und den Modus der Verteilung trugen. Dazu
gehörte auch die Kreierung eines Meldeamtes, welchem 150 Schul¬
lehrer vorstanden. Dort wurde der Name des Familienoberhauptes,
seine frühere Wohnung nebst jetzigem temporären Aufenthaltsort
und seine Berufsart registriert. Gehörte der betreffende einer Ge¬
nossenschaft, einem Kirchenverband oder einer Fraternität an, so
wurde auch davon entsprechende Notiz genommen. In Verbindung
mit dem Meldeamt organisierte sich zugleich ein Arbeitsnachweis¬
bureau unter dem Direktorium des Dr. P 1 e h n, Professor an der
Universität von Kalifornien.
Die Herren, welche sonst den Bakulus zu schwingen gewohnt
waren, bewährten sich ausserordentlich in ihrer neuen Sphäre. Sie
durchquerten die temporären Quartiere systematisch, jede Häuser¬
ruine, jedes Zelt, und jede Bretterbude wurden täglich mehrmals ab¬
gesucht und die Notdurft der Insassen berücksichtigt. Auf diese
Weise wurden täglich über 300 000 Personen anständig verköstigt.
Die Rationen bestanden aus Brot, Fleisch, Kaffee, Thee, Gemüse, ge¬
trockneten Früchten, Zucker, Salz und Essig. Ausserdem wurden
Seife und Talglichter verabreicht. Alkoholartige Getränke durften
nirgends verkauft werden. Der Gesundheitszustand ist bis auf den
heutigen Tag durchaus normal geblieben. So konnte man auf sani¬
tären Sukkurs mit gutem Gewissen verzichten und als wenige Tage
nach der Katastrophe 14 brave Krankenwärterinnen aus der 500
Meilen entfernten Stadt Seattle ankamen, um ihre Dienste anzubieten,
wurden sie mit der bezeichnenden Frage empfangen, ob sie Retour-
billet genommen hätten. So machte sich überall das Bestreben gel¬
tend, sich selbst zu helfen.
Prägt man sich, welche Klasse am schwersten betroffen wurde,
so darf man wohl den ärztlichen Stand nennen. Es ist bezeichnend
für dessen hohe Kulturstufe, dass er trotzdem die geringsten Ansprüche
stellte. Mit besonderem Stolz dürfen wir deshalb auf unsere Kol¬
legen in San Francisco blicken. Beinahe tausend derselben haben
ihr mühsam erworbenes Vermögen verloren. Ihre Instrumente und
Bücher sind verbrannt, ihre Patienten Gott weiss wohin geflüchtet.
Die Schuldbücher sind vernichtet, so dass man von gesetzlichen Aus¬
ständen nicht mehr reden kann und angesichts dieser furchtbaren Tat¬
sachen sahen wir die Kollegen mit Gefahr ihres Lebens durch die
Strassen eilen, nur darauf bedacht, ihren leidenden Mitmenschen Hilfe
zu bringen.
Einer der ersten Chirurgen Amerikas, welcher seine sämtlichen
Ersparnisse einbüsste, schrieb mir. dass er von uns keinesfalls irgend¬
welche Unterstützung annähme, so lange er gesund bliebe. Auch
einige andere Kollegen, welche von dem gleichen Unglück betroffen
waren, verhielten sich ebenso ablehnend. Dagegen wiesen sie uns
auf einige andere, welche erkrankt waren und erboten sich, ihnen
unsere Beiträge zuzuwenden. „Wir sind“, so heisst es in einem dieser
unvergesslichen Briefe, „trotz allem guten Mutes. Wir haben, als
uns noch die Flammen umtosten, nicht das Schicksal angeklagt, son¬
dern ihm gedankt, dass es uns wenigstens Leben und Gesundheit er¬
hielt. Dieses freudige Gefühl schien als leuchtende Sonne in die
Nacht unseres Verhängnisses.“
Die unverwüstliche amerikanische Tatkraft kennzeichnet sich
schon in dem Umstand, dass, als noch an einem Stadtende die Flam¬
men zum Himmel emporloderten, geschäftige Hände schon am anderen
wieder neu aufzubauen begannen. Das „California State Journal of
Medicine“, dessen Druckpressen gänzlich zerstört waren, gab am
1. Mai schon eine Nummer heraus mit der Vignette: „Wir leben
noch!“ Sie bestand zwar nur aus vier Druckseiten, aber unter den
Umständen war diese Publikation eine Grosstat zu nennen.
Der Gesamtschaden wird auf nahezu eine Milliarde Dollars ge¬
schätzt. Viele Feuerversicherungsgesellschaften sind nicht imstande
ihren Verpflichtungen nachzukommen, es ist jedoch zu hoffen, dass man
die meisten Ansprüche auf dem Wege eines mageren Vergleiches er¬
ledigt.
So gross auch die Ressourcen unseres gottgesegneten Landes
sind, einer solch ungeheuerliche Kalamität steht man doch schlecht
gewappnet gegenüber. Ganz Amerika hat sich zwar sofort auf¬
gerafft und viele edle Menschen griffen tief in ihre Taschen. Das ist
aber noch lange nicht genügend. Die Stadt New York allein sammelte
eine Million Dollars innerhalb eines einzigen Tages. Die Aerzte der
Stadt New York taten sich alsbald zusammen und sandten 15 000 Dol¬
lars (über 60 000 M.) an die San Franciscoer Kollegen. Ausserdem
wurden eine grosse Zahl von Instrumenten und Büchern geschickt.
Die deutschen Vereine New Yorks, besonders der Arion, der Lieder¬
kranz und die Vereinigung alter deutscher Studenten in Amerika,
erwarben sich durch ihre Opferwilligkeit grosse Verdienste. Was ist
aber alle Opferbereitschaft der Nachbarn gegen den edlen Heroismus
unserer Kollegen da draussen am Stillen Ozean?
Hoch klingt das Lied vom braven Mann!
Referate und Bücheranzeigen.
J. W. A. Wolff: Die Kernzahl der Neutrophilen, ein
diagnostisches Hilfsmittel bei Eiterungen des weiblichen Ge¬
schlechtsapparates. Heidelberg 1906. Verlag von C. W i n t e r.
Die Untersuchungen bauen sich auf der auch in dieser
Wochenschrift besprochenen A r n e t h sehen Blutbildlehre auf,
welche sie im wesentlichen bestätigen. Verfasser, welcher
unter Kernzahl die Zahl versteht, welche angibt, wie viele
Kerne (d. s. Kernschleifen und Kernfragmente) in 100 neutro¬
philen Blutzellen enthalten sind, glaubt auf Grund seiner Er¬
fahrungen, dass diese Kernzahl ein prognostisches Hilfsmittel
sei, welches nie im Stiche lasse. Je höher die Kernzahl, desto
günstiger sei die Prognose des Falles, und umgekehrt. Inwie¬
weit diese Sätze Gültigkeit haben, soll hier unerörtert bleiben,
zumal zu der endgültigen Beurteilung dieser Frage ausge¬
dehntere, klinische Nachprüfungen notwendig sind. Nicht
unwidersprochen aber dürfen die theoretischen Erörterungen
hingehen, auf welche der Verfasser seine ganze Lehre stützt.
Wolff behauptet nämlich, dass „eine Zelle (gemeint sind die
Leukozyten) um so widerstandsfähiger sei, ein je höheres
Alter sie besitze oder je mehr Kerne sie enthalte“. Soweit es
sich um Kernschleifen handelt, kann man bei dem Stande
unserer heutigen Kenntnisse vielleicht keinen Einwand gegen
diesen Satz machen. Allein betreffs der Zellen, welche Kern¬
fragmente beherbergen, erscheint diese Behauptung in jeder
Beziehung haltlos. Denn tausendfältige Beobachtung an sämt¬
lichen anderen Körperzellen lehrt, dass der Zerfall des Kernes
in Fragmente, die Karyorrhexis, das sicherste Zeichen für das
Absterben, den Untergang der Zelle bedeutet. Und so verhält
es sich selbstverständlich auch bei den Leukozyten. Daher
ist auch die Schlussfolgerung Wolffs irrig, dass „der Orga¬
nismus, der fast nur alte, ausgereifte Zellen mit mehreren
Kernen besitzt, am besten vorbereitet sei zum Kampfe gegen die
Eitererreger“. Schridde - Marburg.
F. Gumprecht: Die Technik der speziellen Therapie.
Ein Handbuch für die Praxis. Mit 205 Abbildungen. Vierte
umgearbeitete Auflage. Jena, G. F i s c h e r, 1906. 412 Seiten.
Preis 8 M.
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1877
Den lobenden Anzeigen, welche Rez. in dieser Wochen¬
schrift (1898, S. 1245, 1900, S. 1669, 1903, S. 2059) geschrieben
hat, braucht nichts weiter hinzugefügt zu werden. Das Buch
ist in der 4. Auflage sorgfältig durchgesehen, umgearbeitet
und, besonders in den Kapiteln Inhalation und Schmerzstillung,
erweitert worden, ohne dass dabei der Umfang um mehr
als 9 Seiten gewachsen, ohne dass der massige Preis erhöht
worden ist. Das Buch hat seinen Platz in der Bibliothek des
praktischen Arztes erobert. Es hat ihn in der neuen Auflage
behauptet. Es wird ihn, wenn der Verfasser mit gleicher Sorg¬
falt dieses Werk jung erhält, auch künftig behaupten. Eigentlich
muss man sich bei der praktischen Bedeutung des Buches
wundern, dass die Auflagen nicht noch viel schneller auf
einander folgen. Das würde der Fall sein, wenn sich jeder in
die Praxis tretende Arzt dieses vortrefflichen Ratgebers ver¬
sichern würde. Vielleicht trägt diese erneute Empfehlung
dazu bei, dass dies ausnahmslos geschieht. P e n z o 1 d t.
Gaultier Rene: Precis de Coprologie Clinique. Pre-
face de M. le Professeur A. R o b i n. (Une planche coloriee et
65 Microphotographies.) Paris, Bailiiere et fils, 1907.
375. pp. Prix 7 frs.
Nach einer einleitenden Darstellung der Methoden der
Stuhluntersuchung werden die einzelnen Bestandteile der nor¬
malen Fäzes ausführlich besprochen und durch zahlreiche Ab¬
bildungen illustriert. Daran reiht sich die Schilderung des
Stuhls in pathologischen Zuständen und die daraus sich er¬
gebenden diagnostischen und therapeutischen Folgerungen.
Eine eingehende Behandlung findet die funktionelle Prüfung des
Darmes. Verf. gibt zu diesem Zweck eine Probemahlzeit am
Morgen, bestehend aus Fleisch, Kartoffelbrei, Weissbrot,
Butter und Milch, die er mit Karmin abgrenzt. Die mangelhafte
prozentuale Ausnützung des Fettes bildet besonders bei der
Erkennung von Pankreasaffektionen ein wertvolles Hilfsmittel.
Auffallend ist, dass der Untersuchung auf okkulte Blutbei-
mischung im Stuhl und ihrer diagnostischen Bedeutung kaum
Erwähnung geschieht.
Prof. R o b i n betont in der Vorrede, dass Verf. mit vor¬
liegendem Grundriss eine Lücke in der französischen medi¬
zinischen Literatur ausgefüllt hat. In Deutschland hat dieses
Gebiet durch van Ledden-Hülseboch, vor allem aber
durch A. Schmidt und Strasburger, bereits eine
durchgreifende Bearbeitung gefunden. Daher dürfte uns, ab¬
gesehen von dem letzten Abschnitt über funktionelle Darm-
priifung, das Buch von G. wenig Neues bringen,
F. P e r u t z - München.
E. Wertheim und Th. Micholitsch: Die Technik
der vaginalen Bauchhöhlenoperationen. 319 Seiten, 138 Ab¬
bildungen. Preis 20 Mk., geb. 22 Mk. Leipzig, Verlag von
S. H i r z e 1, 1906.
Das soeben erschienene Buch von W e r t h e i m und
Micholitsch entspricht entschieden einem Bedürfnis. Wie
im Vorwort hervorgehoben, liegt trotz des grossen Auf¬
schwunges, den die vaginalen Bauchhöhlenoperationen im
letzten Dezennium genommen haben, keine systematische Dar¬
stellung derselben bisher vor. Damit eine solche allgemeinen
Anklang findet, muss sie mit einer genügenden Fülle von guten
Abbildungen versehen sein. Denn nur dann kann dem An¬
fänger das eigenartige der vaginalen Operationstechnik, die
dem Lernenden manche Schwierigkeit bereitet, vollständig
klar werden. Das Buch muss in Bildern reden und wenn
diese richtig ausgewählt und klar sind, bedarf es nur eines
beschränkten Textes, um der Aufgabe ganz gerecht zu werden.
Von dieser richtigen Voraussetzung ausgehend, haben die
Verfasser in erster Linie Wert gelegt auf möglichst gute Fi¬
guren, die in anatomischer Hinsicht das beste bieten und in
ihrer technischen Ausführung dem Auge des Künstlers gerecht
werden. Ein Bedürfnis, das seit der Anregung durch den
B u m m sehen Grundriss immer allgemeiner wird! Den Ab¬
bildungen liegen photographische Aufnahmen zugrunde. Jede
Operation ist Schritt für Schritt dargestellt, sodass eine Phase
der andern sich ausschliesst und aus dem Vergleich der Fi¬
guren die Bewegungen und Handgriffe des Operateurs, der
normale Verlauf der Operation und die Ueberwindung unvor¬
hergesehener Schwierigkeiten vor den Augen des Lesers sich
abrollen. Wie nach der Mitwirkung der Verfasser an der Aus¬
bildung der vaginalen Technik, Wertheims insbesondere,
nicht anders zu erwarten war, haben die ganzen Darstellungen
vielfach ein durchaus persönliches Gepräge. Dieser Wert des
Buches kommt demjenigen zu gute, der die Technik kennt und
kritisch beurteilen kann und endlich die dritte wichtige Eigen¬
schaft: im Dienste der Vorlesung bedeutet das Buch ein aus¬
gezeichnetes. bisher nicht vorhandenes Lehrmittel, dem Stu¬
denten ein leichtes und klares Verständnis einer vaginalen
Operation zu geben.
Die Arbeit der Verfasser ist also freudig zu begrüssen, die
möglichste Ausnützung ihrer Leistung durch Verbreitung ihres
Atlasses sehr zu wünschen.
Der Inhalt des Buches zerfällt in einen allgemeinen und
einen speziellen Teil. In dem ersten wird die Technik der
vorderen und hinteren Coeliotomie an sich geschildert, das Ein¬
stellen und Vorziehen des Uterus und seiner Adnexe. Auf die
Beleuchtung der Bauchhöhle durch das eröffnete Scheiden¬
gewölbe nach v. Ott wird kurz eingegangen. Wertheim
zieht die vordere Coeliotomie der hinteren vor. Dies gilt so¬
wohl für Operationen am Uterus als an den Adnexen. Nor¬
malerweise liegt der Uteruskörper dem vorderen Scheiden¬
gewölbe näher als dem hinteren; die Entwicklung der Adnexe
wird leichter, weil die Entfernung vom Uterushorne zum vor¬
deren Scheidengewölbe kürzer ist als zum hinteren. Ferner
ist auch die Orientierung leichter, weil bei der vorderen Coelio¬
tomie die Organe mehr in ihrer normalen Lage bleiben. Diese
Vorteile wiegen die möglichen Schwierigkeiten der Blasen¬
ablösung vollständig auf. Auch für pathologische Verhältnisse
trifft dies teilweise zu, so für die vaginale Myomektomie viel¬
fach und für die Exstirpation von Ovarialtumoren. Für Tu¬
moren, die im Douglas sitzen, vom hinteren Scheidengewölbe
aus leichter zugänglich sind und einen langen Stiel besitzen,
mag die hintere Coeliotomie richtiger sein. Aber auch für hier
gelegene ist nach den Verfassern die vordere Coeliotomie der
geeignetere Weg, weil der Stiel besser zugänglich ist, wenn
auch die Einstellung des Tumors durch die Coeliot. post,
leichter ist.
Im speziellen Teil werden die einzelnen Operationen in
ihrem genauen Verlauf geschildert: A. Die Operationen mit
Erhaltung des Uterus (die vaginale Verkürzung der Ligamenta
rot., die Vaginofixation des Uterus, die intravaginale Fixation,
die Verkürzung der Ligamenta sacrouterina, die vaginale
Myomektomie, die Operationen an der Tube, die Ovariotomie.
B. Die Exstirpation des Uterus („vom Korpus, von den Para¬
metrien her“; bei Myom; mit Präparation der Ureteren). C. Die
Exstirpation des Uterus sammt Adnexen. In 3 kürzeren Ab¬
schnitten wird zum Schluss die Blutstillung bei den vaginalen
Bauchhöhlenoperationen, die Drainage und das Verhalten bei
Nebenverletzungen behandelt.
Manche Abschnitte hieraus wären besonders hervor¬
zuheben: Die vaginale Myomektomie mittels Morcellement mit
Erhaltung des Uterus; die Präparation der Ureteren; die Hemi-
sectio uteri u. a. m. Zur vaginalen Ovariotomie ist die einzige
Voraussetzung die genügende Beweglichkeit des Tumors.
Wenn Verwachsungen vorhanden sind, ist auf diesen Weg
besser zu verzichten. — Tumoren, die im Douglas inkarzeriert
sind, lassen gelegentlich über das Bestehen von Verwachsungen
im Unklaren. In solchen Fällen ist die explorative hintere
Kolpotomie auszuführen und die abdominale Operation vor¬
zuziehen, wenn Verwachsungen vorliegen, die das Entwickeln
des Tumors zu schwer erscheinen lassen. — Eine Kontraindi¬
kation gegen die vaginale Exstirpation von Ovarialtumoren ist
durch Malignität derselben gegeben. Ueberhaupt empfiehlt es
sich, bei soliden Ovarialtumoren von der vaginalen Entfernung
abzusehen. — Die Drainage wird am zweckmässigsten mit
Gaze ausgeführt, da Röhrendrains leicht herausgleiten. Sie
bietet ausserdem den Vorteil, dass sie bald einen Abschluss
der Bauchhöhle herbeiführt, da früh Verwachsungen entstehen,
die, obwohl anfangs leicht zerreisslich, doch vor einer Infektion
der Bauchhöhle vielfach schützen, ausserdem sekundäre Per¬
forationen im Bereich des Wundgebietes nach aussen ableitet.
1878
MUENCHENER MEDIZINISCEIE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
In solchen Fällen bleibt die Gaze 10—11 Tage liegen. Wenn
cs sich nur um Abfliessen von Flüssigkeit handelt (Aszites,
Exsudat, Blut) kann sie schon nach 1 — 2 Tagen entfernt werden.
Aus der Fülle des gebotenen Materials mögen nur diese
Punkte angeführt werden. Vielleicht können sie eine teilweise
Vorstellung von dem reichen Inhalt des Buches von Wert-
h e i m und Micholitsch geben.
Priv.-Doz. Dr. Schickele - Strassburg i. E.
B. Nocht: Vorlesungen für Schiffsärzte der Handels¬
marine über Schiffshygiene, Schiffs- und Tropenkrankheiten.
Mit 34 Abbildungen und 3 Tafeln. Leipzig 1906. Georg
T h i e m e. 332 Seiten. 8.40 M.
Es ist mit lebhafter Freude zu begrüssen, dass die so an¬
ziehenden und interessanten Vorlesungen, die vom Verf. im
Tropenhygienischen Institut gehalten wurden, als Buch nun¬
mehr erschienen sind, stellen sie doch auch gleichzeitig das
erste zusammenfassende Werk über alle in das Gebiet des
Schiffsarztes der Handels- lind Kriegsmarine fallende Dinge
dar. Das ganze grosse Gebiet der Schiffshygiene und der
tropischen Krankheiten mit all den vielen Einzelheiten, den
schwierigen Fragen über die Unterkunft Gesunder und Kranker
an Bord, der Epidemiologie, Therapie und Prophylaxe der
tropischen Krankheiten, die Wasserversorgung an Bord, der
Desinfektion der Schiffe und Ueberwachung des Seeverkehrs,
die Quarantäne usw. ist in übersichtlicher und für den Arzt
erschöpfender Weise dargestellt.
Das Buch wird ein wertvoller Berater für alle zu Schiff
fahrenden Aerzte werden und weitere Anregung geben zu den
interessanten und wichtigen Studien, die die Tropenhygiene
bietet und mit Genuss dürften alle, die persönlich den Vor¬
lesungen im Hamburger Tropeninstitut beiwohnen konnten, auf
das Niedergeschriebene zurückgreifen, um das, was sie früher
hörten, in dem wissenschaftlich modernsten Gewände wieder
von neuem in sich aufzunehmen. Das Werk ist eine zeit-
gemässe und wichtige Erscheinung auf dem Büchermarkt, die
wirklich einmal „eine Lücke ausfüllt“.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Dr. Paul Sudeck: Der Arzt als Begutachter auf dem
Gebiete der Unfall- und Invalidenversicherung. 2. Abteilung:
Chirurgische Erkrankungen, besonders der Bewegungsorgane.
Handbuch der sozialen Medizin, Bd. VIII, Abteil. 2. Jena,
Gustav Fischer, 1906. 244 Seiten. Preis 10 M.
Das jüngst erschienene Werk wird zweifellos einen grossen
Leserkreis finden und wird, was wohl noch mehr sagt, nicht
nur einmal gelesen werden, sondern immer und immer wieder
zur Hand genommen werden. Eignet es sich doch durch die
Art seiner Darstellung und durch die Beigabe ganz vortreff¬
licher lebenswahrer Illustrationen für den ärztlichen Begut¬
achter als Nachschlagewerk und als Testobjekt bei dem Ver¬
gleich des zur Begutachtung vorliegenden Materials mit der
Norm. Die vorhandenen Lehrbücher der Chirurgie und der
Unfallkeilkunde ergänzt es in ausgezeichneter Weise. Die Ein¬
teilung, die generell durch den allgemeinen wie durch den spe¬
ziellen Teil hindurch geht, berücksichtigt nur drei Punkte:
1. die zweifelhafte traumatische Aetiologie; 2. die Unter¬
suchung; 3. die Bewertung der Erwerbsfähigkeit. Im 1. Teil
findet man daher nur diejenigen Erkrankungen, deren Be¬
ziehung zu einem Trauma zweifelhaft ist. Beim 2. Teil ist
der Röntgenuntersuchung ein allgemein breiter Raum ein¬
geräumt, wohl mit Recht, weil gerade dieser Untersuchungs¬
methode in so unendlich vielen Fällen eine Bedeutung zukommt.
Sehr zu begrüssen ist die Besprechung der Varietäten an den
Extremitätenknochen, sowie der Verhältnisse der Epiphysen¬
linien, soweit sie erfahrungsgemäss zu falschen Deutungen Ver¬
anlassung geben. Dass der Arbeit ganz ausgezeichnete
Röntgenbilder beigegeben sind, ist eigentlich selbstverständ¬
lich; von ebensolcher Anschaulichkeit sind anatomische Tafeln,
die das graphisch darstellen, was bei Inspektion und Palpation
am lebenden Körper wahrnehmbar wird. Diese Tafeln sind
ausserordentlich instruktiv und ersetzen langweilige Text¬
beschreibungen in erfreulicher Weise. Ausser der Anatomie
am Lebenden ist dann noch im 2. Abschnitt die Untersuchung
der physiologischen Funktion nebst den Funktionsstörungen be¬
handelt. Die Funktionsstörung leitet dann zum 3. Abschnitt,
der Bewertung der Erwerbsfähigkeit, über.
Die gesetzlichen Forderungen der letzten Jahre haben dem
praktischen Arzt so viel neue Aufgaben gestellt, dass er froh
sein wird, in diesem Lehr-, Anschauungs- und Nachschlage¬
werk eine Reihe von Fragen, die sich jedem Begutachter auf¬
drängen, beantwortet zu finden. Die Benutzung dieses Buches
wird dazu beitragen, das Niveau der den in Betracht kom¬
menden Instanzen vorzulegenden Gutachten wesentlich zu
heben. Werner- Hamburg.
Neueste Journalliteratur.
Deutsches Archiv für klinische Medizin. Bd. 87. 5. — 6. Heft.
XXIV. J. Bi 1 and: Ueber die durch Nebennierenpräparate ge¬
setzten Gefäss- und Organveränderungen. (Aus der kgl. medizin.
Klinik zu Königsberg.)
Bei 18 Kaninchen wurde 1 prom. Suprarenin. hydrochloricum
(Höchst) intravenös (Ohrvene) eingespritzt; bei 8 Kaninchen wurde
in therapeutischer Absicht gleichzeitig KJ subkutan gegeben. Ueber-
raschender Weise waren bei gleichzeitiger subkutaner Anwendung
von KJ und intravenöser Injektion von Suprarenin die Gefässver-
änderungen bedeutend stärker ausgesprochen als bei der alleinigen
Anwendung von Suprarenin. So fand sich z. B. in einem solchen
Falle der ganze Aortenbogen diffus erweitert und durch dichte An¬
einanderlagerung von konvex nach aussen vorgebuchteten Kalkplatten
in ein starres, dünnes Rohr umgewandelt, im Bereiche der Aorta
thoracica und • abdominalis fanden sich kleinere und grössere sack¬
artige Aneurysmen und beetartige Verkalkungen; auch die Arteriae
thoracicae, subclaviae und Carotis communis waren mit ergriffen;
. das Herz zeigte starke exzentrische Hypertrophie. Bei den nur mit
Suprarenin behandelten Kaninchen beschränkten sich die Gefäss-
veränderungen ausschliesslich auf die Aorta. Ob die Ursache der
Veränderungen der Gefässwand in mechanischen oder toxischen Mo¬
menten zu suchen ist und wodurch die eigentümliche Lokalisation
der Nekrosen in der Aorta zu stände kommt, ist noch nicht sicher
entschieden. Der Blutdruck wird nach Suprarenininjektion nur ganz
vorübergehend erhöht und erfährt auch durch hochgradiges Atherom
keine dauernde Erhöhung. Die Herzhypertrophie ist als Arbeits¬
hypertrophie anzusehen. Im Herzmuskel wurde fleckweise Induration,
anämische Infarkte und Oedem beobachtet, in der Leber Nekrose
und Pigmentanhäufung der Leberzellen, in den Nieren fleckenweise
Nekrose, besonders der Epithelien der Tubuli contorti, seltener der
H e n 1 e sehen Schleifen, sowie Kalkablagerung ins Lumen der Tubuli
contorti oder recti und die Sammelröhren. Der Urin der Suprarenin-
tiere war stark toxisch, die toxische Substanz unbekannt.
XXV. Meisenburg: Ueber Harnsäurebestimmung durch di¬
rekte Fällung. (Aus der medizin. Klinik zu Leipzig.)
Mittels der vom Verf. angegebenen „Rotationsmethode“ (siehe
Original) ist eine genaue quantitative Bestimmung der Harnsäure im
Harn möglich, die mit der Ludwig -Salkowski sehen Methode
annähernd übereinstimmt; sie beansprucht aber längere Zeit und einen
kostspieligen Apparat. Ihr Vorteil liegt darin, dass sie nur die als
solche in Lösung befindliche Harnsäure zum Ausfallen bringt, die
übrigen event. vorhandenen komplexen Harnsäureverbindungen da¬
gegen nicht. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, zu prüfen, ob ge¬
wisse Arzneimittel im stände sind, die Harnsäure in komplexe Ver¬
bindungen überzuführen, und somit andere, vielleicht für die Therapie
brauchbare Lösungsbedingungen herbeizuführen. Auffallender Weise
ergab sich, dass Thymus und Nukleinsäure, von denen man am
ehesten eine komplexe Bindung der Harnsäure erwarten konnte, die
Menge der durch HCl fällbaren Harnsäure nicht verminderten, wäh¬
rend Koffein und Diuretin ein Minus an fällbarer Harnsäure aufweisen.
Die noch zu wenig umfangreichen Versuche werden fortgesetzt.
XXVI. G. Joachim: Ueber Mastzellenleukämien. (Aus der
kgl. medizin. Universitätsklinik zu Königsberg.
Bei 2 atypischen Leukämien fand sich eine exzessive Vermehrung
der Mastzellen. Der eine Fall kam in 17 tägiger klinischer Beobach¬
tung ad exitum; die am 5. Beobachtungstage einsetzende Röntgen¬
bestrahlung Hess die Gesamtzahl der Leukozyten rasch abnehmen,
insbesondere die neutrophilen und Myelozyten, während sich die
Mastzellen prozentual vermehrten. Der rasche Kräfteverfall und die
ungünstige Wirkung der Röntgenbehandlung weisen theoretisch und
praktisch der Mastzellenleukämie eine Sonderstellung unter den Leu¬
kämien ein.
XXVII. Ad. S c h m i d t - Dresden : Funktionelle Pankreasachyiie.
Analog wie beim Magen und anderen drüsigen Organen unterliegt
auch die Pankreasabsonderung funktionellen Störungen, deren Er¬
kundung allerdings durch die Unzugänglichkeit des Organs, die
beschränkte vikariierende Tätigkeit der übrigen Verdauungssekrete
oder akzessorisches Drüsengewebe erschwert wird. Immer¬
hin gewährt die aus der Beschaffenheit der Fäzes zu erschliessende
Resorptionsbehinderung, die besonders die Eiweiss- und Fettresorp¬
tion, in geringem Masse wohl auch die der Kohlehydrate betrifft, die
Sahli sehe Glutoidkapselmethode, die allerdings lediglich einen nega-
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1879
tiven diagnostischen Wert besitzt, insbesondere die vom Verf. ausge¬
arbeitete „Säckchenmethode“ (siehe Original), welche darauf basiert,
dass bei Ausschluss von längerer, starker Darmfäulnis das Pankreas¬
sekret das einzige Sekret des Verdauungskanals ist, welches die Kern¬
substanzen verdaut, sowie die auf probeweise Verabreichung von
Pankreon eintretende Besserung von Fleischlienterie -und Steatorrhoe
wertvolle Anhaltspunkte. Unter Berücksichtigung vorstehender Ge¬
sichtspunkte wird sich in der Regel der vollständige Ausfall des
Bauchspeichels in der Verdauung erkennen lassen, ebenso auch die
Fälle von einfacher funktioneller Herabsetzung der Sekretion, bei der
analog wie bei Achylia gastrica eine gleichmässige Beteiligung des
gesamten Drüsengewebes anzunehmen ist. Die Mehrzahl dieser Er¬
krankungen wurde bis vor kurzem als „nervöse Diarrhöen“ bezeichnet,
bis die Funktionsprüfung des Darmes einige Klarheit in dieses Gebiet
brachte. 3 lehrreiche Krankengeschichten illustrieren die interes¬
santen Ausführungen.
XXVIII. G. Jochmann: Zur Kenntnis der von den Harnwegen
ausgehenden Sepsisformen, a) Katheterfieber durch Staphylococcus
pyogenes albus, b) AUgemeininfektion mit Bacterium coli. (Aus der
medizin. Universitätsklinik zu Breslau.) (Mit 2 Kurven.)
Die im Gefolge von Katheterismus, Bougieren, Dilatationen unter
dem Sammelnamen „Katheterfieber“ zusammengefassten Temperatur¬
steigerungen sind meist durch von kleinsten Schleimhautdefekten der
Harnwege aus erfolgte Einschwemmung von Bakterien in die Blut¬
bahn bedingt, nicht etwa durch Intoxikation mit Uringiften. Solche
kleinste Schleimhautdefekte oder Epithellücken können auch ohne
jede instrumentelle Behandlung, z. B. dadurch entstehen, dass der Urin
mit grosser Kraft durch eine Striktur hindurchgepresst wird, so dass
bei bestehender Zystitis Bakterien gleichzeitig direkt in die Blutbahn
hineingepresst werden können. In einem Falle trat im Anschluss an
die Bougierung einer gonorrhoischen Striktur eine durch Staphyloc.
albus bedingte tödliche Sepsis auf; 2 Fälle von Kolisepsis, bedingt
durch einen Epitheldefekt infolge Dauerkatheters bezw. gonorrhoische
Striktur, durch bakteriologische Blutuntersuchung diagnostisch ge¬
sichert, endeten mit Genesung.
XXIX. M. P f i s t e r : Diffuse Phlegmone des ganzen Oesophagus
und Magens. (Aus der medizin. Klinik zu Heidelberg.)
Interessante kasuistische Mitteilung.
XXX. W. Ebstein: Ueber das Vorkommen von Blutgerinnseln
im Auswurf. (Mit 1 Abbildung.)
Bei einem 48 jährigen Manne fand sich eine durch kürzere oder
längere, mehr oder weniger freie Intervalle getrennte, anfallsweise
auftretende Entleerung von Blutgerinnseln, welche die Expektoration
von geringeren oder grösseren Mengen nicht geronnnenen Blutes teils
begleitete, teils ihr voranging und ihr folgte. Die Krankheit setzte
mit Blutspucken akut ein, es dauerte reichlich 3 Wochen, bevor da¬
nach das 1. Gerinnsel ausgehustet wurde. Die Erkrankung zog sich
über lVä Jahre hin und nahm, nach den Gerinnseln zu schliessen,
in den grösseren Aesten des Bronchialbaumes ihren Ausgang; erst
später wurden die feineren Aeste, danach die Lunge in Mitleiden¬
schaft gezogen. Wahrscheinlich handelte es sich um die Folgen einer
chronischen Bronchitis haemorrhagica.
XXXI. G. Edlefsen: Ueber medikamentöse und diätetische
Behandlung des Blasen- und Nierenbeckenkatarrhs.
Die Harnantiseptika, deren Wirkung auf Formaldehyd beruht,
sind indiziert, wenn pathogene Mikroorganismen (Bacterium coli,
Typhus, Staphylokokken) in der Blase bezw. ammoniakalische Zer¬
setzung innerhalb der Harnwege vorliegen. Sonst kommen gegen
Zystitis ältere Mittel in Anwendung (Terpentinöl, Kopaivabalsam,
Kal. chloricum, Folia uvae ursi, Salizylsäure, Salol), deren sekretions¬
beschränkende und epithelneubildende Wirkung mehr gewürdigt wer¬
den sollte, insbesondere bevor man als Ultimum refugium zur Blasen¬
spülung übergeht. Bei tuberkulöser Zystitis erreicht man noch am
meisten mit Kreosot oder Guajakol, bei gonorrhoischer Zystitis mit
Kopaivabalsam, der dem Santalöl und Gonosan überlegen ist. Das
gelegentliche Auftreten von Strangurie oder Hämaturie nach 1 er-
pentinölgebrauch ist bei Vorsicht ohne besondere Bedeutung. Das
sehr wirksame Kal. chloricum erfordert lediglich eine richtige
Dosierung und zwar muss es bei akuter und chronischer Zystitis
in einer Dosis gegeben werden, die eine möglichst reichliche
Ausscheidung des Salzes mit dem Harn gewährleistet,
4—6 g pro die in Lösung. Kontraindikationen sind lediglich alle Zu¬
stände von dauernder oder temporärer Venosität des Biutes, Ulcus
ventriculi, Nephritis. Wenn die Nieren und Verdauungsorgane intakt
sind, ist eine besondere Diät unnötig, auch Pfeffer, Senf, Spargel, Ge¬
würze sind erlaubt; dagegen ist Alkohol für die Dauer der Behandlung
verboten, höchstens etwas Mosel- oder Rotwein mit Wasser. Als
Getränke sind Brunnenwasser, Milch, Buttermilch, Thee und Mineral¬
wasser erlaubt, so lange der Harn sauer ist; bei alkalischer Re¬
aktion des Harns sind nur reines Trinkwasser oder Säuerlinge ge¬
stattet. Der Harn soll aber nicht zu sehr diluiert sein, um die Me¬
dikamentwirkung nicht zu sehr zu verdünnen.
XXXII. E. Wennagel: Ueber die Beziehungen zwischen
Krankheitsdauer und Alter der Darmläsionen beim Abdominaltyphus.
(Aus der medizin. Klinik der Universität Strassburg i. E.)
In der ersten Krankheitswoche findet sich gewöhnlich kein älteres
Stadium als das der Schorfbildung. In der zweiten Woche wird in
der Hälfte der Fälle der Zustand der markigen Schwellung beobachtet.
Vor der dritten Woche findet man selten gereinigte Geschwüre. Es
ist nicht möglich, aus dem anatomischen Befund das Alter des Krank-
heitsprozesses mit Sicherheit zu bestimmen. Die krankhaften Er¬
scheinungen sind keine Folgen der Darmläsionen, sie sind ihnen kooi-
diniert. Der Typhus ist also als eine Allgemeinerkrankung aufzu¬
fassen, bei der Darmläsionen Vorkommen können.
XXXIII. E. S c h n o 1 1 : 2 Fälle von Adams-Stokes scher
Krankheit mit Dissoziation von Vorhof- und Kammerrhythmus und
Läsion des H i s sehen Bündels. (Mit 6 Kurven und 2 Abbildungen.)
Herzblock scheint eine konstante Erscheinung in dem Symptomen-
komplexe der Adams-Stokes sehen Krankheit zu sein. Fehlen
der Venenpulsation mag in manchen Fällen durch Paralyse des Vor¬
hofs zu erklären sein. Die pathologisch-anatomische Grundlage des
Herzblocks wurde in Uebereinstimmung mit den 1 ierexperimenten in
einer Läsion des H i s sehen Bündels gefunden. Die Anfälle der
Adams-Stokes sehen Krankheit mit vollständigem Stillstand
des Ventrikels sind verschieden, je nachdem unvollständiger oder
vollständiger Block zwischen Vorhof und Kammer besteht.
XXXIV. H. Pässler: Beitrag zur Pathologie der Nierenkrank¬
heiten, nach klinischen Beobachtungen bei totaler Harnsperre. (Aus
der II. medizin. Abteilung des Stadtkrankenhauses Dresden-Friedrich¬
stadt.) _ . ...
Die Beobachtungen an einer 42 jährigen Frau, die nach 12 tägiger
kompletter Harnsperre starb, ohne dass Krämpfe, Delirien, Koma oder
Amaurose aufgetreten wären, gestatten den Schluss, dass die Er¬
scheinungen der Urämie jedenfalls nicht in allgemeingültiger Weise
auf eine Harnanhäufung im Organismus zurückgeführt werden dürfen,
dass vielmehr die eklamptisch-urämische Erscheinung wohl auf
die Wirkung einer toxischen Substanz zurückzuführen ist, die im
normalen Harn nicht enthalten ist. Im vorliegenden Falle konnte
hydraemische Plethora plus Stoffwechselschlackenretention nicht
Oedeme vom Typus des Anarsarka bei akuter Nephritis hervorrufen.
Die Genese des Oedems bei Nierenkrankheiten kann keine einheitliche
sein: est ist bei Nephritis sowohl ein echtes nephrogenes Retentions¬
ödem, wie ein extrarenal bedingtes Oedem anzunehmen. Die Blut¬
druckkurve des vorliegenden Falles von Harnsperre spricht zu Gunsten
der Theorie, welche die arterielle Blutdrucksteigerung bei Nephritis
auf die Retention harnfähiger Stoffe zurückführt.
XXXV. Rolly: Zur Kenntnis der durch das sogenannte Bakt.
paratyphi hervorgerufenen Erkrankungen. (Aus der medizin. Klinik
zu Leipzig.) (Mit 4 Kurven.)
Die klinischen Erscheinungen der Paratyphusfälle gestatteten
unschwer eine Trennung in eine typhöse und eine gastrische Form.
Dabei werden verhältnismässig selten die lymphatischen Organe des
Darmes ergriffen; Darmgeschwüre und klinische Darmblutungen kom¬
men vor, haben aber meist eine andere Genese als beim Unterleibs¬
typhus. Die Darmaffektion ist als schwere Gastroenteritis mit Nei¬
gung zu Blutung, hämorrhagischen Prozessen mit anschliessender
Geschwürsbildung zu bezeichnen, wobei die hämorrhagischen und
ulzerösen Prozesse sich in allen Teilen des Magendarmkanais regellos
etablieren können. Daneben finden sich natürlich auch parenchy¬
matöse Degeneration der inneren Organe, Milzschwellung etc., so dass
ein absolutes Charakteristikum bezw. Unterscheidungsmerkmal zwi¬
schen Typhus und Paratyphus in klinischer und anatomischer Hin¬
sicht nicht besteht. B a m b e r g e r - Kronach.
Zeitschrift für Tuberkulose. Band IX, Heft 3. 1906.
Schmieden, Geh. Baurat, und B o e t h k e, Reg.-Baumstr.:
Ueber die Arbeiterwohnungsfrage und die Schwierigkeit ihrer Lösung.
Behandelt wird die Lage der Arbeiterwohnungen, die allgemeine
bauliche Beschaffenheit, der Raumbedarf, Grundriss und Aufbau, die
finanzielle Frage, die verkehrstechnischen Aufgaben. Es ist den
Verfassern gelungen, auf diesen wenigen Seiten ein recht klares Bild
der verwickelten Frage zu geben. Besonders interessant sind die
Darlegungen (mit Plan) über das Grundstück des Beamtenwohnungs¬
viertels in Charlottenburg. Das Schwergewicht der ganzen Frage liegt
nicht zum wenigsten in den verkehrstechnischen Schwierigkeiten,
deren Beseitigung von irgend einer Seite, vielleicht sogar durch das
Reich in Angriff genommen werden muss. Sie sind aber so gross,
dass man wie bei anderen Kulturaufgaben nicht erst auf ihre Be¬
seitigung warten darf, sondern diese schon, so gut es ohne dem geht,
zu lösen versuchen muss.
Dr. J. G a b r i 1 o w i t c h - Halila : Beitrag zur hygienischen
Meteorologie. Ueber Husten und Blutspeien.
Durch Tabellen und Kurven wird gezeigt, dass Husten und Blut¬
speien innig mit der Barometerkurve Zusammenhängen. Die Husten¬
kurve folgt dieser durch alle Monate des Jahres; Blutspucken ist be¬
dingt durch die Schnelligkeit von Luftdruckänderungen. Schwan¬
kungen von 0,5 bis 1 mm pro Stunde rufen Hämoptoe hervor.
Leon K a r w a c k i - Varsovie: Sur l’homogeinisation des bacilles
acido-resistants.
Leon K a r w a c k i - Varsovie: Sur un nouveau reactif pour
l’agglutination tuberculeuse.
Ausführung des im Titel Gesagten auf zusammengenommen vier
Seiten.
Dr. Alfred F e 1 d t - St. Petersburg: Ueber Marmoreks Anti-
tuberkuloseserum.
1880
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCEIRIFT.
No. 38.
Schilderung der Studienergebnisse des Serums an Ort und Stelle
und der eigenen Erfahrung. Daraus, wie auch aus der Schlussauf¬
forderung zu weiteren Beobachtungen, geht hervor, dass der Wert
dieses Serums noch keinesfalls feststeht.
Di. .1. M i t u 1 e s c u - Bukarest: Die Ergebnisse der spezifischen
Behandlung in der chronischen Lungentuberkulose. (Schluss folgt.)
Die Beilage enthält eine ausführliche Zusammenstellung über:
Die Iuberkulose in Preussen, über die Verhältnisse der einzelnen Re¬
gierungsbezirke und über das, was dagegen getan wird.*)
L i e b e - Waldhof Elgershausen.
Archiv für klinische Chirurgie. 80. Band, 2. Heft. Berlin,
Hirschwald, 1906.
15) L i e k: Experimenteller Beitrag zur Frage der heteroplasti¬
schen Knochenbildung. (Chirurgisches Stadtlazarett in Danzig.)
Jhe Experimente sind an der Niere des Kaninchens ausgeführt;
die Gefässe der Nieren wurden unterbunden und die Tiere verschie¬
den lange Zeit — Vs Stunde bis 300 Tage — nach der Operation
getötet. L. bezweckte mit diesen Versuchen eine Nachprüfung und
Vervollständigung der Experimente von Sacerdotti und Frat-
t i n, die bei dem gleichen Vorgehen fast regelmässig die Bildung von
echtem Knochen nachgewiesen hatten.
Die Ergebnisse L.s sind nach seinen Schlussätzen folgende:
1 ) In Kaninchennieren kommt es bei dauerndem Verschluss der grossen
Gefässe zu ausgedehnter Nekrose und nachfolgender Verkalkung.
2) In den verkalkten Nieren, fernab von jedem osteogenen Gewebe,
bildet sich ganz regelmässig echter Knochen und echtes Knochenmark;
schon nach 41 I agen sind Anfänge der Knochenbildung vorhanden,
nach etwa 3 Monaten findet man fast ausnahmslos gut ausgebildeten
Knochen. 3) Der Knochen entsteht dort, wo junges zellreiches Binde¬
gewebe auf verkalktes Gewebe stösst. Die Zellen lösen den Kalk auf
und wandeln sich zum Teil in Knochenzellen um; der gelöste Kalk
wird zum Aufbau der Interzellularsubstanz verwandt. Das Knochen¬
mark entsteht ebenfalls aus Bindegewebe. 4) Der neugebildete Kno¬
chen verfällt allmählich der Nekrose; die ersten Zeichen der Nekrose
finden sich schon 110 Tage nach der Gefässunterbindung; nach 300
I agen ist fast der ganze Knochen nekrotisch geworden.
Die Knochenbildung im Bindegewebe wird also durch diese Ver¬
suche ganz exakt und einwandsfrei erwiesen.
18) C a s p e r - Berlin: Ueber ungewöhnliche Nieren- und Nieren¬
beckenblutungen.
C. unterzieht an der Hand von 7 interessanten Krankenge¬
schichten die sogenannten „essentiellen Nierenblutungen“ oder „Blu¬
tungen aus gesunden Nieren“ einer eingehenden Kritik. Wie er an
seinem Materiale nachweist, beruht ein Teil dieser rätselhaften Fälle
zweifellos auf einer Nephritis, die man u. U. mikroskopisch sicher fest¬
stellen kann, auch wenn alle klinischen Zeichen einer Nephritis fehlen.
Nephritiden, selbst solche vorwiegend parenchymatöser Natur, können
nämlich lange Zeit bestehen, ohne dass Zylinder und Eiweiss im Urin
auftreten; der Harn muss bei solchen Fällen während der blutfreien
Periode Wochen und Monate lang gründlich auf pathologische Be¬
standteile untersucht werden, wenn man über diese Fälle völlig ins
Klare kommen und sie als Nephritiden erkennen will. Dass aber ganz
chronisch verlaufende Nephritiden, und zwar sowohl solche vor¬
wiegend parenchymatöser wie auch diejenigen mit indurativer Ten¬
denz, heftige und lang anhaltende Blutungen einer oder beider Nieren
verursachen können, ist allgemein anerkannt und wird durch diese
Fälle C.s aufs neue bewiesen. Die Diagnose der Nephritisfälle, die
mit eiweissfreiem Harne einhergehen, ist nicht immer mit Sicherheit
zu stellen; vor allem ist eine Verwechslung mit kleinen Hyper¬
nephromen möglich, da auch der Ureterenkatheterismus und die funk¬
tionelle Untersuchung keine absolut sichere Entscheidung erlauben.
Therapeutisch muss man sich deshalb in zweifelhaften Fällen bei der
bekannten Bösartigkeit der Hypernephrome zur frühzeitigen dia¬
gnostischen Freilegung der betreffenden Niere entschliessen.
Ferner gibt es aber, wie C. an 2 Fällen nachweist, eine weitere
Gruppe von Hämaturien, bei denen auch die mikroskopische Unter¬
suchung keine Anhaltspunkte für das Bestehen einer Nephritis ergibt.
Allerdings lassen sich minimale Veränderungen, wie kleine zirkum¬
skripte Herde von Rundzellenanhäufung, Schrumpfung und Verdickung
) Durch das Erscheinen des „Internationalen Zentralblattes für
die gesamte I uberkuloseliteratur“ von Brauer und Schroeder
dürfte sich der bisher wenig vollständige und ohne eigentliche be¬
stimmte Anordnung lose aneinander gereihte Referatenteil der Zeit¬
schrift unnötig machen. Es müsste überhaupt in der Fachpresse auf
grössere Vereinheitlichung hingearbeitet werden. Wozu soll der
fiii 1 uberkulose interessierte Arzt dieselben Aufsätze zweimal
referiert lesen? Die Zeitschrift für Tuberkulose hätte eine solche
intei nationale Uebersicht über die gesamte Literatur schon vor
mehreren Jahren selbst haben können. Sie wurde ihr von mir und von
zwei Kollegen angeboten. Die Bedingung, diesen Teil nicht unter
unseren Namen gehen zu lassen, konnten wir allerdings nicht an¬
nehmen. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Die Zeitschrift für
Hygiene und Infektionskrankheiten hat dann später ein gleiches An¬
erbieten überhaupt nicht beantwortet. Um so mehr ist im Interesse
der Sache dem Zentralblatte von Brauer und Schroeder Ge¬
deihen zu wünschen. Deshalb die vorstehende Bemerkung. Liebe.
einzelner Glomeruli etc. auch in diesen sonst ganz gesunden Nieren
meist nachweisen, aber diesen Befunden fehlt das wesentliche Kenn¬
zeichen der Nephritis, das Diffuse der Veränderungen. Solche minimale
Veränderungen finden sich in wohl allen Nieren nicht mehr ganz junger
Individuen; sie können keinesfalls als die Ursache der schweren,
langdauernden, lebensbedrohenden Blutungen aufgefasst werden. Es
bleibt also nur die Annahme übrig, dass es wirklich „essentielle
Nierenblutungen gibt, d. h. Blutungen, für die sich eine materielle
Grundlage in der blutenden Niere nicht findet. Für die Diagnose auch
dieser Fälle gilt das oben Gesagte: eine sichere Unterscheidung von
kleinen Hypernephromen, eventuell auch von Papillomen des Nieren¬
beckens ist nicht immer möglich; die Freilegung der Niere ist in
zweifelhaften Fällen deshalb unbedingt geboten.
21 ) Frangenheim: Ueber die Beziehungen zwischen der
Myositis ossificans und dem Kallus bei Frakturen. (Chirurgische Ab¬
teilung des Stadtkrankenhauses in Altona.)
F. weist an einem genau histologisch untersuchten Präparat von
traumatischer Muskelverknöcherung im Oberschenkel nach, dass
neben solchen Knochenteilen, die zweifellos ein Produkt des Periosts
sind, auch verschiedene in sich abgeschlossene, mit der Basis des
I umors zum Teil in keiner Verbindung stehende Ossifikationsherde
vorhanden sind, die ihre Entstehung dem intermuskulären Binde¬
gewebe und dem nach der Zerstörung der Muskulatur neugebildeten
Gewebe verdanken. Ganz dieselben Verhältnisse sind nun auch an
dem Kallus bei Frakturen nachweisbar; so oft F. einen Callus luxu-
riaiis untersuchen konnte (die Untersuchungen wurden hauptsächlich
an Präparaten von Schenkelhalsfrakturen ausgeführt), konnte er fest¬
stellen, dass sich neben dmn Periost auch die Weichteile in aus¬
gedehntem Masse an der K ochenneubildung beteiligten.
Die Entstehung der verschiedenen Formen abnormer Knochen¬
neubildung ist in .ihrer Aetiologie noch nicht geklärt. Die Myositis
ossificans traumatica und ihre sog. chronische Form, die als Reit- und
Exerzierknochen bekannten Gebilde, die Myositis ossificans progres¬
siva, die echten traumatischen Osteome (frakturlose Kallus-
geschwiilste 'König), endlich der Kallus, besonders der parostale,
haben hinsichtlich ihrer Entstehung das gemein, dass sie sich bei
Menschen finden, die zu einer abnormen Knochenneubildung prä¬
disponiert sind. Anders sind diese Erkrankungen vorläufig nicht zu
erklären; zu den echten Neubildungen sind sie sicher nicht zu zählen.
24) Brunner - Miinsterlingen : Zur Ausscheidung von Mikrobien
durch die Schweissdrüsen.
Zu kurzem Referat nicht geeignet*
27) Kleinere Mitteilungen:
.1 u r cic -Agram: Ein Fall von Hyperphalangie beider Daumen.
Die von J. beobachtete Frau hatte an jedem Daumen 3 voll¬
kommen entwickelte, in gelenkiger Verbindung miteinander stehende
Phalangen.
16) Hof mann: Zur Behandlung der knöchernen Ankylose im
Ellbogengelenk. (Chirurgische Klinik in Graz.)
17) Graser-Erlangen: Zur Technik der Radikaloperationen
grosser Nabel- und Bauchwandhernien.
19) Brentano - Berlin: Ueber Gefässschiisse und ihre Behand¬
lung.
.... Bunge: Zur Technik der Uranopiastik. (Chirurgische
Klinik in Königsberg.)
22) Wi ede: Ueber Ausscheidung von Bakterien durch den
Schweiss. (Chirurgische Klinik in Königsberg.)
23) R eh n -Frankfurt: Die Thymusstenose und der Thymustod.
26) Braun -Göttingen: Ueber die willkürlichen Verrenkungen
des Hüftgelenks.
27) Wrede: Ueber hämatogene Osteomyelitis durch Aktino-
mykose. (Chirurgische Klinik in Königsberg.)
Vorträge auf dem 35. Chirurgenkongress. Referate s No 16 _ 23
der Münch, med. Wochenschr. H e i n e k e - Leipzig.
z,entraiDiau iur Chirurgie. 19U6. No. 34 u. 35.
_ ..«No- M- 5an? Blum-Limburg: Mediane Schnittführung zur
Eröffnung der Speiseröhre.
In einem Fall von Einklemmung eines verschluckten Zehnpfennig¬
stuckes in _der Höhe der oberen Thoraxapertur bei 3jähr. Kinde
unternahm B nach einigen vergeblichen Versuchen, den Fremdkörper
mit der Kehlkopfzange zu fassen, die Oesophagotomie, die er mit
medianem Hautschnitt unterhalb des Kehlkopfes bis zum Jugulum,
seitlicher Freilegung der Trachea und Verschiebung derselben nach
aussen, auf ein vom Mund eingeführtes Wildunger Bougie (mit Blei-
jullung) ausführte, wonach nach Lichtung des Randes des festsitzenden
Fi emdkorpers mittelst stumpfen Schieihäkchens der Fremdkörper sich
entfernen liess. Bl. hat den Eindruck gewonnen, dass bei unterhalb
des Schilddrusenisthmus und tiefer liegenden Fremdkörpern diese
mediane Schnittführung der seitlichen vorzuziehen ist.
, Br°f. O. W i t z e 1 - Bonn: Silberkautschukseide an Stelle
des Silberdrahtes zur versenkten Naht.
, -u],0^z weiterer Ausbildung der Technik versenkter Silber¬
drahte zur Verhütung von Narbenbrüchen, ist sich W. bewusst ge-
bheben, dass jede Verwendung starren Materials in die Weichteile
des Körpers ihre Nachteile hat und suchte nach Ersatz für den Draht
in einem antiseptischen nicht imbibitionsfähigen, festen und nicht resor-
bierbaren Faden, kam aber mit Silberparaffinimprägnation zu keinem
IS. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1881
günstigen Ergebnis, das erst sein Assistcn Wederhake mit der
Silberkautschukseide erreichte.
W e d e r h a k e - Bonn : Herstellung der Silberkautschukseide.
Die zu imprägnierende Seide wird auf dicke Kocher sehe Drains
oder Glasplatten aufgewickelt, dann in Aether und weiter in Alcohol
abs. je 12 Stunden entfettet, dann in 10 proz. Wasserstoffsuperoxyd¬
lösung übertragen, worin sie 20 Minuten bleibt, von hier aus in
Silbersalzlösung — (30 ccm 1 proz. wässriger Arg. nitr.-Lösung, in die
man so lange offizineile Kalilauge tropft, bis der entstehende schwarz¬
braune Niederschlag durch einen weiteren Tropfen Kalilauge nicht
mehr verstärkt wird [wozu ca. 10 Tropfen nötig ! und zu der man so
lang tropfenweise Salmiakgeist unter ständigem Umschütteln zusetzt,
bis der Niederschlag vollständig aufgelöst, wasserklar geworden), in
welcher Silberlösung die Seide etwa 1 Stunde bleibt, wonach die
Seide tiefschwarz durch gleichmässige Imprägnierung mit mole-
kulärem Silber geworden; nun wird die Seide im Trockenschrank
bei etwa 100° getrocknet und danach auf 2 Stunden in reines Chloro¬
form gebracht, hiernach in eine Chloroformkautschuklösung (8 g
schwarzen Kautschuk und 50 g Chloroform), worin sie 12 Stunden
bleibt, dann kurz in Chloroform abgespiilt, getrocknet, in 1 prom.
Sublimatlösung gebracht, in dieser 10 Minuten gekocht und aufbe¬
wahrt, wonach das Nathmaterial gebrauchsfähig ist. Dieselbe Me¬
thode ist auch für Zwirn, Hanf etc. brauchbar. W. vindiziert der
so hergestellten Kautschukseide Sterilität und antiseptische Wirkung,
Nichtimbibierbarkeit, grössere Festigkeit, Einfachheit und Billigkeit
der Herstellung.
Emil H a 1 m - Budweis: Ueber retrograde Darminkarzeration.
Mitteilung einer bei 74jähr. Frau vorgenommenen Herniotomie
wegen eingeklemmten Bruches, bei dem schon der objektive Befund
mehrfache Besonderheiten, die nicht im Einklang mit den relativ hef¬
tigen subjektiven Erscheinungen standen, aufwies. Der Bruch war
nämlich weich, nicht besonders schmerzhaft, das Abdomen dagegen
im unteren Teil extrem schmerzhaft, prall gespannt. Die Operation
ergab im Bruchsack 2 Darmschlingen von normalem Aussehen, wäh¬
rend das im Abdomen befindliche Verbindungsstück die Erscheinungen
heftiger Einklemmung (Rötung, pralle Spannung, deutliche Inkarzera¬
tionsringe) aufwies. H. reiht diesen Fall den von Lauen stein und
Klauber mitgeteilten Fällen an und nimmt in seinem Fall einen voll¬
ständigen Verschluss der Mesenterialgefässe der Verbindungsschlinge
an, was die rasche Gangrän im Falle Kl. erklärt. H. hält es, da das
wesentliche die Einklemmung der Verbindungsschlinge ist, resp.
an ihr die ab- und zuführenden Gefässe 2 mal eine Einschnürung er¬
litten haben, auch nicht am Platz, von „2 Darmschlingen im ein¬
geklemmten Bruch“ zu sprechen, sondern möchte das Krankheitsbild
(analog ähnlichen Prozessen an Tube, Proc. vermiform. etc.) als
retrograde Inkarzeration des Darms bezeichnen; der Zustand ist natür¬
lich sehr bedeutungsvoll, spricht besonders gegen die Taxis und mahnt
uns, bei Befund zweier Darmschlingen in einem Bruch stets die Ver¬
bindungsschlinge zur Besichtigung zu bringen. Sehr.
Archiv für Orthopädie, Mechanotherapie und Unfall¬
chirurgie. IV. Bd. 4. Heft.
B a d e - Hannover : Partielle Hyperplasie als eine Ursache der
angeborenen Deformitäten.
Auf Grund zweier Fälle verschiedener Deformitäten, die beide
eine partielle Hyperplasie einzelner Skeletteile aufwiesen, kommt B.
zu der Ansicht, dass eine derartige Hyperplasie sehr wohl mecha¬
nisch zur Entstehung von Missbildungen führen könne. Im ersten
Falle handelte es sich um einen Klumpfuss, der durch Druck des
abnorm vergrösserten und etwas nach vorn verschobenen
Malleolus ext. verursacht war (auf der anderen Seite
Tibiadefekt). Im anderen Falle lag beiderseits eine volare
Subluxation des Handgelenks vor, mechanisch bedingt durch
Hyperplasie des peripheren Radiusendes. Verfasser bildet
zur weiteren Begründung seiner Theorie noch einige Hiiftluxa-
tions-Röntgenbilder ab, an denen er eine Hypoplasie des oberen und
eine Hyperplasie des unteren Pfannenquadranten nachweist, welch
letztere dem Kopf eine normale Stellung unmöglich macht. Die Ur¬
sache einer derartigen partiellen Hyperplasie bleibt dabei allerdings
unaufgeklärt.
Wittek-Graz: Eine seltene Wirbelverletzung.
W. schildert einen Fall von Bruch des Processus odontoideus mit
Luxation des Atlas gegen den Epistropheus. Zu bemerken* war im
besonderen, dass das Trauma infolge Einkeilung der einen Massa
lateralis atlantis in den Epistropheus nicht zu einer Zerquetschung des
Rückenmarks führte und der Fall infolge dessen nicht tödlich ausging,
und dass die Diagnose in vivo einwandfrei mit Hilfe der Röntgen¬
aufnahme gestellt werden konnte.
S c h u 1 1 z e - Duisburg: Die Luxatio paralytica infrapubica und
deren Behandlung.
An erster Stelle bringt Sch. die Krankengeschichten zweier
Fälle von fast völliger Lähmung eines resp. beider Beine, bei denen
das Erhaltensein einiger Muskeln durch einseitigen Zug die Luxation
des Hüftgelenkes bewirkt hatte. Die Diagnose wurde durch das Rönt¬
genbild bestätigt. Es bestand ausser den Lähmungserscheinungen
eine rechtwinklige Flexions- und Abduktionsstellung im Hüftgelenk.
Die Behandlung bestand in Reposition der Verrenkung nach Teno-
tomie der hindernden Muskeln. Die Verkürzung des Beines wurde
durch geeignete Prothesen ausgeglichen, womit die Patienten, da sie
jetzt wieder eine Stütze in ihrem Hüftgelenk hatten, in befriedigender
Weise gehen lernten, nachdem sie vorher auf den Gebrauch von
Krücken angewiesen waren. Wegen der ausgedehnten Lähmungen
war auch in beiden Fällen die Arthrodese des Kniegelenks nötig.
.1 es a s - Lausanne: Die Haltungsanomalien bei Hysterie.
Beobachtet wurden sowohl kyphotische wie skoliotische Ver¬
biegungen. Während die Kyphosen in ihrer äusseren Erscheinung
keine Abweichung von den Kyphosen anderer Aetiologie zeigen, sind
uie Skoliosen vorzugsweise Totalverbiegungen ohne Gegenkrümmung,
die erst nach langem Bestehen zu sekundären anatomischen Verände¬
rungen (Rippenbuckel) führen. Zur Sicherung der Diagnose gehört
noch der Nachweis anderweitiger hysterischer Symptome. Als Ur¬
sache derartiger Haltungsanomalien ist teils ein Kontraktionszustand,
teils eine Parese einzelner Muskelgruppen anzusehen. Manchmal
ist die Skoliose auch nur sekundär durch abnorme Haltung einer Hüfte
entstanden. Therapeutisch kommt neben der Korrektur der De¬
formität auch die Allgemeinbehandlung der Hysterie in Betracht.
Hartmann - Kassel : Bruch des anatomischen Halses des
'Oberarmkopfes.
Entstanden war diese seltene Verletzung dadurch, dass der
Patient im Fall mit der Achsel auf die Kante einer Stuhllehne auf¬
schlug. Die Erscheinungen waren zunächst unbedeutend. Erst nach
einiger Zeit führten Bewegungsstörungen in der Schulter, bedingt
durch Parese des Deltoideus, sowie Schmerzen den Patienten zum
Arzte, wo durch Röntgenaufnahme die Diagnose „Bruch des ana¬
tomischen Halses“ sichergestellt wurde. Die Heilung des Bruches
war infolge Einkeilung in guter Stellung erfolgt, während die be¬
gleitende Arthritis deformans die Bewegungsstörung und die Schmer¬
zen verursacht hatte.
Cr am er -Köln: Ein Fall von Metatarsus varus congenitus.
Im Gegensatz zu der Vqrusstellung der Metatarsen zum Tarsus,
die sich sehr häufig findet, ist die Varusbiegung der Mittelfussknochen
selten. C. beschreibt einen derartigen Fall von Varusbiegung bei
einem 25 jährigen Manne. Therapeutisch kam ein Eingriff nicht in
Frage, da die Deformität keine Störung bedingte.
K r u k e n b e r g - Elberfeld: Herzfehler infolge von Betriebs¬
unfall?
Durch Röntgenaufnahme wurde bei einer 66 jährigen Patientin,
die durch Stoss gegen die Brust einen Abszess und im Anschluss daran
Herzklopfen und Atemnot akquiriert hatte, eine intrathorakale Struma
festgestellt, wodurch in Verbindung mit der physikalischen Unter¬
suchung die anderen Möglichkeiten: adhäsive Perikarditis, Aneurysma
aortae, sowie Myokarditis und Klappenfehler ausgeschlossen wer¬
den konnten. Der Anspruch auf Unfallrente musste daher abgewiesen
werden. Ottendorff - Heidelberg.
Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bd. XXIII,
Heft 6.
1) Z i c k e 1 - Berlin: Beitrag zur Kenntnis der Pyelonephritis
gravidarum.
Die Diagnose der Pyelonephritis kann in vereinzelten, aber auch
in akut verlaufenden Fällen grosse Schwierigkeiten machen. Bei
fieberhaften Schwangerschafts- und Wochenbettserkrankungen sollte
man daher in jedem Falle, namentlich bei Fieber im Wochenbett,
wo die sonst diagnostisch wichtigen regelmässigen Urinunter¬
suchungen nicht durchgefiihrt werden können, wenigstens eine genaue
Palpation der Nieren prinzipiell und systematisch durchführen.
2) K e h r e r - Heidelberg: Ueber heterologe mesodermale Neu¬
bildungen der weiblichen Genitalien.
Zu kurzem Referat nicht geeignet.
3) W i 1 1 e k - Breslau : Die sklerotischen Gefässveränderungen
des Uterus bei Nulli- und Multiparen und die klimakterischen Blu¬
tungen.
Beschreibung von 4 wegen unstillbarer Blutung exstirpierten
Uteri. Die Zahl der auf Gefässveränderungen (Arteriosklerosis) be¬
ruhenden Hämorrhagien hält Verf. für weit grösser als man allgemein
annimmt.
Gesteigert wird die Disposition zu Sklerose zweifellos durch
häufige Geburten; ferner muss man an diese Gefässveränderung
denken, wenn auf Sekale oder Ergotin eine negative oder sogar ent¬
gegengesetzte Wirkung eintritt.
4) M a y e r - Heidelberg: Gonorrhöe und Wochenbett.
Die puerperale Gonorrhöe kann hohes Fieber (bis über 40°)
und schwere Allgemeininfektion mit Schüttelfrösten unter dem Bild
einer septischen lebensbedrohlichen Erkrankung verursachen. Ob
dabei eine Toxinwirkung oder Gonokokkeninvasion ins Blut statt¬
findet, lässt sich nicht entscheiden. Forensisch ist es wichtig, dass in
ätiologisch zweifelhaften Fällen nicht ohne weiteres Strepto- oder
Staphylokokkensepsis angenommen werden kann.
Grosse Remissionen in der Temperaturkurve und der Wechsel
zwischen hohem Fieber und mehrtägigen fieberfreien Perioden kom¬
men auch bei anderen Puerperalprozessen vor, sind also nicht be¬
weisend für Gonorrhöe, ebenso ist das Spätfieber nicht unbedingt
charakteristisch. Die Kinder gonorrhöekranker Mütter scheinen oft
schwächlich oder wenig widerstandsfähig zu sein. Ob der Grund
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 33.
1 882
dafür in einer krankhaften Anlage und Ausbildung der Plazenta oder
in einer Toxinwirkung gesucht werden muss, ist noch unentschieden.
Weinbrenner - Magdeburg.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 35 u. 36.
H. F ü t h - Leipzig: Ueber Spülungen mit Wasserstoffsuperoxyd
unter Einwirkung von Argent. colloidale oder von Permanganat.
Schon schwache Lösungen von Argent. colloidale und H>0*
genügen, um bei putreszierenden Entzündungen des Endometriums
sofortiges Verschwinden des Geruchs zu erzielen, was besonders
bei jauchigen, inoperablen Karzinomen sich bewährte. An Stelle des
teuren Argent. coli, bewährte sich E. auch das billige Permanganat.
Man braucht 2 Lösungen: I. 35 ccm des 3 proz. H2O2 oder 5 ccm
des Perhydrol auf 1 Liter Wasser; II. 2 g Cal. hypermang. und 10 ccm
verdünnte Essigsäure auf 1 Liter Wasser bei Verwendung des Per¬
hydrol; 5 ccm verdünnte Essigsäure bei Benutzung des 3 proz. H-O*.
Die Lösungen müssen gleichzeitig, aber getrennt mittels eines doppel¬
läufigen Rohres in den Uterus gebracht werden, so dass sie erst
in letzterem miteinander in Berührung kommen. Es entwickelt sich
hierbei reichlich freier Sauerstoff, der seine desodorierende Wirkung
entfaltet. Das Permanganat wirkt ebenso wie das Argent. colloidale
als Katalysator, d. h. es beschleunigt die Zersetzung des H2O2 unter
Bildung von O2, ohne selbst dabei Veränderungen einzugehen.
No. 36. F. Schenk-Prag: Zur Kasuistik der Harnleitersteine.
Sch. berichtet über den seltenen Fall, dass ein intravesikal im
Ureter sitzender Stein zystoskopisch diagnostiziert werden konnte.
Fi betraf eine 74 jährige Frau, die mit Erbrechen, Schmerzen und
Anurie erkrankte. Zystoskopisch fand sich die rechte Ureterenmün-
dung durch ein kegelförmig in die Blase vorragendes Konkrement
verlegt. Durch Diuretika gelang die spontane Entleerung des Steins
der allerdings nicht gefunden wurde. Alle Beschwerden waren nach
10 Tagen gehoben.
A. S i p p e 1 - Frankfurt a. M. : Wieviel Zeit muss nach der Ge¬
burt verstreichen, bis man plastische Operationen an den Genitalien
ausfiihren darf?
Fritsch will mit den meisten Autoren 6 Wochen nach der
Geburt operieren, Veit sogar schon 3—4 Wochen nachher. S. fand
in 2 Fällen, die 8 Wochen bezw. 3 Monate post partum operiert wur¬
den, die Schleimhaut noch so zerreisslich und weich, dass es zu
heftigen Blutungen kam, die Tamponade erforderten. Man soll daher
jede 1 lastik im Wochenbett erst vornehmen, wenn die Schleimhaut
nicht mehr hyperämisch und aufgelockert ist. J a f f e - Hamburg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 37.
L. v. R y d y g i e r: Zur chirurgischen Behandlung des Magenge¬
schwürs.
... Vorgetragen auf dem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft
für Chirurgie.
T ig uti n s k y - Kasan: Ein Beitrag zur Kenntnis des kon¬
genitalen Myxödems und der Skelettwachstumsverhältnisse bei dem¬
selben.
Schluss folgt.
W. Schulz e -Berlin: Die Silberspirochäte.
Auf Grund seiner an gesundem Pankreas- und Nebennieren¬
gewebe, dann auch an normaler und infizierter Hornhaut des Ka¬
ninchens vorgenommenen Silberfärbungen (nach Cajal bezw Le-
vaditi), wobei er spirochätenähnliche Spirillen nachweisen konnte
halt Sch. den Nachweis für erbracht, dass die von B e r t a r e 1 1 i und
Schaudinn als Spirochaete pallida bezeichneten Formen nur als
gefärbte Gewebsbestandteile zu deuten sind, deren nähere Bestim¬
mung (Nervenendfasern, Kittlinien der Hornhautlamellen) noch nicht
möglich ist. Wenn von manchen Autoren gerade diese Silberspiro-
chate als beweisend für die ätiologische Bedeutung der Spirochaete
pallida bei Lues erklärt wird, so muss daher diese Bedeutung bis
auf weiteres geleugnet werden.
H. F r i e d e n t h a 1 - Berlin: Ueber Spirochätenbefunde bei Kar¬
zinom und Syphilis.
F. kritisiert die verschiedenartigen von der Spirochaete pallida
gegebenen Beschreibungen und betont, dass die mit dem L e v a d i t i-
sclien Verfahren erhaltenen Silberspirochäten durch Alkoholschrump-
iung spiralig gewordene Teile von elastischen Fasern, marklosen
Nervengeflechten u. dgl. seien. Ihm selbst ist es gelungen, im Kar-
zmomgewebe solche, den Silberspiralen ganz ähnliche, Metallnieder¬
schlage zu erzeugen, welche er abbildet. Jedenfalls erfordern diese
Befunde, welche leicht zu Irrtiimern führen, eine erneute Prüfung der
Spirochatenfrage.
Hamburg: Ueber die Pollantintherapie des Heu-
C. Z a r n i k 0
fiebers.
1 • VerShe?n Material von 392 (287 europäischen und 205 ameri-
kamschen) ballen nach verschiedenen statistischen Gesichtspunkten
1SP°S* lon’ Geschlecht, Beruf, Zeitpunkt des Auftretens) gesichtet.
Bei 22 I roz. bestand Nervosität, bei 11 war Heufieber in der Familie
vorgekommen, bei 7 bestand gichtische Diathese. 25 Proz. hatten
perationen wegen Nasenerkrankungen durchgemacht. Das thera¬
peutische Gesamtresultat weist 61 Prozent vollständige, 23 Prozent
unvollkommene, 16 Prozent negative Erfolge auf. Von diesen be¬
ruhen manche gewiss auf ungeeigneter Anwendung des Mittels,
namentlich der Verwendung zu grosser Einzeldosen. In 4 Fällen
musste dasselbe wegen starker Reizerscheinungen aufgegeben wer¬
den. Zur Feststellung der Diagnose Heufieber empfiehlt Verf. das als
„Heufieberdiagnostikum“ in den Handel gebrachte Präparat. Die
positiv mit Juckreiz und Injektion der Konjunktiva und der Karunkula
reagierenden Fälle eignen sich am besten zur Pollantinbehandlung.
IV. R a u s c h k e - Berlin: Praktische Ergebnisse aus dem Ge¬
biete der Psychiatrie. Die diagnostische Bedeutung hypochondrischer
Vorstellungen.
Von Wichtigkeit ist auch für die Behandlung vor allem die
Feststellung, ob den hypochondrischen Vorstellungen, wie das bei
Neurasthenikern oft der Fall ist, irgendwelche objektive Grundlagen
gegeben sind oder nicht. Oft entwickelt sich aus ihnen die über¬
triebenste Krankheitsfurcht, die geradezu in Krankheitswahn über¬
gehen kann. So sind die hypochondrischen Vorstellungen oft ver¬
bunden mit Melancholie oder Paranoia, ebenso auch mit angeborenem
Schwachsinn und mit paralytischer Demenz. Als einheitliche be¬
sondere Form lässt R. die hypochondrische Form des phrenoleptischen
Irreseins gelten und führt hierfür zwei kurze Krankengeschichten an.
B e r g e a t.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 36.
1) H. Le 0 - Bonn: Ueber die Behandlung der Blutungen aus dem
Verdauungskanal.
Klinischer Vortrag.
2) E. Schlesinger und F. Holst- Berlin : Vergleichende
Untersuchungen über den Nachweis von Minimalblutungen in den
Fäzes, nebst einer neuen Modifikation der Benzidinprobe.
Verfasser fanden, dass in der gewöhnlichen Ausführung die Aloin¬
probe im allgemeinen der Guajakreaktion überlegen ist, während bei
Anwendung der Schummschen Vorschriften (Alkohol-Aether-Ex-
traktion) die Guajakprobe an Feinheit überlegen wird. Die für prak¬
tische Zwecke zu subtile Benzidinprobe haben Verfasser modifiziert,
so dass sie den anderen Methoden gegenüber mehrere Vorzüge erhielt
und auch für Untersuchung des Mageninhaltes auf Blut sich eignet.
3) F. R i n n e - Berlin: Operative Behandlung der genuinen Epi¬
lepsie.
veriasser operierte vor 12 Jahren einen 27 jährigen Epileptiker,
dessen Anfälle immer im rechten Arm begannen. Eine Dehnung des
Plexus brachialis war ohne Erfolg gewesen. Nach Freilegung der
linken vorderen Zentralwindung und Lokalisation der bewegenden
Zentren mittels faradischer Reizung wurde ein entsprechendes Stück
Rinde exzidiert. Nach / monatigem freien Intervall kamen wieder An¬
fälle, die jedoch seither nie mehr so heftig waren wie früher und den
I atienten durch eine Aura warnten. Die allgemeine körperliche und
geistige Leistungsfähigkeit stieg bedeutend, der rechte Arm ist
schwächer geworden und ermüdet leicht. Begünstigend wirkte viel¬
leicht dass der ausgemeisselte Knochenlappen federnd einheilte.
4) S 0 m mer - Giessen und R. Fürstenau - Berlin : Die schein¬
baren elektrischen Ladungen des menschlichen Körpers.
Bei den Versuchen, welche eine freie elektrische Ladung der
Fingerspitzen z. B. zu beweisen scheinen, handelt es sich um Influenz-
erscheinungen. Auch die Leuchterscheinungen beim Reiben evakuier¬
ter Glasbirnen beruhen auf einer Aenderung des elektrischen Feldes.
Der Grund für den verschiedenen Ausfall der Versuche mit ver¬
schiedenen Personen liegt nicht in einer individuell wechselnden
Quantität freier Elektrizität, sondern in anderen, physikalischen bezw.
physiologischen Ursachen (Schweissekretion, wechselnde Bewegungs¬
art u. a.).
5) Jul. B e 11 z e - Ofen-Pest: Drei Fälle von Polyglobulie mit Milz¬
tumor. (Schluss folgt.)
.6) G r e e f f und Clausen- Berlin : Spirochaeta pallida bei ex¬
perimentell erzeugter interstitieller Hornhautentzündung.
Die Uebertragung luetischen Materiales auf Kornea und Iris ge-
ang bei Affen und Kaninchen. Die Spirochäten vermehrten sich; das
klinische Bild glich dem der Keratitis interstitialis e lue hereditaria
auch eine Irispapel entwickelte sich.
7) L. K a t z - Kaiserslautern : Beitrag zur örtlichen Anästhesie¬
rung der oberen Atmungsorgane und des Ohres.
.. Als Kokainersatz verwendet Verf. Alypin da, wo Infiltrations-
anasthesie nicht 111 Betracht kommt, also für Ohr und Larynx* Novo-
kam bevorzugt er,^ wenn Adrenalin mit erwünscht ist.
8) Cassel-Schöneberg: Einiges über den Schlaf im Kindes-
alter.
Eigentliche Schlafmittel lassen sich fast immer durch allgemein
hygienische Vorschriften, Suggestivmittel, hydriatrische Methoden,
S ch mmSilfd e?unWegU " S Uni*ehen “ absesel>en von notwendiger
9) S k 1 a r e k - Hannover; Versuche mit dem neuen Anti-
gonorrhoikum „Santyl“.
Günstige Erfahrungen an 15 Fällen. R. Grashey- München.
w * ^ ■ • »VI I. i v <
Zur internen Behandlung der
No. 17. 1906.
R. Zollikofer-St. Gallen :
Perityphlitis.
Zur Vermeidung der Wasserverarmung des Körpers sind bei
dei internen Behandlung des akuten perityphlitischen Anfalles Rektal-
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1883
einläufe mit 0,6proz. Kochsalzlösung (täglich etwa 2 Liter in 3—4 Por¬
tionen) sehr bedeutungsvoll, sie regen die Peristaltik an und wirken
entgiftend.
Theodor Schneider-Qeiger: Zur Therapie der Eihaut¬
retention. (Aus dem Frauenspital Basel-Stadt, Dir.: Prof. v. Herff.)
Die Krankengeschichten des Spitals (nur 17 Proz. ledige Per¬
sonen) beweisen, dass bei Anwendung von Secale cornut. und Schei¬
denausspülungen die Folgen der Eihautretention geringfügig sind, also
die sofortige Entfernung zu unterlassen ist.
Hans Meer wein: Retrograde Inkarzeration und Netztorsion.
(Aus der chirurgischen Klinik in Basel.)
Es handelte sich um eine Netzhernie, die hauptsächlich bauch-
wärts von der Schnürstelle verändert war, mit Torsion des peri-
phersten Netzstückes im Abdomen. Literatur und Epikrise.
Pischinger.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 36. R. Doerr-Wien: Zur Frage der biologischen Aequi-
valenz von Bacterium coli und typhi.
Die hier beschriebenen Versuche D o e r r s dienen zum Beweise,
das die einschlägigen Versuche von Salus die Identitätslehre der
Lyoner Schule, welche auch T a r c h e 1 1 i und Z u p n i k vertreten,
nicht stützen können.
L. Kürt- Wien: Zur praktischen Grenzbestimniung des nor¬
malen Herzens.
K. bespricht eingehend die Methodik und die Erfolge der Per¬
kussion, Auskultation, direkten und indirekten Palpation des Herzens,
letztere von ihm besonders mittelst des Iktometers ausgebildet (vgl.
No. 15, 1905, der Wien. klin. Wochenschr.).
H. G o 1 d m a n -Brennberg: Beiträge zur Therapie der Hel-
minthiasis.
Vorgetragen auf der 77. Versammlung deutscher Naturforscher
und Aerzte.
L. Wolf -Niagara Falls: Aus der Praxis.
Verf. hat als Augenarzt wiederholt Gelegenheit zu der Beobach¬
tung gehabt, dass manche sogenannte neurasthenische Beschwerden,
weiter manche chronische Darmerkrankungen, wie Koliken oder
chronische Obstipation, letztere besonders in mit Chlorose zusammen¬
hängenden Fällen nach längerer sonstiger Behandlung erst dann
rasch und gründlich beseitigt wurden, wenn auf Grund genauer Re-
fraktionsbestimungen die Patienten mit entsprechenden Brillen ver¬
sehen wurden. Damit charakterisieren sich diese Zustände oft als
Reflexneurosen. Trotzdem dieses von Gould in Philadelphia ge¬
übte Heilverfahren vielfachem Misstrauen begegnet und geradezu als
Auswuchs der Medizin behandelt wird, empfiehlt Verf. doch eine
allgemeinere Beachtung und Nachprüfung des Gegenstandes.
Wiener medizinische Wochenschrift.
No. 33/34. W. Ml a d e j o v s k y - Prag: Ein Beitrag zur Patho¬
logie und Therapie der Fettsucht.
Der Annahme einer angeborenen Fettsucht widerspricht Verf.
Es besteht bei Kindern Fettsüchtiger oft vielmehr eine angeborene
Muskelschwäche, welche eine gewisse Trägheit begünstigt und so
entwickeln sich dann frühzeitig bei Ueberernährung übermässig fette
Individuen. Was die Beziehungen von Diabetes zu Fettsucht betrifft,
so ist nicht letztere die Folge des Diabetes, sondern scheint umge¬
kehrt oft ein ursächliches Moment zu sein. M. fand bei 860 Fett¬
süchtigen 95 mal Glykosurie, bei 42 fand sich Glykosurie nach Ge¬
nuss von Mehlspeisen und Bier, 316 hatten Zucker im Harn, wenn sie
nüchtern 100 g Zucker assen. Sehr oft schwindet bei erfolgreicher
Entfettung auch der Zucker aus dem Harn. Bezüglich der Behand¬
lung warnt M. vor dem eigenmächtigen Gebrauch heisser und sehr
heisser Bäder, wie es vielfach getrieben wird; er selbst zieht die
Verordnung mässig warmer bis kühler, allmählich prolongierter Koh¬
lensäurebäder unter Zusatz von 2 — 3 kg Kochsalz mit nachfolgender
Bettruhe vor; sie bewirken ein Absinken des Blutdruckes und tragen,
wenn auch weniger rasch wie die heissen Bäder, zur anhaltenden
Entfettung vieles bei. Event, geht diesen Bädern zur Erhöhung der
Reaktion ein irisches Bad vorher.
No. 33. H. F r a c h t m a n n - Zaroslau : Ein Fall von zweifacher
Ruptur des Sphinkter iridis nach Quetschung.
Kasuistischer Beitrag zu dieser sehr seltenen Verletzung. Als
wesentlicher Befund unmittelbar nach der Verletzung fand sich ein
Hyphäma und eine unregelmässige, verzogene, ovale reaktionslose
Pupille. Bei der Entlassung bestand die Ruptur fort. Visus °/ 24.
Pupillenveränderung gleich.
No. 34. S. S u c h y - Steinamanger : Ueber einen eigenartig ver¬
laufenden Fall von Halsphlegmone (Holzphlegmone?).
Vorliegender Fall ist nach Symptomen und Verlauf (brettharte
Schwellung, geringes Fieber, Schmerzlosigkeit, spät auftretende um¬
schriebene Abszedierung, plötzliche schwere Erstickungserschei¬
nungen, welche nach Eröffnung des Abszesses schwinden), der von
R e c 1 u s geschilderten Holzphlegmone zuzuzählen. Eingeleitet wurde
das Krankheitsbild durch Schlingbeschwerden; möglicherweise bildete
ein kariöser Zahn den Ausgangspunkt der Infektion.
No. 34. T. Tsunoda und S. S h i m amura - Kyoto : Beiträge
zur pathologischen Anatomie der sogenannten Katayamakrankheit,
zur Aetiologie der Hirngefässembolie und der Jackson sehen Epi¬
lepsie.
Fragliche Krankheit steht der Bilharziakrankheit nahe und wird
durch einen Parasiten hervorgerufen, dessen Eier im Stuhl, dessen
Muttertiere in der Pfortader gefunden wurden und den Katsurada
Schistosomum japonicum benannt hat. Der hier publizierte Fall war
klinisch durch das Auftreten von Anfällen Jackson scher Epilepsie
bemerkenswert. Die Sektion fand sklerotische Herde im Bereich des
Linsenkernes, des Thalamus opticus und der inneren Kapsel, worin
reichliche Schistosomumeier eingebettet waren und die auf eine Em¬
bolie dieser Eier in den Hirnarterien zurückzuführen sind. Solche
Eier fanden sich auch an verschiedenen Stellen der anderen Hemi¬
sphäre des Rückenmarkes und im Plex. chorioid. des Seitenventrikels.
B e r g e a t.
Englische Literatur.
Alexander Paine und David J. Morgan; Der Wert des
D o y e n sehen Krebsserums. (Lancet, 9. Juni 1906.)
Die Verfasser berichteten am 7. April in der Royal Medical and
Chirurgical Society über eine Reihe von Versuchen, die sie an Krebs¬
kranken mit dem Doyen sehen Serum angestellt hatten, sowie über
das Vorkommen des Micrococcus neoformans in Tumoren und die
Resultate, die sie an Tieren mit Impfungen des Mikrokokkus erzielt
hatten. Sie kamen zu dem Schlüsse, dass das Mittel wohl zuweilen
geschadet, nie aber den geringsten Nutzen gebracht habe, dass der
Micrococcus neoformans nur in einer beschränkten Anzahl von Tu¬
moren vorkomme, dass er nicht als der Erreger des Krebses anzu¬
sehen sei und dass man durch Impfungen mit ihm keine Krebse bei
Tieren erzeugen könne. Doyen hat dann in einem längeren Briefe
in der Lancet vom 26. Mai die Behauptungen der beiden Verfasser
angegriffen und ihre Misserfolge auf falsche Technik und dergleichen
geschoben. In der hier referierten Arbeit beweisen nun die Verfasser,
dass sie durchaus nach Doyens Vorschriften gehandelt haben, dass
Doyen selbst bei einem Besuche in London die Fälle ausgesucht
und sich über die Technik der Behandlung befriedigt ausgesprochen
hat. Trotzdem waren die Erfolge durchaus negativer Art; gleich¬
zeitig geben die Verfasser an, dass sie bei 3 Besuchen der Doyen-
schen Klinik durchaus keine Erfolge konstatieren konnten, die auf die
Serumbehandlung hätten zurückgeführt werden können.
Batty Shaw: Autointoxikation und ihre Beziehungen zu Stö¬
rungen des Blutdrucks. (Lancet, 12., 19., 26. Mai 1906.)
Es sei hier nur kurz auf diese lange Arbeit hingewiesen, die
sich zu einem kurzen Referate nicht eignet. Ein grosser Teil der
Arbeit beschäftigt sich mit dem Blutdruck bei Krankheiten. Ver¬
fasser fand bei 68 genau untersuchten Personen 12 mal eine gesteigerte
Tension. Bei 11 von diesen 12 Fällen waren sicher die Nieren er¬
krankt. Verfasser glaubt, dass die Erklärungen, die man bisher für
die Steigerung des Blutdrucks bei Nierenkrankheiten gegeben hat,
völlig ungenügend sind und dass tatsächlich ein Toxin dafür verant¬
wortlich zu machen ist. Er hat Versuche mit Einspritzungen des Ex¬
traktes frischer Organe gemacht und gefunden, dass die intravenöse
Einverleibung von Nierenextrakt in 18 von 19 Fällen den Blutdruck
steigerte. Dies beobachtete er nur noch, wenn er Nebennierenextrakt
einspritzte, aber nicht bei Extrakten anderer Organe. Er nimmt nun
an, dass in der Nierenrinde ein Stoff sitzt, der den Blutdruck steigert,
atrophiert die Nierenrinde, so wird dieser Stoff frei und verursacht die
Hypertension. Er spricht ferner über die Hypotension und stellt die
Frage auf, ob der Zustand der Ernährung der verschiedenen Organe
einen Einfluss auf den Blutdruck ausübt. Er hat zu diesem Zwecke
zahlreiche Versuche über Autolysis unternommen. Durch Beschrän¬
kung der Blutzufuhr zu einem Organ kommt es darin zur Autolysis
und es werden Proteosen, Nukleinsäure und Cholin gebildet, deren
Resorption den Blutdruck herabsetzt. So kann die Nierensubstanz,
je nachdem es zu einer Autolysis kommt oder nicht, den Blutdruck
herabsetzen oder erhöhen. Näheres hierüber ist im Original nach¬
zulesen.
Th. Kocher: Beiträge zur Pathologie der Schilddrüse. (Brit.
med. Journ., 2. Juni 1906.)
Verfasser behandelt in dieser mit ausgezeichneten Abbildungen
versehenen Arbeit die Basedow sehe Krankheit. Er hat niemals
einen Fall von Basedow gesehen, in dem die Schilddrüse nicht patho¬
logisch verändert gewesen wäre; fehlt im Anfang der Krankheit die
vaskuläre Struma, so handelt es sich nicht um einen Basedow.
Der Exophthalmus kann dagegen völlig fehlen oder erst spät auf-
treten. Als eines der ersten Symptome der Krankheit betrachtet
Kocher ein plötzliches Zurückschnellen des oberen Lides, wenn
der Kranke einen Gegenstand scharf fixiert oder rasch nach oben sieht.
Zittern, leichtes Schwitzen und Röte des Gesichts sind frühe und wich¬
tige Symptome. Nie fehlt die Tachykardie. Verfasser bezeichnet als
Basedow jede Krankheit, die mit Schwellung der Schilddrüse und
Tachykardie einhergeht und deren Symptome auf einer Hyper-
thyreosis (nicht so sehr einer Dysthyreosis) beruhen. Verfasser
unterscheidet 3 Arten von Basedow, erstens die Struma vasculosa,
bei der der Exophthalmus häufig fehlt. Diese Fälle werden meist
durch die innere Verabreichung von Jodkali oder noch besser von
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
Phosphaten geheilt. Von 1-4 Fällen operierte Verfasser 10 (Ligatur
einer oder mehrerer Arterien, Exzision), alle wurden dauernd und
völlig geheilt. Als zweite Gruppe bezeichnet Verfasser die Fälle von
Struma basedowiana colloides. Hier besteht vor Ausbruch des Base¬
dow ein gewöhnlicher Kolloidkropf und die Basedowsymptome
kommen erst sekundär hinzu. Auch hier fehlt der Exophthalmus oft,
auch die übrigen Symptome sind häufig nicht sehr schwer. Kocher
glaubt, dass die Kolloidsubstanz als ein Gegenmittel gegen das Auf¬
treten der Basedowsymptome zu betrachten ist. Er sah 72 Fälle, von
denen er 60 ohne Todesfall operierte. Von diesen sind 51 völlig ge¬
heilt, 2 gebessert, von 7 erhielt er später keine Auskunft. In 32 Fällen
wurde die eine Seite des Kropfes entfernt, bei 8 ausserdem noch eine
Arterie der gegenüberliegenden Seite unterbunden; bei 3 Fällen
wurde eine Hälfte ganz, die andere zum Teil reseziert und bei 4 Fällen
wurden beide A. superiores unterbunden; bei 6 wurden beide oberen
und eine untere Arterie unterbunden. Die dritte Gruppe umgreift die
schweren (typischen) Fälle von Basedow; er nennt sie Struma base¬
dowiana. Er sah 140 und operierte 106 Fälle, von denen 9 starben;
5 Fälle starben später, zum Teil an Ursachen, die mit dem Basedow
nichts zu tun hatten; 6 hatten nach der Operation Tetanie (kein Todes¬
fall). 7 Fälle sind gebessert, 9 Fälle sind ausserordentlich gebessert,
62 geheilt und bei 34 ist die Heilung vollkommen. 10 Fälle sind zu
kurz operiert, um ein Urteil über den Dauererfolg zu gestatten und
9 sind verschwunden. Kocher rechnet bei dem schwersten Base¬
dow auf 80 bis 90 Proz. vollkommene Heilungen resp. ausserordent¬
liche Besserungen. Von allen Kranken, die die Operation überstanden,
ist keiner, der nicht wesentlich gebessert wurde. Dieser glänzende
Erfolg des chirurgischen Eingriffs beweist nach Kocher mehr als
alles andere, dass wir es bei dem Basedow mit einer Autointoxikation
durch übermässige Leistung der Schilddrüse zu tun haben. Dies wird
auch bewiesen durch den grossen Gefässreichtum des Basedowkropfes
und durch die ausserordentliche Entwicklung des Drüsenepithels. Da¬
für spricht auch die nie vermisste Schwellung der benachbarten
Lymphdriisen, sowie die grosse Zunahme der Lymphozyten bei der
Blutuntersuchung. Die Leukozyten in toto sind eher etwas ver¬
mindert, nur die Lymphozyten sind ausserordentlich vermehrt und
zeigen viele atypische Formen. Es scheint als ob die übermässige
Sekretion der Schilddrüse giftig auf das Knochenmark einwirke.
(Analogie zwischen Basedow und Status lymphaticus.) In den Fällen
schweren Basedows, in denen die Follikel der Drüse nach der Ex¬
zision leer gefunden werden, enthält dieselbe wenig oder gar kein
Jod, während bei Kolloidkropf sehr viel Jod gefunden wird. Auch
dies spricht für eine ungewöhnlich rasche Absorption des Schild¬
drüsensaftes, d. h. für eine Hyperthyreosis. Demgemäss steht der
Erfolg eines chirurgischen Eingriffs in direktem Verhältnis zu der
Menge der entfernten Drüsensubstanz. Verfasser empfiehlt, vor der
Operation die Kranken durch geeignete medizinische Behandlung
(Verabreichung von 2,0 bis 10,0 Natr. phosphor. per Tag), durch Ruhe¬
kuren etc. so widerstandsfähig wie möglich zu machen. Man darf
aber keinenfalls die Operation zu lange hinausschieben. Die Gefahren
der Operation liegen zum Teil in der durch die Manipulationen an der
Drüse bedingten vermehrten Resorption. Man kann diese Resorption
zum Teil verhindern, indem man nur die Arterien, nicht aber die
Venen unterbindet. Am besten ist es, mit der Ligatur einer oberen
Arterie zu beginnen, 10 Tage später die andere zu unterbinden und
wenn der Erfolg dann noch nicht genügt, einige Wochen später die
eine Hälfte der Struma zu entfernen. Auf diese Weise lassen sich
auch die schwersten Fälle ohne grosse Lebensgefahr operieren.
Sir William R. Gowers: Die Dystrophien der Tabes und die
trophischen Nerven. (Ibid.)
Verfasser fasst die bei Tabes gefundenen Ernährungsstörungen
der Haut, der Gelenke und Knochen unter dem Sammelnahmen der
„tabetischen Dystrophie“ zusammen. Sie kommen bei weniger als
10 Proz. der Fälle vor. Bei genauer Untersuchung findet man, dass
die motorischen und sensiblen Nerven bei diesen lokalen Dystrophien
stets pathologisch verändert sind; Verfasser betont, dass die Er¬
nährungsstörungen dieser Nerven auch die von ihnen versorgten Ge¬
bilde ungünstig beeinflussen müssen. Bei der Tabes handelt es sich
um Störungen in den sensiblen Nerven und es ist völlig überflüssig
und falsch, besondere trophische Nerven anzunehmen. Gowers
glaubt, dass alle diese Dystrophien aus kleinen Anfängen entstehen
und dass eine frühzeitige Erkennung und geeignete Behandlung durch
Ruhe, Umschläge oder Kompression in vielen Fällen das Auftreten
schwerer Erscheinungen verhüten kann.
K. S. Wise: Zur Aetiologie des Granuloma pudendi. (Ibid.)
Verfasser konnte in British-Guyana Fälle von Granuloma pudendi
untersuchen und fand stets Spirochäten, die er als refringens und
pallida bezeichnet. Von manchen Autoren wird seit langem der syphi¬
litische Charakter dieser Granulome behauptet.
T. Claye Shaw: Wahnsinn und Mord. (Lancet, 23. Juni 1906.)
Verfasser wendet sich in dieser Arbeit gegen das in England
übliche Verfahren bei der Aburteilung von Mördern. Es wird näm¬
lich. selbst wenn schwerer Verdacht auf Geistesstörung vorliegt, der
Verbrecher meist nicht vor der Gerichtsverhandlung ärztlich unter¬
sucht. Wurde er untersucht, so wird stets der Befund erst am
Schluss der Verhandlung mitgeteilt. Der Angeklagte wird also in
jedem Falle als geistig gesund betrachtet und demgemäss abgeurteilt.
Verfasser verlangt vorherige Untersuchung und Niederschlagung des
Verfahrens, wenn es sich um geisteskranke Verbrecher handelt.
W. Pasteur und L. Courtauld: Die primäre Pneumo¬
kokkenarthritis. (Ibid.)
Im Anschluss an eine eigene, genauer geschilderte Beobachtung
besprechen die Verfasser diese Erkrankung, die äusserst selten zu
sein scheint. Unter 56 Fällen von Pneumokokkenarthritis bei Er¬
wachsenen, die in der Literatur niedergelegt sind, finden sich nur
2 Fälle von sicherer primärer Erkrankung des Gelenkes. Bei Kindern
kommt dies dagegen häufiger vor, von 38 Fällen waren 5 primäre
Pneumokokkenarthritiden. Die Arbeit enthält viele interessante Ein¬
zelheiten über diese seltene Krankheit.
H. D. Rol leston und Lawrence Jones: Die primären ma¬
lignen Tumoren des Wurmfortsatzes. (Lancet, 2. Juni 1906.)
Die Verfasser haben 42 Fälle von sicher festgestellter maligner
Erkrankung des Wurmes zusammengestellt, und zwar 37 Karzinome,
3 Endotheliome und 2 Sarkome. Meist wurde der Tumor während
einer Operation entdeckt, die wegen anscheinender Appendizitis vor¬
genommen wurde. Das Alter der Kranken schwankte zwischen 12 und
81 Jahren, das Durchschnittsalter war 30 Jahre, d. h. etwa 17 Jahre
jünger als das Durchschnittsalter für maligne Tumoren des sonstigen
Darmes. Nur bei 3 Fällen wurde ein Stein im Wurm gefunden, es
ist dies von Interesse, weil z. B. Gallenblasenkrebse fast nur in Gallen¬
blasen Vorkommen, die Steine enthalten. Nur in 5 von den 42 Fällen
hatte der Appendixtumor in anderen Organen (Drüsen, Leber, Ova¬
rien) Metastasen gemacht. Die Tumoren waren meist sehr klein
und sassen am häufigsten im distalen Ende des Wurms. Es wurde in
keinem Falle vor der Operation eine richtige Diagnose gestellt. Ob¬
wohl meist nur der befallene Wurm entfernt wurde, waren die Dauer-
resultate überraschend gute. Es handelt sich also um relativ gut¬
artige Tumoren.
Thomas Wood Clarke: Der Gebrauch von Gummihandschuhen
aut der medizinischen Abteilung. (Ibid.)
Verfasser verlangt, dass Aerzte und namentlich Pflegerinnen auf
der medizinischen Abteilung bei eitrigen und jauchigen Fällen, bei
Untersuchungen per vaginam und rectum Gummihandschuhe tragen.
Ganz besonders wichtig ist es, dass Pflegerinnen, die Typhusstühle
beseitigen, Typhuskranke waschen oder Kinder pflegen, die Diarrhoen
haben, bei allen diesen Verrichtungen Gummihandschuhe tragen, um
das Verschleppen von Krankheitsfällen zu verhüten.
Auguste Broca: Die chronische und akute Appendizitis bei
Kindern und ihre Behandlung. (Lancet, 9. Juni 1906.)
Appendizitis kommt niemals beim Neugeborenen vor, das jüngste
Kind, das Verf. operierte, war 20 Monate alt. Die Ursache der Ap¬
pendizitis sieht Verf. in verkehrter Ernährung und zwar besonders
in zu reichlicher Fleischnahrung. Diese führt zu Enteritis muco-mem-
branosa, welche dann wieder zu Appendizitis prädisponiert. Verf.
steht auf dem Standpunkt, dass alle chronischen Fälle von Appen¬
dizitis so bald wie möglich zu operieren sind. Bei den akuten Fällen
operiert er nur, wenn er innerhalb der ersten 24 Stunden zu dem
Falle gerufen wird, sonst wartet er ab und sucht den Fall in das
chronische Stadium zu überführen und ä froid zu operieren. Opera¬
tionen nach den ersten 24 Stunden hält er für sehr gefährlich und
zwar glaubt er, dass die Operation zu diffuser Peritonitis führt. Der¬
artige Frühoperationen geben eine Mortalität von 25 Prozent. Von
der Leukozytenzählung hält Verf. nicht sehr viel, jedenfalls darf
man ihre Ergebnisse nur zusammen mit allen anderen diagnostischen
Hilfsmitteln verwerten. Verf. rät in jedem Falle (auch nach einem
ersten leichten Anfall) zu operieren. Bei diffuser Peritonitis suche
man den Wurm zu entfernen, man lege eine zweite Oeffnung in der
Mittellinie und eine weitere in der linken Seite an. Ausspülungen der
Bauchhöhle nimmt Verf. nur selten vor, er drainiert aber ausgiebig mit
weiten Gummiröhren. Abgekapselte Abszesse eröffne man nach den
üblichen Regeln auf dem nächsten Wege; vom Rektum aus einen
Douglasabszess zu eröffnen verwirft Verf. Den Appendix entfernt
Verf. in diesen Fällen nur dann, wenn er ihn leicht findet. Die chro¬
nischen Fälle operiert er mit McBurneyschem Schrägschnitt und
Durchtrennung der Muskeln in ihrem Faserverlauf.
W. Fraser Annand und W. H. Bo wen: Die Pneumokokken¬
peritonitis im Kindesalter. Ibidem.
Verfasser unterscheiden die Fälle in solche, in denen die Peri¬
tonitis sekundär zu einer Pneumokokkeninfektion der Lunge oder
eines anderen Körperteiles hinzutritt, dann in solche, in denen das
Bauchfell primär erkrankt und in solche, in denen infolge des rapiden
Verlaufes eine Entscheidung über diese Frage unmöglich ist. Von
91 Fällen fallen 30 unter die erste, 47 unter die zweite und 14 unter
die dritte Gruppe. Die sekundären Fälle folgen in 73 Proz. der Fälle
einer primären Erkrankung der Lunge, sonst einer Otitis media, einer
Angina, Muskelabszessen etc. Die Infektion des Peritoneums erfolgt
in der Mehrzahl der Fälle auf dem Blutwege. Die primäre Pneumo¬
kokkenperitonitis kommt am häufigsten bei Mädchen vor (73 Proz),
und scheint die Infektion durch den Genitalkanal zu erfolgen. Man
kann eine diffuse und eine zirkumskripte Form der Peritonitis unter¬
scheiden. Umschriebene Abszesse sitzen meist unterhalb und seit¬
lich vom Nabel. Eine Ausheilung nach spontanem Durchbruch ist
recht selten, meist muss der Abszess breit gespalten und drainiert
werden. Die diffuse Peritonitis gibt eine ziemlich schlechte Prognose,
die primäre Form endet fast immer, die sekundäre häufig tödlich. Die
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1885
Behandlung muss stets eine chirurgische sein. Die Arbeit enthält
16 Krankengeschichten von selbst beobachteten Fällen.
Charles R. Keys er: Ueber Achondroplasie bei Menschen und
Tieren. Ibidem.
Verf. hat 34 Fälle dieser seltenen Erkrankung gesammelt. Ra¬
chitis, Syphilis und Alkoholismus, die so oft als ätiologische Faktoren
angeschuldigt werden, haben nichts mit der Krankheit zu tun. Auch
Kretinismus hat nichts damit zu tun. Zweifellos kann die Krankheit
vererbt werden, es können mehrere Mitglieder derselben Familie daran
leiden. Wenn auch die Mehrzahl 'der daran leidenden Kinder tot
geboren werden oder früh sterben, so werden doch manche 40 und
mehr Jahre alt. Die Krankheit besteht in einer mangelhaften Aus¬
bildung der Knochen, die vor der Geburt aus Knorpel ossifizieren,
während die Knochen, die membranös angelegt sind oder erst später
verknöchern, normal entwickelt sind. Von Rachitis lässt sich die
Krankheit schon dadurch unterscheiden, dass sie schon bei der
Geburt vorhanden ist; Kretinismus ist zwar auch angeboren, aber
die Extremitäten bei dieser Erkrankung sind nicht wie bei Achondro¬
plasie unverhältnismässig kurz gegenüber dem Rumpfe. Die Krank¬
heit war, wie z. B. aus Abbildungen des Gottes Bes hervorgeht, schon
den alten Aegyptern bekannt. Bei Tieren kommt sie nicht vor,
Dachshunde, Bassethunde, Aneonschafe etc. sind nicht achondro-
plastisch, wie von manchen Autoren behauptet wird.
K. E. Leveson Gower Gunn: Die Tuberkulose des Tractus
seminalis. Ibidem.
Verf. glaubt, dass fortgesetzte Masturbation eine grosse Rolle
in der Entstehung der Genitaltuberkulose spielt. Die Krankheit geht
meist frühzeitig vom Nebenhoden auf die Samenblasen und die Pro¬
stata über, dabei kann das Vas deferens völlig normal bleiben. Es
ist in diesen Fällen ganz zwecklos, nur den Hoden oder Nebenhoden
zu entfernen, sondern man muss (am besten nach dem Verfahren von
Zuckerkand 1) auch die Samenblasen und Prostata entfernen. Der¬
artige Operationen sind oft von dauerndem Erfolge begleitet und
nicht sehr gefährlich.
F. Ostwalt: Ueber tiefe Alkoholinjektionen bei Neuralgien
und Spasmen. Ibidem.
Verf. beschreibt auf das genaueste seine Technik mit der es
ihm angeblich gelingt, in jedem Falle den II. und III. Ast des Trige¬
minus an der Schädelbasis mit Alkohol zu injizieren. Er sticht seine
Nadel unmittelbar hinter dem Alveolus des Weisheitszahnes ein,
sticht durch den M. pterygoideus externus und tastet sich dann zum
Foramen ovale und rotundum, die er angeblich genau lokalisieren
kann. Er injiziert an jeder Stelle etwa 2,0 Alkohol. Es bildet sich
eine mehr oder weniger komplette Lähmung, die nach Stunden, Tagen
oder in seltenen Fällen erst nach Wochen oder Monaten gänzlich
verschwindet. Die Kranken empfinden schon nach der ersten Ein¬
spritzung wesentliche Besserung, meist aber ist es nötig, nach 5 — 7
Tagen die Behandlung zu wiederholen. Verf. hat 60 Fälle schwerer
Trigeminusneuralgie auf diese Weise geheilt, nachdem viele davon
früher mehrfach ohne Erfolg neurektomiert worden waren. Bei Spas¬
men des Fazialis, bei Ischias und anderen Neuralgien, erzielte er eben¬
falls ausgezeichnete Erfolge. Bei Ischias injizierte er in den Stamm
des Ischiadikus oder in den N. peronaeus resp. saphenus externus.
Ueble Nebenwirkungen sah er nie.
Ronald Campbell Macfie: Die Erfolge, die im Sidlaw-Sana-
torium erzielt wurden. Ibidem.
Verf. hat gefunden, dass in etwa 40 bis 50 Proz. aller Kranken,
die lange genug im Sanatorium bleiben, die Krankheit zum Still¬
stand kommt, etwa 70 Prozent dieser Zahl wird dauernd gebessert
und wieder arbeitsfähig. Verf. empfiehlt systematische Ueberer-
nährung als eines der besten Hilfsmittel im Kampfe gegen die Tuber¬
kulose.
(Schluss folgt.)
Auswärtige Briefe.
Briefe aus Moskau.
(Eigener Bericht.)
Moskauern September 1906.
Die Hygiene der russischen Gefängnisse.
Die Gefängnisfrage ist in Russland seit etwa einem Jahre
ausserordentlich aktuell. Gibt es doch hier wohl kaum einen
mehr minder anständigen Menschen, der nicht bereits Gefäng¬
nisluft geatmet und Gefängniskost genossen hätte, sintemalen
und dermassen uns durch das Allerhöchste Manifest vom
30. Oktober 1905 eine Reichsverfassung und Volksvertretung
gewährt und sämtliche bürgerliche Freiheiten, darunter auch
„wirkliche“ Unantastbarkeit der Person, feierlichst zugesagt
worden. Diese unsere Magna Charta libertatum bot den kon¬
stitutionellen Ministern die beste Handhabe, die Nörgler und
„aufrührerischen“ Elemente mit der Wurzel aus der Gesell¬
schaft auszujäten und die zahlreichen Steinsäcke, an denen
das Zarenreich keinen Mangel leidet, mit „politisch unzuver¬
lässigen“, „übelgesinnten“ Leuten zu füllen. Uebrigens ist
mir soeben ein Lapsus calami oder vielmehr ein Lapsus cerebri
passiert: in Russland stellte sich im laufenden Jahre ein sehr
empfindlicher Mangel an Strafanstalten und Arrestlokalen ein,
und dem tief empfundenen Bedürfnis kam die Regierung durch
den Bau von mehreren neuen Kerkern nach. Was gab es
da nicht alles in ihnen unterzubringen: Professoren, Aerzte,
Advokaten, Lehrer von Hoch-, Mittel- und Volksschulen, alle
Sorten von Ingenieuren, Technikern, Mechanikern, Eisenbahn-,
Post- und Telegraphenbeamten, Redakteure, Journalisten,
Schriftsteller, Generale und Priester, Fabrikarbeiter, Bäcker,
Typographen, Setzer, Kommis, Hausknechte und eine endlose
Flucht anderer Gestalten: ganze Serien von Delegierten aller
Art, Mitglieder von Kongressen, Vertreter der verschiedensten
Gesellschaften, Vereine und Berufsverbände, Studenten und
Kursistinnen, Schüler der Konservatorien und der Kunstschulen,
Gymnasiasten und Realschüler usw., usw.
Der hauptsächlichste sanitäre Uebelstand der russischen
Gefängnisse besteht demnach darin, dass sie infolge der in
der „konstitutionellen“ Aera des Herrn Durnowo, sowie in der
„liberalen“ Epoche des Herrn Stolypin vorgenommenen Mas¬
senverhaftungen in fürchterlichster Weise überfüllt sind.
Ich rede schon gar nicht von den Arrestlokalen bei den Polizei¬
revieren, wo, wie noch jüngst konstatiert wurde, die „politi¬
schen“ Inhaftierten aus allen Berufsständen ein geradezu men¬
schenunwürdiges Dasein zu führen haben. In eine Zelle werden
so viele Personen hineingepfercht, als nur irgend hineingehen.
Oeffnet man die Tür, so quellen die Gefangenen heraus. An
Liegen oder Sitzen ist unter solchen Bedingungen kein Ge¬
danke, — die Häftlinge sind froh, wenn sie einen Platz an der
Wand erobern, wo sie sich wenigstens anlehnen können.
Nicht viel besser liegen die Verhältnisse in den grossen
Gouvernementsgefängnissen. Ein annäherndes Bild von der
auch in ihnen herrschenden Ueberfüllung gibt folgendes, die
nicht ferne Vergangenheit kennzeichnendes amtliche Communi-
que! Ende April dieses Jahres veröffentlichte die Hauptgefäng¬
nisverwaltung statistische Erhebungen, aus denen zu ersehen
war, dass bereits damals die Gouvernementsgefängnisse um
60 — 65 Proz. gegenüber der Norm überfüllt waren. Im Ge¬
fängnis zu Wilna, das für eine Belegzahl von 315 Personen
eingerichtet ist, befanden sich 667, in dem zu Rowno anstatt
447 Personen — 488, in dem zu Mitau anstatt 361 Personen
— 525, in dem zu Charkow anstatt 371 Personen — 748, in dem
zu Pleskau (Pskow) anstatt 175 Personen — 300, in dem zu
Kasan anstatt 250 Personen — 386 ,in dem zu Odessa anstatt
800 Personen — 1005, in dem -zu Sebastopol anstatt 135 Per¬
sonen — 252, in dem zu Kursk anstatt 250 Personen — 355,
in dem zu Kamenez-Podolsk anstatt 300 Personen — 450, in
dem zu Samara anstatt 540 Personen — 682, in dem zu Poltawa
anstatt 240 Personen — 292, in dem zu Zarskoje Sselo anstatt
142 Personen — 174, in dem zu Czernigow anstatt 150 Per¬
sonen — 385, in der Petersburger Peter-Pauls-Festung anstatt
798 Personen — 1062 usw. Am meisten überfüllt war das
Gefängnis zu Saratow, dessen höchste Belegziffer 460 beträgt,
während darin 1068 Personen untergebracht waren.
Die chronische Ueberfüllung bildet jedoch nicht den ein¬
zigen sanitären Missstand der russischen Strafanstalten. In
Petersburg hat die Regierung unlängst ein Gefängnis für
Einzelhaft errichtet, „Kresty“ zubenamset, welches sie als ein
mustergültiges bezeichnet. In dieser Anstalt hatte Dr.
A. S s u 1 i m a das zweifelhafte Vergnügen ganze 6 Monate
zuzubringen, bevor er nach einer recht kühlen Gegend um
Archangelsk herum verschickt wurde, und in einer der letzten
Nummern der medizinischen Zeitschrift „Russky Wratsch“ be¬
richtet er über das, was er in „Kresty“ mustergültiges gesehen
und am eigenen Leibe erfahren. Die Zahl der unfreiwilligen
Bewohner der Musteranstalt erreicht zeitweise 1000 ; Isolier¬
zellen sind zwar weit weniger vorhanden, aber im Notfälle —
derartige Fälle treten heutzutage recht häufig ein — werden
auch zwei, ja sogar drei „Politische“ in eine Einzelzelle ge¬
steckt. Die Gefängniskost ist nach dem Zeugnis des Dr. Ssu-
lima unbedingt unzureichend, die Arrestanten haben unter
chronischem Hunger zu leiden, was nicht Wunder nehmen
kann, wenn man bedenkt, dass die pro Person und Tag ausge¬
worfenen Verpflegungsgelder 12—14 Kopeken (25—30 Pfennig)
1886
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
betragen und die Gefängnisadministration überdies auf Er¬
sparnisse erpicht ist. Das Brot, die Hauptspeise der Arre¬
stanten, ist in der Regel nicht durchgebacken; im Laufe eines
halben Jahres war es bloss zweimal von befriedigender Qualität.
Dass die nach nichts schmeckenden, wohl aber höchst unappe¬
titlich riechenden Breisuppen und die mehr als bescheidene
Menge Fleisch von der letzten Sorte, das in winzigen Stück¬
chen in der dünnen Suppe trübselig umherschwimmt, weder
danach angetan sind, die Esslust anzuregen noch den Hunger
zu stillen, bezeugen die fahlen, blassen, abgezehrten Gesichter
der Inhaftierten. Der Kost reiht sich würdig die Luft an. Vor
allem befindet sich in jeder Zelle ein transportabler Nacht-
stulil von der allerprimitivsten Konstruktion, eigentlich ein
Eimer aus Ton oder Blech, welcher nur in den seltensten Fällen
hermetisch verschliessbar ist. Des Morgens, wenn diese „Vor¬
richtungen für Luftverderbnis“ aus den Zellen herausgetragen
werden, verbreitet sich im ganzen Gefängnis ein pestilenzia-
lischer Gestank. Die Eimer werden nach der Entleerung nie
auch nur ausgespült. Am Rande des Nachtgeschirrs, sowie
am unteren Ende des in „blödsinniger“ Weise befestigten Draht¬
henkels bleiben beim Entleeren des Inhaltes verschiedene Par¬
tikelchen, Papierfetzen und derlei anmutige Dinge kleben,
welche besonders an warmen Sommertagen trotz offenem
Fenster den Aufenthalt in der verpesteten Luft unerträglich
machen.
Eine weitere Quelle der Luftverderbtheit bilden die Sträf¬
lingsarbeiten (besonders die Beschäftigung mit Weben), welche
nicht in eigens dazu bestimmten Räumen, sondern in den Zellen
selbst ausgeführt werden, wobei niemand die Sträflinge dazu
anhält oder darüber belehrt, die Fenster öfters zu öffnen. So¬
wohl die Arrestanten als auch die Gefängniswärter spucken
natürlich sämtlich auf den Fussboden und zerreiben den Aus¬
wurf nach guter alter Sitte mit dem Stiefel; Spucknäpfe sind
nur in geringer Anzahl vorhanden, und ihre Bestimmung ist
für das Personal offenbar ein Rätsel. Allmorgendlich werden
die Gefänignisräume gewissenhaft gesäubert: man fegt, reibt,
wischt den Staub ab. Aber dies alles geschieht mit trockenem
Lappen und Bürsten. Lange noch nach diesem Säubern ist
die Luft des gesamten Gefängnisses mit Staub und Gestank
gesättigt. Unter den Inhaftierten gibt es selbstredend zahl¬
reiche Schwindsüchtige, welche ihr Sputum auf den schad¬
haften, schlecht angestrichenen Fussboden entleeren, die Wände
bespeien; die Folgen der bezeichneten Prozedur des Reinigens
für die Gesundheit der Sträflinge liegen auf der Hand. Ausser¬
dem werden die Zellen niemals desinfiziert. Uebrigens kann
man das nicht so kategorisch behaupten : im Gefängnisse
existiert nämlich eine Weinflasche, in der eine „desinfizierende
Flüssigkeit“ aufgehoben wird; an hohen Festtagen, z. B. zu
Ostern, wird ein Esslöffel dieser Flüssigkeit in den oben be¬
sagten Nachteimer gegossen behufs „Desinfektion“! Von der
Sauberkeit, welche sonst im Gefängnis herrscht, in der
Küche usw., ist schon gar nicht zu reden: sie ist unter aller
Kritik.
Derart sind die Zustände in dem „mustergültigen“ Peters¬
burger Gefängnisse „Kresty“. Jetzt kann man sich eine leb¬
hafte Vorstelung davon machen, welcherart die Zustände in
den anderen, ganz und gar nicht mustergültigen Strafanstalten
des Zarenreiches sind. Das Moskauer Transportgefängnis
„Butyrki z. B. ist von jeher wegen seiner äusserst mangel¬
haften Einrichtung und des gänzlichen Fehlens irgendwelcher
hygienischer Vorkehrungen übel berüchtigt. Die gemeinschaft¬
lichen Zellen wimmeln von Ungeziefer. Die Holzbänke, welche
dort als Schlafstellen dienen, sind so nahe an einander ge-
i iickt, dass stellenweise zwischen je 4 Betten nicht der geringste
Zwischenraum existiert. Die Fensterscheiben sind einge¬
worfen, weil sonst keine Möglichkeit vorhanden ist, die Räume
zu lüften. Oberhalb der I iiren befinden sich vergitterte Oeff-
n urigen und an der gegenüberliegenden Korridorwand sind die
enster stets geöffnet, sodass in den Zellen beständig ein Zug-
w ind hen seht, der das Auftreten von Erkältungen begünstigt.
Der Fussboden besteht aus Asphalt, besitzt viele Löcher
und \ ertietungen, in denen sich allerlei Schmutz ansammelt,
und \\ ird fast nie gescheuert. Besprengt man den Fussboden
\ oi dem Fegen mit Wasser, so bleiben die Fiisse am feuchten
^chniutz kleben, bespiengt man ihn nicht, so entwickelt sich I
ein furchtbarer, erstickender Staub. Unter den Gefangenen
gibt es zahlreiche Tuberkulöse; in den Zellen ertönt ein ewiges
Husten, das auch des nachts nicht zur Ruhe kommt. Alle speien
natürlich auf den Boden, von Spucknäpfen keine Spur. Un¬
unterbrochen wird geraucht, und zwar die niedrigste Tabak¬
sorte. Das Gefängnislazarett aufzusuchen fürchten die meisten,
und so arbeiten, essen und schlafen Kranke, Sieche und Ge¬
sunde zusammen. Die Scheu*vor dem Gefängnislazarett wird
begreiflich, wenn man hört, wie dieses von Augenzeugen ge¬
radezu als Kloake bezeichnet wird: überall Schmutz, Un¬
geziefer und Mangel jeglicher Ordnung.
So geht es in den Strafanstalten der beiden Haupt- und
Residenzstädte zu. Zur Beleuchtung der sanitären Verhältnisse
in den Gefängnissen der Provinz mag folgende Beschwerde
dienen, welche die Insassen einer der Zellen des Gouverne¬
mentsgefängnisses zu Tambow jüngst beim Staatsanwalt des
dortigen Bezirksgerichts eingereicht haben: „... Unsere Zelle,
welche für eine Belegziffer von höchstens 20 Personen be¬
rechnet ist, fasst gegenwärtig 32 Personen, weswegen wir in
einer ewig dumpfen Atmosphäre zubringen und 23% Stunden
im Tag eine völlig verdorbene Luft einatmen müssen, was all¬
täglich, ganz besonders des morgens und abends, bei uns allen
heftige Kopfschmerzen, bei den Schwächeren sogar Ohn¬
machtsanfälle hervorruft. Der durch derartige gesundheits¬
widrige Verhältnisse zerrüttete Organismus wird noch mehr
zugrunde gerichtet durch den Mangel einer irgend erträglichen
Kost, da die Gefängniskost jeglicher Nahrhaftigkeit entbehrt
und überhaupt nicht den minimalsten Anforderungen entspricht;
das Brot, das man uns reicht, ist stets schlecht durchgebacken,
belästigt nur den Magen und begünstigt bloss die Entwicklung
von Magenkrankheiten. Die Zustellung von eigener Kost wird
obendrein nicht täglich gestattet, sondern zweimal wöchentlich.
Nicht immer ist gekochtes Wasser und frisches Trinkwasser
vorhanden. Die Eigenschaften der Speisen, sowie der ekel¬
erregende Schmutz, der in dem Raume herrscht, wo sie zu¬
bereitet werden, untergraben vollends die Gesundheit der Ge¬
fangenen. Die gänzliche Abwesenheit von Betten in der Zelle
nötigt uns auf der schmutzigen, kalten Asphaltdiele herum¬
zuliegen, was im Verein mit den übrigen bezeichneten gesund¬
heitswidrigen Zuständen verschiedene Erkältungskrankheiten
unter den Inhaftierten zur Folge hat: zwei von unseren Kame¬
raden sind bereits nach dem Lazarett übergeführt, und von
den übrigen bedürfen zurzeit drei der Krankenhausbehandlung,
was auch der Gefängnisarzt anerkannt hat. Von Bettzeug ist
gar keine Rede, und das Stroh in den Matratzen hat sich vom
langen Gebrauch in Mist verwandelt. Zum Spazierengehen in
frischer Luft wird bloss eine halbe Stunde gewährt; die übrigen
23% Stunden müssen wir zwischen den vier Wänden der Zelle
sitzen, rein erstickend vor Staub und Gestank, da jegliche
Ventilation fehlt. Die politischen Gefangenen werden dazu
angehalten, die Nachteimer und Geschirre mit Schmutzwasscr
selbst herein- und herauszutragen . “
Ich übergehe alles das, was die Beschwerdeführer über das
höfliche, liebenswürdige und entgegenkommende Verhalten
der Gefängnisadministration berichten: durch ein solches Be¬
tragen werden die Gefangenen nicht verwöhnt; es herrscht die
strengste „Disziplin“, welche durch die Normen des Faust¬
rechts aufrechterhalten wird. Dem Leser wird sich jedoch die
Frage aufdrängen: Wo bleibt denn der Gefängnisarzt? Warum
sorgt er nicht wenigstens für die Abstellung der schreiendsten
sanitären Missstände? Die Antwort ist im folgenden typischen
Vorfall enthalten: Als der Arzt ebendesselben Gefängnisses
von Tambow, Dr. Fink, allzu energisch auf die Beseitigung
einiger der empörendsten Uebelstände zu drängen begann,
wurde er durch die Quertreibereien der Administration schliess¬
lich gezwungen den Dienst zu quittieren. Die
sanitäre Obhut des Gefängnisses wurde sodann einem Heil¬
gehilfen anvertraut.
Das waren die grösseren Gefängnisse. Wie sieht es nun
in den Arrestlokalen aus? Aus dem Protokoll des Stadtarztes
von Baku, Dr. Alichanow, erfahren wir über die hygie¬
nischen Verhältnisse des dortigen Arrestlokales folgendes. In
4 Zimmern sind 63 Männer untergebracht, in einem einzigen
Raume — sämtliche in Haft befindliche Frauen. Die Wände
sind überäll vdrsthmiert und bespuckt, 'die Tapeten hängen
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1887
in Fetzen; wo man hinblickt, Staub und Spinngewebe; Venti¬
lation ist nicht vorhanden, die Luft ist drückend und stinkig.
Die Verhafteten liegen auf dem Fussboden umher, da im ganzen
8 Betten existieren und Holzbänke nicht eingerichtet sind. Die
Kost ist äusserst unzureichend: auf die Person kommen täg¬
lich je 820 g Weissbrot und knapp 70 g Fleisch. Die assignier-
ten Verpflegungsgelder betragen pro Person und Tag 12 Ko¬
peken (25 Pfennig), davon werden 9 Kopeken für Brot und
3 Kopeken für die warme Speise verausgabt. An Thee ist
kein Gedanke. Die Küche ist dunkel, schmutzig, für ihren
Zweck völlig ungeeignet, eher eine Rumpelkammer. Die
Kupfergeschirre sind seit langem nicht verzinnt, über und über
mit Grünspan verdeckt. Auf dem Kochherd wurde im Moment
der Besichtigung in dem einen Kessel das Mittagessen bereitet,
während in dem anderen dicht nebenan sich Spülwasser be¬
fand. Zum Wasserschöpfen dienen nicht etwa Gläser oder
Tassen, sondern alte Blechdosen und ausgediente Konserven¬
büchsen. Ausserdem erklärten die Häftlinge, dass ihnen nie¬
mals Badegelegenheit geboten wird. Auf dem Hofe war die
Müllgrube in einem entsetzlichen Zustand, die Retiraden un¬
beschreiblich schmutzig.
Aus Orel wurde vor kurzem berichtet, dass die dortigen
Arrestlokale schrecklich überfüllt sind. Die Zellen sind feucht,
schmutzig, so dass unter den Verhafteten verschiedene Erkran¬
kungen aufzutreten begannen. Einer von ihnen, Dr. Ispo-
1 a t o w, liege im Sterben.
Ich könnte noch eine ganze Reihe von Dokumenten und
authentischen Berichten über die sanitären Zustände in den
russischen Gefängnissen anführen, aber ich glaube das Ge¬
sagte genügt. Dem Leser wird es klar geworden sein, unter
welchen Bedingungen die „Politischen“, deren „Verbrechen“
in den allermeisten Fällen darin besteht, dass sie entweder an
einem Streik teilgenommen haben, bei einer Demonstration mit¬
gewesen, auf einem Meeting ergriffen worden sind oder dass
bei ihnen eine regierungsfeindliche Proklamation, eine politische
Broschüre oder im schlimmsten Falle ein Revolver bei der
Haussuchung gefunden ist, ihre Untersuchungshaft zu ver¬
bringen oder ihre Strafe zu verbüssen haben. Viele, sehr viele
von diesen „Verbrechern“ sind einfach deshalb im administra¬
tiven Wege verhaftet, weil sie den Behörden als „politisch un¬
zuverlässig“ gelten, ohne dass ihnen ein konkretes Vergehen,
wegen dessen sie vor Gericht zu ziehen wären, nachgewiesen
werden könnte. Eine grosse Zahl der Gefangenen leidet da¬
her besonders schwer unter dem Umstande, dass sie sich in
völliger Unkenntnis darüber befinden, warum sie eigentlich
hinter Schloss und Riegel sitzen und wann endlich die Stunde
der Befreiung für sie schlagen wird. Das gesamte, schier un¬
erträgliche Gefängnisregime, die fürchterlichen sanitären Miss¬
stände, die vollständige Unkenntnis der nächsten Zukunft —
alles das schafft bei den Verhafteten eine äusserst nervöse
Stimmung, die sich in mannigfachen Verstössen gegen die
Hausordnung Luft macht. Andererseits führen diese Zustände
dahin, dass die Amtspersonen der Gefängnisse, vom Direktor
bis zum letzten Aufseher, unter der ihnen aufgebürdeten
Arbeitslast fast zusammenbrechen, was auf ihre Stimmung eben¬
falls keinen sehr erheiternden Einfluss haben kann. Jedem
Verstosse der Inhaftierten folgt auf dem Fusse die Strafe: Ver¬
bot des Spazierengehens, Entziehung der Bücher und Schreib¬
materialien, Nichtzulassung des Besuches von Angehörigen,
Dunkelarrest, Karzer etc. Da diese mitunter nicht genügend
motivierten oder der Grösse des Vergehens nicht entsprechen¬
den Strafen die Gefangenen noch mehr erbittern, so kommt
es nicht selten zu Unruhen, Zusannnenstössen und tragischen
Vorfällen. So verlangten jüngst die politischen Arrestanten des
Petersburger Transportgefängnisses die Rücknahme des Ver¬
bots von ihren Angehörigen besucht werden zu dürfen und
Aufbesserung der sanitären Verhältnisse oder völlige Haftent¬
lassung. Die Forderung wurde nicht erfüllt, und es brachen
Unruhen aus. Zur Beschwichtigung derselben wurde das
17. Sappeurbataillon beordert und dieses stellte durch nicht
allzu zarte Manipulationen, bei denen die Gewehrkolben die
Hauptrolle spielten, in kurzer Frist die Ordnung wieder her.
Am 18. August dieses Jahres kam es im Moskauer Trans¬
portgefängnis .„Butyrki“ aus ebendenselben Gründen zu einem
verhängnisvollen Zusammenstoss. Durch die ungeniessbare
Kost, den scheusslichen Schmutz, das übermässig strenge Re¬
gime, die vielen oft grundlosen Strafen, die elenden Zustände
im Lazarett aufs äusserste gereizt, forderten die Inhaftierten
persönliche Rücksprache mit dem Gefängnisdirektor Herrn
Stankiewicz und drohten mit Protest, falls er sie nicht bis
12 Uhr mittags empfangen würde. Der Direktor empfing sie
natürlich nicht, und die Gefangenen führten ihre Drohung aus.
Sie begannen zu lärmen, die Scheiben einzuwerfen, die Möbel
zu zertrümmern. Bald wurden die Korridore und der Ge¬
fängnishof von 2 Kompagnien des Pernauschen Infanterie¬
regiments besetzt, welche mehrere Salven nach den Fenstern
der Zellen abfeuerten. 2 politische Arrestanten wurden auf
der Stelle getötet und über 15 schwer verwundet.
Ein grelles Licht auf die Misswirtschaft in den russischen
Haftanstalten wirft auch folgendes Vorkommnis. Am 22. März
d. J. brach im Krankenhausflügel des hiesigen Butyrki-Gefäng-
nisses eine Feuersbrunst aus, und zwar in der chirurgischen
Baracke, wo der Brand infolge des Explodierens einer Primus¬
lampe entstand. In der Baracke befanden sich 28 schwerkranke
politische Verhaftete, von denen viele auf ihren Betten
an den Füssen gefesselt oder in Ketten ge¬
schmiedet lagen. Das Feuer ergriff den einzigen Aus¬
gang und verbreitete sich mit rasender Schnelligkeit über den
ganzen Raum. Da die Fenster mit eisernen Gittern versehen
sind, so sahen sich die Kranken von jeder Rettungsmöglichkeit
abgeschnitten. Die Feuerwehr drang in Rauchmasken in das
Innere des lodernden Gebäudes und rettete die mit fürchter¬
lichen Brandwunden bedeckten, meist bewusstlosen, halb¬
erstickten Gefangenen, von denen vier ihren Ver¬
letzungen erlagen.
Nach all dem Gesagten kann es nicht wundernehmen, dass
die russischen Strafanstalten die Brutstätten für die ver¬
schiedensten Nerven- und Geisteskrankheiten abgeben und An¬
steckungsherde für allerlei Infektionskrankheiten darstellen.
Nach einer vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichten amt¬
lichen Mitteilung des Moskauer Gouverneurs wurden in den
hiesigen Gefängnislazaretten 20 Geisteskranke, 14 an Skorbut
Leidende und 11 mit Infektionskrankheiten (Febris recurrens,
Erysipel, Masern usw.) Behaftete gezählt. Wiederholt konnte
bei Epidemien von Rückfallsfieber in der Stadt mit Sicherheit
eruiert werden, dass die ersten Erkrankungen in den Gefäng¬
nissen ihren Ursprung genommen haben. Weit öfter ist dies
mit dem Unterleibstyphus und dem Flecktyphus der Fall. Ganz
besonders häufig wird das alte Transportgefängnis „Butyrki“
von schweren Fecktyphusepidemien heimgesucht, welche unter
den Insassen gewaltig aufräumen. Hier ist noch in aller Er¬
innerung, wie vor einigen Jahren, als gelegentlich aus¬
gebrochener Hochschulunruhen zahlreiche Studenten und Kur-
sistinnen im Butyrki-Gefängnis interniert waren, dort der
Flecktyphus, das Kerkerfieber, zu grassieren begann und viele
Opfer unter der studierenden Jugend forderte. Auch in diesem
Frühjahr, zu der Zeit, wo Herr Durno wo behufs Rettung
der Ueberreste des russischen Staatswesens etwa 72 000 Per¬
sonen „einlochte“, wie der Minister sich delikat ausdrückte,
liess der Flecktyphus im Butyrki-Gefängnis nicht lange auf
sich warten und richtete unter den Gefangenen erhebliche Ver¬
heerungen an.
Dieser Seuche fiel damals unter anderen auch Dr. Lebe-
d e w zum Opfer, Oberarzt der von der Moskauer Gouverne-
ments-Semstwo im Städtchen Mesezezereskoje errichteten
Irrenanstalt. Wegen des Verdachtes politischer Unzuverlässig¬
keit verhaftet, steckte er sich im Gefängnis mit Flecktyphus an.
Angesichts der bereits geschilderten Zustände im Lazarett der
in Rede stehenden Strafanstalt suchten die Angehörigen
Dr. Lebedews eindringlich bei den Behörden um die Er¬
laubnis nach, den schwer Erkrankten in eine der städtischen
Heilanstalten überführen zu dürfen, wo ihm aufmerksame
Pflege und sachgemässe Behandlung zu teil werden könnten.
Die Administration schlug die Bitte rundweg ab. Erst als das
Semstwo-Amt sich mit demselben Ersuchen an den Gouver¬
neur wandte und der Tod bereits seine Schatten über das
Antlitz des hoffnungslos Darniederliegenden gebreitet hatte,
wurde es gestattet, Dr. Lebe de w nach dem eigens für die
Aufnahme von Infektionskranken bestimmten SokolnikUK ran¬
kenhaus zu transportieren, wo er auch bald darauf verschied.
888
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 38.
Auch die „Musteranstalt“ Kresty, das Petersburger Isolier¬
gefängnis, bleibt nicht vom Flecktyphus verschont. Im Früh¬
jahr gewann dort diese Seuche eine sehr starke Verbreitung.
Die erkrankten Insassen wurden in den Lazarettbaracken
untergebracht. Die Gefängnisbehörde, welche sonst den Be¬
such der Angehörigen nur mit grossen Schwierigkeiten ge¬
stattete, begann nun merkwürdigerweise recht gerne die Er¬
laubnis zum Besuche der in den Baracken liegenden Typhus¬
kranken zu erteilen. Das ärztliche Personal erhob jedoch
gegen diese unangebrachte und unzeitgeinässe Liebenswürdig¬
keit der Gefängnisadministration energischen Einspruch, wor¬
auf die besuchenden Frauen nicht mehr an das Krankenbett
ihrer Männer, sondern in die Leichenhalle geführt wurden, wo
in plump gezimmerten, ungestrichenen Särgen die irdischen
Hüllen der verblichenen Ernährer aufgebahrt lagen.
Dass in den übrigen Strafanstalten und Arrestlokalen des
weiten Zarenreiches allerlei Seuchen und ganz besonders die
Lungenschwindsucht sich dauernd eingenistet, braucht wohl
kaum noch der Erwähnung.
Geradezu epidemisch herrschen in den russischen Gefäng¬
nissen Nerven- und Geisteskrankheiten. Nervosität, Hysterie
und von den Psychosen besonders die Melancholie sind unter
den Häftlingen ausserordentlich verbreitet. Am quälendsten ist
für die ihrer Freiheit Beraubten die Schlaflosigkeit, an welcher
sie monatelang zu leiden haben. Sogar vollentwickelte Indi¬
viduen mit kräftigem Nervensystem vermögen auf die Dauer
den zerstörenden Einflüssen des russischen Gefängnisregimes
keinen Widerstand zu leisten, geschweige denn minderjährige,
noch nicht ausgereifte Personen, wie sie hierzulande zu
Dutzenden in den Strafanstalten gefangen gehalten werden.
So befand sich im Butyrki-Gefängnisse lange Zeit hindurch ein
14 jähriges Mädchen, Schülerin einer der Moskauer Töchter¬
schulen. Sie hatte im Dezember v. J. das denkwürdige Meeting
in der Fiedlerschen Realschule besucht und war nach dem be¬
kannten Bombardement dieses Hauses verhaftet worden. Die
Schrecken des Kerkerregimes wirkten auf das unglückliche
Mädchen derart ein, dass sie bald den Verstand verlor und in
Melancholie verfiel.
Aus dem Angeführten leuchtet es ohne weiteres ein, warum
die Zahl der Selbstmorde in den russischen Gefängnissen eine
so enorm hohe ist. Ich muss mich hier darauf beschränken
nur drei Fälle von Selbstmord anzuführen, die für unsere Ver¬
hältnisse typisch sind. Der Lehrer P. Mjakotin, 29 Jahre alt,
zerschnitt aus Verzweiflung über seine Lage eine Sardinen¬
büchse in schmale Stücke und verschluckte etwa 70 davon;
nach einigen Tagen erkrankte er an akuter eitriger, perforativer
Bauchfellentzündung. In fast hoffnungslosem Zustand aus dem
Gefängnisse in die Klinik gebracht, konnte er durch eine glück¬
lich ausgeführte Laparotomie noch gerettet werden. Jefimow,
ein Jüngling noch an Jahren, wurde im März 1905 wegen eines
geringfügigen politischen Vergehens verhaftet und sass fast
8 Monate im Gefängnis. Infolge der Anfang November er¬
lassenen Amnestie wurde er in Freiheit gesetzt, aber im De¬
zember wegen Teilnahme einer behördlich nicht genehmigten
Versammlung wieder festgenommen und abermals ins Ge¬
fängnis geworfen, wo er bis zum April sich in Haft befand.
Kaum aus der Haft entlassen, jagte er sich unter dem Ein¬
druck all des Erlebten eine Kugel in die Schläfe. Der Arbeiter
Sadowniczy wurde im Charkower Gouvernementsgefängnis
durch die durch die Härte des Kerkerregimes dahin gebracht,
dass er sich mit einem Messer die Kehle durchschnitt; eine
Witwe und 7 Kinder blieben mittellos zurück. —
Das ist die russische Gefängnishygiene.
Dr. A. D w o r e t z k y.
Vereins- und Kongressberichte.
Aerztlicher Verein in Frankfurt a. «I.
(Offizielles Protokoll.)
Ausserordentliche Sitzung vom 23. April 1906.
Vorsitzender: Herr Emanuel Cohn.
Schriftführer: Herr Rosengart.
Der Vorsitzende berichtet über die Sperre einer liier frei ge¬
wordenen Bahnarztstelle. Das Ministerium hat durch den Vor¬
sitzenden unserer Aerztekammer den ärztlichen Verein ersuchen
lassen, mit dem Vorgehen, das die Einführung der freien Arztwahl
bei den Eisenbahnkassen und den versicherten Eisenbahnbediensteten
zum Ziele habe, zu warten, bis vom Ministerium aus eine allgemeine
Regelung dieser Angelegenheit in Preussen in die Wege geleitet sei.
Bis dahin solle ein Provisorium insofern geschaffen werden, als der
Wirkungskreis des zurückgetretenen Arztes unter die übrigen Bahn-
und Bahnkassenärzte aufgeteilt werden solle. Der Vorstand des
Aerzteverbandes für freie Arztwahl hat diesen Vorschlag mit ein¬
gehender Motivierung, die verlesen und von Herrn Scheven inter¬
pretiert wird, abgelehnt. Der ärztliche Verein schliesst sich hierauf
mit allen gegen sieben Stimmen dem Vorgehen des Aerzteverbandes,
das die Proposition des Vorsitzenden der Aerztekammer verwirft, an.
Herr H. Fulda: Bericht über die Ausstellung für Säug¬
lingspflege, Berlin, März 1906.
Ordentliche Sitzung vom 7. Mai 1906.
Vorsitzender: Herr E. Cohn.
Schriftführer: Herr J. Rosengart.
Herr B o i t: Demonstrationen.
Herr Scheven: Demonstration aus dem Gebiet der Neben¬
höhlenchirurgie.
Einleitend führt Vortr. aus, dass er bezüglich der Behandlung
akuter Nebenhöhlenerkrankungen immer mehr konservativ geworden
sei; auch bei den chronischen Fällen von Sinuitis halte er sich so
lange von chirurgischen Encheiresen ferne, bis lokale Störungen
(hartnäckige Eiterabsonderung von Nase und Rachen, Eötor, Pha-
ryngolaryngitiden), oder allgemeine Stauungen (Kopfweh, Schwindel,
Magenstörungen) zum Eingriff Veranlassung böten; dann aber sei
der Grundsatz: so energisch wie möglich.
Bei Behandlung der Stirnhöhle habe ihm die typische Operation
nach K i 1 1 i a n die besten Resultate gegeben, wobei er besonderes
Gewicht auf die weite Kommunikation nach der Nase zu legt.
Nicht so befriedigend seien die Resultate bei der Kieferhöhle, wie
schon aus der grossen Reihe der operativen Methoden ersichtlich;
Vortragender habe es sich zum Prinzip gemacht, möglichst jede Kom¬
munikation nach dem Munde zu vermeiden, und dafür eine weite
Kommunikation nachzuschaffen. Er schafft zunächst in der Fossa
canina eine breite Oeffnung, von wo aus alles Erkrankte aus dem
Antrum ausgeräumt werden kann. Es wird sodann die laterale
Nasenwand vom Antrum aus fast total entfernt und nur eine Spange,
die dem Ansatz der mittleren Muschel entspricht, stehen gelasseh.
Nach Aufmeisselung der Knochenwand wird aus der Testierenden
Schleimhaut des unteren Nasenganges ein Lappen mit der Basis nach
unten gebildet und in die Kieferhöhle hineingeklappt. Ein Tampon
wird durch die Nase nach aussen geleitet, die Wunde nach dem
Munde zu durch Naht geschlossen.
Es folgt nun Vorstellung der Patienten:
1. 17 jähriger junger Mann; vor 5 Jahren wegen Sinuitis frontal,
mit Durchtritt in die Orbita nach Kukert operiert; guter kos¬
metischer Erfolg.
2. 36 jähriger Mann, vor Jahren nach Killian operiert;
auch hier bestand schon eine Fistel, von einem operativen Eingriff
herrührend. Nach . der Radikaloperation glatte Heilung.
3. 66 jähriger Mann mit doppelseitigem Stirnhöhlenempyem. In
2 Sitzungen nach Killian operiert; auch hier hatte rechts eine Fistel
bestanden. Glatte Heilung; sehr schönes kosmetisches Resultat.
4. 33 jähriger Mann, dem wegen hartnäckig rezidivierender
Ethmoidalpolypen das Siebbein links durch äussere Operation aus¬
geräumt worden ist. Nach Resektion des Processus nasofrontalis und
eines grossen Teiles der Lamina papyracea wurden die Siebbein¬
zellen bis an die Keilbeinhöhle ausgeräumt. Glatte Heilung.
5. 21 jähriges junges Mädchen, bei dem beide Kieferhöhlen
radikal operiert worden sind; wenn auch der Begriff anatomischer
Heilung in solchen Fällen fraglich, so ist die Patientin wenigstens
von allen Beschwerden befreit.
6. 50 jährige Frau, die mit typischen Beschwerden eines links¬
seitigen Antrumempyems in Behandlung trat. Nach Anbohrung von
der Alveole und Spülungen schienen alle Beschwerden geschwunden.
Erst eine Blutung machte auf unbedeutende Polypenbildung im Hiatus
aufmerksam; diese Polypen schienen makroskopisch verdächtig und
erwiesen sich mikroskopisch als Karzinom.
Die Operation wurde nun so radikal wie möglich vorgenommen
(DDr. P i n n e r und Scheve n). Osteoplastische Entfernung des
Oberkiefers. Aufklappen desselben und Umschlagen nach aussen.
Es präsentiert sich der Tumor, der, von den hinteren Siebbeinzellen
ausgehend, an einer Stelle ins Antrum perforiert war.
Die Entfernung gelingt relativ leicht und ohne nennenswerte
Blutung, so dass zum Schluss nur die hintere und obere Wand der
Keilbeinhöhle, der Proc. pterygoid. der Keilbeine erhalten bleibt,
das Siebbein völlig entfernt ist und von der Kieferhöhle lediglich der
Boden und die vordere Wand erhalten bleibt. Naht.
Patientin ist nunmehr, nach 9 Monaten, völlig frei von Be¬
schwerden und ohne Rezidiv. Ausgezeichnetes kosmetisches Resultat.
Ueber die Methoden der Operation berichtet noch Herr P i n n e r.
18. September 1906. MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ 1889
Herr V ohsen: In einem Falle von Siebbeinkarzlnotti, den. ich
Ihnen demnächst vorstellen will, hat mir die temporäre Resektion
unter Schonung der horizontalen Platte sehr gute Dienste geleistet.
Die Uebersicht genügt vollständig. Die Pat. ist seit nunmehr
3 Jahren rezidivfrei. Weigerts Diagnose lautete: Plattenepithel¬
karzinom. — Die vorgestellten Fälle von Stirnhöhlenoperationen
zeigen ein vorzügliches kosmetisches Resultat. Offenbar handelte
es sich um relativ kleine Stirnhöhlen. Bei grossen Stirnhöhlen sehen
die Resultate weniger schön aus, ein Grund mehr, sich der auch von
mir geteilten zurückhaltenden Indikationsstellung anzuschliessen, wie
sie der Vortragende empfohlen hat. Wir können uns ja in den meisten
Fällen ein ziemlich genaues Bild von der Konfiguration der Stirnhöhle
vor der Operation verschaffen und werden unser Vorgehen auch von
dieser Erwägung beeinflussen lassen. Eine spätere Auffüllung des
Defektes mit Paraffin, wovon in solchen Fällen grössere Mengen er¬
forderlich sind, ist bei der noch unentschiedenen Frage der Paraffin¬
prothesen nicht ohne Bedenken. — Die Frage der radikalen Kiefer¬
höhlenoperationen wird von dem Vortragenden mit Recht als eine
noch offene bezeichnet. Da uns daran gelegen sein muss, vor allem
die Ursache des Empyems festzustellen, ist es verwunderlich, dass
so wenig Gebrauch von der Endoskopie der Höhle vor der Operation
gemacht wird, die von einer leicht anzulegenden kleineren Oeffnung
aus unschwer auszuführen ist. — Wenn wir, worin ich mich auch
mit dem Vortragenden begegne, die Oeffnung nach dem Munde sofort
schliessen und nach der Nase drainieren, so müssen wir uns sagen,
dass es doch recht gut gelingt, mit einer geraden Trephine unter Ver¬
drängung der knorpligen Nasenscheidewand einen breiten Zugang zu
der Höhle vom unteren Nasengang aus zu schaffen, der auch ohne
Opferung der fazialen Wand eine Drainage gestattet, mit der wir in
vielen Fällen auskommen. Vor diesem, wie jedem anderen Eingriff
dürfen die Momente nicht ausser acht gelassen werden, die uns in
dem Aufbau des Oberkiefers einen Schluss auf die Gestalt der Höhle
gestatten, von dem unser operatives Vorgehen abhängig zu machen
ist. Einen neuen Gesichtspunkt zur möglichsten Schonung der
fazialen Wand schöpfte ich aus einer Ausführung von Prof. W i t z e 1,
der behauptet, dass durch diese Trepanationsmethode die Ernährung
der Zähne so notleide, dass sie baldiger Degeneration entgegen¬
gingen. — Die Zeit verbietet mir, weiter auf diese so wichtige Frage
einzugehen.
Herr S i p p e 1 gibt einen kurzen historischen Ueberblick
über die Entwicklung der beckenerweiternden Operationen von
Sigault ab bis zur Jetztzeit. Er schildert die Technik des
Ci i g 1 i sehen Lateralschnitts, speziell die von Doederlein
ausgebildete sogenannte subkutane Methode, und demonstriert
im Anschluss daran ein Becken, bei welchem er an der Leiche
die subkutane Operation ausgeführt hat. Sodann hebt er die
Vorzüge des Lateralschnittes, der Pubiotomie, gegenüber der
Svmphyseotomie hervor. Er schildert die durch die Operation
erzielten Veränderungen der verschiedenen Beckendurch¬
messer, wie sie einmal durch das Auseinanderweichen beider
Beckenhälften und zweitens durch die gleichzeitige Rotation
des Promontorium nach hinten zu stände kommen (Seil-
h e i m). Die Erweiterung bei Pubiotomie ist (entgegen
S t o e c k e 1) die gleiche wie bei Symphyseotomie. In fest
umschriebenen Grenzen , wird die Pubiotomie Gutes leisten.
Diese Grenzen sind sowohl nach oben wie nach unten bezüglich
der Beckenverengung scharf zu ziehen. Die Grösse des Kindes
ist dabei zu berücksichtigen, um eine genaue Indikationsstellung
zu haben. S i p p e 1 ist der Ansicht, dass man z. Z. die Leis¬
tungsfähigkeit und die Gefahrlosigkeit der Pubiotomie zu über¬
schätzen geneigt sei. Die klassische Sectio caesarea und die
Perforation des lebenden Kindes würden durch sie einge¬
schränkt aber nicht abgeschafft werden. Die Pubiotomie sei,
wie so mancher andere, heilsame, moderne, geburtshiflich ope¬
rative Eingriff ausser in Fällen dringender Not den Kranken¬
anstalten zu reservieren. Deshalb sei es nötig, endlich die
so lange in unbegreiflicher Weise versäumte Errichtung mo¬
derner geburtshilflich-gynäkologischer Abteilungen in den
Krankenhäusern der grossen Städte zu beginnen, um einer
dringenden sozialen Pflicht zu genügen.
Herr A. Kutz demonstriert einen 7Vz Monate alten Fötus, der
5 Wochen vor seiner Geburt, also 8 Tage ante terminurn, abstarb;
der Tod des Kindes war durch eine seltsame komplizierte Nabelschnur¬
umschlingung bedingt, an der sämtliche vier Extremitäten beteiligt
waren. Die Schnur ist dicht am Nabel durch Umwickelung des
linken Fussgelenkes bis zur Unwegsamkeit der Nabelgefässe kom¬
primiert. Der Fötus stammt von einer II. Para, die gleich ihrem ersten
Kind völlig gesund ist. Die Geburt verlief glatt innerhalb 3 Stunden
in Schädellage, nachdem wochenlang vorher öfters leichte Wehen
eingesetzt hatten.
Herr R i c h a r t z: Zur Diagnose der viszeralen Gicht, spe¬
ziell ihrer gastro-intestialen Form.
Herr Richartz bespricht zunächst ausführlich die theo¬
retischen Einwände gegen die Auffassung, dass gewisse mit be¬
sonderer Häufigkeit im Gefolge der Gelenkgicht auf tretende
Erkrankungen der Verdauungsorgane nun auch
im vollen Sinne des Wortes als gichtisch zu betrachten
seien und kommt zu dem Schlüsse, dass diese Einwände nicht
stichhaltig sind. Das klinische Bild sei allerdings ein sehr
verschiedenes, vor allem der Gegensatz zwischen dem akuten
Charakter der typischen Gelenkgicht und dem meist chronischen
der gastro-inteStinalen Affektion erschwere die Erkenntnis der
inneren Verwandtschaft, allein wie bei der Arthritis articul.,
besonders der hereditären, auch Fälle von ganz chronischer
Natur beobachtet werden, so nimmt, wenn auch selten, die
Magendarmgicht die Form akutester Anfälle an.
Für letzteres führt Vortr. zwei von ihm beobachtete Bei¬
spiele an, von denen der zweite Fall dadurch noch besonders
bemerkenswert ist, dass die als gichtisch nachweisbare Magen¬
affektion ohne jede Beteiligung des Gelenkapparates einherging.
Bezüglich der Diagnose solcher Fälle betont R. die grosse Be¬
weiskraft der Diagnose ex juvantibus. Die antiarthritische
Diät, die fast älle differential-diagnostisch in Betracht kommen¬
den sonstigen Erkrankungen des Verdauungstraktus eher zu
verschlimmern geeignet wäre, hatte in beiden mitgeteilten Fällen
einen auffallenden Erfolg. Grosses Gewicht ist ferner auf eine
genaue, auch die Seitenlinien der Aszendenz berücksichtigende
Anamnese zu legen. Im zweiten Falle war auch auf Harnsäure¬
retention im Blute gefahndet worden. Die Technik der be¬
treffenden Proben wird gestreift und ihre diagnostische Bedeu¬
tung dahin eingeschränkt, dass positiver Ausfall zunächst ledig¬
lich die Existenz einer uratischen Diathese dartut. Ein nach
dem heutigen Stande unserer Kenntnisse sicherer Beweis für
die gichtische Natur lässt sich eigentlich nur bei paroxysmal
auftretenden Affektionen und zwar durch die Beobachtung des
Ausscheidungmodus .der exogenen Harnsäure erbringen.
Diskussion: Herr Hirschberg berichtet im Anschluss
hieran über Erfolge, die er mit der Bier sehen Stauungshyperämie
bei der Behandlung der Gelenkgicht erzielt hat.
Herr B a e r erwähnt schnelle und dauernde Heilungen bei Akne,
die er antigichtisch behandelt hat.
Herr V o h s e n bezweifelt, dass die Wirkung der vegetarischen
Diät bei der Gicht so sicher und einwandfrei sei, dass der Vor¬
tragende seine Diagnose der Gicht in seinen zwei Fällen nur ex
juvantibus, der vegetarischen Diät, stellen dürfe.
Herr B a r d o r f f berichtet ebenfalls über auffallend schnelle
und sichere Erfolge, die er in zwei Fällen von Gelenkgicht durch die
Bier sehe Stauung erzielt hat.
Im Schlusswort bemerkt Herr Richartz, dass in der Tat in
England (aber auch in anderen Ländern) gewisse Hautkrankheiten,
und zwar besonders die Psoriasis und das Ekzem mit Vorliebe als
Ausdruck einer uratischen Diathese angesehen und demgemäss be¬
handelt werden. Ob der Schluss ex juvantibus, den Herr B a e r in
den von ihm beobachteten Fällen zog, unanfechtbar ist, scheint
einigermassen fraglich, da gerade bei Akne weniger ein Zusammen¬
hang mit Arthritis als vielmehr ein solcher mit intestinalen Auto¬
intoxikationen chronischer Natur bekannt ist und auch bei solchen eine
fleischfreie Diät als das beste Heilmittel anzuraten wäre. Auf die
Frage des Herrn Vohsen bezüglich des Wertes der fleischfreien
Kost für die Behandlung und speziell die Dauerheilung der echten
Gelenkgicht ist zu erwidern, dass der Ausschluss purinfähiger Nah¬
rungsmittel gewiss nicht in allen, zumal alten Fällen, sichere Heilung
bringt, ebensowenig etwa wie Ausschluss von Kohlehydraten bei
jedem Diabetes Verschwinden des Zuckers garantiert (Purintoleranz!);
trotzdem stellt diese Diät die wichtigste und beste Therapie dar, über
die wir verfügen und zeitigt auch nicht selten Dauererfolge. Wo bei
nicht zu lange bestehender, oder etwa nicht ganz typisch verlaufen¬
der Erkrankung eine streng und genügend lang fortgesetzte purin-
freie Diät ohne jeden Effekt bleibt, da dürfte es ratsam sein, die
ätiologische Diagnose der betreffenden Gelenkaffektion einer Revision
zu unterziehen.
Naturhistorisch-Medizinischer Verein Heidelberg.
(Medizinische Sektion.)
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 24. Juli 1906.
Herr Neu: Zur Therapie der Melaena neonatorum.
Vortragender bespricht die verschiedenen Hypothesen über
die Aetiologie der „Melaena vera“; keine von ihnen befriedigt,
keine erlaubt eine kausale Therapie. Als das verlässlichste
Mittel zur Stillung der Magendarmblutung ist zurzeit die Gela¬
tine in subkutaner Anwendung (10 — 20 ccm 10 proz. Gela-
tina sterilisata) anzusehen. Vortragender hat in 2, im letzten
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. As.
1890
Halbjahr an der Heidelberger Frauenklinik beobachteten Fällen
von echter „Melaena vera“ auf diese Weise volle Heilwirkung
erzielt. Seit der rationellen Gelatineanwendung bei der frag¬
lichen Krankheit ist die Prognose wesentlich günstiger gestaltet.
Folgende Schlussfolgerungen werden gezogen:
I. Das Mortalitätsprozent ist seit der Gelatinebehandlung
(orale, rektale, subkutane Einverleibung) bei Fällen von
„Melaena vera“ von etwa 50 auf 13 Proz. gesunken.
II. Eine zuverlässige Vorstellung von der Aetiologie der
2 beobachteten Melänafälle ist nicht zu gewinnen; dieselben
waren als zweifellose „Melaena vera“ anzusprechen.
III. Die Heilerfolge in beiden Fällen decken sich mit den
günstigen Resultaten anderer Autoren. Die Gelatinetherapie
kann als typisch betrachtet werden.
IV. Zu einer rationellen Gelatineanwendung ist er¬
forderlich: 1. Möglichst frühzeitiger Gelatinegebrauch bei den
ersten sicheren klinischen Anzeichen einer „Melaena vera“.
2. Am zuverlässigsten ist die subkutane Applikation, am
Oberschenkel, ein- oder mehrmal, in Mengen von 10, höchstens
20 ccm 10 proz. Gelatina sterilisata pro injektmne; strengste
Asepsis bei der Injektion! 3. Die orale Verabreichung kann,
weil therapeutisch nicht sicher wirksam, unterbleiben. 4. Ab¬
zuraten ist von Gelatineklysmen.
V. Die Schädlichkeiten, wie Tetanus- und andere Infek¬
tionen lassen sich bei der Gelatineinjektion vermeiden; ein „Ge¬
latinefieber“ (Resorptionsfieber?) ist häufig, aber relativ un¬
schädlich.
VI. Die übrigen Bedingungen zweckmässiger Pflege sind
vor wie nach zu erfüllen: Reichliche konstante Wärmezufuhr
(event. Flanellbindenwicklung der Extremitäten), peinlichste
Ruhelagerung, Nahrung von einer Amme bezw. der eigenen
Mutter nach anfänglicher Hungerdiät (Thee). Lokale Kälte¬
anwendung auf das Abdomen ist zu vermeiden, Kompression
des Abdomens entbehrlich; interne Medikation von styptischen
Mitteln nicht ratsam. (Der Vortrag erscheint in extenso an
anderem Ort.)
Herr L. T o b I e r: Ueber Lymphozytose der Zerebrospinal¬
flüssigkeit bei kongenitaler Syphilis und ihre diagnostische Be¬
deutung.
Seitdem die moderne zytologische Diagnostik zu den inter¬
essanten Ergebnissen bei den metasyphilitischen Erkrankungen
des zentralen Nervensystems geführt hat, ist man auf die
engeren Beziehungen zwischen der syphilitischen Infektion als
solcher und den charakteristischen Liquorveränderungen auf¬
merksam geworden. Die Befunde von B a b i n s k i, W i d a 1,
N a g e o 1 1 e, Le S o u r d, Crouzon, Paris u. a. m., die
schon in den ersten Frühstadien metasyphilitischer Erkran¬
kungen, selbst da, wo objektive Symptome vollständig fehlten,
Lymphozytose fanden, schienen auf eine spezielle Affinität des
syphilitischen Virus zum zentralen Nervensystem hinzuweisen.
Dementsprechend fanden M a i 1 1 a r d, B e 1 e t r e, Ravaut,
Merzbacher Lymphozytose bei Syphilitischen ver¬
schiedener Stadien, die keinerlei nervöse Komplikationen auf¬
wiesen. Unter diesen Umständen lag die Vermutung nahe, es
könnte sich die syphilitische Infektion auch im II. Glied an der
Zerebrospinalflüssigkeit dokumentieren.
Untersucht wurden im ganzen 17 Kinder im Alter von
14 Tagen bis zu 6, bezw. 9 und 11 Jahren, die grosse Mehrzahl
Säuglinge im 1. Lebensjahr. Die Technik der Unter¬
suchungen war die französische nach der Beschreibung von
N i s s 1. Zur Beurteilung der Präparate wurde nie¬
mals der Zellgehalt einzelner Gesichtsfelder herangezogen, son¬
dern, wo Zählung der zelligen Elemente überhaupt möglich oder
wünschenswert erschien, die Gesamtzellzahl aller 3 Präparate
annähernd festgestellt. Durchschnittswerte von über 50 Zellen
im einzelnen Präparat galten als sicher positive Befunde. In
der Mehrzahl der Fälle war das Gesichtsfeld dicht mit Zellen
übersät. Bei 6 Kon trollfällen Gesunder oder indifferent
Erkrankter ergaben sich Durchschnittszahlen von 0—7 Zellen
pro Präparat. Die Eiweissmengen wurden nach N i s s 1
bestimmt. Folgende Tabelle gibt über die Resultate Auskunft:
Unter 15 Fällen von klinisch oder anatomisch sicherer oder
wahrscheinlicher Syphilis fand sich 13 m a 1 eine ausge¬
sprochene Lymphozytose des Liquor (87,3 Proz.
d e r F ä 1 1 e). 1 Fall war negativ, einer zweifelhaft.
Demnach ist die Lymphozytose der Zere¬
brospinalflüssigkeit ein häufiges Symptom
kongenitaler Lues. Der diagnostische Wert des Be¬
fundes muss vorerst noch durch ein grösseres Material und
durch Kontrolluntersuchungen bei anderen Krankheiten ge¬
sichert werden. Falls sich die Befunde bestätigen, erscheint
ihr diagnostischer Wert um so bedeutsamer, als auch
bei den klinisch sicheren Fällen die Reaktion öfter dem Auf¬
treten typischer Erscheinungen voranging oder dieselben über¬
dauerte. Unter den positiven Fällen befindet sich einer von
hereditärer Lues im II. Glied.
Das allgemein pathologische Interesse der Befunde liegt
darin, dass sich in denselben die Miterkrankung eines Organ-
systems ausspricht, das nach klinischer und anatomischer Be¬
obachtung bisher nur ganz ausnahmsweise am Krankheits¬
prozess beteiligt schien, und ferner darin, dass sich in 2 darauf¬
hin untersuchten Fällen eigenartige exsudativent-
zündlicheVeränderungenderHirnhäutenach-
weisen Hessen, wo klinisch nervöse Komplikationen voll¬
ständig fehlten.
(Ausführlichere Mitteilung: Jahrbuch f. Kinderheilkunde
Bd. 64 1906, Heft 1.)
Diskussion: Herren H o f m a n n, Grund.
Herr v. Hippel: Die Untersuchungen von Herrn Tob ler
haben auch für die Augenheilkunde erhebliches Interesse, da ja die
kongenitale Syphilis häufig zu Augenerkrankungen, besonders Kera¬
titis parenchymatosa führt. Es wäre einmal möglich, von Seite der
Augenkliniken weiteres Material für die Ausführung der Lumbal¬
punktion bei hereditär Syphilitischen zu liefern, andererseits könnte
die Methode von ausschlaggebender Bedeutung in den nicht beson¬
ders seltenen Fällen von Keratitis parenchymatosa werden, in denen
die genaueste Untersuchung keine sicheren .ätiologischen Momente
erkennen lässt.
Herr Merzbacher macht auf die auffallend hohen Eiweiss¬
mengen aufmerksam, die der Vortragende bei seinen Untersuchungen
gefunden haben will. Bei Erwachsenen mit einem einfachen luetischen
Befunde kommen 3 I eilstriche Eiweiss nur ausnahmsweise, in der
Regel stets unte r 3,0 vor. Da auch bei Kindern es kaum denkbar
erscheint, dass die Eiweissmenge in den Fällen, in denen die Lympho¬
zytose lediglich auf eine vorhandene luetische Infektion hinweist, ver¬
mehrt ist, so müssen die in einzelnen Fällen gefundenen hohen Ei¬
weisszahlen (wie 3,5, 4,0, 7,0) darauf aufmerksam machen, dass hier
wohl eine entzündliche Erkrankung an den Meningen sich abspielt
oder dass vielleicht in dem einen oder dem anderen Falle der Ver¬
dacht auf das Vorhandensein einer juvenilen Paralyse nicht ganz
von der Hand zu weisen ist.
Herr Schön born schliesst sich Herrn Merzbacher voll¬
kommen an, dass die vermehrten Eiweissmengen in T o b 1 e r s
Fällen wohl sicher für Meningitis sprechen. Toblers Mitteilungen
sind besonders deshalb interessant, weil sie in einem gewissen Gegen¬
satz stehen zu R a v a u t s Untersuchungen bei tertiärer Lues.
J oblers Beurteilung der Lymphozytose nach der absoluten Zahl
der Elemente im einzelnen Tropfen des Liquor möchte Sch. be¬
anstanden, da eine Gleichmässigkeit der Tropfen höchstens bei kali¬
brier ton Pipetten denkbar ist und auch dann die Zählung nichts für
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1891
eine gleichmässige Verteilung der Elemente im ganzen Sediment be¬
weist.
Herren N i s s 1, T o b 1 e r.
Herren v. Hippel und Pagen Stecher: Ueber den
Einfluss des Cholins auf die Gravidität. (Vorläufige Mitteilung.)
Da es durch Untersuchungen von Werner und von
Exner bekannt ist, dass ein grosser Teil der biologischen Wir¬
kungen von Röntgen- und Radiumstrahlen durch Cholininjek¬
tionen imitiert werden kann, haben Vortragende versucht, auf
diese Weise dieselbe Form von angeborenem Schicht- und
Zentralstar experimentell zu erzeugen, wie sie v. Hippel
früher bei Einwirkung von Röntgenstrahlen auf den Bauch
trächtiger Kaninchen erhalten hat. Dies ist in der Tat einmal
bei 2 Tieren desselben Wurfes gelungen.
Im übrigen zeigte sich aber sehr bald, dass die meisten
injizierten Tiere steril blieben und es wurde deshalb der Ein¬
fluss des Cholins auf die Gravidität durch folgende Versuche
näher geprüft:
2 Tiere wurden vom zweiten Tage nach der Begattung an
10 Tage hintereinander mit 10 ccm 2 proz. Cholinlösung sub¬
kutan gespritzt; beide blieben steril; hier kann es sich um Ab¬
tötung des Eies handeln.
10 Kaninchen wurden, vom 6. oder 7. Tage beginnend, an
7 aufeinander folgenden Tagen mit 10 ccm (5 Fälle) einer 1 proz.
Lösung, bezw. mit 5 ccm 1 proz. (4 Fälle), bezw. mit 4 ccm
14 proz. Lösung (1 Fall) injiziert.
Ergebnis: 7 mal Sterilität, 1 mal 2 Junge mit angeborener
Katarakt; bei der sofort ausgeführten Sektion dieses Tieres
fanden sich im Uterus noch 7 in sehr frühen Stadien abge¬
storbene Föten (mikroskopischer Befund fehlt noch), 2 Tiere
warfen zur rechten Zeit, die Jungen waren normal in dem Falle,
wo nur 14 proz. Lösung injiziert war, in dem anderen (1 proz.
Lösung 5 ccm) sah man in 3 Augen grössere Blutungen.
Es ist also beim Kaninchen möglich, durch 6 — 7 Cholin¬
injektionen von 10 ccm einer 1 proz. Lösung, mit denen am 6.
oder 7. Tage post coitum begonnen wird, die eingetretene Gra¬
vidität zu unterbrechen. Ob dabei Abort oder Resorption er¬
folgt, ist noch zu untersuchen. Ueber die mikroskopischen Be¬
funde an den Genitalien der zur Sektion gekommenen Tiere
wird an anderer Stelle berichtet werden.
Eine Zerstörung der Schwangerschaftsprodukte ist aber
auch in späterem Stadium möglich: Bei einem Kaninchen wurde
mit den gleich starken Injektionen am 12. Tag begonnen und bis
zum 18. fortgefahren. Sektion am 20. Tage zeigt, dass sämt¬
liche (6) Früchte abgestorben sind und dass der Inhalt der
Fruchtblasen makroskopisch aus hämorrhagisch infiltriertem
Plazentargewebe besteht.
2 weitere Versuche dieser Art sind noch im Gange.
Unentschieden ist noch die Frage, ob eine neue Begattung
der cholininjizierten Tiere ergebnislos bleibt. Einmal war dies
der Fall, weitere Versuche sind im Gange.
Sämtliche mit Cholin injizierten Tiere zeigten während der
ganzen Beobachtungszeit völliges Wohlbefinden.
Des weiteren wurden noch F^öntgenbestrahlungen belegter
Kaninchen in. der Weise gemacht, dass der Bauch des auf¬
gebundenen Tieres durch Bleiplatten geschützt war. Durch
diese Versuche sollte entschieden werden, ob die früher er-,
haltenen Startrübungen durch direkte oder indirekte Wirkung
der Strahlen entstehen. Positive Befunde sind auf diese Weise
noch nicht erzielt wurden, dagegen zeigte sich, dass auffallend
viele Tiere steril blieben, nämlich 4 unter 8 Versuchen. Ein
fünftes warf tote, stark mazerierte Föten.
Die Zerstörung der Gravidität kann demnach sowohl durch
Cholin als durch Wirkung der Röntgenstrahlen auf dem Wege
des Blutes herbeigeführt werden, womit gut übereinstimmt,
dass Benjamin und v. R e u s s gezeigt haben, dass bei Rönt¬
genbestrahlung Cholin im Blute chemisch nachweisbar ist.
Diskussion: Herr Werner berichtet, dass es ihm bei
seinen mit v. Lichtenberg gemeinsam fortgesetzten Unter¬
suchungen gelungen sei, einen ähnlichen Einfluss des Cholins auf die
Gravidität zu konstatieren, wie dies v. Hippel eben beschrieb.
Einem Kaninchen wurden vom 8. Tage der Schwangerschaft an
4 mal je 10 ccm einer 5 proz. wässerigen Cholinlösung in 3 — 4 tägigen
Intervallen subkutan injiziert. Am 28. Tage warf das Tier einen
mazerierten Embryo, worauf es getötet und der Uterus mit den
Adnexen entnommen wurde.
An den Ovarien war makroskopisch nichts Abnormes zu sehen,
der Uterus dagegen war stark vergrössert und enthielt im rechten
Horne 2 fast vollkommen normal entwickelte, wenn auch etwas
kleinere, mazerierte Föten, sowie 2 winzige Fruchtblasen mit relativ
gut ausgebildeten Plazenten, während im linken Horne ausser einem
fast völlig normal entwickelten Embryo 4 ganz kleine Eianlagen nach¬
weisbar waren, welch letztere die hypertrophische Uteruswand in
Gestalt von perlschnurartig angeordneten Wülsten vorwölbten.
Ob die Kleinheit der Fruchtblasen die Folge einer primären Ent¬
wicklungshemmung oder einer sekundären Resorption nach weiter
fortgeschrittener Ausbildung darstellt, lässt sich zunächst noch nicht
feststellen.
Ausserdem wurde bei einem früher sehr fruchtbar gewesenen
Kaninchen nach täglich wiederholten Injektionen von 0,5 proz. Cholin¬
lösung in Dosen, die allmählich von 2,5 bis 10 ccm gesteigert wurden,
während der bisherigen Beobachtungsdauer von 6 Monaten völlige
Sterilität konstatiert, bei einem zweiten, in gleicher Weise be¬
handelten wurden dagegen im ganzen 2 Würfe, der erste mit 6, der
zweite mit 2 Jungen, erhalten, was eine sehr beträchtliche Herab¬
setzung der Fruchtbarkeit des Tieres bedeutet. Die Differenz in der
Wirkung gleich grosser Cholindosen erklärt sich zum Teil aus der
Kompliziertheit der Prozesse, die das Cholin in den Geweben hervor¬
ruft (u. a. Oxydatiorisverstärkung und Photoaktivitätssteigerung), wo¬
durch individuelle Schwankungen des Effektes begünstigt werden.
Wichtig sind diese und v. Hippels Befunde als weitere Er¬
gänzung der Studien über die chemische Imitation der biologischen
Strahlenwirkung, die nun bezüglich aller wesentlichen
Symptome gelungen ist.
Aerztlicher Verein zu Marburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzungvom 18. Juli 1906.
Vorsitzender: Herr Asch off.
Schriftführer : Herr Sardern an n.
Herr K ü 1 1 n e r demonstriert:
1. einen Fall von angeborenem Schulterblatthochstand mit Ser-
ratusdefekt, den dritten Fall von Sprengel scher Difformität,
welcher im Verlaufe eines Jahres zur Beobachtung kam. DerDefekt des
ganzen linken Serratus ist nicht besonders deutlich; wenn das Kind die
Arme erhebt, dann sieht man rechts die Serratuszacken scharf her¬
vortreten, während sie links fehlen, und erkennt, dass die Skapula
nicht so weit gegen die Achselhöhle vortritt, wie auf der gesunden
Seite. Funktionsstörungen und anderweitige Missbildungen fehlen.
2. einen Fall von Fremdkörpern im Knie. Die nur 3 mm lange
Nadelspitze (Demonstration) hatte zu akuter Vereiterung des Knie¬
gelenks geführt, welche nach Inzision von anderer Seite in einen
chronischen tuberkuloseähnlichen Entzündungszustand übergegangen
war und zu hochgradiger Beugekontraktur des Kniegelenks geführt
hatte. Auf Grund der stereoskopischen Röntgenaufnahme (Demon¬
stration) wurde der Fremdkörper ohne jede Schwierigkeit gefunden,
obwohl er vollkommen in der femoralen Insertion des vorderen Kreuz¬
bandes versteckt war.
3. einen Fall von Hemimelie. Es fehlt die obere Extremität von
der Grenze des mittleren und unteren Drittel des Vorderarmes nach
abwärts. Am Ende des Stumpfes ein kleiner, aktiv nicht beweg¬
licher Hautanhang, der dem Röntgenbilde nach mit dem spitz enden¬
den Knochen in einem durch dichtere Weichteile vermittelten Zu¬
sammenhänge zu stehen scheint. Die Weichteile und das Knochen¬
gerüst des gesamten Schultergürtels zeigen ein auffälliges Zurück¬
bleiben im Wachstum (Röntgenbilder), welches durch die Funktions¬
beschränkung bedingt ist. Keine Heredität. Tragen eines künst¬
lichen Armes.
4. einen Fall von doppelseitiger spontaner Subluxation der Klavi-
kula im Sternoklavikulargelenk. Leichte Grade der Verbildung sind
häufig, in diesem Fall ist die Verschiebung eine so hochgradige, dass
bei aktivem Rückwärtsführen beider Schultern die Gelenkflächen der
Klavikula vorn und oberhalb vom Sternum fast vollständig abtastbar
sind. Werden die Schultern nach vorn genommen, so tritt spontane
Reposition ein. Die Deformität ist im Röntgenbilde gut erkennbar,
ätiologisch kommen forzierte Turnübungen des 15 jährigen jungen
Mädchens am Trapez und Reck in Frage. Keine Funktionsstörung.
5. einen Fall von doppelseitiger hereditärer Coxitis deformans
juvenilis. Vater und Grossvater des 21 jährigen Patienten hatten an
der gleichen Affektion gelitten, welche im Kindesalter beginnend, sich
dauernd verschlimmerte. Auch 5 andere Mitglieder der Familie sollen
ähnliche Hiiftaffektionen aufweisen. Beide Beine stehen in Innen¬
rotation, fast rechtswinkliger Flexion, welche durch Lordose aus¬
geglichen ist, das linke auch in starker Adduktionskontraktur, die
durch Beckenhebung korrigiert wird. Pat. war nie bettlägerig, ist
durch die Affektion wenig beeinträchtigt. Das Röntgenbild (Demon¬
stration) zeigt beide Femurköpfe sehr stark pilzförmig deformiert,
die Schenkelhälse verkürzt. Keine Coxa vara, keine Residuen von
Rhachitis.
IS92
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 3$.
6. das Präparat eines wegen chronischen Gelenkrheumatismus
resezierten Kniegelenks. Die auserordentlichen Beschwerden und die
hochgradige Veränderung des Gelenks zwangen bei Erfolglosigkeit
aller konservativen Massnahmen zur Resektion. Obwohl es sich um
einen echten Fall von chronischem Gelenkrheumatismus handelte
(Hervorgehen aus einem akuten Gelenkrheumatismus, typische Er¬
krankung der Gelenke an der oberen Extremität), fanden sich in den
gleichzeitig erkrankten resezierten Kniegelenken die charakteristischen
Veränderungen der Arthritis deformans (grosse Mengen von Reis¬
körpern, Knorpelusuren und Wucherungen), ein Beweis mehr, dass
die scharfe anatomische Trennung des chronischen Gelenkrheumatis¬
mus von der Arthritis deformans nicht durchführbar ist. In den Reis¬
körperchen keine Tuberkulose.
7. mikroskopische Präparate einer Tuberkulose der Glandula
parathyreoidea. Bei der halbseitigen Exstirpation einer grossen
Struma fand sich hinter dem linken Schilddrüsenlappen ein bohnen¬
grosses Gebilde, welche als Glandula parathyreoidea angesprochen
wurde. Die mikroskopische Untersuchung (Prof. Asch off) erwies
diese Annahme als richtig und stellte eine typische verkäsende Tu¬
berkulose der Parathyreoidea fest. In der Struma keine Tuberkulose.
Pat. ist völlig gesund, hereditär nicht belastet. In der Literatur
konnte der Vortragende keine analoge Beobachtung finden.
8. einen Fall von ausgedehnter Verbrennung 3. Grades der
ganzen vorderen Körperfläche in Heilung, nach sehr schwerem, mit
Hämoglobinurie, Nephritis und Herzinsuffizienz kompliziertem Ver¬
laufe. Deckung der grössten Defekte durch T h i e r s c h sehe Trans¬
plantationen.
9. eine Modifikation der hinteren Gastroenterostomie (Kranken¬
vorstellung). Vortr. hat bei seinen 3 letzten Gastroenterostomien
das Zustandekommen des Circulus vitiosus dadurch erschwert, dass
er der von ihm stets geübten hinteren Anastomose mit Murphy¬
knopf eine Drehung der kurzen zuführenden Jejununschlinge um ihre
Längsachse hinzufügt und diese Drehung durch wenige Kopfnähte
zwischen Darm und Magen ohne Zeitverlust fixiert. Dadurch wird
der Uebertritt von Mageninhalt in die zuführende Darmschlinge un¬
möglich gemacht.
10. einen Fall von Exstirpation einer enormen leukämischen
Wandermilz. Das Organ lag wie ein gravider Uterus zwischen den
Darmbeinschaufeln und machte höchstgradige Beschwerden; es wog
nach der Exstirpation 2770 g (Demonstration des Präparates). Die
Leukozytenzahl betrug 38 300. Die Arteria lienalis war fingerdick,
die Vene daumendick; starke Dislokation des Pankreas, welches mit
einiger Schwierigkeit von der Vene losgelöst wurde. Der Eingriff
wurde glatt überstanden, in den ersten Tagen Temperatursteigerung,
wohl infolge der Pankreasablösung. Bestrahlung des Knochen¬
markes in Aussicht genommen.
11. die Präparate eines Falles von arteriosklerotischer Gangrän.
Trotz beginnender Gangrän nur der grossen Zehe fand sich die Art.
femoralis bis zum Poupartschen Bande vollkommen verschlossen.
Amputation des Oberschenkels im oberen Drittel, die Zirkulation
wurde durch die hinteren Kollateralen aufrecht erhalten. Glatte
Heilung.
12) Die Schnittführung bei Intervalloperation der Epityphlitis.
(Krankenvorstellung.) Vortr. benutzt stets den Len n an de r-
Schnitt, den er in einer Länge von 2—3 cm auf die Mitte des Rektus
legt. Nach Verschiebung des Muskels Eröffnung des Peritoneums,
möglichst nur in der Ausdehnung von 1 cm unterhalb der Linea semi-
circularis, so dass die hintere Rektusscheide intakt bleibt. Betonung
des Prinzips der kleinstmöglichen und schonendsten Bauchschnitte.
Vortr. lässt bei glattem Verlauf am 10. Tage aufstehen.
13. Einen Fall von hochgradiger erworbener Elephantiasis des
Penis und Skrotums. Es bestehen zahlreiche Lymphfisteln mit pro¬
fuser Lymphorrhoe. Da nur Haut- und Unterhautzellgewebe beteiligt
sind, zahlreiche seit Jahren ausgeführte partielle Exzisionen nur Ver¬
schlimmerungen verursacht haben, ist die Totalexstirpation der er¬
krankten Haut mit Unterhautzellgewebe und der Ersatz durch
Krause sehe Lappen oder gestielte Lappen von der Haut des Ober¬
schenkels oder Bauches in Aussicht genommen.
1-4. einen Fall von Leberabszess nach Epityphlitis, in Heilung
begriffen.
15) Das Präparat eines operativ entfernten, intrathorakalen
Oesophaguskarzinoms. Sehr ungünstiger Sitz dicht unterhalb des
Lungenhilus. Operation im Brauer sehen Ueberdruckapparat trotz
doppelseitigem Pneumothorax keine Störung von Herztätigkeit und
Atmung. Der Eingriff bot grosse technische Schwierigkeiten, da
beide Vagi und die rechte Pleura mit dem Karzinom verwachsen
waren und der linke Lungenhilus das Operationsfeld kreuzte. Trotz¬
dem gelang die Entfernung so radikal, dass später bei der Autopsie
weder makroskopisch noch mikroskopisch eine Spur von Karzinom
gefunden werden konnte. Patient überlebte den Eingriff nur einen
I ag. Die Hauptschwierigkeiten liegen in der ausserordentlichen
Zerreisslichkeit des kranken Oesophagus, der sich nicht vorziehen
lässt, in der starken Retraktion der Speiseröhrenenden nach der Re¬
sektion des schrumpfenden Karzinomes, welche im vorliegenden Fall
durch Retraktion des oralen Endes hinter den Lungenhilus jede Ver¬
einigung im Brustraum unmöglich machte, und in der Schwierigkeit,
die Asepsis zu wahren. Vortr. hat aus der Operation den Eindruck
gewonnen, dass bei günstigerem Sitz des Karzinoms zwischen Hilus
und Zwerchfell die Exstirpation des Oesophaguskarzinoms gelingen
wird. Für notwendig hält er die Tamponade und berichtet über
16. eine Serie von Tierversuchen zur Tamponade der Pleura.
Die Pleura lässt sich ohne Gefahr des Pneumothorax ausgiebig
tamponieren, wenn man die am besten mit L u g o 1 scher Lösung
getränkten Mullstreifen nicht durch die Thorakotomiewunde, sondern
durch einen Schrägkanal hinausleitet. Voraussetzung ist der luftdichte
Schluss der Thorakotomiewunde. Als Thorakotomieschnitt empfiehlt
sich nach den Erfahrungen des Vortr. am Menschen nicht der Inter¬
kostalschnitt, sondern die Inzision nach Entfernung einer Rippe. Die
Naht durch Pleura und hinteres Rippenperiost hält vollkommen sicher.
Mit der ausgiebigen Tamponade ist es dem Vortr. am Hunde ge¬
lungen, bei Empyem der linken Pleura nach Oesophagusverletzung
die breit durch das Mediastinum hindurch eröffnete rechte Pleura
vor Infektion zu schützen, bei Einbringung eines infizierten Fremd¬
körpers die Infektion auf die nächste Umgebung zu beschränken und
die betroffene Pleurahälfte in ein oberes, die frei atmende Lunge
enthaltendes und ein unteres infiziertes Fach zu trennen. Vortr. de¬
monstriert einen Hund in vollstem Wohlbefinden, dem vor 3 Wochen
beide Pleurahöhlen ausgiebig tamponiert worden sind.
17) einen Hund und eine Ziege, bei denen er durch Röntgen-
bestrahfüng in frühester Jugend die Körperform geändert hat (vergl.
Versuche von Försterling). Vortr. weist darauf hin, dass der¬
artige, in einfachster Weise hervorzurufende Formveränderungen bei
Tieren event. wirtschaftlich nutzbar gemacht werden können, und
behält sich vor, grössere Serien von in verschiedenster Weise be¬
strahlten Hunden, Katzen, Kaninchen, Hühnern usw. dem Verein wie¬
der vorzustellen.
Fielt v. d. Velden: Intravenöse Digitalistherapie mit
Strophanthin.
(Der Vortrag erscheint unter den Originalien dieser Wo¬
chenschrift.)
Herr Herrn. S c h r i d de: Spirochaetenbefunde in Organen
und ihre Verwertung für die Diagnose und den Infektionsmodus
der Syphilis.
Verschiedene, in der letzten Zeit erschienene Arbeiten
(Gierke, Beitzke, Verse, Simmonds, Schlim-
p e r t), welche mit der von L e v a d i t i empfohlenen Modi¬
fikation der Ramon y Cajalschen Methode die Frage des
Zusammenhanges zwischen Spirochaete pallida und Syphilis
geprüft haben, haben den wohl nicht mehr anzuzweifelnden
Beweis erbracht, dass wir die Schaudinn sehe Spirochäte
als Erreger der Syphilis betrachten müssen.
Vor einem Jahre konnte ich Ihnen bald nach der Ent¬
deckung Schaudinns Spirochäten im Ausstrichpräparate
zeigen. Heute möchte ich mir erlauben, Ihnen von meinen
Untersuchungen an Schnittpräparaten zu berichten, und zugleich
die Frage erörtern, inwieweit wir den positiven oder negativen
Befund von Spirochäten für die Diagnose Syphilis verwerten
können. Und weiter werde ich kurz darauf eingehen, wie wir
organische Veränderungen, welche wir bis heute als mindestens
syphilisverdächtig betrachteten, nach den jetzigen Unter¬
suchungen beurteilen müssen.
Meine Untersuchungen an tertiär-syphilitischen Produkten
verliefen absolut resultatlos. Ich habe Aortitis syphilitica, syphi¬
litische Apfelleber, Pachymeningitis gummosa, Orchitis fibrosa,
gummöse Orchitis, Rippen-Gummi untersucht, jedoch niemals
eine Spirochäte gefunden. Ob die hin und wieder zu sehenden
Körnchen, die eventuell zu kleinen Reihen zusammenliegen, als
zerfallene Spirochäten zu deuten seien, wage ich nicht zu ent¬
scheiden. Dass wir bei tertiär-syphilitischen Veränderungen
keine Spirochäten finden, ist ja eigentlich nicht verwunderlich.
Denn es handelt sich ja meistens um abgelaufene Prozesse, die
eventuell schon wie die Aortitis syphilitica in Vernarbung über¬
gehen. Aehnlich wie bei den tertiär-syphilitischen Produkten
finden wir auch, um ein besonders prägnantes Gegenbeispiel
anzuführen, in alten tuberkulösen Käseherden nur in den sel¬
tensten Fällen die Krankheitserreger im Schnitte. Schliesslich
spricht auch die alte klinische Erfahrung, dass im tertiären Sta¬
dium der Syphilis eine Uebertragung der Krankheit so gut wie
ausgeschlossen ist, dafür, dass eben die tertiären Produkte ent¬
weder gar keine oder doch nur äusserst spärlich Spirochäten
enthalten.
Als zweiten Punkt möchte ich die kongenitale Syphilis der
Neugeborenen besprechen. Wenn wir nun auch in gewissen
anatomischen Veränderungen (Osteochondritis syphilitica, Pem¬
phigus syphiliticus, syphilitischer Milztumor, Feuersteinleber)
Anhaltspunkte für die Diagnose Syphilis besitzen, so kommen
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1893
doch hin und wieder Fälle vor, bei denen wir zu einem sicheren
Urteile auf Qrund der Autopsie nicht gelangen können. Die
Untersuchungen zeigen nun, dass die Spirochäten bei Neuge¬
borenen mit angeborener Syphilis vor allem anderen in Leber
und Nebennieren zu finden sind. In diesen Organen sind sie oft
in unbeschreiblicher Menge vorhanden. In Milz und Niere
treten die Spirochäten scheinbar demgegenüber weit zurück.
Gering war die Spirochätenzahl auch in den von mir unter¬
suchten Pemphigusblasen. Doch fanden sich am Rande zwi¬
schen den Leukozyten (niemals in diesen Zellen), im umgeben¬
den, noch erhaltenen Epithel und auch im benachbarten Korium
immerhin bald vereinzelte, bald auch zu kleinen Häufchen zu¬
sammenliegende Spirochäten. Auf Qrund dieser Befunde muss
man daher die Forderung stellen, dass, wenn die Autopsie
keinen sicheren Anhalt für die Diagnose gibt, die Untersuchung
von Leber und Nebenniere auf Spirochäten unbedingt erfolgen
muss, da wegen des sehr reichlichen Vorkommens der Spiro¬
chäten gerade in diesen Organen die Entscheidung am leich¬
testen und sichersten getroffen werden kann.
Bemerkenswert sind auch die Spirochätenbefunde an ma¬
zerierten Totgeborenen, die vor allem .von S i m m o n d s her¬
vorgehoben sind. Auch hier kann die Autopsie uns manchmal
im Unklaren lassen. Wir hatten jüngst Gelegenheit, gerade
einen solchen, unsicheren Fall zu beobachten. Die Autopsie
zeigte an dem betreffenden Kinde am Knochen Veränderungen,
die wohl die Diagnose Syphilis in gewisser Weise wahrschein¬
lich machten, jedoch nicht sicher stellten. Da wir jedoch weder
an der Milz, welche normale Grösse besass, noch an der Leber,
noch auch an anderen Organen irgendwelche suspekte Ver¬
änderungen konstatieren konnten, und da ferner nach den anam¬
nestischen Angaben Vater wie Mutter jede Infektion absolut
in Abrede stellten, so mussten wir eine bestimmte Diagnose*
ablehnen. Erst die mikroskopische Untersuchung, die zahllose
Spirochäten in der Leber nachwies, lehrte uns, dass hier mit
aller Sicherheit Syphilis vorlag.
Weiter möchte ich noch auf makroskopische und mikro¬
skopische Befunde besonders an Milz und Leber hinweisen,
welche nach unseren bisherigen Anschauungen, wenn ein an¬
derer, bekannter ätiologischer Faktor auszuschliessen war,
den Verdacht auf Syphilis nahe legten. Verbreitet ist die Mei-
ung, dass der Befund eines Milztumors bei einem Neugeborenen
oder Kinde aus der ersten Lebenszeit auch ohne sonstige syphi¬
litische Veränderungen im Körper als suspekt zu betrachten
sei. Wir glaubten ferner, dass, wenn das Mikroskop uns z. B.
in der Leber und Niere abnorm persistierende Blutbildungs¬
herde zeigte, mit gewisser Wahrscheinlichkeit an Syphilis zu
denken sei. Herr Dr. S w a r t hat vor einiger Zeit in Virchows
Archiv Bd. 182 vier Fälle von Anaemia splenica bei Kindern
mitgeteilt und kam auf Grund seiner Befunde (Milztumor, persi¬
stierende, extramedulläre Blutbildungsherde) zu dem Schlüsse,
dass hier Syphilis vielleicht als ätiologischer Faktor vorliegen
könne, jedenfalls nicht ganz auszuschliessen sei. Ich habe diese
Fälle jetzt genau an allen Organen mit der L e v a d i t i sehen
Methode nachuntersucht und in keinem Organe eine einzige
Spirochäte nachweisen können. Die Organstückchen waren,
um vollkommen sicher zu sehen, zusammen mit sicher syphi¬
litischem Materiale, das zahlreiche Spirochäten zeigte, in der¬
selben Flüssigkeit behandelt. Die vier von Swart mitge¬
teilten Fälle sind daher sicher als nicht syphilitisch zu be¬
zeichnen. Leider ist damit die Aetiologie der Anämie splenica
gerade so unklar wie vordem auch. Hervorheben möchte ich
noch, wie das S w a r t in seiner Arbeit auch besonders betont
hat, dass bei seinen sämtlichen Beobachtungen jede sonstigen
klinischen wie auch anatomischen Anhaltspunkte für Syphilis
fehlten. Die Annahme der Syphilis als ätiologisches Moment
war eben auf Grund unserer früheren Ansichten gemacht, die
besonders die abnorme Persistenz von extramedullären Blut¬
bildungsherden als syphilisverdächtig hinstellten. Wenn auch
nicht geleugnet werden soll, dass wir die geschilderten histolo¬
gischen Befunde gerade bei Syphilis besonders häufig antreffen,
so dürfen wir doch nach den mitgetejlten Untersuchungen nun¬
mehr nur dann die Diagnose auf Syphilis stellen, wenn uns
ausserdem noch der Nachweis der Spirochäten gelingt.
Die Lehren, welche wir aus den Ihnen soeben mitgeteilten
Befunden entnehmen können, 'wären daher folgende:
Das Fehlen der Spirochäten in tertiärsyphilitischen Pro¬
dukten beweist nichts gegen ihre syphilitische Natur. Ist die
Diagnose auf Syphilis klinisch als auch anatomisch nicht ganz
einwandsfrei, so hat unbedingt die Untersuchung der Leber
und Nebenniere auf Spirochäten zu erfolgen. Das gilt sowohl
für mazerierte totgeborene, wie auch für ausgetragene Kinder.
Abnorm persistierende Blutbildungsherde, besonders in der
Leber, sind an sich niemals beweisend für Syphilis, sie kommen
auch auf anderer, allerdings unbekannter Basis vor.
Zum Schlüsse möchte ich Ihnen noch von einem Befunde
berichten, der mir für den Infektionsmodus der Syphilis neue
Fingerzeige zu geben scheint. Bei der Untersuchung der Fuss-
sohlenhaut eines Neugeborenen, die verschiedene Pemphigus¬
blasen zeigte, fand ich weit entfernt von diesen Blasen in der
auch histologisch absolut intakt und vollkommen normal er¬
scheinenden Epidermis zahlreiche Spirochäten" ). Die Spirochäten
lagen in allen Schichten von der Basalzellenschicht bis zum
Stratum granulosum. Entsprechend den Interzellulärräumen,
in welchen die Mikroorganismen sich immer befanden, war die
Lage der Spirochäten in den basalwärts gelegenen Abschnitten
der Epidermis eine mehr oder minder zur Oberfläche senk¬
rechte, während mehr nach oben zu, in ausgesprochener Weise
natürlich im Stratum granulosum ihre Richtung zur Oberfläche
eine mehr wagrechte war. In den zahlreichen von mir unter¬
suchten Schnitten konnte ich nun konstant die Tatsache fest¬
stellen, dass die Spirochäten nur bis ins Stratum granulosum
vordrangen. Niemals jedoch habe ich eine Spirochäte im
Stratum lucidum oder corneum gesehen. Das liegt sicher daran,
dass bekanntlich in diesen Schichten die Interzellularräume
vollkommen fehlen, in denen allein nach meinen Unter¬
suchungen die Wanderung der Spirochäten stattfindet. Wir
müssen also aus diesen Untersuchungen mit Bestimmtheit
schliessen, dass Hornhaut und Stratum lucidum für die Spiro-
chaete pallida absolut undurchdringlich sind. Wo diese
Schichten aber fehlen oder zufällig abgestossen sind, ist der
Weg für das Eindringen der Spirochäten frei. S c h 1 i m p e r t
hat bereits die Durchwanderung der Mundschleimhaut durch
Spirochäten beschrieben. Wir brauchen daher jetzt nicht mehr
anzunehmen, dass bei der Infektion mit Syphilis eine wirkliche
Verletzung, eine Rhagade vorhanden sein müsse. Es genügt,
wie schon gesagt, allein schon, dass die Hornschicht resp.
Stratum corneum und lucidum fehlt oder abgestossen ist.
Die Untersuchungen zeigen also, dass die .Gefahr der Syphilis¬
infektion noch viel grösser ist als man bisher annahm, dass
auch eine intakte Epidermis nicht vor der Ansteckung schützt.
Herr L. Aschoff: Zur Frage der Cholesterinbildung
in der Gallenblase (auf Grund gemeinsam mit Herrn K ü 1 1 n e r
unternommener Experimente). (Der Vortrag befindet sich
unter den Originalien dieser Nummer.)
Aus den englischen medizinischen Gesellschaften.
Obstetrical Society of London.
Sitzung vom 6. Juni 1906.
Ueber Kontraktion des Uterus ohne Retraktion; Fieber auf nervöser
Basis.
G. Herma n schilderte einen Fall von Frühgeburt, bei welchem
ein mehr als 24stündiger Stillstand in der Austreibung des Fötus
stattfand, trotzdem der Uterus sich regelrecht kontrahierte, der Aus¬
führungskanal vollständig dilatiert wurde, die Frucht klein war, und
das Becken reichliche Dimensionen aufwies. Als Ursache des Still¬
standes ist, wie Redner meint, das Fehlen einer Retraktion der Ge¬
bärmutter zu bezeichnen, und der Fall wird namentlich deswegen
mitgeteilt, um den Unterschied zwischen Kontraktion und Retraktion
am Uterus zu exemplifizieren. Auf die Entbindung folgte eine hohe
Temperatursteigerung von mehr als 14 tägiger Dauer ohne sonstige
physikalische Krankheitserscheinungen, ohne Abmagerung oder
Schwäche. H. glaubt, dass nervöse Einwirkungen die Ursache dieses
Fiebers seien, und stützt seine Auffassung durch einige Literatur¬
angaben.
O. Williamson findet, dass kein Beweis vom Vorredner
beigebracht sei dafür, dass wirklich die Retraktion ausgeblieben sei.
Tatsächlich gingen schon in der ersten Periode des Geburtsaktes
*) Anmerkung bei der Korrektur. Vor kurzem konnte
ich die gleichen Befunde auch bei einem anderen syphilitischen- Neu¬
geborenen bestätigen. Hier fanden sich in der vollkommen normalen
Epidermis des . Oberschenkels (!) ebenfalls Spirochaeten, während
allein an den Fussohlen Pemphigusblasen vorhanden waren.
1894
MUENCHKNER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT
Kontraktion und Retraktion Hand in Hand, wie man an den ge¬
frorenen Durchschnitten bei Frauen, welche während der Geburt ge¬
storben waren, ersehen könne. Ferner beweise schon der Umstand,
dass der Zervikalkanal völlig dilatiert war, das Vorhandensein einer
Retraktion.
Lewcrs bestreitet den nervösen Ursprung der hohen Tem¬
peratur. In der Tat war die Geburt nicht ohne Komplikation ver¬
laufen, indem die Plazenta manuell hatte entfernt werden müssen.
Fr deutet vielmehr die Erscheinungen als eine uterine Phlebitis, bei
welcher gerade das Fehlen sonstiger physikalischer Erscheinungen
bei hoher iemperatur und Schüttelfrösten charakteristisch ist. Die
Diagnose wird öfters noch durch Uebergreifen auf den Oberschenkel
bestätigt. Trotzdem nehmen viele dieser Fälle einen günstigen
Verlauf.
P. Hör rock s setzt aus theoretischen Gründen auseinander,
dass Kontraktion ohne Retraktion in der Geburt nicht möglich sei,
sobald der Zervikalkanal angefangen hat, sich zu öffnen.
A. R o u t h hält es für zweifellos, dass in manchen Fällen nervöse
Einwirkungen dem Fieber zu gründe liegen.
K. box all hält es für ganz gut möglich, dass unter gewissen
Umständen die Retraktion ausbleiben könne, trotz des Vorhandenseins
von Kontraktionen.
Die Glykosurie der Schwangerschaft.
W. H. B. Brook berichtet über 3 solche Fälle, bei denen
Glukose und eine kleine Quantität Laktose im Urin im 5. oder 6.
Monat der Schwangerschaft konstatiert wurden. Trotz antidiabeti¬
scher Diät und medikamentöser Behandlung (Aspirin, Natron sali-
cylicum, Cocain, Pilul. hydrarg.) blieb die Abnormität bis zur Ent¬
bindung bestehen, verging aber nachher völlig.
F. H. Champneys hob hervor, dass der Diabetes der
Schwangerschaft bald sehr harmlos, bald äusserst schnell letal ver-
Iaufe Seines Wissens sei es bisher unmöglich, feste Anhaltspunkte
für die Prognose anzugeben.
F a i r b a i r n hat einen Fall beobachtet, bei welchem Glukose
und keine Laktose mit der Phenylhydrazinprobe, der Gärungsprobe
und dem Polarimeter nachgewiesen wurde. Solche Fälle sind vom
echten Diabetes zweifellos zu unterscheiden.
Royal Medical and Chirurgical Society.
Sitzung vom 12. Juni 1906.
Ueber Gravidität bei Mitralstenose.
H. 1 i euch und H. T. Hicks legten ihrer Besprechung des
I hemas ein Material von 300 Frauen im Alter von mehr als 20 Jahren
zu gründe. Die Fälle waren der Reihe nach, wie sie im Kranken¬
haus (Guys) aufgenommen wurden, teils mit, teils ohne Kompli¬
kationen, verzeichnet worden. Im ganzen war Sterilität unter
ihnen keine häufige Erscheinung, und die meisten ertrugen
den Zustand der Gravidität gut. Wo Herzschwäche in der
^chw angei Schaft vorkam, trat dieselbe meist nicht gleich beim ersten
Male, sondern erst nach mehreren Konzeptionen hervor. Nach den
prfahi ungen der Redner hat man nicht die Berechtigung, in jedem
1 alle von Mitralstenose die Ehe direkt zu verbieten. Ein hohes
Lebensalter ist allerdings weder in der Ehe noch beim Ledigbleiben
für solche Patienten zu erwarten; aber wenn das 20. Lebensjahr
mit guter Kompensation überschritten worden ist, so dürfte die Ge¬
fahr einer Verschlimmerung des Herzleidens durch die Gravidität
nicht so gross sein, wie die Lehrbücher angeben.
D) ce Duckworth hat bei seinen Fällen immer die Ehe
widerraten. Namentlich bei den Angehörigen der ärmeren Bevölke¬
rung ist die Gefahr einer akuten Herzschwäche infolge der Ple¬
thora der Schwangerschaft sehr zu befürchten.
G. H e i m a n glaubt, dass man diese Gefahr übertrieben gross
dargestellt habe. Bei guter Kompensation sei keine begründete Be¬
sorgnis vorhanden. Gegen den siebenten Monat hin sei wohl eine
Kompensationsstörung am ehesten zu erwarten.
Gardner empfiehlt für solche Fälle auf Grund seiner ausge¬
dehnten geburtshilflichen Erfahrungen eine schleunige Entbindung
mit Zange in Chloroformnarkose.
E. S. G i b b e s glaubt, dass die Gravidität bei einzelnen Fällen
sogai zur Herstellung der Kompensation beitragen könne.
v. . ' {3 0 YJ1 1 °, n un*er 350 Fällen von Rheumatismus bei
Kindern unter 12 Jahren 228 Mädchen und 122 Knaben gehabt, wäh¬
lend dei I rozentsatz an Herzaffektionen bei beiden Geschlechtern
die gleiche w ar. Von den tödlich verlaufenden Fällen waren 10 Mäd¬
chen und lo Knaben. Beim weiblichen Geschlecht scheint der Rheu¬
matismus mehr die sklerosierende Form anzunehmen. Er hält es
fm wahrscheinlich dass die Gravidität und das Puerperium zur
V erschlimmerung oder zur Erzeugung einer malignen Form beitragen.
. on n ey berichtet über 3 Fälle, bei denen maligne Endo-
kaiditis wahrend des Wochenbettfiebers sich als eine Sekundärinfek-
tioii auf der Basis einer alten Endokarditis entwickelte, sowie über
emcn afinhch^ Fall be, einer Gravida ohne puerperale Infektion.
h \ i •* ii1) 1 ^ Statistiken aus dem Queen Charlotte’s
Hospital mit. Unter 4171 Entbindungen kamen 28 mal ausgesprochene
Herzaffektionen vor: 2 Aortenfehler, 12 Fälle von Mitralstenose und
FaIIe ™n. Mitralinsuffizienz. Es starben 3 Wöchnerinnen, 2 mit
Mitralinsuffizienz und 1 mit Mitralstenose; die Aortenfälle verliefen
beide günstig. P h i 1 i p p i - Bad Salzschlirf.
Verschiedenes.
Therapeutische Notizen.
In seinei Arbeit: Behandlung von Augen krank beiten
durch Be Strahlung mit der elektrischen Glühlampe
berichtet Ludwig Koch über die auf Anregung von Prof. E v e r s-
I’ u s c h gemachten Beobachtungen. Die Bestrahlung wurde täglich
2 mal, morgens und abends, mit einer gewöhnlichen Beleuchtungs¬
lampe von ca. 20 Kerzenstärke vorgenommen. Die Einwirkung des
Lichtes auf das erkrankte Auge dauerte jedesmal ca. 5 Sekunden lang;
alsdann tiat eine kleine Pause ein, bis sich die Pupille wieder er¬
weitert hatte, um nun neuerdings wieder zur Kontraktion gebracht
zu werden. Solche einzelne Belichtungen erfolgten jedesmal 20—25
hintereinander Dabei wurde darauf gesehen, dass die Strahlen nicht
direkt aut die Macula lutea auffallen konnten, damit eine schädigende
Wirkung und Blendung vermieden werde.
Besonders deutlich war die Wirkung der Bestrahlung bei einer
Keratitis glaucoinatosa. In einem Fall mit Descemetitis wurde durch
die Bestrahlung stets eine Besserung der Sehschärfe erreicht, die
bei Aussetzen der Bestrahlung wieder zu Verlust ging, um mit deren
Wiederanwendung sich schnell wieder zu heben. Nach den vorliegen¬
den Versuchen kann die Frage, ob durch Bestrahlung ein therapeu-
tischei Lrtolg bei verschiedenen Hornhauterkrankungen erzielt wer¬
den kann, bejaht werden. Besonders ist dies der Fall bei Keratitis
glaucoinatosa und Keratitis profunda. Bei den anderen Keratitis¬
tormen, bei Ulcus und bei trachomatösem Pannus wirkt die Be-
sti ahlung nicht schlechter als die bisherigen Behandlungsmethoden,
jedenfalls beschleunigt sie die Heilung, wenn einmal der Höhepunkt
dei Entzündung erreicht ist. Bei Hornhauttrübungen ist die Be¬
strahlung eine wertvolle Bereicherung der Therapie, wenngleich die
zu ei;z>elende Besserung hier nur eine geringe ist. Bei hartnäckigen
Krankheitsbildern (z. B. Keratitis parenchymatosa luetica hereditaria)
wird durch die Bestrahlung kein nennenswerter Einfluss ausgeübt
Den Hauptgrund der Erfolge erblickt Verfasser in dem durch
die häufige Pupillenkontraktion gesteigerten Flüssigkeitswechsel der
vorderen Augenkammer. (Dissertation, München 1906.) F. L.
Aus einer Arbeit von C. B 1 ü m e 1 - Görbersdorf „Ueber die Be¬
deutung von Hämoglobinuntersuchungen für die Prognose der chro¬
nischen Lungentuberkulose“ (Med. Klinik 1906, No. 32) geht hervor
dass sich als recht brauchbares Eisenpräparat das B 1 u t a n, ein von
der Firma Dieterich- Helfenberg hergestellter Liquor Ferro-Man-
ei3iesen hat. Das Präparat ist frei von Alkohol und
enthalt j,6 Pioz. Fe und 0,1 Proz. Mn. Es wurde eine beträchtliche
Steigerung des Hämoglobingehaltes und damit das Schwinden der
subjektiven Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Herzklopfen, Schwin¬
del- und Mattigkeitsgefühl erzielt. s.
Das Guatannnin kommt nach W i n t e r b e r g - Wien am
besten in Pillenform zu 0,05 Guatannin zur Verwendung (Ther. Mo¬
natshefte 1906, 8). Das Guatannin stellt eine Zusammenstellung von
Guajakol mit Acidum tannicum und Acidum cinnamylicum dar also
eine Vereinigung von Guajakol und Zimtsäure. Wegen des gleich-
zeitigen Gehaltes an I annin eignet sich das Präparat vornehmlich
fiii jene Fälle von Lungentuberkulose, die mit Darmprozessen ver¬
gesellschaftet sind.
Kr.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 18. September 1906.
— Die Neisserschen Syphilisforschungen. Wie
wir hören, beabsichtigt Herr Geheimrat N e i s s e r - Breslau im
November zum zweiten Male nach Batavia zur Fortsetzung seiner
experimentellen Versuche über Syphilis zu reisen. Die in Aussicht
ffnn mn61»* Expedition wird mit Subvention des deutschen Reiches
(100,000 Mark) unternommen, nachdem Neisser bisher seine
sämtlichen, 1903 in Breslau begonnenen, 1904 in Breslau und 1905 in
ata via foitgesetzten Arbeiten auf eigene Kosten durchgeführt hatte
In Batavia nahmen übrigens nach N e i s s e r s Rückkehr die Ver¬
suche lhien ungestörten Fortgang, da Neisser zwei seiner Assi¬
stenten (Privatdozent Dr. G. Baermann und Dr. L. Halb er¬
st ad t e r) zurückgelassen hatte. An Stelle Dr. Baerman n s, der
,, Leitung eines grossen, wesentlich Haut- und venerische Kranke
beherbergenden Hospitals auf Sumatra übernommen hat, ist in¬
zwischen Dr. Sieb er t getreten. Neu hinzugekommen sind als Mit¬
arbeiter Dr. S Prowazek, der rühmlichst bekannte Protozoen¬
torscher vom Kaiserlichen Reichsgesundheitsamt und Dr. K. Bruck
welcher früher am Königlichen Institut für Infektionskrankheiten in
Berlin als Assistent von Prof. Wassermann war und jetzt schon
seit Monaten als Assistent an der Königlichen Hautklinik in Breslau
tätig ist. (hc.)
Eii tz Schaudinn-Medaille. Zum Andenken an Fritz
oenaudinn soll periodisch (voraussichtlich alle zwei Jahre) am
18. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1895
Todestage des so früh verstorbenen Forschers eine „Fritz Schau-
di nn -Medaille für hervorragende Arbeiten auf dem Gebiete der
Mikrobiologie verliehen werden. Die Protozoenkunde und Bakterio¬
logie nicht zu trennen, sondern als Mikrobiologie zusammenzufassen,
war stets das Bestreben Schaudinns. Die Verleihung der Me¬
daille soll durch das Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten in
Hamburg, die letzte Wirkungsstätte Schaudinns, stattfinden. Ein
Fonds steht bereits zur Verfügung. Es wird Vorsorge getroffen wer¬
den, dass bei der Verleihung der Medaille hervorragende Gelehrte
des In- und Auslandes rnitwirken.
Zum Oberarzt der Abteilung für Hautkranke am allgemeinen
Krankenhause St. Georg in Hamburg ist an Stelle des verstorbenen
Dr. Engel-Reimers Herr Dr. Ed. Arning gewählt worden.
Das D e u tsche Zentralkomitee zur Errichtung
von Heilstätten für Lungenkranke berichtet in einer
„Kurzen Uebersicht über die Tätigkeit des Zentral¬
komitees in den J ah ren 1896 b i s 1905“, erstattet von dem
Generalsekretär Oberstabsarzt a. D. Dr. N i e t n e r, über die erste
zehnjährige Periode seines Bestehens, auf die es mit Befriedigung
zurückblicken kann. Die Mitgliederzahl stieg von 400 in 1896 auf
1402, die Einnahmen betrugen im Jahre 1905 fast 500 000 Mk. (darunter
rund 400 000 Mk. aus einer im vorigen Jahre veranstalteten Lotterie).
Seit 1901 wird ein jährlicher Zuschuss von 60 000 Mk. aus Reichs¬
mitteln gewährt. Die Tätigkeit des Komitees bewegte sich in drei
Richtungen: Errichtung von Heilstätten, Fürsorge für die Familien
der Heilstättenpfleglinge, Arbeitsvermittlung für die Heilstättenent¬
lassenen. Es gelang, über ganz Deutschland ein Netz von nunmehr
85 Volksheilstätten für Erwachsene mit über 8000 Betten, und 14
Heilstätten für tuberkulöse Kinder mit rund 500 Betten herzustellen.
Ausserdem gewährte das Komitee iVz Millionen Mark als Beihilfe
zur Errichtung von Kinderanstalten für skrofulöse und schwächliche
Kinder, deren jetzt 54 bestehen. Walderholungsstätten bestehen bis
jetzt ungefähr 50, wozu das Komitee 21 Docker sehe Baracken
und 131 750 Mk. in bar beisteuerte. Die Heilstättenfürsorge tritt in
neuerer Zeit mehr zurück, die Tätigkeit des Komitees wendet sich
mehr den vorbeugenden Massregeln gegen die Verbreitung der Tuber¬
kulose zu und bezieht die gesamte Tuberkulosefürsorge in den Kreis
seiner Arbeiten ein, was auch durch die Aenderung seines Namens
in „Deutsches Zentral-Komitee zur Bekämpfung
der Tuberkulose“ (siehe diese Wochenschr. No. 35) zum Aus¬
druck kommt.
— Cholera. Hongkong. In der ersten Juliwoche kam ein
Cholerafall zur Anzeige.
— Pest. Aegypten. Vom 25. bis 31. August wurden 3 neue
Erkrankungen und 4 Todesfälle an der Pest aus Alexandrien, ferner
1 Pesttodesfall aus Suez gemeldet. — Persien. Zufolge einer Mit¬
teilung vom 26. Juli war der Gesundheitszustand im ganzen Per¬
sischen Reiche befriedigend; vom 14. bis 21. Juli waren nur 5 Pest-
fälie — darunter 2 tödlich verlaufene — gemeldet, und zwar alle aus
Nassirabad (Nosretabad), der Hauptstadt von Seistan. — Britisch-
Ostindien. Während der am 11. und 18. August abgelaufenen beiden
Wochen sind in der Präsidentschaft Bombay 761 und 1214 Erkran¬
kungen (487 und 879 Todesfälle) an der Pest zur Anzeige gelangt.
— In Kalkutta starben in der Woche vom 29. Juli bis 4. August 17
Personen an der Pest. — Hongkong. Während der vier Wochen vom
1. bis 28. Juli sind nacheinander 12 — 14 — 7 — 5 neue Erkrankungen
und insgesamt 35 Todesfälle an der Pest gemeldet; von den 38 Krank¬
heitsfällen kamen 11 auf die Stadt. — China. In Swatau war die Pest
um die Mitte des Monats Juli erloschen. — Queensland. Während
der dritten Juliwoche wurde in Cairns ein frischer Pestfall festgestellt.
— In der 35. Jahreswoche, vom 26. August bis 1. September 1906,
hatten von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste
Sterblichkeit Königshütte mit 35,8, die geringste Deutsch-Wilmersdorf
mit 6,2 Todesfällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein
Zehntel aller Gestorbenen starb an Scharlach in Königshütte.
__ V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Berlin. Exz. v. Bergmann feierte am 16. ds. seinen
70. Geburtstag.
Breslau. Dem ausserord. Prof, der Augenheilkunde an der
Universität Breslau, Dr. Hugo Magnus, ist der Titel Geheimer
Medizinalrat verliehen worden.
Neapel. Der hiesige Privatdozent an der medizinischen Fakul¬
tät zu Palermo Dr. L. F e r r a n n i n i habilitierte sich als Privatdozent
für innere Pathologie.
Ofen -Pest. Dr. W. Leitner habilitierte sich als Privat¬
dozent für Kinder-Augenheilkunde.
Padua. Als Privatdozenten habilitierten sich DDr. G. A. P a r i
(Physiologie), CI. Ton zig (Hygiene).
Parma. Dr. R. S i m o n i n i habilitierte sich als Privatdozent
für Kinderheilkunde.
Pavia. Habilitiert: Dr. C. Moreschi (interne Pathologie);
St. Petersburg. Der Privatdozent an der med. Fakultät zu
Dorpat, R. Weinberg, wurde zum ausserordentlichen Pro¬
fessor der Anatomie am medizinischen Institut für Frauen ernannt.
Pisa. Als Privatdozenten habilitierten sich Dr. A. D. Boc-
ciardo für interne Pathologie, Dr. L. Ricchi für Ophthalmologie.
Dr. M. Vecchio (Geburtshilfe und Gynäkologie).
R o m. Als Privatdozenten habilitierten sich DDr. Gh. Van R y n -
b e r k (experimentelle Physiologie) und C. R a b a i o 1 i (interne
Pathologie).
Siena. Dr. F. Sicuriani habilitierte sich als Privatdozent
für interne Pathologie.
(Todesfälle.)
Der a. o. Professor der Augenheilkunde, Geheimer Medizinalrat
Dr. Hermann Cohn in Breslau ist am 11. September im 68. Lebens¬
jahre gestorben.
In Lans bei Innsbruck ist am 8. ds. der ordentliche Professor der
Augenheilkunde an der Prager deutschen Universität Dr. med.
Wilhelm Czermak gestorben.
Als ein Opfer seines Berufes starb am 10. ds. Mts. Dr. Hermann
V ö g e 1 i n, Bezirksassistenzarzt in Geresbach-Baden, im Alter von
35 Jahren.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Pensioniert der K. Bezirksarzt Dr. J. B. S t ö c k 1 in Neun¬
burg v. W. (auf 1 Jahr).
Korrespondenz.
Letzte Erwiderung an Herrn Dr. Maurer und Herrn Prof. Dr. Dürck.
Von Dr. Adolf Treutlein.
Auf die „letzte“ Erwiderung der beiden Herren in No. 36 der
Münch, med. Wochenschr. habe ich kurz zu bemerken;
Der von mir in meiner Arbeit niedergelegten Entstehungs¬
geschichte derselben habe ich nichts hinzuzufügen. Ich glaube
es geht aus derselben aufs deutlichste hervor, dass der Anfang meiner
Arbeit nicht, wie Dr. Maurer glauben machen möchte, erst auf
die Unterredung mit ihm in Meran (Ende September 1905) zu¬
rückzuführen ist, sondern Monate zurückliegt (Mai und Juni 1905),
wo ich ohne jede Kenntnis des Maurer sehen Namens oder seiner
Arbeiten völlig selbständig meine 3 Oxalatbefunde im Urin Berberi-
kranker machte. Als ich dann Anfang Juli 1905 in Ostasien zum
ersten Male von der 1903 veröffentlichten Arbeit Maurers hörte,
stand für mich felsenfest, in welchen Bahnen sich meine Unter¬
suchungen zu bewegen hätten und meine diesbezüglichen Massnahmen
Anfang August 1905 in Japan sprachen aufs deutlichste dafür
(Sammlung von Schimmelpilzen in Berberilokalen zwecks späterer
Verfütterung und Untersuchungen von Berberiurinen auf Oxalate —
Seite 327 meiner Arbeit). Es geschah dies im Ausbau der Maurer-
schen Grundidee von 1903, wie ich in meiner Verteidigung sage, aber
ohnejedepersönlicheAnregungvon Seite Maurers.
Die „Winke für die Vornahme aller Einzelheiten“, die mir
Dr. Maurer gegeben haben soll, bestanden darin, dass er mir in
einem Brief vom 24. November 1905 mitteilte, dass er die Oxalsäure
in Wasser und Glyzerin gelöst habe (l: 100) und pro die 0,5 g mittels
Schlundsonde in den Kropf gegossen habe. Jeder aufmerksame Leser
meiner Arbeit musste aber sehen, dass ich auch von dieser Mitteilung
keinen Gebrauch gemacht habe, indem ich auf Rat von
Prof. Lehmann 0,2 und 0,4 Acid. oxal. in fester Form in Reis¬
mehlkugel verfütterte.
Ueber die Art, wie oder worauf ich die Nerven meiner Ver¬
suchstiere pathologisch-anatomisch untersuchen sollte, habe ich über¬
haupt weder von Dr. Maurer noch von Prof. Dürck einen Wink
erhalten.
In Kürze muss ich noch 3 weitere Unrichtigkeiten
der Erwiderung der beiden Herren festlegen:
1. Es heisst dort: „S c h e u b e und B ä 1 z haben fettige Degenera¬
tion der Nerven und des Myokards bei Beriberi nachgewiesen.
Eijkmann hat die gleichen Veränderungen bei Hühnern durch
Reisfütterung erzielt und anatomisch nachgewiesen“. Dies letz -
t e r e ist unrichtig, da Eijkmann mit keinem Wort die fettige De¬
generation erwähnt, sondern nur von „Polyneuritis und degenerativen
und atrophischen Aenderungen“ spricht. Ich habe dies bereits in
meiner ersten Erwiderung richtiggestellt, die Herren haben dies aber
völlig ignoriert und bringen die Unrichtigkeit zum zweiten
Male, ohne sich die Mühe genommen zu haben, die E i j k m a n n sehe
Arbeit nochmal darauf nachzulesen.
2. Ferner heisst es dort, „Dr. Maurer habe mich veranlasst,
nachzusehen, ob bei Oxalsäurevergiftung die gleichen anatomischen
Veränderungen sich auffinden Hessen wie bei Beriberi“.
Diese Frage hat Dr. Maurer nie an mich gestellt
und konnte sie auch nicht stellen, da ihm damals
die fettige Degeneration der Nerven und des Myo¬
kards bei Beriberi, als ein ihm fernliegendes Ge¬
biet, unbekannt waren.
Wie Dr. Maurers damalige Fragestellung lautete und was
meine Antwort sofort darauf war, habe ich unter ad 2 meiner ersten
Erwiderung mitgeteilt.
Dass Dr. Maurer gar nicht an fettige Degene¬
ration dachte, scheint dadurch aufs deutlichste bewiesen zu
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 3S.
1396
werden, dass er das Nervenmaterial aus seinen Hühnerversuchen
auch unrichtiger Weise in Alkohol konservierte und in Paraffin ein¬
ketten liess, wodurch ihm jeder spätere exakte Nachweis von Fett
unmöglich gemacht werden musste.
Selbst in bezug auf Herrn Prof. D ii r c k, der heute mit grosser
Selbstverständlichkeit von der seit 25 Jahren durch Scheube und
B ä 1 z festgelegten fettigen Degeneration der Nerven und des Myo¬
kards bei Beriberi spricht, müssen gelinde Zweifel bestehen, ob er
sich zu allen Zeiten der zu erwartenden fettigen Degeneration be¬
wusst war. Ist dies der Fall, dann ist nicht zu erklären, warum er
sein ganzen Beriberimaterial aus Sumatra (1904 auf 1905) unrich¬
tig konservierte (statt in Formalin in Alkohol). Weiter ist
nicht zu erklären, warum er in seinem selbstverfassten Berichte
seines Meraner Beriberivortrages in No. 50 der Münch, med. Wochen¬
schrift von 1905 sich mit keinem Wort der Bezeichnung
„Fett, fettige Degeneration oder Fettkörnchen¬
zelle n“ bedient, sondern stets nur von hyaliner Entartung, Homo¬
genisierung des Gewebes, Auftreten von Waben und Schaumstruk¬
tur spricht. Ob dies aber ohne weiteres das gleiche ist, oder ob diese
Ausdrücke nur beweisen, dass Herrn Prof. Diirck das Wesentliche
entgangen ist, darüber mögen berufenere Pathologen, als ich selbst,
entscheiden.
3. Wenn ferner die Herren schreiben, ich sei auf den Kernpunkt
der Sache in meiner Erwiderung nicht eingegangen und habe auf die
Frage nach dem „Prioritätsrecht abzulenken versucht, von dem vor¬
her nie die Rede war“, so glaube ich doch, dass bei Ausdrücken der
Herren, wie „unerhörte Art von Usurpation der Rechte anderer“ und
dass „die Idee meiner ganzen Arbeit das geistige Eigentum
Dr. Maurers sei“, lediglich die Prioritätsrechte im Vordergrund
stehen.
Zu allem Ueberfluss bringe ich noch einen Passus aus einem
Brief zur Kenntnis, den mir Prof. Dürck einen Tag vor seinem
öffentlichen Angriff zusandte, in dem es wörtlich heisst: „Ich er¬
kläre mich hiermit mit Herrn Dr. Maurer, dessen Prioritätsrechte
Sie anzutasten wagten, vollkommen solidarisch“.
Ein Kommentar hierzu erscheint mir überflüssig.
Die drei weiteren neuen Punkte meiner Arbeit, nämlich,
dass ich mit Natr. tartaric. dieselben beriberiähnlichen Symptome und
dementsprechend fettige Degeneration von Nerven und Herz hervor-
rufen konnte, wie mit Natr. oxalic., ferner dass bei Fütterung mit
Reismehlkugeln allein es auch die Oxalsäure ist, welche obige Ver¬
änderungen hervorruft und dass bei gleichzeitig im Ueberschuss ge¬
füttertem kohlensauren K^lk eine Erkrankung der oxalsäuregefüt¬
terten Tiere völlig ausbleibt, scheint Dr. Maurer doch weder in
seiner noch in E i j k m a n n s Arbeit gefunden zu haben und schweigt
sich deshalb darüber aus.
Das Einzige, was ich in der ganzen Frage wohl noch hätte
mehr tun können, wäre auch nach dem Urteil mir wohlgesinnter
Freunde gewesen, dass ich Herrn Dr. Maurer am Schlüsse der
Arbeit einen besonderen Dank in Worten hätte aussprechen können für
seine uneigennützige Bereitwilligkeit, meine Untersuchungen zu för¬
dern. Der Grund, warum dies unterblieb, war lediglich der, dass sich
meine Arbeit tatsächlich auf seiner schon 1903 veröffentlichten Schrift
aufbaute. In solchem Falle pflegt man sich meist nicht beim Autor
ausführlich zu bedanken, sondern sich, wie ich es getan, mit der An¬
gabe des Sachverhalts und ausdrücklicher Anerkennung der Priori¬
tät zu begnügen. Andererseits glaubte ich Dr. Maurer meinen
Dank für sein persönliches Entgegenkommen durch die Tat besser als
durch Worte abgestattet zu haben, indem ich seine Anschauung, die
sich seit 1903 keine Geltung zu schaffen vermochte und auch in Meran
Ablehnung gefunden hatte, durch Nachprüfung nach streng wissen¬
schaftlichen Methoden einwandfrei als richtig erweisen und bedeutend
erweitern konnte. Sein Freund und jetziger wissenschaftlicher Bei¬
rat, Herr Prof. Dr. Dürck, hat dies nicht für ihn getan.
Hiermit schliesse auch ich die öffentliche Diskussion, zu der ich
gezwungen wurde, und überlasse es ruhig den berufenen Stellen, zu
entscheiden, wo Recht und wo Unrecht in dieser Frage sei.
Impfung von Kaninchenaugen mit Syphilis.
In Nummer 34 der Münch, med. Wochenschr. ist ein offizieller
Bericht gegeben über die erste Tagung der freien Vereinigung für
Mikrobiologie im Institut für Infektionskrankheiten in Berlin vom 7.
bis zum 9. Juni 1906. Unter anderem ist dabei über die Impfungen
mit Luesmaterial an Kaninchenaugen verhandelt worden und es hat
Prof. Hoffman n die Darstellung gegeben, dass B e r t a r e 1 1 i der
erste gewesen sei, der mit Erfolg an Kaninchenaugen Syphilisimp¬
fungen vorgenommen hätte. Diese Angabe, welcher von keiner
Seite widersprochen worden ist, muss ich dahin richtig stellen, dass
i c h schon im Februar und März 1905 derartige mit Luesmaterial
erfolgreich geimpfte Kaninchen im zoologischen Institut in Berlin,
sowie im Reichsgesundheitsamt demonstriert und entsprechende mi¬
kroskopische Präparate gezeigt habe. Im Monat März 1905 habe ich
die erste vorläufige Mitteilung darüber in der „Med. Klinik“ erscheinen
lassen und eine ausführliche Beschreibung im Septemberheft der
klinischen Monatsblätter für Augenheilkunde. In der Dezembersitzung
1905 der Berliner ophthalmologischen Gesellschaft habe ich dann
einen Demonstrationsvortrag über dieses Thema gehalten. An der
darauffolgenden Diskussion hat sich auch Prof. Hoffmann be¬
teiligt. Schliesslich ist noch ein weiterer Artikel von mir hierüber
im April 1906 in den Z i e g 1 e r sehen Beiträgen zur pathologischen
Anatomie erschienen. Hinzufügen muss ich, dass ich durch mehrfach
gelungene Rückimpfungen auf Affen, wie ich es auch in meinen Ar¬
beiten ausgeführt habe, den Beweis geführt habe, dass es sich bei
den Kaninchen um syphilitische Erkrankung der Augen gehandelt hat.
In Nummer 24 der Wien. klin. Wochenschr. 1906 ist dann die Mit¬
teilung von Sc 1} erber erschienen, dem die gleichen Impfungen
gelungen sind und zwar vor allem auch die Rückimpfungen auf Affen.
Bertarellis vorläufiger Bericht über dieses Thema ist erst
am 2. Juni 1906 erschienen, ohne dass jedoch darin von erfolgreichen
Rückimpfungen auf Affen, welche für die Beweisführung nötig sind,
die Rede ist. Also nicht B e r t a r e 1 1 i ist es, dem zuerst die Ka¬
ninchenimpfungen mit Syphilismaterial gelungen sind, sondern i c h
habe zuerst den Beweis dafür gebracht, dass dies möglich ist, nach¬
dem vorher schon Siegel die ersten erfolgreichen Syphilisüber¬
tragungen auf Kaninchen vorgenommen hat.
Dr. Walter Schulze- Berlin.
Generalkrankenrapport über die K. Bayer. Armee
für den Monat Juli 1906.
Iststärke des Heeres:
65209 Mann, 148 Kadetten, 143 Unteroffiziersvorschiiler.
Mann
Kadetten
Unteroffiz. -
vorschüler
1. Bestand waren
am 30.
Juni 1906:
1190
2
1
im Lazarett:
803
1
1
2. Zugang:
im Revier:
1191
4
—
in Summa:
1994
5
1
Im ganzen sind behandelt:
3184
7
2
°/uo der Iststärke:
48,8
47,3
14,0
dienstfähig:
2052
6
—
% o der Erkrankten :
644,5
857,1
—
3. Abgang:
gestorben :
8
—
—
*) Darunter 16 un-"
mittelbar nach
u/oo der Erkrankten :
invalide:
2,5
52
"
z
der Einstellung.
dienstunbrauchbar :
18*)
—
—
anderweitig:
114
1
1
in Summa:
2244
7
1
4. Bestand
bleiben am
31. Juli 1906
in Summa:
°/oo der Iststärke:
davon im Lazarett:
davon im Revier:
940
14,4
710
230
—
1
7,0
1
Von den in Ziffer 3 aufgeführten Gestorbenen haben gelitten an:
Lungentuberkulose 2, Halsdrüsen- und Lungentuberkulose, Tu¬
berkulose des rechten Schultergelenks und Senkungsabszess, an
eitriger Zellgewebsentzündung mit nachfolgendem Brand, Blinddarm¬
entzündung, Bauchfellentzündung und Herzerweiterung je 1.
Ausserdem kamen noch 5 Todesfälle ausserhalb der ärztlichen
Behandlung vor: 1 Mann starb an Blutvergiftung infolge eines In¬
sektenstiches, 1 Mann ertrank beim Baden, je 1 Mann verunglückte
durch Ueberfahrenwerden von einem Eisenbahnzug bezw. durch
Schuss aus eigener Unvorsichtigkeit, 1 Mann endete durch Selbstmord
(Erschiessen).
Der Gesamtverlust der Armee durch Tod betrug demnach im
Juli 13 Mann.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 35. Jahreswoche vom 26. Aug. bis 1. Sept. 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 11 (20*),
Altersschw. (üb. 60 J.) 9 (7), Kindbettfieber 1 ( — ), and. Folgen der
Geburt — (2), Scharlach — (1), Masern u. Röteln — ( — ), Diphth. u.
Krupp 1 (—), Keuchhusten 1 (3), Typhus — (— ), übertragb. Tierkrankh.
— ( — ), Rose (Erysipel) — (1), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) — (2), Tuberkul. d. Lungen 15 (21), Tuberkul. and.
Org. 4 (2) Miliartuberkul. — ( — ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 4 (8),
Influenza — ( — ), and. übertragb. Krankh. 1 (3), Entzünd, d. Atmungs-
organe 2(2), sonst. Krankh. derselb. 2 (1), organ. Herzleid. 11 (10),
Sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 5 (6), Gehirnschlag
7 (7), Geisteskrankh. 1 ( — ), Fraisen, Eklamps. d. Kinder — (4), and.
Krankh. d. Nervensystems 2(1), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 46 (37), Krankh. d. Leber 3 (3), Krankheit, des
Bauchfells 3 (1), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 2 (4), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 8 (6), Krebs (Karzinom, Kankroid) 16 (16),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 4 ( — ), Selbstmord 2 (2), Tod durch
fremde Hand 1 ( — ), Unglücksfälle 2 (3), alle übrig. Krankh. 7 (2).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 171 (175), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 16,5 (16,9), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 10,9 (10,2).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Miihlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.G». München.
Dte Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
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Nummer 80 A- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
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MÜNCHENER
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strasse 26. Bnreauzeit der Redaktion von 81/,— 1 Uhr. • Für
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20. • Für
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Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
0. Ungerei1, Ch.Bäumler, O.v.Bollinger, S. Curschmann, H. Bellerich,
München. Freiburg i. B. München. Leipzig. Kiel.
W. v. Leute, C. Merkel, J. t. Michel, F.Penzoldt, R.v. Ranke, B. Spatz, F. ?. Wincket,
Würzburg. Nürnberg. Berlin. Erlangen. München, München. München.
No. 39. 25. September 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
53. Jahrgang.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Originalien.
Aus der psychiatrischen Klinik zu Utrecht.
Ueber isolierte apraktische Agraphie.
Von Prof. K- Heilbronne r.
Die im Folgenden zu schildernden Erscheinungen konnte
ich selbst nur einmal untersuchen; die Mitteilung entspricht
also bezüglich der Vollständigkeit und Ausführlichkeit nicht
den Anforderungen, denen eine wissenschaftlich zu ver¬
wertende Aphasieuntersuchung eigentlich entsprechen sollte.
Der als solcher hinreichend klargestellte wesentliche Befund
und die Erwägungen, zu denen er Anlass geben musste,
scheinen mir aber doch auch die Mitteilung des Torsos einer
Krankengeschichte zu rechtfertigen.
58 jähriger, akademisch gebildeter Herr; früher gesund; keine
Lues. Vor mehreren Wochen ein ganz kurz dauernder Zustand, in
dem er — mit voller Einsicht — unfähig wurde, eine einfache Notiz
zu schreiben; weiterhin ist — ganz allmählich, wie sich nachträglich
aus Bucheinträgen ergibt — die Schrift etwas ungelenk und unsauber
geworden, wiederholt habe er auch die Feder aus der rechten Hand
verloren; Dritten fiel auf, dass er beim Gehen das rechte Bein etwas
nachzog, während ärztlicherseits nichts von Hemiparese festgesteilt
wurde. Von Zuckungen u. dergl. auch nachträglich nichts zu eruieren;
die initialen Erscheinungen werden zunächst, wohl auf Verlangen des
Kranken, aus sozialen Gründen cachiert. Tatsächlich bleibt er auch
bis zu dem zu schildernden Anfalle in seinem Berufe tätig. Vor
10 Tagen, abends im Bette liegend, plötzlich schwer erkrankt mit Auf¬
schrei, rechtsseitigen kurzdauernden Zuckungen (ob nur in den Ex¬
tremitäten oder auch im Gesichte ist nicht festgestellt), ohne totalen
Verlust des Bewusstseins. Im Anschluss daran rechtsseitige Ex¬
tremitätenlähmung, die sich seitdem nur wenig unter Schwankungen
zurückgebildet hat. Eine Fazialisparese hat nach den eingehenden
Beobachtungen und Mitteilungen, die ich den behandelnden Kollegen
verdanke, von allem Anfang an nicht bestanden, ebensowenig
Sprachstörung (weder motorisch noch sensorisch); dagegen ist in
wiederholten Untersuchungen festgestellt, dass er auch mit der linken,
ungelähmten Hand spontan nichts, nicht einmal seinen
Namen schreiben kann, während das Abschreiben gelingt.
Untersuchungsbefund.
Etwas präseniler Herr mit mässiger Arteriosklerose; vollständig
komponiert, begrüsst mich in durchaus korrekten Formen, folgt der
Untersuchung, trotz der allmählich sich bemerkbar machenden Er¬
müdung, mit Bereitwilligkeit, Verständnis und sichtlichem Interesse.
Augenhintergrund ohne Stauung; Visus nicht grob beeinträchtigt;
totale Hemopie mit Sicherheit auszuschliessen, vielleicht geringe Be¬
schränkung in der rechten Gesichtsfeldhälfte. Augenbewegungen in¬
takt.
Fazialis ohne Differenz in der Ruhe, bei Mimik und aufge¬
tragenen Bewegungen; Zunge deviiert nicht.
Motilität der oberen Extremität: Schulterbewe¬
gungen (Heben und Zurückziehen) rechts erheblich geringer als links;
ebenso die Bewegungen in Ellbogen- und Handgelenk, aber alle schon
ausführbar; Händedruck leidlich kräftig; in den Fingern nur Massen-,
keine Einzelbewegungen ausführbar.
Sensibilität der oberen Extremität: Berührungs¬
empfindung in den distalen Abschnitten ganz aufgehoben (an die Fin¬
ger gesteckte Ringe, zwischen die Finger gesteckte Gegenstände
werden bei geschlossenen Augen nicht wahrgenommen und beim
Oeffnen der Augen mit Verwunderung „entdeckt“): passive Be¬
wegungen der Fingerglieder inkl. der Grundglieder auch bei weiten
Exkursionen überhaupt nicht wahrgenommen; passive Bewegungen
in Hand-, Ellbogen-, Schultergelenk in gleicher Reihenfolge zu¬
nehmend besser wahrgenommen. Die Schmerzempfindlichkeit auch
bei feinsten Nadelstichen selbst in den Endgliedern der Finger gegen
No. 39.
links nicht vermindert, aber die Lokalisation der schmerzhaften Reize
fehlerhaft (Verwechslung der Finger!)
Die Reflexe in den oberen Extremitäten nicht wesentlich ge¬
steigert; keine Spasmen.
Motilität. der u.nterenExtremitä't: Rechtes Bein kann
gestreckt gehoben werden, die Streckung geschieht mit erheblicher
Kraft. Die Dorsalbewegung des Fusses noch sehr behindert; die
Zehenbewegungen rechts viel unvollkommener als links, aber nicht
ganz fehlend.
Sensibilität der unteren Extremität weniger ge¬
stört als an der oberen; nicht allzu sachte Berührung mit Watte¬
knopf überall wahrgenommen, wenn auch falsch lokalisiert; bei pas¬
siven Bewegungen der Zehen bemerkt Patient, dass „etwas“ an
seinen Zehen geschieht. Die Schmerzempfindung erhalten.
Patellarreflex und Achillesreflex rechts mässig gesteigert; kein
Fussklonus; Babinski und Oppenheim nicht auszulösen.
Sprache. Expressiv: Keine Spur motorischer Störung
(auch keine Verlangsamung), auch nicht bei schweren Worten.
Wortfindung: In der Spontansprache und beim Benennen
geläufiger Gegenstände keine Erschwerung; findet im Laufe der
Unterhaltung auch einige lateinische Ausdrücke; bei komplizierten
Aufgaben eben nachweisliche Schwierigkeiten: kann zwar die Namen
seiner 5 Geschwister angeben,- gerät aber beim Aufzählen der Sta¬
tionsnamen von seinem Wohnorte nach Utrecht auf einige ähnlich
lautende, kann aus dem Kopfe die Farben der verschiedenen Bank¬
noten nicht nennen (NB.! erkennt auch den Wert gezeigter nicht
ausnahmslos nach der Färbung, die einzige derartige Störung).
Nachsprechen ganz ungestört.
Sprachverständnis ohne jede nachweisliche Beeinträchti¬
gung; folgt der Konversation, auch Bemerkungen der Aerzte unter¬
einander, mit vollem Verständnis.
Lesen: Patient liest mit Verständnis Zeitungen, dokumentiert
das Verständnis durch Bemerkungen über den Inhalt.
Schreiben: Präliminariter wird festgestellt, ob Patient ge¬
sagte Worte in Buchstaben zerlegen kann: die Bestandteile kürzerer
Worte (etwa mit 6—7 Buchstaben) zählt er mit einer gewissen selbst¬
verständlichen Sicherheit auf; erst bei längeren „verhaspelt4 er sich
zuweilen, perseveriert, wird dann über den selbstbemerkten Fehler
ungeduldig und scheitert so.
Den Bleistift ergreift er mit der linken Hand (die rechte konnte nach
Massgabe der Motilität nicht in Betracht kommen) nicht ungeschickt
(nachdem allerdings eine Reihe von Versuchen [s.o.] schon früher voran¬
gegangen). Gleichviel, was verlangt, eventuell vorher von ihm selbst
buchstabiert ist, produziert er nur Haken, die nicht den Charakter
lesbarer Buchstaben haben; sie werden von links nach rechts neben¬
einandergesetzt, unverbunden, einander ziemlich ähnlich und, soweit
zu beurteilen, nicht im Charakter spiegelschriftähnlicher Züge aus¬
geführt (d. h. auch die Komponenten der Einzelhaken von links nach
rechts aneinander gereiht); ein einziges Mal sind (in einer früheren
Untersuchung) auch zweifellos spiegelbildliche Züge produziert wor¬
den, die aber — auch bei Betrachtung im Spiegel — nur unleserliche
Schleifen darstellen; hat er etwas abgeschrieben (s. u.), so perseve-
rieren bei weiteren Versuchen auf Diktat die Elemente der Kopien;
einmal gelingt spontan dazwischen ein E wie das vorher Ge¬
schriebene in Fraktur.
Nach Vorlage schreibt er mit leidlicher Schrift; am besten ge¬
lungen sind die Nachbildungen von Fraktur schritt, die er schon vor
meiner Untersuchung produziert hat.
Das Unvermögen, spontan zu schreiben, löst halb ärgerliche, halb
lachende Verwunderung bei ihm aus: „das muss ich doch können“,
„das wäre doch“ usw.
Apraktische Erscheinungen der linken Ex¬
tremität. Während irgendwelche Paresen der linken Seite nicht
bestehen, die Hand auch eine Reihe von Bewegungen (auch „re¬
flexiver“ Art: Zeigen nach der Nase, Packen des linken, des rechten
Ohres) gut ausführt, ergeben weitere Untersuchungen das Folgende:
Patient soll die Bewegung des Türzusperrens machen : be¬
wegt ratlos die Hand; erhält einen grossen Schlüssel in die Hand,
1
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
macht stossende Bewegungen damit, kommt nicht zu Ende, meint
resigniert: das sei eine „Vexieraufgabe“.
Drehorgelspielen: Ungeschickte Horizontalbewegungen,
als ob er etwa einen Tisch abstauben wolle.
P i 1 1 e n d r e h e n : Schnappende Handbewegungen.
Mit der Hand winken: Bewegung in Pronationsstellung,
als ob er jemand vor den Kopf schlagen wolle.
E 1 ö t eji s p i e 1 e n (nachdem er das Pillendrehen nachgemacht,
s. u.): Bewegt die Hand in richtiger Stellung links vom Munde hin
und her, macht aber statt der Klappenbewegungen mit den Fingern
die des Pillendrehens.
Analog einige andere Resultate: Vor der Ausführung meist inten¬
sives Nachdenken, wie er es am besten anfange, beim Misslingen
immer sehr unzufrieden und wiederholt die Klage, man gebe ihm
„Vexieraufgaben“.
Einige Aufgaben gelingen, dann aber sofort „auf Anhieb“, dar¬
unter: Geldzählen (zählt pantomimisch auf seine Bettdecke auf),
Drohen (Faust und spontan wütendes Gesicht dazu) und Takt¬
schlagen (Patient ist eifriger Musiker und schlägt einen einwand¬
freien 74 Takt). Soweit die Aufgaben hier als gelöst bezeichnet wer¬
den, gelingen sie restlos; von den „amorphen“ Beimengungen, die
die misslungenen oder nur halb gelungenen kennzeichnen, ist dabei
nichts zu beobachten. Das gleiche gilt für
die Nachahmung von Bewegungen: auch die vorher
misslungenen geraten, und zwar ohne Besinnen seitens des Patien¬
ten, sobald man sie Vormacht; so gelingt das Schlüsseldrehen, Pillen¬
drehen und sogar eine recht elegante Grussbewegung.
Der weitere Verlauf war progressiv; der Kranke wurde bald so
benommen, dass eine Untersuchung der Schreibstörung nicht mehr
möglich war. Die Lähmung des rechten Armes und Beines wurde
total, dei bazialis-Hypoglossus war nur vorübergehend mitbeteiligt.
Rechtsseitige Krämpfe traten nur noch einmal (ca. 3 Wochen später)
auf; um die gleiche Zeit entwickelte sich eine Verwaschenheit der
I apillengrenzen, die nach ca. 8 1 agen in eine deutliche Stauungs¬
papille überging. Wenn und so lange es überhaupt möglich war, sich
mit dem Patienten zu verständigen (zuletzt noch ca. 6 Wochen nach¬
dem ich den Kranken sah), Hess sich feststellen, dass er Fragen und
Aufforderungen verstand, und dass keine motorische Behinderung des
Spi echens bestand: wohl machte aber später die Wortfindung grössere
Schwierigkeiten. 11 Wochen nach Einsetzen der schweren Er¬
scheinungen Exitus let. Keine Autopsie.
Ich möchte hier nicht auf all die Fragen, namentlich be¬
züglich der A r t des vorliegenden Prozesses eingehen, zu
denen der Zustand Anlass geben konnte; sie wären nur auf
Grund zahlreicherer Details des Verlaufes zu erörtern und nur
auf Grund des — leider fehlenden — autoptischen Befundes
mit Sicherheit zu entscheiden. Ich glaube, dass unabhängig
davon das klinische Bild der Agraphie, wie es sich zu¬
nächst darstellte, gewürdigt werden kann. Die Agraphie darf
hier wohl mit mehr Recht als isolierte angesprochen
werden, als man sonst von isolierten Lese- resp. Schreib¬
störungen zu sprechen pflegt. Es erscheint mir kaum zulässig,
die gerade noch erweisliche Erschwerung der Wortfindung bei
besonders komplizierten Aufgaben als Ausdruck einer apha-
sischen Störung aufzufassen und ebenso unzulässig, eine „Ste¬
lling der inneren Sprache anzunehmen, wenn der Kranke im
Verlaufe einer langen und anstrengenden Untersuchung längere
V orte nicht mehr mit der gleichen Sicherheit buchstabiert, wie
solche von 6—7 Buchstaben. Eiir die Frage, ob der Kranke
zur Zeit der hier allein zu berücksichtigenden ersten Unter¬
suchung etw a als aphasisch zu erachten war, ist es immerhin
nicht unv ichtig, dass — abgesehen von einer deutlichen Er¬
schwerung der Wortfindung — sich auch keine aphasischen
Zeichen fanden, als sich nach einigen Wochen eine sehr schwere
Verschlimmerung des Gesamtzustandes entwickelt hatte.
Die isolierte Agraphie hat bis vor ganz kurzer Zeit eine
recht bestrittene Existenz geführt. Wern icke1) erkennt
zwar I itres auf eine Hand beschränkte Agraphie motrice
pure an, glaubt aber, dass bei allen Fällen, die durch ihre
o p p e 1 seitigkeit dem Begriff der Agraphie genügten, auch
eine Störung des Wortbegriffes oder der Bahn, welche die
Zerlegung des Wortbegriffes in Buchstaben erst möglich
mache, unerlässlich sei. Noch ganz neuerdings gelangt v.
Monakow ) zu der Folgerung, dass eine wirklich reine
Agraphie in der von ihm gegebenen, scharfen Begrenzung
„jedenfalls nur äusserst selten und wohl nur als hysterische
. torung vorkomme . Das bis dahin vorhandene Beweis-
f
Psych V und" Neuroi. xill^lTfl ‘h“""'6'' Agraphie- Mo"atsscl,r'
*) v. Monakow: Gehirnpathologie, II. Aufl., S. 845.
material war tatsächlich auch zum Erweis der reinen Agraphie
nicht ausreichend.
Aus den Mitteilungen Liepmanns3) über die weit¬
gehende Abhängigkeit der linken Hand von der gleichnamigen
Hemisphäre, liess sich nun schon theoretisch geradezu die
Notwendigkeit der Existenz einer reinen Agraphie ab¬
leiten. Wird, wie Liepmann überzeugend dargetan, die
linke Hand unter gewissen, hier nicht näher zu erörternden
Umständen durch eine Schädigung der linken Hemisphäre
apraktisch, so muss bei Gebrauchsunfähigkeit der rechten
Hand eine totale Agraphie zustande kommen; da weiter die
s. v. v. sekundäre Apraxie der linken Hand nach L i e p m a n n s
Feststellungen zwar besonders häufig bei Aphasischen vor¬
kommt, aber nicht notwendig an gleichzeitige Aphasie ge¬
bunden ist, so muss die Agraphie in letzteren Fällen rein und
isoliert zutage treten. Einen derartigen Fall (bedingt durch
Mark- + Balkenherd) hat Liepmann auch bereits er¬
wähnt. Wenn derartige Fälle bisher der Beobachtung ganz
entgangen sind, so erklärt sich das einfach daraus, dass man
nicht danach suchte; ich zweifle nicht, dass sich die entspre¬
chenden Beobachtungen bald mehren werden. An der Hand
derselben wäre es dann eine dankbare Aufgabe, auch die bisher
bekannt gewordenen Fälle von Agraphie nochmals Revue pas¬
sieren zu lassen; es will mir scheinen, dass in denselben doch
zum I eil mehr Apraktisches steckt, als man bisher anzunehmen
geneigt war, und dass andrerseits manches von dem, was den
Anschein weitergehender aphasischer Störungen erweckte (so
inWernickes Fall die Fehler beim Zeigen von Gegen¬
ständen, die auf mangelhaftes Wortverständnis zurückgeführt
wurden), richtiger als Folge apraktischer Fehlreaktion auf¬
gefasst würde.
Die blosse Absicht, theoretisch zu Erwartendes und tat¬
sächlich auch schon Beobachtetes zu belegen, hätte natürlich
die Mitteilung einer kursorischen Beobachtung nicht gerecht¬
fertigt. Sie hat aber darüber hinaus eine Differenzierung der
Störung erkennen lassen, die aus den gegebenen Voraus¬
setzungen sich nicht ohne weiteres als wahrscheinlich ableiten
liess und die überdies auch aus diesen nicht ganz so einfach
zu erklären ist, wie es zunächst scheinen möchte: Die
Agraphie bezieht sich nur auf das Spon tau¬
sch reiben, richtiger, da auch das Diktatschreiben
in gleicher Weise gestört war, auf das Schreiben aus
dem Gedächtnis, während das Nachschreiben
gelang.
Der Kranke war infolge seines linksseitigen Herdes links-
händig-apraktisch, ohne Spur linksseitiger Parese oder Ataxie;
dass eine solche nicht bestand, beweist einwandfrei seine Fähig¬
keit, mit der Linken abzuschreiben. Die meisten (nicht alle!)
Aktionen, die er mit der linken Hand ausführen sollte, fielen
durchaus in der von Liepmann anschaulich geschilderten
Weise aus; einige Beispiele dafür habe ich angeführt; Neues
hat die kurze Untersuchung nach dieser Richtung begreiflicher¬
weise nicht ergeben; von den geprüften Manipulationen mit
Gegenständen fiel das Hantieren eines Schlüssels (in der Luft
immerhin eine mehr gedächtnismässige Aktion!) apraktisch
aus; das Hantieren des Bleistiftes gelang dagegen ohne
Schwierigkeiten, auch ohne das sonst bei dem Kranken sehr
typische Besinnen, wie das zu machen sei. Imitatorische Ak¬
tionen gelangen, und zwar bemerkenswerter Weise ohne
die von Liepmann in der Majorität der Fälle auch
bei der Nachahmung konstatierte Hilflosigkeit in der Detail¬
ausführung; sowohl die nachgeahmten Bewegungen, als
auch die vereinzelten, auf Aufforderung gelungenen
(Drohen, Geldzählbewegung, 1 aktschlagen) liefen als wohl-
geordnetes Ganzes anscheinend mühelos ab. Ein Zu¬
sammenhang zwischen dem gedächtnismässigen Schreiben
und Agieren einerseits, dem Kopieren und der Bewegungs¬
nachahmung andrerseits 'wird nun kaum von der Hand zu
weisen sein’ und eine derartige Erklärung musste sich an¬
gesichts des ausserordentlich prägnanten Bildes am Kranken¬
bett geradezu aufdrängen. (Beiläufig möchte ich auch hier
wieder darauf hinweisen, dass es ebenso leicht ist, diese aprak-
, “LL P m,a 11 11 : Die linke Hemisphäre und das Handeln. Münch,
med. Wochenschr. 1905, No. 48.
25. September 1 906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1^99
tischen Störungen überzeugend zu demonstrieren, als es schwer
fällt, sie erschöpfend zu beschreiben.) Eingehendere Ueber-
legung ergibt aber doch einige Schwierigkeiten, deren kurze
Darlegung vielleicht für die weitere Fragestellung und an¬
schliessende fernere Untersuchungen nicht ganz nutzlos ist.
Es handelt sich um zwei nahe verwandte, aber doch
zweckmässig gesondert zu behandelnde Fragen: einmal, wie
kann die Nachahmung einer Bewegung gegenüber der ge-
dächtnismässigen Handlung begünstigt sein; zweitens, in
welchen Beziehungen steht das Nachschreiben zur sonstigen
imitatorischen Aktion?
Man ist versucht, und das ist tatsächlich schon geschehen,
die Bewegungsnachahmung dem Nachsprechen gleichzusetzen.
Ich habe mich früher 4) bemüht, darzulegen, dass diese Ana-
logisierung zu Unrecht geschieht: dem Nachsprechen analog
ist auf nichtsprachlichem Gebiete die Nachahmung einer passiv
vorgenommenen Extremitätenbewegung mit der kontra¬
lateralen Extremität; sogar das Manipulieren mit Gegenständen
so einfacher Art, wie sie bei der Apraxieprüfung zumeist
angewandt zu werden pflegen, stellt nach mancher Richtung
eine einfachere Aufgabe dar, als die Bewegungsnachahmung,
weil beim Manipulieren auftretende taktil-kinästhetische Emp¬
findungen unter Umständen durch Anregung der Eigen¬
leistungen des Sensomotoriums gewisse Hilfen bieten. In all’
diesen Fällen (Nachsprechen, Nachahmung mit der kontra¬
lateralen Extremität, einfachste Manipulationen mit Ge¬
genständen) sind die Bedingungen in einer Beziehung dieselben:
in einem Teil für Teil eng verbundenen sensorisch-motorischen
Komplex bringt die Erregung sensorischer Komponenten die
entsprechenden motorischen leicht in Funktion. Die Hilfe, die
das Vormachen einer Bewegung bieten kann, ist lange nicht so
einfacher Art: es ist mir sehr fraglich, ob von einer vor¬
gemachten Handlung, z. B. Grüssen, mehr wahrgenommen
wird, als der Gesamteffekt, ob die einzelnen Komponenten der
Bewegung soweit im Detail beobachtet werden, dass sie als
optische „Vorlage“ für die Nachahmung dienen können; kaum
zulässig aber ist die Annahme, dass nun etwa zwischen den für
die Nachahmung der Grussbewegung in Betracht kommenden
optischen und motorischen Abschnitten derartige Teil für Teil
sich entsprechende Verbindungen beständen, wie sie für das
Nachsprechen usw. doch mit einem hohen Grad von Wahr¬
scheinlichkeit vorausgesetzt werden dürfen.
Ein fördernder Einfluss des Vormachens auf die verlangte
Bewegung wäre demnach nur für die Fälle zu erwarten, in
denen beim Kranken die optische Vorstellung der zu machenden
Bewegung (der optische Anteil von Liepmanns Bewegungs¬
formel) mangelhaft ist. (Beispiel vom Gesunden: jemand
der tanzen kann, soll einen bestimmten Tanzschritt machen,
hat aber vergessen, wie er '„geht“; die Nachahmung gelingt
ohne weiteres; darüber, dass das Gleiche auch gelingen kann,
wenn die Bewegung vorher nicht erlernt war, s. später.)
L i e p m a n n hat erhaltenes Nachahmen in 3 Fällen bei
sensorisch-aphasischen, nicht resp. nur wenig gelähmten Kran¬
ken beobachtet; er nimmt für diese an, dass der Herd hinter
den Zentralwindungen, also im Uebergang vom Schläfen- zum
Scheitelhirn, gelegen war, und schliesst daraus, dass es sich
in diesen Fällen um ideatorische Apraxie gehandelt habe, mit
der Einschränkung allerdings gegen seine frühere Auffassung
dieser Form, dass er der Frage ihrer Lokalisierbarkeit nicht
mehr ganz so skeptisch gegenübersteht, gewisse Formen viel¬
mehr vorzugsweise durch Herde direkt vor dem optischen Ge¬
biet zu erklären geneigt ist.
Ich hatte mir die Frage vorzulegen, ob auch im vorliegen¬
den Falle eine derartige Lokalisation anzunehmen war: Tat¬
sächlich sprachen viele Erwägungen dafür, dass der Herd
seinen Ausgang nicht aus dem eigentlichen motorischen Gebiet,
zum mindesten nicht aus der Rinde der vorderen Zentral¬
windung genommen hatte; mit Rücksicht auf das vollständige
Fehlen motorisch-aphasischer Störungen einerseits, die sehr
ausgeprägte Sensibilitätsstörung der oberen Extremität ander¬
seits, musste dann ein mehr okzipitalwärts gelegener Sitz viel
eher in Betracht kommen, als ein frontal gelegener. Die Mög¬
lichkeit, dass zur Zeit der ersten Untersuchung der Herd
tatsächlich der L i e p m a n n sehen Annahme entsprochen
hätte, ist also durchaus nicht von der Hand zu weisen. Gleich¬
wohl wäre auch dann die vollständige Analogisierung mit dem
Verhalten in Liepmanns Fällen ein Trugschluss: Es bestand
eine — jedenfalls schon mit Rücksicht auf die fehlende Fazialis¬
lähmung — nicht durch eine tiefsitzende Läsion zu erklärende
motorische Lähmung; es bestand aber weiter eine nach ihrer
Verteilung und mit Rücksicht auf die absolute Intaktheit
der Schmerzempfindung als kortikal anzusprechende Sensibili¬
tätsstörung; auch die Annahme, dass etwa, wie bei Liep-
m anns einseitig apraktischem Kranken, die Sensibilitäts¬
störung transkortikal, durch Absperrung eines an sich intakten
Territoriums bedingt gewesen sei, erscheint unzulässig; ganz
abgesehen von der im Gegensatz zu Liepmanns Fall vor¬
handenen Lähmung spricht dagegen die typische Abnahme der
Störung von den distalen nach den proximalen Abschnitten zu;
ich wüsste nicht, wie man sich eine Unterbrechung transkorti¬
kaler Bahnen in einiger Entfernung von der Rinde vorstellen
sollte, die eine derartige Verteilung zum Ausdruck kommen
Hesse.
Auch bei eingehender Berücksichtigung aller Möglich¬
keiten, die mir bei der Bedeutung der Frage geboten erschien,
müssen wir also zu dem Schlüsse gelangen, dass die Territorien,
die das Sensomotorium der rechten Hand darstellen, im vor¬
liegenden Falle nicht nur etwa abgesperrt, sondern tatsächlich
— wenn auch zunächst vielleicht nur transitorisch durch me¬
chanische Fernwirkung — ausser Funktion gesetzt sind, und
wir haben demnach mit der Tatsache zu rechnen, dass eine
Schädigung des linksseitigen Sensomoto¬
riums, w e 1 c h e die rechte Hand gelähmt, die
linke aprak tisch gemacht hat, gleichwohl aus¬
nahmsweise die Fähigkeit der linken Hand
zur Nachahmung vorgemachter Bewegungen
ganz intakt lassen kann.
Eine Erklärung für dieses Verhalten im vorliegenden Fall
will ich nicht versuchen; gänzlich verfehlt schiene mir der Ver¬
such, ad hoc zur Erklärung irgend eine Annahme zu machen,
die mangelndes Verständnis einschöbe. Man geriete damit auf
denselben Weg, der sehr zum Schaden besserer Erkenntnis
zur Vernachlässigung der G r i e s i n g e r sehen Beobachtung
der Bewegungsverwechslung geführt hat.
Etwas verständlicher wird das hier beobachtete Verhalten,
wenn man erwägt, dass die sympathische Apraxie der linken
Hand zwar die engsten Beziehungen zu der Form darzubieten
scheint, die ich als kortikale zu bezeichnen vorgeschlagen,
dass aber trotzdem theoretische Erwägungen ebenso wie die
unmittelbare klinische Beobachtung gewisse Analogien mit den
transkortikalen resp. Leitungsformen aufdrängen: dahin ge¬
hören einmal die eigentümlichen, bei der kortikalen Apraxie
jedenfalls viel selteneren Bewegungsverwechslungen und
Kontaminationen, die L i e p m ann beim Manipulieren mit
Gegenständen auftreten sah, vor allem aber die Tendenz zum
Haftenbleiben, deren Häufigkeit schon Liepmann betont hat
und die auch im vorliegenden Falle (cf. das Flötenspielen, noch
mehr das Schreiben) sich offenbarte. Ein ausführliches Ein¬
gehen auf diese sehr komplizierten Verhältnisse würde ein
reichlicheres Tatsachenmaterial zur Voraussetzung haben.
Noch verwickelter gestalten sich nun bei näherem Ein¬
gehen die Verhältnisse beim Abschreiben. Zunächst sei
hier die Tatsache nochmals hervorgehoben, dass der „Schreib¬
akt“ als solcher, Haltung und Führung des Schreibgerätes, beim
Kranken erhalten (resp. schon wiedererlernt) war. (Dasselbe
scheint übrigens auch für diejenigen Fälle zuzutreffen, die
v. M o n a k o w als cheirokinästhetische Agraphie, als „Apraxie
mit Bezug auf die Führung der Feder“ bezeichnet.) Die Ver¬
mutung scheint, wie schon oben angedeutet, gestattet, dass
manche bisher auf Ataxie resp. Parese der rechten Hand be¬
zogene Schreibunfähigkeit tatsächlich apraktischer Natur ge¬
wesen sein mag; in Zukunft wird jedenfalls mit dieser Mög¬
lichkeit stets zu rechnen sein; eine besonders dankbare Auf¬
gabe aber wird die Untersuchung nicht aphasischer rechts¬
seitig Gelähmter auf die Schreibfähigkeit der linken Hand dar¬
stellen; dafür kommt ja die Komplikation mit Parese und
1*
4) Zeitschr. f. Psychol. und Phys. d. Sinnesorgane, Bd. 39, S. 180.
1900
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
Ataxie nicht in Frage. Die Art der Schreibstürung (Unmög¬
lichkeit des Schreib akt es oder nur Unfähigkeit zur Produk¬
tion von Buchstaben?) wird wahrscheinlich zur Beantwortung
der eben kurz gestreiften Frage nach der Auffassung der se¬
kundären linksseitigen Apraxie wesentlich beitragen können.
Würde nun — ein denkbarer Fall — ein Kranker, der spontan
auch zur Haltung und Führung des Schreibgerätes unfähig ist,
dazu imitatorisch imstande sein, so wäre damit ein ungefähres
Analogon der sonstigen Bewegungsnachahmung gegeben
(nicht ganz!, denn das in die Hand gelegte Schreibgerät löst
seinerseits unterstützende Empfindungen aus; das strikte
Analogon wäre das imitatorische Hantieren mit Gegenständen).
Das Abschreiben dagegen steht mit der Bewegungsnach¬
ahmung in viel entfernterer Beziehung. Bei der letzteren war
- wenn auch zweifelnd — wenigstens die Möglichkeit
zuzulassen, dass der Kranke die Sukzession der einzelnen Be-
w egungsakte als diicktes Vorbild benutzt; davon kann beim
Abschreiben überhaupt nicht die Rede sein; der Kranke, der
rertig Vorgeschriebenes kopieren soll, sieht ja überhaupt keine
Bewegung, sondern gewissermassen nur die Kurve, die
von einer solchen vorher aufgenommen worden ist. (Wie
weit in jcdei wahrgenommenen Form eine motorische Kom¬
ponente enthalten ist, kann für die hirnpathologische Betrach¬
tung unerörtert bleiben). Wieder sollte man also glauben, dass
die V orlage die Schreibleistung nur da bessern könne, wo dem
Ki unken diese Form nicht mehr zur Verfügung steht und
wieder läge die Hypothese nahe, dass unser Kranker, trotzdem
ci ja die Worte buchstabieren und Geschriebenes lesen kann
(also auch die Formvorstellung besitzt) in der Evokation des
zeitlich-räumlichen Formbildes doch behindert sei; die An¬
nahme erscheint mir durch nichts gestützt und deshalb hier
ebensow enig berechtigt als für die Aktionen überhaupt Auch
ohne dass wir zunächst eine Erklärung dafür geben können
werden wir uns also mit der Tatsache abfinden müssen, dass
eine linksseitige Läsion, welche zu Apraxie
der gleichnamigen Hand geführt, sofern
wenigstens die Führung des Schreibgerätes
erhalten geblieben ist, die Fähigkeit zum
Schreiben aus dem Gedächtnis zwar auf-
heben, trotzdem aber die Fähigkeit zum Ko¬
pieren ungeschädigt lassen kann.
.I?abe11 e/geben sich aber noch weitere Komplikationen.
Gleichviel ob man ein beiden Extremitäten gemeinsames Zen¬
trum für die eupraktische Bewegungskombination ausserhalb
des Sensomotoriums annimmt, oder nach der sehr plausibel er¬
scheinenden zweiten Annahme Liepmanns, dem links-
seitigen bensomotorium nach dieser Richtung einen Einfluss
auf beide Extremitäten zuerkennt, immer wird man sich die
Verbindung nur so vorstellen können, dass identische Elemente
mit einander verbunden sind; ihre beiderseitige Erregung muss
dann spiegelbildlich sich entsprechende Bewegungen ergeben1
tatsächlich stellt auch die Grussbewegung, die Winkbewegung
der linken Hand das Spiegelbild der rechtseitigen dar; einen
1 eil derartiger Bewegungen würden wir wahrscheinlich gar
nicht „wiedererkennen“, wenn es einer Versuchsperson ge¬
lange, sie so auszuführen, dass sie eine mit der rechts aufge¬
nommenen gleichsinnige Kurve liefern würden 5 *).
vielleiriaUhp1 anpderf’ a’S °^fn aaPnommen, liegen die Verhältniss
vielleicht bei den bimanuellen Manipulationen, auf die ich scho
niiiei die Aufmerksamkeit zu lenken versuchte. Man spielt vie
leichter von emem Klavierstück den Part der rechten Hand allei
d e Führung hat^hT^ ?Ur’ Wü die rechte Hand auch musikalisci
mat s ' p na p t?af?er err!cr den Eindruck, dass man ganz „auto
matisch die Gabel links hantiert, solange die Rechte das Messe
fuhrt dass man aber tatsächlich „linkisch“ wird, wenn man siel
ausschliesslich der Gabel mit der linken Hand bedient. Dabei ist da:
linksseitige Zentrum nicht einmal funktionsunfähig. Für diese Fäll*
dar an die Möglichkeit gedacht werden, dass die linke Hemfsphän
auch gewissen Funktionen der gleichen Extremität vorsteht, die nich
spiegelbildlich zu kontralateralen erfolgen. Daher vielleicht die auf
lallende Schwierigkeit, diese bimanuellen Aktionen umzukehren F<
'S. fas. leichter, Spiegelschrift zu schreiben als die aäbel mii de
RiVm,“"d,daS M,eSter d,er li,,ke" Ha"d Z“ hantieren odeT einer
liiustitt mit dei linken Hand zu spitzen, während ihn die recht.
Hand dreht — von bimanuellen Leistungen, die ähnliche Feinheit dei
Bewegungen erfordern, wie das Schreiben, ganz zu schweigen Di!
Im Gegensätze dazu erhält die Schreibbewegung ihren
Wert gerade durch diese Kurve: Erfolgt die Schreibbewegung
im Sinne der eben besprochenen linksseitigen Wink- oder
Grussbewegung, so liefert sie die an sich ganz unkenntliche
Spiegelschrift; Lieferung gewöhnlicher Schrift mit der linken
Hand erfordert Bewegungskombinationen, die überhaupt nicht,
w eder rechts noch links, vorgebildet sind.
v. Monakow“) resümiert die kurze Besprechung der
Spiegelschrift dahin, dass sie eine besondere Bedeutung für die
Agraphie noch nicht erlangt habe; das ist vielleicht soweit zu¬
treffend, als man bis dahin in dem Auftreten resp. nicht Auf¬
treten der Spiegelschrift vorwiegend nur einen Index dafür zu
sehen geneigt war, wie weit der Schreibakt rein mechanisch
ausgeführt wird. Unter den Gesichtspunkten, die sich jetzt
ergeben, erweitert sich aber ihre Bedeutung darüber hinaus’
Wo Grund zur Annahme einer Schädigung im Sensomotorium
!ür rechte Extremität besteht, liefert die Spiegelschrift der
iiiken Hand den Beweis dafür, dass rechtshirnig ein gewisser
Mechanismus erworben ist, der eben dem spiegelbildlichen
Schreiben vorsteht. Dieser Erwerb ist im Lichte der Liep-
m an n sehen Feststellungen nicht mehr so selbstverständlich
zum mindesten nicht für alle Personen so selbstverständlich,
wie es bis dahin wohl scheinen mochte.
A priori sollte man erwarten, dass die apraktische Agra-
plne generell den übrigen apraktischen Erscheinungen parallel
geht; für unseren Fall trifft dies bis in die Details zu; umgekehrt
hat Liepmanns Regierungsrat, der trotz seiner schweren
rechtsseitigen (allerdings transkortikalen) Apraxie linksseitig
nur sehr geringe, erst einer retrospektiven Analyse7 *) sich
erschhessende apraktische Störungen darbot, mit der linken
Band wenn auch unvollkommen und ausschliesslich in Spiegel¬
schrift, auch zu schreiben vermocht. Die Parallele trifft aber
ment iiir alle Fälle zu. Vor einer Reihe von Jahren schon habe
ich ) über eine Kranke mit linksseitigem Herd berichtet
deren linksseitige Bewegungsstörungen mich — zunächst aller-
nigs auf Grund einer isolierten Beobachtung noch sehr vor¬
sichtig — zu einer Hypothese führten, die den neuerlichen
L i e pm a n n sehen Feststellungen sehr nahe kam; die Kranke
war sicher irn Sinne Liepma n n s als linksseitig apraktisch
zu bezeichnen; sie schrieb aber, wie damals ausführlich dar¬
gestellt, unter Benützung rechtshirnigen Eigenbesitzes
mit der linken Hand aus dem Gedächtnis und verwendete diesen
auch beim Abschreiben, das — gleichviel ob in Ab- oder Ad-
duktionsschrift vorgeschrieben war — immer in Spiegelschrift
geschah.
Die Versuchung läge nahe, pine „Erklärung“ dieser ver¬
schiedenen Möglichkeiten an der Hand eines Schemas zu suchen
odei wenigstens nach dem Vorgänge Liepmanns9) die
Bahnen zu diskutieren, die wir jeweils als geschädigt resp. noch
erhalten annehmen dürfen; ich möchte darauf verzichten, bis
ein reichhaltigeres Tatsachenmaterial vorliegt, das sich an der
Band der hier und von Liepmann erörterten Gesichtspunkte
sammeln wird.
- - — fewuv. liiil joi wcikuhv Ranz
unterdrücken, die mir gerade durch den Vergleich der hier
nebeneinander dargestellten 3 Fälle nahegelegt wird: Die eben
erwähnte Kranke meiner früheren Beobachtung, die recht leid¬
lich Spiegelschrift schrieb, benutzte dieselbe, wie erwähnt
auch beim Abschreiben; was sie abzeichnete geriet da¬
gegen gerade im Vergleich mit den Schreibleistungen der linken
Hand ganz erbärmlich. Analog Liepmanns Patient: er
schrieb gleichmUs aus dem Kopfe links Spiegelschrift; die Un-
ahigkeit zu linksseitiger Adduktionsschrift blieb dauernd trotz
vieler Bemühungen bestehen10); und was er mit der linken
Hand nachzeichnete ), steht weit unter dem Niveau dessen
was man nicht nur nach Massgabe seiner zeichnerischen
Uebung, sondern auch auf Grund seiner Leistungen im links-
• u f „ U1.esen nimanuellen Aktionen verdiei
eingehendere Würdigung — zunächst beim Gesunden.
) Gehirnpathologie S. 861.
2 Monatsschr. f. Psych. und Neurol. XIX, S 220
9 irch’ f’ Psych., Bd. XXXIV, S. 359.
Monatsschr. f. Psych. XIX, S. 229.
) Monatsschr. XIX, S. 224.
ai) Monatsschr. VIII, S. 31.
jedenfalls
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1901
händigen Buchstabensch reiben zu erwarten berechtigt war.
Dagegen vermag der hier besprochene Kranke aus dem Ge¬
dächtnis überhaupt nicht zu schreiben, seine spontanen
Haken verraten nur einmal ausnahrmveise Tendenz zur Spiegel¬
schrift; was er kopiert, schreibt er dafür in der Lage der
Vorlage und dabei noch am besten — besondere Zeichenver¬
suche sind leider nichi angestellt — die Buchstaben desjenigen
Alphabetes, für das ein alter motorischer Erwerb am wenigsten
in Frage kommt und das somit am meisten die Verhältnisse
beim Nachzeichnen wiedergibt: die Frakturschrift.
Es ergibt sich da eine sehr in die Augen fallende Differenz
in dem Verhältnis zwischen dem Eigenbesitz und dem, was man
vielleicht als Plastizität des Motoriums bezeichnen könnte. Ich
habe mir die Frage vorgelegt, ob diese Differenz berechtigter¬
weise auf einen Ausfall verschiedener funktionstragender
Elemente zürückge/iihrt werden darf, ja ob sie überhaupt als
Ausdruck einer k r a n k h a f t e n Veränderung aufgefasst
werden muss; die Möglichkeit scheint mir jedenfalls a priori
nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die fehlende Plastizi¬
tät in den beiden ersten Fällen, die viel bessere im letzten
Falle auf eine individuelle Eigenart zurückzuführen ist.
Dass die Begabung zum Ausführen und Erlernen neuer
Bewegungskombinationen sehr ungleich verteilt ist, wird sich
kaum in Abrede stellen lassen; Turn- und Tanzlehrer, vor
allem aber Rekrutenunteroffiziere dürften über die meisten Er¬
fahrungen nach dieser Richtung verfügen. Was den nach dieser
Richtung schwach veranlagten Individuen fehlt, ist aber weder
die Kraft noch der Komplex von Elementen, welche die Grund¬
lage der Koordination darstellen: Defekte nach dieser Richtung
dürften beim ungraziösen Tänzer und dem hölzernen Rekruten
ebensowenig vorliegen, als etwa auch der unmusikalischste
Mensch irgend welche Gehörsstörungen darzubieten braucht.
Anderseits scheint mir die Annahme nicht gewagt, dass die
Kombinationsfähigkeit des Motoriums keineswegs seiner Fähig¬
keit zum sicheren Festhalten des einmal Ausgeführten immer
parallel zu gehen braucht; die Analogien mit anderen, meist als
höher angesehenen Formen psychischen Geschehens liegen so
nahe, dass sie nicht angeführt zu werden brauchen. Man wird
endlich mit der Möglichkeit rechnen dürfen, dass sich zwischen
Motilität und sensorischen Abschnitten bezüglich dieser einzelnen
Leistungen ganz ähnliche Differenzen ergeben, wie man sie
zwischen den verschiedenen sensorischen Gebieten lange als
gegeben ansieht.
Die Pathologie ist in der letzten Zeit mehr und mehr dazu
übergegangen, auch die feineren Störungen des Handelns zum
Gegenstand der Untersuchungen zu machen, die Normalpsycho¬
logie wird ihr auf diesem Wege folgen müssen, und gerade die
Individualpsychologie wird vielleicht aus Untersuchungen,
die aus derartigen Gedankengängen hervorgehen, Gewinn
ziehen können; vor allem könnte sie uns vielleicht eine aus¬
reichende Analyse4 derjenigen Individuen liefern, die zunächst
noch unter dem Sammelnamen der „Moteurs“ zusammen¬
gefasst werden.
Ich halte es tatsächlich für nicht ausgeschlossen, dass ge¬
eignete Versuchsanordnungen uns auch am Normalen über
einige der hier angeregten Fragen Auskunft geben; am leich¬
testen scheinen mir zunächst noch solche Normalversuche aus¬
führbar, die uns über den Grad der Abhängigkeit des Motoriums
der linken Hand von der linken Hemisphäre ein Urteil gestatten.
Die Bedeutung dieser Feststellungen in jedem Falle von
Agraphie bedarf nach dem obigen keiner Ausführung; aber
auch für andere Fragen aus der Aphasielehre wäre es von
grösster Wichtigkeit, im Einzelfalle das Mass der Eigenleist¬
ungen der rechten Hemisphäre feststellen zu können. Vikari¬
ierendes Eintreten der rechten Hemisphäre zum Ersatz für die
linksseitigen Defekte wird zunächst noch ziemlich willkürlich,
je nach Bedarf im Einzelfalle, angenommen; es wäre von
grösstem Werte, wenn uns die — unschwer auszuführende und
deshalb fortan nie zu vernachlässigende — Prüfung auf Apraxie
der linken Hand hier ein gewisses Mass zunächst für die
Leistungs-, weiterhin aber auch für die Uebungsfähigkeit der
rechten Hemisphäre in jedem Einzelfalle an die Hand gäbe.
Bevor die Apraxie der linken Hand bei linksseitigen Herden
generell nach dieser Richtung verwertet werden darf, müsste
allerdings festgestellt sein, ob erhebliche linksseitige Apraxie
bei linksseitigem Herde als Ausdruck einer durchgehenden, im
vollsten Wortsinn einseitigen Veranlagung des Individuums
betrachtet werden darf, oder ob sich die Motilität auch nach
dieser Richtung den anderen Gebieten gegenüber autonom ver¬
halten kann.
Gehirnpathologen, Normalpsychologen und Pädagogen er¬
öffnet sich hier eine Reihe von Fragen; als Ergebnis der
Erörterungen über die Agraphie darf nach dem Obigen aus¬
gesprochen werden:
Es gibt eine reine, d. h. von aphasischen
Störungen unabhängige, doppelseitige Form
der Agraphie als Folge eines linksseitigen
Herdes.
Die Agraphie der linken Hand ist hier als
a praktische aufzufassen, analog den übrigen
ap faktischen Bewegungsstörungen in der
linken Hand bei linkshirnigen Herden.
Die Agraphie der linken Hand kann sich in
diesen Fällen auf das Schreiben aus dem Ge¬
dächtnis beschränken, während das Ab¬
schreiben erhalten bleibt.
lieber perniziöse Anämie und Leukämie.
7. Mitteilung zur Geschwulstfrage.
Von Dr. Georg K e 1 1 i n g in Dresden.
Dass perniziöse Anämie und Leukämie zusammengehören,
ist wahrscheinlich, weil unter Umständen aus der ersteren
Krankheit die letztere sich entwickeln kann. Man denke ferner
an die Leukämie, wo das Blutbild gleichzeitig im Sinne der perni¬
ziösen Anämie und der Leukämie verändert ist. Dass aber beide
Krankheiten enge Beziehungen zu den bösartigen Geschwülsten
haben, geht aus den pathologisch-anatomischen Befunden in
zweifacher Weise hervor: Einmal findet man bei ihnen bös¬
artige Geschwülste relativ häufig, bei der perniziösen Anämie
kleine Magenkarzinome, bei der Leukämie Sarkome, auch
Karzinome und mitunter die sonst so seltenen Chlorome.
Andererseits wuchern bei diesen Krankheiten die blutbildenden
Gewebe in embryonaler Form; bei der perniziösen Anämie
wuchern erythroblastenartige Zellen nicht nur im Knochenmark,
sondern mitunter auch geschwulstartig in Leber, Milz und selbst
in Lymphdriisen, während bei der Leukämie myeloide resp.
lymphatische Wucherungen in Knochenmark, Leber, Milz,
Lymphdriisen gefunden werden. Aber auch in biologischer
Beziehung haben diese beiden Blutkrankheiten Analogien mit
den malignen Tumoren; sie werden wie jene durch Arsen und
Röntgenstrahlen günstig beeinflusst, und so wie es merk¬
würdige Fälle maligner Geschwulstbildung gibt, welche durch
hinzutretendes Erysipel geheilt werden, so gibt es auch solche
Fälle bei der Leukämie und perniziösen Anämie. Ein weiterer
Beweis für die ätiologische Zusammengehörigkeit mit den
Geschwulstkrankheiten ergab sich durch Anwendung der
Präzipitin- und der hämolytischen Reaktion auf das Blut¬
serum der Kranken mit perniziöser Anämie und Leukämie.
Die von mir angewendeten Methoden sind eingehend
beschrieben worden, und zwar die Präzipitinmethode in
der Berliner klinischen Wochenschrift 1905, No. 29 und 30 und
die hämolytische Methode in Langenbecks Arch. f. klin. Chi¬
rurgie, Bd. SO, so dass ich mit Umgehung der Technik hier
direkt auf die erhaltenen Resultate eingehen kann.
Die von mir untersuchten Fälle von perniziöser Anämie
sind folgende:
F a 1 1 I. G. M., 45 Jahre, Handarbeiter, klagt seit 3 Wochen über
Müdigkeit und Schmerzen auf dem Sternum, Abmagerung, bei An¬
strengung Herzklopfen. Status vom 13. I. 05: Mittelgross, sehr blass,
Fettpolster massig entwickelt, Lungen und Herz ohne Besonder¬
heiten, Abdomen weich, Leber und Milz ohne Besonderheiten; Harn
ohne Eiweiss und ohne Zucker. Bei Untersuchung des Mageninhaltes
mit dem Ewald sehen Probefrühstück zeigt sich, dass der Magen
gar nicht verdaut, und die freie Salzsäure fehlt. Untersuchung des
Blutes ergibt ausser starker Anämie keine charakteristischen Befunde,
die Blutkörperchen sind mikroskopisch normal, keine Vermehrung der
Leukozyten. Die Präzipitinreaktion wurde zum ersten Male am
18. III. 05 a.ngestellt mit Extrakt aus Hühner-, Tauben-, Rinds-, Schaf-
und Schweineleber, es tritt nach 3 Vs Stunden eine exquisite Trübung
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
mit dem Extrakt aus Schafsleber auf. Ich glaubte anfangs, es könnte
sich um einen Beobachtungsfehler handeln, und entnahm dem Pa¬
tienten am 20. III. 05 nochmals Blut: dieselbe Präzipitinreaktion mit
Schafsleber war nachweisbar. Am 7. IV. 05 wird die Reaktion noch¬
mals wiederholt, mit demselben Resultat. Ein normales Serum zur
Kontrolle dagegen angesetzt, gibt keinerlei Trübung mit den obigen Ex¬
trakten. Die Reaktion wird nochmals wiederholt am 27. IV. 05, ferner
am 26. VIII. 05 und immer mit dem gleichen Resultat, dass Schafsleber¬
extrakt exquisit trübe wird. Nun wurden hämolytische Reaktionen an¬
gestellt und zwar am 24. VIII. 05 in der anderenorts beschriebenen
Weise (nach Probe I, I a und II b in Langenbecks Archiv, Bd. 80.). Es
zeigte sich eine ausgesprochene Hämolyse für Schafblutkörperchen;
das Lösungsvermögen für Schaf übersteigt das für die übrigen Tier¬
blutkörperchen um 50 Proz. Dass es sich bei diesem Fall um eine
konstante spezifische Reaktion handelte, darüber konnte kein Zweifel
sein. Wir glaubten anfangs, dass Karzinom vorlag, zumal, da später
die Leber geschwollen zu palpieren war; von Mitte Mai 1905 ab
liess sich Poikilozytose nachweisen, aber kernhaltige Erythrozyten
nicht. Am 1. XII. 05 war Patient in einem sehr elenden Zustand,
Leber geschwollen, Oedeme der Beine, Hämoglobininhalt 33 Proz.,
Zahl der roten Blutkörperchen 1 300 000, Poikilozytose. Der Exitus
letalis erfolgte am 13. XII. 05. Die Sektion ergab folgenden Befund:
Die Haut ist welk und zeigt eine wachsige, bleiche, gelbliche, leicht
ikterische Farbe. Unterhautzellgewebe fettarm, Haut der unteren
Bauchgegend und der Beine ödematös. Muskulatur dünn, schlaff,
blass, braunrötlich. Das Knochenmark des Brustbeins und des rechten
Femurs zeigt himbeergeleeartige Beschaffenheit. Beiderseitiger Hy-
drothorax. Hydroperikard. Schwartige Pleuritis der linken Lunge
und des rechten Unterlappens mit ausgedehnten, strahlenförmigen
Adhäsionen der Rippenpleura, flächenhafte Adhäsionen mit dem
Zwerchfell. Ausgeheilte Lungenspitzenphthise mit Adhäsionen. Akutes
Lungenödem. In den oberen, hinteren Partien beider Unterlappen
pneumonische Infiltrationen.
Starke Herzdilatation. Die Muskulatur des linken Ventrikels
schlaff, dünn, fleckig verfettet (Tigerung); Muskulatur des rechten
Ventrikels diffus verfettet. Herzklappen normal. Das Qefässystem
zeigt keine Arteriosklerose. Mässiger Aszites. Milz etwas ver-
grössert mit verkalkter Adhäsionsperisplenitis. Pulpa derb, dunkel¬
braunrot. Beide Nieren leicht geschwollen. Die Schnitt- und Ober¬
fläche gelblich gefärbt, Pyramiden blassrot. Leber nicht verkleinert,
Oberfläche glatt. Die blutarme Schnittfläche ist rostfarben mit einem
Stich nach dem Ocker zu. Ausserdem zeigt der rechte Leberlappen
hinten und oben je einen verkalkten Echinokokkus (der vordere
pflaumengross, kalkigen Brei enthaltend, während der hintere apfel¬
gross ist, neben seröser Flüssigkeit Membranen und einzelne kirsch¬
kerngrosse Tocherblasen enthält.) Gallenblase und Gallengänge intakt.
Am Fundusteil des Magens ist die Schleimhaut mazeriert, der untere
Abschnitt zeigt derbere, gleichmässig verdickte Wandungen; Schleim¬
haut glatt, schiefriggrau gefärbt mit einzelnen feinen strahligen aus¬
geheilten Geschwürsnarben. Der gesamte Darmtraktus zeigt blasse
Schleimhaut. Wurmfortsatz intakt. Pankreas, Nebennieren, Harn¬
blase ohne Besonderheiten.
F a 1 1 II. M. Sch., 59 jähriger Mann, Gemüsehändler. Seit lYz
Jahren krank, geringer Appetit. Patient kann kein Fleisch mehr ver¬
tragen, hat 23 Pfd. abgenommen; ab und zu Erbrechen. Status vom
15. VII. 05: Mittelgross, ausserordentlich blass, Fettpolster noch leid¬
lich erhalten, Lungen und Herz ohne Besonderheiten, Abdomen weich,
Leber, Milz und Magen ohne Besonderheiten, Harn ohne Zucker und
ohne Eiweiss. Probefrühstück nach Ewald ganz unverdaut, schlei¬
mig, keine freie Salzsäure. Später treten Oedeme, grosse Hinfällig¬
keit auf, und am 3. XII. 05 erfolgt der Exitus letalis. Eine Untersuchung
des Blutes am 3. XI. 05 ergab: Starke Poikilozytose, Blutkörperchen
biskuitförmig, flaschenförmig und halbmondförmig, kernhaltige rote
Blutkörperchen fehlen; die Leukozyten sind vermehrt. Hämoglobin
nach G o w e r s 35 Proz., rote Blutkörperchen 1 420 000, weisse Blut¬
körperchen 60 000. Es wird mit dem Blute eine hämolytische Reaktion
angestellt (nach Probe II a und II b) gleichzeitig wird ein normales
menschliches Blutserum dagegen angestellt. Das normale Serum löste
in 3Vz Stunden von Schaf 25 Proz., von Huhn 31 Proz., von Rind 35 Proz.
und von Schwein 27 Proz. Das Blutserum des Pat. löste von beiden
Proben in derselben Zeit: von Schaf 50 Proz., von Huhn, Rind und
Schwein aber nichts. Es bestand demnach eine artspezifisch hämoly¬
tische Reaktion. Es konnte sich nach dem Blutbefund um Karzinom
oder pern. Anämie handeln. Es gelang mir die Sektion auszuführen;
die Sektion entschied für pern. Anämie. Der Befund war folgender:
Haut leicht gelblich gefärbt, wachsartig. Sehr dünnes Unterhaut¬
fettgewebe, Muskulatur atrophisch. Das Knochenmark des Sternums
und der Diaphyse des rechten Oberschenkelknochens himbergelee-
artig. Lungen blutarm mit starkem Oedem, besonders beide Unter¬
lappen, in den untersten Teilen der letzteren leichte Hypostase. Keine
Tuberkulose in den Lungenspitzen oder Bronchialdrüsen. Herz ent¬
hält wenig fliisiges Blut, hellrot gefärbt; Ventrikel leicht erweitert.
Herzmuskulatur hellbraunrötlich, stark verdünnt; im linken Ventrikel
sieht man durch das Endokard feine, gelbliche Flecke, dicht neben¬
einander, besonders im Ventrikelseptum und in den Papillarmuskeln
(Tigerung). Milz'mässig vergrössert, derb; Pulpa dunkelrot, blutarm.
Leber atrophisch; Schnittfläche zeigt eine rostbraune Farbe, blutarm.
Beide Nieren atrophisch, sehr blass. Magen mit atrophischer Wan¬
dung und Schleimhaut; am Pylorus sieht man eine ringförmige ca.
3 cm Durchmesser habende Verdickung der Wand. (Mikroskopisch:
narbiges Bindegewebe mit Epithelschläuchen; Zellen der Schläuche'
polymorph [karzinomatöser Skirrhus). Prostata mässig hypertro¬
phisch, mit einzelnen adenomatösen Knoten. Der ganze Darmtraktus
ohne Besonderheiten.
Fall III. E. L., 58 jähriger Arbeiter. Patient klagt über Völle
im Magen, starke Abmagerung seit lVs Jahren. Diarrhöen. Status
vom 6. X. 05:, Mittelgross, Lungen und Herz ohne Besonderheiten,
Abdomen weich; Leber als deutlich geschwollen palpabel; rechte Lun¬
genspitze bronchitische Geräusche und Dämpfung. Harn: ohne Ei¬
weiss und ohne Zucker. Ewald sches Probefrühstück ganz unver¬
daut, freie Salzsäure fehlt. Im Blute Leukozyten nicht vermehrt,
die roten Blutscheiben zeigen Poikilozytose. Es wird eine hämo¬
lytische Reaktion angestellt am 7. X. 05 nach Probe I. Es zeigte
sich eine ganz auffällig verstärkte Lösung von Schafblutkörperchen.
Die Reaktion wird am 14. XI. 05 wiederholt und zwar nach Probe II a
und II b. Von Schafblut wird 45 Proz. mehr gelöst als von Huhn,
Rind und Schwein. Es wird Präzipitinreaktion angestellt im Ver¬
hältnis von 1 : 2 mit Blutserum, welches auf Viooo Eiweissgehalt ver¬
dünnt wurde, und zwar mit Serum von Schaf, Huhn, Rind und Schwein.
Mit Schafserum tritt Trübung ein. Alimentäre Hämolyse war natür¬
lich ausgeschlossen, denn Hammelfleisch wird roh in grösseren Men¬
gen nicht genossen. Der Exitus trat am 3. I. 06 ein. Die Sektion
ergab neben der bestehenden Tuberkulose eine Veränderung des
Knochenmarks, wie man sie nur bei perniziöser Anämie findet. Es
wurden von den himbeergeleeartig veränderten Stellen kleine Partien
herausgenommen, gehärtet und mikroskopisch geschnitten, um zu
untersuchen, ob nicht vielleicht Knochenmarktuberkulose vorlag, es
war aber nicht der Fall. Das Sektionsprotokoll lautet: Oedem der
unteren Körperhälfte. Hochgradige allgemeine Atrophie. Linksseitige
schwartig-adhäsive Pleuritis. Ausgedehnte Tuberkulose der Lungen,
hauptsächlich der rechten Lunge, neben chronischen indurativen Pro¬
zessen. Lungenödem. Vereinzelte verkalkte Bronchialdrqsen. Dila-
tiertes, stark atrophisches Herz. Stauungsmilz und -nieren. Anämische
Leber. Chronische schwielig-adhäsive Perihepatitis. Chronische
tuberkulöse Peritonitis. Ausgedehnte tuberkulöse Darmgeschwüre
im Dünn- und Dickdarm bis herauf zur Duodenojejunalgrenze. Auf
der Serosa frische Hyperämie und dichte miliare Tuberkelausbreitung.
Einzelne Mesenterialdrüsen mit kleinen Verkäsungen. Mässiger As¬
zites mit fibrinösen Beimischungen. Das Knochenmark des Sternums
dunkelrot geleeartig, Knochenmark des linken Femurs mit gelee¬
artigen, dunkelroten, fleckigen Herden durchsetzt, hin und wieder
leicht schmieriges Aussehen.
Dass diese 3 Fälle, von denen ich die Sektion bekommen
habe, sämtlich auf Schaf biochemisch reagieren, halte ich für
Zufall. Ein 4. Fall, den ich ambulant untersuchte, betraf einen
42 jährigen Mann, bei welchem die biochemischen Reaktionen
seines Blutserums positiv für Huhn ausfielen. Derselbe hatte
2 Millionen rote Blutkörperchen, 35 Proz. Hämoglobin, keine
Vermehrung der Leukozyten, Poikolozytose. Geschwülste
waren nirgends nachweisbar. Da aber die Sektion fehlt, ist
der Einwand gerechtfertigt, dass die Reaktion von einem
okkulten Karzinom herrtihren kann. Ich bin aber statt dessen
in der Lage, ein Impfexperiment aufzuweisen, über welches
ich weiter unten berichte.
Fälle von Leukämie.
F a 1 1 I. G. K-, 50 jähriger Mann, Gutsbesitzer. Seit Ostern 1905
Magenbeschwerden, Völle nach dem Essen und Druck. Abmagerung.
Status vom 15. IX. 05: Gross, sehr blass und mager, Lungen und
Herz ohne Besonderheiten, die Milz ist ausserordentlich gross, reicht
bis zum Nabel. Drüsen nirgends geschwollen. Das Blut zeigt zahl¬
reiche grosse weisse Blutkörperchen, rote Blutkörperchen 3 600 000,
weisse 180 000, rote zu weisse wie 20 : 1. Mit dem Blute wurde eine
hämolytische Reaktion angestellt, und zwar zweimal zu verschiedenen
Zeiten. Es gab eine deutliche hämolytische Reaktion für Huhn, so
dass von Huhn um 50 Proz. mehr gelöst wurde als von Rind, Schaf
und Schwein. Präzipitinreaktion, mit dem Blutserum angestellt vom
Huhn, Schaf, Rind und Schwein (in der oben besprochenen Weise)
ergab Trübung mit Hühnerserum. Patient starb im Januar 1906. Die
Sektion wurde leider verweigert.
Fall II. S. G., 43jährige Gutsbesitzersfrau. Im Juli 1904 wurde
der Leib dick, die Periode blieb aus, Patientin wurde müde und ab¬
gespannt. Status vom 16. V. 05: Mittelgross, blass und mager, Leib
aufgetrieben, Leber ist enorm gross und scharfrandig, der untere
Leberrand überragt den Nabel um 3 Querfinger. Die Milz ist eben¬
falls gross, hart und scharfrandig und erreicht die Nabellinie. Harn
ohne Eiweiss und Zucker, Drüsen nirgends geschwollen, Blut mikro¬
skopisch: Erythrozyten normal, 50 grosse weisse Blutkörperchen im
Gesichtsfeld. Es wird eine hämolytische Reaktion angestellt, welche
verstärktes Lösungsvermögen für Huhn gibt. Die Reaktion wird spä¬
ter nochmals wiederholt am, 12. X. 05; von Huhn wird 20 Proz, mehr
gelöst als^von den übrigen Tierblutkörperchen. Im Dezember 1905
! wird das Blut nochmals mikroskopiert, die Zahl der weissen Blut-
körperchen verhält sich zu den roten wie 1:3. Patientin stirbt im
April 1906, Sektion verweigert. , . ,
Fall III war ein sehr ruhiger und vernünftiger Patient, bei dem
ich mehrfache Untersuchungen anstellen konnte, um mich aufs ge¬
naueste über die Reaktion seines Blutes zu unterrichten. 37 jähriger
Mann C G., Fabrikbesitzer, klagt seit einem halben Jahre über Mat¬
tigkeit und Stechen in der Milzgegend und Abmagerung. Status vom
3 VI. 05: lang, dunkelblond, sehr blass und mager, Lungen und Herz
ohne' Besonderheiten, Harn ohne Eiweiss und ohne Zucker, Magen¬
inhalt nach E w a 1 d schein Probefrühstück normal, freie Salzsauie
vorhanden, Abdomen weich, Leber normal; Milz vergrössert, über¬
ragt den Rippenbogen um 3 Querfinger. Blut mikroskopisch: 20 grosse
weisse Blutkörperchen im Gesichtsfeld, rote Blutkörperchen normal.
Status vom 25. IV. 05: Rote Blutkörperchen 3 716000, weisse 332 000;
weisse zu rote wie 1:11,2. Status vom 7. VII. 05: Hämoglobin
Gowers 70 Proz., rote Blutkörperchen 4 216 000, weisse 204 000,
weisse zu rote wie 1:20,7. (Es war eine vierwöchentliche Röntgen¬
behandlung vorhergegangen.) Am 11. IX. 05: die Milz hat sich dem
Nabel bis auf 2 Querfingerbreite genähert, Hämoglobin uowers
85 Proz., rote Blutkörperchen 5 115 000, weisse 168 000; weisse zu
rote wie 1 : 31. Am 8. II. 06: Hämoglobin 70 Proz., r^e Blutkorper-
chen 5 420 000, weisse 190 000; weisse zu rote wie 1: 28. Die Milz
ist um lVs Querfinger kleiner geworden. Es hatte wiederholte Rönt¬
genbehandlung stattgefunden. Der letzte Status vom 16. V. 06 ergab
folgendes: Hämoglobin Gowers 70 Proz., rote Blutkörperchen
3 284 000, weisse 224 000; rote zu weisse wie 15 : 1.
chemische Blutuntersuchung: Die Präzipitinreaktion
wurde 2 mal angestellt, und zwar am 3. VI. 05 mit Extrakt aus
Hühnerleber, Schweineleber, Schafleber, Rindsleber, ausserdem mit
ExtraLt aus Hühnerembryonen und Schweineembryonen, und ferner
noch mit Hühnerserum, Schweineserum, Schafserum und Kinderserum.
Nach 3 Stunden erhielt man deutliche Präzipitinreaktion mit Huhner¬
leber, Hühnerserum und Hühnerembryonen. Am stärksten war die 1 ru-
bung mit Hühnerserum, danach kam Hühnerleber und danach Hiihiier-
embryo. Diese Reaktion wird nochmals wiederholt am 20. VI. 05 mit
dem gleichen Erfolg. Hämolytische Reaktionen wurden folgende an-
srestellt • am 11. X. 05 nach Probe I hämolytische Reaktion positiv für
Huhn, ferner am 14. I. 06 nach Probe Ha und Ilb, und zwar wurde
von Huhn 40 Proz. mehr gelöst, als von den übrigen Herblutkoiper-
chen, nämlich Schaf, Rind, Schwein. Die Reaktion wurde nochmals
wiederholt am 16. V. 06. Es wurde von Huhn sogai 50 I ioz. mehr
gelöst als von den anderen Tierblutkörperchen. Gleichzeitig wurde
aber auch eine Probe mit Komplementablenkung angestellt, und zwar
in folgender Weise: Es wurden Lösungen hergestellt von inaktiviertem
<y2 stunde auf 56° C erwärmtem) Schafserum, Huhnerserum, Rinder-
serum und Schweineserum, 0,025 Serum auf 1 ccm 1 proz. physio¬
logischer Kochsalzlösung. Es wurde nun 01 von dem Serum des
Patienten dazu gegeben und die 4 Proben im Brutofen eine 5 tunde be
37 « C gehalten; dann wurden die Sedimente der ausgewaschenen
Blutkörperchen, und zwar das Sediment von 1 ccm einer 5proz. I u i -
körperchenaufschwemmung mit den in den Brutofen gestellten Lo¬
sungen analog überschüttet, so dass die Mischung von 0,025 Schaf¬
serum mit 0,1 Serum des Patienten auf das Schaf Wutkorperchen-
sediment, die Mischung von 0,1 Serum des Patienten mit 0.025 Huhnei r-
serum auf das Hühnerblutkörperchensediment usw. gebracht wurde,
und dann wurden die Proben umgeschüttelt und in den ^Brutofen ge¬
stellt Gleichzeitig wurde die gewöhnliche Probe, nämlich 0,1 leu-
komisches Serum Vif 1 ccm 5 pro*. Blutkorperchenau schwemmung
angestellt. Während nun bei diesen letzten Proben von Huhn
65 Proz. gelöst wurde, wurde bei der Probe mit Komplementablenkung
gar nichts gelöst. Ich gebe das Resultat in Zahlen: Es wurde ge¬
löst: Prozente Hämoglobins .
a) bei gewöhnlicher Probe Sf. H. R. Schw. M.
b) „ Komplementablenkung 18 0 10 15 0
(jy\_ = normale Menschenblutkörperchen resp. bei Veisuch b
auch normales Menschenserum.)
Es ist dies ein untrüglicher Beweis für eine artspezifische Re¬
aktion im Blute des Patienten. Ich bemerke noch, dass der I atient
die ganze Zeit über rohe Eier in keiner Form zu sich genommen hat
so dass die Reaktion mit einer alimentar erworbenen Hämolyse nichts
zu tun haben kann. Es gehört ein kräftiges Prazipitinserum dazu, um
bei dieser Versuchsanordnung eine totale Aufhebung der Hamoh se zu
erzielen. Ist das Serum nicht genügend kräftig, so wir d nui die Menge
des gelösten Hämoglobins herabgesetzt, es tritt aber keine völlige
Aufhebung der Hämolyse ein. Es gibt feinere Versuch^ordnungen
für Komplementablenkung, als die beschriebene ich habe sie aber &
wählt, um den Kontrast gegenüber dem gewöhnlichen hämolytischen
Lösungsvermögen zutage treten zu lassen.
Nach diesen Untersuchungen geben die malignen Blut¬
krankheiten der perniziösen Anämie und Leukämie dieselben
artspezifischen Reaktionen, wie die malignen Geschwülste.
Die Reaktion war am wenigsten ausgeprägt in dem Fall 11 der
Leukämie, wo es sich auch zweifellos um die elendeste I atientm
handelte. Auch hier zeigte sich dieselbe Erscheinung, wie bei
den Geschwulstkranken, dass die Reaktionen um so besser
ausfallen, je kräftiger die Patienten sind. ,Falle xon,g^ ,
licher Anämie, von Chlorose, von Anämie nach erheblichen
Blutverlusten habe ich in grösserer Anzahl untersucht, keiner
von diesen Fällen gab eine artspezifische Reaktion
' Ich habe nun weitere Untersuchungen angestellt, indem ich
bei perniziöser Anämie das Knochenmark se bst prüfte, und
zwar habe ich dazu benutzt das Knochenmark von dem Fall
No 1 G M., mit perniziöser Anämie, weil ich hiei ein grosses
Stück Femur herausnehmen konnte. Dieser Knochen wurde
gespalten und in Glyzerin aufgehoben ; ausserdem habe ich zur
Kontrolle den Femurknochen eines gesunden Menschen, g eic -
falls gespalten, in Glyzerin aufgehoben. Es wurden nun Anti¬
sera hergestellt, und zwar von Hunden durch Einspritzung von
Hühnerserum, Schweineserum und Schafserum. Dann wu
das Knochenmark des Patienten G. M. herausgeloftel t, in e
Sieb gelegt und das Glyzerin mit kaltem \\ asser A Stunde
lang ausgewaschen. Darnach wurde das Mark im Morset ver¬
rieben und mit angewärmter 0,9 proz. Kochsalzlosung versetzt.
Hierauf wurde die Lösung filtriert, der Eiweissgehalt bestimmt
und derselbe durch Verdünnung mit physiologischer Kochsalz¬
lösung auf 1 : 1000 gebracht. Den Hunden wurde Blut ent¬
nommen und nun die drei Antisera, nämlich Huhnerantiserum,
Schafantiserum und Schweineantiserum in d{;n VerlJ?ltni?s®n
1 • 2 1:5 1 : 10 mit den Extrakten aus den beiden Knochen¬
marken, dem normalen und dem kranken, versetzt. Es trat
dann Trübung ein nur bei den Proportionen 1.2 1 • o mit
Schafantiserum bei dem kranken Knochenmark, wahrend das¬
selbe mit den beiden anderen Sera keine I räzipitinreaktion
gab Das normale Knochenmark gab mit allen drei Antisera
keine Präzipitinreaktiqn. Dabei war der Titre des Schweine¬
antiserums und Hühnerantiserums ebenso stark als der 1 itre
des Schafantiserums. Die Untersuchung ergab also, dass hier
eine spezifische Reaktion des Knochenmarks vor ag. — Diese
Versuchsserie wurde ein zweites Mal mit demselben Resultat
an of es teilt
& Was den Grad der Trübung anbetrifft, so war die Trübung
mit dem anämischen Knochenmark A der Trübung, welche man
mit Schafserum selbst erzielen konnte, z. B. die Trübung bem
Verhältnis 1 : 2 war so stark, als wenn man die Probe mit Schat-
serum selbst im Verhältnis 1 : 8 ansetzte, so dass man daraus
schliessen kann, dass in dem Knochenmark etwa der vierte
Teil der Rezeptorengruppe vorhanden war, welche sich n
Schaf serum selbst findet. . . , h
Ich bin ferner in der Lage, ein Impfexperiment nach-
weisen zu können, bei welchem nach Injektion artfremder em¬
bryonaler Zellen perniziöse Anämie eingetreten ist. Vo
einer Anzahl alter Hunde, die ich auf gleiche Weise impfte,
ging einer an perniziöser Anämie zugrunde.
Es war dies ein schwarzer, glatthaariger, rnannhcher Zughu ,
etwa 15 Jahre alt. Demselben wurde am 6. II. 04 in ,d]e linkf. .Jena
femoralis eine Aufschwemmung von PA Tag lang bebrüteten Huhnei -
keimflecken in 0,9 proz. physiologischer Kochsalzlosung eingespritzt.
Der bebrütete Fleck war aus dem Ei mit einem Messer unterstochen
und herausgehoben, dann in einem Mörser verrieben und mit Kochsalz¬
lösung aufgeschwemmt worden. Im Sommer fiel uns an dem Tiere au
dass es sehr abmagerte und äusserst blass wurde. Die Schleimhaut
des Mundes war wachsbleich. Im Blute zeigte sich deutliche Poikilo-
zvtose aber 'kernhaltige rote Blutkörperchen waren nicht zu sehen;
die weissen Blutkörperchen waren nicht vermehrt. Das Tier ging nun
zugrunde am 13. IX. 04. Die Sektion ergab starke Abmage¬
rung;' Fettpolster und Muskulatur sehr geschwunden, Haut und
Schleimhaut ganz blass. Sämtliche Organe wurden genau untersucht.
Mund Speiseröhre. Magen. Darm, Schilddrüse. Sam liehe Lymph-
drüsen waren normal, die Leber war etwas vergrössert und rost¬
farben Milz verkleinert. Es wurde nun das Sternum aufgemacht und
von den Röhrenknochen, Femur und Humerus. Das Knöchenmark
war deutlich himbeerfarben und geleeartig. Die Untersuchung d
Blutes ergab wieder ausgesprochene Poikilozytose, keine kernhalti¬
gen Blutkörperchen, die weissen Blutkörperchen waren nicht ver¬
mehr, eher vermindert. . ,
Dass der Hund an perniziöser Anämie zugrunde ge¬
gangen^ war, ist zweifellos. Damit stimmte auch die
mikroskopische Untersuchung des Knochenmarks überein.
Da nun diese Krankheit bei Hunden sehr selten ist,
so war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ohne Zu¬
sammenhang mit der Impfung entstanden war, sehr gering.
Die Frage sollte aber mit Sicherheit entschieden werden, und
es wurde zu dem Zwecke folgendes Verfahren eingeschlagen.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
Die Knochen wurden gespalten und in Glyzerin gelebt. Gleich¬
zeitig wurden die Knochen eines normalen Hundes, ebenfalls
gespalten, in Glyzerin aufbewahrt. Es wurden nun auch hier
drei verschiedene Antisera hergestellt und zwar, um heterologe
Trübungen zu vermeiden, durch Einspritzen von Hühnerserum,
Schweineserum und Schafserum auf Hunde; dann wurde in
oben beschriebener Weise aus dem Knochenmark das Glyzerin
ausgewaschen, die beiden Knochenmarke, das kranke und das
gesunde Knochenmark, mit 0,9 proz. angewärmter Kochsalz¬
lösung extrahiert, dann das Extrakt filtriert, und nun der Ei-
weissgehalt des Extraktes bei der ersten Versuchsserie auf
1 : 1000, bei der zweiten Versuchsserie auf 2 : 1000 gebracht.
Dann wurden Proben 1:2, 1:5, 1:10 angestellt mit den drei ■
Antisera. Es ergaben sich charakteristische Trübungen von
dem Knochenmark des Hundes mit perniziöser Anämie und
dem Hühnerantiserum, während die Proben dieses Knochen¬
marks mit Schweineantiserum und Schafantiserum keine Re¬
aktion ergaben, und bei dem normalen Knochenmark mit sämt¬
lichen drei Sera keine Reaktion eintrat. Dadurch war der
Nachweis des Zusammenhanges von Impfung und Knochen¬
markserkrankung erbracht. Es fragt sich jetzt noch, wie eine
Implantation mit artfremden, embryonalen Zellen beim Men¬
schen Zustandekommen kann. Die Krankengeschichten solcher
Patienten geben uns hier Gesichtspunkte an die Hand. Es ist
bekannt, dass die malignen Blutkrankheiten im Anschluss an
geschwürige Prozesse im Verdauungskanal, so z. B. nach An¬
gina, nach Typhus, nachTuberkulose, nachDiarrhöen, nach Lues,
nach Ulcus ventriculi, Anchylostomiasisbesondersgern auftreten.
Artfremde, embryonale Zellen werden nun in den Darm hinein¬
gebracht durch Genuss von eingequirlten rohen Eiern, dann
aber auch durch rohes Hackfleisch lind rohe Wurst, der
trächtige Uteri der Schlachtiere zugesetzt worden sind. Es
liegt nun nahe, anzunehmen, dass die Zellen durch die ge-
schwürigen Stellen in die Lymphgefässe gelangen und von dort
aus weiter ins Knochenmark gespült werden. *) Wenn passende
Zellen auf passenden Boden kommen und die geschwächte Kon¬
stitution des Organismus eine Weiterwucherung der Zellen
erlaubt, so vermehren sie sich und erzeugen dann das Krank¬
heitsbild der perniziösen Anämie und ebenso auch das der Leu¬
kämie. Mit dieser Auffassung ist es nun unschwer verständ¬
lich, dass Mischinfektionen auch mit anderen embryonalen
Keimen stattfinden können und auch an den Stellen, wo dieKeime
eindringen, durch lokale Geschwulstbildung die Spurea des Ein¬
dringens hinterlassen werden. Daraus würde es sich eben er¬
klären, dass man nicht allzuselten bei diesen Krankheiten
kleine Karzinome des Magendarmtraktus findet und auch relativ
häufig Kombinationen mit malignen Geschwülsten in anderen
Organen.
Dass die Tumoren im Magen oft so klein sind gegenüber
den Veränderungen im Knochemark, dafür finden sich in der
Geschwulstlehre Analoga, da die Geschwulstkeime in den ver¬
schiedenen Organen auch sonst ungleich wuchern. Schliess¬
lich kann man auch an eine Zurückbildung der Magenkarzinome
denken. Man kann mitunter durch chirurgische Erfahrungen
feststellen, dass Magenkarzinome zurückgehen, während in
anderen Teilen die Geschwulstbildung fortschreitet. Man
braucht also für das Verständnis der malignen Blutkrankheiten
in dieser Beziehung keine Annahmen zu machen, die sich nicht
auch anderweit durch Beobachtungen belegen lassen. Was die
pathologischen Anatomen als regenerative Prozesse der Blut¬
neubildung auffassen, erklärt sich als Wucherung eines art¬
fremden blutbildenden Gewebes. Dieses Gewebe kommt, weil
es nicht ganz in den Körper hineinpassen kann, nicht zur Aus¬
reifung. Dadurch wird der Widerspruch, dass bei der perni¬
ziösen Anämie, trotz umfangreicher Wucherung blutbildenden
Gewebes, keine Blutverbesserung zu stände kommt,
') Perniziöse Anämie und Leukämie finden sich, wenn auch selten,
mitunter bei 1 ieren. So bei Hund, Katze, Schwein, aber auch bei
reinen Pflanzenfressern, wie Rind und Pferd. Hier könnten die Zellen
einerseits eingestochen werden durch Insekten, wie Fliegen und zwar
von Neischabfällen, vielleicht auch von Tierkadavern aus, z. B. Ratten
und Mäusen etc. Ausserdem erfuhr ich, dass es nicht selten ist, dass
Landwirte darmkranke I iere, besonders Kälber, mit rohen Eiern
füttern. Wie die Sache bei Tieren liegt, kann nur durch die ent¬
sprechenden Untersuchungen festgestellt werden.
verständlich. Leider hatte ich keinen Fall von Pseudo¬
leukämie zu beobachten Gelegenheit. Da ich mich
hauptsächlich mit Verdauungskrankheiten beschäftige, so
ist auch keine Aussicht, dass ich derartige Kranke
beobachten kann, wenn sie nicht durch Zufall zu mir
kommen. Bei den engen Beziehungen, welche die Pscudo-
leukämie zu der Leukämie hat, wäre es nicht unwahrscheinlich,
dass diese Kranken dieselbe Reaktion geben. La n g e
(Langenbecks Arch., 79. Bd.) fasst die Pseudoleukämie als
einen hyperplastischen Prozess, entstanden durch Wucherung
des lymphadenoiden Gewebes auf. Nach meiner Auffassung
würde es sich dann um artfremdes adenoides Gewebe handeln.
■ Von der Leukämie führen die Wege von selbst zu der Pseudo¬
leukämie und der perniziösen Anämie. Die Leukämie fassen
nur einige neuere Autoren, und zwar allein auf pathologisch¬
anatomischer Grundlage fussend, direkt als Geschwulstkrank¬
heit, als myeloide resp. Lymphosarkomatose auf. Meine bio¬
chemischen Untersuchungen bestätigen die ätiologische Zu¬
sammengehörigkeit der malignen Blutkrankheiten mit den
malignen Geschwulstkrankheiten.
Die erwähnten Reaktionen sind von Herrn Dr. Illing
ausgeführt worden, dem ich für seine andauernde Mitarbeit
auch an dieser Stelle bestens danke. Ferner habe ich, wie so
oft, die angenehme Pflicht, Herrn Geh. -Rat Prof. Dr. Ellen-
b e r g e r bestens zu danken für die Erlaubnis, die Hilfsmittel
des Physiologischen Institutes der Tierärztlichen Hochschule
zu Dresden für diese Untersuchungen benutzen zu dürfen.
Aus der Kgl. Chirurgischen Universitätsklinik zu Berlin
(Exzellenz v. Bergmann).
Spontane und postoperative Implantationstumoren *)
Von Dr. Anton Sticker, Assistent.
Es darf heute als feststehend angenommen werden, dass
die Ausbreitung der Karzinome und Sarkome im Körper aus¬
schliesslich durch Versetzung von Zellen der primären Ge¬
schwülste zustande kommt. Die£e Versetzung erfolgt auf kon¬
tinuierliche oder diskontinuierliche Art, durch Fortwachsen von
Zapfen und Strängen in das benachbarte Gewebe oder durch
Fortschaffung losgelöster Zellen auf dem Blut- und Lymph-
wege nach entlegenen Organen. Es war Langenbeck,1)
welcher zum ersten Male im Gegensatz zu Virchow seine
feste Ueberzeugung dahin aussprach, dass sämtliche sekun¬
dären Geschwülste im Körper durch Verschleppung von Zellen
der Primärgeschwulst entstehen müssten und er basierte darauf
seine Versuche, Karzinome bei Tieren zu erzeugen, indem er
ihnen Karzinomzellen in die Gefässe spritzte.
Neben dieser auf inneren geschlossenen Bahnen des Kör¬
pers erfolgenden Ausbreitung der malignen Tumoren, neben
der Propagation und der Metastasierung, gibt es noch eine
dritte Art der Ausbreitung, die der Implantation. Es geht
nicht an, diese von aussen her erfolgende Einpflanzung von
Geschwulstzellen mit dem Worte Metastasierung zu bezeichnen,
man müsste dann wie von lymphogenen und hämatogenen, so
auch von aerogenen Metastasen sprechen. Auch das Wort
Impfung, welches den Nebenbegriff eines infektiösen Agens mit
sich verbindet — wofür bis jetzt kein zwingender Beweis er¬
bracht ist — empfiehlt sich nicht. Ich werde mich im Nach¬
folgenden ausschliesslich des Wortes Implantation bedienen
und die auf eine von aussen her erfolgende Einpflanzung von
Zellen entstehenden Tumoren als Implantationstumoren be¬
zeichnen. Ueber diese Art Tumoren zum ersten Male eine
klare Einsicht gewonnen zu haben, war wieder das Verdienst
eines Chirurgen. Exzellenz v. Bergmann sprach sich im
Jahre 1875-’) dahin aus, dass, wenn wirklich die Krebs-
wücherung von einem Häufchen epithelialer Zellen ausgehe,
das irgendwie den Impuls zu einem end- und zügellosen
Wachsen erhalten habe, eine Verpflanzung dieses Zellen¬
aggregates in ein passendes Bindegewebslager einen
") Vortrag, gehalten in der freien Vereinigung der Chirurgen
Berlins. Sitzung vom 9. Juli 1906.
U Schmidts Jahrb. 1840, S. 99.
-) Festrede zur Jahresfeier der Stiftung der Universität Dorpat
am 12. Dezember 1875.
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1905
Krebs machen müsse. Diese theoretische Einsicht konnte im
Verlauf derselben Rede Exz. v. Bergm an n als experimentell
begründete Tatsache hinstellen, indem er mitteilte, dass ein
aus allem Zusammenhang gelöster minimaler Krebsknoten vom
Menschen tatsächlich bei einem anderen Menschen weiter ge¬
wachsen sei.
Die Implantationstumoren können eingeteilt werden in
spontane und postoperative. Zu den spontanen gehören a) die
sogen. Abklatsch- oder Kontaktkarzinome — beispielsweise die
Karzinome der Ober- und Unterlippe, beider Labien, der Va¬
gina und Portio, — b) die multiplen Karzinome der äusseren
Maut und der Schleimhaut — beispielsweise Karzinom des
Handrückens und des Ohres, Karzinom der Zunge und des
Magens, Karzinom des Uterus und der Vagina.
Zu den postoperativen Implantationstumoren gehören die 1
an die Ausrottung eines Tumors sich anschliessende Karzinose
der serösen Körperhöhlen — beispielsweise die nach Exstir¬
pation eines Carcinoma ovarii oder Carcinoma ventriculi ent¬
stehenden multiplen Karzinome des Peritoneums, — ferner die
sogen. Narbentumoren — beispielsweise die T umoren in Punk¬
tionskanälen bei bestehender Peritonealkarzinose, die Tu¬
moren in Laparatomienarben nach Exstirpation maligner Ova-
rialkarzinome, in Episiotomienarben nach Exstirpation kreb-
siger Uteri, in Brusthautnarben nach Amputation der krebsigen
Brustdrüse. —
Man hat gegen die Möglichkeit der Entstehung spontanei
Implantationstumoren eine Reihe theoretischer Gründe ins
Feld geführt. Die von den Muttergeschwülsten durch Ulze-
ration sich loslösenden Zellen seien nicht mehr intakt und die
an der Oberfläche der Tumoren vorhandene Entzündung und
Jauchung schädige auch etwaige Wunden der Schleimhaut, in
denen sich etwa intakte Zellen ansiedeln können.
Hierzu ist zu bemerken, dass erstens eine grosse Menge
unversehrter Tumorzellen an die Aussenwelt gelangt, wed ent¬
zündliche und jauchige Prozesse zwar einen Tumor zum teil¬
weisen Verfall bringen können, dass diese Noxen aber mehr
die dem Tumor als Substrat dienenden Gewebe angreifen als
die Tumorzellen selbst; gelingt es ja auch niemals, durch solche
Noxen Tumoren zur kompletten Ausheilung zu bringen.
Auch das Experiment hat in diesem Sinne entschieden. Ich
zeige Ihnen eine Hündin mit umfangreichem Sarkom der Vagina,
welches an zwei zehnpfennigstückgrossen Stellen geschwurig
die Schleimhaut durchbrochen. Die vor etwa 4 Wochen durch
Druck aus den Geschwürsöffnungen entleerte Tumormasse
wurde bei zwei Hunden mittels Glaskapillaren in die Unter¬
haut der rechten Brustwand gebracht. Sie sehen bei beiden
Hunden heute schon eine beginnende, etwa bohnengrosse Ge¬
schwulstentwicklung, nachdem in den ersten 3 Wochen nichts
Absonderliches an den Implantationsstellen zu bemerken wai.
Man hat fernerhin eingeworfen, dass das ungeschädigte
Endothel der serösen Häute ebenso wie das Epithel der
äusseren Haut ein Hindernis bieten für die Ansiedlung von Zellen.
Wenn Sie die hier ausgelegten Bilder betrachten, welche aus¬
gebreitete Sarkomatosen des Peritoneums und der Pleura dar¬
stellen, welche experimentell durch das Einbringen wenigei
Tumorzellen in den freien Raum der Bauchhöhle bezw. der
Brusthöhle bei ganz gesunden Tieren erzeugt wurden, so wer¬
den Sie dieses theoretische Bedenken, welches gegen die Be¬
obachtungen so hervorragender Forscher, wie Gerhard,
Olshausen und Winter, erhoben wurde, nicht aner-
Qegen die Möglichkeit einer Implantationsentstehung hat
man endlich in gewissen Fällen den langen Zeitraum zwischen
Operation und Rezidiv angeführt. Aber auch versprengte
Keimreste sollen jahrzehntelang im Körper ruhen können, bevor
sie zu neuem Leben erwachen und die Experimentalforschung
hat gezeigt, dass die Vita latens der implantierten Zellen eine
sehr lange sein kann, Wochen und Monate 3).
Nun hat man die postoperativen Narbenkarzinome anders
zu deuten versucht! Man hat gesagt, da bei Mammakarzinom
auch spontane Hautmetastasen nicht selten sind, bei Uterus¬
karzinomen spontane Metastasen in der Vagina und den Labien
3) Ehrlich: Arbeiten aus dem Kgl. Institut für exp. Therapie
zu Frankfurt a. M., 1. Heft 1906, S. 93.
No. 39
häufig Vorkommen, könnte eine latente Metastase einmal zu¬
fällig bei der Operation von einem Stich getroffen und dadurch
im Wachstum befördert worden sein.
Von anderer Seite hatte man Fadeneiterungen für die Ent¬
stehung von Karzinomen in Stichkanälen verantwoi tlich ge¬
macht. Karzinomzellen, die sich im benachbarten Gewebe be¬
fanden, sollen nach dem eiternden Stichkana! gleichzeitig mit
den Lymphzellen angelockt worden sein. M i 1 1 n e i nannte
dies „Entstehung von Karzinomen durch Lymphotaxe . Abei
eiternde Wunden sind schlechte Orte für neu anzusiedelnde
Zellen. In den zahlreichen erfolgreichen Uebertragungen habe
ich nie eine solche Lymphotaxe beobachtet. Stets entwickelte
sich der Implantationstumor an derjenigen Stelle der Unterhaut,
an welcher die Tumormasse abgelagert wurde. An der Ein¬
stichstelle selbst, welche meist 5 — 10 cm von dieser Ablage¬
rungsstelle entfernt war und sehr häufig, anstatt per primam
zu heilen, einige Tage eiterte, habe ich nie eine Geschwulst¬
entstehung bemerkt.
Welchen Beweis haben wir für die Entstehung wahrer
Implantationstumoren?
Die heute hundertfältig experimentell ermittelte Tatsache,
dass eine Einpflanzung und Ueberpflanzung von Tumorzellen
nicht allzu schwer in gewissen Fällen vorgenommen werden
kann.
Wie ist aber der Widerspruch zu lösen, dass bei der rela¬
tiven Leichtigkeit des Experimentes eine spontane oder post¬
operative Implantationsentstehung von 1 umoren so selten ist,
wie übereinstimmend V i rc h o w und v. Bergmann an¬
nehmen?
Ich muss hier auf einige durch meine Experimente ermittelte
Tatsachen Ihre Aufmerksamkeit lenken, um eine die Seltenheit
der Implantationsgeschwülste befriedigende Erklärung geben
zu können. Sie werden nicht ohne praktischen Nutzen sein.
Das Experiment4) hat uns folgendes kennen gelehrt:
1. Implantiert man in ein Organ — ich habe zu meinen
Versuchen fast jedes Organ des Körpers gewählt — eine Anzahl
von Tumorzellen, so kommt es meist zur Ausbildung eines
einzigen, eines solitären Knotens. Dieser wächst nur durch Pro¬
pagation. Metastasen in den benachbarten Lymphdrüsen odei
gar in entfernteren Organen bleiben in der ersten Zeit voll¬
ständig aus. War die Implantation von Anfang an eine dop¬
pelte, sei es in dasselbe Organ oder in zwei verschiedene Or¬
gane, so entsteht an jedem Orte der Implantation ein solitärei
Knoten. . .
2. Versucht man, nachdem sich ein Implantationstumor
entwickelt hat, eine zweite, oder dritte, oder vierte Implan¬
tation, so gelingt dieselbe niemals. Mit anderen Worten, eine
simultane multilokuläre Implantation ist möglich, eine multi-
temporäre Implantation bleibt ohne Erfolg.
3. Wird ein Implantationstumor exstirpiert, so gelingt
an jeder Körperstelle eine Implantation, dieselbe mag
einfach oder multipel, am selben Tage oder später vor¬
genommen werden; dieselbe ist auch dann erfolgreich, wenn
an der ersten Implantationsstelle absichtlich odei unabsichtlich
von neuem implantierte Geschwulstzellen ein Rezidiv entstehen
lasSen
4. Wird ein Implantationstumor nur teilweise exstirpiert
und wächst das zurückgelassene Tumorstück unbehelligt
weiter, so bleibt jede nachfolgende Implantation ohne Erfolg.
Halten Sie mit diesen experimentellen Tatsachen die em¬
pirischen Beobachtungen bei spontan entstandenem Krebs zu¬
sammen, so werden Sie fast eine vollkommene Uebereinstim-
mung finden.
Empirische Beobachtung ist, dass ein maligner Tumor
lange Zeit solitär bleibt und dass erst in einem späteren Stadium
Tochtergeschwülste auftreten. Man sagt, Blut und Lymphe be¬
sitzen eine Zeitlang Eigenschaften, durch welche etwaige durch
sie hineingelangende Tumorzellen — und daran ist nicht zu
zweifeln — vernichtet werden.
Ich stelle mir nun den Körper als ein in zwei
Zonen geteiltes Gebiet vor, von denen die eine Zone,
in welcher der Tumor sitzt, mit Angriffsstoffen erfüllt
4) Sticker: Zeitschr. f. Krebsforsch., I. Bd. 1903, und IV. Bd.
1906.
2
MUKNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
ist, welche einer allmählichen Ausbreitung des Tumors
die Wege ebnen, von denen die andere Zone das übrige Körper¬
gebiet umfasst und mit Abwehrstoffen erfüllt ist. So
lange dieser Zustand vorhanden ist, eine ausgebildete Ge¬
schwulstzone und eine als Gegenwirkung sich darstellende
Immunzone, so lange kann der Tumor zwar in seinem Gebiete
weiter wachsen, auch sein Gebiet vergrössern, aber eine zweite
Tumorentstehung in entfernten Organen ist weder auf dem ge¬
wöhnlichen Lymph- oder Blutwege, noch auf dem Wege der
Implantation möglich.
Nehmen Sie diese theoretische Vorstellung an, so erklärt
sich ebensowohl die empirische Tatsache, dass meist nur ein
einziger Primärtumor beobachtet wird, und multiple zu den
Seltenheiten gerechnet werden, als auch die experimentelle Tat¬
sache, dass eine mehrfache Implantation nur im Anfang vor
Ausbildung dieser Zone gelingt und erst wieder möglich wird,
wenn die Spannung, um mich so auszudrücken, gehoben, was
durch totale operative Entfernung des Tumors geschieht.
Dass es nur eine Spannung, ein labiler Zustand ist, welcher
mit Fortschaffung des Reizes sofort gehoben, lehren weiter die
Experimente. Denn würden die Antistoffe nach Fortnahme des
Tumors nicht bald aus dem Körper schwinden, so müssten sie
ja gerade, nachdem sie zur Bekämpfung des Tumors nicht mehr
von Nöten, sich gegen die wenigen neu implantierten Zellen
richten können.
Noch auf eines möchte ich aufmerksam machen, dass alle
diese Betrachtungen sich nur auf die erste Phase der Ge¬
schwulstbildung beziehen, welche bis zu dem Augenblicke
reicht, wo der Körper seine Produktion von Schutzstoffen ein¬
stellt und nunmehr sintflutartig eine Ueberschwemmung des¬
selben mit unversehrten Tumorzellen beginnt, die allgemeine
Metastasenbildung.
Ich verlasse diese mehr abstrakten Erörterungen, welche
ich glaubte einschieben zu müssen. Sie sind nicht das Ergebnis
einer müssigen Gedankenspekulation, welche nachträglich des
Beweises bedürften, eine sogen. Hypothese von heuristischem
Werte, welche sich noch zu bewähren hat, sondern sie sind die
Frucht mühsamer experimenteller Forschung, welche voraus¬
setzungslos angestellt wurde, mit deren einfacher, des geisti¬
gen Zusammenhanges entbehrender Wiedergabe ich es für Un¬
recht gehalten hätte, vor Sie hinzutreten.
Nun zu dem praktischen Wert der Betrachtungen und der
Experimente.
Winter hat 1893 durch eine grosse Arbeit die Aufmerk¬
samkeit besonders der Gynäkologen auf die Impfkarzinome
(Implantationskarzinome) gelenkt, hauptsächlich in dem Be¬
streben, eine Vorbereitung des Karzinoms vor der Operation
zu empfehlen und die Dauerresultate zu verbessern.
Winter schlug vor: 1. Reibung und Pressung des Kar¬
zinoms vor der Operation nach Möglichkeit zu vermeiden;
2. bei der Operation das Karzinom schonend zu behandeln;
3. ulzerierte Karzinome zu kauterisieren oder abzuschliessen ;
4. wenn Karzinomzellen mit der Wunde in Berührung ge¬
kommen sind, die Wunde als infiziert zu betrachten und, wenn
angängig, zeitweise zu tamponieren und jedenfalls sorgfältig
auszutupfen.
Nach dem, was ich heute vor Ihnen ausführen konnte, be¬
halten die W i n t e r sehen Vorschläge ihre volle Berechtigung
und zwar — so paradox es klingt — bei Radikaloperationen
noch mehr, als bei nicht radikalen Operationen. Es werden
beispielsweise bei abdomineller Radikaloperation eines Gebär¬
mutterkrebses in der Bauchhöhle verlorene Tumorzellen An¬
lass zur multiplen Karzinose und schnell tödlichem Ausgang
geben können, während bei nichtradikaler Operation bei Zu¬
rücklassung einiger metastatisch erkrankter Lymphdriisen, in
der Bauchhöhle verlorene Tumorzellen nicht zur Entwicklung
kommen werden und somit der Zeitpunkt der allgemeinen
Metastasierung hinausgeschoben werden kann.
Was die Seltenheit der von Primärkarzinomen spontan
ausgehenden Implantationstumoren betrifft — nur wenige
wissenschaftlich streng verbürgte Fälle werden in der Literatur
mitgeteilt 6) — so kam auf Grund der Ihnen mitgeteilten ex-
5) Vgl. auch meine Arbeit im Archiv f. klin. Chir., 78. Bd., 4. Heft:
Infektiöse und krebsige Geschwülste an den äusseren Geschlechts¬
organen des Hundes.
perimentellen Ergebnisse eine Erklärung dieser Tatsache ver¬
sucht werden. Ihnen allen ist ein Fall bekannt, welchen Exz.
v. Bergmann im Jahre 1887 in der medizinischen Gesell¬
schaft zu Berlin vorstellte. Es handelte sich um einen Kranken
mit Karzinom der Unter- und Oberlippe, genau an der Stelle,
wo sich die Lippen in der Mitte treffen. Das eine Karzinom,
das von der Unterlippe, war nach den Angaben des 66 jährigen
Mannes mehr als 3 Monate alt, das andere dagegen erst
5 Wochen. Vor 3 Monaten hatte er in der Mitte der Unterlippe
ein hirsekorngrosses Knötchen bemerkt und als dies ulzerierte,
ungefähr nach 6 — 7 Wochen, ein ebensolches Knötchen in der
Mitte der Oberlippe. Beide entwickelten sich zu etwa hasel¬
nussgrossem Karzinomknoten. Da an der Oberlippe das Kar¬
zinom sehr selten ist, sprach Exz. v. Bergmann sich dahin
aus, dass hier der Verdacht der Kontaktübertragung nahe liege.
Auch ich halte diese Entstehungsart des Oberlippen¬
karzinoms für die wahrscheinlichste; das hirsekorngrosse
Knötchen der Unterlippe war infolge der Ulzeration auf ein
solches Kleingebiet von Zellen herabgegangen,, dass die Toxin-
bildung und dementsprechend auch die Antitoxinbildung nur
eine minimale war und dass sich nunmehr durch Ulzeration los¬
gelöste Krebszellen in eine kleine Epithelverletzung der Ober¬
lippe implantieren und fortentwickeln konnten — analog den
experimentellen Fällen, in welchen Solitärtumoren exstirpiert
wurden und Rezidive an der ursprünglichen Stelle sowie Im¬
plantationstumoren an entfernter Stelle zur Entwicklung ge¬
langten.
Diese Erklärung trifft auch in manchen Fällen von sogen,
multiplen Primärtumoren zu; wo nicht eine simultane Ent¬
stehung dieser Tumoren vorliegt, da müssen von einem soli¬
tären Knoten zu irgend einer Zeit, nachdem derselbe durch
spontane Ulzeration oder kurative Beeinflussung bis auf kleine
Reste zurückgegangen, Tumorzellen nach aussen gelangt sein
und Gelegenheit zur Implantation gefunden haben.
Auch in manchen Fällen von sogen. Narbenrezidiven wird
eine derartige Tumorzellenimplantation stattgefunden haben. .
Vermag so die Experimentalforschung Licht in die dunkle
Frage der Aetiologie und Pathogenese der bösartigen Ge¬
schwülste zu bringen, so wird es ihr hoffentlich auch mit der
Zeit gelingen, einen Fortschritt in der Behandlung derselben
anzubahnen. Denn wenn auch die chirurgische Behandlung
in zahlreichen Fällen Heilung und Linderung gebracht, so gilt
doch heute noch für eine grosse Zahl von Geschwulstfällen
das Wort des römischen Arztes Celsus:
Die einen brennen sie, die anderen trennen
sie mit der Skalpell; aber keine dieser Kuren
nützt etwas, versengt und verbrennt wächst
die Geschwulst wieder, bis sie ihren Träger
tötet, u n dausgeschnitten, kehrt sie nach voll¬
en deterVer narb ung todbringend in der Narbe
wieder.
Transplantation menschlicher Ovarien.5)
Von Dr. H. Gramer, Frauenarzt in Bonn a. Rh.
Die ersten Versuche einer Ueberpflanzung der weiblichen
Keimdrüse beim Tier hat vor 10 Jahren Knauer angestellt.
Er ging in der Weise vor, dass er die Ovarien exstirpierte
und bei demselben Tier an einer anderen Stelle der Bauch¬
höhle einnähte. Bei späterer Untersuchung fand sich, dass
die Ovarien eingeheilt waren, Follikel und Eier bildeten, ja dass
sogar aus dem transplantierten Eierstock eine Schwangerschaft
mit normalem Ende erzielt werden konnte. Sehr bald wurden
diese Untersuchungen durch G r i g o r i e f f einer Nachprüfung
unterzogen und in allen Punkten bestätigt. Eine bedeutende
Erweiterung der Kenntnisse über diesen Gegenstand ver¬
danken wir dann einer Arbeit von R i b b e r t. Er fand bei der
homoplastischen I ransplantation beim Meerschweinchen, dass
die wesentlichsten Bestandteile der Keimdrüse, das Keim¬
epithel, die Tunica albuginea und die oberste Rindenschicht
mit den Primordialfollikeln 30 Tage nach der Operation wohl
erhalten waren und sich sogar in Proliferation befanden. Die
zentralen Teile des Stroma mit den Follikeln gingen zugrunde.
*) Vortrag, gehalten in der Sitzung der Niederrheinischen Ge¬
sellschaft für Natur- und Heilkunde in Bonn am 18. VI. 1906.
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1907
Vom Peritoneum wächst neues Bindegewebe an die Stelle des
untergegangenen Stromas, einige Stromazellen können auch
erhalten bleiben. Die Primordialfollikel vergrössern sich,
kommen zur Reife und verdrängen lebhaft das regenerierte
Stroma. Noch nach 150 Tagen zeigen diese Ovarien keine
Atrophie, sondern normale Eientwicklung, wenn auch die Zahl
der Follikel abgenommen hatte. Knauer kam bei der Zu¬
sammenfassung seiner Versuche zu demselben Ergebnis. Von
dem angeheilten Organ ging jedesmal ein zentraler Teil zu¬
grunde, während es gelang, die Rindenschicht in normaler
Funktion zu erhalten. Wesentlich schlechter waren die Resul¬
tate bei heteroplastischer Transplantation (Ueberpflanzung von
einem Tier auf ein anderes). Bei 13 Versuchen gingen 11 mal
die Ovarien zugrunde und nur in 2 Fällen blieben sie teilweise
erhalten. Ueber ähidiche Tierexperimente haben dann noch
Marchese und Lukaschewitsch berichtet. Letzterer
versuchte sogar die Ueberpflanzung von Karnivoren auf Herbi-
voren, fand aber baldige Atrophie. Herlitzka, der hetero-
plastische Transplantationen von Meerschweinchenovarien
ausführte, kam zu dem Schluss, dass nur höchst ausnahms¬
weise die Ueberpflanzung mit Erhaltung der wesentlichen Be¬
standteile des Ovariums gelingt. Höchst interessante Beob¬
achtungen machte F o ä bei der Verpflanzung von Kaninchen¬
ovarien. Er fand, dass die Ovarien neugeborener Kaninchen
ausgezeichnet einheilen und funktionieren, während er mit den
Ovarien ausgewachsener Kaninchen schlechte Resultate hatte.
Dabei zeigte sich, dass die Eierstöcke der neugeborenen Tiere,
auf das Ausgewachsene verpflanzt, sehr bald alle Charaktere
des ausgewachsenen Eierstocks annahmen, während sie auf
junge Tiere verpflanzt den jugendlichen Habitus behielten. Da¬
gegen gingen sie auf Tieren in der Menopause sehr rasch zu¬
grunde und waren schon nach 15 Tagen resorbiert. In einer
Arbeit aus dem pathologischen Institut zu Königsberg konnte
Schultz die Resultate von Knauer und R i b b e r t im
wesentlichen bestätigen. Er gibt der Ueberzeugung Ausdruck,
dass eine Rassenkreuzung durch Ovarientransplantation mög¬
lich sei.
Inzwischen war durch die Knauer sehen Versuche auch
die Transplantation menschlicher Ovarien angeregt worden.
Unter den ersten berichtet Frank darüber, dass er nach Re¬
sektion der Adnexe ein Stück gesunder Ovarialsubstanz in den
Tubenstumpf reimplantierte. In zwei Fällen sah er Schwanger¬
schaft eintreten. Auch ich habe gelegentlich, um Ovarial-
gewebe zu erhalten, diese Reimplantation ausgeftihit. Aehn-
liche Fälle veröffentlichte Morris. Er ging noch weiter und
versuchte die Transplantation von einer Frau auf die andere.
Das zu verwendende Stück Eierstock wurde sofort nach dem
Ausschneiden in physiologische Kochsalzlösung von Körper¬
wärme gelegt und in dieser Temperatur bis zur Verwendung
gleichmässig erhalten. Anfangs nähte M o r r i s den Eier¬
stock durch einen Einschnitt in den Uterus ein, sodass die Eier¬
stockoberfläche in die Gebärmutterhöhle hineinsah. Spätei
nähte er den Eierstock in einen Schlitz im breiten Mutterband.
Indessen erhielt er keine eindeutigen Resultate. Sofort oder
nach kurz dauernder Funktion trat Atrophie ein. Auch ein Fall
von Glass, der bei einer Kastrata ein gesundes Ovarium
unter die Scheidenschleimhaut implantierte, ist nicht beweisend
genug beobachtet.
Jedenfalls waren nach diesen Mitteilungen die Erfolge der
heteroplastischen Ovarientransplantation beim Menschen nicht
ermutigend. Jedoch konnte eine Verbesserung der Technik
der Operation vielleicht bessere Resultate zeitigen. Eine
solche Verbesserung war nach den bisherigen Berichten in
zwei Richtungen möglich. Erstens war es klar, dass die Vita¬
lität des Ovarialgewebes sehr erheblich leiden, ja vielleicht
vernichtet werden musste, wenn das zu verwendende Stück
von einer Operation zur anderen in physiologischer Kochsalz¬
lösung aufbewahrt wurde. Gleichzeitige Operation beider
Frauen war daher das erste Erfordernis. Zweitens hatten uns
die Beobachtungen von R i b b e r t und Knauer gezeigt, dass
nach der Transplantation ein zentraler Teil (das Stroma) stets
zugrunde geht, weil dieser Teil von der Ernährung am längsten
abgeschnitten bleibt. In einer mündlichen Unterhaltung wies
mich Herr Professor R i b b e r t deshalb darauf hin, wie wich¬
tig für das Einheiten der funktionierenden Rindenschicht es ist,
das Stroma gewissermassen auszukernen und die Rinden¬
schicht flächenhaft auf das Peritoneum auszubreiten.
Ich habe zwei Frauen in dieser Weise heteroplastisch
operiert. Die Ovarien, welche ich verwendete, stammten in
beiden Fällen von Osteomalazischen, die zum Zweck der Flei-
lung ihrer Osteomalazie kastriert werden sollten. Diese Hand¬
lungsweise bedarf einer kurzen Rechtfertigung.
Seitdem Fehling die Hypothese aufgestellt hatte, dass
die Osteomalazie eine Trophoneurose des Knochensystems
sei, die durch eine pathologisch gesteigerte I ätigkeit der Ova¬
rien hervorgebracht würde, war vielfach die Anschauung ver¬
treten, dass bei der Osteomalazie das Ovarium selbst krank
sei. Zahlreiche genaue mikroskopische Untersuchungen (R o s-
s i e r, H e y s e, F e r r o n i, B u 1 i u s, Scharfe u. a.) haben
übereinstimmend gezeigt, dass das Ovarium bei Osteomalazie
in seiner histologischen Beschaffenheit keine Besonderheiten
gegenüber dem normalen besitzt. Ich möchte hier nicht auf
diejenige Erklärung der Osteomalazie eingehen, welche den
Zusammenhang dieser Knochenerkrankung mit dem Ovarium
verständlich macht, ohne dass das Ovarium selbst erkrankt
zu sein oder krankhaft zu funktionieren braucht. Nach den
vorliegenden Untersuchungen und nach meinen eigenen An¬
schauungen über die Osteomalazie hielt ich mich für berechtigt,
die Ovarien Osteomalazischer zu derartigen Versuchen zu
verwenden. In beiden Fällen wurden beide Ovarien hetero¬
plastisch transplantiert.
I. Frau M., 23 Jahre alt. Seit Dezember 1903 verheiratet, mit
16 Jahren zuerst menstruiert, seitdem regelmässig mit kräftiger Blu¬
tung 4 — 5 Tage lang alle 4 Wochen. Erster Partus März 1904, For¬
zeps, Kind intra partum tot. Nachher keine Menstruation, im August
1904 eine 4 Tage dauernde Blutung, seitdem Amenorrhoe, auffallende
Zunahme des Fettpolsters, Klagen über Wallungen und fliegende Hitze
nach dem Kopf. Am 15. XI. 05 finde ich normale äussere Genitalien,
Vagina normal lang, Uterus in beweglicher Anteflexio, sehr klein und
hart, Ovarien beiderseits nicht tastbar. Sondierung des Cavum uteri
ergibt 4f4 cm Länge. Trotz heisser Sitzbäder, heisser Irrigationen,
Skarifikationen der Portio etc. ändert sich der Befund nicht. Pat.
wünscht sich dringend ein Kind. Die klinische Diagnose musste in
diesem Falle Uterusatrophie infolge Ovarialatrophie lauten. Die
Prognose für Wiederherstellung einer normalen Funktion des Ge¬
schlechtsapparates ist in solchem Falle schlecht, eine Behandlung
aussichtslos. Ich schlug daher der Pat. als einziges Mittel, von dem
ein Erfolg zu hoffen sei, die Ovarienimplantation vor. Am 12. II. 06
stellte ich am Uterus wiederum 4 ¥2 cm Sondenlänge fest. Am 13. II. 06
wurde die Operation vorgenommen. Die Krankengeschichte der
Osteomalazischen hat hier kein Interesse.
In Aethernarkose wird beiden Frauen gleichzeitig, wobei mir
Kollege Wenzel freundlichst Hilfe leistete, das Abdomen in der
Medianlinie eröffnet. Das intraabdominelle Bild bei Frau M. bestätigte
die Diagnose. Zu beiden Seiten des kleinen Uteruskörpers liegen die
spindelförmigen Ovarien, 2 bis 2V2 cm lang, in der Mitte ca. 1 cm
dick, mit glatter Oberfläche, auf der Spuren einer Ovulation nicht sicht¬
bar waren. Die Ovarien der Osteomalazischen erwiesen sich makro¬
skopisch als gesund. Nunmehr wurde bei letzterer der Stiel des
rechten Ovariums abgeklemmt, das Organ mit einem Scherenschlag
abgeschnitten, der Stumpf von einem Assistenten versorgt. Sofort
wurde nun das Ovarium von der Wurzel aus durch einen Längs¬
schnitt aufgespalten und auseinandergeklappt, dann das Stroma durch
scheibenförmige Schnitte soweit abgetragen, dass die Rindenschicht
in genügender Breite stehen blieb. Hierauf wurde das linke Ovarium
der anderen Patientin von der Oberfläche her bis an die Wurzel längs¬
gespalten auseinandergeklappt und nun das zu transplantierende
Organ so aufgenäht, dass Stroma auf Stroma zu liegen kam, während
ringsum die Wundränder des Keimepithels sich berührten. Durch eine
durchgreifende, beide Ovarien fassende Ligatur wurde einer Häma¬
tombildung zwischen den beiden Wundflächen vorgebeugt. Dann
wurde das linke Ovarium der Osteomalazischen ebenfalls abgetragen
und in derselben Weise gespalten, das Stroma teilweise ausge¬
schnitten, die etwas zerfetzten Wundränder mit der Schere geglättet;
darauf wurde an der rechten Hinterfläche des Uterus unterhalb des
Tubenansatzes die Serosa gespalten, auf einet der Grösse des zu
transplantierenden ausgebreiteten Ovariums entsprechenden Fläche
abgetragen und nun das Ovarium auf diese von Serosa entblösste
Fläche aufgenäht. Schluss der Bauchwunde.
Die Heilung verlief bei beiden Patientinnen ungestört. Am
27. II. 06, also 14 Tage nach der Operation zeigte sich bei der
ametiorrhoischen Patientin eine vaginale, dem Uterus entstammende
Blutung, die in mässiger Stärke ohne Schmerzen 3 Tage andauerte.
Am 3. März wird Patientin mit primär geheilter Bauchwunde ent¬
lassen. In den letzten Tagen des März bemerkt sie ein Stärker¬
werden beider Brüste, die Warzen treten zeitweise hervor, es ent¬
leeren sich wie im Wochenbett Milchtropfen aus der Brust. Am
2*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
1908
3. April stellt sich Frau M. wieder in der Sprechstunde vor. Sie
ist seit dem 2. ds. Mts. ohne Schmerzen mit kräftiger Blutung men¬
struiert. Bei Besichtigung der Brust zeigt sich beiderseits deutliche
Erektion der Brustwarzen, auf Druck entleeren sich grosse Tropfen
Kolostrum. Die Menstruation dauert bis zum 7. April. Am 13. April
also 8 Wochen nach der Operation finde ich bei Sondierung das
Uteruskavum 7 cm lang. Bei innerer Untersuchung ist der Uterus
gegenüber dem früheren Tastbefund entsprechend vergrössert, normal
gelagert, frei beweglich. Das linke Ovarium ist stark vergrössert
aber nicht besonders druckempfindlich an entsprechender Stelle tast¬
bar. Die rechtsseitige Implantation ist in einer der rechten Hinter¬
wand des Uterus aufsitzenden Verdickung deutlich fühlbar. Pat.
fühlt sich subjektiv wohl. Die Wallungen und das Hitzegefühlt sind
verschwunden.
Am 17. Juni sehe ich die Patientin wieder, die Menses sind
im Mai ausgeblieben. Pat. hat in dieser Zeit vormittags sehr viel
an Uebelkeit gelitten, die sich manchmal bis zum Erbrechen steigerte.
Dabei wurden die Brüste stärker, so dass Pat. selbst annahm, sie sei
gravida. Am 4. Juni nachmittags stellte sich nach einem längeren
Weg mit einem schweren Korb unter heftigen Rückenschmerzen und
Ziehen im Leib eine sehr starke, dunkle Blutung ein, die bis zum
11. Juni dauerte. Das Blut ging in dieser Zeit häufig in Stücken ab.
Bei der Untersuchung am 17. Juni finde ich den Uterus normal ge¬
lagert, 7 cm Sondenlänge. Das linke Ovarium wie früher vergrössert,
den Buckel auf der rechten Hinterwand des Uterus abgeflacht, aber
noch deutlich tastbar. Nach meiner Ansicht hat Pat. abortiert. Die
Brüste entleeren reichlich Kolostrum.
Bald nach dieser ersten Operation hatte ich wiederum Ge¬
legenheit, eine osteomalazische Frau zu kastrieren. Ich be¬
nutzte dieselbe zu einer zweiten heteroplastischen Ovarien¬
transplantation.
Es handelte sich um eine Patientin, E. K., 36 Jahre alt, welcher
vor 4 Jahren von einem anderen Gynäkologen wegen heftiger dys-
menorrhoischer Beschwerden das gesamte innere Genitale durch La¬
parotomie entfernt worden war. Im Anschluss an diese Operation
traten Fadeneiterungen ein. Es entstanden kleine Bruchpforten in der
Narbe und Schmerzen am Operationsstumpf. Ausserdem stellten
sich hochgradige „Ausfallserscheinungen“ ein, Schwindelgefühl, flie¬
gende Hitze, Schlaflosigkeit, Nervosität etc. Zwei Jahre später ent¬
fernte ich durch Relaparotomie ein vom linken Adnexstumpf aus¬
gehendes, Seidenligatur enthaltendes Exsudat und vernähte die Bruch¬
pforte. Die Heilung erfolgte primär, indessen blieben die Ausfalls¬
erscheinungen bestehen. Der mehrwöchentliche Gebrauch von Ova-
rialtabletten hatte keinen Erfolg, die Anfälle von Schwindel und flie¬
gender Hitze wiederholten sich täglich 30 bis 40 mal, so dass Pat.
sich in einem höchst bedauernswertem Zustande befand und völlig
leistungsunfähig war. Es erschien mir in diesem Falle gerecht¬
fertigt, eine Besserung durch heteroplastische Ovarientransplantation
zu versuchen.
Am 2. April wurden beide Patientinnen gleichzeitig laparotomiert,
die Ovarien der Osteomalazischen abgeschnitten, in der oben beschrie¬
benen Weise gespalten, das Stroma schichtweise entfernt, die Wund¬
ränder des auseinandergeklappten Organs mit der Schere geglättet
und das eine Ovarium auf die Peritonealfläche der vorderen Bauch¬
wand rechts und unterhalb von dem Medianschnitt, das andere auf
die Hinterfläche des rechten Ligamentum latum aufgenäht. Vor der
Aufnähung wurde die oberflächlichste Schicht der Serosa mit dem
Messer abgekratzt, so dass eine dem zu transplantierenden Ovarium
entsprechende lädierte Fläche geschaffen wurde. Schluss der Bauch¬
wunde.
Die Rekonvaleszenz vierlief bei beiden Kranken normal. In
den ersten 8 Tagen gab die Pat. E- K. an, dass die fliegende Hitze
nur alle 2 — 3 Stunden eintrat. Am 18. April wurde sie geheilt ent¬
lassen. Am 23. Mai fand ich bei der Untersuchung in der Sprech¬
stunde die transplantierten Ovarien an ihrer Stelle. Pat. klagt über
leichte ziehende Schmerzen in der rechten Bauchseite. Die
Ausfallserscheinungen bestehen in früherer Stärke. Am 12. Juni sehe
ich die Kranke wieder. Bei innerer Untersuchung, die bei den
dünnen, weichen Bauchdecken sehr leicht und genau durchführbar ist,
finde ich von den transplantierten Ovarien zu meiner Ueberraschung
nichts mehr. Eine etwa bohnengrosse, unter der vorderen Bauch¬
wand liegende Resistenz könnte dem Rest des einen Ovariums ent¬
sprechen. Am rechten Ligamentum latum ist überhaupt nichts zu
entdecken. In diesem Falle waren also 10 Wochen nach der Opera¬
tion die transplantierten Ovarien resorbiert worden.
Uni den Erfolg resp. Misserfolg der Operation zu ver¬
stehen, ist es zunächst notwendig, auf ihre Technik einzugehen.
Ich habe bei den vorliegenden Fällen drei Wege der Trans¬
plantation eingeschlagen. Das erste Mal setzte ich das ge¬
spaltene Ovarium auf das ebenfalls gespaltene atrophische der
Patientin in der Weise auf, dass Stroma auf Stroma zu liegen
kam. Die Anregung zu dieser Methode gab mir eine Unter¬
haltung mit Herrn Professor W i t z e 1. Wir wissen von den
schon häufig ausgeführten Transplantationen der Schilddrüse,
dass dieselbe sehr gut anheilt, wenn man sie an die dem nor¬
malen Sitz entsprechende Stelle am Halse, eventuell an einen
Schilddrüsenstumpf transplantiert. Es war deshalb nahe¬
liegend, bei der Ovarientransplantation ähnlich vorzugehen.
Ich glaube, dass in der Tat auf diese Weise die Ernährung und
Anheilung des überpflanzten Ovariums am besten garantiert
ist. Das andere Ovarium nähte ich auf die Hinterwand des
Uterus am Ansatz des Ligamentum latum auf eine von Serosa
entblösste Fläche. Auch diese Art der Einpflanzung scheint
mir die Ernährung besser zu ermöglichen, als die Methode, die
ich bei der zweiten Patientin anwendete. Die rapide Resorp¬
tion der Ovarien beweist hier, dass die blosse Lädierung der
Serosa nicht genügt, um eine Ernährung von der Unterlage
her zustande kommen zu lassen.
Der klinische Erfolg bei der ersten Patientin war und ist
bis heute noch ein vollständiger (4.U Monate nach der Ope¬
ration). Wir müssen uns fragen, ob dieser Erfolg tatsächlich
durch eine Funktion der transplantierten Ovarien bedingt ist.
Was die erste, 14 Tage nach der Operation eintretendc
Blutung betrifft, so konnte dieselbe allein durch den bei der
Operation gesetzten Reizzustand des inneren Genitale bedingt
sein. Jeder Gynäkologe kennt diese Blutungen bei Adnex¬
erkrankungen und Adnexoperationen. Es sei hier auch an die
interessanten Versuche Strass man ns erinnert, der durch
künstliche Drucksteigerung im Ovarium (Injektion von Koch¬
salz oder Gelatine) Veränderungen der Uterusschleimhaut und
Hyperämie der Vaginalschleimhaut mit gesteigerter Sekretion
hervorrufen konnte, Vorgänge, die denen bei der Menstruation
resp. Brunst ähnlich sind.
Ein direkter Beweis für die Funktion des Ovariums ist je¬
doch die 5 Wochen nach der Operation beobachtete Schwel¬
lung der Brüste, die Absonderung von Kolostrum, die Wieder¬
kehr der Menstruation und vor allem die genau beobachtete
Vergrösserung des Uterus. H a I b a n hat an Pavianen den
Nachweis geführt, dass die Menstruation nur dann auftritt,
wenn die Follikelbildung im Ovarium bestehen bleibt. Haben
sich nun die Follikel in dem atrophischen oder in dem trans¬
plantierten Ovarium gebildet? Es ist unwahrscheinlich, dass
die atrophischen Ovarien, die eine so hochgradige Atrophie
des Uterus bewirkten, durch die Operation zur Follikelbildung
angeregt worden seien. Ungezwungener ist es, anzunehmen,
dass die Eibildung tatsächlich in den transplantierten Organen
sich abspielte. Immerhin ist ein Teil des Erfolges, z. B. die
schnelle Regeneration des Uterus, vielleicht auch noch einem
anderen Umstand zuzuschreiben: Wenn die Funktion der
atrophischen Ovarien (innere Sekretion) auch nicht mehr ge¬
nügte, um die sekundären Geschlechtscharaktere vor Atrophie
zu bewahren, so hat vielleicht doch noch eine rudimentäre
Funktion bestanden, die sich zu derjenigen der transplantierten
Ovarien derartig summiert hat, dass wieder ein kräftiger Reiz
für die Wiederherstellung der geschlechtlichen Funktionen vor¬
handen war. Diese Ueberlegung war für mich die Veran¬
lassung, die atrophischen Ovarien nicht zu entfernen. Es wird
wichtig sein, das weitere Geschick der Patientin zu verfolgen.
Literatur:
Knauer: Einige Versuche über Ovarientransplantation bei Ka¬
ninchen. Zentralbl. f. Gyn. 1896. Zur Ovarienti ansplantation. Zen-
tralbl. f. Gyn. 1898, S. 201. Die Ovarientransplantation. Archiv f.
Gyn., Bd. 60 Heft 2. — Grigorieff: Die Schwangerschaft nach
I ransplantation der Eierstöcke. Zentralbl. f. Gyn. 1897. — R i b b e r t:
Ueber 1 ransplantation von Ovarium, Hoden und Mamma. Archiv f.
Entwicklungsmechanik der Organismen 1898. — Marchese: Ueber
die Transplantation der Ovarien. Arch. ital. di gin. 1898 (Zentr. f.
G>n. 1899, S. 951). — Lukaschewitsch: Ueber die Trans¬
plantation der Ovarien. Einige Tierversuche. Wratsch 1901, No 29
(ref. Zentralbl. f. Gyn. 1902, S. 270). — Herlitzka: Einiges über
Ovarientransplantation. Biologisches Zentralbl. 20. — F o ä: Archives
itahennes de biologie. Tome 34, zitiert bei Schultz. — Schultz:
Ueber Ovarienverpflanzung. Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. 1902, S. 989.
— Frank: Ueber Transplantation der Ovarien. Zentralbl. f. Gyn.
1898, S. 444. — Morris: Ueber Implantation von Ovarien. Ref.
Zentralbl. f. Gyn. 1902, S. 221 und Zentralbl. f. Gyn. 1904, S. 1221 —
Glass: Ref. Zentralbl. f. Gyn. 1900, S. 281. — Rossier: Anato¬
mische Untersuchung von Ovarien bei Osteomalazie. Arch. f. Gyn.
Bd. 52. — Heyse: Ein Beitrag zur mikroskopischen Anatomie der
Ovarien Osteomalazischer. Inaug.-Dissert. Halle 1897. — F e r r o n i:
Beitrag zur Struktur der osteomalaz. Ovarien. Ref. Zentralbl. f. Gyn.
1898, S. 851. — Bulius: Osteomalazie und Eierstock. Beitr. zur
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Geb. u. Gyn. Bd. I, Heft 1. — Scharfe: Osteomalazische Ovarien.
Beitr. zur Geb. u. Gyn. Bd. III, Heft 3. — Strassmann: Beiträge
zur Lehre von der Ovulation, Menstruation und Kastration. Archiv
f. Gyn. Bd. 52. — Halban: Beitrag zur Lehre von der Menstruation.
Verhandl. d. deutschen Gesellsch. f. Gyn. Giessen 1901.
Aus der chirurgischen Abteilung des städtischen Krankenhauses
zu Frankfurt a. M. (Vorstand: Prof. Dr. R e h n).
Ueber das Chlorom des Schädels, ein typisches
Krankheitsbild.
Von Dr. C. Pfeiffer, Assistenzarzt.
Jene eigentümliche gelbgrüne Geschwulst, der King im
Jahre 1849 den Namen Chlorom gegeben hat, ist auch heute
noch eine seltene und wenig gekannte Geschwulstform.
Nachdem Lang bis zum Jahre 1893 nur 14 Fälle
sammeln konnte, berichtete Rosenblath 1902 unter
Mitteilung zweier eigenen Beobachtungen über 8 wei¬
tere. Heyden referiert 1904 in seiner auf Körners
Anregung erstandenen, eingehenden Dissertation über das
Chlorom im ganzen über 37 Fälle. Seitdem sind 4 weitere
bekannt geworden (De Graag, Dock und W a r t h i n,
Sternberg, K r o k i e w i c z), denen wir noch einen 5.,
eigenen Fall anreihen können, so dass wir auch heute nur über
42 einwandfreie Beobachtungen verfügen. Unter diesen
42 Fällen ist nur ein einziger (D unlo p) in vivo erkannt wor¬
den, sämtliche anderen brachten erst auf dem Sektionstisch
die richtige Diagnose. Und doch ist es in der überwiegenden
Mehrzahl aller Fälle keineswegs unmöglich, das Chlorom am
Lebenden als solches zu erkennen, da ein umschriebener
Symptomenkomplex bei bestimmtem Sitze der Geschwulst das
Krankheitsbild scharf präzisiert.
Das Chlorom entwickelt sich — ausgehend vom Periost
oder dem Knochenmark — an bezw. in den Knochen des
Schädels, dem Sternum, den Rippen und der Wirbelsäule und
erzeugt hier die bekannten gelbgrünen bisweilen grasgrünen
flachen Tumoren; manchmal finden sich gleichzeitig oder sel¬
tener allein, d. h. ohne Beteiligung des Skeletts, die Lymph-
drüsen, die Tonsillen, die Thymus an umschriebener Stelle er¬
krankt oder es sind einzelne Stellen innerer Organe von den
grüngelben Tumoren durchsetzt, so Leber, Nieren, Milz, sel¬
tener die Mamma (Schmid t), die Ovarien (D i 1 1 r i c h), die
Prostata (Klein und Steinhaus), der Nebenhoden (A r a n),
der Herzbeutel (W e i n b e r g e r), das Lungengewebe (H ä -
ring, Rosenblath, Gümbel, Weinberger); auch
an den Follikeln des Zungengrundes, der Epiglottis (Stern-
be r g), der Schleimhaut von Magen und Darm, der Harnblase,
der Harnröhre (Gümbel, Weinberger), den Gefäss-
scheiden von Pfortader und Milzgefässen sind die Tumoren be¬
obachtet. Der häufigste primäre — übrigens gewöhnlich sehr
schwer festzustellende — Sitz aber ist der an den Knochen des
Schädels, insbesondere seiner Nebenhöhlen, und diese Fälle
sind es auch, die klinisch in kurzem ein ausserordentlich prä¬
gnantes, anscheinend nur wenig gekanntes Krankheitsbild her-
vorrufen.
Ein derartiger typischer, bei uns jüngst beobachteter Fall,
der sich einer ganzen Reihe gleicher Mitteilungen der Literatur
anreiht und ebensowenig wie jene am Lebenden erkannt winde,
gibt uns deshalb Veranlassung, das Krankheitsbild des Chlo-
roms am Schädel nach den in der Literatur niedergelegten Be¬
obachtungen näher zu betrachten und seine charakteristischen
Symptome zu fixieren. Zuerst die Krankengeschichte unseres
Falles, dessen Photographie beigefügt ist.
R. F., 4 Jahre alt; aufgenommen 10. II. 06, t 3. V. 06. Vor
3 Monaten Fall gegen die linke Stirnseite, stark blutende Wunde,
die rasch heilte. Vor 3 Wochen Schmerzen im rechten Ohr und
eitriger Ausfluss aus dem rechten Gehörgang einige Tage lang; seit¬
dem kränkelt das Kind, Appetit gering, blasses Aussehen, seit ca. 14
Tagen steht das linke Auge vor. Litern und üeschwistei gesund,
von Lungenleiden nichts in der Familie bekannt. Befund: Auffallend
blasse Gesichtsfarbe, mittlerer Ernährungszustand; an der linken
Stirnseite dicht an der Haargrenze eine 1 cm lange verschiebliche
Hautnarbe. Der linke Augapfel stark nach vorne getrieben; mässige
Chemosis im inneren Augenwinkel; Augenbewegungen im Sinne dei
Aussenrotation etwas beschränkt. Pupille links mittelweit, träge rea¬
gierend, rechte Pupille enge, reagiert prompt auf Licht und Konvet-
genz. Beiderseits geringe Papillitis, links noch mehr wie rechts. Seh¬
vermögen anscheinend nur wenig beeinträchtigt. Nasenbefund bei¬
1909
derseits, Ohrenbefund links ohne Besonderheiten; im rechten Trom¬
melfell kleine Perforation im hinteren oberen Quadranten. Druck
auf den Warzenfortsatz rechts schmerzhaft, Gehörvermögen rechts
wesentlich herabgesetzt. Am linken Unterkieferwinkel einige druck¬
empfindliche Drüsen von Haselnussgrösse. Die Schläfen- und Joch¬
beingegend beiderseits leicht vorgewölbt, besonders links; Gesichts¬
und Kopfvenen beiderseits in gleicher Ausdehnung sichtbar. Auf¬
fallend ist an dem Jungen eine ausgesprochene Teilnahmlosigkeit, die
nach den Angaben der Eltern früher nie vorhanden war. Röntgen¬
aufnahme des Schädels, sowie des ganzen übrigen Skeletts ergibt
nichts Abnormes. Blutuntersuchung ergibt geringe Anämie, aber
keine Vermehrung der Leukozyten, keine pathologischen Blutbestand¬
teile.
1. III. Auch der rechte Bulbus ist jetzt vorgetrieben; links klafft
die Lidspalte 1 cm weit, rechts 0,5 cm; links starke Chemosis; linke
Pupille andauernd weiter als die rechte, beiderseits Neuritis optica.
Unter beiden Kieferwinkeln haselnussgrosse Drüsen fühlbar. Nasen¬
schleimhaut leicht gerötet; Gehörgang, Trommelfell beiderseits
trocken; rechts die kleine, oben angeführte Perforation. Nie Er¬
brechen. 6. III. Grosse Schlafsucht, ausgesprochene Apathie, grosse
Reizbarkeit bei Berührung des Körpers, lebhafte Schmerzäusserungen
bei Berührung der Bulbi. Auch rechts Chemosis; ausgesprochene
Lichtscheu; Luftdurchtritt durch die Nase beiderseits stark gehemmt;
hie und da Nasenbluten.
Unter der Diagnose: Tumor des Siebbeins oder Keilbeinkörpers?
Thrombose des Sinus cavernosus nach eitrigem Prozesse im rechten
Mittelohr? 7. III. 06 Probetrepanation
(Prof. Dr. R e h n). Temporäre Resek¬
tion eines talergrossen Hautperiost¬
knochenlappens mit unterer Basis finger¬
breit hinter dem linken äusseren Orbi¬
talrand und daumenbreit oberhalb des
Jochbogens. Dura pulsiert gut; Be¬
tastung des Orbitaldaches und des
linken kleinen Keilbeinflügels ergibt
keine Veränderungen. Spaltung der
Dura durch T-Schnitt; Gehirn pulsiert
gut, Windungen nicht abgeplattet, Li¬
quor cerebri klar. Keine throm-
bosierten Venen, kein Tumor sicht- oder fühlbar, obwohl der tastende
Finger bis zur Mittellinie .und bis gegen die Pyramide geführt wird.
Verschluss der Wunde durch Hautknopfnaht. 11. III. Exophthalmus
geringer, Chemosis beiderseits beinahe geschwunden. 16. III. Lappen
ödematös, wölbt sich vor. Stimmung ausserordentlich weinerlich,
hochgradig reizbar; Hautfarbe völlig weiss; Urin sehr spärlich, ent¬
hält massenhaft granulierte Zylinder und zahlreiche rote Blutkörper¬
chen. 20. III. Hochgradige Lichtscheu, infolgederen der Junge
dauernd sein Gesicht in die Kissen bohrt. Lichen scrophulosus am
ganzen Körper (Dr. Hübner). Ophthalmoskopisch (Dr. S o 1 m) :
Links Atrophia nervi optici und zahlreiche umschriebene Netzhaut-
blutungen in der Umgebung der Papille, rechts beginnende Atrophie
und ebenfalls zahlreiche Blutungen in der Retina. Panaritium am
rechten Zeigefinger seit 8 Tagen ohne jede Neigung zu heilen. 26. III.
Schädelwundränder sind fingerbreit auseinander gewichen, Knochen¬
deckel halb aufgeklappt durch sich vordrängende Gehirnmasse, die
schmierig gelb aussieht, Nekrose der Knochenränder. Druckverbände
gegen den zunehmenden Gehirnprolaps erfolglos. 7. IV. Sehvermögen
fast völlig erloschen. Hochgradige Apathie, grosse Reizbarkeit bei
Berührungen. Der Puls, der vor der Operation zwischen 90 und 130
schwankte, steigt in unregelmässigen Sprüngen bis zu 180, bleibt dau¬
ernd über 120. Die Temperatur zeigt ebenfalls unregelmässige Steige¬
rungen bis zu 40,5 °. Nie Erbrechen. Die Schädelwunde hat nicht die
geringste Heilungstendenz. Exophthalmus und Chemosis nehmen
beiderseits wieder symmetrisch zu, das Sehvermögen, ebenso das Ge¬
hörvermögen auf dem rechten Ohr wird immer schlechter, die Drüsen-
pakete an beiden Unterkieferwinkeln vergrössern sich, der Junge
schreit öfters plötzlich heftig auf und am 3. V. 06 erfolgt nach kaum
4 monatlicher Krankheit der Exitus letalis.
Die Obduktion (Dr. W i s 1 i c e n u s) ergibt: Sehr blasse männ¬
liche Knabenleiche in mittlerem Ernährungszustände; auf der linken
vorderen Schläfenbeingegend findet sich, 2 cm vom äusseien Augen¬
winkel beginnend, eine nach oben und hinten halbmondförmig sich aus¬
dehnende 5 cm lange und 214 cm breite Wunde, deren Ränder narbige,
schmierig belegte Beschaffenheit zeigen und in deren Mitte ein
schmutzig grünlich verfärbtes Gewebe hervortritt unter einer nach
unten klaffenden halbkreisförmigen Lamelle des Schläfenbeins. Die
Gesichtshaut ist, besonders vor dem Jochbein und links in der Parotis-
gegend, aufgedunsen.
In der eröffneten Schädelhöhle zeigen sich an der Aussenseite der
Dura an mehreren Stellen zirka zweimarkstückgrosse, längliche, grün¬
gelb gefärbte, 14 cm dicke Platten, die der Dura bezw. der Wand des
Sinus fest anhaften, mit dem Knochen aber nicht verwachsen sind;
diese Platten finden sich an 5 einzelnen Stellen entlang dem Sinus
longitudinalis und dem Sinus transversus. Das Gehirn zeigt gut aus¬
ausgeprägte Windungen, gute Konsistenz, Sektion desselben ohne Be¬
sonderheiten; Pia frei von Tumoren. Das ganze rechte Felsenbein,
ebenso der Warzenfortsatz — äusserlich ohne Veränderungen — ist
durchsetzt von denselben gelbgrünen derben Massen. In beiden
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
Orbitae fast walnussgrosse, mit Knochen und Bulbus nicht, dagegen
mit den Muskeln und Lidern fest verwachsene Tumoren von grün¬
gelber Farbe, die beim Durchschneiden derben Widerstand bieten.
Die linke, nicht vergrösserte Tonsille zeigte leicht grünliche Verfär¬
bung. An beiden Kieferwinkeln gut pflaumengrosse Pakete von hasel¬
nussgrossen Drüsen, die auf dem Durchschnitt gleichmässig grüne
Farbe zeigen; kleinere Pakete von derselben Beschaffenheit neben
dem Kehlkopf. Nach Eröffnung der Brusthöhle ziehen sich die Lungen
gut zurück; im Herzbeutel geringe Mengen klarer seröser Flüssigkeit;
Herz ohne Besonderheiten; das Blut von wässriger Beschaffenheit.
Alle Organe hochgradig anämisch. Die Lungen von weissgrauer
Farbe, überall lufthaltig; beiderseits, besonders links, zahlreiche bis
hanfkorngrosse subpleurale Blutaustritte; Spitzen frei. Im hinteren
Mediastinum einzelne kleine, grünlich verfärbte Drüschen. In der
oberen Hälfte des Sternums, an seiner hinteren Wand, findet sich ein
markstückgrosser Bezirk von grünlicher Verfärbung, der auf dem
Schnitt 1 — 2 cm dick ist und dem Periost fest anhaftet. Gleichartige
grünliche Verfärbungen und Auflagerungen finden sich unter der
Pleura der Brusthöhle beiderseits enlang der Brustwirbelsäule und
den Köpfchen der Rippen. Diese streifenförmigen Schwarten sind je
etwa 5 cm breit und bis zu 5 mm dick; von ihnen gehen schmale Aus¬
läufer entlang den Rippen nach seitwärts immer subpleural und dem
Knochen dicht aufgelagert.
Die Därme in gehöriger Lage; Serosa der Bauchhöhle glatt, spie¬
gelnd, glänzend. Die Milz nicht vergrössert, von gehöriger Kon¬
sistenz, Schnittfläche dunkelblaurot, Follikel stark vergrössert. Leber
von gehöriger Grösse, guter Konsistenz, Schnittfläche hellbraunrot;
im rechten Lappen eine haselnussgrosser, scharf umschriebener, der¬
ber Herd von grüner Farbe. Nieren: Kapsel leicht abziehbar, die
Farbe ist blassrot; in der Rinde beiderseits zahlreiche stecknadel-
bis kirschkerngrosse grünliche Herdchen, die sich leicht über das
Niveau der Oberfläche erheben; Rindensubstanz etwas verbreitert,
blassgraugelb. Magen und Darm, Pankreas ohne Besonderheiten;
Mesenterialdrüsen leicht vergrössert, nicht verfärbt.
Zur histologischen Untersuchung wurden Stücke dieser grünen
Tumoren der Dura, Orbita, der Drüsen und Lymphdrüsen in Formalin,
Alkohol gehärtet, in Paraffin und Zelloidin eingebettet und mit Häma-
toxylin, Hämatoxylin-Eosin, nach van Gieson, mit Triazid und
W i 1 1 i b r a n d scher Lösung gefärbt. Die grüngelbe Farbe, die
auch an unseren Präparaten übereinstimmend mit allen Beobachtungen
in kürzester Frist schwand und in schmutziges Grau überging, hat
sich in unseren Kaiserlingpräparaten auch nach 6 monatlichem Liegen
unverändert erhalten. Die Wiederherstellung der geschwundenen
Färbung durch Einlegen in Ammoniak (P a v i o t) oder Wasserstoff¬
superoxyd (T r e v i t h i k) haben wir nicht versucht. Die histo¬
logische Untersuchung unserer Tumoren ergab: Die Geschwülste der
Orbita bestehen aus dichtgedrängten Rundzellen von der Grösse der
Leukozyten, die gewöhnlich einen grossen runden, hie und da ge¬
lappten Kern und schmalen Protoplasmaleib aufweisen. Diese runden,
selten spindeligen Zellen liegen dichtgedrängt, ohne irgendwelche ty¬
pische Anordnung nebeneinander, nur an einzelnen Stellen sind sie in
Längsstreifen angeordnet; zwischen den Zellen findet sich ein weit¬
maschiges, zartes Bindegewebsnetz. Gefässe sind nur spärlich vor¬
handen. Das histologische Bild gleicht völlig dem des typischen Lym¬
phosarkoms. Die von Chiari, Häring, Huber beschriebenen
stark lichtbrechenden Körperchen, die die Grünfärbung hervorrufen
und den Tumor vom gewöhnlichen Lymphosarkom unterscheiden
sollen, haben wir in unseren zahlreichen Präparaten nicht gesehen *).
Riesenzellen sind nicht zu finden, wohl aber in allen Präparaten zahl¬
reiche Plasmazellen. In zahlreichen Zellen fällt die eosinophile Gra¬
nulierung des Protoplasmas auf, die auch Lubarsch beobachtet
hatte. Fast denselben Bau — an einzelnen Stellen aber weit mehr
an gewöhnliches Granulationsgewebe erinnernd — zeigen die Tu¬
moren in der Dura und den Lymphdrüsen. In der Niere drängt sich
das Tumorgewebe genau wie das leukämische Niereninfiltrat in
Gestalt schmaler, aus Rundzelleri bestehender Fortsätze zwischen
die Harnkanälchen ein, ohne in sie selbst einzudringen, so dass die
Harnkanälchen druckatrophisch zugrunde gehen und der Tumor
schliesslich den ganzen Bezirk einnimmt. An den tumorfreien Nieren¬
partien zeigen die Epithelien der Harnkanälchen gequollenes, leicht
gekörntes Protoplasma, die Kerne sind noch gut färbbar, an einzelnen
Stellen stossen sich die Epithelien ab. In den Harnkanälchen zahl¬
reiche Zylinder.
Wollen wir unseren Tumor einer bestimmten Gruppe von
Geschwülsten einreihen, so dürfte er am besten mit Ri sei
zu betrachten sein als „ein Lymphosarkom von eigentümlich
grüner Farbe, das unter den klinischen Erscheinungen der
Leukämie und Pseudoleukämie verläuft“, als ein Chlorolympho-
sarkom, wenn wir die neuerdings von Klein und Stein¬
haus, I ii r c k, Sternberg vorgeschlagene Trennung in
lymphozytäres und myelogenes (gemischtzelliges) Chlorom auf¬
recht erhalten wollen, was nach diesen neuesten Beobach-
') Ich möchte deshalb die Färbung des Chloroms mit V i r c h o w,
Recklinghausen, Lubarsch, G ii m b e 1, R i s e 1 u. a. als
Parenchymfarbe, nicht als eine durch intrazellulare Farbkörnchen
hervorgerufene betrachten.
tungcn wohl notwendig sein dürfte, nachdem nunmehr Chlo-
romgeschwiilste von spezifischem myelogenen Typus („Chloro-
myelosarkom“) neben der früher beschriebenen lymphozytären
Form, zu der unser Tumor gehört, beschrieben sind.
Betrachten wir den klinischen Verlauf des Falles epikri¬
tisch, so hatte sich bei einem 4 jährigen Jungen ein Krankheits¬
bild entwickelt, das mit Ohreiterung und zunehmender
Taubheit auf dem rechten Ohr begann, den Jungen deshalb zu¬
erst zum Ohrenarzte führte, und an das sich in kurzem hoch¬
gradiger symmetrischer Exophthalmus mit Chemosis und
schweren Sehstörungen zuerst links, dann rechts anschloss und
bei dem besonders die starke Druckschmerzhaftigkeit der Bulbi
auffiel. In kurzem entwickelte sich hochgradige Blässe, es
kam infolge der Anämie zu Blutungen in die Netzhaut beider¬
seits und unter auffallender Apathie und grosser Reizbarkeit
des Kindes entwickelten sich Drüsen an beiden Kieferwinkeln,
Schwellungen der Schläfengegend beiderseits, und nach kaum
4 monatlichem Kranksein trat unter zunehmendem Marasmus
der Tod ein, nachdem eine probeweise ausgeführte Eröffnung
des Schädels zu keinem Resultat geführt hatte. Erst die Sek¬
tion zeigte als Ursache des Exophthalmus graugrüne Tumoren
im retrobulbären Gewebe, sie zeigte graugrüne flache Ge¬
schwülste in der Dura entlang den grossen Blutleitern, ähnliche
Neubildungen vor der Brustwirbelsäule, am Sternum und als
Endursache des ganzen Prozesses eine ausgedehnte Durch¬
setzung des ganzen rechten Felsenbeins und Warzenfortsatzes
mit Chloromgewebe, an das sich eine chloromatöse Verände¬
rung der linken Tonsille, der Drüsen an beiden Halsseiten, im
Mediastinum und die Entwicklung umschriebener Chlorom-
herdchen in Leber und beiden Nieren angeschlossen hatte.
Im Vordergründe des klinischen Bildes stand demnach der
rätselhafte schmerzhafte beiderseitige Exophthalmus mit fast
völliger Erblindung, die Taubheit auf dem rechten Ohr, die
Schwellung an den Schläfenbeinen, die Schwellung der Drüsen
an beiden Kieferwinkeln und vor allem die hochgradige Blässe
der Haut und Schleimhäute bei einem im jugendlichsten Alter
stehenden Patienten.
Gerade diese Erscheinungen sind es, die in den einzelnen
Beobachtungen des Chloroms am Schädel sich stets wiederholen
und demnach als typische Kennzeichen der Erkrankung
bezeichnet werden müssen. Insbesondere ist der einseitige
oder meist doppelseitige, gewöhnlich völlig symmetrisch ent¬
wickelte schmerzhafe Exophthalmus mit nachfolgender Atrophia
nervi optici charakteristisch; er stellt sogar häufig das erste
Symptom der Erkrankung dar. Heyden fand ihn unter 37
Fällen — gleichgültig welchen Ausgangspunktes — 29 mal;
bei zwei neueren ist er ebenfalls angeführt, so dass wir also
unter 42 Chloromfällen überhaupt 31 mal, d. h. in 73,8 Proz.
der Fälle, diesem Symptom begegnen.
Da in ca. K aller Chloromfälle die Entwicklung der Ge¬
schwulst nicht vom Schädel, sondern vom übrigen Skelett oder
den Lymphdrüsen des Körpers etc. ausgeht, so dürfte die An¬
nahme berechtigt sein, dass nur diejenigen Chloromfälle den
Exophthalmus vermissen lassen, welche keine Schädelchlorome
darstellen.
Allen diesen Fällen ist mehr oder weniger charakteristisch
das Uebergreifen der retrobulbären Tumoren auf die Muskeln,
das Fettgewebe der Orbita und die Lider. Die Nerven und
Gefässe werden von der Neubildung eingemauert, der Knochen
der Augenhöhle ebensowenig ergriffen als der Bulbus selbst,
in dem die Geschwulst nie beobachtet ist. Die Tumoren können
ein solch ausgedehntes Wachstum in der Orbita annehmen,
dass sie den Bulbus völlig zur Seite drängend, neben dem¬
selben nach aussen wachsen (Huber, Behring-Wicher-
k i e w i c z).
Das zweite Symptom, d. h. die Entwickelung des Tumors
im Schläfenbein mit Ohreiterung, Ohrblutungen, Ohrensausen
und Herabsetzung des Hörvermögens, mit Schwellung und
Druckempfindlichkeit am Warzenfortsatz ist unter 42 Chlorom¬
fällen des ganzen Skeletts 25 mal, also in rund 60 Proz. sämt¬
licher Chloromfälle und zwar ebenfalls meist doppelseitig ange¬
führt. Körner besonders hat, gestützt auf mehrere Beobach¬
tungen, auf das häufige Vorkommen des Chloroms im Gehör¬
organ aufmerksam gemacht. Nach ihm ist das Chlorom die¬
jenige Geschwulst, die relativ am häufigsten unter allen Tu-
25. September 1906. MUENCliENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
moren im Gehörgang vorkommt. Auch Störungen des Gleich¬
gewichts infolge Erkrankung der halbzirkelförmigen Kanäle,
Schwindelgefühl, sind von Körner, Dunlop, Cirin-
c i o n e, Weinberger u. a. mitgeteilt; Fazialislähmung in¬
folge Verwachsung des Nerven bei seinem Durchtritte durch
die Schädelbasis mit den chloromatösen Wucherungen ist wie¬
derholt beobachtet (R i s e 1 u. a.). Gleichzeitig mit den
Symptomen von Gehörerkrankung findet sich häufig ein- oder
meist doppelseitig eine Vorwölbung in der Schläfengegend,
die auf Entwicklung der Tumoren im Periost des Schädels und
den Temporalmuskeln beruht und dem Gesicht ein eigentüm¬
liches Aussehen verleiht (cf. unsere Abbildung). Nicht selten
kommen — wie in unserem Falle — zu diesen Veränderungen
des Gehörorgans und seiner Umgebung solche der Nase; es
kommt infolge der Neubildung zu heftigen, manchmal töd¬
lichen, Nasenblutungen (R i s e 1), die Luftzufuhr durch die
Nase kann erschwert sein, so dass die Patienten mit offenem
Munde zu atmen gezwungen sind. Die Sektion zeigt dann
gewöhnlich Chloromentwicklung im Siebbein, Keilbein, den
Kieferhöhlen oder dem Nasenrachenraum (Körner, Beh¬
ring, C h i a r i, R o s e n b 1 a t h). Erscheinungen von Gehirn¬
druck (Erbrechen, Pulsverlangsamung) sind — - vielleicht im
Unterschied von Gehirntumoren — fast nie angegeben, obwohl
sich sehr häufig bei der Obduktion die oben beschriebenen der¬
ben glatten Herde in der Dura entlang den grossen Blutleitern
finden.
In dritter Linie fällt an den Chloromkranken die hoch¬
gradige Anämie auf, die besonders in der zweiten Hälfte der
Erkrankung in die Augen tritt und bei genauer Untersuchung
häufig das Bild der typischen akuten Leukämie mit enormer
Vermehrung der grossen Lymphozyten zeigt (W a 1 d s t e i n,
Recklinghausen, Dock, Lang, Gümbel, Wein¬
berg e r, Sternberg); die Leukämie kann ganz plötzlich,
oft erst kurz vor dem Tode einsetzen (Rosenblath, Wein¬
berger) und führt meist zu Blutungen unter die Haut, die
Schleimhäute, die Nieren, in Magen, Darm, Harnblase, Lunge,
Netzhaut. Gleichzeitig entwickeln sich meist zahlreiche klei¬
nere und grössere Drüsenpakete am Hals, im Mediastinum, im
Abdomen, bestehend aus einzelnen mehr weniger grün gefärb¬
ten Knoten; es tritt Schwellung der Milz auf, so dass nicht sel¬
ten die Diagnose wirklich auf gewöhnliche Leukämie gestellt
wird.
Als 4. Punkt möchte ich das jugendliche Alter der Patienten
anführen. Unter 33 Fällen, in denen ich eine Altersangabe
finden kann, entwickelte sich die Geschwulst 28 mal zwischen
dein 1. und 25. Jahre, darunter 5 mal zwischen 1. und 4. Le¬
bensjahre, 8 mal zwischen dem 6. und 10. (Heyden). Im
höheren Alter ist die Geschwulst am Schädel sehr selten: Vor¬
wiegend ist das männliche Geschlecht betroffen. Der Verlauf
ist gewöhnlich ein so rascher, dass in kurzer Zeit, teils in¬
folge von allgemeinem Marasmus, teils infolge von Blutungen,
meist nach 3 — 4 Monaten der Tod eintritt.
Fassen wir diese 4 Hauptsymptome:
1. den schmerzhaften Exophthalmus mit nach¬
folgender Sehnervenatrophie ;
2. die Ohrerkrankung mit Schwellung in der Schlä¬
fengegend, beides bald ein-, gewöhnlich doppelseitig;
3. die A n a e m i e bezw. akute lymphatische Leu¬
kämie mit Drüsenschwellungen und Blutungen unter Haut
und Schleimhaut;
4. den raschen Verlauf und das jugendliche
Alter der Patienten
zusammen, so dürften wir mit Körner, Rosen bla t h
u. a. zu der Diagnose „Chlorom des Schädels4’ häufig
in vivo schon zu einer Zeit berechtigt sein, bevor die grünen
Tumoren nach aussen durchbrechen oder, wie in der Be¬
obachtung Hitschmanns2) als linsengrosse resedagrüne
Knötchen auf der Brusthaut zutage treten, ehe sie auf den
zugänglichen Schleimhäuten (Zahnfleisch, Gaumen, Tonsillen)
sichtbar werden, ehe ein operativer Eingriff die grüngelben
Tumoren zutage fördert oder bevor der grüngelb gefärbte
Urin (Waldstein) gelegentlich die Diagnose noch weiter
sichert.
Sollte es auf Grund einer frühzeitig gestellten Diagnose ge¬
2) cfr. Sternberg in Lubarsch und Ostertag, Bd. IX, 2, p. 472.
1911
lingen, das leukämieähnliche Leiden etwa durch Röntgen¬
behandlung oder sonstwie, wenn auch nur vorübergehend zu
beeinflussen, so wären wir damit in der Behandlung des Chlo-
roms einen bedeutenden Schritt weitergekommen, nachdem bis
heute kein Mittel imstande war, den Prozess auch nur im ge¬
ringsten zu beeinflussen.
Literatur:
Ausführliche Literaturübersicht bis zum Jahre 1902 bezw. 1904
findet sich bei Ri sei: Zur Kenntnis des Chloioms, D. Arch. f. klin.
Med. 1902, S. 31, und Heyden: Das Chlorom, Dissertation, Rostock
1904. Ich führe deshalb nur die neueren und einige grössere ältere Ar¬
beiten an. , „
1. De Qraag: Lymphatische Leukämie und Chlorom. üenees-
kundige Bladen 1904. Ref. in Ergeb. d. Pathol., Bd. X, S. 760. —
2. Dock and Warth in: A new case of chloroma with Leucaemia
etc. Transact. of the assoc. of am-eric. physic. 1904. Ref. in Ergeb.
d. Pathol., Bd. X, S. 760. — 3. Gümbel: Ueber das Chlorom und
seine Beziehungen zur Leukämie. Virchows Archiv 1903, S. 504. -
4 Krokiewicz: Ein Fall von Chloroma multiplex. Wiener klin.-
therapeut. Wochenschr. 1905, No. 3. — 5. Lang: Monographie du
chloroma Archives generales de medecine 1893, Bd. 2 und 1894,
Bd 1. — 6. Rosenblath: Ueber Chlorom und Leukämie.
D. Arch. f. klin. Med. 1902, S. 1. — 8. Sternberg: Münch, med.
Wochenschr. 1902, No. 3, S. 126. Derselbe: Zur Kenntnis des
Chloroms. Zieglers Beitr. 1905, Bd. 37, S. 437. Derselbe: Chlorom.
Ergeb. d. allg. Pathol. 1905, Bd. IX, 2, S. 70 ff. — 8. T r e v 1 1 h l k:
A case of chloroma. The Lancet 1903, 18. VII. Derselbe: Con-
cerning the nature of the green pigmentation of the tissues in chlo¬
roma. The Lancet 1903, 22. VIII. — 9. T ü r ck: Münch, med. Wochen¬
schrift 1902, No. 3, S. 126. Derselbe: Mitteil. d. Gesellsch. f. innere
Medizin in Wien 1903, S. 32.
Ueber die Wirkung der Quecksilberquarzglaslampe.
Von E. Schreiber und H. German in Magdeburg.
Durch Kr ohne (Diss. Leipzig 1904) und in ausgedehn¬
terem Masse noch durch F e 1 d m a n n (Diss. Göttingen 1905)
ist die bakterizide Wirkung der durch die Firma Heräus
gelieferten Quarzglasquecksilberlampe auf die verschiedensten
Mikroorganismen in der überzeugendsten Weise dargetan.
German hat die Feldmann sehen Untersuchungen fort¬
gesetzt und in jeder Weise bestätigen können, er hat über
diese Versuche in einer Sitzung der medizinischen Gesellschaft
zu Göttingen berichtet (s. a. Zentralbl. f. Bakteriologie etc. 1906
spez. über d. Versuchsanordnung). Sämtliche Bakterienarten
gingen nach einer Belichtung von 30 — 40 Minuten zu Grunde.
Im Verlauf dieser Untersuchungen ergab sich nun die
Frage, wie man sich die bakterizide Wirkung der Quarzglas¬
lampe, wie wir dieselbe kurz nennen wollen, zu erklären hat.
Von vornherein musste zunächst einmal entschieden werden,
ob nicht etwa die Wärme, welche in einer Entfernung von
10 _ 15 cm von der Quarzglaslampe durchaus nicht so unbe¬
deutend ist, sondern bei längerer Belichtung selbst bis zu 80”
betrug, schädigend auf die Bakterien einwirkt. Ferner könnte
die bakterizide Wirkung auf das sich beim Brennen der
Lampe in grösseren Mengen entwickelnde Ozon zurückgeführt
werden; oder es handelt sich endlich um eine spezifisch bak¬
terizide Wirkung der ultravioletten Strahlen, an denen die
Quarzlampe jede andere Belichtungsquelle übertrifft.
Um diese Frage zu entscheiden, wiederholten wir nun die
oben zitierten Versuche mit Bakterien derart, dass wir die
Wärme- und Ozonwirkung mit ziemlicher Sicherheit aus¬
schlossen. Um zunächst die Wirkung der Wärme auszu¬
schalten, brachten wir die Bakterienkulturen, welche wir bei
allen unseren Versuchen auf kleine, quadratische, 3—4 mm
breite und 1 mm dicke Glasplättchen in Bouillon aufgetragen
und angetrocknet hatten, in eine weite Röhre aus Quarzglas,
die nach dem Beschicken mit den Plättchen an ihren beiden
Enden mit Saugansätzen versehen wurden. Durch diese
Röhre wurde kalte Aussenluft mittels einer Säugpumpe durch¬
gesogen. Durch einen auf dieser breiten Röhre senkrecht auf-
sitzenden Schenkel konnten wir ein Thermometer einführen,
welches bis dicht auf die Kulturen herabreichte. Wir ermög¬
lichten es durch starkes Absaugen, dass die Temperatur nicht
über 36 — 37 0 kam. Die Bakterien starben alle nach 30 bis
40 Minuten ab. Es ist selbstverständlich, dass die Virulenz
der zu den . Versuchen benutzten Bakterien durch Kontroll-
plättchen genau geprüft wurde.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
1912
Diese Versuche sind wohl dahin entscheidend, dass die
Wärmewirkung irgend eine Rolle bei der bakteriziden Wirkung
der Quarzlampe nicht spielt.
Ganz ausschliessen konnten wir bei diesen Versuchen
allerdings nicht die Wirkung des Ozons, da sich, wie das durch
Jodstärkekleisterpapier nachzuweisen war, in der Quarzröhre
trotz der starken Luftdurchsaugung noch Ozon entwickelte.
Es musste nun noch entschieden werden, ob das Ozon etwa
einen bakteriziden Einfluss auf die Bakterien ausiibte. Wir
brachten zu diesem Zweck die Quarzglaslampe in ein Blech-
gefäss, in welches wir von unten her abgekühlte Luft einführten,
und aus dessen trichterförmigem Deckel wir das gesamte Ozon
durch eine Säugpumpe absogen und durch eine weite Glas¬
röhre leiteten, auf deren Boden die Plättchen mit den ange¬
trockneten Kulturen lagen. Auf diese Weise musste das ge¬
samte durch die Quarzlampe erzeugte Ozon über die Kulturen
streichen.
Die Versuche ergaben, dass trotz 1/4 stündiger Einwirkung
des Ozons keine Abtötung der Kulturen erfolgte. Gegen diese
Versuchsanordnung könnte nun aber immer noch eingewandt
werden, dass das Ozon nur im Stadium nascendi wirke. Das
glaubten wir durch folgenden Versuch ausschliessen zu können:
Wir brachten die Quarzlampe in einen grossen luftdichten
Kasten, und unter ihr befestigten wir eine Glasplatte, unter
welcher dann etwas tiefer die Bakterienplättchen niedergelegt
wurden. Auf diese Weise werden bestimmt die ultravioletten
Strahlen ausgeschlossen, aber das sich bildende Ozon kann von
allen Seiten die Kulturen treffen. Auch bei dieser Versuchs¬
anordnung waren die Bakterien nach einer Stunde noch voll¬
kommen lebensfähig.
Damit glauben wir uns zu dem Schluss berechtigt, dass die
bakterizide Wirkung der Quarzglaslampe, speziell ihrer ultra¬
violetten Strahlen, eine rein spezifisch bakterizide sein muss.
Inzwischen fanden unsere Versuche, welche aus äusseren
Ursachen erst jetzt veröffentlicht werden konnten, eine Be¬
stätigung durch die Experimente von B i e (Mitteilung aus F i n-
s e n s med. Lichtinstitut 1905, H. 9), der zu demselben Resultat
gelangt wie wir, dass nämlich bei den kurzwelligen Strahlen
die bakterizide Wirkung ohne Mitwirkung von Sauerstoff resp.
ohne Bildung von Wasserstoffsuperoxyd zustande kommt.
Auf der Naturforscherversammlung in Breslau und
dem innerem Kongress 1905 hat Schreiber in kurzen
Zügen auf die praktische Verwendung der Quarzglaslampe hin¬
gewiesen. Inzwischen sind über dieselbe weitere Mitteilungen
erschienen; in neuester Zeit von Axmann (Med. Klinik
1906 No. 4), sowie von Kromayer (Deut. med. Wochenschr.
No. 10), welcher der Quarzlampe noch für besondere Zwecke
bestimmte Formen gegeben hat.
Bezüglich der Indikationen stimmen wir Kromayer und
Axmann vollkommen bei. In erster Linie kommen in Frage:
oberflächliche Lupusformen und Kankroide, Ekzeme, besonders
chronische, Akne, verschiedene Formen von Nävi, Sykosis,
Alopecia areata, aber auch Haarausfall aus anderen Ursachen.
Die beiden genannten Autoren haben auch bei Erysipel, Lues,
torpiden Hautgeschwüren und bei Gonorrhoe Erfolge gesehen.
Besonders bemerken möchten wir, dass wir auch bei Psoriasis
des behaarten Kopfes und des Gesichtes mit der Belichtung
durch die Quarzglaslampe gute Resultate erzielt haben. Die
Belichtungsdauer schwankt je nach den betreffenden Prozessen
zwischen wenigen Sekunden bis 20 Minuten.
Einen Nachteil hat die Quarzlampe nur, das ist der, dass
ihr Licht zu arm ist an tiefer gehenden Strahlen; deswegen ist
auch an eine Beeinflusung des Blutes in den Kapillaren der
Haut nicht zu denken. Wir können Kromayer nicht bei¬
stimmen. wenn er behauptet, dass die Tiefenwirkung erheb¬
licher sei, als die der Finsenlampe. Die Schwärzung des Silber¬
papiers in seinem Versuche beruht wohl auf einer Oxydation
durch das sich reichlich entwickelnde Ozon. Denn wie schon
K r ö h n e gezeigt hat, und wie ferner D e 1 1 m e r in seiner
demnächst erscheinenden Dissertation angibt, dringt das Licht
der Quarzlampe bestimmt nicht tiefer als höchstens 1 mm in
die menschliche Haut ein. (Dettmer berichtet ausführlich
über die Wirkung der Lampe.) Man wird also bei tiefer gehen¬
den Lupusfällen auch unter Anwendung der Drucklinse kaum
zum Ziele kommen. Indessen sind zur Zeit Versuche im Gange,
das Licht der Lampe in der Weise zu modifizieren, dass es
reicher an tiefer gehenden Strahlen wird.
Wie haben wir uns nun die Wirkung der Quarzglaslampe
bei diesen Erkrankungen vorzustellen? Man wird a priori ge¬
neigt sein, auch diese Wirkung bei Hauterkrankungen als eine
bakterizide anzusehen, wie das ja auch F i n s e n ursprünglich
getan hat. Indessen wird man sofort von dieser Vorstellung
zurückkommen, wenn man die Zeit ins Auge fasst, die für die
Beleuchtungsdauer von Hautkrankheiten höchstens 5 Minuten
beträgt, und die Zeit, welche nötig ist, um Bakterien abzutöten
— ungefähr 30 Minuten. — Kromayer hat allerdings bei
Lupus auch bis zu einer halben Stunde beleuchtet, es ist das
aber durchaus nicht in allen Fällen von Lupus erforderlich,
denn wir haben leichte Fälle desselben bei einer Beleuchtungs¬
dauer von 5 Minuten in wenigen Sitzungen zur Abheilung
kommen sehen, und in dieser kurzen Zeit kann von einer Ab¬
tötung der Tuberkelbazillen in dem Hautgewebe nicht die
Rede sein. Uebrigens ist ja auch durch kürzlich mitgeteiltc
Versuche erwiesen worden, dass Tuberkelbazillen in der Haut
auch durch längere Belichtung nicht abgetötet werden. Und da
die Finsenlampe noch dazu arm ist an ultravioletten Strahlen,
so muss auch wohl für sie geschlossen werden, dass ihre Wir¬
kung durch die in ihr enthaltenen ultravioletten Strahlen nicht
bedingt ist.
Wir kommen wohl damit zu dem Schluss, dass es rein
chemische Wirkungen sein müssen, welche die Heilung von
Hautkrankheiten unter der Einwirkung der Quarzglaslampe
(und auch wohl der übrigen Beleuchtungsquellen) verursachen,
und in dieser Richtung haben ja die Untersuchungen von
W erne r und anderen schon einige Fingerzeige gegeben.
Aus der chirurgischen Universitätsklinik in Bonn (Direktor:
Geheimrat Bier).
Ueber die frühzeitige und prophylaktische Wirkung der
Stauungshyperämie auf infizierte Wunden.
Von Dr. med. Eugen Joseph.
(Schluss.)
Besonders günstig sind durch die Verwendung passiver
Hyperämie alle im Krankenhaus selbst entstandenen Infektionen
beeinflusst worden, da sie gleich im Beginne bemerkt und
coupiert werden konnten. Spontanen Ursprungs sind sie sel¬
tene Ereignisse. Häufiger kommen sie im Gefolge operativer
Eingriffe vor, bei denen die Asepsis des Operationsgebietes
aus irgend einem Grunde versagte. Hier ist die Infektion um
so peinlicher, als der Patient durch einen relativ kleinen Ein¬
griff, wenn er z. B. in der Nähe grosser Gelenke ausgeführt
wird, in Lebensgefahr gerät, auf die weder er, noch der Chirurg
gefasst war. Zum mindesten geht das verheissene Operations¬
resultat ganz oder zum Teil verloren, weil man die Wunde auf-
trennen, drainieren und tamponieren musste. Nach Ueberwin-
dung der Infektion und wochenlangem Krankenlager ist der
Operierte vielleicht in einen schlimmeren funktionellen Zustand
geraten, als vor dem Eingriff, durch welchen ihm Heilung in
Aussicht gestellt war. Durch die Stauungshyperämie wird die
beginnende Infektion ihrer gefährlichen Kraft beraubt und nach
Lösung einiger Hautnähte häufig so rasch überwunden, dass
trotz der Infektion das operative Resultat nicht wesentlich ge¬
schmälert bestehen bleibt.
14*. Der 48 jährige Dienstmann J. D. wurde am 11. I. 06 mit
einem frischen subkutanen Kniescheibenbruch in die Klinik aufge¬
nommen. Die Fraktur infizierte sich in der Klinik, ohne dass eine
Eingangspforte nachzuweisen war, und das Kniegelenk vereiterte.
Temperatur bis 38,8°.
Am 21. I. 06 ergab eine Probepunktion des Gelenkes Eiter, der
Staphylokokken in Reinkultur enthielt. Unter Stauungshyperämie
heilte das Gelenk mit guter Beweglichkeit und ohne Funktionsstörung
aus. Bereits am 28. I. 06 lieferte eine erneute Punktion nur blutiges
steriles Serum.
15. Der 30 jährige V. M. litt an einer eiternden talergrossen De¬
pressionsfraktur der rechten Schläfenseite. Am 16. I. 06 wurden die
Fragmente in Chloroformnarkose entfernt und die Weichteile bis auf
einen Tampon verschlossen. Am 17. I. betrug die Temperatur 38,3“
25. September 1006.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1913
und eine gewaltige Schwellung hatte sich über den Kopf, die Stirn
und die oberen Augenlider verbreitet. Die Nähte wurden entfernt
und ein feuchter Verband angelegt. Trotzdem trat keine Besserung
ein. Am 18. I. hatte der Patient 38,5 °. Die Wunde eiterte sehr
reichlich und war in ihrer Umgebung äusserst schmerzhaft. Es wird
deshalb am Halse eine Staubinde angelegt und täglich 22 Stunden
liegen gelassen. Am 19. I. war die Temperatur auf 37,5 herunter¬
gegangen. Nach 2 weiteren Tagen wurde sie normal. Die Wunden
reinigten sich unter Stauungshyperämie sehr rasch, so dass sie am
20. II. bis auf einen schmalen Qranulationsstreifen geschlossen waren.
16. Der 19 jährige A. Sch. stand seit längerer Zeit wegen eines
grossen tuberkulösen Zwerchsackhygroms an der linken Hand in
poliklinischer Behandlung. Vor 3 Tagen wurde eine Inzision in den
tuberkulösen Herd hinein vorgenommen, um für den Schröpfkopf eine
bedeutendere Wirkung zu eröffnen.
Am 31. I. konnte der Patient wegen einer akuten Vereiterung des
Hygroms aufgenommen werden. Der Befund bei der Aufnahme war
folgender: .
Ueber der Volarseite des linken Handgelenks erhebt sich eine
nussgrosse pilzförmige zerfallene Wucherung von grauer Farbe. Sie
ist durch einen Kreuzschnitt durchfurcht und von schlechten Granu¬
lationen bedeckt. Zwischen den Schnitträndern quillt dicker gelber
stinkender Eiter hervor, besonders stark wenn man Bewegungen im
Handgelenk ausführt oder längs der Sehnen des Unterarmes oder
der Hand nach der Wunde zu hinstreicht. Beides ist sehr schmerz¬
haft. Aktiv werden Bewegungen im Handgelenk gar nicht ausgeführt.
Die Achseldrüsen sind geschwollen und schmerzhaft. Lymphan-
gitische Stränge ziehen über den Unterarm. Temperatur 38,6°.
Die Infektion wird lediglich mit Dauerstauung bekämpft. In
den ersten Tagen schien es, als ob sich am Unterarm ein lymph-
angitischer Abszess bilden wollte, doch verloren sich diese Anzeichen
von selbst. Am 10. II ist die Wunde von guten Granulationen be¬
deckt. Sie sezerniert keinen Eiter mehr, auch wenn man längs der
Sehnen streicht. Die Stauung wird ausgesetzt. Am 18. II. erfolgt
die Entlassung in ambulante Behandlung.
Ich habe den Kranken neulich wiedergesehen. Die akute
Inflammation hat, wie so häufig, günstig auf den tuberkulösen
Herd eingewirkt. Dieser ist vollkommen unter poliklinischer
Saugbehandlung verschwunden und überhäutet.
17*. Dem 42 jährigen M. K. wurde am 26. VI. 05 ein Knie¬
scheibenbruch genäht. Um die Fragmente wurde ein Silberdraht ge¬
führt, welcher sie zusammenschnürte. In der Nacht stand der Pa¬
tient im Säuferdelirium auf und riss sich den Verband und einen
Teil der Wunde auf. Am 3. VII. wurde die Naht wiederholt. Im
Anschluss an die 2. Operation vereiterte das Kniegelenk. Die Tem¬
peratur stieg auf 39,4°. Nach Entfernung der Hautnähte quoll reich¬
licher mit Synovia untermischter Eiter hervor. Unter Stauungs¬
hyperämie heilte das Gelenk ohne 1 amponade mit mässiger Ver¬
steifung aus. , IT1
18. Der 56 jährige L. Sch. litt an einer schlecht geheilten Ulna¬
fraktur und einer veralteten Luxation des Radiusköpfchens. Am
18. XI. wurde das Radiusköpfchen reseziert und ehe schlecht stehen¬
den Ulnafragmente angefrischt und genäht. Die Gelenkwunde heilte
per primam. Die Wunde über der Ulnafraktur vereitelte. Die Nahte
wurden deshalb entfernt und Dauerstauung angewandt. Am 3. I.
stiess sich ein kleiner Sequester aus der Ulna ab. Am 1. II. ist
die Wunde verheilt, allerdings ist das Ellbogengelenk ziemlich ver¬
steift geblieben.
19. Dem 26 jährigen J. K. wurden wegen habitueller Luxation
beide Radiusköpfchen am 24. X. reseziert. Die Temperatur stieg
langsam nach der Operation in die Höhe und erreichte am 6. 1 age
38,6°. Der Verband wurde deshalb geöffnet. Die rechte Operations¬
wunde war völlig reizlos, die linke Operationswunde geschwollen
und druckempfindlich. Bewegungen werden im rechten Ellbogen¬
gelenk ohne Schmerzen ausgeführt, am linken vor Schmerzen ge¬
mieden. Nach Entfernung der Nähte geht die linke Wunde etwas aus¬
einander und es entleert sich trübe seröse Flüssigkeit. Trotzdem
die Wunde Abfluss hatte, trat keine Entfieberung ein, und es wurde
deshalb am 2. XI. Dauerstauung angewandt. Diese bewirkte, dass
die Temperatur rasch abfiel, der Arm schmerzlos und aktiv wie
passiv ausgiebig bewegt werden konnte. Am 23. XI. wird die Stauung,
die in den letzten Tagen nur kurze Zeit angewandt wurde, ausgesetzt,
da die Wunde am linken Ellbogen verheilt ist.
20. Der 13 jährige J. B. litt an einer Exostose an der Innen¬
seite des linken Oberschenkels dicht über der Kniegelenkskapsel.
Die Exostose wurde am 6. IV. abgetragen. Eine Eiteipustel, die
an der Vorderseite des Knies sass und vor welcher das Operations¬
gebiet nach Möglichkeit geschützt wurde, trug vermutlich die Schuld,
dass die Wunde sich infizierte. Am 7. IV. hat Patient Lieber bis 39,9 ,
klagt über heftige Schmerzen im Bereiche des ganzen linken Obei-
schenkels. In der linken Leiste sind die Drüsen stark geschwolltu
und sehr empfindlich. Die Operationswunde sieht nach Abnahme des
Verbandes gerötet und vorgetrieben aus als ob unter ihr sich ein
Bluterguss angesammelt hätte. Es wird sofort eine Dauerstauung am
Oberschenkel angewandt. An der Wunde selbst wird nichts geändert.
13 IV Die Temperatur ist nach der Stauung sofort abgefallen
und normal’ geblieben. Deshalb wird erst heute der Verbandwechsel
No. 39.
vorgenommeh. Unter der Operationswunde welche ausserheh vol -
kommen reizlos ist, kann man deuthehe Fluktuation fühlen Mit
einer Pinzette wird die Wunde nach Entfernung der Nahte an einer
Stelle gesprengt und reichliche seröse Flüssigkeit aus der Oeffnung
herausgedrückt. Wiederum Dauerstauung. Nach dei Entleerung de
Eiters granuliert die Wunde gut und scheint, nachdem sich ein
langer Seidenfaden abgestossen hat, beinahe geheilt zu sein.
9 V bekommt Patient plötzlich eine Temperatur bis 39,9 ,
Uebelbefinden und Erbrechen. Am rechten Ellbogen findet sich eine
frische Kontusion, welche die stürmischen Ei scheinungen nicht er¬
klären kann. Am IE V. hat Patient immer noch hohes Fieber, bis
über 40 °. In der Umgebung der Operationswunde hat sich ein deut¬
liches Erysipel gebildet, welches nach abwärts bis zui rubeiositas
tibia zieht. Oberhalb der Operationswunde sind nur vereinzelt kleine
Erysipelflecken zu sehen. Die Wunde selbst ist bis auf eine 1 cm
grosse Stelle vernarbt. Dort besteht eine Fistel, welche von
schlechten Granulationen umrandet ist. Aus der Fistel tioptt spär¬
licher dicker Eiter. Führt man in die Fistel eine Sonde, so stosst man
in der Tiefe auf Knochen. Bewegungen und Betastungen des Knie¬
gelenks sind äusserst schmerzhaft. Patient vermag nicht die geringste
Beugung auszuführen. Sucht man sie passiv zu erreichen, so schreit
er laut auf. Dauerstauung. , , , ,
12. V. Die Binde hat bis heute Mittag zu einer unbedeutenden
Schwellung geführt und wird deshalb noch weitere 20 Stunden
liegen gelassen. Die Schmerzhaftigkeit im Kniegelenk hat noch
nicht nachgelassen. Die Patella tanzt deutlich. Es wird möglichst
abseits vom Erysipel eine Punktion mit der Pravazspritze ausgeiulirt.
Die Spritze saugt gelbe getrübte Synovia an, von welcher eine
Agarplatte gegossen wird. . , . A x .
13. V. Das Fieber ist noch hoch, das Erysipel ist nach abwärts
Schwellung geführt. Das Bein ist unter der Stauung jetzt
stark angeschwollen; Schmerzhaftigkeit im Kniegelenk jetzt etwas
geringer, doch wird es höchstens aktiv um 20— 30 u bewegt.
14 V. Auf der Agarplatte sind zahllose feine weisse Kolonien
aufgegangen. Die mikroskopische Untersuchung ergibt Strepto¬
kokken (Der bakteriologische Befund ist in diesem Falle nicht ein-
wandsfrei, da die Punktion in der Nähe eines Erysipels vorgenommen
wurde und es nicht auszuschliessen ist, dass Kokken aus der nicht
zu desinfizierenden erysipelatösen Haut dem Inhalt der Spiitze sich
beigemischt haben. Andererseits widerspricht der klinische Befund
des Kniegelenks und die Unzahl von Kolonien der Annahme einer
Verunreinigung.) ^ ^ ^ •
16 V Das Fieber ist heute niedriger. Patient beugt das Knie
bis etwa 130°. Die Patella tanzt noch. Das Erysipel hat vor dem
Sprunggelenk Halt gemacht. Die Fistel sondert ziemlich viel dünnen
Eiter ab. , „ ,. , . , ,,
19. V. Die Patella tanzt nicht mehr. Der Patient ist voll¬
kommen fieberlos. ... , . , ,
26 V Patient wird heute entlassen. Die Wunde ist nahezu
verheilt An Stelle der früheren Knochenfistel gelangt die Sonde
noch 1 cm tief in die Weichteile. Keine Sekretion mehr. Das Knie¬
gelenk ist normal beweglich.
Der Patient hat zweimal eine schwere und gefährliche
Wundinfektion mit Hilfe der Stauungshyperämie gut überwun¬
den Selbst wenn man im zweiten Falle Zweifel an dem bak¬
teriologischen Befunde hegt, so ist ein schweres Erysipel in
der Umgebung einer Wunde, in deren Tiefe die Epiphysen-
hnie frei hegt, verbunden mit kollateralem Kniegelenkserguss
eine recht unangenehme Komplikation.
Die Stauungshyperämie wird nach unseren Erfahrungen
künftig eine grosse Rolle in der Chirurgie der Verletzungen
spielen, welche zufälligen oder chirurgischen Ursprungs von
der Infektion bedroht oder ganz frisch infiziert sind. Hier be¬
dürfen wir eines wirksamen Desinfiziens, einer wirksamen
Antisepsis. Eine solche haben wir bisher nicht besessen. Un¬
sere Antisepsis, soweit wir sie noch üben, hat eigentlich nur
rein aseptischen Wert und vermag die beginnende oder frische
Infektion nicht aufzuhalten. Die bekannten Versuche Schim-
melbusch’ haben deutlich gezeigt, wie wenig wir mit che¬
mischen oder mechanischen Desinfizientien selbst unmittelbar
nach der Infektion erreichen können. Wenn auch Schim¬
mel b u s c h s Versuche für die Praxis eine Einschränkung
erfahren, weil wir nur selten zum Glück Bakterien von der
furchtbaren Gewalt des Anthrax gegenüber gestellt sind, so
steht doch die Mehrazhl der Chirurgen allen Desinfektionsver¬
suchen in infiziertem oder infektionsverdächtigem Gebiet skep¬
tisch gegenüber und auf dem Standpunkt, dass wir kein echtes
Wunddesinfiziens kennen, dass wir uns bescheiden müssen,
die Erreger und ihre Bekämpfung den Geweben zu überlassen,
dass wir die Infektion abwarten und erst ihre Folgezustände,
Abszesse, Phlegmonen etc. nach Möglichkeit bekämpfen
müssen.
3
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
914
Deshalb hat es bisher geradezu als ein Kunstfehler ge¬
golten, wenn jemand eine Wunde, deren Infektion vorauszu-
sehen war, ohne Tamponade durch die Naht verschloss, oder
wenn jemand eine genahte Wunde, welche sich wider Er¬
warten infizierte, nicht sofort bis in die Tiefe auftrennte und
tamponierte. Diese Kunstfehler haben wir, wie die beige¬
fügten Krankengeschichten zeigen, absichtlich und mit gutem
Erfolge öfters begangen, weil die Ohnmacht gegenüber der
drohenden Infektion durch die Stauungshyperämie eine bedeu¬
tende Kräftigung erfahren hat. Wir haben in vielen Fällen durch
die Naht und ohne Tamponade eine Intentio contra infectionem
erreicht.
Streng abgemessene Indikationen, unter welchen Umstän¬
den man dieses Verfahren der Intentio contra infectionem mit
Hilfe der Stauungshyperämie wagen kann, dürften schwer zu
geben sein. Von den Verletzungen muss man jedenfalls ver¬
langen, dass sie frisch sind, und die Wunde selbst sich von
sichtbarem Schmutze befreien lässt. Besonders m ö c h t e n
wir die frühzeitige Naht für die häufigen
• Sehnenverletzungen der Arbeiterhand em¬
pfehlen, welche dadurch vor Versteifung und
Atrophie bewahrt bleibt. Sind die Sehnen durch glatte
Schnittverletzung durchtrennt, so tritt häufig von selbst eine
Prima intentio ein. Gesellt sich wider Erwarten eine Infektion
hinzu, so staue man frühzeitig, gleich nachdem die ersten Zei¬
chen ihres Eintritts bemerkt wurden, und löse einige Hautnähte.
Ist der Zustand der Wunde von Anfang an verdächtig unrein,
mit Quetschungen,, Gewebszerreissungen, Knochen und Gelenk¬
verletzungen kompliziert, so staue man prophylaktisch. Wenn
trotz prophylaktischer Stauung die Wunde eitert, so pflegt die
Infektion recht milde zu verlaufen und nach Lösung einiger
Hautnähte, ohne Tamponade überwunden zu werden, so dass
meist weder eine Gefahr für den Patienten, noch eine Beein¬
trächtigung des operativen Erfolges entsteht. Wegen der In¬
fektionsgefahr führt man die Sehnennaht am besten mit Kat-
gut aus. Die Schienenfixation führen wir nur für 8 Tage und
möglichst locker durch, damit die Hand unter der Stauung Raum
zum anschwellen findet. Nach 8 Tagen lassen wir mit vor¬
sichtigen aktiven Bewegungen beginnen.
Für die Sequestrotomien sind die Bedingungen der pri¬
mären Naht bereits erötert. Entfernung jeglicher Knochen¬
nekrose, sorgfältige Exkochleation der schlechten Granula¬
tionen, genügend Hautmaterial zur Bedeckung der Wunde und
Vermeidung von Hohlräumen. Als Nahtmaterial bevorzugen
wir hier den nicht infizierbaren Silberdraht.
Dagegen möchten wir allerdings Verwahrung einlegen,
dass man der Stauungshyperämie nunmehr alle möglichen un¬
erhörten Leistungen zumutet und im Vertrauen auf sie im Be¬
reiche mit Schmutz imprägnierter oder älterer phlegmonöser
Wunden operative Eingriffe mit dichtem Nahtverschluss vor¬
nimmt. Die Erfolge der Stauungshyperämie sind an und für
sich schon sehr von der ärztlichen Individualisierung abhängig
und auf dem vorliegenden Gebiet werden sie besonders von ihr
abhängig sein.
Ausführlicher möchte ich noch auf die Technik der Dauer¬
stauung eingehen. Da wir aus der Literatur, aus gelegentlichen
Anfragen und durch Besucher unserer Klinik erfahren haben,
dass die Vorschriften Biers nicht immer genau durchgeführt
werden. So wird von manchem zur Stauung noch ein Gummi¬
schlauch, von anderen ungeeignetes Bindenmaterial verwandt.
Wir können nur dringend raten, die von uns empfohlene dünne
Gummibinde (zu beziehen durch Eschbaum-Bonn) zu benutzen
und nicht alle jenen schlechten Erfahrungen noch eimal durch¬
zukosten, die wir mit anderem Bindenmaterial gemacht haben.
Die Länge der Binde muss der Dicke des Gliedes entsprechen.
Für einen dünnen Kinderarm genügt eine Binde von 1 — VA m,
für einen kräftigen Männerarm sind bisweilen 2A m notwendig.
Wir legen die Binde möglichst glatt und möglichst rumpfwärts
in einem breiten Gürtel um das Glied, welches wir stauen
wollen. Eine Unterpolsterung der Glieder ist unnötig, wenn
man Faltenbildung vermeidet und in der staufreien Zeit eine
Hautpflege mit Kampherspiritus und Puder durchführt. Der
Zug, den wir bei der Anlegung austiben, entspricht ungefähr
demjenigen, mit welchem man eine Gypsbinde abwickelt.
Doch muss er für muskulöse Arme und Beine entschieden stär¬
ker sein. Der Reinlichkeit halber besitzt am besten jeder ein¬
zelne Patient seine eigene Binde, welche nach einiger Zeit,
wenn sie ihre Elastizität verloren hat, erneuert werden muss.
Von Zeit zu Zeit wird die Binde abgeseift, für einige Stunden
in Sublimat gelegt und dann wieder getrocknet.
Ekzeme und Erysipel haben wir durch Binden, welche in
dieser Weise präpariert wurden, nie entstehen sehen. Als das
einfachste und zuverlässigste Befestigungsmittel empfiehlt sich
wohl immer noch die Sicherheitsnadel.
Durch die Bindenstauung suchen wir das Glied möglichst
heiss, rötlich und ödematös zu machen. Bei schweren, frischen
Entzündungen gelingt es fast ausnahmslos diese Veränderungen
zu erzielen. Ist die Infektion älteren Datums und von ihrer
Höhe herabgesunken, torpider geworden, hat sich der Körper
an sie gewöhnt, so ist die Hitze und Röte des Gliedes durch die
Stauung nicht zu erreichen. In diesen älteren Fällen kommt es
nur zu einer reichlichen Schwellung und leicht bläulichen Ver¬
färbung des Gliedes, welches immer warm, niemals kalt sein
darf. Nur wenn ein neuer Abszess und eine frische Lymphan-
gitis hinzukommt, stellen sich die akuten Stauungssymptome
wieder ein.
In dem Bestreben, die Wirkung der Stauungshyperämie
möglichst kräftig zu erzeugen, darf jedoch niemals der Grund¬
satz vergessen werden, dass die Stauung die Schmerzen lin¬
dern und nicht steigern soll. Eine Schmerzsteigerung ist fast
immer ein Zeichen dafür, dass die Stauung zu fest; liegt und
Ernährungsstörungen verursacht.
Andererseits darf man sich nicht durch die heftige Re¬
aktion, welche die Stauungshyperämie hervorbringt, durch die
Röte und Schwellung, das phlegmonöse Aussehen der genähten
Wunde, durch die Temperatursteigerung nach der Operation
beunruhigen und verleiten lassen, die Wunde wieder aufzu-
reissen und nach einem versteckten Abszess zu fahnden.
Namentlich könnte das Stauungsfieber, welches oft längere
Zeit anhält, die Beunruhigung des Arztes erwecken. Es ist
jedoch leicht von dem gewöhnlichen Eiterfieber zu unterschei¬
den, welches dem Chirurgen so häufig begegnet, und ihm mit
Recht als ein Zeichen dafür gilt, dass irgendwo eine abge¬
schlossene Eiterhöhle besteht und nach der Eröffnung durch das
Messer verlangt. Die Patienten mit Stauungsfieber bieten zu¬
nächst örtlich nicht den geringsten Anhaltspunkt für einen Abs¬
zess. Sie haben keine Schmerzen, guten Appetit, ruhigen
Schlaf und ausser gelegentlichem Hitzegefühl nicht die ge¬
ringste Klage. So hatte eine kleine Patientin mit Osteomyelitis
dei Tibia, Fibula und Vereiterung des Sprunggelenks nach
Spaltung der grossen Abszesse trotz Stauungshyperämie länger
als 2 Wochen Fieber bis 40 °. Die Erscheinung beunruhigte uns
n
Kurve 5.
nicht viel, weil die Wunde wohl die Zeichen der Stauungs¬
reaktion trug, aber sonst ein gutes Aussehen hatte, und weil der
Allgemeinzustand des Mädchens ganz vorzüglich war. Es
fühlte sich wohl, hatte reichlichen Appetit nach Fleisch und
Gemüse, und gute Nächte. Deshalb setzten wir die Behand¬
lung mit Stauungshyperämie ruhig fort. Nur an zwei Stellen,
welche uns verdächtig erschienen, machten wir unter Aethyl-
chlorid eine Stichinzision, von denen die eine erfolglos blieb,
die andere einen Fingerhut voll Eiter entleerte. Schliesslich
fiel die Temperatur von selbst ab.
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1915
In diesen Fällen haben wir das Fieber als die Allgemein-
reaktion zu deuten, welche unter der Stauungshyperämie ent¬
steht, und der Chirurg, welchem bisher nur das unerwünschte
Eiterfieber begegnete, wird daran erinnert, dass in der internen
Medizin oder pathologischen Physiologie das Fieber schon
lange als eine Abwehrvorrichtung angesehen wird, durch
welche sich der Körper von eingedrungenen Schädlichkeiten
zu befreien sucht.
Die besten Aufschlüsse über den jeweiligen Stand der In¬
fektion erhalten wir, wenn der Verbandwechsel unmittelbar
nach der Suspension erfolgt, zu einer Zeit, wo die Stauungs¬
reaktion abgeklungen und das Oedem zum grössten Teil ver¬
schwunden ist, und die normalen Konturen deutlicher gewor¬
den sind. Findet man zu dieser Zeit keine sicheren Zeichen für
einen Abszess, so kann die Stauung ruhig weiter fortgesetzt
werden. Die Wunde wird mit physiologischer Kochsalzlösung
oder Borwasser abgespiilt, locker mit sterilem Verband be¬
deckt und die Binde von neuem angelegt. Die Spaltung eines
etwa vorhandenen Abszesses hindert natürlich nicht, unmittel¬
bar nachher die Stauungshyperämie anzuwenden. Die Ver¬
bände sind ganz locker anzulegen. Mit Vorliebe verwenden
wir Handtuchverbände, welche nach Belieben geöffnet werden,
die Kontrolle von Zehen und Fingern und überhaupt der Stau¬
ung gestatten und zugleich den anschwellenden Gliedern aus-
weichen. Die Dauerstauung, welche wir bei den akuten ent¬
zündlichen Affektionen allein anwenden, führen wir täglich 20
bis 22 Stunden durch. 2 — 4 Stunden bleiben die Glieder ohne
Stauung und werden in dieser Zeit hochgelagert oder suspen¬
diert. Bei Gegenwart von frischen durch zufällige Verletzung
entstandenen Wunden, welche eine allzu mächtige Oedemisie-
rung verhindern (vergl. Nachstehendes), haben wir die Binde
häufig länger als 22 Stunden, bis zu 2 Tagen, ununterbrochen
liegen gelassen, immer vorausgesetzt, dass sie kein Un¬
behagen erzeugte. Wenn erst die Wunden granulieren, emp¬
fiehlt es sich, nicht mehr tagelang ohne Unterbrechung zu
stauen, da die Glieder schon in kurzer Zeit eine mächtige
Schwellung erfahren. Entsprechend der längeren Stase haben
wir auch das staufreie Intervall gelegentlich auf 6 — 8 Stunden
erhöht, um den grössten Teil des Oedems aus den Gliedern ab-
ziehen zu lassen. Im allgemeinen lässt man sich in der Do¬
sierung der Stauungshyperämie am besten durch die Grösse
der Schwellung leiten. Man staut längere Zeit, wenn trotz
richtigen Bindenzuges die Glieder nicht auffällig voluminöser
werden und suspendiert längere Zeit, sobald eine bedeutende
Schwellung eingetreten ist. In dieser Form führen wir die
Dauerstauung so lange durch, als die Infektion noch akut ist
und der Patient noch Fieber hat. Erst wenn dieses Stadium
überwunden ist, vermindern wir langsam die Stauzeit. So¬
bald eine frische Infektion, z. B. durch eine Sequestrotomie
hinzugetreten ist, tritt die vollkommene Dauerstauung wieder
in ihr Recht. Wie bei den meisten physikalischen Heilmethoden
der Hydrotherapie und der Elektrotherapie, so ist auch bei der
Stauungshyperämie ein Wechselzustand von grossem Nutzen.
Bei lang dauernden Osteomyelitiden. Phlegmonen, sofern sie
fieberlos geworden sind, schiebt man recht zweckmässig
zwischen kürzerer Stauperioden einige Tage Heissluftbehand¬
lung ein. Sie beschleunigt, wie Bier sagt, die Demarkation
und löst die Versteifung in ausgezeichneter Weise. Ueberhaupt
wird in der Dosierung der Hyperämie, was Dauer, Intensität
und Art anbetrifft, wieder die individuelle Abschätzung von
grosser Wichtigkeit sein.
Fixierende Verbände wenden wir nur selten, z. B.
nach Sehnennähten oder Frakturen bei Osteomyelitis an.
Wir legen sie nur ungern und nur für möglichst kurze Zeit an.
Denn sie verhindern uns, die Schmerzlosigkeit, welche wir
durch die Stauungshyperämie erzielen, zu ausgiebigen aktiven
und passiven Bewegungen auszunutzen und die.Versteifung der
Gelenke und Atrophie der Muskulatur zu vermeiden.
Neben den bekannten vielseitigen Wirkungen der Stau¬
ungshyperämie treten bei den frischen Verletzungen noch einige
besondere in Kraft.
Wer wiederholt frische Verletzungen gestaut hat, dem
wird es auffallen, dass im Anfang der Behandlung das ver¬
letzte Glied unter der Stauungsbinde sehr wenig oder gar
nicht anschwillt. Obgleich die Binde den nötigen Zug ausübt
und alle übrigen Erscheinungen, Wärme, Röte, Schmerzlosig¬
keit hervorbringt, bleibt die Schwellung in den ersten Tagen
aus, namentlich wenn durch die Verletzung grössere Haut¬
defekte entstanden sind, oder die Wunde durch die Naht nur
unvollkommen geschlossen wurde. Einige 1 age später ist das
Oedem ebenso leicht zu erzeugen, wie bei allen anderen ent¬
zündlichen Affektionen.
Der frische Zustand der Wunde ist die Ursache für diese
Erscheinung. Während die Wunden, die künstlich von uns bei
eitrigen Prozessen angelegt werden, von Anfang an in ent¬
zündetes und verändertes Gewebe fallen, wird durch die zu¬
fällige Verletzung gesundes Gewebe gesprengt. Aus diesem
Gewebsriss quillt das Oedem so lange reichlich heraus, bis die
Wunde durch Granulation verlegt ist. Der I ranssudations-
stroin, dessen Nützlichkeit auch L e x e r aufgefallen ist,
schwemmt jede Verunreinigung heraus und besorgt die Des¬
infektion gründlicher und schneller, als wir sie je auf mecha¬
nische oder chemische Weise durchführen könnten. Im gleichen
Sinne wirkt die Blutung, zu welcher die Wundfläche durch die
Stauungshyperämie angeregt wird. Wiederum in den ersten
Tagen, ehe die Granulationen aufgeschossen sind, ist das
Wundsekret blutig serös. Selbst der Laie schlägt ja die In¬
fektionsgefahr blutender Schnittwunden, aus welcher die Er¬
reger fortgeschwemmt werden, geringer an, als bei nicht
blutenden Nadelstichen, wo der lange, dünne Wundkanal
elastisch zusammenfällt und die Blutung unterdrückt, und er
sucht durch Kneten oder Quetschen der Umgebung die Blu¬
tung künstlich zu provozieren.
Schliesslich ist noch die ernährende Wirkung der Stau-
ungshyperämie von besonderer Bedeutung für die Heilung und
den Wundverlauf schwerer Verletzungen, welche so häufig
durch Quetschungen und Zerreissung der Gewebe durch
mangelhafte Ernährung und Nekrose der Entwicklung von Bak¬
terien Vorschub leisten. Dass die passive Hyperämie durch
den verlangsamten Blutstrom eine bessere Ernährung und Aus¬
setzung der Säfte ermöglicht, ist durch zahlreiche, in Biers
Monographie „Hyperämie als Heilmittel“ ausführlich be¬
sprochene Tatsachen und experimentelle Studien erwiesen.
Am deutlichsten offenbart sich eigentlich die ernährende Eigen¬
schaft der Stauungshyperämie in ihrer Wirkung auf brandige
Prozesse. Wir haben von ihr mehrfach bei Gangrän ver¬
schiedenen Ursprungs Gebrauch gemacht, sogar bei seniler
Gangrän, und beobachtet, dass sie alles vor dem Untergehen
bewahrt, was . sich noch eben retten lässt, und alles das zu
schneller Mumifikation bringt, was dem Tode verfallen ist.
Durch sie wird die feuchte Gangrän in eine trockene ver¬
wandelt, das Tote demarkiert und für die Abtragung des ab¬
gestorbenen Gewevbes ein günstiges Operationsgebiet ge¬
schaffen. In diesem Sinne kann auch hier die Wirkung der
Stauungshyperämie eine prophylaktische genannt werden.
Wenn die Gangrän sich erst durch die Stase im Kapillargebiet
ankündigt und noch die Aussicht besteht, dass sich die Zirku¬
lation wieder herstellt, dann wenden wir vorsichtige aktive
Hyperämie, Heissluftbehandlung bis etwa 60° an. Ueber die
Beeinflussung diabetischer Gangrän haben wir keine grössere
Erfahrung.
20. Der 68 jährige P. R. hatte seit 10 Monaten Schmerzen in der
vierten Zehe des linken Fusses. Trotz ärztlicher Behandlung waren
die Schmerzen stärker geworden. In der letzten Zeit verbreiteten
sie sich auch über den Unterschenkel und waren von solcher Heftig¬
keit, dass der alte Mann keinen Schlaf finden konnte.
Der für sein Alter rüstige Mann hat gesunde innere Organe.
Der Urin ist frei von Eiweiss und Zucker. Temperatur 37.4°.
Die vierte Zehe des linken Fusses ist bis in die Gegend des
Grundgelenkes erheblich geschwollen, dunkelblau verfärbt, spontan
und auf Druck äusserst schmerzhaft. Inmitten dere Dorsalfläche sind
die Weichteile in der Ausdehnung einer Linse bis nahe an den Knochen
geschwürig zerstört. An der medialen und plantaren Seite ist die
Haut in Blasen und Fetzen abgelöst, unter welchen dickei gelber
Eiter hervorquillt. An diesen Stellen dringt die Sonde auf weiche
Knochen. Eine starke entzündliche Röte verbreitet sich vom Grunde
der Zehen aus handbreit über Fussohle und Fussriicken.
Es wird sofort Dauerstauung eingeleitet. In der ersten Nacht
waren die Schmerzen bereits so erträglich, dass Pat. . leidlichen
Schlaf fand. Nach 2 Tagen war die entzündliche Röte von Fuss-
sohle und Fussriicken verschwunden.
3*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 3$.
Nach 2 Wochen hatten sich die Gangrän demarkiert, die Zehe
ist bis an das Grundgelenk schwarz, trocken, geschrumpft und durch
eine tiefe Furche von den angrenzenden Weichteilen geschieden,
welche jeder entzündlichen Reizung entbehren. Einige Tage nach
Exartikulation der Zehe wird der Patient geheilt entlassen.
Die Erfahrungen mit der Stauungshyperämie bei aus¬
gebildeten eitrigen Prozessen haben ein durch die Immunitäts¬
forschung und andere Heilmethoden bekanntes Gesetz bestätigt,
dass der Körper der eingedrungenen Schädlichkeit gegenüber
spontan nicht alle Schutzkräfte aufbringt, deren er fähig ist,
dass man seine Wehrkraft künstlich anfachen und steigern
kann. Gegen den keimenden Feind gerichtet, ist unser Hilfs¬
mittel von der grössten Wirksamkeit.
Indikationen für die Auswahl von Mineralwässern zu
Trinkkuren bei Vsrdauungskrankheiten und Stoffwechse!-
störungen.
Von Dr. W i 1 h. Flein er in Heidelberg.
(Schluss.)
Eine sehr wichtige Unterscheidung der Mineralwässer ist
nun diejenige in warme und kalte Brunnen. Die Em¬
pirie zeigt zwar, dass der eine den Genuss von kaltem Wasser
früh beim Erwachen und abends vor dem Einschlafen als bestes
Mittel zur Erhaltung der Gesundheit und normaler Darmfunk¬
tionen preist, während der andere nur auf warmes Wasser
schwört und beide finden ein Heer von Anhängern. Wir können
diesen scheinbaren Widerspruch ganz gut erklären damit, dass
bei gleicher Spülwirkung des kalten und des warmen Wassers
für den ganzen Verdauungsschlauch das erstere ein An¬
regungsmittel ist, das letztere dagegen ein Beruhi¬
gung s m i 1 1 e 1. Man könnte vielleicht einwenden, dass auf
die glatte Muskulatur von Hohlorganen die Hitze ebensogut
wie die Kälte einen Kontraktionsreiz ausüben kann. Man be¬
einflusst ja Blutungen aus dem erschlafften Uterus sowohl mit
kalten als mit heissen Ausspülungen; die letzteren sind zur Er¬
zielung eines kräftigen Tonus sogar vielfach beliebter, als die
ersteren (Eiswasserspülungen). Aehnliches Hesse sich über die
äussere Anwendung von Kälte und Wärme sagen. Zur Be¬
handlung des Magengeschwüres wird z. B. da der Eisbeutel,
dort der heisse Breiumschlag bevorzugt, oft allerdings nur
gewohnheitsmässig, denn für die tagelange Applikation des
Eisbeutels fehlt ebenso wie die zu Verbrennung und dauernder
Pigmentierung der Bauchhaut führende tagelange Applikation
des heissen Breiumschlages die befriedigende -physiologische
Begründung. Tatsächlich bringt aber ein für Stunden aufge¬
legter Eisbeutel den erschlafften Magen zur Kontraktion und
ein nach dem Beispiel des heissen Deckels der Volksmedizin an¬
gewandter warmer Umschlag, ein Heisswasserbeutel, ein Ther¬
mophor, ein Moorumschlag den zu schmerzhafter Kolik spa¬
stisch kontrahierten Darm zur Erschlaffung. Weitere Beispiele
für die Reizwirkung der Kälte würden die Verdauungsstörungen
liefern, welche nach dem Genuss allzu kalter Speisen und Ge¬
tränke auftreten. Ich erinnere an die Häufigkeit, mit welcher
in der Aetiologie so mancher Magen- und Darmkrankheiten
der „kalte Trunk“ auftritt, an das häufige Auftreten von
Magen- und Darmkrämpfen nach dem Genuss von Gefrorenem
(bes. bei leerem Magen), und an den Tenesmus, die Proktitis
und die Kolitis nach kalten Klystieren.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich im Gegensätze zu diesen Bei¬
spielen die einem Experimente gleichkommende Beobachtung am
Krankenbette, wo ich in einem Falle von Anus praeternaturalis aus
dem abführenden Schenkel des von unten her unzugänglichen Kolons
eingetrocknete Skybala zu entfernen hatte. Durch den mechanischen
Reiz des in das Kolon eingeführten Fingers oder Steinlöffels wurden
jeweils festhaltende Kontrakturen ausgelöst, welche jedes Arbeiten
im Darme unmöglich machten. Ich goss nun gut blutwarmes Wasser
von der Colostomiewunde her in den von dieser abwärts führenden
Kolonabschnitt — die Flexura sigmoidea — und erzielte dadurch eine
so vollständige schlaffe Dehnung des Darmes, dass die instrumenteile
Entfernung der erwähnten Massen spielend leicht ausgeführt werden
konnte.
Wir wählen also warme Heilquellen, wo wir
Reizerscheinungen von seiten des Magendarmkanals
mildern und beruhigen wollen, gleichgültig, ob diese Reiz¬
erscheinungen akut oder chronisch, motorischer, sensibler oder
sekretorischer Art sind. Der Vergleich, den vor mehr als
3X> Jahrhunderten Paracelsus zwischen dem warmen
Wasser der Thermen von Niederbaden und Wildbad mit Ka-
millenthee gezogen hat, war nicht schlecht, denn beim akuten
Auftreten eines Magenkrampfes, eines Grimmens oder eines
Durchfalls würde ein Becher genügend warmen Thermal¬
wassers ähnliche Dienste tun, wie ein Kamillen-, Pfeffermünz-,
Anis- oder Fenchelthee. Auch wochenlang täglich fortgesetzte
derartige Theekuren werden im Volke wahrscheinlich nicht
seltener gebraucht als Trinkkuren mit warmen Heilquellen.
Speziellere Indikationen für die Wahl einer warmen Heil¬
quelle sind von deti motorischen Reizerschei-
n u n g e n am Magendarmkanal : die peristaltische Un¬
ruh e und der Krampf an den Ostien des Magens, be¬
sonders am Pylorus, insofern diese Zustände nicht durch
Stenosen bedingt werden, die Hyper motilität des
Magens, welche durch gesteigerte Peristaltik zur vor¬
schnellen Fortschaffung des Mageninhaltes in den Darm führt,
ferner die peristaltische Unruhe des Darmes,
die Neigung zu schmerzhaften spastischen Koliken und
die gesteigerte — durch Stenosen nicht komplizierte —
Peristaltik des Darmes, welche den Speisebrei zu
rasch aus dem Bereiche der Verdauungssäfte im Duodenum
fortschafft und zu schnell an den resorbierenden Zotten vorbei¬
treibt und dadurch vermehrte Gärung und Fäulnis und schliess¬
lich infolge von übermässiger Reizung des Dickdarms durch
unverdaute Nahrungsreste und abnorme Gärungs- und Fäulnis¬
produkte Durchfälle herbeiführt. Sekretorische
Reizerscheinungen, vermehrte Abscheidung von
Darmsaff und Darmschleim, katarrhalische Zustände
sind mit den genannten Vorgängen oftmals verbunden, des¬
gleichen auch sensible Reizerscheinungen in Form
von dumpfen oder krampfartigen, wehenähnlichen Schmerzen
oder Koliken, deren Lokalisation manchmal auf örtliche patho¬
logische Veränderungen der Darmwand hinweist.
Somit sind im allgemeinen die warmen Heil¬
quellen als Stopfmittel anzusehen.
Der Salzgehalt ändert an dieser prinzipiellen Entscheidung
— wie wir später des näheren noch hören werden — - nicht viel,
so lange er nicht zu gross ist, die Mineralwässer also keine
hypertonischen Lösungen sind. Sogar die Karlsbader Quellen
sind hervorragende und namentlich bei chronischen Durchfällen
beliebte Stopfmittel, besonders der Sprudel, die wärmste der
dortigen Quellen. Es mag dies denjenigen überraschen, welcher
gewöhnt ist, das Karlsbader Salz, das künstliche sowohl als das
natürliche Sprudelsalz als Abführmittel zu verwenden. Die ab¬
führende Salzwirkung ist eine ganz andere, als die Wasser¬
wirkung — ich komme gleich darauf zurück und möchte hier
nur daran erinnern, wie häufig bei Trinkkuren in Karlsbad allein
zur Erzielung einer ausreichenden Darmentleerung den warmen
Quellen Sprudelsalz zu gesetzt werden muss. Wollen
sie evakuierende Wirkung ohne Salzzusatz erzielen, so ver¬
ordnen die Karlsbader Aerzte die kühleren dortigen Brunnen
oder lassen die wärmeren — beim Brunnenspaziergang oder
abends zu Hause — abkühlen.
Kalte Mineralwässer brauchen wir als
Reizmittel zur Anregung der Peristaltik bei
den motorischen Schwächezuständen am Magen-Darmkanal:
bei manchen Formen der Magenatonie und bei der atonischen
Verstopfung.
Die Empfindlichkeit des Magens und des Darmes gegen
kaltes Wasser ist individuell ausserordentlich verschieden und
erfahrungsgemäss sind kräftige Konstitutionen, d. i. blutreiche
und wohlgenährte Individuen, toleranter gegen die Aufnahme
kalter Mineralquellen in den nüchternen Magen, als ge¬
schwächte und blutleere. Die Reaktion, d. h. hier die Vor¬
wärmung im Magen und die Fortschaffung aus demselben
vollzieht sich bei verschiedenen Leuten ungleich schnell —
ähnlich wie die Reaktion der Haut nach einem kühlen Bade
oder nach einer kalten Abreibung. Man wird deshalb nicht nur
bei den Bädern, sondern auch bei den Trinkkuren individuali¬
sieren müssen.
Da die Reizwirkung eines kalten Brunnens der Tem¬
peraturdifferenz zwischen Körper- und Wasserwärme ent-
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1917
spricht, so sind wir imstande, diesen Reize den individuellen
Anforderungen eines Falles durch Vorwärmen entsprechend zu
dosieren. Zu diesem Zwecke sind in den Badeorten unmittel¬
bar neben den kalten Quellen geeignete Wärmevorrichtungen
angebracht.
Auch für die raschere Fortbewegung des Wassers im
Magen und im Darme sorgen manche Kurvorschriften empiri¬
scher Art: z. B. in Kissingen die altbeliebte Verordnung, bald
nach dem letzten Becher Racozy den Kaffe zu trinken, oder
in manchen Stahlbädern — hier kämen für Sie Rippoldsau,
Griesbach, Petersthal und Freyersbach in Betracht — die
kalten Brunnen erst nach dem Morgenkaffee gemessen zu
lassen.
Neben den genannten Wirkungen auf den Magendarmkanal
ist bei Trinkkuren die Beeinflussung der Nieren¬
tätigkeit von grosser Bedeutung. Bis zu einem gewissen
Grade verhalten sich die warmen und die kalten Wässer ziem¬
lich gleich; sie wirken bei Gesunden diuretisch. Bei metho¬
dischen Trinkkuren mit warmen Quellen nimmt aber die
Harnmenge ab, weil ein Teil des aufgenommenen Wassers
durch Schweiss ausgeschieden wird. Durch Trinkkuren mit
kaltem Wasser kommt in der Regel keine erhöhte Diaphorese
zustande. Mit dem Ansteigen der Harnmengen erhöht sich vor¬
übergehend auch die Menge der festen Bestandteile im Urin,
namentlich diejenige des Harnstoffs. Man hat früher geglaubt,
dass das Wasser einen wesentlichen Einfluss auf den Stoffver¬
brauch habe und die Eiweisszersetzung vermehre. Dies ist
aber nicht der Fall, denn auf den Stoffverbrauch wirkt reich¬
liches Wassertrinken nicht ein, auf die Eiweisszersetzung eben¬
sowenig wie auf die Fettzersetzung: es vermag nur für kurze
Zeit ein Ausspülen von N-haltigen Produkten aus dem Körper
zu erzeugen (R u b n e r). Von einem „Abführen durch die
Nieren kann also nicht eigentlich die Rede sein, auch nicht von
einer Anregung des Stoffwechsels, wie es in den Badeschriften
gewöhnlich heisst.
Wenden wir uns nun zu den pharm akodyn am i -
sehen Wirkungen der Heilquellen. Wir dürfen
diese lediglich nach den Hauptbestandteilen einer Heilauelle be¬
urteilen, zu welchen die freie Kohlensäure, das Kochsalz, die
Karbonate und Sulfate des Natriums und Magnesiums, der
kohlensaure Kalk, Eisen und Arsen gehören (Schmiede-
ber g). Andere minimale Quellenbestandteile, wie z. B. das
Lithium, haben wahrscheinlich keinen Heilwert (Glax).
Die freie Kohlensäure erhöht die Peristaltik, ver¬
mehrt die Diurese, letzteres wahrscheinlich durch Steigerung
des Blutdruckes; sie verstärkt also alle Wirkungen des kalten
Wassers. Man nennt die kohlensauren Mineralquellen Sauer¬
brunnen oder Säuerlinge. Die einfachen Säuerlinge mit nur
geringen Mengen fixer Bestandteile und nur ganz schwachen
alkalischer Reaktion werden hauptsächlich als sogen. Tafel¬
wässer verwendet.
Je nach der Art der in den Heilquellen enthaltenen Salze
unterscheidet man jene als Kochsalzwässer, alkalische Wässer,
alkalisch-muriatische Wässer, alkalisch-salinische Wässer,
Bitterwässer, erdige Wässer. Stahlwässer, Schwefelwässer
und als indifferente Wässer oder Thermen.
Salzlösungen beeinflussen die Magenverdauung nicht
wesentlich, schädigen aber die Schleimhaut, wenn sie stark
konzentriert sind; bekanntlich wird eine 5 — 6 prom. NaCl-
Lösung als physiologische bezeichnet. Im Magen wird kein Salz
oder nur sehr wenig reforbiert, auch der Flüssigkeitsstrom zum
Zwecke der Verdünnung einer Salzlösung ist geringer als man
das bis vor kurzem noch annahm. Deshalb werden Salz¬
lösungen im Magen niemals zur Isotonie gebracht (cf. Magnus:
Ergebnisse der Physiologie, II, 2, p. 669 und Ernst Otto:
Inaug.-Diss., Heidelberg 1905), sondern in stark hypotonischer
oder hypertonischer Konzentration in den Dünndarm weiter¬
geschoben. Erst hier (im Dünndarm) werden Salzlösungen be¬
liebiger Konzentration dem Blutserum isotonisch gemacht, in¬
dem aus hypotonischen Lösungen zuerst Wasser und aus
hypertonischen Lösungen zuerst Salz durch die Darmwand
aufgesaugt wird. Nur wenn sehr starke, die Darmwand
schädigende Konzentrationen in den Dünndarm gelangen, wird
der Widerstand der Darmwand durchbrochen und es findet
dann eine Abscheidung von Flüssigkeit in den Darm
hinein statt, bis die Isotonie erreicht ist und dann erst er¬
folgt die Resorption dieser Lösung.
Das Kochsalz ist ausserordentlich leicht resorbierbar;
es wirkt in hohem Masse diuretisch, abführend nur in grösseren
Dosen, daher der Zusatz von Salz oder Sole zu ungenügend
wirkenden Kochsalzwässern. Für die Verdauungsvorgänge im
Magen und im Dünndarme ist das NaCl insofern von grosser
Bedeutung, als es dem Blute die Stoffe liefert, aus welchen die
Magendrüsen die (HCl) Säure für den Magensaft, die Bauch¬
speicheldrüse und die Dünndarmdrüsen aber das (NaOH) Alkali
(kohlensaures Natron) für den pankreatischen Saft und den
Dünndarmsaft bereiten.
Die Tatsache, dass die Salzsäure des Magensaftes mit dem
kchknsauren Natron — unter Entwicklung der für die Zer¬
sprengung und Zerkleinerung der säuredurchtränkten Partikel
des Speisebreies so wichtigen Kohlensäurebläschen — sich im
Dünndarm wieder verbindet und als NaCl wieder resorbiert
wird, ist ein Beweis für die Bedeutung des Kochsalzes im
Körperhaushalt. Ueberdies ist nach Pawlows Unter¬
suchungen die Salzsäure des Magens der normale Erreger der
Bauchspeicheldrüse. Wir ordinieren die Salzsäure, wo sie im
Magensafte fehlt, nicht etwa nur, um die Fleischstücke — nach
dem L i e b i g sehen Beispiele — im Magen zu lösen, sondern
auch um die Bauchspeicheldrüse zur Arbeit anzuregen und da¬
durch die Dünndarmverdauung zu fördern. Wo also die
Salzsäure im Magensafte fehlt oder in unzu¬
reichender Menge abgeschieden wird, ist der
Gebrauch von Kochsalzwässern indiziert,
ebenso wie die Darreichung von Salzsäure nach den Mahlzeiten
indiziert ist.
Wir haben kalte und warme Kochsalzquellen,
die ersteren sind gewöhnlich reich an Kohlensäure. Bekannte
Typen der kalten Gruppe sind Kissingen, Homburg, Salzschlirf,
Pyrmont (Salzquelle), Mergentheim, Nauheim — bekannte
Typen der warmen Gruppe: Baden-Baden, Wiesbaden (Koch¬
brunnen) und Münster a. St. (Hauptbrunnen), auch Wildbad
enthält u. U. Kochsalz.
Die warme n und milden Kochsalzwässer scheinen die
resorbierenden Epithelien der Schleimhäute, welche sie be¬
spülen, günstig zu beeinflussen; sie wirken also nicht nur ver¬
stopfend durch die Wärme des Wassers, sondern auch durch
Besserung der Aufsaugung im Bereiche des oberen Dünn¬
darmes. Bei den Darmdyspepsien gastrischen Ursprunges, zu¬
mal bei den Diarrhöen infolge von schlechter Magenverdauung
durch Salzsäuremangel, sind die warmen Kochsalzwässer ganz
besonders indiziert.
Nur die kalten Kochsalzqnellen mit starkem Salzgehalt
und viel Kohlensäure wirken abführend.
Das leicht resorbierbare Kochsalz wirkt stark auf die
Diurese. Findet aber durch Krankheiten der Nieren eine ver¬
minderte Ausscheidung statt, so begünstigt die Retention von
Kochsalz das Zustandekommen von Oedemen (H. S t r a u s s).
Ob wohl alte Beobachtungen dieser Art der Empirie zugrunde
liegen, gesalzene Nahrung und Salzwässer bei Nierenkrank¬
heiten zu vermeiden und für diese die erdigen Quellen vom
Charakter Wildungens zu wählen?
Einen grossen therapeutischen Wert hat man bei den Ver¬
dauungsstörungen der verschiedensten Art mit Recht den
Alkalien zugeschrieben. Die mildeste Form ihrer An¬
wendung ist unstreitig die der alkalischen Wässer.
Sie werden als alkalische Säuerlinge oder einfache
Natronquellen, als alkalisch-muriatische (soda- und
kochsalzhaltige) Quellen und als alkalisch-salinische
(soda-, natrium- und magnesiumsulfathaltige) Brunnen unter¬
schieden. Von allen drei Gruppen haben wir warme und kalte
Quellen in grosser Zahl und grosser Verschiedenheit bezüglich
der Alkaleszenz.
Das kohlensaure und doppeltkohlensaure Natron dieser
Wässer ist ein Lösungsmittel für den Schleim; die Spül¬
wirkung auf den katarrhalisch erkrankten Schleimhäuten
ist deshalb grösser, als diejenige des einfachen oder nur koch-
I salzhaltigen Wassers. Katarrhe des Rachens, der
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
1918
Speiseröhre, des Magens und des Darmes sind
demzufolge Indikationen für Trinkkuren mit
alkalischen Wässern. Die Wirkung der letzteren ist
aber nicht nur eine schleimlösende, sondern auch eine sekre¬
tionshemmende, also wirklich kurative.
Auf experimentellem Wege ist durch Pawlow4) be¬
wiesen, dass die Soda auf den sekretorischen Apparat des
Magens und auf die Bauchspeicheldrüse eine hemmende
Wirkung hat. Der berühmte russische Forscher sieht sogar
die wichtigste Heilwirkung der Alkalien darin, dass sie die für
die genannten Drüsen so nachteilige Kontinuität der
Arbeit unterbrechen und durch die geschaffenen Ruhepausen
zur Beseitigung des pathologischen Zustandes und zur Rück¬
kehr zur Norm beitragen. ,,Man könnte eine Parallele ziehen
zwischen der Alkaliwirkung bei Verdauungsstörungen und der
Digitaliswirkung bei Kompensationsstörungen des Herzens.“
(P a w 1 o w.) Allerdings muss beim Gebrauch der Alkalien
den Verdauungsdrüsen auch durch strenge Diätvorschriften
eine gewisse Ruhe gesichert werden.
Als symptomatisches Mittel zur Bekämpfung der „Ueber-
säuerung“ des Magens sind die alkalischen Wasser und alka¬
lischen Salze (Natriumbikarbonat und Magnesia) ungemein be¬
liebt und verbreitet — es scheint aber mit den letzteren vom
Publikum viel Missbrauch getrieben zu werden.
Zum Zwecke der nötigen Dosierung und rechtzeitigen Dar¬
reichung der alkalischen Wässer ist es erforderlich, den Grad
der Uebersäuerung zu kennen und zwischen der Uebersäuerung
durch vermehrte Salzsäureabscheidung (digestive oder konti¬
nuierliche HCl-Hyperazidität) und derjenigen durch vermehrte
Bildung organischer Säuren (Fermentsäure-Hyperazidität) zu
unterscheiden. Die erstere ist eine Reizerscheinung und in den
meisten Fällen ein Geschwürssymptom — die letztere kann ein
Zeichen der Schwäche des sekretorischen und motorischen
Apparates sein, mit Verminderung, sogar mit Fehlen der freien
HCl und mit Magenatonie einhergehen. In solchen Fällen wird
es oftmals von Vorteil sein, mit der säuretilgenden Wirkung
eines alkalischen Wassers dessen Kälte und Kohlensäuregehalt
als Anregungsmittel zu verbinden. Bei der HCl-Hyperazidität
als Geschwürssymptom empfiehlt sich, neben der grösseren
Alkaleszenz auch noch die Wärme des Wassers als reiz¬
milderndes Mittel zu benützen, oder wenigstens kohlensäure¬
arme Natronquellen — keine bikarbonathaltigen — zu wählen,
um nicht durch ein übergrosses Volumen der bei der Neutrali¬
sation der Salzsäure freiwerdenden Kohlensäure den ge¬
schwürskranken Magen zu überdehnen. Ich entsinne mich
eines Falles aus der Konsultationspraxis, bei welchem nach
einer grossen Dosis Natron (Bikarbonat) infolge gewaltiger
Kohlensäureüberdehnung des Magens ein altes Geschwür per¬
forierte. — Gebrannte Magnesia hätte ohne Schaden für den
Magen die Säure auch getilgt.
Als bekanntere Beispiele unter den einfachen kalten
alkalischen Mineralquellen wären zu nennen:
Giesshübler .
Obersalzbrunner Oberbrunnen
Fachinger Wasser .
Biliner Sauerbrunnen ....
Vichy Celestins .
Eau de Vals (Marquise) . . .
mit ca.
V
V
1 Prom. Alkali
und unter den warmen:
Neuenahrer Sprudel .... „ 1
und Vichy Grande grille . . „ 5
Die Darreichung dieser, nach dem Salzsäure- und Gesamt¬
säuregehalt des Magensaftes auszuwählenden Brunnen ge¬
schieht — zum Zwecke der Einschränkung der HCl-Sekretion —
früh nüchtern und vor den Mahlzeiten, wobei aber bezüg¬
lich der Menge des Wassers und dem Zeitabstand vor einer
Mahlzeit die motorische Leistungsfähigkeit des Magens im ein¬
zelnen Falle berücksichtigt werden muss. Als symptomatische
Mittel zur Neutralisation überschüssiger Säuren im
Magen (sowohl überschüssig sezernierter HCl als übermässig
gebildeter organischer [Gährungs-] Säuren) gibt man alkalische
Wasser nach den Mahlzeiten in kleinen Portionen — je nach
4) Pawlow: Die Arbeit der Verdauungsdrtisen. Wiesbaden
1898, p. 124, 148, 165 u. 166.
Bedarf, vielleicht nur schluckweise — sobald sich das sub¬
jektive Gefühl der Uebersäuerung (Sodbrennen) einstellt.
Auch im Dünndarm entfalten die Alkalien hervorragende
Wirkungen physiologischer und kurativer Art. Bekanntlich
ist — da die Speichelverdauung im Munde nur kurze Zeit
dauert und im Magen die Ptyalinwirkung bei saurer Reaktion
sofort aufhört — der Hauptort der Kohlehydratverdauung der
Dünndarm und das Ptyalin der Bauchspeicheldrüse entfaltet
da seine saccharifizierende Wirkung, sobald der Speisebrei
alkalisch reagiert. Es wird also durch Alkalizufuhr, speziell
durch alkalische Wässer die Kohlehydratverdauung im Dünn¬
darm gefördert werden können; ich erinnere z. B. an das Kalk¬
wasser, das man so häufig der Milch und den Milchmehlspeisen
zusetzt, um deren Verdauung zu erleichtern.
Gährungsprozesse gehen im Dünndarm immer neben den
eigentlichen Verdauungsvorgängen einher. Die sauren Gäh-
rungsprodukte sind ebenso wie die Fettsäuren nach Fett-
spaltung Erreger der Darmbewegung. Im Uebermass gebildete
saure Gährungsprodukte können durch Alkalien neutralisiert
oder wenigstens in ihrer Wirkung abgeschwächt werden.
Die Physiologie lehrt, dass die fettsauren Verbindungen des
Kalks und der Magnesia (Kalk- und Magnesiumseifen) schwerer
löslich und weniger irritierend auf die Darmwand wirken, als
andere Alkaliverbindungen (Natronseifen). Wir werden also je
nach den vorliegenden Darmstörungen mit der Wahl von Al¬
kalien und alkalischen Wässern variieren und individualisieren
können. Im Dickdarm gelangen alkalische und alkalisch-
muriatische Wässer nur durch lokale Applikation zur An¬
wendung.
Von den alkalisch-muriatischen kalten Quel¬
len sind bei uns das bekannteste Selters, mit ca. 1 Prom.
Natr. bicarbonat. und 2 Prom. Kochsalz und von den warmen
die Quellen von Ems mit etwa 2 Prom. Natr. bicarb. und
1 Prom. Kochsalz.
Ungeheuer beliebt für systematische Brunnenkuren und
von Weltruf sind die alkalisch-salinischen Quel¬
len der böhmischen Bäder: vorab die warmen Quellen von
Karlsbad, dann die kalten von Marienbad und Franzensbad.
Aehnlich wie Karlsbad, aber viel ärmer an fixen Bestandteilen
ist Bertrich im Uesbachtal am Fusse der Eifel (Rheinprovinz),
ähnlich wie Marienbad ist die Salzquelle von Bad Elster in
Sachsen und am reichsten an hier in Frage kommenden Salzen
der Luciusbrunnen von Tarasp im Engadin.
Da ich die physiologische Wirkung und therapeutische Ver¬
wendung des Kochsalzes und des Natriumkarbonates — das
bei salzsäureproduzierendem Magen zum Teil wieder in Koch¬
salz umgewandelt und als solches resorbiert wird — bereits
besprochen habe, so erübrigt noch, auf das Verhalten der
Sulfate einzugehen: das Natriumsulfat (Glaubersalz) und das
Magnesiumsulfat(Bittersalz); letzteres der Hauptbestandteil der
Bitterwässer (beim Friedrichshaller und Mergentheimer neben
Kochsalz), sind die Hauptrepräsentanten der salinischen Ab¬
führmittel. Aus ihren Lösungen wird das Salz nur schwer weg¬
resorbiert, infolgedessen wird auch die Isotonie viel langsamer
erreicht, als bei Kochsalzlösungen. Die Mittelsalze durch¬
brechen nun, wegen ihrer schweren Resorbierbarkeit, schon bei
geringen Konzentrationen den Widerstand der Darmwand
gegen Wasseraustritt ins Lumen (vergl. Magnus: 1. c.) und
es erfolgt schon bei geringer Hypertonie der Lösungen eine
reichliche Ausscheidung von Wasser in den Darm hinein. D i e
Salze selbst re g'e n die Darmperistalitk nicht
direkt an, erst sekundär wird durch den vermehrten flüssi¬
gen Darminhalt die normale Peristaltik (mechanisch) angeregt,
welche dann zur Ausleerung flüssiger Stühle führt. Diese Ab¬
führung durch salinische Mittel' wird häufig überschätzt und sie
sollte deshalb kontrolliert werden, aber nicht etwa nach der
Zahl und Flüssigkeit der Stühle, sondern nach der palpatori-
schen Untersuchung des Leibes. Es kommt nämlich bei Trink¬
kuren gar nicht selten vor, dass trotz anscheinender Diarrhöe
eine paradoxe Kotverhaltung stattfindet und dass,
trotz vielseitiger Ausleerungen feste Kotmassen, oft von be¬
trächtlichem Umfange, im Darm Zurückbleiben, welche dann
durch andere Mittel entfernt werden müssen. Für solche Fälle
kommt dann — besonders in Kurorten — neböiranderen physi-
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1919
kalisch-therapeutischen Prozeduren die Massage des Leibes
in Anwendling, oder es werden neben den salinischen und
eventuell durch Salz- oder Solezusatz gestärkten Brunnen von
Zeit zu Zeit noch Abführmittel gegeben, zumeist in Form von
Pillen, welche die Peristaltik direkt anregen und die z. B. als
Marienbader oder Kissinger u. a. einen gewissen Ruf haben,
und von den Patienten auch nach der Trinkkur noch daheim
weitergebraucht werden.
Aus dem physiologischen Verhalten des Wassers und der
Salzlösungen im Darme lässt sich ersehen, dass auch mit salz¬
armen Wässern eine abführende Wirkung erzielt werden kann,
wenn nur die Flüssigkeit in einer zur Anregung der Peristaltik
hinreichenden Menge weit genug in den Darm hinunterkommt.
Der Vorteil salinischer Mineralwässer liegt aber auf der
Hand, denn schon bei relativ kleinen Mengen bewirken die
hypertonischen Lösungen schlecht resorbierbarer Salze eine
Verdünnungssekretion in den Darm hinein; es ist dies die alte
Ableitung auf den Darm oder besser durch den
Darm, der man von jeher grosse Bedeutung, zumal b 1 u t -
reinigende Wirkung zugesprochen hat. Jedenfalls hat die
Ableitung auf den Darm eine Entlastung des Pfortadersystems
und aller mit diesem in Zusammenhang stehender Bauchorgane,
besonders der Leber, der Magendarmschleimhaut und deren
Drüsen, im Gefolge.
Indirekt wird mit der Entlastung des Pfortadersystems
auch die Arbeit des Herzens erleichtert, zumal, wenn zugleich
mit wässerigen Ausleerungen eine schon oben im Dünndarm
vermehrte Peristaltik die aufsaugende Tätigkeit des Darmes
beschränkt und in der Folge eine Verringerung der Blutmenge
durch Eindickung zustande kommt. Auf diese Weise werden
auch die hydrämischen Zustände Chlorotischer und Anämischer,
unter Umständen sogar Hydropischer — ganz abgesehen von
einem Eisengehalt eines salinischen Brunnens — günstig be¬
einflusst. Wir legen aber gerade bei den anämischen Zuständen
auf den Eisengehalt der alkalisch-salinischen Wässer noch einen
besonderen Wert, weil wir eine direkte Wirkung des Eisens —
auch des Arsens — auf das Blut und besonders auf die mole¬
kularen Vorgänge in den roten Blutkörperchen annehmen.
Alle Bäder des Kniebisgebietes: Rippoldsau im Wolfstal,
Griesbach, Petersthal und Freyersbach im Renchtal, sind eisen¬
haltige Säuerlinge, ebenso Antogast.
Der Glaube, dass man durch Trinkkuren mit alkalisch-
salinischen Brunnen und Bitterwässern auch eine Reduktion
der Körpermasse bei Fettleibigkeit erzielen könne, ist
in Aerzte- und Laienkreisen weit verbreitet. Tausende von
Fettleibigen gehen in dieser Annahme alljährlich nach Karlsbad,
Marienbad, Tarasp, Kissingen, Homburg, Mergentheim u. ähnl.
Orten. Das Wasser allein tut es aber nicht und wenn auch
Fettleibige an solchen Orten während der Kurzeit in der Regel
' einige Kilogramm verlieren, so trägt an dieser Abnahme des
Körpergewichtes die Brunnenkur als solche nur einen kleinen
Teil der Schuld.
Ganz ähnlich ist es mit anderen Stoffwechselstörungen.
Diabetes und Gicht können durch Mineralwässer allein
nicht geheilt werden ; ebensowenigwieGallensteinedurchl rink¬
kuren zur Auflösung gelangen. Warum schicken wir aber trotz¬
dem Tausende dieser Kranken alljährlich zu Kuren in Badeorte
mit alkalischen, muriatischen oder alkalisch-salinischen Heil¬
wässern? Weil neben diesen Wässern eine Reihe von Heil¬
faktoren gerade in Badeorten in viel vollkommenerer Weise zur
Wirkung kommen, als das im häuslichen und beruflichen Leben
daheim möglich ist. In erster Linie kommt hier die Aende-
rung der Lebensweise in diätetischer Hin¬
sicht in Betracht, welche in der Behandlung von Stoff¬
wechselstörungen die wichtigste Rolle spielt.
In Laienkreisen ist der Glaube verbreitet, dass zu
einem bestimmten Brunnen eine bestimmte
Diät gehöre — ich erinnere nur an die sogen. Karlsbader
Diät. Wir allerdings müssen uns sagen, dass eine bestimmte
Diät nicht zum Wasser, sondern zur Heilung einer bestimmten
Krankheit eines Menschen gehört und deshalb individuell
verordnet werden müsste. Dieser ärztlichen Forderung ent¬
sprechen aber die grossen Hotels der vielbesuchten Kurorte
nur in sehr beschränktem Masse, weil eine ku rgemässe
Diät den Interessen mancher Wirte nicht entspricht. KC111
Wunder, dass an allen grösseren Kurorten diätetische Km“
anstalten unter ärztlicher Leitung in immer wachsender Zahl
entstehen und aufblühen.
Die Zeit verbietet es mir, näher auf die Ernährungstherapie
bei Stoffwechselkrankheiten einzugehen, obwohl ich Diät und
Lebensweise für die mächtigsten Heilfaktoren bei diesen Kiank-
heiten halte, und beschränke mich auf die Betonung der Tat¬
sache, dass alkalische, muriatische, alkalisch-muriatische und
alkalisch-salinische Mineralwässer ganz wesentliche L ntei stutz-
ungsmittel für die diätetische Behandlung derStoffwechselkiank-
heiten sind. In den betr. Kurorten machen die Kranken, die
ich hier im Auge habe, wenn sie die Kurvorschriften befolgen,
den Anfang zu einer neuen, hygienischen
Lebensweise, sie lernen es verstehen, dass zur Wider¬
erlangung der Gesundheit oder wenigstens zur Ei haltung eines
erträglichen Daseins bei hinreichender Leistungsfähigkeit eine
Regulierung des körperlichen Haushaltes nötig ist und zwischen
Einnahmen und Ausgaben im Körperhaushalt kein Missver¬
hältnis bestehen darf. Dem Hausarzte ist es nach einer gut¬
geleiteten Kur in einem Badeorte viel leichter, seine ein¬
sichtigen Kranken vor den Gefahren, die in den abnormen kon¬
stitutionellen Anlagen oder in unzweckmässiger Lebensweise
liegen, auf Jahre hinaus zu schützen. Wer allerdings glaubt,
dass er in den 4 Wochen seiner jährlichen Kurzeit duicli
Wassertrinken wegspülen könne, was er sich in den übrigen
11 Monaten des Jahres angeschlemmf hat, wird früh genug an
den Folgen erkennen, dass seine Rechnung falsch war.
M. H. ! Ich konnte Ihnen nur in kurzen Zügen das prak¬
tisch so wichtige Gebiet der Behandlung von Veidauungs- und
Stoffwechselstörungen mit Mineralwässern schildern. Sie
haben aber meinen Ausführungen wohl entnehmen können, dass
wir in den natürlichen Mineralwässern einen therapeutischen
Schatz von ungeheuerem Werte besitzen. Aus diesem Schatze
können wir für jeden unserer Kranken ein passendes Kleinod
wählen, wenn wir dessen Leiden bis zu den feinsten Stö¬
rungen, die es verursacht, genau erforscht haben. Nur unter
dieser Voraussetzung kann eine Heilquelle die volle „Tugend
und Kraft“ entfalten, die ihr innewohnt. —
- -
Zur Eröffnung des Institutes für experimentelle Krebs¬
forschung in Heidelberg.
Von. Prof. Dr. Voelcker in Heidelberg.
Am 25. September 1906 wird in Heidelberg ein Institut er¬
öffnet werden, welches in Deutschland das erste seiner Art ist
und das Interesse weiterer medizinischer Kreise erregen dürfte.
Es verdankt seine Entstehung der Initiative Czernys.
Während die zur Zeit bestehenden Institute teils nur der Be¬
handlung und Pflege von Krebskranken, teils nur der ex¬
perimentell-pathologischen Erfahrung dieser Krankheit ge¬
widmet, oder, wenn sie beides zu vereinigen trachten, nicht mit
chirurgischen Hilfsmitteln ausgerüstet sind, hat es C z e r n y
unternommen, ein modern eingerichtetes und speziell für den
Zweck erbautes Krankenhaus zur Aufnahme von Karzinom-
kranken zu schaffen und an ein in grossem Stile angelegtes
wissenschaftliches Institut anzugliedern. Durch diese Kombi¬
nation soll einerseits in reiner Humanität dem Interesse dci
Krebskranken gedient und ihnen in schönen Räumen eine gute
Unterkunft und die Anwendung aller rationellen Hilfsmittel der
Therapie garantiert werden, andererseits soll die wissenschaft¬
liche Abteilung aus dem Operationssaale das notwendige
Geschwulstmaterial zu ätiologischen und parasitologischen
Studien beziehen.
Nachdem bis jetzt noch immer die chirurgische Behand¬
lung des Karzinoms als die wirksamste gelten muss, ist die
Krankenabteilung als chirurgisches Krankenhaus gebaut, so
dass alle notwendigen Operationen ausgeführt und nachbe¬
handelt werden können, also ausser den Operationen, welche
durch Entfernung alles Erkrankten auf eine radikale Heilung
abzielen, auch solche, welche durch partielle Exstirpationen,
durch Aetzungen, Exkochleationen, Thermokauterisationen
usw. einzelne den Kranken besonders quälende Symptome be-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
scitigen oder auch anderen therapeutischen Methoden den
Boden vorbereiten.
Daneben ist durch Anschaffung der betreffenden Ein¬
richtungen dafür gesorgt, dass auch die Radium-, Röntgen-,
und Lichttherapie zur Anwendung gelangen können.
Auch die immer wieder neu auftauchenden Mittel zur Hei¬
lung des Krebses sollen, soweit ihre Herstellung oder An¬
wendung wissenschaftlich begründet und rationell erscheint,
den Kranken zugute kommen. Das Fehlen anderweitiger prak¬
tischer Erfahrungen, das bei diesen Mitteln die Regel ist, und
die Kritik, welche ihnen gegenüber doppelt am Platze scheint,
werden von selbst dazu führen, dass die Anwendung aller neu
angepriesenen Krebsheilmittel in der Praxis auf eine gewissen¬
hafte Wertprüfung derselben hinausläuft, und der Direktor des
Institutes hofft, dass die Erfahrungen mit diesen Mitteln, von
Zeit zu Zeit veröffentlicht, die Wahrheit fördern und auch für
die Allgemeinheit segensreich wirken werden. Die Ver¬
knüpfung des Institutes mit der Universität macht es leicht
möglich, in regelmässigem Unterricht und in praktischen Kur¬
sen Studenten und Aerzten Gelegenheit zum Lernen zu bieten.
Ferner stellt sich die Krankenabteilung des Institutes die
Aufgabe, Patienten, welche aus irgend einem Grunde — oft
werden sie es selbst wünschen — ungeheilt entlassen werden,
auch in ihrer Heimat im Einvernehmen mit ihren Aerzten zu
überwachen und mit Verbandstoffen und so weit als möglich
auch mit materiellen Unterstützungen zu versehen. Auf diese
Weise sollen nebenbei die häuslichen Verhältnisse der Krebs¬
kranken festgestellt und nachgeforscht werden, ob das enge
Zusammenwohnen, ob hereditäre Momente, ob die Beschaffen¬
heit des Bodens und der Ernährung eine Rolle bei der Ver¬
breitung der Krebskrankheit spielen. In dieser Beziehung
wird das Institut mit dem badischen Landeskomitee und
dem Zentralkomitee für Krebsforschung in Berlin Zusammen¬
arbeiten.
Die Krankenabteilung führt den Namen „Samariterhaus“.
Hand in Hand gehend mit ihr soll die wissenschaftliche
Abteilung das Problem der Aetiologie und Therapie des Krebses
von verschiedenen Gesichtspunkten aus angehen. Sie zerfällt
in eine anatomische, biologisch-chemische und eine parasito-
logische Abteilung, denen gemeinsam eine experimentell¬
pathologische zu Gebote steht. Für diese Zwecke sind in
einem eigenen Gebäude ausgedehnte Räumlichkeiten vorge¬
sehen, welche nach dem Muster ähnlicher wissenschaftlicher
Institute mit den voraussichtlich notwendigen Apparaten aus¬
gestattet sind. Auf diese Weise wird die Untersuchung der
durch Exstirpation gewonnenen Präparate, welche in dem
grossen Betriebe einer chirurgischen Klinik leicht etwas zu
einseitig und zu schematisierend gehandhabt wird, eine viel¬
seitigere und umfassendere sein. Ein anderer Teil der zur
Verfügung stehenden Räumlichkeiten dient zur Unterbringung
der verschiedenartigsten Versuchstiere, weil besonders der
Krebs der Tiere experimentell-pathologisch studiert und die
Bedingungen der Uebertragung, der Heilung und der Immuni¬
sierung untersucht werden sollen. Auch ist in das Programm
der wissenschaftlichen Abteilung die experimentelle Nach¬
prüfung vorgeschlagener Behandlungsmethoden und die Her¬
stellung therapeutisch erprobter oder zu erprobender Sera auf¬
genommen und es wird gerade in dieser Beziehung eine be¬
sonders wirksame Zusammenarbeit der wissenschaftlichen
Abteilung mit der Krankenabteilung zu erwarten sein und das
Heidelberger Institut hofft auf eine Beförderung dieser Be¬
strebungen durch das Institut für experimentelle Pathologie
und Therapie in Frankfurt a. M. von Herrn Geheimrat
Ehrlich.
Zur Herstellung der Gebäude, welche diesen hoch ge¬
steckten Arbcitszielen dienen werden, waren vor allem be¬
deutende finanzielle Mittel notwendig und es ist Czernys
Energie gelungen, die Mithilfe grossmiitiger Wohltäter zu er¬
werben und eine Bausumme von ca. 800,000 Mk. aufzubringen.
Die Namen der Geber, welche zum Teil enorme Summen für
die Verwirklichung des Planes gespendet haben, sind folgende:
V. Czerny selbst, G. Ebbinghaus, R. Fleischer,
J. N. K i s s 1 i n g, Fr. H a n i e 1, Frau Fritz Fischer, Frau
E. A. K r u p p, Frau Wilh, Meister, O.Baum, v.Bernus,
Aug. Bier, Baron B o e t z e 1 a e r, Ad. v. B r ii n i n g, Hell.
B u h 1, P. v. E e g h e n, Ferd. F i g d o r, Phil. E r i t s c h, M. v.
G u i 1 1 a u m e, R. F. C. G u i 1 1 a u m e, L. Hage n, A. L. A.
Hahn, J. N. N e i d e m a n n. Gab. v. L a n g, Familie Land-
fried, G. Leussen, C. Laden bürg, W. v. Osterrot h,
Carl R c i s s, W. Schniewind, Fr. Schott, Aug. Thys¬
sen, ü. V u 1 p i u s, Jul. W ertheimber, Hel. Zorn.
Die Grossherzoglich Badische Regierung hat für den Bau
der Krankenabteilung einen Platz von 24,35 a, anstossend
an das akademische Krankenhaus zur Verfügung gestellt, aus
den Geldern der Stiftung sind benachbarte Grundstücke in
einer Grösse von 16,29 a mit den daraufstehenden Gebäuden
für die wissenschaftliche Abteilung hinzugekauft worden.
Die Leitung des Institutes liegt für die nächsten 5 Jahre in
den Händen von Exz. Czerny. In der Krankenabteilung
wirken als klinische Assistenzärzte die Herren Privatdozent
Dr. Werner und Dr. L i e b 1, ferner eine Oberin, 9 Kranken¬
schwestern, ein Portier, ein Krankenwärter und ein Ver¬
waltungsbeamter. Für die wissenschaftliche Abteilung sind als
Chefärzte die Herren Prof. Freiherr v. Düngern und Stabs¬
arzt v. Wasielewski vorgesehen, der erstere für die
experimentelle und biologisch-chemische Abteilung, der letztere
für die parasitologische Abteilung. Zwei wissenschaftliche
Assistenten sind noch nicht ernannt, von denen der eine das
chemische Laboratorium unter Herrn v. Dünger ns Leitung
führen, der andere die anatomischen Untersuchungen unter des
Direktors und Herrn v. Wasielewskis Leitung ausführen
soll. Ein Institutsdiener und zwei Gehilfen besorgen die Rein¬
haltung des Instituts und der Ställe und helfen bei der Arbeit.
Baubeschreibung.
Von Baurat Koch in Heidelberg.
Das Institut für experimentelle Krebsforschung besteht aus einem
dreistöckigen Neubau, Samariterhaus, der zur Aufnahme, Unter¬
suchung, Operation und Pflege der Kranken dient, und aus einem
älteren umfangreichen Gebäudekomplex, in welchem ausser den Woh¬
nungen für verheiratete Beamte und den Räumen für Bibliothek und
sonstige Zwecke insbesondere auch die Abteilung für die wissen¬
schaftliche Forschung untergebracht werden soll.
Das Samariterhaus ist auf fiskalischem Gelände errichtet, es
liegt mit seiner Hauptfront an der Vossstrasse, die auch das Gebiet
des akademischen Krankenhauses begrenzt. Die geringe Tiefe des
Bauplatzes einerseits, andererseits die Zweckbestimmung des Baues,
nämlich ausser den Aufnahme-, Untersuchungs- und 'Operations¬
räumen einer Abteilung für Privatpatienten und einer solchen für
Kranke III. Klasse Raum zu bieten, waren massgebend für die Ge¬
stalt des Grundrisses, insbesondere für die nicht unerhebliche Längen¬
ausdehnung des Gebäudes.
Der Neubau enthält im westlichen Flügel in den drei Stock¬
werken je einen Krankensaal für Kranke III. Klasse mit je 9 Betten,
je einen Tagraum mit Veranda gegen Süden, Bad, Spülraum und
Aborte; im östlichen Flügel im Erdgeschoss einen Raum für Ver¬
waltungszwecke, die Aufnahmeräume für Patienten der verschiedenen
Klassen, die Arbeitsräume des Direktors, einen Raum für mikro¬
skopische Arbeiten und einen solchen zur Aufstellung von Sammlungs-
| schränken; in den beiden Obergeschossen befinden sich je vier Kran¬
kenzimmer gegen Süden für Patienten I. und II. Klasse, zu je 2 Betten
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1921
berechnet, je ein Tagranm mit Veranda und die erforderlichen Neben¬
räume wie Bad, Spülraum und Aborte. Im Erdgeschoss des Mittel¬
baues liegen östlich der Eingangshalle die Pförtnerloge, westlich ein
Raum für frische Wäsche, östlich der Treppe die Teeküche für die
Krankenabteilung in diesem Stockwerk, westlich ein zurzeit noch
disponibler Raum; im I. Obergeschoss gegen Norden der Operations¬
raum, daneben die Räume für Sterilisation, Chloroformierung und
Verbandstoffe, gegenüber neben der Treppe die für beide Krankenab¬
teilungen nötige Teeküche und der Vorbereitungsraum für die Ope¬
ration.
Im II. Obergeschoss des Mittelbaues sind über dem Operations¬
raum und den Nebenräumen zwei Wohnungen für Aerzte, zu beiden
Seiten der Treppe die Teeküche und ein Isolierzimmer vorgesehen.
Der Dachstock enthält im Mittelbau die Wohnung der Oberin, neben
der Treppe die Esszimmer der Schwestern und Hausmädchen, in den
beiden Flügeln die Schlafräume für das Pflege- und sonstige weib¬
liche Personal, sowie die weiter erforderlichen Nebenräume.
Im Kellergeschoss ist der Raum westlich der Treppe mittels einer
Wendeltreppe mit dem darüberliegenden verbunden. Für seine Ver¬
wendung ist noch keine Bestimmung getroffen. Unter der Theekiiche
liegt der Sortierraum für schmutzige Wäsche; die übrigen Räume im
Mittelbau und der ganze Westflügel dienen zu Heizzwecken. Im Ost¬
flügel befinden sich unter den Aufnahmeräumen für Patienten der
Raum für Röntgenutersuchungen, daneben die Dunkelkammer; die
übrigen Räume dort bleiben vorerst noch unverwendet.
Auf einen gediegenen und den derzeitigen Ansprüchen an ein
Krankenhaus entsprechenden inneren Ausbau ist besonders grosser
Wert gelegt worden. Zu sämtlichen Zwischendecken sind sogenannte
Sieg wart sehe Hohlbalken zur Verwendung gekommen, welche
in allen Krankenräumen, Korridoren, im Treppenhaus und den Wohn-
und Schlafräumen mit einem fugenlosen Estrich „Sanitas“, Korkment
und Linoleum belegt sind. Den Wänden entlang bildet eine Hohl¬
kehle, ebenfalls aus „Sanitas“ bestehend, den Uebergang zum Boden¬
belag. Theekiichen, Operationsräume und Bäder haben Plättchen¬
belag als Fussboden und an den Wänden, Aborten, Spülräume und
der Mikroskopierraum Terrazzobelag. In der Eingangshalle, wo eine
Marmortafel mit den Namen der hohen Protektoren, der Stifter und
Wohltäter des Institutes zur dauernden Erinnerung angebracht
ist, und in den Korridoren der Privatabteilungen sind die
Wände mit Kunstplatten aus der Fabrik des Professors K o r nhas
bekleidet. Ueberhaupt ist auf eine etwas über das sonst in den
hiesigen Kliniken übliche Mass hinausgehende innere Ausstattung des
Baues Rücksicht genommen und damit auch die Einrichtung in Ein¬
klang gebracht. Die Entwürfe hierfür sind von Professor Eyth an
der Kunstgewerbeschule in Karlsruhe gefertigt. Sämtliche Räume
sind mit Oelfarbe gestrichen, in verschiedener Behandlung und Farb¬
gebung, und besitzen in der Farbe dazu passenden Eussbodenbelag. Die
Decken sind mit Kalkfarbe getüncht, im Operationsraum und den
Nebenräumen mit Ripolin gestrichen; gleichen Anstrich haben die
in den Räumen freiliegenden Rohrleitungen und Heizkörper. Zu fast
allen Türen ist Koptoxyl zur Verwendung gekommen, damit deren
Oberfläche vollkommen glatt ist. In gleicher Art ist auch das
Mobilar gehalten, in verschiedenen Holzsorten je nach der
Stimmung und dem Zweck der Räume, in einfacher aber gediegener
Ausführung.
Zur Heizung des Baues dient eine Niederdruckdampfheizung mit
glatten Radiatoren als Heizkörper in den einzelnen Räumen; frische
Luft wird den in den Fensternischen aufgestellten Heizkörpern von
aussen direkt zugeführt, die Entlüftung aller Räume erfolgt durch
Aspirationsanlagen in den auf dem Dache in Form von Dachreitern
sitzenden Abzügen.
Die Entwässerung ist an die Kanalisation des akademischen
Krankenhauses angeschlossen. Mittelst eines begehbaren Kanals ist
der Neubau mit dem Kesselhaus des Krankenhauses verbunden; in
diesem wird ihm Hochdruckdampf für Sterilisationszwecke, Des¬
infizierung und für die Wärmeschränke etc., ferner warmes und
Pumpwasser zugeführt. Trinkwasser ist der städtischen Leitung ent¬
nommen. Für Kochzwecke ist Gasleitung vorgesehen. Die Be¬
leuchtung erfolgt auf elektrischem Wege. Ein Personenaufzug im
Treppenhaus dient zum Transport von Schwerkranken, ein Aufzug
in den Teeküchen zum Transport der Speisen.
Die zur Zeit der Planbearbeitung zur Verfügung stehenden Mittel
nötigten zur möglichst einfachen Gestaltung des Aeusseren.
Von einer Putzfassade hat man der kurzen Dauer des Putzes wegen
abgesehen, dagegen war man bestrebt, durch Verwendung von ver¬
schiedenfarbigem, aber dauerhaftem Material, durch einen hohen
Mittelgiebel und Steingauben den langgestreckten Bau einigermassen
zu beleben. Der weisse Anstrich der Fensterrahmen dürfte nicht un¬
wesentlich zur Erreichung eines freundlichen Aussehens beitragen.
Die Wandflächen sind mit rotbraunen Backsteinen aus der Ziegelei m
Pfungstadt bekleidet, als Hausteine sind helle Sandsteine aus den
Brüchen bei Siegelsbach verwendet. Die Dachflächen sind mit rot¬
braunen engobierten Biberschwänzen eingedeckt.
Das Hintergebäude, das durch Ankauf erworben ist und im In¬
nern umgebaut wird, soll wie schon erwähnt, ausschliesslich wissen¬
schaftlichen Zwecken dienstbar gemacht werden. Der geräumige,
massig gewölbte Keller im Nordflügel steht mit dem Neubau in Ver¬
bindung. Dort sollen Aquarien und Behälter für Amphibien, Rep¬
tilien und sonstige kleine Tiere zur Aufstellung gelangen. Her Kellci
des Mittelbaues wird den Maschinenraum, die Werkstätte, einen
Vorratsraum und einen Kühlraum enthalten. Im Erdgeschoss sind
im Nordflügel ein Leichenraum, ein Sezierraum und ein Vorberei¬
tungsraum, im Mittelbau ein Operationsraum, ein Experimentierraum
mit Vorbereitungsraum, im Siidfliigel Ställe für Grossvieh und kleineie
Tiere, sowie ein Baderaum für Tiere vorgesehen. Das I. Oberge¬
schoss wird für Arbeitsräume der Direktoren der Abteilung, für Labo¬
ratorien, das II. Obergeschoss im Nordflügel gleichfalls für Arbeits¬
räume, der Dachstock im Mittelbau für Vorratskammern und Ställe
für Affen, der Dachstock im Südflügel für photographische Arbeiten
und endlich das Dachgeschoss im Nordflügel für Schlafräume für das
männliche Personal hergerichtet werden.
Im gegenüberliegenden Nebengebäude wird ein Isolierstall einge¬
richtet. Vom Neubau aus wird das Hintergebäude mit Heizung,
Warm- und Pumpwasser, Trinkwasser aus der städtischen Leitung,
Gasleitung und elektrischer Beleuchtung versorgt.
Die an diese Abteilung gegen Süden sich weiter anschliessen¬
den Gebäulichkeiten, ein dreistöckiges, an der Bergheimerstrasse
liegendes Wohnhaus mit Seitenflügel, sind, wie bereits angedeutet,
zur Unterbringung der Bibliothek und sonstigen Zwecken noch die¬
nender Räume, ferner der Dienstwohnungen von Beamten und des
Hausmeisters bestimmt.
Zahntherapeutisches von den Eingeborenen Afrikas.
Von Bernhard Struck.
Es ist bekannt, dass die Eingeborenen Afrikas bessere Zähne
haben als die meisten Europäer, aber es wird häufig vergessen, dass
sie ihre schönen Zähne weniger der Natur und ihrer Ernährungsweise,
als vielmehr einer so sorgfältigen Pflege derselben verdanken, dass
viele Afrikaner darin manchem Europäer ein Vorbild sein können.
Was tut nun der afrikanische Eingeborene, wenn seine Zähne
krank sind? Welche Mittel gegen Zahnschmerzen kennt er, und
welche Operationen führt er aus?
Man denkt zunächst an das bei den Negern häufige Ausschlagen
oder Spitzfeilen der Zähne, aber davon ist natürlich abzusehen, da
derartige Operationen als Stammesabzeichen, zwecks „Verschöne¬
rung“ oder aus anderen nicht medizinischen Gründen vorgenommen
werden. Indessen muss es, wie schon Bartels hervorhebt, über¬
raschen, gerade da so vielfach die Emailschicht der Zähne verletzt
und zerstört wird, im allgemeinen so wenig über Zahnoperationen
und Krankheiten der Zähne zu hören, und hier ist denn auch der Punkt,
wo in einzelnen Gegenden die Therapeutik des afrikanischen Zahn¬
künstlers einsetzt. Von den Ngumba (Süd-Kamerun) wissen wir
z. B., dass nach beendetem Ausschlagen dem Betreffenden der Saft
der Frucht oder die Abkochung der Blätter eines Baumes (ssön ge¬
nannt) in den Mund gegeben wird, „damit dadurch die Zähne wieder
fest würden“.
Was nun die eigentliche Zahntherapeutik betrifft, so finden wir
den afrikanischen Arzt im Besitz zweier Methoden, seinem Patienten
zu helfen. Die eine besteht in der Verabreichung gewisser schmerz¬
stillender' Dekokte, von denen uns bei der Heimlichkeit, mit der der
Fetischarzt seine Mittel umgibt, und bei der Gleichgültigkeit der
meisten Europäer diesen Dingen gegenüber, leider erst wenige, und
auch diese meist unvollkommen, bekannt geworden sind. Am oberen
Nil z. B. wird in dieser Weise die Wurzel einer Leguminose (Dal-
bergia melanoxylon Quill, und Per.) angewendet. Die westlich davon,
am Oberlauf des Uelle wohnenden Völker der A-Madi, A-Mangbattu,
A-Bangba und Mangballe gebrauchen nach Junker (Zeitschr. f.
afrikan. Sprachen III, S. 70 ff.) als Mittel gegen Zahnweh die zer¬
riebene und gekochte, apfelgrosse (3 — 4 Kerne von Walnussgrösse
enthaltende) Frucht eines am Flusse wachsenden armdicken Schling¬
gewächses, das bei ihnen a’kädesso, nepujo bezw. kässo heisst (merk¬
würdigerweise dient derselbe Absud auch als Elephantengift, und
Teile der Pflanze werden bei Hungersnot in der Wildnis gegessen).
Wie jedes afrikanische Heilverfahren ist natürlich auch die Dar¬
reichung dieser Medizin von allerlei Vorbereitungen und Zeremonien
umgeben, durch die der Fetisch, der von dem Kranken Besitz er¬
griffen hat, beschworen oder ausgetrieben werden soll. Der wirk¬
liche Wert dieses Zaubers besteht in der häufig eintretenden sug¬
gestiven Wirkung und — in dem Honorar, das der Fetischarzt dann
beanspruchen darf. Dass unter solchen Umständen europäische
Aerzte, wo sie einmal ihre Arbeit begonnen haben, im allgemeinen
grossen Anklang finden, liegt auf der Hand.
Damit darf aber den von den Eingeborenen angewandten Mitteln
die Wirksamkeit nicht von vornherein abgesprochen werden; im
Gegenteil, bei der häufig beobachteten, namentlich von E. Sc h a e r
(Verh. d. Gesellsch. Deutsch. Naturf. u. Aerzte, 71. Vers., 1899) be¬
tonten instinktiven Auffindung von Heilstoffen durch Naturvölker ist
es durchaus nicht unmöglich, bei genauerer Untersuchung der viel¬
fachen Medizinpflanzen der Eingeborenen noch manches für die
heimische Therapeutik wichtige Resultat zu gewinnen, und zwar für
alle Gebiete der Medizin. Wo jedoch, wie auch bei uns häufig auf
dem Lande, ein Universalmittel sich breit gemacht hat, wie z. B. das
Schröpfen bei den Bäsari und den verwandten Stämmen in Togo, oder
der mystisch-religiös gedachte „Diamba“ (Hanf, Cannabis sativa L.),
922
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
der sonst so hochstehenden Baschilauge im südlichen Kongobecken,
da ist für jene Zwecke nichts zu holen.
Inwiefern auch die Art der als Zahnbürsten zur Verwendung
kommenden Hölzer (wie z. B. bei den Madi Crataeva Adansonia Guill.
und Per., bei den Kitsch und Bor Salvadora persica L.) Wert zu
legen ist, müsste später noch untersucht werden; das gleiche gilt von
den Früchten von „mkua“ (Hexalobus senegalensis A. D. C.), mit
denen die Wanyamwezi in Deutsch-Ostafrika ihr Zahnfleisch und ihre
Zähne färben, und von den entsprechenden Substanzen anderer
Stämme.
Ganz anders, auch jedes zeremoniellen Charakters natürlicher¬
weise entbehrend, ist die zweite Methode, die unserem Zahnziehen
entspricht, aber so roh ist, dass sie eher den Namen einer Quälerei
als den der Hilfe verdient. So klopft der Wadschaggaarzt, mit seinem
Patienten am Boden hockend, mit einem spitzen Stein in kurzen,
kräftigen Schlägen gegen den schmerzenden Zahn, bis er sich so weit
lockert, dass er mit dem Finger entfernt werden kann. Oder bei den
Waschambaa, die übrigens ebenso wie die Wadschagga auffallend
viel an Zahnschmerzen leiden (schlechte Pflege, Bananennahrung?),
wird der Zahn mit einem Messer oder gar mit dem Speer fort-
gestossen; ziemlich dasselbe wird von den Bawenda im nördlichen
Transvaal berichtet, die kranke Zähne mit Assegaienspitzen oder mit
Meisseischlägen aus dem Kiefer zu entfernen suchen. Mit welcher
Gewalt sie dabei zu Werke gehen, zeigt eine von Wangemann
(Ein zweites Reisejahr in Südafrika, Berlin 1886) mitgebrachte Photo¬
graphie eines armen Patienten, dem bei einer solchen Gelegenheit
ein grosses Stück des horizontalen Unterkieferastes durch die Weich¬
teile der Wange hindurchgetrieben worden war.
Wesentlich anderen Grundsätzen begegnen wir bei den Haussa,
aus deren Land, von Sokoto, Robert Flegel Instrumente zur Zahn¬
operation mitgebracht hat (jetzt im Museum f. Völkerkunde zu Berlin).
Das eine derselben, „Massassaki“, wird zum Lockern des Zahn¬
fleisches benutzt; die anderen Instrumente sind Zangen, „Awarteki“
(ganz in Form unserer Beisszangen), mit denen die Zähne ausgezogen
werden. Sie besitzen dafür sogar ein besonderes, übrigens ganz
hübsch ausgeführtes kleines Lederfutteral.
Die Haussa haben überhaupt ziemlich ausgedehnte medizinische
Kenntnisse, durch die sie sich vor anderen Afrikanern auszeichnen;
es wäre aber noch zu untersuchen, ob und inwieweit sie als Moham¬
medaner mit den medizinischen Schriften und der Heilpraxis der
Araber bekannt geworden sind. Wie weit die Einwirkung der arabi¬
schen Heilwissenschaft gehen kann, beweist ja schlagend die Volks¬
medizin der La Plataländer. wobei Spanier die Träger waren (vergl.
P. Mantegazza im Globus 1880, XXXVII, S. 314 ff.).
Referate und Bücheranzeigen.
Ivar Wickmann - Stockholm : Studien über Polio¬
myelitis acuta. 181 S. Verlag von S. Karger, Berlin 1905.
Die vorliegende Monographie, welche als Sonderabdruck
aus den Arbeiten des pathologischen Institutes der Universität
Helsingfors (Prof. Home n) herausgegeben wurde, behandelt
mit erschöpfender Gründlichkeit die Lehre von der spinalen
Kinderlähmung. Diese Krankheit scheint in den nordischen
Ländern nicht selten einen epidemischen Charakter anzu¬
nehmen und entschieden häufiger vorzukommen als in unseren
Breiten. Nur so ist es zu erklären, dass dem Autor so reiches,
frisches Untersuchungsmaterial zur Verfügung stand (von den
9 beschriebenen Fällen kamen 7 in den ersten Tagen nach Be¬
ginn der Erkrankung zur Sektion und waren während des epi¬
demischen Auftretens der Krankheit in Stockholm und Goete-
borg in Beobachtung gekommen). Jedesmal Hessen sich auch
an den inneren Organen Veränderungen feststellen, die für eine
a 1 1 g e m eine Infektionskrankheit sprachen (Vergrösserung
der Milz, Vergrösserung der Leber, trübe Schwellung der
Nieren, subperikardiale Blutungen). Der Umstand, dass in
frischen Fällen die Pia fast ausnahmslos entzündliche Ver¬
änderungen aufwies, hat darum besonderes Interesse, weil da¬
durch die meningitischen Reizsymptome, die klinisch im akuten
Stadium oft zu beobachten sind, ihre natürliche Erklärung
finden. Die ätiologische Verwandtschaft der Poliomyelitis
acuta und der epidemischen Zerebrospinalmeningitis wird durch
solche Befunde noch weiter bestätigt. Interessant ist, dass sich
die spinalen Veränderungen nicht, wie man das früher ver¬
mutete, auf einzelne Segmente beschränken, sondern stets
im ganzen Verlauf des Rückenmarkes vom Konus bis hinauf
zum Pons nachzuweisen sind. Dabei erweisen sich allerdings
die Lenden — und die Halsanschwellungen als besonders stark
ergriffen. Die alte Streitfrage, ob der Erkrankung eine primäre
Affektion der Ganglienzellen mit Reaktion des umgeben¬
den interstitiellen Gewebes zu Grunde liege oder ob eine pri¬
märe echte Myelitis mit sekundärem Untergang der Ganglien¬
zellen verantwortlich zu machen sei, wird im letzteren Sinne
entschieden. Da die entzündlichen Erscheinungen, die haupt¬
sächlich in der Umgebung der grösseren Gefässe zu finden sind,
sich durchaus nicht auf die Vorderhörner beschränken, so
möchte der Autor die Bezeichnung der Krankheit als Polio¬
myelitis anterior für unzutreffend erklären; er gibt aber
zu, dass im wesentlichen die graue Substanz ergriffen ist und
führt dies darauf zurück, dass diese eben besonders gefäss-
reich ist.
Ganz besonders lehrreich sind die Erörterungen über die
Art und die Natur der Zellen bei Rückenmarksentzündungen
überhaupt und über die oft recht schwierige Differentialdia¬
gnose zwischen Poliomyelitis acuta und der L a n d r y sehen
Paralyse. Auf Grund der Tatsache, dass die in Rede stehende
Rückenmarkserkrankung häufig mit den Symptomen einer
akuten Gastroenteritis anfängt, glaubt Wickmann vermuten
zu dürfen, dass das Gift von der Infektionsstelle im Darm nach
Analogie der Lyssa durch die Nerven, d. h. hier durch die
Rami communicantes in das Rückenmark eindringe, eine
Hypothese, welche als durchaus unbewiesen und zu weit¬
gehend bezeichnet werden muss. 8 Tafeln mit instruktiven
farbigen Steindrucken und prächtigen Mikrophotographien er¬
leichtern das Studium der beschriebenen histologischen Ver¬
änderungen. Jedermann, der sich eingehender mit der Lehre
von der Poliomyelitis beschäftigen will, wird zu dem Buche
Wickmanns greifen müssen, das unsere Kenntnisse über
diese Krankheit nicht nur gut zusammenfasst, sondern sie auch
wesentlich erweitert. L. R. M ü 1 1 e r - Augsburg.
Heinrich Vogt: Ueber die Anatomie, das Wesen und die
Entstehung mikrozephaler Missbildungen nebst Beiträgen über
die Entwicklungsstörungen der Architektonik des Zentral¬
nervensystems. Mit 71 Abbildungen im Text und 11 Figuren
auf Tafel 1. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1905. 8 Mark.
Die Hirnforschung hat seit einem Menschenalter geradezu
fundamentale Umwälzungen erfahren, die vor allem auch die
Art der Untersuchung und Deutung betreffen. Damals be¬
gnügte man sich mit relativ einfachen, gewöhnlich lediglich ma¬
kroskopischen und dazu kraniologischen Untersuchungen, um
daran die weittragendsten Folgerungen zu knüpfen, während
heute grösste Akribie bei der Untersuchung, aber auch vor¬
sichtige kritische Zurückhaltung bei den zu ziehenden Schlüssen
unerlässlich ist.
Geradezu paradigmatisch erscheint hierfür die Beurteilung
makroskopisch auffallender Idiotengehirne. Karl V ogt hatte
1867, auf ein Material von 10 Mikrozephaliefällen gestützt, den
kühnen Schluss gewagt, es handle sich dabei um eine atavisti¬
sche Bildung, um eine Art Affenmenschen.
Ein Beispiel, wie ganz anders heutzutage Befunde dieses
Gebiets erhoben und verwertet werden, bietet die vorliegende,
als 1. Heft der „Arbeiten aus dem hirnanatomischen Institut in
Zürich“ (herausgegeben von Prof. v. Monakow) erschienene
Untersuchung von Heinrich Vogt.
Bei einem 2 jährigen Kind zeigte das (in Formol) 125 g schwere
Gehirn Grübchentypus der Windungen, Balkenmangel, Anklänge an
das Hirn der Marsupialier und Monotremen, mannigfache Hetero-
topien, bei völlig normalen Stammganglien. Histologisch fiel
auf, dass die Zellen nach Bau und Anordnung embryonalen Charakter
zeigten. Es handelt sich um eine sehr frühe partielle Unterbrechung
der Entwicklung des Hirns auf Grund lokaler Schädigung.
Im 2. Fall (2 La jähriges Kind, Hirn, Rückenmark und Dura frisch
265 g) fand sich mangelhafte Bildung und Differenzierung sämtlicher
Teile der Anlage von der Grosshirnrinde bis zum Rückenmark, bei
mikrogvrem Windungstypus, auf Grund von Keimvergiftung.
Fall 3 (Kind von 2 Monaten, Hirn in Formol 156 g) war die An¬
lage gleichmässig, die primären Hauptfurchen entwickelt, die histo¬
logischen Elemente teilweise gereift. Das ganze Organ jedoch war
siebartig durchsetzt von zystischen Hohlräumen auf Grund von Ver¬
änderungen des Kapillarinhalts; es bestand eine gleichmässige,
diffuse Unterbrechung der embryonalen Entwicklung.
Diese 3 Fälle repräsentieren somit schon 3 ganz ver¬
schiedene Möglichkeiten der Hirnentwicklungshemmung und
in letzter Linie der Mikrozephalie.
Nach der exakten Analyse der 3 Fälle, der sich Betrach¬
tungen über den Atavismus und über das klinische Verhalten
25. September 1906. MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1923
der Mikrozephalen einfügen, hat H. Vogt noch Erörterungen
über Aufbau und Gliederung des Markkörpers, über Hetero-
topien und andere Formen atypischer Gestaltung der Hirn¬
substanz usw. angestellt.
Die ganze, sorgfältige Studie liefert einen schlagenden Be¬
leg dafür, mit welchem Eifer und Erfolg die medizinische
Wissenschaft ein ihr zukommendes, wichtiges Gebiet erforscht,
zu dem ihr der Zutritt aus äusseren Gründen, infolge der
mangelhaften Organisation der Schwachsinnigenfürsorge bisher
erschwert war. Weygandt - Würzburg.
Bela Alexander: Die Entwicklung der knöchernen
Wirbelsäule. Archiv und Atlas der normalen und patho¬
logischen Anatomie in typischen Röntgenbildern. Verlag:
Gräfe & Sille m, Hamburg 1906. 69 Seiten Text und
20 Tafeln. Preis 20 Mk.
Dass die normale makroskopische Anatomie des Menschen
zu einem gewissen Abschluss gelangt sei, dass ihr wichtige
neue Gesichtspunkte kaum noch erstehen können, diese An¬
sicht wird nach gründlichem Studium des Alexander sehen
Buches kaum noch ein Anatom zu verfechten wagen. Die
Röntgenographie eröffnet tatsächlich den Anatomen ein ganz
neues, weites Reich der Forschung, das leider von ihnen noch
viel zu wenig betreten wird. — Wenn der Verfasser auch in
den ersten Reihen der Röntgenologen geht, so mutet es doch
zunächst etwas kühn an, wenn man auf den ersten Seiten liest,
wie er den Paladinen der Anatomie, einem Kölliker, Hert-
w i g und Gegenbaur irrige Angaben über die Entwicklung
der Wirbelsäule richtig stellen will. Und doch wird man beim
weiteren Durchgehen der Arbeit sich überzeugen müssen, dass
Alexander für seine Behauptungen durch objektive Illu¬
strationen, die aus einer Fülle kostbaren Materials ausgewählt
sind, einwandfreie Beweise nicht schuldig bleibt. Dabei ist
die Beweisführung eine derartige, wie sie wissenschaftlicher,
gründlicher und erschöpfender nicht gedacht werden kann.
So liessen Anatomen bisher die Ossifikation des Wirbels in
dem Bogen beginnen und die Entwicklung des Wirbelkörpers
aus einem Knochenpunkte hervorgehen. Der Verfasser zeigt
aber, dass der erstere Modus nur für die Halswirbel zutrifft,
während bei den Brust- und Lendenwirbeln die Verknöcherung
im Körper beginnt, dass überhaupt die primären Ossifikationen
der Bogenhälften von den primären Ossifikationen der Wirbel¬
körper zu trennen seien, weil beide Prozesse selbständig ge¬
trennt von einander verlaufen. Ferner behauptet Alexander,
dass entgegen den bisherigen Angaben der Anatomen der
Wirbelkörper aus zwei (nicht paarigen) Knochenpunkten sich
entwickelt. Nur diese zwei Tatsachen seien hier aus dem
reichen Inhalte des, vom Verlag ausserordentlich kostspielig aus¬
gestattetem Buches herausgegriffen. Man darf gespannt sein, wie
sich Berufsanatomen zu diesen Ergebnissen, bes. letzteren,
stellen werden. Vielleicht könnte von jener Seite eingewendet
werden, dass die Röntgenuntersuchung ja gar nicht die be¬
ginnende Verknöcherung im reinsten Sinne feststellen könne,
sondern nur die vorhergehende Kalkablagerung im Knorpel.
Der Beginn der Verknöcherung sei aber histologisch das
erste Auftreten einiger kleiner Knochenkörner (granules
osseux), die vor dem eigentlichen Knochenkern erscheinen
und, selbst in grösserer Menge und Dichte gruppiert, nicht
röntgenographisch feststellbar zu sein brauchen. So liesse
sich die Differenz in den Angaben der Anatomen und denen
Alexanders vielleicht erklären. Dieser eigentlich einzig
mögliche Einwand wäre wohl insofern nicht stichhaltig, als die
betr. Anatomen ihre Angaben auch nicht auf histologische
Untersuchungen stützten, sondern nur auf den makroskopischen
Befund, der zwischen Knochenkörnern und Kalkkörnern eben¬
falls keinen Unterschied macht. — Uebrigens darf das Werk
als ein grundlegendes Muster für röntgenographische Bear¬
beitungen entwicklungsgeschichtlicher Themata hingestellt
werden. Zur vollen Würdigung der Arbeit sei endlich noch
verraten, dass der Verfasser in einer kleinen Stadt Ungarns,
fern jeder wissenschaftlichen Hochburg unter den schwie¬
rigsten Verhältnissen arbeitet und schafft — eine Bestätigung
des Ausspruches H ä c k e 1 s, dass im Allgemeinen die wissen¬
schaftlichen Leistungen der Institute im umgekehrten Verhält¬
nisse zu ihrer Grösse stehen. Alban K ö h 1 e r.
Traite d’hygiene de MM. Brouardel et Mosny.
III. Anthropologie, Hygiene individuelle, Ed u -
cation physique par R. Anthony, E. D u p r e, G.
Brouardel, P. R i b i e r r e, M. Boulay, V. M o r a x et
P. Lafeuille. gr. 8. 300 Seiten mit 38 Figuren. Paris,
J. B. B a i 1 1 i e r e e t f i 1 s. Preis 7.50 Frs.
Der 3. Band des französischen Handbuches der Hygiene
bringt besonders in seinem ersten Teil, der Anthropo¬
logie, recht bemerkenswerte Abhandlungen, die für uns in¬
sofern Neues bieten, als dieses Gebiet in unseren hygienischen
Hand- und Lehrbüchern gewöhnlich stiefmütterlich behandelt
wird. Studien über die menschlichen Formen,
das Wachstum des Körpers, das Gebiet der
Anthropometrie, die Erziehung des Kindes vor
Eintritt in die Schule und während der Schul¬
zeit, die Ermüdung der Schüler und deren
Nachweis sind eingehend und sehr anschaulich behandelt.
In dem 2. Teil verdienen Artikel über die i n d i v i d u e 1 1 e
Hygiene, die Hygiene der Bäder und der Sinnes¬
organe Beachtung.
Der letzte Teil ist der psychischen Erziehung
gewidmet, welche vom physiologischen Standpunkte aus die
Wirkung für alle Lebensphasen schildert. Sämtliche Arten
des Sportes finden eingehende Berücksichtigung.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Neueste Journalliteratur.
Zeitschrift für Heilkunde. Herausgegeben von Chiari
in Prag. XXVII. Bd. (Neue Folge, VII. Bd.) Jahrg. 1906,
Heft 8.
1) Stiefler: Zur Klinik der neuralen Form der progressiven
Muskelatrophie. (Aus der, C. Mayer sehen psychiatrisch-neuro¬
logischen Klinik in Innsbruck.) Mit Abbildungen.
In vier Generationen einer Tiroler Bauernfamilie trat das
Leiden bei 19 Familienmitgliedern auf und zeigte im allgemeinen
das aus der Literatur bekannte Verhalten. Es machte gewöhnlich
in den ersten zwei Dezennien rasche Fortschritte und nahm dann
später einen ausserordentlich langsamen, relativ gutartigen Verlauf.
Manche Kranke konnten sich noch einen Hausstand gründen, einzelne
wurden über 70 Jahre alt. Bei einer Kranken begann das Leiden erst
im 68. Lebensjahre. In 2 Fällen fand sich — bei einem Brüderpaar —
eine Knochenwucherung des Radiusköpfchens.
2) Fleckse der: Der gemischte Speichel des Menschen, sein
normales Verhalten und seine Veränderungen in Krankheiten.
Zum Referat nicht geeignet.
3) Münzer: Das Waller sehe Gesetz, die Neuronenlehre
und die autogene Regeneration der Nervenfasern. Mit Abbildungen.
Eigene Untersuchungen führen den Autor zu dem Schlüsse,
dass die neuerdings von Bethe und seinen Anhängern im Kampfe
gegen die Neuronenlehre gebrachten Argumente nicht beweiskräftig
seien, da er sich von einer autogenen Regeneration der Nerven¬
fasern, durch welche die Selbständigkeit der Fibrillen gegenübei den
zentralen Nervenzellen festgestellt werden sollte, nicht überzeugen
konnte.
Die Erörterung eines anderen Einwandes B e t h e s gegen die
Neuronenlehre, dass die Nervenfasern ihrer Entwicklung nach nicht
einzellige Gebilde darstellten, lässt kein sicheres Ergebnis erkennen.
Bändel- Nürnberg.
Beiträge zur Klinik der Tuberkulose. Herausgeg. von
Prof. L. Brauer. Band VI. Heft II.
H. B e n n e k e - Marburg: Ueber Russinhalationen bei Tieren.
Verf. hat tracheotomierte Hunde durch die Kanüle Russ inhalieren
lassen und kommt zu folgenden, den Anschauungen v. Behrings
widerstreitenden Resultaten: Bei diesen Tieren findet sich — ebenso
wie bei nicht tracheotomierten Meerschweinchen nach Russinhalation
die Kohlenstaubverteilung ausschliesslich in den Lungen und den
regionären Lymphknoten, während die Halsdrüsen und die Tonsillen
frei blieben. Die Verteilung des Kohlenstaubes geschieht stets auf dem
Luftwege in das alveoläre Lungengewebe und von hier durch die
Lymphbahn; der Transport auf dem Blutwege erscheint ausgeschlossen;
dies gilt auch für das Zustandekommen der Anthrakose der hilus-
bronchialen und trachealen Lymphknoten. Einen Weitertransport des
Kohlenstaubes von den tracheobronchialen Lymphknoten in die zer-
Vikalen beobachtete Verf. niemals.
L: Asch off' Experimentelle Untersuchungen über Russinhafa-
tiortert bei Tieren. (Nachschrift Zu dem Aufsatze von H'. B e n n e R e.)
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
1924
Entgegen den experimentellen Resultaten von Vansteen-
b e r g h e und Q ryse z, die — in Uebereinstinimung mit der alten
V i 1 1 a r e t sehen Anschauung — fanden, dass bei Einbringung von
Karminlösung oder Tusche in die Peritonealhöhle oder den Magen
bei älteren Tieren ein Transport der Earbepartikel in die Lunge und
die bronchialen Lymphknoten stattfindet, zeigt A. in 5 Versuchen,
dass bei jungen und alten Meerschweinchen sich nach Einführung
dieser Farblösung in Magen und. Bauchhöhle in den Alveolarepithelien
nur eine Ablagerung feinster Russkörner findet, die ganz unabhängig
von den Tuschinjektionen als gewöhnliche Anthrakose zustande
kommt. In den mesenterialen Lymphknoten, in der Magenwand, in
der Milz, der Leber etc. findet sich dieser Russ niemals, eine Tatsache,
die in Uebereinstinimung mit dessen reichlicher Ablagerung in den
Alveolen keine andere Deutung zulässt, als dass der Inspirations¬
strom den Russ in die Alveolen geführt hat.
H. Liidke: Tuberkulinreaktion und Tuberkulinimmunität.
Verf. betont, dass bei der mangelhaften Kenntnis vom Stande des
Erkrankungsprozesses, der Schwere der Infektion, der noch möglichen
Heilungstendenz keine Berechtigung zur Aufstellung einer einheit¬
lichen Methodik der Tuberkulinbehandlung gegeben ist. Die durch
Tuberkulininjektionen zu erreichende Immunität besteht in einer rela¬
tiven Immunität gegenüber dem eingeführten Antigen, die sowohl
quantitativ als zeitlich beschränkt ist. Der heilende Effekt durch
Tuberkulinanwendung beruht nach den Erörterungen des Verfassers
„lediglich auf der Wirkung des Tuberkulins in den erkrankten Ge-
webspartien“, wodurch in einer Reihe von Fällen allerdings durch
einen akuteren Verlauf der tuberkulösen Gewebserkrankung eine Aus¬
heilung möglich erscheint“.
Wilhelm Roth-Schulz: Ueber den diagnostischen Wert des
alten K o c h sehen Tuberkulins.
Verf. kommt auf Grund der an dem grossen Material der Belitzer
Heilstätte gemachten Erfahrungen zu etwa folgenden Schlüssen: Die
Tuberkulinempfindlichkeit ist unabhängig von Lebensalter und Kon¬
stitution (Anämie etc.); sie steht in keiner direkten Beziehung zur
anamnestisch festgestellten Dauer der Erkrankung; immerhin scheint
eine besondere Empfindlichkeit der leichten, geschlossenen initialen
Fälle (das Gros des Heilstättenmaterials) zu bestehen. Die positive
Reaktion spricht mit grösster Wahrscheinlichkeit für das Vorhanden¬
sein eines tuberkulösen Prozesses, dessen klinische Diagnose
sie aber noch nicht sicher stellt. Prognostisch scheint es wünschens¬
wert, die bedeutenderen Grade der Tuberkulinempfindlichkeit fest¬
zustellen, sich also auf kleine und kleinste Dosen zu beschränken, in¬
dem man von der kumulativen Wirkungsweise des Tuberkulins Ge¬
brauch macht. Jedenfalls hüte man sich vor dem Schematisieren,
das auch im Hinblick auf die svstematische Auslese des Heilstätten¬
materials durch Drobatorische Injektionen zu verwerfen ist.
F. Jessen: Ueber die Agglutination bei Lungentuberkulose.
Verf. stellte an seinem Davoser Material Untersuchungen über
den Verlauf der Agglutination auch ohne spezifische Behandlung an
(122 Agglutinationsbestimmungen an 86 Kranken). Er kommt zu
folgenden Schlüssen: Ohne jede spezifische Behandlung steigt im
Hochgebirge die Agglutination in den meisten Fällen von Lungen¬
tuberkulose. Mit Tuberkulin behandelte Fälle erreichen im allge¬
meinen keine höheren Agglutinationswerte, als solche ohne spezifische
Behandlung. Fälle mit stark steigender Agglutination lassen auch
klinisch bedeutende Besserungen erkennen. Nähern sich die Fälle
der vollen Heilung, so sinken die Agglutinationswerte wieder. Un¬
günstig verlaufende Fälle agglutinieren vor ihrer Wendung zum
schlechten Ausgang nicht hoch. Ein Ausdruck erfolgter Heilung sind
hohe Agglutinationswerte nicht, aber prognostisch günstiger, als
niedrige. Diagnostisch können Agglutinationswerte in Verdünnungen
von 1 : 25 und darüber in Betracht kommen.
H. Curschmann - Tübingen.
Archiv für klinische Chirurgie. 80. B and, 3. Heft. Berlin
Hirschwald, 1906.
28) Ranzi: Beiträge zur operativen Behandlung von Frakturen.
(I. chirurgische Universitätsklinik in Wien.) Schluss folgt.
31) Conforti: Ueber einen tödlichen Fall von Stenosierung
des rechten Hauptbronchus durch eine verkäste Bronchialdrüse.
(Pathologisches Institut in Bern.)
Kurze kasuistische Mitteilung, deren Inhalt die Ueberschrift
angibt.
32) Hedinger: Zur Lehre des Aneurysma spurium. (Patho¬
logisches Institut in Bern.)
Eingehende histologische Beschreibung eines Präparates von
Aneurysma spurium der Arteria femoralis, das nach Ueberfahren des
Beines zustande gekommen war. H. vertritt auf Grund des Falles
von neuem die von ihm bereits früher aufgestellte Lehre, dass die
Sackwand des Aneurysma spurium in manchen, wenn nicht den
meisten Fällen nicht von dem angrenzenden, verdrängten Binde¬
gewebe gebildet wird, sondern dass der Sack von einem ausge¬
weiteten Plättchen- und Fibrinthrombus dargestellt wird. Die Ent¬
stehung ist so zu denken, dass der Riss bei der Verletzung der
Arterie sogleich von einem Thrombus verlegt und dass dieser Throm-’
bus dann unter der Einwirkung des Blutdrucks sackförmig ausge¬
weitet wird. Dieser fibrinöse Sack kann monatelang einzig die
äussere Begrenzung des Aneurysma bilden, bis er endlich organisiert
wird.
36) K i r c h n e r - Göttingen: Die Epiphyse am proximalen Ende
des Os metatarsi V und das sogenannte Os Vesalianum tarsi.
K. bestätigt die Angaben Lilienfelds von dem häufigen
Vorkommen der genannten Epiphyse und weist auf die chirurgische
Bedeutung des Befundes hin.
38) Heide: Ein Fall von linksseitigem kavernösem Angioni
der Unterextremität, regg. glutaea, perinealis et pudendalis (Ele¬
phantiasis teleangiectodes). (Chirurgische Klinik in Kopenhagen. )i
Interessante kasuistische Mitteilung mit guten Abbildungen.
Der Tumor durchsetzte sämtliche Weichteile der befallenen Region
und reichte bis auf den Knochen. Bezüglich der Ausbreitung war
besonders interessant, dass dieselbe mit grosser Genauigkeit den
vom linken Plexus sacralis ausgehenden Hautnerven entsprach,
während das Ausbreitungsgebiet des Plexus cruralis vollkommen
verschont war. Diese Tatsache entspricht dem bei oberflächlichen
Teleangiektasien so oft zu beobachtenden Verhalten. Ob die Be¬
ziehung der Geschwulst zu dem Verbreitungsgebiet eines Nerven
eine kausale ist, muss dahingestellt bleiben, doch weisen diese
systematische Verbreitung zusammen mit den die Gefässanomalien
dieser Art oft begleitenden trophischen Störungen und endlich die
angeborenen Anlagen, aus denen, wie man annehmen muss, die
Krankheit ihren Ausgang nimmt, darauf hin, dass solche Angiome eher
als Missbildungen als als Neubildungen aufzufassen sind.
Durch Elektrolyse wurde in dem beschriebenen Falle eine
wesentliche Besserung erzielt.
29) K r a s k e - Freiburg: Ueber die weitere Entwicklung der
Operation hochsitzender Mastdarmkrebse.
30) B o r c h a r d - Posen: Zur subapotieurotischen Deckung von
Schädeldefekten nach v. Hacker-Durante.
32) Derselbe: Ueber eine von Varizen des Unterschenkels
ausgehende eigentümliche Geschwulstbildung ( Angiosarkom).
33) Noetzel: Ueber die Infektion und die Bakterienresorption
der Pleurahöhle. Experimentelle Untersuchung. (Chirurgische Ab¬
teilung des Städtischen Krankenhauses in Frankfurt a. M.)
35) Zoege von M a n t e u f f e 1 - Dorpat: Ueber die ärztliche
Tätigkeit auf dem Schlachtfelde und in den vorderen Linien.
37) Payr -Graz: Transplantation von Schilddrüsengewebe in
die Milz. Experimentelle und klinische Beiträge. (Bemerkungen über
Organtransplantationen überhaupt.)
Vorträge auf dem 35. Chirurgenkongress. Referate s. No. 16 bis
23 d. Wochenschr. H e i n e k e - Leipzig.
Beiträge zur klinischen Chirurgie, red. von P. v. B r u n s.
50. Band, 1. Heft. Tübingen, Laupp, 1906.
Das erste, mit einer trefflichen Heliogravüre P. v. B r u n s und
einem entsprechenden Vorwort desselben ausgestattete Heft des 50.
Bandes eröffnet eine Arbeit des Gen. -Arztes Prof. Kikuzi über die
traumatischen Aneurysmen bei Schusswunden. K. zeigt, welch we¬
sentliche Aenderungen hier die kleinkalibrigen modernen Geschosse
gebracht haben, da bei der grossen Anfangsgeschwindigkeit die
Gefässe diesen nicht ausweichen. K. stellt seine Erfahrungen aus den
Reservelazaretten Zentsuji und Matsuyama zusammen (85 Fälle),
von denen 30,6 Proz. die Art. cruralis, 18,8 Proz. die A. poplitaea,
11,8 Proz. die A. brachialis, 8,2 Proz. die A. subclavia und 7,1 Proz.
die A. axillaris betreffen und schildert unter Darstellung der reichen
Kasuistik die Operationsmethoden, für die er bestimmte Leitsätze auf¬
stellt. Für die Fälle, in denen temporär der Gummischlauch ange¬
legt werden kann, empfiehlt er ein Vorgehen, das er als intrakapsuläre
Unterbindung des verletzten Gefässes an Ort und Stelle bezeichnet
und dem er grosse Erleichterung der Operation, Abkürzung der Opera¬
tionszeit, Ausführbarkeit event. unter lokaler Anästhesie, geringen
Verlust an Gefässlänge und. somit weniger Risiko, i. e. Verminderung
der Gangrängefahr nachrühmt. Auch die isolierte Unterbindung der
Venen wird besprochen.
C. B 1 a u e 1 berichtet über subkutane Ureterverletzungen, d. h.
solche durch stumpfe Gewalt ohne Perforation der Bauchwandung
und stellt 11 Fälle aus der Literatur zusammen, denen er einen 12.
eigenen anreiht, der wegen der Folgen einer subkutanen Ureter¬
verletzung operiert resp. sekundär nephrektomiert wurde. B. bespricht
die anatomischen Vorbedingungen, geht auf Aetiologie und Ent¬
stehungsmechanismus näher ein, betont die Widerstandsfähigkeit des
Ureters gegen Druck wegen seines Verlaufs auf muskulärer Unterlage
und seine grosse Verschieblichkeit im retroperitonealen Gewebe; in
einer quer über das Abdomen sich fortbewegenden Gewalt muss eine
besondere Gefahr für den Ureter gesehen werden, da gegenüber
einer solchen die natürlichen Schutzmittel des Harnleiters nicht nur
versagen, sondern sogar direkt nachteilig wirken können. Bl. studiert
an den betreffenden Fällen die Druckwirkung, hydraulische Pressung
und Zugwirkung in ihrer ätiologischen Bedeutung, geht auf die ana¬
tomischen Verhältnisse, Symptome und Verlauf näher ein, bespricht
u. a. besonders die Bedeutung des Zystoskops für die Diagnose, das als
einzig sicheres Hilfsmittel zur Erkennung einer subkutanen Ureter¬
verletzung anzusehen ist, sowie Prognose und Therapie; unter
12 Fällen verliefen 7 tödlich (2 an Schock, 3 an Peritonitis). Von den
12 Fällen wurde in 8 eingegriffen (1 mal Punktion einer Hydro-
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
nephrose, 3 Inzisionen retroperitonealen Ergusses mit späterer j
Nephrektomie, 1 Laparotomie, 1 Sectio alta und 1 mal Ureterplastik
mit folgender Nephrektomie).
M. v. B r u n n bespricht die Spontanfraktur als Frühsymptom der
Ostitis fibrosa und behandelt im Anschluss an einen näher mitgeteilten
Fall von Ostitis fibrosa bei 12 jährigem Knaben, der im Röntgenbild
ganz einen 1 umor vortäuschte und mit Eröffnung resp. Exkochleation
behandelt wurde, diese Affektion.
Der gleiche Autor gibt einen Beitrag zur Beurteilung von Frak¬
turen im Röntgenbilde und zeigt, wie relativ häufig Frakturen bei
Durchleuchtung nur in einer Ebene nur Fissuren oder Frakturen ohne
Dislokation zu sein scheinen, während Aufnahme in anderer Ebene
recht ausgiebige Kontinuitätstrennung und hochgradige Dislokation
erkennen lässt und gibt Beispiele (besonders an 3 isolierten Spiral¬
frakturen der Tibia mit wenig ausgesprochenen Erühsymptomen),
v. Br. betont demnach die Notwendigkeit, mindestens 2 Röntgenbilder
in verschiedener Ebene zu fertigen, ehe man ein sicheres Urteil über
eine Fraktur abgeben kann.
Des weiteren verbreitet sich M. v. B r u n n über das Schicksal
des Silberdrahtes bei der Naht der gebrochenen Patella und zeigt an
12 von den in der Tübinger Klinik mit Naht behandelten Fällen, die
sich auf Aufforderung zur Nachuntersuchung stellten (sämtlich Män¬
ner zwischen 22 und 49 Jahren), dass objektive ideale Heilung im
anatomischen Sinn doch relativ selten (3 Fälle), in der Mehrzahl der
Fälle die Fragmente gegeneinander verschieblich waren und dass nur
1 mal der Draht sich so verhielt, wie man es bei Anlegung wünscht
und erwartet, dass häufig die Drähte in Stücke zerbrochen waren
und die Stücke nicht immer in der Patella geblieben, sondern teil¬
weise (4 mal) ins Gelenk gelangt waren — ein Punkt der für die Un¬
fallbegutachtung zu berücksichtigen, da der Silberdraht keine hin¬
reichende Festigkeit hat, um knöcherne Heilung zu garantieren. Der
Zweck der Naht ist ebensogut mit Seide oder Katgut zu erreichen
(T h i e m).
0. Kocher (über die Sarkome der langen Röhrenknochen) be¬
spricht an der Hand der von 1860 — 1903 in der Tübinger Klinik be¬
obachteten Fälle, von denen 65 für die nähere Besprechung in Betracht
kommen und von denen 77 Proz. auf die untere, 23 Proz. auf die
obere Extremität entfallen (Femur und Tibia am häufigsten sich be¬
fallen zeigten), das grosse Material hinsichtlich Aetiologie, patho¬
logischer Anatomie und Therapie. Betreffs 37, in denen der histo¬
logische Bau näher angeführt, sind 15 Spindelzellensarkome, 4 Riesen¬
zellensarkome, 7 Rundzellensarkome, 11 vielzellige Sarkome anzu¬
führen. Die myelogenen Sarkome sind wesentlich gutartiger (von
45 geheilten Sarkomen betreffen 30 myelogene Sarkome). Von
32 myelogenen Sarkomen sind 5 sicher länger als 3 Jahre rezidivfrei
geblieben (2 nach Amputation, 2 nach Resektion, 1 nach Evidement).
Von 32 periostalen Extremitätensarkomen wurden 25 amputiert, 2 ex¬
artikuliert und je 1 mal reseziert und exkochleiert. Als Resultat seiner
Arbeit betont K., dass eine dauernde Heilung der Sarkome der langen
Röhrenknochen möglich ist. Bei den myelogenen Sarkomen ist immer,
bei den periostalen in einzelnen, nicht zu weit vorgeschrittenen Fällen
ein Versuch mit konservativer Behandlung durch Resektion bezw.
Exkochleation zu machen und erst bei Auftreten von Rezidiven die
Amputation oder Exartikulation vorzunehmen, der Patient ist minde¬
stens 3 Jahre lang nach der Operation unter Kontrolle zu halten.
W. A 1 b r e c h t berichtet über nietastatische paranephritische
Abszesse im Anschluss an 6 Fälle der Tübinger Klinik, bei denen ein
ätiologischer Zusammenhang mit entfernt liegenden Eiterungen be¬
stand. Der paranephritische Abszess kann durch Uebergreifen eines
primär metastatischen Nierenabszesses entstehen, ja entsteht gewöhn¬
lich durch Vermittlung der Niere. Meist ist der Weg der, dass sich
in der Niere ein primärer Abszess bildet, von dem aus die sekundäre
Vereiterung der Fettkapsel, sei es durch Ueberleitung, sei es infolge
Durchbruches erfolgt.
Rud. Kraus berichtet über die Dauerresultate der Omphalekto¬
mie bei Nabelbrüchen und empfiehlt das Bruns-Condamin sehe
Vorgehen hierbei, resp. Umkreisung des Nabels zuerst auf der rechten
Seite bis ins Peritoneum, dann Umklappen des medialen Wundrandes
und Zugänglichmachen des Bruchsackhalses, eventuell mit querer
Spaltung der Bruchpforte und des Bruchsackhalses, Entwicklung des
Bruchinhaltes, Abbindung adhärenter Netzstränge, Reposition und
Exzision des Nabels durch zweiten ovalären Schnitt auf der linken
Seite, Vereinigung der Bauchdecken durch die Naht. Von 22 der in
den letzten 12 Jahren operierten Patienten konnte Kr. Nachunter¬
suchung vornehmen, davon blieben 13 dauernd geheilt, 9 bekamen Re¬
zidiv, d. h. so ziemlich die gleichen Resultate, wie sie Busse nach
der Omphalektomie verzeichnete : 57 Proz. Dauerheilungen, 42 Proz.
Rezidive. Kr. teilt die Krankengeschichten näher mit.
Walter H ö r z berichtet über Splenektomie bei traumatischer
Milzruptur unter Mitteilung eines in der Tübinger Klinik beobachteten
neuen Falles, durch Hufschlag entstanden (in 11 von 103 Fällen das
ursächliches Moment), in dem absolut keine schädlichen Folgen der
Milzexstirpation nachzuweisen waren. Genaue Blutuntersuchungs¬
resultate werden mitgeteilt. Als Anhang gibt H. eine kurze Zu¬
sammenstellung von 34 seit 1902 mitgeteilten Splenektomien bei sub¬
kutaner traumatischer Milzruptur als Ergänzung der Berger sehen
Statistik und entsprechende Literaturübersicht.
E. Braendle berichtet über die Tuberkulose der Brustdrüse
und die Dauerresultate ihrer operativen Behandlung.
Z u m s t e e g über die primäre Diaphysentuberkulose langer
Röhrenknochen, als Ergänzung der früher von K ü 1 1 n e r publizierten
Arbeit, worin er insgesamt über 9 Fälle primärer Diaphysentuberku¬
lose berichtet und speziell die Differentialdiagnose von Osteomyelitis
präzisiert.
C. Pfeiffer referiert über die Röntgentherapie der symmetri¬
schen Tränen- und Speicheldrüsenerkrankung und glaubt sich nach
genauer Mitteilung eines betreffenden Falles „berechtigt, bei der
Mikulicz sehen Krankheit die vorsichtige Anwendung der Röntgen¬
strahlen empfehlen zu dürfen“.
Der gleiche Autor bespricht die Röntgenbehandlung der malignen
Lymphome und ihre Folgen und kommt nach näherer Mitteilung eines
betreffenden Falles und Berücksichtigung resp. Mitteilung der be¬
treffenden Literatur zu dem Schluss, dass selbe vorübergehende
Besserungen erzeugen kann, dass ein Erfolg jedoch nicht in jedem
Fall eintritt, Dauerheilungen bis jetzt nicht erzielt sind und fast alle
Fälle (70 Proz.) rezidivierten. Die Rezidive können noch sehr spät
(nach 14 Monaten) eintreten und verlaufen häufig tödlich. Schädliche
Nebenwirkungen der Bestrahlung sind nie sicher auszuschliessen.
Verfasser lässt es dahingestellt, ob die Resultate der Röntgenbehand¬
lung hier besser sind, als die der seitherigen Methode (Arsenik).
Der gleiche Autor gibt noch einen Beitrag zur Diagnose der
Bronchiektasien im Röntgenbilde, von deren Berücksichtigung er sich
Verbesserung der Operationsresultate verspricht (wie die der Lungen¬
gangrän durch die L e n h a r t z sehen Röntgenuntersuchungen), ferner
referiert Pf. noch über allgemeines traumatisches interstitielles Em¬
physem unter Mitteilung eines Falles allgemeinen Hautemphysems
nach perforierendem Lungenschuss.
P. Müller berichtet über Biegungsbrüche an den langen
Röhrenknochen der unteren Extremität, deren Charakteristika er
näher hervorhebt und deren er nach den Röntgenbildern der Tübinger
Sammlung 113 aus 422 insgesamt berücksichtigt (34 Oberschenkel-,
79 Unterschenkelbrüche). Für die Oberschenkelfrakturen berechnet
M. 26,4 Proz., für die Unterschenkelbrüche 27,3 Proz. Biegungsbrüche,
die er näher analysiert und zum Teil in Röntgenogrammen mitteilt,
woraus sich ergibt, dass die von v. Bruns vertretene Ansicht, dass
die relative Mehrzahl der Diaphysenbrüche der langen Röhrenknochen
Biegungsbrüche sind, sich bestätigt, und dass die im Experiment und
Präparat gefundenen Bruchformen auch im Röntgenbild wiederzufin¬
den sind, wobei die reinen Schrägbrüche scheinbar überwiegen.
Vayhinger berichtet zur Operation inkarzerierter Zwerchfell¬
hernien unter Berücksichtigung von 77 in der Literatur deponierten
Fällen (25 Inkarzerationen), wonach die transpleurale Methode der
Operation inkarzerierter Zwerchfellhernien entschiedene Vorzüge vor
der abdominalen hat (geringere Mortalität, bessere Uebersichtlichkeit
und bessere Möglichkeit der vollkommenen Reposition, bedeutend
erleichterte Naht der Bruchpforte.
A. Reich gibt Nachuntersuchungen über die Gebrauchsfähig¬
keit der Amputationsstümpfe des Unterschenkels unter Berücksichti¬
gung von 61 nachuntersuchten Unterschenkelamputationen aus den
Jahren 1879 und 1904, die näher analysiert werden und wovon
46,6 Proz. sehr gute, 22 Proz. mässige, 31 Proz. unbefriedigende Funk¬
tionsresultate ergaben. R. bespricht Alter, Bruch, Höhe der Ampu¬
tation, Lage und Beschaffenheit der Narbe etc. sekundäre Verände¬
rungen am Knochen und stellt seine Resultate schliesslich in beson¬
deren Schlussätzen zusammen, aus denen sich praktische Winke,
z. B. durchgehend höhere Absetzung der Fibula (um Prominenz des
Fibulastumpfes zu vermeiden) ergeben; gibt schliesslich eine kurze
Uebersicht der 61 Fälle mit entsprechenden Abbildungen und ein¬
gehendes Literaturverzeichnis.
C. B 1 a u e 1 gibt einen Beitrag zur Exothyropexie und spricht
im Anschluss an 2 näher mitgeteilte Fälle der Tübinger Klinik dieser
Methode bei gewissen Ausnahmeverhältnissen eine grosse Bedeutung
zu, indem sie unter Umständen den einzig möglichen, lebensretten¬
den Eingriff darstellen kann.
O. Sonntag bespricht die Frakturen am oberen Ende der
Tibia, insgesamt 13 Fälle mit entsprechenden Röntgenbildern aus
der v. B r u n s sehen Klinik, die er in der Einteilung nach Hey¬
denreich unter Berücksichtigung der entsprechenden Literatur näher
analysiert. Auf die Brüche des oberen Drittels unterhalb der Tuberos.
tib. entfallen davon 9, auf die Brüche des oberen Gelenkendes der
Tibia 8, traumat. Epiphysenlös. 4, Fraktur der Tuberos. 1, isolierte
Fraktur eines Kondyls 1, Kompressionsfraktur am oberen Drittel 2,
die der Reihe nach näher besprochen werden (im Zusammenhang
mit den kurzen Auszügen aus den Literaturmitteilungen und unter
Anfügung der betr. Röntgenphotographien). Sehr.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 37.
G. Bin der- Jena: Eklampsie ohne Krämpfe. Mitteilung aus
der Praxis.
B. deutet den bei einer 36 jährigen III. Para gleich nach der
spontan erfolgten Geburt beobachteten Zustand als „Eklampsie ohne
Krämpfe“, wie sie jüngst auch von Esch beschrieben worden ist
(ref. in dieser Wochenschr. No. 13, p. 613). Es handelte sich um
mehrstündige, tiefe Bewusstlosigkeit bei grosser Muskelunruhe.
Allerdings bestand zunächst noch Retention der Plazenta, die manuell
No. 39.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
gelöst werden musste. Der soporöse Zustand hielt aber noch stunden¬
lang an. Im Urin reichlich Eiweiss; das Herz erschien vergrössert.
Normales Wochenbett. . ....
L. v. Bylicki: Zur „Vereinfachung“ meiner Messmethode der
Conjugata obstetrica.
v B wendet sich gegen die in letzter Zeit vorgeschlagenen vei-
einfachungen seiner Methode. Er glaubt, dass darunter die Exaktheit
der Methode leidet und betont, dass er bei der Publikation derselben
an die Bedürfnisse eines Praktikers nicht dachte.
J a f f e - Hamburg.
Jahrbuch für Kinderheilkunde. Bd. 64, Heft 2.
15) Franz v. Torday: Ueber die Rhinitiden der Säuglinge.
Kasuistische Mitteilung über 18 derartige Fälle. Als zweck¬
mässige Therapie empfiehlt Verfasser das Einlegen von Wattetam¬
pons, die in „Tonogen Richter“ getaucht werden, alle 3—4 Stunden.
Das Tonogen Richter stellt ein dem Adrenalin analoges Präparat
dar, welch letzteres kürzlich von Ballin für die Behandlung der
Säuglingsrhinitis warm empfohlen wurde. Vorheriges „Ausblasen“
oder „Aushebern“ des Schleimes — auch nachträgliches Einträufeln
von lproz. Argent. nitr. oder 3 proz. Hydrogen, peroxydat. vervoll¬
ständigen die Therapie der in Frage stehenden, oft recht langwierigen
und gefährlichen Erkrankung.
16) Karl Barsch: Beiträge zur Physiologie und Pathologie
der Thymus. I. Ueber Ausschaltung der Thymusdrüse.
Die interessanten Versuche, der zu kurzem Referate nicht ge¬
eigneten Arbeit tun an der Hand schöner Tafeln den Einfluss des
Ausfalles der Thymusfunktion an jungen Hunden auf Körperwachstum
und Kallusbildung bei künstlicher Frakturierung dar. Betreffs Einzel¬
heiten sei auf die lesenwerte Originalarbeit verwiesen. 12 Tafeln.
17) P. V. J e z i e r s k i: Beeinflussung von Infektionskrankheiten
durch Vakzination. (Aus der med. Klinik in Zürich. Prof. Eich-
hörst.)
Verf. nahm die Impfung bei 38 Patienten vor, darunter 22 Schar¬
lachkranken, 10 Tuberkulösen, 5 Typhösen und 1 Leprösen. Eine
Beeinflussung der einzelnen Krankheitskategorien war nicht zu er¬
kennen, wohl aber eine ungewöhnliche Schädigung zumal bei den
Scharlach patienten, von denen die Hälfte nach der Impfung
mehr oder weniger erkrankte. Eine bereits, wenn auch vor Jahren,
vorausgegangene Impfung gestaltet den Krankheitsverlauf milder als
bei Erstimpflingen. Der Verlauf von Tuberkulose, Typhus oder Lepra
wurde im allgemeinen durch die Impfung nicht beeinflusst.
18) E. Feer-Basel: Nahrungsmengen eines gesunden Brust¬
kindes und Energieverbrauch des gleichen Säuglings nach der Ent¬
wöhnung.
Genaue Einzelbeobachtung. Der mutmassliche Energiequotient
stellte sich in der 14. — 22. Woche auf 92 Kalorien (1 Kilo Milch zu
700 Kalorien gewertet). Bei künstlicher Ernährung in der 33. bis
46. Woche betrug der Energiewert 100 bis 95 Kalorien. Verf. benützt
seit Jahren in der Praxis die kalorimetrische Berechnung zur Rege¬
lung der künstlichen Ernährung und empfiehlt dieselbe warm.
Kleine Mitteilungen:
Ernst Schiff: Ein Fall von symmetrischer Gangrän (Ray¬
naud) auf hereditär-luetischer Grundlage.
Kasuistische Mitteilung.
Wilh. Wernstedt: Ein Fall von multiplen kongenitalen Dünn-
darmatresien nebst abnormem Verlauf des Dickdarmes.
Kasuistik, Sektionsbericht und Beschreibung des Präparates. Ab¬
bildung.
Zur Frage der intestinalen Eiweissresorption. Polemik zwischen
den Herren Uffenheimer und Römer-Much,
Literaturbericht, zusammengestellt von L. L a n g s t e i n.
Besprechungen. O. Rommel- München.
(Berichtigung.) In dem Referat in No. 35 über die Arbeit
des Herrn M. A d 1 e r - New York (Jahrbuch für Kinderheilkunde,
Bd. 64, Ergänzungsheft) sollte es heissen statt „Aminosäuren und
Tyrosin“ „Aminosäuren, insbesondere Tyrosin“.
Archiv für Hygiene. 58. Bd. 3. Heft. 1906.
Heijiro N a k a y a m a - Prag: Impf versuche mit Aktinomyces
asteroides Eppinger an Meerschweinchen. Zugleich ein Beitrag zur
Frage der Ueberempfindlichkeit.
Eine grosse Reihe Tierversuche, die Verf. mit Aktinomyces
asteroides Eppinger am Meerschweinchen anstellte, ergaben,
dass der Organismus an sich innerhalb gewisser Grenzen nicht im¬
stande ist, akute schwere Erscheinungen hervorzurufen, wohl aber
kann eine wiederholte Injektion des Pilzes in der gleichen Menge wie
bei der erstmaligen Infektion tödliche Erscheinungen zur Folge haben.
Es muss allerdings eine gewisse Zeit zwischen der ersten und zweiten
Infektion verstreichen. Dieses Stadium der „Ueberempfind¬
lichkeit“ hat nur eine beschränkte Dauer, etwa 3 — 4 Wochen,
alsdann tritt ein Zustand ein, wie er zu Anfang war. Es tritt nach
Ablauf dieses Zustandes keine Immunität ein und es könnte nun eine
neuerliche Infektion auch einen neuen Zustand der Ueberempfindlich¬
keit hervorbringen. Die Erscheinungen bei Aktinomyzesimpfungen
ähneln denen der Tuberkulose. Der Unterschied in dem lokalen Vor¬
gänge in der Bauchhöhle bei einer ersten und zweiten intraperitonealen
Aktinomyzesinfektion besteht in einer Zurückhaltung der Leukozyten¬
einwanderung bei der letzteren.
Die entstehenden Aktinomyzeskeulen, die man in den Präparaten
zu sehen bekommt, erklärt Verf. als spezifische Reaktionsprodukte
der Pilze, welche infolge der Körperflüssigkeiten, wie W r i g h t an¬
gegeben hat, am Ende der Myzelfäden auftreten.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 38.
1) J. K e n t z 1 e r - Ofen-Pest: Ueber 3 mit Serum behandelte
Fälle von Tetanus traumaticus.
In allen 3 Fällen handelte es sich um jugendliche Personen, deren
Erkrankung in Heilung ausging. Der Verlauf ist eingehend mitgeteilt.
Die Wirkung der Sera war nicht so unmittelbar günstig, erst nach
wiederholten Injektionen. 2 mal kam Hautausschlag zur Beobachtung.
Verf. gibt noch grosse statistische Zusammenfassungen über die Mor¬
talität des Tetanus traumaticus mit und ohne Serumbehandlung und
stellt besonders fest, dass die Mortalität dort am grössten, wo die
Inkubationszeit eine kurze (1 — 10 Tage) ist.
2) C. Moreschi - Königsberg i. Pr. : Ueber den Wert des Kom-
plementablenkungsvcrfahrens in der bakteriologischen Diagnostik.
Der Artikel muss im Original cingesehen werden.
3) Th. W e y 1 - Charlottenburg: Ueber Nystagmus toxicus.
W. konnte bei Kaninchen, die mit Chinosol, Lysol, Kresol, Kar¬
bolsäure vergiftet wurden, das Auftreten von Nystagmus (6 Fälle
bei 75 Tieren) beobachten. Die Dauer der Erscheinung betrug einige
Minuten bis Vz Stunde. Verf. macht darauf aufmerksam, dass Berg¬
leute, die mit der Karbol und Kresol liefernden Steinkohle immer in
Berührung kommen, so oft an Nystagmus erkranken.
4) L. v. A 1 d o r - Karlsbad: Zur Pathologie und Therapie der
Gallensteinkrankheit.
Verf. betont, wie andere Autoren, die relativ geringe patho¬
genetische Bedeutung des Gallensteins selbst, während infektiöse
Prozesse in der Gallenblase und den Gallengängen die ätiologische
Hauptrolle spielen. Für die Entwicklung der entzündlichen Prozesse
ist nach Verf. von besonderer Wichtigkeit das Bestehen chronischer
Darmkatarrhe, welche die Ueberleitung der Infektion vom Darm
aus vermitteln. Die Wirkung der meisten „Gallenstein“-Mittel be¬
ruht mit auf dieser Unterlage. Bezüglich der Behandlung steht Verf.
im wesentlichen auf K e h r s, jetzt mehr konservativem, Standpunkt,
und akzeptiert dessen Indikationen. Mehrwöchentliche Ruhe, auch in
Karlsbad, ist bei Gallenblasenentzündung erstes Erfordernis; nach
den akuten Erscheinungen kommen Kuren mit reichlicher Bewegung
und vielem Karlsbader Wasser zur Geltung.
5) K. Ganz-Brünn: Die externe Behandlung der Gonorrhoe
mit Arhovin.
Das Medikament, das Verf. in 1 — 5 proz. Lösungen mit Ol. olivar.,
auch in Form von Bacilli Arh. anwendet, ist ihm nach seinen Er¬
fahrungen das Ideal eines Trippermittels. Auch von interner An¬
wendung des Arhovins berichtet G. ausgezeichnetes.
6) P. A r g u t i n s k y - Kasan: Ein Beitrag zur Kenntnis des
kongenitalen Myxödems und der Skelettwachstumsverhältnisse bei
demselben.
Der in allen seinen Einzelnheiten beschriebene und abgebildete
Fall (8 jähr. Knabe) ist dadurch bemerkenswert, dass trotz hoch¬
gradiger Skelettveränderungen die Intelligenz ziemlich gut entwickelt
ist. Ferner kann aus der Anamnese und der röntgenologischen Unter¬
suchung der Nachweis geführt werden, dass ein kongenitales Myxö¬
dem vorliegt. Die interessanten Nachweise über die Art des Knochen¬
wachstums bei dem Kranken sind im Originale zu vergleichen.
Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 37.
1) E. R e d 1 i c h - Wien: Die Behandlung der Epilepsie. (Klini¬
scher Vortrag.)
2) Ernst Kuhn-Berlin: Eine Lungensaugmaske zur Erzeugung
von Stauungshyperämie in den Lungen.
Vortrag im Verein für innere Medizin 11. VI. 06, ref. Münch, med.
Wochenschr. 1906, No. 26, S. 1275.
3) S o 1 m e r s i t z - Königsberg: Beitrag zur Aspergiliusmykose
der menschlichen Lunge.
In dem beschriebenen Fall wurde primäre Lungenverschimmelung
angenommen, Tuberkulose konnte mit ziemlicher Sicherheit aus¬
geschlossen werden. Die Infektion war anscheinend durch Geflügel
bezw. Getreide erfolgt; der Fall verlief ungünstig, mit Hämoptoe.
3) v. Stoutz und U 1 r i c i - Görbersdorf : Diätetische Beob¬
achtungen an Lungenkranken.
Bericht über günstige Erfahrungen mit dem Nährpräparat
Odda M.-R.
4) J. B e n c e - Ofen-Pest: Drei Fälle von Polyglobulie mit Milz-
tumor. (Schluss.)
Bei 3 Fällen mit dem Vaquez-Osler sehen Syndrom machte
Verf. genauere Blutuntersuchungen; die eigentümliche zyanotische
Hautverfärbung (Frühsymptom) wird weder durch CO, noch durch
. Farbenänderung des Hb erzeugt. Gegen COs-Stauung im Blut spricht
der normale, auch subnormale Gefrierpunkt des Blutes. Als be-
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1927
giinstigendes Moment für die auftretenden Blutungen fand sich deut¬
liche Verzögerung der Blutgerinnung. Die Veränderung des Blut¬
bildes deutet auf eine Reizung des Knochenmarkes. Es besteht wirk¬
liche Vermehrung, nicht etwa bloss Eindickung; rote Blutkörperchen
wurden 7Vz — lP/2 Millionen gezählt, weisse 8 — 12 000; d. h. absolut
vermehrt waren nur die polynukleären Elemente. Das spezifische
üewicht des zellreichen Blutes ist hoch, seine Leitungsfähigkeit ver¬
mindert, seine Viskosität auf das 3 — 4 fache erhöht, letzteres wahr¬
scheinlich nur als Folge des Erythrozytenreichtums. Therapeutisch
wirksam waren Ou-Einatmungen. Die Abnahme der Blutkörperchen-
^ahl und der Viskosität nach denselben sprach für die Ansicht
K o r a n y i s, dass die Polyzythämie mit einer Aenderung des O2-
Bindungsvermögens des Hämoglobins zusammenhängt.
5) John C. H 0 1 1 i s t e r - Berlin : Das Verhalten der Milz bei
Karzinom.
Die Milz ist in den meisten Fällen von Krebs klein oder wenig¬
stens nicht vergrössert; ist sie gross, so finden sich deutliche Ur¬
sachen: Chronische Stauung im Pfortadergebiet, allgemeine Sepsis,
Krebsmetastasen der Milz selbst.
6) A. S i p p e 1 - Frankfurt a. M. : Bemerkungen zur Händedes¬
infektion und Asepsis bei Laparotomien.
Bei der Händedesinfektion mit Heisswasser-Alkohol-Sublimat
legt Verf. grossen Wert darauf, dass die Hände nass von einer Lösung
in die andere kommen; die Bauchhaut des Kranken wird mit Bad,
Seife, Terpentinöl, Aether und Sublimat vorbereitet, bei der Laparo¬
tomie wird eine Kompresse rings aufgenäht; das Operationsgebiet
(Bauchhöhle) wird mit Kochsalzlösung abgeschwemmt.
7) R a m s b 0 r n - Leipzig: Ueber Unguentum sulfuratum mite
(Theyolip).
Die Salbe zeigte sich den gewöhnlichen Schwefelsalben an Wir¬
kung überlegen.
8) A. S a c h s - Berlin: Muskeltransplantation bei Behandlung der
Kinderlähmung.
Ersatz des atrophischen Deltoideus durch den Pectoralis major,
worauf der Arm wieder gehoben werden konnte.
R. Qrashey - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 37. A. Strubeil - Dresden: Ueber die physiologischen und
pharmakologischen Wirkungen des Yohimbin Spiegel.
Habilitationsrede. Die von dem Verf. durchgeführten Versuche
haben in einer Richtung ein positives Ergebnis gehabt, indem es sich
zeigte, dass nach Injektion medizinaler, die Herzarbeit nicht alte-
rierender Dosen eine sehr erhebliche, lange anhaltende Steigerung
des Hirndruckes und Erweiterung der Qefässe des Zentralnerven¬
systems auftrat. Als Hauptursache der günstigen Wirkung des
Yohimbins auf die Potenz darf wohl dieser gesteigerte Stoffwechsel
und die vermehrte Durchströmung erschöpfter Nervenzentren ange¬
sehen werden.
B. L i p s c h ü t z - Wien: Zur Kenntnis der Spirochaete pallida
im syphilitschen Gewebe.
Genaue Beschreibung des histologischen Befundes und der Ver¬
teilung der Spirochäten im Gewebe bei je einem Fall von papulo-
krustösem Syphilid (chemotaktische Wirkung auf die polynukleären
Leukozyten), von kleinpustulösem Syphilid (Lagerung vorzugsweise
in der Wandung des Epidermisabszesschens mit gleichzeitiger starker
Pigmentverminderung) und von grosspapulösem lentikulären Syphilid.
J. G 0 b i e t - Orlau: Vaginaler Kaiserschnitt bei Eklampsie.
Verf. verwirft die Dilatation nach B 0 s s i zu gunsten des vagi¬
nalen Kaiserschnittes nach Diihrssens Indikation und Technik.
Ausser der Beschreibung eines eigenen Falles gibt er eine Statistik
über 41 genauer beschriebene Fälle. Von im ganzen 60 bekannt ge¬
wordenen Fällen berechnet er eine Mortalität von 25 Proz., wovon
vier Fünftel der Eklampsie selbst zur Last fallen. Auf Sepsis treffen
1,6 Proz. gegen 12 Proz., welche für den klassischen Kaiserschnitt
berechnet werden. Der vaginale Kaiserschnitt verdient als eine un¬
gefährliche und technisch leichte Methode zur schnellen Entbindung
bezeichnet zu werden.
K. R o u s s e f f - Sofia: Chemische Untersuchung der Therme
Banki ln Bulgarien.
Die genaue Zusammensetzung dieser Akratotherme wäre im Ori¬
ginal einzusehen. Bergeat.
Englische Literatur.
(Schluss.)
Thomas Buzzard: Ueber die Diagnostik von Tumoren im
Gyrus uncinatus. (Lancet, 30. Juni 1906.)
Verf. weist vor allem darauf hin, dass nach seinen und anderer
Autoren Beobachtungen es höchst wahrscheinlich ist, dass das Zen¬
trum für den Geschmack und den Geruch im Gyrus uncinatus sitzt
und dass deshalb bei Erkrankungen dieser Gegend Störungen dieser
beiden Sinne selten vermisst werden. Er gibt einige interessante
Krankengeschichten.
St. Clair Thomson: Die submuköse Entfernung von Devia¬
tionen und Knochensprüngen des Septum. Ibidem.
Verf. operiert stets unter lokaler (Kokain und Adrenalin)
Anästhesie. Er beginnt mit einem Einschnitt auf der konvexen Seite;
der Einschnitt, der am besten mit einem, auf einem Bajonettgriff be¬
festigten Messer gemacht wird, beginnt Va cm hinter der Haut-
Schleimhautgrenze und läuft dem häutigen Septum parallel. Unter
Kontrolle des im anderen Nasenloche liegenden Fingers wird mit
scharfen und stumpfen Raspatorien das ganze knorpelige Septum
auf der konvexen Seite von der Mukosa^ und dem Perichondrum
abgelöst. Nachdem der Knorpel an der Seite der Inzision durch¬
schnitten ist (ohne die Mukosa der konkaven Seite zu verletzen)
wird der Knorpel auch auf der konkaven Seite von seiner Beklei¬
dung entblösst. Dann schiebt man ein langarmiges Nasenspekulum
so in die Wunde, dass der Knorpel freiliegt und die Schleimhauttasche
gut entfaltet ist. Der Knorpel und etwaige knöcherne Vorsprünge
können nun leicht entfernt werden. Zum Schlüsse wird die Wunde
durch einige Stiche geschlossen. Sehr häufig ist das Os turbinatum
auf der freien Nasenseite stark hypertrophisch und muss ebenfalls
entfernt werden. Verf. widerlegt dann noch eine Reihe von Ein¬
würfen, die man gegen die Vornahme dieser Operation gemacht hat.
Er hat nie Abflachung der Nase oder sonstige Missbildung nach der
Operation gesehen; bei Kindern bis zu 17 Jahren soll man sie aller¬
dings nicht ausführen, da die Nasenhöhlen zu eng sind, wenn man
allgemeine Narkose gebraucht und doch vielleicht die Entwicklung
der Nase leiden kann.
A. E. Taylor: Die Reaktion von Cammidge. (Ibidem.)
C a m m i d g e hat, wie Referent schon früher an dieser Stelle
erwähnt hat, eine Reaktion angegeben, die es ermöglichen soll,
Erkrankungen des Pankreas von anderen Krankheiten zu unter¬
scheiden. Cammidge glaubt, dass wie bei Leberkrankheiten die
Gallenbestandteile so bei Pankreaserkrankungen die Bestandteile des
Pankreassaftes in das Blut übergehen und im Urin nachweisbar sind.
Cammidge glaubt, dass durch im Blute kreisende Pankreasfer¬
mente das Körperfett zersetzt wird. Am Orte der Zersetzung findet
man die Fettsäuren, im Urin das Glyzerin und seine Derivate. Dies
gilt nicht nur von den Fällen schwerer Fettnekrose bei akuter Pan¬
kreatitis, sondern für alle Fälle von Erkrankung der Bauchspeichel¬
drüse. Taylor hat nun die Reaktion von Cammidge an den
Uritien von 110 Kranken nachgeprüft und 9 mal eine positive Re¬
aktion erhalten. 2 mal handelte es sich um schwere Kontusionen des
Bauches, beide Kranke kamen mit dem Leben davon, nach völliger
Genesung verschwand die Reaktion. Von 3 Fällen von Diabetes
gab 1 eine positive Reaktion. Von 3 Fällen von Gallensteinkoliken
gaben 2 positive Reaktion. 1 Fall von Parametritis und 1 Fall von
akuter Sepsis ergaben ebenfalls positive Reaktionen. Verf. glaubt,
dass die Reaktion von Cammidge nicht völlig unfehlbar, wohl
aber als wichtiges Hilfsmittel in der Erkennung der Pankreaserkran¬
kungen anzusehen ist.
R. Neville Hart: Die nervösen Symptome nach einem miss¬
glückten Versuche des Erhängens. (Ibidem.)
Verf. beschreibt sehr eigentümliche Symptome, die bei abge¬
schnittenen und wieder zum Leben gebrachten Erhängten beobachtet
wurden. Im Vordergründe stehen neben völliger, bis zu 40 Stunden
andauernder Bewusstlosigkeit, Enge und Starre der Pupillen und
nachfolgende Verwirrtheit. Er führt dies auf Zirkulationsstörungen
im Gehirn zurück.
Frederik Langmead: Die Salizylvergiftung bei Kindern.
(Ibidem.)
Salizylpräparate (auch Aspirin) erzeugen bei Kindern zuweilen
Vergiftungserscheinungen, die ganz unter dem Bilde der Säurever¬
giftung bei Diabetes verlaufen. Man beobachtet Somnolenz, das in
Koma übergeht und zum Tode führen kann, starken Lufthunger und
meist Erbrechen. Im Urin dieser Kinder findet man grosse Mengen
von Azeton; auch die Atemluft riecht stark nach Azeton. Manch¬
mal genügen schon sehr kleine Mengen von Salizyl, um diese Ver¬
giftung hervorzurufen, es scheint als ob vorausgegangene Stuhlver¬
stopfung den Eintritt der Symptome begünstigt. Man sorge deshalb
stets für gute Stuhlentleerung. Findet man Azeton im Urin, so gebe
man grosse Dosen von Natr. bicarbonicum; man kann dies auch
prophylaktisch mit dem Salizyl geben. Es ist zu bemerken, dass
das in Verfassers Hospitale benutzte Salizyl völlig rein war.
D. Lloyd Smith und J. Taylor Hughes: Zur lokalen Anästhesie
im Munde, der Nase und bei kleineren Operationen. (Ibidem.)
Als bestes lokales Anästhetikum empfehlen die Verfasser fol¬
gende Mischung. Man mache sich eine Lösung von reinem Natr.
sulph. vom spez. Gewicht 1025 bis 1029, diese benutze man zur Her¬
stellung einer Lösung von Kokain (0,3 : 100). Zur besseren Halt¬
barkeit füge man einige Kristalle reine Salizylsäure bei. Diese
Lösung, die sich unbegrenzt lange hält, wird mit gleichen Mengen
von Liqu. Hamamelidis destillatum gemischt. Die Lösung wird mit
Serumalbumin aus Hühnereiern bis zur gewünschten Menge ver¬
dünnt und dem Ganzen noch Suprarenalin zugesetzt. Die Anästhesie
mit dieser Mischung ist 30 mal so stark wie die mit einer reinen
Kokainlösung hervorgebrachte.
J. S. Risien Russell: Die Myelitis. (Lancet, 7. Juli 1906.)
Aus dieser lesenswerten Arbeit des bekannten englischen Neuro¬
logen sei nur hervorgehoben, dass er als Hauptheilmittel für alle
Formen der Myelitis die Schmierkur ansieht. Er hält sehr viel von
lokalen Einreibungen im Verlaufe der Wirbelsäule und zwar hat er
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ _ Uo. 30.
auch in solchen Fällen Nutzen gesehen, in denen die luetische Natur
des Leidens so gut wie ausgeschlossen war. Auch Horsley em¬
pfiehlt diese spinalen Einreibungen.
C. B. Keetley: Die Tuberkulose des Zoekum und der Appen¬
dix sowie der Valvula Bauhini. (Ibidem.)
Verf. bespricht diese verhältnismässig häufige Form der Tuber¬
kulose und rät dann, statt der primären' Darmresektion und Naht,
den Tumor zu entfernen und dann das aufliegende Kolon mit dem
lleum nebeneinander vor die Bauchhöhle zu lagern. Der Kranke
entleert mehrere Monate lang allen Kot aus dem Iliakalafter, gleich¬
zeitig macht man regelmässige Eingiessungen in das Kolon, um den
Körper vor Wasserverarmung zu schützen, nach einigen Monaten
schliesst man den After.
John L. Todd: Zur Verhütung der Verschleppung der Schlaf¬
krankheit. (Ibidem.)
Die Arbeit enthält einige Karten von Afrika, auf denen die all¬
mähliche Verbreitung der Schlafkrankheit dargestellt ist. Verf. ver¬
langt die Einsetzung medizinischer Posten entlang den Handels-
wegen, die von infizierten in noch freie Gebiete führen, ferner sollen
vereinzelte Fälle, die in sonst freien Gegenden Vorkommen, zwangs¬
weise in schon verseuchte Gebiete überführt werden. Verf. glaubt,
dass die Durchführung dieses Planes durchaus möglich ist, wenn
genügend Aerzte angestellt werden.
George Lamb und W. H. C. Förster: Ueber die Wirkung
des Säugetierserums auf Pestbazillen. (Ibidem.)
Es ist durch die Untersuchungen der verschiedenen Pestkommis¬
sionen bekannt, dass manche Säugetiere (Hunde, Schweine, Ochsen,
Schafe und Ziegen) für Pest gar nicht oder doch nur in sehr ge¬
ringem Masse empfänglich sind, während andere Tiere (namentlich
Patten und Meerschweinchen) ganz ausserordentlich leicht empfäng¬
lich sind. Die Verf. haben nun in einer Reihe von Versuchen fest¬
stellen können, dass normales Säugetierserum (von den verschie¬
densten Tieren) nicht die geringste bakterizide Wirkung gegenüber
dem Bacillus pestis ausübt. Man muss deshalb die Quelle der
vollkommenen oder fast vollkommenen Immunität dieser Tiere gegen
Pest wo anders suchen als im Serum.
Edwin Mathew: Akute lymphatische Leukämie. Scottish
Medical and Surgical Journal. Juli 1906.
Verf. beschreibt zuerst 4 eigene genau beobachtete und durch¬
gearbeitete Fälle. Es handelte sich stets um jüngere männliche
Kranke, deren Krankheit unter Fieber, Vergrösserung der Lymph-
drüsen und der Milz, Blutungen und Ulzerationen der Schleimhäute
einherging und in 6 bis 10 Wochen zum Tode führte. Aus dem
Blutbefunde und den Ergebnissen der Sektion schliesst Verf., dass es
sich in diesen Fällen um eine Erkrankung handelt, die im Knochen¬
marke und nicht wie Ehrlich und seine Schüler lehren, in den
Lymphdrüsen beginnt. Besonders scheinen die grossen mono¬
nukleären Leukozyten, die für die akute lymphatische Leukämie so
charakteristisch sind, aus dem Knochenmarke zu stammen.
G. Aitchison Robertson: Ein Kasten für Notfälle in der ärzt¬
lichen Praxis. (Ibidem.)
Verf. möchte im Besitze eines jeden Arztes einen Notkasten
sehen, der es dem Arzte ermöglicht, bei dringenden Fällen von Ver¬
giftung, Selbstmord, Verletzungen etc. sofort alle nötigen Instrumente,
Verbände und Antidote zur Hand zu haben. Ein solcher Kasten
scheint ihm mindestens so wichtig, wie ein geburtshilfliches Besteck.
Er beschreibt dann seinen Kasten, der billig und handlich ist und
doch alle nötigen Dinge (Magenpumpe, Apparat zur Infusion, Tracheo¬
tomiekanülen, Katheter, Antidote, Stimulantien, Sedativa, Ver¬
bände etc.) enthält.
G. Armauer Hansen: Ueber Lepra und Fischkonsum. (Ibidem.)
Die Arbeit richtet sich gegen die bekannten Arbeiten Jonathan
Hutchinsons, der mit allen Kräften dafür eintritt, dass die Lepra
eine Folge des Genusses schlecht gesalzener und mehr oder weniger
verdorbener Fische ist und dass sie nur dort auftritt, wo derartige
Fische vielfach gegessen werden. Hansen weist zuerst nach, dass
in Norwegen noch heute sehr viel verdorbener Fisch (zum Teil als
Delikatesse) gegessen wird und dass trotzdem die Lepra stark abge¬
nommen hat; besonders auffallend ist, dass im östlichen Norwegen,
wo verdorbene Forellen als besondere Leckerei geschätzt werden,
gar keine Lepra vorkommt. Der Hering, der nach Deutschland
und Polen exportiert wird, ist vielfach total verdorben, da die grossen
Fänge ein rasches Einsalzen verhindern, trotzdem sind in beiden
Ländern keine Leprafälle durch den Genuss dieser Fische beobachtet
worden. Hansen zeigt dann, dass Hutchinsons Behauptung,
die Lepra sei nicht infektiös, nicht richtig ist und zitiert eine Anzahl
von Beispielen aus Norwegen, die das Gegenteil beweisen. Zum
Schlüsse zeigt er, wie die Isolierung der Leprakranken günstig ge¬
wirkt hat. (Es wäre wirklich zu bedauern, wenn Hutchinsons
unbewiesene Behauptungen es fertig brächten, dass in den englischen
Kolonien, wie er es will, die Leprakolonien aufgehoben würden.
So etwas wäre aber in England schon möglich, wo es namentlich
unter den „Demokraten“ und „Liberalen“ zahlreiche Persönlichkeiten
gibt, die sich mit Begeisterung jedem „Anti“prediger anschliessen
und um so mehr schreien, je' weniger sie von der in Frage stehenden
Sache verstehen. Refer.)
Sir William Thomson: Die Enukleation der Prostata. Dublin
Journal of Medical Science, Juli 1906.)
Verf. berichtet über 18 von ihm von der Blase aus (Frey er¬
sehe Operation) operierte Fälle, von denen 5 starben, die übrigen aber
völlig geheilt wurden. Er legt ein grosses Gewicht darauf, in der
Nachbehandlung die Blase weit offen zu halten und sehr reichlich
und häufig durchzuspülen, da sich sonst leicht Teile der Wunde mit
Phosphaten inkrustieren und sich später Steine bilden. Er drainiert
mit einem dicken gebogenen ülasrohr durch die Bla$enwunde.
W. T. Herringham: Die Prognose der chronischen Nephritis
bei jungen Personen. Edinburgh Medical Journal, Juli 1906.
Verf. wendet sich gegen die Sitte, die Prognose in diesen Fällen
absolut schlecht zu stellen und die Kranken zum völligen Invaliden-
tum zu verdammen. Wenn solche Kranke die Mittel dazu haben,
sollten sie den Winter in Aegypten oder den Kanarischen Inseln
zubringen. Es ist unnütz und oft schädlich, ihnen Fleisch zu ver¬
bieten, eine mässige Fleischkost schadet sicherlich nicht; bei dauern¬
dem Appetitmangel versuche man ruhig etwas Alkohol zu geben.
Man darf den Kranken auch mässige Körperbewegung und Spiele
erlauben, wenn sie sich nur vor Uebermüdung und Durchnässung
schützen. Solche Kranke leben oft noch 20 Jahre und darüber.
Claude B. Ker: Die Behandlung des Typhus abdominalis mit
Darmantiseptizis. (Ibidem.)
Verf. gibt jedem Typhuskranken (auch Kindern) täglich 0,2 Ka-
lomel. Ausserdem spült er den Darm täglich mit 2 bis 3 Litern
warmen (116 bis 120" F) Wassers aus. Man lässt diese Menge
langsam bei erhöhtem Becken in linker Seitenlage einfliessen und
weist den Kranken an, das Wasser so lange als möglich zurückzu¬
halten. Besteht starker Meteorismus, so gibt man 2 Ausspülungen
täglich, lässt aber das Kalomel fort. Die Nahrung ist hauptsächlich
Milch und etwas Hühnersuppe, ausserdem reichliche Mengen gekoch¬
ten Wassers; im ganzen soll die Kranke etwa 5 Liter Flüssigkeit per
Tag zu sich nehmen. Die Mortalität bei 758 in 4Vs Jahren auf diese
Weise behandelten Fällen betrug 9,36 Proz.; es ereigneten sich
8,04 Proz. Blutungen und 1,71 Proz. Perforationen, sowie 3,95 Proz.
Rezidive. Bei der früher geübten abwartenden Behandlung hatte er
11,83 Proz. Todesfälle, 8,06 Proz. Blutungen; 3,27 Proz. Perforationen
und 5,79 Proz. Rückfälle (bei 397 Fällen). Vor allem scheint es, dass
sich die Patienten bei dieser Behandlung sehr wohl befinden und
dass sie namentlich die Einläufe als grosse Erleichterung empfinden.
Verfasser gibt dann noch die Resultate, die er mit Naphthol, Guajakol
und Thymol hatte.
E. Butt: Zur augenblicklichen Behandlung der Syphilis. (Medi¬
cal Chronicle, Juli 1906.)
Von den englischen Truppen erkranken in der Heimat jährlich
104 per Tausend an Syphilis, in Indien 200,3 per Tausend. In der
Zivilbevölkerung scheint die Erkrankung in der Abnahme begriffen
zu sein. Von 1860 bis 1882 mussten von 1000 Rekruten 11,67 bis 16,86
zurückgewiesen werden. 1883 fiel die Zahl auf 9,81, seitdem ist die
Zahl immer noch heruntergegangen und im Jahre 1903 betrug sie nur
2,79. In der indischen Armee nahm die Syphilis ab, so lange eine
gewisse Kontrolle der Prostitution geübt wurde, mit Aufhebung dieser
Gesetze nahm die Zahl der Erkrankungen zu, seit eine gewisse Kon¬
trolle im Jahre 1897 wieder eingeführt wurde, haben die Erkrankungen
wieder abgenommen. Verfasser gibt eine Anzahl von Tabellen, die
diese Ausführungen illustrieren. Er tritt warm ein für eine kontinuier¬
liche Behandlung der Lues gegenüber der sog. intermittierenden. Er
verwendet graues Oel, das er intramuskulär injiziert, und zwar be¬
ginnt er mit den Einspritzungen so früh wie möglich, d. h. sobald die
Diagnose sicher ist. Es ist nicht nötig, ja sogar schädlich, in jedem
Falle den Eintritt der Sekundärsymptome abzuwarten, ehe man mit
der Behandlung beginnt. Diese Behandlung setzt er ohne Unter¬
brechung lange Zeit hindurch fort, jedenfalls so lange, als bis bei
frischen Fällen die Drüsenschwellungen völlig verschwunden sind.
R. E. F r en c h: Die Opsoninbehandlung der Krankheiten. (Prac-
titioner, Juli 1906.)
Verfasser berichtet, dass man in Guys Hospital zu London
sehr gute Erfahrungen mit der Vakzinebehandlung verschiedener in¬
fektiöser Erkrankungen (Tuberkulose, Sinuseiterungen, Gonorrhöe,
Akne) gemacht hat, die unter steter Kontrolle des opsonischen Index
vorgenommen wurde. Er empfiehlt die Behandlung nur bei chro¬
nischen Fällen, bei akuten Infektionen kann sie leicht schaden. Wenn
irgend möglich, entferne man gleichzeitig chirurgisch etwaige Krank¬
heitsherde, von denen eine Reinfektion ausgehen kann. Tuberkulöse
Herde operiere man nur während der positiven Phase, die auf eine
präliminäre Einspritzung von Tuberkulin folgt. Die der Operation fol¬
gende negative Phase wird dann durch die positive Phase der Injek¬
tion neutralisiert. Verfasser gibt an, dass Patienten, deren opsonischer
Index für Tuberkelbazillen unter 0,8 oder über 1,2 liegt mit grosser
Wahrscheinlichkeit an Tuberkulose leiden. Es folgt eine gute Ueber-
sicht der bisher erschienenen Arbeiten, die sich mit der Lehre von den
Opsoninen und mit der Vakzinebehandlung der Krankheiten be¬
schäftigen.
Edward Ward: Gastroenterostomie bei perforiertem Magen¬
geschwür. (Lancet, 7. Juli 1906.)
Verfasser empfiehlt, wenn irgend möglich, bei Operationen wegen
Perforation eines Magengeschwüres sofort die Gastroenterostomie
anzuschliessen, um den Magen ruhig zu stellen und so das Geschwür
zur Heilung zu bringen. Er legt grosses Gewicht darauf, keine Zeit
mit der sog. Toilette der Bauchhöhle zu verlieren, er tupft gröbere
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1929
Verunreinigungen auf, spült aber niemals die Bauchhöhle aus; er
legt dabei eine ausgedehnte Drainage über dem Schambogen und
eventuell in der Lumbalgegend an.
W. J. Burroughs: Eine Spinalerkrankung bei Chauffeuren.
(Ibid.)
Verfasser beobachtete bei dem Chauffeur eines 30 pferdekräftigen
Motoromnibusses eine eigentümliche Erkrankung, die plötzlich nach
einem besonders anstrengenden Tage (an welchem infolge defekter
Maschine die Vibration besonders heftig war) auftrat, und in einer
spastischen Rigidität des rechten Beines bestand. Der Kniereflex war
beiderseits, besonders aber rechts gesteigert; die Haut über dem
rechten Bein (besonders an der Innenseite) war hyperästhetisch. Es
bestand ein Gürtelschmerz in der Höhe des 3. und 4. Lendenwirbels.
Blasen- und Mastdarmsymptome fehlten. Am folgenden Tage war
die Sensibilität des rechten Beines stark herabgesetzt, einen Tag
später bestand völlige Anästhesie bei Nachlassen der Rigidität. Nach
ungefähr 3 Wochen war der Kranke völlig geheilt. Verfasser glaubt
diese Erkrankung auf eine umschriebene Myelitis infolge der starken
Vibration zurückführen zu müssen.
T. R. Bradshaw: Der Einfluss antitoxischer Seren auf den
tuberculo-opsonischen Index. (Lancet, 19. Mai 1906.)
Verfasser hat gefunden, dass therapeutische oder prophylaktische
Injektionen von Diphtherie- oder Tetanusheilserum bei sonst völlig
gesunden Menschen den opsonischen Index gegen Tuberkelbazillen
bedeutend herabsetzen; die nach derartigen Einspritzungen ein¬
tretende Verminderung der Opsonine kann, wie es scheint, viele
Monate anhalten. Man muss also bei Bestimmung des opsonischen
Index Rücksicht darauf nehmen. (Wer weiss, was sonst noch den
opsonischen Index beeinflusst, jedenfalls ist es höchst merkwürdig,
dass nach W r i g h t s Angaben ein Index unter 0,8 und über 1,2 für
das Vorhandensein einer Tuberkulose spricht. Refer.)
George F. Still: Infantiler Skorbut. (Brit. med. Journ., 28. Juli
1906.)
Die Arbeit des bekannten Kinderarztes beginnt mit einem kurzen
geschichtlichen Rückblick. Schon Glisson (1651) hat die Krank¬
heit gut beschrieben und schon er hat, was jetzt noch vielfach ver¬
kannt wird, die Krankheit als völlig unabhängig von der Rachitis
erklärt. Leider haben die jetzt noch üblichen Ausdrücke: skorbutische
Rachitis, akute oder hämorrhagische Rachitis eine arge Verwirrung
angerichtet und es muss immer wieder betont werden, dass der in¬
fantile Skorbut durchaus nichts mit der Rachtitis zu tun hat, wenn
auch beide Krankheiten eine Folge fehlerhafter Ernährung sind. Ver¬
fasser beobachtete 54 eigene Fälle und fand, dass die Krankheit fast
ganz auf die zweite Hälfte des ersten Lebensjahres beschränkt ist; es
ist deshalb meist leicht, sie von den rheumatischen Erkrankungen zu
unterscheiden, die so gut wie nie vor dem 18. Monat beobachtet wer¬
den. Der Beginn ist meist schleichend und die Krankheit verläuft un¬
bemerkt, bis heftigere Erscheinungen (Empfindlichkeit der Beine, Blut
im Urin) und die Anamnese, dass das Kind mit einem der künstlichen
Nährmittel (Kindermehle) ernährt wurde, auf die Krankheit hinweisen.
Die Empfindlichkeit und der Verlust der Bewegung findet sich viel
häufiger in den Beinen als in den Armen. Fühlbare Schwellungen
fehlen oft oder sind nur äusserst gering; sind sie vorhanden, so er¬
greifen sie die' Gegend der Epiphysen, gehen aber stets auch auf die
Diaphyse über; meist findet man diese Schwellungen an der Tibia
und dem Femur, doch werden sie auch an den Schädelknochen be¬
obachtet. Zuweilen findet man Oedeme über den befallenen Gliedern.
Das Zahnfleisch kann aufgelockert sein und bluten, sind aber noch
keine Zähne vorhanden, so fehlt diese Erscheinung meist. Häufiger
hat Still die sonst kaum erwähnten Blutungen in der Schleimhaut
des harten Gaumens gesehen; zuweilen sah er auch Orbitalblutungen.
Am allerhäufigsten aber wird Blut im Urin gefunden, oft allerdings
nur in mikroskopisch nachweisbaren Spuren. Zuweilen tritt Pyelitis
auf. Fieber fehlt in der Regel. Bei Sektionen findet man zuweilen
schwere Blutungen in den inneren Organen; auch Gelenkblutungen
werden beobachtet. Die Prognose hängt ganz von der Erkennung
der Krankheit und ihrer Behandlung ab. Von Verfassers 54 Fällen
starben 3. Verfasser empfiehlt natürlich vor allem eine ordentliche
Prophylaxe, d. h. Vermeidung aller Kindermehle, der kondensierten
und anderer Milchpräparate. Die ausgebrochene Krankheit wird mit
frischer bis zum Sieden erhitzter, aber nicht gekochter Milch be¬
handelt; ausserdem gibt er Kartoffelbrei und Apfelsinensaft, sowie
rohen Eleischsaft.
James H. Sequeira: Die Behandlung des Herpes tonsurans.
(Ibid.)
Verfasser verwendet bei Herpes des behaarten Kopfes nur noch
die Röntgenbestrahlung. Er benutzt einen Unterbrecher, der 500 bis
600 Unterbrechungen per Minute gibt und glaubt, dass häufigere
Unterbrechungen nicht so günstig wirken. Die Penetrationsfähigkeit
der Röhre prüft er an der Benoist sehen Skala, verwendet werden
Röhren von No. 6 bis No. 7 (Benois t). Die Funkenlänge soll 12 bis
15 cm betragen. Die Röhre soll etwa 15 cm von der befallenen Stelle
entfernt sein. Die S ab o u r a n d sehen Pastillen dienen zur Kon¬
trolle der Wirkung. Die Erfolge waren bei 107 Fällen von Herpes
tonsurans und 8 Fällen von Favus ausgezeichnet. Nur 2 mal war die
Epilation unkomplett. In jedem Falle kamen die Haare später wieder.
Ein Erythem wurde nur 1 mal beobachtet, 1 mal trat Blasenbildung
auf. Im ganzen brauchten die 115 Fälle 455 Sitzungen zur Heilung.
A. Hugli Thomas: Refraktionsanomalien bei Elementarschul¬
kindern in London. (Ibid.)
Verfasser hat gefunden, dass schon bei ganz jungen Kindern
Myopie häufiger ist, als man bisher annahm. Im ganzen leiden etwa
3 Proz. der Kinder an Myopie mit oder ohne Astigmatismus. Ver¬
fasser empfiehlt den Schulbehörden, die Gläser selbst zu liefern, da
sehr viele der Eltern zu arm sind, um (namentlich für Zylindergläser)
zu bezahlen. Die Arbeit enthält zahlreiche interessante statistische
Notizen. J. P. zum Busch- London.
Rumänische Literatur.
P. Herescu: Ueber die traumatischen Strikturen der Urethra.
(Spitalul, No. 10, 1906.)
Eine häufige Entstehungsursache von Verletzungen der Harn¬
röhre ist durch das Fallen in Reitsitz auf einen harten Gegenstand
gegeben. Meist besteht unmittelbar hierauf absolute Harnverhaltung,
doch ist es ein grosser Fehler, durch Sondierung derselben abhelfen
zu wollen, da hierdurch die meist gerissene Urethra noch weiteren
Verletzungen ausgesetzt wird. Höchstens versuche man, eine fili¬
forme Bougie durchzubringen, andererseits durch lauwarme Sitz¬
bäder, Klysmen, Brom und sonstige kalmierende Medikation natür¬
liche Harnentleerung zu bewirken. Sowie eine filiforme Bougie duixh-
gegangen ist, soll der chirurgische Eingriff gemacht werden, da jede
Urethralruptur zur Bildung von Strikturen Veranlassung gibt. Man
schneidet die lädierten Teile aus und näht die gesunden Harnröhren¬
enden aneinander, worauf für etwa 2 Wochen eine Verweilsonde ein¬
gelegt wird.
Ni coli ni: Die Heilung des typhösen Fiebers durch die Be¬
handlung mit Schwefelblumen und Salzklysmen. (Ibidem.)
Die ursprünglich von Vorohilsky und Bu-rzagli vor¬
geschlagene Typhusbehandlung mit Schwefelblumen und Salzklysmen
ist auch vom Verfasser in seiner Spitalabteilung bei 30 einschlägigen
Fällen in Anwendung gezogen worden und waren die Resultate sehr
zufriedenstellende: von den erwähnten Fällen heilten 27 und endeten
3 tödlich, doch handelte es sich bei den letzteren um solche Patienten,
die spät in Behandlung getreten waren und bereits eine schwere
parenchymatöse Nephritis hatten. Alle Patienten bekamen täglich
je 4 Pulver von 0,30 g gewaschener Schwefelblumen und früh und
abends je ein Klysma von Chlornatrium 7,0 g, Natr. bicarbon. 6,0 g
und sterilisiertes Wasser 1000,0 g. Als Nahrung 2 Liter Milch, einige
Eidotter, Suppe, Kognak, Thee etc. täglich. Die Schwefelbehandlung
übt eine günstige Wirkung auf das Allgemeinbefinden und auf die
Temperatur aus, so dass nur in seltenen Fällen dieselbe 39,5° über¬
steigt und die Anwendung von kalten Waschungen oder Bädern not¬
wendig macht.
Der Vergleich der oben erwähnten Patienten mit anderen 28,
welche in einem Zeiträume von 214 Jahren auf derselben Abteilung
mit den sonst üblichen Methoden behandelt wurden, ergab bei letz¬
teren 25 Heilungen und 5 Todesfälle, auch war der Verlauf der
Krankheit im allgemeinen viel schwerer. Zusammenfassend ist
Nicolini der Ansicht, dass jeder Typhusfall mittels der Schwefel-
Salzklysmenbehandlung geheilt werden kann, falls derselbe innerhalb
der ersten 15 Krankheitstage in Behandlung gelangt. Auch ältere
Fälle werden mit dieser Behandlungsmethode eher günstig beein¬
flusst, als mit jeder anderen.
N. G h e o r g h i u : Die Behandlung der Puerperaünfektionen.
(Revista de Chirurgie, Juni 1906.)
Der Verfasser beschreibt die heute als die am rationellsten er¬
scheinende Behandlung des Wochenbettfiebers, indem er sich haupt¬
sächlich auf die Methoden von B u d i n und D r a g h i e s c u stützt.
So oft man eine Frau mit Zeichen von puerperaler Infektion in Be¬
handlung nehmen soll, ist es die erste Pflicht des Arztes, eine genaue
digitale Kontrolle des Gebärmutterinnern und eine minutiöse Inspek¬
tion des äusseren Genitales vorzunehmen. Findet man in der Uterus¬
höhle Reste von der Plazenta, den Eihäuten oder Blutgerinnsel, so
sind dieselben digital zu entfernen, hierauf mit den B u d i n sehen
Wischern (ecouvillons) das Kavum sorgfältig auszubürsten und mit
einer reichlichen Menge antiseptischer Flüssigkeit zu berieseln. Eine
solche Ausbiirstung soll auch dann vorgenomen werden, wenn bei
der digitalen Kontrolle das Innere der Uterushöhle vollkommen leer
gefunden worden ist. In den folgenden Tagen werden noch 1—2 in¬
trauterine Spülungen täglich vorgenommen, eine leichte, nahrhafte
Kost und tonische Medikation bei sonstiger absoluter Ruhe, verab¬
reicht. Wird hierdurch der Krankheitsprozess nicht gebessert, son¬
dern vielleicht verschlimmert, so macht man eine genaue Aus¬
kratzung der ganzen Uterushöhle mit nachfolgender antiseptischer
Tamponade (am besten mit in Wasserstoffsuperoxyd getauchten,
sterilen Gazestücken) und falls auch dann in zwei, höchstens drei
Tagen, die Infektion nicht geschwunden ist, so werden intravenöse
Koilargolinjektionen und subkutane Einspritzungen von künstlichem
Serum gemacht.
Die weitaus grösste Mehrzahl der puerperalen Fälle kann auf
diese Weise der Heilung zugeführt werden; meist ist die digitale Aus¬
räumung mit nachfolgender Btirstung und Spülung genügend und nur
in den schwereren Fällen muss zu den energischen Massregeln ge¬
griffen werden.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
M. Cohn: Das Kollargol in intravenösen Einspritzungen bei j
Puerperalfieber. (Ibidem.)
Im Laufe eines Jahres wurden in der bukarester Qebäranstalt
28 Fälle von meist schweren puerperalen Infektionen mit intra¬
venösen Kollargoleinspritzungen behandelt und bei 23 Heilung er¬
zielt. Diese Behandlung wurde erst dann vorgenommen, wenn die
betreffenden Patientinnen auf die gewöhnliche Behandlung der puer¬
peralen Sepsis nicht in günstiger Weise reagierten. Bei den zuletzt
behandelten Fällen wurden grössere Dosen, als anfänglich ange¬
wendet und bis zu 0,25 täglich eingespritzt. Das Kollargol ist kein
Spezifikum, kann aber als ein nützliches Adjuvans in der Behandlung
schwerer septischer Puerperalprozesse betrachtet werden.
Q. Stoicescu: Ueber die chirurgische Behandlung der Bla-
senturnoren. (Revista de Chirurgie, Juli 1906.)
Der Verfasser beschreibt im Grossen und Ganzen die an der
Klinik von H e r e s c u üblichen Behandlungsmethoden und vergleicht
dieselben mit denjenigen anderer Chirurgen. Die Krankengeschichten
von 12 einschlägigen Fällen illustrieren in praktischer Weise das
Gesagte.
Das Vorgehen des Chirurgen ist ein verschiedenes, je nachdem
man eine gutartige oder eine maligne Geschwulst vor sich hat. Im
ersteren Falle muss immer ein möglichst radikaler Eingriff vorge¬
nommen werden, da die Papillome, um die es sich meistens handelt,
eine gewisse Neigung haben in bösartiger Weise zu rezidivieren. Es
wird infolge dessen nicht nur die Neubildung, sondern auch die ganze
Blasenschleimhaut, welche die Basis derselben bildet, ausgeschnitten,
der derart gebildete Substanzverlust durch Katgutnaht geschlossen,
eine Verweilsonde eingelegt und die Blase ganz oder nur teilweise
geschlossen, je nachdem dieselbe sonst gesund ist, oder Entzündungen,
trüben Harn etc. aufweist. In diesem Falle wird in dem unteren
abdominalen Wundwinkel eine für das Durchführen eines Perrier-
Guyonschen Syphons genügend grosse Oeffnung gelassen. Auch
das Drainieren des prävesikalen Raumes ist fast immer, selbst nach
Vornahme einer vollständigen Zystoraphie von Vorteil.
Bei Bestehen maligner Blasentumoren ist der Allgemeinzustand J
des Kranken ein wichtiger Fingerzeig für die Art des vorzunehmenden
Eingriffes. Besteht Kachexie, hat der Tumor bereits benachbarte
Organe ergriffen, sind die Lymphdrüsen infiltriert, die Nieren in
schlechtem Zustande etc., so wird man sich mit palliativen Ope¬
rationen begnügen müssen. Der suprasymphysäre Weg ist auch für
diese Fälle vorzuziehen; die Auskratzung der Neubildung, die Kau-
terisierung derselben und die hypogastrische Drainierung verbessern
für eine gewisse Zeit den Zustand des Kranken und verhindern jeden¬
falls die Entwicklung der Harnkachexie, welche in Verbindung mit
der kanzerösen den letalen Ausgang um Vieles beschleunigt.
Wenn der Zustand des Kranken und der lokale Befund der
malignen Geschwulst einen radikalen Eingriff gestatten, so ist der
Chirurg verpflichtet, in diesem Sinne einzugreifen, um eine partielle
Zystektomie vorzunehmen. Der Sitz der Geschwulst in der Nähe
der Ureterenmündung bildet keine Kontraindikation bezüglich der
Operation; in schweren Fällen wird eine Ureterozystoneostomie vor¬
genommen, eventuell der Harnleiter in die äussere Haut eingenäht,
oder unterbunden und die entsprechende Niere entfernt.
I. Mitulescu: Die Resultate der spezifischen Behandlung der
chronischen Lungentuberkulosen. (Spitalul, No. 12, 1906.)
Der Verfasser ist Anhänger der spezifischen Tuberkulosebehand¬
lung, mit welcher er gute Erfolge erzielen konnte. Von Wichtigkeit
ist es, in allen Fällen genau zu untersuchen, ob der Patient eine ein¬
greifende Behandlung verträgt und welche Art von Tuberkulin ange¬
zeigt ist. Die Erfahrung zeigt, dass man die besten Resultate bei
jenen Kranken erzielen kann, welche sich in einem gewissen physio¬
logischen Gleichgewichte befinden, keine Gewichtsabnahme zeigen
und fieberfrei sind. Bei diesen kann die aktive Immunisierung mit
den verschiedenen K o c h sehen Tuberkulinsorten vorgenommen
werden. In schwereren Fällen ist es von Vorteil, mit der passiven
Immunisierung mittels Serum Maragliano zu beginnen, 10 — 15
Einspritzungen vorzunehmen und erst dann zu Tuberkulin T oder TE
i berzugehen. In allen Fällen ist es ratsam, mit minimalen Tuber¬
kulindosen zu beginnen, um die Empfindlichkeit des betreffenden
Individuums auszuprobieren. In praxi ist die Anwendung des Perl¬
suchtstuberkulins dem menschlichen Tuberkulin vorzuziehen, da das¬
selbe geringere Reaktionen hervorruft und viel raschere therapeu¬
tische Resultate erzielen lässt. Alle Tuberkuline wirken dadurch,
dass sie die Zellen in ihrem Kampfe gegen die Tuberkelbazillen unter¬
stützen und zur Bildung von antibakteriellen und antitoxischen Kör¬
pern veranlassen.
S. Marbe: Note mit Bezug auf die Behandlung der Parazentese.
(Ibidem.)
Im Allgemeinen ist es üblich, die Punktionsöffnung nach einer
Parazentese durch Kollodium zu schliessen; dies ist aber ungenügend,
namentlich wenn es sich um die Anwendung dickerer Trokare handelt;
in solchen Fällen schliesst das Kollodium die Oeffnung nicht ab, die
Flüssigkeit sickert weiter hervor und es kann auf diese Weise zu
einer Infektion des Bauchfelles durch Fortleitung von Infektions¬
keimen von der Haut her, kommen. Um dem vorzubeugen, schliesst
M. grössere Oeffnungen durch eine Kreuznaht, welche sowohl die
Haut, als auch das Unterhautzellgewebe in sich fasst.
E. Spirt: Die Behandlung der Hämoptoen mit Gelatine auf
rektalem Wege. (Spitalul, No. 14, 1900.)
Der Verfasser hat die von Ti ekel vorgeschlagene Methode
der Hämoptoebehandlung mit intrarektalen Einspritzungen von Gela¬
tinelösung in zwei einschlägigen Fällen angewendet und gute Er¬
folge erzielt. Das Verfahren ist einfach, leicht durchführbar und
haftet demselben kein einziger jener Nachteile an, die man bei sub¬
kutaner Anwendung von Leimlösung so oft beobachtet. Die be¬
treffende Lösung wird folgendermassen dargestellt: 50 g Gelatine
werden in 1 14 Liter Wasser aufgelöst und bis zur Menge von einem
Liter eingekocht; hiervon werden je % Liter dreimal täglich in den
Mastdarm eingespritzt.
I. Perietzeanu: Beiträge zum klinischen Studium des Darm¬
krebses. (Inauguraldissertation, Bukarest, 1906.)
Karzinomatöse Erkrankungen des Darmes treten anfangs unter
der Form von Störungen in der Darmfunktion — Verstopfung, ab¬
wechselnd mit Diarrhöe — auf, während die Entwicklung eines pal-
pablen Tumors erst in einem späteren Stadium zu beobachten ist;
auch hartnäckige Konstipationen und blutiger Stuhl sind verdächtige
Symptome. Zeichen von Schwäche und Kachexie sind weitere Sym¬
ptome, welche die Differentialdiagnose mit anderen Bauchtumoren
gestatten und einen rechtzeitigen operativen Eingriff ermöglichen. Die
Krankheit hat im Allgemeinen einen langsamen Verlauf und kann oft
jahrelang dauern. Die Prognose der Operation hängt hauptsächlich
von der Beweglichkeit der Geschwulst ab, doch kann nicht gesagt
werden, dass bewegliche Karzinome immer eine gute Prognose geben.
Gh. A. Davidescu: Beiträge zum Studium der Ausscheidungs¬
wege des Quecksilbers aus dem Organismus. (Inauguraldissertation,
Bukarest, 1906.) /
Die interessante und umfangreiche Arbeit des Verfassers gibt
eine ziemlich erschöpfende Untersuchung dieser Frage und viele
wichtige Fingerzeige für die Praxis. Vor Allem zeigte es sich, dass
die Ausscheidung des Quecksilbers, je nach der angewendeten Be¬
handlungsart eine verschiedene sei; von den vier Absorptionswegen:
Lunge, Haut, Verdauungsapparat und intramuskuläres Zellgewebe
ist letzteres der für die therapeutische Applikation sicherste. Was die
Ausscheidung des Quecksilbers durch den Harn anbetrifft, so zeigte
es sich, dass nach Verabreichung von Pillen mit Hydrargyrum tan-
nicum das Quecksilber erst nach vier Tagen im Harne nachzuweisen
war, während nach Einspritzung löslicher Quecksilbersalze dies be¬
reits nach 6 — 8 Stunden der Fall war; auch nach intramuskulärer
Injektion unlöslicher Salze, wie Kalomel oder graues Oel, konnte die
Ausscheidung durch die Nieren nach 6 — 8 Stunden nachgewiesen
werden. Nach Einreibungen, wurde Quecksilber zwar schon nach
2 Stunden ausgeschieden, doch glaubt D., dass es sich hier um Re¬
sorption auf pulmonalem Wege handle.
Bezüglich der Ausscheidungsdauer konnte D. feststellen, dass
nach 0,03 Sublimat, in intramuskulärer Einspritzung, die Elimination
nach 44 Tagen beendet war; nach 0,06 Kalomel, dauerte dieselbe 62
Tage. Nach einer Serie von 10 Hermophenylininjektionen dauerte die
Eliminierung 33 Tage, während nach 11 Einspritzungen von je 0,02
Sublimat, das Quecksilber noch nach zwei Monaten im Harne nach¬
weisbar war. Eine ebenso lange Ausscheidung wurde nach 6 Ein¬
spritzungen von je 0,06 Kalomel beobachtet. Nach einer Einreibung
von 4 g Ung. mercuriale fortius dauerte die Ausscheidung in dem
einen Falle 13 und in dem anderen 15 Tage.
Eine wichtige Tatsache konnte der Verfasser durch seine Unter¬
suchungen feststellen, nämlich die Regelmässigkeit in der Aus¬
scheidung, welche keinerlei Sprünge und Pausen macht, wie dies von
Manchen behauptet wurde.
In praktischer Beziehung ist also die Untersuchung des Harnes
auf Quecksilber immer anzuraten, falls eine antisyphilitische Kur
gemacht wird, namentlich dann, wenn ein Fortschritt im Heilungs¬
prozesse nicht beobachtet werden kann.
Es konnte auch die Ausscheidung des Quecksilbers durch dasMen-
strualblut festgestellt und dadurch gezeigt werden, dass der weibliche
Organismus auf diese Weise einen speziellen Ausscheidungsweg be¬
sitzt, durch welchen viel grössere Quecksilbermengen 'eliminiert
werden, als durch die Nieren.
Const. Daniel: Die Behandlung der Puerperalinfektion. (Re¬
vista de Chirurgie, August 1906.)
D. hebt hervor, dass man die Puerperalinfektion nicht mehr als
eine selbständige Erkrankung ansehen darf, da dieselbe nichts an¬
deres als die Infektion einer Wunde, der Plazentarinsertion, ver¬
schiedener Wunden der Vagina und des Muttermundes, ist und infolge
dessen auch nur mit chirurgischen Mitteln bekämpft werden muss.
Auch darf nicht vergessen werden, dass in zahlreichen Fällen die
Infektion nicht von Aussen in den Körper der Frau hineingebracht
wird, sondern sich in demselben, in der Nachbarschaft oder in den
Genitalorganen selbst bereits vorfindet. Eine Blennorrhoe, eine eitrige
Salpingitis, ein infiziertes und zerfallendes Uterusfibrom, genitale
Schorfe etc. können zur Entwicklung eines Puerperalfiebers Veran¬
lassung geben. Eine andere Gruppe von Puerperalinfektionen bilden
jene, welche auf eine Retention von Eiresten zurückzuführen sind
und welche auch am häufigsten zur Beobachtung gelangen, sowie
auch jene Infektionen, die vor der Geburt infolge einer vorzeitigen
Ruptur der Eihäute sich entwicklen.
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1931
Bezüglich der Behandlung lehnt sich D. im grossen und ganzen
an die P i n a r d sehen Prinzipien und befolgt folgenden Vorgangs¬
modus. Sowie die Temperatur einer Wöchnerin über das Normale
steigt, wird eine intrauterine Waschung vorgenommen; fällt die Tem¬
peratur hierauf auf das Normale, so wird keine weitere derartige
Waschung vorgenommen. Bei Temperaturen zwischen 37" und 38°
wird die intrauterine Spülung wiederholt, wenn aber das Thermometer
über 38 0 steigt, der Puls beschleunigt ist und die Schüttelfröste sich
wiederholen, so soll durch 2 — 3 Tage kontinuierlich intrauterin irri¬
tiert werden und eine Auskratzung des Gebärmutterkavums vor¬
genommen werden, falls man Eireste in derselben vermutet. Die
Auskratzung kann, falls notwendig, in den folgenden Tagen wieder¬
holt werden und neuerdings das Gebärmutterkavum kontinuierlich
irrigiert werden. Endlich, wenn die lokale Therapie kein Resultat
ergibt, muss man zur allgemeinen Behandlung greifen, speziell zu
Einspritzungen mit salinem und Antistreptokokkenserum.
Selbstverständlich müssen Eireste, falls man die Anwesenheit
derselben im Uteruskavum nachweisen kann, gleich entfernt werden,
doch soll eine Kürettierung, nach der Ansicht von P i n a r d, nicht
vor Ende des dritten Tages vorgenommen werden und nachdem man
die anderen beschriebenen Mittel in Anwendung gezogen hat.
Hat man triftige Gründe anzunehmen, dass die Infektion bereits
über die Grenzen der Schleimhaut hinausgegangen ist und die Uterus¬
wand einnimmt (diffuse totale puerperale Metritis), - so ist die Not¬
wendigkeit einer Hysterektomie ins Auge zu fassen.
C. Pandelescu und Victor G o m o i u : Beiträge zum Studium
der Hornhautüberpflanzungen. (Ibidem.)
Das Ueberpflanzen einer durchsichtigen Kornea an Stelle einer
trüben, gebrauchsunfähigen, ist schon häufig versucht worden, ohne
dass praktisch brauchbare Resultate zu erzielen gewesen wären. Die
Versuche, welche die Verfasser in dem chirurgisch-anatomischen In¬
stitute von Th. Jonnescu an Hunden vorgenommen haben, scheinen
endlich das Problem seiner Lösung näher zu rücken und es bliebe
nun nur übrig, dasselbe am Menschen mit ähnlich gutem Resultate
durchzuführen.
Zur Vornahme des Experimentes werden 2 Hunde narkotisiert,
das Operationsfeld gründlich desinfiziert und durch einen Schnitt am
äusseren Palpebralwinkel die Augenspalte möglichst erweitert. Mit 2,
oben und unten möglichst nahe dem Okularäquator angebrachten spe¬
ziellen Zängelchen wird der Bulbus fixiert und emporgehoben. Nun
wird durch einen Kreisschnitt, etwa 2 — 3 mm vom Hornhautrande
entfernt, ein Bindehautlappen abpräpariert, die Hornhaut genau an
ihrer Grenze zur Hälfte mit einem feinen G r a e f e sehen Messer und
zur anderen Hälfte mit einer feinen Schere vom Bulbus abpräpariert
und der derart erhaltene Lappen auf das Auge des anderen, genau
auf dieselbe Weise operierten Tieres gelegt. Derselbe wird nun nicht
angenäht, sondern durch das Hinüberziehen des dritten Augenlides
und Zusammennähen der beiden Augenlider an Ort und Stelle fixiert.
Die Einheilung ist bei mehreren Tieren mit Beibehaltung einer durch¬
sichtigen Hornhaut erzielt worden und werden die Verfasser in einem
nächsten Aufsatze über dieselben nach einer längeren Beobachtungs¬
dauer berichten.
Victor Gomoiu: Ein Fall von Varizen der Conjunctiva bul-
baris. (Ibidem.)
Der Fall, den der Verfasser als Unikum betrachtet, betraf eine
82 jährige Frau, die vor 2 Jahren an heftigen Schmerzen in der rech¬
ten Kopfhälfte, mit Ausstrahlungen in das Ohr und das betreffende
Auge gelitten hatte. Das Auge wurde heiss, wölbte sich vor und
es entwickelte sich eine deutliche Chemosis. Diese Anfälle dauerten
mit kurzen Unterbrechungen etwa iVz Monate an, wurden dann sel¬
tener, um schliesslich ganz zu verschwinden. Gleichzeitig ent¬
wickelte sich an dem betreffenden Auge eine starke Röte am inneren
und äusseren Augenwinkel, welche ohne weitere Beschwerden für die
Patientin unverändert andauert. Das Sehen dieses Auges war nie¬
mals gestört, auch hat die Kranke nie irgendwelche Behandlung für
dasselbe benützt.
Die Untersuchung des kranken rechten Auges zeigte, dass rechts
und links vom Rande der betreffenden Hornhaut ein breites Gefäss-
bündel austrat, welches sich dann gegen den äusseren resp. inneren
Augenwinkel fächerförmig ausbreitet. Manche dieser Gefässe waren
dünn, andere aber auffallend dick und gewunden, wodurch die Binde¬
haut über die übrige Augenfläche emporgehoben wurde. Der obere
und untere Teil des Auges war vollkommen weiss und gefässfrei. Es
bestanden keinerlei Schmerzen, das Sehen war normal, auch am
Augenhintergrunde konnte nichts Abnormes nachgewiesen werden.
Die Operation bestand in beiderseitiger Durchschneidung der er¬
weiterten Gefässe knapp am Hornhautrande, wodurch innerhalb einer
Woche vollständige Heilung erzielt werden konnte. Die Erklärung
der beschriebenen Erscheinung ist schwer zu geben; G. meint, dass
es sich um eine vorübergehende Gefässerkrankung gehandelt hatte,
welche die Resistenz der Gefässwand herabgesetzt und infolgedessen
zur Erweiterung der betreffenden venösen Gefässe geführt hat.
Balacescu: Die Behandlung der kalten Abszesse mittels Ein¬
spritzungen von Naphtolum camphoratum. (Chirurgische Gesellschaft
in Bukarest, Sitzung vom 31. Mai 1906.)
Balacescu hat mehrere Fälle von lokaler Tuberkulose
mit Einspritzungen von Kamphernaphthol in die Abszess¬
höhle behandelt und sehr gute Resultate erzielt. Es wurde nicht
nur bei Knochen- und Gelenkskaries Heilung erzielt, sondern auch
Lymphdriisentuberkulosen können auf diese Weise ohne Operation
und ohne entstellende Narbenbildung behandelt werden. Diese, be¬
kanntlich von Calot angegebene Behandlungsmethode, kann also
nur wärmstens empfohlen werden. Dr. E. 1 o f f - Braila.
Inauguraldissertationen.
Universität Erlangen. Juni bis August 1906.
16. Bock Julius: Zwei Fälle von Adamantinon.
17. Der cum Theodor: Statistisches über Tuberkulose aus der Er¬
langer medizinischen Poliklinik.
18. Werner Carl Wilhelm: Kasuistischer Beitrag zu den psycho¬
pathischen und neuropathischen Erscheinungen nach Strangu¬
lationsversuchen.
19. Singer Alfons: Unsere bisherige Kenntnis der angeborenen
Haarlosigkeit des Menschen, nebst einem neuen Beitrage.
20. Br ommer Georg: Ein Fall von infantiler Pseudobulbärparalyse.
21. Orth Hermann: Ueber die Autorennamen in der medizinischen
Nomenklatur.
22. Han dl Anton: Ueber ein grosses Sarkom der rechten Hand.
23. Ast Paul: Ueber einen Fall von Tuberkulose der Schilddrüse.
24. Faltlhauser Valentin: Kasuistischer Beitrag zur Chorea
Huntingtons.
25. Kirchner Karl: Ein Fall von primärem Karzinom der prola-
bierten Vagina.
Universität Königsberg. Dezember 1905.
31. Mulzer Paul: Ueber das Vorkommen von Spirochäten bei
syphilitischen und anderen Krankheitsprodukten.
32. Romm Max: Ein Fall von Atlasluxation mit Abbruch des Zalm-
fortsatzes des Epistropheus.
Januar 1906.
1. Lewit Wulf: Ueber Pankreasnekrose durch experimentelle
Ischämie.
Februar 1906.
2. Goldmann Samuel: Ueber Dermato- und Polymyositis.
März 1906.
3. Hoff mann Wilhelm: Statistik über 3000 Fälle von Conjuncti¬
vitis granulosa.
4. Stein Leo: Ueber Polioencephalitis superior acuta und Polio-
encephalomyelitis.
5. Schütze Otto : Ueber die Resultate der Winkelmann sehen
Hydrocelenoperation.
April 1906.
6. Boehm Hans: Ueber plastische Deckungen des Stumpfes nach
Exarticulatio pedis und über Exarticulatio pedis mit dem Zirkel¬
schnitt.
7. Nieszytka Leo: Ueber die isolierte Fraktur des Tuberculum
majus humeri.
8. Engelbrecht Kurt: Ueber eine als Pankreaszyste aufgefasste
Geschwulst der Oberbauchgegend.
Mai 1906.
9. Heinecker Edgar: Zur Frage der Spezifität der Haarver-
letzungen durch scharfe und stumpfe Gewalten.
Juni 1906.
10. Weissbrem Willibald: Zur Kenntnis der Cataracta complicata.
Juli 1906.
11. Müller Julius: K o r s a k o w scher Symptomenkomplex bei
Tabes.
12. Schröter Ernst: Beiträge zur Rhachistovainisierung.
August 1906.
13. Jacob i Johann Siegfried: Ueber Exophthalmus intermittens.
14. Li nck Ernst: Die H i r s c h s p r u n g sehe Krankheit bei Er¬
wachsenen.
Universität Strassburg. August 1906. _ #
24. Aronheim Ernst: Die Bedeutung der Leukozytenzählung für
die Diagnose des Abdominaltyphus.
25. Runge Wilhelm: Zur Aetiologie der Pityriasis rosea Gibert.
26. Schwenk Kurt: Zur Probelaparotomie in der Gynäkologie.
27. Jaquet Julius: Ein Fall von metastasierenden Amyloidtumoren
(Lymphosarkom).
28. Schloss Ernst: Ueber den Nachweis und die physiologische
Bedeutung der Glyoxylsäure.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT .
No. 39.
1932
Vereins- und Kongressberichte.
78. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte
in Stuttgart, 16. bis 22. September 1906.
I.
Etwas zahlreicher als im Vorjahre haben sich heuer die
Naturfreunde zusammengefunden, und zwar im biederen
Schwabenland, in der wiirttembergischen Residenzstadt; in den
sauberen Strassen Stuttgarts wandeln die bekannten Gestalten
mit dem Abzeichen, bewaffnet mit Tageblatt, Stadtplan, Ma¬
kulatur und Regenschirm, und freuen sich eines warmen Emp¬
fangs und einer guten Verpflegung. Die technische Hochschule,
Tierarznei- und Baugewerkschule haben ihre Hörsäle gastlich
geöffnet. Ein wissenschaftlicher Führer durch Stuttgart (Fest¬
schrift) und die teilweise stark belasteten Sitzungsprogramme
verfehlen ihre anregende Wirkung nicht, und auch das reich¬
haltige Damenprogramm übt seine Anziehungskraft — auf Teil¬
nehmer beiderlei Geschlechts.
In der ersten allgemeinen Versammlung, wel¬
cher der König mit den Spitzen der Behörden beiwohnte, kamen
nach den einleitenden Ansprachen zwei Redner zu Wort,
Gutzmer - Halle und L i p p s - München. Die Gesellschaft
Deutscher Naturforscher und Aerzte verfolgt seit einigen Jahren
die Aufgabe, auf deren weittragende Bedeutung auch der Vor¬
sitzende C u h n - Leipzig besonders hinwies, den Sinn für die
Naturwissenschaften in weitesten Kreisen zu wecken und zu
vertiefen, vor allem durch entsprechende Neugestaltung des
Schulunterrichts.
Herr Gutzmer erstattete den Bericht der Unterrichts¬
kommission Deutscher Naturforscher und Aerzte, und erinnerte
nochmals an deren Grundsätze: Der Unterricht an höheren
Lehranstalten solle weder einseitig sprachlich-geschichtlich
noch einseitig naturwissenschaftlich-mathematisch sein. Beide
seien aber als vollkommen gleichwertige Bildungsmittel zu be¬
trachten und müssten im Rahmen der allgemeinen Bildungs-
aufgabc gleichmässig zur Geltung kommen. Die weitaus über¬
wiegende Mehrzahl der Männer, die später auf das öffentliche
Leben Einfluss gewinnen, geniesst eine überwiegend sprach¬
liche Ausbildung. Für das Verständnis des modernen Lebens
und seiner Bedürfnisse ist aber ein biologisch-chemischer
Unterricht ebenso notwendig.
Im verflossenen Jahre hat die Kommission ihre Meraner
Vorschläge in ihrer Anwendung auf die „Reformanstalten“,
d. h. sechsklassigcn Realschulen und höheren Mädchenschulen,
näher ausgearbeitet. Es gelten dieselben Gesichtspunkte, wie
sie für die humanistischen Gymnasien schon erörtert wurden.
Die sprachliche Ausbildung nimmt in den oberen Klassen einen
zu breiten Raum ein, der naturgeschichtliche Unterricht da¬
gegen ist ungenügend. Md Rücksicht darauf, dass nur ein
kleiner Teil der Schüler von öklassigen Schulen später auf eine
Vollschule übergeht, dass diese Schulen vielmehr für den mitt¬
leren Beamten- und Bürgerstand vorbereiten, für die Erwerbs¬
berufe in Handel und Gewerbe, muss bei ihnen eine ab¬
gerundetere Bildung, mit Berücksichtigung von Physik und
Chemie gefordert werden.
Ferner bedarf der naturwissenschaftliche Unterricht in
Volksschulen, Fortbildungsschulen, Fachschulen verschieden¬
ster Art und in den Lehrerseminarien weiterer Ausgestaltung.
Vieles von der Bücherweisheit ist durch lebendiges Wissen zu
ersetzen. Unmöglich könnte das Kurpfuschertum so festen
Boden gewinnen, wenn eine gesunde naturwissenschaftliche
Aufklärung schon in den Schulen Platz greifen würde.
Was den Mädchenschulunterricht betrifft, so hält die Kom¬
mission zwar eine Vertiefung der weiblichen Bildung für wün¬
schenswert, missbilligt jedoch eine einfache Uebernahme der
Knabenschul-Lehrpläne für die Mädchenschulen. Es sollte der
natürlichen Veranlagung der Mädchen zur feinsinnigen Be¬
obachtung und Kombination durch Verstärkung des biologi¬
schen Unterrichts Rechnung getragen werden.
Als letztes und höchstes Ziel der Jugendbildung ist an¬
zusehen die Erziehung zum nationalen Staatsbürger. Nicht
Anhäufung von möglichst vielem toten Wissen, sondern Stär¬
kung der Arbeitskraft ist das Erstrebenswerte.
Auch der Schulhygiene muss entsprechende Beachtung ge¬
sichert werden. Die Schulärzte müssen ihren Einfluss geltend
machen, die Lehrer sind über die Grundziige von Schulhygiene
und über die geistige Entwicklung des Menschen und deren
Variabilität zu unterrichten. Entsprechend der verschiedenen
Veranlagung der Schüler ist eine geeignete Kompensation sei¬
ner verschiedenen Leistungen erwünscht. Der verschiedenen
geistigen Ermüdbarkeit ist Rechnung zu tragen, insbesondere
der Erschöpfbarkeit nach Infektionskrankheiten.
Die Ueberbürdungsfrage ist ebenfalls im Auge zu behalten.
Die Vorschläge betreffs Einführung des 40-Minuten-Betriebs
und der Freihaltung der Nachmittage sind sehr beachtenswert.
Anzukämpfen ist auch gegen die Ueberbtirdung der Kinder sei¬
tens der Eltern durch Privat- und Nachhilfestunden, ferner
gegen die unzweckmässige Lektüre, welche den Schlaf der
Kinder beeinflusst und ihr Vorstellungsleben in sehr bedenk¬
licher Weise — nach der sexuellen Seite hin — beeinflusst.
Mit Rücksicht auf eventuelle vorzeitige Erweckung von Vor¬
stellungen auf sexuellem Gebiet ist auch die Aufnahme der
sexuellen Aufklärung in den biologischen Unterricht entschie¬
den zu widerraten. Sie soll vielmehr mit Abschluss der Schul¬
zeit durch eine geeignete Persönlichkeit erfolgen. Ein als
Richtschnur dienendes Merkblatt wurde ausgearbeitet.
Wenn die Reformvorschläge betreffend die unteren und
Mittelschulen zur Durchführung gelangen, so werden sie auch
für den Hochschulunterricht und für die Lehrerausbildung
nicht ohne Einfluss bleiben können.
Als zweiter Redner sprach Herr L i p p s - München über
„Naturwissenschaft und Weltanschauung“. Man hört die Natur¬
wissenschaft definieren als eine zusammenfassende und da¬
durch vereinfachte Beschreibung von „Erscheinungen“. Ver¬
stehen wir unter Erscheinungen die Spiegelung der Dinge im
individuellen Bewusstsein, so ist diese Definition falsch. Von
unserem Bewusstseinsinhalt haben wir das geringste Wissen,
denn Wissen setzt Beobachtung voraus und Bewusstseinsinhalt
kann man nicht beobachten. Was man beobachtet, ist das
Wirkliche, die vom Bewusstseinsinhalt unabhängige Welt der
Dinge. Mit Unrecht behauptet man, das Bewusstsein könne
nicht über sich selbst hinaus, ebensowenig wie jemand über
seinen eigenen Schatten springen könne. Das Wesen des Den¬
kens liegt gerade darin, dass das Bewusstsein über sich selbst
hinausgreift. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen dem
denkenden Ich und einer von ihm unabhängig existierenden
Welt der Dinge. Der denkende Geist geht auch über die Er¬
fahrung unendlich weit hinaus, nach dem Identitätsgesetz bezw.
Kausalitätsgesetz werden Schlüsse gezogen. Darum ist es
auch falsch zu sagen, die Naturwissenschaften beschreiben die
Dinge so, wie sie uns erscheinen. Beschreiben kann man nur
das unmittelbar Erfahrene. In die erfahrbare Wirklichkeit
werden aber die Naturgesetze, die wir aufstellen, erst hinein¬
gedacht. So ist es mit dem Fallgesetz, das nicht angibt, wie
die Körper fallen, sondern wie sie „ideal“ fallen, zu fallen ten¬
dieren. Wer ein solches Gesetz formuliert, gleicht einem Bau¬
meister, der die rohe Form der Steine verändert und sie mit
seinem Mörtel zu einem grossen Ganzen verbindet. Würde er
nur die Steine nach ihrer Grösse und Form zusammenstellen,
das würde dann der Auffassung entsprechen, als sei ein Natur¬
gesetz nur eine Beschreibung von Erscheinungen. Die Um¬
formung der Steine aber entspricht dem Umdenken des in der
Erfahrung Gegebenen; das Gegebene wird umgedacht, bis cs
sich der Gesetzmässigkeit des Denkens fügt. _ _
Das Umdenken beim Naturwissenschaftlichen geschieht in
der Weise, dass es in Raum-, Zeit- und Zahlenbegriffe gefasst
wird. Die Naturwissenschaft als sinnliche Erfahrung weiss
von keinen anderen Dingen, als welche der sinnlichen Er¬
fahrung entnommen sind und diese liefert nur Raum-, Zeit- und
Zahlenbestimmungen. Die Erscheinung der Dinge ist nämlich
doppelter Art, wir sehen mit einem doppelten Auge; das sinn¬
liche Auge sieht die Welt in Farben, die im regellosen Spiel
des Zufalls Wechseln; dem geistigen Auge erscheint die
Welt jenseits dieser Hülle als eine gesetzmässige Welt, die
sich in räumliche, Zeit- und Zahlenbegriffe fassen lässt. Die
Naturwissenschaft stellt also gesetzmässige Abhängigkeits¬
beziehungen zwischen Wirklichkeit und Raum-, Zeit- und
Zahlenbestimmungen her, sie ist demnach nur eine formale,
keine materiale Wissenschaft. Wir denken nichts, was wir
nicht mit Raum-, Zeit- und Zahlenbegriffen ausstatten können.
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1933
Die einzigen materiellen Bestimmungen sind die sinnlichen
Qualitäten; diese hat aber die Naturwissenschaft durch formale
Bestimmungen ersetzt.
Was ist die Masse? Entweder sehen wir darin lediglich
einen Ausdruck für Raum-, Zeit- und Zahlenbestimmungen,
also die Dichtigkeit der Raumausfüllung durch gleiche Teile
des Wirklichen, oder wir fügen noch eine Unbekannte, ein x
hinzu, je nachdem wir mit Anschauungsbegriffen oder nur mit
Beziehungsbegriffen arbeiten wollen; letztere sind inhaltleer,
Anschauungsbegriffe dagegen umfassen jede Art des unmittel¬
baren Erlebens. Der total Farbenblinde weiss nichts von
Farbe, sie ist ihm ein x, und doch kann er sie definieren, d. h.
er gibt eine Beziehung an zwischen Aetherwellen und der ihm
unbekannten Farbe. Ebenso ist die Definition der Masse nur
ein Beziehungsbegriff, sobald sie nicht vollkommen ersetzt
werden kann durch eine Raum-, Zeit- oder Zahlenbestimmung.
Der Versuch, das darüber Hinausgehende, das x, in eine be¬
kannte Grösse überzuführen, ist illusorisch, er täuscht uns nur
über unser Nichtwissen hinweg. So ist es auch mit der Ein¬
führung neuer Begriffe, wie Kraft, Hervorbringen, Widerstand,
Spannung, Energie usw. Das, was diese Worte meinen, wird
nicht in sinnlicher Wahrnehmung gefunden, sondern wird nur
im Ich bestimmt, es ist ein Beziehungsbegriff. ,, Kraft“ ist für
die Naturwissenschaft das x insofern, als etwas aus ihm folgt.
,, Energie“ ist lediglich ein neuer anthropomorphistischer Aus¬
druck für die Gesetzmässigkeit des Wirklichen. Eine ähnliche
Täuschung ist es, wenn wir z. B. die Wirkung des Chinins aus
seiner „fieberstillenden Kraft“ erklären. Der Name verwandelt
sich in eine vermeintlich bekannte Sache um und dann zieht
man weitere Schlüsse. So wird die Naturwissenschaft zur
Naturmythologie oder Naturphilosophie. Besonders verführe¬
risch ist der Begriff der „Energie“. Beim Umwandeln ver¬
schiedener Energieformen ineinander bleibt scheinbar die Ener¬
gie erhalten, aber eigentlich nur das Wort, ein unbekanntes x.
Leben kann nur an einem Ort erlebt und erfahren werden,
im Ich; Lebensgefühl ist Selbstgefühl, ist aber mit dem Gefühl
der Kraft, Tätigkeit, Energie ein und dasselbe, es sind ver¬
steckte vitalistische Begriffe. Der anerkannte Vitalismus da¬
gegen denkt eine Zweckmässigkeit, ein Streben nach einem Ziel
in die Dinge hinein. Die von uns gewollte Bewegung geschieht
zweckmässig. Voraussetzung ist aber ein zweckmässiger kör¬
perlicher Mechanismus, damit der Erfolg sich einstelle, ein
Mechanismus, der in den Dingen selbst liegt. Einem bestimm¬
ten Bedürfnis entsprechend tritt das Zweckstreben nach Mei¬
nung der Vitalisten auf. Warum wird aber gerade das unter
den gegebenen Umständen Zweckmässige hervorgerufen?
Durch den Begriff des Zweckmässigen wird nichts erklärt, er
setzt nur neue Rätsel an Stelle eines vorhandenen Rätsels.
Aufgabe der Naturwissenschaft ist es, die Gesetzmässigkeit
des Wirklichen als mechanistische Gesetzmässigkeit
darzustellen.
Die Naturwissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, ihre
Grenzen beginnen da, wo die mechanistische Betrachtung un¬
möglich wird. Sie stattet z. B. den Begriff der Materie,
ein unbekanntes x, mit dem Raumbegriff aus, die Materie ist für
uns räumlich begrenzt. Gleichviel ob das Räumliche existiert,
lässt sich doch die Gesetzmässigkeit des Wirklichen in Raum¬
bestimmung fassen. Der Materialismus, im Grunde gleich¬
wertig mit Mechanismus, bezieht sich nur auf die Gesetzmässig¬
keit des Wirklichen und ist zunächst nur eine praktische For¬
schungsmaxime, nicht zu rasten im Versuch, immer weiter und
weiter die Gesetzmässigkeit des Wirklichen als Gesetzmässig¬
keit eines räumlichen Daseins darzustellen, in Raum-, Zeit- und
Zahlenbegriffe zu fassen.
Würde es der Naturwissenschaft gelingen, das Hirn¬
geschehen in mechanische Gesetze zu fassen, so wären damit
nicht das Bewusstsein und seine Gesetze erklärt, noch
auch die Herkunft und Zukunft des individuellen Bewusstseins.
Erklärt wären nur wieder die Gesetze der Lebensäusserungen.
Mit dem Ausspruch, das individuelle Bewusstseinsleben sei eine
Funktion der Materie, ist nichts gewonnen, denn „Funktion“
ist nur wieder ein neuer anthropomorphistischer Ausdruck.
Das Sprechen von Materie ist nur der Ausdruck einer der
Naturwissenschaft eigenen Betrachtungsweise, und der natur¬
wissenschaftliche Materialismus ist nur der Glaube, dass die
Gesetzmässigkeit des Wirklichen sich in die der Naturwissen¬
schaft eigene Sprache der Räumlichkeit kleiden lässt. Diesem
Glauben stellen wir das gegenüber, was man Weltanschauung
nennt. Die Frage nach dem Quäle des Wirklichen geht aber
strenggenommen die Naturwissenschaft nichts an, sie gehört ins
Bereich der Naturphilosophie, denn die Kritik der naturwissen¬
schaftlichen Erkenntnis hat ein Geistesprodukt, nicht mehr die
einfache Wirklichkeit zum Gegenstand. Die modernen natur¬
wissenschaftlichen Bewegungen nähern sich dem Gedanken des
absoluten Idealismus. R- Q*
Abteilung für Chirurgie.
1 . Sitzung, Montag 17. September 1906, Nach m.
Referent: R. G r a s h e y - München.
1. Herr Q 1 u c k - Berlin: Die Verhütung der Schluckpneumonie
bei Operationen.
Um die Gefahr der Aspiration von Wundsekret während und
nach Operationen an den Luftwegen auszuschalten, hat Vortr. mit
Zeller plastische Methoden ausgearbeitet und an einem grösseren
Material mit Erfolg angewandt. Reseziert man die Trachea und näht
das untere Stück in ein Knopfloch im Jugulum ein, so kann man am
hängenden Kopf vollkommen sicher weiteroperieren. Bei Hemi-
laryngektomie schlägt man einen Hautlappen in den Wundraum ein;
bei Operationen am Zungengrund bildet man einen organischen Ge-
webswall in Gestalt eines Brückenlappens, den man in den Kehlkopf¬
eingang hineinlegt und rings festnäht, an der Schleimhaut des Sinus
pyriformis, an Trachea und Oesophagus. G. kam stets ohne Unter¬
kieferresektion aus, mit einem Schnitt quer über die Regio infra-
hyoidea. Wurde der Pharynx mit entfernt, so geschieht die Er¬
nährung mittelst eines oben trichterförmig sich erweiternden, einge¬
setzten Gummischlauches per os. G. zeigt einen Kranken, dem Zunge,
Pharynx, Larynx, Tonsillen und Halsdrüsen, also alles bis auf die
Wirbelsäule entfernt wurde wegen einer hyperplastischen ulzerösen
Tuberkulose. G. hat auch bei malignen Tumoren Dauerresultate von
6 und mehr Jahren.
In der Diskussion äussert sich C z e r n y - Heidelberg an¬
erkennend im Hinblick auf die technischen Schwierigkeiten. Die
Kuhn sehe perorale Intubation hält er für aussichtsvoll.
2. Herr Wossidlo zeigt ein Ureterenzystoskop, das die Weg¬
nahme des Zystoskops ohne Verschiebung der eingelegten Ureteren-
katheter gestattet und (mit einem Verschlussapparat) auskochbar ist.
3. Herr J o r d a n - Heidelberg: Erfahrungen über die Tropf¬
narkose mit Chloroform und Aether.
Die Tropfmethode ist die sicherste Anwendung des Narkotikums,
man kommt mit viel geringeren Mengen aus, insbesondere wenn man
vorher Morphium, Skopolamin gibt; auch Vorbereitung des Herzens
durch Digalen empfiehlt sich. Auch bei Potatoren gelingt die Narkose
mit Aethertropfmethode. Bei Kindern muss man sie event. mit einem
Aetherrausch einleiten. Aether verdient den Vorzug, ist auch bei
leichten Lungenaffektionen nicht kontraindiziert. Mit ihm allein lässt
sich aber nicht auskommen. Bei absoluter Indikation, ferner wenn
die gewünschte Anästhesie ausbleibt, tritt die Chloroformtropf¬
narkose dafür ein. Ereignet sich ein Chloroformtod, so wäre vom
Arzt der Nachweis zu verlangen, dass er Aether vorher versuchte
oder aus wichtigen Gründen vermied (Widerspruch).
4. Herr D e f r a n c e s c h i - Rudolfswert (Krain): Bericht über
weitere 200 Fälle von Lumbalanästhesie mit Tropakokain.
D. verwendete auch letztes Jahr seine hohen Dosen (minde¬
stens 15 cg, bei Kindern 7—10 cg), glaubt aber, dass die Sterilisation
in trockner Hitze sein Präparat abschwächt. Unangenehme Nach¬
wirkungen waren sehr selten, man soll aber nicht mehr Liquor ab-
lassen als 10 g. Unter jetzt 420 Fällen war nur ein Versager. Kehrt
die Schmerzempfindung zu früh wieder, so wird die Injektion
wiederholt.
Diskussion: Herr Hirsch- Wien findet, man müsse bei ent¬
sprechender Technik mit 6—7 cg auskommen, bestreitet, dass Tropa¬
kokain in der Hitze zerlegt werde. L i c h t e n s t e r n - Wien beob¬
achtete bei Prostataoperierten (nach Lumbalanästhesie) auffällige
Temperatursteigerungen. Brenner- Linz hat über 500 Fälle lum¬
bal anästhesiert, ist sehr zufrieden, seit er von 6 cg Tropakokainlösung
auf 12 cg stieg. Die Lösung wird in den Phiolen ausgekocht, also
vielleicht auch verändert. Für Operationen über Nabelhöhe bewährt
sich die Lumbalanästhesie (Beckenhochlagerung) nicht. Stein¬
thal - Stuttgart beobachtete bei einer Herniotomie unter Novokain¬
adrenalin trotz exakter Blutstillung eine schwere Nachblutung und
nach einer Novokainadrenalin-Morphiumnarkose heftiges Erbrechen.
Ein schwächlicher Prostatiker starb nach Stovaininjektion, war tags
zuvor mit Novokainadrenalin und 2 Tage vorher mit Stovain anästhe¬
siert worden. K a t h o 1 i c k y - Brünn glaubt, dass Narkosentodes¬
fälle meist auf Unvorsichtigkeit und Ueberdosierung zurückzuführen
sind, gibt B i 1 1 r o t h sehe Mischung, vorher 1 cg Morphium.
1934
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
IV Internationaler Kongress für Versicherungsmedizin
zu Berlin vom 11. — 15. September 1906.
Bericht von Dr. M. Schwab- Berlin.
Gleichzeitig mit dem 5. internationalen Kongress für Versiehe-
rungswissenschaft tagend, erfreute sich unser Kongress einer regen
Beteiligung von seiten des In- und Auslandes und trug zur Förderung
des verhältnismässig jungen Gebietes der Versicherungsmedizin ein
gutes Stück Arbeit bei.
Gegenstand der Kongressverhandlungen, die unter dem Prä¬
sidium des Herrn F I o r s c h ii t z - Gotha und Herrn Unverricht-
Magdeburg standen, waren wichtige Themata aus dem Gebiete der
Lebens- und U n f a 1 1 v e r s i c h e r u n g.
Erster Verhandlungstag: 11. September 1 906.
A. Die frühzeitige Feststellung des Vorhandenseins einer Veranlagung
zur Tuberkulose, insbesondere zur Lungentuberkulose.
Referent: Herr M a r t i u s - Rostock.
Korreferent: Herr G o 1 1 s t e i n - Berlin.
I. Herr Martius dokumentiert seinen Standpunkt als überzeugter
Anhänger der Lehre von der konstitutionellen Verschiedenheit der
einzelnen menschlichen Individuen gegenüber der pathogenen Wir¬
kung infizierender Mikroorganismen, insbesondere des Tuberkel¬
bazillus, und verwertet deshalb das statistische Material der Ver¬
sicherungsmedizin im Sinne einer biologisch richtig verstandenen
Dispositions- und Hereditätslehre, ohne darum die
Bedeutung der Expositionsgefahr zu leugnen; d. h. unter
den gleichen Bedingungen der Exposition gibt den Ausschlag für
das endgültige Schicksal die angeborene oder ' erworbene, i n -
dividuell wechselnde Anlage, die von der fast völ¬
ligen generellen Widerstandslosigkeit des Versuchstieres im
Experiment bis zur nahezu totalen Immunität einzelner „Sieg¬
friedsnaturen“ alle Werte annehmen kann, woraus hervorgeht,
dass die Antwort auf die Frage: „Was wird aus einem beliebigen
Menschen, der tuberkulös infiziert wird?“ lautet: „Das kann
niemand Voraussagen!“ Diese Anlage ist keine für sich bestehende
einzelne Eigenschaft, sondern setzt sich zusammen aus der vari¬
ablen anatomischen und physiologischen Beschaffenheit der Or¬
gane und Gewebe. Dies wird durch die Statistik der Versicherungs¬
medizin nicht erst bewiesen, die numerische Methode der¬
selben ergibt nur die Durchschnittswerte in der Häufigkeit des Vor¬
kommens von Eigenschaften, deren Existenz klinisch und patho¬
logisch-anatomisch feststeht. Zur Abschätzung des individuellen Ri¬
sikos bei noch vorhandener Gesundheit bedarf es deshalb neben den
möglichst sorgfältig durchgeführten genealogischen Feststellungen des
Einzelfalles noch durchaus der Ergänzung durch die klinische
Feststellung der Stigmata tuberkulöser Veranlagung mit Hilfe be¬
sonderer erst in Ausbildung begriffener Methoden.
II. Die praktische Verwertbarkeit derselben beleuchtete der Kor¬
referent Herr Gott stein in folgender Gruppierung:,
1. Eine familiäre Belastung ist anzunehmen, wenn ein
oder mehrere Erzeuger oder Geschwister des Untersuchungsobjektes
an Tuberkulose gestorben oder ernstlich erkrankt sind, die Wahr¬
scheinlichkeit dieser Belastung wächst mit der Zahl solcher Fa¬
milienmitglieder.
Ein Verdacht auf familiäre Disposition liegt auch vor, wenn
das Versicherungsobjekt andere Belastungsmomente an seinem Kör¬
per zeigt und aus einer Einkinder- oder Zweikinderehe stammt; er
liegt ferner unter gleicher Voraussetzung vor, wenn das Versiehe- I
rungsobjekt eine grössere Zahl jugendlicher Geschwister an akuten
Infektionskrankheiten verloren hat.
2. Körperliche Belastung liegt vor
a) bei sehr grossen Individuen, wenn das Verhältnis der mitt¬
leren Brustweite zur Körpergrösse erheblich unter 0,5 herab¬
geht;
b) bei mittelgrossen Individuen bei einem Werte unter 0,5 und
dem gleichzeitigen Vorhandensein anderer Belastungen;
c) bei sehr niederem Körpergewichte, falls andere Gründe ausge¬
schlossen sind;
d) bei dem Vorhandensein des Thorax paralyticus, der Freund-
schen oder der Rothschild sehen Thoraxdeformation.
Vorangegangene tuberkulöse Erkrankungen anderer Organe, na¬
mentlich der Halslymphdrüsen, lassen das Versicherungsobjekt als
belastet erscheinen; dagegen sind andere körperliche Minderwertig¬
keiten, wie Anämie, Magerkeit nur bei Vorhandensein noch weiterer
Belastungsmomente zu verwenden.
Die Methoden auf dem Gebiete mikroskopischer, chemischer
oder bakteriologischer Diagnostik (Tuberkulinprobe, Agglutinations¬
wirkung des Serums auf Tuberkelbazillen, Färbungsreaktionen der
Blutkörperchen, Reaktion der Organ- und Blutzellen auf Wasserstoff¬
superoxyd) haben noch keine praktische Brauchbarkeit für die Ver¬
sicherungsmedizin.
3. Lebensweise und soziale Lage sind als Hilfsmo¬
mente für die Beurteilung der Belastung wertvoll; die Grösse der
beruflichen Belastung ergibt sich aus den Forschungen auf dem Ge¬
biete der Berufsstatistik.
III. Herr F 1 o r s c h ü t z - Gotha betont die Wichtigkeit der
Körpermessungen für die Feststellung der Konstitution, unter der,
wenn alles Subjektive ausgeschlossen werden soll, nur die Körper¬
beschaffenheit zu verstehen ist, und gibt eine Reihe wertvoller Ta¬
bellen über die sämtlichen (1428) Todesfälle an Tuberkulose, die bei
der Gothaer Bank von 1881 — 1904 vorgekommen sind.
IV. Herr v a n Geuns, Chefarzt der Algemeene Maatschappy
van Levensverzekering en Lyfrente te Amsterdam, spricht: Ueber
Sterblichkeit an Tuberkulose, an der Hand seiner Statistik seit dem
Jahre 1880 und vergleicht damit die Statistiken anderer Gesell¬
schaften.
In der Diskussion wendet sich Herr G u i 1 1 o n - Paris gegen
die Annahme einer Belastung von Abkömmlingen aus einer Einkinder¬
oder Zweikinderehe; in Frankreich sei dies nicht der Fall. Herr
Feilchenfeld - Berlin spricht den Wunsch aus, die Tabellen von
Florschütz zu einem Merkblatt über die körperliche Konsti¬
tution auszuarbeiten, was F. zusagt. Herr Poels- Brüssel berichtet
über das Schicksal von wegen Tuberkuloseverdachtes Abgelehnten,
die eine doppelt so hohe Sterblichkeit hatten als die Versicherten.
Herr Florschütz - Gotha legt dem Thoraxumfang, dem Roth¬
schild sehen Sternalwinkel, dein Freund sehen Symptom keine
so grosse Bedeutung bei wie der Gesamtkonstitution. Herr Lenn-
hoff- Berlin teilt seine Erfahrungen über die Bedeutung des Thorax
paralyticus mit. Herr Reg.-Rat Hamel-Berlin regt im Auftrag
des Reichsgesundheitsamtes eine den Statistiken desselben über die
Erfolge der Volksheilstätten analoge Statistik über das Material der
Lebensversicherungen an. Herr Florschütz - Gotha hält dies
nicht für durchführbar.
B. Syphilis.
I. An Stelle des Referenten Herrn Blaschko - Berlin berichtet
Herr J a c o b s o h n - Berlin: Ueber den Einfluss der Syphilis auf die
Lebensdauer.
Er betont die Wichtigkeit genauerer Befragung und Untersuchung
bei der Aufnahme und spezialisiert die Bedingungen der Ablehnung,
Zurückstellung und Annahme. Er präzisiert vor allem das Postulat,
alle Syphilitiker in den ersten 4 Jahren nach der Infektion zurück¬
zustellen und zwar bis zum fünften Jahre, und alle Syphilitiker, welche
zur Zeit der Antragstellung Erscheinungen von Syphilis aufweisen,
und zwar auf 1 — 2 Jahre nach Abheilung dieser Erscheinungen. Auf¬
zunehmen seien alle übrigen Syphilitiker, und zwar ohne Zuschlags¬
prämie.
Demgegenüber ist Herr Salomo nsen jr. - Kopenhagen dafür:
1. die Syphilitiker so kurz wie möglich nach der Infektion
aufzunehmen, nämlich 2 — 3 Jahre nach der letzteren,
2. aber nur, wenn sie eine gute Behandlung durchgemacht
haben.
3. die Versicherung nicht auf Lebenszeit abzuschliessen, son¬
dern mit Auszahlung des Kapitals nach einer relativ kurzen
Reihe von Jahren, etwa im Alter von 40 — 50 Jahren und stets
mit erhöhter Prämie.
4. die Prämienerhöhung soll um so höher sein, je später die
Versicherung erfolgt.
II. Herr G o 1 1 in e r - Gotha: Die Sterblichkeit der an Syphilis
vorerkrankten Versicherten nach den Beobachtungen der Gothaer
Lebensversicherungsbank.
Statistische Untersuchungen über 1778 Fälle aus den Jahren
1852 — 1905, aus denen die Uebersterblichkeit der Syphilitiker her¬
vorgeht; es gehört aber noch grösseres Material dazu, um den ge¬
nauen Anteil der Syphilis an der Mortalität der Syphilitiker zu ent¬
scheiden. Betreffs der Frage, welche Jahre nach der Infektion am
meisten zu fürchten sind, kommt G. zu dem Schluss, dass die For¬
derung einer möglichst lange zwischen Infektions- und Aufnahme¬
termin liegenden Karenzzeit unberechtigt ist, sondern dass Syphilitiker,
sobald der Nachweis guter Behandlung erbracht ist, sofort versichert
werden, wenn dem Risiko, dem sie unterliegen, durch Erhöhung der
Prämie Rechnung getragen wird.
III. Herr Kleinschmidt - Elberfeld illustriert in ausführ¬
lichen Tabellen den Anteil syphilitischer Erkrankungen an den
Sterbefällen der Vaterländischen Lebensversicherungsgesellschaft.
Bezüglich der Aufnahme der Syphilitiker betont auch er die
Wichtigkeit genauester Untersuchung auf Spuren oder Reste früherer
Syphilis. Bei frischer oder erst bis zu 3 Jahren zurückreichender
Infektion sei die Aufnahme zu verschieben. Es ist unbedingt der Nach¬
weis rationeller Behandlung zu erbringen. Im 4. und 5. Jahre kann,
wenn dieser Bedingung genügt ist, beim Fehlen jeder Spur der An¬
tragsteller angenommen werden, jedoch mit Vorsicht gegenüber
neurasthenisch Veranlagten oder erblich nervös Belasteten, gegen¬
über Syphilitikern, die gewohnheits- oder berufsmässig Alkohol zu
sich nehmen und besonders Luetikern mit schwächlichem Körperbau.
Zweiter Verhandlungstag: 12. September 1906.
Unfallversicherung.
A. Die Beeinflussung innerer Leiden durch Unfälle irn allgemeinen.
Referent : Herr Feilchenfeld - Berlin.
Es werden die Vorfragen allgemein erörtert bezüglich eines Zu¬
sammenhanges von Trauma und innerer Erkrankung überhaupt:
1. Hat der Unfall das innere Leiden verursacht?
2. Hat das innere Leiden den Unfall verursacht?
3. Hat der Unfall das innere Leiden von neuem hervorgerufen?
4. Hat der Unfall das innere Leiden verschlimmert ?
25. September 1906, _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. ,1935
5. Hat das innere Leiden die Lolgen des Unfalles ver¬
schlimmert?
6. Hat der Unfall gar keinen Einfluss auf das innere Leiden?
7. Ist eine Entscheidung über die Beziehung zwischen Unfall
und innerer Krankheit überhaupt unmöglich?
Als Beantwortung dieser Fragen im Einzelfall sieht F. die beste
Lösung in einer prozentualen Abschätzung und Trennung der
durch das innere Leiden und der durch den Unfall verursachten
Krankheitserscheinungen.
Um eine allgemeine Gruppierung der Krankheiten nach dieser
Hinsicht vom praktischen Standpunkt zu gewinnen, stellt F. folgendes
Schema auf:
I. Periodisch auftretende innere Krankheiten
(Perityphlitis, Gicht. Steinkoliken).
II. Konstitutionelle Krankheiten, die in der Ent¬
wicklung begriffen sind (Arteriosklerose, Alkoholis¬
mus, Diabetes, perniziöse Anämie).
III. Erkrankungen von bestimmten Organen und
Systemen mit einem schleichenden Verlauf
(Herzkrankheiten, Nierenleiden, Tabes, multiple Sklerose,
Paralysis progressiva)
IV. Konstitutionelle Krankheiten, die im Körper
schlummern und am Orte der Verletzung in
die Erscheinung treten (Syphilis, Tuberkulose).
V. Chronische innere Krankheiten, die erst
durch den Unfall — erheblich verschlimmert
in die Erscheinung treten (fast alle Krankheiten).
Zur Begutachtung eines derartigen Falles gehört auch noch die
Beantwortung der Frage, ob der Unfall als eine wesentlich
mit wirk ende Ursache anzusehen ist. Hierfür sind mass¬
gebend: 1. die Erheblichkeit des Unfalles (Plötzlichkeit und
physische oder psychische Gewalt).
2. Die Lokalisation der Verletzung.
3. Die Kontinuität der Erscheinungen.
Im zweiten Teil seines Referates werden die einzelnen in Be¬
tracht kommenden Krankheiten (Tuberkulose, Diabetes mellitus, Herz-
und Gefässkrankheiten, Nierenleiden, Magen- und Darmaffektionen,
Geschwülste, Syphilis, Alkoholismus, Rückenmarkskrankheiten,
Geisteskrankheiten, Rentensucht, Rentenhysterie) auf Grund der Er¬
fahrungstatsachen aus der Literatur und eines Aktenmaterials von
245 Fällen analysiert.
Herr Generaldirektor G e r k r a t h - Berlin stellt in seinem Vor¬
trag: Der rechtliche Standpunkt bei der Trennung der Unfalliolgen von
den inneren Krankheiten, die Forderung auf, in der privaten Un¬
fallversicherung nur solche Folgen als Unfallfolgen anzuerkennen,
zu deren Herbeiführung der Unfall notwendig mitgewirkt haben muss.
Soweit vorhandene innere Leiden für den Ausgang in Tod oder
Invalidität zureichende Ursachen waren, kommt ein hinzutretendes
Trauma für die Versicherung nicht in Betracht.
In der D i s k u s s i o n wenden sich Herr S i e f a r t h vom R. V. A.,
Herr Unverricht - Magdeburg, Herr R.-A. W ö r n e r - Leipzig,
Herr Lennhoff - Berlin, Herr Becker- Berlin gegen die letztere
Ansicht. Herr Poels- Brüssel, Herr Ko operberg - Amsterdam,
Herr Schuster - Berlin, Herr Grosse- Leipzig, Herr H erz-
b e r g - Berlin erörtern Einzelheiten des ersten Referates.
falles ankommt. Die Verschlimmerung besteht besonders auch noch
in dem Hinzutreten lokal nervöser Erscheinungen an der Stelle des
Traumas, wodurch alle früheren Symptome verdrängt werden können.
Am stärksten ist die Verschlimmerung bei der hypochondrischen Form
der Neurasthenie. Durch die Begehrungsvorstellungen wird die Nei¬
gung, alle nach dem Unfall auftretenden Krankheitserscheinungen auf
den Unfall zu beziehen, hervorgerufen, und die Behandlung erschwert,
vielleicht illusorisch gemacht.
Die Debatte dreht sich besonders um die „Begehrungsvor¬
stellungen“: während Herr W i n d s c h e i d - Leipzig dieselben für
einen integrierenden Bestandteil der Unfallneurosen hält, sieht Herr
C r a m e r - Göttingen in ihnen mehr einen ethischen Mangel als eine
im Wesen der Neurosen begründete Erscheinung. Herr Unver¬
richt- Magdeburg ist ebenfalls der letzteren Ansicht. Herr G u m-
p e r t - Berlin will häufig gesehen haben, dass es den Unfallneurotikern
nicht um die Rente, sondern um Heilung zu tun ist, und dass letztere
dadurch hintangehalten wird, dass die Kranken nicht zu ihrem Rechte
kommen. Herr F e i 1 c h e n f e 1 d - Berlin betont die Wichtigkeit der
objektiven Symptome.
Dritter Verhandlungstag: 13. September 1 906.
Gemeinschaftliche Sitzung mit dem 5. internationalen Kongress
für Versicherungswissenschaft über Versicherung von Abstinenten,
Frauen und Angehörigen der sogen. Alkoholgewerbe.
Von Wichtigkeit ist, dass von allen Rednern über die Ab¬
stinentenversicherung (Herr Valentiner - Kopenhagen,
Herr B i s c h o f f - Leipzig, Herr Andrä- Gotha, Herr Flor¬
schütz- Gotha, Herr Svedelius - Stockholm) sich die Mehrzahl
vom versicherungstechnischen wie vom versicherungsmedizinischen
Standpunkt aus, gegen eine Bevorzugung der Abstinenten vor
den übrigen Versicherten aussprachen.
Sehr interessant waren auch u. a. die versicherungsmedizinischen
Ausführungen des Herrn F 1 o r s c h ü t z - Gotha über die Versiche¬
rungen von Personen, die mit der Herstellung und dem Vertrieb
alkoholhaltiger Getränke berufsmässig in Beziehung stehen.
Nachmittagssitzung.
Unfallversicherung.
D. Einfluss des Trauma bei latenten und offenbaren organischen
Rückenmarks- und Gehirnkrankheiten.
Referenten : Herr Riedinger - Wiirzburg, Herr V u 1 p i u s -
Heidelberg.
I. Herr Riedinger verwirft trotz aller Anerkennung der
E d i n g e r sehen Aufbrauchtheorie die Annahme der Entstehung
einer organischen Erkrankung des Zentralnervensystems durch ein
Trauma; nur im Sinne einer Beeinflussung desselben durch Steigerung
einzelner symptomatischer Erscheinungen, also einer schwereren Ge¬
staltung des Krankheitsbildes, ist die Bezeichnung „Auslösung“ der
Erkrankung durch den Unfall als exogenes Moment zulässig. Das
Trauma ist demnach nur eine Komplikation der Krankheit, nicht die
Krankheit die Komplikation des Trauma.
Bei der Beurteilung des Krankheitszustandes muss auch die aus
den organischen Veränderungen sich ergebende Beeinflussung ides
Denkens und Fühlens des Verletzten in Betracht gezogen werden.
Das gesamte Krankheitsbild bei nachgewiesener typischer organischer
Erkrankung wird nicht dauernd dem Unfall zur Last zu legen sein,
doch müssen die Unfallfolgen verhältnismässig höher veranschlagt
werden. Allgemeine Regeln über die „prozentuale“ Abschätzung
lassen sich nicht aufstellen.
Zahlreiche Beispiele für die einzelnen Erkrankungen illustrieren
das Gesagte.
II. Herr V u 1 p i u s - Heidelberg bespricht die Systemerkran¬
kungen (Tabes, spastische Spinalparalyse und amyotrophische La¬
teralsklerose, progressive spinale Muskelatrophie und progressive
Bulbärparalyse) und die diffusen Herderkrankungen (multiple Skle¬
rose, Gliose und Syringomyelie, Tumor cerebri) und kommt zu dem
Schlüsse, dass wir eigentlich über die Auslösung, Verschlimmerung
und Beschleunigung der zentralen Nervenleiden durch Trauma wenig
Sicheres noch wissen. Mehr Skepsis ist also in dieser Hinsicht ange¬
bracht und erst wenn bei feststehender Diagnose und Erfüllung ver¬
schiedener anderer Bedingungen (Ort, Zeit, Art, Schwere und Verlauf
der Verletzung und der Erkrankung betreffend) der kausale Zu¬
sammenhang einigermassen wahrscheinlich geworden ist, kann,
nicht: muss — dem Patienten eine Rente zugesprochen werden.
Und zwar nach Massgabe einer Schädigung des ganzen Men¬
schen, wenn eine nennenswerte Kopf- oder Rückenerschütterung
kurz vorhergegangen ist; eines Gliedes dagegen, wenn die Ver¬
letzung nur ein solches betroffen hat. Falsch ist es, in jedem Falle
die Erwerbsfähigkeit sofort = 0 zu erachten, auch wenn nur eine ge¬
ringgradige Verletzung vorliegt. Die Vollrente liegt in solchen Fällen
weder im Interesse der Berufsgenossenschaft noch des Arbeiters
selbst.
Diskussion: Herr V e r h o g e n - Brüssel bespricht die bei
der zivilrechtlichen Entschädigung in Belgien in Betracht kommenden
Punkte. Herr Ward-NewYork erblickt auch in der eingebildeten
Nervenkrankheit eine wesentliche Störung der Arbeitsfähigkeit. Herr
B. In der Nachmittagssitzung berichtet zunächst Herr Cramer-
Göttingen an Stelle des Herrn W e b e r - Göttingen über: Die akute
Verschlimmerung von Geistesstörungen im Gefolge von Unfällen
mit besonderer Berücksichtigung der progressiven Paralyse, der
senilen Demenz und der arteriosklerotischen Geistesstörung mit dem
Ergebnis, das es keine charakteristische Form der Verschlimmerung
von Geistesstörung nach Unfall gibt.
C. Die Kriterien der Verschlimmerung von funktionellen Neurosen
durch Unfälle.
Referent über den allgemeinen Teil: Herr C r a m e r - Göttingen.
Referent über den speziellen Teil: Herr Windscheid - Leipzig.
I. Herr Gramer resümiert sich dahin, dass, wie bei Verschlim¬
merung von Neurosen ohne erkennbare Ursachen es sich besonders um
Neurosen, entstanden auf dem Boden einer starken endogenen Dispo¬
sition häufig in Verbindung mit psychogenen Faktoren handelt, auch
vielen Neurosen nach Unfällen eine endogene Disposition vorhanden
ist, wenn sie auch aus den Akten sich nicht erweisen lässt.
Die Verschlimmerung ist meist eine quantitative Steigerung der
vorhandenen Erscheinungen, aber auch das Auftreten qualitativ neuer
Symptome kommt vor. Ersteres kann nicht ohne weiteres auf den
Unfall bezogen werden, kommt letzteres dazu, so ist der' Unfall ohne
weiteres auf die Verschlimmerung von Einfluss gewesen. Die Anam¬
nese bedarf genauerer Berücksichtigung als es bisher geschieht.
II. Herr W i n d s c h e i d - Leipzig bespricht die Verschlimme¬
rung von Epilepsie, Chorea und Morb. Basedowii, besonders auch
durch Hinzutreten von Hysterie; Verschlimmerung von Paralysis
agitans ist denkbar, aber bisher nicht bekannt. Bei der Neur¬
asthenie und Hysterie kommt es mittels der Brücke der
„Begehrungsvorstei 1 ungen“ zur traumatischen
Neurose, wobei es weder auf Intensität noch Extensität des Un¬
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Windscheid- Leipzig fordert für unklare Fälle das Eingeständnis
des Nichtwissens des Gutachters, dem ja die definitive Entscheidung
nicht zusteht. Herr Gross- Berlin plädiert angesichts der grossen
Unsicherheit in der gesamten Unfallbegutachtung für eine Verschmel¬
zung der ganzen Arbeiterversicherung zu einer einheitlichen „Arbeits¬
unfähigkeitsversicherung“. Herr Riedin ge r weist in seinem
Schlussworte darauf hin, dass in unserer „unfallfrohen Zeit der Gut¬
achter eine positive Beantwortung der Fragen des Richters häufig
nicht umgehen kann.
E. Herr F r a n k - Berlin : Der kontrollärztliche Dienst der Un¬
fallversicherungs-Gesellschaften.
Es empfiehlt sich, für die Unfallversicherunggesellschaften „Kon-
trollärzte“ anzustellen, welche die Akten eines jeden gemeldeten
Falles vom Eingang der Unfallanzeige bis zum Abschlüsse genau zu
verfolgen, den Sektionen beizuwohnen, die Gesellschaften bei Schieds¬
gerichten zu vertreten und gemeinsam mit dem behandelnden Arzte
den Grad und die Dauer der Erwerbsbehinderung zu bestimmen
haben. Sie sollen keine Praxis ausüben und vor allem eine gute
Ausbildung auf dem Gebiete der Chirurgie, Neurologie und patho¬
logischen Anatomie haben.
Diskussion: Nach Herrn Kooperberg - Amster¬
dam und Herrn Menko - Amsterdam existiert die Institution solcher
Kontrollärzte in Holland schon seit geraumer Zeit. Herr Unver-
r i c h t - Magdeburg wünscht gleichfalls die Anstellung besonderer
spezialistisch ausgebildeter Unfallversicherungsärzte. Herr Schwab-
Berlin schlägt vor, ebenso wie bei der Lebensversicherung auch bei
der Unfallversicherung jeden Antragsteller vorher ärztlich unter¬
suchen zu lassen. Ferner sollten die Kontrollärzte, wenn auch nicht
allgemeine, so doch mit ihrem Sondergebiete im Konnex stehende
Praxis ausüben, um nicht reine Theoretiker zu werden. Herr Direktor
K a h 1 e r t - Magdeburg bezweifelt die Durchführbarkeit der Idee,
jeden Antragsteller zu untersuchen.
Vierter Verhandlungstag: 14. September 1906.
Lebensversicherung.
Fortsetzung der Diskussion über die S y p h i 1 i s. Herr
G r o s s e - Leipzig, Herr L a s s a r - Berlin, Herr Abelmann-
Petersburg warnen vor einem allzugrossen Pessimismus.
C. Fettleibigkeit.
Die Bedeutung der Fettleibigkeit für die Lebensversicherung.
Referent: Herr P. F. R i c h t e r - Berlin.
Auf Grund von 407 Fällen (unter 2000 Versicherten) ermittelte
R. die durchschnittliche Lebensdauer — 47 Jahre 10 Monate gegen-
50 Jahre 1 Monat bei den übrigen Versicherten. Gefährdet sind die
Fettleibigen, an erster Stelle durch Herzkrankheiten, Nierenkrank¬
heiten und Apoplexien, sodann durch bösartige Geschw ülste, Lungen¬
entzündungen, anderweitige Infektionskrankheiten, Diabetes, Dementia
paralytica, Leberkrankheiten und am seltensten durch Tuberkulose.
Auffällig ist die verhältnismässige Seltenheit der Kombination der
Fettleibigkeit mit anderweitigen Konstitutionskrankheiten. Die
Heredität spielt nicht die Rolle, die ihr zugeschrieben wird. Stets
soll der Blutdruck geprüft werden; Zahlen über 120—130 mm sind
nicht mehr normal. „
In der Diskussion wird die Wichtigkeit genauer Herzunter¬
suchung hervorgehoben (Herren P o e 1 s - Brüssel, D i p p e - Leipzig,
Grosse- Berlin, G o 1 1 m e r - Gotha). Herr Feilchenfeld
Berlin betont die Notwendigkeit der Herzuntersuchung am Stehen¬
den. Herr Richter (Schlusswort) regt möglichst allseitige Statistik
besonders auch in Bezug auf Ernährung und Alkoholkonsum an. Herr
Florschütz - Gotha verspricht baldige Erfüllung dieses Wunsches.
D. Herr P f e i f f e r - Weimar: Die Impfklauseln in den Welt¬
policen der Lebensversicherungs-Gesellschaften.
P. verbreitet sich über die Beziehungen der Vakzination und
Revakzination zur Lebensversicherung und die diesbezüglichen Ver¬
hältnisse in den verschiedenen Ländern. Für in Deutschland ge¬
borene und erzogene Antragsteller sind Impfklauseln nicht nötig.
Die Fragestellung nach Vakzination und Revakzination in den An¬
tragspapieren empfiehlt sich, um den Antragsteller auf den Wert der
wiederholten Vakzination aufmerksam zu machen. Gesellschaften
mit Weltpolice dürfen das Blatternrisiko nicht nach den heimischen
Zuständen einschätzen, sondern nach denen am Wohnorte des An¬
tragstellers.
Diskussion: Herr B r e g e r - Kaiserl. Gesundheitsamt for¬
dert die Gesellschaften in Ländern, wo noch kein oder kein genügender
Impfschutz besteht, auf, ihren Einfluss geltend zu machen, dass eine
umfassende Imptgesetzgebung geschaffen wird, da die Gesellschaften
ein hohes Interesse daran haben müssten, ihren Kandidaten keine
Impfklausel vorlegen zu müssen, und durch Zwangsimpfungsvor¬
schriften von seiten der Regierung ihr Risiko vermindert zu sehen.
Herr L a s s a r - Berlin erinnert an den Unterschied zwischen den
zum dritten Male Geimpften (Soldaten) und den Nichtheerespfliclitigen.
Herr van Genns - Amsterdam bespricht die holländischen Zustände.
Einem Wunsche nach Aufstellung einer Weltkarte für die Pocken
sagt de»- Vertreter des Reichsgesundheitsamtes baldige Erfüllung zu.
E. I. Herr Carruth er - London verliest einen Bericht des
Herrn Hingston Fox- London über eine neue Methode zur Unter¬
scheidung der harmlosen von der bösartigen Albuminurie. Letztere
ist eine renale, auf Erkrankung der Niere beruhend, erstere eine
„hämatogene“, hervorgerufen durch geringere Koagulationsfähigkeit
des Blutes bei Intaktheit der Nierenkanäle. Durch Verabreichung von
milchsaurem Kalk soll auch ohne jede andere Massnahme (Ruhelage,
Milchdiät etc.) das Eiweiss bei der hämatogenen Albuminurie aus dem
Urin verschwinden, bei der renalen Form nicht.
In der Diskussion spricht Herr Abelmann - Petersburg
über die orthostatische Albuminurie und bezeichnet dieselbe als auf¬
nahmefähig. Herr M a r t i u s - Rostock hebt die Häufigkeit der
„konstitutionellen“ Albuminurie hervor (in 6 Jahren 17 Fälle beob-
ächtet, allerdings an nur 8 sonst ganz Gesunden) und betont die Not¬
wendigkeit genauer Aufspürung solcher Fälle. Herr D i p p e - Leipzig
ist vom praktischen versicherungsmedizinischen Standpunkte gegen
die Aufstellung einer gutartigen Gruppe von Albuminurien. Herr
Unverricht - Magdeburg, Herr Salomonsen sen. -Kopenhagen
sind gleicher Ansicht. Herr Abelmann- Petersburg macht auf den
günstigen Einfluss von Sportsübungen auf die zyklische Albuminurie
aufmerksam.
II. Herr Carruther - London macht einen Vorschlag zu einem
Norinaleinteilungsverfahren der minderwertigen Leben durch Ueber-
tragung und Modifikation des äusserst praktischen D e w e y sehen
Bibliothekeinteilungssystems, das neben seinen inneren Vorzügen auch
eine grosse Kostenersparnis bedeuten würde.
Herr F 1 o r s c h ü t z - Gotha erkennt die Vorzüge dieses Ver¬
fahrens voll an, hält dasselbe aber wegen der Gefahr der Subjektivität
zum allgemeinen Gebrauch nicht geeignet.
III. Die Vorschläge des Herrn S n e 1 1 e n-Zeist zur Vermehrung
und reicheren Ausgestaltung der statistischen Tabellen für die ärzt¬
liche Untersuchung (Konstruktion von relativen Normalformeln für
die Beziehungen zwischen Körperlänge, Körpergewicht und Brust-
I Bauch- lumfang) finden in Herrn G o 1 1 s t e i n - Berlin und Herrn
Florschütz - Gotha, die nur absolute Zahlen anerkennen, ent¬
schiedene Gegner.
Der Vorsitzende, Herr Florschütz - Gotha, schliesst den
Kongress, nachdem ihm von demselben Vollmacht zu Verhandlungen
über Ort und Zeit des nächsten Kongresses erteilt ist, mit dem Aus¬
drucke des Dankes an die Mitglieder, besonders die ausländischen,
und der Befriedigung über die Fülle und den Erfolg der geleisteten
Arbeit.
31. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für
öffentliche Gesundheitspflege
in A u g s b u r g vom 12. — 15. September 1906.
Welche Mindestaufforderungen sind an die Beschaffenheit der
Wohnungen, insbesondere der Kleinwohnungen zu stellen?
Referent: Regierungsbaumeister a. D. Beigeordneter Schilling-
Trier.
Die in der behördlichen Wohnungsbeaufsichtigung gesammelten
Erfahrungen zeigen, dass die vom Deutschen Verein für öffentliche
Gesundheitspflege bisher aufgestellten Forderungen gerechtfertigt und
durchführbar sind. Jedoch sind die zurzeit bestehenden Verordnungen
über Beschaffenheit und Benutzung der Wohnungen^ noch vielfach
lückenhaft und unzureichend. Der vornehmlich der Festsetzung be¬
dürfende Inhalt solcher Verordnungen ist in nachstehenden Mindest¬
anforderungen zusammengestellt, die weitergehende Ansprüche, wo
solche nach Lage der örtlichen Verhältnisse erreichbar sind, nicht
ausschliessen sollen.
Die Wohnung muss einen eigenen Zugang haben, derselbe darf
durch keine fremden Küchen, Wohn- oder Schlafräume führen. Die
Umschliessung aller Wohn- und Schlafräume sei hygienisch völlig
einwandsfrei; die Räume müssen trocken und gegen Witterungsein¬
flüsse vollkommen geschützt sein; die Wände seien dicht; Decken und
Fussböden müssen nicht nur intakt vorhanden sein, sondern dürfen zu
anderweitigem Durchgang nicht benützt werden; jede Wohnung muss
von innen verschliessbar sein, ebenso jedes abgemietete Zimmer.
Eine weitere Forderung ist, dass jede Wohnung ihre eigene
Kochstelle haben und so geräumig sein muss, dass die ledigen, über
14 Jahre alten Personen nach dem Geschlecht getrennt in besonderen
Räumen schlafen können, und dass jedes Ehepaar für sich und seine
noch nicht 14 jährigen Kinder einen besonderen Schlafraum besitzt.
Die Schlafräume müssen für jede über 10 Jahre alte Person mindestens
10 cbm und für jedes Kind unter 10 Jahren mindestens 5 cbm Luft¬
raum enthalten, wobei Kinder im ersten Lebensjahre ausser Anrech¬
nung bleiben. Schlafräume, die gleichzeitig als Küche benützt werden,
müssen 15 cbm Luftraum mehr enthalten.
Nicht zur Familie gehörige Schlaf-, Kost- und Quartiergänger
dürfen nur in solchen Räumen untergebracht werden, die einen
eigenen, nicht durch die Schlafräume des Quartiergebers und seiner
Familie führenden Eingang haben, von innen verschliessbar und gegen
anstossende Schlafräume des Quartiergebers und seiner Familie
dauernd abgeschlossen sind. Quartiergänger verschiedenen Ge-
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schlechts dürfen nur mit besonderer polizeilicher Genehmigung und
nur dann aufgenommen werden, wenn ihre Schlafräume keine direkte
Verbindung miteinander haben. Die Schlafräume der Schlaf-, Kost-
und Quartiergänger müssen für jeden Insassen wenigstens 10 cbm
Luftraum haben.
Betreff der Lenster stellt Referent folgende Forderungen auf:
Alle Wohn- und Schlafräume sowie auch Küchen und Aborte
müssen mindestens ein unmittelbar ins Freie gehendes, zum Oeffnen
eingerichtetes, dicht schliessendes Fenster haben. Die gesamte
Fensterfläche eines Raumes muss wenigstens so gross sein, dass auf
je 30 cbm Rauminhalt 1 qm zum Oeffnen eingerichtete Fensterfläche
entfällt, wobei in der schrägen Dachfläche liegende Fenster ausser
Anrechnung bleiben.
Was die Lage der Wohn- und Schlafräume anlangt, so dürfen
dieselben nicht über oder mit ihren Fenstern unmittelbar neben Abort
und Düngergruben liegen, auch nicht mit Ställen und Aborten in
offener Verbindung stehen. Aborte, die nicht mit Wasserspülung ver¬
sehen sind, dürfen nicht unmittelbar von Küchen, Wohn- oder Schlaf¬
räumen aus zugänglich sein; ein gleiches gilt im Innenbezirk der
Städte für Ställe. Räume, deren Fussboden tiefer als das umgebende
Erdreich liegt-, dürfen nur dann zum Schlafen benutzt werden, wenn
genügende bauliche Vorkehrungen gegen die Erdfeuchtigkeit getroffen,
und wenn sie so belegen sind., dass die Sonne hineinscheinen kann.
Dachwohnungen sind nur unmittelbar über dem obersten Stockwerk,
nicht aber übereinander im Dachraum zulässig.
Zu jedem Hausgrundstück gehört wenigstens ein direkt zugäng¬
licher verschliessbarer und mit Sitzbrille versehener Abort. Die Be¬
nutzung eines solchen Abortes muss jedem Hausbewohner frei stehen;
die Zahl der Aborte muss so bemessen sein, dass höchstens je 15
Bewohner auf die Benutzung eines Abortes angewiesen sind. Abort¬
gruben müssen undurchlässige Umwandungen und ebensolche Böden
haben und dicht abgedeckt sein.
Auf eine ausreichende Versorgung mit einwandfreiem Trink¬
wasser ist bei Kleinwohnungen erhöhte Aufmerksamkeit zu richten.
Beim Vorhandensein von zentraler Wasserversorgung und Kanali¬
sation ist Zwangsanschluss zu verlangen; jedes Geschoss, das eine
selbständige Wohnung hat, bedarf einer eigenen Wasserzapfstelle mit
Ausguss. Die Neuanlage von Zapfstellen auf die Treppen oder
Treppenzwischengeschosse ist zu verbieten. Alle Leitungsröhren
müssen dicht sein.
Nicht unnötig erschien es am Schlüsse der Ausführungen gerade
bei den Kleinwohnungen sowohl die Hausbesitzer, als auch die Mieter
an gewisse Pflichten ausdrücklich zu erinnern.
Die Hausbesitzer haben die Wohnungen einschliesslich deren
Nebenräume, insbesondere auch Aborte dauernd in ordnungsmässigem
baulichen Zustande zu erhalten. Dasselbe gilt auch von den
Feuerungs-, Wasserversorgungs- und Entwässerungsanlagen, sowie
von Höfen und Lichtschächten. Dagegen sind die Pflichten der Be¬
wohner: Jede missbräuchliche Benutzung einer Wohnung, wodurch
dieselbe gesundheitsschädlich, insbesonders auch feucht wird, ist ver¬
boten. Hierher rechnet auch ungenügende Lüftung und Reinigung.
Werkstätten und solche Räume, in denen Nahrungs- und Genuss¬
mittel gewerbsmässig hergestellt, verkauft, verpackt oder gelagert
werden, dürfen nicht als Schlafräume benutzt werden. Die Auf¬
bewahrung übelriechender Knochen, Lumpen oder faulender Gegen¬
stände, sowie die Vornahme starkriechender gewerblicher Ver¬
richtungen in Schlafräumen und Küchen ist verboten.
Aus der Debatte erscheint erwähnenswert, dass sämtliche
Redner über die viel zu geringen Forderungen des Referenten er¬
staunt sind und verschiedene teilweise erheblich weitergehende Vor¬
schläge machten. So verlangt Praussnitz - Graz im Interesse der
Säuglingsfürsorge für diese ebenso viel Luftraum wie für Erwachsene;
sogar der Vorstand der deutschen Haus- und Grundbesitzervereine
gab seinem Erstaunen Ausdruck über die milden Leitsätze.
Walderholungsstätten und Genesungsheime.
Referent: Dr. R. L e n n h o f f - Berlin.
Das gleiche Thema wurde bereits 1889 auf der damaligen Jahres¬
versammlung des Vereins in Strassburg i .E. gebracht, die Begrün¬
dung der Forderung von Erholungsstätten und Genesungsheimen, so¬
wie die geschichtliche Entwicklung dieser Frage wurde damals aus¬
geführt.
Die Errichtung der Genesungsheime durch private Wohltätigkeit
üat nicht ausgereicht, auch die Gemeinden haben dem wachsenden
Bedürfnis Rechnung tragen müssen. Die Lasten haben teilweise die
sozialen Versicherungen übernommen. Die Krankenkassen haben
erst allmählich einsehen gelernt, dass ihre Tätigkeit nicht nur eine viel
ausgedehntere, sondern eine viel erspriesslichere ist, wenn sie sich
auch für die Lösung dieser Frage mehr als bisher interessieren. Denn
die Aufgabe der Krankenfürsorge ist es, nicht nur die unmittelbaren
Folgen einer Krankheit zu beseitigen, sondern auch die Arbeits¬
fähigkeit der Kranken so weit wie möglich wieder herzustellen und
einer Schädigung durch die Wiederaufnahme der Arbeit .vorzubeugen.
Daher bedarf es ausser den Krankenhäusern, Anstalten zur Vollendung
der Genesung. In gleicher Weise sind Anstalten notwendig zur Be¬
seitigung der Erscheinungen leichter chronischer Erkrankungen, die in
den Krankenhäusern keine Aufnahme finden können, zur Vorbeugung
der Krankheitsverschlimmerung und zur Vorbeugung drohender Er¬
werbsunfähigkeit.
Die Anstalten waren früher sehr primitiv eingerichtet mit sehr
einfacher Verpflegung, das Bedürfnis nach weiterer Ausgestaltung
der Anstalten nach den verschiedenen Richtungen hin war jedoch
bald ein hohes, auch die therapeutische Aktivität, in der wir jetzt
stehen, hat allmählich Berücksichtigung finden müssen.
Die Genesungsheime mussten, wie oben erwähnt, allmählich
auch zur Behandlung von chronisch Kranken dienen und wurden be¬
sonders von den Landversicherungsanstalten errichtet. (Berliner und
schlesische Anstalten.) Wichtig ist, die sozialen Schichten in den
Genesungsheimen zu berücksichtigen, es müssen möglichst gleiche
Bildungsstufen zusammengebracht werden, sonst entstehen leicht
Reibereien und Misshelligkeiten. Die Unterbringung in Anstalten, in
welchen die Kur des Kranken individuell gestaltet werden kann, ist
dem einfachen Landaufenthalt oder dem Aufenthalt in Badeorten vor¬
zuziehen. Die Krankenkassen gewähren an und für sich schon Land¬
aufenthalt nach Krankheiten, die notwendigen Forderungen der
Hygiene werden oft beim gewöhnlichen Landaufenthalt nicht erreicht,
der Aufenthalt ist daher häufig ziemlich nutzlos.
Als Anstaltsformen kommen vornehmlich in Betracht Genesungs¬
heime und Walderholungsstätten. Die Auswahl der Anstalt hängt
in jedem Falle von der Besonderheit der Krankheitsfälle ab.
Grundsätzlich ist daran festzuhalten, dass die Genesungsheime
für Kranke Vorbehalten werden, welche für längere Zeit dauernd von
ihrer Häuslichkeit fern bleiben müssen und für welche ein grösserer
Behandlungsapparat (Hydrotherapie, Gymnastik etc.) notwendig ist.
Die Walderholungsstätten sind für die grosse Masse derer geeignet,
die lediglich der Ruhe, des Aufenthaltes in guter Waldluft und ein¬
facher physikalischer Behandlungsmethoden bedürfen.
Der Hauptgrund für die Entstehung der Walderholungsstätten
war, dass die bestehenden Wohnungen der Kassenpatienten hygie¬
nisch nicht durchgreifend geändert werden konnten. Letztere sind
arbeitsunfähig, können jedoch ausgehen, hierher gehören vor allem
die anämischen, neurasthenischen, chronisch tuberkulösen etc.; alle
bedürfen viel frische Luft, welche in den städtischen Parks vielfach
mangelt. Daher hinaus vor die Tore in den Wald; hier ist aber nur
ein Aufenthalt möglich, wenn für ein Unterkommen und für Essen
gesorgt ist. Diese Forderungen sollen die Walderholungsstätten er¬
füllen. Die Einrichtung dieser Anstalten ist so einfach zu halten, wie
es die Erreichung des beabsichtigten Zweckes eben zulässt. Bei den
ersten Berliner Anstalten gab das Rote Kreuz die Baracken, der Forst¬
fiskus den Grund und Boden, der vaterländische Frauenverein ver¬
sorgte die Küchen. Die Krankenkassen erklären sich bereit, das Fahr¬
geld zu bezahlen und lassen die Milch auf ihre Kosten den Kranken
verabreichen. Es war zuerst Gelegenheit, das mitgebrachte Mittag¬
essen zu erwärmen. Von der Wärmegelegenheit wurde jedoch kein
Gebrauch gemacht, auch ein Mittagessen wurde nicht gekauft, wie¬
wohl es sehr billig (20 Pfg.) zu haben war. Es wurde daher auch
später das Mittagessen gratis gegeben.
Charakteristisch für die Erholungsstätten ist die ausserordent¬
liche Billigkeit des Betriebes, die es ermöglicht, die Erholungsstätten-
nflege einer fast unbegrenzten Zahl der dieser Pflege Bedürftigen zu
Teil werden zu lassen. Ein Abweichen von der grössten Einfachheit
bedeutet zugleich eine numerische Einschränkung der Fürsorge: auch
ist beim Abweichen von der möglichsten Einfachheit im Betrieb eine
grosse Erschwerung desselben zu erwarten.
Die Eigenkosten einer Berliner Anstalt sind: der Liter Milch
20 Pfg., das Mittagessen 35 Pfg.. ausserdem 10 — 15 Pfg. Fahrgeld.
Eine genaue Nachahmung ist nicht überall möglich. Das Frühstück
wird, meist mitgebracht, später zeigte es sich, dass, wenn nicht für
ein Abendessen gesorgt wurde, die Leute nicht den ganzen Tag blieben.
Weitere Erfahrungen zeigten, dass auf die Dauer eine Docker-
sche Baracke nicht für den Winter brauchbar ist, ferner ist nötig eine
Umzäunung des ganzen Terrains, eine Schutz- oder Unterstandshalle.
Für diesen Zweck genügt ein einfacher Holzschuppen, 4 in tief, 4% in
hoch und ca. 25 m lang, letzteres je nach der Anzahl der Pfleglinge.
Bureauräume, Küche mit Vorratskammer, Schlafräume für das Per¬
sonal, ein Wirtschaftshof, Kohlenschuppen, Waschraum für die Kran¬
ken, Klosettanlage, alles sind weitere nötige Einrichtungen. Die Ge¬
samtkosten der Einrichtungen mit Ausnahme der Gebrauchsgegen¬
stände und der Docker sehen Baracke betragen für 150 Patienten
nur ca. 3000 Mark und alles in allem 12—15 000 Mark. Die Erfolge
in den Walderholungsstätten sind natürlich anders, als in den Heil¬
stätten und Genesungsheimen. Der grosse Vorteil ist jedoch die
Nähe der Familie und die Nähe der Wohnstätten. Es kann auch bei¬
spielsweise das Geschäft vom Genesungsheim aus mitversehen
werden. Die Frauen gehen nur weniger gern in die Erholungsstätten,
vor allem deswegen, weil sie sich von den Kindern trennen müssen.
Wird das Mitbringen von Kindern erlaubt, dann zeigen sich die
Frauen zum Eintritt ebenso bereit wie die Männer. Säuglinge und
Kinder bis zu 4 Jahren dürfen in den betreffenden Fällen mitge¬
nommen werden. Referent unterscheidet 3 Formen von Erholungs¬
stätten, solche für Männer, solche für Frauen und solche ausschliess¬
lich für Kinder. In den Anstalten für Erwachsene behandelt der
Krankenkassenarzt seine Patienten weiter, die Anstalt braucht nur
hygienisch überwacht werden; dagegen brauchen die Kindererho-
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MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
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lungsstätten an Ort und Stelle einen behandelnden Arzt, auch brauchen
die Kinder mehr Verpflegung. Referent bespricht hier die Art der Ver¬
pflegung in Berlin, an Kosten hierfür entsteht pro Kopf 50 Pf., das
Personal kann hierbei mitverpflegt werden. Auch Solbäder können
verordnet werden. An Persona! ist nötig: eine leitende Schwester,
die nebenbei die Buchführung zu besorgen hat — wesentlich ist, dass
die Schwester Fühlung mit den Patienten sucht — , eine Köchin,
1—2 Personen zum Waschen, ein Nachtwächter. Für Kinder
1 — 3 Kindergärtnerinnen. Fs ist hier auch Gelegenheit zur Ausbildung
von Kindergärtnerinnen gegeben. Zur weiteren Einrichtung von Er¬
holungsstätten gehören noch wollene Decken, Liegestühle, Trink¬
becher, alles nummeriert und nur für denselben Patienten zur Ver¬
wendung, Tische, Stühle, Spiele vervollständigen die Einrichtung.
In den Kinderanstalten haben je 2 Kinder ein Stück Land zur gärtne¬
rischen Bewirtschaftung bezw. zur völlig freien Verfügung. Sonntags
kommen häufig die Eltern mit, helfen pflanzen, freuen sich mit ihren
Kindern, man erzielt hierdurch auch auf die Eltern eine sehr gute
erzieherische Wirkung. Wie rasch und einfach eine derartige An¬
stalt errichtet werden kann, zeigt sich am besten in Danzig.
Referent gibt dann näheren Aufschluss über die Erlangung von
Fahrpreisermässigung, Arbeiterwochenkarten etc.
Die Erholungsstätten waren zunächst nur für den Sommer ein¬
gerichtet, jetzt werden einzelne auch Winters weitergeführt, natürlich
sind die Errichtungskosten etwas teurer. Wird Nachtbetrieb ein¬
geführt, dann geht der einfache Charakter der Anstalt verloren, die
Anstalt nähert sich in ihrem Charakter einem Sanatorium. Diese Ent¬
wicklung ist mit grosser Vorsicht zu betrachten, es scheint eine neue
Anstaltsform zu entstehen. Wohin dies führt, lässt sich noch nicht
sagen. Erwähnenswert erscheint noch, dass manche Kranke sich in
der Nähe der Anstalt eine Wohnung gemietet haben.
Eine andere Form von Anstalten ist in Amerika eingeführt, wo¬
selbst nur ein Nachtbetrieb eingeführt ist. Referent streift schliesslich
noch das Fürsorgewesen. Dasselbe muss die Fürsorge für die ganze
Familie übernehmen; ohne Fürsorge keine Erholungsstätte.
Genesungsheime sollen nicht zu weit von dem Wohnbezirk der
für sie in Betracht kommenden Bevölkerung errichtet werden, mit
Ausnahme solcher in Kurorten, mit besonderen, anderwärts nicht vor¬
handenen Heilfaktoren.
Die Errichtung von Genesungsheimen liegt in erster Linie den
Gemeinden oder Ortsverbänden ob, in zweiter Reihe den Landes¬
versicherungsanstalten. Nur in Ausnahmefällen empfiehlt sich die Er¬
richtung durch Krankenkassen, Betriebsunternehmungen, religiöse
oder Wohlfahrts-Genossenschaften.
Die Erholungsstätten unterscheiden sich von den Genesungs¬
heimen grundsätzlich dadurch, dass sie nur Tagesbetrieb haben. Da¬
durch ergibt sich die Notwendigkeit, dass sie in leicht erreichbarer
Nähe der Städte errichtet werden.
Verein Freiburger Aerzte.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 28. Juni 1906.
Herr S c h e 1 b I e: Demonstration eines Säuglingsmagens mit an¬
geborener Pylorusstenose.
Die Grösse des Magens bietet nichts Besonderes. Seine
O-Kapazität ist 105 ccm Wasser (die des Kontrollmagens 10 ccm
weniger).
Form zeigt auch nichts Besonderes, nur ist kleine Kurvatur
ziemlich stark geschweift.
Wandung verstärkt sich gegen Pars pylorica zu nur in sehr
geringem Mass.
Pars pylorica eher etwas ausgesackt als kontrahiert und
nicht durch deutliche Furche vom übrigen Magen abgegrenzt.
Pylorus als dickes, starres, knorpelhartes Rohr von 2 cm
Länge zwischen den elastischen Magen und das schlaffe Duodenum
eingeschaltet; eine ausgeprägte Furche trennt ihn von der Pars
pylorica.
Der Magen wurde 26 Stunden post exitum mit einem Teil des
Oesophagus und Duodenum aus der Leiche herausgenommen.
Der Inhalt — ca. 60 ccm geronnene Milch — konnte nur durch
ziemlich starken Druck mit der Hand durch den Pylorus in dünnem
Strahl entleert werden.
Bei Durchspülung mit Wasser fiel ebenfalls auf, dass die Ent¬
leerung ziemlichen Druck verlangte!
Das Organ wurde mit 10 proz. Formollösung gefüllt, in Formol
gelegt und nach 1 Monat in 70 proz. Alkohol ca. 5 Monate lang.
(Kontrollmagen genau so.) P f a u n d 1 e r sehe Erschlaffungsprobe
war bei dem Zustand des Magens unnötig.
Lumen des Pylorus lässt sich mit 2-mm-Sonde noch eben son¬
dieren. Nach Eröffnung zeigt sich ein spindelförmiges Rohr von
ca. 2 cm Länge. Schon makroskopisch sieht man, dass auch Längs¬
muskulatur mächtig entwickelt ist. Schleimhaut stark verdickt und
gefaltet.
Die klinischen Erscheinungen während Spitalaufenthalts nicht
typisch. Bei Aufnahme hochgradige Pädatrophie, Dekubitus einzelner
Hautpartien. Ueber linkem unteren Lungenlappen Dämpfung und
Rhonchi. Nahrungsaufnahme — 7 mal 90 ccm Milch-Milchzucker¬
wasser-Mischung — gut; nie Erbrechen während des 10 tägigen Spi¬
talaufenthalts. auch keine peristaltischen Wellen, nur Vorwölbung der
Magengegend nach dem Trinken. Stuhl täglich 1 mal, wenig. R..A.
auch mikroskopisch ohne Befund. Trotz guter Nahrungsaufnahme,
Exzitantien und Wärmeflaschen geht Temperatur nicht zum Normalen
in die Höhe. Unter Herzschwäche Exitus. i
Wichtig aber Anamnese! Normale Geburt. Familienanamnese
ohne Belang. Keine Schwangerschaftsstörungen. Ernährt wurde das
Kind die ersten -4 Wochen mit Milch und Kaisers Mehl, dann mit
Ramogen und Büchsenmilch 6 Wochen lang, endlich mit Biichsen-
milch und Theinhardt bis zur Aufnahme. Erbrechen vom 8. Tage ab,
meist direkt nach Aufnahme von 3 Strichen, gleichbleibend bei jeder
Art Nahrung. Schmerzensäusserungen weder beim Trinken noch vor
dem Erbrechen. Stuhl soll immer geformt und spärlich gewesen sein,
ohne Schleim, mitunter in Pausen von 3 — 7 Tagen. Wiederholt ge¬
gebene Einläufe änderten am Zustand nichts.
Nachdem also im Spital Diät geregelt war, Aufhören des Er¬
brechens. Tod an Bronchopneumonie. Fall: Naturheilung einer kon¬
genitalen Pvlorusstenose.
Bezüglich der Aetiologie dieser Erkrankung ist Vortragender
nicht geneigt, der Vermutung Ibrahims beizustimmen, wonach es
sich im Missverhältnis von mächtigem Pylorus zum Magen um einen
entwicklungsgeschichtlich präformierten Typus handeln soll, analog
dem Befund bei infantilem Uterus, besonders nicht nach der neuesten
Arbeit Cunninghams.
Diskussion: Herr G i e r k e.
Herr Axenfeld: Ueber Exstirpation des Halssympathi¬
kus beim Glaukom.
An der Hand der Literatur, seiner eigenen Erfahrungen
und unter Demonstration von Patienten und Gesichtsfeldern
bespricht Vortragender in kritischer Weise die bisherigen Er¬
gebnisse und weist einerseits die Uebertreibungen J onnes-
c o s, der 80 Proz. Heilung des Glaukoms durch Sympathikus¬
exstirpation behauptet, auf das entschiedenste zurück,
andererseits erkennt er der Operation für gewisse Fälle ein
freilich bescheidenes Indikationsgebiet auch heute noch zu,
wenn man auch niemals mit Sicherheit auf eine Heilwirkung
rechnen dürfe. (Der Vortrag erscheint anderweitig aus¬
führlich.)
Im Anschluss daran demonstriert Herr Axenfeld: 3 Ge¬
schwister mit familiärem Glaukoma simplex juvenile. Bei 3 Ge¬
schwistern entwickelte sich zwischen dem 20. und 40 Lebensjahr, also
in relativ frühem Alter und nachdem die Augen bis dahin normal
waren, ein progressives einfaches Glaukom. Eine 4. Schwester,
die jüngste, ist bisher frei, hat aber eine angeborene Lückenbildung
in der Lamina cribrosa der Papille auf dem einen Auge. Derartiges
familiäres Glaukom ist eine grosse Seltenheit. Die Prognose diesei
Fälle ist wegen der tiefen Exkavationen und frühzeitigen Schnei ven-
atrophie eine ernste. Auch in der Aszendenz sind Erblindungen zu
verzeichnen, deren Natur aber nur bei einem Onkel festgestellt w er¬
den konnte, bei welchem ein Glaukoma chronicum mit zeitweisen
akuten Anfällen gefunden wurde.
Herr Brons: Zum klinischen Bilde und zur Serumtherapie der
sympathischen Ophthalmie.
Vortragender demonstriert einen bemerkenswerten Fall von sym¬
pathischer Ophthalmie: 29 jähriger Mann, Verletzung des linken Auges
durch Böllerschuss am 8. X. 05. Das Auge blieb immer entzündet.
Anfang Januar 1906 entzündete sich auch das rechte Auge. Am
15. I. 06 Aufnahme in die Klinik mit den Residuen einer perforieren¬
den Verletzung und einer plastischen Iridozyklitis des linken und
einer ebensolchen plastischen Entzündung des rechten Auges. 1 rotz
sofortiger Enukleation des verletzten linken Auges, dessen Lichtschein
und Projektion defekt war, nahm der Prozess am anderen Auge un¬
aufhaltsam seinen Fortgang. Im März 1906 trat in der Iris oben im
Gebiete des Circ. art. minor zum ersten Male ein kleines Knötchen
auf, dem bald andere folgten, so dass jetzt im ganzen 3 Knötchen oben
und unten aussen vorhanden sind. Die Knötchen haben eine weiss¬
gelbliche Farbe, sind wenig erhaben und ziemlich scharf umschrieben,
sie liegen im Gebiete des Circulus arteriosus minon
Die Knötchen werden aufgefasst als lokale Gewebseinschmel¬
zungen eitrigen Charakters. Sie könnten bei oberflächlicher Betrach¬
tung für Tuberkel gehalten werden, jedoch spricht ihre geringe Er¬
habenheit und ihre auffallend weissgelbe Farbe dagegen. Für den
Zusammenhang zwischen der sympathischen Ophthalmie und dei
Tuberkulose sind bis jetzt keine stichhaltigen Beweise erbracht, haupt¬
sächlich 3 Punkte sprechen nach Axenfeld dagegen: 1. In den
Knötchen, die auch mikroskopisch manche Aehnlichkeit mit echten Tu¬
berkeln aufweisen ist bisher noch nie Verkäsung beobachtet. 2. 1 u-
berkelbazillen sind nie gefunden. 3. Tierversuche waren bisher
immer negativ.
Welche Mikroorganismen als Erreger der sympathischen Oph¬
thalmie anzusehen sind, ist noch eine offene Frage. Es muss ein
für das Auge speziell pathogener Keim sein, der durch die per¬
forierende Verletzung in das eine Auge gelangt und dann äüf dem
Blut- oder Lymphwege in das andere Auge verschleppt wird. Der
25. September 1906.
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1939
in letzter Zeit von zur Nedden gefundene Bazillus konnte in 3
genau nach zur Neddens Angaben untersuchten Fällen nicht nach-
gewies'en werden. Ebensowenig bestätigte sich die von zur Nedden
beobachtete heilende Wirkung des Blutserums solcher Kranken, die
kürzlich sympathische Ophthalmie überstanden hatten, an unserem
Material. Wir sahen in 2 Fällen, die wir mit Blutserum von einem
anderen Kranken, der sympathische Ophthalmie iiberstanden hatte,
behandelten, keinen Einfluss auf den Verlauf des Leidens.
Herr Agricola: Behandlung der Hornhaulinfektionen
nach ihrer bakteriologischen Diagnose.
Vortragender weist auf die Notwendigkeit bakteriologischer
Differentialdiagnose auch für den praktischen Ophthalmologen
hin, insbesondere in Fällen eitriger Hypopyonkeratitis. Gerade
für diese Fälle hat die bakteriologische Differentialdiagnose
in letzter Zeit erhöhte Bedeutung gewonnen. In einer über¬
raschend hohen Zahl von Fällen hat man als Erreger der Horn¬
hauteiterung einen Infektionskeim gefunden, der einer spe¬
zifischen Therapie in ausserordentlichem Grade zugänglich ist:
den Diplobazillus, der als Erreger von Bindehautentzündung
seit langem bekannt ist.
Das spezifische Heilmittel ist das Zink. Vortragender be¬
richtet über 18 in der Freiburger Klinik behandelte Fälle, von
denen die Hälfte unter dem Bilde typischer, von Pneumokokken¬
infektionen klinisch nicht zu unterscheidender Ulcera serpentia
verlief. Selbst in den schwersten Fällen erzielte man ohne
jeden chirurgischen Eingriff durch eine sehr energische Zink¬
therapie eine Heilung mit gutem optischen Endresultat.
'Zur sicheren Stellung der Diagnose genügt die Entnahme
geringer Sekretmengen aus der Hornhaut und die Färbung nach
Gram. In etwa der Hälfte der Fälle handelte es sich um eine
Abart des Diplobazillus Morax Axenfeld, den Diplobazillus
„Petit“ liquefaciens, der im Gegensatz zu jenem auf Gelatine¬
flüssigkeit und auf Agar in mehreren Generationen üppig
wächst. In klinischer und therapeutischer Hinsicht bieten sie
keine Verschiedenheiten.
Medizinisch-Naturwissenschaftlicher Verein zu Tübingen.
(Offizielles Protokoll.)
Medizinische Sitzung vom 18. Juni 1906.
Vorsitzender: Herr Romberg.
Schriftführer: Herr Blauei.
Herr Linser: Demonstration von Präparaten der Spirochaete
pallida.
Vortragender zeigt die Spirochaete in Ausstrich- und Schnitt¬
präparaten.
Diskussion: Herr Curschmann macht im Anschluss an
die Demonstration des Herrn Linser Mitteilung von Unter¬
suchungen, die er (Sommer 1905) gemeinsam mit Dr. F. Lange
ausgeführt hat. L. und C. untersuchten in 8 Fällen von Tabes und
progressiver Paralyse das — bei allen Patienten sehr lymphozyten¬
reiche — Sediment des Liquor cerebrospinalis auf die Anwesenheit
von Spirochaete pallida; die Behandlung des Präparats geschah in
der von Widal-Sicard und Schön born angegebenen Weise,
die Färbung nach Giemsa. Das Resultat war in allen
Fällen ein negatives. An sich erschien es nicht ausge¬
schlossen, Spirochäten zu finden, da es nach den Untersuchungen von
Merzbacher festzustehen scheint, dass sich das Produkt der
chronischen spinalen Meningitis, die Lymphozytose, schon relativ früh
bei zahlreichen Syphilitikern findet, auch ohne dass diese an Tabes
erkranken.
Herr Curschmann: Ueber die Frühformen der mul¬
tiplen Sklerose. (Wird andernorts in extenso erscheinen.)
Herr Schlayer: Ueber chronische Wirbelsteifigkeit.
Nach kurzer Schilderung des Krankheitsbildes und Demon¬
stration von 8 Patienten, die es in ausgeprägter Weise zeigen,
wird auf die Geschichte der Anschauungen, die sich. über die
Pathogenese und die anatomischen Grundlagen in den letzten
10 Jahren entwickelt haben, eingegangen.
Durch die Arbeiten von Magnus-Levy, A n s c h ii t z
u. a. ist die Berechtigung der 2 von klinischer Seite aufgestellten
Typen der Krankheit, des Bechterewschen und des
Pierre Marie-Strümpell sehen Typs, als Erkrankungen
sui generis, hinter denen man auch getrennte anatomische Pro¬
zesse vermutet, stark ins Wanken gekommen. Zuletzt wurde
als Unterscheidungsmerkmal zwischen diesen beiden Typen
nur noch die Mitbeteiligung grosser Gelenke bei dem Pierre
M a r i e - S t r ü m p e 1 1 sehen Typ festgehalten, nachdem man
alle anderen Momente wie Heredität und Trauma, Kyphose und
Richtung des Fortschreitens des Prozesses allmählich hatte
fallen lassen müssen. Auch die Mitbeteiligung der Gelenke
ermöglicht nach Anschütz und Magnus L e v y eine Dif¬
ferentialdiagnose nicht immer. Von anatomischer Seite ist
nun durch Fränkel, Simmonds u. a. das Vorkommen
zweier verschiedener Prozesse an der Wirbelsäule bei chro¬
nischer Wirbelsäulenversteifung festgestellt worden.
Der eine ist die Spondyl. deformans; sie befällt vornehm¬
lich das höhere Lebensalter; der Prozess beginnt an den
Bandscheiben, führt zur Deformation der Wirbelkörper und
Exostosenbildung; die kleinen Wirbelsäulengelenke sind nur
vereinzelt oder streckenweise befallen.
Die andere Erkrankung, die chronische ankylosierende
Spondylarthritis befällt jüngere Leute, setzt an den kleinen
Wirbelsäulengelenken ein und bringt diese zu Synostose. Auch
entlang den Bändern finden sich Verknöcherungen. Die eine
Erkrankung ist somit nach der Anschauung der Anatomen ein
osteogener, die andere ein arthro- resp. syndesmogener Pro-
zess.
Die Anatomen, besonders Fränkel, weisen nun nach,
dass diese letztere Erkrankung sich sowohl bei B e c h t e r e w-
schen wie bei Pierre Marie-Strümpell schein I yp findet
und leugnen infolgedessen die Existenzberechtigung dieser
Typen.
Schlayer hat nun versucht, die anatomische Differen¬
zierung zwischen Spondyl. deform, und ankylosierender Spon¬
dylarthritis durch das Röntgenbild zu erreichen, da die An¬
zahl der anatomischen Befunde an chronischer Wirbelsäulen¬
versteifung noch recht gering ist. Er demonstriert die Röntgen¬
bilder von 14 Fällen, die klinisch mit Sicherheit dem einen
oder anderen der obenerwähnten Typen zuzurechnen waren.
Zur Stellung der anatomischen Diagnose aus dem Röntgen¬
bilde wurden die differentialdiagnostischen Merkmale, wie sie
sich aus der obigen Beschreibung beider Prozesse ergeben,
herangezogen.
Daraus ergibt sich nun, dass die anatomische Sonderung
durch das Röntgenbild meist, jedoch nicht immer erreichbar ist.
Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass sämtliche
Fälle von Pierre M a r i e - S t r ü m p e'l 1 schem Typus der
Spondylarthritis ankylopoet. angehörten, während bei Bech¬
terewschen Typ sowohl Spondylitis deformans wie ankylo¬
sierende Wirbelsäulenversteifung sich fanden. Es scheint dem¬
nach doch ein Zusammenhang zwischen klinischen Typen und
anatomischen Prozessen in dem Sinne zu bestehen, dass der
Pierre Marie-Strümpellsche Typ immer ankylo¬
sierende Spondylarthritis zur Grundlage hat. Unter
den demonstrierten Röntgenbildern finden sich 3 von Patienten,
bei denen Hysterie neben Wirbelsteifigkeit be¬
stand. Bei zweien von ihnen zeigt das Röntgeno¬
gramm schwere Veränderungen. Die Wirbel¬
säulenversteifung wird nun bei solchen Patienten häufig als
hysterische aufgefasst; jene Befunde lassen es als notwendig
erscheinen, in allen solchen Fällen eine Röntgen¬
untersuchung vorzunehmen.
Herr Romberg: Einige Bemerkungen über Kranken¬
ernährung.
Jede Krankenernährung, die ihren Zweck erreichen will,
hat 3 Dinge zu beachten : die Funktion des Verdauungsapparates,
etwaige Veränderungen anderer Organe, die besondere Rück¬
sicht bei Auswahl und Zusammensetzung der Speisen fordern,
und drittens, aber nicht an letzter Stelle, das Verhalten des
Gesamtorganismus.
Die beiden letzten Punkte werden nur kurz berührt. Es
wird nachdrücklich auf die Wichtigkeit ausreichender Kalorien¬
zufuhr hingewiesen, wenn der Bestand des Körpers zu erhalten
oder zu vermehren ist. Besonders ist das bei notwendig
werdender flüssiger Ernährung zu berücksichtigen. Nicht we¬
nige als Herzschwäche bezeichneten Zufälle bei fieberhaften
Krankheiten, bei schweren dyspeptischen Zuständen, lassen sich
so vermeiden. Dasselbe gilt, wenn einzelne Nahrungsstoffe
stark beschränkt oder verboten werden müssen, wie z. B. die
Kohlehydrate bei dem Diabetes. Ueber Entfettungskuren soll
nicht gesprochen werden. Nur. wird betont, dass nicht jede
Fettleibigkeit abmagernde Massnahmen indiziert. Bei ange-
1940
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
griffenen, muskelschwachen, blutarmen Fettleibigen ist öfter
eine reichliche, namentlich ciweisshaltige Kost empfehlens¬
werter.
Von den Massregeln, welche einzelne Krankheiten indi¬
zieren, wird die Bedeutung der Kochsalzzufuhr bei vielen Ne¬
phritiden, bei dem Diabetes insipidus, bei manchen Herz¬
kranken eingehender besprochen.
Auf das Verhalten von Magen und Darm übergehend gibt
R. zunächst einen Ueberblick über die Maasnahmen, die sich
ihm empirisch bewährt haben, und gedenkt der Verdienste
von Kuss m a u 1 und L e u b e um den Ausbau der Diätetik
in dieser Richtung.
Bei An- und Subazidität ist das Fett zu beschränken, bei
schweren Störungen oft auch das emulsionierte Fett der Milch,
der Eier zu verbieten. Die Hauptmengen des Fleisches und
der Kohlehydrate sind auf verschiedene Mahlzeiten zu ver¬
teilen. Zucker wird meist nicht gut in grösserer Menge ver¬
tragen. Dieselbe Kost ist in der Regel auch bei Ikterus zu
empfehlen, bei dem besonders vor der Milch zu warnen ist.
Bei Superazidität werden Fette wechselnd, Milch und Eier
fast immer vertragen. Zu jeder Mahlzeit sind Kohlehydrate
zu geben.
Bei der Regulierung der Darmtätigkeit sind Zellulose, Fett,
Pflanzensäuren, Zucker und Salze als Förderer der Darm¬
bewegung zu betrachten. Bei Obstipatio spastica, Colica mu-
cosa ist besonders Wert auf die feine Verteilung, die mecha¬
nische Zerkleinerung der Nahrung zu legen.
Die Kost ist bei Magendarmkranken in der Regel auf
mehrere Mahlzeiten zu verteilen und — ausser bei der unkom¬
plizierten chronischen Verstopfung — in leicht, zerfallender oder
fein verteilter Form zuzuführen. Bei schweren Störungen ist
auf den letzten Punkt besonders zu achten, eventuell flüssige
Kost zu geben.
Die Wasseraufnahme ist entsprechend zu überwachen.
Von den Reizmitteln sind Gewürze, saure Speisen im Allge¬
meinen zu verbieten. Die Extraktivstoffe des Fleisches wirken
bei An- und Subazidität oft nützlich.
Die künstlichen Eiweisspräparate sind in allen Fällen zu
entbehren, bei denen natürliche Nahrung ausreichend aufge¬
nommen werden kann.
Weitgehende Rücksicht fordert der Appetit des Kranken.
Von rein psychisch bedingter Nahrungsverweigerung abge¬
sehen, soll nie der Genuss eines bestimmten Nahrungsmittels
erzwungen werden. Die notwendige innere Gleichmässigkeit
einer Kost lässt sich ja unter sehr verschiedener äusserer
Form erreichen.
Diese rein empirisch gefundenen Grundsätze der Diätetik
beginnen jetzt dank den Arbeiten von Heidenhain und
seiner Schule und von P a w 1 o w nun auch theoretisch ver¬
ständlich zu werden.
R. gibt einen Ueberblick über die bis jetzt ermittelte Or¬
ganisation der Verdauungsvorgänge und stellt sie den früheren
mechanistischen Vorstellungen gegenüber. Die Pawlow-
schen Feststellungen zeigen uns zunächst die Bedeutung des
Appetites für die Magensekretion. Wie wichtig er ist, erwiesen
mehrere Beobachtungen der Klinik. Einige Patienten, die nur
mit Widerstreben die Probemahlzeit gegessen hatten, Hessen
danach freie HCl im Mageninhalt vermissen, während nach
der mit Appetit genommenen S a h 1 i sehen Suppe oder nach
Probefrühstück freie HCl nachweisbar war.
Auf Beseitigung von Hemmungen, welche den Appetit ver-
mindern, ist wohl der günstige Einfluss kleiner Alkoholgaben
bei Hebernden, bei Karzinomkranken zu beziehen.
Fs werden dann die P a w 1 o w sehen Entdeckungen mit
den vorher gegebenen Diätvorschriften verglichen. Das die
Magensekretion hemmende Fett ist bei An- und Subazidität
nicht zu verwenden. Wird es bei Superazidität vertragen,
handelt es sich vielleicht um reine Supersekretion. Milch und
Kohlehydrate regen die Salzsäureabscheidung weniger an als
Fleisch. Sie sind bei Superazidität am Platze. Bei Sub- und
Anazi.dität geben wir die hauptsächliche Fleischmenge und die
Kohlehydrate getrennt, um die Magensekretion nicht durch die
letztere herabzumindern.
Bei geschw ächter sekretorischer und motorischer Funktion
geben wii die Kost fein verteilt oder flüssig, damit sie rascher
in den Darm übertreten kann. Darauf werden die auf das
Pankreas wirkenden Einflüsse besprochen. Ein Mensch mit
fehlender oder unzureichender Salzsäure, mit Unverträglichkeit
von Fett entbehrt auch wichtige Erreger der Bauchspeichel¬
drüse.
Das Fehlen der mit der Galle abgesonderten Kinase des
Pankreassteapsins erklärt die mangelnde Fettausnutzung bei
Ikterus auch in den Fällen, bei denen das Pankreassekret nicht
vom Darm abgesperrt ist.
Endlich wird auf die interessanten Fragen hingewiesen
welche sich aus dem Studium der Darmbakterien in der durch
R o 11 y und Liebermeister angebahnten Weise ergeben.
Zum Schlüsse zeigt R., dass auch medikamentöse Einwir¬
kungen jetzt verständlicher werden. Der früheren Vorstellung
einer wirksamen Ansäuerung des Mageninhaltes durch HCl
oder der angeblichen Säureabstumpfung durch Alkali wider¬
sprachen schon die geringen, zur Erreichung guten subjektiven
Nutzens erforderlichen Mengen dieser Mittel. Nach P a w 1 o w
dürfen wir den Nutzen der Salzsäure vielleicht überwiegend
a n e!nxei • ontreibuilg des Pankreas vermuten, während das
Alka h bei Superazidität direkt kausal wirkt, die Magensekretion
beschrankt. Es wird weiter auf die wichtigen Feststellungen
Bickels und seiner Schüler über die Wirkung der Mineral¬
wasser verwiesen.
--- — * säumig uer uiaietiK Dei Magein¬
darmstorungen steht erst im Beginn ihrer Arbeit. Aber dank
der heutigen Methodik sehen wir den Weg, auf dem vor¬
wärts zu kommen ist.
Medizinische Sitzung vom 9. Juli 1906.
Vorsitzender: Herr Romberg.
Schriftführer: Herr Blauei.
Herr Basler: Ueber die optische Wahrnehmung kleinster
Bewegungen.
B. untersuchte die Wahrnehmbarkeit sehr kleiner Be¬
wegungen und machte die Beobachtung, dass ausserordentlich
kleine Lageveränderungen eines Gegenstandes wahrgenommen
werden können. Bei mittlerer Tagesbeleuchtung wird die Ver¬
schiebung eines wessen Streifens auf schwarzem Grunde, die
einem Gesichtswinkel von 20 0 entspricht noch sicher erkannt.
Man empfindet also eine Bewegung zwischen 2 Punkten, die
so nahe beisammen liegen, dass sie nicht mehr als getrennt
unterschieden werden können. Die Erklärung für diese Er¬
scheinung ist darin zu suchen, dass 2 Punkte nur dann als
getrennt wahrgenommen werden können, wenn ein dazwischen
liegendes Netzhautelement (Zapfen) nicht erregt wird. Eine
Bewegung dagegen wird offenbar empfunden jedesmal dann,
wenn ein Reiz von einem Netzhautelement auf ein benach¬
bartes übergeht.
Die Empfindlichkeit für die Wahrnehmung kleinster Be¬
wegungen nimmt von der Stelle des deutlichsten Sehens nach
der Peripherie hin ab; d. h. die Bewegung muss, wenn sie er¬
kannt .werden soll, um so grösser werden, je weiter sie von
dem fixierten Punkt entfernt ist. Am schnellsten nimmt das
Wahrnehmungsvermögen für kleine Bewegungen nach oben
und unten ab. Die kleinen Bewegungen werden stets erheblich
überschätzt.
7 a - V T... v unesungsapparate aus
dem Gebiete der physiologischen Optik.
Nach einer kurzen geschichtlichen Einleitung über die Kenntnis
der Funktion des Facettenauges demonstriert der Vortragende ein
von Herrn v Grutzner konstruiertes Modell, mit dessen Hilfe
man sieh . leicht eine Vorstellung bilden kann über das Bild, welches
auf der Netzhaut solcher Augen zu stände kommt.
Hert Grützner spricht l) über das Zustandekommen
I rau b e scher Zellen und zeigt Versuche über ihre Entstehung
und ihr Wachstum. Ihr verhältnismässig schnelles, stets senk¬
recht erfolgendes Wachstum — gleich dem der Pflanzen —
wird im Kleinen und im Grossen gezeigt (d. h. an die Wand
projiziert), wenn man in eine 6proz. Lösung von gelbem
Blutlaugensalz kleine Krystalle von Kupferchlorid auf den Bo¬
den des Gefässes sinken lässt.
,, ^.s ^ ',rd aut ^ie Wichtigkeit und das Interessante dieser
Vorgänge hingewiesen.
pr ,21 naT,nd den Nerveneinfluss auf das Knochenwachstum zeigt
er den Schädel eines 17 jährigen kleinen Hundes, dem, als er viel-
25. September 1906.
MUCNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1941
leicht halbgewachsen also ganz jung war — der linke Fazialis
aus dem Foramen stylomastoideum herausgerissen wurde. Es stellte
sich die von Brücke und S c h a u t a zuerst beschriebene Ver¬
krümmung des vorderen knöchernen Schädels noch links hin ein,
sowie die anderen bekannten Erscheinungen von Fazialislähmung.
Das merkwürdige an dem Schädel aber ist, dass die vorderen Knochen
der linken Seite, vornehmlich das Gaumenbein viel dünner sind, als
diejenigen der rechten. Es besteht also eine beachtenswerte und
schwer vei stündliche Beziehung zwischen dem Nervus facialis und
dem Bau und der Art des Wachstums bestimmter Knochen, zu denen
gar keine Muskeln hintreten, die etwa durch die Beseitigung ihres
motorischen Nerven hätten gelähmt sein können.
3) Die Schichtungen des Mageninhaltes in dem Magen von
Fröschen, Ratten und Kaninchen, welche verschieden gefärbtes Futter
erhalten haben, werden gezeigt und darauf hingewiesen, wie das
neue butter stets in die Matte des alten kommt und sozusagen pein¬
lich vor der Berührung mit der Magenschleimhaut gewahrt wird.
Ueberraschend schöne und zierliche Bilder erhält man so von dem
Magen der Ratten, die mit verschieden gefärbtem Futter gefüttert
worden sind (welches durch Säure seine Farbe verändert), sobald
man die sorgfältig den Tieren entnommenen Mägen in Kälte¬
mischungen gefrieren lässt und der Länge nach durchschneidet. Die
Entleerung des Magens, — am allereinfachsten am Magen des
Frosches zu untersuchen — erfolgt von links nach rechts, beziehungs¬
weise von oben nach unten, indem das Futter erst mit Pepsin durch¬
tränkt, dann mit Säure behandelt und der wirksame Magensaft
(zuerst ohne, dann mit Mageninhalt) in die Regio praepylorica und
pylorica geschoben und hier gewaltig durchknetet wird^ So kann
man in dem pylorischen Trichter, der sehr wenig Pepsin und gar keine
Säure absondert, den Mageninhalt am säure- und manchmal auch
am pepsinreichsten finden (jedenfalls immer sehr pepsinreich). Er
ist demzufolge am weitesten in der Verdauung vorgeschritten. Sehr
hübsch sieht man dies an ganz hinabgeschluckten Tieren, deren
im Pylorus liegende Körperteile schon verdaut sind, während die
der Speiseröhre nahe gelegenen noch wie frisch aussehen, was an
Präparaten erläutert wird.
Die Frage von Herrn v. Hüfner, wie sich verschiedenes
Futter bei der Verdauung beziehungsweise Entleerung des
Magens verhält, beantwortet der Vortragende dahin, dass nach
seinen Erfahrungen das Futter in der Regel um so früher den
Magen verlässt, je wassereicher es ist und je mehr es durch¬
speichelt ist. besondere Untersuchungen hat er darüber nicht
angestellt. Flüssigkeiten verlassen den Magen entlang der
kleinen Kurvatur sehr schnell und vermischen sich nicht mit
dem festen Mageninhalt.
Aus den Pariser medizinischen Gesellschaften.
Societe de biologie.
Sitzung vom 25. Juli 1906.
Studium über die Wirkung des Konvallamarins auf die Kreislauf¬
organe und das Blut.
.. Maurel hat an Fröschen, Tauben und Kaninchen diesbezüg-
üche Untersuchungen vorgenommen und ist zu folgendem Resultat ge¬
kommen: Die schwachen therapeutischen Dosen wirken früher und
in höherem Masse auf die üefässe, die sie zur Kontraktion bringen,
als auf das Herz. Die erste Veränderung, welche das letztere erfährt,
scheint Zunahme in der Energie der Kontraktionen zu sein; erst später
und mit stärkeren Dosen erzielt man Verlangsamung derselben. Die
gerade schon tödlichen Dosen lassen das Herz beim Frosch noch
mehrere Stunden, bei Kaninchen und Taube noch 10—15 Minuten am
Leben; Gaben, welche die geringsttödlichen bedeutend überschreiten,
mten rasch das Herz. Konvallamarin ist also in therapeutischen
öosen sicher ein gefässzusammenziehendes und die Zirkulation be-
^hleunigendes Mittel; in diesen Dosen ist es auch ein Herztonikum,
aber dm todhchen Dosen bewirken diesen Ausgang nicht eben durch
cn Einfluss auf das Herz, da dasselbe, wenn die Dosen um ein Ge-
ringes die eben noch tödlichen überschreiten, noch weiterlebt,
^esshch sind Dosen, die noch einmal so stark sind als die eben
tödlichen, ohne Wirkung auf die figürlichen Elemente des Blutes und
ebenso ist es infolgedessen mit den therapeutischen Dosen.
Sitzung vom 28. Juli 1906.
Ueber den intestinalen Ursprung der Pneumonie und anderer Infek¬
tionen der Lunge bei Mensch und Tier.
Die Pathogenese der Pneumokokkeninfektion der Lunge ist noch
eine sehr dunkle und die Versuche, dieselbe künstlich beim Tier her¬
vorzurufen, sind bis jetzt noch nicht gelungen. A. C a 1 m e 1 1 e,
Vanstenberghe und Grysez haben diese Versuche wieder
aufgenommen und sich dabei einer Pneumokokkenart, die für Mäuse
und junge Meerschweinchen virulent ist und dem Auswurf eines am
zweiten Tage an Pneumonie Erkrankten entnommen war, bedient.
Die mit Kaninchenbouillonserum gewonnenen Kulturen wurden mittels
Oesophagussonde in den Magen von Meerschweinchen und Kaninchen
eingefiillrt; es ergab sich, dass der Pneumokokkus, ebenso wie der
Tuberkelbazillus und gefärbter Staub, die Epithelschicht des Darms
durchdringt und mit der Lymphe durch den Ductus thoracicus und
das rechte Herz bis zu den Kapillaren der Lungen gelangt. Es ist
wahrscheinlich, dass normalerweise die Mikroorganismen, welche
diesen Weg nehmen, durch die vielkernigen Leukozyten und die bak¬
terizide Wirkung der Lymphe zerstört, dass aber, wenn diese phago¬
zytäre oder bakterizide Wirkung verringert oder auch durch gegen¬
teilige Einflüsse (Erkältung, Ueberarbeitung, Intoxikationen, Infek¬
tionen) vernichtet wird, die Pneumokokken in den Lungenkapillaren
Veränderungen bewirken, die sich durch Bildung von Herden lobärer
Pneumonie äussern. Berichterstatter haben in der Tat oft konstatiert,
dass der Durchgang der gewöhnlichen Bakterien durch den Ver¬
dauungskanal, bei kleinen Kindern und jungen Tieren ausserordent¬
lich leicht sich vollzieht, bis sie sich automatisch gegen diese Bak¬
terien geimpft haben. So lange ihr Lymphsystem nicht fähig ist, sie
wirksam zu schützen, reagieren sie in mehr weniger hohem Grade
durch Fieberanfälle gegen diese Darminfektionen. Damit ist zu er¬
klären, dass die kleinen Kinder und jungen Tiere oft grosse Tem¬
peraturschwankungen zeigen. Die praktische Schlussfolgerung, die
sich aus dem Vorgehenden ergibt, ist, dass man versuchen soll, die
Bakterienflora des Darms im ersten Lebensalter möglichst zu ver¬
einheitlichen und zwar durch Verbot ungekochter Nahrungsmittel, bei
welchen die Gefahr der Infektion durch fakultativ pathogene Mikro¬
organismen, die die Darmschleimhaut durchdringen und den Organis¬
mus befallen können, ein grosse ist.
Mironesco- Bukarest hat in sorgfältigster Weise Versuche
gemacht, indem er Meerschweinchen und Kaninchen mit der Magen¬
sonde Kohlen-, Karmin- und andere Pulver einverleibte; es gelang ihm
aber niemals, auf diesem experimentellem Wege Lungenanthrakosis
hervorzurufen.
Academie des Sciences.
Sitzung vom 6. August 1906.
Wirkung des X-Strahlen auf die Ovarien der Hündin.
Fast zu gleicher Zeit haben H a 1 b e r s t ä d t e r - Breslau und
B e r g o n i e, Fribondeau und Recamier - Bordeaux gezeigt,
dass die X-Strahlen in kleinen Dosen bei Kaninchen Atrophie der
Ovarien bewirken können. R o u 1 i e r hat nun sowohl an Kaninchen
wie an Hündinnen diese Versuche wieder aufgenommen und ist zu
folgenden Schlüssen gekommen. Die X-Strahlen habe eine gewisse
Einwirkung auf die Ovarien insofern als es sich dabei um eine Drüse
mit intensiver Zellenerneuerung handelt; Atrophie kann bei ganz
kleinen Tieren leicht erzielt werden, ohne dass Alopecie eintritt, sehr
schwierig aber bei Hündinnen trotz schwerer Veränderungen der Haut.
Wahrscheinlich ist es unmöglich, sie bei Frauen hervorzurufen, da
Versuche mit sehr intensiver Strahlenwirkung keine Veränderung am
Ovarium einer Frauenleiche bewirkten. St.
Aus den englischen medizinischen Gesellschaften.
Sitzung vom 13. Juni 1906.
Edinburgh obstetrical Society.
Ovariotomie im Anschluss an Partus.
J. A. C. K y n o c h - Dundee hat 3 Fälle von Ovarientumor bei
Wöchnerinnen operiert, 2 unmittelbar nach der Entbindung, einen 4
Wochen nachher. Unter Umständen können solche Neubildungen im
Puerperium mit Septikämie verwechselt werden, wie denn auch von
K. s Kranken die eine einen mit Eiter angefüllten, zystischen Tumor
des Ovariums aufwies, während bei der zweiten der Stiel der
Ovarialgeschwulst torquiert und gangränös geworden war. Es ist
einleuchtend, dass bei dem Zustand der Erschlaffung, in welchem sich
die Abdominalwand nach der Entbindung befindet, derartige Tumoren
leicht einer Drehung unterliegen. Alle 3 Fälle verliefen günstig.
Heteroplastische Verpflanzung von Ovarialgewebe.
Halliday Croom legte folgenden Fall zur Entscheidung vor:
Eine Patientin, die lange Zeit an Dysmenorrhöe gelitten hatte, wurde
laparotoiniert, und die beiden (zirrhotischen) Eierstöcke wurden ent¬
fernt. Zugleich wurde gesundes Ovarialgewebe von einer anderen
Frau der Patientin ins Ligamentum latum eingepflanzt. Nachher trat
regelmässige Menstruation ein, und schliesslich wurde ein lebendes
gesundes Kind geboren. Redner fragt, welche von den beiden Frauen
als die eigentliche Mutter des Kindes zu bezeichnen ist.
S. Carmichael teilt mit, dass er seit einiger Zeit sich mit Ex¬
perimenten befasst habe auf dem Gebiete der autoplastischen Ueber-
tragung von Ovarialgewebe bei Tieren. In den meisten Fällen de¬
generierte das eingeimpfte Material, und in allen seinen Fällen wurde
der Uterus atrophisch.
M. Campbell weist darauf hin, dass ,M a r s h a 1 1 und S o 1 1 y
nach solchen Transplantationen vergeblich nach Graaf sehen Fol¬
likeln gesucht haben. Nach ihrer Darlegung gehen alle solche Imp¬
fungen in fibröse Entartung über. Das wahrscheinlichste dürfte wohl
sein, wie mehrere der nachfolgenden Redner auch meinten, dass bei
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 39.
m2
der Exstirpation der Ovarien etwas von den Organen zurückgeblie¬
ben ist.
Ophthalmological Society of the United Kingdom.
Sitzung vom 14. Juni 1906.
Kongenitale Katarakt.
L. Nettles hip und F. M. O g i 1 v i e berichten über eine un¬
gewöhnliche Form von kongenitaler, stationärer Katarakt, welche sie
bei 20 Personen in 4 Generationen von einer Familie beobachtet haben.
Es handelte sich um eine vollständig kreisrunde, gut abgesetzte, homo¬
gene oder fein granulierte Ablagerung von geringer Densität zwischen
dem Kerne und dem hinteren Pol der Linse in einer Grösse von etwa
4 mm. Man könnte beim ersten Anblick die Affektion für einen kleinen
Schichtstar halten, aber das ganz regelmässige Fehlen einer zweiten
Schicht und der unzweifelhafte Umstand, dass .die Trübung hinter dem
Nukleus gelegen ist, lassen diese Diagnose ausscheiden; ebenso
sicher jedoch ist es, dass die Läsion vor dem hinteren Pol gelegen ist.
Einige der Fälle sind vor mehreren Jahren schon untersucht worden
und haben bei der erneuten Untersuchung keine Aenderungen auf¬
gewiesen. Im allgemeinen ist die Sehschärfe nur wenig beeinträch¬
tigt, wenn auch eine gewisse Empfindlichkeit gegen grelles Licht zu
konstatieren ist. Man erkennt demgemäss die Anomalie erst bei
einer speziell in dieser Absicht vorgenommenen ophthalmologischen
Untersuchung.
Ueber nicht magnetische Stahllegierungen.
S. S n e 1 1 - Sheffield weist darauf hin, dass in den letzten Jahren
in verschiedenen Industriezweigen Stahlverbindungen verwendet
werden, welche gar keine magnetischen Eigenschaften haben. Um
einen hohen Härtegrad zu erzielen, wird eine Verbindung von 87 Proz.
Eisen mit 12 Proz. Mangan und 1 Proz. Kohle hergestellt. Dieses
Material ist .sowohl sehr hart als auch ausserordentlich zäh und
wird viel gebraucht. Es ist aber vollständig unmagnetisch. In ähn¬
licher Weise wird eine Legierung von Nickel und Eisen vollkommen
frei von magnetischer Kraft, wenn Mangan zugesetzt wird. Auf der
anderen Seite kann man die Legierung wieder magnetisch machen
durch Eintauchen in flüssige Luft. Auch Chromstahl ist weniger
magnetisch als gewöhnlicher Stahl. Wenn es sich also darum handelt,
einen Stahlsplitter aus dem Auge zu entfernen, so wird man vor der
Anwendung des Elektromagneten sich jedenfalls vergewissern
müssen, dass man es nicht mit einer nicht magnetischen Substanz
zu tun hat.
Royal Medical and Chirurgical Society.
Sitzung vom 26. Juni 1906.
Die Unterscheidung von Appendizitis und der Gangrän der Appendix.
J. D. Malcolm macht darauf aufmerksam, dass bei einer
Reihe von Erkrankungen am Wurmfortsatz die Primärläsion in der
Entwicklung eines Gangränherdes an der Schleimhaut besteht. Häu¬
fig ist allerdings damit zugleich Entzündung des Wurmfortsatzes ver¬
bunden, aber ein isoliertes Auftreten kommt auch vor. Aus einer
Reihe von Statistiken und Krankengeschichten entnimmt Redner, dass
etwa bei einem Drittel der tödlich verlaufenen Fälle von Appendizitis
perforierende Gangrän vorlag, ohne irgendwelche Andeutungen einer
Lokalisation durch Adhäsionen. Bei diesen mit Gangrän komplizierten
Fällen ist natürlich eine sofortige Operation dringend geboten.
A. Do ran bespricht die Ursachen solcher Gangränbildung und
schildert einen Fall, bei welchem Verstopfung der Gefässe in der Meso-
Appendix, vielleicht infolge von mangelhafter Ernährung und ab¬
normer Fettansammlung, die Entstehung der Gangrän veranlasst
hatte.
C. B. Lock wood schätzt, dass mindestens 85 Proz. der Blind¬
darmentzündungen ihren Ausgangspunkt in der Schleimhaut haben.
Was die andere Form betrifft, welche vom Peritoneum ausgehen soll,
so fehlt es noch an zwingenden Beweisen, dass wirklich keine Per¬
forationen in den bisher mitgeteilten Fällen Vorlagen. Wahrschein¬
lich wanderten die infizierenden Bakterien vom Lumen .des Wurm¬
fortsatzes durch eine oberflächliche Ulzeration hindurch und führten
im weiteren Verlauf zur Gangrän. Eine spontan entstandene Gan¬
grän könne Redner nicht anerkennen. Neben der Temperatursteige¬
rung und der erhöhten Pulsfrequenz ist die Leukozytose ein wich¬
tiges Symptom in den Frühstadien von Blinddarmentzündung.
? h i 1 i p p i - Bad Salzschlirf.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
IX. ordentliche Delegiertenversammlung des Pensions¬
vereins für Witwen und Waisen bayerischer Aerzte.
Im Vollzüge des § 41 der Satzung geben wir bekannt, dass die
IX. ordentliche Delegiertenversammlung des Pensionsvereins für
Witwen und Waisen bayerischer Aerzte
Montag, den 22. Oktober 1906, vormittags 10 Uhr
zu M ü n c h e n im Reisingerianum, Sonnenstrasse 17, stattfindet.
Tagesordnung:
1. Wahl des Vorsitzenden und des Schriftführers der General¬
versammlung durch die Delegierten.
2. Vorlage des technischen Gutachtens über die Nachhaltigkeit
der Leistungen und die Sicherheit der finanziellen Lage des Vereines
durch den Verwaltungsrat.
3. Festsetzung der Dividende der Pensionen für die nächste
Finanzperiode (1907 mit 1912).
Antrag des Verwaltungsrates, die Dividenden von 10 Proz. der
Pensionen auf 15 Proz. zu erhöhen. Ferner möge der Verwaltungsrat
ermächtigt werden, nach drei Jahren (beginnend 1910) die Dividende
auf 20 Proz. festzusetzen, wenn es nach finanztechnischem Gut¬
achten zulässig erscheint.
4. Anträge des ärztlichen Bezirksvereines Nürnberg, unterstützt
vom Kreisausschusse Mittelfranken:
a) Es sei eine Abänderung der Satzungen dahin vorzunehmen,
dass aus den Zinsen des Stockfonds mindestens die Hälfte der ein¬
gezahlten Jahresbeiträge zurückzuerstatten ist, wenn der Ehemann
der Ueberlebende bleibt und nicht ausdrücklich auf die Rückzahlung
verzichtet.
Dagegen beantragt der Verwaltungsrat, ge¬
stützt auf das Gutachten des technischen Sach¬
verständigen, eine Aenderung der Satzung da¬
hin, dass eine Abkürzung der Beitragsleistung
in dem Sinne eingeführt werde, dass die neu¬
ein t r e t e n d e n Mitglieder vom 65. Lebensjahre an
vom Beitrage befreit sein sollen.
b) Es soll jeder reichsdeutsche Arzt, welcher in Bayern an¬
sässig ist und Praxis ausübt, sich die satzungsrnässige Mitglied¬
schaft des Pensionsvereines erwerben können.
5. Wahl der Kommission zur Prüfung des Rechnungs- und
Kassenwesens.
6. Neuwahl der Mitglieder des Verwaltungsrates und des Schieds¬
gerichtes.
M ii n c h e n, den 14. September 1906.
Verwaltungsrat des Pensionsvereins für Witwen und Waisen bayer.
Aerzte.
v. B o 1 1 i n g e r.
R. v. H o e s s 1 i n.
Verschiedenes.
Aerztekaperung für das Antipositin.
Die abgeschmackte und gewissenlose Reklame, die für das
Antipositin von dem Arzte Dr. Marlier getrieben wird, dürfte
allgemein bekannt sein. Der „Arzt“, der auf das Totengerippe hin¬
weist, hat jetzt einem „Professor Schmidt“ Platz gemacht, der
wie früher die „Aerzte“ vor den Gefahren der Korpulenz warnt.
Neuestens wird nun der Versuch gemacht, Aerzte, die nicht Zeit
haben, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, durch folgendes
Schreiben zu überrumpeln:
„Aus der medizinischen Fachpresse werden Sie im wesentlichen
über unser Präparat Antipositin orientiert sein. Auch ist es Ihnen
wahrscheinlich nicht entgangen, dass bereits eine grosse Reihe (!)
Ihrer Herren Kollegen dem Mittel ihr volles (!) Interesse entgegen¬
bringt. Dem steigenden Bedürfnis nach einem sicher wirkenden Ent¬
fettungsmittel, das die Patienten in den Stand setzt, die Kur zu Hause
zu gebrauchen, ohne sich einer anstrengenden Kur, körperlichen Stra¬
pazen, einer besonderen Diät oder einer unbequemen Badereise zu
unterziehen, sondern nur die zeitweilige Beobachtung durch den Arzt
erfordert (NB. das Mittel wird in allen Zeitungen zum Selbstgebrauch
angekündigt) ist die heute schon recht populäre Verbreitung unseres
Antipositin zu verdanken. Aus diesem Grunde haben wir uns ver¬
anlasst gesehen, zur bequemeren Erreichung des Mittels für das
Publikum den privilegierten (?) Apotheken den Verkauf zu über¬
tragen, wovon wir Sie der Ordnung (!!) wegen in Kenntnis setzen
und senden Ihnen auf Wunsch gerne ein Verzeichnis der Apotheken,
die Antipositin vorrätig halten.“
Unterzeichnet: Dr. med. Wagner und Marlier.
Um die ganze Schamlosigkeit dieses Vorgehens von seiten des
Dr. med. zu ermessen, genügt es, darauf hinzuweisen, dass in der
medizinischen Fachpresse, aus der man im wesentlichen über das
Antipositin orientiert sein soll — vor dem Mittel gewarnt
wurde, dass ausserdem der wackere Herr vom Ehrengericht der
Berlin-Brandenburger Aerztekammer wegen seines gewissenlosen
I reibens im Verein mit einem notorischen Kurpfuscher mit Verweis
und einer (i eidstrafe von 500 Mark, sowie Publikation des
Urteils schon bestraft wurde. Vielleicht gibt die neuerliche unglaub¬
liche Unverfrorenheit, die in dem Anschreiben liegt, der Aerzte¬
kammer Veranlassung, sich des Herrn noch einmal anzunehmen. —
Einige — gutmütige — Aerzte haben sich auch hier gefunden, die
Zeugnisse ausgestellt haben. Die Namen -sind nicht gerade berühmt.
Aber es sind Aerzte — hoffentlich finden sich keine weiteren, die
dieses unglaubliche Treiben unterstützen. Neustätte r.
25. September 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1943
Galerie hervorragender Aerzte und Naturforscher.
Der heutigen Nummer liegt das 193. Blatt der Galerie bei: Vincenz
Czerny. Aus Anlass der Einweihung des Instituts für Krebs¬
forschung in Heidelberg. Vergl. den Artikel auf S. 1919 d. No.
Therapeutische Notizen.
Zur Therapie desBronchialasthmas empfiehlt G. Zue lzer-
Berlin unter Hinweis darauf, dass sowohl das bekannte und
beliebte, aus Amerika eingeführte T u c k e r sehe Heilmittel, sowie
eine von der Firma Burroughs, Welcome & Co. vertriebene
inhalationsfliissigkeit Atropin enthalten, subkutane Atropin¬
injektionen. 0,001 Atropin subkutan injiziert, vermag im all¬
gemeinen in promptester Weise den asthmatischen Anfall zu cou-
pieren. Schon nach wenigen Minuten geht die akute Lungenblähung
zurück, die Lungengrenzen rücken um 3 — 5 Querfinger hinauf und
damit lassen die schweren subjektiven Beängstigungen nach. Die
genau dosierbare Injektion ist der inhalationsmethode, bei der unbe¬
rechenbare Mengen der (in genannten Spezialitäten 1 prozentigen)
Lösung zur Resorption gelangen, unbedingt vorzuziehen. (Therapie
d. Gegenwart 1906, H. 9.) R. S.
Auf Grund seiner Arbeit : Zur Therapie derpuerperalen
Sepsis mit Antistreptokokkenserum (Aronson)
kommt Paul Wagner dazu, die Frage, ob die Serumbehandlung der
puerperalen Sepsis zu empfehlen sei, unbedingt zu bejahen. Schon
die stets beobachtete Besserung des Allgemeinbefindens mache dem
Arzt einen Versuch in dieser Richtung zur Pflicht. Die Kräfte der
Patientin werden geschont, sie bleibt widerstandsfähig im Kampf gegen
die Streptokokken und gegen diese werden ihr spezifische Schutz¬
stoffe zugeführt. Als besonders wichtig bezeichnete Wagner die
Erhöhung der Appetenz, die bei Sepsis gewöhnlich so schwer leide.
Er rät, in jedem Falle, wo der geringste Verdacht besteht, dass
Streptokokken als ätiologisch anzuschuldigen sind, bei der relativen
Unschädlichkeit des Serums eine Injektion vorzunehmen und geht
sogar so weit, nach solchen Operationen, bei denen erfahrungsgemäss
leicht Keime in den Genitaltraktus verschleppt werden, prophylak¬
tische Seruminjektionen zu empfehlen. (Dissertation, München 1906.)
F. L. ,
\
Ueber Jodopy rin, seine Wirkung und Anwen¬
dungsweise berichtet Paul Haink in seiner Dissertation. Für
die Anwendung in der Syphilidologie und Dermatologie ergeben sich
folgende Indikationen und Anwendungsformen: 1. Bei Knochen- und
Kopfschmerzen in den verschiedenen Stadien der Lues, besonders
bei Tertiärerkrankungen, innerlich als Pulver zu 0,5 — 1,0 g. 2. Bei
Ulcus durum und tertiären gummösen Geschwüren an Stelle des
Jodoforms als Streupulver äusserlich. 3. Bei Psoriasis palmaris et
plantaris syphilitica als 10 — 20 proz. Jodopyrin-Lanolin. 4. Bei Ulcus
molle gelegentlich, besonders bei grosser Schmerzhaftigkeit, als
Streupulver. 5. Bei Psoriasis vulgaris in leichten Fällen, besonders
im Gesicht und bei starkem Juckreiz, wo Chrysarobin und ähnliche
Präparate kontraindiziert sind, als 10 — 20 proz. Jodopyrin-Lanolin.
6. Bei chronischen inveterierten trocknen Ekzemen als 10 — 20 proz.
Jodopyrin-Lanolin. 7. Bei Zosteraffektionen als 10 — 20 proz. Jodo¬
pyrin-Lanolin. 8. Bei Skleroderma innerlich als Pulver und zugleich
äusserlich in Salbenform. 9. Bei Hämorrhoiden in Form einer 10 proz.
Salbe mit Unguentum leniens. Bei letzterer Affektion hat sich eine
Salbe folgender Zusammensetzung bewährt: Rp. Jodopy rin. subt.
pulv. 1,0, Ungt. lenient. ad 10,0. M. f. ungt. D. cum penicillo. S. 3 mal
täglich auf die schmerzhaften Stellen zu pinseln. (Diss., Leipzig 1906.)
F. L.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 25. September 1906.
— Die 78. Versammlung Deutscher Naturforscher
u n d A e r z t e, die in der vergangenen Woche i i Stuttgart tagte,
war ausgezeichnet durch die höchst erfolgreiche Durchführung zahl¬
reicher kombinierter Sitzungen. Es ist schon oft betont worden,
dass die Naturforscherversammlung, um den auf allen Gebieten ent¬
stehenden Spezialkongressen gegenüber ihre Stellung zu behaupten,
ihren Schwerpunkt aus den Abteilungen heraus mehr auf die Be¬
handlung allgemeiner interessierender Fragen verlegen müsse. Das
ist auch bisher bereits versucht worden. Bei keiner früheren Ver¬
sammlung ist jedoch dieser Forderung in so ausgedehntem Masse und
mit so glücklicher Auswahl der Themata und Referenten entsprochen
worden, wie in diesem Jahre in Stuttgart. Die Abteilungs¬
sitzungen mögen dabei etwas zu kurz gekommen sein. Das Niveau
zum mindesten des medizinischen Teiles der Verhandlungen wurde
dadurch wesentlich gehoben. So vereinigten die Referate über die
Errungenschaften der modernen Syphilisforschung (N e i s s e r und
H o f f m a n n), über den Einfluss der neueren deutschen Unfallgesetz¬
gebung auf Heilbarkeit und Unheilbarkeit der Krankheiten (G a u p p,
Nonne, B a i s c h, T h i e m), über die operative Behandlung der
Hirn- und Rückenmarkstumoren (Sänger, Krause, Oppen-
h.eim, v. Bramann), über chemische Korrelationen im tierischen
Organismus (S t a r 1 i n g, v. K r e h 1), um nur einige der wichtigsten
zu nennen, so zahlreiche und ausdauernde Auditorien, wie man sie auf
Naturforscherversammlungen nicht oft zu finden gewohnt war. Dem
guten Programm mag es auch zuzuschreiben sein, dass der Besuch
der Versammlung bis zum Schluss ein guter und noch dem letzten
Redner in der allgemeinen Schlussitzung die Freude eines vollen
Hauses beschieden war. Auch sonst ist über die Versammlung dank
sorgfältiger und geschickter Organisation nur rühmliches zu berichten.
Das Hauptverdienst daran fällt der Stuttgarter Aerzteschaft zu, die
sich aufopfernd in den Dienst der Sache gestellt hatte. Aber auch alle
anderen berufenen Faktoren des Landes, an ihrer Spitze der König
selbst, die Regierung, die Stadt, die Universität Tübingen, bewiesen
der Versammlung ihr tatkräftiges Interesse. So waren derselben bei
leidlicher Gunst der Witterung schöne und nutzbringende Tage be¬
schieden. Die nächstjährige Versammlung wird in Dresden
stattfinden.
— Die Stelle des am 10. März d. J. verstorbenen langjährigen
Leiters der Abteilung für Haut- und Geschlechtskrankheiten am All¬
gemeinen Krankenhaus St. Georg zu Hamburg, Dr. En ge 1 -Re i-
m e r s, ist geteilt worden. Die Ueberwachung der Prostitution und
die Behandlung der polizeilich eingebrachten weiblichen Geschlechts¬
kranken wird einem Oberpolizeiarzt, dem bisherigen Physikus
Dr. Mae s, übertragen. Oberarzt der Abteilung für Hautkranke und
freiwillig aufgenommene Geschlechtskranke wird, wie bereits ge¬
meldet, Dr. Eduard A r n i n g. — Zum Oberarzt der neubegründeten
II. chirurgischen Abteilung ist Dr. Paul Sudeck ernannt worden;
an dessen Stelle als Leiter der chirurgischen Poliklinik tritt Dr. Tom
Ringel.
— Am 30. September findet die feierliche Enthüllung des
S e m m e 1 w e i s - D e n k m a 1 s auf dem Elisabethplatze zu Ofen-
Pest, sowie die Enthüllung einer Gedenktafel am Geburtshause von
Semmelweis statt.
— Am 4. September d. J. wurde in Sahlenburg bei Cux¬
haven das erste deutsche Seehospital für 80 skrofulöse und
tuberkulöse Kinder eröffnet. Der Bau hat bei der isolierten Lage der
Anstalt unmittelbar am Meeresstrande die Summe von 665 000 M.
beansprucht. Bau und Betrieb werden aus den Mitteln der Nord-
heim-Stiftung bestritten, die von den Testamentsvollstreckern
des verstorbenen Hamburger Kaufmanns Markus N o r d h e i m mit
einem Kapital von IV2 Millionen errichtet ist. Die Anstalt ist als voll¬
ständiges Krankenhaus mit allen hygienischen und chirurgisch-ortho¬
pädischen Einrichtungen versehen und wird im Sommer und Winter
betrieben werden. Die Verpflegungsdauer der Patienten richtet sich
lediglich nach ärztlichen Gesichtspunkten. Leitender Arzt ist Herr
Dr. T r e p 1 i n.
_ Pest. Aegypten. Vom 1. bis 7. September wurden 7 neue
Erkrankungen (und 4 Todesfälle) an der Pest gemeldet, davon 4 (2)
aus Suez, 3 (2) aus Alexandrien. — Britisch-Ostindien. Während der
am 25. August abgelaufenen Woche sind in der Präsidentschaft Bom¬
bay 1858 neue Erkrankungen (und 1288 Todesfälle) an der Pest zur
Anzeige gelangt. In Kalkutta starben in der Woche vom 5. bis
11. August 2 Personen an der Pest. — China. In Amoy kamen gegen
Mitte August im täglichen Durchschnitt noch 2 Pestfälle vor. — Bra¬
silien. Unter den etwa 30 000 Einwohnern der Stadt Campos waren
bis zum 21. August 8 Pesttodesfälle beobachtet worden; 6 Pestkranke
befanden sich damals in dem für Absonderungszwecke eingerichteten
Hospital. — Neu-Siid-Wales. In Sydney sind vom 7. bis 23. Juli 3 Per¬
sonen, von denen eine alsbald gestorben ist, an der Pest erkrankt. —
Südaustralien. In Adelaide ist am 12. Juli auf einem von Sydney ein¬
getroffenen Postdampfer ein Pestfall festgestellt worden; die mit dem
Schiffe angekommenen Reisenden wurden einer mehrtätigen Quaran¬
täne unterzogen.
— In der 36. Jahreswoche, vom 2. — 8. September 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblichkeit
Borbeck mit 45,2, die geringste Flensberg mit 8,6 Todesfällen pro
Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Gestorbenen
starb an Scharlach in Königshütte, Posen, an Diphtherie und Krupp in
Dtsch. Wilmersdorf. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Berlin. Dem Privatdozenten für Geburtshilfe und Gynäkologie
und Oberarzt bei Geheimrat Olshausen an der Universitäts-
Frauenklinik in Berlin, Dr. med. Max Henkel, ist der Professor¬
titel verliehen worden. — Ernannt wurde der Privatdozent für Hygiene
an der Berliner Universität, Professor Dr. med. Oskar Spitt a
zum Kaiserlichen Regierungsrat und Mitglied des Reichsgesund¬
heitsamts. — Geh. -Rat v. Bergmann feiert seinen 70. Geburtstag
am 16. Dezember 1. Js. (nicht am 16. September, wie in vor. Nummer
irrtümlich gemeldet), (hc.)
Frankfurt a. M. Dem Dozenten am Dr. Senckenbergischen
Institut zu Frankfurt a. M., Dr. med. Eugen A 1 b r e c h t ist der
Professortitel verliehen worden, (hc.)
Heidelberg. Der Professor der Zahnheilkunde H. G. Port
wurde zum statusmässigen a. 0. Professor ernannt.
Baltimore. Dr. A. S. Loevenhart wurde zum ausser¬
ordentlichen Professor der Pharmakologie und physiologischen
Chemie an der Johns Hopkins Universität ernannt.
Glasgow. Dr. D. N. P a t 0 11 wurde zum Professor der Physio-
1 logie an Stelle des zurückgetretenen Prof. McKendrick ernannt.
044
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 30.
Kasan.' Der Privatdozent an der militärmedizinischen Aka¬
demie zu St. Petersburg Dr. O. Ossipow wurde zum ausser¬
ordentlichen Professor der Psychiatrie ernannt.
Prag. Als Nachfolger von Hofrat Prof. C h i a r i wurde auf
den Lehrstuhl für pathologische Anatomie Prof. Kretz aus Wien
berufen.
Neapel. Der bisherige Privatdozent an der med. Fakultät
zu Palermo Dr. G. Giardina habilitierte sich als Privatdozent
für Hygiene.
N e w Y o r k. Dr. Ch. L. G i b s o n wurde zum Professor der
Chirurgie am Cornell University Medical College ernannt.
(Todesfälle.)
Dr. A. H ö g y e s, Professor der allgemeinen Pathologie und
Therapie zu Ofen-Pest und Redakteur der medizinischen Zeitschrift
„Orvosi Hetilap“.
Dr. H. P. Co o per, Professor der Anatomie und Chirurgie am
Atlanta College of Physicians and Surgeons.
quay (I. München) und Dr. Georg Burckhard (Würzburg), zu
Assistenzärzten in der Reserve die Unterärzte Dr. Edmund Klemm
(1. München), Dr. Hans Reichard (Günzenhausen), Friedrich
PI och (I. München), Dr. Paul Dessauer (Bamberg), Dr. Bruno
Funccius (Erlangen), Hugo Schloss und Julius Schneider
(I. München), Paul Blumenthal (Augsburg), Dr. Emil Wenig
(I. München), Alexander Neu mann (Wiirzburg), Salo Jacob ius
(Nürnberg), Hermann Stahl, Dr. Johann Marmann, Dr. Otto
Huntemüller und Ludwig Basl (I. München), Dr. Nikolaus
A n s t e 1 1 (Zweibrücken), Dr. Alfred Katzenstein und Wilhelm
Neumayer (1. München), in der Landwehr 1. Aufgebots die Unter¬
ärzte Matthias Jebe (Erlangen), Joseph Meyer (Ingostadt) und
Friedrich Menke (I. München).
Korrespondenz.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Verzogen: Arthur Gross von Burgwindheim, B.-A. Bam¬
berg II, unbekannt wohin.
Gestorben: Eugen W i e r r e r - Bamberg, 60 Jahre alt.
Militärsanitätswesen.
Abschied bewilligt: dem Generaloberarzt Dr. Zimmer¬
mann, Divisionsarzt der 1. Division, unter Verleihung des Charakters
als Generalarzt den Abschied mit der gesetzlichen Pension und mit
der Erlaubnis zum Forttragen der Uniform mit den für Verabschiedete
vorgeschriebenen Abzeichen, dem Stabsarzt Dr. Adolf Bau¬
mann von der Landwehr 1. Aufgebots (Ansbach), den Oberärzten
Dr. Gustav Mohr (Nürnberg) und Dr. Ernst Grosse-Leege
(Kaiserslautern) von der Reserve, Dr. Jakob Silber nagel
(Landau) und Dr. Franz E i s e n r e i t e r (Passau) von der Landwehr
1. Aufgebots, sämtlichen mit der Erlaubnis zum Forttragen der Uni¬
form mit den für Verabschiedete vorgeschriebenen Abzeichen, dann
von der Reserve den Oberärzten Dr. Joseph Schloss (Hof), Dr.
Wilhelm Eccard (Ludwigshafen), Dr. Sigmund Haffner und
Dr. August Homburger (Aschaffenburg), von der Landwehr
1. Aufgebots den Oberärzten Dr. Franz Minck (I. München) und
Dr. Richard Ni ermann (Aschaffenburg), von der Landwehr
2. Aufgebots den Stabsärzten Dr. Maximilian Wolf (Würzburg), Dr.
Hubert Schön (Bayreuth), Dr. Maximilian Cremer (1. München)
und Dr. Richard Petersen (Hof), den Oberärzten Dr. Bendix
Ikenberg (Würzburg), Dr. Siegfried Löwenthal (Aschaffen¬
burg), Dr. Georg Schmitt (Ludwigshafen), Dr. Otto Rauten-
berg (Hof), Dr. Moritz Schönfeld und Dr. Alfred Lehmann
(Ludwigshafen), Dr. Karl Pin gen (Kaiserslautern), Dr. Bernhard
Dietmair (Kempten) und Ernst Eckart (Hof)
Fi i nannt: zum Divisionsarzt der 1. Division der Generalober¬
arzt Dr. Hummel, Chefarzt des Garnisonlazaretts München, zum
Chefarzt des Garnisonslazaretts München der Oberstabsarzt Dr
Eyerich, Regimentsarzt im Inf.-Leib-Reg., zum Chefarzt des’üar-
msonlazaretts Neu-Ulm der Oberstabsarzt Dr. Stammler, Regi¬
mentsarzt im 5. Chev.-Reg., zu Regimentsärzten unter Beförderung
zu Oberstabsärzten die Stabsärzte und Bataillonsärzte Dr. Herr¬
mann des Inf.-Leib-Reg.^ in diesem Regiment und Dr. Schmitt
des IS. Inf.-Reg. im 5. Chev.-Reg., zu Bataillonsärzten unter Be¬
förderung zu Stabsärzten die Oberärzte Dr. Pitterl ein des 14.
Inf.-Reg. in diesem Regiment und Dr. Gasser t des 12. Feld-Art -
Reg. im 18. Inf.-Reg.
Versetzt: die Stabsärzte und Bataillonsärzte Dr. Hauen¬
schild vom 14. Inf.-Reg. zur Leibgarde der Hartschiere und Dr.
D ! e s c h f e 1 d vom 16. Inf.-Reg. zum 10. Inf.-Reg., der Stabsarzt
Hi. Kietzler von der Leibgarde der Hartschiere als Bataillonsarzt
zuin Inf.-Leib-Reg.
Befördert: zu Generaloberärzten die Oberstabsärzte Pro¬
fessor Dr. H e i m ä la suite des Sanitätskorps, Dr. Lang, Regiments¬
arzt im 20. Inf.-Reg. und Dr. Schmidt, Regimentsarzt im 4. Chev.-
Reg., letztere beide ohne Patent und überzählig, zu Oberärzten (über¬
zählig) die Assistenzärzte Dr. Dieterich des 6. Inf.-Reg., Dr
Emerich des 10. Inf.-Reg., Dr. B e c h t o 1 d des 18. Inf.-Reg., Dr.
Bernhard des 5. Feld-Art.-Reg. und Dr. Palmberger des
1. Pionier-Bataillon, zu Stabsärzten in der Reserve die Oberärzte
Dr. Bernhard Göhring (Bayreuth), Dr. Friedrich Lips (Landau),
Di. Heinrich S ta b e 1 (Hof), Dr. Maximilian S i m o n (Aschaffenburg),
Dr. Ferdinand W a n d e r (Weilheim), Dr. Johann Lauen stein
(Aschaffenburg). Dr. Karl Becker und Dr. August Feucht-
wanger (I. München), Dr. Franz Winkl mann (II. München),
Di . Heinrich Heizer ( Passau ), Dr. Oskar Hornung (Mindelheim),
Dr. Richard Bier und Dr. Heinrich Scharff (Hof), Dr. Joseph
Schick (Weilheim), Dr. Adolf Jordan (I. München), Dr. Theodor
Barthel (Nürnberg), Dr. Gustav Kröhl (Bamberg) und Dr.
Joseph Koch (Kempten), in der Landwehr 1. Aufgebots die Ober¬
ärzte Dr. Otto Scheffels (Kaiserslautern), Dr. Alois Geiger
(Regensburg), Dr. Ewald Weisschedel (Mindelheim), Dr. Karl
B r e n d e 1 und Dr. Klaus Schilling (Hof), Dr. Richard Pas-
Schopenhauers Krankheit im Jahre 1823.
Herr Dr. Iwan Bloch in Berlin schreibt uns:
In No. 37 dieser Wochenschrift S. 1818 — 1820 findet sich aus der
Feder des Kollegen Dr. Julius Wolf in Obertshausen eine Kritik,
nicht etwa meines unter dem obigen Titel in der Berliner Gesell¬
schaft für Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin am
15. Juni 1906 gehaltenen und in No. 25 und 26 der Wochenschrift
„Medizinische Klinik“ veröffentlichten Vortrages, sondern eines —
Berliner Briefes darüber!
Möge sich der Verfasser jenes Briefes mit der ihm zu teil ge¬
wordenen Kritik auseinandersetzen. Meine Ausführungen trifft
dieselbe nicht, weil ich eben etwas ganz anderes sage als was Herr
Dr. Wolf in gänzlicher Unkenntnis meiner Arbeit, in Unkenntnis
vor allem der Hauptpunkte meiner Beweisführung und ausgehend
von Tatsachen, die ich gerade dort Möbius gegenüber als irr¬
tümliche nachweise, auf Grund der Lektüre eines kurzen Re¬
ferates mich sagen lässt. Er lese also zunächst einmal meine aus¬
führliche kritische, alle Belege, auch die eigenhändigen Auf¬
zeichnungen Schopenhauers über die Behandlung seiner
Syphilis nebst seinen eigenen Ae usser ungen über den Zu¬
sammenhang zwischen Syphilis und Askese, beibringende Abhandlung!
Bemerkung zu der Mitteilung der Herren v. Hippel und Pagßn-
Stecher „Ueber den Einfluss des Cholins auf die Gravidität“.
Diese Wochenschrift vom 18. IX. 06, pag. 1891.
Von Dr. Benjamin und Dr. Sink a.
Zu den interessanten, in obiger Mitteilung publizierten Be¬
obachtungen erlauben wir uns schon jetzt auf einen Befund aufmerk¬
sam zu machen, der sich uns bei unseren Versuchen, die sich mit der
Einwirkung der Röntgenstrahlen auf das Blut beschäftigten, darbot
(Benjamin, Reuss, S I u k a, Schwarz: Wien. klin. Wochen-
schr. 1906, No. 26). Zwei männliche Kaninchen, welche vor Anstellung
des Versuches rege sexuelle Libido an den Tag gelegt hatten, zeigten
nach der Bestrahlung, welcher nur die Löffel ausgesetzt waren,
während der gesamte übrige Körper durch mehrfache Lage dicken
Bleiblechs geschützt war, ein völliges Erloschensein der geschlecht¬
lichen Funktion, sowohl der Libido als auch der Zeugungsfähigkeit.
Diese Beobachtungen scheinen ebenfalls für eine Fernwirkung der
Röntgenbestrahlung zu sprechen. Wir werden nach Beendigung
unserer .Versuche Obiges zum Gegenstände ausführlicher Mitteilung
machen.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 36. Jahreswoche vom 2. bis 8. September 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M ) 20 (11*)
Altersschw. (üb. 60 J.) 6 (9), Kindbettfieber — (1), and. Folgen der
Geburt — (— ), Scharlach 1 (— ), Masern u. Röteln 1 (— ), Diphth u
Krupp 1 (1), Keuchhusten -(1), Typhus - (-), übertragb. Tierkrankh.'
— (— )> °ose (Erysipel) — (1), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 3 (-) Tuberkul. d. Lungen 21 (15), Tuberkul. and.
Org. 3 (4) Miliartuberkul. 2 (-), Lungenentzünd. (Pneumon.) 10 (4)
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. 1 (1), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 3(2), sonst. Krankh. derselb. 1 (2), organ. Herzleid 7 (11)
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 6 15), Gehirnschlag
5 (7), Geisteskrankh. 1 (1), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 1 (— ) and
Krankh d Nervensystems 4 (2), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall’
(einschl. Abzehrung) 52 (46), Krankh. d. Leber 1 (3). Krankheit des
Bauchfells 3 (3), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 3 (2), Krankh d
Ha[n- u Geschlechtsorg. 3 (8), Krebs (Karzinom, Kankroid) 13 (16),’
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 2 (4i. Selbstmord 4 (2), Tod durch
fremde Hand — (1), Unglücksfälle 2 (2), alle übrig. Krankh 8 (7)
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 189 (171), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 18,2 (16.5), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 10,4 (10,9).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lthmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch¬
end Kunstdruckerei A.Q.. München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umfang von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 A- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
5 _t . Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren : für die Redaktion Arnult-
strasse 26. Bnreauzeit der Redaktion von 8V7— 1 Uhr. • Für
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20. • Für
• Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16. *
Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
No 40. 2. Oktober 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26. 53. Jahrgang.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20. _
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Originalien.
Aus dem medizinischen Röntgenlaboratorium des Kranken¬
hauses München 1/1.
Ueber den Wert der Thorax-Durchleuchtung bei der
Pneumonie, namentlich bei zentraler Lokalisation.
Von Professor H. Rieder.
Wenn sich auch das Röntgenverfahren nur langsam bei
den Internisten Bahn bricht, so ist doch die Zeit nicht mehr
ferne, in der diese Untersuchungsmethode bei der Mehrzahl der
internen Krankheiten sich als nutzbringend für die Diagnose
erwiesen haben wird.
Schon vor Jahren, gelegentlich einer Abhandlung über
Röntgenuntersuchungen bei der chronischen Lungentuber¬
kulose 0, konnte ich unter Vorlage typischer Röntgenogramme
darauf hinweisen, in welch' hohem Grade die übrigen physi¬
kalischen Untersuchungsmethoden durch die röntgenologische
Untersuchung unterstützt und vervollständigt werden.
Wie bei der chronischen Lungentuberkulose, so dürften
auch bei der P neumonie Röntgenuntersuchungen besonders
dann am Platze sein, wenn ein zentral gelegener Krank¬
heitsherd vermutet wird, also bei Pneumonien mit später bezw.
fehlender klinischer Lokalisation.
Ich hatte in letzter Zeit Gelegenheit, mehrere derartige
zentrale Pneumonien bei Patienten des Münchener
Krankenhauses 1/1. zu beobachten, welche sämtlich der II. med.
Klinik (Prof. Müller) angehörten. Sie gaben mir infolge
des bei ihnen zu konstatierenden röntgenologischen Befundes
Veranlassung, auch in anderen Fällen von Pneumonie das
Röntgenverfahren auf seine diagnostische Leistungsfähigkeit zu
prüfen. Ueber das Ergebnis der hierbei angestellten Unter¬
suchungen will ich in folgendem berichten. Meine Beob¬
achtungen stützen sich auf ca. 20 an kruppöser und Influenza-
Pneumonie erkrankte Männer und Frauen; aber nur wenige
Fälle, d. h. solche, die ein besonderes diagnostisches Interesse
bezw. diagnostische Schwierigkeiten boten oder deren Be¬
obachtung längere Zeit hindurch (mehrere Tage) fortgesetzt
wurde, sollen hier kasuistisch abgehandelt werden.
Methodik.
Das geeignetste Verfahren bei Röntgenunter¬
suchungen Pneumoniekranker scheint mir darin
zu bestehen, dass unter Zuhilfenahme einer ziemlich weiten
Blende (um einen Ueberblick über beide Lungenfelder zu ge¬
winnen) und unter Verwendung einer mittelweichen Röhre die
Grenzlinien des Thorax, die Claviculae, die Zwerchfellkuppen,
der Herzschatten lind der Schatten des Krankheitsherdes aut
eine in den Leuchtschirm stabil eingelegte Glastafel während
der Durchleuchtung mit Fettstift aufgezeichnet werden. Nach
beendeter Untersuchung wird die Zeichnung im wiedererhellten
Raum auf Wachspapier durchgepaust, mit Namen des Patienten,
Diagnose, Datum und sonstigen kurzen Bemerkungen versehen
und so der Krankengeschichte des betreffenden Patienten ein-
U Zur Diagnose der chronischen Lungentuberkulose durch das
radiologische Verfahren. Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgen-
strahlen, 1903, Bdl. VII. Lukas Gräfe & Sillem, Hamburg.
No. 40.
verleibt. (Der Krankheitsherd betrifft z. B. einen Unterlappen
oder erstreckt sich vom Hilus streifenförmig bis an die Peri¬
pherie des Thorax usw.) Eine solche schraffierte Zeichnung
kann unter grösstmöglicher Schonung des Patienten bei an¬
nähernd gleicher Fokusdistanz öfters wiederholt, ja sogar unter
günstigen Umständen jeden Tag gemacht werden (siehe z. B.
Fig. 5 bis 18), so dass die Möglichkeit besteht, gute Vergleichs¬
bilder für die Beurteilung des Krankheitsprozesses zu gewinnen.
Von photographischen Aufnahmen (Röntgenographien)
muss bei Röntgenuntersuchungen der Pneumoniker meistens
abgesehen werden, insofern dieselben oft wegen der starken
Dyspnoe und des absoluten Unvermögens der Kranken, den
Atem auch nur für kurze Zeit anzuhalten, sehr schwierig aus¬
zuführen sind. Sie sind übrigens auch entbehrlich. Jedenfalls
sind nur sehr kurzdauernde, wenn möglich Momentaufnahmen,
am Platze.
Der oft schwere Allgemeinzustand der Pneumoniker,
welcher die grösstmögliche körperliche Schonung erfordert,
ist aber auch zuweilen einer einfachen Untersuchung mit dem
Leuchtschirm hinderlich, besonders wenn dem Arzte nur un¬
geeignete Transportmittel für den Kranken zur Verfügung
stehen.
Die Verwendung transportabler Röntgenappa-
r a t e wird dadurch erschwert, dass die Krankenräume meist
nicht genügend verdunkelt werden können, so dass nur eine
abendliche Untersuchung hier notdürftig zur Ausführung ge¬
bracht werden kann. Deshalb wird die Verbringung der
Kranken in das Röntgenlaboratorium wohl nur selten zu um¬
gehen sein.
Nicht bloss in Krankenanstalten, auch in Privaträumen
dürfte übrigens häufiger als dies bislang geschieht, eine
röntgenoskopische Untersuchung bei Erkrankung der intra-
thoracischen Organe vorgenommen werden! Zum mindesten
jedes Röntgenlaboratorium sollte aber mit Unter¬
suchungsvorrichtungen ausgestattet sein, die der Schonung und
Bequemlichkeit Schwerkranker in vollstem Masse Rechnung
tragen, so dass dieselben, je nach Bedarf, in liegender
Stellung, d. h. auf einem gut durchleuchtbaren,
bequemenUntersuchungstische(Trochoskop)
oder im Sitzen, d. h. auf einem bequemen Unter¬
suchungsstuhle für Durchleuchtungszwecke,
röntgenoskopiert werden können. Unter dieser Voraussetzung
kommt nur der Transport des Patienten vom Krankensaale ins
Röntgenlaboratorium in Betracht.
Bei Beobachtung der angegebenen Vorsichtsmassregeln
wird die röntgenologische Untersuchung nur kurze Zeit bean¬
spruchen und sogar weniger angreifend für den Kranken sein
wie die allgemein als notwendig anerkannte perkutorisch¬
auskultatorische Untersuchung.
Kasuistik.
I. Pneumonia crouposa mit meningitischen Er¬
scheinungen.
Georg S., 15 Jahre alt, Bäcker. Eintritt ins Krankenhaus
4. VI. 05. War bereits vor 2 Jahren und seit dieser Zeit noch zweimal
an Lungenentzündung erkrankt. Zur Zeit heftiges Stechen in der
rechten Lunge sowie starke Atembeschwerden.
Status präsens vom 4. VI.: Steifigkeit des Nackens, be¬
sonders die Bewegung des Kopfes nach vorne ist gehemmt. Schmerz-
1.
19 46
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRlF'
No. 40.
haftigkeit bei Druck auf die Wirbelsäule. Kernig sches Phänomen-
Patellarreflexe gesteigert. An den Füssen Hyperästhesie. Thorax
nrot, beide beiten beteiligen sich gleichmässig an der Atmung.
Heber der rechten Lungenspitze der Perkussionsschall weniger
laut als links, sonst überall normaler Schall. Stimmfremitus beider¬
seits vorhanden. Ueberall vesikuläres Atmen, über den rechten
oberen Lungenpartien verlängertes Exspirium. Hinten rechts Atem-
fwaUnCmVH,n eer SPina scapulae nach abwärts fast aufgehoben.
Unterhalb der Scapula spärliches kleinblasiges Rasseln.
Herz: Spitzenstoss in Mammillarlinie, Grenzen rechts 2 Ouer-
finger ausserhalb des rechten Sternalrandes. Töne rein.
Im Harn Spuren von Eiweiss. Im Sputum zahlreiche Bak-
i r/rinn’ a ber keine uberkelbazillen. Zahl der Leukozyten im Blute
19 000 pro cmm.
I ags darauf (5. VI.) heftiges Stechen in der rechten Brustseite
Kopfschmerzen, starkes Fieber, Benommenheit.
Die Röntgenuntersuchung ergab kein Exsudat und
keine grosseren Herde in der Lunge. Nur in der rechten Hilus-
gegenu und längs der Schattengrenze des rechten Vorhofes (Fig l)
eine von letzterem schwer abgrenzbare, von oben nach unten ver-
aufende, schmale, bandartige Schattenbildung, welche sich bis gegen
das Zwerchfell zu erstreckt. Letzteres (beiderseits) frei beweglfch
ro , ,6’ Qennge Nackensteifigkeit. Etwas Stechen auf der
rechten Seite. Auswurf zäh, rostfarben. Am rechten Nasenflügel
Heipes. Leukozyten 19 000. Im Sputum zahlreiche Pneumokokken.
v ,.\Pntgenunte rsuchung (Fig. 2): Der einer zentralen
vergrösserf ?chat,ten hat sich lateralwärts bedeutend
vergiossert, erstreckt sich bis über die Mitte des rechten Lungen-
dC7 J^eiI\ txsudat: Zwerchfell beiderseits frei beweglich
7. VI. Vorne rechts ausgesprochene Dämpfung. Hinten von
der Spina scapulae nach abwärts deutliche Dämpfung mit tvmoa
mtischem Beiklang. In der Gegend des Angulus scapulae Bronchfal-
at enh sovv'e spärliche, klingende Rasselgeräusche. Nackensteifigkeit
verschwunden, Leib nicht mehr eingezogen. g U
n.,8, y1' n in.ten rechts von der Spina scapulae an gedämpft-tvm-
Sf ier 1 ertusslonsscha11- Heber der Mitte der Skapula Bron-
chialatmen, nach unten zu unbestimmtes Atmen. Ueber der ganzen
skapula Knistern und kleinblasiges Rasseln.
9. VI. Starkes Stechen rechts, von der Mitte der Skannla an
BronchiMatmen und Dämpfung, rechts unten kein deutliches Atem-
gcrausch. Stimmfremitus rechts schwächer als links.
Röntgenuntersuchung (Fig. 3) : Diffuser starker
. ct VI', Vornp Vesikularatmen. Hinten rechts von der Mittr
der ^Skapula an Dämpfung. Langsamer Temperatu rab
chialatmet!: Heto ^"hfmeh’r toÄef "Ur SC"WaCheS Br0"-
.echts etwas wemger gut beweglich als links. ' hf
fSÄ“"*" u,,ten noch
Rön tge^u nt e^sury?" immAerf n«ch rauhes Vesikuläratmen.
bcwegHch als links ZwercMe" re<*‘s noch weniger gut
F r c E^riSe: Die f>neumonie ging hier mit meningitischen
Hilfe der 'pönfveaVt e,UIllier' ,Die Diagnose „Pneumonie“ konnte mit
nute der Kontgenstrahlen schon gestellt werden bevor die nerkn
'SSittra“« rechte?' evUl;,te.r5ucll.u"8 Aufklärung brachte. An den
schon frühzeitig e?n von h1CS S1,ch d,rekt anschliessend fand sich
förmiger Schafte, n d't?emKschwer zu differenzierender, streifen-
2 Taif darai l sm., r o ! bXe',et sich weiter lateralwärts aus.
des Thorax 1 ckt Slch der Schatten bis zur seitlichen Peripherie
fi - , Gleich anfangs, bevor also die Pneumonie an die Lungenober-
tenschmerz' ! "pTeurifeT”“ merkw“rdta™eise «*<>„ heftiger Sei-
Lange nach Ablauf der fieberhaften Krankheitsperiode konnte
noch rontgenoskopisch ein leichter, den Unterlappen überdeckender
Schleier, welcher nach unten zu dichter wurde, nachgewiesen wer¬
den. Auch die Beweglichkeit des Zwerchfelles war infolge statt-
gehabtei trockenei Pleuritis lange nach Ablauf der pneumonischen
Erscheinungen noch gestört.
auf.
Pneu m onia crouposa mit protrahiertem Ver-
,n ITXaver dahre, Ausgeher, in Krankenhausbehandlung vom
20. 11. bis 24. III. 06.
Kei.ne Lungenkrankheiten in der Familie. Pat. wurde nicht in
da^ ^'!'tar eifigereiht, angeblich wegen zu geringen Brustumfangs.
0 Oft. derselbe an linksseitiger Lungenentzündung; nach sechs¬
wöchentlicher Krankenhausbehandlung völlige Heilung.
Heute (20. II.) wachte Pat. mit Schmerzen in der rechten
Lunge auf. Bald darauf starker Frost und Zittern am ganzen
Kotpet. Zugleich trat Husten auf. Der Auswurf war schon nach
wenigen Stunden blutig. Keine Nachtschweisse, kein Herzklopfen.
. - ■ • Ie pei kutorisch-auskultatorische Untersuchung bringt
m diagnostischer Beziehung keine Aufklärung. Bei der sofort ange¬
schlossenen Röntgendurchleuchtung findet sich ein
i echtsseitiger, mit dem Hilus zusammenhängender
Lungenschatten, der durch eine helle Partie nor¬
malen Lungengewebes von der Thorax wand sowie
vom Zwerchfel i getrennt ist. (Fig. 5.) Das letztere
ist rechts wie links gut beweglich bei der Respiration.
Status vom 21. II. (2. Erkrankungstag.) Patient ist mittel-
gioss, von massig kräftigem Knochenbau, ziemlich gut entwickelter
Muskulatur, massigem Fettpolster. Gesicht gerötet. Kein Herpes
Thorax massig gewölbt; die rechte Brustseite wird bei der Atmung
deutlich geschont. Herzgrenzen rechts 1 Finger rechts vom Sternal-
rar., ’ ,oben 3- Interkostalraum, links I Finger innerhalb der Mam-
millarlmie. Spitzenstoss nicht zu fühlen. Herztöne rein, 2. Pulmonal¬
ton lauter als der 2. Aortenton.
Die Untersuchung der Lungen ergibt keine
D a m p f u n g. Rechts vorne unten unreines Atmen
LVklKn,yS,terrfaSSue,ln- o,putum rostfarben, zäh, enthält Diplo¬
kokken. Leukozytenzahl im Blute 13 500. Blutdruck (nach Gärt-
'luJ an ,der Hmgerbeere gemessen beträgt 100 mm Hg. An den
Temperatur1^ 39^“ o'" pathologischer Befund- Harn frei von Eiweiss.
Diagnose: Pneumonia crouposa rechterseits (genaue Lo¬
kalisation durch Perkussion und Auskultation nicht möglich).
f m l1 1 ? f n,° s ^ ° P i e (Fig- 6): Der Schatten im rechten Lungen-
telde hat sich lateralwärts und nach unten zu etwas weiter aus¬
gebreitet.
• ^ 22\JL (3n Erkrankungstag.) Perkussion ergibt rechts vorn
in der Mammillarlinie von der 4. Rippe ab deutliche Dämpfung. Der
Lungenschall oberhalb der Dämpfung ist tympanitisch; die letztere
geht ui die Leberdämpfung über. In der Achsellinie beginnt die
Dampfung in Hohe der 6. Rippe. Hinten unten besteht abwärts vom
pornfortsatz des 8. Brustwirbels Dämpfung. Links hinten untere
Lungengrenze in Höhe des 11. Brustwirbels.
A u s k u 1 1 a t i o n ergibt links überall Vesikuläratmen mit ein¬
zelnen Rasselgeräuschen. Rechts oben unreines Atmen, mittelblasige
Rasselgeräusche. Ueber den gedämpften Lungenpartien Bronchial¬
atmen und klingendes Rasseln. Stimmfremitus beiderseits gleich
Körpertemperatur 38,9° C.
Röntge no skopie (Fig. 7): Der pneumonische Schatten hat
sich seit gestern nur wenig vergrössert,- ist aber dichter geworden
und nicht homogen.
23. II. (4. Erkrankungstag.) Die Dämpfung hat sich seitwärts
und hinten ausgedehnt. Hintere obere Grenze derselben in Höhe
des unteren Skapulawinkels. Im Bereich der Dämpfung Bronchial¬
atmen und Knisterrasseln. Kein verstärkter Pektoralfreinitus Spu¬
tum bräunlich, zäh, eiweisshaltig. Respiration 50 in der Minute-
Körpertemperatur 38,5 0 C.
Röntgenoskopie (big. 8) : Erhebliche Ausdehnung des
rechtsseitigen Schattenbezirkes. Nur an der Spitze und medianwärts
sowie an der unteren Lungengrenlze sind noch helle, normale Lungen¬
partien wahrzunehmen. Lungenherdschatten vom Mittelschatten
(Herzschatten) schwer abzugrenzen.
24. II. (5. Erkrankungstag)- Dämpfung unverändert. Ueber der
ganzen i echten Lunge Bronchialatmen und Knisterrasseln, Pektoral-
fremitus etwas verstärkt. Sputum noch leicht blutig, Körper¬
temperatur 37,9 0 C. Abends starke Schweissbildung.
Röntgenoskopie: Der pneumonische Schatten (Fig. 9) ist
etwas dichter, aber von der gleichen Ausdehnung wie gestern
25. II. (6. Erkrankungstag): Patient ist f i e b e r f r e i. Atmung
noch sehr beschleunigt. Dämpfungsgebiet unverändert. In der
Achselhnie nur noch geringe Schallabschwächung. Hinten unten noch
Dämpfung vom Angulus scapulae nach abwärts.
, R ö n e n ° s k o p i e: Der pneumonische Schatten erscheint
?Figdlm),nitt ereM Part'en deS rechten Lungenfeldes zuriickgedrängt
brilis^' ^ ^ Erkrankungstag): Sputum frei von Blut. Status afe-
Röntgenoskopie: Pneumonischer Schatten (Fig. 11) ist
m ffd 'dem aM ft t « C ^an ^ e n - hän^ nur durch eine schmale Brücke
mit dem Mittclschatten zusammen.
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT
1947
Fig. 5. Xaver Th. (1. Tag, 20, II.) Fig. 6. Derselbe. (2. Tag, 21. II.) Fig. 7.) Derselbe. (3. Tag, 22. II.) Fig. 8. Derselbe. (4. Tag, 23. II.)
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Fig. 9. Derselbe. (5. Tag, 24. II.) Fig. 10. Derselbe. (6. Tag, 25. II.) Fig. 11. Derselbe. (7. Tag, 26. II.) Fig. 12. Derselbe. (8. Tag, 27. II.)
Fig. 13. Derselbe. (9. Tag, 28. II.) Fig. 14. Derselbe. (10. Tag, 1. III.) Fig. 15. Derselbe. (11. Tag, 2. III.) Fig. 16. Derselbe. (12. Tag, 3. III.)
Fig. 17. Derselbe. (13. Tag, 4. III.)
Fig. 18. Derselbe. (15. Tag, 6. III.)
Fig. 19. Derselbe. (18. Tag, 9. III.)
Fig. 20. Derselbe. 26. Tag, 17.111.)
1*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
1948
27. II. (8. Erkrankungstag) Röntgenoskopie: Pneumo¬
nischer Schatten (Fig. 12) hat sich wieder etwas verkleinert.
28. II. (9. Erkrankungstag): Rechts hinten unten noch etwa hand¬
breite Dämpfung mit Crepitatio redux. Atemgeräusch hier und in der
rechten Axilla unbestimmt.
Röntgenoskopie: Obere Partien des pneumonischen
Schattens (Eig. 13) heller, verschwommen, gehen allmählich in das
helle, normale Lungengewebe über.
1. III. (10. Erkrankungstag): Röntgenoskopie (Fig. 14):
Schatten etwas verschwommen, hat zwar nicht an Extensität, wohl
aber an Intensität erheblich abgenommen.
2. III. (11. Erkrankungstag): Röntgenoskopie: Die lateralen
Schattenbezirke (Fig. 15) etwas aufgehellt. Rechts Zwerchfell
weniger beweglich als links.
3. III. (12. Erkrankungstag): Röntgenoskopie: Pneu¬
monischer Schatten (Fig. 16) ist nur durch eine schmale Spange mit
dem Hilus verbunden, hat an Ausdehnung weiter abgenommen.
4. III. (13. Erkrankungstag): Röntgenoskopie: Dichtig¬
keit des Schattens (Eig. 17) hat abgenommen.
6. III. (15. Erkrankungstag): Rechts unten in der Axillarlinie ist
Reiben zu hören.
Röntgenoskopie: Nur ein schwacher, verschwommener
Schatten (Eig. 18) in den mittleren Bezirken des rechten Lungenfeldes.
Kein Exsudatschatten. Zwerchfell rechts weniger gut beweglich als
links.
7. III. (16. Erkrankungstag): Rechtsseitiger stechender Schmerz.
Pleuritisches Reiben noch vorhanden.
8. III. (17. Erkrankungstag): Rechterseits die unteren Lungen¬
grenzen nur wenig verschieblich. Keine Dämpfung mehr
nachzuweisen. Temperatur andauernd subnormal.
9. III. (18. Erkrankungstag): Röntgenoskopie (Fig. 19): Nur ein
kleiner, vom rechten Lungenhilus bis gegen die Mitte des Lungen¬
feldes sich erstreckender schwacher, schleierartiger Schatten noch
nachzuweisen.
11. III. (20. Erkrankungstag): Pleuritisches Reibegeräusch ver¬
schwunden.
17. III. (26. Erkrankungstag) : Röntgenoskopie (Fig. 20) :
Kein Schatten mehr auf dem Leuchtschirm nachzuweisen,
Diaphragma rechts etwas weniger beweglich.
22. III. (31. Erkrankungstag): Röntgenoskopie: Ver¬
minderte Zwerchfellbeweglichkeit rechts.
24.. III. Patient wird genesen entlassen.
Epikrise : Am 1. und 2. Tage war die Lokalisation
der P n e u monie nur mittels des Röntgen verfahre ns
ermöglicht und erst Tags darauf auch durch die
Perkussion und Auskultation. Im weiteren Verlaufe der
Krankheit war röntgenologisch festzustellen, dass einzelne Lungen-
teile von Infiltration frei geblieben waren, während eine Erkrankung
der ganzen rechten Lunge auf ürund der perkutorisch-auskultatori¬
schen Untersuchung angenommen wurde. Reste der Infiltration waren
röntgenologisch wochenlang nachzuweisen, während schon längst
kein abnoimer pei kutorisch-auskultatorischer Befund mehr erhoben
werden konnte. Verminderte Zwerchfellbeweglichkeit als Ausdruck
einer stattgehabten trockenen Pleuritis war noch am 22. III 2 Tage
vor dem Austritt des Patienten aus dem Krankenhaus, durch die
Röntgenuntersuchung nachzuweisen.
3. Pneumonia crouposa (abgelaufe n), metapneu-
monisches kleines Pleuraexsudat.
Frau N., 45 Jahre alt. Eintritt ins Krankenhaus am 20. VI. Da¬
selbst wurde eine kruppöse Pneumonie des rechten Unter¬
lappens festgestellt.
25. VI. Vor 2 Tagen kritischer Temperaturabfall, zurzeit sub¬
normale Temperatur. Perkusionsschall rechts hinten unten hellt sich
nicht auf. Atemgeräusch fast aufgehoben. Verdacht auf pleuritisches
Exsudat.
Röntgenoskopie: Ueber den unteren Partien des rechten
Lungenfeldes ein ziemlich gleichmässiger, nach oben zu horizontal
begrenzter, mässig dichter Schatten. Zwerchfell nicht sichtbar
Gegen Exsudat spricht nur der horizontale Verlauf der oberen
Schattengrenze.
t R ö n t g e n o s k o p i e : Schatten im rechten unteren
Lungemeld fortbestehend, nach oben konkav (wie bei Pleuraexsudat),
.v ei chiell rechts schwer sichtbar, etwas beweglich, fast in gleicher
rlohe wie links. Offenbar kleines Exsudat, pneumonische Infiltrate
gelost.
, ,2S. VI- Exsudatschatten etwas vergrössert, hat nach oben an
Ausdehnung zugenommen. Die übrigen klinischen Symptome stimmen
mit diesem Befund überein. Exsudatschatten nach oben konkav, be-
w egt sich bei der Atmung etwas nach auf- und abwärts — ent¬
sprechend der Zwerchfellbewegung.
^ Langsamer Rückgang der Krankheitserscheinungen. Bei
i 1 urchleuchtung findet sich über den lateralen unteren
Lungenpai tien und über dem rechten wenig beweglichen Zwerchfell
ein leichter, verschwommener Schatten (Residuen der Pleuritis).
4. Influenza- Pneumonie. Icterus catarrhalis.
I lau I ., 27 Jahre, erkrankte vor 3 Tagen mit Leibschmerz, i
Appetitlosigkeit, Husten. Die klinische Untersuchung ergibt fieber¬
haften Ikterus.
Respiration beschleunigt, etwas dyspnoisch; über den Lungen
wieder perkutorisch noch auskultatorisch ein pathologischer Befund zu
konstatieren. Sputum schleimig. Leber nicht druckempfindlich;
ikterische Färbung der Haut und der Sklerae. Stuhl angehalten.
Röntgenoskopie: Streifenförmiger, quer zur Längsachse
des Körpers verlaufender, schmaler Herdschatten, der nahe dem
rechten Herzrande beginnt und sich nach rechts etwa bis zur Mitte
des rechten Lungenfeldes erstreckt. Der Schatten ist ungleich dicht,
verliert sich allmählich im normalen Lungengewebe.
Diagnose: Influenza-Pneumonie.
Nach 3 Tagen ist von dem oben erwähnten Herdschatten in der
rechten Lunge nichts mehr zu sehen. Auch der Ikterus verliert sich
rasch.
5. Influenza-Pneumonie. (Verdacht auf Typhus
abdominalis.)
Frau N., 37 Jahre, erkrankte mit Durchfällen, Stechen auf der
Brust, grosser Mattigkeit, Fieber.
Ausser bronchitischen Erscheinungen auskultatorisch kein ab¬
normer Befund über den Lungen. Milz mässig vergrössert. Es be¬
steht Verdacht auf Typhus, doch ergibt die bakteriologische
Untersuchung kein positives Resultat. Behufs Klarstellung der
Diagnose:
Röntgenoskopie. An der rechten Lungenwurzel und im
Bereich des linken Unterlappens findet sich je 1 unscharf begrenzter,
kleiner, etwa talergrosser Lungenherd (katarrhalische Pneumonie).
Zwerchfell beiderseits gut beweglich. Beide Lungenspitzen hell.
Krankheitsverlauf: Nach wenigen Tagen Rückgang der
Krankheitserscheimmgen und vollständige Genesung.
6. Influenza-Pneumonie.
Josepha A., 23 Jahre, Kleidermacherin. Eintritt ins Krankenhaus
am 5. VI. 05, Austritt am 16. VI.
Erkrankte am 1. VI. mit Frösteln, am 3. VI. stellten sich grosse
Mattigkeit, starker Kopfschmerz, Brechneigung, Kreuzschmerzen
ein, am 4. VI. auch Husten, Lieber, Stechen auf der Brust.
Status: Mittlerer Ernährungszustand. Gesicht gerötet, nicht
zyanotisch. Keine Roseolen. Thorax gut entwickelt. Atmung gleich-
mässig, frequent. Lungenschall normal, untere Lungengrenze gut ver¬
schieblich. Beiderseits Atemgeräusch vesikulär. Ueber beiden
Lungen klingendes Rasseln. Herzbefund normal. Leukozytenzahl im
Blute 2300. Stuhl normal. Im Harn Spuren von Eiweiss. Mässiges
Fieber.
Diagnose: Influenza.
8. VI. Ueber der rechten Lungenspitze Perkussionsschall höher
als links, rechts vorn oben bis zur 3. Rippe leicht tympanitisch. Rechts
hinten unten vom 6. Brustwirbel nach abwärts leichte Dämpfung.
Atemgeräusch hier abgeschwächt. Schnurrende Rhonchi über der
ganzen rechten Lunge. Auswurf spärlich, schleimigeitrig, frei von
Tuberkelbazilleiu Kein Milztumor.
9. VI. Röntgenoskopie: Keilförmiger Schatten rechts,
der lateralwärts bis in die Mammillarlinie reicht und mit seiner Basis
an den Herzschatten sich anschliesst. Zwerchfell rechts weniger gut
beweglich als links. Ueber den Lungenspitzen kein abnormer
Schatten.
10. VI. Rechts hinten unten Atemgeräusch abgeschwächt, Dämp¬
fung zunehmend.
Röntgenoskopie: Schatten hat sich namentlich lateral¬
wärts weiter ausgebreitet.
11. und 12. VI. Befinden gebessert. Temperatur normal. Rechts
hinten unten noch leichte Dämpfung, Atemgeräusch vesikulär. Rechts
vorne oben Schall noch höher und tympanitisch. Atemgeräusch ab¬
geschwächt.
12. VI. Röntgenoskopie: Der Schatten hat an In- und
Extensität abgenommen, zeigt verwaschenes Aussehen.
16. VI. genesen entlassen.
Epikrise: Der rechtsseitige pneumonische Lungenherd war
erst röntgenologisch genau zu lokalisieren.
(Schluss folgt.)
Therapeutische Versuche zur Heilung von Krebsge¬
schwülsten durch die Methode der Anästhesierung.
Von Professor Dr. med. Gustav Spiess in Frankfurt a. M.
Nachdem ich mich seit vielen Jahren mit der Wirkung der
Anästhesie beschäftigt und die Bedeutung derselben in der ge¬
samten Entzündungstherapie x) erkannt hatte, lag der Gedanke
nahe, die Einwirkung der Anästhesierung auch auf Geschwülste
zu erforschen.
Dabei leitete mich der Gedanke, dass ohne genügende
Nahrungszufuhr nichts im Organismus bestehen bleiben könne,
nichts ein stärkeres oder übermässiges Wachstum zeigen
U Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 6.
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCE1E WOCHENSCHRIFT.
1949
könne, ohne entsprechend stärker oder übermässig ernährt zu
sein. Die normal erforderliche Ernährung durch die Bahnen
der Zirkulation müsste bei einem wachsenden 1 umor
eine Steigerung erfahren, der Tumor müsste kongestioniert,
hyperämisch sein. Eine solche Hyperämie sollte aber nicht
grundlos auftreten, sondern in Analogie mit den Vorgängen bei
der Entzündung2) reflektorisch, ausgelöst von einem von den
Tumorzellen ausgehenden Reize.
Da ich nun die vielfache Beobachtung gemacht hatte, dass
bei Entzündungen durch Anästhesierung die reflektorische
Hyperämie zu beseitigen war, so wollte ich versuchen, auch
einen Tumor in seinem Wachstum aufzuhalten. Es sollte durch
Anästhesierung, durch Ausschaltung des vom Tumor aus¬
gehenden Reizes, die reflektorische Hyperämie — die Vor¬
bedingung für ein stärkeres Wachstum — unterdrückt werden.
Eine Bestärkung für diesen Qedankengang glaubte ich in
den Beobachtungen, die ich an Fällen von Kehlkopfkrebs
machte, zu finden. Der Verlauf von Karzinomen an den
S t i m m 1 i p p e n ist oft ein enorm langsamer. Monate-, jahre¬
lang schreitet die Geschwulst nur ganz langsam allmählich vor
und nur die Stimmstörung hat zur Feststellung der Erkrankung
geführt. Solange ein solch langsam wachsendes Karzinom
in Ruhe gelassen und nicht gereizt wird, ändert sich in Wochen
nichts am Aussehen. Wird aber therapeutisch eingeschritten,
wird geätzt oder gar galvanokaustisch gebrannt3), dann ist
kein Haltens mehr. Der Tumor wächst, wuchert förmlich unter
unseren Augen und in einer Woche nach der Reizung ist der
Tumor stärker gewachsen, wie vorher in der Ruhe in Monaten.
Die Galvanokaustik hat meines Erachtens zu einer enormen
reaktiven Hyperämie geführt und hat dadurch dem Tumor die
Nahrung zum Wachstum gegeben. Vorher war das durch seine
Zirkulationsverhältnisse — geringer arterieller Zufluss im Ver¬
hältnis zu den weiten venösen Bahnen — günstig gestellte
Stimmband vor einer stärkeren Hyperämie bewahrt geblieben
und der Tumor war dementsprechend kaum merklich ge-
wachsen
Es schien mir also auch hier das Wachstum in direktem
Zusammenhang mit der Bluternährung zu stehen und die in der
Literatur niedergelegten vorübergehenden Erfolge, welche die
chirurgische Behandlung mit Durchschneidung oder Unter¬
bindung der zuführenden Arterien erreicht hat, schienen mir
dies zu bestätigen.
Welcher Anteil bei dieser Gefässtrennung der gleichzeitigen
Durchschneidung sensibler Nerven, deren Vorhandensein durch
die Schmerzauslösung sich dokumentiert, zufällt, ist noch nicht
aufgeklärt. Ebensowenig konnte ich Aufzeichnungen finden, die
den Einfluss der Durchschneidung sensibler Nerven auf Ge¬
schwülste oder den Verlauf und das Vorkommen von Ge¬
schwülsten in anästhetischen Körperteilen zum Gegenstände
hatten.
Es liegt mir aber ferne, Theorien und Hypothesen, die heute
noch nicht sicher bewiesen werden können, hier aufzustellen.
Ich wollte nur kurz den Gedankengang skizzieren, der mir die
Berechtigung zu geben schien, in dieser Richtung Versuche an¬
zustellen.
a) Experimentelle Untersuchungen an Mäuse¬
karzinomen.
Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ehrlich hatte die grosse
Liebenswürdigkeit, für die ich ihm zu besonderem Danke ver¬
pflichtet bin, zu gestatten, aus seinem grossen Materiale von
Mäusetumoren geeignet erscheinende Tiere zu den Versuchen
auszuwählen.
Die Behandlung sollte in Injektionen von Anästhetizis
in die Masse des Tumors bestehen und wurde zuerst fest¬
gestellt, in welcher Konzentration und Quantität die ver¬
schiedenen Mittel, ohne tödliche Wirkung zu haben, von den
Tieren vertragen wurden. Die zur Verfügung stehenden Mittel
2) 1. c.
3) Auszunehmen sind vielleicht Fälle, in denen das Karzinom so
klein war, dass es wirklich in toto zerstört werden konnte. Die Rei¬
zung durch schneidende Instrumente halte ich für wesentlich ge¬
ringer.
waren 1. Nirvanin, 2. No. 376 (Höchst) und 3. No. 337 (Höchst).
Von den beiden letzten Mitteln ist in der Zwischenzeit No. 37 D
als Novokain-Höchst in den Handel gekommen, während I lä-
parat 337 der Höchster Farbwerke das salzsaure Salz des
Paraamidobenzoylpiperidylaethanol ist. Es ist nicht im Hanue ,
da es nach den pharmakologischen Untersuchungen dem
Novokain kaum überlegen, dafür aber giftiger ist. Beide 1 rä-
parate zeichnen sich durch vollkommene Reizlosigkeit aus un
sollen ihnen andere als anästhesierende — also etwa anti¬
septische, bakterizide oder ätzende — Wirkungen vollkommen
fehlen.
Da jedoch schon bei meinen ersten Versuchen (labellej
sich eine Ueberlegenheit des Mittels No. 337 den beiden andcicn
gegenüber ergeben hatte, wurde zuletzt nur noch mit No. 337
injiziert. Die Lösung war eine 0,5 proz. und die verwandte
Menge 0,5 ccm.
Die Injektionen wurden je nach dem Betinden der Ver¬
suchstiere jeden zweiten oder jeden dritten Tag gemacht, in
letzter Zeit auch bisweilen zwei Tage hintereinander mit fol¬
gender Pause am dritten Tag. Von täglichen oder gar täglich
mehrmals zu wiederholenden Injektionen, wde sie, um die an¬
ästhesierende Wirkung möglichst intensiv und dauernd zu ge¬
stalten, wohl erwünscht gewesen wären, musste Abstand ge¬
nommen werden, da die kleinen Mäuse sonst rasch der Gift¬
wirkung erlegen wären.
Von einem Zusatz von Nebennierenpräparaten war von
Anfang an abgesehen worden, um ganz rein die Wirkung der
Anästhesie zu beobachten.
Die Injektionen wurden in der Weise ausgeführt, dass der
hinter dem rechten Vorderbein gelegene I umor nicht direkt
angestochen wurde, sondern dass die Injektionsnadel etwa in
der Gegend der Schenkelbeuge eingeführt und unter der Haut
bis in die Mitte des Tumors vorgeschoben wurde. So war
ein Nebenabfliessen von Injektionsflüssigkeit fast aus¬
geschlossen und die Möglichkeit einer Infizierung des lumois
wurde auf das möglichste Mindestmass herabgesetzt. Injek¬
tionsflüssigkeit und Injektionsnadel waren steril.
Ende 1904 wurden im Kgl. Institut für experimentelle
Therapie die ersten Versuche gemacht und hatte Herr Prä¬
parator G ö 1 d n e r die Freundlichkeit, die Ausführung der In¬
jektionen zu übernehmen, die er bis heute auch in der aller¬
sorgfältigsten und sachkundigsten Weise durchgeführt hat.
Aus der grossen Zahl von Tumoren, die sowohl in histo¬
logischer wie auch pathologischer Beziehung sich sehr ver¬
schiedenartig verhalten, die namentlich in ihrer Wachstums¬
energie die grössten Unterschiede aufweisen, wurde zuerst
ein Tumor 4 ausgew^hlt. Seiner histologischen Beschaffen¬
heit nach ist. er ein „spaltenbildendes Karzinom mit Uebergang
in die papilläre Form; im Zentrum viel Degeneration .
(Dr. A p o 1 a n t).
Von den 16 zur Verfügung stehenden Tumoren wurden
die ersten 6 zu einer Versuchsreihe genommen. 4 wurden wie
No. 337 injiziert und 2 blieben als Kontrollen. Ebenso wurden
weitere 4 mit No. 376 und 2 mit Nirvanin injiziert. Je 2 1 iere
blieben als Kontrollen unbehandelt.
Von den mit 337 gespritzten Tieren (jeden zweiten Tag
K ccm einer 0,5 proz. Lösung in Wasser) starb ein Tier nach
der ersten Injektion schon, zwei Tiere heilten glatt, indem der
Tumor, im ganzen zwar grösser geworden, nekrotisch und
hart wurde, sich von der Unterfläche abhob und abstiess. Das
vierte Tier zeigte ebenfalls die gleichen Verhältnisse, starb aber
als der Tumor ihm noch mit dünner Brücke anhing.
Aehnliche Verhältnisse zeigten alle mit 376 behandelten
Fälle: Nekrosen und beginnende Abhebung, die jedoch nicht
mehr zur Heilung führen konnten, da die Wirkung zu langsam
vorschritt und die Tiere vorher zugrunde gingen.
Mit Nirvanin kann man vielleicht in zwei Fällen eine Be¬
einflussung makroskopisch annehmen, jedenfalls war dieselbe,
wenn überhaupt vorhanden, sehr schwach. Die Tumoren
wuchsen und alle Tiere starben.
Sämtliche 6 Kontrollen sind jedoch auch eingegangen, die
Tumoren hatten beträchtliche Grössen erreicht.
Aus diesen Versuchen mit 3 verschiedenen Mitteln an den
gleichen Tumoren hatte sich die bedeutende Ueberlegenheit
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
950
der Präparate 337 und 376 über Nirvanin und wieder des Prä¬
parates 337 über 376 ergeben. Es entspricht dies Resultat
dem der pharmakologischen Untersuchung, welche den Prä¬
paraten 337 und 376 eine stärkere anästhesierende Kraft als
Nirvanin zuschreibt.
Es war aber auch hieraus der Schluss zu ziehen, dass der
Injektion als solchen, etwa mit einer beliebigen indifferenten
Flüssigkeit, eine Heilwirkung nicht zuzuschreiben war, sondern
dass sie allein den Eigenschaften der speziell angewandten
Lösung zu verdanken war; das ist dem Anästhetikum.
Der Einwand, dass die Einstiche etwa den Tumor zerstört
hätten, wird durch den ersten Versuch ebenfalls widerlegt.
Inwieweit bei den Injektionen Infiltrationsanästhesie noch
mitwirkt, lässt sich nicht feststellen. Einen gewissen Anteil
wird man ihr sicher zuschreiben dürfen.
Zu den weiteren Serien wurden nun die verschiedensten
Tumoren gewählt und ebenso wurden dieselben in den ver¬
schiedensten Grössen ausgewählt.
Die genauen Resultate der mikroskopischen Untersuchung,
die namentlich auch den Einfluss der Behandlung zu erkennen
sich zur Aufgabe stellt, wird Herr Dr. Willy Pfeiffer dem¬
nächst in einem Nachtrag bringen.
Die Einzelheiten der Versuchsserien sind aus der neben¬
stehenden Tabelle zu ersehen.
Tumor 1
Generation
Anzahl
der Mäuse
i
Behandelt
mit Mittel
i
Auszu¬
scheiden
Makroskopisch erkennbare
Beeinflussung
keine
deut¬
liche
| starke
ge¬
heilt
Hei¬
lung
in u/u
4
4
337
1
1
2
50
V
—
4
376
—
—
—
4
—
—
V
—
2
Nirv.
—
2
—
—
_
_
54
6
2
Nirv.
—
2
—
—
—
_
5
35
8
337
1
3
3
1
—
4
—
1
337
—
—
—
1
_
V
—
1
376
1
—
—
—
54
12
(>
337
—
—
—
6
100
5
37
A
337
—
4
_
—
_
42
18
5
337
—
1
1
3
—
_
.
—
5
376
—
3
1
1
_
_
54
15
2
376
—
2
—
— —
—
_
.
—
1
337
—
—
1
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14
#
16
1
22
—
All diese Versuche ergaben, dass die rasch wachsenden
Tumoren durch die zur Verfügung stehenden Mittel nicht mehr
geheilt werden konnten. Mit wenigen Ausnahmen zeigten die
Geschwülste ein beträchtliches Wachstum, dem die Tiere er¬
lagen. Trotzdem waren an den behandelten Tumoren makro¬
skopisch deutliche Zeichen einer Einwirkung zu erkennen, die
wesentlich gesteigerte Nekrosenbildung und Verkalkungen auf¬
wiesen.
Dagegen gelang es in den Serien, bei welchen relativ lang¬
sam wachsende Tumoren Vorlagen, namentlich wenn dieselben
noch keine zu beträchtliche Grösse erlangt hatten, einen sehr
grossen Prozentsatz zur Heilung zu bringen (50 Proz.,
85 Proz. und 100 Proz.).
Von I umor 54, Generation 12 wurden sämtliche 6 Mäuse
~ 160 Proz. geheilt, von Tumor 42 (21) wurden von 14 Mäusen
12 = 85 Proz geheilt.
Alle Kontrolltiere dieser Serien zeigten relativ langsames,
aber stetiges, zu mächtigen Tumoren führendes Wachstum, dem
die Tiere erlagen.
Die Dauer der Behandlung bis zur erfolgten Heilung betrug
2 — 3 Monate.
Wichtig für die Beurteilung der Beziehung zwischen Hei¬
lungsmöglichkeit und Wachstumsenergie ist die Beobachtung,
dass die oben erwähnten 100 Proz. Heilung aus der 12. Gene¬
ration, i umor 54, auf 12 Proz. Heilung an der 18. Generation
desselben Tumors herabsank. Der Tumor hatte in der höheren
Generation, wie das Wachstum zeigte, eine grössere Malignität
erlangt, wofür auch die mikroskopische Untersuchung An¬
haltspunkte ergeben hat.
Das Resultat dieser experimentellen Untersuchungen lässt
sich dahin zusammenfassen:
dass Karzinome, die Mäusen eingeimpft
werden, durch Injektionen anästhesierender
Mittel günstig zu beeinflussen sind, unter be¬
sonderen Bedingungen — langsames Wachs¬
tum und frühzeitiges Einsetzen der Behänd-
I u n g — geheilt werden können.
Da es bekannt ist, dass solche Tumoren auch Selbst¬
heilungen zeigen, so könnte der Einwand gemacht werden, dass
es sich bei meinen Heilungen auch um solche handele. Der¬
selbe ist aber dadurch widerlegt, dass die aus der letzten Serie
geheilt am Leben gebliebenen Mäuse von neuem mit Tumor¬
massen geimpft wurden. E h r 1 i c h hat gezeigt, dass die
Selbstheilungen in hohem Prozentsatz eine Immunität gegen
Neuimpfungen selbst sehr maligner Sarkome aufweisen.
Handelte es sich also um Selbstheilung, so müsste die Mehr¬
zahl der Tiere gegen Neuimpfung immun bleiben. Waren sie
aber durch die Behandlung geheilt, so kommen nur zwei Mög¬
lichkeiten in Frage: ebenfalls Immunität, oder nicht
Die Frage hat sich dahin beantwortet, dass sämt¬
liche Neuimpfungen a n g i n g e n und zu Tumor¬
bildung führten. Eine Selbstheilung war somit ausgeschlossen.
Schon nach Verlauf einer Woche hatten die Tumoren die
Grösse von Bohnen erreicht und nun ward abermals mit der
Behandlung begonnen.
5 Mäuse waren mit Karzinom Tumor 11, 6 Mäuse mit
Sarkom Tumor 7, geimpft worden. Von ersteren 5 Tieren
sind 4 bereits nach Verlauf von 4 Wochen glatt
geheilt gewesen und leben, während bei einem der Tumor
weiter wuchs und zum Tode führte.
Von den 6 Sarkomtumoren sind nach 4 Wochen 3 voll¬
ständig geheilt und 2 noch lebend, 3 sind am 19., 27.,
21. Tage nach 7, 13, 10 Injektionen gestorben und zeigten starke
Zunahme der Geschwülste.
An weiteren Versuchen mit den noch am Leben befind¬
lichen 6 zum zweiten Male geheilten Mäusen wird sich viel¬
leicht erkennen lassen, ob auch bei Anästhesierungen ein
gewisser Grad von Immunität erreicht wird, wofür die auf¬
fallend rasche Heilung in 4 Wochen vielleicht sprechen könnte,
sowie dass hier zum ersten Male von den rasch wachsenden
Sarkomen auch 2 Fälle zur Heilung gebracht wurden.
b) Versuche an menschlichen Tumoren.
Die Auswahl der zu diesen Versuchen geeigneten Fälle
richtete sich allein danach, ob dieselben nicht durch die Behand¬
lung irgend welchen Nachteil erfahren könnten. Schwere Fälle,
die zu operieren möglich und dazu bereit waren, wurden von der
Behandlung ausgeschlossen. Es wurden in erster Linie nur
ganz inoperable Fälle genommen, dann Fälle, die ihres hohen
Alters wegen für Operation eine sehr ungünstige Prognose
boten und Fälle, welche eine Operation in vollem Bewusstsein
der Tragweite ablehnten. In 3 Fällen machte ich eine Aus¬
nahme: ein kleines Karzinom der Nasenspitze, ein Karzinom
der Oberlippe und ein erst am Schlüsse der Behandlung durch
mikroskopische Untersuchung als Karzinom sicher festgestell¬
ter flacher I umor auf der Stimmlippe. In keinem dieser Fälle
konnte der richtige Zeitpunkt für die Operation versäumt
werden.
In nachfolgendem soll nun über 1 1 mit Anästheticis behan¬
delte Tumorfälle berichtet werden.
Es sollen ohne jede kritische Besprechung nur die Kranken¬
geschichten im Auszug mitgeteilt werden, die mir zum Teil
in dankenswerter Weise von den Kollegen zur Verfügung ge¬
stellt wurden.
Hei r Geheimrat Prof. Dr. Czerny hat sich nach Kenntnis¬
nahme der Tierversuche in entgegenkommendster Weise bereit
erklärt, im Heidelberger Institut für Krebsforschung, dessen
Eröffnung' ja eben erfolgt ist, die Methode einer kritischen
Nachprüfung zu unterziehen. Ich bin ihm hierfür ganz b e -
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1951
2. Oktober 1906.
sonderen Dank schuldig und möchte bitten, bis
zum Abschluss dieser Untersuchungen von Einzelversuchen
von privater Seite Abstand zu nehmen. Die ganzen Ver¬
hältnisse liegen beim Menschen doch wesentlich ungünstiger
wie bei den Versuchstieren, bei denen die Geschwulst
palpatorisch genau abzugrenzen ist und mit Sicherheit ganz
mit der Injektionsflüssigkeit in Berührung gebracht wer¬
den kann. Auf der anderen Seite können wir beim Menschen
wesentlich grössere Mengen injizieren und vielleicht durch Zu¬
satz von Nebennierenpräparaten Dauer und Wirksamkeit der
Anästhesie verlängern und erhöhen. Es müsste aber erst noch
sicher festgestellt sein, dass der durch Nebennierenextrakt
erzeugten Ischämie keine nennenswerte Hyperämie folgte,
welche leicht die durch die Anästhesie erreichten Vorteile nach¬
teilig beeinflussen könnte.
Versuche, die Wirkungsdauer des Anästhetikums dadurch
zu verlängern, dass dasselbe, um allmählich resorbiert zu
werden, in hoher Konzentration in schwer löslichem Paraffin
eingespritzt wurde, sind im Tierversuche noch nicht beendet.
Krankengeschichten.
1. L. N., 57 Jahre.
Im November 1903 war Patient wegen eines linksseitigen Ober¬
kieferhöhlenempyems endonasal operiert worden. Februar 1904
wurde ein Tumor in der rechten unteren Muschel diagnostiziert, der
zum Teil exstirpiert wurde.
Die mikroskopische Diagnose, die mehrfach durch Herrn Prof.
Dr. Weigert, Dr. L i e f m a n n, Dr. A 1 b r e c h t und Dr. W i s 1 i -
cenus gestellt wurde, lautete: Zylindrom.
Die beide Nasen erfüllenden, in die Oberkieferhöhlen bereits ein¬
gedrungenen Tumormassen hatten bis Oktober 1904 auch den harten
Gaumen ergriffen. Derselbe war nach unten stark vorgebuchtet und
behinderte den Patienten sehr beim Essen und Sprechen.
Da ein operativer Eingriff bei solcher Ausdehnung ausgeschlossen
war, Jodkalium sowohl wie Arsenik erfolglos blieben, wurden vom
14. Oktober bis 29. Dezember 25 Injektionen einer 2 proz. Nirvanin-
lösung in den Gaumentumor gemacht und dann noch bis Juli 1905
in grösseren Intervallen fortgesetzt. Der Erfolg war der, dass der
Gaumen dünner wurde und annähernd auf die normale Höhe zurück¬
ging. In gleicher Weise brachten die Injektionen einzelne Stellen
des mächtig verdickten Alveolarfortsatzes wieder etwas zum Zurück¬
gehen. Der Tumor wuchs dann im linken Antrum stark weiter,
machte Druckerscheinungen in der Orbita, die zu operativer Frei¬
legung führte. Dabei zeigte es sich, dass der ganze Oberkiefer¬
knochen in eine weiche Masse verwandelt war. Allenthalben ging das
Wachstum weiter und nur der zuerst injizierte Gaumentumor ist einer
grossen Perforation gewichen.
Patient ist heute in trostlosem Zustande, zumal sich in letzter
Zeit noch starke schwächende Blutungen eingestellt haben.
2. V., 61 Jahre.
Als Patient am 31. XII. 04 in Behandlung kam, fand sich ein
grosses, die linke Zungenseite einnehmendes Karzinom, das bereits
seit % Jahren durch Anschwellung der Zunge Beschwerden gemacht
hatte. Die Zunge war in toto enorm dick und erlaubte nur dünne
Speisen zu gemessen. Die linksseitigen Halsdrüsen waren stark ver¬
dickt und die Halsseite mächtig infiltriert. Da eine Operation nicht
mehr möglich war, wurden Injektionen mit 2 proz. Nirvaninlösung
gemacht. Bereits nach 3 Injektionen war eine Abschwellung der
Zunge zu konstatieren und Patient konnte besser schlucken, hatte
auch weniger Schmerzen. Am 7. Januar 1905 waren wieder stärkere
Schmerzen eingetreten und es bestand stärkere Kieferklemme. Am
9. Jan. war die Zunge beweglicher und das Schlucken wieder leichter.
Am 11. Jan. war auch die Sprache besser und am 13. Jan. war die
Abschwellung der Zunge so weit fortgeschritten, dass sich die ein¬
zelnen Tumoren links sehr deutlich differenzierten.
Auch die brettharte Infiltration des Halses links war injiziert
worden und führte am 3. Febr. zum Aufbruch eines Abszesses, der
viel Eiter entleerte, aber nach kurzer Zeit glatt verheilte, so dass der
Hals kaum nennenswert gegen die Norm verdickt erschien.
Da das Karzinom dann auch auf die rechte Zungenseite Übergriff
und links hinten weiterging, Patient sich auch der Schmerzen wegen
gegen die Injektionen sträubte, so wurden dieselben nur noch seltener
gemacht, bis Patient am 30. Mai starb. Im ganzen war an 43 Tagen
injiziert worden: 15 mal im Januar, 10 mal im Februar, 7 mal im März,
6 mal im April und 5 mal im Mai.
3. K. St., 54 Jahre.
Patient hat einen grossen Tumor im Nasenrachenraum, der hinter
dem weichen Gaumen vorragt.
Die mikroskopische Untersuchung ergab (Dr. Al brecht):
„Klein- bis mittelgrosszeiliges Rundzellensarkom^ möglicher¬
weise Lymphosarkom. Keine in Nekrose begriffenen Stellen sicht¬
bar.1'
Es wurden vom 5. bis 27. V. anfänglich täglich einmal, später
zweimal, im ganzen 32 Injektionen mit einer 0,5 proz. Lösung von 337
gemacht und da ein deutlicher Einfluss nicht zu sehen war, Patienten
zur Operation geraten, der er sich im städtischen Krankenhause unter¬
zog. Am 18. VI. Exitus letalis.
- 4. A. S., 75 Jahre alt.
Herr Sanitätrat Dr. L o r e t z - Frankfurt a. M. stellt mir fol¬
genden Auszug aus dem Krankenjournal zur Verfügung:
4. II. 05. Patient zeigte auf der rechten Halsseite unter dem
Kieferwinkel einen rundlichen, höckerigen, ziemlich festen rumor im
hinteren Halsdreieck. Vorderer Po! zeigt Pseudofluktuation (Punktion
negativ). Keine Schmerzen. Tumor soll erst seit 2 Wochen be¬
stehen, selbstverständlich viel länger.
Der Tumor sitzt in der Tiefe dicht auf der Wirbelsäule auf
den Gefässen.
Diagnose: branchiogenes Karzinom.
Der am 6. II. zugezogene Chirurg lehnte Operation ab.
Seit 15. II. Okzipitalschmerzen, Pyramidon erfolglos, Morphium
subkutan.
Patient war am 1. III. bei Spiess und wurde ihm Nirvanin in¬
jiziert (2 proz. Lösung, 2 ccm).
Die nächste Zeit werden fast täglich 2 — 4 ccm Nirvaninlösung
in den Tumor injiziert. Am 4. III. schien der Tumor weniger emp¬
findlich, die Injektionen sollen schmerzhaft sein; die Einstichstelle
wird deshalb durch Aethylchlorid anästhesiert. Der Tumor wird
grösser. Am 27. III. ist er gerötet, es bestehen stärkere Schmerzen
und der Mund ist schwierig zu öffnen. Am 30. III. wird der Tumor
punktiert und es werden ca. 20 ccm einer trüben, gelblichen Flüssig¬
keit aspiriert. Die Flüssigkeit enthält (Dr. Alb recht): Leuko¬
zyten, Blutkörperchen, Krebszellen, Fetttröpfchen, kolloid entartete
Epithelzellen. Nach der Entleerung fällt der Tumor ein.
Am nächsten Tag, 31. III., bereits hat sich der Hohlraum wieder
gefüllt, es werden abermals 20 ccm ausgesaugt.
In der gleichen Weise werden nun täglich 25 bis 40 und 45 ccm
dieser Flüssigkeit aspiriert, während die Nirvanininjektionen, oft
6 ccm, fortgesetzt werden.
Seit dem 1. IV. wird auch der hintere, harte Teil des Tumors
injiziert, der am 19. IV. Fluktuation zeigt und bei Punktion die
gleiche Flüssigkeit wie vorne aufweist. Später kommunizieren die
beiden Hohlräume.
Von Ende April ab zeigt die aspirierte Flüssigkeit viele Bak¬
terien und reichliche Eiterkörperchen, niemals aber jauchigen oder
nur Übeln Geruch.
Am 1. V. kleine Inzision und Entleerung von reichlichen Gewebs¬
trümmern in trüber Flüssigkeit. Am 3. V. bricht Injektionsnadel im
Tumor ab und wird durch Inzision entfernt, Am 6. V.: Wunde schon
am nächsten Tag geheilt. Die ganze Geschwulst ist kleiner.
15. V. Die ganze Zeit stark eitrige Sekretion mit Gewebs¬
trümmern ausgesogen. Es hat sich am hinteren Ende der Geschwulst
ein Abszess gebildet, der aufgeschnitten viel Eiter und Krebspartikel
entleert. Vorderer Teil der Geschwulst viel kleiner. Nirvanininjek¬
tionen werden fortgesetzt.
18. V. Patient gibt an, sich besser zu befinden. Nachts Morphium¬
injektionen. Sekretion ist nicht mehr so stark.
25. V., 3 Uhr nachmittags, plötzlich heftige Blutung aus dem
Munde, die 10 Minuten anhält und die Menge von etwa % Liter er¬
gibt. Ohnmächten. Kampher, Morphium. Schlucken fast unmöglich.
26. V. Schlucken heute besser. Puls links wesentlich schwächer
als rechts. Val Uhr abermals Blutung.
27. V. 7 Uhr früh Exitus.
Bericht von Herrn Dr. H a b i c h t - Darmstadt:
5. K„ 47 Jahre alt.
Pat. klagte mir gelegentlich eines ärztlichen Familienbesuchs,
dass er seit einigen Wochen Schluckbeschwerden habe, auch sei sein
Hals dicker geworden. Die Untersuchung des Halses ergibt rechts
eine sehr derbe, höckerige, unbewegliche Geschwulst, hinter dem
Sternokleido beginnend, bis an den Kehlkopf und Luftröhre, nach unten
bis nahe an die Klavikula reichend. An der rechten Halsseite sind
mehrere derbe, harte Drüsen fühlbar. Die innere Untersuchung des
Halses mit dem Finger stellt eine starke Verdickung der Epiglottis,
besonders der linken Hälfte fest, die sich nach der Plica epiglott. fort¬
setzte. Die laryngoskopische Untersuchung bestätigte den Befund
einer Geschwulst der Epiglottis. Ein Spezialarzt erklärte sich einige
Tage später mit mir für die Annahme eines Karzinoms.
Bei der Aussichtslosigkeit resp. Unmöglichkeit einer Operation
und da Patient in seinem 20. Lebensjahre schwer tertiär luetisch war,
versuchten wir doch eine Jodkalikur, der nach einigen Tagen auf
Beschluss eines Konsiliums noch eine Inunktionskur mit Ungt. einer,
zugefügt wurde. Die Geschwulst wurde trotzdem grösser, die
Drüsen bildeten ein immer mächtigeres Konvolut. Die Schling¬
beschwerden steigerten sich und immer häufiger traten Anfälle von
Larynxstenose auf, die zur steten Tracheotomiebereitschaft nötigten.
Die Geschwulst der linken Halsseite ulzerierte, die Geschwulstmassen
wucherten üppig hervor und verbreiteten einen entsetzlichen Geruch.
In diesem Zustand sah Ende September Prof. Spiess den Patien-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
1952
„Fat klagte mir gelegentlich eines ärztlichen Familienbesuchs,
teil und stellte mir anheim, bei diesem inoperablen Karzinom, das
inzwischen weiter auf Zungengrund und die seitlichen Pharynxwände
übergegriffen hatte, einen Versuch mit Einspritzungen einer Flüssig¬
keit zu machen, mit deren Prüfung er seit einiger Zeit sich befasse.
Nach Uebersendung der Flüssigkeit machte ich im ganzen 11 In¬
jektionen ä 1 ccm — links 6, rechts 5 — tief in das Gewebe der Ge¬
schwulst. Dabei und danach traten folgende Veränderungen auf:
Die linke Geschwulst verkleinerte sich sichtlich, die Granula¬
tionen wurden frischer, die Sekretion geringer und weniger stinkend.
An der rechten Geschwulst trat nach der 5. Injektion, die gleichzeitig
mit der linken 6. gemacht wurde, eine kolossale Schwellung und
phlegmonöse Rötung unter hohem Fieber auf, die von dem unteren
Teile der Wange bis unter die Klavikula und das obere Drittel des
Sternum reichte. Die Phlegmone erweichte rasch und eine kleine
Inzision entleerte grosse Massen gräulich-bräunlicher stinkender
Flüssigkeit mit mächtigen zusammenhängenden Gewebsfetzen.
Nach 3 Tagen spaltete ich, um bessere Wund Verhältnisse zu
schaffen, die dünne Haut über der grossen Wundhöhle in ziemlicher
Ausdehnung und konnte nun sehen, dass die Halsgebilde wie ein
anatomisches Präparat dalagen. Die Muskeln frisch rot, die Karotis
pulsierte sichtbar; nach dem Larynx führte ein Gang, aus dem sich
beim Atmen noch Jauche entleerte. Von Tumormassen war nichts
zu sehen.
Am auffallendsten waren die Veränderungen betreffs Schluckens
und Atmens. Patient, der vor einigen Tagen nur mit Schmerz
und Widerstreben einige Schlucke Milch oder Fleischthee zu sich
genommen, konnte geschabtes Fleisch mit Ei nehmen und bewilligte
sich selbst an einem Tage 2 mal Vi Liter Bier, das er in grossen
Zügen trank. Das Atmen, vorher nur mit starkem Stridor bei sitzen¬
dem Oberkörper und weithin hörbar, war ruhig und leicht geworden,
so dass Patient flach im Bett liegend im Schlaf kaum einen schnar¬
chenden I on von sich gab. Diese wesentliche Erleichterung im
Schlucken und Atmen trat schon vor der Entleerung des Abszesses
ein und kann nicht allein auf Aufhebung des Druckes zurückgeführt
werden, zumal die Schlingbeschwerden weniger durch Druck als
durch die Geschwulsmassen und Geschwürbildung an Epiglottis,
Zungengrund und Pharynxwand in erster Linie bedingt wurden. Am
13. Oktober morgens, nach einer guten Nacht, fand die Gattin, die
für ca. 10 Minuten das Zimmer verlassen hatte, bei hirer Rückkehr
den Patienten als Toten. Die Sektion wurde nicht gestattet. Die
Erhebung des laryngoskopischen Befundes war leider auf eine bessere
Zeit verschoben worden.“
6. Frau H., 47 Jahre alt.
Patientin soll seit 3 Jahren an einem Geschwür auf der Nase
leiden.
Der zehnpfennigstückgrosse runde Tumor ist mit einer rot¬
braunen Kruste bedeckt, die abgehoben einen nässenden Geschwürs¬
grund erkennen lässt. Derselbe ist mit kleinen Erhabenheiten be¬
setzt und der Tumor etwa 3 mm dick.
Die mikroskopische Diagnose lautet: „Plattenepithelkarzinom mit
entzündlicher Infiltration“.
Es wurden 33 Injektionen mit 337 gemacht, es gelang jedoch nie,
den Tumor richtig zu infiltrieren, da die Injektionsflüssigkeit stets
aus dem Geschwür wieder abfloss.
Ein deutlicher Erfolg war nicht zu sehen und so wurde der
Tumor von mir in Narkose mit Heissluft nach Holländer be¬
handelt und geheilt.
7. J. B., 47 Jahre alt.
Patient kommt am 30. X. 05 mit der Angabe, seit einem halben
Jahre heiser zu sein.
Die linke Stimmlippe zeigt in ihrer hinteren Hälfte eine mässig
erhabene, höckerige, den Rand etwas überragende Auflagerung von
graulicher Farbe. Die Beweglichkeit der Chorda ist nicht behindert.
Differentialdiagnose: Papillom oder Karzinom.
Patient wird vom 1. bis 8. November täglich mit Novokainlösung
in die Chorda injiziert. Dabei ging die Schwellung am Rande zurück
und auf der Oberfläche war nur noch eine leicht rötliche halb erbsen¬
grosse Erhabenheit zu erkennen; der übrige Teil der Chorda sah
nur leicht grau aus.
Am 10. XI. exstirpierte ich mit einer Kehlkopfpinzette diese Er¬
habenheit und Herr Dr. Alb recht diagnostizierte mikroskopisch:
„Plattenepithelkrebs — anscheinend mehr flächenhafte Aus-
breitung, an der Oberfläche ulzeriert.“
Patient wurde nun noch 3 mal injiziert, gleichzeitig ihm aber
di ingend geraten, durch Laryngofissur die Chorda exstirpieren zu
lassen. Die Tracheotomie sollte bei ihm zu Hause gemacht werden.
A!leus war ^est yerabredet, als Patient schriftlich mitteilte, er
fühle sich so wohl, seine Stimme sei so gut, dass er einen öffentlichen
I osten angenommen habe und sich nicht operieren lassen wolle.
Es ist mir seither nicht mehr gelungen, Patienten zu einer Kehl-
koptuntei suchung zu veranlassen, so dass ich heute nach 9 Monaten
über das Iaryngoskopische Bild keine Angaben machen kann4).
4) Im September 1906 sah ich Patienten wieder. Die Stimme
etwas mehr belegt. Allgemeinbefinden vorzüglich. Im Kehlkopf fol-
8. A. M., 50 Jahre alt,
Seit März 1905 über Heiserkeit klagend, stellte sich Patient am
25. I. 06 vor und zeigte ein oberflächlich ulzeriertes Karzinom
zwischen Zungengrund und Kehldeckel sitzend und auf die rechte
Pharynxwand übergreifend. Rechterseits waren zahlreiche Drüsen zu
fühlen. Foetor ex ore. Vom 30. Januar bis 10. Februar und vom
19. Februar bis 9. März wurden fast täglich 2 Jnjektionen von Novo¬
kain in den Tumor endolaryngeal, zuletzt auch in die Drüsen ge¬
macht.
Die Beschwerden beim Schlucken, die seit Monaten nur flüssige
Nahrung aufnehmen Hessen, gingen nach wenigen Tagen so weit zu¬
rück, dass Patient wieder feste Nahrung geniessen konnte. Gleich¬
zeitig war der schmierige Belag am Tumor wesentlich geringer ge¬
worden und der Fötor verschwunden. Sein Körpergewicht hatte
mehrere Pfund zugenommen und das Allgemeinbefinden war besser
Patient kehrte Anfang März auf kurze Zeit nach Hause zurück,'
um die Kur später fortzusetzen. Zu Hause traten heftige Blutungen
ein, die die Reise scheinbar unmöglich machten.
Leber den weiteren Verlauf kann ich nur berichten, dass Patient
geisteskrank v urde und der Landesheilanstalt in Marburg überwiesen
wurde, von wo Herr Geheimrat Tuczek mir am 4. Juli mitteilte,
dass Patient nicht über Schmerzen klage, der lokale Befund aber
scheinbar derselbe geblieben sei.
9. A. R., 67 Jahre alt.
Bei der ersten Untersuchung am 26. Februar 1906 ist auf der
Oberlippe ein zweimarkstückgrosser Tumor mit wallartigem Rande
zu konstatieren. Der Tumor ist mit einer dicken Kruste von rot¬
brauner Farbe bedeckt, nach deren Abnahme eine eitrige, schmierig
belegte Ulzeration zu sehen ist. Die ganze Oberlippe ist sehr be¬
trächtlich verdickt.
Da nur eine, einen starken Defekt bildende Ausschneidung in
Trage kam, riet ich, vorerst Injektionen zu versuchen.
Herr Kollege Beckmann - Gelnhausen hatte die Freundlichkeit,
dieselben täglich vorzunehmen und seine Beobachtungen stimmten
mit den mehligen überein, dass, wie die Untersuchung am 23. April
ergab, die Infiltration der Oberlippe stark zurückgegangen war
auch der Tumor sich abgeflacht hatte.
Es bestand aber immer noch ein nässendes Ulcus.
Zur Feststellung der Diagnose wurde ein kleines Stückchen ex-
zidiert. und da die Wunde auffallend stark blutete, dieselbe mit Gal¬
vanokaustik verschorft.
Später erfuhr ich, dass Patient einem Gesichtserysipel mit an¬
schliessender Pneumonie erlegen ist.
10. J. H. 'I'h.
Wegen einer Geschwulst im Munde kommt Patient am 14. Fe¬
bruar 1906 erstmals zur Untersuchung.
Es besteht ein gewaltiger kleinapfelgrosser Tumor der rechten
lonsille mit glatter Oberfläche, auf der die Eingänge in die Mandel¬
taschen vollkommen verschwunden sind.
Die linke Mandel zeigt keine Besonderheiten, ebensowenig das
adenoide Gewebe im Rachen und am Zungengrund.
Die Diagnose: „Lymphosarkom“ wurde auch mikroskopisch be¬
stätigt.
Vom 15. Februar bis 10. März werden täglich 2 Injektionen von
je 2 ccm einer 2 proz. Novokainlösung in den Tumor gemacht. Vom
19. Februar ab wird Arsenik dabei gegeben. Unter der Behandlung
geht der I umor allmählich zurück und bei der Untersuchung am
2. April war der Tumor rechts vollständig verschwunden. Von Ton¬
sillengewebe war kaum etwas zu sehen, eine tiefe Mandelbucht
lag zwischen den schmalen Gaumenbögen rechts.
Dagegen war noch während der Arsenikkur ein mehr als wal¬
nussgrosser I umor der linken 1 onsille entstanden, der den Gaumen¬
bogen stark nach vorne wölbte.
Um festzustellen, ob das Zurückgehen des rechtsseitigen Tumors
allein dem Arsenik oder der kombinierten Behandlung zu danken war,
wurde die linke Tonsille nur mit Injektionen behandelt und die
Arsenikkur nicht fortgesetzt.
Es wird vom 14. bis 26. Mai täglich 2 mal injiziert. Der
1 umoi ging langsam etwas zurück. In gleicher Weise wurde vom
11. bis 23. Juni injiziert. An diesem Tage war die Spannung am
Gaumenbogen sehr viel geringer und der Tumor bis auf die Hälfte
zui iickgegangen. Am 10. Juli werden die Injektionen weitergeführt.
Die Konsistenz des Tumors ist viel weicher geworden, die Mandel¬
taschen sind zu sondieren, was vorher wegen der prallen Spannung
ganz ausgeschlossen war.
gender Befund: Das linke Stimmband ist an der Stelle, an welcher
seinerzeit der Tumor sass, scheinbar normal. Vielleicht ist die Farbe
etwas matter als in der Norm und graulicher. Dagegen hat sich an
beiden Seiten des vorjährigen Tumors, sowohl vorne wie hinten
ein kleiner grauweisslicher Tumor gebildet, der etwa 1 mm über den
Stimmband rand vorragt und sich etwa 2 mm auf das Stimmband er¬
streckt. Die Beweglichkeit der linken Chorda ist gut. Es ist zweifel¬
los Karzinom.
Patient Hisst sich zu keiner weiteren Behandlung bestimmen.
MUENCHENER MEDIZINISCEIE WOCHENSCHRIFT.
1953
Die Injektionen werden zurzeit noch fortgesetzt. Das Allgemein¬
befinden ist vorzüglich. Patient hat keine störenden Empfindungen
mehr.
11. P. D., 74 Jahre alt.
Patient kommt arn 10. April 1906 zur Untersuchung, da er seit
1 y2 Jahren ein Gewächs an der Zunge habe, das ihn beim Essen und
Sprechen sehr störe.
An der rechten Zungenseite, im hinteren Abschnitt, am Ueber-
gang in den Zungengrund liegt eine flache grauliche Vorwölbung mit
ziemlich scharfen Rändern. Der Tumor fühlt sich hart an, ist
ca. 2Vä cm lang und lVz cm breit und greift über den Zungenboden
rechts auf die Falte nach dem vorderen Gaumenbogen und der Ion¬
sille etwas über.
Die Diagnose: „Karzinom“ wurde auch später durch das Mikro¬
skop bestätigt. , , ,.
Vom 18. bis 24. April werden 2 mal täglich Injektionen einer
2proz. Novokainlösung gemacht, der Adrenalin (1 gtt. auf 1 ccm) zu¬
gesetzt wurde. Bis 24. April war der Tumor kaum verändert, aber
wohl etwas flacher geworden. Zu Hause werden dann die Injektionen,
allerdings unregelmässig, fortgesetzt.
Vom 21. Mai bis 2. Juni injizieren wir wieder. Der 1 umor wird
sichtlich flacher. Beim Injizieren hat man das Gefühl, als steche man
durch eine härtere Membran in weicheres zerfallenes Gewebe. Nach
der Tonsille zu ist ein Defekt aufgetreten, in Form eines unregel¬
mässigen Ulcus.
Da Patient sich immer noch nicht zu einer Radikaloperation ent-
schliessen will, wird vom 11. bis 16. Juni weiter injiziert.
Während der vordere, leicht und sicher zu injizierende Tumor
entschieden flacher und kleiner wird, scheint derselbe, wie die Pal¬
pation ergibt, nach dem Zungengrunde zu weiter zu wachsen. Die
Injektionen werden deshalb auch hier versucht.
Vom 6. bis 24. Juni werden die Injektionen zu Hause fortgesetzt.
Bei der Untersuchung am 25. Juni war vorne kein Wachstum
zu bemerken, dagegen erkennt man nach dem Zungengrunde zu
eine sich hart anfühlende bis zur Medianlinie reichende Anschwellung.
Die Zunge ist schwerer beweglich, es haben sich besonders nach links
Schmerzen eingestellt, und Speichelfluss ist aufgetreten.
Patient setzte die Behandlung aus, und berichtete bei seinem
nächsten Besuch am 16. Juli, dass er wegen enormer Schling¬
beschwerden und Schmerzen seinerzeit abgereist sei. Dieselben
haben 2 Tage angehalten, dann sei plötzlich eine stärkere Blutung
aufgetreten, die sich noch 3 mal wiederholt habe, und ihn körperlich
so angegriffen habe, dass er nicht herreisen konnte. Dagegen habe
er wieder gut schlucken können, auch seien alle Schmerzen vei-
schwunden.
Bei der Untersuchung am 16. Juli zeigte sich an der Stelle des zu¬
erst aufgetretenen Tumors eine flache Verdickung, die auf die Zungen¬
seite überreichend das Aussehen einer leicht granulierenden Wunde
hat. Die Uebergangsfalte nach der Tonsille ist ebenfalls dünn ge¬
worden, scheint aber noch Tumor zu enthalten. Der vordere Teil
der Tonsille ist suspekt. Eine erbsengrosse kugelige Erhabenheit
am Zungenrand ist weisslich und scheint verkäst zu sein.
Da Patient beim jetzigen Wohlbefinden erst recht nicht zu einer
Operation zu bewegen ist, werden die Injektionen bei uns wieder
fortgesetzt.
Ich werde über den weiteren Verlauf noch nachträglich berichten.
Aus dem Institut für Hygiene und Bakteriologie der Kaiser
Wilhelms-Universität Strassburg i. E.
Weiteres über die Verwendung der Typhusgalleröhre
zur Blutkultur.
Von Dr. H. K a y s e r, früherem I. Assistenten des Institutes,
jetzigem Oberarzt im Inf. -Reg. No. 172, kommandiert zum
Institut.
Im April d. J. habe ich an dieser Stelle ') über 125 Fälle von
Typhus und Paratyphus berichtet, deren Blut ich mit der „5 ccm
Galleröhre“ anzureichern Gelegenheit hatte, und dabei auf die
grosse Verwendbarkeit dieses neuen diagnostischen Hilfs¬
mittels im Typhusbeginn hingewiesen ; auch habe ich
Angaben über die Verwertung der Galleröhren zu piogno-
stischen Schlüssen gemacht. Die bakteriologischem Einzel¬
heiten dieser Untersuchungsreihen sind an anderer Stelle auf¬
gezeichnet.* 2)
Seit Januar d. J. verfüge ich nunmehr über weitere
75, 3) also im Ganzen über 200 Blutkulturversuche am
U Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 17, Seite 823 und No. 18
Seite 896 (Berichtigung).
2) Zentralbl. f. Bakt.. Orig., I. Abt., 1906, Bd. 42, H. 2, S. 185 bis
192. Daselbst auch die Haupttabelle.
3) Material hiesiger und auswärtiger praktischer Aerzte (beson¬
ders von den Herren DDr. Marx, Schorong, Pfiffe r, Sitt-
No. 40.
Typhuskrankenbett. Die Anreicherung von ca. 2—2,5 ccm
Blut ergab in ca. 67 Proz. der 75 neuen i älle mit dci 5-ccm-
Galleröhre ein positives Resultat; diesmal fanden sich nur
Typhusbazillen. In der ersten Krankheitswoche
untersuchte ich 26 Blutproben, welche sämtlich die Eberth-
G a f f k y sehen Stäbchen lieferten = 100 Prozent, in dei II.
Woche 35, von denen ca. 57 Prozent, in der III. und IV. Woche
14, von welchen ca. 44 Prozent positive Züchtungsergebnisse
hatten. — Da ich unter den 75 besonders viele Frühfälle er¬
hielt (s. o.), war 18 mal = in etwa 24 Proz. die G r u b e r -
W i d a 1 sehe Reaktion (auch in Verdünnung 1 : 50) noch nega¬
tiv, während die Krankheitserreger aus ca. 2 — 2,5 ccm Blut
mittels der Galleröhre 4) kultiviert werden konnten.
Fasse ich nunmehr mein ganzes bisheriges Material seit
1904 mit 200 Fällen zusammen, so führte ich bei 47 Ty-
phen in der ersten Woche die Blutanreicherung aus
mit 100 Prozent positiven Resultaten; die 5 Para-
typhen der I. Woche eingeschlossen, sind von den 52 Fällen
(total) 51 positiv gewesen = ca. 98 Proz. In der II. Woche ge¬
langen von 92 Typhen ca. 58 Proz. meiner Blutkulturen, in der
III. bis V. Woche von 56 Typhen und Paratyphen ca. 40 Proz.,
insgesamt von den 200 Fällen ca. 65 P r o z. 37 m a 1
im Ganzen glückte die Blutkultur, während
die Agglutinationsprobe negativ war = in
18,5 Proz.
Gelegentlich dieser Mitteilung habe ich zunächst Veran¬
lassung, nochmals auf die historische Darstellung einiger ver¬
meintlicher Grundlagen der Blutanreicherung durch Galle ein¬
zugehen. Dass Galle die Blutgerinnung verhindeit und Blut
auflöst, ist ausser durch v. Leyden, Naunyn und Made¬
lung sowie andere Kliniker unserer Zeit auch früher mehrfach
beobachtet und beschrieben worden. So stehte z. B. B 1 o n d-
lot5 * 7) bei einem Hund, welchem er den Gallengang unter¬
bunden hatte, fest, dass das Blut nicht mehr gerinnbar
war. Ferner sagt H o r a c z e k ö), man finde bei schweren
Fällen von 1 k t e r u s das Blut dissolut und w e n i g e r 1 e i c h t
gerinnbar. Nach J. v. Samson-Himmelstjerna )
hemmen die Gallensalze, glykochol- und taurocholsaures Na¬
trium, die Gerinnung des Pferdeblutplasmas völlig, an spä¬
terer Stelle teilt derselbe Autor mit, dass die „Gallen-
salze die Entstehung des Fibrinfermentes,
sowie in grösseren Mengen auch dessen
Wirkung hemmen. Die andere Beobachtung Ho-
raczeks und die Angabe Hünefelds8 * 10), nach welcher
Galle Blutkörperchen auflöse, ist durch v. Dusch, der
auch mit reinen Gallensalzen experimentiert hat, bestätigt,
ebenso von K ü h n e, R y w o s c h, J u r a s z ') (5 Teile Ka¬
ninchenblut werden schon in 10 Minuten von 1 Teil Kaninchen¬
galle lackfarben gemacht). — Aus diesem bei meiner ersten
Publikation über die Galleröhre nicht mitgeteilten Literatur¬
auszug geht hervor, dass man die gerinnungshemmenden und
blutlösenden Eigenschaften der Galle schon früh gekannt und
mitgeteilt hat. — Ich musste auf diese Frage abermals ein-
gehen, da H. C o n r ad i, welcher früher an zwei Stellen J")
älterer Beobachtungen auf dem behandelten Fundgebiet nicht
gedacht hatte, auf eine kurze ergänzende Notiz meinerseits
jetzt den Vorwurf erhob, ich habe von den bei mir zitierten
Arbeiten nicht Kenntnis genommen11); bezüglich der Blutge¬
ier, D i e t z, Lewinberg u. a.), sowie von der medizinischen
Klinik des Herrn Prof. v. Krehl unter Mitwirkung der Herren
Kollegen Dr. Blum und Dr. Erb, sowie Dr. Höpffner, Assi¬
stenten der Klinik, denen ich für ihre freundliche Unterstützung durch
Blutentnahmen sehr verbunden bin.
4) Ich verwendete die „Typhusgalleröhren“, mit 5 ccm reiner
Galle und Gummiverschluss, welche E. Merck, Darmstadt liefert.
s) Zit. bei v. D u s c h. Untersuch, u. Exp. Leipzig 1854.
*) Horaczek: Die gallige Dyskrasie. Wien.
7) J. v. Samson-Himmelstjerna. J. D. Dorpat. 1885.
8) Hünefeld: Der Chemism. i. d. tier. Organisat.
«) Literaturangaben siehe diese Wochenschr. 1906, No. 17,
Seite 823 ff.
10) Hofmeisters Beitr. Bd. 1 und Deutsche med. Wochenschr.
1906, No. 2. „ c
n) Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 34, Anmerkung ) S. 16d4.
2
1954
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
rinnung entspreche deren Inhalt nicht meiner Angabe, dass die
Hemmung durch Galle bereits bekannt war.
Uebrigens lege ich, wie aus meiner früheren Publikation 12)
über diesen Gegenstand und meinen misslungenen Anreiche¬
rungsversuchen mit Patientenblut + R o 1 1 y sehe Flüssigkeit13)
hervorgeht, keinen grossen Wert auf die gerinnungshemmen-
den Fähigkeiten der Galle für unseren Zweck. W. F o r n e t s “)
Resultate sprechen ebenfalls für diese Ansicht. —
H. C o n r a d i hat neulich Versuche mitgeteilt 15), nach
welchen meine an vorerwähnter Stelle beschriebenen Be¬
funde eine Bestätigung und Ergänzung erfahren. Ich konnte
s. Z. die normale und spezifische Blutbakterizidie gegenüber
Typhusbazillen im Tierversuch unter dem Einfluss von
Galle ausschalten (Einsaat von 2 — 4 Typhuskeimen in
ca. 2,5 ccm Normal- und ca. 20 Reimen in ca. 2,5 ccm
Immunblut). Die Paralysierung der Bakterizidie und
die Anreicherung trat bei meinen Versuchen, was Ein¬
saat und Blutmenge anlangt, unter Mengenverhältnissen in
die Erscheinung, welche etwa den natürlichen am Kranken¬
bett angepasst waren. Durch die neuerlichen Experimente
von C o n r a d i und Metz steht fest, dass auch die Galle allein
schon, ohne Anwesenheit von Blutkörperchen, im Serum¬
gemisch den Typhuskeimen einen gewissen Schutz vor der
bakterienauflösenden Kraft des Blutes gewährt.
Um noch kurz auf die Entstehungsgeschichte der Galleröhre
einzugehen, welche ich unter Anerkennung des prizipiellen Ver¬
dienstes Conradis an anderm Ortle) ausführlich mitga-
teilt habe, so stellte ich die von C o n r a d i, den offenbar die
Erfolge bei seiner ersten Anwendungsart17) nicht befriedigten,
verlassene einfache Galle als zu diagnostischen Zwecken voll¬
kommen brauchbar hin, dadurch, dass ich auf Grund von Ver¬
suchen mit Patientenblut die als Anreicherungsflüssigkeit die¬
nende Gallenmenge auf 5 ccm vergrösserte; mit dieser Gallen-
abmessung können „bis z u ca. 2,5 ccm Blut“ angereichert
werden. Es kommt also am Krankenbett nicht auf das Ein¬
halten vom Verhältnis 1 T. Galle zu 2 T. Blut an, sondern da¬
rauf, dass genügend viel Galle verwendet wird. So verfüge ich
über 11 Fälle, in denen meine direkte Blutausstrichplatte (mit
Endoboden) in 0,5 ccm Blut die Anwesenheit von mindestens
1 bis 15 Typhuskeimen aufdeckte, während dieselbe Menge
Blut gleicher Entnahme nach Conradis Angabe in 1,0 ccm
Galle 16 Stunden bei 37 0 bewahrt, sterilgeworden war.
Bei der Benutzung von 5 ccm Galle und 0,5 ccm Patientenblut
konnte ich ein solches Versagen nicht beobachten, wenn Ty¬
phuskeime nach dem Ausweis des sofortigen Ausstriches —
(ohne Anreicherungsversuch) — vorhanden gewesen waren.
— Meine eben erwähnten 11 Fälle zeigen, dass es Pati¬
ent e n b 1 u t gibt, welches in Mengen von 0,5 ccm trotz
Zufügung von 1,0 ccm Galle in Brutschrank¬
temperatur bakterizide Eigenschaften auf Typhus¬
bazillen wirken lässt.
Man reichert natürlich am besten möglichst viel
Blut an, d. h. „bis zu ca. 2,5 ccm“ in der einfachen 5 ccm
Galleröhre nach meinen Erfahrungen.
Nach wie vor halte ich bei meinen Resultaten jeden Zu¬
satz zur Galle, welche Blutanreicherungszwecken dienen
soll, für überflüssig. In reiner Galle plus Blut kommen,
wie ich schon früher betonte, etwa verunreinigende Sapro-
phyten besonders schlecht fort, was einen Vorzug bedeutet,
und die Typhuskeime gedeihen ausreichend. 18) Mehr als 100
12) Diese Wochenschr. 1906, No. 17.
1J) Rolly: Münch, med. Wochenschr. 1904, No. 24. Rolly
(1904) verwendete Pepton und Traubenzucker + Bouillon als Zusatz
zum Patientenblut. — Conradi hat Pepton und Glyzerin + Galle
gewählt. Deutsche med. Wochenschr. 1906, No. 2.
14) Dornet: Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 22.
15) Diese Wochenschr. No. 34, 1906 und Vortrag: Freie mikro¬
biologische Vereinigung in Berlin, 7. Juni 1906.
1B) Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 17 und Zentralbl. f. Bakt.,
Orig., I. Abt., 1906, Bd. 42, S. 185 ff.
1‘) „Leiterkonferenz“, Saarbrücken Herbst 1904, Strassburg De¬
zember 1904. 1,0 ccm Rindergalle mit 0,5 ccm Blut. In Strassburg
berichtete Conradi über ca. 40 Proz. positive Resultate, ich selbst
über 36 Proz. Ende 1904. Ich gab am Ende meiner Ausführungen an,
dass die Resultate wohl günstiger werden bei Benutzung anderer Galle¬
mengen.
1S) S. auch W. Pies: In.-Diss., Strassburg 1906. Im Auftrag
von Herrn Prof. J. E o r s t e r. I
Prozent positive Resultate in der I. Krankheitswoche kann man
füglich nicht von einer Methode erwarten, und diese habe ich
mit der reinen Galle erreicht (s. o.).
Die 5-ccm-Galleröhren, = „Typhusgalleröhren“ mit Gummi¬
verschluss E. Mercks - Darmstadt 1W), haben sich hier' und
im Eisass bereits bei einer grossen Zahl praktischer
A e r z t e, sowie in den hiesigen Kliniken durch ihre
diagnostischen Frühleistungen eingebürgert, wie die steten
Einsendungen von solchem Material beweisen. Ich füge an,
dass uns, besonders diesen Sommer, die einfache Typhusgalle-
röhre bei der hier geübten „Typhusbekä m p f u n g“ schon
wesentliche Dienste geleistet hat. Damit hat sich ein Teil der
Erwartungen erfüllt, die ich an ihre Schaffung knüpfte.
Aus der chirurgischen Universitätsklinik zu Königsberg i. Pr.
(Prof. Dr. L e x e r).
Ueber die Sesambeine der Metatarsophalangealgeienke.
Von
Privatdozent Dr. Alfred Stieda, Assistenzarzt der Klinik.
Von den Sesambeinen der Metakarpo- und Metatarsophalangeal¬
geienke sind nur die der ersten Gelenke konstant. Die der übrigen
Gelenke gehören zu den Varietäten des Knochensystems, indem sie
gänzlich fehlen können oder in ganz verschiedener Anzahl auftreten.
Sie sind zwar in knorpeligem Zustande sämtlich — an jedem Finger
bezw. jeder Zehe 2, also im ganzen 10 — angelegt, gelangen aber
später gar nicht oder nur zum Teil zur völligen, knöchernen Ent¬
wicklung.
An der Hand sind bis jetzt zum Teil mit Hilfe der Röntgeno-
graphie* 1) von den in Rede stehenden postulierten 10 Sesambeinen
schon 9, wenn auch nicht gleichzeitig beobachtet. Nicht gefunden ist
bis jetzt das Sesamum ulnare III (s. Fig. 1, welche auch die 2 be¬
obachteten interphalangealen
Sesambeine, das Ses. inter-
phal. I und das Ses. inter-
phal. II distale enthält).
Am F u s s ist die Zahl
der bis jetzt beobachteten
metatarsophalangealen Se¬
sambeine geringer. Die Se¬
sambeine der 2. bis 5. Meta-
tarsophalangealgelenke tre¬
ten viel seltener auf und sind
deshalb bis jetzt nur zum
Teil bekannt. P f i t z n e r,
dem wir ausserordentlich
sorgfältige anatomische
Untersuchungen über Kno¬
chenvarietäten verdanken,
kannte an den Metatarso-
phalangealgelenken des Fus-
ses nur 5 Sesambeine, und
zwar ausser den Sesam¬
beinen der grossen Zehe nur
das Sesamum tibiale II,
und die Sess. tibiale et fibu-l
lare V. Die Untersuchung mittels Röntgenstrahlen brachte dann
2 weitere Sesambeine; ich beobachtete das 6., nämlich das Ses.
tibiale IV und G r a s h e y bildet in seinem vortrefflichen Atlas 2) noch
ein 7., das Ses. fibulare II ab. Es sind also bis jetzt noch nicht be¬
schrieben die beiden Sesambeine der 3. Zehe, sowie das ulnare Sesam¬
bein der 4. Zehe. Auf einer Röntgenplatte (No. 10079 der klinischen
Sammlung), welche ich kürzlich bei Gelegenheit der Untersuchung
eines vom Reichsversicherungsamt geschickten Unfallverletzten an-
19) Meinen Plan, die von mir lange erprobte Galleröhre
durch eine zuverlässige Firma postfähig mit Versand¬
hülsen den Herren Aerzten in die Hand zu geben,
hat mein hochverehrter Chef, Herr Prof. J. Förster, von Anfang an
gebilligt und gefördert. Als die Röhren bereits im Versand waren,
wandte sich Herr Dr. H. Conradi durch Vermittlung von Herrn
Prof. Förster an mich und begehrte die Mitberücksichtigung seines
Namens auf den ohne mein Zutun von der Firma Merck benamten
Etiketten der Röhren; Conradi verhandelte dann noch mit mir
über die Einfügung seiner Ansprüche in den Text eines Prospektes
(Gebrauchsanweisung), welchen Herr Merck drucken Hess. Ich
selbst habe Herrn Merck daraufhin gebeten, Herrn Dr. Conradis
Wünsche zu erfüllen. Diese Darstellung soll einstweilen die Er¬
klärung Conradis, diese Wochenschrift 1906, Anmerkung No. 3,
S. 1655 unten, ergänzen.
U Stieda: Zur Kenntnis der Sesambeine der Finger und Zehen.
Beitr. z. klin. Chir., Bd. XLII, 1. Heft.
2) Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen. Leh¬
manns med. Atlanten, Bd. V.
3) 1. c. p. 242.
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1955
fertigen liess, konnte ich nun auch an der 3. Zehe ein Sesambein,
und zwar das Ses. III t i b i a 1 e beobachten. Der rechte Fuss des
ca. 35 jährigen Mannes (Fig. 2) zeigte an den Metatarsophalangeal-
gelenken im ganzen 7 Sesambeine: ausser den Sesambeinen der
grossen Zehe tibiale Sesambeine an den sämtlichen übigen Gelenken,
sowie das Ses. V fibulare. Der Befund ides neuen Sesambeines ist
völlig einwandsfrei. Sein Schatten überragt auf der Platte zur
Hälfte den tibialen Rand des 3. Metatarsusköpfchens, hat eine ovale
Gestalt mit regelmässiger Umrandung und zeigt spongiösen Bau,
ganz analog den übrigen Sesambeinen. Der zum Vergleich röntgeno-
graphierte linke Fuss des Patienten zeigt nur 5 Sesambeine: die Sess.
tibiala II und III fehlen hier. Bekanntlich brauchen die Varietäten auf
beiden Seiten kein entsprechendes Verhalten zu zeigen. Der von uns
beobachtete Fall beweist auch, dass in der Häufigkeit des Vor¬
kommens der metakarpo- und metatarsophalangealen Sesambeine, ab¬
gesehen vom Gesetz der Randständigkeit, die radiale bezw. tibiale
Komponente prävaliert. Die Zahl der beobachteten metatarso¬
phalangealen Sesambeine beträgt also 8. Noch nicht beobachtet sind
die Sess. fibularia III und IV.
Anhangsweise möchte ich noch einen ganz interessanten Befund
am 1. Metatarsophaiangealgelenk anreihen. Ich beobachtete nämlich
bei einem 31jährigen Mann (No. 9268) ausser den beiden
grossen Sesam b einen noch ein kleines akzessorisches Sesam¬
bein am tibialen Rande des Metatarsusköpfchens nahe der Gelenk¬
linie. Es hat auf der Platte ungefähr die Grösse und Gestalt eines
Hirsekorns und zeigt spongiösen Bau. Es liegt fast ganz ausserhalb
des Schattens des I. Metatarsusköpfchens, dessen Rand eben be¬
rührt wird (Fig. 3). Das Röntgenbild zeigt ausser den gewöhnlichen
beiden Sesambeinen der grossen Zehe noch ein Ses. interphalangeale I
und die beiden Sesambeine der 5. Zehe. Es fanden sich alsQ am
1. Metatarsophaiangealgelenk 3 Sesambeine.
Dieser Befund entspricht einer früher von mir gemachten Be¬
obachtung am Interphalangealgelenk der grossen Zehe ;t). Es finden
sich hier zu beiden Seiten des Gelenks an ganz entsprechenden
Stellen 2 kleine Sesambeine, während gelegentlich ein einzelnes (oder
auch geteiltes) grösseres Sesambein in der Mitte der Gelenk¬
beuge beobachtet war. Derartige kleine Gebilde können natürlich
leicht den anatomischen Untersuchungsmethoden mittels Mazeration
und Präparation entgehen, werden jedoch leicht durch das Röntgen¬
verfahren nachgewiesen.
Die Sesambeine an den Fingern und Zehen stellen auf Rüntgen-
bildern nur nebensächliche Befunde dar. Bei der Ausbreitung der
Untersuchungsmethode mittels Röntgenstrahlen dürften den aufmerk¬
samen Beobachter aber auch diese Gebilde in ihren Varietäten etwas
interessieren.
Aus der Kuranstalt für Herz- und Nervenleiden Schloss Mar¬
bach am Bodensee.
Beitrag zur Lehre vom Pulsus alternans.
Von Dr. Hornung.
Bei der grossen Seltenheit einer regelmässig alternieren¬
den Herztätigkeit (Pulsus alternans) — W enckebach z. B.
gibt an, nur 2 Fälle gesehen zu haben; Hering glaubte bis
vor kurzer Zeit überhaupt nicht an das Vorkommen dieses
Phänomens beim Menschen — glaube ich, dass die folgende
Beobachtung dieser Pulsform geeignet ist, klärend auf den
Streit der Meinungen zu wirken und möchte sie deshalb im
Interesse wissenschaftlicher Forschung veröffentlichen.
Es handelt sich um einen 18 jährigen jungen Mann. Er ist etwas
unterernährt, nicht anämisch, hat zeitweise epileptiforme Anfälle oder
statt ihrer Migräne (Aequivalente). Sein Vater starb im Alter von
43 Jahren an einem Herzleiden; eine Schwester, 13 Jahre alt, ebenso
nach schnell verlaufender Krankheit. Die Autopsie ergab myokardi-
sche Veränderungen.
Bei intakten Klappen besteht bei ihm eine beträchtliche, ortho-
diagraphisch festgestellte Dilatation des Herzens mit stark heben-
dem Spitzenstoss.
Auffallend ist der ausserordentlich geringe Blutdruck — 55—72
nach Gärtner — in Herzhöhe im Sitzen aufgenommen. Der Ra¬
dialpuls schwankt, zu verschiedenen Zeiten genommen, zwischen 50
bis 65 bis 70 Schlägen, während das Herz genau die doppelte Anzahl
Schläge macht. . .
Auf der ersten Pulskurve, die ich aufnahm, kam dieses Verhältnis
zwischen Herztätigkeit und Radialpuls deutlich zum Ausdruck. Ich
füge zur Orientierung entsprechende Kurven (unter 1 langsamer Lauf,
2 schneller Lauf des Ja quetschen Kardiosphygmographen) bei.
Die Kurve des Spitzenstosses zeigt ein ziemlich regelmässiges,
in gleichen zeitlichen Zwischenräumen stattfindendes Alternieren dei
Herztätigkeit. Die Dauer der einzelnen Periode vom Beginn der
einen grossen Systole bis zum Beginn der nächsten grossen schwankt
zwischen 5 — 6nial Vs Sekunde in Kurve I und zwischen 6 7 mal / s
Sekunde in Kurve III; diesen Perioden entsprechen Pulse von gleicher
Dauer. Innerhalb dieser Perioden ist die Dauer von Beginn der
grossen Systole bis zu dem der kleinen und von deren Beginn bis
zur nächsten grossen imm.er die gleiche, je etwas kürzer oder länger,
nachdem die ganze Periode verschieden lange dauert.
Dieses Alternieren ist an der Radialis nicht fühlbar und, wie
die entsprechende Kurve zeigt, auch nicht sichtbar.
(Kurve siehe nächste Seite.)
Eine an einem anderen Tage aufgenommene Kurve — No. III —
zeigte insofern veränderten Befund, als jetzt die Alternierung der
Herztätigkeit, die an der Radialis eben fühlbar war, im Sphygmo-
gramm sichtbar wurde und zwar zeigte es sich, dass es sich um die
von Traube zuerst beschriebene Form des Pulses bigeminus, wie
er ihn nannte, handelt, bei der die kleine Pulswelle verspätet eintiitt.
Während, wie ich oben erwähnte, die gleiche Zeit zwischen
Beginn der grossen Systole und Beginn der kleinen Systole und zwi¬
schen dieser und der nächsten grossen liegt, sind bei der Herzspitzen¬
kurve und der Pulskurve die entsprechenden Zwischenräume ver¬
schieden. z. B. beträgt nach Kurve III die Zeit zwischen Beginn
der Systole und Ende der Diastole vor Einsetzen der angedeuteten
Systole 3 Vs mal Vs Sekunde, während der folgende Teil der Periode
bis zur nächsten Systole nur 3 mal Vs beträgt oder 4 mal Vs Sekunde
und 3 mal Vs Sekunde oder 3V2 mal Vs Sekunde und 21/' 2 mal Vs Se¬
kunde.
Dass es sich in unserem Falle um einen echten Alternans
handelt, dass die kleinere systolische Erhebung der Radialis
nicht durch eine Extrasystole hervorgerufen wird, das zeigt
unzweifelhaft die Kurve des Spitzenstosses.
Woher kommt nun die Verspätung der kleinen Welle an
der Radialis? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist
es nötig, zunächst über das Wesen des Alternans im all¬
gemeinen Klarheit zu gewinnen.
Nachdem Engelman n und Hering experimentell die
Herztätigkeit und ihre Störungen erforscht hatten, war es
W e n c k e b a c h, der vor allem die Ergebnisse dieser For¬
schung klinisch zu verwerten suchte (s. „Die Arrhythmie als
Ausdruck bestimmter Funktionsstörungen des Herzens“). Er
betrachtet das Auftreten alternierender Herztätigkeit als ein
Zeichen einer vorhandenen Kontraktilitätsschädigung. Soviel
ich in der Literatur sehen konnte, ist diese Annahme allseitig
anerkannt.
Widersprechen muss ich der Angabe Wenckebachs,
dass die Verspätung der kleinen Pulswelle Folge gestörter
Leitungsfähigkeit sei. Die Spitzenkurve zeigt deutlich, dass
in der Herztätigkeit selbst keine Verzögerung eintritt, die ein¬
zelnen Perioden von Systole zu Systole völlig gleich ver¬
laufen. Volhard, der sehr instruktive Beobachtungen in
dieser Wochenschrift veröffentlicht hat, gibt folgende Gründe
für die Verspätung der kleinen Pulswelle an: Sie ist verur¬
sacht durch die langsamere Kontraktion des Herzmuskels bei
der schwächeren Systole; hierdurch kommt es zu einer Spät¬
eröffnung der Aortenklappen. Ausserdem, so führt Vol¬
hard aus, wirkt der Umstand mit, dass „durch die Druck¬
differenz, — höherer Aortendruck bei der kleinen, niedrigerer
bei der grossen Systole — , eine weitere Verlängerung der An¬
spannungszeit, eine weitere Verzögerung der Oeffnung der
Aortenklappen bedingt ist. „Als dritter bedingender Faktor ist
die geringere Geschwindigkeit anzusehen, mit der sich die
kleinere Welle fortpflanzt, wohl, weil sie schon mit geringerer
Anfangsgeschwindigkeit in die Aorta hineingeworfen wird.
Mögen diese Erklärungsversuche V 0 1 h a r d s für die von
ihm beobachteten Fälle zu Recht bestehen, so kann ich für die
2*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
vorliegende Beobachtung nur den dritten anerkennen. Erfolgte
tatsächlich die Kontraktion des Herzens bei der kleinen Systole
langsamer als bei der normalen, so müsste in der Kurve des
Spitzenstosses eine Divergenz der beiden aufsteigenden Schen¬
kel der Systolen sich ausprägen. In unsern Kurven laufen aber
beide parallel.
oT Es muss also hier eine andere Ur-
Sache für die Verspätung der kleinen
q Pulswelle angenommen werden. Ich
glaube, dass einen Anhaltspunkt zu
= deren Feststellung der Umstand bildet,
sf; dass in unserem Falle auch die von der
grossen Systole hervorgerufene Puls-
bi welle wesentlich verspätet erscheint.
E
Fig. 2.
(3/ 4 natürliche
Grösse.)
i
Hierfür möchte ich die im niedern Blut¬
druck ihren Ausdruck findende Atonie
des Qefässystems verantwortlich
machen. Das atonische Gefässystem
ist nicht imstande, die vom Herzen mit
wenig Energie eintreffende Blutwelle mit
normaler Kraft weiter zu befördern; die
Elastizität der Gefässwände als Hilfs¬
mittel der Zirkulation wird nicht voll
ausgenutzt. Diese Verspätung ist aber,
wie oben erwähnt, um so grösser, mit
je geringerer Anfangsgeschwindigkeit
die schwächere Welle in die Aorta ge¬
worfen wird.
tue Folge davon ist das gegen' die
grössere noch verspätete Eintreffen der
kleineren Welle an der Radialis.
Aus der Kuranstalt für Herz- und Nervenleidende Schloss
Marbach am Bodensee.
Pulsus alternans mit partieller alternierender Herz¬
tätigkeit.
Nachtrag zur vorstehenden Arbeit von Professor Giovanni
Galli, Assistent an der Kgl. medizinischen Klinik in Rom.
Unter den zahlreichen Herz- und Pulskurven, die Dr. Hor¬
nung und ich m dem hier schon beschriebenen Falle auf-
nahmen, befinden sich einige, welche von den gewöhnlichen
Kurven abweichen, und daher eines besonderen Studiums wert
erscheinen.
Wenn man den Teil a bis b der Fig. 5 betrachtet, wird
ersichtlich, dass dem deutlichen Alternieren der Radialiskurve,
in der auch hier die kleine Pulswelle verspätet erscheint, keine
gleiche Modifikation im Kardiogramm entspricht. Die Herz¬
kurve dagegen ist regelmässig, sowohl in der Dauer der
Perioden, als auch in der Höhe und Form der einzelnen Wellen.
Die Frage liegt nahe, warum bei gleicher Ursache verschiedene
Erscheinungen auftreten. Die Auskultation des Herzens gibt
hierüber Aufschluss: Fühlt man den Radialpuls bei gleich¬
zeitiger Auskultierung der Herzspitze, so kann man nach dem
ersten Ton die grosse Radialiswelle fühlen, der darauf fol¬
gende zweite I on ist deutlich zu hören. Hierauf hört man
ein leichtes Geräusch, das den ersten Ton begleitet, dann folgt
die kleine Pulsationswelle der Radialis.
Der zweite Ton bleibt meistens aus,
oder wird undeutlich und entfernt ge¬
hört. Nebenstehendes Schema zeigt
den auskultatorischen Befund.
Das beschriebene Auskultations¬
ergebnis brachte den Gedanken nahe,
dass
I.Herxp.
Zlierxp.
w —
(schwach)
es sich um eine funktionelle, alternierend
vorkommende Mitralinsuffizienz handle. Daher
muss angenommen werden, dass bei jeder zweiten Herzsystole
das Blut der linken Kammer nur teilweise in die Aorta strömt.
Dieses erklärt die alternierende Kleinheit der Radialiswelle,
bezw. die gleichzeitige Abwesenheit oder Schwäche des von
der Aorta zur Herzspitze geleiteten zweiten Tones. An der
Pulmonalis sind statt dessen alle 4 Töne zu hören, die Töne
der zweiten Herzperiode jedoch
schwächer als die der ersten. Der'
zweite Ton der ersten Herzperiode
ist gespalten, der ganze auskulta¬
torische Befund ist in nebenstehendem
Schema ersichtlich.
Die Schwäche der Töne der zweiten Herzperiode lässt
nicht auf das schwache Funktionieren der rechten Kammer
schliessen, da die Intensität der Pul¬
monaltöne auch von der Intensität der
Aortentöne abhängig ist. Auskultiert
man an der Aorta, so sind die Töne
der zweiten Herzperiode bedeutend
schwächer als die anderen zu hören,
so dass nebenstehendes Schema zu stellen ist.
Der auskultatorische Befund an der Trikuspidalis ergab
normale Töne, was auf das normale Funktionieren der rechten
Kammer und auf das Nichtvorhanden¬
sein einer 1 rikuspidalinsuffizienz
schliessen lässt, dies um so mehr, als
venöse Pulsationen irgend einer Art
niemals zu sehen waren.
Dem Gesagten nach kann man, wie
mir scheint, auf eine alternierende Mitralinsuffizienz funktio-
I.Herxp.
ZHerzp.
—
w —
ülerxp .
?. Iierxp.
—
-
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1957
neller Natur schliessen. Auf welche Art aber findet sich eine
entsprechende Aufklärung?
Bekanntlich haben die geistreichen Studien von Wencke-
b a c h festgestellt, dass Pulsus alternans auf Störung des Kon¬
traktionsvermögens beruht. Um eine plausible Erklärung für
unseren Fall zu finden, muss man annehmen, dass diese
Störung sich auf die Papillarmuskeln be¬
schränkt hat, die übrigen Herzfasern jedoch intakt ge¬
blieben sind, so dass bei gleich grossen Systolen die in die
Aorta, bezw. in die Radialis, getriebene Blutmasse abwechselnd
gross und klein ist. Aus diesem Grund die gleich grossen und
gleich geformten Kardiogramme und die schöne Alternierung
der Radialiskurve.
Die in Rede stehende Kurve wurde 15 Tage später auf¬
genommen als die in Fig. 1, 2, 3 und 4, nachdem der Patient
18 elektrische Bäder genommen hatte.
Bemerkenswert ist, dass bei Aufnahme der Kurve Fig. 4
der Spitzenstoss schwächer war als vor der elektrischen Be¬
handlung. Diese Modifikation an dem Herzspitzenstoss bezw.
das Verschwinden der Herzalternierung ist als eine günstige
Erscheinung zu betrachten, da der Patient sich besser fühlte
und ohne subjektive Störungen mehr leistete; auch objektiv
war Besserung zu konstatieren.
Mit dem allmählichen Verschwinden der Alternierung in
den Kardiogrammen nahm auch die kleine Welle am Radialis-
puls zu, bis dass auch am Radialispuls die Alternierung ver¬
schwand. Diese Erscheinung erklärt zur Genüge die auf¬
gestellte Hypothese, d. h. bei der Aufnahme der Fig. 1, 2, 3 und 4
erstreckte sich die Kontraktilitätsstörung auf die ganze linke
Kammer, bei Aufnahme von Fig. 5 hingegen nur auf den Mitra¬
lisring und die entsprechenden Papillarmuskeln.
Fig. 5 (1. Teil). (Verkleinerung auf die Hälfte.)
Fig. 5 (Fortsetzung).
Fig. 5 (Schluss).
Jetzt noch ein Wort über den Einfluss 'der Atmung auf den
Verlauf der Kurve 5.
Es ist deutlich zu sehen, wie in e und d, d. h. gleich nach
einer tiefen Ein- und Ausatmung der Puls den alternierenden
Charakter verliert; bald darauf erscheinen die Kardiogramme
in der ungefähr gleichen Folge und Form. Nach einigen Schlä¬
gen kommt (a und f) der alternierende Puls wieder zum Vor¬
schein, wie vor der tiefen Respiration. Verschiedene Hypothesen
lassen sich zur Erklärung dieser Erscheinung aufstellen. Sie
zu besprechen, würde den Rahmen dieser Mitteilung über¬
schreiten, deren Zweck nur ist, die Aufmerksamkeit der Herren
Kollegen auf die Möglichkeit einer partiell alternierenden Herz¬
tätigkeit zu lenken.
Ueber erfolglose Mineralwassertrinkkuren bei Magen¬
krankheiten.
Von Dr. med. E. Ageron in Hamburg.
Alljährlich kehren aus den Badeorten zahlreiche Kranke
zurück, welche, teils auf den Rat guter Freunde, teils auf Ver¬
anlassung ihres Arztes, eine mehrwöchentliche Trinkkur absol¬
vieren, ohne den gewünschten und versprochenen Erfolg damit
erzielt zu haben, oder welche sogar eine Verschlimmerung ihres
Leidens konstatieren müssen. Ich denke hierbei speziell an
die grosse Masse jener Leidenden, welche wegen Verdauungs¬
störungen aller Art, vor allem wegen krankhafter Defäkation
— wobei ich betone, dass ich absichtlich diese Bezeichnung
statt Obstipation wähle, weil ich auf Grund meiner zahlreichen
Untersuchungen die Ueberzeugung gewonnen habe, dass die
Obstipation in Neunzehntel aller Fälle ein Symptom 0 und nicht
ein Leiden sui generis des Verdauungsapparates darstellt - — ,
grössere Mengen eines Mineralwassers täglich über einige
Wochen trinken müssen.
Von vornherein scheiden aus den Missvergnügten die¬
jenigen aus, welche aufs geradewohl irgend einen Badeort auf¬
suchen und dort ohne ärztliche Beobachtung und Anleitung
Brunnen trinken, und zwar in der Regel grosse Mengen. Fer¬
ner zähle ich diejenigen Kranken nicht hierher, welche durch
ungenügende Indikationsstellung seitens des sie beratenden
Arztes in einen Badeort geschickt werden, der in seinen Heil¬
wirkungen den Krankheitserscheinungen diametral läuft. Ich
kann hier auf die trefflichen Ausführungen von Boas1 2) ver¬
weisen, ferner auf einen Vortrag über „Mineralwasserkuren
bei Magenkrankheiten“3), den ich 1899 im ärztlichen Verein
von Hamburg hielt.
Wenn ich spezielle Ursachen der Misserfolge bei Trink¬
kuren im Auge habe, so ziele ich dabei auf jene Fälle von
Magenerkrankungen ab, welche unter dem gemeinsamen
Namen der Atonie bekannt sind, also jener Formen, wo als
objektives Symptom die motorische Insuffizienz im Vorder¬
gründe der Krankheitserscheinungen steht, und wo die heute
übliche, traditionell gewordene Art der Trinkkur im umge¬
kehrten Verhältnis zu den aus der Auffassung von dem Wesen
der motorischen Insuffizienz des Magens sich ergebenden thera¬
peutischen Absichten steht.
In meiner Arbeit über „Gesetze der Mechanik und des
hydrostatischen Druckes als Grundlage neuer Gesichtspunkte
über Entstehung und Behandlung funktioneller Magenerkran¬
kungen“ 4) habe ich den Nachweis zu führen versucht, dass
rein mechanische Gesetze bei der Entstehung der motorischen
Insuffizienz in Frage kommen, und dass bei der Behandlung
aller auf einer Störung der Mechanik und der Dynamik des
Magens beruhenden Erkrankungen das Moment der Belastung
desselben mit Flüssigkeiten in erster Linie zu beachten ist.
Das Charakteristische eines anatomisch normalen und
physiologisch richtig funktionierenden Magens ist nicht bloss
in der durch die anatomische Anordnung der Muskelfasern er¬
möglichten peristaltischen Tätigkeit mit dem Endzweck einer
gleichmässig sich vollziehenden Entleerung des Mageninhaltes
nach dem Darm zu suchen, sondern vornehmlich in dem — re¬
flektorisch — erzeugten, nach allen Richtungen gleichmässig
wirkenden Spannungszustand, ohne welchen dem Gewicht und
dem Druck des Mageninhaltes kein Gegendruck und Gegen¬
gewicht gegenüberstände.
Es ergibt sich daraus der Hauptsatz, dass der Druck des
Mageninhaltes nicht grösser sein darf als der physiologisch
mögliche Gegendruck der Magenwand auf denselben. Als
zweiter Hauptsatz ist aufzustellen, dass, wenn aus irgend einem
Grunde jene Fähigkeit der Magenwandung, konzentrischen
Gegendruck zu erzeugen, unter dem Namen oder der Bezeich¬
nung Tonus bekannt, vermindert ist, den gesamten Druck des
Mageninhaltes, resp. einer Flüssigkeitssäule im Magen, zu¬
nächst — wegen der aufrechten Stellung des Menschen — der
Boden des Magens, also jene Linie, welche von der Kardia
1) Vergl. Crämer: Darmatonie. J. F. Lehmanns Verlag.
2) Karlsbad oder Kissingen. Deutsche med. Wochenschr. No. 20,
1905.
3) J. F, Lehmanns Verlag.
4) Arch. f. Verdauungskrankh. von J, Boas, Bd. XI, H. 5.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
1958
längs der grossen Kurvatur zum Pylorus läuft, auszuhalten
haben wird. Das Schematische aller Trinkkuren besteht in der
Verordnung, möglichst grosse Quantitäten des betreffenden
Mineralwassers, früh morgens auf nüchternen Magen in einem
Zeitraum von in der Regel einer Stunde demselben zuzuführen,
wobei eine ausgiebige Bewegung in der Form des langsamen
oder auch beschleunigten Spazierengehens stattfinden soll.
Bei dieser traditionell gewordenen Verordnung gehen wir
von der Voraussetzung aus, dass der nüchterne Magen leer ist,
durch die Nachtruhe seinen physiologischen Tonus in vollem
Umfang aufweist, und daher die motorische Leistungsfähigkeit
am grössten ist, so dass die Entleerung des Wassers nach dem
Darm rasch erfolgt, während die körperliche Bewegung eine
beschleunigte Herztätigkeit und damit eine raschere Durch¬
spülung der Gewebe bezwecken soll.
Solange diese Voraussetzungen richtig sind, steht der Zu¬
fuhr grosser Mengen Mineralwasser ebensowenig irgend ein
Bedenken entgegen wie bei der Verabfolgung von Flüssig¬
keiten aus therapeutischen Rücksichten überhaupt, z. B. bei
Milchkuren.
Massgebend bei der Beurteilung, ob und inwieweit ein
kranker Magen für Mineralwasserkuren geeignet ist, darf ein¬
zig und allein der jeweilige Spannungszustand der Magenwand
und ihrer physikalischen Reaktion auf Belastung mit Flüsig-
kciten sein. Das Resultat darauf abzielender Untersuchungen
gibt uns einen wertvollen Massstab, wie hoch die Belastung
im Einzelfall sein darf. Dass diese mechanischen Verhältnisse
in der Pathologie des Magens von einschneidender Bedeutung
für die Therapie sind, beweist die einfache Tatsache, dass wir
imstande sind, durch Verminderung der Flüssigkeitszufuhr,
durch richtige Verteilung der Gewichtsmengen der Nahrung in'
zeitlicher und quantitativer Hinsicht, durch horizontale Lage¬
rung Magenkranker nach der Nahrungsaufnahme, auch ohne
medikamentöse Beeinflussung die subjektiven Beschwerden
Magenkranker zu beseitigen oder bedeutend herabzumindern.
Wenn ich auch zugebe, dass es schwer fallen wird, einen
durch Jahrzehnte hindurch geübten Modus der Trinkkuren
einer Revision zu unterwerfen, wobei lieb gewordene Gewohn¬
heiten des Badepublikums mitsprechen dürften, so darf uns
Acizte die bessere Erkenntnis des WVsens der Verdauungs¬
vorgänge in physiologischer und pathologischer Hinsicht doch
nicht abhalten, teilweise mit dem Alten zu brechen.
Zwei prinzipielle Forderungen in bezug auf die Trinkkuren
müssen aufgestellt werden: erstens soll vor Beginn einer Trink¬
kur von dem ordinierenden Badearzt der Tonus und die moto¬
rische Leistungsfähigkeit des Magens einer sorgfältigen Prü¬
fung unterzogen und in regelmässigen Intervallen kontrolliert
weiden, und zweitens muss dort, wo erhebliche Störungen der
Mechanik und Dynamik des Magens konstatiert weiden, die
Art des Trinkens, d. h. die Belastung desselben mit dem Quan¬
tum des Wassers, modifiziert resp. rektifiziert werden.
Was zunächst die Prüfung des Tonus der Magenwand be¬
trifft, so genügt es, wenn man den Magen mit 250 g Wasser
belastet, und erst in horizontaler Lagerung und dann in auf¬
rechter Stellung des Körpers die untere Grenze des Magens,
also den Stand der grossen Kurvatur bestimmt. In der hori¬
zontalen Lage gibt uns die Ausdehnung der Plätscherzone hier¬
nach nur Aufschluss über den Spannungszustand der Magen¬
wand, während die Dämpfungszone in aufrechter Stellung das
Herabrücken der grossen Kurvatur anzeigt und damit den
Gi ad der Verminderung des sog. konzentrischen Gegendruckes.
Wenn es auch von Wichtigkeit wäre, die muskuläre Leistung
des Magens zu prüfen, also den Zeitraum festzustellen, inner¬
halb dessen das Mineralwasser den Magen verlässt, so stösst
man doch hierbei bei vielen Patienten aus äusseren Gründen
oft auf Widerstand — Vorurteil gegen die Einführung der
Magensonde, abnorme Brechneigung. Wo aber die Ausheberung
sich ermöglichen lässt, halte ich es für sehr wünschenswert,
dieselbe vorzunehmen.
Um eine genaue quantitative Restbestimmung der einge¬
nommenen Menge eines Mineralwassers vornehmen zu können,
bcdüifte es einer allerdings umständlichen chemischen Analyse,
ln der Badepraxis ist das nur schwer durchführbar. Dagegen
ist dieselbe z. B. für einige Mineralwasser, speziell die koch¬
salzhaltigen Quellen, leicht vorzunehmen. Ich bediene mich
folgender Methode: Eine halbe Stunde nach Einnahme von
250 g des kochsalzhaltigen Mineralwassers spüle ich den Magen
mit 250 g destillierten Wassers aus, wobei zu beachten ist, dass
auch das im Schlauch und in dem Sondenrohr verbleibende
Wasser nach Herausnahme der Sonde, wobei beim Heraus¬
ziehen derselben mit zwei Fingern die Sonde zusammengepresst
werden muss, in das Standgefäss, welches graduiert sein muss,
eingegossen wird. Das Plus des eingegossenen destillierten
Wassers zeigt die Menge des im Magen zurückgebliebenen
Mineralwassers an. Absolut einwandfrei ist diese Restbestim-
mung allerdings nicht, denn wir müssen annehmen, dass, da
Kochsalz ein hohes osmotisches Aequivalent (4,3) hat, in dem
Zeitraum von 30 Minuten, in welchem das Wasser den Magen
verlassen haben soll, eine starke Transsudation von der
Magenwand erfolgt. Durch Zusatz von Argentum nitricum,
resp. aus dem Grad des Niederschlages von Chlorsilber ist die
Anwesenheit von Kochsalz leicht zu erkennen.
Ist bei einem Magenkranken eine Atonie festgestellt oder
handelt es sich, allgemein gesprochen, um eine muskuläre In¬
suffizienz mit Vergrösserung des Organs, dann muss auch die
bisher übliche Form der Verabreichung grösserer Mengen
Minei alwassers eine Einschränkung erfahren. Denn grosse
Mengen innerhalb kurz bemessener Zeiten dem Magen zuge¬
führt, erfüllen weder in chemischer Beziehung noch hinsichtlich
ihrer gewollten Wirkung auf die Peristaltik des Darmes ihren
Zweck. Es wird das Gegenteil erreicht: der Magen wird ge¬
dehnt, die subjektiven Beschwerden des Druckes und der Völle
im Epigastrikum steigern sich, sobald das Frühstück ein¬
genommen ist.
Solche Kurgäste fühlen sich den ganzen Jag unwohl: da
die Defäkation ausbleibt oder nur ungenügend — meist spritz¬
artig — erfolgt, leidet der Appetit, die zur Kotbildung not¬
wendige Menge fester Speisen nehmen sie nur widerwillig,
und schliesslich wird, um die Defäkation ausgiebiger zu er¬
zielen, zu Abführmitteln, besonders der konzentrierten Bitter¬
wässer gegriffen. Der Circulus vitiosus ist dann geschlossen.
Will man die schädliche Nebenwirkung grösserer Mengen
eines Minei alwassers abschwächen und ausgleichen, so kann
dies nur ei reicht werden, wenn die bei der aufrechten Stellung
des Körpers unausbleibliche einseitige Belastung der grossen
Kurvatur des Magens ausgeschaltet wird. Es lässt sich dies
am leichtesten durch horizontale Lagerung des Körpers ermög¬
lichen, wodurch die Flüssigkeit gleichmässig auf die hintere
Magenwand sich verteilt.
Ueber die dadurch erzielte Verschiebung der mechanischen
Komponenten und die daraus resultierende Verbesserung der
dynamischen Funktion des Magens kann ich auf die Ausfüh¬
rungen in meiner Arbeit hinweisen.
Als praktische Konsequenz aus dem Gesagten ergäbe sich
die Forderung, dass teilweise mit der Sitte des Promenierens
während des Trinkens gebrochen würde, und dass Kranke mit
hochgradigen Atonien, Vergrösserungen und besonders mit
Senkungen des Magens entweder schon während des Trinkens
des Mineralwassers oder wenigstens anschliessend daran eine
möglichst horizontale Lage mit einer Vierteldrehung des Kör¬
pers nach rechts einnehmen; erst nach Ablauf von mindestens
45 Minuten soll die Einnahme des Frühstückes gestattet werden.
Ueber den Einfluss der Saughyperämie auf das ge¬
sunde Auge und den Verlauf gewisser Augenkrank¬
heiten.
Von Prof. Dr. Hoppe in Köln.
Unter dem Eindruck der günstigen Erfolge hyperämi-
sierender Behandlung nach Bier auf den verschiedensten Ge¬
bieten der Heilkunde entschloss ich mich anfangs dieses Jahres,
meine in Selbstversuchen und Tierexperiment bereits früher
angestellten Beobachtungen über die Wirkung saugender Ap¬
parate auf das gesunde Auge auszudehnen auf das kranke
Auge und therapeutisch zu verwerten. (Gleichzeitig wandte
ich mich experimentellen und klinischen Untersuchungen
über die Einwirkung der Stauungsbehandlung nach Bier, ins¬
besondere der sog. Kopf- oder Halsstauung, zu, worüber in
den Kiin. Monatsbl. f. Augenheilk., Okt. 1906 berichtet wird.)
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1959
Den von mir früher gewählten, etwas umständlichen Bezug ver¬
dünnter Luft aus einem Glaskochkolben, der über einer Flamme erhitzt
worden war, ersetzte ich durch die Verwendung eines Gummiballes
nach dem Vorgang von Bier, Klapp und noch älteren Beispielen.
Zur örtlichen Begrenzung der Saugwirkung dienten mir Glasglocken
verschiedener Grösse und Form, fingerhutgrosse Glocken mit run¬
dem oder ovalem Rand für Teile des Lidrandes, eine grössere platte
Glocke für die ganze Lidspalte und eine grosse dem Orbitalrande an¬
gepasste für beide Augenlider, entstanden aus einem sogen. Augen¬
becher. Zum Aufsaugen von Sekreten und zur Verhütung eines
zu starken Eingesogenwerdens der Lidränder lege ich in die Glocke
einen lockeren Bausch Flüssigkeit saugender Wundwatte. Saugball
und Glocke werden durch einen dickwandigen Gummischlauch ver¬
bunden und eine Abzweigung führt zu einem Quecksilber-
manometer, welcher den jeweiligen negativen Druck m dem
Saugsystem anzeigt.1) Der Glockenrand wird mit Vaselin gut ein¬
gefettet, mit leichtem Druck möglichst gleichmässig auf die Unterlage
gesetzt, und die Luft durch Zusammendrücken des Balles ausgepresst.
Dann lässt man unter Beobachtung des Standes der Quecksilbersäule
mit dem Balldruck langsam nach und klemmt, sobald der gewünschte
Druck angezeigt wird, den zum Ball führenden Schlauch mit einei
Schieberpinzette ab. Der mit meinem Saugball von zirka 43 mm Durch¬
messer erzielbare negative Druck ist zirka 140 mm Quecksilber. Im all¬
gemeinen sollte man zu therapeutischen Zwecken am Augenlid nicht
über 40 mm hinausgehen. Bei sehr empfindlichen Augen, besonders der
Kinder, muss man sich mit 20 — 30 mm genügen lassen, wenn man
nicht unerwünschte Nebenwirkungen bekommen will. Zum Studium
der möglichst reinen Saugwirkung empfiehlt sich die Benutzung der
den ganzen Lidapparat überspannenden Glocke, deren Rand, um das
Einschneiden in die Lidhaut und ein zu tiefes Einsinken in die Augen¬
höhle zu verhüten, mit einem dicken Rand von Glaserkitt zu ver¬
sehen ist. Saugende Flohlkörper, die sich (etwa wie mein plethys-
rnograph. Apparat cf. loc. cit.) auf die knöcherne Umgebung der
Augenhöhle stützen, sind wegen ihres schmerzhaften Druckes nicht
lange zu ertragen. Um jeden anderen Druck, besonders den dei
haltenden Hand, auszuschalten, hielt ich die Glasglocke mittelst eines
am Kopf befestigten Halters in der Schwebe. Ohne diese Vorsicht
laufen neben der Saugwirkung die Folgen grobmechanischer Läsion
der Lider und des Augapfels zu stark mit unter.
Lasse ich nach diesen Vorbereitungen einen Druck von
— 30 mm Quecksilber einwirken, so wölbt sich die Haut beider
Lider halbkugelig in die Glocke vor, wird bläulich rot, allmäh¬
lich dunkel violett, besonders an den Lidrändern. Die Haut
spannt sich glatt und glänzt leicht, auf den abgerundeten ver¬
dickten Lidrändern sieht man die Wimpern sich etwas spreizen.
Allmählich sammelt sich in der Lidspalte etwas Tränenflüssig¬
keit, und wenn die Temperatur draussen kühler, wie in der
Glasglocke ist, wird die Innenwand betaut. Die Lidspalte
kann nur beschränkt geöffnet werden, weil die festgesogenc
Lidhaut dem Zuge des Muse, levator palp. nicht folgen kann.
Kleine Lidbewegungen sind dagegen möglich. Der Augapfel
bleibt in seiner Bewegung unbeschränkt.
Nach etwa halbstündiger Versuchsdauer sieht man bei
Abnahme der Glocke eine flache Druckfurche, die sich schon
in 10 Minuten ausgleicht. Die angesammelten Tränen ver¬
schwinden schnell. Die zyanotische Verfärbung und
Schwellung der Lider lässt rasch nach, um sich an
den Lidrändern zu konzentrieren und länger zu . er¬
halten. Bei genauerem Zusehen erweisen sich die kleinen
Lidvenen strotzend gefüllt; man begegnet auch einzelnen odei
Gruppen blauroter Fleckchen, besonders am Unterlide, an den
Ausführungsgängen der Hautdrüschen. Die Lidbindehaut
schimmert überfeucht, ist ganz und stark gerötet, ödematös
aufgelockert bis zu den Uebergangsfalten ; oberflächliche und
tiefe Gefässe bilden strotzend injizierte, engmaschige Netze.
Vereinzelt treten in der Lidbindehaut bläuliche Sprenkel aui.
kleinste venöse Blutungen. Dagegen erweist sich der Aug¬
apfel mit seinem Ueberzug makroskopisch ganz un¬
verändert ; etwa an den Uebergangsfalten schnei¬
den die Veränderungen ab. Daher scheinen auch
pathologische Veränderungen durch diese Art des Saugvei-
fahrens nur soweit sie sich an den Lidern und ihrer Bindehaut
abspielen, beeinflusst werden zu können.
Hat man den negativen Druck etwas zu stark gewählt,
den Versuch über eine halbe Stunde ausgedehnt oder liegt eine
ungewöhnliche Gewebszartheit vor, so sind die Veränderungen
stärker ausgeprägt; die venöse Blutfülle der Lidränder ist
*) Die Vorrichtung demonstrierte ich am 30. April 1906 dem
ärztlichen Verein in Köln im Anschluss an einen Vortrag des Herrn
Geheimrats Prof. Dr. Bier.
stärker, die Lider erscheinen dickgedunsen, die kleinen Haut¬
blutungen sind reichlicher, ich sah ganze Reihen besonders in
der Tiefe der kleinen Lidhautfältchen nach deren Ausglättung
mit dem Finger.
Die Wirkung einer als normal zu bezeichnenden Saug¬
sitzung klingt schnell ab; nach einer halben bis einei Stunde
sind die Veränderungen der Lidhaut in der Regel beseitigt, die
venöse Hyperämie der Lidbindehaut hält länger vor, ist nach
12 Stunden, selbst einem Tage oft ganz ausgesprochen, und
macht sich durch vermehrten feuchten Glanz dei Konjunkti\ a
und leichtes Stechen oder Fremdkörpergefühl geltend.
Einzelne Haut- und Bindehautblutungen machen sich kos¬
metisch und funktionell nicht störend bemerkbar. Andeis,
wenn man den Druck zu stark, die Sitzung zu lang oder bei
einem ungewöhnlich empfindlichen Lidapparat vorgenommen
hat. Dann sind am 2. Tage die Lider noch dick gedunsen,
dunkelbläulich; auf diffus violettem Grunde heben sich noch
tieferdunkle, geschlängelte, strotzend gefüllte Gefässstücke ab,
vorwiegend in den mittleren Lidabschnitten nahe den Wimpern
und bis in den intermarginalen Saum hinein. Am 3. Tage wird
die Lidhaut missfarbig grünlich gelb, die Blaufärbung wird
stumpfer. Am 4. Tage sind die Spuren der Hautblutung noch
nicht getilgt. Entsprechend länger hält auch die Hyperämie
der Bindehautgefässe an und die immerhin nicht erhebliche
subjektive Reizerscheinung.
Benutzt man kleine, nur Teile eines Lidrandes deckende
Saugglocken, so beschränkt sich die Wirkung bei der Lidhaut
auf den abgesperrten Bezirk, aber die Lidbindehaut wird in
ganzer Ausdehnung des Lides stark hyperämisch. Ich fasse
dies nur zum Teil als Fernwirkung des Saugdruckes, in der
Hauptsache als Folge der direkten Druckwirkung der Glocke auf.
Nicht selten zeigt die der Saugung unterworfen gewesene
Hautstelle eine gelbe Verfärbung als Ausdruck stattgehabtei ,
wenn auch makroskopisch nicht wahrgenommener kleinster
Blutaustritte.
Erheblichere Einwirkungen des Saugprozesses finden statt,
wenn die Lider etwas vom Augapfel abgehoben, die
Ränder auswärts gedreht werden. Dann pflegt die Tränen¬
absonderung stärker zu sein, es mischen sich kleine Mengen
stark fadenziehenden Schleims bei, leicht bernsteingelb bis
rötlich gefärbt, durch Beimengung kleinster ausgetretener
Blutmengen. Auch bemerkt man gelegentlich, dass die Aus¬
führungsgänge der M e i b o m sehen Drüse, welche voi dcu
Saugung mit Sekret bis über das Niveau des Lidrandes gefüllt
waren, bis zu einer geringen Tiefe leer gesogen sind, sodass
an Stelle der früheren Verwölbung mehr oder weniger tiefe
Dellen zutage liegen. Diese Saugwirkung erzielt man bcssei
mit kleinem Rohransatz, den man längs des intermarginalen
Saumes hinstreichen lässt. Dann sieht man öfter um die Aus¬
mündungen der Meibom sehen Drüsen und den Wimpern¬
schaft herum ringförmige zarte Blutungen.
Als Ausdruck der reinen Saugwirkung sehen wir also
eine starke Hyperämie und seröse Durchtränkung der Haut
und Lidbindehaut im Bereich der Glocke. Die Hyper¬
ämie ist ganz vorwiegend, wie der blaurote Farben¬
ton sagt venös. Sie ist Stauuugshyperänüe und kommt nur
zustande, wo bei erhaltenem arteriellen Zufluss der venöse
Abfluss mehr öder weniger vollständig behindert wird. Weil
diese Absperrung sich nur an der Lidhaut durch den Diuck des
Glockenrandes erzielen lässt, während sich der Abfluss der
Venen der konjunktivalen und episkleralen Bedeckung des
Augapfels sowie des Augeninneren diesem Einfluss entzieht,
bleibt eine auch recht kräftige Saugung an der Augapfelober¬
fläche unwirksam. Ausnahmsweise sah ich bei Benutzung
kleinster Saugglocken die der Saugstelle benachbarten Ge¬
fässe bis zum Hornhautrand dick gefüllt; aber hier war ein
direkter Druck auf den Augapfel sicher mit im Spiele und viel¬
leicht die alleinige Ursache.
Wenn auch die auffälligsten Wirkungen des Saugens in
Gestalt der Blutungen aus den oberflächlichen Venen klinisch
vollkommen den Blutungen gleichen, wie sie durch Stauung
z. B. nach Rumpfkompression, schwerem Brechakt' (vergl.
meine Erörterungen über „Multiple Haut- und Bindehaut¬
blutungen“, (D. Med. Wochenschr. 1901 No. 30) auftreten, so
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
960
spielen bei der Entstehung des Gesamtbildes doch noch andere
Vorgänge eine mehr oder weniger erhebliche Rolle. Z. B. die
Ueberdehnung der Haut macht die eingeschlossenen zart-
wandigen Venen einreissen; die Luftverdünnung veranlasst
Serum und Blutgase kräftig auszuströmen, wohl nicht
ohne Schädigung der Widerstand leistenden Gefässwand.
Der Luftverdünnung ist die Freisaugung der Meibom-
drüsenmündungen zuzuschreiben. Bei Abhebung der Lider
vom Augapfel führt die Saugung zur Abscheidung von Tränen
aus oberflächlichen akzessorischen Tränendrüschen, Entleerung
der Becherzellen und des in den Furchen und Falten der Binde¬
haut angesammelten Schleims.
Ueber die subjektiven Wirkungen des Saugprozesses ist
nicht viel zu sagen. Eine anhaltende Einwirkung von 30 bis
40 mm Druck macht sich als keineswegs unangenehmes oder
gar schmerzhaftes Gefühl des Angesogenwerdens der Lider
bemerkbar. Im Laufe der Zeit entwickelt sich unter der Glocke
eine eben fühlbar erhöhte Wärme. Der Lichtnebel der Netz¬
haut bleibt unverändert. Sofort nach Beendigung des Ver¬
suches angestellte Prüfungen der Refraktion und Sehschärfe
ergaben keinerlei Aenderung, wie auch keinerlei sonstige sub¬
jektive oder objektive Störungen auftreten, vorausgesetzt,
dass kein Druck auf den Augapfel selbst ausgeübt war. In
einem solchen Fall wurde über längeres verschleiertes Sehen
geklagt. Selbst wenn ich den Saugdruck am eigenen Auge bis
zur Grenze des Erträglichen gesteigert hatte, bemerkte ich
nach Abwischen der vermehrten Tränen keinerlei Funktions¬
störung. Die Saugung kann bei richtiger Technik für die
Augenfunktionen als völlig ungefährlich erklärt werden.
Saug Wirkung und deren Verwendung bei ge¬
wissen Krankheiten der Lider und Bindehaut.
Die Wirkung der im Saugprozess zusammen arbeitenden
Kräfte auf gewisse Krankheitszustände des äusseren Auges
studierte ich an mehr als 30 Personen. Die Saugung kam aus¬
nahmslos allein zur Anwendung, weil sich nur so ein klares
Bild von dem Einfluss dieser Grösse gewinnen und günstigen¬
falls ihr der künftige Platz neben bewährten Heilfaktoren
oder als deren Ersatz anweisen liess. Die grösste Mehrzahl
der Fälle betraf Hordeola in den verschiedensten Grössen
und Entwicklungsstadien, 6 Fälle chronischer und
3 akuteitriger Entzündungen der Meibom sehen
Drüsen in verschiedenen Stadien. 1 chron. Blepharo-
conjunct. uicer., 1 chron. Hyperämie und Ver¬
dickung des Lidrandes, 2 Furunkel der Aug-
braue, 1 kalten Drüsenabszess.
L Hordeolum. Als Saugglocke wurde die ausgesucht,
welche nach Grösse und Form des Randes am besten dem Ent¬
zündungsherd sich anpasste, damit die Hyperämie und das I
Stauungsödem sich möglichst um ihn konzentriere, wie das
auch von Bier empfohlen wird. Mehrmals, wo es sich um
gleichzeitige Hordeolenbildung am Ober- und Unterlid ’ oder
an weiter auseinanderliegenden Stellen desselben Lidrandes
handelte, kam eine die ganze Lidspalte umfassende platt¬
schmale Glocke in Tätigkeit. Wo es anging, das war die Mehr¬
zahl der Fälle, wurden 2 — 3 Saugsitzungen an einem Tag zu
je 15—30 Minuten veranstaltet, durchschnittlich mit 30—40 mm
Druck, gelegentlich mit nur 20, ausnahmsweise zirka 50 mm
Saugdruck. Am Ende der Sitzung fand sich regelmässig der
Entzündungsherd stark geschwollen und weicher wie vorher.
Die Lidbindehaut war stark gerötet, serös durchtränkt;
kleine Blutungen fanden sich nicht selten bis in die Gegend
der oberen Uebergangsfalte, mehr oder weniger reichliche
gelbliche bis gelbrötliche Schleimbeimengung zu den stark ab¬
gesonderten Tränen, am meisten, wenn unter dem Saugein¬
fluss eine Faltung des freien Lidrandes bewirkt, oder sonst
eine mechanische Läsion des Lides nicht vermieden war.
hast ausnahmslos wurde die Saugung keineswegs unan¬
genehm empfunden; gelegentlich machte sich das erste An¬
saugen und etwaige plötzliche Druckschwankung empfindlich
bemerkbar, hast ausnahmslos schwanden, oft schon nach
der ersten Sitzung, die stechenden Schmerzen und das
Spannungsgefüh 1, die bei manchem die Arbeitsfähig¬
keit aufgehoben und die Behandlung veranlasst hatten. Be¬
ginnende Hordeoien gingen unter der allei¬
nigen Saugbehandlung in der Mehrzahl der
Fälle schnell und restlos zurück. Bei schon
deutlicher Abszessbildung sah ich unter Schwund der akut-
entzündlichen Erscheinungen eine allmähliche Eintrocknung des
Herdes vor sich gehen, die aber in einzelnen Fällen eine uner¬
wünscht lange, wenn auch schmerzlose Verdickung bildete.
Sass der Eiterpfropf schon nahe unter der Hautoberfläche,
so entleerte er sich, allenfalls unter leichter Anritzung,
gleich in der ersten Sitzung, und eine zweite genügte, um auch
den verbleibenden Rest gründlich zu entfernen, wonach die
Heilung schnellstens erreicht war.
Einer der ersten so behandelten Fälle betraf 2 dicht beisammen¬
stehende, mächtige Hordeoien, nahe dem inneren Augenwinkel im
Oberlidrande mit einer grossen, kirschroten, ödematösen Lidschwel¬
lung und starker Schmerzhaftigkeit. Obwohl noch keine Abszess¬
bildung erkennbar war. sah ich schon bald nach Beginn des Saugens
mit zirka 50 mm Druck die Haut sich straff spannen und ein feines
Eiterperlchen vorquellen: bald wuchs es zu einem gelben höckerigen
Knötchen. An einer zweiten Stelle in der Nachbarschaft wiederholte
sich der Vorgang: die Glocke füllte sich mit gelbem Eiter. Nach
Abwischen sonderte die Wundoberfläche reichlich blutiges Serum ab;
dann wurde die Saugung fortgesetzt, und es quoll ein noch grösserer
nekrotischer Gewebspfronf hervor. Dies Mittags. Abends war Pa¬
tient völlig beschwerdefrei. Anderen Tages nach ruhigem Schlaf
waren die Entzündungserscheinungen bedeutend geringer und auf die
Nachbarschaft der Abszessöffnung beschränkt. In der folgenden
zweiten Sitzung entfernte ich aus zwei Oeffmingen nochmals einen
grossen nekrotischen Pfronf. Am nächsten Tage fand sich an der
Abszessöffnung nur etwas blutiger Schorf; die Haut war nur leicht ge¬
schwellt, gerötet und abschunnend. Eine 3. Sangsitzung ergab ledig¬
lich etwas blutig gefärbte Tränenflüssigkeit. Therapie beendet.
In einem Falle behandelte ich einen iugendlichen Patienten, der
seit 2 Jahren fast ohne Unterbrechung Hordeoien hatte, innerhalb
8 Tagen an 5 Hordeoien, indem ich beide Lidränder unter Saug-
byperämie brachte. Sie bildeten sich bis auf eins alle ohne Abs¬
zedierung wieder zurück und seitdem, d. h. seit 3 Monaten, hat sich
nach mir gewordener Mitteilung kein Hordeolum wieder gezeigt. Das
giM der Hoffnung Kaum, auf diesem Wege auch prophylaktisch wirken
zu können.
Nim wissen wir allerdings, dass sich der Prozess der
.Reifung“ verschieden schnell vollzieht, und dass ein Hor¬
deolum nach Entleerung des Eiterpfropfes in der Regel
schnell heilt. Auch spontaner Rückgang eines beginnenden
Hordeolums ist nichts Unerhörtes, ia, alle diese Vorkommnisse
spielen sich oft genug ohne jede Therapie ab. In den mit aus¬
schliesslicher Saugtherapie behandelten Fällen war die Hei¬
lung in der Regel am 2., spätestens am 3. Tage erreicht.
Als bemerkenswerteste Tatsache hebe ich hervor:
1. Einen Nachteil hatte die alleinige Saugbehandlung nicht:
der gelegentliche Rückgang mit Hinterlassung einer schmerz¬
losen Verdickung muss vielleicht als kleiner Nachteil ge¬
bucht werden; er lässt sich aber durch eine vorherige kleine
Inzision sicher verhüten.
2. Die von den Kranken gewünschte Befreiung von
Schmerzen trat fast immer sofort und nachhaltig ein.
3. Mehr oder weniger lästige und zeitraubende Heilbe¬
strebungen z. B. Anwendung von Umschlägen waren ver¬
mieden worden.
4. Die Kranken blieben ausser der Sitzung unbelästigt und
konnten schmerzfrei ihrer Arbeit nachgehen.
2. Chalazion. Auf das Chalazion äusserte sich die
Saugung ähnlich wie auf das Hordeolum. Der unmittelbare
Erfolg ist eine stärkere Durchtränkung, ein Weicherwerden des
Chalazions. In einem Falle sah ich bei einem frischen, erst seit
einigen Tagen bemerkten Chalazion innerhalb 6 Tagen
endgültige Zurückbildung bis auf eine umschriebene Binde¬
hautrötung. Dagegen blieb bei demselben Patienten ein seit
8 Monaten bestehendes Chalazion während einer 4 wöchigen
Saugbehandlung ohne irgend welchen erkennbaren Einfluss,
bis eine Inzision und Auskratzung ein schnelles Ende be¬
reiteten.
Em nach der Haut zu sich stark vorwölbendes hartes, zystisch
entartetes und leicht schmerzendes Cha'nzion mit entstehender, ent¬
zündlicher Umgebung verlor in wenigen Sitzungen Pöte. Schmerz und
Härte so sehr, dass die Patientin, höchst zufrieden mit ihrem Zu¬
stand, nur ungern in eine Inzision und Auskratzung einwilligte,
wovon allein ich ihr die Heilung versprechen konnte. Bei einem
anderen alten, nach der Haut durchgebrochenen Chalazion versuchte
ich vergeblich den sich aus der Höhle vorbuchtenden Pfropf und
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1961
weiteren Inhalt auszusaugen, sodass Messer und scharfer Löffel in
ihre Rechte traten. Bei einem grossen, durch Auskratzen entleerten
Chalazion hatte sich in die Höhle reichliches Blut ergossen. Mit
einem kleinen Saugrohr konnte ich am folgenden Tage einen Teil des
Blutes aus der Höhle saugen. Endlich glaubte ich dem Saugapparat
gute Dienste zu verdanken bei einem alten Chalazion, dessen Um¬
gebung sich weithin bei der Auskratzung als speckig und brüchig er¬
wies, sodass eine unregelmässige zerfetzte Wunde entstand. In
2 Tagen nach 3 Sitzungen, wobei ich die Saugglocke auf die Binde¬
hautfläche setzte, erzielte ich unter Abstossung eines zusammen¬
hängenden nekrotischen Qewebsfetzens eine reine und schnell heilende
Wundhöhle.
Vorläufig glaube ich, dass man sich beim Chalazion mit
Heilversuchen durch Saugung nicht allzu lange aufhalten
solle, und wenn nicht bald eine offenkundige Besserung ein-
tritt, zum Messer und scharfen Löffel greife. Ergänzend wird
dabei der Saugapparat manchmal eintreten können.
In 2 Fällen einer akuten Vereiterung Meibom scher Drü¬
sen mit bevorstehendem Durchbruch entleerte ich, von der
Bindehaut her saugend, ohne weiteres den Eiterinhalt als
lockeren Pfropf; damit war die Behandlung erledigt.
Bei einer mit lebhaften Schmerzen und äusseren Ent¬
zündungserscheinungen einhergehenden Vereiterung mehrerer
Meibom scher Drüsen der Oberlidmitte entleerte ich in 3
Sitzungen an 3 Stellen durch die noch nicht perforiert gewesene
Tarsalfläche eine grosse Menge Eiter und nekrotischer Ge¬
webefetzen, und damit war die Heilung erreicht. Hier schaffte
das Verfahren in 2 Tagen eine meines Erachtens unter anderen
therapeutischen Massnahmen mit ähnlicher Schnelligkeit, An¬
nehmlichkeit und Gründlichkeit nicht erreichbar gewesene
Heilung.
Vergeblich habe ich längere Zeit einen Fall von ulze¬
röser Lidrandentzündung behandelt. Auch die be¬
gleitende Bindehautentzündung wurde in keiner Weise beein¬
flusst.
Versuche mittelst Saugens Sekretansammlungen
in den erweiterten Ausmündungen der Meibom sehen Drü¬
sen zu beseitigen, hatten nur oberflächlichen Erfolg. Die
Auspressung schaffte schneller und gründlicher Hilfe.
2 Fälle von Furunkelbildung in der Augbraue
mit mandelgrosser derber Infiltration, die Lidöffnung hindern¬
dem Oedem, erheblicher Empfindlichkeit und Schwellung der
Präaurikulardrüse, kamen zur Saugbehandlung.
Hier gestattete die derbere Struktur der Gewebe die An¬
wendung stärkeren negativen Druckes — 50 mm und mehr. —
In beiden Fällen hätte ich sonst ein paar kräftige und tiefe
Einschnitte gemacht und feuchtwarme Aufschläge verordnet.
Zur Beobachtung des Einflusses künstlicher Hyperämie gab ich
ihr allein Raum und hatte dies im Interesse der Kranken nicht
zu bedauern.
Sie blieben bei ihrer Arbeit, erfuhren sofort eine Ver¬
ringerung der Schmerzen. In dem einen Fall war die Behand¬
lung am 3. Tage nach 8 Sitzungen unter Ausstossung eines zu¬
sammenhängenden, grüngelben, nekrotischen Pfropfes beendet.
Im 2. Fall, der nicht regelmässig sich der Saugung unterwarf,
trat nach 4 Sitzungen am 5. Tage die Heilung ein. Ich war in
beiden Fällen überzeugt, den Kranken ohne Messer — und
beide Patienten waren dafür besonders dankbar — und ohne
weitere Unbequemlichkeit schneller, wie auf andere Weise
möglich gewesen wäre, zur Heilung verholfen zu haben.
Als Nebenbefund sah ich bei einem der behandelten
Kranken am Halse einen pflaumengrossen, kalten Abszess.
Durch eine kleine Einstichöffnung sog ich in einer Sitzung etwa
2/3 des Inhalts aus, worauf sich der Rest ohne weiteres resor¬
bierte.
In der Saugbehandlung ist also auch nach meinen Beobach¬
tungen ein wertvolles Mittel zu erblicken, mit dem unter Um¬
ständen ganz für sich die Behandlung mancher entzündlichen
Prozesse der Lider zu schnellem Ende geführt werden kann.
Aber ich wende sie nicht stets ausschliesslich an und über¬
schätze ihre Verwertbarkeit für die Praxis nicht. Ebensowenig
wie Bier gehe ich in der Empfehlung bis zur Beiseitelassung
anderer bewährter Hilfsmittel. So z. B. möchte ich nicht immer
auf kleine Inzisionen verzichten, sicher dann nicht, wenn ich
bereits eine Eiteransammlung annehmen muss; sie werden die
Heilung beschleunigen und die erwähnte Umwandlung in
No. 40.
einen kalten Abszess mit längerer Aufsaugsdauer ver¬
meiden lassen. Auf die Anwendung feuchtwarmer Um¬
schläge möchte ich noch weniger verzichten, weil sie, wie dei
physikalische Apparat hyperämisierend, heilkräftig wirken.
Nach wie vor wird die hergebrachte 1 herapie in den zahllosen
Fällen ihre Dienste bewähren müssen, wo die Saugtherapie aus
äusseren Gründen nicht platzgreifen kann. Sie wird kaum dem
Kranken selbst überlassen werden können und auf die Hand
des Arztes in der Regel beschränkt bleiben. Zui Not liesse
sich statt eines genau dosierenden Apparates mit Manometer
ein kleinster Saugball anwenden, der keine wesentlich höheren
Druckkräfte als — 30 — 40 mm entwickeln kann. Damit würde
eine Entstellung der Lider durch Uebermass von Saugdiuck
zu vermeiden sein. Viel hinderlicher ist die für einen Durch¬
schnittskranken zu grosse Schwierigkeit, die kleine Saugglocke
genau über dem Herde anzubringen und durch längere
Zeit in beständiger Saugung zu erhalten. Von einer ungenau
oder gar daneben aufgesetzten Saugglocke oder einem alle
Augenblicke durch Lufteintritt unterbrochenen Saugen ist mehr
eine traumatische Misshandlung von Lid und Bindehaut, viel¬
leicht gar des Augapfels, weniger ein Heilerfolg zu hoffen.
In der Hand des sachkundigen Arztes wird
dagegen diese Behandlungsmethode frei von
Schädigung sein und in Gesellschaft oder
Ersatz anderer Massnahmen viel Gutes
wirken.
Aus der Universitäts-Frauenklinik zu Breslau (Direktor: Geh.-
Rat Prof. Dr. K ü s t n e r).
Ein Narkosenapparat mit Dosierungsvorrichtung.*)
Von Dr. Gotthard Schubert, Assistenzarzt der Klinik.
Wenn wir die Fortschritte auf dem Gebiete der Narkose in
den letzten Jahren verfolgen, so werden wir finden, dass das
Augenmerk aller, die sich eingehender damit beschäftigt haben,
auf eine möglichst genaue Dosierung des Narkotikums ge¬
richtet ist. Die Gefahren, welche eine Ueberdosierung des
Narkotikums mit sich bringt, und die Unmöglichkeit einer auch
nur einigermassen genauen Dosierung mittelst der auch jetzt
noch grösstenteils angewandten Tropfenmethode haben zur
Konstruktion verschiedener Narkosenapparate mit Dosierungs¬
vorrichtungen geführt. Braun, Geppert, Roth-Drä-
ger, Kionka-Krönig u. a. haben Apparate konstruiert
beziehungsweise angegeben, welche eine gewisse Dosierung
des dem Kranken zugeführten Narkotikums gestatten.
Allen diesen Apparaten haften jedoch teils die Nachteile
einer ungenauen Dosierung, teils die der Kompliziertheit und
Kostspieligkeit an. Diese Umstände veranlassten mich, einen
Apparat zu konstruieren, der sowohl eine genaue Dosierung
des Narkotikums zulässt, als auch infolge seines einfachen
Baues, seiner leichten Handhabung und geringen Preises für
jeden, auch den kleinsten Betrieb zugängig ist.
Eine kurze Beschreibung lasse ich an der Hand einer
schematischen Zeichnung (Fig. l) folgen.
A Maske.
a Exspirations¬
ventil,
b Inspirations¬
ventil,
c gabelförmig.
Metallrohr,
d Schwimmer.
B Qlasgefäss mit Wasser. C. Glasgefäss mit dem Narkotikum.
Fig. I.
Der Apparat besteht zunächst aus einer Metallmaske (A) ganz
ähnlich der Wanscher sehen, die an ihrem Rande mit einem
Gummischlauch versehen ist, welcher mit Wasser oder Luft angefüllt
werden kann und so bei Andrücken auf das Gesicht des Patienten
einen vollständigen Abschluss zwischen Atmungs- und äusserer^ Luft
gestattet. Die Maske kann auch mittelst eines Lederriemens auf dem
Gesicht befestigt werden. In der Maske befinden sich zwei \ entiie,
*) Im Auszuge vorgetragen in der Gynäkologischen GesellschaU
zu Breslau: Sitzung am 26. Juni 1906.
962
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT'.
No. 40.
eines (a) welches nur den Exspirationsstrom hindurchtreten lässt,
und ein zweites (b), welches sich nur der Inspirationsluft öffnet. Mit
dem letztgenannten Ventil steht der eigentliche Apparat durch einen
(jurnmischlauch und ein sich gabelförmig verzweigendes Metallrohr
(c) in Verbindung. Das Inspirationsventil war ursprünglich ganz
weggelassen worden, um jedoch gewissen Zufälligkeiten während
der Narkose, die weiter unten noch erörtert werden sollen, zu be¬
gegnen, hielten wir die Einschaltung eines solchen Ventils für an¬
gebracht.
Der eigentliche Apparat besteht aus zwei Qlasgefässen. Das
eine (B) von ihnen ist bis zu einer bestimmten Marke mit Wasser, das
andere (C) mit dem Narkotikum gefüllt. Beide Qefässe sind durch
Metalldeckel luftdicht verschlossen, in die je ein Ende des oben er¬
wähnten Metallrohres (c) eingelassen ist. In dem Deckel des mit
dem Narkotikum gefüllten Glases (C) befindet sich noch eine zweite
Oeffnung, in welche ein dünnwandiges Metallrohr so eingelassen ist,
dass bei luftdichtem Abschluss ein Auf- und Niedergleiten desselben
ohne jede Behinderung möglich ist. An dem Rohre 'ist eine Skala
angebracht, an welcher man den Verbrauch des Narkotikums ablesen
kann. Am unteren Ende befindet sich ein sogenannter Schwimmer
(d) aus dünnem Messingblech, welcher das Herabsinken des Metall¬
rohres nur bis zu einem bestimmten Punkte unter den Spiegel der
zur Narkose verwendeten Flüssigkeit gestattet. Innerhalb des
Schwimmers verzweigt sich das Rohr in mehrere kleinere Rohre,
welche auf seiner Unterfläche münden. An der Wand des Glases
ist eine Skala angebracht, an welcher man nach Emporheben des
Schwimmers den Füllungsgrad des Gefässes ablesen kann.
In den Metalldeckel des mit Wasser gefüllten Glasgefässes (B)
sind eine Anzahl, 8 — 10, verschieden kalibrierter, gleich langer Metall¬
rohre eingelassen, die nach oben hin durch eine Verschlussvorrich¬
tung (auf der schematischen Zeichnung nicht gezeichnet) luftdicht ab¬
geschlossen werden können. In der Wandung des Gefässes ist eine
Marke angebracht, welche angibt, wie hoch dasselbe vor dem Ge¬
brauche des Apparates mit Wasser gefüllt werden muss. Der Wasser¬
stand ist so gewählt, dass der negative Druck, welcher dazu erforder¬
lich ist, um Luft durch die in Wasser bezw. das Narkotikum
tauchenden Rohre anzusaugen, in beiden Gefässen gleich gross sein
muss. Dass er auch bei Verbrauch des Narkotikums — also bei.
Sinken des Flüssigkeitspiegels — in beiden Gefässen stets der gleiche
bleibt, dazu dient der dort angebrachte Schwimmer.
Mittelst einer Schraube kann der Apparat an den Operationstisch
selbst befestigt werden oder auf einem Tisch, einem Stuhl etc. in
der Nähe des Narkotiseurs seinen Platz finden. Zu beachten ist
dabei nur, dass der Apparat stets gerade stehen muss. Die Handhabung
des ganzen Apparates ist eine höchst einfache. Nachdem man die
beiden Gefässe mit Wasser bezw. dem Narkotikum gefüllt und die
Verschlussvorrichtungen der in das Wasser tauchenden Rohre zum
grössten Teile geöffnet hat, drückt man die Maske auf das Gesicht
des Patienten resp. befestigt sie mittelst eines Lederriemens. Der
sich nun abspielende Vorgang ist kurz folgender:
Bei jedem Atemzuge schliesst sich das Exspirationsventil. Durch
das sich öffnende Inspirationsventil wird Luft angesogen, die ge¬
zwungen ist, ihren Weg durch das Wasser bezw. das Narkotikum
zu nehmen. Bei der Exspiration schliesst sich das Inspirationsventil
und ein Zurückweichen der Ausatmungsluft in den Schlauch und
schliesslich den Apparat wird dadurch verhindert. Wie schon oben
erwähnt, habe ich zeitweise auch eine Maske nur mit einem Ex¬
spirationsventil, wie man sie an den Sauerstoffinhalationsapparaten
verwendet, benützt, von der Voraussetzung ausgehend, dass die bei¬
den Flüssigkeiten in den Qlasgefässen als Ventil wirken und ein Zu¬
rücktreten der Ausatmungsluft verhindern könnten. Die Narkosen
verliefen auch mit dieser Maske einwandsfrei, doch ereignete es sich
einige Male, im Anfang der Narkose, dass bei heftigen Hustenstössen
das Exspirationsventil die ausgeatmete Luft nicht fassen konnte, son¬
dern diese in den Schlauch zurücktrat und schliesslich Wasser und
Narkotikum aus den Rohren herausdrängte. Um dies unmöglich zu
machen, schaltete ich ein Inspirationsventil ein.
Verfolgen wir nun den infolge des negativen Druckes bei der
Inspii ation durch die Rohre der beiden Glasgefässe angesogenen
Luftraum weiter. In beiden Gefässen macht sich sein Einstreichen
durch Ansteigen von Blasen dem Ohre bemerkbar, welche in dem
Geiässe (C) gleichwie beim Schütteln ein leichteres Verdunsten des
Narkotikums zur Folge haben. Hier wird der Luftstrom mit den
Dampfen der zur Narkose verwendeten Flüssigkeit beladen, nimmt
dann seinen Weg durch das oben in den Deckel eingelassene Metall-
rohr (c), vereinigt sich an der Gabelung desselben mit der durch
das Gelass (B) angesogenen Luft und gelangt schliesslich mit jener
vermischt in die Maske und die Lungen des Patienten. Je nachdem
ich nun eine grössere oder kleinere Anzahl von den Rohren in dem
mit Vasser gekillten Gefässe (B), durch die ja der Patient nur reine
, aLr,nct’ ötfne oder schliesse, kann ich mit der Konzentration des
Narkotikums variieren.
Es wird sich empfehlen, im Anfang der Narkose fast alle Rohre
zu offnen, also eine möglichst geringe Konzentration der mit Luft
\ l i mischten Nurkotikumdämpfe zu wählen und erst dünn wenn sich
der Patient daran gewöhnt hat, diese ganz allmählidh zu steigern
bis das Toleranzstadium erreicht ist. Da der Apparat natürlich nur
bei luftdichtem Abschluss der Maske auf dem Gesicht des Patienten
funktionieren kann, ein solcher aber bei einem Zurücksinken der Zunge
und Anwendung unserer gewöhnlichen Zungenzangen unmöglich
würde, konstruierte ich ein Instrument, welches ein Fixieren, der
Zunge auch ohne Beeinträchtigung des Luftabschlusses gestattet.
Dieses Instrument (Fig. 2) besteht aus einer bogenförmig gekriimm-
a Gleitschiene,
b feststehender, gefensterter
Arm,
c beweglicher, solider Arm,
d Seidenfaden.
Fig. 2.
ten Gleitschiene (a), an deren einem Ende rechtwinkelig zu ihr ein
mit Riefen versehener gefensterter Arm (b) befestigt ist. Das andere
Ende der Gleitschiene ist geknöpft. Gegen diesen feststehenden
Arm ist an der Gleitschiene noch ein zweiter, solider, ebenfalls ge¬
riefter Arm (c) verschiebbar angebracht. Infolge der bogenförmigen
Krümmung der Schiene ist ein dauerndes, festes Fassen der zwischen
die Arme geklemmten Zunge auch ohne jede Sperrvorrichtung, die
das Instrument voluminöser und deshalb untauglich machen würde,
möglich. Mittelst eines an dem Instrument befestigten Seidenfadens
kann die Zunge leicht hervorgezogen und festgehalten werden, ohne
dass der Luftabschluss der Maske irgendwie beeinträchtigt wird.
Die Aichung des Apparates wurde in der Weise vorgenommen,
dass an Stelle der Maske eine Luftpumpe gesetzt und zwischen diese
und den eigentlichen Apparat ein Gasmesser eingeschaltet wurde.
Aus dem Quantum der durch den Apparat gesogenen Luft und dem
Verbrauche des Narkotikums Hess sich leicht bestimmen, wieviel
Bruchteile eines Gramms der Narkosenflüssigkeit der Patient bei einer
bestimmten Einstellung der Dosierungsvorrichtung pro Liter Luft zur
Einatmung erhält. Die betreffenden Werte sind natürlich je nach der
Weite der Rohre verschieden und müssen daher für jeden Apparat
bezw. Rohr besonders festgestellt werden. Das Quantum des pro
Liter Luft verbrauchten Narkotikums ist an der Dosierungsvor¬
richtung angegeben und zwar für Aether sowohl wie für Chloroform.
Der Apparat ist bisher in etwa 50 Narkosen (meist Lapa-
ratomien) erprobt worden und hat sich dabei sehr gut bewährt.
Es sind bisher nur Aethernarkosen zur Anwendung gekommen.
Bei Zimmertemperatur trat das Toleranzstadium gewöhnlich
nach 10, spätestens nach 15 Minuten ein, doch ist es uns auch
gelungen, in etwa 7 Minuten eine vollständig tiefe Narkose zu
erzielen. Die Menge des verbrauchten Aethers war bei den
einzelnen Individuen ganz verschieden und schwankt in der
ersten Stunde der Narkose zwischen 30 — 150 g. Ist erst einmal
das 1 oleranzstadium erreicht, so kommt man mit sehr geringen
Mengen aus. Ausser Aether liesse sich natürlich auch jedes
andere für Inhalationsnarkosen brauchbare Narkotikum ver¬
wenden oder auch Mischungen derselben wie sie Billroth,
Qeppert n. a. angegeben haben. Allerdings besteht dann
hier der Nachteil, dass das von dem Patienten eingeatmete
Gasgemisch mit der Elüssigkeitsmischung nicht in gleichem
Verhältnis steht, da beispielsweise Chloroform eine ganz
andere Verdauungsfähigkeit besitzt als Aether. Nun könnte
man ja zu den beiden Qlasgefässen noch ein drittes dem Ge¬
fässe C entsprechendes fügen, welches das zur Mischung ge¬
wünschte Narkotikum enthält. Da dies jedoch den Apparat
komplizierter gestalten würde und wir mit reinen Aethernar¬
kosen vollständig zufrieden sind, habe ich davon abgesehen.
Der oben beschriebene Apparat eignet sich meiner An¬
sicht nach nicht nur für den Krankenhausbetrieb, sondern auch
wegen seiner bequemen Handhabung und seines leichten Trans¬
portes (die Firma Hermann Haertel, Breslau, Weidenstr. 33
liefert denselben auch in einem tragbaren Kasten) für die all¬
gemeine Praxis. Speziell in der Geburtshilfe dürfte der Appa¬
rat dem Arzte gute Dienste leisten. Hier ist man oft ge¬
zwungen, die Narkose der Hebamme zu überlassen. Nachdem
man die Zufuhr des Narkotikums durch Einstellung der Do¬
sierungsvorrichtung in gewünschter Weise reguliert hat, kann
man dies auch ohne Besorgnis tun. Etwaige Unregelmässig¬
keiten in der Atmung werden sich dem Ohre des Geburts¬
helfers sofort durch das Aussetzen des brodelnden Geräusches,
welches durch die aufsteigenden Luftblasen bei jeder Inspi¬
ration hervorgerufen wird, bemerkbar machen und ihn zu
eventuellen Eingriffen noch rechtzeitig veranlassen. Ein wei¬
terer Vorteil besteht namentlich bei der Verwendung von
Aether in dem Ausschluss jeder Feuersgefahr. Der Narkotiseur
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MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1963
hat beide Hände frei und braucht nur die Dosierung zu über¬
wachen. Durch die Dämpfe des Narkotikums wird er in keiner
Weise belästigt. Der Verbrauch des Narkotikums reduziert
sich auf fast die' Hälfte des bei der Tropfmethode verwandten
Quantums. Die Dosierung des Narkotikums ist eine möglichst
genaue. Gewisse Ungenauigkeiten infolge der Verschieden¬
heit der Lufttemperatur werden sich auch hier nicht umgehen
lassen, doch dürften diese eine nur sehr geringe Rolle spielen.
Gegenüber anderen Apparaten besitzt der eben beschriebene
auch noch den Vorzug, dass er erkennen lässt, wieviel mit
jedem Liter Atmungsluft dem Patienten von dem Narkotikum
beigegeben wird. So wird beispielsweise bei anderen Appa¬
raten dem Patienten ein genau dosiertes Gemisch von Luft
(resp. Sauerstoff) + Narkotikum zugeführt, dieses Quantum
genügt jedoch nicht für eine Inspiration, infolgedessen muss der
Kranke das fehlende Quantum durch Luft, welches neben der
Maske eindringt, ergänzen. Da nun aber während einer Nar¬
kose die Atmung bald flacher, bald tiefer ist, so wird das
fehlende Quantum und damit wiederum die Dosierung nicht
unerheblichen Schwankungen unterworfen sein.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Geheimrat K ü s t n e r
spreche ich für das rege Interesse, welches er meinen Ver¬
suchen stets entgegengebracht hat, und für die gütige Ueber-
lassung des Materials meinen Dank aus.
Ein Fall von Pubotomie aus der Praxis.
Von Dr. med. M. Brenner in Heidelberg.
Die Literatur über Pubotomie wächst von Tag zu Tag, aus
den verschiedenen Kliniken werden Serien von Fällen ver¬
öffentlicht, so dass es überflüssig erscheinen möchte, mit dem
Bericht über einzelne Fälle hervorzutreten. Immerhin geben
die Mitteilungen aus Kliniken ein vielfach einseitiges Bild. Die
Gebärenden haben meist schon längere Zeit vor der Ent¬
bindung die Klinik aufgesucht, die Aerzte hatten Zeit und Ge¬
legenheit genug, sich nach Lage des Falles einen Plan für ihr
Eingreifen zu machen, sich zu überlegen, ob strikte Indikationen
abzuwarten sind oder die Säge prophylaktisch eingelegt
werden soll, ob die Entbindung an die Pubotomie anzu-
schliessen sei oder die Geburt spontan verlaufen soll.
Mit allen derartigen Erwägungen kommt man in - der
Praxis meist zu spät, hier hat man für die Indikationsstellung
keinen grossen Spielraum. Bei uns in Nordbaden wenigstens
wird der Arzt auch in besseren Häusern oft erst gerufen, wenn
die Hebamme eine dringende Indikation zur Geburtsbeen¬
digung findet. Die Frauen scheuen sich noch vielfach — unter¬
stützt von den Hebammen — , schon intra graviditatem ärzt¬
lichen Rat in Anspruch zu nehmen, und die Amme hält es für
ein Armutszeugnis, wenn sie einmal gar schon von vorne her¬
ein einen Arzt zuziehen soll. So kommt es, dass der Geburts¬
helfer — oft sehr zum Schaden der Gebärenden — erst zu einer
Zeit gerufen wird, wo seiner Handlungsweise kein grosser
Spielraum mehr gelassen ist, wo er für die Frau eingreifendere
Entbindungsverfahren vornehmen oder das Leben des Kindes
vernichten oder wenigstens gefährden muss!
Gerade in solch kritischen Lagen hat eine neue Operation
die beste Gelegenheit, ihren Wert zu zeigen, und ich glaube,
dass sich die Pubotomie — mit gewissen später zu besprechen¬
den Einschränkungen — in solchen Fällen glänzend bewähren
wird.
Am 10. IV. 06 um 4 Uhr wurde ich zu einer Kreissenden gerufen,
weil die Herztöne sich verlangsamten und die Geburt nicht vorwärts
ging.
24 jährige I. Para, die erst mit 3 Jahren laufen lernte und in der
Jugend stark verkrümmte Beine hatte. Letzte Periode um den
20. VII. 05. Wehen bestehen schon seit 3 Tagen, waren recht wech¬
selnd, aber stets sehr schmerzhaft. Die Blase war um 9V* Uhr ge¬
sprungen. Kleine Frau, an den Extremitäten keine rachitischen Ver¬
änderungen. Das Becken zeigt folgende Masse: Sp. 25,5, Ci. 28,0,
Tr. 32. Beaudelocque knapp 19,0, v. de Velde beiderseits 15,0.
Das Becken ist demnach in geringem Grade platt.
Muttermund fast völlig erweitert, Schädel im Beckeneingang
feststehend. Kl. Font., nur als Treffpunkt zweier kouvergierender
Nähte erkennbar, steht links vorne. Das Hinterhaupt ist äusserst hait
und unter die Scheitelbeine stark untergeschoben. Die Pfeilnaht ist
durch eine massige Kopfgeschwulst völlig verdeckt.
Beim Untersuchen geht stark mekoniumhaltiges Fruchtwasser
ab. Die Herztöne -- links vom Nabel — schwanken zwischen 110
bis 130, oft unregelmässig.
Die Wehentätigkeit ist etwas erlahmt, die einzelnen Wehen sehr
schmerzhaft und ohne jeden Eüekt auf den Kopf.
Zeichen drohender Ruptur bestehen nicht.
Zunächst wird in tiefer Narkose ein Versuch mit der Zange vor¬
genommen, der selbst in Hängelage ohne den geringsten Erfolg bleibt.
Eine stärkere Forcierung unterbleibt, um nicht das Leben des Kindes
zu gefährden, wie dies im Falle Seeligmanns von Bauereisen
dem Operateur zum Vorwurf gemacht wurde.
Die Wendung war unmöglich, man konnte also nur durch Sectio
caesarea aus relativer Indikation oder durch Pubotomie mit nach¬
folgender Zange ein lebendes Kind erzielen, wenn man nicht nach
einstweilen abwartendem Verhalten die Geburt durch Perforation
des lebenden oder inzwischen abgestorbenen Kindes vollenden wollte,
ohne der Mutter eine eingreifendere Operation zuzumuten.
Ich entschloss mich zur Pubotomie, zu der ich die Einwilligung
der Beteiligten erhielt.
Unter Assistenz meines verehrten Herrn Kollegen Dr. Roth¬
schild, dem ich an dieser Stelle für seine Liebenswürdigkeit meinen
besten Dank aussprechen möchte, wurde die Operation im Wesent¬
lichen folgendermassen vorgenommen:
Doederlein scher Schnitt über dem linken horizontalen
Schambeinast, Abdrängen des Periostes bis unter die hintere obere
Schambeinkante, Einführen des armierten Seeligmann sehen
Sägeführers unter digitaler Kontrolle von der Vagina aus. Ausstich
möglichst ausserhalb der medianwärts verschobenen linken grossen
Labie nach kleiner Inzision auf die Nadelspitze. Nach dem Durch¬
sägen sprang der Beckenring mit einem Ruck auf eine lVa querfinger¬
breite Distanz auseinander. Nach Entfernung des Instrumentes war
die Blutung ganz minimal. Tiefe Episiotomie rechts.
Nun wurde die Zange wieder im II. Schrägdurchmesser angelegt
und der Kopf ohne jede Mühe leicht, aber möglichst schonend, ent¬
wickelt.
Die kurze Nabelschnur war einmal, aber sehr fest um den Hals
geschlungen und konnte erst nach völliger Entwicklung des Kindes
gelöst werden. Das Kind, ein ziemlich kräftiger Knabe begann darauf
sofort zu schreien.
Der Uterus zog sich gut zusammen; trotzdem blutete es jetzt
sehr beträchtlich. Es fand sich ein nach vorne zu gelegener Scheiden¬
riss, in dessen Tiefe man die Knochenenden fühlen konnte. Durch
Tamponade von der unteren Operationswunde aus und durch manu¬
elle Kompression der Wundränder gegen den Knochen konnte die
Blutung leicht beherrscht werden. Bis zur Ausstossung der Nach¬
geburt, die Vz Stunde p. p. auf Crede leicht und vollständig kam,
wurde ein feucht ausgepresster, grosser Wattebausch in die Scheide
eingelegt, um die manuelle Kompression zu ersetzen, was auch voll¬
ständig gelang.
Nun folgte die Naht der verschiedenen Wunden. Die Naht des
Scheidenrisses machte wegen der Auflockerung und des Ueber-
hängens der Scheidenwände nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Die
Pubotomiehöhle wird mittels Jodoformgaze aus der unteren äusseren
Wunde drainiert.
Beim Katheterisieren p. op. kam klarer Urin in grösserer Menge,
völlig frei von blutiger Beimengung.
Bei der Entwicklung des Kindes fiel sein Austritt nach dem
Mechanismus der II Hh.-L. auf. Offenbar war nach der Pubotomie
die Pfeilnaht in den geraden Durchmesser getreten, die übrige ange¬
legte Zange drehte das Hinterhaupt nach rechts und der Rumpf folgte.
Bedauerlicherweise unterblieb eine Kontrolle der Kopfeinstellung nach
der Durchsägung.
Der Kopf ist stark dolichokephal konfiguriert, die Nähte stark
untergeschoben, grosse Kopfgeschwulst auf dem rechten Scheitel.
Die linke Schläfe zeigt eine tiefe Impression, offenbar vom Promon¬
torium herrührend. Die Kopfmasse etc. betragen
D. bitemp. 8,0 Umfang 36,5
D. bipariet. 10,0 Gewicht 3780.
Nach den anamnestischen Angaben hätte die Geburt schon am
25 —27. III. (statt 10. IV.) eintreten müssen. Die Grösse und Härte
des Kopfes dürfte demnach auf ein Uebertragensein von ca. 14 Tagen
zu beziehen sein.
Das Wochenbett verlief afebril, wenn man von einer einmaligen
abendlichen Steigung auf 38,0° absehen will, die durch Retention von
Lochien bedingt gewesen sein dürfte, da die Temperatur auf
Ergotin und vermehrten Ausfluss hin wieder dauernd normal wurde.
In der linken grossen Labie bildete sich ein beträchtliches Oedem,
das sich im Verlauf weniger Tage nach der Kommissur zu senkte und
verschwand.
Das Kind wurde gestillt.
Spontane Schmerzen bestanden an der Pubotomiestelle nicht,
nur blieb eine gewisse Druckempfindlichkeit des lateralen Knochen¬
endes längere Zeit bestehen. Die Distanz beträgt ungefähr Querfinger-
breite. Schon vom 7. Tage ab konnte das linke Bein aktiv gebeugt
und adduziert werden, nur die passive Abduktion machte etwas
Schmerzen an der Sägestelle. Vom Beginn der 3. Woche ab war die
3*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
1964
aktive Beweglichkeit des Beines im Bett in jeder Richtung völlig frei
und schmerzlos.
Am Anfang des Aufseins (Ende der 3. Woche) fiel der Patientin
das Gehen sehr schwer, das linke Bein konnte nicht vorwärts bewegt
werden, obschon keinerlei Schmerzen bestanden. Am Stock konnte
die Wöchnerin einige
Schritte humpelnd gehen.
Biese Gehstörung bestand
bis in die 5. Woche, ohne
dass man einen sie erklä¬
renden Befund erheben
konnte. Ein Kallus war
allerdings nicht zu kon¬
statieren, doch bestand
auch kein nennenswertes
Federn der Sägestellen
gegeneinander. Auch eine
Röntgenaufnahme konnte
uns darüber keine Er¬
klärung geben. Sie zeigt aber im Gegensatz zu dem Krömer-
schen Bild und zu den Ergebnissen im Experiment (S e 1 1 h e i m,
R o s e n f e 1 d) sehr deutlich ein stärkeres Klaffen des rechten, d. h.
des der Sägestelle kontralateralen Ileosakralgelenkes, an dem nach
Zweifel der längere Hebelarm wirkt.
Erst in der 5. Woche konnte Pat. ohne Stock gehen, wenn auch
noch etwas watschelnd und rasch ermüdend. Jetzt geht sie wieder
ohne Schwierigkeiten, steigt Treppen, macht grössere Spaziergänge
und fühlt sich völlig wohl.
Was an dieser Gangabnormität schuldig war, weiss ich
nicht. Ich habe sie aber erwähnt, weil bisher nicht über etwas
Aehnliches berichtet ist. Immerhin wird man sich nach un¬
serem Falle darauf gefasst machen dürfen, selbst wenn keine
erhebliche Spreizung und Schädigung der Ileosakralgelenke
vorliegt, die in unserem Falle sicher fehlte.
Die Verheilung der Sägestellen scheint eine bindegewebige
zu sein, da auch heute noch ein deutlicher Spalt zu fühlen ist.
Somit dürfte eine dauernde Erweiterung des Beckens erzieh
sein, wie sie sich auch in der Differenz der v. d e V e 1 d e sehen
Masse ausspricht. Das linke beträgt jetzt 17,0 gegen 15,0
rechts.^ Ausserdem kann man für spätere Geburten auf Grund
der Erfahrungen bei der Symphyseotomie und der neuerdings
von Reifferscheid mitgeteilten nach Pubotomie eine gün¬
stige Prognose stellen, umsomehr, als die ursprüngliche
Beckenverengung keine hochgradige war.
Betreffs der Technik möchte ich mit Reifferscheid
glauben, dass die Einführung der Nadel von oben her leichter
ist, als von unten, und dass Nebenverletzungen auf diese Art
sicherer zu vermeiden sind. Die Seeligmann sehe Nadel
hat den Vorzug, schon beim Durchstich die Säge miteinzu-
fiihren, ihre Beschaffenheit als Hohlsonde schützt die dahinter
gelegenen Weichteile, was namentlich bei einem Sägebruch
nicht ohne Wichtigkeit sein dürfte. Ausserdem liesse sich in
diesem Falle wohl leicht eine neue Säge einlegen, und man
brauchte nicht wie J essen auf die Vollendung der Pubotomie
zu verzichten.
Auf Grund der in der Literatur niedergelegten Gesichts¬
punkte habe ich auf die Schonung des Corp. cavernos. clitor.
von vorne herein verzichtet und nach dem Vorschlag Reif-
lerscheids die Nadel soweit nach unten und aussen ums
Schambein hermgeführt, dass eine Durchtrennung des Lig.
arcuat. gewährleistet war.
Die Extraktion mit der Zange war mit Rücksicht auf die
drohende Asphyxie im Interesse des Kindes geboten. Ob auch
in unserem Falle der Scheidenriss eine Folge der operativen
Entbindung war, ist wohl zuzugeben, wenn auch durch die
tiefe Episiotomie rechts Raum genug geschaffen war, um den
Kopf ohne stärkere Dehnung des Scheidenrohres durchtreten
zu lassen. Unter 50 Fällen aktiven Vorgehens sind 7 Scheiden¬
risse mitgeteilt, während bei 3 Fällen spontanen Verlaufs keine
Zerreissungen eintraten. Immerhin sollte man meinen, dass
die Zahl der Risse bei operativem Verhalten grösser sein
müsste, wenn man diesem allein die Schuld beimessen will.
Wenn man die ziemlich unmittelbare Befestigung des vor¬
deren unteren Abschnittes des Scheidenrohrs an der vorderen
Beckenwand, namentlich bei I. Parae beachtet, so könnte man
denken, dass das plötzliche Ausweichen seiner festen Unter¬
lage und die damit verbundene Querspannung und -zerrung
ieicht zur Zerreissung führen dürfte. Da die Blutung erst nach
Austritt des Kopfes in Erscheinung trat, muss man annehmen,
dass die Zerreissung nicht unmittelbar nach der Pubotomie,
sondern während des Kopfdurchtrittes entstanden war, falls
nicht der eintretende Kopf durch Kompression der Wand¬
ränder die Blutung zuerst zurückhielt.
Es wäre auch möglich, dass ein besonders harter und
grosser Schädel die Scheide derart an die Knochenkanten an¬
drückt, dass sie von diesen förmlich durchgeschnitten würde.
Dieser Vorgang ist bei der Annahme des Einspringens eines
Kopfsegmentes in den Knochenspalt leicht verständlich. In der
Literatur findet sich bei 8 Fällen operativer Geburtsbeendigung
und einmal bei Spontanverlauf der Vermerk: Kopf gross, oder
Kopf hart. In diesen Fällen kam es indes nicht zu Zerreis¬
sungen. Gerade bei den Fällen mit Scheidenrissen finden wir
bezgl. der Kopfbeschaffenheit keine näheren Angaben.
Es liegt wohl nahe anzunehmen, dass meist ein Zusammen¬
treffen mehrerer Momente nötig ist zur Bewirkung von Schei¬
denrissen: zur geschilderten anatomischen Besonderheit
kommt eine besondere Härte oder Grösse des Kopfes hinzu,
oder es kann bei der Entbindung nicht die genügende Rück¬
sicht auf mehr allmähliche Dehnung des Scheidenrohres ge¬
nommen werden.
Der Versuch, vor der Pubotomie das Kind mit der Zange
zu entwickeln, war meines Erachtens mit Rücksicht auf die
gefundene Beckenmasse gerechtfertigt, und ich glaube der
prinzipiellen Verwerfung eines Zangenversuches, wenn man
einmal die Pubotomie ins Auge gefasst hat, entgegentreten zu
müssen, wie dies auch Seeligmann neuerdings zu seiner
Rechtfertigung getan hat. Wie oft gelingt es doch mit der
Zange, den feststeckenden Kopf noch durchs Becken zu bringen,
ohne Mutter und Kind zu gefährden ! Vor allem ist eine genaue
Beachtung der Beckenmasse und der Beschaffenheit des Kopfes
nötig, und man muss sich hüten, allzugrosse Gewalt anzu¬
wenden. Gelingt der Versuch namentlich in W a 1 c h e r scher
Lage bei mittelstarken Traktionen nicht, dann soll man ein
Forcieren im Interesse des Kindes unterlassen und die Pu¬
botomie machen.
Viele Forscher sind bestrebt, die Pubotomie so zu ge¬
stalten, dass sie auch in ausserklinischen Verhältnissen und
von nicht spezialistisch geschulter Hand ohne Gefahr ausge¬
führt werden könne; dann wäre die Operation allerdings eine
bedeutende Errungenschaft, die man im Interesse mancher
Kinder, die sonst lebend perforiert wurden oder intrauterin zu
Grunde gehen mussten, aber auch mancher Mütter, denen die
Ruptur drohte, freudig begrüssen müsste.
In der Tat hat man durch Ausgestaltung der subkutanen
Methoden die Infektionsgefahr beträchtlich verringert, die
Technik vereinfacht, man hat die nur geringfügige Bedeutung
und leichte Beherrschung der Blutung kennen gelehrt, sodass
nichts im Wege stände, die Operation ihren Siegeszug in die
Praxis antreten zu lassen. Andererseits vernehmen wir doch
Stimmen, die die Operation wenigstens vorläufig in die Klinik
verweisen oder sie nur von spezialistisch geübter Hand ausge¬
führt wissen wollen.
Nichts ist wohl einfacher, als eine unkomplizierte subkutane
Pubotomie ! T reten aber Komplikationen hinzu, so könnte unter
primitiven Verhältnissen die Gefahr für die Frauen doch recht
beträchtlich werden. Schon die exakte Naht einer Scheiden-
zerreissung an ihrer Vorderseitenwand ist bei der Auflockerung
aller Wände und bei gar noch vorhandener Blutung nicht so
leicht durchzuführen. Bleibt aber die Wunde offen oder geht
sie wieder auf, dann ist einer gefährlichen Infektion Tür und
Tor geöffnet, wie eine Erfahrung von D ö d e r 1 e i n lehrt, wo
längere Zeit hohes Fieber bestand. Auch für den Fall einer
nicht durch Tamponade zu beherrschenden Blutung — man
denke nur an eine anatomische Abnormität im retropubischen
Arterienplexus — ist eine geschulte Hand und gute Assistenz
nötig, die im stände ist durch Freilegung der ganzen Wund¬
höhle die Blutung nach chirurgischen Regeln zu beherrschen.
So möchte auch ich mich den Autoren anschliessen, die
vor der Ausführung der Pubotomie von nicht geübter Hand
und unter primitiven Verhältnissen der Praxis warnen, ehe
man ein einheitliches, sicheres und exaktes Verfahren gefunden
hat, das die Gebärenden und den Arzt vor Gefahren bewahrt.
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1965
Aus der chirurgisch-orthopädischen Anstalt des Sanitätsrats
Dr. Herrn. Nebel in Frankfurt a. M.
Fusshalter zur Fixierung des Fusses bei Verband- *
anlegung.
Beschrieben von Dr. W. Burk, Leiter der Anstalt.
Jeder Arzt, der schon in der Lage war, mit ungeübter Assistenz
einen fixierenden Verband an den unteren Extremitäten anzulegen,
ist sich der Schwierigkeit bewusst, die es erfordert, eine exakte Ein¬
haltung einer gewünschten Euss- oder Beinstellung zu erreichen,
namentlich, wenn es sich um Korrektion von Dislokationen oder patho¬
logischen Stellungen überhaupt oder um Ausübung permanenter Ex¬
tension handelt. Die Schwierigkeiten steigern sich noch, wenn der
fixierende Verband die Stellen des Beines mit einbezieht, an denen
die Korrektion, bezw. Extension, durch die Assistentenhand ausgeübt
wird. Häufiger Händewechsel des Assistenten ist nötig, um Raum
für die Verbandanlegung zu geben, und damit
ist ein Nachlass, ja häufig ein Verlust der
erreichten Korrektion und Extension unver¬
meidlich, und die richtige Stellung muss wie¬
der ruckweise, häufig unter Schmerzen fin¬
den Patienten, erreicht werden. Die Ueber-
legung nun, wie wichtig gerade bei Stellungs¬
korrektionen spez. des Fusses (Plattfuss,
Klumpfuss, Spitzfuss etc.), welche durch müh¬
same orthopädische Operationen erreicht wur¬
den, die exakte Innehaltung der erreichten
Korrektion ist, führten Herrn Dr. Hermann
Nebel zur Konstruktion des zu beschrei¬
benden patentamtlich geschützten Apparates
(Fig. I).
Derselbe besteht aus 3 Hauptteilen:
A. Der Stell¬
schraube nebst Griff¬
platte und -Bügel zur
Befestigung des Appa¬
rates an einer Tisch¬
platte.
B. dem Mittel¬
stücke, welches an
der Oberseite der
Griffplatte horizontal
angebracht ist.
C dem am di¬
stalen Ende von B.
mittelst Charnierge-
lenk befestigten Kreuz-
fusshalter, welcher
aus einem vertikalen
Cc'), und einem, durch
Ausschnitte dieses hindurchzusteckenden horizontalen (c”) eiser¬
nen Schenkel besteht. In der Höhenrichtung ist das Fusskreuz
durch Lösung der Stellschraube h innerhalb des Stahlmantels 1
verschieblich. Der Stahlmantel 1 ist innerhalb eines zweiten eben¬
solchen Mantels m gelegen, und in demselben durch Lösung der
Stellschraube i um die vertikale Achse drehbar1). Der Stahl¬
mantel m ist durch ein horizontal drehbares Charniergelenk n mit B
verbunden. An der Unterseite des letzteren befindet sich ein mit
einer Stellschraube k versehener Zapfen r, welcher zwischen den
Platten eines, durch ein Charniergelenk mit dem unteren Ende von m
beweglich verbundenen Metallstückes q steckt. Durch Anziehen der
Stellschraube k werden die beiden Platten von q gegen den Zapfen r
angepresst und damit ist es möglich, weil das mit m verbundene q
horizontal in die Riefung von r gleitet, die Bewegung im Charnier¬
gelenk n und damit die Beweglichkeit des Fusskreuzes in der Bild¬
ebene zu regulieren. Den Zapfen r verbindet mit dem Griffbügel A
eine parallel und etwas seitlich unterhalb B verlaufende Schraube
ohne Ende e. Dieselbe ist durch einen Schlüssel drehbar und trägt
am einen Ende den Haken f zum Einhängen einer kleinen Kette g,
welche ebenfalls an ihrem Ende einen kleinen Haken trägt. Die¬
selbe läuft über die am freien Ende der Griffplatte A befindliche
Rolle f’.
Die Lager der Schraube e sind im Griffbügel o und im Zapfen r.
Eine wichtige Rolle spielt der kleine, leicht zu lösende und fest¬
zustellende Stellring d. Wird derselbe vor dem Zapfen r festgestellt,
so gleitet e beim Schrauben durch das Lager in o hindurch, die
Distanz zwischen r und A vergrössert sich, und das mit dem Zapfen
fest verbundene B gleitet auf der Griffplatte. Ist ider Fuss am
Fusskreuz und das Becken auf dem auf Abbildung ersichtlichen Ex¬
tensionsschlitten fixiert, so wirkt die Yergrösserung der Distanz
Fig. 1.
D Ein einfacher Fusshalter, bloss aus A und C bestehend, welcher
Pro- und Supination gestattet, Plantar- und Dorsalflexion aber nur
durch Höher- und Tieferstellen des Fusskreuzes, ist bei Mechaniker
Georg Ditthorn, Frankfurt a. Main, Hochstrasse 40 part. für Mk. 20
erhältlich.
zwischen r und A im Sinne der Extension des Beines. Die er¬
reichte Extension lässt sich durch Anziehen der Stellschraube b oben
auf B permanent erhalten. Wird der Stellring d gelöst, so ver¬
ändert sich die Distanz r— A nicht, und die Schraube gleitet im Sinne
der Schraubenwindungen durch die Lager hindurch, und übt damit,
an der am vorderen Ende derselben eingehakten, über der Rolle f
laufenden Kette g einen Zug aus. Hänge ich nun den Haken der
Kette g, in die mit einen Loch versehene festgestellte Schraube h
bei gelöster Schraube i ein, und drehe mm an der Schraube e, so
dreht sich der horizontale Schenkel des Fusshalters in der auf der
Bildfläche senkrechten Ebene durch Zug der Kette. Damit erfolgt,
je nachdem ich die Kette von rechts oder von links her in die
Schraube h einhänge, Pro- bezw. Supination des am Fusshalter
fixierten Fusses. Hänge ich die Kette g oberhalb des Mantels 1 an
den vertikalen Schenkel des Fusskreuzes ein, so erfolgt bei Ver¬
kürzung derselben Bewegung im Charniergelenk n bei gelöster Stell¬
schraube k, und damit Dorsalflexion des am Fusskreuze fixierten
Fusses. Hänge ich unter denselben Bedingungen die Kette unterhalb
1 an c’ an, so erfolgt bei Verkürzung derselben Plantarflexion. Die
jeweils erreichten Stellungen lassen sich durch Anziehen derjenigen
Schrauben fixieren, welche zur Ausführung der diesbezüglichen Be¬
wegungen zuvor gelöst werden mussten.
Es erübrigt noch die Verbandanlegung selbst in dem Apparat
zu beschreiben:
Bei Verbänden nach Frakturen, Osteotomien etc., überhaupt bei
allen Verbänden, welche Extension erheischen, wird der Patient
zweckmässiger Weise auf den, in der Abbildung II ersichtlichen
Extensionsschlitten, der ebenfalls von Herrn Dr. Nebel konstruiert
ist, gebracht. Derselbe besteht aus einem horizontalen Brett, das an
den Längsseiten auf der Oberseite zwei hohigekehlte Leisten trägt.
In diesen gleitet ein horizontal verschieblicher, verstellbarer Sitz mit
Beckenstütze. Das Gleiten des Sitzes wird durch Anziehen eines
kräftigen Riemens, der einerseits an der Rückseite des Sitzes, an¬
dererseits an dem horizontalen Unterlagebrett angebracht ist, bewirkt.
Der Patient wird durch Anziehen zweier, von der Vorderfläche zur
Seitenfläche des Sitzes verlaufenden gepolsterter Riemen auf dem
Sitze festgeschnallt (siehe Fig. II). Der Fuss wird nun in einer noch
Figur II.
zu besprechenden Weise an dem Fusskreuz durch einige Bindentouren
fixiert, nachdem der Fusshalter in -der Verlängerung der Beinachse
an die Tischplatte festgeschraubt ist. Die Extension kann nun in der
oben angegebenen Weise entweder am Apparat, oder durch Anziehen
eines Riemens an der Hinterseite des Extensionsschlittens bewirkt
werden. Die Anwendung des Fusshalters selbst geschieht in folgen¬
der Weise:
Der Apparat wird in der Verlängerung der Beinachse fest an
die Tischplatte angeschraubt. Hierauf werden die beiden Schenkel des
Fusskreuzes mit etwas Oel oder Fett beschmiert, um sie nacher
leicht aus dem Verband herausziehen zu können. Nun wird der Fuss
mit einigen Touren einer gewöhnlichen Nesselbinde in der Höhe des
Fusskreuzes fest gegen letzteres angezogen, und zwar so, dass die
Ferse den vertikalen Schenkel berührt, und der Grosszehenballen
etwas oberhalb des horizontalen Schenkels zu liegen kommt. Die
Bindenenden werden dicht unter der Ferse einmal geknotet, und
dann unterhalb der Stellschraube h fest geknüpft. Nun erfolgt der
wichtigste Akt, die Stellungskorrektion. Dieselbe hat am besten
manuell und äusserst vorsichtig und allmählich zu erfolgen, nament¬
lich wenn der Patient nicht narkotisiert ist. Man kann dieselbe
auch mittels Anwendung der Kette vorsichtig maschinell erzielen.
Ist die gewünschte Fussstellung erreicht, so werden sofort die dies-
1966
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
bezüglichen Stellschrauben zur Erhaltung des erzielten Resultates
angezogen. Um Missdeutungen vorzubeugen, betone ich aber aus¬
drücklich, dass der Apparat keineswegs dazu konstruiert ist, um auf
torcierte Weise, z. ß. bei angeborenen Deformitäten, gewünschte
bussstellungen zu erreichen und durch den Verband stabil zu er¬
halten.
Es' lässt sich durch den Eusshalter eine Stellungskorrektion des
Fusses im Sinne der Plantar- oder Dorsalflexion, der Supination oder
Pronation erreichen. Auch lassen sich die einzelnen Bewegungen
kombinieren.
Die Anwendung des Apparates ist aus der gegebenen Beschrei¬
bung ohne weiteres ersichtlich. Als Beispiel diene die Verband¬
anlegung bei einem redressierten Klumpfuss.
Dorsalflexion und Pronation des Fusses.
a) manuell:
1. Lösen der Schraube k.
2. Dorsalflexion des Fusses.
3. Anziehen der Schraube k.
4. Lösen der Schraube i.
5. Pronation des Fusses.
6. Anziehen der Schraube i.
b) maschinell:
1. Wie bei a.
“■ E*nhängen der Kette g an f und oberhalb 1 an c’, und Lösung
des Stellringes d.
3. Dorsalflexion durch Verkürzung der Kette g mittelst der
Schraube e.
4. Anziehen der Schraube k.
5. Lösung der Schraube i.
6. Einhängen der Kette g von links her (vom Patienten aus ge¬
sehen) in die angezogene Schraube h und in f.
7. Verkürzung der Kette durch Drehen der Schraube e.
8. Anziehen der Stellschraube i.
Ist das fixierende Material genügend erhärtet, so wird die den
russ am Fusskreuz fixierende Nesselbinde oberhalb des unter der
berse befindlichen Knotens durchgeschnitten. Die Schenkel des
Kreuzes, welche völlig in den bis zu den Zehenspitzen reichenden
Verband mit hineinfallen, lassen sich mit leichter Mühe herausziehen
Die durch dieselben verursachten 4 kleinen Löcher des Verbandes
werden mit Gipsbrei verstrichen und der Verband ist vollendet.
Der Eusshalter ist durch seine Handlichkeit (? kg schwer, 40 cm
lang) überallhin mitzuführen und leicht anzubringen. Er erspart
dem Arzt bei Verbandanlegungen an den unteren Extremitäten man¬
chen Aerger und manche Schwierigkeiten 2)
Aus der chirurgischen Universitätsklinik zu Heidelberg
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Czerny, Exz.).
Eine neue waschbare Bauchbinde.
Von Dr. med. H e r m i n e Maas, approb. Aerztin, früher
Med. Prakt. der Klinik.
• ^ie Tatsache, dass sehr viele Bauchbinden existieren, ist ein Be¬
weis dafür, dass die meisten irgendwelche Mängel haben, und es ist
Grund genug vorhanden, immer wieder etwas Neues zu versuchen.
f +• ine,r ^*eser Mängel ist wohl der, dass die Binden meistens
fertig gekauft und nicht für jede einzelne Patientin extra angefertigt
werden, ein anderer der, dass die Binden über dem Hemd und nicht
aui dem blossen Leib getragen werden.
Das letztere hat gewiss seinen Grund darin, die direkte Be-
ruhrung der Haut durch die an der Binde angebrachten Metall- oder
Eischbeineinlagen zu verhindern.
Diese Binden mit Metall- oder anderen Einlagen sind auf einfache
Art kaum zu reinigen, und man braucht sich daher auch nicht zu
wundern, wenn man in der poliklinischen Praxis bei Frauen, welchen
die chemische Reinigung zu teuer ist, Leibbinden sieht, die nach
mehrwochentlichem Tragen alles eher als ein sauberes Aussehen
ex Ande'e E’ntfen, welche diese Fehler nicht haben, aus weichem
: o r gearbeitet und waschbar sind, legen sich zwar dem Abdomen
in der ersten Zeit sehr schön an und werden auch gerne von den Pa¬
tientinnen getragen; sie verlieren aber nach kurzer Zeit die Form
sclmimpfen zusammen, verursachen Schniirfurchen und sind, wenn sie
dem Abdomen wirklich eine Stütze geben sollen, nur durch Schenkel-
riemen eimgermassen nach unten zu halten.
Die Schenkelriemen wiederum sind sehr schwer zu reinigen
und schneiden oft so sehr ein. dass die Patientinnen das Tragen der
Bmde^ überhaupt aufgeben müssen.
. , Scf’liess,icl1 ist die Art, wie die Binde angemessen, und wie sie
lederzeit von der Patientin selbst angelegt wird, bestimmend für den
guten Sitz der Binde und den Zweck, den sie erfüllen soll.
Die häufigsten Indikationen zum Tragen einer Bauchbinde sind
~ } Der »Eusshalter zur Verbandanlegung“ ist bei Mechanik
!?■ ^ E'tthorn, Frankfurt a. M., Hochstrasse 40 part. zu Mk. 50 e
halthch, der Extensionsschlitten eben daselbst für Mk. 30.
Enteroptosen, postoperative Hernien und Gravidität.
Der Zweck einer Binde ist. den durch schlaffe Bauchdecken ent¬
standenen Hängebauch zu heben, ihn von unten her zu stützen und
ihn in dieser Stellung zu fixieren.
Die Binde soll so gearbeitet sein, dass sie sich weder nach oben,
noch nach unten verschiebt, dass sie keine Schniirfurche und keinen
Dekubitus verursacht. Sie soll waschbar und angenehm zu tragen
sein.
Ich habe nun versucht, eine Bauchbinde zu konstruieren, welche
diesen Anforderungen genügt und in erster Linie bei Enteroptosen und
postoperativen Hernien anzuwenden ist.
\\ enn die Binde gut sitzen soll, so sind die Vorbedingungen, dass
sie auf dem blossen Leib getragen und nach Maass angefertigt werde.
Es ist klar, dass auf dem blossen Leib nur waschbare Binden
getragen werden sollen. Um dies auf einfache Art — hauptsächlich
dem poliklinischen Publikum — zu ermöglichen, habe ich zur Her¬
stellung der Binde einen Stoff gewählt, der das Kochen in der Wäsche
vertragen kann, ohne „einzugehen“, — also keinen Wollstoff — ,
ferner habe ich die Anwendung von Metalleinlagen und Schnallen etc.
auf ein Minimum beschränkt und die wenigen unvermeidlichen Metall¬
stäbchen und Schnallen so befestigt, dass sie durch Auftrennen von
wenigen Stichen oder durch Abknöpfen sehr leicht zu entfernen sind.
Die Art der Herstellung der von mir konstruierten Bauchbinde
ist folgende:
Aus einem waschbaren, festgewebten Stoffe, der sich nicht
d e h n e n lässt, schneidet man eine Binde, die der Form des Abdomens
der betreffenden Patientin entspricht. Vorne bedeckt sie das ganze
Abdomen von der Nabel- bis zur Symphysenhorizontalen, wird nach
hinten zu schmäler und reicht in der Rückenmitte etwa vom II bis
zum V. Lendenwirbel.
Diese Binde legt man der in Beckenhochlagerung sich
befindenden, nicht der aufrecht stehenden und nicht der
horizontal liegenden Patientin an, und zwar so, dass die beiden
Rückenteile der Binde fest aneinanderschliessen, macht dann die
Binde vorne durch Abstecken von einer Anzahl Keilnähten so passend,
dass sie ohne eine Falte dem Abdomen glatt anliegt.
Es ist klar, dass, wenn die Patientin aufrecht steht, der Leib das
Bestreben hat, in seine alte Lage zurückzufallen. Dies wird dadurch
verhindert, dass man einen festgewebten Stoff, welcher sich
nicht dehnen lässt, zu der Binde verwendet. Durch einen ge¬
eigneten Verschluss, wie er aus Abbildung No. 4 ersichtlich ist, wird
dei Leib fixiert. Die Patientin darf sich die Binde niemals im
Stehen, sondern nur in Beckenhochlagerung anlegen.
Als Ersatz für die mit Recht so verhassten Schenkelriemen habe
ich eine der Menstruationsbinde analoge Bandage angebracht, welche
hinten und vorne angeknöpft wird. Vorne hat sie zwei Reihen
Knopflöcher, kann also je nach Belieben fester angezogen werden, und
tuigt demnach noch dazu bei, den Leib zu heben und zu stützen und
das Verschieben der Binde nach oben zu verhindern. Diese Bandage
ist mit weichem Stoff gefüttert, verursacht keinen Dekubitus und
stört auch nicht beim Gehen, wie mir bis jetzt von sämtlichen Pa¬
tientinnen versichert wurde. Sie kann jederzeit gewaschen und
eventuell auch als Menstruationsbinde benutzt werden.
Damit auch an anderen Stellen, jedweder Dekubitus vermieden
werde, sind ausser zwei kleinen, an den Rückenteilen der Binde be¬
findlichen Stäbchen weder Fischbein- noch Metalleinlagen an der
Binde angebracht, ferner sind die Teile der Binde, welche den
fettarmen Stellen des Körpers, also z. B. den Darmbeinkämmen, an-
liegen, mit weichem Stoff gefüttert.
Um das Entstehen von Schniirfurchen zu verhindern, schliesst
ein etwa 5 cm breiter, ebenfalls mit weichem Stoff gefütterter Gürtel,
welcher der Form des Abdomens angepasst ist, die Leibbinde nach
obenhin ab.
An den Seitenteilen sind Gummibänder, die einmal als Strumpf-
haltei^ dienen und so einen Ersatz für die runden, Varicen verursachen-
den Strumpfbänder bieten, und die ferner durch den Zug nach unten
verhindern, dass die Binde sich nach oben verschiebt.
Die Abbildung No. 1 zeigt eine Frau mit einer kleinkindskopf¬
grossen postoperativen Hernie; No. 2: dieselbe Patientin mit der
von mir konstruierten Binde (Seitenansicht); No. 3: Die Binde in
Vorder-, No. 4: die Binde in Rückenansicht.
Für eine ganze Reihe von Patientinnen der chirurgischen Klinik,
welche z. I . wegen hochgradiger Enteroptosen oder postoperativer
Hernien zu uns kamen, habe ich derartige Binden anfertigen lassen.
I lese Patientinnen erzählten meistens, dass sie bereits verschie¬
dene Binden zu tragen versucht hatten, dies aber wieder aufgeben
mussten weil die Binden entweder „heraufrutschten“ oder infolge
der vielen Metalleinlagen drückten, oder auch nach vierwöchent-
Iichem Tragen dem Leib keinen Halt mehr boten, wenn sie aus
weichem dehnbaren Stoffe hergestellt wurden. Als einen grossen
Mangel empfanden es die Frauen, welche etwas auf Sauberkeit hiel¬
ten, dass die Binden nicht waschbar seien.
Dieselben Patientinnen konstatierten nun aber beim Tragen der
neuen Bauchbinde grosse Erleichterung ihrer Beschwerden; sie er¬
klärten, dass sie in ihren Bewegungen keineswegs gehindert seien,
dass sie durch die Binde tatsächlich eine Stütze für den Leib hätten,
und dass sie jetzt viel besser als früher ihrer Arbeit im Hause und auf
dem Felde nachgehen könnten.
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCE1E WOCHENSCE1RIFT.
1967
Dies und besonders die Waschbarkeit einer Binde, welche trotz
des Waschens ihre Form bewahrt, wird von allen Patientinnen als
grosser Vorzug betrachtet.
Fig. 1.
Fig. 2.
Uterushaltezange.
Von Dr. Prüsmann, Frauenarzt in Dresden.
Während meiner Tätigkeit als Assistent der Kgl. Universitäts-
Frauenklinik Berlin (Geh. Medizinalrat Prof. Dr. O 1 sh au s e n) hat
sich uns oft der Mangel einer zweckmassigen Uterushaltezange >e-
merkbar gemacht, mit welcher der Uterus bei abdominalen Opera¬
tionen sicher und fest angezogen werden kann, ohne Gefahr zu laufen,
dass das Instrument abgleitet, die Serosa verletzt und so zeitraubende
Umstechungen benötigt werden. Deshalb liess ich ein Instrument an¬
fertigen, dessen Branchen so konstruiert sind, dass sie die konfigurier-
bare Masse des Uteruskörpers derartig von unten her fassen, dass
ein Abgleiten kaum möglich ist, ohne dabei jedoch das Gewebe des
Uterus irgendwie zu verletzen. Ausserdem besitzen die Griffe eine
solche Krümmung, dass das Operationsfeld für den Operateur gänz¬
lich frei bleibt.*)
Ein Apparat zur Entnahme kleiner Blutmengen.
Verschiedene Mittel und Wege sind bereits angegeben worden,
um bei der Entnahme kleiner Blutmengen das Ansaugen mit dem
Munde zu vermelden. Aber es bedarf kaum dieses Beweises, um zu
zeigen, dass aus leicht verständlichen Gründen das Letztere als
unangenehm empfunden wird. Beharrte man trotzdem bisher fast
allgemein dabei, so ist der Grund nur darin zu suchen, dass den
bisherigen Ersatzmitteln immer noch erhebliche Mängel anhafteten.
Der nebenstehend abgebildete Apparat sucht dieselben zu vermeiden.
Fig. 3.
Fig. 4.
Allerdings bedarf die Herstellung der Binde nicht nur giossei
Geschicklichkeit und Ausdauer von seiten des Bandagisten, sondern
auch grosser Geduld seitens der Patientin, die sich einer mehrmaligen
Anprobe unterziehen muss. 0
In dieser Beziehung gab es bis jetzt keine Schwierigkeiten; und
erfreulicherweise konnten wir wahrnehmen, dass sogar Frauen aus
dem Arbeiterstande die Kosten einer mehrmaligen Reise nicht
scheuten, wenn sie nur eine gutsitzende Binde bekamen.
0 Für Heidelberg und Umgegend liefert die Firma Friedrich
Dröll, Heidelberg, Bergheimerstr. 5, die „Bauchbinde nach Dr. Her¬
mine Maas“ (D. R. G. M. angemeldet) zum Preise von 16 M. bis
20 M„ je nach Ausführung, und gibt Auskunft über Erteilung von
Lizenzen etc.
Die Kapillarpipette wird mit ihrer Spitze nach aussen oder
vorn gerichtet von den federnden Backen am Ende des Hartgummi-
stäbchens festgeklemmt. Der Schlauch, dessen Volumen je nach dei
aufzusaugenden Flüssigkeitsmenge z. B. bei der grossen Zählkammer
für rote Blutkörperchen beim Thoma-Zeiss sehen Apparat gros¬
ser, bei der Kapillare für den Sahli sehen Hämometer kleiner sein
muss, wird nun zwischen die federnden Backen der Klemme ge¬
presst und mit dem Hartgummistäbchen zusammen durch das Loch
an ihrer Krümmungsfläche gezogen. Dadurch wird sein Lumen zwi¬
schen der vorn an der Klemme befindlichen kleinen W alze und dem
Hartgummistäbchen luftdicht verschlossen. Dreht man jetzt an dem
Handgriff der Walze, so schiebt sich die Klemme vor- oder rückwärts
über den Schlauch, und es wird die Luft entweder zur Pipette heraus¬
gedrängt oder hineingesaugt. Befindet sich die Walze dicht an dei
Verbindung von Schlauch und Pipette, so ist der Apparat zur Be¬
nutzung fertig.
So einfach aber die Handhabung des kleinen Apparates erscheint,
es ist doch nötig, sich erst etwas mit ihm einzuarbeiten. Ehe man
sich an ihn gewöhnt hat, fühlt man sich leicht veranlasst, zur alt¬
gewohnten, unappetitlichen Saugmethode mit dem Munde zurückzu¬
greifen, während man ihn nach kurzer Zeit nur aussert ungern
missen wird. Infolge der gesicherten Lage des Schlauches und der
leichten Regulierbarkeit der Walzendrehung ermöglicht sich ein
äusserst bequemes und exaktes Arbeiten, das auch durch das mit¬
unter eintretende langsame Nachfedern eines älteren und wemget
elastischen Schlauches kaum beeinträchtigt wird. Es ist selbstver¬
ständlich, dass man bei Nichtbenutzung den Schlauch vom Druck der
Klemme befreien muss, will man seine Elastizität nicht vorzeitig zer¬
stören; kleben die Innenflächen eines Schlauches leicht zusammen,
so genügt es meist, eine geringe Menge Talkumpuder durch ihn
hindurchzublasen.
Bei der Reinigung der Mischkammern ist die Benutzung des
Apparates ebenfalls von Vorteil: während bei dem Hin- und Hersaugen
mit dem Munde immer wieder die Feuchtigkeit des Athems oder bis
in den Schlauch gelangte Flüssigkeit Säuberung und Austrocknung
verzögerte, wird dies durch den Apparat völlig vermieden, und die
Reinigung nimmt nur wenige Augenblicke in Anspruch.
*) Das Instrument wird von dem Medizinischen Warenhaus Bei-
lin vertrieben.
MUENCHENER MEDIZINISCEIE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
Herrn Professor P 1 e h n möchte ich für sein mir bewiesenes
Interesse danken.
Hergestellt wird der Apparat unter dem Namen „Präzisions-
ansauger“ durch die Firma Ernst Leitz, deren Vertreter in Berlin,
Herrn Bergmann, ich für seine verständnisvolle Unterstützung bei
der Herstellung und Ausgestaltung des einfachen Instrumentes meine
Anerkennung aussprechen möchte.
Dr. Otto A. Wieck, Halensee b. Berlin.
Gesichtsschutzmaske nach Angabe des Zahnarztes
Otto Eichentopf.
Von Zahnarzt Breitung in Eisenach.
Auf der 25. Jahresversammlung des zahnärztlichen Vereins für
Mitteldeutschland demonstrierte Hofzahnarzt E s c h e r - Rudolstadt
die E i c h e n t o p f sehe Qesichtsschutzmaske aus Zelluloid;
Eichentopf hat schon auf früheren Versammlungen Zelluloid¬
instrumente (Separierstreifen für plastische Füllungen und Zelluloid¬
matrizen) empfohlen, deren Zweckmässigkeit hinreichend bekannt
ist. Die Maske besteht aus durchsichtigem dünnen Zellu¬
loid, ist daher sehr leicht; sie bedeckt Mund und Nase und ist derartig
dem Gesicht angeformt, dass weder das Sprechen noch das Atmen
beeinflusst wird. Die Luftzufuhr geschieht durch zwei seitwärts ver¬
laufende Ausbuchtungen, die nach Anlegen einen weiten Kanal bil¬
den (cf. Abbildung). Ein- und Ausatmen, beides geschieht durch
diese 2 Kanäle. Die Atmungspause gestattet einen Ausgleich der Ex¬
spirationsluft mit der atmosphärischen.
Befestigt wird die Halbmaske durch zwei Gummischnüre, welche
man um die Ohrmuscheln oder unter dieselben legt, je nach¬
dem es für das spezielle Gesicht praktisch ist. Etwa vorhandene
Druckstellen werden beseitigt, indem man die betreffenden Partien
in heisses Wasser taucht und dann dem Gesicht anpasst; wenn er¬
wünscht, kann die Maske durch Verschneiden verkleinert wer¬
den; es lässt sich auf diese Weise ein genaues Anliegen erreichen.
Vor den Gazemasken, welche von Aerzten bisher gebraucht
wurden, hat die E i c h e n t o p f sehe den Vorzug, öfter benutzt und
leicht aseptisch gehalten werden zu können. Letzteres geschieht
durch Abwaschen mit kaltem, leicht desinfizierendem Wasser.
Der Zweck der Maske ist wohl ohne weiteres einleuchtend;
sie soll dazu dienen, Aerzten, Zahnärzten etc. einen Schutz vor In¬
fektion und Erkrankung des Mundes, der Nase, des Halses und der
Atmungsorgane zu gewähren, sie soll den Arzt sowie den Patienten
beim Untersuchen und Behandeln am Gesichtsfeld vor gegen¬
seitiger Belästigung durch den Atem schützen. Die
Maske dürfte- deshalb speziell von Nasen- und Halsärzten mit Erfolg
angewandt werden; denn gerade im Bereiche der Nasenhöhle, des
Rachens, des Halses und des Kehlkopfes gibt es Erkrankungen (Tuber¬
kulose, Lues, Diphtherie etc.), die sowohl durch ihren Geruch den
Arzt belästigen, als auch ihn einer gewissen Gefahr von Ansteckung
aussetzen, und da bietet die Maske dem Arzte einen nicht zu unter¬
schätzenden Schutz.
Eine Operation im Munde, Halse oder auch an
den Augen lässt sich leichter ausführen, wenn man
sich dem Patienten direkt nähern kann, ohne dabei
durch den Atem belästigt zu werden.
In zweiter Linie ist die Maske in Anwendung
zu bringen bei allen Operationen, bei denen
strengste Asepsis des Operationsfeldes erforder¬
lich ist und eine Infektion desselben durch den
Atem aus M und und Nase des operierenden Arztes
vermieden werden soll resp. muss.
Eichen topf empfiehlt die Maske besonders auch für Zahn¬
ärzte. Bei allen Behandlungen, wo eine dichte Annäherung an den
Patienten und infolgedessen auch ein gegenseitiges Anhauchen un¬
vermeidlich ist, wird die Anwendung der Maske vom Patienten als
rücksichtsvolle Massnahme empfunden und beurteilt werden und da¬
bei gleichzeitig dem Zahnarzte gute Dienste erweisen.
Die kleine Unbequemlichkeit des Tragens nimmt man gern mit
in Kauf gegenüber dem lästigen längeren Anhalten des Atems, übri¬
gens tut die Macht der Gewohnheit ihre Schuldigkeit, abgesehen da¬
von, dass man die Schutzmaske ja nur kurze Zeit zu tragen hat;
ausser Aktion lässt man sie unter das Kinn oder die Nase gleiten.
Die geringe Erwärmung der Luft, welche bei längerem Tragen unter
der Maske stattfindet, ist nur im heissen Sommer wahrnehmbar; der
Vorteil, die Exspirationsluft, also verbrauchte Luft, seines
Patienten nicht einatmen zu müssen, setzt einen auch über
diese kleine Unbequemlichkeit hinweg.
Zu erwähnen wäre noch beiläufig, dass die Maske bei Ausübung
anderer Berufe, welche ein Arbeiten in Gesichtsnähe verlangen (Fri¬
seure) oder mit schädlichen, giftigen Stoffen zu tun haben (Chemiker,
Schriftsetzer) ihren Nutzen bringen würde.
Die Maske ist vor Feuer zu schützen!
- — -
Vorschläge zur praktischen Durchführung einer
individuellen Verpflegung in Badeorten.
\ on Dr. Hermann Silbergleit in Kissingen.
Infolge der hohen und ja auch vollberechtigten Wertschätzung,
welche die moderne Medizin der diätetischen Ernährung zumisst,
sahen sich die Badeorte vor die wichtige Frage gestellt, wie eine
individuelle Diätetik im Kurorte im grossen durchzuführen sei. Die
Frage ist praktisch nicht ganz so leicht zu lösen, wie es scheinen
mochte. Zunächst hat man mit alten, beim Publikum und den Wirten
festwurzelnden Vorurteilen über kurgemässe Ernährung zu kämpfen;
doch lassen sich diese fraglos durch mündliche und schriftliche Be-
leni ung beseitigen. Sodann aber — und darin sehen wir die Haupt¬
schwierigkeit kompliziert eine individuelle Verpflegung die Be-
tnebsführung im Restaurant, ist dadurch eine pekuniäre Frage. Es
müssen mehr Speisen, diese wieder verschieden zubereitet, vor¬
rätig sein, die für die Wirte bequemen Menus fallen fort und dabei
d i i i feil die Preise doch nicht zu erheblich steigen, also Schwierig¬
keiten in Menge.
Das Verdienst, an diese Frage zuerst herangetreten zu sein,
gebührt dem Homburger Aerzteverein. Eine auf dem Balneologen-
Kongress in Dresden 1906 vorgetragene Arbeit Parisers beschäf¬
tigt sich eingehend mit der Diät im Kurorte. Vier Diätschemata sind
aulgestellt, von denen jedes wieder Unterabteilungen hat. Diät I
ist blande Diät, II die chronischer Darmkatarrhe mit Diarrhöe, Diät III
gilt für die chronisch Obstipierten, IV ist Diabetikerkost. Auf Einzel¬
heiten können wir hier nicht eingehen, müssen auf die Originalarbeit
verweisen. Aber wir können nicht leugnen, dass wir gegen diese
Dm chfiihi ung starke praktische Bedenken haben. Die Schemata er¬
scheinen uns einerseits für die Wirte etwas kompliziert, anderseits sind
sie eben doch Schemata. Den grössten Uebelstand sehen wir darin,
dass sie zum Kurpfuschen führen können und dass der Patient durch
Uebergabe eines solchen Diätschemas (denn was I bis IV bedeuten,
weiss jeder bald) dem Wirt und anderen Personen gegenüber auf eine
Krankheit sozusagen abgestempelt wird.
Mag sein, dass unsere Bedenken durch die Homburger Praxis
widerlegt werden. Wir hielten es fiir praktischer in einer Weise vor¬
zugehen, wie aus folgender Speisekarte nebst Erklärung ersichtlich
ist, die am 19. Juli in der Kissinger Zeitung auf Veranlassung des
Aerztlichen Bezirksvereins erschien.
Eine nähere Erklärung für den Arzt bedarf die Speisekarte
kaum. Wir meinen, dass die Inanspruchnahme der Wirte nicht gross
ist und dass tiotzdem jede Diätverordnung für die Hauptmahlzeiten
beim Vorhandensein der angeführten Speisen leicht durchführbar ist.
Die der Speisekarte beigegebene, für Patienten und Wirte be¬
stimmte Erläuterung drucken wir ebenfalls ab, da es vielleicht Aerzte
intet essieren dürfte, wie wir .die Aufklärung des Publikums ver¬
suchten.
Die kurgemässe Diät in Bad Kissingen.
In den letzten Jahren ist die diätetische Behandlung der Krank¬
heiten als gleichberechtigtes und gleichwichtiges Moment in der
Heilkunde mehr und mehr zur Geltung gekommen. Auch das Pu- -
bhkum begriff die Wichtigkeit einer richtigen Ernährung und die
Medizin konnte — gestützt auf exakte Untersuchungen — die vielen
an sie herantretenden Fragen genau beantworten. Das bedeutete
einen grossen Fortschritt, denn lange Zeit war die Erfahrung
sowohl die des Arztes, als die des Patienten das allein massgebende
bei der Aufstellung einer diätetischen Kur.
, .. Und gerade in diesem Punkte versagte die Erfahrung nur allzu
häutig. Was der eine vertrug, bekam dem scheinbar gleichartig
erkrankten durchaus nicht und so kam es, dass in viel weitgehenderem
Masse, als es wirklich der Fall ist, eine individuelle Bekömmlichkeit
angenommen wurde, und es hiess, es müsse ein jeder selbst aus-
Pj obieren, was ihm zuträglich sei oder nicht. Bis zu einem gewissen
Grade ist dies ja auch der Fall; stets muss der Arzt auf Anti¬
pathien des Kranken Rücksicht nehmen, aber nichtsdestoweniger ist
es heute ganz sicher, dass für die diätetische Behand¬
lung die genaue Feststellung der Art und Ausdeh-
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1969
nung der vorliegenden Krankheit massgebend ist.
Nach dem Leiden richtet sich die Diät.
Aus dieser Feststellung geht schon klar hervor, dass es eine
allgemein gültige Diät nicht geben kann, dass in einem Kurorte, der
verschiedenartigsten Krankheiten Heilung bringen soll, nicht der eine
Kranke so essen darf wie der andere, soll die Wirkung der Kur nicht
aufgehoben oder abgeschwächt werden. So muss denn schon aus
diesem Grunde die Aufstellung einer Speisekarte, wie sie Kissingen
von altersher besitzt, die zuträgliche — kurgemässe und unzuträgliche
— nicht kurgemässe Speisen unterscheidet, als irreführend und un¬
zweckmässig bezeichnet werden.
Aber auch aus einem anderen Grunde ist die Kissinger Speise¬
karte unrichtig, ln ihr sind die Speisen von dem Gesichtspunkte aus
erwählt, wie sie sich mit der Kur, vor allem dem Brunnen ver¬
tragen. Diese Rücksichtnahme auf den Brunnen ist viel zu weitgehend
und ist dabei so in das Publikum gedrungen, dass die Frage: „Verträgt
sich das mit dem Rakoczy?“ immer wiederkehrt; heute fasst manchen
alten Kissinger Stammgast der Schrecken, wenn er sieht, wie z. B.
das früher verpönte rohe Obst verordnet, gegessen und — ver¬
tragen wird. Es muss heute klar und deutlich ausgesprochen werden:
Nicht nach dem Brunnen richtet sich die Diät, son¬
dern nach der Erkrankung. Mit dem Brunnen verträgt sich
alles. Natürlich ist auch dieses Wort verstandesgemäss aufzufassen.
Wie nicht jeder Gesunde z. B. Gurkensalat mit kaltem Wasser
gleichzeitig zu sich nehmen darf, so es auch für die meisten nicht
ratsam, diesen Versuch mit dem Rakoczy zu machen. Der Brunnen
ist selbst in grösserer Menge in kurzer Zeit aus dem Magen ver¬
schwunden und dann ist eben jede Speise erlaubt — vorausgesetzt,
dass ein Magenleiden sie nicht verbietet. So liegt also absolut kein
Grund vor, wichtige Nahrungsmittel aus der Kissinger Speisekarte
zu streichen, nur aus der Annahme heraus, sie vertrügen sich mit
dem Rakoczy nicht. Andererseits wollen wir betonen, dass das
eben Ausgeführte nicht etwa so aufzufassen ist, dass man bei einer
Trinkkur wahllos und überreichlich sich ernähren soll. Was nötig
ist, ist eine individuelle, dem Körperzustand angepasste Diät.
Um diese zu erreichen, hat der ärztliche Bezirksverein im Ein-
verstänidnis mit den Wirten beschlossen, die alte Kissinger Speise¬
ordnung ganz verschwinden zu lassen. An ihre Stelle ist eine
Karte getreten, die angibt, was in jeder Speiseanstalt täglich von
Gerichten vorhanden sein muss, um jede Diätform durchführen
zu können. Die Karte ist ja nicht so zu verstehen, dass ein jeder
alles, was sie anführt, essen darf; sie soll nur ein Wegweiser für die
Wirte sein in bezug auf Menge und Zubereitung der täglich not¬
wendigerweise vorhandenen Speisen. Sie führt nur ein Minimum,
nur das nötigste, an; ist ein Restaurant im stände, noch grössere
Auswahl vorrätig zu halten, so ist das um so besser, denn viele
werden davon Gebrauch machen dürfen und so grössere Abwechslung
im Essen haben.
Aus dieser Speisekarte, die wir unten abdrucken, soll sich der
Patient, der eine Diät nötig hat, die ärztlich verordnete Kostform zu¬
sammenstellen; das setzt voraus, dass die Kurgäste, die diätetisch
leben müssen, auf das Menuessen verzichten. Für ganz Gesunde
ist ein Menu ja recht vorteilhaft, aber nie wird es so zusammen¬
gestellt sein können, dass es für alle Kranken passt.
Zur Auswahl sei täglich vorhanden.
I. Suppen.
2 Arten:
1. Eine Bouillon, entweder klar oder mit Einlage. Die Ein¬
lagen müssen der Bouillon so beigegeben werden, dass man sie beim
Essen liegen lassen kann. Solche Einlagen sind: Nudeln, Reis, Gries-
klösschen, Eierstich, Eier, Gemüseeinlagen, Fleischeinlagen.
Zubereitung der Bouillon: Nicht zu fett, nicht zu stark
gewürzt.
2. Eine Schleimsuppe: z. B. Haferschleimsuppe, Reis-,
Gerstenschleimsuppe, Suppe von Quäker-Oats.
Zubereitung: mit schwacher Bouillon gekocht, wenig Butter¬
zusatz, passiert.
II. Gemüse.
2 Arten:
1. Gemüse in Püreeform: z. B. Püree von Spinat, Scho¬
ten, Karotten, Schnittbohnen, Mangoldblättern; Kartoffelpüree muss
ausserdem jeden Tag vorhanden sein; neben Spinat stets noch ein
anderes Gemüse. Dem pürierten Gemüse gleichwertig sind: weisse
Blumenkohlköpfe, Spargelspitzen.
Zubereitung: In Salzwasser gekocht, ohne jeden Mehlzusatz,
etwas Butterzusatz. Auf Verlangen wird frische oder zerlassene
Butter extra gegeben.
2. Dieselben Gemüse nicht püriert: dazu noch
Tomaten, Bohnen. Grünkohl, Artischocken, Sauerampfer, Schwarz¬
wurzel, Sellerie, Rhabarber, Kohlraben, Mangoldstiele, Gurken. Aus¬
serdem täglich Kartoffeln als Stück- oder Bratkartoffeln.
Zubereitung: wie unter 1.
III. Fische.
Eine Sorte nicht fetten Fisches (Lachs, Aal sind fette Fische!).
Zubereitung: gekocht, nicht paniert, nicht geräuchert: mit
Buttersauce oder naturell. Die Saucen sind extra zu servieren.
IV. Fleisch.
3 Sorten:
1. Geflügel: Alle Sorten Geflügel mit Ausnahme von Gans
und Ente.
Zubereitung: gekocht oder auch gebraten, nicht paniert.
2. Anderes weisses Fleisch:
Alle Kalbfleisch- und Lammfleischarten. Darunter sei aber nicht
verstanden: Milz, Leber, Bries, Gehirn, Nieren.
Zubereitung: einfach, keine pikanten Saucen, keine Ragouts.
Saucen extra servieren.
3. Rindfleisch. Wild-, Hammelfleisch, nicht zu
fettes Schweinefleisch jeder Art und Zubereitung;
auch die unter 2 als nicht dorthin gehörig angeführten Teile sind
hier erlaubt, dürfen aber nur gereicht werden, wenn noch ein anderer
Braten zur Verfügung steht.
V. Kompotte.
2 Sorten:
1. Kompott in Musform; erlaubt alle Arten, bei denen
man Kerne und Schalen nicht mitessen muss; also hierbei verboten:
Stachelbeeren, Preisselbeeren, Johannisbeeren, Gelees dieser Sorten
erlaubt.
Zubereitung: frisch bereitet, ohne Zucker, Zucker wird
extra gereicht.
2. Die unter I verbotenen Kompotte sind hier erwünscht; dazu
noch Büchsenkompotte.
Zubereitung: Nicht in Musform, Zucker extra serviert,
resp. nicht zu stark gezuckert.
VI. Salate.
Stets vorhanden sei : grüner Kopfsalat. Daneben wün¬
schenswert zur Auswahl: Kressensalat oder Endivien-, Tomaten,
Krautsalat, auch Salzgurken.
Zubereitung: Kopfsalat kommt unangemacht auf den Tisch;
Rahm, Oel, Zitrone werden extra gegeben; die Salate seien, falls
nicht anders gewünscht, mit Zitrone sauer gemacht.
VII. Zuspeisen.
Weicher Reis, oder Gries, oder Makkaroni, oder Nudeln, oder
Eierkuchen.
VIII. Süsse Speisen.
Leichte lockere Aufläufe von Gries, Reis, Mondamin, Flammeri,
Omelette.
Zubereitung: ohne Rosinen und ganze Mandeln, Frucht¬
säfte extra servieren.
IX. Käse.
Rahmkäsearten: Camembert, Gervais, Creme double; Quarkkäse.
Trockener Schweizer Käse.
X. Frisches Obst.
XI. W e i s s- und Schwarzbrot.
XII. Getränke.
Unter anderem Weine, deren Zuckerfreiheit sicher ist; Mineral¬
wässer, Obstweine, alkoholfreie Getränke, Limonaden.
Bemerkungen.
Die Zubereitung aller Speisen sei schmackhaft. Zusatz schär¬
ferer Gewürze ist zu vermeiden. Essig, Senf, Meerrettig, Zwiebel,
Muskatnuss dürfen die meisten Patienten nicht essen, Salz und Pfeffer
nur in kleinen Mengen Für die übrigen Gäste stehe zum Würzen von
Suppen und Saucen Maggi oder eine ähnliche englische Sauce zur
Verfügung. Das Fleisch sei mürbe, ohne haut-goüt. Zum Zubereiten
diene nur Butter. Alle Saucen sind extra zu servieren. Aus dieser
Speisekarte lässt sich leicht eine auch für Zuckerkranke geeignete
Mahlzeit zusammenstellen, vorausgesetzt, dass namentlich die Ge¬
müse ohne Mehl bereitet sind, und Diabetikerkompotte zur Ver¬
fügung stehen.
Referate und Bücheranzeigen.
Die Anatomie der Taubstummheit. Herausgegeben im Auf¬
trag der Deutschen Otologischen Gesellschaft von Dr. Alfred
Denker -Erlangen. Dritte Lieferung. • Wiesbaden 1906.
Preis 14.60 M.
Diese Lieferung bringt vier weitere Fälle von Schläfen¬
beinsektionen Taubstummer in eingehender Beschreibung und
bildlicher Darstellung.
Im ersten Fall lagen beiderseits ausser mässiger Atrophie
des nervösen Apparates in der Schnecke und Kollaps des Duc¬
tus spiralis, Synechien im Vorhof und Verengerungen der
Aquädukte auch typische Veränderungen im Mittelohr, kon¬
zentrische Verengerung der Paukenhöhle, Verbildung von Am¬
boss und Steigbügel etc. vor. Als ihre Ursache nimmt N.a g e r
nach dem Vorgang von Prof. Siebenmann in einem ana¬
logen Falle eine fötale Meningitis an.
1970
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
In dem zweiten von Walther Stein mitgeteilten doppel¬
seitig untersuchten Falle ist nach der Anamnese die Taubheit
erst im 3. Lebensjahre nach einer fieberhaften Krankheit mit
zeitweiser Bewusstseinstörung eingetreten. Neben anscheinen¬
den Entzündungsresiduen im Labyrinth finden sich hier aber so
charakteristische, sonst bisher nur bei angeborener Taub¬
stummheit konstatierte Bildungsanomalien, insbesondere an der
C o r t i sehen Membran und dem Sakkulus, dass wohl Zwei¬
fel berechtigt sind, ob dieselben, wie St. annimmt, auf eine
im 3. Jahre überstandene Meningitis zurückgeführt werden
dürfen. Wie wenig verlässig die anamnestischen Anhalts¬
punkte für ein angebliches Hören und Sprechen der Kinder
bis zum 3. Lebensjahre sind, das erfahren wir zur Genüge in
den Taubstummenanstalten.
Die beiden von Görke beschriebenen Fälle endlich weisen
am Sakkulus und im Ductus spiralis der Schnecke, an der
Stria vascularis, der Membrana Corti und der Papilla acustica
analoge fötale Bildungshemmungen auf, wie sie zuerst von
Scheibe beschrieben worden sind, und zeigen, in welch
mannigfaltiger Gestalt dieselben erscheinen können. Die bild¬
liche und sonstige Ausstattung dieser Lieferung ist wieder eine
vorzügliche. B e z o 1 d.
E. J o e s t - Dresden : Schweineseuche und Schweinepest.
Monographie. Fischer, Jena 1906. 280 S. 6.50 M.
Die in den letzten Jahren vielfach gefundenen verwandt¬
schaftlichen Beziehungen zwischen den Erregern von Er¬
krankungen des Menschen und der Tiere lassen die ausführ¬
liche Bearbeitung der in Betracht kommenden tierischen Er¬
krankungen durch Fachleute wünschenswert erscheinen. Die
Monographie von J. behandelt die beiden praktisch wichtigsten
und vielfach als Mischinfektion auftretenden Erkrankungen
des Schweines: die Schweineseuche und Schweinepest, von
denen erstere durch ein Bakterium aus der Gruppe der
hämorrhagischen Septikämie (der dem Mediziner bekannteste
Vertreter ist der Erreger der Hühnercholera), die letztere durch
ein Bakterium der Enteritisgruppe bedingt wird. Zur Enteritis¬
gruppe gehören die Mikroorganismen, welche Paratyphus,
Fleischvergiftung, Mäusetyphus etc. verursachen. Autor be¬
handelt zunächst in sehr ausführlicher, dabei aber übersicht¬
licher Weise die Aetiologie, Bakteriologie und pathologische
Anatomie der Schweineseuche und Schweinepest, um dann auf
die Frage der Mischinfektion ausführlich einzugehen. Die fol¬
genden Kapitel: Symptomatologie und Diagnose zeigen am
deutlichten, dass die ganze Frage von einem Fachmann be¬
handelt ist, der die Erkrankungen auch in praxi häufig zu be¬
obachten Gelegenheit hatte. Die Monographie schliesst mit
einer kurzen Betrachtung über das Verhalten des Menschen
gegenüber den Erregern der beiden Krankheiten und mit einer
ausführlichen Erwähnung der Schutzimpfung sowie der
veterinärpolizeilichen Vorschriften aller Kulturstaaten.
In einem Anhang nimmt der Autor Stellung zu der von
Grips, G 1 a g e und N i e b e r 1 e aufgestellten „neuen Lehre“,
dass die Schweineseuche eine durch den Bac. pyogenes be¬
dingte, durch Katarrhe und Eiterungen charakterisierte Jugend¬
seuche der Schweine sei; eine durch den Bac. suisepticus be¬
dingte Schweineseuche existiere nicht. Diese Lehre ist nach
J.s Ausführungen unhaltbar.
Das Literaturverzeichnis ist bis Ende 1905 vollständig
durchgeführt. Die in der Monographie enthaltenen zahlreichen
Abbildungen entsprechen allen Anforderungen.
Küster- Freiburg i. B.
Hutyra und Marek: Spezielle Pathologie und Therapie
der Haustiere. II. Band. 971 Seiten. 138 Abbildungen. Ver¬
lag von Gustav Fischer, Jena. Preis 20 M.
Der vorliegende, von Marek allein bearbeitete 2. Band
des an dieser Stelle schon vor einiger Zeit besprochenen
Werkes umfasst die Krankheiten der Atmungs-, Verdauungs¬
und Harnorgane, des Nervensystems, der Bewegungsorgane
und der Haut.
Der Autor hält mit dieser Veröffentlichung, was sein Mit¬
arbeiter im ersten Band des Werkes versprach. Der statt¬
liche Band bietet dem Leser eine ausserordentlich sorgfältige
und vollständige Darstellung der genannten Krankheiten teils
nach den Angaben der Literatur, die jedoch, wo notwendig,
stets eine kritische Würdigung erfahren, teils nach eigenen Be¬
obachtungen. Besonderer Wert ist auf die Differentialdiagnose
und die Therapie gelegt, ein Umstand, der vornehmlich den
Praktiker angenehm berühren wird. Unter den einzelnen
Kapiteln sei besonders das über die Krankheiten des Nerven¬
systems hervorgehoben, die durchweg nach modernen medi¬
zinischen Grundsätzen dargestellt sind.
Eine besonders wertvolle Beigabe auch des vorliegenden
Bandes bilden die zahlreichen Abbildungen, zum grossen Teil
Reproduktionen von photographischen Aufnahmen nach dem
lebenden Tiere. Es ist das erste Mal, dass in solchem Umfange
in einem Werke der Veterinärmedizin von dieser Art der Dar¬
stellung Gebrauch gemacht wird. Es wäre sehr zu begrüssen,
wenn die Tierheilkunde auf dem betretenen Gebiete fort¬
schreiten und wenn der eine oder andere Autor sich ent-
schiiessen würde, etwa einen „Atlas der inneren resp. äusseren
Krankheiten“ oder einen „Atlas der wichtigsten an den Haus¬
tieren vorgenommenen Operationen“ herauszugeben.
Wenn Referent zum Schlüsse sein Urteil über das nun¬
mehr vollständig vorliegende Werk abgeben soll, so hält er
sich für berechtigt zu erklären, dass wir in der speziellen
Pathologie und Therapie von Hutyra und Marek eine Ar¬
beit vor uns haben, zu der Jeder gerne greifen wird, der sich
über einen einschlägigen Gegenstand, sei es aus Gründen der
Praxis, sei es zu rein wissenschaftlichen Zwecken orientieren
will. Er wird in jedem Falle erschöpfende Auskunft nach dem
neuesten Stande der Wissenschaft finden.
Dr. Carl- Karlsruhe.
Dr. Paul Grawitz (Prof, der pathol. Anatomie): Ge¬
schichte der medizinischen Fakultät Greifswald. 1806 — 1906.
Festschrift zur 450 jährigen Jubelfeier der Universität Greifs¬
wald. Greifswald, Jul. Abel, 1906, 42 Seiten Folio, mit 29 Abb.
Preis 5 Mark.
Die Hochschule von Neu-Vorpommern und mit ihr beson¬
ders die medizinische Fakultät hat sich aus kleinen Anfängen
zu einer angesehenen Stellung emporgearbeitet. Die Ungunst
der geographischen Lage und schwere politische Schicksale
hinderten das Aufblühen in hohem Grade. Und doch hat es an
grossen Lehrern und Forschern nicht gefehlt. Ich erinnere an
R ii d o 1 p h i, den berühmten Helminthologen (nicht Entomolog,
wie Verfasser angibt), an den tüchtigen vergleichenden Ana¬
tomen Karl Aug. Sigm. Schnitze, an Heinrich H ä s e r, an
B u d g e, an Baum, an B a r d e 1 e b e n u. a. Bezüglich Wil¬
helm Sprengels bemerke ich, dass er nicht Bruder, sondern
Sohn von Kurt Sprengel war.
Verfasser teilt den Stoff nach Dezennien ab, wobei jedes¬
mal Personalien, theoretische Fächer und klinische Anstalten
abgehandelt werden. Für den Geschichtsforscher sind die viel¬
fach eingefügten lebensgeschichtlichen Mitteilungen höchst
wertvoll.
Die Bilder betreffen teils akademische Anstalten, teils die
bedeutendsten früheren Lehrer (Rosenthal, Bernd t,
S c h u 1 1 z e, Bau m, Bardeleben, P e r n i c e, B u d g e,
G r o h e, Landois, Schirmer, Hüter, Som m e r).
Dr. Huber- Memmingen.
Carl Beck: Der Schwedenkonrad. Eine Geschichte aus
dem Neckartal. 473 S. Berlin 1906. Leonhard S i m i o n Nf.
Der Verfasser, Professor der Chirurgie in New York, ver¬
sucht sich in diesem Romane auf belletristischem Gebiete. Die
Handlung spielt im Neckartale zur Zeit des 30 jährigen Krieges
und hat das Lebensschicksal eines Arztes zum Mittelpunkte.
Der Landsmann über’m grossen Wasser hat das Buch mit er¬
sichtlicher Liebe und in warmem Gedenken an seine alte Heimat
geschrieben. „In fremden Landen deutschen Geistes Herrlich¬
keit zur Anschauung zu bringen“ soll das Streben der Aus¬
gewanderten sein, wie es der nach Schweden ausgewanderte
Held des Buches tat. Das zur Anschauung zu bringen, ist wohl
die Tendenz des Autors. Max Nassauer - München.
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1971
Carl Beck: Feuchtfröhliches und Feuchtunfröhliches.
143 S. Leonhard S i m i o n Nf., Berlin 1906.
Anspruchslose Harmlosigkeiten des amerikanischen Kol¬
legen aus Heidelberg, Reichenhall, Karlsbad etc., die von per¬
sönlichen Eindrücken dortselbst plaudern.
Max Nassauer - München.
Neueste Journalliteratur.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 38.
L. S e e 1 i g m a n n - Hamburg: Zur Indikation und Technik der
Hebotomie.
S. wendet sich gegen einige Ausführungen B u m m s, die dieser
vor kurzem an gleicher Stelle gemacht hat (ref. in diesem Bl. No. 34,
p. 1676). Bumm hat als unterste Grenze für die subkutane Pubio-
tomie eine Conj. vera von 7 cm angegeben; S. hat in einem Palle
noch bei einer Conj. vera von 6 cm die Operation für Mutter und
Kind glücklich vollführt. In Bumms 14 Fällen sind 2 mal Ver¬
letzungen der Blase vorgekommen, was S. in seinen Fällen und in
solchen von anderen, die seine Nadel gebrauchten, nicht erlebte. Er
schiebt dies auf die von ihm angegebene Hohlsondennadel, die er
nochmals dringend zur Nachprüfung empfiehlt.
Joh. Meyer- Dorpat: Zur Atonie des nicht schwangeren Uterus.
M. hat versucht, durch direkte Messung der Kapazität des Cavum
uteri das Verhalten des Organs nach der Dilatation, Abrasio und
Tamponade zu prüfen. Es geschah dies mittels einen kleinen Gummi¬
ballons, welcher direkt über einem Glasröhrchen befestigt ist. Beide
werden in den Uterus eingeführt, der Ballon aufgespritzt und ge¬
messen, wie viel derselbe fasst; der Versuch wird vor der Abrasio,
nach der Abrasio und nach einer 5 Minuten langen Tamponade mit
Jodoformgaze ausgeführt.
Die Resultate von 14 Fällen (5 Nulliparae, 9 Multiparae) waren
schwankend. Nach der Abrasio wurde zunächst eine Kontraktion
hervorgerufen, nach deren Ablauf 6 mal eine Erschlaffung des Uterus
eintrat. Durch die Tamponade wurden lebhaftere Wehen veranlasst,
die auch eine intensivere Erschlaffung zur Folge hatten.
M. hält mit Strassmann eine Atonie, welche die Einführung
einer Kürette um 6—7 cm tiefer zulässt, als im Beginn der Operation,
für kaum möglich und nimmt in solchen Fällen eine Perforation des
Uterus an. J a f f e - Hamburg.
Archiv für Kinderheilkunde. 44. Band. 1. — 3. Heft.
Aus dem städtischen Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkran¬
kenhause zu Berlin.
1. L. M e n d e 1 s o h n - Berlin ; Ueber die Apoplexie der Thy¬
musdrüse.
Verf. berichtet neben der Kasuistik über einen eigenen Fall bei
einem hereditär-luetischen Neugeborenen, mit Sektions- und mikro¬
skopisch-pathologischen Befund.
2. R. Bing: Ein Fall von Lymphosarkom im Kindesalter.
Lymphosarkom bei einem 3Vs jährigen Knaben, das fast die
ganze Bauchhöhle ergriffen hatte.
3. G. Tugend reich: Mesenteriales Chylangiom bei einem
4 Wochen alten Kinde.
Der jüngste bisher beobachtete Fall.
4. G. Tugendreich: Ueber Buttermilchfieber.
So bezeichnet T. die Temperaturerhöhungen, die sich bei län¬
gerer oder kürzerer Darreichung von Buttermilch einstellen und mit
Aussetzen der Buttermilch wieder verschwinden (conf. Kurven). Die
Erscheinung ist im ganzen selten, Verf. verfügt aber doch über eine
grössere Reihe solcher Beobachtungen. Zur Erklärung kann hier das
artfremde Eiweiss und das Fett nicht herangezogen werden, viel¬
leicht handelt es sich eher um eine Art Mobilisation vorher latenter
pathogener Darmbakterien.
5. J. Bauer: Ein Beitrag zu den „hämorrhagischen Diathesen“.
Mitteilung von 3 Fällen von „Purpura fulminans“ (nach
Hen och) und zweier anderer komplizierter Purpurafälle mit
urämischen Symptomen, sowie Erörterungen über das noch dunkle
Gebiet der hämorrhagischen Diathese.
6. J. Bauer: Ueber den Befund von Diphtheriebazillen in
„faulen Mundecken“ und Panaritien.
Bei einigen Kindern mit Rachendiphtherie und faulen Mundecken
fand sich der Diphtheriebazillus auch in letzteren, ferner bei einem
diphtherischen Kind auch gleichzeitig im Eiter eines Panaritium des
Daumens (Manipulieren mit den Fingern am Munde).
7. A. Bing: Zur Kenntnis der H i r s c h s p r u n g sehen Krank¬
heit und ihrer Aetiologie.
Verf. bringt 2 eigene Fälle mit Sektionsbefund; er erörtert die
verschiedenen für die Genese der Affektion aufgestellten Theorien
und ist der Ansicht, dass nicht die Dilatation und Hypertrophie des
Kolons angeboren ist, sondern eine mangelhafte Innervation des Dick¬
darms; aus dieser resultiere ein zu geringer Tonus der Dickdarm-
muskulatur und eine ungenügende Peristaltik, und die Folge hiervon
seien die bekannten klinischen Erscheinungen.
8. L. Mendelsohn und Ph. K u h n: Beobachtungen über kuh¬
milchfreie Ernährung bei dem Laryngospasmus, der Tetanie und
Eklampsie der Kinder.
Die Ernährung ohne Kuhmilch, also mit Kindermehlen, Zerealien,
grünem Gemüse, zeigte bei einer Anzahl Kinder günstigen Einfluss,
öfters dauernd, manchmal nur vorübergehend, auf den Verlauf des
Laryngospasmus; manche Kinder waren refraktär, doch ist diese Er¬
nährungsbehandlung immerhin zu versuchen, so lange es ohne Ge¬
wichtsabnahme geht. Bei der Tetanie ging allerdings manchmal die
Milchentziehung Hand in Hand mit der Herabsetzung der mecha¬
nischen und elektrischen Erregbarkeit, doch war im allgemeinen lnei
der Einfluss der milchlosen Diät ein geringer. # ,
K. Zucker: Zur lokalen Behandlung der Diphtherie mit Pyo-
zyanase. (Aus der K. K- Universitäts-Kinderklinik in Graz.)
Eine Anzahl Diphtheriefälle wurde teils mit Pyozyanase allem
(täglich 2 — 3 malige Besprayung des Rachens mit der Lösung, her-
gestellt von Lingner in Dresden), teils mit Pyozyanase und Heil-
serum behandelt. Dabei wurde die Rachendiphtherie öfters lokal ent¬
schieden günstig beeinflusst und hiermit auch der Allgemeinzustand.
Angezeigt erscheint diese Behandlung namentlich in Fällen, „in wel¬
chen die Rückbildung der Membranen schleppend vor sich geht, und
in solchen, wo von Anfang an , septische Zustände1 vorliegen. Als
Nebenwirkung wurde in 2 Fällen Erbrechen und Diarrhöe beobachtet.
Die Details und Krankheitsgeschichten sind im Original nachzusehen.
W. H e m p e 1 - Dresden: Ueber die Gewinnung einwandfreier
Milch für Säuglinge, Kinder und Kranke. ,
Interessanter Beitrag zum Milchproblem; H. schildert, wie aut
dem Rittergut Ohorn (Sachsen) eine gute, haltbare, von pathogenen
Keimen freie, an anderen Keimen sehr arme Milch, die roh genossen
werden kann, gewonnen wird. Das rigorose Vorgehen dabei ist quasi
Aseptik. das Resultat allerdings ausgezeichnet; über den Preis wird
nichts berichtet. (Vergl. diese Wochenschr. No. 7, 1906.)
E. M e i n e r t - Dresden: Säuglingssterblichkeit und Wohnungs-
Umfangreiche Arbeit, die sich zu kurzem Auszug nicht eignet; sie
enthält eine Fülle interessanten Materials, vieles statistischer Natur,
mit zahlreichen Tafeln und Kurven. Hervorgehoben sei nur ein
Grundgedanke des Verf., dass die Säuglingssterblichkeit im Sommer
auch von einer Wärmestauung im Körper abhängig sei, somit in inni-
ger Verbindung mit dem Wohnungsklima stehe, und so in letztei
Instanz eine Wohnungsfrage sei. In Bezug auf die umfangreichen Be¬
gründungen sei, wie gesagt, auf das Original verwiesen.
A. Baginsky: Kinderheilkunde als Spezialität. Kinder¬
krankenhäuser. — Interne Klinik und Kinderklinik.
Quincke hatte sich früher (Münchener medizinische
Wochenschrift No. 25 und 26) gegen die Berechtigung der Kinder¬
heilkunde als Sondergebiet, wenigstens jenseits des Sauglingsalters,
und gegen Kinderkliniken, jenseits des 3. Lebensjahres, ausgesprochen.
Dagegen wendet sich nun Baginsky und weist die Notwendigkeit
der Pädiatrie als Spezialfach nach in einem Artikel, der gleichzeitig
in grossen Zügen einen Ueberblick gibt über die jüngeie Entwicklung
des Fachs, die verschiedenen früher und jetzt besonders bearbeiteten
Gebiete, die modernen Tendenzen und Ausblicke.
Bericht über die in den Jahren 1904 und 1905 erschienenen Schrif¬
ten über die Schutzpockenimpfung. Fortsetzung und Schluss von
Dr. E. P a s c h e n - Hamburg.
Gibt wie die früheren Berichte ein ausgezeichnetes Referat über
alles, was mit der Impfung in Zusammenhang steht.
Referate. Lichtenstein - München.
Archiv für Hygiene. 58. Bd. 4. Heft. 1906.
1) Henry S c h m i d t - Hamburg: Ueber die sogen. Reduktase
der Milch. ,.
Nach kritischer Besprechung der verschiedenen Arbeiten, die
über die Reduktionsfähigkeit der Milch gemacht worden sind, hält
Schmidt Seeligmann gegenüber fest, dass es sich bei der
Entfärbung der von Schar dinger angegebenen, formalinhaltigen
Methylenbiaulösung durch frische Milch um die Wirkung eines Fer¬
mentes handelt, das die an sich sehr langsam verlaufende Reduktion
des Methylenblaus durch Formalin erheblich beschleunigt (Aldehyd¬
katalase). Auch die Superoxydase in frischer Milch ist ein Ferment.
Die vermutete Identität beider ist jedoch nicht aufrecht zu ei halten,
dagegen ist es möglich, dass die Aldehydkatalase mit der von M o r o
beschriebenen Aldehydase übereinstimmt. Eine direkte Reduktase
gibt es nach den vorliegenden Untersuchungen nicht.
2) Stau. Ruzika-Prag: Eine neue einfache Methode zur Her¬
stellung sauerstofffreier Luitatmosphäre (als Methode zur einfachen,
verlässlichen Züchtung von strengen Anaeroben).
Die Methode beruht ähnlich wie frühere Methoden darauf, dass
in einem abgeschlossenen Luftvolumen der Sauerstoff entfernt wird.
Der Unterschied besteht aber darin, dass der Sauerstoff durch ein
Wasserstoffflämmchen aufgezehrt wird. Die letzte Spur Sauerstoff
wird mittels Pyrogallollösung weggenommen. Als Abschlussflüssig¬
keit dient alkalische Traubenzuckerlösung. Als Kontrolle für die
Sauerstoffabwesenheit dient Indigolösung. Mittels dieser neuen An¬
ordnung soll der Apparat sich wenigstens 2 Monate lang brauchbar
erweisen, d. h. der Anaerobenraum bleibt so lange Zeit sauerstofffrei.
3) Gustav K a b r h e 1 - Prag: Studien über den Filtrationseffekt
der Grundwässer.
Experimentelle Versuche und kritische Besprechung der bei der
Sand- und Bodenfiltration des Wassers in Frage kommenden Ver¬
hältnisse. R. O. N e u m a n n - Heidelberg.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
1972
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 39.
1) M. Westenhöffer: Lieber den gegenwärtigen Stand
unserer Kenntnisse von der übertragbaren Genickstarre. (Schluss
folgt.)
2) C a s p c r - Berlin: lieber gewöhnliche Nierenblutungen.
Vortrag, gehalten auf der diesjährigen Naturforscherversamm-
lung in Stuttgart.
3) E. M. W e i n s t e i n - Odessa: Ueber die Heilung postopera¬
tiver Fisteln der Bauchhöhle durch Vakzinebehandlung nach dem
W r i g h t sehen Prinzip.
Letzteres besteht darin, mittels Injektionen den betreffenden
Kranken eine Vakzine beizubringen, welche aus Reinkulturen von
Bakterien hergestellt ist, die aus dem zu behandelnden Krankheits¬
herde stammen. Verf. berichtet über 4 Fälle von Bauchfisteln, welche
diesem Verfahren unterzogen wurden. 3 davon — die Kranken¬
geschichten werden eingehend mitgeteilt — wurden mit sehr gutem
Resultat entlassen, in dem 4. Falle war das Ergebnis ein negatives.
Die Reaktion auf die Impfungen hin war in allen behandelten Fällen
nicht erheblich.
4) E. R o s e n b e r g - Bad Neuenahr: Klinisches und expermi-
mentelles über Gastroptose.
Gegenüber neueren Angaben hält Verfasser auf Grund eigener
Untersuchungen daran fest, dass die horizontale Lage des Magens die
normale ist, wenn sie auch ziemlich selten vorkommt. Bei gesunden
Menschen verläuft die grosse Kurvatur stets oberhalb des Nabels.
Eine Reihe von Gründen, welche im einzelnen angeführt werden,
sprechen für eine horizontale Normallage des Organs. Der bei Rönt¬
genaufnahmen so häufig abweichende Befund erklärt sich einmal aus
der Vornahme der Untersuchung in aufrechter Körperstellung, ferner
aus der Wirkung der Schwere des verwendeten Wismut. Für die
Diagnose ist daran festzuhalten, dass bei der Aufblähung auch die
kleine Kurvatur sichtbar wird. Ueber die Frage der Motilität pto-
tischer Magen hat Verfasser eine neue Reihe von Untersuchungen
angestellt, welche im Gegensatz zu den Angaben von L o e n i n g er¬
geben haben, dass in der Mehrzahl dieser Fälle sich Atonie vorfindet,
nicht eine gesteigerte Motilität.
5) I h. D u n i n - Warschau : Ueber den Begriff der Neurasthenie.
Die Symptome der Krankheit haben nichts Charakteristisches
und Bezeichnendes an sich, das wichtigste Merkmal des Neurastheni¬
kers ist die abnorm gesteigerte Selbstbeobachtung. Die Symptome
sind meist sehr zahlreich und durch kein logisches Band untereinander
verbunden. Wichtig ist die Entstehung der Angstanfälle aus der Er¬
innerung früherer Eindrücke, die bewusst oder auch unbewusst
wirken kann. Die Willensschwäche und der hochgradige Egoismus
der Neurastheniker ist bekannt. Nervosität ist noch keine Neur¬
asthenie. Die Behandlung der letzteren muss eine rein psychische
sein- Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 38
1) v. Bruns-Tübingen: Ueber die Radikaloperation des Kehl¬
kopfkrebses mittels Kehlkopfspaltung.
Wenn auch kleine oberflächliche Karzinome, namentlich an den
Stimmbändern und der Epiglottis durch endolaryngeale Operation
heilbar sind, so widerspricht diese Methode doch den allgemeinen
Regeln der Chirurgie, die Krebsgeschwulst samt ihrem Mutterboden
aus dem gesunden Gewebe herauszuschneiden, das ist aber nur durch
die Thyreotomie gewährleistet, deren Technik Verf. näher beschreibt
(Schräglage des Körpers, Hängelage des Kopfes , Skopolamin-Mor¬
phininjektion, Novokain-Adrenalinpinselung).
2) E. Romberg - I übingen: Bemerkungen über Neurasthenie
und ihre klimatische und baineotherapeutische Behandlung. (Vortrag
bei der VI. ärztlichen Studienreise.)
Die „endogene Nervosität“ (Cr am er) will R. nicht von der
Neurasthenie trennen, wohl aber die Zwangszustände, Phobien, here¬
ditäre psychopathische Minderwertigkeit und eine Reihe körperlicher
Anomalien ohne nachweibare Organveränderung. Die Behandlung
muss berücksichtigen, dass es sich um einen Erschöpfungszustand
handelt und muss vorsichtig von schonenden zu übenden Einflüssen
ubergehen.
3) H.. C u r s c h m a n n - Tübingen: Ueber vasomotorische
Krampfzustände bei echter Angina pectoris.
V, ährend Nothnagel annahm, dass Angina pectoris vaso-
motoria auf dem Boden einer Neurasthenie oder verwandter Zu¬
stände entstehend eine harmlose Neurose der peripheren Gefässe mit
event. sekundärer leichter Alteration des Herzens darstelle, beobach-
tC. u •' me .re bei Jenen dieses Symptomenbild als Begleit-
eischeinung einer echten koronarsklerotischen Angina pectoris auftrat.
eben den gemischten Anfällen traten auch die peripheren Angio-
spasmen allein auf, durch Kälte etc. ausgelöst. In einem Fall von
Aneurysma der Aorta ascendens war ein Anfall von Angina pectoris
x on paroxysmaler einseitiger Amaurose begleitet, vermutlich als Aus¬
druck eines vorübergehenden spastischen Verschlusses der Retinal¬
arterie.
4) Otfried M ü 1 1 e r - Tübingen: Zur Funktionsprüfung der Ar¬
terien. (Schluss folgt.)
5) Döderlein-T übingen : Ueber den Kampf wider das Uterus¬
karzinom.
Nach seinen Erfahrungen tritt D. entschieden für die abdominale
Operation ein. Nur wo sie durch übermässigen Panniculus adiposus
technisch erschwert wird, lässt er die vaginale Operation gelten.
6) S a r w e y - Tübingen : Ist die Verkleinerung der Ovarial¬
tumoren zwecks operativer Entfernung zulässig.
Verf. bejaht diese Frage. Bei 190 mittels Sectio minor ausge¬
führten Ovariotomien, worunter 90 sichere Kystadenome, wurde keine
einzige rezidivierende Impfimplantationsgeschwulst beobachtet. Je
nach der Verkleinerungsfähigkeit, Beweglichkeit, Erreichbarkeit und
vorhandenen Komplikationen bevorzugt S. die vaginale Ovariotomie
oder den suprasymphysären Ouerschnitt oder die Sectio minor oder
die Sectio maior.
7) K. B a i s c h - Tübingen: Die Lumbalanästhesie in der Gynä¬
kologie und Geburtshilfe.
B. sieht in der Lumbalanästhesie einen grossen Fortschritt auch
auf gynäkologischem Gebiet. Die Nachteile der Methode werden
vermieden durch Ausschaltung von Patientinnen mit Neigung zu Kopf¬
weh oder neurasthenischen Magenbeschwerden und durch Kom¬
bination der Spinalanalgesie mit der Skopolaminmorphinnarkose, wo¬
durch die Dosis des Anästhetikums herabgesetzt und ein Dämmer¬
schlaf während der Operation herbeigeführt wird. Für operative
Entbindungen ist die Spinalanalgesie zu empfehlen, bei Spontan¬
geburten und Hebotomie dagegen nicht, wegen der lähmenden Wir¬
kung auf die Bauchpresse.
8) G. S c h 1 e i c h - Tübingen: Ueber die primären tuberkulösen
Uvealerkrankungen.
Primäre Uvealtuberkulose wird in Tübingen häufig beobachtet.
Verf. unterscheidet: 1. disseminierte knötchenförmige Tuberkulose,
2. tuberkulöse Geschwulstbildung und 3. einfache Entzündung. Die
Differentialdiagnose ist sehr schwierig. Die Tuberkulinprobe ist nicht
zuverlässig; die Prognose ist immer ernst, wegen der grossen Nei¬
gung zu Ausbreitung und Rezidiven. Die Allgemeinbehandlung ist
sehr wesentlich. Syphilitische Erkrankungen wurden nur in ca. 18
Proz. beobachtet.
9) Walther S c h m i d t - Stuttgart: Ein Fall von Pankreasfistel
nach operierter Pancreatitis haemorrhagica.
Bei 57 jährigem fettleibigen Mann ohne ersichtlichen äusseren
Anlass hämorrhagische Pankreatitis und peritonitische Erschei¬
nungen; Laparotomie, Pankreasdrainage; 10 Tage später reichliche
Sekretion von Pankreassekret, offenbar als Folge teilweiser Nekrose
— ohne wesentliche Verdauungsstörung. Mit der Fistel, deren Se¬
kretion langsam abnimmt, geht Pat. schon längere Zeit wieder seinem
Beruf als Händler nach.
10) W. S c h m i d t - Stuttgart: Ueber das Vorkommen von me¬
tallischem Ouecksilber im menschlichen Körper.
In einer infiltrierten Stelle an der Vorderseite des Oberschenkels
fanden sich bei jungem Manne 0,5 g Quecksilber in Form makro¬
skopischer Kügelchen. Anamnese nach jeder Richtung negativ.
11) K. W o 1 f - Tübingen: Abtötung von Bakterien durch Licht
und Selbstreinigung der Flüsse.
Auf Grund seiner mit Thiele angestellten Untersuchungen
spricht W. dem Licht eine wesentlich geringere Bedeutung für die
Abtötung von Bakterien in Flüssen zu, als Büchner sie annahm.
R. Grashey - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 38. W. J a w o r s k i und P. Korolewicz - Krakau : Ueber
okkulte Blutungen aus dem Verdauungskanal.
Der in fortschreitender Ausbildung begriffene Nachweis der
okkulten Blutungen kann namentlich in der Diagnostik der Magen¬
karzinome und des Typhus wertvolle Behelfe bieten. Bei Verdacht
auf Magenkarzinom soll vor der Sondierung diese Untersuchung der
Fäzes vorgenommen werden, schwinden diese Blutungen auch nach
eingeleiteter Therapie nicht, so gewinnt die Annahme des Karzinoms
an Wahrscheinlichkeit. Bei Typhus sind die okkulten Blutungen öfter
als Vorläufer der manifesten nachzuweisen. Die Verfasser haben nun
gefunden, dass die H. Weber sehe Guajakharzprobe und die
Rossel sehe Aloinharzprobe auch nach dem Genuss gewisser Nähr¬
mittel, z. B. allem gebratenen Fleisch, Fleisch- und Hämoglobinprä¬
paraten und nach eisenhaltigen Medikamenten positiv ausfällt. Diese
Substanzen werden daher am besten aus der Diät fortgelassen, wenn
man die Probe auf okkultes Blut macht; andernfalls kann die W e b e r-
sche Probe mit Wasserstoffsuperoxyd erst dann als positiv ange¬
nommen werden, wenn die untere Schicht ganz deutlich blau, die
obere deutlich blau, bei Anwendung von Terpentinöl die ganze
Flüssigkeit deutlich blau, bei der Aloinprobe die untere Schicht
deutlich kirschrot gefärbt ist.
L. Spitzer: Weitere Beiträge zur ätiologischen Therapie der
Syphilis.
Die Fortsetzung seiner Impfversuche an 7 weiteren Fällen haben
das Wesentliche an den früheren Erfolgen bestätigt. Das Ausbleiben
von Sekundärerscheinungen, das bis jetzt unter 20 Fällen 7 mal zu
beobachten war, ist jedenfalls der Beachtung wert.
V. Blum- Wien: Ueber Priapismus.
Beschreibung je eines Falles von Priapismus leucaemicus und
von Priapismus chronicus nocturnus. Ausser einer akut einsetzenden
2. Oktober 1906. _ _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1973
und persistierenden und einer chronischen anfallsweise auftretenden
Form lässt sich nach den Ursachen unterscheiden der Priapismus
1. aus lokalen Ursachen in den Schwellkörpern (Entzündung, Neo¬
plasma, Zirkulationsstörung, Trauma), 2. aus nervösen Ursachen
(anatomische und funktionelle Störungen des Gehirns und Rücken¬
markes), 3. bei Allgemeinerkrankungen (Intoxikation, Infektion, Kon¬
stitutions- und Blutkrankheiten). Auf die genauere Pathologie und
Therapie der einzelnen Formen lässt sich hier nicht eingehen.
E. Brezina und E. L a z a r - Wien : Ueber die Ausnützung der
Just-Hatmaker sehen Trockenmilch.
Nach den Untersuchungen der Verfasser eignet sich die Trocken¬
milch zum Ersatz der frischen Milch, wo solche nicht erhältlich, wenn¬
gleich die Ausnützung der Eiweissstoffe im Vergleich zur frischen in
der Regel herabgesetzt erscheint.
M. G i o s e f f i - Trient: Die Abdominaltyphusepidemie im Jahre
1905 in Pola und dem Umgebungsgebiet.
Bei Verwertung von 73 Fällen (7 Todesfälle) erörtert S. genauer
7 Fälle von Darmblutung, 3 Fälle von Darmperforation (1 vergeblicher
Versuch der Rettung durch Laparotomie), je 2 Fälle von Pleuro-
und Meningotyphus, einen solchen mit den Symptomen von Appen¬
dizitis, einen Fall von Endokarditis, deren Aetiologie nicht aufgeklärt
wurde, endlich einen mit multipler Myositis.
Wiener klinische Rundschau.
No. 34. H. K 1 i n g e r - Aussig: Ueber Pilzvergiftung.
Mitteilung mehrerer Fälle, wo es sich teils um Genuss giftiger,
teils um den Genuss essbarer, aber verdorbener Schwämme handelte.
Zwei der ersteren starben; der Sektionsbefund ergab nichts ausser
einer Eindickung des Blutes nur leichten Magendarmkatarrh.
No. 35. R. F r e u n d - Danzig: Ueber den Zusammenhang von
Sklerodermie mit Morbus Basedowii.
Bei einer Patientin F.s bestand die schon früher beschriebene
Verbindung von Symptomen der Basedowschen Krankheit mit
Sklerodermie. Die Untersuchung des Urins, dessen spezifisches Ge¬
wicht von 1010 — 1022 schwankte, ergab eine Herabsetzung der Harn¬
stoff- und der Phosphorausscheidung und wiederholtes Auftreten von
Indikan. Unter Darreichung von Natr. phosphor. hob sich das sub¬
jektive Befinden und schwand die Struma fast ganz.
J. S t o c k - Skalsko: Ein Fall von Vagitus uterinus.
Kasuistische Mitteilung.
No. 36. A. G r a z i a n i - Padua: Ueber ein neues Etui für kli¬
nische Thermometer, zum Zweck, die Uebertragung der Ansteckung
durch diese zu vermeiden.
Auf Grund mehrfacher Bakterienzählungen an Thermometern
schlägt G. die Möglichkeit der Infektion hoch an und hat nun eine
Hülse konstruiert, in deren unterem, abnehmbarem Teil sich mit
Formalin getränkte Watte befindet, das Formaldehyd dringt
durch den Siebboden in den oberen, das Thermometer enthaltenden
Teil der Hülse ein. Zur Desinfektion genügen 10 Minuten.
B e r g e a t.
Italienische Literatur.
S a 1 e r n i bringt aus der weiblichen Abteilung der Irrenheil¬
anstalt Venedigs eine Arbeit über Beziehungen zwischen Menstrual-
funktion und Geisteskrankheiten, (il Policlinieo, Mai 1906.)
Diese Beziehungen können betrachtet werden unter 2 Gesichts¬
punkten:
1. Welchen Einfluss haben die Menses, sei es die normalen oder
abnormen auf Eintreten und Verlauf von Geisteskrankheiten?
2. Welche Menstruationsveränderungen trifft man bei den ver¬
schiedenen Formen von Geisteskrankheiten an?
Ad 1 darf man behaupten, dass Beziehungen zwischen Menstrua¬
tion und Psychopathien ungemein viel seltener sind, als man früher an¬
nahm, und wenn eine solche nachweisbar erscheint, so sind zugleich
auch immer andere ursächliche Momente, so Prädisposition, Erschöp¬
fung, Infektion vorhanden und niemals nimmt die Menstruations¬
anomalie die erste Stelle ein. *
Dagegen haben die Menses oft einen deutlichen Einfluss auf den
Verlauf einer Geisteskrankheit durch verschiedene Symptome, welche
sie als nervöse und psychische Reaktion herbeiführen.
Ad 2 beobachtet man, dass für gewöhnlich das Eintreten der
Menstruation während der Geisteskrankheiten unregelmässig ist.
Diese Unregelmässigkeiten sind aber für gewöhnlich koinzident und
haben keinerlei ursächliche Wirkung, abgesehen von den spezifischen
menstruellen Psychosen.
Betrachtet man die Formen der Geisteskrankheiten im einzelnen,
so ist bei den periodischen Formen die Beziehung zur Menstruation
sehr deutlich.
Fusco: Ueber einige morphologische Kennzeichen und über
die Färbung der Spirochaeta pallida. (La nuova rivista clinica tera-
peutica 1906, No. 2.)
F. hat in der inneren Klinik Neapels einige morphologische Un¬
terschiede zwischen einzelnen Exemplaren der Spirochaeta pallida
beobachtet, welche mehr oder weniger deutlich sind., je nach dem Ur¬
sprung des untersuchten Materiales, dem Stadium der Krankheit und
der Behandlung, Unterschiede in der Länge und in der Art ihrer
Krümmungen, die oft mehr wellenartig, oft mehr korkzieherartig sein
können.
Der Autor schlägt auch eine leichte Methode der Färbung vor,
welche gute Resultate geben soll. Dieselbe beruht auf dem Prinzip,
auf die in absolutem Alkohol fixierten Exemplare fünf Minuten lang
eine 5 proz. wässrige Chromsäurelösung einwirken zu lassen, welche
als Beizmittel wirkt. Nach dieser Behandlung werden die Spiro¬
chäten mit einer einfachen gesättigten Lösung von üentianaviolett
oder Methylenblau gefärbt.
Bin di: Ueber Beziehungen zwischen Furunkel und eitriger
Paranephritis. (Gazzetta degli osped. 1906, No. 36.)
Verneuil hat zuerst im Jahre 1888 auf solche Beziehungen
aufmerksam gemacht; nach ihm teilte Jordan auf dem 12. deutschen
Chirurgenkongress Beobachtungen über nephritische und paranephri-
tische Abszesse im Gefolge von Furunkeln und anderen kleinen peri¬
pherischen Eiterherden mit.
B. teilt aus dem chirurgischen Spital zu Poppi einen typischen
Fall mit, in welchem der paranephritische Abszess 4 Wochen nach
einem Furunkel im Rücken konstatiert wurde. Die mikroskopische
Untersuchung ergab den gleichen Staphylokokkus, welcher für Fu-
runkelbildung als ätiologisch betrachtet wird.
Besta: Ueber pathogene Eigenschaft des Aspergillus fumigatus.
(Rivista sperimentale di Freniatria, Vol. 31, Fase. III und IV.)
Dieser Pilz erzeugt, wie B. durch Färbung seiner Sporen nach¬
wies, Pseudotuberkel und, indem er sich auch ohne Myzelium ent¬
wickelt, ein tetanisierendes Toxin.
Die pathogene Eigenschaft des Aspergillus äussert sich durch
Bildung nekrotischer Herde in den Geweben. Die Sporen erzeugen
Leukozytenanhäufungen unter entzündlichen Erscheinungen und
ohne dass es zur Myzeliumbildung kommt, immer wieder neue Sporen,
welche unter bestimmten Bedingungen tetanisierende Substanzen ent¬
wickeln.
In derselben Zeitschrift liefert C e n i eine Arbeit über die vitalen
Eigenschaften und das pathogene Vermögen der Aspergillussporen.
Er fand in den Organen von Individuen, die an Pellagra, namentlich
akuter, gestorben waren, Aspergillus fumigatus im Zustande von
Sporen. Aspergillus fumigatus-Sporen Kaninchen und Hunden intra¬
peritoneal eingeimpft, behalten mehrere Monate hindurch ihre pa¬
thogene Eigenschaft. Haben sich die Tiere an den Pilz und die
von ihm ausgehenden tetanisierenden Toxine gewöhnt nach einer
längeren Periode von wechselndem Kranksein und Besserungen, so
tritt sofort wieder eine Verschlimmerung ein, wenn der Körper in un¬
günstige Lebensbedingungen versetzt wird, so z. B. bei verlängertem
Hungern.
ßaccarani: Ueber akute primäre Lungenaspergillose. (Gaz¬
zetta degli osped. 1906, No. 51.)
B. beschreibt drei Fälle von pseudotuberkulöser Lungenerkran¬
kung, in welchen es sich allein um Aspergillus fumigatus als patho¬
genes Agens handelte. Diese drei Fälle betrafen ein und dieselbe
Familie und zeichneten sich durch einen akuten typhusartigen Ver¬
lauf aus. Die beiden ersten verliefen tödlich nach über zweimonat¬
licher Dauer. Im sorgfältig untersuchten Sputum wurden nie Tuberkel-
bezillen gefunden, dagegen immer Aspergillussporen, in manchen Prä¬
paraten das ganze Gesichtsfeld einnehmend. Die Erscheinungen auf
der Lunge blieben bis zum Exitus, der unter rapider Abnahme erfolgte,
die eines verbreiteten Katarrhs. Die Sektion wurde nicht gestattet.
B. erörtert bei dieser Gelegenheit ausführlich alles, was über
Pseudotuberkulose bisher bekannt ist, namentlich verbreitet er sich
über die Tuberkulosimilipilze und über die Lungenkrankheiten,
welche durch Aspergillus bewirkt werden. Von Rennet an,
welcher zuerst im Jahre 1842 den Pilz in einer Kaverne fand, erwähnt
er alle Fälle von Pneumomycosis aspergillina oder Lungenmykose
durch Schimmelpilze, welche in der Literatur bekannt geworden sind.
Besonders wichtig erscheint eine wiederholte sorgfältige Sputumunter¬
suchung, da sich zu einer Aspergillose eine echte Tuberkulose hinzu¬
gesellen kann und ferner diagnostische Anwendung des Tuberkulins.
Mikroskopisch ist die Pseudotuberkulose von der echten, durch den
Koch sehen Tuberkelbazillus bewirkten, nicht zu unterscheiden.
Aus den Annalen des Maraglianoinstitutes zum Studium und zur
Behandlung der Tuberkulose, Heft 6, erwähnen wir 1. eine Arbeit von
Re bau di: Ueber die hyperglobulisierende Eigenschaft der tuber¬
kulösen Gifte.
Tuberkulin in kleinen und refrakten Dosen subkutan injiziert,
hat an Tieren wie an Menschen eine deutliche Wirkung auf die Ver¬
besserung der Blutmischung zur Folge. Dieselbe dauert auch nach
dem Aussetzen der Injektionen längere Zeit an. Die Zahl der Erythro-
zythen wie Leukozythen und der Hämoglobingehalt erfährt eine deut¬
liche Zunahme wie R. an drei Fällen nachweist. R. folgert daraus,
dass Tuberkulin bei essentiellen Anämien als wirksames Mittel sub¬
kutan zu verwenden sei, da bei geeigneter Asepsis keinerlei Schaden
befürchtet werden könne.
2. L a n z a: Weiterer Beitrag zum Immunisierungsverfahren gegen
Tuberkulose durch den Genuss von Milch hoch immunisierter Kühe.
Es handelt sich um Fortsetzung von Versuchen, welche J emma,
der mittlerweile von Genua zur Leitung der pädiatrischen Klinik
nach Palermo übergesiedelt ist, begonnen hatte.
L. beschreibt das Verfahren der Immunisierung der Kühe, der
Untersuchung des antitoxischen und Agglutinationswertes des Blutes
1974
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
bei den Kühen und Säuglingen. Die Milch wurde unter möglichsten
Kautelen entnommen, aber roh verwandt, weil eine Temperatur schon
von 60 u C. genügt, die Tuberkuloseantitoxine zu vernichten.
Das Ergebnis seiner Untersuchungen an 14 Säuglingen fasst L.
in folgenden Schlussätzen zusammen:
1. Bei Säuglingen im allgemeinen ist das Agglutinationsvermögen
des Serums entweder negativ oder sehr schwach positiv.
2. Bei der Verabreichung von Milch immunisierter Tiere an
Säuglinge erhalten die letzteren Schutzstoffe im Blute, deren Index
das Agglutinationsvermögen des Blutserums auf homogene Tuber¬
kulosekulturen ist.
3. Der Uebergang von Antitoxinen und Agglutininen durch die
Magendarmschleimhaut scheint am besten und schnellsten in den
ersten Lebensmonaten zu erfolgen, aber auch entsprechend geringer
in den folgenden.
Der Agglutinationswert überschritt nur selten das Verhältnis
1 : 10; nur in einem Falle erreichte er 1 : 15. Er erscheint fast
konstant nach einem Zeitraum von 15 — 20 Tagen nach Einführung der
Schutzstoffe enthaltenden Milch und hört 30 — 50 Tage nach Be¬
endigung dieser Einführung auf.
4. Das Agglutinationsvermögen stand nicht im Verhältnis zu der
mehr oder weniger grossen Menge der eingeführten Milch: es erwies'
sich bei Kindern, die relativ grössere Mengen genossen hatten, oft
kleiner als bei solchen, denen geringere Quantitäten eingeführt waren.
Es verschwand um so langsamer, je länger diese spezifische Be¬
handlung gedauert hatte.
5. Die so ernährten Kinder, sei es, dass sie nur immunisierte Milch
bekommen hatten, oder nur teilweise, zeigten Gewichtsvermehrung
normaler Art und keinerlei Störung der Ernährung, welche auf diese
Behandlung zurückzuführen gewesen wäre.
3. Livierato: Ueber einige Untersuchungen betr. die Wir¬
kung des Blutserums Tuberkulöser und diejenige des spezifischen
antibaziliären Serums und den Widerstand dieser Blutsera gegen die
experimentelle Tuberkuloseninfektion.
Diese Untersuchungen beweisen deutlich die bakterizide Wirkung
des antituberkulosen M a r a g 1 i a n o sehen Serums. Bei der experi¬
mentellen Tiertuberkulose hinderte es das Eortschreiten der Infektion,
wie die Autopsien der so behandelten Tiere deutlich ergaben. Aber
auch in vitro den Tuberkelbazillen hinzugesetzt, verhindert das Serum
sichtlich deren Virulenz und Entwicklung. Das Blutserum Tuber¬
kulöser dagegen äusserte nicht nur keinerlei Wirkung auf die experi¬
mentelle Tuberkulose, sondern begünstigte die Entwicklung derselben.
Indessen hinderte auch dies Serum deutlich die Entwicklung der
Tuberkelbazillen in vitro und dies vermöge der bakteriziden Eigen¬
schaft, welche normaler Weise jedem menschlichen Blutserum zuzu¬
sprechen ist. Diese Untersuchungen werden im Institut in grossem
Umfange und an grossen Tieren fortgesetzt und die Resultate fort¬
laufend mitgeteilt.
4. Goggia: Einige neue Untersuchungen über den Unicismus
tubercularis.
Die Maragliano sehe Schule stellt den Satz auf, dass alle
Formen von Tuberkulose, welche die verschiedenen Tierarten be¬
treffen, auf einen gemeinsamen Stammbaum zurückzuführen sind und
dass die Varietäten das Resultat des organischen Nährbodens sind,
auf welchem die Tuberkelbazillen zu wachsen genötigt sind. Auch
die Klinik lehrt, wie aus den Arbeiten der Vertreter dieser Schule
hervorgeht, dass beim Menschen der Tuberkelbazillus verschiedene
charakteristische Formen annehmen kann, je nachdem die Gewebe der
einzelnen Individuen in verschiedener Weise auf die tuberkulöse
Infektion reagieren. Diejenigen Autoren, welche eine scharfe Tren¬
nung der Tuberkelbazillen der verschiedenen Formen annehmen und
eine besondere Tuberkulose des Menschen, der Säugetiere, der Vögel,
der Kaltblüter annehmen, betonen die Verschiedenheiten der Tuberkel¬
bazillen dieser Tierarten bezüglich ihrer Morphologie, ihres Wachs¬
tums und ihrer pathogenen Wirkung auf die eine oder andere Tier¬
spezies. Wenn man aber ihre Aehnlichkeit betrachtet und verschie¬
dene gemeinsame Eigenschaften, welche sie mit einander verbinden,
ferner eine Reihe von Forschungsergebnissen einzelner Untersucher,
so muss man zu der Ueberzeugung kommen, dass alle diese Bazillen
nur eine Varietät derselben Spezies sind und dass eine sichere Ab¬
grenzung zwischen denselben nicht existiert.
G. beschreibt eine Reihe von experimentellen Versuchen und
kommt zu folgenden Schlussätzen:
1. Der K o c h sehe Bazillus, wenn er darauf angewiesen ist, in
Organismen derselben Tierspezies zu leben, verlangt biologische
Eigenschaften, welche ihn individualisieren.
2. Diese Eigenschaften betreffen seine Art zu leben und sich zu
vermehren bei Tieren derjenigen Spezies, an welche er sich akklima¬
tisiert hat.
3. Diese Differenzierung ist eine stufenweise, so dass diejenigen
Bazillen, welche sich akklimatisiert haben an Tierarten, die unter sich
wenig verschieden sind, auch sich untereinander wenig unterscheiden.
4. Man kann mit Recht von einem Tuberkelbazillus des Men¬
schen, des Meerschweinchens, des Kaninchens usw. sprechen, weil
die Bazillen ein und desselen Stammes, akklimatisiert an diese drei
verschiedenen Tierspezies, genügend, wenn auch nicht konstant indi¬
vidualisiert bleiben.
5. Alle Varietäten der bis jetzt bekannten Tuberkelbazillen bilden
wahrscheinlich eine Kette, deren Glieder unter sich insofern differieren,
als sie mehr oder weniger von einander getrennt sind: aber in Wirk¬
lichkeit lassen sich die einen zu den anderen hinüberleiten durch
allmähliche Anpassung an die verschiedenen organischen Nährböden,
in welchen sie leben.
5. Goggia: Klinische und mikroskopische Beobachtung mor¬
phologischer Modifikationen der Tuberkelbazillen im Expektorat.
Von den Vertretern der Maragliano sehen Schule, M i r -
coli, S c i a 1 1 e r o, M a r z a g a 1 1 i, ist mehrfach auf Veränderungen
der Tuberkelbazillen hingewiesen worden, welche dieselben annehmen
bei immunen Individuen und auch bei solchen, welche mit antituber¬
kulösem Serum behandelt werden. Es handelt sich um gewisse ver¬
längerte, gracile, streptokokkenähnliche Formen. Diese Veränderung
wird als eine Art Nekrobiose des Infektionsträgers aufgefasst und
soll prognostisch eine günstige Aussicht für den Kranken bieten. Die
gleichen Zeichen von Nekrobiose bieten Tuberkelbazillen, welche Ver¬
suchstieren subkutan inijziert werden.
G. schildert einen Krankheitsfall, in welchem das Auftreten dieser
nekrobiotischen Tuberkelbazillen im Sputum die Besserung des All¬
gemeinbefindens und der physikalischen Symptome einleitete.
Hager- Magdeburg.
Inauguraldissertationen.
Universität Breslau. Juli bis Mitte September 1906.
13. Donchin Boris: Ein Beitrag zur Kenntnis des Morbus Base-
dowii.
14. Thomas Franz: Ueber die Karzinome der Mundschleimhaut.
15. N erlich Robert August: Untersuchungen über Bau und Funk¬
tion der Langerhans sehen Inseln.
16. Freitag Gustav: Ueber die künstliche Unterbrechung der
Schwangerschaft wegen Tuberkulose.
17. Kache Willi: Ueber charakteristische Merkmale und Resistenz
der Mikrococcusmeningitidis cerebrospinalis (Weichselbaum).
18. Luczkowski Wenzeslaus: Beiträge zur Syphilis des Zentral¬
nervensystems mit Berücksichtigung der Augenstörungen.
19. Grain Georg de: Zystenniere und Zystenleber beim Neu¬
geborenen als Entwicklungsstörung in ihrer Beziehung zur Ge¬
schwulsttheorie.
Universität Greifswald, Juli 1906 (Nachtrag).
21. Ko pp Karl Alexander: Beiträge zur Kasuistik der Tuberkulinbe¬
handlung.
August 1906.
22. D a u Hans: Die Säuglingssterblichkeit in Greifswald (1901 — 1905).
23. Liidicke Georg: Doppelseitige Ovarialtumoren bei einem Falle
von Pseudohermaphrodismus feminalis.
24. Nawrocki Boteslaus v.: Ueber den Einfluss von Herzfehlern
auf die Schwangerschaft nebst Betrachtungen über die Therapie
dieser Komplikationen.
Vereins- und Kongressberichte.
78. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte
in Stuttgart, 16. bis 22. September 1906.
II.
Von Stuttgart scheiden die Teilnehmer mit den ange¬
nehmsten Erinnerungen. Der König lud namhafte Forscher
zur Tafel und gewährte reizende Festvorstellungen in den
beiden Kgl. Theatern. Die Väter der Stadt bereiteten im statt¬
lichen Rathaus, das im Glanz von Lichtguirlanden strahlte,
festlichen Empfang. Einzig in seiner Art war der Blick vom
hohen Balkon auf die beleuchteten, altehrwürdigen Giebel¬
häuser des Marktplatzes, auf welchem eine schaulustige Menge
wogte. Die gemütlichen Räume des Ratskellers wuchsen und
wuchsen und erfüllten bald den ganzen Bau mit seinem be¬
lebenden Element. Die edlen Tropfen, welche die weissge¬
kleideten Mägdlein kredenzten, waren wohl auch für einen
Alkoholgegner eine kleine Todsünde wert - Wie im
Grossen, so fand mans auch im Kleinen: Freundliches Ent¬
gegenkommen und Gastfreundschaft.
In den Sitzungen wurde fleissig gearbeitet. Das Gesamt¬
programm unterschied sich von früheren vorteilhaft dadurch,
dass die gemeinsamen Sitzungen mehrerer Sektionen —
mit Referaten über wichtige neuere Fragen und Anregung
zur Diskussion — einen breiteren Raum einnahmen. Dies
kann die Naturforscherversammlung wie keine andere ver¬
mitteln. Die Sitzungen der Sektionen werden dadurch aller¬
dings etwas eingeengt, aber sie haben ja fast alle ihre Spezial¬
kongresse. Sie werden bei der Naturforscherversammlung
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1975
dann lieber auf vollkommene Erledigung ihres Programms ver¬
zichten. Sie werden sich auf das beschränken, was die Publi¬
kation nur unvollkommen vermittelt: kurze Demonstration von
Präparaten, Apparaten, Untersuchungsmethoden, Patienten;
daneben eigentliche Diskussionsthemata von allgemeinem In¬
teresse. Dementsprechend müsste auch die Reihenfolge der
Vorträge festgesetzt werden; mancher Vortrag wäre in eine
Demonstration umzuwandeln. Tatsache ist, dass viel Zeit er¬
spart würde, wenn auf Kongressen nur das gesprochen würde,
was dieMehrheit derZuhörer interessiert oder was zu einerSpe-
zialdiskussion anregt. Der Vortragende soll und will doch den
Interssen der Zuhörer dienen; er will gehört werden und
kann auch deutlich beobachten, ob er gehört wird. Bei man¬
chen Vorträgen lässt sich aber Voraussagen, dass ein Drittel
die Flucht ergreift, ein Drittel schläft und erst dann wieder
erwacht, wenn das letzte Drittel die Situation durch ver¬
zweifelten Lärm beendet. Leider sind ja gewisse Rücksichten
nicht zu umgehen. Es lässt sich aber doch vielleicht manches
bessern, so dass eine grössere Anzahl von allgemeinen Sitzun¬
gen u n d auch eine fruchtbare Spezialtagesordnung ermöglicht
wird. Mit eisernem Fleiss arbeiteten die Internisten, um ihre
grosse Rednerliste zu erledigen. Etwas leichter hatten es die
Chirurgen, da nicht einmal die Hälfte der angekündigten
Vorträge gehalten wurden; so angenehm diese Tatsache mo¬
mentan für den Abschluss der Verhandlung ist, so wenig er¬
freulich ist die Folgerung, dass das erste vorläufige Programm,
das zum Besuch der Versammlung animiert, zur Hälfte nur
Papierwert besitzt — eine Speisenkarte, auf welcher im ent¬
scheidenden Moment eins nach dem andern gestrichen wird.
In der II. Allgemeinen Versa m m 1 u n g, am Frei¬
tag den 21. September vormittags, wurden 3 Vorträge gehalten:
Herr Balz- Stuttgart sprach über „Die Besessenheit und ver¬
wandte Zustände auf Grund eigener Beobachtungen.“ Fälle
von Besessenheit, genau in der Art, wie sie in der Bibel be¬
schrieben sind, sind heutigen Tages noch, in Ostasien z. B.,
sehr verbreitet, und auch in Europa wurden noch im vorigen
Jahrhundert regelrechte Epidemien beobachtet. Die Erfor¬
schung dieser Zustände könnte noch sehr gefördert werden,
bessere Vorbildung des Arztes in der Physiologie der höheren
Funktionen des Nervensystems wäre zu diesem Zwecke und
überhaupt sehr wünschenswert. — Die Vorstellung von
Geistesstörung unter dem Einfluss von Dämonen, der Teufels¬
glaube wird also auch bei höherer Kultur noch angetroffen.
Der enorme suggestive Einfluss von religiösen, politischen
und sozialen Ideen auf Geistesgesunde macht uns klar, dass
gerade Suggestion und psychische Ansteckung die Hauptrolle
spielen beim Zustandekommen von psychischen Epidemien.
Weibliche Individuen sind leichter suggestibel, neigen eher zur
Hysterie und werden daher auch leichter von der Besessen¬
heitsidee erfasst. Den Begriff der Besessenheit muss man
weiter fassen, er betrifft auch die Okkupation durch gute
Dämonen, wie sie sich in den hysteroepileptischen, den durch
Autosuggestion herbeigeführten hypnotisch-somnambulen Zu¬
ständen der religiösen Verzückung etc. kundgibt. Die Idee,
dass überirdische Mächte vorübergehend den Körper besetzen
und sich durch seine Vermittlung äussern, liegt auch dem
Schamanismus zu Grunde, und ebendaher sind auch die spiri¬
tistischen Medien zu rechnen, und die Konvulsionisten, die
religiösen Selbstpeiniger, welche durch Anästhesie begünstigt
ihre wundersamen „Stigmata“ zeigen, sich mit Lustgefühl
martern lassen. Echte Zustände akuten religiösen Wahnsinns
konnte Vortragender in Japan bei Buddhisten beobachten,
welche unter dem hypnotisierenden Einfluss monotoner, rhyth¬
mischer Gebetsformeln in Krämpfe und schliessliche Raserei,
mit Aufhebung des Bewusstseins verfallen. Der Hexenwahn,
schon bei den Babyloniern verbreitet, dann im Mittelalter in
Blüte stehend, leitet über zur eigentlichen Dämonenbesessen¬
heit. Gegen den Willen des Betroffenen bedient sich ein
böser Dämon der Sprache und Gebärden desselben. Das Be¬
wusstsein wird mehr oder weniger getrübt. Ein oder mehrere
Dämone fahren in verschiedene Körperteile, hausen jahrelang
darin trotz Exorzismen. Nonnen und Geistliche werden mit
Vorliebe heimgesucht. Körperliche Schwäche, isoliertes Leben
mit gemeinsamem Ideenkreis, auch erotische und hysterische
Züge spielen mit. Bei anderen Völkern sind es Tiere, Tiger,
Katze, Hund, vor allem der Fuchs, der vom Körper Besitz
nimmt und einen Widerstreit zweier Ich-Naturen hervorruft,
eine Spaltung der Persönlichkeit; man kann unterscheiden das
leibliche Ich und das subjektiv urteilende Ich; letzteres geht
aus den Fugen oder denkt sich als andere Person; bei der Be¬
sessenheit wird durch die Macht der Suggestion die Persönlich¬
keit so akut beeinflusst, dass es nicht zur allmählichen Fäl¬
schung der Persönlichkeit kommt, sondern eine neue Persön¬
lichkeit auftritt. Wichtig ist, dass der Mensch nur von dem
Dämon besessen werden kann, an dessen Existenz und Kraft
er glaubt. Zur Erklärung der psychischen Vorgänge kann man
sich vorstellen, dass die Autosuggestion in Bahnen der ge¬
wöhnlich in Reserve stehenden Gehirnteile wirkt, z. B. in der
rechten Hirnhälfte, wenn gewöhnlich ein Abschnitt (Sprach¬
zentrum) der linken funktioniert.- Manches lässt sich erklären
durch Zuhilfenahme des Unterbewusstseins, das in
unserem Geistesleben eine bedeutende Rolle spielt. Nicht nur
Erinnerungsbilder, auch fertige Ideenkomplexe leben im Unter¬
bewusstsein, auch geistige Arbeit wird in demselben geleistet
und überrascht nicht selten den Menschen durch das fertige
Resultat. Die erwähnten Anfälle können als das kurzschluss¬
artig hervortretende Produkt solch unbewusster geistiger
Tätigkeit betrachtet werden.
Herr Lehmann- Karlsruhe zeigt an zahlreichen Licht¬
bildern die eigenartigen Phänomene, welche flüssige und schein¬
bar lebende Kristalle darbieten. Den Atomen fehlt die charak¬
teristische Lebensfunktion; man kann sich dieselben höchstens
mit latentem Leben, wie ein ruhendes Samenkorn, ausgestattet
denken. Infolge bestimmter Neigung der Atome, sich zu¬
sammenzusetzen, entstehen Kristalle. H a e c k e 1 findet eine
innige Verwandtschaft zwischen Kristall und niedersten Lebe¬
wesen; Analogien ergeben sich namentlich, wenn man Kristalle
während ihrer Bildung beobachtet; die Fähigkeit, zu wachsen
und organische Formen nachzuahmen, ist- sehr bestechend.
Kristalle bilden sich am leichtesten um einen Kern aus; fremde
Stoffe können sie in sich aufnehmen. Die meisten Kristalle
stechen durch ihre starre Form von den weichen organischen
Formen ab. Eine Mittelstufe bilden die flüssigen, tropfen¬
förmigen Kristalle, z. B. von ölsaurem Ammoniak, Schmier¬
seife. Die Tropfen zeigen einen dunklen Kern; das Zusammen¬
flüssen mehrerer Tropfen hat eine gewisse Aehnlichkeit mit
der Kopulation von Organismen. Auch eine Art Kreuzung
kann man beobachten, Mischkristalle mit auffälligen Farben¬
erscheinungen. Beim Zusammenflüssen verschiedener For¬
men entstehen dreieckige oder abgeplattete Körper mit eigen¬
artigen Strukturlinien. Durch Wachsen eines Kristalltropfens
entsteht Querteilung wie bei Zellen; auch bakterienartige Stäb¬
chen- undKettenformen kann man beobachten; man erhält durch
Betrachtung dieser Formen und der inneren Struktur genaueren
Einblick in die Molekularkräfte und Molekularkonstitution.
Auch ergeben sich mannigfache Anknüpfungspunkte für die
Theorien des Monismus und Dualismus.
Herr P e n c k - Berlin: Südafrika und Sambesifälle. In
Lichtbildern führt Vortragender die Zuhörer in das Gebiet, das
er als Teilnehmer an der vorjährigen Exkursion der britischen
Naturforschergesellschaft mit dem Geologenhammer er¬
forschte. Von seinen Ergebnissen hebt Vortragender folgendes
hervor: Die Tatsache, dass die Flüsse anscheinend ein ihnen
vorgelagertes Gebirge (am Kap) durchbrechen, erklärt sich so,
dass aus einer gleichmässig vom Innern Afrikas nach der Küste
abfallenden Ebene die Täler, erst eingeschnitten, die wider¬
standsfähigeren Gebirgskämme dagegen herausgearbeitet wur¬
den. Das Gebirge am Kap ist nur scheinbar ein Faltungs¬
gebirge. Der Sambesi konnte anscheinend früher das Meer
nicht erreichen, die Flüsse verloren sich in einer Wüste, konn¬
ten nicht einschneiden; daher ein Hochplateau, aus dem nur
Einzelgebirge, keine Kämme hervorragen. Im Innern des Lan¬
des, an der Grenze der tropischen Zone, fand P. Gletscher-
schliffe, deren Form höchst merkwürdigerweise dafür spricht,
dass das Eis vom Aequator gekommen sein muss. Die An¬
nahme eines Riesengebirges unter dem Aequator ist weniger
haltbar als der Gedanke, dass anstatt vertikaler Verschie¬
bungen der Erdkruste horizontale stattgefunden haben, also
Veränderung der Lage gegenüber den Erdpolen. Dies Phäno¬
men ist nicht symmetrisch auf der Erdoberfläche entfaltet, son-
976
dern beschränkt auf die Umgebung des indischen Ozeans, auf
Indien, Australien, Südafrika, überall an der Grenze der tro¬
pischen Zone. . R. Q.
Gemeinsame Sitzung der Abteilungen für Innere Medizin,
Chirurgie, Gynäkologie, Neurologie, Ohrenheilkunde und Mi¬
litärsanitätswesen.
Dienstag, den 18. September 1906.
Referent: R. Q r a s h e y - München.
Ueber den Einfluss der neueren deutschen Unfallgesetzgebung auf
Heilbarkeit und Unheiibarkeit der Krankheiten.
Herr N o n n e - Hamburg: fiir posttraumatische Erkrankungen im
Rückenmark.
Herr G a u p p - München: für Psychiatrie.
Herr B a i s c h -Tübingen : für Gynäkologie.
Herr T h i e m - Cottbus: für Chirurgie.
Herr Nonne hat seit 1903 aus Eppendorf und Privatpraxis 667
einschlägige Begutachtungsfälle gesammelt. Bei den Unfallsneurosen
fiel ihm, im Gegensatz zur Mannigfaltigkeit des Materials, die Mono¬
tonie des Symptomenkomplexes auf: Subjektiv Kopf-, Rückenschmerz,
Schwindel, allgemeine motorische Schwäche, Schlafstörung, oft Herz¬
beschwerden; Energie- und Mutlosigkeit, Streben nach Rente; ob¬
jektiv sehr wenig, meist lebhafte Sehnenreflexe, mehr weniger Er¬
höhung der vasomotorischen Erregbarkeit an Peripherie und Herz,
vage Sensibilitätsstörungen, inkonstante Gesichtsfeldeinschränkung
mässigen Grads u. a.; es fehlen in der Regel die sonst bei Neu¬
rasthenie zu findenden Zwangsvorstellungen, Magen-, Darm- und
Sexualbeschwerden. Ebenso ist klassische Hysterie selten Grund¬
lage. Alle diese neurasthenischen Unfallhypochonder
verraten schon in ihrem Gesichtsausdruck eine gewisse Familien¬
ähnlichkeit, wie Vortr. an Lichtbildern anschaulich macht. Er zeigt
ferner eine grosse Anzahl von Handverstümmelungen und -Ver¬
steifungen, deren Träger (ohne Rentenanspruch) volle Arbeit leisten,
erwähnt ferner einen Fall von Kopftrauma mit Trepanation und Aus¬
räumung eines extraduralen Hämatoms, der rasch wieder voll arbeits¬
fähig wurde — im Gegensatz zur subjektiven Arbeitsbeschränkung
unbedeutend verletzter Rentenbewerber. Das Rentensystem wirkt
nachteilig insofern, als die Leute nicht selten Alkoholisten werden.
Die Möglichkeit einer einmaligen Abfindung sollte gesetz¬
lich erweitert werden; bei Berufungen, die als ungerechtfertigt ab¬
gewiesen werden, sollte der Bewerber einen Teil der Kosten des
Appellationsverfahrens tragen. Durch langsame stufenweise Herab¬
setzung der Rente kann man oft viel erreichen, durch schroff aber¬
kennende Beurteilung dagegen sehr schaden. Ein Missstand ist, dass
der Kranke eine Abschrift der Obergutachten eingehändigt bekommt.
Von traumatischen organischen Rückenmarkskrankheiten beob¬
achtete Vortr. 4 Fälle sicher luesfreier Tabes; ferner Myelitis chro¬
nica, Poliomyelitis anterior, amyotrophische Lateralsklerose, ferner
2 eindeutig traumatische Fälle von multipler Sklerose.
Herr G a u p p hebt hervor, dass anerkanntermassen die trau¬
matischen Neurosen keine Bilder von absoluter klinischer Selbst¬
ständigkeit abgeben, und dass diese Neurosen nach Unfällen ver¬
schiedenster Art (hinsichtlich Ort und Stärke) auftreten. Es ist doch
merkwürdig, dass man nach Mensuren, nach Kopfverletzungen mit
Bierkrügen etc. diese Neurosen nicht beobachtet. In ihrer Häufig¬
keit und Hartnäckigkeit kennt man sie erst seit Inkrafttreten der
Unfallgesetzgebung. Die geringen objektiven Symptome kann man
bei vielen sonst Gesunden beobachten. Es müssen seelische Vor¬
gänge dazukummen, um das Bild der Unfallneurose zu erzeugen. Der
Kranke hat die Ueberzeugung, dass er nicht mehr arbeiten könne.
Begünstigend auf Entstehung dieser Vorstellung wirken chronischer
Alkoholismus, Monotonie der Arbeit, gespanntes Verhältnis zwischen
Arbeitnehmer und -geber. Es liegen durchaus nicht etwa bloss
unmoralische Motive, sondern auch falsche Auffassungen vor, ver¬
meintlicher Anspruch auf eine Rente als Schmerzensgeld. Sehr un¬
günstig wirken auf den Arbeiter der Einblick in die Uneinigkeit der
Aerzte, deren widersprechende Gutachten er zu lesen bekommt, die
häufigen Untersuchungen, die ihn immer in Spannung erhalten. Man
setze die Rente nicht zu hoch an; psychische Beruhigung und Hebung
des Selbstbewusstseins sind Aufgaben des Arztes. Es ist ein Kunst¬
fehler, dem Kranken zu sagen, sein Zustand sei aussichtslos. Die Un¬
fallgenossenschaft sollte das Recht haben, 2—3 Jahre nach dem
Unfall, nach Anhörung eines Kollegiums von Aerzten, die zum Teil den
hall schon vorbegutachteten, den Pat. mit einer Summe abzufinden,
wenn die Verletzungen selbst völlig geheilt sind und die übrigen Stö¬
rungen objektiv sich nicht verschlimmerten, und (eventuell) wenn nach
Ausspruch der Aerzte die endgültige Erledigung auch im Interesse des
Kranken selbst gelegen ist. — Direkt nach jedem Unfall sollte eine
genaue Feststellung des Befundes ärztlicherseits erhoben werden.
Herr B a i s c h stellt fest, dass die früher seltenen Unfallbegut¬
achtungen seit Einführung der Unfall- und der Invalidenversicherung
auch auf gynäkologischem Gebiet immer häufiger werden. Obwohl
der Zusammenhang von Hysterie und Neurasthenie mit Genitaler¬
krankungen zu negieren ist und auch die Verschlimmerung eines
gynäkologischen Leidens durch Trauma selten Wahrscheinlichkeit
No. 40.
hat, gelingt es Kranken, die ihr Ziel beharrlich verfolgen, nicht selten,
hohe Renten herauszuschlagen. Auch Laparatomien wurden ausge¬
führt, um die scheinbaren traumatischen Veränderungen zu beseitigen;
sie wurden nicht gefunden und die Beschwerden nicht beseitigt. Es
ist eben schwer, bei geringem Untersuchungsbefund eine anatomische
Veränderung sicher auszuschliessen. Man muss zum mindesten
versuchen, den Begehrungsvorstellungen der Versicherten durch
Gegenvorstellungen entgegenzutreten.
Herr Thiem bedauert, dass die Unfallversicherung sich des
Verletzten erst von der ld. Woche an annehmen muss, dass man eine
primäre und eine Nachbehandlung voneinander trennt. Die e r t i e
chirurgische Behandlung ist entscheidend und
leider oft mangelhaft, sie sollte in Unfallkrankenhäusern oder in best-
eingerichteten Kliniken erfolgen; die Karenzzeit sollte beseitigt werden;
namentlich bei Landarbeitern, die sich solange selbst versorgen müssen,
zeigt sich deren schädliche Wirkung. Der medikomechanischen Behand¬
lung, die nur ein wertvoller Faktor neben vielen anderen ist, wird viel¬
fach zu grosse Bedeutung beigemessen. Unsere Kenntnis bezüglich
der Unfallverletzungen ist durch die geregelte ärztliche Kontrolle der
Kranken sehr gefördert worden, auch die Therapie wesentlich beein¬
flusst worden (Verzicht auf allzu konservative Behandlung von Hand¬
verletzungen, auf anatomische Heilung der Brüche etc.). Ebenso
haben sich unsere Kenntnisse seit Einführung der Unfallgesetze er¬
weitert hinsichtlich der Wechselwirkung von Trauma und Krankheit.
Wo der Zusammenhang unklar (z. B. Leukämie), sollten wir unsere
Unkenntnis ruhig eingestehen und lediglich die Möglichkeit eines
Zusammenhangs zugeben.
Diskussion: Herr Rumpf- Bonn beklagt die Qualität
mancher Unfallgutachten und betont die Notwendigkeit geeigneten
Unterrichts. Zu bedauern ist ferner, dass Arbeitswillige so
schwer Arbeitsgelegenheit finden, und dass die Rentenbewerber so¬
lang mit den Entscheiden hingehalten werden. Er beobachtete von
anatomischen Erkrankungen 6 Wirbelbrüche, ferner traumatische
Verschlimmerung von Syringomyelie, Tabes dorsalis, multipler Skle¬
rose, dann verhältnismässig häufig Schädelbasisfrakturen mit bleiben¬
den Folgen, neben anderen Genesenen. Man solle bei der Rentenab¬
messung nicht rigoros Vorgehen, die Rente ganz langsam mindern
und die psychische Behandlung nicht ausser acht lassen. — Herr
O p p e n h e i m - Berlin findet einen Widerspruch darin, dass einer¬
seits unbedeutende Traumen schwere Erscheinungen nach sich ziehen
und andererseits bei Entstehung der traumatischen Neurosen nicht
das physikalische Moment, sondern sekundäre psychische Faktoren
als eigentliche Erzeuger des Leidens betrachtet werden sollen. Das
mechanische Moment des Traumas scheint doch in allen Fällen
wesentlich zu sein, wenngleich psychische Faktoren hinzutreten. Das
ganze Nervensystem bildet anatomisch und funktionell eine Einheit,
und auch ein Trauma, das am Fuss angreift, kann auf dem Wege der
mechanischen Erschütterung das Zentralnervensystem tangieren. —
Herr Bruns- Hannover betont, dass die moralischen Minderwertig¬
keiten nicht nur bei Arbeitern, sondern auch bei Privatversicherten
zu beobachten sind. Werden die Hoffnungen der unbegrenzt Be¬
gehrenden getäuscht, so sieht man nicht selten schwere Herz¬
störungen. Bei der Rentenbemessung ist B. im Laufe der Zeit
strenger geworden. Der Wille macht ungemein viel aus, das sieht
man bei verunglückten Offizieren, die über die hemmenden Vor¬
stellungen hinwegkommen. Einseitige mechanische Behandlung ist
nicht zu befürworten. Es wäre anzustreben, dass das Produkt der
wieder geleisteten Arbeit für den Arbeiter direkt Geldeswert be¬
kommt, dadurch würde er angespornt, seine Arbeitskraft besser zu
entwickeln. Es ist schade, dass man — nach Reichsversicherungsent¬
scheidung — die Rente nicht lediglich zu dem Zwecke kürzen darf, um
manche Patienten zur Arbeit zu bringen. Andererseits sollte niemals
ein Versicherter ab irato beurteilt werden.
Abteilung für innere Medizin, Pharmakologie, Balneologie und
Hydrotherapie.
Referent: Dr. Weinberg- Stuttgart.
Sitzung vom 17. September 1906, nachm. 3 Uhr.
Vorsitzende:
Herr Naunyn - Baden-Baden und Herr Moritz- Giessen.
1. Herr Senator: Ueber den Stoffwechsel bei der Erythro-
cythaemia splenica (Plethora polycythaemica rubra).
Bei dieser Krankheit, die mit Milzschwellung verbunden ist, sind
die roten Blutkörperchen bis auf 10 Millionen pro Kubikmillimeter ver¬
mehrt, man findet im Blut Normoblasten. Die Leukozytenzahl ist
normal, aber das Verhältnis der einzelnen Arten ist verschoben, die
Lymphozyten sind vermindert, die Myelozyten vermehrt, was auf ver¬
mehrte Tätigkeit des Knochenmarkes zurückgeführt wird, die eosino¬
philen und Mastzellen sind vermehrt. Das spezifische Gewicht des
Blutes ist erhöht, sein Trockenrückstand vermindert. Nach den Unter¬
suchungen von Hirschfeld handelt es sich um eine Plethora vera,
also Vermehrung des Blutes. Der Stickstoffwechsel ist nicht gestört,
der Gasstoffwechsel dagegen ist wesentlich erhöht, das Atmungs¬
volumen gesteigert. Entweder bildet die Zunahme der roten Blut¬
körperchen einen Reiz auf die Gewebe oder wirkt ein besonderer Reiz
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1977
ein, der durch stärkere Blutbildung überhaupt zu vermehrter Atmung
führt. Der respiratorische Quotient schwankt nach 0,7 und 1,0. Ein
verminderter Verbrauch von Blutkörperchen ist als Erklärung der
vermehrten Blutkörperchenzahl nicht wahrscheinlich, einzig die be¬
obachtete Herabsetzung des Urobilins im Harn würde dafür sprechen.
Für die Annahme einer gesteigerten Blutkörperchenbildung spricht die
Hypertrophie des Knochenmarks in den wenigen untersuchten Fällen,
die Eisenausscheidung ist gesteigert. Von ständigen Befunden an der
Milz kann man nicht sprechen. Blutentziehungen bewirken vorüber¬
gehende Besserung des Zustandes des Kranken.
Diskussion: Herr Mohr-Berlin: Er glaubt, in der Er¬
höhung des Sauerstoffgehaltes des Blutes bei der in Frage stehenden
Krankheit keinen Beweis gegen die Richtigkeit der Pflüger-
V o i t sehen Theorie zu sehen. Injizierter Sauerstoff hat dieselbe Wir¬
kung wie eingeatmeter; möglicherweise wirken auch andere Momente
auf den Sauerstoffwechsel erhöhend ein, namentlich ist das Atmungs¬
volum erhöht. Bei dieser Krankheit hat ferner die Blutbewegung
grössere Hindernisse zu überwinden, was auch Einfluss auf den Gas¬
verbrauch haben kann. Ueber den Einfluss des Knochenmarks wissen
wir gar nichts, es hat vielleicht unter pathologischen Verhältnissen
einen Einfluss wie ihn die Schilddrüse unter normalen Verhältnissen
besitzt.
Herr Senator (Schlusswort) : Er hat die Gültigkeit des Voit-
p f 1 ii g e r sehen Gesetzes nicht bestritten. Die Viskosität des Blutes
ist erhöht und damit muss allerdings die Herzarbeit steigen, man hat
dann auch in manchen Fällen Herzhypertrophie gefunden.
2. Herr H o f f m a n n - Düsseldorf : Ueber die klinische Bedeu¬
tung der Herzarhythmie.
Früher sah man in jeder Störung der rhythmischen Herzaktion
das Zeichen einer organischen Affektion, erst seit kurzem ist nachge¬
wiesen, dass solche Störungen häufig nur funktioneller Natur sind.
Die verschiedenen Formen der Arhythmie sind von verschiedener kli¬
nischer Bedeutung. Man beachtet jetzt nicht bloss die Pulsform, son¬
dern auch die verschiedenen Formen der Herztätigkeit selbst. H. hat
183 Fälle von Arhythmie, die grösstenteils ambulant behandelt wur¬
den, beobachtet:
Pulsus respiratorius irregularis (48 Fälle). Ein auffallender Ein¬
fluss der Atmung auf die Pulsfrequenz kann auch bei Gesunden Vor¬
kommen. besonders bei Neurasthenikern (29'Fälle). Nur 10 mal wurde
organische Affektion des Herzens beobachtet, die jukunde Form 5 mal.
Eine Abart ist die orthostatische Herzirregularität
(11 Fälle), die im Moment des Aufstehens entsteht und beim Nieder¬
legen ebenso schnell verschwindet. Ihre klinische Bedeutung ist die
gleiche wie beim Pulsus respiratorius irregularis.
Extrasystolische Irregularität, bei der sich in den regulären
Rhythmen zeitweise Svstolen einschieben. 64 Fälle, darunter 18 mal
andauernde Irregularität (18 mal Arteriosklerose). Bei Schwangeren
von vorübergehendem Charakter indiziert sie keine operativen Ein¬
griffe. Bei fieberhaften Krankheiten, auch bei Pneumonie, ist ihre
Prognose nicht immer ungünstig. 19 mal bestand sie bei Neurasthe¬
nikern. Sie kann sich an ied.e Phase der Herzaktion anschliessen.
Der Pulsus irregularis perpetuus stellt keine bestimmte klinische
Form dar, besondere Formen sind die paroxvsmale Arhythmie, die das
Wohlbefinden wenig alteriert. und das Delirium cordis. Oft fehlt der
Venenpuls. Er ist nicht ein Zeichen der Tricuspidalinsuffizienz, son¬
dern eines auf Kammer und Vorkammer gleichzeitig zur Kontraktion
wirkenden Reizes.
Pulsus alternans kann manchmal bei anscheinend regelmässigem
Puls durch Kompression des Oberarms sphvgmographisch nach ge¬
wiesen werden. Er ist ein Zeichen der nachlassenden Kontraktilität
des Herzens.
Diskussion: Herr Hering verwahrt sich dagegen, dass
er den Pulsus irregularis perpetuus als eine besondere Form auf¬
gefasst habe. P u r k i n j e w sehe Fasern kommen in den Vorhöfen
nicht vor. Zu den Ueberleitungsformen vom Vorhof zum Ventrikel
kommt als weiterer Befund Ueberleitung von den Venen zum
Vorhof.
Schlusswort des Vortragenden: Herr Hering hat
seine Ansicht über die Ueberleitungsformen geändert. Er selbst hat
nur von einem ähnlichen Verhalten in den Vorhöfen gesprochen, wie
es die Pu r k i n j e w sehen Fasern im Ventrikel bedingen.
3. Herr M i n k o w s k i - Greifswald: Zur Deutung von Herz¬
arhythmie mittels des Kardiogramms.
Für die Beurteilung der pathologischen Herztätigkeit ist es wün¬
schenswert. nicht nur die peripheren Arterien, sondern auch die Tä¬
tigkeit des Herzens und seiner verschiedenen Teile, namentlich aber
auch den Venenpuls zu registrieren. Dieser ist häufig äusserlich nicht
zu konstatieren. Seine Untersuchung trägt wesentlich bei zur Er¬
klärung der verschiedenen Formen der Herzarhvthmie. Bei fehlendem
Venenpuls lässt sich die Bewegung der Vorhöfe durch Einführung
einer an ihrer Oeffnung mit einer Gummimembran geschlossenen
Schlund.sonde unter Kontrolle des Röntgenbildes feststellen. M. de¬
monstriert das Verhältnis zwischen Arterien- und Vorhofpuls an ver¬
schiedenen, gleichzeitig gewonnenen Kurven. (S. Diskussion.)
4. Herr B i n g e 1 - Tübingen: Ueber den systolischen und dia¬
stolischen Blutdruck bei Herzkrankheiten.
Für die Pathologie des Herzens ist nicht nur die Kenntnis des
maximalen systolischen Blutdruckes, sondern auch die des minimalen
diastolischen Blutdrucks und der Unterschied beider Wertender Puls¬
druck, von Bedeutung. B. hat die Methode von Sahli in einer
Weise modifiziert, dass ein zweiter Beobachter zur Ablesung des
Druckes nicht mehr nötig ist: dadurch wird der Beobachtungsfehlei
verringert. An Stelle des relativen Sphygmogramms tritt das absolute.
B. demonstriert die Bedeutung dieser Untersuchungsmethode an einei
Reihe von Kreislaufstörungen. Während normal der systolische Blut¬
druck 100—110, der diastolische 40—50, der Pulsdruck 40—50 mm
beträgt, bewirken Kältereize am anderen Arm grössere Steigerung
des diastolischen wie des systolischen Druckes, also Verminderung
des Blutdruckes. Bei Dilatatio cordis ist der Pulsdruck vergiössert,
bei Pulsüs alternans schwankt er zwischen 45 — 50 mm. Bei dekom-
pensierter Mitralinsuffizienz ist der Pulsdruck vermindert, indem dei
systolische Blutdruck sinkt. Bei der Herstellung der Kompensation
steigt der systolische Blutdruck allein. Aorteninsuffizienz und Herz¬
neurosen erhöhen den Pulsdruck. Bei Lösung von Pneumonien geht
der hohe Pulsdruck auf die Norm zurück. Bei Arteriosklerose ist
der systolische Blutdruck hoch, der Pulsdruck gering. Bei Nephritis
chronica ist der systolische Druck enorm erhöht, der diastolische
weniger. Das bewirkt eine grosse Vermehrung der Herzarbeit.
Sicher beteiligen sich daran neben der Hypertrophie des Herzens auch
die Arterien. , LJt
Herr L u s t i g - Meran: Ueber die Bedeutung der Blutdruck¬
messungen für die Diagnostik.
Im wesentlichen historischer Vortrag. L. weist darauf hin, dass
bei Arteriosklerose und chronischer Nephritis die Messung des sy¬
stolischen Druckes genüge.
Herr R o s e n f e I d - Stuttgart: Ueber die Therapie der Aorten¬
aneurysmen.
Im Gegensatz zu der herrschenden, absolut ungünstigen Auf¬
fassung der Prognose des Aortenaneurysmas findet man in der Li¬
teratur nicht selten lange Zeit stationär gebliebene oder geheilte
Fälle. Die unmittelbare Ursache des Aneurysmas ist stets die Stei¬
gerung des Blutdruckes, mittelbare Ursachen tragen zur Entwicklung
des Aneurvsmas bei. Unter diesen ist in erster Linie (in ca. 50 Proz.
der Fälle) die Syphilis zu nennen. Bei tertiärer Syphilis ergibt die
antimerkurielle Kur günstige Erfolge, bei geheilter Lues ist damit nicht
viel zu erreichen. Die Syphilis wurde bei ca. 90 Proz. der sack¬
förmigen Aneurysmen gefunden, bei diesen Formen bringt Gerinnung,
am besten durch Gelatine herbeizuführen, Heilung. Sie wurde unter¬
stützt durch Ruhe. Kälte und Diät. Bei den sackförmigen Aneurysmen
liegt die Gefahr in der Perforation, bei den zylindrischen Formen in
der Embolie, bei dieser Form ist daher die Gerinnung zu verhüten:
dies bewerkstelligt man durch Jodkali und Stagnin, die die Viskosität
des Blutes und den Blutdruck herabsetzen. Wegen der verschiedenen
Art der Behandlung ist zeitige Feststellung der Art des Aneurysmas
notwendig.
Herr S c h i c k 1 e r - Stuttgart : Ueber Blutentziehung.
Der Haupteffekt der Blutentziehung ist die Verdünnung des
Blutes. Herabsetzung der Viskosität des Blutes und Herabsetzung
des Blutdrucks. Verminderung des Blutvolums, die Erweiterung der
Kapillaren. Sch. übt die Blutentziehung seit 15 Jahren. Blutegel
wendet er an zum Zweck der Verminderung der Extravasate bei
Frakturen, bei Aortitis. Angina, Diphtherie, Myokarditis, Mittelohr¬
eiterung, Augenkrankheiten, Parametritis. Karbunkel etc.; den Ader¬
lass bei Bronchitis canillaris. Pneumonie, drohendem Lungenödem,
Perityphlitis, Perikarditis. Eklamosia parturientum, Urämie, Nephritis,
drohender Apoplexie, Arteriosklerose und Hämorrhoiden. Auch
SchröDfköofe wendet er bei verschiedenen Krankheiten an.
Diskussion: Herr B u r w i n k e 1 - Nauheim bestätigt die
guten Erfolge, namentlich bei Arteriosklerose.
Herr W e i n b e r g - Stuttgait vermisst für eine Reihe der ange¬
führten Indikationen den Nachweis, dass die abwartende Behandlung
weniger geleistet hätte und kritisch gesichtete Krankengeschichten.
Speziell bei der Pneumonie war der Aderlass allgemein üblich, bis
1846 Dietl in Wien durch seine Parallelversuche nachwies, dass die
Ergebnisse der exspektativen Behandlung wesentlich günstiger sind.
Wenn man heutzutage keine Uebung mehr im Aderlass hat. so liegt
die Ursache darin, dass man in Erkenntnis seiner Gefahren und häu¬
figen Nutzlosigkeit seine Indikationen eingeschränkt hat.
Herr Burwinkel - Nauheim erwartet bessere Resultate, wenn
nicht bloss in extremis der Aderlass bei Pneumonie angewandt wird.
Abteilung für Chirurgie.
Referent: R. Q r a s h e y - München.
2. Sitzung, Mittwoch 19. September 1906, Nach m.
5. Herr B a d e - Hannover : Zur Lehre von der angebornen Hüft¬
verrenkung.
B. zeigt Röntgenbilder, welche für eine schleichende Erkrankung
in Kopf und Pfanne als Ursache des Leidens in manchen Fällen
sprechen, und stellt 5 Kinder vor zum Beweis, dass man mit der Be¬
handlung individualisieren muss. In manchen Fällen ist ein Knie¬
kappenzug und starke Erhöhung der andern Sohle nötig, um den Kopf
in der Pfanne zu halten. In anderen Fällen steht der Kopf nur richtig.
1978
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
wenn in leicht flektierter Stellung eingegipst wird. In einzelnen
Fällen kann man auch Destruktionsluxationen zur Heilung bringen.
Doppelseitige Luxationen behandelt er zweizeitig, wenn die Kinder
sehr jung und die primäre Stabilität ungleich, einzeitig bei älteren
Kindern.
6. Herr Hirsch -Wien: Ueber isolierte subkutane Frakturen
einzelner Handwurzelknochen.
Am häufigsten wurde Fraktur des Navikulare beobachtet. H.
unterscheidet a) die intrakapsuläre Fraktur des Körpers; sie kommt
durch Kompression, Biegung oder Riss zustande, ist diagnostizierbar,
heilt fast immer pseudarthrotisch und hinterlässt beträchtliche Funk¬
tionsstörungen, während b) die extrakapsuläre Abrissfraktur der
Tuberositas sehr günstige Prognose hat. Fraktur des Os lunatum
wurde 3 mal beobachtet.
Diskussion: In der Münchener Chirurg. Klnik wurden ausser
den genannten beobachtet: isolierte Fraktur des Hamatum, Fraktur
des Triquetrum kombiniert mit Fraktur des Proc. styl. uln. Bei einer
der 3 Lunatumfrakturen konnte der Unfallkranke nur allgemein Ueber-
anstrengung, dagegen nicht den Moment der Fraktur angeben. —
Letzteres wurde auch im Stuttgarter Kathar. Spital einmal beob¬
achtet; hier war öfters Veranlassung zur blutigen Entfernung von
Karpalknochenbruchstücken gegeben.
7. Herr G u r a d z e - Wiesbaden: Behandlung des Genu valgum.
Röntgenbilder sprechen für die Albert sehe Ansicht, dass an
den pathologischen Veränderungen bei Genu valgum auch die Epi¬
physen wesentlich beteiligt sind. Ferner sind die Torsionen sehr
wichtig. Die Osteoklasie verwerfend möchte Vortr. die Indikationen
zur Osteotomie erweitern und auch starre rachitische X-Beine ein¬
beziehen. Als Beleg dient ein erfolgreich nach M a c e w e n doppel¬
seitig osteomierter Fall von hochgradigem Genu valgum.
Diskussion: Herr Lorenz- Wien erinnert an einen noch
höhergradigen Fall, geheilt durch Osteotomia supracondylica linearis,
welche L. von der Aussenseite her vornimmt. Beide Unterschenkel
kreuzten sich im rechten Winkel. — Herr Schultze - Duisburg
empfiehlt ebenfalls quere Durchmeisselung von aussen, dann aber zu¬
nächst Fixation in der pathologischen Stellung und erst nach 10 Tagen
Korrektur. — Herr Bade- Hannover findet, dass man zwar mit der
lineären Osteotomie alles machen kann, dass man aber die Osteoklasie
öfter machen würde, wenn man bessere Instrumente hätte, 7' i 1 1 -
m a n n s - Leipzig bemerkt, dass man den Knochen schwer da brechen
kann, wo man gerade will. —
8. Herr H a a s 1 e r - Halle: Zur Chirurgie der Gallenwege.
Bei partieller Hepatoptose mit Gallenstein oder Cholezystitis,
ferner wenn der mobile Leberlappen die Choledochus- oder Hepa-
tikusdrainage stört, empfiehlt H., die Gallenblase mit Längsschnitt
auszuhülsen und den gut ernährten Serosasack als festes, neues Auf¬
hängeband durch die Leber, an der Gallenblaseninzisur hindurchzu¬
führen und am Thorax zu fixieren.
9. Herr Pochhammer - Greifswald : Experimentelle Studien
über Enteroanastomose und Darmresektion.
P. hat den Gedanken der Anastomosenbildung mittelst elastischer
Ligatur wieder aufgenommen und mit Erfolg bei Hunden modifiziert.
Die Oeffnung blieb durchgängig. Versuche, auch bei Anlegung des
Murphyknopfs die freie Eröffnung des Darms durch elastische Ligatur,
galvanokautische Schlinge u. a. zu umgehen, waren ermutigend.
10. Herr W i c h m a n n - Hamburg: Beitrag zur Behandlung ino¬
perabler Geschwülste mittelst Röntgenstrahlen.
Eosinisierte Speiseröhren- und Magenschleimhaut des Kanin¬
chens reagierte viel stärker auf äussere Bestrahlung, als die des
Kontrolltiers.
11. Herr G 1 u c k - Berlin: Probleme und Ziele der plastischen
Chirurgie.
G. gibt einen Ueberblick über seine auf diesem Gebiet geleistete,
vielfältige Arbeit, erinnert an die spontane Regeneration des peri¬
pheren Stücks nach Nervendurchschneidung (Neuroblastenbildung),
an seine Akzessorius-Fazialis-Plastik; an die Gewebsziichtung durch
Einschaltung homologen oder heterologen Materials, das als Reiz
wirkt und dem sich regenerierenden Gewebe den Weg weist; an
Arthroplastik durch gestielte Hautlappen, welche eine Synoviamet¬
aplasie eingehen können u. a.
Diskussion: Herr Hofmeister- Stuttgart fragt, wie
lange es nach Akzessorius-Fazialis-Plastik dauert, bis die Mimik
koordiniert und frei von Mitbewegungen sei. (Herr Gluck: 5 Jahre,
unter mühevollen systematischen Uebungen.) Herr TiLmann-
Köln empfiehlt, lieber den Hilfsnerven zu opfern und zwar den Hypo-
glossus ganz zu durchtrennen; man kommt rascher zu einem be¬
friedigenden Resultat.
11. Herr K a t h o I i c k y -Brünn: Ueber Pagets Knochen¬
erkrankung.
Ein schöner Fall mit Rarefizierung und Zystenbildung in den
Knochen, tumorartiger Auftreibung des Unterkiefers, Spontanfrak¬
turen, Verbiegungen, Anämie (Präparate).
3. Sitzung, Donnerstag 20. S e p t. 1906, nach m.
12. Herr Lorenz- Wien: Ueber die Behandlung der Arthritis
deiormans coxae.
Das Leiden, im wesentlichen ein Oberflächenprozess, eine Aus-
leierung des Gelenkes darstellend, ist klinisch gekennzeichnet durch
Adduktionshinken, leichte Beugekontraktur, iliakale Luxationstendenz,
d. h. gewissermassen perpetuiertes Trendelenburg sches Phä¬
nomen. Ausser Schmerz durch Reibung besteht auch Zerrungs¬
schmerz, indem das Gelenk den Belastungswiderständen keine ge¬
nügende innere Festigkeit entgegensetzt. Anstatt der schablonen¬
haften Extension und Suspension, welche das Gelenk seiner Funktion
entzieht und zu Knochen- und Muskelatrophie führt, ist das Gelenk
in überstreckter, mechanisch günstigerer Stellung zu fixieren in einem
Gipsverband, der Abduktionsübungen und Gehen gestattet und nach
4 — 8 Wochen durch eine Koxitishtilse ersetzt wird, neben Massage
und aktiven und passiven Abduktions- und Hyperextensionsübungen.
Nur bei ankylotisch gewordener Adduktionskontraktur entschliesse
man sich zur Operation und zwar zur subkutanen subtrochanteren
Osteotomie.
Diskussion: Herr Bad e -Hannover erinnert an seine früher ge¬
gebene pathologisch-anatomische Einteilung der Arthritis deformans
in hypertrophische und atrophische Formen, deren jede konzentrisch
oder exzentrisch sein kann. Hülsenapparate verwendet B. seit
6 Jahren nicht mehr dafür, sah Gutes von Bewegungsübung, z. B.
Radfahren. — Herr T i 1 m a n n - Köln erzielt mit Heissluftbehandlung
(60 — 140 °) neben Bewegung Abnahme der Schmerzen und Zunahme
der Beweglichkeit.
13. Herr v. A b e r 1 e - Wien: Ueber das modellierende Redresse¬
ment des Klumpfusses Erwachsener.
Vortr. erläutert die Leistungsfähigkeit des Osteoklasten an er¬
folgreich korrigierten Füssen. Am vertikal eingespannten Fuss wird
erst die Inflexion beseitigt, dann in horizontaler Lage die Varusstellung
und dann mit dem Schultze sehen Hebeldruckbrett die Spitzfuss-
stellung; wichtig ist die Nachbehandlung.
Diskussion: Herr E. Müller- Stuttgart bevorzugt die
Keilexzision mit event. offener Tenotomie der Weichteile. Statt 4 bis
6 Monaten braucht man nur 6 bis 8 Wochen zur eigentlichen Behand¬
lung. Der Fuss wird, ohne Nachteil, etwas verkürzt, kann aber vor
allem dann gut abgewickelt werden. — Herr v. A b e r 1 e betont,
dass seine Patienten während eines grossen Teiles der unblutigen
Behandlung umhergehen können.
14. Herr v. Truhart - Dorpat: Actiologie und Pathogenese der
Pankreashämorrhagien.
Vortr. hält die Pankreasblutungen für keineswegs selten und für
sehr bedeutungsvoll. Ein unbedeutendes Trauma könne eine un¬
bedeutende Hämorrhagie verursachen und das Trypsin greife dann
die geschädigten Blutgefässe an; das führe dann zu Zerstörungen und
grösseren Hämorrhagien.
15. Herr S a m t e r - Königsberg: Zur traumatischen Entstehung
und zur operativen Behandlung der Serratuslähmung.
Der N. thoracicus longus wird zwischen Proc. coracoideus und
Rippe anscheinend leicht lädiert, d. h. eingeklemmt. Bei einem Kind mit
Serratuslähmung (nur die obersten Zacken reagierten) verpflanzte
S. die abgelöste Sehne der kostosternalen Pektoralisportion an den
unteren Skapulawinkel (Bohrlöcher); am 12. Tag war bereits regel¬
rechte Bewegung möglich. Bei der Nachbehandlung nach der Opera¬
tion muss der Arm eleviert werden zwecks Entspannung des Nerven
und Verhütung von Narbenkontraktion. Die Operation käme event.
auch bei manchen Formen von Schulterblatthochstand in Betracht.
S. rät den Neurologen, bei ihren Serratuslähmungen frühzeitige Ele¬
vation des Arms, wenigstens nachts, anzuordnen.
4. Sitzung, Freitag 21. September 1906, nachm.
16. Herr Lichten stern - Wien : Ueber Funktionsstörungen
der nach Nephrektomie Testierenden Niere.
Bei nachuntersuchten nephrektomierten Patienten fand L. in
Uebereinstimmung mit seinen früheren Tierexperimenten beträchtliche
Schwankungen in der Zuckerausscheidung nach Phloridzindarreichung,
wonach also die Phloridzinprobe kein exaktes Reagens auf die Funk¬
tionsfähigkeit der Niere darstellt.
17. Herr v. H o v o r k a - Wien: Ueber die Wichtigkeit der Aus¬
füllung hohler Räume in der Chirurgie.
Vortr. wünscht der v. M o s e t i g sehen Jodoformknochenplombe
grössere Beachtung. Misserfolge fallen der Technik zur Last. Sie
muss gut anliegen, alles Kranke muss entfernt, die Höhle selbst ab¬
solut trocken sein; dann wird sie resorbiert und durch echtes Knochen¬
gewebe ersetzt. Vergiftungen wurden nicht beobachtet. Fisteln sind
kein Hindernis. Auch die erweiterte Anwendung der Plombe auf
Weichteilhöhlen bewährte sich.
Diskussion: Herr Hirsch- Wien würdigt die Bedeutung
der Plombe bei Gelenkresektionen. Man kann viel mehr von der
Kontinuität des Knochens erhalten, wenn man die auf der Säge¬
fläche sichtbaren Herde aüsmeisselt und plombiert.
18. Herr R o s e n f e 1 d - Nürnberg: lieber Krüppelfürsorge.
In Deutschland leben mindesten 360 000 Krüppel, davon zwei
Drittel in ärmlichen Verhältnissen, 15 Proz. fallen der Armenpflege
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
zur Last. Die Krüppelfürsorge in Deutschland ist noch sehr zurück,
die jetzt neu organisierte Münchner Anstalt ist die einzige staatliche.
Line Anstalt müsste zugleich Heilanstalt, Erziehungsanstalt, gewerb¬
liche Fortbildungsschule und Versorgungsheim für Erwerbsunfähige
sein. Durch mangelhafte Ausbildung und Versorgung der Krüppel
erwächst dem Land beträchtlicher Schaden, da es sie unterhalten
muss. In Deutschland gibt es nur 33 Institute mit zusammen über
2600 Betten. Die Hauptsache wäre entsprechende spezialärztliche
Hilfe in entsprechenden Kliniken; denn 80 Proz. der Krüppel werden
nach Lange durch orthopädische Hilfe erwerbsfähig. Die Aerzte
sollten sich mehr für diese wichtige Frage interessieren.
Diskussion: Herr Bade- Hannover bedauert, dass vieler¬
orts die Krüppelfürsorge in der Hand der Geistlichkeit liegt, anstatt
in der des Staates. Der Arzt muss zeigen, was unsere Kunst für den
Kranken leisten kann, dann findet er am ehesten Unterstützung; das
hat B. wenigstens in seinem Wirkungskreis erfahren.
19. Herr R i 1 1 e r - Greifswald: Die Neubildung von Lymph-
drüsen im Fettgewebe bei Karzinom und Sarkom.
R. zeigt Präparate von solchen Lymphdriisen, z. B. aus der Axilla
bei Mammakarzinom, bei welchen Fett- und Lymphdriisengewebe
ganz unvermittelt ineinander übergehen. Es handelt sich dabei nicht
um fettige Entartung der Drüse, denn das Fett liegt peripher, nicht
zentral in den Drüsen. R. glaubt, dass das Karzinom erst sekundär
in die neugebildeten Lymphdriisen hineinwächst.
20. Herr A r n s p e r g e r - Heidelberg: Die Diagnose des funk¬
tioneilen Ikterus.
Es gibt Fälle von Ikterus, welche ohne Hindernis in den Gallen¬
wegen einhergehen, also auf eine Funktionsstörung der Leber zu be¬
ziehen sind; sie sind klinisch erkennbar, selbst wenn ein mechanisches
Moment noch hinzukommt: chronischer Verlauf, Abmagerung ohne
Kachexie, Ikterus, gleichmässige Lebervergrösserung, Fehlen von
Milztumor oder Aszites, gleichmässige Färbung der Fäzes, Uro-
bilinurie, oft mit Albuminurie, Hämoglobinmangel sind bezeichnend
für das Leiden. In 2 Fällen wurde die Diagnose gestellt und der Zu¬
stand durch Jodkali gebessert (Lues). Die Operation wirkt in solchen
Fällen meist schädlich.
Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Referent : Dr. R. Glitsch- Stuttgart.
Sitzung vom 17. September 1906, nachmittags 3 Uhr.
Vorsitzender: Herr Peter Müller.
Herr F e h I i n g - Strassburg: Pubiotomie und künstliche Früh¬
geburt. (Erscheint in extenso in dieser Wochenschrift.)
Herr Pfannenstiel - Giessen : Die Indikationsstellung zur
Behandlung der Geburt bei Beckenenge.
Pf. wendet sich in der Klinik mehr der operativen Praxis zu und
glaubt nicht, dass die Pubiotomie in der Praxis gute Resultate haben
wird. Die künstliche Frühgeburt dagegen kann ruhig dem Praktiker
überlassen werden und deshalb muss sie in der Klinik gelehrt werden.
Auch aus sachlichen Gesichtspunkten darf man die künstliche Früh¬
geburt nicht fahren lassen. Technisch ist die Pubiotomie wesentlich
leichter und günstiger als die Symphysektomie. Die Perforation des
lebenden oder abgestorbenen Kindes lässt sich auf ein Minimum
herabdrücken. Höhere Grade der Beckenenge und gewisse Formen
sind nicht geeignet, gute Resultate bei künstlicher Frühgeburt zu
geben. Die Mortalität bei künstlicher Frühgeburt ist verschwindend
gering gegenüber den 5 Proz. Mortalität bei Pubiotomie. Auch der
praktische Arzt wird bei besserer Asepsis bessere Resultate haben.
Auch die Resultate bezüglich der Kinder sind günstig. Die Sectio
caesarea wird nicht viel an die Pubiotomie abgeben. Hinsichtlich
der Indikationsstellung kommt es besonders auf die Formen der engen
Becken an, die bezüglich der Resultate sich sehr verschieden ver¬
halten. Die relativ günstigsten Chancen bei exspektativem Verfahren
bietet das allgemein verengte Becken. Die Zange gibt bei plattem
Becken die schlechtesten Resultate, bei den beiden anderen Formen
etwas bessere. Dagegen gibt die Wendung bei plattem Becken (NB.
nicht die prophylaktische Wendung!) günstige Resultate, bei allgemein
verengten und allgemein verengten platten Becken sind die Resultate
schlecht. Die Zange soll nur im Notfall, die prophylaktische Wendung
nur bei hinreichend dehnbaren Weichteilen ausgeführt werden. Die
Pubiotomie besteht zu Recht; auch für sie kommt die Beckenform in
Betracht. Hierbei ist zwischen Pubiotomie und Kaiserschnitt abzu¬
grenzen, letzterer tritt bei allgemein verengtem platten Becken in
sein Recht. Bei höheren Graden von Beckenenge gibt die künstliche
Frühgeburt noch an die Pubiotomie ab. Doch soll man nicht unter
7Vz cm Conj. vera heruntergehen. Hinsichtlich der Technik der
künstlichen Frühgeburt ist beim platten Becken prinzipiell die prophy¬
laktische Wendung angezeigt nach vorheriger Hystereuryse. Beim
allgemein verengten Becken benutzt Pf. nicht den Hystcreurynter
wegen der Verdrängung des Kopfes, sondern ist hier dem Bougie-
v erfahren treu geblieben. Hier lässt sich gelegentlich die Pubiotomie
anfügen. Hinsichtlich des vaginalen Kaiserschnitts bei Pubiotomie
verhält sich P f. ablehnend wie Fehling.
Herr v. Her ff -Basel: Zur Behandlung der engen Becken.
Man kann zwei Richtungen in der Geburtshilfe unterscheiden:
Die abwartende und die vorbeugende. Erstere nennt sich konser¬
1979
vativ, weil sie sich nicht zur künstlichen Frühgeburt versteht. Sie
schätzt das Leben des Kindes höher ein und mutet der Mutter
schwierige, langdauernde, häufig operative Geburt zu. Die zweite
Richtung vertritt das Interesse der Mutter als des kostbareren
Lebens und ihr vornehmstes Mittel ist neben der prophylaktischen
Wendung und der äusseren Wendung die künstliche Frühgeburt.
Unter 10 000 Geburten der Baseler Klinik sind 413 enge Becken mit
einer geschätzten Conj. vera unter 10 cm; dieselben verteilen sich auf
die Zeit unter B u m m und v. H e r f f. Bei vorbeugender Behandlung
konnten hierbei 87,8 Proz. Kinder lebend entlassen werden, welch
Resultat hauptsächlich auf Rechnung der künstlichen Frühgeburt zu
setzen ist. Nimmt man unter 10 000 Geburten mit Gönne r 700
enge Becken an, so beträgt der Verlust an Kindern in Basel 8 Proz.
Die künstliche Frühgeburt hat die Resultate für die Kinder nicht ver¬
schlechtert, sondern verbessert, da sie hauptsächlich schwerere Fälle
betrifft. Die Verluste der Mütter betrugen unter 700 Geburten bei
Beckenenge rund 1,3 Proz. (9 Todesfälle). Von diesen wurden aber
4 nach erfolgter Uterusruptur, 2 infiziert eingeliefert. Damit redu¬
zieren sich die Verluste auf 0,4 Proz., wovon 2 auf Atonie entfallen.
Ein Fall von Bakteriämie nach Schamfugenschnitt aus dem Jahr 1897
bleibt übrig. Die mütterliche Sterblichkeit in Basel ist dieselbe wie
in Leipzig und Tübingen. Die künstliche Frühgeburt ist auch heute
noch ein vollberechtigter und segensreicher Eingriff.
Herr H o f m e i e r - Würzburg: Ueber die Berechtigung einer
aktiven Behandlung in der Geburtshilfe.
Unter den Todesursachen der Kinder (im ganzen 3,3 Proz. Tod¬
geburten an der Würzburger Klinik) stehen die engen Becken mit 71
Todesfällen = 43,6 Proz. An exspektativer Behandlung sind 29 Kinder,
infolge der sogenannten prophylaktischen Operationen 24 Kinder ge¬
storben. Die Zahl der an künstlicher Frühgeburt gestorbenen Kinder
ist in Würzburg sehr gross: 16 Todesfälle auf 115 künstliche Früh¬
geburten. H o f m e i e r neigt deshalb immer mehr dem relativen
Kaiserschnitt zu; er würde seine entbindenden Verfahren ohne wei¬
teres ändern, wenn es etwas Besseres gäbe. Die Chancen für die
Kinder sind bei operativem Vorgehen sehr gute. Die Mortalität der
Mütter betrug unter 163 Fällen mit während der Geburt gestorbenen
Kindern 7, die mit der Leitung der Geburt nicht in Zusammenhang
stehen (Eklampsie, Placenta praevia, fibrinöse Pneumonie). Bei ge¬
mässigt aktiven Prinzipien hat H. keinen Todesfall der Mütter, da¬
gegen nur bei solchen Operationen, die zur Rettung des Kindes unter¬
nommen wurden. Ein nicht unbeträchtlicher Prozentsatz der durch
aktive Operation geretteten Kinder ist kurz nach der Entlassung zu¬
grunde gegangen. Deswegen ist H. einem gemässigt aktiven Vor¬
gehen, auch hinsichtlich der Art der Operation, an sich nicht abgeneigt.
Diskussion: Herr W a 1 c h e r - Stuttgart pflichtet dem Vor¬
tragenden im allgemeinen bei, besonders hinsichtlich der künstlichen
Frühgeburt, schliesst eventuell auch noch die Pubiotomie an, doch
soll man möglichst lange warten. Er legt zunächst die Säge subku¬
tan an und sägt den Knochen nur im Notfall durch, wenn die Geburt
in Hängelage nicht gelingt. Unter 8 Pubiotomien hat er 1 Todesfall
(Infektion eines Scheidenrisses bei einer Eklamptischen).
Herr H e r z f e 1 d - Wien: Die Frage der Pubiotomie ist für Klinik
und Arzt noch nicht spruchreif. Man muss mit der Pubiotomie so
lange als möglich warten. Die Einteilung der Becken nach Pfannen¬
stiel ist sehr zweckmässig. Die künstliche Frühgeburt kann bei
Becken bis 8 cm angewandt werden. Doch ist auf die Zustimmung
der Mutter zum betreffenden Eingriff Rücksicht zu nehmen.
Herr W. F r e u n d - Strassburg: Ueber das Schicksal der ent¬
lassenen Kinder wissen wir gar nichts. Prinzipielle Abmachungen
hinsichtlich der Indikationsstellung dürfen wir nicht machen, doch
sollen möglichst viel lebende Kinder erzielt werden. Immerhin geht
man heute darin wohl aber zu weit. Eine gute Beobachtung während
der Geburt ist für den guten Verlauf derselben das Wesentlichste.
Herr K r ö n i g - Freiburg i. B. ist mit allen Vorrednern gar nicht
einverstanden, er will keine sozialen Indikationen gelten lassen. Das
Leben der einzelnen Kinder ist mehr zu wägen. Die Zahl der lebenden
Kinder hat Kr. mit aktivem Vorgehen entschieden erhöht und glaubt
an eine noch weitergehende Besserung der Verhältnisse. Die Ope¬
rationsfrequenz im ganzen ist natürlich gestiegen, doch ist in der Frei¬
burger Klinik unter 1000 Geburten nur 16 mal wegen engen Beckens
eingegriffen worden, darunter 13 Hebotomien und 3 Kaiserschnitte.
Kr. verwirft prinzipiell die prophylaktische Wendung, die hohe Zange
und die künstliche Frühgeburt, auch wären bei seinem Material die
letzten nur einmal möglich gewesen. Die künstliche Frühgeburt wird
in den meisten Fällen unnötigerweise gemacht. Die Hebotomie ist
niemals durch dieselbe zu ersetzen.
Herr Veit-Halle a. S.: Die künstliche Frühgeburt lässt die
Perforation der lebenden Kinder noch nicht vermeiden, dagegen
können wir die Pubiotomie noch nicht in die Praxis übersetzen; des¬
halb können wir die künstliche Frühgeburt vorläufig noch nicht
entbehren.
Herr B a i s c h - Tübingen: Bezüglich der Mortalität der Kinder
müssen die Todesursachen getrennt betrachtet werden. Eine Kom¬
bination von künstlicher Frühgeburt und Pubiotomie ist zu verwerfen,
da sie die Nachteile beider kumuliert, die Vorteile aber eliminiert. In
solchen Fällen empfiehlt sich der Kaiserschnitt.
1980
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
Herr M e n g e - Erlangen: Weder künstliche Frühgeburt noch
prophylaktische Wendung haben fest umgrenzte Indikationen, sind
somit unwissenschaftlich und haben keine Berechtigung. Dies sei be¬
sonders unter dem didaktischen Gesichtspunkte gesagt.
Herr E v e r k e - Bochum verwirft die Perforation der lebenden
Kinder zugunsten des Kaiserschnittes. Als Praktiker darf man die
künstliche Frühgeburt nicht ganz über Bord werfen.
Herr Gutbrod - Heilbronn spricht sich ebenfalls für die künst¬
liche Frühgeburt aus.
Herr H o f m e i e r betont, dass die künstliche Frühgeburt keine
unwissenschaftliche Operation ist. Die soziale Stellung der Frau ist
nicht massgebend.
Herr v. Her ff: Die Pubiotomie ist nur Notoperation. Er be¬
kennt sich als Freund der hohen Zange, die er früher oft gemacht hat.
Die Indikation zur künstlichen Frühgeburt beruht nicht auf den
Beckenmassen, sondern auf dem Verhältnis zwischen Kopf und
Becken. Dies ist eine wissenschaftliche und umschriebene Anzeige.
Herr Pfannenstiel betont gegenüber K r ö n i g den didak¬
tischen Standpunkt; der Praktiker müsse die künstliche Frühgeburt
beherrschen.
Herr K r ö n i g hält die Frage für noch nicht genügend geklärt,
um didaktisch Vorgehen zu können.
Abteilung für Kinderheilkunde.
Berichterstatter: Dr. L. L a n g s t e i n - Berlin.
Sitzung vom 16. September 1906.
Herr E s c h e r i c h - Wien: Ueber Isolierung und Infektions¬
verhinderung in Kinderspitälern.
Der Aufenthalt gesunder oder kranker Kinder in Spitälern ist
mit Gefahren für diese verbunden. Dieselben bestehen darin, dass
durch die Emanationen der Kranken, durch direkten Kontakt mit den
Kranken oder deren Gebrauchsgegenständen, durch Pflegerinnen oder
Aerzte Infektionsstoffe übertragen werden, die bei der besonderen
Empfindlichkeit der Kinder für jede Art von Infektion entweder zu
selbständigen Erkrankungen (Spitalinfektionen) oder zu Komplika¬
tionen oder Verschlimmerungen der bestehenden Erkrankung führt.
Diese Infektionen sind um so häufiger und gefährlicher, je jünger die
Kinder sind. Es muss daher in Kinderspitälern auf die möglichste Ver¬
meidung dieser Noxen geachtet werden. In dieser Hinsicht sind bei
dem Neubau der Wiener Universitäts-Kinderklinik folgende Mass¬
nahmen geplant:
A. Ambulatorium: Die Kinder werden, ehe sie den Warteraum
betreten, in der Pförtnerloge ärztlich untersucht und die Infektions-
verdächtigen ausgeschieden. Der Zugang zu dieser Pförtnerloge er¬
folgt durch eine Anstehbahn, ähnlich der bei Theaterkassen ange¬
brachten, wodurch der freie Verkehr der Kinder behindert wird.
B. Beobachtungsstation: Auf derselben werden diejenigen Patienten
zurückgehalten, die an einer nicht ausgesprochenen Infektionskrank¬
heit leiden oder sich im Inkubationsstadium einer solchen befinden.
Hier muss jeder Patient für sich isoliert werden. Am zweckmässig-
sten geschieht dies durch das Systeme cellulaire, wie es in dem
Hospital des Institut Pasteur ausgebildet wurde. Dasselbe wird
mit einigen, die klinische Demonstration erleichternden Modifika¬
tionen durchgeführt werden. C. Infektionsverhütung auf den all¬
gemeinen Abteilungen. Am wichtigsten ist dieselbe für Säuglinge,
die, wenn sie inmitten anderer Kranker vemflegt werden, eine
enorme Sterblichkeit aufweisen. Die Spitalspflege der Säuglinge
kann nur in gesonderten, aseptisch betriebenen Abteilungen . und mit
einem ausreichenden sneziell geschulten und nur dafür bestimmten
Pflegepersonal durchgeführt werden. Ausserdem ist die Möglichkeit
einer Ammenernährung, die Scheidung der Gesunden (Frühgeborenen)
von den Kranken, die Trennung der Gebrauchsgegenstände, die
sofortige Isolierung jeder infektiösen Erkrankung zu verlangen. Bei
Kindern jenseits des ersten Lebensjahres sind nicht mehr so rigorose
Massnahmen notwendig. Doch empfiehlt es sich, dass die schwer
akut Erkrankten, die Tuberkulösen, die „Unreinen“ von den allge¬
meinen Sälen ausgeschlossen und diese selbst wieder in. solche für
ältere und solche für jüngere (2—5 Jahre alte) Kinder getrennt
werden. D. Infektionsverhütung auf der Isolierabteilung, vermindert
die Zahl der Komplikationen und den tödlichen Ausgane. Jedes Bett
ist von dem nächststehenden entweder durch eine Zwischenwand
oder durch die Breite eines Fensters getrennt, so dass die Kontakt¬
infektion vermieden ist. Für solche Kranke, welche besonders in¬
fektiös erscheinen, sind in jedem Saale einige vollkommen abge¬
schlossene Isolierzellen vorhanden. Durch diese und ähnliche Mass¬
nahmen dürfte es möglich sein, die Resultate der Spitalbehandlung
kranker Kinder noch wesentlich zu verbessern.“
In der Diskussion bespricht Herr Rauchfuss spe¬
ziell den Punkt der Infektionsmöglichkeit beim Eintritt in das
Ambulatorium und durch die Besuche. Er stimmt im allgemeinen zu,
dass die Einrichtungen, wie sie Es eher ich in seinem neuen Snital
geschaffen hat. zweckmässig sind, hält es aber für kaum möglich,
die Infektionsgefahr durch die Besucher auszuschliessen. Knöofel-
m ach er bringt Zahlen über die Uebertragung von Infektionskrank¬
heiten in seinem Spital, die. wie er zeigt, auch der behandelnde Arzt
verschulden kann. Herr Czerny- Heidelberg betont die Notwendig¬
keit, die Bettenzahl und die Zahl der poliklinischen Patienten nicht zu
hoch anwachsen zu lassen, um die Güte der Leistungen des Arztes
nicht zu beeinträchtigen. Herr Esche rieh meint, der Forderung
Czernys könne durch eine Scheidung zwischen Klinik und Ab¬
teilung Rechnung getragen werden.
Herr Hamburger - Wien : Die Oberflächemvirkung des Per-
kussionsstosses.
Vortr. weist darauf hin, dass man in der Perkussionslehre der
letzten Zeit die Oberflächenwirkung des Perkussionsstosses völlig
vernachlässigt hat, obwohl Mazon schon vor 50 Jahren darauf
hinwies. Die Berücksichtigung der Oberflächenwirkung des Per¬
kussionsstosses fügt der alten, an sich nicht falschen Erklärung für
die relativen Dämpfungen eine neue hinzu, die neben der alten be¬
rücksichtigt werden soll. Die von Rauchfuss gefundene para-
vertebrale Dämpfung, auf der gesunden und vom Vortr. kürzlich be¬
schriebene, paravertebrale Aufstellung auf der kranken Seite, Per¬
kussionserscheinungen, wie sie bei Pleuritis regelmässig gefunden
werden, sind überhaupt nicht anders, als durch die Oberflächen¬
wirkung des Perkussionsstosses zu erklären. Vortr. weist darauf hin,
wie wichtig es sei, dass man auf diese Tatsachen Rücksicht nehme
und bei der Untersuchung, besonders von Kindern, immer darauf acht
haben müsse, dass die Schwingungsfähigkeit des Thorax in keiner
Weise beeinträchtigt werde, wie es so leicht geschieht, wenn sich
Kinder während der Untersuchung an die Mutter anpressen oder
während der Untersuchung ungleichmässig gestützt werden.
In der Diskussion bemerkt Herr Rauchfuss, dass die
paravertebrale Dämpfung bei Pleuritis exsudativa nicht allein auf
Einschränkung der Perkussionswirkungssphäre auf der gesunden Seite
beruht, sondern auch direkt auf der Mediastinalverschiebung, die sich
auch auf der Rückseite nachweisen lässt. Das Dreieck tritt klar
hervor bei leisester, auch lautloser Tastperkussion, die an der
Schwelle des eben Hörbaren steht; auch Goldscheider hat
später die Schwellenwertperkussion betont. Abweichende Resultate
erklärt die verschiedene Stärke der Perkussion. Auch Ham¬
burger betont im Schlusswort die Wichtigkeit der Stärke des Per¬
kussionsstosses für das Auftreten des Phänomens.
Herr E. S i e g e r t - Köln; Der Nahrungsbedarf des Brustkindes
im I. Lebersauartal.
Die Prüfung, ob grosse Trinkpausen, welche eine Erledigung
der Frauenmilch im Säuglingsdarm sichern, dem Säugling event. von
Vorteil sind, führte zur Durchführung der Ernährung mit nur vier
Mahlzeiten bei zwei gesunden Brustkindern. Zuweilen wurde bei sehr
geringer vierter Mahlzeit eine fünfte nachts konzediert. Tadellose
körperliche und geistige Entwicklung wurde während des Versuches
erzielt. Er ergab sich unter Berechnung von 650 Kalorien für 1 Liter
Frauenmilch ein Energieauotient von 80,4 resp. 80 für das ganze
erste Lebensquartal, von 70,5 resp. weniger als 70 bei bestem An¬
wuchs von der 9. Woche an. Die betreffenden Werte H e u b n e r s,
100 Kalorien, resp. 70 als Minimum für Erhaltung des Gleich¬
gewichtes, erfahren hier insofern die von Czerny vorausgesehene
Herabminderung auf 80 resp. weit unter 70, noch dazu bei bestem
Anwuchs, bei veränderter Versuchsanordnung mit grösseren Trink¬
pausen. Die Milch, nur in Betreff des Fettgehaltes öfter analysiert,
war in beiden Fällen sicher mit 650 Kalorien hoch bewertet. Es ist
also für diese beiden Fälle — nicht etwa im allgemeinen — bewiesen,
dass ein recht mässiger Nahrungsbedarf bei bestem Gedeihen durch
vier Mahlzeiten befriedigt wurde. Damit ergibt sich für zahllose
Mütter der arbeitenden Klasse die Möglichkeit des Stillens ihrer
Kinder, ohne Furcht vor maximalen Stillpausen. Unter allen Um¬
ständen liefern 4 — 5 stündliche Trinkpausen mit 4 — 5 Mahlzeiten mehr
als 2 — 3 stündliche und 6 — 8 Mahlzeiten schon im ersten Lebensjahre.
In der Diskussion betont Herr S a 1 g e - Dresden die Not¬
wendigkeit kalorimetrischer Untersuchungen, um Energiewerte fest¬
zustellen. Herr Knöpfei ma eher wendet sich gegen die Hvoo-
these S i e g e r t s von der besseren Ausnützung in seinen Fällen.
Herr Feer schliesst sich S a 1 g e an, als Beispiel R e y h e r s Unter¬
suchungen anführend. Herr Schlossmann fragt, ob es kein
Irrtum sei, dass 1 g Eiweiss für 1 kg Körpergewicht genügen soll.
Im Schlusswort betont Herr S i e g e r t," dass seine Zahlen nur
Durchschnittswerte sein sollen.
Herr H u t z I e r - München : Ueber Säuglingsmasern.
Hervorgehoben sei aus den Ausführungen, dass die Brustnahrung
die Disposition nicht herabsetzt, dass die Masern im Säuglingsalter
wegen ihres raDid tödlichen Verlaufes nicht als harmlose Erkrankung
anzusehen sind. Die klinischen Erscheinungen boten nie Besonder¬
heiten, doch will H u t z 1 e r eine achttägige Inkubationszeit beobachtet
haben.
In der Diskussion betont Herr Tugendreich, dass auf
Grund seiner Erfahrungen bei atrophischen Säuglingen die Masern
einen besonders leichten Verlauf nehmen.
Herr U f f e n h e i *n e r - München : Weitere Studien über die
Durchgängigkeit des Magendarmkanals für Bakterien.
Vortr. gibt die Resultate von Prodigiosusfiitterungsversuchen
an erwachsenen Kaninchen bekannt, um an ihnen zu zeigen, wie
ausserordentlich kompliziert und schwer zu beurteilen Bakterien¬
fütterungsexperimente sind, um schliesslich eine Technik abzuleiten,
die völlig zweifelsfreie Resultate gibt. Die Versuche wurden mit
einer sehr exakten Methodik vorgenommen; bei der Untersuchung
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1981
und Verarbeitung der Organe der mit dem Prodigiosus gefütterten l
Tiere wurden stets ungefähr 100 Kulturen als Ausgangsmaterial aus
den verschiedenen Organen angelegt, von diesen wurde dann wieder
weiter geimpft, wo es nötig erschien. Es wurde eine lange Beob¬
achtungsfrist nötig gehalten, so dass die Resultate möglichst präzise
sein müssen. Es zeigte sich, dass nach trockener Verbitterung des
Bazillus derselbe sich regelmässig in den Lungen nachweisen Hess,
auch wenn alle übrigen Organe völlig frei von ihm waren. Da
hierdurch der Gedanke an eine Aspiration der Bazillen von der
Mundhöhle aus nahegelegt wurde, wurden dieselben als Klysma in
physiologischer Kochsalzlösung suspendiert verabreicht, wobei durch
Einwickeln der Versuchstiere dafür gesorgt war, dass dieselben den
Prodigiosus nicht am Körper verschmieren konnten. Immer auch
Luftkontrollen. Auch hier fand sich der Prodigiosus immer in der
Lunge. Auch das Vorbinden einer Maulkappe änderte niemals
etwas an dem Resultat. Nachdem sich nun durch Untersuchung des
Inhalts der verschiedenen Darmabschnitte und des Magens gezeigt
hatte, dass der Prodigiosus innerhalb vier Stunden nach der Verab¬
reichung per rectum den Magendarmkanal, der Peristaltik entgegen,
nach oben hin bis zum Magen durchwandert und dass er sich nach
dieser Frist oft in ganz ausserordentlichen Mengen schon im Magen
findet, lag der Gedanke nahe, dass der Bazillus auch weiterhin den
Oesophagus hinauf in die Rachenhöhle wandert und dass er dann
von hier aus besonders durch die dem Tode der Versuchstiere voraus¬
gehenden tiefen Atemzüge in die Trachea und Lunge aspiriert wird.
Es liess sich dies auch durch eine Anzahl von Experimenten ganz
einwandfrei erweisen, speziell bleibt nach der Unterbindung des
Oesophagus der Prodigiosus (ausser in den pathologischen Fällen,
wo er auch in anderen Organen nachweisbar war) ganz regelmässig
aus der Lunge weg. Diese neuen Tatsachen werfen insbesondere
ein Licht auf die Untersuchungen von Schlossmann und Enge 1,
welche Tuberkelbazillen durch Laparotomie in den Magen von
Meerschweinchen hereinbrachten und sie später in den Lungen
dieser Tiere nachweisen konten, indem sie Lungenteilchen auf
neue Meerschweinchen verimpften. Vortragender glaubt, dass die
Befunde der genannten Autoren lediglich durch diese, ihnen noch
unbekannte Fehlerquelle zu erklären sind und dass somit ihre Ex¬
perimente den von ihnen angestrebten Beweis nicht erbringen kön¬
nen, dass Tuberkelbazillen auf demselben Wege wie die Nahrung,
also auch mit etwa derselben Geschwindigkeit den Darm passieren
können.
In der Diskussion bemerken Herr Engel und Herr Schloss¬
mann, dass es bewiesen werden müsse, dass sich Tuberkelbazillen
ähnlich verhalten wie Prodigiosusbazillen. Rietschel zieht zur
Analogie die Versuche von Calmette über die Anthrakose herbei.
Im Schlusswort meint Uffenheimer, dass gerade die Kohlen¬
versuche nicht verlässlich sind, weil die Anwesenheit von Kohle
in der Nahrung sich nicht vermeiden lässt. Er bezweifelt, dass
Schloss mann mit der Annahme verschiedenen Verhaltens von
Prodigiosus- und Tuberkelbazillen recht hat. Den Experimenten
stellen sich grosse technische Schwierigkeiten entgegen.
Herr S a 1 g e - Dresden: Einige kalorimetrische Untersuchungen
betreffend die Resorption bei Säuglingen.
Der Verfasser bezeichnet die berichteten Versuche als eine Vor¬
arbeit seiner Studie über die Atrophie des Säuglings. Sie bezwecken
festzustellen, ob und wie weit bei diesem Zustand eine Störung vor¬
handen ist und zur Erklärung herangezogen werden kann. Zunächst
wurden einige gesunde Ammenkinder untersucht, wobei sich ein Ver¬
lust von 4 — 6 Proz. zeigte, so dass also etwa 95 Proz, der eingeführten
Energie durch den Darm in den Körper übertreten. Versuche an
einem Kind, das bei Frauenmilch gut gedieh, aber stets schlechte
grüne, zerfahrene und vermehrte (4 — 6) Stühle am Tage hatte, lehrten,
dass bei diesem Kinde die Resorption durchaus normal war, so dass
also aus dem Aussehen des Stuhles nicht auf eine gute oder schlechte
Resorption ohne weiteres geschlossen werden kann. Weitere Ver¬
suche an Kindern, die unmittelbar vorher schwere akute Darm¬
störungen durchgemacht hatten, zeigten, dass die Darmfunktion in
bezug auf die Resorption völlig ungestört war. Dasselbe zeigte
sich auch bei einem atrophischen Kind, das trotz genügender Nah¬
rungszufuhr und guter Resorption während des dreitägigen Ver¬
suches abnahm. Die Versuche scheinen darauf hinzudeuten, dass
wenigstens für Frauenmilch, die hier ausschliesslich zur Verwendung
gelangte, schwere Darmerkrankungen keine tiefgreifende Störung
der Resorptionstätigkeit des Darmes zu hinterlassen brauchen, und
dass es deswegen wenig wahrscheinlich ist, dass eine erhebliche
Störung und Herabsetzung der Resorption zur Erklärung des eigen¬
tümlichen Zustandes, den wir mit Atrophie bezeichnen, herange¬
zogen werden kann, doch sollen bindende Schlüsse erst gezogen
werden, wenn das Resultat weiterer Untersuchungen, die jetzt im
Gange sind, vorliegen werden.
Sitzung am 17. S e p t e m b e r 1906.
Vorsitzender zuerst: Herr Fischer, dann Herr Rauch¬
fass.
Herr Feer -Basel: Ueber den Einfluss der Blutsverwandschaft
der Eltern auf die Kinder.
Eigenartige oder schädliche Folgen, beruhend auf der Blutsver¬
wandtschaft der Eltern an sich, sind nicht erwiesen. Die Eigenschaften
und Krankheiten der Nachkommen blutsverwandter Eltern erklären
sich aus den auch sonst gültigen Tatsachen der Vererbung. Einige
seltene Krankheitsanlagen, so diejenige zu Retinitis pigmentosa und
angeborener Taubstummheit erlangen mehr wie andere eine ge¬
steigerte Vererbungsintensität, wenn sie sich bei beiden 1 eilen eines
Elternpaares vorfinden. Da nun die Wahrscheinlichkeit, dass die be¬
treffenden Anlagen bei beiden Eltern vorhanden sind, a priori in Ver¬
wandtenehen grösser ist, als in nicht verwandten Ehen, so begünstigt
diese besondere Tendenz der Retinitis pigmentosa und der ange¬
borenen Taubstummheit zu zweigeschlechtiger Entstehung das Auf¬
treten dieser Krankheiten bei den Kindern blutsverwandter Eltern.
In der Diskussion macht Herr Weinberg u. a. Einwände
gegen die Verwertung der Ahnentafeln gegenüber dem Stammbaum.
Herr Hamburger fragt bezüglich der Verwandtenehen zwischen
Bruder und Schwester bei den alten Aegyptern. Im Schlusswort
widerlegt F e e r die Einwände Weinbergs insbesondere bezüglich
der Definition der Belastung.
Herr F. H a m b u r g e r - Wien: Ueber Eiweissresorption beim
Säugling.
Vortragender zeigt, dass die Frage der Eiweissresorption über¬
haupt erst durch die biologische Forschung direkt dem experimen¬
tellen Studium zugängig wurde; während es beim Erwachsenen, wie
er und andere schon früher gezeigt haben, nie zur Resorption von
unverändertem Nahrungseiweiss kommt, findet eine solche, wenn
auch in beschränktem Masse, beim natürlich ernährten Säugling in
den ersten Lebenstagen statt und kann unter Umständen durch
mehrere Wochen nach der Geburt andauern. Ob bei künstlicher Er¬
nährung, also bei Ernährung mit artfremder Milch, Eiweissresorption
stattfindet, lässt sich nicht direkt beweisen. Es ist aber nicht unwahr¬
scheinlich; denn artfremdes Blutserum und Eiereiweiss können vom
Neugeborenen in den ersten Tagen freilich nur zum geringsten Teil
resorbiert werden. Die resorbierte Menge beträgt nach den Unter¬
suchungen des Verfassers kaum mehr als den tausendsten Teil der
eingeführten Menge. Der grösste Teil des Eiweisses wird schon in
den allerersten Lebenstagen verdaut, und zwar nicht nur bei Er¬
nährung mit artfremder, sondern auch bei Ernährung mit artgleicher
Milch.
Herr L a n g s t e i n - Berlin: Das Verhalten der Milcheiweiss¬
körper bei der enzymatischen Spaltung.
Versuche von Zentner über die Einwirkung von Magensaft
auf Kasein und Albumin der Milch (Präparate von P. B e r g e 1 1) er¬
gaben, dass das Kasein schneller abgebaut wird als das Albumin.
Auch das Verhalten dieser gegenüber dem Pankreassaft (Bergeil),
gegenüber dem Erepsin, und die Schnelligkeit der Aufsprengung des
Kaseinmoleküls im intermediären Stoffwechsel, beurteilt nach der
Kurve der Stickstoffausscheidung, sprechen nicht gegen dessen
Schwerverdaulichkeit.
An die Vorträge von Hamburger und Langstein schliesst
sich eine lebhafte Diskussion, an der sich ausser diesen beiden
Schlossmann, Uffenheimer und S a 1 g e beteiligen. Es
handelt sich insbesondere um die Frage, ob das Antitoxin Indikator
für Eiweiss ist. Diese Annahme macht Hamburger im Gegensatz
zu Uffenheimer, L a n g s t e i n und S a 1 g e. Hamburger
wirft Langstein vor, ihn missverstanden und nicht richtig zitiert
zu haben, als er ihm die Behauptung zuschrieb, das arteigene Eiweiss
werde vor der Resorption abgebaut. Dem Einwand Hamburgers,
man könne koaguliertes Albumin und Kasein nicht vom physio¬
logischen Standpunkte vergleichen, begegnet L a n g s t e i n im
Schlusswort mit der Wiederholung der in seinem Vortrag ge¬
brachten Tatsache, dass diese Versuche als erstes Glied einer grossen
Reihe notwendig gewesen seien.
Herr L a n g s t e i n - Berlin : Die Beurteilung der Fäulnis bei
verschiedenartiger Ernährung.
Nach einer Uebersicht über die Bedeutung der Fäulnisprodukte
im Harn betont er, auf die Verhältnisse beim Ikterus verweisend, die
Notwendigkeit, sämtliche Fäulnisprodukte im Harn nebeneinander zu
bestimmen, speziell auch die organischen Säuren. Dieser Aufgabe
hat sich Soldin unterzogen; er zeigte, dass die Phenol-, Indikan-
wie Aetherschwefelsäurewerte bei Ernährung mit Frauenmilch am
kleinsten, mit Kuhmilch am grössten sind, Buttermilchernährung ähn¬
liche Verhältnisse zeitige wie die Ernährung an der Brust. Doch
schnellen die Werte für die organischen Säuren bei Ernährung mit
Buttermilch stark in die Höhe.
Herr Finkeistein - Berlin : Zur Aetiologie der Ernährungs¬
störungen im Säuglingsalter.
Die bisherigen Versuche, klinische Beweise für die Rolle des
Kuhmilcheiweisses in der Aetiologie der Ernährungsstörungen der
Säuglinge zu geben, sind ergebnislos gewesen. Eine Aussicht, etwas
Positives über seine differente Wirkung festzustellen, schien das Stu¬
dium der Verdauungsleukozytose zu eröffnen. Moro hat deren Auf¬
treten bei erstmaliger Darreichung von Kuhmilch an Brustkinder
kennen gelehrt und es für möglich erklärt, dass sie als Wirkung des
artfremden Eiweisses anzusehen sei. Die Nachprüfungen haben ge¬
zeigt, dass die Leukozytose vorhanden ist, allerdings nur bei einem
Bruchteil der Kinder. Indessen ist sie nichts Spezifisches, sondern
zwischen Kuhmilch und Frauenmilch bestehen nur quantitative Diffe¬
renzen. Denn bei geschädigtem Darm erzeugt auch Frauenmilch
Leukozytose. Dagegen, dass das Eiweiss immer die Ursache des
Phänomens sei, spricht die Feststellung, dass es nur einmal gelang,
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
1982
durch Kasein einen Umschlag zu erzielen. Negativ waren auch die
Versuche an solchen Kindern, die auf Kuhmilch reagierten. In einem
Ealie wurde auch durch Fett eine Leukozytose hervorgerufen. Es
kann also die Verdauungsleukozytose nicht als Stütze einer Bedeutung
des artfremden Eiweiss dienen. Da auch andere sichere Beweise
fehlen, ist es an der Zeit, andere Milchbestandteile für die Nach¬
teile der Kuhmilch verantwortlich zu machen. Untersuchungen
über solche — Salze und Molke — sind in Finkeisteins Anstalt
begonnen, worüber L. F. Meyer berichten wird.
Herr Ludwig F. M e y e r - Berlin: Beitrag zur Kenntnis der
Unterschiede zwischen Frauen- und Kuhmilchernährung. Ver¬
fasser hat sich die Aufgabe gestellt, aufs neue die Frage anzu-
gehen, welcher Bestandteil der Kuhmilch als Ursache der Schwer¬
verdaulichkeit der Milch angesprochen werden muss. Er hat zu
diesem Zweck an je drei Kinder zweierlei Nährgemische verabreicht
von denen das eine aus Frauenmilchmolke, Kuhmilchfett und Kuh¬
milchkasein bestand, während das zweite die Molke der Kuhmilch,
Fett und Kasein der Frauenmilch enthielt. Schwierigkeiten be¬
reitete die Labgerinnung der Frauenmilch; erst nach längeren Ver¬
suchen fand Verfasser mit Hilfe der Anwendung von Kälte und
Zufügung ganz geringer Mengen Salzsäure einen sicheren Weg, die
Labkoagulation zu stände zu bringen. Durch das Resultat der Er¬
nährungsversuche mit beiden Nährgemischen konnte eine Entschei¬
dung erwartet werden in der vielumstrittenen Frage von der Schwer¬
verdaulichkeit des Kuhkaseins. Sämtliche Kinder zeigten bei der
Ernährung mit Brustmilchmolke, Kuhmilchfett und Kasein gute und
regelmässige Zunahme; Allgemeinbefinden, Temperatur, Zahl und
Aussehen der Stühle unterschieden sich in nichts von den resp.
Funktionen bei Ernährung mit Brustmilch. Ganz anders war das
Ernährungsresultat beim zweiten Nährgemisch, das Kuhmilchmolke,
Frauenmilchfett und Kasein enthielt. In kürzester Frist, schon
nach zwei Tagen, zeigten alle so ernährten Kinder Störungen der
Ernährung, die beiden kräftigeren Kinder die Symptome der Dys¬
pepsie, häufige grüne dünnflüssige Stuhlentleerungen, erhöhte, stark
schwankende Temperatur, Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens.
Die Gewichtsabnahme betrug in acht Tagen 130 g in beiden Fällen.
Am intensivsten reagierte das dritte untergewichtige Kind. Bei
ihm entwickelte sich das typische Bild des Enterokatarrhs resp. der
Intoxikation. Die Temperatur stieg auf 39,3, wässerige spritzende
Stühle, Benommenheit etc. waren vorhanden. Der Gewichtsverlust
betrug in vier Tagen 340 g. Dabei zeigte sich während der Dyspepsie
des einen Kindes der typische Kaseinbrökeistuhl der Biedert sehen
Schule, der dieser das Zeichen gestörter Kuhkaseinverdauung ist;
indes trat dieser Stuhl auf bei einer Nahrung, die nur das Kasein der
Frauenmilch enthält. Aus dem Versuchsresultat folgert Verfasser:
Die Unterschiede in der Wirkung zwischen Frauen- und Kuhmilch
dürfen nicht mehr in den verschiedenen Kaseinen und deren leichter
oder schwerer Verdaulichkeit gesucht werden. Die gute Verdauung
und Assimilation des Kuhkaseins spricht ferner gegen die Bedeutung
des arteigenen Eiweisses in der Ernährung. Die Hauptdifferenz in
der Wirkung beider Milcharten besteht vielmehr in der Verschieden¬
heit beider Molken, und zwar sowohl in bezug auf ihre Fermente,
als auch auf ihre anorganischen Salze oder deren Relation zu den
Nährstoffen.
Auf die beiden letzten Vorträge folgt eine äusserst anregende
Diskussion. Hamburger fragt, wieviel Fälle bezüglich der Leu¬
kozytose untersucht seien und behauptet, dass der dritte Versuch
von Meyer nichts beweise. Finkeistein bewertet die Zahl der
Untersuchungen mit 30—40, Hamburger meint, dass mit Rücksicht
auf den verschiedenen Ausfall der Leukozytoseversuche Schluss¬
folgerungen kaum zu ziehen seien. Knöpfeimacher zweifelt an
der Deutung der Versuche, Pfaundler macht Bedenken gegen die
alimentäre Natur der Leukozytose geltend; Keller hält den einge¬
schlagenen Weg für aussichtsreich, bringt die Gewichtsabstürze bei
den Versuchen von Meyer mit dem Uebergang von salzreicher zu
salzarmer Kost in Beziehung; Langstein wendet sich gegen die
Deutung der Milchbi öckel durch Knöpfei mache r.
Schlusswort: Herren Finkei stein und Meyer betonen
zu Hamburger, dass die Versuche nicht abschliessend sind, dass
sie aber wengstens beweisen, dass Kuhmilchkasein nicht die schädliche
Rolle spielt, die ihm vielfach zugeschrieben wurde und dass man den
Verhältnissen der Molke Beachtung schenken müsse. Knöpfei-
macher und Pfaundler entgegnen sie, dass Anhaltspunkte für
Infektionen nicht vorhanden sind, während andererseits die alimentäre
Natur solcher Schädlichkeiten sich klinisch wohl beweisen lässt.
Herr Moro-Graz: Natürliche Darmdesinfektion. Falls die so¬
genannten Darmantiseptica im Darm tatsächlich desinfizierend wir¬
ken, was bisher noch unbewiesen ist, so erstreckt sich ihr dele¬
tärer Einfluss auch auf die normalen Darmbakterien. Deren Lebens¬
kraft ist es aber grossenteils zu verdanken, dass die schädigenden
Mikroben im Darm überwunden und eliminiert werden. Die Darm¬
antiseptica arbeiten demnach der natürlichen Reparation entgegen.
Es liegt nahe, die Entwicklung der normalen Darmbakterien ge¬
gebenenfalls zu fördern. Dies kann auf zwei Wegen erreicht
werden: Entweder durch die Einfuhr nützlicher Darmbakterien oder
durch die Veränderung des Darminhaltes zu gunsten einer elektiven
Entwicklung normaler, im Darm jederzeit vorhandener Bakterienarten.
Bei der oralen Einverleibung sind jedoch zum Zweck einer nennens¬
werten Desinfektion sehr grosse Bakterienmengen notwendig. Besser
bewährt sich der anale Weg bei infektiösen Prozessen des Dickdarms.
Das Bakterium coli hemmt in eminenter Weise das Wachstum von
Ruhr- und Typhusbazillen. Im geeigneten Falle ist demnach die
Applikation junger Kolikulturen per Klysma angezeigt. Als Vehikel
dient mit Vorteil flüssiges Agar, das bei 40° C. erstarrt. Idealer
ist der zweite Weg. Dafür gibt uns die Natur ein glänzendes Vor¬
bild. Die Ernährung mit Frauenmilch hat nämlich zur Folge, dass
im Darm eine einzige Bakterienart zur rapiden Entwicklung ge¬
langt, der Bakterius bifidus. Seine dominierende Herrschaft ver¬
hindert die Ansiedelung und das Aufkommen fremder Mikroben.
Nun ist aber diese Art in jedem menschlichen Darm, obgleich zu¬
weilen in verschwindender Zahl vorhanden. Sobald aber in einem
Darm, der den Bifidus enthält, Frauenmilch gelangt, so erwacht der
Bifidus in kürzester Zeit zu elektivem stürmischem Wachstum; so
lässt sich jeder infizierte Darm natürlich desinfizieren.
Sitzung am 18. September 1906.
Vorsitzender : Herr Escherich.
Herr C a m e r e r jun. - Stuttgart: Untersuchungen über die Aus¬
scheidung des Milchfettes. Bei graphischer Darstellung ergibt sich
geradliniges Ansteigen des Fettgehaltes der Frauenmilch. Die Ur¬
sache ist noch hypothetisch. Vergleicht man den Fettgehalt der
Milch verschiedener Frauen, so ergeben sich starke Variationen.
Einfluss der Laktationszeit ist nicht mit Sicherheit erwiesen. Von
dominierendem Einfluss ist die Individualität. Den Fettgehalt be¬
hält die Milch in den verschiedenen Laktationen desselben Indi¬
viduums bei. Der Einfluss der Rasse ist nicht entschieden. Die
Menstruation scheint keinen Einfluss zu haben, ebenso nicht Zugabe
von Laktargol. Vermehrte Zufuhr von Fett erhöht nicht wesentlich
den Fettgehalt der Frauenmilch, doch lassen sich deutliche Aus¬
schläge erzielen.
In der Diskussion fragt Lang stein über die Einwirkung
der Zufuhr von Kohlehydraten auf die Fettausscheidung, R e y h e r
fragt nach den getrunkenen Milchmengen, Engel wundert sich über
die Ausschläge, die Cam e r e r nach erhöhter Fettzufuhr gesehen hat.
C a m e r e r betont nochmals, dass er nur von einer geringen Beein¬
flussung des Fettgehaltes der Milch durch die Nahrung gesprochen
habe.
Herr H o h I f e 1 d - Leipzig: Ueber den Fettgehalt des Ko¬
lostrums. H o h 1 f e 1 d weist an der Hand fortlaufender Milchana¬
lysen, die er bei vier Ziegen ausführte, auf den quantitativen Unter¬
schied zwischen dem Fettgehalt des Kolostrums und der reifen
Milch hin. Der Fettgehalt der Milch nahm bei allen vier Tieren
im Laufe der Laktation ab. Besonders steil war der Abfall, wrie
die graphische Darstellung vorführte, in den ersten Tagen. Dann
sank die Kurve allmählich. Am steilsten war der Abfall bei dem
vierten Tiere, wo der Fettgehalt am ersten Tage nicht weniger wie
19,18 Proz. betrug gegen 7,98 am zweiten, 6,07 am dritten und 4,46
am 29. Tage. Die spärlichen Analysen des Ziegenkolostrums, die in
der Literatur vorliegen, ergaben ähnliche Werte.
In der Diskussion betont Engel die geringen Mengen von
Fett im Frauenmilchkolostrum.
Herr T o b 1 e r - Heidelberg: Ueber Magenverdauung der Milch.
Die allgemein geltende Auffassung verlegt auch für die Milch das
Schwergewicht des Verdauungsvorganges in den Darm und be¬
trachtet den Magen vorwiegend als Behälter, der die nur wenig
vorbereitete Nahrung angemessen dosiert an den Darm weiterzu¬
geben hätte. Untersuchung des Mageninhaltes während der Ver¬
dauung getöteter Tiere, sowie des nach einer besonderen Methodik
aus einer hochsitzenden Duodenalfistel gewonnenen Verdauungs¬
produktes ergaben vollständig andere Resultate. Danach verläuft
die Magenverdauung der Milch folgendermassen: Nachdem innerhalb
weniger Minuten die Labgerinnung eingetreten ist, wird in einer
kürzeren ersten Verdauungsperiode die Molke ausgetrieben, während
der aus Kasein und Fett bestehende Rest ein ziemlich kompaktes
oder breiig gallertiges Gerinnsel bildet, an dem sich der Verdau¬
ungsakt sukzessive vollzieht. Eine Durchmischung dieses Rück¬
standes mit dem Magensaft findet nicht statt. Vielmehr sieht man
nach Verfiitterung von mit Lackmusblau gefärbter Milch an Gefrier¬
schnitten durch den abgebundenen Magen, dass der Ballen von der
Schleimhautoberfläche her allseitig angedaut wird. Die verflüssigten
Massen werden durch die Magenperistaltik rasch schubweise ent¬
fernt. Gerinnsel passieren in der Regel den Pylorus überhaupt
nicht. In diesem Verhalten liegt die Erklärung der uns bisher un¬
verständlichen physiologischen Bedeutung des Labprozesses. Er
ermöglicht dem Magensaft, dessen Absonderungsmaximum ja ent¬
gegen dem Verhalten bei Fleisch- und Brotnahrung erst in die
zweite und dritte Stunde fällt, konzentriert auf sein Objekt einzu¬
wirken. Die widersprechenden Resultate, die Ausheberungen des
Mageninhaltes liefern, erklären sich daraus, dass die Voraussetzung
derselben, die gleichmässige Durchmischung des Mageninhaltes,
nicht besteht und dass es ausserdem, wie sich an Röntgenbildern
kontrollieren lässt, fast nie gelingt, den Magen quantitativ auszu¬
hebern oder sogar auszuspülen. Verfüttert man zunächst ein
grösseres Quantum gefärbter Milch und danach in kurzen Pausen
während einer Reihe von Stunden kleine ungefärbte Portionen, so
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1983
2. Oktober 1906.
findet man die erstgereichte Portion von der Magenwand abge- ]
drängt und von den späteren Portionen schichtweise umgeben; so
gelangt die letztverabfolgte Menge zuerst zur Verarbeitung, wäh¬
rend sich in der älteren Nahrung Zersetzungsvorgänge abspielen
können.
Herr S c h a p s - Berlin: Ueber Salz- und Zuckerinfusion beim
Säugling. Vortragender macht durch Temperaturkurven wahr¬
scheinlich, dass die Anwesenheit von Kohlehydraten, resp. Zucker
in der Nahrung im stände ist, Fieberreaktionen mit unregelmässig
remittierendem Gang hervorzurufen. Zuckerinfusionen sollten diese
Deutung verifizieren. In der Tat waren sie im stände, Fiebersteige¬
rungen auszulösen von einer Eigentümlichkeit, die sehr an einen
Immunisierungsvorgang erinnert. Analog verhielten sich die Infu¬
sionen von Kochsalzlösung. Aus diesen wie anderen Gründen ist
Vortragender der Meinung, dass die Reaktionen auf Zuckerinfusion
als Salzwirkung anzusehen sind.
In der Diskussion fragt v. Pirquet- Wien nach den in¬
fundierten Salzmengen und betont, dass die Fieberbewegungen bei
Kochsalzinfusionen schwer verständlich seien. Langstein fragt
nach den Ausscheidungsverhältnissen der injizierten Zucker, Fin¬
ke 1 s t e i n kommt im Schluss nochmals auf die Bedeutung und
Veranlassung vorliegender Versuche zurück.
Herr Knöpfelmacher - Wien : Versuche über subkutane In¬
jektion von Vakzine. Vortragender hat • an 17 Kindern Immuni¬
sierungsversuche mittels subkutaner Injektion von stark verdünnter
Lymphe (1 : 1000 physiologische Kochsalzlösung), und zwar in der
Menge von 1 :2 ccm gemacht. Am 13. Tag oder noch später wurde
in allen Fällen eine Hautimpfung an drei Impfstellen mittels Skari-
fikation am Oberarm angeschlossen. Hierbei hat sich gezeigt, dass
diese ergebnislos blieb. Vortragender macht auf die praktische Be¬
deutung aufmerksam.
Herr Bernheim - Karrer - Zürich : Hirschsprung sehe
Krankheit. Trotz der vom 23. Lebenstage an in einem Fall konse¬
quent durchgeführten Drainage des Darmes und dadurch erzielten
Verhinderung von Meteorismus wurden bei der Sektion des im Alter
von 2/4 Jahren verstorbenen Kindes nur das typische Megalokolon
gefunden. Die Erweiterung begann vor dem Rektum; eine nennens¬
werte Hypertrophie der Muskulatur fand sich nicht. Es muss sich hier
demnach um primäre Erweiterung des Dickdarms gehandelt haben.
Herr R o m m e 1 - München: Dauerwägungen von Säuglingen (in
Gemeinschaft mit Dr. Hamei). Die Kinder wurden unter Be¬
obachtung ihrer Eigentemperaturen, der Zimmertemperatur und rela¬
tiven Luftfeuchtigkeit während 3 — 6 Tagen auf der Wage beob¬
achtet. Dabei wurde das Verhalten der Kinder genau registriert
(Wachen, Schlaf, Unruhe, Schreien), ebenso wurden die Nahrungs¬
aufnahme, die flüssigen und festen Entleerungen bestimmt und in
Rechnung gesetzt. Die Untersuchungen, welche darauf hinzielten,
mittels der Wage einen Einblick in den Kraftwechsel des Säuglings
zu gewinnen, unter besonderer Berücksichtigung der Perspiratio
insensibilis, führten zu den Ergebnissen, dass diese abhängig ist:
vom Alter und der Individualität der Kinder und ihrem jeweiligen
Zustand. (So wird sie verstärkt durch Unruhe und Geschrei, ver¬
ringert durch Schlaf und Ruhe.) Ferner ist sie abhängig von der
Ernährung, am geringsten ist sie an der Brust, am grössten bei
künstlicher Ernährung und speziell bei eiweissreicher Kost, was irn
Sinne Rubners als sekundärer Wärmezuwachs bei abundanter Ei¬
weissfütterung zu deuten ist. Am grössten scheint sie unmittelbar
nach der Nahrungsaufnahme. Ferner ist sie abhängig von der Um¬
gebungstemperatur und der relativen Luftfeuchtigkeit, was insbe¬
sondere für frühgeborene und atrophische Kinder von Bedeutung
sein dürfte; sie wird erhöht durch das Bad. Der Autor demonstriert
seine Darstellung graphisch.
Herr Selter- Solingen teilt die Analyse von grossen Milch¬
bröckeln mit, die auf Trockensubstanz berechnet, 25 Proz. Fett,
50 Proz. Eiweiss und 20 Proz. Salze enthielten. Er hält demnach
daran fest, dass die Kuhmilch an der Bildung von Milchbröckeln nicht
in allen Fällen unbeteiligt sein könne.
In der Diskussion betont Langstein die Zwecklosigkeit
der Analysen und die Unmöglichkeit, Schlüsse aus ihnen zu ziehen.
Söldner macht einen methodischen Einwand, T o b 1 e r glaubt nicht,
dass Kaseinbrocken in den Darm übergehen.
31. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für
öffentliche Gesundheitspflege
in Augsburg vom 12. — 15. September 1906.
II.
Die Bekämpfung des Staubes im Hause und auf der Strasse.
Referenten : Professor Dr. Heim- Erlangen. Stadtbaumeister N i e r -
Dresden.
Herr Heim führt aus: Der Staub gilt als unangenehm und lästig,
die Gegenstände lässt er als schmutzig und unscheinbar erscheinen;
in der Nähe der Wohnungen und Fabriken nimmt er zu, die Kohlen¬
lungen der Städter sind bekannt als Staubablagerung in den Lungen.
Der Staub als solcher ist nicht so schädlich, ausser er wirkt physi¬
kalisch oder chemisch. Die indirekte Gefährlichkeit des Staubes
wurde auf einer früheren Jahresversammlung des Vereins für öffent¬
liche Gesundheitspflege des näheren ausgeführt. Heim führt dann
weitere Beispiele für die Unschädlichkeit des Staubes auf, z. B. die
Staubentwicklung bei marschierenden Truppen.
Der im Freien und bei der Tätigkeit der Menschen (abgesehen
von der gewerblichen) entstehende Staub kann jedoch durch Massen-
haftigkeit lästig werden und für empfindliche Personen nachteilige
Wirkungen auf die Atmungsorgane und das Allgemeinbefinden haben.
Durch Beimengung von Abfall- und Auswurfstoffen bekommt der
Staub eine ekelerregende Beschaffenheit.
Unmittelbar gefährlich ist der vom kranken Menschen oder
Tiere besudelte, also infizierte Staub, z. B. wenn der Staub mit
Typhuskeimen infiziert ist. Es ist dies nicht unmöglich, so wenn
Kinder bei Typhuserkrankung ihre Exkremente auf der Strasse ab¬
setzen und dies dann verstaubt in die Wohnungen hereingebracht
wird. Es sind dies jedoch Ausnahmen. Ein weiterer Beweis für
die Ungefährlichkeit des Staubes ist, dass Strassenkehrer durchaus
nicht mehr an Erkrankungen der Atmungsorgane erkranken als andere
Arbeiter. Jedenfalls muss Vorsorge getroffen sein, dass die Auswurf¬
stoffe von Kranken und Krankheitsverdächtigen in regelrechter Weise
abgefangen und unschädlich beseitigt werden. Die Verhütung der
Infizierung des Staubes und die Behandlung etwa infizierten Staubes
liegt in einer geeigneten Wohnungspflege und Wohnungsfürsorge, in
der Sauberhaltung von Verkehrs- und Aufenthaltsräumen, sowie von
Strassen und Wegen. Eine leicht vorkommende Infizierung des
Staubes ist die mit Tuberkelbazillen, dieselbe ist besonders gefährlich
bei engen und überfüllten Wohnungen, auch auf Schiffen bei engen
Schlafräumen für die Mannschaft. Der Staub im Hause setzt sich zu-
zammen aus dem hereingetragenen bezw. -gewehten Strassenstaub,
aus dem Staub aus der häuslichen Tätigkeit, aus dem Staub von
Haaren, Kleidern etc. In den Wohnungen ist nicht die intensive Tätig¬
keit des Sonnenlichtes vorhanden, auch nicht die intensive Ab¬
schwächung durch den Regen. Im Hause sind vor allem die Räume
vor Staub zu schützen, wo Speisen aufbewahrt werden. In der Küche
werden nicht nur die Speisen zubereitet, sondern auch die Stiefel ge¬
putzt, in kleineren Familien wird auch in der Küche noch sonst viel
reine gemacht, cfr. Wohnküchen der kleineren Leute. Auch in
den Schlafräumen wird sich umgezogen, werden die Betten ge¬
schüttelt; der Fussboden ist am allermeisten der Verschmutzung aus¬
gesetzt, ferner die Teppiche, die Läufer. Referent kommt dann auf
das Putzen und Scheuern des Bodens, sowie der Wände in den
Eisenbahnwagen, Wirtschaften, Hotels zu sprechen. Feucht auf¬
wischen ist überall dringendst anzuempfehlen. Das Aufmachen der
Fenster hilft nur gegen die chemische Verunreinigung der Luft, nicht
gegen den Staub ais solchen. Kinder, die auf verunreinigtem Boden
spielen, sind stark gefährdet. So sind in dem Schmutz, der sich in
den Wohnräumen von Kindern befindet, virulente Tuberkelbazillen
nachgewiesen worden. Ernstliche Kranke sollten immer in Kranken¬
häusern aufgenommen werden wegen der leichteren Reinigung durch
geschultes Personal. Gefährlich sind die Räume der minder Be¬
mittelten, als geradezu Miststätten müssen die Wohnungen der
Armen bezeichnet werden.
In jeder Hinsicht ist eine noch eindringlichere und bessere Be¬
lehrung der Bevölkerung anzustreben. Sie ist nur möglich, wenn sie
bereits in der Schule einsetzt. Selbstredend müssen zuerst die Lehrer
entsprechenden Unterricht erhalten. Die möglichst vollkommene
Unterdrückung des Staubes auf den Strassen und im Hause ist nicht
nur aus hygienischen und verkehrstechnischen Grün¬
den, sondern auch aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, Reinlichkeit
und Annehmlichkeit anzustreben und mit allen Mitteln zu fördern.
Herr Nier vertritt den technischen Teil des Themas: Die Be¬
kämpfung des Staubes auf den Strassen ist durch das heutige Schnell¬
fahren immer dringlicher geworden. Die völlige Staubverhinderung
ist nicht möglich; es liegt uns vor allem ob, die Staubentwicklung
möglichst zu verhindern. Referent begrüsst die grosse Zunahme des
Automobilverkehrs aufs wärmste, besonders wegen der Entfernung
der Pferde und der von ihnen stammenden Verunreinigung von den
Strassen. Die Frage der Staubunterdrückung ist bis zu einem ge¬
wissen Grade nur eine Geldfrage. Ihre Lösung wird erst schwierig
durch die Forderung: Aufwand und Erfolg in einem angemessenen
gegenseitigen Verhältnis zu halten. Die Landstrassen Hessen sich
beispielsweise bis zu 100 Proz. staubfrei machen, wenn sie asphaltiert
wären. Die Ursachen der Staubentstehung, seine Existenzbedingung
müssen vor allem genau bekannt sein, dann kann leichter gegen die
Staubplage vorgegangen werden. Der Strassenstaub lässt sich seinem
Ursprung nach in zwei Arten trennen: in Staub, der durch Zermalmung
und Abschleifung des Strassendeckmaterials entsteht: Deckenstaub;
Staub, der durch Zerreibung der Verkehrsverunreinigungen entsteht:
Verkehrsstaub. Ersterer besteht aus Quarzteilchen, Asphalt, Holz etc.,
letzterer aus Pferdedünger, Eisenteilchen von den Rädern, Kleider-
restchen, Auswurf etc. Eine erfolgreiche Bekämpfung des Staubes
auf der Strasse ist zu erzielen durch Massnahmen in dreierlei Rich¬
tungen, durch besondere Sorgfalt bei der Wahl der Strassenbefesti-
gungsart, durch peinliche Strassenreinigung, durch ausgiebige
Strassenbesprengung. Bei der Wahl der Strassenbefestigungsart ist
auf folgendes zu achten: Die Anlegung neuer Schotter- und Kies¬
bahnen ist möglichst zu vermeiden. Leichte Pflasterung (besonders
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 4Ü.
1984
Kleinpflaster) erscheint als zweckmässiger Ersatz. Demjenigen Be¬
festigungsmaterial, das sich im Verkehr nur gering und und gleich-
massig abnutzt und enge Eugenbildung zulässt, ist im allgemeinen der
Vorzug zu geben. Die Erzielung einer fugenlosen, ebenen Strassen¬
decke, die sich gut reinhalten und waschen lässt, ist — sofern es die
Verhältnisse gestatten — stets anzustreben. Der ordnungsmässigen
Unterhaltung der Verkehrsflächen ist grösste Sorgfalt zu widmen.
Die vielseitigen Bestrebungen, die Staubbildung der Schotter- und
Kiesbahnen abzumindern durch oberflächliche Teerung, bezw.
Behandlung mit wasserlöslichen Oelen, oder mittels Durchtränkung
der Schotter- oder Kiesdecke mit Teer, Oel oder asphaltähnlichen
Stoffen und dergleichen mehr, haben in Deutschland bisher zu einem
allseitig befriedigenden Erfolg nicht geführt. Weitere lang¬
fristige Versuche in grossem Massstabe (kleine, kurze Ver¬
suche sind zwecklos) sind höchst wünschenswert, besonders auch
zur einwandfreien Klärung der Frage, ob und in welchem Masse die
genannten Verfahren die Unterhaltung der Schotter- und Kiesbahnen
und den Bestand der Strassenanpflanzungen beeinflussen, und ob sie
etwa gesundheitsschädigend wirken. Für städtische Schotterstrassen
erscheint die Behandlung mit wässrigen Oelemulsionen aussichtsreich.
Die Frage der Strassenreinigung ist nach folgenden Gesichts¬
punkten zu betrachten: Die Reinhaltung der öffentlichen Verkehrs¬
flächen sollte bei der Bedeutung dieser Arbeiten für die Allgemeinheit
nur Sache der Gemeinden sein. Die gründliche Reinigung der Strassen
hat tunlichst oft, am besten täglich zu erfolgen; alle Reinigungsarbeiten
sind so auszuführen, dass Staubaufwirbelung unbedingt vermieden
wird. Aller Kehricht ist bis zu seiner endgültigen Beseitigung stets
feucht zu halten. Die Verunreinigungen sind so schnell als möglich
von den Verkehrsflächen zu entfernen. Reinigungsmaschinen, die
kehren und gleichzeitig den Kehricht aufladen — sogen. Sammel-
kehrmasehinen — sind sehr zu empfehlen. Versuche mit solchen
Maschinen, die von der Industrie in vorläufig genügender Vollkommen¬
heit geboten werden, sind wünschenswert. Das Spucken auf die
Gangbahnen ist zu verhindern. Dafür sind auf den Verkehrsflächen
geeignete Spucknapfvorrichtungen oder leicht zu reinigende und des¬
infizierende Spuckflächen einzurichten. Die Besprengung
der öffentlichen Verkehrsflächen ist Sache der Gemeinden. Die Be¬
sprengung hat nicht nur den Zweck, den vorhandenen Staub zu binden,
sie soll bei heissem Wetter auch die Luft reinigen und erfrischend
wirken; sie ist nur mit frischem, reinem Wasser zu bewirken. Die
Verwendung von ungereinigtem Fluss- oder Seewasser sollte aus
hygienischen Gründen ausgeschlossen bleiben. Das Ziel jedes ge¬
regelten Sprengbetriebes muss sein, die Staubbildung schon im Ent¬
stehen zu verhindern. Die Stärke und Form der Besprengung
soll so gewählt sein, dass Staub- und Schlammbildungen auf den Ver¬
kehrsflächen tunlichst vermieden werden. Es ist zweckmässiger und
wirtschaftlich richtiger, öfter mit wenig Wasser zu sprengen, als
seltener, aber mit viel Wasser. Um die Strassenbesprengung nach¬
haltiger zu gestalten, dürfen dem Sprengwasser keinesfalls Stoffe bei¬
gemengt werden, die gesundheitsschädigend wirken.
Eine erfolgreiche Bekämpfung des Staubes im Hause hat von
folgenden Gesichtspunkten auszugehen: Die Unterdrückung des
Strassenstaubes vermindert auch den Staub im Hause. Alle Reini¬
gungsarbeiten sind, soweit angängig, auf nassem Wege zu bewirken.
Die Oelung der Fussböden verhindert die Staubbildung in befriedigen¬
der Weise. Sie soll aber nur als Unterstützung, nicht als Ersatz der
gewöhnlichen Reinigungsart betrachtet werden. Alle Verfahren, die
eine Beseitigung des Staubes aus den Wohnräurnen ermöglichen, ohne
dass er erst in die Luft gewirbelt wird und sich nachträglich wieder
setzt, sind zu empfehlen.
Die Bekämpfung der Tollwut.
Referent: Professor Dr. F r o s c h - Berlin.
Referent zeigt zunächst an der Hand der Statistik, wie gefähr¬
lich die Tollwut ist. Unter dem Einflüsse sanitätspolizeilicher Mass¬
nahmen hat eine deutliche Abnahme der Hundswut in Deutschland
stattgefunden, leider ist 1905 eine kleine Steigerung konstatierbar.
In Preussen ist Ostpreussen der schlechteste Bezirk, in Bayern Nieder¬
bayern und Oberbayern. In beiden Ländern ist dies auf die an¬
grenzenden, stark verseuchten Nachbarländer Russland bezw. Oester¬
reich zurückzuführen. Aehnlich liegen die Verhältnisse in Sachsen.
Deutschland ist im ganzen als frei zu erklären, mit Ausnahme der
östlichen Grenzen — vielleicht ist auch die Sperrzone mit 4 km zu
klein bemessen. Interessant erscheint, dass nicht jeder Biss eines
tollen Hundes Wut erzeugt. Es ist bekannt, dass alle Haustiere,
insbesondere gebissene Katzen, an der Wut erkranken können. Die
häufigste Art des Auftretens ist die sogen, rasende Wut, derselben geht
eine mehrere Tage dauernde Aufregung und Unruhe voraus. Alle
I iere werden angriffslustig und bissig; sehr gefährlich sind Katzen
wegen ihrer Neigung, am Menschen emporzuspringen und zu kratzen.
Die Hunde entweichen in diesem Stadium, laufen riesige Strecken,
zeigen den sogen. Wandertrieb. In dieser Zeit zeigen sie eine förm¬
liche Beisswut gegen alles, nicht nur gegen Mensch und Tier, auch
leblose Gegenstände werden gebissen. Charakteristisch ist auch ein
heiseres Bellen, eigentlich mehr Heulen, auf weite Entfernungen er¬
kennbar. Die Hunde sollen auch in diesen Zeiten wasserscheu sein.
Für die Bekämpfung der Tollwut beim Menschen ist von Wichtigkeit
die Entwicklung der Erkrankung. Die Tollwut hat eine sehr lange
Inkubationszeit, 2 — 3 Wochen, oft darüber. Es hat dies seine guten
Seiten, aber auch seine Schattenseiten. Letzteres, weil man den Mo¬
ment des Bisses kennt, daher wochenlang Furcht vor dem schauder¬
haften Schicksal, hievon leicht schwere Zerütterung des Nerven¬
systems auch in Fällen, wo der Biss unschädlich ist. Gut ist da¬
gegen die lange Inkubationszeit wegen der guten Möglichkeit der
Hilfeleistung. Was das Krankheitsbild beim Menschen selbst be¬
trifft, so ist es ähnlich dem beim Hunde; wiederholt möge darauf
hingewiesen sein, dass auch nur ein einziger derartiger Fall schon
zu viel ist, so schwer ist die Erkrankung.
Das Reichsseuchengesetz gibt die Massnahmen zur Bekämpfung
der Erkrankung, der diesbezügliche Inhalt desselben erfordert An¬
zeigepflicht, tierärztliche Ueberwachung, Tötung der erkrankten und
verdächtigen Tiere; Benachrichtigung der benachbarten Kreise, wo¬
durch dieselben gewarnt werden; Desinfektionszwang. Zur Vervoll¬
ständigung dieses Erfolges erscheint die allgemeine Durchführung
des Maulkorbzwanges und ein scharfes Vorgehen gegen herrenlose
Hunde geboten. Die Wirksamkeit der Tollwutbekämpfungsmass¬
nahmen liesse sich ferner durch gegenseitige behördliche Mitteilung
beim Auftreten der Wut in den Grenzorten benachbarter Länder
beschleunigen und verstärken. Das beste Mittel zur Bekämpfung
der Seuche bezw. die sicherste Heilung der Gebissenen gibt die
Pasteur sehe Impfung. In Deutschland gibt es zwei Institute
zur Schutzimpfung, eines in Berlin, eines in Breslau. Die Aufgabe
dieser Stationen ist eine zweifache: neben der Behandlung der Ge¬
bissenen nach dem Pasteurschen Verfahren ist bei dem einge¬
sandten Tiermaterial die Diagnose zu stellen. Die Behandlung ist
gratis und ambulatorisch. Die Personen müssen vorher schriftlich
oder telegraphisch angezeigt werden und zwar durch die Gemeinde¬
behörden, gleichzeitig ist Mitteilung zu machen über die Zeit der In¬
fektion, über das Tier, über sonst Gebissene etc. 3 Monate nach
Schluss der Behandlung hat sich der Patient erneut beim Kreisarzt
vorzustellen. Die Einsendung des verdächtigen Materials geschieht
auf Kosten des Instituts. Der Ausfall der Untersuchung wird den
Ortspolizeibehörden mitgeteilt. Ein Jahresbericht gibt Aufschluss
über die Tätigkeit des Institutes. Die Behandlung wird nach den von
Pasteur angegebenen Vorschriften ausgeführt. 20 Einspritzungen
— eine täglich — von getrocknetem Rückenmark künstlich infizierter
Kaninchen bilden eine Kur. Das Material ist auf seine Reinheit sorg¬
fältig geprüft. Durch entsprechende Austrocknung lässt sich die
Heftigkeit des Giftes beliebig abstufen. Diese Abstufungen bilden die
Impfung, allmählich tritt Gewöhnung an das Gift ein, hierdurch die
Immunisierung. Nach Beendigung der Behandlung braucht der Ge¬
impfte noch 14 Tage bis zur völligen Wirkung. Diese Zeit ist für den
Gebissenen sehr wichtig, da der Ausbruch der Wut 40—80 Tage
dauert. Die Behandlung muss sobald als möglich angefangen werden.
Die Impfung versagt, wenn der Ausbruch der Wut schneller erfolgt;
gefährlich ist, wenn die Infizierung zu stark ist. Die sofortige Be¬
handlung der Wunde ist notwendig, weil immer etwas Gift aus
der Wunde noch entfernt werden kann; auch schon bei Vernarbung
der Wunde ist dieselbe noch zu behandeln. Von den nach diesem
Verfahren bis jetzt behandelten 2256 Patienten sind 21 gestorben,
4 hievon, weil sie zu spät gekommen sind, weitere 6 während der Zeit,
welche zur Ausführung des Impfschutzes notwendig ist. 11 Personen
= 0,49 Proz. sind trotz der richtigen Zeit und der richtigen Impfung
noch gestorben.
Die in Behandlung genommenen Fälle lassen sich in 3 Gruppen
fassen: a) ganz sichere Tollwut, b) tierärztliche Diagnose der Toll¬
wut, welche sich immer als richtig erwiesen hat, c) Wutverdacht,
wobei jedoch die Tollwut nicht mehr hat festgestellt werden können.
Die Wirkung der Pasteurschen Behandlung ist sehr oft Gegen¬
stand des Angriffs, der beste Beweis hiefür ist jedoch die Statistik:
ohne Behandlung schwankt die Sterblichkeit zwischen 8 — 25 Proz.,
hier sind jedoch die wutverdächtigen Fälle nichts ausgeschaltet. Tierärzt¬
lich nachgewiesen ist die Sterblichkeit von 45 Proz., bei ganz schlech¬
ter Berechnung der Pasteur sehen Impfung stellt sich die Sterb¬
lichkeit auf 0,8 Proz. Schwere Verletzungen, Wunden am Kopf und
an den Händen geben schlechte Prognosen. 2 Proz. der Gestorbenen
fallen auf die Kopfverletzungen.
Die Schutzimpfung ist Gegenstand weiterer Verbesserungen,
Dr. S c h ü 1 e impft, wenn die ersten 20 Impfungen vorbei sind, noch¬
mals 20 Tage lang mit gutem Erfolg.
Die Prüfung des eingesandten Materiales erfolgt durch Ein¬
spritzungen an Kaninchen. Der Erreger der Hundswut ist noch un¬
bekannt. Verbessert wird die jetzige Prüfungsmethode durch die
Untersuchungen von Negri, welcher im Gehirn tollwutkranker Tiere
eigenai tige Zelleinschlüsse entdeckt hat. Andere Forscher fanden
diese Köiperchen sehr häufig, sie sind zwar nur der Tollwut eigen¬
tümlich, doch ist ihre ursächliche Bedeutung nicht erwiesen.
In verseuchten oder erfahrungsgemäss häufig von Hundswut
heimgesuchten Orten wäre die Schutzimpfung der Hunde zu ver¬
suchen.
Es ist noch mehr wie bisher Sorge zu tragen für Belehrung des
Publikums über den Nutzen der Pasteur sehen Behandlung und
die Notwendigkeit ihres möglichst frühzeitigen Beginns.
Der Schulunterricht ist zur Belehrung heranzuziehen, auch die
Vereine für öffentliche Gesundheitspflege könnten in dieser Hinsicht
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1985
wirken, ebenso die Berliner Zentrale für Volkswohlfahrt, Abteilung
für die ländliche Bevölkerung.
Unsere gesetzlichen Massnahmen haben sich gut bewährt, die
Ausführung muss aber wie oben erwähnt, noch besser werden. So
schreibt das Gesetz den Maulkorbzwang vor, noch besser wäre die
allgemeine Durchführung des Maulkorbzwanges und das schärfere
Vorgehen gegen herrenlose Hunde, beides schon vor dem Ausbruch
der Tollwut. Am besten lehrt dies das Beispiel mit der Cholerabe¬
kämpfung, bei welcher die Schutzvorschriften auch bei Gefahr der
Infektion schon angefangen werden. Natürlich ist auch ein guter
Maulkorb nötig. Belgien hat einen bestimmten vorgeschrieben. Ein¬
wendungen können natürlich auch hier gemacht werden, es erscheint
jedoch die angegebene Vorkehrmassregel zur Zeit das einzig richtige
zu sein.
Bewährt hat sich auch eine Vorschrift der östlichen Provinzen,
dass jeder Hund ein 'Halsband mit Namen und Wohnort zu tragen
hat. Hohe Besteuerung ist auch ein gutes Mittel um herrenlose Hunde,
überhaupt das Halten der Hunde einzuschränken. Erstere wären
sofort zu töten. Die Ausdehnung der Hundesperre auf 15 km wie in
Belgien ist gleichfalls zu empfehlen. Deutschland und Oesterreich
dürften ähnlich wie England neuerdings ihre Gesetze verbessern;
vielleicht könnten beide Staaten miteinander gehen.
Die Milchversorgung der Städte mit besonderer Berücksichtigung
der Säuglingsernährung.
Referent: Stadtbezirksarzt Dr. P o e 1 1 e r - Chemnitz.
Die Milch ist das wichtigste Nahrungsmittel für die Volksernäh¬
rung. Von ihrer Güte hängt das Gedeihen und die Gesundheit weiter
Bevölkerungskreise, insbesondere des Bevölkenmgsnachwuchses, der
Kinder, ab.
Als Kindernahrung steht die Milch konkurrenzlos da.
Die gesundheitliche Bedeutung der Milch als Volksnahrungs¬
mittel, namentlich für die Säuglingsernährung, hat immer mehr zu¬
genommen, seitdem aus verschiedenen Gründen besonders in den
Städten die natürliche Brusternährung der Kinder zurückgegangen
ist. Wenn auch durch geeignete Massnahmen eine Besserung in
bezug auf das Stillen der Kinder erreicht werden kann, so wird
doch auch in Zukunft die Mehrzahl der Kinder auf die Kuhmilch als
hauptsächliches Nahrungsmittel angewiesen bleiben.
Referent ist der Ansicht, dass von sämtlichen in Deutschland
geborenen Kindern höchstens die Hälfte gestillt wird, 1 Million
weiterer neugeborener Kinder ist auf Milchernährung angewiesen,
dazu etwa 4 Millionen andere kleine Kinder, sowie schliesslich die
stillenden Frauen selbst.
Die Milch kann als gesundheitlich einwandfreies Nahrungsmittel
nur dann gelten, wenn sie frei von schädlichen Stoffen ist. Schlechtes,
unzweckmässiges Futter, macht die Milch schlecht, ebenso zu viel
Schlempe. Zahlreiche Krankheitserreger, Maul- und Klauenseuche,
Eiter und Tuberkelbazillen etc. gehen in die Milch über. Typhus und
Scharlach können von den menschlichen Händen in die Milch kommen,
auch das Spülen der Eimer mit schlechtem Wasser kann eine Infektion
der Milch veranlassen; mangelnde Reinlichkeit kann starke Verun¬
reinigung der Milch verursachen. Ein gewisser Schmutzgehalt darf
nicht in Kauf genommen werden. Die Milch zieht riechende Stoffe
sehr leicht an. Das Publikum kennt den reinen Geschmack der Milch
meist überhaupt nicht. Die Milch muss von ganz gesunden Tieren
stammen, dieselben geben eine einwandsfreie, saubere, auch bakterio¬
logisch saubere Milch. Eine ganz reine Milch Hesse sich ruhig als
Säuglingsmilch verwenden. Eine ganz bakterienfreie Milch lässt sich
nicht erzielen. Saprophyten der Milch. Milchsäureerreger, Erreger
der Buttersäuregärung, Heu- und Kartoffelbazillen sind in der Milch
nur schwer vermeidbar, letztere sind äussert widerstandsfähig und
gesundheitschädlich. Bis vor kurzem glaubte man alle Schädigungen
der Milch durch Sterilisierung zu verhüten, zu lange Sterilisation ver¬
nichtet wichtige Eigenschaften der Milch, ohne sie völlig vor Zer¬
störung zu sichern. Sind, zu viel Bakterien bereits gewuchert, so
ist eine Sterilisierung überhaupt nicht mehr möglich. Eine grosse
Gefahr droht der Milch im Hause der Händler und im Hause der Kon¬
sumenten: die Wärme der Wohnungen, das schlechte Aufbewahren.
Das beste Mittel gegen die alsbaldige Bakterienwucherung in der
Milch ist die sofortige Abkühlung nach dem Melken und Kühl¬
haltung auf dem Transport.
Die städtische Milchkontrolle bestimmt gegenwärtig nur den
Fettgehalt, eine bakteriologisch schlechte, eine zersetzte oder im
Verderben begriffene Milch kann ungehindert passieren, hiegegen
besteht kein Schutz!
Gegenwärtig sind die Vorraussetzungen, eine einwandfreie Milch
zu erhalten, nur selten erfüllt und von einer erheblichen Preiserhöhung
der Milch abhängig; einwandfreie Milch ist daher, abgesehen von den
vereinzelten Fällen, wo private und städtische Fürsorge die Milch¬
versorgung weiterer Kreise in die Hand genommen haben, gegen¬
wärtig ein Luxusartikel für die bemitteltere Bevölkerung; die Aus¬
breitung der Milchversorgung auf weitere Kreise scheitert an den
hohen Kosten.
Es ist zu erstreben, dass alle in Verkehr kommende Milch, und
namentlich alle zur Säuglingsernährung dienende Milch einwandfrei
sei. Dieses Ziel kann ohne wesentliche Erhöhung des Milchpreises
erreicht werden, weil alle hierzu nötigen Massregeln gleichzeitig dazu
dienen und schon an sich notwendig sind, um die Gesundheit und die
Ergiebigkeit des Milchviehs, also die Wirtschaftlichkeit des Betriebes
zu erhöhen; durch Erhöhung der Sauberkeit bleiben die Kühe ge¬
sünder, der Milchertrag wird reicher.
Zur Erreichung dieses Zieles ist der Erlass reichsgesetzlicher
Bestimmungen über die Produktions- und Verkehrsverhältnisse der
Milch erforderlich, wobei Einzelbestimmungen, namentlich über den
Fettgehalt, der landes- und ortsgesetzlichen Regelung zu überlassen
sind. Die reichsgesetzlichen Bestimmungen hätten gleichzeitig die I u-
berkulosetilgung zu umfassen, ähnlich wie bei der 1 uberkulosenbe-
kämpfung durch die Fleischbeschau.
Die Produzenten sind seitens der landwirtschaftlichen Vereine
fortdauernd über die Gewinnung und. Lieferung einer tadellosen Milch
zu belehren; ihre Betriebe sind regelmässig zu überwachen. Durch
selbständige Unterstellung unter eine Kontrolle könnte gleichfalls
erhebliche Besserung erzielt werden, beispielsweise wenn die be¬
treffenden Produzenten ihre Milch unter dem Namen „I. Qualität“
liefern könnten.
Die Städte haben den Verkehr mit Milch ortsgesetzlich zu
regeln und hierbei nicht so sehr wie früher ihr Augenmerk auf
Fettgehalt, spezifisches Gewicht etc. als vielmehr auf die Ermittelung
der sauberen, unzersetzten und unschädlichen Beschaffenheit der Milch
zu richten.
Am zweckmässigsten wäre die Einrichtung vo,n „Milchhöfen“
oder „Milchzentralen“ (entsprechend den der Zentralisation des
Fleischverkehrs dienenden Schlachthöfen), welche im Besitze und Be¬
triebe der Stadt sind oder zum mindesten durch eigens angestellte,
entsprechend vorgebildete städtische Beamte überwacht werden. In
diesen Zentralstellen, deren in grösseren Städten mehrere bestehen
könnten, soll die gesamte Milch zusammenfliessen; hier wird sie nach
etwaiger Reinigung, Kühlung und Zubereitung in Transportgefässe
gefüllt und durch entsprechend eingerichtete Verkaufswagen oder
Verkaufsstellen an das Publikum abgegeben.
Der jetzt übliche Kleinhandel mit Milch ist als unhygienisch
zu bezeichnen; insbesondere wegen der Behandlung der Milch im
Hause des Verkäufers, ebenso ist unhygienisch das Umschöpfen,
Umfüllen und Abmessen der Milch auf der Strasse. Mit der Milch¬
zentrale sind Säuglingsmilchküchen zu verbinden, hierselbst ist für die
verschiedenen Lebensalter der Säuglinge trinkfertige Milch herzu¬
stellen. Die Gewährung von Prämien an stillende Frauen bezw. die
Regelung dieser Frage kann an die Milchküchen angegliedert werden.
Auch die industriellen Anlagen könnten hier tätig sein.
Die Bevölkerung ist fortlaufend über die richtige Behandlung der
Milch zu belehren und hierin zu unterstützen. Der Bezug einwand¬
freier Säuglingsmilch, wobei gleichzeitig eine Beratung der Mütter
stattfinden kann, muss auch den Unbemittelten ermöglicht werden,
ohne dass jedoch die auf Verbreitung des Selbststillens hinzielenden
Bestrebungen beeinträchtigt werden.
Der allgemeine Genuss guter Milch kann in vorteilhafter und
gesundheitlich wünschenswerter Weise gehoben werden durch Er¬
richtung von Milchhäuschen, Milchautomaten etc.
Korreferent: Beigeordneter B r u g g e r - Köln führt aus:
Angesichts der Tatsache, dass der Wert der jährlich im deutschen
Reiche erzeugten Milch rund 1700 Millionen Mark beträgt, und dass
ein ganz erheblicher Teil der Milch dem unmittelbaren Genüsse
durch die Bevölkerung dient, besteht allgemein ein starkes Interesse
an der gesundheitlich einwandfreien Beschaffenheit dieses Nahrungs¬
mittels; deswegen ist eine Reform der Milchproduktion und des
ganzen Milchhandels notwendig. Gibt es doch in Deutschland 15 Mil¬
lionen Milchkühe; % der täglich gewonnenen Milch wird getrunken
und besonders in der Säuglingsernährung verwendet. Die Selbst¬
kosten der gewonnenen Milch betragen nach einem Durchschnitt von
63 grossen Gütern berechnet 13,5 Pf. pro Liter und gezahlt wird
durchschnittlich 15 — 18 Pf. hierfür.
Die Forderungen, welche für die Gewinnung einer reinen, ge¬
sunden und guten Milch gestellt werden (ständige tierärztliche Ueber-
wachung der Milchkühe, Tuberkulosenversicherung und Ausscheidung
kranker Tiere, einwandfreie Fütterung der Tiere, gute Beschaffen¬
heit der Ställe und der Melkeinrichtungen, die öftere (4 mal tägliche)
Entfernung des Mistes, die feuchte Reinigung der Krippen, die öftere
Weissung des Stalles, peinliche Sauberkeit des Melkpersonals, Be¬
reitstellung von Seife und Handtücher, sofortige Tiefkühlung und
zweckentsprechender Transport der Milch) sind mit solchen Kosten
verknüpft, dass sie eine Erhöhung des Milchpreises zur Folge haben
müssen. Ein Beweis dafür sind die grossen milchversorgenden Län¬
der Dänemark und Schweden.
Aus den angegebenen Gründen ist der Erlass eines Reichsge¬
setzes, durch welches jene Forderungen festgelegt werden, zur Zeit
nicht zu empfehlen. Es ist vielmehr der Boden für eine spätere
gesetzliche Regelung ganz allgemein durch Verwaltungsvorschriften
für grössere Bezirke (Provinzen, Regierungsbezirke) vorzubereiten,
die sich den örtlichen Bedürfnissen und vor allem den Fortschritten
von Wissenschaft und Technik leichter anpassen lassen. Ortsgesetz¬
liche Ergänzungen, besonders für den Milchhandel, sind ausserdem
notwendig; von grosser Bedeutung ist, dass die Polizeivorschriften
vielfach nur den Händler und nicht den Produzenten treffen. Vor allem
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
aber ist es notwendig, erzieherisch einzuwirken und sowohl in den
Kreisen der Produzenten, als auch besonders in denen der Konsu¬
menten. das Verständnis für den Wert einer gesunden, reinlich ge¬
wonnenen und bis zum Verbrauche gut erhaltenen Milch zu wecken
und löge zu halten.
Von Interesse ist hier, dass auf der neuen Hochschule in Köln ein
entsprechender Kursus abgehalten wird.
Eine ganz wesentliche Förderung der auf die Verbesserung der
Milch gerichteten Bestrebungen ist zu erhoffen, wenn die Staats-, Ge¬
meinde- und andere Behörden dazu übergehen, den Milchbedarf für
die ihnen unterstellten Anstalten nicht schlechthin an den Mindest-
fordernden zu vergeben, sondern unter Gewährung eines angemes¬
senen Preises an vertrauenswerte Personen, die vertraglich die Be¬
obachtung der für die Gewinnung einer reinen und gesunden Milch
aufgesteilten Grundsätze sichern, dagegen gehört die Anlage von
Musteranlagen nicht in den Rahmen der Städte.
Da die Anfuhr der Milch nach den Städten zum grossen Teil mit
der Eisenbahn erfolgt, muss gefordert werden, dass während der
warmen Jahreszeit sowohl auf den Stationen wie in den Güterwagen
Gelegenheit zur kühlen, sauberen Aufbewahrung der Milch gegeben
wird. Der Milchtransport in eckigen Kannen, die eng aneinander ge¬
stellt werden können, ist sehr empfehlenswert, ebenso die Einrichtung
eigener Milchzüge.
Der Vorschlag, in den Städten kommunale oder unter kommunaler
Aufsicht stehende Milchhöfe einzurichten, in denen die Milch gegen
Zahlung geringer Gebühren gereinigt, gekühlt und gut auf¬
bewahrt werden kann, verdient ernste Beachtung, jedoch muss die
Reinigung der Milch vor allem beim Produzenten vorgenommen
werden.
Die Gemeinden sind verpflichtet, für die unbemittelte Bevölke¬
rung Milchküchen zur trinkfertigen Herstellung von Säuglingsmilch
einzurichten. Eine unerlässliche Ergänzung dieser Milchküchen sind
ärztlich geleitete Mutterberatungstellen, welche in erster Linie für die
natürliche Brusternährung zu wirken und die Abgabe der Säuglings-
niilcli zu überwachen haben. In den Beratungsstellen ist unter
anderem auch darauf hinzuweisen, dass die Kinder nicht überernährt
werden. Referent beschreibt zum Schlüsse seiner Ausführungen die
inneren Einrichtungen der Milchküchen in Bergisch-Gladbach und
München-Gladbach und empfiehlt nochmals den Anschluss der Küchen
an die Schlachthöfe. Sigmund Merkel- Nürnberg.
Rheinisch-westfälische Gesellschaft für innere Medizin
und Nervenheilkunde.
(Bericht des Schriftführers.)
IX. ordentliche Versammlung am 17. Juni 1906
in Düsseldorf.
Vorsitzender: Herr F. S c h u 1 1 z e - Bonn.
Schriftführer : Herr Laspeyres - Bonn.
Herr Aug. H o f f m a n n - Düsseldorf : Zur Aetiologie des chro¬
nischen Ikterus im Kindesalter. (Grosse Zyste des Ductus chole-
dochus.)
Ein 13 jähriges Mädchen erkrankte im Sommer 1905 aus unbe¬
kannter Ursache an Ikterus, welcher keinerlei Behandlung vollständig
wich, dagegen in der Intensität sehr schwankte. Das Mädchen be¬
fand sich lange Zeit in klinischer Behandlung. Die Untersuchung des
Leibes ergab Vergrösserung der Leber und in der rechten Mamillar-
linie eine apfelgrosse unter der Leber liegende Geschwulst, die als die
vergrösste Gallenblase gedeutet werden musste. Dieselbe war prall
elastisch und auf Druck nicht schmerzhaft. Die Leber war im Ganzen
aufgetrieben, sonst war überall voller Perkussionsschall. Auch liess
sich keine weitere Geschwulst palpieren, nur hatte man den Ein¬
druck, dass in der Tiefe eine vermehrte Resistenz vorhanden sei.
Das Befinden war wechselvoll, wochenlang trat gefärbter Stuhl auf,
dann wiederum war derselbe hellgrau und enthielt keine Gallenfarb¬
stoffe, der Urin war stets dunkel und enthielt stets Gallenfarbstoffe.
Da sich trotz aller angewandten Kuren eine durchgreifende
Besserung nicht zeigte, das Kind stets ikterisch blieb und schliesslich
der bis dahin gute Appetit nachliess und am 12. III. eine Nierenblutung
aufgetreten war, welche allerdings nur 2 Tage bestand, so musste
bei dieser bedrohlichen Erscheinung die Frage der Operation er¬
wogen werden.
Die Diagnose wurde gestellt auf einen den Ductus choledochus
komprimierenden Tumor, dessen Lokalisation und Art mit Sicherheit
nicht zu bestimmen war, auch wurde gedacht an etwaige (tuber¬
kulöse?) Verwachsungen, welche den Gallengang zusammenschnüren
könnten. Da niemals Schmerzen vorhanden waren, konnte ein Stein
ausgeschlossen werden, der ja auch in diesem Lebensalter sehr un¬
wahrscheinlich war.
Bei der vorgenommenen Probelaparotomie fand sich zunächst
die vergrösserte Leber und die vom Hilus etwas nach aussen ge¬
drängte prall gefüllte Gallenblase. Nachdem der Darm bei Seite ge¬
schoben war, fand sich unterhalb der Leber ein kindskopfgrosser,
glatter Tumor, der deutliche Fluktion zeigte. Es wurde die Tumor¬
wand mit der Bauchwand vernäht und inzidiert. Es entströmte der
Zyste ca. VA Liter, grünlich gelbe schleimige Flüssigkeit, dieselbe war
klar, gab Gallenreaktion, enthielt aber kein diastatisches Ferment.
Der Exitus erfolgte 30 Stunden später an einer Nachblutung.
Das vorgezeigte Präparat lässt erkennen, dass der Tumor aus
einer kugelförmigen Zyste des Ductus choledochus besteht. Dieselbe
kommunizierte mit der Gallenblase, die sich auch bei der Operation
entleerte. Der Ausführungsgang zum Darm war ausserordentlich
schwer zu finden. Derselbe ist als ein feiner Schlitz in der inneren
glatten Wand des Tumors erkennbar und verläuft in dieser. Der Aus-
führungsgang ist offenbar verengt und durch den Druck der in der
Zyste befindlichen Flüssigkeit zugepresst gewesen. Die innere Wand
der Zyste ist mit schwarz-grünem, feinen Konkrement bedeckt, das
aus niedergeschlagenen Gallenfarbstoffen besteht.
Bei der Beurteilung des Falles kommt man wohl zu dem Schluss,
dass es sich um eine angeborene oder doch in früher Kindheit ent¬
standene Zyste des Ductus choledochus handelt, die zunächst
symptomlos verlief, bei weiterer Vergrösserung und stärkerer
Füllung den Ausgang zum Darm versperrte und zeitweilig wieder
freiliess, wodurch der zeitweilig gefärbte Stuhl sich erklärt. Trotz¬
dem derartige Fälle ausserordentlich selten sind, — dem Vortragen¬
den ist nur der von Dresmann auf dem Chirurgenkongress er¬
wähnte bekannt, — so wird man doch in Fällen von chronischem
Ikterus im jugendlichen Alter an die Möglichkeit einer solchen Zyste
denken müssen.
Diskussion: Herr Huismans - Köln : Der Fall, welchen
Herr Kollege Dresmann beschrieb, ist mir bekannt. Es handelt
sich um eine ca. 20 jährige Patientin, welche seit frühester Jugend
an remittierendem Ikterus litt und denselben Befund bot, wie die Pat.
des Herrn Hoff mann. Es wurde ebenfalls an eine Zyste im
Pankreaskopf gedacht. In operatione Eröffnung einer Zyste und Ent¬
leerung einer grossen Menge schleimig-wässeriger Galle. Exitus nach
einigen Wochen. In obductione ein Klappenverschluss des unteren,
in spitzem Winkel ins Duodenum mündenden Choledochusendes,
enorme Dilatation des letzteren und aller Gallengänge.
Herr Fleischhauer - Düsseldorf macht darauf aufmerksam,
dass bei dem Präparat in der Umgebung der Zyste starke- peritoni-
tische Stränge bestehen. Er stellt sich die Entstehung so vor, dass es
ähnlich wie die Entstehung des Hydrops vesicae felleae durch Peri¬
cholezystitis, auch in diesem Falle durch Abknickung infolge
solcher Stränge zur Zystenbildung gekommen sein könnte. Er führt
dafür an die Hypertrophie der Zystenwandung, die offene Kommuni¬
kation des Choledochus mit dem Darm, den Mangel einer Klappe an
der offenen Choledochusmündung aus der Zyste. Derartige Stränge
können durch mancherlei Ursachen entstehen: Erweichung von
Drüsen etc. Für diese Auffassung spricht das Alter des Kindes,
12 Jahre, der Verlauf der Krankheit erst in den letzten Jahren. Redner
betont jedoch, dass solche Feststellungen nur bei der Sektion zweifel¬
los gemacht werden können und bittet die Herren, in vorkommenden
Fällen darauf zu achten.
Herr Kruse- Bonn gibt in längerer Ausführung einen
Bericht über den jetzigen Stand der Typhus- und Paratyphus-,
der Dysenterie- und Pseudodysenteriefrage.
Diskussion: Herr Schultze - Bonn : Die klinischen Unter¬
scheidungsmerkmale, die Lenz für die Differenzierung des gewöhn¬
lichen Typhus abdominalis von dem Paratyphus b aufstellt, scheinen
mir durchaus zutreffend zu sein. Wenigstens habe ich in einem Falle,
den ich noch jetzt behandle, schon vor der Feststellung der bakterio¬
logischen Diagnose wegen einiger vom gewöhnlichen Typhusbilde
abweichender Symptome an einen Paratyphus gedacht. Es handelt
sich um einen Kranken, der früher mindestens schon einmal einen
Abdominaltyphus durchgemacht hat, und der ziemlich rasch mit einem
Schüttelfrost erkrankte. Die Temperaturen waren mehr un¬
regelmässig remittierend, nicht staffelförmig. Ein leichter Herpes
labialis kam zum Vorschein. Somnolenz und Schwindelgefühl
fehlten. Nach geringfügiger Diarrhöe trat eine mässige Darm¬
blutung auf. Die Roseolaflecke waren zuerst spärlich, später ziem¬
lich reichlich. Ein Milztumor liess sich nicht fühlen, war aber wegen
vergrösserter Dämpfung in der Lienalgegend anzunehmen. Bronchitis
war nicht vorhanden. Der Verlauf ist bisher durchaus günstig.
In Bezug auf die verschiedenen Arten von „Pseudobazillen“
der „Dysenterie“ möchte ich bemerken, dass mir eine so multiple Ur¬
sache der Ruhr, wie sie der Vortragende annimmt, von vornherein
nicht unwahrscheinlich vorkommt. Wir verstehen doch unter Ruhr,
und zwar bei der nicht epidemischen Form, klinisch solche Prozesse,
die mit starkem, blutigem Katarrh des Dickdarmes und Rektums ein¬
hergehen. Dass diese aber durch verschiedene Bakterien und ver¬
schiedene Gifte hervorgerufen werden können, ist durchaus anzu¬
nehmen. Nach eigener Erfahrung möchte ich auch glauben, dass bei
Einführung gewisser Nahrungsmittel die entstehenden schleimig¬
blutigen Durchfälle nicht durch diese Nahrungsmittel selbst, z. B. durch
Schwarzbrot, direkt hervorgerufen werden, sondern dadurch, dass
gewisse Bakterien im Darm, die für gewöhnlich in geringer Zahl dort
vorhanden sind und keine Krankheitssymptome machen, durch Ein¬
führung für sie geeigneter Nahrungsmittelnährböden zur Wucherung
angeregt werden und dann Symptome von Dysenterie erzeugen.
Herr S t e i n h a u s - Dortmund: Mit Rücksicht auf die Er¬
fahrungen an den Typhusfällen in Dortmund in den letzten Jahren
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1987
möchte ich den Nachweis der Bazillen aus dem Blute in den Vorder¬
grund stellen, da er nach den Beobachtungen von B r i o n und
Kayser in der ersten Woche der Erkrankung in 95 Proz. positiv
ausfällt. Die dahin zielenden Methoden sind allein auch imstande,
den Kliniker und Medizinalbeamten zu befriedigen in Bezug auf die
Erkennung des Krankheitszustandes.
Herr Rumpf -Bonn: Wenn ich zu dem Vortrag des Herrn
Kollegen Kruse, der uns eine ausgezeichnete Uebersicht über den
betreffenden Gegenstand gegeben hat, das Wort ergreife, so geschieht
es wesentlich von klinischen Gesichtspunkten. Herr Kollege Kruse
hat ja schon die Cholera nostras als eine der typhusähnlichen Er¬
krankungen genannt. Nun wissen Sie, dass in Hamburg die klinischen
und bakteriologischen Untersuchungen über Cholera, Cholera nostras
und verwandte Erkrankungen uns Jahre hindurch eingehend be¬
schäftigt haben. Bei diesen Untersuchungen konnte es nicht entgehen,
dass neben der alten sogen. Cholera nostras mit ihren profusen Durch¬
fällen, dem Erbrechen, dem Kollaps es ähnliche aber doch ab¬
weichende Krankheitsbilder derselben Aetiologie gibt, bei welchen
Durchfälle fehlen oder gering sind und die Erscheinungen einer all¬
gemeinen Infektion mit Fieber und Exanthem im Vordergrund stehen.
Derartige Beobachtungen wurden beispielsweise nach dem Genuss
von Fleischspeisen, Fischen, Austern beobachtet. Auf der anderen
Seite wurden Fälle beobachtet und zunächst dem Typhus abdominalis
zugezählt, welche von dem typischen Bilde einigermassen abwichen
und den genannten sogen. Vergiftungen näher standen. Diese Er¬
fahrungen hatten in Hamburg seit langem dazu geführt, die einheit¬
liche Aetiologie des Typhus abdominalis zu bezweifeln. Sie wissen
ja, dass dann Schottmüller in eingehender Weise die Stellung
des Paratyphus begründet hat. Ich möchte aber doch betonen, dass
gewisse Differenzen gegenüber dem eigentlichen, durch den E b e r t h -
Gaffky sehen Bazillus bedingten Abdominaltyphus vorhanden sind,
Es fehlt der staffelförmige Anstieg des Fiebers, es ist die Milzschwel¬
lung in der Regel weniger ausgesprochen, wie das auch Herr Kollege
5 c h u 1 1 z e bei seinem Fall erwähnt hat, es ist vor allem das Fieber
in der Regel keine Kontinua, sondern mehr remittierend, der Verlauf
kürzer, das Exanthem grossfleckiger.
Nun hat Herr Kollege Kruse von dem Paratyphusbazillus ge¬
sprochen. Ich möchte dem gegenüber betonen, dass es sicher
mehrere, vielleicht viele verschiedene Mikroorganismen gibt,
welche als Erreger typhusähnlicher Erkrankungen betrachtet
werden können. Ich verfüge im Augenblicke nicht über unsere
Protokolle, aber beispielsweise wurde teilweise der Bacillus enteri-
tidis Gärtner, in anderen Fällen wieder ein anderer Mikroorganismus
gefunden. , c
Vermutlich liegt die Sache bei den typhusahnlichen Er¬
krankungen ähnlich wie bei der Dysenterie, bei welcher Herr
Kollege Kruse uns ebenfalls von verschiedenen Mikroorganismen
als Erregern der Krankheit berichtet hat.
Herr Heusner- Barmen : Demonstration eines Harnseparators.
(Siehe diese Wochenschrift 1906, No. 36, S. 1765.)
Herr Huismanns - Köln demonstriert :
1. die allmähliche Entwickelung einer Arthropathie des rechten
Schultergelenkes bei Syringomyelie, kontrolliert durch Röntgen. Vor
6 Jahren bestand nur ein leichtes Schlottergelenk und ein mässiger
Abschliff des Caput humeri. Jetzt findet der bis unter das Collum
humeri zerstörte und an seinem zentralen Ende mit starken Osteo-
phyten besetzte Humerus bei Abduktion sein Hypomochlion am
untersten Ende der Gelenkkapsel.
2. die nach dem Verfahren von R i e d e r - München gewonnene
Röntgenaufnahme einer Ectasia ventriculi ex stenosi pylori.
3. das Bild einer familiären amaurotischen Idiotie. Es handelt
sich um ein 3 jähriges, bis zum 6. Monate normal entwickeltes ein¬
ziges Kind gesunder christlicher Eltern. Es besteht Atrophie
beider Optici ohne Makulaveränderung; Idiotie, schlechtes Schlucken,
spastische Starre, starke Sehnenreflexe; im Augenblick Schluckpneu¬
monie mit hohen Temperaturen. (Der Fall wird anderweitig in ex¬
tenso veröffentlicht.)
Diskussion: Herr D i n k 1 e r - Aachen zeigt im Anschluss an
das Röntgenbild bei Kardiospasmus eine Röntgenaufnahme bei einem
Abszess im hinteren Mediastinalraum im Anschluss an eine tuberku¬
löse Wirbelerkrankung (mit Wurzelerscheinungen im linken 7., 8. und
9. Interkostalnerven). Die Schattenblidung hat eine ovale Form und
reicht über 6 Wirbelkörper in der Höhe und seitlich weit über den
Angulus costarum hinaus. Perkutorisch war über den Lungen kein
abnormer Befund nachweisbar, insbesondere keine Dämpfung neben
der Wirbelsäule. Eine Punktion im 8. Interkostalraum, in der Gegend
des Angulus costar. förderte Eiter zutage und führte zur weiteren
chirurgischen Behandlung. Auffallend musste es sein, dass ausser
leichter Atemnot keine weiteren funktionellen Störungen durch
diesen grossen kalten Abszess in der Gegend des Mediastinum posti-
cum ausgelöst worden waren.
Herr W e b e r - Dortmund: Ueber ein unter dem Bilde
eines Tumors verlaufendes intradurales Hämatom des Hals¬
marks. (Wird an anderer Stelle veröffentlicht werden.)
Herr Esser- Bonn : Ueber einen seltenen Rückenmarks¬
tumor.
Im Anschluss an die kurze Schilderung des zuletzt im Dezembei
1905 in der Bonner medizinischen Klinik bei einer 54 jährigen hiau
beobachteten und durch Operation geheilten Balles einer Rücken-
markshautgeschwulst in der Höhe des 5. Brustfortsatzes, die sich
anatomisch als ein Psammom erwies und klinisch mit typischen Er¬
scheinungen einherging — vor etwa U/s Jahren beginnende, allmählich
stärker werdende Rückenschmerzen, die etwa in der Höhe dei 6. und
7. Rippe nach vorne hin ausstrahlen und sich namentlich beim Husten
und Niesen steigern sollten, langsam bis zur spastischen Lähmung zu¬
nehmende Schwäche der Beine, Herabsetzung des Empftndungsvei-
mögens für alle Qualitäten abwärts vom Rippenbogen, Incontinentia
urinae et alvi, Dekubitus und schliesslich Druckempfindlichkeit des
5., 6. und 7. Dornfortsatzes der Brustwirbelsäule — berichtet Vor¬
tragender über einen vorher im Mai 1905 in derselben Klinik als
Rückenmarkshautgeschwulst diagnostizierten und nach Lokalisation
dem Chirurgen zur Operation überwiesenen Fall, der speziell in patho¬
logisch-anatomischer Beziehung wegen seiner Seltenheit Intel esse
verdient. Der klinische Verlauf war in diesem Falle, der einen
32 jährigen Mann betraf, ähnlich dem oben geschilderten, nur ein viel
schnellerer. Die Erkrankung begann mit Schmerzen, die in die untere
Nacken- und obere Rückenpartie verlegt wurden, und es bildete sich
innerhalb Monatsfrist eine völlige schlaffe Lähmung der Beine, In¬
continentia urinae et alvi und ein ausgedehnter, bis auf die Knochen
gehender Dekubitus aus. Dazu kam Herabsetzung resp. Fehlen des
Empfindungsvermögens für alle Qualitäten von etwa der 3. Rippe
an abwärts und eine starke Druckempfindlichkeit der ersten Dorm-
fortsätze der Brustwirbelsäule. Bei der differential-diagnostischen
Ueberlegung. welcher Art die hier als höchstwahrscheinlich anzu¬
nehmende Kompression der Medulla spinalis sein könnte, musste man
sich auch hier mehr für einen Tumor entscheiden, der wegen des Be¬
ginnes der Erkrankung mit Schmerzen und wegen Fehlens disso-
zierter Empfindungslähmung extramedullär angenommen wurde.
Es fand sich nun an der vermuteten Stelle gegenüber dem 1. und
2. Dornfortsatz der Brustwirbelsäule eine schwarzgefärbte, etwa 4 cm
lange und IV2 cm breite Geschwulst von lappiger Beschaffenheit und
äusserst weicher Konsistenz. Wegen der Weichheit und Brüchigkeit
musste man sich damit begnügen mit Scheere, Pinzette und scharfem
Löffel möglichst viel zu entfernen. Nach anfänglich glatter Wund¬
heilung traten am 9. Tage die Symptome einer Meningitis auf, det der
Kranke 1 Monat nach der Operation erlag.
Die mikroskopische Untersuchung der Geschwulst hatte ergeben,
dass es sich um ein typisches Melanom oder Chromatopho-
r o m handelte, und da man bei der Obduktion, die von Herrn Prof.
R i b b e r t ausgeführt wurde, sonst nirgends im Körper — natürlich
wurden auch die Augen, Darmtraktus und Nebennieren genau nach¬
gesehen — eine solche Geschwulst fand, musste die Rückenmarks¬
hautgeschwulst als ein primäres Melanom angesehen werden. Solche
Geschwülste gehören als primäre Geschwülste der weichen Gehirn¬
häute zu den grossen Seltenheiten.
P 0 1 hat in der Festschrift für Arnold in Zieglers Bei¬
trägen die bisher bekannt gewordenen Fälle über Melanose und mela-
notische Geschwülste im Zentralnervensystem zusammengestellt und
einen weiteren beschrieben. Im ganzen waren es 20, unter denen
nur 3 als primäre melanotische Geschwülste beschrieben sind, die
aber alle im Gehirn und der Medulla spinalis lokalisiert waren. Ein
später von M i x e 1 1 i beschriebener Fall betrifft einen melanotischen
Tumor des Gehirns und am 30. Mai ds. Jrs. berichtet Pick in der
Berliner medizinischen Gesellschaft über eine primäre melanotische
Rückenmarkshautgeschwulst, die demnach ausser dem vom Vor¬
tragenden mitgeteilten Fall die einzige bisher bekannt gewordene
wäre.
Als Ausgangspunkt für diese Geschwülste wären ebenso wie für
die diffuse Melanose der Pia, die in derselben wie in den Plexus cho-
rioideis gelegenen Pigmentzellen anzusprechen.
Diskussion: Herr F. Schultze - Bonn : In bezug auf den
Fall von Weber muss ich mich der Meinung von Bruns an-
schüessen, dass die anatomischen Aufschlüsse recht unbefriedigend
sind. In bezug auf die Diagnose von Rückenmarkshaut¬
tumoren im allgemeinen lässt sich heutzutage behaupten, dass sie
in den typischen Fällen nicht schwierig ist. Man muss nur immer
an die Möglichkeit ihrer Existenz denken, und sich vor Augen halten,
dass sowohl die akute Myelitis als die echte chronische Myelitis sehr
seltene Erkrankungen sind. Wenigstens gilt das für meine eigenen
Erfahrungen. Das, was man früher häufig chronische Myelitis nannte,
entpuppt sich vielfach als die viel weiter ausgebreitete multiple
Sklerose.
Dass man leider bei der Diagnose der Art der Rückenmarks¬
hauttumoren noch immer Ueberraschungen ausgesetzt ist, lehrt der
von Esser besprochene Fall, in dem sich ein früher noch gar nicht
beschriebenes primäres Melanosarkom oder Chromatophorom der
Pia des Rückenmarkes vorfand.
Herr Aug. H o f f m a n n - Düsseldorf: Ueber die Entstehung
der Extrasystolen-Irregularität.
Vielfache Tierversuche, speziell von E. H e r i n g, -haben
in Bezug auf Entstehung von Extrasystolen ergeben, dass durch
eine direkte Nervenreizung einzelne Extrasystolen am Säuge-
1988
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
tierherzen nicht hervorgerufen werden können. Treten sie bei
Nervenreizung auf, so sind sie indirekt ausgelöst. Dieses hat
zu der Annahme geführt, dass Extrasystolen stets muskulären
Ursprungs seien oder nach Knoll durch erhöhten Blutdruck
entstehen. Die klinische Erfahrung steht aber damit im Wider¬
spruch. Wie Vortragender an einer Reihe von Kurven demon¬
striert findet man Extrasystolen auch bei normalem Blutdruck,
man findet sie auch — im Gegensatz zu der Annahme von
Mackenzie — im Kindesalter. Es wird eine Reihe von
Kurven von jugendlichen Individuen zwischen 5 bis 10 Jahren
vorgelegt, welche Extrasystolen zeigen. Weiterhin ist vom
Vortragenden sichergestellt, dass es Extrasystolen aus rein
nervösen resp. psychischen Ursachen gibt, die, ohne dass dabei
eine Steigerung des Blutdruckes zu beobachten war, eintraten.
Es wird eine Reihe von Kurven demonstriert, die von einem
14 jährigen Knaben stammen, der in seinem 10. Lebensjahr eine
hysterische Monoplegie des Beines gehabt und früher auch an Asthma
nervosum gelitten hatte, überhaupt aus stark belasteter nervöser
Familie stammt. Es war aufgefallen, dass der Knabe, namentlich
beim mündlichen Rechnen in der Schule, stets versagte, wenn er ge¬
fragt wurde, während er schriftlich gut arbeitete. Als Vortragender
unter Kontrolle des Pulses ihm leichte Rechenaufgaben zum Aus¬
rechnen im Kopfe aufgab, zeigte sich allemal mit Beginn der geistigen
Tätigkeit ein Schneller- und Kleinerwerden des Pulses, der schliess¬
lich zahlreiche Extrasystolen zeigte und sofort, nachdem er die Auf¬
lösung der Aufgabe gefunden hatte, wieder regelmässig und lang¬
samer wurde. Durch eine längere Kurvenreihe könnte dieses fest¬
gestellt werden, auch konnte zugleich durch Aufnahme des Venen¬
pulses dargestellt werden, dass die Extrasystolen sogenannte Kam¬
mersystolen waren und dass Vorhof und Kammer sich häufig gleich¬
zeitig kontrahierten.
Weitere Versuche an einem Manne, welchem infolge einer aus¬
gedehnten Rippenresektion das Herz freilag, ergaben, dass man nicht
imstande war von der Herzspitze aus, auch nicht von der Seitenwand
des Ventikels aus mit der verfügbaren Stromstärke (20 — 30 mal)
Extrasvstolen auszulösen. Dagegen gelang dies leicht in der Gegend
der Atrioventrikulargrenze. Entfernte man sich auch nur wenige
Millimeter von jener Gegend, so musste der Strom bedeutend ge¬
steigert werden, wenn Extrasystolen erfolgen sollten. Entfernte man
sich mehr als 1 cm von jener günstigsten Stelle, so gelang es nicht
mehr, Extrasystolen auszulösen. Auch beim Tierversuch gelang es
leichter mit geringerer Stromstärke in der Gegend der Atrioven-
tnkularfurche Extrasystolen auszulösen als an der Kammerwand.
Wir wissen, dass zwischen Vorkammer und Kammer das
H i s sehe Muskelbündel eine Verbindung herstellt, die nach den
Demonstrationen von T a w a r a sich in Form der Purkinje-
schen Fasern über das ganze Septum bis tief hinab in die
Ventrikel erstreckt. Das anatomische Verhalten dieser Fasern
ist ein von den gewöhnlichen Herzmuskelfasern abweichendes.
Sie näheren sich dem embryonalen Typus. Aehnliche Fasern
finden wir auch an der Einmündungsstelle der Venen, an denen
die automatischen Herzreize entstehen. Wenn nach Abschnei-
dung der Vorhöfe die Kammer wieder zu pulsieren anfängt, so
tut sie dieses in einem eigenen Rhythmus, der von dem des
Vorhofes verschieden ist, ein. Verhalten, welches man intra
vitam bei Menschen als Dissoziation des Herzens hie und da
beobachten kann. Auffallend ist, dass dabei der Ablauf der
Kontraktionen genau so stattfindet wie bei erhaltener Ver¬
bindung. Es liegt deshalb nahe, anzunehmen, dass diese Auto¬
matic von den Elementen ausgeht, welche sonst die Kontrak¬
tionen des Vorhofes auf das Herz fortleiten, wenn an normaler
Stelle diese Systolen entstehen. Auch wissen wir, dass der
N. accelerans auf die abgetrennte Kammer wirkt. Nun ist die
gewöhnliche Kammersystole als solche niemals mit Sicherheit
von einer von den Uebergangsbündeln ausgehenden Extra¬
systole zu unterscheiden. Wohl kann man Uebergangs-Extra-
systolen unter günstigen Verhältnissen als solche erkennen,
niemals aber bei einer Kammer-Extrasystole mit Sicherheit
ausschliessen, dass dieselbe vom Uebergangsbiindel ausgeht.
Es liegt deshalb wohl die Annahme nahe, dass alle sog.
Kammer-Extrasystolen ihren Ausgangspunkt von jenen Ueber-
leitungsfasern nehmen, die ebenso für die Automatie des ab-
geschnittcnen Vorhofes den Rhythmus erzeugen. Es ist aber
dabei wohl ein nervöser Einfluss denkbar, welcher die Erreg¬
barkeit dieser Gebilde so steigert, dass ihre automatische Tätig¬
keit beschleunigt wird, so dass nunmehr vorzeitige Kammer¬
systolen entstehen, die, genau wie die vom Vorhof fortgeleite¬
ten, ihren Weg durch die Kammermuskulatur nehmen. Damit
wäre auch verständlich, dass es Extrasystolen aus reiner
Nervenwirkung gibt.
Weitere nach dieser Richtung anzustellende Versuche sind
späterer Mitteilung Vorbehalten.
Herr Hochhaus- Köln : Ueber frustrane Herzkontrak¬
tionen. (Erscheint in extenso in dieser Wochenschrift.)
Herr Strasburger-Bonn demonstriert die Pulskurve einer Pa¬
tientin mit Aneurysma der Aorta thoracica. (Ausführlich er¬
schienen in No. 36 dieser Wochenschrift.)
Aerztlicher Verein in Nürnberg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 19. Juli 1906.
Vorsitzender: Herr G o 1 d s c h in i d t.
Herr P 1 i 1 1 berichtet über den weiteren Verlauf des Falles von
Kupferdrahtfreradkörper in der vorderen Kammer, welchen er in
der letzten Sitzung vorgestellt hatte. Nochmalige Röntgenaufnahmen
seitens des Kollegen Schilling gaben abermals den Splitter in
voller Deutlichkeit wieder. Anderntags gelang die Entfernung durch
Lanzenschnitt am Korneoskleralrand und Iridektomie. Der Versuch,
den Splitter isoliert, also ohne Iridektomie, zu entfernen, musste lei¬
der aufgegeben werden. Die Heilung verlief glatt. Sehschärfe völlig
normal. Die Patientin wird mit reizlosem Auge vorgestellt. Der
minimale Splitter — ein Stückchen plattgewalzten Kupferdrahtes —
ist 1 mm lang, V* mm breit und Vio mm dick.
Ferner demonstriert Herr P 1 i 1 1 einen Fall von subkonjunktivaler
Ruptur der Sklera mit Luxation der Linse unter die Bindehaut. Die
Patientin wurde bei der Heuernte mit einem Rechenstiel ins Auge
gestossen. Die luxierte Linse ist sehr schön im oberen inneren
Quadranten der Sklera durch die Bindehaut hindurch zu sehen.
Vortragender bespricht den weiteren Verlauf solcher Verletzungen und
macht insbesondere auf die Möglichkeit des Auftretens von sym¬
pathischer Ophthalmie aufmerksam. Diese ist dann auf das Vor¬
handensein makroskopisch nicht wahrnehmbarer Bindehautläsionen
zurückzuführen.
Herr Linden stein: Ueber Lumbalanästhesie. (In
No. 38 dieser Wochenschrift in extenso erschienen.)
Sitzung vom 2. August 1906.
Vorsitzender : Herr Goldschmidt.
Herr Alexander stellt im Anschluss an den in der vorigen
Sitzung demonstrierten Fall eine 65 jährige Frau mit Skleralruptur
des rechten Auges vor. Die Linse und die Iris fehlen, die ca. 12 mm
lange Rissstelle, bereits vernarbt, verläuft in dem äusseren Lidspalten¬
bezirke konzentrisch zum Limbus. Das Auge ist fast reizfrei, im
Glaskörper flottieren die Trübungen. Fundus, soweit zu überschauen,
normal. Vor 5 Wochen von einer Ziege ins Auge gestossen; bisher
vom Bader mit Atropin behandelt worden; das Auge wurde nie ver¬
bunden. S (mit + 10 D) ca. 1/xo, es ist aber noch eine wesentliche
Besserung mit der Aufsaugung der Glaskörpertrübungen zu erwarten.
Herr Veiel: Ueber Erfahrungen mit Digalen. (Der Vor¬
trag erscheint in dieser Wochenschrift.)
Sitzung vom 16. August 1906.
Vorsitzender: Herr v. Rad.
Herr Theodor Schilling: Flachrelief-Röntgenbilder.
M. H.! Auf dem Röntgenkongress im April d. J. demon¬
strierte ein Herr Alexander - Käsmark (Ungarn) zum ersten
Mal sog. plastische Röntgenbilder, die allgemein bestaunt wur¬
den. In der Zwischenzeit haben sich eine Reihe von Autoren
mit dem Gegenstand beschäftigt, darunter auch Albers-
Schönber g. Ich gebe Ihnen hier zwei Aufnahmen herum,
die ich in der letzten Zeit angefertigt habe; derartige Bilder sind
wirklich bei erstmaliger Betrachtung verblüffend. Wenn man
sich aber ihre Herstellungsweise vergegenwärtigt, sieht man,
dass es sich eigentlich um etwas ganz Wertloses handelt. Es
wird von dem Aufnahme-Negativ ein Diapositiv hergestellt
und die beiden zusammengelegt, so dass sie sich nicht völlig
decken. Hiervon wird dann eine Kopie angefertigt. So ist,
kurz skiziert, das Verfahren, das in verschiedenen Modifika¬
tionen empfohlen wird. Durch die Verschiebung der Konturen
des Aufnahme-Negativs und des Diapositivs, die einige Milli¬
meter beträgt, werden die Konturen der einen Seite des
Knochenbilds verstärkt hervorgehoben und so die Plastik vor¬
getäuscht.
In No. 31 d. J. der Münch, med. Wochenschr. schrieb
A. S t e i n am Schluss einer Arbeit: Was die praktische Bedeu¬
tung der plastischen Röntgenphotographien angeht, so mag hier
nur soviel gesagt sein, dass man keine zu weitgehenden Er¬
wartungen an das neue Verfahren knüpfen und vor allem sich
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1989
vor groben Täuschungen in der Diagnostik bei Anwendung des¬
selben hüten möge.“ Ich möchte noch erheblich weiter gehen
und dem Verfahren jeden praktischen Wert ab¬
sprechen. Denn es stellt nur eine technische Spie¬
lerei dar, die die für die Diagnostik wichtige Bildschärfe nur
verschleiert. Höchstens wird es sich für Demonstrationszwecke
eignen. Schliesslich bemerke ich, dass der Ausdruck „pla¬
stische Bilder“ unrichtig ist, weil er etwas Körperliches vor¬
täuscht, was durch eine Verstärkung der Konturen allein nicht
hergestellt wird. Angebrachter wäre es, sie Flachreliefs
zu nennen; sie wirken wie Laubsägearbeit.
Herr Port: Eine seltene Komplikation der Appendicitis
chronica.
M. H.! Der Fall, über den ich Ihnen heute kurz berichten möchte,
ist wissenschaftlich eigentlich nichts Besonderes, interessant machen
ihn nur die Schwierigkeit der Diagnosenstellung und die Erklärung
dieser Schwierigkeiten durch den Operationsbefund.
Es handelt sich um eine 42 jährige Frau, welche vor 16 Jahren
eine schwere Blinddarmentzündung durchgemacht hatte und seitdem
immer mit Leibschmerzen zu schaffen hatte, welche in grösseren
Pausen auftraten, gewöhnlich auf Diätfehler hin. Die Speisen, welche
Patientin meiden musste, wurden immer mehr, so dass schliesslich
fast nur noch flüssige Kost genommen wurde und Mehlspeisen. Seit
2 Jahren gesellte sich dazu noch eine hartnäckige Obstipation, Pat.
bekam nur mehr auf Einläufe Stuhl und nahm diese jeden 2. Tag.
Am 21. V. erkrankte Patientin ganz plötzlich mit heftigen Leib¬
schmerzen und absolutem Verschluss für Stuhl und Winde. Sie hatte
eben einen Einlauf genommen und es war ein Teil des Wassers ab¬
geflossen, dann hörte der Abfluss plötzlich auf und es setzten die
Schmerzen ein. Ich sah die Patientin nach 48 Stunden. Das All¬
gemeinbefinden war merkwürdig wenig alteriert, sie hatte nur ein¬
mal gleich im Beginn erbrochen, seitdem nicht mehr, Puls war kräf¬
tig. Ich nahm an, dass es sich um eine Abknickung des in starker
peristaltischer Bewegung begriffenen Darmes über eine alte strang-
förmige Verwachsung handle, gab Opium und in einigen Stunden
war die Passage wieder frei und Patientin wohl.
Da ich die Furcht vor einem Diätfehler für übertrieben hielt, gab
ich volle Kost und prompt am nächsten Tag kam derselbe Anfall
wieder, diesmal mit Temperatursteigerung auf 39,1. Auf Opium und
ein Qlyzerinklysma wurde die Passage wieder frei und Patientin er¬
holte sich. Offenbar ein leichter Appendizitisanfall. Die innere Unter¬
suchung unterblieb, weil inzwischen die Menses eingetreten waren
— 2 Tage zu spät. Dauer derselben 5 Tage.
Die Untersuchung per vaginam ergab: Uterus antevertiert, nir¬
gends eine Resistenz oder Druckempfindlichkeit; per rectum fand sich
hinter dem Uterus eine haselnussgrosse, sehr druckempfindliche Ge¬
schwulst, nicht beweglich. Dieselbe wurde als die Spitze der noch
etwas entzündeten Appendix gedeutet.
In der Nacht nach der Untersuchung plötzlich wieder ileusartige
Erscheinungen, welche bald leichter wurden, aber am nächsten Abend
stieg die Temperatur wieder an, Patientin bekam eine gelbliche Farbe,
wie man sie bei Resorption grösserer Blutergüsse sieht und zugleich
hatte sich ein Exsudat in der rechten Unterbauchgegend entwickelt.
Da auch die Menses wiedergekehrt waren, war kein Zweifel, dass
eine geplatzte Extrauteringravidität vorlag. Patientin erholte sich
rasch und es wurde deshalb einstweilen zugewartet.
Patientin wurde von Tag zu Tag wohler und durfte nach 14 Tagen
auf einige Stunden das Bett verlassen. Am 17. Tag, nach einem
kleinen Diätfehler, wieder Fieber bis 39,5; Schmerzen und Obstipation
ganz wie früher, Abklingen des Anfalls am folgenden Tage. Eine
neue Bestätigung der Appendizitisdiagnöse. Es lag also beides vor:
Appendicitis chronica und geplatzte Extrauteringravidität. Ich schlug
nun die Operation vor und diese bestätigte die Doppeldiagnose. Es
fand sich auch die gleich anfangs vermutete Darmknickung.
Die Epikrise würde dann so lauten: Abknickungsileus infolge des
Einlaufs, derselbe führte dann zum Platzen der Tubargravidität.
Dann leichter Appendizitisanfall auf einen Diätfehler. Dann infolge
der Untersuchung Nachblutung und Bildung der Hämatocele. Dann
wieder Appendizitisanfall auf Diätfehler. Jetzt, 45 Tage nach der
Operation, ist Patientin ganz gesund bis auf eine kleine Granulations¬
stelle. Patientin verträgt jede Kost ohne Beschwerde und fühlt sich
kräftiger als je zuvor. Der Stuhl bedarf noch öfter der Nachhilfe.
Herr Theodor Schilling: Eine neue biologische Eigen¬
schaft der Röntgenstrahlen. (Mitteilung.)
Der Vortragende hat Eier reinrassiger Hühner (rebhuhn-
farbener Italiener) mit mittelharten Röntgenröhren bestrahlt
und dann mit Eiern der gleichen Rasse ausbrüten lassen. Beim
Ausschlüpfen zeigten sich zunächst keine sicheren Unter¬
schiede. Nach ca. 2—3 Wochen aber entwickelte sich all¬
mählich eine Pigmentanomalie: die Rückenfedern der bestrahl¬
ten Hühner färbten sich zum Teil weiss. Vortragender glaubt
mit Sicherheit Fehler, durch Rasenvermengung oder Degene¬
ration (Inzucht) bedingt, ausschliessen zu können. Es werden
im ganzen 59 junge Hühner von 5 verschiedenen Bruten de¬
monstriert. (Der Vortrag erscheint in dieser Wochenschrift.)
Sitzung vom 6. September 1906.
Vorsitzender; Herr v. Rad.
Herr Hauenschild stellt einen 19 jährigen Mann vor, der
im Anschluss an einen Fliegenstich seit 3. VIII. 06 an einer chronischen
Urticaria factitia leidet. Fast täglich treten an den verschiedensten
Körperstellen ohne Fieber typische, hyperämische Quaddeln mehr
weniger zahlreich von Zehnpfennig- bis über Handtellergrösse auf,
die weder Juck- noch Spannungsgefühl hervorrufen und gewöhnlich
in wenigen Stunden wieder spurlos verschwunden sind; Dermo¬
graphismus besteht nicht. Patient hat aus Widerwillen niemals
Krebse, Erdbeeren, Himbeeren usw. gegessen, niemals Milch getrun¬
ken, Häringe werden gut vertragen. Eine diaphoretische und die
Darmtätigkeit regelnde Therapie war bisher erfolglos.
Herr Herbst: Die Prognose und Therapie der Chole-
lithiasis im Lichte der Statistik und der Erfahrung. (Der Vor¬
trag erscheint in dieser Wochenschrift.)
Herr Florian Hahn schliesst sich den Ausführungen des
Kollegen Herbst an. Nach seiner Ansicht wird vielfach noch zu
selten zur Operation geraten, da sie zu gefährlich sein soll —
meist verlangen die Patienten selbst den Eingriff — oder die Ope¬
ration wird zu spät empfohlen. Vortr. hat bisher 21 Gallenstein¬
operationen ausgeführt mit einem Todesfall, eine Serie von 1 — 19
ist genesen.
Der Todesfall betraf eine 48 jährige Frau, die an chronischem
Choledochusverschluss durch Steine litt: hochgradigster Ikterus ein
volles Jahr lang, mehrfache Blutungen in der Haut, in 3 Monaten
35 Pfund Gewichtsabnahme. Zystektomie, Choledochotomie (3 grosse
Steine entfernt), Hepatikusdrainage. Dauer der Operation % Stunden.
Zwei Tage vor der Operation Chlorkalzium. Am dritten Tage Rohr
durch Blutgerinnsel verstopft, am 5. Tage schwere cholämische
Blutung aus Choledochus (Tamponade, Gelatine, Adrenalin etc.),
rascher Verfall der Herzkräfte, Tod 8 Tage nach der Operation.
Frühzeitigere Operation hätte auch diesen Fall möglicherweise retten
können. (Demonstration der Steine.) Vortr. demonstriert das frische
Präparat einer auswärts exstirpierten Gallenblase mit Steinen und
den Inhalt des Choledochus bezw. Hepatikus, der aus zerfallenen, aus
der Gallenblase stammenden Steinen und schlammigen, breiigen
Massen aus dem Hepatikus bestand, die den Choledochus und
Hepatikus bis in seine Verzweigungen ausfüllten. Es bestand nur
zur Zeit der Anfälle minimaler Ikterus, dagegen zwischen den Anfällen
Temperaturerhöhung bis 38,2. Zystektomie, Hepatikusdrainage,
Spülungen des Hepatikus in der Nachbehandlung, wodurch noch ein¬
zelne Brökelchen ausgestossen werden. Heilung.
Herr E. Rosenfeld spricht über 2 Ovariotomien in der Gra¬
vidität und im Puerperium; die 1. wurde ausgeführt im 3. Monat der
Schwangerschaft mit Erhaltung derselben, die Frau ist zurzeit ihrer
Entbindung nahe; die 2. wurde am 4. Tage des Wochenbetts operiert.
Nachdem von der Oberhebamme im Wöchnerinnenheim bei der Ge¬
burt der Tumor erkannt war, traten am 2. Tage plötzlich Erschei¬
nungen von Stieldrehung ein, die eine Operation notwendig er¬
scheinen Hessen; durch die Aufnahme in die Klinik, Ueberweisung etc.
vergingen weitere 2 Tage, so dass bei der Operation Aszites und
fibrinöse Auflagerung auf dem Peritoneum bei Stieldrehung des
mannskopfgrossen Tumors um 180° gefunden wurden. Auch die
Appendix schien mit dem Tumor verwachsen und musste mitentfernt
werden. Glatte Heilung, Pat. verliess am 15. Tage die Klinik. Vor¬
tragender betont die Wichtigkeit der Entfernung von Eierstocks¬
geschwülsten auch in der Schwangerschaft, um eben den Gefahren
der Stieldrehung im Wochenbett zuvorzukommen.
Physikalisch-medizinische Gesellschaft zu Wiirzburg.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 19. Juli 1906.
Herr Beckenkamp: a) Ueber Kupferkies von Avo-
karva Ugo, Japan.
b) Ueber neuere Aufgaben der Mineralogie.
Herr O. Schultze: a) Ueber Sekretionsvorgänge in
Epidermiszellen. (Mit Demonstrationen.)
Die Epidermis von Amphibienlarven trägt wie die von zahl¬
losen anderen wasserbewohnenden Tieren an ihrer freien
Fläche einen Grenzsaum, der eine poröse Platte darstellt, in
deren Poren sich Protoplasmafortsätze finden. Durch Behand¬
lung mit Silbernitrit und Osmiumsäure nach bestimmter Me¬
thode lassen sich diese Strukturverhältnisse sehr schön kon¬
servieren, wie die aufgestellten Präparate der Larven von
Pelobates fuscus zeigen. Was nun die Bedeutung der waben¬
artigen Struktur des Grenzsaumes anlangt, so hat Schultze
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
1990
gefunden, dass in zahlreichen Fällen der Inhalt der Alveolen
in frischem Zustande homogen erscheint. In anderen Fällen
findet man jedoch bei dem noch lebend untersuchten Epithel
des Larvenschwanzes stark lichtbrechende Granula in den
Maschen des Netzes und andrerseits bei Konservierung mit der
nicht koagulierend wirkenden Osmiumsäure die im lebenden
Zustand beobachteten Granula gut konserviert und alle Ueber-
gangszustände von diesen bis zur fast vollständigen Erfüllung
der betr. dann grösser gewordenen Wabe mit dem gleichsam
aufgequollenen Korn. Vortragender glaubt, dass wir es hier
mit einem in Epidermisdeckzellen stattfindenden Sekretionsakt
zu tun haben. Bei der Frage nach der Natur des Sekrets lässt
sich Schleim sicher ausschliessen (Muzinfärbung); das Sekret
scheint vielmehr dem der serösen Drüsen näher zu stehen.
Wir haben also hier einen neuen Beleg für die Tatsache der
vielseitigen Leistungsfähigkeit des äusseren Keimblattes.
b) Lieber den frühesten Nachweis der Markscheidenbildung
im Nervensystem. (Mit Demonstrationen.)
Seitdem das verschiedenzeitliche Auftreten der Mark¬
scheidenbildung in den zentralen Leitungsbahnen durch
P. Flechsig zuerst in seiner grossen Bedeutung für die Er¬
kenntnis dieser Bahnen bekannt geworden ist, war es ein Be¬
dürfnis, gute Methoden der Markscheidendarstellung im mikro¬
skopischen Dauerpräparat zu besitzen. Bekanntlich hat die
Weigert sehe Methode in dieser Beziehung Vorzügliches ge¬
leistet. Aber diese Methode ist nicht imstande, unseren An¬
sprüchen zu genügen, wenn es sich darum handelt, das erste
Auftreten des Markes an marklosen Fasern oder sog. nackten
Achsenzylindern festzustellen, weil die bei der Weigert-
schen Methode angewandte Konservierung der Objekte mit
Kaliumbichromatlösungen nicht dem Ideal einer Konservierung
markloser Fasern und minimaler Nervenmarkscheiden ent*
spricht. Schnitze hat deshalb mit Ueberosmiumsäure eine
neue Methode ausgearbeitet (cfr. Sitzungsberichte der Ges.), bei
der auch die feinsten Markscheiden erscheinen, wie die aufge¬
stellten Präparate beweisen. Nach dieser Methode zeigen denn
auch Objekte, bei denen man in der Regel nur marklose Fasern
annahm (z. B. das Mark junger Amphibienlarven), bereits mas¬
senhaft markhaltige Fasern. Auch bei einem menschlichen Fötus
des 6. Monats ist diese Methode bisher mit bestem Erfolg an¬
gewandt worden. Hier findet Vortragender im oberen Brust¬
mark in der weissen Substanz überall, mit Ausnahme der
Pyramidenseitenstrangbahnen, bereits massenhaft markhaltige
Fasern; aber auch bei diesen muss es einstweilen als fraglich
erscheinen, ob hier nicht schon um die zahlreichen feinen Fasern,
die als helle, dunkelumrandete Kreise erscheinen, ein ganz
dünner Markmantel vorhanden ist. Die peripheren Nerven, die
bis in die Zehen untersucht wurden, stecken alle bereits voll
von markhaltigen Fasern. Vortragender glaubt, dass seine
Methode bei weiteren Untersuchungen über Myelogenie im
menschlichen Zentralnervensystem von Wert sein wird. Im
allgemeinen wird sich hierbei heraussteilen, dass die Mark¬
bildung in den einzelnen Bahnen früher beginnt, als man bisher
annahm. Voraussichtlich wird auch die Pathologie von dieser
Methode Vorteil haben.
Generalversammlung des Deutschen Vereins für Volks¬
hygiene
in Metz, 21. mit 23. September 1906. •
Eine stattliche Anzahl von Delegierten der meisten unserer Orts¬
gruppen, dazu viele Einzelmitglieder aus Orten, wo noch keine Grup¬
pen des Vereins bestehen, insbesondere aus den Reichs- und Rhein¬
landen, Baden hatten sich in dem von der Stadtverwaltung zur Ver¬
fügung gestellten neuen Festsaal des Stadthauses versammelt, als
Freitag 11 Uhr Geh. Obermedizinalrat Prof. Dr. Schmidtmann-
Berlin die Geschäftssitzung der Mitgliederversammlung eröffnete.
Seine herzliche Ansprache mit der zum 1. Male als Vorsitzender
er vor uns trat, gewann ihm rasch die Sympathien aller. Sodann
erstattete Generalarzt Dr. Haase den ausführlichen und mit grösster
Sorgfalt bearbeiteten Jahresbericht, der in markigen Zügen ein klares
Bild von den reichhaltigen und vielgestaltigen Arbeiten der Vereins¬
zentrale und der Ortsgruppen entrollte. Es gibt kein Gebiet der
Volksgesundheitspflege, auf dem der Verein nicht tätig war, sei es
für sich selbständig oder indem er andere Vereine, die nur bestimmte
Zweige der Volkswohlfahrtspflege zum Gegenstände haben, ideell und
materiell unterstützte. Aus den Arbeitsgebieten seien erwähnt: Be¬
kämpfung der Säuglingssterblichkeit, Förderung der Jugendturnspiele
und Sportarten verschiedener Art für Erwachsene, Schülerwande¬
rungen, Ferienaufenthalte für Schulkinder und Arbeiterinnen, Einrich¬
tung von Kochkursen u. a., insbesondere auch die Aufklärung aller
Volksschichten durch populärhygienische Vorträge mit Demonstratio¬
nen und Führungen zu hygienischen Einrichtungen. Als musterhaft
wurde allseits die rege Arbeit des Münchener Vereins anerkannt, der
vor allem auch verstand, mit anderen Vereinen in besten Kontakt zu
treten. In gewandter Form erledigte weiterhin Rentner A. Gütt¬
in a n n den Jahreskassenbericht. Die finanzielle Lage ist günstig,
wenn auch nicht übersehen werden darf, dass mit neuen Zielen die
Kosten wachsen und grössere Mittel nötig sein werden. Anschlies¬
send folgte unter Vorsitz Geheimrats Renk- Dresden die Sitzung
des Zentralausschusses, welche den Generalarbeitsplan für das kom¬
mende Vereinsjahr festlegte, ohne jedoch die Aktionsfreiheit der ein¬
zelnen Ortsgruppen zu beschränken, da es klar ist, dass stets den
lokalen Erfordernissen in erster Linie Rechnung getragen werden
muss. Von der Sitzung weg ging es zur^Besichtigung von Metzer
Sehenswürdigkeiten und hygienischen Einrichtungen, von denen vor
allem die Luft- und Sonnenbadeanlage, die Spielplätze und die im
Schlachthofareal erbaute prächtige Säuglingsmilchküche, die auf den
Errungenschaften modernster Technik basiert, zu nennen sind.
Am 2. Tage 9 Uhr vormittags fand die öffentliche Versammlung
statt. Wieder im Festsaal, den eine reiche Zuhörerschar füllte: Damen
und Herren aus allen Gesellschaftkreisen, Arbeiter, Bürger, Beamte,
Aerzte, Offiziere, das gesamte dienstfreie Sanitätsoffizierskorps des
Standortes waren erschienen. Nach den einleitenden Worten des
Vorsitzenden und verschiedenen Begriissungsreden sprach Hofrat
R a y d t - Leipzig über „Die Notwendigkeit von Spielplätzen und Spiel¬
nachmittagen für unsere Jugend“ und erstellte ein anschauliches Bild
des heutigen Standes der ganzen Bewegung. Prof. Schottelius-
Freiburg i. B. behandelte „Giftige Konserven“. Ein sorgfältig ge¬
wähltes und reichhaltiges Demonstrationsmaterial illustrierte in vor¬
züglicher Weise die höchst aktuellen Ausführungen. Dr. Mathes-
Metz verbreitete sich über „Uebertragbare Krankheiten und Woh¬
nungsnot“ und wies an Hand von reichen Erfahrungen den Zusammen¬
hang zwischen unhygienischen Wohnungsverhältnissen und Seuchen
nach. Den Vorträgen folgte eine lebhafte Diskussion. Nach der Ver¬
sammlung wurde die bekannte Konservenfabrik von Moitrier in vollem
Betrieb besichtigt. Von da ging es zum Festdiner, das fröhliche
Toaste und eine witzsprühende Rede des Oberbürgermeisters würzten.
Des anderen Morgens begab sich eine grosse Zahl der auswärtigen
Gäste nach den Schlachtfeldern von St. Privat und Gravelotte. Dank
dem liebenswürdigen Entgegenkommen des Metzer Verkehrsvereins,
der Aerzte und der Herren der Ortsgruppe war die Stimmung vom
ersten Abend an eine vorzügliche, und in schönster Harmonie verlief
die arbeitsreiche Tagung, die jedem neue Anregungen und Arbeits¬
freude gab zum Besten des Vereins und dem Wohle unseres schönen
Deutschen Volkes. Dr. Weigl- München.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Abteilung für freie Arztwahl des ärztlichen Bezirksvereins
München.
Mitgliederversammlung vom 26. September 1906.
Das pathologisch-anatomische Institut hat sich bereit erklärt, die
von den Aerzten der Abteilung eingesandten Präparate auf Ansuchen
zu untersuchen und die gewonnene Diagnose mitzuteilen. Für jede
Untersuchung wird ein Honorar von 3 — 5 M. erhoben. Hecht ist der
Meinung, dass für diese Kosten die Kassen und nicht die Aerzte auf¬
zukommen hätten. Die Vorstandschaft erklärt, in diesem Sinne sich
mit den Kassen ins Benehmen setzen zu wollen.
Der Magistrat wies in einem Schreiben darauf hin, dass die Mit¬
glieder der Gemeindekrankenkasse zur Vornahme von Operationen
den städtischen Krankenhäusern zuzuweisen seien. Wünschen die
Kranken anderswo operiert zu werden, so seien sie ausdrücklich vor¬
her auf die ihnen entstehenden Kosten aufmerksam zu machen. Dieser
Punkt gibt der Vorstandschaft Gelegenheit zur Erklärung, dass man
versuchen wolle, in dem neu zu errichtenden, grossen städtischen
Krankenhaus in Schwabing eine Operationsgelegenheit für die Mit¬
glieder der Abteilung an den Kranken der Gemeindekrankenversiche¬
rung zu erreichen.
Die Vorstandschaft ersucht ferner dringend um Beschränkung
der ausserordentlich angewachsenen Bäderverordnung, damit nicht
von seiten der Abteilung Massregeln gegen Auswüchse in dieser
Richtung getroffen werden müssten.
Höflmavr warnt vor den Besuchen der Vertreter der „Auto¬
masseurgesellschaft“, die die Aerzte als Vorspann zur Verbreitung
ihrer zweifelhaften Instrumente missbrauchen möchten.
Der Punkt 2 der Tagesordung „Kündigung des Vertrages mit dem
Sanitätsverband“ führt zu einer ausgiebigen Erörterung über be¬
stehende Missstände. Der Sanitätsverband gibt sich gerne als Wohl¬
tätigkeitsinstitut. Er schliesst neben verschiedenen, an sich wohl¬
habenden, versicherungspflichtigen Kassen eine grosse Anzahl von
vermögenden Familien in sich, die unzweifelhaft kein Recht haben.
2. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1991
einer Krankenkasse anzugehören. Eine Kontrolle über die Einkommens¬
verhältnisse der Mitglieder ist wohl von seiten des Sanitätsverbandes
zugesagt, aber in der Grossstadt ist ihre Durchführung unmöglich.
Anderseits steht die Bezahlung, die die Kasse an die Aerzte leistet,
auf äusserst niederer Stufe. Die lebhafte Diskussion stellt die Miss¬
stände fest und scheidet schliesslich die zu treffenden Massregeln
in solche, welche die Kasse allein angehen (Staffelung der Beiträge
ihrer Mitglieder nach den Vermögensverhältnissen etc.) und solche,
die die Aerzte berühren. Insbesondere überzeugen die Ausführungen
K a s 1 1 s, dass bei der bestehenden Honorierung der Begriff der „Fa¬
milie4 als viel zu klein angenommen ist und demgemäss die Hono¬
rierung eine bedeutende Erhöhung erfahren müsse. Sie müsste ge¬
rechterweise pro Familie anstatt der bestehenden 13 M. 50 Pf. gegen
20 M. betragen. Ausserdem bezahlt der Sanitätsverband keine Extra¬
leistungen; diese werden vielmehr aus dem Pauschale vorweg¬
genommen und drücken so die Einzelleistung herab. Er schlägt vor:
Kündigung des Vertrages. Forderung der Herausnahme der Extra¬
leistungen aus dem Pauschale und Bezahlung von 16 M. pro Familie.
Die Versammlung beschliesst einstimmig die Kündigung, sowie
den Eintritt in neue Vertragsverhandlungen auf der Basis der K a s 1 1 -
sehen Vorschläge.
Auf Kustermanns Vorschlag sollen die Kollegen nochmals
aufgefordert werden, diejenigen Mitglieder des Sanitätsverbandes, die
augenscheinlich zu Unrecht in demselben sind, der Vorstandschaft der
Abteilung namhaft zu machen.
Auch findet eine Anregung Höflmayrs die Zustimmung der
Versammlung, bei den Kassen dahin zu wirken, dass die Mitglieder
beim Eintritt in das Sprechzimmer, also vor Beginn der Beratung
ihre Kassenangehörigkeit kundgeben; im analogen Sinne beim Hilfe¬
erbeten ins Haus der Kranken.
Punkt 3 der Tagesordnung „Vertragsänderungen mit der Orts-
krankenkasse“ sollte eine neue Art von Bezahlung von seiten der
Kasse in dem Sinne inaugurieren, dass das Pauschale der Kasse etwas
erhöht, die Extraleistungen derselben indessen auf eine bestimmte
Höhe begrenzt würden. Hecht sieht hinter diesen Plänen eine
Aufrollung der Gegensätze zwischen Spezialisten und praktischen
Aerzten, welch erstere durch diese Aenderung ungünstig betroffen
würden, ln Anbetracht der Notwendigkeit einer erschöpfenden Aus¬
sprache über diesen Punkt, die heute nicht möglich sein würde, ver¬
schiebt die Versammlung nach längerer Diskussion den Gegenstand
auf eine spätere Sitzung.
Punkt 4 „Sperrung einer Bahnarztstelle“. Vorsitzender Bauer
teilt mit, dass sich in München-Haidhausen eine Bahnarztstelle er¬
ledigt hatte. Die Bahnärzte widersetzten sich der Einführung der
freien Arztwahl bei der Bahnkrankenkasse, ebenso tue die ihnen zu¬
ständige Behörde. Anderseits aber genössen die hiesigen Bahnärzte
alle Errungenschaften der freien Arztwahl, resp. der Abteilung. Ein
Kollege von auswärts habe am heutigen Tage die erledigte Bahnarzt¬
stelle übertragen bekommen. Das sei aber kein Grund, nicht heute
noch die Stelle für die Mitglieder der Abteilung zu sperren, um dem
unhaltbaren Zustande allmählich ein Ende zu machen.
In der sehr lebhaften Diskussion wird die latente Bahnarztfrage
wieder in ihren verschiedenen Phasen aufgerollt und besprochen.
Schliesslich gelangt folgender Antrag der Vorstandschaft zur An¬
nahme :
„Die Abteilung für freie Arztwahl steht nach wie vor auf dem
Standpunkte, dass die freie Arztwahl bei allen, auch bei den staat¬
lichen Kassen, mit allen legalen Mitteln zu erstreben sei.
Nachdem alle Versuche, sie auf diesem Wege zu erreichen, bis¬
her trotz des Wunsches der Versicherten und der überwiegenden
Majorität der Aerzteschaft gescheitert sind, sieht sich die Abteilung
genötigt, folgende Beschlüsse zu fassen:
1. Den Mitgliedern der Abteilung, ist von heute ab untersagt,
irgend eine Stelle als fixierter Kassenarzt auch bei dem staatlichen
Krankenkassen anzunehmen. Zuwiderhandlung gegen diesen Be¬
schluss zieht den Ausschluss aus der Abteilung nach sich.
2. Sollte ein ausserhalb der Abteilung stehender Arzt eine solche
fixierte Kassenarztstelle annehmen und dadurch dem ausgesprochenen
Willen der Aerzteschaft zuwiderhandeln, so ist ihm, da er durch seine
Handlungsweise die Interessen der Allgemeinheit schädigt, die Auf¬
nahme in die Abteilung zu versagen.
3. Die Abteilung erklärt infolgedessen die zur Neubesetzung aus¬
geschriebene Bahnkassenarztstelle für gesperrt und richtet an den
Leipziger wirtschaftlichen Verband die Bitte, für eine wirksame
Durchführung der Sperre Sorge zu tragen.“
12 Stimmen ergaben sich gegen diesen Antrag; 1*47 Mitglieder
hatten sich in die Präsenzliste eingezeichnet.
Punkt 5 „Aenderung der Honorarverteilung in der Weise, dass
ab 1. Januar 1907 eine Bezahlung pro Kopf der behandelten Kassen¬
mitglieder im Vierteljahr bei der Ortskrankenkasse, Gemeindever¬
sicherung und dem Sanitätsverband eintreten soll“ wird nach längerer
Erörterung angenommen.
Die noch Testierenden Punkte der Tagesordnung werden nachts
12 Uhr 20 Min. abgesetzt und es wird ihre Diskussion vertagt.
Nassauer.
Verschiedenes.
Therapeutische Notizen.
Der Vibrator „Venivici“, welcher in neuerer Zeit sehr viel an¬
gepriesen wird, eignet sich nach Blum-Znaim sehr gut für alle
Krankheitszustände, in welchen eine sorgfältige Massage notwendig
ist: Gelenkerkrankungen, Neuralgien, Gesichtsmassage. Sein billiger
Preis ermöglicht jedem seine Anschaffung. (Ther. Monatshefte
1906, 8.) Kr.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 2. Oktober 1906.
— Die Abteilung für freie Arztwahl des ärzt¬
lichen Bezirksvereins München hat ihre Winterkampagne
am 26. ds. mit einer inhaltsreichen Sitzung eröffnet. Wir berichten
darüber an anderer Stelle dieser Nummer des Näheren. Besonders
bemerkenswert ist der die Sperrung der bahnärztlichen
Stellen betreffende Beschluss. Es wird, solange nicht die freie
Arztwahl bei den Bahnkrankenkassen eingeführt ist, den Mitgliedern
der Abteilung untersagt, eine Bahnarztstelle anzunehmen, wäh¬
rend solchen Aerzten, die ausserhalb der Abteilung stehen und eine
solche Stelle annehmen, der Eintritt in die Abteilung verweigert wird.
Es besteht also Krieg zwischen der Abteilung für freie Arztwahl und
der Regierung. Da ein Arzt von der bahnärztlichen Tätigkeit allein
meist nicht leben kann, vielmehr auf sonstige Praxis, zunächst also auf
Kassenpraxis, angewiesen ist, so wird die Regierung in der Tat bei
der Besetzung ihrer bahnärztlichen Stellen in München auf Schwierig¬
keiten stossen. Andererseits dürfte auch die Regierung in der Lage
sein, falls sie Gleiches mit Gleichem vergelten wollte, die Mitglieder
der Abteilung gelegentlich ihre Macht fühlen zu lassen. So scheint
ein langwieriger Kampf bevorzustehen, von dem es zweifelhaft ist,
ob der Erfolg für die Münchener Aerzte mit den Opfern, die er viel¬
leicht erfordern wird, in Einklang stehen wird. Es ist bekanntlich
das zweite Mal, dass die Bahnarztfrage den Aerztlichen Bezirksverein
München in eine Kampfstellung zur Regierung bringt. Das erste Mal
geschah dies im Jahre 1903, als der Bezirksverein den Bahnärzten
die Annahme der ihnen übertragenen Postkassenarztstellen zu ver¬
wehren versuchte. Damals musste der Kampf aufgegeben werden,
bevor er noch eigentlich begonnen hatte. Seither hat sich freilich die
Macht der ärztlichen Organisation-ausserordentlich vermehrt. Ob sie
aber schon so gefestigt ist, um einen Kampf mit der Regierung aus¬
zuhalten, steht dahin. Jedenfalls möchten wir im Interesse des An¬
sehens unseres Standes dringend wünschen, dass der diesmalige Kampf
mit mehr Ueberlegung, Voraussicht und Verantwortlichkeitsgefühl sei¬
tens der leitenden Männer unternommen sein möge, als dies früher
der Fall war.
— Der ärztliche Bezirksverein Bezirksamt
München hielt am 26. v. Mts. seine 1. Sitzung nach den Ferien ab,
in der u. a. die Wahlen zur oberbayerischen Aerztekammer vor¬
genommen wurden. Bei einem Stande von 57 Mitgliedern wählte der
Verein drei Delegierte, nämlich die Herren V o c k e, derzeitigen Vor¬
sitzenden desVereins, ferner Dr. Bergeat und BezirksarztDr.Egger.
Dem Verein ist in jüngster Zeit eine grössere Zahl von Münchener
Aerzten, zumeist Mitgliedern des Neuen Standesvereins Münchener
Aerzte beigetreten. Es ist gewiss zu begriissen, dass diese Kollegen
damit den Anschluss an die staatliche Standesvertretung wieder¬
gewonnen haben.
— Der allgemeine Knappschaftsverein Bochum
wünscht mit seinen Aerzten einen neuen Vertrag abzuschliessen.
Der Entwurf dieses Vertrages, den die Rhein. Aerztekorrespondenz
veröffentlicht, befriedigt zwar in bezug auf die Höhe der Pauschale
— Mk. 4—7 pro Kopf und Jahr — genügt aber im übrigen keines¬
wegs den Anforderungen die heutzutage an einen von Aerzten mit
einer Kasse abzuschliessenden Vertrag zu stellen sind. Vor allem
widerspricht die auf 5 Jahre sich erstreckende Vertragsdauer den Be¬
schlüssen des Rostocker Aerztetages. Der Vertrag unterliegt z. Z.
der Begutachtung durch die Vertragskommissionen, die denselben
zweifellos, als den von der rheinischen Aerztekammer für den Ab¬
schluss von Verträgen mit Krankenkassen aufgestellten Grundsätzen
widersprechend, ablehnen werden. Es wird sich dann zeigen, wie
weit die Knappschaftsärzte zur Organisation zu halten gewillt sind.
Dass der Vertrag die freie Arztwahl nicht vorsieht, braucht nach
dem Vorstehenden nicht besonders gesagt zu werden.
— Zu Geschäftsführern der nächstjährigen Natur¬
forscherversammlung in Dresden wurden die Herren
v. Meyer und Leopold gewählt. Erster Vorsitzender der Ge¬
sellschaft wird Na.unyn.
— Gelegentlich der Naturforscherversammlung in Stuttgart, fand
die Gründung von zwei weiteren Spezialgesellschaften, einer Ge¬
sellschaft deutscher Nervenärzte und einer Deut¬
schen Gesellschaft für Urologie statt. Erstere wird
gleichzeitig mit der Naturforscherversammlung, letztere alle zwei
Jahre abwechselnd in Berlin und Wien stattfinden.
— Man schreibt uns: Die Augsburger Abendzeitung bringt in
Nummer 264 die Fortsetzung eines Aufsatzes, überschrieben: Bayc-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 40.
rischer Strafvollzug. Darin wird die Ehre der Hausärzte an den
bayerischen Strafanstalten auf das tiefste gekränkt. Es heisst nämlich
dort, „dass das Wort des Ministers im Landtage 1904: „Unsere
Hausärzte sind durchweg gewissenhafte und ehrenhafte Leute ‘ einer
scharfen Kritik nicht genügenden Widerstand entgegenzusetzen ver¬
mag.“ Damit wird doch deutlich genug gesagt, dass die Hausärzte
der bayerischen Strafanstalten nicht durchweg gewissenhafte und
ehrenhafte Leute seien. Gegen diese dreiste Ehrenbeleidigung, die
nicht nur die Hausärzte der bayerischen Strafanstalten, sondern dem
ganzen ärztlichen Stande ins Gesicht schlägt, sei hier einstweilen
die entschiedenste Verwahrung eingelegt.
— Auf dem Umschlag unserer No. 39 hat infolge eines Ueber-
sehens die Ausschreibung der Kassenarztstelle der Ortskranken¬
kasse Pobershau Platz gefunden. Diese Kassenarztstelle ist
vorn Leipziger Verband gesperrt. Wir warnen daher vor Be¬
werbungen um diese Stelle und bitten, etwa schon abgesandte Ge¬
suche wieder zurückzuziehen.
Der bisherige Oberarzt am Ludwigsspital zu Stuttgart, Dr.
med. Ludwig Grosse ist zum Chefarzt der chirurgischen Abteilung
des neuen Stadtkrankenhauses Stuttgart-Cannstatt gewählt worden.
— Die ausführlichen Verhandlungen der soeben beendigten
Internationalen Konferenz für Krebsforschung
werden demnächst als Sonderheft der von Prof. v. Hansemann
und Prof. George Meyer redigierten Zeitschrift für Krebsforschung
(Verlag Aug. Hirschwald, Berlin) erscheinen.
— Pest. Aegypten. Vom 8. bis 14. September wurden 9 neue
Erkrankungen (und 4 Todesfälle) an der Pest gemeldet. — Britisch-
Ostindien. Während der am 1. September abgelaufenen Woche sind
in der Präsidentschaft Bombay 1862 neue Erkrankungen (und 1388
Todesfälle) an der Pest zur Anzeige gelangt. In Kalkutta starben
in der Woche vom 12. bis 18. August 10 Personen an der Pest.
— In der 37. Jahreswoche, vom 9. bis 15. September 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblich¬
keit Hamborn mit 32,0, die geringste Schöneberg mit 7,5 Todesfällen
pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Gestorbenen
starb an Scharlach in Beuthen, Halberstadt, Königshütte. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Berlin. Zum Abteilungsvorsteher am Kgl. Institut für Infek¬
tionskrankheiten in Berlin wurde der Abteilungsleiter daselbst, a. o.
Professor für experimentelle Therapie an der Friedrich-Wilhelms-
Universität, Dr. med. Wassermann, ernannt, (hc.)
Heidelberg. Am 25. IX. 06 wurde das für die Erforschung
und Behandlung des Krebsleidens bestimmte Samariterhaus, das
jüngste medizinische Universitätsinstitut, eingeweiht in Gegenwart
des Grossherzogs und der Grossherzogin, sowie der Teilnehmer an
der internationalen Konferenz für Krebsforschung. Der Direktor des
Instituts, Geh. Rat Czerny Exz., erhielt das Grosskreuz des Ordens
vom Zähringer Löwen und den Kgl. Preuss. Kronenorden 2. Klasse
St. Petersburg. Dr. E. Moritz, leitender Arzt des
Alexanderhospitals für Männer in St. Petersburg und einer der her¬
vorragendsten Aerzte dieser Stadt, feierte am 7. September seinen
70. Geburtstag. Aus diesem Anlass wurde ihm von der Redaktion der
Petersb. med. Wochenschr. eine umfangreiche Festnummer gewidmet.
Prag. Prof. Richard Kretz-Wien hat einen Ruf auf den
Lehrstuhl der pathologischen Anatomie an der Prager deutschen
Universität als Nachfolger von Hofrat Prof. Hans Chiari ab¬
gelehnt. (hc.)
Personalnachrichten.
(No. 37) auf Grund der Lektüre eines kurzen Referates etwas ganz
anderes sagen lassen, als er in seinem Vortrage wirklich gesagt habe,
nicht zu Recht besteht. Wir können dieser Angelegenheit leider nicht
mehr so viel Raum wddmen, als der Abdruck der Erwiderung
Dr. W o 1 f s erfordern würde. Wir entnehmen ihm daher nur fol¬
gendes:
„Herr Dr. Bloch hat, wie auch das Referat besagt, tatsächlich
den Nachweis erbracht, dass Schopenhauer im Jahre 1823 an
Syphilis gelitten hat, was ich nirgends ernstlich bestritten habe. Allein
diese Frage habe ich in meinem Aufsatz gar nicht erörtert. Ich
habe mich lediglich damit beschäftigt, nachzuweisen, dass das per¬
sönliche Sexualleben und die syphilitische Erkrankung
Schopenhauers keinen Einfluss auf die Entwicke¬
lung seiner pessimistisch - asketischen Welt¬
anschauung a u s g e ü b t habe. Und Herr Dr. Bloch hat
tatsächlich, in völliger Uebereinstimmung mit dem Referat in No. 28
der M. med. W., die Existenz eines solchen Einflusses behauptet.
Ich zitiere jetzt seine eigenen Worte: „Es ist sehr interessant, dass
Metschnikoff in der Einleitung seines glänzenden Werkes über
Immunität den Gedanken ausspricht, dass die drei grossen Pessimisten
des 19. Jahrhunderts, Byro n, Leopardi und Schopenhauer,
wesentlich durch Krankheit zu ihrer pessimistischen Anschauung ge¬
kommen seien“... „Wird man auch einen solchen Zusammenhang
in dieser Allgemeinheit nicht gelten lassen können, so ist es mir
keinen Augenblick zweifelhaft, dass gerade die Syphilis Schopen¬
hauers Denken in pessimistischem und asketischem Sinne beein¬
flusst hat.“
Ferner sagt Herr Dr. Bloch: „Diese dritte Aeusserung über die
Bedeutung der Syphilis ist ganz gewiss der Niederschlag persönlicher
Erfahrung, er selbst war es, der der Gewalt des Geschlechtstriebes
unterlegen war, und getroffen von den .vergifteten Pfeilen aus Amors
Köcher1, nun plötzlich durch die Syphilis über den Wert und die Be¬
deutung der Willensverneinung und Askese zum ersten Male auf¬
geklärt wurde. Dieses aus den Anfängen der Konzeption seines
philosophischen Systems stammende Bekenntnis berechtigt uns zu
dem Ausspruche, dass die Existenz der Syphilis eine der Wurzeln
seiner asketischen Weltanschauung und seines Pessimismus war.
Diese pessimistische Leljensanschauung war, wde Möbius sehr
richtig hervorhebt, dem jungen Schopenhauer noch mehr
Herzenssache als dem alten, w^eil sie unter dem unmittelbaren Ein¬
flüsse seiner Erlebnisse, Leiden und Leidenschaften sich entwickelte.
Im Alter, wo besonders der Dämon des Geschlechtstriebes ihn nicht
mehr quälte, zeigt sich eine deutliche eudämonistische Färbung in
seinem Denken.“
Man vergleiche diese fundamentalen Sätze in der Arbeit des
Herrn Dr. Bloch mit dem Inhalte des Referates: Die völlige prin¬
zipielle Uebereinstimmung ist evident.
Ich habe zwar meinen kritischen Aufsatz in „völliger Unkenntnis“
der Originalarbeit des Herrn Dr. Bloch niedergeschrieben, nach¬
dem ich jedoch dieselbe kennen gelernt habe, sehe ich mich nicht
genötigt, auch nur ein Wort von meinen wesentlichen Ausführungen
zurückzunehmen.“
Nicht nur Herr Dr. Wolf, sondern auch unser Berliner Mit¬
arbeiter, dessen Zuverlässigkeit der Angriff des Herrn Dr. Bloch
in Zweifel zog, ist durch die vorstehenden Ausführungen glänzend
gerechtfertigt. Im 2. Teil seiner Erwiderung befasst sich Herr
Dr. Wolf mit einer Kritik der Bloch sehen Beweisführung. Wie
schon bemerkt, müssen wir darauf verzichten, diese sehr inter¬
essanten, im übrigen aber den eigentlichen Streitfall nicht mehr be¬
rührenden Ausführungen zum Abdruck zu bringen. Red.
(Bayern.)
Niederlassung: Dr. Fiedler in Landstuhl, Dr. Koch
in Schifferstadt.
Vei zogen: Dr. Wilhelm Heinr. Pohl von Stadtlauringen
nach Massbach. Dr. Friedrich Dielmann von Gochsheim nach
Schweinfurt.
Versetzt. Der Bezirksarzt I. Klasse Dr. Franz Xaver Mayer
in Wegscheid nach Pfarrkirchen und der Bezirksarzt I. Klasse
Di. Kranz Löffler in Mellrichstadt auf die Bezirkarztesstelle I.
Klasse beim Bezirksamte Bamberg II, beide ihrem Ansuchen ent¬
sprechend, in gleicher Eigenschaft.
Erledigt: Die Bezirksarztstellen I. Klasse in Wegscheid und
Mellrichstadt. Bewerber um dieselben haben ihre vorschriftsmässig
belegten Gesuche bei der ihnen Vorgesetzten Kgl. Regierung, Kammer
des Innern, bis zum 11. Oktober 1. J. einzureichen.
( i e st o i b e n : Dr. G. A. Rothenhäuser, Bez.-Arzt a. D. zu
Lohr, /o Jahre alt.
Korrespondenz.
Die Krankheit Schopenhauers im Jahre 1823.
Auf die Erklärung des Herrn Dr. .1. Bloch in No. 39 d. W.
übersendet uns Herr Dr. W olf in Obertshausen einen Artikel, in
welchem er den ausführlichen und einwandfreien Beweis liefert, dass
dei \oiwuii Dr. B 1 o c h s, Dr. Wo 1 f habe ihn in seiner Kritik
Uebersjeht der Sterbefälle in München
während der 37. Jahreswoche vom 9. bis 15. September 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 10 (20*)
Altersschw. (üb. 60 J.) 8 (6), Kindbettfieber — (— ), and. Folgen der
Geburt (— *), Scharlach — (1), Masern u. Röteln — (1), Diphth. u.
Krupp 4 (1), Keuchhusten 1 (— ), Typhus — (— ), übertragb. Tierkrankh.
(— )> Rose (Erysipel) 1 (— ), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 1 (3), Tuberkul. d. Lungen 29 (21), Tuberkul. and
Org. 5 (3) Mdiartuberkul. — (2), Lungenentzünd. (Pneumon.) 4 (10)
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. 1 (1), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 3(3), sonst. Krankh. derselb. — (1), organ. Herzleid 17 (7)
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 4 16), Gehirnschlag
9 (5) Geisteskranke — (1), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 1 (1), and!
Krankh. d Nervensystems 3 (4), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 44 (52), Krankh. d. Leber 5 (1), Krankheit, des
Bauchfells 2 (3), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 1 (3), Krankh. d.
Ha,rn:7 u- Qfschlfechtsorg. 7 (3), Krebs (Karzinom, Kankroid) 16 (13),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) — (2), Selbstmord 1 (4), Tod durch
fremde Hand — (— ), Unglücksfälle 7 (2). alle übrig. Krankh. 3 (8).
i l ^ie p^aintzahl der Sterbefälle 186 (189*, Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 17,9 (18,2), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 12,3 (10,4).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. L-ehmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.G.. München.
Öie Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
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Nummer 80 A- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
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Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
No. 41. 9. Oktober 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26. 53. Jahrgang.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 20.
Originalien.
Aus der K- Universitäts-Frauenklinik München (Direktor:
Geheimrat v. W i n c k e 1),
Zur Frage der Hebotomie.*)
Von Privatdozent Dr. Ludwig S e i t z, Oberarzt der Klinik.
M. H. ! Gegenwärtig wird in der geburtshilflich-gynäko¬
logischen Literatur keine Frage so lebhaft diskutiert, als die
Erweiterung des Beckens durch den Schambeinschnitt, durch
die Hebotomie. Es darf daher auch in ihrem Kreise ein ge¬
wisses Interesse für diese Frage vorausgesetzt werden und
dies ermutigt mich, über die Erfahrungen, die wir an hiesiger
Universitäts-Frauenklinik über die relativ neue Operation in
8 Fällen gemacht haben, in Kürze zu berichten.
Zunächst ein paar Worte über die Technik! Abrasieren
der äusseren Genitalien, gründliche Desinfektion des Opera¬
tionsfeldes! Bei den ersten Operationen wurde nun so ver¬
fahren, dass 2 Querfinger lateral von der Symphyse und
X> cm medial vom Tuberculum pubicum ein querer Hautschnitt
von etwa 2 cm Länge gemacht wurde. Nunmehr wurde das
D ö d e r 1 e i n sehe Q Umstechungsinstrument in die Wunde
eingesetzt, mit 2 Fingern der anderen (behandschuhten) Hand
in die Vagina eingegangen und die Spitze der Nadel getastet.
Unter steter Kontrolle der Nadelspitze mit der in die Vagina
eingeführten Hand wurde die Nadel hart am Knochen nach
unten geführt, die Ausstechungsstelle im grossen Labium mit
Kugelzange möglichst tief nach unten gezogen, um eine spä¬
tere Infektion mit dem Lochialsekret zu verhüten. Die Um¬
stechungsnadel wurde sodann mit der G i g 1 i sehen Säge
armiert, zurückgeführt und die Durchsägung des Knochen in
wenigen Sekunden ausgeführt. Die Technik stimmt somit ganz
mit der von D ö d e r 1 e i n angegebenen Methode überein, nur
haben wir nicht noch besonders die Weichteile mit dem Finger
von der Symphyse abgelöst. Es geschah dies, um einerseits
die Wunde nicht zu vergrössern und zu komplizieren, anderer¬
seits, weil mir die Kontrolle von der Vagina aus eine genügende
Gewähr gegen etwaige Nebenverletzungen zu geben schien.
Bei den 2 letzten Fällen wandten wir die B u m m sehe 2) Nadel
an, die vorne so spitz ist, dass mit ihr direkt, ohne vorher ein¬
zuschneiden, die Haut durchstochen werden kann. Wir führten
sie nicht, wie Bumm angibt, von unten, sondern von oben ein.
Die Einführung der Nadel von unten soll gegenüber dem Ein¬
dringen von oben den Vorteil haben, dass sich damit jede Ver¬
letzung des Corpus cavernosum clitoridis vermeiden lasse.
Allein wie Tandler3) einwandfrei gezeigt,, ist bei jedem Ver¬
fahren die Verletzung unvermeidbar, und selbst wenn der Bul¬
bus von der Säge verschont bliebe, so reisst er beim Klaffen
der Knochenenden entzwei. Es ist auch um seine Verletzung
nichts so Schlimmes, die entstehende Blutung liess sich noch in
allen Fällen durch Tamponade leicht stillen.
Nicht ohne Bedeutung ist die Frage, ob die Hebotomie voll¬
ständig subkutan durchgeführt werden soll. Bei dem von
*) Nach einem in dem ärztlichen Verein München gehaltenen
Vortrag.
1) Arch. f. Gyn., Bd. 72, S. 275.
2) Zentralbl. f. Gyn. 1906, No. 3.
3) Zentralbl. f. Gyn. 1905, No. 28 und 1906, No. 3, S. 87.
No. 41.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Döderlein, Seeligmann4), Leopold-Kanne-
g i e s s e r 5 *) angewendeten Verfahren ist die Wunde zwar auch
nur klein, auch heilt sie in der Regel reaktionslos zu; allein
es ist immerhin doch eine Wunde, die bei „unreinen“ Fällen
infiziert werden könnte und daher ist die rein subkutane Durch¬
sägung nach W a 1 c h e r (i) und nach Bumm (1. c.) entschieden
als ein Fortschritt anzusehen, die dabei entstehende Einstich¬
öffnung verklebt sofort, die Blutung ist, wie dies bei unseren
letzten nach Bumm operierten Fällen sich zeigte, geringer.
Nach den Beobachtungen anderer scheint auch die Neigung zu
Hämatombildung nicht erhöht zu sein, wie man a priori denken
könnte.
Nach der Durchsägung wichen die Knochenenden in jedem
Falle auseinander, und zwar in der Regel entstand die Lücke
ganz langsam, nur in 2 Fällen ruckartig. In diesen Fällen
wurde das gleiche Tempo im Sägen bis zuletzt beibehalten und
die letzten fixierenden Bänder mit einem Zuge entzwei ge¬
schnitten, vielleicht auch durch stärkeres Spreizen der Beine
ein rasches Auseinanderweichen begünstigt. Es ist beim Sägen
darauf zu achten, dass nicht allein der Knochen, sondern auch
der Bandapparat durchtrennt ist. Es handelt sich hierbei um
die Ausstrahlungen des Ligam. Poupartii, der von der Sym¬
physe ausgehenden sehnigen Kapselbänder, besonders des
Ligamentum arcuat. inf. und super. Werden diese nicht durch¬
schnitten, so klafft das Becken nicht genügend, wie Seil -
h e i m 7) experimentell gezeigt hat und der Erfolg der Operation
wird dadurch in Frage gestellt. Dies muss man z. B. bei der
misslungenen Hebotomie in einem der Fälle Stoeckels8)
annehmen.
Ich berichte zunächst kurz über die einzelnen Fälle, die
ich durch die Güte meines hochverehrten Chefs, Herrn Geheim¬
rats v. W i n c k e 1, zu operieren Gelegenheit hatte, wofür ich
auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank ausspreche.
Fall I. Anna W., 31 Jahre, IX. Para, Journ.-No. 830, Aufnahme
am 29. VIII. 1905, hat mit einem Jahre das Gehen erlernt, später nicht
wieder verlernt. 1. Geburt 1896, Kind ausgetragen, tot geboren.
2. Geburt 1897, ausgetragenes Kind, Zange, Kind tot. 3. Geburt 1898,
Kind ausgetragen, spontan geboren, tot, Kopf des Kindes auf einer
Seite eingedrückt. 4. Geburt 1899, Kind ausgetragen, Zange, totes
Kind. 5. Geburt 1900, Kind ausgetragen, mit der Zange entwickelt,
Kind tot. 6. Geburt 1901, Kind etwas kleiner als die übrigen, mit
der Zange extrahiert, blieb am Leben. 7. Geburt 1903, Kind aus¬
getragen, in Gesichtslage, wird perforiert. 8. Geburt 1904, wieder
spontane Geburt, Kind tot, mit Schädeleindrücken. Die Beckenmasse
sind: Sp. 24, Cr. 30, C. ext. 19, sehr, je 22, Conj. diag. 9 cm, Conj. vera
auf 7% — 7% cm geschätzt. Da die letzte Periode Ende Dezember
in gewöhnlicher Dauer und Stärke vorhanden war, wurde die be¬
stehende Schwangerschaft auf etwa 36 Wochen taxiert und die künst¬
liche Frühgeburt zwecks Erlangung eines lebenden Kindes eingeleitet.
Einlegung eines Metreurynters. Es setzten alsbald kräftige Wehen
ein, 24 Stunden später Ausstossung des Metreurynters, Muttermund
fast völlig erweitert, Blase wird gesprengt, Presswehen; dieselben
sind sehr kräftig, vermögen aber den Kopf nicht tiefer ins Becken
zu bringen. Auch 18 Stunden nach dem Blasensprung steht der Kopf
noch unverändert, er ragt mit der vorderen Partie etwas über die
Symphyse hervor; die Hoffnung eines spontanen Verlaufes der Ge-
4) Zentralbl. f. Gyn. 1905, No. 40, S. 1206.
5) Zentralbl. f. Gyn. 1905, No. 25. Arch. f. Gyn., Bd. 78, H. 1, S. 52.
8) Zentralbl. f. Gyn. 1905, No. 36, S. 1102.
7) Verhandlungen d. XI. deutschen gyn. Kongr. u. Monatsschr.
f. Geb. u. Gyn., Bd. 23, No. 3 1906.
8) Zentralbl. f. Gyn. 1906, No. 3.
1
994
burt mit lebendem Kind muss aufgegeben werden. Es wird daher der
Krebsenden die Hebotomie vorgeschlagen, die angenommen wird
Ausführung der Operation in der geschilderten Weise. Massige
lutung, die auf Tamponade stand. Nunmehr wurde an dem hoch¬
stehenden Kopf die Zange angelegt, die Entwicklung des leicht asphvk-
tischen Kindes (50 cm lang, 3050 g schwer, Umfang 33,5:35 5 cm
klein, quer. 9, gross, quer. 10 cm) gelang ohne Schwierigkeit Rechts
an der Klitoris entstand ein kleiner Riss, der umstochen wurde. Nach¬
geburtsperiode ohne Störung. Breite Gummibinde um das Becken
zur Fixation. Nach dem Erwachen aus der Narkose klagt Patientin
beSrn sofcheQegend der Mebotümiew"'«ie, auch über dem
erhöh?1 M07her„bet? War in den ers,en 2 Tagen die Temperatur leicht
erhöht 38,2, sonst normale Temperaturen, desgleichen der Puls
Urmentleerung stets spontan, ohne Blutbeimengung. In den ersten
lagen waren die Schmerzen im rechten Bein (Seite der Hebotomie)
ziemlich beträchtlich. Das rechte grosse Labium schwoll im Verlauf
df,r 3 1 a&e odematös zur Grösse eines Gänseeies an, ging dann
allmählich spontan zuruck. Die Inzisionswunden verheilten' glatt
dpr S"7lb‘nde;die iTage liegen blieb> hatte durch Verhinderung
t Hautausdunstung Ekzem der Haut hervorgerufen. Am 23. Tage
nach der Operation Aufstehen; das Gehen, anfänglich etwas schmerz¬
haft, geht in den folgenden Tagen ohne jede Störung
o- db^Che" na^h der Operation stellt sich Patientin wieder vor.
i?nn benndet sich vollständig wohl, das Kind, das in der Anstalt bereits
oOU g zugenommen hatte, war um weitere 1000 schwerer geworden
Vom Becken wurde eine Rontgenphotographie angelegt, an der man
erkennen kann, dass auch nach 10 Wochen die Verbindung de?
auch nTchi S JdetbhateSeWebllCh ‘S‘ Und Ci" k"Öctler,,er Kallus sich
Die Messung der Conj. diagon., die vor der Operation 9 cm be-
tragcn hatte, ergab nunmehr etwas über 10 cm, so dass daraus auf eine
bleibende Erweiterung des Beckens geschlossen werden darf Auch
Mes s imgsT e hl e m! s f a u sge s c h lo s s e n S ° ° ^ C gemaCht’ ein
|pici.,NaCf Ui? ter^UChung 8Vs Monate nach der Hebotomie. Pat. ist voll
Heben schwfrp^PP Stunden.lang ohne Schmerzen gehen. Nur beim
u - , iegenstande verspürt sie etwas Schmerzen an der
Tieyunde.und hinten in der Articulatio sacroiliaca. Palpa-
t risch lasst sich feststellen, dass an der vorderen Seite des Knochens
besLT’6 Dermal hU/Ch5’ ^ der bint®ren dagegen ein kleiner Wulst
>esteht. Der Kallus ist gegen Druck leicht empfindlich. Bei der
Untersuchung der stehenden Pa¬
tientin fühlt man bei abwechseln¬
der Belastung der Beine deutlich
eine gewisse Beweglichkeit und
zwar verschieben sich dabei die
beiden Knochen etwa 1 — 2 mm
gegeneinander. Es besteht also
noch nach mehr als 8 Monaten
eine typische Pseudarthrose. Conj.
d(ag\.zu 10>25 cm gemessen. Gra-
p. , vidität von 2 Monaten. Eine er-
L neute Röntgendurchleuchtung er-
• i • i , T, gibt, dass auch nach 8% Monaten
sich kein knöcherner Kallus gebildet hat. (Fig. I.)
hoi V a,l? Ii'r>!VlaLtina 30 Jabre’ Para, Aufnahme am 26. X 05
hat als Kind Rhachitis durchgemacht. Das 1. Kind musste perforiert
werden. Auch nachher war die Extraktion noch recht schwierig
195PeC ZI SV CG Becken"laf/se: SP- 26- Cr. 26,5, C. ext. 17, sehr!
iy,5, C. diag. 8/4, C. vera auf 6(4 cm geschätzt.
e i, Kreissende wurde von aussen zur Ausführung des Kaiser¬
schnittes eingeliefert. Das Fruchtwasser ist bereits 1(4 Tage ab¬
geflossen, per vaginam wurde wiederholt von der Hebamme unter¬
sucht. Erhöhung der Iemperatur und Puls besteht nicht Die Kreis-
des Beckens / thZfu ^ lebendes Kind. Der Kopf ist oberhalb
Redesen rF Von ^nern sP°ntanen Eintritt kann keine
hnifpn ? ; ° , h der langen Dauer der Geburt und den wieder-
" ,Qeburtska"al voraussichtlich nicht mehr
E zum Kai«?(chn n.H bÜt0m;e.V°rgeSchlaKen' zugleict> aber auch
anes zum Kaiserschnitt vorbereitet, um, wenn das Kind durch erstere
‘ Mgene‘(et *erde" ka""' l^^eren auszuführen.
d, Durchsagun^ weichen die Knochenenden auf 3 cm
auseinander, Blutung etwas stärker, steht auf Tamponade Anlegung
Becken Aohrt de;;; Kopf, der bei ÄzÄ
5 cm *1 -inip ‘ „ri ifn°F-aUf- der entgegengesetzten Seite von etwa
i , t g L|n Linreissen der Hebotomiewunde zu verhüten
Mcm 37snfSn Ltabi,ln' ei" biihnereigrosses Hämatom Kind;'
asphyktfsch, wiedertÄ ' ’’ 35 Cm> kL d"er 8’5’ erosser «»«
i oK- ^IT1 BaJde des ersten 1 ages wird das Hämatom im rechten
Labium noch grosser. Es stellt sich ferner Aufstossen und Meteoris-
JlJf. ani -u age gesellJ s(ch kopiöses Erbrechen, Windverhaltung,
kolikartige Schmerzen im Leib, Pulserhöhung auf 110 — 120 und Tem-
peraturste.gerung auf 38,7« hinzu. Man fühlt durch die Bauchdecken
hindurch eine deutlich geblähte, zeitweise erhärtende Darmschlinge.
,v konnte demnach keinem Zweifel unterliegen, dass es sich um
c u serscheinungen handelt. Aetiologisch kamen zwei Mo-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
mente in Betracht: Kompression einer Darmschlinge durch das
Hamatom, das von der Hebotomiewunde aus nach oben sich ver-
grossernd das Peritoneum vorwölbte. Doch Hess sich bei einer
spateren vaginalen Untersuchung nichts von Resten eines Hämatoms
an den vermuteten Stellen naclnveisen. Wahrscheinlicher war die
Annahme, dass die um das Becken gelegte straffe Gummibinde den
grossen puerperalen Uterus zu stark an die hintere Bauchwand presse
und so eine Darmschlinge komprimiert werde. Nach Lockerung des
Verbandes erfolgten auf Einläufe Abgang von Blähungen und Stuhl¬
gang. Auch v F r a n q u e ö) berichtet über einen Fall, wo es durch
zu testes Anlegen der Gummibinde zu mechanischem Ileus kam.
Im Gegensatz zu allen anderen Pat. klagte diese Frau von An¬
fang an über ausserordentlich grosse Schmerzen im
ganzen rechten Bern (Seite der Hebotomie), die am intensivsten am
nhej?k.e und arn. busus w5ren’ während die Hebotomiestelle
selbst ihr keine ungewöhnlichen Schmerzen verursachte. Auch klagte
sie über Gefühl von P e 1 z i g s e i n im Beine. Die Prüfung des Beines
in den ersten Tagen ergab, dass bis über das Knie herauf volle
Analgesie und Anästhesie bestand und das Bein vollständig
ge I ah mt war, so dass es weder im Knie gebeugt, noch nach innen
konntenSCn r°tiert’ nocb aucb die Zehen und der Fuss bewegt werden
, ,9*?.?®, Erscheinungen besserten sich allmählich; am 5. Tage war
das Gefuhl im ganzen Bein mit Ausnahme des Fusses wiedergekehrt
das Knie konnte gebeugt, die Zehen etwas bewegt werden. Dagegen
bes anden die Schmerzen in der rechten Wade und im rechten Fuss
noch fort, die Haut des Unterschenkels zeigte zeitweise starke
^^sabsonderung gegen Berührung bestand erhöhtes Schmerz-
k mhl. Der Fuss befand sich ständig in Plantarflexion und in Su-
p ,atl™ und Adduktion, (Pes varo-equinus), Dorsalflexion, Pronation
und Abduktion sind willkürlich nicht möglich, gegen passive Be-
Weisungen besteht kein Widerstand. Es handelt sich demnach ■
Lähmung der Unterschenkelmuskulatur im Peroneus- und Tibialis-
Pb‘e ;die l!nt(rir Anwendung von Elektrizität und Massage sich zwar
besserte, jedoch auch bis zum 24. Tage, bis zu dem Pat. im Bette ge¬
halten werden konnte, nicht ganz verschwand. Der Umfang des
rechten Unter- und Oberschenkels bleibt etwas hinter dem linken
.. S; Beim ei7ten Gehversuch verspürt Pat. starke Schmerzen
im Bein kann nicht auftreten und nur mit Unterstützung gehen. In
den nächsten o Tagen bessert sich der Gang zwar allein der Fuss
hinkend* d? Klumpfusstelluns, der Gang unsicher und stark
hinkend, durch Andrucken des Knies an das gesunde Bein sucht Pat
dem paretischen Unterschenkel grösseren Halt zu geben. Die
Knochenenden an der Hebotomiestelle zeigen keine seitliche Ver¬
schiebung, sind gut konsolidiert, an der hinteren Fläche des Knochens
eine leichte Furche, an der vorderen eine Verdickung, wahrschein¬
lich vom Rest des Hämatoms herrührend, zu tasten.
vur,2 r°n drbl.senden Abratens verliess die unverständige Pat. die
Klinik. Das Kind hatte wenig an Gewicht zugenommen.
Zu einer späteren Nachuntersuchung stellte sich Pat. leider nicht
! ueinnHerrtKaisfrL Rat’ Dr. Wendling hatte die Güte, (4 Jahr
nach der Operation, die Frau nochmals zu untersuchen und mir folgen-
den Bericht über ihr Befinden zuzusenden, wofür ich ihm meinen ver¬
bindlichsten Dank aussrpeche: Gutes Allgemeinbefinden; das rechte
S" Zeigt sebr; le.lcbte Ermüdbarkeit beim Gehen, auch bestehen
Schmerzen im Vorderfuss; in der Ruhe Einschlafen des Fusses Am
Ischiadicus entlang, besonders am Oberschenkel Schmerzen. Das
Gehen ist mehr ein Vorwärtsschieben, wobei der rechte Fuss fast
gar nicht gehoben wird. Der rechte Fuss gegenüber dem linken
etwas aber nur etwas atrophisch. Prolapsus vaginae. Rechter
Schambeinast etwas druckempfindlich. Das Kind ist wohl und ge¬
sund; Pat. ist für die Operation dankbar.
Fall III. Anna H., Dienstmädchen, 29 Jahre II Para Auf
nähme am 11. November 1905. ’ 3 a’ Aut
Beckenmasse: Sp. 27, Cr. 29, sehr, je 19,5, Conj. ext. 19, Conj.
d'ag 9 '4, Conj. vera auf 8 cm geschätzt. Körperlänge 154 cm
LPwpuH Schadel'age’ Kopf oberhalb des Beckens, Nabelschnurvor-
all, Wendung und Extraktion des frisch abgestorbenen Kindes (2960 g,
iuontoriimiCm Umtang^ IniPression am rechten Scheitelbein vom Pro-
Beim Einsetzen der Wehen ist der Kopf oberhalb des Beckens-
beim vollständiger erweiterten Muttermund wird die Blase gesprengt’
um den Kopf in Hängelage tiefer hineinzupressen. Der Versuch S
”gt' Aach die.- einsetzenden kräftigen Wehen bringen den Kopf nicht
tiefer. Das Missverhältnis zwischen dem Becken und deni unge-
Hcrz'töne aTif^ts" und hartcn K<>Pfe ist zu gross. Da die kindlichen
Herztöne aut 182 ansteigen, Mekonium sich dem Fruchtwasser bei¬
mengt und die Frau ein lebendes Kind wünscht, wird die Hebotomie
vorgeschlagen und auf der rechten Seite ausgeführt. utootom,e
Nach der Durchsägung wird die Zange an den hochstehenden
Kopf angelegt und der Kopf ohne besondere Schwierigkeiten ent¬
wickelt Rechts in der Mitte der Scheide ein kleiner Riss "edoch
kS ^rpTPn’h^r00 der Hebotomiewunde. Naht derselben,
gedeiht m de?PKllnlk massig?"1' KopM"rcl,raess‘r -M:37 cm-
”) Prager med. Wochenschr. 1905, No. 5 u. 6.
9, Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1995
Die Mutter hat am 4. Tage eine Temperatursteigerung bis auf
39,3 ü, die in den nächsten 3 Tagen zur Norm abfällt. Am rechten
Labium maius tritt ein gänseeigrosses Hämatom auf. Die Haut dar¬
über stark ödematös. Unter Anwendung von Bleiwasserüberschlägen
bildet sich die Schwellung im Laufe einer Woche mehr und mehr
zurück- Wasserlassen spontan, wenn auch anfänglich mit Brennen
verbunden. Nach Abnahme der Gummibinde Anlegen von 2 gekreuzten
Heftpflasterstreifen, die mit je 1 Pfund belastet werden.
Beim ersten Aufstehen am 26. Tage verspürt Pat. starke Schmer¬
zen rechts über der Inzisionsstelle, geht deshalb sofort wieder zu
Bett. Nach 3 weite¬
ren Tagen steht sie
wieder auf und kann
nunmehr ohne jede
Schmerzen oder ohne
zu hinken, gehen.
Das 6 Monate
nach der Operation
aufgenommene Rönt¬
genogramm zeigt
einen 7 mm breiten
hellen Streifen über
Fig. II. der Hebotomiestelle,
also Fehlen jeder Ver¬
knöcherung. (Fig. II)10) Verschiebungen der Knochenenden gegen¬
einander gering, der Gang vorzüglich, auch die schwersten Arbeiten
können verrichtet werden.
Fall IV. Chlothilde P., 29 Jahre, I. Para, aufgenommen am
26. Novemer 1905.
Pat. hat in ihrer Kindheit Rhachitis durchgemacht und das
Laufen sehr spät erlernt. An der hinteren Kommissur einige spitze
Kondylome. Beckenmasse: Sp. 25,5, Cr. 26,5, sehr. 22,5, Conj.
ext. 18,5, C. diag. 10,5, C. vera 9,2 cm (bei der Autopsie gemessen).
Im Beginn der Geburt ist der Kopf oberhalb des Beckens etwas
nach links abgewichen. Lagerung und Fixation des stark beweglichen
Uterus durch eine Leibbinde. Allmählig stellt sich der Kopf unter
andauernd guten Wehen über dem Becken ein, ohne jedoch einzu¬
treten. Die Untersuchung ergibt: I. Schädellage, Muttermund 1-tnark-
stiiekgross, Blase gesprungen, die Geburt rückt trotz kräftiger Wehen
in den nächsten 24 Stunden nicht vorwärts; da aber weder von seiten
der Mutter, noch von seiten des Kindes Gefahr besteht, wird zuge¬
wartet. Die nächstfolgende innere Untersuchung ergibt, dass sich
die Lage des kindlichen Schädels geändert hat. Der Kopf steht im
Beckeneingang in Stirngesichtslage mit Kinn nach hinten und links.
Die vorliegende Wange stark geschwollen, der Muttermund nunmehr
kleinhandtellergross. Die Schmerzhaftigkeit der Wehen wird durch
Verabreichung einer Skopolamin-Morphiuminjektion zu bekämpfen
versucht.
60 Stunden, also 2(4 Tage, nach Beginn der Geburt ist der Stancl
folgender: Gesichtslage (Kinn nach hinten) besteht fort, die Wehen
sind trotz Skopolamin-Morphium tetanisch, der Kontraktionsring steigt
während der Wehe bis fast Nabelhöhle. Kind ist lebend, 110 Herz¬
töne in der Minute, regelmässig, Muttermund ist handtellerweit,
wenig dehnungsfähig. Temperatur und Puls der Mutter zeigen keine
Unregelmässigkeit.
Da bei der starken Dehnung des unteren Uterinsegmentes jeden
Augenblick eine Uterusruptur zu befürchten stand, war schleunigste
Entbindung nötig. Es kann bei der ungünstigen Einstellung des
Kopfes nur zweierlei in Betracht, Perforation des lebenden Kindes
oder Hebotomie.
Die Hebotomie wurde in der gewöhnlichen Weise ausgeführt,
die Knochenenden weichen fast 2 Fingerbreit auseinander. Um die
Zange an den Kopf anlegen zu können, wird mit dem Finger das nach
hinten seitlich stehende Kinn nach links gedrückt und die Zange über
den geraden Durchmesser des kindlichen Schädels angelegt und nun¬
mehr tiefer gezogen, was nach Ueberwindung des Widerstandes des
nicht völlig erweiterten Muttermundes mit einiger Mühe gelang.
Nunmehr wurde die Zange abgenommen und versucht, sie an den
biparietalen Durchmesser anzulegen; doch gelang dies erst, als das
Kinn mit dem Finger nach links und vorne fixiert erhalten und das
rechte Blatt zuerst eingelegt war. Extraktion nach dem Mechanismus
der Gesichtslage. Bei Hinaufführen der Hand quoll vom Kopf vorbei
dickes, eitriges, übelriechendes Sekret, das extrahierte Kind sowie
die Plazenta verbreiteten einen aashaften Geruch. Aus dem Uterus
Hessen sich neben Bluf einige Gasblasen ausdrücken. Merkwürdiger¬
weise war vorher von einer Tympania uteri und anderen Anzeichen
einer bestehenden Infektion, speziell im Verhalten von Puls und
T emperatur, nichts festzustellen.
Das Kind, ein Mädchen von 48 cm Länge und 3200 g Schwere
und einem Kopfumfang von 34 bezw. 35 cm, war tief asphyktisch,
hatte auch reichlich von dem übelriechenden Inhalt des Uteruskavums
aspiriert, konnte jedoch auffallenderweise wiederbelebt werden und
10) Die Photographien verdanke ich der Güte des Herrn Kollegen
Grashey, der sie im Röntgeninstitut der chirurgischen Klinik auf¬
nahm. Die Figuren sind durch abpausep von der Röntgenplatte
gewonnen.
blieb, was noch mehr auffiel, am Leben. In den zwei ersten Tagen
war die Atmung noch von bronchitischen Geräuschen begleitet, doch
auch diese verschwanden symptomlos und das Kind gedieh vorzüg¬
lich bis zu seiner Entlassung am 24. Tage. Vom weiteren Schicksal
wurde mir nichts mehr bekannt.
Bei der Mutter war vielleicht schon gleich nach der Durch-
sägung, sicher jedoch bei der Extraktion, ein Scheidenriss von etwa
3 — 4 cm Länge über der Hebotomiestelle entstanden, so dass eine
Kommunikation zwischen Scheide und Knochenwunde bestand und
die Knochenenden in der Wunde deutlich zu fühlen waren. Das peri¬
phere Ende stand etwas tiefer. Es wurden mehrere Lysol- und
Alkoholspülungen (50 proz.) zur Desinfektion des Gebärschlauches ge¬
macht, die klaffende Wunde mit mehreren Katgutnähten vereinigt und
das Becken durch eine Gummibinde fixiert. Bereits am zweiten Tage
des Wochenbettes Temperatur 39,6, Puls 120. Meteorismus, leichtes
Oedem der Labien. Injektion von 40 ccm Antistreptokokkenserum
Aronson. Am nächsten Tage Schüttelfrost, sehr übelriechendes
Lochialsekret, ungewöhnliche Druckempfindlichkeit über der Hebo-
tomiewunde. Haut darüber etwas infiltriert. Auch der Uterus ist
schmerzhaft, Meteorismus, septische Zunge. Entfernung der Gummi¬
binde. Da eine Vereiterung des an der Hebotomiewunde entstandenen
Hämatoms neben allgemeinseptischen Erscheinungen angenommen
wird, wird vorsichtig touchiert, die Nähte der Scheidenwunde ge¬
löst gefunden und die Scheide mit der Hebotomiewunde in Ver¬
bindung, so dass eine Retention von Sekret an der Stelle nicht statt¬
finden kann.
Am nächsten Tage hat sich die Infiltration über der Hebotomie¬
wunde entlang dem rechten P o u p a r t sehen Bande fortgesetzt und
nimmt rapid an Umfang zu. Deutliches Knistern über der Partie, die
Haut gerötet, die Probepunktion ergibt blutiges schwärzliches Serum.
Die vorbereitete Inzision wird unterlassen, da Patientin vollständig
verfallen. Alsbald Exitus.
Sektion (Prof. Diirck): Schwere allgemeine jauchige
Phlegmone der rechtsseitigen Bauchdecken, Zerreissung der rechten
Scheidenwand, jauchige diphtheroide Endometritis, beginnende fort¬
geleitete Pelveoperitonitis. Milztumor, Degeneration der Leber und
Nieren.
Fall V. Therese F., 30 Jahre, V. Para. Aufnahme 3. I. 06.
Bei der 1. Geburt: Perforation. 2. Geburt: Wendungsversuch und
Dekapitation. 3. Geburt: Perforation. 4. Geburt: Kaiserschnitt in
der Klinik, doch kam die Kreissende erst sehr spät in die Anstalt,
so dass nur ein tiefasphyktisches Kind entwickelt werden konnte,
das zwar wieder belebt wurde, jedoch bereits 3 Tage darauf starb.
Beckenmasse: Sp. 24, Cr. 26,5, Conj. ext. 18, sehr. 22, Conj. diag.
9,5 cm, Conj. vera auf 7°/» cm geschätzt.
Die Frau kommt zu Beginn der Geburt in die Klinik und wünscht
dringend ein lebendes Kind. Nach .10 stündiger Wehentätigkeit und
vollständiger Eröffnung des Muttermundes wird die Hebotomie auf der
rechten Seite ausgeführt. Die D ö d e r 1 e i n sehe Führungsnadel
wurde diesmal von unten nach oben durchgeführt; die Blutung war
dabei eher stärker als sonst, stand jedoch auf Tomponade. Der hoch¬
stehende Kopf wurde mit der Zange langsam in das Becken gezogen,
sodann die Zange, die bisher im geraden Durchmesser des kindlichen
Schädels lag, abgenommen und an dem queren angelegt und ein leicht
asphyktisches Kind extrahiert (51 cm lang und 3000 g schwer, Kopf¬
umfänge 33,5:35 cm, klein, quer 8, gross, quer 9 Vs cm, gedeiht in der
Folge sehr gut). Rechts in der Scheide ein Riss, der jedoch mit der
Hebotomiewunde nicht kommuniziert. Vernähung desselben. Gummi¬
binde.
Rechtes Labium etwas geschwollen. In den ersten Tagen war
der Katheter notwendig. Keine Blutbeimengung zum Urin. Ganz
fieberloses Wochenbett. Reaktionslose Heilung der kleinen Inzisions¬
wunden. Am 24. Tage steht sie auf, keine Schmerzen beim Auf¬
treten, sicherer Gang. Die beiden Knochenenden sind ohne seitliche
Dislokation zusammengeheilt, zwischen ihnen ist ein fingerbreiter
Kallus.
Die Nachuntersuchung, 4 Monate nach der Operation, ergab: An
der äusseren Fläche des Knochens noch eine Furche, an der Innen¬
fläche fehlt sie. Kallus nicht druckempfindlich. Conj. diag. 10 cm,
also Va cm mehr als vor der Operation. Bei wechselnder Belastung
der Beine in stehender Stellung verschieben sich die Knochenenden
auf 2 mm gegeneinander. Pat. gibt an, dass sie ihre Hausarbeit ohne
Beschwerden verrichtet, dass sie dagegen schwerere Arbeit noch nicht
leisten kann, auch habe sie bei längerem Gehen Schmerzen in der
Hebotomiestelle.
Fall VI. Christine St., 29 Jahre, IV. Para. Aufnahme 3. II. 06.
1. Geburt: Forzeps, Kind schwer asphyktisch, nicht wieder belebt.
2. Geburt: Wendung, totes Kind. 3. Geburt: Künstliche Frühgeburt,
Wendung in der Klinik im Sept. 1904, Kind 44 cm lang, stirbt nach
3 Tagen.
Die Parturiens kommt in die Klinik, nachdem sie draussen bereits
1 Tag lang Wehen gehabt hat und wiederholt von der Hebamme unter¬
sucht ist. Kind in II. Schädellage, Blase gesprungen, Muttermund
vollständig erweitert, Pfeilnaht quer verlaufend, etwas mehr der Sym¬
physe genähert (leichte Hinterbeinscheiteleinstellung), Kopf oberhalb
des Beckens, etwas verschieblich. Conj. diag. 9,5 cm, Conj. vera auf
7,5 — 8 cm geschätzt. Kopf zeigt trotz sehr guter Wehen keine Ten-
1*
1996
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
denz. tiefer zu treten. Da die Frau ein lebendes Kind wünscht, wird
auf der rechten Seite die Hebotomie in der gleichen Weise wie früher
ausgeführt. Die Knochenenden weichen nach der Durchsägung fast
zweifingerbreit auseinander und zwar mit einem deutlichen Ruck. Die
Blutung ist nur sehr gering und steht bald auf Tamponade. Da keine
Indikation zur sofortigen Entbindung bestand, wurde der weitere Ver¬
lauf der Geburt abgewartet, die kleinen Hautwunden vernäht, gegen
das rechte grosse Labium zur Vermeidung der Hämatombildung
Jodoformgaze angedrückt und mit Heftpflaster fixiert und durch Um¬
legen einer Gummibinde um das Becken ein zu weites Klaffen der
Knochenenden zu vermeiden gesucht.
Alsbald nach dem Erwachen aus der Narkose setzen wieder die
Wehen ein; Patientin gibt an, dass die Schmerzen weniger stark als
vor der Operation seien und dass der Zustand erträglicher ist. Ueber
Schmerzen an der Hebotomiewunde wird nicht geklagt. Der Kopf
tritt tiefer; nunmehr werden jedoch die kindlichen Herztöne, die bis¬
her regelmässig gewesen, langsamer; der Versuch, durch den Kri¬
steller sehen Handgriff den Austritt des Kindes zu beschleunigen,
misslingt, und es muss daher, um das Kind zu retten, noch die Zange
an den Kopf, der sich in regelmässiger Weise eingestellt hatte (Pfeil¬
naht in schrägem Durchmesser), angelegt werden. Es wurde ein
kräftiges, 51 cm langes und 3680 g schweres (Umfänge 33:36 cm,
klein, quer 9, gross, quer 9,5 cm), leicht asphyktisches Kind zutage
gefördert, das alsbald kräftig schreit und in der Folge gut gedieh.
Keine Verletzung der Scheide, ungestörte Nachgeburtsperiode.
Die Wöchnerin konnte am ersten Tage den Urin nicht spontan
entleeren; der mit dem Katheter entleerte Urin enthielt Blut, das
Gleiche auch am 2. Tage. Da nach den Berichten aus der Literatur
Blutbeimengung im Harn in den ersten Tagen häufiger vorkommt,
ohne dass sich bei der nachträglichen zystoskopischen Untersuchung
Einrisse in der Blase feststellen liessen, wurde dem Ereignis keine
besondere Bedeutung beigelegt. Auch der am 3. bis 6. Tage spontan
entleerte Harn zeigte noch leichte blutige Beschaffenheit, später wies
der Urin zystitische Trübung auf, die mit reichlicher Flüssigkeits¬
zufuhr (Wildunger Wasser) und Urotropin und in der 2. Woche durch
Blasenspülungen mit Borsäure bekämpft wurde.
Die Schwellung des rechten grossen Labiuins, die im weiteren
Verlauf der Geburt aufgetreten war, bildete sich in den nächsten Tagen
langsam zurück, am 3. Tage trat Temperatursteigerung bis 39,1° auf,
die in den folgenden 3 Tagen allmählich zur Norm sank. Weiterhin
zeigte sich mit Ausnahme der zystitischen Erscheinungen keine Störung
in der Rekonvaleszenz, am 20. Tage stand die Wöchnerin auf, klagte
beim Gehen über geringe Schmerzen in der Gegend der Hebotomie¬
wunde. Die kleinen Einstichwunden sind reaktionslos verheilt, an der
Durchsägungsstelle ist aussen eine deutliche Verdickung, nach innen
zu ragt kein Kallus über das Niveau empor; eine Verschieblichkeit
der Knochenenden gegeneinander besteht nicht. Gang ungestört.
Von grossem Interesse ist die zystoskopische Untersuchung.
Die Gefässe der Blasenschleimhaut sind verdickt und erweitert, die
Zwischenräume ohne Besonderheiten. Die beiden Ureteren funk¬
tionieren tadellos. An der Vorderwand der Blase rechts unmittelbar
an dem Harnröhrenabgang, mit breiterer Basis beginnend, sieht man
einen mindestens 3 cm langen, scharfrandigen Spalt von keilförmiger
Gestalt, der nach oben und rechts spitzwinklig endigt. Die unmittel¬
bare Umgebung des Spaltes zeigt bullöses Oedem, die Ränder sind
teilweise mit weisslichen Flocken besetzt. Durch den Spalt sieht
man bei richtiger Einstellung des Zystoskops in die Tiefe eines Diver¬
tikels, dessen. Wände unregelmässig gebaut ^ind, rötliche Farbe
zeigen, teilweise mit Flocken bedeckt £ind. Bringt man das Lämp¬
chen des Zystoskops selbst in den Spalt, so leuchtet die Haut über
dem Schambeinknochen ungefähr in der Gegend der Hebotomiestelle
und die nächste Umgebung nach oben zu in hellrotem Schein auf.
Auf der linken Seite fehlt dieses Phänomen. Bei der Betastung dieser
Partie von aussen fühlt man deutliches Knistern; es hat sich etwas
Luft in der Ausbuchtung angesammelt. Das zystoskopische Bild war
auf den ersten Blick so, dass man zunächst an einen Fremdkörper
denken musste. Die angeführten Punkte und die Möglichkeit, die
Fiöhle direkt abzuleuchten, lassen jedoch eine andere Deutung als die
gegebene nicht zu.
Die Verletzung der Blase kann auf zweierlei Weise zustande ge¬
kommen sein. Erstens kann sie beim Durchführen der Döderlein-
schen Umstechungsnadel
bezw. beim Durchsägen
passiert sein. Für die An¬
nahme spricht der Sitz und
das zystoskopische Bild
der Verletzung. Es be¬
stünde dann die interes¬
sante Tatsache, dass die
Verheilung der Knochen¬
enden trotz der Kommuni¬
kation mit der Blase und
der fortwährenden Bespü-
lung mit Harn in regelmässiger Weise erfolgt ist und normale Geh¬
fähigkeit eintrat. Es ist zweitens möglich, dass die Verletzung
erst sekundär beim Tiefertreten des Kopfes oder dessen Extraktion
mit der Zange eingetreten, und dass der Riss bis nahe an die Hebo¬
tomiewunde heranging, ohne jedoch mit ihr direkt zu kommunizieren.
\
Fig. III.
Bei der Nachuntersuchung 4 Monate nach der Operation gibt
Patientin an, dass sie keine Beschwerden hat, dass sie ihrer Arbeit
nachgehen und stundenlang gehen kann. Zeitweise jedoch — sie
meint hauptsächlich nach Erkältungen — leide sie an Schmerzen über
der Operationsstelle und über der Blase. Bei wechselnder Belastung
der Beine verschieben sich die Knochenenden ziemlich stark gegen¬
einander. An der oberen Partie der Hebotomiewunde ist eine fast
hühnereigrosse, derbe Prominenz, die auf der Röntgenplatte hell er¬
scheint, also nicht aus Knochengewebe besteht. (Fig. III.)
(Schluss folgt.)
Aus dem hygienischen Institut der Universität Halle
(Qeheimrat Prof. Dr. C. Frankel).
Ueber das Verhalten der Agglutinine im passiv
immunisierten Organismus.
Von Dr. Manteufel, früherem Assistenten des Instituts.
Die Frage nach den Ursachen, die das relativ rasche Ver¬
schwinden der Bakterienantikörper aus dem passiv immunisier¬
ten Organismus bedingen, hat bereits von verschiedenen Seiten
Bearbeitung erfahren. Als praktisch wichtig ist daraufhin zu¬
nächst das Antitoxin des Diphtherie- und Tetanus¬
heilserums untersucht worden. Dabei konnten v. Behring1)
und seine Mitarbeiter R a n s o m 2 *) und K i t a s c h i m a :t) fest¬
stellen, dass keine nachweisbaren Mengen desselben den Kör¬
per auf dem Wege der Exkretion verliessen. Kraus und
Eisen berg4) erbrachten dann weiter den Beweis, dass
durch die Einverleibung von Antitoxin im tierischen Organis¬
mus keine Gegenreaktion ausgelöst würde, die das Ver¬
schwinden der Giftimmunität durch Bindung an Anti-Antitoxine
erklären könnte. Schliesslich gelang es in einer 1904 er¬
schienenen Arbeit Dehne und Hamburger5 *), zu zeigen,
dass das Schwinden des Tetanusantitoxins aus dem Blut mit
Tetanusheilserum geimpfter Kaninchen zeitlich mit dem Auf¬
treten der für das gleichzeitig eingeführte Arteiweiss (in
unserem Falle Pferdeserum) spezifischen Präzipitinreaktion zu-
sammenfällt und wahrscheinlich dadurch bedingt wird. Die
Ergebnisse dieser beiden Autoren wurden dann durch Tier¬
versuche von Sacharoff0) auch auf das Diphtherieantitoxin
ausgedehnt, und es kann damit als feststehend gelten, dass i m
lebenden Organismus Antitoxin durch eine
dabei gleichzeitig anftretende Präzipitin¬
reaktion zie lm lieh bald dem Nachweis ent¬
zogen wird. Wenn dagegen das antitoxische
Serum einer homologen Tierart einverleibt
wird, so tritt eine Präzipitinreaktion nicht
auf, und die passive G i f t i m m u n i t ä t ist dem¬
entsprechend länger nachzuweisen.
Was das bezügliche Verhalten der A m b o z e p t o r e n
in der Blutbahn des passiv immunisierten Tierkörpers anlangt,
so zeigten zuerst Pfeiffer und Friedberger7), dass
hier im Falle einer passiven Immunisierung
ein die Immunkörperwirkung aufhebender
Antiambozeptor gebildet wird, der, wie
Wassermann und Bruck8 9) bewiesen haben, von
der Präzipitin reaktion unabhängig ist und
zur Erklärung für die kurze Dauer der bak¬
teriziden Immunität heran gezogen werden
kann.
Betreffs der Agglutinine verdanken wir Kraus
und Eisen berg“) den Nachweis, dass sie bei pas¬
siver Immunisierung, ebensowenig wie die Antitoxine, Anti¬
körper (Antiagglutinine) zu bilden imstande sind, die ihr rasches
Verschwinden aus der Blutbahn erklären könnten; dagegen
glaubt Kraus in einer mit P r i b r a m "’) zusammen ver¬
öffentlichten Arbeit, in der gezeigt wird, dass Präzipi-
U Allg. Therapie d. Infektionskrankheiten 1899
-) Journ. of Pathol. and Bact. 1899.
:|) Berlin, klin. Wochenschr. 1901.
4) Zentralbl. f. Bakt. 1902.
5) Wien. klin. Wochenschr. 1904.
c) Zentralbl. f. Bakt. 1905.
7) Zentralbl. f. Bakt. 1904, Bd. 37.
8) Zeitschr. f. Hyg. 1905.
9) Zentralbl. f. Bakt. 1902.
ln) Zentralbl. f. Bakt. 1905.
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1997
tinzusatz zu stärkeren Verdünnungen agglu¬
tinierender Sera oder Präzipitine im Ueber-
schuss konzentriertem agglutinierendem
Serum beigemischt, unter Umständen Beeinträchtigung
und sogar völligen Schwund der Agglutininwirkung hervor-
rufen kann, den Beweis erbracht zu haben, dass auch in der
Blutbahn des passiv immunisierten Tieres die Beseitigung der
Agglutinine durch das Auftreten der infolge gleichzeitiger Ein¬
verleibung artfremden Eiweisses ausgelösten Präzipitinreaktion
bedingt sei.
Den Anlass zu meinen eigenen Versuchen gab eine ge¬
legentliche Beobachtung, dass ein nach wiederholter intraperi¬
tonealer Injektion von agglutinierendem Hammel-Typhusserum
(Agglutinationstiter Vioooo für unseren Sammlungsstamm Gelsen¬
kirchen) von einem Kaninchen erhaltenes Serum gleich¬
zeitig kräftige Präzipitation gegenüber nor¬
malem Hammelserum (0,5 S + 0,5 HS [Vsoo] = dicker
Niederschlag !) und Agglutination gegenüber dem
Stamm Gelsenkirchen zeigte. O/200 = deutliche
Agglutination.) Obschon das Serum 8 Tage nach der letzten
Injektion von ca. 10 ccm Typhus-Hammelserum gewonnen
worden war und schon vor der letzten Injektion kräftige Präzi¬
pitinreaktion auf Hammelserum zeigte, war also innerhalb der
nächsten 8 Tage keine Beseitigung der eingeführten Agglutinine
zustande gekommen. Da die Versuchsbedingungen in diesem
Falle theoretisch den Reagenzglasversuchen von Kraus und
P r i b r a m entsprachen, insofern als das präzipitierende Serum
(das Serum des Kaninchens) gegenüber der präzipitablen Sub¬
stanz (das zuletzt eingespritzte Hammel-Typhusserum
— 10 ccm) bedeutend im Ueberschuss war, eine An¬
ordnung, bei der die beiden erwähnten Forscher gleichzeitig
Präzipitation und Agglutininbeseitigung erhalten hatten, so er¬
gibt sich für unseren Fall ein Widerspruch zwischen den
Reagenzglasversuchen und den Verhältnissen im kreisenden
Blute. Man könnte zur Erklärung dieser Erscheinung geltend
machen, dass der Vorgang der Präzipitation im lebenden Or¬
ganismus aller Wahrscheinlichkeit nach nicht eintritt und des¬
halb auch kein Agglutininschwund hervorgerufen wird. Indes
kann nach Kraus und Pribram diese Erklärung nicht aus¬
reichend sein, da der physikalische Vorgang der Ausflockung
nach ihren Versuchen zum Zustandekommen der Agglutinin¬
bindung nicht unbedingt notwendig sein soll; die Verbindung
Präzipitin — präzipitable Substanz kommt aber im Blute ebenso
wie im Reagenzglas zustande, und das genügt angeblich, um
Agglutinin zu binden.
Aus Untersuchungen von Jörgensen und M a d s e n
sowie von Kraus und Joachim11) geht wohl hervor, dass
die Agglutinine verhältnismässig rasch aus dem passiv im¬
munisierten Organismus verschwinden, doch lassen sie keine
sichere Deutung auf die Abhängigkeit des Verhaltens von der
Wahl eines homologen oder heterologen Impftieres zu.
Unter diesen Umständen schienen mir Tierversuche am
Platze zu sein, um das Verhalten der Agglutinine im passiv
immunisierten Organismus, insonderheit die Abhängigkeit des
Agglutiningehalts von der Präzipitinreaktion einer Prüfung zu
unterziehen. Soweit ich die Literatur übersehen kann, sind der¬
artige Versuche noch nicht veröffentlicht worden.
Die Versuchsanordnung, deren ich mich bediente, ist die¬
selbe, wie sie Dehne und Hamburger12) benützten, um
die Abhängigkeit der Antitoxine von der Präzipitinreaktion zu
studieren. Als Versuchstiere verwendete ich Kaninchen, denen
Typhus- und Choleraimmunsera von hohem Agglutinationswert
intravenös injiziert wurden. Kurz vor der Impfung und in
bestimmten Zeitabständen danach wurden jedesmal aus der
Ohrvene des geimpften Tieres einige Kubikzentimeter^ Blut
entnommen und 1. auf den Agglutiningehalt, 2. auf den Gehalt
an Eiweiss der Tierart, die das eingespritzte Immunserum ge¬
liefert hatte, und 3. auf Präzipitinwirkung gegenüber dem ein¬
verleibten Tierserum geprüft. Als Reagenz bei der Agglutinin¬
prüfung wurden immer ca. 20 stiindige Agarkulturen des
Typhusstammes ,, Gelsenkirchen“ bezw. des Cholerastammes
„El Tor“ benützt, beides Stämme, mit denen auch die zur Imp-
u) Wiener klin. Wochenschr. 1903.
12) a. a. O.
fung benützten Immunsera erzeugt worden waren, und
die beide sehr leicht agglutinabel sind. Zur Prü¬
fung auf den Gehalt an Eiweiss der Tierart, die das Immun¬
serum gespendet hatte, diente ein ebenfalls an Kaninchen durch
Vorbehandlung mit normalem Serum der betreffen¬
den Art (Hammel) gewonnenes präzipitierendes Serum, in den
Protokollen kurz Antiserum genannt11)- Dabei diente also das
Serum des zu prüfenden Kaninchens als präzipitable Substanz.
Bei der dritten Prüfung dagegen wurde das Serum des zu
prüfenden Kaninchens als präzipitierendes verwendet und nor¬
males Serum der Tierart, die das Immunserum geliefert hatte,
als präzipitable Substanz hinzugefügt. Die Agglutinations-
prüfung wurde regelmässig makroskopisch im Reagenzglase
gemacht und nach 18 — 24 Stunden bei Tageslicht mit Zuhilfe¬
nahme ein und derselben Lupe kontrolliert. Bei der Präzipitin¬
versuchen wurden,' soweit es die zur Verfügung stehenden
Serummengen irgend gestatteten, neben konzentrier¬
ten Seren auch Verdünnungen als präzipi¬
table Substanz herangezogen, um Fehler¬
quellen, die durch Hemmung der Präzipitin -
reaktion hervorgerufen werden können, mög¬
lichst zu vermeiden. Die weiteren Einzelheiten der
Versuche sind aus den folgenden Tabellen zu ersehen.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Bei Durchsicht der Tabelle I findet man, dass das mit der
Einspritzung des vom Hammel stammenden Typhusserums in
die Blutbahn des Kaninchens eingebrachte Hammeleiweiss
etwa 10 Tage lang durch Präzipitatbildung mit dem oben er¬
wähnten Antihammelserum deutlich nachweisbar ist; ungefähr
ebensolange lässt sich auch ein gesteigerter Agglutiningehalt
des Kaninchenserums wahrnehmen. Die Präzipitinreaktion da¬
gegen beginnt schon am 6. Tage nach der Impfung erkennbar
zu werden und ist bei der Prüfung am 8. Jage sehr deutlich.
Ein Zusammenhang der Präzipitinreaktion
mit dem Verschwinden der Agglutinine lässt
sich demnach hier kaum konstruieren; viel¬
mehr weisen die für die Agglutination ge¬
fundenen Werte auf ein ganz allmähliches
Schwinden der Agglutinine hin.
Im Versuch II, der ebenfalls mit einem hochwertigen agglu¬
tinierenden Hammel-Typhusserum angestellt ist, lässt sich
Hammeleiweiss am 5. Tage nach der Injektion deutlich und
am 7. noch in Spuren naclnveisen, während der Agglutinin¬
gehalt bei der Prüfung am 5. Tage nach der Injektion
auf die Höhe des vor der Impfung festgestellten Wertes zurück¬
gesunken ist. Die Präzipitinreaktion beginnt hier erst am 7.
Tage erkennbar zu werden und ist am 9. deutlich ausgeprägt.
Ein Abhängigkeitsverhältnis der beiden
fraglichen Werte ist also in diesem Falle
ganzundenkbar.
Aehnlich ist es in dem folgenden Versuch, zu dem ein
Cholera-Hammelserum benutzt worden ist. Auch hier ist be¬
reits bei der Prüfung am 4. Tage in der Verdünnung V20 keine
Agglutination mehr erzielt worden, obwohl sie 2 Tage vorher
noch bei Vigo nachgewiesen worden war, während die Präzi¬
pitinreaktion erst am 8. Tage nach der Impfung in Spuren auf-
tritt. Hammeleiweiss dagegen ist noch am 8. Tage nach der
Impfung mit Hilfe der Präzipitinreaktion nachzuweisen, um
erst dann mit der deutlicher werdenden Präzipitinbildung zu
verschwinden.
Der 4. Versuch schliesslich unterscheidet sich dadurch von
den vorhergehenden, dass zur Einspritzung ein hochwertiges
Choleraserum benutzt wurde, das von einer Ziege stammte.
Als Reagens auf Ziegeneiweiss wurde dabei nicht ein spezi¬
fisches Ziegenantiserum verwendet, sondern das in den vor¬
hergehenden Tabellen angeführte Hammelantiserum, das auch
mit normalem Ziegenserum kräftige Niederschläge gab. Wie
aus JMbelle IV hervorgeht, ist ein gesteigerter Agglutiningehalt
hier nur bis zum 3. Tage nach der Impfung nachzuweisen,
während die Präzipitinreaktion erst am 5. in Spuren und am 7.
deutlich auftritt. Ziegeneiweiss lässt sich ebenso wie in den
13) Ueber die Präzipitationskraft dieses Serums gibt die Formel
Aufschluss: 0,5 AS ~T 0,5 HS (V* — 1/io) Niederschlag.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
[ 998
Tabelle I.
11. X. 05. Kaninchen A, 2500 g, Blut aus Ohrvene entzogen. Darauf 8 ccm Typhusimmunserum vom Hammel intravenös. Agglutinations¬
titer des Hammelimmunserums V«co -R. Die präzipitierende Kraft des zur Prüfung auf Hammeleiweiss benutzten Antihammelserums ergibt
sich aus der Formel: 0,5 AS -R 0,5 HS P/i— 7io) Niederschlag.*)
Prüfung auf Hammeleiweiss. Prüfung auf Hammelpräzipitin.
0,5 AS -R 0,5 S p/i — il io) kein Niederschlag. 0,5 S -|- 0,5 HS P/i — 7«>) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: 72& -4- 7&o 4- Vioo + ? 72oo —
0,5 AS -R 0,5 S p/i) Niederschlag.
0,5 AS -j- 0,5 S P/b) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung:
4--
Serum vom 11. X.
Serum vom 13. X.
Serum vom 15. X.
0,5 S -R 0,5 HS (Vi — 1/io) kein Niederschlag.
V20 i V40 4- V80 4~ Vigo -f- V820 4" 7640 —
Serum vom 17. X.
Serum v o m 19. X.
0,5 AS + 0,5 S p/i) Niederschlag
0,5 AS -f- 0,5 S P/&) Niederschlag , .
0,5 AS -j- 0,5 S (7 10) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung:
0,5 AS -R 0,5 S (70 Niederschlag.
0,5 AS 4- 0,5 S (7b — 710) kein Niederschlag. ^ v (U, „
Agglutinationsprüfung: 1/*o -|- 78» + 1 ieo 4" V82» ±
0,5 AS -|- 0,5 S (70 Niederschlag. 0,5 S -R 0,5 HS p/t— 1
0,5 AS 4- 0,5 S P/b — 7io) kein Niederschlag. Niederschlag!
Agglutinationsprüfung: 720 -R 7*o -R V8» 4- 7ioo +
0,5 S 4- 0,5 HS (7i— 710).
kein Niederschlag.
7*o 4~ 7« 4~ V80 4" Vigo -R i/s2o -R l/&io —
0,5 S -4- 0,5 HS (70 Niederschlag.
0,5 S -R 0,5 HS (7b) kein Niederschlag.
/io).
Serum vom 21. X. 0,5 AS -R 0,5 S (7 1) Niederschlag.
Serum vom 23. X.
Serum vom 25. X.
4" 0, , , ,
0,5 AS -R 0,5 S P/b) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung:
0,5 AS -R 0,5 S (70 Spur.
0,5 AS -R 0,5 S P/&) kein Niederschlag,
Agglutinationsprüfung:
0,5 AS 4" 0,5 S (70 kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung:
0,5 S + 0,5 HS (7i— 7ieo).
Niederschlag!
7io 4- 7 2 0 4“ V*o -R 7 so 4- 7100 +
0,5 S + 0,5 HS (71-7200).
Niederschlag!
7 10 4~ V20 4" 7*o 4" 7so 4 7*60 —
0,5 S -R 0,5 HS p/t— 7&oo) Niederschlag!
1/20 -R 7*0 T 780 -R 1/l60 —
Tabelle II.
6. I. 00. ^ Kaninchen B, 2410 g, ^ Blut aus Ohrvene entzogen. Darauf 6 ccm Typhusserum vom Hammel P/2 St. 56°) intravenös.
' : j - . - ~ kj 1 ypuuööciuiii vum iiaiiiiuci v /* oi. ^ ) iiuiä
Agglutinationstiter des liarrimelimmunserums ‘/ioooo +. Als Antiserum wird das AS des vorigen Versuches benützt.
Prüfung auf Hammeleiweiss: Prüfung auf Hammelpräzipitin:
0,5 AS -R 0,5 S p/i — 7&) kein Niederschlag. 0,5 S -R 0,5 HS p/i) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: 726 4- 7 &o 4- 7100 —
0,5 AS -R 0,5 S p/i) Niederschlag. 0,5 S -R 0,5 HS (7 1 — 7&) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: V&o -R 7 100 4- 7200 -R 4/mo —
Fehlt.
0,5 AS 4- 0,5 S p/i — 7b) N i e d e r s c h 1 a g. 0,5 S -R 0,5 HS p/i — 7&) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: 72s -R 4/bo 4~ Vioo —
0,5 AS 4- 0,5 S P/i— 7b) Spur Niederschlag. 0,5 S -R 0,5 HS P/i) kein Niederschlag.
0,5 S 4- Q,5 HS P/b) Spur Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: 72 b -R 7&o ± 4/oo —
0,5 AS -R 0,5 S kein Niederschlag. 0,5 S -R 0,5 HS (7i) kein Niederschlag.
0,5 S -R 0,5 HS (7b) Niederschlag.
Serum vom 6. I.
Serum vom 7. I.
Serum vom 9. I.
Serum vom 11. I.
Serum vom 13. I.
Serum vom 16. I.
T a b e 1 e III.
25. X. 05. Kaninchen C, 1950 g, Blut aus Ohrvene entzogen. Darauf 5 ccm Choleraserum (0,2 Proz. Karbolsäure enthaltend) vom
Hammel intravenös. Agglutinationstiter des Hammelimmunserums 74°oo i Das gleiche Antiserum wie in Versuch I.
P/üfung auf Hammeleiweiss: Prüfung auf Hammelpräzipitin:
0,5 AS -R 0,5 S (7» ■ 7 b) kein Niederschlag. 0,5 S -R 0,5 HS p/i — 710) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: iJb ± i/io — 720 — 7*o —
0,5 AS 4- 0,5 S (7 1 — 710) Niederschlag. 0,5 S + 0,5 HS P/i — 7&) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: 720 -R 7*0 -R 1/so -R Vieo ± 7320 —
0,5 AS -R 0,5 S P/i — 710) Niederschlag 0,5 S -R 0,5 HS p/ 1 — 7&) kein Niederschlag.
Serum vom 25. X.
Serum vom 27. X.
Serum vom 29. X.
Serum vom 31. X.
Serum vom 2. XI.
Agglutinatioasprüfung: 720 — 740 — ‘/so — 1im —
Serum vom 6. XI.
0,5 AS -R 0,5 S p/i — 7b) Niederschlag.
Agglutinationsprüfung:
0,5 AS -R 0,5 S p/ 1) Niederschlag.
0,5 AS -R 0,5 S P/b) Spur.
Agglutinationsprüfung:
0,5 AS -R 0,5 S (7 1) Spur.
0,5 AS -R 0,5 S P/b) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: 720 — 740 — 7«o
0,5 S R 0 HS p/i — 7b) kein Niederschlag.
4/20 — 740 -
0,5 S -R 0,5 HS P/i) kein Niederschlag.
0,5 S 4* 0,5 HS P/b) Niederschlag.
720 — 7*0 —
0,5 S -R 0,5 HS (7 1 — 7io) Niederschlag.
Tabelle IV.
m;,°6HPcK7ninChen 2380 g BI?f aus 0hrY®ne entzogen. Darauf 10 ccm Choleraserum von der Ziege p/t Std. 56<>) intravenös. Agglutinations-
uicr ües Ziegenimmunserums 710000 ±. Als Reagenz auf Ziegeneiweiss wurde das gewöhnlich benützte Antihammelserum verwendet, das
mit Ziegenserum in den Verdünnungen 71—710 ein kräftiges Präzipitat bab.
n c B»re' ^iU oUi, z»es^neiweiss- Prüfung auf Ziegenpräzipitin:
0,5 AS 4- 0,5 S P/i— ■ 7b) kein Niederschlag. 0,5 S -R 0,5 ZS p/i— 7b) kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: 728 + 7bo —
0,5 AS -R 0,5 S p/i 77 Spur. 0,5 S -R 0,5 ZS (i/i) kein Niederschlag.
Agglutinationstprüfung: 7&o + 71«» 4- 72oo —
ni a! t n’c I S1W U1 °-5 s + 0,5 ZS p/i) kein Niederschlag.
0,5 AS -R 0,5 S (7b) Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: 726 -R 1/bo -R 7ioo —
0,5 AS -R 0,5 S (/7i — 7&) Niederschlag. 0,5 S -R 0,5 ZS P/i) kein Niederschlag.
0,5 S -R 0,5 ZS (7&) Spur.
Agglutinations prüfung: 728 + 7&o —
0,5 AS 4- 5 S Spur Niederschlag. 0,5 S -R 0,5 ZS p/i) Spur.
0,5 S -R 0,5 ZS (1/b) Niederschlag.
Agglutinationsprüfung: 4/2b + 7bo —
n'- M t n’r I R/1? SPur‘ T 0,5 S -R 0,5 ZS P/i) Niederschlag.
_ 0,5 AS 4- 0,5 S P/b) kein Niederschlag.
tierendes^irum611 H^u^ZS^Norl IpT ^erum ,de" gePr^en Kaninchens, AS = Antiserum d. h. Hammel- bezw. Ziegeneiweiss präzipi-
tierenües herum, ns u. ZS — Normales Hammel- bezw. Ziegenserum. ± = Grenzwert -R = deutlich -1 I- = sehr dentlirh Hip in
Klammern stehenden Bruchzahlen bezeichnen Verdünnungen des unmittelbar davor genannten Serums und zttr 71 = unvSdünnt
Serum vom 6. I.
Serum vom 7. I.
Serum vom 9. I.
Serum vom 11. I.
Serum vom 13. I.
Serum vom 16. I.
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
1999
Tabelle V.
27. 10. 05. Kaninchen A, mit Typhusserum vom Hammel vorbehandelt, erhält 5 ccm Typhushammelserum intravenös. (Agglutinationstiter
des Hammelimmunserums '/sooo +.)
Serum vom 25. X.
Serum vom 28. X.
Serum vom 1. XI.
Serum vom 3. XI.
Prüfung auf Hammeleiweis s.
0,5 AS -f 0,5 S (V0 kein Niederschlag.
Agglutinationsprüfung:
0,5 AS -f 0,5 S (l/i — Vs) Niederschlag.
Agglutinationsprüfung:
0,5 AS + 0,5 S (l/i— 1/b) Niederschlag.
Agglutinationsprüfung:
0,5 AS + 0,5 S (Vi— V&) Niederschlag.
Agglutinationsprüfung:
7»> +
720 4-
7ao 4"
720 4-
Prüfung auf Hammelpräzipitin.
0,5 S 4- 0,5 HS (7i— 7boo) Niederschlag.
1Ao 4~ 780 i 1/160 —
0,5 S 4- 0,5 HS (7i — 7«oo) Niederschlag.
7*0 -f-7s0 4" 1 / 160 + 7**° -
0,5 S 4- 0,5 HS (7i— V&oo) Niederschlag.
7*o 4" 7 so 4- 1/iso + 78i0 —
0,5 S 4- 0,5 HS 0/1 — L/soo) Niederschlag.
7*o 4" 780 i V180 —
vom Kaninchen intravenös (Agglutinationstiter des
Tabelle VI.
31. 10. 05. Kaninchen E, Blut aus der Ohrvene entzogen. Darauf 6 ccm Typhusserum
Kaninchenimmunserums 72000 +.)
Serum vom 31. X. Agglutinationsprüfung: , . — . ..
1. xi. _ 725 + 7&° 4- 7io° + 7200 4“ 7 500 ± V1000
” *3. xi. „ 725 + 7^o 4- 7wo 4- 72°o + 7&oo 4- V1080 —
6. xi. * 728 + V» + V100 + 7200 —
726 4* 758 + 7l«0 + i/!°0 —
vorhergehenden Versuchen viel länger als die Vermehrung des
Agglutinigehaltes nachweisen.
Die Ergebnisse der 4 besprochenen Versuche sind meines
Erachtens in mehrfacher Beziehung interessant. Erstens er¬
sieht man daraus, und zwar ziemlich übereinstimmend, dass
die bei der Impfung mit dem Immunserum zu gleicher Zeit in
die Blutbahn der Kaninchen übergeführten uns hier interes¬
sierenden Körper — das Agglutinin und der als
präzipitale Substanz fällbare Anteil des Se¬
rum ei weisses — nicht so eng aneinander ge¬
bunden sind, dass ihr Abnehmen und Ver¬
schwinden zeitlich genau Hand in Hand ginge;
die Eiweissreaktion bleibt im allgemeinen viel länger nach¬
weisbar, als das Agglutinationsphänomen. Es ist nicht wahr¬
scheinlich, dass dieses Verhalten etwa durch Mängel in der
Technik vorgetäuscht wird. Das umgekehrte Verhalten, näm¬
lich, dass Spuren von artfremdem Eiweiss infolge ungenügender
Präzipitationskraft des als Reagens benutzten Antiserums über¬
sehen würden und darum dem Nachweis schneller entgingen als
die Agglutinine, zu deren Erkennung, wie erwähnt, sehr leicht
agglutinable Stämme verwendet wurden, wäre mit viel grösse¬
rer Berechtigung auf Versuchsfehler zurückzuführen denkbar.
Zweitens — und damit kommen wir auf den Ausgangspunkt
dieser Untersuchungen zurück — lassen die Versuche
kein zeitliches Zusammengehen des Aggluti¬
nationsschwunds und der auftretenden Prä¬
zipitinreaktion erkennen, derart, dass das
letztere als Ursache des ersteren angespro¬
chen werden könnte. Die durch Einverleibung des
Immunserums gelieferten Agglutininmengen sinken relativ
schnell, in den verschiedenen Versuchen zeitlich nicht ganz
übereinstimmend, aber ganz allmählich auf die Höhe der vor der
Immunisierung festgestellten Werte herab und sind ge¬
wöhnlich nicht mehr nachweisbar, wenn die
Präzipitinreaktion erst andeutungsweise er¬
scheint. Auch im Versuch IV, wo die beiden fraglichen
Zeitpunkte am meisten aneinander gerückt sind, lässt sich
ein derartiger Zusammenhang kaum annehmen. Abweichend
von den drei anderen ergibt Tabelle I, dass vermehr¬
ter Agglutiningehalt noch längere Zeit nach¬
zuweisen ist, nachdem die Präzipitinre ak -
tion bereits in vollem Umfange ausgebil¬
det ist.
Infolge der häufigen Blutentnahme aus der Ohrvene sind
die jedesmal erhaltenen Serummengen leider beschränkte ge¬
wesen, so dass die Prüfung auf den Präzipitingehalt des
Serums nur gegenüber Verdünnungen von l/i — Vu> der präzipi-
tablen Substanz vorgenommen werden konnte, und es kann
hier der Einwand gemacht werden, dass bei noch stärkeren
Verdünnungen der präzipitablen Substanz die Anfänge der
Reaktion schon eher zum Ausdruck gebracht worden wären,
als es in unseren Tabellen der Fall ist. Indes ist mir eine
wesentliche Aenderung des Endergebnisses dadurch nicht sehr
wahrscheinlich, da auch eine anderweitige Abänderung der
Versuchsanordnung kein wesentlich anderes Resultat ergab.
Wenn nämlich das Schwinden der Agglutinine aus der
Blutbahn des passiv immunisierten Organismus durch das Auf¬
treten der Präzipitine, bezw. durch die Bindung des Präzipi¬
tins an die präzipitable Substanz bedingt würde, dann
müsste der Ablauf der eben besprochenen
Versuche wesentlich anders sein, wenn man
zur Immunisierung ein vorbehandeltes Ka¬
ninchen benützt, das bereits Präzipitin für
das einzuführende Serum im Blut besitzt. Ein
derartiger Versuch ist in der folgenden Tabelle wiedergegeben,
zu dem das Kaninchen der ersten Tabelle verwendet worden ist.
Obgleich hier schon vor der letztenlmpfung
mit dem Typhus-Hammelserum Präzipitin für
Hammeleiweiss in beträchtlichen Mengen im
Blut des Kaninchens vorhanden war, lässt
sich vermehrter A g g 1 u t i n i g e h a 1 1 noch am
7. Tage nach der Impfung feststellen; das
Schwinden der Agglutinine ist demnach
durchaus nicht schneller erfolgt als in den
früherenVersuchen. Ferner zeigt sich auch hier wieder
die auffallende Erscheinung, dass nebeneinander eine positive
Reaktion auf Hammeleiweiss und auf Hammelpräzipitin (Anti¬
gen und Antikörper) bestehen kann; das ist hier sogar sehr
lange der Fall. Vielleicht sind auch bei den Präzipitinen bin¬
dende und bildende Gruppen verschieden, wie Friedber¬
ger und M o r e s c h i u) für Agglutinine und Ambozeptoren
anzunehmen geneigt sind.
In Uebereinstimmung mit dem eben besprochenen Versuch
ist es mir ebensowenig gelungen, ein längeres Verweilen der
Agglutinine im Serum des passiv immunisierten Tieres fest¬
zustellen, wenn das Auftreten einer Präzipitinreaktion dadurch
ausgeschaltet wurde, dass zur Immunisierung des Kaninchens
nicht artfremdes sondern arteigenes Serum
benutzt wurde. Das müsste aber logischerweise der
Fall sein, wenn jene Annahme zu Recht bestehen soll.
Die nächste Tabelle gibt den Versuch wieder.
Wie man sieht, ist der Agglutinationstiter des Serums, der
sich am ersten Tage nach der Impfung auf 7soo belief, be¬
reits am 3. Tage auf V200 gesunken und ist bei der Prü¬
fung am 6. Tage nicht mehr höher wie vor der Impfung.
Die Annahme, dass das schnelle Schwinden
passiv einverleibter Agglutinine auf diePrä-
zipitinreaktion zurückzuführen sei, findet
also auch hier keine Stütze.
Alles in allem scheint mir aus den angeführten Beispielen
eindeutig hervorzugehen, dass unter den Be¬
dingungen des lebenden Organismus die Aus¬
lösung einer Präzipitinreaktion nicht als Ur¬
sache für das rasche Verschwinden passiv
einverleibter Agglutinine angesehen werden
kann. Die Agglutinine verhalten sich also in
dieser Beziehung nicht wie die Antitoxine.
Um nun auf den eingangs erwähnten Widerspruch zwischen
diesem Ergebnis und den Reagensglasversuchen von Kraus
J4) Berliner klin. Wochenschr. 1905.
2000
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
und Pribram zurückzukommen, so sei zunächst erwähnt,
dass schon diese beiden Autoren angeben, die Agglutinin¬
absorption wäre nicht unbedingt mit jedem Präzipitationsvor¬
gang verknüpft, sondern die verschiedenen präzipitierenden und
agglutinierenden Seren hätten sich auch bei Wahrung der
gleichen quantitativen Verhältnisse in den verschiedenen Kom¬
binationen verschieden verhalten.
Auch eigene Versuche in dieser Richtung zeigten, dass
selbst unter günstigen Bedingungen für den Ablauf des Prä¬
zipitationsvorganges — Präzipitin im Ueberschuss oder starke
Verdünnung der präzipitablen Substanz — Agglutinin¬
absorption ausbleiben kann. Ich greife aus einer
grösseren Zahl von derartigen Reagenzglasversuchen einige
Beispiele heraus.
a) 1,0 TyS (Hammel) 4- 3,0 AHS (Kaninchen) = Niederschlag -f-| —
b) 1,0 TyS „ 3,0 norm. S. „ = klar.
Die klare Flüssigkeit von:
Versuch a agglutiniert Ty Gelsenkirchen i/iooo + V&ooo —
„ b „ „ „ V 2000 ± 1 '6000 —
«) 0,5 TyS V&o (Hammel) 4- 0,5 AHS (Kaninchen) = Niederschlag -f— f-
ß) 0,5 TyS ‘/so „ -j- 0,5 norm. S. „ = klar
Klare Flüssigkeit von Versuch « agglut. Ty Gelsenk. 1/2oo + 1/6oo —
» „ * » ß » v V200 — V6°0 —
0,5 klare Flüssigkeit « -|- 0,5 AHS (Kaninchen) = Niederschlag -f-
0,5 „ „ ß -f- 0,5 norm. S. „ = klar.
Nunmehr Agglutinationstiter der klaren Flüssigkeit von er. ‘/ioo + 1,,2oo —
y? V v » v v ß '■ VlOO + V2°0 —
Die Agglutinatiostiter sind in allen Ver¬
suchen gleich mässig reduziert, ohne Unter¬
schied, ob präzipitierendes oder nicht prä-
zipitierendes Serum zu gesetzt worden war.
Indes ist es mir gelegentlich auch vorgekommen, dass
durch Zusatz von Präzipitin zu Verdünnungen agglutinierender
Sera stärkere Agglutinationsverluste erzielt wurden, als in den
Kontrollen. '
1. 1,0 TyS Vioo (Hammel) + 1,0 AHS (Kaninch.) = Niederschlag -j — (-
2. 1,0 TyS Vioo „ -j- 1,0 norm. S. „ = klar.
Agglutinationstiter: 1. 1/bo -f- Vioo + '/zoo —
2. 1/6 o -j- V100 4* V200 4" V600 +
I. 0,5 Chol.-S. ^’&o (Ziege) 4- 0,5 AHS (Kaninchen) = Niederschlag -j-
II. 0,5 Chol.-S. V&o „ -f- 0,5 norm. S. „ = klar.
Agglutinationstiter: I. V26 ± 1/5o — 1 gegenüber
II. V25 V&o + V10° 4~ V2a> — J Cholera „El Tor“
Soweit stimmen meine Ergebnisse mit denen von Kraus
und Pribram ungefähr überein, indes ist es mir ab¬
weichend von ihnen in keinem Falle gelungen,
durch Einwirkung erhitzten präzipitieren¬
den Serums, in dem also nach der üblichen
Vorstellung die Präzipitine in Präzipitoide
umgewandelt sind, Agglutininverluste zu er¬
zielen, obschon sich nach weisen liess, dass
die Verbindung Präzipitoid — präzipitable
Substanz zustande gekommen war. Das Präzipi-
toidserum habe ich dabei durch fragmentiertes Erhitzen eines
kräftig präzipitierenden Antihammelserums auf 69° insgesamt
etwa 3 Stunden lang erhalten. Erst nach dieser Zeit blieb die
Niederschlagsbildung gänzlich aus.
Im folgenden gebe ich zwei derartige Protokolle wieder.
A. 1. 0,5 TyS Vioo (Hammel) 4 0,5 AHS [3 St. 69°] (Kaninch.) = klar
2. 0,5 TyS Vioo » -f- 0,5 normales Serum „ = klar
Agglutinationsprüfung: Flüssigkeit 1. V2» + 1/bo ± i/ioo —
„ 2. V2B 4- V50 4- Vlc° —
0,5 Flüssigkeit 1 -f- 0,5 AHS (präzip. Kaninchenserum) = klar
0,5 „ 2 -f- 0,5 AHS „ „ = Niederschlag.
Während sich also in der Flüssigkeit 1 die präzipitable
Substanz in gebundenem Zustande befindet und nachträglicher
Zusatz von Präzipitin keinen Niederschlag hervorruft, ist in
Flüssigkeit 2 die präzipitable Substanz noch reaktionsfähig und
es tritt mit Hammelpräzipitin Niederschlag auf. Agglu¬
tininverlust ist durch den Vorgang der Bin¬
dung zwischen Präzipitoid und präzipitab-
ler Substanz indes nicht hervorgerufen
w orden.
Dasselbe besagt der nächste Versuch.
B. 1. 0,5 Chol.-S. V&o (Ziege) 4~ 0,5 AHS [3 St. 69°] (Kaninch.) = klar
2. 0,5 Chol.-S. 1/bo „ -j- 0,5 normales Serum „ = klar
Agglutinationsprüfung: Flüssigkeit 1. V2B 4- V“ 4" V»«» ± V200 —
„ 2. V25 4* V&o 4~ V100 i ? V2Ü° —
0,5 Flüssigkeit 1 4* 0,5 AHS (präzip. Kaninchenserum) = klar
0,5 „ 2 -f- 0,5 AHS „ „ = Niederschlag.
Verschiedene andere Kombinationen dieser Versuchs¬
anordnung haben das gleiche Ergebnis gehabt. Ich kann daher
Kraus und Pribram nicht beipflichten, wenn sie meinen,
dass die Agglutininbindung in derartigen Versuchen lediglich
von dem Zustandekommen der Verbindung Präzipitin bezw.
Präzipitoid — präzipitable Substanz abhängig sei, sondern
muss daraus schliessen, dass Agglutinin¬
beseitigung, wenn sie überhaupt zustande
kommt, durch den Vorgang der Ausflockung
bedingt wird. Unter Bedingungen, die diesen
Vorgang nicht im Gefolge haben, z. B. bei Ver¬
wendung von Präzipitoiden und in der Blut-
bahn des Tierkörpers, wo ja allem Anschein
nach auch keine Niederschlagsbildung ein-
tritt, kann darum auch keine Absorption von
Agglutininen stattfinden. So erklärt sich
meiner Meinung nach auch der Widerspruch
zwischen meinen Tierversuchen und den Ex¬
perimenten von Kraus und Pribram.
Im übrigen scheinen mir die Beobachtungen von gelegent¬
licher Agglutininbindung im Anschluss an den Präzipitations¬
vorgang nicht geeignet zu sein, um daraus Schlüsse auf die
Konstitution der Agglutinine und Präzipitine zu ziehen. Weder
die Versuche von Kraus und Pribram, noch die meinigen
sind dazu eindeutig genug ausgefallen. Vielmehr spre¬
chen gewichtige Gründe gegen die von Kraus
und Pribram vertretene Annahme, dass die
Agglutinine an die präzipitable Substanz des
Serumeiweisses derartig eng gebunden sind,
dass sie durch das Zustandekommen der Ver¬
bindung zwischen Präzipitin und präzipi-
ta.bler Substanz unwirksam gemacht werden
könnten. Vor allem macht es die schon von
Kraus gefundene Tatsache, dass die Verwen¬
dung konzentrierter agglutinierender Sera
als Präzipitogen keine Agglutinin bin düng
zu rFolgehat, auch wen nein kräftiger Nieder¬
schlag bei der Versuchsanordnung auftritt,
eine Beobachtung, die ich auch bestätigen
kann, undderUm stand, dassdieverschiedenen
Serumkombinationen sich in dieser Bezieh¬
ung so verschieden verhalten, sehr schwer,
hier an prinzipielle Konstitutionsverhält¬
nisse zu glauben. Man muss dann zu der Vorstellung
kommen, dass das von Tier A gewonnene Präzipitin eine
andere Konstitution hat, als das auf das gleiche Arteiweiss
eingestellte, von Tier B der gleichen Tierart gewonnene;
oder es müssen ähnliche Variationen in der Konstitution
der Agglutinine und Präzipitogene möglich sein. Auch mit der
Ehrlich sehen Vorstellung von der Konstitution der Agglu¬
tinine und Präzipitine lässt sich eine solche Annahme ohne wei¬
teres kaum vereinbaren. Ich halte es aus diesen Gründen vor¬
läufig für richtiger, die gelegentlichen Beobachtungen von
Agglutininbindung durch den Präzipitationsvorgang als Be¬
obachtungsfehler oder als zufälliges Nebenhergehen zweier
verschiedener Vorgänge zu betrachten, deren Zusammenhang
noch nicht zu übersehen ist.
Zum Schluss bleibt mir noch die angenehme Aufgabe,
meinem hochverehrten Lehrer und Chef, Herrn Geheimrat
F r ä n k e 1, sowie Herrn Professor Sobernheim für die
liebenswürdige Förderung dieser Untersuchungen und die
Durchsicht dieser Arbeit ganz verbindlichst zu danken.
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2001
Natürliche Darmdesinfektion.*)
Von Dr. Ernst M o r o, Privatdozent für Kinderheilkunde in
Graz.
Die sogenannte desinfizierende Therapie bei Darminfekten
ektogener oder endogener Herkunft besteht in der Einfuhr
desinfizierender Medikamente in den Darm. Derartige Ein¬
griffe gründen sich auf die Erwartung, dass auf diese einfache
Weise der Darminhalt von den schädigenden Bakterien ge¬
reinigt werde.
Unter den inneren Mitteln hat sich insbesondere das Kalo-
mel eine grosse Sympathie erworben, obgleich die Entfaltung
einer Desinfektion durch dieses Medikament noch heute unauf¬
geklärt, seine schädigende Wirkung auf das Schleimhaut¬
epithel, dem mächtigsten Faktor der natürlichen Darmresistenz,
hingegen ausser Zweifel ist. Aehnlich wie mit dem Kalomel,
dürfte es sich wohl auch '•mit den anderen gebräuchlichen
Mitteln aus der Gruppe der sogen. Darmantiseptika verhalten.
Sie wirken vorwiegend nur purgativ, weil sie eine Reizung der
Schleimhaut hervorrufen, ohne auf die Vegetationsverhältnisse
des Darmes einen nachweisbar günstigen Einfluss zu nehmen.
Allein zugegeben, dass es auf diesem Wege auch wirklich
gelingen könnte, im Darm durchgreifende antibakterielle Wir¬
kungen zu erzielen, was wäre damit gewonnen? Nichts.
Das gereichte oder im Darm gebildete Antiseptikum ver¬
nichtet wahllos alle Bakterien seines Wirkungskreises, sowohl
die schädigenden als auch die nützlichen und der natürlichen
Reparation ist in der zeitweisen Schwächung der sesshaften
Darmflora die mächtigste Waffe entzogen; denn in der über¬
wiegenden Mehrzahl der Fälle führt der Kampf offenbar in der
Weise zum Siege, dass die autochthonen Darmbakterien die
fremdenKeime allmählich verdrängen und überwuchern, bis das
ursprüngliche Bild, wie es der Norm entspricht, sich wieder
eingestellt hat. Hier sehen wir demnach die sesshaften Bak¬
terien den darmfremden Mikroben im Kampfe gegenüberge¬
stellt und es liegt der Gedanke nahe, die fürkämpfende, ge¬
schwächte Armee zu unterstützen.
In diesem Punkte sind wir von einer ähnlichen Ueber-
legung geleitet, wie sie der modernen Serumtherapie zugrunde
liegt. Gleich jener nimmt sich auch diese Methode die Vor¬
gänge des Selbstschutzes und der Selbstheilung zum Vorbild
und erblickt ihr Ziel darin, die natürliche Schutz- und Wehr¬
kraft des Organismus tunlichst zu fördern.
Den ersten Schritt in dieser Richtung hat im Jahre 1900
Escherich getan, der durch seinen Schüler Brudzinsky
an Säuglinge junge Kulturen von Bact. lactis aerogenes ver¬
füttern liess, in der Absicht, durch eine reichliche Zufuhr dieses
Gärungserregers im gegebenen Falle den Proteus aus dem
Darm zu verdrängen. Seine Versuche waren vom gewünsch¬
ten Erfolg begleitet. In ähnlichem Sinne bewegten sich neue
Versuche von T i s s i e r (1906), der Mischkulturen von B. acidi
paralactici und B. bifidus darmkranken Säuglingen und älteren
Kindern angeblich mit recht gutem Resultat verabreichte.
Allerdings bedarf es zu einer nennenswerten Desinfektion des
Darmes auf dem Wege der oralen Einverleibung physiolo¬
gischer Darmbakterien, wie mich eigene Versuche darüber be¬
lehrten, grosser Kulturmengen. Ein neues Züchtungsver¬
fahren ermöglichte es mir nun kürzlich, beliebige Mengen von
,,Bifidusmilch“ herzustellen, die in Aussehen und Geschmack
der gebräuchlichen Buttermilch auffallend glich. Jedoch waren
die damit erzielten Resultate bisher keine befriedigenden, so-
dass ich von dieser Methode vorläufig Abstand nahm. Im
Uebrigen hat die Verfütterung, obgleich erwiesenermassen un¬
schädlicher Bakterien in grösserer Menge immer etwas Miss¬
liches an sich.
Weitaus besser erschien mir die Wahl der analen Pforte
bei infektiösen Prozessen des unteren Dickdarmes. Man kann
sich von der eminent entwicklungshemmenden Wirkung des
B. coli gegenüber Ruhr- und Typhusbazillen in der Kultur
jederzeit leicht überzeugen. Ob nun diese wachstumshem¬
mende Wirkung auf bestimmte vom B. coli produzierte Stoffe
oder aber lediglich durch seine grössere Wachstumsenergie
*) Nach einem auf der 78. Versammlung deutscher Naturforscher
und Aerzte in Stuttgart gehaltenen Vortrag.
No. 41.
herbeigeführt wird, ist einerlei. Der Effekt bleibt niemals aus.
Es handelt sich im Wesentlichen nur um die Frage, wie die
jungen Kolikulturen in den Darm einzuführen seien, damit sie
behalten werden und so zur aktiven Tätigkeit gelangen können.
Ich bediente mich zu diesem Behufe mit Vorteil des ge¬
wöhnlichen Agar in hoher Konzentration (8 proz.) mit einem
bei 40 0 C gelegenen Erstarrungspunkte. Das verflüssigte und
hinreichend abgekühlte Agar wurde mit jungen Kolibouillon-
kulturen bis zur deutlichen Trübung versetzt und in grösserer
Menge — bis 250 g — als Klysma mittels Dieulafoy appliziert.
Im Darm erstarrt das Agar sehr bald zu einer festeren Masse.
Damit war die Einfuhr der Kolibazillen gesichert, damit wurde
ihnen zugleich ein guter Nährboden zu ihrer Weiterentwick¬
lung mitgegeben, damit wurde endlich ein günstiger mecha¬
nischer Einfluss auf den Darm ausgeübt, insofern als das Agar,
gleich dem üblichen Stärkeklysma, welches bei derartigen
Krankheitsprozessen mit Vorliebe angewendet wird, die lä¬
dierte Schleimhaut mit einer schützenden Decke überzieht.
Meine Erfahrungen über diese Medikation sind vorläufig ge¬
ringe, sodass ich heute noch nicht imstande bin, mir darüber
ein abschliessendes Urteil zu bilden; das eine steht jedoch fest,
dass das Verfahren unschädlich ist und dass gegen seine theo¬
retischen Grundlagen keine stichhaltigen Bedenken erhoben
werden können.
Allein das Ideal der natürlichen Darmdesinfektion liegt
nicht in der Einfuhr von Bakterien, sondern vielmehr in der
Veränderung des Darminhaltes zu Gunsten der elektiven Ent¬
wicklung aktiver, normaler Darmbakterien. Diesen klas¬
sischen und in seiner Art einzig dastehenden Versuch führt tag¬
täglich die Natur am Brustkind aus.
Die Darmflora des Brustkindes ist bekanntlich eine ein¬
heitliche und konstante. Sie setzt sich vorwiegend nur aus
einer einzigen Bakterienart, dem B. bifidus von T i s s i e r zu¬
sammen, sodass das mikroskopische Präparat in der Tat als
der Ausstrich von einer Reinkultur imponiert. Ueber die Her¬
kunft dieses interessanten Mikroben blieb man lange Zeit im
Unklaren, bis T i s s i e r s und meine, unabhängig von ein¬
ander angestellten Untersuchungen zeigen konnten, dass dieser
Pilz in einzelnen Exemplaren, allerdings in einer sehr ge¬
mischten Gesellschaft, schon in den allerersten Tagen des
menschlichen Lebens, ganz unabhängig von der aufgenom¬
menen Nahrung in den Darm einwandert und erst durch das
Erscheinen der ersten Frauenmilchreste im Darm, und einzig
und allein durch diese zu einer elektiven und geradezu stür¬
mischen Entfaltung seines Wachstums veranlasst wird. Daran
ändert sich, solange der Säugling natürlich ernährt wird, so
gut wie gar nichts. Nun ist aber der Bifidus eine Bakterien¬
art von chemisch sehr aktiven Lebenseigenschaften und es
leuchtet ohne weiteres ein, dass durch die unausgesetzte, ein¬
seitige Förderung seiner Entwicklung der Darm des Brust¬
kindes von manifesten und ernstlichen Infekten verschont blei¬
ben muss, eine Tatsache, die die klinische Erfahrung täglich
bestätigt. In diesem sinnreichen Walten der Natur liegt eine
äusserst wirksame prophylaktische Vorkehrung gegenüber
dem Aufkommen darmfremder Mikroben, ein weiterer, hervor¬
ragender Vorteil, den die natürliche vor der künstlichen Er¬
nährung voraus hat.
Die logische Fortführung dieses Gedankens zwingt nun
weiterhin zu der Annahme, dass, falls diese Vorstellungen
richtig sind, in jedem Darm, der den Bifidus, obgleich in ver¬
schwindender Zahl beherbergt, eine wirksame „Desinfektion“
mittelst Frauenmilch durchführbar ist. In der Tat erfüllt sich
diese Forderung mit absoluter Bestimtheit.
Beim künstlich ernährten Säugling, beim älteren Kind, und
beim Erwachsenen lässt sich reine Bifidusvegetation im Darme
hervorrufen, sobald die Ernährung mit Frauenmilch durch
mindestens 2—3 Tage fortgeführt wird. Zum gleichen Er¬
gebnis führten mich einschlägige Versuche an jungen Hunden
und Katzen. Bei Frauenmilchernährung lieferten die Tiere
nach wenigen Tagen Stühle, deren Flora sich von jener des
normalen Brustmilchstuhles ganz und gar nicht unterscheiden
liess. Dabei war es gleichgültig, ob die Frauenmilch im rohen
oder aber im sterilisierten Zustande verabreicht wurde. Ich
möchte nur bemerken, dass die richtige Beurteilung der Ergeb-
2
muenchener medizinische Wochenschrift.
No. 41.
jrp
nisse, die genaue Kenntnis des äusserst variablen Morphisnms
dieses Anaerobiers zur Voraussetzung hat. Die Beziehungen
des Bifidus zur Frauenmilch sind demnach ausserordentlich
intime.
Noch schöner und einfacher als durch diese Versuche lässt
sich die Tatsache im Reagenzglas beweisen. Der Bifidus war
bisher relativ schwer zu kultivieren, u. a. eine Erklärung da¬
für, dass er trotz zahlreicher Untersuchungen auf diesem Ge¬
biete so lange Zeit nicht aufgefunden werden konnte. Nun ge¬
lingt aber seine Kultur aus jedem Medium, in dem er zugegen
ist, ganz leicht, wenn man sich der anaeroben Züchtung auf
Frauenmilch bedient. (Eigene Versuche.) Auf diesem Wege
lässt sich der Bifidus in der kürzesten Frist aus Säuglingsstuhl,
aus dem Stuhl älterer Kinder, des Erwachsenen und ver¬
schiedener Säugetiere rein gewinnen; zum mindesten erscheint
er, obgleich im mikroskopischen Stuhlpräparate gar nicht oder
kaum nachweisbar, auf diesem Nährboden beträchtlich an¬
gereichert.
Die Frauenmilch wirkt sowohl im Darm, als auch in der
Kultur, wie ein Ferment auf das Wachstum des Bifidus; sie ent¬
facht ihn, wie ein Lebenswecker, jederzeit zu einer mächtigen
und dominierenden Entwicklung, die alle anderen Bakterien
weit in den Hintergrund zurückdrängt.
Der Schluss, der aus diesen Ausführungen gezogen werden
muss, ist der, dass die Verabreichung von Frauenmilch, als
ideales, natürliches Darmdesinfiziens, sowohl beim Säugling
als auch beim älteren Menschen angezeigt ist. Ich denke hier
an sämtliche infektiöse Darmstörungen, ektogenen oder endo¬
genen Uispiungs, mit Ausnahme jener, die eine fettreiche Diät
auf Grund ihrer Pathogenese ausschliessen.
Ein weiterer Vorteil dieser 1 herapie ist der hervorragende
Nährwert des Medikamentes und der Umstand, dass sich die
radikale Umstimmung der Darmflora in überraschend kurzer
Zeit vollzieht. Ein unwesentlicher Nachteil hingegen liegt in
der relativ schwierigen Beschaffung hinreichender Mengen
\ on Frauenmilch; denn die Frauenmilch soll erfahrungsgemäss,
womöglich rein oder nur mit geringer Beikost genossen
werden. Nun ist es aber sehr wahrscheinlich, dass nicht die
r rauenmilch als Ganzes, sondern nur gewisse Bestandteile
derselben als „Bifiduswecker“ fungieren; dann Hesse sich die
Medikation natürlich wesentlich einfacher gestalten. Darüber
sollen weitere Untersuchungen die Aufklärung verschaffen.
Aus der medizinischen Universitätsklinik in Breslau (Direktor-
Geheimrat Prof. Dr. v. Strürapel 1).
Weitere Ergebnisse unserer Methode zum Nachweis
proteolytischer Fermentwirkungen.*)
Dritte Mitteilung.
I. Ueber Unterschiede im Fermentgehalt der Leukozyten bei
Warmblütern.
II. Leber den Nachweis eines eiweissverdauenden Fermentes
im menschlichen Kolostrum.
Von Georg Joch mann und Eduard Müller.
I.
Wir haben in unserer zweiten Mitteilung den Nachweis
geführt, dass sich die gelapptkernigen Leukozyten des Meer¬
schweinchens durch das Ausbleiben einer proteolytischen Fer¬
mente irkung bei unserer Methode in biologischer Hinsicht
schau von den polynukleären weissen Blutkörperchen des
Menschen unterscheiden. Die Richtigkeit dieser Beobachtung
iahen w ii durch die I atsache erhärtet, dass auch das rote
Knochenmark, wohl die Ursprungsstelle der genannten Zell-
tonn sow ie die Milz dieser Tiere im Gegensatz zu unseren
Befunden beim Menschen keinerlei erkennbare Verdauungs-
wirkung auf dem erstarrten Blutserum besitzen. Beim weiteren
Studium der Erage, ob dieser schroffe Unterschied zwischen
cn Leukozyten des Menschen einerseits und denjenigen des
Meeisclnveinchens und Kaninchens andererseits auf einem üe-
*) Vgl Eduard Müller und Georg Jochmann: „Ueber eine
eimache Methode zum Nachweis pathologischer Eermentwirkungen“
und „Ueber proteolytische Fermentwirkungen der Leukozvten“
Diese Wochenschrift 1906, No. 26 und 31.
gensatz zwischen höheren und niederen Säugetieren beruht,
ergab sich folgendes;
Zunächst hatten wir durch das liebenswürdige Entgegen¬
kommen von Herrn Geh. -Rat Neisser sowie von Herrn
Dr. G r a b o w s k i, Direktor des hiesigen zoologischen Gartens,
die ausserordentlich günstige Gelegenheit, Milz und Kno¬
chenmark (Rippe und Wirbel) von 17 Affen zu unter¬
suchen. Wir hatten nämlich schon früher festgestellt, dass
überall dort, wo die Leukozyten erstarrtes Blutserum „ver¬
dauen“, auch Milz und Knochenmark entsprechende Wirkungen
entfalten und dass umgekehrt beim Mangel einer solchen Ver¬
dauungskraft in den genannten Organen auch die weissen Blut-
zellen des Fermentes entbehren. Die Untersuchung von Milz
und Knochenmark nach unserer Methode gestattet deshalb
stets einen Rückschluss auf den Fermentgehalt der Leukozyten
des kreisenden Blutes.
Die von uns untersuchten 17 Affen verteilten sich nun
auf die verschiedenen Unterordnungen der Primaten, wie folgt:
I. 2 Platyrrhini (Plattnasen)
je ein Ateles paniscus, schwarzer
Spinnenaffe,
und ein Cebus capuzinus, roter
Kapuzineraffe.
II. 15 Catarrhini
(Schmalnasen)
a) 3 Cynocephalidae.
b) 7 Cercop ithecidae
Mantelpaviane (Üynocepli. babuin.)
Cynoceph. Langheldi.
javanische Afl'en (Makakus cyno-
molgus)
Makakus rhesus
Meerkatze (Cercopithecus ruber).
Schimpansen (Troglodytes niger).
Knochenmark und
(Schmalnasen) die
c) 5 Anthropoidae
Bei diesen 17 Primaten zeigten
Milz der 15 Catarrhinen
gleichen Verdauungs er schein ungen auf dem
erstarrten Rinderblutserum wie beim Men¬
schen. Ueberall, wo ein Tröpfchen des fein zerriebenen
Organbreis auf der Serumoberfläche lag, trat die schon früher
von uns genauer geschilderte Dellenbildung ein. Ein wesent¬
licher quantitativer Unterschied des Fermentgehaltes zwischen
den Familien der Cynocephalidae, Cercopithecidae und Anthro¬
poidae war dabei nicht zu bemerken. Die Verdauungskraft war
also bei den Anthropoidae annähernd dieselbe wie bei den
beiden anderen Familien. Dagegen machten wir die interes¬
sante Beobachtung, dass von den 2 untersuchten
Platyrrhini (P 1 a 1 1 n a s e n) Milz und Knochen¬
mark des einen (Ateles paniscus) gar nicht und
des anderen (Cebus capucinus) das Serum nur
schlecht verdaute n. Das weist auf einen biologischen
Unterschied der wreissen Blutzellen zwischen höher und tiefer
stehenden Affen hin. Wir bemerken noch, dass uns Halb¬
affen (Prosimiae) leider nicht zur Verfügung standen.
Aus der Ordnung der Carnivora (Raubtiere) unter¬
suchten wir von der Familie der Canidae den Haushund
(Canis familiaris) und den Fuchs (Canis vulpes), von der Fa¬
milie der U r s i d a e den Rüsselbär (Nasua rufa), von der Fa¬
milie der Viverridae die Rasse (Viverra malacensis;
Katzenmarder), und von den F e 1 i d a e die Pantherkatze (Felis
pardalis) und die Hauskatze (Felis domestica). Es zeigte sich
die merkwürdige Tatsache, dass von allen diesen
Raubtieren ein mit voller Sicherheit nach¬
weisbares proteolytisches Leukozytenfer¬
ment nur der Hund a u f w i e s. Zweifelhaft erschien
uns der Befund beim Fuchs und sicher negativ waren die Er¬
gebnisse bei den anderen Carnivoren.
Aus der Ordnung der Nagetiere hatten wir schon
früher das Kaninchen (Lepus cuniculus)) und das Meer¬
schwei n c h e n (Cavia cobaya) untersucht. Wir konnten
bereits berichten, dass die Leukozyten dieser Tiere eines pro¬
teolytischen Fermentes entbehren. Denselben negativen
Befund erhoben wir auch beim amerikanischen Sta¬
ch e 1 s c h w c i n (Erethizon dorsat.) und bei der Maus (Mus
musculus).
Die Paarzeher (Artiodactyla) sind in unserer Ver¬
suchsreihe vertreten durch das Schwein, das Reh, das
Schaf und das R i n d. Eine Fermentwirkung von
Milz und Knochenmark fehlte in allen Fällen. Hinzufügen
wollen wir noch an dieser Stelle, dass hier oft der reichliche
Fettgehalt des Knochenmarks störend wirkte und dass wir des-
9. Oktober 1906. _ MüENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT _ 2003
halb häufig Mühe hatten, genügend reines, rotes Knochenmark
zu bekommen.
Von den Unpaarzehern untersuchten wir das Pferd
(3 Tiere). Das Ferment fehlte auch hier.
Ausser den Säugetieren haben wir nur noch einige Vögel
untersucht mit dem Resultat, dass auch hier Milz und Knochen¬
mark und damit das Blut kein proteolytisches
Ferment enthalten.
Das Ergebnis dieser Untersuchungsreihe lässt sich also
dahin zusammenfassen, dass das proteolytisch eFer-
ment der Leukozyten, abgesehen vom Men¬
schen, nur^noch bei Affen und in geringerer
Menge beim Hunde vorzukommen scheint. Im
Hinblick auf die Deszendenztheorie ist es vielleicht nicht ohne
Interesse, dass Milz und Knochenmark und damit auch die
weissen Blutzellen aller zu den Schmalnasen gehörigen Pri¬
maten ausnahmslos den gleichen Fermentgehalt besitzen wie
der Mensch. Es weist also auch dieses biologische Merkmal
auf ihre Zusammengehörigkeit hin.
Was den Befund beim Hunde anbetrifft, so erklärt derselbe
gewisse längst bekannte Unterschiede in der Beschaffenheit
tierischen Eiters. Es ist bekannt, dass der Eiter des Hundes
ebenso flüssig und rahmartig ist, wie der des Menschen, wäh¬
rend z. B. der Eiter des Kaninchens eine feste bezw. käse¬
artige Konsistenz besitzt. Es ist nach unseren Untersuchungen
klar, dass dieser Unterschied die Folge des Vorhandenseins
bezw. Fehlens des eiweissverflüssigenden Leukozytenfer¬
mentes ist. Damit steht in Einklang die Tatsache, dass der
bröckelige, käseartige Kanincheneiter auf
erstarrtem Blutserum keine Dellenbildung
erzeugt. Auch die pneumonisch infiltrierte, nicht tuber¬
kulöse Lunge eines Kaninchens besitzt nach unserem Ver¬
fahren keinerlei Verdauungskraft. Wir müssen also annehmen,
dass die Lösung einer Pneumonie beim Kanin¬
chen auf anderem Wege wie beim Menschen
erfolgt. Bei der Resolution der kruppösen Pneumonie des
Menschen spielen ja nach Fried. Müller die Leukozyten
eine sehr gewichtige Rolle, da sie ein proteolytisches Ferment
besitzen, dessen verdauende Eigenschaften übrigens schon
Leber im Jahre 1891 nachweisen konnte. Schon damals
zeigte Leber, dass aseptischer Eiter bei 25 Proz. Gelatine und
Serum im Reagensröhrchen zum Einsinken bringt.
Die Frage nach dem zeitlichen Auftreten des Leukozyten¬
fermentes in der Ontogenie des Menschen konnten wir bis
jetzt nur dahin beantworten, dass es beim Neugebore¬
nen und sogar schon im 8. embryonalen Monat
in annähernd derselben Menge wie beim Er¬
wachsenen nachweisbar war. Ueber das Verhalten
in früheren Monaten der embryonalen Entwicklung besitzen
wir noch keine Erfahrungen. (Das Leichenmaterial ent¬
stammte, wie auch bei unseren früheren Untersuchungen, dem
hiesigen pathologischen Institut, dessen Direktor, Herrn Ge¬
heimrat P o n f i c k wir zu grossem Danke verpflichtet sind).
Die Bedeutung des Leukozytenfermentes für die Patho¬
logie des Menschen wurde schon von Friedr. Mül ler -ein¬
gehend gewürdigt (Kongr. f. inn. Med. 1902). Unsere Unter¬
suchungen- waren im stände, seine Angaben in wesentlichen
Punkten zu erweitern. In Ergänzung unserer früheren Mit¬
teilungen über das Verhalten der Lymphdrüsen sei hier be¬
merkt, dassnurnormaleLymphdrüsen, d i e Brut¬
stätten der Lymphozyten, ebenso wie die Ly m -
phozytenselbstkeinproteolytisches Ferm ent
besitzen, dass jedoch entzündlich geschwol¬
len eoder vereiterteLymphdrüsen infolge der
Zu wanderungpolynukleärer Leukozyten eine
erhebliche Verdauungskraft erlangen kön¬
nen.
Bezüglich der Frage nach der Herkunft der Lymphozyten
einerseits und der Leukozyten andererseits haben wir schon
früher angedeutet, dass wir auf Grund des scharfen biolo¬
gischen Unterschiedes im Fermentgehalt beider Zellformen uns
nicht mit der Ansicht einverstanden erklären können, dass eine
gemeinsame Mutterzelle, wie G r a w i t z das annimmt, der¬
artig funktionell differente Gebilde hervorbringt. Wir können
heute noch hinzufügen, dass das Verfahren vielleicht geeignet
ist, die Stellung des „grossen Ejhrlichschen baso-
philenLymphozyte n“, der umstrittensten Zelle der Hä¬
matologie, zu klären. Es geht aus der Beobachtung eines Falles
von akuter myeloider Leukämie, den J o c h m a n n und Z i e g -
1 e r an anderer Stelle genauer beschreiben werden, mit grosser
Wahrscheinlichkeit hervor, dass die fragliche Zelle wegen ihres
Gehaltes an proteolytischem Ferment zu den Myelo¬
zyten, nicht aber zu den Ly m p h o z y t e n gehört.
II.
Bei der Untersuchung menschlicher Se- und Exkrete mach¬
ten wir die gelegentliche Beobachtung, dass Kolostrum einer
Hochschwangeren, in wenigen Tropfen auf die Serumoberfläche
gebracht, ganz ähnliche Verdauungserscheinungen hervorrief
wie leukämisches Blut. Dies veranlasste uns, dem Vorkom¬
men eines proteolytischen Fermentes im Brustdrüsensekret
besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Durch die Freundlichkeit des Herrn Geh. -Rat. Küstner
war es uns möglich, in 39 Fällen gesunde Schwangere und
Wöchnerinnen zu untersuchen. Hierbei gelang uns der sichere
Nachweis, dass im letzten Monate der Schwan¬
gerschaft und in der ersten Zeit nach der Ge-
burtdieausderBrustdrüseausgepressteFlüs-
sigkeit (Kolostrum) ein sehr wirksames, e i -
weissverdauendesFermentbesitzt. Die Verdau¬
ungskraft war am stärksten kurz vor und gleich nach der
Geburt. Im 9. Monat waren die Resultate in allen Fällen stark
positiv, im 7. und 8. war die Dellenbildung auf der Löfflerplatte
durchschnitlich geringer und im 6. Monat fehlte sie ganz.
Im Wochenbett war die Verdauungskraft in den ersten
Tagen am grössten . Sie war noch am 11. Tage nachweisbar,
während sie in 1 Falle am 14. Tage fehlte. Zeigten im Puer-
oerium die ersten aus der Brustdrüse ausgepressten Tröpfchen
eine intensive Verdauungswirkung, so schwächte sie sich mit
zunehmender Sekretentleerung bei der Entnahme von Proben
mit Hilfe des Saugapparates deutlich ab und verlor sich völlig
nach der Entnahme grösserer Milchmengen.
Nach mehrtägigem Stillen schien sich die Fermentwirkung
bald zu verlieren, so dass wir nach unserer Methode wiederholt
selbst in den ersten Tröpfchen keine deutlichen Verdauungs¬
erscheinungen mehr feststellen konnten.
Nach dem Abstillen scheint das vorher fehlende Ferment
für einige Zeit wieder aufzutreten. Wir beobachteten sogar bei
einer Frau, die 15 Monate lang ihr Kind genährt hatte, mehrere
Tage nach dem Absetzen desselben die gleichen Verdauungs¬
erscheinungen wie kurz nach der Geburt.
Selbst bei kurzer Einwirkung einer Temperatur von 90°
wurde stets die Wirkung des Fermentes im Kolostrum, wie ja
zu erwarten war, völlig aufgehoben.
Die Sicherstellung eines Ei w eis s - lösenden Fer¬
mentes im Kolostrum kann nicht überraschen. Unsere
Befunde entsprechen durchaus den Anschauungen, die
A. Czerny über die Natur der sog. Kolostrumkörperchen
früher entwickelt hat. Czerny hat auf experimentellem
Wege bewiesen, dass die Kolostrumkörperchen Leukozyten
darstellen, die aktiv in die Brustdrüsenräume einwandern, und
er hat die Bedingungen erörtert, unter denen diese Gebilde im
Brustdrüsensekret auftreten. Ihr rasches Verschwinden beim
Säugen, ihre Zunahme, wenn nicht gestillt wird, ihr Auftreten
nach dem Abstillen sind Beweise für die Czerny sehe Auf¬
fassung, dass Kolostrumkörperchen in grosser Menge sich dann
einstellen, wenn Milchbildung mit unterlassener Sekretent¬
leerung zeitlich Zusammentreffen.
Unsere Befunde stehen mit den Anschauungen Czernys
durchaus in Einklang. Wenn nämlich die Kolostrumkörperchen
Leukozyten entsprechen, so muss das proteolytische Ferment
der Leukozyten auch im Kolostrum nachweisbar sein. Dass
dies tatsächlich der Fall ist, haben wir bewiesen. Es ist
also das Eiweiss-lösende Ferment des Kolo¬
strums identisch mit dem proteolytischen
Ferment der Leukozyten des kreisenden
Blutes.
In e i n e r Hinsicht unterscheiden sich jedoch die Blutleuko¬
zyten von den Kolostrumkörperchen. Letztere verändern näm-
2’
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
?00 4
lieh bei 37 0 ebenso schnell wie bei 50 0 das Löfflerserum,
während bei den ersteren die Körpertemperatur erst nach län¬
gerer Zeit eine verdauende Wirkung auslöst. In unseren
früheren Mitteilungen haben wir jedoch auseinandergesetzt,
dass sich auch bei den Blutleukozyten der fermentative Pro¬
zess in derselben Weise wie bei 50° selbst bei Körpertempera¬
tur geltend macht, sobald man die weissen Blutzellen vorher
etwa durch Erwärmen auf 55° künstlich schädigt. Dass nun
die Leukozyten des Kolostrums schon bei 37 0 rasch und aus¬
giebig verdauen, beweist nur, dass es sich hier um
Zellen handelt, die im Absterben begriffen
sind; dabei wird das proteolytische Ferment des Zelleibes
schnell frei und wirksam.
Nach Czerny haben die Kolostrumkörperchen die Auf¬
gabe, bei mangelhafter Sekretentleerung das Fett aus der Milch
herauszuschaffen. Sie beladen sich mit unverbrauchten Milch¬
kügelchen und sind imstande, die aufgenommenen Fetttröpfchen
im Zelleibe zu emulgieren. Wir glauben nun nach unserer
Untersuchung, dass den Kolostrumkörperchen noch eine zweite
Aufgabe zufällt : Die Leukozyten des Kolostrum
vermögen als Träger eines proteolytischen
Fermentes die Eiweissstoffe der stagnieren¬
den Milch abzubauen und der Resorption
wieder zugänglich zu machen. Das ist vielleicht um
so wichtiger, als bekanntlich der Albumingehalt des Milch¬
drüsensekretes kurz nach der Geburt ein besonders hoher ist.
Ob sich die biologische Aufgabe der Kolostrumkörper¬
chen damit erschöpft, ist fraglich. Es liegt die Möglichkeit vor,
dass das proteolytische Ferment der Kolostrumkörperchen
während der ersten Tage nach der Geburt, vielleicht sogar
während der ganzen ersten Woche, auch für die Er¬
nährung des Kindes bedeutsam ist. Man hat schon
oft die Vermutung ausgesprochen, dass in der Milch noch un¬
bekannte Stoffe vorhanden sind, die im Stoffwechsel des Kindes
eine wichtige Rolle spielen. Marfan (vergl. W i n c k e 1 :
Handbuch der Geburtshilfe) hat z. B. der Ueberzeugung Aus¬
druck verliehen, dass die Milch keine „tote Lösung“, sondern
einem „lebenden Gewebe“ zu vergleichen ist, vor allem mit
Rücksicht auf den Gehalt von löslichen Fermenten. Diese Fer¬
mente sind seiner Ansicht nach identisch mit jenen, die sich
der Organismus durch die innere Sekretion schafft. Sie haben
vielleicht die Bestimmung, „die Insuffizienz der inneren Sekre¬
tion beim Neugeborenen zu ergänzen“.
Auch Escherich (cf. W i n c k e 1 : Handbuch der Ge¬
burtshilfe) hat die Erfahrung betont, dass künstlich ge¬
nährte Kinder viel besser gedeihen, wenn man ihnen etwas
Frauenmilch zur Nahrung hinzugibt, selbst in so kleinen Men¬
gen, dass ihr Nährwert kaum in Betracht kommt. Er schloss
daraus, dass in der Muttermilch gewisse tonisierende Stoffe
(„Stoffwechselfermente“) vorhanden sind, welche die Assimi¬
lation und die Verwertung der aufgenommenen Nahrung er¬
leichtert. Unsere Befunde sind geeignet, diese Anschauungen
zu stützen, insofern als das proteolytische Ferment der Kolo¬
strumkörperchen während der ersten Tage nach der Geburt
vielleicht den gerade um diese Zeit besonders reichlichen Ei¬
weissgehalt der Milch peptonisieren hilft. Dies erscheint um so
zweckmässiger, als Gründe dafür vorhanden sind, dass die
Verdauungssäfte des Neugeborenen noch nicht so leistungs¬
fähig wie beim Erwachsenen sind. Man könnte dagegen ein¬
wenden, dass unsere Methode ja nur in den ersten Portionen
des Milchdrüsensekretes ein proteolytisches Ferment nach-
weisen kann, dass dagegen die später ausgeleerten Proben
keine Verdauungswirkung mehr zeigen. Demgegenüber ist gel¬
tend zu machen, dass die Dellenbildung durch die ersten Tröpf¬
chen eine sehr intensive war, und dass gelegentlich noch bei
der Entnahme von 2 — 3 ccm auch durch unser Verfahren noch
deutlich Ferment nachgewiesen werden konnte. Wenn unsere
Meinung über die Bedeutung dieses Fermentes für den Säug¬
ling richtig ist, so liegt darin ein weiterer Beweis dafür, dass
sterilisierte Kuhmilch die Mutterbrust niemals ersetzen kann
und zwar schon deshalb nicht, weil bereits ein kurzes Erhitzen
die Abtötung solcher Fermente bedingt. Uebrigens ist mit
äusserster Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass bei der Kuh
ein solches Ferment nicht im Brustdrüsensekret existiert, da
auch ihre Leukozyten des Fermentes entbehren. Ausserdem
kann man in unserem Befunde einen Hinweis darauf erblicken,
dass eine Amme für die erste Ernährung des Säuglings nur
dann der Mutter gleichwertig ist, wenn sie genau zu derselben
Zeit geboren hat.
Aus dem pathologischen Institut des Krankenhauses Cliar-
lottenburg-Westend (Prosektor: Prof. Dr. Henke).
Beiträge zum Nachweis der Spirochaete pallida in
syphilitischen Produkten.
Von Dr. E. Ritter, Assistent des Institutes.
Obgleich bereits eine gewisse Anzahl von Untersuchungen
über die Beziehungen der Spirochaete pallida (S c h a u d i n n)
zur Aetiologie der Syphilis von dermatologischer und patho¬
logisch-anatomischer Seite vorliegt, und die ursächliche Be¬
deutung dieses Erregers, — so weit man das ohne Gewinnung
von Reinkulturen sagen darf — , schon mit an Sicherheit gren¬
zender Wahrscheinlichkeit gesichert erscheint, so ist doch eine
möglichst vorurteilslose Prüfung dieser Befunde, von recht
verschiedener Seite und an einem möglichst grossen Material,
immer noch am Platze. Diese Forderung ist neuerdings um so
berechtigter, als immer wieder von den Mitarbeitern Sigels
aus dem Institut von Fr. Eilh. Schulze, besonders von Saling1)
versucht wird, die ätiologische Bedeutung der Spirochaete
pallida zu diskreditieren. Wenn auch meines Erachtens, na¬
mentlich für die Präparate von der Haut, differentialdiagnostisch
die Verwechslung mit Nervenendigungen bei der Silbermethode
in Betracht gezogen werden muss, so sprechen doch die viel¬
fach vorliegenden Kontrolluntersuchungen z. B. von Sim-
m o n d s 2) und die Massenhaftigkeit der Spirochäten,
z. B. in der syphilitischen Leber, durchaus gegen die
Einwände von Saling1). Während in der ersten Zeit
Schaudinn und seine Mitarbeiter sich wesentlich
auf die Untersuchung von Ausstrichpräparaten beschränken
mussten, so ist unzweifelhaft durch die Silbermethode von
Bertarelli-Levaditiein bedeutender Fortschritt zu ver¬
zeichnen. Erst durch diese Methode ist in manchen besonders
kongenital-syphilitischen Organen der Nachweis der Spiro¬
chäten in einer Massenhaftigkeit gelungen, dass man erstaunt
ist, wie dieser Befund den zahlreichen früheren Erforschern
der Syphilisätiologie entgangen ist. Einen weiteren wichtigen
Gesichtspunkt gestattet natürlich auch erst eine Schnittunter¬
suchungsmethode näher zu verfolgen, nämlich die Beziehungen
der Spirochäten zur Gewebsreaktion, zum syphilitischen Gra¬
nulationsgewebe, an dessen vielfach wenig charakteristische
Erscheinungsform bisher unsere histologische Diagnose ge¬
knüpft war. Aber namentlich eröffnet eine leistungsfähige
Schnittfärbungsmethode für die Spirochäten die Perspektive,
der gemutmassten syphilitischen Aetiologie mannigfacher ätio¬
logisch sonst unklarer Krankheitsbilder, wie Tabes, Paralyse,
gewisse deformierende Entzündungen der Aorta, Aneurys¬
men usw., näher zu kommen.
Ich möchte in dem Folgenden nur kurz das Resultat der
schon vor längerer Zeit begonnenen Untersuchungen mitteilen,
hoffe aber in einiger Zeit noch vollständiger über ein grösseres
Material (auch Kontrolluntersuchungen) berichten zu können,
namentlich auch von Produkten tertiärer Lues, bei der der
Nachweis sicherer Spirochäten bis jetzt ja nur vereinzelt ge¬
lungen ist (Doutrelepont, B e n d a, Thomaczewski,
Simmonds usw., eigene Befunde).
Ich habe mich im Wesentlichen auf den Nachweis der
Spirochäten im Schnitt beschränkt, da meine Erfahrung mit der
anderer übereinstimmt, dass die Spirochäten im Ausstrich bei
Giemsa- oder Marineblaufärbung viel spärlicher angetroffen
werden (vgl. z. B. die Erfahrungen von Rabinowitsch-
Heller bei der Untersuchung einer erheblichen Zahl von
Fällen).
Bezüglich der verwendeten Färbung habe ich mich im
wesentlichen an die Leva di tische Vorschrift ohne Pyridin
gehalten. Ich habe in Uebereinstimmung mit Verse gefunden,
D Zur Kritik der Spirochaete pallida Schaudinn. Zentralbl. f.
Bakteriol. etc., Bd. XLI, Heft 7.
) Ueber den diagnostischen Wert des Spirochätennachweises
bei Lues congenita. Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 27,
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2005
dass der Vorteil der Pyridinverwendung durch die stärkeren
Niederschläge, die man erhält, wieder ausgeglichen wird.
Schon vor der Mitteilung Verses war ich auf die nahe¬
liegende Idee gekommen, durch Anwendung von Zyankali und
Natriumthiosulfat die störenden Niederschläge auszuschalten;
es gelingt aber auch bei weiterem Einarbeiten in die Methode
ohne diese Massnahmen ganz gut brauchbare Resultate zu
erhalten. Wenn eine gleichzeitige Kernfärbung erwünscht ist,
so hat sich eine Nachfärbung mit dem von Verse vorgeschla¬
genen Jodgrün als zweckmässig erwiesen. Leider sind meine
Versuche, die mehrere Tage in Anspruch nehmende Dauer der
Methode abzukürzen, was für die praktische Verwendbarkeit
von Wichtigkeit wäre, bis jetzt fehlgeschlagen. Der nahe¬
liegende Gedanke, die Versilberung in Schnitten vorzunehmen
und dadurch dieZeit zu verkürzen, liess sich nicht verwirklichen.
Ich möchte nicht versäumen, auch zu erwähnen, dass ich ver¬
schiedene für schwerer färbbare Bakterien resp. Gewebe an¬
gewendete Methoden, die eine Beize enthalten, verwendet
habe, wie die Z i e h 1 - N e e 1 s e n sehe Tuberkelbazillenme¬
thode, die Bunge sehe Geisselfärbungsmethode, auch die
Weigert sehe Färbung auf elastische Fasern, ohne auch nur
einzelne Exemplare von Spirochäten im Schnitt damit sichtbar
machen zu können. Schnittfärbung mit Giemsalösung oder
mit Marineblau hat ebenfalls ein negatives Resultat ergeben.
Das mir bisher zur Verfügung stehende Material, das ich
neben unserem eigenen Krankenhausmaterial im wesentlichen
der dermatologischen Abteilung des alten Krankenhauses Char¬
lottenburg (Dr. Becker) und Herrn Privatdozenten Dr.
Heller verdanke, setzt sich zusammen zunächst aus einer
Anzahl von frisch exstirpierten Primäraffekten oder zweifel¬
haften Geschwürsbildungen an den Genitalien und Kondylomen.
Von diesen wurden von vornherein als klinisch zum min¬
desten zweifelhaft 8 Exzisionen bezeichnet.
Unter den 6 klinisch als sichere Lues bezeichneten Ex¬
zisionen wurden in 3 charakteristische Spirochäten vom Typus
der Pallida mit regelmässigen steilen Windungen aufgefunden.
Die Menge der Spirochäten war eine wechselnde, oft bei der
Durchsicht mehrerer Schnitte nur einzeln zu finden, wäh¬
rend z. B. in der Papel eines Luesrezidivs ganz abundante
Mengen von Spirochäten sich fanden, ebenso reichlich, wie sie
Blaschko in der Med. Klinik, Jahrgg. 1906, No. 13, abge¬
bildet hat. Die Verteilung der Spirochäten in diesen Fällen
war eine anscheinend ziemlich regellose, sie fanden sich sowohl
in den infiltrierten Partien, als auch noch in dem benachbarten
gesunden Grenzgewebe oft in grosser Menge. Stellenweise
fanden sich auch in einzelnen Gefässen innerhalb des histo¬
logisch gesunden Gebietes besonders zahlreiche Spirochäten
innerhalb der Gefässwandung, aber andere Gefässe desselben
Gebietes konnten vollständig frei befunden werden. Es wäre
noch besonders hervorzuheben, dass meines Erachtens die
echte Spirochaete pallida auch nach der L e v a d i t i sehen Me¬
thode vermöge ihrer steileren Windungen und ihres zarteren
Körpers sehr wohl sich von den viel plumperen Exemplaren
der Spirochaete refringens unterscheiden liess, die z. B. in
den obersten Schichten eines zunächst klinisch zweifelhaften
Ulcus in grossen Mengen gefunden wurde, das aber im weiteren
Verlauf der klinischen Beobachtung von kompetenter Seite
(Dr. Heller) quoad Lues sich völlig unverdächtig erwies.
Auffallend war auch, dass innerhalb der beginnenden Nekrose
des syphilitischen Infiltrates die Spirochäten keine so scharfen
Windungen mehr zeigten, oder dass man beobachten konnte,
dass etwa die eine Hälfte der Spirochäten wohl ausgebildete
Windungen zeigte, während die andereHälfte mehr einen gleich-
mässig gestreckten Verlauf aufwies. Ein ähnliches Bild gaben
die spärlichen Spirochäten, die es gelang in tertiären Pro¬
dukten aufzufinden, worauf ich weiter unten zurückkomme. In
zwei exstirpierten L'ymphdrüsen von klinisch sicherer Lues
konnten bei Durchsicht einer grösseren Anzahl von Schnitten
Spirochäten nicht aufgefunden werden. Ebenso konnten in den
drei übrig bleibenden klinisch als sicher angesprochenen Pri¬
märaffekten resp. Kondylomen trotz mehrfacher Untersuchung
sichere Spirochäten nicht nachgewiesen werden. Diese etwas
auffallende Tatsache deckt sich aber mit den ähnlichen Er¬
fahrungen anderer Untersucher. Es bleibt abzuwarten, ob
mit weiterer Verbesserung der Technik solche Fälle immer
seltener werden, oder ob dabei Dinge mitspielen, die sich bisher
noch nicht übersehen lassen.
Unter den 8 als klinisch zweifelhaft übersandten Exzisionen
aus Geschwüren oder Verhärtungen an den Genitalien fanden
sich in einem Fall zahlreiche charakteristische Spirochäten und
der weitere Verlauf dieses Falles ergab mit Sicherheit, dass es
sich um einen Fall von echter Syphilis in der Tat handelte.
Auf Syphilis verdächtige Neugeborene habe ich 3 unter¬
sucht. In dem einen, in dem in zahlreichen Organen sich die
Spirochäten in Massen fanden, wurde bekannt, dass die Mutter
an einer ganz floriden Syphilis während der Schwangerschaft
erkrankt war. In diesem Falle fanden sie sich in Ueber-
einstimmung mit Buschke, Simmonds etc. in einer Reihe
von Organen in geradezu erstaunlichen Massen, so besonders
in der Leber, der Milz, den Lungen. Eine besondere Beziehung
zu den histologischen Veränderungen, z. B. in der Leber zu
den interstitiellen Entzündungsherden, konnte auch hier nicht
in augenfälliger Weise erbracht werden; die massenhaften
Spirochäten lagen ziemlich wahllos auch in den unveränderten
Organgebieten. Auch in der Nabelschnur der zugehörigen Pla¬
zenta des Kindes, fanden sich ziemlich zahlreiche Spirochäten,
die, wie die nebenstehende Figur zeigt, die Wandung einer der
Spirochäten in der Nabelarterie eines syphilitischen Neugeborenen.
Nabelarterien ziemlich dicht durchsetzt haben. Auch hier fin¬
den sich histologisch keine auffallenden pathologischen Ver¬
änderungen. In der Plazenta selbst konnten trotz der Unter¬
suchung mehrerer Stellen und genauer Durchsuchung zahl¬
reicher Präparate Spirochäten nicht nachgewiesen werden.
Vielleicht stimmt diese Beobachtung mit der Tatsache überein,
dass im kindlichen Körper die Entwicklung der Spirochäten
eine besonders zahlreiche ist, so dass in den abführenden Ge¬
fässen sie besonders reichlich zur Entwicklung gekommen sind.
Die Untersuchung der beiden anderen Neugeborenen ergab
einen negativen Befund. Bei der einen Mutter lag die luetische
Erkrankung mehrere Jahre zurück.
Von Produkten tertiärer Syphilis, bei denen der Nachweis
der Spirochäten in vielen Fällen ein so hohes ätiologisches
resp. diagnostisches Interesse hätte, ist uns der Nachweis ganz
vereinzelter Spirochätenexemplare nur in 2 Fällen gelungen.
Freilich waren die aufgefundenen Spirochäten nicht in ihrer
ganzen Länge so gleichmässig ausgebildet wie bei den Fällen
frischer Lues, aber doch war namentlich in einem tertiären
Syphilid der Wangenhaut die eine Hälfte der Spirochäten mit
charakteristischen steilen Windungen ausgestattet, während der
andere Teil der Spirochäten mehr gestreckt verlief und mit
einer kleinen knopfförmigen Endigung abschloss. Aehnliche
Spirochätenexemplare findet man übrigens auch bei frischer
Lues dicht neben wohl ausgebildeten Exemplaren gar nicht
selten. Nur vereinzelte und ebenfalls nicht vollständig mit
charakteristischen Windungen begabte Spirochäten fanden sich
dann noch in der histologisch gesunden Zone eines wegen aus-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
gedehntester syphilitischer Nekrose exstirpierten Hodens. In
anderen fraglichen oder sicheren tertiärsyphilitischen Präpa¬
raten, so einer gummösen Meningitis der Hirnbasis, einer
fraglichen Aortitis syphilitica bei Tabes gelang es nicht, auch
nur vereinzelte Spirochäten nachzuweisen. Gerade nach dieser
Richtung sollen die Untersuchungen fortgesetzt werden.
Irgendwelche andere zweifelhafte Körper, die auf andere Ent¬
wicklungsstadien der Spirochäten verdächtig wären (Doutre-
lepont, Bose), konnte ich in den Levaditipräparaten nicht
nachweisen.
Ich hoffe in kurzem weiter über die Fortsetzung meiner
Untersuchung berichten zu können. Besonders erstrebenswert
wäre eine Abkürzung der für praktische Zwecke noch ziemlich
langwierigen und zeitraubenden Methode der Stückfärbung,
die aber doch so sicher wäre, dass die negativen Befunde bei
klinisch sicherer Lues auf ein Minimum herabgehen; denn so
erst würde es eine klinisch brauchbare und sichere Methode
werden, die die Untersuchung in Ausstrichen mit der Giemsa¬
färbung nach den Erfahrungen von Heller und R a b i n o -
witsch3) nicht ist. Ein zweites wichtiges Desiderat wäre
die Aufklärung vieler zweifelhaften tertiärsyphilitischen Krank¬
heiten durch eine exakte Methode, welche auch ganz ver¬
einzelte Spirochäten zur Anschauung bringt; scheint es doch,
dass auch in tertiären Produkten die Spirochäten selbst Vor¬
kommen und eine Rolle spielen, wenn es auch natürlich nicht
ausgeschlossen ist, dass andere Entwicklungsstadien der Spiro¬
chäte gerade in diesen Formen der Erkrankung uns noch ver¬
borgen sind; denn dass die Spirochaete pallida der lang¬
gesuchte Erreger der Syphilis ist, kann doch wohl schon nach
den bisherigen Feststellungen auch ohne dass wir schon Rein¬
kulturen in Händen haben, nicht mehr zweifelhaft sein.
Zum Schluss ist es mir eine angenehme Pflicht, meinem
verehrten Chef, Herrn Prof. Henke, für die Anregung zu
dieser Arbeit, sowie das lebhafte Interesse, das er derselben
entgegengebracht hat, meinen verbindlichsten Dank auszu¬
sprechen.
Aus dem Allgemeinen Krankenhaus St. Georg in Hamburg.
Zur Technik des Aetherrausches.
Von Dr. P. Sud eck, Chirurg. Oberarzt.
Der Aufsatz in No. 19 dieser Wochenschrift, in dem Dr.
zur Verth seine günstigen Erfahrungen bei der Anwendung
des Aetherrausches mitgeteilt hat, gibt mir die unmittelbare
Veranlassung, über die Technik dieser Methode einige Bemer¬
kungen zu machen, nachdem ich mich bereits durch sonstige
Veröffentlichungen und durch mündliche Mitteilung überzeugt
hatte, das in Bezug auf die Technik noch vielfach die Vor¬
schriften befolgt werden, die ich in meiner ersten Veröffent¬
lichung über dieses Thema gegeben habe, obgleich unterdessen
die Technik wesentliche Verbesserungen erfahren hat. Ich habe
zu Anfang 30 — 50 g Aether auf die Maske aufgegossen und den
Patienten aufgefordert, mit Aufwand aller Energie und mit tiefen
Atemzügen die konzentrierten Aetherdämpfe einzuatmen. Die
Analgesie des Rauschzustandes tritt dann allerdings bereits
nach wenigen Atemzügen ein — ich habe oft beim 2. tiefen
Atemzug operiert — aber die Methode erfordert grosse Energie
von seiten des Patienten, erregt Husten, oft Erstickungsgefühl
und Angst. Zur Verth schreibt in seinem genannten Aufsatz:
„Von den aufgegossenen etwa 30 g Aether nimmt der zu Be¬
rauschende, der vorher informiert ist, dass ihn trotz reich¬
lichen Zutritts frischer Luft das Gefühl des Erstickens befällt,
einige tiefe Atemzüge. Meist schläft er nach dem 3. bis 4.
Atemzuge. Es ist dabei oft nötig, den zu Berauschenden halten
zu lassen, da Versuche, um sich zu schlagen, öfters Vorkom¬
men.“ Abgesehen von den damit für den Patienten verbundenen
grossen Unannehmlichkeiten ist diese Darreichungsform auch
nicht so sicher, wie die gleich zu beschreibende. Aus diesem
Grunde ist der Aetherrausch manchem Arzt unsympatisch ge¬
blieben.
Man kann aber diese Unannehmlichkeit
leicht und ohne Nachteil für den Effekt u m -
3) Einige Mitteilungen über die praktisch-diagnostische Verwert¬
barkeit der Untersuchung auf Spirochaete pallida. Med. Klinik 1906,
No. 28.
gehen, seitdem wir grössere Sicherheit in der praktischen
Anwendung der Methode gewonnen haben, und auch die
Theorie besser zu beurteilen verstehen. Durch zahlreiche
Nachprüfungen ist nämlich die Methode als sicher wirkend
anerkannt und damit ist das anfangs nicht ganz zu unter¬
drückende Gefühl der Unsicherheit oder wenigstens der ge¬
spannten Erwartung, ob es gut gelingen wird, oder nicht, ver¬
schwunden. Ferner war von Wichtigkeit und erhöhte die
Sicherheit eine Studie von Hof mann1), in der der Autor
darauf hinweist, dass der von mir zur Ausführung von Opera¬
tionen benutzte Zustand der Analgesie bei noch mehr oder
weniger erhaltenem Bewusstsein eine bei jedem Narkotikum
auftretende mehr oder weniger lang dauernde Phase der nor¬
malen Narkose wäre, der ein längeres durch eine geringere
oder stärkere Exzitation zum Abschluss gebrachtes Stadium,
in welchem keinerlei Anästhesie bestehe, folge, und das am
Schluss über die längst bekannte Halbnarkose hinweg zur
vollen Dauernarkose führt. 2) Es ist also ganz überflüssig in
der ursprünglich von mir angewandten, etwas gewaltsamen
Weise vorzugehen, sondern man kann, wie es Hof mann
tat und wie ich es auch seit der Einführung der Aether-Tropf-
Narkose durch Witzei und Hof mann getan habe, den
Aetherrausch sehr allmählich einleiten, so dass die Manipu¬
lation und die Darreichung des Aethers sich von dem Beginn
einer gewöhnlichen modernen Aethernarkose nicht unter¬
scheidet. Jede stärkere Hustenreaktion, Angstgefühl und Er¬
stickungsgefühl muss als ein Fehler angesehen werden. Die
einzige Kunst besteht also lediglich darin, sich mit der Narkose
einzuschleichen und den richtigen Zeitpunkt zu erkennen und
auszunutzen, was auf die gleich zu beschreibende Art ziemlich
leicht gelingt.
Die Technik gestaltet sich also folgendermassen: Die Des¬
infektion des Patienten und des Arztes, sowie alle Vorberei¬
tungen sind vor dem Beginn der Narkose getroffen. Der Patient
ist, wenn es nützlich erscheint, darauf vorbereitet, dass er die
Operation zwar bemerken, aber keine Schmerzen empfinden
wird.
Man lässt dann den Patienten durch die vorgehaltene Maske
tiefe Atemzüge machen, zunächst noch ohne einen Tropfen
Aether aufgegossen zu haben, dann giesst man einen Tropfen
Aether auf, nach einigen Atemzügen wieder einen Tropfen,
bald bei jedem Atemzuge einen Tropfen und dann, je nach der
Toleranz der Atmungswege steigend, bis man zu einem raschen
Tröpfeln angelangt ist.
Den Eintritt der Analgesie stelle ich fest, indem ich von
vornherein Gefühlsprüfungen genau wie bei der neurologischen
Prüfung mit einer Knopfnadel an dem zu operierenden Gliede
oder im Gesicht, Stirn, Kinn oder sonst wo anstelle. Sobald
der Patient spitz und stumpf nicht mehr unterscheiden kann,
oder auf energisches Anreden nicht mehr antwortet, wird
operiert. Viele Patienten antworten übrigens nach Eintritt der
Analgesie auf jede, sei es spitze oder stumpfe Berührung in
stereotypem Tone „spitz“; auch sie sind reif zur Operation.
Diese Prüfung kann auf mancherlei andere Art, wie sie in der
Literatur beschrieben sind, angestellt werden. Ich komme mit
der Spitz- und Stumpfprüfung immer ausgezeichnet aus und
erlebe nur äusserst selten mehr Misserfolge.
Der Zweck dieser Mitteilung, nämlich das Meinige zu tun,
um die unsympatische und unnötig quälende Methode, mit der
ich meine Versuche begonnen hatte, aus der Welt zu schaffen,
ist hiermit erfüllt. Da ich aber einmal das Wort ergriffen habe,
so seien hier noch einige kurze Bemerkungen über diesen
und jenen Punkt gestattet.
Zur Ausführung des Aetherrausches ist jede Maske, auch
eine aus einer Serviette mit eingewickeltem Wattebausch im¬
provisierte (K ü 1 1 n e r) zu gebrauchen, jedoch müssen sämt¬
liche nicht offenen Masken, bei denen Sauerstoff ungenügend
1) Hof mann: Ueber die einzelnen Phasen der Betäubung zu
Beginn der Narkose. Zentralbl. für Chirurgie 1903, No. 11.
*’) Braun bezeichnet diesen Zustand treffend als Stadium anal-
geticum. Der von Hof mann angewandte Ausdruck „Frühnarkose“
im Gegensatz zu „Dauernarkose“ hat weder theoretische, noch prak¬
tische Vorzüge, auch gibt er nach dem allgemeinen Sprachgebrauch
keine Vorstellung, um was es sich eigentlich handelt. Ich halte dem¬
nach meine ursprüngliche Bezeichnung als „Rausch ‘ für besser.
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2007
zugeführt wird, als nicht mehr zeitgeinäss verworfen werden.
Ich benutze stets die von mir mit Benutzung des Roth-
D r ä g e r sehen Ansatzes konstruierte Maske, bei der ich ge¬
wöhnlich nur 5 — 10 — 15 g Aether, selten 20 oder gar 25 g ge¬
brauche. Die Maske arbeitet infolge der Ventilverschlüsse sehr
sparsam.
Ausserordentlich bewährt hat sich mir eine von mir auf
sehr einfache Weise konstruierte Narkosen-T ropfflasche.
Diese graduierte Flasche trägt einen Stöpsel mit einer Schrau¬
benvorrichtung, durch die die Tropfung genau reguliert werden
kann. Diese Stöpsel können auf jede Original-Aether- oder
Chloroformflasche aufgesetzt werden. In der Privatpraxis
muss man sich nur daran gewöhnen, immer dieselbe Packung
zu beziehen und sich die Stöpsel dafür angepasst zu halten.
Ich benutze z. B. stets Aether pro narcosi Schering, Original¬
packung 50 g enthaltend und Chloroform Anschütz, Original¬
packung, 25 g enthaltend. Diese Tropfstöpsel kann ich wegen
ihrer zuverlässigen Funktion und wegen ihrer Mühe und Auf¬
merksamkeit sparenden Eigenschaften für die gewöhnliche Nar¬
kose noch mehr wie für den Aetherrausch empfehlen. Denn
dass man heutigen Tages nur noch Tropfennarkosen macht —
auch mit Aether — erscheint nach dem Vorgänge W i t z e 1 s
als selbstverständlich.
Trotzdem auch bei langsamer Tropfung die Analgesie
sicher eintritt, halte ich es doch für vorteilhaft, nur zu Anfang,
um sich mit dem Narkotikum einzuschleichen, langsam zu
tropfen, später aber bei rascher Tropfung tiefe und rasche
Atemzüge machen zu lassen.
Noch ein Wort über die Misserfolge des Aether-
rausches, die bei mangelnder Uebung und falscher Technik
natürlich nicht ausbleiben. Der ideale Verlauf des Aether-
rausches ist so, dass der Patient bei Beginn der Operation noch
so weit bei Bewusstsein ist, dass er etwaigen Aufforderungen
des Operateurs, z. B. beim Zähneziehen den Mund zu öffnen,
gehorcht, den ganzen Vorgang der Operation bemerkt und
später das Erlebte beschreiben kann, keine Schmerzen dabei
empfindet, sondern nur Tasteindrücke hat, sofort nach Beendi¬
gung der Narkose aufsteht und, noch leicht erregt oder wenig¬
stens in gehobener Stimmung sich völlig wohl fühlt, eventuell
wieder an das Geschäft geht.
Etliche Patienten können es* nicht unterlassen, bei dem
Eingriff zu schreien. Dies ist noch kein Beweis, dass wirklich
Schmerzen empfunden werden; denn es ist eine Art Suggestion
und für viele Menschen selbstverständlich, dass sie schreien,
wenn sie eine grössere Operation an sich vollführt fühlen.
Auch energische Menschen schreien unter Umständen mehr,
als wie sie es bei einer Operation ohne Narkose tun würden,
weil sie die Selbstbeherrschung durch den Aether verloren
haben. Diese Mitteilung erregt meistens bei solchen Kollegen,
die keine grosse Erfahrung über den Aetherrausch haben, ein
ungläubiges und überlegenes Lächeln. Jedoch wird durch viele
Mitteilungen von operierenden Aerzten und von operierten
Patienten die Richtigkeit dieser Beobachtung bestätigt, auch
wird sie dadurch bewiesen, dass trotz des Schreiens von dem
Patienten meistens keine Abwehrbewegungen gemacht werden.
Man kann also, falls dies Ereignis eintritt, von einem eigent¬
lichen Misserfolg nicht sprechen, sondern dies wäre erst dann
der Fall, wenn man den richtigen Moment verpasst und ent¬
weder zu früh oder zu spät operiert, so dass die Patienten
wirklich lebhafte Schmerzen empfinden. Durch eine genaue
Prüfung der Sensibilität für Schmerzeindrücke mit der Knopf¬
nadel kann man jedoch diese Misserfolge auf einen kleinen
Prozentsatz herabdrücken, um so mehr, je mehr Uebung man
hat. Manchmal, wenn das Stadium analgeticum überschritten
ist, und wenn infolgedessen die Schmerzempfindung wieder
eintritt, ist es die richtige Massnahme, mit dem Narkotikum
aufzuhören, anstatt, wie es bisweilen in Verkennung des Zu¬
standes geschieht, immer mehr Aether zu verabreichen.
Wirkliche Misserfolge, die man durch kein Mittel ver¬
meiden kann, erlebt der Geübte nur sehr selten, und zwar bei
einer gewissen Kategorie von Menschen, die auch im Aether¬
rausch, der doch die Furcht vermindert, so von Angst beseelt
sind, dass sie fest entschlossen sind, nichts an sich machen zu
lassen, solange sie es noch merken. Sobald sie merken, dass
die Operation beginnt, fangen sie, ob es nun weh tut oder nicht,
besinnungslos an zu brüllen und mit Armen und Beinen zu
strampeln, so dass jeder Versuch, den Aetherrausch durch¬
zuführen, am besten sofort aufgegeben wird. Das beste ist
dann, gleich die volle Narkose einzuleiten .
Dies ist ja ein grosser Vorzug des Aetherrausches, dass
ein etwaiger Misserfolg eine geringe Bedeutung hat. Denn
man braucht ja gegebenenfalls nur weiter zu narkotisieren, da
der Rauschzustand nichts anderes ist als eine Phase der in der
gewöhnlichen Weise eingeleiteten Aethernarkose.
Was die Wahl des Narkotikums anlangt, so habe
ich niemals Veranlassung gesehen, ein anderes Narkotikum
wie Aether zu gebrauchen, etwa wie Riedel Chloroform oder
Chloräthyl, da der Aether durchaus seinen Zweck erfüllt und
in der Anwendungsform des Aetherrausches als vollkommen
ungefährlich gelten kann, was von keinem anderen Inhalations¬
narkotikum behauptet werden kann.
Ueber die Induratio penis plastica.
Von Privatdozent Dr. Ludwig Waelsch in Prag.
Das Krankheitsbild der sogen, plastischen Induration des
Penis, Induration plastique des Corps caverneux (D e la¬
ta o r d e) (Synonyma: Ganglion [R i c o r d], Noeuds du
corps caverneux [N e 1 a t o n], Cavernitis senilis [Horo-
v i t z]) ist charakterisiert durch das Auftreten um¬
schriebener, anfänglich scharf begrenzter, derber bis knor¬
pelharter Stränge oder Knoten, von Bohnengrösse und
darüber, oder plattenförmiger Gebilde, welche zumeist,
mehrere hintereinander gelegen, in der Mittellinie des
Penis, an dessen Dorsalfläche, sich entwickeln. In
dem Masse, als sich dann diese Knoten nach den Sei¬
ten vergrössern, gehen sie auf das Corpus cavernosum
penis selbst über, und werden dadurch unscharf be¬
grenzt. Die Knoten selbst sind vollkommen schmerzlos,
verursachen aber dem Patienten häufig dadurch Beschwerden,
dass die Erektionen schmerzhaft werden und sich bei der
Erektion eine Knickung des Gliedes an der Stelle der Knoten¬
bildung, eine Chorda, einstellt.
Es wurde auch beobachtet, dass die Erektion des Gliedes
nur bis zu der Stelle, an welcher sich der grosse Knoten be¬
findet, reicht, der vor ihr gelegene Teil des Gliedes aber
mangelhaft erigiert oder ganz schlaff bleibt. (Erection humile,
louche, Strabismus penis.) Letztere Symptome, die Impotentia
coeundi bedingen, rufen bei den Patienten häufig bedeutende
psychische Alterationen hervor. Und auch in jenen Fällen, in
welchen noch nicht Unmöglichkeit des Geschlechtsverkehrs
besteht, bewirkt die Furcht vor diesen Folgezuständen im
Verein mit den schmerzhaften Erektionen gar oft melancho¬
lisch-hypochondrische Depressionszustände.
Die Ursache dieser seltenen Erkrankung ist bis jetzt noch
nicht völlig aufgeklärt und was den Verlauf bezw. die Beein¬
flussung des Verlaufes durch die Behandlung betrifft, so sind,
wie ich später noch des Genaueren ausführen werde, fast alle
Autoren darin einig, dass die Behandlung im allgemeinen völlig
erfolglos, die Prognose des Leidens daher eine schlechte sei.
Die Beobachtung dreier Fälle dieser eigenartigen Krank¬
heit gab mir nun Gelegenheit, der Frage nach der Aetiologie,
sowie nach der therapeutischen Beeinflussbarkeit der Induratio
penis plastica näher zu treten und zu versuchen, das Krank¬
heitsbild klinisch schärfer zu umgrenzen.
I. 34 jähriger Kaufmann.
Vor 13 — 14 Jahren Tripper ohne Komplikationen, der 5 Wochen
dauerte und sich nach 3 Jahren angeblich ohne bekannte Ursache
neuerlich einstellte. Dieses Rezidiv war nach einigen Tagen wieder
verschwunden. Patient fühlte sich darauf vollkommen wohl; kein
Morgentropfen, keine Beschwerden. Vor 4 Jahren heiratete Patient.
Die Ehe ist bis jetzt kinderlos; Frau ist gesund. Seit einem Jahre
leidet Patient an dumpfen Schmerzen im Kreuze. Ein zu Rate ge¬
zogener Arzt konstatierte als deren Ursache eine chronische Pro¬
statitis, massierte und instillierte durch 2 Monate.
Bereits vor Auftreten der Kreuzschmerzen litt Patient bei Erek¬
tionen an „eigentümlich dumpfen“ Schmerzen im Glied und zwar in
dessen vorderem Anteil. Wegen dieser Erscheinungen und wegen des
ausbleibenden Erfolges der Massagebehandlung konsultierte er nun
einen anderen Arzt, der die früher gestellte Diagnose „Prostatitis“
nicht anerkannte und alle Erscheinungen auf die Affektion des Penis
bezog. Zu dieser Zeit bemerkte Patient auch, dass das Glied bei der
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
Erektion gekrümmt sei, indem die sich nicht völlig erigierende Eichel
nach oben abgeknickt war. Die Knickung sowie die während der
Erektion vorhandenen Schmerzen machen ihm den Geschlechtsver¬
kehr unmöglich. Die von dem zweiten Arzte durchgeführte Be¬
handlung (lOproz. Jodsalbe auf das Glied, Jodkali innerlich) blieb
vollkommen erfolglos. Patient ist Hämophile.
Status praesens vom 13. Januar 1901: Harn klar, faden-
frei, frei von pathologischen Bestandteilen. Prostata im linken Lappen
massig vergrössert, nicht auffallend schmerzhaft. Exprimiertes
Prostatasekret ergibt keine Eiterzellen. Am Rücken des Penis, ent¬
sprechend dem Septum intercavernosum, nach vorne bis 1 cm vor
den Sulcus coronarius reichend, findet sich ein harter, die Medianlinie
nach links etwas überschreitender Strang von der Stärke eines Blei¬
stiftes, der, sich allmählich verschmächtigend, bis etwa 3 cm vor die
Peniswurzel sich verfolgen lässt, hier aber immer undeutlicher wird
und in einem kleinen knopfförmigen Gebilde endet. Sein vorderes
Ende verbreitert sich ziemlich unvermittelt zu einer kleinen Platte von
ca. :tt cm Durchmesser. Der Strang ist auf Druck nicht schmerzhaft,
die Inguinaldrüsen nicht verändert.
II. 38 jähriger Kaufmann.
Patient konsultierte mich wegen eines kleinen Geschwürchens
an der Urethralmündung. Er machte zweimal Tripper durch,
den letzten vor 5 Jahren; dieser verlief von allem Anfang an chro¬
nisch und dauerte angeblich 3 Wochen.
Vor 16 Jahren Lues, welche angeblich ziemlich leicht verlief.
Vor einem Jahre bemerkte Patient, dass bei der Erektion sein
Penis sich nach oben krümmte und sich dabei leichte Schmerzen ein¬
stellten. Ein zu Rate gezogener Arzt verordnete dagegen vor un¬
gefähr Vz Jahre eine energische Quecksilberkur, ohne dass sich der
Zustand geändert hätte.
Status praesens vom 30. September 1905. An der unteren
Kommissur der Harnröhrenmündung schmierig belegtes Geschwür von
Kleinlinsengrösse. Im Harn zahlreiche Flocken. Am Rücken des Penis,
im Septum intercavernosum, ein ca. 4 cm langer derber Strang, der
1 cm vor der Peniswurzel beginnend, bis ca. lVz cm hinter die Eichel
reicht, in seinem rückwärtigen Teil auf das rechte Corpus cavernosum
penis übergreift und vorne eine knopfartige Anschwellung zeigt.
III. 31 jähriger Arzt.
1896 Tripper ohne Komplikationen, jedoch von längerer Dauer,
unter lokaler Behandlung ausgeheilt. Anfangs März 1903 verspürte
Patient während eines Koitus, bei dem sich das erigierte Glied ab¬
knickte, grosse Schmerzen im Gliede, „als ob etwas rupturiert wäre“.
Nach ca. 3 Tagen Hessen die dumpfen Schmerzen nach; am Gliede
selbst war gar nichts zu sehen oder zu tasten. Ein zu Rate ge¬
zogener Kollege machte die Wahrscheinlichkeitsdiagnbse einer Ruptur
und geringer Blutung im Schwellkörper, die sich wohl bald resor¬
bieren dürfte. Seit dieser Zeit hatte Patient immer Schmerzgefühl
bei Erektionen, aber zeitweise auch sonst, welches hinter die Eichel
lokalisiert wurde. Im Frühjahr 1904 konstatierte Patient eine un¬
bedeutende Verdickung des Septum des Penis auf der Dorsalseite,
beiläufig beim Uebergang des distalen in das mittlere Drittel, ca. 1 cm
hinter der Korona, dann langsames Wachstum der Verdickung, sowohl
in distaler als auch in seitlicher Richtung mit Uebergreifen zuerst auf
das rechte, dann auf das linke Corpus cavernosum penis. Keine be¬
sonderen Schmerzen, keine Deformität bei der Erektion. Im Herbste
1905 entstand gleichzeitig mit der Bildung einer kleinen knötchen¬
förmigen Verdickung im Septum am Uebergange des mittleren in das
proximale Drittel bei der Erektion eine Deformation des Gliedes in
Form einer doppelten Knickung nach links und oben und zwar war
je eine Knickung beim Uebergang des distalen und proximalen
Drittel in das mittlere (also dort, wo die Knoten sassen) unter gleich¬
zeitigem dumpfem Schmerzgefühl, das sich während der Erektion
bedeutend steigerte. An Stelle der Knickungen bestand eine leichte
Einschnürung des Penis hauptsächlich links. Um diese Zeit ent¬
wickelte sich auch aus der Verhärtung hinter dem Sulcus coronarius
in der Mittellinie dorsal eine plattenförmige harte Verdickung von
annähernd rundlicher Form und ca. 114 cm Durchmesser, die sich wie
ein Sattel über das linke Corpus cavernosum penis hinüberlegte, sich
von diesem ziemlich gut abheben Hess, mit einem Fortsatz in das
Septum intercavernosum hineinragte, mit dem rechten Corpus caver-
nosum im festen Zusammenhang war. Seit dem Herbste 1905 hatte
die Afrektion eine auffallende Tendenz zu rascherem Wachstum ge¬
zeigt.
Was wissen wir nun über die Aetiologie der fraglichen
Krankheit im allgemeinen und was können wir im Besonderen
zur Beantwortung dieser Frage aus den von mir beobachteten
Fällen erschliessen?
Für die Entstehung von Indurationen des Penis werden
die verschiedensten Ursachen verantwortlich gemacht: vor
allem schwere Allgemeinerkrankungen. Sie können auftreten
als Begleitei scheinungen einer Leukämie, ferner sind sie bei
Diabetes, Rheumatismus, Gicht beobachtet worden, weiters
bei I yämie, Blattern, Typhus abdominalis und Typhus exan-
thematicus. In velchei W eise aber wir uns den Zusammen¬
hang dieser verschiedenartigen Erkrankungen mit dem Auf¬
treten der Indurationen erklären sollen, darüber ist nichts po¬
sitives bekannt. Von den Autoren werden die, die erwähnten
Krankheiten begleitenden schweren Ernährungsstörungen, die
zu abnormer Zerreissbarkeit der Gefässwandung Veranlassung
geben können, als ursächliches Moment beschuldigt, so zwar,
dass es bei der Erektion zum Reissen der prallgespannten Ge¬
fässwandung und zu Blutungen in das interkavernöse Gewebe,
bezw. in die Corpora cavernosa penis selbst kommen kann.
Bei den erwähnten akuten Infektionskrankheiten mag es sich
auch um Metastasen der Erkrankung im Gliede handeln,
zumal der Prozess dann häufig akut verläuft. (Plötzlich auf¬
tretende heftige Schmerzen, Priapismus mit hohem Fieber,
Neigung zu Abszessbildung, nach Ausheilung der Abszesse
narbige Schwielenbildung.
Ausser diesen wahrscheinlich auf spontane Blu¬
tungen zurückzuführenden Ursachen, wird die Ent¬
stehung der Induration von einer grossen Zahl von Beobachtern
auf Blutungen traumatischen Ursprungs zurück¬
geführt, auf Traumen, welche das erigierte Glied treffen. Sie
können vor allem gegeben sein durch forcierten Koitus, der
zu Blutaustritten in das Corpus cavernosum penis führt,
wonach, wenn nicht frühzeitig Resorption eintritt, an der
Stelle der Blutung Narbengewebe sich entwickelt, oder
durch andere Traumen, welchen der erigierte Penis ausgesetzt
war. Aus der Zahl dieser Beobachtungen seien als Beispiele
hervorgehoben die B u s c h k e s, wo sich nach ungestümem
Koitusversuch in der Trunkenheit eine Ruptur des Corpus ca¬
vernosum mit grossem Bluterguss entwickelte und dadurch
schwielige Verdickungen entstanden. Johnson beschreibt
zwei Fälle, die plötzlich unter starken Schmerzen während des
Koitus entstanden, und nimmt als Ursache Ruptur im Corpus
cavernosum penis mit Narbenbildung, vielleicht teilweiser
Thrombose an. In einem Falle Horovitz’ trat die Affektion
nach einem Sturz des trunkenen Menschen aus dem Bette ge¬
legentlich des Koitus auf.
Auch im Gefolge von Gonorrhöe können Indurationen
im Corpus cavernosum entstehen; sie sind einerseits der End¬
ausgang akut sich entwickelnder und verlaufender Entzün¬
dungen im Corpus cavernosum, andererseits das Produkt chro¬
nisch entzündlicher Prozesse. Besonders die letzteren ent¬
wickeln sich in der Mehrzahl der Fälle im Corpus cavernosum
urethrae, und hier für gewöhnlich an dessen ventraler Seite.
Sie können aber auch, allmählich das Corpus cavernosum penis
ergreifend, daselbst zur Bildung mehr weniger scharf um¬
schriebener, knotiger Verdickungen oder schwieliger Verhär¬
tungen Veranlassung geben.
Der Tertiärperiode der Syphilis angehörige Kaverni-
tiden können ebenfalls ähnliche Infiltrate entstehen lassen. Sie
kann führen zur Bildung umschriebener, allmählich erweichen¬
der, eventuell nach aussen durchbrechender Gummiknoten, oder
es kann sich die gummöse interstitielle Entzündung ohne vo-
i ausgegangenen Zerfall allmählich in eine Schwiele umwandeln
(L a n g).
Endlich können auch Neubildungen (Fibrome, Chon¬
drome, Osteome, Karzinome und Sarkome) zur Entstehung
knotiger Bildungen im Gliede Veranlassung geben.
Aus dem Gesagten ergibt sich wohl zur Genüge, dass unter
dem Namen der „plastischen Induration“ in ihrer Aetiologie,
Symptomen und Verlauf verschiedenartigste Prozesse, welchen
allen nur gemeinsam ist, dass sie zu Knotenbildung im Penis
im weitesten Sinne des Wortes Veranlassung geben, wahllos
zusammengeworfen wurden. Aus der grossen Zahl dieser
müssen wir die von allem Anfang an sich chronisch entwickeln¬
den Knoten und Stränge, welche am Dorsum penis in der Me¬
dianlinie auftreten und erst sekundär die Schwellkörper er¬
greifen, herausheben und als „eigentliche chronische Induratio
penis plastica“ mit bisher unbekannter Aetiologie, den anderen
auf die erwähnten Ursachen zurückzuführenden gegenüber¬
stellen. Von dieser letzteren, die in den neueren Lehr- und
Handbüchern kurz abgehandelt und auch besonders hervorge¬
hoben wird, glaubt Finger, dass es sich um einen primär in
der T unica albuginea abspielenden Prozess handelt, der von
hier aus auf das Corpus cavernosum übergeht und in der Neu¬
bildung von fibrösem, vielleicht auch knorpeligem Gewebe
besteht. (Posner sah einen Fall, bei dem das Röntgenbild
9. Oktober 1906. MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2009
Knorpel oder Kalkablagerung in dem Knoten ergab.) Der Pro¬
zess scheint Finger eine senile Veränderung, die Horo-
v i t z mit Arteriosklerose in Verbindung bringen will, eine
Vermutung, die auch P o s n e r ausgesprochen hatte.
H o r o v i t z speziell stützt sich bei dieser Behauptung auf
die Untersuchungen Schurygins, der an Leichen beson¬
ders ausgesprochene arteriosklerotische Veränderungen an den
Arterien und Venen des männlichen Gliedes fand. Horo-
vitz glaubt, „dass die an den Gefässen beobachteten Wu¬
cherungen auch das die Gefässe umgebende Bindegewebe be¬
fallen, und dass zum Bilde der Altersveränderung auch Binde¬
gewebswucherung auf Kosten der spezifischen Elemente ge¬
hört. Auch die Bluträume des Corpus cavernosum werden von
dieser Entartung befallen, und so etabliert sich das Uebel an
den ergriffenen Stellen. Gewöhnlich handelt es sich um Men¬
schen, welche an der Schwelle des Greisenalters oder in dem¬
selben stehen, und Arteriosklerose vieler Gefässe darbieten."
Jadassohn gesteht zu, dass es Fälle gibt, in welchen
Kein einziges der von den verschiedenen Autoren angeführten
ätiologischen Momente auffindbar ist. v. Winiwarter reiht
den Prozess unter die chronische Kavernitis ein; er spricht
sich darüber folgendermassen aus: „Einzelne dieser Indura¬
tionen sind vielleicht nur die Resultate subkutaner Zerreis-
sungen der Albuginea und intrakavernöser Blutextravasate.
Andere sind zum Teile Gummata, zum Teile Produkte go¬
norrhoischer Periurethritis, starre Narbenmassen, Gichtknoten,
Produkte der Thrombose usw. Es bleiben aber ausserdem noch
Fälle übrig, deren Entwicklung auf eine alternierte bakterielle
Infektion zurückzuführen ist, wie die als Phlegmon ligneux
(R e c 1 u s), „Holzphlegmone“, beschriebene ähnliche Affektion.
Dafür spricht, dass der chronischen Bindegewebswucherung
— denn nur um eine solche handelt es sich — immer Ver¬
letzungen oder Erkrankungen der benachbarten Teile, wenn
auch anscheinend unbedeutende, vorausgehen.“
Was können wir nun, unter Zuhilfenahme der besprochenen
Anschauungen über die verschiedenen ätiologischen Möglich¬
keiten, aus den von mir beobachteten Fällen, zur Aufklärung
der Aetiologie der eigenartigen Erkrankung beitragen?
Die Anamnese ergibt die verschiedenartigsten Anhalts¬
punkte. In Folgendem sollen diese auf ihren Wert objektiv
geprüft werden. Meine 3 Patienten haben sämtlich Gonorrhöe
durchgemacht und es könnte daher, da ja auch diese ätiologische
Möglichkeit von manchen Autoren hervorgehoben wird, an
einen Zusammenhang der beiden Prozesse gedacht werden.
Es liegen aber bei allen diesen Patienten die Tripperinfektionen
Jahre zurück, bei zweien war übrigens der Prozess vollständig
ausgeheilt. Hiezu kommen noch die schon besprochenen Ein¬
wände gegenüber dem fraglichen Zusammenhang zwischen Go¬
norrhöe und Induratio penis plastica überhaupt, so dass wir
diesen Zusammenhang wohl mit Sicherheit negieren können.
Dasselbe gilt auch bezüglich der Lues. Von meinen
3 Fällen hat Fall II Lues durchgemacht; sie liegt aber 16 Jahre
zurück und hat seit ca. 14 Jahren überhaupt keine Erscheinungen
gemacht. Irgendwelche Infiltrationsprozesse im Corpus ca¬
vernosum, als deren Ausgang man die bestehende Affektion auf¬
fassen könnte, sind deren Entwicklung nicht vorausgegangen.
Die energische antiluetische Kur hatte auch gar keinen Einfluss,
so dass dieDeutung desProzesses als einer der tertiären Periode
der Syphilis angehörigen chronischen Entzündung der Schwell¬
körper wohl mit Recht von der Hand gewiesen werden kann.
Uebrigens beginnt der Prozess gar nicht im Schwell¬
körper, sondern im Septum intercavernosum, und die beiden
anderen, von mir publizierten Fälle haben ja Lues überhaupt
nicht durchgemacht.
Stoffwechsel- oder Infektionskrankheiten lassen sich bei
meinen Fällen nicht nachweisen und waren auch nicht voraus¬
gegangen, so dass auch dieses ätiologische Moment nicht zur
Diskussion gestellt werden kann.
Meine Fälle befanden sich alle in gutem Ernährungs¬
zustand; es waren ziemlich kräftige, sonst ganz gesunde Leute
in den dreissiger Jahren. Es entwickelt sich also die Affektion
nicht, wie Finger meint, stets bei Männern vorgerückteren
Alters (der Patient Echtermayers z. B. war 29 Jahre alt,
2 Fälle von Scholz standen ebenfalls in den dreissiger
Jahren), und es kann daher der Prozess nicht als eine senile
No. 41.
Veränderung aufgefasst werden, wie dies Finger und Horo-
v i t z tun.
Während uns die Anamnese im allgemeinen bezüglich
der bisher angeführten ätiologischen Momente im Stiche lässt,
begegnen wir in der Krankengeschichte meines Falles III, des
Arztes, einer anamnestischen Angabe, die genauer besprochen
werden muss. Der Kollege war nämlich geneigt, das Auf¬
treten der Affektion mit einem Trauma in Verbindung zu brin¬
gen. Ein Jahr vor ihrem Auftreten verspürte er während
eines Koitus einen heftigen Schmerz im Glied, der dann noch
lange Zeit, besonders bei Erektionen anhielt, und den ein zu
Rate gezogener Arzt auf eine wahrscheinliche Hämorrhagie
und Blutung im Schwellkörper bezog..
Fall I ist ein Hämophile und es ist nicht von der Hand
zu weisen, dass bei der Entstehung seiner Affektion ebenfalls
ein Trauma mitspielte, welches so geringfügig war, dass es
seiner Aufmerksamkeit entging, und doch bei der bekannten
Zerreisslichkeit der Gefässwände hämophiler Individuen zu
einer Blutung und konsekutiver Induration hätte Veranlassung
geben können. Patient war zur Zeit der Konsultation 4 Jahre
verheiratet. Die Affektion war ihm vor 1 Jahr bemerkbar
geworden, hatte sich aber sicher längere Zeit vorher zu ent¬
wickeln begonnen. Es ist möglich, dass in den Strapazen der
Flitterwochen das Trauma erfolgte.
Fall II wusste nichts von einem vorausgegangenen
Trauma; seine Affektion wurde fast zufällig entdeckt.
Wenn es nun auch sehr verlockend wäre, die zuletzt er¬
wähnte Entstehungsmöglichkeit durch Trauma und Blutung in
den Vordergrund zu rücken, zumal die Literatur genügend
Anhaltspunkte dafür bietet, so möchte ich doch aus gleich zu
besprechenden Gründen dieser Möglichkeit skeptisch gegen¬
überstehen. Es scheint mir vielmehr das vorausgegangene
Trauma eine ähnliche Rolle zu spielen wie in der Anamnese
so vieler Karzinomkranker. Der Patient, in dem Bestreben,
sich und dem ihn befragenden Arzt eine Erklärung für das
Auftreten der Erkrankung zu geben, bringt länger oder kürzere
Zeit vorausgegangene Traumen mit der Entstehung der Affek¬
tion in Verbindung, oder er wird erst durch das Trauma auf
die sich entwickelnde Affektion aufmerksam, welche seiner
Beachtung bisher entgangen war.
Wäre wirklich das Trauma, das zur Blutung führt, Ursache
der Erkrankung, so müssten wir dieser anamnestischen Angabe
in der Krankengeschichte der typischen Fälle von Induratio
penis plastica, die sich alle so gleichen, dass man von einem
typischen Krankheitsbild tatsächlich sprechen kann, viel häu¬
figer begegnen.
Bei meinen 3 Fällen konnte ich nur einmal ein Trauma
verzeichnen. Echtermayer konnte in seinem Falle,
Sachs in den von ihm ausführlich beschriebenen 4 Fällen
Verletzungen ausschliessen.
Es sind aber noch andere Momente, welche gegen die Ent¬
stehung durch Trauma mit konsekutiver Blutung geltend ge¬
macht werden können. Vor allem ist bei Verletzungen, welche
den Penis treffen, nach v. Winiwarter, die Blutung in das
schlaffe, weitmaschige Gewebe des Gliedes eine sehr beträcht¬
liche, auch bei oberflächlichen Quetschungen. Im Verhältnis
zu ihr steht die Verfärbung der Haut und Anschwellung des
Gliedes.
In keinem der bisher veröffentlichten Fälle von typischer
Induration, welche ich ausdrücklich getrennt sehen will von
jenen Schwielen, wie sie nach Blutung in das Corpus caver¬
nosum penis entstehen, sind derartige Ereignisse vorausge¬
gangen. Und wenn auch zugegeben werden muss, dass nicht
jede Ruptur eines kleinen Gefässes die klinischen Charaktere
einer Blutung erkennen lassen muss, so lässt sich dadurch
doch nicht erklären, wieso im Anschluss an eine1 gering¬
fügige Blutung so derbe, sich langsam vergrössernde Stränge
und Knoten entstehen und wieso die Affektion dann langsam
aber unaufhaltsam fortschreitet; es müsste denn sein, dass
immer neue Blutungen entstehen, wofür Anhaltspunkte nicht
vorliegen. Wenn die Aetiologie durch Trauma und Hä¬
morrhagie zu Recht bestünde, so müsste es bei meinem
Falle I, dem Bluter, aus der kleinen Verletzung vermöge seiner
Hämophilie zu einer bedeutenden und nicht übersehbaren Ex¬
travasation in das Bindegewebe des Gliedes gekommen sein.
d
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
Die Behauptung, dass Trauma und Blutung die Ursache
für die Induratio penis plastica abgeben, steht demnach auf
ziemlich schwachen Füssen. Der Befund bei meinen Fällen,
sowie bei den in der Literatur niedergelegten Beobachtungen
von typischer Induratio penis plastica, und nur diese habe
ich jetzt im Auge, legt aber doch einen anderen Erklärungs¬
versuch ziemlich nahe; ich sage ausdrücklich einen Erklä¬
rungsversuch, denn ich bin mir dessen bewusst, keine voll¬
gültigen Beweise zu bringen, zumal ich histologische Unter¬
suchungen nicht habe vornehmen können. Die in der Literatur
niedergelegten histologischen Untersuchungen bedeuten sicher¬
lich nichts für die Erklärung der Ursache, da sie nicht die
Anfangsstadien, sonderen die Höhe des Prozesses betreffen,
also über den Ausgangspunkt der Affektion nichts sagen. Sie
ergaben ein dichtes, fibröses, gefässarmes Gewebe, das mit dem
einer Narbe oder eines Narbenkeloids verglichen wurde.
Ich glaube in einer gewissen Uebereinstimmung mit den
Anschauungen von H o r o v i t z, wenn ich auch seiner Mei¬
nung über die arteriosklerotische Natur dieser Veränderungen
nicht beipflichten kann, dass die Bindegewebsneubildung von
den Gefässen und zunächst von den Venen ihren Ausgang
nimmt. Bei den strangförmigen Indurationen mag es sich um
sehr langsam und chronisch verlaufende Phlebitis und Peri¬
phlebitis handeln, die von der Vena dorsali penis super¬
ficialis, oder von der Profunda ihren Ausgangspunkt nimmt,
und sich sowohl der Länge nach ausbreiten als auch in das
Bindegewebe des Septum intercavernosum sich fortsetzen oder
auf dem Wege der in die genannten Gefässe einmündenden
Venen der Corpora cavernosa penis in die letzteren eindringen
kann. Die Vena dorsalis penis profunda bildet hinter der Glans
den Plexus retroglandularis, vor der Symphyse an der Penis¬
wurzel den Plexus subpubicus. Gerade an der Stelle dieser
Plexus begegnen wir nun dem Prädilektionssitz der Knoten¬
bildungen, die entweder ganz isoliert sitzen, oder an einem
oder beiden Enden der strangförmigen Induration (vgl. die
Fälle von Echtermayer, Sachs, meinen Fall I), und es
ist mir sehr wahrscheinlich, dass die Knoten an diesen Stellen
durch von diesem Gefässplexus ausgehende Bindegewebs¬
wucherung zu stände kommen.
Durch diese Auffassung könnte auch der eigenartige Fall
Robinaus seine Erklärung finden, in dem sich an der rechten
Seite des Gliedes zwei, an der linken drei plattenförmige Ver¬
kalkungen in der Tunica fibrosa penis fanden, die wie die
Knorpelringe der Trachea gelagert waren; die Zwischenräume
waren durch dichtes fibröses Gewebe erfüllt. Halten wir uns
nun vor Augen, dass die unteren Venen der Corpora cavernosa
im Bogen um die Seitenfläche des Penis als Venae circumflexae
penis zur tiefen Rückenvene verlaufen, so können wir wohl
annehmen, dass es sich im Falle R. s um Bindegewebswuche¬
rung und Verkalkung im Verlaufe und Bereich dieser Venen
gehandelt hat.
Dabei muss es sich aber nicht immer um grössere Venen
handeln, von denen diese chronisch-plastische Entzündung
(Langhans) ihren Ausgang nimmt, sondern es kann dies
auch von kleinen Stämmchen aus geschehen. Damit wäre der
eigenartige Prozess der Induratio penis plastica in eine ge¬
wisse Analogie gesetzt zu einer in ihrer Aetiologie bisher eben¬
falls nicht aufgeklärten Bindegewebswucherung, die als Du¬
puytren sehe Kontraktur an den Handflächen, selten auch an
den Fussohlen zur Beobachtung kommt. Diese letztere hat
Janssen1) in einer ausführlichen Arbeit als „fleckweise
Hyperplasie des Bindegewebes“ definiert und auf Wucherungs¬
vorgänge bezogen, die von den Wandungen kleinster Gefässe
ausgehen. Auch hier ist das klinische Bild zuerst gegeben
durch umschriebene harte Knoten von Erbsen- bis Bohnen¬
grösse, und strangförmige Bildungen in der Palmar-Aponeurose,
die sich allmählich vergrössern.
Für die Entstehung dieses schleichenden chronischen
Entzündungsprozesses können bei bestehender Disposition
eventuell Traumen verantwortlich gemacht werden. Be¬
merkenswert für die letztere Anschauung wäre der
Fall G a 1 e w s k y s und Hübeners, die in einem
) Janssen: Zui Lehre von der Dupuytren sehen Finger¬
kontraktur. Archiv f. klin. Chirurgie 1902.
Falle von Induratio penis plastica den Knoten operativ ent¬
fernten und 2 bis 3 Wochen nach der Operation, an der Wurzel
des Penis, dort wo der Konstriktionsschlauch während der
Operation gelegen war, eine Induration von etwa Bohnen¬
grösse auftreten sahen, die nicht so hart war wie die operativ
entfernte Geschwulst und nur wenig Schmerzen verursachte.
Die Erfolge der Behandlung der Induratio penis pla¬
stica waren bisher sehr fragwürdige. Der grossen Zahl von
Autoren, welche die Behandlungserfolge vollkommen negativ
nennen, stehen nur Jadassohn und Echtermayer mit
je einem positiven Erfolge gegenüber.
Ersterer empfiehlt auch bei unklarer Aetiologie einen Ver¬
such mit Quecksilber und Jod zu machen. Gelingt es nicht,
durch irgend eine kausale Therapie Einfluss zu nehmen, so ist
man auf palliative Massnahmen, Einwicklung des Gliedes mit
Quecksilberpflaster, innerlich Jodsalze, Anwendung feuchter
Verbände, Massage angewiesen. Es kommt aber nach Ja¬
dassohn, wenn auch nur selten, wie in einem seiner Fälle
vor, dass die Affektion sich spontan oder unter wenig ein¬
greifender Behandlung zurückbildet. Echtermayer brachte
seinen Fall unter Fangoapplikation und Massage zur Heilung.
G a 1 e w s k y und H ü b e n e r erzielten in ihrem Falle voll¬
kommene Heilung durch chirurgische Exstirpation der um¬
schriebenen Induration. Diese operative Therapie wird sich
aber nur bei günstigen topischen Verhältnissen der Induration
ausführen lassen, wenn diese leicht auslösbar ist und vermöge
ihrer Lokalisation sich erwarten lässt, dass die an der Opera¬
tionsstelle entstehende Narbe bei der Erektion dann nicht den¬
selben Effekt bewirkt wie der entfernte Knoten. Ueber die
nichtoperative Behandlung der Induratio penis plastica sprechen
sich die genannten Autoren in folgender Weise aus: „Ebenso
unbefriedigend wie die Erklärungsversuche der Entstehung des
fraglichen Leidens waren bisher die therapeutischen Erfolge
Sämtliche Behandlungsmethoden allgemeiner und lokaler Natur
lassen im Stich.“
Die übrigen Autoren berichten ebenfalls über die völlige
Aussichtslosigkeit der Behandlung. So z. B. P o s n e r,
Buschke und Blaschko, Finger, der die Krankheit
nach allen bisherigen Erfahrungen unheilbar nennt. Sachs
versuchte, ebenfalls mit negativem Erfolge, Thiosinamininjek-
tionen, zu denen ihn die Behandlungserfolge mit Thiosinamin
bei Sklerodermie führten. Er applizierte jeden zweiten Tag
subkutan unter die Haut des Penis eine P r a v a z sehe Spritze
einer 10 proz. Thiosinaminlösung und stieg in einem Falle bis
35 Injektionen. Auf Grund dieser eigenen und der in der
Literatur niedergelegten fremden Erfahrungen spricht er sich
bei der Erörterung der Prognose der Erkrankung dahin aus,
dass sie quoad sanationem eine ungünstige sei, da wir kein
Mittel besitzen, um der Entwicklung einer derartigen Verhär¬
tung Einhalt zu tun oder sie ganz zu beseitigen, ausser durch
einen operativen Eingriff, der in den meisten Fällen wohl einen
fraglichen Erfolg hätte.
Von meinen Fällen habe ich nur Fall I und III einer Be¬
handlung unterziehen können. Im Falle I bestand sie in der
Applikation von Jod-Jodkalisalbe mit feuchtwarmen Ein¬
packungen, innerlich Jodnatrium, worauf sich nach 2 Monaten
eine geringfügige Besserung beobachten liess. Patient blieb
dann aus.
Dagegen erzielte ich in dem Falle III komplette Heilung
nach circa jähriger Behandlung, durch Fibrolysininjektionen.
Es war der Erfolg in diesem Falle um so erstrebenswerter und
höher anzuschlagen, da Patient wegen seines Leidens — er war
verlobt und sah durch das Auftreten der Erkrankung seinen
Heiratsplan in unerreichbare Ferne gerückt — tief deprimiert
war, und sich mit Selbstmordgedanken trug.
Als er mich zu Ende des Jahres 1905 konsultierte, empfahl ich
ihm auf Grund der Erfahrung Echtermeyers Fangoapplikationen,
die er auch jeden 3. bis 4. Tag ohne den geringsten Erfolg vornahm,
im Gegenteil, es schien sich die Affektion auszubreiten. Da der Erfolg
der Fangoapplikation ausblieb, empfahl ich einen Versuch mit
Fibrolysin. Es war mir zwar bekannt, dass das Thiosinamin
Sachs keinen Erfolg ergeben hatte, ich hielt aber doch in Er¬
mangelung von etwas anderem oder gar besserem eine Behandlung
mit Fibrolysin, das bekanntlich ein Doppelsalz aus Thiosinamin und
Natriumsalizylat darstellt, um so mehr für angezeigt, da von Fibrolysin
gerade in der letzten Zeit günstige Berichte über seine Wirkung auf
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2011
Narbengewebe, Sklerodermie etc. veröffentlicht wurden, wo Thio-
sinamin versagt' hatte. Patient, der aus äusseren Gründen nicht zu
mir kommen konnte, gab sich zuerst selbst im Dezember und Januar
subkutane Injektionen an den Oberschenkeln und zwar 13. Ver¬
wendet wurde die von Merck in kleinen Ampullen in Handel ge¬
brachte Fibrolysinlösung. (Jede Ampulle enthält 2,3 ccm der Lösung
und entspricht 0,2 ccm Thiosinamin.) Danach trat an den Injektions¬
stellen Rötung, Infiltration und grosse Schmerzhaftigkeit auf. Nach
Rückgang der akuten Erscheinungen blieben noch durch ca. Va Jahr
nach der Injektion an den Injektionsstellen hypästhetische Zonen zu¬
rück. Wegen der Schmerzhaftigkeit der Injektion und des aus¬
bleibenden Erfolges empfahl ich dem Kollegen intramuskuläre In¬
jektionen zu versuchen. Diese wurden ausgezeichnet vertragen, da¬
nach keine Schwellungen, keine Schmerzen. Anfangs Februar konnte
man konstatieren, dass das plattenförmige Infiltrat, welches deutlich
rnit dem rechten Corpus cavernosum zusammenhing, sich von diesem
differenzieren Hess.
Nachdem Patient im Dezember, Januar, Februar im ganzen
25 Injektionen bekommen hatte, wurde eine sechswöchentliche Pause
eingeschaltet, um den Erfolg der bisherigen Behandlung abzuwarten.
Dieser trat deutlich erst Mitte März ein, indem die Knoten und Stränge
kleiner, weniger derb wurden und sich am schlaffen Gliede undeutlich
tasten Hessen. Im April, Mai und anfangs Juni wurde nun ein zweiter
Turnus von 25 Injektionen appliziert und am 18. Juni konnten wir
konstatieren, dass die Knoten bis auf minimale Reste verschwunden
waren; bei der Erektion zeigte der Penis an der Wurzel noch eine
minimale Einschnürung, die eigentlich nur zu tasten, nicht zu sehen
war, ebenso an der dorsalen Seite, dort wo der grosse Knoten ge¬
wesen. Mitte Juli stellte sich mir der Kollege wie¬
der vor, sein Penis war vollkommen normal ge¬
worden.
Die Injektionen wurden, wie schon erwähnt, ausgezeichnet
vertragen (manchmal trat kurze Zeit nach der Injektion starker
Knoblauchgeschmack auf), sie wurden unter genauer Kontrolle
des Harnes ausgeführt; letztere erscheint mir um so wichtiger,
da ich bei einem Falle von Sklerodaktylie, der allmählich in
Raynaud sehe Gangrän überging, nach den ersten Fibro-
lysinmjektionen, welche ich in diesem Falle versuchte, Eiweiss
und Zylinder auftreten sah, die mich zwangen, die Behandlung
aufzugeben.
Es könnte mir nun eingewendet werden, dass der Behand¬
lungserfolg im Falle III nicht dem Fibrolysin zuzuschreiben
sei, sondern dass dieser Fall auch spontan oder unter palliativer
Behandlung ausgeheilt wäre. Ich kann natürlich nicht be¬
weisen, dass das Fibrolysin sicher die Heilung bewirkt hatte.
Es soll aber diese Beobachtung dazu anregen, gegen eine Er¬
krankung, die bisher ziemlich allgemein als unheilbar gilt,
eine Behandlung zu versuchen, welche mir, wenn auch nur in
einem einzigen Falle, ein unerwartet günstiges Resultat er¬
geben hatte.
Literatur.
Eine ausführliche Zusammenstellung der einschlägigen Literatur
bis 1900 findet sich in der Arbeit von Sachs: Vier Fälle von
sogenannter „plastischer Induration1' der Corpora
cavernosa nebst Berücksichtigung der übrigen
im Corpus cavernosum penis vor kommen den Ver¬
härtungen. Wiener klin. Wochenschrift 1901, No. 5.
M. Horovitz: Ueber Kavernitis und Lymphangioitis penis.
Wiener medizinische Presse 1900, No. 10, p. 438. — Rupin: Un cas
d’induration des corps caverneux. Progr. medic. 1901, No. 38. —
Jadassohn; Die Krankheiten des Penis, der Harnröhre etc. in
Ebstein-Schwalbes Handbuch der prakt. Medizin. III. Band, I. Th.,
p. 384. — Galewsky und H ii b e n e r : Zur Behandlung der so¬
genannten plastischen Induration der Corpora cavernosa penis.
Münch, med. Wochenschr. 1902, No. 32. — v. Winiwarter: Die
Erkrankungen des Penis, des Hodens und der Hüllen des Hodens.
Handbuch der Urologie von v. Frisch und Zuckerkandel. Bd. III,
p. 503. — E. Finger: Die Störungen der Geschlechtsfunktionen des
Mannes. Handbuch der Urologie von v. Frisch und Zuckerkandel.
Bd. III, p. 952.
Ueber Behandlung mit Quecksilberlicht.
Von Dr. med. Assfalg in Frankfurt a. M.
Die Gründling von „Lichtheilanstalten“ in jeder grösseren
Stadt ist gegenwärtig Mode geworden. Diese sogen. „Licht¬
heilanstalten“, oft genug errichtet von spekulativen Fabrikanten
unter Vorschiebung eines Strohmannes, leider häufig eines Kur¬
pfuschers, sind gar oft nur Lichtschwitzanstalten und tragen
ihren Namen eigentlich zu Unrecht. Man muss streng unter¬
scheiden zwischen den wärmespendenden und den chemisch
wirksamen Strahlen. Vor allem verdient die Behandlung mit
chemisch wirksamen, aktinischen Strahlen den Namen Licht¬
behandlung. Neben der Kohlenbogenlampe F i n s e n s und der
Eisenlampe Bangs liefert die Quecksilberdampflampe ein an
aktinischen Strahlen reiches Licht. Letztere wird in zwei
Formen in den Handel gebracht: die Heraeussche Quarz¬
lampe und die Schott sehe Uviollampe. Ueber zwei Drittel
der Gesamtstrahlung der Uviollampe sind unsichtbare, stark
chemisch wirksame Strahlen. Mit dieser Uviollampe habe ich
seit 1 Jahre Versuche angestellt.
Von verschiedener Seite1) sind bereits Veröffentlichungen
über gute Erfolge der Behandlung mit der Uviollampe er¬
schienen. Dieselben beziehen sich .hauptsächlich auf Heilung
von chronischem Ekzem, Ulcus cruris, Herpes tonsurans, Alo¬
pecia areata, Acne vulgaris, Sykosis, Erysipel.
Während diese Autoren eine Röhre in der längeren Form
(ca. 100 cm) benützten, liess ich mir eine Lampe mit zwei
räumlich neben einander und elektrisch hinter einander ge¬
schalteten Röhren von 50 cm Länge konstruieren und darüber
einen Reflektor anbringen. Grössere Handlichkeit, intensivere
Bestrahlung und breiteres Beleuchtungsfeld scheinen mir die
Vorteile dieser Form gegenüber der unhandlichen langen
Röhre zu sein.
Bei den Belichtungen sind die Augen durch dunkelblaue
Schutzbrillen zu schützen, da das Licht sonst eine heftige, recht
schmerzhafte, allerdings schnell abheilende Konjunktivitis her¬
vorruft. Die Seitenpartien, an welchen die Brille gewöhnlich
nicht fest aufsitzt, wird man am besten durch Watte abdichten,
damit nicht durch seitliche Strahlen die Augen gereizt werden.
Ausserdem ist zu empfehlen, die ersten Sitzungen, auch bei
chronischen Erkrankungen, nur kurz andauern zu lassen. Die
Reaktion des Haut ist individuell und nach den einzelnen Kör¬
perstellen sehr verschieden. Im grossen und ganzen muss man
an dem Grundsatz festhalten: Je länger die Dauer der Be¬
strahlung, desto stärker die Lichtreaktion. Schädliche Folgen
der Bestrahlung habe ich niemals gesehen.
Die Dauer der Bestrahlung scheint mir bei der Uviollampe
leichter als bei der Eisenlampe zu bemessen sein. Denn bei
ersterer treten während der Bestrahlung zunächst einzelne
blaurote Flecken auf, welche allmählig in eine gleichmässige
blaurote Färbung der ganzen bestrahlten Fläche übergehen.
Die Erzielung einer gleichmässig leicht blauroten Fläche halte
ich für eine einzelne Sitzung für notwendig. Diese Färbung
wird einige Stunden später mit der eintretenden Lichtreaktion
viel intensiver. Schwächere Bestrahlung macht eine Wieder¬
holung am nächsten Tag notwendig. Denn die Erzielung einer
Lichtreaktion ist unbedingtes Erfordernis für einen thera¬
peutischen Erfolg.
Ich habe mit der Uviollampe 3 Fälle von Alopecia areata in
durchschnittlich 15 Sitzungen von je Y% — 1 ständiger Dauer geheilt.
Die Fälle waren sämtliche mindestens 1 Jahr alt und in der üb¬
lichen Weise mit Medikamenten bezw. Faradisation der Kopfhaut
anderweitig ohne Erfolg behandelt. Die Dauer der Belichtung ist
natürlich abhängig von der Grösse der kahlen Stellen. Bei einem Fall
von Alopecia totalis, den ich gegenwärtig noch in Behandlung habe,
brauche ich ca. 4 Stunden zur Belichtung der ganzen Kopfhaut, um
die nötige Lichtreaktion an allen Stellen der Kopfhaut gleichmässig
zu erzielen. Während ich und der betr. Patient in einem der obigen
Fälle schon nach 48 Stunden auf der 5 markstückgrossen kahlen
Stelle überall neue Haarspitzen konstatieren konnten, so ist in dem noch
in Behandlung stehenden Fall von Alopecia totalis der Erfolg nach
10 Bestrahlungen sehr gering. Das Wachstum der schon vorhandenen
kahlen Stellen vermag die Quecksilberlichtbestrahlung ebensowenig
wie das Eisenlicht wesentlich aufzuhalten. Trotz starker und langer
Belichtung sah ich in einzelnen Fällen die kahlen Stellen an der Peri¬
pherie bei beiden Bestrahlungsarten sich vergrössern, während im
Zentrum bereits neue Haare wuchsen, bis dann nach mehreren Sitzun¬
gen der Stillstand und neuer Haarwuchs auf der ganzen Stelle eintrat.
Die neuen Haare sind bei der Eisenlichtbehandlung der Alopecia
areata immer ganz hell und nehmen erst nach langer Zeit, oft nach
1) E. Gott st ein: Ueber therapeut. Erfahrungen mit einer
neuen Quecksilberlampe. Zeitschr. f. diätet. u. physik. Therapie. Ber¬
lin 1905/06. Bd. IX. — Axmann: Lichtbehandlung mittelst be¬
stimmter Strahlengruppen. Deutsche med. Wochenschr. 1905, 22. —
Derselbe: Wundbehandlung mittelst ultravioletten Lichtes. Münch,
med. Wochenschr. 1905, 36. — Derselbe: Die Uviol-Quecksilberlampe.
Elektrotechn. Zeitschr. 1905, 27. — Butt er sack: Eine neue Ultra¬
violett-Quecksilberlampe (Uviollampe). Fortschr. d. Medizin No. 36,
20. XII. 1905.
2U12
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
verschiedenen Monaten die Farbe der übrigen Haare wieder an. Bei
der Behandlung mit der Uviollampe trat die natürliche Haarfarbe
viel schneller auf. Ich möchte zu weiterer Beobachtung in diesem
Punkte angeregt haben. Eine analoge Beobachtung veröffentlichte
Axmann, welcher während der Bestrahlung Sommersprossen auf
der Kopfhaut auftreten sah: Beides, die Haarfarbe und die Bildung
von Sommersprossen beruhen auf Pigmentanhäufung.
Sehr gute Erfolge erzielte ich mit der Uviollampe in mehreren
Fällen von Acne vulgaris. Ich habe bei dieser Erkrankung die Licht-
salbenbchandlung nach V ö r n e r und Steiner (= Bestrahlung der
mit Thiolansalbe bestrichenen kranken Stellen durch Kohlenbogenlicht¬
scheinwerfer) stets ohne Erfolg versucht. Auch Röntgenbestrahlung
gab nicht immer ein gutes Resultat; dagegen hat mich bis jetzt die
Behandlung mittelst der Uviollampe niemals im Stiche gelassen. Es
genügen schon wenige Sitzungen, um die einzelnen Akneknoten förm¬
lich zum Eintrocknen zu bringen.
Ein Fall von Furunkulose, ganzen Rücken und Brust bedeckend,
seit ca. 4 Jahren bestehend und mit verschiedenen Mitteln vergeblich
behandelt, kam durch 10 Bestrahlungen mit der Uviollampe bei Vz
bis % stündiger Dauer der einzelnen Sitzung vollständig zur Heilung
und ist auch seit % Jahr ohne Rezidiv.
2 Fälle von chronischem Ekzema seborrhoicum sind durch 5
bezw. 8 Bestrahlungen vollständig geheilt worden.
1 Fall von Rhinophyma habe ich noch in Behandlung. Die
beiden Nasenflügel sind stark knollig verdickt. Bis jetzt, d. h. nach
7 Sitzungen, lässt sich eine bedeutende Verkleinerung dieser ver¬
dickten Partien konstatieren.
Bei zwei gleichfalls noch in Behandlung befindlichen Patienten
mit Acne rosacea ist nach drei Bestrahlungen wesentliche Besserung
zu konstatieren. Ein Fall ist seit Vz Jahre geheilt.
Bei mehreren Fällen von chronischem Ekzem — trockenem und
nässenden — erzielte ich ebenfalls in verhältnismässig kurzer Zeit
Heilung. Auf einen Fall von chronischem Ekzem bei einem älteren
Herrn möchte ich näher eingehen, da ich die Wirkung verschiedener
Arten von Lichtbehandlung versucht hatte. Es handelte sich um ein
6 Monate bestehendes, von mehreren Spezialärzten, ca. 5 Wochen
sogar im Krankenhaus vergeblich behandeltes chronisches, wenig
nässendes Ekzem, das beide Hände und Vorderarme, sowie Gesicht
und Nacken fast ganz bedeckte. Der Patient konnte während dieser
langen Zeit seinen Bureaudienst nicht mehr versehen.
Bis Patient in meine Behandlung trat, hatte er immer Verbände
über den kranken Stellen getragen. Ich liess sofort alle Verbände
weg. Patient trug während meiner Behandlung einigemal je Vz Tag
Handschuhe, gezwungen durch äussere Rücksichten, und sofort stellte
sich an den Händen eine Verschlimmerung des Leidens ein.
Ich behandelte nun einen Teil des Ekzems, d. h. den Nacken,
nach der Lichtsalbenmethode von V ö r n e r, erzielte aber keinen Er¬
folg. Da manche Erkrankungen auf der Haut auf Rotlicht gut rea¬
gieren, versuchte ich bei einem Teil die Rotlichtbehandlung durch
Bestrahlung mit Rotlicht und Einhüllen der betr. Stelle in rote Schleier,
erzielte aber Verschlimmerung. Endlich behandelte ich den einen
Arm mit dem Quecksilberlicht und den andern mit Röntgenstrahlen.
Diese beiden Methoden hatten gleich günstigen Effekt. Durch Be¬
strahlungen mit der Uviollampe erzielte ich eine ganz wesentliche
Besserung und nur aus äusseren Gründen musste ich die Behandlung
mit Röntgenstrahlen allein fortsetzen. Nach 6 Wochen war der Pa¬
tient wieder dienstfähig und schied dann nach weiteren 4 Wochen
mit drei kleinen noch kranken inzwischen aber geheilten Stellen an
2 Fingern und an einem Handgelenk aus der Behandlung. Die Licht¬
salbenbehandlung ist streng genommen keine Lichtbehandlung, da die
Salbe die Strahlen absorbiert. Die Rotlichtbehandlung andererseits
ist der Behandlung mit ultravioletten Strahlen quasi entgegengesetzt,
daher wohl die Verschlimmerung.
Akute Ekzeme habe ich mit der Uviollampe nicht behandelt,
um den schon vorhandenen Reizzustand nicht noch zu erhöhen.
Bei Psoriasis habe ich die Uviollampe in zwei Fällen angewandt.
Die „Hautbleiche“ gelang, d. h. die betr. kranken Stellen verschwan¬
den zwar, kamen aber auch wieder — wie bei den übrigen Behand¬
lungsmethoden. Auch Röntgenbestrahlungen schützen nicht vor Re¬
zidiven. Wenn aus einzelnen „Lichtheilanstalten“ bei Psoriasis gün¬
stige Erfolge durch Bestrahlung mit dem Kohlenbogenlichtscheinwerfer
unter \ orschaltung einer roten Glasscheibe berichtet werden, also
eine Methode, welche die ultravioletten Strahlen des Kohlenbogen¬
lichtes noch abhält, so muss ich gestehen, dass ich trotz verschiedener
Versuche auf jene Weise noch nicht eine einzige psoriatische Stelle
zum Verschwinden gebracht habe.
Ulcus cruris varicosum hatte ich nur zweimal Gelegenheit mit
der Uviollampe zu behandlen; erzielte nach 6 Bestrahlungen der zwei¬
mal kstiickgrossen hläche Heilung; der zweite Fall, noch in Behand¬
lung, nach 3 Bestrahlungen ganz bedeutend gebessert.
Nach den bisherigen Erfahrungen muss man sagen, dass
die Behandlung mit der Uviollampe in einer Reihe von Haut¬
erkrankungen günstige Erfolge aufzuweisen hat. Dabei ist die
Behandlung ausserordentlich einfach. Der Patient bedarf kaum
einer Beaufsichtigung während der Bestrahlung. Die An-
schaffungskosten der Lampe sind nicht hoch. Der Betrieb ist
billig im Gegensatz zu der Eisenlampe. Mit der letzteren er¬
zielt man Erfolge nur, wenn man sie mit ca. 20 Ampere be¬
treibt, die Uviollampe arbeitet mit 3 Ampere. Dabei beträgt
die Brenndauer der einzelnen Röhre ca. 1500 Stunden. Die
Eisenlampe braucht Wasserkühlung und entwickelt sehr un¬
angenehme Dämpfe. Beides fällt bei der Uviollampe weg. Ge¬
fahr besteht bei der Uviollampe nicht, bei der Eisenlampe
können, wenigstens wenn man mit der offenen Lampe arbeitet,
die Patienten bei aller Vorsicht durch abbröckelnde glühende
Eisenpartikelchen verletzt werden. Bringt man aber vor der
Eisenlampe Quarzlinsen an, so zerspringen diese sehr bald
durch die glühenden Eisenteilchen und schützt man durch Draht¬
netz etc., so gehen ultraviolette Strahlen verloren. Man kann
bei der Haarbehandlung mit der Uviollampe Zelluloidkämme
ruhig im Haare lassen, weil fast keine Wärme ausgestrahlt
wird, dagegen müssen sie bei Eisenlichtbehandlung entfernt
werden, da sie in der Wärme des Eisenlichtes verbrennen
können.
Im Vergleich zum Finsenlicht geht der Uviollampe leider
noch die Tiefenwirkung ab. Dies ist auch der Grund, weshalb
ich die Uviollampe niemals zur Behandlung des Lupus ver¬
sucht habe.
Aus der Chirurg. Abteilung des Krankenhauses München r. d. I.
(Oberarzt Hofrat Dr. Brunner, Direktor des Krankenhauses).
Beitrag zur Histologie der Chondrosarkome.
Von Dr. K. Mayer,
Oberarzt im K. 12. Inf.-Reg., zurzeit kommandiert zur Chirurg.
Abteilung des Krankenhauses München r. d. I.
Chondrome und Chondrosarkome gehören nicht zu den
Seltenheiten und deshalb ist auch die Zahl der veröffentlichten
Fälle eine ziemlich beträchtliche. Trotzdem halte ich es nicht
für unzweckmässig, einen auf der chirurgischen Abteilung des
Krankenhauses München r. d. I. zur Beobachtung und opera¬
tiven Behandlung überkommenen Fall von Chondrosarkom des
Oberarmes im folgenden eingehend zu beschreiben. Bietet
schon die Krankengeschichte, das Ergebnis der Röntgenphoto¬
graphie und die Beschreibung des mazerierten Knochens ver¬
schiedenes Interessante, so verdient der Fall vor allem bekannt
zu werden wegen des mikroskopischen Befundes, auf den ich
durch den Prosektor des Krankenhauses, Herrn Privatdozenten
Dr. Oberndorfer, aufmerksam gemacht worden bin.
Krankengeschichte.
Anamnese: Die 18 Jahre alte Arbeiterin Amalie B. verspürte
seit Oktober 1905 dumpfe Schmerzen im linken Oberarm, die sie
jedoch nicht weiter beachtete. Am 16. Dezember 1905 wollte sie kurz
nach Feierabend in dem Geschäfte (Federngeschäft), in dem sie
tätig war, eine von einer Stellage herabfallende grosse Schachtel
auffangen. Bei der hierzu nötigen Bewegung der Arme verspürte sie
ein Krachen am linken Oberarm, sie wurde sofort ohnmächtig und
musste nach Hause gebracht werden. Der herbeigerufene und in
der nächsten Zeit behandelnde Arzt stellte sie zur Untersuchung
und Röntgenaufnahme am 3. und 19. I. 1906 im Krankenhause Mün¬
chen r. d. Isar vor. Das Mädchen konnte sich damals zum Kranken¬
hauseintritt nicht entschlossen. Sie behandelte vielmehr in der
Folgezeit, von einer Kurpfuscherin unterstützt, selbst ihren Arm. Erst
am 3. März 1906 nahm sie wieder ihre Zuflucht zum Arzte, der sie
zur Operation ins Krankenhaus verwies. B. trat am 18. März 1906
im Krankenhause München r. d. Isar in Behandlung und Pflege.
Status praesens: Der Allgemeinzustand hat sich seit 3. I. 06
auffallend verschlechtert. B. ist hochgradig anämisch und macht den
Eindruck einer schwerkranken Person. Der linke Arm wird fort¬
während am Ellenbogengelenk mit dem gesunden Arm unterstützt
und an den Oberkörper adduziert. Die Oberschlüsselbeingruben sind
beiderseits tief eingesunken, links mehr als rechts. An beiden Hals¬
seiten sind Drüsen fühlbar, an der rechten Halsseite sind alte Narben
sichtbar.
Das Herz zeigte keine Verbreiterung, die Aktion war beschleu¬
nigt, regelmässig. Der Puls war klein, weich, leicht unterdrückbar.
Die Zahl der Pulsschläge betrug 108 in der Minute.
An den Lungen konnte ausser leichter Schallabminderung über
der linken Spitze nichts nachgewiesen werden.
Die Untersuchung der Baucheingeweide ergab ebenfalls keinen
krankhaften Befund.
An der linken Brustkorbseite bestand beträchtliche Erweiterung
der Hautvenen. Während bei der Untersuchung am 3. I. 06 sich nur
geringgradige Schwellung von der Schulterhöhe bis zur unteren
Grenze des oberen Drittels des linken Oberarmes fand, war bei dem
Krankenhauseintritte am 8. III. 06 die linke Schultergelenksgegend in
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2013
eine mannskopfgrosse, ziemlich derbe, peripher sich weich anfühlende
Geschwulst umgewandelt, die sich unter den Muscul. pectoralis major
und minor der linken Seite nahezu bis zur Mamma, am Rücken über
die ganze Dorsalfläche der Skapula und am linken Oberarm bis zur
Mitte desselben erstreckte. Die Haut über der Geschwulst war stark
gespannt, glänzend. Der grösste Umfang betrug 52 cm. Rotation und
Abduktion im linken Schultergelenk war nur unter heftigen Beschwer¬
den in geringem Grade passiv möglich, alle übrigen Bewegungen
waren unausführbar. Das linke Ellenbogengelenk war vollkommen
frei. Die Fingernägel der linken Hand waren gelblich verfärbt, der
ganze linke Arm von der Mitte des Oberarmes bis zu den Finger¬
spitzen leicht ödematös,
Nach dem objektiven Befunde, dem raschen Wachstum der
Geschwulst und dem Ergebnis des Röntgenbildes, auf das ich so¬
gleich zu sprechen komme, wurde die Diagnose auf bösartige Ge¬
schwulst des linken Oberarmes, und zwar auf „Sarkom“ gestellt und
der Kranken der Vorschlag gemacht, den linken Arm entfernen zu
1 assen
Röntgenbilder: Ich komme nun auf das Ergebnis der Rönt¬
genaufnahmen zu sprechen. Während auf dem 1. Bilde vom 3. I. 06
nur ein 1 cm breiter Schaft entsprechend dem Collum chirurgicum am
Schaft des linken Humerus zu erkennen ist, den der Uneingeweihte
bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht als eine Querfraktur des
Humerus deuten könnte, gibt uns die 2. Aufnahme vom 9. III. 06 ein
Bild ausgedehnter Zerstörung mindestens des ganzen oberen Drittels
des Humerus, wobei nur das Caput humeri bis zum Collum chirurgi¬
cum noch teilweise erhalten ist. Auch die Skapula scheint an dem
Zerstörungswerk noch beteiligt zu sein.
Operation: Nachdem endlich nach 8 tägigem Zureden die
Einwilligung zur Operation gegeben worden, wurde dieselbe am
i5. III. 06 in Chloroformnarkose ausgeführt. Nach einer Längs¬
inzision von der Schulterhöhe über den Tumor hinweg und Unterbin¬
dung der Arteria und Vena subclavia wurde der Tumor eröffnet, wo¬
bei sich eine reichliche Menge braunrötlicher Flüssigkeit und schwam¬
mige, bröcklige Gewebsmassen entleerten. Da die Neubildung, wie
bereits erwähnt, sich auch auf die Skapula erstreckte, folgte der Ex¬
artikulation des Humerus im Schultergelenk auch noch die Resektion
des Pfannenteils der Skapula. Nach der üblichen Versorgung der
Gefässe und Nerven wurde die Wunde mit Fil de Florence voll¬
kommen geschlossen.
Obwohl die ganze Operation keinen nennenswerten Blutverlust
zur Folge hatte, starb das Mädchen 3 Stunden nach der Operation.
Als Todesursache ist wohl die hochgradige Anämie und die hier¬
durch bedingte Herzschwäche zu beschuldigen, die durch die Anforde¬
rungen der Operation an das Herz noch gesteigert wurde, so dass
letzteres seine Funktion einstellte.
Sektionsbefund (SJ. 105.06 der Prosektur des Kranken¬
hauses München r. d. Isar): Die Sektion ergab hochgradige Anämie
sämlicher Organe; verkalkende, isolierte tuberkulöse Herde an den
scharfen Rändern beider Lungenoberlappen; verkalkte Herde in den
retromesenterialen Drüsen; käsige Herde in einer mesenterialen
Drüse; hochgradige Hypoplasie der Aorta; schwärzliche Pigmen¬
tierung der Douglasserosa. Keine Tumorreste an der Operations¬
stelle, keine Metastasen im Körper.
Makroskopischer Befund: Makroskopisch ergab sich
an dem entfernten Tumor folgender Befund:
Während das untere Ende des oberen Drittels der Humerus-
diaphyse direkt in weiche, braunrötliche zystische Geschwulstmassen
überging, zeigte das obere Ende, d. h. der Kopf mit dem anschliessen¬
den Teile des Halses knorpelartige, weissliche Geschwulstmassen, die
den Knochen von allen Seiten umgaben. In den den Tumor um¬
gebenden Weichteilen, und zwar besonders in der Achselhöhle, dann
auch im Bereiche des vorderen Skapularrandes fanden sich zahl¬
reiche, erbsen- bis kirschgrosse, glatte, derbe, weisse, knotige Ein¬
lagerungen isoliert ins Gewebe zerstreut, die sich grösstenteils stumpf
entfernen Hessen.
Am mazerierten Präparate sind die unteren 2 Drittel des Hume¬
rus gut erhalten. Das obere Drittel mit Ausnahme des Kopfes fehlt.
An der oberen Grenze bricht der untere Teil des Humerus mit einer
flötenschnabelartig zugespitzten, unregelmässig zackigen Linie ab, die
an das Bild einer Fraktur erinnert, nur sind hier die Knochenränder
vielfach hochgradig verdünnt usuriert. Von diesem Rande ausgehend
zeigt sich nach unten an dem sonst glatten Humerusschafte ein
ungefähr lVs cm breites, etwas erhabenes, 2 Drittel der Humerus-
zirkumferenz umfassendes, spiralig verlaufendes Band, das aus offen¬
bar neugebildeter, mit rauher Oberfläche versehener Knochensubstanz
gebildet ist. Nach oben endet dieses flache Band mit einer ungefähr
2 mm dicken Leiste. Während an dem erhaltenen Teile der Diaphyse,
abgesehen von der flachen Exostose keine weitere anormale Ver¬
änderung zu erkennen ist, zeigt die obere Epiphyse mit dem Kollum
weitgehendste Veränderungen. Gut erhalten ist nur noch die Knor¬
pelfläche des Kopfes, die vollständig glatt ist. Direkt an den Ansatz
des Knorpel schliesst sich eine unregelmässige, höckerige, rauhe
Knochenbildung an, die die- ursprüngliche Konfiguration des Kollum
humeri nicht mehr erkennen lässt und die grösstenteils aus neu ge¬
bildeten Knochenpartien bezw. Exostosen besteht.
Diese Protuberanzen nehmen an Ausdehnung nach unten ab.
Von einer Markhöhle ist an dem Reste der Diaphyse, der sich an das
Kaput noch anschliesst, nichts mehr zu sehen. Das resezierte Stück
der Skapula zeigt nur an dem vorderen Teile des Processus cora-
coideus eine oberflächliche kariöse Einschmelzung des Knochens.
Mikroskopischer Befund: Im mikroskopischen Bilde
unterscheiden sich zum Teile wesentlich voneinander 1. die braun¬
roten, blutig durchsetzten, zystischen Massen, die den Hauptteil der
Geschwulst ausmachten, 2. der härtere Geschwulstteil am Humerus¬
kopf und 3. die Knoten in der Umgebung der Geschwulst, die in fol¬
gendem getrennt besprochen werden sollen.
ad 1. Der Schnitt zeigt hier das Gewebe aus einer Unmasse
kleiner, dicht stehender Zellen zusammengesetzt. Die Zellen sind
grösstenteils klein-spindelig, zum Teile rund und haben grosse, bläs¬
chenförmige, mit deutlichem Chromatingerüste ausgestattete Kerne.
Die Zellen liegen dicht nebeneinander ohne Dazwischentreten einer
Grundsubstanz. Neben diesen Zellen, die den Hauptteil der Wuche¬
rungen hier ausmachen, findet sich eine grosse Zahl von grossen
Zellen, die zum Teil sehr viele Kerne einschliessen, zum Teil einen
oder mehrere auffallend grosse Kerne besitzen. Die Kerne der
ersteren sind entweder unregelmässig über das Zellprotoplasma zer¬
streut oder liegen rosenkranzartig aneinander gereiht, an der Peri¬
pherie manchmal geschlossene Ketten bildend. Einige der Zellen
zeigen grosse, stark gefärbte, dicke Bänder aus Kernsubstanz, die
ebenfalls meistens peripher in den Zellen liegen. Ab und zu ist in
diesen Riesenzellen ähnlichen Formationen eine kriimmelige, sich mit
Hämatoxylin stark dunkelviolett färbende Masse zu beobachten, die
allseitig von Protoplasma umgeben ist (Kalkeinlagerung). In den
kleinen einkernigen Zellen finden sich zahlreiche Mitosen in allen
möglichen Stadien. Das Gewebe ist an einzelnen Stellen von kleinen
Hämorrhagien durchsetzt, viele der Zellen enthalten feinkörniges,
gelbbraunes Pigment, das in grösseren Mengen in der Umgebung der
spärlichen, die Zellenwucherungen durchziehenden, feinen Gefässe
angesammelt ist.
ad 2. Die festeren Partien der Geschwulstmasse, die sich haupt¬
sächlich in der Umgebung des Humeruskopfes finden, unterscheiden
sich von den eben beschriebenen Bildern mikroskopisch durch ein
stärkeres Hervortreten einer Grundsubstanz zwischen den Zellen.
Diese Grundsubstanz zeigt keine Struktur, ist fett, hyalin und um¬
gibt die einzelnen Zellen, manchmal auch kleine Zellgruppen kapsel¬
artig. Die Zellen sind hierdurch stark auseinander gedrängt, weni¬
ger dicht stehend als oben. An anderen Stellen nimmt die Grund¬
substanz an Mächtigkeit mehr und mehr zu, die umschlossenen
Zellen sind hier vielfach etwas geschrumpft, sternförmig, nur mit den
Spitzen der Sterne die Kapsel berührend, so dass rosettenähnliche Ge¬
bilde entstehen. Daneben lässt sich hier bereits vereinzelt in dem
Grundgewebe eine kriimmelige Ablagerung einer sich mit Hämatoxy¬
lin stark dunkel färbenden Substanz erkennen. Vielfach zeigen die
Zellen hier eine regelmässige Anordnung in parallelen Reihen, die an
Säulenknorpel erinnern. Bis zu diesen Reihen vor und häufig
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
?014
/.»viidien sie hinein, schieben sich vielfach ganz feine Bindegewebs-
ziige, die kleine Qefässe mit sich führen. Die Abgrenzung dieser Zell¬
reihen von der umgebenden mehr diffusen Zellwucherung ist zum Teil
eine ziemlich scharfe.
ad 3. Während in 2 die sich mit Hämatoxylin stark färbende
Einlagerung in die ürundsubstanz in Form feinen Staubes erscheint,
zeigen sich hier in den sekundären Knoten, in der die Zellen um-
schliessenden, hyalinen ürundsubstanz überaus feine, ein zierliches
Netzwerk bildende Züge, die sich ebenfalls mit Hämatoxylin stark
färben und die wie jene staubförmigen Krümmel bei Zusatz von kon¬
zentrierter Schwefelsäure die charakteristischen spiessförmigen Kri¬
stalle von Kalziumsulfat (Gips) auftreten lassen. Das zierliche Bild,
das hierdurch entsteht, erinnert an feingegliederte Spongiosabälkchen.
Vereinzelt sind diese Bälkchen etwas breiter, kompakter, die von
ihnen eingeschlossenen Zellen liegen hier in kleinen, ausgesparten
Höhlen. Diese breiteren Balken sind zum Teil mitten in die Grund-
substanz des eigentlichen Qeschwulstgewebes eingelagert, zum Teil
aber schliesst sich an sie ein feines, netzförmig gegliedertes Binde¬
gewebe an, Daneben zeigen sich vereinzelte, grössere, kreisförmige
oder ovale Lücken im Gewebe, die grösstenteils von roten Blut¬
körperchen ausgefüllt sind. Zwischen diese sind hie und da in ganz
verschiedener Menge kleine runde Zellen mit stark gefärbten Kernen
und grössere, fette Zellen mit ganz blassen, grossen Kernen und roten
Blutkörperchen eingelagert.
Anzufügen ist, dass in sämtlichen 3 Geschwulstpartien, die im
vorausgehenden beschrieben sind, Uebergänge der verschiedenen
Bilder ineinander zu beobachten sind.
Fassen wir nochmals kurz das im Vorausgehenden Gesagte
zusammen, so ergibt sich folgendes:
Die Hauptmasse des Tumors ist aus Knorpelgewebe auf¬
gebaut, das teilweise fast normalen Knorpel einschliesst, mit
reichlicher Ausbildung von Knorpelgrundsubstanz, an anderen
Stellen dagegen diese Grundsubstanz mehr und mehr sarkoma-
tösen Charakter annimmt. In diesen zahlreichen sarkomatösen
Partien treten vielfach mehrkernige Zellformen auf. Wieder an
anderen Stellen werden die in reichlicher Grundsubstanz ein¬
gelagerten Knorpelzellen gross, bläschenförmig und ordnen sich
stellenweise in parallel gelagerte Längszüge. Während viel¬
fach die Knorpelgrundsubstanz hyalin, ohne Struktur erscheint,
finden sich an anderen Stellen in der Grundsubstanz Kalk¬
körnchen in Form feinen Staubes. Die Kalkablagerung nimmt
besonders in den sekundären Knoten beträchtlich zu und bildet
hier feine, zierliche Netze, die stellenweise einzelne Knorpel¬
zellen oder Zellgruppen umschliessen. Ganz vereinzelt treten
dickere, verkalkte Partien auf, in der Zellen, offenbar die Reste
des Knorpels nach Zugrundegehen von Grundsubstanz, ein¬
geschlossen sind. Dort, wo die Verkalkung am ausgedehnte¬
sten ist, sehen wir in Höhlenbildungen der Geschwülste
knochenmarkähnliches Gewebe auftreten, das sich aus roten
Blutkörperchen und myelozytenähnlichen Gebilden zusammen¬
setzt.
Auf Grund dieses mikroskopischen Befundes komme ich zu
folgenden Schlüssen:
Der histologische Aufbau der Geschwulst hat mit dem
Vorgang bei der normalen enchondralen Ossifikation grosse
Aehnlichkeit. Die Reihenstellung der Knorpelzellen erinnert
vollständig an Säulenknorpel, der sich vielfach mit Kalksalzen
imprägniert. Letztere scheinen an jenen Stellen, an denen
Bindegewebe mit Gefässen nach Art des osteoblastischen Ge¬
webes vordrängt, der Resorption zu unterliegen. Als Endpunkt
des Prozesses sind wohl jene Stellen anzusehen, an denen ver¬
kalkte Balken zu finden sind, welche allseitig in kleine Hohl¬
räume eingesperrte Zellen umschliessen, also knochenkörper¬
chenähnliche Gebilde produzieren. Die Bluträume, die in
Lücken dieses Gewebes zu beobachten sind, sind wohl der
Bildung von Knochenmark an die Seite zu setzen. Osteoblasten
allerdings, ebenso osteoide Substanz ist nirgends zu sehen.
Der I umor zeigt somit an verschiedenen Stellen verschie¬
dene Stadien, die die grösste Aehnlichkeit mit verschiedenen
Stadien der normalen Ossifikation haben. Der Tumor ist im
oberen Drittel des Humerus, zweifellos an der Epiphysengrenze
entstanden, hat sich wahrscheinlich zuerst medullär entwickelt,
wucherte wohl erst nach dem Trauma nach aussen, infolge¬
dessen eine spontane Fraktur — Patientin hatte dabei Krachen
im Arme verspürt — die Kontinuität des erkrankten Knochens
unterbrochen hatte.
Am besten wäre die Entstehung des Tumors wohl durch
die Cohnheim-Ribbert sehe 1 heorie der Geschwulst¬
genese zu erklären, der zufolge wir annehmen müssten, dass
zu irgend einer Zeit, vielleicht schon im embryonalen Leben,
Knorpelzellen aus dem Verbände ihrer Schwesterzellen aus¬
geschieden sind und so die natürliche Entwicklung und Reifung
jener Zellen verloren haben, dagegen verhältnismässig spät
(in der Pubertätszeit) zu starker Proliferation angeregt wurden
und hier nicht nur ein indifferentes zellreiches Gewebe gebildet
haben, sondern die meisten Stadien ihrer natürlichen Reifung,
wenn auch in verworrener Weise, durchmachten.
Zum Schlüsse erlaube ich mir, dem Oberarzt der Chirurg.
Abteilung, Herrn Direktor Hofrat Dr.Bru'nner, für die Ueber-
lassung des Falles und dem Prosektor des Krankenhauses,
Herrn Privatdozenten Dr. Oberndorfer, für seine An¬
regung zur Arbeit, Ueberlassung der notwendigen Präparate
und seine liebenswürdige Unterstützung meinen ergebensten
Dank auszusprechen.
Hernia diaphragmatica spuria.
Von Dr. Weckerle in Freising.
Die Hernie ergab sich als zufälliger Befund bei der Sektion eines
56 Jahre alten, durch Sturz von einem Hausdache verunglückten
Maurers (16. VI. 06).
Nach der Eröffnung des Brustkorbes zeigt sich, dass der untere
Rand der linken Lunge vorne in der Höhe des unteren Randes der 2.,
hinten in der Höhe der 6. Rippe, woselbst leichte Adhärenz besteht,
sich befindet. Den übrigen Teil der linken Thoraxhälfte nimmt ein
von normalem Brustfell ausgekleideter Hohlraum ein, dessen Dach
die kuppelartig gewölbte untere Fläche der linken Lunge, dessen
Basis das Zwerchfell bildet. Etwa Zweidrittel des Hohlraumes wer¬
den von dem kugelförmig gestalteten, prall elastisch sich anfühlenden
Magen eingenommen. Dieser ist durch eine 4 cm im Durchmesser
haltende kreisrunde Oeffnung des Zwerchfells in die Brusthöhle
durchgetreten, kann aber mit leichter Mühe wieder in die Bauch¬
höhle zurückgebrach? werden. Nur Kardia und Pylorus befinden sich,
aneinander gelagert, noch in der Bauchhöhle. 'Bruchsack ist nicht
vorhanden. Abgesehen von dieser Lageveränderung des Magens
ist der Situs der übrigen Baucheingeweide nicht wesentlich ver¬
ändert.
Die in der linksseitigen Pars costalis des Zwerchfells gelegene
Durchtrittsöffnung befindet sich 2 Vs cm vom Centrum tendineum,
etwas näher dem vorderen, als dem hinteren Rippenursprung, ent¬
spricht keiner der normalen Durchtrittsöffnungen und vorgebildeten
Spalten des Zwerchfells, ist vollkommen kreisrund, glattwandig, all¬
seits mit Serosa ausgekleidet und behält auch nach der Loslösung
des Zwerchfells aus dem Körper die kreisrunde Gestalt bei. Die
Zwerchfellmuskulatur ist daselbst geschwunden, so dass der 'Rand
der Oeffnung nur von einem derben Faserring gebildet wird.
Der entfaltete Magen zeigt vollkommen normale Gestalt, ist
kaum merklich vergrössert; Serosa und Muskularis sind vollkommen
normal; auch die Schleimhaut zeigt ausser leichter Wulstung und
mässigem Schleimbelage keine krankhafte Veränderung; Kardia und
Pylorus vollkommen normal.
Der Oberlappen der linken Lunge ist sehr stark, etwa auf ein
Drittel der Norm verkleinert, knistert wenig, ist von derber, fleisch-
ähnlicher Konsistenz, auf dem Durchschnitte dunkelbraunrot, zeigt
geringen Luft- und Saftgehalt. Vom Unterlappen ist nur mehr eine
dünne Schicht von 1 — 3 cm Durchmesser fleischartigen, luftleeren
Gewebes von braunroter Farbe vorhanden. Pleura pulmonalis ist im
allgemeinen glatt, glänzend und durchsichtig, auf der Zwerchfell¬
fläche (siehe oben) derb, weiss, sehnig glänzend.
Rechte Lunge im Zustande vikariierenden Emphysems.
Herzbeutel genau in der Medianlinie des Körpers, fast vertikal
gestellt.
Nach diesem Befunde ist die Zwerchfellhernie schon von sehr
langem Bestände, dürfte wahrscheinlich kongenital sein und ist
jedenfalls nicht traumatischen Ursprungs.
Die spärlichen anamnestischen Angaben besagen nur soviel, dass
keine Störungen in der Tätigkeit des Magens und Darmes bestanden
haben.
Bemerkenswert ist vielleicht noch, dass eine Differenz in der Kon¬
figuration beider Brusthälften weder bei der äusseren noch bei der
inneren Besichtigung des Brustkorbs der Leiche auffiel.
Anomalien an den gewöhnlichen Bruchpforten fanden sich eben¬
falls nicht.
Ein Fall von akuter Entzündung der Hirn- und Rücken-
markshäute.
Von Med.-Rat Dr. Palmer, Oberamtsarzt in Biberaeh a. Riss.
Der 32 Jahre alte Oekonom H. in Mittenweiler erkrankte am
Freitag, den 25. Mai d. J. nach einer starken Durchnässung an allge¬
meinem Unwohlsein, an Erbrechen und Schmerzen in den Gliedern.
MUENCHENER MEDIZINISCEIE WOCHENSCHRIFT.
2015
9. Oktober 1906.
Am 26. Mai musste sich H. zu Bette legen, da sich starke Halsbe¬
schwerden zu den bisherigen Erscheinungen gesellten. Ich fand den
Mann am 27. Mai bei meinem ersten Besuch fieberfrei, mit normalem
Puls und ruhiger Atmung. Beide Pupillen waren hochgradig er¬
weitert, zeigten weder bei einfallendem Licht noch bei scharfer Ak¬
kommodation irgendwelche Reaktion, die oberen Augenlider deckten
den Augapfel beinahe vollständig und konnten vom Patienten nur
mit grösster Mühe etwas erhoben werden. Im Rachen zeigte sich
eine leicht gerötete Schleimhaut, das Schlingen ging mit Hindernissen
vor sich. Die Untersuchung der Motilität und der Sensibilität ergab
im allgemeinen keine Abweichung vom normalen Zustand. Aller¬
dings wurden geringe Manipulationen an der Haut, z. B. das Ein¬
stechen der Morphiumspritze äusserst schmerzhaft empfunden. Nach
einigen Tagen trat eine vollständige Unfähigkeit den Urin zu lassen
ein, ausserdem war das Schlingen allmählich total unmöglich, obgleich
die Schleimhäute keine entzündliche Röte mehr zeigten. Patient
musste täglich zweimal katheterisiert und mit der Magensonde fort¬
laufend ernährt werden. Nachdem die Symptome bis zum 7. Juni
ohne jegliche, auch nur die geringste Veränderung anhielten, starb
der Mann an diesem Tag an einer rasch verlaufenden Schluckpneu¬
monie. Die subjektiven Klagen des Patienten waren während der
ganzen Krankheit sehr gering: wenig Schmerzen im Kopf und im
Rücken, hauptsächlich Beschwerden beim Heraufarbeiten des Schleims
und Brennen in den oberen Luftwegen. Die Atmung war immer
normal, der Puls hatte stets zwischen 70 und 80 Schlägen, die Tem¬
peratur war meist unter 38°, nur hie und da 38,3 bis 38,5. Der Urin
enthielt weder Zucker noch Eiweiss. Der Stuhlgang war angehalten,
erfolgte aber jedesmal auf ein Klystier.
Ich hatte vor einigen Jahren bei demselben Patienten schon
einmal einen Teil dieser Störungen ebenfalls nach einer starken
Durchnässung beobachtet und nach Anwendung von Salizyl und
Aspirin vollständig verschwinden sehen. Deshalb war ich in den
ersten Tagen der Hoffnung, dass auch diesmal nach Anwendung be¬
sagter Mittel der Fall geheilt werden könne. Damals stellte ich die
Diagnose auf eine rheumatische Entzündung der Hirn- und Rücken¬
markshäute. Ich nahm an, dass sich eine Ausschwitzung gebildet
habe und ein Druck auf die betreffenden Nervenkerne anzunehmen sei.
Ich dachte mir ferner, dass der Krankheitserreger sich zuerst auf den
Mandeln etabliert habe und dass er von dort aus zu den Hirn- und
Rückenmarkshäuten gewandert sei. Es ist ja genügend sichergestellt,
dass auf diese Weise die verschiedensten Entzündungen im mensch¬
lichen Körper entstehen.
Nachdem nun bis zum 31. Mai eine Aenderung im Zustand des
Kranken sich nicht eingestellt hatte, wurde ich etwas stutzig und hatte
allmählich Sorge, ob es sich nicht um einen sporadischen Fall von
Genickstarre handle, von welcher Krankheit man in der letzten Zeit
so viel hörte und deren Auftreten für mich als Medizinalbeamten
in meinem Bezirk von grösster Wichtigkeit gewesen wäre. Dabei
täuschte ich mich durchaus nicht, dass in meinem Fall das Haupt¬
symptom, nämlich die Genickstarre gerade fehlte. Allein als Praktikei
musste ich mir doch sagen, dass auch rudimentäre Fälle Vorkommen
könnten. Zur weiteren Aufklärung der Sache zog ich Herrn General¬
arzt v. Burk aus Ulm bei und in der Nacht vom 31. Mai zum
ersten Juni wurde eine Lumbalpunktion vorgenommen. Die Flüssig¬
keit entleerte sich aus der Kanüle in starkem Bogen, sah hell¬
gelb aus und war vollständig durchsichtig. Noch in derselben Nacht
wurde die Flüssigkeit an die bakteriologische Abteilung des hy¬
gienischen Laboratoriums des Kgl. Wiirttemb. Medizinalkollegiums
in Stuttgart gesendet. Von dort kam schon am 1. Juni folgender
Bescheid: „Die mikroskopische Untersuchung der Zerebrospinalflüs¬
sigkeit hat ergeben vereinzelte dünne Stäbchen (jedoch keine Tu¬
berkelbazillen): ebenso wenige Kokken und ganz vereinzelte ganz
kleine Diplokokken, bei denen sich auch durch die Methode der
Kapselfärbung keine einwandfreie Kapsel erzielen liess. Grösse und
Form der Diplokokken entsprach nicht dem Diplococc. lanceolatus,
ebenso waren keine intrazellulären Diplokokken vorhanden.^ Zwei
Mäusen wurde je 0,5 ccm der Flüssigkeit eingespritzt und die Flüssig¬
keit auf Agar gebracht.“ Eine spätere Mitteilung brachte auch bez.
der Mäuse und des Agars ein negatives Resultat.
Somit handelte es sich in dem beschriebenen Fall glücklicherweise
um keine Genickstarre, sondern um eine Hirn- und Rückenmarks¬
hautentzündung, die ich als rheumatisch bezeichnen möchte und die
ich mir zu veröffentlichen erlaubte, weil sie in dieser Form und in
diesem Zusammenhang vielleicht weniger bekannt ist.
Aus dem medizinischen Röntgenlaboratorium des Kranken¬
hauses München I/I.
Ueber den Wert der Thorax-Durchleuchtung bei der
Pneumonie, namentlich bei zentraler Lokalisation.
Von Professor H. Rieder.
(Schluss.)
Der Verlust des Luft- und die Zunahme des
Saftgehaltes bei der pneumonischen Erkran-
k u n g grösserer oder kleinerer Lungenbezirke — namentlich
im Stadium der Hepatisation — und damit die Erhöhung des
spezifischen Gewichtes des erkrankten Organes erklären zui
Genüge die intrathorakale, der Ausdehnung des Krankheits¬
herdes entsprechende Schattenbildung.
Häufig (wie auch in einem Teile der oben skizzierten
Fälle) kann die Diagnose „Pneumonie eist aut
Grund des Röntgenbefundes sicher gestellt werden
— wenigstens zu einem bestimmten Zeitpunkte — , indem selbst
bei fehlendem perkutorisch-auskultatorischem Befunde dei Sitz
des pneumonischen Herdes auf Leuchtschirm und photographi¬
scher Platte als deutlicher Herdschatten im Lungenfelde nach¬
zuweisen ist. Verzichtet man in derartigen Fäl¬
len auf die Röntgenuntersuchung, so kann eine
Meningitis (wie in Fall l), ein fieberhafter Ikterus (Fall 4), ein
Typhus (Fall 5) usw. durch das klinische Bild vorgetäuscht
werden. Auch eine akute exanthematische Erkrankung oder
eine akute Tuberkulose kann differentialdiagnostisch in Be¬
tracht kommen und erst wenn — vielleicht erst einige Tage
nach der akuten Erkrankung — ein charakteristisches Sputum
auftritt oder die Erkrankung an die Lungenoberfläche kommt,
ist mit Hilfe der älteren, allgemein üblichen Untersuchungs¬
methoden eine sichere Diagnose zu stellen, während dieselbe
durch eine Röntgenuntersuchung schon viel früher gesichert
werden kann.
Weil bei einer in zentralen Partien der Lunge sich aus¬
breitenden Entzündung die pneumonischen Symptome oft so
unbestimmt sind, dass sie der ärztlichen Erkenntnis entgehen
können, besonders wenn Schmerz und Auswurf und auch alle
perkutorisch-auskultatorischen Symptome fehlen, hat man der¬
artige Erkrankungsformen ja auch von alters her als „1 a t e n t e
Pneumonien“ bezeichnet. Mangels des initialen Schüttel¬
frostes und des wie bei gewöhnlicher, d. h. an die Lungenober¬
fläche vorgerückter Pneumonie zu beobachtenden Status fe-
brilis wäre in solchen Fällen die Diagnosestellung oft geradezu
unmöglich.
Röntgenologisch ist der Sitz des pneumo¬
nischen Herdes aber wohl in jedem Stadium des pneu¬
monischen Prozesses durch Feststellung eines charakte¬
ristischen Herdschattens im hellen Lungenfelde nachzuweisen,
also, wie oben bereits erwähnt, auch bei fehlendem perku¬
torisch-auskultatorischem Befunde. Jedenfalls aber, wenn letzt¬
genannter Befund erhoben werden kann, ist auch ein ent¬
sprechender röntgenologischer, die Diagnose stützender Befund
zu konstatieren.
Was speziell den Krankheitsbezirk der befallenen
Lunge anlangt, so kann die Ausdehnung desselben sowohl
bei z e n t r a 1 e n Pneumonien — wenn also nur im Innern
der Lunge Entzündungsherde vorhanden sind, welche allseitig
von lufthaltigen Lungenschichten umgeben sind — als auch
bei andersartig lokalisierten Pneumonien durch die Röntgen¬
untersuchung genau bestimmt werden. Ja, es kann meines
Erachtens kein Zweifel darüber bestehen, dass die ana¬
tomische Ausbreitung der Lungenherde mit
Hilfe der Röntgen strahlen besser zu verfol¬
gen ist als durch Perkussion und Auskulta¬
tion.
Hingegen sind die letztgenannten Methoden z. Z. noch der
Röntgenuntersuchung überlegen, wenn es sich darum handelt,
zu entscheiden, ob die Entzündung auf einen benachbarten
Lappen übergegriffen hat.
Zwar lässt sich bei einer Lobärpneumonie im allgemeinen
auf dem Leuchtschirm erkennen, welche Lappen von der
Entzündung befallen sind. Hingegen kann mit Hilfe des Rönt¬
genverfahrens nur schwer entschieden werden, ob der Schatten
des Krankheitsherdes der typischen Lappenausdehnung ent¬
spricht, da ja ventral und dorsalwärts gelegene Krankheits¬
herde sich im Schattenbilde decken. Auch Röhrenverschiebung
unter Berücksichtigung der anatomischen Lappengrenzen führt
da meist nicht zum Ziele.
Der röntgenologische Befund eines wie immer gearteten
Lungenschattens ist natürlich für sich allein nicht ausreichend
zur Diagnose „Pneumonie“, da derselbe durch die verschieden¬
sten Erkrankungen bedingt sein kann, aber in Verbindung mit
einzelnen klinischen Symptomen kann ein solcher Nachweis,
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 4L
2016
z. B. der eines isolierten zentralen Herdes, von grösster Wich¬
tigkeit sein. Auch lässt sich bei Exazerbation des Krankheits¬
prozesses röntgenologisch feststellen, ob etwa ein oder mehrere
isolierte Herde in einem bisher nicht befallenen Bezirke sich
entwickelt haben — ein Untersuchungsergebnis, das von
grosser, praktischer Bedeutung sein kann.
Ein ganz interessanter, das Ausdehnungsgebiet der Pneu¬
monie betreffender Befund bei röntgenologischen Unter¬
suchungen (z. B. in Fall 2, Fig. 6 — 10) ist noch der, dass die am
meisten kaudalen, dem Zwerchfell benachbarten Lungenteile
häufig hell erscheinen, d. h. nicht von der Entzündung betroffen
werden. Das Freibleiben dieser Lungenpartien rührt offenbar
daher, dass sie dem Einfluss der Zwerchfellkontraktionen in
höherem Grade unterliegen als die mehr kranial gelegenen.
Sie sind deshalb blut- und lymphärmer als die letzteren und
somit der Infektion weniger zugänglich.
Ursprünglich, d. h. im Anfänge der Krankheit und
manchmal sogar tagelang ist der pneumonische Schat¬
ten zentralwärts gelegen, nur wenig ausgedehnt und oft
kaum vom Mittelschatten bezw. Lungenhilus und rechten Vor¬
hof zu differenzieren. Dann breitet sich — die Fortdauer des
fieberhaften Prozesses vorausgesetzt — der Schatten des pneu¬
monischen Herdes allmählich lateralwärts bis zur Lungenober¬
fläche aus. Manchmal allerdings bleibt derselbe zentralwärts
lokalisiert, oder im Gegenteil, er schreitet in raschem Tempo
an die Peripherie der Lunge fort.
Mehr und mehr neigt man jetzt der meines Wissens zuerst
von L i c h t h e i in auf Grund seiner röntgenologischen Be¬
obachtungen ausgesprochenen Ansicht zu, dass die lobäre
Pneumonie immer zentral beginnt. Diese Auffas¬
sung wurde zwar von Lepine (zitiert bei Holzknecht)
bekämpft, welcher behauptet, dass unter Umständen trotz zwei¬
fellos bestehender Pneumonie weder Perkussion noch Auskul¬
tation noch Röntgenuntersuchung einen diesbezüglichen Befund
ergeben, indem in solchen Fällen ein prolongiertes An¬
schoppungsstadium vorliege. Die L i c h t h e i m sehe
Anschauung wurde aber von T e n d e 1 o o bestätigt und erhält
durch die röntgenologischen Untersuchungsresultate der jüng¬
sten Zeit eine gewichtige Stütze.
Nach meiner auf Grund zahlreicher Röntgenuntersuchun¬
gen gewonnenen Erfahrung entstehen alle Arten der
fibrinösen Pneumonie, die zentrale oder stationäre
Pneumonie und die an der Lungenoberfläche fortschreitende,
inkl. der sog. wandernden Pneumonie mit ihren wechselvollen
Veränderungen, ja auch die Oberlappenpneumonie alsHilus-
pneumonien.
Die Röntgenuntersuchung bekräftigt in glänzender Weise den
pathologisch-anatomischen Lehrsatz, dass die verschiedenen
Lungeninfektionen (Tuberkulose, Pneumonie, Abszesse, auch
Bronchitis und selbst Karzinome) eine gewisse Vorliebe für
bestimmte L u n g e n t e i 1 e besitzen, da ja die physikalische Ge¬
legenheit zur Ansiedlung von Bakterien bezw. Infektionserregern in
den verschiedenen Lungenteilen eine verschiedene ist.
Speziell für die Pneumonie lässt sich nachweisen, dass die¬
selbe wie alle akuten Infektionskrankheiten vorwiegend die kau¬
dalen, d. h. unterhalb der 3. Rippe gelegenen Lungenteile befällt.
Durch Röntgenuntersuchungen lässt sich ferner, wie bereits ge¬
schildert, feststellen, dass die Erkrankung in der Nähe des
Ililus beginnt und vom Zentrum nach der Peri¬
pherie fortschreitet. Mit diesem Befund steht die pathologisch-
anatomische Erfahrung im Einklang, dass die zentralen Lungenteile
gewöhnlich in vorgerückteren Stadien der Erkrankung befunden
werden als die peripheren.
Umfassende Studien in Bezug auf die Ausbreitung der Pneumonie
verdanken wir T e n d e 1 o o, welcher auf Grund derselben folgende
Einteilung empfiehlt.
Man habe zu unterscheiden:
1. solche Erkrankungen, welche auf die zentralen
Lu n gen teile beschränkt bleiben (zentrale Pneumonie),
2. solche, welche allmählich vom Zentrum nach der
Peripherie fortschreiten, wobei die einzelnen Läppchen,
wenn man sie in der genannten Richtung untersucht, verschiedene
Entzündungsstadien zeigen,
3. solche, bei denen ein grosser Lun gen bezirk auf
einmal erkrankt und die entzündeten Läppchen sämtlich das¬
selbe Entzündungsstadium zeigen.
Die Ursache für die verschiedenartige Er¬
krankung der kranialen und kaudalen Lungen¬
partien sieht Tendeloo in der Verschiedenheit ihres
Blutreichtums. Die kranialen Lungenteile seien wegen ihrer
geringen Dehnbarkeit und aus Gründen der Hämdßtatik weniger be¬
fähigt zu arterieller Hyperämie als die kaudalen. Das kranialwärts
der 3. Rippe gelegene pneumonische Gewebe sei deshalb auch wenig
blutreich, nicht luftleer und die Hepatisation im Gegensatz zu den
kaudalen Partien schlaff und unvollkommen.
In Uebereinstimmung hiermit stehen auch die klinischen
Erscheinungen bei akuter Erkrankung der Oberlappen, welche sehr
wenig ausgesprochen sind, und ausserdem fehlt den Oberlappenpneu¬
monien die der fibrinösen Lungenentzündung eigentümliche Krise.
Man sieht, wenn die Röntgenuntersuchung öfters wieder¬
holt wird, auf dem Leuchtschirm deutlich, in welcher Art und
Weise, d. h. nach welcher Richtung, in welcher In- und Ex¬
tensität das Fortschreiten des Entzündungspro¬
zesses erfolgt. Dabei ist häufig auf Grund der Röntgen¬
untersuchung zu erkennen, dass die pneumonischen Schatten
ausgebreiteter sind, als man nach der perkutorisch-auskulta¬
torischen Untersuchung vermutet hatte. Allerdings ist hierbei
zu berücksichtigen, dass die röntgenologische Projektion der
Entzündungsherde grösser ausfallen muss als ihrer wirklichen
Ausdehnung entspricht.
Ausser der lateralwärts, d. h. vorwiegend in frontaler Rich¬
tung erfolgenden Ausbreitung des Krankheitsprozesses kann
noch die Schattendichte des Lungenherdes, aber selten
und nur bei frontaler Strahlen richtung auch die
Schattentiefe, also die Ausbreitung der Entzündung in
sagittaler Richtung, durch das Röntgenverfahren festgestellt
werden. Die genaue Abgrenzung der pneumonischen Herde
vom gesunden Lungengewebe, bezw. ihre wirkliche Grösse
wäre nur festzustellen durch vergleichende Röntgenunter¬
suchungen in sagittaler und frontaler Richtung. Sie scheitert
aber an der Schwierigkeit der in letztgenannter Richtung aus¬
zuführenden Untersuchungen. Bei Ermöglichung röntgeno¬
graphischer Untersuchungen dürften allerdings in solchen Fäl¬
len stereoskopische Aufnahmen am sichersten zum
Ziele führen. Im allgemeinen erhält man aber genügenden Auf¬
schluss über Sitz, Grösse und Ausbreitung der Lungenherde bei
sagittaler d. h. ventrodorsaler und besonders bei dorso-
ventraler Strahlenrichtung, indem der Abstand pneumo¬
nischer Lungenherde von der lateralen Thoraxgrenze durch die
allgemein übliche Durchleuchtung in sagittaler Richtung mit
genügender Genauigkeit festgestellt werden kann.
Hierbei ist im allgemeinen eine mediane Röhrenstellung,
und zwar in mittlerer Thoraxhöhe, aber auch unter Umständen
Hoch- und Tiefstellung sowie seitliche Verschiebung der Röhre
am Platze.
Die einzelnen Stadien des pneumonischen
Prozesses (blutige Anschoppung, rote und graue Hepati¬
sation und Lösung bezw. Resorption des Infiltrates) sind aller¬
dings trotz ihrer offenbar bestehenden Dichtigkeitsunterschiede
röntgenologisch nicht sicher voneinander zu unterscheiden,
schon deshalb, weil verschiedene dieser Stadien oft neben¬
einander bestehen, wie man ja auch daraus ersehen kann, dass
im pneumonischen Schatten dunklere Partien mit helleren ab¬
wechseln. —
Trotz dieses negativen Untersuchungsergebnisses dürften
doch noch einige Bemerkungen über die Eigenart
der Schattenbildung in der pneumonischen
Lunge hier am Platze sein! Die Herdschatten bei
Pneumonie sind, wenn sie nicht eine ausgesprochen lobäre
Ausdehnung zeigen, von verschiedener Form, d. h. bandförmig,
rundlich, oval oder keilförmig und dann mit der Basis entweder
der Thoraxwand oder dem Hilus aufsitzend.
Der meist s eh r zarte, pneumonische Schatten,
welcher fast niemals homogen und scharf begrenzt ist, weil die
Infiltration nur selten gleichmässig eine grössere Lungenpartie
oder gar den ganzen Lappen durchsetzt, auch meist gegen die
Umgebung sich nur unscharf absetzt, ist v o m Anfang bis
zum Ende der Erkrankung auf dem Leuchtschirme ge¬
nau zu verfolgen.
Im späteren Verlaufe der Erkrankung halten
die pei kutorisch-auskultatorisch und die röntgenologisch nach¬
weisbaren Veränderungen in der pneumonisch infizierten Lunge
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2017
_ abgesehen von der zentralen Pneumonie — bis zur Ent¬
fieberung ziemlich gleichen Schritt.
Direkt nach Ablauf der Krise erfährt die Ausdehnung
des pathologischen Lungenschattens meist einen erheblichen Rück¬
gang2) und es scheint, als ob nur die hepatisierten Lungenteile in
der Folge noch an der Schattenbildung teilnehmen; aber auch sie liefern
bald nur noch verwaschene, allmählich in die Umgebung, d. h. das
normale Lungengewebe sich verlierende Schatten. Der pneumonische
Schatten zeigt ja überhaupt seltener eine scharfe, sondern häufiger
eine unbestimmte Begrenzung und wird deshalb, wie eingangs er¬
wähnt, am besten unter Verwendung einer weichen oder wenigstens
ziemlich weichen, d. h. kontrastreiche und dabei wenig Sekundär¬
strahlen liefernden Röhre beobachtet.
Ein schwacher Herdschatten ist aber noch
weitüber d i e K r i s e hinaus, wenn schon längst keine per¬
kutorisch-auskultatorischen Erscheinungen mehr nachzuweisen
sind, zu verfolgen (s. Fig. 4 und Fig. 10 — 19). Es findet sich
dann das Lungenfeld der erkrankten Seite ganz oder teilweise
dunkler als das der anderen Seite oder es hat den Anschein,
als ob ein leichter Schleier über einen Teil des Lungenfeldes
gebreitet wäre.
In solchen Fällen kann eine die Pneumonie begleitende
Bronchitis mit Atelektase des Lungengewebes sowie eine
trockene Pleuritis mit verminderter Atmung zur Erklärung
dieses Befundes herangezogen werden.
Ein zarter, wolkiger Schatten konnte von de 1 a Camp
sogar mehrere Wochen nach der Krise und selbst später noch
nachgewiesen werden; auch zeigte sich, dass in manchen Fällen
von Pneumonie eine vollständige restitutio ad integrum, in
physikalischem. Sinne gesprochen, gar nicht eintrat,
de la Camp knüpft an den letztgenannten Befund die Ver¬
mutung, dass in Fällen von rezidivierender Lungenentzündung
eine unvollständige Rückbildung des pneumonischen Krank¬
heitsprozesses der Wiedererkrankung zugrunde liegt.
Andererseits scheinen aber doch zuweilen Fälle vorzu¬
kommen, in denen pneumonische Krankheitsresiduen durch die
perkutorisch-auskultatorische Untersuchung länger als durch
die röntgenologische zu verfolgen sind.
Wenn der pneumonische Schatten allmählich lateralwärts fort¬
schreitet oder namentlich, wenn er allmählich verschwindet, muss
man sich hüten, die der Skapula und ihrer Muskulatur entsprechenden
lateralen Verdunkelungen, die bei dorsoventraler und ventrodorsaler
Strahlenrichtung auf jedem thorakalen Röntgenbilde auftreten und
etwa in halber Höhe des Lungenfeldes am stärksten ausgesprochen
sind oder bei Frauen die Schatten der Mammae für pneumonische
Schatten bezw. deren Residuen anzusprechen.
Was die Komplikationen der Pneumonie an¬
langt, so dürfte der Nachweis derselben — namentlich der
eines pleuritischen Exsudates in den unteren Par¬
tien der Lungenfelder — mit Hilfe der Röntgenstrahlen wohl
stets gelingen.
Der Befund erheblich verminderter oder aufgehobener Be¬
weglichkeit des Zwerchfelles 3) gibt für das Bestehen eines der¬
artigen Exsudates gewöhnlich den ersten Anhaltspunkt; denn
der pneumonische Schatten ist selbst bei totaler Hepatisation
des Unterlappens doch noch so durchscheinend, dass Stand und
Bewegung des Zwerchfelles bei unkomplizierter Pneumonie,
d. h. bei fehlender Pleuritis exsudativa, auf dem Leuchtschirm
ersichtlich sind. Handelt es sich aber um ausgedehntere Ex-
sudatbildung, so äussert sich dieselbe bekanntlich durch das
Vorhandensein eines intensiveren Schattens mit charakte¬
ristischem Verlauf der oberen Begrenzungslinie (von median
unten nach lateral oben), eventuell auch durch Dislokation des
Herzschattens.
Man nahm bisher allgemein an, dass eine die Pneumonie be¬
gleitende Pleuritis erst auftritt, sobald der Entzündungsherd bis an
die Lungenoberfläche vorgeschritten ist. Aber durch eine kontrol¬
lierende Röntgenuntersuchung lässt sich erkennen, dass der typische
stechende Seitenschmerz in Verbindung mit pleuritischem Reiben
oft schon eintritt, ehe die Pneumonie die Lungenoberfläche erreicht
hat (siehe z. B. Fall l). Es muss also in derartigen Fällen eine den
pneumonischen Herd überschreitende, infektiöse Noxe als ursächliches
Moment der Pleuritis angesehen werden.
2) Davon, dass die Einschmelzung des pneumonischen Herdes bei
der Lösung vom Zentrum des Herdes aus erfolgt, wie von einer
Seite behauptet wurde, konnte ich mich bis jetzt nicht überzeugen.
3) Verminderte Beweglichkeit des Zwerchfells auf der
kranken Seite weist in erster Linie auf Pleuritis sicca hin.
Auch Nachkrankheiten der Lungenentzün¬
dung, z. B. postpneumonische Exsudate, sind mittels der Rönt¬
genstrahlen gut zu studieren. Noch bis vor kurzer Zeit hat
man sich bemüht — und zwar selbst Tage und Wochen lang — ,
beifiebernden Pneumonie-Rekonvaleszenten durch perkutorisch-
auskultatorische Untersuchungen und durch öfters wiederholte
Probepunktionen den Sitz eines metapneumonischen Empyems
zu ergründen, wo doch meist eine kurzdauernde Durchleuch¬
tung rasche Aufklärung zu bringen vermag.
Ferner diejenigen Vorgänge, welche in der Lunge sich ab¬
spielen, wenn der pneumonische Prozess nicht in Lösung über¬
geht („chronische Pneumonie“), und mit Schrumpfung und Ver¬
ödung (Karnifikation) der Lunge endigen, sowie die Zustände
von eitriger Einschmelzung und Nekrose oder von brandigem
Absterben grösserer Lungenpartien (Abszess- und Gangrän¬
bildung) sind einer genaueren Beobachtung und Beurteilung bei
Zuhilfenahme des Röntgenverfahrens zugänglich als früher.
Knisterrasseln persistiert — namentlich bei älteren Leuten
— nach den Beobachtungen von Arneth im Anschlüsse an eine
Pneumonie manchmal wochenlang infolge mangelhafter Wiederaus¬
dehnung (Kollapszustand) der Lunge und unvollständiger Füllung der
Alveolen mit Luft. In solchen Fällen ist, wie ich mich überzeugt habe,
auch röntgenologisch im Gebiete der Lungen kein besonderer Befund,
d. h. keine Schattenbildung zu konstatieren.
Dem Verhalten des Herzens im Verlaufe
derPneumonie, d. h. während und nach der fieberhaften
Periode, namentlich in bezug auf Ausdehnung des rechten Vor¬
hofes, ist bis jetzt in röntgenologischer Hinsicht meines Wissens
noch von keiner Seite genügend Rechnung getragen worden.
Viel schwieriger als bei kruppöser bezw. lobärer Pneu¬
monie — aber durchaus nicht aussichtslos — ist die Röntgen¬
untersuchung bei der katarrhalischen bezw. lobu¬
lären Pneumonie mit ihren kleinen Herden, welche erst
an einen katarrhalischen Zustand der feineren Bronchialver¬
zweigungen, an eine Bronchiolitis, sich anschliesst.
Bei dieser Erkrankungsform finden sich meist nur undeut¬
liche Schatten auf dem Röntgenbilde; aber wenn grössere, kon-
fluierende Herde vorhanden sind, ist auch hier ein deutliches
Schattenbild zu erwarten. Wie bei der fibrinösen und auch bei
der käsigen Pneumonie bleiben hier meistens die kaudalst ge¬
legenen Lungenpartien von der Entzündung frei.
Mit diesem Verhalten der kaudalsten — bestventilierten, aber
blut- und lympharmen — Lungenteile steht im Einklang, dass muskel¬
schwache und nur oberflächlich und schwach atmende Kinder leichter
von bronchopneumonischer Infektion befallen werden als andere, und
entsprechend den Partien, an denen der Thorax abgeflacht oder ein¬
gedrückt ist, d. h. in den lateralen Lungenbezirken rhachitischer
Kinder, finden sich wegen der daselbst stattfindenden geringen Atmung
mit Vorliebe bronchopneumonische Herde.
Bei der Bronchopneumonie, welche besonders bei
Masern, Keuchhusten, Diphtherie, Typhus und
Influenza beobachtet wird, dürfte es bei einiger Uebung
wohl gelingen, den Sitz der Erkrankung festzustellen und auch,
entsprechend der Exazerbation der klinischen Erscheinungen,
auf röntgenologischem Wege die Entstehung neuer Herde in
einem oder in beiden Lungenfeldern nachzuweisen. Der kli¬
nische Krankheitsbefund kann jedenfalls bei dieser Erkran¬
kungsform wie bei der kruppösen Pneumonie durch den Rönt¬
genbefund gestützt werden.
Selbst die dem Keuchhusten eigene streifen¬
förmige Pneumonie, bei welcher nach pathologisch¬
anatomischer Feststellung der paravertebrale pneumonische
Streifen medianwärts von einem schmalen, lufthaltigen Streifen
begrenzt wird, dürfte der röntgenologischen Diagnose zugäng¬
lich sein. Sind doch auch die der Influenzapneumonie
eigenen Krankheitsherde als kleine, zerstreute Schatten nach¬
zuweisen (siehe Fall 4, 5, 6). Zudem besteht bei dieser Krank¬
heit gar nicht selten diffuse Infiltration. Derlei pseudo¬
lobäre Infektionsformen (zusammenfliessende Bronchopneumo-
ien), welche zuweilen auch beim Typhus beobachtet werden,
stehen ja in anatomischer wie in klinischer Hinsicht zwischen
den fibrinös-pneumonischen und den broncho-pneumonischen
Formen.
Auch bei der sogen, käsigen Pneumonie, der pneu¬
monischen Form der Lungentuberkulose, bei welcher hellere
2018
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
lobuläre Schatten mit dunkleren abwechseln, ist, wie ich in
einer Reihe von Fällen ersah, die Röntgenuntersuchung von
hohem Werte.
Durch das Studium der Röntgenbilder kann sicherlich noch
genauerer Aufschluss erholt werden über manche Einzelheiten
auch bei anderen als den bisher genannten Pneumonieformen,
d. h. bei den atypischen Formen dieser Erkrankung, namentlich
den Aspirations - und den hypostatischen Pneu-
m o n i e n.
Da wir durch die Röntgenuntersuchung
am sichersten Aufschluss erhalten über die
Lokalisation eines pneumonischen Herdes,
über seine Ausdehnung und die Art seiner
Ausbreitung, so muss derselben ein grosser,
wohl beachtenswerter- Einfluss auf Prognose
und Therapie eingeräumt werden.
Dieser meiner Auffassung allgemeinere Geltung zu ver¬
schaffen, war der Hauptzweck der vorstehenden Mitteilung.
Literatur:
J. Arneth: Zum Verhalten des Pektoralfremitus bei der
kruppösen Lungenentzündung; einige Bemerkungen über das Knistern
bei derselben. Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 18 u. 19. —
de la Camp: Was lehrt uns die radiologische Untersuchung über
die Lösungsvorgänge bei der kruppösen Pneumonie? Fortschritte
auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen 1905, Bd. VIII, Heft 5. S. 323 u. ff.
— G. Holzknecht: Die röntgenologische Untersuchung der Er¬
krankungen der Brusteingeweide. Hamburg, Lukas Gräfe & Sillem,
1901. — R. v. Jak sch: Ueber Röntgendiagnostik und -therapie
innerer Krankheiten. Berl. klin. Wochenschr. 1905, No. 14 u. 15. —
L i c h t h e i m: Verein für wissenschaftliche Heilkunde in Königsberg,
Sitzung vom 20. III. 1899. Ref. in Fortschritte auf dem Gebiete der
Röntgenstrahlen, Bd. III, S. 81 u. 82. — N. P. Tendeloo: Studien
über die Ursachen der Lungenkrankheiten. Wiesbaden (Verlag von
J. F. Bergmann) 1902.
- -
Aus dem Elisabeth-Krankenhaus in Kassel.
Katgut vom gesunden Schlachttier.
Von Dr. Franz Kuhn, dir. Arzt.
Die Frage nach dem besten chirurgischen Nähmaterial
ist ebenso uralt wie neu und aktuell, und trotz unendlicher wis¬
senschaftlicher Arbeit immer noch nicht gelöst.
Am meisten im Vordergrund steht, wegen seiner übrigen
Vorzüge, das Katgut. Doch hat es den grossen Nachteil,
nicht ohne weiteres auf dem gewöhnlichen Wege durch Hitze
sterilisiert werden zu können. So musste es sich denn alle
möglichen Formen der Desinfektion gefallen lassen, vor allem
auch viele Imprägnierungen.
Fast könnte es scheinen als ob wir nach dieser Richtung
mit den neuesten Vorschlägen (Claudius, v. Herff
Schmidt-Billmann) an einem gewissen Endpunkt ange¬
langt wären. Vor dieser Auffasung muss ich, so sehr ich die
eingeschlagene Richtung anerkenne, jedoch vorerst entschieden
warnen; und dieses aus folgenden Gründen:
Wer weiss genau, was ein Katgutfaden ist?
Wer weiss, woher ein Katgutfaden stammt.
WerkenntseinenWerdegang, seineVorge-
schichte?
Kennen SiedieDetailsseinerZubereitung?
Diese und ähnliche Fragen stelle ich an die Spitze der
folgenden Erörterungen. Ich habe sie schon des öfteren in
Aerztckreisen gestellt, und zumeist eine merkwürdige Un-
orientiertheit gefunden.
Und doch sind diese Dinge so unendlich wichtig, für die
ganze Frage. Wir haben alle gesehen, wie sich die letzten
Jahre angestrengt haben, die Desinfektion des Katgut zu lösen.
Aber, ich kann mir nicht helfen, es zu sagen,
an allen diesen Arbeiten vermisse ich das
Hinabsteigen zu den Quellen.
Versuchen wir es darum, dies in Folgendem zu tun.
I. Was ist Katgut?
Das in der Chirurgie verwandte Katgut ist ein Teil oder ein
Multiplum von Ziegen- oder Hammeldarm, der in den Darmsaiten¬
fabriken eine Verarbeitung zu Darmsaiten erfährt.
Die Herkunft des Ausgangsmateriales ist eine verschiedene:
die besten Därme, die darum in erster Linie zur Violinsaitenfabrikation
verwendet werden, sind die russischen. Nach ihnen folgen die eng¬
lischen. Schlechter schon sind die asiatischen. Ebenfalls nicht sehr
beliebt, weil weniger haltbar, sollen einheimische Därme sein.
Alle diese Därme erfahren an dem Orte ihrer Gewinnung eine
erstmalige Reinigung und sogen. „Schleimung“, und werden dann ge¬
trocknet in Bündeln von einem Schock in den Handel gebracht. Neben
diesen getrockneten Därmen gibt es aber auch durch Pöckelung
konservierte, sogen. Salzdärme.
Für uns Aerzte werden Därme aller Art verwandt. Gerade
für die Katgutfabrikation gelten die geringeren Qualitäten als ge¬
rade gut genug. Gerade in dem Handel mit Katgut besteht eine leb¬
hafte Unterbietung, infolgedessen das Bestreben, immer billigeres
und minderwertigeres Material auf den Markt zu bringen.
Die Unterscheidung des Materiales in der Violinsaitenherstellung
geschieht nach der Farbe. Helle Därme bezw. helle Saiten sind die
beliebten; es gibt Därme, die, jedenfalls infolge ihrer Vorgeschichte,
nie helle werden. Gerade sie wandern unter das Katgut, dessen
Farbe minder wesentlich.
Dem Zwecke des Hellermachens dient auch das Bleichen der
Därme. Dieses geschieht mittelst Schwefeldioxid, im feuchten Zu¬
stand der Därme. Diese Prozedur kann mehrmals wiederholt werden.
So viel über die Herkunft des Katgutdarms. Gehen wir zu
seiner weiteren Verarbeitung über.
II. Wie wird Katgut jetzt gemacht?
Wie oben berührt, kommt der aus dem Tiere genommene Darm
zuerst in die Hände eines Menschen, der ihn „schleim t“. Diese
Aufgabe obliegt je nach dem Orte und der Einrichtung der Schlacht¬
stelle mehr oder weniger sauberen Händen. In kleineren Schläch¬
tereien sind es einzelne Privatpersonen, auch Frauen, die sich mit
diesem „Darmschleimen“ befassen, teilweise bereits im Schlachthause,
teilweise zu Hause, in letzterem Falle begreiflicher Weise oft unter
sehr gewagten Verhältnissen. Wie dieses Schleimen im Auslande
besorgt wird, dürften uns die neuerdings aus Chicago zugegangenen
Schilderungen über dortige Schlachthauszustände ahnen lassen. In
Sibirien oder Australien stelle ich mir die Einrichtungen nach dieser
Richtung auch nicht gerade immer als mustergültig vor.
Einmal geschleimt und im groben Sinne gereinigt, wobei man
im Verlaufe des Darmes immer mit blossem Auge noch die Schmutz¬
anhäufungen von Stelle zu Stelle erkennen kann, wird der Darm ge¬
trocknet, und als dürrer Faden, zu Bündeln gebunden in den Handel
gebracht.
Diese erste Prozedur des „Schieimens“ bedarf mit Rücksicht
auf die Katgutdarstellung für uns noch einer kleinen Betrachtung.
Bearbeitet man einen Hammeldarm (ein Ziegendarm hat dieselben
Eigenschaften) auf einem glatten Brette unter streichenden Bewe¬
gungen mit einem Holze oder Eisen, das wie ein Falzbein der
Buchbinder ungefähr aussieht, so lässt der Darm sich seine Mukosa
und seinen Peritonealbezug (letzteren vielleicht nicht so vollständig)
abstreichen. Uebrig bleibt lediglich die Muskularis, und diese zwar
in ganz unversehrtem Zustande, als geschlossenes Rohr (wenigstens
dann, wenn man nur einigermassen zart und vorsichtig bei dem
Schleimen verfährt). Dieses Darmrohr lässt sich ausspülen und
leicht aufblasen. In letzterem Falle stellt seine Wand ein ganz dünnes,
gleichwandiges, zartes, fast durchsichtiges Häutchen dar, dünner
und weicher wie dünnste Gummimembranen.
Gewendet oder umgestülpt, so dass seine Schleimhaut - nach
aussen käme, wie dies in den Schlachthäusern mit den Därmen der
Rinder und Schweine geschieht, bevor sie geschleimt werden, wird
der Hammel- oder Ziegendarm nicht. Er behält seine Innenseite innen
wie im lebenden Tiere.
Ebenso wie diese Tatsache, wird denjenigen, der die Verhältnisse
nicht näher kennt, auch die Ausnahmestellung des Hammel- und
Ziegendarms interessieren bezüglich seiner Eigenschaft, die Schleim¬
haut zu verlieren: Der Schweinedarm und Rinderdarm verliert durch
das Schleimen seine Schleimhaut nicht: er bleibt dicker, ist also
mit dem Hammeldarm verglichen, ein ganz anderes Gebilde, und
eignet sich durchaus nicht, auch nicht in Streifen geschnitten, zur
Herstellung von Katgut.
Soviel über das erste Schicksal des Katgutdarmes.
Wie erwähnt, kommt der einmal roh geschleimte Darm in Bündel
verpackt in den Handel, als ein dünner, ca. Katgutdicke 5—6 dar¬
stellender, unebener und ungleichmässiger Faden. Die Preise für
das Bündel, das 60 Därme enthält, schwanken zwischen 5 und 30 M.
Die mittleren guten Qualitäten kosten 18 M. pro Bündel. Sie sind
das Ausgangsmaterial für gute Violinsaiten. Für das Katgut der
Chirurgen werden die billigeren Sorten verwendet.
Diese getrockneten Rohdärme machen nun in der Darmsaiten¬
fabrik eine systematische Reihe von Prozeduren durch, bis sie Violin¬
saiten bezw. Katgut sind.
Ich werde mich bemühen, diese Vorgänge, die für die Auffassung
der Frage von unserem Standpunkt so sehr wichtig sind, genauer
zu schildern.
Die durch den Flandel bezogenen, getrockneten Därme werden
in der Darmsaitenfabrik durch eintägiges Einweichen in eine
Potaschenlösung, die mittels Piknometers ungefähr 15grädig her¬
gestellt wird, aufgeweicht und wieder in einen Zustand wie nach der
Schlachtung gebracht: Der auf diese Weise gequollene Darm ist
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2019
wieder weich und geschmeidig und hat seine Rohrform und sein
Lumen wieder erhalten.
Der also wieder bearbeitungsfähig gemachte Darm wird
nun mittels erneuten Durchziehens zwischen einer Holz- oder Me¬
tallkante und dem Finger, oder ebenfalls wie oben auf einem
glatten Brette mittels Falzbeins nochmals gereinigt (der technische
Ausdruck ist immer „geschleimt“), wobei noch viel innen und aussen
haftender Schmutz, ausserdem noch Reste der Schleimhaut und des
Peritonealbezuges Weggehen.
Am 2. Tage der Bearbeitung werden die Därme geschlitzt oder
gespalten, richtiger gesagt halbiert. Dieser Vorgang bedarf wegen
seiner elementaren Bedeutung einer genaueren Betrachtung.
Die Spaltung geschieht mittels eines relativ primitiven Apparates,
der in der Hauptsache aus einem senkrecht stehenden Messer besteht,
vor dessen Schneide ein kleines Elfenbeinhörnchen in horizontaler
Stellung angebracht ist.
Der Darm wird über das Hörnchen gezogen: dabei legt er, als
Teil eines Kreisbogens oder einer Spirale, sich stets in derselben
Lage zu dem Hörnchen, d. i. stets mit seinem kleineren Bogen, der
gleichbedeutend ist mit der Stelle des Mesenterialansatzes an die
konkave Seite es Hörnchens; mit seiner grösseren Peripherie legt
er sich auf den konvexen Teil des Hörnchens. Nachdem das Messer
dem übergestülpten Darm senkrecht zu seinem Verlaufe begegnet,
wird der Darm in eine linke, dem Mesenterialansatz entsprechende, und
eine rechte, periphere Hälfte gespalten (Fig. II). Je nach der Stellung
des Messers wird die rechte oder linke Hälfte breiter oder beide wer¬
den gleich. Da die linke Hälfte die Reste des Mesenterialansatzes
trägt, die niemals absolut ganz zu entfernen sind, ist sie für die
Violinsaitenfabrikation etwas minderwertiger, indem sie unreinere
Saiten liefert.
Die auf die genannte Weise entstandenen, durch
einmalige Schlitzung eines Darmes, erzeugten
Hälften des Muskelrohres, sind für die Katgut-
fabrikation das elementare Ausgangsmaterial.
Eine solche Hälfte ist verschieden breit, je nach der Weite des
Darmes, und der Stellung des Messers zur Mitte. Die Weite der
Därme bewegt sich in ungefähr 4 Grössen; dieselben werden von
den ersten Sortierern mittels kleiner Kugeln bestimmt. Die weitesten
Därme kommen von feisten Hämmein, die engsten von jungen Ziegen
und Lämmern. Um einen ungefähren Begriff von der Dicke eines
solchen Elementarteiles zu geben, sei in Kürze bemerkt, dass die
Hälfte eines dünnsten Darmes ungefähr unser Katgut No. 1 ist, die
Hälfte eines dicken Darmes unser Katgut No. 2; die weiteren Num¬
mern 3 — 5 werden durch Zusammenlegen von 2 oder 3 oder mehr
Darmhälften die von Kennern sehr leicht auf ihre Stärke abgeschätzt
werden, gebildet. Wir kommen auf diese Frage später ausführlicher
zurück.
An dieser Stelle interessiert uns mehr zunächst das weitere
Schicksal der geschlitzten Darmhälfte oder des Einzelfadens der
Katgutbereitung.
Für die Violinsaitenfabrikation und bis jetzt auch für die Katgut-
darstellung sind diese Einzelfäden noch absolut unrein; der Fach¬
ausdruck lautet „noch nicht genug geschleimt“. Sie werden deshalb
noch einer 5 tägigen „Schleimung“ unterzogen.
Diese vollzieht sich folgendermassen: Da die meisten Därme,
welche aus dem Auslande bezogen werden, infolge einer etwas weni¬
ger zarten Behandlung, stellenweise Löcher haben, reissen die Därme
beim Schlitzen in kürzere Stücke: diese kürzeren Einzelfäden werden
mit einem Ende nebeneinander an ein Holz angeklemmt, ungefähr in
einer Anzahl von 10 — 15. Dabei sind sie verschieden lang. Diese
reihenweise geordneten Fäden werden nun täglich durch Kämme
gezogen, wobei die Zinken der Kämme die Darmwände streifen und
abwischen und ausdriicken; um diesen Vorgang recht bequem zu
machen, sind neuerdings maschinelle Einrichtungen in Anwendung.
Diese Durchschleimung wird 5 Tage lang wiederholt; dabei wird
täglich der Darm in neue Potaschelösung gebracht und darin bis zum
nächsten Tage gelassen. Diese Lauge kann in geordneten Fabriken
klar und sauber sein; in anderen Betrieben habe ich aber die ver¬
dächtigsten Laugen, die für uns Chirurgen denkbar sind, gesehen.
Ist der Darm nun auf die genannte Weise in summa 6 Tage in
Lauge behandelt und täglich geschleimt, so ist er im Allgemeinen so
glatt und rein, als für die Saitenfabrikation nötig, und er kann allein
oder mit anderen Fäden zusammen gedreht werden.
Bevor dies geschieht, werden die einzelnen Stücke nach ihrer
Stärke sortiert und ebenfalls nach dieser Stärke zu 2 oder mehreren
zu Fadenbündeln von 2, 2,5 bis 3 m Länge zusammengenommen. Das
Ende dieser Bündel wird an Hanfseilschlingen befestigt. Die Bündel
dann an ein Brett gespannt.
Diese Bündel kommen nun an eine Art Posamentierspulenrad und
werden gedreht. Lässt man den Faden jetzt trocknen, so erhält man
ein leidlich gutes Katgut resp. Violinsaite.
Da die Farbe dieses Fadens aber häufig sehr zu wünschen übrig
lässt, derselbe vor allem nicht hell genug ist und durchscheinend,
werden die gedrehten Fäden auf 2 Tage einer Schwefelung unter¬
zogen, die in einem Kasten vor sich geht, in dem gelber Schwefel
verbrannt wird. Genügen 2 Tage nicht, so wird die Schwefelung
wiederholt. Der zu schwefelnde Faden muss stets feucht in die Kästen
gebracht werden.
Ist der Faden auf diese Weise hell und durchsichtig geworden,
so wird er auf Rahmen gespannt und in einem luftigen, warmen
Raume, häufig auch auf sehr schmutzigen Böden getrocknet.
So entsteht ein ziemlich guter Katgut- oder Violinsaitenfaden.
Derselbe ist auf seiner Oberfläche noch etwas rauh. Er wird datier
einer Politur unterzogen. Zu diesem Zwecke wird er kurz noch-
einmal etwas stark gedreht, dann mit Kreide und Bimsstein abgerieben
und mit Knochenöl eingerieben.
In einem separaten Raume wird der fertige Faden dann in Rollen
gebracht und ist zum Versand fertig.
Ich habe in dem Vorstehenden ausführlich den Werdegang
eines Katgutfadens bis zu seiner Versendung als Rohkatgut ge¬
schildert. Die Bedeutung dieses Einblickes in die Katgutfabri-
kation wird jedem sofort klar sein.
Jeder wird sofort erkennen und zugeben, dass hier, vom
chirurgischen Standpunkte* aus betrachtet, grobe Fehler¬
quellen sind. Jeder wird zugeben, und fordern, dass wir
Chirurgen hier früher ein setzen müssen, dass wir uns
früher des werdenden Fadens bemächtigen müssen.
Ich habe auf Grund eigener Versuche der Firma Merck
eingehende Vorschläge gemacht. Dieselbe wird das Katgut
ähnlich wie die Gelatina sterilisata, die sie auch auf meine
Veranlassung hin darstellt, in ihrer best eingerichteten Serum¬
abteilung nach streng aseptischen Grundsätzen fabrizieren.
Auf die Einzelheiten werde ich alsbald in einer grösseren
Arbeit zurückkommen. An dieser Stelle sollen nur meine An¬
sichten und Forderungen in Kürze zusammengefasst werden.
III. Welche Vorwürfe treffen die seitherige Fabrikation?
I. Nach dem seitherigen Verfahren in der Herstellung des
in der Chirurgie verwendeten Katguts ist man in der Gewinnung
und Wahl des Rohmateriales sehr wenig empfindlich und in der
Bearbeitung vom Standpunkte der Chirurgie aus nichts weniger
als vorsichtig.
a) Den Weg den der Rohdarm der in Frage stehenden
Hämmel und Ziegen aus Australien, Asien Russland, Spanien
bis zur Verarbeitung macht, also die ganze Vorgeschichte des
Materials ist dunkel und vom hygienischen und chirurgischen
Standpunkte durchaus einwurfsvoll. Gährungen, Fäulnis, Ver¬
unreinigungen aller Art sind sicher, Abfälle und minderwertige
Ware kommt ohne Unterscheidung zum Versand und zur Ver¬
wendung.
Eine Möglichkeit oder Reaktion, dem fertigen Katgutfaden
des Handels später seine Herkunft und Abstammung von gutem
oder schlechtem Material nachzuweisen, gibt es nicht; oft ent¬
hält ein fertiger Faden, wenn er dicker ist, Teile aus aller
Herren Länder.
b) Auch die Verarbeitung und Behandlung der Därme zu
Katgut in unseren Darmsaitenfabriken ist für unsere chirur¬
gischen Zwecke nichts weniger als einwandfrei.
Davon überzeugt schon der Geruch in der Nähe und im
Inneren dieser Häuser.
Die Reinigung und Bearbeitung und Umgebung des Mate¬
rials birgt vom chirurgischen Standpunkte viele Fehlerquellen
in sich: Fäulnis ist nicht ausgeschlossen, Beschmutzung durch
Gebrauchsgegenstände, Hände und vom Boden, von Tischen
oder von der übrigen Umgebung her, ist bei der Nähe faulen¬
der Reste und Vorräte so gut wie sicher.
Auf diese Weise wird der Elementar-Darmsaitenfaden
immer wieder von neuem infiziert.
Aus beiden Gründen a und b ist es begreiflich und mehr
wie selbstverständlich, dass die Sterilität bezw. Sauberkeit und
Reinheit von faulen Stoffen bei dem Katgut in der seitherigen
2020
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
Herstellung des Rohkatgut keinesfalls unseren chirurgischen
Anforderungen entspricht.
Der Leser dieser Wochenschrift wird sich noch wohl der
Oclatinefrage, insbesondere des Tetanusgehaltes1) der Gelatine,
erinnern. Bekanntlich hat unsere Unkenntnis dieser Angelegen¬
heit erst vielen Menschen das Leben kosten müssen, bevor
wir den richtigen und ungefährlichen Weg fanden. Chauf-
f a r d 2) teilte in der Pariser Akademie zu seinem Fall noch
17 Fälle von Tetanus nach Gelatineeinspritzung mit, wozu
Dieulafoy noch einen 19. Fall fügte. Dazu kommen noch
die vielen Fälle in anderen Ländern 3) und die Unzahl der nicht
niitgeteilten.
Bekanntlich hatte ich in meiner ersten Mitteilung deh strik¬
ten Beweis geführt, dass der Tetanus in der Injektionsstelle
war und von der Gelatine stammte und auf Kaninchen übertrag¬
bar war, hatte, weil ich die Gelatinefabrikation kannte, auf die
grosse Unsauberkeit der Gelatinefabrikation hingewiesen und
zur Vermeidung der Infektion (nach L e v y und Bruns4) ent¬
hält fast jedes 2. Blättchen käuflicher Gelatine Tetanus) direkt
erklärt (Münch, med. Wochenschr. 1901, No. 48):
„W illman an den Einspritzungen von Gela¬
tine festhalten, so muss man die Forderung
aufstellen, dass die zur subkutanen Injektion
zur Verwendung kommende Gelatine frisch
aus dem leim gebenden Gewebe gesunder
Schlachttiere hergestellt w erd e.“
Dieser Anregung folgte damals alsbald die chemische
Fabrik Merck, Darmstadt, direkt durch meine Publikation
veranlasst und stellte die Gelatina sterilisata, wie sie
jetzt im Handel ist, dar.
Seit dieser Zeit sind keine Tetanusfälle mehr mitgeteilt.
Ganz analog nun, wie die Gelatinefrage, liegt die Frage
des Katgut. Ich glaube ich brauche nicht noch, um zu über¬
zeugen, auf die Gewinnung am Schlachtorte, wo der Darm sel¬
ten sofort verarbeitet wird, sondern tagelang liegen kann, hin¬
zuweisen ; brauche nicht auf den Schmutz der primitiven Haus-
schleimereien, die sich der Därme annehmen, zu deuten,
brauche nicht den Versand in Schiffsräumen und feuchten
Lagerräumen zusammen mit Fellen und Häuten von milzbrand-
und tetanuskranken Tieren zu erwähnen, brauche nicht auf die
Katgutfabriken, die den Leimfabriken ähnlich sind, zu re¬
kurrieren.
II. Ein anderer sehr wesentlicher Punkt ist das in der
Katgutfabrikation notwendige Zusammendrehen des feuchten
Fadens mit einem oder mehreren anderen, die dann trocken
werden und zusammen einen festen Faden geben, in dessen
Innerem aller Schmutz eingedreht ist.
Dieser Schmutz muss mit Notwendigkeit bei der seit¬
herigen Herstellung in das Innere des Fadens gelangen. Ist
er einmal darin, so entzieht er sich begreiflicherweise viel
mehr jeder noch folgenden Desinfektion. Andererseits macht er
auch jede Kontrolle auf Keimfreiheit, so lange der Faden nicht
aufgelöst wird, und die Kontrolle sich nur auf die Oberfläche
des Fadens erstreckt, illusorisch. Andererseits ist die Sach¬
lage in der Wunde aber eine andere: dort wird der Faden natür¬
lich verdaut und auch der verborgenste Keim und das ver¬
steckteste Ptomain wird um so gewisser frei.
III. Ein dritter Punkt endlich, der zur Kritik des seither
in den Handel gebrachten Rohkatguts herausfordert, ist der,
dass an diesem Rohkatgut für unsere Zwecke zu viel des Guten
getan ist.
Dieses Katgut wird in den Fabriken genau in der Art wie
die Violinsaiten zubereitet. Dementsprechend wird es einer
Summe von Prozeduren unterzogen, die wohl für die spätere
Musiksaite sehr löblich und nützlich und wertvoll sind, die
aber für unsere Zwecke und das Rohkatgut der Chirurgie ent-
0 F. Kuhn: Tetanus nach Gelatineinjektion. Münch, med.
Wochenschr. 1901, No. 48. Vortrag auf der Naturforscherversamm¬
lung zu Hamburg.
-’) Chauffard: Academie de inedecine ä Paris. Sitzung vom
7. April 1903.
__ ') Mein Assistent Krug publizierte auf meine Veranlassung
7 Fälle. Krug: I etanus nach Gelatineinjektionen. Therap. Monatsh.
1902, VI.
4) Ernst Lcvy und Hugo Bruns: D. med. Wochenschr. 1902,
No. 8.
behrlich und unnötig, zum Teile sogar nachteilig und direkt
schädlich sind.
So ist z. B. das Schleifen und Polieren der Saite ganz zu
entbehren, die Glätte der Saite sogar eigentlich unangenehm.
Das Oelen ist direkt nachteilig und erfordert nur wieder ent¬
fettende Prozeduren.
Ueber das Schwefeln des Katgut will ich an dieser Stelle
nicht das letzte Wort sprechen. Als Desinfektionsmittel wäre
dies Verfahren unzureichend.
Nach diesen Ausführungen ist es nun am Platze, meine
Vorschläge für die Herstellung eines einwandfreien chirur¬
gischen Katguts aufzustellen.
IV. Meine Forderungen.
Meine Forderungen sind folgende:
1. Es müssen ausschliesslich notorisch gesunde Därme von
amtlich kontrollierten Schlachttieren verwendet werden. Diese
Därme werden unmittelbar nach der Schlachtung unter ge¬
wissenhafter und sachverständiger Verhütung von Verunreini¬
gung, tunlichst steril, dem Tiere entnommen, sachkundig und
sorgfältig, unter Verwendung von reinen Gerätschaften und mit
reinen Händen, von ihrem Inhalt befreit, dann „geschleimt“
und mit reinem Wasser, event. unter Heranziehung aseptischer
oder antiseptischer oder konservierender Flüssigkeiten ge¬
reinigt.
2. Alsdann werden die Därme oder ihre geschlitzten Hälften
in alkalischen oder anderen Flüssigkeiten gewisse Zeit, unter
strenger Einhaltung aseptischer und antiseptischer Grundsätze,
weitergeschleimt, d. h. von allem nicht Zugehörigen befreit.
3. Dann werden die Elementarfäden des Darms auf ihre
Keimhaltigkeit geprüft, event. die antiseptischen Massnahmen
oder Imprägnierungen verstärkt.
4. Der auf Keimfreiheit geprüfte Faden wird unter asep¬
tischen oder antiseptischen Kautelen zu Katgut gedreht und ge¬
trocknet.
5. Dann wird er einer Schlussbehandlung unterzogen, die
ihn als sterilen Faden dem Handel übergibt.
Ich behalte mir vor, auf die berührte Frage, bei ihrer prak¬
tischen Wichtigkeit alsbald ausführlicher zurückzukommen.
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Die Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst in Bayern.
Von Dr. med. C. v. H ö s s 1 i n in Augsburg.
Als vor nunmehr 2 Jahren Dr. Hackl in dieser Zeitschrift seinen
Artikel: „Die Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst“ veröffentlichte,
da hegte er wie aus den ersten Zeilen seiner Ausführungen her¬
vorgeht, wohl im Stillen die Befürchtung, dass seinen Worten nicht
d i e Beachtung geschenkt werden würde, die sie mit so vielem Rechte
verdient hätten. Auf der anderen Seite durfte er sich aber doch der
leisen Hoffnung hingeben, dass an massgebender Stelle die eine oder
die andere seiner beherzigenswerten Anregungen Gehör finden würde.
War doch seine Kritik, die er an dem bisherigen Modus des Physi-
katsexamens geübt, in durchaus sachlicher Form und frei von jeder
persönlichen Animosität gehalten. Leider ist seine Hoffnung gänzlich
zu nichte geworden und damit auch die Hoffnung aller derer, die ge¬
sonnen waren, nach ihm sich der Prüfung für den ärztlichen Staats¬
dienst zu unterziehen.
Dieser Misserfolg H a c k 1 s ist wenig ermutigend, noch einmal
in der Frage des Physikats das Wort zu ergreifen. Wenn ich es
trotzdem unternehme, so geschieht es, weil ich das Bewusstsein habe,
im Sinne vieler Kollegen zu sprechen, und weil ich davon überzeugt
bin, dass es in dieser Frage doch noch einmal tagen muss, dass
ein Erfolg aber immer weiter hinausgeschoben wird, je mehr man
stille sitzt, statt, ohne nach rechts oder nach links zu blicken, immer
energischer geradeaus dem Uebel an die Wurzel zu gehen.
Im Jahre 1905/06 haben sich nach einer mir vorliegenden Zu¬
sammenstellung 42 Kandidaten der Prüfung für den ärztlichen Staats¬
dienst unterzogen. Nach dem offiziellen Bericht ergab sich folgendes
Resultat: 10 Kandidaten erhielten Note I, 17 Kandidaten Note II,
1 Kandidat Note III. An diesem Berichte ist also nur von 28 Kan¬
didaten die Rede und wer nichts davon weiss, dass 42 geprüft wor¬
den sind, könnte das Resultat für ein ausserordentlich günstiges
halten. Ganz anders jedoch, wenn man ausrechnet, dass von den
Kandidaten, die sich der Prüfung unterzogen, nur 66 Proz., nur 2/s
die Prüfung überhaupt bestanden haben! Von den übrig gebliebenen
wurden 3 auf Grund der schriftlichen Arbeiten, 1 im praktischen
Teil der Hygiene vom weiteren Examen zurückgewiesen, 7 erhielten
bei der mündlichen Prüfung in einzelnen Fächern eine ungenügende
Zensur und 3 traten schliesslich vom mündlichen Examen zurück.
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2021
da sie, eingeschüchtert durch die Erfahrungen, welche andere Kollegen
gemacht, sich nicht auch dem Odium eines Durchfalls aussetzen,
sondern lieber freiwillig verzichten wollten.
Kollegen und Laien, denen das tatsächliche Resultat der
diesjährigen Prüfung mitgeteilt wurde, waren auf das höchste er¬
staunt und gaben nicht nur ihrer Verwunderung über diesen bisher
noch nie erlebten Ausfall eines Staatsanstellungsexamens Ausdruck,
sondern alle legten sich auch die naheliegende Frage vor: wie ist
denn so etwas möglich? Welche Gründe lassen sich dafür finden?
Meines Erachtens gibt es hierauf nur eine Antwort: Der veraltete
Modus des in Frage stehenden Examens, verbunden
mit den gegen früher e r h e b 1 i ch gesteigerten An¬
forderungen, die in den Fächern der Psychiatrie
und Hygiene an die Kandidaten gestellt werden.
Wenden wir uns zunächst dem letzteren Punkte zu, so muss
zweifellos eingeräumt werden, dass mit dem stetigen Fortschritt,
den die genannten beiden Disziplinen in den letzten Jahren ge¬
macht haben und ständig weiter machen, auch die Kenntnisse der
Prüfungskandidaten wachsen müssen. Ausserdem sind die Anforde¬
rungen, die an einen Amtsarzt der kommenden Dezennien gestellt
werden, ganz andere, als die, welche an den beamteten Arzt von
heute und früher gestellt werden können. Dabei ist aber andererseits
sofort zu bedenken, ob es denn den Kandidaten, die sich heuer dem
Examen unterzogen haben und auch solchen, die in späteren Jahren
sich prüfen lassen wollen, aber seit 8—10 Jahren in der Praxis
standen, überhaupt möglich ist, den gewaltigen Stoff, der sich in der
Zwischenzeit angesammelt hat, so zu bewältigen, dass sie bei der
auch heuer wieder beliebten Art einzelner Examinatoren, bis ins
kleinste Detail zu prüfen, mit Ehren bestehen können. Ich glaube
diese Frage verneinen zu müssen. Die Gefahr, vor der nach den
ausdrücklichen Bestimmungen der jetzigen Prüfungsordnung (§ 10
Abs. II) die Kandidaten geschützt sein sollten, besteht nach wie
vor, solange an der Einrichtung des mündlichen Examens festge¬
halten wird. Denn was ist leichter für einen Spezialisten, als bei
einem Kandidaten, den er zu prüfen hat, plötzlich auf einen schwachen
Punkt zu stossen und ihm eine Ignoranz auf einem Gebiete nachzu¬
weisen, dessen Kenntnis dem Examinator selbstverständlich, dessen
Unkenntnis ihm ungeheuerlich und der letzten Note würdig erscheint.
Wer z .B. in Hygiene sich so vor bereiten wollte, dass er ruhigen
Gemütes allen kommenden Detailfragen entgegenschauen könnte,
dürfte sich nicht damit begnügen, ein nach den Vorlesungen des
ordentlichen Professors für Hygiene in München angefertigtes Skrip¬
tum zu studieren, es genügte nicht, wenn er dazu auch noch die
Lehrbücher von Prausnitz und Rubner durcharbeitete, nein er
müsste sich mit dem ganzen Gebiet der theoretischen und ange¬
wandten Chemie, mit Physik und womöglich auch Mathematik auf
das eingehendste befassen. Woher aber sollte er die zu diesem
Zweck nötige Zeit nehmen? Ganz ähnlich, wie auf dem Gebiete der
Hygiene, so verhält es sich auch mit der Psychiatrie. Auch hier
sind die Anforderungen naturgemäss sehr hohe und es ist für einen
Kandidaten, der seinerzeit auf der Universität diese Disziplin nicht
gehört hat, kaum möglich, sich in XA Jahr nur die typischen Krank¬
heitsbilder einzuprägen, geschweige denn, sich so viele theoretische
Detailkenntnisse anzueignen, dass er einem strengeren mündlichen
Examen gewachsen ist. In anderen Bundesstaaten existiert eine
mündliche Prüfung aus Psychiatrie überhaupt nicht.
Wenden wir uns von dem mündlichen Teil des Examens, auf
den wir später noch einmal zu sprechen kommen werden, zu dem
Modus des Gesamtexamens selbst. Das „Physikatsexamen“ oder die
„Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst“ ist, wie der Name schon
sagt, ein ärztlicher Staatskonkurs. Er unterscheidet sich von den
Staatsanstellungsprüfungen anderer akademischer Berufssparten be¬
züglich seines Wesens: der conditio sine qua non der späteren staat¬
lichen Anstellung, in keiner Weise. Im übrigen hat das Physikat nicht
die geringste Aehnlichkeit mit einem Konkurs. Während bei allen
anderen Berufssparten der Konkurs nach einem einheitlichen Muster
abgehalten wird, machen die Aerzte — keineswegs zu ihrem Vorteil
— eine ganz eigentümliche Ausnahme. Weder bei den Juristen noch
Forstleuten, Philologen, Architekten etc. besteht die Einrichtung in
der „praktischen Staatsprüfung“, dass die einzelnen Kandidaten ver¬
schiedene Aufgaben zu bearbeiten haben. Vielmehr bestehen für die
Gesamtheit einzelne Aufgaben und der einzelne muss die gesamten
Aufgaben unter gleichen äusseren Bedingungen bearbeiten. Dadurch
ist, wie andere Berufssparten längst erkannt haben, jede Ungerechtig¬
keit gegen den einzelnen ausgeschlossen und die einzig richtige
Möglichkeit gegeben, alle mit dem gleichen Masse zu messen und
sich ein objektives Urteil über die Leistungen der einzelnen zu bil¬
den. Wie anders sieht es dagegen bei der Staatsprüfung der
Merzte cius.
Nehmen wir zunächst die äusseren Verhältnisse an. Der eine
Kollege praktiziert in München oder wirkt hier als Assistent, ein
anderer ist als Psychiater an einer grösseren Anstalt tätig, wieder
ein anderer hat dagegen fern von einer grösseren Stadt, abgeschnit¬
ten von jedem Verkehr, eine mühevolle Praxis zu versehen. Alle
Kollegen sollen während der Wintermonate die schriftlichen Aufgaben
für das Physikatsexamen ausarbeiten. Ich glaube, es bedarf keiner
langen Auseinandersetzung, dass der beschäftigte praktische Arzt
auf dem Lande nicht zu beneiden ist, wenn er nach des 1 ages Last
und Arbeit, müde und erholungsbedürftig sich erst noch hinsetzen
muss, um die erste Bedingung, zu den weiteren Prüfungsabschnitten
zugelassen zu werden, zu erfüllen. Bei der Zensur seiner Arbeiten
wird auf die misslichen Verhältnisse, in denen er sich befunden, keine
Rücksicht genommen.
Wie steht es ferner mit der Beschaffung der nötigen Literatur?
Ich nehme dabei immer noch den günstigen Fall an, dass jeder dei
Kollegen ein annähernd gleichwertiges I hema zu bearbeiten hat. Auch
hier unterliegt es keinem Zweifel, dass ein Arzt, der sich in München
oder an einer anderen grösseren Stadt mit guter Eachbibliothek
ausserordentlich viel leichter tut, als der Kollege auf dem Land, der
vielleicht nur schriftlich mit irgend einer medizinischen Buchhandlung
verkehren kann und mit dem Material zufrieden sein muss, was er
von dieser zugesandt erhält. Ich sehe dabei ganz davon ab, dass der
Kollege vom Land hierbei schon erhebliche materielle Opfer bringen
muss. Am deutlichsten aber tritt die Ungleichmässigkeit und damit
Ungerechtigkeit der Bedingungen hervor, wenn man die verschiedenen
Themata für die schriftlichen Arbeiten sich betrachtet. Einem prak¬
tischen Psychiater, einem Hygieniker wird es doch sicherlich leichter
fallen, ein Thema aus seinem Spezialgebiet zu bearbeiten, als einem
praktischen Arzt; einem Mann, dem umfassende Literatur zu Gebote
steht, viel leichter, als einem, der auf die Güte eines Buchhändlers
angewiesen ist. Besonders fatal ist es aber endlich, dass die einzelnen
Themata für die schriftlichen Arbeiten auch nicht entfernt gleich¬
wertig sind. Es wurden heuer und in früheren Jahren Arbeiten aus¬
gegeben, die jeder approbierte Arzt in kurzer Zeit und ohne besondere
Anstrengung fertigstellen kann, dagegen waren auch andere dabei,
von denen selbst die Spezialisten, die das Thema gestellt, zugaben,
dass sie zu schwierig seien und ein ausgedehntes Spezialvorstudium
erforderten.
Schon beim ersten Prüfungsabschnitt kann also nicht mit gleichem
Masse gemessen werden. Freilich kann von seiten der Examina¬
toren, welche die Aufgabe zu zensieren haben, in Anbetracht der
Schwierigkeiten des Themas eine mildere Kritik geübt werden, aber
wer von den Kandidaten darf den berechtigten Optimismus hegen,
dass dies auch geschieht? Und wenn schliesslich auch seine Arbeit
für genügend erachtet wird, hat er sich nicht ganz anders schinden
und plagen müssen, als ein anderer Kollege, der mit zufriedenem
Lächeln konstatieren kann, dass ihm das Glück ein einfaches Thema
beschieden hat. Er hat ganz Recht: in der Tat war es das Glück und
nichts anderes, dem er seine Arbeit zu verdanken hat, denn wo ge¬
lost wird, da spielen Glück und Missgeschick stets die Hauptrolle.
Ganz das gleiche ist zu sagen bei dem zweiten, dem „prak¬
tischen" Teil des Examens. Auch hier spielt der Zufall eine eminente,
aber durchaus unerwünschte und geradezu unwürdige Rolle. Wer auf¬
richtig und ehrlich ist, der muss sich geradezu schämen vor den Kol¬
legen, die auf Grund einer „Verlosung“, wie sie im praktischen leil
der Hygiene üblich ist, eine Frage gezogen haben, über deren so
mannigfache Klippen und Fussangeln sie gestrauchelt sind, die ihnen
die Note verdorben, ja sogar den Ausschluss vom weiteren Examen
eingetragen haben, während man selbst durch ein günstiges Geschick
einfache und „ungefährliche“ Fragen beschert erhalten hat. Ausser¬
dem ist aber gerade bei der praktischen Prüfung aus der Hygiene
dem jeweiligen Examinator Gelegenheit gegeben, zu prüfen, so lange
es ihm beliebt und jedwedes Thema anzuschlagen, ein Gebrauch, der
mir ebenfalls nicht ganz mit den Prüfungsvorschriften übereinzustim¬
men scheint. .
Was soll überhaupt die praktische Prüfung aus der Hygiene in
der Form, wie sie jetzt geübt wird? Man soll lernen, die einzelnen
Untersuchungsmethoden zu beurteilen; sie selbst später auszuführen,
ist dem Amtsärzte aus äusseren Gründen nicht möglich. Wäre es
da nicht einfacher, sich davon zu überzeugen, ob der Kandidat ganz im
allgemeinen einen Ueberblick über angewandte Hygiene besitzt, statt
ihm in der Vorbereitungszeit 40—60 Reaktionen, Technizismen etc.
rasch einzupauken, deren praktische Ausführung im Examen selbst
vom Examinator nicht einmal überwacht wird!
In dem mündlichen Examen konzentrieren sich endlich die sämt¬
lichen Missstände, die den einzelnen Prüfungsabschnitten gesondert
anhängen. Schon die äusseren Umstände sind derart beschaffen, dass
man sich füglich wundern darf, dass nicht längst eine Remedur ein¬
getreten ist. Nicht nur die Examinanden sondern, wie mir durch
mündliche Mitteilung bekannt ist, auch verschiedene Examinatoren
haben es aufs peinlichste empfunden, dass es sich bei den kleinen Raum¬
verhältnissen, die zur Verfügung stehen, nicht vermeiden lässt, dass
die Prüfung an den einzelnen Tischen häufig durch die mehr oder
minder laute Unterhaltung an den Nebentischen recht unangenehm
gestört wird. Wird verlangt, dass der Examinand in 2 Stunden über
ein ungeheures Gebiet, das die 4 Prüfungsfächer umfasst, Auskunft
geben soll, so ist er berechtigt, auch seinerseits zu verlangen, dass
er in dieser Zeit angestrengtester Aufmerksamkeitsspannung nicht
gestört wird.
Wenn schon bei der ärztlichen Vorprüfung in München ein mög¬
lichst grosses Lokal genommen wird, dass eine Störung des Examens
durch die Unterhaltung an den verschiedenen Tischen möglichst ver¬
mieden wird, wenn dieselbe Gepflogenheit bei der juristischen Schluss¬
prüfung in München herrscht, wenn es bei dieser Prüfung in Wiirz-
burg z. B, möglich ist, dass jeder Kandidat einzeln geprüft wird,
warum sollte dies nicht auch in dem Examen für den ärztlichen
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
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Staatsdienst möglich sein? Ein stichhaltiger Qrund, warum man
den letzten Prüfungsabschnitt eng aufeinander gepfercht im Gebäude
des Kgl. Staatsministeriums des Innern absolvieren muss, lässt sich
doch nicht angeben. Aber wenn auch seinerzeit, als Hackl dies
schon betonte, der Missstand abgeschafft worden wäre — und dies
hätte sich bei gutem Willen wahrlich ohne Schwierigkeiten ermög¬
lichen lassen — so bleibt doch noch soviel anderes zurück, dass
es als eine billige Forderung erscheint, das mündliche Examen über¬
haupt aus der ärztlichen Staatsdienstprüfung zu entfernen. Das
Examen soll ein praktisches sein und nicht ein theoretisches, denn
es ist für die Praxis bestimmt. In der Praxis ist aber jederzeit Ge¬
legenheit gegeben, seine theoretischen Kenntnisse im Bedarfsfall aus
Büchern zu ergänzen. So wird es bei den Juristen gehandhabt, bei
den Philologen, in jeder anderen Berufssparte. Tagtäglich stossen
wir auf Gedächtnislücken, manchmal bei Dingen, die uns so selbst¬
verständlich erscheinen, dass wir uns wundern, wie es möglich war,
dieselben überhaupt vorübergehend vergessen zu haben. Wieviel
mehr kann uns dies in einem Examen zustossen, bei dem wir uns in
einer gesteigerten Affektlage befinden. Haben wir aber das Unglück,
gerade auf einem solchen Punkt gefasst zu werden, so kann uns dies
auch hier wieder nicht nur die Note verderben, ja es kann uns sogar,
trotz ausgezeichneter Leistungen in der Mehrzahl der anderen Fächer,
einen Durchfall durch das ganze Examen eintragen. Es steht ja wohl
in den Prüfungsvorschriften, dass in grossen Zügen über das Gesamt¬
gebiet einer Disziplin geprüft werden soll, aber wer vermag hier einem
Spezialisten und zumal einem akademischen Lehrer die Grenzen vor¬
zuschreiben, wo der Gesamtüberblick aufhört und die Spezialfrage
anfängt. Für den akademischen Lehrer ist die Kenntnis mancher Ein¬
zelheiten aus den Grenzgebieten und Hilfswissenschaften unbedingtes
Erfordernis, dem praktischen Arzt erscheint sie keineswegs un¬
wesentlich, sie ist von ihm aber im Laufe der Zeit vergessen worden.
Wird er in der Praxis genötigt, darüber Aufschluss zu geben, so ver¬
mag er sich aus seinen Büchern Rat zu erholen. Der Examinator
aber verzeiht ihm eine solche Ignoranz nicht, und trotz reichlichen
anderen Wissens führt eine solche Gedächtnislücke zum fatalen Aus¬
gang des Examens. Hat er aber Glück und dieses spielt gerade im
mündlichen Teil der Prüfung eine ungeheure Rolle, so bietet die von
ihm dargebotene Leistung keinen Massstab dafür, ob er auch in den
anderen Gebieten, auf denen gleich strebsame, gleich intelligente
Kollegen gestrauchelt sind, ebenso beschlagen ist. Bei keinem Prü¬
fungsabschnitt wohnt die Note I so nahe bei der Note IV, als gerade
bei dem letzten, dem mündlichen.
Was die Noten selbst, bezw. deren Verwertung anlangt, so liegt
auch hierin ein besonderer Missstand des heutigen Physikatsexamens.
Wie oben schon angedeutet, ist eine einzige ungenügende Zensur
bei 9 ausgezeichneten imstande, das Examen für dieses Jahr ungenü¬
gend erscheinen zu lassen, der Kandidat hat die Prüfung nicht be¬
standen. Draussen im Publikum fragt niemand .danach, warum er das
Examen nicht bestanden hat, niemand erfährt von den guten Lei¬
stungen in den anderen Fächern, alles hält sich nur an die eine Tat¬
sache, dass der Herr Dr. X. im Physikatsexamen durchgefallen ist.
Wer die Folgen, die sich daraus ergeben, kennen gelernt hat, der wird
mit gerechter Entrüstung gegen einen solchen Prüfungsmodus pro¬
testieren. Es wäre doch sehr interessant, zu sehen, wie sich die
Herren Juristen verhalten würden, wenn sie wegen einer ungenügen¬
den Zensur in einer Frage des Staatskonkurses für ein ganzes Jahr
durchfallen würden, ebenso wäre es sehr interessant, zu erfahren,
wie gross der Prozentsatz der Durchgefallenen wäre, wenn einmal
in dieser Weise beim juristischen Staatskonkurs vorgegangen würde.
Aus allen diesen Gründen müssen wir zu dem Schluss kommen,
dass es dringend geboten erscheint, der Frage der Reform der Prü¬
fung für den ärztlichen Staatsdienst näher zu treten. Das Kgl. Staats¬
ministerium des Innern bezw. der Ministerialreferent dieses Mini¬
steriums hat auf die verschiedenen Anregungen, die bereits gegeben
wurden, bisher keine Veranlassung genommen, sich mit dieser An¬
gelegenheit zu befassen. Im Interesse der Kollegen, die in kommenden
Jahren das Physikatsexamen zu machen gedenken, ist es aber ge¬
legen, dass baldmöglichst eine Aenderung eintritt. Wir hoffen zu¬
versichtlich, dass von den Aerztekammern, die sich heuer mit der
aufgeworfenen Frage beschäftigen werden, ein günstiges Resultat
erzielt werden wird. Möge insbesondere der Vorschlag, den
Hackl schon gemacht hat, kräftige Unterstützung finden, dass die
Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst an das Ende des praktischen
Jahres gesetzt wird. Möge ferner der mündliche Teil aus dem
Examen verschwinden und ein Modus gefunden werden, nach dem
es möglich ist, dass die Kollegen unter gleichen Bedingungen mit¬
einander konkurrieren können.
Referate und Bücheranzeigen.
Jules Guiart et L. Grünbert: Precis de diagnostic
chimique, microscopique et parasitologique. Paris, Rudeval,
1906. Preis 15 Fr.
Das Buch ist ein Kompendium der für die klinische Dia¬
gnose wichtigen Untersuchungsmethoden im Laboratorium; es
ist in gleicher Weise für Acrzte, Pharmazeuten und Studie¬
rende der Medizin bestimmt. Die Verfasser, ein Professor der
Zoologie und ein Professor für pharmazeutische Medizin haben
sich vereinigt, um auch die Technik der seltener gebrauchten
diagnostischen Methoden in möglichst knapper Form zur
Darstellung zu bringen. Das Buch enthält in Kürze
allgemein bakteriologische Angaben über Nährböden,
Sterilisationsmethoden und Impfversuche zu diagnostischen
Zwecken. Es bringt die Diagnostik der wichtigsten
Bakterien und Parasiten. Im speziellen Teil folgt
die Besprechung des Blutes, Eiters, der Exsudate, der
Milch, des Nasensekrets und des Sputums, ferner in beson¬
deren Kapiteln Untersuchung von Mund und Pharynx, Magen,
Darm, dann Haut, Ohr, Auge, Geschlechtsorgane sowie Urin¬
untersuchung. Charakteristisch ist die ungeheure Mannigfaltig¬
keit des Gebotenen, namentlich in parasitologischer Richtung.
Die ganze Anlage des Werkes macht es weniger zu wissen¬
schaftlichen Studien, als zum Nachschlagen in der Praxis ge¬
eignet. Die Abbildungen sind rein schematisch, z. T. zu pri¬
mitiv gehalten. Erich Meyer- München.
F. Voelcker - Heidelberg : Diagnose der chirurgischen
Nierenerkrankungen unter Verwertung der Chromozystoskopie.
Wiesbaden, Bergmann, 1906, 187 Seiten, Preis M. 4.60.
Ueber die zystoskopische Beobachtung des durch Indigo¬
karmin blaugefärbten Urinstrahles hat V. im Verein mit Jo¬
seph vor einigen Jahren in dieser Wochenschrift berichtet.
Eifrig bemüht, die Methode weiter zu vervollkommnen und
für die Diagnose der verschiedenen Nierenerkrankungen zu
verwerten, hat V. seitdem unablässig weiter gearbeitet und
legt uns hier als Resultat seiner Studien ein stattliches Werk
vor. Man muss staunen, in wie scharfsinniger und über¬
zeugender Weise V. seine Methode zur Beurteilung der ver¬
schiedenen Erkrankungen zu verwerten lehrt, und kann keinen
Zweifel darüber hegen, dass das Verfahren eine bedeutungsvolle
Förderung der funktionellen Nierendiagnostik darstellt. Der
Inhalt des V. sehen Buches gibt ausserdem so mannigfache
Anregungen physiologischer und pathologischer Art, dass nie¬
mand das Buch ohne erhebliche Förderung seiner Kenntnisse
aus der Hand legen wird. Nach allgemeinen Erörterungen
über die Bedeutung der Niereninsuffizienz, über die Hypo-
sthenurie und den Torpor renalis, stellt Verfasser fest, dass
der verspätete Eintritt der Indigkarminreaktion ein Symptom
der Niereninsuffizienz darstellt. Ferner deutet die mangelhafte
Konzentration des Farbstoffes mit Sicherheit auf eine osmo¬
tische Schwäche der Nieren hin.
Die vergleichende Untersuchung der Farbstoffreaktion bei¬
der Nieren gibt die erstaunlichsten Resultate bei der Nieren¬
tuberkulose. Ergibt die Beobachtung der erkrankten Ureter-
miindung während 10 — 15 Minuten weder den Austritt einer
Sekretionsflüssigkeit, noch irgend eine peristaltische Sekre¬
tionswelle der Mündung oder ihrer Umgebung, so ist damit
die Annahme einer stark zerstörten Niere erlaubt. Auch kleine
tuberkulöse Herde, etwa nur ein Viertel oder ein Drittel der
Niere einnehmend, machen die Niere unfähig, eine richtige
Indigkarminreaktion zu geben. Andererseits haben wir in der
Farbstoffausscheidung ein gutes Prüfungsmittel für die andere
Niere. Tritt an ihr die Indigkarminreaktion ungefähr 5 Minuten
nach der Injektion ein, geschieht die Sekretion in einem regel¬
mässigen Typus, und entsprechen die Urinstösse schätzungs¬
weise der Norm, so ist damit eine suffiziente Niere erwiesen.
Bei Nierensteinen ist die Chromatozystoskopie dann von
Bedeutung, wenn es sich darum handelt, festzustellen, ob eine
Kolik renalen Ursprunges ist. Findet sich auf der Seite des
Schmerzes das Fehlen der Nierenfunktion, ist die Niere mit
Wahrscheinlichkeit als Sitz der Kolik anzusehen (Hindernis des
Urinabflusses). Umgekehrt kann man bei normaler Nierenfunk¬
tion während des Anfalls die Niere als Ursache der Kolik mit
Wahrscheinlichkeit ausschliessen.
Bei der Pyonephrose hat die Chromatozystoskopie in
mehreren Fällen wertvolles Material zur Beurteilung der funk¬
tionellen Leistungsfähigkeit der anderen Niere geliefert. Aehn-
lich ist auch die Bedeutung der Chromatozystoskopie bei der
Operation der Nierentumoren.
Bei der Wanderniere, soweit es sich um solche Formen
handelt, bei denen die Niere selbst nicht krank ist, liefert das
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2023
Verfahren vorläufig keine charakteristischen Befunde. Ist die
Niere selbst erkrankt, so kann die Methode Anhaltspunkte für
die einzuschlagende Therapie abgeben. Krecke.
Sieben Bücher Anatomie des Galen. Zum ersten
Male veröffentlicht, nach den Handschriften einer ara¬
bischen Uebersetzung des 9. Jahrh. n. Chr. ins Deutsche über¬
tragen und kommentiert von Dr. med. Max S i m o n. Leipzig,
Hinrichs 1906. 2 Bände gr. 8°. (Preis beider Bände Mk. 45,
des I. Bandes, Einleitung und arabischer Text, Mk. 36, des
II. Bandes, Deutscher Text und Kommentar, M. 24).
Der mit der Geschichte der Medizin nicht näher vertraute
Leser dieser Zeitschrift wird sich verwundert die Augen reiben,
dass ihm hier ein Werk des Galenos nach einer arabi¬
schen Uebersetzung vorgeführt wird, des Galenos,
dessen griechisch erhaltene Schriften schon eine schier
unübersehbare Masse bilden, die jeden Geschichtsfreund schon
trostlos abzuschrecken geeignet ist, wenn man die endlose Reihe
derselben in der nun schon 80 Jahre alten K ü h n sehen Aus¬
gabe überschaut. Und wenn er nun gar das stachelige Wort
einer Berliner Philologenfeder gelesen hat von dem „uner¬
träglichen Seichbeutel G a 1 e n“, da wird er erst recht den¬
ken: Lasst Euch genügen am griechischen Original, wenn denn
durchaus Galenos behandelt werden soll ! — und doch würde
der durchaus unrecht handeln, der so vorschnell urteilen wollte.
Denn diese Sieben Bücher anatomischer Zer¬
gliederungskunst des Galenos gehören zum Kost¬
barsten altklassischer Medizin und zum Wertvollsten aus der
unendlichen Flut galenischer Rede. Ja diese späte und vor¬
zügliche Ausgabe des Kollegen Max Simon bedeutet das
glückliche Ende einer langen Kette von Missgeschick, welche
dieses anatomische Hauptwerk des Altertums mit kaum glaub¬
licher Zähigkeit vom Tage des Hervorgehens aus der Künstler¬
hand seines Urhebers eigentlich in der Dunkelheit des völligen
Unbekanntseins festgeschmiedet hielt. Der erste Entwurf
schon dieser Technik der Anatomie (in zwei Büchern) ging
wenige Jahre nach ihrer Niederschrift zu Grunde und auch das
grosse Werk in 15 Büchern erlitt in der grossen Feuersbrunst
von 191 in Rom abermals schwere Verstümmelung, so dass
die 4 Schlussbücher nochmals geschrieben werden mussten,
die noch nicht durch die Hände der Abschreiber „publiziert“
waren. Acht dieser wichtigen Bücher und ein Fragment des
neunten Buches sind griechisch im Originaltext auf uns ge¬
kommen; die Blütezeit arabischer Wissenschaft hat sie noch
alle 15 besessen und in dieser ersten Renaissance der antiken
Geisteswelt, die nicht immer nach Gebühr gewürdigt worden
ist, wurde auch dies grösste anatomische Werk des Alter¬
tums gebührend hochgehalten und in die Gelehrtensprache
des Tages übersetzt — dem wissenschaftlichen Sinne der
Araber verdanken wir also die Aufbewahrung dieses kostbaren
Schatzes, den Max Simon damit zum zweiten Male gehoben
hat, dass er ihn in eine moderne Kultursprache übersetzt und
damit dauernd allgemein zugänglich gemacht hat. Es last sich
kaum ermessen, wie viel das mittelalterliche medizinische
Abendland und die Renaissance der Heilkunst in Europa damit
verloren hatten, dass ihnen gerade diese hier veröffentlichten
7 Bücher Anatomie des G a 1 e n o s vorenthalten waren — aber
auch heute noch verdient die schöne Gabe deutschen Ge-
lehrtenfleisses vollste Beachtung! —
Abgesehen von dem Reize, etwas lang Verlorenes kennen
zu lernen, wissenschaftliches Neuland zu betreten, das bei
jedem Schritte eine Ueberraschung bringen kann, ist dies ana¬
tomische Werk des Galenos wie kaum ein anderes seiner
Feder geeignet, gerade für den modernen Mediziner als Ein¬
führung in das Studium des Galenos überhaupt zu die¬
nen, denn es zeigt uns den Autor, wie das Wissen seiner Zeit
von ihrer vorteilhaftesten Seite. Wir lernen hier den grossen
Dialektiker kennen, der dennoch in heissem Ringen nach em¬
pirischer Erkenntnis das wissenschaftliche Tatsachenmaterial
selbständig eingehendst prüft, der nur Selbstgesehenes berichten
will, der uns allenthalben auch seine Zergliederungstechnik
genauer mitteilt, den grossen Vivisektör, der auch in der Schil¬
derung des Tierexperimentes, das er so fleissig geübt hat,
alles berichtet, was man wünschen kann.
Durch eine vortreffliche Einleitung und einen sachverstän¬
digen Kommentar hat Simon dies Prachtwerk G a lens in
ganz hervorragender Weise zugänglich und nutzbringend ge¬
macht und in geistreichen Ausführungen das Ganze der G a -
1 e n i sehen Anatomie mit ihren Zwecken und Zielen aufs Neue
zu verstehen und zu werten gesucht, auch den alten Fragen
nach der Zergliederung menschlicher Leichen im Altertum und
ihres Ersatzes durch Tieranatomie neue Antworten abringend
und durchaus originelle Gesichtspunkte gewinnend. Insofern
sind auch Einleitung und Kommentar eine anregende Lektüre,
selbst wenn man nicht allenthalben mit dem trefflich orien¬
tierten Herausgeber sollte übereinstimmen können, vor allem
in der Auffassung von der Ausübung und den Resultaten der
Menschenanatomie in Alexandria. Auch was Simon über die
Teleologie als Faktor im Forschungsgange und über die Be¬
gründung der anatomischen Methode durch Galenos oder
V e s a 1 i u s vorbringt, scheint uns höchster Beachtung wert.
Was uns die wiedergewonnenen Bücher an anatomischem Ein¬
zelwissen für Galenos und die Antike Neues bringen, ist
höchst beträchtlich, doch will ich hier nicht darauf eingehen;
jeder aufmerksame Leser wird es in Fülle antreffen. Jeder
Leser wird aber auch mit uns den Wunsch empfinden, nun
auch die alten 8 Bücher der Anatomie des Galenos in neu
bearbeitetem griechischen Urtext und in einer ebenso trefflichen
Uebersetzung und Kommentierung zu besitzen, wie die neu
hier erschlossenen letzten 7 Bücher. Auch dort ist durch kri¬
tische Handschriftenbearbeitung und sachverständige Umge¬
wandung ins Deutsche vieles neu zu erschliessen — möge der
Verleger sich der Verpflichtung nicht entziehen, auch in dieser
Hinsicht ganze Arbeit zu machen. S u d h o f f.
Neueste Journalliteratur.
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 82. Band. 4. — 6. Heft.
Leipzig, Vogel.
19) Gar re: Seitliche Naht der Arterie bei Aneurysmaexstir¬
pationen. (Chir. Klinik Breslau.)
Traumatisches Aneurysma varicosum spurium an der Innenseite
des Oberschenkels; Exstirpation mit Resektion der Vene und Ab¬
tragung von der Arterie, die mit einem 2 mm langen seitlichen Fort¬
satz in das Aneurysma hineinreichte; Verschluss des Arterienschlitzes
durch Seidennaht der Intima, Adventitia und Gefässscheide. Heilung.
Nach den Tierexperimenten Dörflers erzeugt eine aseptische Sei¬
dennaht, auch wenn sie das Gefässlumen passiert, keine Thrombose.
G. machte beim Menschen (Art. cubitalis) die gleiche Erfahrung. Wo
die E s m a r c h sehe Binde nicht angelegt werden kann, empfiehlt es
sich, zentral und peripher von der Nahtstelle mit einer Katgutschlinge
das Gefäss vorübergehend zu verschliessen.
20) Warnecke: Ein eigenartiger Fall von Perforationsperi¬
tonitis. (Krankenhaus Rixdorf-Berlin.)
Ein 42 jähriger, sonst gesunder Mann erkrankt nach einfachem
Fall über eine Wagendeichsel, ohne dass ein direkter Stoss auf
das Abdomen eingewirkt hätte, unter allen Zeichen der Perforations¬
peritonitis. Die alsbald vorgenommene Operation bestätigte diese
Diagnose, vermochte aber weder den Ort der Perforation zu be¬
stimmen, noch den Exitus letalis aufzuhalten. Die Sektion zeigte
als Perforationsstelle einen 8 mm langen Einriss im Rektum an seinem
Uebergange zur Flexur. Die mikroskopische Untersuchung liess
hier ein im Entstehen begriffenes falsches Graser sches Divertikel
erkennen; der zur Zeit des Traumas erhöhte Innendruck des Darmes
genügte, um das Divertikel zum Bersten zu bringen.
21) Dencks: Zur Diagnose und Behandlung der Leberver¬
letzungen. (Krankenhaus Friedrichshain-Berlin.)
7 Fälle operativ behandelter Leberrupturen, davon 3 geheilt.
Die Hauptverletzung betraf immer die Konvexität und 6 mal den
rechten Lappen. Als ständige Symptome fanden sich allgemeine
Spannung und Schmerzhaftigkeit des Bauches. Therapeutisch kommt
die Tamponade als sicherstes und schnellstes Mittel in Betracht und
in besonders geeigneten Fällen die Naht.
22) Wieting: Ueber die Hernia diaphragmatica. namentlich
ihre chronische Form. (Kaiserl. Ottoman. Lehrkrankenhaus Giilhane,
Konstantinopel.)
Von der Eventratio diaphragmatica, die durch kongenitale
Schwäche der betreffenden Zwerchfellhälfte, erworbene myogene
Degeneration des Zwerchfells oder einseitige Phrenikuslähmung be¬
dingt sein und kaum zu richtigen Brucheinklemmungen führen
kann, sind die eigentlichen Hernien zu unterscheiden, die häufig trau¬
matischen Ursprungs sind. 1. Fall: Hernia diaphragmatica spuria
traumatica, die Netz, Kolon, Magen und Milz enthielt, ein Jahr nach
ihrer Entstehung, zwei Monate nach den ersten Symptomen diagno¬
stiziert, operiert, geheilt. — 2. Fall: Bei einem an Inanition gestorbenen
Mann sah man als Nebenbefund bei der Sektion den Magen als
4 _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ No. 41.
Inhalt einer rechtsseitigen Zwerchfellhernie mit sekundärer Aus¬
stülpung nach der Bauchhöhle zu. — 3. Fall: Perforation des Thorax
und Zwerchfells nahe der Umschlagstelle der Pleura mit leichter
herniöser Ausstülpung der Haut über adhärentem Netz. — Bei Be¬
trachtung dieser Fälle kommt Verf. zu dem Schlüsse, dass bei den
chronischen Einklemmungen von Bauchinhalt in Zwerchfelldefekten
das Netz primär die Hauptrolle spielt, indem das Netz nicht nur
nicht geeignet ist, eine Wunde im Zwerchfell zu verschliessen, sondern
vielmehr deren Verheilung geradezu verhindert und mehr oder we¬
niger an den Wundrändern adhärent die mit ihm zusammenhängenden
Organe in den Spalt hineinzieht. Als diagnostisch wichtig betont
W. neben den Einklemmungserscheinungen und den Verdrängungs¬
erscheinungen im Bereiche der Brustorgane die gleichseitig mit der
Hernie in die Schulter ausstrahlenden Schmerzen. Die Röntgendurch¬
leuchtung vermag die Frage der Differentialdiagnose ob Hernia, ob
Eventratio diaphragmatica nicht immer zu entscheiden. Verf. emp¬
fiehlt bei frischen Traumen und frischer Einklemmung vom Thorax
her vorzugehen, falls eine Zwerchfellhernie diagnostiziert ist, und nur
im Notfälle die Laparotomie anzuschliessen; er hält dagegen in
allen nicht diagnostizierten und bei den chronischen Fällen die La¬
parotomie für das Verfahren der Wahl.
23) Ito und A sahara: Ueber die operative Behandlung der
multiplen tuberkulösen Darmstrikturen. (Chir. Klinik Kyoto.)
Nach Mitteilung von 5 diesbezüglichen Fällen, von denen 3 mit
Enteroanastomose, 1 mit Resektion und 1 mit einfacher Laparotomie
behandelt wurde, sowie nach einigen Bemerkungen über die Ent¬
stehung von tuberkulösen Darmverengerungen und über die Diagno-
stizierbarkeit ihrer Multiplizität erklären die Verf. die partielle Darm¬
ausschaltung durch seitliche Enteroanastomose für das beste operative
Verfahren, weil es an die Kräfte des Patienten nicht allzu hohe An¬
forderungen stellt, die Stenosenerscheinungen mit einem Schlage be¬
seitigt und überhaupt die Darmtuberkulose in sehr günstiger Weise
beeinflusse. Neben einer Reihe anderer scheinen auch 2 Fälle der
Verfasser auf diesem Wege von ihrem Darmleiden befreit.
24) Steiner: Beiträge zur Krebsstatistik, mit besonderer Be¬
rücksichtigung der an der I. chirurgischen Universitätsklinik durch
operative Behandlung erzielten Dauererfolge. (I. Chirurg. Klinik
Ofen-Pest.)
Statistische Zusammenstellung der Krebse an den verschiedenen
Körpergegenden und der bei ihnen erzielten operativen Erfolge; bei
Zusammenfassung sämtlicher Operationsresultate ergibt sich nach
5 Jahren eine Rezidivfreiheit von 41,93 Proz. für die einmal Ope¬
rierten und eine solche von 38, 88 Proz. für die mehrmals Operier¬
ten. Chirurgischer Grundsatz muss sein: Frühdiagnose und radikale
Operation.
25) Göbell: Ein Beitrag zur Pathologie und Therapie des
inneren Darmverschlusses. (Chirurg. Klinik Kiel.)
Unter 58 Fällen von mechanischem Ileus lag vor: 21 mal Stran¬
gulation (14,2 Proz. Heilung), 6 mal Invagination (33,3 Proz. Heilung)
und 31 mal Obturation (74,1 Proz. Heilung). Die am häufigsten vor¬
kommenden ätiologischen Faktoren waren: Tuberkulose des Darms
und Peritoneums, Geschwülste, lediglich die Peristaltik, Adhäsionen
nach Appendizitis, frühere Laparotomien u. a. Von den beiden Haupt¬
typen des Darmverschlusses, dem Strangulations- und Obturations-
ileus, besitzt nur der erstgenannte einen „klassischen“ Symptomen-
komplex: Beginn mit heftigem Leibschmerz; initiales Erbrechen;
Schock; Stuhl- und Windverhaltung (bisweilen Stuhldrang); sekun¬
däres Erbrechen; Vorhandensein einer resistenten, unbeweglichen
Darmschlinge (v. W a h 1 sches Zeichen); freier Erguss (erst nach
stärkerer Schädigung der Mesenterialgefässe); auch vermehrte Peri¬
staltik, die häufig als charakteristisch ausschliesslich für einen Obtura-
tionsileus angesehen wird, ist oft genug beobachtet worden. Weniger
typisch sind die Symptome für den Obturationsileus, bei dem das
initiale Erbrechen selten ist, stets vermehrte Peristaltik mit kolik¬
artigen Schmerzen beobachtet wird. Invaginationen liegen, was
ihre Symptome anlangt, etwa zwischen Strangulation und Obturation.
Unter den am Schlüsse der Arbeit im Auszuge mitgeteilten 54 Kran¬
kengeschichten finden sich 14 Fälle von Achsendrehung und Ver-
knotung (2 geheilt), 7 Fälle von innerer Einklemmung (3 geheilt),
0 Invaginationen (2 geheilt), 13 Fälle von Torsion und Knickung
(9 geheilt), 5 Fälle von Umschnürung des Darmes, äusserer und
innerer narbiger Stenose (2 geheilt), 4 Fälle von Darmverschluss
durch karzinomatöse Striktur (alle geheilt), 3 Fälle von Fremd-
körperileus (alle geheilt), 1 unklarer Fall (geheilt), 4 Fälle von post-
operativem Darmverschluss (3 geheilt). Den bekannten operativen
Massnahmen hat eine gründliche Magenspülung vorauszugehen. Zur
besseren Erkennung ob der geschädigte Darm noch lebensfähig ist,
sowie überhaupt behufs leichteren Operierens ist es nützlich, nach
Einnähen eines Drains in den Darm diesen vorsichtig leer zu streichen.
Handelt es sich um Dickdarmverschlüsse, so ist bei starker Füllung
des Colon ascendens, Zoekum und unteren Ileum die Appendikostomie
ein ganz ausgezeichnetes Verfahren zur Darmentleerung. G. schliesSt
mit den beherzigenswerten Worten: „Bessere Resultate werden wir
eist haben, wenn die Aerzte gelernt haben werden, die Diagnose auf
Strangulationsileus rechtzeitig zu stellen, und sich die interne Medi¬
zin zu der Anschauung bekelnt hat, dass sie durch ihre zuwartende
Haltung beim Okklusionsileus die Gefahren der Operation von Tag zu
Tag steigert, und dass viele Menschenleben als ein Opfer der Lehren
der internen Medizin, nicht aber der chirurgischen Therapie anzu¬
sehen sind.“
26) Pagenstecher: Einseitige angeborene Gesichtshyper-
trophie. (Paulinenstift, Wiesbaden.)
Der Fall betraf eine 35 jährige Frau, die schon mit einer Ge¬
schwulst der linken Wangengegend zur Welt kam. Die Geschwulst
nahm erst langsam, dann nach dem 31. Lebensjahre rasch an Grösse
zu. Mit keilförmigen Exzisionen wurde versucht, der Patientin wieder
ein menschenwürdiges Aussehen zu geben (s. Abbild.). An der üe-
schwulstbildung waren beteiligt: in geringem Masse der Alveolarfort¬
satz des Oberkiefers, hauptsächlich das Fettgewebe, sowie das Binde¬
gewebe an den Scheiden der Gefässe und Nerven; ausserdem fand
sich eine Zystenbildung und eigentümliche Degeneration der Muskula¬
tur im Bereiche des oberen Halsdreiecks. Verf. rechnet diesen Fall
dem angeborenen partiellen Riesenwuchs zu, ohne sich in ätiologischer
Hinsicht bestimmt zu entscheiden.
27) Lotsch: Ein Fall von rechtsseitigem Radiusdeiekt und
linksseitiger daumenloser Klumphand. (Chirurg. Abteilung Kranken¬
anstalt Magdeburg-Sudenburg.)
Den therapeutischen Hauptforderungen: Feststellung der Hand
in der Mitte zwischen Pronation und Supination und in der Verlänge¬
rung der Vorderarmachse wurde durch die Ausführung der BaFden-
h e u e r sehen Operation entsprochen: Einfügung des Karpus in eine
durch Spaltung des distalen Ulnadrittels geschaffene Gabel.
28) S p i r i g - St. Gallen: Ueber die bisher gefundenen Mycel-
bildungen des Löffler sehen Diphtheriestäbchens.
Vergleichende Betrachtung der von Concetti, Cache und
dem Verfasser beobachteten Mycelbildungen; in den beiden erst¬
genannten Mitteilungen glaubt Verf. an Verunreinigung der Kulturen.
29) v. Ar x: Zur Diagnostik der akuten Mediastinalerkrankungen.
(Kantonsspital Olten.)
In einem Falle, wo die Diagnose auf Fraktur des 4. Rippenknor¬
pels mit Zerreissung der Art. intercostalis und Blutung ins vordere
Mediastinum sowie in den linken Pleuraraum gestellt wurde, fand
sich von auffallenden Symptomen: ein scharfes Knistern über dem
unteren Sternalrande, hervorgerufen durch das anwachsende Häma¬
tom; verstärkten konzentrischen Herzstoss, infolge Zurückdrängung
der rechten Herzhälfte und Aufrichtung des Herzens durch das Häma¬
tom; endlich ein 'ü Stunden nach der Verletzung auf tretendes, in der
Entfernung hörbares, dem Herzschlage synchrones, pfeifendes Ge¬
räusch, welches Verfasser mit einer Erschütterung der Trachealluft
von der Bifurkationsstelle aus durch den Herzschlag, vielleicht durch
Vermittlung des Hämatoms, erklärt.
30) Momburg: Die Symptomatologie und Diagnostik der per¬
kutanen Herzverletzung.
Alle bei Herzverletzungen gefundenen Symptome, wie hoch¬
gradiger Schock, grosses Angstgefühl mit grosser Atemnot und
Schwäche, Lage der äusseren Wunde, Verlauf des Wundkanales,
schwere Blutung, der Herzbewegung synchrones Mühlradgeräusch,
Störungen in der Herztätigkeit und im Verhalten des Pulses machen
eine Herzverletzung nur wahrscheinlich, fordern aber die operative
Erweiterung und Verfolgung der Wunde und nötigenfalls die Herz¬
naht. Diese als eine typische, vom praktischen Arzte auszuführende
Operation anzusehen (Rotter) vermag sich Verfasser nicht zu ent-
schliessen.
31) Z e s a s - Lausanne: Beitrag zur chirurgischen Behandlung
des Speiseröhrendivertikels.
In den 42 bisher veröffentlichten Fällen wurde 34 mal durch
Operation Heilung erreicht; allerdings fand eine prima reunio nur
'i ui i Die Abtragung des Divertikels kann durch vorläufige
Abklemmung mit der Brunner sehen Bajonettzange erleichtert
werden. Kleine Divertikel können auf dem Wege der Invagination
beseitigt werden. Die zur primären Heilung der Naht notwendige
Ruhestellung des Wundgebietes nach der Operation erreicht man bei
kräftigen Patienten durch Ernährung per rectum, bei schwachen
Patienten durch die Magenfistel.
3_ ) Henne- Schaffhausen : Zur Kasuistik der Appendizitis in
graviditate.
Gangränöse Appendizitis, geheilt durch Operation 30 Stunden
nach Beginn der akuten Erscheinungen bei einer im 4. Monat Schwan-
ge! eil. Die Appendizitis bei bestehender Gravidität ist besonders be¬
denklich und fordert dringend die Frühoperation.
33) A x h a u s e n: Beiträge zur Aetiologie der Quadrizepssehnen-
ruptur. (Chirurg. Klinik Kiel.)
P*e Sehne war unmittelbar an ihrem Ansatz an der Patella
abgerissen, klinisch durch geringe Blutung und Schmerzhaftigkeit
charakterisiert (neben den bekannten übrigen Symptomen). Aetio-
logisch von Bedeutung sind ein der Sehne eingelagerter Knorpel¬
knochenkörper und ein durch Osteochondritis dissecans (König) ge-
lockei tes hiagment aus dem oberen Patellarrande.
Baum- München.
Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd. IV. No. 12 a. Er¬
schienen als Registerheft.
Bd. V. No.'-. 4 (Juli 1906).
, ^ar6n I h i e m i c h - Breslau: Anatomische Untersuchungen
der Glandulae parathyreoideae bei der Tetanie der Kinder. (Aus der
Universitäts-Kinderklinik zu Breslau.)
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2025
Seit durch experimentell-pathologische Ergebnisse die Tatsache
gesichert zu sein scheint, dass die Entfernung der Glandulae para-
thyreoideae (Epithelkörperchen) beim Versuchstiere einen als akute
Tetanie angesprochenen tödlichen Krampfzustand herbeiführt, tritt
die Anschauung immer bestimmter hervor, dass eine Insuffizienz dieser
Organe auch die spontane, idiopathische Tetanie beim Menschen
und besonders auch beim jungen Kinde bedinge. Th. hat nun die
Epithelkörperchen dreier an Tetanie leidender Kinder untersucht,
ebenso diejenigen von 6 an anderweitigen Erkrankungen verstorbenen
jungen Kindern, und fand bei allen neun einen völlig gleichen, nor¬
malen histologischen Aufbau der Epithelkörperchen. Hieraus schliesst
er auch auf deren funktionelle Integrität (analog dem Verhalten der
Schilddrüse, der Hypophysis etc. bei den mit ihnen in Beziehung zu
bringenden Krankheiten).
(Es sei dem Referenten erlaubt, auch einem so ausgezeichneten
Kenner der Tetanie gegenüber, wie es T h i e m ich ist, darauf hinzu¬
weisen, dass seiner Meinung nach zu entscheidenden pathologisch¬
anatomischen Untersuchungen Fälle mit dem ausgeprägten Bilde der
Tetanie und, wo möglich, allen ihren klassischen Symptomen hätten
benutzt werden sollen. Dadurch dass Th. Kinder untersuchte [Fall
II und III], die an „pathologischer Spasmophilie“ litten, aber nicht das
Bild der Tetanie zeigten, hat er meines Erachtens in der hier
aufgeworfenen Frage schon etwas präjudiziert. Uff.)
11) D. D e c r o 1 y - Brüssel: Ueber die Ausbildung des ärztlichen
Personals der Hilfsklassen und Hilfsschulen. Ein Beitrag zur Schul¬
hygiene.
Die Universitätsvorbildung der Aerzte ist heute keine genügende,
um sie zur Ueberwachung der Hilfsklassen und Hilfsschulen zu be¬
fähigen. Es sind schon Versuche gemacht worden, den gegenwärtigen
Uebelständen abzuhelfen. In einer Anzahl von deutschen Städten
wurden Ferienkurse abgehalten, die in der angegebenen Richtung
belehrten. (Vergl. mein Referat über den „Giessener Kurs“, diese
Wochenschrift, Bd. V, No. 2. D. Ref.) Das Beste auf diesem Gebiet
hat bisher die ungarische Regierung in Ofen-Pest geleistet durch einen
einjährigen theoretischen und praktischen Kurs und darauffolgende ein¬
jährige provisorische Anstellung an einer Taubstummenanstalt. Da
dies Ideal vorläufig nicht überall zu erreichen ist, empfiehlt D., an der
Universität neben den bereits bestehenden Kursen für Hygiene einen
selbständigen Kurs für Schulhygiene einzuführen, weiterhin einen
Kurs über Psychologie des Kindes, mit pädagogischen Anwendungen
und praktischen Arbeiten in einem pädagogischen Laboratorium,
welches mit einer Schule in Verbindung steht, in der sich abnorme
Kinder aller Kategorien befinden.
12) Aug. Berkholz-Riga: Kasuistische Mitteilung zur Kennt¬
nis der Pylorusstenose der Säuglinge.
2 Beobachtungen, eine leichte und eine schwerere Erkrankung.
Die Arbeit gipfelt in der Empfehlung der in jedem Falle speziell zu
bestimmenden Minimalernährung (an der Brust) als wesentlichem
Faktor in der Therapie des Pylorospasmus.
13) Zoltän A d 1 e r - Ofen-Pest: Ueber den Einfluss der Alkalien
auf den Kalkumsatz beim Kinde. (Aus der Universitäts-Kinderklinik
zu Breslau.)
Der von Aron für das Tier konstatierte Einfluss des über¬
wiegenden Kali- oder Natrongehaltes auf den Kalkstoffwechsel Hess
sich an 3 Untersuchungen an Kindern nicht erweisen.
14) E. G. A. Ten Siet hoff und J. J. Reyst: Ein neuer
Verschluss für Milchflaschen. Mitteilung aus dem Laboratorium der
Kindermilchfabrik und Musterstall „Berkendael“ in Loosduinen.
Im Original nachzulesen.
15) Karl Lein er: Sammelreferat über die dermatologische
Literatur (I. Halbjahr 1906.)
Referate. Albert Uffenheimer - München.
Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamte. 24. Band,
2. Heft. 1906.
1) F. Koske: Die Beziehungen des Bacillus pyogenes suis zur
Schweineseuche.
Verf. konnte bei seinen Versuchen feststellen, dass bei Einver¬
leibung des Bacillus pyogenes suis in die Lungen, Bauch¬
höhle und Muskulatur, Blutbahn, auch bei Inhalationsversuchen
septiko-pyämische Erscheinungen und lokale Abszessbildungen ein¬
traten, jedoch waren Erscheinungen von seiten der Lunge, wie sie
bei Schweineseuche beobachtet werden, nicht festzustellen. Es spricht
nach K o s k e s Ansicht manches dafür, dass das experimentell er¬
zeugte Krankheitsbild mit der auf natürlichem Wege zustande ge¬
kommenen Infektion identisch ist und diese Erkrankung mit der von
0 1 1 beschriebenen pyämischen Kachexie der Ferkel zusammenfällt.
2) Xylander: Ein bei Ratten gefundenes Bakterium der
Friedländergruppe.
Das gefundene Stäbchen weicht sowohl vom Friedländer-
schen Typus wie auch vom echten Pesttypus ab, so dass es mit
keinem der vielen beschriebenen absolut identisch war, zeigte aber
auch vielfache Uebereinstimmung. (Ein weiteres Zeugnis von der
grossen Variabilität in diesen Gruppen. Ref.) In einer Tabelle wer¬
den die ähnlichen Gruppen zusammengestellt.
3) Richard Gon der: Achromaticus vesperuginis (Dionisi).
Der in der Fledermaus gefundene Blutparasit, dessen morpho¬
logische Beschaffenheit er beschreibt, gehört am ehesten zwischen
Malariaparasiten und Piroplasmen. Ueber den Ueberträger dieser
Parasiten konnte nichts Näheres ermittelt werden.
4) F. Bock: Zur Typhusdiagnose.
Ein Vergleich verschiedener Typhus ähnlichen Organismen auf
Drygalski- und Endonährböden.
5) F. Bock: Untersuchungen über Bakterien aus der Para¬
typhusgruppe.
Die Arbeit ist eine ungefähre Wiederholung der Agglutinations¬
versuche zwischen den Verwandten der Paratyphusgruppe, wie man
sie schon oft ausgeführt hat. Mäusetyphus, Paratyphus
und Schweinepest und der Fleischvergiftungsbazil¬
lus „K a e n s c h e“ zeigen kulturell und in der Pathogenität für Ver¬
suchstiere keine wesentlichen Unterschiede. Nach Ausfall der Agglu¬
tinationsreaktion gehören sie ebenfalls eng zusammen, lassen sich aber
von der Gruppe des Bact. enteritidis Gärtner durch Agglu¬
tination trennen.
6) Beck: Ueber einen Fruchtäther bildenden Mikrokokkus
(Micrococcus esterificans).
Verf. beschreibt einen vor 9 Jahren gefundenen Mikrokokkus,
welcher einen aromatischen Geruch erzeugt. Die Aromastoffe, deren
Natur nicht untersucht ist, haben an Intensität allmählich eingebüsst.
Versuche, um das Verhalten des Aromas in der Butter zu prüfen führ¬
ten zu keinem das Butteraroma verbessernden Resultat.
7) A. Siemens: Untersuchungen über roten Phosphor.
Die interessante und ausführliche Arbeit über die verschiedenen
Phosphorarten ist deshalb besonders bemerkenswert, weil bekannt¬
lich zum 1. Januar 1907 das Verbot der Verwendung von gelbem Phos¬
phor bei der Zündholzwarenfabrik in Kraft tritt. Das Gesetz berührt
insofern auch die Verwendung des amorphen roten Phosphors, weil
von seiten der Industrie behauptet wird, dass der rote Phosphor bei
der Versendung resp. später zum Teil wieder gelben Phosphor durch
Erschütterungen beim Transport enthalten könne.
Die Untersuchungen haben nun ergeben, dass der rote Phosphor
durch Erschütterung und Verreibung nicht in gelben Phosphor über¬
geht, sondern lediglich feiner verteilt wird. Dieser fein verteilte
Phosphor ist löslicher und reaktionsfähiger als der amorphe. Diese
wichtige Tatsache wurde durch mehrfache beweisende Unter¬
suchungen gestützt. Die Ursache des Leuchtens des Phosphors durch
Bildung eines flüchtigen niederen Phosphoroxyds konnte bestätigt wer¬
den. Verf. arbeitete ein Verfahren aus, den roten Handelsphosphor
auf Beimengung von gelbem Phosphor zu untersuchen, welcher auf
der Eigenschaft des Phosphors beruht, aus gewissen Metallsalz¬
lösungen die Metalle zu reduzieren.
8) E. Koske: Untersuchungen über Schweinepest.
Der Schweinepesterreger wurde nach allen Richtungen, hinsicht¬
lich seiner morphologischen und biologischen Eigenschaften unter¬
sucht, ebenso wie zahlreiche Immunisierungsversuche, sowohl aktiver
wie passiver Natur vorgenommen wurden. Verf. glaubt auf Grund
seiner Versuche annehmen zu können, dass bei der reinen Form der
Schweinepest mit einem hochwertigen Schweinepestserum , nicht nur
Heilerfolge, sondern auch eine genügende Schutzwirkung durch Ver¬
bindung aktiver und passiver Immunisierungsmethoden in der Praxis
zu erreichen sein werden. Da freilich leider die Schweinepest mit der
Schweineseuche kombiniert vorkommt, so dürfte nur ein kombiniertes
Schweinepest-Schweineseucheserum am aussichtsvollsten sein, doch
ist es noch nicht definitiv gelungen, ein solches herzustellen.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 40.
1) H. 0 u i n ck e - Kiel: Ueber Hydrops toxicus.
In einem Fall ziemlich hochgradiger perniziöser Anämie unklaren
Ursprungs entwickelte sich unter einer Gewichtszunahme von 9 kg
ein allgemeiner Hydrops, während das Allgemeinbefinden ungestört
war und die Besserung in der Blutbeschaffenheit und Ernährung fort¬
schreitet. Ansteigen und Abklingen des Hydrops dauern etwas über
2 Wochen, dann stellt sich eine Abschuppung der Epidermis ein.
Im Anschluss an diese Beobachtung erörtert Verfasser die Ent¬
stehungsbedingungen der Wassersucht und kommt auf die einzelnen
Formen des Hydrops zu sprechen. Die Fälle von essentiellem Hy¬
drops drängen zur Annahme, dass es sich dabei um lokale Verände¬
rungen der Gewebe handelt. Gewisse Versuche zeigen, dass neben
dem Bindegewebe auch die anderen Gewebe als Sitz des Hydrops
Beachtung verdienen und dass Gifte bestimmte Gewebe wasser¬
reicher machen können. Das kann auch beim menschlichen Hydrops
eine Rolle spielen. Es kann eine Giftwirkung auf die Gefässwände,
auch auf das Bindegewebe selbst vorliegen.
2) A. Mayer und R. M i 1 c h n e r - Berlin: Ueber die topo¬
graphische Perkussion des kindlichen Herzens. (Schluss folgt.)
3) S. S a i t o (Japan) Berlin: Experimentell-kritische Unter¬
suchung über die Sahli sehe Desmoidreaktion.
Verfasser fand, dass, wenn man ein Gemisch von Pankreassaft
und Darmextrakt auf Katgut (das bei der genannten Reaktion mit¬
verwendet wird) einwirken lässt, dieses nach einigen Stunden auf¬
gelöst wird. Auch über die Resorption des verwendeten Methylen¬
blaus hat Verfasser neue Untersuchungen angestellt. Die Versuche
werden in tabellarischer Uebersicht mitgeteilt. Verfasser kommt auf
2026
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
Grund derselben zu dem Schlüsse, dass er die diagnostische Bedeutung
der Reaktion nicht sehr hoch einschätzen könne, weil ihr Ausfall von
zu vielen und am Krankenbette oft unübersehbaren Faktoren ab¬
hängig ist.
4) C. Funck-Köln: Zum Verständnis der Besserung der Leu¬
kämie durch interkurrente Infektionen.
Verfasser teilt eingehend eine von ihm gemachte Beobachtung
der Art mit, mit vielen Einzelheiten des Blutbefundes, worüber wir
auf das Original verweisen. Von grosser Bedeutung war in dem Falle
das Verschwinden der Drüsenschwellungen, ferner die eintretende
Verkleinerung der Milz.
5) A. N. D i n g e r - Amsterdam: Beitrag zur Behandlung des
Trachoms mit Radium.
Die Ergebnisse sind in Form einer Tabelle mitgeteilt. Von
16 Patienten wurden 7 hergestellt. Je jünger die Kranken, desto
schneller und vollkommener tritt die Heilung ein. Bei älteren Fällen
liess sich eine erhebliche Besserung erzielen.
6) M. Weste n höffer: Ueber den gegenwärtigen Stand
unserer Kenntnisse von der übertragbaren Genickstarre.
Vortrag auf der diesjährigen Naturforscherversammlung. Vergl.
die Berichte der Münch, med. Wochenschr. darüber.
Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 39.
1) Horstmann - Berlin: Die Behandlung der Bindehauterkran¬
kungen des Auges.
Klinischer Vortrag.
2) P e s c h e 1 - Frankfurt a. M.: Ein neues aseptisches Tropfglas.
Wird mit Inhalt sterilisiert. Keimsicherer Abschluss durch eine
an der Pipette befestigte Glocke, die in einen mit Sublimatwatte be¬
legten, den Flaschenhals umgebenden Glastrog taucht.
3) S c h i r b a c h - Bonn: Klinische Erfahrungen mit Proponal.
Als gut wirkendes, unschädliches Schlafmittel erprobt bei ein¬
facher Schlaflosigkeit, auch bei leichterer Unruhe, manchmal auch bei
stärkerer Erregung, Dosis 0,1 — 0,8.
4) Otfried M ü 1 1 e r - Tübingen : Zur Funktionsprüfung der
Arterien. (Schluss.)
Die Kurven der plethysmographischen Reaktion auf Kälte und
Wärme zeigen, dass mit steigender Verdickung der Arterienwand die
Funktionstüchtigkeit der Arterie gewöhnlich gradatim abnimmt, bis
sie bei höchstgradiger Rigidität vollends verschwindet. Es können
aber in vereinzelten Fällen Arterien mit beträchtlich verdickter Wand
eine normale oder sogar abnorm gesteigerte Funktionstüchtigkeit be¬
sitzen.
5) M. Neisser und H. Sachs- Frankfurt a. M.: Bemerkungen
zu der Arbeit von Prof. Uhlenhuth über Komplementablenkung
und Eiweissdifferenzierung.
Dem Einwand U.s gegen die Methode der Verfasser, dass auch
nicht spezifische antihämolytische Wirkungen beobachtet wurden, be¬
gegnen Verfasser durch Hinweis auf ihre früher geforderte Kontrolle
mit der gekochten, zu untersuchenden Lösung, da nämlich die hem¬
mende Wirkung des Menschenserums durch Kochen aufgehoben wird.
6) C. K 1 i e n e b e r g e r - Königsberg: Beiträge zum sapro-
phytischen Vorkommen hämoglobinophiler Bazillen.
Hämoglobinophile, saprophytische Stäbchen fand K. a) im blut¬
haltigen Eiter eines von den Gallenwegen aus vermittelten Pankreas¬
abszesses, b) im bluthaltigen Harn einer anatomisch nicht veränderten
Blase. Vermutliche Eingangspforten waren Darm bezw. Urethra.
7) R. Dünger- Dresden: Ueber den Ersatz der Ehrlich sehen
Diazoreaktion durch die Methylenbiauprobe nach R u s s o.
D. spricht der neuen Probe klinischen Wert ab; sie könne die
Diazoprobe nicht ersetzen; ihr Ausfall beruhe nicht auf einer chemi¬
schen Reaktion, sondern auf einer einfachen Farbenmischung und
hänge ausschliesslich von der grösseren oder geringeren Färbbarkeit
des Urins ab.
8) Werner und v. Lichten b erg - Heidelberg; Zur Beein¬
flussung der Gravidität mit Cholininjektionen.
Durch Cholininjektionen erzielten Verfasser bei Kaninchen ähn¬
liche Störungen der Fruchtentwicklung, wie sie nach Röntgen¬
bestrahlung beobachtet werden. (Abbildungen.)
9) Baratynski-St. Petersburg: Ueber die Methoden der
Behandlung von Blasenwunden nach hohem Steinschnitte.
An mehreren Fällen erläutert B. die Notwendigkeit einer totalen
Blasennaht nach Sectio alta bei Kranken mit normalem Harn und
intakter Blasenschleimhaut, dagegen einer offenen Behandlung der
Blasenwunde bei ausgeprägter Zystitis und alkalischem Harn. Bei
unbedeutender, behandlungsfähiger Zystitis und neutralem oder
schwach alkalischem Harn zieht B. die totale Blasennaht vor.
10) I h. E i c h e 1 - Darmstadt: Zwei Stichverletzungen des
Zwerchfells.
Naht der Zwerchfellwunden, Drainage, Heilung.
11) blitz S c h 1 e s i n g e r - Berlin: Das Glenardsche Gurt¬
bindenkorsett.
Das Korsett wird über einer elastischen Binde getragen und ist
so gearbeitet, dass jeder schädliche Druck vermieden wird.
R. Grashey - München.
Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte. XXXVI. Jahrg.
No. 18. 1906.
Hans M e y e r - Ruegg-Ziirich : Zur Aetiologie der spontanen
Uterusruptur in der Schwangerschaft.
Verf. beschreibt einen Fall und geht den Ursachen in der Vor¬
geschichte nach. Solche können sein: Molen, Adhärenz der Plazenta,
mechanische Verletzungen, Operationen (Myom, Kaiserschnitt, Pla¬
zentarlösung, Ausschabungen und Sondierungen).
J. Saltykow: Die Entstehung und Verbreitung der Tuberku¬
lose im Körper. (Vortrag, gehalten in der 73. Versammlung des
ärztlichen Vereins St. Gallen.) (Mit Demonstrationen.)
Ueberblick über die Frage der Inhalationstuberkulose, der pri¬
mären Darmtuberkulose und Urogenitaltuberkulose (richtig: Genital¬
tuberkulose und uropoetischer Tuberkulose) und der Miliartuber¬
kulose.
A. v. P 1 a n t a - St. Moritz-Dorf : Zur Fibrolysintherapie.
Eine Verbrennungsnarbe wurde durch 25 Einspritzungen sehr
gut beeinflusst. Pischinger.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No, 39. J. Fischer: S e m m e I w e i s’ Vorläufer.
Ohne dass das Verdienst S e m m e 1 w e i s' eine Einbusse er¬
leidet, darf man darauf verweisen, dass, während man noch durch alle
möglichen tellurischen und meteorologischen Studien die miasmatische
Natur des Puerperalfiebers zu ergründen trachtete, zuerst von eng¬
lischen Aerzten (Q o r d o n, Roberto n, Lee, Copland, Pale y,
C o 1 1 i n s, C u r c h i 1 1, S t o r r s) das Puerperalfieber als kontagiöse
Krankheit erkannt und auch schon prophylaktische Forderungen (Ent¬
haltung der Geburtshelfer von der Sektion puerperalkranker Frauen)
aufgestellt wurden; sie sind der Auffassung von Semmel weis
schon sehr nahe gekommen, sein Ruhm wird es bleiben, die vor¬
handenen Beobachtungen zu einer klaren, einfachen Lehre zusammen¬
gefasst und für sie sein Leben lang gekämpft zu haben.
J. Löwy-Prag: Ueber die Bedeutung der Reaktion des Digi-
talisinfuses für seine Wirksamkeit.
L. spricht sich nach seinen Versuchen folgendermassen aus:
Ein Digitalisinfus wird durch Salzsäure in der Konzentration der
Magensalzsäure stets abgeschwächt. Die Gegenwart von Pepsin
ist ohne Einfluss. Ebenso verhält sich eine 0,25 proz. Helleborein¬
lösung, dagegen wird eine Strophantinlösung selbst durch konzen¬
triertere Salzsäure nicht geschädigt. Schon beim Stehenlassen in
Zimmertemperatur verliert ein Digitalisinfus innerhalb 24 Stunden die
Hälfte seiner Wirksamkeit, und zwar durch eine zunächst nicht ge¬
nauer erforschte organische Säure, deren Wirkung sich meist durch
Neutralisation aufheben lässt. Es sollen daher nur frisch hergestellte
neutralisierte Infuse in Gebrauch kommen.
E. Urban tschitsch: Ueber Reflexepilepsie.
U. wünscht eine strengere, freilich oft nicht leichte Unterschei¬
dung der echten Epilepsie von den reflektorischen epileptiformen An¬
fällen durchgeführt zu sehen. Die bei ersterer Form viel wirksamere
Brombehandlung versagt bei der letzteren oft und sie ist dafür, wenn
die Ursache erkannt wird, oft einer kausalen Therapie zugänglich.
Als Beispiel führt U. einen Fall scheinbar echter Epilepsie an, die
erst nach Behandlung einer chronischen Otorrhöe mit vorgeschrittener
Karies des Felsenbeines zum Schwinden kam und einen Fall, wo die
sorgfältige Behandlung der chronischen Obstipation eine wesentliche
Besserung erzielte.
L. Teleky: Die Sterblichkeit an Tuberkulose in Oesterreich
»873—1904,
Mit Uebergehung der Einzelheiten sei hervorgehoben, dass
gerade in den Grossstädten Wien, Prag und dessen Vororten und
Brünn eine beträchtliche Besserung stattfand und sich die Sterblich¬
keit der der umliegenden Landesteile nähert. Von den mittleren
Städten weisen diejenigen mit der lebhaftesten wirtschaftlichen Ent¬
wicklung die deutlichste Besserung auf. Im allgemeinen ist die
1 uberkulosesterblichkeit am grössten in den Städten und Bezirken
mit grosser Industrie. Aber gerade in diesen ist auch die Besserung
am deutlichsten zu erkennen, wie man annehmen muss infolge der zu¬
nehmenden Organisation der Arbeiterschaft, der verbesserten Lebens¬
führung und der Arbeiterschutz- und Fürsorgegesetze.
L. Re t hi- Wien: Die Ozaena und die Stauungstherapie.
R.s Erfahrungen decken sich im allgemeinen vollständig mit den
vor kurzem von Fein (No. 31 der Wiener klin. Wochenschr.) be¬
richteten. Mit den bisher versuchten neuen Verfahren Hessen sich
höchstens ganz vorübergehende Besserungen erzielen.
.1. J o a c h i m - Purkersdorf : Ueber pseudochylöse Ergüsse.
J.s Aueinandersetzungcn betreffen den in No. 36 referierten
Artikel Zypkins und die in demselben enthaltenen Details der
chemischen Untersuchungen.
Prager medizinische Wochenschrift.
No. 18. H. U 1 b r i c h - Prag: Zur Therapie der chronischen
T räneusackeiterung.
p Die Behandlung der Tränensackeiterung ist schon in prophylak-
tischer Richtung von grosser Bedeutung, da diese Erkrankung die
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2027
häufigste Infektionsquelle für Hornhautwunden, also für die Ent¬
stehung des Ulcus serpens abgibt. Die früher viel geübte Sonden¬
behandlung bildet auf der C z e r tu a k sehen Klinik eine Ausnahme.
Die Behandlung besteht in den meisten Fällen in der Exstirpation des
palpebralen Teiles der Tränendrüse nach Czerrnak mit kurzem,
knapp unterhalb des inneren Lidrandes beginnendem, das Lidband
schonendem Schnitt. Einer genauen Beschreibung der Operation
und Nachbehandlung folgt die Zusammenstellung von 133 Fällen,
von denen 8-4 Prozent per primam geheilt sind.
No. 17/18. 0. Piffl-Prag: Zur Operation und Kasuistik der
chronischen Oberkieferhöhleneiterungen.
P. empfiehlt mit Wärme die C a 1 d w e 1 1 - L u c sehe Operation,
welche einen vollständigen Ueberblick über das Erkrankungsgebiet
gewährt, durch eine dauernde weite Kommunikation mit dem unteren
Nasengang jede Retention ausschliesst; die Ueberkleidung der Höhle
mit gesunder Schleimhaut wird durch die Plastik nach Boenighaus
sehr unterstützt und die Heilungsdauer wesentlich abgekürzt, die
Naht des oralen Schnittes vermeidet die Kommunikation zwischen
Mund- und Oberkieferhöhle, die Nachbehandlung ist auch für den
Patienten leicht durchführbar.
No. 20 124. E.Oross- Prag: Komplikation von Schwangerschaft
mit entzündlich-eitriger Adnexerkrankung.
Unter eingehender Würdigung der Literatur gelangt Verf. zu dem
Schluss, dass wenn die konservative Behandlung nicht rasch zur Re¬
sorption führt, die Gefahren, welcher solche Eiterherde durch den
Geburtsakt ausgesetzt sind, unbedingt ein operatives Eingreifen er¬
heischen, in der Regel durch Laparotomie, in gewissen Fällen durch
Kolpotomie. Eine Unterbrechung der Gravidität braucht dadurch nicht
einzutreten. In zwei Fällen ist der Abortus nach der Kolpotomie wohl
der zu energischen Nachbehandlung zuzuschreiben gewesen. Letztere
muss daher sehr vorsichtig sein. Die Gefahren der Operation ent¬
sprechen im allgemeinen den anderen operativen Eingriffen während
der Gravidität, ungünstig ist es, wenn bei fortdauerndem Eiterabfluss
nach Kolpotomie die Geburt in Gang kommt. Kommt die Operation
während der Geburt oder Fehlgeburt in Frage, so soll, wenn irgend
möglich, erst dieser aseptische Vorgang beendet werden. Während
eines Wochenbettes wird man so lange als möglich die konservative
Behandlung vorziehen und nur nach dringender Indikation operieren.
No. 21. P. Palma- Reichenberg: Ein Beitrag zur Autointoxi¬
kation durch Azeton.
Bei einem 29 jährigen Kranken sah P. in 4 Monaten dreimal
eigentümliche Anfälle — einmal Tetanie, einmal epileptiformer Krampf
mit Bewusstlosigkeit — , während welcher sowohl durch den Geruch
der Atemluft als im Urin Azeton nachweisbar war. Dabei war mit
Sicherheit Diabetes auszuschliessen. Im übrigen bestand zur Zeit
der Anfälle ausgeprägte Obstipation und ein wehes Gefühl in dei
Magen-Pankreasgegend. Mit der erfolgten Stuhlentleerung besserte
sich der Zustand, den Verfasser als eine Autointoxikation, vielleicht
mit Beteiligung des Pankreas, auffasst.
No. 26. J. Hirschkr o n - Wien : Das Asthma und seine Be¬
handlung im akuten und chronischen Stadium.
In einem Fall, wo Morphium bei den akuten Anfällen wegen
Idiosynkrasie versagte, erinnerte sich Verfasser der mehrfach emp¬
fohlenen Theobrominpräparate und wandte das Dispon an. Zusammen¬
setzung: Theobrom. natr. salic. 0,25, Theobrom. natr. acet. 0,1, Ex-
tract. Quebrach. 0,1. 3— 4 mal täglich 2 solche Tabletten coupierten
die' Anfälle.
No. 27/36. V. L i e b 1 e i n - Prag: Die momentanen und ferneren
Resultate der Perityphlitisbehandlung.
Es ist unmöglich, die vielen Beiträge, welche der Bericht über
313 Fälle von Perityphlitis und mehr als 100 Nachuntersuchungen der
W ö 1 f 1 e r sehen Klinik zur Perityphlitisfrage bringt, auszugsweise
wiederzugeben. Als Prinzip muss immer mehr bei allen nicht zweifel¬
los leichten Fällen die Frühoperation gelten, wobei ja bekanntlich
durchaus nicht stets frühe, sondern oft sehr fortgeschrittene Stadien
des Prozesses angetroffen werden. Im intermediären Stadium wurde
zunächst abwartend verfahren, wenn möglich im anfallsfreien Inter¬
vall operiert. Die Intervalloperation gibt die beste Prognose. Her¬
vorzuheben ist besonders, dass auch Fälle von diffuser Peritonitis,
sofern sie nicht absolut hoffnungslos sind, mehr und mehr zur Opera¬
tion kommen. Wenn von 35 solchen Fällen 25 starben, so ist wohl
das Hauptgewicht nicht auf diese, sondern auf die in geretteten
(ca. 30 Proz.) zu legen. Bezüglich der Dauerresultate lauten die Mit¬
teilungen im wesentlichen sehr günstig; von den konservativ be¬
handelten Fällen war die Hälfte beschwerdefrei geblieben, die Früh¬
operierten befinden sich durchaus gut, von den im Intervall Operierten
hatten nur zwei wirkliche Beschwerden (Kotfistel); von denjenigen,
wo ein Abszess gespalten worden war mit Zurücklassung des Wurm¬
fortsatzes, hatte nur einer neue Anfälle. Mehrfach ist in der Opera¬
tionsnarbe eine grössere oder kleinere Hernie entstanden, in der
Regel bei drainierten sekundär geheilten Wunden.
No. 27/28. A. Kr aus- Prag: Mitteilungen über Spirochäten¬
untersuchungen.
K. berichtet über eine Reihe von positiven Befunden der Sp.
pallida in luetischem Material; ausserdem hat er häufig bei ex-
ulzerierten Karzinomen Sp. refringens gefunden, einmal in einem
Peniskarzinom spärliche Sp. pallidae. Bei den aus den Karzinomen
stammenden Spirochäten hat er in Bouillon bei 37 1 nach 24 Stunden
eine lebhafte Zunahme an Zahl und an den einzelnen eine Verdickung,
Vergrösserung, Aufquellung und geringere Krümmung beobaci en
L-nnln B e r g e a t.
Auswärtige Briefe.
Berliner Briefe.
(Eigener Bericht.)
Das Rudolf-Virchow-Krankenhaus. — Stellungnahme zu
den Beschlüssen des Krankenkassentages.
In diesen Tagen soll das Rudolf-Virchow-Krankenhaus er¬
öffnet und damit ein Monumentalwerk, das eine geniale Künst¬
lerkraft geschaffen, und an dem siebenjähriger Fleiss gearbeitet
hat, seiner Bestimmung übergeben werden. Die grossartige
Entwicklung, welche das Hospitalwesen im letzen Dezennium
erfahren hat, dürfte hier ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht
haben, und zugleich ist mit den alten 1 raditionen des Kianken-
hausbaues, der scheinbar unvermeidlichen Eintönigkeit und
dem Kasernstil, in wohltuender Weise gebrochen. Denn nichts
erinnert an diesem riesigen Gebäudekomplex daran, dass in
seinen Mauern Kranke und Elende Aufnahme finden sollen,
äussere Architektonik, innerer Ausbau und der Grundriss der
Gesamtanlage sind vielmehr darauf berechnet, den Bewohnern
dieser kleinen Stadt den Aufenthalt zu einem behaglichen zu
machen. Eine Krankenstadt, nicht ein Krankenhaus, verdient
diese Anlage genannt zu 'werden, die einen Flächenraum von
25 Hektar bedeckt, aus 57 Gebäuden und 3400 Einzelräumen
besteht und zur Aufnahme von ca. 3000 Menschen bestimmt ist.
Sie dehnt sich an der nordwestlichen Peripherie Berlins aus;
wo ehemals eine Sandwüste war, sind jetzt schmucke I aik-
anlagen entstanden, die die Gebäude in harmonischer Weise
umgeben.
Durch den Haupteingang gelangt man in ein Karree,
welches das Verwaltungsgebäude, Wohnräume für Aerzte und
Schwestern und daran anschliessend die Abteilung für Haut¬
krankheiten enthält; eine breite Freitreppe führt zu dem Ver-
sammlungssaal, der für wissenschaftliche Sitzungen, Be¬
ratungen u. dergl. bestimmt ist. Von dem Hauptgebäude aus
führt eine breite Allee, die von blumengeschmückten Rasen¬
flächen begrenzt ist, einen halben Kilometer weit durch die
ganze Anlage hindurch; in der Mitte wird sie von einet Quer¬
allee geschnitten, an der Kreuzungsstelle beider befindet sich
ein schöner Bronzespringbrunnen. Die beiden Alleen kenn¬
zeichnen zugleich die Abgrenzung der Hauptstationen, die
Längsallee trennt die Abteilung für männliche Kranke von der¬
jenigen für weibliche, die Querallee die innere Station von der
der chirurgischen. Die einzelnen Gebäude sind teils nach dem
Pavillon-, teils nach dem Korridorsystem gebaut, je nachdem
es die Rücksicht auf die Zweckmässigkeit erfordert, wobei
immer darauf Bedacht genommen ist, dass der harmonische
Gesamteindruck nicht gestört wird; über dem Mittelbau eines
jeden Pavillons befindet sich noch ein Obergeschoss, welches
die Wohnräume für die Stationsärzte und Schwestern enthält.
Die Krankenräume sind einfach, streng hygienisch und doch
behaglich ausgestattet. Die grossen Fenster sind vermieden,
statt dessen sind obere Lüftungsfenster und untere Lichtfenster
vorhanden, und durch die letzteren hindurch blickt das Auge
des Kranken überall auf frisches Grün und Blumenschmuck.
An die Krankensäle schlossen sich Einzelzimmer für Schwer¬
kranke, vorzüglich eingerichtete Baderäume, Anrichtezimmer
etc. an; in jedem Krankenzimmer befindet sich ein eigener Des¬
infektionsapparat, damit nicht beim Transport von Wäsche¬
stücken Infektionsträger mit hinausgelangen können. Die
Operationsäle sind in der denkbar besten Weise für ihren
Zweck eingerichtet, nirgends sind herabhängende Lampen als
Staubfänger angebracht, durch matte Scheiben wird das Licht
von Reflektoren an den Seitenwänden hereingeworfen, so dass
kein Schatten die Arbeit in dem hell beleuchteten Raum stört.
Dass im rnediko-mechanischen, im Röntgen- und Finseninstitut,
in der hydrotherapeutischen Anstalt ebenfalls alle Errungen¬
schaften der modernen' Technik in zweckentsprechender Weise
verwertet sind, bedarf kaum der Erwähnung. Den Abschluss
der Krankenhausanlagen, am Ende der grossen Hauptallee,
bildet das pathologische Institut und daran anschliessend ein
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
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hoher, feierlich wirkender Bau, die Kapelle; über dem Eingang
stehen die Worte: „Ueber allen Wipfeln ist Ruh“, zu beiden
Seiten trauernde Engel mit Immortellenkränzen; der hohe,
kuppelüberragte Innenraum ist in seiner Einfachheit höchst
stimmungsvoll.
Nicht lange wird es dauern und ein Heer von Aerzten
wird mit ihrem Hilfspersonal in dieser Krankenstadt geschäftig
wirken, wo Tausende von Kranken Heilung finden sollen. Der
Krankenhausnot, unter der Berlin in den letzten Jahren in jedem
Winter mehr und mehr zu leiden hatte, dürfte vorläufig ge¬
steuert sein, bis das immer fortschreitende Anwachsen der
hauptstädtischen Bevölkerung ein neues Krankenhaus not¬
wendig machen ward. Mit diesem Bau ist aber noch mehr ge¬
schaffen als eine Unterkunft für die Kranken. Jeder Arzt weiss,
wie ungern von den meisten Patienten der Vorschlag, ein
Krankenhaus aufzusuchen, angenommen wird; sie haben eine
unwillkürliche, wenn auch durchaus unberechtigte Scheu gegen
das Krankenhaus, und oft genug bringt ihre Weigerung ihnen
selbst den grössten Schaden. Die grossartigen Einrichtungen
des Rudolf-Virchow'-Krankenhauses werden sicherlich dazu
beitragen, diese Scheu zu überwinden und das Vorurteil gegen
die Krankenhausbehandlung zu beseitigen, und dadurch wird
auch mittelbar ein grosser Fortschritt in der Krankenfürsorge
erzielt.
Es war zu erwarten, dass die Beschlüsse des Kranken¬
kassentages zu Düsseldorf, welche entweder die Einführung des
Kurierzwanges oder für die Krankenkassen die Aufhebung der
Pflicht zur Gewährung freier ärztlicher Hilfe verlangen, eine
Stellungnahme von seiten der Aerzte hervorrufen würde; das
ist kürzlich in Berlin in einer allgemeinen Aerzteversammlung
geschehen, in der die Düsseldorfer Beschlüsse einer Kritik
unterzogen wurden. Dass der Kurierzwang eine Utopie ist,
scheint den Kassen selbst klar zu sein; es liegt auch kein Grund
für eine solche Forderung vor, denn es ist kein einziger Fall
bekannt geworden (mit Ausnahme des einen von der Aerzte-
schaft allgemein verurteilten in Remscheid), dass in dringlichen
Fällen ärztliche Hilfe verweigert wurde. Wenn den Kranken
die Wahl des Arztes frei stände, so wäre das allerdings ein
Fortschritt, der ganz dem auf den Aerztetagen oft betonten
Prinzip der freien Arztwahl entspräche. Wenn aber die Kassen
dabei die Form vorschlagen, dass den erkrankten Mitgliedern
nicht mehr Arzt und Arznei auf Kosten der Kassen gewährt
werden, so bedeutet das für die Versicherten einen sozialen
Rückschritt, der im Widerspruch zu dem humanitären Geist
der Versicherungsgesetzgebung stände. Die Versammlung
nahm nach kurzer Diskussion eine Erklärung an, in der zunächst
das Einverständnis mit der von seiten des Krankenkassentages
zum ersten Male vorgeschlagenen gesetzlichen Einführung der
freien Arztwahl ausgesprochen wird. Wenn nunmehr die Ver¬
sicherten selbst von ihrem Krankengelde die Kosten für Arzt
und Arznei aufbringen sollen, so sei mindestens zu fordern, dass
bei langwierigen Krankheiten den Versicherten ausreichendes
Krankengeld zur Bestreitung dieser Unkosten gewährt werde;
sonst sei zu befürchten, dass ein hoher Prozensatz Versicherter
im Falle längerer Krankheit der Armenpflege zur Last falle.
Besondere Aufmerksamkeit verlangt der letzte Passus der
Düsseldorfer Beschlüsse, in dem von dem Ausbau des Systems
der Vertrauensärzte und durchgreifender Krankenkontrolle die
Rede ist. Die Resolution der Aerzteversammlung weist dem¬
gegenüber darauf hin, dass es Sache der Versicherten sein wird,
die ohnehin dem System der Vertrauensärzte wenig sym¬
pathisch gegenüberstehen, einer etwa geplanten Vermehrung
der Zahl der Vertrauensärzte und einer Erweiterung ihrer
Funktionen gegenüber Stellung zu nehmen; sie betont aber
ferner, dass die ärztliche Organisation — wie auch bisher bei
freier Arztwahl — sich nicht das Recht wird verkümmern
lassen, bei der Anstellung und der Instruktion der Vertrauens¬
ärzte mitbestimmend zu wirken. M. K.
Vereins- und Kongressberichte.
Internationale Konferenz für Krebsforschung zu Heidel¬
berg-Frankfurt a. M.
25. — 27. September 1906.
I. Bericht über die Heidelberger Sitzung vom
25. September 1906.
Von Professor Fritz Voelcker in Heidelberg.
Am 25. September fand in Heidelberg die Einweihung des
Institutes für Krebsforschung statt, welche sich durch die An¬
wesenheit Ihrer Königlichen Hoheiten des Grossherzogs und
der Grossherzogin von Baden besonders feierlich gestaltete.
Nachdem die hohen Herrschaften das neue Institut besichtigt
hatten, fand in der Aula der Universität der eigentliche Festakt
statt. Dabei hielt zuerst Herr Geheimrat v. Leyden eine
Ansprache, in welcher er der Entwicklung der Krebsforschung
gedachte und die bis jetzt schon erzielten und in Zukunft
zu erwartenden Resultate der Krebstherapie besprach und die
mit der Einweihung des Institutes verbundene internationale
Krebskonferenz eröffnete. Dann schilderte Exz. Czerny die
Entstehung und die Ziele des neuen Institutes und brachte
ein Hoch auf das Grossherzogliche Paar aus. Mit warmen
anerkennenden Worten dankte dann Grossherzog Friedrich,
drückte seine Freude über den regen’ wissenschaftlichen Geist
aus, der sich von früheren glanzvollen Zeiten her in der
Universität Heidelberg vererbe und schloss mit einem Hoch auf
die Ruperto-Carola. Darnach sprach der badische Staatsmi¬
nister, Exz. v. Dusch, dann der Rektor der Universität, der
Dekan der medizinischen Universität, der Oberbürgermeister
der Stadt Heidelberg, der Vertreter des Kaiserlichen Gesund¬
heitsamtes, und die Vertreter der englischen, der französischen
und russischen Komitees und zum Schluss gab der Schriftführer
eine Statistik des Besuches der Konferenz.
Die nachmittags stattfindende wissenschaftliche Sitzung wurde
durch eine Rede v. Leydens: Ueber die Probleme der kurativen
Behandlung des Karzinoms am Menschen eröffnet. Dabei schilderte
er die Schwierigkeiten, welche er beim Angehen dieses Problems in
seinem eigenen Institute fand. Als reelle Therapie erkennt er die opera¬
tive Behandlung an, welche jahrhundertelang das einzige war, was
den Kranken Trost und Hoffnung brachte, welche sich in der zweiten
Hälfte des vergangenen Jahrhunderts enorm entwickelt habe, aber
auch heute noch nicht viel mehr als 20 Proz. Dauerheilungen er¬
zielen könne. Er (Leyden) hoffe, dass auf dem von J e n s e n und
Ehrlich betretenen Wege der Uebertragung von Mäusetumoren
nicht nur für die Aetiologie, sondern auch für die Therapie Erfolge
erzielt würden. Er stehe auf dem Boden der parasitären Theorie und
stelle sich das Wesen des Krebses als eine Symbiose des Parasiten
mit der Zelle vor. Durch chemische Untersuchungen von Krebs¬
tumoren sei in seinem Institut durch Blumenthal gefunden
worden, dass die Krebszellen eiweisslösende Substanzen enthalten,
welche gewöhnlichen Driisenepithelien fehlen und dass Krebszellen
besonders leicht durch Trypsin (Pankreatin) aufgelöst würden. Be¬
sonders in England wird hierauf fussend das Trypsin therapeutisch
verwandt, vorläufig ohne sichere Resultate. Auch die Licht-, Röntgen-
und Radiumtherapie ist vorläufig noch unsicher.
Ferner hat v. Leyden Versuche gemacht über Behandlung
Karzinomkranker mit Serum von Hammeln, die mit Karzinom vor¬
behandelt waren. Er führt 2 Fälle zur Illustration des Verfahrens an,
die aber wegen des Fehlens mikroskopischer Untersuchungen nicht
unbedingt überzeugend sind. Der erste Fall betraf eine Patientin,
bei welcher der Chirurg mittels Probelaparotomie retrogastrische
Tumoren feststellte; der zweite Fall betraf eine Spätmetastase eines
Mammakarzinoms in einem Wirbel. Bei beiden soll durch die Be¬
handlung eine gewisse Besserung erzielt worden sein.
Als Zweiter sprach Exz. Czerny über unerwartete Krebs¬
heilungen. Er wies auf eine verdienstvolle Arbeit von Richard
Lomer hin; derselbe hat eine Reihe von verzweifelten Fällen zu¬
sammengestellt, die durch scheinbar unvollkommene Operationen
geheilt wurden, und hat dabei auf den günstigen Erfolg von Thermo¬
kauteroperationen hingewiesen.
Auch Q ay 1 o r d hat 14 Fälle publiziert, in welchen im Anschluss
an unvollständige Operationen von unzweifelhaften malignen Tumoren
Rückbildungen und Heilungen beobachtet wurden. Auch Czerny
hat mehrere solche überraschende Heilungen beobachtet, z. B. ein
disseminiertes Mammakarzinom, das scheinbar unvollkommen ex-
stirpiert, dann nach der Operation von einem Erysipel befallen wurde
und 20 Jahre nicht rezidivierte. Eine andere Patientin, bei welcher
ein inoperables Karzinom des Uterus ausgeschabt und mit Chlorzink
geätzt wurde, ist jetzt nach 4 Jahren ganz gesund.
Ferner verfügt Czerny über 12 Fälle von Carcinoma ven-
triculi, welche bei der Operation als inoperabel erkannt und nur
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2029
mit einer Gastroenterostomie behandelt wurden und von denen manche
die Operation um viele Jahre, bis zu 14 Jahren, überlebt haben. Wenn
auch in keinem Falle eine mikroskopische Untersuchung vorliege,
man die Diagnose Karzinom also bezweifeln könne, so gäben der¬
artige Dinge doch zu denken.
Auch seien ihm Fälle vorgekommen, wo die mikroskopische
Untersuchung der Randpartien des exzidierten Präparates die Unvoll¬
ständigkeit der Operation ergeben habe und doch dauernde Heilung
eingetreten sei. Fr erwähnt 2 solche Fälle.
Bei Sarkomen kommen ähnliche überraschende Heilungen noch
öfter vor. Czerny schildert einen Fall von Chondrosarkom der
Klavikula und der Rippen und einen Fall von Sarkom des Oberkiefers,
wo scheinbar unvollkommene Operationen doch 'zur Heilung geführt
hatten.
Auch Täuschungen können Vorkommen: Fälle von Pseudo¬
tumoren der Knochen durch wenig virulente Staphylokokken, welche
Sarkomen täuschend ähnlich sehen.
Zum Schluss erklärt Czerny, dass auch er auf dem Boden
der parasitären Theorie stehe — vielleicht müsse ein Zwischenwirt an¬
genommen werden, mit welchem der Parasit auf den Menschen über¬
tragen werde • — und berichtet über die in seiner Klinik ausgeführten
Nachprüfungen der Otto Schmidt sehen Versuche. Von 70 Mäusen,
welche mit Schmidt schem Mukor geimpft wurden, bekam eine
einen alveolären Tumor an der Impfstelle. Wenn man auch der
Theorie Schmidts nicht beipflichten könne, sei dies doch ein be¬
merkenswertes Ergebnis, das weiterer Nachprüfung wert sei.
Dann projiziert Fromme- Halle Zeichnungen mikroskopischer
Präparate. Als Erklärung des bei manchen Karzinomen vorkommen¬
den Fiebers konnte er in Lymphdrüsen, die gelegentlich von abdomi¬
nalen Exstirpationen der krebsigen Gebärmutter gewonnen worden
waren, Bakterien und bakterielle Erweichungsherde nachweisen.
Ferner demonstriert er Präparate von Mastzellen und zerfallenen
Mastzellen in solchen Lymphdrüsen. Auch können Heilungsvorgänge
in solchen Lymphdrüsen beobachtet werden (Erweichung der Drüsen,
Ausbildung einer starken Bindegewebskapsel und Anhäufung von
Mastzellen). Transplantationsversuche von Karzinom seien ihm
immer negativ ausgefallen. Karzinomatöse Lymphdrüsen nekroti-
sieren bei der Transplantation rascher als normale Lymphdrüsen.
Als vierter Redner spricht G o 1 d m a n n - Freiburg: Er hat mit
Hilfe der Elastinfärbung die Wandveränderungen an den Blutgefässen
im Bereiche maligner Neubildungen studiert und gefunden, dass so¬
wohl bei Sarkomen, wie bei Karzinomen schon in den ersten Stadien
der Neubildung Erkrankungen der Gefässwände sich finden, an den
Venen früher als an den Arterien. Die Erkrankung der Arterien cha¬
rakterisiert sich als Periarteriitis carcinomatosa, die Erkrankung der
Venen als Endophlebitis carcinomatosa. Die Verbreitung geschieht auf
dem Wege der Vasa vasorum, das Endothel leistet lange Widerstand;
Arterien und Venen gemeinsam ist der Durchbruch in das Gefässluinen
und der Verschluss durch einen karzinomatösen Thrombus, ln diesen
Gefässveränderungen erblickt G o 1 d m a n n das Entscheidende für
die Diagnose eines malignen Tumors. Genau dieselben Befunde
konnte er an experimentellen Mäusetumoren erheben und sieht hierin
den Beweis, dass es sich um echte maligne Tumoren handelt/
In einer zweiten Serie von Untersuchungen hat G. mittels Wis¬
mutölinjektion den Gefässaufbau maligner Tumoren des Menschen
röntgenographisch studiert und gibt davon Projektionsbilder. Er fand
eine Vermehrung der Blutgefässe in der peripheren Zone wachsender
Karzinome und eine enorme Regellosigkeit in der Anordnung der Ge-
fässe, ganz im Gegensatz zu der regelmässigen Anordnung derGefässe
in gesunden Organen. Analoge Untersuchungen mit analogen Re¬
sultaten machte G. an Mäusetumoren. Die Injektion geschieht bei
diesen kleinen Tieren vom Herzen aus mit Pelikantinte am lebenden
Tier.
Dann bespricht G. die Frage, ob die beschriebenen Verände¬
rungen der Gefässe für maligne Neubildungen charakteristisch sind.
Er findet, dass bei entzündlichen Prozessen, z. B. bei Tuberkulose oder
Lues eine ähnliche Neubildung von Gefässen statthat, und neigt zu
der Auffassung, dass die Gefässveränderung eine Abwehrvorrichtung
gegenüber den eindringenden Schädlichkeiten darstellt.
Seine interessante Demonstration wurde von der Versammlung
durch reichen Beifall belohnt.
Der grösste Teil der angekündigten Vorträge wurde wegen
mangelnder Zeit gestrichen; als letzter sprach Prof. v. Düngern-
Heidelberg über die K e 1 1 i n g sehe Karzinomtheorie. K e 1 1 i n g hat
bekanntlich, fassend auf angeblich spezifischen Reaktionen, welche
das Serum karzinomkranker Menschen und die Eiweissstoffe der Tu¬
moren geben, die Theorie aufgestellt, dass die bösartigen Geschwülste
des Menschen durch verschleppte embryonale Zellen irgend welcher
Tiere (z. B. Huhn, Schwein) erzeugt würden, v. Düngern weist
durch eine grössere Untersuchungsreihe nach, dass sowohl in der
Technik wie in den Voraussetzungen K e 1 1 i n g s Irrtümer beständen,
und dass man weder praktisch, noch theoretisch den K e 1 1 i n g sehen
Anschauungen beipflichten könne, sondern vorläufig daran festhalten
müsse, dass die Zellen der malignen Geschwülste aus den Zellen des
Körpers selbst sich ableiten.
II. Bericht über die Frankfurter Sitzungen
v o m 26. und 27. September 1906.
Von Q. Schoene in Frankfurt a. M.
Nach einigen einleitenden Worten des Vorsitzenden, Herrn
v. Leyden, begriisste zunächst Herr Geh. Med.-Rat Kirchner
die Konferenz im Namen des preussischen Kultusministers. Herr
Bürgermeister Varrentrapp sprach im Namen der Stadt Frank¬
furt a. M., Herr Sanitätsrat Cohn im Aufträge des Aerztlichen
Vereins. Alsdann begannen die wissenschaftlichen Vorträge. Von
jeder Diskussion wurde abgesehen.
1. Ehrlich- Frankfurt a. M. teilt ausführlich die Resultate
seiner sich über einen Zeitraum von fast 4 Jahren erstreckenden
Karzinomstudien mit. Er hat sich von Anfang an von Gesichtspunkten
leiten lassen, die der Bakteriologie direkt entnommen sind, indem
er die Krebszelle methodisch gleichsam als Bazillus behandelt. Es
gelang im Lauf der Jahre 278 mit Primärtumoren behaftete Mäuse
zu beschaffen. Diese Tumoren bilden eine genetisch und histologisch
einheitliche Gruppe mit allen Uebergängen vom reinen Adenom bis
zum Karzinom. Sämtliche Geschwülste sind primär in der Mamma
entstanden. Von 108 verimpften Tumoren konnten nur 9 in Stämmen
fortgezüchtet werden. Durch das Prinzip der künstlichen Auslese
gelang es, die Virulenz der einzelnen Stämme ad maximum zu stei¬
gern, so dass die Geschwülste in 90 bis 100 Proz. angehen und eine
in der menschlichen Pathologie noch nie beobachtete Wachstums¬
energie zeigen. In 3 Fällen verwandelten sich 9 Monate bis 214 Jahre
als reine Karzinome fortgezüchtete Stämme in Sarkome, indem all¬
mählich eine im interalveolären Bindegewebe auftretende sarkomatöse
Wucherung zur Elimination des Karzinoms führte.
Ausser den Karzinomen und Sarkomen liess sich auch ein Chon¬
drom transplantieren, und zwar mit einer Impfausbeute von fast
100 Proz. Im Gegensatz zu den verimpften Karzinomen und Sarkomen,
die eine geringe Gefässversorgung aufweisen, ist das Chondrom durch
eine sehr reichliche Vaskularisation ausgezeichnet, die schon bei
jungen Tumoren zu Hämorrhagien führt. Vortragender nimmt eine
besondere chemotaktische Wirkung der Chondromzellen auf die Angio-
blasten an. Werden die zu transplantierenden Chondromzellen län¬
gere Zeit tiefen Temperaturen ausgesetzt (3 Tage bei Einwirkung der
Temperatur der flüssigen Luft), so bleibt die Vaskularisation und die
Hämorrhagienbildung aus. Auch bei anderen Tumoren gelang die
Transplantation, die 48 bis 30 Stunden bei 25 — 30 0 unter 0 aufbewahrt
waren.
Bei den Immunisierungsversuchen impfte Vortragender nach dem
Muster der in der Bakteriologie gebräuchlichen Methode der Im¬
munisierung mit abgeschwächtem Virus Mäuse mit avirulenten
hämorrhagischen Primärtumoren vor. Diese so behandelten Tiere
wurden bereits in 50 — 80 Proz. der Fälle und bei wiederholter Ver¬
impfung in noch höherem Prozentsatz immun gegen hochvirulentes
Tumormaterial. War die Verimpfung schon mit hochvirulentem
Material vorgenommen, ohne dass ein Tumor sich entwickelte, so war
es nur in den allerseltensten Fällen möglich, auf diese Tiere über¬
haupt einen Tumor erfolgreich zu verimpfen. Von fundamentaler Be¬
deutung war das bei diesen Versuchen gewonnene Resultat, dass so¬
wohl eine Karzinom- wie eine Sarkomimpfung gegen alle Karzinom-
und Sarkomstämme schützte. Geringer ist der Schutz, den eine
Karzinom- oder Sarkomvorimpfung gegen Chondrom verleiht; aber
durch wiederholte Vorimpfung gelingt auch dieser Versuch.
Auf Ratten wachsen die Mäusetumoren ca. 6 — 7 Tage üppig, um
dann resorbiert zu werden. Die Rückimpfung auf die Maus gelingt
leicht, eine Impfung von Ratte auf Ratte verläuft negativ. Vortragen¬
der schliesst daraus, dass die Tumorzellen eines spezifischen, nur
in der Maus vorkommenden x-Stoffes bedürfen, der während der
7 Tage, die der Tumor auch in der Ratte wächst, erschöpft wird.
Die Immunität der Ratte gegen Mäusetumoren bezeichnet Ehrlich
demgemäss als atreptische Immunität.
Eine andere Form dieser Immunität äussert sich darin, dass bei
mit schnellwachsenden Karzinomen oder Sarkomen behafteten Mäu¬
sen eine zweite Impfung gewöhnlich nicht angeht, weil die üppig
wuchernde Geschwulst die ganze Quantität des vorhandenen x-Stoffes
an sich reisst.
Zum Schluss entwickelt Vortragender seine Anschauungen über
die Bedingungen der spontanen Geschwulstentstehung. Eine Zelle
kann nur dann zu einer Geschwulst auswachsen, wenn ihre Avidität
zu den Nährsubstanzen eine grössere ist, als die der übrigen Körper¬
zellen. Lässt sich die Geschwulst transplantieren, so ist die Avidität
ihrer Zellen auch grösser als die des Durchschnittsorganismus der
Maus. Ist sie dagegen nicht transplantabel, wie die überwiegende
Zahl der spontanen Mäusegeschwülste, so ist die Zellavidität nur
grösser als die der Körperzellen der speziellen Maus, auf der der
Tumor gewachsen ist, aber nicht grösser als die Avidität der Zellen
des Durchschnittsorganismus. Folglich beruht die Tumorbildung in
diesem Falle nicht auf einer Aviditätserhöhung der betreffenden
Zellen, sondern auf einer Aviditätsverminderung der Körperzellen.
Dies ist der wissenschaftliche Ausdruck für die konstitutionelle
Schwächung, welche als massgebendes Moment bei der Tumorent¬
wicklung von jeher angesprochen worden ist.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
30
2. A p o I a n t - Frankfurt a. M.: Demonstration der Histologie
der Mäusetumoren.
Vortragender demonstriert die verschiedenen Typen der am
Ehrlich sehen Institut beobachteten Mäusegeschwülste, ins¬
besondere auch die Umwandlung von Karzinom in Sarkom.
3. S p i e s s - Frankfurt a. M.: Experimentelle Heilversuche an
Mäusekarzinomen. (Ist ausführlich in No. 40 dieser Wochenschrift er¬
schienen.)
4. H. Hübner - Frankfurt a. M.: Ueber die Röntgentherapie der
Hautkarzinome, mit Demonstrationen behandelter Fälle aus dem Licht¬
heilinstitut der Hautkrankenstation.
Der Vortragende schickt der Demonstration der Patienten eine
Darlegung der Prinzipien voraus, nach denen er die Röntgentherapie
der Hautkarzinome handhabt. Er trachtet danach, zunächst durch
wenige intensive Bestrahlungen alles krankhaft Gewucherte zum
Schwinden zu bringen und sucht dann die Ueberhäutung des Defektes
unter milderen Bestrahlungen einzuleiten. Bei zu geringer Dosierung
scheint sich allmählich eine gesteigerte Resistenz der Krebszellen
gegen die schädigende Wirkung der Röntgenstrahlen einzustellen,
so dass schliesslich ein Weiterwuchern des Karzinoms sich doch
wieder einstellt. Eine Erschwerung der Therapie liegt in dem Um¬
stand, dass ein wirklich brauchbarer Apparat zur Messung der
Strahlenmenge noch nicht existiert, doch es kann dieser Mangel durch
eine sorgfältige Beobachtung und Regulierung der Röhren und durch
die überlegte Anwendung gewonnener Erfahrungstatsachen ersetzt
werden. Der Vortragende benutzt zur Therapie weiche Röhren und
reguliert die Dosis durch Verlängerung bezw. Verkürzung der Ex¬
positionszeit und durch Veränderung des Röhrenabstandes.
5. W e r n e r - Heidelberg: Zur Genese der Malignität der Tu¬
moren.
Vortragender bespricht die wichtigsten Eigenschaften der Zellen
und Gewebe, auf welchen die Malignität der Geschwülste beruht,
und kommt zu dem Schlüsse, dass der wichtigste Unterschied die
schrankenlose Steigerungsfähigkeit der Wachstumsenergie und -ge-
schwindigkeit ist, aus der sich alle übrigen Erscheinungen schwer
ableiten lassen. Bringt man normales Gewebe durch wiederholte
Reizungen zur Wucherung, so kann man die Intensität derselben nicht
beliebig steigern, indem die Anpassung an die wachstutnsauslösenden
Reizstärken rascher erfolgt als an jenen, die den Untergang der Ge¬
webe herbeiführen, so dass es schliesslich nicht möglich ist, die
Wachtumsenergie des Gewebes zu steigern, ohne die Zellen zu zer¬
stören.
Kombiniert man jedoch 2 Reize, so wird die Anpassungsfähigkeit
an die das Wachstum steigernden Dosen herabgesetzt, und zwar
um so mehr, je weniger die Reize miteinander verwandt sind, d. h. je
weniger die Anwendung des einen das Gewebe gegen jene des andern
unterempfindlich macht. Auf diese Weise gelingt es, das erwähnte
Symptom des malignen Wachstums in gewissem Umfange experimen¬
tell hervorzurufen, wodurch bewiesen erscheint, dass eine Umwand¬
lung gutartiger Wucherungen in bösartige durch äussere Reize prin¬
zipiell denkbar ist, obwohl das Gesetz der Anpassungsfähigkeit der
Gewebe dem zu widersprechen scheint. (Autoreferat.)
6. L e w i s o h n - Heidelberg: Zur Behandlung maligner Tumoren
mit Röntgenstrahlen.
L. berichtet über die Resultate, die mit der Röntgenbestrahlung
seit dem Jahre 1903 an 34 Patienten in der Heidelberger chirur¬
gischen Universitätsklinik gewonnen wurden. Nicht einbegriffen
unter diese Zahl sind 25 weitere Patienten, bei denen äusserer Um¬
stände halber die Bestrahlungen nach wenigen Sitzungen abgebrochen
werden mussten. Lässt man das sog. Ulcus rodens unberücksichtigt,
das nur histologisch, aber nicht klinisch mit den übrigen Karzinomen
gleichzustellen ist, so sind die Resultate der X-Therapie keineswegs
sehr ermutigend. Unter den 34 Fällen befanden sich II Mamma¬
karzinome, 5 Knochensarkome, 5 Lymphosarkome, 5 Epitheliome,
4 Melanosarkome, 2 Magendarmkarzinome und je I Fall von malignem
Lungen- resp. Parotistumor.
Vortragender beleuchtete dann die einzelnen Gruppen. Als Ge¬
samtergebnis ergibt sich ungefähr folgendes: Fast in allen Fällen zu
beobachten und für die Patienten von grossem Nutzen war die anal-
gesierende Wirkung des Röntgenlichtes, ausserdem bei exulzerier-
ten 'I umoren ein Nachlassen des so lästigen Nässens. In vielen Fällen
wurde zwar eine vorübergehende Rückbildung der Knoten erzielt,
ein wirklich dauernder Erfolg war aber in keinem der Fälle zu ver¬
zeichnen. Die Bestrahlungszeit schwankte zwischen P/2 und 8 Stun¬
den. Bei den meisten trat binnen Jahresfrist der Exitus ein.
Nach Erörterug einiger technischer Fragen (Bestrahlungszeit,
Messmethoden etc.) betonte L., dass öfters gerade durch die Röntgen-
besti ahlung die Metastasierung beschleunigt zu werden scheint.
Jedenfalls kann die Röntgentherapie in ihrer heutigen Gestalt nicht
als ein wirkliches Heilmittel gegen die malignen Tumoren betrachtet
werden. Hoffentlich werden die Versuche, die von den verschieden¬
sten Seiten zur Verbesserung des therapeutischen Effekts des Rönt¬
genlichts gemacht werden, bald von Erfolg gekrönt sein. (Auto¬
referat.)
7. Bo rrel -Paris stellt zunächst fest, dass die „Coccidien-
theorie des Karzinoms sich nicht habe halten lassen. Er betont
dass, wie er schon früher hervorgehoben habe, die Zelleinschlüsse im
Sinne der „Vogelaugen“ usw. Stadien einer ganz bestimmten Ver¬
änderung des Protoplasmas darstellten und dass sich ähnliche Bilder
bei der Spermatogenese und Ovogenese fänden. Auch von anderer
Seite sei in der Chromatinreduktion eine Annäherung der Krebszellen
an die Generationszellen erkannt worden, die wesentlichen Fragen
sind nach B o r r e 1 die, warum diese Rückkehr zum Typus der
Generationszellen sich vollzieht, und warum die Krebszelle die Fähig¬
keit der unbegrenzten Vermehrung erhält.
Vortragender glaubt nicht an irgendwelche Theorie der Erb¬
lichkeit, ist vielmehr der Ansicht, dass der Krebs seine Entstehung
einer Infektion verdankt. Er hebt die Tatsache hervor, dass es
einzelne Mäusezuchten gibt, in denen in auffälliger Häufung Karzi¬
nome beobachtet werden, während in anderen Zuchten nie ein Krebs¬
fall vorkommt. Versuche, die er angestellt hat, um durch die Be¬
nützung karzinomatöser Mäuse zur Zucht etwa eine Erblichkeit des
Krebses nachzumachen, sind ohne Ergebnis geblieben. Dagegen hält
er für möglich, dass Eingeweidewürmer eine Rolle bei der Ueber-
tragung des Krebses spielen. Solche Würmer finden sich hie und da
in den Organen krebskranker Tiere. Bei einer Ratte wurde in einem
Lebertumor ein Zystizerkus gefunden, bei einer anderen Ratte eben¬
falls ein Zystizerkus in einem Nierentumor, ein anderer Wurm in
einem malignen Lymphknoten einer Mäuselunge. Die Annahme, dass
Helminthen bei der Uebertragung des Krebses beteiligt sein können,
würde stimmen mit der Häufigkeit der Krebse des Magendarmtraktus.
Bo rrel hält aber die Ursache des Krebses nicht für eine einheit¬
liche und formuliert die weitere Aufgabe der Forschung mit den
Worten, man solle nicht „le cancer“, sondern „les cancers“ studieren.
(Mit Benützung eines Autoreferats.)
8. F. H e n k e - Charlottenburg: Zur pathologischen Anatomie der
Mäusekarzinome.
Die Untersuchungen über die Mäusekarzinome würden erheblich
an Bedeutung verlieren, wenn gewisse Stimmen Recht behielten,
die die in Rede stehenden Geschwülste der Mäuse ausser Vergleich
mit dem menschlichen Karzinom stellen. Vortragender hat solche Ge¬
schwülste, die er v. Leyden, J e n s e n und B a s h f 0 r d verdankt,
untersucht, und ist zu dem Resultat gekommen, dass es sich in der
Tat um echte Blastome, und zwar Karzinome handelt (Hanse¬
ln a n n und E b e r t h halten sie zum Teil für Endotheliome). Aber
freilich sind gewisse Eigentümlichkeiten dieser Geschwülste festzu¬
stellen. Auch grosse Geschwülste drängen makroskopisch mehr die
Nachbarorgane, z. B. die Niere, vor sich her, als dass sie in die¬
selben einwachsen und sie zerstören. Mikroskopisch aber ist ein
gewisses infiltratives Wachstum an den Randstellen nicht zu ver¬
kennen. Der Tumor wächst aus sich heraus weiter (Ribbert).
Für die Verbreitung im Körper spielt der Blutweg die erste Rolle. Die
Lymphdrüsen erweisen sich auch bei der mikroskopischen Unter¬
suchung als frei. Makroskopische Metastasen sind sehr selten, aber
eine kleinerbsengrosse wurde selbst bei dem wenig virulenten Jen-
s e n sehen Tumor beobachtet. (Demonstration.) Eine spontane Rück¬
bildung wirklich grosser Tumoren hat Vortragender nicht gesehen.
Von biologischen Feststellungen ist hervorzuheben, dass ge¬
legentlich auch eine ohne Erfolg vorgeimpfte „Müller-Maus“ bei der
späteren Nachimpfung (selbst mit dem wenig virulenten Tumor von
Jensen) grosse Geschwülste bekommen kann. Die Immunität ist
eben keine absolute, was ja auch Ehrlich nicht behauptet.
Die Mäusetumoren sind demnach in Analogie mit den mensch¬
lichen Karzinomen zu stellen, trotz der erwähnten Besonderheiten.
Die pathologisch-anatomische Bewertung dieser Tumoren wird um so
mehr aktuell, als Schmidt-Köln durch Injektion seiner Kulturen,
wenn auch freilich in einem geringen Prozentverhältnis ähnliche Ge¬
schwülste bei dei Maus erzielt haben will. (Mit Benützung eines
Autoreferats.)
9. L u b a r s c h - Zwickau: Ueber destruierendes Wachstum und
Bösartigkeit der Geschwülste.
V01 tt agender stellt die Probleme auf: 1. ob destruierendes
Wachstum und Bösartigkeit sich decken; 2. ob beides die Folgen pri¬
märer Abänderungen der Zellen oder der Abnahme lokaler und all¬
gemeiner Widerstände ist.
Ad I wird hervorgehoben, dass nicht jede Zellheterotopie Folge
von destiuierendem Wachstum ist. Es gibt besonders im weiblichen
Gemtaltraktus (Rob. Meyer) und im Magendarmtraktus
.lI 1 a * s c 1 ^ ausgedehnte epitheliale Heterotopien und heterotope
Epithelwucherungen, welche die Folgen durch Entzündungen und
Eiterungen bewirkter passiver Verschleppungen und Verzerrungen
sind. Auch in sehr blutreichen Schilddrüsentumoren fand Vortragen¬
der in den Venen adenomatöse Partien, die, wie der klinische Ver¬
laut zeigte, nicht durch direkten Einbruch entstanden waren, sondern
als passive intravenöse Heterotopien aufgefasst werden müssen, be¬
wirkt durch Blutungen. Ebensowenig ist bereits das lokal' de-
struierende Wachstum einer Geschwulst gleichbedeutend mit Bös¬
artigkeit. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass es durchaus
gutaitige Karzinome und Sarkome gibt, dass, wenn auch sehr selten,
spontane Rückbildungen Vorkommen, sondern auch der Umstand'
dass selbst nach bereits stattgefundener Verschleppung von Ge-
schw ulstzellen in die Blutbahn und Durchwucherung von Venen¬
wandungen keine Metastasenbildung aufzutreten braucht und nach
Entfernung der Primärtumoren völlige Heilung eintreten kann. (An¬
führung von Beispielen eigener Beobachtung.)
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
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Ad 2. Bereits C o h n h e i m hat die Vorstellung gehabt, dass
nicht ausschliesslich Eigentümlichkeiten der Geschwulstzelle, son¬
dern Veränderungen in den lokalen und allgemeinen Regulationsein¬
richtungen Ursache der Metastasenbildung und somit der Bösartig¬
keit von Geschwülsten ist. Vortragender hat vor 12 Jahren die Hypo¬
these aufgestellt, dass die Metastasenbildung ganz allmählich vor¬
bereitet wird, dass die ersten verschleppten Zellen, ganz wie nor¬
male Zellen vernichtet werden, dass aber allmählich durch den Zer¬
fall der vom Primärherd immer von neuem nachgeschickten Zellen
Gifte frei und an dem Orte, wo die verschleppten Zellen zuerst hin¬
gelangen, deponiert werden, so dass endlich eine Anzahl der ver¬
schleppten Zellen, die genügenden Existenzbedingungen finden, um
anwachsen und sich vermehren zu können. Eine Stütze dieser An¬
schauungen bilden die Beobachtungen von M. B. Schmidt und
vom Vortragenden, dass Geschwulstembolien oft genug nicht von
Metastasenbildung gefolgt sind, sondern zugrunde gehen, ferner die
regelmässigen Erscheinungen einer toxischen Schädigung der regio¬
nären Lymphdriisen bei Karzinom. Jedes Blastom kann
metastasieren, wenn es Gelegenheit h a t ,i n Lymph-
u n d Blutstrom einzudringen und seine Keimlinge
wiederholt dahinein zu senden. Es ist somit die
Metastasierungsmöglichkeit, das wesentlichste
Kriterium der Bösartigkeit, nicht abhängig von der
histologischen Struktur der Geschwülste, und dem¬
nach die Bösartigkeit nicht ausschliesslich und wenigstens nicht pri¬
mär Folge einer biologischen Aenderung des Zellcharakters. Wie sehr
in vieler Hinsicht biologisch normale Zellen mit Geschwulstzellen
übereinstimmen, haben Versuche über die Widerstandsfähigkeit nor¬
maler und Geschwulstzellen gezeigt. Gerade wie es Ehrlich von
Geschwulstzellen nachgewiesen hat, fand Vortragender, dass Kanin¬
chenspeicheldrüsenstückchen zerschnitten und zu Brei verrieben
transplantierbar blieben und dass die Transplantierbarkeit auch bei
einem 12 tägigen Aufenthalt der Stückchen im Eisschrank (bis + 2 u
und +8°) nicht erlosch. Auch in diesem Punkt zeigen Krebszellen
keine qualitativen, sondern nur quantitative Unterschiede.
Somit erscheint die Anschauung immer mehr berechtigt, dass
die Bösartigkeit der Geschwülste auf einer all¬
mählich herangezüchteten Störung der chemischen
Korrelation beruht und nicht schlechthin von der
histologischen Struktur abhängt. Das Verhältnis zwi¬
schen der anatomischen und klinischen Einteilung der Geschwülste ist
zu revidieren, denn jedes Blastom, vom Lipom und Fibrom bis zum
Epitheliom kann bösartig werden. Es kann aber auch eine de-
struierende Umbildung lange und vielleicht immer gutartig bleiben.
Es ist demnach nicht für alle Fälle möglich, aus dem histologischen
Befund die Prognose der Krankheit zu stellen.
Welche Momente das destruierende Wachstum der Blastome
veranlassen, bleibt ungeklärt. Die pathologischen Anatomen stehen
der parasitären Theorie nur insofern skeptisch gegenüber, als es sich
um spezifische Parasiten handelt. Dass Mikroorganismen
ebenso wie chemische Stoffe die Unabhängigkeit der Zellen und die
immer zunehmende Selbständigkeit mit veranlassen und daher in¬
direkt von ätiologischer Bedeutung sein können, wird ebenso wie
von Ribbert und v. Hansemann auch vom Vortragenden
längst zugegeben. (Mit Benützung eines Autoreferats.)
10. H a a 1 a n d - Christiania: Ueber Metastasenbildung bei trans¬
plantierten Sarkomen der Maus. (Mit Demonstration.)
Vortragender hat 32 ihm von Ehrlich überlassene an Sarkom
(Sarkom entstanden durch Umwandlung aus Karzinom, siehe Vor¬
trag von Ehrlich) gestorbene Mäuse auf Metastasen untersucht.
Makroskopische Metastasen sind selten, kommen aber vor (Demon¬
stration), wie Vortragender glaubt besonders dann, wenn durch
Schädigung des Impfbreies (5 Minuten langes Verreiben mit Glas¬
staub) das Wachstum verlangsamt und die Krankheit lange hin¬
gezogen wird. Mikroskopisch fanden sich Metastasen in den Lungen
unter 32 Mäusen 26 mal. Die Untersuchung geschah in der Weise,
dass alle Lungen systematisch in Serienschnitte zerlegt wurden. Die
Metastasen gleichen dem primären Tumor vollkommen; sie entstehen
auf dem Blutweg durch Embolien und wachsen dann entweder in
den Blutgefässen weiter oder durchbrechen die Wand des üefässes.
Vortragender demonstriert weiter ein Chondrofibrosarkom der
Wirbelsäule einer Maus und eigentümliche Ekchondrosen an den
Rippen einer Maus.
11. D o 1 1 i n g e r - Ofen-Pest: Ein Ergebnis der vom Komitee
für Krebsforschung des Ofen-Pester Kgl. Aerztevereins veranstalteten
Sammelforschung.
Am 15 Oktober 1905 wurden in Ungarn 3570 Krebsfälle ver¬
zeichnet. Von 1901—1904 starben 26 912 Individuen an Krebs. Bei
den meisten Organen übertrifft die Zahl der Sterblichkeitsstatistik
die der Erkrankungsziffer bedeutend (6 — 40 mal), bei den Krebsen der
Mamma und der Haut nur nicht ganz um das Doppelte; bei den
Lippenkrebsen übertrifft umgekehrt die Erkrankungsziffer die Sterb¬
lichkeitsziffer um das Doppelte. Gerade diese Krebse werden am
leichtesten diagnostiziert und mit der Chance von 38—72 Proz. auf
Dauerheilung (= Rezidivfreiheit nach 3 Jahren) operiert. Es scheint
daher, dass in den geringen Zahlen der Sterblichkeitsstatistik die
Erfolge der operativen Therapie zum Ausdruck kommen.
Es wäre zu wünschen, dass die statistischen Zentralstellen der
deutschen Bundesstaaten aus ihrer Sterblichkeitsstatistik die auf den
Krebs bezüglichen Daten zur Vergleichung mit der deutschen Krebs¬
sammelforschung ausarbeiten. Ferner sollten die statistischen Aemter
aller Städte aufgefordert werden, das Krebsmaterial ihrer Sterblich¬
keitsstatistik jährlich, womöglich nach einem einheitlichen Plan aus¬
zuarbeiten und zu veröffentlichen. Vortragender stellt diesbezügliche
Anträge. (Mit Benutzung eines Autoreferats.)
12. Leaf -London: Ueber die klinischen Ursachen des Mamma¬
karzinoms, nebst einigen Bemerkungen über künstliche Erzeugung
von Krebs bei Tieren.
Vortragender gibt eine Statistik über 100 Fälle von Mamma¬
karzinom aus dem „Cancer Hospital“ in London. 84 Proz. der Patien¬
tinnen waren verheiratet, das Durchschnittsalter bei Beginn der Er¬
krankung betrug 49 Jahre und 2 Monate. In 39 Proz. fand sich
tuberkulöse Belastung, in der der Vortragende ein starkes prädis¬
ponierendes Moment sieht, ln 71 Proz. fand sich eine Störung der
Laktation. Jedes Moment, das die Retention schon sezernierter Milch
begünstigt, erscheint dem Vortragenden von Wichtigkeit für die Ent¬
stehung des Krebses, ln 37 Proz. fanden sich Angaben über feuchte
Wohnungen usw., in 35 Proz. Angaben über Verletzungen usw., in
35 Proz. Angaben über schwere seelische Aufregungen.
Vortragender glaubt, dass fast immer mehrere Ursachen sich
zur Entstehung des Mammakarzinoms kombinieren. Er legt be¬
sonderen Wert auf gewisse Massnahmen, welche die Frauen an¬
wenden, um die Milchsekretion zum Versiegen zu bringen.
Die Versuche des Vortragenden, durch chronische Reizung
Krebs bei Tieren zu erzeugen, sind misslungen. Er meint, die Tiere
müssten Schutzstoffe besitzen, die die Entwicklung des Krebses ver¬
hinderten. Es sei nicht leicht, bei Tieren die Bedingungen zu reali¬
sieren, welche beim Menschen die natürliche Resistenz schwächten.
Besonders tuberkulöse Belastung und feuchte Wohnung. (Mit Be¬
nutzung eines Autoreferates.)
13. B e h 1 a - Stralsund: Ueber Beziehung zwischen Wasser und
Krebs mit radiographischen Demonstrationen.
Nach einem Ueberblick über die Literatur berichtet Vortragender
über seine Untersuchungen im Regierungsbezirk Stralsund, dem höchst
krebsbelasteten der ganzen preussischen Monachie. Auf Grund zahl¬
reicher statistischer Unterlagen und Lokaluntersuchungen ist Vor¬
tragender zu der Ansicht gelangt, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit
der Wasser-, Moor- und Wiesenreichtum des Bezirks für die hohe
Krebserkrankungsziffer verantwortlich zu machen ist. Redner de¬
monstriert an einer grossen Zahl von Karten das örtliche Zusammen¬
fallen der Lage an Flüssen, Wasserläufen, Teichen, Sümpfen, Mooren
mit einer Häufung der Krebsfälle und umgekehrt die Seltenheit der
Erkrankung im Bereich trockner Plateaus inmitten der Krebsgegend.
Redner nimmt eine parasitäre Ursache an und zwar einen belebten
Krebskeim, der seinen Nährboden im Wasser und auf feuchtem Boden
hat. Er erinnert an den ebenfalls epidemisch in manchen Teichen auf¬
tretenden Krebs bei Forellen. Hier können verseuchte Teiche neben
krebsfreien liegen. Ebenso ist der Kohlkrebs (Kohlkropf) endemisch.
Der feuchte Boden, dem man in diesem Falle äusserlich nichts ansehen
kann, birgt zweifellos den Parasiten. Redner glaubt nicht, dass der
Erreger der Kohlhernie, Plasmodiophora brassicae, auch der Erreger
des menschlichen Krebses sei, sucht ihn aber in dieser Klasse von
Organismen als einen Parasiten, der Wasser und Boden liebt und
nur gelegentlich in den menschlichen Körper gelangt. Er hält es für
wichtig, sich die nähere Erforschung der Teiche mit epidemischem
Forellenkrebs zur Aufgabe zu machen. Die gegebene Stätte für der¬
artige Untersuchungen sei das Reichsgesundheitsamt. (Mit Benützung
eines Autoreferates.)
14. S p u d e - Pr. Eriedland: Demonstration von Zeichnungen aus
beginnenden Hautkarzinomen.
Das Thema einer vom Vortragenden seit über einem Jahre in
Angriff genommenen Arbeit, die ca. 50 farbige Abbildungen enthalten
und voraussichtlich im Frühjahr nächsten Jahres den Druck verlassen
wird, lautet: „Der Nachweis eines spezifischen intravaskulären, die
Ursache des Krebses darstellenden Stoffes“. Dieses Thema drückt
ohne weiteres die Anschauung des Vortragenden über die Genese des
Krebses aus, dieselbe Anschauung, welche er schon im Jahre 1904
in einer Arbeit „Die Ursache des Krebses und der Geschwülste im
allgemeinen“ niedergelegt hat. Die Zeichnungen entstammen zwei
bei demselben Individuum beobachteten Hautkrebsen, von denen Ca. I
ein völlig entwickeltes Stadium von nur einigen Millimetern Grösse
darstellt, während Ca. II einen grösseren Bezirk dicht neben Ca. 1
einnimmt und in einem viel früheren Stadium der Entwicklung ex-
stirpiert wurde; zwischen der Exstirpation von Ca. I und Ca. II liegt
ein Zeitraum von ca. 2 Jahren.
Ca. II stellt eine fortlaufende Reihe von eben beginnenden und
bis zur deutlichen Heterotypie fortschreitenden Entwickelungsstadien
dar. Vortragender behauptet, dass die hier überaus schön sichtbare
karzinomtöse Umwandlung des Epithels angesichts der unzwei¬
deutigen histologischen Befunde nur abhängen kann von der Ein¬
wirkung eines spezifischen intravaskulären Stoffes, den die Epithel-
izellen anziehen, resp. von dem sie angezogen werden, wobei auf die
Epithelien nicht nur ein Reiz, sondern auch eine Schädigung ausgeübt
wird, wenn die Nähe der Gefässe eine sehr reichliche Anziehung dieses
Stoffes erlaubt; Es wandeln sich hierbei sowohl die Oberflächen- wie
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die Eollikelepithelien spindelförmig um, strecken lange Protoplasma-
iüsse aus und zeigen schliesslich eine so grosse Avidität zu diesem
intravaskulären Stoff, dass sie aus dem physiologischen Verbände
heraustreten. Die Identität der hierbei entstehenden Epithelverände¬
rungen in dem Ca. II mit den atypischen Epithelveränderungen in den
Randpartien des 2 Jahre früher exstirpierten Ca. I ist eine absolute
und zeigt, dass auch die Randpartien dieses Karzinoms sich noch im
Stadium der Entstehung befinden.
Dass die Gefässe hierbei eine bedeutsame Rolle spielen, geht
aus den primär auftretenden Veränderungen derselben, speziell der
Endothelien hervor.
Ueber die Natur dieses spezifischen Stoffes etwas sicheres zu
sagen, ist sehr schwer. In seiner 1904 herausgegebenen Arbeit hat
Vortragender kurz von einem Toxin gesprochen und die Blastomatose
als eine Konstitutionskrankheit bezeichnet. Vortragender glaubt auch
heute noch, dass es sich hierbei um ein toxisches resp. fermentartiges
Stoffwechselprodukt eines bestimmten Organsystems, hier der Haut¬
bedeckungen handelt, welches möglicherweise auch in der Norm vor¬
handen ist, im Blute der Blastomatösen aber in vermehrter Menge
auftritt oder nicht neutralisiert wird und lokal und nicht selten auch
in demselben Organsystem multipel unter Mitwirkung gewisser Ge¬
legenheitsursachen in Wirksamkeit tritt. (Autoreferat.)
15. Blumenthal - Berlin: Die chemische Abartung der Zellen
beim Krebs.
Die Krebszelle unterscheidet sich chemisch von den gewöhnlichen
Organzellen durch folgende Punkte:
1. Das Verhältnis der Albumine zu den Globulinen ist in den
Krebszellen in der Richtung gestört, dass die Krebszellen mehr
Albumin und weniger Globulin enthalten als die normalen Zellen.
2. Nach den Ergebnissen von B e r g e 1 1 und Dörpinghaus
sind die Eiweisskörper der Krebszellen anders zusammengesetzt. Sie
sind ausgezeichnet durch einen reichen Gehalt an Glutaminsäure,
ferner an Phenylaminsäure und Asparaginsäure, ferner durch einen
auffallend hohen Gehalt an Diaminosäuren. Dagegen enthalten sie nur
sehr wenig Leuzin, während in anderen Geweben 20 Proz. und mehr
gefunden werden.
3. Durch verschiedenes Verhalten gegenüber Fermenten.
a) Tryptisches Ferment. Die Krebszellen werden sehr leicht vom
tryptischen Ferment verdaut ,die Zellen des Organismus nicht. (B 1 u-
menthal). Dasselbe ist der Fall bei dem aus Krebszellen her¬
gestellten Eiweiss (Be r gell und Dörpingham; Neuberg
und A s h e r).
b) Die Krebszellen werden schwer von peptischen Fermenten
angegriffen, die Organzellen leicht (Blumenthal und H. Wolff).
Dasselbe gilt für das Krebseiweiss (B e r g e 1 1 und D ö r p i mg h a u s,
N e u b e r g und A s h e r).
4. Durch das Auftreten neuer biologischer Eigenschaften in den
Krebszellen. Jedes Organ enthält ein Ferment, das das Eiweiss dieses
Organs, und zwar nur dieses Organs, nicht anderer Organe, abzu¬
bauen vermag (E. Salkowski). Das Krebsgewebe enthält ein
Ferment, welches sowohl Krebsgewebe wie das Eiweiss anderer Or¬
gane abbauen kann (Blumenthal und H. Wolff; N e u b e r g).
Aus diesen Untersuchungen schloss Blumenthal auf eine
chemische Abartung der Krebszellen in dem Sinne, dass die Epithel¬
zelle erst chemische Veränderungen erfahren haben muss, ehe sie
zur Krebszelle geworden ist (chemische, Meta- oder Anaplasie der
Krebszelle). Es handelt sich also bei der Bildung von Krebszellen
um eine Stoffwechselstörung, deren nähere Ursachen wir noch nicht
kennen.
Die Krebskrankheit ist ferner dadurch ausgezeichnet, dass mit
dem Auftreten anderer Eiweisskörper in der Krebszelle die Ge¬
winnung neuer Eigenschaften einhergeht, z. B. die vermehrte Wachs¬
tumsfähigkeit und das Auftreten eines das Eiweiss anderer Organe
abbauenden Fermentes.
Ferner folgt aus der Auffindung des proteolytischen Krebsfer¬
mentes eine Erklärung für die Krebskachexie in manchen Fällen.
Auch kann das Krebsferment mit herangezogen werden zur Erklärung
des infiltrativen Wachstums, indem es das die Krebszelle umgebende
Gewebe zu schädigen vermag und damit eine Hemmung für die
Wucherung der Krebszellen beseitigt (Bin menthal). (Auto¬
referat.)
16. B e r g e 1 1 - Berlin : Zur Chemie der Krebsgeschwülste.
Redner schildert ausführlich die bereits im Vortrage von Blu¬
menthal (No. 15) zum Teil angeführten Ergebnisse seiner che¬
mischen Untersuchungen. Bei dem vergleichenden Studium von
Mäusetumoren und dem Gesamtkörper krebskranker Mäuse ohne
1 umor ergaben sich etwa dieselben Verhältnisse. Auch die Unter¬
suchung des vom Tumor befreiten Gesamtkörpers einer krebs-
kranken Maus im Vergleich mit gesunden Mäusen ergibt deutliche
Differenzen, welche die allgemeine Schädigung durch den Tumor zum
Ausdruck bringen.
17. Leonor M i c h a e 1 i s - Berlin : a) Ueber Versuche zur Er¬
zielung einer Krebsinnnunität bei Mäusen; b) Transplantierbares
Rattenkarzinom.
Vortr. berichtet über einen Fall von transplantablem Mamma¬
karzinom einer älteren weiblichen Ratte, welches sich leicht auf
Ratten verschiedener Rasse, Alters und Geschlechtes transplan¬
tieren lässt.
Ferner berichtet er über Versuche zur Erzielung einer Krebsim¬
munität bei Mäusen. Die Grundtatsache ist, dass während 56 Proz.
der Mäuse überhaupt erfolgreich mit Krebs geimpft werden, von den
einmal erfolglos geimpften nur 12 Proz. bei der zweiten Impfung Krebs
bekommen. Diese Tatsache steht in Uebereinstimmung mit den
Beobachtungen von Ehrlich und spricht für eine verschiedene
Empfänglichkeit der Mäuse für den Krebs. Es wurde nun versucht
diese Empfänglichkeit künstlich zu beeinflussen, also gegen Krebs zu
immunisieren. Dies wurde mit Krebsmaterial von Ratten, fremden
Mäuserassen, mit durch Chloroform oder Hitze abgetötetem Krebs¬
material des gleichen Stammes vergeblich versucht. Erfolg versprach
allein die Vorbehandlung mit durch Hitze geschwächtem, aber nicht
völlig getötetem Krebsmaterial des gleichen Krebsstammes wie des
zur Nachimpfung benutzten. (Autoreferat.)
18. W. L ö w e n t h a 1 - Berlin : Untersuchungen über die
Karpfenpocke.
Die Karpfenpocke ist eine epitheliale Geschwulst und gleichzeitig
eine Infektionskrankheit; nicht nur hierdurch bildet sie eine Brücke
zwischen dem Karzinom und den Infektionskrankheiten, sondern vor
allem dadurch, dass auch die Karpfenpocke ähnlich wie das Karzinom
und wie einige Infektionskrankheiten unbekannter Aetiologie durch
das Vorkommen spezifischer Einschlüsse in Kern und Protoplasma
der Zellen ausgezeieünet ist. (Autoreferat.)
19. Karl Le win- Berlin: Ueber Versuche, durch Uebertragung
von menschlichem Krebsmaterial verirnpfbare Geschwülste bei Tieren
zu erzielen.
Im Anschluss an die schon veröffentlichten Untersuchungen
über die Entstehung übertragbarer Geschwülste bei Hunden nach
Ueberimpfung von menschlichem Ovarialkarzinom teilt Vortragender
einen neuen analogen Fall mit. Nach Ueberimpfung von menschlichem
Zervixkarzinom auf eine weisse Ratte trat nach wenigen Tagen eine
Granulationsgeschwulst auf, die sich durch 3 Generationen weiter
impfen liess, ohne dass eine bakterielle Ursache festgestellt wer¬
den konnte. Es muss also angenommen werden, dass solche durch
Krebsimpfung entstandene Granulationsgeschwülste sich biologisch
anders verhalten als andere durch chemische oder physiologische
Reizungen entstandene geschwulstartige Granulationen. (Autoreferat).
20. S t i c k e r - Berlin: Ueber endemisches Vorkommen des
Krebses.
In dem vom Vortragenden untersuchten Orte B. besteht seit
80 Jahren obligatorische ärztliche Totenschau und sorgfältig ge¬
führte Eamilienregister geben Aufschluss über die verwandtschaft¬
lichen und häuslichen Verhältnisse.
In B. ereigneten sich nun die ersten 10 Todesfälle an Krebs in der
Zeit von 1825 — 1865 bis auf 2 in 6 Häusern einer einzigen Strasse.
Im folgenden Jahrzehnt 4 neue Krebstodesfälle, davon 2 in dieser
Gasse; im nächsten Jahrzehnt 10, davon 7 in dieser Gasse. Im
Jahr 1895 werden schon 21 Krebstodesfälle in einer einzigen Gasse
gezählt gegenüber nur 8 im ganzen übrigen Ort, bis 1905 steigt die
Zahl auf 25 gegenüber 16 in den übrigen Strassen.
Die Familienregister zeigen, dass in 7 Familien 23 Krebstodesfälle
sich ergeben.
Die Uebertragbarkeit des Krebses ist keine Hypothese mehr.
Sie ist nicht nur bei Mäusen und Ratten, sondern auch bei Hunden er^
wiesen und die Experimente v. Bergmanns beim Menschen ge¬
winnen erhöhte Bedeutung. Die praktischen Folgerungen müssen
gezogen werden, die Verstreuung von Krebszellen ist möglichst zu
bekämpfen. (Mit Benutzung eines Autoreferates.)
21. P r i n z i n g - Ulm demonstriert ein Kartogramm des Gebiets
hoher Krebssterblichkeit im südlichen Deutschland und in den angren¬
zenden Teilen Oesterreichs und der Schweiz. Bei genauerer Unter¬
suchung ergibt sich, dass sich in den Bezirken mit hoher Krebs¬
sterblichkeit Orte mit vielen und wenigen Krebsfällen finden, dass
die hohe Krebssterblichkeit seit langer Zeit in diesen Gebieten ge¬
funden wird, dass daneben aber neue Krebsherde aufgetreten sind.
Die Häufung der Krebsfälle wird nur durch den Krebs des Magens
und der Speiseröhre bedingt, während der Krebs der weiblichen
Geschlechtsorgane in allen untersuchten Bezirken annähernd gleich
häufig ist. Mit dem Vorwiegen des Magenkrebses, dem die Männer
mehr ausgesetzt sind als die Frauen, hängt es zusammen, dass in dem
Gebiete hoher Krebssterblichkeit die Zahl der männlichen Krebsfälle
die der weiblichen häufig übertrifft. Ist der Krebs eine parasitäre
Erkrankung, was das wahrscheinlichste ist, so muss man annehmen,
dass der Krebs des Magens und der Krebs der weiblichen Geschlechts¬
organe durch verschiedenartige Parasiten bedingt werden, da die
beiden Krankheiten in der örtlichen Verteilung so grosse Unterschiede
zeigen. (Autorefeiat.)
22. George M e y e r - Berlin: Ueber die Versorgung Krebs¬
kranker.
Vortragender führt aus, wie schlecht zur Zeit noch für un¬
bemittelte inoperable Krebskranke gesorgt ist, und empfiehlt dringend
die Einrichtung eigener Anstalten zu diesem Zweck. Diese seien ent¬
weder selbständig zu gründen oder an die vorhandenen Siechenhäuser
anzugliedern. Ausserdem seien Fürsorgestellen für Krebskranke zu
errichten, wie deren eine bereits in Berlin bestehe. Dies sei möglich
9. Oktober 1906.
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ohne Beeinträchtigung der praktischen Aerzte und verspreche viel¬
fachen Nutzen sowohl den Kranken wie der Forschung.
23. Ledoux-Lebard - Paris wendet sich in warmen Worten
gegen den noch vielfach gegenüber den Bestrebungen der Krebsbe¬
kämpfung bestehenden indolenten Skeptizismus und empfiehlt mög¬
lichst Propaganda für die gute Sache zu machen.
24. Beclere - Paris spricht über die Röntgenbehandlung der
malignen Tumoren.
Er stellt drei Fundamentalsätze auf:
1. Jede lebende Zelle wird durch Röntgenstrahlen im Sinne der
Degeneration beeinflusst.
2. Es bestehen grosse Unterschiede in der Empfindlichkeit der
Zellen gegenüber den Strahlen.
3. Die Quantität der absorbierten Strahlen nimmt mit der tieferen
Lage der Gewebe schnell ab.
Vortragender geht dann ausführlich darauf ein, wie die Erfolge
und Misserfolge wesentlich durch verschiedene Bedingungen bestimmt
werden, nämlich:
1. Die Tiefe des Sitzes der Geschwulst.
2. Die Empfänglichkeit ihrer Zellen für die Strahlen.
3. Die Beteiligung der Lymphdriisen.
4. Die Schnelligkeit des Wachstums der Geschwulst.
Auf Vorschlag des Vorstandes wird beschlossen, Schritte zur
Bildung einer internationalen Vereinigung zur Bekämpfung der Krebs¬
krankheit zu tun.
Schlussworte der Herren v. Leyden und Czerny.
Am Nachmittage findet eine Demonstration der Herrn Geheim¬
rat Ehrlich unterstellten Institute statt.
78. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte
in Stuttgart, 16. bis 22. September 1906.
III.
Gesamtsitzung beider Hauptgruppen
am 20. September 1906.
Referent : Dr. F. Rosenfeldt - Stuttgart.
Als gemeinschaftliches Thema war Regeneration und Transplan¬
tation gewählt worden. In dieses Thema hatten sich drei Redner
geteilt. Prof. Korschelt - Marburg sprach über Regeneration
und Transplantation im Tierreich, Prof. Spemann-
Wiirzburg, ein geborener Stuttgarter, über embryonale Trans¬
plantation, als dritter sprach Prof. Garre - Breslau über
Transplantationen in der Chirurgie.
Herr Korschelt führte in seinem lVastündigem Vortrag
etwa folgendes aus:
Regeneration ist die Wiedererzeugung von verloren gegangenen
Teilen des Tierkörpers. Diese Regeneration ist natürlich bei allen
einzelligen Organismen eine einfache. Bei manchen Protozoen genügt
Vsuo des ganzen Körpers, um eine Regeneration zu ermöglichen. Beim
Stentor bedarf es 1/«4 des ganzen Organismus zur Wiederherstellung.
Einige auch höher organisierte Tiere haben die Fähigkeit, verloren
gegangene Teile zu ersetzen durch von andersartigen Körperpartien
gebildete Teile. Andere, z. B. Regen wiirmer können auf gewisse
äussere Reize hin freiwillig in einzelne Stücke zerfallen oder bei
Gefahr bestimmte Partien ihres Körpers abstossen, wie z. B. Blind¬
schleichen das Schwanzende. Diese abgestossenen Teile werden dann
durch Regeneration wieder ersetzt. Daraus geht hervor, dass die
Regeneration eine äusserst zweckmässige Anpassungserscheinung ist.
Nun können aber auch neue Organe und Gewebe entstehen, und
zwar von ganz andersartigen Organen und Geweben aus. Dabei
finden dann weitgehende Umgestaltungen, Reduktionen, Einschmel¬
zungen der vorhandenen Teile statt und erst daraufhin die Neubil¬
dungen.
Hierher gehört auch die aus der Pflanzenphysiologie bekannte
Tatsache der kompensatorischen Regulation. Verloren
gegangene Teile werden durch andere ersetzt, die schon vorhanden
sind, die aber für den neuen Zweck umgebildet werden müssen.
Ab und zu tritt diese Erscheinung auch bei Tieren j auf.
Noch eine zweite Tatsache fordert zum Ersatz verloren ge¬
gangener Teile bei Tieren und Pflanzen heraus. Das ist die Be¬
ziehung der Regeneration zur Polarität des Tierkörpers. Der Tier¬
körper wie die Pflanzen sind beide polar differenziert, d. h. die
Pflanze liefert am apikalen oder Sprosspol nur Sprosse, am basalen
oder Wurzelpol nur Wurzeln. Auch beim Tier gilt dieses Gesetz.
Aber auch hier keine Regel ohne Ausnahme. Bei der Pflanze gelingt
es experimentell, aus dem nach oben gekehrten Wurzelpol Sprosse
zu erzeugen und vice versa. Auch beim Tier gelingt es, Hetero-
morphosen, d. h. Köpfe am Hinterende, Schwänze am Vorderende
zu erzeugen.
Aber die experimentellen Versuche haben noch andere Resultate
gezeitigt. Seit Jahrhunderten hat man Versuche gemacht, die in der
Uebertragung und Vereinigung von Teilstücken einzelner Tiere be¬
standen. So vermag man z. B. durch Zusammenfügen zweier un¬
gefähr gleich grosser Teilstücke, etwa einer vorderen oder hinteren
Hälfte ein vollständiges lebensfähiges Tier zu bilden. Man hat dies
mit Amphibienlarven und Regenwürmern gemacht. Solche Vereini¬
gungen verheilen so gut, dass sie die Zusamensetzung aus mehreren
Teilstücken gar nicht mehr erkennen lassen.
Herr S p e m a n n - Würzburg führte aus:
Als embryonale Transplantation bezeichnete Born
die Verpflanzung von Keimteilen an andere Stellen desselben oder
eines anderen Organismus. In den 10 Jahren, die seit B.s grund¬
legender Arbeit verflossen sind, hat sich diese experimentelle Methode
als ein wertvolles Hilfsmittel der biologischen Forschung erwiesen,
durch welches wichtige und schwierige Probleme der Embryologie
und Physiologie ihrer Lösung nähergeführt wurden. In Fragen der
beschreibenden Embryologie, die in der Regel durch reine
Beobachtung zu lösen sind, kann das Experiment manchmal aus¬
helfend eintreten, wo jene spezifische Methode der beschreibenden
Wissenschaften versagt. So entziehen sich namentlich Lagever¬
änderungen, die Zellen oder Zellprodukte während der Entwicklung
im Organismus erfahren, nicht selten der direkten Beobachtung; man
kann dann nach Fertigstellung irgend eines Organs nicht genau
sagen, ob seine einzelnen Teile noch ungefähr die gleichen Lage¬
beziehungen aufweisen, wie die Anlagen, aus denen sie entstanden
sind, oder ob sich die mit den verschiedenen Entwicklungsfähigkeiten
begabten Zellen aus vielleicht weit voneinander entfernten Regionen
des Keims zum Aufbau des Organs zusammengefunden haben.
Mittelst der embryonalen Transplantation kann man hier manch¬
mal die Entscheidung bringen. Man trennt entweder die Hauptanlage
des betreffenden Organs und die vermutete Quelle der zuwandernden
Zellen voneinander und beobachtet dann eventuell den Ausfall be¬
stimmter Teile, etwa der Nerven. Oder aber man macht die Ein¬
wanderer dadurch kenntlich, dass man den Teil des Keims, in dem
man den Ursprung vermutet, durch den entsprechenden Teil einer
anderen Spezies ersetzt, die etwa durch andere Färbung oder sonstwie
verschieden ist.
So fügte H a r r i s o n Froschlarven aus der dunklen Vorderhälfte
und der hellen Hinterhälfte zweier nahe verwandter Arten zusammen
und fand, dass die Sinnesorgane der sogenannten Seitenlinie, die
vom Kopf bis zur Schwanzspitze reichen, als Strang, der jetzt durch
seine dunklere Färbung schon im Leben unterscheidbar ist, in das helle
Hinterende einwachsen.
Braus verpflanzte Gliedmassenanlagen von Amphibien an den
Kopf und fand, dass sie sich hier normal entwickeln, auch mit den
Nerven. Daraus schloss er, dass diese letzteren schon in der trans¬
plantierten Anlage enthalten waren und nicht vom Rumpf aus in sie
eingewachsen sind.
Leichtverständlich ist die Bedeutung der embryonalen 1 rans-
plantation für die Entwicklungsphysiologie. Wird ein bestimmter
Bezirk des Keims aus seiner normalen Umgebung in eine neue
gebracht, so muss sich aus der Natur der entstehenden Abnormi¬
täten ersehen lassen, ob und inwieweit die einzelnen Entwicklungs¬
prozesse abhängig oder unabhängig von einander verlaufen.
S p e m a n n und später Lewis haben so die Entwicklung der
Linse des Wirbeltierauges studiert. Ursprünglich entsteht das Wirbel¬
tierauge aus einer Wucherung der Epidermis an der Berührungsstelle
mit der vom Grosshirn auswachsenden Netzhautanlage.
Lewis hat nun diesen augenbildenden Hirnbezirk unter die
Bauchhaut transplantiert und gefunden, dass auch hier eine Linse
entsteht. In anderen Experimenten ersetzte L. den linsenbildenden
Hautbezirk durch ein Stück Bauchhaut, wieder mit dem Erfolg, dass
eine Linse entstand. Es hat also die vom Hirn kommende Netz¬
hautanlage die Fähigkeit, an irgend einer Stelle der Haut, die sie
berührt, die Bildung einer Linse zu veranlassen.
Spemanti selbst hat an jungen Froschlarven Versuche ge¬
macht, einen Situs viscerum inversus zu erzeugen. Er schnitt diesen
Larven ein Stück der Darmanlage aus und brachte es umgedreht
zur Einheilung. Interessant ist, dass dadurch auch das Herz invers
werden kann, obwohl seine Anlage durch den Eingriff in keiner
Weise direkt betroffen wurde.
In einer Reihe anderer Versuche hat Sp. an Froschlarven das
Organ des statischen Sinnes in seiner ersten Anlage herausgenommen
und umgekehrt wieder eingeheilt. Diese Larven zeigen beim Schwim¬
men „Reitbahn“bewegungen.
Es kann somit auch eine Aufgabe der embryonalen Transplan¬
tation sein, Veränderungen in den Lebenserscheinungen der Larven
oder erwachsener Tiere hervorzurufen, aus deren Natur Rückschlüsse
auf die Funktion der verlagerten Organe gezogen werden können.
Experimentell gelingt es auch, Tiere mit 2 Köpfen und 4 Augen,
einen Kopf mit 4 Augen zu erzielen.
Herr G arre - Breslau, der über Transplantation in der Chirurgie
sprach, führte aus:
Das Gebiet der Gewebsverpflanzung oder Gewebspfropfung war
ursprünglich nur auf die Haut beschränkt. Mit der Einführung und
Vervollkommnung der anti- und aseptischen Operationsmethode ist
die Methode auf Gewebe, ja auf Organe ausgedehnt worden. Man
kann heute jedes beliebige Gewebe, Teile von Organen, ja ganze
Organe teils von demselben Individuum, teils von einem anderen
stammend zur Einheilung bringen. Der Heilzweck ist aber erst er-
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reicht, wenn das transplantierte Gewebe auch zu funktionieren
vermag. *
Dazu sind nötig: 1. gute Ernährungsbedingungen. 2. Auch die
Grösse resp. Masse der Transplantation kommt in Betracht. 3. Das
transplantierte Gewebe muss lebensfähig und regenerationsfähig sein.
Hierfür sind die ersten 4 Tage nach der Operation ausschlaggebend.
4. Die Transplantation muss im Sinne einer strengen Asepsis vor
sich gehen. Antiseptika schädigen die Zellen. Eine Eiterung
ist fast gleichbedeutend mit einem Misserfolg.
Am besten gelingen Verpflanzung und Einheilung von Gewebs-
stticken derselben Person, in zweiter Linie unter Blutverwandten,
in dritter Linie unter derselben Gattung, also von Mensch auf Mensch,
Hund auf Hund etc. T h i e r s c h - Leipzig war einer der ersten, der
Transplantationen in grösserem Umfang vornahm. Wie sehr sich
die überpflanzten Teile dem Gesamtorganismus einfiigen, geht aus
einem Beispiel Thierschs hervor. Derselbe tauschte Hautstücke
zwischen einem Neger und einem Weissen aus. Nach einigen Mona¬
ten war beim Neger das eingepflanzte weisse Hautstück schwarz,
beim Weissen das schwarze Stück weiss geworden.
Die Hauttransplantation ist eine sehr einfache Methode. Die auf
eine frische, nicht mehr blutende Wundfläche aufgelegten Hautläpp¬
chen verkleben durch Blut- und Lymphgerinnsel auf dem neuen Mut¬
terboden und werden die ersten Tage durch ausgesickerte Lymphe
ernährt. Junges Bindegewebe, durchsetzt von Gefässsprossen,
wächst in die Lücken und Buchten des Läppchens hinein und schon
am 3. bis 4. Tage ist in dem neuen Gewebe die Blutzirkulation vor¬
handen.
Ebenso wie die äussere Haut, lässt sich auch die Schleimhaut
transplantieren. Am meisten machen die Ophthalmologen davon Ge¬
brauch.
Auch die Transplantation grosser Hautlappen gelingt dank der
aseptischen Wundbehandlung und der Krause sehen Methode leicht.
Die Hautdrüsen und die Haare bleiben erhalten, und mit der Zeit
wachsen auch von den Rändern her die Hautnerven als Träger der
Sensibilität hinein.
Auch Knorpel- und Knochenteile werden überpflanzt. So kann
man das untere Augenlid durch ein Stückchen des Ohrläppchens er¬
setzen. Auch gelingt es, auf verstümmelte Finger Zehen zur An¬
heilung zu bringen und so die Funktion zu verbessern.
Fettgewebe wird selten und nur zu kosmetischen Zwecken
transplantiert. So ist bei einer Sängerin die Wölbung einer ampu¬
tierten Brust durch eine transplantierte Fettgeschwulst erhalten
worden.
Sehnenstücke zu verpflanzen ist zwecklos; sie sind zu
ungenügend ernährt und werden durch Bindegewebe ersetzt.
Eine Muskelverpflanzung ist nur dann erfolgreich, wenn
die Blutversorgung, die Innervation keine Unterbrechung erleiden.
Dagegen fusst auf der Knochentransplantation heute ein wichtiges
Kapitel der konservativen Extremitätenchirurgie. So hat z. B.
v. Bergmann ein 12 cm langes Stück des Schienbeins durch ein
entsprechend grosses des Wadenbeines ersetzt und glatte Heilung er¬
zielt. Knochenstücke heilen überhaupt leicht ein. Wenn man sie mit
ihrem Periost verpflanzt, so wachsen sie sogar mit. Auch Pseud-
arthrosen sind durch Knochenverpfropfung heilbar.
Ein Schädeldeckenfragment kann man durch ein ausgemeisseltes
Stück des Schienbeins ersetzen.
Man hat jetzt auch gelernt einen Zahn zu implantieren, so dass
er festwächst.
Auch an die Verpflanzung von Organen entweder ganz oder teil¬
weise ist man mit gutem Erfolg gegangen. Bekannt sind die Trans¬
plantationsversuche der Schilddrüse, die ihre Triumphe feiert beim
Kretinismus jugendlicher Personen, besonders wenn man nach dem
Vorschläge von Payr die blutreiche Milz als Einpflanzungsstätte für
die Schilddrüse nimmt, deren für die psychische und physische Ent¬
wicklung des Individuums unentbehrliche Ausscheidungsprodukte
direkt durch die Lymph- resp. Blutgefässe aufgenommen werden.
So hat Payr im verflossenen Winter einem 4jährigen Kinde,
das ein Kretin war, ein Stück der Schilddrüse der Mutter in die
Milz verpflanzt und jetzt, nach % Jahren, beginnt das Kind sich geistig
zu entwickeln, lernt gehen und sprechen.
Um Drüsen mit äusserer Absonderung zu transplantieren, bedarf
es vor allem der Sorge für einen genügenden Blutzufluss und -ab-
fluss. Dazu bedarf es einer ausserordentlich guten Nahtmethode der
Blutgefässe, damit an den genähten Stellen kein Thrombus sich ent¬
wickelt. Es gelang nun G., Blutgefässe von nur U/4 mm Durchmesser
zusammenzunähen, ohne dass Gerinnung eintrat. Es gelang G. weiter,
Gefässstücke von einem Tier auf das Andere zu verpflanzen, sogar
wenn die Tiere seit lVä Stunden tot waren.
Fernerhin gelang es ihm, starkwandige Arterien mit dünnwandi¬
gen Venen zu vereinigen, so dass keine Hemmung der Blutzirkulation
eintrat.
Auch ganze Nieren hat G. verpflanzt. Zunächst nähte er die
Niere eines Hundes in den Hals desselben Tieres ein, vernähte die
A. renalis mit der A. carotis und die V. renalis mit der V. anonyma,
ohne dass eine Störung der Nierenfunktion eintrat. In einer zweiten
Versuchsreihe nähte er die Niere eines Hundes an die Stelle der ex-
stirpierten Niere eines anderen Hundes und verband die zu- und ab¬
leitenden Gefässe miteinander und den Harnleiter mit der Blase.
Auch hier sonderte die transplantierte Niere Harn ab.
Die praktische Bedeutung all dieser Versuche lässt sich heute
noch nicht ermessen. Doch werden die Versuche fortgesetzt.
Sitzung der medizinischen Hauptgruppe
am 21. September 1906, nachmittags 2 X> Uhr.
Die chemischen Korrelationen im tierischen Organismus.
Als erster Redner sprach Herr S t a r 1 i n g - London, einer der
hervorragendsten englischen Vertreter der englischen biologischen
Wissenschaft.
Organisches Leben, so führte er aus, ist nur möglich, wenn
alle 'Feile eines Organismus Zusammenwirken. Wenn irgend ein Teil
verloren geht, so muss der Verlust, wenn es zu keinem Schaden
für den Organismus kommen soll, gedeckt werden. Gedeckt wird er
aber durch die Bildung chemischer Substanzen, die unseren Heil¬
mitteln ähnlich in ihrer Wirkung sind. Diese Stoffe üben einen ge¬
wissen Reiz auf die anderen Organe aus, zu denen sie in einem Ver¬
hältnis der chemischen Korrelation stehen. Deswegen nennt sie
S t a r 1 i n g „Hormon e“. Hierher gehört z. B. die COs-Spannung
des Blutes, die den Atmungsprozess und dadurch die Muskeltätigkeit
bedingt. Hierher gehört ferner die Steigerung der Sekretion der
Leber und des Pankreas, wenn man gewisse Reizstoffe in das Duo¬
denum einführt.
Am deutlichsten tritt diese Tätigkeit der Hormone bei den
Wechselbeziehungen zwischen Brustdrüse und Geschlechtsorganen
zutage. So beginnen die Brustdrüsen zu wachsen mit der beginnen- .
den Funktion der Ovarien. Entfernt man die Ovarien, so hört das
Wachstum der Mammae auf.
Ein weiteres Wachstum der Mammae tritt ein mit dem Eintritt
der Gravidität. Es beginnt allmählich die Kolostrumabsonderung. Mit
der Ausstossung der Frucht hört das Wachstum der Mammae auf. Es
beginnt die Milchabsonderung. Der Reiz, der dies alles bewirkt, geht
wohl von dem Fötus selbst aus, nicht von der Plazenta und nicht von
den Chorionzotten. Injizierte man weiblichen Kaninchen Embryonen¬
extrakt, so stellte sich Wachstum der Brüste, in einem Falle sogar
Milchabsonderung ein.
Mit einem Ausblick auf den Zeitpunkt, wo die Aerzte im Besitz
vollständiger Kontrolle über die Funktionen unseres Organismus, die
Herrschaft über den menschlichen Körper wirklich antreten werden,
schloss der Redner seine interessanten Ausführungen.
Nach ihm sprach Herr v. K r e h I - Strassburg:
Das Zusammenwirken der Funktionen der einzelnen Organe fin¬
det nicht allein durch die Vermittlung der Nerven, sondern auch
durch chemische Stoffe statt. Diese Beziehung kommt besonders für
den auf chemischem Wege sich vollziehenden Auf- und Abbau der
Gewebsbestandteile in Betracht. Die Fragestellung lautet nach der
Beeinflussung der Funktion von Organen durch chemische Substan¬
zen, die von anderen Organen gebildet werden. Unsere Methoden
zur Bearbeitung dieser Frage sind das Tierexperiment und die Be¬
obachtung am Krankenbett. Doch muss man bei der letzteren sehr
scharfe Kritik üben.
Denn bei einer Organerkrankung fällt dies Organ nicht ganz aus,
jedenfalls nicht auf einmal. Dann kann ein Teil des ausfallenden Or¬
gans in seiner Wirkung kompensiert werden durch Reizung des er¬
krankten Organs.
Am meisten studiert ist der Ausfall der Geschlechtsdrüsen. Je
länger sie bestanden haben, desto weniger Schaden vermag der Aus¬
fall anzurichten.
Die schon unter physiologischen Bedingungen während der
Periode auftretenden Veränderungen des körperlichen und geistigen
Lebens sind auf chemische Wirkungen, die von den Geschlechtsdrüsen
ausgehen, zu beziehen.
Für die Eklampsie scheinen solche von dem Kinde oder der Pla¬
zenta ausgehenden Gifte eine Rolle zu spielen, deren Wirkung sich
wie eine Fermentintoxikation äussert.
Wenn man einem gesunden Individuum Schilddrüsen¬
substanz in übermässiger Menge darreicht, so entwickeln sich Puls¬
beschleunigung, Zunahme der Schweissekretion, auffallende Auf¬
geregtheit, alles Symptome, denen wir beim Morbus Basedowii auch
begegnen, den man deshalb mit Recht als Ausdruck einer quantitativen
Vermehrung des Schilddrüsensekretes angesehen hat.
Dagegen hängt die Tetanie wohl mit einer Erkrankung resp.
einem Ausfall der Nebenschilddrüsen zusammen. Mit der
Schilddrüse hat sie sicher nichts zu tun.
Redner bespricht nun die blutdrucksteigernde Wirkung der
Nebenniere, auf deren Einfluss vielleicht der ständige Tonus der Ge¬
fässe zurückzuführen sei. Der Morbus Addisonii, den man früher
als Ausdruck der Erkrankung der ganzen Nebenniere ansah, wird
heute zurückgeführt auf die Erkrankung des chrorn affinen
Systems der Nebenniere.
Redner streift die Beziehungen der Hypophysis zur Akromegalie.
Alle diese Drüsen haben aber auch Beziehungen zum Zuckerstoff¬
wechsel. Doch ist uns eine klare Einsicht in diese Verhältnisse noch
verwehrt.
Liegt die Deutung dieser Verhältnisse im Tierexperiment schon
schwierig genug, so sind sie beim Menschen wegen ihrer Variabilität
noch viel schwieriger zu erklären.
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2035
Denn man darf nicht ausser Acht lassen, dass jedes Individuum
seinen eigenen Zellaufbau und seinen eigenen intermediären Stoff¬
wechsel hat, die zwar im ganzen ähnlich, im einzelnen aber recht
verschiedenartig sein können.
Früher hat man all dies einfacher aufgefasst, nach der Art der
Glykogenbildung z. B., das, von der Leber produziert, als Energie¬
quelle den Muskeln zugeführt wird. Bei den obenerwähnten Drüsen
liegen die Verhältnisse viel verworrener. Aktivierungen, Hem¬
mungen, Sekretionen spielen daher eine grosse und oft gegensätzliche
Rolle. Hierher gehören die interessanten Versuche Cohnheims,
S t o c k 1 a s a s, B I u m e n t h a 1 s u. a. über die Glykolyse. Aber
ein definitiver Abschluss ist auch hier noch nicht erfolgt.
Alles in allem kann man sagen: Für eine Betrachtung vom
chemischen Standpunkt aus sind die zurzeit vorliegenden Resultate
und Tatsachen völlig unzureichend, da über die wirksamen chemi¬
schen Substanzen nur wenig bekannt ist. Andererseits ergibt sich
daraus, dass die Beziehungen der einzelnen Organe zueinander sehr
verwickelte sind. Der Arzt aber soll daraus den Schluss ziehen, bei
Erkrankungen eines einzelnen Organs vor allem den Allgemeinzustand
zu berücksichtigen.
Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Referent: Dr. R. G 1 i t s c h - Stuttgart.
Sitzung vom 18. September, vormittags 11 Uhr
Vorsitzender: Herr Hofmeier.
Herr V e i t --Halle a. S.: Tuberkulose und Schwangerschaft.
Die Auffassung der inneren Medizin, dass die tuberkulöse Frau
sich in der Schwangerschaft wohl fühlt und dass sie im Wochenbett
schnell zugrunde geht, trifft nicht zu. Wie V e i t schon in Cassel vor¬
geschlagen hat, ist das Wesentlichste bei der Beurteilung der tuber¬
kulösen Schwangeren die Kontrolle des Körpergewichts. Regel¬
mässige Gewichtszunahme kontraindiziert den künstlichen Abort,
ebenso eine regelmässige Abnahme, da hier nichts mehr zu ge¬
winnen ist. Bei Fieber allein ist die Einleitung des künstlichen Aborts
diskutabel. Die Tuberkulose an sich ist noch keine Indikation, son¬
deren die Reaktion des Körpers, und dies bezieht sich auch auf Fälle
von Kehlkopftuberkulose sowie von Erbrechen. In letzterem Falle
hat Veit kein einziges Mal Grund zur Einleitung des künstlichen
Aborts gefunden.
Diskussion: Herr Weinberg- Stuttgart hat mit Hilfe
der württembergischen Familienregister sowie der sächsischen Stati¬
stik gefunden, dass ein Einfluss der Tuberkulose auf die Sterblichkeit
im Wochenbett nicht existiert. Am 1. Tage des Wochenbetts starben
ebenso viele Frauen an Tuberkulose, wie an den 7 Tagen der 6. Woche
zusammen. Das Wochenbett kann also in den meisten Fällen nicht die
Ursache dieser Sterblichkeit sein, sondern es wird durch die häufige
vorzeitige Unterbrechung der Schwangerschaft übermässig mit
Todesfällen an Tuberkulose belastet.
Herr N e u - Heidelberg: Gewichtsbestimmungen allein können
nicht ausschlaggebend sein, die Beobachtung der Temperatur ist eben¬
falls sehr wichtig, besonders bei belasteter Anamnese. Temperaturen
von 37,7° im Rektum sind schon suspekt. Nur auf Grund streng indi¬
vidualisierender Beobachtung, womöglich unter Zuziehung eines
Internisten, dürfen therapeutische Beschlüsse gefasst werden.
Herr Everke Bochum: Massgebend ist auch die Gemüts¬
stimmung der tuberkulösen Schwangeren. Unter Umständen ist die
vaginale Sterilisierung angezeigt.
Herr W. F r e u n d - Strassburg teilt den Pessimismus der
inneren Mediziner hinsichtlich der Komplikation von Schwangerschaft
und Tuberkulose nicht. Bei Fortschreiten der Tuberkulose mit fort¬
schreitender Gravidität ist der Abort diskutabel, ist aber trotzdem
sehr gefährlich. Günstig liegen die Verhältnisse dagegen bei be¬
ginnender Kehlkopftuberkulose.
Herr K r ö n i g - Freiburg wünscht eine möglichst grosse
Kasuistik, hält aber den Pessimismus der Internisten doch für be¬
rechtigt. Eine Dame war 6 Jahre gesund, verheiratete sich dann mit
einem Arzt, konzipierte, und trotz künstlichen Aborts im 2. Monat
trat ein schweres Rezidiv auf.
Herr S c h ä f f e r - Heidelberg: Statistiken nützen wenig, die
eigenen Fälle sind am wichtigsten. Bei Erstgebärenden haben Aborte
meist sehr schlechte Prognose. Bei Mehrgebärenden mit progressiver
Verschlechterung in den einzelnen Graviditäten liegt die Sache anders.
Eine Frau aus gutem Mittelstand hatte 5 Kinder in 6 Jahren, 3 lebten,
waren aber kränklich, dabei trat eine progressive Verschlechterung
auf. Dann Abortus arteficialis, Besserung. Nach 4 Jahren ausge¬
tragene Schwangerschaft bei bester Gesundheit, hat selbst gestillt.
Frau und Kind jetzt ganz gesund.
Herr Pf a n n e n s t i e I - Giessen: Frauen mit schwerer Tuber¬
kulose werden durch den künstlichen Abortus oft vor ernsthafter Ver¬
schlimmerung bewahrt, mit dem Wägen kommt man oft zu spät. Zu
den Indikationen gehören ausser Fieber Hämoptoe, Larynx- und
Darmtuberkulose, ferner Komplikationen mit Vitium cordis.
Herr V e i t - Halle a. S. (Schlusswort): Nicht wegen der Tuber¬
kulose allein ist einzuschreiten, sondern wegen des Einflusses, den die
Schwangerschaft auf den tuberkulösen Prozess ausübt. Deswegen ist
die Gewichtsbestimmung ein wertvolles Mittel, um festzustellen, wie
es steht.
Herr E v e r k e - Bochum: Die Osteomalazie in Westfalen.
In 20 jähriger gynäkologischer Tätigkeit hatte E. 32 Fälle von
Osteomalazie, alle bis auf 2 in Bochum oder nächster Umgebung und
fast alle in guten Nahrungs- und Wohnungsverhältnissen. Dis
schwersten Formen zeigten 2 Frauen, eine mit zahlreichen Spontan¬
frakturen, die andere auf 20 kg abgemagert und nur 112 cm gross.
Durchgehends waren es Mehrgebärende mit zunehmender Osteo¬
malazie, alle waren absolut arbeitsunfähig, event. Geburten mussten
durch die schwersten Operationen beendet werden. E. hat in
15 Fällen im Anschluss an Sectio oder auch für sich die Kastration
ausgeführt und in allen Fällen, welche die Operation überstanden (11),
Heilung erzielt. In frischen, leichten Fällen mag eine Phosphor¬
therapie versucht werden.
Diskussion: Herr Peter Müller glaubt nicht, dass die
Heilung eine dauernde ist, da er immer nach 3, einmal nach 4 — 5, ein¬
mal nach 7 Jahren Rezidiv gesehen hat.
Herr Frank- Köln weist auf die Arbeit von Beaucamp hin,
wonach die Besserung nach Kastration auch nur eine Zeitlang anhält.
Herr K r ö n i g - Freiburg berichtet über einen Fall von Osteo¬
malazie in jugendlichem Alter mit Reimplantation der Ovarien. Es
trat erhebliche Besserung ein, solange die Menses ausblieben, mit
Wiedereintritt derselben wieder erhebliche Verschlechterung, dann
aber auf Phosphorlebertran deutliche und anhaltende Besserung.
Herr W. Freund- Strassburg spricht sich ebenfalls für konser¬
vative Behandlung aus. Er versuchte in einem Falle, nur das Corpus
luteum graviditatis zu entfernen; da dies nicht gelang, entfernte er
das betreffende Ovarium für sich mit bisher sehr befriedigendem Er¬
folge.
Herr Walcher - Stuttgart hat unter 20 Kastrierten bisher noch
keine Kenntnis von Rezidiven erworben. Das Ovarium ist kein regu¬
lierendes Organ für die Schwangerschaft; er hat dasselbe zweimal
während der Schwangerschaft exstirpiert. mit dem Erfolge, dass die
Beschwerden sofort aufhörten und die Frauen, auch nach normaler
Geburt gesund blieben.
Herr H o f m e i e r - Würzburg hat nach seinen reichen Er¬
fahrungen in Würzburg nach 16 — 17 Jahren nie ein Rezidiv in einem
Falle von Kastration oder Porro-Operation auftreten sehen. Unter¬
suchungen von Ho en icke haben in auffallender Weise Kompli¬
kationen mit Schilddrüsenerkrankungen ergeben.
Herr Peter Müller- Bern glaubt nicht an einen Zusammen¬
hang zwischen Kropf und Osteomalazie, da in Bern die Kröpfe ja sehr
häufig. Osteomalazien dagegen sehr selten Vorkommen.
Herr Everke (Schlusswort) erwähnt noch, dass osteomala¬
zische Mütter häufig rachitische Kinder gebären. Hinsichtlich der
Dauer der Heilung hat er solche in Verbindung mit Arbeitsfähigkeit
noch nach 16 Jahren konstatiert, viele nach 8 — 10 Jahren.
Abteilung für Kinderheilkunde.
Berichterstatter: L. Langstein - Berlin.
Mittwoch, den 19. September 1906.
Vorsitzender: Herr Czerny- Breslau.
Herr Oberndorfer - München : Herzhypertrophien im frühe¬
sten Kindesalter.
Mitteilung mehrerer Fälle hochgradiger Vergrösserung des Her¬
zens von Säuglingen. Während als auslösendes Moment der Ent¬
stehung der Hypertrophie bei einigen die Vergrösserung der Thymus
angenommen werden kann, ist die Genese der anderen Fälle in völliges
Dunkel gehüllt. Das Herzgewicht, das im ersten Jahre 24 — 40 g nor¬
mal beträgt, erreichte in den mitgeteilten Fällen das drei- bis vier¬
fache des normalen (60, 66, 108, 132). Die Kinder entwickelten sich
im allgemeinen normal. Die klinische Untersuchung ergab keine An¬
haltspunkte für kardiale Erkrankung. Der Tod trat meist plötzlich,
manchmal unter Krämpfen ein. Die Literatur kennt nur sehr wenige
ähnliche Fälle. Nicht ausgeschlossen ist, dass Alkoholismus der Eltern
für die Entstehung der Hypertrophie verantwortlich ist; möglich ist
auch, dass manche Fälle sogen, idiopathischer Herzhypertrophie, die
in höherem Alter konstatiert werden, in ihren ersten Anfängen auf das
frühere Kindesalter zurückdatieren.
In der Diskussion bedauert Heubner - Berlin den Mangel
der pathogenetischen Anschauungen. Falkenheim - Königsberg
fragt nach den Ernährungsverhältnissen in den beschriebenen Fällen;
B e r n h e i m - Zürich betont die Notwendigkeit der Herzwägungen in
diesen Fällen nach der Methode K r e h 1 (M ü 1 1 e r). Czerny fragt
nach der Entwicklung der Skelettmuskulatur, da Relationen zwischen
dieser und der Herzmuskulatur bestehen. Schlusswort: Obern¬
dorfer sah niemals stark entwickelte Skelettmuskulaturen.
Herr Holz- Stuttgart: Zur Rachitis beim Hunde, Hasen und Reh.
Verfasser bespricht Präparate von beim Hunde aufgetretener
Rachitis, Skelettveränderungen beim Kaninchen, Feldhasen und Reh,
die der menschlichen Rachitis entsprechen, abgesehen davon, dass das
Vorkommen der kalklosen Substanz auf die Epiphysengegend be¬
schränkt ist.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
>036
Herr D r ä s e k e - Hamburg: Kenntnis der Rachitis.
Er hat anatomische Veränderungen im Rückenmark bei Rachiti-
kern gefunden, die er für die Aetiologie verantwortlich macht.
Diskussion: Herren T h i e m i c h - Breslau und Czerny
halten die Methodik für nicht einwandfrei.
Herr Uffenheimer - München : Die Knötchenlunge.
Vortragender verbreitet sich unter Demonstration zahlreicher
Präparate über das Wesen der von ihm erstmals in seiner Habili¬
tationsschrift beschriebenen Knötchenlunge. Er schildert neue Ver¬
suche, die er diesmal im Gegensatz zu den älteren, mit 1 uberkel-
bazillen vom Typus humanus angestellten mit Tuberkelbazillen eines
sehr stark virulenten Bovinusstammes vorgenommen hat und be¬
spricht ausserdem eine grosse Reihe von Kontrollversuchen. Die ver-
impften Processusdrüsen eines der Bovinustiere verursachten eine echte
Tuberkulose beim Impftier, im übrigen trat auch bei der Bovinusreihe
regelmässig wieder die Knötchenlunge auf. Nach Beschreibung ge¬
wisser mikroskopischer Details, wobei längere Zeit bei eigenartigen
eosinophilen Prozessen in den Knötchenlungen verweilt wird, kommt
Vortragender zu folgenden Schlussfolgerungen auf Grund seines neuen
Materials *
1. Die Bildung der Knötchenlunge kann durch Einbringung der
verschiedensten organischen Stoffe in den Meerschweinchenkörpei
ausgelöst werden. Auch nach Impfung mit normaler Körpersubstanz
neugeborener Tiere zeigt sich nach längerer Zeit diese Erscheinung.
2. Die Ueberimpfung von Blut und Drüsen vor kurzem mit 1 uberkel-
bazillen gefütterter Meerschweinchen auf neue Meerschweinchen löst
nicht nur mit grosser Regelmässigkeit die Knötchenlunge bei diesen
Tieren aus, sondern führt zugleich im Organismus derselben zu
Immunisierungsvorgängen gegen den Tuberkelbazillus, welche ex¬
perimentell erwiesen werden können. Ein kausales Abhängigkeits¬
verhältnis der Immunisierungsvorgänge von der Bildung der Knöt¬
chenlunge ist bis jetzt noch nicht erwiesen. Möglicherweise sind die
Knötchenbildung in der Lunge und die Immunisierung gegen den Tu¬
berkelbazillus als koordinierte biologische Vorgänge aufzufassen.
3. Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach die Möglichkeit gegeben, dass
schnell nach der Fütterung der jungen Meerschweinchen mit dem
Tuberkelbazillus einige wenige Keime in den verschiedensten Drüsen,
eventuell in das Blut und die Organe übergehen können. Dies muss
aber noch keine Erkrankung des Körpers an der 1 uberkulose zui
Folge haben, weil die einzelne Drüse etc. noch immer durch ihre
Fähigkeit der abschwächenden Wirkung wenige eingedrungene Tu¬
berkelbazillen völlig unschädlich machen kann.
Herr H e u b n e r - Berlin : Ueber Pylorospasmus.
Er beobachtete über 49 Fälle unter 10 000, also 0,5 Proz. Von
21 Fällen endigten zwei — in derselben Familie — letal. 18 Fälle
blieben mit Sicherheit jahrelang am Leben. In bezug auf das Ge¬
schlecht und das Alter, in denen das Symptom des Brechens auftrat,
stimmen die persönlichen Erfahrungen mit den schon bekannt ge¬
gebenen überein. Bezüglich des Chemismus der Verdauung ergaben
sich keine Besonderheiten. Heubner steht nicht auf dem Stand¬
punkt, dass es sich um eine organische Erkrankung, um Neubildung
oder Missbildung handelt. Eine Wucherung des Bindegewebes sei in
keinem Falle überzeugend bewiesen. Auch die Untersuchungen
Wernstedts sprechen im Sinne Heubners für eine funktio¬
nelle Neurose des Magens. Das einzig Pathologisch-Anatomische, was
die Mägen darbieten, ist die Muskelhypertrophie, die sich nicht nur
auf den Pylorus, sondern auch auf den gesamten Fundusteil erstreckt.
Heubner vertritt die Auffassung, dass die primäre Störung der
Krampf der Magenmuskulatur ist, der höchstwahrscheinlich von Ge¬
burt an besteht. Ein Beweis für die kongenitale Natur liegt in der
Familiendisposition zur Erkrankung. Bezüglich der Pathogenese ver¬
weist Heubner auf Zustände im Bereich der willkürlichen Mus¬
kulatur, in der auch angeborene, rückgangfähige, rein spastische
Erscheinungen Vorkommen. Ein nicht geringer Prozentsatz des Ma¬
terials bot Zeichen hereditärer Belastung. Als oberstes Prinzip in
der Behandlung des Leidens stellt Heubne r die Schonung des
Magens hin; deshalb sieht er von Ausspülungen ab und lässt das Kind
in grossen Pausen nähren, trinken und auch brechen, soviel es will.
Am besten ist die Ernährung an der Mutterbrust oder Amme; ferner
empfiehlt sich die lokale Applikation warmer Breiumschläge. Be¬
züglich der Operation empfiehlt Heubner als Termin den dritten
Monat zu wählen. Was die späteren Schicksale der Kinder anlangt,
so erfreuten sich viele eines ungestörten Befindens, einige boten
nervöse Störungen dar.
ln der Diskussion betont Ibrahim- Heidelberg, dass der
Beweis für die sekundäre Hypertrophie durch Spasmus nicht erbracht
sei. Er bezweifelt, dass histologische Untersuchungen der Zellkerne
weitere Erkenntnis bringen und verspricht sich mehr vom Studium
des reflektorischen Pylorusschlusses. Vielleicht liegt der Anomalie
eine solche der mesenterialen Aufhängebänder zugrunde. Mit Rück¬
sicht auf die Entstehung von Säuren aus Fett im Magen schlägt er
vor, entfettete Milch zu geben, da die Säurewirkung auf den Py-
lorusschluss erwiesen sei. S i e g e r t glaubt nicht an eine ange¬
borene Hypertrophie, sondern an funktionellen Spasmus. Fr betont,
dass sich in manchen Fällen gelabte Kuhmilch gut bewähre, was
er mechanisch und durch Säurebindung erklärt. Franke- Ham¬
burg glaubt aus einem Fall schliessen zu dürfen, dass fettarme
Milch das Leiden verschlimmere. F e e r - Basel teilt eine interes¬
sante Beobachtung mit, in der ein Ulcus eingetreten war. Der Py¬
lorus war auf der rechten Fossa iliaca, die Magenmuskulatur stark
verdickt. Rosenhaupt - Düsseldorf glaubt auch an die Schädlich¬
keit zu geringen Fettgehaltes der Milch. Er spricht sich gegen die
Verabreichung grosser Nahrungsmengen aus. Rommel- München
teilt die funktionelle Auffassung und befürwortet die Atropindar¬
reichung. P f a u n d 1 e r - München betont, dass es in bezug auf die
spastische und auch Missbildungstheorie Unitarier gäbe. Er stehe
auf dem Standpunkte des Dualismus. Als Stütze der organischen Auf¬
fassung betont er den oft erbrachten Zusammenhang mit Missbildungen
an anderen Organen, Versprengungen von Brunnerschen Drüsen etc.
Es gibt kontrahierte Mägen, die das besprochene Bild imitieren.
Das ist aber nur eine Massenverschiebung, während es sich bei der
kongenitalen Stenose um Massenzunahme handelt. Auch das ver¬
schiedene Verhalten gegen die Einführung von Wasser unter Druck
bespricht Pfaundler; ferner teilt er mit, dass der von Finkel-
stein beobachtete Pylorusturnor oft nicht dort liegt, wo sonst der
Pylorus. Pfaundler ist bei den spastischen Fällen von der glän¬
zenden Wirkung der Magenspülung überzeugt, die mit kaltem
Wasser ausgeführt werden und erschlaffend wirken soll. Heubner
(Schlusswort) betont nochmals, dass die W e r n s t e d t sehen Unter¬
suchungen für seine Auffassung sprechen. Er leugnet nicht die
Möglichkeit des Vorkommens organischer Stenosen, aber diese seien
etwas anderes. Er perhorresziert die Magenspülung und warnt vor
Ammenwechsel oder Uebergang zu künstlicher Ernährung. Czerny
hält die Frage der Pathogenese noch nicht für gelöst.
Herr T h i e m i c h - Breslau: Ueber die Entwicklung eklamp-
tischer Säuglinge in der späteren Kindheit. Thiemich spricht
von jenen Krämpfen, jener Eklampsie, die auf dem Boden der elek¬
trischen Uebererregbarkeit entsteht. Er hat 53 Kinder, die seiner¬
zeit an dieser Affektion litten, dauernd beobachtet. Von diesen
sind 33 schulpflichtig (7 — 9 Jahre alt), eins ist 12 Jahre alt. Epi¬
leptisch ist gegenwärtig keins. 18 Kinder sind intellektuell normal,
21 schwach begabt, bei ld Kindern lässt sich nichts aussagen. Von
den 20 nicht schulpflichtigen sind 40 Proz. schwach begabt. Unter den
nicht schulpflichtigen Kindern sind solche mit stark verlangsamter
Sprachentwicklung. Ausser den intellektuellen Defekten bestehen
neuropathische Störungen, Pavor nocturnus, Wutkrämpfe, choreiforme
Bewegungen, Enuresis. Stottern, triebartiges Weglaufen, Pseudo¬
logia phantastica. Frei von den geschilderten Störungen ist ein
Drittel des Materials, unter dem sich eine grosse Anzahl einziger
Kinder befindet, weswegen die guten Leistungen nicht zu binden¬
den Schlüssen berechtigen. In bezug auf Heredität spielen Epi¬
lepsie, Tuberkulose, Alkoholismus, Schwachbegabung keine Rolle.
Sowohl Eklampsie als defekte Weiterentwicklung sind Folgen einer
kongenitalen, resp. hereditären Minderwertigkeit.
Die vorgetragenen Untersuchungen hat Thiemich mit Unter¬
stützung von Birk- Breslau ausgeführt.
In der Diskussion betont Es eher ich den Wert der
Methode der vorgetragenen Untersuchungen, doch kann er sich
nicht auf den Standpunkt stellen, der den Begriff der Eklampsie
in dem der spasmophilen Diathese aufgehen lässt. Es ist eine Fragte,
ob wir berechtigt sind, eine verschiedene Pathogenese anzunehmen.
Escherich denkt an eine gemeinschaftliche Pathogenese, vielleicht
eine funktionelle Störung der Epithelkörperchen. Heubner schliesst
sich dieser Auffassung Escherich s nicht an, betont allerdings,
dass nicht alle Krämpfe, die in jener Zeit auftreten, ihre Grundlage
in der spasmophilen Diathese haben müssen. Er schlägt vor, bei
dem Namen Spasmophilie zu bleiben. Escherich betont, dass
er nicht von gemeinsamer Aetiologie, sondern nur von gemeinsamer
Pathogenese gesprochen habe. Finkeistein meint, dass Spasmo¬
philie am besten den Konstitutionszustand bezeichnet. Er berichtet
von seinen Dauerbeobachtungen, die denen T h i e m i c h s ähnlich
sind, insbesondere hat er viel Spasmophilien bei älteren Kindern
gesehen. Degenkolb - Roda betont auf Grund seines Materials
den Zusammenhang zwischen Epilepsie und Eklampsie. T h i e m i c h-
Breslau sagt im Schlusswort, dass gerade die galvanischen Unter¬
suchungen, wie die Breslauer Schule gezeigt hat. ein feines Rea¬
gens für jene von ihm besprochene Störung abgibt. Er akzeptiert
den Namen der Spasmophilie, um einen fruchtlosen Wortstreit zu
entgehen. Dieser Begriff deckt sich aber jedenfalls mit dem
Escherich s, dem Begriff des tetanischen Zustandes. Bezüglich
der Epilepsie verweist Thiemich auf die widersprechenden An¬
gaben der Literatur.
Herr v. P i r q u e t - Wien: Galvanische Untersuchungen an
Säuglingen. Nur bei starker Erhöhung der Erregbarkeit ist die
K. Oe. Z. unter 5 M. A. erreichbar; für leichte Uebererregbarkeit
ist die A. Oe. Z. wertvoller, welche beim normalen Säugling eben¬
falls über der Schwelle von 5 M. A. liegt. Bei fortlaufenden Unter¬
suchungen anscheinend gesunder Kinder der Wiener Säuglingsabtei¬
lung Hessen sich bei einem Teil derselben Uebererregbarkeitserschei-
nungen und Erregbarkeitsschwankungen nachweisen. In einem Fall
entstand im Verlaufe der Untersuchungen ein typischer tetanoider
Zustand. Eine genaue Analyse der Syndrome lässt noch am ehesten
den Einfluss respiratorischer Noxen vermuten. Der Uebergang von
Brust- auf Kuhmilch bewirkte in keinem der untersuchten Fälle eine
9. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
deutliche Erhöhung der Erregbarkeit; ein Einfluss der Nahrung konnte
nur einmal konstatiert werden, als Aussetzen der Kuhmilch von einer
vorübergehenden Herabsetzung der Erregbarkeit gefolgt war. Dar¬
reichung selbst grosser Mengen von Kalzium bewirkte keine Ver¬
änderung.
In der Diskussion bemerkt Finkeistein - Berlin, dass es
zum Zustandekommen des Phänomens der elektrischen Uebererreg-
barkeit notwendig sei, dass primär irgend eine Allgemeinstörung
des Organismus bestehe. Erst infolge dieser kommt der Einfluss
der Ernährung auf die Erregbarkeit zustande. Was diesen Faktor
betrifft, so ist er wechselnd. Die Verhältnisse liegen oft ungeheuer
kompliziert, so dass nur aus einem grossen Material Schlüsse gezogen
werden können. Ziehen wir dann ein Durchschnittsergebnis, so
spricht es im Sinne der Breslauer Schule, dass unter natürlicher Er¬
nährung andere Verhältnisse herrschen als unter Kuhmilchernährung
bei kranken Kindern. Ueber die Bedeutung des Lebertrans muss
er nach einer grossen Reihe von Versuchen sagen, dass, wenn man
Kinder mit roher Milch ernährt und ihnen Lebertran zuführt, fast
in allen Fällen binnen drei bis vier Wochen die elektrische Erreg¬
barkeit normal wird. Finkeistein sah nur zwei refraktäre Fälle
unter 60 bis 70.
Ini Schlusswort sagt Pirquet, dass ihm die Ergebnisse
seiner Versuche von Injektion mit Molke gegen deren Wirksamkeit
zu sprechen scheinen.
Rostocker Aerzteverein.
Ausserordentliche Sitzung am 3. August 1906.
Vorschläge und Beschlüsse der zur Beratung der Spezia¬
listenfrage niedergesetzten Kommission.
Herr Selcke erstattet zunächst Bericht über die Tätig¬
keit der Kommission, als deren Ergebnis folgende Beschlüsse
und Vorschläge vorliegen:
1. Der Begriff des Spezialisten ist nicht nur für die Kassen¬
praxis, sondern zugleich auch für die Privatpraxis festzulegen.
2. Spezialarzt ist nur der Arzt, der sich ausschliesslich mit
der Behandlung einer bestimmten Krankheitsgruppe beschäftigt.
Aerzte, welche allgemeine Praxis betreiben, dürfen sich
nicht Spezialärzte nennen.
Ankündigungen als Arzt für eine bestimmte Behandlungs¬
methode, als Naturarzt oder dergl. sind unzulässig, desgleichen
Spezialsprechstunden für bestimmte Fächer neben der allge¬
meinen Praxis.
Dieser Beschluss hat keine rückwirkende
Kraft auf bestehende Verhältnisse.
3. Diejenigen Aerzte, welche sich der Kasse gegenüber als
Spezialärzte bezeichnen, sind nur als solche von den Kassen¬
mitgliedern zu konsultieren und von den Aerzten anzuerkennen.
4. Diejenigen Aerzte, welche neben allgemeiner Praxis auch
Spezialpraxis betreiben, haben sich ein- für allemal zu ent¬
scheiden, ob sie sich an den Kassen mit freier Arztwahl als
praktische oder als Spezialärzte beteiligen wollen.
5. Es wird anerkannt, dass für die Spezialisten eine höhere
Honorierung, als sie die praktischen Aerzte erhalten, für die
Behandlung der Xassenkranken einzuführen sei. Nach Lage
der Sache muss diese Bezahlung vom Pauschale erfolgen.
6. Die Spezialärzte nehmen an der kassenärztlichen Praxis
nur in der Weise teil, dass sie die Kassenmitglieder, abgesehen
von eiligen Fällen, auf Ueberweisung durch die praktischen
Aerzte oder durch den Kassenvorstand behandeln. In letzterem
Falle muss eine Beratung durch einen praktischen Arzt vorher¬
gegangen sein.
7. Diejenigen Aerzte, welche neben ihrem Spezialfache all¬
gemeine Praxis betreiben, aber den Kassen mit freier Arztwahl
gegenüber sich als Spezialärzte erklärt haben, müssen von den
an jenen Kassen tätigen Aerzten als Spezialisten angesehen
werden.
8. Die Spezialisten erhalten für ihre Bemühungen an den
Kassen ein erhöhtes Honorar; die Kommission schlägt vor,
ihnen die Gutscheine doppelt zu bewerten.
Ueber diese Vorschläge fand eine eingehende Diskussion
statt, die sich auch noch über die Sitzung vom 8. September
erstreckte. Schliesslich wurden folgende Anträge angenommen:
Antrag Scheel-Selcke: Die Vorschläge sollen an die
Kommission zurückgehen und in 8 Wochen neue Vorschläge er¬
beten werden.
2037
Antrag Peters: Der Kommission soll aufgegeben werden,
bevor die Angelegenheit wieder an die Versammlung kommt,
mit denjenigen Herren, die neben ihrer Tätigkeit als praktischer
Arzt ein Spezialfach ausiiben, zu verhandeln.
Aus italienischen medizinischen Gesellschaften.
Akademie für Medizin und Naturwissenschaften zu Ferrara.
Aus der Sitzung vom 8. März 1906 erwähnen wir eine Mit¬
teilung von Cesa-Bianchi über Einpflanzung der Tuben oder
Fragmente der Tuben in die Ovarien. Dieselbe gelingt meist bei
erwachsenen Meerschweinchen und führt in ihrer weiteren Ent¬
wicklung zur Bildung von Zysten mit progressivem Charakter, welche
in kurzer Zeit beträchtliche Dimensionen erreichen. Diese Zysten
tragen nach Form, Verhalten, Auskleidungsepithel und Flüssigkeit den
Charakter einfacher Ovarienzysten.
Das Parenchym der Drüsen, in welchen sich diese Zysten ent¬
wickeln, reduziert sich immer mehr bis zum vollständigen Schwund.
In der gleichen Sitzung macht V a 1 e n t i Mitteilung über einen
bestimmten Mechanismus, der zum Zustandekommen des Erbrechens
nötig ist. Er will an Hunden und Katzen konstatiert haben, dass
nach Kokainisierung der obersten Partien des Oesophagus, vom Munde
bis zur Schilddrüse etwa, man durch keinerlei Brechmittel Erfolg er¬
reicht, weder durch solche, welche reflektorisch wirken, wie Tartarus
stibiatus, noch durch solche mit zentraler Wirkung wie Apomorphin.
Das Erbrechen erfolgt nicht, weil die Kardia in einen heftigen hyper¬
tonischen Zustand gerät und die Magenentleerung nicht gestattet.
Bemerkenswert ist, dass bei Apomorphinanwendung das ganze äussere
Bild des Vomitus unverändert auftritt, enorme Muskelanstrengung,
Erweiterung des Mundes, reichliche Schleimentleerung, aber nach we¬
nigen Minuten ist alles vorüber und das Tier zeigt sich normal.
Bei Tartarus stibiatus-Anwendung dagegen erfolgt drei Stunden lang
nichts: alsdann, wenn die Kokainanästhesie aufhört, erfolgt Erbrechen,
wie man es gewöhnlich bei den gleichen Dosen nach 10 bis 20 Minuten
erhält.
Auch Durchschneidung und Kokainisierung der hinteren Rücken¬
markswurzeln soll das Erbrechen verhindern.
Hager- Magdeburg.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
5. Hauptversammlung des deutschen Medizinalbeamtenvereins
in Stuttgart am 15. und 16. September 1906.
(Eigener Bericht.)
Die von etwa 70 Teilnehmern besuchte Versammlung wurde
vom Geh. Med.-Rat Rapmund,- Minden eröffnet. Als Geschenke
lagen auf der neueste Medizinalbericht von Württemberg, der medi¬
zinisch-statistische Jahresbericht über die Stadt Stuttgart im Jahre
1905, dann der für die Teilnehmer der Naturforscherversammlung
bestimmte Führer durch Stuttgart, gewidmet von der Stadtverwal¬
tung, und eine Beschreibung des Karlsbades Mergentheim. Nach den
einleitenden Worten des Vorsitzenden wurde die Versammlung vom
Präsidenten v. Nestlen als Vertreter des Kgl. Ministeriums des
Innern und des Kgl. Medizinalkollegiums und von Med. -Rat Dr.
Köstlin als Vertreter des Wiirttembergischen Medizinalbeamten¬
vereins begriisst. Der Jahresbericht ergab eine Zahl von 1583 Mit¬
gliedern und ein Vermögen von 546 Mk.
Sodann folgten die wissenschaftlichen Vorträge und Demon¬
strationen.
Herr Obermed.-Rat Scheurlen - Stuttgart spricht über die
Medizinalvisitationen der Gemeinden, ihre Durchführung, Ziele und
Erfolge auf Grund 30 jähriger Erfahrungen in Württemberg.
ln Württemberg reicht das System der Gemeindevisitationen
bis in das Jahr 1814 zurück. Damals wurden sie den Landvogteiärzten
(später Kreismedizinalräten) übertragen, der Turnus sollte 4 Jahre
dauern, nahm aber 8 in Anspruch.
Das jetzige System der oberamtsärztlichen Visitationen in
Württemberg beruht auf der am 2. Oktober 1875 erschienenen Mini-
sterialverordnung, die seither nur durch Bestimmungen über die Auf¬
sicht in den höheren Schulen, über Kost- und Haltekinder und das
Wohnungswesen erweitert wurde. Die Ergebnisse der Visitationen
sind für 1876 — 96 in den Medizinalberichten niedergelegt. Die Vi¬
sitationen des Jahres 1876 ergaben 2505 Rezesse, wovon 1167 Schulen
und 369 Begräbnisplätze betrafen. Die Rezesse wurden meist
erledigt, einige Male scheiterte die Erledigung an schlechten finan¬
ziellen Verhältnissen der Gemeinden. Die Folge der ersten Visitation
von allein 15 Schulneubauten, 6 Neuanlagen von Friedhöfen, 3 Neu¬
bauten von Armenhäusern und 5 Anlagen von Wasserleitungen,
viele weitere Verbesserungen kamen Neubauten ziemlich nahe. Die
grosse Zahl der Schulrezesse findet ihre Erklärung teils in ursprüng¬
lich zu grosser Sparsamkeit und starker Abnützung, teils darin,
dass kein Gegenstand der Visitation so zugänglich ist, wie die Schule.
Ein wesentlicher Erfolg ist die Herstellung zahlreicher zentraler
Wasserleitungen, teilweise, so namentlich auf der Alb, mit Staats-
£U«JC
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 41.
hilfe; von 1900 Gemeinden haben 1200 jetzt zentrale Wasserleitung.
Dabei bestand die Visitation der Brunnen meist nur in lokaler ln¬
spektion ohne chemische und bakteriologische Untersuchung. Noch
herrscht nicht überall die wünschenswerte Ordnung. Streuabtritte
und Versitzgruben sind zwar seltener geworden, aber doch entspricht
die Behandlung der Abfallstoffe nicht ihrem gesundheitsgefährlichen
Charakter, zum Teil wohl deshalb, weil der wirtschaftliche Vorteil
von Verbesserungen nicht so in die Augen fällt, wie bei der Wasser¬
versorgung. Ebenso kann auf dem Gebiet der Nahrungsmittel und
speziell Milchhygiene und auf dem der Wohnungshygiene noch
manches beser werden.
Endzweck der Medizinalvisitationen ist die Verminderung der
Sterblichkeit und der Krankheiten, sowie Hebung des Kräftezustandes
der Bevölkerung. Je mehr dieses Ziel durch eine bestimmte Mass-
regel gefördert werden kann, desto wichtiger ist diese. Die Visi¬
tation darf sich nicht bloss auf öffentliche Einrichtungen beschränken,
auch private müssen ihr unterliegen, wenn sie die Gesundheit der
Allgemeinheit wesentlich beeinflussen können. Mit Rücksicht auf
die Kosten sind die wichtigsten Massregeln zuerst durchzusetzen.
Im allgemeinen wird sich dabei der Kampf in erster Linie gegen
die Infektionskrankheiten richten müssen. Der Einfluss engen Ver¬
kehrs wird durch die Eamilienepidemien der Tuberkulose und die
Hausepidemien des Typhus illustriert; letztere verbreiten sich am
verhängnisvollsten durch der Allgemeinheit dienende Einrichtungen,
z. B. Trink- und Abwasserleitung. Es ist daher erste Aufgabe, den
Abstand von Mensch zu Mensch zu vergrössern und die allgemeinen
Gesundheitseinrichtungen günstig zu gestalten. Die Wohnungsauf¬
sicht ist durch Gesetz vom 21. Mai 1904 in Angriff genommen worden;
hier ist zunächst mit Belehrung und Erziehung vorzugehen. Um so
mehr ist das Augenmerk auf die Schule zu richten, auch deshalb,
weil die Jugend besonders empfänglich für Infektionskrankheiten ist.
Einen grossen Anteil an der Sterblichkeit hat die Kindersterblich¬
keit, die wieder abhängt von der Ernährung. Das Stillen der Mutter
ist weit mehr von moralischen als physischen Eaktoren abhängig;
daher muss der Medizinalbeamte Beziehungen zu den Personen
suchen, welche auf die moralische Verfassung der Mutter einwirken
können, d. h. die Geistlichen und Hebammen. Die Vorschläge des
Medizinalbeamten treten in Wirkung erst durch Verfügung des Ober¬
amtmanns, der von ihrer rechtlichen Grundlage überzeugt sein muss.
Daneben muss auch die sachliche Zweckmässigkeit plausibel gemacht
werden. Daher ist das Anwohnen des Oberamtmanns bei der Visi¬
tation notwendig. Im Fall von Differenzen muss das Recht der
Appellation dem Medizinalbeamten zustehen. Alle Auflagen werden
besser erledigt, wenn der Entschluss freiwillig ist und auf der Ein¬
sicht der Zweckmässigkeit beruht. Dazu dienen Besprechungen mit
den bürgerlichen Kollegien. Widerstand und Beschwerden kommen
nicht selten vor, ernstlicher Zwang ist nur selten nötig. Das Durch¬
fuhren «des Zwangs führt nicht immer zur Benützung verbesserter
Einrichtungen. Weit besser wirkt der Hinweis auf das Beispiel der
Nachbargemeinden. Vor allem müssen die Städte mit gutem Bei¬
spiel vorangehen. Der Erfolg der Auflagen kann auch durch die Ab¬
fassung der Auflagen, Verletzungen des Selbstverwaltungsrechts er¬
schwert werden. Nicht alle Wege der Krankheit lassen sich ver¬
stopfen. Unerwarteter Visitation ist Vornahme derselben bei Ge¬
legenheit von Epidemien vorzuziehen; man hüte sich dabei, die
Ursache allein in einem bestimmten Missstand zu suchen, sondern be¬
mühe sich, auch bei ausserordentlichen Visitationen sämtliche gesund¬
heitliche Einrichtungen auf eine höhere Stufe zu bringen.
Auf die Stellung des Oberamtsarztes hat die Medizinalvisitation
keineswegs den gefürchteten Einfluss gehabt. Ein Einfluss der Praxis
auf die Energie der Visitationen liess sich im ganzen nicht feststellen.
Das Ansehen der Oberamtsärzte wurde durch ihre Tätigkeit gehoben.
Diskussion: Rapmund'- Minden : In Preussen ist noch
die Einrichtung dazu gekommen, dass durch Erlass der Militärbehörde
überall wo Manöver stattfinden, zur Verhütung von Epidemien in
den Ouartieren und ihrer Uebertragung in die Garnisonen und Heimat¬
orte der nach dem Manöver zu entlassenden Mannschaften, ebenso
vor grösseren Truppenübungen, eine ausserordentliche Visitation
stattfinden muss, die fast alle Kreise betrifft.
Manchen Gemeinden passt die Entdeckung von Epidemien, weil
sie vor Einquartierung sichert. Das frühere Gesetz von 1835 über
ansteckende Krankheiten sah aber auch schon Ortsbesichtigungen
durch die Sanitätskommissionen vor, die auch ausserhalb der Epi¬
demien ständig eingerichtet werden könnten, und zwar in jeder Ort¬
schaft, während sie jetzt nur für Gemeinden mit mehr als 5000 Ein¬
wohnern obligatorisch sind, in kleineren Orten kann ihre Einrichtung
aber durch den Landrat nach Anhörung des Kreisartes verfügt werden.
Durch den Verkehr mit den Gesundheitskommissionen, mit denen der
Kreisarzt auch ausserhalb der Visitationen jährlich eine Sitzung ab¬
zuhalten hat, ist Belehrung der Gemeindemitglieder möglich.
Das Gebiet der Visitationen ist aber in Preussen viel zu gross,
so dass bei einer Besichtigung gar nicht alles erledigt werden kann.
Daher sind eine Reihe von Gegenständen besondern Kommissionen
zu überlassen und insbesondere die Schulen, namentlich in den Städten,
zu einer anderen Zeit zu visitieren. Es werden jetzt in Preussen
jährlich 3 mal mehr Wasserleitungen angelegt als früher. Das Ver¬
trauen zu dem Kreisarzt ist in Preussen gleichfalls gestiegen und er
wird jetzt häufig freiwillig konsultiert.
Med. -Rat B e c k e r - Offenburg: In Baden hat der bezirksärzt¬
lichen Visitation eine Voruntersuchung durch den Bezirkskontrolleur
voranzugehen, so dass der Bezirksarzt nur Stichproben zu jnachen
hat. Jährlich sind 2 Orte jedes Bezirks zu visitieren, wobei die¬
jenigen Orte bevorzugt werde/i, in denen besondere sanitäre Miss¬
stände bekannt wurden. Die Wirkung der Visitationen geht daraus
hervor, dass 36 von 43 Gemeinden seines früheren Bezirks jetzt
Wasserversorgung haben.
Bezirksarzt A n g e r e r - Weilheim: In .Bayern kommt der Be¬
zirksarzt in die einzelnen Gemeinden nur auf Requisition derselben,
sonst nur bei den Kreisvisitationen, die sich auf einen Termin von
5 Jahren erstrecken und sehr eingehend sind. Ueber den Zustand der
einzelnen Gemeinden berichtet ausserdem der Bezirksarzt in einem
jährlichen Bericht, insoweit er bei gelegentlichen Besuchen in ein¬
zelnen Gemeinden diesen kennen lernt.
Obermed.-Rat Scheurlen (Schlusswort): In Württemberg
entsendet die Militärbehörde einen Arzt in die Manövergelände, um
Orte mit Epidemien von der Einquartierung auszusondern. Von Ge¬
sundheitskommissionen befürchtet Scheurlen eine Verschleppung
der Erledigung von Missständen. Der direkte Verkehr des Physikus
mit den Gemeinden ist vorzuziehen. Spezialkommissionen für die
Schulgebäude sind nicht notwendig, solange nicht schulärztliche Visi¬
tation hinzukommen. Jede Gemeinde wird in Württemberg alle
6 Jahre visitiert. Die Auswahl einzelner Gemeinden ist nicht zweck¬
mässig, ebensowenig die Kontrolle durch den Baukontrolleur, der für
viele Teile der Visitation nicht sachverständig ist.
Dr. Marx, Assistent am Institut für Staatsarzneikunde in Berlin:
Die gerichtsärztliche Begutachtung der Testierfähigkeit.
Die Testierfähigkeit stellt nur einen Teil der Geschäftsfähigkeit
dar, dementsprechend kommt ihre Feststellung in den Fällen in Be¬
tracht, auf welche sich die §§ 1 04 und 105 des Biirgerl. Gesetzbuches
beziehen. Besonders schwierig ist die nachträgliche Feststellung des
Geisteszustandes eines Verstorbenen wegen der häufigen Mangel¬
haftigkeit und Unzuverlässigkeit des Materials. Der üerichtsarzt soll
nicht den Standpunkt einnehmen, als habe er lediglich die Frage nach
dem Bestehen einer Geisteskrankheit zu behandeln und dem Richter
die Entscheidung über die Geschäftsfähigkeit völlig zu überlassen.
Er muss ein Urteil als Psychiater abgeben, ob im Fall der speziellen
Handlung, also hier der Testamentserrichtung, Geschäftsfähigkeit
vorlag. Namentlich im Beginn von Geisteskrankheiten kann die Ge¬
schäftsfähigkeit erhalten sein. Es handelt sich also um die Frage, ob
bei der Testameutsabfassung die freie Willensbestimmung durch
Krankheit beeinflusst wurde.
Die Beurteilung des Geisteszustandes eines Verstorbenen ist des¬
halb doppelt schwer, weil sie sich auf einen bestimmten Zeitpunkt be¬
zieht. Beim eigenhändigen Testament fehlt es oft an Zeugen oder
sind diese in irgend einer Richtung voreingenommen. Angaben über
positive Beobachtungen sind im ganzen wertvoller als negative. Mit
dem Nachweis einer Geisteskrankheit ist nicht alles erreicht. Es muss
festgestellt werden, ob die Handlung, um die es sich handelt, eine
Konsequenz der Geisteskrankheit war. Im Gegensatz zum Strafrecht
müssen die unmittelbaren Beziehungen der Geisteskrankheit zur
Testamentsabfassung festgestellt werden.
Das Testament selbst bildet nach Form und Inhalt den eigent¬
lichen Mittelpunkt der Untersuchung. Nach der gerichtlichen Ver¬
nehmung der Zeugen soll es dem Gerichtsarzt ermöglicht werden,
alle Zeugen selbst zu befragen. Die endgültige Entscheidung sollte
nach einer mündlichen Hauptverhandlung stattfinden, in der der Ge¬
richtsarzt sein Gutachten mündlich vorträgt. Die ganze Lebens¬
geschichte ist zu rekonstruieren, das Verhältnis des Testators zu den
Bedachten und Enterbten. Art und Grad der Krankheit haben keines¬
wegs die grösste Wichtigkeit. Es gibt kaum eine Krankheit, die nicht
zu bestimmten Zeiten das Vorhandensein der Testierfähigkeit aus-
schliesst oder zulässt.
Wertvoll ist die Prüfung der Schrift. Dabei darf aber bei längerem
und in einem Tag geschriebenem Testament auf ein Nachlassen der
Deutlichkeit, auf Auslassungen und Wiederholungen und sonstige bei
Paralyse vorkommende Symptome nicht zu viel Wert gelegt werden.
Hier kann es sich ,um ein physiologisches Zeichen der Ermüdung
handeln.
Bizarre Form der Testamentsabfassung schliesst Geistesgesund¬
heit nicht aus. Vor allem ist das Verhältnis des Testamentsinhaltes
zur ganzen Persönlichkeit zu beachten. Der Einfluss Unberufener bei
der Testamentsabfassung ist zu berücksichtigen. Bald folgende
Selbstmorde ohne genügendes Motiv erleichtern das Urteil, ebenso
die Kenntnis des geistigen Lebens vom Testieren bis zum Tode. Zu¬
stände von Bewusstlosigkeit des Testierenden, epileptische Dämmer¬
zustände, Einfluss von Infektionskrankheiten sind festzustellen. In
zweifelhaften Fällen ist ein gemeinschaftliches Gutachten mehrerer
Sachverständiger wünschenswert. Empfehlen würde sich ferner ein
gesetzlicher Zwang, auffällige Testamentsbestimmungen schriftlich zu
begründen.
Diskussion: Med. -Rat K r e u s e r - Winnenden stimmt mit
dem Vortragenden in der Frage der freien Willensbestimmung überein
und hat Bedenken gegen richterliche Entscheidungen, die lediglich
vom Zweck des Testaments ausgehen.
9. Oktober 1906.
MtJENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Prof. C r a m e r - Göttingen: Zeugenaussagen vor dem Richter
sind fast gar nicht zu verwerten. Der Arzt ist zur Zeugenver¬
nehmung zuzuziehen. Die Zeugnisse der behandelnden Aerzte sollen
sich nicht mit der Diagnose begnügen, sondern sie begründen. Die
Hauptsache ist der Nachweis, dass die Handlung eines Kranken die
Konsequenz der Krankheit war. Das Reichsgericht hat entschieden,
dass die freie WilLensbestimmung unter allen Umständen aus¬
geschlossen ist, wenn die Intelligenz auf die Stufe eines unmündigen
(weniger als 7 jährigen Kindes) gesunken ist. Dies ist verhältnis¬
mässig leicht zu entscheiden. Sehr wichtig sind ärztliche Aufzeich¬
nungen, auch Tage- und Geschäftsbücher des Testators.
San. -Rat Dr. R o t h - Braunschweig: Bei Paranoikern ist die
freie Willensbestimmung ausgeschlossen, auch wenn ihre Intelligenz
nicht auf der Stufe unmündiger Kinder steht.
Bezirksarzt Dr. D i e t s c h - Hof demonstriert ein Prisma,
welches das Hämoglobinspektrum nachweist.
Priv.-Doz. Dr. Selter vom hygienischen Institut Bonn demon¬
striert Autan, ein Desinfektionsmittel, mit welchem Wohnungen ohne
Apparat desinfiziert werden können, das aber zu teuer ist.
An die wissenschaftlichen Verhandlungen reihte sich ein Besuch
des Stuttgarter Schwimmbades und ein Festmahl im Hotel Marquardt
an. Der folgende Tag war Ausflügen gewidmet.
Weinberg - Stuttgart.
Verschiedenes.
Therapeutische Notizen.
ln seiner Dissertation über 118 mit Murphyknopf be¬
handelte Fälle von Operationen an Magen und
Darm aus den Jahren 1899 — 1906 (Kgl. chir. Universitätsklinik zu
Kiel) kommt Heinrich Wildenrath zu dem Schluss, dass bei
Gastroenterostomie , als Palliativoperation des Magenkrebses die
Knopfmethode eine ideale ist, da sie sich mit erheblicher Zeitersparnis
und besonders bei kachektischen Personen ohne die Unzuträglichkeit
einer Narkose unter Lokalanästhesie mit gutem funktionellem Re¬
sultat ausführen lasse. Bei gutartigen Stenosen wird die Naht bevor¬
zugt. Bei der Dünndarmresektion ist der Murphyknopf zu empfehlen,
wenn es sich um einen in seiner Funktion wenig oder gar nicht ge¬
schädigten Darm handelt, und nur dann, wenn Zeitersparnis von Wert
ist, da man, auch wenn man scheinbar im Gesunden reseziert, an¬
scheinend der Regenerationsfähigkeit des Darmes leicht zu viel zu¬
mutet. Bei Dickdarmstenosen wird nach dem Vorgang der meisten
Autoren die Naht side-to-side, wo angängig, bevorzugt. (Dissertation,
Kiel 1906.) F. L.
Gustav Franz hat eine Reihe von gastro-enterostomierten
Fällen eingehend untersucht und bezeichnet in seiner Dissertation über
die Gastroenterostomie und ihren Einfluss auf die
motorischen und sekretorischen Funktionen des
Magens bei gutartiger Pylorusstenose die Resultate
ais entschieden günstige. Der Ernährungszustand und das allgemeine
Wohlbefinden bessern sich in allen Fällen ganz erheblich. Die Magen¬
erweiterung geht stets zurück. Ein gutartiger Einfluss auf die moto¬
rischen Verhältnisse ist unverkennbar, indem diese meist sofort,
manchmal erst nach längerer Zeit, bis zur Norm zurückkehren. Nur
selten bleibt dauernd eine gewisse motorische Insuffizienz bestehen.
Der Einfluss der Operation dagegen auf die Sekretion der Salzsäure
erscheint zweifelhaft. Wünschenwert ist es, dass mit der Operation
nicht zu lange gewartet wird. Aber auch in Fällen, wo die Verände¬
rungen der Magenwand, die Degeneration der muskulären Elemente
und des Drüsenapparates schon hohe Grade erreicht haben, kann der
Erfolg der Operation noch ein durchaus guter sein, wie mehrere der
vom Verfasser mitgeteilten Fälle zeigen. (Dissertation, Wiirzburg
1906.) . F. L.
Ueber die Wirkung des Orexins bei Salzsäure¬
mangel im Magen safte hat Georg Beyerhaus im Aufträge
von Prof. Penzoldt seine Dissertation geschrieben (Erlangen 1905).
Er berichtet zunächst über die bisherige therapeutische Anwendung
des von Penzoldt vor 16 Jahren in den Arzneischatz eingeführten
Mittels, das seiner chemischen Zusammensetzung nach Phenyl-
dihydrochinazolin ist und von Paal und Busch dargestellt wurde.
Nach der einführenden Arbeit P e n z o 1 d t s, der das Orexin als
brauchbares Stomachikum bei beginnender Lungentuberkulose, bei
anämischen und kachektischen Zuständen und in der Nachbehandlung
schwerer Krankheiten schätzen gelehrt hatte, folgten zahlreiche Ar¬
beiten für und wider das Präparat. Es würde den Rahmen eines Re¬
ferates in den „Therapeutischen Notizen“, überschreiten, darauf näher
(als der Verfasser es getan hat) einzugehen; nur soviel muss kon¬
statiert werden, dass sich das Mittel nicht den Eingang in den täg¬
lichen Gebrauch verschaffen konnte, den man nach den ersten Arbeiten
erwarten konnte. Sicher werden die günstigen Ergebnisse, über die
Beyerhans berichtet, Nachprüfung finden und es wäre zu hoffen,
dass besonders mit Rücksicht auf die günstige Wirkung des Orexin
auf die ganz oder teilweise darniederliegende Salzsäuresekretion, und
den Wert des Mittels zur Sicherung der Frühdiagnose des Magen¬
karzinoms derartige Nachprüfungen an weiterem klinischen Ma¬
terial vorgenommen würden, Fritz L o e b.
2039
Tagesgeschicntliche Notizen.
München, 9. Oktober 1906.
-i- Das bayerische Physikatsexamen bildet seit
einigen Jahren fortgesetzt in der Tagespresse wie in Fachblättern den
Gegenstand erregter Klagen seitens solcher Aerzte, die sich ihm zu
unterziehen hatten. Besonders heftig sind solche Klagen in diesem
Jahre laut geworden und ein beachtenswerter Beitrag zu der Frage
findet sich auch in der vorliegenden Nummer (S. 2020). Wenn man
diese und andere Aeusserungen über den Gegenstand liest, so wird
man ohne weiteres zugeben, dass eine Reihe von Uebelständen be¬
steht, die der Abhilfe bedürfen. Dass die Anfertigung der schrift¬
lichen Prüfungsaufgaben in die für den Arzt angestrengteste Zeit,
nämlich in die Winter- und Frühjahrsmonate fällt; dass den Kandidaten
erst beim Eintritt in die praktische Prüfung mitgeteilt wird, dass
sie die schriftliche Prüfung nicht bestanden haben und dass daher
die für die Vorbereitung für die späteren Abschnitte gebrachten
Opfer vergeblich waren; dass die mündliche Prüfung in einem durch¬
aus ungenügenden Lokal stattfindet: all dies und anderes sind Un¬
zuträglichkeiten, denen leicht abzuhelfen wäre und die baldigst be¬
seitigt werden sollten. 'Anderen Beschwerden wird freilich weniger
leicht abzuhelfen sein. Dass der in der Hauptstadt lebende Arzt vor
seinem Kollegen auf dem Lande bedeutend im Vorteil ist, liegt in der
Natur der Sache; ebensowenig lässt es sich vermeiden, dass beim Aus¬
fall eines Examens das Glück eine Rolle spielt. Ob die Fragen jedem
einzelnen durch das Los zugeteilt werden, oder ob ein und dieselbe
Frage an alle gerichtet wird, ist ganz ohne Belang. Glück hat der,
der auf die an ihn gestellte Frage zufällig gut vorbereitet ist; bei
einem anderen weniger Glücklichen kann dieselbe Frage, trotz bes¬
serer sonstiger Kenntnisse, eine Lücke berühren. Hier kann nur die
mündliche Prüfung einen Ausgleich schaffen, wo der Examinator
durch Anklopfen auf verschiedenen Gebieten sich selbständig ein
Urteil bilden kann. Und gerade die mündliche Prüfung wollen die Be¬
schwerdeführer abgeschafft wissen! Aber alle diese Punkte bilden *
nicht den Kern der vorgebrachten Klagen. Dieser ist vielmehr in dem
Umstande zu suchen, dass die im Physikatsexamen gestellten An¬
forderungen, besonders in den Fächern Hygiene und Psychiatrie, in
den letzten Jahren erhöht worden sind. Das Examen soll
zu schwer geworden sein! Es ist richtig, dass im Physikats¬
examen in neuerer Zeit höhere Anforderungen gestellt werden.
Das war aber auch dringend nötig. Wenn von 60 Kandidaten kaum
Einer zurückgewiesen wird, wie das früher die Regel war, so ver¬
fehlt das Examen seinen Zweck, dem Staate eine Anzahl ausgewählter,
für seine besonderen Bedürfnisse gründlich vorgebildeter Aerzte zur
Verfügung zu stellen. Ueberdies sind auch die Anforderungen, die
an den Amtsarzt gestellt werden, gegen früher ausserordentlich ge¬
wachsen. Wird doch gerade mit Rücksicht darauf mit Recht die
Besserstellung der Amtsärzte angestrebt. Es wäre ein Widerspruch,
auf der einen Seite für die Amtsärzte mit Rücksicht auf ihre grössere
Verantwortung und auf die vermehrten Leistungen, die von ihnen
verlangt werden, höheren Rang und Gehalt zu beanspruchen und
auf der anderen Seite die Anforderungen im Physikatsexamen herab¬
zusetzen. So sehr daher einer Revision der Prüfungsordnung zu¬
zustimmen ist, so sehr möchten wir davor warnen, diese im Sinne
einer Herabminderung des Niveaus der Prüfung vorzunehmen,
wiedergegeben seien, nicht einverstanden erklären können.
— Im Reichsamte des Innern werden gesetzgeberische Mass¬
nahmen vorbereitet zur Ausdehnung der Unfallversiche¬
rung auf Unfälle, welche sich im — bisher nicht versicherten —
öffentlichen Dienste ereignen. Es soll zunächst staatlichen und kom¬
munalen Polizei-, Grenz-, Vollziehungs- und anderen Beamten, welche
durch ihren Dienst besonderen Gefahren ausgesetzt sind, bei den aus
solchen Gefahren erwachsenden Unfällen Entschädigung gewährt
werden; es sollen aber auch Personen in die Versicherung ein¬
bezogen werden, welcher bei gemeiner Not und Gefahr, sei es auf
polizeiliche Aufforderung, sei es unter Umständen, die ein Eingreifen
ohne polizeiliche Aufforderung rechtfertigen, Hilfe leisten. Das Sächs.
Korr. -Bl. gibt dazu die beachtenswerte Anregung, dass Fürsorge
getroffen werde auch für diejenigen Aerzte, bezw. deren Familien,
welche im Dienste der Oeffentlichkeit, insbesondere bei Bekämpfung
ansteckender Krankheiten, Schaden genommen haben. Wir empfehlen
die Anregung dem Geschäftsausschuss des Aerztevereinsbundes.
— Ueber die gesperrte Kassenarztstelle in Pobershau (s. vor. No.)
schreibt der Leipziger Verband: „Pobershau zählt etwa 2200 Ein¬
wohner. Die Bevölkerung besteht fast ganz aus Fabrikarbeitern.
Der jetzige Arzt hat es trotz aller Anstrengungen im Verlaufe der
6 Jahre, während deren er in Pobershau ansässig ist, auf keine höhere
Einnahme als 3500 M. — früher noch weniger — bringen können.
Ausdehnungsfähig ist die Praxis nicht. Dass er dabei nicht bestehen
kann, liegt auf der Hand. Er verlangte daher von der Kasse ein
Honorar von 3 M. auf Kopf und Jahr, Sonderzahlung von Kilometer¬
gebühren von 0.50 M. bei Kranken, die mehr als 2 km von seiner
Wohnung entfernt wohnen, der geburtshilflichen Leistungen und des
verbrauchten Verbandmaterials. Diese Forderungen hat der Kassen¬
vorstand als „übermässig“ bezeichnet. Unter solchen Verhältnissen
zieht es der jetzige Arzt vor, Poberhau zu verlassen. Wir aber
möchten jedem Arzt dringend empfehlen, sich wohlweislich zu über¬
legen, ob er sein Nachfolger werden will.“
I to MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 41.
In der letzten Sitzung des Vereins z u r Bek ä m p f u n g
von Missbrauchen in Polikliniken in Berlin, dem
bereits über 250 praktizierende Berliner Aerzte angehören, wurde
beschlossen: „den dirigierenden Aerzten des städtischen Kranken¬
hauses Moabit, den Herren Qeh. Medizinalrat Dr. Renvers und
Geh. Medizinalrat Dr. Sonnenburg, den Dank des Vereins dafür
auszusprechen, dass, seit Eröffnung des Neubaues, die Polikliniken
des Krankenhauses, welche die benachbarten Aerzte wirtschaftlich
schwer schädigten, fortgefallen sind.“ Ferner wurde beschlossen:
„an die dirigierenden Aerzte des neuerbauten Virchow-Kranken-
hauses, die Herren Geh. Medizinalrat Dr. Goldscheider und
Prof. Dr. Hermes, die Bitte zu richten, im Interesse der gesamten
Aerzteschaft am Virchow-Krankenhaus keine Poliklinik zu errichten“.
— Dem Zentralkomitee für das Rettungswesen
in Preussen wurde auf der internationalen Ausstellung in Mailand
der Grand prix verliehen.
■ — Die in No. 18 d. W. erschienene Arbeit der Herren K 1 i e n e -
berger und Zöppritz-Königsberg: „Beiträge zur Frage der Bildung
spezifischer Leukotoxine im Blutserum als Folge der Röntgenbestrah¬
lung der Leukämie, der Pseudoleukämie und des Lymphosarkoms“
war in den Juli- und Augustheften der „Archives of the Röntgen Ray
and Allied Phenomena“ in gekürzter Uebersetzung wiedergegeben.
Die genannten Herren ersuchen uns, zu konstatieren, dass sie dieser
Uebersetzung völlig fernestehen und dass sie sich im einzelnen mit
der Art der Abfassung, insbesondere Formulierung des Titels und des
Abschlusses der Arbeit, in der Sätze des Originals aus dem Zu¬
sammenhang herausgetrennt und dadurch in ihrem Tenor entstellt
In diesen Tagen verlässt Prof. H. Krause nach 33 jähriger
Tätigkeit als Arzt und Lehrer Berlin für immer. Von seiten früherer
Assistenten und Schüler wird beabsichtigt, dem Scheidenden eine
Adresse, sowie eine Denkschrift zu widmen. Zuschriften, sowie
wissenschaftliche Beiträge werden erbeten an Dr. Fritz K o c h, Ber¬
lin W„ Alvenslebenstr. 4.
— Pest. Türkei. In Adalia sind in der Zeit vom 24. August
bis 15. September insgesamt 6 Personen an der Pest erkrankt und
3 davon gestorben. — Britisch-Ostindien. In Mo, ulmein sind vom
21. Juli bis 25. August 59 Personen an der Pest gestorben. In Kal¬
kutta starben in der Woche vom 19. bis 25. August 15 Personen an
der Pest. • — Japan. Vom 16. Juli bis einschl. 15. August sind in
Osaka 11, in Wakayama 42 neue Pestfälle festgestellt worden. —
Brasilien. In Rio de Janeiro sind vom 23. Juli bis 26. August an der
Pest 11 Personen erkrankt und 5 gestorben; in Campos waren vom
22. bis 27. August 3 weitere Pesttodesfälle vorgekommen.
— In der 38. Jahreswoche, vom 16. bis 22. September 1906,
hatten von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste
Sterblichkeit Oberhausen mit 39,1, die geringste Schöneberg mit
7,5 Todesfällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel
aller Gestorbenen starb an Scharlach in Königshütte, an Diphtherie
und Krupp in Worms. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Berlin. Am 1. Oktober siedelte die Universitätspoliklinik für
Haut- und Geschlechtskrankheiten in ihr neues Heim (Eingang
Luisenstrasse 2) über. Der stattliche, dicht neben der Klinik ge¬
legene Neubau besteht aus einem Kellergeschoss und 3 Stockwerken.
Im Keller sind getrennte Baderäume für Männer und Frauen vor¬
handen. Das Erdgeschoss enthält die poliklinischen Räume; Männer¬
und Frauenabteilung sind völlig getrennt und bestehen aus je einem
Wartezimmer und je 4 Behandlungsräumen, die zum Teil für Haut¬
kranke, zum Teil für Geschlechtskranke bestimmt sind, wozu noch ein
Operationszimmer für aseptische Eingriffe hinzukommt. Im 1. Stock¬
werk sind ausser den Zimmern für den Direktor, Oberarzt und die
Assistenten 1 grosses mikroskopisches, 1 bakteriologisches und
1 chemisches Laboratorium vorhanden. Im 2. Stock endlich befindet
sich das Universitätsinstitut für Lichtbehandlung/welches 2 Finsen-
räume, 1 Röntgenzimmer und Einrichtungen für Eisen- und Queck¬
silberlicht und Hochfrequenzströme etc. enthält. Neben der Poli¬
klinik ist ein Tierstall mit besonderen Vorrichtungen zur Haltung
von Affen errichtet worden. Die Poliklinik findet wie bisher werk¬
täglich von IOV2 — 12 Uhr unter Leitung des Direktors Geheimrat
L e s s e r und Oberarztes Prof. Hoffmann statt. — Geh. Med.-Rat
Prof. Dr. rned., leg., phil. Wilhelm Waldeyer, Ordinarius an der
Berliner Universität und Direktor des anatomischen Instituts, ord.
Mitglied und beständiger Sekretär der preussischen Akademie der
Wisseschaften, feierte am 6 .Oktober seinen 70. Geburtstag, (hc.)
D r e s d e n. Dr. Georg K e 1 1 i n g, Privatdozent an der tier¬
ärztlichen Hochschule, hat den Titel „Professor“ erhalten.
Düsseldorf. Die Professoren der neuen Akademie für prak¬
tische Medizin, Dr. W i t z e 1 aus Bonn, Dr. M. B. Schmidt aus
Strassburg und Dr. Wendelstadt aus Bonn, wurden am 1. d. M.
in ihr Amt als Abteilungsleiter der neuen Krankenanstalten zu Düssel¬
dorf eingeführt.
G ö 1 1 i n g e n. Der Privatdozent für Physiologie und erste Assi¬
stent bei Prof. V e r w o r n am physiologischen Institut der Uni¬
versität Göttingen, Prof. Dr. med. Heinrich Boruttau wurde zum
physiologisch-chemischen Assistenten am Krankenhaus Friedrichshain
in Berlin berufen, (hc.) — Der ordentliche Professor und Direktor des
pathologischen Institutes der Universität Göttingen, Dr. med. Max
Borst hat einen Ruf in gleicher Eigenschaft an die Würzburger
■ --
Verlag von J, F, Lehmann in München. — Druck von
Universität erhalten und angenommen. Er tritt dort an Stelle des
vom Lehramte zurückgetretenen Geh. -Rats Prof. Dr. v. Rind¬
fleisch.
.1 en a. Seinen 70. Geburtstag feierte am 1. ds. der Pharmakologe
Geh. Med. -Rat Dr. med. Moritz Seidel, ord. Honorarprofessor an
der Universität Jena, (hc.)
Marburg. Zu wissenschaftlichen Zwecken hat die Universität
Marburg bewilligt: Dem Privatdozenten für Augenheilkunde Dr. Wil¬
helm Kr au ss in Marburg 1000 M., dem Assistenzarzt der Heilstätte
München-Gladbach Dr. med. Grau 500 M. und dem Volontärarzt an
der Marburger Augenklinik Dr. T h a 1 e r 500 M. Ferner sind zu son¬
stigen Zwecken bewilligt worden: Dem Giessener Anatomieprofessor
Dr. H. Strahl 800 M. und je 200 M. dem Oberarzt Dr. Th eie¬
rn a n n, kommandiert zur chirurgischen Klinik in Marburg und dem
cand. med. Hans Prediger (aus Vlotho in Westfalen), (hc.)
Graz. An Stelle von Prof. Dr. M. Pfaundler, der
v. Rankes Lehrstuhl in München übernommen hat, wurde der
Privatdozent an der Prager deutschen Universität, Dr. med. Josef
Langer zum ausserordentlichen Professor der Kinderheilkunde an
der Universität Graz ernannt, (hc.)
(Todesfälle.)
Hofrat Professor Dr. Joseph Weinlechner, gewesener Chef
der III. chirurgischen Klinik und Primararzt im k. k. allgemeinen
Krankenhause in Wien, ist am 30. September 1. .1. auf einem Jagd¬
ausfluge plötzlich verschieden. Weinlechner, ein Schüler
Sch u h s, war ein tüchtiger Praktiker und hat auch zahlreiche Ar¬
beiten über Erkrankungen der Knochen und Gelenke — zumal des
Kindesalters — veröffentlicht. Er erreichte in voller Rüstigkeit das
hohe Alter von 77 Jahren.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Niederlassung. Dr. Eduard Eckel, appr. 1903, Dr. Feodor
Beck, appr. 1904, Dr. Franz Ru hw an dl, appr. 1902, sämmtliche
in München.
Verzogen. Dr. Morgenstern von München nach Tölz.
Dr. S t r i t z 1 von München nach Dorfen. Dr. Christian Herold von
Kronach nach Erlangen. Dr. Otto Reichel von Selb nach Kronach.
Gestorben: Dr. Josef Koller, Kgl. Bezirksarzt a. D. in
Pfarrkirchen, 63 Jahre alt.
Korrespondenz.
Während des Druckes dieser Nummer geht uns der folgende
Nachtrag zu zur Arbeit:
Beiträge zum Nachweis der Spirochaete pallida in syphilitischen
Produkten.
Von Dr. E. Ritter.
Während der Drucklegung dieser Mitteilung erschien in der
Berl. klin Wochenschr. No. 37 der Aufsatz von W. Schulze: Die
Silberspirochaete. Die durch diese neue Arbeit des F. Eilh. Schulze¬
schen Institutes besonders notwendig gemachten Kontrolluntersuchun-
gen habe ich ja bereits oben in Aussicht gestellt und sie sollen um
so eifriger fortgesetzt werden. Wie gesagt, war es mir bisher nicht
gelungen, an Kontrollobjekten mit der Silbermethode Spirochäten
nachzuweisen, wie sie Schulze in der normalen Nebenniere und
dem Pankreas von Kaninchen gesehen haben will. Aber gewiss
müssen die Schulze sehen Einwände einer genauesten Nachprüfung
und Beachtung unterzogen werden.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 38. Jahreswoche vom 16. bis 22. September 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 18 (10*)
Altersschw. (üb. 60 J.) 5 (8), Kindbettfieber — (— ), and. Folgen der
Geburt — (— ), Scharlach — (— ), Masern u. Röteln — (—), Diphth. u.
Krupp 2 (4), Keuchhusten 3 (1), Typhus — (— ), übertragb. Tierkrankh.
— ( — )i Rose (Erysipel) — (1), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 2 (1), Tuberkul. d. Lungen 18 (29), Tuberkul. and.
Org. 7 (5) Mdiartuberkul. — (— ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 6 (4),
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. — (1), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 1(3), sonst. Krankh. derselb. 3 (— ), organ. Herzleid. 19 (17),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 5 ( 3 ), Gehirnschlag
8 (9), Geisteskrankh. — (— ), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 2(1), and.
Krankh. d. Nervensystems 5 (3), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 58 (44), Krankh. d. Leber 3 (5), Krankheit, des
Bauchfells 3 (2), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 3 (1), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 4 (7), Krebs (Karzinom, Kankroid) 18 (16),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 4 (— ), Selbstmord 1 (1), Tod durch
fremde Hand 2 (— ), Unglücksfälle 3 (7), alle übrig. Krankh. 3 (3).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 206 (186), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 19.8 (17,9), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 11,7 (12,3).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
i. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.G., München.
Oie Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umiane von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 A ■ * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
^ 6._, . Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren: für die Redaktion Arnulf-
Strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 8 /f-l Uhr. hur
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• Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16. •
Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
1. rillen», CiMmler, 0. t. MMyr. ISmctanu, H- HeBerieh, W.v-leube, C.Wcrkel, UWM, F.Femlill, Ej-Me, Upalz, F.fJinckel,
53. Jahrgang.
Originalien.
Aus dem pathologischen Institut der Universität Bonn.
Die experimentelle Erzeugung atypischer Epithelwuche¬
rungen und die Entstehung bösartiger Geschwülste").
Von Privatdozent Dr. Bernhard Fischer, I. Assistenten
am Institut.
(Mit einer Tafel.)
I.
Versuche, Epithelwucherungen experimentell zu erzeugen,
sind _ mit Rücksicht auf die Entstehung der wichtigsten Ge¬
schwulstart, de-s Karzinoms — schon seit langer Zeit und
immer wieder mit fast negativem Resultat gemacht worden.
Vor allem die V i r c h o w sehe Reiztheorie verlockte viele zu
dem Versuch, durch wiederholte, besonders chemische Insulte
das Epithel zur atypischen Wucherung zu bringen. Solche Ex¬
perimente sind viel gemacht, aber wegen ihrer völlig negativen
Resultate weit seltener publiziert worden. Von ihnen erwähne
ich aus den letzten Jahren diejenigen von Brosch1), der
durch Aufpinselung von Xylol-Paraffin auf die gequetschte Haut
eine geringe Verdickung und Zapfenverlängerung des Epithels
erzielte und hieraus schon weitgehende Schlussfolgerungen
zog, die aber keine weitere Beachtung fanden und auch theo¬
retisch meines Erachtens nicht hinreichend begründet sind.
Jm günstigsten Falle erzielte man also entzündlich-regenerative
Wucherungsvorgänge, die weder histologisch noch in ihrem
Verlauf irgend eine Aehnlichkeit mit epithelialen Geschwülsten
zeigen. R i b b e r t 2) hat durch wiederholtes Abkratzen des
sich regenerierenden Epithels der Unterlippe beim Kaninchen
papillomartige Auswüchse erzielt. Das durch die wiederholten
Insulte stärker gewucherte Granulationsgewebe bildet einen
vorspringenden Knopf, der von verdickter Epidermis über-
kleidet ist
Also die Erfolge waren bisher sehr bescheidene. Aber
trotzdem ist meines Erachtens die Versuchung, dem Ge-
schwulstproblem auf experimentellem Wege näher zu kommen,
zu stark, als dass man sich durch die bisherigen Misserfolge
von jedem Versuch in dieser Richtung abschrecken lassen
sollte. Freilich schien es mir, als ob man von anderen Voraus¬
setzungen als von der Reiztheorie ausgehen müsste, um weiter
zu kommen.
Seitdem es Lo eb in seinen bekannten Versuchen über die
künstliche Parthenogenese gelungen ist, durch den Einfluss be¬
stimmter Mittel Zellen zum Wachstum, zur Entwicklung zu
bringen, die sonst dem Untergange verfallen waren, ist der
Gedanke nicht von der Hand zu weisen, dass es durch Aende-
rung der physikalisch-chemischen Bedingungen im Gewebe
möglich sei, das Wachstum bestimmter Zellen auszulösen. Frei-'
lieh liegen ja hier die Verhältnisse ungleich komplizierter, als
bei den Eizellen der Seeigel und anderer niederer T iere, bei
*) Unter Demonstration von Präparaten und Abbildungen im Aus¬
zug vorgetragen in .der Sitzung der Deutschen Pathologischen Ge¬
sellschaft auf der Naturforscherversammlung zu Stuttgart am 17. Sep¬
tember 1906.
DA. Brosch: Theoretische und experimentelle Unter¬
suchungen zur Pathogenesis und Histogenesis der malignen Ge¬
schwülste. Virchows Archiv Bd. 162, S. 32, 1900.
2) Ribbert: Geschwulstlehre. Bonn 1904. S. 352.
No. 42.
denen man eine künstliche Parthenogenese erzielt hat. Vom
Stoffwechsel der einzelnen Zellen und Gewebe dei höheien Or¬
ganismen wissen wir jioch fast gar nichts. Substanzen, die
wir in die Gewebe einführen, wirken nekrotisierend oder w er¬
den durch Entzündung und Eiterung entfernt — kurz es bieten
sich deih Gelingen solcher experimenteller Beeinflussungen des
Gewebswrachstums a priori die denkbar schlechtesten Aus¬
sichten. .
Der Weg, auf dem ich nun zu einem wie ich glaube
immerhin bemerkenswerten Resultate gekommen bin, w ai in
Kürze der folgende:
Bei Karzinomen, insbesondere bei kleinen Hautkrebsen
findet sich sehr oft eine subepitheliale entzündliche Infiltration
des Bindegewebes, auf die ja R i b b e r t bezüglich der Krebs¬
genese so grosses Gewicht gelegt hat. Ich legte mir nun die
Frage vor, ob es möglich sei, experimentell durch Erzeugung
chronisch-entzündlicher Prozesse im Papillarkörper die or¬
ganischen Beziehungen zwischen Bindegewebe und Epithel
wesentlich zu verändern, so dass eine Epithelwucheiung aus-
gelöst würde. Dass bei der Heilung von lange Zeit hindurch
ulzerierenden Hautwmnden Verlagerungen und tiefere Zapfen¬
bildungen des Epithels Vorkommen 3) — infolge der Buchten
und Falten der unregelmässigen Granulationsfläche — , ist seit
langem bekannt. Diese atypische Epithelregeneration, deren
Ursache so klar zu tage liegt, weiter experimentell zu ver¬
folgen, schien mir zunächst keinen Erfolg zu versprechen. Es
galt also in erster Linie den Einfluss experimentell erzeugter
entzündlicher Prozesse in der Kutis auf die unverletzte
Epidermis zu studieren.
Natürlich mussten Mittel, die schwere Nekrosen und Eite¬
rungen hervorriefen, vermieden werden, sollte ja doch die Ent¬
zündung möglichst gelinde und chronisch verlaufen, möglichst
mit Bindegewebsneubildung einhergehen. Eitrige Entzün¬
dungen boten zudem nur Aussicht auf Zerstörung des Epithels.
Es wurden also in Knorpellücken des Kaninchenohres ver¬
schiedene möglichst wenig reizende aseptische Fremdkörper
implantiert (Muskel-, Leber-, Milzstiickchen, Blutkoagula u. a.)
und in regelmässigen Intervallen untersucht, ob ein Einfluss
der sich langsam entwickelnden chronisch-entzündlichen und
produktiven Prozesse auf das Hautepithel (vor allem auf das
der gegenüberliegenden, nicht operierten Seite) zu konsta¬
tieren war.
Es fand sich nun häufig gar nichts, oft aber auch — wenn
der entzündliche Prozess bis an die Keimschicht heranreichte
— eine mässige Verdickung der Epithelschicht. Dieses im
wesentlichen negative Resultat konnte nicht weiter wunder-
nehmen, denn dass nicht jede chronische Entzündung in der
Kutis das Verhältnis zwischen Epithel und Bindegewebe
wesentlich ändern würde, brauchte nicht erst experimentell
nachgewiesen zu werden. Es musste demnach angenommen
werden, dass nur besondere Substanzen chronisch-entzündliche
Prozesse und jene besonderen chemischen Vorgänge im Binde¬
gewebe hervorrufen würden, die ein stärkeres Epithelwachstum
zur Folge haben. Ob dies überhaupt experimentell und mit
uns zur Verfügung stehenden Mitteln gelingen würde, konnte
sehr fraglich erscheinen. Ich Hess mich jedoch hierdurch nicht
3) Vgl. Marchand: Der Prozess der Wundheilung; Stuttgart,
1901, S. 164.
1
2042
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
schrecken und setzte meine Versuche mit den verschieden¬
sten Mitteln fort, ohne wesentlichen Erfolg, bis ich zu Agar¬
injektionen überging. Es wurde der gewöhnliche Nähragar
heiss mit einer Glasspritze in das Kaninchenohr injiziert und
zwar möglichst nahe unter die Epitheldecke. Es entstehen
hierbei die bekannten Veränderungen des Bindegewebes mit
Riesenzellenbildung usw., wie sie von R i b b e r t 4) eingehend
beschrieben sind. Auch hier waren die Resultate bezüglich des
Epithels durchweg ganz negativ bis auf zwei Versuche. In dem
einen war mit phosphorsaurem Kalk, im anderen mit kohlen¬
saurem Kalk versetzter Agar injiziert worden. Hier
fand sich nun eine ziemlich ausgedehnte Wucherung des
Epithels, die sich in die Tiefe der Agarmassen hinein¬
erstreckte und überall die Agarmassen umwuchs _ als ob
das Epithel die buchtigen Hohlräume überall auskleidete. Beide
Versuche waren an demselben Tier — der eine am linken, der
andere am rechten Ohr — angestellt worden, aber weitere
Versuche an demselben Tier waren erfolglos. Die Erklärung
des Befundes glaube ich darin zu sehen, dass höchst wahr¬
scheinlich beim Einstechen der Nadel etwas Epithel mit ver¬
schleppt worden, das nun in dieser eigenartigen Weise die
Agarhohlräume umwuchs; es liegen also meines Erachtens nur
eigenartig modifizierte traumatische Epithelzysten vor. Wie
dem auch sei jedenfalls gab mir diese Beobachtung Ver¬
anlassung, die \ ersuche trotz aller bisherigen Misserfolge
fortzusetzen. Ich wandte mich nun unter anderem den Oelen
und Fetten zu. Sie mussten für unsere Zwecke ganz besonders
geeignet sein, da sie sehr langsam resorbiert werden, sehr
milde und chronisch verlaufende Entzündungen verursachen
und sich schliesslich mit Leichtigkeit im Gewebe gleichinässig
verteilen lassen.
Bei diesen zeigte sich bereits eine stärkere Beeinflussung
des Epithels. Einige Wochen nach der (wiederholten) sub¬
kutanen Injektion von Oleum olivarum kann man an der
darüberliegenden Epithelschicht eine nicht unbeträchtliche Ver¬
dickung nach weisen mit tieferem Aussprossen der Epithel¬
zapfen. Im ganzen sind aber die Veränderungen gering, wenn
ich es auch wohl für möglich halte, dass bei längerer Be¬
obachtungszeit sich noch etwas stärkere Wucherungen ein¬
stellen. Jedenfalls sah ich nie bei reinem Oel atypisches
Epithelwachstum, das dem Hautkrebs ähnliche Bilder dar¬
geboten hätte. Ebensowenig bei einer Reihe anderer Versuche
in denen ich v erschiedene Zusätze zu dem Oel gemacht hatte
Das wurde nun aber ganz anders, als ich Olivenöl benutzte'
in dem der Fettfarbstoff S c h a r 1 a c h - R. — bis zur Sätti¬
gung — gelost worden war. Ich werde dieses Oel im folgenden
kurz Scharlachöl nennen. Auf diese Versuche muss ich
etwas näher eingehen, kann aber natürlich auch nur das
Wesentlichste hier wiedergeben
Das Oel füllt nach der Injektion alle Spalten des Binde¬
gewebes aus, an dem sich bald Veränderungen zeigen, die im
wesentlichen in zelliger Infiltration, Hyperämie, Zellver-
mehrung und Riesenbildung bestehen. Das Oel selbst ist viel¬
fach von Fibrin und Leukozytensträngen durchsetzt. Nach
einiger Zeit stellt sich reichliche Bildung jungen Bindegewebes
ein, das häufig ödematös ist und dann völlig ein Bild darbietet,
als entstamme es einem Myxom. Zum Studium der Zellen des
Bindegewebes und der Entzündung dürften sich diese Ver¬
suche — nebenbei bemerkt — vorzüglich eignen.
Uns interessieren jedoch in erster Linie die Vorgänge am
Epithel. Dieses ist natürlich durch die Scharlachölmassen,
welche alle Bindegewebsspalten prall füllen und ausdehnen,
zunächst weit vom Knorpel des Ohres abgedrängt. Diese Ent¬
fernung des Knorpels von der Epidermis nimmt weiterhin noch
zu durch die entzündliche Schwellung und die Hyperämie. Be-
leits nach wenigen lagen lässt sich nun eine Vermehrung der
Mitosen der Keimschicht und zwar sowohl am Deckepithel wie
an Haarbälgen und Talgdrüsen nachweisen. Auch atypische
Mitosen finden sich. Die Epithelschicht nimmt erheblich an
Dicke zu. Zugleich beginnt eine stark gesteigerte Hornbildung
In der Tiefe der verlängerten Epithelzapfen liegen grosse Horn-
Perlen und besonders die Haarbälge bilden eigenartige Bilder-
Konzentrisch um die Haarschäfte herum liegen dicke Schichten
*) Ribbert: Allgemeine Pathologie. 2. Aufl. 1905.' S. 387.
von Hornlamellen. Die Epithelneubildung wird nun immer
stärker und die Keimschicht beginnt Zapfen in die Tiefe zu
treiben. Haarzwiebeln und T algdrüsen schwinden dabei, d. h.
sie werden ebenfalls zu Plattenepithelzapfen, welche in die
Tiefe wachsen. Diese in die Tiefe wachsenden Epithelzapfen
wenden sich nun den Oeltropfen zu und umwachsen dieselben
in der unregelmässigsten Weise. So sieht man schliesslich das
Bindegewebe von Epithelzapfen, -strängen und -nestern ganz
durchwachsen, ein Bild, das sich histologisch nur mit dem
Wachstum des Plattenepithels beim Hautkrebs vergleichen
lässt. Besonders atypisch wird das Wachstum — nach meinen
bisherigen Erfahrungen — , wenn man das Scharlachöl unter
eine Narbe der Haut injiziert. Die entstehenden Epithelwuche-
i ungen lassen sich meines Erachtens histologisch vom
Plattenepithelkrebs des Menschen nicht mit Sicherheit unter¬
scheiden. Auch Kankroidperlen finden sich in Menge tief im
Bindegewebe. Die Ausbildung der Basalzellenschicht ist an
den wuchernden Epithelsträngen meist sehr deutlich, undeut¬
licher wird sie an den ganz in der Tiefe liegenden Epithel¬
nestern, wo sie nach längerer Zeit oft überhaupt nicht mehr
nachzuweisen ist.
Dass das Epithel nicht etwa mit dem entzündlich wuchern¬
den Bindegewebe einfach mitwächst, sondern wirklich in die
liefe eindringt, geht — abgesehen von der Unregelmässigkeit
dei ganzen Bildungen — daraus hervor, dass es die Oeltropfen
umwächst, in sich einschliesst und vor allem daraus, dass nicht
selten die Epithelzapfen durch die Knorpellücken des Kaninchen-
ohres hindurchwachsen. Einmal habe ich auch — hier aber
mit voller Sicherheit — einen Epithelzapfen in einem grösseren
Lymphgefäss weiterwachsend gefunden.
Wie entsteht nun diese Epithelwucherung? Der entzünd¬
liche Prozess im Bindegewebe allein kann nicht dafür verant¬
wortlich gemacht werden, denn dann fänden sich diese Wuche-
i ungen in demselben Masse bei den Versuchen mit anderen
Oelen — die Entzündung ist hier im wesentlichen (soweit wir
das histologisch feststellen können) ganz dieselbe wie beim
Scharlachöl. Nein, die histologischen Bilder geben uns meines
Erachtens völlig genügende Aufklärung: Das Scharlachöl übt
aut das Epithel eine starke chemotaktische Wirkung
aus, das Epithel folgt diesem Zuge und wächst durch das ent¬
zündlich gelockerte Bindegewebe hindurch zu dem Schar¬
lachöl hin.
Den Nachweis dieser chemotaktischen Wirkung halte ich
^r. e*nes der wesentlichsten Resultate meiner Versuche.
Man könnte ja vielleicht daran denken, dass in unseren Ver¬
suchen das Epithel nur seiner bekannten Neigung folge, freie
Flächen zu iiberkleiden und die durch das Oel im Gewebe ge¬
setzten Lücken einfach als solche wirkten. Dann müssten aber
auch Injektionen anderer Oele und Fette, überhaupt anderer
Substanzen dieselbe Wirkung haben. Das ist aber nicht der
Eall! Die Wachstums rieh tung der Epithelzapfen direkt
auf die Oeltropfen zu beweist ferner ohne weiteres, dass eine
Chemotaxis vorliegt. Andere werden vielleicht wieder in dem
Scharlachol nur einen Wachstumsreiz für das Epithel erblicken.
L o e b hat bereits in seinen Untersuchungen über das Wesen
des Bemichtungsvorganges darauf hingewiesen, dass der Satz
das Spermatozoon „reize“ das Ei zur Entwicklung, nur eine
Phrase, eine Worterklärung, aber keine Sacherklärung ist.
asselbe gi t von der Annahme eines Wachstumsreizes, solange
vwr damit keine bestimmtere Vorstellung verbinden Wollte
man noch eine direktere Einwirkung des Scharlachöls auf die
mithelzelle annehmen, so wäre nicht einzusehen, warum das-
VSm Bmc)e2ewebe aus seine eigenartigen Wirkungen
entfaltet I inselungen des Kaninchenohres m i t
c a i 1 a chöl sind aber — selbst monatelang fortgesetzt
— v o 1 1 1 g w i r k u n g s j ° s. Nach der Reiztheorie wäre das
nicht zu verstehen und ich glaube, dass gerade darin bei meinen
\ ersuchen ein richtiger Grundgedanke lag, dass ich Verände¬
rungen des Bindegewebes erzeugte, die chemischen Sub¬
stanzen vom Bindegewebe aus auf das Epithel einwirken Hess
nicht von aussen her, wie es auf Grund der Reiztheorie bisher
stets gemacht worden war. Es ist mir auch sehr wahrschein¬
lich dass nunmehr, wenn diese Untersuchungen auch noch von
ariderer Seite und in grösserem Massstabe, als es mir selbst
möglich ist, aufgenommen!1 Werden sollten, sich noch eine
16. Oktober 1906.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2(143
Reihe anderer chemischer Stoffe von ähnlichen Wirkungen auf¬
finden lassen werden.
Man wird nun die Frage stellen, wie es denn möglich sei,
dass eine im Wasser so unlöslicheSubstanzwie dasScharlach-R.
trotzdem auf das entfernt liegende Epithel eine chemotaktische
Wirkung ausüben könne. Der Grund hierfür ist unschwer zu
finden. Obwohl das Scharlach-R. in Wasser unlöslich ist, wird
es doch zweifellos — in geringem Masse — von den Körper¬
flüssigkeiten gelöst. Hierfür kann ich einen makroskopischen
Befund als Beweis anführen; Nach wiederholten intravenösen
Injektionen von Scharlachöl färbt sich das Fett des ganzen
Kaninchenkörpers gleichmässig leicht rosa; der Farbstoff kann
aber nur durch Lösung im Serum zu den Fettzellen gelangen.
Dem schliesst sich ein mikroskopischer Beweis an. Die Knorpel¬
zellen enthalten bekanntlich Fett. Bringt man nun Scharlach-R.
in Substanz unter die Haut des Kaninchenohres, so nimmt
das Fett der Knorpelzellen den Farbstoff aus dem subkutanen
Depot so reichlich auf, dass die Knorpelzellen auf der dem
Farbstoff zugekehrten Seite schon nach kurzer Zeit sogar im
mikroskopischen Bilde deutlich hellrot gefärbt sind (nebenbei
ein schönes Beispiel für die Saftströmung im Knorpel). So kann
also der Farbstoff trotz seiner Unlöslichkeit in Wasser auch
auf das entfernte Epithel Wirkungen entfalten.
Das Epithel umwächst also die Oeltropfen und nun zeigt
sich ein weiterer interessanter Vorgang. Das Scharlachöl ver¬
schwindet langsam aus diesen Epithelzystchen, es wird offenbar
von dem Epithel selbst verarbeitet, und zwar wahrscheinlich
das Oel schneller als der Farbstoff, denn man findet diesen
häufig zuletzt krystallinisch abgeschieden in einem Epithelnest.
Dann beginnt der Epithelhaufen — sobald kein Scharlachöl
mehr vom Bindegewebe aus ihn zu weiterer Wucherung ver¬
anlasst — stark zu verhornen und es entstehen zuletzt Chole¬
steatom-ähnliche Bildungen, die wieder nach aussen durch¬
brechen und einen Teil ihres Inhaltes entleeren können.
Das ist das schliessliche Schicksal der gewucherten Epithel¬
massen. Trotz aller histologischen Aehnlichkeiten haben wir
es also nicht mit Karzinomen zu tun. Das geht — abgesehen
vom klinischen Verlauf — vor allem noch aus Folgendem
hervor:
1. Ich habe nirgends mit Sicherheit destruierendes Wachs¬
tum nachweisen können. Zwar sah ich einmal das Einwachsen
des Epithels in den Knorpel, doch glaube ich, dass hier vorher
der Knorpel durch die Injektionsspritze verletzt worden war.
Das Epithel wächst nur dorthin, wo das Scharlachöl ist, und
solange dieses da ist. Da ist also auch das Hineingelangen
in ein Lyinphgefäss nicht zu verwundern, da das Oel reichlich
in die Lymphbahnen resorbiert wird (und sich auch in Mengen
in der Ohrlymphdrüse des Kaninchens wiederfindet).
2. Aus Serienschnitten ergibt sich, dass die wuchernden
Epithelmassen — wie ja auch beim Karzinom — die Form
eines weitverzweigten Baumes beibehalten, doch kommen auch
Ablösungen, Abschnürungen einzelner Epithelhaufen vor.
Trotzdem liegt kein Karzinom vor, denn mit dem Fortfall des
Scharlachöls hört das Wachstum auf und das Epithel bildet
nun nur noch Horn in grösster Menge.
Es liegt also weder ein destruierendes, noch ein unbe¬
grenztes Wachstum vor. Selbst wenn das Epithel, dem Schar¬
lachöl folgend, in Lymphdriisen und Lungen gelangen sollte
— was ich gar nicht für ausgeschlossen halte — so würde das
nichts daran ändern.
Zu den Versuchen selbst bemerke ich noch folgendes.
Wichtig ist, dass man das Oel möglichst dicht unter das Epithel
presst und das Gewebe prall mit Oel anfüllt. Sehr schöne Re¬
sultate erhält man auch, wenn man es intravenös unter star¬
kem Druck injiziert, während man die Gefässe zentral ab¬
klemmt. Die Kapillaren reissen hierbei und das Gewebe wird
von hier aus sehr schön von dem Oel durchtränkt — aller¬
dings kann man hierbei Tiere durch Fettembolie verlieren.
Ob man Scharlachöl oder mit Sudan III gesättigtes Olivenöl
zu den Versuchen verwendet, ist nach meinen bisherigen Er¬
fahrungen ziemlich gleich; dies ist verständlich, da diese beiden
Farbstoffe von ganz analoger chemischer Konstitution sind.
Ebenso erhielt ich schöne positive Resultate mit dem Fett¬
farbstoff Indophenol, gelöst in Olivenöl, doch sind hierbei
schwere Nekrosen und Eiterung sehr störend, auch vertragen
die Tiere es sehr schlecht (nur sehr kräftige Tiere bleiben
lange genug dabei am Leben). Trotzdem ist dies Resultat
wichtig, da die chemische Konstitution des Indophenols wesent¬
lich von der der beiden erstgenannten Fettfarbstoffe abweicht.
Die Versuche gelingen beim Kaninchen immer und ohne Aus¬
nahme, wenngleich sich die Tiere nicht ganz gleichmässig ver¬
halten. Im allgemeinen sind schon etwa 3 Wochen nach der
Injektion des Oeles makroskopisch deutlich sichtbare
Epithelwucherungen vorhanden — und zwar entsprechen sie
ganz genau dem Gebiete der Injektion. Auch der Farbstoff
allein — in Substanz unter die Haut gebracht — löst eine ganz
geringe Epithelwucherung aus, doch sind nach meinen bis¬
herigen Erfahrungen die Resultate weitaus am schönsten bei
Injektion des Scharlachöls.
Versuche an anderen Tieren habe ich auch bereits in ziem¬
licher Anzahl angestellt, dieselben sind aber z. T. noch nicht
abgeschlossen, z. T. negativ ausgefallen. Das kann uns nicht
wundern, da es seit langem bekannt ist, dass dieselbe chemische
Substanz auf die verschiedenen einzelligen Lebewesen z. B.
auch einen ganz verschiedenen, zuweilen direkt entgegen¬
gesetzten Chemotropismus ausübt.5) Bei den höheren Or¬
ganismen war bisher eine chemotaktische Erregbarkeit nur für
die Leukozyten sicher nachgewiesen; aber auch für diese ist
die chemotaktische Wirkung ein- und derselben Substanz bei
verschiedenen Tieren ganz verschieden. 6)
Als wichtig ist noch zu erwähnen, dass spontan am Ka¬
ninchenohr dieselben oder ähnliche Epithelwucherungen nicht
Vorkommen. Ich habe die teils ganz normalen, teils zu den
verschiedensten Versuchen benutzten Ohren einer grossen An¬
zahl Kaninchen — auch mikroskopisch — untersucht und nie
etwas ähnliches gesehen. An der Innenfläche der Ohrwurzel
dagegen findet sich häufig bei Kaninchen ein seborrhoisches
Ekzem mit starker 'Krustenbildung, das mit geringer Epithel¬
verdickung und starker Vermehrung der Talgdrüsen einhergeht,
sich also stets sehr scharf von den beschriebenen Epithelwuche¬
rungen unterscheidet.
Nach diesen positiven Ergebnissen liegt es nun natürlich
sehr nahe, die Experimente in mannigfachster Weise zu modi¬
fizieren, vor allem auch den Einfluss der genannten Substanzen
auf andere Epithelien und Zellen, embryonale Gewebe, Pla¬
zenta usw. zu untersuchen. Ich habe bereits eine Reihe solcher
Versuche gemacht; dieselben sind aber noch nicht abgeschlos¬
sen. Einige sehr bemerkenswerte negative Resultate haben
sich aber bereits ergeben. Bisher ist es mir nie gelungen, ver¬
mittels Scharlachöl andere Epithelien zur (atypischen) Wuche¬
rung zu bringen als die der Haut. Weder an der Brustdrüse
noch am Magen- oder Darmepithel habe ich bisher irgend
welche Epithelwucherungen hervorrufen können. Das zeigt
aufs Deutlichste, dass es nicht der entzündliche Prozess, die
Veränderung des Bindegewebes allein oder die besondere Art
der Entzündung ist, die das Epithelwachstum auslöst, sondern
dass die entzündungserregende Substanz nur dann das Epithel
zur Wucherung bringt, wenn sie zugleich chemotaktisch auf
dasselbe einwirkt. Es ist also die Bindegewebsveränderung
nicht die Ursache der Epithelwucherung, wie Ribbert an¬
nimmt, sondern beide sind koordiniert, von derselben Ursache
abhängig — und zwar meines Erachtens sowohl bei der em¬
bryonalen Drüsenbildung wie bei der Karzinomentwicklung.
Eine chemotaktische Wirkung entfaltet aber das Schar¬
lachöl nach meinen bisherigen Ergebnissen nur gegenüber dem
Plattenepithel der Haut — vielleicht mit einer Ausnahme. Es
ist dies das Alveolarepithel der Lunge. Bei Kaninchen kann
man zuweilen nach intravenösen Injektionen von Scharlachöl
kleine Knötchen in der Lunge feststellen, die im wesentlichen
aus gewuchertem Aleveolarepithel bestehen. Beim Hunde habe
ich einmal nach subkutaner Injektion einer gesättigten Schar¬
lachlösung in Aether in beiden Lungen zahlreiche hirsekorn-
bis erbsengrosse Tumoren gesehen, die sich nicht etwa als
Plattenepithelmetastasen erwiesen — an der Injektionsstelle
waren ähnliche Epithelwucherungen aufgetreten wie beim Ka¬
ninchen — , sondern aus gewuchertem Alveolarepithel bestan-
5) O. Hertwig: Allgemeine Biologie. Jena 1906. S. 166.
°)P. Borissow: Ueber die chemotaktische Wirkung vei-
schiedener Substanzen auf amöboide Zellen usw. Zieglers Beiträge
z. pathol. Anat. 1894, 16. Bd., S. 432.
1*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 42.
den. Offenbar war der Aetherscharlach resorbiert worden und
hatte in der Lunge diese Veränderungen hervorgerufen — doch
bedarf es zur Sicherung dieses Resultates noch weiterer Ver¬
suche und Kontrollversuche.
Sollte das Scharlachöl auch auf menschliches Platten¬
epithel ähnlich wirken, so liesse es sich vielleicht auch zu
therapeutischen Zwecken (schnellere Deckung von Epithel¬
defekten) verwerten.
II.
Ergeben sich nun aus den vorstehenden experimentellen
Untersuchungen neue Anhaltspunkte für das Verständnis des
Wesens und Wachstums der malignen Geschwülste?
Man wird vielleicht daran denken können, dass dem Schar¬
lachöl chemisch verwandte Stoffe auch in der Natur eine Rolle
spielen könnten für die Entstehung mancher Geschwülste. In
erster Linie wäre hier an den Paraffinkrebs und den Schorn¬
steinfegerkrebs und ähnliche Berufskarzinome, wenn ich mich
so ausdrücken darf, zu erinnern. Vielleicht wird man auch in
Erwägung zu ziehen haben, ob nicht etwa Veränderungen des
Fettgewebes unter Umständen für eine Geschwulstentwicklung
aus in der Nähe gelegenem Epithel verantwortlich gemacht
werden müssen.
Für weitaus wesentlicher halte ich aber die prinzipiellen
Folgerungen, die wir meines Erachtens mit hinreichender Be¬
gründung aus meinen Untersuchungsergebnissen zu ziehen be¬
rechtigt sind.
Die Cohnheim-Ribbert sehe Theorie der Ge¬
schwulstgenese hat uns, wie ich überzeugt bin, befriedigenden
Aufschluss über die Histogenese der Geschwülste ge¬
geben. Dass sich das Wachstum der fertigen Geschwulst
tatsächlich so vollzieht, wie dies zuerst R i b b e r t in klarster
Weise ausgesprochen und durch zahlreiche Arbeiten begründet
hat, kann meines Erachtens heute nicht mehr bestritten wer¬
den. Ebenso scheint es mir hinreichend sichergestellt zu sein,
dass alle Geschwülste aus Gewebskeimen hervorgehen, die —
embryonal oder postembryonal — aus dem physiologischen
Zusammenhang des Organismus ausgeschaltet, herausgelöst
sind. Ich schliesse mich ferner völlig A 1 b r e c h t 7) an, dass
die Frage des exzessiven, unbeschränkten Wachstums von der
Frage nach der Ursache der Wucherung überhaupt und den
Ursachen des charakteristischen Baues, der Architektur der
Geschwulst scharf zu trennen sei. Letztere Fragen stellen,
wie A 1 b r e c h t mit Recht hervorhebt, ein entwicklungs¬
mechanisches Problem dar, ebenso wie die Entwicklung irgend
eines anderen Organes.
Ueber die Histogenese der Geschwülste besitzen wir also
klare und gut begründete Anschauungen. Darüber hinaus aber
ist die Geschwulstlehre noch voller Rätsel. Vor allem sind es
3 Fragen, die zurzeit m. E. in erster Linie auf Antwort drängen:
1. Worin besteht — für die Geschwulstentstehung — das
Wesentliche dieses ,, physiologischen Zusammenhanges“? Da
das grob Anatomische zur Erklärung nicht ausreicht, so ist das
Wort „physiologischer Zusammenhang“ schliesslich auch nur
ein Name für Beziehungen und Vorgänge, die wir nicht kennen.
Ebenso sicher, wie der Gesamtorganismus auf die Ausbildung
und das Wachstum seiner Teile einen Einfluss ausiibt, ebenso
wenig können wir uns bisher von der Art dieses Einflusses eine
klare Vorstellung machen.
2. Wir wissen nicht, wodurch diese Loslösung aus dem
organischen Verbände bewirkt wird. Traumen allein reichen
ebensowenig zur Erklärung aus wie entzündliche Vorgänge.
Auch bei den embryonalen Versprengungen kennen wir eben
nur die Tatsache, nicht die Ursache.
3. endlich, bleibt es völlig unklar, welche Momente — oft
erst nach vielen Jahren und Jahrzehnten — das schrankenlose
Wachstum dieser isolierten Keime auslösen.
Es wird wohl noch vieler Arbeit bedürfen, ehe diese Fra¬
gen beantwortet, ehe sie durch präzisere, engere Fragestel¬
lungen ersetzt sind. Immerhin glaube ich, dass sich auch aus
den oben mitgeteilten Untersuchungen zur Beurteilung dieser
7) E. Alb recht: Entwicklungsmechanische Fragen der Ge¬
schwulstlehre, I und II. Verhandl. d. Deutschen Pathol. Gesellsch.,
S. Tagung 1904 Breslau und 9. Tagung 1905 Meran, S. 89 und 154.
wesentlichsten Fragen der Geschwulstlehre einige neue Ge¬
sichtspunkte ergeben, welche einer kurzen Besprechung wert
erscheinen.
Als wichtigste unmittelbare Ergebnisse meiner Unter¬
suchungen möchte ich folgendes bezeichnen:
1. Die Versuche lassen zum ersten Male den Satz auf¬
stellen und erbringen den vollen Beweis dafür, dass es Stoffe
gibt, die eine spezifische starke chemotaktische Wirkung aut
eine bestimmte Epithelart ausüben und dieses Epithel dadurch
zu raschem, atypischem Wachstum veranlassen. Das ist um
so wichtiger, als es selbst für die Leukozyten bisher nicht ge¬
lungen ist, Stoffe aufzufinden, welche eine bestimmte Zellart
vorzugsweise anlocken 8 *). Der hier erbrachte Nachweis, dass
auch auf fixe, ruhende Zellen im Gewebe eine starke chemo¬
taktische Wirkung ausgeübt werden kann, dürfte für die all¬
gemeine Biologie, für die gesamte Lehre vom Cytotropismus
von grosser Bedeutung sein.
Ich werde der Kürze halber im folgenden Stoffe, welche
eine spezifische chemotaktische Wirkung auf eine bestimmte
Zellart ausüben, als Attraxine bezeichnen.
2. Die Versuche zwingen m. E. zu dem Schlüsse, dass die
Lösung aus dem organischen Verbände, die Verlagerung des
Epithels nicht genügt, schrankenloses Wachstum auszulösen.
R i b b e r t H) hat den bisherigen Versuchen, Geschwülste durch
Gewebsverlagerung zu erzeugen, entgegengehalten, dass die
experimentell geübte Ablösung und Verpflanzung für die Zellen
ein zu rohes Verfahren sei und sich daraus die Misserfolge
erklärten. In den vorstehenden Versuchen aber geschieht die
Verlagerung nicht grob mechanisch, sondern sehr langsam und
in schonendster Weise: Das Epithel bleibt dauernd mit dem
Ernährungsorgane in Verbindung — und doch tritt trotz aus¬
giebiger Verlagerung kein schrankenloses Wachstum ein.
Die Loslösung aus dem organischen Verbände ist auch
meiner Ueberzeugung nach die Grundlage jeder Geschwulst¬
bildung — aber um schrankenloses Wachstum auszulösen,
muss noch ein weiteres Moment hinzukommen.
Die oben mitgeteilten neuen experimentellen Ergebnisse
weisen nun m. E. so unmittelbar auf eine ganz neue und eigen¬
artige Auffassung des Entstehens und des Wachstums bösarti¬
ger Geschwülste hin, dass ich glaube, dieselbe hier in kurzen
Strichen skizzieren zu dürfen.
I. Die Entstehung der Geschwulstanlage beschäftige uns
zunächst. Während wir bisher uns mit der einfachen Tatsache
einer Gewebsverlagerung oder Keimversprengung begnügen
mussten, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, w i e eine solche
zustande käme, werden wir nunmehr darauf hingewiesen, dass
die Ansammlung solcher Attraxine im Gewebe — embryonal
oder postembryonal — eine Zellverlagerung, Epithelabschnü¬
rung zur Folge haben könne. Denkbar wäre es auch, dass —
pathologischerweise — von aussen her in den Organismus ge¬
langte Substanzen zu einer solchen Gewebsabschnürung, -Ver¬
lagerung Anlass geben könnten.
Es erscheint mir aber weiterhin als sehr fruchtbar, diese
entwicklungsmechanische Vorstellung auch auf normale Vor¬
gänge, insbesondere die embryonale Drüsenbildung zu über¬
tragen. Das Einsinken des Oberflächenepithels zur ersten
Drüsenanlage könnte auf ähnliche chemotaktische Substanzen,
die sich im subepithelialen Bindegewebe regelmässig ansam¬
meln, zurückgeführt w-erden. Das Epithel sprosst dann nach
diesen hin und verarbeitet nun diese Stoffe dauernd, wobei das
Plattenepithel die Struktur und Funktion von Drüsenepithel
übernimmt. Eine vermehrte Ansammlung der genannten Sub¬
stanzen würde eine Hypertrophie, ein Versiegen derselben eine
Atrophie der Drüse zur Folge haben. Vielleicht sind ähnliche
chemische Stoffe überhaupt von grosser Bedeutung für die ge¬
samte embryonale Entwicklung und wirken bestimmend auf
das Wachstum der Zellen und Gewebe überhaupt ein.
Zu ganz ähnlichen Schlüssen sind übrigens auch schon
andere Forscher gekommen, und zwar auf den verschiedensten
Gebieten. Für die Pflanzen hat Sachs10) schon vor langer
8) Borissow, 1. c., S. 460.
°) Ribbert: Geschwulstlehre, S. 45.
10) Sachs: Arbeiten des botan. Instit. Wiirzburg, 2. Bd., 1880,
und Gesammelte Abhandl. über Pflanzenphysiologie, 2. Bd., Leipzig
1892.
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2045
Zeit die Theorie aufgestellt und Beweise dafür beigebracht,
dass die Bildung der Organe geknüpft sei an die Produktion
ganz bestimmter chemischer Stoffe, nicht Nährmaterial allein
ist zur Bildung der Organe ausreichend. Es gibt also nach
Sachs so viele spezifische Bildungsstoffe in einer
Pflanze, als dieselbe Organe bildet.
Diese Theorie gilt nun auch für das Tierreich. Sie hat
wesentliche Stützen gefunden in den bekannten experimen¬
tellen Untersuchungen Loebs11) und anderer über Hetero-
morphose und atypische Regeneration bei Tubularien, Aktinien,
Planarien u. a. Schon das Fehlen bestimmter einfacher Stoffe
kann die Anlage bestimmter Organe verhindern. Züchtet man
Seeigeleier in kalkfreiem Meerwasser, so unterbleibt nicht nur
die Bildung der Kalknadeln sondern der Arme überhaupt
(Pouchet und C h a b r y 12). Ferner haben eine ganze Reihe
embryologischer Untersuchungen (Fi sc hei, Crampton,
Bovcri u. a. 13) zu dem Schluss geführt, dass für bestimmte
Bildungen auch ganz bestimmte, zum Teil schon im Ei von
Anfang an differente Stoffe an die entsprechenden Stellen hin¬
geleitet und aufgeteilt werden. Für die Organbildung ist also
das Vorhandensein ganz bestimmter Stoffe notwendige Voraus¬
setzung. Fehlt der spezifische organbildende Stoff, so unter¬
bleibt auch der Aufbau des Organs.
Während also das Vorhandensein solcher spezifischer
organbildender Stoffe sich als logisches Postulat aus den Unter¬
suchungen anderer bereits ergeben hat, haben wir durch meine
Versuche zum ersten Mal einen chemischen Stoff selbst kennen
gelernt, mit dem wir an Ort und Stelle ganz ähnliche Wir¬
kungen direkt hervorrufen können. Meine Versuche scheinen
mir nicht nur einen weiteren klaren Beweis für die Berechti¬
gung der angeführten Anschauungen zu geben, sondern vor
allem uns auch einen tieferen Einblick in die Art der Wirkung
dieser organbildenden Stoffe zu gewähren. Die letzteren wer¬
den von den spezifischen Zellen nicht nur verarbeitet, aufge¬
braucht, sondern sie können auch durch ihre chemotaktische
Wirkung die Wachstums r i c h t u n g der Zellen und damit
die ganze Architektur der Organanlage bestimmen, wäh¬
rend sie gleichzeitig durch die Menge, in der sie im Ei vor¬
handen sind oder weiterhin produziert werden, die Grösse
der Anlage bestimmen und ihr Wachstum zeitlich be¬
grenzen. Es erscheint mir nach alledem der Schluss nicht zu ge¬
wagt, dass in der ganzen embryonalen Entwicklung sowohl
positive wie negative chemotaktische Wirkungen eine Rolle
spielen.
Natürlich will ich hiermit nicht sagen, dass in der chemo¬
taktischen Wirkung die einzige oder wesentlichste Aufgabe
der spezifischen organbildenden Stoffe zu erblicken sei. Selbst¬
verständlich werden dieselben auch als unentbehrliche che¬
mische Bausteine des Gewebes in Betracht kommen, ebenso
wie ja auch das Scharlachöl nicht nur chemotaktisch auf das
Epithel einwirkte, sondern auch von diesem verarbeitet, so¬
zusagen verdaut wurde. Bei manchen spezifischen organ¬
bildenden Stoffen wird vielleicht überhaupt keine Chemotaxis
— weder oine positive noch eine negative — wirksam sein, so
z. B. vielleicht bei jenen spezifischen Stoffen, deren Bildung
in den Geschlechtsdrüsen man zur Erklärung der sekundären
üeschlechtscharaktere schon seit langem angenommen hat.
Bei vielen anderen dagegen scheint mir der durch meine Ver¬
suche erbrachte Nachweis, dass derartig spezifische chemo¬
taktische Wirkungen möglich sind und die beeinflussten Zellen
zu rapidem Wachstum veranlassen, für das Verständnis ihrer
Wirkungen von wesentlicher Bedeutung zu sein. Die An¬
nahme chemotaktischer Wirkungen bei vielen spezifischen
organbildenden Stoffen erleichtert uns, wie mir scheint, sehr
wesentlich das Verständnis einer grossen Anzahl embryonaler
Entwicklungsvorgänge. Dass für die letzteren noch eine grosse
Reihe anderer Faktoren, z. B. rein mechanische, von grösster
Bedeutung sind, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung.
Die Frage der Entstehung einer Geschwulstanlage ist aber,
wie gesagt, ebenfalls eine rein entwicklungsmechanische, d. h.
11 ) J. Loeb: Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserschei¬
nungen. Leipzig 1906. S. 281 ff.
12) Nach 0. Hertwig, 1. c., S. 491. Hier noch weitere Beispiele
rjjpqpr Art
13) Nach A 1 b r e c h t, 1. c., II, S. 164.
für die Ausschaltung, Verlagerung eines Zellkomplexes zur Ge¬
schwulstanlage sind im Prinzip ganz dieselben Vorgänge mass¬
gebend wie für die normale Organbildung. Auch Ribbert
hat ja wiederholt die Aussprossung eines Plattenepithelherdes
zum Karzinom mit der embryonalen Drüsenbildung in Paral¬
lele gesetzt.
II. Haben wir so eine konkretere Vorstellung gewonnen
von dem Entstehen embryonaler wie postembryonaler Gewebs-
abschntirungen, so führen nun die Beobachtungen am Schai-
lachöl, wie ich glaube, ohne weiteres auch zu einer neuen Auf¬
fassung des schrankenlosen Wachstums der bösartigen Ge¬
schwülste.
Wir sahen bereits, dass das Scharlachöl (beim Kaninchen)
eine chemotaktische Wirkung nur auf das Plattenepithel der
Haut ausübt. Selbst wenn sich bei weiteren Untersuchungen
eine chemotaktische Wirkung dieser Substanz auch auf andere
Zellarten des Körpers heraussteilen sollte, wäre das für unsere
Auffassung unwesentlich. Denn einerseits ist es a priori höchst
wahrscheinlich, dass die in der Natur wirklich eine Rolle spie¬
lenden Attraxine eine viel kompliziertere chemische Konsti¬
tution haben als das Scharlachöl, andererseits scheint mir nach
den Beobachtungen an dieser Substanz die Annahme bereits
hinreichend begründet, dass es für jede Epithelart, ja Zellart
besondere, spezifische Attraxine gibt. Ja, es ist nicht undenk¬
bar, dass die chemotaktische Wirkung dieser Stoffe auf das zu¬
gehörige Epithel grösser, die entzündungserregende geringer
ist als die des Scharlachöls.
Wenn wir nun annehmen, dass sich im Organismus Sub¬
stanzen, Attraxine, anhäufen und dauernd entstehen, welche
auf die Zellen eines ausgeschalteten oder verlagerten Gewebs-
teiles, eine hinreichend starke, spezifische, chemotaktische Wir¬
kung ausiiben, so ist die Folge davon notwendigerweise ein
dauerndes, schrankenloses Wachstum dieser Zellen: die
maligne Geschwulst 14).
Diese Theorie setzt also voraus:
1. eine Geschwulstanlage ganz im Sinne der Cohnheim-
Ribbert sehen Geschwulstlehre. Dass die Zellen eines ver¬
lagerten, aus dem physiologischen Verbände gelösten Gewebs-
teiles sich wie in mancher anderen Beziehung, so auch im Stoff¬
wechsel, in ihrer chemischen Tätigkeit etwas anders verhalten
werden als ihr Mutterboden, liegt auf der Hand, ist auch von
Ribbert15) kürzlich betont worden. Bewiesen wird diese
Auffassung durch die Möglichkeit der Immunisierung gegen
Geschwulstzellen (Ehrlich). So wird es denn auch ver¬
ständlich, dass bestimmte chemotaktische Stoffe gerade nur
auf die Zellen eines verlagerten Gewebskeimes ihren Einfluss
ausüben, nicht auf die Zellen des Mutterbodens, z. B. auf das
übrige Epithel des befallenen Organs.
2. aber setzt die Theorie eine sehr grosse Vielheit spe¬
zifischer chemotaktischer Substanzen voraus. Seitdem uns
aber die Serumforschung gezeigt hat, dass die Zahl spezifischer
Substanzen eine geradezu unendlich grosse ist, bietet diese
Annahme keine besonderen Schwierigkeiten.
Man könnte sich übrigens noch vorstellen, dass dieselbe
Substanz, dasselbe Attraxin, welches in einem Organismus
zunächst die Ausschaltung, Verlagerung eines Gewebskeimes
veranlasst hatte, in späterer Zeit, infolge einer zunehmenden
Störung des Stoffwechsels in grösserer Menge gebildet, nun
auch das schrankenlose Wachstum desselben, auf einem frühe¬
ren Stadium der Differenzierung stehen gebliebenen Keimes
veranlassen könnte.
“) Ich will nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass die Er¬
gebnisse meiner Untersuchungen vielleicht von den Anhängern der
parasitären Theorie zu gunsten ihrer Anschauungen verwertet wer¬
den könnten. Es könnten ja auch Parasiten eine spezifische chemo¬
taktische Wirkung auf eine bestimmte Zellart ausiiben und so eine
maligne Geschwulst erzeugen. Dann wäre aber die Annahme spe¬
zifischer Parasiten für jeden aus dem physiologischen Verbände ge¬
lösten oder embryonal verlagerten Zellkomplex notwendig! Vor
allem widerspricht auch m. E. dieser Annahme die Analogie der Kar¬
zinomentwicklung mit der embryonalen Drüsenbildung. Oder will
man auch hierfür Parasiten verantwortlich machen? Zurzeit sind auch
die tatsächlichen Unterlagen der parasitären Theorie noch derartig
negative, dass sie mir einer Diskussion kaum wert erscheint.
15) Ribbert: Die Entstehung des Karzinomes. 2. Aufl. Bonn
1906. S. 23..
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
Ein weiterer Weg der Entstehung bösartiger Geschwülste
wäre der, dass eine bestimmte Zellgruppe (z. B. durch längeres
Bestehen ausserhalb des physiologischen Verbandes, d. h. also
unter abnormen Bedingungen) sich in ihren chemischen Eigen¬
schaften so änderte, dass nunmehr schon die normalerweise
im Körper vorhandenen Stoffe chemotaktisch auf sie einwirk¬
ten. Für derartige Tumoren müsste aber unbedingt die
Uebertragbarkeit auf Individuen derselben Gattung
verlangt werden. Solche Vorgänge kommen also vielleicht
in Betracht bei jenen übertragbaren Mäusetumoren, bei denen
Ehrlich u. a. durch Ucbertragungen die Virulenz der Ge¬
schwulstzellen noch stetig steigern konnten.
Man hat ja bisher schon öfter angenommen (z. B.
Alb recht), dass für das maligne Wachtum der Ge¬
schwülste chemische Einflüsse die ausschlaggebende Rolle
spielten. Den Wert meiner Untersuchungen erblicke ich nun
auch darin, dass sie uns zum ersten Male eine konkrete Vor¬
stellung von der Art dieser chemischen Einflüsse geben. Ich
will nicht behaupten, dass sich nun diese chemischen Einflüsse
nur in der geschilderten Weise geltend machen könnten oder
müssten. Aber da wir für eine andere Art der Wirkung bisher
keinerlei nähere Anhaltspunkte besitzen, so müssen wir die
Chemotaxis in erster Linie ins Auge fassen. Die Möglich¬
keit einer solchen spezifischen Wirkung chemischer Sub¬
stanzen ist durch vorliegende Untersuchungen bewiesen.
Die vorgetragenen Anschauungen über Geschwulstent¬
stehung und Geschwulstwachstum führen eine Reihe von Tat¬
sachen der Geschwulstlehre unserem Verständnis näher, für
die bisher eine Erklärung kaum zu geben war:
1. Es ist nach dem Gesagten selbstverständlich, dass eine
Geschwulst im allgemeinen nicht von einem Individuum auf
das andere übertragen werden kann.
2. Geschwulstübertragungen sind bei Tieren derselben Art
und Rasse ja in letzter Zeit mehrfach gelungen. Aber es ist
doch sehr bemerkenswert, dass die Geschwülste sich am besten
übertragen Hessen auf blutsverwandte Tiere, auf Tiere der¬
selben Zucht, während andere Uebertragungen entweder ganz
erfolglos waren oder doch weit seltener positive Resultate er¬
gaben. Da nun gerade Stoffwechselerkrankungen vorzugs¬
weise erblich sind, so dürfen wir wohl schliessen, dass eben
diese Tiere der gleichen Zucht eine gleichartige Alteration
ihres Stoffwechsels darboten, spezifische Attraxine gleicher
Art besassen, wodurch dann die Uebertragung der Geschwulst
sofort möglich wurde.
Dass auch die erbliche Disposition zur Geschwulstbildung
hierdurch in einem neuen Lichte erscheint, sei noch nebenbei
erwähnt.
3. Wir verstehen es jetzt vollkommen, warum nicht aus
allen versprengten Keimen, embryonal oder postembryonal
verlagerten Gewebsteilen bösartige Geschwülste hervorgehen,
warum nur ein ganz verschwindend kleiner Teil diesem Schick¬
sal verfällt.
4. Ebenso ist jetzt unserem Verständnis näher gerückt die
bisher geradezu willkürlich anmutende, höchst wechselnde Art
der Metastasenbildung, die man wohl durch die Annahme be¬
sonderer „Organnährböden“10) zu erklären suchte. Dass sich
die genannten Attraxine nicht in allen Organen gleichmässig
finden, ja vielleicht sogar in einzelnen produziert, in anderen
zerstört werden, ist natürlich. Davon wird dann sehr wesent¬
lich die Art der Metastasenbildung mitbestimmt werden.
Es ergibt sich aber aus diesen Ueberlegungen auch ferner
ohne weiteres, warum es uns in unseren Experimenten nicht
gelungen ist. durch die Injektionen von Scharlachöl echte bös¬
artige Geschwülste, Karzinome zu erzeugen.
Die Schwierigkeit ist einerseits eine prinzipielle, anderer¬
seits eine technische; prinzipiell insofern, als ja die benutzte
Substanz nicht allein auf die Zellen eines verlagerten Gewebs-
teiles, sondern auf sämtliche Plattenepithelien des Körpers
chemotaktisch einwirkt. Attraxine, welche auf das gesamte
Epithel eines Organes, z. B. der Haut, chemotaktisch einwirken,
dürften wohl nur in den allerseltensten Fällen für die Ge-
schwulstentwicklung in Betracht kommen. Man könnte an
derartiges z. B. denken beim Xeroderma pigmentosum, bei der
lfl) A 1 b r e c h t, 1. c., I, S. 95.
Lymphosarkomatose, dem Myelom, vielleicht auch bei der Leu¬
kämie u. a.
Die technische Schwierigkeit liegt darin, dass wir nicht
imstande sind, den ganzen Organismus dauernd so mit Schar¬
lachöl zu durchtränken, dass ein schrankenloses Wachstum des
Epithels resultiert.
An dieser Stelle muss ich noch auf eine Beobachtung näher
eingehen, die ich vorhin bei der Schilderung meiner Versuchs¬
ergebnisse nur kurz gestreift habe. In einem meiner Ver¬
suche fand sich ein Einwachsen eines Epithelzapfens in den
Ohrknorpel hinein. Es ist wohl nicht daran zu zweifeln, dass
der Knorpel an der betreffenden Stelle durch die Nadel der
Injektionsspritze verletzt worden war. Aber das allein kann
uns zwei Befunde hierbei meines Erachtens nicht hinreichend
erklären :
1. Das Plattenepithel treibt überall tiefe Fortsätze in den
Knorpel hinein. Eine derartige innige Durchwachsung muss
eine besondere Ursache haben.
2. Die Elastinfärbung zeigt mitten in den Epithelzapfen
zwischen den einzelnen Zellen Reste von Knorpelkapseln.
Also das Epithel ist hier nicht nur in den Knorpel ein¬
gedrungen, sondern hat auch einzelne Knorpelzellen zerstört,
in sich aufgenommen.
1 rotzdem glaube ich, dass auch hier nur eine Modifi¬
kation der schon geschilderten Vorgänge vorliegt. Die Nadel
hat den Knorpel hier verletzt, in die Lücke drang Schar¬
lachöl und später das Epithel ein. Gleichzeitig aber hatten
die in der Nähe gelegenen Knorpelzellen, besonders die, deren
Kapseln eröffnet waren, vermittels ihres Fettgehaltes den
Farbstoff reichlich in sich aufgenommen und mussten infolge¬
dessen später chemotaktisch auf das Epithel einwirken. Daher
die Zerstörung dieser Zellen, daher Reste von Knorpelkapseln
mitten im Epithelhaufen. Wir sehen also an dieser Stelle in
gewisser Weise ein lokal bösartiges Wachstum, das aber seine
völlige Erklärung findet.
Sobald aber das injizierte Scharlachöl verarbeitet, zerstört
ist, hört das Wachstum auf und das Plattenepithel gelangt nun zu
seiner physiologischen Reifung, zur Verhornung. Diesen Punkt
möchte ich noch besonders hervorheben. Die mangelnde Ge¬
websreife — hier durch fehlende Verhornung charakterisiert —
findet sich an dem wuchernden Plattenepithel so lange, als noch
vom Bindegewebe aus das Scharlachöl auf das Epithel einwirkt.
Ist alles Oel zerstört oder umwachsen und abgekapselt, so be¬
ginnt auch die Verhornung. Das nach Ansicht der meisten
Autoren ganz besonders charakteristische Merkmal der bös¬
artigen Geschwulst, die mangelnde Gewebsreife, findet sich
auch in unseren Versuchen, solange die chemotaktische Wir¬
kung der injizierten Substanz anhält. Gelänge es uns. diese
Wirkung zu einer dauernden zu machen, so würde das Wachs¬
tum des Epithels ein dauerndes, der Tumor damit ein bösartiger
werden mit mangelnder Gewebsreife. Auch die Entdifferen¬
zierung, die Anaplasie der Zellen, ist nur eine Folge dieses
dauernden Wachstums unter abnormen Bedingungen, nicht die
Ursache.
Betonen möchte ich noch, dass es also auch nach diesen
Untersuchungen zur Erklärung des Geschwulstwachstums nicht
der Annahme einer besonderen Aenderung der Epithelzelle be¬
darf. Die F ä h i g k e i t schrankenlosen Wachstums ist eine
immanente Eigenschaft der Zelle, die ihr nicht erst von aussen
zugeführt wird. Diese Fähigkeit macht sich geltend, sobald
das Wachstum durch chemotaktische Einflüsse ausgelöst wird.
Ich glaube ferner, dass die gesteigerte Avidität der Ge¬
schwulstzellen für das im Körper kreisende Material, die von
Alb recht1') und von Ehrlich18) angenommen wird und
die ja auch zweifellos vorhanden ist, allein nicht genügt, das
schrankenlose Wachstum zu erklären. Da ist es denn um so
bemerkenswerter, dass Ehrlich19) selbst bei seinen neuesten
experimentellen Untersuchungen über die Uebertragung bös¬
artiger Geschwülste bei Tieren — also auf ganz anderem
Wege wie ich — zu einem Schluss gelangt ist, der mit den eben
ausgesprochenen Anschauungen sehr gut übereinstimmt. Ehr-
- — v
A 1 b r e c h t, 1. c., II, S. 158.
1S) Ehrlich: Arbeiten aus dem Kgl. Institut für experimentelle
Therapie zu Frankfurt a. M., H. 1, S. 87. Jena 1906.
19) Ebenda, S. 84.
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2047 .
lieh hat nämlich aus seinen Versuchen die Folgerung ge¬
zogen, dass zum Gelingen der Uebertragung einer bösartigen
Geschwulst auf ein Tier die Anwesenheit eines ganz bestimmten
„spezifischen X-Stoffes“, wie er ihn nennt, notwendig sei,
welchen die betreffende Geschwulst zu ihrer Entwicklung nötig
habe. Er nimmt hier einen „unentbehrlichen Wuchsstoff“ an;
meiner Ansicht nach sind das eben Stoffe, durch deren zugleich
chemotaktische Wirkung erst das schrankenlose Wachstum
der Geschwulst ausgelöst wird.
Selbstverständlich soll damit nicht behauptet werden, dass
jenen Stoffen n u r eine chemotaktische Wirkung zukäme. Es
ist wahrscheinlich, dass dieselben gleichzeitig als „Wuchs¬
stoffe“ von Bedeutung sind.
Wäre es möglich, diesen „spezifischen X-Stoff“, das At-
traxin, aus dem Körper zu entfernen, ihn zu zerstören, so würde
damit ein weiteres Wachsen der Geschwulst verhindert.
Freilich bliebe uns auch bei Annahme der vorgetragenen
Theorie noch sehr vieles zu erforschen übrig. Vor allem
müsste die Natur, das Vorkommen und die Entstehung jener
theoretisch angenommenen Attraxine zunächst festgestellt
werden. Vielleicht handelt es sich auch hier um ätherlösliche
Körper, die in Körperflüssigkeiten nur schwer löslich sind.
Das würde ihre Fixierung an bestimmten Orten und Organen
verständlicher machen. Möglich ist es ja auch, dass die che¬
mischen Vorgänge noch weit kompliziertere sind.
Ich bin mir wohl bewusst, wie viel Problematisches in
meinen Ausführungen liegt. Es liegt keine zwingende
Notwendigkeit vor, anzunehmen, dass sich die Wachstumsvor¬
gänge bei der Entstehung und dem weiteren Verlauf des
malignen Tumors in prinzipiell derselben Weise abspielen, wie
in meinen Tierversuchen. Vielleicht wird uns die Zukunft noch
andere Möglichkeiten chemischer Einflüsse zeigen. Aber ich
glaube doch auch nicht zu weit zu gehen, wenn ich sage, dass
hier zum ersten Male eine wirkliche Erklärung des bösartigen
Wachstums, d. h. eine Zurückführung auf in ihrem Wesen er¬
kannte Vorgänge gegeben ist. Bisher waren wir nicht im¬
stande, das Wachstum von Zellen experimentell derartig aus¬
zulösen, dass ein geschwulstähnliches Wachstum zustande kam.
Deshalb konnte man eben auch das schrankenlose Wachstum
bisher nicht auf bekannte Vorgänge zurückführen. Auch der
von Schwalbe jüngst aufgestellte Satz, die zu einer Ge¬
schwulstanlage ausgeschalteten Zellen hätten von vornherein
nicht nur die prospektive Potenz, sondern auch die pro¬
spektive Bedeutung, später schrankenlos zu wachsen, ist
nur eine ad hoc gemachte Annahme, denn wir kennen bisher
bei Zellen nur die prospektive Bedeutung eines abgegrenz¬
ten Wachstums. Das schrankenlose Wachstum soll
aber gerade erklärt werden.
Die Ergebnisse meiner Untersuchungen geben zum ersten
Male die Möglichkeit, das schrankenlose Geschwulstwachstum
auf bekannte Vorgänge zurückzuführen, d. h. die Möglichkeit
einer Erklärung des schrankenlosen Wachstums. Ob diese Er¬
klärung richtig ist, wird weiter zu prüfen sein. Jedenfalls
glaube ich zu der Annahme vollberechtigt zu sein, dass die Ent¬
stehung und das Wachstum des Krebses sich so vollziehen
kann, wie ich es dargestellt habe. Ich sehe zunächst keinen
Grund, die Möglichkeit dieser Entstehung auszuschliessen.
Haben wir aber diese Möglichkeit klar erkannt, so werden wir
bei der Wichtigkeit der Sache versuchen müssen, sie nach allen
Richtungen hin auf ihre Realität zu prüfen.
Ich verkenne also keineswegs, dass es sich auch hier um
eine Theorie handelt — aber sie hat eine gute Grundlage in
meinen experimentellen Untersuchungen, in dem Nachweis,
dass es tatsächlich Attraxine, Stoffe mit so eigenartigen chemo¬
taktischen und Wachstum auslösenden Wirkungen gibt. Ob
solche Stoffe wirklich in dem von mir angenommenen Masse
eine Rolle spielen, ob ein richtiger Kern in der vorgetragenen
Theorie liegt, wird die Zukunft lehren. Möge sie vor allem
zu neuen Untersuchungen anregen. Insbesondere würde es
mich freuen, wenn meine experimentellen Untersuchungen, die,
wie ich glaube, ein neues Gebiet erschlossen haben, eingehende
kritische Nachprüfung fänden - — ich bin überzeugt, dass aus
den Nachprüfern Mitarbeiter hervorgehen werden.
Herrn Prof. Dr. R i b b e r t bin ich ebenso wie meinem ver¬
storbenen Chef, Herrn Prof. Dr. K o e s t e r, zu grösstem Danke
verpflichtet für die Bereitwilligkeit, mit der sie mir die Mittel
des Institutes zur Ausführung der zahlreichen Tierversuche zur
Verfügung stellten. Die Durchführung der vorstehenden Unter¬
suchungen ist hierdurch überhaupt erst ermöglicht worden.
Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig (Direktor: Geheimrat
Prof. Dr. Curschman n).
Ueber Verlagerung des Kehlkopfs und der Luftröhre
bei verschiedenen Erkrankungen der Brustorgane.
Von Dr. med. Heinrich Wiehern und Dr. med. Fritz
Loening, Assistenten der Klinik.
Wenn wir im folgenden die Verlagerung des Kehlkopfs und
der Luftröhre bei verschiedenen Krankheitsvorgängen inner¬
halb des Brustkorbes einer Besprechung unterziehen, so gab
uns dazu die Anregung eine Arbeit Curschmanns [2], die
vor einiger Zeit in dieser Wochenschrift veröffentlicht wurde.
Curschmann wies damals vor allem darauf hin, dass so¬
wohl ausgebreitete, als auch ganz umschriebene Erweiterungen
der Brustaorta schon ziemlich früh zu sicht- oder fühlbaren
Verschiebungen der Luftröhre und des Kehlkopfs führen
können, und veranschaulichte dieses bisher kaum beobachtete
Symptom durch Abbildungen von 2 Kranken, bei denen es be¬
sonders deutlich ausgesprochen war. Seit dem Erscheinen
seiner Arbeit haben wir in 2 weiteren Fällen von Aneurysma
der Brustaorta seine Angabe von Neuem bestätigt gefunden,
worauf wir hier aber nicht näher einzugehen beabsichtigen.
Curschmann sprach ja damals schon die Ansicht aus, dass
den von ihm näher ausgeführten topographischen Verhältnissen
gemäss wohl auch die verschiedensten anderen Krankheits¬
prozesse innerhalb des Brustkorbes, besonders Pneumothorax,
Pleuraergüsse, Lungenschrumpfung und Kavernen, zu deut¬
lichen Verlagerungen des Kehlkopfs und der Luftröhre führen
müssten. Für diese Annahme, über die damals seine Beobach¬
tungen am Krankenbett noch nicht abgeschlossen waren, möch¬
ten wir nunmehr durch Mitteilung einiger interessanter Fälle
Belege bringen.
Wenn wir die seitliche Verschiebung der Luftröhre durch
Erweiterungen der Brustaorta häufiger beobachten konnten,
so erscheint es ohne weiteres sehr wahrscheinlich, dass auch
Geschwülste, die sich im Mediastinum entwickeln, eine
ähnliche Verlagerung hervorrufen können. Diese Erscheinung
ist daher bei Mediastinaltumoren schon früher von F. A. H o f f -
mann [l] hervorgehoben worden, und Curschmann [2]
hat ebenfalls einen hierher gehörigen Fall in seiner oben an¬
geführten Arbeit kurz erwähnt. Wir können dieser Beobach¬
tung noch 3 weitere hinzufügen und lassen deshalb einen kur¬
zen Auszug aus den Krankengeschichten folgen:
Fall 1. 46 jähriger Maurer erkrankte im Sommer 1905 mit
Husten und blutigem Auswurf, magerte seitdem stark ab und litt seit
Januar 1906 an Heiserkeit. Die Untersuchung ergab im Mai 1906
schon bei oberflächlicher Betrachtung eine Vorwölbung in der linken
oberen Schlüsselbeingrube, die sich bei. der Betastung als ein derbes
Drüsenpaket herausstellte, sowie eine leichte, aber deutliche Ver¬
schiebung des Kehlkopfes und der Luftröhre nach der rechten Seite.
Ueber der linken Lunge fand sich in den oberen Teilen bronchiales
Atmen, über den unteren, etwa vom Angulus inferior scapulae abwärts,
absolute Schalldämpfung und sehr leises Vesikuläratmen; später nahm
auch hier das Atemgeräusch den Charakter des Bronchialatmens an,
während der Stimmfremitus dauernd fehlte. Die laryngoskopische
Untersuchung ergab eine linksseitige Rekurrenslähmung. Kurz vor
dem Tode im Juli 1906 trat noch eine deutliche Schwellung der linken
Achseldrüsen auf. — Die Sektion ergab ein grosses Mediastinalsarkom,
dessen Hauptmasse den Hilus der linken Lunge umgab und ihren über¬
lappen durchsetzte. In der linken Pleurahöhle fanden sich 2000 ccm
gelblicher, klarer Flüssigkeit.
F a 1 1 2. 24 jähriger Hilfsarbeiter, dem im April 1906 der rechte
Oberschenkel wegen eines grossen Knochensarkoms amputiert
worden war, kam Ende Juni mit Husten und heftiger Atemnot in die
Klinik. Es wurde bei ihm eine absolute Dämpfung über der ganzen
rechten Thoraxhälfte mit völlig aufgehobenem Atemgeräusch fest¬
gestellt; das Herz war nach links verlagert, so dass der Spitzenstoss
im 5. Interkostalraum 2 Querfinger ausserhalb der linken Mammillar-
linie zu fühlen war. Die Supra- und Infraklavikulardrüsen der rechten
Seite waren deutlich geschwollen und verhärtet. Der Kehlkopf stand
genau in der Mittellinie des Halses; doch konnte man erkennen, dass
seine Achse etwas von rechts oben nach links unten geneigt war.
Eine Verlagerung der Luftröhre war bei der Betrachtung des
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
2048
Halses nicht deutlich zu erkennen, wenn auch an der Innenseite des
rechten Kopfnickers eine etwas tiefere Grube vorhanden war, als
links; doch zeigte die Betastung der Trachea und die Aufzeich¬
nung des Verlaufes ihrer Längsachse (in der von C urschmann
genau beschriebenen Weise) sofort, dass sie in ihren unteren Teilen,
also nahe dem Jugulurn, sehr beträchtlich von der Mittellinie des
Halses abwich und folglich einen stark von rechts oben nach links
unten gerichteten Verlauf nahm. — Auch in diesem Falle konnte die
Obduktion den eben geschilderten Befund nur bestätigen. Nach Frei¬
legung der Halsteile zeigte sich der in der beschriebenen Weise leicht
geneigte Kehlkopf genau in der Mitte zwischen beiden Mm. sterno-
cleidomastoidei; die Schilddrüse war ziemlich gleichmässig beiderseits
vergrössert, und unter ihrem mittleren Lappen hervor sah man die
Trachea in schräger Richtung nach dem linken Sternoklavikular-
gelenk hin verlaufen. Das ganze Mediastinum, sowie das Herz und
der Herzbeutel waren ziemlich erheblich nach links verschoben. Fast
die ganze rechte Lunge war von einer festen Tumormasse durchsetzt;
nur die Lungenspitze enthielt noch einige Reste normalen Gewebes.
Die Brustaorta beschrieb einen deutlichen nach links konvexen Bogen.
In den der rechten Lunge benachbarten Lymphdriisen fanden sich
reichliche Metastasen. Die mikroskopische Untersuchung ergab mit
Sicherheit, dass bei dem Tumor eine Metastase des früher operativ
entfernten Osteoidsarkoms vorlag.
Fall 3. 12 jähriges Mädchen litt seit etwa 6 Wochen an
mässiger Atemnot, die sich allmählich verschlimmerte; das Gesicht
wurde leicht gedunsen, während das Kind im allgemeinen abmagerte.
Seit einer Woche fühlte es einen unangenehmen Reiz im Kehlkopf,
der es fortwährend zum Husten veranlasste. In der Nacht vor der
Untersuchung bekam es einen Erstickungsanfall. Das Kind war ziem¬
lich dyspnoisch und hatte zeitweise deutlichen Stridor. Die Besichti¬
gung und vor allem die Betastung des sonst normalen Kehlkopfs
ergab sofort, dass er etwas nach links aus der Mittellinie verschoben
war. An der Luftröhre war diese Verlagerung noch viel stärker aus¬
gesprochen, so dass ihre Längsachse hinter dem linken Sternoklavi-
kulargelenk verlief. Auf der rechten Seite fühlte man zwischen ihr
und dem M. sternocleidomastoideus eine breite, tiefe Grube, während
links zwischen beiden kaum ein Zwischenraum vorhanden war. Aus
diesem Befunde konnte unter Berücksichtigung der Anamnese schon
mit grosser Wahrscheinlichkeit auf einen malignen Tumor geschlossen
werden, der sich innerhalb des Mediastinum ganz vorwiegend nach
der rechten Seite hin entwickelte. Die weitere Untersuchung be¬
stätigte diese Annahme, indem sich bei der Perkussion über dem
ganzen Sternum und in den oberen Teilen noch etwa ein Querfinger
rechts von ihm ein breiter Dämpfungsbezirk fand, der nach links in
die Herzdämpfung überging. Das Röntgenbild zeigte in der Gegend
des rechten Lungenhilus einen unregelmässig begrenzten Schatten,
der nur als ein etwa faustgrosser Tumor zu deuten war; dabei war
die Verdrängung der Trachea und des Aortenbogens deutlich zu er¬
kennen, während das Herz noch an normaler Stelle lag. Vermutlich
bestand die Geschwulst aus einem von der Thymus ausgehenden,
rasch wachsenden Sarkom.
In diesen 3 Fällen handelte es sich also um ein Sarkom,
das sich entweder primär oder sekundär hauptsächlich im
Mediastinum entwickelt hatte; die Geschwulst war allmählich
vorwiegend nach einer Seite, im Falle 1 nach links, im Falle 2
und 3 nach rechts, gewuchert und hatte dabei das Mediastinum
und damit auch die Luftröhre nach der entgegengesetzten Seite
verdrängt. Während nun im 1. und 3. Falle sofort bei der
Betrachtung des Halses die Lageveränderung des Kehlkopfs
auffiel, stand dieser bei dem 2. Kranken scheinbar in der Mittel¬
linie. Erst bei genauerer Beobachtung und vor allem bei guter
Beleuchtung, wobei es auf gleichmässige Verteilung von Licht
und Schatten wohl besonders ankam, bemerkten wir einen
Schiefstand der Längsachse des Kehlkopfs, und die Palpation
der Luftröhre, die ihre starke Verlagerung nahe dem Jugulurn
erkennen liess, verschaffte uns Gewissheit darüber, dass unsere
Beobachtung richtig sein musste. Es erscheint wichtig, auf
dieses Verbleiben des Kehlkopfs in der Mittellinie des Halses
trotz starker Verdrängung des unteren Teils der Luftröhre be¬
sonders hinzuweisen, weil ja infolgedessen das uns hier be¬
schäftigende Symptom leicht übersehen werden kann. Meist
wird allerdings bei der Betrachtung des Halses auffallen, dass
eine der zwischen Luftröhre und Mm. sternocleidomastoidei
gelegenen Gruben bedeutend breiter und tiefer ist, als die
andere, die eben dann durch die verlagerte Trachea ver¬
schmälert und abgeflacht wird. Diese Erscheinung wird nach
unserer Erfahrung bei tiefer Inspiration aus leicht verständlichen
Gründen besonders deutlich. Immerhin ist aber bei dem Ver¬
dacht auf einen Mediastinaltumor neben einer sorgfältigen Be¬
trachtung niemals die Betastung des Halses zu unterlassen;
in einzelnen Fällen mag auch diese eine Verlagerung der
Trachea nicht sicher erkennen lassen, und dann kann zuerst,
worauf Pfeiffer besonders hinweist, das Röntgenbild
die Aufmerksamkeit darauf lenken. Wie weit die Lageverände¬
rung der Luftröhre als Frühsymptom mediastinaler Ge¬
schwülste verwertbar ist, darüber lassen die oben mitgeteilten
Fälle keine Schlüsse zu, weil sie in zu weit vorgeschrittenem
Stadium zur Untersuchung kamen. Zweifellos werden aber
auch Tumoren von noch geringer Grösse bei besonderen Lage¬
beziehungen zur Trachea sich durch Verschiebungserschei¬
nungen geltend machen können. Hier sind sicherlich dieselben
topographisch-anatomischen Verhältnisse massgebend, die
Curschmann schon bezüglich der Aneurysmen des Aorten¬
bogens eingehend dargelegt hat.
Bei dem Sektionsbefunde unseres ersten Falles war kurz
erwähnt worden, dass sich in der linken Pleurahöhle 2 Liter
Flüssigkeit befanden; das legt die Frage nahe, welchen Einfluss
Flüssigkeitsansammlungen allein auf die Verlage¬
rung der Halsorgane ausüben können. Bekanntlich verdrängen
pleuritische Exsudate zuweilen das Herz und Mediastinum
ziemlich weit nach einer Seite, und es ist daher von vorn¬
herein wahrscheinlich, wie Curschmann ja schon ausge¬
sprochen hat, dass diese Verschiebung auch an der Trachea
und am Kehlkopf sichtbar wird. So zeigte Pfeiffer [3] tat¬
sächlich an einem Röntgenbild eines 4 jährigen Mädchens eine
deutliche Verlagerung der Luftröhre durch ein Pleuraexsudat,
nach dessen Entfernung die Erscheinung sofort zurückging.
Es mögen daher auch zwei von uns beobachtete Fälle, die
Erwachsene betrafen, hier kurz Erwähnung finden:
Fall 4. -45 jähriger Arbeiter klagte seit 8 Tagen über heftige
Schmerzen in der linken Brustseite. Die physikalische Untersuchung
des Thorax ergab eine absolute Dämpfung, aufgehobenen Stinrm-
fremitus und fehlendes Atemgeräusch in den unteren Teilen der linken
Seite, und zwar etwa vom Angulus inferior scapulae abwärts, ln den
folgenden Tagen nahm das Exsudat zu, so dass es bald mit seiner
oberen Grenze die Mitte des Schulterblatts erreichte. Gleichzeitig
wurde die Herzdämpfung, die vorher den rechten Brustbeinrand nicht
überschritt, deutlich um 2 Querfinger über diesen hinaus verschoben.
Jetzt trat auch eine sichtbare Verlagerung der Luftröhre in der Fossa
jugularis hervor, und sogar der Kehlkopf wich ein wenig aus der
Mittellinie des Halses nach rechts ab. Die Punktion des Exsudats
ergab 2500 ccm klarer, seröser Flüssigkeit und hatte einen Rückgang
der verdrängten Organe in die frühere, normale Lage zur Folge.
Fall 5. 19jährige Arbeiterin, die seit 8 Wochen an heftigem
Stechen in der linken Brustseite geklagt hatte, erhielt kurz vor der
Aufnahme ins Krankenhaus von dem behandelnden Arzt eine Kollargol-
injektion in die linke Pleurahöhle. In der Klinik wurde bei ihr ein
linksseitiges Pleuraexsudat festgestellt, das wenige Tage nach der
Aufnahme über der ganzen linken Lunge absolute Dämpfung und auf¬
gehobenen Stimmfremitus bedingte; nur über der Lungenspitze war
noch Bronchialatmen zu hören. Das Herz war fast bis zur rechten
Mammillarlinie hinübergeschoben und das Zwerchfell auf der linken
Seite nach abwärts gedrängt. Die Luftröhre wich bedeutend nach
rechts ab, so dass ihr linker Rand 2 cm oberhalb der Incisura
jugularis die Mittellinie des Halses kreuzte. Die Grube zwischen
ihr und dem linken Sternokleidomastoideus war wesentlich breiter
und tiefer, als auf der anderen Seite. Der Kehlkopf stand dagegen
genau in der Mittellinie und zeigte nur eine der Verschiebung der
Trachea entsprechende, aber nicht sehr auffällige Schrägstellung. Die
Entleerung von 1700 ccm tiefschwarzen, syrupartigen Exsudats (spez.
Gewicht 1075) liess sofort die Luftröhre in die normale Lage zurück¬
gleiten, während die Herzdämpfung noch um einen Querfinger den
rechten Brustbeinrand überragte. Der Erguss sammelte sich in den
nächsten 3 Wochen wieder an und rief dieselben Verdrängungs¬
erscheinungen hervor; auch dieses Mal verschwanden sie nach der
Punktion, die etwa 1600 ccm gleicher Flüssigkeit, wie früher, zu Tage
förderte.
Beide Beobachtungen lehren also, dass auch pleuritische
Exsudate zu einer deutlich sicht- und fühlbaren Verlagerung
der Luftröhre und zuweilen auch des Kehlkopfs führen können.
Im allgemeinen ist wohl anzunehmen, das nur ziemlich be¬
deutende Ergüsse diese Erscheinung hervorrufen werden. In
unserem Falle 5 genügte die Entfernung von 1 A Liter Flüssig¬
keit, um die verdrängte Luftröhre in die normale Lage zurück¬
treten zu lassen; Pfeiffer sah das Verschwinden der Er¬
scheinung bei dem 4 jährigen Kinde schon nach Ablassen von
500 ccm. Die Flüssigkeitsmenge, die sich in einer Pleurahöhle
ansammeln muss, um eine deutliche Verlagerung der Luftröhre
hervorzurufen, wird je nach der Grösse des Kranken und nach
dem Umfange seines Brustkorbes verschieden sein; auch wird
die Nachgiebigkeit der Thoraxwand und besonders des Zwerch¬
felles dabei eine wichtige Rolle spielen. Bei gleichzeitigem
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2049
Meteorismus des Darmes, der das Zwerchfell stark nach oben
drängt, wird natürlich eine viel geringere Flüssigkeitsmenge
ausreichen, um die fraglichen Verdrängungserscheinungen her¬
vorzurufen. Wie stark der Raum im Innern des Brustkorbes
durch den Meteorismus eingeengt werden kann, veranschau¬
lichen sehr gut einige Abbildungen, die einer kürzlich er¬
schienenen Arbeit von Stadler [6] und Hirse h über „Me¬
teorismus und Kreislauf“ beigegeben sind. Bei Ergüssen in
die linke Pleurahöhle dürfte ferner wegen der Lage des
Herzens eine Verdrängung der Luftröhre früher eintreten, als
bei rechts seitigen Exsudaten. Endlich sind wohl noch pleu-
ritische Verwachsungen zu berücksichtigen; sie könnten, be¬
sonders wenn sie im Bereich eines Oberlappens und in grosser
Ausdehnung vorhanden sind, wohl einmal das Fehlen einer
Verlagerung der Luftröhre trotz deutlicher Verdrängung des
Herzens erklären.
Wenn demnach das uns hier beschäftigende Symptom bei
Pleuraergüssen nur unter bestimmten Umständen auftritt, so
ist im Gegensatz dazu sein regelmässiges Vorkommen bei
einem Pneumothorax zu erwarten, der ja bekanntlich
stets recht bedeutende Verdrängungserscheinungen hervorruft.
Wir haben diese Annahme daher auch bei den in letzter Zeit
von uns beobachteten 5 Fällen von totalem Pneumothorax,
von denen 2 erst in der Klinik entstanden, bestätigt gefunden
und wollen kurz zusammenfassend über sie berichten.
Sie betrafen alle männliche Erwachsene im Alter zwischen
19 und 53 Jahren, und die Ursache des Pneumothorax war dreimal
Lungentuberkulose mit Durchbruch einer kleineren Kaverne, einmal
ein Bronchuskarzinom mit umschriebener Nekrose der Pleura pul-
monalis und endlich einmal ein Trauma. In 4 Lallen bestand rechts¬
seitiger, in einem Falle linksseitiger Pneumothorax, und zweimal trat
im weiteren Verlaufe ein Empyem hinzu, das aber auf die zu schil¬
dernden Verdrängungserscheinungen keinen Einfluss ausübte; die Be¬
obachtungsdauer betrug 1 — 3 Wochen; der durch Trauma verursachte
Fall befindet sich noch in unserer Beobachtung *). Bei allen Kranken
waren die bekannten physikalischen Erscheinungen eines Pneumo¬
thorax deutlich ausgesprochen und eine erhebliche Verdrängung des
Herzens um mindestens 2 Querfinger, sowie ein bedeutender Tief¬
stand des Zwerchfells nachzuweisen. Ebenso zeigten sie sämtlich
sehr deutlich eine durch den Pneumothorax bedingte Verlagerung der
Luftröhre nach der ihm entgegengesetzten Seite; besonders schön
war bei allen auf der Seite des Pneumothorax die Vertiefung und
Verbreiterung der zwischen Luftröhre und Sternocleidomastoideus ge¬
legenen Grube am Halse erkennbar, während auf der anderen Seite
fast gar keine Grube mehr zu sehen oder zu fühlen war. Der Kehl¬
kopf war regelmässig in gleicher Weise, wie die Trachea, seitlich
verschoben; nur bei dem linksseitigen Pneumothorax war diese Ver¬
lagerung nicht so stark, dass sie schon bei der Betrachtung aus
einiger Entfernung auffiel. Vier Fälle endeten tödlich, und drei kamen
zur Obduktion; dabei traten die soeben besprochenen Verlagerungen
nach Freilegung der Halsgegend noch deutlicher hervor, wie die von
einem der Fälle stammende Abbildung (Fig. l)* 1) sofort erkennen lässt.
Fig. 1.
*) Anmerkung bei der Korrektur: Der Kranke ist in¬
zwischen geheilt entlassen worden. Die Verdrängung der Halsorgane
ging mit der Resorption des Pneumothorax allmählich zurück.
1) Für die freundliche Ueberlassung dieser Photographie sind
wir dem Direktor des pathologischen Instituts, Herrn Geheimrat Prof.
Dr. M a r c h a n d zu bestem Danke verpflichtet.
No. 42.
Endlich sei noch ein sechster, schon im Jahre 1902 beobachteter
Fall hier angeführt. Bei einem 21jährigen Schriftsetzer mit rechts¬
seitiger, massig vorgeschrittener Lungentuberkulose entstand in der
Klinik ein rechtsseitiger Pneumothorax, bei dem sehr tiefer, sonorer
Perkussionsschall, Metallklang und Succussio Hippocratis vorhanden
war. Die Verdrängungserscheinungen waren besonders stark; die
rechte Thoraxhälfte war erheblich ausgedehnt, die Zwischenrippen¬
räume vorgewölbt, der vorher normal gelegene Herzspitzenstoss be¬
fand sich in der linken, vorderen Axillarlinie im 6. Interkostalraum,
und das Zwerchfell stand rechts hinten am 1. Lendenwirbel, vorne
in der Mamillarlinie an der 8. Rippe. Der Kranke hatte eine links¬
seitige Rekurrensläh¬
mung, die wohl auf eine
Zerrung der Nieren
durch den mit dem
Herzen nach links und
abwärts gedrängten
Aortenbogen zurückzu¬
führen war; die linke
Arteria radialis war be¬
deutend stärker gefüllt
als die rechte, und der
Patient litt endlich noch
infolge der Zerrung der
Speiseröhre an Schluck¬
beschwerden. Die bei¬
gefügte Photographie
(Fig. 2) zeigt nun, in
welcher Weise die Ver¬
drängungserscheinungen
am Kehlkopf und an der
Luftröhre erkennbar
waren. Der Kehlkopf
schien ziemlich genau in
der Mitte des vorderen
Halsdreiecks zu stehen,
wenn auch die Palpation
eine geringe Abweichung nach links ergab. Dagegen ist auf dem Bilde
zweifellos eine starke Schrägstellung und Verlagerung der Trachea
zu erkennen; die rechts zwischen ihr und dem M. sternocleido¬
mastoideus gelegene Grube ist deutlich und tief ausgeprägt, während
an der Innenseite des linken Sternokleidomastoideus die Haut sogar
vorgewölbt erscheint. Die Betastung stellte fest, dass diese Vor¬
wölbung durch die nach links verschobene Trachea bedingt war.
Wenn somit diese Fälle klinisch keine Besonderheiten
bieten, so möchten wir umsomehr betonen, dass bei allen die
Verlagerung der Luftröhre und — mit zwei Ausnahmen —
auch des Kehlkopfs recht bedeutend war. Es lag in keinem
Falle (vielleicht abgesehen von dem zuletzt angeführten) ein
Grund vor, im Innern des Pneumothorax einen besonders
starken Ueberdruck anzunehmen, und jene Erscheinung kann
also in dieser Beziehung keinen diagnostischen Wert bean¬
spruchen. Es ist übrigens ja schon früher häufig — namentlich
von Weil [7] — hervorgehoben worden, dass „auch bei offenem
Pneumothorax Mediastinum sowohl als Zwerchfell hochgradig
disloziert und die Wandungen der Brusthöhle ausgedehnt wer¬
den“. Immerhin wäre es interessant, bei einem Pneumothorax,
der ein Ablassen des Ueberdrucks durch Punktion erfordert,
darauf zu achten, ob sich nach der Punktion die Verlagerung
jener Halsorgane wesentlich verändert.
Bei unseren Fähen von Pneumothorax hatte die Verschie¬
bung der Luftröhre und des Kehlkopfs natürlich keine grosse
praktische Bedeutung; doch hat Curschmann in seiner
schon öfter angeführten Arbeit darauf hingewiesen, dass dieses
Symptom gelegentlich einmal bei der Unterscheidung einer
grossen Kaverne und eines partiellen Pneumothorax eine Rolle
spielen kann. Denn es ist klar, dass ein Pneumothorax wohl
nur eine Dislokation nach der entgegengesetzten Richtung be¬
wirken kann, während eine grössere Kaverne die Luftröhre in
ihrer normalen Lage lassen oder im Gegenteil durch die
Schrumpfungsvorgänge in dem zwischen beiden he¬
genden Lungengewebe gerade nach der Seite, auf der sie sich
befindet, hinüberziehen wird. Zufällig hatten wir Gelegenheit,
folgenden in dieser Beziehung recht lehrreichen Fall zu be¬
obachten :
Fall 12. Ein 39 jähriger Maurer mit normal gebautem Brust¬
korb zeigte über den oberen Teilen der linken Lunge eine massige
Schalldämpfung, die vorne bis zum Schlüsselbein, hinten fast bis zur
Mitte des Schulterblattes reichte; in diesem Bereich war verschärftes
Exspirium und kleinblasiges Rasseln zu hören. Auf der rechten Seite
ergab die Perkussion in der oberen und unteren Schlüsselbeingrube
deutlich tympanitischen Schall, jedoch keinen ausgesprochenen Schall-
2
Fig. 2.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
hinten bis fast zum unteren Schulterblattwinkel gedämpften
Schall. Das Ergebnis der Stäbchen-Plessimeter-Perkussion in den
vorderen oberen Teilen
der rechten Lunge war
zweifelhaft. Das Atem¬
geräusch war im Be¬
reich des tympanitischen
Schalles amphorisch,
aber zeitweilig sehr
leise; hinten zeigte es
über dem Oberlappen
deutlich bronchialen
Charakter und zwar von
klein- bis mittelblasigem
Rasseln begleitet. Die
übrigen Lungenteile
zeigten normale Ver¬
hältnisse. Das Sputum
war mässig reichlich,
geballt, schleimigeitrig
und enthielt Tuberkel¬
bazillen. Am Herzen
war keine Verlagerung
festzustellen; dagegen
fiel schon bei flüchtiger
Betrachtung des Kran-
.. , , ken sofort eine wesent-
liche Verschiebung des Kehlkopfs nach der rechten Seite auf, wie
1 ig. 3“) sehr deutlich erkennen lässt. Bei der Palpation zeigte es
sich, dass die Mittellinie der Trachea die Fossa jugularis fast am
rechten Sternoklavikulargelenk kreuzte.
Es konnte sich also nach dem Perkussions- und Auskul¬
tationsbefund bei unserem Kranken sehr wohl um einen par¬
tiellen Pneumothorax der rechten Seite handeln; trotzdem glau¬
ben wir gerade wegen der starken Verschiebung der Luftröhre
und des Kehlkopfs nach rechts mit Sicherheit eine grössere
Kaverne anehmen zu dürfen, zumal wir für diese Lage¬
änderung keine andere Ursache auffinden konnten.
Dass Schrumpfungsvorgänge im Thorax das Herz und
Mediastinum nach der betroffenen Seite hinüberziehen und so¬
gar zu Einziehungen der Brustwand und Verkrümmung der
Wirbelsäule führen können, ist allgemein bekannt. Ob die
Verlagerung der Organe aber auch durch seitliches Verrücken
der Luftröhre in ihrem Halsteil erkennbar werden kann, ist
bisher wohl kaum erörtert worden. Es war uns daher um so
interessanter, durch folgenden einwandfreien Fall einen Beweis
dafür zu erhalten:
Fall 13. Ein 20 jähriger Tischler wies neben einem beginnen¬
den Spitzenkatarrh über den hinteren Teilen der linken Lunge vom
unteien Schulterblattwinkel abwärts eine deutliche Dämpfung des
Perkussionsschalles auf, die seitlich etwas tympanitischen Beiklang
erhielt. Auskultatorisch war tief bronchiales, zuweilen auch am¬
phorisches Atmen und klingendes, klein- bis mittelblasiges Rasseln
zu hören. Der Brustkorb zeigte keine bemerkenswerte Formver-
anderung. Das Herz, das sonst durchaus normalen Befund zeigte,
war ausserordentlich weit nach links verlagert, sodass der Spitzen-
stoss im 6. Zwischenrippenraum in der mittleren Axillarlinie am
besten fühlbar war. Die Luftröhre zeigte sehr deutlich einen von
dem in der Mitte stehenden, aber etwas geneigten Kehlkopfe schräg
nach links unten gerichteten Verlauf; ihr linker Rand kreuzte das Jugu-
lum etwa 1 /z cm links von der Mittellinie. Die Perkussion der
vorderen Brustseite ergab eine dementsprechende Verlagerung des
ganzen Mediastinum nach links.
Ohne hier auf die Einzelheiten dieses recht eigenartigen
Falles näher einzugehen, wollen wir nur bemerken, dass der
gesamte Befund wohl mit Sicherheit auf eine derbe pleuritische
Schwarte, eine interstitielle Pneumonie und grössere Bron¬
chiektasen in den hinteren, unteren Partien der linken Lunge
schliessen liess. Jedenfalls sprach die ungewöhnlich starke
Verlagerung des Herzens unzweifelhaft dafür, dass in jenen
1 eilen erhebliche Schrumpfungsvorgänge stattgefunden haben
mussten. Diese hatten auch das ganze Mediastinum nach der
linken Seite hinübergezogen und dadurch die deutliche Schräg¬
stellung der Luftröhre in ihrem Halsteil verursacht. Leider
haben wir seither noch keine weiteren Fälle mit ausgedehnten,
einseitigen Pleuraschwarten beobachten können, um ein Urteil
daiüber abzugeben, ob eine solche Verlagerung der Luftröhre
dabei häufig oder fast regelmässig vorkommt.
Fig. 3.
) Das Kreuz auf der Photographie bezeichnet die Stelle, an der
Ka\ ei nensj mptome am deutlichsten ausgesprochen
Eine Verlagerung des Kehlkopfs und des Halsteils der Luft¬
röhre kann also sowohl durch Druck-, als auch durch Zug¬
wirkung innerhalb des Brustkorbes zustande kommen, und an
beide Möglichkeiten muss daher in jedem einzelnen Falle ge¬
dacht wrerden. Die Bedeutung des Symptoms liegt darin, dass
es schon bei der ersten Betrachtung des Kranken die Aufmerk¬
samkeit auf einen im Innern des Thorax vorhandenen Krank¬
heitsvorgang richtet, der sonst vielleicht kaum beachtete Er¬
scheinungen macht, wie es namentlich bei Aneurysmen der
Aorta häufig der Fall sein wird. Ausserdem kann ihm aber
auch gelegentlich ein differentialdiagnostischer Wert zu¬
kommen, wie der oben beschriebene Fall 12 zeigt. Zum Schluss
sei noch bemerkt, dass eine Verlagerung des Kehlkopfs nicht
ganz selten durch ungleichmässige Ausbildung beider Schild¬
knorpel oder andere Deformitäten vorgetäuscht werden kann.
Auch ist bei der Betrachtung des sog. vorderen Halsdreiecks
stets auf gleichinässige Ausbildung beider Mm. sternocleido-
mastoidei zu achten, weil man sonst ebenfalls durch schein¬
bare Verlagerungen des Kehlkopfs und der Luftröhre getäuscht
werden kann.
Literatur:
l) F. A. H o f f m a n n: Nothnagels Spez. Path. u. Ther., Bd. XIII,
3, 2. Abt. — 2) Curschmann: Münch, med. Wochenschr. 1905,
No. 48.-3) Pfeiffer: Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 8. —
4) Gröber: Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 31. — ■ 5) Cursch¬
mann: Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 33, S. 1647. —
6) Stadler und Hirsch: Mitteil. a. d. Grenzgebieten d. Med. u.
Chir., Bd. XV, H. 3 u. 4, 1905. — 7) Weil: Zur Lehre vom Pneumo¬
thorax, Leipzig 1882.
Aus der inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses
Augsburg (Oberarzt Dr. L. R. Mülle r).
Das Aortenaneurysma auf syphilitischer Grundlage
und seine Frühdiagnose.
Von Dr. S a a t h o f f.
Die Frage der Aortitis luetica ist wieder aktuell geworden.
Durch die höchst interessanten Arbeiten von Wiesner [l]
und B r u h n s [2] ist sie in ein neues Stadium eingetreten.
Beide Forscher haben unabhängig von einander in den Aorten
luetischer Neugeborener pathologische Befunde erhoben, die
sie bei Nichtluetischen stets vermissten. Im wesentlichen waren
die Prozesse charakterisiert durch kleinzellige Infiltrate der
Adventitia und Media, vorzugsweise in der Umgebung der
Vasa vasorum, sodann durch Hyperämie und Endarteriitis pro¬
liferans der ernährenden Qefässe. In einem Falle berichtet
Wiesner sogar über sekundäre Nekrose der elastischen Fa¬
sern im äusseren Drittel der Media. Der Prozentsatz der ent¬
zündlichen Veränderungen stellte sich bei systematischer Un¬
tersuchung recht hoch: Wiesner fand sie in 10 Fällen von
sicherer kongenitaler Lues 9 mal, Bruhns in 6 von 9 Fällen.
Diese Befunde sind als ein wesentlicher Fortschritt in der Er¬
kenntnis der Aortitis luetica freudigst zu begrüssen. Was sie
so wertvoll macht, ist die grosse Eindeutigkeit der zu Grunde
liegenden Ursache. Während man bei der in Frage stehenden
Erkrankung Erwachsener andere ätiologische Momente, be¬
sonders Trauma, Alkoholismus, Arteriosklerose und über¬
standene Infektionskrankheiten nie absolut sicher ausschliessen
kann, fallen die drei ersten hier ganz weg; und eine andere
Infektion als die nachgewiesene Lues anzuschuldigen, wäre
doch wohl zu sehr erzwungen. So darf man diesen Unter¬
suchungen fast den Wert eines Experimentes zusprechen, und
die entzündlichen Prozesse in der Aorta luetischer Erwachsener
erfahren durch sie eine neue Beleuchtung. Da nun die ge¬
fundenen Veränderungen hier wie dort im wesentlichen die¬
selben sind, so kommen beide Autoren zu dem Schlüsse, dass
es sich um identische Prozesse handelt.
Die Lehre von der Aortitis s. Mesarteriitislue-
t i c a ist aus der Kieler pathologischen Schule hervorgegangen.
Jahrelang haben Heller und seine Schüler fast allein um
ihre Anerkennung gekämpft. Sie war nicht nur theoretisch,
sondern auch praktisch von ausserordentlicher Wichtigkeit,
da sie von vornherein in präzise Beziehung zum Aortenaneu¬
rysma gebracht und als deren vornehmste Ursache aufgefasst
wurde. Erst in neuerer Zeit machte sich in der Frage eine
grössere Vorwärtsbewegung geltend, besonders seit C h i a r i
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2051
16. Oktober 1906.
auf dem Kasseler Naturforschertag der Lehre beitrat und ihr
mit der Bezeichnung Mesaortitis productiva einen
nichts präjudizierenden Namen beilegte. Aber immer noch
nicht verstummte der Widerspruch. Mehrere hervorragende
Pathologen wollten die Spezifität des Prozesses und speziell
ihren engen Zusammenhang mit dem Aneurysma nicht aner¬
kennen; und so kann man sich nicht wundern, dass der Aortitis
luetica immer noch nicht der ihr gebührende Platz eingeräumt
wird, und dass in den meisten Lehrbüchern die Arteriosklerose
in der Entstehung des Aneurysmas noch die führende Rolle
spielt. Hoffentlich werden die neueren Untersuchungen dazu
beitragen, auch den letzten Zweifel verstummen zu lassen.
Wenn ich es unternehme, einige Beiträge zur Lehre der
Aortitis luetica zu liefern, so glaube ich dazu berechtigt zu sein,
weil ich in einer 2 jährigen Assistententätigkeit am Kieler patho¬
logischen Institute zahlreiche Untersuchungen angestellt habe
und auch hier eine kleine Reihe von Fällen klinisch beobachten
und sezieren konnte, deren Ergebnis nicht wertlos sein dürfte.
In erster Linie bezwecken meine Ausführungen, auf die Not¬
wendigkeit der Frühdiagnose des Aortenaneurysmas hinzu¬
weisen und an der Hand einiger Fälle zu zeigen, dass diese
unter Umständen sehr wohl möglich ist. Da ich aber nicht
fehl zu gehen glaube in der Annahme, dass den meisten Aerzten,
speziell den Praktikern, die Lehre der Aortitis luetica fremd ist,
so halte ich es für geboten, ihre Pathogenese mit einer Er¬
weiterung, die sich mir ergeben hat, hier vorauszuschicken.
Die erste umfassende Darstellung derselben hat
Doehle [3] in seiner zweiten Arbeit gegeben, zu der die
Ausführungen späterer Autoren kaum etwas neues hinzuge¬
bracht haben. Auf einen Punkt aber haben alle meines Er¬
achtens nicht den genügenden Nachdruck gelegt, das ist die
Rolle der Vasa vasorum in dem Prozesse. Wenn auch hier
und da die Intimawucherungen derselben erwähnt werden,
so geschieht es doch nirgends mit dem Elinweise, dass hier
der Grund liegt für die sekundäre Nekrose der Media, die aus
der luetisch erkrankten Aortenwand die Wand des Aneurysmas
macht.
Diese Rolle der Vasa vasorum zu studieren, verdanke ich
einer Anregung, die mir Herr Prof. Doehle im Kieler In¬
stitute gab. Zu diesem Zwecke härtete ich Stücke von der
erkrankten Aortenwand zwischen zwei plangeschliffenen Glas¬
platten, bettete sie ein und zerlegte sie in eine Serie von ca.
80 Flachschnitten, sodass die Vasa vasorum quer getroffen
wurden und nun schrittweise von der Adventitia bis zur Intima
durchmustert werden konnten. Die Bilder, die sich so er¬
gaben, waren sehr instruktiv und zeigten zur Evidenz, dass die
Vasavasorum als die eigentlichen 1 räger des
pathologischen Prozesses anzusehen sind.
Wo sich dichtere Rundzelleninfiltrate fanden, da Hessen sich
auch in ihrem Zentrum ein oder mehrere Gefässe nachweisen.
Diese selbst waren stark vermehrt, ihre Wand durch Intima¬
wucherung verdickt, und an manchen Stellen sah man in grös¬
serem Umkreise die Lichtungen fast aller Vasa vasorum ziem¬
lich gleichmässig bis zum nahezu völligen Verschlüsse verengt.
Auf Grund dieser Befunde haben weitere Untersuchungen
mich dahin geführt, den in Frage stehenden Prozess als eine
primäre Lues der Vasa vasorum aufzufassen und
ihrer weiteren Entwicklung konsequent nachzugehen. Eine
wertvolle Hilfsvorstellung gewann ich dabei durch ein Ergebnis
der neueren Spirochätenforschung von V e i 1 1 o n und G i r a r d
[4]. Die beiden Forscher fanden bei der Roseola syphilitica
wahre Spirochätenembolien in den Endkapillaren der Haut¬
papillen, ferner sekundäre Hyperämie und perivaskuläre Zell¬
infiltration. Da nun eine Infektion der Aortenwand — abge¬
sehen von den Klappen — wohl fast ausschliesslich auf dem
Wege der Vasa vasorum erfolgt, so liegt es nahe, hier den¬
selben Vorgang anzunehmen und in einer Embolie der Vasa
vasorum den Anfang des Prozesses zu sehen. Als erste
Folge der eingetretenen Infektion finden wir eine klein¬
zellige Infiltration um die Vasa vasorum dort, wo
sie sich in Kapillaren auflösen, also etwa im inneren
Drittel der Media. Da wir nun nach Analogie von anderen
infektiösen Prozessen wohl sicher annehmen dürfen, dass die
Erreger nicht im Gefässlumen liegen bleiben, sondern in die
Umgebung auswandern, so wäre der zweite Schritt eine Ent¬
zündung in der Umgebung, eine Perivaskulitis der Vasa vaso¬
rum. Dadurch sind aber die Mikroorganismen in die Anfänge
der Lymphbahnen geraten, werden nach aussen abgeführt und
gelangen so in die Lymphknötchen der Adventitia, die vorbei
kaum sichtbar, zu umfangreichen Gebilden anschwcllen und
im mikroskopischen Bilde einen sehr dominierenden Platz ein¬
nehmen, immerhin aber doch nur eine nebengeordnete Rolle
spielen.
Kehren wir nun zu den Vasa vasorum zurück, so sind diese
jetzt im ganzen Verlaufe in ein entzündetes Gewebe einge¬
bettet, und dieses übt auf ihr Endothel einen starken W achs¬
tumsreiz aus, wie man das bei jeder Entzündung beobachten
kann, die nicht direkt zur Nekrose führt. So sehen wir, dass
die Endothelzellen aus dem Ruhezustände in die grosse, epi-
theloide Form übergehen und sich fortgesetzt teilen. Dadurch
wird einmal aus dem ursprünglich einfachen Endothelrohr ein
mehrschichtiges, das weiterhin den ernährenden Gefässen das
Aussehen von kleinen Arterien verleiht, Vascu litis pio-
liferans. Andrerseits treiben die Endothelien Sprossen,
die in unregelmässiger Weise gegen die Intima Vordringen,
wieder mit einem Mantel von Lymphozyten umgeben werden,
und nun zusammen mit den kleinzelligen Infiltraten ein neues
Stadium zum Ausdruck bringen, das der Granulations¬
bildung. Jetzt aber ist die Entzündung nicht mehr ledig¬
lich auf die Vasa vasorum beschränkt, und in dieser Phase des
Prozesses, in der fast alle Elemente der Aortenwand mit p la¬
st i s c h e n Vorgängen auf den entzündlichen Reiz reagieren,
kann diese an Dicke und Umfang ganz enorme Mächtigkeit
zeigen. Zu gleicher Zeit haben aber auch schon r e g r e s s i v e
Veränderungen eingesetzt. Wo sich das oben erwähnte Gia-
nulationsgewebe entwickelt, da werden die ursprünglichen
Wandelemente zerstört, aufgefressen; und wenn eine Anzahl
derartiger Herde konfluieren, so entstehen dort späterhin Nar¬
ben in der Media, die sich makroskopisch als kleine grubige
Vertiefungen geltend machen. Immerhin aber handelt es sich
hier um keine irreparablen Zustände, sondern nur um ver¬
sprengte nekrotische Herde, die leicht eliminiert weiden könn¬
ten, wenn nur der Prozess jetzt zum Stillstand käme. Abei
dieser hat unterdessen eine verhängnisvolle Wendung genom¬
men: An den Stämmen der Vasa vasorum hat der Entzündungs¬
reiz mächtig gewirkt, aus der Vasculitis proliferans
ist eine Vasculitis obliterans geworden. Auf der
ganzen Linie des betroffenen Bezirkes verschliessen sich die
Stämme der blutzuführenden Gefässe, und damit setzt eine
allgemeine regressive Metamorphose ein, die in erster Linie
die Elemente von der höchsten Dignität, die elastischen Fasern
und die Muskelzellen der Media betrifft. Diese gehen unter.
Aber auch das Granulationsgewebe, das ja ebenfalls ausser
Ernährung gesetzt ist, vermag nur noch kurze Zeit zu existieren;
es wandelt sich in ein kernarmes, sklerotisches Bindegewebe
um, das jetzt den Hauptbestandteil der Wand ausmacht. Damit
ist aber die Aorta dem auf ihr lastenden Blutdrucke nicht mehr
gewachsen. Langsam, aber stetig gibt sie nach, immei stärkei
wird sie ausgebuchtet, und das Aneurysma, der Anfang vom
Ende, ist da.
Selbstverständlich verläuft nicht immer der Prozess so.
Wie jeder andere luetische kann er in irgend einem Stadium
stehen bleiben und zur Ausheilung kommen. Andrerseits um¬
fasst die geschilderte, einfache Pathogenese auch nicht alle
Vorgänge, die sich in der erkrankten Aortenwand abspielen
können. Ausser den Lymphozyten treten auch mono- und
polynukleäre Zellen auf; dazu kommen noch fixe Bindegewebs-
und Mastzellen, die das histologische Bild komplizieren. So¬
dann sehen wir auch Zirkulationsstörungen, die sich in Blu¬
tungen der Media und Stauungsektasien der adventitiellen
Venen äussern, wie ich sie in einem Teile meiner Präparate
beobachten konnte. Auch Gummabildungen treten gelegentlich
auf, umschriebene Narben hinterlassend. Nicht selten sieht
man auch Riesenzellen ohne Gummen, die wohl als Fremd¬
körperriesenzellen aufzufassen sind. Schliesslich aber beteiligt
sich auch die Aortenintima in wechselnder Weise an dem Pro¬
zess, und ihre reaktive Wucherung kann so stark werden, dass
die darunter verborgene mesarteriitische Veränderung ganz
übersehen wird. Aber alle diese Prozesse sind nur neben- oder
untergeordnete. Massgebend sind allein die oben hervorge-
2052
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
hobenen, und sie sind es, die dieMesaortitis luetica
und das Aortenaneurysma als Stadien ein und
desselben Prozesses charakterisieren.
Diese Auffassung der Aortenlues ist meines Erachtens ge¬
eignet, auf zwei hierher gehörende Fragen Licht zu werfen.
Der Streit über den Sitz der Erkrankung ist bekanntlich sehr
alt; Endarteritis, Mesarteriitis und Periarte¬
riitis luetica hat man in scharfer Weise zu trennen ver¬
sucht. Wenn man dagegen die Vasa vasorum als die primären
Träger des Prozesses ansieht, so ergibt sich ohne weiteres die
Unzweckmässigkeit einer derartig präzisen Einteilung, worauf
auch neuerdings von Hansemann und Darier [5] von
einem andern Gesichtspunkte aus hingewiesen worden ist.
Auch die alte Frage, ob die Gefässlues als sekundäre, oder
tertiär-gummöse Form aufzufassen sei, verliert an Wichtigkeit.
Soviel scheint jedenfalls festgestellt zu sein, dass ein Aneurysma
ebensogut ein Jahr, wie dreissig Jahre nach erfolgter Infektion
auftreten kann, und dass es auch bei hereditär-luetischen In¬
dividuen vorkommt. Ebenso kann die Aortitis luetica ganz rein
in der oben geschilderten Form auftreten, als auch in Gemein¬
schaft mit Gummen. Wenn diese nicht eine grössere Ausdeh¬
nung erlangen, so sind sie für die Aorta ebenso irrelevant, wie
ein paar eingesprengte Gummen für eine syphilitisch-intersti¬
tiell erkrankte Leber.
Wenn man nun die Spezifizität der beschriebenen Form der
Aortitis annimmt, so erhebt sich die besonders den Pathologen
interessierende Frage: Kann man aus dem Befunde einer der¬
artigen Aortitis bei der Sektion umgekehrt auf eine überstan¬
dene, oder noch bestehende Lues schliessen? Die meisten
Pathologen verhalten sich dieser Frage gegenüber skeptisch.
Aber auch hierin beginnt sich eine Wandlung zu vollziehen.
C h i a r i, der in 27 Fällen von sicherer Lues denselben Prozess
16 mal, in 44 Fällen von progressiver Paralyse mit und ohne
konstatierte Lues 21 mal — davon auch einzelne Fälle mit
Aneurysma kombiniert — fand, ist geneigt, die Frage „mit
Wahrscheinlichkeit“ zu bejahen. Nach einer neuen Arbeit
desselben Autors [6] „ist die Kenntnis der von dem Verfasser
so benannten Mesaortitis produktiva nun bereits so
fortgeschritten, dass sie, wo sie zu finden ist, den Wahr¬
scheinlichkeitsschluss auf eine vorhandene Syphilis gestattet“.
Dabei möchte ich die Bemerkung nicht unterdrücken, dass im
Kieler pathologischen Institute auf Grund derselben Beobach¬
tungen schon seit länger als einem Jahrzehnt aus einem der¬
artigen Befunde die Diagnose mit grosser Sicherheit auf Lues
gestellt wurde und sehr häufig anderweitig bestätigt werden
konnte.
Wie aber steht es nun mit der Diagnose der Erkrankung
intra vitam? Das ist die Frage, die hauptsächlich den Prak¬
tiker interessiert. Ein ausgebildetes Aortenaneurysma zu dia¬
gnostizieren, ist meistens nicht schwer, aber dem Kranken
kann man dadurch nicht mehr viel helfen, denn wenn die kon¬
traktilen Mediaelemente untergegangen sind, dann ist eine noch
so energische Therapie völlig nutzlos. Wir müssen also die
Diagnose früher stellen. Die moderne Diagnostik hat auf vielen
anderen Gebieten glänzende Fortschritte gemacht. Energischer
als je, dringt man heute auf die „früheste Frühdiagnose“, und
diese Forderung muss auch für das Aneurysma gestellt werden.
Das zu erstrebende Ideal möchte ich in dem Satze zusammen¬
fassen : Das Aortenaneurysma muss nicht nur
in seinen ersten Anfängen diagnostiziert wer¬
den, sondern die Diagnose muss sich in geeig¬
neten Fällen schon auf das Vorstadium, auf
die Aortitis luetica richten.
Die anatomische Möglichkeit ist dadurch gegeben, dass
auf dem Höhepunkte des Prozesses, wie früher hervor¬
gehoben ist, und unten an Beispielen belegt werden wird,
eine diffuse Verdickung und Auftreibung der Aortenwand be¬
steht, durch die je nach dem Sitze und der Ausdehnung wech¬
selnde Symptome bedingt werden. Eine derartige gleich-
mässige Auftreibung, die man scharf von dem umschriebenen,
sackförmigen Aneurysma unterscheiden muss, kann allerdings
auch unter Umständen durch Arteriosklerose hervorgerufen
werden, aber diese wird durch andere differentialdiagnostische
Momente — relativ jugendliches Alter, Fehlen von arterioskle¬
rotischen Veränderungen anderer Arterien etc. — wohl mei¬
stens mit ziemlich grosser Sicherheit auszuschliessen sein.
Die erste Bedingung für die Frühdiagnose scheint mir zu
sein, dass der Zusammenhang zwischen Aortitis luetica und
Aneurysma das feste geistige Eigentum der ganzen Aerztewelt
geworden ist, denn aus diesem Zusammenhang erklären sich
manche Symptome, die sonst unverständlich sein würden, und
ausserdem wird man einem pathologischen Prozess, dessen
Wesen man klar erfasst hat, entschieden zielbewusster nach¬
gehen.
Im grossen und ganzen wird das Kontingent der Kranken,
bei denen ein Aneurysma in Frage kommt, für den Arzt in zwei
Gruppen zerfallen: Einmal in solche deren syphilitische Er¬
krankung von vornherein bekannt, oder als sicher anzunehmen
ist, wie z. B. bei der Tabes. Bietet ein solcher Kranker eins
oder mehrere von den unten zu erwähnenden Symptomen,
so liegt der Gedanke an ein Aneurysma nahe, und man wird
in dieser Richtung weiter untersuchen. Viel schwieriger sind
die Fälle, welche mit unbestimmten Beschwerden zum Arzte
kommen, die auch auf anderen Ursachen beruhen können. Hier
kommt natürlich alles darauf an, dass irgend ein Symptom
den Arzt an die Möglichkeit eines Aneurysmas denken
lässt. Ist der Gedanke erst einmal aufgetaucht, dann wird
man vor allem nach einer überstandenen Lues forschen und ihre
Spuren am Körper aufsuchen. Die Symptome, die in Betracht
kommen und zum Teil schon längst bekannt sind, seien hier
kurz berührt: Den Anfang macht meistens ein drückendes
Gefühl auf der Brust, das je nach dem Sitze der Erkrankung
verschieden lokalisiert wird. Dazu kommen weiterhin manch¬
mal ausstrahlende Schmerzen in einem oder beiden Armen;
unter Umständen auch eine perkutorisch feststellbare Verbrei¬
terung des Gefässstammes. Weiter vorgeschrittene Stadien
werden angezeigt durch Ungleichheit der Pulse, gelegentlich
auch seitliche Verschiebung der Trachea und rhythmisches Ab¬
wärtspulsieren derselben, wenn die Erweiterung den auf dem
linken Bronchus sitzenden Arcus Aortae betrifft. Die meisten
dieser Symptome weisen aber schon auf eine grössere Aus¬
buchtung hin; nur die erstgenannten sehen wir häufig bereits in
den Frühstadien auftreten. Um hier weiterzukommen und uns
Sicherheit zu verschaffen, müssen wir zur Röntgendurch¬
leuchtung greifen, bei der wir gerade den Teil der Aorta,
der in erster Linie luetisch erkrankt, die Aszendens, den Arkus
und den obersten Abschnitt der Deszendens, uns sehr gut zu
Gesicht bringen können. Die Röntgenstrahlen sind ja für die
innere Medizin immer wichtiger geworden. Hier haben sie
ein Feld, auf dem sie die wertvollsten Dienste leisten können,
und es wäre zu wünschen, wie es ja in Kliniken und Kranken¬
häusern leicht durchgeführt werden kann, dass jeder irgendwie
einer Aortenlues verdächtige Fall einer Durchleuchtung unter¬
zogen würde. Dabei wird man einmal den bestehenden Ver¬
dacht sehr schnell begründet finden oder ablehnen können;
andererseits aber erwächst noch der grosse Vorteil daraus,
dass man gelegentlich schon die diffuse Auftreibung, also die
Aortis luetica allein, oder das beginnende Aneurysma finden
wird, das ihrem Träger noch nicht die geringsten Beschwerden
verursacht hat.
Allerdings wird mancher Praktiker, dem ein Apparat nicht
erreichbar ist, auf dieses wertvolle Hilfsmittel verzichten müs¬
sen, und mit den bisherigen Methoden der Diagnose möglichst
nahezukommen versuchen. Aber bis zu einer gewissen Wahr¬
scheinlichkeit wird auch er in den Frühstadien auf Grund der
Anamnese und des klinischen Befundes gelangen. In manchen
Fällen kann ihm dazu noch ein Symptom verhelfen, das in dem
frühesten Anfang des Aneurysmas, ja sogar schon vor Beginn
desselben vorhanden sein kann: Die Aorteninsuffi¬
zienz auf luetischer Basis. Jede Aorten insu f-
fizienz, die in verhältnismässig jungen Jah¬
ren — so lange man noch Arteriosklerose mit
grosser Wahrscheinlichkeit a u s s c h 1 i e s s e n
kann — , ohne vorhergehenden Gelenkrheuma¬
tismus oder Endokarditis aufgetreten ist,
muss den Verdacht auf Aortitis luetica in
hohem Grade erwecken. Das wertvolle an diesem
Symptom ist, dass es die Aortitis luetica anzeigt, ohne
dass schon ein Aneurysma zu bestehen braucht und dass es
deshalb ein eindringlicher Mahner ist, das Aneurysma zu ver¬
hüten oder im Keime zu unterdrücken.
16. Oktober 1906. MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2053
Dass die Aorteninsuffizienz zum Beispiel bei der Tabes
gar nicht selten vorkommt, hat man auf klinischer Seite schon
lange gewusst. Um so auffallender war mir daher, dass ich
in keinem der mir zugänglichen Lehrbücher bei der Lehre von
der Aorteninsuffizienz einen Hinweis darauf fand. Selbstver¬
ständlich ist die Mitbeteiligung der Aortenklappen nur dann
möglich, wenn der Prozess in der aufsteigenden Aorta sitzt.
Diese Lokalisation ist aber beiweitem die häufigste, und so
erklärt es sich, dass bei meinen im Verlaufe der letzten drei
Monate beobachteten 7 Fällen von Aortitis luetica 6 mal In¬
suffizienz der Aortenklappen festgestellt wurde, auf Grund
deren in 4 klinisch beobachteten Fällen das beginnende Aneu¬
rysma in den ersten Frühstadien diagnostiziert werden konnte.
Ich lasse nun die Fälle — 3 sezierte und 4 nur klinisch
beobachtete — hier kurz folgen *):
' 1. Aus der Praxis des Herrn Dr. Senil bau er: M., Schuh¬
macher, erst in der letzten Zeit behandelt. In consilio mit Herrn
Oberarzt Dr. Müller Aneurysma der Aorta abdominalis fest¬
gestellt. Tod einige Tage später. Anamnestisch sehr wenig bekannt.
Wesentlicher Befund: Mannsfaustgrosses Aneurysma an der
vorderen Wand der Aorta abdominalis, nach oben in das hintere
Mediastinum und die rechte Pleurahöhle durchgebrochen. Hoch¬
gradigste Erweiterung und Verdickung der Aorta ascendens und
descendens durch Aortitis luetica. Nierennarben. Eitriger
Katarrh der Nasennebenhöhlen mit starker Auftreibung derselben.
Schrumpfung und Verkürzung der Aortenklappen.
Auszug aus dem Protokoll: Linker Ventrikel stark hyper¬
trophisch. Alle Klappen zart, ausser den Aortenklappen, deren
Schliessungsrand verdickt und verkürzt und deren Ansatz hei ab¬
gerückt ist. Die Aorta ist bis zum Zwerchfell ungefähr auf das Dop¬
pelte erweitert, Umfang der A. ascendens 11, der A. descendens
12 cm! Die Dicke der Wandung ist völlig ungleichmässig; an den
Stellen der stärksten Ausweitung ist sie dünn, an anderen zeigt sie
erhebliche Hypertrophie. Unregelmässige Höcker und grubige Ver¬
tiefungen wechseln regellos mit einander ab. In der Höhe des
Zwerchfells schnürt sie sich auf einen Umfang von 5,5 cm ein, unter¬
halb von ihm erweitert sie sich wieder stark und geht 8 cm tiefer
in den Aneurysmasack über, der halbkuglig ohne I hromben und Ge¬
rinnsel nach vorn prominiert. Erst unterhalb des Aneurysmas ge¬
winnt sie normale Beschaffenheit; hier ist sie völlig zart, nur die
abgehenden Gefässe sind von einem sklerotischen Ring umgeben. Be¬
merkenswert ist besonders an dem Falle, dass die Aortitis luetica
hier in einer Intensität und Reinheit auftrat, wie man sie wohl äusserst
selten beobachtet. An der Innenwand der so hochgradig verunstalteten
Aorta war nicht ein einziger grösserer arteriosklerotischer Herd oder
Kalkplättchen zu sehen. Ueberall reine, nur stellenweise verdickte
Intima.
Im mikroskopischen Bilde war bemerkenswert, dass die klein¬
zelligen Infiltrate und die Degeneration der Media sich völlig charak¬
teristisch bis in den Ansatz der Aortenklappen verfolgen Hessen, so
dass anatomisch für die Veränderung der Aortenklappen dieselbe Ur¬
sache zu konstatieren war, wie für die Aortenwand.
Im Bezirke der Nierennarben fanden sich kleinzellige Infiltrate
und Granulationsgewebe bis tief in das Mark vordringend, ein Befund,
der jedenfalls gegen Entstehung durch Embolie spricht. — Als be¬
sonders charakteristisches Stigma möchte ich aber die Auftreibung
und den Katarrh der Nasennebenhöhlen betrachten, die man in dieser
Form wohl nur bei Lues finden dürfte. Die Stirnhöhle entsprach
ungefähr dem Volum einer grossen Walnuss.
2. E., Armenpflegepfründner, 57 Jahre alt. Seit längerer Zeit
Atem- und Herzbeschwerden. Typische Tabes. Leises, diastolisches
Geräusch über dem Herzen. Exitus. Sektion: Starke Hyper¬
trophie beider Ventrikel. Verdickung und Verkürzung der Aorten¬
klappen. Mesaortitis luetica und Endarteriitis chronica der auf¬
steigenden Aorta. Kleine Erweichungsherde unter der Grosshirn¬
rinde. Residuen alter Pleuritis. Spitzenschwielen. Nierennarben.
In diesem Falle war der Prozess nur auf die Aorta ascendens be¬
schränkt und bot das Besondere, dass sich die Mesarteriitis unter
der Endarteriitis fast völlig versteckt hielt, so dass sie sehr leicht
übersehen werden konnte. Die rechte Wand der Aszendens war
äusserst stark verdünnt, nur an einzelnen kleinen Stellen waren die
*) Anmerkung bei der Korrektur: In No. 7 dieser
Wochenschr. (S. 332) findet sich in einem Vortrage von Albrecht-
Frankfurt über Arteriosklerose folgende Charakterisierung der lueti¬
schen Aortitis: „Lokalisation vor allem im aufsteigenden Teile der
Aorta nicht über den Tripus Halleri nach abwärts reichend, im An¬
fänge mehr beetartig, herdförmig, bald zirkulär die ganze Wand der
Aorta umgreifend, ausgesprochen thorakal und deszendierend, mit
mehr oder weniger starker diffuser, nicht selten partieller aneurys-
matischer Erweiterung der betroffenen Teile, während die Aorta ab¬
dominalis gewöhnlich relativ eng und glatt erscheint. Häufiges
Fortschreiten auf die Aortenklappen (wichtigste
Ursache der Aorteninsuffizienz). Verengerung der
Koronararterienöffnungen.
charakteristischen narbigen Einziehungen der Media zu erkennen; im
übrigen war sie bedeckt von endarteriitischen Geschwüren und
Kalkplatten. In solchen Fällen kann die sekundäre Arteriosklerose
vielleicht einen günstigen, reparativen Einfluss ausiiben, insofern
als die stairen Verdickungen der Intima und die Verkalkungen dem
Blutdrucke einen Widerstand entgegensetzen, den die fast gänzlich
untergegangene Media nicht mehr gewähren kann. Wir kommen also
hier zu der bemerkenswerten Folgerung, dass die Arteriosklerose —
in dieser Form wenigstens — gerade im Gegensätze zu der früher
und auch jetzt noch vertretenen Anschauung ein Bollwerk gegen das
Aneurysma bildet.
3. Der dritte Fall ist zwar nicht von einer Aorteninsuffizienz be¬
gleitet, aber aus anderen Gründen möchte ich ihn kurz erwähnen:
F., Arbeiter, 45 Jahre, früher wegen Pleuritis exsudativa hier be-
l handelt, kommt mit Stichen in der linken Brustseite und Husten. Seit
4 Wochen heiser, Pupillen starr, ungleich. Patellarreflexe rechts nor¬
mal, links fehlend. Links hinten vom 4. Brustwirbel ab Dämpfung.
Linker Puls bedeutend schwächer als rechts. Dyspnoe, serös¬
schaumiger Auswurf, Fieber. Exitus am 5. Tage.
Sektion; Kindskopfgrosses, fast vollständig mit Thromben
ausgefülltes Aneurysma der Aorta thoracica. Druckusur des 4. bis
8. Brustwirbelkörpers. Atrophie fast des ganzen Unterlappens
der Lunge, Aortitis luetica des Arkus und der Deszendens. Per¬
foration der hinteren Speiseröhrenwand in der Höhe der Bifurkation.
Linksseitige fibrinöse Pleuritis. Hodenschwielen. Weissliche Narbe
am Präputium.
Hier war die Aorta in ihrem Anfangsteile völlig intakt. Erst
8 cm oberhalb der Klappen begannen die Veränderungen: Unregel¬
mässig verteilte Hypertrophie, Atrophie und Narbenbildung. Die
Wand des fast völlig mit Fibringerinnseln ausgekleideten Aneurys¬
mas war im Grunde desselben fast papierdünn und an der Innenseite
mit zahlreichen endarteriitischen Geschwüren und Kalkplättchen be¬
kleidet. Also auch hier wieder Komplikation mit Arteriosklerose.
Da aber die Kalkplatten über die ganze Innenfläche des kindskopf¬
grossen Aneurysmasackes diffus verteilt waren, so muss man an¬
nehmen, dass sie erst in ihm selbst entstanden sind, dass also auch
hier die Arteriosklerose erst sekundär eingesetzt hat, zumal in der
übrigen Aorta keine nennenswerten endarteriitischen Veränderungen
bestanden.
Ich komme jetzt auf die klinisch beobachteten Fälle, bei
denen das Aneurysma in verschiedenen Stadien des Beginns
festgestellt werden konnte.
4. W., Arbeiter, 43 Jahre, kommt wegen Kurzatmigkeit und
stechenden Schmerzen im Rücken, einwärts vom rechten Schulter¬
blatt. — Lues negiert, kein Gelenkrheumatismus.
Status praesens: Pupillen gleich, reagieren. Typische
Sattelnase, Hutchinson sehe Zähne. Tiefer, kurzer Thorax.
Venenpulsation am Halse. Diffuse giemende Geräusche über den
Lungen, verlängertes und verstärktes Exspirium. — Herz stark von
Lunge überlagert; ganz leises diastolisches Geräusch über allen
Ostien. Pulsus celer; Kapillarpuls. Leber dreifingerbreit unterhalb
des Rippenbogens, verhärtet fühlbar. Milz bei rechter Seitenlage
ebenfalls zu palpieren. Im Urin Eiweiss.
Da für die Aorteninsuffizienz kein Anhaltspunkt in der Anam¬
nese zu gewinnen war, so lag der Gedanke an Aortenlues nicht
fern, und die vorgenommene Röntgendurchleuchtung und -Aufnahme
bot einen sehr charakteristischen Befund: Herz nach links stark ver-
grössert. Die Aorta ascendens zeigt eine stark pulsierende Ausbuch¬
tung nach rechts, ungefähr in der Grösse eines halben Apfels. Der
Arkus und der sich anschliessende Teil der Aorta descendens ist stark
erweitert. Die Breite des auf der Platte gemessenen Aortenschattens
— ascendens und descendens — beträgt bei 25 cm Körperabstand
vom Spiegel 13 cm. Das beginnende Aneurysma dürfte somit hier
an seiner Lieblingsstelle, der rechten Wand der Aorta ascendens,
sitzen. Dafür spricht auch, dass genau diese Stelle unter Kon¬
trolle des Röntgenbildes von dem Patienten als die stets schmerzhafte
angegeben wurde. Nachträglich konnte noch eine leichte, aber
sichere Differenz des Radialispulses nachgewiesen werden.
Wenn wir den Angaben des Patienten glauben dürfen, so ist hier
das Aneurysma auf dem Boden einer kongenitalen Lues erwachsen,
für deren Annahme auch die Sattelnase und die Hutchinson sehen
Zähne eine gewichtige Stütze abgeben.
5. L., Taglöhner, 44 Jahre, verheiratet. Luetische Infektion ge¬
leugnet, kein Gelenkrheumatismus. Pupillen ungleich, starr. Zentrale
Trübung der linken Kornea. Patellarreflexe fehlen. Zunehmende
Taubheit. Vorgeschrittene Dementia paralytica. Diastolisches Ge¬
räusch über allen Ostien. — Röntgenbefund: Herz nach links ver¬
breitert. Aorta im ganzen Brustteile diffus ausgedehnt. Links oben
am Arkus eine zirkumskripte, halbkugelige, pulsierende Prominenz,
deren Richtung scheinbar nach hinten oben geht, weil sie bei sterno-
vertebraler Durchleuchtung am stärksten hervortritt.
6. H., Taglöhner, 57 Jahre. Kein Gelenkrheumatismus. Vor
25 Jahren Lues, mit Einspritzungen behandelt. — Pupillen ungleich,
reagieren träge. Patellarreflexe fehlen. Leichtes Schwanken bei ge¬
schlossenen Augen. Narbe an der Glans penis. Herzspitzenstoss
einen fingerbreit ausserhalb der Mammillarlinie. Ein leises, aber deut-
2054
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
liches diastolisches Geräusch wurde bei der Aufnahme gehört, das
später nur noch einmal nach einem heissen Bade nachgewiesen wer¬
den konnte. Jedenfalls war es die Veranlassung zur Röntgenunter¬
suchung, die folgenden Befund ergab: Verbreiterung des Herzens nach
links, mässige Ausbuchtung und deutliche Pulsation der rechten Wand
der Aorta ascendens, starke Auftreibung der ganzen Aorta thoracica,
geringe umschriebene Ausbuchtung der linken oberen Wand des
Arkus.
7. J., 61 Jahre, Taglöhner. Harter Schanker vor 30 Jahren.
Kein Gelenkrheumatismus. Keine deutlichen Residuen von Lues.
Ueber Herzspitze, Aorta und Trikuspidalis leises diastolisches Ge-
läusch. Röntgenbefund: Herz nach links verbreitert, diffuse Auf¬
treibung der ganzen Brustaorta, soweit sie im Röntgenbild zu ver¬
folgen ist, keine deutlich abgesetzte Prominenz.
So geben uns also die Fälle 4 — 6 das Bild des be¬
ginnenden Aneurysmas intra vitam in verschiedenen Stadien.
Selbstverständlich wird man bei einem Befunde, wie der letzte
ihn bietet, mit der Diagnose zurückhaltend sein. Aber wenn
man weiss, dass hier eine Lues in der Anamnese vorliegt, dass
die Aortenklappen verändert sind, ohne dass man einen andern
Grund dafür ausfindig machen könnte, und wenn schliesslich
die Verbreiterung der Aorta zeigt, dass hier Prozesse spielen,
die immerhin sehr verdächtig auf luetischen Ursprung sind, so
wird wohl jeder gewissenhafte Arzt eine energische anti¬
luetische Kur dringend anempfehlen, und so das Unheil an der
Quelle zu verstopfen suchen. Ueber die Form der Therapie
ist man in der letzten Zeit immer mehr darin übereingekommen,
nicht in dem Jodkali allein das Heilmittel für die Gefässlues zu
sehen, sondern daneben eine gründliche Schmierkur einher¬
gehen zu lassen.
Wenn ich zum Schluss noch einmal kurz zusammenfassen
darf, so habe ich im vorstehenden zu zeigen versucht, dass
man in günstigen Fällen unter Zuhilfenahme aller Mittel nicht
nur das Aortenaneurysma in seinen Frühstadien diagnostizieren
kann, sondern dass auch der Prozess, auf dessen Grundlage
das Aneurysma erwächst, die Aortitis luetica, unter Umständen
bis zu einer grossen Wahrscheinlichkeit der Diagnose zugäng¬
lich ist, und dass, wenn möglich, die Therapie schon hier ein-
setzen sollte.
So lässt sich das zu erstrebende Ziel in der Wendung zu¬
sammenfassen : Die Prophylaxe des Aortenaneu¬
rysmas liegt in der Behandlung der Aorten¬
lues.
Literatur:
1. W i e s n e r: Ueber Erkrankung der grossen Gefässe bei Lues
congenita. Zentralbl. f. allgem. Pathol. u. pathol. Anatomie, 16. Bd.,
1905, No. 20. — 2. Bruhns: Ueber Aortenerkrankung bei kon¬
genitaler Syphilis. Berl. klin. Wochenschr. 1906, No. 8. — 3. D o e h 1 e:
Ueber Aortenerkrankung bei Syphilitischen und ihre Beziehungen zur
Aneurysmenbildung. Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 55, S. 190. —
4. Referat in der Deutsch, med. Wochenschr. 1906, No. 7, S. 288. —
5. Zitiert nach Bruhns: Neuere Erfahrungen und Anschauungen
über die syphilitischen Erkrankungen der Zirkulationsorgane bei ak¬
quirierter Lues. Berl. klin. Wochenschr. 1906, No. 17. — 6. Referat aus
der Prager med. Wochenschr. in der Münch, med. Wochenschr. 1906,
No. 15.
Aus dem Hafenkrankenhaus zu Hamburg
(Oberarzt : Dr. C. L a u e n s t e i n.)
Ueber Gasphlegmone.*)
Von Dr. R. Rothfuchs, Sekundärarzt.
Das seltene Vorkommen der Gasphlegmone — es sind in
der mir erreichbar gewesenen Literatur nur ca. 30 Fälle be¬
schrieben — veranlasst mich, 2 weitere zu veröffentlichen, die
ich im Hafenkrankenhause zu Hamburg nach komplizierten
Frakturen zu beobachten Gelegenheit hatte. Es folgen zunächst
die beiden Krankengeschichten:
Der Schauermann M. K., 47 Jahre alt, stürzte am 19. Mai 1905
abends 20 Fuss tief in den Schiffsraum, wurde erst 2 Stunden später
aufgefunden und dann in das Hafenkrankenhaus gebracht. Er klagte
über Schmerzen im rechten Ellbogengelenk. Die Untersuchung er¬
gab einen komplizierten Querbruch des rechten Oberarmes dicht über
den Epikondylen. Die 3 :2 cm grosse Wunde befand sich 5 cm ober¬
halb des Olekranon an der Streckseite des Oberarmes. Die Ränder
waren unregelmässig, gequetscht. Nach Exzision der Wundränder und
*) Vortrag, gehalten in der biologischen Abteilung des ärzt¬
lichen Vereins zu Hamburg.
Reinigung der Wunde mit physiologischer, steriler Kochsalzlösung
und nach erfolgter Tamponade mit Jodoformgaze wurde ein Draht¬
schienenverband angelegt.
Am folgenden Abend hatte der Kranke 39,2 Fieber, am 21. V.
morgens 38,6. Bei dem Verbandwechsel zeigte sich in der Umgebung
der Wunde nirgends eine entzündliche Rötung oder Schwellung. Nur
fiel ein übler Geruch des Wundsekretes auf. Die Wunde wurde noch¬
mals ausgespült und tamponiert.
Am 22. Mai morgens klagte Patient über ein Taubsein seiner
rechten Hand. Die Hand fühlte sich kalt an, der ganze Vorderarm
sah bläulich-grün aus, einige mit blutig-wässeriger Flüssigkeit ge¬
füllte Blasen waren sichtbar, und die Venen schimmerten durch die
Haut durch. Der ganze Vorderarm war unempfindlich. Beim Be¬
tasten fühlte man am ganzen Arme deutlich Pergamentknistern und
die Perkussion des Armes ergab von der Fingerspitze bis zur Schul¬
ter tympanitischen Schall.
Da es sich hier also um eine Gasphlegmone handelte, wurde in
Chloroformnarkose der Arm sogleich im Schultergelenk exartikuliert,
die Wunde offen gelassen und mit H2 O2 getränkter Gaze tamponiert;
darauf 1200 ccm subkutane Kochsalzinfusion. Auf der Brust mussten
2 grosse Inzisionen gemacht werden, da auch hier noch das Perga¬
mentknistern zu fühlen war.
Nach der Amputation fühlte sich der Kranke erleichtert. Die
Temperatur fiel ab; aber der Puls stieg auf 150 und abends 10 Uhr
erfolgte plötzlich der Tod.
An der Leiche trat ca. 14 Stunden post mortem ein riesiges
Hautemphysem auf. An den Extremitäten hatten sich grosse, mit
blutig-wässeriger Flüssigkeit gefüllte Blasen gebildet. Der ganze
Körper gab lauten tympanitischen Schall vom Kopfe bis zur Zehen¬
spitze. Die Sektion ergab Gasbildung in Leber, Nieren, Milz
(Schaumorgane).
Von dem Ergebnis der bakteriologischen Untersuchung werde
ich unten berichten.
Der II. Fall betraf einen 36 Jahre alten Maschinisten, der am
18. XI. 05 mit dem rechten Arm in die Maschine eines Schlepp¬
dampfers geriet und eine komplizierte Fraktur des rechten Ellbogen¬
gelenks mit Zerreissung fast der gesamten Streckmuskulatur des
Vorderarmes erlitt. Nach Exzision der verschmutzten Wundränder,
Reinigung der Wunde und Glättung der zerrissenen Muskeln wurden
einige versenkte Katgutknopfnähte in die Muskulatur gelegt, die
Hautwunde durch 3 Seidenknopfnähte verkleinert und die übrige
Wunde tamponiert. Da leichtes Fieber auftrat, wurde am 20. XI. der
Verband gewechselt; dabei zeigte sich das Gelenk geschwollen und
gerötet; bei Druck fühlte man ausgedehntes Pergamentknistern, und
Gasblasen drangen aus der Wunde hervor. In Chloroformnarkose
wurde die Wunde in der ganzen Breite wieder eröffnet. Die ganze
Muskulatur war gangränös geworden. Es mussten ausgedehnte In¬
zisionen gemacht werden; dann wurde mit Gaze, die mit H2 O2 ge¬
tränkt war, tamponiert. Die Gasphlegmone kam zum Stillstand, doch
vereiterte das Ellbogengelenk. Wir versuchten zuerst den Arm zu
erhalten; da sich aber Zeichen von Sepsis einstellten, (Euphorie bei
hohem Fieber, metastatische Abszesse in der Wadenmuskulatur des
rechten Beines), wurde der Arm am 15. XII. — 27 Tage nach der Ver¬
letzung — im oberen Drittel des Oberarmes amputiert. Es erfolgte
dann glatte Heilung. In beiden Fällen enthielt der Urin Spuren von
Eiweiss, aber kein Zucker.
Die Gasphlegmone oder auch, wie sie genannt wird, Gas¬
brand, Gasgangrän, gangrene foudroyante ist eine schwere
Wundinfektionskrankheit, die sich charakterisiert durch Zerfall
des Gewebes, Auftreten von Gas in den Geweben, Austreten
von blutig-wässeriger Flüssigkeit und durch ein schnelles Fort¬
schreiten des Prozesses.
Die bakterielle Aetiologie ist keine einheitliche. Die reine
Gasphlegmone wird hervorgerufen durch einen von Fraen-
k e 1 1893 beschriebenen Bacillus phlegmones emphysematosae,
der identisch ist mit dem von Welch 1892 beschriebenen
Bacillus aerogenes capsulatus, den wahrscheinlich schon
Levy 1891 gesehen hat (D. Zeitschr. f. Chir. 1891, Bd. 32).
Der F r a e n k e 1 sehe Bazillus ist unbeweglich, lässt sich
nur anaerob züchten, verflüssigt Zuckergelatine, bildet auf
Zuckeragar Gasblasen, entwickelt in zuckerhaltigen Nährböden
Buttersäure und bringt Milch zur Gerinnung, in ihr auch Gas
bildend. Da er diese Eigenschaften mit dem Buttersäurebazil¬
lus gemeinsam hat, wurde er von den Wiener Autoren S c hat¬
te n f r o h und Grassberger für eine Abart des Butter-
säurebazillus gehalten. Er sollte identisch sein mit dem Gra-
nulobacillus immobilis.
Doch unterscheidet sich der Bacillus phl. emphysematosae
von dem ebengenannten dadurch, dass er für Meerschweinchen
und Sperlinge pathogen ist, nicht aber für Kaninchen, und dass
er in stärkehaltigem Agar keine Sporen bildet; ausserdem
unterscheidet er sich auch in der Gramfärbung von diesem.
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2055
Fraenkel gelang es zuerst, mit diesem Bazillus beim
Meerschweinchen einen ähnlichen Krankheitsprozess zu er¬
zeugen, wie ihn die Gasphlegmone beim Menschen hervor¬
bringt.
An der Leiche ruft der Bazillus Hautemphysem und die
sog. Schaumorgane hervor; es tritt Gasbildung in Leber, Nieren
und Milz auf. Diese Schaumorgane und das postmortale
Emphysem werden bedingt durch Eindringen des Bazillus in
die Blutbahn noch bei Lebzeiten des Kranken.
Das gebildete Gas besteht nach den Untersuchungen von
Hitschmann und Lindenthal aus 67,55 Proz. H,
30,62 Proz. COs und geringen Mengen NHs und N.
Ob bei der Reininfektion mit dem Fraenkel sehen
Bazillus eine Entzündung der Gewebe vorkommt, darüber sind
verschiedene Beobachtungen gemacht. In unserem Falle fan¬
den wir keine Zeichen von Entzündung.
Hitschmann und L i n d e n t h a 1 leugnen überhaupt
jedes Vorkommen von Entzündung.
Westenhoeffer sagt, der Bazillus sei für den Men¬
schen nicht infektiös, er könne nie eine Gasgangrän erzeugen,
sondern sei ein echter Saprophyt, der sich erst auf nekro¬
tischem Gewebe ansiedele und auf diesem für ihn günstigen
Nährboden Gas bilde.
Ausser durch den Fraenkel sehen Bazillus (Reininfek¬
tion) wird die Gasphlegmone noch erzeugt durch andere an¬
aerobe und aerobe Mikroorganismen, als Bacter. lactis aero-
genes, Proteus vulgaris, Bacterium coli in Verbindung mit
Staphylo- und Streptokokken (Mischinfektion).
Auch der Bazillus des malignen Oedems soll Gasgangrän
erzeugen können.
Wenn wir die von einer Gasphlegmone, hervorgerufen
durch den Fraenkel sehen Bazillus, befallenen Gewebe
histologisch untersuchen, so findet man das Unterhautzell¬
gewebe trübe und kernlos; im Korium und Unterhautfettgewebe
sieht man gashaltige Hohlräume; das Muskelgewebe wird kern¬
los, trübe.
Ich will nun von dem Ergebnis der bakteriologischen
Untersuchung unseres ersten Falles berichten.
Von den mit blutig-wässeriger Flüssigkeit gefüllten Blasen,
die sich an dem von der Phlegmone ergriffenen Arm gebildet
hatten, impfte ich Kaninchen und Meerschweinchen. Sperlinge
standen mir nicht zur Verfügung. Die Meerschweinchen gingen
6_8 Stunden nach der Infektion ein, die Kaninchen blieben
leben. An der Injektionsstelle hatte sich eine typische Gas¬
phlegmone in der Grösse eines Fünfmarkstücks gebildet. Leber
und Nieren enthielten Gas. In der Leber und den Nieren fan¬
den wir den Fraenkel sehen Bazillus. Ich muss auch noch
erwähnen, dass aus der Blasenflüssigkeit der mikroskopische
und kulturelle Nachweis eines Bazillus gelang, der mit dem
Fraenkel sehen identisch war. Andere Mikroorganismen
fehlten.
Der Bazillus war unbeweglich, liess sich nur anaerob züch¬
ten, verflüssigte Zuckergelatine, bildete auf Zuckeragar Gas¬
blasen, brachte Milch zur Gerinnung, bildete in dieser Gas und
war für Meerschweinchen, nicht aber für Kaninchen, pathogen.
Er hatte also die Eigenschaften des Fraenkel sehen Bazillus.
In diesem Falle hat es sich also um eine durch den Fraen-
k e 1 sehen Bacillus phlegmones emphysematosae hervorge¬
rufene Gasphlegmone gehandelt.
In dem zweiten Falle fanden wir einen Bazillus, der dem
Fraenkel sehen sehr ähnlich war; er liess sich nur anaerob
züchten und war unbeweglich. Eine weitere Untersuchung
musste leider unterbleiben, da durch ein Missgeschick die Kul¬
turen verloren gingen. Völlig einwandfrei kann also nur der
erste Fall gelten.
Die Diagnose der Gasphlegmone ist leicht zu stellen.
Die befallene Extremität verfärbt sich, wird bleigrau, grünlich;
später, wird sie blauschwarz; die Venen schimmern durch;
es bilden sich Blasen, die mit blutig-wässeriger Flüssigkeit ge¬
füllt sind. Das Glied nimmt ein kadaveröses Aussehen an.
Beim Betasten fühlt man deutlich ein Knistern, das sog. Perga¬
mentknistern, und beim Beklopfen erhält man tympanitischen
Schall.
Die B e h a n d lu n g kann nach dem oben Gesagten nur
eine radikale sein. Bei Beginn der Erkrankung ausgedehnte
Inzisionen, Spülung und Tamponade der Wunde mit H2O2, In¬
jektion von 2 proz. H2O2 bis zu 250 ccm in das umliegende
gesunde Gewebe oder subkutan Sauerstoff. In vorgeschrittenen
Fällen kommt einzig und allein die Absetzung des betreffenden
Gliedes in Betracht. Neuerdings sind von Fraenkel Ver¬
suche gemacht worden, auf bakteriologischem Wege Heilung
oder Immunität der experimentell erzeugten Gasphlegmone
durch Injektion abgetöteter Kulturen zu erzeugen, bis jetzt aber
ohne nennenswerten Erfolg.
Die Prognose ist im allgemeinen ziemlich ungünstig.
In der vorantiseptischen Zeit betrug die Sterblichkeit
ca. 90 Proz.; jetzt ist sie dank dem radikalen Vorgehen sehr
gesunken. Doch beträgt sie immerhin noch 35 Proz.
Literatur:
1. E. Fränkel: Ueber die Erreger der Gasphlegmonen.
Münch, med. Wochenschr. 1899, No. 42, 4 3. — 2. D e r s e 1 b e: Ueber
Gasphlegmone, Schaumorgane und deren Erreger. Zeitschr. f.
Hyg. u. Infekt., Bd. 40, 1902, S. 73. — 3. Derselbe: Kritisches
zur Frage der Gangrene foudroyante und der Schaumorgane. Virch.
Arch., Bd. 177, Heft 1. — 4. H ä n n i g und Silberschmidt: Kli¬
nisches und Bakteriologisches über Gangrene foudroyante. Ref.
Münch, med. Wochenschr. 1900, No. 27. — Schattenfroh und
Grassberger: Ueber Buttersäurebazillen und ihre Beziehungen
zu der Gasphlegmone. Münch, med. Wochenschr. 1900, No. 30. —
6. Muscatello: Ueber Gasgangrän. Ref. Münch, med. Wochen¬
schrift 1900, No. 38. — 7. Stolz: Die Gasphlegmone des Menschen.
Beiträge zur klinischen Chirurgie, Bd. 33, Heft 1, 1902. — 8. Levy:
Ueber einen Fall von Gasabszess. Deutsche Zeitschr. f. Chirurg.
Bd. 32, 1891, S. 248. — 9. Dansauer: Beitrag zur Kenntnis der
Gasgangrän. Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 36.
Weitere Literatur siehe am Schluss der Arbeit von Dansauer.
Aus der Chirurg. Fakultätsklinik der Universität zu Charkow.
Zur Technik der Hauttransplantation nach Thiersch.
Von Dr. med. G. W a 1 j a s c h k o.
Bei der Technik der Hauttransplantation nach Thiersch
ist die Anlegung des Verbandes ein wichtiger und schwerer
Moment. In den meisten Fällen hängt der Erfolg der Trans¬
plantation von einem geeigneten Verbände ab. Diese Bedeu¬
tung des Verbandes entspringt aus dem Umstande, dass er hier
gleichzeitig zweierlei Funktionen ausiiben muss: er hat die
Wundheilung zu besorgen und immobilisiert während einer ge¬
wissen Zeit die auf die Wunde übertragenen Hautläppchen.
Alle üblichen Methoden der Anlegung des Verbandes bei der
Transplantation genügen diesen beiden Bedingungen nicht. So
werden z. B. bei Anwendung von Stanniol, Silberschaum, ge¬
öltem Guttaperchapapier und anderen Geweben, an welche
beim Verbandwechsel die Hautstückchen nicht ankleben können,
bei diesen Verbänden die Grundprinzipien des Verbandes
überhaupt roh übertreten. Das gleiche ist der Fall bei dem
gewöhnlichen Gazeverband, wenn man ihn, ungeachtet der
reichlichen Absonderung aus der Wunde, zwecks Erhaltung
der Hautläppchen 7 — 10 Tage nicht wechselt.
Es ist darum leicht verständlich, dass auch die Resultate,
welche von solch unbefriedigenden Verbänden abhängen, dem
Zufall unterworfen sein müssen.
Wir erzielen bei der Transplantation nach Thiersch fast
immer gute Resultate, seit wir vor 5 Jahren anfingen, bei der
Fixation von Hautläppchen undichten Tüll anzuwenden. Einen
Hinweis auf letzteren für diesen Zweck fanden wir derzeit in
der russischen Literatur1). Dabei wird der Verband über dem
Tüll angelegt und gewechselt. Auf diese Weise wird bei An¬
wendung des empfohlenen Tülls zur Immobilisierung der Haut¬
läppchen der Verband von ihm fremden Aufgaben befreit, kann
regelrecht angelegt und zur rechten Zeit gewechselt werden.
Wir verfuhren folgendermassen: Ein Stück undichten Tülls
wurde, nachdem es in Sodalösung ausgekocht und zwischen
sterilisierten Gazekompressen ausgepresst war, ausgebreitet
und auf die transplantierten Hautläppchen in der Weise gelegt,
dass die Ränder auf die umgebende gesunde Haut zu liegen
kamen. Am Rande der Wunde wurde der Tüll durch Kollo¬
dium angeklebt. Um die Mazeration zu vermeiden, wurden
die Hautläppchen so nebeneinander gelegt, dass sie sich nicht
1) S. auch Ssnardi: Ueber eine Vereinfachung der Technik
der Transplantation nach Thiersch. Zentralbl. f. Chir. 1905, No. 14.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
2056
ziegeldachförmig bedeckten, ausserdem bedeckten sie auch
nicht die Haut an den Rändern der Wunde. Die Hautläppchen
wurden durchscheinend dünn geschnitten; die Grösse der Läpp¬
chen spielt keine Rolle. Stark gewucherte Granulationen wur¬
den vor der Transplantation mit einem scharfen Löffel ab¬
geschabt. Ueber den Tüll kam ein gewöhnlicher Gazeverband,
welcher täglich gewechselt wurde. Der Tüll wurde am 10.
bis 12. Tag abgenommen. Der Tüll schmiegte sich sogar in
denjenigen Fällen gut an, wo die Hautränder die Wundober¬
fläche überragten; ebenso da, wo die Oberfläche sehr gross
war, z. B. die Hälfte der Lumbalgegend. Die Hautläppchen
wurden, wie wir ebenfalls Gelegenheit hatten uns an Kranken
zu überzeugen, auch auf für Bindenapplikation schwierigen
Stellen des Körpers, wie Kinn, Hals, Schlüsselbeingegend und
Fossa jugularis, die Falten zwischen den Fingern, gut immobili¬
siert. Wenig anwendbar für diesen Zweck erwies sich der
Tüll an der Achselhöhle bei Kontraktur des Schultergelenks.
Falls letzteres normal ist, kann man auch diese Gegend mit
Tüll bedecken, wenn der Arm in senkrechte Lage gebracht
wird und Hand nebst Vorderarm auf dem Kopfe befestigt wird.
Es wird also im allgemeinen eine ziemlich vollendete, vom Ver¬
band ganz unabhängige Immobilisation der übertragenen Haut¬
läppchen erzielt. Letztere leiden durchaus nicht beim Ver¬
bände, wie es gewöhnlich der Fall ist. Auf diese Weise ist es
möglich, den Verband täglich zu erneuern und den Verlauf des
Prozesses unter beständiger Beobachtung zu haben. Dieses er¬
möglicht, in jedem beliebigen Moment verschiedene für die
Transplantation schädliche Komplikationen der Wunde zu be¬
seitigen, wie z. B. Blutung, Ansammlung von Eiter an ein¬
zelnen Stellen, reizende mazerierte tote Hautstückchen usw.
Ausserdem schafft der regelrechte Verband und sein Wechsel
allgemeine günstige Bedingungen für die Anheilung von Haut¬
läppchen.
Durch vorliegende Mitteilung wollten wir auf Grund
unserer Erfahrung auf die wirklichen Vorzüge dieser einfachen
und jedermann zugänglichen Immobilisationsmethode trans¬
plantierter Hautläppchen hinweisen und dadurch ihr zu einer
grösseren Verbreitung verhelfen.
Die Behandlung frischer Wunden mit durch Wärme
zum Austrocknen gebrachten Verbänden.*)
Von Dr. med. E. Asbeck, prakt. Arzt in Harburg a. E.
Während einer Reise als Schiffsarzt im Jahre 1899, die ich
an Bord eines Frachtdampfers der Hamburg-Amerika-Linie
nach Ostasien unternommen, hatte ich mehrfach Gelegenheit,
grössere 1 ransporte von Chinesen ärztlich zu überwachen.
So hatten wir einmal 1700 Passagiere von Amoy nach Singa-
pore zu bringen und kamen bei der Beschränkung des Raumes
infolge der Seekrankheit sehr viele kleinere Verletzungen, vor
allem sehr viele Verbrennungen II. Grades mit kochender Reis¬
suppe — der Hauptnahrung der Chinesen an Bord _ vor.
Obgleich man mich in Amoy auf diesen Punkt aufmerksam
gemacht hatte, und ich mein Verbandmaterial nach Möglich¬
keit ergänzt hatte, so musste ich doch auf der Reise, um mich
nicht ganz auszugeben, sehr mit Mull und Jodoformgaze sparen.
Angeregt durch die Arztberichte aus dem spanisch-ameri¬
kanischen Kriege, vor allem aber durch die Mitteilungen aus
dem Burenkriege über die schnelle Heilung der Wunden unter
nur einem Okklusivverbande bei der intensiven Hitze in jenen
Gegenden, legte ich aus Sparsamkeitsrücksichten meine frisch
Verbundenen in die pralle Sonne auf Deck und erreichte auf
diese Weise eine schnelle Austrocknung des Verbandes durch
die tropische Hitze. Ohne Eiterung und ohne Wechsel des
Verbandes heilten diese Wunden in wenigen Tagen.
Bald aber trat trübes, regnerisches und stürmisches Wetter
ein, und mehrten sich die Verbrennungen und Verletzungen
mit dem zunehmenden Schlingern des Schiffes, indem die Kulis
mit ihren gefüllten Reisnäpfen ausglitten und ihre nakten Mit¬
reisenden mit dem heissen Reiswasser verbrühten. Hatten
nun in den ersten J agen nur einige der Verletzten aus Angst
vor einem europäischen Arzte meine Hilfe in Anspruch genom¬
*) Nach einem im ärztlichen Verein für Harburg und Umgebung
gehaltenen Vortrage.
men, so mehrte sich jetzt — wahrscheinlich in Hinblick auf
die schmerzlosen Verbände der zuerst Verletzten — die Zahl
der verbrühten Chinesen, welche bei mir Hilfe suchten.
Da mir nun die austrocknende Wirkung der Sonnenstrahlen
fehlte, so suchte ich Hilfe beim ersten Maschinisten, der mir ge¬
stattete, meine Verbände durch die Glut des Kesselfeuers zum
Trocknen zu bringen.
Ich verfuhr nun folgendermassen : Jede frische Verletzung
wurde ohne Desinfektion der Umgebung, ohne Be¬
rührung der Wunde mit den Händen, mit einer Jodoformgaze¬
kompresse bedeckt, über welche einige Lagen Mull kamen.
Darüber wurde Watte gelegt und das Ganze mit einer Mull¬
binde fixiert. Handelte es sich um Wunden, die erst durch die
Naht vereinigt werden mussten, so verfuhr ich, was den Ver¬
band anbelangt, in gleicher Weise. Bei den Brandwunden
wurden die Blasen mit Schere und Pinzette entfernt, worauf
die Jodoformgazekompresse auf das von der Hornhaut ent-
blösste Rete Malpighii zu liegen kam. Dass bei der Anlegung
der Verbände selbstverständlich mit der peinlichsten Sauberkeit
und mit ausgekochten Instrumenten verfahren wurde, bedarf
wohl kaum der Erwähnung.
Die auf diese Weise Verbundenen wurden nun auf die
Dauer einer halben bis dreiviertel Stunden der strahlenden
Glut des Kesselfeuers ausgesetzt, wodurch eine intensive Aus¬
trocknung erreicht wurde. War bei einer stärkeren parenchy¬
matösen Nachblutung die innere Hülle mit Blut durchtränkt,
so wurde einfach eine neue Lage Mull aufgelegt und bis zur
gänzlichen Austrocknung nochmals bestrahlt.
Auch in diesen Fällen heilten die Verletzungen schnell und
reaktionslos oft in wenigen Tagen.
Bei der Abnahme der Verbände konnte ich nur mit Mühe
die einzelnen Lagen der Mullkompressen trennen, so fest und
pulvertrocken standen die einzelnen Schichten miteinander in
Verbindung. Die Abnahme der Jodoformgazekompresse er¬
folgte meist auf trockenem Wege, wiederum ausgehend von
der Ansicht, dass durch die Feuchtigkeit Infektionserreger in
die Wunde gebracht werden konnten; in den Fällen, in welchen
eine totale Ueberhäutung noch nicht eingetreten war — meist
an den zentral gelegenen Partien grösserer Hautdefekte —
wurde die letzte Bedeckung der Wunde mit einer schwachen
Sublimatlösung berieselt, worauf die Jodoformkompresse leicht
und schmerzlos entfernt werden konnte. Ein erneuter Verband
wurde entweder in gleicher Weise mit Austrocknung durch
die Hitze angelegt, oder es traten nun die einfachen Salbenver¬
bände in ihr Recht. Hier musste von Fall zu Fall entschieden
werden.
Nach meiner Niederlassung in Harburg teilte ich 1901 meine
Beobachtungen meinem verehrten Lehrer, Herrn Geheimrat
Bier, mit, der mir riet, meine Untersuchungen an der Hand
eines grösseren Materiales weiter zu prüfen.
Ich habe seitdem etwa 500 frische Verletzungen auf die
oben geschilderte Weise behandelt und kann mit den Er¬
folgen nur zufrieden sein. Es ist erstaunlich, wie schnell und
mühelos die einzelnen Verletzungen unter nur einem Verbände
abheilen.
Der Verband erfolgte in fast genau derselben Weise wie
oben beschrieben, nur nahm ich anstatt Jodoform- in letzter
Zeit Xeroformgaze, ein Mittel, welches mir wegen seiner Un¬
giftigkeit und Reizlosigkeit noch bessere Dienste zu leisten
scheint als das giftige Jodoform. Als Quelle für die Aus¬
trocknung benutzte ich meistens die Kesselfeuer der hiesigen
Fabriken, die Schmiedefeuer der Werkstätten oder auch die
Hitze des häuslichen Herdes; bei kleineren Verletzungen end¬
lich den Bunsenbrenner meines Sprechzimmers. Die Austrock¬
nung des Verbandes gelingt auf diese Weise sehr schnell, auch
kamen die Verletzten meinen Anordnungen stets gern und willig
nach. Zur Entfernung der oft sehr fest haftenden Xeroformgaze
wurde seit 1 Jahr 2 proz. Perhydrol Merck verwandt, jedoch nur
in einigen oben näher bezeichneten Fällen.
Aus obigen Behandlungsschilderungen ergibt sich Fol¬
gendes:
I. Fort mit der Desinfektion frischer Wunden, denn
1. können wir im Allgemeinen jede frische Wunde (selbst
Lappenwunden schliesse ich nicht aus) als nicht infiziert be¬
trachten; aus diesem Grunde ist es unnötig, ja schädlich, eine
Wunde reinigen oder gar desinfizieren zu wollen, denn die
16 Oktober 1906. MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
_ _ _ _ — - .I-I— - - - - - — - - — - - -
eiugedrungeneti Bakterien vermögen wir nicht fortzuschwem-
men oder abzutöten, ohne die Zellen durch die bakteriziden
Flüssigkeiten in ihrer Lebensfähigkeit zu schädigen. Dass
selbstverständlich gröbere Schmutzpartikel oder Fremdkörper,
die sich durch den Augenschein nachweisen lassen, entfernt
werden müssen, brauche ich wohl nicht besonders hervorzu¬
heben.
2. durch eine Desinfektion und Reinigung der Umgebung
der Wunden weichen wir die oberflächlichen Schichten auf
und schwemmen von hier aus Infektionserreger in die Wunde.
II. Durch den austrocknenden Verband gelingt es uns:
1. die Wunde bakteriendicht nach aussen abzuschliessen,
während die Ausdünstung der Wunde nicht gehemmt ist.
2. die in der Umgebung der Wunde befindlichen pathogenen
Keime — die sich hier in den Poren und Hautkrypten, be¬
sonders bei Arbeiterhänden in grosser Zahl angesiedelt haben,
und die durch kein Desinfiziens unschädlich zu machen sind —
zu fixieren, so dass ein Einwandern in den Wundbezirk un¬
möglich wird.
3. einen Teil der oberflächlich gelegenen Bakterien und
Eiterkokken durch die intensive Hitze in ihrer Lebensfähigkeit
zu hemmen, so dass eine schnelle Vermehrung nicht statthaben
kann.
4. durch die erhöhte Temperatur der der Hitze ausge¬
setzten Gewebe die Blutzufuhr nach diesen Gegenden zu ver¬
mehren, wodurch nach moderner Auffassung die in die Wunde
eingedrungenen Bakterien und Kokken von den jetzt im Ueber-
fluss herbeiströmenden weissen Blutkörperchen und bakteri¬
ziden Kräften äbgetötet werden.
III. Der Verband ist überaus einfach anzulegen, da eine
Wärmequelle wohl überall zur Hand ist.
IV. Der Verband ist sparsam und erfordert in der Nach¬
behandlung wenig Mühe für den behandelnden Arzt, da häufige
Verbandwechsel fortfallen.
Handelte es sich um grössere Wunden, die eine Immobili¬
sierung der Extremitäten verlangten, so wurde am Tage nach
der Austrocknung ein Stärkekleisterverband über den ersten
Verband gelegt, wodurch ein Scheuern der Verbände und eine
Verschiebung gegen die Wunde unmöglich gemacht wurde.
Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass sich unter
der grossen Zahl der auf diese Weise behandelten Wunden
;auch 11 Schussverletzungen befanden, die in derselben Weise
verbunden wurden, ohne dass ich mir die Mühe gemacht
hätte, nach dem Projektil zu suchen. Auch hier habe ich
keine Eiterung erlebt, und konnte nach dem Schluss des Wund¬
kanals der Sitz des Geschosses leicht durch Röntgenogramm
festgestellt werden. Hier konnte dann sekundär durch Exzision
der Kugeln in aseptischer Weise vorgegangen werden.
Ich bin davon überzeugt, dass dieser Verband nicht nur im
Frieden, sondern auch im Kriege, wo Waschgelegenheit oft
fehlt, ein Feuer auf dem Truppenverbandplätze aber leicht zu
beschaffen ist, Anhänger unter den Kollegen finden wird.
Aus der chirurgischen Universitäts-Poliklinik zu München.
Zur Kasuistik der angebornen Hernien der Linea alba.
Von Prof. Klaussner in München.
Obwohl nach Romains1) Mitteilungen die Hernia epi-
gastrica an Häufigkeit unter allen Brucharten überhaupt an
zweiter Stelle nach der Leistenhernie kommen soll, ist sie an¬
geboren doch nur höchst selten gefunden worden. Hiernach
dürfte die Bekanntgabe zweier Fälle, die in verhältnismässig
kurzer Zeit nacheinander in der chirurgischen Poliklinik zur
Beobachtung kamen, nicht ganz wertlos sein.
F a 1 1 I. J. R., 11 Jahre alter Knabe. Bei dem kräftig ent¬
wickelten Kinde besteht seit Geburt eine Vorwölbung des Bauches,
in dessen Mittellinie, oberhalb des Nabels. Da niemals Beschwerden
vorhanden waren, wurde auch bis jetzt nie ärztlicher Rat eingeholt.
Bei der Besichtigung findet man ca. 13 cm vom Schwertfortsatz
ab beginnend in der Medianlinie des Leibes eine halbkugelige Ge¬
schwulst, die nach unten direkt vom Nabel begrenzt wird, mit diesem
aber in keinem Zusammenhänge steht. Der Tumor wird durch eine
ziemlich tiefe, quer verlaufende Furche in zwei nahezu gleiche Teile
zerlegt, deren oberer 5,5 cm breit, 2,7 cm lang, deren unterer 4,3 cm
breit und ebenfalls 2,7 cm lang ist.
Bei der Betastung mit dem Finger und Eindrücken der prall ela¬
stischen Geschwulst gelangt man in einen scharf umschriebenen Ring,
der durch eine quere, der vorhin erwähnten Furche entsprechende
Spange in zwei Teile geschieden ist. Den Inhalt der Hernie bildet
leicht reponierbarer Darm. Die den Eltern vorgeschlagene Radikal¬
operation wird verweigert.
Fall II. Bei dem 6 Wochen alten Kinde A. K. findet sich 1,4 cm
unterhalb des Processus xiphoideus und 4 cm oberhalb des Nabels
eine 5 cm lange und 2,5—3 cm breite Geschwulst, die durch eine Ein¬
senkung ungefähr in ihrer Mitte in zwei Partien getrennt ist. Die
Geschwulst fühlt sich fest, prall-elastisch an; Nabel normal. Bei
Druck auf die Geschwulst lässt sich deren Inhalt (geblähter Darm),
wenn auch mühsam, reponieren, quillt jedoch bei dem Schreien des
Kindes sofort wiederum hervor. Der Bruchring ist deutlich zu fühlen.
— Da die Mutter unter allen Umständen die sofortige Beseitigung
der Geschwulst wünschte, erfolgte die Operation am 17. III. 1905.
Unter vorsichtiger Chloroformnarkose wurde die Haut um die
Geschwulst in Form einer Ellipse eingeschnitten und durch lang¬
sames, schichtenweises Präparieren des Bruchsacks freigelegt und
auf dessen Kuppe das elliptisch umschnittene Hautstiick belassen.
Bei dem Freilegen des Bruchsackes präsentierte sich ungefähr in
dessen Mitte eine derbe, quer verlaufende, bindegewebige Spange,
durch die er in die zwei schon bei der Besichtigung erkenntlichen,
vorhin erwähnten Abteilungen getrennt erschien. Sie wurde durch¬
schnitten, das Peritoneum eröffnet und nach Reposition der vorliegen¬
den Dünndarmschlingen und Netzpartien der Bruchsack exzidiert.
Das Peritoneum sowie die Muskelschichten wurden durch einige
Katgutnähte vereint und durch vier Aluminiumbronzedrahtnähte, die
durch sämtliche Schichten, inkl. der Haut gingen, für gute Ent¬
spannung Sorge getragen.
Antiseptische Gaze diente zur Deckung der Wunde, einige Heft¬
pflasterstreifen zur Fixation des Verbandes.
Was den Wundverlauf anbetrifft, so sei erwähnt, dass am 19. III.,
also am 2. Tage nach der Operation Erbrechen galliger Massen auf¬
trat und der Stuhl verhalten war. Die Nahtstichkanäle zeigten sich
etwas entzündet. Am 23. III. fand sich eine ziemlich starke Derma¬
titis in der Umgebung der Wunde. Fieber war nie aufgetreten, auch
keine peritonitische Reizung. Der weitere Heilverlauf gestaltete sich
völlig normal.
Die Durchsicht der kasuistischen Literatur ergab nur
wenige Mitteilungen.
Nach P 1 o e g e r 2) berichtete „A s 1 1 e y Cooper3) über zwei
Fälle von kongenitalem Defekte der Linea alba und dadurch bedingte
Bruchbildung, die Simpson auf eine in der fötalen Periode durch¬
gemachte Peritonitis zurückführt. Le Page,4) M a 1 g a i g n e,
Walter5 *) und V i d a 1 sahen ebenfalls schon vereinzelte Fälle, in
denen eine Hernie der Linea alba schon im ersten Kindesalter kon¬
statiert wurde. Terrier0) veröffentlicht zwei Krankengeschichten,
in denen die Angehörigen der Patientin auch an Hernien litten und
zwar in dem einen Falle Vater, Mutter und Bruder, in dem andern
Mutter und Bruder; dabei hatte das erst einige Monate alte Kind des
letzteren an genau derselben Stelle der Linea alba eine Hernie wie
der Vater.“
Dazu kommt noch der von Arnold Keiler7) beobachtete Fall
von einem 14 Tage alten Mädchen, bei dem eine pflaumengrosse
Geschwulst (mit Darm als Inhalt) 2 cm oberhalb des Nabels gelegen
war. Es war eine scharf randige, 10 Pfennigstückgrosse Bruchpforte
deutlich fühlbar. Der Bruch wurde durch Radikaloperation glücklich
beseitigt und die Heilung mit fester, straffer Narbe erreicht.
Hinsichtlich der Aetiologie der Hernien der Linea alba
äussert sich Schütz8) dahin gehend, dass 1. angeborene De¬
fekte der weissen Bauchlinie, 2. angeborene Schwäche der
Faszie der Linea alba, 3. Abmagerung, 4. traumatische Ent¬
stehung zu erwähnen seien.
Für unsere beiden Fälle kommt nur der erste Punkt in Be¬
tracht. Alle Autoren stimmen, wie auch Schütz angibt,
darin überein, dass die Entstehung dieser Brüche durch kon¬
genitalen Defekt zu den grössten Seltenheiten gehört.
Cooper9) berichtet von 2 Fällen. „Ich besitze in meiner
Sammlung den Abguss von einem Kinde, bei welchem drei
2) Carl Ploeger: Ueber die Hernia epigastrica und sub¬
peritoneale Lipome. Inaug.-Diss. Göttingen 1899.
3) Astley Cooper: The anatomy and surgical treatement of
abdominal hernia. London 1827.
4) Le Page: Des resultats eloignes de la eure rad. des hern.
epig. These. Paris 1888.
8) Walter: Hernia lineae albae supra umbilicum, quae dicitus
Gastrocele. Diss., Bonn 1850.
°) Terrier: Revue de Chirurgie 1900. No. 27, p. 699.
7) Arnold Keiler: Zur Kasuistik d. Hern. lin. alb. congenita.
Zentralbl. f. Chir. 1900, No. 27, S. 699.
8) E. Schütz: Ueber die Hernia epigastrica und subperito¬
neale Lipome der Linea alba. Inaug.-Diss. Göttingen 1899.
°) P 1 ö g e r 1. c.
U Romain: Ueber epigastrische Hernien, Wratsch No. 36, 1901.
No. 42.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
2058
Brüche in der Linea alba infolge einer solchen Missbildung vor¬
handen sind. Einmal habe ich eine Geschwulst von 4 Zoll
Länge und 1 34 Zoll Breite gesehen, die vom Nabel bis dahin
reichte, wo die Nabelvene zu der Leber abgeht; dieser Bruch
war durch den Mangel jenes Stückes der Linea alba, jedoch
ohne entsprechenden Mangel in der Haut gebildet.“
Seiner anatomischen Lage nach liegt der Bruch, wie A h 1 -
boom mitteilt, teils in der Medianlinie, häufig auch nach links
von derselben. B o h 1 a n d fand die Brüche nur selten in der
Mittellinie; „die meisten derselben waren seitlich durch die
rhomboiden Maschen der Bauchaponeurose hervorgetreten“.
Der Austritt wird meist in der Mitte zwischen Nabel und
Schwertfortsatz beobachtet, einer Stelle, die nach W e r n h e r
einer Inscriptio tendinea entspricht. Die Muskeln zeigen sich
hierbei nicht merklich auseinander gewichen, dagegen scheint
„das fibröse Gewebe, welches sie miteinander verbinden sollte,
nicht zu existieren“ (Berger). Für gewöhnlich ist die Vor¬
wölbung des Bruches eine gleichmässige; in manchen, wie auch
in unserem Falle, ist sie eine unregelmässige. „Sie ist wie
durch die Sehnenscheide durchkreuzt, welche auf ihrer Ober¬
fläche Einkerbungen hervortreten lässt und sie in eine ge¬
wisse Zahl von Buckeln einteilt“ 10). Es ist eben, wie
Kocher* 11) sagt, die Verflechtung der Faszienfasern der
Bauchmuskeln oberhalb und in der Nähe des Nabels lockerer
als unterhalb.
Während bei Nabelbrüchen der Kinder bekanntermassen
bei richtig eingeleiteter Therapie (Verbände) oftmals eine Hei¬
lung erzielt werden kann, bietet sie bei den Hernien der Linea
alba nach Holmes weniger Aussicht, was a priori anzu¬
nehmen ist, weil hier keine physiologischen Vernarbungsvor¬
gänge die Bruchpforte verkleinern; dass aber auf operativem
Wege ein guter Verschluss bei diesen Brüchen zu erreichen ist,
dafür spricht der von Keiler mitgeteilte und der hier be¬
schriebene Fall (Fall II). Der glückliche Erfolg bei diesen
beiden dürfte zu weiteren, schon im frühesten Alter vorzu¬
nehmenden Eingriffen ermuntern.
Darmokklusion durch Murphis Knopf nach
Pylorusresektion.
Von Dr. Hans Doerfler in Weissenburg a. Sand.
. Die Wagnerswitwe W. von W., 54 Jahre alt, erkrankte im Monate
Juni 1905 an Magenbeschwerden, häufigem Aufstossen saurer Massen.
Erbrechen, Druck nach jeder Mahlzeit. Damals konstatierte ich bei
dei noch recht gut ernährten Frau eine undeutlich abgrenzbare klein¬
apfelgrosse Resistenz, scheinbar in der Gegend der kleinen Kurvatur
des Magens gelegen, Mangel an freier Salzsäure und starkem Rück¬
stand nach L e u b e scher Probemahlzeit. Damals Operation ver¬
weigert. Seitdem starke Abmagerung und in den letzten 4 Wochen
Erbrechen alles Genossenen.
Status praesens am 17. X. 05: Patientin stark abgemagert, aber
immer noch recht gut genährt, frischrote Gesichtsfarbe (familiär),
ln der Magengegend ein daumenlanger und ca. 1/4-daumenbreiter,
dicker, querverlaufender, gut verschieblicher J unior zu fühlen. Der¬
selbe scheint an der kleinen Kurvatur zu sitzen.
Laparotomie und Pylorusresektion nach B i 1 1 r o t h s II. Methode
am 18. X. 05. Operationsgang: Nach Eröffnung der Bauchhöhle findet
sich ein 1 umor des Pylorusteiles des Magens, diesen ringförmig er¬
setzend und in der Ausdehnung von 434 cm sich gegen die kleine Kur-
\atui ei streckend. Tumor samt Magen leicht vorzulagern, nirgends
verwachsen. Keine Drüsenschwellungen, kein Aszites, keine Meta¬
stasen zu finden. Iypische Resektion der kleineren Hälfte des Magens
nach Billroths II. Methode. Vollständiger Nahtverschluss der
Magen- und Duodenumswunde nach Kocher. Gastroentero-
anastomosis i etrocolica nach v. Hacker mit Murphys Knopf.
Schluss der Bauchwunde mittels durchgreifender einfacher Czerny¬
scher. Bauchnaht. Der exstirpierte Magentumor präsentiert sich als
ein iingiöimig den Pylorus bis auf Stricknadeldicke verengender
Scirrhus ventriculi. Patientin kommt mit langsamem, ziemlich gutem
:..u ^ T0rT Dperationstisch. Nach 3 Stunden Puls kräftig, 84. Abends
1 . 37,0, P. 92, kräftig.
Der Wundverlauf war ein absolut fieberloser und glatter. Ar
“ ■ X- eiste Blähung, niemals Erbrechen, Leib stets weich un
schmerzlos gegen Druck Am 26. X., also 8 Tage nach der Operatior
plotzhch heftiger stuhldrang mit spontaner Entleerung von etwa
v tuhl. Desgleichen am 28. X. auf Ol. Ricini reichlich dünne Ent
eerung, die unter heftigem Stuhldrang und Leibschmerz bei gleich
10) Schütz 1. c.
11 ) Köchle r: Handb. d. Kinderheilkunde, Bd. VI. 2 Abt S 769
S. 769.
zeitigem Erbrechen erfolgte. Danach wieder bestes Befinden. Am
29. X., früh T. 37,6, abends 38,0. Patientin ist etwas matter, klagt
über schlechten Geschmack im Munde, hat häufiges Aufstossen. Leib
weich. Am 30. X. T. 37,7, P. 92. Patientin sieht etwas angegriffen
aus. Appetitlos. Zunge in der Mitte etwas trocken. Blähungen im
Gange, Leib weich. Sämtliche Nähte entfernt. Wunde p. p. geheilt.
Auf Ol. Ricini 2 dünne Entleerungen mit jedesmaligen gleichzeitigen
Drangbeschwerden und Erbrechen. Abends T. 38,1, P. 88. Patien¬
tin richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf den er¬
sehnten Abgang des Knopfes und verlangt täglich
Ol. Ricini. Knopf erscheint nicht. 11. XI. Patientin hat in den
letzten Tagen sich schlechter gefühlt. „Es sollte eben besser durch¬
gehen.“ Jedesmal auf Rizinusöl Erbrechen, aber auch jedesmal 2 Aus¬
leerungen mit heftigem Stuhldrang. Am 8. XI. war die Temperatur
plötzlich früh auf 38,8 gestiegen, dabei hatte heftiger Hustenreiz und
Stechen in der linken unteren Brustseite ohne lokalen Befund be¬
standen. Patientin gibt stets an, „sie fühle, dass die Darmpassage
nicht frei sei, der Knopf müsse an einer Stelle stecken“. Am 11. XI.
früh T. 37,4, P. 84. Sehr gutes Allgemeinbefinden. Seit 24 Stunden
kein Erbrechen. F'rischeres Aussehen. Zunge immer noch etwas zur
Trockenheit neigend. Kein Husten mehr. Leib weich. 14 Tage nach
Pylorusresektion war Patientin nach Hause entlassen worden. In
der 4. Woche, nachdem Patientin sich wohl gefühlt hatte und bereits
Semmel und Fleisch gut vertragen hatte — eine gewisse Trockenheit
der Zunge und eine Pulszahl von ca. 100 war immer geblieben _ ,
plötzlich Schüttelfrost und heftige Leibschmerzen in der unteren Hälfte
des Leibes, besonders unterhalb des Nabels, dabei Erbrechen grün¬
licher Massen. T. 38,8. Befund: Heftige kolikartig auftretende Leib¬
schmerzen. Der tastende Finger konstatiert dicht
unterhalb des Nabels eine sich von Zeit zu Zeit
steifende Darm schlinge, die auf Druck sehr
empfindlich ist. Auch Ileozoekalgegend und Blasengegend
druckempfindlich. Bei jeder Darmsteifung heftiges Dranggefühl.
Auf Opium sofort Besserung der Beschwerden, nach Nachlass der
Opiumwirkung, besonders aber nach Einnahme jedes Laxans immer
wieder heftige kolikartige Leibschmerzen mit lästigem Stuhldrang
und gleichzeitigem Erbrechen. Ol. Ricini oder Pulv. liquirit. erzielt
immer wieder Stuhl. Knopf geht nicht ab. Patientin wird hierdurch
sichtlich angegriffen und geschwächt. Vom 19. XI. Sistieren der
Flatus, vom 23. XI. an bleibt Rizinusöl ohne Wirkung, kein Stuhl mehr
Heftiger Stuhldrangschmerz. Stets an gleicher Stelle unterhalb des
Nabels deutlich sich steif ende Darmschlinge zu fühlen. Kein
Meteorismus. Es erschien nunmehr klar, dass ein Hinderniss der
Kotpassage voilag. Da der Murphyknopf nicht abgegangen war, war
es naheliegend, an ein durch diesen hervorgerufenes Darmpassage¬
hindernis zu denken. Der Knopf konnte auf seinem Wege auf ein bei
der Operation nicht bemerktes strikturierendes Darmkarzinom ge-
stossen sein und hierdurch aufgehalten worden sein, es bestand auch
die Möglichkeit, dass er als Kern eines obturierenden Kottumors, selbst
undurchgängig verstopft, den Dickdarm verlegte. Oberhalb des
Nabels, also im Operationsterrain, war nichts Abnormes nachweis¬
bar, der Leib hier nirgends aufgetrieben oder druckempfindlich; eine
Storung im Wundverlauf der Operationsstelle, eine Rückläufigkeit
nicht anzunehmen.
Am 27. XI., also fast 6 Wochen nach Pylorusresektion, wurde
Patientin behufs Relaparotomie wieder in das Krankenhaus auf¬
genommen. An diesem Tage zweite Laparotomie etwas nach aussen
und unten von der ersten in der Mittellinie zwischen Nabel und
Schwertfortsatz angelegten Schnittlinie. Nach Eröffnung der Bauch¬
höhle entströmt, besonders aus dem kleinen Becken kommend, reich¬
lich klare seröse Flüssigkeit. Der eingeführte Finger konstatiert den
Murphyknopf in einer freibeweglichen, unterhalb des Nabels ge¬
legenen Dünndarmschlinge liegend. Diese Schlinge wird vorgezogen-
sie ist nicht aufgetrieben, ohne fibrinösen Belag, aber in ihren grös¬
seren Gefässen stark injiziert. Die den Murphyknopf enthaltende
vorgezogene Darmschlinge weist nun folgenden überraschenden Be¬
fund auf:
Der Murphyknopf ist oral- und analwärts nur
etwa 4—5 cm lang verschiebbar. Bei dem Versuch, ihn
sowohl oralwärts als auch analwärts weiter zu schieben, stösst
derselbe an ein unüberwindbares Hindernis. Dieses Hindernis ist
jedoch nicht etwa durch eine fühlbare Resistenz im Darme bedingt;
dei tastende Finger kann keinerlei Verdickung der Darmwand
dur chfühlen. Es ist zweifellos peripherwärts und zen-
tralwärts der Knopf, durch eine unnachgiebige für
den Finger nicht fühlbare aber vollständig wirk-
sameKontraktur .der Darmringmuskulatur am Wei¬
terrutschen verhindert. Durch einen kleinen Schnitt senk-
iecht auf die Längsachse des Darmes wird das Darmlumen eröffnet
und der Knopf leicht entfernt. Der Knopf ist total mit Gewebsfetzen
und Speiseresten verstopft. Nun wird mittelst Kocher scher Klem¬
men die Darmwunde weit entfaltet und die Stelle des Hindernisses
peripher und zentral dem Auge sichtbar gemacht. Es zeigt sich die
Darmschleimhaut gefaltet, aber keinerlei Geschwür und keinerlei me¬
chanisches Hindernis, vor allem keinerlei Striktur des Darmes Ver¬
schluss der Darmwunde durch doppelte fortlaufende Quernaht. Opera¬
tiver Eingriff gut vertragen. Abends heftige Kolikschmerzen und Er¬
brechen dunkelgrünschwarzer Massen. Magenausspülung und Morph
subkut. 0,015.
16. Oktober 190 6.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2059
28. XI. Eieberlos. Ganze Nacht gut geschlafen. Keine Schmerzen
mehr, kein Erbrechen mehr, Zunge sehr trocken.
1. XII. Patientin ist stets fieberfrei. Hie und da leichter Stuhl¬
drang, der seit vorgestern, wo die ersten Flatus abgingen, ganz un¬
bedeutend ist. Patientin hat bisher alle Nahrung gut vertragen. Fühlt
sich sehr wohl.
Am 2. XII. auf Klysma etwas Stuhl, mit geringen, an alter Stelle
lokalisierten Drangbeschwerden.
Am 8. Tage in bestem Wohlbefinden nach Hause transportiert.
Am 6. XII. Ol. Ricini gegen meinen Willen; hierauf mehrmals
Erbrechen, keine Wirkung, heftige Leibschmerzen.
Seitdem jedes Abführungsmittel streng untersagt, nun wunderbar
schnelle Erholung.
18. XII. Patientin ist ausser Bette, hat ohne Erlaubnis vor
einigen Tagen Gansbraten und Kartoffel gegessen und sehr gut ver¬
tragen. Stuhl erfolgt seit reichlicherer Nahrung spontan und ohne
jede Beschwerde. Geheilt entlassen. Patientin hat bis heute 10 Pfund
zugenommen.
Was den Fall mitteilenswert erscheinen lässt, ist die Be¬
antwortung der Frage, wodurch hier der Ileus zu¬
stande gekommen ist.
Ich muss zur Anamnese nachtragen, dass Patientin neuro-
pathisch schwer erblich belastet ist, indem der Vater an einem
(jehirnleiden starb, eine Schwester im Irrenhause verstarb, ein
Bruder zurzeit im Irrenhause sich befindet und ein Bruder
„etwas eigentümlich“ ist. Ferner, dass, als am achten Tage
die ersten Stuhlbeschwerden sich zeigten, die Patientin über
deutliche leichte Druckempfindlichkeit an der Stelle, wo die
Gastroenteroanastomosis resp. der Murphyknopf lag, klagte.
Was nun die von uns aufgeworfenen Fragen über die Ur¬
sache der Passagestockung des Knopfes anlangt, so könnte
man versucht sein, dieselbe damit von kurzer Hand zu er¬
ledigen, dass man auf die Häufigkeit von Ileus durch Kotsteine
und besonders durch Gallensteine hinweist und den ganzen
Symptomenkomplex auf die gleiche Stufe mit beispielsweise
einem üallensteinileus stellt, ohne allerdings hierbei die echte
Ursache der ersten Stockung auch in diesen Fällen nur in ge¬
ringem Grade geklärt zu haben. Warum auch Koprolithen in
manchen Fällen zu typischem Obturationsileus führen, dafür
existiert heute noch keine sichere Erklärung.- Ueber die Ent¬
stehung des Gallensteinileus liegen dagegen in wiederholten
Diskussionen des Chirurgenkongresses immerhin einige Er¬
klärungsversuche vor. Eine Einigung erscheint bis heute noch
nicht erzielt. Aus der Beobachtung, dass Gallensteine häufig
Ileus verursacht haben, ohne dass ihre Grösse eine einfache
Verlegung des kleineren Darmlumens als Erklärung zugelassen,
wegen ihrer Kleinheit im Gegenteil eine einfache mechanische
Verschliessung ausgeschlossen erschien, hat sich das Bedürfnis
nach einer anderen Entstehungsursache des Ileus bei kleinen
Gallensteinen ergeben. Während Koenig der Ansicht ist,
dass ein quergestellter Stein bei heftigen peristaltischen Be¬
wegungen infolge der leichten Verschieblichkeit der Darm¬
schleimhaut gegen die Muskularis, die Mukosa mit sich zieht
und so zur Verengerung des Darmlumens Veranlassung gibt,
hat Czerny die Theorie aufgestellt, dass der Stein, sobald
er in eine tiefere Dünndarmschlinge gelangt ist, diese durch
seine Schwere ins kleine Becken ziehen und dadurch eine Ab¬
knickung mit folgendem Ileus herbeiführen könne. Wenn auch
die Möglichkeit einer derartigen Entstehungsart nicht ganz aus¬
geschlossen erscheint, dürfte sie für Ileusfälle mit kleinen
Steinen kaum herangezogen werden können. Körte und
R e h n haben für solche Fälle plausiblere Erklärungen gegeben.
Nach Körte „behindert der Gallenstein die Darmpassage zu¬
nächst nicht völlig, erschwert sie aber; treten nun im Darm¬
inhalt oberhalb desselben Zersetzungen ein oder werden mit der
Nahrung reizende, Gasentwicklung und vermehrte Peristaltik
verursachende Stoffe eingeführt, dann entstehen unregel¬
mässige Koliken, Zusammenziehungen der Darmmuskulatur.
Diese werden an der Stelle, wo das Konkrement die Schleim¬
haut reizt, am stärksten sein und dauernd unterhalten werden,
somit den Fremdkörper festhalten.“ Rehn schuldigt kleine
Schlei mhautulzerationen, hervorgerufen durch die
Rauhigkeit des Steines, und lokale Peritonitis als
Folge der von dem Ulcus aus erfolgten Infektion der Darm¬
wand als Ileusursache an. „In den Fällen, wo der Stein nicht
in einem absoluten Missverhältnisse zum Darmlumen steht, ist
nach Rehn die Ursache des Ileus keine mechanische, sondern
eine entzündliche.“
Können wir nun diese für den Gallensteinileus aufgestellten
Theorien für unseren Fall verwerten? Rehns Erklärung
dürfte in unserem Falle um deswillen nicht so ohne weiteres
zutreffen, als der Murphyknopf die Rauhigkeiten des Gallen¬
steins vermissen liess, Ulzerationen bei Besichtigung der Darm¬
schleimhaut wenigstens nicht erkennbar waren und die
schmerzhafte Darmpartie stets lebhafte Steifung und nicht
Lähmung aufwies. Dass der glatte Murphyknopf an einer nor¬
malen Schleimhaut genügend Halt fände, um dieselbe gegen
ihre Unterlage zu verschieben, erscheint bei dem Sitze des
Knopfes im Dünndarm und dem Fehlen jeglicher Stenose un¬
wahrscheinlich; ebensowenig könnte bei der Operation eine
stärkere Verziehung oder Abknickung der schuldigen Darm¬
schlinge, wie Czerny es wünscht, erkannt werden. Am
meisten dürfte für unseren Fall K ö r t e s Meinung, dass der
Knopf die Passage der Ingesta wohl nicht verhindert, aber er¬
schwert, so zur abnormen Zersetzung und vermehrten Peri¬
staltik, schliesslich zu unregelmässigen Koliken, Zusammen¬
ziehung der Darmmuskulatur um den schliesslich so fest¬
gehaltenen Knopf geführt hat, Wahrscheinlichkeit für sich
haben. Immerhin dürfte auch der Körte sehe Erklärungs¬
versuch für unseren Fall nicht ausreichen. Fürs erste
sass der Knopf in einer Dünndarmschlinge, deren flüssiger In¬
halt wohl kaum durch den Knopf in seiner Passage aufgehalten
worden wäre. Sodann zeigte sich bei der Operation, dass der
Knopf keineswegs von einer umschriebenen Darmpartie eng
umschlossen und so festgehalten wurde. Im Gegenteil
lag der Knopf frei beweglich in einer Dünn¬
darm schlinge, in welcher er bequem sowohl
oral- als analwärts etwa 4 — 5 cm hin und her
verschoben werden konnte, allerdings ohne
dass es möglich gewesen wäre, den Knopf
nach einer der beiden Richtungen noch auch
nur 1cm weiterzuschiebe n. Dieses Phänomen,
allerdings mit der Beschränkung, dass der Fremdkörper nur
anal wärts nicht verschoben werden konnte, während er
oralwärts in der Darmschlinge unbeschränkt verschoben
werden konnte, ist auch anderwärts nicht selten beobachtet
und beschrieben worden.
Wie aber könnte der Symptomenkomplex in unserem Falle
sonst erklärt werden? Der einzige Anhaltspunkt, den wir in
diesem Falle haben, ist die zweifellos vorhandene schwere
psychopathische Belastung der Patientin und eine
dadurch bedingte hochgradige sensitive Reizbarkeit der¬
selben. Wie schon hervorgehoben, war der einzige Gedanke
der sonst überaus vernünftigen und stillen Patientin vor dem
Knopfabgang der: „wo steckt der Knopf?“ „wann wird er ab¬
gehen?“ Man hatte immer den Eindruck, als ob sie sich den
ganzen Tag abmühte, vom 8. Tage an den Knopf in seinem
Laufe zu verfolgen. Dass sie richtig empfand, sowohl als er
noch in der Anastomose sass, als auch als er in der aufhaltenden
Dünndarmschlinge sich befand, hat die Autopsie in vivo er¬
geben. Ganz genau da sass der Knopf, wo ihn die Patientin
vor der Operation lokalisiert hatte. Als die erste Rizinusgabe
am 28. X. den Knopf im Dünndarm traf und schmerzhafte Peri¬
staltik des Dünndarms besonders an der Knopfstelle eintrat,
da mag diese Peristaltik zu einem ersten Kontraktionszustand
dieser Partie, und bei dem nunmehr fortbestehenden
Reize zum dauernden Festhalten an dieser Stelle geführt haben.
In der Folge beobachteten wir nun, dass bald eine bestimmte
Dünndarmschlinge dicht unterhalb des Nabels auf Druck
schmerzhaft und häufig durch Steifung fühlbar wurde, dass
ferner in den ersten 14 Tagen Rizinusöl wohl jedesmal 2 bis
3 dünne Stühle erzielte, aber zu einer derartigen Steigerung
der schmerzhaften Peristaltik der bewussten Darmpartie
führte, dass die Entleerungen jedesmal von einem gleichzeitigen
Erbrechen begleitet waren. Man konnte deutlich beobachten,
wie die Reizbarkeit dieser Dünndarmschlinge immer mehr zu¬
nahm, bei Opiumgaben sofort abnahm und schliesslich zu Ileus
führte, ohne dass Meteorismus oder sonstige peritonitische
Symptome auftraten.
Wie kann man sich nun den Operationsbefund, der die
Verschieblichkeit des Knopfes nach beiden Richtungen bis zu
einer gewissen Grenze bei gleichzeitigem Festsitzen des
Knopfes in diesem Darmteile ergab, erklären? Ich bin der
3*
2060
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
Ansicht, dass der Knopf auf bestimmte Darmnervengeflechte
der bestimmten Dannpartie, die wie diese von einem be¬
stimmten Gefässaste der Mesenterialblutgefässe ihr Blut, so
jene von einem bestimmten Nervenaste des N. mesentericus
ihre Innervation erhalten, einen starken Reiz ausübte. I m
Bereich des gereizten Nervenastes trat in
der betreffenden ganzen Darmpartie ein
leichter Kontraktionszustand der Darmusku¬
latur ein, der durch den L u in e n u n t e r s c h i e d
an der Grenze zwischen dem Bezirke des ge¬
reizten Nervenastes und dem Bezirke der
beiden benachbarten oralen und analen nicht
gereizten Nervengebiete das Weitergleiten
des Knopfes verhinderte. Gerade an diesen
Grenzen muss der Kontraktionszustand am
ausgesprochensten gewesen sein. Hier genügte
er zum Aufhalten des Knopfes, während der Knopf in der er¬
krankten Darmpartie bequem hin- und hergeschoben werden
konnte. Die beobachtete stärkere Injektion der betreffenden
Darmpartie und der Aszites dürften wohl anstandslos als Stau¬
ungserscheinungen, wie sie bei jeder Darmstenose auftreten,
gedeutet werden dürfen. Gegen einen entzündlichen para¬
lytischen Zustand der betreffenden Darmpartie sprach, wie
gesagt, die bis zum Operationstage beobachtete starke Kon¬
traktionsfähigkeit der sich steifenden Darmpartie, das Fehlen
jeglicher peritonitischen Reizung und das Fehlen ent¬
zündlicher Auflagerung auf der befallenen Darmschlinge.
Die Gefässinjektion war eine gröbere, nicht kapilläre, wie wir
sie bei Peritonitis zu beobachten gewöhnt sind. Auch der Um¬
stand, dass nach der Entfernung des Knopfes nicht sofort alle
schmerzhaften Sensationen in der betreffenden Darmpartie
schwanden, dürfte ohne Herbeiziehung einer verursachenden
entzündlichen Darmlähmung zwanglos durch Fortbestehen
eines gewissen Reizzustandes an dieser Stelle, besonders auch
durch die doch einigermassen verengenden Darmnähte erklärt
werden dürfen. Die Reaktion des Darmes auf Abführmittel
nach der Operation und die definitive Beruhigung des Darmes
erst nach Ausschalten aller Abführmittel liesse sich wohl auch
eher durch einen Reizzustand als durch einen Lähmungszustand
desselben erklären.
Ich bin mir wohl bewusst, dass meine Auseinandersetzung
als recht theroetischer Natur erscheinen mag. Trotzdem
möchte ich zu meiner Rechtfertigung betonen, dass alle Sym¬
ptome mich auf einen solchen Gedankengang hindrängten.
Das Fazit hinsichtlich der Therapie, das vielleicht aus
dieser Erfahrung gezogen werden dürfte, wäre wohl dies,
dass wir in ähnlichen Fällen von Abführmitteln besser Abstand
nehmen sollten und eher von einer Opium- oder Belladonna¬
therapie Erfolg erwarten könnten. Wenn wir anerkennen, dass
es Fälle spastischer Obstipation auf nervöser Basis gibt, so darf
das V orkommen von Ileus infolge eines ner¬
vösen Darmkrampfes, durch einen Fremd¬
körper bedingt, diskutabel erscheinen.
Ein Fall von Phosphorvergiftung mit tödlichem Ausgang,
Von Dr. Federschmidt, Kgl- Bezirksarzt in Dinkelsbühl.
Vor kurzem beobachtete Berichterstatter einen Fall, in dem eine
an Melancholie leidende junge Frau eine Tasse Milch trank, in der sie
die Köpfchen eines Paketes roter Schwefelhölzer aufgeweicht hatte.
3 Stunden nach dem Genüsse der phosphorhaltigen Milch wurde
der Magen mit lauwarmem Wasser, dem ca. 1 Esslöffel Terpentinöl
zugesetzt war, ausgespült.
Der ausgespiilte Mageninhalt zeigte trotz des Terpentinzusatzes
deutlichen Phosphorgeruch.
Intoxikationserscheinungen stellten sich nicht ein.
Dieser Fall brachte dem Berichterstatter eine in seinem Besitze
befindliche Krankengeschichte in Erinnerung, die er im Jahre 1892 als
Krankenhausarzt zu Windsheim erlebte.
Dieser Fall ist namentlich in pathologisch-anatomischer Hinsicht
nicht ohne Interesse, so dass man nicht ansteht, denselben an dieser
Stelle mitzuteilen.
Johann O., Dienstknecht zu B., 38 Jahre alt, schabte am 15. No¬
vember 189-, Abends 7 Uhr aus Gram über die Untreue seiner Ge¬
liebten die Köpfchen von 6 kleinen Paketen roter Schwefelhölzer in
einen Schoppen Wasser und trank diese Mischung.
Bis 12 Uhr nachts verspürte er keinerlei Beschwerden. Da¬
nach stellte sich heftiges Erbrechen ein, das bis 3 Uhr andauerte.
Das Erbrochene soll geleuchtet haben. Danach wurde Patient sehr
matt und elend.
Am 16. November früh stellte sich heftiger Durst ein, ausser¬
dem heftige brennende Schmerzen in der Magengegend und in der
Gegend der Blase. Während des ganzen Tages konnte Patient das
Bett nicht verlassen.
Am 17. November stand Patient auf und arbeitete trotz Leib¬
schmerzen während des ganzen Tages.
Am 18. November wurde Patient von dem erst jetzt gerufenen
Arzte dem Krankenhause Windsheim überwiesen.
Status praesens bei der Aufnahme:
Patient ist ein sehr kräftig gebauter Mensch. Die Haut sowie
die Konjunktiven sind intensiv gelb gefärbt.
Patient liegt ziemlich teilnahmslos im Bette, doch sind die Ant¬
worten, die er gibt, klar und richtig.
Abdomen hochgradig meteoristisch aufgetrieben, so dass die
Leberdämpfung nur schwer zu umschreiben ist. Bei jeder Bewegung
verspürt Patient heftige Schmerzen im ganzen Abdomen, namentlich
in der Magengegend und in der Gegend der Blase. Patient klagt,
sein Leib sei so voll, dass er das Gefühl habe, als müsse derselbe
zerspringen.
Herzdämpfung normal, Herztöne etwas abgeschwächt, der Herz¬
schlag verlangsamt.
Untere Lungengrenze recht in der Mammillarlinie zwischen
5. und 6. Rippe, links normal.
Atmungsgeräusch normal.
Am 19. und 20. November machte Patient nicht gerade den Ein¬
druck eines sehr schwer Erkrankten. Dem Arzte gegenüber machte
er sogar den wenig angebrachten Witz, dass der aufgetriebene Leib
vielleicht von einer vorhandenen Schwangerschaft herrühre.
Am 21. November plötzlicher Verfall der Kräfte, Patient liegt
teilnahmslos da.
22. November: Heftige Blutung aus der Nase. Harnmenge inner¬
halb 24 Stunden 1250 g.
23. November: Puls 90. Temperatur 37,3. Harnmenge 1200 g.
24. November früh: Puls 112. Temperatur 36,0° C. Herzaktion
unregelmässig, bald schwach, bald stark. Farbe des Stuhles grau.
Abends: Puls 92, unregelmässig, weich. Temperatur 36,6. Sen-
sorium frei. Schmerzen mässig, angeblich geringer werdend.
In der Nacht vom 24. auf den 25. November kollabiert Patient.
Temperatur 36,0.
25. November, früh Vz5 Uhr: Exitus letalis.
Sektionsbefund 30 Stunden nach dem Tode: Leiche eines kräftig
gebauten Mannes, mit mässig entwickeltem Fettpolster. Leichen¬
starre noch vorhanden. Muskulatur auf dem Durchschnitt von eigen¬
tümlich hellbrauner Färbung.
Bei Eröffnung der Bauchhöhle fliesst eine grosse Menge gallig ge¬
färbter Flüssigkeit ab. Die hochgradig aufgetriebenen Därme quellen
aus der Oeffnungsstelle hervor. Ausserdem wurde bei der Eröffnung
das Entweichen von knoblauchartig riechenden Gasen wahr¬
genommen. In der Bauchhöhle finden sich noch ca. 2 Liter gallig ge¬
färbter seröser Flüssigkeit.
Die Darmwände, Netz usw. sind ikterisch gefärbt.
Im Herzbeutel ca. Vz Schoppen gelblich seröser Flüssigkeit.
Ebenso eine geringe Menge gelblich seröser Flüssigkeit in beiden
Pleurahöhlen.
Rechte Lunge in ihren unteren Partien mit der Pleura costalis
verwachsen, jedoch leicht löslich. Linke Lunge frei. Auf der Pleura
pulmonalis zahlreiche Ekchymosen. Lungen auf dem Durchschnitt
sehr ödematös.
Auf der Innenfläche des Herzbeutels und Perikards zahlreiche
bis bohnengrosse Ekchymosen. Herzmuskulatur blass, ziemlich
brüchig, fettigen Aussehens, hellbraun. Herzklappen normal. Blut
in den Ventrikeln dünnflüssig. Im Endokard des rechten Ventrikels
an den Muskeln der Trikuspidalis eine erbsengrosse und mehrere
punktförmige Ekchymosen. Ausgedehntere Ekchymosen am Endo¬
kard der Muskulatur des linken Ventrikels, besonders an den Klap¬
penmuskeln.
Leber 28 cm lang, 5 cm dick. Leberkapsel glatt, vollkommen
ikterisch gefärbt. Auf der Vorderfläche der Leber ca. 10 stecknadel-
kopf- bis erbsengrosse Ekchymosen. Beim Durchschneiden der
Leber beschlägt sich das Messer fett. Die Leber schneidet sich
mässig derb, die Schnittfläche zeigt ikterische Färbung. Die Acini
sind verkleinert.
üallenblaseninhalt gering, zähflüssig, grünlich.
Milz 13 cm lang, 9 cm breit, ziemlich blutreich.
Auf der sehr blassen Magenschleimhaut äusserst zahlreiche,
punktförmige bis stecknadelkopfgrosse Ekchymosen.
Linke Niere gelappt, Kapsel leicht abziehbar, zeigt Ekchymosen.
Die Oberfläche der* Nieren gelblichweiss. Rindensubstanz ver¬
schmälert, Pyramiden deutlich.
Harnblase stark gefüllt mit gelblichem Urin.
Rekapitulieren wir das in den vorstehenden Zeilen Nieder¬
gelegte, so ergibt sich folgendes:
Die Menge des in unserem Falle dem Körper einverleibten
Phosphors lässt sich insofern nicht genau angeben, als der Ge-
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2061
halt an Phosphor in den Streichzündhölzern ein sehr wech¬
selnder ist.
Nach Q u n n i n g *) wechselt derselbe zwischen 12 und
62 mg in 100 Stück.
Unser Patient schabte die Köpfchen von 6 Paketen roter
Schwefelhölzer in Wasser und trank die Mischung. Er hat
demnach bei einer Berechnung nach obigen Ziffern eine Dosis
von 0,072 bis 0,372 seinem Magen zugeführt.
Nach Naunyn genügt aber bereits eine Dosis von
0,06 Phosphor, den Tod eines Menschen herbeizuführen.
Nach H i s -) können 0,05 bis 0,15 g Phosphor (in 50 bis
100 Zündhölzchen enthalten) zum Tode führen. Von Wichtig¬
keit freilich ist es bei der Aufnahme des Giftes in den Magen,
ob ein Teil desselben durch Erbrechen bald wieder aus¬
geschieden wird.
In unserem Falle trat Erbrechen erst 15 Stunden nach Auf¬
nahme des Giftes ein und ist anzunehmen, dass zu dieser Zeit
ein Teil schon im Magen resorbiert wurde und den Pylorus
passiert hatte.
Dass aber ein Teil des Phosphors durch das auftretende
heftige Erbrechen wieder aus dem Magen entfernt wurde, geht
daraus mit Sicherheit hervor, dass Patient' angab, das Er¬
brochene habe in der Dunkelheit geleuchtet.
Begünstigt wurde die Resorption des noch im Magendarm¬
kanal zurückgebliebenen Phosphors dadurch, dass Patient eine
Tasse Milch zu sich nahm, die ja vermöge ihres Fettgehaltes
den Phosphor löst und so die Resorption desselben befördert.
Auffallend war die relative Euphorie, die sich am zweiten
Tage nach der. Aufnahme des Giftes bei dem Patienten ein¬
stellte. Derselbe war am 17. November imstande,
während des ganzen Tages seinen Obliegen¬
heiten als Dienstknecht nachzukommen.
Dieser Eintritt relativer Euphorie nach vorhergegangenen
sehr schweren Symptomen wird auch von anderen Autoren
(H i s, N a u n y n) betont.
Bei der Aufnahme des Patienten in das Krankenhaus am
4. Krankheitstage waren bereits die Symptome vorgeschrittener
Intoxikation, Ikterus, aufgetriebenes, schmerzhaftes Abdomen,
vorhanden, so dass die Behandlung nur eine roborierende und
symptomatische sein konnte, zumal ein wirksames Antidot des
bereits resorbierten Phosphors nicht bekannt ist.
Patient starb am 25. November, also am 11. Krankheitstage.
Nach Hi s erfolgt der Tod meist am 5. bis 8. Tage.
Was die Herzaktion anlangt, so ist in unserer Kranken¬
geschichte am 18. XI. der Puls als verlangsamt geschildert.
An den übrigen Tagen, an denen der Puls überhaupt registriert
wurde, schwankte die Pulszahl zwischen 90 und 112.
Die Temperatur, die nach Naunyn bei Phosphorintoxi¬
kation meist bis gegen das Ende annähernd normal bleibt, be¬
trug in unserem Falle am 23. XI. 37,3 0 C, am 24. XI. früh
36,0° C., abends 36,6° C und in der Nacht vor dem Eintritte
des Todes 36,6° C.
Was die von den Autoren betonte Neigung zu Blutungen
bei Phosphorvergiftung betrifft, so trat in unserem Falle am
22. XI. sehr heftiges Nasenbluten auf.
Nach Naunyn ist die Harnsekretion in den letzten
Lebenstagen gewöhnlich eine sehr spärliche, in unserem Falle
betrug die Menge des Urins in 24 Stunden am 8. Krankheitstage
1250 g, am 9. ebensoviel und am 10. Krankheitstage, dem Tage
vor dem Tode, 1000 g.
In Bezug auf den Sektionsbefund sind in unserem Falle von
Interesse die an vielen Organen gefundenen Ekchymosen.
Ekchymosen fanden sich in der Pleura pulmonalis, der
Innenfläche des Herzbeutels, am Endokard des rechten und
linken Ventrikels, auf der Oberfläche der Leber, der Nieren,
der Magenschleimhaut.
Verschiedene Organe zeigten die Merkmale fettiger De¬
generation: Die Herzmuskulatur, ziemlich brüchig und hell¬
braun, zeigte fettiges Aussehen. Beim Durchschneiden der
Lebersubstanz beschlägt sich das Messer fettig.
0 II. Aufl., 15. Bd. des Handbuches der speziellen Pathologie und
Therapie, herausgegeben von v. Z i e m s s e n.
2) II. Aufl., S. 1063 des Lehrbuches der inneren Medizin, heraus¬
gegeben von v. M c r i n g.
Die Muskulatur zeigt eine eigentümlich hellbraune Färbung.
Bei der Eröffnung der Bauchhöhle entweichen knoblauch¬
artig riechende Gase.
Der pathologisch-anatomische Befund in unserem Falle
ist ein so charakteristischer, dass man aus ihm allein das Vor¬
liegen einer Phosphorvergiftung mit Sicherheit diagnostizieren
kann.
Aus der K. Universitäts-Frauenklinik München (Direktor:
Geheimrat v. W i n c k e 1).
Zur Frage der Hebotomie.
Von Privatdozent Dr. Ludwig S e i t z, Oberarzt der Klinik.
(Schluss.)
Fall VII. Rosina B., Schreinersfrau, 29 Jahre, I. Para, hat
Rhachitis vom 3. — 8. Jahre gehabt, misst nur 134 cm. Allgemein ver¬
engtes Becken. Sp. 23, Cr. 25, C. ext. I6V2, sehr. 20, C. diag. 8,5,
C. vera geschätzt auf 6,5 cm.
Aufnahme am 12. III. 06. Bereits 84 Stunden, also 3V2 Tage vor¬
her, traten die ersten Wehen auf, zugleich mit dem Einsetzen der
Wehen Abfluss des Fruchtwassers. Die Hebamme hat nach den An¬
gaben der Kreissenden ungefähr 5 — 6 mal täglich durch die Scheide
untersucht. Der schliesslich hinzugerufene Arzt überwies die Kreis¬
sende, die ein lebendes Kind wollte, der Klinik. Das Kind befindet
sich in II. Schädellage, Herztöne regelmässig, Kopf gross und hart,
ist oberhalb des Beckens. Ein spontaner Eintritt ist bei der Kürze
der Konjugata und der langen Dauer der Geburt nicht mehr zu er¬
warten. Rechtsseitige Hebotomie, Gebrauch der B u m m sehen
Führungsnadel. Das Becken weicht nach der Durchsägung noch nicht
auseinander, erst als noch durch ein paar Züge auch die oberen
Bänder durchtrennt sind., tritt eine Diastase auf fast 2 Querfinger ein.
Aus den kleinen Einstichen blutet es fast gar nicht, sie werden gleich
nach der Durchsägung mit Kollodium verklebt. Kein Hämatom
des grossen Labiums. Der Kopf lässt sich in den Beckeneingang her¬
eindrücken. Da die kindlichen Herztöne 120 sind und Temperatur
sowie Puls der Mutter keine Unregelmässigkeit aufweisen, wird vor¬
läufig zugewartet und das Becken durch eine schmale Gummibinde
leicht fixiert.
Nach dem Erwachen aus der Narkose sagt die Gebärende, dass
nunmehr die Schmerzen besser seien als vorher, an der Stelle der
Hebotomie verspürt sie fast keinen Schmerz. Leider blieben regel¬
mässige Wehen in den nächsten Stunden vollständig aus, der Uterus
zeigte einen Zustand erhöhter Spanung, die Geburt rückte keinen
Schritt vorwärts. Die kindlichen Herztöne waren regelmässig. Es
trat eine stärkere ödematose Schwellung des rechten grossen La¬
biums auf, wiederholter Singultus, eine auffallende Apathie der Mutter
und über der höchst gelegenen Kuppe des Uterus liess sich ein kleiner
Fleck mit tympanitischem Perkussionsschall nachweisen. Trotz der
sich entwickelnder Tympania uteri war die Temperatur nicht erhöht,
nur der Puls war über 100 gestiegen, auch sanken plötzlich die kind¬
lichen Herztöne. Nunmehr sofort Forzeps. Beim Einführen der Hand
gehen schwarzes Blut und äusserst übelriechende Gase ab. Der Kopf
ist so eingestellt, dass die grosse Fontanelle rechts tiefer und mehr
nach vorne steht als die kleine Fontanelle, also fast Vorderscheitel¬
stellung, in welcher der Kopf zunächst zu entwickeln gesucht wurde.
Auf der rechten Seite, unmittelbar über der Hebotomiewunde, gibt die
enge Scheide nach und es entsteht ein mehrere Zentimeter langer,
mit der Knochenwunde kommunizierender Riss. Nunmehr dreht sich
spontan die kleine Fontanelle nach links und vorne und der Kopf
tritt nach dem Mechanismus der I. Schädellage aus. Das am ganzen
Körper mit Mekonium bedeckte Kind riecht ausserordentlich übel,
(50 cm : 2870 g, Kopfumfänge 31 : 33 cm), von einem Herzschlag, der
noch kurz vor Anlegung der Zange, wenn auch etwas verlangsamt,
gehört worden war, war nichts mehr festzustellen. Sorgfältige Ver-
nähung des Scheidenrisses mit Katgut (keine Drainage). Wiederholte
Ausspülung des Uterus mit Lysol und 50 proz. Alkohol. Bepinselung
des ganzen Gebärschlauches mit Jodtinktur. Prophylaktisch wurden
sofort 40 ccm A r o n s 0 n sches Antistreptokokkenserum injiziert.
Nach den Erfahrungen bei Fall IV wurde die Prognose trotz der er¬
griffenen antiseptischen und prophylaktischen Massregeln ungünstig
für die Mutter gestellt, doch sollte sich diesmal die Befürchtung als
unberechtigt erweisen. Das Wochenbett verlief, abgesehen von einer
einmaligen Temperatursteigerung auf 38,5, am 4. Tage fieberfrei.
Da unmittelbar nach der Extraktion des Kindes Blut in der Harn¬
blase war und demnach auf eine Läsion der Blase geschlossen werden
musste, wurde der Dauerkatheter eingelegt, aus dem sich am 1.
Wochenbettstage eine geringe Menge stark, in den 3 späteren Tagen
eine grössere Menge nur leicht blutigen Urins entleerte. Am 7. Tage
fällt der Katheter heraus. Der Urin kann in der Eolge nur ganz kurze
Zeit gehalten werden. Es tritt durch die fortwährende Benässung
der äusseren Genitalien und des Dammes Ekzem an jenen Teilen auf.
Untersuchung ergibt, dass der vordere Abschnitt der Harnröhre ver¬
letzt, der hintere weit klaffend ist. so dass man mit dem kleinen Finger
in die Blase eindringen kann. Ausserdem muss noch eine Kommuni-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
)62
kuiiun zwischen Blase und Hebotoiniewunde, die nach der Scheide
zu offen steht, vorhanden sein, da bei der Blasenspülung die Flüssig¬
keit beim Zuhalten der Urethra aus der Hebotoiniewunde abläuft.
Am 26. Tage nach der Operation liess sich folgender Befund erheben:
Das laterale Knochenstück steht etwas tiefer (ca. 3 — 4 mm) als das
mediale, die beiden Enden sind auf gut Fingerbreite durch die mit der
Scheide kommunizierende Hebotomiehöhle von einander entfernt.
Nur am oberen und unteren Rande verläuft ein straffer bindegeweb¬
licher schmaler Strang über die Höhle, welcher die beiden Enden so
fest verbindet, dass die Pat. gut stehen und ungehindert gehen kann.
Die Höhle selbst hat eine Tiefe von ca. 4 cm, auf der medialen Wand
liegt ein kleines Stück Knochen direkt frei und ist mit nekrotischem
Belage, die übrige Wundhöhle mit Granulationen bedeckt. Fast am
Ende der Höhle führt nach links zu eine erbsengrosse, von straffem
Gewebe umgebene Oeffnung in die Blase. Zunächst wurde in Nar¬
kose wieder die Funktionsfähigkeit der Harnröhre hergestellt, von
der Schliessung der in der schmalen Höhle gelegenen Fistel vorläufig
Abstand genommen und versucht, durch Anregung der Granulations¬
bildung (Abschabung, Jodtinktur, Perubalsam, Lapis) die Fistel zur
spontanen Ausheilung zu bringen.
Im Verlauf von weiteren 14 Tagen verkleinerte sich die Hebo¬
tomiehöhle soweit, dass nur mehr mit der Sonde eingegangen werden
konnte, die Fistel schloss sich spontan, Pat. konnte den Harn anfäng¬
lich 1 Stunde, bei der Entlassung am 45. Tage 2 Stunden willkürlich
zurückhalten, später noch längere Zeit, sodass sicher zu hoffen ist,
dass sie binnen kurzem vollständig suffizient wird.
Fall VIII. Marie Pi., 27 Jahre, IV. Para, 10. V. 1906. Bei den
2 ersten Geburten Perforation des lebenden Kindes, bei der 3. Ge¬
burt künstliche Frühgeburt mit lebendem Kind, das noch am Leben
ist. Conjug. diag. 10 cm, C. vera 8(4 cm.
Bei der diesmaligen Geburt am regelrechten Ende wurde zu¬
nächst zugewartet, ob die Geburt nicht spontan erfolge. Bei voll¬
ständigem erweiterten Muttermunde wird die Blase gesprengt und
der Kopf über dem Beckeneingang fixiert. Die Wehen waren sehr
kräftig, der Kopf trat jedoch nicht tiefer. Die Impression des Kopfes
nach Hofmeier in der Hängelage bleibt ohne Erfolg, die Herz¬
töne werden allmählich langsamer und sinken auf 100. Eine ge¬
ringe Konfiguration ist unterdessen eingetreten, ein kleines Segment
des Kopfes ragt in das Becken hinein. Bei dem Verhalten der Herz¬
töne erscheint ein längeres Zuwarten gefährlich. Zunächst wird noch
ein vorsichtiger Versuch mit der hohen Zange gemacht, jedoch ohne
Erfolg, daraufhin die Hebotomie angeschlossen (mit der B u m m sehen
Nadel, deren Biegung sich bei der Dicke des Knochens als fast zu
klein erwies), und das sehr grosse Kind (51 cm : 3970 g, Kopfumfang
33 : 37, bipariet. Kopfdurchmesser 10 cm, bitemp. 8,5) asphyktisch mit
der Zange extrahiert und wiederbelebt. Die Mutter machte ein
reaktionsloses Wochenbett durch, Kind gedieh gut.
Von unseren 8 Fällen starb 1 Frau, das ist, rein numerisch
betrachtet, kein glänzendes Resultat. Allein die Zahl ist viel
zu klein, auch waren die Fälle zum Teil ausserordentlich un¬
günstig gelegen, so dass daraus ein Rückschluss auf die Ge¬
fährlichkeit der Operation unstatthaft ist. Von den bisher publi¬
zierten 146 Hebotomien starben 8 = 5,48 Proz. Rechnet man
jedoch jene Fälle ab, welche mit der Operation als solcher nicht
im Zusammenhänge stehen, dann bleiben nur 5 = 3,45 Proz.
Mortalität übrig. Streng genommen gehört auch unser Todes¬
fall zu den nicht durch die Operation selbst verursachten letalen
Ausgängen. Es bestand bereits vor der Operation sehr
schwere Infektion (jauchiger Uterusinhalt, Tympania uteri), es
hätte demnach auch nach der Perforation des lebenden
Kindes — die einzig noch übrig bleibende Entbindungsart —
eine Verallgemeinerung der Infektion und der Exitus eintreten
können. Doch muss ohne weiteres zugegeben werden, dass
bei der Perforation eine so schwere Verletzung der Genitalien
und damit der Eintritt einer ausgedehnten Phlegmone wohl mit
grösserer Wahrscheinlichkeit hätte vermieden werden können.
Dass es nicht allein auf die Schwere der Verletzung ankommt,
geht aus der Beobachtung VII hervor, wo trotz bestehender
jauchiger Zersetzung des Uterusinhaltes und einer mit der
Knochenwunde kommunizierenden grossen Scheiden- und
Blasenverletzung das Wochenbett fast ganz fieberlos verlief.
Ob es sich in diesem Falle um harmlosere Keime gehandelt,
kann mangels einer Kultur nicht entschieden werden; ebenso¬
wenig lässt sich die Frage entscheiden, inwieweit die sofort
vorgenommene Injektion von Aronsonschem Antistrepto¬
kokkenserum die Schuld an dem günstigen Ausgange trägt.
Zweifellos steht soviel jedoch fest, dass die Scheiden-
Verletzungen wohl die allerernsteste Komplikation der
Hebotomie darstellen. Sie treten mit Vorliebe unmittelbar
über der Hebotomiewunde auf, weil hier beim Auseinander¬
weichen der Knochenenden die grösste Querspannung des
Vaginalrohrs auftritt und sind recht häufig kommunizierend.
Damit haben wir statt der einfachen subkutanen
Knochen wunde eine komplizierte Fraktur mit
allen ihren Folgen. Manchmal gelingt es, durch sofortige Ver-
nähung die Knochenwunde gegen den Genitalschlauch abzu-
schliessen, bei infiziertem Geburtskanal lässt sich jedoch
eine Infektion der Knochenwunde nie mit Sicherheit verhüten.
Bei unseren 8 Fällen traten kommunizierende Scheiden¬
verletzungen 2 mal auf, und zwar betrafen sie die 2 Erst¬
gebärenden, während die übrigen 6 Frauen Mehrgebärende
waren. Diese Tatsache gibt uns zugleich eine Erklärung: Bei
den engen Genitalien Erstgebärender entstehen leichter
Läsionen. Aus diesem Grunde halten daher manche Autoren,
wie dies früher meist auch bei der Symphyseotomie gemacht
wurde,’ die Hebotomie bei Erstgebärenden für kontraindiziert.
Meines Erachtens geht jedoch diese Forderung viel zu weit,
es ist bereits über eine grosse Anzahl von Erstgeburten be¬
richtet, ohne dass ernstere Verletzungen stattgefunden haben.
Es kommt ganz auf die Grösse des Kindes und auf den Grad der
Beckenverengerung an. Bei mässigen Beckenverengerungen
lässt sich ohne grössere Verletzung in der Regel der Kopf
hindurchführen; droht trotzdem durch Ueberdehnung der
Scheide eine Zerreissung, so empfehlen sich tiefe Scheiden¬
damminzisionen auf der entgegengesetzten Seite, wie sie
v. Franque11) u. a. empfohlen haben.
In dem ersten unserer Fälle mit schweren Scheiden¬
verletzungen war das Becken nicht besonders eng (Conj. vera
9,2 cm); allein es bestand eine Gesichtsstellung mit Kinn nach
hinten, bei der jede andere Entbindungsart ausgeschlossen war,
so wurde wenigstens das Kind noch gerettet. Auch Kanne¬
giesse r12) berichtet über einen Fall von Gesichtslage mit
Kinn nach hinten; es gelang die Extraktion mit der Zange nicht,
der Wendungsversuch kam zu spät, die Nabelschnur fiel vor,
das Kind musste perforiert werden. Die zweite Patientin
(No. VII) hat ein allgemein verengtes Becken mit einer Conj.
vera von nur 6,5 cm; das Kind ausgetragen, wenn auch nicht
besonders kräftig entwickelt. Bei derartigen Beckenverenge¬
rungen lässt sich eine Verletzung kaum vermeiden.
Von grossem praktischen Interesse sind auch die
Blasenverletzungen, die ebenfalls in 2 Fällen aufge¬
treten sind (Fall VI und VII). In dem einen Falle (No. VI) wurde
die Blasenverletzung während der Operation nicht bemerkt,
erst der blutige Katheterharn im Wochenbett wies auf eine
Blasenläsion hin. Da jedoch von verschiedenen Autoren (K a n-
negiesserl. c., Stoeckell. c.) Blutabgang aus der Blase
in den ersten Tagen beobachtet wurde, ohne dass nachträglich
bei der zystoskopischen Untersuchung eine Läsion der Blase
festgestellt wurde, so wurde dem Umstande kein besonderes
Gewicht beigelegt und daher die Verletzung erst bei der zysto¬
skopischen Durchleuchtung vor der Entlassung festgestellt;
ohne letztere wäre sie wahrscheinlich ganz übersehen und der
trübe Urin auf zystitische Veränderungen zurückgeführt wor¬
den. Die Entscheidung der Frage, ob die Verletzung bereits
beim Durchführen der Nadel passiert ist oder erst sekundär
durch Zerrung oder Quetschung der Blasenwand bei der Zan¬
genextraktion eingetreten ist, lässt sich nicht sicher treffen,
da zwischen Hebotomie und Zangenextraktion die Harnent¬
leerung mit dem Katheter nicht vorgenommen wurde. In
einem Falle von Reifferscheid13) fand sich unmittelbar
nach der Durchsägung klarer Urin, nach der Extraktion des
Kindes dagegen bluthaltiger, ein Beweis, dass die Läsion erst
nachträglich erfolgt ist. Auch Kannegiesser (1. c.) führt
die Verletzungen auf starkes Auseinanderziehen des Beckens
durch Spreizen der Beine, durch zu grossen Kopf, vielleicht
auf direkte Quetschung zurück. In unserem zweiten Fall steht
eine erst nachträgliche Blasenverletzung sicher (Sitz der Lä¬
sion), auch in einer Beobachtung von Kroemer") sass die
Verletzung ausserhalb des Bereiches der Hebotomie. Immer¬
hin mag auch ein direktes Aufschlitzen der Blase Vorkommen,
wie dies R e e b 15) von einem seiner Fälle annimmt. Erkennt
11 ) Prager med. Wochenschr., Bd. XXX, No. 5 u. 6 1905 u
Bd. XXXI 1906.
12) Arch. f. Gyn., Bd. 78, H. 1.
13 ) Zentralbl. f. Gyn. 1905, No. 42.
14) Zentralbl. i. Gyn. 1906, No. 8, S. 239.
15) Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 48, S. 2319.
16. Oktober 1006.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2063
man die Verletzung sofort, so ist es keine schlimme Sache, durch
Einlegen eines Dauerkatheters wird man in der Regel eine
Spontanheilung der Verletzung erzielen.
Von weiteren Komplikationen sind zu nennen die Häma-
t o m e, die sich in dem grossen Labium der durchschnittenen
Seite zeigen; wir beobachteten sie zweimal; eine Vereiterung,
die S e 1 1 h e i m 10) in seinen Fällen befürchtete, trat ebenso¬
wenig wie in Beobachtungen anderer Autoren ein. Die häufiger
zu beobachtende ödematöse Schwellung des Labiums
hängt mit den veränderten Zirkulationsverhältnissen zusammen
und bildet sich im Verlaufe von 8 — 14 Tagen ohne weitere Stö¬
rungen zurück.
Auf eine Folgeerscheinung der Hebotomie, die bisher, we¬
nigstens in dem Masse, noch nicht beobachtet wurde, muss
noch hingewiesen werden, das sind die Qehstörungen infolge
Lähmungserscheinungen bei Fall II. Die Gehstörungen hängen
sicher nicht mit einer ungenügenden Konsolidierung der Kno¬
chenenden zusammen, die hier ebensogut wie in den anderen
Fällen erfolgt ist, es handelt sich zweifellos um Inner¬
vationsstörungen. Ich denke mir ihre Entstehung fol-
gendermassen : Bei dem plattrhachitischen Becken mit einer
Conj. vera von nur 6,5 cm und dem ungewöhnlich kräftigen
Kinde (3740 g und 35 cm Kopfumfang) entstand eine starke
Dehnung, vielleicht eine teilweise Zerreissung der vorderen
Kapselbänder an der rechten Articulatio sacroiliaca und damit
auch eine Zerrung des Plexus ischiadicus, besonders der oberen
Partien desselben, die aus den Intervertebrallöchern des 4.
und 5. Lendenwirbels entspringen und über die Articulatio
sacroiliaca hinweg nach unten ziehen. Die anfänglich über
fast das ganze Bein ausgedehnten sensiblen und motorischen
Störungen bessern sich zwar, doch bleibt noch Jahr nach
der Operation eine Parese der Unterschenkelmuskulatur und
einzelne sensible Störungen im Ischiadikusgebiet zurück, die
den Gang der Pat. erheblich beeinträchtigen. Es ist zwar wahr¬
scheinlich, dass durch eine weitere zweckmässige Behandlung,
die unterblieb, die Erscheinungen ganz verschwunden wären,
auch lässt sich wohl in Zukunft noch eine spontane Besserung
erwarten, immerhin muss man aber mit der Möglichkeit einer
dauernden Schädigung des Gehvermögens rechnen.
Der GradderVerengung, bis zu welchem die Hebo¬
tomie mit gutem Erfolg für Mutter und Kind ausgeführt wer¬
den kann, wird verschieden angegeben. Ich stimme jenen
Autoren bei, welche die untere Grenze bei 7 cm Conj. vera
sehen; jedenfalls soll nie unter diese Grenze bei Erstgebären¬
den, und bei allgemein verengtem Becken und bei kräftigem
Kind ohne besonderen Grund heruntergegangen werden. Am
ehesten ist noch bei einem platten Becken die Grenze nach
unten bis 6% cm bei sonst günstigen Verhältnissen zu ver¬
schieben. Tatsächlich ist auch bereits einigemale die Hebotomie
mit Erfolg für Mutter und Kind bei eine Conj. vera unter 7 cm
ausgeführt (v. Franque, Seeligmann, Reiffer¬
scheid, R e e b), doch handelte es sich dabei z. T. um kleine
Kinder und um eine Kombination von künstlicher Frühgeburt
mit Hebotomie (Reifferscheid, Reeb); auch in unserem
1. Fall trafen diese 2 Operationen zusammen. Unsere 2 Be¬
obachtungen, bei denen die Hebotomie bei einer Conj. vera von
6 Yi cm noch ausgeführt wurde, mahnen zur Vorsicht. Im
ersten Fall (No. II, plattrhachitisches Becken), wo freilich das
Kind ungewöhnlich stark entwickelt war (54 cm: 3750 g), blieb
die vorerwähnte Parese des Fusses zurück, im 2. Falle (No. VII,
allgemein verengtes Becken, Erstgebärende) entstand eine
Verletzung der Blase und ein mit der Hebotomiewunde kom¬
munizierender Scheidenriss. Beide Mütter wünschten drin¬
gend ein lebendes Kind, beide mussten, da seit langem kreissend
und wiederholt innerlich untersucht, als infiziert angesehen
werden; somit war jede andere Möglichkeit, ein lebendes Kind
zu bekommen (ausser durch die Symphyseotomie) ausgeschlos¬
sen. Unter gleichen Verhältnissen würde ich auch in Zukunft
so handeln, würde aber vorher nicht unterlassen, die Frauen
noch ausdrücklich auf ihr grösseres Risiko als bei geringem
Graden der Beckenverengerungen aufmerksam zu machen.
Ganz willkürlich ist die Annahme Stoeckels (1. c.), die
Hebotomie nicht unter 8 cm Conj. vera auszuführen und bei
stärkeren Beckenverengerungen lieber die Symphyseotomie zu
machen. Verschiedene experimentelle Untersuchungen (S e 1 1-
heim 1. c., Tandler) und eine grosse Anzahl praktsicher
Erfahrungen haben dargetan, dass die Erweiterung des Beckens
bei Hebotomie ganz derjenigen bei der Symphyseotomie gleich¬
kommt.
Darf die Hebotomie dann noch ausgeführt werden, wenn
der Geburtskanal bereits infiziert oder we¬
nigstens infektionsverdächtig ist? Baisch17)
will jede Fiebernde oder der Infektion Verdächtige ausge¬
schlossen wissen, ebenso Henkel 18). Dagegen, ist bereits
von einer Anzahl von Autoren bei notorisch Infizierten die
Operation mit bestem Erfolge gemacht worden (v. F r anque13),
Kannegiess er 1. c., Reeb 1. c., H o h 1 w e g *0) etc.),
v. Franque sieht gerade darin einen besonderen Vorteil der
Hebotomie und in der Tat könnte durch nichts ihre Ueber-
legenheit über alle anderen, bei engem Becken gebräuchlichen,
Operationen dargetan werden. Sind wir ja doch oft vor die
Notwendigkeit gestellt, gerade bei infizierten Fällen noch eine
Rettung des Kindes zu unternehmen.
Von unseren 8 Fällen waren nur 3 ausserhalb der Klinik
nicht untersucht, alle anderen waren von Hebammen wiederholt
touchiert, die Blase bereits lange gesprungen und das Frucht¬
wasser zum grösseren Teile abgeflossen, bei 2 das Frucht¬
wasser bereits in Zersetzung begriffen. 1 Fall mit jauchigem
Fruchtwasser starb, während das Kind noch gerettet wurde,
von den übrigen 7 Wöchnerinnen machten nur 3, also nicht
einmal die Hälfte ein glattes Wochenbett durch. Diese waren
ausserhalb der Klinik nicht untersucht worden (Fall 1, 5 und 8),
die anderen zeigten leichte Temperaturerhöhungen. Diese
Morbidität ist hoch und kommt fast der gleich, wie sie K a n n e-
g i e s s e r (1. c.) an der Dresdener Klinik beobachtete, der
unter 21 Fällen bei 14 = 2/s Temperatursteigerungen, wenn auch
meist leichte, feststellte. Aehnlich sind die Resultate an der
Berliner Univ.-Frauenklinik (Henkel). Am günstigsten sind
zweifellos die Temperaturverhältnisse bei denen, die gar nicht
oder nur unter allen aseptischen Kautelen berührt worden
sind. Geringe und rasch vorübergehende Temperatursteige¬
rungen treten demnach nach Hebotomie weit häufiger als bei
spontanen Geburten auf. Doch ist diesem Umstand keine all¬
zugrosse Bedeutung beizumessen, da meist die Geburten wegen
der ungünstigen Beckenverhältnisse länger dauern und auch
andere Eingriffe (Zange, Wendung) noch nachträglich häufig
ausgeführt werden müssen. 7 Kinder wurden gerettet, auch
das 8. hätte voraussichtlich am Leben erhalten werden können,
wenn die Extraktion sofort angeschlossen worden wäre.
Nach unseren Erfahrungen kann demnach auch bei infi¬
ziertem Geburtskanal die Hebotomie noch mit glücklichem Aus¬
gang für Mutter und Kind ausgeführt werden, allein die Gefahr
für die Mutter wird um so grösser, je ausgedehnter die Ver¬
letzungen sind. Ich würde daher nie mehr bei nachweislich
infizierten Geburtswegen einer Erstgebärenden mit sehr engen
Weichteilen, stärkerer Beckenverengerung oder grossem Kind,
oder ungünstiger Einstellung, kurz unter Umständen, die eine
tiefere und namentlich mit der Hebotomie kommunizierende
Verletzung wahrscheinlich machen, die Hebotomie ausführen,
wenn nicht ganz besondere Gründe vorliegen. Unter diesen
Verhältnissen halte ich die Perforation des lebenden Kindes
auch in der Klinik noch für notwendig. Dagegen bei Mehr¬
gebärenden mit weiten Genitalien und nicht allzu grossem
Missverhältnis von Kopf und Becken, wo sich also kommuni¬
zierende Einrisse vermeiden lassen, glaube ich, kann man
ohne besondere Gefährdung der Mutter auch bei infizierten
Genitalien noch die Operation vornehmen. Nur ist die Vorbe¬
dingung, dass man die Durchsägung subkutan oder wenigstens
so vornimmt, dass nichts von dem infizierten Genitalsekret in
die kleine Inzisionswunde kommt, also entweder jede Be¬
rührung der Genitalien selbst vermeidet oder nur mit der be¬
handschuhten Hand die Führungsnadel von der Vagina aus
kontrolliert und noch vor dem Ausstechen die Handschuhe
auszieht.
17) Deutsche ined. Wochenschr. 1904, No. 51.
18) Zentralbl. f. Gyn. 1906, No. 8, S. 233.
19) Miinch. med. Wochenschr. 1905, No. 10.
20) Zentralbl. f. Gyn. 1905, No. 42, S. 1281.
16) Zentralbl. f. Gyn. 1905, No. 36, S. 1097.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
2064
Was die Frage anlangt, ob man nach der Durchsä-
g u n g sogleich die Entbindung vornehmen soll oder
ob man besser zuwartet, so glaube ich. dass man eine generelle
Entscheidung nicht treffen kann. In 6 Fällen wurde die Ent¬
bindung sofort vorgenommen, bei 2 warteten wir zu, waren aber
schliesslich infolge Gefährdung des Kindes gezwungen, noch
operativ einzugreifen, leider einmal bereits zu spät (Fall VII).
Im letzteren Falle, wo die Geburt bereits 3X> Tage gedauert
hatte, wäre es wohl von vorneherein besser gewesen, sofort
die Extraktion anzuschliessen, dagegen war bei Fall VI das Zu¬
warten daraus indiziert. Allgemein ausgedrückt möchte ich die
Indikation präzisieren: Bei langer Geburtsdauer, bei dem Ver¬
dacht oder bei Bestehen einer Infektion (Fieber) und selbst¬
verständlich bei jeder nachweisbaren Gefährdung des Kindes
sofortige Extraktion, wenn die Vorbedingungen erfüllt sind,
sonst Abwarten. Der Kopf tritt bei guten Wehen meist rasch
in das Becken ein, die langsame Konfiguration des Kopfes dehnt
die Weichteile schonender, und Zerreissungen der Scheide
werden mit grösserer Wahrscheinlichkeit vermieden. Der Ge¬
danke, nach der Durchsägung die Pat. aus der Narkose auf-
wachen zu lassen, um sie weiterhin den Qualen der Geburt
auszusetzen, hat für manchen etwas unsympathisches. Allein
die Schmerzen sind nicht grösser, als wie vor der Durchsägung,
eine Pat. gab direkt an, sie verspüre eine Erleichterung, was
wohl durch das Aufhören des Druckes auf Becken und Weich¬
teile von Seiten des Schädels zu erklären ist. Mit einer leicht
angelegten Gummibinde wird man zweckmässig einer zu gros¬
sen Diastase Vorbeugen.
Ist man gezwungen, sofort zu entbinden, so stimme ich
v. Franque bei, der sagt, es sei weniger Sache der Tech-
n i k als der Indikation, ob man die Entbindung mit der
Zange oder der Wendung und Extraktion vornimmt. Bei lange
abgeflossenem Fruchtwasser oder bei einem Kopf, der ohne
Mühe nach der Hebotomie ins Becken sich eindrücken lässt,
wird nur die Zange, bei beweglichem Kopfe die Wendung die
auszuführende Operation sein. Es sei hier bemerkt, dass
manchmal der Durchtrittsmechanismus des
Kopfes durch das Becken nach der Hebotomie eine
Aenderung erfährt. In einem von v. Franque21) mitge¬
teilten Falle trat eine innere Ueberdrehung ein, das vorher in
I. Schädellage befindliche Kind stellte sich in Vorderhaupts¬
lage ein; ein gleiches passierte in unserem Fall VII.
Da es sich bei der Hebotomie um eine glatte Durchsägung
eines Knochens handelt, sollte man glauben, dass binnen kur¬
zem ein fester knöcherner Kallus sich bildet. Dem ist
jedoch im allgemeinen nicht so. Die Röntgenogramme von
Fall I 8X Monate und Fall III 6 Monate nach der Operation
ergaben das Fehlen jeglicher knöchernen Verbindung, die Prü¬
fung bei wechselnder Belastung zeigt eine geringe Verschieb¬
lichkeit der Knochenenden gegen einander in senkrechter Rich¬
tung, es besteht also zweifellos eine Pseudarthrose. Kanne-
g i e s s e r (1. c.), der an einer grösseren Zahl von Fällen die
Verknöcherungsvorgänge eingehender studiert hat, erwähnt
zwar nichts von Pseudarthrosenbildung, findet jedoch ebenfalls
in der Mehrzahl der Fälle noch sehr spät, nach 1 Jahr und
mehr, unvollkommene Verknöcherung. Die helle Lücke des
Röntgenogramms hat oft eine spindelförmige Gestalt, unten
und oben ist der Verknöcherungsprozess am weitesten fortge¬
schritten. Offenbar unterliegt der Verknöcherungsvorgang
starken individuellen Schwankungen; so fand sich in einer Be¬
obachtung Kannegiessers 3 Monate nach der Operation
nur mehr ein schmaler, spindelförmiger heller Streifen und in
einem Falle ragtq sogar schon am 31. Tage der wenig durch¬
sichtige Kallus unten und oben etwas über das Niveau hervor,
während nur noch die Mitte hell erschien.
So schlimm die Pseudarthrosenbildung an den Knochen der
Extremitäten ist, so harmlos scheint sie im allgemeinen am
Becken zu sein. An der Symphyse und den Artic. sacroiliaca
weist der Beckenring bereits unter normalen Verhältnissen eine
gewisse, allerdings nur minimale Beweglichkeit auf, die Ein¬
schaltung eines kurzen bindegeweblich knorpeligen Zwischen¬
stückes setzt daher die Festigkeit des Ringes nur wenig herab.
Dies gilt namentlich dann, wenn die Articul. sacroiliac. starken
Bandapparat aufweisen. Immerhin scheinen in einzelnen Fällen
bei schwerer Belastung und bei langem Gehen durch Verschie¬
bung der Knochenenden Schmerzen, die die Leistungsfähigkeit
beeinträchtigen, hervorgerufen zu werden.
Da die Heilung nie ganz lineär erfolgt, kommt bei der
Hebotomie durch das Zwischenstück meist eine dauernde
Vergrösserung der Konjugata, die, wie auch unsere Mes¬
sungen zeigen, bis 1 cm betragen kann, zu stände. Besteht
noch dazu eine Pseudarthrose, so wird bei einer späteren Geburt
die Beckenerweiterung recht beträchtlich, so dass man ähnlich
wie bei der Symphyseotomie bei späteren Entbindungen spon¬
tane Geburt in nicht allzu ungünstigen Fällen wird erwarten
dürfen. Von R e i f f e r s c h e i d 22) ist bereits über eine spätere
Geburt nach Hebotomie berichtet worden, wo nach prophy¬
laktischer Wendung die Extraktion eines lebenden Kindes bei
einer Conj. vera von 7X cm (früher 7 cm) gelang, indem beim
Durchführen des Kopfes die alte Hebotomiestelle etwas nachgab.
Auf Grund unserer Erfahrungen ist demnach die Hebotomie
nicht ganz so harmlos, wie sie allzu begeisterte Anhänger hin¬
zustellen pflegen. Fieberhafte Störungen des Wochenbettes
und Thrombosenbildungen sind weit häufiger als sonst, Blasen-
und Scheidenverletzungen sind nicht in allen Fällen zu ver¬
meiden, auch bleiben Schmerzen an der Hebotomiestelle bei
angestrengtem Gehen und schwerer Arbeit manchmal längere
Zeit zurück. Todesfälle werden bei zunehmender Erfahrung
und exakterer Indikationsstellung weniger werden, ganz ver¬
schwinden werden sie jedoch kaum. Ich glaube, es ist besser,
auch die Nachteile und Gefahren der Operation hervorzuheben
als sie durch übertriebene Lobpreisungen, die notwendiger¬
weise früher oder später zu einer Reaktion führen, in Miss¬
kredit zu bringen. Es erscheint mir daher noch verfrüht, die
Operation jetzt schon für die allgemeine Praxis zu empfehlen.
Weitere Erfahrungen müssen noch abgewartet werden. So
viel lässt sich heute schon sagen: Bei richtiger Auswahl der
Fälle: aseptischer Geburtskanal, nicht zu enge Genitalien (Mehr¬
gebärende) und nicht zu starke Beckenverengerung (nicht unter
7 cm Conj. vera) leistet die technisch so einfache Operation
vorzügliches und ist geeignet, den Kaiserschnitt ans relativer
Indikation, die künstliche Frühgeburt und die Perforation des
lebenden Kindes nicht zu verdrängen, aber erheblich einzu¬
schränken.
Anmerk u n g bei der Korrektur: Unterdessen sind
noch weitere 3 Fälle zur Operation gekommen: eine fiebernde Erst¬
gebärende (Conj. vera 7Vz), die auf einem lebenden Kind bestand,
perforierende Scheidenverletzung trotz vorausgehender Dilatation der
Vagina, leicht febriles Wochenbett; Kind 3 Stunden post part. an
Hirndruckerscheinungen gestorben. 2. Fall: II. Para, Conj. vera
8% cm, lebendes Kind, fieberloser Verlauf des Wochenbettes mit
Ausnahme eines einzigen Schüttelfrostes am 10. Tage. 3. Fall: I. Para,
Kind nicht gross, Conj. vera 8 cm, keine Verletzung der Scheide,
lebendes Kind, Wochenbett durch heftige Neuralgien des Ischiadikus
und leichte Temperatursteigerungen gestört.
- -CXgjO- -
Hermann Cohn f.
Am 11. September ist Hermann Cohn nach mehr-
monatlichem Leiden im 69. Lebensjahr an den Folgen von
Arteriosklerose sanft entschlafen.
Ihm verdanken wir das erste eigentliche „Lehrbuch
der Hygiene des Auges“, welches 1891/92 im Verlage
von Urban & Schwarzenberg, Wien und Leipzig, erschien.
Selbst in den besten Lehrbüchern der Augenheilkunde war die
Hygiene des Auges und in denjenigen der Hygiene der die
Augen betreffende Teil bis dahin recht stiefmütterlich behandelt.
Erst Cohns Lehrbuch suchte den Stoff lückenlos zu bewälti¬
gen. Freilich mussten fast 30 jährige augenhygienische Stu¬
dien vorausgehen, bevor Cohn sich an das grosse Werk
heranwagte. Das Fundament legte er mit seiner Aufsehen er¬
regenden ätiologischen Studie : „Untersuchungen der
Augen von 10 060 Schulkindern, nebst Vor¬
schlägen zur Verbesserung der den Augen
nachteiligen S ch u 1 e i n r i ch tu n g e n“, welche 1867
in Fleischers Verlag in Leipzig erschien. Cohn war der erste,
der die Bedeutung der Massenuntersuchungen für die Hygiene
21) Mi'mch. med. Wochenschr, 1905, No. 10.
") Zcntralbl. f. Gyn. 1906, No. 18, S. 512.
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2065
der Myopie erkannte und sich an solche heranwagte. Dies
Verdienst ist um so höher zu schätzen, als seinerzeit die mit
Refraktionsbestimmungen vertrauten Aerzte sich an den Fin¬
gern herzählen Hessen; soll doch selbst der grosse Physiologe
Heidenhain sich erst von C o h n hierin haben unterrichten
lassen. Zeugten die „M assenuntersuchungen“ von
unermüdlicher diagnostischer Tätigkeit, so erlebte die Welt in
dem Lehrbuch der Hygiene eine kaum je dagewesene Ver¬
tiefung in literarische Quellen. Das Literaturverzeichnis weist
1150 Schriften auf, von denen Cohn die meisten im Original
eingesehen. Allen hygienischen Prinzipien, welche er durch
Literaturstudien und Statistik grössten Stils für richtig erkannt,
suchte er mit zähester Energie im öffentlichen Leben Geltung
zu verschaffen. Er ging in seinen hygienischen Idealen der¬
artig auf, dass sie ihn auch auf seinen Erholungsreisen nicht
verliessen; so kamen die Sehschärfeprüfungen auf Helgoland,
so diejenigen an den Pyramiden Aegyptens zustande. Seine
Lebensaufgabe sah er in der Schulhygiene, speziell der Pro¬
phylaxe der Myopie. Auf allen Ausstellungen studierte er die
verschiedenen Schulbausysteme, die Modelle der Subsellien,
künstliche Beleuchtung usw., so 1867 auf der Pariser, 1871 auf
der Breslauer, 1873 auf der Wiener, 1878 auf der Pariser, 1881
auf der Schlesischen Ausstellung. Sein Vorschlag, die ge¬
ringste für Arbeitsplätze erforderliche Helligkeit durch
10 Meterkerzen und 50 Quadratgrad Raumwinkel auszu¬
drücken, fand nach eingehender Kontrolle sachverständiger
Eachkollegen allgemeine Zustimmung. Fast bis zum letzten
Atemzuge beschäftigte ihn die Schularztfrage. In seiner Schrift
„Geschichte und. Kritik der Breslauer Schulhygiene“ (Zeitschr.
f. Schulgesundheitspflege 1892, V, 2, 3) schildert er die „schul-
reformerischen“ Kämpfe, welche er 25 Jahre mit der Breslauer
Schulverwaltung geführt. Während man in Ungarn, Kairo, bald
darauf in Dresden, Nürnberg und Wiesbaden Schulärzte nach
Cohns Sinne anstellte, glaubte man in Breslau noch mit einem
einzigen von Cohn mit Recht so genannten „Schein-
schularzt“ auszukommen; derselbe hatte für 50 000 Schul¬
kinder zu funktionieren. Dass unter solchen Umständen die
Breslauer „Schulhöhlen“ und i n den Schulhöhlen viele offene
Schäden keine Aenderung erfuhren, darf nicht wundernehmen.
Wer wollte es da C o h n verargen, wenn er 1880 auf der Natur¬
forscherversammlung in Danzig seine Rede: „Ueber Schrift,
Druck und überhandnehmende Kurzsichtigkeit“ damit schloss,
dass er einen „mit diktatorischer Gewalt“ ausge¬
rüsteten Schularzt verlangte? Nachdem er schliesslich auch in
Breslau schulärztlichen Dienst unter dem Vorsitz des Stadt¬
arztes durchgesetzt, zog er die Austeilung von Schul-
augenärzten und die Anstellung von Schulärzten an den
höheren Schulen in den Bereich seiner Kämpfe.
Es dürfte kaum einen Schriftsteller geben, welcher Cohn
an Zahl von Einzelpublikationen gleichkäme. In einem bei Ge¬
legenheit seines 25 jährigen Professorjubiläums (15. Juni 1899)
zusammengestellten Verzeichnis beziffert sich die Zahl der¬
selben auf 217 und spätere, bis Ende 1905 reichende Nachträge
schliessen mit der Zahl 306 (davon weit über 30 im Buchhandel).
Cohn selbst teilt seine Arbeiten in physiologisch-optische,
photographisch-optische, statistische, klinisch-okulistische,
operative, therapeutische, hygienisch-okulistische, geschicht¬
liche, populäre und polemische. Man ersieht u. a. aus dem
Verzeichnis seiner Schriften, dass er jede Gelegenheit, wo sie
sich auch bot, benützte, um prophylaktisch die Zahl der Augen¬
krankheiten und Erblindungen einzudämmen. So arbeitete er
1895 eine Belehrung über die Verhütung der Blennorrhoea
neonatorum aus und erreichte es, dass in Breslau alljährlich
12 000 Exemplare, der Geburtenzahl entsprechend, an die
Wöchnerinnen und Hebammen verteilt werden. Sein Be¬
lehrungsschema ist bald darauf ins Spanische übersetzt worden.
Von der Wirksamkeit der Crede sehen Methode war Cohn
so fest überzeugt, dass er im Sommer 1896 bei der medizini¬
schen Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische
Kultur in Breslau eine Petition an den Unterrichtsminister
durchsetzte behufs Einführung der genannten Methode. Aus
der Unmenge der C o h n sehen Schriften verdienen ausser den
bereits erwähnten noch folgende hervorgehoben zu werden:
1. Vorarbeiten für eine Geographie der Augenkrankheiten.
(Jena 1874.) 2. Studien über die angeborene Farbenblindheit.
(Breslau 1879.) 3. Tafel zur Prüfung der Sehschärfe der Schul¬
kinder, Soldaten und Bahnbeamten. (Sieben Auflagen, Breslau
1891 bis 1898.) 4. Transparente Sehproben. (Wien 1894.)
5. Ueber Verbreitung und Verhütung der Augeneiterung der
Neugeborenen in Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Holland
und der Schweiz. (Berlin 1896.) 6. Die Sehleistungen von
50 000 Schulkindern, nebst Anweisungen zu ähnlichen Unter¬
suchungen für Aerzte und Lehrer. (Breslau 1899.) 7. Täfelchen
zur Prüfung feinen Farbensinns. Mit Benützung des Meyer-
schen Florkontrastes. Für Bahn-, Schiffs-, Schul-, Militär¬
ärzte und Lehrer. (Berlin, O. Coblentz, 1900.) 8. Wie müssen
Bücher und Zeitungen gedruckt werden? Mit 10 Druckproben¬
tafeln. Gemeinsam mit Dr. R ü b e n c a m p. (Braunschweig,
Vieweg, 1903.) 9. Ueber Augenheilanstaltsberichte und Dia¬
gnoseregister für Augenärzte. (Wochenschr. f. Therapie u.
Hygiene d. Auges, VIII, 30 u. 31.)
Auch bei der ungewöhnlichen geistigen und körperlichen
Leistungsfähigkeit, welche Cohn auszeichnete, wäre ihm die
enorme schriftstellerische Tätigkeit, zumal auf statistischem
Gebiete nicht möglich gewesen, wenn er nicht in ausgedehnte¬
stem Masse von der Stenographie Gebrauch gemacht hätte.
Diese und sein (siehe oben unter 9) Diagnosenregister sicherten
ihm eine bis ins Einzelste universelle Beherrschung der von ihm
beobachteten über 100 000 Augenkrankheiten. Er nahm nur
Assistenten, welche die Stenographie beherrschten. Neben der
rein wissenschaftlich-literarischen Tätigkeit ging bei Cohn
noch eine sehr ausgedehnte Publizistik in Tagesblättern und
belletristischen Journalen. In 33 Jahren hat Cohn mehr als
100 feuilletonistisch gehaltene, belehrende Artikel in der Presse
veröffentlicht und ebenso viele populäre Vorträge in Breslauer
und auswärtigen Bildungsvereinen gehalten.
Zu erwähnen wäre noch, dass die vor mehr als 9 Jahren
durch den Schreiber dieses begründete „Wochenschrift
für Therapie und Hygiene des Auges“ wahrschein¬
lich niemals ins Leben getreten und es sicherlich nicht zu der
jetzigen Verbreitung gebracht hätte, wenn Cohn nicht bereit¬
willigst darauf eingegangen wäre, für den hygienischen Teil
gewissermassen die Vaterstelle zu übernehmen. Er leitete den¬
selben in erster Nummer bereits mit einer verbesserten Auflage
des oben unter No. 3 des Literaturverzeichnisses angeführten
„T äfelchen zur Sehschärfeprüfung etc.“ ein. So
kam es, dass von dem letzten Hundert seiner Veröffentlichungen
fast die Hälfte in der genannten Wochenschrift oder wenigstens
auch in dieser erschienen und dass dieselbe ein ziemlich ge¬
treues Spiegelbild von Cohns Wirken und Kämpfen inner¬
halb der letzten 9 Lebensjahre zu geben vermag.
Cohn hatte am 21. Juni 1866 eine Privataugenklinik in
Breslau eröffnet, die zugleich Heil- und Lehr anstalt war.
Wenn Hermann Cohns Bedeutung einerseits in seinen
Leistungen für die Augenhygiene zu suchen ist, so liegt
sie anderseits in nicht minder hohem Grade in seiner Lehr¬
tätigkeit. Er war der geborene Lehrer. Seine hygienisch-
okulistischen Publica waren den Studierenden aller Fakul¬
täten zugängig und die Zahl der Zuhörer machte viele Jahre
die Benützung des Auditorium maximum erforderlich. Für
seine Schüler, zumal für seine Assistenten, bekundete er stets
das freundschaftlichste Interesse; er war stolz darauf, dass
einige derselben, Prof. P e s c h e 1 - Turin, jetzt Frankfurt a. M.,
Prof. Fick- Zürich, es in der akademischen Laufbahn zu hoher
Anerkennung gebracht. Seinem Lieblingsschüler, dem unter
dem Namen des „Nürnberger Schulhygienikers“ bekannt ge¬
wordenen Hofrat Dr. Paul Schubert, musste er leider selbst
noch Ende vorigen Jahres den Nekrolog schreiben.
Cohns äusserer Lebensgang ist von ihm selbst in „auto¬
biographischen Vorbemerkungen“ niedergelegt, mit welchen er
seine 1897 erschienene Brochtire einleitete: „Rückblick über
30 Jahre augenärztlicher und akademischer Lehrtätigkeit“.
Wir entnehmen derselben, dass er am 4. Juni 1838 in Breslau
geboren wurde, also ein Alter von über 68 Jahren erreichte.
Er studierte 4 Semester in Breslau Physik und Chemie,
ging 1859 nach Heidelberg, wo er in Bunsens
Laboratorium arbeitete und trat dann in die medizinische
Fakultät zu Heidelberg über. 1860 promovierte er in Breslau
zum Dr. phil. (Physik und Chemie), 1863 in Berlin zum Dr. med.
Dem künftigen Ophthalmologen, der mit Studien bei Bunsen
2066
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
ciiigefangen, diese bei Richard Förster in Breslau, Virchow
und Albrecht v. Q r a e f e in Berlin fortgesetzt, war inzwischen
eine geburtshilfliche (historische) Preisarbeit von der Breslauer
nied. Fakultät mit dem Preise gekrönt worden. Nachdem er
1864 das Staatsexamen absolviert, wurde er bei Richard
Förster - Breslau als Assistent angestellt. 1866 ging er
nochmals zu A. v. Q r a e f e nach Berlin, von dort zu A r 1 1
nach Wien und mit einer Studienreise nach Paris zu Javal,
Wecker und Meyer beschloss er die eigentlichen Studien¬
jahre. Während Förster und G r a e f e den Ophthalmologen
in C o h n erweckten, war es Virchow Vorbehalten, dem
Hygieniker Cohn durch öffentliche Anerkennung aufzuhelfen.
Ihm, seinem Lehrer und Gönner, widmete Cohn das „Lehr¬
buch der Hygiene des Auge s“. Am 24. Juli 1868
habilitierte er sich in Breslau mit der Abhandlung „Ueber
Xerosis conjunctivae“; 6 Jahre später wurde er ausserordent¬
licher Professor. 1883 überreichte ihm der nachmalige Kaiser
Friedrich persönlich die Goldene Staatsmedaille für Hygiene
und April 1904 wurde er Geheimer Medizinalrat. Inzwischen
war er Ehren- resp. korrespondierendes Mitglied vieler medi¬
zinischer und hygienischer Gesellschaften des In- und Aus¬
landes, so in Halle, Brüssel, Paris, Petersburg,
Konstantinopel und mit preussischen Orden und dem
Medjidjeorden ausgezeichnet worden.
Ganz gesund war Cohn schon die letzten 10 Jahre seines
Lebens nicht mehr; er litt an Arteriosklerose und hatte, freilich
in Zwischenräumen von Jahren, schwerste stenokardische An¬
fälle mit Lungenödem. Immer aber raffte er sich wieder auf
und noch im Februar 1906 veröffentlichte er in der Wochen¬
schrift für Therapie und Hygiene des Auges (zugleich in der
Deutschen Revue in Stuttgart) einen Aufsatz „über Goethes
Sehnervenentzündung und Dunkelkur“. Die hygienische Sek¬
tion der schles. Gesellsch. f. vaterl. Kultur stand unausgesetzt
bis zum Jahre 1906 unter dem Einflüsse seines Geistes. Im
April d. J. zwangen ihn wiederholte Attacken, sich vom Lehr¬
amt dispensieren zu lassen. Er zog sich in eine Villa des
Scheitniger Parks bei Breslau zurück, wo er nach schwerem
Leiden ein sanftes Ende fand.
In seinem Nachlass fand sich eine von ihm selbst auf¬
gesetzte, für seinen Grabstein bestimmte Inschrift:
„Augenkrankheiten zu verhüten, betrachtete
er als seine Lebensaufgab e.“
Dr. Wolffberg - Breslau.
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Zur Neuausgabe des Arzneibuches für das Deutsche
Reich.
Demnächst werden die Vorarbeiten für die neue Ausgabe des
Arzneibuches für das Deutsche Reich beginnen. Aerzte, Tierärzte
und Apotheker werden aufgefordert, ihre Wünsche bezüglich der
neuen Ausgabe bekannt zu geben, bezw. Aenderungen vorzuschlagen.
Bevor man an diese Aufgabe herantritt, dürfte es sich empfehlen,
die Bestimmungen über den Apothekenbetrieb zu revidieren. Sie
sind teilweise zu streng, ja verlangen oft unmögliches, teilweise
könnten sie jedoch verschärft werden.
So lautet z. B. § 28 des Min.-Erl. vom 16. Dez. 1893:
„Der Apothekenvorstand ist für die Güte der in den Apotheken¬
räumen befindlichen Mittel verantwortlich, gleichviel, ob er dieselben
im Handelswege bezogen, oder selbst hergestellt hat; die Herstellung
darf nur nach Vorschrift des Arzneibuches stattfinden.
Die angefertigten Mittel sind in ein Arbeitstagebuch einzutragen,
die gekauften Mittel dagegen nach den Bestimmungen des Arznei¬
buches vor Ingebrauchnahme auf Echtheit und Reinheit sorgfältig zu
prüfen; das Ergebnis ist datiert in ein besonderes Tagebuch, das
Warenprüfungsbuch, cinzutragen“.
Dieser Paragraph unterscheidet zwischen in der Apotheke be¬
reiteten und gekauften Mitteln. Was zunächst die ersteren anlangt,
so ist ihre Zahl ständig im Sinken begriffen, ja in einigen Apotheken
gänzlich geschwunden, da die für die Herstellung nötige Zeit fehlt.
Besonders bei Extrakten und Tinkturen ist dieses ein Nachteil, da die
Kontrolle über die dazu verwendeten Mittel fehlt.
Die im Handelswege bezogenen Mittel zerfallen in 2 Gruppen;
die erste kleine — Gruppe ist im Arzneibuche enthalten, die zweite
bedeutend grössere — dagegen nicht. Wie soll der Apotheker
nun diese nicht im Arzneibuche aufgeführten Mittel prüfen auf Echt¬
heit und Güte? Will man ihm diese Pflicht auferlegen, dann muss
man ihm auch angeben, wie er die Prüfung auszuführen hat, aber der¬
artige Vorschriften fehlen bei der 2. Gruppe und sind auch schwer
zu geben, da häufig das Herstellungsverfahren erst spät bekannt
wird. Hinzu kommt, dass derartige Mittel häufig „in Originalpackung“
verschrieben werden, also nicht geöffnet werden dürfen. Gelangte
nun in ein derartiges Mittel versehentlich eine giftige Sustanz, durch
die ein Mensch geschädigt würde, so wird, falls Anzeige erfolgt, der
Apotheker mitbestraft und das ist doch eine Härte in der Gesetz¬
gebung.
Für die im Arzneibuche angeführten Mittel existieren dagegen
sehr genaue Prüfungsvorschriften. Wer das Arzneibuch einmal
durchstudiert, wird einsehen, wieviel Mühe und Zeit die Untersuchung
erfordert. Sieht man sich nun das Warenprüfungsbuch, bezw. die
Rechnungen der liefernden Firmen an, so kann man sich bei jeder
Apotheke ausrechnen, wieviel Zeit sie auf Untersuchungen zu ver¬
wenden hat. Da ausserdem zur Zeit ein solcher Gehilfenmangel
herrscht, dass der Apotheker froh ist, wenn er für Rezeptur und
Handverkauf genügend Kräfte hat, so wirds mit der vorgeschriebenen
Untersuchung eben nicht so genau genommen. Ultra posse nemo
tenetur und ausserdem, wurde mir gesagt, könne man sich ruhig auf
die liefernden Firmen verlassen, was Identität und Qualität der be¬
zogenen Waren anlange.
Eine Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen würde ich
bezüglich der Abgabe starkwirkender Arzneimittel für notwendig
halten. Der in Betracht kommende § 3 (Bundesratsbeschluss vom
13. Mai 1896 und 22. März 1898) lautet:
„Die wiederholte Abgabe von Arzneien zum inneren Gebrauch,
welche Drogen oder Präparate der im § 1 bezeichneten Art enthalten,
ist unbeschadet der Bestimmungen §§ 4 und 5 ohne jedesmal erneute
ärztliche oder zahnärztliche Anweisung nur gestattet;
1. insoweit die Wiederholung in der ursprünglichen Anweisung
für zulässig erklärt und dabei bemerkt ist, wie oft und bis
zu welchem Zeitpunkt sie stattfinden darf, oder
2. wenn die Einzelgabe aus der Anweisung ersichtlich ist und
deren Gehalt an den bezeichneten Drogen und Präparaten
die Gewichtsmenge, welche in dem beiliegenden Verzeichnis
angegeben ist, nicht übersteigt.“
Hiernach dürfen — um einige krasse Beispiele anzuführen, —
folgende Rezepte, ohne dass der Arzt befragt wird, vom
Apotheker so oft angefertigt werden, als es der Patient wünscht:
Rp. Tr. opii spl. 50,0
S. 4 X täglich 25 Tropfen.
Rp. Liq. Kal. arsenicosi 20,0
S. 3 X täglich 10 Tropfen.
Rp. Fol. Digital, plv. 0,2
Theobrom. natr. sal. 1,0
Mf. plv. D. tal. Dos. X.
S. 5 X täglich 1 Pulver.
Rp. Scopolamini hvdrobromici
0,005
Aq. dest. ad 10,0
S. 6 X täglich 20 Tropfen.
Rp. Opii puri 1,5
Adropini sulf. 0,01
Sacch. albi 5,0
Mf. plv. Div. in p. aeq.No.X.
S. 3 X täglich 1 Pulver.
Derartige Rezepte können dort, wo man das Arzthonorar scheut,
infolge ihrer günstigen Wirkung Kranke veranlassen, die Verordnung
häufiger ohne Befragen des Arztes anfertigen zu lassen. So fand ich
in einer Familie eine Rezeptsammlung, wo die sorgsame Hausmutter
auf der Rückseite bemerkt hatte, gegen welche Beschwerden und
Krankheiten das Rezept gebraucht war, und — wie es gewirkt hatte.
Bismutpulver mit Opium hatten das Prädikat: „Vorzüglich bei
Durchfall mit Kolik“. So erklärt es sich denn, dass Rezepte von
Hand zu Hand wandern und ich erinnere mich eines Falles, wo eine
200 Pfund schwere Köchin ihr „Bandwurmrezept“ einer kachektischen,
äusserst schwächlichen Frau gab. Bei dieser kam der Bandwurm
sofort und hinterher eine in 3 Tagen zum Tode führende Vergiftung
mit Farnextrakt. Ebenso können derartige Rezepte in die Hände der
Kurpfuscher gelangen und Unheil anrichten. Hier sind meines Er¬
achtens strengere Bestimmungen am Platze.
Jeder muss zugeben, dass bei Wiederholung der oben ange¬
führten oder ähnlicher Rezepte ohne ärztliche Kontrolle Unglücksfälle
sehr leicht möglich sind. Und da möchte ich die Frage aufwerfen,
wen trifft in einem solchen Falle die Verantwortung?
Der Apotheker ist zur wiederholten Anfertigung derartiger Re¬
zepte ohne ärztliche Kontrolle berechtigt, also nicht für den Schaden
verantwortlich. Stellt nun der Untersuchungrichter die Frage:
„Wer konnte den Unglücksfall verhindern?“ So muss ihm der Sach¬
verständige antworten: Nur der Arzt und zwar dadurch, dass er ein
„Ne reiteretur“ hinzusetzte. Der Arzt muss wissen, dass derartige
Rezepte wiederholt werden dürfen, er kann und muss daher Vor¬
beugen durch ein „Ne reiteretur“. Aus langjähriger Erfahrung aber
weiss ich, dass nur sehr wenigen Aerzten diese Bestimmungen be¬
kannt sind, im Gegenteil, die meisten sind der Ansicht, dass Rezepte
mit den sogenannten stark wirkenden Arzneimitteln überhaupt nicht
ohne ärztliche Verordnung erneuert werden dürften und so ver¬
misst man fast immer den Vermerk „Ne. reiteretur“, wo er im Inte¬
resse des Patienten sowohl, als auch des Arztes dringend erforder¬
lich wäre.
Ferner möchte ich noch die gesetzlichen Bestimmungen über
Tabletten erwähnen. In Preussen soll der Apotheker die Tabletten
selbst hersteilen. Tabletten der Tab. B. und C. dürfen nicht vor¬
rätig gehalten, sondern müssen jedesmal, wenn sie verlangt, ange-
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2067
fertigt werden. So erfordert es das Gesetz, anders ist es in der
Praxis. Fast jede Apotheke hält Tabletten — auch die der Tab. B.
und C. — vorrätig, besonders verbreitet sind die der englischen
Firma Burroughs Wellcome & Co. Man findet sie unter dem
gesetzlich geschützten Namen „Tabloid“ in Apotheken der Gross¬
stadt und der kleinsten Dörfer. Was ihnen die Verbreitung sicherte,
ist meines Erachtens der im Verhältnis zur Arzneitaxe billige Preis,
die bequeme Handhabung, die exakte Dosierung und die gute Quali¬
tät der Medikamente.
Aber nicht allein ausländische Finnen, selbst preussische Apo¬
thekenbesitzer befassen sich intensiv mit der Herstellung von Ta¬
bletten en gros. Sieht man nun derartige Kataloge, so staunt man,
wenn man die Preise mit denen der Arzneitaxe vergleicht.
So kosten nach der Taxe von 1905:
Sol. Morf. mur. 0,25 : 25,0. S. 3 X täglich 20 Tropfen,
bei Berechnung eines einfachen Glases (also kein Patenttropfglas),
73 Pfennig.
Morf. mur. 0,01 ]
Sacch. albi 0,5 Mark 1.96.
Mf.plv.D.t. D.XXV.J
Morf. mur. 0,01 ; f. Tabletten, D. tal. Dos. XXV. Stellt der Apotheker
die Tabletten selbst her, wozu er gesetzlich verpflichtet, so darf
er nach der Taxe fordern: Mark 1.88
wobei Zusätze nicht berechnet sind. Dieser Preis ist auch im Ver¬
hältnis zur geleisteten Arbeit nicht zu hoch. Aber man wundert sich,
wenn man im Katalog eines Apothekenbesitzers folgenden Preis
findet :
Tablett. Morf. mur. 0,01 Dos. XXV 25 Pfennig.
Dos. 1000 Mark 3.50!
während nach der Arzneitaxe die Anfertigung von 1000 Morphin¬
pulvern ä 0,01 etwa 54 Mark kostet, von 1000 Morphintabletten ä 0,01
noch etwas teurer ist.
Man sieht also,1 die Tabletten haben sich trotz des Verbotes ein¬
gebürgert, Aerzte verordnen sie und der Apotheker gibt sie ab, ja
viele Apothekenbesitzer fördern durch Engrosbetrieb und billige
Preise die Anwendung der Tabletten. In welchem Krankenhause
wird man noch Morphiumpulver verschreiben, sobald man weiss, dass
man die Tabletten so billig beziehen kann; bei Bezug von 1000 Stück
sind gerade 50 Mark gespart! Man' sieht, eine Aenderung ist auch
hier angebracht, aber wie und wo beginnen? —
Was nun die der neuen Ausgabe des Arzneibuches einzureihen¬
den Mittel anlangt, so müssten wenigstens alle diejenigen darin ent¬
halten sein, die in der Arzneitaxe aufgeführt sind; zur Zeit ist das
nicht der Fall.
Ausserdem muss Anlage VII geändert werden. Sie ist über¬
schrieben: Verzeichnis der neben den amtlichen sonst noch gebräuch¬
lichen Namen der Arzneimittel. In diesem Verzeichnis findet man:
Antipyrinum = Pyrazolonum phenyldimethylicum, Salipyrin = Pyra-
zolonum phenyldimethylicum salicylicum. Dieses führt zu Unklar¬
heiten und kollidiert mit den gesetzlichen Bestimmungen. Jene
Namen sind gesetzlich geschützt und es empfiehlt sich, für alle mit
Wortschutz versehenen Arzneimittel ein neues Verzeichnis einzu¬
reihen, etwa mit der Ueberschrift: „Verzeichnis der wissenschaft¬
lichen Nameu der gebräuchlichsten Arzneimittel mit geschützter Be¬
zeichnung“, wie es in der Arzneitaxe bereits enthalten ist.
Endlich bedarf die Tab. A. des Arzneibuches noch einer Er¬
weiterung. (Maximaldosenverzeichnis.) Vielleicht könnte man zur
Vereinheitlichung das den Vorschriften betreffs Abgabe starkwirken¬
der Arzneimittel (Bundesratsbeschluss vom 13. Mai 1896 und 22. März
1898) beigefügte Verzeichnis mit einigen Aenderungen (z. B. Skopo¬
lamin) unter Hinzufügung der grössten Tagesdosen als Maximaldosen¬
tabelle aufstellen. Folgende Mittel könnten noch hinzugefügt werden:
Heroin et eius salia, Theophyllin (Theocin) et eius salia, Extr. filicis
mar. aeth. und das Jodkalium. Jodkalium darf nach den jetzigen Be¬
stimmungen zwar nur in Apotheken vorrätig gehalten werden und
muss hier unter den Mitteln der Tab. C. (d. h. „vorsichtig“ aufbewahrt
werden, kann jedoch ohne Rezept d. h. im Handverkauf abgegeben
werden. Dieses wird sicherlich allen denen nicht ganz ungefährlich
erscheinen, die einmal seine Wirkung bei für Jod empfindlichen Pa¬
tienten gesehen haben.
Dr. K ii c k m a n n - Amelsbüren (Westf.).
Referate und Bücheranzeigen.
Franz Hofmeister: Leitfaden für den praktisch-chemi¬
schen Unterricht der Mediziner. Braunschweig, Vieweg, 1906,
Preis M. 3.50.
Der Leitfaden zerfällt in einen anorganischen und organischen
Teil, von denen der zweite den weit grösseren Raum bean¬
sprucht. Schon hierdurch unterscheidet er sich von den meisten
gebräuchlichen Anweisungen gleicher Art, indem er sich dem
wirklichen Bedürfnis des Mediziners anpasst. Die anorganische
qualitative Analyse ist eingeschränkt und im organischen Teil
das prinzipiell Wichtige, wo es irgend anging, an biologisch
interessanten Beispielen erläutert. Dabei werden auch die
für den Mediziner wichtigen Alkaloide und Eiweisskörper be¬
rücksichtigt. Im zweiten Teil folgt ein kleiner „physiologisch¬
chemischer Kursus“, in dem die Untersuchung des Blutes, der
Verdauungssäfte und des Harnes an Reaktionen demonstriert
wird.
Das Büchlein ist nicht nur für den Lernenden von Wert,
sondern besonders auch für die Lehrer der angehenden Aerzte,
indem es diese mit den im Hofmeister sehen Laboratorium
gebräuchlichen und bewährten Unterrichtsmethoden bekannt
macht. Erich Meyer- München.
Physikalische Therapie in Einzeldarstellungen, heraus¬
gegeben von Dr. J. Markuse - Ebenhausen und Dozent
A. Strasser- Wien. Stuttgart, Verlag von Ferdinand
Enke, 1906.
Wie sich von der medizinischen Klinik manche Disziplinen
loslösten und als Otologie, Neurologie, Dermatologie, Pädiatrie
Selbständigkeit erlangten, so ist es ähnlich in der klinischen
Therapie. Noch vor einigen Jahrzehnten beschränkte sich
diese auf die Arzneiverordnungslehre und auf die Kranken¬
pflege. Heute sind dazu die Hydrotherapie, Mechanotherapie,
Diätotherapie, Klimatotherapie, Elektrotherapie und andere
mehr als angeblich „selbständige“ Lehren getreten. Wenn
auch einzelne Vertreter dieser Heilkünste in Ueberschätzung
der Leistungen ihres Faches zu weit gehen — so verlangt
Winternitz in der Vorrede zu seiner Abhandlung eine
„obligate Klinik“ für die Hydrotherapie — , so muss doch an¬
erkannt werden, dass uns mit den neuen Behandlungsmethoden
zum Teil recht wirksame Heilfaktoren an die Hand gegeben
wurden, mit denen vielfach mehr geleistet werden kann als
mit manchen Tinkturen und Mixturen. Und so ist das vor¬
liegende Unternehmen, das es sich zur Aufgabe macht, die
physikalische Therapie in einzelnen Kapiteln darzustellen, vom
Standpunkt des Praktikers, der im allgemeinen zweifellos in der
arzneilosen Behandlungsweise wenig bewandert ist, zu be-
grüssen.
Das erste Heft behandelt die „Physiologischen
Grundlagen der Hydro - und Thermotherapie“
(Preis 2 M.). In dieser Abhandlung lehrt uns Winternitz,
der Altmeister und Begründer der wissenschaftlich betriebenen
Wasserheilkunst, wie stark durch die Anwendung von kaltem
oder heissem Wasser die Körpertemperatur, der Stoffwechsel,
die Blutverteilung und die Herztätigkeit, die Respiration und
schliesslich die Se- und Exkretion zu beeinflussen sind. Soll
die Hydrotherapie nicht zur rohen Empirie herabsinken, so
muss sich der Arzt über ihre Physiologie im Klaren sein, und
diese wird hier durch Pulskurven, durch Plethysmogramme
und durch Zahlen dargelegt. Störend wirken die allzu reich¬
lichen Literaturzitate. In einer didaktischen Darstellung kann
wohl auf die Anführung der zahlreichen Autoren und Arbeiten,
welche zum Ausbau der Disziplin beigetragen haben, verzichtet
werden.
Die Physiologie und Technik der Massage
von A. Bum -Wien (Preis 1.20 M.) beschreibt in anregender
Weise die Erfolge der mechanischen Behandlung der Körper¬
oberfläche, ihre Indikationen und Kontraindikationen. Die Be¬
lehrung über die einzelnen Methoden der Massage wird durch
gute Textabbildungen erläutert.
In dem Hefte Balneotherapie von G 1 a x - Abbazia
(Preis 2.40 M.) ist die Lehre von der Methode und Wirkung
der Bade- und Brunnenkuren übersichtlich zusammengefasst.
Vom selben Autor ist auch das Heft über die Klimato¬
therapie (Preis 1.40 M.). Im allgemeinen Teil werden die
einzelnen klimatischen Faktoren, wie die Zusammensetzung der
Atmosphäre, die Luftwärme und die strahlende Wärme, die
Besonnung, die Luftfeuchtigkeit, der Luftdruck und die Luftbe¬
wegung erörtert. Wenn bei der Abhandlung über die Wir¬
kung und Heilerfolge der verschiedenen Orte und über die
therapeutische Verwertung der Klimate bei den einzelnen Er¬
krankungsformen Abbazia mit seinem „mittelfeuchtwarmen
Küstenklima“ so besonders eindringlich und häufig empfohlen
wird, so mag dies wohl, abgesehen davon, dass dieser Platz
wirklich recht günstig gelegen ist, auch etwas darauf zurück¬
zuführen sein, dass er der Ordinationssitz des Autors ist.
2068
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
Das von Frankenburger - Berlin abgefasste Heft
„Die physiologischen Grundlagen und die
Technik der Elektrotherapie“ verdient deshalb be¬
sondere Beachtung und warme Empfehlung, weil es — ein
weisser Rabe unter den Lehrbüchern der Elektrotherapie —
sich von Ueberschätzung der Heilwirkung dieser Disziplin
freihält. Hier werden keine elektrotherapeutischen Rezepte
gegeben, wie diese oder jene nervöse Störung zu behandeln
sei. In streng wissenschaftlichen Ausführungen lernen wir,
welche chemischen und physikalischen Vorgänge in dem vom
elektrischen Strome durchfluteten Körper Vorgehen, welche
Wanderungen die Ionen beim galvanischen Strom machen
und wie man sich deren Bewegungen bei den unterbrochenen
Strömen vorzustellen hat. Das Wesen und die physiologische
Wirkung der erst jüngst in die Medizin eingeführten Strom¬
arten, wie des sinusoidalen (Wechsel-) Stromes, des pulsieren¬
den Gleichstromes und der Hochfrequenzströme wird in klarer,
jedermann verständlichen Weise auseinandergesetzt.
Mit solcher Kritik und mit solcher Gründlichkeit ist das
Studium der Wirkungsweise des elektrischen Stromes auf den
menschlichen Körper zu betreiben, dann werden die beiden
Extreme, das der zu hohen Bewertung seines Heileinflusses
und das der völligen Leugnung eines solchen, zu vermeiden
sein und dann wird es der Elektrotherapie vielleicht wieder
gelingen, sich allgemeine Anerkennung zu verschaffen.
L. R. Müller- Augsburg.
Junius: Die für den Arzt als Gutachter auf dem Gebiete
der Unfallversicherung in Betracht kommenden gesetzlichen
Bestimmungen und wichtigen Entscheidungen des Reichs-Ver¬
sicherungsamts, mit besonderer Berücksichtigung augenärzt¬
licher Fragen. Berlin 1906, S. Karger.
Verfasser gibt einen kurzen Auszug aus dem Unfallver¬
sicherungsgesetz vom Jahr 1900, sodann Feststellungen aus der
Rechtsprechung des Reichs-Versicherungsamts. Durch mar¬
kante Ueberschriften sind eine grosse Zahl für den Praktiker
wichtiger Punkte leicht auffindbar gemacht, wie z. B. : „Zur
Auslegung des Begriffes Unfall“, „Wer ist Arbeiter in einem
Betrieb?“, „Welche Rechtsnachteile können einem Unfall¬
verletzten auferlegt werden, wenn er der ärztlichen Unter¬
suchung, bezw. Behandlung widerstrebt?“ usw., ein recht
brauchbarer Katechismus.
Am Schluss des Heftchens sind einige Entscheidungen des
Reichs-Versicherungsamts sowie 3 Obergutachten über augen¬
ärztliche Fragen angefügt. Von diesem letzten Teil wäre aber
nach dem Titel entschieden grössere Vollständigkeit zu er¬
warten. Nur die Bewertung der Einäugigkeit wird in 3 Fällen
erörtert und zwei, völlige Blindheit betreffende Spezialfragen.
Es erheben sich aber doch in der augenärztlichen Unfallpraxis
noch eine so grosse Reihe anderer Fragen, dass in dieser Hin¬
sicht das Werkchen nicht genügen kann, um so weniger, als
wir u. a. schon das treffliche Büchlein von Maschke: „Die
augenärztliche Unfallpraxis“, besitzen.
Salzer- München.
Max Neuburger: Geschichte der Medizin. I. Stuttgart,
Enke, 1906. 408 Seiten, gr. 8. (9 M.)
Als Joh. Heinrich Schulze seine ausführliche Historia
inedicinae vollendet hatte, kam er zu der Ueberzeugung, dass
sein Werk zu gross und zu gelehrt sei „quam ut tironibus, qui-
bus necessaria eligere et connectere haud semper datum est,
inserviat“, und entschloss sich das 400 Seiten starke „Com-
pendiuin historiae medicinae“ (1741) zu schreiben. Aehnliche
Gesichtspunkte mögen auch Prof. Neuburger geleitet
haben, als er noch während des Druckes des grossen Hand¬
buches sich zu einer kürzeren Darstellung rüstete. Diese wen¬
det sich „an werdende und ausübende Aerzte, sowie an ge¬
bildete Laien“.
Wenn der Rezensent im „Janus“ (Juli) die Bedürfnisfrage
aufwirft, so kann man entgegnen, dass seit etwa 25 Jahren
nicht viele Kompendien für die gesamte Medizingeschichte er¬
schienen sind. Mit Ausnahme von Häsers Grundriss (1884)
sind sie teils zu dürftig, teils für gewisse Leser zu voluminös
ausgefallen. Freilich wird auch Neuburgers Werk nach
Vollendung des 2. Bandes sich mehr den ausführlichen Hand¬
büchern als den kürzeren Arbeiten anschliessen.
An Gründlichkeit lässt es Verfasser nicht fehlen; vergleicht
man das Buch mit seinen deutschen Vorgängern, so findet man,
dass der Zeitraum, der bei Neuburger 408 Seiten ein¬
nimmt, bei H ä s e r (Grundriss 1884) nur 70 Seiten, bei Baas
(Grundriss 1876) 136 Seiten und bei Pagel (Einführung in
die Geschichte der Medizin 1898) 130 Seiten bei allerdings
grösserem Formate beansprucht. Es ist zu loben, dass bei
Hippokrates und anderen grossen Aerzten die besten
Ausgaben hervorgehoben sind. Bei A r e t a i o s müsste man
hier die Editionen von E r m e r i n s und Francis Adams
angeben. Die treffliche W e 1 1 m a n n sehe Fragmentensamtn-
lung, die tüchtige R u p h o s - Ausgabe von R u e 1 1 e wären
auch zu erwähnen. Bezüglich des Dioscurides muss ich auf
meine früher in dieser Zeitschrift geäusserten Ansichten ver¬
weisen. Neuburgers Werk wird bald zu den gelesensten
neueren Arbeiten gehören; es bereichert den Schatz der deut¬
schen Geschichtsschreibung um ein neues Kleinod; jener Ge¬
schichtsschreibung, von welcher der geistvolle Guardia
(Histoire 1885) sagt: „Nous n’avons rien de comparable aux
ouvrages de Sprengel, de Hecker, de Friedländer(?)
et de H ä s e r, ni aux travaux de Grüner, de Kühn (?), de
E b 1 e ( ?), de Rosenban (sic !) et de C h o u 1 a n t, pour ne
citer, que des maitres.“ Dr. Huber- Memmingen.
Lebensrätsel. Der Mensch biologisch dargestellt von
Dr. med. Hermann D e k k e r. 59 Abbildungen. Stuttgart,
Ernst Heinrich Moritz, 1906. 440 Seiten.
Das handliche, flott und leicht verständlich geschriebene
Buch versteht es, die anatomischen und physiologischen Kennt¬
nisse über den Menschen durch grosszügige Betrachtung zu
einer sehr anschaulichen Biologie des Menschen zu gestalten.
Das Buch bringt selbst dem Fachmanne neue und zum Nach¬
denken veranlassende Gedanken. Wer der Ansicht ist, dass
vom Laienpublikum viel zu wenig wirklich gute naturwissen¬
schaftliche Lektüre genossen wird — und welcher Mediziner
bedauerte das nicht? — der möge die „L e b e n s r ä t s e 1“,
die eine vortreffliche Anschauung über das Wesen des Men¬
schen geben, warm empfehlen.
Max Nassauer - München.
Von Aerzten und Patienten. Lustige und unlustige Plau¬
dereien von Dr. med. Fr. Scholz-Bremen. 3. vermehrte und
verbesserte Auflage. München 1906. Verlag der"Aerztlichen
Rundschau (O. Gmelin).
Mit dem Bildnisse des Verf. und einigen Federzeichnungen
geschmückt, erscheint die 3. Auflage des vom Ref. schon 1899
an dieser Stelle günstig beurteilten Werkchens, diesmal in
stattlicherem Format und in deutschen Lettern übersichtlicher
gedruckt. Wir machen gerne auf das hübsche Buch aufmerk¬
sam. Grassmann - München.
Neueste Journalliteratur.
Beiträge zur klinischen Chirurgie, red. von P. v. B r u n s.
1. Band, 2. Heft. Tübingen, Lau pp, 1906.
Das 2. Heft des 50. Bandes (Geheimrat Dr. Trendelenburg
gewidmet) enthält ausschliesslich Arbeiten aus der Leipziger Klinik.
W i 1 m s bespricht die schlaffe Darmeinklemmung bei Hernien
und schildert an einigen Fällen diese fast nur bei alten Leuten vor¬
kommende Art der Einklemmung, bei der nach 5 — 6 tägiger Inkarze¬
ration (in einem der Fälle sogar nach 8 tägiger Dauer) eventuell doch
keine irreparablen Schädigungen sich finden. W. studiert die Fak¬
toren, die bei der Einklemmung die Intensität der Strangulation be¬
dingen, bespricht Form des Ringes, Verhalten der Peristaltik und der
Gefässe etc. und zeigt, dass nicht die Weite der Bruchpforte allein
in ihrem Verhältnis zur Dicke des eingeklemmten Darmteils mass¬
gebend ist, dass der Blutdruck etc. ebenfalls eine Rolle spielt (je
geringer derselbe, desto schwächer die Einklemmung) wie in dem
Fall einer komplizierten Mitralstenose eine 8 Tage bestehende Ein¬
klemmung beobachtet wurde, die nicht zur Gangrän geführt hatte.
H. H e i n e k e berichtet über die sog. Spontanrupturen des Rek¬
tums und teilt im Anschluss an die wenigen in der Literatur mit¬
geteilten Fälle, in denen' ohne jede äussere Gewalteinwirkung ledig¬
lich durch forcierte Anstrengung der Bauchpresse eine Ruptur er¬
folgte, die am besten als Berstungsruptur bezeichnet wird und die
bisher fast ausschliesslich beim weiblichen Geschlecht, erschlafftem
Beckenboden oder bei prädisponierender Erkrankung der Darmwand
16. Oktober 1906.
muenghener medizinische Wochenschrift.
2069
beobachtet wuide, einen Fall mit, bei dem Rektumruptur 10 cm über
der Umschlagstelle des Peritoneums (17 cm über dem Anus) sich fand,
bei einem Pat., der nach Aufheben einer schweren Platte unter
1 erforationserscheinungen erkrankt und nach 21 Stunden laparoto-
miert war, bei dem aber wegen Kollapses die Operation abgebrochen
werden musste. H. bespricht den Entstehungsmechanismus in solchen
ballen (Ruptur durch gesteigerten Innendruck, Einstülpung der Wand
in den Douglas, Andrängen der Darmschlingen gegen den Levator¬
schlitz), lässt es aber dahingestellt, wie die Ruptur in dem betreffenden
Fall aufzufassen sei.
C. Sultan gibt Mitteilungen über Herzverletzungen und Herz¬
naht und teilt u. a. 2 Fälle von Herznaht (von denen 1 erfolgreich)
und mehrere andere Herzverletzungen aus der Leipziger Klinik mit,
so einen Fall von Zerreissung des Herzbeutels und Luxation des Her¬
zens in den Pleuraraum nach Sturz aus dem 1. Stockwerk, einen Fall
von Schussverletzung der Brust- und Bauchhöhle (Herz und Magen),
einen Fall, in dem das Geschoss ca. 6 Monate frei in der Ventrikel¬
höhle lag, erst allmählich durch Thromben fixiert wurde, einen Fall
von 2 facher Stichverletzung des Herzens, von denen eine bei der
Operation übersehen wurde und der Exitus durch Nachblutung aus der
anfangs durch Gerinnsel obturierten Mammaria erfolgte; S. bespricht
die Diagnose der Herzverletzungen und rät, bei bedrohlichen intra¬
thorakalen Blutungen den Brustkorb baldigst zu öffnen, um zu der
Quelle dei Blutung zu gelangen, hat man Grund zur Annahme einer
Herzwunde, so wird man die Schnittführung so einrichten, dass man
denselben zu einem -4 eckigen I ürflügelschnitt ergänzen kann. Die
Bestrebungen, extiapleural zu operieren, hält S. für mehr theoretisch
da in weitaus der Mehrzahl der Fälle Pneumothorax besteht resp. die
Herzverletzung begleitet. Die Mammaria int. ist sorgfältig zu ligieren
wenn sie in den Bereich des Schnittes fällt, Drainage des Perikards
halt S. nicht für nötig, zumal die sekundäre Infektion auf dem Wege
des Drains oder Tampons nicht zu unterschätzende Gefahren bietet.
A. L ä w e n berichtet über Lungenkomplikationen nach Bauch¬
operationen und hebt die grossen Unterschiede, die die Statistiken
betr. der postoperativen Pneumonien ergaben, hervor. Aus den
Jahren 1895—1905 berechnet L. 180 Pneumonien nach 9755 Opera¬
tionen der Leipziger Klinik 1,8 Proz. Pneumoniemorbidität, und zwar
5,4 Proz. nach Laparotomien, 1 Proz. nach den übrigen Operationen.
L ie Durchschnittsmortalität der postoperativen Pneumonie betrug in
Leipzig 65 Proz. 14 der Fälle sind als Aspirationspneumonien auf¬
zufassen. L. bespricht die disponierenden Momente. Aehnlich wie
Bibergeil (Körte) ein Vorwiegen der Pneumonien nach Laparo¬
tomien oberhalb des Nabels gegenüber denen unterhalb des Nabels
(9,8. 6,6 Proz.) fand, konstatiert L. 8,1 Pneumonien nach epigastrischen
Operationen gegenüber 3,8 nach hypogastrischer Laparotomie und
sieht speziell in der karzinomatösen Kachexie eine Disposition zu
Lungenkomplikationen ; nach 91 Magenresektionen und Gastroentero-
stomien berechnet ei 6,6 Proz. Pneumonien, nach 25 Gastrostomien
wegen Karzinom 36 Proz., nach Gallenblasenoperation nur 1 Pneu¬
monie. Nach Bruchoperationen findet er (wie H e n 1 e) wesentlich
höhere Frequenz der Lungenkomplikationen bei eingeklemmten Her¬
men, als nach Operationen freier Hernien (nach 463 B a s s i n i sehen
Operationen freier Hernien nur 2 mal Pneumonien). Die Erkran¬
kungen des Wurmfortsatzes und die daran sich anschliessenden Ent¬
zündungen des Bauchfells disponieren in hohem Grade zu Lungen¬
komplikationen (34:399 Operationen): 8,5 Proz., besonders zu der
auffällig häufigen Beteiligung der Pleura. Der grösste Teil der nach
Laparotomien beobachteten Lungenkomplikationen beruht auf Aspira¬
tion während der Narkose, mangelnder Expektoration und Durch¬
lüftung der Lunge, Neigung zu J hrombenbildung und damit zu Lun¬
genembolien kommt erst in zweiter Linie in Betracht.
W i 1 m s bespricht eine besondere Art von Schmerzen am Unter¬
schenkel und Fuss (Lymphangitis rheumatica chronica) und schildert
an der Haqd ziemlich ausgedehnter Beobachtungen (in 3 Jahren
ca. 30 Fälle) dieses Krankheitsbild, das nicht als Neuritis aufzufassen,
da die Empfindlichkeit der Nervenstämme in der Regel nicht erhöht
ist, bespricht die Diff.-Diagnose von Krampfadern, Plattfussbeschwer-
den, Sehnenscheidenentzündung und Neuritiden; der empfindlichste
Teil ist die Zone des unteren Teils des Unterschenkels, die Gegend der
Art. tib. post, in ihrem Verlauf hinter die Innenknöchel etc., nach län¬
gerem Stehen und Gehen beobachtet man Verstärkung der Schmerzen
Ruhe und Hochlagerung der Beine bringt in der Regel am schnellsten
Besserung, daneben kommen milde Massage, Einreibungen, elastische
Kompresison, Sand- und Lichtbäder etc. in Betracht.
H. Riman n gibt einen Beitrag zur Behandlung der komplizier¬
ten Frakturen. Im Anschluss an eine Arbeit von Otto bespricht R.
das von Trendelen bürg hier verfolgte Prinzip des primären
Wundverschlusses, das bei komplizierten Frakturen überall durch¬
geführt wird, wo nicht primäre Amputation angezeigt ist, indem man
womöglich jede offene Fraktur in eine subkutane zu verwandeln sucht
— eine Methode, deren Vorteile bei Gelingen auf der Hand liegen,
Debridement wird auf der Klinik nicht ausgeführt. R. gibt Tabellen
über die in den letzten 10 Jahren stationär behandelten Extremitäten¬
frakturen, 238 komplizierte Frakturen im engeren Sinn. Die Mortali¬
tät ist demnach (mit 3,7 Proz.) zirka halb so gross, als das Mittel
anderer Statistiken, auch die Zahl der Nachamputationen geringer,
die Heilungsdauer, namentlich der schweren Fälle um nahezu Vs ab¬
gekürzt, so dass R. die Methode des primären Wundverschlusses als
weiteren Fortschritt in der modernen Wundbehandlung komplizierter
Frakturen zur Nachprüfung warm empfiehlt. Die primäre Amputation
wurde 22 mal in 9,2 Proz. aller komplizierten Frakturen ausgeführt,
meist wegen starker Weichteilkomplikationen (5 mal bei multiplen
Frakturen, 2 mal wegen bestehender septischer Infektion). Konserva¬
tiv behandelt wurden 216 Fälle, 90,8 Proz. mit 3,7 Proz. Mortalität,
davon entfallen auf Durchstechungsfrakturen 72 = 1/3 der Fälle (da¬
von 25 durch Sturz aus der Höhe entstanden), auf die Frakturen mit
ausgedehnten Weichteilwunden 144 (davon 42 durch Ueberfahrung,
27 durch Auffallen von Fremdkörpern, 15 auf Maschinenverletzungen!
14 auf Hufschlag, 32 durch Sturz aus der Höhe oder in der Ebene ent¬
standen). In 23 (15,2 Proz.) ermöglichte eine Lappenbildung pri¬
mären Wundverschluss, in 11,5 Proz. gestielter Lappen, 9 Brücken¬
lappen (wovon 12 auf den Unterschenkel entfallen). Von den 144
starben 5, 1,3 Proz. an septischer Infektion, 139 wurden geheilt, da¬
von 7,3 Proz. erst nach Absetzung der Extremität, die Durchschnitts¬
heilungsdauer betrug 58 Tage. 13 mal machte der Eintritt septischer
Erscheinungen ausgiebige Inzisionen und Drainage nötig. Gelenk¬
frakturen wurden 12 behandelt, davon entfallen 2 aufs Knie, 3 auf den
Ellenbogen, 7 aufs Fussgelenk.
A- L ä w e n — Gelenkeiterung bei Gicht — beschreibt einen Fall
von Gelenkeiterung in beiden Grosszehengelenken, von denen die
rechts auch nach ’Exkochleationen derselben unter reichlicher Urat-
abstossung statthatte und dieselbe links zur Amputation nach Piro-
g o f f Anlass gab, nachdem 5 Wochen lang durchgeführte konservative
Behandlung keine Besserung gebracht hatte. Solange es sich um
Fisteln handelt, wird man bei gichtischen Gelenken konservativ be¬
handeln, kommt man damit nicht zum Ziel, so ist Exkochleation an¬
gezeigt und erst wenn auch hierdurch nichts erreicht wird oder die
Gelenke durch breite Ulzerationen mit der Aussenwelt kommunizieren,
sind (besonders bei geschwächten Personen, die man vor den Ge¬
fahren längerer Bettlage bewahren will) Amputationen und Exartiku¬
lationen gestattet.
H. Meyer beschreibt einen Fall von Aszites infolge Pfortader-
kompression, geheilt durch die Talma sehe Operation.
Rod. S i e v e r s berichtet über Amputation mit Sehnendeckung
zur Erzielung tragfähiger Diaphysenstümpfe nach W i 1 m s. Er zeigt,
wie durch die Methode der Sehnenplastik die Grundlagen zur Bildung
eines tragfähigen Stumpfes gegeben sind und teilt 23 Fälle dieser
Methode am Unterschenkel mit, von denen 20 zur Statistik nach¬
untersucht wurden und 16 tragfähig geworden sind, darunter 4 alte
Leute von 65 und 70 Jahren. Nach S.’ Ausführungen gibt die W i 1 m s -
sehe Amputationsmethode mit Sehnendeckung ideal tragfähige
Stümpfe, sie ist technisch einfach durchführbar und erweitert den
Anwendungsbereich der Amputationen zur Erzielung tragfähiger
Stümpfe, insbesondere auf das hohe Alter.
Joh. Sommer gibt einen Beitrag zur Kasuistik der Meningeal¬
blutungen, resp. berichtet über den Fall eines 9 jährigen Kindes, das
durch Trepanation und Entleerung der Kruormassen geheilt wurde.
K. A 1 b r e c h t beschreibt einen Fall von Rankenneurom am
obern Augenlid, das erfolgreich exstirpiert wurde.
A. Liiwen gibt vergleichende experimentelle Untersuchungen
über die örtliche Wirkung einiger neuer Lokalanästhetika (Stovain,
Novokain und Alypin) auf motorische Nervenstämme und bespricht
u. a. die gewebsschädigenden Wirkungen 5 und 10 proz. Stovain-
lösungen, mit denen man auch bei grossen Verdünnungen rechnen
muss, wie sie zur Lumbalanästhesie zur Verwendung kommen. Trotz
des Fortschrittes, den die Einführung des Stovains hier bedeutet,
haften ihm bei der örtlichen Wirkung Eigenschaften an, die weder bei
Kokain, Eukain und Tropakokain, noch beim Novokain zu fürchten
sind.
H. H e i n e c k e und A. L ä w e n geben Erfahrungen über
Lumbalanästhesie mit Stovain und Novokain, mit besonderer Berück¬
sichtigung der Neben- und Nachwirkungen. Danach haben sich die
nach den ersten 50 Fällen sehr günstig gestellten Erwartungen betr.
der Novokainlumbalanästhesie nicht erfüllt, indem mehrmals unange¬
nehme Nebenwirkungen bis zu ausgesprochenem, ja schwerem Kollaps
vorkamen und auch unangenehme Nachwirkungen (besonders Kopf¬
schmerzen heftiger Art) beobachtet wurden; im allgemeinen die
Lumbalanästhesie nicht als so harmloses Anästhesierungsverfahren
sich erwies, als sie von anderer Seite geschildert wurde. — Die
beiden Autoren berichten über 70 Fälle von Stovain- und Novokain¬
lumbalanästhesie näher, von denen ersteres in fertigen Ampullen
(Billon & Riedel) zur Anwendung kam, die Dosis zwischen 0,03 und
0,08 schwankte, bei letzterem zwischen 0,05 und 0,18, und stellen das
Material tabellarisch zusammen. Die Nebenwirkungen der Lumbal¬
anästhesie sind bei Verwendung von Novokain etwa 2/4 mal so
häufig, als bei Stovain und zwar sowohl betr. der leichteren Erschei¬
nungen (Uebelkeit, Erbrechen), als der schweren (Störungen der
Herztätigkeit, Kollaps).
Die Gefahren des intradural applizierten Novokains scheinen
wesentlich grösser zu sein, als die des Stovains. Bezüglich der Nach-
wii kungen besteht zwischen beiden Mitteln in der Häufigkeit
kein grosser Unterschied, dagegen waren besonders die. Kopf¬
schmerzen nach Novokain weit intensiver als nach Stovain. Das
Novokain steht demnach als lumbales Anästhetikum dem Stovain
nach, da sowohl die unangenehmen Nebenwirkungen und Nachwir¬
kungen bei ersterem grösser zu sein scheinen. Zum Schluss teilen
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
-;J70
11. und L. noch einige Beobachtungen schwerer Vergiftungserschei-
nungen nach Anwendung von Novokain-Suprarenin-Tabletten mit, die
nur durch eine Zersetzung des Nebennierenpräparates durch die
Sterilisation sich erklären lassen, was ja allerdings nach den Angaben
von Braun bei der angwandten Methode nicht der Fall sein soll;
ähnliche Erscheinungen wurden auch bei Stovainlösungen beobachtet,
die erst nach Zusatz des Nebennierenpräparats sterilisiert worden
waren; daraus ergibt sich die Indikation, Stovain zu verwenden, bei
dein das Nebennierenpräparat erst nach der Sterilisation zugesetzt,
da letzteres ungemein wichtig bei der Lumbalanästhesie ist, es zeigt
sich aber auch, dass man auch hier mit dem Novokain mehr riskiert,
falls einmal zufällig das Nebennierenpräparat nicht zugesetzt oder
unwirksam geworden sein sollte. Sehr.
Zentralblatt für Chirurgie. 1906. No. 37.
Zur Nachprüfung von ür. C. Bayer -Prag:
1. Dorsale Fixation des Arms bei Schlüsselbeinbruch. Bei
2 Fällen von Fraktur des Akromialendes des Schlüsselbeins erzielte
B. tadellose Koaptation der Bruchenden durch Fixation des Vorder¬
arms quer über den Rücken, wobei -ein über die Klavikula, den
Humeruskopf und über diesen zum Rücken verlaufender Pflaster¬
streifen das Akromialende extendierte, den Humeruskopf nach hinten
drängte, während ein zweiter Streifen, diesen kreuzend, von der
Schulterhöhe über Frakturstelle, Brustkorb, Olekranon und Rücken
zur Schulterhöhe zurück lief, ein dritter Streifen als Schleife das
Karpalende des Vorderarms umfasste, über Rücken- Schulterhöhe,
Frakturstelle verlief und vorne in der Pektoralisgegend endete. Der
Arm wurde unter Freilassung der Hand nach Desault mit Binden¬
touren fixiert.
2. Protektivsilk als Deckmittel für den Darm bei peritonealer
Tamponade. B. sucht die Gefahren und Unannehmlichkeiten, die Ver¬
klebung und Verfilzung von Gazestoffen mit der Serosa des Darmes
bei der Entfernung gelegentlich des Verbandwechsels bedingen, durch
schürzenartig übergeklappte Silkstücke zu vermeiden (die in Glyzerin
sterilisiert und mit sterilem Wasser abgewaschen wurden).
C. Israel- Hersfeld: Erhaltung des Weichteilnasengerüstes bei
Oberkieferresektion und die Vorteile dieser Operationsmethode.
.1. führt 2 Fälle an, um zu zeigen, dass in geeigneten Fällen die
Erhaltung des Weichteilgerüstes nicht nur möglich und leicht aus¬
führbar, sondern auch vorteilhaft sei, da weder Sprachstörungen,
noch Eindringen von Speiseteilen in die sonst Testierenden Nasen¬
räume, noch die chronischentzündlichen Affektionen des hinteren
Rachenraums statthaben können. — Die natürlich nur bei vom Zahn¬
fortsatz oder event. von der Aussenwand des Oberkiefers ausgehenden
malignen Neubildungen in Betracht kommende Methode führte .1.
in der Weise aus, dass er nach der üblichen Methode den Schnitt
führt, aber vor der Durchsägung von der Apertura pyriformis erst
mittels Elevatorium das gesamte Schleimhaut- und Periostgerüst am
Boden und der äusseren Wand der Nase ablöste und dann zwischen
dieser und der äusseren Nasenwand die Stichsäge führend Proc.
nasalis und Proc. alveolaris durchsägte. Sehr.
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. LVIII. Band
2. Heft. Stuttgart, F. Enke, 1906.
1) O f f e r g e 1 d - Marburg; Ueber das Vorkommen von Kohle¬
hydraten im Fruchtwasser bei Diabetes der Mutter.
Genaue klinische und chemisch-physiologische Krankengeschichte
folgenden Falles:
Eine diabetische Frau erkrankt, während sie im 7. Mo¬
nate gravida ist und an starken^ Hydramnion leidet, plötzlich an
Coma diabeticum. Die Frucht war schon vorher abgestorben, wahr¬
scheinlich durch das gleiche Agens, welches auch die Erkrankung
der Mutter verschuldet hatte. Bei der beträchtlichen mütterlichen
Glykämie trat Dextrose in das Fruchtwasser über und in die Milch.
Während die Mutter nur die Assimilation für die Dextrose verloren
hatte, war der kindliche Kohlehydratstoffwechsel in viel eingreifen¬
derer Weise alteriert, da er auch die übrigen in ganz abnormer
Weise verarbeitete. Durch die sofortige Entbindung gelang es, die
Frau zu retten, einmal durch Besserung der Zirkulationsverhältnisse
(Ablassen des Hydramnion) und dann durch die Aenderung im Stoff¬
wechselhaushalte der Mutter nach Entfernung des Kindes.
2) Kirchgessner - Würzburg: Vaginale Totalexstirpation bei
totalem Vorfall des Uterus.
Verf. tritt auf Grund einer 10 Fälle umfassenden Statistik aus
der Würzburger Klinik für ein radikaloperatives Vorgehen beim
Totalprolaps ein. Er bespricht ausführlich die Indikationen, die
Technik der Operation, sowie die Resultate.
3) Man dl- Wien: Weitere Beiträge zur Kenntnis der sekre¬
torischen Tätigkeit des Amnionepithels.
Die nach doppelseitiger Nephrektomie bei Kaninchen beobachtete
Zunahme der Amnionflüssigkeit wird nicht ausschliesslich durch in¬
tensivere Entleerung von fötalem Harn in das Fruchtwasser hervor¬
gerufen, sondern beruht, was durch die histologischen Veränderungen
des Amnionepithels bewiesen wird, auf einer intensiven sekretori¬
schen Tätigkeit der Amnionepithelzellen. Die Zellen zeigen peitschen¬
förmige Fortsätze, während der Körper auffällig rarefiziert wird.
Diese Epithelveränderung stimmt nicht zu der Annahme eines ein¬
fachen Deckepithels, lässt aber wohl die Deutung zu, dass aus diesen
Zellen spezifische Sekretprodukte austraten.
4) Scheib -Prag: Ueber intrauterine Erysipelinfektion des
Neugeborenen, gleichzeitig ein Beitrag zur Pathogenität peptonisie-
render Streptokokken.
Eine XI. Para wird während der Geburt durch die innere
Untersuchung infiziert. Hierbei oder durch einen intrauterin behufs
Haltungsverbesserung ausgeführten Handgriff erleidet das Kind eine
Verletzung am Gaumen; von hier aus kommt es zu eitriger Gingivitis
und zu einem Erysipel des Gesichts und der Kopfhaut. Bei der
Mutter hatte sich eine schwere septische Endometritis mit Strepto¬
kokken im Blut ausgebildet, die zur Heilung gelangte. Dieselben
Streptokokken hatten beim Kinde zu dem tödlich verlaufenden Ery¬
sipel Veranlassung gegeben. Ausgedehnte kulturelle Untersuchungen
zwecks Identifizierung der Streptokokken.
5) L e h m a n n - Karlsruhe: Ueber Skopolamin-Morphiumanal¬
gesie in der Geburtshilfe.
Zu diesem aktuellen Thema gibt Verf. auf Grund von 70 Be¬
obachtungen einen sehr schätzenswerten Beitrag. Er schliesst: Bei
sorgfältiger Auswahl der Fälle und richtiger Anwendung des Ver¬
fahrens verläuft der grösste Teil (61,6 Proz.) der betreffenden Ge¬
burten vollkommen schmerzlos, der andere Teil mit erheblicher Lin¬
derung ohne Gefahr für die Mutter und ohne erhebliche Beeinträchti¬
gung des Geburtsverlaufes. Dagegen liegt in dem gegenüber dem
natürlichen Entbindungsverfahren vermehrten Auftreten von Asphy¬
xien der Kinder ein Nachteil der Methode, zufolge dessen die An¬
wendung derselben vorerst auf geburtshilfliche Anstalten beschränkt
werden sollte. Dem praktischen Arzt kann dieselbe nur dann emp¬
fohlen werden, wenn er die Geburt ständig überwachen kann, um bei
drohender Gefahr für das Kind dieselbe nach Möglichkeit sogleich zu
beendigen.
6) G o 1 1 s c h a 1 k - Berlin: Ueber das Oberflächenpapillom des
Eierstocks und seine Beziehung zum Cystadenoma serosum papillare.
Durch den mitgeteilten Fall (5 Illustrationen) erbringt Verfasser
den Nachweis, dass die oberflächliche Papillenbildung auch die Bil¬
dung des Cystadenoma serosum papillare eingeleitet hatte.
7) H o f m e i e r - Würzburg: Ueber die Möglichkeit der Ein¬
nistung des Eies über dem inneren Muttermund.
Die Einnistung des Eies über dem inneren Muttermund wird von
einer Reihe von Autoren als Erklärung für die Entstehungsmöglich¬
keit der Placenta praevia angenommen. H o f m e i e r verneint diese
Möglichkeit und richtet sich gegen die A h 1 f e 1 d sehen und Bumm-
schen schematischen Zeichnungen. Durch eine Reihe von Quer¬
schnitten durch Uteri hat er .sich über die Grössenverhältnisse des
inneren Muttermundes orientiert. Dieselben sind so gross, dass sie die
Dimensionen des Ovulum erheblich übertreffen.
8) A s c h o f f - Marburg: Das untere Uterinsegment.
In der Frage des unteren Uterinsegments bestehen die Meinungs¬
differenzen hauptsächlich aus dem Grunde, weil die anatomischen Be¬
griffe: was gehört zur Zervix und wie weit reicht dieselbe, ver¬
schieden sind. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist es rat¬
sam, mit Hartmann den Uterushohlraum in 3 Abschnitte zu zer¬
legen: Cavum uteri bis zum makroskopisch bestimmten Orificium in-
ternum uteri, Isthmus vom Orific. int. uteri bis zur Grenze der echten
Zervikalschleimhaut, d. h. dem Orif. int. cervicis, eigentliche Zervix
oder Cavum cervicis bis zum Orific. externum. Dann entsteht das
untere Uterinsegment aus dem Isthmus, welcher ganz oder doch zum
grössten Teil zur Bildung der Eikammer verwertet wird.
Werner- Hamburg.
Zentralblatt lür Gynäkologie. No. 39 und 40.
M. Blumberg - Berlin : Selbsthaltender Vulvaspreizer und
Vulvovaginalspreizer, ein neues Instrument für vaginale Operationen.
Das Instrument, dessen Beschreibung und Abbildung im Original
nachzusehen sind, soll einen Assistenten ersetzen und eine bessere
Desinfektion der Vulva garantieren. Es eignet sich besonders bei
Kolpotomien, digitaler Ausräumung, Kürettage, Dammrissen und Pro¬
lapsoperationen. Zu haben bei Georg Härtel in Breslau und Berlin.
H. Fritsch - Bonn: Referat über Livre d’or offert au Professeur
S. P o z z i.
Enthält Auszüge aus der Festschrift, welche unter vorstehendem
Titel Pozzi zur Erinnerung an 20 Jahre Unterricht im Hospital
Broca von seinen Schülern und Freunden dargebracht worden ist.
Krumm a eher - Wesel : Eingebildete Schwangerschaft bei
einer 48 jährigen Mehrgebärenden.
Der Fall ereignete sich bei einer Frau von 48 Jahren, die Mutter
von 5 Kindern war. Pat. bemerkte Ausbleiben der Regel, Zunahme
des Leibes, der Hüften und Brüste, sowie ganz deutliche „Kinds¬
bewegungen“. Die Untersuchung ergab nichts von Gravidität, aber
lebhafte Zuckungen im Rectus abdominis der rechten Seite, die von
K. als „idiopathischer (choreatischer?) Krampf der Bauchmuskulatur“
bezeichnet wird. K. beobachtete den Fall übrigens während seiner
Tätigkeit in Peking, gibt aber nicht an, ob es sich um eine Chinesin
oder Europäerin gehandelt hat. J a f f e - Hamburg.
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2071
Zieglers Beiträge zur pathologischen Anatomie und all¬
gemeinen Pathologie. Jahrgang 1906. 39. Band. 2. Heft.
. 12) J- Rjchter: Zur Kenntnis des sogen, „tuberkulösen Ileo-
shftun^ii^Wien )AUS d6r * rosektur der k. Krankenanstalt Rudolf-
■2 p-n 111 - typischen tuberkulösen Ileozoekaltumor, von dem R.
d nabe mitteilt will er eine chronische nicht spezifische Entzündung
als die primäre Erkrankung annehmen, zu der erst sekundär eine Infek-
tion mit Tuberkelbazillen komme *) und weist auf die abweichenden
histologischen Befunde gegenüber den einfachen chronisch-tuberku-
fPu11 ^schwuren der gleichen Darmgegend (Beobachtung von zwei
ballen) hin, die nur mit narbiger Verengerung (ohne wesentliche
Hypertrophie) einhergehen.
f J 9 0 e 1 s cb: Veber den Einfluss von Karzinommetastasen
auf das Knochengewebe. (Aus dem patholog. Institut Freiburg i. Br.)
.. + u jSSer hat sich bei seinen Untersuchungen einer neuen
Methode zur Darstellung der Ausläufer von Kno-
chenkoi perchen und deren Höhlen bedient, die vor der
bekannten S c h morl sehen bemerkenswerte Vorteile zu besitzen
scheint. Die Primärkarzinome der beschriebenen 8 Fälle hatten in
den verschiedensten Organen ihren Sitz und es betont Verfasser mit
Recht, wie allgemein die Häufigkeit der Krebsmetastasen im
Knochen unterschätzt wird. Auf Qrund seiner angegebenen Methode
die stets eine Differenzierung zwischen alten und neuen
Knochenzellen ermöglichen soll, wird auf das Verhalten von Knochen¬
resorption und -apposition in den betr. Fällen näher eingegangen.
... Schultze: Ein Beitrag zur Kenntnis der akuten Leu¬
kämie. (Aus dem pathologischen Institut zu Freiburg i. B.)
Der mitgeteilte Fall ist bemerkenswert durch die hämor¬
rhagischen Veränderungen in den verschiedensten Organen und durch
das Auftreten hämorrhagischer Geschwulstknoten im Darm.
15) T. Hayami: Ueber Aleuronathepatitis. Ein Beitrag zur
Regenerationsfrage des Lebergewebes und zur Erklärung der sogen.
Uebergangsbilder. (Aus dem patholog. Institut zur Freiburg i. ß.)
w p, ,er ' hat. !0 proz Aleuronataufschwemmung in physiologischer
NaU-Losung in die Lebersubstanz laparotomierter (Meerschweinchen
und) Kamnchen injiziert und die danach eintretenden Entzündungs¬
und Regenerationserscheinungen histologisch studiert. Die bekannten
auch sonst öfter zu beobachtenden Uebergangsbilder zwischen
S Lf Und Veberzellen> die von den früheren Autoren teils
als Neubildung von Leberzellen aus wuchernden Gallengangepithelien
teils in umgekehrtem Sinne gedeutet wurden, werden als sekundäre
LeÄr auÄffT? RdT °a"e”äänee mit den Präexiste"te"
(Aus* dem pLa?ho|dSlLetltatez:„Wiee„r)TUm0re" der Schwdssdrüsen-
j _ LZmnmWei mitgeteilten Fällen bildete der erste eine Zyste in
Rnn A'hselhoh+Ie und zeigte mikroskopisch einen exquisit papillären
Bau, der zweite wurde am inneren Fussohlenrand beobachtet und er-
mnerte histologisch sehr an ein intramuskuläres Fibroadenom der
Mamma mit sehr kernreichem spindelzelligen Stroma. L. gibt eine orien-
üerende Übersicht über die sichergestellten Fälle aus der Literatur
und schlagt eine Gruppierung der bis jetzt beschriebenen Schweiss-
drusentumoren nach histologischen Gesichtspunkten vor.
j 17)A. Maximow: Ueber entzündliche Bindegewebsneubil-
St. Petersburg)* 0t* AUS ^ KaiSer1' mediz- Militärakademie zu
Die vorliegenden Untersuchungen ergänzen die früheren um¬
fangreichen Studien des Verfassers über die Bindegewebsneubildung
bei Saugeüeren; hier wie dort werden aseptische Fremdkörper (Cef
dngefühTtfmd ”nd -rohrchen) in das lockere subkutane Bindegewebe
eingefuhrt und die darnach auttretenden Zellelemente und deren wei¬
tere Entwicklungsschicksale untersucht. Da sich die Arbeit für ein
ingehendes Referat an dieser Stelle nicht eignet, so sei nur darauf
hingewiesen, dass die Entzündungs- und Einheilungsprozesse im
Prinzip ebenso verlaufen, wie beim Säugetier, bei leSerem nur
bedeutend lascher. M. betont besonders die von ihm schon früher
.. wiesen e Lmigrationsfähigkeit der Lymphozyten die das
grösste Kontingent seiner sogen. Polyblasten bilden; auch bei diesen
neuen Studien schreibt M. den letzteren (also hämatogenen) Eie
n Fm” m6 fahlgkeit zu’ im Bindegewebe sessil zu werden und sich
n Fibroblasten umzuwandeln, andererseits aber spricht er den nr;i
existierenden Fibroblasten als hoch differenzierten Zellen die Fähig-'
it ab, zu histogenen amöboiden Wanderzellen zu werden!
A„o98).IvLKaTakascheff: Weitere Beiträge zur pathologischen
Leipzig!)6 d6r Nebenn,eren* (Aus dem pathologischen Institut zu
hns AHHif/f !.ha.tte bekanntlich für den Symptomenkomplex des Mor¬
bus Addisonn eine Erkrankung „des chromaffinen Systems“ (= chro
maffine Zellen im Sympathikusgebiet inkl. Marksubstanz der
Nebenniere) verantwortlich gemacht und auch K. gegenüber diese
Auffassung vertreten; demgegenüber hält hier K. seine Anschanfn^
aufrecht, dass die Erkrankung der Rin den Substanz wohl des
lebenswichtigsten leiles der Nebenniere, zu dem typischen Bild der
Addison sehen Krankheit führt und belegt deren Richtigkeit mit
*) Gegen diese Auffassung des Verfassers wurde schon ge¬
legentlich seines Vortrages in Meran Widerspruch erhoben. Ref.
einigen sehr instruktiven Fällen von Erkrankungen der Nebennieren
mit und ohne Addison sehe Symptome.
Allgemein bemerkenswert ist hiebei die sichere Beobachtung
dass bei doppelseitiger Zerstörung der Nebenniere (Rindensubstanz')
das Ausbleiben der A d d i s o n sehen Krankheitserscheinungen durch
das Vorhandensein genügend grosser, funktionsfähiger
, zfs.s irischer Nebennieren bedingt sein kann, nach denen
also bei derartigen Beobachtungen an den bekannten Stellen sorg¬
fältig zu suchen ist.
Das Fehlen chromaffiner Zellen im Sympathikusgebiet, besonders
mi I lexus coeliacus, scheint nach K. und anderen Autoren beim
Erwachsenen etwas gar nicht seltenes und bedeutungsloses zu sein.
Herrn. Merkel- Erlangen.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 41.
, i Waldeyer zu seinem 70. Geburtstage am 6. Ok¬
tober 1906.
V P- Y- B..a u m g a r t e n - Tübingen : Experimente über hämato¬
gene Lymphdrusentuberkulose.
schaflTn^Stuttgafr 10' TagUng der deutschen Pathologischen Gesell-
2) E. C o h n - K i n d b o r g - Bonn : Ueber Heisslufttherapie bei
Emphysem, chronischer Bronchitis und Asthma bronchiale.
.. . Experimentell konnte Verfasser feststerfen, dass durch Hyper-
amisierung der 1 horaxoberfläche keine Lungenhyperämie erzeugt
werden kann, dass dadurch aber eine erhebliche Blutüberfüllung aller
betuchten dei Thoraxwandung hervorgerufen werden kann, welche
sich therapeutisch verwerten lässt. Durch einen eigens konstruierten,
den ganzen Thorax in sich aufnehmenden Heissluftkasten erzielte er
JJ1 fhmrpffpn ZnV1-1] 6r SiUnde .Dauer eille energische Blutüberfüllung
dei betreffenden Teile und sah bei einer Reihe von Kranken der oben¬
genannten Art sehr erhebliche Besserung der Beschwerden, über¬
haupt des ganzen Krankheitsbildes eintreten. In einem der Fälle
verlor sich das Lungenemphysem völlig. Die spirometrischen Werte
gingen oft in die Hohe. Offenbar tritt durch das Verfahren eine Ent¬
lastung der Lungen ein.
Sperma J' B' L e v 1 11 s 0 n ‘ Moskau: Barberios Reaktion auf
v ■ genannte Reaktion besteht in der Bildung nadelförmiger
Knstahe von gelber Farbe und rhombischer Form, welche auftreten
wenn dem menschlichen Sperma Pikrinsäue zugesetzt wird. Die
Reaktion scheint für menschliches Sperma spezifisch zu sein Verf
hat die Reaktion vielfach nachuntersucht und z. B. an der Milch
mehrerer Fischarten ein negatives Resultat erhalten. Die Unter¬
suchungen an menschlichem Sperma ergaben an samenfädenhaltigem
Material immer ein positives Ergebnis, wiesen in mehreren Fallen
aber auch bei mangelnden Samenfäden ein positives Resultat auf
was für forensische Zwecke von Bedeutung erscheint. Verf. ist der
Ansicht, däss der Stoff, welcher die Reaktion ergibt, höchstwahr-
bläscheif1 geliefert 5“ aUein °der ln den Samen-
bindungP Br0Se: Zur Pflege der Bauchdecken nach der Ent-
Verf. betont, dass die Erschlaffung der Bauchdecken, an welcher
viele Flauen in spateren Jahren leiden, meist schon im ersten Wochen¬
bett zustande kommt und daher hier schon ganz energisch bekämpft
werden muss namentlich um die Entstehung der Bauchbrüche zu
vei hindern Der Modus der Entstehung derselben wird im Einzelnen
geschildert. Die Bandagierung selbst nimmt Verf. mit Binden von
25 c,m BrTY.lte vor, die aus dem Stoffe der Idealbinde angefertRt
werden. Dieselben halten bei richtigem Anlegen sehr gut, überdies
'ann ein Hinaufrutschen noch dadurch verhindert werden, dass man
nlm mnTp°hn 1Ch/ Mfnst™ationsbinde mit einer Sicherheitsnadel vorn
und lnnten an der Binde befestigt. Bei schon vorhandenem Bauch-
gebracrweMem ^ &r°SSe Wattebäusche an einander
5) A. Meyer und R. M i 1 c h n e r - Berlin : Ueber die topogra¬
phische Perkussion des kindlichen Herzens.
Verf setzen zunächst auseinander, dass beim Kinde infolge der
eigentümlichen Beziehungen der einzelnen Herzteile zu einander zum
gesamten Herzen und zur Brusthöhle die Perkussion der sogen ab-
soluten Herzdampfung noch weniger leistet, als beim Erwachsenen
und die Perkussion ganz spezifische Schwierigkeiten beim Kinde zu
uberwmden hat. Deswegen sind auch die Angaben der Autoren übe?
die kindlichen Herzgrenzen stark von einander abweichend Den
grössten Fortschritt für die Behebung dieser Schwierigkeiten stellt
die von Goldscheider angegebene leiseste Sagittalperkussion
dar wie die zahlreichen von den Verfassern auch zum Teile in ihrem
Arükd reproduzierten Vergleichszeichnungen von Röntgenogrammen
und Perkussionsfiguren erkennen lassen. Besondere Bedeutung gf-
uhrt dem Gefassschatten bezw. der Perkussionsfigur der grossen
Gefasse in ihrem Verhältnis zur Herzgrösse. Oefter ergibt sich ei
Missverhältnis von Herzkörper und Gefässvolumen. Vo^i diagnosti-
schei Bedeutung ist besonders auch die Grösse der Lichtung des
retrosternalen Raumes, wie sie durch die schrägtransversale Durch¬
leuchtung gefunden werden kann.
JlS: H‘ KatJcbe[- Berlin: Aetiologie und Epidemiologie der
übertragbaren Gehirnhautentzündung (Genickstarre).
f . IjV dem Referate wird ausgeführt, dass die während der jüngsten
Epidemien ausgefuhrten zahlreichen Untersuchungen die Richtigkeit
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
der ursprünglichen Weichselbau rn sehen Angaben durchaus be¬
stätigt haben und in der Tat in dem Weich sei bäum sehen Me¬
ningokokkus der Erreger der übertragbaren Genickstarre zu er¬
blicken ist. Hinsichtlich des Einblickes in die Verbreitung der Krank¬
heit ist von grosser Bedeutung die sichergestellte I atsache, dass es
auch für die Genickstarre gesunde Bazillenträger gibt, die keinerlei
Erkrankungserscheinungen darbieten, aber die Keime beim Sprechen,
Niessen und Husten verstreuen, welche sie in den hinteren Nasen¬
räumen und im Pharynx beherbergen. Die bisher noch wenig aus¬
sichtsreichen prophylaktischen Massregeln gegenüber diesem Ver-
breitungsmodus werden besprochen. Grass mann- München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 40
1) K. H e i 1 b r o n n e r - Utrecht: Frühdiagnose und Behandlung
der progressiven Paralyse.
Klinischer Vortrag.
2) H. R i b b e r t - Bonn : Ueber primäre Tuberkulose und über
die Anthrakose der Lungen und Bronchialdrüsen.
Verfasser hält die aerogene tuberkulöse Infektion für viel bedeut¬
samer als die enterogene; namentlich die häufige isolierte Tuberkulose
der bronchialen Drüsen spricht hierfür; auch die subpleuralen Knöt¬
chen tuberkulöser Natur können nicht aerogen infiziert sein. R. sieht
nicht nur in verkalkten und verkästen, sondern auch in den meisten
rein anthrakotischen, herdförmigen Indurationen der Lunge (sub¬
pleurale Lymphdriisen, Bronchialdrüsen) eine ausgeheilte tuberkulöse
Erkrankung, welche also weitaus den meisten Menschen zukommt.
Inhalierte Bazillen brauchen sich nicht in der Lungenspitze anzu¬
siedeln, sie können durch das Lungengewebe, das sie intakt lassen,
in die subpleuralen Glandulae gelangen und diese dann verändern.
3) E. O b e r n d ö r f f e r - Berlin: Zur Differentialdiagnose opti¬
scher und metastatischer Hirnabszesse.
In dem beschriebenen Fall wurde ein otitischer Hirnabszess
vermutet und im Schläfenlappen vergeblich gesucht. Bei der Ob¬
duktion fand er sich im Scheitellappen, nächst der Zentralfurche, war
offenbar metastatisch von einer Bronchoblennorrhöe aus entstanden.
4) v. Elischer und K. E n g e 1 - Ofen-Pest: Beiträge zur Be¬
handlung mediastinaler Tumoren mit Röntgenstrahlen.
In 2 Fällen kurzdauernde, in einem länger anhaltende Besserung,
keine Heilung; ein Fall refraktär. Reines Lymphoma malignum
scheint geeigneter für Röntgenisierung als tuberkulöse Lymphdriisen-
hyperplasie und Lymphosarkom.
5) Konr. L o t z e - Leipzig: Ueber Eventratio diaphragmatica.
Die Diagnose wurde in einem Fall dadurch gesichert, dass auf
dem Röntgenschirm oberhalb der eingeführten Magensonde Zwerch¬
fellbewegungen zu sehen waren, im Gegensatz zu einem anderen
Fall mit Hernia diaphragmatica, bei dem dies nicht der Fall war.
6) O. H e r m e s - Berlin: Zur Kasuistik des Gallensteinileus.
3 Fälle; 2 alte Leute, plötzlich erkrankt, früher nie gallenstein-
leidend. Beide am Ende des 3. Tages laparotomiert; Entfernung des
inkarzerierten Steins; der eine Fall mit schon etwas brüchigem Darm
kam durch, der andre, mit schwerer Schädigung des Darms, starb.
Der dritte Fall, leichter diagnostizierbar, am 5. Tag operiert, geheilt.
Bei einigermassen sicherer Diagnose rät Verf. zu baldiger Operation.
Die Lumbalanästhesie (0,15 Novokain) bewährte sich sehr gut in
den 3 Fällen.
7) Alb. Dick- Berlin: Ueber die Kuhnsche Tubage.
Die perorale Intubation bewährte sich im St. Hedwigs-Kranken¬
haus bei 7 schweren Kopfoperationen so gut, dass sie in Zukunft
auch bei den sog. schlechten Narkosen (mit Husten und Erbrechen)
versucht werden soll.
8) E. R o t h s c h u h - Aachen; Ein Fall von Pruritus vulvae, ge¬
heilt durch blaues Bogenlicht.
i Fall, Anwendung des Scheinwerfers, davor blaues Glas. Lokale
Waschungen mit Borsäure statt des bisher angewandten Karbols.
Nach 12 Sitzungen geheilt.
9) Osk. R ö s s 1 e r - Baden-Baden: Der Nachweis von Creno-
thrix polyposa im Trinkwasser.
In einem eisenhaltigen Trinkwasser, das mit den gewöhnlichen
Plattenkulturen keine Beanstandung erfahren konnte, brachte Ver¬
fasser die oben genannte höhere Spaltalge nach der von ihm früher
angegebenen »Methode (Ziegelstückchen; in Eisensulfatlösung 1:5000,
dazu einige Kubikzentimeter des fraglichen Wassers) zu üppigem
Wachstum. Diese Algen verwandeln Eisenoxydulsalze in Eisenoxyd¬
salze, die als rostbrauner Niederschlag im Trinkwasser sichtbar sind.
R. Grashey - München.
Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte. XXXVI. Jahrg.
No. 19. 1906.
A. Dutoit: 42 Fälle von Augendiphtherie. (Aus der Universi¬
täts-Augenklinik Zürich.) (Fortsetzung folgt.)
H. H a a g - Zürich: Die Otitis media cholesteatomatosa und
deren Behandlung. (Nach einem Vortrag, gehalten in der Gesellschaft
der Aerzte der Stadt Zürich, 8. VII. 1906.)
Verfasser weist eindringlichst auf die Gefährlichkeit der Krank¬
heit hin, bespricht die Bedingungen der Entstehung, den Verlauf und
besonders die Behandlung. Perhydrol wirkt gut, aber günstiger, auch
für die Hörfähigkeit, sind die Aussichten bei der Radikaloperation,
die bei jedem schweren Fall mit Eiterverhaltung vorzunehmen ist.
Methode nach Siebenma n n. 5 kurze Krankengeschichten.
R. Hergen tobler: Beitrag zur Sahli sehen Desmoidreak-
tion. (Aus der medizinischen Klinik zu Zürich.)
Der positive Ausfall ist beweisend, der negative aber nicht
immer. Uebrigens werden auch im salzsäurefreien Magen und im
Darm die Beutelchen aufgelöst, aber viel später. P i s c h i n g e r.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 40. Th. Z e 1 e n s k i - Krakau : Ueber das Verhalten des
neutrophilen Blutbildes bei gesunden und kranken Säuglingen.
Z.s Untersuchungen schliessen sich an diejenigen an, welche
A r n e t h am Blute Erwachsener vorgenommen hat. Nach aus¬
führlichen technischen (Verf. zieht die Färbung mit Eosin und Me¬
thylenblau nach May-Grünwald dem Ehrlich sehen 1 riazid
vor) und morphologischen Erörterungen betont Z. das häufige Vor¬
kommen von Myelozyten und anderen Jugendformen der neutro¬
philen Zellen bei den Säuglingen. Er hat Markzellen bei ganz ge¬
sunden besonders häufig aber bei kranken Kindern (unter 157 97 mal)
nachgewiesen; jedenfalls ist der Befund von Markzellen bei Kindern
lange nicht so schwerwiegend wie beim Erwachsenen. Ueberhaupt
wird schon durch geringfügige Störungen bei Säuglingen eine so
hochgradige Veränderung in Bezug auf das relative Vorkommen der
einzelnen Zellformen hervorgerufen, wie sie bei den Erwachsenen
kaum in den schwersten Fällen zu sehen ist. Sie ist auch ohne be¬
sondere Erkrankung bei allgemein schwächlichen Säuglingen zu sehen
und tritt auch schon bei leichten Darmstörungen auf. Diese exzessive
Reaktion bedeutet wohl einen Ersatz der im Blute der Säuglinge
mangelnden, erst im späteren Leben erworbenen passiven Schutz¬
körper durch eine grosse Zunahme der aktiven Abwehrzellen.
K. Po llak- Wien: Ueber paravertebrale und parasternale Per¬
kussionsbefunde bei Pneumonie.
Die paravertebralen Perkussionsbefunde wie sie für die exsu¬
dative Pleuritis beschrieben worden sind, finden sich, wie Verf. an
mehreren Fällen darlegt, auch bei der Pneumonie, sofern sie in der
Nähe der Wirbelsäule lokalisiert ist und beruhen auf denselben phy¬
sikalischen Grundlagen; zur Differentialdiagnose zwischen Pneumonie
und Pleuritis sind sie daher nicht verwertbar.
L. Kürt- Wien: Zur praktischen Verwertung der Schallstärke
des ersten Herztones.
K. hat die seinerzeit von V i e r o r d t gemachten aber wenig
beachteten Angaben bei eigenen Untersuchungen durch die indirekte
Palpation und Auskultationjbestätigen können. Von praktischer Be¬
deutung ist, bisweilen geradezu für die Bestimmung der Herzspitze
verwertbar, die stärkere Schallintensität des Spitzentones. Ferner
soll über dem rechten Ventrikel der systolische Ton stärker sein
als über dem rechten Vorhof und damit auskultatorisch eine Ab¬
grenzung beider Herzabschnitte möglich werden.
Von der dritten Rippe bis zum unteren Rande der vierten ist
der 1. Ton über dem oberen Teil der linken Herzhälfte schwächer als
über dem benachbarten rechten Ventrikel. Tritt ein umgekehrtes
Verhältnis d. h. Verstärkung des Tones auf der linken Seite auf,
wobei in der Regel auch der 2. Aortenton verstärkt ist, so ist der
Schluss auf eine Erstarkung des linken Ventrikels berechtigt, wie
sie sich bei Kompensation der Mitralinsuffizienz, bei Frauen, welche
öfter geboren haben, bei überanstrengten jugendlichen Personen und
auch bei beginnender Arteriosklerose findet.
R. Volk -Wien: Schwere Nierenerkrankung nach äusserlicher
Chrysarobinapplikation.
Beim Eintritt in die Behandlung bot der Fall, dessen Vorge¬
schichte nicht ganz aufgeklärt ist, das Bild einer Dermatitis exfolia¬
tiva, die langsam zur Heilung kam, und einer chronischen Nephritis
mit hämorrhagischen Nachschüben. Noch .8 Wochen hindurch war
im Harn Chrysophansäure nachzuweisen, woraus ausser anderen
Anzeichen auf eine frühere Behandlung mit Chrysarobin zu schliessen
war. Jedenfalls mahnt der Fall neuerdings zur Vorsicht bei diesem
Medikament, das bei den ersten Zeichen der Nierenreizung zu si-
stieren ist.
Q. Rosenbach - Berlin : Einige Bemerkungen über wissen¬
schaftliche Methodik und die Berechtigung des opportunistischen
Prinzips in der Wissenschaft.
R. s Ausführungen beziehen sich auf eine Besprechung Fingers
über seine Schrift „Das Problem der Syphilis“. Er betont dabei, dass
die exakten Methoden immer doch nur das Material liefern zum Aus¬
bau der Wissenschaft auf dem Wege der Gedankenassoziation und
dass auch die Medizin nicht nur eine Laboratoriumswissenschaft
werden könne, sondern die klinischen Erfahrungen mehr als dies
zur Zeit oft geschieht, entscheidende Berücksichtigung finden müssen.
Der Umstand, dass eine wissenschaftliche Anschauung event. der
herrschenden Lehre entgegensteht und von Pfuschern und Feinden
der Medizin zu unlauteren Zwecken ausgebeutet werden kann, darf
nicht davon abhalten, sie auszusprechen; solche oportunistische Mo¬
mente dürfen in die wissenschaftliche Forschung nicht hineingetragen
werden.
G. Salus: Die biologische Aequivalenz von Bacterium coli
und typhi.
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2073
L. Z u p n i k - Prag: Zur Frage der biologischen Aequivalenz von
Bacterium coli und typhi.
Erwiderungen zu dem Artikel Doerrs in No. 36 der Wochen¬
schrift.
Wiener klinisch-therapeutische Wochenschrift.
No. 29. E. H e r z - Rzeszow: Abnorme Adhärenz der Plazenta
und ihr Einfluss auf die Wehentätigkeit.
M. bringt in drei Fällen, wo er sich zur manuellen Plazentar¬
lösung veranlasst sah, die auch während der Geburt bestandene
Wehenschwäche mit der abnorm festen Verwachsung der Plazenta
mit der Uteruswand in Zusammenhang. Es handelt sich dabei in
der Regel um eine sehr umfangreiche also breit mit der Uteruswand,
die an der betr. Stelle eine Verdünnung erfährt, verwachsene Pla¬
zenta; bei genauerer Untersuchung eines Falles fand sich an vielen
Stellen die Decidua serotina atrophisch oder ganz fehlend und durch
derbe Bindegewebsstränge ersetzt; letztere verursachen besonders
die Adhärenz und müssen unter Umständen bei der Lösung der
Plazenta mit der Schere durchtrennt werden. Bei einem der Fälle
musste bereits in einer, bei dem andern in zwei früheren Geburten
die Ablösung der Plazenta gemacht werden.
No. 32. J. F r i e d 1 ä n d e r - Frankfurt a. M.: Zur Behandlung
des traumatischen Tetanus.
In einem Falle hat F. am 3. Krankheitstage (nach 11 tägiger
Inkubation) auf Wunsch des 25 jährigen Kranken unter genauer Ein¬
haltung der von der Höchster Ausgabestelle gegebenen speziellen
Vorschriften, 100 Antitoxineinheiten des Serums auf einmal subkutan
am Unterschenkel injiziert. Bald darauf allgemeine Konvulsionen auch
der Atemmuskulatur und % Stunde nach der Injektion Tod des
Patienten. Jedes ärztliche Verschulden scheint ausgeschlossen, für
die sichere Unschädlichkeit des Antitoxins spricht der Fall nicht.
No. 33/34. J. F e 1 s - Lemberg: 720 Selbstmorde und Selbst¬
mordversuche.
Statistische Bearbeitung der in 13 Jahren in Lemberg vorgekom¬
menen Fälle.
No. 36. E. K a p e 1 u s c h - Biala: Uebersichtli.che Darstellung
der wichtigsten Aenderungen und Ergänzungen der VIII. Ausgabe der
österreichischen Pharmakopoe.
No. 37. W. S c h o e n - Leipzig: Epilepsie und Höhenschielen.
Aus den 21 Leitsätzen sei folgendes hervorgehoben: Es scheint,
dass der Reiz im Gehirn, welcher die genuine Epilepsie verursacht,
immer einem Augenfehler, meist dem Höhenschielen entstammt. Das
Höhenschielen beruht auf dem Höherliegen der Gesichtslinie des
einen Auges und entsteht wahrscheinlich bei schweren Geburten
(Asphyxie des Kindes, Blutungen in die Augenmuskeln). Die Inner¬
vationsanspannung zur Ausgleichung der Anomalie macht sich mit
der Zeit in nervösen Ausstrahlungserscheinungen geltend, zu denen
die Epilepsie gehört. Es gibt nur zwei Gegenmittel: Geschlossen¬
halten der Augen oder entsprechende Brillen, welche durch oftmalige
Untersuchungen bei Erwachsenen meistens wiederholt geändert wer¬
den müssen, bis der endgültige Ausgleich gelingt. Bei Kindern er¬
reicht bisweilen die erste Brille schon die Heilung.
J. Kucera- Gross-Seclowitz : Ein Fall von Vergiftung durch
Schöllkraut (Chelidonium majus).
Das 2 jährige Kind hatte von dem Safte der Pflanze genossen und
erkrankte unter reichlichem Erbrechen und blutigwässerigen Diar¬
rhöen, Apathie, Zyanose der Lippen bei erniedrigter Hauttemperatur
Verlangsamung des Pulses und der Atmung. Urin dunkel, bluthaltig.’
Durch Exzitantien und strenge Diät wurde baldige Besserung und
Heilung erzielt.
No. 38. E. M i e s o w i c z - Krakau : Ueber die therapeutische
Wirkung des R o e m e r sehen Serums bei der kruppösen Pneumonie
10 Krankengeschichten. M.s Urteil lautet dahin, dass die Wir¬
kung des Serums eine unsichere ist, doch verdient es im Beginne
der Krankheit noch weiter geprüft zu werden. Zuweilen treten —
es scheint dann, wenn die Injektion im Höhestadium der Pneumonie
erfolgt — Erscheinungen auf, die als ungünstige Beeinflussung be¬
zeichnet werden müssen: Unruhe des Kranken, Zyanose, Dyspnoe
schlechter Puls, Abnahme der Leukozytenmenge. B e r g e a t.
Englische Literatur.
James R. Riddell: Die physiologischen und therapeutischen
Wirkungen der hochfrequenten Ströme. (Glasgow Med. Journal
August 1906.)
Verfasser berichtet über die Behandlung mit diesen Strömen,
die seit einigen Jahren in England viel verwendet worden sind. Be¬
sonders gute Erfolge hatte er bei chronischem Rheumatismus, bei
Neuritiden, bei der nervösen Schlaflosigkeit, bei Lupus erythematosus
und bei Hämorrhoiden. Krankengeschichten illustrieren das Gesagte,
re P u n b a r : Die akute Intussuszeption der kleinen Kinder.
(Scottish Medic. and Surgic. Journal, August 1906.)
p , . Schöne zusammenfassende Arbeit, die auf dem Material der
cdinburgher Klinik und auf gründlichen Literaturstudien fusst. Verf
verwirft durchaus jede abwartende Behandlung, unsicher und ge-
t ah r lieh sind Lufteinblasungen oder Wassereingiessungen per rectum-
nur die sofortige Laparotomie gibt gute Aussichten. Ein Kunstfehler
ist es, Opium zu geben. Kurz nach der Operation gibt er Kalomel
und rät zu sofortiger Ernährung mit verdünnter Milch. Den Schock
bekämpft er mit subkutanen oder rektalen Kochsalzeingiessungen und
kleinen Dosen Alkohols; Stimulantien wie Digitalis, Strophanthus
und Strychnin hält er für direkt gefährlich.
A. N. M’Gregor: Zur Statistik und Geschichte der Intussus¬
zeption. (Ibid.)
Auch diese Arbeit, die aus der Glasgow Royal Infirmary stammt,
kommt auf Grund von 70 dort beobachteten Fällen zu dem Schlüsse,
dass nur die Laparotomie bei der Behandlung der Intussuszeption in
Frage kommen kann. Aber man muss womöglich innerhalb der ersten
24 Stunden operieren; nach dieser Zeit wird die Prognose sehr
schlecht; . ist schon Gangrän vorhanden, so dass Darmresektionen
nötig werden, so ist die Prognose auch bei bester Technik und
raschestem Operieren fast absolut ungünstig. Verf. rät, nach ge¬
lungener Reduktion das Mesenterium durch Naht (wie man ein Segel
refft) zu verkürzen, um ein Rezidiv zu verhüten.
John Mar noch: Fälle von Intussuszeption. (Ibidem.)
Auch dieser Autor, der Chirurg in Aberdeen ist, will in jedem
ralle sobald als möglich operieren; auch er legt grosses Gewicht auf
möglichst rasches Operieren und auf möglichst frühzeitiges Ernähren
nach der Operation.
David M. Greig: Zur Frage der Behandlung der Intussuszep¬
tion. (Ibid.)
Verf., der Chirurg in Dundee ist, will in frühen Fällen die Luft-
emblasung versuchen; man führt das Mundstück eine Bicyclepumpe
zugleich mit dem rechten Zeigefinger in das Rektum ein; während die
Luit eingeblasen wird, manipuliert die äussere Hand und der im Rek¬
tum liegende Zeigefinger den Tumor; hierdurch oder durch Inversion
werden manche Invaginationen zurückgebracht. Man darf aber weder
zu stark, noch zu lange drücken. Diese Methode aus den Lehrbüchern
zu verbannen, ist unrichtig, weil auf dem Lande nicht immer laparo-
tomiert werden kann. In einem gut eingerichteten Hospitale gibt die
Operation dagegen die besten Erfolge und zwar nur die frühe Opera¬
tion. Von 20 Fällen starben 10. Verf. gibt nach der Operation
Opium.
Alexander Mil es: Das perforierte Geschwür des Magens und
Duodenums, auf Grund von 46 operierten Fällen. (Edinburgh Med
Journal, August 1906.)
Verf. hat 36 perforierte Magen- und 10 perforierte Duodenal¬
geschwüre operiert. Die Perforation kommt bei Männern ungefähr
ebenso häufig vor, wie bei Frauen; die Perforation kann in allen
Lebensaltern (12—71 Jahre) Vorkommen. Die Duodenalfälle hatten
alle vor der Perforation an beträchtlichen Erscheinungen von Dys-
pepsie gelitten, während die Magenfälle oft nur sehr unbedeutende
Symptome geklagt hatten; bei beiden Kategorien waren häufig die
dyspeptischen Symptome kurz vor der Perforation schlimmer ge¬
worden. Trotz sorgfältigster Nachfrage konnte Verf. in der Mehrzahl
dei Fälle keine Ursache für die Perforation ausfindig machen. Verf
gibt dann genauere Einzelheiten über den Sitz des Geschwüres; bei
den Magenfällen sass das Geschwür 33 mal an der vorderen und nur
3 mal an der hinteren Wand; am Duodenum war 9 mal die vordere,
1 mal die hintere Wand perforiert, nur in 1 Falle bestanden gleich¬
zeitig mehrere Perforationen. Meist war die perforierte Stelle sehr
klein, wie ausgelocht. In der Mehrzahl der Fälle fanden sich keinerlei
ältere Adhäsionen in der Umgebung des Geschwüres. (Verf. ver¬
spricht später weitere Mitteilungen über die Art der Operation etc.
zu machen. Refer.)
R. W. Johnstone: Ueber chronische and alimentäre Pento-
snrie. (Ibidem.)
Verf. weist auf die grosse Wichtigkeit der richtigen Erkennung
der Pentosurie hin, da sonst leicht ein ganz gesunder Mensch zum
Diabetiker gestempelt und z. B. von der Lebensversicherung ausge¬
schlossen wird. Er hat gefunden, dass fast bei jedem Menschen nach
dem Genüsse von Fruchtsäften sich Pentosen im Urin nachweisen
lassen und zwar oft noch 5 — 6 Tage nach dem Aufhören dieser Ur¬
sache. Man sollte also, wenn reduzierende Substanzen im Urin ge¬
funden werden und die T r o m m e r sehe und N y 1 a n d e r sehe Probe
positiv ausfallen, stets eine Gährungsprobe anstellen.
John H. \\ atson : Polycythaemia vera. Eine pathologische
Einheit. (Liverpool Medico-chirurgical Journal, Juli 1906.)
Es handelt sich in diesen Fällen um eine vermehrte Tätigkeit
dei Erythroblasten, die einen grossen Teil des Knochenmarkes be¬
fällt; die Polyzythämie bewirkt eine vermehrte Viskosität des Blutes.
Die kleinen Blutgefässe werden stark erweitert, um den Widerstand
gegen das besonders viskose Blut zu vermindern und um Raum für
die Verdünnung des Blutes zu schaffen. Die dabei gefundene Ple¬
thora vera oder Polvhämia muss als ein Versuch angesehen werden,
die Viskosität des Blutes zu kompensieren. Es muss auch mehr Blut¬
plasma vorhanden sein, damit die Viskosität nicht so gross wird, um
die Zirkulation zu hindern. Infolge der grösseren Belastung des Zir¬
kulationsmechanismus kommt es zu Hypertonie der Arterien. Ist die
Kompensation nicht genügend, so tritt starke Zyanose ein. Die
Therapie ist machtlos. Verf. beschreibt genau einen Apparat, um die
Viskosität des Blutes zu messen.
David Smart: Die moderne Behandlung der Syphilis. (Ibid.)
Es ist auffallend, wie selten man in englischen medizinischen Zeit¬
schriften einer Arbeit über Syphilis begegnet. Aerzte, Behörden und
2074
MUHNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
Publikum stehen dieser Volksseuche ganz apathisch gegenüber und
es scheint in ärztlichen Kreisen nicht für ganz anständig zu gelten,
sich allzuviel mit dieser Krankheit und ihren Opfern zu beschäftigen.
In der Behandlung herrschte bisher durchaus die Hutchinson-
sche Lehre, dass es genüge, innerlich kleine Mengen von metallischem
Quecksilber zu geben und dass alle anderen Behandlungsweisen über¬
flüssig oder gefährlich seien. Die schauderhaften Zustände in der
englischen Armee haben dann in den letzten Jahren einige Militär¬
ärzte veranlasst, den Injektionsmethoden näher zu treten und es
werden jetzt in der Armee vielfach Einspritzungen mit grauem Oel
gemacht. Es ist daher mit Freude zu begrüssen, dass auch einmal ein
Zivilarzt für die gründlichere, wie er selbst sagt „deutsche“ Behand¬
lung der Lues eintritt, er empfiehlt vor allem Einreibungen, an zweiter
Stelle Einspritzungen, die interne Behandlung verwirft er als unge¬
nügend und den Darm störend.
T. R. Bradshaw und L. E. Q 1 y n n : Die Opsonine des Blutes.
(Ibid.)
Die Verfasser geben ihre Beobachtungen, die sie bei Bestim¬
mungen des opsonischen Index bei Tuberkulösen und bei der Behand¬
lung dieser Personen mit Vakzine gemacht haben. Sie sind fest davon
überzeugt, dass die Bestimmung des opsonischen Index ein wichtiges
diagnostisches und prognostisches Hilfsmittel ist, dass die Vakzine¬
behandlung eine grosse Zukunft bei allen lokalisierten tuberkulösen
Erkrankungen hat, dass aber eine Tuberkulinbehandlung nur unter
steter genauer Kontrolle des opsonischen Index ausgeführt werden darf.
John Blair: Die Behandlung der Eklampsie. (Ibid.)
Verf. legt ein sehr grosses Gewicht auf eine prophylaktische,
reine Milchdiät bei allen Kranken, die an Albuminurie leiden. Bei
ausgebrochener Eklampsie gibt er Morphium und Chloral per rectum,
heisse Einpackungen; wenn nötig Chloroformeinatmungen. In
schweren Fällen macht er einen Aderlass mit nachfolgender Infusion
normaler Salzlösung. Die Geburt beendet er nur dann, wenn der
Fall auf keine andere Behandlung reagiert. Er erwartet aber nicht
viel Nutzen von der Unterbrechung der Schwangerschaft.
Stopford Taylor und Walter B. Oram: Die Röntgenbehand¬
lung des Herpes tonsurans des Kopfes. (Ibidem.)
Die Verfasser behandeln seit längerer Zeit den „Ringworm“ des
behaarten Kopfes nur noch mit Röntgenstrahlen. Nebenverletzungen
kommen bei genauer Dosierung mittelst der S a b o u r a u d sehen
Pastillen nicht vor. Er hält die Antikathode der Tube etwa 15 cm von
der zu behandelnden Stelle und lässt einen Strom von 0,4 Milliampere
durch die Röhre gehen. Röhren von mittlerer Härte sind die besten.
Nachdem alle befallenen Stellen bestrahlt wurden, wird der Kopf
morgens und abends mit einer Lösung von Jodtinktur in Methylalkohol
(1:5) eingepinselt. Dies tötet die Pilze, wenn die Haare ausfallen.
Die Haare beginnen meist 12 bis 17 Tage nach der Bestrahlung aus¬
zufallen, am Ende der 3. Woche sind sie alle ausgefallen. Von dieser
Zeit an reibt man den Kopf mit einer Salbe ein, die Salizyl und Ol.
Cadini enthält.
C. James Wilson; Posttyphöse Periostitis und Spondylitis.
(Medical. Chronicle, August 1906.)
Die interessante Arbeit gibt eine Anzahl von Krankengeschichten
und Literaturangaben über dies noch wenig bekannte Gebiet. Die
Spondylitis ergreift fast nur Männer, die Prognose ist bei guter Or¬
thopädischer Behandlung eine gute, da es nicht zur Eiterung, wohl
aber zur Ausbildung von Verbiegungen kommt.
Arthur Newsholme: Die Hauptursachen der Abnahme der
Sterblichkeit der Phthisis während der letzten 40 Jahre. (Journal
of Hygiene, Juli 1906.)
In jedem Lande und in jeder Stadt, deren Statistiken daraufhin
untersucht wurden, hat die Sterblichkeit an Phthise abgenommen
und zwar mehr, als einer etwaigen Abnahme in der Anzahl der
Phthisefälle entspräche und auch mehr als die Sterblichkeit von allen
anderen Ursachen. Verbesserungen in den Wohnungsverhältnissen,
Beseitigung des zu engen Wohnens hat wohl die Zahl der Phthisis-
fälle, aber nicht die Zahl der Todesfälle vermindert, diese sind auch
heruntergegangen, wo die Wohnungsverhältnisse gleich schlecht ge¬
blieben sind. Ebenso hat die bessere oder schlechtere Volksernährung
kaum einen merklichen Einfluss auf die Mortalität der Phthisis aus-
geubt. Auch die bessere Aufklärung und Erziehung des Volkes in
Bezug auf die Ansteckungsfähigkeit und Verhütung der Phthise, sowie
die Einführung der Sanatorien haben keinen Einfluss gehabt, da die
Verminderung der Mortalität schon lange vor Einführung dieser Mass-
l cgeln einsetzte. Nach Untersuchung sämtlicher Ursachen findet Ver-
tasser, dass erst mit Segregation zahlreicher Phthisiker in Kranken¬
häusern, Asylen und anderen Instituten die Sterblichkeit bedeutend
herabgiiig und dass die verminderte Ansteckungsgefahr für die All¬
gemeinheit, die durch die Segregation dieser Phthisiker bewirkt
wurde, das Sinken der Sterblichkeit hervorgebracht hat.
• SiLWilllam Macewen: Einige Punkte in der Lungenchirurgie.
(Brit. Med. Journal, 7. Juli 1906.)
„ bekämpft in dieser Arbeit vor allem die Ansicht, dass bei
Lrörrnung der Pleurahöhle sofort ein Pneumothorax entstehen müsse.
Seiner Meinung nach sind es die Kapillarität und die molekuläre Ad¬
häsion, die die Expansion der Lunge gewährleisten; bleiben die beiden
lcurablätter an einander liegen, so tritt ein Pneumothorax ein; der
atmosphärische Diuck hat wenig damit zu tun. Besteht ein innerer
Pneumothorax, so kann man in der Mehrzahl der Fälle mit Punktionen
der Luft nicht viel machen . Es gelingt aber meist rasch Heilung her¬
beizuführen, wenn man möglichst gegenüber der Lungenwunde eine
Oeffnung im Thorax anlegt und nun durch starken Druck auf Brust
und Zwerchfell die beiden Blätter der Pleura wieder in Kontakt bringt.
Es tritt wieder Kohäsion ein und der Pneumothorax verschwindet.
Will man bei Operationen die Brusthöhle eröffnen, so tue man dies
womöglich auf der äusseren konvexen Seite der Lunge, entfernt vom
Hilus; so gelingt es leicht, die Kohäsion der Pleurablätter zu erhalten
und den Pneumothorax zu vermeiden. Verf erwähnt dann Fälle, bei
denen es durch eine Verletzung zur sogen. Kompressionsadhäsion
gekommen ist. Ein starker Schlag oder Fall auf den Thorax kann
die beiden Pleurablätter auf ganz umschriebener Stelle so aufeinander
pressen, dass sie auch nach dem kurz darauf erfolgenden Tode nicht
auseinandergezerrt werden können. Dann spricht Verf. noch über
die Entstehung des Schocks bei Pneumothorax. Er erklärt ihn als
einen Herzschock. Wenn die eine Lunge kollabiert, so verliert das
Herz und die grossen Gefässe leicht ihren Halt. Ausserdem hört die
periphere Lungenzirkulation auf und es kommt zu einer plötzlichen
Rückstauung in den klappenlosen Lungenvenen und dem Herzen. Bei
allen Lungenoperationen ist es von der grössten Wichtigkeit, die
Ansatzpunkte des Zwerchfells (des bedeutendsten Atemmuskels) zu
erhalten. Schliesslich gibt Verf. die genaue Krankengeschichte eines
Mannes, dem er 1895 die eine ganze Lunge wegen totaler tuberku¬
löser Zerstörung entfernte und der seither völlig arbeitsfähig ist.
George W. Ross: Zur Theorie und Praxis der Opsonintherapie.
(Ibid.)
Wie W r i g h t nimmt auch R o s s an, dass im Blutplasma Körper
enthalten sind, die die Bakterien durch chemische Verbindung mit
ihnen zur Phagozytose vorbereiten. Die grössere oder geringere vor¬
handene Phagozytose beruht auf dem Opsoningehalt des Plasmas und
nicht auf den vitalen Tätigkeiten der Leukozyten. Die Opsonine
des normalen Serums werden bei Erhitzung desselben auf 60°
für 10 Minuten völlig zerstört. Die Opsonine sind gänzlich von den
Bakteriolysinen, Agglutininen und Antitoxinen verschieden. Die
Opsonine sind spezifischer Natur. Die Bedeutung der Leukozyten ist
eine unveränderliche, wie folgende Versuche zeigen. Nimmt man
Leukozyten von einem normalen Individuum und von einem immuni¬
sierten Kranken und versetzt jede der beiden Arten mit normalem
Serum und mit Staphylokokken, so findet man, dass in beiden Fällen
die Leukozyten eine gleich starke Phagozytose betätigen. (Normales
Serum, verschiedene Leukozyten.) Nimmt man dagegen 2 Proben
von Leukozyten eines normalen Individuums, versetzt sie mit Sta¬
phylokokken und mischt dann mit der einen Probe Serum von dem
immunisierten Patienten und mit der anderen Serum von einem nor¬
malen Menschen, so findet man, dass die Leukozyten, die mit dem
Serum des immunisierten Kranken gemischt waren, doppelt so viel
Mikroorganismen aufgenommen hatten, als die anderen. Es kommt
also nicht auf die Leukozyten, sondern auf die Opsonine an. Verf.
zeigt dann, wie man am besten den opsonischen Index bestimmen
kann. Hat jemand einen opsonischen Index von 0,5, so bedeutet
das, dass sein Blutplasma nur halb so viel Opsonine enthält, als nötig
sind, um die Infektion mit den Bakterien zu bekämpfen, für die der
Index bestimmt wurde. Bei ganz lokalisierten Infektionen ist der
Index stets niedrig; bei allgemeinen Infektionen fluktuiert der Index
von Tag zu Tag und wird bald viel zu hoch, bald zu niedrig gefunden.
Die opsonische Behandlung besteht nun darin, durch Einspritzung toter
Bakterien (Vakzine), die aus der Infektion des Kranken gezüchtet
wurden, den Opsoningehalt seines Blutes zu erhöhen. Besonders gute
Erfolge hatte man bei Furunkulose, Akne und anderen Staphylo¬
kokkeninfektionen, ferner bei Empyemen (Pneumokokken) und bei
tuberkulösen Lokalinfektionen. Auch bei Lungentuberkulose sind die
Erfolge gut, wenn man nur frische Fälle behandelt. Man muss stets
den opsonischen Index kontrollieren, um die negative Phase zu ver¬
meiden, die nach jeder Einspritzung auftritt und die durch eine neue
zu früh gemachte Einspritzung verstärkt würde. Bei Tuberkulose
benutzt man das Koch sehe T. R., man beginnt mit Viooo mgr und
geht niemals höher als 1/eoo mg. Diese kleinen Dosen sind völlig
genügend nud dabei ungefährlich.
George A. Crace-Calvert: Der opsonische Index bei
tuberkulösen Sanatoriumspatienten. (Ibid.)
Verf. hat gefunden- dass bei leichten Fällen, die im Beginn der
Lungenphthise stehen, der opsonische Index Uber der Norm steht.
Bei akuten Fällen fluktuiert er von Tag zu Tag zwischen abnorm
hohen und abnorm niedrigen Werten. Bei chronischen Fällen steht
der Index abnorm tief. In sogen, geheilten Fällen findet man eine
grosse Verschiedenheit des Index bei den verschiedenen Kranken.
Verf. hält den Nutzen der Tuberkulinbehandlung besonders bei chro¬
nischen bällen für sicher erwiesen. Man muss aber, um die Ein¬
spritzungen während der „negativen Phase“ zu vermeiden, stets den
opsonischen Index kontrollieren; ferner darf man nie grössere Dosen
als Vboo mg T. R. einspritzen, beginnen soll man mit Viooo mg. Bei
akuten Fällen suche man zuerst durch absolute Ruhe die Autoinoku¬
lation zu verhindern und den Index stabil zu machen, erst dann be¬
ginne man mit Einspritzungen. Sehr günstig werden Fälle von
Drüsentuberkulose durch die T. R.-Einspritzungen beeinflusst.
Sir William I homson: Zur Enukleation der Prostata. (Brit.
Med. Journ., 14. Juli 1906.)
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2075
Verf. berichtet über 18 Fälle, in denen er die Prostata nach
h r e y e r von der Blase aus enukleiert hat. Er verlor 5 Fälle (davon
1 an Lungengangrän 12 Wochen nach der Operation). Die übrigen
wutden geheilt und erhielten ihre volle Kontinenz wieder. Verf. rät,
auch wegen wiederholter Blutungen bei vergrösserter Prostata zu
operieren. Er verwirft die Rückenhochlagerung als gefährlich für die
alten Leute.
,....9- H- Cattle: Leber Fliegenlarven im Stuhl des Menschen.
(Ibid.)
Vei f. bei ichtet über einen jungen Arbeiter, der seit längerer Zeit
(etwa 1 Jahr) in zuerst kürzeren, dann längeren Zwischenräumen
Zweifluglerlarven mit dem Stuhl entleert. Die Larve wurde als die
dei Pfeidefhege (Oestrus equi) erkannt. Santonin, Terpentin und
Kalomel waren ohne Wirkung.
Henry Morris: Die X-Strahlenschatten von Zystin- und
Xanthmsteinen. (Lancet, 21. Juli 1906.)
• yer^- zeigt an einer Reihe von Skiagrammen, dass sowohl Zystin-
wie Xanthinsteine sehr deutliche Schatten geben und dass die Ansicht,
d«se Steine Hessen sich nicht skiagraphisch darstellen, durchaus un-
lichtig ist. Es handelte sich meist um reine Zystikussteine.
D. Chalmers Watson: Der Einfluss übertriebener Fleisch¬
nahrung auf Ratten. (Ibid.)
Verf. hat durch Versuche an Ratten festgestellt, dass eine über-
massige rleischnahrung das Wachstum dieser Tiere hindert. Beginnt
man schon bei ganz jungen Tieren mit dieser Diät, so werden die
liere steril, auch die Laktation wird verringert. Derartig ernährte
1 lere sind schwach, bieten Krankheiten nur wenig Widerstand und
sterben meist jung. Die Nachkommenschaft solcher Tiere zeigt eine
abnorm hohe Sterblichkeit. Verfasser glaubt, dass man hieraus
Schlüsse auf die Diät des Menschen ziehen darf.
Aslett B a 1 d u r n :
(Ibidem.)
Eine neue Operation der Femoralhernie.
Verfasseis Methode, die am besten aus den begleitenden Ab¬
bildungen verstanden wird, hat etwas von der Kocher sehen der
Ma<;e wen sehen und der B a s s i n i sehen Methode. Sie soll’ sich
in allen Fällen bewährt haben und auch bei eingeklemmten Brüchen
angewendet werden.
. . ^arren Low: Die Behandlung der chirurgischen Tuber¬
kulose. (Lancet, 14. Juli 1906.)
t v j1 die Schaffung kleinerer Hospitäler (Sanatorien)
aut dem Lande oder an der See, die von den jetzt bestehenden Hospi¬
tälern der Städte abhängig sind und von ihnen mit Kranken und
n vers°rgt werden. Jedes dieser Spitäler muss einen guten
Pathologen haben, unter dessen Leitung das Blut der Kranken (die
im allgemeinen eine Freiluftbehandlung durchmachen) regelmässig auf
seinen Opsoningehalt untersucht wird. Findet man einen niedrigen
opsonischen Index, so werden unter steter Kontrolle des Index Ein¬
spritzungen mit T. R. gemacht (V1200 bis 1/6oo mg). Liegt eine akute
rorm der Tuberkulose vor, bei der es durch fortgesetzte Autoinoku¬
lation zu steten Schwankungen des Index kommt, so versuche man
durch absolute Ruhigstellung des erkrankten Köperteiles resp. durch
Bettruhe im Freien den Index zu stabilisieren und die Krankheit in das
chronische Stadium zu überführen. Chronische Fälle heilen deshalb
nicht, weil die Krankheitsherde vielfach durch Bindegewebe etc. völlig
abgeschlossen sind und die opsoninhaltigen Körpersäfte keinen Zufluss
zu ihnen haben können. Man versuche deshalb durch heisse Um¬
schläge, Vesikantien und auch durch vorsichtige Massage die Zirku¬
lation in den erkrankten Teilen (z. B. Gelenken) zu heben; gleich¬
zeitig beseitige man krankhafte Ergüsse (Peritonitis. Abszesse); da
derartige Flüssigkeiten keine Opsonine enthalten. Bei Operationen
verfahre man streng aseptisch, man gehe sehr schonend vor, unter¬
lasse alles Kratzen und beschränke sich einfach auf die Entfernung
des Eiters, der Sequester etc. Man nähe die Wunden völlig zu um
Fisteln zu vermeiden. Verf. will mit dem Tuberkulin und der Massage
sehr gute Erfolge erzielt haben. Genauere Angaben fehlen jedoch.
(Schluss folgt.)
Inauguraldissertationen.
Universität Freiburg. September 1906.
45. W i th Otto: Eine familiäre atypische Form der Dystrophia tnuscu-
lorum progressiva.
46. Uicker Franz: Ein Beitrag zur Kenntnis der chronischen peri¬
pheren Verdünnung und Ektasie der Hornhaut.
47. Seifert Manfred: Neuere Erfahrungen über Antistreptokokken¬
serum, speziell bei Puerperalfieber.
Universität Halle a. S. September 1906.
23. Greiffenberg Martin: Ueber den Einfluss der Abnabelungs¬
zeit.
24. Schönburg Erich: Ueber Frakturen der Meatus acusticus
externus und des Processus mastoideus durch direkte Gewaltein¬
wirkung.
Universität Kiel. August 1906.
32. Rautenberg Hellmuth: Ein Fall von Sarkoma testis retenti.
33. Ne r ge r Bruno: Beiträge zur Kenntnis des Xeroderma pig¬
mentosum.
34. Diekmann Rudolf: Ein Beitrag zur Kasuistik der Bruchsack-
tuberkulose.
35. Simon Georg: Hydronephrose durch Gefässkompression des
Ureters.
36. Franz Arthur: Fortgesetzte Beobachtungen des Blutdrucks bei
Herzkranken.
37. Richter Erich: Ueber das Iothion.
38. Altvater William: Ein Fall von Hemiplegie bei Epilepsie ohne
anatomische Veränderung.
39. Grell Otto: Ein Beitrag zur Kasuistik der paranephritischen
Abszesse.
September 1906.
40. J armulowsky Harry: Zur Statistik der Sectio caesarea mit
besonderer Berücksichtigung der Indikationen der konservativen
Methode und der Porrooperation.
4L Maass Bruno: Ein Fall von einseitiger chronischer Ophthal¬
moplegie bei progressiver Paralyse.
42. Riepe r Alfred: Ueber einen Fall von Tumor cerebri ohne Stau¬
ungspapille (Sitz im Zentrum semiovale, der grossen Ganglien
und der 1. und 2. Stirnwindung).
43. Jess Karl: Ueber Gastritis phlegmonosa bei Magenkrebs.
Universität München. August und September 1906.
67. Weinstein Arthur: Ueber eine von der Hinterwand der Pars
prostatica urethrae ausgehende, in die Blase vorragende Zyste
mit Einmündung eines am renalen Ende atretischen, rechten, über¬
zähligen Ureters in sie.
68. Wildt Gero: Ueber kongenitale Divertikelbildung der kindlichen
Blase mit konsekutiver Hydronephrose.
69. Lehle Anselm: Ein Fall von Raynaudscher Krankheit im Säug¬
lingsalter.
70. Rothschild Julius: Die Beziehungen der Pachyrneningitis
fibrosa chronica externa zu den mit ihr in Zusammenhang gebrach¬
ten Erkrankungen.
71. Koch Ludwig: Behandlung von Augenkrankheiten durch Be¬
strahlung mit der elektrischen Glühlampe.
72. Ketz Arthur: Drei Fälle von Geisteskrankheiten mit einzelnen
Zeichen der Basedowschen Krankheit behandelt mit Antithyreoidin
Moebius.
73. Kiermayr Hans: Zwei Fälle von traumatischer Spätmeningitis.
74. Hingst Georg: Beitrag zur Statistik der Nierentuberkulose bei
Männern.
75. Herwig Paul: Ein Fall von Morbus Addisonii.
76. v. Wilucki Otto: Zwei Fälle von Struma sarcomatosa.
77. Wolff Arthur: Ein seltener Fall von Kieferzyste.
78. Müller Hans: Ueber einen Fall von Meningocele.
79. Hässner Hugo: Knochenmetastasen bei Karzinom.
80. R 0 s e 11 f e I d J.: Ueber die spindelförmige Erweiterung der
Speiseröhre.
81. Siessl Franz: Ueber einen Fall von Rektumstenose bei Adnex¬
eiterung.
82. Weichselgartner Karl: Ueber die Resultate der Damm¬
plastik bei kompletten Dammrissen.
Universität Rostock. September 1906.
31. Wesenberg W.: Beiträge zur Kenntnis der Augenmuskel¬
störungen I. Ein Fall von sog. Divergenzlähmung. II. Ein Fall
von willkürlicher Einwärtsbewegung des linken Auges bei Primär¬
stellung des rechten.
Universität Tübingen. August 1906.
32. H e r z 0 g Eberhard: Ueber Geistesstörung bei Syringomyelie.
September 1906.
33. Gaupp Otto: Ueber sensible und sensorische Halbseitenstörungen
bei zerebralen Herderkrankungen.
Vereins- und Kongressberichte.
78. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte
in Stuttgart, 16. bis 22. September 1906.
IV.
Abteilung für innere Medizin, Pharmakologie, Balneologie und
Hydrotherapie.
Referent : Dr. W e i n b e r g - Stuttgart.
S i t z u n g v o m 19. S e p t e m ber, nachmittags 3 Uhr.
Vorsitzender: Herr Meyer- Wien.
1. Herr Romberg - Iiibingen: Ueber die Diagnose der be¬
ginnenden Schrumpfniere.
Ueber den Beginn der Schrumpfniere kann die anatomische
Untersuchung allein keinen Aufschluss geben, es bleibt fraglich, ob
der Untergang der Glomeruli oder die Bindegewebswucherung das
Primäre ist. Die experimentelle Forschung hat bis jetzt keine
wesentlichen Resultate gefördert, experimentell hat bis jetzt Schrumpf¬
niere nicht erzeugt werden können. S c h 1 a y e r zeigte, dass die
MUENCHFNER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
akute Nephritis bald Qefässe, bald Epithelien zuerst trifft, später
verwischt sich der Unterschied. Glomeruli und interstitielle Gewebe
verhalten sich bei der Schrumpfniere stets in derselben Weise,
während das Verhalten der Epithelien verschieden ist; dieser Um¬
stand weist auf Gefässveränderungen als erste Ursache der Schrumpf¬
niere hin, welche zuerst die Glomeruli zum Schwund und später das
interstitielle Gewebe zur Wucherung bringen. Von diesem Stand¬
punkt aus erscheint die Abgrenzung der arteriosklerotischen Schrumpf¬
niere als besondere Form nicht gerechtfertigt, auch die tiefere Ein¬
ziehung der Nierenoberfläche stellt keinen wesentlichen Unterschied
dar. Im Beginn ist die Trennung der genuinen und arteriosklero¬
tischen Schrumpfniere überhaupt schwierig. Die Arteriosklerose be¬
wirkt lediglich eine starke Disposition zur Schrumpfniere durch ihren
ungünstigen Einfluss auf die Ernährung der Gewebe, sie folgt nicht
selten erst der Schrumpfniere. Wichtig ist die Zusammenfassung
klinischer und anatomischer Befunde, wie sie R o m b e r g an 16
Fällen durchgeführt hat. Es handelt sich hauptsächlich um Unter¬
suchung früher Stadien, solche findet man hauptsächlich bei frühem
Tod an Herzschwäche. Dies tritt häufig ein, weil das Schrumpfnieren¬
herz infolge der Notwendigkeit, grosse Widerstände zu überwinden,
leicht ermüdet. Je früher das Herz versagt, desto mehr wiegen die
kardialen Symptome gegenüber den direkt von der Niere ausgehenden
im Krankheitsbilde vor, während in späteren Stadien die urämischen
Erscheinungen in den Vordergrund treten. Bei frühen Stadien weisen
auf die gleichzeitig bestehende Schrumpfniere Drahtpuls, erhöhter
Blutdruck und Herzhypertrophie, niederes spezifisches Gewicht des
Urins hin. Der Blutdruck braucht aber nicht immer erhöht zu sein,
er kann sich bei Herzschwäche der Norm nähern. In noch früheren
Stadien ist das Krankheitsbild ein rein kardiales, nur der Arterien¬
druck ist abnorm hoch, der zweite Arterienton akzentuiert, der Harn
kann lange eiweiss- und zylinderfrei sein. Die anatomische Unter¬
suchung solcher Fälle zeigt makroskopisch normales Verhalten, höch¬
stens Stauung, mikroskopisch Verödung zahlreicher Glomeruli in un¬
gleicher Verteilung auf die einzelnen Teile der Niere, das Bindegewebe
ist gewuchert und kleinzellig infiltriert, es lässt sich also nur durch
die mikroskopische Untersuchung die Diagnose auf Schrumpfniere
stellen. Die Anschauung, dass die Schrumpfniere durch Störungen
des Kreislaufs entsteht, wird durch Untersuchung verschiedener Sta¬
dien bestätigt. In den Fällen von Romberg lagen weder Splanch-
nikusreizung, noch zentrale Erhöhung des Blutdrucks, noch Darm¬
störungen vor, die Differentialdiagnose war daher gesichert. Dass
es sich bei diesen Fällen nicht um Stauungserscheinungen handelt,
beweisen 6 Fälle, in denen die Patienten nicht an Herzschwäche
starben und die gleichen Erscheinungen aufwiesen. Eine weitere
Zahl von Fällen an fieberhaften Krankheiten gestorbener Personen,
bei denen eine Erhöhung des Blutdrucks nicht bestand, ergab bei
der Autopsie charakteristische beginnende Schrumpfniere. Die starre
Wandbeschaffenheit der Arterien ohne Blutdrucksteigerung hatte in
diesen Fällen auf die richtige Diagnose geführt. Dieselbe fand sich
auch in einem Fall Addison scher Krankheit. Die Blutdruck¬
steigerung kann auch bei ausgebildeten Fällen fehlen. Das wichtigste
Frühsymptom ist also der Drahtpuls und Veränderungen am Herzen,
der Blutdruck braucht nicht gesteigert zu sein. *
Diskussion: Herr V o 1 h a r d - Dortmund: Die Ursache des
erhöhten Blutdrucks ist die Gefässerkrankung, die Schrumpfung ist
das Sekundäre, die Erkrankung der Glomeruli ist das Charakteri¬
stische. Man sollte daher von einer chronischen Glomerulonephritis
und nicht von einer Schrumpfniere sprechen; gerade die Schrumpfung
kann man ja nicht nachweisen.
2. Herr Mankiewicz - Berlin spricht über Borovertin, ein
neues Harnantiseptikum. Es soll das Urotropin und seine Surrogate
ersetzen und deren Nebenwirkungen nicht besitzen. Es ist ein
borsaures Hexamethylentetramin, und zwar ein Triborat. Auf die
Anfrage, ob es sich um ein natürliches Salz handelt, antwortet M.
mit ja, da die Borsäurefärbung der Flamme nicht nachweisbar sei.
3. Herr L u s t i g - Meran: Ueber Arteriosklerose und deren Be¬
ziehungen zur Schrumpfniere.
Die Ursache der Arteriosklerose ist üppige Lebensweise, beson¬
ders wenn sie mit Alkohol-, Kaffee-, Thee- und Tabakgenuss ver¬
bunden ist. Die Arteriosklerose ergreift besonders diejenigen Organe,
an deren physiologische Leistungen besondere Ansprüche gemacht
werden und darum auch die Nieren. Die Kardinalsymptome sind
erhöhter Blutdruck und Harnveränderungen. (Hier wird der Vor¬
trag wegen »abgelaufener Vortragsfrist unterbrochen.)
■4. Herr L e n h a r t z - Hamburg: Ueber akute und chronische
Nierenbeckenentzündung.
Die Harnuntersuchung gestattet nicht immer zwischen Pyelitis
und Zystitis zu entscheiden; es ist daher wünschenswert, neben dem
eingreifenden Mittel der Zystoskopie auch klinische Symptome kennen
zu lernen, welche die Diagnose erleichtern. Bei seinen Unter¬
suchungen an 60 Fällen von Pyelitis hat er sein Augenmerk haupt¬
sächlich auf die 1 emperaturverhältnisse gerichtet. Das vorwiegende
Auftreten der Pyelitis beim Weibe spricht für deren Entstehung
durch Aszension von der Blase her. Von 60 Fällen wiesen 50 im
Urin Reinkulturen von Bacterium coli, 3 Paratyphus- und 2 Milch¬
säurebazillen auf. Die Ansicht der Lehrbücher, dass die Tempera¬
tur keinen charakteristischen Verlauf habe, konnte L. nicht bestäti¬
gen. Heubner hat auf charakteristische Anfälle bei Kindern hin¬
gewiesen, die sich jahrelang hinziehen können, bei den Erwachsenen
sind sie bis jetzt nicht genügend studiert. Unter seinen 60 Fällen
waren 10 mit geringer Temperatursteigerung, 14 hatten kurze, 4 bis
14 tägige einmalige Fieberanfälle oder leichte Remissionen, bei 20 Fäl¬
len traten typische Rückfälle mit hohem Fieber und Kolik auf, ohne
dass eine Verlegung des Nierenbeckens bestand; in einem dieser Fälle
waren beide Nieren erkrankt und die Kolik beiderseitig, was gegen
Verlegung spricht, jeder dieser Anfälle war mit einer Vermehrung
der Bakterien und mit Vermehrung des Harns verbunden. Nach seiner
Auffassung handelt es sich bei diesen Rückfällen also nicht um einen
mechanischen Vorgang, sondern um bakterielle Veränderungen des
Nierenbeckens. Namentlich wenn der Druckschmerz nicht deutlich
ausgesprochen ist, können derartige zyklische Anfälle die Diagnose
sichern. Auch sollte man mehr auf die Trübung des Harns und seinen
Bakteriengehalt achten. Die Entstehung der Rückfälle ist ähnlich wie
bei den Gallensteinkoliken, bei denen auch das Bacterium coli eine
grosse Rolle spielt, ohne dass es sich um Verlegung handeln muss,
sondern nur eine gewisse Schwierigkeit der Passage durch den lan¬
gen Kanal besteht. Die Art der Bakterien scheint bei den Anfällen
belanglos zu sein. Jeder Fall wurde vor seiner Entlassung nochmals
bakteriologisch untersucht, es ergab sich, dass meist wenige Fälle
nicht ausheilen. Bei 2 Fällen trat Pseudorheumatismus auf, einmal
mit steril serösem Erguss in beide Kniegelenke. Klinisch geheilt wur¬
den 40 Fälle, von denen die grössere Anzahl bei späterer Kontrolle
noch Bakteriurie aufwies. Der mechanischen Behandlung zieht Len-
h a r t z die Ausspülung mit Mineralwasser oder Lindenblütenthee vor.
Diskussion: Herr Müller- München : Verstopfung und Er¬
kältung spielen die Hauptrolle bei der Entstehung der Pyelitis, ersteres
scheint gegen die ausschliessliche Entstehung durch Aszension von der
Blase her zu sprechen. Die Therapie muss mit der Hebung der Ver¬
stopfung beginnen. Er fand ebenfalls häufig das Bacterium coli in
verschiedenen Varietäten, die zum Teil meist gegenseitig aggluti-
nierten. Die Bakteriurie ist eine Ausgangsform der Pyelitis. Sie kann
zu Blutdrucksteigerung und zu Schrumpfniere führen. Verwechslung
mit Typhus ist nicht selten und durch die Aehnlichkeit seiner Erreger
mit dem Kolibazillus begründet.
Herr Naunyn - Baden-Baden: Die Pyelitis ist auch bei Männern
nicht selten. Die Beziehung zur Nephritis äussert sich in häufiger
starker Albuminurie bei anscheinend reiner Pyelitis, sie deutet auf
starke Schädigung der Niere hin. Die Atrophie der Niere ist nach
Pyelitis und chronischer Zystitis häufig.
Herr G o 1 d b e r g - Wildungen: Wenn die Fälle katheterisiert
wurden, so kann es sich um Katheterfieber gehandelt haben, das ganz
ähnliche Fieberanfälle macht. Auch er sah auf Bakteriurie Schrumpf¬
niere folgen. Die Schwierigkeit der Diagnose liegt bei den chro¬
nischen Fällen, wo das Hilfsmittel des Fiebers wegfällt. Die ein¬
malige Zystoskopie ist nicht eingreifender als zahlreiche Katheter¬
anwendungen.
Herr Mohr-Berlin: Nicht selten liegen Entwicklunganomalien
in Form von schiefer Insertion des Ureters vor, der sich bei ver¬
schiedenem Grad abknicken kann.
Herr L e n h a r t z - Hamburg (Schlusswort): Der Gehalt an
Albumin übertraf mehrfach den Gehalt an Eiter, aber auch solche Fälle
zeigten einen Rückgang auf Spuren. Der Fall mit Kniegelenkerguss
führte zu starker chronischer Veränderung der Niere mit Andeutung
von Schrumpfniere. Wegen der ätiologischen Bedeutung der Ver¬
stopfung behandelt auch er dieselbe mit salinischen Mitteln, sieht aber
in der Verstopfung keinen Beweis gegen die Aszension und für die
Ueberwanderung vom Darm her. Die Rolle der Entwicklung und
die Bakteriurie als Ausgangsform erkennt er ebenfalls an. Seine Fälle
wurden fast nie katheterisiert. Auch war Bakteriämie selten, die bei
Katheterfieber die Regel darstellt. Die Blasenspülung ist meist zweck¬
los, reichliches Trinken genügt. Die Rolle der Anomalien der Lage ist
ihm bekannt.
5. Herr C 1 e m m - Darmstadt: Ueber die Behandlung von Magen-
und Darmerkrankungen mittels Kohlensäuremassage.
Die in den Darm oder Magen vorgenommene Einblasung von
Kohlensäure vermittels eines Apparates, der eine bestimmte und all¬
mählich gesteigerte Dosierung zulässt, wirkt erweiternd auf die Blut¬
gefässe, anregend auf die Nervenendigungen und als Muskelreiz.
Die Einblasung verursacht behagliches Wärmegefühl und hebt den
Appetit. In Verbindung mit Massage ist die Kohlensäureeinblasung
bei den verschiedensten Magen- und Darmkrankheiten, selbst bei
Appendizitis und Typhus von Nutzen, bei Atonie hebt sie das Gefühl
des Schlotterns der Därme auf. In Verbindung mit dem Heftpflaster¬
gürtel „Enterophor“ ist sie auch als Mittel gegen Seekrankheit zu
empfehlen.
6. Herr S i c k - Tübingen: Experimentelles zur Prüfung der
Magenfunktionen.
Die Fortbewegung des Speisebreis konnte beim Tiere experi¬
mentell längst genau studiert werden; die Röntgendurchleuchtung hat
diese Untersuchungen auch beim Menschen gefördert. Grützner
hat weiterhin durch verschiedene Färbung der verschiedenen Mahl¬
zeiten nachgewiesen, dass sich der Speisebrei der neuen mit dem¬
jenigen der alten Mahlzeiten noch im Magen mischen kann. Je nach
der Lage der Sonde muss also ein verschiedener Speisebrei ge¬
wonnen werden, entsprechend werden die Befunde der Azidität und
fermentativen Kraft verschieden ausfallen. Diese Fehlerquellen ver-
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2077
anlassien Sick zur Untersuchung der sekretorischen Verhältnisse
beim Gesunden und Kranken mit einer Aspirationsmanometersonde,
welche in einer Sitzung den Druck abzulesen und Darminhalt zu
aspirieren gestattet. Im Pylorus und Fundus waren von vornherein
verschiedene Ergebnisse zu erwarten. Die Sonde gelangt in den
Pylorus durch rechte Seitenlage und Verwendung einer sehr langen
weichen Sonde. Kontrolliert wird die Lage der Sonde ferner durch
Messung des Diucks, der im Pylorus und Fundus verschieden ist.
Bei einfacher Superazidität herrschen ebenfalls Druckgegensätze
zwischen Pylorus und bundus. Bei Atonie des Magens sind die
T i uckyerhultmsse weniger verschieden. Die fraktionierte Aushebe-
iiing des Magensattes ergab beim Gesunden selbst bei dickflüssiger
Kost eine auffallende Schichtung und Sedimentierung des Magen¬
inhaltes. Dei Pylorus ist im Anfang völlig frei von Sekret, später
ebenso der Fundus. Die Magensekretion beginnt im Fundus und hat
stets hohe Werte nn Pylorus selbst gegen Ende der Verdauung er¬
geben. Bei Superazidität und Supersekretion steigt die Azidität im
Pylorus noch, während sie im Fundus bereits nachgelassen hat. Das
pathologische Moment dieser Störungen ist darin zu suchen, dass der
Speisebrei zu sauer in den Pylorus und in den Darm gelangt. Der
Satz, dass die Magendrüsen überall gleichzeitig stark sezernieren
lasst die bisherigen Anschauungen über Superazidität und Super¬
sekretion hinfällig erscheinen. Beim Krebs findet man keinen durch¬
gehenden Gegensatz zwischen Pylorus und Fundus, ebenso bei
Atonie.
^err ^ e * s s - Karlsbad : Die Arbeit des gesunden und kranken
Dickdarms.
Die Arbeit des Dickdarms geht streckenweise vor sich, die
Grösse der Arbeitsstrecke ist um so geringer, je kräftiger der Muskel
arbeitet und umgekehrt. Die Arbeitsstrecken des Dickdarms sind bei
denselben Individuen gleich gross, was auf eine Bestimmung ihrer
Grösse duich das Nervensystem hinweist. Die Innervation ist doppel¬
seitig.
Sitzung vom 20. Dezember, morgens 8 Uhr.
Vorsitzender: Herr Moritz- Giessen.
1. Herr Mager-Briinn: Ueber das Fazialisphänomen bei
Enteroptose.
Das zuerst bei Tetanie beobachtete Fazialisphänomen, Zuckung
des ganzen Fazialisgebietes oder von Teilen desselben bei Beklopfen
einer Stelle, wurde seither auch bei anderen Krankheiten gefunden.
Pedner hat es bei 40 Fällen von Enteroptose beobachtet, und zwar in
allen unterschiedenen Graden und meist doppelseitig. Bei 24 Fällen
von Enteroptose hat er den Stuhl nach der von Schmidt an¬
gegebenen Methode untersucht, dabei fand er 22 mal vermehrte Gas¬
bildung, die in 13 Fällen bis über 1i 3 des Röhrchens betrug, neben
sonstigen Störungen. Bei drei Tetanusfällen fand er ebenfalls gestörte
Darmfunktion; er führt das Fazialisphänomen ebenso wie die Tetanie
auf eine durch Darmstörungen hervorgerufene Autointoxikation zu¬
rück. Bei reiner Hysterie besteht kein Fazialisphänomen, wenn der
Stuhl in Ordnung ist. Durch therapeutische Beeinflussung des Darms
kann man das Fazialisphänomen zum Verschwinden bringen. Die
Darmstörung ist bei Enteroptose das Primäre, die nervösen Erschei¬
nungen und das Fazialissymptom das Sekundäre. Die Frage, warum
bei denselben Darmstörungen einmal Fazialisphänomen, ein anderes
Mal Tetanie eintritt, beantwortet Mager damit, dass zur Tetanie
ausserdem noch eine Insuffizienz der Epithelkörperchen der Thy¬
reoidea notwendig ist.
Diskussion: Herr Moritz- Giessen ist nicht überzeugt,
dass ein Ergebnis von über ein Drittel Gasentwicklung nach der
Schmidtschen Methode immer auf Störungen der Darmfunktion
hinweist, er hat solche Befunde auch bei gesundem Darm erhoben.
Herr Mager (Schlusswort): Die Stühle seiner Patienten zeigten
nur 13 mal saure Gärung. Er hält die Methode von Schmidt für
zuverlässig.
2. Herr L a n g e - Leipzig: Therapeutische Beeinflussung der
Ischias und anderer Neuralgien.
L. spritzt bei Ischias 100 — 150 ccm einer Lösung von 1 proz.
Lukain und 8 prom. Kochsalz an die auf Druck schmerzhafte Stelle
der Nerven ein. In manchen Fällen hat eine einzige Einspritzung
Besserung herbeigeführt. Die Folgeerscheinungen der Ischias,
Atrophie des Beins, Muskelkontrakturen und Skoliose, schwinden nur
allmählich. Der Erfolg war aber auch bei chronischen Fällen auf¬
fallend. Im ganzen wurden 86 Proz. der 36 Fälle geheilt. Gering
ist der Erfolg bei Hysterischen und Neurasthenikern, gut, wo Er¬
kältung die alleinige Ursache der Ischias bildet. In einem Falle von
Neuralgie des Nervus cruralis hat er diesen freigelegt und direkt
injiziert, worauf die Schmerzen schwanden. Ein Zeichen dafür,
dass der Nerv direkt getroffen ist, ist der blitzartige Schmerz bei
der Einspritzung und das Herausspritzen eines Teiles der Injektions¬
flüssigkeit nach Herausnahme der Nadel infolge des hohen Drucks
der straffen Nervenscheide. Kochsalzlösung ist nicht gleich wirksam.
Die Nebenwirkungen sind unbedeutend. Die Heilung trat oft in
3 Tagen ein.
Diskussion: Herr L e 0 - Bonn weist auf den guten Erfolg
der unblutigen Dehnung des Nervus ischiadicus hin, diese könnte mit I
Eukaineinspritzungen kombiniert werden. Er hat mit der Dehnung
ebenfalls bei chronischen Fällen g;ute Resultate gehabt.
Herr Moritz- Giessen bestätigt die Erfolge der Injektionen und
selbst nach der Anwendug der Methode auf kleinere Nerven.
Herr Lange (Schlusswort): Bei kleineren Nerven spritzt er
etwa 50 ccm in die Nähe des Nerven ein.
3. Herr Rumpf-Bonn: Zur Therapie der Herzkrankheiten.
R. hat oszillierende Ströme, welche zwischen Tesla- und In¬
duktionsströmen stehen, die durch eine Glasplatte unterbrochen sind,
und bei denen der eine Pol bei schwacher Anwendung mit der Erde'
verbunden werden kann, zur Behandlung von Herzkranken, leichten
Insuffizienzen des Herzens und Emphysem verwendet und dabei eine
Verkleinerung namentlich des rechten Herzens erzielt. Die Wirkung
ist nicht durch einen Reiz der Atmungsorgane bedingt, sondern es
scheint durch Erweiterung der Lungengefässe eine Entlastung des
rechten Herzens einzutreten; ausserdem scheint eine direkte Reizung
der Herzmuskulatur einzutreten. Er demonstriert an einer Anzahl von
Röntgenbildern die Wirkung der Ströme.
4. Herr R i c h a r t z - Homburg: Ueber den Wert des Schleim¬
befundes für die Bestimmung der Lokalisation der Enteritis.
Die herrschende Lehre, dass eine feine Verteilung des Schleims
auf hohen Sitz der Enteritis hinweist, ist unhaltbar. Sie stützt sich
teilweise auf theroretische Ueberlegungen, teils auf Autopsien;
Schmidt hat dieses Dogma zuerst bezweifelt. R. hatte Gelegenheit’
mehrere Fälle von S p r e w zu beobachten und fand Schleim nur bei
den mit Diarrhöe verbundenen Fällen. Diese Beobachtung legt den
Gedanken nahe, dass in den nicht mit Diarrhöe verbundenen Fällen
der Schleim resorbiert wurde. Bei der Schleimverdauung ist die
Konsistenz des Stuhles, die Verteilung des Schleims, die Länge des
Weges und des Verweilens im Darm und die Art der Nahrung von
Bedeutung. Li machte Versuche mit künstlichen Schleimgemischen,
mit natürlichem eigenen Schleim der Versuchsindividuen und fremdem
Schleim. Schleimlösende Wirkung fand er auch bei schleimfreien
Personen. Bei der Schleimhaut spielen sowohl Fermente wie Bazillen,
daruntet auch Kolibazillen u. a. eine Rolle. Thymollösung verlang¬
samt oder sistiert die Schleimlösung. Daraus ergibt sich, dass je
höher die Ursprungsstelle des Schleimes sitzt, um so mehr Aussicht
auf feine Verteilung desselben vorhanden ist, damit aber auch um so
mehr Aussicht auf Resorption des Schleimes besteht. Je tiefer im
Darm die Schleimbildung sitzt, um so geringer -ist die Aussicht auf
Resorption, da man die ursprüngliche Konsistenz des Schleims nicht
kennt, so ist der Sitz nicht zu diagnostizieren, lediglich Proktitis kann
inan bi_i vorhandenem Schleim ausschliessen. Bei hochsitzendem
Katarrh braucht kein Schleim aufzutreten; eine kurze Zeit des Ver¬
weilens im Darm lässt den Schleim nicht zur Lösung gelangen, wird
ihn daher im Stuhl erscheinen lassen. Bei normaler Darmfunktion
findet man Bilirubin nicht jenseits der rechten Flexur, bei patho¬
logischen Prozessen ist dies wohl möglich. Die Farbe des Stuhles
spricht dann für hohen Sitz der Schleimbildung, wenn auf Hy-dro-
bilirubinstuhl direkt Bilirubinstuhl folgt.
Im Rektum sind die Bedingungen bei Vermischung des Schleims
nicht gegeben. Der Stuhl nimmt das wenige Rektumsekret auf, es
bleibt an seiner Oberfläche und wird grossenteils verdaut, ein Teil
bleibt unverdaut, und deshalb hat jeder Stuhl etwas Schleim Bei
sehr hartem Stuhl wird mehr Sekret gebildet; daher ist ganz harter
Stuhl stets von unregelmässig verteiltem oder seifenförmigem Schleim
begleitet und mit glänzender Lackfarbe überzogen. Bei Residual-
skybalis findet man äusserlich keinen Schleim. Die Bildung von
Rektalschleim ist ein Vorbedingung der Defäkation, ihr Mangel eine
Ursache der Verstopfung. Feiner Schleim im Innern von Skybalis
kann vom oberen Darmteil herrühren, braucht aber nicht pathologisch
zu sein, sondern kann in einen bereits eingedickten Kot hineingeraten
sein.
Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Referent: Dr. R. G 1 i t s c h - Stuttgart.
Sitzung vom 19. September, vormittags 8 Uhr.
Vorsitzender: Herr Veit.
1. Demonstrationen.
Herr L. S e i t z - München: Ueber Hypersekretion der Schweiss¬
und Talgdrüsen in der Achselhöhle während des Wochenbetts, echte
Milchsekretion vortäuschend.
S. demonstriert Abbildungen von vier gänseeigrossen Schwel¬
lungen der Achselhöhle, die in der Schwangerschaft auftraten und auf
Druck ein milchähnliches, auch mikroskopisch das Ansehen fertiger
Milch bietendes Sekret entleerten. Es handelt sich um eine Emulsion
des Talgdrüsensekrets in dem reichlichen Schweiss. S. weist auf
die genetische und morphologische Aehnlichkeit der Milch- und Talg¬
drüsen hin.
Diskussion: Herr W a I c h e r glaubt, dass es sich um ak¬
zessorische Milchdrüsen gehandelt habe, die er in 5 Proz. aller Fälle
konstatiert hat.
Heri S e i t z erwidert, dass ihm nur ein einziger Fall von akzes¬
sorischer Mamma in der Achsel bekannt sei und dass hier die Milch
aus mehi ereil kleinen Oeffnungen, nicht aus einer einzigen sich ent¬
leerte.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
>078
Herr H e r z f e 1 d - Wien hat ähnliche Anschwellungen bemerkt,
beidemale kam es zu einer Vereiterung. Die Inzision ergab, dass es
sich nicht um akzessorische Milchdrüsen handelte.
Herr P o I a n o - Wiirzburg demonstriert eine Missbildung,
deren Abnormitäten (multiple Spaltbildungen, Verwachsung der aus
diesen Organen prolabierten Organe mit den Eihäuten, Verkümmerung
der Oberextremitäten, Verkrümmung der W irbelsäule) sich lediglich
auf die obere Fruchthälfte beschränken. Dies spricht für mechanische,
exogene Entstehungsursachen, vielleicht Haltungsanomalien der
Frucht und Schädigung der normalen sekretorischen Fähigkeit des
Amnionepithels.
Diskussion: Herr Veit- Halle fragt, ob hier nicht auch die
Deutung durch Persistenz ursprünglicher Verbindungen zwischen
Chorion und Frucht möglich sei.
Herr W. F r e u n d - Strassburg: 1. Drei Fälle von Komplikation
von Myom und Schwangerschaft.
Zweimal wurde die Diagnose richtig gestellt, im 1. Fall aus der
sehr charakteristischen Auflockerung im Kollum und allgemeinen In¬
toxikationserscheinungen infolge Zersetzung der Myome (durch die
Operation bestätigt); im 2. Fall war der Tumor intraligamentär, von
dem deutlich vergrösserten aufgelockerten Uterus gut abgrenzbar.
Der 3. Fall mit sehr hartem Fibromyom wurde erst bei der Operation
(Amputatio uteri) diagnostiziert.
2. Uterus unicollis bicornis bei 20 jährigem Mädchen. Daneben
grosses Carcinoma coli transversi, Ovarialtumor vortäuschend. Re¬
sektion, primäre Heilung, später Exitus an allgemeiner Karzinose.
Herr Q u t b r o d - Heilbronn demonstriert 1. das von ihm schon
beschriebene Präparat von Totalexstirpation des kreissenden Uterus.
2. Mazerierten Fötus einer verjauchten Extrauteringravidität im
sechsten Monat.
Exspektative Behandlung wegen Verweigerung der Operation.
Im siebenten Monat Abgang der Dezidua. Vom neunten Monat an
normale Menses. Ein Jahr später spontane Geburt, dann plötzlich
rapider Verfall und hohes Fieber infolge Bacterium coli-Infektion des
extrauterinen Fruchthalters. Laparotomie, Exitus an Sepsis.
Herr E. Kehrer - Heidelberg: 1. Acardiacus completus bei hoch¬
gradigem Hydramnion.
Geburt im achten Monat, vorher Abgang einer normal gebildeten
toten Frucht. 1
2. Kombination von Mediastinal- und doppelseitigem Ovarial¬
tumor, deren ersterer wahrscheinlich der primäre war, trotzdem
zuerst die beiden Ovarialgeschwülste zur Operation gelangten. Hi¬
stologisch vielleicht Sarkom.
3. Adenokarzinom des Corpus uteri, das sich in einem sub¬
mukösen Myomknoten entwickelt hatte und denselben fast völlig
substituierte.
4. Heissluftapparat, in dem die Glühlampen durch Metallplatten
ersetzt sind, um eine bessere Graduierung zu ermöglichen. Der
Apparat ist durch Dröll-Heidelberg zu beziehen.
Herr Hofmeister - Würzburg : Missbildung, die wegen unge¬
wöhnlicher Auftreibung des Abdomens die grössten Geburtsschwierig¬
keiten machte. Durch Flüssigkeit kolossal ausgedehnte doppelte
Scheide, sowie doppelter und getrennter Uterus. Blase und Urethra
vorhanden, dagegen fehlt Anal- und Vaginalöffnung gänzlich. Ein¬
mündung des Rektums mit feinerem Gang im Septum beider Schei¬
den, die mit feiner Oeffnung kommunizierten. Beide Nieren und
* Ureteren dilatiert, letztere obliteriert an beiden Seiten der ausge¬
dehnten Scheide. Entstehung: die M ü 1 1 e r sehen Gänge haben den
Sinus urogenitalis nicht erreicht, frühzeitige Flüssigkeitsansammlung
in denselben infolge Kompression von Rektum und Urethra, Hydro-
nephrose, Aszites und Hydramnion.
Herr Schottländer - Heidelberg : Fall von Uterus bicornis
(subseptus) unicollis mit Vagina subsepta und Zystenbildung, mit
Drüsenwucherung im Gebiet des linken zervikalen und vaginalen
Gärtner- Gang-Abschnittes und gleichzeitig vorhandenen doppel¬
seitigen Tuboovarialzysten. Sch. will seinen Fall mit Hilfe der
Frankl sehen Erklärung deuten (Klin. Beitr., N. F., No. 363), ebenso
kann die K e r m a u n e r sehe Hypothese (Archiv f. Gynäkol., No. 78)
hier vielleicht Klarheit schaffen. (Wird ausführlich veröffentlicht.)
Herr G a u s s - Freiburg i. B. demonstriert seinen neuen Becken¬
messer zur direkten Messung der Conjugata obstetrica.
2. Vorträge.
Herr G a u s s - Freiburg i. B.: Typische Veränderungen der Blase,
Harnleiter und Nierenbecken in der Schwangerschaft an der Hand von
zystoskopischen und röntgenographischen Bildern.
Die Schwangerschaft ruft in der Blase drei Kardinalverände¬
rungen hervor: 1. Ausgedehnte aktive und passive Hyperämie der
Schleimhaut; 2. Hypertrophie gewisser Gebilde, besonders der dem
Ureter zugehörigen Teile der Blasenwand; die Veränderungen sind
hier sehr mannigfaltige; 3. eigenartige Abweichung der Blase von
ihrer sonstigen Form mit charakteristischer Schattenzeichnung, Ver¬
kleinerung des medianen Sagittaldurchmessers der Blase, so dass
gegen Ende der Schwangerschaft ein oder zwei hohe und schmale,
schwer zu besichtigende Spalträume entstehen. — Retroflexio uteri
gravidi, Deszensus und Prolapsus vaginae rufen ebenfalls charak¬
teristische Bilder hervor. Nach der Geburt zeigen sich Schwellungs¬
zustände des Schliessmuskels und Trigonums, typische Schleimhaut¬
blutungen, eventuell Drucknekrosen und Fisteln, die zu einer Zystitis
disponieren können. Röntgenographisch betrachtet, zeigt der Blasen-
schatten in den ersten Schwangerschaftsmonaten die Form einer mehr
oder weniger tief eingekerbten Bohne, später zieht er sich zu einer
Mondsichel aus. Im Wochenbette ähnelt er anfangs der mittleren
Schwangerschaftszeit, kehrt aber nach sechs Monaten zur normalen
Form zurück. Lageanomalien des Uterus, Hebotomie geben ebenfalls
charakteristische Bilder. Knickungen, Schleifenbildungen und Dila¬
tation des Ureters, Veränderungen des Nierenbeckens und der Nieren¬
kelche sind ebenfalls deutliche Schwangerschaftsveränderungen.
Herr Frank-Köln: Ist der Kaiserschnitt verbesserungsfähig?
Die Infektionsgefahr macht die Liebe zum Kaiserschnitt zu einer
platonischen. Der Nachteil des bisherigen Verfahrens besteht darin,
dass die Uterushöhle bei geöffneter Bauchhöhle geöffnet und die
Uteruswunde in die Peritonealhöhle zurückversenkt wird. F. hat in
10 Fällen, die vorher mehrfach untersucht und wahrscheinlich infiziert
waren, den Kaiserschnitt nach seiner Methode gemacht, die darin
besteht, dass die Bauchhöhle mittels suprasymphysären Querschnitts
geöffnet und sodann die Umschlagsfalte mit dem Peritoneum parietale
vereinigt wird. Die Resultate waren durchaus gut.
Diskussion: Herr H e r z f e 1 d - Wien : Statt einer Infektion
des Peritoneums hat die Frank sehe Methode bei infizierten Fällen
eine Beckenphlegmone zur Folge, da die Eröffnung der Uterushöhle
tief zu erfolgen hat.
Herr K r ö n i g - Freiburg i. B. hält auf Grund von Leichenver¬
suchen die extraperitoneale Operation für sehr praktisch. Die In¬
fektion des Beckenbindegewebes ist nicht so ins Gewicht fallend. K.
wird bei infizierten Fällen nach Frank operieren.
Herr E v e r k e - Bochum hält die Methode nicht für eine Ver¬
besserung bezüglich des primären Resultats. Viele Kinder werden an
der schwierigen Entbindung zugrunde gehen. Beim klassischen
Kaiserschnitt kommt es hauptsächlich auf die gute Naht der Uterus¬
wunde und schnelles Operieren an. E. hat einen Fall mit Fieber und
hohem Puls operiert, an dem sich schon Rötung des Peritoneums und
Verklebung der Darmschlingen zeigte. Konservatives Verfahren,
glatte Heilung. Bei der folgenden Sektio keine Verwachsungen, glatte
Narbe.
Herr G u t b r o d - Heilbronn hält die Vernähung des Peritoneums
nur für einen Aufenthalt der Operation. Mit Rücksicht auf spätere Ent¬
bindungen ist die alte Methode besser.
Herr Peter Müller- Bern fürchtet Kollisionen mit der Harn¬
blase. Zur Vermeidung der Infektionsgefahr scheint ihm die alte
Porrooperation mit extraperitonealer Stielversorgung besser zu sein
als das Frank sehe Verfahren.
Herr Veit- Halle a. S. erinnert an das Schicksal der Gastro-
elytrotomie. In dem E v e r k e sehen Falle kann es sich um eine
Saprophyteninfektion gehandelt haben.
Herr Frank (Schlusswort) hält an seiner Methode fest. Die
Entbindung der Kinder macht keine Schwierigkeiten, da die Um¬
schlagsfalte beim kreissenden Uterus über dem Beckeneingang liegt.
Deshalb macht auch die Blase keine Schwierigkeit. Blasenbeschwer¬
den treten keine auf, ebenso auch keine Hernien.
Herr P o I a n o - Wiirzburg: Die Biasenfüllung mit Sauerstoff.
In Fällen von Zystitis mit starken Blutungen oder eitriger Se¬
kretion hat sich die Sauerstoffüllung ausgezeichnet bewährt. Sie
gibt klare, leicht übersehbare Bilder, so dass Fälle schwerster Zystitis,
Tuberkulose, Zottenkrebs sogar gezeichnet werden konnten. (Demon¬
stration.) Auffallend ist auch die schmerzlindernde Wirkung des
Sauerstoffs, die den Erfahrungen der Chirurgen entspricht. Auch die
Ueberlegenheit der Röntgenaufnahme bei Sauerstoffiillung der Blase
liess sich an Leichenversuchen nachweisen. P. verwendete anfangs
den Dräger-Wollenberg sehen Apparat, der aber kompliziert
und teuer ist, und bedient sich jetzt einer einfachen 100 g Flasche, die
mit 3 proz. Wasserstoffsuperoxydlösung gefüllt, bei Zusatz einer
Kalium hypermanganicumpastille lebhaft Sauerstoff entwickelt. Durch
Drehung des Pfropfenkopfes lässt sich diese Entwicklung regulieren.
Diskussion: Herr G a u s s - Freiburg i. B. hält die alte Luft¬
einblasung für einfacher, billiger und ungefährlicher.
Herr P o 1 a n o hält Luftembolien für möglich.
Herr W. Freund - Strassburg: Zur Entstehung von Embryomen.
Die Genese der ovulogenen Tumoren ist noch nicht gelöst. Sicher
ist nur ein reifes Ei entwicklungsfähig, es fragt sich aber, ob ein
bestimmter Zustand des reifen Eies Vorbedingung zur Entwicklung
von Embryomen ist, ob letztere an eine gewisse Lebensepoche ge¬
bunden und welches der Reiz ist, der ein reifes Ei treffen muss. Nach
Bonnet entstehen die Embryome aus dem Teilstück eines befruch¬
teten, sich furchenden Eies und sind demnach angeboren. Nach F.
Hesse sich denken, dass der Vorgang der Weiterentwicklung einer
dislozierten oder in der Teilung zurückgebliebenen Blastomere auch
im späteren Leben Vorkommen könne, d. h. dass es auch erworbene
Embryome gibt. F. demonstriert die Präparate von 5 Fällen, bei
denen sich stets Luteingewebe in den Tumoren nachweisen liess, bei
einem waren Scheide und Uterus aufgelockert, letztere vergrössert,
einmal auch Kolostrum- und Milchbildung vorhanden, so dass an eine
Schwangerschaft gedacht werden musste, obgleich sich der Uterus
als leer erwies. In einem Fall handelte es sich um perforierende
Scheidenruptur intra partum, hervorgerufen durch ein eingekeiltes
Lmbryom. Auch in ihm Luteingewebe, im anderen Ovarium kein
Corpus luteum. Man kann annnehmen, dass nach einem reifen be-
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2079
iruchteten Ei ein zweites befruchtet worden ist, das aus irgend
einer Veranlassung nur ein Teilstück, eine Blastomere hat zur Ent¬
wicklung kommen lassen. Die von Schottländer beschriebene
Dilatation der Lymphbahnen Hesse sich dann als Reaktion des Ovarial-
restes auf die Implantation der Blastomere ansehen, ähnlich gewissen
Scnwangerschaftsvoi gängen am Uterus. Die Befruchtung eines (viel¬
leicht geschädigten) Eies in dem atrophischen Stromarest einer
Liei stockzyste könnte also nach F. zur isolierten Entwicklung einer
Blastomere und so zur Embryombildung führen.
Diskussion: Herr P fa n n e n s t i e 1 - Giessen: Die Theorie
B o n n e t s ist gewiss sehr geistreich, aber nicht beweisend. Es ist
durch ihn nicht bewiesen, dass nicht auch andere Reize als die Spermie
imstande wären ,die Eizellen zur Teilung zu veranlassen und wenig¬
stens Ansätze embiyonaler Entwicklung zu produzieren. Pf. nimmt
nach wie vor an, dass das Follikelei imstande ist, ohne Spermien¬
beteiligung Geschwülste hervorzubringen.
S c h ot 1 1 ä n d e r - Heidelberg: Nach der F i s c h e 1 sehen
Ui geschlechtszellentheorie muss die Frage nach der Entstehung der
Dermoide und Teratome noch immer in suspenso bleiben. Lym-
phangiektasien im Eierstock sind für Dermoide nicht so charakteri¬
stisch wie die Wucherung des Endothels neben der Erweiterung der
Lymphgefässe.
Herr Halb an -Wien: Zur Anatomie und Aetiologie der Ge-
nitalprolapse.
Die Genitalprolapse sind nichts als eine Hernie im Hiatus geni-
t.ilis, unter dem wir die im Levator ani, zum Teil vom Trans-
versus profundus bedeckte Lücke zu verstehen haben. Die Band¬
apparate des Uterus spielen bezüglich dessen Lage nicht diejenige
Rolle, die man ihnen bisher zugewiesen hat. Wichtig für die Lage
sind die Wirkung der Bauchpresse und die Funktion des Becken¬
bodens bezw. der hier befindlichen Spalte und ihrer Schliessorgane.
Der Druck der Bauchpiesse wirkt auf alle Eingeweide, also auch den
Uterus, senkrecht ein, somit wird dieser unter normalen Verhältnissen
in der Richtung gegen die Symphyse gepresst. Ist der Hiatus genitalis
nun infolge Geburtstraumas oder Lähmungen nicht mehr schlussfähig
so stellt er eine Bruchpforte dar, durch welche der Uterus oder ein
I eil von ihm in dem Augenblick hindurchgepresst wird, wo er in
dessen Bereich gelangt. Elongationen werden dadurch hervorgerufen,
dass nur die Zervix in der Bruchpforte liegt, während das Korpus
durch den Bauchhöhlendruck an die Beckenwand angepresst wird
Tritt der Uterus in toto in die Bruchpforte, so entstehen Totalprolapse!
wobei es gleichgültig ist, ob eine Retro- oder Anteversio vorlag. Die
Schröder sehe Lehre vom Zug der vorderen und hinteren Vaginal¬
wand ist demnach hinfällig, da auch Zystozelen ihre Ursache lediglich
dem Bauchhöhlendruck verdanken. Im Fall von abnorm tiefem Dou-
glas entstehen Prolapse der hinteren Vaginalwand mit hypertrophi¬
scher Elongation des Uterus bei Anteversionsstellung dadurch, dass
das Korpus in verstärkter Anteversio gegen die Symphyse gepresst
wird, während die Zervix innerhalb des Hiatus liegt. H. demonstriert
diese Verhältnisse an einem sehr sinnreich ausgedachten Becken¬
phantom.
Diskussion: Herr Ziegenspeck - München bemerkt,
dass die Ausführungen H.s sich mit seinen eigenen Auffassungen
decken. Was H. heute Bruchpforte nenne, habe er in Würzburg schon
die Stelle des Durchtritts der Vagina durch den Levator oder auch die
Grenze der Druckdifferenz zwischen Bauchhöhlen- und Atmosphären¬
druck genannt.
Herr K r ö n i g - Freiburg i. B.: Weitere Erfahrungen über die
Kombination des Skopolamin-Morphiuni-Dämmerschlafs mit der
Rückenmarksanästhesie bei Laparotomien.
Wie bei der Inhalationsnarkose, so hat sich bei der Injektions¬
narkose das Bestreben geltend gemacht, Kombinationen von ver¬
schiedenen Narkotizis anzuwenden. Am meisten bewährt haben sich
dabei Skopolamin und Morphium. Kümmell hat die Verbindung
des Skopolamin-Morphiums mit der Chloroform-Aethernarkose warm
befürwortet, besonders zur Herabsetzung der Häufigkeit der post¬
operativen Bronchitiden. K. kann dem nur beipflichten; ebenso haben
r r a n z, v. Rosthorn und R o 1 1 e r, was geringe Reizung der
Atmungsorgane und ruhige Narkose betrifft, sehr gute Erfahrungen ge¬
macht. Wehn nun K. die Rückenmarksanästhesie mit der Skopolamin-
Morphiuminjektion bei gynäkologischen Operationen verbunden hat,
so hat ihn hierzu hauptsächlich die Rücksicht auf das psychische Ver¬
halten der Operierten geführt. Hinsichtlich des letzteren sind aber
die einzelnen Teile des Deutschen Reiches sehr verschieden; der Süd¬
deutsche ist im allgemeinen sensibler, nervöser als der Norddeutsche.
Die Technik wird folgendermassen gehandhabt: 2 Stunden ante
Operationen! 0,0003 Skopolamin plus 0,01 Morphium. Nach einer
Stunde eventuell Wiederholung der gleichen Dosis. Ausschaltung stö¬
render Gehörs- und Gesichtsempfindungen durch Lagerung in ge¬
schütztem Zimmer, schwarze Brillen, Antiphone und Gehörmuscheln
über die Ohren. Nach einer weiteren Stunde, wenn nötig, noch¬
mals 0,00015 Skopolamin allein, bei dekrepiden Frauen gewöhnlich
als zweite Dosis 0,00015 Skopolamin ohne Morphium. Hierauf
Bi ersehe Rückenmarksanästhesie in folgender Weise: Die Punk¬
tion und Injektion wird unter Kontrolle des Arztes mit dem
G. Kroenig sehen Apparat ausgeführt (zu haben bei Fischer-
rreiburg). K. vermeidet die sofortige Beckenhochlagerung zur Ver¬
meidung von Atemstörungen, nimmt aber dafür grössere Dosen als
Bier, Stovain - B i 1 1 o n bis zu 0,1 — 0,12. Tierversuche von G a u s s
und Spielmeyer lassen die Beckenhochlagerung als nicht un¬
gefährlich erscheinen, so dass K. davon wieder Abstand genommen
hat. — Vorteile des K. sehen Verfahrens: Die kombinierte Narkose ist
die humanste aller Narkosen, die Gefahr der postoperativen Bron¬
chitis ist verringert und dadurch die Lebenssicherheit der Laparo¬
tomien erhöht. Ferner werden die Bauchdecken besser entspannt,
abgekürzte Rekonvaleszenz, so dass K. seine Laparotomierten bereits
am 1. bis 3. Tage post Operationen! aufstehen lässt. Erbrechen tritt
nur in 12 Proz. aller Fälle ein, und dann nur vorübergehend. Nach¬
teile: Der Mangel der Möglichkeit einer langsamen Einverleibung des
Mittels, besonders bei der Lumbalinjektion. K. hat unter 300 Fällen
2 Narkosentodesfälle erlebt, die wohl auf zu hohe Dosierung zurück¬
zuführen sind. Ein weiterer Nachteil sind endlich die Kopfschmerzen,
die von verschiedener Intensität in 31,4 Proz. der Fälle eintreten. Ein
Mittel zu ihrer Verhütung haben wir noch nicht. Weitere Kompli¬
kationen sind Abduzenslähmungen (3 mal), von Koenig ist ein Fall
von dauernder Parese der unteren Extremitäten beschrieben worden.
Diskussion: Herr Franz-Jena gibt mehr Skopolamin und
weniger Morphium, bis zu 0,0015 Skopolamin - Böhringer. Dieses
bleibt nach Kionka konstant. Bei 0,15 Novokain bleibt der Puls
bessei. Pneumonien hat F. ebenfalls nicht erlebt. Kopfschmerzen
sieht er wenig.
Herr N e u - Heidelberg : Die Heidelberger Klinik geht prinzipiell
individualisierend hinsichtlich der Narkose vor. Die Novokainlösung
ist verschieden, je nachdem, ob man Tabletten oder fertige Ampullen
nimmt. Frisch bereitete Lösungen sind besser. Auch mit Stovain wur¬
den gute Analgesien erzielt, doch treten hier post operationem hohe
Temperatursteigerungen (bis 39,5) auf, die aber wieder rasch ab-
khngen. Sehr angenehm ist bei Stovain die absolute Entspannung
der Bauchdecken, doch kommen auch Sphinkterlähmungen vor. In¬
halationsnarkosen anzuschliessen ist misslich wegen der starken
Zwerchfellbewegungen.
Herr W a 1 c h e r - Stuttgart bemerkt, dass hinsichtlich der Ver¬
breitung des zur Lumbalpunktion verwendeten Mittels, dessen spe¬
zifisches Gewicht im Verhältnis zu dem der Zerebrospinalflüssigkeit
von Einfluss sein wird.
Herr Veit- Halle a/S. findet keinen Unterschied zwischen Nord-
und Süddeutschen.
Herr K r ö n i g (Schlusswort) hält doch an dem Unterschied fest
und schliesst sich im übrigen Herrn Neu an. Die Lumbalanästhesie
wird es auch sicher ermöglichen, dass der P f a n n e n s t i e 1 sehe
Schnitt eine noch viel weitere Ausdehnung finden kann.
Abteilung für Kinderheilkunde.
Berichterstatter: L. Langstein - Berlin.
Sitzung am 19. September, nachmittags.
Vorsitzender : Herr Finkeistein - Berljn.
Herr S a 1 g e - Dresden berichtet über die Herausgabe einer
Zeitschrift für Säuglingsfürsorge, deren Projekt allgemeine Zu¬
stimmung findet.
Herr R e i n a c h - München zeigt Röntgenogramme hereditär¬
luetischer Knochenaffektionen.
Herr Schlesinger - Strassburg : Aus der Anamnese und dem
Status praesens schwach begabter Schulkinder.
An der Hand eines Beobachtungsmaterials von 138 Kindern einer
Hilfsschule erörtert Vortr. die Bedeutung der nachteiligen Momente
und schädigenden Faktoren, die beim Zustandekommen der Debilitas
in Betracht kommen oder diese verstärken können. Es seien hier an¬
geführt die Degenerationen der Nachkommenschaft der psychoneuro-
pathischen, trunksüchtigen, luetischen, tuberkulösen Eltern und die
beachtenswerte Stellung der Debilen in der Reihenfolge der Ge¬
burten dieser dekadenten Generation. Beachtenswert ist das soziale
Milieu, das standesamtliche Verhältnis der Hilfsschüler. Aus der
persönlichen Anamnese wird Nachdruck gelegt auf schwere oder
langwierige Ernährungsstörungen im Säuglingsalter, aus dem Status
auf die körperliche Rückständigkeit dieser Kinder im ersten bis
dritten Jahre hinter ihren Altersgenossen. An Photographien wer¬
den Besonderheiten des Gesichtsausdruckes demonstriert. Aus¬
gesprochene Kretinen und Mikrocephale fehlen. Tonsillotomien
brachten kaum nach irgend einer Richtung hin Erfolg. Fast patho-
gnomonisch ist die Farbenblindheit. Eine Einteilung in erethische
und torpide Debile gelingt nur bei den jüngeren Kindern; später
kommen Charakterfehler, psychopathische Minderwertigkeiten zum
Voi schein. Zu betonen ist schliesslich die Konkurrenz ererbter und
erworbener schädigender Faktoren in 88 Proz. der Fälle, wobei die
letzteren qualitativ und quantitativ überwiegen.
In der Diskussion fragt T h i e m i c h nach der Anzahl der
epileptisch gewordenen Kinder epileptischer Mütter. Ferner be¬
tont er die ernste Beurteilung schwerer Kopfverletzungen in bezug
auf die Veranlassung schwerer Psychosen. Er teilt die Ansicht von
der Bedeutung der um den Mittelwert schwankenden Kopfmasse und
widerspricht der Bedeutung der verlegten Nasenatmung durch Ade¬
noide für die Intelligenz der Kinder.
Herr Ri et sc hei und L. F. M e y e r - Berlin: Ueber Eiweiss¬
stoffwechsel bei schweren Ernährungsstörungen im Kindesalter.
2080
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
Die Vortragenden untersuchten das Verhalten des Glykokolls im
Organismus an Enterokatarrh, resp. schwerer Intoxikation leidender
Säuglinge. Sie fanden, dass an dieser Affektion leidende Kinder
auf dem Höhepunkt der Erkrankung diese Aminosäure unverbrannt
zur Ausscheidung gelangen lassen. Sie orientierten sich darüber
sowohl durch die Pfaundler sehe Methode der indirekten Bestim¬
mung als auch durch das von Neuberg angegebene direkte Ver¬
fahren. Sie betonen die Aehnlichkeit dieses Verhaltens mit der
Tatsache, dass solche Kinder auch ihre oxydative Energie gegen¬
über einem Teil des Zuckers verloren haben.
In der Diskussion betont Langstein den eventuellen
therapeutischen Wert der Zufuhr von Aminosäuren auf die bestehende
Azidose mit Rücksicht auf neuere Untersuchungen von E p p i n g e r.
Pfaundler meint, dass diese Versuche für seine ursprünglich ge-
äusserte Auffassung von einer Störung der oxydativen Energie in
diesen Fällen sprechen. L. F. Meyer erörtert die Bedeutung der
Zuckerausscheidung bei schweren Intoxikationen als regelmässiges
Vorkommen und E i n k e 1 s t e i n definiert schliesslich den Begriff
der schweren Intoxikation beim Säugling, wie er ihn gefasst hat.
Rietschel stellt im Schlusswort Versuche mit anderen Amino¬
säuren in Aussicht.
Herr R e y h e r - Berlin: Zur Kenntnis der orthotischen Albu¬
minurie.
Auf Grund poliklinischer Beobachtungen stellt der Autor die
Tatsache fest, dass von den die Berliner Universitäts-Kinderpoliklinik
besuchenden Schulkindern ungefähr 12 Proz. an orthotischer Albu¬
minurie leiden. Zieht man jedoch nur die an Skrofulöse resp. latenter
Tuberkulose leidenden Kinder in Betracht, so steigt das Prozent¬
verhältnis bis auf ungefähr 60 Proz.. Diese Zahlen ähneln den
von M a r t i u s und seinen Schülern angegebenen. Die Tatsache der
Prädisposition tuberkulöser Kinder' für Albuminurie ist schon von
T e i s s i e r hervorgehoben worden, der eine Intoxikation als Ursache
beschuldigt. Dieser Auslegung schliesst sich R e y h e r nicht an, er
betont schliesslich, dass orthodiagraphische Untersuchungen der Her¬
zen der an der Affektion leidenden Kinder keine Vergrösserung, son¬
dern eher ein zu kleines Herz ergeben haben.
Herr S i e g e r t - Köln : Der Nahrungsbedarf jenseits des ersten
Lebensjahres.
Für den erhöhten Nahrungsbedarf des wachsenden Kindes sind
rasches Wachstum, grösserer Bewegungstrieb, relativ grosse Ober¬
fläche massgebend; dass aber die Eiweisszufuhr deshalb besonders
gross nicht zu sein braucht, beweist die Tatsache des mit 1,5 bis 1 g
per Kilo ideal wachsenden Säuglings. Das vorliegende Material
bringt durchweg in etwa 100 Proz. zu grosse Eiweisswerte (Hasse,
Herbst, Apfelmann, Heubner, Selter), da Camerers
Tabelle überall ohne die von ihm in der zweiten Auflage seines Stoff¬
wechsels des Kindes verlangte Korrektur übernommen wird. Came¬
rers rektifizierte Zahlen sind so exakte, tatsächlich richtige, dass
auch die gerfauesten kalorimetrischen Untersuchungen nicht viel daran
ändern werden. Sie gewinnen nicht nur für den normalen Nahrungs¬
bedarf, sondern für die Pathologie der Ernährung eine nicht zu unter¬
schätzende Bedeutung, da sie die letztere sogar erst durch den Ver¬
gleich mit den physiologischen Werten dem Verständnis zugänglich
machen, wie sie anderseits den Widerspruch aller anderen Angaben
mit den Ergebnissen der modernen Stoffwechseluntersuchungen am
Menschen wie am Tier beseitigen.
Herr Wieland- Basel demonstriert das Präparat eines riesen¬
haft vergrösserten Vorderfusses bei einem einjährigen Kinde. Die
Missbildung musste wegen raschen, ruckweisen Wachstums durch
Amputation entfernt werden. Sie bestand im wesentlichen aus ge¬
wuchertem Fettgewebe bei relativ vergrössertem Skelett. Als ur¬
sächliches Moment der völlig dunklen Erkrankung sind wahrschein¬
lich Störungen der embryonalen Keimanlage (Vorhandensein eines
partiell überreichlichen und fehlerhaften Anlagematerials) anzunehmen.
Die hereditären Verhältnisse sind bedeutungslos.
Herr D ö r n b e r g e r - München: Beobachtungen an Ferienkolo¬
nisten.
Uebersicht über Gewichts-, Längen- und Brustweitenbestim¬
mungen bei jüdischen Knaben und Mädchen mehrere Jahre hindurch
vor Besuch und nach Schluss des Ferienkolonieaufenthaltes. Nach
Ansicht des Autors sind zur Beurteilung des Erfolges nicht nur Be¬
rechnungen der Mittelmasse wichtig, sondern auch Sichtung des be¬
obachteten Materials nach Geschlecht, Alter und sozial verschiedenen
Gruppen, sowie gesonderte Betrachtung der einzelnen Kinder und
Vergleichung derselben untereinander. Vervollständigt würde das
Urteil durch Blutuntersuchungen, Beachtung des körperlichen und
geistigen Verhaltens nach Genuss des Kolonieaufenthaltes während
des ganzen Jahres. Vervollständigungen müssten die Koloniebestre¬
bungen durch organisierte Fürsorge unter dem Jahre erfahren. Bei
der Auswahl sollten vor allem die gesundheitlichen und sozialen Ver¬
hältnisse den Ausschlag geben, weniger der Fleiss in der Schule und
Würdigkeit der Eltern.
In der Diskussion betont Herr Rauchfuss, dass es in
den Ferienkolonien Petersburgs gelungen sei, mehrere elende Kinder
auf die mittlere Gewichtskurve zu bringen, indem in 2V 2 Sommer¬
monaten Zunahmen von 5—7 kg erreicht wurden. Er erörtert hierauf
die Bedeutung der Winterkolonien für rekonValeszente und schwäch¬
liche Kinder. „ , .. ...
Herr Leo- Remscheid macht ausführliche Mitteilungen über
Indikanausscheidung im frühen Kindesalter.
Berichtigung. In No. 41, S. 2036, Diskussion zu
Heubner: Ueber Pylorospasmus muss es statt: Rosen¬
haupt - Düsseldorf glaubt auch an die Schädlichkeit zu geringen
Fettgehaltes der Milch, heissen: Rosenhaupt-Frankfurt a. M.
glaubt auf Grund einer Analyse nicht an die Schäd-
1 i c h k e i t z u hohen Fettgehaltes der Frauenmilch.
Aerztlicher Verein in Hamburg.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 2. Oktober 1906.
Vorsitzender : Herr Kümmel 1.
Demonstrationen:
1. Herr Kellner demonstriert aus den Alsterdorfer Anstalten
ein 3 Vs Jahre altes Kind mit extremer Mikrozephalie. Solche Fälle
von hochgradiger Mikrozephalie sind sehr selten, während die hohen
Grade von Hydrozephalus oder von rachitischem Makrozephalus,
von denen Vortr. als Paradigma eine Schädelkalotte demonstriert,
in Idiotenanstalten häufiger getroffen werden.
2. Herr J. Krieg demonstriert an einer grösseren Reihe von
Kindern und an Photographien die I echnik und die therapeutischen
Erfolge des Klapp sehen Verfahrens der Skoliosenbehandlung. K.
konnte in seinem Institut die gerühmten guten Erfolge bezüglich Mo¬
bilisierung der Wirbelsäule und Kräftigung der Muskulatur bestätigen
! und darf mit den erzielten Resultaten sehr zufrieden sein. Er dehnte
das Verfahren mit bestem Erfolge auf die Behandlung der Trichter¬
brust, sowie der Wachstumsstörungen nach Ausbildung von Ver¬
wachsungen nach Pleuritis und anderer Lungenkrankheiten aus.
3. Herr Deneke stellt einen 48jährigen Maurer vor, bei dessen
Untersuchung ein Fehlen der Pulse in den Art. radialis auffiel. In
der rechten Art. brachialis war eine schwache Pulsation bemerkbar.
Die rechte Karotis pulsierte, in der linken war der Puls abgeschwächt.
Als Ursache dieser ausgedehnten — wohl ein Unikum dar¬
stellenden — Pulslosigkeit ergab die Röntgendurchleuchtung ein
Aneurysma des Aortenbogens, das physikalisch wenig Erscheinungen
machte. Stauungserscheinungen fehlten. Das O 1 1 i v e r sehe
Symptom war positiv. . D. erörtert die Schwierigkeit der Blutdruck¬
bestimmung in diesem Falle, die ja besonderes Interesse bieten
müsste und demonstrierte die mit den Sahli sehen und Gärtner-
schen Apparaten gewonnenen Resultate. Die Erklärung, warum die
verschiedenen Extremitätenarterien nicht pulsieren, ist schwierig.
4. Herr Paschen demonstriert Präparate von lebenden Spiro¬
chäten (pallida).
Herr Nonne spricht, nachdem er über die bisherige
Literatur über anatomische Befunde im Rückenmark bei Alko¬
holismus chronicus gravis referiert hat, über eigene ein¬
schlägige Beobachtungen. Er zeigt zunächst einen
Fall von geringen atypischen Degenerationen in den Q 0 1 1 -
sehen Strängen und in den Wurzeleintrittszonen bei einem
schweren Fall von Polyneuritis alcoholica, ferner einen Fall
von systematischer absteigender Degeneration der Q 0 1 1 sehen
l Stränge bei einem Fall von schwerem chronischen Alkoholis¬
mus, der klinisch weder neuritische, noch spinale Erschei¬
nungen geboten hatte. Sodann berichtet er über 2 Fälle, in
denen er die Diagnose auf Polyneuritis alcoholica gestellt hatte,
bei denen sich dieselbe aber nicht fand, sondern ausgedehnte
subakute Degenerationen in den Hintersträngen, welche sich
als aus einzelnen Herden konfluiert erwiesen.
Klinisch hatten in diesen Fällen bestanden: Parästhesien, mo¬
torische Parese der unteren Extremitäten, Ausfall der Patellarreflexe,
geringe Sensibilitätsstörungen. Der erste Fall hatte eine leichte
einfache Anämie geboten und zeigte bei der Sektion nichts von
nennenswerter Anämie. Der andere Fall zeigte keine Anämie, aber
eine hämorrhagische Diathese. Bei der Sektion nichts von Anämie.
In dem zweiten dieser Fälle fand sich auch in den Seitensträngen
eine diffuse Lichtung (W e i g e r t - Präparat).
In 2 weiteren Fällen von schwerem chronischem Alkoholismus
fand sich klinisch einmal das Bild: motorisch-ataktische Parese,
Fehlen der Sehnenreflexe, Parästhesien und B a b i n s k i sches Zei¬
chen; dabei eine stärkere Anämie vom Charakter der „einfachen“
Anämie. Die Anämie hatte bereits seit 3 Jahre bestanden, während
die nervösen Symptome erst einige Monate vor dem Tode auftraten.
Hier war Spinalleiden in den Hinter- und Seitensträngen diagnosti¬
ziert, und bei der Sektion zeigte sich neben einer schweren Anämie
eine Erkrankung der Hinterstränge und in geringem Masse auch in
j den Seitensträngen, wie es bei letalen Anämien beobachtet wird.
] In dem anderen Falle war im Laufe von 5 Monaten das Symptomenbild
einer Erkrankung der Hinter- und Seitenstränge aufgetreten (atak¬
tische Parese, geringe Sensibilitätsstörungen, geringe Blasenstö-
i rungen, Fehlen der Sehnenreflexe, B a b i n s k i sches Phänomen).
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2081
Erst ganz gegen Ende des Lebens entwickelte sich eine schwere
Anämie. Die Diagnose lautete: kombinierte Erkrankungen in den
Hinter- und Seitensträngen bei Alkoholismus chronicus und sekun¬
däre Anämie. Die Sektion ergab schwere Anämie, Intaktheit der
peripherischen Nerven, pseudosystematische Erkrankung in den Hin¬
ter- und Seitensträngen.
In einem weiteren Eall lag eine mässige Anämie vor. Es hatte
sich im Laufe eines Jahres entwickelt das Bild einer primären kom¬
binierten Systemerkrankung: motorische ataktische Parese der un¬
teren Extremitäten neben Parästhesien, zunächst Steigerung der Seh¬
nenreflexe, die dann in Abschwächung und Verlust der Sehnenreflexe
überging; Babinski positiv, exquisite hämorrhagische Diathese mit
skorbutischer Erkrankung des Zahnfleisches. Die Sektion ergab
mässige Anämie, ganz geringe Neuritis, chronische echte primäre
kombinierte Systemerkrankung.
Für die Fälle 3—6 schlägt N. den Namen „Myelitis
intrafulicularis“ vor.
Die Durchmusterung eines grossen Alkoholistenmaterials
(6000 Fälle in 11 Jahren) zeigte 16 Fälle von Säuferskor¬
but. In 11 Fällen war das Zahnfleisch schwer miterkrankt,
welcher Befund im Gegensatz steht zu den in der Literatur
darüber enthaltenen Angaben, die die Seltenheit des Mit¬
ergriffenseins des Zahnfleisches bei der hämorrhagischen Dia¬
these der Säufer betonen. Skorbut der inneren Organe inkl.
Gelenke, Knorpel und Knochen bestand in 12 Fällen nicht. Nur
4 gingen in Heilung aus, davon 2 ohne Erkranktsein des Zahn¬
fleisches. Das Nervensystem blieb in 16 Fällen von
Säuferskorbut nur 6 m a 1 frei, und von diesen 6 Fällen
wurden 3 geheilt; Polyneuritis allein boten 7 Fälle, Polyneuritis
kombiniert mit Poliencephalitis haemorrhagica sup. bot 1 Fall,
während in 2 Fällen eine ausgedehnte Rückenmarkserkrankung
vorlag. Werner.
Aerztlicher Verein München.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 13. J u n i 1906.
Herr Ludwig Seitz: Zur Frage der Hebotomie. (Er¬
schien in der Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 41 u. 42.)
Diskussion: Herr A. Müller: ln einem Vortrage über die
Behandlung des engen Beckens in der Privatpraxis habe ich vor drei
Jahren an dieser Stelle die Ansicht vertreten, dass meine Methode
der Metreuryse mit meinem schwer zerreisslichen Ballon und mit
Gewichtszug das Normalverfahren der künstlichen Frühgeburt wer¬
den würde. Dies hat sich bestätigt. Ich habe schon damals die
Pubiotomie als empfehlenswert für solche Fälle erklärt, wo die Ein¬
leitung der Frühgeburt versäumt wurde und der Kaiserschnitt nicht
ausführbar oder zu gefährlich ist. Das Publikum hat aber gegen
den Gedanken einer Knochendurchsägung zur Zeit noch so grossen
Widerwillen, dass es mir bisher leichter gelungen ist, die Einwilligung
zur Sectio caesarea zu erhalten (8 mal) als zur Pubiotomie. Infolge
Ablehnung der Pubiotomie habe ich mehrfach perforieren müssen.
Wo ich mit grösster Gewaltanwendung mittelst Zange oder Wendung
die Kinder zwar lebend zur Welt gebracht habe, sind dieselben
infolge des Hirndruckes bald gestorben; die Mütter haben schwere
Quetschungen erlitten und sind z. T. in grosse Gefahr gekommen.
Ich halte für die Praxis die Pubiotomie für gewisse Fälle auch in
der Privatwohnung für wohl anwendbar. Die Verletzungen werden
sich dadurch verringern lassen, dass man den Schnitt mehr nach
seitlich verlegt und schräg nach aussen sägt und durch manuelle
prophylaktische Dehnung der Scheide. Ein Teil der unbefriedigenden
Resultate liegt auch daran, dass die Klinik besonders häufig ver¬
schleppte ungünstige Fälle erhält. Ich glaube, dass es gelingt, bessere
Resultate zu erzielen, wenn die praktischen Aerzte sich schneller
zur Zuziehung spezialistischer Hilfe entschlossen.
Herr Grashey: Es ist auffallend, dass nach Hebotomie die
knöcherne Vereinigung des Schambeins ausbleibt, nachdem doch
Frakturen an dieser Stelle mit solidem Kallus zu heilen pflegen. Wenn
nach Hebotomie Pseudarthrose eintritt, so könnte man im Einzel¬
fall an allgemein schwächende Momente (Gravidität, Blutverlust)
denken, oder an eine besondere Disposition dieser Frauen, deren
Knochenentwicklung ja schon früher einmal eine wesentliche Störung
erlitten hat; näher liegt es, die in manchen Fällen sehr beträchtliche
Diastase der Sägeflächen verantwortlich zu machen. Natürliche
Frakturen bedingen hier in der Regel nur eine geringe Diastase, die
zackigen Bruchflächen berühren sich wenigstens an einer
Stelle noch, im Gegensatz zu den glatten Hebotomieflächen; auch
hat das Periost an dieser Stelle offenbar geringere regenerative Fähig¬
keit als z. B. an den langen Röhrenknochen, wo es zu lebhafter
Kallusbildung neigt, und es wird daher am Os pubis schon eine ge¬
ringere Diastase dazu genügen, dass die Bruchstücke den Anschluss
versäumen. Dafür spricht auch ein Röntgenbild, das wir kürzlich
von einer alten Fraktur des Beckens erhielten. Der Bruch ging durch
das Foramen obturatum derart, dass gleichzeitig auch eine Drehung
um eine transversale Achse erfolgte; am unteren Umfang des Fo¬
ramen berührten sich die Bruchenden und verheilten knöchern, ober¬
halb des Foramen waren die Bruchstücke auseinandergerückt und
enden jetzt noch frei, ohne Kallus. Wollte man darauf ausgehen, eine
knöcherne Vereinigung nach Hebotomie zu erzielen — die Beschwer¬
den fallen offenbar nicht der Pseudarthrose allein zur Last, da sie
auch bei gut verheilten Beckenfrakturen zuweilen angetroffen werden
— , so müsste man nach Analogie der Kieferdurchsägung versuchen,
den Knochen statt in einer Sagittalebene in einer schrägen Vertikal¬
ebene zu durchsägen.
Herr Feuchtwan g er: Als Indikation zur Pubiotomie wurde
vom Herrn Vortragenden in der Mehrzahl der Fälle der Wunsch der
Mutter nach einem lebenden Kind angeführt. In voller Würdigung
dessen, dass die Klinik — am Ende der Schwangerschaft vor die
Entscheidung gestellt — die Pubiotomie wählen musste, möchte ich
doch an dieser Stelle auf die prophylaktische Wirkung der P ro¬
ch o w n i k sehen Diät hinweisen, die mir in einigen Fällen von zum
Teil stark verengten Becken gradezu glänzende Dienste tat. Sicher
Hesse sich durch weitere Verbreitung der Kenntnis diese Kur besonders
auf dem Lande, woher ja die Mehrzahl der Fälle in die Klinik ein¬
gewiesen wurden, die Zahl der Fälle, die der künstlichen Frühgeburt,
der Pubiotomie und dem relativen Kaiserschnitt zugeführt werden
müssen, wesentlich einschränken.
Herr R. v. Hoesslin: Ich möchte an den Herrn Vortragenden
nur die Frage richten, ob die Lähmung, die in einem Falle im An¬
schluss an die Hebotomie eingetreten ist, eine direkte Folge der
Operation war. Der klinische Verlauf der Lähmung war der, wie
wir ihn beobachten, wenn vor oder während der Geburt ein Druck
auf den Plexus lumbosacralis da ausgeübt wird, wo er über die
Linea innominata verläuft. Nachdem also in diesem Falle doch der
Kopf längere Zeit über dem Beckeneingang stand, würde ich auch
an eine derartige Aetiologie denken.
Schlusswort des Vortragenden: Die Ansicht von Herrn
v. Hoesslin, dass in dem Falle 2 die Lähmung des Beines durch
den Druck des kindlichen Kopfes zustande gekommen sein könnte,
erscheint mir um deswillen nicht zutreffend, weil das Promontorium
stark vorsprang und so den Nervenplexus vor Druck schützte, weil
das breitere Hinterhaupt auf der entgegengesetzten Seite herab¬
geleitet wurde und weil trotz der langen Dauer der Geburt bis zum
Momente der Hebotomie keine Spur einer Lähmung bestand, dagegen
sofort nach dem Erwachen aus der Narkose über die Schmerzen im
Beine geklagt wurde. Es erscheint mir daher wahrscheinlicher, dass
die Lähmung durch eine Zerrung der Nervenstränge, vielleicht auch
eine Blutung durch teilweise Zerreissung der vorderen Kapselbänder
der rechtsseitigen Articulatio sacroiliaca infolge Ueberdehnung bei
dem hochgradig verengten Becken (C. vera 6Va cm) herbeigeführt
wurde.
Herrn Arthur Mueller möchte ich bemerken, dass bei sehr
engen Genitalien Erstgebärender auch die Erweiterung des Scheiden¬
eingangs durch Massage nicht immer ausreichen werde, tiefer gehende
Verletzungen zu vermeiden. Wirksamer ist wohl schon die Kol-
peuryse. Vor der Ausführung der Hebotomie kann ein vorsichtiger
Versuch mit der hohen Zange noch gemacht werden, irgendwie for¬
cierte Extraktionsversuche sind jedoch wegen der Gefahr der Gehirn¬
kompression ganz zu unterlassen.
Sehr interessiert haben mich die Ausführungen von Herrn Gras-
hey über die Ursache der mangelhaften Verknöcherung der Hebo-
tomiewunde. Der Vorschlag jedoch, durch schräge Schnittführung
eine festere Verknöcherung herbeizuführen, Ist vom geburtshilf¬
lichen Standpunkte aus deswegen nicht empfehlenswert, weil gerade
die Pseudarthrose bei einer späteren Schwangerschaft eine spontane
Geburt ermöglicht, wie ein Fall von Reifferscheid beweist.
Die Prochownik sehe Kur leistet zweifellos gutes, allein
man darf ihre Leistungsfähigkeit nicht überschätzen. Bei einer Conj.
vera von 8 cm und weniger versagt sie; die referierten Fälle kamen
erst kreissend, in unsere Behandlung. Durch die Hebotomie wurde
die Perforation des lebenden Kindes umgangen oder, was im
Effekt schliesslich auf das gleiche herauskommt, es wurde das Ab¬
sterben des Kindes durch Zuwarten vermieden.
Herr P. Pregowski: Kurze Mitteilungen:
a) über Schlafversuche im vorgewärmten Bette;
b) über die sogen. Luft=Wasser-Duschen;
c) über hypästhesierende Wirkung stärkerer Luftströmung
auf die Haut.
Demonstrationen zu a), b), c) Tags darauf abends 6 Uhr im physi¬
kalisch-therapeutischen Institute 1. d. I.
II. Vorstellung einiger mit Thermophor behandelter Fälle von
lokalisierter Tuberkulose.
Herr Oberndorfer demonstriert einen Fall von Steinherz.
Bei einem 62 jährigen Mann, der an Ulcus varicosum pedis litt, des¬
halb ins Krankenhaus eintrat und plötzlich starb, ergab sich als
Hauptbefund eine hochgradige periazinöse Leberzirrhose mit Ade¬
nombildung, leichte Verdickung der Leberkapsel mit geringer Kalk¬
ablagerung und intensive Verwachsung der Leberkapsel mit dem
Zwerchfell. Die Milz war, als Folge der Pfortaderstauung sehr stark
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
)82
Vergrössert, induriert, ihre Kapsel stark verdickt, z. T. verkalkt und
ebenfalls mit dem Zwerchfell fest verwachsen. Die Verwachsungen
von Leber und Milz mit dem parietalen Peritoneum waren offenbar
die Ursache, dass Aszites trotz der vorgeschrittenen Zirrhose nicht
aufgetreten war, da die so entstandenen Kollateralen die Zirkulation
in der Leber wesentlich entlasteten. Den interessantesten Befund bot
das Herz, dessen Herzbeutelblätter fest miteinander verwachsen
waren; zwischen den Verwachsungen fand sich ausgedehnte Ver¬
kalkung in Form eines das ganze Herz umfassenden Siegelringes,
dessen Platte den rechten Ventrikel umfasste mit Ausnahme der
Spitze, während der schmale Teil in der Atrioventrikulargrenzengrube
verlief. Die Platte besitzt eine grösste Breite von 9 cm, eine Höhe
von 8 cm und ist demnach annähernd quadratisch. Der Platteninnen¬
fläche aufliegend fand sich ein kleiner abgekapselter Eiterherd. Ur¬
sache der Erkrankung war zweifellos eine exsudative, wahrschein¬
lich eitrige, nicht tuberkulöse — hiefiir ergab die mikroskopische
Untersuchung keine Anhaltspunkte — Perikarditis, deren Produkte
z. T. organisiert, z. T. abgekapselt wurden und sich mit Kalksalzen
imprägnierten. Fälle von Steinherz, wie diese Erkrankungsformen
bezeichnet werden, sind sehr selten; Vortr. erinnert an einen Fall,
der in der Dissertation D i e m e r 1899 beschrieben ist, bei welchem
die Verkalkung noch ausgedehnter als im vorliegenden Fall war.
Auffallend ist, dass die klinischen Erscheinungen der chronischen
adhäsiven kalkulösen Perikarditis oft recht gering sind, die Herz¬
veränderungen manchmal erst als Nebenbefund bei der Autopsie fest¬
gestellt werden, obwohl man theoretisch annehmen müsste, dass eine
derartige Umgrenzung des Herzens seine Beweglichkeit hochgradig
beeinträchtigen müsste.
Diskussion: Auf eine Anfrage des Herrn Sittmann er¬
widert Vortragender, dass seiner Ueberzeugung nach eine Pick sehe
Pseudozirrhose hier nicht vorlag, da die Kapselvendickung der Leber
nur sehr gering, die periazinöse Bindegewebsproliferation hochgradig
war. Es sei fraglich, ob hier überhaupt ein Zusammenhang zwischen
Pericarditis adhaesiva calculosa und Leberzirrhose bestand.
(Schluss folgt.)
74. Jahresversammlung der Brit. Medic. Association
dbgehalten in T o r o n t o (Kanada) vom 21. bis 25. August 1906.
Abteilung für innere Medizin.
Die Abteilung wurde von Sir .James Barr mL einer Rede über
die periphere Zirkulation eröffnet. Redner glaubt, dass man in den
Kreisen der Kliniker diesem Gebiete verhältnismässig wenig Aufmerk¬
samkeit geschenkt hat. Er sprach über die physiologischen Verhält¬
nisse bei der Zirkulation in den Kapillaren, Arteriolen, Arterien und
Venen, indem er die speziellen Charaktere der Zirkulation im Ge¬
hirn, den Lungen, der Leber, den Nieren und der Milz beleuchtete.
Er beschrieb eine Reihe einfacher Instrumente, die ihm bei seinen
Untersuchungen gute Dienste geleistet hatten. Die Geschwindigkeit
des Blutes in den Kapillaren misst er mit dem flachen Ende eines
Glasstabes und einer Uhr, die 1/s Sekunden registriert, er hat ge¬
funden, dass die Geschwindigkeit zwischen 0,5 und 25 mm in der
Sekunde schwankt. Der Einfluss der Schwere auf den Kapillardruck
wechselt bei einzelnen Individuen ungeheuer und ist vor allem von
dem vasomotorischen Mechanismus abhängig. Bei verringerter
Geschwindigkeit des Blutstromes tritt lokale Asphyxie ein wie bei
der Raynaud sehen Krankheit, die auf vermindertem Blutdruck und
nicht auf einem Krampf der Vasomotoren beruht. Verringerte Ge¬
schwindigkeit führt zu Zunahme des CO-.> Gehaltes und vermehrter
Viskosität des Blutes, doch beeinflusst diese kaum die Geschwindig¬
keit. Als wahre vis a fronte ist der vasomotorische Mechanismus
anzusehen, wo dieser fehlerhaft arbeitet, kommt es zu Verlangsamung
des Blutstromes, zu Kongestion, wie z. B. bei der sogenannten ortho-
statischen Albuminurie, die durch ungenügende vasomotorische Tätig¬
keit im Splanchnikusgebiet erzeugt wird. Die Gefässe des Herzens,
des Gehirns und der Lungen haben nach Barrs Meinung keine
vasomotorischen Nerven und die Zirkulation in diesen Gebieten hängt
deshalb lediglich vom Herzen ab. Redner glaubt, dass die üblichen
Angaben über die Blutgeschwindigkeit in der Aorta viel zu niedrig
sind; die Häufigkeit der arteriellen Erkrankungen hängt damit zu¬
sammen. So lange die Gefässe elastisch sind, häufen sie die Kraft
an, die vom Herzschlag kommt und übermitteln sie den Kapillaren;
wenn sie dagegen stark geworden sind, können sie dies nicht mehr
tun und alle Mittel, die die Herzkraft erhöhen, sind dann äusserst
gefährlich. (Digitalis bei atheromatoser Erkrankung der Aorten¬
klappen.)
Dann sprach Percy M. Dawson - Baltimore über den Blutdruck
bei Krankheiten. Man muss streng zwischen systolischem und dia¬
stolischem Blutdruck unterscheiden, der Pulsdruck ist der Unter¬
schied zwischen den beiden anderen. Der systolische Druck hängt
hauptsächlich von der systolischen Leistung des Herzens ab und wech¬
selt durchaus mit der Schnelligkeit des Blutstromes; der durchschnitt¬
liche Druck in der Aorta ist gleich dem diastolischen Druck in der
Brachialis plus 1la des Pulsdruckes in dieser Arterie. Die Arbeit
des Herzens kann man durch die Formel ausdrücketi: W = MgH.
W ist die Arbeit, M der Ausfluss aus dem Herzen, g die Schwerkraft
und H der Druck in der Aorta.
G i b s o n - Edinburgh sprach über die klinischen Methoden der
Blutdruckbestimmung. Seiner Meinung nach ist mit dem sogen.
„Tactus eruditus“ nichts getan, man muss stets genaue Instrumente
an wenden, am besten ist der Sphygmomanometer von Erlanger. Die
Kranken müssen dabei stets horizontal liegen und es ist darauf zu
achten, dass normalerweise am Morgen der Blutdruck höher ist als
am Abend. Der Blutdruck ist abhängig von der Energie des Herzens
und dem Tonus und der Elastizität der Arterien. Die Viskosität des
Blutes hat kaum einen Einfluss darauf.
Sir William B r o a d b e n t - London hält den Nutzen derartiger
Apparate für sehr gering. Man muss streng zwischen dem Blutdruck
in den Kapillaren und den Arterien unterscheiden. Die Transsudation
der ernährenden Säfte hängt von dem Drucke in den Kapillaren ab.
Die Viskosität des Blutes spielt dabei eine grosse Rolle. Nie ver¬
gesse man bei Pulsuntersuchungen auch das Herz zu untersuchen,
liegt die Ursache der Druckverminderung im Herzen, so sind die
Herzmittel indiziert, liegt sie dagegen in den Gefässen, so gebe man
Nitrite und Kalziumsalze.
T. Clifford A 1 1 h u 1 1 - Cambridge sprach über Blutdruck und
Arteriosklerose. Er unterscheidet zwischen toxischen und hyper-
pyretischen Fällen (viele dieser Kranken leiden an Schrumpfniere)
und Fällen, bei denen die Erkrankung auf senilen Veränderungen
beruht. Bei der ersteren Gruppe kann der Blutdruck wie bei Syphilis
unverändert oder wie bei Bleivergiftung erhöht sein; bei der zweiten
Gruppe ist der Blutdruck erhöht und zwar als Ausgleichsmittel,
nicht als Krankheitsursache. In der dritten Gruppe steigt der Blut¬
druck nur so hoch wie es dem Alter des Kranken entspricht. Arterio¬
sklerose hat kaum eine Wirkung auf die Steigerung des Blutdrucks.
Redner, wie auch mehrere andere Sprecher, halten die Benutzung
von guten Instrumenten zur Blutdruckbestimmung für sehr wichtig.
Lindsay Steven- Glasgow unterscheidet zwischen zwei Arten
des gesteigerten Blutdruckes. Die erste ist temporärer Natur und
beruht auf Fehlern in der Diät, auf Aufregungen, Anstrengungen
und Stuhlverstopfung, die andere, die dauernder Natur ist, findet
sich bei Personen, die an Schrumpfniere leiden. Eine hohe arterielle
Spannung kann niemals Arteriosklerose erzeugen, wohl aber die
Folge davon sein.
S t e n g e I - Philadelphia sprach über die klinischen Symptome
der Arteriosklerose. Er hat bei völlig unkomplizeirter Arteriosklerose
periodisches Fieber gefunden, das er als durch den Zerfall der Gefäss-
wand (analog dem Fermentfieber) verursacht bezeichnet. Auch bei
Aneurysma und akuter Aortitis findet man dieses Fieber.
In einer mit der Abteilung für Physiologie gemeinsam abge¬
haltenen Sitzung sprach C h i 1 1 e n d e n - Yale über Ueber- und
Unterernährung beim Stickstoffwechsel. Die ideale Diät besteht
darin, dass man die geringste Nahrungsmenge verbraucht, die den
Körper im physiologischen und Stickstoffgleichgewicht hält, ihn gesund
und im höchsten Masse leistungsfähig erhält und seine Schutzkräfte
gegen Erkrankungen erhält und vermehrt. Zweifellos wird im all¬
gemeinen viel zu viel gegessen, wenn es auch möglich (aber nicht
erwiesen) ist, dass ein geringer Ueberschuss von Eiweiss über das
Mindestmass vorteilhaft ist. Redner hält die Versuche von V o i t
für durchaus unbeweisen-d. Seine eigenen Versuche wurden an
5 Aerzten gemacht, die 6 — 9 Monate nur 34 bis 56 g Eiweiss (5,4
bis 8,9 Stickstoff) zu sich nahmen. 3 dieser Versuchspersonen
brauchten etwa 0,1 Stickstoff per Kilogramm ihres Körpergewichtes,
2 brauchten 0,14 (ungefähr die Hälfte der von Voit angegebenen
Zahlen). Dabei ist zu bemerken, dass bei diesen Versuchen die
stickstofffreie Nahrung nicht vermehrt wurde. Einer dieser Aerzte
hat (wie er glaubt, zu seinem grossen Vorteil) 4V» Jahre in dieser
Weise gelebt. Aehnliche Erfolge wurden bei 11 Soldaten und 8
Athleten erzielt, die ebenfalls nur 0,1 — 0,13 Stickstoff per Kilo Körper¬
gewicht erhielten. Redner glaubt, dass 0,1 als das Minimum an¬
zusehen ist, dass man aber besser etwas mehr gibt, er betrachtet
50 — 60 g resorbierbaren Proteids als beste Tagesmenge für einen
Mann von 60 — 70 Kilo Gewicht.
Halliburton- London glaubt ebenfalls, dass viel zu viel ge¬
gessen wird. Man sehe nur, mit wie wenig Eiweiss die arme Be¬
völkerung und die Vegetarianer auskommen. Er kann aber Chit-
t e n d e n nicht beistimmen, dass man den Stickstoff auf das Mindest¬
mass reduzieren soll; der Stickstoff dient nicht nur zum Ersätze des
beim Stoffwechsel verloren gegangenen Stickstoffes, sondern er ist
auch eine Quelle der Energie und deshalb müssen wir mehr davon
konsumieren, als zur Erhaltung des Stickstoffgleichgewichtes unbe¬
dingt nötig ist.
Otto F 0 1 i n - Waverley glaubt, dass Chittendens Versuche
ebenso unbeweisend sind wie die von Voit und warnt vor zu
geringer Eiweissnahrung.
Hutchinson - London glaubt, dass das Eiweissminimum nach
dem der Physiologe sucht, durchaus nicht das für den Arzt wichtige
Eiweissoptimum ist. Bei reichlicher Eiweissnahrung kommen noch
viele andere Stoffe als Stickstoff in den Körper und es ist durchaus
unerwiesen, dass der Stickstoff das schädliche ist, auch die Eiweiss¬
sparer unter den Nahrungsmitteln sind zu berücksichtigen. Fettansatz
ist ein Beweis von Ueberernährung, es ist aber schwer zu sagen,
wo für das Individuum das Optimum des Fettansatzes aufhört.
Manche Menschen arbeiten offenbar viel ökonomischer als andere.
16. Oktober 1906.
MUENCHKNER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2083
nutzen ihre Nahrung besser aus und brauchen deshalb weniger Nah¬
rung. Alle festen Regeln sind deshalb gefährlich.
R a ni a r o - Madras hat als Brahrnane sein ganzes Leben als
strenger Vegetarianer gelebt und sich dabei sehr wohl befunden.
B a r k e r - Baltimore sprach über Aminosäuren und Stoffwechsel.
Man kennt schon mehr als 20 Mono- und Diaminosäuren, zu den
wichtigsten gehören Glykokoll, Leuzin, Tyrosin, Lysin und Arginin.
Ein Mensch, der von Fisch lebt, verzehrt ebenso viel von diesen
Körpern als einer, der von weisseni Fleisch oder von gewöhnlichem
Fleisch lebt.
T h i s 1 1 e - 1 oronto sprach über die Behandlung des Abdominal¬
typhus. Er gibt während der ganzen Krankheitsdauer Purgantien und
Antiseptika; vor allem Kalomel und Salol. Hierdurch soll die Aus¬
scheidung der Bazillen und Toxine beschleunigt werden.
M'C rae - Baltimore betrachtet den Typhus als eine Allgemein¬
infektion und die Darmgeschwüre nur als ein Symptom, das durch
Abführmittel und Antiseptika durchaus nicht günstig beeinflusst wer¬
den kann. Die Bazillen werden viel mehr durch die Nieren als durch
den Darm ausgeschieden und die Bäderbehandlung wirkt deshalb so
günstig, ,weil sie die Diurese anregt.
Dann sprach A s c h o f f - Freiburg über die pathologischen
Grundlagen der Unregelmässigkeit und des Versagens des Herz¬
muskels. Redner und sein Schüler Ta war a haben 112 Herzen auf
das genaueste auf entzündliche Veränderungen untersucht. Die Her¬
zen stammten von Fällen von Klappenfehlern (25), Nephritis (16),
Arteriosklerosis (6), Pneumonie (9), Typhus (7) und von anderen
chronischen und akuten Krankheiten. Nur bei sehr wenigen dieser
Herzen fand man überhaupt entzündliche Veränderungen, wo sie ge¬
funden wurden, waren sie selten genügend, um die während des
Lebens beobachtete Herzschwäche zu erklären. Nur bei Diphtherie
fand man regelmässig parenchymatöse Veränderungen. Es wurde
deshalb ein grosses Gewicht auf die Untersuchung des aurikulo-
ventrikulären Muskelbündels (Kent, H i s) gelegt. Das Bündel be¬
ginnt am vorderen Rande der Vena coronaria, zieht nach vorne zur
rechten Seite des Septum auriculare unterhalb des Foramen ovale,
wo es dem Septum dicht anliegt. Oberhalb des Ansatzes des mitt¬
leren Zipfels der Trikuspidalklappe bildet es eine Verdickung, durch¬
bohrt dann das Septum fibrosum und läuft auf der Rückseite des
Septum ventriculare, wo es sich in zwei Hauptbündel teilt, von denen
je eines auf jeder Seite des Septums schräg nach abwärts zieht.
Jedes dieser Bündel ist in eine besondere Faserscheide eingehüllt und
von allen anderen Muskeln völlig getrennt. Die zwei Bündel treten
in die hinteren und vorderen Papillarmuskeln ein und verlieren sich
dann in der Wand des Ventrikels. Das linke Bündel, das fächerförmig
ausgebreitet ist, kann an den meisten menschlichen Herzen mit dem
blossen Auge erkannt werden. Histologisch findet man in diesem
Bündel nur wenig Sarkoplasma (im Vergleich mit dem übrigen Herz¬
muskel). Es färbt sich deshalb schlechter und man hat deshalb irr¬
tümlich von fettiger Degeneration gesprochen. Bei zwei Fällen von
S t o k e s - A d a m s scher Krankheit fand Redner schwere Verände¬
rungen in diesem Bündel. Er glaubt, dass derartige Veränderungen
zu plötzlichem Herztode führen können, während leichtere Verände¬
rungen den Rhythmus des Herzschlages verändern.
J. M a c k e n z i e - Burnley zeigt, dass bei Arrythmie des Her¬
zens der Vorhof seinen Rhythmus beibehält, während der Ventrikel
von Zeit zu Zeit nicht auf die vom Vorhof kommenden Wellen ant¬
wortet. Vermittels eines besonderen Polygraphen registrierte er die
Bewegungen in der Vena jugularis, der Radialarterie und den Spitzen-
stoss. Er sprach besonders über das a-c-Intervall, d. h. die Zeit
zwischen dem Auftreten der Vorhofsystole und dem Puls in der Karo-
tis. Dieses Intervall umschliesst die Zeit, die nötig ist, damit der Im¬
puls zum Ventrikel gelangt, und das präsphygmische Intervall (d. h.
die Zeit zwischen Ventrikelsystole und Oeffnung der Semilunarklap-
pen). Dieses Intervall ist das wichtigste Kriterium bei der Beurtei¬
lung der Funktion der Leitung im Herzen. Er zeigte an zahlreichen
Kurven, wie Arrhythmie entsteht durch Störungen dieser Leitung
in den Fasern des H i s sehen Bündels.
E r I a n g e r - Madison zeigt, dass die Kontraktionswelle, die im
venösen Ende des Herzens entsteht, eine merkbare Verzögerung
(Fr, Sekunde beim Menschen) erleidet, wenn sie die Grenze zwischen
Vorhof und Ventrikel passiert. Er hat zahlreiche Versuche mit
eigens konstruierten Apparaten an dem H i s sehen Bündel des Hunde¬
herzens gemacht und gefunden, dass langsam gesteigerter Druck
zu teilweisem Herzblock führt. Nur die Zerstörung des Bündels
führt zu völligem Herzblock. Die Reizung der Akzeleratoren wirkt
auf Vorhof und Ventrikel, die Reizung des Vagus besonders auf
den Vorhof. Plötzliche Kompression des Bündels führt zu plötzlichem
Stillstand des Ventrikels, der ganz erschlafft ist. Der Herzblock
beim Menschen beruht stets auf Erkrankung des aurikulo-ventri-
kularen Bündels; die Leitung im Herzen des Säugetieres vom Vorhof
zum Ventrikel ist muskulär und beruht auf der Intaktheit dieses
Bündels.
G i b s o n - Edinburgh .zeigt, dass man Herzblock nicht nur durch
Sphygmogramme, sondern auch durch den Röntgenschirm und durch
den Kapillarelektrometer von L i p p m a n n nachweisen kann, zu¬
weilen kann man auch mit dem Phonendoskop den Vorhofschlag
hören. Auch er berichtet über die Sektion eines Mannes, der Zeichen
von partiellem Herzblock darbot und bei dessen Sektion man nichts
weiter im Herzen fand als eine fibröse Entartung des auriculo-ventri-
kularen Bündels.
Sir James B a r r -Liverpool berichtete ebenso wie Morrow-
Montreal über Fälle von Herzblock, beide Redner halten die Theorie
von der myogenen Reizung der Ventrikelsystole für unbewiesen.
B a r r glaubt, dass das im Herzen enthaltene Blut den Reiz für die
Herzkontraktion abgibt.
F. J. Smith-London sprach über die Behandlung des Ab¬
dominaltyphus. Er verlangt einen grösseren Spielraum in der Diät
der Typhuskranken. Fleisch, Eier und Fisch können ungestraft ge¬
geben werden, wenn der Kranke darnach verlangt und sie keinen
Meteorismus hervorrufen.
Hutchinson- London hält ebenfalls eine liberalere Diät beim
Typhus für wünschenswert.
M c C a s k e y - Indiana weist darauf hin, dass Milch viel mehr
unverdaulichen Rückstand lässt als Fleisch und Fisch.
Sir Thomas B a r 1 o w - London glaubt ebenfalls, dass man
Typhöse reichlicher ernähren soll als meist geschieht, dies kürzt die
Rekonvaleszenz ab und vermindert die Neigung zu Thrombosen. Fr
empfiehlt feingeschabtes Fleisch, über welches heisse Bouillon ge¬
gossen wird. Milch ist durchaus nicht harmlos; Traubensaft ist sehr
nützlich und dem Kranken angenehm. <
S p i 1 1 e r - Philadelphia zeigte Präparate eines Falles von
Syringomyelie, bei dem die Höhlung im Sakralteil begann (linkes
Hinterhorn) und sich durch das linke Hinterhorn durch die Lumbal¬
gegend bis zur Brustgegend und dem Halsteil erstreckte, wo sie
beide Hinterhörner ergriffen hatte. In der Medulla waren die Pyra¬
miden fast zerstört und darüber erstreckte sich eine Höhle von der
rechten Brückenhälfte zur inneren Kapsel und bis dicht an den rechten
Seitenventrikel. Eine derartig ausgedehnte Syringobulbie ist bisher
nicht beschrieben worden.
S. F 1 e x n e r - New York sprach über die Serumbehandlung der
Zerebrospinalmeningitis. Er hatte kürzlich in NewYork Gelegenheit,
eine Epidemie von 4000 Fällen zu beobachten, von denen 75 Proz.
starben. Fast immer handelte es sich um den Weich selbaum-
schen Diplococcus intracellularis. Dieser Diplokokkus war vom
Menschen gezüchtet, für Tiere nur wenig virulent. Es gelang aber,
ein sehr wirksames Endotoxin (kein extrazellulläres Toxin) zu er¬
zeugen und mit diesem ein Antitoxin herzustellen, das bei Affen deut¬
lich präventive und kurative Wirkungen hervorrief. Subkutane In¬
jektion des Serums ist ebenso wirksam wie intradurale. Das Serum
wirkt teilweise durch Neutralisierung von Giften und teils durch Vor¬
bereitung der Mikroben zur Phagozytose. Das Serum wurde bisher
nur an Tieren erprobt. v
George Dock- Ann Arbor sprach über die Parazentese des Peri-
kardiums. Er glaubt, dass man häufiger wie bisher das Perikard
punktieren solle, er punktiert mit Vorliebe im linken Spatium costo-
xyphoideum. Punktionen allein helfen meist nur vorübergehend, da
sich die Flüssigkeit gewöhnlich bald wieder ansammelt, man muss
deshalb zur Drainage schreiten.
Auch B a r 1 o w - London spricht sich für die Inzisionsbehandlung
aus, auch schon aus dem Grunde, weil sich die Flüssigkeit häufig hin¬
ter dem Herzen ansammelt und das Herz gegen die Brustwand drückt,
so dass es bei Punktionen verletzt werden kann.
Nachdem McCallum noch über gastrische Neurasthenie ge¬
sprochen hatte, endete die Sitzung.
Abteilung für Chirurgie.
Der Vorsitzende, Sir Victor H o r s 1 e y - London eröffnete die
Sitzung mit einem höchst interessanten Vortrage über die Technik der
Operationen am Zentralnervensystem. Redner beschränkte sich auf
die chirurgische Behandlung intrakranieller Erkrankungen, und zwar
besonders auf die Hirntumoren. Er benutzte als Grundlage seiner
Ausführungen das Material des National Hospital for Epileptics and
Paralytics an dem er seit 20 Jahren operiert. Horsley betont die
Notwendigkeit frühen chirurgischen Eingreifens, der Chirurg darf
nicht als ultimum refugium gelten. Medizinische Behandlung sollte
in keinem Falle länger als 2—3 Monate dauern. Vor allem gilt die
Frühoperation für die Neuritis optica. Sobald dieselbe erkannt ist,
muss eine Trepanation den Hirndruck beseitigen; es gelingt in diesen
Fällen immer durch frühe Eröffnung der Dura mater die Erblindung
aufzuhalten oder schon bestehende Sehstörungen zu beseitigen.
(Gleichzeitig beseitigt man Kopfschmerz und Erbrechen.) Wartet
man jedoch ab, so gelingt es vielleicht durch Jodkali und Quecksilber
allmählich ein Gumma zum Verschwinden zu bringen, das Augenlicht
kann dabei aber unrettbar verloren gehen. Horsley hat derartige
Fälle erlebt und hält es für einen schweren Fehler, wenn bei der Dia¬
gnose Neuritis optica auf Grund von Hirndruck nicht der Chirurg zur
Vornahme der Duraspaltung zugezogen wird. Redner glaubt, dass
fast regelmässig die Neuritis optica auf der Seite der Erkrankung be¬
ginnt. Kann man die Erkrankung nicht selbst angreifen, so trepaniere
man zur Entlastung des Hirns in der basotemporalen Region auf der
rechten Seite. Redner betrachtet dann die Ausdehnung, in der
dauernde Ausfallserscheinungen nach Operationen an verschiedenen
Hirnteilen auftreten. Am Grosshirn stellen sich spezielle motorische
Funktionen nicht wieder her, wenn ihr ganzes kortikales Zentrum
entfernt wurde, dasselbe gilt für das hemianopische Zentrum und
wahrscheinlich auch die übrigen speziellen Sinne. Die sensoriellen
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
•084
Empfindungen und die Intelligenz werden dagegen durch völlige Zer¬
störung eines Hirnabschnittes nicht dauernd zerstört; obwohl man
natürlich nicht mehr Hirn opfern darf, als dringend notwendig ist.
Auch die Kleinhirnfunktionen stellen sich nach schweren chirurgischen
Eingriffen vorzüglich wieder her. Maligne Tumoren des Gehirns
geben eine schlechte Prognose, 20 von 23 rezidivierten bald. Merk¬
würdigerweise schwinden maligne Tumoren zuweilen nach der
einfachen Trepanation; Horsley berichtet über 3 derartige Fälle.
Redner gibt Kranken, bei denen er starke Blutung fürchtet, vor
der Operation Chlorkalzium. Der Kopf und die Schultern liegen er¬
höht. Er hat die kombinierte Morphium-Chloroform-Narkose auf¬
gegeben, da Morphium das Respirationszentrum lähmt. Er verwendet
jetzt nie mehr Aether, das den Blutdruck und die Venosität des Blutes
vermehrt und zu vermehrter Blutung führt. Er verwendet Chloroform
und Sauerstoff mit Hilfe des Vernon H a r c o u r t sehen Apparates.
Man beginnt mit 2 Proz. Chloroform für den Hautschnitt, während der
Operation am Knochen geht man auf 1 Proz. herunter, bei der In¬
zision der Dura muss man meist etwas mit dem Chloroform herauf¬
gehen; den Eingriff am Gehirn selbst kann man mit 0,5 Proz. Chloro¬
form vornehmen. Zum Schlüsse der Wunde muss man wieder auf
0,7 bis 1 Proz. heraufgehen. Während der ganzen Operation wird
die Wunde permanent mit warmer Sublimat- (1:10 000) oder Salz¬
lösung (115° E) irrigiert. Dies vermindert den Schock, indem es den
Wärmeverlust des Gehirns durch Strahlung vermeidet und ist das
beste Mittel der Blutstillung. Es ist von der grössten Wichtigkeit,
so wenig Blutgefässe wie möglich auszuschalten, da man sonst
leicht Hirnerweichungen bekommt. Alle Unterbindungen sind mög¬
lichst weit vom Stamme auszuführen. Präliminäre Karotisunterbin-
dungen sind zu verwerfen, da sie zu Hirnödem und Hirnerweichung
führen. Die kapilläre Blutung wird am besten durch die heisse Irri¬
gation gestillt, auch ist es vorteilhaft, bei zu erwartender stärkerer
Blutung den Chloroformgehalt des Narkosengemisches für einige
Minuten zu erhöhen, wodurch der Blutdruck sofort sinkt. Venen
und Sinusblutungen am Knochen werden durch Verstopfen der
Knochenlücke mit Wachs gestillt. Stärkere venöse Blutungen lassen
sich durch Sauerstoffeinatmung stillen. Zur Vermeidung des Schocks
operiert Redner fast immer zweizeitig. Er öffnet in der ersten
Sitzung nur den Schädel und einige Tage später öffnet er die Dura
und entfernt die Neubildung oder tut was sonst nötig ist. Er warnt
dringend davor, den Knochen durch vertikal einwirkende Gewalt zu
durchtrennen. Er trepaniert zuerst eine kleine Scheibe heraus und
vergrössert die Knochenlücke durch Eortschneiden des Knochens mit
einer Zange. Der Knochen wird fast immer definitiv entfernt.
Knochenlappen bildet er fast niemals. Redner spricht dann über den
postoperativen Schock und gibt an, dass Operationen an der Hirn¬
basis und am Kleinhirn die gefährlichsten sind. Es ist ebenfalls be¬
deutend gefährlicher (Hirnödem), wenn man die zur Beseitigung des
Hirndrucks eingelegte Knochenöffnung nicht über dem Sitze der
Läsion macht und deshalb sind die sog. Explorativoperationen ganz
besonders gefährlich. Von 79 Tumoroperationen, bei denen der Tumor
lokalisiert und entfernt werden konnte, starben 7 an Schock (8 Proz.);
von 16 falschen topographischen Diagnosen, bei denen der Tumor
nicht entfernt werden konnte, starben 6 (37 Proz.).
Nach der Operation lässt Verfasser, um die Atmung anzuregen,
Sauerstoff einatmen. Er gibt sehr bald Nährklystiere und Kaffee,
Alkohol verwirft er vollständig. Bei Kindern tritt im Schock häufig
Hyperpyrexie ein, bei Erwachsenen ist die Temperatur meist herab¬
gesetzt. Redner warnt vor der Drainage, dieselbe ist so viel wie
möglich zu vermeiden, da sie leicht Anlass zu Infektionen gibt. Man
kann das Gehirn in ausgedehntem Masse verschieben und kom¬
primieren und man tue dies stets, wenn man an tiefer liegende Teile
gelangen will, was sonst nur mit Verletzung oder Exstirpation von
Hirnteilen möglich wäre. Man darf ungestört die Ventrikel eröffnen,
wenn man nur durch Tamponade eine Anfüllung der Ventrikel mit
Blut vermeidet. Zum Schlüsse spricht Redner über die Dauerresul¬
tate der Entfernung von Hirntumoren. Von 19 Gliomen und 4 Sar¬
komen rezidivierten 20 innerhalb der ersten 2 Jahre. Von 8 Endo-
theliomen rezidivierte 1 nach 3 Jahren, 7 sind gesund geblieben; von
4 Solitärtuberkeln starben 2 innerhalb von 3 Monaten an Meningeal-
tuberkulose, 2 blieben gesund. 8 Gummigeschwülste, 4 Eibrome und
5 Zysten blieben dauernd gesund. Von 3 Adenomen (Adenosarkomen)
rezidivierte 1.
Sinclair White- Sheffield eröffnete eine Diskussion über die
operative Behandlung des Aszites bei Leberzirrhose. Normalerweise
gibt es 4 Gefässbezirke, die Verbindungen zwischen dem Pfortader¬
system und dem übrigen Gefässystem bilden: 1. Das Sappeysche
akzessorische Pfortadersystem, d. h. Venen, die im Ligam. falciforme
und Ligam. rotundum der Leber verlaufen. 2. Anastomosen zwischen
den Venen des Magens und der Speiseröhre. 3. Anastomosen zwi¬
schen den 3 Hämorrhoidalvenen. 4. Das R e t z i u s sehe Venen¬
system, das retroperitoneal hinter Pankreas, Duodenum und Colon
transversum verläuft. Redner glaubt nicht, dass der Aszites durch
im Blute kreisende toxische Substanzen bedingt wird (Haie White
und Roll es ton); der Aszites beruht einzig und allein auf der
Stauung im Pfortaderkreislauf. Alte und schwache Patienten, Nephri-
tiker, Diabetiker, schwere Herzkranke und Phthisiker sind von der
Operation auszuschliessen; dasselbe gilt von Kranken, die an
schwerem Ikterus und Koma leiden. Stets sollte der Operation eine
oder mehrmalige Punktion des Aszites vorausgehen, da manche Fälle
hierdurch allein geheilt werden. Fälle von atrophischer und hyper¬
trophischer Zirrhose geben gleich gute Erfolge nach der Operation.
Meist genügt es, das Netz an das angefrischte Peritoneum zu nähen
oder es in einer präperitonealen Tasche zu fixieren; gleichzeitig
kann man die Leber annähen. Die Milz anzunähen, empfiehlt sich nur
selten; wenn nötig, operiere man von einem besonderen Einschnitte
aus. Von 227 Fällen, die Redner zusammengestellt hat, starben
33 Proz. im ersten Monat nach der Operation, 15 Proz. waren völlige
Misserfolge, 13 Proz. wurden gebessert und bei 39 Proz. kehrte der
Aszites nach der Operation nicht wieder. Da die Widerstandskraft
des Peritoneums herabgesetzt ist, hüte man sich vor Peritonitis und
operiere streng aseptisch.
Grey Turner- Newcastle berichtet über die in Newcastle seit
1894 operierten 16 Fälle. 5 starben kurz nach der Operation, 5 starben
4 Monate bis 6 Jahre später, 6 leben noch. Ein Fall lebt seit
/'Via Jahren in bester Gesundheit, bei einem anderen kehrte nach
3/4 Jahren der Aszites wieder; 3 sind seit ^Vs Jahren, 1 Jahr und
7 Monaten völlig gesund.
T urne r verlangt eine viel sorgfältigere Auswahl der Fälle, als
in den von ihm berichteten geschehen war. Er empfiehlt längere
Drainage und gleichzeitige Kompression nach der Operation.
John Lynn Thomas- Cardiff sprach über die Enukleation der
Prostata. Er verlangt die Vornahme der Operation, sobald der
Kranke gezwungen ist, einen Katheter dauernd zu benutzen. Von
677 perinealen Operationen wurden 89,8 Proz. geheilt, von 583 supra-
pubischen 88,9 Proz. Vollständig von allen Beschwerden befreit
wurden von den suprapubischen Fällen 95,6 Proz. derjenigen, die die
Operation überstanden, bei den perinealen wurden dagegen nur
81,4 Proz. völlig geheilt. Die perineale Operation gewährleistet eine
bessere Drainage, doch ist dies nicht so wichtig, wenn man es sich
zur Regel macht, etwa bestehende Sepsis der Blase vor der Enuklea¬
tion der Prostata zu beseitigen. Redner operiert deshalb zweizeitig,
zuerst legt er nur eine suprapubische Blasenfistel an, durch die er die
Blase spült und drainiert; nachdem die Blase aseptisch geworden ist,
entfernt er in einer zweiten Sitzung die Prostata. Er trennt die Haut
durch einen Querschnitt. Nur Chirurgen mit langen Fingern und
starken Nägeln sollten von der Blase aus enukleieren. Strikturen der
Harnröhre, Fisteln und Störung der sexuellen Fähigkeiten kommen
bei beiden Operationsarten vor. Wenn man die Prostata im Zu¬
sammenhang entfernt, so wird stets die prostatische Urethra mitent¬
fernt.
G. A. B i n g h a m - Toronto bespricht die Anatomie der Prostata,
die keine eigentliche Lappenbildung zeigt und keine Kapsel hat.
Meist handelt es sich bei der Prostatahypertrophie um Adenome, die
in der Drüse entstehen und das Drüsengewebe an die Peripherie
drücken, hierdurch entsteht scheinbar eine Kapsel. Die Enukleation
wird stets innerhalb dieser Kapsel vorgenommen. Redner unter¬
scheidet zwischen frühen Fällen, bei denen bei sonst gesundem Organ
die Urinentleerung gehindert ist, hier empfiehlt sich die Operation;
späten Fällen, bei denen schwere Blasen- und Nierenveränderungen
vorliegen, hier ist es besser, die B o 1 1 i n i sehe Operation zu machen.
Sind gleichzeitig Steine vorhanden, so eröffne man die Blase unter
Lokalanästhesie von oben und führe dann nach Entfernung der Steine
unter Leitung des Auges und des Fingers das B o 1 1 i n i sehe Instru¬
ment von unten ein.
Ferner gibt es Fälle, die in der Mitte stehen, hier operiere man
und zwar, bei Vorwiegen des „Mittellappens“ von oben, bei Pro¬
staten, die stark gegen das Rektum zu vorspringen vom Damm aus.
In der den Vorträgen folgenden Diskussion sprach sich die Mehr¬
zahl der amerikanischen Chirurgen für den perinealen Weg aus.
Armstrong - Montreal berichtet über die erfolgreiche Ent¬
fernung der Milz bei Bantischer Krankheit. Der Kranke wurde
ganz gesund, nachdem er 12 Stunden nach der Operation schwere
J etanie überstanden hatte. Von 32 Fällen genasen 23, 9 starben
(28 Proz.). Kranke, die die Operation Überstehen, werden meist ganz
gesund; das Blut wird normal, das Blutbrechen hört auf und die
Leberzirrhose bildet sich zurück. Redner empfiehlt frühzeitige Opera¬
tion, ehe die Leberveränderungen irreparabel geworden sind.
Dann sprach W. J. M a y o - Rochester über die chirurgische Be¬
handlung des Duodenalgeschwüres. Das Duodenalgeschwür ist ziem¬
lich häufig, wird aber meist für ein Magengeschwür gehalten; minde¬
stens 40 Proz. aller Magen- und Duodenalgeschwüre entstehen primär
im Duodenum; allerdings sitzen sie in 95 Proz. der Fälle in der Nähe
des Pylorus. 3 von 4 Duodenalgeschwüren werden bei Männern ge¬
funden. Meist gelingt es schon vor der Operation, die Diagnose zu
machen. Es bestehen lokale Schmerzen und Rigidität im rechten
Epigastricum. Die Diagnose bleibt öfter unentschieden, weil sehr häufig
Magen- und Duodenalgeschwüre zusammen Vorkommen. Schmer¬
zen, Passagestörungen, Blutungen und Unterernährung geben die
Indikation zur Operation. Man kann in geeigneten Fällen das Ge¬
schwür exzidieren, meist aber beschränke man sich auf die Vornahme
der hinteren Gastroenterostomie; man sehe darauf, dass das höchste
Ende des Jejunum ohne Schlingenbildung straff an den Magen zu
liegen kommt. Von 188 Duodenalgeschwüren, die Verf. sah, wurden
175 wegen chronischer Beschwerden operiert (2 Todesfälle); 10 wegen
akuter Perforation mit 4 Todesfällen und 3 wegen akuter Blutung
mit 1 Todesfall. Von 103 Fällen, deren spätere Geschichte er ver¬
folgen konnte, waren 93 geheilt oder bedeutend gebessert, 10 un-
gebessert resp. rezidiviert. Am besten ist es, durch den rechten
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2085
Rektusmuskel, % Zoll von der Mittellinie einzugehen. Liegt der
Pylorus in Verwachsungen eingebettet, so findet man ihn an der eigen¬
tümlichen Anordnung seiner Venen. Das Duodenalgeschwür entsteht
ebenso wie das Magengeschwür meist durch Hyperazidität.
F r a n k 1 i n - Leicester empfiehlt ebenfalls die Gastroentero¬
stomie; bei Perforation spült er die Bauchhöhle aus und drainiert.
Murphy- Chicago glaubt, dass das Duodenalgeschwür seltener
perforiert als das Magengeschwür. Diagnostisch ist von grösster
Wichtigkeit, wie lange nach der Mahlzeit Schmerzen auftreten. Bei
dem Duodenalgeschwür treten sie erst später auf, Nahrungsaufnahme
beseitigt sogar häufig die Schmerzen, weil darnach der Pylorus sich
schliesst und für eine Zeitlang nichts in das Duodenum gelangt.
Ausser der Hyperazidität spielen vor allem Thrombose und Embolie
eine Rolle bei der Entstehung dieser Geschwüre. Ist ein Geschwür
perforiert, so kommt es vor allem darauf an, die Perforation zu
schlossen, dies ist wichtiger, wie Reinigung der Bauchhöhle und
Drainage.
Ochsner -Chicago spricht über einen Sphinkter, der den
oberen Teil des Duodenums umschliesst. Dieser Mechanismus ist für
die Entstehung der Geschwüre mit verantwortlich zu machen.
C. J. Bond- Leicester eröffnet eine Diskussion über die Be¬
handlung der akuten septischen Peritonitis. Er leugnet das Bestehen
einer chemischen Peritonitis ohne Bakterien; bei Peritonitis nach
inneren Blutungen ist z. B. immer der Staphylococcus albus schuld
an der Peritonitis. Magen- und Duodenalperforationen sind bei
raschem chirurgischen Eingreifen relativ ungefährlich, da der Inhalt
dieser Organe meist steril ist. Darmperforationen sind viel gefähr¬
licher. Es können bei verlangsamter Zirkulation, bei Meteorismus und
bei besonderer Virulenz der Bakterien auch Mikroorganismen durch
die Darmwand wandern. Namentlich der Staphylococcus albus durch¬
dringt häufig die Darmwand. Die Gegenwart dieses Mikroorganismus
scheint die Phagozytose anzuregen und das Peritoneum gegen die
Invasion der schädlichen Mikroorganismen vorzubereiten. Das ist
sehr wichtig und es ist deshalb gefährlich, die Peritonealhöhle aus¬
zuwaschen und abzureiben und so von den nützlichen Phagozyten
zu befreien. Es ist deshalb meist schädlich, die Därme auszupacken
und zu spülen, man begnüge sich mit trockenem vorsichtigem Ab¬
tupfen und mit Drainage. Nur bei Koli- und Streptokokkeninvasionen
können Ausspülungen zuweilen helfen. Morphium ist bei Peritonitis
durchaus zu verwerfen, da es die Darmlähmung befördert und die
Leukozytose vermindert. Kleine Mengen von Kalomel und Bitter¬
salzen sind im Beginn der Peritonitis oft nützlich, später nutzlos.
Ausgedehnte Eingiessungen von Kochsalzlösung sind von grossem
Nutzen, ebenso die halbsitzende Stellung des Kranken.
H o w e 1 1 - Guelph spricht energisch gegen die Opiate. Man
operiere früh, rasch und sehr schonend, lege ausgedehnte Drainage an.
Auch er empfiehlt die halbsitzende Stellung, die Vermeidung jeder
Ernährung per os für einige Tage und die Eingiessung grosser Koch-
salzklystiere. Besteht Meteorismus, so muss der Darm an einer
oder mehreren Stellen geöffnet und entleert werden. Bei starker
Verunreinigung des Peritoneums spült er.
M a y o - Rochester spricht über die grosse Gefahr der Ver¬
unreinigung der oberen Teile der Bauchhöhle, da das Diaphragma
hier so rasch absorbiert und es leicht zu embolischen Pneumonien
kommt. Er lässt alle Kranken nach Magenoperationen aufsetzen und
vermeidet dadurch die Pneumonien.
Ochsn er- Chicago legt grosses Gewicht auf die Ruhestellung
der Därme durch Entziehung der Nahrung für mehrere Tage.
Murphy hat in den letzten 3Vz Jahren 36 Fälle von diffuser
Peritonitis operiert und 35 geheilt. Früher betrug seine Sterblichkeit
80 Proz. Er glaubt nicht, dass die Art der infizierenden Mikroben
etwas mit dem Ausgang zu tun habe. Er verlangt, dass alle Eiter¬
ansammlungen entleert werden und dadurch die Spannung beseitigt
wird; ferner muss ausgedehnt drainiert werden. Alles Auswaschen,
Austupfen und alles Lösen von Verwachsungen ist zu vermeiden. Durch
grosse Kochsalzklysmen erleichtere man die Ausscheidung der Toxine.
Durch die sitzende Stellung des Kranken bringe man den Eiter in
die tieferen Teile des Peritoneums, wo er weniger leicht absorbiert
wird. Ferner gibt er grosse Mengen von streptolytischem Serum.
(Fortsetzung folgt.)
Aus den englischen medizinischen Gesellschaften.
Obstetrical Society of London.
Sitzung vom 4. Juli 1906.
Primäres Karzinom des Ovariums.
Frl. Luise M c 1 1 r o y schildert die pathologische Anatomie dieser
Affektion folgendermassen : Es sind oft beide Ovarien affiziert, doch
zeigt dann stets das eine derselben einen weiter vorgeschrittenen
Grad des Leidens als das andere. Im weiteren Verlauf wird die an¬
fangs feste Kapsel durchbrochen, und das Tumorgewebe wuchert hin¬
durch. Keimepithel ist in der Regel nicht vorhanden. G r a a f sehe
Follikel und Corpora lutea finden sich nicht vor. Stets sind vorherige
benigne Aenderungen an den Ovarien zu konstatieren. Die gewöhn¬
lichsten Formen des Eierstockkrebses sind die glanduläre zystische
und die mit Vermehrung des Bindegewebes verbundene alveoläre.
Bei den Fällen in den Anfangsstadien werden die neoplastischen Vor¬
gänge an der Oberfläche und in den Falten angetroffen. Das Ge¬
wächs nimmt seinen Ursprung von den Follikelzellen und von den
aus dem Keimepithel herstammenden Zellen. Die sogen. Ova der
deutschen Pathologen sind Anhäufungen von degeneriertem Proto¬
plasma, retrograde Produkte der Follikelzellen. Karyokinese ist bei
diesen Krebszellen nicht deutlich entwickelt. Die beim Ovarialkrebs
anzutreffenden Zellen ähneln denjenigen von benignen Gewächsen,
unterscheiden sich aber hinwiederum von diesen durch ihre Ver¬
teilung, unregelmässige Anordnung und den Grad der Wucherung.
Eden sieht den Hauptwert der von der Vorrednerin aus¬
geführten Arbeiten darin, dass damit nachgewiesen sei, wie die aus
dem in maligner Weise veränderten Keimepithel stammenden Zellen
auf das Stroma des Eierstocks übergreifen. Ferner scheint damit die
Reihenfolge nachgewiesen zu sein, nach welcher die Epithelzellen
einer benignen Zyste sich in die malignen Zellen eines Adenokarzi¬
noms umwandeln.
Frl. Thor ne bemerkt im Gegensatz zu der Vortragenden, dass
nicht alle Fälle zuerst durch die Anschwellung ohne Schmerzen auf¬
fallen. Sie hat den umgekehrten Vorgang beobachtet.
XII. Versammlung mitteldeutscher Psychiater und
Neurologen
am 20. und 21. Oktober d. J. in Dresden (Hotel Bristol).
Tagesordnung:
1. Herr Bin swänge r- Jena: Die Beziehungen zwischen Stoff¬
wechselerkrankungen und Psychosen. — 2. Herr Stadelmann-
Dresden: Ueber Harnsäurebefunde bei Epilepsie. — 3. Herr P ä s s 1 e r-
Dresden: Zur Frage nach dem Wesen der Entartungsreaktion (mit
Demonstration). — 4. Herr H e s s - Görlitz: Ist die gesetzliche Scha¬
denersatzpflicht der heimlichen Geisteskranken zu empfehlen? —
5. Herr D ö 1 1 k e n - Leipzig: Wann sind Unfallneurosen heilbar? —
6. Herr Hecker- Dresden: Zur Symptomatologie der Paralysis agi-
tans. — 7. Herr Anton-Halle: a) Zur derzeitigen Methode der
Untersuchung Geisteskranker, b) Hypothese über eine Funktion des
Kleinhirns (mit Demonstrationen). — 8. Herr Stegmann - Dresden :
Beitrag zur Lehre vom Selbstmord. — 9. Herr G e i s t - Zschadrass:
Ueber die Klassifikation der Psychosen, insbesondere der perio¬
dischen. — 10. Herr H. H a e n e 1 - Dresden: Eine typische Form
der tabischen Gehstörung. — 11. Herr K ö t s c h e r - Hubertusburg: '
Die Frage der forensischen Behandlung und der Unterbringung der
.Alkoholisten. — 12. Herr G a n s e r - Dresden: Ueber die Behandlung
des Deliriufn tremens. — 13. Herr M ii 1 1 e r - Breslau : Uebei* ein
eigenartiges, anscheinend typisches Symptomenbild bei apoplekti-
formen Bulbärlähmungen. — 14. Herr B i 1 1 o r f - Breslau : Ueber
den sogen. Verkürzungstypus bei Reflexen, Paresen und Mitbewe¬
gungen. — 15. Herr Sch ob -Pirna: Beitrag zur pathologischen Ana¬
tomie der multiplen Sklerose.
Anmeldungen zu weiteren Vorträgen werden baldigst, Anmel¬
dungen zu der Teilnahme am Festmahl (Gedeck 4 Mark) werden
bis zum 18. Oktober an den I. Geschäftsführer G a n s e r - Dresden
erbeten. Die Herren Teilnehmer werden in der Lage sein, die
Abendschnellzüge in der Richtung Berlin (7"7) und Leipzig (721) zu
benutzen.
Gäste sind willkommen.
Die Geschäftsführer:
Ganser- Dresden. H. B ö h m i g - Dresden.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Versammlung Münchener Spezialärzte
am 9. Oktober 1906.
„Um eine Stellungnahme der der Abteilung für freie Arztwahl
angehörenden Münchener Spezialärzte zu der beabsichtigten Pau¬
schalierung der Extraleistungen bei den Krankenkassen in die Wege
zu leiten , hatten sich auf die Initiative Hechts hin, dem sich
17 weitere Kollegen als Einladende angeschlossen hatten, über
70 Münchener Spezialärzte zu einer Besprechung zusamengefunden.
Hecht betonte in seiner einleitenden zusammenfassenden Aus¬
führung von vornherein, dass diese Besprechung nicht etwa eine Spal¬
tung unter den Münchener Aerzten bedeuten solle. Der in der letzten
Sitzung der Abteilung für freie Arztwahl von der Vorstandschaft vor¬
gelegte Entwurf einer Pauschalierung der Extraleistungen (s. No. 40
dei M. med. W., S. 1991, Zeile 31 u. f.) bedeute eine Benachteiligung
der Spezialärzte zu Gunsten der praktischen Aerzte. Die Begrenzung
der Extraleistungen in einer bestimmten Höhe verhindere eine Stei¬
gerung derselben und führe demgemäss zu einer immer geringeren
Bezahlung dei einzelnen Extraleistung. Nun aber habe nicht etwa die
Kasse diese Neuerung verlangt, sondern sie sei von der Vorstandschaft
dei Abteilung, also von ärztlicher Seite selbst, ausgegangen. Die
Gefahr, dass die Extraleistungen ins Ungemessene anwüchsen, sei
nicht vorhanden. Wenn sie in den nun verflossenen 3 Jahren seit
Bestehen der fieien Arztwahl zugenommen hätten, so sei das voraus¬
zusehen gewesen. Im Anfänge wussten die Aerzte die für Extra-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 42.
5 086
leistungen bestehende Gebührenordnung nicht richtig anzuwenden.
Die Patienten wussten lange nichts von ihren Rechten, dass sie näm¬
lich nach Einführung der freien Arztwahl eine grosse Auswahl unter
den Spezialärzten haben. Dadurch sei wohl ein Steigen der Extra¬
leistungen eingetreten, dessen Tendenz jedoch sicherlich nicht im
gleichen Masse fortschreiten wird.
Eine gewisse Polypragmasie bestehe unzweifelhaft bei einer
Zahl von Kollegen; es seien indessen diejenigen Aerzte, die Missbrauch
treiben, nunmehr der Honorar- bezw. Kontrollkommission bekannt
und es werde ein energisches' Einschreiten hierin Remedur schaffen
müssen und schaffen.
In der sehr lebhaften Diskussion wurden noch weitere Mo¬
mente angeführt:
D o 1 1 m a n n weist darauf hin, dass die Kranken immer grössere
Ansprüche stellen, wodurch eine Steigerung der Extraleistungen mit¬
bedingt sei.
Höflmayr meint, dass die Vorstandschaft vielmehr eine
Sozialpolitik der Kassen, als eine solche der Aerzte treibe. Die
Nervenärzte sind an den Extraleistungen überhaupt nicht beteiligt!
In der weiteren Diskussion wird allgemein anerkannt, dass die
bestehende Gebührenordnung der Abteilung grosse Ungerechtig¬
keiten enthält; es wird aber darauf hingewiesen, dass der Honorar¬
kommission nunmehr Spezialärzte aus allen Fächern angehören, so
dass eine gerechte Remedur erfolgen kann.
K a s 1 1 betont, dass an der Ungerechtigkeit vor allem die ver¬
altete, gänzlich unzulängliche, staatliche Gebührenordnung schuld sei,
die neu zu schaffen, ein .dringendes Postulat sei.
Das interessanteste Moment der Besprechung war wohl das,
dass die anwesenden Schöpfer der Gebührenordnung der Abteilung,
A. Müller, Kastl und Kustermann, ebenfalls den Vorschlag
auf Pauschalierung zurückwiesen. Es wurde von dieser Seite be¬
tont, dass die Kasse sich auf eine viel grössere Ausgabe für Extra¬
leistungen gefast gemacht hatte; sie wollte ursprünglich 25 Proz. des
Pauschale noch für die Extraleistungen zahlen. Das wäre schon be¬
deutend mehr, als jetzt gezahlt wird. In den Krankenkassenzeitungen,
in denen alle ärztlichen „Sünden“ aufs genaueste verzeichnet wür¬
den, sei noch niemals an den Extraleistungen gemängelt worden.
Man habe das Recht, jetzt sogar das ursprünglich geforderte Pau¬
schale von 5 Mark pro Kopf und Jahr zu fordern, das man nur im
Anfang zur Einführung der freien Arztwahl" auf 4 Mark ermässigt
habe. Erst wenn dies Pauschale bezahlt werde, könne man an
eine andere Regelung der Extraleistungen denken.
Die geäusserte Befürchtung, dass die Kasse ihren Vertrag mit
dem roten Kreuz kündigen und so den Aerzten die Operations¬
möglichkeit nehmen könne, wird leicht zurückgewiesen. Damit würde
einfach die freie Arztwahl zu Ende sein. Ausserdem werden sich
die Kassenmitglieder wohl energisch sträuben, in die Krankenhäuser
eingewiesen und so ihrem behandelnden Arzte entzogen zu werden.
Im übrigen sind es nicht die durch Operationen erzielten Extra¬
leistungen, die die Summe steigern, sondern die vielen kleinen. Und
hier wird, wie aus dem Verlauf der Sitzung hervorging, nun eine
energische Kontrolle einsetzen.
Kr ecke betont, dass an der heutigen Sitzung die praktischen
Aerzte ebenso interessiert sind, wie die Spezialärzte. Es ist ersicht¬
lich geworden, dass für sie die Pauschalierung der Extraleistungen
denselben Nachteil bringt, wie für die Spezialärzte. Ein Gegensatz
zwischen beiden Kategorien von Aerzten besteht nicht.
Einzig Sternfeld versucht, die Pauschalierung zu ver-
digen.
Schliesslich, nachdem noch die Trage der Gründung eines Spe¬
zialistenvereins kurz gestreift worden war, die jedoch vorläufig keinen
Widerhall in der Versammlung fand, wurde folgende Resolution mit
allen gegen eine Stimme angenommen:
„Die am 9. Oktober 1906 zu einer Beratung versammelten,
der Abteilung für freie Arztwahl angehörenden, Spezialärzte Mün¬
chens erachten eine Pauschalierung der Extraleistungen bei den
Krankenkassen, als die ärztlichen Interessen schwer schädigend,
für unzweckmässig und erwarten zuversichtlich, dass die Ab¬
teilung für freie Arztwahl einen diesbezüglichen Vorschlag ihrer
Vorstandschaft ablehnen wird.“
Zum Schlüsse, lP/a Uhr, spricht Kastl dem Leiter und Ein-
berufer der Sitzung, Hecht, den Dank der Versammlung aus.
Nassauer.
Aerztlicher Bezirksverein Bad Kissingen.
Generalversammlung vom 14. September 1906.
Zu Beginn der gut besuchten Sitzung referiert der Vorsitzende
Scher pf über die Tätigkeit des Vereins während der abgelaufenen
Saison und gibt den Stand desselben bekannt, wonach der ärztliche
Bezirksverein 2 Ehren-, 2 korrespondierende und 42 ordentliche Mit¬
glieder zählt, unter letzteren 6 ausserhalb des Bezirks praktizierende
Kollegen. In der Stadt Kissingen sind 8 Aerzte tätig, die dem hiesigen
Verein fernstehen, dagegen gehören alle (55) Kollegen des Bezirks
mit Ausnahme eines einzigen, in Kissingen praktizierenden älteren
Arztes dem Leipziger Verbände an. Die Vorstandschaft des letzteren
hat die Tätigkeit des hiesigen Vereins und speziell der Vertrags¬
kommission desselben anerkannt, da „dieselbe sich um das Los der
ihr unterstehenden Kassenärzte in hervorragender Weise an¬
genommen und für bedeutende Erhöhung der Bezüge derselben in
Stadt und Bezirk Sorge getragen hat.“
Die Kasse des Vereins weist bei 2729 M. Einnahmen, einem Bank¬
guthaben von 200 M. und 2357 M. Ausgaben einen Bestand von
572 M. auf.
Im weiteren Verlaufe des Abends wird der Einlauf vorgelesen,
darunter ein Brief aus Marienbad, in welchem die Reform der Kur¬
diät, wie sie hier in dieser Saison eingeführt worden, anerkannt und
ein dem hiesigen Diätzettel ähnlicher Entwurf für Marienbad bei¬
gelegt ist.
Eine längere Diskussion entwickelt sich über die neuen Ein¬
richtungen zum Zwecke der Staubentfernung aus den Häusern
(Vakuum-, Atomgesellschaft etc.), durch deren Einführung das un¬
angenehme Klopfen der Teppiche am Ende der Saison in Kissingen
beseitigt würde; es wurde beschlossen, eine diesbezügliche Eingabe
an das Kgl. Badekommissariat zu richten und eine oder die andere
Gesellschaft zu veranlassen, Probevorführungen mit den neuen Appa¬
raten hier vorzunehmen.
Eine weitere hygienische Verbesserung ist mit dem Bau einer
neuen städtischen Bade- und Schwimmanstalt beabsichtigt, deren
Projekt und Plan von seiten der Stadtverwaltung dem ärztlichen
Verein in anerkennenswerter Weise zur Begutachtung vorgelegt
wurde; es wurde beschlossen, an die Stadt das Ansuchen zu stellen,
gleichzeitig mit Ausführung dieser neuen, in jeder Beziehung zweck¬
mässigen Tlussbadeanstalt ein modernes Luftbad zu errichten, was,
wie der Vorsitzende mitteilt, von seiten der Stadt auf Annahme
rechnen kann.
Einen längeren Zeitraum beansprucht die Besprechung der
Wünsche und Anträge, die der im Oktober hier tagenden Kurkom¬
mission von seiten des ärztlichen Bezirksvereins vorgelegt werden
sollen, und schliesslich werden etwa 30 Punkte festgesetzt, die der
Delegierte des Vereins in der Kommission zu vertreten hat. Die
hauptsächlichsten Wünsche betreffen Verbesserungen von Bädern
und Badeeinrichtungen, eingehendere Schulung und Vermehrung des
Badepersonals, Abgabe von Bädern nur gegen ärztliche Verordnung,
Quellenschutz und Neubohrungen, Errichtung einer physikalisch¬
hydrotherapeutischen Anstalt, bessere Bahnverbindung, Anstellung
eines Vergnügungskommissärs usw. In erfreulicherweise sind einzelne
der Punkte inzwischen von seiten der Kgl. Staatsregierung für die
nächste Saison bewilligt und zur Ausführung in Aussicht genommen
worden; so soll vor allem der Kurgarten in mustergültiger Weise
auf dem jenseitigen Ufer der Saale erweitert, grosse Spielplätze an¬
gelegt werden usw.
Als letzter Punkt der Tagesordnung wurden die statutenmässigen
Wahlen vorgenommen; die bisherige Vorstandschaft wurde wieder
gewählt (Vorsitzender: S c h e r p f, Schriftführer: Wahle, Kassier:
G 1 e i s s n e r). Wahle.
Verschiedenes.
Toleranz eines Kindes gegen Morphium.
Einem 8 Monate alten, an Brechdurchfall erkrankten Kinde gab
die Mutter an einem Vormittag versehentlich statt Kalomel aus einer
ähnlichen Schachtel ein anderes Pulver, das der Grossmutter des
Kindes vor Monaten verordnet worden war. Dem Vater fiel bald
danach auf, dass das Kindchen blau wurde, röchelte und wie tot da¬
lag. Er bemerkte nun die Verwechslung und brachte mir sofort den
Rest der falschen Pulver. Es war mir nicht möglich, völlige Klarheit
über die Art derselben zu erlangen, da sie nicht in der hiesigen
Apotheke hergestellt waren. Auf der Fahrt zu dem kleinen Patienten
begriffen, erhielt ich aber vom hiesigen Apotheker die telephonische
Nachricht, dass es sich um Morphium handle.
Ich fand das Kind tief komatös. Gesicht und Extremitäten zyano¬
tisch, Puls kaum fühlbar, Temperatur 35,5 in der Achselhöhle, Pupillen
kaum stecknadelkopfgross. Es gelang leider nicht, eine Magenspülung
zu machen, ebenso erfolgte trotz Bemühung kein Erbrechen. Ich ver-
ordnete demnach Erwärmung und Frottierung des Körpers, Zufuhr
von Thee und starkem Kaffee, Essigklystiere, Atropin, sulfur. 0,0001
3 mal täglich. Gegen Abend erholte das Kind sich langsam, es er¬
folgte reichlicher, grün gefärbter Stuhlgang und starkes Erbrechen
(ungefähr 12 Stunden nach der Vergiftung!) und am folgenden Tag
war das Kind ohne merkliche Spuren des Verfalls wieder völlig ge¬
sund; es spielte mit dem Vater wie früher, trank gierig, nur waren die
Pupillen noch sehr eng.
Eine Anfrage bei dem Apotheker, der die versehentlich gereichten
Pulver abgegeben hatte, ergab, dass jedes derselben 0,02 Morphium
enthielt, das Kind: somit das 20‘fiche der für Kinder geltenden MaxiJ
maldosis erhalten und vertragen hatte, ohne dauernde Schädigung.
Aus diesem Grund erlaube ich mir den Vorfall zur allgemeinen
Kenntnis zu bringen. Kantonalarzt Dr. P o r z e 1 1 - Busendorf.
Versicherungskasse fiir die Aerzte Deutschlands.
Mit dem 1. Oktober ist die neue Satzung der Versicherungskasse
für die Aerzte Deutschlands in Kraft getreten.
An wichtigen Neuerungen ist zu bemerken:
das Fallenlassen des zweiten ärztlichen Zeugnisses im Krank¬
heitsfälle und Zulassung nur eines ärztlichen Zeugnisses auch für die
Aufnahme und den Invaliditätsfall;
16. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2087
die Anrechnung von freier Wohnung und Station auf das Ein¬
kommen mit 15ÜÜ M.;
Bl'?. Ei Weiterung des Aushilfefonds zu einem Unterstützungs¬
fonds für Mitglieder und deren Hinterbliebene, sowie zu Kur- und
Heilzwecken ;
'n de‘ Sterbekasse: die Erhöhung des versicherten Sterbegeldes
auf 1000 M.;
Inf« Witwenkasse: die Erhöhung der versicherbaren Rente auf
in dei Kranken- und Invaliditätskasse: die Ausschliessbarkeit des
Unfalles unter Herabminderung der Prämien um 10 Proz.;
in der Krankenkasse: die Versicherbarkeit von Erkrankungen
von weniger als 8 Tagen Dauer durch Prämienzuschlag von 20 Proz.;
in der Witwenkasse die Ausdehnung der Versicherung auf Mutter
Schwester, kurz alle weiblichen Angehörigen;
in allen Abteilungen: die Abkürzbarkeit der Prämienzahlungen
aut den Invaliditätsfall oder auf ein bestimmtes Alter.
Der Stand der Arbeit laut dem letzten Jahresbericht war am
31. XII. 05: 933 Mitglieder, 2003 Versicherungen mit insgesamt
fj- J?5™®--.., Sterbegeld, M. 5635,90 täglichem Krankengeld,
M. 706 271.15 jährlicher Invalidenrente, M. 183 938.90 jährlicher Alters¬
rente, M. 116 950 jährlicher Witwenrente, M. 1 107 961 95 Kassen¬
vermögen, M. 1 286 044.28 Stiftungsvermögen.
Jede weitere Auskunft, insbesondere auch die Drucksachen sind
unentgeltlich zu haben bei unserer Geschäftsstelle: Berlin Lands¬
berger-Platz 3.
Das Direktorium der Versicherungskasse für die
A e r z t e Deutschlands a. Q. zu Berlin.
Die Tollwut-Schutzimpfungen am Institut Pasteur zu Paris im
Jahre 1905.
Nach dem von V i a 1 1 a, wie alljährlich, so auch für das Jahr
1905 veröffentlichten Bericht wurden 728 Personen am Pariser In¬
stitut Pasteui behandelt. Davon verstarben 4 an Tollwut, worunter
jedoch 1 Person, bei welcher die Tollwut vor Ende der Behandlung
auftrat. Die Gesamtsterblichkeit betrug also 0,54 Proz., beinahe
ebensoviel, wie im vergangenen Jahre (1904), wo bei 755 Behandel¬
ten 3 Todesfälle vorkamen. Die Einteilung der Fälle erfolgt 1. in
solche, bei welchen die Tollwut des beissenden Tieres experimentell
(166), 2. in solche, für welche dessen Tollwut durch tierärztliche
Untersuchung festgestellt wurde (306 Fälle, 2 Todesfälle) und 3 wo
das heissende I ier wutverdächtig war (255 Fälle). Die Bisse er-
folgen meist an den Händen (406), dann an den Unterextremitäten und
Stamm (278), 43 an Kopf und Händen. Der Nationalität nach gehörten
nur 6 dem Auslan.de, davon 4 England, an, 721 waren Franzosen aus
den verschiedensten Departements. Es sei erwähnt, dass neben jenem
zu Paris noch 5 andere Institute zur Tollwutbehandlung in Frank¬
reich vorhanden sind. Die 4 tödlich verlaufenen Fälle werden kurz
beschrieben. (Annales de l’institut Pasteur, Juni 1905.) St.
Gerichtliche Entscheidungen.
Eine bemerkenswerte Entscheidung in einem Kran-
ef.n k a s ?.e n s | r e ’ * hat das sächsische Oberverwaltungsgericht
gefallt. Ein Arbeiter hatte während der Nacht für seine schwer
erkrankte Frau, deren Zustand ihm eine sofortige Operation not-
wendig zu machen schien, die Hilfe eines Kassenarztes angerufen
und da dieser mit der Begründung, es sei zur Operation noch nicht
, eit, sich nicht sofort zur Verfügung stellte, sich an einen Nicht¬
kassenarzt gewandt. Dieser sah die Operation in der Tat als
dringend an, nahm sie sofort vor und behielt die Kranke bis zur
Genesung in Behandlung. Die Krankenkasse wollte nun zwar die
Operationskosten tragen, verweigerte aber die Zahlung der einige
hundert Mark betragenden Kosten der Nachbehandlung; sie wies
daraut hm, dass nach der Operation für die Nachbehandlung ein
anderer Kassenarzt hatte herangezogen werden können. Die" Ein¬
wendung der krau, dass sie zu diesem kein Vertrauen gehabt habe
sm belanglos. Das Oberverwaltungsgericht entschied jedoch auf das
in! ~!mer ™edlz>nischen Autorität hin, dass die Operation
dringend notig und es für die volle Wiederherstellung der Kranken
wesentlich gewesen sei, dass der Arzt ihres Vertrauens auch weite
zugezogen wurde. In dem Kassenstatut stehe ausdrücklich dass
die Kasse für die aiztliche Behandlung in der für die Genesung der
auch" die Ä'dSbSa/ef “b”,e" habe’ deshalb0^““=^i<=
Cohn. Nekrolog siehe Seite 2064. "mann
Therapeutische Notizen.
Auf Grund sorgfältiger Tierversuche bestätigt E. O F Springe
t e 1 d t die ungünstigen Erfahrungen über G r i s e r i n, die von ärzt¬
licher Seite an Kranken gesammelt wurden. Der tuberkulöse Prozess
konnte bei künstlich tuberkulös gemachten Meerschweinchen durch
die verschiedensten Methoden der Griserinbehandlung weder aufge-
haiten noch trehe.lt werden. Eine innere Desinfektion lässt sich mittels
des Griserins weder beim Menschen noch beim Tier bewirken. (Diss.
Giessen. Aus dem path. Inst. d. k. tierärztl. Hochsch. zu Berlin, 1906.)
F. L. ’
Hellmuth Peters hat am pharmakol. Institut in Giessen Unter¬
suchungen über Jodipinresorption angestellt und gefunden, dass
das Jodipin dadurch, dass es bei Einspritzungen an Ort und Stelle’ stark
und lange haftet, ein Mittel ist, um bestimmte Bezirke des Körpers unter
dauernde Jodwirkung zu setzen. Trotz langen Verweilens des Jo-
dipms am Orte der Einspritzung waren keinerlei Veränderungen oder
Zerstörungen der Gewebe nachzuweisen. Eine Giftwirkung wurde
in den 1 ierversuchen des Verfassers in keinem Falle gefunden. Ver¬
fasser hält das Präparat für wohl geeignet, bei Einspritzungen an
Uit und Stelle lang dauernde Lokalwirkung hervorzurufen (Diss
Giessen, 1905.) p L '
Einen Beitrag zur Wirkung des Isopral und Ve-
innri liefert, die, Dissertation von Hermann Opitz (Rostock
1906 Aus den Untersuchungen Opitz’ geht hervor, dass das
1 s o p r al dem Veronal an Intensität der Wirkung nachsteht
immerhin ein ganz gutes, brauchbares Mittel bei einfacher
Schlaflosigkeit, zumal da es infolge seines nur geringen schädlichen
Einflusses auf das Herz in diesem Fall lange Zeit gegeben werden
kann. Verfasser empfiehlt es daher als ein gutes Mittel für die
Priyatpraxis bei Nichtgeisteskranken. Als Normaldosis bezeichnet
er 1,0 g, doch erzielte er auch mit 0,5 g schon gute Erfolge; mit
Erhöhung der Dosis ist eine Besserung des Resultats zu bemerken,
bchlaf trat gewöhnlich nach Vs Stunde ein und dauerte 5—9 Stunden.
Das Veronal übt nach Opitz eine ausserordentlich gute Schlaf¬
wirkung bei allen mit Depression einhergehenden Erkrankungen
ebenso bei Erregungszuständen aus; der Schlaf ist fest, durchschnitt-
i. v— 11 Stunden andauernd und tritt nach ungefähr 14—1 Stunde
ein. Normaldosis 0,75 g. Giftige Nebenwirkungen oder eine Ge¬
wöhnung konnten ebensowenig wie beim Isopral festgestellt werden
F. L.
Aus der Arbeit von Hugo Tischler: Ueber die Tech-
n 1 k d e r kochsalzarmen Ernährung ergibt sich, dass für
die Zwecke einer solchen Ernährung ausser Milch, Käse, Obst Frucht¬
suppen, Fruchtsäfte, Kompott und Mehlspeisen Fleisch in möglichst
salzarmer Zubereitung zu reichen und ein Teil des Fleischquantums
durch Gelees, Eier etc. zu ersetzen ist. Von Butter ist nur unge¬
salzene zu benutzen und auch nur solche bei der Herstellung der Ge
r,tcü,zu, verwen'den- Die kochsalzarmen Rohgemüse: Blumen¬
kohl, Kohlt aben und Kürbis verdienen den Vorzug vor kochsalz-
reichen Sorten wie Spinat, Kopfsalat, Sellerie etc. Von Gebäck ist
Weissbrot und besonders Zwieback dem Schwarzbrot vorzuziehen
(Diss. Leipzig 1906.) p p
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 16. Oktober 1906.
— Einen wichtigen Beitrag zur Krebsfrage enthält die Arbeit
von Di. Bernhard Fischer in Bonn, die wir in unserer heutigen
Nummer ,zum Abruck bringen. Es ist Dr. Fi s c h e r gelungen auf
expei imentellem Wege atypische Epithelwucherungen zu erzeugen
die, wie ein Blick auf die beigegebene Tafel zeigt, von echtem Kar¬
zinom nicht zu unterscheiden sind. Damit ist ein Problem gelöst
mit dem sich die Karzinomforschung seit langem, bisher aber vergeb¬
lich, beschäftigt hat. Der Verfasser benützt seine Entdeckung in sehr
geistremher Weise zur Aufstellung einer neuen Theorie über Wesen
und Wachstum maligner Geschwülste. Wie weit diese Theorie fer¬
nerer Kritik und Erfahrung Stand halten wird, muss sich noch zeigen.
^ oviel scheint aber sicher, dass die von Fischer gefundenen Tat¬
sachen der Krebsforschung, die wie Leyden auf der Krebskonfe¬
renz in Heidelberg sagte, auf einem toten Punkt angelangt war
emen neuen Weg eröffnen, auf dem weiteres erfolgreiches Vordringen
möglich ist. s
— Die S p e z i a 1 arztfrage steht in neuerer Zeit wieder im
Vordergründe der Diskussion, sowohl in der Fachpresse, wo be¬
sonders der in No. -5 und 26 dieser Wochenschrift erschienene Artikel
von Geheimrat Quincke den Anstoss dazu gegeben hat, wie in
Vereinen In voriger Nummer (S. 2037) haben wir die Vorschläge
mitgeteilt welche die Kommission des R o s t o c k e r Aerztevereins
zur Beratung der Spezialistenfrage gemacht hat. Diese Vorschläge
stiessen auf lebhaften Widerstand im Verein und haben wohl wenig
DUrSpS',C?iP RAnnaume' Der ärztliche Bezirksverein
* °ien5e Beschlusse gefasst: „Die Bezeichnung als
Spezialist ist unstatthaft wenn 1. das zu betreibende Heilgebiet will¬
kürlich gewählt und nicht scharf genug abgegrenzt erscheint, um als
Spezialgebiet zu gelten, 2. es durch seine zu enge Begrenzung einer
Zersplitterung der Heilkunde in zu viele Spezialfächer Vorschub zu
leisten droht, 3. ein Arzt mehrere Heilgebiete spezialistisch betreiben
. . ’ Ye^he keine nahen Beziehungen zueinander haben, 4. Aerzte
sich als Spezialisten für bestimmte Heilverfahren bezeichnen, sofern
hC A usubung dieser Verfahren nicht an besonders auszubildende
Handfertigkeit oder an sachkundige Verwendung besonderer Apparate
gebunden ist. Die praktische Durchführung dieser Grundsätze, wenn
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT'.
?088
No. 42.
der Verein dazu überhaupt in der Lage ist, dürfte sich sehr schwierig
gestalten und oft genug auf Widerspruch stossen. Schliesslich dürfte
wohl Quincke Recht behalten, wenn er sagt, es scheine ihm
„nicht möglich, dass der Staat hier Schranken errichte, aber ebenso
unzulässig, dass ärztliche Vereine Normen aufstellen, welche an alte
Zunftregeln erinnern und doch immer sehr willkürlich seien; es
werde nichts übrig bleiben, als den subjektiven Spezialistenbezeich¬
nungen ihren Lauf zu lassen. Der jetzt bestehende Nimbus um den
„Spezialarzt“ werde dann schwinden und das Publikum selbst zu
unterscheiden haben, ob die Flagge echt ist, oder nur der Reklame
dienen soll.
— Zur Frage der Führung des Titels „S p e z i a 1 a r z t für
Zahn- und Mundkrankheite n“ seitens zahnärztlich nicht
approbierter Aerzte liegt eine neue gerichtliche Entscheidung vor.
Nachdem der in Dresden praktizierende Spezialarzt für Zahn- und
Mundkrankheiten Dr. B r e i t b a c h von der Anklage, mit seinem
Titel gegen die Gewerbeordnung verstossen zu haben, freigesprochen
worden war, klagte der Verein der approbierten Zahnärzte Dresdens
gegen Dr. Breitbach wegen unlauteren Wettbewerbs, dessen er
sich durch seine Titelführung schuldig mache. Am 28. September 1906
spracht das Oberlandesgericht Dresden den Beklagten frei.
— ln dem Schweizer Kanton Waadt sind seit Ende des vor.
Jahrhunderts vereinzelte Fälle von Lepra vorgekommen. Prof.
Jadassohn - Bern hat darüber in Verbindung mit Waadtländischen
Aerzten eine eingehende Untersuchung veranstaltet und im ganzen
fünf Krankheitsfälle festgestellt. Jadassohn beantragt Isolierung
der Kranken, event. in einem eigens zu errichtenden Gebäude. Da
die Uebertragung der Lepra nur durch intimen Verkehr mit den
Kranken erfolgt, so besteht keine Gefahr einer weiteren Verbreitung.
— Die bayerischen Aerztekammern sind auf 29. Ok¬
tober zu ihren diesjährigen Beratungen einberufen.
— Unser römischer Mitarbeiter, Herr Prof. Giov. G a 1 1 i, hat
dieser Tage in Rom, Piazzale Policlinico 139 eine Privatklinik
für innere Krankheiten eröffnet. Die Klinik befindet sich in
einer Villa mit grossen sonnigen Räumen, schönem Garten, in bester,
gesündester Lage Roms und ist allen Anforderungen der modernen
Therapie entsprechend eingerichtet. Es wird vielen deutschen Aerzten
im Interesse ihrer Kranken erwünscht sein, in Rom die Adresse einer
zuverlässig geleiteten, einem deutsch sprechenden Arzte unterstehen¬
den Heilanstalt zu kennen.
— Im Verlag von Otto Tobias in Hannover erscheint unter
dem Titel „D a s K i n d“ eine neue Monatsschrift für Kinderpflege, Ju¬
genderziehung und Frauenwohl. Dieselbe wird unter Mitwirkung von
Aerzten, Pädagogen und Frauen von Dr. Eugen N e t e r, Kinderarzt
in Mannheim, herausgegeben und kostet ganzjährig 3.50 Mark.
— Cholera. Philippinen. Im August wurden aus Manila
242 Choleraerkrankungen (mit 192 Todesfällen) gemeldet, aus den
Provinzen 1910 (1480).
— Pest. Türkei. In Adalia sind vom 16. bis 23. September
3 neue Pesterkrankungen gemeldet. — Aegypten. Vom 15. bis
21. September wurden 11 neue Erkrankungen (und 4 Todesfälle) an
der Pest gemeldet. — ßritisch-Ostindien. Während der beiden am
8. und 15. September abgelaufenen Wochen sind in der Präsidentschaft
Bombay 2478 + 3072 neue Erkrankungen (und 1850 + 2257 Todes¬
fälle) an der Pest zur Anzeige gelangt.
— In der 39. Jahreswoche, vom 23. bis 29. September 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblich¬
keit Posen mit 25,4, die geringste Schöneberg mit 6,4 Todesfällen pro
Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Gestorbenen
starb an Scharlach in Beuthen, Elbing, Königshütte, an Diphtherie und
Krupp in Lichtenberg. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Berlin. Seinen 70N Geburtstag feierte am 10. Oktober der
Chirurg, ord. Honorarprofessor an der Berliner Universität, Geh.
Med.-Rat Dr. med. Edmund Rose, bis 1903 Leiter der chirurgischen
Abteilung des Krankenhauses Bethanien, (hc.)
Breslau. Den beiden Oberärzten der chirurgischen Klinik
Dr. L u d 1 o f f (orthopäd. Abt.) und Dr. Anschütz (klin. Abt.) ist
der Professortitel verliehen worden.
Königsberg i. Pr. Der ausserordentliche Professor für
Psychiatrie und Direktor der psychiatrischen Klinik an der Universität
Königsberg, Medizinalassessor Dr. med. Ernst Meyer wurde zum
ordentlichen Professor ernannt.
Marburg. An Stelle des nach Freiburg übergesiedelten Prof.
A s c h o f f wurde Prof. Beneke - Königsberg zum Professor der
pathol. Anatomie und Direktor des pathol. Instituts ernannt.
R o s t o c k. Habilitiert: Dr. med. Hans Winterstein, Volon¬
tärassistent bei Prof. Langendorff am physiologischen Institut
Rostock mit einer Probevorlesung: „Ueber die Ermüdung“.
Kopenhagen. Nach einer von der medizinischen Welt mit
grossem Interesse verfolgten Bewerbung wurde der Privatdozent
Dr. V. Schaldemose von dem Zensurausschuss dem Ministerium
zum Oberchirurg der Abteilung D des Kgl. Frederiks-Hospital und zum
Dozent für Chirurgie anstatt des verstorbenen Prof. Wanscher
vorgeschlagen.
Prag. Prof. Hueppe wurde von der Universität Aberdeen
anlässlich ihrer 400 jährigen Jubelfeier zum Dr. jur. utr. honoris causa
gewählt. .
“ ~ ■ _ - - ■ ■ — - - - -
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Niederlassung. Dr. Karl Borsutzky, appr. 1885, in
Regensburg. Dr. Heinrich Bräutigam, appr. 1901. in Nürnberg.
Verzogen. Dr. Jos. Rampf von Königstein (Oberpfalz) nach
Lauterhofen (Oberpfalz).
Versetzt: Der Landgerichtsarzt Dr. Viktor E r d t in Schwein-
furt, seiner Bitte entsprechend, auf die Landgerichtsarztsstelle beim
Landgerichte München II.
Ernannt: Der prakt. Arzt Dr. Philipp Bauer in Weiden,
seiner Bitte entsprechend, zum Bezirksarzt I. Klasse in Neun¬
burg v/W.
Erledigt. Die Landgerichtsarztstelle in Schweinfurt. Be¬
werber um dieselbe haben ihre vorschriftsmässig belegten Gesuche
bei der ihnen Vorgesetzten Kgl. Regierung, K- d. Innern, bis zum
29. Oktober 1. J. einzureichen.
Generalkrankenrapport über die K. Bayer. Armee
für den Monat August 1906.
Iststärke des Heeres:
68218 Mann, — Kadetten, 143 Unteroffiziersvorschiiler.
Mann
Kadetten
Unteroffiz. -
vorschüler
1. Bestand waren
am 31. Juli 1906:
940
1
im Lazarett:
987
—
12
2. Zugang: \
im Revier:
1687
—
—
in Summa:
2674
—
12
Im ganzen sind behandelt:
3614
—
13
°/<K)
der Iststärke:
53,0
—
90,9
dienstfähig:
2403
—
7
°/oo der Erkrankten:
664,9
—
538,5
3. Abgang:
gestorben:
9
—
—
u/oo der Erkrankten :
invalide:
2,5
—
—
*) Darunter 6 un¬
mittelbar nach
39
—
—
der Einstellung.
dienstunbrauchbar:
9*)
—
—
anderweitig:
86
—
—
l in Summa:
2546
—
7
4. Bestand
in Summa:
1068
—
6
°/oo der Iststärke:
15,7
—
42,0
bleiben am
davon im Lazarett:
706
—
6
31. Aug. 1906
davon im Revier:
362
—
—
Von den in Ziffer 3 aufgeführten Gestorbenen haben gelitten an:
Lungenentzündung 2, übertragbarer Gelbsucht (Weil sehe
Krankheit) 1, Lungentuberkulose 1, Gelenkrheumatismus 1, Gehirn¬
geschwulst 1, lymphatischer und linealer Leukämie 1, Darmzerreis-
sung nach Hufschlag 1; 1 Mann wurde von einem Eisenbahnzug
überfahren.
Ausserdem kamen noch 2 Todesfälle ausserhalb der ärztlichen
Behandlung vor: 1 Mann starb infolge Schädelbruchs durch Fall von
einer steinernen Treppe; 1 Mann endete durch Selbstmord (Sturz
aus grosser Höhe).
Der Gesamtverlust der Armee durch Tod betrug demnach im
August 11 Mann.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 39. Jahreswoche vom 23. bis 29. September 1906'.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 12 (18* *),
Altersschw. (üb. 60 J.) 6 (5), Kindbettfieber — (— ), and. Folgen der
Geburt 2 (— ), Scharlach 1 (— ), Masern u. Röteln — (— ), Diphth. u.
Krupp 3 (2), Keuchhusten 2(3), Typhus — (— ), übertragb. Tierkrankh.
— (— ), Rose (Erysipel) — ( — ), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 2 (2), Tuberkul. d. Lungen 25 (18), Tuberkul. and.
Org. 4 (7) Miliartuberkul. — ( — ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 8 (6),
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. — (— ), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 2 (1), sonst. Krankh. derselb. 2 (3), organ. Herzleid. 10 (19),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 2 (5), Gehirnschlag
10 (8), Geisteskrankh. 1 (— ), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 2(2), and.
Krankh. d. Nervensystems 2 (5), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 36 (58), Krankh. d. Leber 3 (3), Krankheit, des
Bauchfells — (3), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 2 (3), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 6 (4), Krebs (Karzinom, Kankroid) 14 (18),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 1 (4), Selbstmord 1 (1), Tod durch
fremde Hand — (2), Unglücksfälle 3 (3), alle übrig. Krankh. 5 (3).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 167 (206), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 16,1 (19,8), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 10,9 (11,7).
t) Die Kadetten waren während des Berichtsmonats beurlaubt.
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerd A.G., München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umfang von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 A- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
jH 6.—. * Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren: Für die Redaktion A-mt!!1-
strasse 26! Bureauzeit der Redaktion von 872— 1 Uhr. * Hir
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 15a. * Für
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Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
0. v. Angerer, Ch. Bäumler, O.vJollinpr, H. Cursctimann, H. Helfericti, W. v. Leube, G.ierkel, J. v. Michel, F. Penzolili, H.v. Ranke, B. Spatz, F.v.Winckel,
München.
Freiburg i. B.
München.
Leipzig.
Kiel.
Würzburg. Nürnberg.
Berlin.
Erlangen.
München. München
München
No. 43. 23. Oktober 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 15a.
53. Jahrgang.
Originalien.
Aus der Universitäts-Frauenklinik zu Strassburg.
Pubeotomie und künstliche Frühgeburt.*)
Von H. Fehling.
Seit bald 100 Jahren hat sich die Stellung der künstlichen
Frühgeburt in der Geburtshilfe immer mehr befestigt, bis die¬
selbe erschüttert schien durch die Behauptung Zweifels,
dass die Erfolge derselben trügerisch seien, weil von den
durch künstliche Frühgeburt erzielten Kindern am Schlüsse
des ersten Lebensjahres kaum noch eins am Leben sei. Noch
einen Schritt weiter ging Krönig, der die künstliche Früh¬
geburt nicht mehr unter diejenigen Operationen gezählt sehen
wollte, welche die Prognose für das kindliche Leben bessere.
Es ist nun im Interesse der klinischen wie der praktischen
Geburtshilfe notwendig, gegen diese Anschauungen energisch
Front zu machen. Ich habe gerade in hiesiger Stadt besondere
Veranlassung, dies zu tun, in welcher ich vor nunmehr
25 Jahren begann, die künstliche Frühgeburt systematisch ein¬
zuleiten. Die Resultate wurden seinerzeit von Dr. H a i d 1 e n
veröffentlicht, dahingehend, dass bei den künstlichen Frühge¬
burten 80 Proz., bei den Spontangeburten derselben Frauen
kaum 20 Proz. der Rinder lebend geboren wurden. Schlagend
wird die Zweifel sehe Anschauung widerlegt durch ein
Familienbild aus hiesiger Stadt, welches ich Ihnen herumreiche.
Bei der ersten Entbindung der betr. Frau musste das Rind
wegen allgemein verengten Beckens perforiert werden. Darauf
wurde viermal die künstliche Frühgeburt hier, je einmal in
Basel und Halle von mir eingeleitet. Sämtliche Rinder kamen
lebend; 5 davon, im Alter von 11—22 Jahren, erfreuen sich
heute noch bester Gesundheit. Ich hätte Ihnen am liebsten die
Kinder in vivo vorgeführt, was sich aber aus begreiflichen
Gründen nicht einrichten liess.
Nun muss man aber nicht bloss zeigen, dass mehr Rinder
durch die Frühgeburt geboren werden, sondern dass sie auch
tatsächlich am Leben bleiben, v. Herff hat aus der BaslerRlinik
durch eine sehr dankenswerte Arbeit von seinem Schüler
Hunziker zeigen lassen, wie bei künstlicher Frühgeburt
20 Proz. mehr Rinder lebend entlassen werden, als nach Spon¬
tangeburten bei denselben mit engem Becken behafteten Frauen.
Ferner hat Hunziker zum ersten Male sich der müh¬
samen Arbeit unterzogen, den späteren Lebensschicksalen der
durch künstliche Frühgeburt geborenen Rinder nachzuspüren.
Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass von den nach
Spontangeburten lebend entlassenen Rindern am Ende des
ersten Lebensjahres 87,5 Proz. Rinder leben, von den künstlich
Frühgeborenen 82,7 Proz. Durch Nachforschungen nach den
bis vor 20 Jahren in der Klinik durch Frühgeburt erhaltenen Rin¬
dern fand sich, dass von 106 lebend Spontangeborenen zur Zeit
noch 65 Proz. leben, von 196 lebend Frühgeborenen 62,5 Proz.
Demnach stellen sich die künstlich frühgeborenen Rinder im
späteren Leben nicht schlechter als die spontangeborenen (meist
reifen Rinder), dabei ist nicht zu vergessen, dass bei Frühge¬
burten 20 — 30 Proz .mehr lebende Rinder erzielt werden.
*) Vortrag in der Abteilung für Gynäkologie der Naturforscher¬
versammlung zu Stuttgart.
No. 43.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Zu einer ähnlichen Zusammenstellung veranlasste ich Herrn
Dr. Schneider an dem Material der Strassburger Klinik.
Die erhaltenen Zahlen beziehen sich auf die Zeit vom 1. Ja¬
nuar 1891 bis 30. Juni 1905. In dieser Zeit sind 110 künst¬
liche Frühgeburten wegen engen Beckens verzeichnet. Ich
will Sie hier nicht mit ausführlichen Zahlenangaben langweilen,
sondern nur folgendes kurz anführen.
Es ergab sich als lebend entlassen 61,8 Proz. der
Kinder, von den lebend geborenen 76,6 Proz. der Rinder.
Von den lebend Entlassenen lebten länger als 1 Jahr 82,35 Proz. ;
von den durch künstliche Frühgeburt lebend erzielten Früchten
lebten zur Zeit noch 52,5 Proz. Sehr interessant ist nun der
Vergleich mit den Ergebnissen des Kaiserschnitts. Leider
stehen aus derselben Zeit nur 27 Kaiserschnitte zum Vergleich
zur Verfügung. Hier wurden lebend geboren 92,3 Proz., bei
künstlicher Frühgeburt 80,9 Proz. Von den lebend Entlassenen
lebten am Ende des ersten Lebensjahres jedoch nur noch 63,6
Proz. gegen 82,35 Proz. bei der künstlichen Frühgeburt.
Dieser Umstand ist sehr auffallend, denn die Kaiser¬
schnittskinder sind selten frühgeboren, meist reif und kräftig,
also sollten sie bessere Aussicht zum Weiterleben haben. Der
Grund ist wohl darin zu suchen, dass unter den zur Frühgeburt
sich einstellenden Frauen mehr solche vorhanden sind, welche
zumal nach wiederholt unglücklich verlaufenen Geburten ein
doppeltes Interesse daran haben, ihr Rind durch Stillen oder
gute Pflege am Leben zu erhalten, während unter den durch
Kaiserschnitt entbundenen Frauen sich eine grössere Zahl Erst¬
gebärender und Lediger befindet, bei welchen dieses Interesse
wegfällt. Es wäre nun von grossem Wert und Interesse, wenn
Zweifel und Leopold an ihrem weit grösseren Material
von Kaiserschnitten eine vergleichende Untersuchung aus¬
führen lassen wollten.
Jedenfalls aber lässt sich heute schon mit absoluter Sicher¬
heit sagen, dass die künstliche Frühgeburt die Prognose für das
Leben des Rindes ganz wesentlich bessert und sogar bessere
Resultate ergibt als der Kaiserschnitt, welcher immerhin mehr
Gefahren für die Mutter in sich birgt als die künstliche Früh¬
geburt, und nach welchem am Ende des ersten Lebensjahres
weniger Kinder leben als nach der Frühgeburt.
Nun zur Pubeotomie.
Die Gegner der künstlichen Frühgeburt suchen den Ersatz
derselben teils in der Pubeotomie, teils in Symphyseotomie
und Kaiserschnitt.
Ich will mich hier nur mit der Pubeotomie beschäftigen.
D ö d e r 1 e i n hat das zweifellose Verdienst, zur Einführung der¬
selben in Deutschland durch Wort und Tat viel beigetragen zu
haben. Alle klinischen Geburtshelfer und Vorstände geburts¬
hilflicher Abteilungen sind zurzeit bestrebt, Erfahrungen über
diese Operation zu sammeln. So viel steht heute schon fest,
dass die Pubeotomie weniger gefährlich ist als die Symphyseo¬
tomie, dass Blasen- und Weichteilverletzungen weniger häufig
Vorkommen und dass die Blutungen nicht so profus sind. Leider
sind aber auch Todesfälle für Mutter und Rinder nicht aus¬
geblieben und ist vorläufig die Prognose für die Mutter tat¬
sächlich ungünstiger als bei der künstlichen Frühgeburt; wäh¬
rend allerdings der Prozentsatz der lebend geborenen Rinder
ein grösserer zu sein scheint.
1
)90
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
Ob an die Pubeotomie jederzeit sofort die Extraktion der
Kinder angeschlossen werden soll oder ob man danach noch
abwarten soll, ist zur Zeit noch Kontroverse. Unserer Er¬
fahrung nach kommt beides in Betracht, doch muss man sich
beim abwartenden Verfahren hüten, die. Beckenerweiterung
vorzunehmen, bevor man genügend Zeit gehabt hat, zu be¬
obachten, was die Naturkräfte im betr. Fall zu leisten im
stände sind.
Die Pubeotomie erlaubt eher abzuwarten als die Sym-
physeotomie. Nach meiner allerdings kleineren Erfahrung bei
letzterer stand hier die Blutung meist erst, wenn das Becken
wieder in seinen Ring geschlossen war, während bei der Pubeo¬
tomie nach Durchsägung der Knochen und Naht der Hautwunde
die Blutung steht, auch wenn das Becken noch klafft.
Die beste Prognose ergibt natürlich auch hier die Geburt
lh Schädellage wie bei der künstlichen Frühgeburt, und gerade
das Abwarten gibt dem Kopf Zeit ins Becken einzutreten und
vermeidet gefährliche Eingriffe für das Kind.
Ich habe schon bei der ersten Pubeotomie, die ich aus¬
führte, dieselbe zur Unterstützung der künstlichen Frühgeburt
vorgenommen.
Bekanntlich ist nichts schwieriger als die exakte Fest¬
stellung des Zeitpunktes zur Einleitung der künstlichen Früh¬
geburt. Der Rahmen ist ein sehr enger, zwischen 35. — 37.
Woche. Lieber wartet man etwas länger, und stellen sich bei
Einleitung der Frühgeburt Gefahren für Mutter und Kind ein,
so erweitert man, falls Zange oder Wendung nicht eingreifen
können, künstlich das Becken.
Die Pubeotomie nach Dührssens Vorschlag mit vagi¬
nalem Kaiserschnitt zu kombinieren, z. B. bei Eklampsie und
engem Becken, rate ich nicht. Der vaginale Kaiserschnitt
setzt doch meist Weichteilverletzungen, welche der Knochen¬
wunde nachteilig werden können. In solchen Fällen scheint
es mir richtiger, dem abdominellen Kaiserschnitt den Vorzug
zu geben.
Die Pubeotomie verlangt kundige Assistenz und hat ihre
Schwierigkeiten in der Nachbehandlung; es wird Sache der
Zukunft sein, die Technik der Operation so zu vereinfachen,
dass dieselbe auch vom Arzt im Privathause ausgeführt wer¬
den kann. Vielleicht ist die subkutane Methode, wie sie B u m m
und Wal ch er vorschlagen, die der Zukunft. Wenn ich
danach dafür eintrete, die künstliche Frühgeburt als segens¬
reiche Errungenschaft beizubehalten, und die Pubeotomie als
Ersatz für Perforation des lebenden Kindes und als Konkurrenz¬
operation des Kaiserschnitts aus relativer Indikation zu fördern
und zu pflegen, so will ich versuchen, die Gebiete beider Opera¬
tionen abzugrenzen.
Die Pubeotomie ist indiziert bei :
1. Allen Beckenverengerungen mittleren Grades, sowohl
bei plattem als bei allgemein verengtem Becken Erstge¬
bärender, welche erst intra partum in unsere Beobachtung
gelangen. Macht der Zustand von Mutter oder Kin,d die Voll¬
endung der Geburt wünschenswert und ist die Wendung oder
Zange nach den gewöhnlichen geburtshilflichen Regeln nicht
am Platz, so ist die Pubeotomie auszuführen. Wir entgehen
dadurch dem Dilemma, das lebende Kind perforieren zu müs¬
sen, oder zum Schaden der Mutter abzuwarten, bis dasselbe
abgestorben ist.
2. Bei Mehrgebärenden, welche den Kaiserschnitt
aus relativer Indikation von vornherein ablehnen, oder wo sich
im Verlauf der Geburt Schwierigkeiten ergeben durch
die Grösse des Kindes, die Einstellung des Schädels etc., welche
im Interesse des Lebens des Kindes eine Erweiterung des
Beckens verlangen.
Die künstliche Frühgeburt wird man danach
von jetzt ab bei Erstgebärenden mit engem Becken möglichst
vermeiden.
Ihr Gebiet in der Praxis sind d i e Entbindungen Mehr¬
gebärender, wo bei der ersten eventl. auch der zweiten Ge¬
burt, spontane Iotgeburt, schwere Zange oder Perforation
vorkamen.
Fine verheiratete Mehrgebärende entschliesst sich eher
wiederholt zur Einleitung der künstlichen Frühgeburt, als zu
wiederholter Pubeotomie. Verfügt der Geburtshelfer über die
nötigen Tugenden der Geduld und Asepsis, so wird die Früh¬
geburt jederzeit in der Privatpraxis ihr segensreiches Feld
behaupten und dass tatsächlich viel mehr Menschenleben durch
dieselbe erhalten werden, hat ihnen die Statistik gezeigt.
Die Devise des Geburtshelfers soll also nicht lauten: Pubeo¬
tomie oder Frühgeburt, sondern Pubeotomie und Früh¬
geburt.
Ueber akute Darmtuberkulose unter dem Bilde einer
schweren allgemeinen Infektionskrankheit.
Von Prof. H. P ä s s 1 e r in Dresden.
Die Darmtuberkulose tritt bei den tuberkulösen Erkran¬
kungen des Erwachsenen nur selten in den Vordergrund des
klinischen Bildes. Die wesentlichen Ursachen für diese Eigen¬
tümlichkeit sind wohl darin zu suchen, dass charakteristische
klinischeFolgeerscheinungen selbst bei ausgebreiteten ulzerösen
Prozessen des Darmes häufig völlig fehlen, und ferner darin,
dass bei Phthisikern die Entwicklung einer schwereren Darm¬
tuberkulose meist in diejenige Periode der Krankheit fällt, wo
eine weit vorgeschrittene Lungenaffektion neben den örtlichen
pulmonalen Symptomen bereits mehr oder minder grave All¬
gemeinerscheinungen hervorruft. Wir sind uns daher wohl
bewusst, dass uns die Entwicklung der Darmtuberkulose neben
der Lungentuberkulose bei unseren diagnostischen Bestre¬
bungen nicht selten entgeht, während wir die tuberkulöseDarm-
erkrankung bei der Differentialdiagnose der mitunter schwer
zu trennenden akuten fieberhaften Infektionskrankheiten, wie
Typhus, kryptogenetische Sepsis und akute Miliartuberkulose
kaum in Betracht zu ziehen gewohnt sind.
Zwei kurz hintereinander beobachtete Fälle, bei denen eine
schwerste akute Darm tuberkulöse die Haupt¬
krankheit darstellte, dürften daher wohl allgemeines kli¬
nisches Interesse in Anspruch nehmen.
1. H. M., 44 jähr. Fabrikarbeiter, aufgenommen 8. V. 05. Familien¬
anamnese ohne Besonderheiten, namentlich keine Tuberkulose in der
Familie. Pat. war gesund bis vor 5 Jahren; seitdem öfter „Magen-
schmerzen“. Ausserdem hat im letzten Jahre mehrmals vorüber¬
gehend geringer Husten bestanden. Seit 3 — 4 Wochen haben sich die
„Magenschmerzen“ allmählich verschlimmert und ihren Charakter
verändert, gelegentlich trat schleimig-galliges Erbrechen hinzu. Pat.
ist seit dieser Zeit appetitlos, ist abgemagert und hat ein allgemeines
Krankheitsgefühl. Anscheinend hat auch schon etwas Fieber be¬
standen.
Status praesens: Der hochfiebernde Patient erscheint etwas
abgemagert. Sensorium ganz leicht benommen, bei geweckter Auf¬
merksamkeit aber völlig klar. Puls bei Temperatur von 39,0 nur 92.
Haut trocken, ohne Exanthem. Muskulatur schlaff. — Zunge dick
belegt. Bachenschleimhaut trocken, sonst ohne Besonderheiten.
Augenhintergrund normal. Thorax: Völlig symmetrisch gebaut
und symmetrisch bewegt. Lungen: Ueberall bewegliche Grenzen
an normaler Stelle; guter, sonorer Perkussionsschall und Vesikulär-
athmen. Auf dem Bücken beiderseits Zeichen geringer Bronchitis
(verschärftes Inspirium, hier und da ein gröberer Bhonchus). Kein
Husten oder Auswurf. Keine Dyspnoe. Herz: Grenzen normal,
Töne rein. Der Puls zeigt ausser der relativen Verlangsamung deut¬
liche Dikrotie. Das Abdomen ist weich, nicht meteoristisch auf¬
getrieben, Druck auf das Epigastrium ist in ziemlicher Ausdehnung
mässig empfindlich. Milztumor nicht nachweisbar. Im Urin starke
Diazoreaktion.
Der weitere Krankheitsverlauf erstreckte sich ü b e r
6 W o c h e n. Das Fieber hatte abwechselnd einen kontinuierlichen,
dann remittierenden, zeitweise auch einen ausgesprochen inter¬
mittierenden Charakter, in der letzten Zeit des Lebens bestand wieder
eine Kontinua. Je tiefer die Bemissionen waren, um so höher lagen
im allgemeinen die Gipfel der Kurven. Beim Temperaturabfall
massiges Schwitzen. Antipyretika, die gelegentlich verabreicht
wurden, vertieften wohl die Bemissionen, waren aber zur Zeit des
Anstiegs wirkungslos. Der Puls blieb zunächst noch ca. 1 Woche
relativ verlangsamt, hielt sich dann mehrere Wochen zwischen 100
und 120, um in der letzten Lebenswoche bis auf 140 und mehr Schläge
in der Minute hinaufzusteigen. Das Sensorium blieb dauernd
leicht benommen, hin und wieder bestanden massige Kopfschmerzen.
Der Organbefund bot auch in der Folge keine Erscheinungen,
welche für die Diagnose ausschlaggebend werden konnten. Ins¬
besondere nahm auf der Lunge die geringe diffuse Bronchitis kaum
zu, Dyspnoe fehlte dauernd, Husten war kaum vorhanden. Der ab und zu
expektorierte sehr spärliche Auswurf war fast rein zähschleimig. Die
anfangs bestehenden krankhaften Erscheinungen von seiten des Ver¬
dauungsapparates traten bei flüssiger Kost vollkommen zurück. Es
bestand höchstens noch geringe, unbestimmt lokalisierte Druckemp¬
findlichkeit des Leibes, dagegen traten keine spontanen Schmerzen,
23. Oktober 1906.
muencHener medizinische Wochenschrift.
2091
kein Erbrechen mehr auf. Der Stuhl war gebunden, von normalem
Aussehen; es bestand eine leichte Neigung zu Obstipation. Kein her-
vortretender Meteorismus.
Die Untersuchung des Sputums wurde bei dem un¬
befriedigenden allgemeinen Untersuchungsbefund so oft wie möglich
wiederholt. Erst am 21. V. fand sich nach langem Suchen ein
1 uberkelbazillus. Die Nachuntersuchungen der folgenden
Tage gaben aber wieder regelmässig negative Resultate, bis erst
a m 5. VI. einige Tuberkelbazillen mit Sicherheit
festgestellt wurden.
Die U nt ersuch ung des Blutes ergab absolut negativen
Ausfall der Gruber-Widal sehen Reaktion. Die Zahl der Leuko¬
zyten betrug anfangs 10 000 und sank später auf 6000. Der Hämo¬
globingehalt des Blutes wurde erst anfangs Juni bestimmt, weil M.
allmählich recht blass geworden war; er betrug nach S a h 1 i 60 Proz.
Eine Blutaussaat wurde zum ersten Male am 23. V., 14 Tage
nach der Aufnahme gemacht. Sie ergab jetzt und ebenso
bei späteren Untersuchungen auf den Agarplatten spär¬
liche Staphylokokkenkolonien.
Am 17. VI. traten bei dem inzwischen hochgradig herabgekom¬
menen Patienten peritonitische Erscheinungen (eingezogene Bauch¬
decken, heftige Leibschmerzen, diffuse Druckempfindlichkeit) auf,
unter denen nach 2 Tagen der Tod im Kollaps erfolgte.
Die Differentialdiagnose des Falles machte uns
grosse Schwierigkeiten. Zunächst wurde ein Typhus in
Betracht gezogen. Der Anamnese nach konnte die Krankheit
schon mehrere Wochen dauern; das gerade während der ersten
Zeit des Krankenhausaufenthaltes stark remittierende Fieber
konnte dem amphibolen Stadium angehören . Fernere Mo¬
mente, die für Typhus sprachen, waren der Status typhosus,
die geringe diffuse Bronchitis, die relative Verlangsamung des
dikroten Pulses, der positive Ausfall der Diazoreaktion. Die
normale Beschaffenheit des Stuhles, das Fehlen von Roseolen
(in der 4.-5. Krankheitswoche), das Fehlen des Milztumors
sprachen nicht ernstlich gegen die Diagnose Typhus; schwerer
musste gegen Typhus das Fehlen der Gruber-Widal-
schen Reaktion nach so langer Krankheitsdauer (auch auf Para¬
typhus), das Fehlen von Meteorismus, die Leukozytenzahl von
10 000 ins Gewicht fallen. Auch der weitere Krankheitsverlauf,
namentlich die zeitweise ganz unregelmässig schwankende
Fieberkurve liess uns mehr und mehr die Diagnose Typhus aus-
schliessen.
Für die Möglichkeit einer akuten Miliartuberku¬
lose sprach in erster Linie der schwere allgemeine Krank¬
heitszustand bei fehlenden charakteristischen Zeichen einer
der anderen bekannten akuten Infektionskrankheiten. Daher
unser eifriges Suchen nach Tuberkelbazillen im Sputum, ob¬
wohl die Anamnese nur ganz andeutungsweise, der physika¬
lische Lungenbefund zunächst gar nicht auf Tuberkulose hin¬
wies, während es später allerdings auffiel, dass die bronchiti-
schen Geräusche auf den Spitzen zahlreicher waren, als über
den unteren Lungenabschnitten. Für Miliartuberkulose sprach
ferner die unregelmässig wechselnde Fieberkurve, das un-
charakteristische Aussehen der Zunge, und schliesslich das Auf¬
finden der Tuberkelbazillen im Sputum. Trotz dieses letzten
greifbaren Anhaltspunktes liess sich auch manches Bedenken
gegen die Diagnose einer akuten Miliartuberkulose geltend
machen. Vor allem nahmen die Erscheinungen von seiten des
Respirationsapparates auch nach wochenlanger Krankheit nicht
erheblich zu; es bestand keine Spur von Dyspnoe, nicht die
geringste Erweiterung der Lungengrenzen; Zyanose fehlte bis
zuletzt. Man musste also annehmen, dass die Miliartuberkulose
wenigstens an ihrem Prädilektionssitz, in der Lunge, trotz
ihres langhingestreckten Verlaufs keine stärkere Entwicklung
gefunden haben konnte. Dafür sprach auch das dauernde
Fehlen pleuritischer Erscheinungen jeder Art. Noch viel
sicherer konnte man die Etablierung der Miliartuberkulose auf
den Meningen ausschliessen. Die anfängliche relative Pulsver¬
langsamung war unter diesen Umständen auch eher gegen
Miliartuberkulose zu verwerten.
War nun das ganze eine kryptogenetische Sta¬
phylokokkensepsis? Die Blutaussaat hatte wiederholt,
zu verschiedenen Zeiten, ein positives Resultat ergeben, und
somit das Vorhandensein von Keimen in der Blutbahn zur
Evidenz bewiesen. Der endlich gelungene Fund einiger Tu¬
berkelbazillen sprach nicht gegen Sepsis; denn unter dem Ein¬
fluss der schweren Allgemeinerkrankung konnte eine vorher
latente und geschlossene Lungentuberkulose manifest geworden
sein. Dennoch wurden wir immer wieder in unserer Auffassung
unsicher. Denn einmal liess sich trotz des mehrmonatlichen
Verlaufs keine einzige Lokalisation der Keime naehweisen. Das
kommt freilich bei Staphylokokkensepsis auch sonst gelegentlich
vor1); ausserdem konnten die lokalen Herde unserem Nach¬
weis verborgen geblieben sein. Zweitens war aber die Zahl
der so leicht auf künstliche Nährböden übertragbaren Staphylo¬
kokken jedesmal nur eine sehr spärliche: man hatte den Ein¬
druck, dass wenigstens keine unbegrenzte Vermehrung der
Keime in der Blutbahn stattfand. Wir mussten auch an die
Möglichkeit eines ähnlichen Geschehens denken, wie esEsau2)
kürzlich beschrieben hat, dass nämlich die Staphylomykose
nur eine sekundäre Mischinfektion bei primärer Miliartuber¬
kulose vorstellt.
Erst die Obduktion brachte für den eigenartigen Krank¬
heitsverlauf die befriedigende Erklärung.
Sektionsbefund: Enorm ausgebreitete und
zahlreiche tuberkulöse Geschwüre in der unteren
Dünndarmgegend bis zum Z o e k u m. Die Geschwüre sind
vielfach mit schmierigen, ziemlich fest anhaftenden Massen belegt.
Die Darmserosa ist an den entsprechenden Stellen stark gerötet.
Eines der Geschwüre ist perforiert. Frische Perforationsperitonitis;
im kleinen Becken etwa Va Liter blutigtrübe Flüssigkeit.
In beiden Spitzen ältere tuberkulöse Herd-
chen, deren Zentrum zum Teil aus bröckligen Massen besteht.
Sonst sind die Lungen frei von Tuberkulose. In der Umgebung der
Tuberkuloseherde ist das Lungengewebe lufthaltig. Die rechte
Pleurakuppe ist verdickt, mit der Brustwand verwachsen. Bronchial¬
drüsen geschwollen, von derber Konsistenz. Herz schlaff, braun¬
atrophisch; Endokard getigert. Leber ohne Befund. Milz faul, ohne
Befund.
II. Frau Klara F., 41jährige Ziegeleiarbeiterin, aufgenommen
23. X. 05.
Anamnese: Tuberkulös nicht belastet. Mann angeblich
lungenkrank. 8 normale Geburten, Kinder leben und sind gesund;
3 Frühgeburten. Stets normales Wochenbett. Auch sonst weiss
Pat. von keiner früheren Erkrankung zu berichten. Wieder gravid
seit 5 Monaten. Seit mehreren Wochen sind allmählich Leib¬
schmerzen aufgetreten, die jetzt in sehr wechselnder Stärke bestehen,
bald unerträglich heftig sind, bald wieder völlig oder fast völlig ver¬
schwinden. Sie sollen einen unbestimmt bohrenden Charakter haben.
Die Oberbauchgegend war dabei meist aufgetrieben, auch auf Druck
empfindlich. Der Stuhl war teils angehalten, teils normal. In der
letzten Zeit traten Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit hinzu, wahr¬
scheinlich auch Fieber (ab und zu Frösteln, Hitzegefühl, Schweiss),
Status praesens: Mittelgrosse, leidlich genährte Patientin.
Mässig fiebernd, mit relativ frequenter Herzaktion (104 Pulse bei
38,1 Körpertemperatur). Haut und Schleimhäute etwas blass, nicht
zyanotisch. Zunge belegt, feucht. Zähne kariös. Keine Oedeme,
keine Drüsenschwellungen. Kein Exanthem. — Thorax symmetrisch
gebaut, symmetrisch und gut bewegt. Lungengrenzen beweglich, bei
mittlerer Respirationsstellung in der rechten Mammillarlinie im
V. Interkostalraum. Ueberall sonorer Perkussions¬
schall und reines Vesikuläratmen. Gar kein
Husten, kein Auswurf; keine Dyspnoe, 20 bis 28 Atem¬
züge in der Minute. Herz: Spitzenstoss nicht fühlbar.
Dämpfung überragt nach links um 1 cm die Mammillarlinie.
Ueber Spitze und Basis weiches systolisches Geräusch, keine Ak-
zentuation des 2. Pulmonaltones. Puls mässig gross, etwas weich.
Abdomen: Im Epigastrium aufgetrieben, wenig gespannt, auf
Druck ausgesprochene, aber nicht sehr starke diffuse Empfindlichkeit.
Uterus vergrössert, steht in Nabelhöhe. Kindliche Herztöne wahr¬
nehmbar. Urin ohne Eiweiss, ohne Zucker.
Im weiteren Verlauf der Krankheit, der sich noch
über 4 Wochen hinzieht, wird das Fieber sehr bald höher und nimmt
dauernd einen stark intermittierenden Charakter an. Bald schwanken
die Temperaturen zwischen 35,3 und 39,6. Der Temperaturanstieg
erfolgt unter mässigem Frost, der Abfall unter reichlichem Schwitzen.
Das Allgemeinbefinden leidet dabei relativ wenig. Auch der Organ¬
befund erleidet keine wesentliche Veränderung. Milz dauernd nicht
palpabel. Die Untersuchung des Blutes ergibt eine leichte Leuko¬
zytose (12 000) und 50 Proz. Hämoglobin. Die Blutaussaat, in der
jetzt üblichen Weise vorgenommen, bleibt wiederholt steril (30. X.
und 6. XI.). Stuhl im allgemeinen normal, ab und zu einen Tag aus¬
setzend, dann wieder gelegentlich 1—2 mal dünnbreiig, Aussehen
ohne Besonderheiten, ohne Blut oder auffällige Schleimbeimengung.
Vom 10. XI. an besteht öfter etwas Hustenreiz ohne Auswurf; Mund-
und Rachenschleimhaut ist jetzt sehr trocken. Auf der Lunge lässt
sich nur eine leichte Verschärfung des Inspiriums naehweisen. Herz¬
geräusch besteht fort. Atmung und Puls unverändert. Die Leib¬
schmerzen sind jetzt nicht mehr bedeutend. Es besteht etwas mehr
U Perez: Ref. Münch, rned. Wochenschr. 1904, S. 32.
2) Esau: Münch, med. Wochenschr. 1905, No. 37.
1*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. '41
>09 2
Neigung zu Durchfall. Im Blut 8000 Leukozyten. Kindliche Herztöne
Unverändert hörbar.
Vom 13. XI. an wird der Temperaturanstieg von ziemlich
heftigen Schüttelfrösten begleitet. Eine am 15. XI. wiederholte
Blutaussaat liefert in Bouillon und auf Agarplatten (auf letzteren
spärlich) Staphylokokken. Der Organbefund, besonders der
Lungen, bleibt völlig unverändert.
18. XI. Intravenöse Injektion von 5 ccm 2 proz. Kollargollösung.
19. XI. Plötzlich Eintritt ziemlich heftiger Wehen. Die Patientin
wird nach der gynäkologischen Abteilung verlegt. Hier Ausstossung
des Eies in toto.
20. XI. Exitus unter Erscheinungen der Herzschwäche.
Die Differentialdiagnose machte auch in diesem
Falle beträchtliche Schwierigkeiten. Nur bei der Aufnahme
der Kranken beherrschten die in der Gegend des Querkolons
lokalisierten dumpfen Leibschmerzen das Krankheitsbild und
Messen sehr wohl an einen schweren geschwürigen
Prozess unbekannter Genese im Darm denken.
Unter Pflege und vorsichtiger Diät traten diese Lokalerschei¬
nungen jedoch sehr bald völlig zurück, sodass nur noch das
Bild einer schweren allgemeinen Infektions¬
krankheit fortbestand. Das hohe, unregelmässig remit¬
tierende und intermittierende Fieber, mit Frösteln beim An¬
stieg und reichlichen Schweissen beim Temperaturabfall, der
protrahierte Verlauf ohne andere wesentliche Lokalerschei¬
nungen als ein systolisches Geräusch über dem mässig diktier¬
ten Herzen, die Anämie mit geringer Leukozytose, die leichte
Unregelmässigkeit der Stuhlentleerung, die dauerndeUnfühlbar-
keit der Milz passten in ihrem Ensemble weitaus am besten
in das Krankheitsbild der malignen Endokarditis
bezw. der kryptogenetischen Sepsis. Das wieder¬
holte negative Resultat der Blutaussaat war zwar recht auf¬
fallend, durfte aber doch nicht unbedingt gegen die Diagnose
„Sepsis entscheiden, um so weniger, als schliesslich gegen
Ende des Lebens, wenn auch nur spärliche Staphylokokken
aus dem Blute gezüchtet werden konnten. Zu grösseren dif¬
ferentialdiagnostischen Bedenken gaben die im Krankheitsbe¬
ginne vorherrschenden Leibschmerzen Veranlassung, eine be¬
stimmte Richtung vermochte das bald schwindende Symptom
unseren diagnostischen Erwägungen aber um so weniger zu
geben, als andere deutliche Krankheitserscheinungen von seiten
dei Abdominalorgane durchaus fehlten. Schliesslich konnten
die Leibschmerzen die Folge einer septischen Embolie gewesen
sein, obwohl Blutstühle nie zur Beobachtung gelangt waren.
Entgegen dem zuerst beschriebenen Falle kam die Diagnose
T y p h u s bei der Patientin F. im ganzen Krankheitsverlaufe
nie ernstlich in Betracht. Gegend Typhus sprachen das dauernd
um egelmässige Fieber, die von Anfang an hohe Pulsfrequenz,
die leichte Leukozytose. Das Fehlen von Status typhosus, von
Milztumor und von Meteorismus der Dünndarmgegend, ferner
das wochenlange Freibleiben der Lunge von jeder Bronchitis
Messen den Verdacht auf Abdominaltyphus so wenig aufkom-
men, dass nicht einmal die G r u b e r - W i d a 1 sehe Reaktion
angestellt wurde.
Auch die Diagnose Miliartuberkulose konnte dif¬
ferentialdiagnostisch nicht mehr als wir das bei jeder diagno¬
stisch zweifelhaften, schwer fieberhaften Erkrankung tun müs¬
sen, in Erwägung gezogen werden. Alle einigermassen charak¬
teristischen Symptome der allgemeinen Miliartuberkulose, wie
auffallende Respirationsfrequenz, Zyanose, Lungenblähung,
Kopfschmerzen und meningeale Reizerscheinungen fehlten bis
zum tödlichen Ausgang.
So brachte auch hier erst die Obduktion Aufklärung.
Obduktionsbefund (Prof. Schmorl): Hochgradige
tuberkulöse Verschwärung der Darmschleimhaut,
besonders im Ileum. Die enorm zahlreichen Geschwüre, teils längs¬
gestellt, teils ringförmig das Lumen umgreifend, sind vielfach streng
am die Emphatischen Apparate beschränkt. Ihre Grösse ist ver¬
schieden; man begegnet neben nur stecknadelkopfgrossen oberfläch¬
lichen Defekten mehrere Zentimeter langen Geschwüren, die mitunter
bis zur Serosa reichen. Die Geschwüre besitzen sämtlich verdickte
Kcindei die wie zerfetzt aussehen und mehr oder minder zahlreiche
kleine käsige Knötchen erkennen lassen. Der Grund der Geschwüre
ei scheint teils mit käsigen Massen belegt, teils aber ist er mit grau-
\\ <. isse.il, ziemlich fest haftenden Pseudomembranen bedeckt. Nament¬
lich die grösseren Geschwüre, sowie die mässig zahlreichen Ge¬
schwüre des Dickdarms zeigen das zuletzt geschilderte Aussehen. Die
Darmschhngen sind zum Teil untereinander oder mit dem aufliegenden
fettarmen Netz verklebt. An den Verklebungsstellen sieht man zahl¬
reiche Tuberkel auf der injizierten Serosa. Eine Perforation des
Darms ist nicht aufzufinden. Das Bauchfell ist stark injiziert, zum
Teil mit zarten fibrösen Auflagerungen bedeckt. In der Bauchhöhle
eine mässige Menge leicht getrübter Flüssigkeit, in der spärliche
Fibrinflocken flottieren. Die Mesenterialdrüsen sind vergrössert und
teils partiell, teils vollständig verkäst, aber nirgends erweicht. In der
Pfortader und ihren Verzweigungen keine Tuberkel. Die Leber ist
stark vergrössert, weich; Oberfläche glatt, ikterisch. Unter dem
Bauchfellüberzug bemerkt man äusserst zahlreiche feinste, mit
blossem Auge eben erkennbare Tuberkel, die in gleicher Grösse und
Zahl auch auf der Schnittfläche, die die azinöse Struktur gut erkennen
lässt, sich finden. — Die Milz zeigt ebenfalls reichliche kleinste
Tuberkel, daneben beträchtliche akute Schwellung. In den übrigen
Organen, so in den Lungen, den Nieren, der Schilddrüse,
auch in der P 1 a z e n t a, findet sich nur eine ganz spär¬
liche Aussaat frischer miliarer Tuberkel. In der
Lu nge findet sich noch ein kleiner älterer tuberku¬
löser Herd von Walnussgrösse, der aus grauschwärz¬
lichem Bindegewebe besteht, in das kleine käsige Partien eingesprengt
sind. Die Pleura ist über dem Herd verdickt und an der Kuppe
mit der Brustwand verwachsen.
Das Myokard zeigt parenchymatöse Degeneration. Puer¬
peraler Uterus.
Wollen wir die beiden hier beschriebenen Krankheitsbilder
rubrizieren, so werden wir sie trotz der nachgewiesenen Misch¬
infektion mit Staphylokokken und trotz der anatomisch nachge¬
wiesen miliaren Tuberkelaussaat am besten als a k u t e D a r m-
tuberkulöse bezeichnen.
Ob für unser diagnostisches Können durch die Beschrei¬
bung der Fälle ein Fortschritt erwächst, müssen weitere Be¬
obachtungen ergeben. Jedenfalls dürften sich die differential¬
diagnostischen Erwägungen in gleich liegenden Fällen immer
wieder hauptsächlich auf Sepsis, Typhus und Miliartuberkulose
erstrecken. Ich werde den Versuch machen, die wichtigsten
diagnostischen Gesichtspunkte kurz zusammenzufassen.
Der Verdacht auf akute Darm tuberkulöse
m u s s gewecktwerden, wenn sich eine schwere
fieberhafte, die Körperkräfte konsumierende
Krankheit ohne befriedigenden Organbefund
und ohne sichere Zeichen für Sepsis, Typhus
oder allgemeine akute Miliartuberkulose
nach allmählichem Beginn über eine Anzahl
von Wochen hinzieht. Bei Typhus und Miliartuber¬
kulose dürfte es wohl kaum Vorkommen, dass die Krankheit
nach 6 bis 8 wöchentlichem schweren Verlauf noch nicht zu
Symptomen geführt hat, welche eine ziemlich sichere Diagnose
ermöglichen. Bei protrahiert verlaufender Sepsis dürfte die
wiederholte Blutaussaat ebenfalls meistens Klarheit bringen,
wenn auch, wie unsere Fälle lehren, selbst positive Bakterien¬
befunde nicht immer jeden diagnostischen Zweifel beheben.
Das völligeFehlenklinischerDarmerschei-
n u n g e n darf, wie Fall I demonstriert, und wie auch Noth¬
nagel und L e u b e betonen, nichtgegenDarmtuber-
k u 1 o s e entscheiden. Auch Schmerzen können selbst
bei schwersten ulzerösen Prozessen im Darm bekannter-
massen dauernd fehlen; sind sie aber vorhanden, so
wird das vieldeutige Symptom, wie in unseren Fällen, die
Diagnose kaum in bestimmte Bahnen lenken können. Ich will
hier im übrigen nicht alle differentialdiagnostischen Einzel¬
fragen wiederholen, die schon oben bei Besprechung der Kran¬
kengeschichten erörtert wurden.
Da es sich bei unserer Betrachtung nur um Fälle handelt,
bei denen eine manifeste Lungentuberkulose ganz oder fast
ganz fehlt, so wird eine grosse Bedeutung dem
etv aigen Befund von Tuberkelbazillen in den
Fäzes beizulegen sein. W ir haben die Stuhlgänge in unseren
Fällen nicht auf säurefeste Bazillen untersucht, bekanntlich ist
aber ihr Auffinden bei ausgedehnten tuberkulösen Darm¬
geschwüren meist möglich. Jedenfalls wird sich das
Suchen nach Iuberkelbazillen im Stuhl bei
schweren fieberhaften Infektionskrank¬
heiten dunkler Genese ebenso empfehlen, wie
die jetzt allgemein geübte bakterioskopische
Blutuntersuchung.
Das Besondere der beiden hier beschriebenen Fälle, eine
enorm intensive und ausgebreitete Darmtuberkulose, die ganz
bezw . fast ganz ohne manifeste Lungentuberkulose unter dem
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2093
vagen Bilde einer schwer fieberhaften, in einigen Wochen zum
I ode führenden Infektionskrankheit verläuft, ist beim Er¬
wachsenen jedenfalls ein abnorm seltenes Vorkommnis. Man
kann ausserordentlich zahlreiche Fälle von Tuberkulose der
verschiedensten Formen beobachtet haben, ohne dem hier be¬
schriebenen Verlauf begegnet zu sein. In den bekannten Hand-
und Lehrbüchern habe ich fast nirgends gleichartige Beobach¬
tungen erwähnt gefunden. Die , .typhöse Form der akuten
Tuberkulose“ („Typhobacillose“) der französischen Autoren
gehört nicht hierher, sie ist eine echte akute Miliartuberkulose.
Allein L e u b e :l) weist darauf hin, dass bei schwerer Darm¬
tuberkulose anhaltendes, gelegentlich hohes Fieber, verbunden
mit starker Konsumption der Kräfte vorkommt, und bei Mat¬
th e s 4) fand ich die hierhergehörige Bemerkung, dass die
Darmtuberkulose der Kinder nicht selten subakut mit hek¬
tischem Fieber verläuft.
Es liegt nahe, bei unseren Fällen nach einer
besonderen Ursache für den schweren akuten
Verlauf der sonst ausschliesslich im Darm
lokalisierten Tuberkulose zu suchen.
Man könnte daran denken, dass es sich um eine pri¬
märe Darminfektion mit besonders virulen¬
ten Tuberkelbazillen gehandelt haben könnte. Gegen
eine solche Auffassung spricht aber in beiden Fällen der ana¬
tomische Lungenbefund, welcher tuberkulöse Herde in den
Spitzen von sicher viel älterem Entstehungsdatum als dem Be¬
ginn der finalen Krankheit enthüllte.
Eine andere Erklärungsmöglichkeit eröffnet uns das Re¬
sultat der Blutimtersuchungen. In beiden Fällen, in dem ersten
Falle früher und regelmässig, in dem zweiten erst nach längerer
Krankheitsdauer und nach wiederholten negativen Befunden,
ist es gelungen, aus dem kreisenden Blute Sta¬
phylokokken zu züchten, und zwar stets in nur spärlicher
Zahl. Man hatte trotz des positiven Ergebnisses schon wegen
der geringen Zahl dieser leicht zu kultivierenden Keime in den
Kulturen den Eindruck, dass hier die wesentliche Grundkrank¬
heit kaum eine primäre kryptogenetische Staphylomykose sein
dürfte, dass vielmehr von irgendwelchen Ansiedelungsherden
im Organismus aus einzelne Keime in die Blutbahn ge¬
schwemmt würden, ohne dort günstige Bedingungen zur selb¬
ständigen Weiterentwicklung zu finden. Da Eiterungen oder
selbst Entzündungsherde sonst nirgends im Körper vorhanden
waren, dürfen wir wohl als sicher annehmen, dass die Quelle
der im Blute abgefangenen Staphylokokken in den tuber¬
kulösen Darmgeschwüren zu suchen ist. Diese Ansicht wird
weiter dadurch gestützt, dass die Geschwüre, namentlich in
Fall II, einen eigentümlichen Belag zeigten, wie er bei tuber¬
kulösen Darmgeschwüren gewöhnlich nicht gefunden wird.
Wir wissen, welche fatale Rolle den Mischinfektionen mit
allen möglichen Eiter- und Entzündungserregern bei der ulze¬
rösen Tuberkulose der Lungen zukommt. Eine Reihe von Blut¬
aussaaten, welche Herr Dr. O eh ler auf meine Veranlassung
vornahm, hatte das zu erwartende Ergebnis, dass a u c h b e i
den hochfiebernden ulzerösen Phthisen ge¬
legentlich Staphylokokken in den Kulturen
angehen, ohne dass bei der Obduktion sich andere Quellen
der Eitererreger auffinden lassen, als die ulzerösen phthisischen
Prozesse der Lunge. Wir werden hier, ohne die Bedeutung
des Befundes zu unterschätzen, ebensowenig geneigt sein, kli¬
nisch von einer „sekundären Pyämie“ zu sprechen und damit
dem Eindringen der Bakterien in den Kreislauf einen bestim¬
menden Einfluss auf den Ausgang der Krankheit zuschreiben,
wie wir bei der tuberkulösen Lungenschwindsucht die bei der
Obduktion gefundene Aussaat mässig reichlicher miliarer Tu¬
berkel in den verschiedensten Organen nicht als „akute Miliar¬
tuberkulose“ im klinischen Sinne bezeichnen. Die deletäre
Erkrankung ist schon in den örtlichen Prozessen gegeben, das
präagonale Eindringen der verschiedenen Keime in die Blut¬
bahn ist kaum noch von Belang, nachdem die Entscheidung
über den Ausgang der Krankheit bereits gefallen ist. Wir wer¬
den demnach kaum fehlgehen, wenn wir bei unseren Fällen
die Rolle der Mischinfektion des Darmes mit Tuber-
3) Leube: Diagnose der inneren Krankheiten, I. Bd.
") M. M a 1 1 h e s : Die Erkrankungen des Darmes, in v. M e r i n g s
Lehrbuch der inneren Medizin, 2. Aufl., 1903.
kulose und Eitererregern trotz des Staphylokokkenbefundes
in der Blutaussaat ebenso auffassen, wie bei der Lungen¬
schwindsucht, nämlich als ein die Geschwürsbil¬
dung und Geschwürsausbreitung in hohem
Masse begünstigendes Moment. Damit ist eine
durchaus plausible Erklärung für die Genese der von uns be¬
obachteten eigenartigen schweren Krankheitsbilder gegeben.
Hier sei noch auf eine schon im Obduktionsbefund von
Fall II erwähnte Eigentümlichkeit hingewiesen. In der Leiche
fand sich, ähnlich wie bei schweren Lungentuberkulosen, eine
Aussaat von miliaren Tuberkeln. Die Aussaat war, abgesehen
von dem Prädilektionssitz in der Milz, im allgemeinen äusserst
spärlich. Nur in der Leber sah man ausserordent¬
lich reichliche Mengen von Tuberkelknöt¬
chen, die entsprechend der Verteilung der
Pfortader ästchen zur Entwicklung gekommen waren.
Die Einschleppung der Keime war also offenbar unmittel¬
bar von den Darmherden aus durch das Pfortaderblut in die
Leber erfolgt. Dass die anatomisch festgestellte „Miliartuber¬
kulose“ in diesem Falle nicht das Bestimmende für das klinische
Krankheitsbild war, ging ebensowohl aus der Jugend der
miliaren Tuberkelaussaat im Verhältnis zur Krankheitsdauer,
wie aus der Beschränkung der Aussaat im wesentlichen auf die
Leber hervor.
Ich fasse das Wesentliche aus vorstehender Arbeit noch
einmal kurz zusammen:
1. Die tuberkulöse Infektion des Darm-
kanalskannauchbeimErwachsenen unabhän¬
gig von schwerer Tuberkulose der Lunge
oder anderer Organe zu einem selbständigen
schwer fieberhaften Krankheitsbilde führen,
das in wenigen Wochen zum Tode verläuft.
2. Vielleicht spielt eine Mischinfektion
mit Eitererregern für den schweren Verlauf
der tuberkulösen Darmaffektion dieselbe
verhängnisvolle Rolle wie bei der Lungen¬
tuberkulose5).
3. In den beiden hier beschriebenen Fällen
gelangten spärliche Eitererreger (Staphylo¬
kokken) ins kreisende Blut. Dasselbe ge¬
schieht gelegentlich bei ulzerösen Lungen¬
phthisen.
4. Zur Erschöpfung der diagnostischen
Möglichkeiten bei schweren fieberhaften
Krankheiten, deren Diagnose vorerst nicht
gestellt werden kann, empfiehlt es sich, auch
eine Untersuchung der Stühle auf Tuberkel¬
bazillen vorzunehmen.
Aus der medizinischen Universitätsklinik zu Breslau (Direktor:
Geheimrat Prof. Dr. v. S t r ii m p e 1 1).
lieber das Leukozytenferment in Milz, Lymphdrüsen
und Knochenmark bei Leukämie und Pseudoleukämie.
Untersuchungen an 6 myelogenen Leukämien, einer lympha¬
tischen Leukämie und 2 Pseudoleukämien.
Von Privatdozent Dr. Georg Jochmann und Dr. Cu rt
Ziegler.
Proteolytisches Ferment in den Leukozyten fand bereits
Leber1) i. J. 1891 bei Versuchen über die Wirkungen des
aseptischen Eiters. Man wusste seitdem, dass die Eiterkörper¬
chen bei Temperaturen von 25° die Gelatine verflüssigen und
koaguliertes Fibrin verdauen. Erben2) gelang es, im Blute
eines Falles von myelogener Leukämie nach längerem Stehen
desselben bei Bruttemperatur nicht unbeträchtliche Mengen von
Albumosen nachzuweisen, während das frische Blut desselben
Falles gar keine oder nur Spuren von Albumosen enthielt. Im
5) Anmerkung bei der Korrektur: In einer kürzlich
erschienenen Arbeit (Zeitschr. f. klin. Med. LXXXIII, S. 588) hat
Jochmann das gelegentliche, wenn auch sehr seltene Eindringen
von Eitererregern ins Blut bei schwerer ulzeröser Lungentuberkulose
gleichfalls festgestellt.
Q Leber: Die Entstehung der Entzündung und die Wirkung der
entzündungserregenden Schädlichkeiten. Leipzig 1891.
2) Erben: Zeitschr. f. Heilk. 1903, Bd. XXIV, Heft 2.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
)94
phämischen oder normalen Blut fand derselbe Untersucher
niemals Pepton oder Albumosen, auch nicht nach 3 tägiger Be¬
brütung bei 37 °. Erbe n zog daraus den Schluss, dass im
Blute bei myelogener Leukämie ein tryptisches, an die Leuko¬
zyten geknüpftes Ferment wirksam sein müsse. Zu ähnlichen
Resultaten kam Schu m m 3), der eine deutero-albumosen-
ähnliche Substanz im Leichenblute einer myelogenen Leukämie
nachwies, und aus ihrer Anwesenheit ebenfalls auf ein tryp¬
tisches Ferment schloss.
Die Tatsache von der Verdauungskraft der Leukozyten im
Gegensatz zur Unwirksamkeit der Lymphozyten konnten auch
Stern und E p p e n s t e i n 4) durch Verflüssigung, resp. Nicht¬
verflüssigung von Gelatine im Reagenzröhrchen bei Körpertem¬
peratur demonstrieren. Zu gleicher Zeit und unabhängig davon
wurde eine an unserer Klinik schon seit 1/4 .Jahren angewandte
Methode zum Nachweis des Leukozytenfermentes mitgeteilt,
über die M ü 1 1 e r und Jochmann in No. 29 dieser Wochen¬
schrift genauer berichtet haben. Bringt man z. B. Blutströpf¬
chen von myelogener bezw. lymphatischer Leukämie auf die
Oberfläche von erstarrtem Rinderblutserum (Löfflerplatten) und
setzt sie ca. 12—24 Stunden einer Temperatur von 55° aus,
so entstehen an der Stelle der Tröpfchen myeloiden Blutes tiefe
Dellen, während das lymphatische Blut gar keine Verdauungs¬
wirkung ausiibt. Eine durch Bakterienwachstum bedingte
Fehlerquelle ist bei dieser Temperatur so gut wie ausge¬
schlossen, wenn man von den seltenen Verunreinigungen durch
thermophile Bakterien absieht.
Wir hatten Gelegenheit bei der Autopsie gewonnene Or¬
gane von Leukämie und Pseudoleukämie nach dem genannten
Verfahren (Müller-Jochmann) zu untersuchen. Das
Hauptinteresse richtete sich dabei naturgemäss auf das Ver¬
halten von Knochenmark und Lyinphdrtisen. Unsere Ergeb¬
nisse waren folgende:
Während nach den Resultaten von Müller und Joch -
m a n n beim normalen Menschen das Knochenmark stark, die
Milz in etwas geringerem Grade „verdaut“, und die Lymph-
driisen gar keine verdauende Eigenschaft erkennen lassen, d. h.
also gar keine Dellenbildung auf der Oberfläche des Serums
bewirken, fanden wir bei einem Fall von myelogener Leukämie
mit 100 000 Leukozyten (Fall Waldmann), den wir sofort
nach der Autopsie untersuchten, in Knochenmark und Milz
ausserordentlich stark verdauende Kräfte, 'dasselbe jedoch in
verschiedenem Grade auch bei den Lymphdriisen, je nachdem
sie myeloid entartet waren. Der starken fermentativen Wir¬
kung von Milz und Knochenmark entsprach folgender Befund
an gefärbten Organabstrichen :
Die Myelozyten iiberwiegen. Die polynukleären Leukozyten
treten stark zurück. Unter den Myelozyten sind mehr basophile
ungranulierte als granulierte Formen, dazwischen alle möglichen
Uebergänge. Reichlich eosinophile Myelozyten, wenig Mastzellen,
Erythroblasten und Normoblasten.
Milz: In überwiegender Menge grosse basophile, einkernige
Zellen, wenig typisch granulierte Myelozyten. Zwischen den baso¬
philen und oxyphilen Myelozyten viele Uebergangsformen. Einige
eosinophile Leukozyten, wenig Mastzellen, einige Erythroblasten und
Normoblasten.
Interessant war der Befund an den Lymphdriisen. Einzelne
derselben, z. B. eine Bronchialdrüse, eine retroperitoneale
Drüse, eine Mesenterialdrüse, zeigten stark verdauende Wir¬
kung auf dem Löfflerserum, und aus dem Organabstrich ging
hervor, dass dieselben hochgradig myeloid entartet waren.
So ergab z. B. der Abstrich einer retroperitoneale n
Drüse eine ähnliche Zellzusammensetzung wie der der Milz: Ueber-
wiegend basophile Myelozyten, weniger typische granulierte Myelo¬
zyten, dazwischen alle möglichen Uebergänge. Vereinzelte poly¬
nukleäre Leukozyten, zahlreiche eosinophile Leukozyten, einige Mast¬
zellen und kernhaltige Erythrozyten, wenig typische kleine Lympho¬
zyten.
Bei anderen Drüsen traten die Myelozyten etwas zurück
gegen die kleinen Lymphozyten, die myeloide Umwandlung
war also keine sehr hochgradige. Diese verdauten etwas we¬
niger intensiv und eine nicht vergrösserte Inguinaldrüse, bei
der die kleinen Lymphozyten im Abstrich absolut das Bild be¬
herrschten, also von myeloider Umwandlung keine Rede war,
zeigte gar keine fermentativen Kräfte.
3) Schümm: Hofmeisters Beiträge IV., 9 — 11.
-) Sitzung d. Selbes. Gesellsch. f. vaterl. Kultur, 29. Juni 1906.
Verdauende Kraft der Lymphdriisen und myeloide Um¬
wandlung gehen wie man sieht miteinander parallel. Man
kann also gewisser massen bei der m yelogerien
Leukämie aus dem Grade der Verdauungs¬
kraft, der in einer Drüse nachgewiesen wird,
aufden Grad der m y e 1 o i d e n Umwandlung der¬
selben schliessen. Als Einschränkung dieses Satzes
sei jedoch gleich hinzugefügt, dass entzündlich geschwollene
Lymphdriisen z. B. aus der Nähe von eitrigen Entzündungen
ebenfalls Verdauungserscheinungen auf der Serumplatte zu
zeigen pflegen, je nach der Menge von polynukleären Leuko¬
zyten, die darin enthalten ist.
Wir konnten diese an einem frischen Fall
von myelogener Leukämie gemachten Be¬
obachtungen an einer Reihevon bereitsfrüher
seziertenFällen bestätigen. Die Ueberlegung, dass
bei der aseptischen Autolyse das autolytische Ferment durch
den Zusatz von Antiseptizis, wie Toluol oder Thymol in seiner
Wirksamkeit nicht beeinträchtigt wird, ermunterte uns zu dem
Versuch, auch solche leukämische Organe auf ihren Ferment¬
gehalt zu prüfen, die bereits längere Zeit in Formalin gelegen
hatten.
Wir untersuchten zunächst einen Fall von myeloider Leu¬
kämie, der im Januar 1906 zur Autopsie gekommen war (Fall
Oswald). Die Organe waren bis August in 10 proz. Formalin¬
lösung aufbewahrt gewesen. Nach 24 ständigem Wässern der¬
selben in fliessendem Wasser brachten wir kleinste Partikel¬
chen von Milz, Lymphdriisen und durch Quetschen von Rippen
und Wirbel gewonnenem Knochenmark auf das Löfflerserum
und konnten nach 24 ständigem Aufenthalt der Platten bei 55°
genau dieselben Verdauungsvorgänge beobachten, wie bei dem
frisch untersuchten, zuerst beschriebenen Fall. Auch hier übten
Milz und Knochenmark ausserordentlich starke Verdauungs¬
wirkung aus, die sich in tiefer Dellenbildung zu erkennen gab.
Die Lymphdriisen verhielten sich verschieden, je nach der Aus¬
dehnung der myeloiden Umwandlung. Wir fanden dabei ein
völliges Parallelgehen zwischen dem durch mikroskopische
Untersuchung von Schnittpräparaten erwiesenen Grade der
myeloiden Entartung der Drüsen und ihrer fermentativen Ein¬
wirkung auf die Löfflerplatte. Wenn keine oder nur sehr spär¬
liche myelozytäre Zellen vorhanden waren, blieb die Verdau¬
ungswirkung aus, bei partieller myeloider Umwandlung trat
die Verdauung nur in mässiger Intensität ein und bei totaler
myeloider Umwandlung waren die durch die Lymphdriisen er¬
zeugten Verdauungserscheinungen ebenso stark wie die des
Knochenmarkes.
Das Fer in ent hattesichalsoin diesem Falle
7 Monate lang unversehrt in der Formalin-
I ö s u n g erhalten.
Zur Kontrolle dieses Befundes brachten wir Knochenmark
und Milz zweier an Darmkatarrh verstorbener Säuglinge auf
48 Stunden in 10 proz. Formalinlösung, wässerten beides nach¬
her mehrere Stunden lang und konnten nun feststellen, dass
Milz und Knochenmark nach dem Aufenthalt in Formalin, auf
der Löfflerplatte genau dieselben Verdauungserscheinungen
auslösten, wie vor der Formalinbehandlung. Weiterhin konn¬
ten wir feststellen, dass ein 24 ständiger Aufenthalt der Organe
in anderen Fixierungsflüssigkeiten, in Sublimat, 96 proz. Alko¬
hol, oder in Mülle r scher Flüssigkeit keine Schwächung der
Fermentwirkung hervorbringt. Dagegen übten die K a i s e r -
lingsche Flüssigkeit sowie die zur Knochenentkalkung ge¬
bräuchliche H a u g sehe Lösung eine fermentzerstörende
Wirkung aus. Ebenso wird durch Kochen der Or¬
gane jegliche Fermentwirkung aufgehoben. Es ist viel¬
leicht nicht überflüssig zu bemerken, dass wir natür¬
lich Kontrollen anstellten, ob etwa Formalin, Alkohol,
Sublimat usw. schon an sich eine Dellenbildung auf der Serum¬
oberfläche bewirken oder ob vielleicht auch fermentfreie
Organe, wie z. B. kleinste Stückchen vom menschlichen Her¬
zen, die in denselben Fixierungsflüssigkeiten 24 Stunden ge¬
legen hatten, irgendwelche Verdauungserscheinungen aus¬
lösten. Die Serumoberfläche bleibt bei allen diesen Kontroll-
versuchen völlig unverändert. Am längsten scheint sich die
Fermentwirkung in Forinalinlösung zu erhalten. Etwas weni-
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2095
ger vielleicht in Alkohol. Immerhin konnten wir bei einer in
Spiritus aufbewahrten Milz eines im Jahre 1894, also vor
12 Jahren sezierten Falles von myelogener Leukämie noch
starke Fermentwirkung auf der Löfflerplatte beobachten, eben¬
so an einem im Jahre 1898, also vor 8 Jahren sezierten Falle.
Bei einer im Juli 1905 sezierten, auch mikroskopisch ge¬
nau untersuchten myeloiden Leukämie (Fall Berger) übten in
Formalin aufbewahrte Teile von Milz, Knochenmark, Wirbel
und Rippe, ferner die Bronchialdrüsen ausserordentlich starke
Verdauungswirkung aus, die auch hier dem Grade der mye¬
loiden Umwandlung entsprach. Interessant war hier der Be¬
fund, dass auch die Tonsillen starken Fermentgehalt aufwiesen,
die normalerweise kein Ferment enthalten, sondern dasselbe
erst durch das Einnisten der myeloiden Zellen bekommen.
Genau dieselben Verhältnisse fanden sich bei einem am
11. Oktober 1903 zur Autopsie gekommenen Fall von myeloider
Leukämie (Pietsch). Hier zeigten Milz, Mark der Wirbel und
Rippen, sowie die myeloid umgewandelten Lymphdriisen fast
gleich stark verdauende Wirkung.
Vergleichen wir die geschilderten Verhältnisse bei der
myelogenen Leukämie mit der lymphatischen Leu¬
kämie, so ergeben sich strenge Unterschiede. War durch
Müller und Jochmann schon gezeigt worden, dass ein
Tröpfchen myeloiden Blutes auf der Serumoberfläche eine tiefe
Delle hervorbringt, während die gleiche Menge lymphämischen
Blutes mit derselben Zahl weisser Blutzellen gar keine ver¬
dauende Wirkung ausübt, so konnten wir bei der Untersuchung
der hier interessierenden Organe ganz entsprechende Vor¬
gänge beobachten. Ein sehr ausgesprochener Fall von lym¬
phatischer Leukämie (Fall Stade), dessen Blut wegen der
Uebermenge von Lymphozyten bei einer Zahl von 300 000
weissen Blutkörperchen, keine Spur von fermentativer Wir¬
kung entfaltete, war an Pneumonie zugrunde gegangen. Die
Prüfung des Fermentgehaltes der Organe ergab folgendes:
Knochenmark aus Rippe und Wirbel übten mittelstarke Ver¬
dauung aus, ein Zeichen, dass neben den vielen Lymphozyten
doch noch eine grosse Anzahl fermenttragender Knochen¬
markszellen anwesend war. Sehr in die Augen springend war
der Gegensatz zwischen myeloider und lymphatischer Leu¬
kämie bei der Untersuchung von Milz und Lymphdriisen. Die
ausserordentlich stark vergrösserte Milz zeigte
garkeineFermentwirkung. Die auf die Serumober¬
fläche gebrachten Milzpartikelchen blieben unverändert und
ohne einzusinken liegen.
Die stark hyperplastischen Lymphdriisen
bewirkten keinerlei Verdau ungserschei-
n u n g e n, was zu erwarten war, da die Vergrösserung aus¬
schliesslich durch die Vermehrung der Lymphozyten und nicht
wie bei der myelogenen Leukämie durch Myeloidzellen erzeugt
wurde.
Zur Gruppe der Pseudoleukämie rechneten wir
2 von uns untersuchte Fälle.
Die eine Beobachtung betraf ein 13 jähriges Mädchen (Fied¬
ler), das schon vor l1/« Jahren wegen eines grossen chronischen
Milztumors (bei normalem Blutbilde) in unserer Behandlung war
und vor kurzem mit einer schweren Pneumonie in die Klinik kam, ,
an der sie zu Grunde ging. Im Anschluss an die Autopsie, die
eine Hyperplasie der Milz, sonst aber nur mässige Driisenschwel-
lungen ergab, untersuchten wir in der üblichen Weise die in Betracht
kommenden Organe und fanden, dass das Knochenmark, Milz und
Lymphdriisen genau dieselben Verdauungserscheinungen auslösten,
wie die entsprechenden normalen Organe.
In einem 2. Falle handelte es sich um eine etwa50jähr. Frau (Jung),
die lange Zeit wegen eines grossen Milztumors, Lebervergrösserung,
allgemeinenDrüsenschwellungen und remittierendemFieber in unserer
Beobachtung war, und etwa 30 000 Leukozyten, in überwiegender
Menge Lymphozyten im Kubikzentimeter Blut hatte. Die im Juni 1905
erfolgte Autopsie ergab eine diffuse Hyperplasie der lymphatischen
Apparate mit geschwulstartigen Wucherungen in Milz und Lymph-
driisen und den meisten übrigen Organen. Das Knochenmark war
nicht lymphoid umgewandelt. Die Organe hatten bis August 1906
in Formalin gelegen, wurden gewässert und auf die Anwesenheit
verdauender Fermente geprüft. Das Knochenmark zeigte gut ver¬
dauende Eigenschaften, die Milz dagegen fast gar keine fermentative
Wirkung. Die Lymphdriisen hatten gar keine fermentativen Kräfte.
Hier wie im obigen Falle lymphatischer Leukämie zeigt
sich die interessante Erscheinung, dass sich die Milz im Zu¬
stande hochgradiger hyperplastischer Follikelschwellung bio¬
logisch mehr dem Charakter einer reinen Lymphdrüse nähert.
Dies kann zum Teil durch das numerische Uebergewicht lym¬
phatischer Zellen bedingt sein. Es dürfte aber zum Teil auch
die Folge funktioneller Ausfallserscheinungen sein, welche die
Zerstörung und Aufnahme myeloider resp. leukozytärer Zellen
betreffen. Jedenfalls ist es ein deutlicher Hinweis darauf, dass
die verdauenden Eigenschaften der Milz nicht an das lympha¬
tische Gewebe derselben gebunden sind.
Diese Untersuchungen bringen einen weiteren Beweis für
die Richtigkeit der Lehre, dass die Zellen der myeloiden Reihe
Träger bestimmter fermentativer Eigenschaften sind, welche
denen der lymphatischen Reihe fehlen. Ihr Inkrafttreten bei
Untersuchungen von Gewebsteilen der hämo- und lympho-
poetischen Organe spricht stets für die Anwesenheit zahlreicher
myeloider resp. leukozytärer Zellen. Dieses Verhalten kann
auch als eine gute Stütze der Ehrlich sehen Lehre von der
Spezifität der lymphatischen und myeloiden Zellen gelten.
Aus der medizinischen Klinik in Strassburg i. E. (Direktor:
Professor L. v. K r e h 1).
Poliomyelitis acuta und Meningitis cerebrospinalis.
Von Dr. E. Tiedemann, Oberarzt im Feldartillerie-Reg. 51,
kommandiert zur Klinik.
Seit Charcot [l] seine Lehre von den trophischen Zen¬
tren in den Vorderhörnern des Rückenmarks auf Grund des
Krankheitsbildes der spinalen Kinderlähmung aufstellte, haben
die Untersuchungen anderer Forscher zu einer noch genaueren
Darstellung der Ausbreitung des Krankheitsprozesses der Po-
lyomyelitis acuta geführt; doch steht die Frage nach dem
Ausgangspunkt der Erkrankung noch immer zur Diskussion.
Dass der Sitz der Krankheit sich nicht allein auf die Vorder¬
hörner des Rückenmarks beschränkt, dass er vielmehr auch im
Gehirn und zwar auch hier vorzüglich in der grauen Substanz
sich lokalisieren kann, lehren die klinischen Beobachtungen, wie
auch die pathologisch-anatomischen Befunde. S t r ü m p.e 1 1 [2]
stellt die akute Enzephalitis der Kinder der akuten Poliomyelitis
als Analogon an die Seite und kommt zu dem Schluss, dass sie
vielleicht miteinander identisch seien, dass dasselbe Infektions¬
agens einmal in der grauen Substanz der Vorderhörner, das
andere Mal in der grauen Rinde des Gehirns sich lokalisiere.
O. Medin[3], der 1890 über eine Epidemie von spinaler Kinder¬
lähmung berichtete, stellte fest, dass nicht selten zusammen mit
den Spinalnerven Hirnnerven, teilweise auch diese allein er¬
griffen waren. Er folgert daraus, dass die Ursache der Polio¬
myelitis zwar die Vorderhörner bevorzuge, doch auch die
peripheren Nerven und die Gehirnrinde ergreife, ebenso die
Nervenkerne in der Medulla oblongata und Pons. Eine Be¬
teiligung der Meningen am Krankheitsprozess wurde in einem
Falle von D a u b e r [4], in einem anderen in- einer Arbeit aus
der Klinik von Fr. S c h u 1 1 z e [5] pathologisch-anatomisch fest¬
gestellt. Auch klinisch konnte S c h u 1 1 z e [6] in einem nicht
tödlich verlaufenden Falle von Poliomyelitis acuta durch die
Lumbalpunktion eine Meningitis feststellen. Er fand erhöhten
Druck der Spinalflüssigkeit und in ihr den Jäger-Weich¬
sel b a u m sehen Bazillus.
Diesen Befund und das zeitweise epidemische Auftreten
der Poliomyelitis acuta, wie es von M e d i n [3] und 1894 in
noch grösserem Umfange von M a c p h a i 1 [7] beobachtet
wurde, lässt die Vermutung einer ätiologischen Verwandschaft
mit der epidemischen Zerebrospinalmeningitis nicht unwahr¬
scheinlich erscheinen.
In neuester Zeit ist in Stockholm von Jvar Wickman
[8] auf Grund eines reichen und sehr genau untersuchten Ma¬
terials der disseminierte Charakter der Poliomyelitis acuta,
die regelmässige Mitbeteiligung des Gehirns und der Meningen
ausdrücklich hervorgehoben worden. Dass man nicht bereits
früher die gleichen Befunde machte, ist wohl darauf zurückzu¬
führen, dass klinisch meistens die Symptome einer Erkrankung
des Gehirns und der Meningen zu sehr im Hintergrund stehen.
Die Ausdehnung des anatomischen Bereichs der Poliomyelitis
acuta auf eine grössere Anzahl von Bezirken des Zentral¬
nervensystems muss naturgemäss zu einer Erweiterung des
2096
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
ischen Symptomenkomplexes auffordern. Strümpell [l],
Me di n [3] haben die Mitbeteiligung des Gehirns, Er.
Schnitze [6] die der Meningen klinisch festgestellt.
Die Diagnosenstellung wird durch ein solches Mitergriffen¬
sein des Gehirns oder der Meningen erschwert, zumal im An¬
fangsstadium, wenn noch keine Zeichen von Entartungsreaktion
der gelähmten Muskulatur nachweisbar sind. Eine Enzephalitis
oder eine Meningitis könnte für sich einen ganz ähnlichen
Symptomenkomplex verursachen.
Zu dieser Betrachtung gab der folgende Krankheitsfall Ver¬
anlassung.
Marguerite J, 17 Jahre alt, Fabrikarbeiterin. Aufnahme am
21. Mai 1906.
Anamnese: Eltern und .3 Geschwister sind gesund. Patientin
hatte als Kind Masern, Röteln, Keuchhusten. Mit 10 und 15 Jahren
wurde sie an der Brust wegen Drüsen (Fungus?), später wegen
Halsdrüsen operiert. Seit der Operation leide sie öfters an Kopfweh
und Nasenbluten, sei aber sonst völlig gesund gewesen. Niemals
Husten und Auswurf. Die jetzige Erkrankung begann am 12. V. mit
allgemeiner Mattigkeit, Schmerzen in allen Gliedern, Frost und Kopf¬
schmerzen. Der Arzt sagte, sie habe Influenza. Am 18. V. war sie
wieder frei von Beschwerden, so dass der Arzt sie für gesund er¬
klärte. Als Patientin am 19. V. aufstehen wollte, hatte sie wieder
starke Kopfschmerzen, fühlte sich müde und legte sich wieder zu
Bett. Gegen Mittag hatte sie Erbrechen. Am 20. V. morgens trat
plötzlich eine Lähmung des ganzen rechten Armes auf. Den ganzen
Tag über und den folgenden Tag heftiger Kopfschmerz und Erbrechen
von allem, was sie zu sich nahm. Kein Schüttelfrost, keine Krämpfe.
Aufnahme am 21. V. abends 10 Uhr. Patientin ist somnolent,
reagiert aber auf Anrufen sofort und gibt Auskunft über ihre Be¬
schwerden: Kopfschmerzen, Hitzegefühl, starker Durst. Sie sinkt
dann sofort wieder in ihren Halbschlaf zurück. Temp.: 39,1, Puls: 112
in der Minute, fieberhaft, regelmässig, gleichmässig.
Status am 22. V. morgens: Für sein Alter kleines Mädchen
von kräftigem Knochenbau, schwächlich entwickelter Muskulatur und
mittlerem Fettpolster. Temp.: 39,3, Puls: 112 in der Minute. Atmung
28 in der Minute. Gesicht gerötet. Haut heiss und trocken. Ueber
dem oberen Teil des Sternum eine strahlige, vertiefte, mit dem Knochen
fest verwachsene Narbe von der Grösse eines Fünfmarkstückes. Unter
dem linken Unterkiefer eine etwa 6 cm lange Operationsnarbe. Erb¬
sengrosse Drüsen in der Leistengegend beiderseits. Kein Exanthem.
Kein Oedem. Zunge wird gerade herausgestreckt, ist leicht belegt.
Zähne gesund. Gaumensegel steht beiderseits gleich hoch. Gaumen-
und Rachenschleimhaut ohne Besonderheiten. Würgreflex vorhanden.
Die Sorpnolenz besteht fort wie am Abend vorher. Die Patientin
klagt über Schmerzen im ganzen Kopf und im Nacken. Leichte
Nackensteifigkeit. Gesichts- und Augenmuskulatur funktioniert nor¬
mal. Pupillen gleich weit, reagieren auf Licht und Akkomodation.
Augenhintergrund: beiderseits Neuritis optica mit Stauung. Ohren¬
befund: rechts alte Narbe (Verkalkung), links normal.
Der rechte Arm ist fast vollkommen paretisch, liegt schlaff
auf der Unterlage. Nur die Extensoren des Unterarms und der
Finger können langsam geringe Bewegungen ausführen. Die übrige
Körpermuskulatur vollkommen frei. Sensibilität: nicht gestört. Es
besteht Retentio urinae. Patientin muss katheterisiert werden.
Sehnenreflexe an dem gelähmten Arm nicht auslösbar. Im übrigen
Sehnen- und Hautreflexe normal. Lebhafte Druckempfindlichkeit der
Wadenmuskulatur. -Kernig sches Symptom: angedeutet. Die Wir¬
belsäule ist auf Beklopfen empfindlich. Lumbalpunktion ergibt durch
zahlreiche feine Flöckchen getrübte Flüssigkeit, die nicht zentrifugiert
sehr zahlreiche mononukleäre, spärliche polynukleäre Leukozyten im
Verhältnis 3: 1 enthält. Albumen 0,25 Prom. (Esbach). Der Druck
kann nicht bestimmt werden, da vor Ansetzen des Steigrohrs be¬
reits ein Teil der Flüssigkeit abgeflossen ist.
Herz- und Lungenuntersuchung ergibt keinen krankhaften Be¬
fund. Das Abdomen ist etwas druckempfindlich, nicht aufgetrieben.
Leber und Milz sind nicht palpabel. Der Urin ist klar, von sauerer
Reaktion, enthält Spuren Eiweiss, kein Sediment.
23. V. Temp. 38,1 " — 39,-4°, Puls 106 — 92, Atmung 26 in der Min.
Es bestehen periodisch, besonders nachts auftretende Kopfschmerzen.
Nackensteifigkeit ist heute deutlich vorhanden. Retentio urinae un¬
verändert. Parese des rechten Arms unverändert. Keine sonstigen
Störungen der Motilität, keine Sensibilitätsstörungen.
2-4. V. I emp. 37,8° — 37,2°, Puls 92, Atmung 26 — 24 in der Min.
Somnolenz hält an. Fortgesetztes Erbrechen nach fast jeder Nahrung
und unabhängig davon. Bewegung des rechten Armes etwas besser,
noch vollkommener Ausfall der Schultermuskulatur und der Flexoren.
Lumbalpunktion ergibt wieder eine durch kleine Flöckchen getrübte
Niissigkeit, die reichlich Leukozyten im Verhältnis: Mononukleäre
zu Polynukleäre — 8:3 enthält. Keine Bakterien. Druck: 100 bis
150 mm Wasser. Einleitung einer Inunktionskur mit Unguentum
Crede.
25. V. Temp. 36,6°— 38,1°, Puls 92—80, Atmung 28—34 in
der Mm. Das Erbrechen besteht fort. Nackensteifigkeit, Bewegungs¬
beschränkung des rechten Armes unverändert. Keine Sensibilitäts-
störung. Pupillen: reagieren auf Licht und Akkommodation.
26. V. Temp. 36,3" — 37,3°, Puls 90 — 104, Atmung 24 — 26 in der
Min. Patientin ist munterer, hat keine Kopfschmerzen mehr. Objek¬
tiver Befund unverändert.
28. V. Patientin ist seit gestern fieberfrei, hat keine Beschwer¬
den mehr. Nackensteifigkeit, Druckempfindlichkeit der Muskulatur
verschwunden. Kein Erbrechen mehr. Neuritis optica noch deutlich,
rechts stärker.
4. VI. Die Bewegungsfähigkeit der Streckmuskulatur des, rech¬
ten Arms hat sich weiter gebessert. Es besteht vollkommene Läh¬
mung des Deltoideus, Bizeps, Brachialis internus und Supinator lon¬
gus, fast vollkommene des Kukullaris, des Supraspinatus und Infra-
spinatus. Die elektrische Untersuchung ergibt Herabsetzung der
faradischen und galvanischen Erregbarkeit des Plexus brachialis.
Direkte Reizung der gelähmten Muskeln: Herabgesetzte Erregbarkeit
mit dem faradischen Strom, keine Entartungsreaktion.
2 Wochen später trat in der gelähmten Muskulatur deutliche
Entartungsreaktion auf:
Schulter und
Oberarm.
Erb scher Punkt.
•
N. accessorius (Cu-
cullaris u. Sterno-
cleidomast.) .
Muse, cuculla-
ris direkt .
N. musculocutaneus
Nerv, medianus . . .
Nerv, ulnaris .
Nerv, radialis .
Muse, deltoid.
direkt .
Muse, biceps
direkt .
Muse, b r ac h. int.
direkt .
M. triceps direkt .
Unterarm.
N. medianus^ .
N. ulnaris .
Pronator teres. . . .
Muse, supinator
1 o n g u s .
Flex. carpi radialis
„ „ ulnaris
» digit. prof. ..
„ poll. longus..
Ext. carp. rad. long.
„ * „ brev.
„ digit. comm...
„ carpi ulnaris. .
„ poll. longus. . .
Ext. indicispro-
prius .
Faradisch
Links
Rechts
3,5
2,8
3.7
2,5
2.5
3,0
3.8
4,0
2.8
3,0
3.2
3,7
4,0
3.3
3,7
3,7
3.2
3.3
3.5
/ 3,6
3,3
4,0
3,5
, 4’°
Hand : Adductor
Bei starken Strömen -
8,0 MA. kune Zuckung
2,5(Sternocl.) 2,8 (Cucull.)
3.5 langsame Zuckg.
4,0
3.5
2.5 langsame Zuckg.
4.5
5,0
negativ
negativ
4,5
4,0
4.7
5,0
nicht erregbar
4,5
4,5
4,0
4.8
4.5
3.5
4,0
5,3
5,0
p o 1 1 i c i s . . .
Galvanisch
Links ;
Rechts
MA.
0,8
1,0
3,0
L2
1.4
2,0
1,2
1,1
2,2
0,9
0,8
2,0
2,0
2.5
9 2
2,0
1.6
1,2
3,0
4,0
2,0
2,0
1,8
2,0
2,0
5,0 MA. kur r ASZ. =
KSZ.
2,9 MA.
4,0 MA., deutlich träge,
ASZ. > KSZ.
1.2 MA., manchm. träge,
manchmal kurz.
2,0 MA., kurz.
3,0 MA., kurz.
7,0 MA.
4.8 MA. wurmförmige
Zuckung, ASZ. > KSZ.
3.8 M4., wurmförmige
Zuckung, ASZ. > KSZ.
4.2 MA., wurmförmige
Zuckung, ASZ. > KSZ.
1,2 MA., kurz.
2,6 MA., kurz KSZ. >
ASZ.
2,0 MA., kurz.
4,0 MA., kurz.
2.8 A4A., träge Zuckung
ASZ. > KSZ.
2,0 MA., kurz, KSZ. >
ASZ.
2,0 MA., trage Zuckung
ASZ. = KSZ.
1,8 MA., kurz.
4,2 MA., kurz, KSZ. >
ASZ.
3.8 MA., kurz, KSZ =
ASZ.
4,0 MA., etwas träge
Zuckung, KSZ. > ASZ.
2,3 MA., dgl.
1.8 MA., kurz, KSZ. >
ASZ.
2.8 MA., deutlich träge
Zuckung, KSZ. > ASZ.
3,5 MA., träge Zuckung
KSZ. > ASZ.
Die übrigen Handmuskeln zeigen normale Verhältnisse.
Es besteht also eine totale Entartungsreaktion in den vom
Erb sehen Punkt aus erregbaren Muskeln, während träge
Zuckungen und herabgesetzte Erregbarkeit auch in anderen
Muskeln nachweisbar sind. Bei der Entlassung am 12. VII. ist
trotz Behandlung mit Massage, Apparatübungen und Elektri¬
sieren in den von Entartungsreaktion betroffenen Muskeln keine
Funktion wieder aufgetreten. Die Mm. supra- und intra-
spinatus, deltoideus, biceps, supinator longus sind sehr stark
atrophiert. Streckmuskulatur am Ober- und Unterarm und
Handmuskeln dagegen gut beweglich. Keine Sensibilitätsstö-
rungen, keine spastischen Erscheinungen. Die Neuritis optica
besteht noch beiderseits in mässigem Grade, die Sehschärfe ist
gut erhalten: beiderseits +1,0DS — %. Das Allgemeinbe¬
finden nach Ablauf der Erkrankung immer vorzüglich. Körper¬
gewicht hat 2 Kilo zugenommen.
Nach dem ersten Befund bei der Aufnahme handelte es
sich also um eine im Anschluss an eine akute Infektionskrank-
23. Oktober 1906:
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2097
heit, wahrscheinlich Influenza, aufgetretene, mit ausgesprochen
meningitischen Erscheinungen einhergehende Monoplegia
brachialis. Die von Anfang an deutliche Neuritis optica liess den
Sitz des Krankheitsherdes im Hirn vermuten. Die Diagnose
wurde deshalb auch zuerst mit Rücksicht auf die früheren Drii-
senerkrankungen auf eine tuberkulöse Meningitis oder eine
akute Enzephalitis nach Influenza gestellt; für erstere liess sich
auf Grund moderner Vorstellungen namentlich auch die Mono¬
nukleose der Spinalflüssigkeit anführen. Die meningitische Rei¬
zung wurde durch die Lumbalpunktion sichergestellt. Das
Fehlen von Tuberkelbazillen in beiden zu verschiedenen Tagen
entnommenen Proben von Lumbalflüssigkeit und vor allem die
rasche Besserung Hessen die tuberkulöse Natur der Erkran¬
kung äusserst unwahrscheinlich werden. Da in der Folgezeit
sich in dem gelähmten Glied keine Spasmen zeigten, die Sehnen¬
reflexe hier völlig erloschen waren, konnte die Erkrankung
nicht in der motorischen Region der Rinde ihren Sitz haben, zu¬
mal von Anfang an Sensibilitätsstörungen vollkommen fehlten.
An eine Neuritis konnte man bei dem vollkommenen Fehlen
von Schmerzen und Sensibilitätsstörungen nicht wohl denken.
Somit blieb als Sitz der Lähmung nur die Region der grauen
Vorderhörner übrig. Das spätere Auftreten von Entartungs¬
reaktion sicherte die Diagnose, die also auf Poliomyelitis
acuta mit Meningitis cerebrospinalis lautete. Eine in neuerer
Zeit von verschiedenen Neurologen beschriebene Aenderung
der elektrischen Erregbarkeit bei zerebralen Erkrankungen war
nicht wahrscheinlich. Denn eine solche zeigt zwar auch eine
Herabsetzung der faradischen und galvanischen Erregbarkeit;
selbst wurmförmige Zuckungen sind zuweilen beobachtet; doch
tritt sie niemals als typische Entartungsreaktion auf [9—12].
Die Neuritis optica beruhte wahrscheinlich auf einem
meningitischen Prozesse im Bereich der Sehnerven an der
Basis des Gehirns, wie sie Ivar Wickman [8] in einem Falle
beschreibt. Dass klinisch niemals Sehstörungen beobachtet
sind, glaubt er auf mangelnde Untersuchung zurückführen zu
müssen.
Das Interesse des beobachteten Krankheitsfalles beruht
also auf den bei einer Poliomyelitis acuta gleichzeitig be¬
obachteten sicheren meningitischen Erscheinungen, wie sie bis¬
her in der Literatur nur selten beschrieben sind. Da sich ana¬
tomisch nach den Untersuchungen von Wiek m a n stets Ver¬
änderungen an der Pia des Rückenmarks finden, ist es von
Interesse, auch klinisch mehr auf das Vorhandensein von menin¬
gitischen Symptomen zu achten. Die bisher gemachten Be¬
funde bei der Lumbalpunktion stimmen nicht miteinander über¬
ein. S i c a r d [13] fand normales Verhalten, T r i b o u 1 e t und
Lippmann [14] Lymphozytose, Fr. Schultz e keine
Lymphozytose, dagegen erhöhten Druck und das Vorhanden¬
sein von Jäger - Weichselbau in sehen Bazillen. Viel¬
leicht kann also die Untersuchung der Lumbalflüssigkeit im
akuten Stadium zu weiteren Aufschlüssen über die Häufigkeit
der meningitischen Reizung und über den Infektionserreger der
Poliomyelitis acuta führen.
Im vorausgehenden wurde angenommen, dass es sich um
die Krankheitseinheit handelte, die als aküte Poliomyelitis be¬
zeichnet wird. Das kann nicht als ganz sicher angesehen wer¬
den. Entzündungen und Entartungen in der grauen Substanz
finden sich auch sekundär als Folge bekannter Infektions¬
krankheiten. Bei der Art der Anamnese dieses Falles und bei der
Annahme des zuerst behandelnden Arztes, dass eine Influenza
voi gelegen habe, muss die Möglichkeit einer symptomatischen
Poliomyelitis in diesem Falle zugegeben werden. Unseres Er¬
achtens würde es sich verlohnen, auf diese Verhältnisse weiter
zu achten, wenn die klinischen Erscheinungen der Poliomyelitis
vorhanden sind. Wie gesagt kann da die Lumbalpunktion uns
wohl fördern. Die grosse Verschiedenheit im Verlauf nament¬
lich dei spoiadischen Poliomyelitisfälle lässt recht an wech¬
selnde Ursachen denken.
Auf die Mononukleose bei diesem akuten Prozess möchte
ich noch besonders hinweisen.
Literatur.
1. Charcot et Joffroy: Cas de paralysie infantile spinale
aveejesions des cornes anterieures de la substance grise de la moellc
epiniere. Arch. de physiol. normale et path. 1870. — 2. Strümpell-
No. 43.
Ueber die akute Encephalitis der Kinder. Jahrb. f. Kinderheilk. 1885.
Derselbe: Ueber primäre akute Enzephalitis. D. Archiv f. klin.
Med., Bd. 47, S. 53 (1891). — 3. O. M e d i n: Verhandl. d. X. internat.,
med. Kongr., Berlin 1890, Abt. VI, S. 37. — 4. Dauber: Zur Lehre
von der Poliomyelitis ant. acuta. D. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 4,
1893. — 5. Bickel: Ein Fall von akuter Poliomyelitis beim Er¬
wachsenen unter dem Bilde der aufsteigenden Paralyse. Inaug.-Diss.,
Bonn 1898. — 6. Fr. Schultze: Zur Aetiologie der akutep Polio¬
myelitis. Münch, med. Wochenschr. 1898, S. 1197. — 7. Macphail:
An epidemie of paralysis in children. Med. News, LXV, 23, 1894. —
8. Ivar Wickmann: Studien über Poliomyelitis acuta. Stockholm
1905. Akademische Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde. —
9. Qoldscheider: Zur allgemeinen Pathologie des Nervensystems.
Berl. klin. Wochenschr. 1894, S. 421. — 10. Steiner t: Neue Bei¬
träge zur Lehre von der Muskelatrophie bei supranukleären Läh¬
mungen, besonders bei der zerebralen Hemiplegie. D. Archiv f. klin.
Med., 85, S. 445. — 11. Derselbe: Zentrale Muskelatrophie. Zeit¬
schrift f. Nervenheilk., XXIV, 1903. — 12. Eisenlohr: Muskel¬
atrophie und elektrische Erregbarkeitsveränderungen bei Hirnherden.
Neurol. Zentralbl. 1890, S. 1. — 13. S i c a r d et Monod: Le liquide
cephalo-rachidien. Paris 1902. — 14. T r i b o u 1 e t et Lippmann:
Polymyelite ant. aigue, Mononucleose du liq. ceph. rach. Bulletins
de la societe medicale des höpitaux de Paris, S. 25. (13 und 14 zit.
nach Brion: Ueber Zytodiagnostik. Zentralbl. f. allg. Pathol. und
pathol. Anat.)
Aus dem hygienischen Institut der Universität Halle a. S.
(Direktor: Prof. Dr. C. F r a e n k e 1).
Ueber Ruhr bei Irren.
Von Dr. H. Lief mann, I. Assistent und Dr. A. Nieter,
Oberarzt beim Gren.-Reg. No. 11, kommandiert zum Institut.
Zu den Krankheiten, bei denen vom ätiologischen Stand¬
punkte ausgeführte Untersuchungen wesentliche Fortschritte
unserer Kenntnisse gebracht haben, gehört unzweifelhaft die
R u h r. Während die klinischen Erscheinungen dieser Krank¬
heit für eine Unterscheidung verschiedener Formen verhältnis¬
mässig wenig Anhalt bieten, hat die ätiologische Forschung für
eine grosse Zahl von Fällen ganz bestimmte, unter einander
verschiedene Erreger nachgewiesen. So hat man vor allem
die Amoebendysenterie von der bazillären
geschieden, und neuerdings ist man bestrebt, auch die durch
Bazillen bedingte Ruhr wieder in mehrere Formen auf-
z u 1 ö s e n, bei denen nahe verwandte, aber doch verschiedene
Erreger eine Rolle spielen.
Aber noch nach einer anderen Seite hin haben sich unsere
Kenntnisse über die Ruhr vertieft. Man hat gefunden, dass
eine ganze Anzahl von Darmaffektionen, die die typischen Er¬
scheinungen der Dysenterie mehr oder weniger vermissen
lassen, doch als dysenterische aufzufassen sind. Insbesondere
gilt dies für viele leichtere Fälle von Verdauungsstörungen,
die sich an Orten, wo die Ruhr heimisch ist oder epidemisch
auftritt, ereignen.
Trotz dieser Fortschritte bleibt für die ätiologische Auf¬
klärung der ruhrartigen Erkrankungen noch viel zu tun übrig.
Besonders in den Tropen treten verschiedene Formen von
akuter und chronischer Darmentzündung mit mehr oder min¬
der intensiver Beteiligung des Enddarmes auf, deren Ursache
uns noch unbekannt geblieben ist. Hier sei nur an die Malaria¬
dysenterie, an die Hill- und Kochinchinadiarrhöe, an die tro¬
pischen Aphthen erinnert.
Schliesslich gibt es einige der Ruhr nahestehende oder ihr
zuzurechnende Erkrankungen, die nach den Befunden einiger
Autoren der bazillären Form zugeschrieben werden müssen,
bei denen aber über die Art und Stellung der gefundenen Er¬
reger noch weiteres Material gesammelt werden muss. Hierzu
gehören gewisse Fälle von Darmerkrankungen bei Säug¬
lingen, bei denen vor allem F 1 e x n e r in Amerika Ruhr¬
bazillen gefunden hat, und hierzu zählt ferner die sogenannte
„Ruhr der Irre n“, deren bazilläre Aetiologie Kruse in
Deutschland im Jahre 1901 begründete.
Wir wollen nur auf die letztere näher eingehen. Die Ruhr
ist in Irrenanstalten keine besonders seltene Erscheinung; in
vielen tritt sie jedes Jahr in gleicher Weise wieder auf, meist
nur wenige Opfer fordernd, hin und wieder aber auch zu
grösseren Epidemien Anlass gebend. In besonderem Grade
soll sie vorgeschrittene Fälle von Geisteskrankheit befallen und
hier nicht selten das Ende herbeiführen oder wenigstens be-
2
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
schleunigen. Sie ähnelt darin den Symptomen, die man als
terminale Ruhr bezeichnet, und die man bei schweren
Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Typhus, Malaria be¬
obachtet.
Woher die Bezeichnung „Ruhr der Irren“ stammt,
und wer sie zuerst verwendete, konnten wir nicht mit Sicher¬
heit ermitteln. Tatsache ist jedenfalls, dass man die bei Irren
auftretende Dysenterie für eine besondere Erscheinungs¬
form dieser Krankheit hielt. Es mag dies darin seinen Grund
gehabt haben, dass man Ruhr in Irrenanstalten beobachtete,
wenn die ganze Umgegend frei davon war, und dass auch in
den Anstalten selbst vorwiegend die Irren erkrankten und nur
selten ihre Wärter und Pfleger ansteckten. Zum Teil zweifelte
und zweifelt man auch jetzt noch an der infektiösen Natur
mancher bei Irren vorkomendemn Ruhr- oder ruhrartigen Er¬
krankungen, und rechnet solche Prozesse zur Colitis inucosa
(membranacea), bei der eine nervöse Ursache oder Disposition
angenommen wird.
Im Jahre 1901 hat dann Kruse zum ersten Male die Ruhr¬
fälle in einer Irrenanstalt einer sorgfältigen bakteriologischen
Untersuchung unterzogen und dabei als mutmassliche Erreget
Bazillen gefunden, die er als Pseudodysenterie¬
bazillen bezeichnet. Trotz ihrer grossen Aehnlichkeit mit
den echten, bei epidemischer Ruhr beobachteten gelang es
ihm, diese Bazillen als besondere Arten nachzuweisen. Er
hat dabei insbesondere das Agglutinationsverfahren zu Hilfe
genommen; aus den damit erhobenen Befunden glaubte er, den
Schluss ziehen zu müssen, dass die von ihm bei Irren
gefundenen Stämme auch unter einander ver¬
schieden seien.
Im Jahre 1902 haben dann V e d d e r und Duval in ver¬
schiedenen Städten Amerikas Ruhrfälle, unter anderen auch
solche in Irrenanstalten untersucht. Sie scheinen dabei ähn¬
liche Befunde wie Kruse gehabt zu haben. Bei dem kul¬
turellen und serodiagnostischen Studium ihrer Stämme gelang
es ihnen aber, dieselben zu identifizieren mit Bazillen, die zu¬
erst F 1 e x n e r bei Ruhrfällen auf den Philippinen und in
Amerika gefunden, und die Martini und Lentz 1902 als
verschieden von dem Erreger der epidemischen Ruhr
(Shiga-Kruse) erwiesen hatten. Freilich stellten Ved-
d e r und Duval die zweifellos irrige Behauptung auf, dass
ihre Bazillen auch mit diesem letzteren identisch seien. 1903
berichteten dann Gay und Duval über einige Fälle von „An¬
staltsdysenterie“. In zwei besonders bemerkenswerten Fällen
gelang es ihnen, aus den Fäzes 2 verschiedene Arten von Ruhr¬
bazillen zu züchten, nämlich solche vom Shiga-Kruse-
und vom F 1 e x n e r sehen Typus 1). Sie hielten diesen Befund
für eine Bestätigung der Annahme, dass diese Bazillen im
Grunde identisch, ihre Trennung nur eine künstliche sei.
In allerjüngster Zeit hat Lucksch in Czernowitz eine
Dysenterieepidemie in der dortigen Landesirrenanstalt bak-
teriologfsch und klinisch verfolgt und dabei Bakterien gefunden,
die er mit dem F 1 e x n e r sehen identifizieren zu müssen
glaubt.
Die Untersuchungen über die Ruhr der „Irren“ bilden aber
nur einen kleinen Teil der Arbeiten, die über die Erreger dysen¬
terischer Erkrankungen veröffentlicht wurden, und die uns
genauere Kenntnisse von der Natur und Bedeutung der ge¬
fundenen Bazillen verschafft haben. Insbesondere ist man be¬
strebt gewesen, die Gruppe der Shiga-Kruse sehen
Bazillen von der der Flexner sehen scharf zu
trennen und die letztere wieder in 2 oder mehrere Arten zu
differenzieren.
Es haben sich hier die gleichen Verhältnisse wie beim
Typhus ergeben, wo man dem bekannten Erreger eine Reihe
nahe verwandter, aber doch unterscheidbarer Bazillen gegen¬
überstellen konnte. Entsprechend der bei Typhus gebräuch¬
lichen Nomenklatur wird es sich deshalb nach dem Vorgang
x) In einem dieser Fälle fanden sie gleichzeitig Typhusbazillen.
Wir haben kürzlich über zwei ähnliche Befunde berichtet (Münch,
med. Wochenschr. 1906, No. 33), in denen an Ruhr erkrankte Per¬
sonen sich gleichzeitig als Typhusbazillenträger erwiesen. Der in¬
teressante Befund Gay und Duvals war uns damals leider noch
nicht bekannt.
mehrerer Autoren empfehlen, auch de m Ruhrbazillus
(Bac. dysenteriae [Shiga-Krus e]), die ihm nahe ver¬
wandten Erreger als „P a r a r u h r b a z i 1 le n“ gegen-
überzustellen. In wie viel einzelne Gruppen diese letzteren
aufzulösen sind, lässt sich heute noch nicht mit Sicherheit ent¬
scheiden. Es scheint zunächst am zweckmässigsten, das Ver¬
halten gegenüber verschiedenen Zuckerarten und Mannit, sowie
die Agglutinationsverhältnisse zu berücksichtigen und eine
Trennung in zwei Gruppen vorzunehmen, wie dies in ähnlicher
Weise insbesondere Hiss auf Grund umfangreicher Unter¬
suchungen vorgeschlagen hat.
Dadurch käme man zu folgender Einteilung:
I. Ruhrbazillen: Bac. dysenteriae (Shiga-Kruse)
zersetzen nur Traubenzucker, aber ohne Gasbildung.
II. Pararuhrbazillen:
a) Pararuhrbazillus a (Hiss und Rüssels
Y - B a z i 1 1 u s) zersetzt Traubenzucker und Mannit; unvoll¬
kommen und unregelmässig auch Maltose und Saccharose.
b) Pararuhrbazillus b (Flexners Bazillen aus
Manila2) und Amerika) zersetzt Traubenzucker, Mannit, Mal¬
tose und Dextrin (nach längerer Zeit auch Saccharose). 3)
Die Frage, zu welcher der genannten Gruppen die bisher
bei Ruhr der Irren gefundenen Bazillen gehören, lässt sich nicht
in allen Fällen mit Sicherheit entscheiden.
Zunächst hat man zweifellos bei Irren echte Ruhrbazillen
(Shiga-Kruse) gefunden. Es besteht aber kein Zweifel,
dass dieser Bazillus nicht der Erreger der Ruhr der Irren
sein kann, sondern dass es sich (in den von Kruse und von
Gay und Duval beobachteten Fällen) um einen zufälligen
Befund oder um eine Mischinfektion handelte. Alle sonst bei
Ruhr der Irren beobachteten Stämme sind zweifellos Para¬
ruhr b a z i 1 1 e n gewesen, sowohl die von Kruse, wie die
von V e d d e r und Duval, Gay und Duval und Lucksch
beobachteten. Ob sie aber zum Typus a oder b gehörten, lässt
sich aus den Veröffentlichungen der Verfasser meist nicht mit
Sicherheit erkennen, da manche der entscheidenden kulturellen
Proben zur Zeit der Untersuchung noch nicht gebräuchlich
waren.
Nach dieser kurzen Orientierung gehen wir nun zu unseren
eigenen Befunden über.
In einer Irrenanstalt Mitteldeutschlands, die von
etwa 900 weiblichen Insassen bewohnt wird, herrscht seit längerer
Zeit R u h r. In bei weitem überwiegender Zahl werden die Irren
selbst befallen, insbesondere in einem Gebäude, in dem die abge¬
laufenen Fälle mit solchen Irren zusammen untergebracht sind,
die die Ruhr bisher nicht überstanden haben. Aber nicht
ganz selten infiziert sich auch eine der Pflegerinnen; selbst einer der
Aerzte der Anstalt ist nicht von der Ruhr verschont geblieben. Doch
die Seuche greift nicht über die Anstalt hinaus; sowohl in nächster
Nähe derselben, wie auch in der weiteren Umgebung ist von Ruhr
nichts bekannt.
Die klinischen Erscheinungen sind genau die einer nicht allzu
schweren Dysenterie. Natürlich wird die klinische Beobachtung
durch den Geisteszustand der Patientinnen sehr erschwert, da es
meist unmöglich ist. eine Anamnese aufzunehmen und irgend etwas
über Prodromalerscheinungen und das subjektive Befinden zu ermit¬
teln. Die ersten Symptome stellen Leibschmerzen dar, denen dann
bald häufige Stuhlentleerungen folgen, die den typischen Charakter der
Ruhrstühle aufweisen, also aus Schleim bestehen, denen frische rote
Blutpunkte anhaften. Sonstige objektive Befunde fehlen meist ganz.
Nach mehreren Tagen ändert sich die Beschaffenheit der Stühle; sie
werden mehr und mehr wieder fäkulent, und die Krankheit geht in
Genesung über. Keiner der von uns beobachteten Fälle führte zu
einem tödlichen Ausgang im akuten Stadium. Recht häufig schliessen
sich aber — insbesondere an Diätfehler — Rezidive an, die sich
mehr oder weniger dem Bilde einer akuten Erkrankung nähern, meist
aber einen kürzeren oder weniger heftigen Verlauf nehmen. Ein
chronischer Ausgang der Krankheit ist überaus häufig.
Bei solchen Fällen haben wir 2 mal Gelegenheit gehabt, der Autopsie
beizuwohnen. Die Affektion zeigte sich bei beiden auf den End¬
darm beschränkt. Es bestanden im wesentlichen die Zeichen einer
katarrhalischen Entzündung mit an einzelnen Stellen lebhafter Hyper¬
ämie der Schleimhaut. Da und dort aber fanden sich alte Geschwüre,
2) Nicht alle von Flexner in Manila gefunden Bazillen ge¬
hören in diese Gruppe.
3) Hiss unterscheidet noch eine weitere Gruppe, die dem Para¬
ruhrbazillus a am nächsten steht und sich von ihm kulturell nur durch
raschere Zersetzung von Saccharose unterscheidet. Es ist schwer zu
sagen, ob diese zeitlichen Unterschiede die Aufstellung einer beson¬
deren Gruppe rechtfertigen.
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2099
d. li. runde Löcher mit glatten, aber etwas unterminiertem Rand, die
wohl die Reste eines früheren intensiveren Prozesses darstellen.
Recht erschwerend für die Aufklärung der einzelnen Ruhrfälle war
nun die Tatsache, dass man bei der Untersuchung einer grösseren
Zahl anscheinend Gesunder (d. h. nie an Ruhr Erkrankter) nicht selten
Personen findet, die ab und zu Spuren von Schleim in ihren Fäzes
haben. Vielfach ist man geneigt, solche Fälle als nicht in¬
fektiös zu betrachten und sie der schon erwähnten Colitis mucosa
zuzurechnen. Andererseits aber kann man sich kaum verhehlen, dass
die Möglichkeit besteht, dass wenigstens der eine oder andere Fall
nur eine leicht verlaufende Ruhr oder ein Rezidiv darstellt, das nicht
ohne Gefahr für die Umgebung sein mag. Wir werden sehen, dass die
bakteriologische Prüfung der Stühle dieser Personen nicht imstande
ist, uns eine Antwort auf diese Frage zu geben, dass aber das Ver¬
halten ihres Blutes einigermassen für diese Annahme spricht.
Von grosser Bedeutung sind nun die epidemiologischen Ver¬
hält n i s s e, Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass die
Ruhrfälle in der von uns untersuchten Anstalt durch Kontakt
zustande kamen. Dafür sprach ihre Lokalisation, die Häufung der
Fälle in einem bestimmten Gebäude, in bestimmten Sälen und ihre
zeitliche Aufeinanderfolge. Ein anderer Infektionsweg war auch des¬
halb auszuschliessen, weil die hygienischen Verhältnisse der Anstalt
dazu keinen Anlass gaben. Es besteht zentrale Versorgung mit
gutem Trinkwasser, ebenso sind alle Gebäude an die Kanalisation
angeschlossen. Auch eine Infektion durch Nahrungsmittel war mit
Sicherheit auszuschliessen. Andererseits spricht wieder für Ueber-
tragung durch Kontakt, dass gerade dazu in einer Irrenanstalt alle
Vorbedingungen gegeben sind. Die bekannte Unreinlichkeit
der Irren setzt nicht nur die unreinliche Person selbst, sondern,
wenn diese sich einmal infiziert hat, auch ihre ganze Umgebung
einer besonderen Gefahr aus. Die von uns beobachteten Fälle tra¬
ten nicht plötzlich auf, sondern ereigneten sich in scheinbar regel¬
loser Aufeinanderfolge, in wechselnden Zeitabständen. Stets aber
war nachzuweisen, dass sie sich auf Säle beschränkten, in denen
schon sonstige Ruhrerkrankungen vorgekommen oder in die alte,
scheinbar abgelaufene Fälle hineingelegt waren. Wir haben im
Ganzen während eines Zeitraumes von 2 Vs Monaten 8 akute Fälle
beobachtet. In sieben von diesen haben wir Bazillen
gefunden, die sich zunächst alszur Gruppe derPara-
ruhrbazillen gehörig herausstellten. Echte Ruhr¬
bazillen (vom S h i g a - K r u s e sehen Typus) konnten in keinem
einzigen Fall nachgewiesen werden. Wir haben dann die Fäzes von
22 Irren (darunter auch abgelaufenen Fällen), die — ohne sichtlich
krank zu sein — Schleim in ihren Entleerungen hatten, untersucht,
und in keinem Falle irgendwelche Ruhrbazillen oder Pararuhrbazillen
gefunden. Das gleiche Resultat haben wir auch bei etwa 240 körper¬
lich Gesunden oder an anderen Krankheiten Leidenden gehabt. 4)
Was nun zunächst die Bedeutung der nachgewiesenen Ba¬
zillen für die Aetiologie der beobachteten 8 akuten Fälle an¬
geht, so kann inan folgende Punkte, die dafür sprechen, an¬
führen:
1. Konnten mikroskopisch im Schleim fast nur Bazillen
(vom Aussehen der gezüchteten) beobachtet werden, freilich
auch diese nicht in besonders grosser Zahl. Es wuchsen auf
den Platten (von v. Drigalski-Conradi) die Pararuhr¬
bazillen in überwiegender Menge.
2. Das Blutserum der Kranken agglutinierte mit dem Fort¬
schreiten der Erkrankung die gefundenen Bazillen in steigen¬
dem Masse.
3. Gesunde hatten, wie erwähnt, keine Pararuhrbazillen
in ihren Fäzes.
Dazu kam dann ,dass die weiteren Untersuchungen er¬
gaben, dass die gefundenen Bazillen untereinander in ihrem
biologischen Verhalten übereinstimmten, und auch von
ihren wechselseitigen Immunseris, wie von den Krankenseris
fast ganz gleichmässig beeinflusst wurden.
Die biologische Prüfung unserer Stämme führte zu
folgendem Ergebnis: Es handelt sich um plumpe, dem Typhus¬
bazillus etwas an Grösse überlegene Stäbchen, die auch in
jungen Bazillenkulturen sich unbeweglich zeigen, aber — be¬
sonders unmittelbar nach ihrer Gewinnung aus den Fäzes —
eine' üusserst lebhafte Molekularbewqgung aufweisen. Sie
bilden auf dem v. Drigalski-Conradi sehen Nährboden,
auf dem sie zunächst gezüchtet wurden, blaue, klare Ko¬
lonien, die sich nach 24 Stunden nur wenig von denen des
Typhus- oder Ruhrbazillus unterscheiden, die aber bei wei¬
terem Aufenthalt bei 37 0 dann grösser werden, eine unregel-
4) In der Anstalt herrschte früher neben Ruhr auch Typhus,
dessen Bekämpfung die Untersuchung der Fäzes So vieler Personen
nötig machte. Dabei wurde gleichzeitig auch auf Ruhrbazillen ge¬
achtet. In zwei Fällen wurde Pararuhr und Typhus zusammen be¬
obachtet.
mässige Oberfläche und einen gezackten Rand bekommen.
Das Aussehen dieser älteren Kolonien kann aber recht wech¬
selnd werden, weil anscheinend der Wassergehalt des Nähr¬
bodens einen Einfluss auf ihre Form ausübt. Auf Endo schem
Nährboden wachsen die Bazillen blass wie Typhusbazillen,
auch bei längerer Beobachtung. Bouillon wird gleich¬
mässig getrübt, ohne dass ein Häutchen entsteht. Indol wird
nicht gebildet. In Lakmusmolke tritt zuerst eine saure
Reaktion auf, die dann in eine schwach alkalische umschlägt.
Milch wird nicht zur Gerinnung gebracht; Gelatine nicht
verflüssigt, Neutralrot nicht reduziert.
Das Verhalten gegen Zuckerarten und Mannit geht aus
folgender Tabelle hervor5):
Art des Nährbodens
Säurebildung
Gasbildung
Mannitagar
rasch und kräftig
nein
Traubenzuckeragar
V V V
y>
Maltoseagar
schwach und unregel-
mässig
V
Saccharoseagar
schwach und unregel-
mässig
r>
Milchzuckeragar
nein
V)
Dextrinagar
V
Wenn man diese Tabelle mit der Einteilung vergleicht, die
wir zu Anfang aufstellten, so ergibt sich, dass die von uns ge¬
fundenen Bazillen zum Typus a der Pararuhr bazillen
gehören, der zuerst von Hiss und Rüssel in Amerika auf¬
gefunden wurde, lind neuerdings auch bei uns von Lentz im
Südwesten des Reiches bei Ruhrfällen konstatiert werden
konnte. Durch die Freundlichkeit des Herrn Dr. Lentz
kamen wir in den Besitz zweier seiner Kulturen; wir konnten
in kultureller Beziehung eine völlige Uebereinstim-
m u n g seiner Stämme mit den unsrigen feststellen.
Von grossem Interesse war nach diesen Befunden die
Prüfung der Kulturen mittelst der Serumreaktionen.
Wir haben zunächst unsere Stämme mit einer grösseren
Anzahl Seren Gesunder oder, soweit man es feststellen konnte,
nie an Ruhr erkrankter Personen, zusammengebracht. 2 dieser
Seren stammten von Personen (Aerzten), die zuvor die An¬
stalt nicht bewohnt hatten, 8 von Insassen der Anstalt.
Es zeigte sich, dass manche Normalseren in verhältnis¬
mässig hohem Grade unsere Pararuhrbazillen beeinflussten.
Agglutination in einer Serumverdünnung von 1 : 100 war nicht
gerade selten. Weitere Prüfungen, die wir später mit einem
(nicht von uns gezüchteten) Stamme des Typus a der Para¬
ruhrbazillen Vornahmen, hatte das gleiche Resultat.
Die folgende Tabelle gibt darüber Aufschluss:
Art der Seren
<L
bD rn
J», ® C
<x> ®
Anzahl der positiv reagierenden Seren
bei einer Verdünnung von :
~ :g s
'S ^
CS3
O
O
OO
O
O
rP
§
<N
0
0
O
10
unter
1 : 50
1
l
Anscheinend nie an Pararuhr
Erkrankte.
52
4
7
13
28
2
Personen mit Schleimspuren in den
Fäzes, die aber nie akute Para¬
ruhr gehabt hatten.
11
3
7
1
3
Alte abgelaufene Pararuhrfälle
(z. T. mit gelegentlichen Rezi¬
diven).
32
9
6
6
8
3
4
Frische Pararuhrfälle.
5
3
1
r
—
—
—
Die obige Tabelle zeigt zunächst, dass das Serum ge¬
sunder Personen unter Umständen die Pararuhrbazillen auch
noch in ziemlich hohen Verdünnungen zu agglutinieren ver¬
mag. Dieser Befund, der schon öfters erhoben wurde, besteht
5) Die Prüfung des Verhaltens der Stämme wurde in schwach
alkalischem Lackmusagar vorgenommen, dem 1 Proz. der oben ge¬
nannten Stoffe zugefügt waren. Als Kontrolle diente Lackmusagar
ohne Zusatz. Der Nährboden wurde schräg erstarrt verwendet, und
Strichkulturen angelegt, da bei Impfung im Stich sich oft in der Tiefe
eine Reduktion bildet, die die Erkennung des Farbtones sehr beein¬
trächtigt.
2*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
sicherlich zu Recht, wenn auch der eine oder andere unserer
Fälle ohne zu erkranken, vielleicht doch gelegentlich sich mit
Pararuhrbazillen infiziert haben mag. Die akut Erkrankten,
die alle nach Ablauf der ersten Woche untersucht wurden,
wiesen auf der anderen Seite eine deutliche Steige¬
rung der Agglutinationskraft ihres Serums auf.
Von besonderem Interesse sind wohl die Verhältnisse bei
den abgelaufenen Fällen und bei den Personen, bei welchen nur
zufällig Schleim in den Fäzes sich gefunden hatte, weil bei
keinem Einzigen von ihnen, oft trotz wiederholter Unter¬
suchung, in den Fäzes Pararuhrbazillen gefunden werden
konnten. Die Prüfung ihrer Sera ergibt mit hoher Wahrschein¬
lichkeit, dass die grosse Mehrzahl von ihnen einst unter der
Einwirkung von Pararuhrbazillen gestanden hat, oder noch
steht. Besonders wichtig ist der Nachweis für die leich¬
testen Fälle, die nur zufällig entdeckt wurden, und die von
von vielen als nicht infektiös betrachtet, sondern zur
Colitis mucosa gerechnet werden. Freilich soll nicht geleugnet
werden, dass diese Annahme in einzelnen Fällen vielleicht be¬
rechtigt ist, um so mehr, weil, wie wir sahen, auch das Serum
Gesunder mitunter eine hohe Agglutinationskraft besitzt.
Als Ergänzung dieser Befunde ist auch der Nachweis von
Wichtigkeit, dass das Serum von etwa 12 Personen (darunter
auch akut Erkrankten) den Bacillus dysenteriae Shiga-Kruse
niemals in einer Verdünnung von 1:50 oder darüber ag-
glutinierte.
Als Immunsera standen uns 4 mit 4 von uns gezüchteten
Stämmen gewonnene Kaninchensera und ein Hammelserum
zur Verfügung. Die Vorbehandlung der Kaninchen erfolgte mit
sehr geringen Dosen (zuerst Wo, dann Vs Oese intravenös), die
ausreichten, um schon nach der zweiten Injektion einenTitervon
etwa 0,0002, nach der 4. Injektion (von 14 Oese) einen solchen
von 0,00004 (1 : 25000) zu erzielen. Mit diesen 4 Seren wurden
5 unserer Stämme von verschiedenen Patienten zusammen¬
gebracht. 3 Stämme agglutinierten fast gleich hoch; 2 zeigten
sich etwas schwerer aggiutinabel.
Wir wollen von diesen Versuchen nur 2 anführen, einen,
in dem wir ein Serum mit verschiedenen Stämmen zusammen¬
brachten, und einen anderen, in dem wir auf einen Stamm
mehrere Sera einwirken Hessen.
Serum Lauer 111 zusammen mit mehreren Paradysenterie-a-Stämmen.
Paradysenterie
- a -
Stämme
Verdünnung des Serums
Kontrolle in
NaCl-Liisung |
O
m
O
o
o
o
CM
o
o
§
o
o
o
o
CM
o
8
m
1 : 10000
1 : 20000
1 : 40000
1 : 80000
Lauer 3
Kessler 13
Will 1
Lahme b i
4-
+
+
+
+
4-
4-
4-
_
+
4-
4-
4-
+
4-
+
4-
—
4-
+
4-
+
+
+
+
—
—
—
Stamm Lahme bi zusammen mit verschiedenen Seren.
Art des Serums
Das Serum
agglutinierte
einen homolo¬
gen Stamm
Verdünnung der Sera
Kontrolle in
NaCl-Lösung |
O
IO
O
o
o
CNJ
o
1000
2000
5000
O
O
o
o
20000
40000
80000
Serum Lauer 3
„ Kessler 13
Hammelserum
1 : 20000
1 : 5000
1 : 5000
4-
--
■f
4-
+
+
+
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
+
4-
4-
■
Wir haben weiterhin einige Versuche mit den uns von
Herrn Dr. Le ritz überlassenen Paradysenteriestämmen des
Typus a und ihren Seren angestellt. Es zeigten dabei die Seren
sowohl wie die Stämme im wesentlichen eine völlige
Uebereinstimmung mit den unserigen (obwohl
sie nicht aus den Fäzes von Geisteskranken gewonnen waren).
Bei der Beurteilung von Agglutinationserscheinungen bei
Paradysenteriestämmen ist aber zweifellos grosse Vor¬
sicht geboten. Zwar neigen die Kulturen durchaus nicht zur
Spontanagglutination (die wir niemals beobachteten), aber sie
werden anscheinend nicht nur vom normalen Menschen, son¬
dern auch von Tierseren oft wesentlich beeinflusst; ausserdem
unterliegen sie einer starken Mitagglutination; z. B. zeigte ein
Serum des Bac. dysenteriae (Shiga-Kruse) zwar eine
stärkere Wirkung auf den ihm homologen Stamm, agglutinierte
aber unsere vom Dysenteriebazillus kulturell doch deutlich ge¬
schiedenen Stämme auch in ziemlich hohen Verdünnungen. Aut
der anderen Seite hatten die Paradysenteriesera so gut wie
keinen Einfluss auf Dysenteriebazillen (S h i g a - K r u_s e).
Wir haben schliesslich noch 2 Kulturen und ihre Seren
untersucht, die wir der Güte des Herrn Prof. Kruse in Bonn
verdanken, und die, wie unsere Stämme, von Geisteskranken
stammten und als Pseudodysenterie Stämme bezeichnet
waren. Kulturell zeigten diese Bazillen eine völlige
Uebereinstimmung mit den unserigen; auch
serodiagnostisch war dies bei dem einen der Stämme der Fall,
während der andere von den verschiedenen Seren verhältnis¬
mässig schwach beeinflusst wurde (bis 1:2000). Sein eigenes
Serum agglutinierte ihn etwa 5 mal höher (bis 1:10000), so
dass man wohl nicht annehmen kann, dass es sich nur um
einen schwer agglutinablen Bazillus handelte. Dennoch
sprechen für die Identität auch dieses Bazillus mit den unserigen
nicht nur das Verhalten des mit ihm erzielten Serums, das dem
der unserigen ganz entsprach, sondern auch der Ausfall
der Ca stellanischen Absorptionsversuche
(bei einer Verdünnung der Seren von 1:100 und 1:1000).
Denn dieser Bazillus vermochte nicht nur
aus den Seren agglutinierende Substanz für
andere Bazillen des Typus a zu entfernen,
sondern diese letzteren absorbierten ebenso
die für ihn wirksamen Stoffe in hohem Grade.
Wir wollen uns hier aber nicht auf eine ausführliche Ver¬
gleichung der Ruhr- und Pararuhrarten einlassen, sondern nur
noch die Schlüsse aus dem Mitgeteilten ziehen und einige
Nebenbefunde anführen, die vielleicht nicht ohne Interesse sind.
Wir haben gesehen, dass in der von uns untersuchten Anstalt
Ruhrfälle zur Beobachtung kamen, die durch Pararuhr¬
bazillen des Typus a verursacht wurden. Diese Ba¬
zillen sind bei uns und in Amerika auch bei nicht Geistes¬
kranken beobachtet worden. Es kann als wahrscheinlich an¬
gesehen werden, dass die meisten früher in jener Anstalt be¬
obachteten Ruhrerkrankungen durch den gleichen Bazillus
hervorgerufen worden sind, so dass man sagen kann, die Ruhr
wird in dieser Anstalt durch Paradysenterie¬
bazillen desTypus „a“ erzeugt. Weiterhin ist wahr¬
scheinlich, dass es Fälle gibt, die sich der klinischen Beob¬
achtung fast ganz entziehen, und die doch als Paradysenterie¬
infektionen aufgefasst werden müssen. (Man kann aber nicht
ausschliessen, dass manche der leichten Erkrankungen zur
Colitis mucosa gehören und nicht infektiöser Natur sind.)
Die Verbreitung der Krankheit geschah
sicherlich durch Kontakt. Die Bekämpfung wird
daher vornehmlich in der möglichst rechtzeitigen Iso¬
lierung aller Infektionstüchtigen bestehen, also nicht
nur der Erkrankten, sondern auch aller leich¬
ten und leichtesten Fälle, bei deren Auffindung die
bakteriologische Untersuchung zu Hilfe genommen werden
muss. Ein grosser Missstand ist, dass es nur bei akuten Er¬
krankungen gelingt, die Bazillen in den Fäzes zu finden, doch
wird es auch ohne diesen Nachweis wohl berechtigt sein, einen
Irren zu isolieren, wenn er Schleimspuren in den Fäzes hat,
und sein Serum Pararuhrbazillen hoch (1:400 und mehr) ag-
glutiniert. Es ist nicht möglich, aus der Literatur zu ersehen,
welcher Natur alle bisher bei Dysenterie der ,, Irren“ ge¬
fundenen Stämme gewesen sind. Wir haben 2 der von
Kruse gezüchteten Stämme untersucht und kulturell
eine völlige Uebereinstimmung mit unseren
Stämmen gefunden, während serodiagnostisch sich kleine,
unseres Erachtens zu einer Trennung nicht berechtigende Ver¬
schiedenheiten zeigten. Es muss natürlich durchaus dahin¬
gestellt bleiben, ob nicht die Ruhr der ,, Irren“ an anderen
Orten durch andere Ruhrbazillen bedingt wird.
Im Laufe unserer Untersuchungen haben wir mehrfach Ge¬
legenheit gehabt, Beobachtungen zu machen, die uns im An-
23. Oktober 1906. _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 2101
fang' den Gedanken nahe legten, dass für einige der Ruhrfälle
vielleicht doch noch andere Erreger als die Pararuhr¬
bazillen in Frage kommen könnten. Wir fanden nämlich in
nicht sehr seltenen Fällen besonders chronisch Kranker
Spirillen in den Fäzes, manchmal sogar in sehr beträcht¬
licher Menge. Französische Autoren, insbesondere Le Dan-
t e c, haben aus ähnlichen Befunden den Schluss gezogen, dass
es eine durch Spirillen verursachte Ruhr, eine
„Dysenterie ä spirille s“, gäbe. Es sprechen dagegen
aber bereits viele Befunde, die man bei der Untersuchung
choleraverdächtiger Fäzes gemacht hat, in denen man nicht so
selten auch Spirillen entdecken kann. Und so sind auch von
uns diese Mikroorganismen gefunden worden, wo man sie gar
nicht erwartete, und noch öfter wurden sie vermisst, wenn
man ihr Vorhandensein annehmen konnte. Wir glauben daher,
dass ihnen nur eine sekundäre Rolle zukommt. Sie
traten übrigens in verschiedenen Arten auf, nicht nur als sehr
kleine und zarte Spirillen, sondern auch in gröberen
Formen, und dann recht häufig in Gestalt eines Kommas. Die
Züchtung gelang uns bei keiner dieser 3 Arten.
Schliesslich haben wir in einem Fall einer mehr diar-
rhoischen Erkrankung chronischer Natur einen Parasiten
gefunden, dem wohl bei der betreffenden Patientin eine krank¬
heitserregende Bedeutung zukam, nämlich die Anguillula
intestinalis, deren Larven in den Fäzes in grosser Menge
auftraten. Wir möchten nach den Beobachtungen bei der be¬
treffenden Kranken bezweifeln, dass dieser Wurm, wie
man behauptet hat, stets als ein ganz harmloser Darm¬
bewohner anzusehen ist. Man hat ihn übrigens in neuerer Zeit
auch in Deutschland, insbesondere in den Stühlen von Berg¬
leuten, wiederholt beobachtet. In der Anstalt hatte er keine
weitere Verbreitung gefunden; trotz der Untersuchung vieler
Fäzes blieb der genannte Fall der einzige. Hingegen beob¬
achteten wir öfters Oxyuris vermicularis, der ja
bei Irren schon oft beschrieben worden ist.
Zum Schlüsse ist es uns eine angenehme Pflicht, dem
Direktor der Landesirrenanstalt, Herrn Dr. Schedtler,
sowie den Herren Assistenzärzten derselben Anstalt für das
uns bei unseren umfangreichen Untersuchungen stets entgegen¬
gebrachte liebenswürdige Entgegenkommen unseren verbind¬
lichsten Dank abzustatten, auch sind wir Herrn Stabsarzt,
Prof. Dr. v. D r i g a 1 s k i für viele gute Ratschläge zu bestem
Dank verpflichtet.
Literatur:
Kruse: Deutsche med. Wochenschr. 1901, p. 370 u. 386. —
Vedder und Duval: The etiology of acute dysentery in the
United States. Zentralbl. f. Bakt. Abt. I, Orig. 1902, Bd. 31, p. 134. —
Martini und Lentz: Zeitschr. f. Hyg. 1902, Bd. 41, p. 540. —
Lentz: Zeitschr. f. Hyg. 1902, Bd. 41, p. 559. — Hiss: Journal of
med. research. XIII, No. 1. — Gay und Duval: Univers. of Penn.
Med. Bull. 1903, p. 177. — Lucksch: Wien. med. Wochenschr. 1906,
No. 28, p. 860. — LeDantec: Zentralbl. f. Bakt. Ref. 1904, Bd. 34,
p. 448.
Erythema exsudativum multiforme und nodosum der
. Schleimhaut in ihren Beziehungen zur Syphilis. *)
Von Dr. G. 7’ r a u t m a n n in München.
Seit einer Reihe von Jahren suche ich für ein Grenzgebiet
weiteres Interesse zu erwecken, das in den einschlägigen Lehr¬
büchern sehr stiefmütterlich bedacht und doch von einer emi¬
nent piaktischen Wichtigkeit ist1). In Betracht kommen eine
Anzahl von Krankheiten, deren Domäne für gewöhnlich die
äussere Decke ist, welche aber gleichzeitig, sekundär,
primär und sogar solitär die Mundh ö h 1 e und die
o b e i en Luftwege befallen. Zu diesen gehören neben dem
Erythema exsudativum multiforme und nodosum Lichen ruber,
die verschiedenen Herpesarten, die Medizinalintoxikationen,
eniphigus, Ekzema, Impetigo herpetiformis, die anderen Im-
_ ) Nach einem im Münchener ärztlichen Verein am 13. Juni 1906
gehaltenen Vortrag.
V Zur Differentialdiagnose von Dermatosen und Lues bei den
Schleimhauterkrankungen der Mundhöhle und oberen Luftwege
Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1903.
petigoformen, Psoriasis vulgaris, Lupus erythematodes, Lupus
vulgaris und Tuberkulose. Was die beiden ersten Erkran¬
kungen betrifft, welche, weil am gleichen Patienten gleichzeitig
beobachtet, von der einen Seite als einheitliche Krankheit, von
der anderen dagegen als verschiedene betrachtet werden, so
konnte ich im Jahre 1903 aus der Literatur und nach eigenen
Beobachtungen auf der Schleimhaut nur 18 Fälle von
Erythema exsudativum multiforme feststellen,
während ihre jetzige Zahl, abgesehen von meinen neuen
Fällen, sich auf 39 beläuft. Von diesen entfallen auf
die Schleimhaut 4 bei primärem Hautexanthem, 20 koexi¬
stierend mit diesem, 11 primär mit nachfolgenden Haut¬
erscheinungen und 4 solitär. Dagegen fand ich unter
den Publikationen nur 6 Fälle von Erythema nodo¬
sum der Schleimhaut beschrieben: 1 bei primärem Haut¬
exanthem, 2 koexistierend mit Hauterscheinungen, 2 bei gleich¬
zeitigem Befallensein der Genitalien und 1 solitär. Diese Zahlen
sind hinsichtlich der Häufigkeit des Vorkommens natürlich keine
absoluten, da nicht alle Fälle dieser Art diagnostiziert und be¬
schrieben werden. Sie dürften in Wahrheit aber noch grösser
sein.
Es lassen sich die in Rede stehenden Erytheme in idio¬
pathische, toxische, autotoxische, medikamentöse und sym¬
ptomatische einteilen. Speziell die letzteren zeigen sich als äus¬
serer Ausdruck vieler Infektionskrankheiten, z. B. von Masern,
Scharlach, Diphtherie, Pertussis, Varizellen, Variola, Erysipel,
Pneumonie, Influenza, Typhus, Cholera etc. sowie von Tuber¬
kulose und vor allem Syphilis.
Bei dieser kommen zwei Momente in Betracht, welche für
die Diagnose und Prognose und für die richtige Therapie von
grösster Bedeutung sind: nämlich erstens die ungemein grosse
Verwechslungsmöglichkeit der Schleimhautefflo-
reszenzen der Erytheme mit denjenigen der Syphilis. In der
Literatur finden sich zahlreiche Fälle, in denen früher syphi¬
litisch Infizierte wegen ihrer Schleimhauterscheinungen in
Nase, Rachen und Kehlkopf fort und fort nicht nur
ohne Erfolg, sondern mit grossem Schaden spezifisch behandelt
wurden.
Auf der Schleimhaut werden, teils durch deren physio¬
logische Beschaffenheit, teils durch sekundäre Wirkung der
auf ihr angesiedelten Bakterienflora, die Krankheitsprodukte
mazeriert und destruiert, so dass hierdurch Bilder entstehen,
welche die Lues verschiedenen Stadiums Vortäuschen. Eine
luetische Anamnese leistet dieser Diagnose erst recht Vorschub,
noch mehr aber wird diese gestützt, wenn, zeitlich gleich oder
verschieden, auf der äusseren Haut sich ein Exanthem präsen¬
tiert, das nach seinem klinischen Aussehen als spezifisches be¬
trachtet werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn das Ery¬
thema exsudativum multiforme in seiner papulösen Form
auftritt und das Erythema nodosum gerade an für Lues prä-
dilektierte Körperregionen, wie z. B. an der Tibia, lokalisiert ist
und dann für einen gummösen Prozess gehalten wird. Das Zer¬
fallen von Erythemknoten ist trotz gegenteiliger Behauptung
in den Publikationen mehrfach angegeben; auf den Schleim¬
häuten habe ich es selbst beobachtet. Die Differentialdiagnose
zwischen Erythema nodosum irgend welcher Provenienz und
einem Knotensyphilid ist nunmehr eine mindestens äusserst
schwierige, wenn nicht vielfach unmögliche geworden, seitdem
E. Hoff mann den von Charles Mauriac im Jahre 1880
inaugurierten Typus des Erythema nodosum syphi¬
liticum eingehend beschrieben hat. Abgesehen davon, dass
dieses nach Mauriac den nicht spezifischen Formen ganz
und gar gleicht, haben die histologischen Untersuchungen
Hoffmanns ergeben, dass alle auf eine Wandentzündung
tiefliegender Venen zurückzuführen sind. Der gelieferte Nach¬
weis von Bakterien, wie z. B. staphylokokkenähnliche Kokken,
gibt für die Aetiologie keinen Schlüssel. In allen meinen unten
beschriebenen Fällen der Schleimhaut gelang es mir, in den
einzelnen Herden Staphylo- und Streptokokken nachzuweisen,
die ich nur als Schmarotzer ansehe.
Vielleicht können einmal später weitere Erfahrungen mit
der Spirochaete pallida Schaudinn-Hoffmann volle Klarheit
schaffen.
Aber zweitens auch das Erythema exsudativum multiforme,
als solches erkannt, wird von manchen Autoren die dasselbe
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
2102
an ein und demselben Individuum gleichzeitig neben
sicheren syphilitischen Erscheinungen be¬
obachten konnten, als spezifisches Symptom angesprochen.
Um eine falsche Auffassung zu vermeiden, möchte ich betonen,
dass hiermit nicht gesagt ist, dass diese Erkrankungsform sum¬
marisch der Lues zugehörig ist, sondern das sie, wie bei
anderen Krankheiten auch die Lues als Unterlage haben kann.
Das ist nicht von der Hand zu weisen. Indessen lässt sich strei¬
ten, ob es sich dann in diesem Falle um ein spezifisches Pro¬
dukt im Sinne der gewöhnlichen Lueserzeugnisse handelt, das,
wenn es allein jahre- bis jahrzehntelang nach manifesten
syphilitischen Erscheinungen auftritt, spezifisch bekämpft wer¬
den muss. Meine Erfahrungen lehren mich, dass
mit der mehr oder minder lange voran¬
gegangenen Syphilisinfektion nur ein indi¬
rekter Zusammenhang im Sinne einer Dis¬
position vorhanden ist, dass allgemein und
lokal ein locus minoris resistentiae geschaf¬
fen ist, der verschieden lange Zeit bestehen
kann.
Manche Krankheiten haben ihre Trabanten, wie z. B. der
Diabetes die Tuberkulose. Ganz analog, meiner Auffassung
nach, verhält sich zu den Beziehungen zwischen Lues und den
beiden Erythemarten .der Herpes recidivant Four-
nier, dessen konfluierte, erosive, mit Belag versehene Formen
auf der Schleimhaut wiederum äusserst luesähnlich sind -).
Nach den Beobachtungen Fourniers steht dieser Her¬
pes in 96 Proz. der Fälle mit der Syphilis in Konnex. Fast
ausschliesslich beginnt er im 1. — 4. Jahre nach der Infektion und
erstreckt sich bis über Jahrzehnte in periodischen Exazerba¬
tionen. Kein Arzt wird in diesem Herpes mit spezifischen Mitteln
die noch vorhandene Syphilis bekämpfen wollen, und wo es ge¬
schehen ist, gab nur die Verwechslung mit der täuschend ähn¬
lichen Lues hierzu Veranlassung, aber nur mit dem Erfolge,
dass der unglückselige Patient vermeintlich immer wieder er¬
neute syphilitische Rezidive bekam und unter der fortgesetzten,
immer intensiver angewandten Behandlung körperlich und
psychisch herunterkam. Solch ein Fall war dann als refraktär
angesehen.
Die gewöhnlichen Hg -Ex - und - Enantheme sind bekannt.
Sie stellen sich unmittelbar ein und verschwinden gewöhnlich
nach dem Aussetzen des Mittels. Wie aber die Idiosynkrasie
gegen dasselbe, so ist auch dessen Remanenz und dessen ge¬
legentliche Aeusserung eine verschiedene. Während im all¬
gemeinen die Hg-Ausscheidung nach 6 Monaten beendet ist,
kann nach V a j d a und P a s c h k i s, wie Ed. Lang zitiert,
Merkur sogar 12 — 13 Jahre lang zurückbehalten werden.
So kommt es, dass manch einer an luesgeschwürähnlichen
Schleimhauterkrankungen leidet, die nichts anderes als die sog.
Schumachersche lokalisierte Schleimhauthydrar-
gyrose bedeuten. Der Sitz dieser Erkrankung befindet sich in
der Region zwischen Zungengrund und Larynx und kann nur mit
dem Kehlkopfspiegel festgestellt werden. Die Veränderungen
erinnern durchaus an die akuten oder chronischen Reizsym¬
ptome der Syphilis. Hier ist es oft schwer zu sagen, ob die
Erscheinungen nicht einem medikamentösen Erythema exsudat.
multiforme papulosum, das die Schleimhaut modifiziert hat, zu¬
gehören.
Neben der durch die Lues geschaffenen Disposition für die
Entstehung der Erythemformen müssen wir demnach auch eine
medikamentöse Ursache berücksichtigen, bei unserem Thema
Hg und J. Von letzterem z. B. hat nach HoffmannFreud--
weiler durch Experimente nachgewiesen, dass es eine von
den Vasa vasorum ausgehende Wandentzündung in subkutanen
Venen hervorzubringen vermag, also pathologische Verände¬
rungen, wie sie histologisch dem Erythema nodosum ent¬
sprechen.
Meine Fälle der Schleimhaut, die vielfach mit Erscheinungen
der äusseren Haut, aber ohne solche der Syphilis,
kombiniert waren, zeigten in der Mehrzahl beide Arten, näm¬
lich das Erythema exsudativum multiforme u n d nodosum.
*’) Viele oft längere Zeit nach einer Infektion auftretende Er¬
scheinungen betrachtet O. Rosenbach als den Ausdruck einer
sekundären Reaktion, die zur Grundkrankheit keine Be¬
ziehung hat.
Abgesehen davon, dass die Differentialdiagnose zwischen der
papulösen Form des ersteren und der knotigen Form des
letzteren — von der Schleimhaut ganz zu schweigen —
manches Mal recht schwierig ist, stehe ich unter dem Eindruck,
dass zwischen beiden nur ein Gradunterschied in der Intensi¬
tät der entzündlichen Exsudation besteht und hieraus die ver¬
schiedenen Bilder resultieren. Meine Beobachtungen, die sich
auf mehrere Jahre erstrecken, sind in kurzem folgende:
Fall I. 33 jähr. Mann. Vor 3 Jahren syphilitische Infektion
mit nachfolgenden Sekundärerscheinungen auf Haut und Schleimhaut.
3 Schmierkuren. Status: An den Streckseiten beider Handgelenke,
Oberarme, Oberschenkel, an der inneren rechten Fusseite papel¬
ähnliches Exanthem. Am Zahnfleisch und an der W äu¬
gen schleim haut plaque-muqueuse-ähnliche, ins
weissliche spielende Verfärbung. Differentialdiagnose
zwischen zirzinärem papulösen Syphilid, sowie plaques muqueuses
und Eryth. exs. mult. papul. Letzteres wurde sichergestellt. Sali¬
zylsäuremedikation. Heilung in 5 Wochen.
Fall II. 30 jähriger Gutsbesitzer. Luetische Infektion vor
10 Jahren. Sekundärerscheinungen. Vor 6 Jahren kraterförmige Ge¬
schwüre an den Tonsillen und im Pharynx. 4 Schmierkuren. Mehr¬
fach JK. Vor Va Jahr prophylaktische Schmierkur, da Patient hei¬
raten will. Vor 14 Tagen Auftreten verschiedener Erscheinungen,
wegen welcher in seiner Heimat auf ärztlichen Rat eine erneute
Schmierkur eingeleitet wurde. Status: Roter, welschnussgrosser
Knoten über der rechten Tibia. Roseolaartiges Exanthem an beiden
Unterarmen mit einzelnen Knötchen. An der linken Tonsille
fünfpfennigst ii ckgrosse, schmierig belegte Ero¬
sion, in der Mittellinie der hinteren Pharynxwand,
von der Uvula verdeckt, eine ganz gleiche; indo¬
lente Schwellung der Nackendrüsen. Nächtliche
Schmerzen in den Unterschenkelknochen. Diagnose :
Eryth. exs. mult. (pap.) et nodosum von Haut und Schleimhaut. Sali¬
zylsäuremedikation. Heilung in 3 Wochen.
Fall III. 30jährige Jungfer. Angebliche luetische Infektion vor
6 Jahren. Erscheinungen in Mundhöhle, Rachen und auf der Haut.
2 Spritzkuren. Vor 2 Jahren umschriebene Gaumengeschwulst, die
auf Gebrauch von Hg-Pillen verschwand. Seit 1 Woche die gleiche
Geschwulst. Status: Am harten Gaumen zweimark¬
stückgrosser, ca. 1 cm dicker, rötlicher Tumor,
nicht gut abgegrenzt, von teigiger Konsistenz;
Uvula und Rachen bläulich verfärbt. Auf der lin¬
ken T o n s i 1 e erbsengrosse schmierig belegte Ero¬
sion. An den Vorderarmen roseolaartige Zeichnungen. Indolente
Nacken- und Submaxillardrüsenschwellung. Diagnose: Eryth. exs.
mult. et nodos, der Haut und Schleimhaut. Salizylsäuremedikation.
Heilung in 4 Wochen. Die Nodosität am Gaumen blutete während
dieser Zeit mehrmals und hinterliess nach der Heilung zunächst eine
bläuliche Verfärbung der Schleimhaut.
Fall IV. 33jährige Künstlerin. Vor 10 Jahren Infektion des
Ehemanns. Sich selbst auch infiziert glaubend, mehrere Schmier- und
JK-Kuren, deren Notwendigkeit durch häufig auftretende kleine Ge-
sclnviirchen in der Mundhöhle, an der Zunge und den Genitalien vor¬
handen schien. Seit 2 Monaten Geschwulst am Gaumen. Beginn
einer neuen Schmierkur. Status: Talergrosse, rotviolette,
teigige Geschwulst am harten Gaumen mit einigen
Erosionen und rötlicher Sekretion. Sonst nihil. Dia¬
gnose: Solitäres Eryth. nodosum des harten Gaumens. Salizylsäure-
medikation. Heilung in 4 Wochen.
Fall V. 24 jähriger reisender Kaufmann. Syphilitische Infektion
vor 1 Jahr. Sekundärerscheinungen. 3 Schmierkuren. Status:
August 1905: Zehnpfennigstückgrosses, kraterförmiges, tiefes lue¬
tisches Ulcus in der Mitte der hinteren Rachenwand, je ein gleiches
erbsengrosses an der Seite. JK. Heilung nach 4 Wochen. Novem¬
ber 1905: An der gleichen Lokalisation 5 erbsengrosse, speckig be¬
legte Geschwüre: Angina necrotica. Schmerzen in fast allen Ge¬
lenken. Na sal. Heilung nach 14 Tagen.
Ende Januar 1906. Patient hat in der Zwischenzeit eine 4. inten¬
sive Schmierkur durchgemacht (5 g pro die) und glaubt wiederum
syphilitische Erscheinungen zu haben. Status: Rechte Ton¬
sille: kleinerbse n grosses, rundes, speckig beleg¬
tes Geschwür. 2 gleiche an der hinteren Pharynx¬
wand, 1 an der Zunge n man de 1. Am linken Aryknor-
pel ovaler, ca. 14 cm langer Substanzverlust, spek-
kig belegt. Rechtes und linkes Stimmband aufge¬
lockert und gerötet. Zervikaldrüsen geschwellt.
Diagnose: Schumachersche Hydrargyrose. Spontane Heilung.
Ende Februar 1906: Auf Stirne und Kopfhaut zahlreiche,
über linsengrosse Papeln, einem grosspapulösen
Syphilid gleichend. Ebenso am linken Vorderarm.
Am rechten Unterschenkel ein flächenhaftes rosa¬
rotes Erythem, in der Mitte über der Tibia eine
talergrosse, ca 1 cm dicke, schlecht abgegrenzte,
teigige, bläulich rote, auf Druck persistente Her¬
vortreibung. Am Knochen nächtliche ziehende
Schmerzen. Leistendrüsen beiderseits indolent
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2103
geschwollen. In der Mittellinie, an der Stelle der
früheren Ulzeration, fünfpfennigstückgrosse mit
Schleim belegte Erosion mit polyzyklischer Kon¬
tur, die auf eine frühere Blase deutet. An der rech¬
ten Tonsille gleicher, tieferer Substanzverlust
mit weisslichem Belag.
Diagnose: Eryth. exs. mult. et nodos, der Haut und Schleimhaut.
Salizylsäuremedikation. Heilung nach 1 Woche.
Fall VI. 45 jähriger Industrieller. Vor 20 Jahren exotische
Luesinfektion. In Jahresabständen tiefe Zungen- und Tonsillen¬
geschwüre, Hodengumma, ulzeröse tertiäre Oberarmsyphilide, Blut¬
husten, zuletzt vor 5 Jahren Pharynxgeschwüre. 4 Schmierkuren,
2 Spritzkuren, mehrfach JK. Zur Zeit der Vorstellung Atembeschwer¬
den und Halsschmerzen. Status: Auf der Zunge verein¬
zelt kleine schmierige Knötchen. An der Hinter¬
wand des Pharynx fünfpfennigstückgrosse spek-
k i g belegte Erosion. Im Larynx (Eig. l) : Vom linken
Aryknorpel ausgehend haselnussgrosser, glatter,
dunkelroter, das Stimm band fast zur Mitte decken¬
der Tumor. Auf Grund der Anamnese zunächst JK. Nach Ver-
Fig. 1. Fig. 2.
lauf einer Woche hustet der Pat. beim Stiefelanziehen eine geringe
Menge schmutzig gefärbten Blutes aus, so dass er an eine Haemoptoe
tuberculosa denkt. Lunge ohne pathologischen Befund. Dagegen
zeigte nunmehr der Larynxtumor (Fig. 2) einen grossen
Substanzverlust, in den geronnenes Blut und
Schleim eingelagert war. Beide Stimmbänder ver¬
färbt. Auf beiden Handrücken und Unterschenkeln
waren jetzt vereinzelte bläulich - rote Stellen zu
konstatieren. Diagnose: Eryth. exs. mult. et nodos. Salizyl¬
säuremedikation. Nach 5 Wochen völlige Heilung.
Fall VII. 26 jähriger Reisender. Vor 6 Jahren luetische Infek¬
tion. Letzte spezifische Erscheinungen vor 2 Jahren. Dann perio¬
disch auftretende Mundhohlengeschwürchen, die anderen Ortes mit
Hg-Pillen behandelt wurden. 3 Schmierkuren, 1 Spritzkur. Patient
kommt in Suizidiumstimmung wegen seiner „unheilbaren“ Syphilis.
Status: Auf der Uvula, Tonsillen, am Pharynx und
den Schleimhautfalten des Larynx bis linsen¬
grosse, graubelegte Erosionen, von polymikro¬
zyklischer Kontur und zum Teil an den Rändern mit
weisslichen Epithelfetzen. Beim ersten Anblicke
Aehnlichkeit mit erodierten syphilitischen Pa¬
peln. Diagnose schwankt zwischen Erosionen von Herpes oder sol¬
chen von Eryth. exs. mult. vesiculosum. Heilung nach 4 Wochen ohne
Therapie. Dieselben Erscheinungen wiederholen sich in der Folge¬
zeit periodisch, zuletzt auch im Sulcus coronar. penis.
Ueberall waren aus den Belägen und aus der Tiefe der Efflores-
zenzen der Schleimhaut Staphylo- und Streptokokken in grösster An¬
zahl nachzuweisen.
Diese Fälle sprechen meines Erachtens für sich selbst.
In allen handelte es sich um Patienten mit luetischer Ana¬
mnese, deren Richtigkeit mit Ausnahme eines Falles (IV) an¬
genommen werden darf. In einzelnen dagegen bestanden
früher, nach Ablauf der spezifischen Erscheinungen, Prozesse,
die als syphilitische betrachtet und behandelt worden sind und
vielleicht schon damals dem von mir besprochenen Krankheits¬
bild zugehörten.
Bei der Folgenschwere, die die Diagnose,, Syphilis“ in physi¬
scher, psychischer und sozialer Hinsicht namentlich bei lang¬
jährig zurückliegendem Infektionstermin und nach als genügend
anzusehenden und sorgfältig ausgeführten Kuren hat, ist gerade
in solchen Fällen ein genaues Erwägen und Beobachten not¬
wendig. Schwierigkeiten bereiten allerdings die klinisch oft
sehr ähnlichen Bilder, besonders auf der Schleimhaut, die noch
erhöht werden durch Symptome allgemeiner Art.
Vor allem gelten ja die Dolores osteocopi nocturni, wie
sie in einzelnen Fällen vorhanden waren, ganz vornehmlich als
Signum luis. Es muss aber betont werden, worauf Ed. Lang
hinweist, dass ein solcher Vorgang, auch bei vielen einfachen
Exsudationsprozessen zu beobachten ist.
Aber selbst bei der richtig gestellten Diagnose der Erytheme
darf man, wie ich bereits oben erwähnt habe, nicht soweit gehen,
diese noch als direktes Erzeugnis einer früheren Lues anzu¬
sehen und zu behandeln. Eine günstige Wirkung von JK würde
keineswegs für die spezifische Natur sprechen, wenn man be¬
denkt, ein wie mächtiges Resorbens dieses Medikament dar¬
stellt und wie es auch bei anderen Prozessen, unter diesen auch
bei den Erythemen, von heilendem Einfluss ist. In unseren
Fällen hatten wir eine prompte Reaktion auf Salizylsäure¬
behandlung, und diese ist bei luetischen Erkrankungen er¬
folglos.
Ans der Kgl. Universitätspoliklinik für orthopädische Chirurgie
in Berlin.
Ueber Pseudarthrosenheilung
und künstliche Pseudarthrosenbildung.
Von Dr. James F r ä n k e 1, Assistenzarzt.
Eine Pseudarthrose in der Diaphyse eines langen Röhren¬
knochens kann nur dann mit Aussicht auf Erfolg behandelt
werden, wenn ihre Entstehung in anatomischer Hinsicht und
im Hinblick auf ihren Mechanismus zuvor erkannt worden ist.
Das zuletzt genannte Moment spielt durchaus keine unter¬
geordnete Rolle. Besondere Berücksichtigung verdient der
Entstehungsmechanismus einer Pseudarthrose bei den mit
2 Knochen versehenen Extremitätenteilen, wo aus den Be¬
wegungen der Knochen gegeneinander verschiedene Rotations¬
stellungen resultieren. Und zwar gilt das weniger für den
Unterschenkel, bei dem eine ziemlich feste Verbindung zwi¬
schen Tibia und Fibula nur geringe Rotationen beider Knochen
gegeneinander gestattet, als vielmehr für den Vorderarm der
unter vollständiger Kreuzung von Ulna und Radius einen Ro¬
tationswinkel von 180 0 beschreiben kann.
In den Statistiken über die Frequenz der Psendarthrosen
an den verschiedenen Gliedabschnitten (G u r 1 1 und v. B r u n s)
steht der Vorderarm ständig an letzter Stelle, und auch
wenn die Frequenzziffern der frischen Frakturen zum Vergleich
herangezogen werden (v. Brun s), ändert sich hinsichtlich des
Vorderarms dieses Verhältnis nicht.
Von Wichtigkeit aber ist, worauf König1) aufmerksam
macht, diese Frage im Hinblick auf die Verhältnisse am Vor¬
derarm zu prüfen, indem man ausserdem die typische
Epiphysenfraktur des Radius abzieht. Denn bei dieser bilden
sich so gut wie niemals Pseudarthrosen. Die Zahl der Pseud-
arthrosen bei den dann übrig bleibenden, viel selteneren Schaft¬
brüchen des Vorderarms ist aber nach Königs Erfahrung
durchaus keine geringe. Ja, König scheint es, dass hier
Pseudarthrosen sogar relativ häufiger Vorkommen als am Ober¬
arm, Ober- und Unterschenkel. Das wird auch durchaus be¬
greiflich, wenn man vor allem die rotatorischen Ver¬
schiebungen ins Auge fasst, die hier so leicht an der
Bruchstelle eintreten können. Denn bei dem sehr stark ausge¬
sprochenen Antagonismus der Vorderarmmuskeln stellt sich
unter der Wirkung der Supinatoren, des Bizeps und Supinator
brevis, das obere Fragment in Supination, das untere Fragment
dagegen folgt dem Zuge der Pronatoren in Pronation, wozu
noch die Schwere der hängenden Hand unterstützend hinzu¬
kommt; oder aber es treten, wenn der Bruch unterhalb der In¬
sertion des Pronator teres gelegen ist, die umgekehrten Ver¬
hältnisse ein.
Die Bedeutung dieser rotatorischen Verschiebungen an den
Vorderarmknochen, die äusserst leicht zur Aufhebung des Kon¬
taktes und zur Pseudarthrose führen, habe ich an den Ergeb¬
nissen der Kontinuitätsresektion aus den beiden Vorder¬
armknochen prüfen können. Man kommt häufiger in die Lage,
diese an sich sehr segensreiche Operation auszuführen. Bei
den durch ischämische Muskellähmung entstandenen hoch¬
gradigen Verkürzungen der Muskeln, sowie bei den oft sehr
rigiden Flexionskontrakturen der Hand infolge zerebraler Hemi¬
plegie, ferner bei den nach Entzündungen und Verletzungen
zustande kommenden Kontrakturen ist die Kontinuitätsresektion
ein sehr brauchbares Mittel, um Hand und Finger zu strecken,
und auch nach Muskel- und Nervenverletzungen ist diese
Operation ausgeführt worden, um die Naht der stark auseinan¬
der gewichenen Teile zu ermöglichen (L ö b k e r).
Dass nun nach der queren Resektion aus Radius und Ulna
und der angeschlossenen Knochennaht, in einem guten Gipsver-
1 ) König: Lehrbuch der speziellen Chirurgie. VIII. Aufl.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
band, der bei vollständiger Supination angelegt von den Finger¬
spitzen über das rechtwinklig gebeugte Ellenbogengelenk bis
zur Mitte des Oberarms reicht, eine Konsolidation in guter
Stellung eintreten kann, unterliegt keinem Zweifel. Ich brauche
bloss einige in letzter Zeit von H o f f a operierte und vorzüg¬
lich geheilte Fälle hierfür zum Beweise anzuführen.
Gleichwohl habe ich den Eindruck gewonnen, dass die
Neigung *zu Dislokationen und die dadurch veranlasste Ver¬
zögerung der Heilung nach der genannten Operation keine ge¬
ringe ist, was ja auch mit der oben zitierten Beobachtung
Königs durchaus in Einklang steht. Besonders deutlich
wurde mir das in einem Falle, wo noch 5 Monate nach einer
Kontinuitätsresektion aus dem rechten Vorderarm auch nicht
die Spur einer Konsolidation der Knochen zu konstatieren war
und somit der Zustand als stationär, also als Pseudarthrose an¬
gesprochen werden musste. Aus der unten wiedergegebenen
Krankengeschichte hebe ich hervor, dass während dieser 5 Mo¬
nate Massage, künstlich erzeugte Stauungen (v. Dum-
reicher, H e l f e r i c h) und 3 mal Bier sehe Bluttrans¬
fusionen 2) angewandt worden sind. Natürlich ist ein Urteil
speziell über das Bier sehe Verfahren nach diesem negativen
Erfolg unzulässig.
Wenn man aber das Röntgenbild aus dieser Zeit betrachtet
(Fig. 1), so kann es nicht zweifelhaft sein, dass hier die ma n -
Fig. 1.
gelhafte Adaption der Fragmente an dem Aus¬
bleiben der Heilung schuld war. Die Dislokation war eine der¬
artige, wie Hoffa3) sie als Typus für die Brüche im unteren
Drittel des Vorderarms beschreibt. Durch den Pronator teres
waren die beiden oberen Knochenstücke in Pronation gestellt
und zugleich in das Spatium interosseum gedrängt worden,
während die unteren Fragmente, die unterhalb der Insertion des
Pronator teres lagen, dem Zuge des Supinator longus gefolgt
waren.
Nichts vermag den Wert einer genauen Anpassung der
Knochenfragmente besser zu illustrieren als die geradezu
idealen Resultate der Frakturenbehandlung Barden¬
heu e r s. Auch Bier4) und Hildebrand5 * 7) stimmen hierin
überein, während ihre Ansichten über den Wert des Blut¬
ergusses bei der Bruchheilung auseinander gehen. Barden-
heuer0) selbst hat bei der Extensionsbehandlung der
Knochenbrüche, durch welche eine gute Stellung der Fragmente
gewährleistet wird, keine Pseudarthrose erlebt. Daraus ergibt
sich aber für die Pseudarthrosenbehandlung ohne
weiteres die Lehre, dass in erster Linie eine tadellose
Adaption anzustreben ist und dass die Knochen in dieser
2) Bier: Die Bedeutung des Blutergusses für die Heilung des
Knochenbruches. Heilung von Pseudarthrosen und von verspäteter
Kallusbildung durch Bluteinspritzung. Med. Klinik 1905, No. 1 u. 2.
3) Hoffa: Lehrbuch der Frakturen und Luxationen. 4. Aufl.
4) Bier: 1. c.
®) Hildebrand: Die Heilung der Knochenbrüche und die Be¬
deutung des Blutergusses dabei. Med. Klinik 1906, No. 5.
“) Barden heuer und T einen: Ein Beitrag zur Pseud¬
arthrosenbehandlung des Humerus. Festsclirift zur Eröffnung der
Akademie für prakt. Medizin in Köln.
7) W. Müller: Ueber die heutigen Verfahren der Pseud-
arthrosenheilung. v. Volkmanns Samml. klin. Vortr., No. 145, 1896
Stellung bis zur Heilung fixiert werden müssen. Im ein¬
zelnen Falle kommt es nach W. Müller) auf die Sicher¬
heit der Methode an, und zwar empfiehlt Müller als
Hauptoperation Freilegung und Anfrischung der Fragmente,
während osteoplastische Methoden (Hetero-, Homo-Autopla-
stik) zwecks Deckung grösserer Defekte in Frage kommen.
Um nun in unserem Falle das Müller sehe Postulat zu
erfüllen, d. h. um eine möglichst sichere Methode zu wählen, die
eine Verschiebung der Fragmente, hauptsächlich im Sinne der
oben definierten verschiedenartigen Rotationen, ausschloss, bin
ich folgendermassen vorgegangen: Ich machte an beiden Kno¬
chen eine gewöhnliche keilförmige Anfrischung,
derart jedoch, dass die Längskante des Keils am Radius in
frontaler Richtung verlief, an der Ulna in der dazu senk¬
rechten sagittalen Richtung. Durch diese Art der Anfrischung,
welche die nebenstehende Skizze erläutert (Fig. 2), wurde
Fig. 2.
beabsichtigt, eine Verschiebung nach beiden Richtungen, so¬
wohl nach rechts und links, wie nach vorn und hinten aus-
zuschliessen. Die angegebene Methode lässt sich leicht und
schnell ausführen, wenn man zunächst am Radius mit dem
Knochenbohrer in der frontalen Richtung 2 Bohrlöcher in einem
angemessenen Abstand herstellt und dann von diesen aus mit
der eingefiihrten G i g 1 i sehen Säge in beide Male zueinander
parallelen Zügen die Seitenflächen der Keile bildet. Entsprechend
verfährt man an der Ulna, nur dass hier die Bohrlöcher von
vornherein im sagittalen Durchmesser angelegt werden. Eine
Drahtnaht in einfacher Kreistour oder beliebig anderer Schlin¬
genform (ich machte im vorliegenden Falle eine Achtertour
mit angeschlossener Zirkeltour) muss zur Vermeidung der Dis-
locatio ad longitudinem hinzugefügt werden.
Dies Verfahren der Anfrischung verhalf mir nicht nur in
meinem Fall zum Erfolg — auf eine Einschränkung, die ich hier
zu machen habe, komme ich später zurück — , sondern ist
meiner Meinung nach auch in prophylaktischer Hin¬
sicht für Kontinuitätsresektionen brauchbar. Der entstehende
Zeitaufwand gegenüber der einfachen queren Resektion ist
ganz unerheblich.
Krankengeschichte: Der 16 jährige Werkzeugmacher
Karl S. verunglückte am 23. X. 03 im Betriebe, indem er mit dem
rechten Vorderarm in eine Kreissäge geriet. Ausser einer kompli¬
zierten Radiusfraktur trug er hierbei eine Verletzung eines Teils der
Beugesehnen oberhalb des Handgelenkes davon. Im Städtischen
Krankenhaus am Urban wurde die Sehnennaht ausgeführt und später
2 mal ein Abszess auf dem Dorsum des Vorderarms gespalten. Wäh¬
renddessen Schienenverbände. Am 8. Juli 1904 überwies die Berufs¬
genossenschaft den Patienten der H o f f a sehen Klinik zur Weiter¬
behandlung.
Hier wurde abermals ein Abszess gespalten. Nach Ausstossung
eines 4 mm langen Knochensequesters trat Heilung ein.
Befund: An der volaren Kante des Radius, in seinem unteren Drit¬
tel, verläuft eine ca. 10 cm lange, sehr breite, strahlige Narbe, die teil¬
weise mit der Unterlage verwachsen ist, nach abwärts, an der Basis
des Daumenballens sich in einen volarwärts und einen dorsalwärts
weiterziehenden Schenkel teilend. Ueber dem distalen Ende der Ulna
auf der Streckseite eine kurze kleine Narbe. Die Hand schwitzt leicht.
Ihre Haut ist blank, blaurot gefärbt, atrophisch. Die Hand steht
etwas ulnarwärts abduziert und volarwärts flektiert. Seitliche Be¬
wegungen im Handgelenk sind nur in geringem Umfang möglich.
Supination sowohl bei gebeugtem wie bei gestrecktem Ellen¬
bogen aufgehoben. Dorsalflexion im Handgelenk bis zur hori¬
zontalen Streckstellung, Volarflexion bis zu 60° ausführbar. Die Fin¬
ger können in den Grundgelenken rechtwinklig gebeugt werden, wenn
sie in den Mittel- und Endgelenken gestreckt sind. Bei gleichzeitiger
Beugung aller Fingergelenke gelingt dagegen die Beugung in den
Grundgelenken nur bis ca. 30°. Dadurch ist der Faustschluss
unmöglich geworden.
Die erhebliche Bewegungsstörung war verursacht durch binde¬
gewebige Schrumpfung der Sehnennarben und Fixierung der Beuge¬
sehnen durch Verwachsungen. Um die durch die Verkürzung der
Muskeln bedingte Funktionsstörung zu beseitigen, wurde am 25. X. 04
eine Kontinuitätsresektion aus Radius und Ulna ausgeführt.
Am 21. XII. war an der Resektionsstelle keine Konsolidierung
nachweisbar Das Röntgenbild (Fig. l) zeigte, dass der an der Ulna
verwandte Silberdraht gerissen war und dass die Knochenstücke sich
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2105
erheblich gegeneinander verschoben hatten. 1. Bluttransfusion nach
Bier aus der Vena mediana cubiti.
14. I, 05. 2. Bluttransfusion.
10. 11. 3. Bluttransfusion. In der Folgezeit Stauungen, Massage.
12. III. Keine Veränderung. Ausgiebigste Beweglichkeit an der
Resektionsstelle. Röntgenbefund wie in Fig. 1.
Als ich den Patienten übernahm, schlug ich eine nochmalige
Operation vor, die ich in der oben angegebenen Weise am 15. III. 05
ausführte. Nach Freilegung der Resektionsstelle zeigte sich, dass am
Radius interponierte Muskelmasse die Fragmente getrennt hatte,
während an der Ulna ein vollständiges Gelenk gebildet war.
Gipsverband in völliger Supination des Vorderarms.
16. III. Temperatur normal. Das Röntgenbild (im Gipsverband)
ergibt, dass die ulnare Drahtnaht gerissen war. Da sich infolgedessen
an der Ulna eine geringe Diastase gebildet hatte, legte ich sofort unter
Aethernarkose die Ulna frei und nähte mit einem besonders starken
Draht von neuem.
22. III. Heilung p. p. Entfernung der Hautnähte. Das Röntgen¬
bild (im Gipsverband) lässt erkennen, dass die Fragmente an der
Resektionsstelle genau adaptiert liegen.
8. V. Abnahme des Verbandes. Massage. Uebungen.
8 Wochen nach der Operation war am Radius trotz der
starken Knochenatrophie, die sich während der langen Be-
handlungszeit entwickelt hatte, und die auch auf dem Röntgen¬
bild gut sichtbar ist, feste Verwachsung eingetreten.
An der Ulna aber fehlte die Konsolidierung, wenn
auch deutliche Kallusbildung auf dem Röntgenbild zu
sehen war. Die Verzögerung der Heilung war hier ver¬
ursacht durch eine minimale Diastase, an welcher eine Locke¬
rung der Drahtschlinge schuld war. Nach weiteren 3 Monaten
zeigte die Röntengaufnahme, dass der ulnare Draht, jetzt also
das 3. Mal, gerissen war und dass die bereits vorhandenen Ver¬
klebungen an der Ulna sich wieder gelockert hatten. Heute
(Fig. 3) ist die Pseudarthrose des Radius und damit funktionell
die Pseudarthrose des Vorderarms geheilt, an
der Ulna aber hat sich wieder ein falsches Gelenk ge¬
bildet und zwar, wie hinzugefügt werden muss, erfreu¬
licherweise. Denn mittels dieser Pseudar¬
throse ist der Patient jetzt imstande, die Hand zu pro-
Fig. 3.
und supinieren, was früher wegen der Ankylose des un¬
teren Radio-ulnar-Gelenkes (s. Röntgenbild) unmöglich war.
Ohne Zweifel ist diese Ankylose für die Entwicklung der Pseu¬
darthrose an der Resektionsstelle der Ulna mit verantwortlich
zu machen. Denn jeder Versuch einer Pro- und
Supinationsbewegung musste sich nunmehr
notgedrungen (schon im Gipsverband) auf diese
Stelle übertragen. Das Radiusköpfchen konnte ja leicht
vermöge seines Radgelenkes jede Bewegung mitmachen, ohne
dass die Nahtstelle am Radius dabei irritiert wurde. Anders
des Gelenkes eintritt (Oberst8), v. L e s s e r und Lauen¬
aber lagen die Verhältnisse an der Ulna. Hier ist die Gelenkver¬
bindung zwischen Olekranon und Oberarm zu fest, als dass das
proximale Ulnafragment den Rotationsbewegungen hätte folgen
können. Einen geringeren Widerstand bot die ulnare Draht¬
naht; deswegen musste diese sich lockern und zerreissen und
damit war die Pseudarthrosenbildung eingeleitet.
So wenig ich diesen Ausgang vorausgesehen hatte, so er¬
wünscht musste er sein, am meisten für den Patienten, der
8) Oberst: Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen,
Ergänzungsheft 5.
No. 43.
jetzt, wo auch eine gute Fingerbeugung möglich ist, eine sehr
gebrauchsfähige Hand wiederbekommen hat. (Der gerissene
Silberdraht verursacht dem Pat. keinerlei Beschwerden.)
Es ist bekannt, dass nach den Frakturen am unteren Ende
des Radius nicht selten erhebliche funktionelle Störungen da¬
durch entstehen, dass das in sich abgeschlossene untere Radio¬
ulnargelenk mit und auch ohne nachweisbare Diskusverletzung
schwere Schädigungen erfährt, indem durch Kallusbildung oder
knöcherne Verlötung zwischen Radius und Ulna eine Ankylose
stein haben diesen üblen Zustand, der die Aufhebung der Pro-
und Supination zur Folge hat, durch Resektion des Ulnaköpf¬
chens zu beseitigen gesucht.
Auf Grund unseres Falles, der den Wert eines Experi¬
mentes hat, ist nun bei diesen Zuständen die einfache Osteo¬
tomie der Ulna oberhalb des Ulnaköpfchens angezeigt.
Die Versuche, eine Ankylose zu beseitigen durch eine
in der Nachbarschaft des ankylosierten Ge¬
lenkes angelegte Osteotomie, sind durchaus nicht
neu (Frölich9) u. a.), blieben aber meist erfolglos. Hier
aber ist die Methode der künstlichen Pseudarthro¬
senbildung deshalb empfehlenswert, weil, wie ich gezeigt
habe, die Verhältnisse gerade am Vorderarm einer Pseu-
darthrosenentstehung ausserordentlich günstig sind.
Die Licht-Luftstrombehandlung der chronischen Herz¬
krankheiten.
Von Privatdozent Dr. Max Herz in Meran.
Seit jeher hat man bei der Behandlung der chronischen
Herzkrankheiten die Abhärtung als einen wichtigen Pro¬
grammpunkt gelten lassen und die älteren Aerzte hielten hier
die Bäderbehandlung nur aus diesem Gesichtspunkte für nütz¬
lich. Dusch1) z. B. stellte sich vor, dass man die Kapil¬
laren der Haut an thermische Einflüsse gewöhnen müsse;
aber auch in neuerer Zeit wird die Abhärtung bei Herzkranken
in den Vordergrund gestellt, so von Litten und Lenn-
hoff2).
Mit dem Worte ,,A b h ä r t u n g“ werden offenbar zwei
ganz verschiedene Begriffe verbunden. In dem einen Sinne ge¬
braucht man diese Bezeichnung gewöhnlich im Zusammen¬
hänge mit den Erörterungen über die Verhütung der sog. Er¬
kältungskrankheiten, von denen man heute wohl an¬
nimmt, dass sie durch Infektion auf einer durch einen Tem¬
peraturwechsel vorbereiteten Basis entstehen.
Genaueres über die Art dieser Vorschubleistung zu er¬
fahren, ist bisher nicht gelungen und es liegt nur eine Reihe
mehr oder weniger plausibler Hypothesen vor. Ganz allgemein
ausgedrückt liegt einer derartigen Auffassung die Vorstellung
zugrunde, dass der Organismus über automatische Schutzmass-
regeln verfüge, welche bei einer plötzlichen Abkühlung in
Tätigkeit treten müssen, um die inneren Organe vor der drohen¬
den Erkrankung, d. h. Infektion, zu bewahren. Nach Rubner
besteht die Gefahr insensibler Luftströmungen darin, dass
sie nicht sofort diese Abwehraktionen auslösen, so dass der
Organismus bis zum Eintritte derselben den Einwirkungen
der Abkühlung schutzlos preisgegeben ist. Nach dieser Rich¬
tung hat also die Abhärtung die Bedeutung einer Einübung
von Reflexen, bei deren Auslösung und Verlauf die Haut
und ihre Gefässe eine dominierende Rolle spielen.
Ganz anders verhält sich die Sache bei Erkrankungen, wo
es sich wie bei den Herzkrankheiten nicht darum handelt, Re¬
flexe zu bahnen, sondern darum, eine vorhandene Empfind¬
lichkeit abzustumpfen, d. h. den Eintritt gewisser Sym¬
ptome, besonders von seiten des Herzens bei Abkühlungen zu
verhindern. Auf der einen Seite strebt man also eine höhere
Labilität der Zirkulation, im anderen Falle eine grössere Stabili¬
tät derselben an, und zwar beides durch die gleichen Mittel. Es
ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser Unterschied in Wirklich¬
keit gar nicht besteht, sondern nur durch die Theorien, durch
9) Frölich: Multiple Gelenkkontrakturen, künstliche Pseud¬
arthrosenbildung an der einen Hüfte. Verhandl. d. 3. Kongr. d. D. Ge-
sellsch. f. orthopäd. Chir.
0 Zitiert nach M a 1 1 h e s.
2) Handbuch für physikalische Therapie, Bd. 2, T. II, S. 3.
3
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
weiche die gelehrte Medizin die Volksmedizin zu veredeln
sucht, verschuldet ist. Für den Praktiker genügt die Ueber-
zeugung, dass eine Hebung der Widerstandskraft gegenüber
atmosphärischen Einflüssen für den Herzkranken ebenso wie
für den Gesunden vom ganz besonderen Vorteil ist.
Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass es sich bei der Ab¬
härtung nur um die Gewöhnung an thermische Kontraste
handle, und dass deshalb das am energischesten kühlende
Medium, das Wasser, das beste Mittel zur Erreichung dieses
Zweckes sei. Gegen diese Anschauung macht sich gerade in
den berufensten Kreisen, nämlich bei den Vertretern der
Hygiene allmählich eine immer energischer werdende Reaktion
geltend (R u b n e r, Hecker). Der Grundsatz, zu welchem
man stets gelangt, wenn man dieses Verhältnis einer objektiven
Kritik unterzieht, geht dahin, dass man sich gegen die Einflüsse
des Wetters wirksam nur durch die Einwirkungen von Licht
und L u f t abhärten kann.
Die Gründe, die dafür angeführt werden, sind einleuchtend.
Vor allem kommt es nicht allein auf die Ertragung von ther¬
mischen Kontrasten an, sondern auf eine Reihe von Faktoren,
unter denen die Luftbewegung besonders zu erwähnen
ist. Die schädlichen Reize werden durch die Luft übertragen
und es handelt sich um die Gewöhnung an dieselbe mit allen
ihren Qualitäten. Luft und Wasser verändern das Hautorgan in
. ganz verschiedener Art; besonders die Durchfeuchtung
der obersten Hautschichten durch das Wasser ist an und für
sich ein der Erkältung vorschubleistendes Moment; der in¬
differente Luftstrom ist hingegen das beste Mittel, um die
Haut vollkommen zu trocknen.
Für die Abhärtung durch die Luft spricht die millionen¬
fache Erfahrung, dass diejenigen Volksschichten, welche sich
viel in der freien, stets bewegten Luft aufhalten, gegen ihre
Einflüsse in vollkommenster Weise abgehärtet, sind. Und ge¬
rade diese sind es, welche meist am wenigsten mit dem Wasser
in Berührung kommen. Die Seite, von welcher diese Argu¬
mente geltend gemacht werden, schützt vor dem Missver¬
ständnisse, dass dadurch etwa der Wert der körperlichen
Reinlichkeit herabgesetzt werden soll. Es soll damit nur gegen
den jetzt herrschenden Wasserfanatismus ein Wort gesprochen
sein. Hecker hat sogar durch statistische Erhebungen be¬
weisen können, dass die Verwendung von reichlichen feuchten
Abhärtungsmassnahmen bei Kindern in der üblichen Form da¬
zu führt, dass die Opfer derselben häufiger von Erkältungs¬
krankheiten ergriffen werden als andere und stellte die be¬
rechtigte Forderung auf, dass das Licht-Luft-Bad im Freien
zu einem Volksgesundheitsmittel erhoben und in grösstem
Stile verwendet werden solle. L a h m a n n, der das Luftbad
an einem grossen Krankenmateriale erprobt hat, konnte seine
Patienten so sehr an die freie Luft gewöhnen, dass sie ohne
Frostgefühl und ohne schädliche Folgen für ihre Gesundheit
sogar im Winter sich vollständig unbekleidet im Freien er¬
gingen. Er berichtet von einer ausgebreiteten Influenzaepi¬
demie, welche gerade die auf solche Art behandelten Personen
verschonte.
Wir verwenden das freie Licht-Luft-Bad, das von allen
Launen des Wetters, vor allem zu sehr von der Jahreszeit ab¬
hängig ist, nicht, sondern ein künstliches Licht-Luft¬
strom -Bad, welches sich im Prinzipe an die von R u b n e r
im Berliner hygienischen Institute gewählte Versuchsanord¬
nung anlehnt.
Eine Modifikation erleiden unsere Abhärtungsmassregeln
bei den chronischen Herzkrankheiten nur durch die grosse
Vorsicht, die man bei Herzkranken stets walten lassen
muss. Demgemäss begnügt man sich durch längere Zeit mit
indifferenten Luftstrombädern von 34 0 durch
10 — 20 Minuten. Bei den späteren Verordnungen geht man
dann besonders behutsam vor, wenn ein auf Grundlage eines
Gelenkrheumatismus entstandener Herzfehler vor¬
liegt. Man verbindet da mit Vorteil die niedrigeren Tempera¬
turen mit der Lichtstrahlung.
Noch wichtiger als die Abhärtung ist die zweite Aufgabe
einer jeden Herztherapie, eine vorhandene Insuffizienz
zu beseitigen oder den Eintritt derselben zu verhindern bezw.
die Insuffizienzbreite des Herzens zu erweitern.
W o 1 p e r t sieht in der Steigerung der Lungenventilation,
welche bei höheren und niedrigeren Temperaturen durch die
bewegte Luft hervorgerufen wird, ein wichtiges Moment bei
der Behandlung von chronischen Herzleiden. Hier besteht
eine Analogie mit den als spezifisch wirkend angesehenen
CO2 Bädern. Ebenso wie bei diesen Bädern 2 Faktoren in
Wirksamkeit treten, nämlich ein thermischer Reiz und ein me¬
chanischer Hautreiz durch die Gasblasen, können wir auch
beim Licht-Luftstrom-Bade die durch Leitung und Strahlung
einwirkende Wärme mit dem mechanischen Reize der be¬
wegten Luft vereinigen. Nach M a 1 1 h e s wirken diese beiden
Momente bei höheren Temperaturen im gleichen, bei niedrigen
Temperaturen im entgegengesetzten Sinne. Nach O. M ü 1 1 e r
ist für den Blutdruck nur die Temperatur des COaBades
massgebend.
Bei Herzkranken liegt ein Hauptvorteil der CCLBäder
darin, dass man durch Vermittlung derselben intensivere Kälte¬
reize verwenden kann als in anderen Bädern, denn es ist für
diese charakteristisch, dass man in ihnen viel niedrigere Tem¬
peraturen ohne Frostgefühl erträgt als in reinem Wasser; ob
dies in dem schlechten Leitungsvermögen der Gasblasen,
welche die Haut überziehen, oder in einem spezifischen Einflüsse
auf die Wärmepunkte der Haut gelegen ist, wie Goldschei¬
der meint, ist noch unentschieden. Jedenfalls ist das gleiche
beim Luftstrombade der Fall.
Noch grösser ist die Aehnlichkeit mit dem COsBade bei der
Verwendung der Lichtstrahlung in Verbindung mit dem
kühlen Lichtstrome. Diese höchst erfrischende Prozedur hat
eine eigentümliche Einwirkung auf das Allgemeingefühl. Die in
die tiefen Hautschichten eindringenden Licht- und Wärme¬
strahlen lassen zugleich starke Kältereize ohne Frostgefühl,
ja mit einem eigenartigen Wohlgefühl ertragen, während sich
zugleich der Stoffwechsel nach dem R u b n e r sehen Gesetze
einstellt. Dieses besagt nämlich, dass für den Stoffwechsel die
halbe Differenz zwischen der Strahlung und Schattentemperatur
massgebend sei.
Die auffallendsten Effekte eines kühlen Luft- oder Licht-
Luftstrom-Bades ist die bedeutende Erhöhung der Atmungs:
grosse, welche nicht auf eine Beschleunigung der Atmung,
sondern auf eine Vertiefung derselben zurückzuführen ist. Das
Gleiche hat Hugo Winternitz bezüglich des COsBades
nachgewiesen und als einen massgebenden Faktor für die Heil¬
wirkung desselben angesprochen.
Es bestehen also hier so zahlreiche Analogien, dass eine
Substituierung des COsBades durch das Luftstrombad nicht als
widersinnig bezeichnet werden kann.
Erfahrungen anderer Art stützen diese Ansicht. So scheint
es mir, dass bei der Oertelkur der Einfluss der nach eigenen
Prinzipien dosierten Muskelarbeit nicht ganz mit Recht aus¬
schliesslich für die Erfolge derselben verantwortlich gemacht
wird. Ich glaube vielmehr, dass dabei dem den meisten Kran¬
ken dieser Art bis dahin fremd gewordenen Aufenthalte im
Freien, also im Lichte und in bewegter Luft ein grosser Anteil
daran zugestanden werden muss.
Dafür spricht auch das förmliche Wiederaufleben und die
rasche Steigerung der Leistungsfähigkeit des Herzens bei Kran¬
ken, welche Gegenden aufsuchen, wo es ihnen möglich ist,
täglich mehrere Stunden in einer milden, von der Sonne durch¬
wärmten und zugleich von leichten kühlenden Luftströmungen
beherrschten Gegend zu verbringen.
Wenn man es genauer betrachtet, ist die oft von so wunder¬
baren Wirkungen begleitete sogenannte Luftverände¬
rung nichts anderes als die Uebersiedelung in Verhältnisse,
unter denen der reichliche Aufenthalt im Freien das Haupt¬
merkmal der veränderten als kurgemäss bezeichneten Le¬
bensweise bildet, also der Uebergang aus der ruhenden Stuben¬
luft in die stets bewegte freie Atmosphäre. Dies sind durch¬
aus Hinweise auf das Licht-Luftbad.
Ebenso wie man bei dem CÜ2Bade mit indifferenten reinen
Wasserbädern oder Solebädern beginnt, um den Organismus
vorzubereiten, schicken auch wir indifferente Luftstrombäder
voraus. Die steigende Dosierung besteht hier darin, dass
man allmählich die Differenz zwischen Strahlungs- und
Schattentemperatur und zugleich die Intensität der Luftströ¬
mung steigert. Bei einer Strahlungstemperatur von 35 0 lässt
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2107
man Anfangs einen Wind von 25° und 2—3 m Geschwindigkeit
durch 8—10 Minuten einwirken und steigt nach und nach zu
einer Temperaturdifferenz von etwa 18° (38° Licht und 20°
Schatten) bei einer Geschwindigkeit von 6rn und einer Bade¬
dauer von 20 Minuten auf. Sorgfältig ist darauf zu achten,
dass der Patient nicht friere. Die Wirkung derartiger Bäder
ist überaus anregend und erfrischend. Nach dem Bade lässt
man den Kranken bis zu einer Stunde ruhen.
Vielfach werden bei Herzkranken auch Schwitzproze¬
duren verwendet und zwar einerseits, weil man durch die¬
selben eine Herabsetzung des Blutdruckes erhofft, und
andererseits dann, wenn es sich um die Fortschaffung von
O e d e me n handelt. Die reine Wärmewirkung ohne die
lästigen Schweissausbrüche erzielen wir durch eine starke
Strahlung in Verbindung mit einem Luftstrome von 30 — 34°.
Wollen wir eine stärkere Entwässerung hervorbringen,
dann kann dies durch kein anderes Mittel besser geschehen,
als durch den hochtemperierten starken Luftstrom. Die Unter¬
suchungen W o 1 p e r t s über die wasserentziehende Wirkung
des Luftstromes haben nämlich ergeben, dass er gegenüber der
ruhenden Luft bei niedriger Temperatur bis zu 20° eine Stei¬
gerung um 5 — 10 Proz. bei 20 — 35 0 eine starke Verminderung
darüber aber eine enorme Austrocknung des Organismus be¬
wirkt, wobei das Wasser dem Körper in Dampf form ent¬
zogen wird.
Je nach der Individualität des Kranken kann man durch die
verschiedene Graduierung der Temperatur, der Luftgeschwin¬
digkeit und eventuell durch die Lichtstrahlung stets dazu ge¬
langen, der Haut ganz enorme Wassermengen zu ent¬
ziehen, ohne dass dieselbe mit Schweiss bedeckt wird, also
auch ohne die bei Herzkranken gewiss nicht ganz harmlosen
beängstigenden, kollapsähnlichen Begleiterscheinungen eines
starken Schweissausbruches.
Aus dem pathologischen Institut der Universität Freiburg i. B.
Leberruptur mit tödlicher Blutung infolge Berstens
eines oberflächlichen Aneurysmas.
Von Oberarzt Dr. W ä t z o 1 d, kommandiert zum Institut.
Wenn auch die Literatur über Leberruptur schon eine recht
grosse ist, so glaube ich doch, nachfolgenden Fall veröffent¬
lichen zu dürfen, weil er klinisch nicht ohne Interesse ist, so¬
dann aber hauptsächlich deshalb, weil die Aetiologie eine für
Leberruptur seltene ist, und die pathologisch-anatomischen
Veränderungen der Leber Beachtung verdienen.
Es handelt sich um einen 44 jährigen Mann mit belangloser Fa¬
milienanamnese, der seinerzeit wegen Lues in Behandlung gewesen ist,
stark getrunken hat (4 — 5 Liter Wein pro die) und in den letzten
Jahren viel über rheumatische Beschwerden, Kopfschmerzen sowie
in letzter Zeit über Schmerzen in der Lebergegend zu klagen hatte.
Besonders lästig war ihm die „Engigkeit beim Treppensteigen“ und
starkes Herzklopfen. 8 Monate vor der Aufnahme ins Krankenhaus
trat Schwellung des Leibes und der Beine auf, 7 Monate später ein
Anfall von Bewusstlosigkeit, wobei die Atmung und Herztätigkeit
fast ganz aufgehört haben sollen. Der Appetit war in letzter Zeit
gering.
Bei der Aufnahme zeigte der Mann kurz folgendes Bild: Etwas
abgemagerter Patient mit gelblicher Gesichtsfarbe und starkem
Hydrops der Beine, des Skrotums, Penis, der Bauchhaut, Vorderarme
und Hände, sowie mit deutlicher Arteriosklerose. Herzgrenzen nach
beiden Seiten verbreitert, Herztätigkeit unregelmässig. Lungenbefund
regelrecht. Abdomen aufgetrieben, Leber anscheinend verkleinert;
Aszites nicht deutlich nachweisbar. Milz vergrössert. Im Urin
Albumen.
Während der 14 Tage seiner Krankenhausbehandlung traten
keine wesentlichen klinischen Veränderungen auf. Der Hydrops ging
durch Skarifikation zurück. Patient klagte viel über Schmerzen in
der Lebergegend. Die Urinmenge betrug bei Behandlung mit
Diuretin und Digitalis 1500 — 4000 ccm und enthielt stets Albumen.
Am Morgen des 15. Behandlungstages trat plötzlich ohne irgend eine
äussere, nachweisbare Ursache Kollaps und grosse motorische Un¬
ruhe ein; nach lVz Stunden Exitus letalis.
Noch am selben Tage nahm ich die Sektion vor, die folgende
Diagnose ergab-: Leberruptur mit tödlicher Blutung ins Abdomen.
Leberzirrhose. Hochgradige Anämie. Oedem der Unterschenkel.
Hypertrophie und Dilatation beider Ventrikel. Schwielige Verdickung
des Endokards. Frische Endokarditis verrucosa der Aortenklappen.
Myocarditis fibrosa. Hochgradige Sklerose der Aorta, Koronar- und
aller übrigen Körperarterien. Milztumor. Nephritis parenchymatosa.
Aus dem Sektionsprotokoll erwähne ich folgendes:
Bei der Eröffnung des Abdomens fliesst sehr reichlich Blut heraus;
die Menge beträgt — in flüssiger Form — ca. 2 Liter. Ausserdem
finden sich zwischen den Darmschlingen in der oberen Hälfte des Ab¬
domens und die ganze Leber bedeckend reichliche Kruormassen, be¬
sonders über und hinter der Leber; ihre Menge beträgt ebenfalls
ca. 2 Liter.
An der Zwerchfellfläche des rechten Leberlappens ist die
Glisson sehe Kapsel in der Ausdehnung eines Fünfmarkstückes
durch Kruormassen abgehoben, zerrissen und zum Teil blutig irn-
bibiert; darunter zeigt die Leber einen unregelmässigen, ca. lVz cm
langen Riss, der in ca. Va cm Tiefe in einen kirschgrossen Hohlraum
führt, der zum Teil mit Kruormassen ausgefüllt ist und nach deren
Entfernung eine ziemlich glatte Wand zeigt. Nach dem vorderen Rand
hin, besonders in der Nähe der Gallenblase, zeigt die Leber dunkle
braunrote Verdichtungen resp. Verfärbungen, die auf dem Durch¬
schnitt das Aussehen von obliterierten Gefässen bieten, deren Um¬
gebung graugelb verfärbt ist. Im übrigen zeigt die Leber eine klein¬
höckerige Oberfläche, derbe Konsistenz infolge Bindegewebsver¬
mehrung.
Die Aorta und alle Körperarterien zeigen eine sehr starke Ver¬
dickung der Intima, die bei den Koronararterien fast zu vollständiger
Obliteration geführt hat. Der Arcus aortae zeigt eine chagrinleder¬
artige Beschaffenheit der Intima.
Wir haben hier also den Fall, dass ein Mann mit verhält¬
nismässig geringen klinischen Erscheinungen — Hydrops, As¬
zites und Leberschmerzen — plötzlich kollabiert und an einer
intraabdominellen Blutung in 1 34 Stunden zugrunde geht. Als
Ursache findet sich anatomisch eine Leberruptur mit weitgehen¬
den Veränderungen der Leber.
Nach dem makroskopischen Bilde lag der Gedanke an die
Ruptur eines Aneurysmas nahe, die hier die tödliche Blutung
veranlasst hatte. Bei der mikroskopischen Betrachtung der
Zystenwandung zeigte es sich jedoch, dass die Verhältnisse
durchaus nicht so einfach lagen, wie es den Anschein hatte,
dass es sich vielmehr neben den frischen auch noch um ältere
Prozesse handelte, die wahrscheinlich auch klinisch Erschei¬
nungen gemacht hatten. Ich gebe zunächst den mikroskopi¬
schen Befund wieder.
Schon bei einfacher Hämatoxylin-Eosin-Färbung zeigte
es sich, dass der Hohlraum nicht unmittelbar von einer binde¬
gewebigen — Gefäss- resp. Aneurysma- — Wand begrenzt
wird, sondern dass zunächst fast überall dicke Kruormassen
dem Hohlraum anliegen, der nach aussen durch eine ziemlich
dicke Fibrinschicht begrenzt wird. Bei der Elastikafärbung
erkennt man nun dicht über dieser Schicht hin und wieder
sektorenförmige Pakete oder auch nur noch vereinzelte Reste
von elastischen Fasern, die einst ziemlich kreisförmig lagen
und jetzt wie durch eine ausdehnende Gewalt zerrissen und
versprengt erscheinen. Weiter nach aussen davon liegt in
ziemlich weiter Ausdehnung ein Gewebe, das nirgends den
Charakter des Leberparenchyms trägt; neben grossen, bereits
in Organisation begriffenen Thrombusmassen finden wir ein
myxomatösem Gewebe ähnliches Bild mit zahlreichen roten
Blutkörperchen und Pigment — das die Hämosiderinreaktion
zeigt — , weiter fibroblastenähnliche Zellen und neugebildetes
Bindegewebe; damit vermengen sich an zahlreichen Stellen
Lymphozyten und polymorphkernige Zellen und ausgedehnte
Blutkapillarbildung. Daran grenzt weiter nach aussen eine
sehr zellreiche Bindegewebsschicht mit zahlreichen neuge¬
bildeten Gallengängen und einzelnen stark atrophischen Leber-
Zellbalken in ihren äusseren Partien.
Erst hieran schliesst sich das eigentliche, stark infiltrierte
und vom Blutherd aus erheblich komprimierte Lebergewebe.
Es zeigt weitgehende, überall bereits intertrabekulär auf¬
tretende Bindegewebsvermehrung. Die Acinuszeichnung ist
mehr oder weniger verwaschen. Die hier gelegenen Arterien
zeigen eine deutliche Wucherung der Intima und Adventitia;
letztere besteht meist aus einem mehr oder weniger breiten
Kranz sehr zellreichen Bindegewebes.
In den übrigen mehr zentralen Teilen der Leber begegnen
wir ausser zahlreichen frischen Infiltrationsherden auch frischer
und älterer Wucherung des periportalen Bindegewebes. Die
Arterien und Gallengänge zeigen alle mehr oder weniger starke
Verdickung der bindegewebigen Elemente. Je mehr wir uns
aber der Leberoberfläche nähern, um so erheblicher werden
die Veränderungen des Parenchyms und der Gefässe. Ersteres
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mo. 43.
408
verschwindet fast ganz, und an seine Stelle treten zellreiches
Bindegewebe lind mächtige Entzündungsherde mit Wucherung
der Gallengänge und teilweiser Hypertrophie der noch Te¬
stierenden Leberzellen. Fast alle Gefässe zeigen eine erheb¬
liche Wucherung der Intima, die an manchen fast oder ganz
zu Obliteration geführt hat. Diese Veränderungen erinnern
sehr an die verschiedentlich — so schon von Kussmaul und
R. M a i e r und P. M e y e r — beschriebenen und abgebildcten
Gefässveränderungen, als deren Aetiologie gern Syphilis an¬
gegeben, ebenso oft aber auch bestritten wird. Da in unserem
Fall Syphilis anamnestisch sicher festgestellt ist, so dürfen wir
sie auch wohl als Ursache der Veränderungen ansehen.
Die Media der grösseren Gefässe lässt mehr oder weniger
weit klaffende Risse erkennen, in die sich ein mehr lockeres,
zellreiches Gewebe eingeschoben hat; bei der Elastikafärbung
zeigt sich eine entsprechende Zerreissung der Fasern. Die Ad-
ventitia ist stets ganz besonders stark gewuchert und zellreich.
Eine nähere Beschreibung der Gefässveränderungen unter¬
lasse ich, zumal sie schon genügend bekannt sind und von
anderer Seite zusammen mit den Aortaveränderungen behan¬
delt werden sollen. Nach dem vorderen Leberrand zu be¬
gegnen wir hin und wieder Aneurysmen, deren Entstehung
uns durch die erwähnten Gefässwandveränderungen verständ¬
lich wird. Meist sind die Aneurysmen vollkommen throm-
bosiert.
So werden wir wohl nicht fehlgehen, wenn wir
jene eingangs beschriebenen Veränderungen in unmittel¬
barer Nähe der Rupturstelle in der Weise deuten, dass es
infolge der erwähnten Gefässwandveränderungen zunächst zur
Zerreissung und zu der Bildung eines Aneurysmas gekommen
ist, das infolge weiter fortschreitender Veränderungen der
Wandung und Umgebung wieder geborsten ist, zu ausgedehnter
Thrombenbildung in der nächsten Umgebung und schliesslich
durch den oberflächlichen Sitz und die hochgradigen Leber¬
veränderungen zur Leberruptur geführt hat. Inwieweit kli¬
nisch die Schmerzen in der Lebergegend durch die patho¬
logisch-anatomischen Veränderungen zu erklären sind, lasse
ich dahingestellt.
Was die direkte Ursache zur Leberruptur gegeben hat,
lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit feststellen. Gewiss
haben die hochgradigen Veränderungen der Leber eine leichte
Brüchigkeit verliehen, so dass verhältnismässig geringe Blut-
drucksteigerungen, wie z. B. infolge der Anstrengung bei der
Defäkation schon zur Zerreissung der dünnen Wandung des
Herdes führen konnten; vielleicht genügte auch schon eine
plötzliche Lageveränderung im Schlaf.
Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass sich in diesem Fall
Gummata in der Adventitia der Aorta, der Gallenblasenwand
und sehr als Gumma verdächtige Stellen auch in der Leber
fanden. Ich nahm daher an Stücken aus den genannten Or¬
ganen die von L e v a d i t i angegebene Behandlung zur Sicht¬
barmachung der Spirochaete pallida vor, um die erwähnten
Veränderungen als durch Syphilis hervorgerufen unzweifel¬
haft nachzuweisen; leider war das Ergebnis negativ.
In der Literatur habe ich nur einen einzigen, offenbar ana¬
logen Fall gefunden, über den Sacquepee in der anatomi¬
schen Gesellschaft in Paris berichtete. Leider stand mir nur
ein kurzes Referat zur Verfügung (Zentralbl. f. pathol. Anat.,
Bd. XI, 1900, S. 748). S. fand bei der Sektion eines 44 jährigen
Mannes in der Bauchhöhle ein 1300 g schweres Blutgerinnsel
in Zusammenhang mit der Leber. Letztere zeigte im Innern
eine orangengrosse, blutgefüllte Höhle, die mit der Leber-
vorderfläche und einem grossen subkapsulären Blutgerinnsel
in Verbindung stand. Histologisch fand sich geringe Zirrhose
und starke Endarteriitis, die auf eine überstandene Lues zu¬
rückgeführt wurde. S. glaubte, dass die Ursache der Blutung
in der Gefässveränderung zu suchen sei, eventuell in der Ruptur
eines Aneurysmas.
G r u n e r t (Ueber das Aneurysma der Arteria hepatica,
D. Zeitschr. f. klin. Chir., Bd. 71, S. 158) stellt 35 Fälle von
Aneurysma der Arteria hepatica zusammen, von denen nur
3 intraparenchymatös lagen. Als ätiologisch wichtig für die
Aneurysmabildung sieht G. die Infektionskrankheiten an, die
zu hochgradigen Gefässveränderungen und weiter zu Aneu¬
rysmabildung führen können. Mein Fall gewinnt besonders
durch den Umstand an Interesse, dass wir bei ihm der Syphilis
wohl mit absoluter Sicherheit die Ursache für die Gefässver¬
änderungen und die Aneurysmabildung zuschreiben dürfen.
Im Anschluss an diesen Fall möchte auch ich nicht unter¬
lassen darauf hinzuweisen, worauf Walter H. Schultze in
seiner Arbeit (Ueber 2 Aneurysmen von Baucheingeweide¬
arterien, Zieglers Beitr., Bd. 38, 1905, S. 374) besonders auf¬
merksam macht, dass in allen Fällen von plötzlichen grossen
Blutungen in die Bauchhöhle, wenn kein Trauma vorliegt, an
die Berstung eines Aneurysmas zu denken ist.
Herrn Prof. Dr. S c h ü 1 e (Diakonissenhaus Freiburg i. B.)
danke ich auch an dieser Stelle ergebenst für die freundliche
Ueberlassung des Krankenblatts.
Aus der Kgl. pädiatrischen Poliklinik München (Vorstand:
Prof. Dr. C. S e i t z).
Ein Fall von chronischer Lymphozytenleukämie bei
einem 11 monatlichen Kinde.
Von Dr. Theo Mennacher, I. Assistent der Klinik.
Am 17. April 1906 wurde in die pädiatrische Poliklinik ein Kind
gebracht mit folgenden Angaben:
Das zurzeit 11 Monate alte Kind wurde als einziges gesunder
Eltern rechtzeitig und auf normale Weise geboren. Schon im Alter
von 14 Tagen fiel an dem Kinde der dicke Leib auf; es stellte sich
damals wiederholt Erbrechen der Nahrung (Milch und Semmelmus
mit Milch gekocht) ein, die Stühle sollen ordentlich gewesen sein.
Bis zum 6. Monate war ausser viel Unruhe nichts auffälliges an dem
Kinde bemerkbar, es entwickelte sich gut, war „stark“ und hatte
eine gesunde Earbe. Mit 6 Monaten begannen unter Schlaflosigkeit
und viel Geschrei beide Ohren zu „laufen“, und begannen Husten,
Appetitlosigkeit, Erbrechen, Stuhlverstopfung, anscheinend Leib¬
schmerzen, Anziehen der Beine und Blässe sich zu entwickeln, die
Auftreibung des Leibes nahm stetig zu. Der Husten und das Er¬
brechen verschlimmerte sich im Dezember 1905 derart, dass das Kind
zum Arzt gebracht wurde, welcher die Diagnose auf Rhachitis, Dys-
pepsia chron., Bronchitis diff. und beiderseitige Otitis med. perf. pur.
stellte. Anfangs April 1906 stellten sich Blutflecken in der Haut ein.
Die Untersuchung ergab:
Schwächliches, in der Ernährung stark reduziertes Kind, welches
mit leidendem Gesichtsausdruck teilnahmslos vor sich hinbrütet.
Haut erscheint leicht gedunsen, ist wie die sichtbaren Schleimhäute
äusserst blass, über Rumpf und Extremitäten sind zahlreiche Haut¬
blutungen von Punkt- bis Linsengrösse verstreut. Die inguinalen
Lymphdriisen, die Nackendrüsen von Erbsen- bis Kirschkerngrösse
fühlbar. Mundhöhle ist rein, ohne auffallende Schwellung der lym¬
phatischen Apparate, aus beiden Gehörgängen sickert übelriechende
eitrige Flüssigkeit. Oedeme sind nicht vorhanden. Grosse Fontanelle
noch weit offen. Der Thorax ist seitlich eingedrückt, Pectus cari-
natum, Knorpelrippengrenzen ebenso wie die Epiphysen der langen
Röhrenknochen aufgetrieben. Die Atmung erfolgt kurz, oberfläch¬
lich, beschleunigt, über beiden Lungen sind diffuse, feuchte mittel-
und grobblasige Rasselgeräusche hörbar. L. H. U. feinblasiges Ras¬
seln und leichte Schallverkürzung.
Die Herzdämpfung ist nicht nachweisbar verbreitert, Töne rein,
Aktion rhythmisch, beschleunigt. Puls ist weich, 144.
Das Abdomen ist stark aufgetrieben (Eroschbauch), Thorax-
appertur erweitert, es besteht eine mässig grosse Hernia umbilicalis.
Leber in der M. M. L. lVz Querfinger unterhalb des Rippenbogens
mit glattem Rand und Oberfläche, ziemlich derber Konsistenz fühlbar,
oberer Leberrand steht am oberen Rand der 6. Rippe. Eine Ver¬
schiebung der Leber bei der Atmung ist nicht zu bemerken. Aus
dem linken Hypochondrium ragt ein bis ins kleine Becken (fast
bis an die Symphyse) sich erstreckender Tumor herab, seine Kon¬
sistenz ist hart, die an seinem vorderen Rande deutliche palpable
Einkerbung lässt ihn als die Milz erkennen, ihr linker Rand daumen¬
breit vom Nabel entfernt. Temp. i. a. 37,2.
Dieser Befund erregte sofort den Verdacht, dass ausser der
Rhachitis, der chron. Dyspepsie und der Lungenatalektase L. H. U.
eine krankhafte Veränderung des Blutes und der blutbildenden Or¬
gane vorliegen müsse, die Blutuntersuchung ergab folgendes:
namogiooingenait: 4U lJroz.
Zahl der roten Blutkörperehen im emm: 4 900 000,
demnach war der Hämoglobingehalt der einzelnen Erythrozvten ganz
erheblich herabgesetzt.
Zahl der weissen Blutkörperchen im emm: 258 000.
Verhältnis von W zu R = 1 : 19.
Zahl der kernhaltigen roten Blutkörperchen
. . im emm : 20 000.
Neutrophile polynukleäre Leu-
kozyten . 20,66 Proz. { Proz.
Lymphozyten . 74,44 „ [ »
{ oi,uu „
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2109
davon waren
a) kleine .
58,58
b) grosse . . . .
15,86
Mono nukleäre,
k o z y t ’e n ( =
gangszellen) .
neutrophile Leu-
Myelozyten, Ueber-
4,14
Eosinophile polynukleäre Leu¬
kozyten ........
0,47
Mastzellen . .
0,28
\ 57,00 Proz.
V
1 59,50 „
1 10,75 „
V
1 21,50 „
f 3,00 „
V
1 5,25 „
\ 0,16 „
V
l 1,00 „
i 0,25 „
V
l 0,33 „
aus
wiederholten,
Den Zahlen sind die Durchschnittswerte
während der Beobachtung angestellten Zählungen zugrunde gelegt,
die Zahlen in Klammern bedeuten die niedersten und höchstgezählten
Werte und zwar entsprechen den jeweils niedersten Leukozyten¬
zahlen die jeweils höchsten Lymphozytenzahlen.
Ein Vergleich der Krankengeschichte mit diesem Blutbilde Hess
die Diagnose auf „chronische Lymphozytenleu-
k ä m i e“ stellen.
In den folgenden Wochen, während welchen die bronchitischen
und gastrointestinalen Störungen andauern, tritt keine wesentliche
Aenderung im Krankheitsbilde ein, höhere Temperaturen wurden
nicht beobachtet, am 15. V. erfolgte der Exitus unter den Erschei¬
nungen ausgebreiteter Bronchitis und Bronchiolitis.
Die Obduktion, welche aus äusseren .Gründen leider erst am
3. Tage nach erfolgtem Tode von Herrn Prof. Dr. D ii r c k vorge¬
nommen werden konnte, lieferte folgendes Ergebnis:
Sektionsprotokoll, Prof. Dr. Dürck, 17. V. 1906.
(Exitus am 15. V.) Körpergewicht: 6750 g (normal 8980 g).
Gut entwickelte männliche Kindsleiche mit sehr blassen Haut¬
decken, in diesen an vielen Stellen punktförmige und flächenhafte bis
linsengrosse bläuliche Blutaustritte. Abdomen sehr stark ausge¬
dehnt, Bauchdecken grünlich verfärbt. Fettpolster sehr gering,
Muskulatur ausserordentlich blass. Nach Eröffnung des Abdomens
zeigt sich, dass die Milz mit ihrem unteren Pol bis mehr als finger¬
breit in das kleine Becken hineinreicht, der linke Milzrand steht
U/s fingerbreit von dem Nabel entfernt. In der Bauchhöhle keine freie
Flüssigkeit. Zw.-St. beiderseits V. IKR. Beide Lungen frei, beide
Pleurahöhlen leer. Im Perikard einige Tropfen klare Flüssigkeit.
Respirationsorgane: Gewebe beider Lungen sehr blass,
die vorderen Ränder sind besonders rechts stark gebläht, Oberlappen
nahezu rein weiss, in allen Lungenteilen besonders in beiden Unter¬
lappen und dort namentlich entlang der Wirbelsäule finden sich etwas
eingesunkene dunkelgraurote, derbere Partien, in denen der Luftgehalt
aufgehoben ist. Alle Bronchien von der Trachea bis in die feinsten
Verzweigungen enthalten sehr reichliche zähe schleim-eitrige Pfropfe,
durch welche zahlreiche Lumina verlegt sind.
Zirkulationsorgane: Herz von gehöriger Grösse, in
allen Abschnitten reichliches, sehr blasses, zähes Gerinnsel, das Endo¬
kard beiderseits ebenso wie die Klappen von gelöstem Blutfarbstoff
kadaverös imbibiert. Klappen frei beweglich und schlussfähig.
Milz: Ueber der Konvexität 24:12 cm, vorderer Rand sehr
stark gekerbt, Kapsel straff gespannt, nahe dem Hilus eine haselnuss¬
grosse und mehrere kleinere Nebenmilzen. Auf dem Durchschnitt
das Organ sehr derb, von dunkelrotgrauer Farbe, nur an wenig
Stellen einzelne dunklere Stellen, offenbar Blutaustritten entsprechend,
Follikel und Gerüst nicht sichtbar. Gewicht 400 g. Milzgewicht:
Körpergewicht = 1 : 16,875, normal = 1 : 359, nimmt man das dem
Alter entsprechende normale Milzgewicht zu 25 g, so war diese Milz
um das 16 fache vergrössert.
Leber etwas geschwellt, sehr derb, Ober- und Schnittfläche
glatt, blassgraubraun, auf dem Durchschnitt im Parenchym zahlreiche
verwaschene dunkle Punkte cingesprengt, in der Gallenblase einige
Tropfen goldgelbe Galle.
V erdauungskanal: Magen kadaverös erweicht. Im un¬
teren Ileum und Dickdarm die lymphatischen Apparate leicht vor¬
ragend. Alle Lymphdriisen, an den Kieferwinkeln, an beiden Hals¬
seiten, im Mediastinum, am Lungenhilus und Leberhilus, im Mesen¬
terium samt den prävertebralen inguinalen und lumbalen Lymph-
driisen sind sehr bedeutend geschwellt, weich, vorquellend, dunkel¬
graurot, z. T. schiefrig pigmentiert.
Harn organe: Beide Nieren leicht geschwellt, Oberfläche
glatt, blass graugelb, auf dem Durchsnitt Rand vorquellend, sehr
hell und von bogigen und streifigen rötlichen Flecken durchsetzt.
Markkegel gut abgegrenzt.
Halsorgane ohne pathologischen Befund, insbesondere war
die Thymus nicht vergrössert. Das Diaphysenmark des Ober¬
schenkels ist von schmutzig grauroter Farbe, stark vorquellend, sehr
weich, keine Spur von Fettgewebe erkennbar.
Anatomische Diagnose: Lienal-lymphatische Leukämie
mit mächtiger Schwellung der Milz und Schwellung aller Lymph-
drüsen.
Nebenbefunde: Lymphoides Knochenmark der Diaphysen.
Diffuse eitrige Bronchitis, kollapsatelektatische Herde in allen Lungen¬
abschnitten.
Mikroskopischer Befund (Prof. Dr. Dürck): Die
Milz erscheint im ganzen beträchtlich induriert, alle Stützsubstanz
ist erheblich vermehrt und zwar auf Kosten der Pulpa und des
eigentlichen lymphadenoiden Gewebes. Zunächst fällt die Kleinheit
der Follikel auf; wenn man von den Durchschnitten der Arteriae pedi-
cillatae ausgeht, so zeigt sich schon deren Adventitia beträchtlich ver¬
mehrt an Fasergewebe, die nächste Umgebung wird gebildet von
einem lockeren Retikulum, in welches nur spärliche und in einzelne
Gruppen gestellte kleine Rundzellen vom Typus der Lymphozyten
eingelagert sind. Daneben finden sich hier relativ zahlreich grosse
mononukleäre Leukozyten, entsprechend den im Blutbilde gefundenen
grossen Lymphozyten. Ein Keimzentrum ist in den Follikeln nicht
erkennbar. Die an Zellenmaterial sehr stark reduzierten Follikel
werden aussen umrahmt von sehr reichlichen, langfaserigen, kon¬
zentrisch streifigem Bindegewebe, mit kleinen, fixen, spindelförmigen
Bindegewebskörpern und dazwischen spärlich eingestreuten Lympho¬
zyten. Von diesem perifollikulären Gewebe nimmt das überall ver¬
mehrte, in die Pulpa ausstrahlende Retikulum seinen Ausgangspunkt,
auch dessen Fasergehalt ist vermehrt, die Bindegewebsleisten ver¬
dickt, die Pulparäume dementsprechend reduziert. Die Endothelien
der Pulpagefässe sind sehr deutlich erkennbar, scheinbar etwas ge¬
wuchert, aber fast nirgends in grösseren, kontinuierlichen, epitheloiden
Zellreihen erkennbar. Die Hauptveränderungen der Pulpa sind charak¬
terisiert durch den enormen Schwund und die Verarmung des Ge¬
webes an Erythrozyten, von denen nur wenige weit von einander ver¬
streute und sehr blasse Exemplare auffindbar sind. Daneben finden
sich ebenfalls recht vereinzelt hämoglobinhaltige kerntragende Zellen,
sowie mit azidophilen Granulis erfüllte Leukozyten. Sehr bedeutend
vermehrt dagegen sind die kleinen Lymphozyten, auch grosse mono¬
nukleäre Leukozyten (= grosse Lymphozyten) sind ziemlich zahlreich
auffindbar und ganz vereinzelt grosse, mehrkernige Zellexemplare
mit 2—3 sehr grossen bläschenförmigen Kernen. Fragmentiert¬
kernige (polynukleäre) Leukozyten sind nur äusserst spärlich ein¬
gestreut. Das Retikulum steht andererseits mit ausserordentlich
dicken, faserreichen und zellarmen Trabekeln in Verbindung.
In den Schnittpräparaten des Knochenmarks erscheinen die
normalerweise vorhandenen Fettlücken und Fettgewebsmassen so gut
wie vollkommen verschwunden und zugedeckt von einer enormen
Zellproliferation. Auch hier ist das Retikulum vermehrt und steht
mit feinen Ansammlungen von Fasergruppen in Verbindung, welche
konzentrisch um die kleinen Knochenbälkchen angelagert sind, sowie
mit dem adventitialen Bindegewebe. In den Maschen des Retikulums
ist eine ausserordentlich starke Anhäufung von im allgemeinen rund¬
lichen Zellen sehr verschiedenen Charakters eingepresst. Um von den
normalen Elementen auszugehen finden sich hier zunächst spärliche,
vielkernige Myeloplaxen (Knochenmarksriesenzellen), die grossen
Myelozyten mit ihren runden, bläschenförmigen Kernen sind im Ver¬
hältnis zu dem ganzen Zellreichtum nicht besonders zahlreich, am
meisten überwiegen auch hier wiederum die kleinen, runden, dunkel¬
kernigen Lymphozyten. Daneben finden sich ausserordentlich viele
Zellen mit ziemlich grossem Protoplasmaleib und dunkelgranuliertem
Kern, die von mit Eosin rot tingierbaren, azidophilen Granulis förmlich
ausgestopft erscheinen. Hämoglobinhaltige kerntragende Zellen, die
als Erythroblasten angesprochen werden könnten, sind im Verhältnis
zu dem Alter des Individuums unter die Norm vermindert. Auffallend
ist der Befund an sehr reichlichen fragmentiertkernigen Leukozyten.
Auch finden sich ausserordentlich viele kleine Zelltrümmer mit ausser¬
ordentlich feinen, granulaartigen Resten von Kernsubstanz, doch lässt
sich bei dem ungeeigneten Konservierungszustand des Objektes nicht
mit Sicherheit feststellen, ob es sich hier um zerfallene Mitosen, um
eine Zytodiarrhese im Sinne Marchands oder um kadaveröse Zer¬
fallserscheinungen, vielleicht von mitotischen Figuren handelt.
Die Lymphdrüsen waren leider schon kadaverös verändert,
es gelang daher nicht, gute Schnitte und mikroskopische Bilder zu
erhalten.
In der Leber finden sich starke Lymphozytenanhäufungen
(Lymphombildungen), interazinös im Bindegewebe um die Verzwei¬
gungen der portalen Gefässe, von denen auch Ausläufer zwischen die
Bälkchen der Leberzellen in die Azini hineinragen *).
Die Nieren erweisen sich fast gar nicht verändert, das
Parenchym gut erhalten.
Wie sich das Krankheitsbild klinisch darbot, schwankte die
Differentialdiagnose zwischen Anaemia pseudoleucaetnica in¬
fantum s. Anaemia splenica (J a k s c h) und echter Leukämie.
Für die e r s t e r e Blutkrankheit spricht vor allem das Alter des
Kindes, 11 Monate, denn ihre Entstehung fällt gerade in das
Ende der Säuglingsperiode, etwa vom 7. Monat bis Ende des
2. Lebensjahres. Ihre Entstehung wird begünstigt durch Magen¬
darmstörungen, falsche, widernatürliche Ernährung, Rhachitis,
*) Nach R i b b e r t gehen diese lymphatischen Anhäufungen
sämtlich an Ort und Stelle aus vorgebildeten kleinen (in vielen nor¬
malen Organen bisher konstatierten) Lymphozytenhäufchen durch
Zellteilung hervor. Von ihnen aus werden Zellen in das Blut ab-
gestossen, nicht aber findet der umgekehrte Modus einer Ablagerung
lymphatischer Massen aus dem Blute in die Gewebe hinein statt.
110 MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ No. 43.
Hygienische, namentlich Wohnungsschädlichkeiten, Umstände,
w elche in unserem Falle alle gegeben waren.
J a k s c h hat im Jahre 1889 das Krankheitsbild benannt,
das sich charakterisiert durch Oligozythämie, Oligochromämie,
Auftreten zahlreicher Normo-Megaloblasten und Myelozyten,
hochgradige dauernde Leukozytose, Milztumor, geringe
Schwellung der Leber und bisweilen auch der Drüsen. Wie
in unserem Falle kompliziert sich die Erkrankung häufig mit
Darmstürungen, bronchitischen Affektionen und Hautblutungen.
Auch nach P i n k u s besteht das Krankheitsbild in einer hoch¬
gradigen Anämie, für die ein an die perniziöse Anämie er¬
innernder Blutbefund charakteristisch zu sein scheint: Vor¬
kommen kernhaltiger roter Blutkörperchen, Normo-Megalo¬
blasten, bei Verminderung der Zahl der roten Blutkörperchen,
oft starke Vermehrung der Leukozyten und Auftreten von
Myelozyten. Nach v. L i m b e c k besteht die Hyperleukozytose
bei Anaemia infantum pseudoleucaemica vorwiegend aus poly¬
nukleären Zellen.
Ein Vergleich der Blutbefunde der bisher als Anaemia
splenica beschriebenen Fälle mit dem unsrigen lässt aber so
offenbare Abweichungen erkennen, dass seine Einreihung in
obigen Krankheitsbegriff wohl nicht angängig erscheint. Von
den sog. leichten Fällen J a k s c h scher Krankheit sehen wir
ab, da bei ihnen die weissen Blutzellen wenig über die Norm
des Säuglingsalters (10 000 — 20 000) vermehrt sind und der
Prozentgehalt der Lymphozyten ebenfalls nicht wesentlich ver¬
ändert erscheint. Was nun die schweren Fälle betrifft, so fanden
zwar auch wir den Hämoglobingehalt bedeutend herabgesetzt
(40 Proz.), dagegen fehlt vor allem die Verminderung der Zahl
der roten Blutkörperchen, die bei dieser Form J a k s c h scher
Krankheiten nicht selten bis zu unter 1 Million beträgt, die Ver¬
änderungen in bezug auf Grösse und Form der roten Elemente
sind nicht so ausgesprochen, dagegen haben auch war die starke
Vermehrung der kernhaltigen roten Blutkörperchen (ca. 20 000
im Kubikmillimeter). Neben der fehlenden wesentlichen Ver¬
minderung der Erythrozytenzahl dürfte es aber wohl die Zahl
der weissen Blutkörperchen sein, welche hauptsächlich unser
Krankheitsbild von dem der Anaemia splenica unterscheidet,
denn sie übertrifft auch die bisher bei dieser als höchste be¬
schriebenen Zahlen 114 500 (v. Jak sch) und 122 222 (Ba¬
gin s k y) um mehr als das Doppelte 258 000, dazu kommt
noch das prozentuale Ueberwiegen der Lymphozyten, 74 Proz.,
und der auch gegen die Norm des Säuglingsalters bedeutend
verminderte Prozentgehalt der neutrophilen polynukleären Leu¬
kozyten, 20 Proz. Da nach J a p h a bei Anaemia splenica
1. die Zahl der Leukozyten 50 000 selten überschreitet, 2. der
Prozentgehalt des ersten Lebensjahres für die verschiedenen
Leukozytenarten trotz Vorkommens von Myelozyten im ganzen
innegehalten ist, 3. in schweren Fällen erhebliche quantitative
Veränderungen der Erythrozyten bestehen, unser Fall aber von
diesen Bestimmungen ganz erheblich abweicht, dürfte er wohl
von ihr zu trennen und den Leukämien im gewöhnlichen Sinne
zuzuteilen sein, zumal das klinische Bild, wie der Obduktions¬
befund auch für diese Annahme einwandsfrei passt, besonders
die schweren Knochenmarksveränderungen, die starke Beteili¬
gung der Lymphdrtisen und der Leber, über welche bisher
nur von Luzet und Lehndorff bei der Anaemia pseudoleu-
kämica infantum Befunde vorliegen, sprechen dafür.
Schon seit Neumann wdssen wir, dass sich vom häma-
tologischen Standpunkt eine Einteilung der einzelnen Formen
der Leukämie, je nachdem die Milz oder die Lymphdrtisen ge¬
schwollen sind, in „lineale“ oder „lymphatische“ nicht mehr
aufrecht erhalten lässt, dass vielmehr zum Zustandekommen
einer jeden Form von Leukämie eine pathologische Verände¬
rung des Knochenmarks notwendig ist. In unserem Fall konnte
in vivo die Knochenmarksbeteiligung aus dem Blutbefund, ab¬
solute Vermehrung der neutrophilen, polynukleären Zellen, die
ja im Knochenmark entstehen, dementsprechend Auftreten von,
wenn auch nur spärlichen Myelozyten und Uebergangsformen
und zahlreichen Erythroblasten erschlossen werden.
Bekennen wir uns zu der z. Z. allgemein geltenden liisto-
genetischen Einteilung der Leukämien in Leukozyten- oder
myelogene und Lymphozyten- oder lymphatische Leukämien —
wobei „lymphatisch“ nicht einfach die Entstehung aus den
Lymphdrüsen bedeuten soll, sondern die Entstehung aus einem
Gewebe, welches eine bestimmte Form von Zellen erzeugt,
die in der allgemeinen Histologie „Lymphozyten“ heissen, und
welches zwar nicht der Masse aber der Ubiquität des Vor¬
kommens nach eines der weitestverbreiteten Gewebe darstellt,
denn abgesehen von den Lymphdrüsen und Lymphapparaten
der Schleimhäute ist es von Arnold und R i b b e r t sowohl
in den blutbereitenden Organen, Milz und Knochenmark als in
allen auch völlig normalen Organen in kleinen Nestern ge¬
funden worden, — so dürfte unser Fall zweifellos der letzteren,
selteneren Form zuzuteilen sein. Zwar ist, was das Blutbild
anlangt, beim Säugling schon in der Norm das prozentuale Ver¬
hältnis der Lympho- zu den Leukozyten gegenüber dem beim
Erwachsenen zu Gunsten der ersteren (nach J a p h a ca. 50
Proz.) verschoben, allein unsere Verhältniszahlen zeigen doch
Unterschiede, dass schon hiernach die Annahme einer lym¬
phatischen Leukämie gerechtfertigt erscheint; gestützt wird
diese Annahme noch durch die in unserem Falle fehlende we¬
sentliche Vermehrung 1. der mononukleären, neutrophilen und
eosinophilen Zellen, Myelozyten nach Ehrlich, 2. der Mast¬
zellen (mehrkörnige Zellen mit basophiler Körnelung), die bei
myelogener Leukämie immer eklatant hervortritt. Berücksich¬
tigen wir noch dem mikroskopischen Obduktionsbefund, der ja
in allen untersuchten .Organen ein ganz bedeutendes Ueber¬
wiegen der Lymphozyten ergibt, so kann an der Diagnose
Lymphozytenleukämie kein Zweifel mehr obwalten.
Die lymphatische Leukämie kann einen akuten und einen
chronischen Verlauf nehmen, ersteres ist häufiger, besonders
bei den im Kindesalter einsetzenden Fällen. Akute und chroni¬
sche lymphatische Leukämie allein nach dem Blutbefunde
streng zu trennen, ist nicht möglich; eine Zeit lang ist freilich
der grosszeilige Charakter der Lymphozytenwucherung als be¬
zeichnend für akute Leukämie und für akute Exazerbation der
chronischen angesehen worden, nachdem aber sowohl akute
Leukämie mit ausschliesslicher Vermehrung der kleinen Lym¬
phozyten, als auch chronische mit Vermehrung der grossen
bekannt geworden, konnte dieses Merkmal nicht mehr ent¬
scheidend bleiben. Im Allgemeinen spricht für akuten Verlauf
die geringere Milz- und Drüsenschwellung, der rapide Verlauf
unter Blutungen, Ulzerationen und Fieber. Auch weist das
Knochenmark keine so gleichmässige Veränderung in zelliges
Mark auf wie bei chronischer Leukämie. Unser Fall muss
der chronischen Form zugeteilt werden, denn abgesehen von
dem schleichenden Beginn und dem über mehrere Monate sich
hinziehenden fieberlosen Verlaufe sprechen dafür ganz ekla¬
tant die anatomischen Befunde am Knochenmark und beson¬
ders der Milz, wobei noch weniger der makroskopische Be¬
fund (bei Kindern kommen sehr grosse Milztumo.ren auch bei
akutem Verlaufe vor) als vielmehr die mikroskopischen Bilder,
welche eine typische chronische Induration der Milz ergaben,
zu berücksichtigen sind.
Eine angeborene Leukämie, wie z. B. P o 1 1 m a n n eine
beschreibt, in unserem Falle anzunehmen, besteht kein Grund,
wir dürfen also wohl in der chronischen Störung des Verdau¬
ungskanales infolge falscher Ernährungsweise und den son¬
stigen äusseren hygienischen Schädlichkeiten in Verbindung mit
der floriden Rhachitis den von Neumann für das Zustande¬
kommen einer Leukämie geforderten spezifischen Reiz auf das
Knochenmark erblicken, doch wäre es auch nicht unmöglich,
dass die Verdauungsstörungen und die beiderseitige Mittelohr¬
eiterung schon Folgeerscheinungen der Leukämie waren.
Portativer Apparat für Behandlung von Finger- und
Handgelenkversteifungen.
Von Dr. Bettmann,
Spezialarzt für Chirurgie und Orthopädie in Leipzig.
ln No. 13, Jahrgang 1901, der ärztlichen Sachverständigenzeitung
habe ich seiner Zeit einen Apparat für Behandlung von Fingerkon¬
trakturen beschrieben. Nachdem sich an diesem während mehr¬
jährigen Gebrauchs, verschiedene Mängel bemerkbar gemacht haben,
bin ich an eine Verbesserung desselben gegangen, wobei er gleich¬
zeitig eine weitere Vervollkommnung dadurch erfuhr, dass nunmehr
auch die Vorrichtungen für die Behandlung von Handgelenkskontrak-
turen angebracht werden konnten. Trotz der hierdurch erzielten
grossen Vielseitigkeit seiner Leistungen hat der Apparat, wie aus¬
drücklich hervorgehoben werden muss, weder den Vorzug seiner
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2111
2.3. Oktober 1906.
Handlichkeit, noch den des verhältnismässig geringen Anschaffungs¬
preises eingebüsst.
Besser als jede Beschreibung werden die folgenden Abbildungen
Aufschluss über die hauptsächlichsten Punkte der Konstruktion und
über die Art der Anwendung geben.
Fig. 1 zeigt den Apparat in gewöhnlicher Ansicht. D i e
Vorrichtung für die Behandlung der Finger¬
kontrakturen besteht in der Hauptsache aus einem
in beliebiger Richtung, nach vorn, nach hinten, in querer
und schiefer Linie und auch in der Höhe verstellbarem
Hypomochlion in Gestalt einer gepolsterten Querstange (a, Fig. 1),
Fig. 1. Allgemeinansicht.
a Hypomochlion für die Finger,
b Fixierungspelotten für Handgelenke und
Unterarm.
c Verstellbarer Galgen,
d Hypomochlion u. Fixierungen für Radial-
u. Ulnarflexion u.f. Spreizung d. Finger
welche in zwei senkrechten Führungen läuft. Diese vielseitige Ver¬
stellbarkeit ist erforderlich wegen der grossen anatomischen Ver¬
schiedenheit der zur Behandlung kommenden Kontrakturen, wobei es
auch darauf ankommt, in welchem Grade das Handgelenk frei ist.
Nur auf diese Weise ist eine korrekte, für jeden einzelnen Fall pas¬
sende Einstellung und gleichzeitig auch die Anwendung für rechts
und links ermöglicht. Die schräge Verstellbarkeit des Hypomochlions
ist deshalb notwendig, weil die
Grund- und Mittelgelenke, wenn
man von dem Zurückstehen des
Zeigefingers absieht, nicht in der¬
selben Höhe, sondern in einer
schrägen, von daumenwärtsdistal
nach kleinfingerwärtsproximal
ziehenden Linie liegen. In dieser
Richtung muss die Querstange
proximal von den jeweils zu beu¬
genden Gelenken eingestellt wer¬
den. Sie werden über das Hypo¬
mochlion gebeugt vermittels elasti¬
scher Federzüge, welche an den
Fingern durch sogen. „Mädchen¬
fänger“ fixiert sind und durch Ring¬
kettchen in Haken an der Unter¬
seite des Brettes eingehängt wer¬
den. Die Dosierung der Kraft wird
durch mehr oder weniger starkes
Fig. 2. Beugung der Grund- und Anziehen der Feder erreicht
Mittelgelenke. (Fig. 2). Die Fixation des Hand¬
gelenkes und des Unterarms ge¬
schieht durch die nach vorn und hinten verschieblichen Pelotten b
in Fig. 1. Man muss darauf sehen, dass beim Beugen eines bestimmten
Gelenkabschnittes immer das dahinter liegende Gelenk durch die Pe-
lotte fixiert ist, z. B. bei Beugung der Grundgelenke das Hand¬
gelenk; nur so ist eine kräftige orthopädische Wirkung möglich.
Die Vorrichtung für die Kontrakturen des Handgelenks
besteht aus einem zerlegbaren Galgen (c, Fig. l), denPelotten b, welche
auch bei den Fingerkontrakturen benutzt werden, und den Fixier¬
ungen d. An dem Querstab des Galgens wird der Federzug ein¬
gehängt. Löst man die eine oder die andere der Schrauben, mit
welchen er an den Seitenstäben festgeschraubt ist, so können letztere
jeweils nach der entsprechenden Seite mitsamt dem Querstab durch
eine Stellvorrichtung an der Unterseite des Apparats herunter¬
geklappt werden. Auf diese Weise sind folgende hauptsächliche Zug¬
richtungen ausführbar:
Fig. 3. Dorsalflexion des Handgelenks.
1. Dorsalflexion der Hand (Fig. 3).
2. Volarflexion der Hand (Fig. 4).
3. Ulnarflexion (Fig. 5).
4. Radialflexion (Zug nach der entgegengesetzten Seite).
5. Abduktion des Daumens (Fig. 6).
6. Spreizung einzelner Finger (Ausführung in der¬
selben Weise).
Fig. 4. Volarflexion des Handgelenks.
Während man nun den Zug für die Dorsal- und Volarflexion der
besseren Handhabung wegen am vorderen Ende des Tischchens
wirken lässt, kann Ulnar- und Radialflexion sowie Spreizung des Dau¬
mens und der übrigen Finger nur am hinteren Ende ausgeführt
werden, weil hierzu die beiden besonderen Hypomochlien (d in Fig. 1,
5 u. 6) notwendig sind. Diese bestehen aus 2 kurzen, seitlich in einer
Führung verschieblichen gepolsterten Säulen, zwischen welchen der
Unterarm (Fig. 5) resp. die Hand (Fig. 6) fixiert und gleichzeitig über
je eine als Hypomochlion, je nach der beabsichtigten Bewegung,
gehebelt wird. Der Zug greift an der Hand an einer biegsamen,
der Form der Hand sich gut anschmiegenden Schelle (e, Fig. 5) an
vermittels eines seitlichen und mittleren Rings. Dreht man die
Schelle, so kommt letzterer nach unten und dient nun für den Zug
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
unten. Bei der Spreizung der Finger bedient man sich wieder
eines „Mädchenfängers“.
Der Apparat ist zunächst als ein passiver gedacht, ein Blick auf
die verschiedenen Figuren belehrt aber, dass er auch als aktiver
Widerstandsapparat benutzt werden kann. Den dosierbaren Wider¬
stand bildet hierbei die elastische Feder mit ihrer in verschiedenen
flöhen einzuhängenden und so die Kraft regulierenden Gliederkette.
Fig. 5. Ulnarflexion des Handgelenks
(Die Radialflexion in derselben Weise nach der anderen Seite!)
d Die verstellbaren Hypomochlien. e Die biegsame Handschelle.
Es ist keine Frage, dass in neuerer Zeit hauptsächlich unter dem
Einfluss des Unfallversicherungsgesetzes auch der praktische Arzt
mehr denn je Unfallfolgen nicht allein zu begutachten, sondern auch
zu behandeln hat. Im allgemeinen werden ja die Berufsgenossen¬
schaften — und von ihrem Standpunkte aus wohl auch mit Recht • —
an ihrer Gepflogenheit festhalten, solche Fälle Spezialärzten und be¬
sonderen Spezialinstituten zuzuweisen. Da aber die Fürsorge der Be-
Fig. 6. Spreizung des Daumens.
(In derselben Weise die der übrigen Finger.)
rufsgenossenschaften erst mit der 13. Woche beginnt und nur wenige
schon innerhalb der Karenzzeit das Heilverfahren übernehmen, so
liegt mindestens in den ersten 13 Wochen das Schicksal der Unfall¬
verletzten in einer grossen Anzahl von Fällen in den Händen des
praktischen Arztes. Aehnlich liegen die Verhältnisse in der Privat¬
klientel. Wohl oder übel ist daher der praktische Arzt gezwungen,
sein Instrumentarium diesen Zwecken entsprechend mehr als bisher
zu vervollständigen. Mit der Elektrisiermaschine allein kommt er
heutzutage nicht mehr aus. Insbesondere müssen ihm auch leicht zu
handhabende und nicht zu teuere Apparate zur Verfügung stehen. Aus
dieser Erkenntnis heraus ist der vorliegende Apparat zur Behandlung
von Finger- und Handgelenkversteifungen entstanden. Da er sehr
handlich und sein Preis niedrig ist, so wird gegebenenfalls selbst der
Patient die Anschaffung eines solchen nicht zu scheuen brauchen.
Ausser für den praktischen Arzt eignet sich der Apparat selbstver¬
ständlich auch für medikomechanische Institute und ähnliche An¬
stalten.
Hergestellt wird der Apparat von Herrn Universitätsmecha¬
niker a. D. Fritz K ö h 1 e r, L. Reudnitz, Josephinenstr. 35, zum Preise
von 30 M. Er kann auf Wunsch auch für Finger- und Handgelenk¬
kontrakturen allein eingerichtet und geliefert werden.
Zur Technik der Röntgentherapie.
Von^Dr. BuWiesneV, Aschaffenburg.
Bei der Bestrahlung bietet die Besorgung des Schutzes des
Gesunden vor Einwirkung der Strahlen oft ziemliche Schwierigkeiten,
besonders mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit der Patienten. Am
meisten macht sich diese Schwierigkeit bei der Bestrahlung im
Gesicht geltend.
Es gibt zwei Methoden des Schutzes des Gesunden. Die eine,
die ältere, besteht in der Abdeckung des Gesunden am Körper mittels
Stoffen, welche Röntgenstrahlen, wenigstens so weit sie schaden
können, absorbieren; zu diesen Stoffen gehören: gewöhnliches Blei-
blecli, genügend dicke Bleifolien, die Schutzstoffe von T r au n, Holz¬
knecht, Alsberg, L e v y, Müller. Diese Methode bringt viele
Unbequemlichkeiten für den Patienten mit sich, besonders wenn es
sich um kleinere Krankheitsherde im Gesicht handelt.
Die andere Methode besteht in einer Abblendung an der Röhre
durch Anbringen von Schutzstoffen, welche nur durch eine variable
Oeffnung Röntgenstrahlen austreten lassen von einem Strahlenkegel¬
durchmesser, welcher der zu bestrahlenden Partie entspricht. DerVoll-
ständigkeit halber ist eine Abart der Röhrenabblendung nach Wich -
mann- Hamburg zu erwähnen. Diese Abart besteht darin, dass die
Röhre ganz aus strahlenundurchlässigem Bleiglas hergestellt ist und
nur eine der Antikathode gegenüberbefindliche Partie von 7 cm
Durchmesser aus strahlendurchlässigem Natronglas besitzt. Ein um
die Röhre gelegter isolierender Schutzmantel gestattet Tuben ver¬
schiedener Grösse gegenüber der Antikathode aufzusetzen.
Diese Methode hat vor der ersteren voraus, dass sie nicht nur
einen guten Schutz für den Patienten, sondern auch
einen genügenden Schutz für den Arzt bietet.
Praktisch wurde diese Methode wohl zuerst von Gundelach-
G e h 1 b e r g ausgeführt, ungefähr gleichzeitig mit ihm von M. Lev y-
Berlin und später von W i c h m a n n - Hamburg.
Die Gundelach sehe Schutzvorrichtung ist dadurch gekenn¬
zeichnet, dass die Röhre von einer halbkugelförmigen Kappe von
strahlenundurchlässigem Bleiglas umgeben wird, welche gegenüber
der Antikathode eine Oeffnung mit Ansatzstutzen besitzt, durch welche
die Röntgenstrahlen austreten können. Die Austrittsöffnung kann
durch Aufsetzen von sterilisierbaren Ansatzröhren, ebenfalls aus
Bleiglas grösseren oder kleineren Kalibers verändert werden. Bei
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2113
dem ursprünglichen Modell der Gundelach sehen Blenden wurde
die schwere Glaskappe an die Röhre angeschnallt, was den Nach¬
teil hatte, dass die Röhre, welche am Stativ im Kathodenhals einge¬
spannt war, leicht an dieser Stelle brechen konnte. Es wurde
deshalb eine Modifikation dahin vorgenommen, dass, wie M. L e v y
es tut, die Glaskappe eine Holzfassung erhielt mit einem Griff zur
Befestigung im Stativ, oder dass, wie es das elektrotechnische La¬
boratorium Aschaffenburg liefert, die Schutzkappe mit ihrem Ansatz
in einem Holzknebel steckt, welcher im Stativ eingespannt wird. Die
Röhre wird mit Lederriemen in die Kappe eingeschnallt.
Ich habe mir nun
folgende Zusammenstel¬
lung des Schutzappara¬
tes gemacht (Fig. 1 u. 2),
mit der in nahezu allen
Fällen auszukommen ist.
Die Dimensionen der
Glasschutzkappe sind so
gewählt, dass jede gang¬
bare Röhre mittleren
Durchmessers in die
Glaskapne hineinpasst.
Da Kathoden- und
Anodenhals aller ver¬
wendeten Röhren in
zwei Ausschnitte an der
Kappe zu liegen kom¬
men. so wird bei der Be¬
strahlung immer mit
dem genau gleichen
Antikathoden-Ansatz-
stutzenabstand (14 cm)
zu rechnen sein. Auf
dem Ansatzstutzen, der
einen lichten Durch¬
messer von 5 cm hat,
kann ein bestimmter
Satz von Ansatzröhren
aufgesteckt werden.
Man kann mit den¬
selben allen erkrankten
Partien des Gesichtes
beikommen, und Mund¬
höhle, äusseren Gehör¬
gang , Scheide resp.
Uterus1), Prostata2) in
einer für die Patienten
beauemen, nicht be¬
lästigenden Weise be¬
strahlen. Die lichten
Weiten dieses Satzes
Fig- 2. betragen: 0,5 — 1 — 2 —
3 — 4 cm.
Die Länge des Ansatzrohres beträgt 8 — 9 cm, so dass nach
Verlust an Länge durch das Aufstecken auf den Ansatzstutzen ein
Fokuskörperabstand von 22 cm resultiert. Mit der Schutzkappe
allein kann man bei einer Entfernung des Ansatzrohres von der Haut
von 5 — 6 cm eine Fläche von ungefähr 6Vz—7 cm Durchmesser
bestrahlen, bei einm Abstand von 10 cm eine Fläche von ca. 9 cm
Durchmesser, Flächen wie man sie grösser bei einer Bestrahlung aus
Rücksicht für die Gleichmässigkeit bei der Bestrahlung kaum nehmen
wird. Da nun aber für die verschiedenen zu bestrahlenden Krankheits¬
herde die lichte Kreisfläche nicht passt, so werden für die Ansatzrohre
grösseren Durchmessers Scheiben von Schutzstoff (Blei, Trau n,
Holzknecht) beigegeben, aus welchen man die der kranken Partie
entsprechende Form ausschneidet und dann mit Heftpflasterstreifen
an der Haut befestigt. Das dazu passende Ansatzrohr wird einfach
auf dieses Schutzplättchen bei der Bestrahlung aufgesetzt.
Grösse 0,5 cm und 1,0 cm eignet sich zur Bestrahlung der
Nasenhöhle und des äusseren Gehörganges.
Für die Scheide, resp. Uterus ist ein Bleiglasspekulumansatz bei¬
gegeben.
Für die Bestrahlung der Prostata (Fig. 1 rechte Hälfte und Fig. 2)
habe ich ein passendes Metallspekulum angegeben, weil sich ein
solches aus Bleiglas mit den gewünschten Eigenschaften nicht gut
herstellen lässt. Dieses Spekulum ist in seinen Dimensionen praktisch
ausprobiert. Die Länge desselben ist so bemessen, dass man nach
seiner Einführung und Entfernung des Obturators mit dem Zeige¬
finger sich die Prostata gut abtasten und das Spekulum richtig
zur Bestrahlung einstellen kann.
Ein entsprechender in das Spekulum passender Verlängerungs¬
ansatz wird auf den Glaskappenstutzen aufgesetzt und nach dem
Finstellen des Spekulums wird die Schutzkappe so im Stativ ge-
XT H a r e t: Cancer du col de l’uterus etc. (Archives d’electricite
No. 80.)
2) Moszkowicz und Stegmann: Münch, med. Wochen¬
schrift No. 29.
richtet, dass der aufgesteckte Verlängerungsansatz in das Spekulum
beigeschoben werden kann. Um allenfallsige elektrische Ladungen
des Metallspekulums beim Betriebe zu beseitigen, befindet sich an dem
Ansatzteil eine Oese zur Anbringung einer Erdleitung. Die Be¬
strahlung der Prostata kann im Liegen und im Stehen vorgenommen
werden. Bei der Bestrahlung im Stehen lässt man den Patienten
vornübergebeugt sich auf einen entsprechend hohen Tisch etc. stützen.
Um nun auch die Verwendung eines Chromoradiometers bei
dieser Schutzvorrichtung zu ermöglichen, habe ich seinerzeit3) ver¬
anlasst, dass ausser der Oeffnung zum Durchgang der Strahlen zum
Körper noch eine kleinere Oeffnung in der Schutzkappe seitlich ange¬
bracht werde (siehe Fig. 1 u. 2). Durch diese Oeffnung treten bei
der Bestrahlung gleichfalls Strahlen aus und fallen auf einen der
Reagenzkörper, der durch eine Vorrichtung, welche sich an der Kappe
befindet, genau in der gewünschten Entfernung eingestellt werden
kann; das wäre bei Holzknecht, Bordier und Kienböck
in Fokuskörperabstand, bei Sabouraud und Noire in halbem
Fokuskörperabstand. Wenn man ohne Chromoradiometer arbeitet,
dann verschliesst man diese 2. Oeffnung mit einem Bleistopfen.
Praktische Vorschläge zur Hygiene der Frauenkleidung.
Von Dr. G r i s s o n in Hamburg.
Es ist mit Freude zu begriissen, dass Professor Fritz Länge-
München in seinem Vorträge1) „Schule und Korsett“ die Verbes¬
serung der Frauenkleidung wieder einen Schritt vorwärts gebracht
und dem Interesse der Aerzte näher gerückt hat, nachdem in den
letzten Jahren die Frage mehr in den Kreisen der Frauenvereine und
einiger Künstler bearbeitet worden ist.
S c h u 1 1 z e - Naumburg 2) hat das unbestreitbare Verdienst,
nachgewiesen zu haben, dass nicht allein das starke Schnüren den
weiblichen Körper verunstaltet, sondern überhaupt die unzweck¬
mässige Befestigung der Röcke um die einzige weiche Stelle des
Körpers, die nicht durch Knochen gestützt und deshalb zum Ertragen
eines Drucks und zum Tragen einer Last ganz ungeeignet ist, die
Taille. Solange man die Röcke um die Taille befestigt, einerlei ob
geknöpft oder gebunden, solange ist eine feste, den Druck von den
weichen Teilen auf das Becken übertragende Unterlage, ein Korsett
erforderlich: man findet bekanntlich recht arge Verunstaltungen bei
der weiblichen Landbevölkerung, auch wenn sie nie ein Korsett, wohl
aber die Röcke um die Taille getragen hat.
So entstand die „Reform“-Kleidung, bei der Ober- und Unter¬
kleider von den Schultern herabfallen sollen. Sie wurde zwar mit Be¬
geisterung aufgenommen von einem Teil der Frauenrechtlerinnen,
die im Reformkleid die nötige „Bewegungsfreiheit“ zu erlangen
hoffen; sie ist deren Kriegs-, Kampf- und Schlachtgewand und möge
es bleiben! Aber eingeführt hat sich der ..Reformsack“ nicht, trotz
aller redlichen Bemühungen der Künstler, ihn durch allerlei Zutaten
künstlerisch und individuell auszugestalten. Die Gründe liegen auf
der Hand: 1. Wenn eine Frau das Korsett ablegt, verliert sie zunächst
den Halt im Rücken; sie bekommt Kreuz- und Rückenschmerzen,
da die im Korsett zur Untätigkeit verdammt gewesenen und atro¬
phisch gewordenen Rückenmuskeln den Körper nicht aufrecht zu
tragen vermögen. Wer das weiss, sollte nicht auf den Gedanken ver¬
fallen, dazu noch das ganze, zumal im Winter nicht unbeträchtliche
Gewicht der Kleidung den Schultern aufzubürden. Die den Rücken¬
muskeln auferlegte Last wird dadurch leicht unerträglich. Auf den
Einwand, das Reformkleid drücke auf die Lungenspitzen, hindere sie
an der freien Entfaltung und begünstige so die Entwicklung von
Spitzenkatarrhen, will ich hier nicht eingehen; er ist wohl zum
mindesten unbewiesen.
2. Das Reformkleid ist zu teuer. Die Bekleidung des Oberkörpers
trägt sich schneller ab als der Rock, die wenigsten Frauen sind in
der Lage, wenn die Aermel abgetragen sind, gleich das ganze Re¬
formkleid wegzuwerfen, sie behalten deshalb die Zweiteilung der
Kleidung, die Schultze - Naumburg bekämpft, aus ökonomischen
Gründen bei, um zu einem Rock verschiedene Blousen tragen zu
können.
Auf Fragen der Schönheit und des Geschmackes will ich hier
nicht eingehen, nur andeuten, dass sicher das Missfallen der Männer
einen grossen Anteil an dem Misserfolg des Reformkleides hat,
ferner die berechtigte Scheu, dass die Trägerin eine auffallende Er¬
scheinung bildet. Einfuhren kann sich eine korsettlose Kleidung nur,
wenn sie sich möglichst wenig von der allgemein üblichen unter¬
scheidet.
Da nun erfahrungsgemäss die Bekleidungskünstler und -Künst¬
lerinnen nicht von den Hygienikern lernen, so bleibt nur der umge¬
kehrte Weg, dass der Arzt, wenn er seine berechtigten Forderungen
praktisch durchsetzen will, bei den Schneidern und Schneiderinnen
in die Lehre geht, und diesen Weg habe ich seit einigen Jahren be¬
treten. Ich halte ihn für ebenso berechtigt wie die notwendige Lehr¬
zeit der Orthopäden bei Schlossern, Sattlern und andern Handwer¬
kern. Ich habe seit der Zeit praktische Erfolge in dem seit Jahren
3) Physikalisch-medizinische Monatshefte 1904, No. 1.
O Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 13 u. 14.
2) Kultur des weiblichen Körpers.
No. 43.
14
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIET.
führten Kampf gegen das Korsett. Ein nach meinen Angaben vor
3Vs Jahren von einem intelligenten Damenschneider gemachtes Mo¬
dell war in 2 Jahren ca. 250 mal nachgemacht worden. Der leitende
Gedanke ist der, durch Ausnutzung der Reibung die Last der Kleider
auf eine möglichst grosse Fläche wirken zu lassen, den Ueberschuss
am Gewicht aber möglichst gleichmässig auf Schultern und Becken
zu verteilen und so eine Ueberlastung der Taille wie bei der Kor-
settkleiduung oder der Schultern wie bei der Reformkleidung zu ver¬
meiden.
In dem Gedanken, die Hüften beim Tragen der Kleider zu be¬
lasten, begegne ich mich mit Lange, der auch einen, wenn auch nur
kleinen Teil der Kleidung, sein Münchener Strumpfband zwischen
Spina ant. sup. und Trochanter um das Becken legt, also an die
Stelle, die uns durch die Bruchbänder geläufig ist. Bei Gelegenheit
einer Besprechung dieser Fragen fanden meine Ideen Langes vollen
Beifall und dadurch wurde ich bewogen, sie einer weiteren Oeffent-
lichkeit zur Prüfung zu unterbreiten.
Vorerst muss ich aber betonen, dass ich Langes Münchener
Leibchen, während ich sonst seinen Ausführungen ganz und gar zu¬
stimme, nicht akzeptieren kann. Wenn man an ihm die Unterkleider
befestigt, so wird auch bei diesem Leibchen die Last auf die Schul¬
tern verlegt, was ich oben als unzweckmässig gekennzeichnet habe.
Wenn man ferner die sämtlichen Unterkleider direkt an das Leib¬
chen knöpft, also unmittelbar unter der Brust, so ist es unmöglich,
darüber etwas anderes zu tragen als einen Reformsack, da die Unter¬
kleider die Form der Taille verdecken und so jedes Kleid verbieten,
welches die natürliche Figur der Trägerin zur Geltung kommen lässt.
Ausserdem beengen die hochsitzenden Bünde der Unterkleider die
Atembewegungen der unteren Rippen und des Zwerchfells.
Macht man die Knöpflaschen etwas länger, dann kommen wieder
die Bünde in die Taille, wo sie doch gerade nicht sein sollen, und
macht man sie noch länger, sodass die Bünde sich auf das Becken
stützen, so bleibt ein grosser Teil des Leibes und Rückens unbedeckt
und friert.
Die Rock- oder Hosenfrage lässt Lange offen, er hält sie für
eine Geschmacksache. Als solche will ich sie nicht weiter erörtern,
mich aber auf Elsbeth Meyer-Förster berufen, die sich über die
Dessous folgendermassen äussert: „Ich bin kein Mann, aber wenn ich
ein solcher wäre, und eine Frau drohte mir, diese freundlichen blühen¬
den Spitzen, die Tüllvolants, von denen es rauscht und raschelt, die
Rüschen aus leichter Gaze, die uns eine Ahnung eines sau¬
beren und gepflegten Körpers geben, wenn die mir drohte,
diese Reste eines Schönheitstraumes mit der bretternen Reform¬
hose vertauschen zu wollen — mein Gott, ich würde sie behandeln,
wie man eben eine Reformhose behandelt“. Sie schliesst ihre Aus¬
führungen mit den Worten: „Krieg der Reformhose! Krieg dem Re¬
formgewand!“
Ich kann diesen drastischen Worten nur hinzufügen, dass ein
Kleid nur über Röcken gut sitzt, während es um ein Paar behoste
Beine herumschlampt. Wir Aerzte dürfen diese Geschmacksfrage
nicht ganz ausser acht lassen, wenn wir den Frauen eine hygienisch
einwandfreie Kleidung empfehlen wollen.
Aber einen hygienisch sehr schwerwiegenden Einwand habe
ich gegen die Reformhose zu erhoben, den Frau Meyer-Förster
in den Worten: „Ahnung eines sauberen und gepflegten Körpers“ an¬
deutet. Die Reformhose ist nicht waschbar, und deshalb halte ich sie
für ebenso bedenklich wie die leidigen schwarzen Strümpfe, die nicht
aus der Mode kommen wollen. Beide haben eben leider für viele
den traurigen Vorzug, dass sie nicht schmutzig werden, d. h. sie
werden natürlich ebenso schnell schmutzig wie weisse, aber man
sieht es nicht. Wohl jeder Arzt wird bei Frauen die Erfahrung
machen, dass sie jedes Kleidungsstück ablegen, soweit es die ärztliche
Untersuchung erfordert, aber bei den Strümpfen kommt der Wider¬
stand, sie werden bis zu den Knöcheln hinabgestreift aber der Fuss
wird ungern entblösst, denn die schwarzen Strümpfe haben „ab¬
gefärbt“.
Solange nicht ein tägliches Bad oder eine tägliche Waschung
des ganzen Körpers einschliesslich der Füsse eine allgemeine und
selbstverständliche Lebensgewohnheit ist, gibt ein schwarzer Strumpf
und ebenso eine Reformhose nicht eine Ahnung eines sauberen, ge¬
pflegten Körpers, sondern des Gegenteils. Deshalb plaidiere ich für
waschbare, weisse oder hellfarbige Unterkleidung und zwar um so
mehr, je näher sie dem Körper anliegt. Dass eine geschlossene Hose
der offenen vorzuziehen ist, ist selbstverständlich.
Die Kleidung, welche ich seit bald drei Jahren empfohlen habe
und die sich als praktisch erprobt und in dem meinem Einfluss unter¬
stehenden Kreise sehr bewährt hat, gestaltet sich folgendermassen:
zunächst kommt das gewöhnliche Leinenhemd, Hemdhose oder
Kombination halte auch ich wie Lange nicht für erforderlich; sie ist
auch aus ökonomischen Gründen ebenso unzweckmässig wie das Re¬
formkleid, da das ganze Kleidungsstück unbrauchbar wird, wenn etwa
der obere oder untere Teil schneller abgetragen ist.
Darüber kommt ein Leibchen aus Trikotstoff, welches sich genau
den Formen des Körpers anschmiegt und für Frauen, deren Körper
von der Normalform wesentlich abweicht, nach Mass gewebt werden
sollte. Wichtig ist, dass die Schulterstücke breit seien wie bei einer
Herrenweste, dass es über dem Busen die nötige Weite hat, und dass
es mindestens bis an den Trochanter, möglichst noch etwas über die-
' sen hinabreicht. So ist zunächst der ganze Rumpf einschliesslich des
Unterleibs gleichmässig warm bedeckt. Am besten bewährt hat sich
ein Leibchen „Juno“ (Fig. 1). Es entspricht allen obigen Anfor¬
derungen und enthält — was für den Uebergang vom Korsett zur kor¬
settlosen Kleidung sehr praktisch ist — einige weiche Planchetten,
die leicht eine nach der andern zunächst vorn, zuletzt im Rücken
entfernt werden können. Sobald wie möglich sollen alle Planchetten
entfernt sein, da erst dann die ganze Annehmlichkeit der korsett-
losen Kleidung empfunden wird. Später, und für Mädchen die noch
kein Korsett getragen haben, nehme man Junoleibchen ohne Stangen
(Bezugsquelle: C. Hartmann, Hamburg, gr. Bleichen 56 58).
Sollte bei sehr vollen Brüsten eine Stütze nötig sein, würde ich
einen Büstenhalter nach Art von Langes Münchener Leibchen
darunter tragen lassen. An dem Leibchen Juno (Fig. 1) befinden sich
vorne zwei Laschen für die Strumpfhalter. Sollten diese einmal zu
stark ziehen, würde ich Langes Münchener Strumpfband akzep¬
tieren. Dieses scheint mir noch einen von Lange nicht erwähnten
Vorzug zu haben, dass man ein wichtiges Requisit, die Monatsbinde
gut daran befestigen könnte.
Nun kommt die gewöhnliche weisse Hose. Diese darf nun —
und das ist der wichtigste Punkt meiner Ausführungen — nicht in
der Taille schliessen, da diese nicht mehr wie beim Korsett gegen
Druck geschützt ist, sondern der obere Rand des Bundes muss in der
Mitte zwischen Spina ant. sup. und Trochanter liegen. Es besteht an
dieser Stelle wenig Gefahr, dass das Kleidungsstück rutscht, es
werden zur Sicherheit aber etwas innerhalb der Spina und hinten
in der Gegend der Symphysis sacroiliaca je zwei Knopflöcher in den
Bund der Hose gemacht, und entsprechend am Leibchen vier Knöpfe
für das Beinkleid befestigt. (Fig. 2.)
Etwa 2 cm oberhalb dieser 4 Knöpfe werden an dem Leibchen
nochmals 4 Knöpfe befestigt für einen kurzen Flanellrock (Fig. 3) und
den langen oberen Unterrock (Fig. 4). So tragen die Hüften die
Hauptlast der Unterkleider. Ein Teil der Last wird durch das
Leibchen vermöge der Reibung auf die grosse Oberfläche des ganzen
Rumpfes übertragen, und nur ein kleiner Rest verbleibt für die
Schultern. Natürlich passen fertig gekaufte Hosen und Unterröckc,
deren Bund für die Taille berechnet ist, nicht ohne weiteres auf die
Hüfte. Die Aenderung ist aber sehr einfach; es genügt oben vom
Bund 2 bis 4 cm abzunehmen, das Kleidungsstück hat dann ohne
weiteres die richtige Weite und Länge.
Selbstverständlich darf auch der Kleiderrock nicht um die Taille
geschlossen werden, der Bund würde schnüren. Deshalb macht man
oben an den Rock eine Art Untertaille aus leichtem Futterstoff; diese
muss für die Brust den nötigen Raum lassen und mit breiten Schulter¬
stücken gearbeitet werden wie eine Herrenweste. So tragen die
Schultern die Last des Kleides. Für neue Kleider empfiehlt es sich,
den Rock 7 — 10 cm über den Taillenschluss hinauf schneiden und ge¬
nau nach der Körperform arbeiten zu lassen, dann trägt wieder die
Reibung die Hauptlast und den Rest überträgt die Untertaille auf die
Schultern (Fig. 5).
Darüber kommt die Bluse (Fig. 6), welche unten durch einen
losen Gürtel abgeschlossen wird. Die Bluse kann sich gern
etwas nach oben oder unten verschieben, da der Stoff des Kleides
hoch hinaufreicht, so dass die Futteruntertaille nicht sichtbar wird.
Wer Wert darauf legt, dass die Figur zur Geltung kommt, kann die
Bluse dicht unterhalb der Brust abschliessen lassen, es kommt dann
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2115
eine Art Empireform zustande, oder aber die Bluse reicht bis an die
I aille, dann unterscheidet sich die neue Kleidung fast gar nicht von
dem über einem Korsett getragenen Kleide, und die korsettlose Dame
fällt nicht auf.
Fig. 3.
Fig. 4.
Die Vorzüge dieser Kleidung werden ohne weiteres einleuchten.
1. Der Uebergang von der Korsettkleidung zur korsettlosen ist
ohne grosse Aenderung der im Gebrauch befindlichen Kleidungs¬
stücke zu bewerkstelligen.
2. Sie unterscheidet sich äusserlich fast gar nicht von der bisher
üblichen, die Trägerin fällt also nicht als „Reformdame“ auf.
3. Sie ermöglicht jede Ausgestaltung von der elegantesten Mach¬
art nach jeder beliebigen Mode bis zum schlichten Kleide der Arbei¬
terin oder des Dienstmädchens.
4. Sie ist praktischer und ökonomischer als die Reformkleidung,
da alle Teile gegen andere ausgewechselt werden können, ein Vorteil,
der z. B. auf Reisen sich besonders geltend macht, wo zu einem
Rocke einfache und elegante Blusen getragen werden können.
5. Sie beengt den Rumpf an keiner Stelle, nur den knöchernen
Beckenring, der einen leichten Druck wohl vertragen kann, um-
schliesst sie ringförmig, aber ganz beliebig lose. Sie empfiehlt sich
deshalb besonders für junge Frauen in der Gravidität, da sie nicht
auf dem wachsenden Uterus lastet.
6. Sie ist durchaus weiblich, ohne irgend welche an Männer¬
kleider gemahnende und deshalb für Frauen unkleidsame Zutaten und
wird deshalb hoffentlich auch den Beifall der Männer finden, die dann
die Aerzte in dem Kampf gegen das Korsett unterstützen werden.
Ich kann auf das Bestimmteste behaupten, dass eine Frau durch
Ablegen des Korsetts und Anlegung der empfohlenen Kleidung an
Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit ganz wesentlich gewinnt, und
betrachte diese korsettlose Kleidung als Vorbedingung für eine er¬
folgreiche Kur bei Bleichsucht, Magengeschwür, chronischer Ver¬
stopfung, Wanderniere, vielen Genitalleiden usw. Es ist immer ein
erfreulicher Erfolg, wenn es gelingt, eine Frau zum Ablegen des Kor¬
setts zu bewegen, aber noch viel wichtiger ist es, dafür zu sorgen,
dass die heranwachsende Jugend ohne Korsett bleibt, dass die jungen
Körper nicht verunstaltet werden. Erst wenn unser Auge sich daran
gewöhnt haben wird, den normalen, gesunden Körper in einer nicht
einengenden und verunstaltenden Kleidung schön zu finden, wird der
Sieg über das Korsett gewonnen sein.
Referate und Bücheranzeigen.
Prof. Dr. Oskar L o e w: Die chemische Energie der leben¬
den Zellen. Zweite Auflage VIII, 133 S. Preis 3 Mk. Stutt¬
gart, F. Qrubs Verlag, 1906.
Der Arzt muss sich bei seiner schweren Berufstätigkeit
öfters auch eine Stunde der Erholung und Erhebung gönnen,
indem er sich mit einem besonders interessanten theoretischen
Gebiet seiner Wissenschaft beschäftigt, so z. B. mit den Ur¬
sachen des Lebens und des Todes der Zellen und Organismen,
wie sie Prof. Dr. Oskar L o e w in seiner hochinteressanten
Abhandlung „Die chemische Energie der lebenden Zellen“, in
geistreicher Weise erörtert und physiologisch zu erklären
sucht.
Durch logische Schlussfolgerung kommt er zu dem Re¬
sultat, dass die organisierten Proteide allein die eigentlichen
Träger der Lebenseigenschaft sind, dass im chemischen Cha¬
rakter der Proteinstoffe die Ursache der Lebensenergie und
in der Organisation dieser spezifischen Proteinstoffe die Ur¬
sache der Lebensfunktionen zu suchen ist, und dass eine Ver¬
änderung dieser Proteinstoffe durch Umlagerung in den Mole¬
külen zum Tod der Zellen führt. Das lebende Protoplasma
gleicht einem chemisch labilen Körper und der Absterbeprozess
besteht in einer Umlagerung der dasselbe konstituierenden Pro¬
teine zu stabileren Produkten.
Zum Begriff des funktionierenden Protoplasmas gehören
aber auch noch Wasser und Mineralstoffe. Das Wasser macht
nicht nur die nährenden Substanzen in feinster Verteilung dem
Protoplasma zugänglich, sondern es bedingt vor allem den
nötigen Quellungszustand der Organoide, ohne welchen eine
Lebensfunktion nicht ausgeführt werden kann. Wird der 70
bis 80 Proz. betragende Wassergehalt vermindert, so erfolgt
Verlangsamung der Tätigkeiten und bei einer gewissen
Grenze der Tod, weil Strukturstörungen mit der statt¬
findenden Schrumpfung unausbleiblich verbunden sind.
Sehr interessant und für den Arzt von grösster Wichtig¬
keit sind die Untersuchungen des Verfassers über die Rolle
der Mineralstoffe bei den Lebensvorgängen. Diese Ausfüh¬
rungen des Verf. sind originell und geistreich und erheben
sich hoch über die landläufigen Lehren der Physiologie. Kali
z. B. dient wahrscheinlich als Bestandteil einer labilen Proteid¬
verbindung bei allen synthetischen Vorgängen als Konden¬
sationsmittel, sowohl bei der Bildung von Zucker und Stärke
im Chloroplasten, als bei der Eiweissbildung. Im Tiere kommen
vor allem die Fettbildung aus Zucker, die Eiweissbildung aus
Pepton und die Bildung von lebendem Protoplasma aus spezi¬
fischen Proteiden in Betracht. Kali dient aber auch in Form
von Dikaliumphosphat zur Erzeugung der schwach alkalischen
Reaktion des lebenden Protoplasmas.
Es würde hier zu weit führen, dem Verfasser im Einzelnen
bei seinen an neuen Gesichtspunkten so reichen Erörterungen
zu folgen.
Für den Chemiker, Physiologen und den Arzt von gleichem
Interesse ist die kritische Besprechung der neuesten Arbeiten
auf den Gebieten der Eiweisschemie, der Katalyse und der
Autoxydationen. Ein grosser Abschnitt ist der Eiweissbildung
in Bakterien, grünen Pflanzen und Tieren gewidmet, in wel¬
chem der Verfasser überzeugend darlegt, dass das Eiweiss
nicht, wie neuerdings behauptet wurde, aus 14 aneinanderge¬
kuppelten Amidokörpern besteht.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
11 6
Als ein glänzendes Beispiel des Wertes der Logik für die
naturwissenschaftliche Erkenntnis wird stets die folgende von
O. Loew ermittelte Gesetzmässigkeit gelten können:
Aus seinen toxikologischen Untersuchungen konnte er die
Regel ableiten, dass solche Körper, welche auf Aldehydgruppen
oder auf labile Amidogruppen leicht einwirken, auch Gifte für
alles Lebende sind. Daraus schloss er, dass die lebende Sub¬
stanz durch Vorhandensein von Aldehyd- und Amidogruppen
charakterisiert ist. Diese Theorie bestätigte sich für Hydro¬
xylamin, Diatnid, Semikarbazid, Phenylhydrazin etc., welche
durch leichte Reagierfähigkeit mit Aldehyden ausgezeichnet
und in der Tat Gifte für alle lebenden Zellen sind. Ebenso
erwiesen sich die mit labilen Amidogruppen leicht reagierenden
Stoffe (Dicyan, salpetrige Säure, Formaldehyd und Brenz¬
katechinkarbonat, welches Einhorn als Reagenz auf Amido¬
gruppen bezeichnet, als giftig.
Die freie, kinetische, chemische Energie labiler Atomgrup¬
pierungen wird an zahlreichen Beispielen aus der organischen
Chemie erörtert. Daran schliesst sich ein Kapitel „Theorie der
zellulären Respiration“.
Zur allgemeinen Orientierung in Hinsicht auf das Wesen
des lebenden Protoplasmas dienen die beiden ersten Kapitel,
so dass auch derjenige, welcher die chemisch-physiologische
Literatur nicht näher verfolgt hat, mit dem Objekt sofort ge¬
nügend bekannt gemacht wird. Befriedigt und aufgeklärt über
alles, was über die chemische Energie der lebenden Zellen be¬
kannt ist, wird der Leser dem Verfasser beistimmen, wenn
er am Schlüsse der schönen Abhandlung sagt: Dem gesamten
Getriebe des Lebens liegt die Sonnenenergie zu Grunde, aber
die chemische Labilität der Protoplasmaproteine ist nötig, Son¬
nenenergie in Lebenstätigkeit umzusetzen.
Emmerich - München.
K. Kissling: Ueber Lungenbrand mit besonderer Be¬
rücksichtigung der Röntgenuntersuchung und operativen Be¬
handlung. Mitteilungen aus den Hamburgischen Staatskranken¬
anstalten 1906. Bd. IV. Heft 1. Verlag von Leopold Voss
in Hamburg. 187 Seiten, 45 Textfiguren, 10 Tafeln mit Rönt¬
genbildern und 5 Tafeln mit stereoskopischen Bildern. Preis
15 M.
In dem vorliegenden Werke haben die von Lenhartz
in den letzten Jahren operierten Fälle von Lungenbrand eine
gründliche Bearbeitung seitens des Verfassers erfahren. Len¬
hartz selbst bekräftigt durch sein dem Buche beigegebenes
Vorwort die Ausführungen des Verfassers.
Nach einer Besprechung der Aetiologie und der ver¬
schiedenen Formen des Lungenbrandes, der Krankheitssym¬
ptome und des Krankheitsverlaufes sowie der physikalischen
Erscheinungen über den Lungen wendet sich Kissling der
Diagnose genannter Krankheit zu.
Dieselbe ist jetzt wesentlich erleichtert durch die Rönt¬
genuntersuchung; ja letztere gestattet sogar die genaue
Lagebestimmung des Krankheitsherdes. Diese lokale Diagnose
ist dadurch ermöglicht, dass der oft nur kleine Gangränherd
von einer Schichte pneumonisch infiltrierten Lungengewebes
umgeben ist, welches bekanntlich die Röntgenstrahlen in mässi-
gem Grade absorbiert.
K. verwirft mit Recht die früher übliche Einteilung in zir¬
kumskripte und diffuse Gangrän und unterscheidet lediglich
eine solitäre und multiple Form derselben. Wie Sitz und Aus¬
dehnung, so kann auch die Zahl der Gangränherde durch die
Röntgenuntersuchung bestimmt werden.
Die Darlegungen K.s liefern den klaren Beweis, dass das
Röntgenverfahren ein ausgezeichnetes diagnostisches Hilfs¬
mittel wie bei anderen endothoracischen Erkrankungen so
auch bei der Lungengangrän ist. Bei letztgenannter Erkran¬
kung erhöht ausserdem die Herddiagnose, welche mittels der
Röntgenstrahlen gestellt werden kann, die Sicherheit beim
operativen Vorgehen und gibt über das Verhalten der Lunge
nach der Operation und über die Erfolge der Operation guten
Aufschluss. Zudem wird durch die Verbesserung der Herd¬
diagnose auch die Prognose günstig beeinflusst.
Ausser Lenhartz und seinen Schülern hat übrigens bis
jetzt nur der Franzose Tuffier behufs operativen Eingriffes
bei Lungenbrand das Röntgenverfahren in ausgedehntem Masse
herangezogen.
In dem der Pneumatomie gewidmeten Abschnitte
des Buches gibt K. genaue Fingerzeige für den operativen Ein¬
griff bezw. die Eröffnung der Gangränherde.
Um die Thoraxwand nachgiebig zu machen, resezieren
Lenhartz und Kissling meistens mehrere Rippen in einer
Ausdehnung von 4 — 10 cm und schaffen so ein grosses Rippen¬
fenster — und zwar unter möglichster Schonung der Muskeln ;
die nach der Rippenresektion vorhandenen Periostbrücken
werden abgetragen.
Meistens wird ein zeitig operiert und nur wenn die
Pleura parietalis zart und durchsichtig ist, behufs Vermeidung
eines Pneumothorax z w e i z e i t i g. Auf grössere Schwierig¬
keiten stösst zuweilen die Entfernung der Lungensequester,
besonders wenn sie nicht vollständig von dem umgebenden
Gewebe isoliert sind. Bei Ausführung der Pleuranaht soll das
darunter liegende Lungengewebe mitgefasst und die Naht im
ganzen Umfange des Pleurafensters angelegt werden! Aus¬
spülungen der Gangränhöhlen wurden — entsprechend den
jetzt gültigen Grundsätzen für die Behandlung von Thorax¬
höhlen — nur in den seltensten Fällen vorgenommen.
Die Heilungsziffer der operierten, die Zahl 60 überschrei¬
tenden Fälle beträgt 63 Proz., wobei die Mehrzahl der letalen
Fälle nicht durch die Operation, sondern lediglich durch die
Schwere des Falles bedingt war.
Die Vorzüge der operativen Behandlung sind so über¬
zeugend geschildert, dass die Chirurgen, welche bisher meist
sehr zurückhaltend gegenüber der Lungenchirurgie sich ver¬
halten haben, von ihrem skeptischen Standpunkte allmählich
abrücken dürften; zumal Spontanheilungen von Lungengangrän
erfahrungsgemäss nur selten Vorkommen.
In Hamburg scheint übrigens der Lungenbrand viel häufiger
vorzukommen als hier in München. Dort trafen auf 60 Fälle
von Lungengangrän nur 2 Fälle von Lungenabszess, während
die letztgenannte Erkrankung, namentlich die metapneumo¬
nische Form derselben, bei uns sogar ziemlich häufig, echte
Lungengangrän hingegen nur selten beobachtet wird. Uebri-
gens dürfte bei der grossen Neigung des Lungenabszesses zur
Spontanheilung die Indikation zu einem operativen Eingriffe
weit seltener gegeben sein als bei echter Lungengangrän.
Der Kissling sehen Abhandlung sind zahlreiche, zum
T eil sehr umfangreiche Krankengeschichten an¬
gefügt. Die vielen, gut gelungenen und dabei sehr instruktiven
Illustrationen (Textabbildungen nach Photo¬
graphien der operierten Kranken, ferner solche des Operations¬
feldes, von Lungensequestern und Fieberkurven, sowie
Tafelabbildungen, d. h. Thoraxröntgenogramme vor
und nach der Operation, sowie stereoskopische Tafeln des
Operationsfeldes, welche eine deutliche Vorstellung von den
Wundhöhlen ermöglichen) bilden eine wertvolle Beigabe zu
dem anregend geschriebenen Buche.
Dem Bestreben des Verfassers, durch vorstehende- Publi¬
kation Anhänger für die operative Behandlungsmethode des
Lungenbrandes zu gewinnen, ist ein voller Erfolg zu wünschen.
H. Rieder.
Die Krankheiten des Verdauungskanals (Oesophagus,
Magen, Darm). Ein Leitfaden für praktische Aerzte von
Dr. Paul C o h n h e i m - Berlin. 1905. Verlag von S. Kar¬
ger. 247 S., 17 Abb. M. 5.60.
C o h n h e i m hat die stattliche Zahl der praktischen Werke
über Magen- und Darmkrankheiten um einen weiteren Leit¬
faden vermehrt. Als langjähriger Assistent von Boas, selb¬
ständiger Spezialist und Lehrer hat er dazu gewiss Berechti¬
gung. Wenn er sich die Aufgabe gestellt hat, im vorliegenden
Leitfaden das Hauptgewicht auf das für die Tätigkeit des Prak¬
tikers Wichtige und Wertvolle zu legen, so kann ihm das Zeug¬
nis ausgestellt werden, dass er seine Aufgabe im wesentlichen
gelöst hat; darin muss ihm aber Referent widersprechen, dass
„auch ohne das Rüstzeug eines Laboratoriums und ohne die
heikle Anwendung des Magenschlauchs in den allermeisten
Fällen gestützt auf die Angaben der Patienten und den physi¬
kalischen Befund eine exakte Diagnose und damit eine ratio-
23. Oktober 1906.
MtJENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHEtFf.
"eUe Therapie möglich wird.“ Dem Praktiker wie dem Spezia¬
listen wild das Studium des C o h n h e i m sehen Leitfadens
Genuss und Gewinn bringen. Fritz L o e b.
Albert Fa vier, Professor der Philosophie: Un Medecin
grec du II. Siecle ap. J.=C. precurseur de la methode experi¬
mentale moderne, Menodote de Nicomedie. Paris
koussel. Gr. 8, 385 Seiten. (6 M.)
^ j n 0 d o t u s von Nicomedien ein bekanntes
Mitglied der empirischen Schule wird bei den Alten nur von
Galen (an 6 Stellen), von Sextus Empiricus und von Diogenes
Laertius erwähnt; er schloss sich später der jüngeren Skepsis
unter Aenesidemus von Knossos an. In der Medizin ist er be¬
sonders durch seine Stellung zum Aderlass bekannt. Das Buch
Javiers, das mehr den Philosophen als den Arzt berück¬
sichtigt, behandelt den Stoff in 3 Kapiteln: Medecine dogmatique
et medecine empirique, la methode experimentale moderne,
Menodote, nebst Conclusions. Das Buch ist schwerverdaulich,
doch ist zu erwarten, dass es den philosophisch geschulten Kol¬
legen (weisse Raben!) Freude bereiten wird.
Huber- Memmingen.
Arbeiten aus dem pharmazeutischen Institut der Universität
Berlin. Herausgegeben von Dr. H. Ttioms, Professor und
Leiter des pharmazeutischen Instituts der Universität -Berlin.
HE Band. Umfassend die Arbeiten des Jahres 1905. Mit
/ I exifigui en und 1 Tabelle. Urban & Schwarzen¬
berg, Berlin und Wien, 1906. Preis 7 M.
Das vorliegende Werk ist für Aerzte deshalb von grossem
Interesse weil es neben Arbeiten von rein pharmazeutisch-
wissenschaftlichem Interesse auch die Berichte über die im
phaimazeu tischen Institut der Universität Berlin ausgeführten
Untersuchungen von Arzneimitteln, Spezialitäten und Geheim-
mitteln enthält. Nach einem mit dem deutschen Apotheker¬
verein getroffenen Abkommen werden solche Mittel von dem
Institut fortlaufend auf ihre chemische Zusammensetzung und
auf ihr chemisches Verhalten geprüft. Die Ergebnisse dieser
Untersuchungen im Jahre 1905 sind in dem Werke niedergclegt.
Untei den zahlreichen Analysen finden wir die meisten der in
den letzten Jahren neu aufgetauchten Arznei- und Geheim¬
mittel. Der Bericht wird dadurch auch für Aerzte von erheb¬
lichem Werte.
Neueste Journalliteratur.
Archiv für Gynäkologie. Bd. 79, Heft 2. Berlin 1906.
1) O. Sarwey: Ueber die primären Resultate und die Dauer-
ertoige der modernen Myomoperationen. (Auf Qrund von 430 ope¬
rierten Fallen der Tübinger Klinik. Vorstand: Prof. Dr. Do e de r-
1 C 1 II./
MVon ,1897, bis 19dd wurden 430 Frauen wegen Myom operiert,
3 J Myomkranke wurden ohne Operation entlassen; 198 mal wurden
ue Myome vaginal, 232 mal abdominal entfernt; in 41 Fällen wurde
SSät beMgt 3,9 p!?" '"'d AuSSchällmK)' Die Gesamt-
w i ,Bei ge£ebener Indikation zu operativem Eingreifen ist dem
Wohte der Myomkranken nach Sarwey am besten und sichersten
dadurch gedient, dass wir uns bei Möglichkeit der Wahl zur Vor¬
nahme dei radikalen Operationsverfahren entschliessen; die kon-
reservieren Smd lÜr verhähnismässig seltene Fälle zu
chll vtl 7?' dT symptomatischen Behandlungsmethoden soll
nicht zu viel Zeit verloren werden, das Fortbestehen lästiger Mvom-
symptome und die Verschlimmerung derselben soll es uns zur Pflicht
machen, die operative Beseitigung der Erkrankung vorzuschlagen.
i °u °i 6 °P'f i°S: Ueber die Tuberkulose der Vulva.
IVof. Dr. ”m1^s1jn^ynakologlschen Klinik in München. Vorstand:
Bei einer 75 jährigen Frau wurde ein mandelgrosser oromi-
ÄS an ÄSTSSiS
lymphozytärer Infiltra-
3) K. Baisch: Der Einfluss der Scheidendesinfektinn Hio
sä- sssru*.
...
den Kreissenden wurden 500 im Beginn der Geburt ausgespült (je
") cfr. meine Notizen in „Biograph. Lexikon“ VI.
2it
I Liter einer 1 prom. Sublimatlösung), 500 nicht. Von den Gespülten
fieberten 12,8 Proz., von den Nichtgespülten 8 Proz. Schwerere wie
leichtere Storungen finden sich bei den Gespülten etwa doppelt so
häutig wie bei den Nichtgespülten. Die Scheidenspii hingen sind nicht
im stände, gerade die gefiirchtetsten Keime, die spezifischen Puer¬
peralfiebererreger, zu vernichten.
I x rousdew- Kasan: Zur Frage der Zysten der Corpora
lutea des Ovariums.
G. berichtet über eine Corpus luteum-Zyste von 61 cm Umfang
und über zwei Fälle von Corpus luteum-Hämatomen von Kinderfaust
bis Rindskopfgrösse.
5) R. Freund: Zur Gravidität und Hämatometra des atretischen
Nebenhorns. (Aus der Kgl. Frauenklinik zu Halle a. S. Direktor-
Geh. Med.-Rat Prof. J. Veit.)
21 jährige Frau, Schwangerschaft vom dritten Monat mit leben¬
dem Föt in einem atretischen Nebenhorn; Laparotomie, Amputation
des giayiden Nebenhorns, Heilung. Die Hämatometra eines atreti¬
schen Nebenhorns stammt von einer 44jährigen Frau; abdominale
1 otalexstirpation des ganzen Uterus mit Adnexen, Heilung. Ana¬
tomische Darlegung der Eiimplantation und des „destruktiven“ Wachs-
tums des Eies in Nebenhorn oder Tube. Im atretischen, rudimentären
Nebenhorn kann die Menstruation bei noch so dürftig angelegter Mu¬
kosa erfolgen. &
.. 6) Hocheisen: Ein Fall von Gonokokkämie bei einem Säug-
ing mit Blennorrhoe. (Aus der Universitäts-Frauenklinik der Kgl
Charite zu Berlin. Direktor: Geh.-Rat Prof. Dr. Bumm.)
, Bei einem Neugeborenen von 44 cm Länge und 2070 g Gewicht
stellte sich am 3. Jage reichliche Sekretion der Konjunktiven ein, am
7. läge Schwellung über dem rechten Handgelenk, am 9. Schwellung
der präaurikularen Lymphdrüsen, Infiltration auf dem linken Glutäus
weitere Schwellungen am Körper, bis nach 5 Wochen Stillstand und
volle Genesung eintrat. Im Konjunktiveneiter und in den übrigen
i krankungsstellen wurden ausschliesslich Gonokokken nachgewiesen
Fieber md ^ geringe Störung des Allgemeinbefindens, nie
/) Otto Büttner: Untersuchungen über die Nierenfunktion bei
chwangerschaitsmere und Eklampsie. (Aus der Universitäts-Frauen¬
klinik zu Rostock.)
B. belichtet über seine umfangreichen kryoskopischen Unter¬
suchungen bei Nierenstörungen Schwangerer und gibt eine Theorie
der Nierenfunktion aus den Befunden, wie sie gesunde Nieren in der
Graviditat und Schwangerschaftsniere darbieten. Bei Eklampsie und
wahrscheinlich auch bei Schwangerschaftsniere und in der Geburt
findet eine mangelhafte Durchblutung der Niere statt durch einen
Gefasskrampf in der Niere. Die Niere erscheint als der wichtigste
osmoregulatorische Apparat. Der Krampfanfall bei Eklampsie ent-
steht wahrscheinlich durch arteriellen Gefasskrampf im Gehirn.
8) Emil P o 1 1 a k - Wien: Die Nukleo-Proteide in der Behandlung
septischer Krankheitsformen.
• g*bt eiSe, ausführliche theoretische Begründung für die Dar-
lmchung von Nukleo-Proteiden und teilt zwei Fälle mit, in denen er
Nukleo-Proteide mit Erfolg anwandte. Bei den z. T. nicht befrie¬
digenden Erfolgen der übrigen therapeutischen Massnahmen können
Nukleinprapaiate die Resistenz des im Kampfe mit den Streptokokken
stehenden Organismus erhöhen. H e n g g e - München.
Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bd. XXIV
Heft 1. ’
des Uteniskarzinoms j°renZ ' ^ Ly'"P"‘Wse" hci «er Ausbreitung
Fortsetzung im nächsten Heft.
2) Vaccari-Turin; Die aussergewöhnlich schweren Früchte
vom Standpunkte der Geburtshilfe.
?i^UnIer 962LSebu,rten der Turiner Frauenklinik zählt Verf
213 Kinder von 4000 und mehr Gramm. Aus den Aufzeichnungen über
diese Falle geht hervor, dass die Mütter besonders grosser Früchte
an Statur, Gewicht und Beckenweite die mittlere allgemeine Norm
über reffen. _ Eine bedeutende Rolle bei einer stärkeren Fruchte™
iriäo1 fr SPpC tf dancbe” d'c: Phinparität (nach der III. Schwanger-
schaft), die Profession der Mutter, die längere Dauer der Schwanger¬
schaft, die Erblichkeit besonders in Bezug auf viele Geburten Von
geringem Einfluss ist der Gesundheitszustand während der Schwan
gerschaft und das Geschlecht, der Frucht. Das Alter der Mutter das
erste Auftreten der Regel etc. spielen dabei keine Rolle Die St
burtsschwiengkeiten entstehen meist infolge Kontraktionsschwäche
schlecht1:“5' d'e Pr08"°Se f“r M““er "1,d Kind «taätataTS
3) S c h ab o r t- Wien: Beiträge zur Kenntnis der Darmstii-
rungen der Säuglinge und der Säuglingssterblichkeit.
Bei Neugeborenen zwischen dem 3. und 5. Lebenstae- fand Verf
ohne Ausnahme Stühle, die man als „dyspeptische“ bezeichnen kann'
Bakteriologische Untersuchungen ergaben, dass die Fäzes unmütelbar
danJ C nr Sfnnd keiJlfr|1, S1‘!d' Unabhängig von der Nahrung treten
dann 10, 20 und mehr Stunden nach der Geburt verschiedene Bak
terienarten auf. Mit dem Auftreten des Milchstuhles erscheint regel-
massig tler Bazillus acidophilus und das Bacterium coli. Spätestens
am 4. Jage gesellen sich Diplokokken und Staphylokokken dazu; ihr
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
i 18
Erscheinen hält mit Verdauungsstörungen immer gleichen Schritt.
Es ist naheliegend, dass zwischen dem Ikterus neonatorum und den
leichten dyspeptischen Zuständen in den ersten Lebenstagen des
Kindes ein direkter kausaler Zusammenhang besteht.
4) Frank -Köln: Beitrag zur Pubeotomiefrage.
Bericht über 5 Fälle. In einem Falle Abszessbildung um den
durchsägten Knochen und kleine Blasenfistel, die Verf. auf die Ver¬
wendung der spitzen Nadel zurückführt. Er verwendet aus diesem
Grunde nur noch eine stumpfe Drahtsägenzange, die sich zu bewähren
scheint. Um Blasen- und Scheidenverletzungen sicherer zu ver¬
meiden und die Blutung exakter stillen zu können, durchtrennte Verf.
im 5. Falle den Knochen von vorne nach hinten mit dem Meissei.
Bat. starb am 11. Tag an Pneumonie. Nach seinen Erfahrungen warnt
Verf. vor der Pubeotomie in der allgemeinen Praxis. Für den prak¬
tischen Arzt hat die Perforation des lebenden Kindea noch immer
ihre Berechtigung. Verf. nimmt zu den gegenwärtigen technischen
Streitfragen Stellung und warnt im Allgemeinen vor zu grossem En¬
thusiasmus.
5) Wolfheim-Heidelberg: Experimentelle Untersuchungen
über die Durchlässigkeit des Keimepithels für korpuskulare Elemente
und Bakterien (zugleich eine Studie über die Bursa ovarica bei Tieren.)
Die Ergebnisse der Untersuchungen von Verf. lassen darauf
schlossen, dass das unverletzte Keimepithel dem Ovarium gegen
das Eindringen korpuskularer Elemente von der Bauchhöhle aus
sicheren Schutz bietet. Indes ermöglicht schon die physiologische
Verletzung der Epitheldecke des Eierstocks, die bei jeder Ovulation
erfolgt, deren Einwanderung. Nach den genauen Untersuchungen des
Verf. müssen die Krauss sehen Versuche als nicht einwandfrei
angesehen werden und damit auch alle an diese Versuche geknüpften
Folgerungen. W einbrenner - Magdeburg.
Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd. V. No. 5. Aug. 1906.
16) B. Salge-Dresden: Einige Bemerkungen zu dem Thema »Art¬
eignes und artfremdes Eiweiss in bezug auf die Säuglingsernährung“.
S a 1 g e gibt hier nochmals seine Experimente wieder, welche
gegen die Schlossmann sehe Auffassung vom Uebergang ge¬
nuinen Kuhmilcheiweisses durch den Magendarmkanal in das Blut
gerichtet sind. (Vergl. mein Referat über den Naturforscher- und
Aerztekongress, 1905, in Meran, Sektion für Kinderheilkunde, in dieser
Zeitschrift. D. Ref.) und ergänzt sie durch ein weiteres. Den Schluss
der Arbeit bildet eine Polemik gegen Biedert.
17) Arthur Keller: Aus der Praxis der Säuglingsfürsorge.
111. Mitteilung.
Gleich den beiden vorausgehenden Mitteilungen ist auch die vor¬
liegende für jeden, der dem Milchküchenbetriebe nahesteht, von
grossem Interesse. Sie umfasst die Punkte: Etat der Milchsterilisie¬
rungsanstalt, Einrichtung derselben (Leitung, Raumverteilung, Kosten
der ersten Einrichtung, Flaschenreinigung, Kühlung, Flaschen und
Flaschenverschlüsse), Versorgung der Stadt mit sterilisierter Säug¬
lingsnahrung, Stillstatistik. Die vielen interessanten Einzelheiten
müssen im Original nachgesehen werden.
18) Paul Lange: Beitrag zur pathologischen Anatomie des
Mongolismus. Aus der inneren Abteilung der Kinderheilanstalt zu
Dresden.
Beschreibung eines Falles von Mongolismus (aus der beigege¬
benen Abbildung, die allerdings erst nach dem Tode gefertigt wurde,
nicht als solcher erkennbar). Hiebei fanden sich bei der Obduktion
(Tod an Krupp) am Gehirn starke Veränderungen, die auf eine be¬
trächtliche Entwicklungshemmung schliessen lassen. Es ist nicht zu
entscheiden, wann diese eingesetzt hat und wodurch sie bedingt ist,
da kein Anhaltspunkt für eine frühzeitige Ossifikation und Synostose
der Schädelbasisknochen vorliegt. An der Schilddrüse fand sich
ausser einer mässigen kolloiden Entartung und geringer Wucherung
des interstitiellen Bindegewebes nichts, das zur Aufklärung der
Aetiologie des Mongolismus dienen könnte.
Referate. Albert Uffenheimer - München.
Jahrbuch für Kinderheilkunde. Bd. 64, Heft 3.
19. Ernst S c h i f f - Nagyvärad (Grosswardein): Beiträge zur
Chemie des Blutes der Neugeborenen.
Die Untersuchungen des Verf. bezweckten einen tieferen Einblick
in den Umwandlungsprozess zu gewinnen, den das Blut im Laufe
der ersten Lebenstage erleidet, und erstreckten sich auf die Be¬
stimmung der Serumdichte, der Bestimmung des Trockenrückstandes,
des Aschen- und Eiweisgehaltes des Blutes, sowie des Serums des
Neugeborenen. Einzelheiten, besonders über die Methodik müssen
im Original nachgelesen werden. Schluss folgt im nächsten Heft.
20) Paul Stiller: Zur Dauer der Immunität nach Injektion von
Diphtherieheilserum. (Aus der Strassburger Universitäts-Kinderklinik,
Direktor: Prof. O. K o h t s.)
Mit Berücksichtigung der während des Jahres März 1905 bis
März 1906 auf derStrassburgerKinderklinik gemachten Beobachtungen
kommt Verf. zu den Schlüssen, dass die prophylaktische Immuni¬
sierung dann einen wirksamen Schutz auf längere Zeit (3 — 5 Wochen
und mehr) gewähre, wenn die immunisierten Kinder aus dem Be¬
reiche der Kontaktinfektion entfernt werden. Beim Verweilen der
immunisierten Kinder unter Diphtheriekranken kann die Immunität
unter Umständen von sehr kurzer Dauer sein (10 — 14 Tage).
Nicht immunisierte Kinder erkranken unter gleichen Be¬
dingungen in einem ungleich viel grösseren Verhältnisse^ als
immunisierte. Besonders bilden katarrhalische Infek¬
tionen der Schleimhäute sowie Traumen derselben
ein stark für Diphtherie prädisponierendes Mo¬
ni e n t und sind imstande die Immunitätsdauer erheblich abzukürzen.
Die Dauer der Immunität steigt nach Verf. bei Dosen von 500 I.-E.
und darüber nicht im Verhältnis zu der Menge der injizierten I.-E.
Die skarlatiniformen Allgemeinexantheme, auch wenn sie fieberlos
und ohne stärkere Affektion der Rachenorgane verlaufen, werden
vom Verf. in den meisten Fällen als echte Scharlacherkrankungen
angesprochen (ob dieser Schluss sich von dem Krankenhausmateriale
aus verallgemeinern lässt, erscheint doch etwas zweifelhaft. Ref.)
Das Phänomen der Anaphylaxie (Ueberempfindlichkeit) lässt es zweck¬
mässig erscheinen, immunisierte Kinder der protrahierten Infektions¬
möglichkeit zu entziehen, um eine allzuhäufige Wiederholung prophy¬
laktischer Injektionen bei ein- und demselben Individuum zu umgehen.
Literatur
21. Theophil D i e t e r 1 e - Herisau (Schweiz): Ueber endemi¬
schen Kretinismus und dessen Zusammenhang mit anderen Formen
von Entwicklungsstörung. (Aus dem patholog. Institut Prof. Kauf¬
mann und dem Kinderspital Prof. Hagen hach in Basel.)
Zweiter Teil einer von der medizinischen Fakultät der Uni¬
versität Basel preisgekrönten Arbeit. Der erste Teil erschien in
Virchows Archiv Bd. 184, 1906. Zu kurzem Referat ungeeignet.
Schluss im nächsten Heft.
22. W. Stoeltzner: Kindertetanie (Spasmophilie) und Epi¬
thelkörperchen.
Verf. will im Gegensatz zu P i n e 1 e s, dem sich vor kurzem auch
Chvostek angeschlossen hat, welche Autoren die gemeinsame
Ursache der Tetanie in einer funktionellen Insuffizienz der Epithel¬
körperchen (Glandulae parathyreoideae) erblicken, die Kinder¬
tetanie bezw. Spasmophilie der Rachitischen hiervon ausgenommen
wissen. In erster Linie weiche das Bild gerade der schwersten
Fälle von Spasmophilie in den klinischen Symptomen von dem Bilde
der experimentellen Tetania parathyreopriva erheblich ab, dann ver¬
hielten sich beide alimentären Einflüssen gegenüber konträr — so
werde die nach Exstirpation der Epithelkörperchen auftretende Te¬
tanie durch Fleischbrühe per os verschlimmert, durch Zufuhr von
Milch dagegen gemildert. Die Symptome der Spasmophilie steigen
und fallen bekanntlich mit der Menge der von den Kindern ge¬
trunkenen Kuhmilch.
Sitzungsberichte. Literaturbericht von L. Langstein. Be¬
sprechungen. Verwahrung zu der Entgegnung der Herren Heub-
ner-Langstein von Prof. Biedert.
O. Rommel- München.
Archiv für Verdauungskrankheiten mit Einschluss der
Stoffwechselpathologie und der Diätetik. Redigiert von Dr.
J. Boas- Berlin. Bd. XII., Heft 3.
13. R. B a u m s t a r k - Hamburg : Experimentelle und klinische
Untersuchungen über den Einfluss der Homburger Mineralwässer auf
die sekretorische Magenfunktion. (Aus der experimentell-biologischen
Abteilung des kgl. pathologischen Institutes der Universität Berlin.)
Nach einwandfreien, im vorliegenden geschilderten Versuchen,
an Tieren sowohl als am erwachsenen Menschen, ergibt sich für die
Homburger Kochsalzwässer und auch Eisenwässer, dass sie nicht
wie die von Bickel und seinen Mitarbeitern untersuchten Koch¬
salzwässer von Wiesbaden, Kissingen, Baden-Baden und der Ostsee
(cf. damit auch Heinsheimers Arbeit in Heft 2 dieses Archivs
(Münch, med. Wochenschr. No. 21, pag. 1030] über „Experimentelle
Untersuchungen über die physiologische Einwirkung der Salzsäure¬
darreichung auf die Magensekretion“) höchstens die Tendenz einer
Saftvermehrung erkennen lassen, sondern dass sie die Saftsekretion
der Magenschleimhaut in ausserordentlichem Masse um durchschnitt¬
lich 74 Proz. gegenüber der Wirkung gewöhnlichen Wassers erhöhen.
14. Kumoji S a s a k i - Japan : Kasuistischer Beitrag zur ver¬
gleichenden Untersuchung des Einflusses verschiedener Mineral¬
wässer auf die Magensaftsekretion. (Aus der experimentell-biologi¬
schen Abteilung des kgl. pathologischen Institutes der Universität
Berlin.)
Zu ganz ähnlichen Resultaten wie Baumstark in der vorigen
Arbeit kommt Kumoji Sasaki in seinen mit verschiedenen Mineral¬
wässern an Magenfistelhunden ausgeführten Versuchen, dass nämlich
die Sekretmengen eine Aenderung erleiden, nicht aber dass der pro¬
zentuale Säuregehalt des Saftes alteriert wird. Es wirkten Wies¬
badener, Emser, Selters stark sekretionsfördernd, ähnlich dem Hom¬
burger bei Baumstark, das Karlsbader Wasser nimmt eine Mittel¬
stellung ein und Vichy und Hunyadi entwickelten eine stark sekre¬
tionshemmende Wirkung.
15. R e i c h e r - Dresden: Zur Chemie der Magenverdauung mit
besonderer Berücksichtigung von H. Salomons Magenkarzinoin-
probe. (Prof. Dr. A. Schmidt, Dresden, Krankenhaus Friedrich¬
stadt.)
Bei allen Fällen von Magenkarzinom, die S a 1 o m o n unter¬
suchte, ergab die Waschflüssigkeit eine intensive, schnell flockig
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2119
werdende Ii Übung mit dem E s b a c h sehen Reagens und spricht er
diese Fällung, die er sich als eine Serumausschwitzung aus einer
Exulzeration der Magenschleimhaut vorstellte, als gefälltes Serum-
eiweiss an. R e i c h e r s Nachprüfung, die die chemische Grundlage
der Salomon sehen Probe näher beleuchtet, ergibt, dass der durch
Esbachs Reagens hervorgerufene Niederschlag aus verschiedenen
Komponenten besteht, so zwar, dass die flockige Trübung mit Es¬
bachs Reagens nur zum geringsten Teil auf Serumausschwitzung
zurückzuführen ist, sondern im Wesentlichen auf Abstossung, Zerfall
und Autolyse von Zellen oder auf Mucin und dessen Verdauungs¬
produkte.
16. Roethlisberger - Baden (Schweiz): Neue Gesichts¬
punkte über Wesen und Behandlung der Gicht.
Nach Roethlisbergers eingehender Schilderung und Be¬
gründung hat es in der Tat viel Ueberzeugendes für sich, den akuten
Gichtanfall von der sogen, uratischen Diathese als ein infektiöses
Krankheitsbild streng zu trennen und ist derselbe als ein monoarti-
kulärer oder auch selten polyartikulärer Rheumatismus infektiösen
Ursprungs auf einem mit Harnsäureretention id est mit gichtischer
Diathese behafteten Individuum anzusehen. Bei der Behandlung des
akuten, demnach eine selbständige Stellung einnehmenden Gichtan¬
falles würde es sich also in erster Liniee darum handeln, die Eintritts¬
pforte für die Infektionserreger festzustellen. Ist ein intestinaler
Ursprung wahrscheinlich, hätte demzufolge hier eine entsprechende
Behandlung einzusetzen, im Uebrigen kämen neben der jeweiligen
lokalen 1 herapie besonders unsere kräftigsten Körperantiseptika wie
Formaldehyd und die Salizylpräparate in Betracht. Bei Bekämpfung
der gichtischen Diathese wird vor allem auf die Niere bezw. deren
tunlichste Schonung Rücksicht zu nehmen sein, da, wie aus Roeth¬
lisbergers Darlegungen hervorgeht, wir es in diesen Fällen
fast durchwegs mit einer Harnsäureretention infolge insuffizienter
Nierenfunktion zu thun haben. Es werden also alle Medikamente,
welche hier irgendwie schädigend wirken könnten, sorgfältig zu
vermeiden sein. Salizylpräparate sollten demnach mit einer gewissen
Zurückhaltung angewandt werden, die Diät muss Gewürze, Alkohol,
Fleischextrakt und Uebermass von Fleisch strenge meiden. Schliess¬
lich wird besonders einer reichlichen Körperspülung das Wort zu
reden sein und sind auch körperliche Uebungen und Bäder sehr
zu empfehlen. A. Jordan - München.
Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie.
55. Bd. 1. bis 5. Heft. 1906.
1) Fr. Berger -Bern: Ueber die Ausscheidung des Lithiums im
Harn und die Spaltung des Lithiumjodids im Organismus.
Eingeführtes Lithium wird langsam aber quantitativ durch den
Harn ausgeschieden. Lithiumjodid und -chlorid werden dabei in ihre
Ionen zerlegt, wie die raschere Ausscheidung der Chlor- und Jod¬
ionen beweist.
2) W. F. B o s s - Strassburg: Ueber Darstellung und Zusammen¬
setzung der Mykonukleinsäure aus Hefe.
3) D. H e 1 1 i n - Warschau: Die Folgen von Lungenexstirpation.
Exstirpation einer Lunge bei Kaninchen führt zu entsprechender
Verschiebung und Hypertrophie der zurückgebliebenen Lunge ohne
Bildung von Emphysem. Das gleichfalls verlagerte Herz hyper-
trophiert bedeutend. Die C02-Ausscheidung bleibt unverändert.
4) H. F ii h n e r - Strassburg-Wien: Ueber das Verhalten des
Chinolins im Tierkörper.
Das Chinolin wird nach F ü h n e r ebenso wie das Akridin in
Para-Stellung zum Stickstoff oxydiert. Die einmal in dieser Stellung
eingetretene Oxydation erleichtert dann weitere Oxydation in ana-
Stellung. Die beiden Substanzen folgen also der von Schmiede¬
berg am Anilin beobachteten Gesetzmässigkeit, dass Oxydation im
Tierkörper in p-Stellung zum Stickstoff stattfindet. F ü h n e r weist
darauf hin, dass p- und 7-Stellung auch für den Pflanzenstoffwechsel
als Angriffspunkt von Bedeutung sind.
5) R. E h r m a n n - Greifswald: Zur Physiologie und experimen¬
tellen Pathologie der Adrenalinsekretion.
Mittels seiner Froschpupillenreaktion bestimmte Ehr mann den
Adrenalingehalt des Kavablutes unter verschiedenen Verhältnissen
und fand stets eine kontinuierliche Sekretion, die sich auch unter
schweren experimentellen Eingriffen, wie Diphtherietoxinvergiftung,
starken Aenderungen des Blutdrucks, Pilokarpin- und Atropineinwir¬
kung nicht änderte. Es ist also die Blutdrucksenkung bei Ver¬
giftung mit Diphtherietoxin nicht durch ein Aufhören der Nebennieren¬
sekretion bedingt, auch findet bei dieser Vergiftung keine kom¬
pensatorische Steigerung der Arenalinsekretion statt. Katzen haben
viel geringere Mengen Adrenalin im Blut als Kaninchen und sind
auch weniger empfänglich für die Giftwirkung des Adrenalins.
6) C. v. Rzentkowski- Warschau: Zur Frage der Blutbasi-
zität beim gesunden und kranken Menschen.
Das Blut vermag Säuren sowohl durch seine Mineralbestandteile,
als seine Eiweissstoffe zu binden. Die Hauptbasizität (= Säurebin¬
dungsvermögen) fällt den Eiweissstoffen der roten Blutkörperchen zu.
Nur im Plasma des normalen Blutes überwiegt die minerale Basi-
zität. Die Abnahme der Gesamtbasizität bei Infektionskrankheiten
beruht auf der verminderten Eiweissbasizität der Erythrozyten. Die
Eiweissbasizität des Plasmas wird nur bei Infektionskrankheiten
(Typhus, Tuberkulose), die mit starkem Rückgang des Ernährungs¬
zustandes verbunden sind, vermindert. Bei der chronisch-parenchy¬
matösen Nephritis mit Oedemen ist die Blutbasizität nicht verändert,
bei der Urämie dagegen herabgesetzt.
7) Külbs-Kiel: Ueber die hämolytische Wirkung von Stuhl¬
filtraten.
Die bekannten Beziehungen der perniziösen Anämie zu Magen¬
darmstörungen, die Anämie bei Darmparasiten und analoge klinische
Erfahrungen, welche auf eine enterogene Blutzerstörung hinweisen,
veranlassten K ü 1 b s, Stuhlfiltrate bei Krankheiten auf etwaige homo¬
lytische Wirkung der Stühle resp. deren Filtrate zu untersuchen. In
der Tat fand sich eine solche bei verschiedenen Erkrankungen, jedoch
hängt sie weniger mit der Natur des Leidens als mit der diarrhoischen
Beschaffenheit der betreffenden Stühle zusammen. Hämagglutination
fand sich auffällig häufig bei Nephritis und Diabetes. Wegen der
Verwickeltheit der Verhältnisse beurteilt Verfasser die Resultate in
sehr vorsichtiger Weise.
8) J. Baer und L. B 1 u m - Strassburg: Ueber den Abbau von
Fettsäuren beim Diabetes mellitus.
Bei Untersuchung der Beziehungen verschiedener Fettsäuren zur
Azetonkörperausscheidung bei der schweren Form des Diabetes fan¬
den die Verfasser eine Steigerung bei Verabreichung von Isovalerian-
säure und von Aethylmethylessigsäure. Die Verwandtschaft der
ersteren Säure mit dem Leuzin, das als eine “-Amido-y-Methyl-
valeriansäure zu betrachten ist, veranlassten die Verfasser auch zur
Verabreichung von Leuzin. In der Tat erfolgte eine Vermehrung der
Oxybutterausscheidung. Mit diesem Nachweis ist auch die Frage
der Entstehung der Azetonkörper, ob aus Eiweiss oder aus Fett, ent¬
schieden. Es beteiligten sich hieran sowohl die Fette als auch die
Eiweisskörper. Nach der Ansicht der Verfasser kommt es primär zur
Bildung von Oxybuttersäure, die dann zur Azetonbildung führt.
9) E. L ii t k e n s - Zürich : Experimentelle Untersuchungen über
die Einwirkung von Gelatineinjektionen bei Nierenentzündung.
Hämorrhagische Nierenentzündungen sind neuerdings mehrfach
mit Gelatine behandelt worden. Da die Erfolge dieser Methode nicht
gleich lauteten, so suchte L ii t k e n s auf experimentellem Wege Klä¬
rung. Seine Versuche an Kaninchen, denen mittels Aloin, chromsaurem
oder kantharidinsaurem Kali eine Nephritis erzeugt worden war,
liessen keinen deutlichen Einfluss in günstigem oder ungünstigem
Sinne auf den Nierenprozess erkennen, doch konnte die Gerinnungszeit
des Blutes in jedem Falle herabgesetzt werden.
10) E. V ahlen-Halle: Clavin, ein neuer Mutterkornbestandteil.
Durch alkoholische Extraktion des Mutterkorns gelang es
V ah l en eine bisher unbekannte, chemisch wohl charakterisierte
N-haltige Substanz, Clavin, zu erhalten, welche bei äusserst geringer
Allgemeinwirkung, insbesondere ohne Krampferregung und Gangrän¬
erzeugung, bei Tieren und Menschen eine spezifische Wirkung durch
Auslösung kräftiger Uteruskontraktionen ausiibte.
9) F. Umber und Th. B r u g s c h - Altona: Ueber die Fett¬
verdauung im Magendarmkanal, mit besonderer Berücksichtigung der
Fettspaltung.
Klinische Beobachtungen von schweren Pankreaserkrankungen,
bei welchen trotz starker Störung der Fettresorption die Fettspaltung
in normalem Umfange verlief, veranlassten die Verfasser, die Press¬
säfte derjenigen Organe, welche zu der Darmverdauung in unmittel¬
barer oder mittelbarer Beziehung stehen, auf fettspaltende Eigen¬
schaften zu untersuchen. Es ergab sich die Anwesenheit von fett¬
spaltendem Ferment in der Leber, der Milz, dem Darm, der Galle
und dem Blut, zum Teil von beträchtlicher Wirksamkeit. Durch Kom¬
binationen der Pressäfte konnten Aktivierungen und Hemmungen der
Fermentwirkung festgestellt werden, so dass sich Einblicke in mannig¬
fache Wechselbeziehungen zwischen der Tätigkeit der einzelnen Ver¬
dauungsorgane ergaben. Durch diese Untersuchungen finden die oben
angeführten klinischen Beobachtungen eine befriedigende Erklärung.
12) G. R o s e n f e 1 d - Breslau : Studien über Organverfettung.
I. Teil. Experimentelle Untersuchungen über Herzverfettung.
Um Grundlagen zur Beurteilung von Organverfettungen zu ge¬
winnen, bestimmte Rosenfeld das Fett des Herzmuskels von nor¬
malen Hunden und solchen, welche dem Einfluss von Giften unter¬
worfen worden waren. Die Tiere hatten sämtlich eine 5 — 7 tägige
Hungerperiode durchgemacht, das Herz wurde nach K r e h I s
Methode präpariert, so dass nur der reine Muskel zur Untersuchung
kam; die Fettbestimmung geschah nach dem Alkohol-Chloroform-
Verfahren des Verfassers. Von den angewandten Giften zeigten Kan¬
tharidin und Chloroform keinen Einfluss auf den prozentischen Fett¬
gehalt des Herzens, Alkohol, Phloridzin und Kal. bichromic. bewirk¬
ten eine mässige Vermehrung, Phosphor und Oleum Pulegii eine be¬
trächtliche Zunahme. Sehr stark wirkte auch die Pankreasexstir¬
pation in diesem Sinne. Weitere Untersuchungen müssen lehren, ob
die einzelnen Gifte auch qualitative Aenderungen des Organfettes her-
vorrufen.
13) Schwenkenbecher und I n a g a k i - Strassburg : Ueber
den Wassergehalt der Gewebe bei Infektionskrankheiten.
In Verfolgung der in No. 35 dieser Wochenschrift referierten
Untersuchungen fanden die Verfasser, dass das mit der Nahrung beim
Fieberkranken eingeführte Wasser in der Regel ebenso prompt aus¬
geschieden wird, wie von Gesunden. Im Läufe zahlreicher Infektions¬
krankheiten stellt sich aber allmählich eine mässige, relative Er¬
höhung des Wassergehalts des Körpers ein infolge der Kachexie, be-
MÜLNCHeNeR MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
sonders bei Sepsis, Typhus und akuter Tuberkulose. Die Gewebs-
verwässerung betrifft die Zellen und hängt wahrscheinlich mit der
„trüben Schwellung“ zusammen. Bei langdauernden Infektions¬
krankheiten stellen sich neben dieser Zellverwässerung interstitielle
Oedeme ein, die teils osmotischen Einflüssen, teils lokalen Zirku-
lations- und Ernährungsstörungen ihren Ursprung verdanken. Abso¬
lute Wasserretentionen bei akuten Infektionen sind selten und meist
nur bei gleichzeitiger Erkrankung von Herz und Nieren vorhanden.
14) R. von den Velden- Heidelberg: Zur Pharmakologie des
Nervus depressor.
Die Resultate seiner Untersuchung fasst von den Velden
dahin zusammen, dass der Reizerfolg des N. depressor durch geringe
Hirnanämie, beginnende Asphyxie und kleine Gaben von Strychnin
oder anderer zentral erregender Gifte verstärkt werden kann. Die
Ursache dieser Veränderung sieht er in einer leichteren Uebertragung
des Depressorreizes bei gesteigerter Erregbarkeit der reflexüber¬
tragenden Apparate. Durch eine lähmende Wirkung vom gleichen
Angriffspunkte aus lässt sich die Unterdrückung des Depressorreizes
durch kleine Chloralgaben erklären. Auf der Höhe der Asphyxie und
im Strychninkrampf ist das maximal erregte Vasomotorenzentrum
der Wirkung des Depressor unzugänglich. Ebenso verhindert der
periphere Gefässkrampf nach Adrenalin oder Digitaliskörpern den
vollen Erfolg des Depressorreizes während der Blutdrucksteigerung.
15) E. L a q u e u r - Königsberg: Ueber die Wirkung des Chinins
auf Fermente, mit Rücksicht auf seine Beeinflussung des Stoff¬
wechsels.
Die von einer Reihe von Forschern festgestellte, vornehmlich auf
dem Eiweissumsatz in den Geweben gerichtete Wirkung des Chinins
im Sinne einer Verminderung des Stoffwechsels veranlasste La-
q u e u r zur Prüfung der Frage, ob diese elektive Wirkung des Chi¬
nins etwa auf eine elektive Beeinflussung gewisser, die Eiweiss¬
spaltungen, -oxydationen und -Synthesen vermittelnder Ferment¬
wirkungen sich zurückführen lasse. Die Untersuchung erstreckte sich
auf das autolytische Ferment der Leber, das Pepsin, das Labferment,
die Lipase des Magens, die Katalase und Oxydase des Blutes und
ergab in den meisten Fällen eine Verminderung der Fermentwirkung
durch das Chinin. Hierdurch ist ein Zusammenhang mit der oben¬
genannten Chininwirkung auf den Stoffwechsel wenigstens wahr¬
scheinlich gemacht und von neuem die Unhaltbarkeit der älteren An¬
schauung erwiesen, welche eine Beeinflussung von Fermenten durch
Chinin nicht annahm und deshalb geneigt war, Vorgänge, welche
durch Chinin beeinflusst wurden, für Lebenstätigkeit der Zellen zu er¬
klären.
16) A. v. Wyss-Zürich: Ueber das Verhalten der Bromsalze
im menschlichen und tierischen Organismus.
Bei konstanter Bromeinfuhr stellt sich die Bromausfuhr all¬
mählich auf eine annähernd konstante Höhe ein, schwankt mit der
Harnmenge und bleibt im ganzen hinter der Einfuhr erheblich zurück.
Es findet also eine Bromretention statt. Diese weist bei Epileptikern
und Nichtepileptikern keinen durchgreifenden Unterschied auf. Das
Brom findet sich hauptsächlich im Blutserum, demnächst im Gehirn,
während die übrigen Organe bromarm bleiben. Grosse Bromgaben
führen bei Kaninchen unter Verdrängung der Chlorionen aus dem
Organismus zu Lähmungen und schliesslich zum Tod, reichliche Zu¬
fuhr von Chloralkalien bringt aber in kurzer Zeit das schwere Krank¬
heitsbild zum Verschwinden.
17) Külbs-Kiel: Experimentelles über Herzmuskel und Arbeit.
Während früher ziemlich allgemein unter den Ursachen der Herz¬
hypertrophie auch schwere körperliche Arbeit angeführt wurde, ist
auch in den Arbeiten der Leipziger Schule in neuerer Zeit dieser
Zusammenhang verneint worden. Man nahm bei Gesunden unter
dem Einfluss der Arbeit nur eine der Zunahme der Skelettmuskulatur
entsprechende Hypertrophie des Herzens an. K ü 1 b s konnte nun an
Hunden, welche er längere Zeit stark laufen liess, eine erhebliche
absolute und relative Zunahme der Herzgrösse und des Herzgewichtes
erzielen. Es verschob sich das Verhältnis von Herz zu Körpergewicht
beim Arbeitshund in dem Sinne, dass der Arbeitshund ein Herzgewicht
erreicht, welches sich dem des Rehes nähert, während der ruhende
Kontrollhund die Verhältniszahlen des Rindes aufweist. Durch diese
interessanten Versuche werden die Erfahrungen der Tierpathologen
bei Rennpferden und die Beobachtungen Henschens bei Ski¬
läufern in schöner Weise bestätigt.
18) K- F r e y t a g - Bonn: Ueber peritoneale Resorption.
Die resorbierende Eigenschaft des Peritoneums wurde von der
Verfasserin durch intraperitoneale Einspritzung einer 5 proz. Milch¬
zucker- und 2 proz. Jodkalilösung und Bestimmung der ausgeschie¬
denen Stoffe im Harn an Hunden untersucht. Es ergab sich, dass bei
gleichzeitiger Einverleibung der Milchzucker rascher als das Jodkali
ausgeschieden wurde. Bei künstlich durch Terpentineinspritzung er¬
zeugter Peritonitis wird in leichten Fällen anfänglich oft eine Steige¬
rung der Ausscheidungsgeschwindigkeit beobachtet, in schweren
Fällen erscheint die Resorption verlangsamt. Adrenalinzusatz ver¬
langsamt ebenfalls die Resorption einer Milchzuckerlösung.
19) G. R o s e n f e 1 d - Breslau: Studien über Organverfettungen.
II. Experimentelle Untersuchungen über Muskelverfettung.
Analog den Versuchen, welche eine Fettanhäufung in der Leber
anstreben, suchte Rosenfeld in vorliegender Studie das gleiche
in der willkürlichen Muskulatur herbeizuführen. Er stellte zunächst
den Fettgehalt der Muskeln gesunder Hunde fest und fand, dass die
einzelnen Tiere selbst bei möglichst genauer Befreiung des Muskels
von allem sichtbaren Fett und Sehnen derartige Unterschiede des mit
den Alkohol-Chloroformmethoden gewonnenen Fettgehalts aufwiesen,
dass die „Methode der Vergleichstiere“ im Stiche lassen musste. Er
stellte daher seine Beobachtungen über die Wirkung von Giften auf
den Fettgehalt der Muskeln so an, dass er die Muskeln der beiden
Körperhälften des gleichen Tieres vor und nach der Einwirkung der
betreffenden Substanz untereinander verglich. Diese Methode führte
zu genügend übereinstimmenden Resultaten und ergab, dass bei Ver¬
giftung mit Chloroform, Phloridzin und Oleum Pulegii eine Verfettung
der willkürlichen Muskulatur nicht stattfindet, während beim Herz¬
muskel, wie aus der an dieser Stelle referierten Untersuchung des
Verfassers hervorgeht, die beiden letzten Stoffe eine beträchtliche
Zunahme des Fettbestandes bewirken. Es findet vielmehr neben
Eiweissschwund und Wassergehaltszunahme eine Verminderung des
Eettbestandes der willkürlichen Muskeln statt.
20) A. Heffter: Berichtigung zur Abhandlung von Fr. Ber¬
ger „über die Ausscheidung des Lithiums im Harn etc.“
J. Müller- Wiirzburg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 42.
1) O. V u 1 p i u s - Heidelberg: Misserfolge der Sehnenüber¬
pflanzung.
Voraussetzung für den Erfolg einer Transplantation ist das Be¬
stehen einer umschriebenen Lähmung, ferner ist von grösster Wichtig¬
keit der Zustand der von der Lähmung betroffenen Muskeln. Dass
für die Ueberpflanzung in einzelnen Fällen nur Muskeln aus der
Gruppe der Antagonisten zur Verfügung stehen, bildet keine Kontra¬
indikation. Verf. gibt einen kurzen Ueberblick über das Indikations¬
gebiet im Speziellen, zu welchem periphere, schlaffe und spastische
Lähmungen gehören. Auch bei der progressiven Muskelatrophie ist
trotz des fortschreitenden Charakters der Erkrankung die Anwendung
der Sehnenüberpflanzung nicht ausgeschlossen. Der Operationsplan
darf niemals so aufgestellt werden, dass wegen der Erreichung einer
wichtigen Funktion eine andere wichtige Funktion geopfert wird.
Sehr wichtig ist eine exakte und ausgiebige Vereinigung der beiden
zur Vernähung kommenden Sehnen.
2) C. H u d o v e r n i g - Ofen-Pest: Die Verwendbarkeit des
Methylatropinum bromatum bei Erkrankungen des Nervensystems.
Das Mittel erwies sich von guter schmerzstillender Wirkung bei
den Schmerzen der Tabiker, bei spinalen Wurzelschmerzen, bei Kopf¬
schmerzen verschiedenen Ursprungs. Bei Neuralgien wirkt es sogar
heilend, bei Epilepsie ist die Wirkung sehr gering. Günstig wirkt es
bei nervösen Hypersekretionen. Unangenehme Nebenwirkungen kamen
nicht zur Beobachtung. Als Einzeldosis genügen 1 — 2 (bis 4) mg.
3) F. D a n z i g e r - Frankfurt a. M.: Zur Frühdiagnose des
syphilitischen Primäraffektes.
In 5 Fällen, über welche kurz berichtet wird, gelang es, aus¬
schliesslich durch den Nachweis von Spirochäten im Primäraffekt,
während sonstige klinische Zeichen fehlten, die Frühdiagnose der
Syphilis zu stellen.
4) C. S. E n g e 1 - Berlin: Ein Beitrag zur Serumbehandlung der
Syphilis.
Verf. berichtet über die von ihm an 3 syphilitischen Personen
angestellten Versuche, bei welchen er in der Weise vorging, dass er
Kaninchen ein aus Syphilitischen gewonnenes Serum einspritzte und
dann mit dem Serum dieser so behandelten Tiere die syphilitischen
Personen behandelte. Später erhielten letztere noch Normalserum
gesunder Menschen eingespritzt. Ob eine definitive Heilung seiner
Patienten erzielt wird, lässt Verf. dahingestellt. Schliesslich werden
die theoretischen Unterlagen dieser Behandlungsmethode, welche sich
als eine ungefährliche erwiesen hat, erörtert.
5) C. L e v a d i t i - Paris: Bemerkungen zu dem Aufsatz „die
Silberspirochäte“ von W. Schulze in No. 37 dieser Wochenschrift.
Im wesentlichen polemischen Inhalts.
6) M. Halle: Externe oder interne Operation der Nebenhöhlen¬
eiterungen. (Schluss folgt.)
7) M. M a r t e n s - Berlin: Ueber den Bau und die Einrichtung
moderner Operationsräume.
Durch Abbildungen illustrierte Schilderung der Einrichtungen des
Krankenhauses Bethanien in Berlin. Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 41.
l) G o 1 d s c h e i d e r - Berlin: Ueber die Untersuchung des
Herzens in linker Seitenlage.
Die Resistenz des Spitzenstosses ist bei halber oder vollständiger
Linksseitenlage deutlicher zu prüfen als in anderen Stellungen, wenn
man tief exspirieren lässt und für Erschlaffung der Muskulatur sorgt.
Ausser dem Grade der Resistenz lässt auch die Grösse der seitlichen
Verlagerung bestimmte diagnostische Schlüsse zu, wenn man be¬
rücksichtigt, dass diese abhängt vom Verhältnis des Druckes des
Herzens zum Gegendruck der umgebenden Organe. Dem Aufhänge¬
apparat misst G. geringere Bedeutung für die Spitzenexkursionen bei.
Vermehrte Verschieblichkeit fand Verfasser im Gegensatz zu anderen
auch bei nicht zu hochgradiger Hypertrophie des linken Ventrikels.
23. Oktober 1906. MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. 2121
2) P f a n n e n s t i e 1 - Qiessen: Die Indikationsstellung zur Be¬
handlung der Geburt bei Beckenenge. (Vortrag auf der Naturforscher-
Versammlung 1906, ref. Münch, med. Wochenschr., No. 40, S. 1979.)
3) Felix F r a n k e - Braunschweig: Ueber die primäre Tuber¬
kulose der Milz.
Im Anschluss an einen mitgeteilten operierten Fall empfiehlt F.
in allen Fällen von Milztumor, in denen andere bekannte Ursachen,
wie Leukämie, Malaria, Syphilis, Alkoholismus ausgeschlossen werden
können, eine Tuberkulineinspritzung und, wenn diese keine Klarheit
verschafft, eine Probelaparotomie. Die Exstirpation der tuberkulösen
Milz hält Verfasser nicht für berechtigt, sondern für geboten, nachdem
das Organ entbehrlich und die Prognose der Operation gut ist. Eine
andere Kranke F.s erholte sich nach Entfernung einer nach Influenza
chronisch geschwellten Milz in auffallender Weise.
4) P. M a n a s s e - Berlin : Ileus durch Obturation der Flexura
coli sinistra.
Vergl. Referat über den Vortrag im Verein für innere Medizin
(2. VII. 06) M. med. W. 1906, No. 28, S. 1386.
5) O b e r n d o r f e r - München: Gibt es eine chronische Appen¬
dizitis?
Verfasser verteitigt A s c h o f f gegenüber seine Anschauung vom
Vorkommen einer selbständigen chronischen Appendizitis. Als
Leichenerscheinungen lässt er bei den von ihm (O.) beschriebenen
Bildern nur die Abstossung von Drüsen ins Lumen und die Durch¬
setzung der Drüsen durch Leukozyten gelten, weil er diese an fri¬
schem Operationsmaterial nicht mehr fand.
6) T i 1 1 i s - Berlin : Beitrag zur Behandlung der Herzmuskel¬
schwäche mit elektrischen Strömen.
Verf. rühmt die Erfolge einer schonenden elektrischen Behand¬
lung, unterstützt durch Vibrationsmassage und Ergostat, auch in
schweren Fällen.
7) Rattner - Berlin : Therapeutische Erfahrungen über die Ver¬
wendbarkeit des Bornyvals bei funktionellen Beschwerden unter¬
leibskranker Frauen.
Das Mittel bewährte sich als Analeptikum und Karminativum,
als Antihysterlkum und Antineurasthenikum und ist den übrigen Bal¬
drianpräparaten dadurch überlegen, dass das aktive Prinzip des Bal¬
drians chemisch rein und genau dosierbar ist.
8) Unruh- Dresden : Die sogen. Schulanämie.
Verf. unterscheidet 1. anämische bezw. chlorotische Kinder; nur
für sie ist der Ausdruck Schulanämie bis zu einem gewissen Grad
berechtigt; 2. Kinder mit Myokarditis; 3. mit Hypoplasie des Herzens;
4. solche mit irgend einer Form von Albuminurie. Therapeutisch em¬
pfiehlt sich in der Regel Schonung mehr als Muskelübung. Bei
Gruppe 2 ist der Schulbesuch jedenfalls abzubrechen.
9) Theodor M a y e r - Berlin: Ueber schmerzlose Injektion lös¬
licher Quecksilbersalze.
Verf. empfiehlt eine Komposition von Hydrarg. cyanat. mit Bor¬
säure und Akoin. R. Grashey - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 41. S. J e 1 1 i n e k - Wien: Zur Hygiene der elektrischen
Hauseinrichtungen.
J. konnte eine Anzahl von Fällen zusammenstellen, wo schwere
oder sogar tödliche Verletzungen durch die unbewusste Einschaltung
einer Person in einen elektrischen Starkstrom stattfanden. Die Ur¬
sache lag entweder in unvorsichtiger Anlage der Leitung oder Ver¬
letzung derselben — besonders wenn sie verborgen angebracht ist — ,
oder zufällige unbemerkte Ableitung des Stromes, wobei ein Mensch
den Erdschluss vermittelt. Als Beispiel sei nur die Verletzung eines
Feuerwehrmannes genannt, der durch den Wasserstrahl seiner Spritze
den Strom auf sich zog. In dem Wohnhaus muss man stromsichere und
stromgefährliche Räume unterscheiden; bei letzteren spielen der gut
ableitende Fussboden, aber auch die Gas- und Wasserleitungen und
die jetzt vielfach eingebauten Eisenbalken die Hauptrolle. Verf.
fordert die allgemeine Errichtung von Starkstrominspektoraten zur
Prüfung der Hausleitungen, zusammengesetzt aus Technikern und
Aerzten, eine Forderung, die auf dem 2. internat. Kongress für Salu-
brität und Gesundheitspflege der Wohnung in Genf zum Beschluss
erhoben wurde.
R. Doerr-Wien: Das Dysenterietoxin.
D. hat neuerdings durch Filtration von Bouillonkulturen Gift¬
lösungen erhalten, die schon bei 0,05—0,01 ccm auf 1 Kilo Kaninchen,
intravenös eingespritzt, deletär wirken. Die Toxinbildung erfolgt am
intensivsten, wenn zu 1 Liter neutraler Bouillon 30 ccm lOproz. Soda¬
lösung hinzugefügt werden. Es zeigt sich dabei eine dicke Kahmhaut.
Das Toxin lässt sich aus eintägigen Agarkulturen durch einstiindiges
Extrahieren mit Kochsalzlösung erhalten. Es reiht sich als erstes
Toxin den Diphtherie- und Tetanustoxinen an. Bei seinen Tierver¬
suchen erzielte Verf. wie Flexner und Sweet vor allem im
Blinddarm des Kaninchens der menschlichen Dysenterie völlig ent¬
sprechende Prozesse. Durch das Freibleiben des Dünndarms ver¬
anlasst, brachte er kleine Mengen des Dünndarmes mit Dysenterie¬
toxinen versuchsweise zusammen und fand die Toxinfiltrate in kurzer
Zeit atoxisch. x
O. Kren -Wien: Ein Beitrag zur Neurofibromatosis Reckling¬
hausen.
Beschreibung eines Falles, der ausser der Neurofibromatose noch
durch das Fehlen des hintersten Teiles des Alveolarfortsatzes eines
Oberkiefers und partiellen Defekt des Os sphenoidalc (Röntgenbild)
ausgezeichnet war; ausserdem fehlte der Knorpel im Tragus und der
Gehörgang und bestand ein Hämangiom mit Usur des Jochbeines,
ein Neurofibrom mit Usur des Unterkiefers bei Asymmetrie des
Schädels. Durch dieses wiederholt beschriebene Auftreten von Tu¬
moren und Hemmungserscheinungen erweitert sich der Begriff der
R e c k 1 i n g h a u s e n sehen Krankheit zu einer Missbildungskrank¬
heit, von der es auch rudimentäre Formen gibt, die nur die Neuro¬
fibromatosis oder nur Defektbildungen am Skelett aufweisen. Bei
dem Befund angeborener Knochendefekte sollte immer auch die Haut
genau auf Neurofibrome oder event. nur abnorme Pigmentbildungen
untersucht werden.
L Feix- Baden: Ueber ein neues Verfahren zur Untersuchung
des Patellar- und Achillessehnenreflexes.
Die für genannte Untersuchung notwendige Muskelerschlaffung
und Ablenkung des Kranken wird am besten erreicht, wenn derselbe
bei geschlossenen Augen die Seitenlage mit leichter Beugung des
Hiift- und Kniegelenkes (Schlafstellung) einnimmt.
A. v. Reuss-Wien: Das Collyrium adstringens luteum (Aqua
Horsti) und seine Geschichte.
Auf die biographischen Angaben über den Fiirstenbergschen
Leibarzt Joseph Horst (1752 — 1827) in Wien kann ebensowenig
eingegangen werden, als auf die mehrfachen Aenderungen, die das
von ihm angegebene Wund- und Gurgelwasser im Laufe der Zeit
erfahren hat. Die Ausgabe der österreichischen Pharmakopoe gibt
folgende Zusammensetzung an: Ammon, chlor. 2, Zinc. sulfur. 5,
Camphor. 2, Aq. dest. 890, Spir. vin. 100, Crocus 1. Als Wundwasser
natürlich veraltet, hat es sich in der Augenheilkunde erhalten und
wird von dem Verfasser als das beste Mittel bei akuten und chro¬
nischen Bindehautkatarrhen sehr empfohlen. Eine einfache Zinc. sulf.-
Lösung besitzt nicht dieselbe Wirksamkeit, die vielleicht auf dem
Spirituszusatz beruht. Bei akuten Formen im Anfangsstadium und
bei sehr reichlicher Sekretion, wie auch bei katarrhischem Hormhaut-
geschwiir ist es nicht angezeigt, wie es auch das Argent. nitric. nicht
ersetzt: B e r g e a t.
Englische Literatur.
(Schluss.)
A. Rendle Short: Der Blutdruck und die Pigmentierung beim
Morbus Addisonii. (Lancet, 4. August 1906.)
Verf. sucht in dieser Arbeit nachzuweisen, dass die Symptome
der Addison sehen Krankheit auf einer Lähmung der Vasomotoren
beruhen, die Vasomotoren werden gelähmt, weil das Adrenalin in
der Zirkulation fehlt. Auch die Pigmentation beruht auf der Er¬
schlaffung der Gefässwände und dadurch bedingten stärkeren Tätig¬
keit der Pigmentzellen. Am meisten empfiehlt sich deshalb die Ver¬
abreichung der Vasokonstriktoren, und zwar hat sich vor allem das
Digitalin bewährt, das in einem vom Verf. näher beschriebenen Falle
Heilung brachte.
J. Spottiswoode Cameron: Ueber weibliche Sanitätsinspek¬
toren. (Ibid.)
Verf., der „medical officer of health“ fiir Leeds ist, berichtet
über die Verwendung weiblicher Inspektoren. Die Stadt Leeds hat
jetzt 6 solche Beamte, deren Gehalt von 32 auf 38 M. per Woche
steigt und die ein Examen in den Elementen der Hygiene bestanden
haben müssen. Diese Frauen haben wie die Männer die Arbeits¬
räume zu besuchen und darüber zu wachen, dass dieselben luftig
und sauber sind, dass die Klosette etc. in Ordnung gehalten werden
usw. Ferner besuchen sie alle Fälle von Puerperalfieber und wachen
über die Ausführung der Desinfektion der Kranken und der Heb¬
amme. Schliesslich, und das betrachtet Verf. als sehr wichtig, be¬
suchen sie jedes neugeborene Kind in der ärmeren Bevölkerung,
sowie alle Fälle von Sommerdiarrhöe, sie klären die Mutter darüber
auf, wie der Säugling oder das kranke Kind zu pflegen ist, wie es
ernährt werden muss und sie sorgen auch für die Verabreichung
guter Kindermilch. Die Anstellung dieser weiblichen Beamten hat
sich sehr bewährt.
John C. Thresch: Ein Raupenausschlag. (Ibid.)
Verf. sah bei über 20 Kindern, die Raupen der Porthesia similis
(die im Juni auf Weissdornhecken lebt) sammelten, einen heftig
juckenden Ausschlag (kleine erhabene Pöckchen), der nur die ex¬
ponierten Teile (Hände und Gesicht) befiel und nach einigen Tagen
wieder verschwand. Der Ausschlag wird durch die Haare der Rau¬
pen verursacht, die zu einer gewissen Zeit sehr leicht ausfallen und
in der Haut stecken bleiben, wenn man die Raupen berührt.
C. B. Sheldon Arnos: Die Behandlung der katarrhalischen und
gangränösen Dysenterie. (Ibid.)
Verf. hat 4 Jahre lang in der Quarantänestation El Tor am Sinai
gearbeitet und. während dieser Zeit an grossen Serien von Fällen alle
möglichen Behandlungsweisen (mit Ausnahme der Serumbehandlung)
durchversucht. Ganz frische, leichte Fälle werden am besten mit
Natrium sulphuric. behandelt (4,0 stündlich bis zur Erzielung einer
fäkulenten Entleerung). Die schweren Fälle, bei deren Sektion man
2122
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
meist Gangrän der Darmschleimhaut findet, werden, wenn es sich um
kräftigere jüngere Leute handelt, mit Ipecacuanha behandelt. Sie be¬
kommen von 12 Uhr nachts bis 4 Uhr morgens nichts zu essen, dann
gibt man 20 Tropfen Tinct. opii und V2 Stunde später 2 4 g Ipeca¬
cuanha in Kapseln. Bis 7 Uhr morgens wird weder Essen noch
Trinken gegeben. Dann bekommen sie V4 Liter Milch und, wenn keine
Blutung vorhanden ist, etwas trockenes Brot. Um 11 Uhi erhalten
sie fein gekochten und zerquetschten Reis, oder Kartoffeln, Linsen¬
oder Bohnenpüree in Fleichsuppe. Um 5 Uhr 30 Min. bekommen sie
dasselbe. Nachts bekommen sie wieder MilcL Sehr schwache Kranke
erhalten ausserdem das Weisse von 4 Eiern. Zum 1 rinken erhalten sie
Solut. acid. lactici (1:3000) ad libitum. Bei schwachen Kranken, die
Ipecacuanha nicht vertragen, gab er früher Kalomel in grossen oder
kleinen Dosen; dies hat er ganz aufgegeben und durch Opiumbehand¬
lung zur völligen Ruhestellung des Darms ersetzt. Von Darmein¬
giessungen sah er niemals Nutzen.
E. W. N. Haultain: Die Behandlung der Fibromyome des
Uterus während der letzten 25 Jahre. (Brit. Med. Journ., 4. Aug. 1906.)
Verf ist ein überzeugter Anhänger der elektrischen (Apostoli)
Behandlung der Myome. Es gelingt damit sehr häufig, Kranke über
die schlimmsten Jahre hinwegzubringen, in vielen Fällen tritt voll¬
kommene Heilung auf. Man muss aber Ströme von 80—120 Milli-
amperes anwenden. Bei mehr als 150 so behandelten Ballen sah er
niemals üble Nebenwirkungen; viele dieser Fälle hat er später operiert
und niemals gefunden, dass die elektrische Behandlung zu iigend
welchen Komplikationen Anlass gegeben hatte. Als Operation bevor¬
zugt er die supravaginale Amputation; er hatte 2 Todesfälle bei
203 Fällen. Myome sollen nur dann behandelt werden, wenn sie durch
Blutung, Druck oder Schmerzen Beschwerden machen.
John Lindsay: Erfahrungen in der Geburtshilfe. (Ibid.)
Vor einiger Zeit berichtete Ref. an dieser Stelle übet eine
Arbeit von Peter H o r r o c k s, in der dieser Autor den absolutesten
Konservatismus in der Geburtshilfe predigte und vor allem vor dem
Untersuchen und vor den überflüssigen Zangen warnte. Diese Arbeit
hat in England viel Aufsehen gemacht und zahlreiche Praktiker sind
gegen HorroCks aufgetreten und haben behauptet, dass derartige
Grundsätze in der Privatpraxis undurchführbar seien. Jede, auch die
ärmste Frau, setzt hier zu Lande ihren Stolz darein, bei ihren Ge¬
burten stets einen Arzt zugegen zu haben. Der Arzt wird natürlich
schon lange vorher engagiert; beginnt die Geburt, so ruft man ihn und
erwartet natürlich, dass er die Geburt selbst leitet und bei der Aus-
stossung des Kindes und der Nachgeburt zugegen ist. Die lange Zeit
und drängende Arbeit veranlassen sicherlich den Praktiker häufig,
ohne strenge Indikation zur Zange zu greifen, um die Geburt zu be¬
enden. Die Narkose, die überhaupt hier sehr viel bei ganz normalen
Geburten angewendet wird und das Vertrauen auf die (leider meist
sehr unvollkommen beherrschte) Antisepsis machen dem Arzte den
Entschluss leicht. Lindsay nun berichtet in dieser Arbeit über
6000 Geburten, die er zwischen 1859 und 1905 bei einer sehr armen
Landbevölkerung ausgeführt hat. Die Frauen entbinden in seiner
Gegend (West-Schottland) meist indem sie auf dem Fussboden
kniend einen Stuhl festhalten. Verf. hat niemals Antisepsis benutzt,
sich aber stets gründlich die Hände gewaschen; hatte er einen infek¬
tiösen Fall behandelt, so wechselte er womöglich die Kleider. Die
Frauen werden nie gewaschen, rasiert oder ausgespiilt (dabei sagt er
selbst, dass die Mehrzahl seiner Patientinnen sicherlich seit ihrer
Geburt niemals gebadet hatten). Er hat sehr häufig die Geburt durch
den Eihautstich befördert, das Os uteri dilatiert und Zange angelegt.
Er macht alle Manipulationen sowiel wie möglich unter der Bettdecke.
Sobald das Kind geboren ist, umgreift und komprimiert er den Uterus
und zieht vorsichtig an der Nabelschnur. Er hat 309 mal hohe schwere
Zangen angelegt, ohne eine Mutter zu verlieren; 22 Kinder wurden
tot geboren, ausserdem musste er bei 2 Frauen 8 mal kraniotomieren.
19 mal wendete er (l Mutter gestorben an Uterusruptur), 5 Kinder
tot geboren. 12 mal behandelte er Placenta praevia ohne eine Mutter
zu verlieren, er verlor 5 Kinder (1 vorher abgestorben, 1 perforiert).
Bei 13 Fällen von vorgefallener Nabelschnur wendete er 2 mal, 9 mal
legte er die Zange an und verlor 1 Kind. Von 40 Steissgeburten verlor
er 8 Kinder. Er gibt noch zahlreiche weitere Details über die Ge¬
burten. Im ganzen hatte er 28 Todesfälle bei 6000 Müttern, 8 starben
an schon vor der Geburt bestehenden Ursachen, 1 an Sepsis infolge
einer totfaulen Frucht, 1 an Erysipel. 2 an Pneumonie, 1 an Peritonitis
und 2 an Scharlach, 6 an Sepsis, 2 an Phlebitis längere Zeit nach
völligem Wohlsein. 4 an Konvulsionen und 1 an Gehirnembolie. Bei
5 von diesen Todesfällen war ein instrumenteller Eingriff voraus¬
gegangen. Bei Abort wartet Verf. ab und gibt Ergotin.
A. Gordon Gull an: Die akute Nephritis. (Brit. Med. Journal,
18. August 1906.)
Es sei hier nur referiert, was Verf. über die Behandlung sagt.
Er lässt den Kranken in Wolle gekleidet zwischen wollenen Decken
liegen und um keinen Preis aufstehen. Am liebsten gibt er reine
Milchdiät: statt der gewöhnlichen Milch kann man auch Buttermilch
geben; alle Fleisch- oder Eierspeisen sind streng zu vermeiden, man
gehe nur allmählich und unter steter Kontrolle des Urins zur gewöhn¬
lichen Ernährung zurück. Man sorge für zweimalige gute Stuhlent¬
leerung am Tage (Natr. sulphuricum und Jalape). Die Schweiss-
sekretion regt er durch 4 stündige Dosen von Tinct. Jaboranti gtt 30
und Natr. benzoic. 1,0 in Chloroformwasser. Digitalis und ähnliche
Mittel hält er für direkt gefährlich. Trockene Schröpfköpfe in der
Nierengegend sind oft von Nutzen. Bei starkem Erbrechen gibt er
Bismut; bei Anasarka höheren Grades legt er Dauerkanülen ein. Die
Urämie bekämpft er vor allem mit intravenösen Kochsalzeingiessungen.
Richard Jones: Nahrungsmittel und Konservierungsmittel der¬
selben. (Ibid.) .... ,
Verf. gibt eine Uebersicht über die Natur und Menge der jährlich
in England eingeführten Nahrungsmittel, sowie über die Ab- und Zu¬
nahme der verschiedenen Todesursachen. Er findet dabei, dass mit
der Zunahme der eingeführten (und natürlich künstlich konservierten)
Nahrungsmittel die Krankheiten des Magendarmkanales, der Nieren
und der Krebs ständig zugenommen haben. Er verlangt, dass der Ge¬
brauch von Formaldehyd zur Konservierung von Nahrungsmitteln
gänzlich verboten wird; Salizylsäure soll nur in sehr geringen Mengen
(0,15 auf 500,0) erlaubt werden und muss der Gebrauch stets an¬
gegeben werden; Milch darf weder mit Konservierungs- noch Färbe¬
mitteln versetzt werden. Borsäure oder Borax (nicht mehr als
0,25 Proz.) soll als einziges Konservierungsmittel für Rahm benutzt
werden; dieselben Mittel dürfen für Butter und Margarine (bis zu
5 Proz.) benutzt werden. Kranken- und Kindernahrungsmittel dürfen
überhaupt keine chemischen Konservierungsmittel enthalten. Kupfer¬
salze sind überhaupt zu verbieten. Die Gesundheitsbehörden sollen
grössere Machtbefugnisse erhalten, um die Nahrungsmittel zu kon¬
trollieren.
Nathan R a w: Die Tuberkulose des Menschen und des Rindviehs.
(Ibid.)
Verf. glaubt, dass es zwei Arten von Tuberkelbazillen gibt, den
Typus humanus und den Typus bovinus; obwohl diese beiden Arten
streng zu scheiden sind, so kann doch der Typus bovinus den Men¬
schen befallen und er ist als einer der Haupterreger der Tuberkulose
bei Kindern anzusehen. Beide Arten der Bazillen erzeugen ver¬
schiedene und wohlcharakterisierte Läsionen beim Menschen. Der
Bazillus vom Typus humanus wird von Mensch auf Mensch über¬
tragen, der Bazillus vom Typus bovinus gelangt in den menschlichen
Körper durch Milch und Milchprodukte. Vielfach erzeugt infizierte
Milch von den Mandeln aus Schwellungen und Verkäsungen der
Lymphdrüsen am Halse; diese sollten stets chirurgisch entfernt
werden, da sie eine stete Quelle der Gefahr sind. Der Bazillus vom
Typus humanus befällt nie die Lymphdrüsen des Menschen. Die
menschlichen Bazillen werden inhaliert und erzeugen Phthisis der
Lunge, der verschluckte Auswurf führt zu Darmgeschwüren; letztere
können jedoch auch dadurch entstehen, dass menschliche Bazillen
direkt mit der Nahrung in den Darm gelangen; die Bazillen vom Typus
bovinus produzieren keine Darmgeschwüre, sie gelangen, ohne
Spuren zu hinterlassen, vom Darme aus in die Mesenterialdrüsen und
infizieren von hier aus die Lungen und den ganzen Körper. Eine
Verminderung der Tuberkulose bei Kindern wird nur dann erreicht
werden, wenn man die Tuberkulose beim Rindvieh ausrottet. Die
Phthisis pulmonalis wird dagegen am besten durch Verbesserung der
Wohnungsverhältnisse der ärmeren Klassen bekämpft. Verf. glaubt,
dass ein Kind, welches eine leichte Infektion mit den Bazillen des
Typus bovinus überstanden hat, gegen Ansteckung mit den mensch¬
lichen Bazillen ziemlich geschützt ist.
J. Marsh: Tubarschwangerschait und Ausstossung des Fötus
per rectum. (Journal of Obstetrics and Gynaec. of British Empire,
Juni 1906.)
Ein ähnlicher Fall wurde vor kurzem unter den Originalien der
Münch, med. Wochenschr. veröffentlicht. In diesem Falle handelte es
sich um eine 40 jährige Hindufrau. Die extrauterine Schwangerschaft
bestand schon fast 3 Jahre; 6 Monate ehe die Frau zum Hospitale
kam, waren Teile des Kindes per rectum abgegangen. Verf. entfernte
unter Narkose den Schädel per rectum. Die Frau genas vollkommen.
A. W. Mayo Robson: Die Behandlung des Magenkrebses.
(Lancet, 18. August 1906.)
Verf. glaubt, dass in England allein jährlich mindestens 5000 Per¬
sonen am Magenkrebs sterben; nur der geringste Teil dieser Fälle
wurde operiert. Es liegt dies zum grossen Teile an der Schwierigkeit
der Diagnose, und vor allem daran, dass zu wenig Gebrauch von der
Probelaparotomie gemacht wird. Erkranken Personen von 40 oder
mehr Jahren an Appetitmangel, Schmerzen, Erbrechen, Anämie, Ge¬
wichtsabnahme und zeigt die Magenspülung verminderte motorische
Kraft und Verdauung und vielleicht auch Verminderung der freien
Salzsäure, so dringe man fest auf eine Probelaparotomie. Verf. glaubt,
dass in 60 Proz. der von ihm operierten Fälle, bei denen wegen vor¬
geschrittenen Krebses nur die Gastroenterostomie möglich war, ein
Ulcus ventriculi der Krebsbildung vorausgegangen sei. Es ist deshalb
von grosser prophylaktischer Bedeutung, bei chronischen Magen¬
geschwüren nicht zu lange mit der Vornahme der Gastroenterostomie
resp. der Exzision zu warten. Auch grosse Tumoren und anscheinend
ungünstige Fälle von Pylorusverschluss soll man operieren, da jeder
Chirurg Fälle gesehen hat, die bei der Operation (Gastroenterostomie)
als maligne inoperable Tumoren imponierten und bei denen der weitere
Verlauf zeigte, dass es sich doch nur um ein Geschwür mit peri-
gastritischen Verwachsungen gehandelt hatte, das nach der Operation
zur völligen Heilung kam. Verf. hat in den letzten 8 Jahren 30 mal
die Gastrostomie wegen Kardiakrebses gemacht und nur 5 Proz. der
Fälle verloren; mehrere Kranken lebten noch über ein Jahr, nahmen
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2123
20 Pfund an Gewicht zu und fühlten sich viel wohler. Bei inoperablen
Krebsen des Pylorus macht Verf. die hintere Gastroenterostomie, er
verlor während der letzten 10 Jahre nur 3,3 Proz. seiner Fälle.
Manche der Fälle erholten sich so, dass einige Wochen später die
Radikaloperation des Krebses vorgenommen werden konnte. Die
Mortalität der partiellen Magenresektion ergab in den vom Verf.
während der letzten 10 Jahre operierten Fällen 16 Proz.; selbst bei
fast gänzlicher Entfernung des Magens kann Dauerheilung (mehr wie
5 Jahre) eintreten und zwar bei völlig guter Verdauung, so dass es
scheint, als würden die Funktionen des entfernten Magens durch
andere Organe ersetzt. Bei inoperablem Tumor, der den ganzen
Magen einnimmt, hat Verf. mit gutem Erfolge die Jejunostomie ge¬
macht und haben derartige Kranke noch länger wie ein Jahr (mit den
Erfolgen der Operation zufrieden) gelebt.
G. F. McCleary: Die Versorgung des Publikums mit reiner
reso. besonders präparierter Milch für Säuglinge. '(Ibid.)
Verf. glaubt, dass die Art und Weise, in der jetzt in England die
von den Städten eingerichteten Depots für Säuglingsmilch gehand-
habt werden, sehr verbesserungsfähig ist. Da jetzt jedermann die
Milch erhalten kann, so dienen diese Depots geradezu dazu, die Mütter
vom Stillen abzuhalten. Verf. wünscht, dass in jedem Falle untersucht
wird, ob der betreffende Säugling nicht von der Mutter gestillt werden
kann, ehe man ihn mit der Milch versieht. Ferner sollen die Säuglinge
periodisch vom Arzte untersucht werden; am besten wäre es, wenn
die Stadt (wie dies z. B. in Glasgow geschieht) weibliche Aerzte an¬
stellte, die diese Säuglinge zu Hause besuchen und die Ernährung und
Pflege beaufsichtigen. Die ärztliche Untersuchung der Säuglinge ist
gerade so wichtig, wie die der Schulkinder. Schliesslich hält Verf.
es für unrichtig, sterilisierte oder pasteurisierte Milch zu verabreichen.
Bei guter tierärztlicher Beaufsichtigung des Viehs und bei der grössten
Sauberkeit in der Milchwirtschaft gelingt es, völlig reine rohe Milch
zu gewinnen, die für die Kinder viel besser ist als die sterilisierte.
Diese Milchdepots können dann gleichzeitig als Muster für die Milch¬
wirtschaft dienen.
George Reid: Kindersterblichkeit und die Verwendung von
Frauen zur Fabrikarbeit vor und nach der Geburt. Lancet, 18.
August 1906.
Verf. ist „medical officer of health“ für Staffordshire. Im Nor¬
den seines Bezirkes sind meistens Porzellanfabriken, in denen viele
Frauen beschäftigt werden, im Süden sind die Arbeiter in Eisen und
Kohlenwerken beschäftigt, wobei Frauen kaum verwendet werden,
die Mitte des Landes wird von Ackerbauern bewohnt. Verf. hat nun
gefunden, dass die Kindersterblichkeit im Norden ausserordentlich
viel grösser ist als in anderen Teilen des Distriktes. Er hat folgende
Tabellen aufgestellt. In 5 Städten (132,299 Bewohner) sind mehr wie
12 Prozent der weiblichen, verheirateten Bevölkerung zwischen 18
und 50 Jahren als Fabrikarbeiterinnen beschäftigt, in diesen Städten
starben in den letzten 23 Jahren jährlich 193 bis 212 per Tausend der
registrierten Geburten. In 13 Städten (263 868 Einwohner) betrug die
Zahl der arbeitenden Frauen 6 bis 12 Prozent, hier starben in der¬
selben Zeit 156 bis 175 vom Tausend. In 8 Städten (131 508 Ein¬
wohner) arbeiteten weniger wie 6 Prozent der Frauen; hier starben
149 bis 168 Kinder vom Tausend. Im nördlichen Teil des Landes fand
man unter 1000 Geburten 15 Abnormalitäten und 9,4 Totgeburten, im
südlichen nur 6,0 resp. 3,2. Verf. verlangt, dass die Frau 3 Monate
nach der Geburt nicht in der Fabrik arbeiten darf, damit sie das
Kind stillen und über die schlimmste Zeit hinausbringen kann. Wie
lange vor der Entbindung die Frau nicht arbeiten darf, soll in jedem
Falle von der Entscheidung des Fabrikarztes abhängig gemacht wer¬
den, der zu bestimmen hat, wann die betreffende Frau mit der
Arbeit aufhören muss. In der Mehrzahl der Fälle haben bei den guten
Löhnen der englischen Arbeiter die Frauen die Arbeit nicht nötig,
sie müssen aber arbeiten, damit der Mann mehr vertrinken kann.
Thomas Kirkland und M. S. Paterson: Die Sterilisation
des tuberkulösen Sputums etc. Ibidem.
Bis vor einem Jahre wurden im Brompton Hospitale für Schwind¬
süchtige alle Sputa in einem Kremator verbrannt, die Spucknäpfe wur-
den mit der Hand gereinigt und desinfiziert. Die Kranken erhielten
täglich neue J aschentiicher, die dann verbrannt wurden. Die grossen
Gefahren dieser Methode für das Bedienungspersonal, wie auch die
bedeutenden Kosten veranlassten die Verfasser eine Methode an¬
zugeben, die sie im folgenden beschreiben und abbilden. Das Sputum
wird in einem Dampfsterilisator bei 250° F. sterilisiert (mit so be¬
handeltem Sputum geimpfte Meerschweinchen blieben stets frei von
Tuberkulose); es wird dann in den Abzugskanal gegossen. Die SpuCk-
näpfe werden ebenfalls in einem abgebildeten Apparat gewaschen
und sterilisiert, ohne dass das Bedienungspersonal damit in Be¬
rührung kommt. Die Taschentücher werden ebenfalls sterilisiert (sie
vertragen dies etwa 50 mal) und später in der gewöhnlichen Weise
gewaschen. Alle Apparate haben sich durchaus bewährt.
J. B. Nias: Die Einwirkung der Strontiumsalze auf die Gerin¬
nung des Blutes. Ibidem.
. Auf Veranlassung Wrights, der ja der grösseren oder ge¬
ringeren Gerinnungsfähigkeit des Blutes so grossen Einfluss auf
manche Krankheiten (Frostbeulen, Albuminurie, Hämophilie etc ) zu-
schiebt, untersuchte Verf. die Wirkung der Strontiumsalze. Fr' fand
dass Strontiumsalze und Magnesiumlaktat in Mengen von 1 bis ^ g
ebenso wirksam sind wie Chlorkalzium, das manchmal sehr schlecht
vertragen und resorbiert wird.
R. Hingston Fox: Ueber hämatogene Albuminurie. Lancet,
25. August 1906.
W r i g h t hat nachgewiesen, dass die sogenannte funktionelle
(hämatogene) Albuminurie auf einer mangelhaften Gerinnungsfähigkeit
des Blutes beruht. Man kann diesen Umstand zu diagnostischen
Zwecken benutzen. Personen, die an dieser Form der Albuminurie
leiden, verlieren dieselbe, wenn man ihr Blut durch die Verabreichung
von Kalziumoxyd gerinnungsfähiger macht. Er gibt eine Reihe von
Krankengeschichten, die das Gesagte bestätigen.
Peter Paterson: Die Einspritzung sterilen, tuberkulösen Eiters
bei Tuberkulösen. Ibidem.
Verf. schliesst aus dem Umstande, dass man im Inneren von
Käseherden und tuberkulösen Abszessen nur spärliche Bazillen findet,
dass diese pathologischen Produkte Stoffe enthalten, welche dem
Wachstum der Bazillen schädlich sind. Da Hitze die chemische Be¬
schaffenheit dieser Stoffe ändert, so konnte er sie nicht auf die
gewöhnliche Weise sterilisieren. Er machte sie steril, indem er den
Eiter 5 — 6 Monate im Refrigerator hielt und ihn häufig dazwischen
auftauen liess. Das Sediment dieses Eiters wird nach Abgiessung
des Serums 3 Tage lang in kaltem sterilem Wasser ausgewaschen,
um alle löslichen Toxine zu entfernen. Das gewaschene Sediment
wird mit normaler Kochsalzlösung in dem Verhältnisse gemischt, dass
1 ccm der Mischung 5 mg des Sediments enthält. Es gelang durch
Einspritzung dieser Lösung den opsonischen Index zu heben und
zwar ohne Erzeugung einer negativen Phase. Man soll die Ein¬
spritzungen so dosieren, dass eine fieberhafte Reaktion von 0,5 bis
1,0° C. erzielt wird; gewöhnlich erreicht man dies durch alle 2 Tage
vorgenommene Einspritzungen von 0,1 bis 0,5 der Lösung. Verf.
will gute Erfolge mit dieser Behandlung bei Knochen- und Gelenks¬
tuberkulosen, bei Lupus und Phthise erzielt haben.
J. P. zum Busch- London.
Otologie.
Paul Manasse: Ueber chronische, progressive labyrinthäre
Taubheit. (Aus der Universitätsklinik für Ohrenkrankheiten in Strass-
burg.) (Zeitschr. f. Ohrenheilk., 52. Bd., 1. u. 2. Heft.)
Verf. bezeichnet als solche die sogen, nervöse Schwerhörigkeit.
Auf Grund der anatomischen Untersuchung von 31 Labyrinthen kommt
Verf. zu dem Ergebnis, dass es sich bei dieser Erkrankung handelt um
Atrophie der nervösen Gewehsteile und mehr oder weniger Binde¬
gewebsneubildung an ihrer Stelle (chronische produktive Entzündung).
Es überwiegt die Alteration des Hörapparates (N. cochlearis), in dem
die Erkrankung zu beginnen scheint, die des Gleichgewichtsapparates
(N. vestibularis).
V. Hinsberg: I. Ueber die Bedeutung des Operationsbefundes
bei Freilegung der Mittelohrräume für die Diagnose der Labyrinth¬
eiterung. II. Indikationen zur Eröffnung des eitrig erkrankten La¬
byrinthes. (Ibid.)
I. Neben einer genauen Funktionsprüfung vor der Mittelohr¬
operation gehört zur exakten Diagnostik der Labyrintheiterungen
auch eine sorgfältige Untersuchung der Labyrinthwand bei der Frei¬
legung der Mittelohrräume, wobei besonders auf die beiden Fenster,
das Promontorium und auf den horizontalen Bogengang zu achten ist.
II. Die Indikationen zur Eröffnung des inneren Ohres sind ge¬
geben:
1. sobald wir auf Grund einer genauen Funktionsprüfung (Taub¬
heit und deutliche Reiz- oder Ausfallserscheinungen von seiten des
VorhofbogengangapDarates) und des Befundes (Labyrinthfistel) bei
der Freilegung der Mittelohrräume die Ueberzeugung gewinnen, dass
eine ausgedehnte Erkrankung des Labyrinthes vorliegt;
2. oder wenn bei einer während der Freilegung der Mittelohr¬
räume entdeckte zirkumskripten Erkrankung des Bogenganges
Verdacht auf eine endokranielle Komplikation vorliegt; im übrigen
verhält sich Verfasser in den letzteren Fällen zunächst abwartend,
um event. den Eingriff sekundär vorzurehmen, sobald die funktionelle
Prüfung ein Fortschreiten der Eiterung erkennen lässt.
Teofil Zalewski: Experimentelle Untersuchungen über die
Resistenzfähigkeit des Trommelfells. (Aus dem physiologischen In¬
stitut der Universität in Lemberg. Vorstand Prof. Beck.) (Ibid.)
Narben, Atrophie, entzündliche Prozesse, fortschreitendes Alter,
verursachen eine Verminderung der Resistenzfähigkeit, die binde¬
gewebige Verdickung, event. auch die Verkalkung eine Vergrösserung
derselben.
Für das normale Trommelfell ist ein Druck von 1 — 2 Atmosphären
nötig, um eine Ruptur zu bewirken. Die Rupturöffnung ist im allge¬
meinen um so kleiner, je niedriger der Druck.
G. Alexander: Labyrinthitis chronica ossificans. Ein Bei¬
trag zur Anatomie der Taubstummheit. (Aus dem pathol.-anatom.
Institut in Wien. Vorstand Prof. A. Weichselbaum.) (Monats-
schr. f. Ohrenheilk., 40. Jahrg., 7. Heft.)
Der vorliegende Fall ist bemerkenswert, weil er einer besonderen
anatomischen Form der erworbenen Taubstummheit, einer La¬
byrinthitis chronica ossificans (Auftreten von Knocheninseln in beiden
Labyrinthen) entspricht.
MUENCHFNER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
Karl Morsack: Hörprüfungen mittels der Sprache am ge¬
sunden und kranken Ohr. (Arcli. f. Ohrenheilk., 68. Bd., 1. u. 2., 3. u.
4. Heft, 69. Bd., 1. u. 2. Heft.)
Die auf B e z o 1 d s Veranlassung vorgenommenen Unter¬
suchungen fanden statt in der Münchener Militärreitschule, einem
ruhig gelegenen Raume von 89 m Länge, 17 m Breite und 9 m
Höhe an 100 normal hörenden jugendlichen Soldaten. Aus denselben
geht hervor: 1. Flüstersprache wird vom normalen Ohr im allge¬
meinen weiter gehört, als bisher angenommen wurde; die mittlere
Hörweite für dieselbe beträgt 58 m. 2. Die in der Tonreihe hoch¬
gelegenen Zahlen 7, 6, 2, haben eine grössere Hörweite (am grössten
ist die der Zahl 7: durchschnittlich 77,5 m), die in der
Tonreihe tief gelegenen Zahlen 100, 9, 5 eine kürzere (am kürzesten
ist die der Zahl 100: durchschnittlich 37,6 m). 3. Die Krank¬
heiten des Schalleitungsapparates unterscheiden sich bei der Sprach-
prüfung dadurch, dass bei ihnen die tiefen Zahlen (100, 9, 5, 8)
schlechter perzipiert werden, während bei Krankheiten des schall¬
empfindenden Apparates die der oberen Hälfte der lonreihe zu¬
kommenden Zahlen (7, 6) mangelhaft verstanden werden, so dass
also schon die Sprachpriifung gewisse diagnostische Schlüsse zulässt,
worauf B e z o 1 d zuerst hingewiesen hat. Im übrigen muss auf die
sehr umfangreiche, die einschlägige Literatur auf das sorgfältigste
berücksichtigende, beachtenswerte Arbeit selbst verwiesen werden.
Alexander: Zur Frage der progressiven Schwerhörigkeit
durch Atrophie des C o r t i sehen Organes. (Aus dem pathologisch¬
anatomischen Institut, Vorstand: Hofrat ' W e i chs e 1 b a u m, und
der Ohrenklinik, Vorstand: Hofrat Politzer, der k. k. Universität
in Wien.) (Ibidem.)
In dem mitgeteilten Falle handelt es sich um rechtsseitige hoch¬
gradige nervöse Schwerhörigkeit und linksseitige totale 1 aubheit,
bedingt rechts durch Atrophie, links durch völligen Schwund des
C o r t i sehen Organes ohne Veränderungen am Nerven. Auf Grund
der bisherigen diesbezüglichen Veröffentlichung unterscheidet A. 3
Typen der Veränderungen bei genannter Erkrankung: 1. die Atrophie
des C o r t i sehen Organes, 2. die Atrophie des Hörnerven und des
Ganglion spirale, 3. die Atrophie des Hörnerven, des Ganglion spirale
und des C o r t i sehen Organes. (Vgl. Manasse, Zeitschr. f. Ohren¬
heilk., 52 Bd., 1 u. 2. Heft. Referat oben.)
Rudolf Haug: Ueber die Verwendung des Anaesthetikums No¬
vokain bei Ohroperationen und zur Therapie von Ohraffektionen.
(Aus der Kgl. Universitäts-Ohrenpoliklinik, Prof. Dr. Haug, zu
München.) (Ibidem.)
Verf. sieht im Novokain einen sowohl für die operative als auch
konservative Therapie wertvollen Arzneikörper und wünscht, dass
auch von anderer Seite zur Klärung noch weitere Erfahrungen über
die Wirksamkeit desselben gesammelt werden.
.loh. Habermann-Graz: Beitrag zur Lehre von der profes¬
sionellen Schwerhörigkeit. (Ibidem.)
Gewisse bei stärkerem Lärm stattfindende Beschäftigungen, wie
die der Schlosser, Schmiede, Eisenarbeiter, Müller, Lokomotivführer
und Schaffner bei der Eisenbahn, Artilleristen, Jäger etc. führen
bei längerer Dauer der Einwirkung des starken Lärmes zu einer
bleibenden Schwerhörigkeit. Klinisch zeigen diese Schwerhörigkeiten
das bekannte Bild der Erkrankungen des inneren Ohres, die patholo¬
gisch-anatomisch untersuchten Fälle zeigten als Veränderungen im
inneren Ohr alle eine Atrophie des C o r t i sehen Organes und als
weitere Folge teilweise eine aufsteigende Atrophie auch in den
Nerven. (Vgl. Alexanders und Manasses Arbeiten : Referate
oben.)
F. Isemer: Klinische Erfahrungen mit der Stauungshyperämie
nach Bier bei Behandlung der Otitis media. (Aus der Kgl. Univ.-
Ohrenklinik zu Halle a. S., Direktor: Geh. Rat Professor Dr. H.
Schwartze.) (Ibidem.)
Verf. kommt zu folgendem Ergebnis:
1. Die Behandlung der Otitis media durch Stauungshyperämie
ist nicht ohne Gefahren, weil unter der vertrauensvollen Beschrän¬
kung auf die Therapie die rechtzeitige Anwendung notwendiger
chirurgischer Eingriffe versäumt und dadurch der Ausgang der Er¬
krankung verhängnisvoll werden kann.
2. Absolut verwerflich ist jeder Versuch der Stauungsbehandlung
bei intrakraniellen Komplikationen der Otitis. (Vgl. Hasslauer,
Münch, med. Wochenschr. No. 34, 1906.)
Georg Cohn: Adenoide Vegetationen und Schwerhörigkeit.
(Aus der Kgl. Univ.-Poliklinik für Hals- und Nasenkranke zu Königs¬
berg i. Pr.) Zeitschr. f. Ohrenheilk., 52. Bd., 3. Heft.
Von 1573 untersuchten Schülern erwiesen sich 315 = 18 Proz.
als schwerhörig; von diesen letzteren war die Schwerhörigkeit in
165 Fällen = 52,4 Proz. allein durch adenoide Vegetationen und ihre
Folgen bedingt. Untersuchung aller Kinder zu Beginn des Schul¬
jahres erforderlich, umsomehr als bei einer grossen Anzahl von
Schülern weder diesen selbst noch ihren Lehrern das mangelhafte
Hörvermögen aufgefallen war. D ö 1 g e r - Frankfurt a. M.
Auswärtige Briefe.
Wiener Briefe.
(Eigener Bericht.)
Der Staatsvoranschlag pro l‘)07.— Bekämpfung der Tuber¬
kulose. — Konstituierung des Reichsverbandes der österreichi¬
schen Aerzteorganisation. — Vom XL Aerztekammertage. —
Gegen den Missbrauch von Rezepten. — Laienmassage. —
Landes-Kinderheim.
Oesterreich galt bisher als ein armer Staat. Freilich —
für das schmucke Militär, für Kanonen, Kriegsschiffe, Festungs¬
bauten etc. hatten wir immer Geld genug; für den höheren
Unterricht, speziell für Kliniken, Spitäler, Laboratorien u. dergl.,
hatte der Finanzminister jedoch immer zu wenig Geld in seiner
Kasse. Letzthin kam aber die grosse Ueberraschung. Der
Finanzminister besprach am 12. Oktober im Abgeordneten¬
hause den Staatsvorschlag für das Jahr 1907 und teilte bei
diesem Anlasse mit, dass wir nicht nur pro 1907 einen Budget¬
überschuss zu erwarten haben, er machte die weit inter¬
essantere Mitteilung, dass die Schlussrechnung des Budgets
für 1905 einen Gebarungsüberschuss von 52 Millionen ergeben
habe. „Uns geht’s nicht schlecht!“ sagte der Finanzminister.
Von diesen 52 Millionen Kronen habe er fünf Millionen
„für die Förderung der Herstellung und Ausgestaltung kli¬
nischer Abteilungen in Krankenhäusern“ und weitere zwei
Millionen für die Bekämpfung der Tuberkulose bestimmt.
Das war einmal eine höchst erfreuliche Mitteilung. Zumal der
grosse Zug praktischer Sozialhygiene, die Zuwendung von
2 Millionen Kronen zum Zwecke der Bekämpfung der Tuber¬
kulose, hat in ärztlichen Kreisen freudig überrascht. Vor
4 Jahren wurde in Wien ein grosser Verein ins Leben ge¬
rufen, dessen Protektorat der Kaiser selbst übernahm, ein
Verein, der auch den Wahlspruch des Kaisers „Viribus unitis“
in seinem Titel führen darf. Der Verein erstreckt seine Tätig¬
keit auf ganz Oesterreich und es bestehen bereits grosse Lan¬
deshilfsvereine in Mähren, Böhmen, Schlesien und Krain.
Diesem Verein soll die obgedachte Summe von 2 Millionen
Kronen zugewendet werden. Ob nun die Regierung mit der
Zuwendung von 2 Millionen Kronen dem Vereine die Errich¬
tung von Heilstätten für Lungenkranke auflegen wird, oder ob
sie dessen bisheriges System der Bekämpfung der Tuberkulose
gutheissen werde, das ist derzeit noch nicht bekannt. Bisher
beliess der Verein den Erkrankten womöglich in häuslicher
Pflege, sorgte für die gute Beköstigung desselben, eventuell
auch seiner Familie, wenn es sich um den Ernährer einer
Familie handelte, er beschaffte, wenn nötig, eine gesunde
Wohnung mit genügenden Schlafstellen, überwachte die Kinder
des Kranken, erzog die Kranken zur Ordnung und Reinlichkeit
(Desinfektion der Sputa) und versorgte die wieder arbeitsfähig
gewordenen Pfleglinge mit einer entsprechenden Arbeit, bei
welcher sie ihr Auskommen finden konnten, ohne ihre Ge¬
sundheit und ihr Leben neuerdings zu gefährden. Das ist wohl
ein recht rationelles System, mit welchem sich viele Aerzte
einverstanden erklären werden; ob es jetzt, nach Erhalt einer
so grossen Spende anders werden solle, das steht also dahin.
Die obenerwähnten 5 Millionen Kronen werden, wie seitens
des Ministeriums für Kultus und Unterricht verlautbart wird,
lediglich zur Förderung und Ausgestaltung der schon bestehen¬
den Kliniken und zur Errichtung neuer Kliniken verwendet wer¬
den. In Lemberg z. B. sollen aus dem 5-Millionen-Kredit gleich
4 neue Kliniken geschaffen werden, und zwar eine oto-laryngo-
logische, eine psychiatrisch-neurologische, eine dermato¬
logische und eine ophthalmologische Klinik. Die erstgenannten
2 Kliniken sind schon provisorisch aktiviert. Die 5 Millionen
gelten als Ergänzung der dem Unterrichtsminister im Vorjahre
zu gleichem Zwecke zur Verfügung gestellten 25 Millionen.
Dass ausserdem im Etat des Unterrichtsministers, wie alljähr¬
lich, weitere Millionen Kronen eingestellt sind, ist selbstver¬
ständlich und möge nur der Vollständigkeit halber erwähnt
werden.
Das Gesamterfordernis für den Unterrichtsetat in Oester¬
reich ist mit rund 63 Millionen Kronen beziffert, eine Summe,
welche die pro 1906 eingestellte um ca. 3 Millionen Kronen
übersteigt. Von diesem Betrage entfallen auf die 7 österreichi-
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2125
sehen Universitäten an ordentlichen und ausserordentlichen
Ausgaben pro 1907 rund 12,9 Millionen. Die Einnahmen
sämtlicher Universitäten sind auf rund 1,2 Millionen prälimi-
niert. Die Universität in Wien ist bei den Ausgaben mit
3,8 Millionen (+ 194 000 K) beteiligt, die in Graz mit 1,27
Millionen ( — 93 600 K), die 2 P r a g e r Universitäten (deutsche
und böhmische) mit 3,5 Millionen (+ 321 000 K), die in 1 n n s -
bruck mit 1,11 Millionen (+ 67 700 K), die in Lemberg
mit 1,1 Millionen (+ 46 600 K), die in K r a k a n mit 1,5 Millionen
(+ 52 600 K), die in C z e r nowitz (keine medizinische Fakul¬
tät) mit + 9250 K, sämtliche Universitäten mit einem Plus von
mehr als einer halben Million Kronen gegen das laufende Jahr
1906.
Es sei uns noch gestattet, auf Einzelheiten hinzuweisen.
Für die Wiener medizinische Fakultät ist pro 1907 ein ordent¬
liches Mehrerfordernis von 45 000 K eingestellt. Die I. medi¬
zinische Klinik erhält aus Anlass ihrer Neubesetzung einen be¬
zahlten 3. Assistenten, ihre Dotation (800 K) wurde um 400 K
erhöht. Als ausserordentliches Erfordernis finden wir ausser¬
dem verzeichnet: ,,Zur Ausgestaltung der I. medizinischen
Klinik im Allgemeinen Krankenhause als 1. Rate des bezüg¬
lichen Gesamterfordernisses — 27 000 K.“ Ausserdem finden
wir an anderer Stelle: „Für die I. medizinische Klinik, 1. Rate
2000 K-“ Das sind offenbar die Zugeständnisse, welche man
Herrn Prof. v. Noorden machen musste. Uebrigens be¬
kommen auch andere Kliniken und Institute Erhöhungen der
Dotationen, Vermehrung ihrer ärztlichen Hilfskräfte, der
Diener etc. Die Kosten des im Bau befindlichen Wiener hygie¬
nischen Institutes sind mit 1 140 000 K veranschlagt. Pro 1907
sind als 2. Rate beantragt 137 000 K. Für Herstellungen im
pathologisch-anatomischen Institute, als einmaliges Erforder¬
nis, 12 000 K. Für Syphilisforschungen an der syphilido-
logisch-dermatologischen Klinik, als einmaliges Erfordernis,
4000 K. Das hygienische Institut und das Institut für experi¬
mentelle Pathologie erhalten aus Anlass ihrer Uebersiedlung
in Neubauten je 7000 K. Die Prager deutsche medizinische
Fakultät hat ein Mehrerfordernis von 12 000 K, die böhmische
von rund 60 000 K, wozu noch grössere Beträge kommen,
welche als ausserordentliches Erfordernis eingestellt sind. In
Krakau sind „zur Erweiterung und baulichen Ausgestaltung
des Instituts für deskriptive Anatomie“ als 1. Rate 25 000 K
eingestellt usw. Es geht vorwärts, wenn auch recht langsam.
Am 30. September 1. J. fand in Wien die konstituierende
Versammlung des Reichsverbandes der österreichischen
Aerzteorganisationen statt. Die Organisationen mehrerer
Kronländer (Ober- und Niederösterreich, Mähren, Böhmen
(2 Sektionen), Schlesien, Salzburg, Bukowina, Steiermark,
Tirol, Kärnten, Krain, Istrien) waren durch Delegierte ver¬
treten. Man wählte ein Präsidium, beriet die Art der Ver¬
tretung der einzelnen Organisationen im sog. Arbeitsausschuss
und gelangte mit Mühe zu einer provisorischen Einigung. Die
Höhe der Mitgliederbeiträge entfesselte eine bewegte Debatte.
Vergebens wies der als Delegierter des wirtschaftlichen Ver¬
bandes der Aerzte in Deutschland entsendete Sekretär
Dr. Kuhns aus Leipzig darauf hin, dass eine solche Organi¬
sation nur dann mit Erfolg wirken könne, wenn sie über reich¬
liche Geldmittel verfügen könne, man wollte absolut von der
Fixierung eines grösseren Mitgliedsbeitrags nichts wissen. Zu¬
mal die Vertreter der Organisation der praktischen Aerzte
Wiens wollten einen höheren Mitgliedsbeitrag nicht stipulieren,
da sie hierdurch diese ihre Organisation, die noch nicht fertig
ist, ganz und gar gefährdet glaubten. Der Antrag, die ein¬
zelnen Organisationen auf die Zahlung von 150 K für die ersten
Ausgaben zu verpflichten, fand schliesslich allgemeine An¬
nahme. Weiters kamen zur Verhandlung: die Notwendigkeit
der Einführung der fseien Arztwahl bei den Krankenkassen,
die Frage der Installierung von Schulärzten in ganz Oester¬
reich, die Notwendigkeit eines neuen Reichs-Sanitätsgesetzes,
die Gesetzwerdung der ärztlichen Standesordnung und die
Reform des Aerztekammergesetzes, endlich wurde über den
Stand der Resistenz der praktischen Aerzte in Niederöster¬
reich eingehend referiert. Die Beschlüsse bezüglich der freien
Arztwahl lauteten: 1. Die Gesamtorganisationen der Aerzte
Oesterreichs stehen auf dem Standpunkte der freien Arztwahl,
doch sind die bereits erworbenen Rechte der derzeitigen
Kassenärzte zu berücksichtigen. 2. Jede Kassenarztstelle so¬
wie jede Stelle mit fixen Bezügen ist öffentlich auszuschreiben.
3. Jeder Arzt, der sich um eine derartige Stelle bewirbt, bevor
dieselbe ausgeschrieben ist, handelt standeswidrig. — Der
Anfang zur engeren wirtschaftlichen Einigung der Aerzte
Oesterreichs ist gemacht — mehr aber nicht. Möge der Aus¬
bau gelingen !
Der XI. Aerztekammertag, die jährliche Beratung von
Delegierten aller Aerztekammern Oesterreichs, fand heuer am
16. und 17. Oktober in Krakau statt. Soweit die Berichte bis-
nun vorliegen, wurde die Tagesordnung erschöpft. Die Wiener
Aerztekammer stellte 2 Referate zur Diskussion, welche durch
den Delegierten der Kammer, Dr. Heinrich Grün, eingeleitet
w urde. Um dem Missbrauche der jahrzehntelangen Repetition
alter Rezepte zu begegnen, wobei unter anderem darauf hin¬
gewiesen wurde, dass sich Kurpfuscher vielfach solcher alter
Rezepte zur Ausübung ihrer unlauteren Praxis mit Erfolg be¬
dienen, stellte der Referent folgende Anträge: 1. Jedes Rezept
verlieit nach 3 Jahren seine Gültigkeit. 2. Rezepte, welche
stark wirkende Mittel enthalten, verlieren unbedingt nach
e i n e m Jahre die Gültigkeit. 3. Auf jedem Rezept ist wo¬
möglich der Name und das Alter des Patienten genauest zu
verzeichnen. 4. Von Leuten, die der Morphiumsucht verdäch¬
tig scheinen, ist dem Apothekergremium Mitteilung zu machen,
welches die einzelnen Apotheken auf die Möglichkeit der listi¬
gen Entwendung des Morphiums aufmerksam machen wird.
5. Die Aerztekammern sollen schon deshalb im Obersten Sani¬
tätsrat eine Vertretung erhalten, damit sie die Reform des
Rezeptwesens auf legislativem oder administrativem Wege
veranlassen könnten. 6. Die Apotheken sollen auf die gesetz¬
liche Unzulässigkeit des Ausfolgens von Arzneien auf Rezepte
ausländischer Aerzte aufmerksam gemacht werden. Man
einigte sich, die Beschlussfassung über diese und sonstige ge¬
eignete Vorschläge zur Hintanhaltung des Missbrauches alter
Rezepte etc. nochmals auf die Tagesordnung des nächsten
Kammertages zu setzen, inzwischen aber schon die Regierung
zu ersuchen, sie möge die Amtsärzte veranlassen, eine strenge
Kontrolle zu üben, dass die Apotheker die Rezepte bei jeder
Wiederholung des Medikaments stampiglieren.
Bezüglich der Laienmassage wurden nach Erstattung des
Referates nachfolgende Anträge akzeptiert: Es seien staatliche
Krankenpflegeschulen zu errichten. Der Unterricht hätte nur
von Fachleuten zu erfolgen, die yom Obersten Sanitätsrat da¬
zu autorisiert werden. Alle Laienzöglinge haben eine Prüfung
abzulegen, auf Grund deren sie „geprüfte Krankenpfleger“
heissen. Jeder andere Titel oder jede andere Reklame wäre
zu verbieten. Nur geprüfte Krankenpfleger dürfen über Ge-
heiss, eventuell unter Aufsicht der Aerzte niedere Funk¬
tionen (?) der Massage, Frottage, Bäder etc. verrichten. Der
Titel „Masseur“ ist ihnen jedoch verboten. Nur geprüfte Kran¬
kenpfleger dürfen das Gewerbe ausiiben, welches eventuell zu
konzessionieren wäre, jedoch unter Aufsicht der Sanitäts¬
behörde zu bleiben hat.
Die westgalizische Kammer brachte wieder einmal ihr un¬
leidliches Projekt der Einführung eines kleinen „obligatori¬
schen Rezeptstempels“ zur Sprache. Durch die hierdurch zu
erzielenden Geldbeträge sowie durch Beiträge der Aerzte
selbst, der Anstalten, welche Aerzte beschäftigen u. dergl. m.
werde es möglich sein, dass alleAerzte Oesterreichs
bei Errichtung „staatlicher Pensionsinstitute“ für ihre alten
Tage versorgt würden. Wir haben schon einmal darauf hin¬
gewiesen, dass es für uns Aerzte recht odios wäre, wenn es
hiesse, das kranke Publikum solle durch eine ihm unterlegte
„Rezeptstempelgebühr“ für die Altersversorgung der Aerzte
aufkornmen. Der Geschäftsausschuss wurde beauftragt, die
Frage nochmals auf ihre praktische Durchführbarkeit zu
piiifen. Man beriet ferner die Einführung von Schulärzten an
den Volks- und Mittelschulen und hiess den Antrag auf Schaf¬
fung eines Ministeriums für Sanitätsangelegenheiten wieder
einmal gut und dringlich. Weitere Gegenstände der Tagesord¬
nung bildeten die nochmalige Urgierung eines neuen Epidemie¬
gesetzes, die Angelegenheit eines Uebereinkommens mit den
Privat-Unfallversicherungsgesellschaften, die Regelung der
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
2126
Stellung und der Dienstverhältnisse der Gefängnisärzte in den
Strafanstalten etc., endlich die Wahlen des Geschäftsaus¬
schusses und der geschäftsführenden Aerztekammer für das
folgende Jahr.
Der niederösterreichische Landesausschuss errichtet zur
Pflege und zur Heranziehung der zahlreichen Findelkinder auf
dem Flachlande kleinere Asyle. Vor einigen Tagen wurde
wieder ein solches „Landes-Kinderheim — es ist bereits das
sechste — in einem hierzu adaptierten, tief in den Bergen
und abseits vom grossen Verkehre gelegenen Schlösschen in
Hoch-Wolkersdorf bei Wiener Neustadt feierlichst eröffnet.
Die Idee, die armen Findelkinder — das Land Niederösterreich
muss derzeit mehr als 26 000 versorgen — auf dem Lande, in¬
mitten von Feldern und Wiesen, Gärten und Wäldern in kleinen
Waisenhäusern unterzubringen, ist ja eine recht gesunde und
dürfte allseits anerkannt werden. Die in Findelhäusern ge¬
borenen Kinder wurden bisher gegen Bezahlung einer Pflege¬
mutter zum Stillen oder zur künstlichen Auffütterung über¬
geben. Jetzt geschieht dies ebenfalls, nach erlangtem 4. Lebens¬
jahre wird aber das Kind der Pflegemutter abgenommen, in
einem Asyle untergebracht und hier erzogen. Die Kinder
stehen unter Aufsicht von Klosterschwestern und besuchen die
öffentliche Schule. Die Mädchen werden überdies im Kochen,
Waschen und Nähen, beide Geschlechter in der Wartung des
Viehes und in der Pflege des Küchengartens unterrichtet. Da
sie bis zur Erlangung der Erwerbsfähigkeit in diesen Asylen
verbleiben dürfen, sollen sie zum landwirtschaftlichen Berufe
herangezogen werden, um so der Not an landwirtschaftlichen
Arbeitern, der sogen. „Landflucht“, abzuhelfen. Das findet
wieder nicht die allgemeine Billigung, dass man diese Findlinge
geradezu zu Knechten und Mägden erziehen will, man würde
es lieber sehen, wenn sie auch den Gewerben sich zuwenden
könnten. Schliesslich spielt noch ein politisches Moment hinein.
Zahlreiche Findelkinder Niederösterreichs mussten bei slavi-
schen Pflegeeltern untergebracht werden. Sie lernten nur
slavisch sprechen, konnten späterhin nur bei slavischen
Meistern als Lehrlinge untergebracht werden und fühlten sich
zeitlebens als Slaven. In diesen Asylen werden die Kinder
deutscher Mütter die deutsche Sprache erlernen, also dem
Deutschtum wiedergewonnen werden. Von den 42 Pfleg¬
lingen der jüngsten Anstalt (32 Knaben und 10 Mädchen) ver¬
stehen, den Berichten zufolge, 39 kein deutsches Wort. Dass
auch die ärztliche Ueberwachung der Pfleglinge in diesen
Heims eine bessere sein wird, das versteht sich von selbst.
So spielen politische, sozialpolitische und humanitäre Faktoren
bei diesen Gründungen eine wichtige Rolle.
Römische Briefe.
(Eigener Bericht.)
Rom. den 10. Oktober 1906.
Die Weltausstellung in Mailand. — Eine Kolonie für Epi¬
leptiker. — Merkwürdige Zustände der Gemeindeärzte. — Er¬
öffnung des gynäkologischen Institutes in Mailand. — XVI. Kon¬
gress der inneren Medizin in Rom.
In diesen letzten Monaten schien alles Leben Italiens in der
lombardischen Hauptstadt zusammenzuströmen, die eine fieber¬
hafte Tätigkeit und ganz ungewöhnliche Produktionskraft ent¬
wickelt hatte. Mit lebhaftester Genugtuung und Freude wird
jeder Italiener durch diese gewaltige Ausstellung wandern,
die so deutlich den wirklich bemerkenswerten Fortschritt
unseres Vaterlandes in den letzten Dezennien vor Augen führt.
Das Projekt, die Eröffnung des neuen, grossen Verkehrsweges
des Simplontunells durch eine internationale Ausstellung in
Mailand, dem natürlichen Ausgangspunkt des neuen Schienen¬
weges, zu feiern, war in Mailand sofort mit grossem Enthusias¬
mus aufgenommen worden, und in den 4 Jahren, die seit da¬
mals verflossen, wurde nicht nur das ursprüngliche Projekt
glänzend zur Ausführung gebracht, sondern es gedieh weit
über die Grenzen einer Sonderausstellung, jener der „Verkehrs¬
mittel“ und entwickelte sich derart, dass neben vielem anderen
auch noch eine — Hygieneausstellung Platz fand, lieber einem
weitläufigen Gebäude steht in Riesenlettern : „Hygiene“ und
im Peristyl lesen wir: „Non vivere, sed valere vit a.“
Ein Gefühl besonderer Genugtuung erfüllt beim Betreten dieser
Halle den Besucher, der aus der geräuschvollen Arbeitsaus-
stellung kommt und aus jenen Riesenbauten, die angefüllt sind
mit den raffiniertesten, verderbenbringendsten Kriegs- und
Mordwerkzeugen. Es gibt also doch auch Leute, die für ihre
Mitmenschen sorgen und nach allen Mitteln suchen, durch
welche die Schädigungen der Maschinen und die Schrecken des
Krieges vermieden oder wenigstens gemildert werden können.
Es ist eine stille, fast monotone Ausstellung, aber bei jedem
Schritt stösst man auf einen Gegenstand, der den Beschauer
fesselt und zum Nachdenken zwingt. Die Vereinigung der In¬
dustriellen Italiens zur Verhütung der Arbeitsunfälle, die ent¬
stand, nachdem auch bei uns ein Arbeitergesetz ins Leben ge¬
rufen worden war, stellt die verschiedensten Mittel aus, durch
welche Unfälle verhütet und die Arbeit so wenig schaden¬
bringend als nur möglich gestaltet werden soll. Da finden
sich gewaltige Ventilatoren, Protektionsmaschinen, Maschinen,
die den schädlichen Staub aufsaugen, Badeeinrichtungen etc.
Und die Resultate sind die besten, laut der Statistik der oben
genannten Vereinigung sind die Unfälle und Erkrankungen im
Fabrikbetrieb an Zahl merklich zurückgegangen, während sie
sich in kleinen Betrieben und bei Handarbeitern eher vermehrt
haben.
Eine andere, wichtige Statistik stammt vom Professor für
Hygiene in Pavia, Sorman i. Auf grossen Tafeln zeigt er in
übersichtlicher Weise die Sterblichkeit an Tuberkulose in
Italien bis zum Jahre 1905 und diese I abellen beweisen klar,
dass die Tuberkulose im letzten Dezennium in sämtlichen
italienischen Provinzen, mit Ausnahme der Provinz Belluno,
zurückgegangen ist. Zur Erklärung dieser merkwürdigen Aus¬
nahmestellung Bellunos, einer Provinz, deren vorzügliches Ge¬
birgsklima eigentlich ganz das Gegenteil erwarten Hesse, dient
vielleicht die Tatsache, dass ihre Bewohner massenweise sich
auf die Auswanderung begeben, im Auslande ein Leben
schwerster Arbeit und Entbehrung führen und oftmals Opfer
des Alkohols werden. Von allen übrigen Provinzen haben jene
von Cotno und von Mailand am meisten unter der Tuberkulose
zu leiden, wahrscheinlich, weil sie die industriereichsten sind
und sich in ihnen die meiste Arbeiterbevölkerung zusammen¬
drängt. Im allgemeinen ist in jenen Teilen Italiens, wo die
Industrie am wenigsten entwickelt ist, z. B. in Unteritalien,
auch die Sterblichkeit an Tuberkulose geringer.
Zahlreiche Sanatorien haben ihre Pläne und Uebersichts-
tabellen ihrer Erfolge ausgestellt; erwähnenswert ist jenes, das
die Provinz Mailand im Veltlin für ihre Armen errichtet, ferner
das Hospiz von Livorno und das Gotthardsanatorium Dr.
M a f f i s (von den beiden letztgenannten war schon in früheren
Korrespondenzen die Rede.)
Obwohl der Alkoholismus bei uns nicht die Rolle spielt,
wie in anderen Ländern, da er sich grösstenteils auf den Wein¬
genuss beschränkt, ist doch auch seit etlichen Jahren eine
Antialkoholbewegung im Gang, die durch Vorträge und ver¬
schiedene Publikationen das Volk zu belehren und vom Alkohol¬
genuss abzubringen sucht. Die Brescianer Antialkoholliga hat
acht grosse Tafeln ausgestellt, die in sehr übersichtlicher Weise
die moralischen, physischen und ökonomischen Schäden des
Alkoholismus zeigen. Es wäre zu wünschen, dass diese Tafeln
für den allgemeinen Gebrauch vereinfacht würden und mög¬
lichste Verbreitung fänden.
Ein anderer interessanter Teil der Ausstellung ist jener,
der zeigt, in welcher Weise die Gesellschaft die gesunde Ent¬
wicklung der Kindheit zu fördern sucht, um so kraftvolle und
arbeitsfreudige Menschen heranzubilden. Verschiedene In¬
stitute zeigen die Resultate, die sie mit Hilfe der wohlhabenden
Klassen zu Gunsten der ärmeren erzielt haben; durch diese
Wohlfahrtseinrichtungen werden verwahrloste oder verlassene
Kinder, jene bedürftiger Mütter etc., auf den Weg ehrenvoller
Arbeit geführt, die erblich belasteten, schwächlichen Kinder,
sowie die in elender Umgebung erkrankten werden in die
Marinehospize, die Gebirgskolonien geschickt, oder man sucht
ihnen durch mit den Schulen verbundene Suppenanstalten,
Rekreatorien etc. zu helfen. Es ist die Privattätigkeit, die auf
diesem Gebiete das verspätete Werk der Regierung zu ersetzen
und diese letztere anzuspornen sucht. Auch die Massregeln für
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2127
Schulhygiene, die Resultate der Institution der Hospitäler, der
üreisenheime etc. sind auf der Mailänder Ausstellung bestens
vertreten.
Das italienische „Rote Kreuz“ zeigt in einer sehr umfang¬
reichen Ausstellung die verschiedenen Krankentransportmittel,
Eisenbahnwagen, Schiffe für den Krankendienst, Baracken,
Apotheken etc., kurz alle Mittel, die dazu dienen, die Wunden
des Krieges zu heilen. Hier ist auch Deutschland sehr gut ver¬
treten. Sehr anschaulich und anregend ist jener Teil der
Rotenkreuzausstellung, der der Antimalariakampagne im Agro
romano und der Tätigkeit in den Trümmermassen des Erd¬
bebens von Kalabrien gewidmet ist.
Die übrigen ausstellenden Nationen, Deutschland, Frank¬
reich, Schweiz, England, Ungarn, sind leider in der Hygiene¬
ausstellung nur sehr schwach vertreten, der beste Teil der
deutschen Abteilung ist, wie gesagt, jener des Roten Kreuzes;
Frankreich bringt Reproduktionen seiner grossen Institute, da¬
runter eine sehr beachtenswerte des Hospitals Claude Bernard,
einen Apparat zur Sterilisation des Wassers mittels Ozon und
eine Zeichnung der Firma K e s t n e r - Paris, die zeigt, auf
welche Weise es möglich ist, die Abwässer der Fabrikbetriebe
in vollständig reines Wasser zu verwandeln. In der Schweizer
Abteilung verdient Erwähnung die Ausstellung des Bureau
sanitaire, die es besonders im Kampfe gegen die Tuberkulose
zeigt und verschiedene Apparate für Chirurgie, Desinfektion,
Beheizung etc.. Interessant ist auch die grosse Landkarte der
Schweiz, auf welcher sämtliche Stationen der freiwilligen
Rettungsgesellschaft verzeichnet sind.
England hat hauptsächlich Abbildungen ausgestellt, be¬
merkenswert ist das Modell eines Hospitals für 500 Scharlach¬
kranke, das in wenigen Wochen errichtet wurde. In der
ungarischen Abteilung ist am interessantesten das Modell des
Volkssanatoriums „Königin Elisabeth“. Aber im grossen gan¬
zen sind die fremden Nationen nur mit wenigen Ausstellungs¬
objekten vertreten und auch diese wenigen sind nicht alle gut;
auch haben nicht wenige Fabrikanten Dinge ausgestellt, die
längst bekannt sind und für die sie zweifelsohne nur Re¬
klame machen wollen.
Die Tätigkeit, welche der ärztliche Stand Italiens zu
Gunsten der leidenden Menschheit entwickelt und die sich auf
der Hygieneausstellung zu Mailand in so glänzendem Lichte
zeigt, hält unermüdlich an. Unter anderem arbeitet man jetzt
an der Errichtung einer Kolonie für Epileptiker, ein Werk, das
gewiss die Beachtung weiterer Kreise verdint. Man weiss,
dass leider genug jener Unglücklichen existieren, die, als un¬
gefährlich, im Irrenhaus keine Aufnahme finden können, die
aus den Krankenhäusern nach kurzem Aufenthalt immer wieder
ungeheilt entlassen werden müssen, die aber auch infolge der
immer häufiger auftretenden Anfälle bald keine feste Stellung
mehr bekommen können. Die Erfahrung hat gelehrt, dass,
falls man diese Individuen in gesunde Umgebung, in geregelte,
tätige, hygienische Lebensweise bringt, ihnen den Alkohol, das
Fleisch und Salz entzieht, nach einigen Monaten die Brom¬
gaben überflüssig werden und die Anfälle allmählich ausbleiben.
Die Witwe des leider zu früh dahingegangenen, verdienstvollen
Professors Sciamanna hat die Initiative ergriffen, um diesen
Lieblingswunsch ihres Gatten zur Ausführung zu bringen und
ein Komitee mit den hervorragendsten Namen der italienischen
Psychiater und Neurologen gebildet; es sind schöne Summen
gesammelt worden und binnen kurzem wird das Projekt zur
Wirklichkeit werden und aus dem Leben der grossen Städte
werden mit jenen Unglücklichen, die oft genug die Verüber
greulicher Verbrechen wurden, wieder etliche dunkle Flecken
verschwinden.
Trotz der unleugbaren Verdienste des ärztlichen Standes
wird dieser aber leider, wenigstens was die Praktiker
in den Gemeinden anbetrifft, nicht sehr gut behandelt und be¬
findet sich teilweise in nichts weniger als beneidenswerten
Verhältnissen. Jede Gemeinde Italiens ist durch Gesetz ver¬
pflichtet, den Armen ärztliche Hilfe zu stellen und besoldet
zu diesem Zweck einen oder mehrere Aerzte. Dabei werden
zwei Systeme befolgt. Entweder setzt die Gemeinde ein allge¬
meines Stipendium fest und bezahlt so den Arzt für sämtliche
Mitglieder, Arme wie Wohlhabende, oder sie gibt dem Arzt
nur eine bestimmte Entschädigung für den Armendienst,
während die besser situierten Gemeindebürger den Arzt je
nach Bedarf bezahlen. Laut Gesetz muss die Gemeindever¬
waltung jedes Jahr die Liste der Armen aufstellen, die Anrecht
auf die freie ärztliche Behandlung haben, diese Liste ver-
grössert sich nun meistens, nachdem der Arzt einmal fest an¬
gestellt ist, in erschreckender Weise, und die Zahlenden werden
immer weniger, so dass man absolut nicht begreift, wie manche
Gemeindeärzte weiterleben können. Da wird z. B. folgender
Fall erzählt: In einer Gemeinde Siziliens waren 1903 zwei
Aerzte mit einem Stipendium von 600 L. angestellt worden,
wovon ihnen, nachdem Steuern, Abgaben für die Pensions¬
kasse etc. abgezogen sind, 437 L. netto verbleiben. Dafür
haben sie ein Jahr lang die Armen zu behandeln. Die Zahl
dieser beträgt bei der Anstellung laut Liste ca. 1000, und da die
Gemeinde 5900 Mitglieder zählt, hat der Arzt Hoffnung, noch
soviel verdienen zu können, dass es zum Leben reicht. Aber
zwei Jahre später stellt die Gemeinde eine neue Liste auf und
nun sind es 3200 Arme, die für obige 437 L. zu behandeln sind.
Dazu kommt noch, dass von den übrig bleibenden wohlhaben¬
den Bürgern die meisten inzwischen ausgewandert sind. Kurz,
die armen Aerzte sehen nach etlichen Jahren ihre Einnahme
ganz erschreckend vermindert und gleichzeitig die unbezahlte
Arbeit verdreifacht. Und so geht es vielen, vielen der armen
Kollegen und nicht nur in Sizilien. Sehr viele Gemeindeärzte
nehmen weniger als 1000 L. ein und müssen dafür bei jedem
Wetter, Tag und Nacht zur Verfügung stehen. Da begreift
man, dass, wie es neulich hier geschah, ein armer junger Arzt
aus Verzweiflung ein paar Sublimatpastillen verschluckte.
Das sind schlimmere Zustände als beim Arbeiterproletariat!
Deshalb wird auch die Agitation immer lebhafter, damit
endlich durch Gesetz ein Minimum an Stipendien festgesetzt
wird, welches dem Arzt gestattet, etwas menschlicher als
bisher zu leben.
Die Drohung eines allgemeinen Aerztestreikes hat viel¬
leicht auch das ihrige dazu beigetragen, dass in dem Reglement
für die Anwendung des neuen Sanitätsgesetzes vom Jahre 1904
(das Reglement hat auf sich nicht länger als zwei Jahre lang
warten lassen)etliche Verbesserungen aufgenommen wurden, die
den Brennpunkt der Agitation bilden, welche alle Gemeindeärzte
umfasst. Unter anderem ist den Aerzten endlich ein jährliche
Vakanz von höchstens einem Monat zugestanden worden, aber
diese Begünstigung ist mit so vielen Klauseln und bureau-
kratischen Zutaten verziert, dass sie für viele wohl nur auf dem
Papier bestehen wird. Ausserdem besteht, so lange nicht das
Stipendium gesetzlich festgelegt wird, die Befürchtung, dass die
Gemeinden, die sich gezwungen sehen, dem Arzt etliche
Wochen freizugeben, so zu manipulieren verstehen, dass der
Aermste die Kosten dieser Vakanz bezw. des Vertreters wieder
selbst bestreiten muss.
In Mailand wurde gelegentlich des Gynäkologenkongresses
auch das neue gynäkologische Institut (geleitet von Prof. M a n-
g i a g a 1 1 i) eröffnet. Es bildet einen hervorragenden Bestand¬
teil der neuen klinischen Institute zur Vervollkommnung der
Aerzte, dieser Art höherer Universität, deren Errichtung der
Stadt Mailand zur grössten Ehre gereicht. Auch die Klinik
für Gewerbekrankheiten, welche Prof. Devoto leiten wird,
ist schon ziemlich weit gediehen. Im Vorgarten des gross¬
artigen gynäkologischen Institutes wurde auch ein Standbild
des hochverdienten Prof. Porro enthüllt.
Vom 25. bis zum 28. Oktober wird in Rom der Kongress
für interne Medizin stattfinden. Vorsitzender des Komitees
welches aus den ersten Klinikern Italiens besteht, ist Prof.
B a c c e 1 1 i, Sekretär Prof. L u c a t e 1 1 o in Padua, Via Anghi-
noini 3, an welchen die Anmeldungen zu richten und die Quote
von 10 Liren zu senden ist, welche zu den ziemlich bedeutenden
Fahrpreisermässigungen berechtigen.
Die Themen für die Diskussion sind: 1. Arthritismus, 2. Ar¬
teriosklerose, 3. Typhusähnliche Infektionen. Prof. G a 1 1 i.
MUENCHENFR MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
'128
Vereins- und Kongressberichte.
78. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte
in Stuttgart, 16. bis 22. September 1906.
V.
Naturwissenschaftliche Hauptgruppe.
Sitzung vom 20. September 1906.
Referent Dr. E. R o s e n f e 1 d - Stuttgart.
Auf Nachmittag -4 Uhr war eine Sitzung der naturwissenschaft¬
lichen Hauptgruppen gelegt worden.
Redner waren Z s i g m o n d y - Jena über Kolloidchemie mit be¬
sonderer Rücksicht der organischen Kolloide und Wolfgang P a ii I y -
Wien über Beziehungen der Kolloidchemie zur Physiologie.
Herr Zsigmondy führte aus: Die Grundlagen der Kolloid¬
chemie hat Thomas G r a h a m in 2 Arbeiten gegeben, welche die erste
umfassende Charakteristik der kolloidalen Stoffe enthalten, und in
welchen auf die Unterschiede zwischen Kristalloiden und Kolloiden,
„den zwei verschiedenen Welten der Materie", mit Nachdruck hin¬
gewiesen wird.
Der Kolloidzustand ist aber nicht bloss auf die organische Ma¬
terie beschränkt; es existieren auch zahlreiche anorganische Kolloide,
die für die Erforschung des Kolloidzustandes besondere Bedeutung ge¬
wonnen haben. Fast jedes Kolloid existiert in zweierlei voneinander
verschiedenen Formen: als Hydrosol (kolloidale Lösung) und als
Hydrogol, von gallertartiger oder schwammiger Beschaffenheit, eine
Zwischenstufe zwischen festem und flüssigem Zustand darstellend.
Die Bedeutung der Kolloidchemie für die Biologie ergibt sich daraus,
dass alles Leben an den Kolloidzustand gebunden ist, für die Land¬
wirtschaft daraus, dass der Ackerboden Kolloiden die Fähigkeit ver¬
dankt, Nährsalze zurückzuhalten und der Pflanze zuzuführen.
Redner hebt hervor, dass die Anwendung physikalisch-chemi¬
scher, insbesondere physikalischer Methoden, einen tieferen Einblick
in die Natur der Kolloide gewährt habe. So konnte mit Hilfe der
von Siedentopf und Zsigmondy ausgearbeiteten Methoden
der Sichtbarmachung und Grössenbestimmung ultramikroskopischer
Teilchen nicht nur die von vielen Forschern vorausgesetzte Hetero¬
genität der Hydrosole erwiesen werden, es war auch mit Hilfe der¬
selben möglich geworden, zahlreiche interessante Aufschlüsse über die
Grösse, die Farbe, das Verhalten dieser Teilchen zu erhalten. Es
konnte aber auch gezeigt werden, dass die optische Inhomogenität
der Materie mit zunehmender Zerteilung immer mehr abnimmt, und
dass bei Teilchengrössen, welche den molekularen gleichkommen,
alle Zerteilungen homogen erscheinen müssen. Teilchen, welche
im Ultramikroskop noch einzeln sichtbar gemacht werden können,
werden als Submikronen, andere dagegen, die nicht mehr einzeln
zu sehen sind, als Amikronen bezeichnet.
Nun bespricht der Verfasser die Publikationen van Bemme¬
lens, der das Gebiet der Absorption erschlossen hat. Von
van Bemmelen und anderen ist dann gezeigt worden, dass viele
Körper, die früher für chemische Verbindungen gehalten worden
waren, in Wirklichkeit innige Mischungen oder „Absorptionsverbin¬
dungen“ sind. Ein typisches Beispiel für eine derartige Absorptions¬
verbindung bietet der Cassiussche Purpur, der selbst von Ber-
zelius für eine chemische Verbindung gehalten worden war, von
anderen aber für ein Gemenge von Gold mit Zinnsäure, was Redner
bewiesen hat.
Die Kolloidteilchen sind meist elektrisch geladen, und ihre La¬
dung spielt bei den Reaktionen der Kolloide eine hervorragende Rolle.
Entgegengesetzt geladene Teilchen fällen einander aus unter Bildung
von Niederschlägen, und ahmen hierin chemische Reaktionen oft
täuschend nach.
Für die Auffassung der Ferment- und Enzymwirkungen als
heterogene Katalyse sind die Untersuchungen B r e d i g s wichtig ge¬
worden, der mit seinen Schülern zeigen konnte, dass kolloide Metalle
geradeso wie Fermente das Wasserstoffsuperoxyd zu katalysieren
vermögen. Reaktionen, die so weitgehende Analogie untereinander
zeigen, dass starke Blutgifte sich auch als starke Platingifte erwiesen
haben.
Redner bezeichnet den von der Kolloidforschung erbrachten
Nachweis der Diskontinuität kolloidaler Lösungen als einen wesent¬
lichen Fortschritt in der Naturerkenntnis, dessen Wert durch die
Existenz zahlreicher Uebergangsformen zwischen kolloidalen und
kristalloiden Lösungen noch erhöht wird.
Herr P a u 1 y will sich auf die allgemeinen Gesichtspunkte be¬
schränken, möglichst wenig Hypothetisches bringen.
Die lebendige Substanz stellt sich als ein Komplex verschieden¬
artiger gelöster oder verquollener Stoffe dar, so der lipoiden Lezi-
thine und Cholesterine, der kolloidalen Proteine, Enzyme und ge¬
wisser Salze, an deren richtiges Verhältnis und Zusammenwirken die
Lebenstätigkeit geknüpft ist. Erst indem sich in diesem Komplex die
Hauptgruppen trotz ihrer innigen Beziehungen zueinander eine nicht
unbeträchtliche physiko-chemische Selbständigkeit bewahren, ist
jener Parallelismus in den Eigenschaften toten und lebenden kolloi¬
dalen Materials möglich.
Ausser den Zellen kommt aber auch der festen oder flüssigen
Zwischensubstanz eine eminente physiologische Bedeutung zu als
Träger von Ernährungsmaterial oder als Vermittler mechanischer
Aufgaben. Zustandsänderungen der kolloidalen Stoffe dieser extra¬
zellularen Bestandteile bewirken auch Zustandsänderungen der in
sie eingebetteten Zellen.
Die Kolloide des Organismus sind durch einen verwirrenden
Reichtum von physikalischen Zustandsänderungen ausgezeichnet. Zur
Gruppe der Kolloide gehören z. B. auch die Eiweisskörper.
Kolloidale Zustandsänderungen im Tierkörper gehen mit Hilfe von
Enzymen vonstatten. Entweder werden sie von ihrer Resorption
oder Verteilung in diffusibles Material zerlegt, oder kristalloide Sub¬
stanzen in kolloidaler Form aus dem Stoffwechsel heraus in den
Zellen deponiert.
P. stellt nun 3 Leitsätze auf, die er dann einzeln bespricht.
1. Eiweiss weicht im Verhalten gegen Elektrolyte von den an¬
organischen Kolloiden ab und zeigt besondere Gesetzmässigkeiten.
2. Gegen anorganische Kolloide verhält es sich hingegen ähnlich
wie diese untereinander.
3. Durch verschiedene Einwirkungen können den Eiweisskörpern
bis zu einem gewissen Grade die Eigenschaften anorganischer Kolloide
gegen Elektrolyte erteilt werden.
Die Proteinkörper sind gegen Neutralsalze der Alkalimetalle und
alkalischen Erden ziemlich unempfindlich. Vergleicht man die Fällung
des Eiweisses durch Elektrolyte mit der des Kalziumchlorids z. B.,
so ist das Eiweiss fast 100 000 mal weniger empfindlich als das kol¬
loidale Metall. Ferner zeigt gereinigtes Eiweiss keinerlei merkliche
elektrische Ladung. Man kann ihm aber durch die positiven H-Ionen
verdünnter Säuren eine elektropositive (und vice versa) Ladung er¬
teilen, ohne dass das Eiweiss ausfällt. Erst bei hohen Konzentrationen
von Salzen der Alkalien tritt Eiweissfällung auf. Bei näherem Stu¬
dium zeigt es sich nun, dass die beiden Salzionen antagonistisch
wirken, die Metallionen fällend, die Säure-Ionen hemmend. So kommt
die Reihe zustande Fluorid, Sulfat, Tartrat, Azetat, Chlorid, Bromid,
Jodid, Rhodanid. Die Fluoride usw. sind starke Eiweissfäller, die
Jodide, Rhodanide etv. hindern diese Fällung. Der Angriffspunkt
dieser Fällungen liegt nach Hofmeister und Spiro in dem
Lösungsmittel.
Dieselbe Ionenreihe erscheint auch bei den eigenartigen Zustands¬
änderungen von Leim und Agar. Und zwar machen die Sulfate etc.
die Gelatine fester, während die Rhodanide etc. den Gelatinierpunkt
erniedrigen.
Proteinlösungen werden auch durch Schwermetallverbindungen,
Fe-, Ca-, Zn-, Pb-, Hg-, Ag-Salze gefällt, und zwar in sehr niederen
Konzentrationen. Parallel mit dieser grossen Empfindlichkeit der
Eiweisskörper geht auch die Empfindlichkeit vieler Pflanzen- und
Tierzellen gegen diese Verbindungen, welche als Gifte wirken.
Infolge des kolloidalen Charakters der Schwermetallproteinver¬
bindung und ihrer Irreversibilität bei der Verdünnung mit Wasser wird
das Schwermetall auch aus grossen Verdünnungen allmählich von den
Zellen aufgenommen und kann sich, ohne dass der Zutritt von neuem
Schwermetall gehemmt oder das bereits im Plasma deponierte wieder
in Freiheit gesetzt wird, schliesslich in den Zellen bis zur schwersten
Vergiftung anhäufen. So kommt es, dass hochgradige Verdünnungen
der Ca-, Ag- und Hg-Salze (1:1000 Millionen) genügen, um Mikro¬
organismen zu schädigen und schliesslich zu töten, während z. B.
Strychninnitrat in Verdünnungen unter 1:10 000 für Pflanzenzellen
harmlos ist.
Dem Charakter einer Kolloidreaktion entspricht es auch, dass
ein Ueberschuss von Mikroorganismen (Spirogyren) die übrigen vor
der Einwirkung der verdünnten Schwermetallösung bewahrt, und
dass der gleiche Schutz von verschiedenen anderen, erfahrungsgemäss
Kolloide leicht aufnehmenden Substanzen ausgeübt wird, so von Kohle,
Schwefel, Torf, Braunstein u. a. m.
Aus dem kolloidalen Charakter der Immunkörperreaktionen
lassen sich auch ihre allgemeinen Gesetzmässigkeiten herleiten. So
wird z. B. die Agglutination dadurch bewirkt, dass die Bakterien,
welche sonst die kolloidalen Merkmale ihrer Eiweisskörper besitzen,
unter Aufnahme von Agglutinin, einem spezifischen kolloidalen Be¬
standteil des Serums der vorbehandetten Tiere, durch geringe Salz¬
zugaben ausgefällt werden.
Wie kolloidales Material von lebenden Zellen aufgenommen wird,
beweisen Versuche von D o u w e, der künstliche Zellen mit festen
Eiweisswänden hergestellt hat, in welche Pepsin aus der Umgebung
durch Absorption eindringt.
P. bespricht dann die Einwirkung der Neutralsalze der Alkalien
in vitro und im Organismus. Er unterscheidet Ionenproteide
und solche, die ihr Analogon besitzen in der reversiblen Salz¬
eiweissfällung.
Die Ionenproteide spielen eine Rolle bei der künstlichen Partheno¬
genese .1. Loebs etc. Doch sind sie im allgemeinen noch wenig
erforscht. Jedenfalls lässt alles Vorgetragene erkennen, dass die
Kolloidchemie wie kaum ein zweites Gebiet iden Forscher in stän¬
diger Berührung mit den verschiedenartigsten Problemen der Biologie
erhält, offenbar weil sie nahe heranreicht an die Fundamente der
Lebenserscheinungen.
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2129
Abteilung für innere Medizin, Pharmakologie, Balneologie und
Hydrotherapie.
Referent: Dr. Weinberg Stuttgart.
Nachtrag zu dem Vortrag von Minkowski vom
17. September.
Zur Deutung von Herzarhythmien mittelst des „oesophagealen“ Kar¬
diogramms.
An der vom Oesophagus aus aufgenommenen Kurve kommen
sämtliche Phasen der Herzbewegung zum Ausdruck. Bei jeder Ver¬
kleinerung einer Herzhöhle wird die Wand des Oesophagus nach vorn
gezogen. Man erkennt in der Präsystole die anfangs schneller, dann
langsamer verlaufende Entleerung des Vorhofs. Dann folgt ein steiles
Ansteigen der Kurve bei der Erschlaffung des Vorhofs und der gleich¬
zeitigen Anspannung des Ventrikels, bis zur Eröffnung der arteriellen
Klappen. Die Entleerung des Ventrikels in der Austreibungszeit führt
mit der Verkleinerung des Herzens wieder zu einer stärkeren Senkung
der Kurve. Dieser folgt die diastolische Füllung des Herzens, bei
der die Oesophaguswand allmählich nach hinten gedrängt wird, bis
die wiedereinsetzende Vorhofskontraktion sie abermals nach vorn
zieht.
Bei einem Fall von Herzarhythmie sieht man eine stärkere Er¬
hebung mit nachfolgender tieferer Senkung in der Mitte der langen
Pulsperiode, welche am Arterienpuls absolut nicht bemerkbar ist. Der
nachfolgenden am Pulse bemerkbaren Ventrikelsystole scheint eine
Vorhofskontraktion nicht unmittelbar vorauszugehen. Die tiefe Sen¬
kung während der Pulsintermission entspricht der zu der folgenden
Ventrikelsystole gehörenden Vorhofskontraktion. Es handelt sich um
einen verzögerten Ablauf einzelner Herzkontraktionen durch Störung
der Reizleitung bei Pulsus retardatus. Die Störung beruhte ver¬
mutlich auf einer Vaguswirkung, da nach Atropin die langsamen Pulse
seltener wurden. In gleicher Weise wie die Insuffizienz der Trikus-
pidalis am Venenpuls sich bemerkbar macht, kommt die Schlussun¬
fähigkeit der Mitralis an den Bewegungen des linken Vorhofs zum Aus¬
druck. An einem Falle von Insuffizienz und Stenose der Mitralis zeigt
sich an Stelle der Senkung der Kurve bei der Entleerung des Ventrikels
während der ganzen Systole, indem durch Zurückströmen von Blut
in den Vorhof dieser am Schluss der Ventrikelsystole den höchsten
Qrad der Füllung zeigt und nur in der Präsystole sich entleert. Bei
muskelschwachem Herzen können vorübergehend auftretende systoli¬
sche Geräusche auf vorübergehende Schlussunfähigkeit der Mitralis
zurückgeführt werden. Das Vorkommen von muskulärer „Mitral¬
insuffizienz“ ist damit erstmals bewiesen.
Sitzung vom 21. September, vormittags 8 Uhr.
Vorsitzender : Herr Rumpf- Bonn.
1. Herr W o 1 f f - Elberfeld: Tuberkulinbehandlung, insbesondere
Perlsuchtherapie.
Redner weist auf die von Spengler nachgewiesene antagoni¬
stische Wirkung des menschlichen und Perlsuchttuberkulins hin. Ge¬
gen menschliches Tuberkulin stark reagierende Personen reagieren
schwach auf Perlsuchttuberkulin. Hierauf gründet sich die Behand¬
lung mit Perlsuchtbazillensubstanz, Bazillenpräparaten; das Verfahren
ist der Vakzination bei Pocken analog. Man beginnt vorsichtig mit
Perlsuchtbazillenextiakt, erst später werden die Bazillenpräparate
angewandt. Daneben verwendet er nach Spengler auch Jod, das
die Tuberkulintherapie nicht nur unterstützt, sondern den Erfolg der¬
selben erst vorbereitet, oft aber die Anwendung des Tuberkulins über¬
flüssig macht. Die Methode ermöglicht ambulante Behandlung. Die
spezifische Behandlung ist der Hochgebirgsbehandlung überlegen.
Perlsuchttuberkulin bewirkt Heilung, wo das Hochgebirgsklima ver¬
sagt hat. Blutungen sind keine Kontraindikation, vielmehr sistieren
sie während der Behandlung mit Perlsuchttuberkulin. Der Vorzug
dieser Methode liegt in der erweiterten Indikationsstellung, selbst
schwere Fälle werden mit Erfolg behandelt, Schluck- und Sprech¬
beschwerden schwinden. Bestehende Albuminurie steigt nach der
Injektion, daher sind bei solchen Fällen längere Pausen zwischen den
Injektionen nötig. Auch bei Jodmedikation ist tägliche Urinunter¬
suchung nötig.
2. Herr V o 1 1 a n d - Davos: Ueber die Verwendung des Kamphers
bei Lungenkranken.
Es gelang V o 1 1 a n d, einen Patienten mit grosser Herzschwäche
mit subkutanen Kampferinjektionen sehr lange am Leben zu erhalten.
Nachdem der Kampher bei akuter Phthisis sich wirksam gezeigt hat!
war eine günstige Wirkung auch bei chronischer Herzschwäche zu
erwarten. Pulsus alternans und andere Störungen des Herzrhythmus
bei Phthise sind häufig die Folge von Atonie des Magens und ver¬
schwinden daher häufig bei Regelung der Diät. Die gewöhnlichen
Herzmittel lassen bei anderen Fällen der Arhythmie die Phthisischen
im Stich, da sie auf die Dauer den Magen schädigen. Bei einigen
Fällen von chronischer Tuberkulose erfolgte erst nach Anwendung des
Kamphers ein deutlicher Umschwung. Auffallend war rasche Auf¬
hellung einer Unterlappeninfiltration; daher sind auch ständige Auf¬
hellungen der Dämpfung auf den Kampher zu beziehen; bei ganz
schweren Fällen verlängert er das Leben. Eine giftige Wirkung wurde
me beobachtet. Magenblutungen kontraindizieren den Kampher nicht,
m 6 Fällen von Magenblutung stand diese auf Kampheranwendung!
Die günstige Wirkung bei Phthisis liegt in der Beeinflussung der
Herztätigkeit, die auch die Verdauungsorgane wieder günstig beein¬
flusst, aber auch die erkrankten Organe werden direkt beeinflusst.
Der objektiven Besserung geht subjektive oft lange voraus. Die ein¬
gespritzten Mengen betrugen bei einem Patienten bis zu 2000 g in
15 Monaten. Auch bei Erbrechen der Schwangeren scheint der
Kampher günstig zu wirken.
3. Herr W e i s s m a n n - Lindenfels: Die Heilbehandlung der
Tuberkulose.
Im Gegensatz zu den Universitätskreisen haben zahlreiche prak¬
tische Aerzte eine günstige Wirkung des Hetols bei Tuberkulose kon¬
statiert; eine Reihe von Krankengeschichten beweist, dass das Mittel
weiterer Prüfung wert ist.
4. Herr Arnsperger - Heidelberg: Zur Frühdiagnose der Lun¬
gentuberkulose.
Der Wert der Röntgenbilder bei der Untersuchung fortgeschrit¬
tener Fälle von Lungentuberkulose ist bekannt, sie geben genauere
Auskunft über die Ausdehnung des Prozesses als der perkutorische
Befund. Das Röntgenbild der normalen Lunge ist sehr konstant, daher
la_ssen schon geringe Abweichungen vom normalen Röntgenbild das
Voi handensein einer Krankheit leichter erkennen als Abweichungen
vom normalen Perkussionsbefund. Das Wichtigste für die Technik
dei Untersuchung ist eine Blende, welche die sekundären Strahlen
vom Auge des Untersuchenden fern hält und Veränderungen der
Stellung leicht ermöglicht. Die Durchleuchtung ist hier wichtiger als
die Radiographie. Die von manchen Autoren als erstes Symptom
der Tuberkulose im Röntgenbild gefundene verminderte Exkursions¬
weite des Zwerchfells auf der befallenen Seite infolge von pleuriti-
schen Exsudaten oder von Verminderung der Elastizität der Lungen
und von Läsionen des Nervus phrenicus hat A. nur selten gesehen,
obgleich sie wegen des typischen Befundes nicht gut zu übersehen
ist; in vorgeschrittenen Fällen kommt dieses Symptom meist auf Rech¬
nung dei Pleuritis. Bei fast allen frühen Fällen werden Verschieden¬
heiten des Spitzenfeldes in bezug auf Grösse und Helligkeit fest¬
gestellt. Bei tiefem Atmen sieht man die Trübung sich nur unbe¬
deutend einstellen. Bei vorgeschrittenen Fällen kann man Herdbildur.g
mit Zusammenfallen mehrerer Herde konstatieren.
Disk ussion zu V ortrag 1 — 4: Herr Rumpf- Bonn wendet
sich gegen die Unterscheidung von Universität und praktischen Aerzten
in wissenschaftlichen Fragen. Auf den Universitäten herrschen ebenso
grosse Meinungsverschiedenheiten.
Herr N o 1 d a - St. Moritz hat ebenfalls gute Erfolge von der
Spengler sehen Methode gesehen.
Herr Nourney-Mettmann: Die Dosierung des Tuber¬
kulins muss sehr niedrig sein.
Herr K o c h - Freiburg: Der Kampher ist ein gutes Adjuvans bei
I uberkulose, besonders in Verbindung mit Prävalidinsalbe.
Herr Schichler - Stuttgart verwendet den Kampher bei Pneu¬
monie, häufig kombiniert mit Sauerstoff, auch bei Osteomyelitis. Bei
Kindern empfiehlt er rektale Anwendung des Kamphers.
Herr W einberg- Stuttgart : Langdauernde Kampherbehandlung
bei Sepsis und Wochenbettfieber wurde schon früher empfohlen, er
hat damit ebenfalls Erfolge bei diesen Krankheiten gehabt. Wenn
die Mehrzahl der Aerzte dem Hetol skeptisch gegenübersteht, so ist
dies nach den Stuttgarter Erfahrungen durch die kritiklose Behand¬
lung aller, selbst der schwersten Fälle und die häufigen Misserfolge,
die die Stuttgarter Aerzte bei von Länderer selbst behandelten
Fällen feststellen konnten, vorläufig berechtigt.
Herr S c h e e r e r - Bromberg: Die physikalische Diagnostik ist
bei der Lunge der Röntgendiagnostik überlegen. Mit Hetol hat er
ganz negative Ergebnisse gehabt.
5. Heu G o I d s c h m i d t - Reichenhall : Ueber rezidivierende
Pleuritis.
Redner hat 3 Fälle von Pleuritisrezidiven mit kurzer Dauer und
völligem Verschwinden der subjektiven und objektiven Symptome
in mehrwöchentlichen Intervallen beobachtet. Auffallend war beson¬
ders die tiefe gemütliche Verstimmung der Patienten.
6. Herr B i b e r f e I d - Breslau : Pharmakologische Eigenschaften
eines synthetisch dargestellten Suprarenins und einige seiner Derivate.
Das neue Präparat kann in weit stärkeren Lösungen angewandt
werden als die bisherigen Präparate und soll nur geringe Neben¬
wirkungen haben.
7. Herr B o r c h a r d t - Wiesbaden : Studien über die Be¬
ziehungen der Fettsäure zur Azeton- und Zuckerbildung.
Azeton und Azetessigsäure werden im Körper nach Naunyn
aus Oxybuttersäure gebildet; daher wäre es richtiger, sie Oxybutter-
säurekörper zu nennen statt Azetonkörper; Azetonkörper und Trau-
benzucker kommen häufig aber nicht immer gleichzeitig vor, die Ver¬
brennung von Traubenzucker im Körper setzt die Bildung der Azeton-
köiper herab. Die Bildung beider im Organismus gehorcht gemein¬
samen Gesetzen. Azetonkörper treten nur bei einer gewissen Dis¬
position auf, wenn diese besteht, vermehrt Einführung von Oxy¬
buttersäure deren Ausscheidung, gleichzeitig treten aber auch die
anderen Azetonkörper auf.
Die Derivate der höheren Fettsäuren können an der Stelle abge¬
sprengt werden, wo ein H durch irgend ein Radikal ersetzt wird.
Ist nun bereits ein H einer Fettsäure in der Alphastellung substituiert.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
verhält sich die Substanz wie die nächst niedere Fettsäure, die
Ammovaleriansäure wie die Buttersäure, die Aminoisovaleriansäure
wie Isobuttersäure, Aminoisocapronsäure (Leucin) wie Isovalerian-
säure. Wie aus Butter- und Isovaleriansäure dürfte daher auch das
Leucin Azetonkörper bilden, dafür spricht, dass E m b d e n, S a 1 o -
in o n und Schmidt tatsächlich bei Leberdurchblutung mit Leucin,
Fick und Blum bei Kokainfütterung bei Gesunden und Diabetikern
Azetoni.örperausscheidung konstatierten. Die Vorgänge der Bildung
von Oxybuttersäure aus der Fettsäure sind also 1. Substituierung
von NHa- und CbL-Gruppen durch HO, 2. Absprengung der Kette
aus Zeton, wo ein H durch eine andere Gruppe ersetzt wurde und
3. Oxydation des ß C-Atoms. Azetonkörper entstehen also aus
/^-Oxybuttersäure, ß-Aminobuttersäure, Buttersäure, Copransäure,
isovaleriansäure, Leucin.
Traubenzuckervermehrung entsteht beim diabetischen Hunde
durch Fütterung mit Milchsäure, Alanin, Asparagin, Glykokoll. Die
Milchsäure, «-Oxypropionsäure, bildet daher vermutlich durch ^-Oxy¬
dation Dioxypropionsäure (Glyzerinsäure), deren Aldehyd bereits den
einfachsten Zucker, eine Triose, darstellt; durch Zusammenlegung
zweier Triosen könnte der Traubenzucker entstehen. Unter Zu¬
grundelegung der für die Oxybuttersäure gefundenen Vorgänge (Ge¬
setze) kommt man von einigen Fettsäurederivaten zur Milchsäure
und damit zur Traubenzuckerbildung. Alanin z. B. geht in Milchsäure
über, ebenso Isobuttersäure, die ebenfalls beim Diabetiker den
Zucker vermehrt und deren Einführung Milchsäure im Urin auf-
treten lässt. Derselbe Vorgang darf für die Aminoisovaleriansäure
und Isocapronsäure vermerkt werden, bei welcher die Zwischen¬
stufe zur Milchsäure die Isobuttersäure darstellt. Serin, Isoserin,
vielleich auch Cystin und Dipropionsäure gehen nicht in Milchsäure,
sondern gleich in Glyzerinsäure über. Nun hat B. bei Ernährung mit
Protamin Azetonkörpervermehrung gefunden, das Protamin aber ent¬
hält 70 — 80 Proz. Arginin (Guanidin-a-aminoisovaleriansäure). Dieses
ist leicht in Ornithin überzuführen, aus dem durch Abspaltung der
Aminogruppe in ^-Stellung Aminoisovaleriansäure entstehen könnte,
damit ist der Uebergang zu Butter- und Oxybuttersäure gegeben.
Ebenso enthält das Thymussiston viel Arginin. Die Ableitung des
Zuckers und der Azetonkörper aus Eiweissderivaten wäre somit her¬
gestellt. Alle Substanzen, welche als Zuckerbildner auftreten, setzen
nach Hirschberg und Rosenfeld die Azetonkörperbildung
herab, ebenso die zur Zuckerbildung in Beziehung stehenden Oxy-
säuren und nach neueren Versuchen von Borchardt und Lange
auch Alanin, Asparagin, Glutaminsäure. Eine chemische Verbindung,
aus der gleichzeitig Azetonkörper und Traubenzucker entstehen
kann, ist andererseits nicht bekannt, auch bezüglich des Leucins ist
dies nicht nachgewiesen.
Sitzung vom 21. September 1 906, nachmittags 3 Uhr.
Vorsitzender: Herr Leo-Bonn.
1. Herr R e i c h e r t - Wien : Ueber einen Spiegelkondensor zur
Sichtbarmachung ultramikroskopischer Teilchen.
C. R e i c h e r t - Wien hat einen neuen Beleuchtungskondensor
ausgearbeitet, welcher vor dem von Abbe infolge Wegfalls der
Blenden einen Vorteil grösserer Lichtintensität hat und der es er¬
möglicht, Ultrateilchen sowohl in ungefärbten wie gefärbten Prä¬
paraten sichtbar zu machen. Er eignet sich besonders zur Unter¬
suchung frischer ungefärbter Präparate.
2. Herr Müller- Wien: Ueber Folgeerscheinungen nach Ent¬
fernung von Muskulatur des Verdauungstraktus.
M. hat bei einer grossen Reihe von Tieren, namentlich Hunden,
Muskulatur des Magens oder Darms entfernt, bei grösseren Darm¬
strecken war dies zirkulär nicht völlig möglich, sondern es wurden
Längsstreifen entfernt; so gelang es, grosse Dannstrecken zu ent-
muskeln. Der grössere Teil der Tiere überstand die Operation. Im
ganzen blieb der Stuhl dabei normal und erfolgte innerhalb 24 Stun¬
den nach der Operation. Die Autopsie ergab Verwachsung der
operierten Schlingen, und dass mit Ausnahme des mesenterialen An¬
satzes fast überall die Muskulatur beseitigt war. Die Kraft des
oberhalb der operierten Darmstrecke liegenden Darms genügte, um
den Stuhl durchzutreiben. Auf Grund dieses Befundes bedarf die
Theorie und Klinik des paralytischen Ileus der Revision. Ferner
wurden sowohl an den vorderen wie den hinteren Flächen des Ma¬
gens grössere Partien der Muskulatur abgetragen; nach der Operation
sank die Motilität und Resorption, es kam zu Atonie und schwerster
Insuffizienz des Magens, dabei bestand mehrfach Hypersekretion, noch
ehe Rückstände im Magen nachzuweisen waren, dabei trat die sonst
beim Hunde fehlende freie Salzsäure auf. Der Mechanismus der Se¬
kretionsstörung ist noch nicht klar, offenbar sind die Motilitäts¬
störungen das Primäre.
3. Herr L a v e s - Hannover: Ueber das Erhitzen der Milch im
Haushalt und einen dazu verwendeten Apparat.
Der Apparat besteht aus zwei ineinander passenden Koch¬
töpfen, von denen der innere niedriger ist. Der Raum zwischen bei¬
den wird mit Wasser gefüllt, dessen Dampf über den durchlochten
Deckel des kleineren, mit Milch gefüllten Kessels hinwegströmt. Das
Wasser darf nur 3 — 5 Minuten sieden. Die Milch ist sehr gut halt¬
bar und von gutem Geschmack.
Herr L a v e s - Hannover: Ueber die Vorzüge eines geschmack¬
losen Liquor ferri albuminati in der Eisentherapie.
Das Eisenpeptonat nimmt unter den organischen Eisenverbin¬
dungen eine Sonderstellung insofern ein, als es im Magen zunächst zu
einer sehr voluminösen 15 — 25 proz. schwammigen Eisenalbumin¬
masse wird, die erst langsam zur Resorption gelangt, deshalb kann
es nicht ätzend auf die Schleimhaut des Magens wirken. Das von
ihm hergestellte neutrale Präparat Leucin hat einen angenehmen Ge¬
schmack und muss in grossen Mengen gegeben werden. Im Handel
wird statt des von dem Gesetz geforderten Hiihnereiweisses vielfach
Blutserum verwendet, das unappetitlich und nicht sterilisierbar ist.
5. Herr Schittenhelm - Berlin : Theoretisches über die
Gicht.
Das Unbefriedigende der bisherigen Theorien liegt darin, dass den
theoretischen Ueberlegungen experimentelle Ergebnisse nicht sofort
gefolgt sind. Das Wesentliche bei ihr ist das Auftreten von Harn¬
säure im Blut, sie ist eben nur eine besondere Form der Urikämie.
Es steht fest, dass die Harnsäure nur aus den Purinbasen entsteht.
Zu unterscheiden ist zwischen endogener und exogener Harnsäure¬
bildung. Das Auftreten von Harnsäure im Blut (Urikämie) kann ver¬
schiedene Ursachen haben. Obwohl wir bei purinfreier Kost die
Harnsäure verschwinden sehen, kommt doch keine Harnsäure in
das Blut, vermutlich, weil sie in kleinen Quantitäten schwer nach¬
weisbar ist.
An Formen der Urikämie sind zu unterscheiden: 1. die alimentäre,
durch Verfütterung bedingte, 2. die funktionelle, durch gesteigerten
Zerfall der Nukleine entstehend, wie sie bei Leukämie vorkommt,
3. die Retentionsurikämie bei Nierenschrumpfung. Von diesen
3 Formen ist die Gicht völlig verschieden, sie kann sich jedoch mit der
Retentionsurikämie komplizieren. Der Harnsäurestoffwechsel wird
durch mindestens 4 Fermente eingeleitet, durch die Nuklease, das
Desamin, das aus Adenin und Guanin Oxvpurine bildet, ein Ferment,
das aus Xanthin und Hypoxanthin Hippursäure bildet, und durch das
harnsäurezerstörende (urikolytische) Ferment. Zwischen Bildung und
Zerstörung der Harnsäure bestehen normal bestimmte Proportionen,
welche bei normalem Stoffwechsel Harnsäure im Urin nicht auftreten
lassen. Bei Gicht muss eine Störung namentlich des Gleichgewichts
zwischen Harnsäurebildung und -Zerstörung bestehen, und zwar han¬
delt es sich lediglich um Störung des endogenen Stoffwechsels,
denn die meisten eingeführten Nukleine werden bei Gicht im selben
Verhältnis umgesetzt wie beim normalen Organismus. Analogien
hat die Gicht in der Cystinurie, wo auch nur das aus dem Stoffwechsel
hervorgehende Cystin im Urin nachgewiesen wird, ebenso vermehrt bei
Pentosurie Aufnahme von Pentosekörpern die Pentosen im Harn nicht.
Eine weitere Analogie bildet die Hianingicht der Schweine, bei der es
auch zur Ablagerung in die Gelenke kommt, beim normalen Schwein
wird aufgenommenes Hianin völlig verbrannt. Die von Minkowski
aufgestellte Theorie einer Paarung der Harnsäure mit Nukleinsäure
ist nach seinen und B u r i a n s Untersuchungen nicht haltbar. Der
gichtische Anfall selbst ist durch das Vorhandensein lokaler Prozesse
mit Veränderungen zu erklären, welche zur Ablagerung der Harn¬
säure aus dem Blut führen.
Berichtigung. In No. 42, S. 2077, Sp. 2 (Vortrag Richartz)
ist zu lesen Z. 33 u. 34 v. o.: „Fehlen der schleimlösenden Wirkung
fand er auch bei schleimfreien Stühlen. Bei der Lösung spielen so¬
wohl...“ Z. 43 v. o.: bei fehlendem Schleim (statt vorhandenem
Schleim). Z. 50 v. o. : Bilirubinschleim (statt B. -Stuhl). Z. 56 v. o.:
streifenförmig (statt seifenförmig).
Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Sitzung vom 19. September, nachmittags 3 Uhr
in der Kgl. Landeshebammenschule.
Vorsitzender : Herr Pfannenstiel.
Herr W a I c h e r - Stuttgart: Ernährung der Wöchnerinnen und
Stillvermögen .
W. berichtet, dass er schon Ende der 80 er Jahre Versuche da¬
mit angestellt hat, ob und inwieweit die Ernährung auf das Befinden
und besonders die Stillfähigkeit der Wöchnerinnen Einfluss habe.
Er teilte damals seine Wöchnerinnen in 2 Abteilungen ein, und zwar
eine solche, die mit der bisherigen, damals noch üblichen Hungerdiät
ernährt wurde, während die andere eine ausgesucht kräftige Kost
erhielt. Die Folgen dieses Verfahrens zeigten sich bald: Während die
Wöchnerinnen mit kräftiger Kost sich rasch erholten, frisch und rot¬
bäckig am 13. Tag das Haus verliessen, mussten aus der Hunger¬
abteilung hohlwangige, blasse Frauen entlassen werden. Besonders
fiel aber- in die Augen die Tatsache, dass statt 27,5 Proz. Wöchne¬
rinnen, wie noch im Jahre 1879 berechnet worden war, nunmehr auf
der gut genährten Abteilung 79 Proz. ihre Kinder ohne Beinahrung
selbst ernähren konnten. Die Stillfähigkeit hat sich im Lauf der Jahre
noch bedeutend erhöht, so dass heute 100 Proz., d. h. alle Wöchne¬
rinnen, sofern sie gesund sind, ihre Kinder selbst und ausschliesslich
stillen. Doch muss auch hier gesagt werden, dass die Indikation zum
Nichtstillen ausserordentlich selten ist und dass auch ein durch Kom¬
plikationen gestörtes Wochenbett durch das Stillen nur günstig be¬
einflusst wird. Wie wichtig das Stillen für die Kinder ist, beweist
die Tatsache, dass die Brustkinder am 13. Tage ihr Anfangsgewicht
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2131
um 9,6 Prom. überschritten, während die Kinder mit Beinahrung ein
Minus von 31,9 Prom. zeigten. Von grosser Bedeutung für die Still¬
fähigkeit ist aber auch dev suggestive Einfluss, der sich direkt in einer
vermehrten Milchsekretion zeigt. Frauen, die nicht den Glauben
an diese Stillfähigkeit haben, bleiben zurück in der Milchabsonderung
während bei willigen Frauen, wenn sie nur ihr Kind wimmern hören'
auch schon „die Milch einschiesst“. Um diese Ueberzeugung von der
Stillfähigkeit zu erlangen, dazu hilft aber ganz besonders eine kräftige
Ernährung mit. Die einmal gewonnene Stillfähigkeit kann sich über
Monate hinaus ersti ecken, wenn sich keine gegenteiligen suggestiven
Einflüsse geltend machen. Das zunehmende Stillunvermögen ist
einer psychischen und moralischen Erkrankung unseres Volkes gleich
zu achten, der mit allen Mitteln entgegengearbeitet werden muss
Darum ist auch hoffentlich die Zeit nicht mehr fern, wo die knappen
Speisezettel fiii Wöchnerinnen in der historischen Pumpelkammer
ein ehrliches Begräbnis finden.
Diskussion: Herr K r ö n i g - Freiburg i. B. ist ebenfalls
Anhänger der reichen Diät, wünscht aber nach dem Vorgänge von
Ost n er, dass die Wöchnerinnen nicht mehr so lange liegen. K.
lässt nach 12, spätestens nach 16 bis 18 Stunden aufstehen, dadurch
wird die motorische Funktion des Darmes erhöht. Im allgemeinen
wird die knappe Diät nicht mehr so streng eingehalten, wie Herr
W a 1 c h e r meint.
Herr F r e u n d - Strassburg: Es ist nicht hoch genug anzu¬
schlagen, dass W a 1 c h e r endlich einmal dem Pessimismus der
Lehrbücher entgegengetreten ist, Auch der Alkoholismus der Mütter
hat keinen Einfluss auf die Stillfähigkeit. Trotzdem gibt es aber tat¬
sächlich Fälle, die nicht stillen können. Auch kann Walcher nur
über die 13 Tage des Anstaltsaufenthalts urteilen. Kommen die Frauen
unter schlechte Ernährung, so versiegt die Quelle. F. wendet sich
gegen das frühzeitige Aufstehen; die Blutungen, Hängebäuche und
Retroflexionen dieser Frauen kommen uns nicht zu Gesicht.
Herr F e h 1 i n g - Strassburg bemerkt, dass sich seine Still¬
resultate gegenüber seiner Stuttgarter Zeit bedeutend gebessert
haben, in Strassburg hat er bis zu 80 Proz. völliger Stillfähigkeit er¬
reicht. Die ausgezeichneten Stillresultate Wal chers rühren wohl
auch von der ausreichenden Pflege her (jede Wöchnerin hat eine
Schülerin zur Pflege). Die Frauen der ärmeren Stände haben ihr
frühes Aufstehen zu biissen, wie wir an dem Material unserer Poli¬
kliniken zur Genüge sehen.
Herr K r ö n i g hat in dieser Beziehung Nachprüfungen vorge¬
nommen.
Herr Walcher (Schlusswort) hält nicht streng die Rückenlage
ein, sondern lässt auch auf der Seite liegen. Die Hebammenschiile-
rinnen sind kein Vorzug vor den Kliniken, namentlich in der ersten
Zeit, wo sie mit grossen Vorurteilen behaftet sind.
Herr Walcher zeigt dann noch seine künstlichen Dolicho- und
Brachycephalen, über die er in der Abteilung für Anthropologie aus¬
führlich gesprochen hat.
Herr L a b h a r d t - Basel : Ueber die Extraktion nach Müller.
Bei Beckenendlagen wird im allgemeinen zu häufig eingegriffen.
Oberster Grundsatz hierbei muss sein: Möglichstes Abwarten der
spontanen Geburt bis zum Erscheinen der Spitze der Skapula. Im
Gegensatz zu der allgemeinen üblichen Armlösung hat A. Müller
1898 die Entwicklung bei Beckenendlagen ohne Armlösung wieder
empfohlen, und zwar brauchen nach ihm auch die nach oben ge¬
schlagenen Arme nicht gelöst zu werden, da sich die Schulterbreite
hierbei verschmälert. Wichtig ist nur, dass die Schultern in richtiger
Weise den Beckeneingang passieren, was dadurch erreicht wird, dass
das Kind, bis zur Skapula geboren, sehr stark nach unten gezogen
und nach Geburt der vorderen Schultern unter gleichzeitigem Zug
gehoben wird. Dadurch erübrigt sich die „Lösung“ der Arme. Vor¬
teile des Verfahrens: 1. Zeitersparnis durch Wegfall der Armlösung.
2. die Gefahr der Humerus- und Klavikularfraktur ist gleich Null.
3. Die Verminderung der Infektionsmöglichkeit, 4. Auch die Hebamme
kann sich im Notfall des einfachen Handgriffs bedienen. L. demon¬
striert sodann die Vorzüge des Verfahrens am Material der Basler
Klinik.
Herr E. K e h r e r - Heidelberg : Ueber physiologische und phar¬
makologische Versuche ati den überlebenden und lebenden inneren
Genitalien.
K. brachte die von den Ligamenten abgetrennten inneren Geni¬
talien verschiedener Versuchstiere und die exstirpierte menschliche
Gebärmutter in die von Sauerstoff durchströmte, auf Körpertempera¬
tur erwärmte Ringer sehe Flüssigkeit und registrierte die Be¬
wegungen mit Hilfe des Kymographions. Noch 12 Stunden nach der
Exstirpation waren die Bewegungen noch so stark wie am Anfang,
und die einzelnen Abschnitte des Genitaltraktus verhalten sich hierbei
ganz verschieden. Charakteristisch sind die Bewegungen des
schwangeren Uterus: energische, plötzlich beginnende aber langsam
sich lösende Kontraktionen mit langen Pausen. Die Bewegungen
lassen sich durch vermehrte Sauerstoffzufuhr, Temperaturverände-
rungen beeinflussen. Pharmakologische Untersuchungen ergeben:
I llokarp.in, Physostigmin, Chorbaryum und Strychnin, Aether wirken
erregend, Atropin und Strophanthin in kleinen Dosen erregend, in
grossen lähmend. Morphium wirkt in erster Dosis anregend,’ in
zweiter lähmend. Bei Nikotin und Suprarenin erfolgt beim trächtigen
Tier eine Umkehr der Reaktion. Ferner hat K. die Wirksamkeit der
einzelnen Ergotin-, Hydrastis- und Kotarninpräparate festgestellt. Am
lebenden Tier fielen die Versuche gleich aus.
Herr Franz- Jena: Ueber Karzinomrezidivoperationen.
F. führt dieselbe jetzt grundsätzlich bei allen einigermassen
operablen Fällen aus, er verfügt zurzeit über 12 Frauen mit 16 Rezi¬
divoperationen. 1 Patientin ist gestorben an einer Phlegmone, 7 sind
beschwerdefrei entlassen worden, 2 mit Blasenscheidenfisteln, eine
mit einer Blasen- und Rektumscheidenfistel, eine mit gleichen Fisteln
ist noch in Behandlung. Wenn die Rezidivoperationen auch nur in
seltenen Fällen Dauerheilung bringen, so halten sie doch für längere
Zeit die Krankheit auf und ersparen den Frauen viele Schmerzen.
Natürlich ist genaue palpatorische, zysto- und rektoskopische Dia¬
gnose notwendig. Statt der Unterbindung der Ureteren macht F.
lieber die Nierenexstirpation.
Herr F r o m m e - Halle a. S. : Macht Blut in der Bauchhöhle
Adhäsionen?
Baisch vindiziert dem Blut die Hauptursache bei der Ent¬
stehung der Adhäsionen. F. hat darüber Tierversuche angestellt mit
folgendem Resultat: 31 unter 35 Kaninchen hatten nach EröRiung
eines mittleren epigastrischen Gefässes keine Spur von AGiäsionen
in der Bauchhöhle. Das Blut war regelmässig nach 6 — 10 Tagen
vollständig resorbiert. In den 4 anderen Fällen war wohl eine In¬
fektion mit im Spiel, wie Kontrollversuche mit infiz :rtem Blut er¬
gaben. Auch hier waren nicht in allen Fällen Adhäsi neu entstanden.
Es scheint auch auf die grössere oder geringere Mei ge Blutes anzu¬
kommen. 3 mit Bacillus subtilis infizierte Tiere hatten keine oder
nur wenig Adhäsionen. Man kann demnach Blut ruhig zurücklasscn
Adhäsionen macht dasselbe nur dann, wenn es stark und virule::: •
fiziert ist.
Herr P a n k o w - Freiburg i. B.: Zur Frage der peritcr ealen
Wundbehandlung.
P. kommt auf Grund von Tierversuchen zu folgendi : Resultaten:
1. Bei oberflächlichen Läsionen des viszeralen oder p rietalen Peri¬
toneums ohne Blutaustritt erfolgten keine Verwachsungen. 2. Bei
Verschorfung des viszeralen oder parietalen Peritoneums bleiben
in der Regel, doch nicht immer, die Verwachsungen ; us. 3. Bei tief¬
gehendem Abschaben des parietalen Peritoneums bis zur diffusen punkt¬
förmigen Blutung traten in der Hälfte der Fälle Verwachsungen ein.
4. Bei gleicher Behandlung und Stillung der Blutung durch Ver¬
schorfung resp. Alkohol fand sich einmal bei ersterem Verfahren
leichte Adhäsionsbildung. 5. Infektionsversuche mit Staphylococcus
aureus ergaben, dass die Widerstandsfähigkeit des Organismus durch
die Läsion des Peritoneums beträchtlich herabgesetzt wurde. Am
ungünstigsten waren die Resultate bei den Tieren, bei welchen das
wundgemachte Peritoneum unbehandelt blieb, während nach Ver¬
schorfung mit Glühhitze oder Alkohol die Resultate etwas besser oder
ungefähr die gleichen waren.
Aerztlicher Verein München.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 13. Juni 1906.
(Schluss.)
Herr G. Trautmann: Erythema exsudativum multi-
forme und nodosum der Schleimhaut in ihren Beziehunge ^ur
Syphilis. (Der Vortrag befindet sich unter den Originellen
dieser Nummer.)
Diskussion: Herr Uffenheimer: Bei einem verhältr s •
mässig grossen Materiale von Erythemfällen der beiden Arten habe iU:
(bei Kindern) niemals Beteiligung der Schleimhäute an dem Prozess
beobachtet. In der Mehrzahl der Fälle ist die Erythemerkrankuiig,
besonders das Erythema nodosum, als sekundär zu betrachten; es
kommt gar nicht selten vor, dass die Grunderkrankung erst nach,
dem Auftreten des Erythems zu eruieren ist. In der Mehrzahl der
Beobachtungen ist das Erythem wohl toxischer Natur, doch kommen
nicht ganz selten Fälle vor, wo es durch Eindringen von Bakterien
in den Blutkreislauf (Sepsis) hervorgerufen ist. So erinnere ich mich
beispielsweise eines Falles, wo ein multiformes exsudatives Erythem
unter leichten Eiebererscheinungen und ohne dass zunächst sonst
etwas krankhaftes festgestellt werden konnte, begann und wo sich
nach wenigen Tagen eine schwere septische Herzaffektion entwickelte,
die schliesslich zum lode führte. Was das Zustandekommen der
Geschwüre auf dem Boden von Erythemerkrankungen der Mund¬
schleimhaut betrifft, so dürften diese ebenso wie die Geschwüre,
welche sich bei der sekundären Lues aus zerfallenen Papeln ent¬
wickeln, durch die d i r e k t e Wirkung des Bazillus fusiformis und der
Spirochaete hervorgerufen sein. Diese ständigen Schmarotzer der
Mundhöhle (sobald sie einmal Zähne enthält) haben auf ganz normaler
Schleimhaut offenbar keine pathogene Wirkung, wie mich Impf¬
versuche an mir selber und an einem Kollegen lehrten; es bedarf
wohl immer einer vorhergehenden Schädigung der Schleimhaut, ehe
sie eine pathogene Tätigkeit entfalten können. So kommt meines
Erachtens auch die Angina ulcerosa-membranacea selbst nur auf
vorher schon irgendwie geschädigten Tonsillen zustande; so können
die beiden Mikroben auf der papulös erkrankten Schleimhaut Ge-
2132
MUENCHFNER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43
liwürsbildung veranlassen, und auf die gleiche Weise entstehen
meiner Meinung nach auch die vom Herrn Vortragenden beschrie¬
benen geschwiirigen Veränderungen bei den exsudativen multiformen
und knotigen Erythemarten. Mikroskopische Untersuchungen des
Geschwürsbelages in solchen Fällen wären deshalb von grossem
Interesse.
Herr Q. Trautmann (Schlusswort): Hinsichtlich des Vor¬
kommens der Erytheme bei Kindern habe ich keine Erfahrung. Meine
Fälle betrafen sämtlich Erwachsene, und auch bei diesen ist das Er¬
griffensein der Mundhöhle und oberen Luftwege im Ver¬
gleich zu demjenigen auf der äusseren Decke kein allzuhäufiges.
Im Verlaufe von drei Jahren habe ich bei ganz speziell hierauf ge¬
richteter Aufmerksamkeit nur sieben Fälle beobachten können und in
der Literatur sind bis heute nur 39 Schleimhauterkrankungen bei
Erythema exsudat. mult. und nur 6 solche von Erythema nodosum
aufzufinden. Dass diese Erscheinungen einer vorangegangenen Sy¬
philis gegenüber sekundärer Natur und nicht als syphilitische Sym¬
ptome aufzufassen sind, war der Kernpunkt meines Vortrages.
Wenn nach den Beobachtungen des Herrn Vorredners oft erst nach
dem Auftreten des Erythems die diesem zu gründe liegende Krankheit
zu erkennen war, so handelte es sich hiebei eben um sympto¬
matische Erytheme. Solche kommen aber bei einer ganzen
Anzahl von Infektionskrankheiten als deren äusserer Ausdruck vor.
Ich brauche hiebei nur an Masern. Scharlach, Diphtherie, Varizellen,
Variola, Tuberkulose etc. zu erinnern. Eine andere Gruppe stellen
die toxischen Formen dar, von denen der Herr Vorredner eben¬
falls einen Fall mitgeteilt hat. Hieher gehören auch die vom Magen-
damikanal ab ingestis und medicamentis ausgehenden, wie zum Bei¬
spiel von Jod in seinen verschiedenen Verbindungen und auch die
exogenen, wie z. B. diejenigen infolge äusserer Arzneieinwir¬
kungen (Hg). In letzter Linie kommen noch die vulgären oder
idiopathischen Erytheme in Betracht, deren einwandfreie Aetio-
logie noch nicht feststeht, die aber als eine Infektionskrankheit sui
generis aufgefasst werden müssen. Die Syphilis schafft nun sicher
je nach den von ihr befallenen Regionen des Körpers eine allgemeine
und lokale Disposition zur Akquirierung andersartiger Erkrankungen.
Das ist die alte Lehre vom Locus minoris resistentiae, ohne die
wir nicht auskommen können. Und in diesem Sinne betrachte ich
die Erytheme aller Grupoen bei Lues als eine neuerworbene an¬
dersartige Erkrankung auf durch Lues zur Aufnahme von
anderen Krankheitserregern günstig gemachtem Nährboden. Diese
steht mit der Syphilis nur indirekt in genetischem Zusammenhang, ist
kein Produkt derselben und darf auch nicht spezifisch behandelt wer¬
den. Es gibt allerdings scheinbar Ausnahmen, wenn man an das
hauptsächlich von M a u r i a k und Hoffmann inaugurierte Ery¬
thema nodosum syphiliticum denkt. Dieses steht aber meist in nach¬
weisbarem direkten Konnex mit .der Lues und ist Lues. Der
Zerfall und die Geschwürsbildung der papulösen und nodösen Ery¬
themformen auf den Schleimhäuten mögen in manchen Fällen
durch eine direkte Wirkung der Vincent sehen Bakterien zustande
kommen, da diese auf intakter Schleimhaut nach den Experimenten
des Herrn Vorredners nicht pathogen wirken. In unseren Ge¬
schwürsbelägen sämtlicher Fälle waren aber, wie ich mitgeteilt
habe, Staphylo- und Streptokokken in grösster Anzahl und k eine
Spirochäten und Bacilli fusiformes nachzuweisen. Erstere findet man
aber auch auf luetischen Schleimhautprodukten. Jedenfalls vindiziere
ich diesen keine ätiologische Rolle und bin eher geneigt, der physio¬
logischen Beschaffenheit der Schleimhaut durch Mazeration etc.
die Schuld an dem Zerfall von Effloreszenzen beizumessen, die auf
der äusseren Haut bei Mangel dieses Einflusses fast immer intakt
bleiben. Dass dann auf diesem Boden die Bakterien der Mundhöhle
sekundär eine pathogene Wirkung entfalten und tiefgreifende Zer¬
störungen hervorrufen können, die die ursprüngliche Erkrankung
gar nicht macht, ist wohl nicht von der Hand zu weisen und in diesem
Sinne ist sicher auch die Vorstellung des Herrn Vorredners wichtig.
Auf diese Weise kommt es auch, dass die klinischen Formen der
Lues und der Erytheme auf der Schleimhaut infolge ihrer Aehnlich-
keit miteinander verwechselt werden oder dass letztere als zur Lues
gehörig betrachtet werden. Dass es sich aber um oft schwer zu
diagnostizierende, auf durch Lues prädisponiertem Boden entstandene
andersartige Erkrankungen handelt, wollte ich mit meinen Aus¬
führungen erläutern.
74. Jahresversammlung der Brit. Medic. Association
•abgehalten in Toronto (Kanada) vom 21. bis 25. August 1906.
(Fortsetzung.)
Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Die Abteilung wurde von Dr. Walther G r i f f i t h - Montreal
mit einem Vortrag eröffnet, der den Unterricht in der Geburtshilfe be¬
handelte. Redner beklagte zuerst, dass noch so viele Frauen ohne
Narkose entbunden würden (hier könnte man meiner Ansicht nach
eher über das Gegenteil klagen). Er würde es am liebsten sehen,
wenn Hebammen und Studenten gleichzeitig den geburtshilflichen
Unterricht erhielten, die letzteren würden dann gleichzeitig Kranken¬
pflege lernen und den Hebammen könnte klar gemacht werden, dass
der Arzt doch viel mehr kann wie sie. Er hält nicht viel von theore-
1 tischen Vorlesungen und möchte sie abgeschafft wissen. (Eigentlich
ist der Unterricht in England viel besser wie in Deutschland, da jeder
Student 20 Entbindungen selbständig machen muss; meistens sind es
poliklinische Geburten, so dass der Studierende sehr zum eigenen
Urteilen und Arbeiten kommt.)
A. H. Freeland B a r b o u r sprach über Gynäkologie und den
praktischen Arzt. Nur die grössere operative Gynäkologie ist die
Domäne der Spezialisten, die übrige Gynäkologie sollte durchaus in
den Händen des praktischen Arztes bleiben, der während seiner
Studienzeit in derselben unterrichtet und geprüft werden soll.
A. H. W r i g h t - Toronto sprach über Akzidentelle Blutung. Bei
schweren Fällen, von denen Verf. 5 sah, liegt grosse Gefahr vor;
oft sind Koliken das einzige Zeichen und wird die Affektion leicht über¬
sehen. Die Kranke ist in Lebensgefahr, bis der Uterus ent¬
leert ist; Dilatation und Accouchement force dauern zu lange oder
sind zu gefährlich. Man gebe Morphium in grossen Dosen und etwas
Atropin, hierdurch wird der Schock vermindert, dann entleere man
den Uterus durch vaginalen oder abdominalen Kaiserschnitt.
W. S. A. G r i f f i t h - London empfiehlt bei harter Zervix eben¬
falls den vaginalen Kaiserschnitt, bei Multiparen mit weicher Zervix
macht er die bipolare Wendung nach Braxton Hicks und überlässt
der Natur die Dilatation. T e m p 1 e - Toronto entleert den Uterus so
rasch als möglich, wenn die Blutung während der Geburt erfolgt.
Bei früheren Blutungen sprengte er die Eihäute und tamponiert die
Scheide. Dasselbe rät Murdoch Cameron - Glasgow, der die künst¬
liche Erweiterung und den Kaiserschnitt völlig verwirft.
Nachdem W. Gardner und R. G o o d a 1 1 - Montreal über
chronische Metritis und Arteriosklerose des Uterus gesprochen haben,
berichtet A. E. Giles-London über 146 Ventrofixationen des Uterus.
Er empfiehlt die Operation bei unkomplizierten, beweglichen Retro-
flexionen, wenn ein Pessar den Uterus nicht in der richtigen Lage
hält, wenn es dauernd getragen werden müsste und wenn die Kranke
die Operation wünscht. Bei fixierten oder mit Adnexerkrankungen
komplizierten Retroflexionen, sowie bei Prolaps ist die Operation stets
indiziert. Stets kiirettiere man, entferne Polypen, hypertrophische
Zervix, repariere Zervixrisse und Scheidenrisse oder Prolapse etc.
zur selben Zeit. Von 73 Kranken, die Redner später nachuntersuchen
konnte, wurden 12 schwanger. Von 15 Kindern wurden 9 normal ge¬
boren, 5 abortiert und 1 frühgeboren. Bei 10 der Mütter blieb der
Uterus nach der Entbindung in der richtigen Lage. Von den 61 Frauen,
die nicht schwanger wurden, blieben 58 geheilt. Bei 1 Fall trat eine
Narbenhernie, bei 1 eine Bauchdeckeneiterung auf.
Todd G i 1 1 i a m - Columbus verwirft die Ventrofixation voll¬
kommen zu Gunsten der abdominellen Verkürzung der Lig. rotunda.
Ebenso urteilt B o v e e - Washington, der bei totalem Prolaps den
Uterus exstirpiert.
S. N. Hay- Toronto, Tempi e und Gardner wollen die
Ventrofixation höchstens nach der Menopause anwenden, vorher
kommt nur die Ventrosuspension in Frage, wobei die Hinterfläche des
Fundus uteri mit Katgut an das vordere parietale Peritoneum nahe der
Blase angeheftet wird.
Charles R e e d - Cincinnati sprach über Veränderungen in Uterus¬
fibromen nach der Menopause und deren Einfluss auf etwaige chirur¬
gische Eingriffe. Redner führt aus, dass die Menopause bei sub¬
mukösen und intranasalen Fibromen oft sehr lange hinausgeschoben
ist (bis hoch in die 50). Nach der Menopause schrumpfen durchaus
nicht alle Fibrome und wenn sie schrumpfen, machen sie trotzdem
häufig noch viel Beschwerden, es ist deshalb durchaus falsch, die
Menopause an Stelle des Chirurgen setzen zu wollen; ein Uterus¬
fibrom, das überhaupt Beschwerden macht, soll stets entfernt werden,
wenn nicht ein ganz besonderer Grund die Operation verbietet.
Ross -Toronto wendet sich scharf gegen die Indikations¬
stellung, ebenso wie B y f o r d - Chicago. R e i d - Glasgow, Murdoch
Cameron und H. M a r c y - Boston sind Anhänger der Früh¬
operation, während Gardner- Montreal und Evans- Montreal
sich durchaus für die konservative Behandlung aussprechen.
H. L. R e d d y - Montreal sprach über Indikationen für den
Kaiserschnitt mit Ausnahme der Beckendeformitäten und der Tumoren.
Er empfiehlt die Operation besonders bei Eklampsie und Placenta
praevia. Sie ist leichter und ungefährlicher als das Accouchement
force und rapide Dilatation. Man mache nur den abdominalen Kaiser¬
schnitt. Namentlich bei Placenta praevia centralis ist der Kaiser¬
schnitt indiziert; auch bei hypertrophischer starrer Zervix und bei
Zervixstenose durch Narben ist der Kaiserschnitt am Platz; dasselbe
gilt für Fälle mit schwerem Herzfehler bei schlechter Kompensation,
sowie bei Kongestion der Lungen. In diesen Fällen sterilisiere man
gleichzeitg die Frau. Redner operierte 14 Fälle mit 1 Todesfall.
McDermid - Chicago stimmt den Indikationen R e d d y s bei,
während Murdoch Cameron durchaus dagegen spricht, bei der Pla¬
centa praevia den Kaiserschnitt zu machen. Griffith erkennt die
Indikation für Placenta praevia, nicht aber für Eklampsie und Herz¬
fehler an. Gardner empfiehlt den vaginalen Kaiserschnitt bei
Hyperemesis gravidarum.
P r ic e - Philadelphia spricht über die konservative Behandlung
der Ovarien. Er verwirft dieselbe vollkommen; bei allen Operationen
am Uterus und den Appendizitis sind dieselben zu entfernen, wenn sie
erkrankt sind, sonst werden weitere Operationen nötig oder es tritt
gar Irrsinn auf.
23. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2133
Laurence - Columbus will bei extrauteriner Schwangerschaft
auch die andere Tube entfernen, da er in 3 Fällen sah, dass
später in derselben eine Schwangerschaft auf trat.
M a u t o n - Detroit trat wann für möglichst konservatives Ope¬
rieren an den Adnexen ein.
H e 1 m e - Manchester eröffnete eine Diskussion über die Be¬
ziehungen des Wurmfortsatzes zu den Entzündungen des Beckens.
F:s ist vor allem die zufällige Lage des Wurmes im kleinen Becken,
die zu Entzündungen des Beckens führt, oder der Wurm erkrankt in¬
folge dieser Lage gleichzeitig mit den Beckenorganen. Appendizitis
ist eine häufige Ui Sache der Dymenorrhöe und der Colitis mucosa.
Redner hält den Wurm nicht für ein unnötiges Anhängsel, sondern
für einen wichtigen Teil des Verdauungskanales, weshalb seine syste¬
matische Entfernung ohne strenge Indikation durchaus verwerflich ist.
Q i 1 1 i a m - Columbus glaubt bei der Häufigkeit von Wurm- und
Tuben- oder Ovarienerkrankungen, dass ein gleichzeitiges Vorkommen
beider nur auf zufälliger Koinzidenz beruht.
Lapthorne S m i t h - Montreal hat sehr häufig den Wurm und die
Tuben gleichzeitig erkrankt gefunden (Kolibazillus, seltener Gono¬
kokkus). Zuweilen hängt der Wurm direkt in einen Pyosalpinx
hinein. Chronische Verstopfung begünstigt das Auftreten von Ent¬
zündungen beider Organe. Bei rechtsseitigen langdauernden Schmer¬
zen sind 1 ube, Ovarium und Appendix zu entfernen, da man sonst
häufig zu späteren nochmaligen Operationen gezwungen wird.
L e a - Manchester hat gefunden, dass das systematische Ent¬
fernen des Wurmes bei allen Operationen an den Beckenorganen
in 23 Proz. der Fälle krankhafte Veränderungen am Wurm gezeigt
hat, die keine Beschwerden gemacht haben. Es gibt bei Frauen
eine larvierte chronische Appendizitis, die nur zu Schmerzen in der
Fossa iliaca ohne akute Anfälle führt und von Ovarialschmerzen
kaum zu unterscheiden ist. Die Beschwerden werden während der
Menstruation heftiger. In nicht sehr häufigen Fällen kommt es infolge
von Beckenentzündungen zu Adhäsionen am Wurm und zu Be¬
schwerden. Redner empfiehlt bei allen Beckenoperationen den Wurm
zu untersuchen und zu entfernen, wenn er in das Becken herabhängt,
wenn Verwachsungen oder Kotsteine gefühlt werden, wenn er in
der Nähe der rohen Oberfläche eines operativ entfernten Organes
liegt.
Carstens - Detroit entfernt alle entzündeten Wurmfortsätze,
die er bei gynäkologischen Operationen findet.
Lockhart-Montreal glaubt, dass in sehr vielen Fällen der
Wurm im Anschluss an eine Tubenerkrankung erkrankt. Er soll
womöglich stets bei gynäkologischen Laparotomien mit entfernt
werden.
Cuthbert Lockyer - London sprach über die Beziehungen
zwischen Appendizitis und Schwangerschaft. Häufig wird die Krank¬
heit übersehen, da die Schmerzen und das Erbrechen mit der
Schwangerschaft in Zusammenhang gebracht werden. Die Schwan¬
gerschaft an sich kann höchstens auf dem Wege der chronischen
Verstopfung die Entstehung der Appendizitis begünstigen. Eine schon
bestehende chronische Appendizitis kann dagegen durch die Zerrung
des wachsenden Uterus ungünstig beeinflusst werden. Bei milden
Fällen von Appendizitis verläuft die Schwangerschaft oft normal,
bei schweren kommt es gewöhnlich zu Abort oder Frühgeburt. Die
Geburt während einer akuten Appendizitis ist sehr gefährlich, da es
infolge von Zerrungen an den Adhäsionen leicht zum Platzen des
Abszesses kommt. Im Puerperium kann es infolge einer Ueber-
wanderung von Kolibazillen, die von einer Appendizitis stammen,
zu Puerperalfieber kommen. Von 31 Fällen von Appendizitis während
der Schwangerschaft, die zur Operation kamen, starben 14 (45 1
Proz.); 18 mal erfolgte der Tod des Kindes (58 Proz.). Von 24
nicht operierten Fällen starben 6 (25 Proz.). Ausserordentlich
schwierig kann die Diagnose im Puerperium werden, wo Verwechs¬
lungen mit Puerperalfieber, Para- und Perimetritis etc. häufig sind.
Redner empfiehlt die Appendizitis der Schwangeren genau so zu
behandeln, als wenn keine Schwangerschaft bestehe. Wenn man
während der Geburt die Appendizitis erkennt, so beende man die¬
selbe so rasch wie möglich und operiere dann; stets drainiere man
sehi ausgiebig. Wird der Uterus sekundär infiziert, so entfernt
man ihn.
D. J. Evans sprach über die Behandlung der Eklampsie.
Er empfiehlt unter äiidereni die von Edebohls ungesehene
Dekapsulation der Nieren. Von der Lumbalpunktion hat er keinen
Nutzen gesehen.
T e in p 1 e - Montreal empfiehlt den Aderlass und Morphium
verwirft Chloral, bei dilatierbarer Zervix beendet er die Geburt so
rasch als möglich.
Reddy-Montreal fand bei 80 Proz. seiner Fälle Toxämie ohne
Albuminurie. Er beendet die Geburt so rasch als möglich, bei weiter
Zervix auf natürlichem Wege, sonst durch den Kaiserschnitt.
Kennedy Mc. 1 1 w r a i t h - Toronto legt grosses Gewicht auf
die Pulsspannung. So lange der Blutdruck hoch bleibt, ist die Gefahr
gross. Er glaubt, dass Thyreoidin in diesen Fällen von Nutzen ist,
allerdings führt es manchmal zu post partum-Blutungen. Das Ac-
couchement force scheint zu puerperalen Psychosen zu führen.
S. Mc. M u r t r y - Louisville sprach über die Behandlung der
puerperalen Sepsis. Er glaubt, dass die Serumbehandlung prophy¬
laktisch oder in den ersten Stadien der Erkrankung angewendet,
eine gewisse Wirkung hat; bei ausgebildeter Krankheit ist sie wir¬
kungslos. Das Serum wirkt übrigens nicht antitoxisch, sondern
es stimuliert nur die Phagozyten. Man behandle sehr schonend;
Ausspülungen des Uterus sind Ausschabungen vorzuziehen, stets
sorge man für guten Abfluss der Sekrete. Die Hysterektomie ist
ganz aufzugeben.
Lea verwendet häufig die Kürette, am liebsten aber die „ecou-
villon“ die Uterusbürste, nachher tamponiert er den Uterus mit in Al¬
kohol getränkter Gaze. Nur bei multiplen Abszessen des Uterus
oder bei Vereiterung eines Myoms ist die Hysterektomie am Platze.
Die Serumbehandlung ist sehr enttäuschend.
I ruesdale - Massachusetts hat keinen Erfolg von der Se-
rumbchandlung gesehen. Er untersucht den Uterusinhalt bakterio¬
logisch, handelt es sich um Saprophyten, so wendet er die Kürette
und Spülungen an.
Evans- Montreal, Stuart- Brooklyn und F e n t o n - Toronto
warnen vor der Kürette; sie haben auch vom Antistreptokokken¬
serum keine Wirkung gesehen.
R e e d - Cincinnati hat in 3 Fällen von Streptokokkeninfektion
und multiplen Abszessen des Uterus denselben mit Erfolg vaginal
entfernt.
Ross und Murdoch Cameron hielten jeder einen Vortrag
über die Extrauterinschwangerschaft.
D o r se 1 1 - St. Louis, der in 54 Fällen operiert hat, verwirft die
vaginalen Operationsmethoden. Er glaubt, dass die extrauterine
Schwangerschaft nur bei entzündeten oder kongenital missbildeten
Tuben auf tritt.
G i 1 e s - London spricht über die Schwierigkeit der Diagnose,
er rät zu sofortiger Operation nach Stellung der Diagnose, er erhält
die andere Tube, da spätere Schwangerschaft darin doch selten ist;
hierin stimmt ihm
Edgar- Glasgow bei, der stets von oben operiert.
Lockhart operiert auch stets abdominal und schont die an¬
dere Tube.
W e b s t e r - Toronto zieht die vaginale Route vor.
Ross in seinem Schlusswort empfiehlt die gesunde Tube zu
erhalten, er operiert nur von oben und vermeidet so viel wie möglich
die Drainage. Er operiert bei Platzen der Tube auch dann noch, wenn
die Kranke schon pulslos ist, da es doch zuweilen gelingt, eine sonst
sicher verlorene Frau zu retten.
(Fortsetzung folgt.)
Aus den englischen medizinischen Gesellschaften.
Edinburg Medico-Chirurgical Society.
Sitzung vom 4. Juli 1906.
Ueber perforierendes Ulcus veiitriculi.
G. Keppie Paterson hat in der Literatur nur einen einzigen
Fall gefunden, bei welchem (Cheyne und Wilbe) die Perforation
intra vitam entdeckt wurde, und er berichtet deshalb über folgenden
Fall: ein 12 jähriger Knabe hatte etwa 14 Tage lang über Schmerzen
in der Magengegend von Zeit zu Zeit nach der Nahrungsaufnahme ge¬
klagt und wurde nach einer leichten Mahlzeit plötzlich von sehr
intensiven Schmerzen im Abdomen befallen. Eine Stunde später
fand Redner ihn kollabiert, mit langsamem Puls, gespanntem Leibe
und normaler Temperatur. Die Leberdämpfung war nicht verdeckt.
Auf warme Umschläge und sanftes Reiben erholte er sich teilweise
und gab heftige Schmerzen im Abdomen und am linken Schlüsselbein
an. Am nächsten Morgen zeigten sich peritonitische Erscheinungen
mit Verdeckung der Leberdämpfung. Es wurde 18 Stunden nach Be¬
ginn der Attacke operiert und dabei auf der vorderen Wand des
Magens, ungefähr 2 Zoll von der kleinen Kurvatur entfernt, eine
Perforation in der Grösse einer halbierten Erbse gefunden. Es erfolgte
langsame Genesung.
b. M. Cair d legt seinen Mitteilungen ein Beobachtungsmaterial
von 25 Fällen von perforierendem Ulcus des Magens resp.. des Duo¬
denums, welche operativ behandelt wurden, zugrunde. Die Diagnose
ist selten schwer zu stellen, trotzdem gewöhnlich die klassischen
Symptome des Erbrechens von Blut und der Melaena fehlen. Nach
dem ersten, mit intensiven Schmerzen einsetzenden Anfang folgt oft
eine trügerische Periode der Besserung. Differentialdiagnostisch
kommen in Betracht: Appendizitis, Pankreatitis, Darmperforationen
an verschiedenen Stellen und Tumoren. Nach der Eröffnung der
Abdominalhöhle entleert sich gewöhnlich eine grosse Menge Gas
und Flüssigkeit, und die erschwerte Respiration bessert sich alsbald.
Selbst bei moribunden Patienten hat C. nach intravenösen Einläufen
von Salzlösung und Verabreichung von Strychnin operiert. Das
Geschwür braucht nicht exzidiert zu werden; es genügt, dasselbe mit
feinen Seidennähten zu schliessen.
A. M i 1 e s verfügt über ein Material von 46 Fällen von per¬
forierendem Geschwür des Magens resp. des Duodenums, 36 der
eisteien und 3 dei letzteren Gruppe. Die Läsion war bei den Magen¬
geschwüren 33 mal auf der vorderen Wand und nur 3 mal auf der hin¬
teren Wand lokalisiert. In bezug auf die Symptome, welche zur
Operation Anlass geben, äussert Redner sich ähnlich wie der Vor¬
redner. Der chirurgische Eingriff soll sobald wie möglich statt-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
2134
linden, und namentlich soll man sich nicht durch die ganz gewöhnlich
nach dem ersten Schock eintretende Remission täuschen lassen. Die
Darreichung von Opium hält M. für direkt kontraindiziert. Unter
22 Fällen, welche kein Opium erhalten hatten, endeten 17 mit Ge¬
nesung, während von 12 mit diesem Mittel behandelten Patienten
nur 2 am Leben blieben. Das Geschwür zu exzidieren sei selten
nötig, ebenso empfiehlt es sich selten, den Magen zum Aufsuchen
der Perforation zu eröffnen. Gewöhnlich kann man sich von der
Lokalisation des Schmerzes leiten lassen, um auf die Perforations¬
stelle einzugehen. Dies geschieht durch eine vertikale Inzision durch
die Fasern des M. rectus hindurch, falls die Eröffnung in der Mittel¬
linie nicht der mutmasslichen Lage des Krankheitsherdes entspricht.
Cathcart glaubt, dass Opium in kleinen Dosen nicht schadet,
und man erzielt damit wenigstens eine Linderung der Qualen.
C o 1 1 e r i 1 1 betont die Uebereinstimmung zwischen Pylorus-
krampf und Magenperforation.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Abteilung: für freie Arztwahl des ärztlichen Bezirksvereins
München.
Ausserordentliche Mitgliederversammlung vom
13. Oktober 1906.
Die umfangreiche, wichtige Tagesordnung hatte viele Kollegen
angezogen. Die Präsenzliste wies 135 Mitglieder auf. Es sollten u. a.
die „Erweiterung der Disziplinarbefugnisse der Vorstandschaft; Ver¬
tragsänderungen mit der Ortskrankenkasse; Stellungnahme zu einer
Resolution der Spezialärzte . . .“ beraten werden. Es mussten jedoch
all' diese Punkte abgesetzt werden, da die Beratung über die gesperrte
Bahnarztstelle und, mehr noch, die über die Berufung des Herrn
Dr. Schollenbruch gegen die von der Vorstandschaft aus¬
gesprochene Suspension den Abend bis in die Nacht hinein ausfüllten.
Der Kollege, der die Bahnarztstelle in Haidhausen-München an¬
genommen hat, antwortete auf das Schreiben der Vorstandschaft,
dass er gar nicht um Aufnahme in die Abteilung nachgesucht habe.
Ferner habe er schon lange vorher, ehe man die Stelle sperrte, sich
um dieselbe beworben gehabt und sie bekommen, ehe der Beschluss
gefasst worden sei. Der Leipziger Verband, dem er angehöre, ver¬
urteile selbst ein zwangsweises Vorgehen zur Einführung der freien
Arztwahl; das Vorgehen der Abteilung bilde ein solches.
J o o s s führt aus, dass der Beschluss in der Tat den betr. Kol¬
legen nur zu einem freiwilligen Verzicht hätte veranlassen können,
da er die Stelle schon angenommen hatte. Man könne und wolle dem
Beschluss keine rückwirkende Kraft geben. Daher sei die aus¬
gesprochene Sperre für diesen einzelnen Kollegen nicht anwendbar,
sie sei jedoch im übrigen aufrecht zu erhalten. Der Vorschlag wird,
auch unter Zustimmung der Vorstandschaft, angenommen; letztere
fügt folgenden Antrag an : „Sämtliche frei werdenden
und neu zu besetzenden Stellen bei staatlichen
Krankenkassen werden von heute ab als gesperrt
betrachtet. Der Leipziger wirtschaftliche Ver¬
band wird ersucht, die Sperre durchzuführe n.“
Bauer führt aus, dass der Antrag nur eine Konsequenz des
vorhergehenden sei. Man könne nicht immer warten, bis sich eine
Stelle neu erledige, um dann mit der Sperre, wie in dem vorliegenden
Falle, zu spät zu kommen.
K o h 1 b e c k meint, dass die Sperre bei der Bahnkasse nicht
Gültigkeit für die Bahnärzte haben solle, sondern nur für die anderen
Aerzte, da erstere sich der Bahnbehörde fügen müssten.
L u k a s und Neustätter mahnen zu grosser Vorsicht in
dieser Frage. Man könne in München allein nicht die Frage lösen,
sondern müsse eine generelle Lösung suchen. Auch solle man nicht
gegen eine ganze Gruppe von Kollegen Vorgehen.
Auf die Mahnung K r e c k e s, man hätte vorher mit dem
Leipziger Verband sich ins Einvernehmen setzen sollen, erwidert
Bauer, dass der L. V. die hiesigen Verhältnisse nicht so durch¬
schauen könne, wie wir seihst.
Der Antrag der Vorstandschaft wird mit allen gegen 9 Stimmen
angenommen.
Punkt 2. Berufung des Herrn Dr. Schöllenbruch gegen
die von der Vorstandschaft ausgesprochene Suspension.
Schollenbruch hatte eine Annonce erlassen, des Inhalts,
dass ihm von der Vorstandschaft der Abteilung für freie Arztwahl die
Kassenpraxis untersagt worden sei und dass er demgemäss nur mehr
Privatpraxis ausüben werde. Da Sch. in einer Vorstadt wohnt und
zum grossen I eil auf Kassenpraxis angewiesen sein dürfte, hat die
aus dei Annonce ersichtliche Suspension desselben bei den Kollegen
giosses Aufsehen erregt und man war auf die Gründe gespannt, die
die Vorstandschaft zu dem für den Kollegen sehr folgenschweren Vor¬
gehen veranlasst hatten. Die Berufung an die Mitgliederversamm¬
lung musste diese Aufklärung geben.
Der Geschäftsführer Scholl legt an der Hand der Akten die
nünde der Vorstandschaft über ihr Vorgehen dar. Es geht daraus
hei v oi, dass Schollen bruch seit 1904 des öfteren Differenzen
mit der Ortskrankenkasse hatte. Es handelte sich, wie auch Spatz
später konstatierte, meist um geringfügige Dissidien: Die Zeit der
Sprechstunden (abends 6—8 Uhr) führte zu Konflikten mit den Kon¬
trolleuren der Kasse, da sie des Abends die in Sch.s Sprechstunde
sitzenden Arbeitsunfähigen nicht zu Hause treffen konnten. Sch.
weigerte sich, die Sprechstunde abzuändern. Die Schreibweise Sch.s
an die Kasse auf Beschwerden oder Anfragen hin schien der Kasse
unangemessen; kleine Vergehen in bezug auf Anweisung von Kranken¬
geld etc. bildeten die Grundlage vieler Schreibereien und Reibereien
zwischen Sch. und der Kasse resp. der Vorstandschaft der Abteilung,
durch deren Hände die Angelegenheiten gingen.
Die Vorstandschaft indessen konnte es nicht erreichen, von Sch.
jemals eine Antwort oder eine Erledigung der Anfragen etc. zu er¬
langen. Selbst die Sch. zugeschickten Akten, um deren Rückgabe
immer dringender ersucht wurde, konnte die Vorstandschaft nicht
mehr herausbekommen. So war sie ausserstande, einen geordneten
Geschäftbetrieb mit der Kasse in allen Sch. angehenden Angelegen¬
heiten zu führen. Schliesslich sah sich die Vorstandschaft gezwungen,
dem Sch. Verwarnungen zu erteilen. Auch dies ihr statutarisch zu¬
stehende Disziplinarrecht führte nicht zu einer geregelten Geschäfts¬
führung des Sch. Die Vorstandschaft musste der Kasse gegenüber
in dem Lichte dastehen, dass sie über die Mitglieder der Abteilung
keine Macht zu einer geregelten gegenseitigen Geschäftsführung habe.
Das musste das Ansehen der Abteilung schädigen. Auch eine erneute
Verwarnung mit Androhung der Suspension fruchtete nichts, so dass
zum Ende die Vorstandschaft sich genötigt sah, die angedrohte Sus¬
pension auf 3 Monate auszusprechen. Dieser Beschluss wurde
S c h o 1 1 e n b r u c h schriftlich mitgeteilt und ihm zur Kenntnis ge¬
geben, dass ihm die Berufung an die Mitgliederversammlung frei¬
stehe. Ohne diese Berufung abzuwarten, hat dann Sch. die erwähnte
Annonce veröffentlicht.
Schollenbruch erwidert ausführlich auf die Bekanntgabe
des Sachverhaltes. Auf die sachlichen Einzelheiten hier einzugehen,
erübrigt sich, da nicht sie, sondern die Art der Geschäftsführung
die Suspension verursacht hatten. Sch. führt aus, dass er sich in ganz
besonderem Masse seinen Kassenpatienten widme, denen er ein Be¬
rater sein wolle. Gerade die armen Leute draussen in der Vorstadt
bedürfen einer doppelt sorgfältigen Beratung. Sch. Hess einfliessen,
dass seiner Auffassung nach in seinem Bezirke von den Kollegen
nicht in der gleichen Weise, wie er es für notwendig erachtet, ge¬
handelt würde. Er arbeite von früh 7 Uhr bis in die späte Nacht
und sei trotzdem in schwerer materieller Bedrängnis. Zudem sei er
ein schwerer Neurastheniker, der vor kurzem mitten in der Praxis zu¬
sammengebrochen sei. Er betone, dass er nie absichtlich keine Ant¬
wort gegeben habe, sondern dass er eben keine Zeit gefunden habe,
all’ die Anfragen zu beantworten. Telephonisch habe er der Vor¬
standschaft nicht antworten können, da er sich kein Telephon leisten
könne. Allerdings habe er sich oft über die vielen schriftlichen Lei¬
stungen geärgert, für die keine Bezahlung erfolge. Der animose Ton
in seinen Schreiben an die Kassen habe seinen Grund in persönlichen
Verhältnissen resp. Spannungen zwischen ihm und einzelnen Mit¬
gliedern der Kassenvorstandschaft, die auf politische Ursachen zurück¬
gingen. Er hätte gewünscht, dass die Vorstandschaft der Abteilung
mehr für sein Interesse, für das Interesse des Arztes eingetreten wäre,
als für das der Kasse. Immer wieder betone er, dass er sein Ver¬
fehlen einsehe, es aber mit dem Mangel an Zeit entschuldigen müsse.
Vorsitzender Bauer konstatiert, dass heute zum ersten Male
überhaupt von seiten Schollenbruchs eine Erklärung für sein
Verhalten erfolgt sei. Nun habe er Zeit gefunden. Niemals bisher
hätte er Gelegenheit genommen, wenn auch nur kurz, eine Anwort
zu geben. Für 10 Pfennige könne man von jedem Postamte aus tele¬
phonieren. Die Vorstandschaft sei durch das Verhalten Sch.s in die
denkbar peinlichste Lage der Kasse gegenüber versetzt worden und
nur ungern habe sie die Strafe ausgesprochen, schliesslich
aber musste sie, um dem Zustande ein Ende zu machen, so Vorgehen,
wie sie es einstimmig getan hat. Der Umstand, dass Sch. dann gleich
die Annonce aufgegeben habe, ohne die Berufung abzuwarten, kom¬
pliziere nun die Erledigung bedeutend, da nunmehr ein Schritt rück¬
wärts, um von dem bedrängten Kollegen den Schaden abzuwenden,
wohl unmöglich sei. Die Suspension sei ihm schon vorher angedroht
worden, was jedoch keinen Erfolg hatte.
Schollenbruch gibt über die Annonce folgende Aufklärung:
Bei den Arbeitern höre man häufig, dass die Kassenärzte, wenn sie
genug Privatpraxis errungen hätten, die Kassenpraxis aufgäben, und
damit die Kranken, die ihnen ihr Vertrauen schenken, zwingen, sich
als Privatpatienten behandeln zu lassen. Um nicht diesen schimpf¬
lichen Verdacht aufkommen zu lassen, habe er die Mitteilung von
seiner Suspension, wie geschehen, motiviert. Eine Mitteilung aber
hätte ei machen müssen, da er sich sonst des Ansturmes der Kassen¬
patienten nicht hätte erwehren können.
Hecht meint, dass Schollenbruch seine Vertragspflichten
dei Abteilung und der Kasse gegenüber ebenso peinlich hätte aus¬
üben müssen, wie die Behandlung der Kranken. Wir Aerzte haben
uns den Satzungen zu fügen und es ginge die ganze Organisation zu¬
grunde, wenn wir da nicht sorgfältig verfahren. Die Vorstandschaft
war durchaus im Rechte mit ihrer Strafe. Es Hesse sich indessen
erwägen, wie wir für Sch. die für ihn bedauerliche Schädigung mög¬
lichst ausschalten könnten.
K a s 1 1 bedauert gleichfalls die Notlage des Kollegen Schollen-
mc ’■ ' eni1 ei indessen betone, dass er seine Patienten ganz
23. Oktober 1006.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2135
besonders sorgfältig behandle, so dürfe das für ihn noch kein Recht
bedeuten, die Leistungen der anderen Kollegen herunterzusetzen, wie
er es getan habe.
Spatz und verschiedene andere Redner sind gleichfalls der
Meinung, dass die Vorstandschaft bei ihrem Vorgehen satzungsgemäss
gehandelt habe. Es bestehe indessen in den Satzungen unzweifelhaft
eine Lücke: nach der Verwarnung könne die Vorstandschaft nur eine
Suspension von 3 Monaten verhängen. Das sei ein zu grosser Sprung.
Eine solche Strafe sei eine ausserordentlich schwere und stehe im
vorliegenden Falle in keinem Verhältnis zu den Verfehlungen. Da
aber die Lücke besteht, konnte die Vorstandschaft keine andere
Strafe verhängen.
In der weiteren Diskussion geben alle Stimmen der Vorstand¬
schaft in ihrem Vorgehen recht. Man versucht jedoch, einen Ausweg
in der Richtung zu schaffen, dass man die Strafe aufrecht erhält, ihre
praktische Wirkung indessen möglichst auszuschalten sucht, da die frei¬
mütig dargelegten Verhältnisse des Kollegen dies erforderlich er¬
scheinen lassen.
Man versuchte, die in den Satzungen bestehende Lücke durch
eine später zu erfolgende Satzungsänderung auszufüllen und bis dahin
die Strafe zu suspendieren; ein Antrag Lukas will unter Aufrecht¬
erhaltung der Suspension erklären, dass man Gnade vor Recht er¬
gehen lassen wolle.
Jedoch, als Schollenbruch in seinem Schlusswort unter Zu¬
geständnis seiner Schuld neue Vorwürfe gegen die Kollegen in seinem
Bezirk erhebt, die sofort einen lebhaften Protest des Kollegen Hetz
hervorrufen, schlägt die einer Begnadigung geneigte Stimmung der
Versammlung um und da Sch. erklärt, nur sein Recht und keine
Gnade zu wollen, wird nunmehr der Vorschlag der Vorstandschaft,
die Suspension aufrecht zu erhalten, mit allen gegen 10 Stimmen, bei
5 Enthaltungen, ohne weitere Einschränkungen angenommen.
Schluss 12/4 Uhr. Nassauer.
Verschiedenes.
Anstellungsbedingungen für Schiffsärzte.
Auf Grund zahlreicher Beschwerden über die bestehenden schiffs¬
ärztlichen Verhältnisse und entsprechend den Beschlüssen der Haupt¬
versammlung in Halle hat der Leipziger wirtschaftliche Verband die
nachstehenden „Anstellungsbedingungen“ für Schiffsärzte zusamen¬
gestellt und den Reedereien zugehen lassen als das Mindestmass
dessen, was ein Arzt, der unter den heutigen Verhältnissen eine
Schiffsarztstelle übernehmen will, zu fordern berechtigt ist:
1. G e h a 1 1: a) Monatliches Mindestgehalt für überseeische
Fahrten: im 1. Jahre 175 M., im 2. Jahre 200 M., im 3. Jahre 250 M.
b) Monatliches Mindestgehalt für Küstenfahrten (z. B. China
usf. ) : 1. Halbjahr 250 M., 2. Halbjahr 300 M. Bei erfolgreichem Ab¬
solvieren eines Kursus im Tropen - hygienischen In¬
stitut Hamburg erhöhen sich die Sätze um je 25 — 50 M.!
2. Barauszahlung der üblichen Getränkekompe¬
tenzen von zwei Mark täglich.
3. Wegfall der Bestimmung, „Schiffsärzte nicht länger als drei
Jahre im Dienste zu lassen“, und Gewährung regelmässiger Zulagen
bei längerer Dienstzeit.
4. Behandlung von Kajütpassagieren: Der Schiffsarzt hat
das Recht, von Kajütpassagieren I. Klasse für ärztliche Behandlung
angemessene Bezahlung zu verlangen.
5. Alle reklamehaften Hinweise auf die „Verpflich¬
tung des Arztes zur unentgeltlichen Behandlung und Ab¬
gabe von Arzneien“ sind aus den Passagierlisten wegzulassen, weil
geeignet, übermässige Ausnutzung des Arztes zu veranlassen und
sein Ansehen zu schädigen. Ebenso sind auf den Schiffen alle Plakate,
Aushänge oder anderweitige Hinweise auf die Kostenlosigkeit der
ärztlichen Behandlung und Arznei zu entfernen.
6. Rangstellung an Bord. Der Schiffsarzt hat den Rang
eines I. Offiziers; er verzichtet aber auf die äusseren Abzeichen
eines solchen. Besteht Uniformzwang, so trägt er nur
Aeskulapstab (keine Streifen) und Samtkragen. (Vorschlag
von seiten des „Deutschen Schulschiffvereins“: Blauer Samtkragen
und Aeskulapstab.) Besteht kein Uniformzwang, so entfällt die
Frage der äusseren Abzeichen von selbst („Nordd. Loyd“) ; in diesem
Falle ist Dienstmütze zu tragen.
7. Wegfall des Rechtes des Kapitäns, dem Arzt in f r e m d e n
Häfen den Landurlaub zu verweigern. Beim Verlassen
des Schiffes hat der Arzt dem Kapitän oder seinem Stellver¬
treter Meldung zu erstatten. Er verlässt das Schiff unter voller
eigener Verantwortung.
8. Bei Uniformzwang ist von den Reedereien ein ange¬
messener Zuschuss zur Anschaffung der Uniform zu leisten.
9. Arztkabine. Dem Arzt ist eine seinem „Rang ent¬
sprechende“ — in Lage, Grösse und Ausstattung nicht hinter
den Kabinen der Schiffsoffiziere gleichen Ranges zurückstehende
— Kabine anzuweisen.
10. Apotheke. Das Unterbringen der Apotheke im
A r z t z i m m e r ist aus hygienischen und anderen Gründen unzu¬
lässig. Für die Apotheke ist ein besonderer Raum in einer
Grösse, die das Abhalten der ärztlichen Sprechstunden gestattet, ein¬
zurichten.
Therapeutische Notizen.
Walther Weiland hat auf Anregung E. Rombergs
Untersuchungen über den Einfluss von kohlen¬
säurehaltigen Bädern auf die Blutverteilung im
menschlichen Körper angestellt und gefunden, dass sehr
grosse Unterschiede in der Gefässkontraktion bei einfachen und
kohlensäurehaltigen Wasserbädern überhaupt nicht zutage treten.
Die stärksten Differenzen betragen 1,75 ccm = 0,07 Proz. des Arm¬
volumens am Ende von Bädern von 22° C. Bei kohlensäurehaltigen
Bädern vom Indifferenzpunkt bis zu 24° C ist die Gefässkontraktion
nicht so stark wie bei den einfachen Wasserbädern der gleichen
Temperatur. Die Unterschiede sind allerdings minimale. (Dissert.,
Tübingen 1905.) p. l
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 23. Oktober 1906.
— Fi Frankfurt a. M. hat der Kampf der Aerzteschaft um
freie Arztwahl bei den Bahnkrankenkassen einen
bemerkenswerten Erfolg erzielt. Der Eisenbahnminister Breiten-
b a c h, der sich bisher der freien Arztwahl gegenüber ablehnend ver¬
halten hatte, hat sich bereit erklärt, versuchsweise die organisierte
freie Arztwahl fiir die der Eisenbahnbetriebskrankenkasse in Frank¬
furt a. M. an, gehörenden Arbeiter einzuführen. Von einem noch näher
zu bezeichnenden Termin ab sollen die Eisenbahnarbeiter, welche in
der Stadt bezw. den eingemeindeten Vororten wohnen, zunächst auf
1 Jahr das Recht haben, auf Kosten der Betriebskrankenkasse sich
in Krankheitsfällen von jedem beliebigen Arzte, der in Frankfurt oder
einem eingemeindeten Vororte seinen Sitz hat, behandeln zu lassen.
Bislang mussten die Eisenbahnarbeiter zu bestimmten Krankenkassen¬
ärzten gehen. Hinsichtlich der Eisenbahnbeamten und Hilfsbeamten
des äusseren Dienstes verbleibt es beim alten. Für diese hält der
Minister Aerzte für notwendig, die mit den Bedürfnissen und Ein¬
richtungen der Verwaltung eingehend vertraut sind. Den Familien¬
angehörigen, für die Rücksichten des Eisenbahnbetriebs nicht in Frage
kommen, will der Minister freie Arztwahl zugestehen.
• — Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung veröffentlicht folgende
amtliche Warnung vor einem Kurpfuscher: „Mehrere
Zeitungen veröffentlichten Annoncen eines angeblichen Professors
G. Keith-Harvey, 117 Holborn R. 134, London E. C„ welche
Schwerhörigen, Tauben und an Ohrensausen Leidenden die kostenlose
Zusendung eines Buches versprechen, welches lehrt, wie man sich
in wenigen Wochen zu Hause kurieren könne. Die Heilung Suchenden
erhalten die Antwort, dass ihnen der zur Heilung erforderliche Ap¬
parat gegen Einsendung von 30 M. zuginge. Der Apparat ist ein
Blechapparat, der eine Heilung nicht bewirken kann. Es dürfte somit
nicht geboten sein, den Annoncen irgendwie Vertrauen zu schenken.“
— Zu den Verbreitern dieser schwindelhaften Annonce gehört leider
auch das offizielle bayerische Eisenbahnkursbuch, das
in seinem Inseratenanhang neben anderen Kurpfuscherannoncen auch
die schwindelhafte Ankündigung des Herrn Prof. Keith-Harvey
auf einer ganzen Seite enthält. Es ist geradezu beschämend, dass der
bayerische Fiskus aus der Ankündigung eines Schwindelunternehmens
Nutzen zieht, vor dem eine andere Regierung öffentlich zu warnen
sich veranlasst sieht. Vor solch peinlichen Situationen könnte sich
die bayerische Eisenbahnverwaltung schützen, wenn sie einen Sach¬
verständigen, also einen ihrer ärztlichen Berater, mit der Kontrolle
des Inseratenanhanges des Kursbuches betrauen würde. Nach ge¬
wissen anderen Richtungen hin wird eine solche Kontrolle doch mit
grösster Strenge geübt. Warum also nicht auch mit Bezug auf Kur-
pfuscherinserate, die nicht minder schädlich sind und darum in eine
amtliche Publikation durchaus nicht hfneingehören?
— Der diesjährige Herbstkursus (8. — 27. Oktober) der Aka¬
demie für praktische Medizin in Köln ist von 151 Teil¬
nehmern aus allen Gegenden Deutschlands und aus dem Auslande
(namentlich aus der Schweiz und aus Holland) besucht. Die von Jahr
zu Jahr zunehmende Frequenz dieser Kurse beweist am besten, dass
ihre Einrichtung einem Bedürfnis entsprochen hat.
— Pest. Türkei. In Adalia sind nach dem amtlichen Aus¬
weise No. 3 vom 26. bis 29. September 3 neue Pesterkrankungen und
1 Todesfall gemeldet. — Aegypten. Vom 29. September bis 5. Ok¬
tober wurden 17 neue Erkrankungen (und 11 Todesfälle) an der
Pest festgestellt. — Britisch-Ostindien. Während der am 22. Sep¬
tember abgelaufenen Woche sind in der Präsidentschaft Bombay 3807
neue Erkrankungen (und 2918 Todesfälle) an der Pest zur amtlichen
Kenntnis gelangt. Seit Anfang August hat hiernach in der Präsident¬
schaft Bombay die Zahl der wöchentlich neu gemeldeten Pestfälle
und Pesttodesfälle ununterbrochen wieder zugenommen und jetzt mehr
als die sechsfache Höhe der damaligen Zahlen erreicht. In Kalkutta
starben in der Woche vom 2. bis 8. September 12 Personen an der
Pest. — Straits Settlements. In Singapore ist am 10. September ein
Pestfall festgestellt worden. — Honkong. Während der 4 Wochen
vom 29. Juli bis 25. August wurden nacheinander 5 — 2 — 3 — 1 Er¬
krankungen und insgesamt 9 Todesfälle an der Pest gemeldet; in der
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 43.
2136
letzten Augustwoche kam kein neuer Pestfall mehr vor. Seit dem
31. August werden reine Gesundheitspässe erteilt.
— In der 40. Jahreswoche, vom 30. September bis 6. Oktober 1906,
hatten von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste
Sterblichkeit Gera mit 29,9, die geringste Rixdorf mit 8,4 Todes¬
fällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Ge¬
storbenen starb an Scharlach in Königshütte, Oberhausen, Posen, an
Keuchhusten in Mainz. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Erlangen. Das durch die Berufung Prof. V o i t s nach Basel
erledigte Ordinariat wird für das laufende Wintersemester noch nicht
besetzt; a. o. Professor Dr. Jam in wird bis Ostern mit der Ver¬
wesung der stationären medizinischen Poliklinik betraut werden. —
Der durch seinen Unterbrecher auch in Medizinerkreisen bekannte
a. o. Professor der Physik Dr. W e h n e 1 1 leistet einem Rufe nach
Berlin als Ordinarius und zwar schon für dieses Wintersemester
Eolge.
Hannover. Mit der Antrittsvorlesung „Ueber den not¬
wendigen Zusammenhang der wissenschaftlichen Technik und der
Hygiene“ führte sich am 18. ds. Stabsarzt Prof. Dr. med. Wilhelm
v. Drigalski an der Technischen Hochschule zu Hannover als
Privatdozent für Hygiene und Bakteriologie ein. (hc.)
Köln. Kultusminister Dr. S t u d t besichtigte am 16. ds. die
Institute der Akademie für praktische Medizin.
Königsberg. Zum ordentlichen Professor und Direktor des
pathologisch-anatom. Instituts an der Universität Königsberg i. Pr.
wurde als Nachfolger von Prof. Dr. R. Benecke der Breslauer
Universitätsprivatdozent, zurzeit Prosektor am städtischen Kranken¬
hause Charlottenburg-Westend, Professor Dr. med. Friedrich Henke
berufen, (hc.)
Florenz. Dr. E. Santi habilitierte sich als Privatdozent
für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Ofen - Pest. Der ordentliche Professor der physiologischen
Chemie Dr. Fr. T a n g 1 wurde zum ordentlichen Professor der all¬
gemeinen Pathologie ernannt.
P a v i a. Der Privatdozent an der medizinischen Fakultät zu
Modena Dr. T. L e g n a n i habilitierte sich als Privatdozent für opera¬
tive Medizin.
Prag. Dr. G. Doberauer habilitierte sich als Privatdozent
für Chirurgie an der deutschen medizinischen Fakultät. — Dem ausser¬
ordentlichen Professor an der deutschen Universität und Vorstand der
Abteilung für allgemeine und vergleichende Physiologie Dr. Eugen
Steinach wurde der Titel und Charakter eines ordentlichen Uni¬
versitätsprofessors verliehen.
R o m. Dr. U. C e r 1 e 1 1 i habilitierte sich als Privatdozent für
Psychiatrie.
Wien. Dr. Alfred Fröhlich hat sich als Privatdozent für
experimentelle Patholgie an der medizin. Fakultät habilitiert. — Dr.
H. Obersteiner, Professor der Physiologie und Pathologie des
zentralen Nervensystems, erhielt den Titel eines Hofrates. — An der
Wiener Universität ist eine Dozentur für Schulhygiene errichtet und
dem Privatdozenten daselbst, Realschulprofessor Dr. phil. Leo
Burgerstein, übertragen worden, (hc.) — Der Privatdozent
Dr. Grassberger wurde zum ordentlichen Professor der Hygiene
an der hiesigen Universität ernannt.
Zürich. Dr. H. Bluntschli habilitierte sich als Privat¬
dozent für Anatomie und Embryologie.
(Todesfälle.)
Dr. Francesco R o n c a t i, früher Professor der Psychiatrie an
der med. Fakultät zu Bologna.
Dr. N. B y s t r o w, früher Professor der Pädiatrie an der
militär-medizinischen Akademie zu St. Petersburg.
Dr. C. A d a m i u k, früher Professor der Ophthalmologie an der
med. Fakultät zu Kasan.
Dr. M. Biancas, Professor der Pädiatrie an der med. Fakultät
zu Buenos-Ayres.
Dr. M. P. S e x t o n, Professor der Neurologie und Psychiatrie
am College of Physicians and Surgeons zu Kansas City.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
Niederlassungen: Dr. Vierzigmann Adolf, als Assi¬
stenzarzt der Kreisirrenanstalt Karthaus-Prüll, approb. 1904. — Ro¬
bert Winschenbach, als zweiter Arzt in der Privatirrenanstalt
St. Gilgenberg bei Bayreuth. — Hans Müller, approb. 1904, in Nürn¬
berg.
Zu besetzen: die neu errichtete Stelle eines II. Landgerichts¬
arztes beim Kgl. Landgerichte München I. Bewerber um dieselbe
haben ihre vorschriftsmässig belegten Gesuche bei der ihnen Vor¬
gesetzten Kgl. Regierung, Kammer des Innern, bis zum 1. November
1. Js. einzureichen.
Versetzt: Der Landgerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Friedrich
U 1 1 m a n n in Zweibrücken, seiner Bitte entsprechend, wegen zurück¬
gelegten 70. Lebensjahres unter Allerhöchster Anerkennung seiner
langjährigen, eifrigen und vorzüglichen Dienstleistung in den dauern¬
den Ruhestand.
Militärsanitätswesen.
Abschied bewilligt: dem Stabsarzt Dr R o s s n i t z,
Bataillonsarzt im 17. Inf.-Reg., mit der gesetzlichen Pension, dem
Generaloberarzt z. D. Dr. Hekenberger, diensttuenden Sanitäts¬
offizier beim Bezirkskommando Nürnberg, diesem unter Fort¬
gewährung der Pension, beiden mit der Erlaubnis zum Forttragen
der Uniform mit den für Verabschiedete vorgeschriebenen Abzeichen;
dem Oberstabsarzt Dr. .1 a c o b y, Regimentsarzt im 15. Inf.-Reg.
wurde der Abschied mit der gesetzlichen Pension und mit der Er¬
laubnis zum Forttragen der Uniform mit den für Verabschiedete vor¬
geschriebenen Abzeichen bewilligt; der Oberstabsarzt der Reserve
Dr. Reuter (Rosenheim) wurde als Regimentsarzt im 15. Inf.-Reg.
mit einem Patent vom 25. Oktober 1903 nach dem Oberstabsarzt
Dr. Stobaeus im aktiven Dienste wieder angestellt; dem General¬
oberarzt Dr. Hofbauer im Kriegsministerium wurde ein Patent
seines Dienstgrades verliehen.
Ernannt: zum diensttuenden Sanitätsoffizier beim Bezirks¬
kommando Nürnberg der Oberstabsarzt z. D. Dr. R o s s b a c h, zum
Bataillonsarzt im 6. Inf.-Reg. der Oberarzt Dr. Leiendecker des
1. Chev.-Reg. unter Beförderung zum Stabsarzt.
Versetzt: der Assistenzarzt der Reserve Wilhelm Neu¬
mayer (I. München) in den Friedensstand des 21. Inf.-Reg.
Auszeichnung: dem Oberstabsarzt a. D. Jacob y, bis¬
her Regimentsarzt im 15. Inf.-Reg. der Militär-Verdienstorden 4. Klasse
mit der Krone.
Korrespondenz.
Wir werden um Aufnahme der nachstehenden Zeilen ersucht:
In No. 39 der Münch, med. Wochenschr. dieses Jahrgangs, findet
sich unter „Verschiedenes“ ein Artikel, betitelt: „Aerztekaperung für
das Antipositin“. Darin wird auf die unerhörte Art und Weise auf¬
merksam gemacht, in welcher die Herren Dr. med. Wagner und
M a r 1 i e r die Reklame für das Antipositin, ein Mittel, welches die
Korpulenz bekämpfen soll, betreiben. Unter anderem haben die
Herren einem „Professor Schmidt“ eine Lobrede auf das Anti¬
positin in den Mund gelegt, die sie in verschiedenen Zeitungen ver¬
öffentlichen. Wenn ich auch keine direkte Veranlassung hatte, diese
angeblichen Aeusserungen des „Professor Schmidt“ auf meine
Person zu beziehen, da eine nähere Angabe über den Wohnort des
betreffenden Herrn fehlte, so habe ich mich doch sofort, nachdem mir
die Inserate bekannt geworden waren, durch Vermittlung eines
Rechtsanwaltes gegen diese Art der Reklame gewehrt und auch er- '
reicht, dass die Firma alsbald von einer weiteren Benutzung des „Pro¬
fessor Schmidt“ für ihre Reklameartikel Abstand nahm. Aus der
Korrespondenz, welche mein Anwalt mit der Firma führte, ging zur
Evidenz hervor, dass der Name „Professor Schmidt“ einfach fin¬
giert war, ebenso wie höchstwahrscheinlich auch die ganze Rede,
welche demselben in den Mund gelegt wurde.
Ich teile Ihnen dieses mit, einmal, um auch meinerseits die Un¬
verfrorenheit, mit welcher die Firma Dr. med. Wagner und Mar-
1 i e r vorgeht, zu betonen, dann aber auch, weil möglicherweise —
wie das aus dem Schlussatz des Artikels in der Münch, med. Wochen¬
schrift hervorgeht — die Meinung auftauchen könnte, als hätte ich
meinen Namen für die Reklame des „Antipositins“, eines mir gänz¬
lich unbekannten Mittels, hergeben können.
Ich würde Ihnen deshalb dankbar sein, wenn Sie Gelegenheit
nehmen wollten, diese Zeilen in der Münch, med. Wochenschr. ab¬
zudrucken. Prof. Dr. Ad. Schmidt- Dresden.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 40. Jahreswoche vom 30. Sept. bis 6. Okt. 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 11 (12*),
Altersschw. (üb. 60 J.) 9 (6), Kindbettfieber — ( — ), and. Folgen der
Geburt —(2), Scharlach — (1), Masern u. Röteln — ( — ), Diphth. u.
Krupp 1 (3), Keuchhusten 2(2), Typhus — ( — ), übertragb. Tierkrankh.
— ( — ), Rose (Erysipel) 1 ( — ), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) — (2), Tuberkul. d. Lungen 26 (25), Tuberkul. and.
Org. 3 (4) Miliartuberkul. 1 ( — ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 12 (8),
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. 3 (— ), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 4 (2), sonst. Krankh. derselb. 1 (2), organ. Herzleid. 20 (10),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 3 (2), Gehirnschlag
7 (10), Geisteskrankh. — (1), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 4 (2), and.
Krankh. d. Nervensystems 2 (2), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 44 (36), Krankh. d. Leber 5 (3), Krankheit, des
Bauchfells 2 (— ), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 1 (2), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 6 (6), Krebs (Karzinom, Kankroid) 18 (14),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 2 (1), Selbstmord — (1), Tod durch
fremde Hand — (—), Unglücksfälle 1 (3), alle übrig. Krankh. 2 (5).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 191 (167), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 18,4 (16,1), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 12,2 (10,9).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche,
Verlag von J. F. Lehmann in München. — Druck von E. Mühlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.G., München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umfang von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 4- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
M 6.—. • Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen Sind zu adressieren: foir die Redaktion Arnulf¬
strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von S'/a — 1 Uhr. • Für
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Ffeysestrasse 15a. • Für
• Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16. »
Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
0. v. Anderer, Cli. Bäumler, O.n.Bollinger, H. Curschmann, H. flelierich, W. v. Leube, GJerkel, J. v. Michel, F, Penzolill, H. t. Ranke, B. Spelz, F. i Winckel,
München. Freibursr i. B. München. Leipzig. Kiel. Würzhnro- Nürnhertr RerUn Frbn^i, »j .-. i
Würzburg. Nürnberg. Berlin.
Erlangen.
München. München
München
No. 44. 30. Oktober 1906. Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 15a.
53. Jahrgang.
Originalien.
Aus der medizinischen Klinik der Universität Marburg a/L.
(Direktor: Prof. Dr. L. Braue r).
Intravenöse Digitalistherapie mit Strophanthin*).
Von R. von den Velden.
Das Ziel unserer Wünsche in der medikamentösen Thera¬
pie besteht darin, die wirksame Substanz in leicht löslicher
Form möglichst schnell und ohne Nebenwirkungen in einer
genau dosierbaren Menge an den Ort ihres Angriffs zu bringen.
Demnach brauchen wir also reine Präparate, von konstanter
Wirkung, die wir dem Organismus parenteral zuführen müssen,
um den nicht ziffermnässig anzugebenden Verlusten zu ent¬
gehen, die bei der Einverleibung auf dem Umwege durch den
Magendarmkanal entstehen. Der Erfüllung dieser Forde¬
rungen hat nun die Digitalistherapie bis in die neueste
Zeit hinein die grössten Schwierigkeiten bereitet. Seit das
Verfahren der Austitrierung am Froschherzen angewendet
wird, besitzen wir nun allerdings schon Präparate, auf deren
konstante Wirkung wir uns verlassen können. Ebenso wie
diese Forderung wird sich auch der Wunsch nach reinen Prä¬
paraten wohl meist erfüllen lassen. Diese reinen Präparate, die
man aus dem Digitaliskomplex herausgeschält hat, zeigen nun
aber zum grossen Teil recht divergierende Wirkungen, und so
fällt ihre Reinheit gegenüber den Gefahren, die sie in sich ber¬
gen, nur wenig in die Wagschale. So wird man also wohl
hierbei nicht an der strikten Forderung der absoluten Rein¬
heit in chemischem Sinne festhalten dürfen und können. Das
Verlangen, gut lösliche und leicht resorbierbare Digitalisprä¬
parate zu besitzen, bereitet nun weitere Schwierigkeiten. Die
Aufnahme der Mittel vom Magendarmkanal aus geht recht
langsam vor sich, namentlich wenn, wie das ja leider oft der
Fall ist, infolge der Medikation eine Schleimhautreizung auf-
tritt. So können uns selbst die bestbestimmten Präparate eine
genau in Zeit und Stärke abzusehende Wirkung nicht immer
mit Sicherheit gewährleisten. Es hat nun schon seit langem
nicht an Versuchen gefehlt, auf den verschiedensten Wegen
dieser Uebelstände Herr zu werden, und namentlich Präparate
zu schaffen, die man parenteral einführen konnte. Sie alle haben
uns in dem gemeinsamen Bestreben, die obigen Forderungen
zu erfüllen, etwas weitergebracht und am meisten hat dazu bei¬
getragen, neben dem Mendel sehen Digitalone, das von
CI o e 1 1 a dargestellte und von der N a u n y n sehen Schule ge¬
prüfte und empfohlene Digalen. Dieses in Glyzerin-Alkohol-
Wasser gelöste Digitoxin, vom Magendarmtraktus besser
vertragen und schneller aufgesaugt als andere Präparate,
konnte nach den Untersuchungen von Kottmann auch intra¬
venös angewandt werden, und es war auf diesem Wege mög¬
lich, mit Mengen von 5—15 ccm schon im Verlauf K Stunde
ohne stärkere Nebenwirkungen einen vollen Digitaliserfolg zu
erzielen. Mit dem Digalen hat die parenterale, besonders die
intravenöse Digitalistherapie schnell an Boden gewonnen; doch
fehlte es nicht an Stimmen, weiche auch diesem Mittel Mängel
vorwarfen, wie sein Löslichkeitsverhältnis, die grosse anzu¬
wendende Menge, der nicht niedrige Preis und vor allem die
*) Nach einem im ärztlichen Verein zu Marburg a. L. am 18. VII.
1906 gehaltenen Vortrag.
No. 44.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Pharmakodynamik des Digitoxin. Es war daher von beson¬
derem Interesse, als A. F r a e n k e 1 auf dem diesjährigen Kon¬
gress für innere Medizin in München über sehr ermutigende
Resultate berichtete, die er mit einem anderen digitalisartig
wirkenden Mittel, dem Strophanthin, bei intravenöser Zu¬
fuhr gemacht hatte. Fraenkel hat dieses Präparat auf seine
Verwendbarkeit am Menschen an der v. Kr eh Ischen Klinik
zusammen mit Schwarz geprüft, nachdem er sich durch
längere Tierversuche von der therapeutischen Breite, d. h.
von dem Abstand zwischen therapeutischer und toxischer Dosis
überzeugt hatte.
Heute möchte ich Ihnen, m. H., die Erfahrungen mitteilen,
die wir mit diesem Präparat, das uns in zuvorkommendster
Weise von der Fabrik Böhringer-Waldhof zur Verfügung ge¬
stellt wurde, während des Sommersemesters an der medizini¬
schen Klinik gemacht haben.
Das Strophanthin, die wirksame Substanz aus dem Stro-
phanthussamen, wird in steriler wässriger Lösung 1:1000 in
den Handel gebracht, eingeschmolzen in kleine Glastuben, die
die für einen Erwachsenen empirisch festgestellte optimale
Dosis in 1 ccm (= 0,001 g Strophanthin) enthalten. Durch fort¬
laufende Kontrolle ist die Konstanz der Wirkungsstärke sicher
gestellt. Es entspricht ungefähr 1 ccm Strophanthin nach
E r a e n k e 1 s Feststellungen 15 ccm Digalen. Nicht unwesent¬
lich ist es, dass letzteres 3.20 M. im Preis steht gegen 25 Pf.
für die äquivalente Menge Strophanthin. Die Entnahme der
Lösung aus der Glastube mittels einer einfachen 1 ccm-Pravaz-
spritze und die Injektion dieser kleinen schon wirksamsten
Menge nach gewöhnlicher Desinfektion in eine Vene (es lässt
sich dazu jede beliebige Hautvene am Stamm oder an den
Extremitäten ohne komplizierte Stauungsmanipulationen
nehmen) sind so einfache Prozeduren, dass sie überall mit den
geringsten Hilfsmitteln ausgeführt werden können. Will man
aus irgend einem Grunde von der intravenösen Zufuhr Abstand
nehmen, so empfiehlt sich die intramuskuläre Anwendung, am
besten in die Glutäalmuskulatur. Subkutan darf das Mittel
nicht angewendet werden wegen der sehr starken örtlichen
Reizerscheinungen, die bei den anderen Injektionsarten zu¬
weilen in kaum merkbarer Weise auftreten können.
Das Strophanthin wirkt wie alle digitalisartigen Substanzen
auf Herz, Gefässe und nervöse Zentralorgane. In seinem
„therapeutischen Stadium“ verstärkt es Systole und Diastole,
hebt Arbeitskraft und Auswurfmenge des Herzens, reguliert
und verlangsamt die Herztätigkeit, verschiebt die pathologische
Blutverteilung zur Norm und bringt dadurch den Blutdruck
wieder auf sein Optimum. Die normalen Funktionen der ein¬
zelnen Organe werden hiermit wieder hergestellt, die Stau¬
ungserscheinungen verschwinden. Toxische Nebenwirkungen
soll das Mittel, das übrigens bei gehäufter Anwendung kumu¬
lierend wirkt, bei einmaliger Injektion nicht zeigen. Nach den
bisherigen Erfahrungen am menschlichen Kreislauf scheint das
Präparat keine besonders stark prononzierte Gefässwirkung,
etwa wie das Digitoxin, zu besitzen, sondern in erster Linie
eine Herzwirkung zu entfalten. Unsere Erfahrungen erstrecken
sich bis jetzt auf 30 Injektionen bei 19 Patienten. Durchschnittlich
wurde sofort die volle Dosis von A— 1 ccm in ca. 30—50 Se¬
kunden injiziert; in einzelnen Fällen, bei denen ein mehr
tastendes Vorgehen geboten schien, erfolgte die Injektion in
1
No. -1-1.
2138
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Absätzen, indem jedesmal nach 0,3 — 0,4 ccm eine Pause ge¬
macht wurde, um den Erfolg der nächsten 10 — 20 Minuten ab¬
zuwarten. Wie sehr dieses letztere Vorgehen zu empfehlen
ist, zeigte uns ein Fall schwerster Herzinsuffizienz bei chro¬
nischer Nephritis, bei dem als ultimum refugium 0,4 ccm
Strophanthin gegeben wurde und wo 10 Minuten nach der In¬
jektion plötzlich der Tod erfolgte (Embolie? toxischer Herz¬
tod? Sektion wurde nicht erlaubt.) Angewandt wurde das
Strophanthin aus den allgemein gültigen Digitalisindikationen
bei absoluter und relativer Herzinsuffizienz: so bei frischer
Myokarditis, Myodegeneratio, sog. „Herzschwäche“ bei Pneu¬
monie, chronischer Nephritis, Urämie, nach unter Narkose vor¬
genommenen Operationen, bei „Debilitas vitae“ einer im
8. Monat stehenden und in der Couveuse aufgezogenen Früh¬
geburt, ferner bei Perikarditis und bei den verschiedensten
Dekompensationsgraden von Herzfehlern.
Wenn ich Ihnen das Endresultat gleich zusammengefasst
vortragen darf, so ergibt sich aus der Betrachtung der Kranken¬
geschichten, dass wir in dem Strophanthin ein Mittel aus der
Digitalisgruppe besitzen, das in weitmöglichster Weise die an
ein intravenös anzuwendendes Digitalispräparat zu stellenden
Anforderungen erfüllt. Wasserlöslich, von konstanter Wir¬
kung, ohne stärkere lokale Reizerscheinung vermag es schon
mit % — 1 ccm einen vollständigen therapeutischen Digitalis¬
erfolg zu erzielen. In den günstigsten Fällen erreicht man
schon in Minuten eine Umschaltung der pathologischen Kreis¬
laufsverhältnisse zur Norm und sieht selbst noch in Fällen, in
denen jegliche andere Digitalistherapie uns im Stich liess, voll¬
ständigen Erfolg. Wie alle Digitalispräparate unterliegt auch
das Strophanthin natürlich der Reservatio, dort wo der Herz¬
muskel schwerer erkrankt ist, unter Umständen weniger oder
gar nicht anzusprechen bezw. statt günstig, dann auch un¬
günstig zu wirken. Dann wiegen die anderen Komponenten der
Digitaliswirkung (Qefässwirkung und zentrale Wirkung) vor
gegenüber der Herzwirkung, und es findet dann das Herz statt
einer Unterstützung eine Schädigung durch Digitalis. Dass dies
akute Einsetzen der ungewollten Digitaliswirkung bei der intra¬
venösen Therapie natürlich für das Herz unter Umständen ge¬
fährlicher sein kann, wie bei der internen langsam ansprechen¬
den Therapie, ist wohl selbstverständlich. Es sind daher auch
die Indikationen für die intravenöse Digitalistherapie be¬
deutendpräziser zu fassen, wie für die sonst üb¬
liche interne Therapie, eine Indikationsstellung, die sich für uns
auch erst im Laufe der Erfahrungen mit diesem Mittel ent¬
wickelt hat; und wenn man im allgemeinen auch bei vor¬
sichtigem Vorgehen — abgesehen von nicht zu übersehenden
Komplikationen, wie Embolien etc. — niemals eine grössere
bleibende Schädigung mit dem Mittel setzen wird, so kann
man doch nur dann auf eklatante, durch keine andere Form
der Medikation zu erreichende Erfolge rechnen, wenn man
sich das Verhalten der einzelnen Kreislaufsfaktoren, namentlich
den Zustand des Herzmuskels, sorgfältigst analysiert. Mit
Willen sprach ich soeben von bleibenden ernsteren Schäden;
denn ich möchte hier betonen, dass bei einzelnen Fällen vor¬
übergehendes geringes Hochschnellen des Pulses, Irregularität,
leichte Herzpalpitationen nach der Injektion, ein kurzes Ueber-
gangsstadium zum vollen therapeutischen Zustand bildeten, das
den Eindruck einer geringen toxischen Wirkung machte. Ob
diese vereinzelten Beobachtungen durch Unterschiede im zeit¬
lichen und quantitativen Einsetzen der einzelnen Komponenten
der Digitaliswirkung oder auf andere Weise zu erklären sind,
lässt sich vorerst noch nicht entscheiden. Fieber oder Schüttel¬
frost, wie Fraenkeles beobachtet hat, zeigten sich niemals
bei unseren Fällen, desgleichen kein Erbrechen. *
Als Paradigma einer idealen Strophanthinwirkung möchte
ich folgenden Fall anführen:
30 Jahre altes Mädchen, das seit 13 Jahren an Mitralstenose
und Insuffizienz leidet. Jährlich mindestens einmal dekompensiert.
Nach anfänglichem guten Erfolg der gewöhnlichen internen Digitalis¬
pillentherapie versagte diese, wie sämtliche Modifikationen, gegen
Ende Mai, so dass wieder völlige Dekompensation eintrat. Am
25. V. 06, morgens um 8 Uhr 30 Min., wurden 0,8 ccm Strophan¬
thin in die linke Vena cubitalis injiziert. Ueber den Verlauf von
Puls, Blutdruck und Atmung in den nächsten Minuten und Stunden
gibt die Kurve I Aufschluss. Schon nach wenigen Minuten setzte eine
leichte Aufmunterung im Allgemeinbefinden ein; Herzklopfen und
„Wärmegefühl in der Herzgegend“ treten auf, der Puls wird nach
einem kurzen Intervall gesteigerter Irregularität ruhig, regulär und
voller. Seine „Amplitude“ wächst deutlich fühlbar. Die Vagus¬
wirkung setzt ein, auffallend rasch schwindet die Dyspnoe und der
Angstzustand, die Zyanose verblasst, der Kopf wird „klar“. Dieser
Erfolg der ersten 5 — 10 Minuten vervollkommnet sich noch in den
folgenden 3 — 5 Stunden; subjektive wie objektive Stauungserschei¬
nungen schwinden, die Diurese beginnt. Patientin hat zu Mittag
wieder Appetit, ist abends ganz beschwerdefrei und verbringt eine
1
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- Blutdruck.
- Atmung.
- Urinmenge.
- X — Puls.
Injektion.
Minuten- u. Stundenkurve.
Tageskurve.
sehr gute und ruhige Nacht. Kurve II (Tageskurve) zeigt den
weiteren Verlauf in den nächsten Tagen, in denen sich der Kreis¬
lauf nach dieser einen Injektion noch auf der Norm hielt. Am 2. VI.
wurde dann wieder prophylaktisch mit der vorher ergebnislosen
internen Digitalismedikation begonnen, die nunmehr Erfolg hatte.
Patientin ist dann später nach Hause als ganz bedeutend gebessert
entlassen worden.
Wir haben nun ein Bild, wie es sich in solcher Schnellig¬
keit und Klarheit nur im pharmakologischen Tierexperiment
vor uns entrollt.
Die mannigfachen Modifikationen der Kreislaufstörungen,
bei denen Digitalis indiziert war, d. h. wo wir Strophanthin an¬
gewandt haben, bedingten natürlich auch verschiedene Er¬
scheinungsformen des therapeutischen Effektes. In dem einen
der Fälle beherrschte die starke Diurese, die Abnahme der
Atemnot und der Zyanose das Bild, in anderen Fällen liessen
das starke Angstgefühl, die Beklemmungen, die Aufregung oder
die Benommenheit nach und ein ruhiger Schlaf setzte ein.
Nicht immer kann natürlich aus den oben angeführten Ursachen
der Effekt einer Injektion ein vollständiger oder gar bleibender
sein, wenn dies auch öfters der Fall ist. Wirkt eine Injektion
nicht, oder nur unvollständig, dann ist am besten nicht vor
Ablauf von 2 mal 24 Stunden eine neue Injektion vorzunehmen.
Diese kann eventuell im gleichen Intervall des öfteren wieder¬
holt werden, jedoch nicht ohne genaueste Kontrolle wegen der
Gefahr der Kumulation. Unterstützende therapeutische Mass¬
nahmen, wie diuretische Mittel, Punktionen, Venaesectio u. a.
sind dabei stets mit in Betracht zu ziehen, namentlich wenn
man in dem Moment dringendster Indikation mit Strophanthin
vorzugehen hat. Mir selbst hat sich die Kombination von
Koffein oder Kampher mit Strophanthin sehr bewährt, indem
ich vor oder nach der intravenösen Injektion die anderen Mittel
subkutan zuführte. Die wissenschaftliche Berechtigung für die
Kombination mit Kampher wäre in dem günstigen Einfluss zu
suchen, den nach den Experimenten von G o 1 1 1 i e b und
Magnus Kampher auf das toxische Digitalisstadium am
Herzen ausiibt. Mit und ohne diese Kombination hat sich uns
das Mittel nun auch gut bewährt in den Fällen, wo die Kreis¬
laufschwäche nicht nur durch eine Herzschwäche bedingt
war, wie dies namentlich bei Infektionskrankheiten der Fall
ist, an erster Stelle bei der Pneumonie. Das noch sehr geringe
Beobachtungsmaterial lässt in dieser Hinsicht noch nicht über¬
blicken, wie viel von dem günstigen therapeutischen Endeffekte
auf die Gefäss- und zentrale und wie viel auf die Herzwirkung
des Mittels zu schieben ist. Sehr gute Erfolge zeigten sich auch
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2139
bei zwei Fällen von Kreislaufschwäche nach eingreifenden,
unter Narkose vorgenommenen Operationen.
Zum Schluss möchte ich noch die Fälle erwähnen, in
denen das Mittel als ultima ratio herangezogen wurde und wo
die andere Therapie schon mehr oder weniger ganz versagte,
Fälle in denen man einen günstigen Ausgang nicht mehr er¬
warten konnte. Die relative Unschädlichkeit wird die vor¬
sichtige Anwendung des Strophanthin in solchen Fällen stets
rechtfertigen; wenn man damit auch keinen grossen objektiven
Erfolg erzielt, so ist es doch nicht zu unterschätzen, dass man
dadurch eine grosse subjektive Erleichterung der qualvollen
Zustände sub finem vitae erreichen kann.
Nur wenn — was selten der Fall ist — aus äusseren
Gründen eine intravenöse Anwendung nicht möglich ist, wäre
die intramuskuläre Injektion, am besten in die Glutäen, vor¬
zunehmen; nur muss man sich dann darüber klar sein, dass
man damit auf die grossen Vorteile der Strophanthintherapie
zum nicht geringen Teil verzichtet. Eine rasche und starke
Wirkung erhält man nicht, besonders wenn die Wasserdepots
in den Muskeln infolge von verminderter Diurese angefüllt sind.
Alles in allem lässt sich nach den bis jetzt vorliegenden
Erfahrungen sagen, dass wir mit dem Strophanthin einen be¬
deutenden Schritt in der intravenösen Digitalistherapie weiter
getan haben. Die alte stomachale Therapie soll damit durchaus
nicht als überflüssig bezeichnet oder verdrängt werden. Jede
hat ihr Gebiet; wir werden aber mit den beiden Medikationen
zusammen mehr zu leisten vermögen wie bisher und es wird
zahlreiche Fälle geben, in denen die intravenöse Anwendung
des Strophanthin ausschlaggebend sein wird. Nicht nur die
Praxis zieht aber aus dieser Therapie ihre Vorteile, auch der
wissenschaftlichen Forschung am Krankenbett kommt sie zu
gute. Denn mit ihrer Hilfe können wir die verschiedensten
Fragen aus der menschlichen Kreislaufspathologie und Therapie
besser als bisher bearbeiten. So möchte ich Ihnen gleich im
Anschluss kurz einige Beobachtungen anfügen und zwar an
erster Stelle die jetzt aktuelle Frage der Hochdruck¬
stauung (Sahli) erörtern.
Die alte Regel bei erhöhtem Blutdruck keine Digitalis zu
geben, entsprang aus der irrigen Ansicht, dass durch diese
Medikation der Druck immer weiter gesteigert werde. Dem
Vorgehen von S a h 1 i ist es zu danken, dass mit dieser Ansicht
gebrochen wurde. Denn der Blutdruck kann nach Digitalis, in
diesem Falle nach intravenöser Strophanthinzufuhr, um auf
sein Optimum zu gelangen, alle 3 Eventualitäten erfüllen, er
kann, wie Sie an den 3 Kurven (III — V) ersehen können, steigen,
gitaliswirkung. Es ist dies auch weiter nicht erstaunlich, wenn
man sich nur vor Augen hält, dass der Blutdruck kurz sche¬
matisiert eine Summe ist aus Herzkraft und Gefässspannung,
resp. Vasomotorentonus. Sinken diese beiden Komponenten,
so sinkt der Blutdruck, und er steigt wieder, sobald wir mit
Digitalis die Herzkraft heben und eine Gefässkontraktion her-
vorrufen. So liegen die Verhältnisse wohl meistens. Nun
können wir aber auch das strikte Gegenteil beobachten. Die
Herzkraft sinkt (Stauungserscheinungen usw.), der Blutdruck
steigt jedoch. Dieser hohe Blutdruck muss dann ganz auf die
Gefässkomponente geschoben werden, und wenn keine Splanch-
nikusarteriosklerose, keine Nephritis oder sonst eine peripher
am Gefässgebiet angreifende, eine Gefässkontraktion bedin¬
gende Noxe besteht, so muss eine am Vasomotorenzentrum
angreifende Schädlichkeit vorhanden sein. (Von der Hyper-
globulie sehe dch hier ganz ab.) Dieser Reiz auf das Vaso-
motorenzentrum und die dadurch hervorgerufene Gefässkon¬
traktion ist so gross, dass sie den Druckabfall, wie er durch
die Herzschwäche bedingt wird, überkompensieren kann, eine
für das geschädigte Herz möglichst ,, unzweckmässige“ Ein¬
richtung. Diese zentrale Schädigung kann hier wohl nur
(immer von unkomplizierten Fällen gesprochen) durch
O-Mangel oder CCL-Ueberladung des Blutes bedingt sein.
(Siehe Blutdrucksteigerung bei Zyanose resp. Dj^spnoe infolge
Erkrankung der Luftwege.) Ausser am Vasomotorenzentrum
wirkt dieser Reiz auch in den meisten Fällen am Atemzentrum,
und die Dyspnoe der Herzkranken ist z. T. ihre Folge. Aber
auch ohne dieses äussere Zeichen der schlechten Blutlüftung
kann der zentrale Reiz bestehen, und hierfür möchte ich Ihnen
kurz folgenden Fall anführen.
34 Jahre alte Frau, seit über 20 Jahren Mitralinsuffizienz und
-stenose, kommt am 21. V. 06 leicht dekompensiert in die Klinik.
Subikterisch, geringe Oedeme, leichter Lebertumor, Oligurie, leichte
Zyanose, „benommener Kopf“. Puls 90, Atmung 20. Eine 2 mal
24 ständige indifferente Behandlung mit Eisblase und Ruhe bringt
keine Aenderung im Befinden. Am 23. V., abends 7 Uhr, 0,6 ccm
Strophanthin in die linke Vena cubitalis. Nach 5 Minuten Gefühl
von Wärme am Herzen. Leichte Pulsirregularität. Schon nach
15 Minuten hat Patientin einen „ganz freien Kopf“. Ueber das Ver¬
halten des Blutdruckes gibt Kurve III Aufschluss. Der Puls ist voll,
regelmässig, 65, die Atmung 18. Patientin schläft nachts ruhig. Die
Diurese setzte stark am Morgen des 24. V. ein und Patientin fühlte
sich so wohl und gesund, dass sie nicht davon abgehalten werden
konnte, am gleichen Vormittag nach Hause zu gehen.
Hier fällt also mit Hebung und Regulierung der Herzkraft
durch Digitalis und mit der Zufuhr arteriellen Blutes durch
die, infolge der Digitalisgefässwirkung erweiterten Hirngefässe,
(G o 1 1 1 i e b und Magnus) zu den Zentralapparaten der Reiz
fort und der Blutdruck sinkt.
Warum es nun in dem einen Fall zur Hochdruck- in einem
anderen zur Tiefdruckstauung kommt, das entzieht sich vorerst
tioch unserer näheren Analyse. Dass dabei die individuell
verschiedene Anspruchsfähigkeit der Zentralapparate und die
verschieden grossen Aufgaben die den einzelnen Komponenten
des Blutdruckes jedesmal zufallen, eine gewisse Rolle spielen,
muss man als sehr wahrscheinlich bezeichnen. Ausserdem
ist dabei in Betracht zu ziehen, dass nicht alle Digitalispräparate
gleiche Wirkungen auf Herz und Gefässe besitzen und dass
sich z. B. beim Digitoxin mit seiner universellen Verengerungs¬
wirkung dieser Druckabfall — rein theoretisch betrachtet, da
mir Beobachtungen darüber fehlen — nicht zeigen wird.
Eine Mittelstellung zwischen den oben geschilderten Ex¬
tremen nehmen die Fälle ein, bei denen sich der Druck unter
pathologischen Kreislaufverhältnissen auf der normalen Höhe
hält. Aus dem Vorhergesagten findet man leicht hiezu den
Schlüssel. Wendet man nun Digitalis an (siehe Kurve V), so
scheint trotz guter therapeutischer Wirkung die Medikation
auf den Blutdruck bei oberflächlicher Betrachtung gar keine
Wirkung auszuüben. Der gleiche Blutdruck vor und nach der
Injektion resultiert jedoch im ersteren Falle aus Werten die in
das Pathologische verschoben sind, das andere Mal aus Normal¬
komponenten.
Ganz allgemein gesagt dürfen wir jetzt also aus dem Ver¬
halten des Blutdruckes bei Bestehen sonstiger Digitalisindi¬
kation keine Kontraindikation gegen diese Medikation ableiten.
Nur Form und Stärke dieser Medikation wäre zu diskutieren.
Weniger aktuell, eigentlich schon ganz erledigt ist das
Thema der Kardiographie. Sie ist von sehr grossem Werte
bei dem Studium der Herzirregularitäten, der systolischen Ein¬
ziehungen und des diastolischen Verschleuderns. Mehr darf
man aber eigentlich aus einem Kardiogramm nicht herauslesen
(Martins, D. Gerhardt, v. Frey u. a. m.). Auch der
Versuch, bei dieser akuten Umwälzung im menschlichen Kreis¬
lauf durch intravenöse Strophanthininjektion vielleicht doch an
dem Kardiogramm einige Anhaltspunkte über die veränderte
Herztätigkeit zu erhalten, muss als negativ bezeichnet werden.
Wohl ist in einer Anzahl von Fällen eine Umformung des
Spitzenstosskardiogramms vor, während und nach der Stro¬
phanthininjektion wahrzunehmen, aber die Fehlerquellen, die
1*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
J14U
man dabei in Betracht ziehen muss, wie veränderte Lage des
Rezeptor, verschiedener Druck, Schleuderung, und nicht zum
wenigsten die Aenderung der Herzlage, sind so gross, dass
man zu einem klaren, einwandsfreien Resultat ohne eine Un¬
masse von Kautelen kaum kommt. Sagen kann man nur ganz
allgemein, dass das Kardiogramm nach Strophanthin ausge¬
prägter und stärker profiliert wird. Ob in dem einzelnen Falle
die Vorhofszacke in Stärke und Lokalisation sich ändert, ob
Anspannungs- und Auswurfszeit eine Beeinflussung erfahren,
das wage ich trotz zahlreicher Untersuchungen nicht mit Be¬
stimmtheit aus den Kurven herauszulesen. Ein grösseres Ma¬
terial vermag da vielleicht mehr zu leisten. Im Uebrigen kann
man hier auch besser eine Veränderung am Herzen palpieren,
wie sie graphisch nachweisen.
Aus der I. medizinischen Abteilung des Allgemeinen städtischen
Krankenhauses in Nürnberg (Oberarzt: Obermedizinalrat
Dr. Q. Merkel).
Ueber Digalen (Digitoxinum solubile Cloetta)*)
Von Dr. Eberhard Veiel, Assistenzarzt.
Das Digalen, „Digitoxinum solubile Cloetta“ hat nach den
bis jetzt erschienenen Veröffentlichungen eine sehr günstige
Aufnahme gefunden.
Naunyn1) war der erste, der an der Hand von klinischen
Erfahrungen das Digalen empfahl; eingehende Beobachtungen
speziell über die intravenöse Verabreichung des Digalens hat
Kottmann2) mitgeteilt, es folgen Mitteilungen von Biber¬
geil3), Q. Klemperer4), D e n n i g 5) u. a., die alle dem
Digalen ein fast uneingeschränktes Lob zollen. Als haupt¬
sächlichste Vorzüge werden dem Digalen nachgerühmt: die
genaue Dosierbarkeit, das Fehlen gastrischer Störungen, das
Fehlen einer kumulativen Wirkung und der schnelle Eintritt
der Wirkung.
Wir haben das Digalen in einer Reihe von Fällen ange¬
wandt, bei denen es sich teils um eine akut einsetzende Herz¬
insuffizienz, teils um chronische Herzerkrankungen handelte.
In den ersteren machten wir fast stets von der intravenösen
Therapie Gebrauch, bei den letzteren gaben wir das Mittel
per os. Von den subkutanen Injektionen sind wir wegen der
— manchmal enormen — Schmerzhaftigkeit und der Neigung
zu entzündlichen Reaktionen abgekommen, dagegen ver¬
sprechen uns die neuerdings von Eulen bürg e) emp¬
fohlenen intramuskulären Injektionen guten Erfolg; unsere dies¬
bezüglichen Versuche sind noch nicht abgeschlossen.
Es folgen zunächst im Auszuge die Krankenberichte der
Fälle, bei welchen das Digalen per os verabreicht wurde; wir
haben dasselbe stets in Süsswein gegeben. Die angeführten
Blutdruckbestimmungen wurden mit dem Apparat von Riva-
R o c c i (Modifikation von Recklinghausen) gemacht.
Fall 1. Schlosser, 52 Jahre. Myokarditis. 9. XII. 05 bis 15. I. 06.
Status bei der Aufnahme: Lungenemphysem. Herz von Lunge stark
überlagert, der Spitzenstoss fällt in linker Seitenlage bis in die vor¬
dere Axillarlinie im 5. Interkostalraum, 1. Ton an der Spitze dumpf,
2. Pulmonalton akzentuiert. Puls 72, unregelmässig, ungleichmässig,
stark gefüllt und gespannt. Blutdruck: 130 mm; nach ca. 10 Herz¬
phasen 1 Intermittenz. Urin: Spur Albumen, mikroskopisch nichts
Besonderes. Vom 11. — 18. bekam Patient Jodkali. Am 18. XII. abends
Brustbeklemmung. Puls 126, unregelmässig. Herzaktion unregel¬
mässig.
Am 19. XII. morgens Puls 84, sehr unregelmässig, Blutdruck: 105.
Patient bekommt 4mal 1 ccm Digalen per os. 6V2 Uhr
abends Puls 84, absolut regelmässig; Blutdruck 112.
Am 20. XII. 4 m a 1 1 ccm Digalen per os. Puls 78, regel¬
mässig; Blutdruck 130.
Vom 21. bis 24. XII. i m g a n z e n 10 ccm Digalen per os.
21. XII. Puls 66, Blutdruck 120. 24. XII. Puls 84, Blutdruck 115.
Puls immer regelmässig geblieben; Patient wird am 15. I. geheilt
entlassen.
*) Nach einem im ärztlichen Verein Nürnberg gehaltenen Vortrag.
U Münch, med. Wochenschr. 1904, No. 31.
2) Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 56, 1905.
3) Berl. klin. Wochenschr. 1904, No. 51.
4) Therapie d. Gegenwart, H. I, 1905.
s) Jahrb. d. prakt. Med. 1905.
“) Med. Klinik 1906, No. 6.
Diuresen am 17.
XII .
900
ccm
18.
XII .
700
V
19.
XII .
700
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20.
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1100
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22.
XII .
1000
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23.
XII .
600
yy
24.
XII .
900
yy
(Beginn mit Digalen.)
In diesem Fall hat Digalen eine myokarditische Inkompensation
rasch coupiert, die Pulszahlen wurden nicht wesentlich beeinflusst,
Blutdruck um 10 — 20 mm gesteigert. Keine gastrische Störungen.
Die Diurese nicht beeinflusst.
F a 1 1 2. Lehrerin, 52 J. Arteriosklerose, Atheromatosis aortae.
27. XII. 05 bis 29. I. 06.
Status bei der Aufnahme. Herz: Grenzen: Rechter Sternalrand,
links fingerbreit innerhalb der Mammillarlinie. Kein deutlicher
Spitzenstoss in Rückenlage, in linker Seitenlage im 5. Interkostal¬
raum in der vorderen Axillarlinie. 1. Ton an der Spitze stossend,
daneben undeutlich ein systolisches Geräusch, das über dem Ster¬
num und über der Pulmonalis deutlicher ist. II. Töne klappen. Puls
rechts stärker wie links, regelmässig 104. Diastolischer Blutdruck
130, systolischer Druck 160. Im Urin Spur Albumen, einige hyaline
Zylinder. Subjektive Angaben: Stechen in der Herzgegend, Herz¬
klopfen.
Vom 28. XII. 05 b i s 1. 1. 06 j e 3 m a 1 1 ccm Digalen per os.
29. XII. Pat. ist beschwerdefrei. Puls 96, ab und zu 1 Inter¬
mittenz.
30. XII. Puls 90, weniger stechend, regelmässig.
31. XII. Puls 84, diastolischer Druck 125, systolischer 165.
2. I. 06. Puls 90, diastolischer Druck 110, systolischer 160.
Diuresen am 28. XII . 900 ccm (Beginn mit Digalen.)
29. XII . 1400 „
30. XII . 1600 „
31. XII . 2000 „
1.1 . • 2300 „
2. I. .... verloren.
4. 1 . 1200 ccm
Dieser Fall zeigt recht schön die Wirkung des Digalens auf die
Muskulatur des Herzens. Während vor Digalen der Pulsdruck
(= Differenz zwischen systolischem und diastolischem Druck) 30 mm
betrug, war er später 50 mm!
Die subjektiven Beschwerden schwanden rasch, gastrische Stö¬
rungen traten nicht auf, die Pulszahlen wurden wenig herabgesetzt,
Diurese gesteigert.
F a 1 1 3. Verdingerin, 72 .1. Hypertrophia ventric. sin., Schrumpf¬
niere. 25. X. 05 bis 12. II. 06.
Status. Herz: Grenzen: 1 Querfinger rechts vom rechten Ster¬
nalrand, links Mammillarlinie. Spitzenstoss im 6. Interkostalraum,
1 Querfinger ausserhalb von der Mammillarlinie. Herzaktion unregel¬
mässig, 2. Aortenton akzentuiert. Gefässrohr der Art. radialis hart.
Leber vergrössert. Im Urin Spur Albumen, mikroskopisch einzelne
hyaline Zylinder. Blutdruck 190 mm.
Am 19. XI. 05 Auftreten von Herzschmerzen; Herzaktion sehr un¬
regelmässig; Puls 102, unregelmässig und ungleichmässig; Blutdruck
210 mm.
Vom 19. XI. bis 26. XI. je 3 m a 1 1 ccm Digalen per os.
20. XI. Puls 90, Blutdruck 185 mm, Puls immer unregelmässig.
21. XI. Puls 108, Blutdruck 225 mm. Puls regelmässiger.
22. XI. Puls 90, Blutdruck 210 mm, Puls annähernd regelmässig.
25. XI. Puls 90, Blutdruck 198 mm, Puls absolut regelmässig.
(Die Regularität des Pulses wurde täglich durch Pulskurven
kontrolliert.)
Am 26. XI. muss wegen Appetitlosigkeit, Aufstossen und Brech¬
reiz, der sich an die Darreichung von Digalen anschloss, das Mit¬
tel ausgesetzt werden.
Diuresen vom 15. — 19. XI . 500 — 1000 ccm
20. XI . 700 „
21. XI . 1000 „
22. XI . 2600 „
23. XI . 1300 „
24. XL .
25. XI. .
26. XI. .
650 „
2200 r
1200 „
Die Inkompensation wurde hier beseitigt, die Pulszahl etwas
herabgesetzt, der Blutdruck nicht beeinflusst, die Diurese nicht
anhaltend gebessert. Digalen erzeugte in diesem Falle Magenstö¬
rungen, die nach Aussetzen des Mittels rasch verschwanden.
Fall 4. Arbeiterin, 31 J. Kyphoskoliose, Hypertrophia et Dila-
tatio ventric. dextri. 8. XI. bis 16. XI. 05.
Status. Hochgradige Kyphose und Skoliose der Brustwirbelsäule
nach rechts, über der rechten Lunge diffuser Katarrh.
Herz: nach rechts den rechten Sternalrand um 2 Querfinger über¬
schreitend, Herztöne rein. Puls 112, schlecht gefüllt, unregelmässig.
Leber stark vergrössert. Im Urin Spuren von Albumen, vereinzelte
granulierte und Epithelzylinder.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2141
Am 8. XI. bekommt Pat. 4,0 Ol. camphorat. subkutan und 3 Ess¬
löffel Infus, fol. Digital. 1,5/150,0.
A m 9. XI. 3 m a 1 1 ccm Digalen per os, unmittelbar
nach dem 3. Kubikzentimeter Erbrechen. Puls 132,
unregelmässig, Blutdruck 110 mm.
Am 10. XI. Puls 128, unregelmässig. Um 10 Uhr vormit¬
tags 1 ccm Digalen per os, sof.ort Erbrechen. Um
1 214 Uhr nachmittags 4 ccm Digalen intravenös. Um
3Vs Uhr nachmittags Puls 126, unregelmässig; Blutdruck 120 mm.
Diuresen am 8. XI . 250 ccm
9. XI . 200 „
10. XI . 150 „
In den folgenden Tagen unter Theocin vorübergehend gute Diu¬
rese, am 16. XI. unter Herzinsuffizienz Exitus.
Das Digalen per os wurde nicht ertragen, hatte auf Qualität
und Regularität des Pulses keinen Einfluss, Diurese nicht beein¬
flusst. Blutdruck (nach der intravenösen Therapie) um 10 mm er¬
höht.
Fall 5. Zimmermann, 36 J. Stenose et Insuffic. aortae, Aneu¬
rysma aortae? 11. II. bis 1. IV. 05. Kommt wegen Atemnot.
Status. Herz: Grenzen: rechter Sternalrand, links Mammillar-
linie. Spitzenstoss im 6. Interkostalraum 1 Querfinger ausserhalb der
Mammillarlinie, fällt in linkere Seitenlage bis in die mittlere Axillar¬
linie, an der Spitze ein präsystolische Geräusch, über der Aorta ein
Doppelgeräusch. Puls 90, rasch kollabierend, links kräftiger als rechts,
regelmässig. Pulsation im Jugulum. In der Pulskurve anakrote
Zacken. Oberhalb des Herzschattens bei Röntgendurchleuchtung der
deutlich pulsierende und nach beiden Seiten verbreiterte Aorten¬
schatten.
Zunächst unter Infus, fol. Digitalis und Koffein Wohlbefinden.
Am 7. III. 05 unterschieden sich die Geräusche am Herzen nicht
mehr deutlich. Puls 78, regelmässig; Blutdruck 190 mm.
Vom 7. b i s 11. III. j e 3 m a 1 1 ccm Digalen per os.
A m 12. III. 2 m a 1 1 ccm Digalen per o s.
Am 8. III. sind die Herzgeräusche wieder scharf differenziert.
Puls 66, regelmässig.
Vom 9. bis 12. III. Puls zwischen 78 und 90, regelmässig.
Puls in der Folge immer regelmässig zwischen 80 und 90. Herz¬
aktion differenziert. Pat. ist beschwerdefrei und wird am 1. IV. ent¬
lassen.
Diurese vom 1. — 6. III . 1300 — 1500 ccm
7.
III. (Beginn mit Digalen.)
1300
8.
III .
2000
9.
III .
600
10.
III .
1400
11.
III .
1350
12.
III .
1600
V
V
(verloren).
Die beginnende Dekompensation wurde durch Digalen coupiert,
die Diurese etwas gesteigert, Pulszahlen und Blutdruck nicht be¬
einflusst. Ertragen wurde Digalen gut.
Fall 6. Schneiderswitwe, 61 J. 21. VII. bis 6. X. 05. Schon
öfters wegen Myokarditis und Angina pectoris auf der Abteilung.
Status am 21. VII., abends 9 Vs Uhr: Hochgradige Oedeme an den
unteren Extremitäten. Herz: nach rechts den rechten Sternalrand
um 1 Querfinger überschreitend, nach links nicht vergrössert. Herz¬
töne rein, sehr unregelmässige Herzaktion. Puls 130, unregelmässig
und ungleichmässig.
Abends 10 Uhr4 ccm Digalen intravenös. Um 1 1 Uhr
Puls 100, fast regelmässig.
22. VII. morgens Puls 96, abends 104, wieder sehr unregelmässig.
23. VII. 3 m a 1 1 ccm Digalen peros. Puls 108, immer noch
unregelmässig.
24. VII. 2m al 1 ccm Digalen per os. Puls 112, sehr un¬
regelmässig.
Digalen wird ausgesetzt, unter Theocin erfolgt in den nächsten
Tagen bessere Diurese und Regularität der Herztätigkeit.
Diurese am 22.
VII .
200
ccm
23.
VII .
950
V
24.
VII .
650
V
25.
VII .
900
V
26.
VII .
750
v
27.
VII .
700
V
mit Theocin! 28.
VII .
2500
V
Hier hat die intravenöse Digaleninjektion vorübergehende Besse¬
rung gebracht, das in den nächsten Tagen per os gegebene Digalen
blieb ganz ohne Erfolg; Besserung trat erst ein, als durch Theocin
erhebliche Diurese erfolgt war. Digalen konnte keine erhebliche
Diurese erzielen. Die Pulszahlen wurden nicht wesentlich beein¬
flusst; ertragen wurde das Mittel gut.
Zusammenfassung.
Eine deutliche Pulsverlangsamung kam in Fall 2
und 3 zustande, in Fall 1 und 5 war der Puls von Haus aus nicht
beschleunigt, in Fall 4 und 6 wurden die hohen Pulszahlen gar
nicht beeinflusst. Was den Einfluss auf die Regularität
des Pulses anbelangt, so war derselbe in Fall 1 schon nach
6 bis 8 Stunden bemerkbar; in Fall 2 war der Puls von Anfang
an regelmässig. In Fall 3 verstrichen 2 mal 24 Stunden, ehe
eine Besserung der Irregularität nachgewiesen werden konnte,
in Fall 5 wurde die irreguläre Herztätigkeit nach 24 Stunden
beeinflusst, in Fall 4 und 6 blieb die Irregularität unverändert
bestehen.
Der Blutdruck wurde in Fall 1 um 10 — 20 mm erhöht,
in Fall 2 wurde zwar der systolische Druck nicht erhöht, wohl
aber der diastolische herabgesetzt, so dass eine Mehrarbeit
des Herzens um 20 mm zu konstatieren war. In Fall 3 und 5
wurde der Druck nicht beeinflusst, in Fall 4 ist zwar der Druck
um 10 mm erhöht worden, doch ist es wahrscheinlich, dass die
Schuld daran das intravenös gegebene Digalen trägt.
Die Diurese wurde in 3 von 6 Fällen nicht beeinflusst.
Gastrische Störungen betreffend, haben wir 2 Be¬
obachtungen zu verzeichnen, in Fall 3 und 4.
Das Digalen hat in 4 von 6 Fällen Besserung erzielt; in
Fall 1, 2 und 5 in den ersten 24 Stunden, in Fall 2 nach 2 mal
24 Stunden.
Alles in allem können wir, namentlich im
Hinblick auf unsere Versager quoad Diurese,
und im Hinblick auf die gastrischen Stö¬
rungen, einen sehr wesentlichen Vorzug des
Digalen s, per os in chronischen Fällen chro¬
nisch verabreicht, gegenüber den alten Digi¬
talispräparaten nicht verzeichnen.
Anders verhält es sich mit unseren Resultaten betreffs
intravenöser Anwendung des Mittels.
Es folgen die diesbezüglichen Krankengeschichten im Aus¬
zug :
Fall 1. Wickler, 19 J. 15. IV. bis 27. IV. 05. Pneumonia crou-
posa lob. dextr. inf. Am 12. IV. erkrankt mit Schüttelfrost, Kopf¬
schmerzen und Stechen in der rechten Brustseite.
Status. Ueber dem rechten Unterlappen absolute Dämpfung,
weiches Bronchialatmen mit Knistern. Herz ohne Besonderheiten.
Kontinua 39,5 — 40,0.
Therapie: Decoct. Senegae. Eisblase. Infus, fol. Digital. 1,5/150
vom 16. IV. ab.
Am 18. IV. nachmittags hochgradigste Zyanose, 180 Herzschläge
in der Minute, Puls nicht zu fühlen. Pat. ist benommen. Kein
Lungenödem.
A m 18. IV., nachmittags 5 Uhr 1 ccm Digalen intra¬
venös.
Am 18. IV., nachmittags 6 Uhr ist Patient total verändert. Zya¬
nose geringer, Benommenheit geringer. Puls und Herzphasen 108
pro Minute, absolut regelmässig. Das Herz bleibt in den nächsten
Tagen gut. Puls bis zum 22. IV. um 100, von da ab um 70; Pneu¬
monie fällt lytisch ab.
Fall 2. Maler, 21 J. 15. V. bis 1. VII. 05. Pneumonia crou-
posa lob. sin. inf. Am 12. V. erkrankt mit Schüttelfrost, Schmerzen
quer über der Brust und braunrotem Auswurf.
Status. Ueber dem linken Unterlappen absolute Dämpfung,
Bronchialatmen mit Knisterrasseln. Kontinua 39,8 — 40,5. Herz
ohne Besonderheiten. Rostbraunes Sputum.
Am 16. V. nachmittags erhebliche Kapillarzyanose; Puls 104,
regelmässig, schlecht gefüllt, schlecht gespannt. Ol. camphorat. 8,0
subkutan bessert Zyanose und Puls nicht. Pat. beginnt zu rasseln.
Um A.V2 Uhr nachmittags Venae sectio 200 ccm. Zyanose nimmt ab.
Puls abends 102, etwas kräftiger. Besserung hält in der Nacht an.
Am 17. V. morgens Puls 90, regelmässig. Es ist auch der linke Ober¬
lappen pneumonisch infiltriert. Nachmittags 1 Uhr starke Irregulari¬
tät des Pulses, 88 Schläge in der Minute; es besteht Delirium cor dis,
die Herzphasen sind nicht zu zählen. Zyanose.
Therapie: Zunächst 8,0 Ol. camphorat. subcut., dann Pulv. fol.
Digital. 0,1, nach 2 Pulvern tritt Erbrechen ein.
Um 6 Uhr 10 Minuten abends 1 ccm Digalen intra¬
venös.
Um 7 Uhr abends Puls und Herzphasen 96, ganz regelmässig,
gut gefüllt und gespannt; am 18. V. Puls und Herzphasen 84. Am
19. V. Krise. Rekonvaleszenz.
Fall 3. Schmied, 18 J. 19. II. bis 5. IV. 06. Pneumonia crou-
pos. lob. dextr. inf. Am 17. II. erkrankt mit Schüttelfrost, Stechen
in der rechten Seite, Husten und Auswurf.
Status. Geringe Zyanose. Infiltration des rechten Unterlappens.
Herz ohne Besonderheiten. Puls 108, gut gefüllt, gut gespannt, rost¬
braunes Sputum mit Fränke Ischen Kokken. Kontinua 40,0.
Therapie: Bäder, Kognak.
Am 25. II. hochgradigste Zyanose, Puls 138, pendelnd, unregel¬
mässig. Respiration 60 pro Minute. Flüssiges Sputum. Blutdruck 100.*
Um
12 Uhr 30
Min.
n a c h m i 1 1.
5 ccm
Puls
Digalen
Repiration
intravenös
Blutdruck
V
1 „ 50
V
V
132
60
118 mm
V
4 „ 20
V
V
120
52
120
7 ’ „ 30
V
120
54
112
2142
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. *44.
Um 6 Uhr 30 Minuten nachmittags beginnt Schweiss, in der Nacht 1
Krise.
Am 26. II. früh 37,2. Rekonvaleszenz.
In diesem Fall wurde Digalen nur wenige Stunden vor der
Krise gegeben, ein Umstand, der später noch besprochen werden soll.
Fall 4. Kellner, 21 J. 1. XII. bis 14. XII. 05. Hypertrophia
ventric. sin., allgemeine Enge des Aortensystems. Schon öfters wegen
Vitium cordis und Hydrothorax auf der Abteilung. Seit 2 Monaten
Inkompensationserscheinungen (Oedeme, Dyspnoe).
Status. Hochgradige Oedeme. Anasarka. Zyanose. Herz reicht
nach links bis in die Mammillarlinie, rechts 1 Querfinger rechts vom
rechten Sternalrand; lautes systolisches Geräusch an der Spitze.
Rechts Hydrothorax. Aszites. Im Urin V2 Prom. Albumen, mikro¬
skopisch zahlreiche Epithelzylinder.
Am 1. XII. 50 ccm Urin.
Am 2. XII. 100 ccm Urin.
3. XII. 10 Uhr Vorm. Puls 108, Blutdruck 155
10 Uhr 20 Min. Vorm. 2 ccm Digalen intravenös.
1 Uhr 20 Min. nachmitt. Puls 108, Blutdruck 142
4 Uhr 20 Min. nachmitt. Puls 108, Blutdruck 155—60
Diurese am 3. XII . 250 ccm
4. XII. Früh Puls 108, Blutdruck 140 mm
12 Uhr 15 Min. nachm. 4 ccm Digalen intravenös.
3 Uhr 15 Min. nachm. Puls 108, Blutdruck 135
7 Uhr nachm. Puls 108, Blutdruck 135
Diurese am 4. XII . 400 ccm
Allgemeinbefinden bessert sich nicht, die Oedeme nehmen zu.
In den nächsten Tagen trotz Agurin, Theocin, Drainage der
Oedeme, keine Besserung der Diurese.
Am 14. XII. unter urämischen Symptomen Exitus.
Sektion: Starke Hypertrophie des linken Ventrikels — unverhält-
nismässige Enge des ganzen Aortensystems — Dilatation des rechten
Ventrikels — Stauungsorgane.
Fall 5. Arbeiter, 21 J. 11. XII. 05 bis 13. I. 06. Pneumonia
crouposa lob. sin. inf. Am 10. XII. akut erkrankt mit Schüttelfrost,
Stechen in der linken Brustseite, rötlichem Auswurf.
Status. Linker Unterlappen infiltriert. Bronchialatmen. Herz
ohne Besonderheiten. Puls 114, mässig gefüllt und gespannt. Kon¬
tinua 39,5 — 40,0.
Therapie: Vom 12. XII. ab Infus, fol. Digital. 1,5/150.
Am 16. XII. Puls 92, kaum zu fühlen, Respiration 36, Blut¬
druck 92.
12 Uhr 45 Min.\nac;hm. 3 ccm Digaflen intravenös.
3 Uhr 45 Min. nachm. Puls 78, Repiration 36, Blutdruck 112
6 „ 45 „ „ Puls 96, „ 30, „ 105
Am 17. XII. Krise. Rekonvaleszenz.
F a 1 1 6. Ausgeher, 38 J. 9. I. bis 13. I. 06. Pneumonia crouposa
lob. dextr. sup. et inf. Am 6. I. erkrankt mit Schüttelfrost, Stechen
in der rechten Brustseite, Husten und rötlichem Auswurf.
Status. Infiltration des rechten Unterlappens, Bronchialatmen.
Herztöne leise, pendelnd. Puls 108, schlecht gefüllt, schlecht ge¬
spannt.
Am 10. I. abends Delirium. Infiltration hat auch den rechten
Oberlappen ergriffen.
12. I.. Starke Zyanose. Puls 114, kaum zu fühlen.
1 Uhr nachmitt. 1 ccm Digalen intravenös.
1 Uhr „ Puls 124, Blutdruck 120 mm
4 „ „ „ 120, „ 115 „
13. I., früh 2 Uhr: Lungenödem; Venae sectio ohne Erfolg.
9 Uhr vormittags 3 ccm Digalen intravenös.
Von 12 Uhr ab Puls nicht mehr zu fühlen. Um 2 Uhr Exitus.
Autopsie ergab typische kruppöse Pneumonie.
Fall 7. Maurer, 30 J. 15. IV. bis 25. IV. 06. Pneumonia crou¬
posa. Am 12. IV. erkrankt mit Schüttelfrost, Stechen in der linken
Brustseite, Husten und rötlichem Auswurf.
Status. Zyanose. Herpes labialis. Infiltration des linken Unter¬
lappens. Puls 144, schlecht gefüllt und schlecht gespannt. Kon¬
tinua 40,0.
18. IV. Infiltration des linken Oberlappens.
20. IV. Infiltration des rechten Unterlappens.
23. IV. Infiltration des rechten Oberlappens.
Vom 21. IV. ab Pulv. fol. Digital. 0,1, täglich 3 mal. — Bäder.
24. IV. Vermehrte Zyanose. Trachealrasseln. Puls 140, pen¬
delnd. Respiration 48. 1 Uhr nachmittags Venae sectio ohne Er¬
folg.
6 Uhr 30 Minuten nachmittags: Puls 136, Respiration 60, Blut¬
druck 115.
6 Uhr 30 Minuten nachmittags 3,0 Digalen intra¬
venös.
• 9 Uhr 30 Minuten nachmittags: Puls 136, Respiration 48, Blut¬
druck 125 mm.
Pat. rasselt stark und geht unter Zeichen von Lungenödem am
25. IV. zu gründe.
Die Autopsie ergab Pneumonia crouposa aller Lungenlappen mit
Ausnahme des rechten Mittellappens.
Fall 8. Mechaniker. 19 J. 24. IV. bis 13. V. 06. Rheumatism.
articul. acutus. Perikarditis.
Am 24. IV. mit diffusen Gelenkschwellungen eingetreten. Kon¬
tinua 39,0°. Am 2. V. Zeichen von Pericarditis sicca (schabende
Geräusche zwischen den Herztönen, Herzleberwinkel wird stumpf).
In den nächsten Tagen sehr kleiner Puls, 114 — 120 pro Minute.
Am 10. V. plötzlich sehr irregulärer Puls, Benommenheit. Pat.
fühlt sich kalt an.
7 Uhr 30 Minuten nachmittags: Puls 102, sehr irregulär. Blut¬
druck 1 15.
7 Uhr 30 Minuten nachmittags 5,0 ccm Digalen
intravenös.
11 Uhr 30 Minuten nachmittags: Puls 66, ganz regelmässig, Blut¬
druck 125.
In den nächsten Tagen bleibt Puls stets regulär, stets gute Diu¬
resen (ca. 1500 ccm); am 13. V. gebessert auf eigenen Wunsch ent¬
lassen.
Fall 9. Versicherungsbeamter 52 J. 21. I. bis 3. II. 06. Pota¬
tor strenuus. Pneumonia crouposa lob. sin. inf. Pleuritis sicca. Am
18. I. erkrankt mit Schüttelfrost, Stechen in der linken Brustseite,
rötlichem Auswurf. Kontinua 40,0°.
Status 21. I. Infiltration des linken Unterlappens. Fieber fällt
vom 26. I. lytisch ab.
Am 28. I. perikarditisches Reiben. 38,0 — 39,0 Fieber.
Am 31. I. pleuritisches Reiben links und rechts hinten unten.
3. II. Hochgradigste Zyanose. Somnolenz. Puls 120, kaum zu
fühlen.
1 Uhr 10 Min, nachmitt. Puls 132, Blutdruck 100
1 Uhr 10 Min. nach mit t. 5 ccm Digalen intravenös.
4 Uhr 10 Min. nachmitt. Puls 120, Blutdruck 115
7 „ nachmitt. Puls 126, Blutdruck 120.
Auffallende Aenderung des Allgemeinbefindens. Zyanose ge¬
ringer. Pat. ist munterer.
Um 12 Uhr nachts ohne besondere Zyanose oder Rasseln plötzlich
Exitus.
Die Autopsie ergab Pneumonia crouposa der linken Lunge,
Bronchopneumonie des rechten Oberlappens; Adhäsivpleuritis.
Pleura und Perikard verwachsen.
Fall 10. Taglöhner, 23 J. 28. III. bis 29. V. 06. Pneumonia
crouposa lob. dextr. inf. Otitis media. Nephritis haemorrhagica.
27. III. Schüttelfrost, Stechen in beiden Brustseiten, kein Auswurf.
Durchfälle.
Status. Mässige Zyanose im Gesicht. Puls 108, kaum zu fühlen.
Herztöne sehr leise, rein. Respiration 48 pro Minute. Heftige Druck¬
empfindlichkeit rechts vorne unten.
29. III., früh 1 Uhr: Puls 114, kaum zu fühlen. Kollaps.
Um 1 Uhr früh 5 ccm Digalen intravenös.
Um 8 Uhr früh Puls 114, gut zu fühlen, ganz regelmässig. (Blut¬
druckbestimmungen wegen des Widerstandes des Pat. unmöglich.)
Am 29. III. Infiltration des rechten Unterlappens. Rostfarbenes
Sputum. Lytisch abfallende Pneumonie mit Komplikationen: Otitis
media, Nephritis haemorrhagica.
Das Herz blieb immer gut.
Fall 11. Maurer, 22 J. 19. X. bis 23. X. 05. Pneumonia crou¬
posa lob. dextr. med. et inf. Am 15. X. akut erkrankt mit Stechen
in der rechten Brustseite und rötlichem Auswurf.
Status. Rechter Mittellappen infiltriert. Herz ohne Besonder¬
heiten. Kontinua 40,0 — 41,0.
22. X. Auch der rechte Unterlappen infiltriert. Starke Zyanose.
Pat. rasselt sehr. Links hinten und links vorne diffuses feuchtes
Rasseln (Oedem).
12 Uhr 30 Min. nachmitt. Venae sectio 200 ccm,
anschliessend 2 ccm Digalen intravenös.-
12 Uhr 30 Min. nach. Puls 148, kaum zu fühlen, fliegt Repiration 60
3 „ 30 „ „ „ 148, „ „ „ „ „ 60
Um 6 Uhr 30 Min. nachm. 3,0 ccm Digalen intravenös.
6 Uhr 30 Min. nach. Puls 132, kaum zu fühlen, Respiration 60
8 * 30 „ „ „ 132, „ „ „60
Um 12 Uhr nachts unter zunehmender Herzinsuffizienz Exitus.
Fall 12. Hausierer, 68 J. 7. III. bis 13. III. 06. Pneumonia
crouposa lob. sin. sup. Am 7. III. erkrankt mit Frost und Husten.
39,0 — 40,0 Fieber.
Bei der Aufnahme bronchitische Geräusche allenthalben. Herz¬
aktion etwas unregelmässig. In den nächsten Tagen Infiltration des
linken Oberlappens. Rostfarbenes Sputum. Kontinua 39,5°.
13. III. Ikterus. Kein Auswurf mehr. Puls 114, schlecht ge¬
füllt und gespannt. Respiration 60, sehr oberflächlich.
6 Uhr 10 Minuten nachmittags: Puls 120, Respiration 60, Blut¬
druck 125.
6 Uhr 40 Minuten nachmittags 5,0 ccm Digalen
intravenös.
8 Uhr abends: Pat. ist schwer soporös, anämisch. Puls nicht
mehr zu fühlen. 10 Uhr nachts: Exitus.
Fall 13. Kutscher, 32 J. 3. IV. bis 9. V. 06. Pneumonia crou¬
posa. Am 1. IV. erkrankt mit Schüttelfrost, Stechen in der rechten
Brustseite, Husten und Auswurf. Durchfälle.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
4143
Status. Meningitische Symptome (K erni g, Nackensteifigkeit).
4. IV. Infiltration des rechten Mittellappens. Puls 124, kaum zu
fühlen.
4. IV. Infus, fol. Digital. 1,5/150,0; nachmittags Zyanose.
8 Uhr nachmitt. Puls 138, Blutdruck 90.
8 Uhr Nachmitt. 5 ccm Digalen intravenös.
11 Uhr nachm. Puls 120, Blutdruck 90
5. IV., früh S Uhr: Puls 102, kräftiger. Blutdruck 95.
Puls hält sich von jetzt an gut, noch bis 9. IV. Kontinua. Am
9. IV. Krise. Rekonvaleszenz.
Fall 14. Stukkateur, 34 J. 10. IV. bis 11. VI. 06. Myokarditis.
Seit Januar 1906 Kurzatmigkeit, Stechen zwischen den Schulterblät¬
tern, Husten und gelblicher Auswurf.
Status. Links hinten unten Reiben und tympanitische Dämpfung.
Herz: nach rechts den rechten Sternalrand um 1 Querfinger über¬
schreitend, links fingerbreit innerhalb der Mammillarlinie. Herztöne
leise, 2. Töne akzentuiert. Spitzenstoss im 6. Interkostalraum, wenig
einwärts von der Mammillarlinie. Puls 96, regelmässig, gleichmässig
schlecht gefüllt und gespannt. Leber vergrössert. Am 1. Tag 39,1,
dann fieberfrei.
Am 22. IV. Auftreten von erheblichen Oedemen an den Beinen.
Anasarka an der Brust. Gesicht gedunsen. Kein Aszites, kein
Hydrothorax. Herzfigur nicht grösser als zuvor. Puls 102, regel¬
mässig, schlecht gefüllt. Blutdruck 100. Im Urin flockiger Eiweiss¬
niederschlag, mikroskopisch ziemlich zahlreiche hyaline ‘und granu¬
lierte Zylinder.
Am 23. IV., nachmittags 1 Uhr, während des Schwitzens im
„Phönix“, plötzlich kalter Schweiss, Atemnot, 42 Atemzüge pro
Minute. Blass-zyanotisch, sehr aufgeregt. Puls nicht zu fühlen.
108 Herzschläge, schwach. Koffein 0,2 subkutan ohne jeden Erfolg.
Um 3 Uhr nachmittags 3 ccm Digalen intravenös.
Um 5Vz Uhr nachmittags Herzschläge und Puls 96, deutlich zu
fühlen, regelmässig. Respiration 32. Blutdruck 105. Pat. ist völlig
verändert, ganz ruhig und beschwerdefrei.
In der folgenden Zeit hin und wieder Atembeschwerden. Erst
im Juni beginnen Infarkte in den Lungen und der Milz. Am 11. VI. 06
Exitus.
Die Sektion ergab: Myocarditis chron. fibrosa; zahlreiche In¬
farkte in Lungen, Milz und Nieren.
Zusammenfassung.
Die Pulsfrequenz wurde durch das intravenös ge¬
gebene Digalen in 7 von 14 Fällen herabgesetzt.
Der Blutdruck in 4 Fällen definitiv, in 2 momentan ge¬
steigert, und zwar handelte es sich meist um 20 mm Hg, in
4 Fällen wurde der Blutdruck nicht beeinflusst, in 4 endlich
wurden die Blutdruckverhältnisse nicht festgestellt.
Eine anhaltende allgemeine Besserung wurde in 8 Fällen
erzielt, eine vorübergehende in 1 Fall. Der Erfolg des Diga-
lens war in einzelnen Fällen völlig überraschend. Vorher
hochgradigste Zyanose, Benommenheit oder, wo letztere nicht
vorhanden, Angina pectoris, und nachher mit einem Schlage
ein völlig komponiertes Allgemeinbefinden.
Sehen wir uns unsere Misserfolge genauer an, so finden
wir, dass es sich handelte in Fall 4 um einen der Fälle mit all¬
gemeiner Enge des ganzen Aortensystems, in Fall 7 um eine
Pneumonie, die ausser dem rechten Mittellappen sämtliche
Lungenlappen ergriffen hatte, in Fall 9 und 12 um durch Alko¬
hol und Emphysem schon lange stark in Anspruch genommene
Herzen. Es ist einleuchtend, dass diese Fälle von vornherein
wenig hoffnungsvoll waren.
Was die Dosis anbelangt, so gaben wir in letzter Zeit auf
den Rat Kottmanns hin meist 5 ccm, müssen aber zugeben,
dass wir mit der kleinen Dosis von 1 ccm, z. B. in Fall 1 und 2
sehr schöne Erfolge hatten.
Auf eine interessante Beobachtung im Fall 3, einer Pneu¬
monie, möchte ich noch besonders hinweisen.
Um 2 Uhr nachmittags wurden 5 ccm Digalen intravenös
gegeben und um 6 Uhr 30 Minuten desselben Nachmittags
setzte die Krise ein. Wie bekannt alteriert die Digitalis, als
Infus oder Pulver unmittelbar vor der Krise gegeben, das Herz
in hohem Masse; man kann dann in der Krise Pulsfrequenzen
von 30 Schlägen in der Minute bekommen. Bei Digalen scheint
diese Gefahr geringer zu sein, wohl dadurch, dass die Wirkung
rasch einsetzt, aber durch Elimination des Mittels rasch wieder
verschwindet.
Ä Unser Endergebnis ist:
^Bel akuten Herzschwächen ist Digalen,
intravenös verabreicht, ein hoch einzu¬
schätzendes Mittel, dessen Anwendung nicht
verabsäumt werden sollte. Es hat zudem den
grossen Vorzug, dass es bei Infektionskrank¬
heiten unmittelbar vor der Krise gegeben
werden kann.
Schliesslich möge noch bemerkt werden, dass dem Digalen
vor einer Reihe von Jahren ein Digitalispräparat voranging,
mit welchem fast völlig übereinstimmende Resultate erzielt
wurden, nämlich das Digitalinuin verum Kiliani. Unsere Er¬
fahrungen mit Digitalin sind in der Inauguraldissertation von
Hans R e i c h o 1 d, Würzburg 1895, niedergelegt. Von wei¬
teren Versuchen schreckte uns damals hauptsächlich der hohe
Preis des Digitalins ab; es kostete 1 g Digitalin 25 M., die
übliche per os gegebene Togesdosis von 20 mg kam auf
1 M. 70 Pf. zu stehen. 15 ccm Digalen kosten 2 M. 40 Pf., die
bei der intravenösen Verabreichung angewandte Dosis von
5 ccm also 80 Pf.
Sehr wünschenswert wäre es, wenn das Digalen in Tuben
ä 5 ccm in den Handel käme, denn besonders bei der intra¬
venösen Verabreichung scheut man sich, den Inhalt des ein¬
mal schon geöffneten und jetzt nur mit einem Gummipfropf
verschlossenen Gläschens zum zweiten Male zu benützen.
Die biologische Bedeutung der Photoaktivität des Blutes
und ihre Beziehung zur vitalen Licht- und Wärme-
wirkung.
Von Dr. V. Schlüpfer in Bern.
Als eines der im Vordergrund des Interesses stehenden Ziele
der heutigen biologischen Forschung darf wohl die Frage nach
der Bedeutung der Aetherenergie im Haushalt der tierischen
Zelle genannt werden. Während in der vegetabilischen Zelle
diese Bedeutung vor allem in synthetischer Richtung * * 3 4) zu
suchen ist und schon längere Zeit eine befriedigende Präzi¬
sierung gefunden hat, liegt nach den Arbeiten von Tappei¬
ner2), J o d 1 b a u e r 2), Hertel3), Neubauer4) u. a. der
biologische Wert speziell des Lichtes für die Tierzelle in der
Beeinflussung der Oxydation, resp. der Analyse durch das¬
selbe.
Es liegt deshalb nahe, auch die Bedeutung der Photo¬
aktivität der tierischen Gewebe, speziell des Blutes, die nach
früheren 5 *) von mir vorgenommenen Untersuchungen, deren
Resultate durch Werner G) eine entschiedene Bestätigung ge¬
funden haben, eine Art Chemiluminiszenz darstellt, hierin zu
sehen ; in Anlehnung an eine Arbeit von Radziszewski7)
beruht diese Luminiszenz sehr wahrscheinlich auf einer lang¬
samen Oxydation der Lipoide, die wiederum durch Belichtung,
d. h. auch unter dem Einfluss von Aetherwellen sich lebhafter
oxydieren unter langsamer chemischer Umwandlung. 8)
Die von den Lipoiden ausgesandte Lichtmenge ist sehr
minim, sie liegt unter der Reizschwelle des Auges, kommt aber
bei langer Exposition auf der photographischen Platte deutlich
Q Czapek: Biochemie der Pflanzen. 1905, I. Bd.
-) Tappeiner und Jodlbauer: Ueber die Wirkung photo-
dynainischer Stoffe auf Bakterien. Münch, med. Wochenschr. No. 25,
1904. — Ueber die Wirkung des Lichtes auf Enzyme in Sauerstoff¬
und Wasserstoffatmosphäre verglichen mit der Wirkung der photo¬
dynamischen Stoffe. D. Arch. f. klin. Med. 1905, 85. Bd., p. 386 ff. —
Tappeiner: Ueber die Oxydation durch fluoreszierende Stoffe im
Lichte und die Veränderung derselben durch die Bleichung. Münch,
med. Wochenschr. No. 44, 1905.
3) Hertel: Ueber physiologische Wirkung von Strahlen ver¬
schiedener Wellenlänge. Zeitschr. f. allg. Physiol., V. Bd., 1. H., 1905.
4) Werner: Erworbene Photoaktivität der Gewebe als Fak¬
tor der biologischen Strahlenwirkung und ihrer Imitation. Münch,
med. Wochenschr. No. 1, 1906.
5) Schäpfer: Photoaktive Eigenschaften des Kaninchenblutes.
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol., 108. Bd., p. 537 — 62, 1905.
°) Werner: Erworbene Photoaktivität der Gewebe als Faktor
der biologischen Strahlenwirkung und ihrer Imitation. Münch, med.
Wochenschr. No. 1, 1906.
T) Radziszewski: Ueber diePhosphoreszenz der organischen
und organisierten Körper. Liebigs Annalen d. Chemie, 203. Bd., 1880,
p. 305—36.
8) S c h u 1 1 z e und Winterstein: Ueber das Verhalten des
Cholestearins gegen das Licht. Zeitschr. f. physiol. Chemie, 43. Bd.,
3. u. 4. H., p. 316—19.
?144
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
zum Ausdruck und lässt sich so sowohl beim Kaninchenblute 9)
als auch beim Menschen- und Froschblut und den entsprechen¬
den Geweben in mehr oder weniger grosser Intensität nach-
weisen. lü)
Während also ein chemischer Effekt feststeht, wird eine
biologische Wirkung a priori offenbar nur dadurch eruierbar
sein, dass man lebendes Gewebe an Stelle der photographi¬
schen Platte ebenfalls längere Zeit der Luminiszenzstrahlung
aussetzt lind die dadurch hervorgerufenen Veränderungen fest¬
stellt.
Ein solches Gewebe nun, das eine längere Lebensdauer
ausserhalb des Organismus besitzt, ist nur bei einem Kalt¬
blüter zu gewinnen, falls man sich nicht einzelliger Wesen
bedienen will, die aber meiner Ansicht nach von den Zellen
höherer Wirbeltiere so verschieden sind, dass die daraus ge¬
wonnenen Resultate nur mit Vorsicht akzeptiert werden dürften.
In den vorliegenden Versuchen wurde der Plexus chorioi-
deus des Frosches benützt, der sich in früheren Untersuchungen
über die Oxydationsprozesse der tierischen Zelle 1J) als gün¬
stiges Objekt erwies. An Hand der vitalen Färbungsmethode
liess sich feststellen, dass die Reduktionsenergie der tierischen
Zelle mit der Spannung des anwesenden Sauerstoffes wächst,
d. h. offenbar der vorsichgehenden Oxydationsintensität pro¬
portional ist.
Als Indikator dienten die sogen, vitalen Farbstoffe, Neutral¬
rot und Methylenblau, die sich leicht reduzieren zu farblosen
Leukokörpern und bei Abnahme des Reduktionsprinzips und
Anwesenheit von Sauerstoff wieder oxydieren zur farbigen
Modifikation, d. h. verküpen. Der im Zusammenhang mit dem
Gesamtorganismus gefärbte, durch intensive Reduktion farblose
Plexus wurde aus dem Tiere entfernt11) und im hän¬
genden Tropfen physiologischer Kochsalzlösung in bestimm¬
tem Sauerstoffvolumen beobachtet. Mit der stets grösser wer¬
denden Abnahme des Sauerstoffdruckes infolge Konsum durch
die sich weiter abspielenden Oxydationsprozesse wurde die
Energie derselben und damit auch die Reduktion immer ge¬
ringer, d. h. es traten immer mehr Farbstoffgranula auf, die
entsprechend dem Gesetz von 0 v e r t o n sich in den sogen.
Lipoiden der Zelle, welche zum Schaumgefüge des Protoplas¬
mas in Beziehung stehen n), anreichern. War die ursprünglich
vorhandene Sauerstoffmenge unbegrenzt, so trat keine Fär¬
bung auf, weil die dabei stattfindende energische Oxydation
auch eine sehr grosse Reduktion zur Folge hatte.
Da nun a priori eine Veränderung der Oxydation durch die
Photoaktivität zu vermuten war, so wurde der Plexus vor
der Exposition in obigem Sinne präpariert. Da ferner eine
Aehnlichkeit der durch die Photoaktivität erzeugten Wirkung
mit der durch das Licht hervorgerufenen sich erwarten liess,
die Lichtwirkung aber zweifellos wegen der dabei in Frage
kommenden Energiemenge deutlicher ausfallen musste, war es
von Interesse, zuerst die Lichtwirkung genau zu .präzisieren,
in zweiter Linie auch die der Wärme, die nach L o e b 12) bis
jetzt überhaupt zu wenig berücksichtigt worden ist und hierauf
die Wirkung der Photoaktivität zu eruieren und näher zu
charakterisieren.
Die Methode war im allgemeinen die, dass der Plexus auf
dem hohlgeschliffenen Objektträger dem Lichte ünd der Wärme
und den photoaktiven Strahlen des Blutes [welches auf ein
Deckgläschen getropft wurde, das wiederum auf das den hän¬
genden Tropfen tragende Deckgläschen gelegt ward] exponiert
wurde.
Die Resultate, die an einem anderen Orte12) ausführlicher
mitgeteilt und besprochen werden, waren zusammengefasst
die folgenden:
") Schlüpfer: Photoaktive Eigenschaften des Kaninchen¬
blutes. Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol., 108. Bd., 1905, p. 537—62.
10 ) Derselbe: Beiträge zur Frage der oxydativen Leistungen
der tierischen Zelle und deren allgemeinbiologischer Bedeutung.
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. 1906, p. 301—85.
u) Derselbe: Ueber den Bau und die Funktion der Epithel¬
zellen des Plexus chorioideus des Frosches in Beziehung zur Granula¬
lehre und mit spezieller Berücksichtigung der vitalen Färbungs¬
methode. Beitr. z. allg. Path. u. path. Anat., VI. Suppl., 1905, Fest¬
schrift für Arnold.
12) Derselbe: Beiträge zur Frage der oxydativen Leistungen
der tierischen Zelle und deren allgemeinbiologischer Bedeutung.
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiologie 1906, p. 301 — 85.
Von den beiden Hälften desselben Plexus, die beide in einem
hängenden Tropfen bei beschränkter Sauerstoffmenge aufbe¬
wahrt werden, zeigt die durch Sonnenlicht bestrahlte gegen¬
über der im Dunkeln gehaltenen eine sehr rasch (schon nach
ca. 15 Minuten gegenüber 24 Stunden) auftretende Lähmung
der Zilienbewegung und vollständiges Fehlen von Färbung.
Durch Zufuhr von frischem Sauerstoff wird oft die Zilienbe¬
wegung für kurze Zeit wieder angeregt und geht mit einer
leichten Blaufärbung einher. Die fehlende Färbung ist keine
Bleichungserscheinung, sondern eine Reduktion durch die le¬
bende Zelle und ist abhängig vom vorhandenen Sauerstoff und
Vitalitätsgrad der Zellen, indem dieselben nach Vorfärbung sich
bei energischer Zilienbewegung rascher entfärben als bei
schwacher und nach dem Tode kaum eine Abnahme der Fär¬
bung erkennen lassen. Bei reichlichem Sauerstoffvorrat dauert
die Zilienbewegung bei Belichtung länger als bei begrenztem.
Von den einzelnen Lichtstrahlen kommt den kurzwelligen
die grösste Wirkung zu.
Die Wirkung tritt alsbald ein und erfolgt nur, so lange als
die Bestrahlung dauert.
Wird eine Plexushälfte unter sonst gleichen Umständen
wie die andere bei Fehlen von Licht bei einer etwas höheren
Temperatur, die sich indes innerhalb der physiologischen Gren¬
zen befindet, aufbewahrt, so erfolgt die Färbung und Abnahme
der Zilienbewegung bei beiden in derselben Weise, nur ist
der Ablauf bei höherer Temperatur etwas beschleunigt und
der Tod tritt früher ein.
Werden zwei gleiche Plexushälften im Dunkeln bei gleichen
äusseren Bedingungen aufbewahrt, und wird auf ein Präparat
ein Blutdeckgläschen gelegt, so ist in der Regel die Färbung
in diesem Präparate etwas schwächer als in dem ohne Blut
und die Zilienbewegung bleibt etwas länger in derselben In¬
tensität erhalten. Der Ablauf der Erscheinungen hat einen
leicht periodisch rascher und langsamer werdenden Charakter.
Durch Belichtung des Blutes oder vorherige Vergiftung mit
KCIO:» wird dieses Phänomen im Blutpräparat noch deutlicher
zum Ausdruck gebracht. Das Blut (Froschblut) verändert auch
die photographische Platte, namentlich nach KC103-Vergiftung,
ebenso wirkt auch Papier (s. o.), das im Gegensatz zum Blut
auf den Plexus keinen Einfluss ausübt. Die einzelnen Blutarten
selbst unterscheiden sich ausserdem in der Intensität ihrer
Wirkung auf den Plexus von einander, indem namentlich das
Blut von Rana esculenta sehr wirksam ist. Bei diesen inten¬
siveren Wirkungen kommt die Periodizität deutlicher zum Aus¬
druck.
Vergleicht man diese verschiedenen Wirkungen der ein¬
zelnen in Beobachtung kommenden Faktoren miteinander, so
ergibt sich, wie vorausgesehen war, in der Tat eine deutliche
Beziehung derselben zu den durch die vitalen Farbkörper zum
Ausdruck gebrachten, oxydativen Zellprozessen, wobei die
Wärme sich in einen gewissen Gegensatz stellt zu der auch
feinere Verwandtschaft zeigenden Photoaktivität und dem
Lichte. Während erstere nur gleichsam den chemischen, an
sich aber gleichbleibenden Umsatz beschleunigte, wurde das
ganze Phänomen durch letztere in seinem Wesen verändert,
indem die Färbung geringer war, also die Reduktion stärker
sein musste.
In der Wirkung der Wärme, deren Grössendifferenzen in
physiologischen Grenzen schwankte, ist offenbar die in der
Chemie allgemein zum Ausdruck kommende Tatsache zu sehen,
dass die Wärme die Affinität aller Elemente steigert und jeden
chemischen Umsatz erleichtert. Da es sich in der Zelle aber
um sehr labile Substanzen handelt, so wird diese Wirkung
nur innerhalb physiologischer Grenzen sich in diesem Sinne
abspielen, ausserhalb derselben aber auch durch Zerfall dieser
labilen Stoffe gleichsam spezifisch, d. h. chemisch wirken.
Das Licht dagegen zeigt in seinem biologischen Einfluss
ein ähnliches Verhalten wie hohe Sauerstoffspannung, indem
es die Intensität der Oxydation erhöht. Der raschere Tod im
erstem Fall aber ist die Folge des grossen Sauerstoffkonsums,
indem der Sauerstoffvorrat nicht unbegrenzt ist. Da neben der
Oxydationserhöhung ferner im Gegensatz zum Einfluss der
Steigerung der Sauerstoffspannung durch Licht die Sekretion
des Plexus vermindert wird, so ist damit wahrscheinlich ge¬
macht, dass der Lichteinfluss kein für die Oxydation spezi¬
fischer ist, sondern dass durch Belichtung gewisse chemische
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2145
Umwandlungen in der Zelle herbeigeführt werden, - — viel¬
leicht Modifizierung der Lipoidsubstanzen nach Schnitze
und W i n t e r s t e i n 13), Radziszewski14) u. A. — die
unter anderm für die Oxydationsprozesse günstig sind, für
die Sekretion eher hemmend. Vielleicht darf man unter dieser
Umwandlung geradezu eine im Sinne der Oxydation erfolgende,
vorbauende Spaltung verstehen. Biologischen Einfluss aber kann
diese Lichtwirkung nur auf einen sich eben abspielenden oxy¬
dativen Prozess besitzen, d. h. mit anderen Worten, die Wir¬
kung des Lichtes an sich ist eine rein chemische, sie wird
nur indirekt biologisch dadurch, dass die chemische Alteration
speziell einen biologischen Prozess begünstigt, die Oxydation,
und es ist begreiflich, dass ein Lichteinfluss daher sich nur
bei Sauerstoffgegenwart an der Lebenden Zelle bemerkbar
machen kann.
Entsprechend dieser rein chemischen Natur des Lichtein-
flusses ist es fernerhin eine fast selbstverständliche Tatsache,
dass die chemisch aktiven kurzwelligen Strahlen die stärkste
Wirkung entfalten.
Nach Hertel15) soll diese Wirkung am intensivsten sein
bei einer Wellenlänge von 240 w, dann wieder abnehmen.
Offenbar können nun Strahlen von dieser optimalen Wellen¬
länge bei relativ sehr geringer Intensität noch eine ansehnliche
Wirkung entfalten, und gestützt auf diese Ueberlegung dürfte es
erlaubt sein, die dem Lichte ähnliche biologische Wirkung der
Photoaktivität durch die dort gewonnene Anschauung zu er¬
klären.
Die Beeinflussung der Färbung durch ein aufgelegtes Blut¬
deckgläschen kann nur durch ein das Glas durchdringendes
Moment, Aetherwellen, erzeugt sein. Da dieser Einfluss beim
Plexus häufig nachweisbar ist, bei der photographischen Platte
aber fehlt, so spricht dies dafür, dass diese beiden keine gleich¬
wertigen Reagentien sind und die Luminiszenz möglicherweise
verschiedene Strahlen enthält, photo- und bioaktive, welche
auch wie die Lichtstrahlen chemisch wirken dürften, z. B. auf
die Lipoide. Dass der biologische Effekt aber sehr gering ist,
ja durch Verlängerung der Zilienbewegung und periodischen
Verlauf sich unterscheidet, kann alles durch die a priori vor¬
handene grosse Differenz im Intensitätsgrad erklärt werden.
Durch das Licht wird die Oxydation so gesteigert, dass
sie rasch zur Erstickung und weiteren Zersetzung führt, wäh¬
rend die bioaktiven Strahlen sehr schwach, anfangs nicht merk¬
bar einwirken. Da aber das Licht sowohl, als auch die Lumi¬
niszenz den Spaltungswiderstand zur Oxydation herabsetzen,
gleichwie es in gewissem Sinne die Spannung des anwesenden
Sauerstoffes tut, so kann mit Hilfe derselben eine relativ höhere
Oxydation erzielt werden als sie dem anwesenden Sauerstoff¬
druck allein entspricht. Bei der Luminiszenz nun ist diese
Steigerung so gering, dass sie erst in die Erscheinung tritt,
wenn der Sauerstoffdruck sehr gering geworden und an sich
nicht mehr wirksam ist. Die Zilienbewegung dauert noch
einige Zeit länger an als im normalen Präparat ohne Bestrah¬
lung, weil nun infolge des Zusainmenarbeitens von Luminiszenz
und Sauerstoffspannung eine oxydative Spaltung erfolgt, die
zur Speisung der Flimmerbewegung genügt. 1B) Bei hoher
Sauerstoffspannung aber kann die Luminiszenz kaum eine
merkbare Wirkung entfalten, weil die Spaltung durch den
Sauerstoffdruck allein sehr weitgehend ist, die durch die Strah¬
len repräsentierte Energie aber sehr klein ist und unter dem 1
Schwellenwert der zu spaltenden Stoffe liegt. Erst durch |
Summierung einzelner Wirkungen kommt ein biologischer
Effekt zu stände, der sich in periodischen Beschleunigungen
der Zilienbewegung äussert. 16).
Die Luminiszenz des Blutes charakterisiert sich demnach
als ein biologischer Faktor, der dem Wesen nach dem Lichte
sehr ähnlich ist, auch chemisch und indirekt vital wirkt mit
13) Schultze und Winterstein: Ueber das Verhalten des
Cholestearins gegen das Licht. Zeitschr. f. physiol. Chemie, 43. Bd
P. 316—19.
14) Radziszewski: Ueber die Phosphoreszenz der orga¬
nischen und organisierten Körper. Liebigs Annalen der Chemie,
203. Bd., p. 305—36.
15) Hertel: Ueber physiologische Wirkung von Strahlen ver¬
schiedener Wellenlänge. Zeitschr. f. allg. Physiol., V. Bd., 1. H., 1905.
ia) S c h 1 ä p f e r: Beiträge zur Frage der oxydativen Leistungen
der tierischen Zelle und deren allgemeinbiologischer Bedeutung.
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiologie 1906, p. 301 — 85.
No. 44.
Beeinflussung der Oxydation und sich hierin durch seinen ge¬
ringen Energiewert vom Lichte unterscheidet.
Die Photoaktivität resp. Luminiszenz des Blutes hat also
eine biologische Wirkung. Ob dieselbe im tierischen Haus¬
halte eine Rolle spiele, ist mit diesen Versuchen selbstver¬
ständlich nicht entschieden. A priori aber spricht nichts gegen
eine solche Annahme, da im Organismus alle nötigen Be¬
dingungen erfüllt sind.
Es wäre dadurch ein weiteres Moment gegeben zur Er¬
klärung der schwer zu verstehenden grossen Aktivität des im
Oxyhämoglobin aufgestapelten Sauerstoffes. Dieser gelangt ver¬
mittelst fermentativer Tätigkeit zur Wirkung, welch letztere
durch die luminiszierende Strahlung des kreisenden Blutes noch
erhöht würde infolge Steigerung der Affinität der Gewebe zum
Sauerstoffe.
Die Bedeutung der Photoaktivität, resp. des Lichtes ist
aber noch eine weitergehende, die zur Erklärung der Ent¬
zündung vielleicht einen wesentlichen Beitrag zu liefern be¬
rufen ist.
Das Licht und die Photoaktivität des Blutes sind Zell¬
reize für die Oxydation, Oxydationsreize von verschiedener
Intensität; durch das Licht aber wird bekanntlich auf der
menschlichen Haut Entzündung hervorgerufen, unter der man
sehr wohl eine sehr intensive, pathologisch gesteigerte oxydative
Zellzersetzung verstehen kann, die der Organismus durchZufuhr
von Sauerstoff und Nährstoffen auf dem Wege der lokalen Hy¬
perämie zu kompensieren sucht. Die Zufuhr von Sauerstoff ist
dabei von primärer Bedeutung, weil durch das Licht ja eine
Zersetzung des Gewebes auch ohne Sauerstoff eintritt, für die
Zelle aber ohne Schädigung verläuft, wenn sie in das Ge¬
triebe eines genügend intensiven Oxydationsprozesses eingreift
und biologisch verwertet wird; ist die Oxydation zu gering,
so entsteht eine anormale Zersetzung, ein Bedürfnis nach
Sauerstoff, eine Art lokale Dyspnoe, die zur tieferen Schädi¬
gung führt, wenn sie nicht beseitigt wird. Die Nährstoff¬
zufuhr ist darum von sekundärer Bedeutung, weil immer eine
gewisse Menge von Brennstoffmaterial vorhanden ist und bei
normalem Stoffwechsel nun rasch ergänzt werden kann.
Die Entzündung wäre demnach eine durch einen sehr inten¬
siven sogen. Oxydationsreiz abnorm gesteigerte Zelloxydation,
die in die Erscheinung tritt durch die vom Organismus aus¬
gehende, einen physiologischen Ausgleich anstrebende Re¬
aktion. Inwieweit diese Definition den Tatsachen entspricht,
zu entscheiden, würde zu weit führen und müsste durch eine
Reihe weiterer Versuche klargestellt werden. Es soll damit
nur eine Eventualität ins Auge gefasst sein.
Die biologische Ausbeute der in den Versuchen zu Tage
getretenen Resultate könnte noch weiter geführt, zum Ver¬
ständnis des Sehaktes, der Architektur des Auges etc. heran¬
gezogen werden 17), indem einmal im Chemismus, der der
Umsetzung von Licht in Nervenerregung dient, ein Oxydations¬
prozess vorliegen kann, zu dessen Speisung mit Sauerstoff die
gefässreiche unmittelbar über dem Sehepithel gelagerte Cho-
rioidea dient, ferner aber unter Sehpurpur ein sogen, photo¬
dynamischer Körper verstanden werden kann, der das auf¬
fallende verschiedenartige Licht in eine Art transformiert. Das
Verhältnis von Licht und Photoaktivität kann auch herbeige¬
zogen werden für die Lehre vom Reize im physiologischen
und pathologischen Sinne 17) und damit auch für die Psychologie
Bedeutung gewinnen.
Aus dem medizinisch-poliklinischen Institut der Universität
Berlin (Direktor: Geh. Rat Senator).
Ueber Komponenten des Tetanustoxin bei Anwendung
von wasserfreiem Salzsäuregas bei der Temperatur
der flüssigen Luft.
Von Dr. Alfred Wolff-Eisner.
Es ist ein altes Bestreben, Immunisierungen herbeizu¬
führen, ohne dass der Körper eine Erkrankung durchmacht,
welche zur Immunität führt. Wieweit dieses Streben realisier¬
bar ist, entzieht sich vorläufig noch unserer Kenntnis. Denn
17 ) Schlüpfer: Beiträge zur Frage der oxydativen Leistungen
der tierischen Zelle und deren allgemeinbiologischer Bedeutung.
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiologie 1906, p. 301—85.
2
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
cs hat nach den neuesten Arbeiten den Anschein, als wenn
eine Immunität dann ausbliebe, wenn nicht eine gewisse Re¬
aktion, d. i. eine Krankheit vorhergegangen ist, und es hat
sich gezeigt, dass eine Immunisierung mit völlig ungiftigen,
reinen Toxoiden nach Ehrlich (das sind Stoffe, welche nur
die haptophore Gruppe besitzen, bei denen die toxophore
Gruppe zerstört ist), nicht zur Immunität führt.
Und doch ist das Streben, eine Immunisierung ohne Schädi¬
gung des Körpers herbeizuführen, nur zu berechtigt, und eine
prophylaktische Immunisierung nur unter der Voraussetzung
möglich, dass dem Körper kein Schaden aus der Vorbehandlung
erwächst, da man ja sonst den Teufel nur durch Beelzebub
austreiben würde. Praktische Erfolge, wie sie bei der Vakzina¬
tion, bei Cholera, Typhus und anderen Immunisierungen er¬
zielt worden sind, zeigen, dass die Forderung die man an die
Immunisierung stellen muss, wenigstens annäherungsweise er¬
füllbar ist. Um hier weitere Fortschritte zu machen, ist eine
bessere Erkenntnis der Bakteriengifte Vorbedingung.
Unsere Versuche, Toxine und Endotoxine in ihren Wir¬
kungen näher zu analysieren, scheiterten bisher an der Schwie¬
rigkeit, dass die chemische Natur der in Betracht kommenden
Körper noch vollkommen unbekannt ist. Alle Versuche, aus
Bakterien und Toxinen einzelne Stoffe zu gewinnen, waren
ein Tappen im Dunkeln und beruhten auf roher Empirie. So
di.e Versuche, die Giftstoffe der Autolyse zu unterwerfen, der
Verdauung etc. Es ist daher sicherlich ein Verdienst, wenn
man mit chemischen exakten Methoden an diese Stoffe heran¬
geht. Wie wir nachher sehen werden, liefern auch diese Me¬
thoden noch keine absolut befriedigenden Resultate, aber sie
zeigen uns den Weg, auf dem eine Weiterentwicklung möglich
ist: die Verbindung der bakteriologischen Forschung mit der
Eiweisschemie ist ebenso notwendig, wie die von mir stets
geforderte Anbahnung einer engen Verbindung mit der Klinik.
Die B e r g e 1 1 sehe Methode beruht darauf, dass er die auf
Toxin und Bakterien einwirkenden Reagentien wasserfrei an¬
wendet, also an Stelle der bisher üblichen wässrigen Lösung
wasserfreie Gase, z. B. wasserfreie Salzsäure, die bei 86° siedet,
bei der Temperatur der flüssigen Luft einwirken lässt. Bergell
hat zusammen mit Meyer derartige Versuche an Typhusbakte¬
rien angestellt und in der Med. Klinik 1906, No. 16, beschrieben.
Gleichzeitig habe ich beim Tetanustoxin dieselben Unter¬
suchungen angestellt, wobei Bergell das Tetanustoxin seiner
Methode unterwarf und mir das hydrolysierte Tetanustoxin
lieferte. Bergell und Meyer erhielten bei ihren Versuchen
mit Typhusbazillen ein Produkt, das recht geringe Toxizität
aufwies, dessen Injektionen in steigenden Dosen die Tiere gut
vertrugen. Das von den injizierten Tieren gewonnene Serum
zeigte starke agglutinierende Eigenschaften und einen ziem¬
lich hohen bakteriziden Titer.
Die Resultate der von mir mit Tetanustoxin angestellten
Versuche sind aus den mitgeteilten Protokollen zu ersehen, die
ich wegen der Wichtigkeit der ermittelten Tatsachen ausführ¬
lich mitteile. Kurz resümiert ergibt sich folgendes: Die Ver¬
suche wurden mit einem Tetanustoxin angestellt, von dem
1 ccm einer Verdünnung 1 : 1 000 000 eine Maus von 16 g schon
am 2. Tage tötete. Das der Hydrolyse nach Bergell unter¬
worfene Tetanustoxin zeigte die merkwürdige Eigenschaft,
dass es seine tödliche Wirkung verlor, während es seine Te¬
tanus erzeugende Wirkung vollkommen beibehalten hatte. So
blieben Meerschweinchen, die 34 ccm 1 : 50 000, 1 ccm
1 : 100 000 hydrol. Tetanustoxins erhalten hatten, nachdem sie
einen mittelschweren Tetanus durchgemach( hatten, am Leben.
Man würde hieraus so den Schluss ziehen können, dass durch
die Behandlung mit Salzsäure die Toxinwirkung abgeschwächt
worden js|, wenn nicht bei den gleichen Versuchen bei einer
Dosis von 1 ccm 1 : 1 000 000, d. i. eine 10 mal kleinere Dosis,
die tetanuserzeugende Wirkung erhalten geblieben
wäre. In einer Wiederholung der Versuchsreihe finden wir
absolut die gleichen Verhältnisse: 1 ccm einer Lösung 1 : 743 040
und 1 ccm einer Lösung 1 : 743 machen beide das Tier tetanisch
und führen beide nicht zum Tode.
Versuche mit HCl behandeltem Tetanustoxin nach längerem Stehen *)
(14. Tage) im Eisschrank.
I. XI. 04: Maus 16 g, ccm 1 : 5000, bleibt frei.
Maus 15 g, 1:50 000, ‘/ä ccm, bleibt frei.
Maus 16 g, 1 : 500 000, ’/* ccm bleibt frei.
Meerschweinchen 608 g, 1 ccm 1 : 50 000, 1. Tag 36,5°, 2.) 37,8° 628 g
suspekt, 3.) 37,1° 640 g frei, 4.) 36,8° 625 g, 5.) 36,65«, 6.) 37,25°, 7.) 37,8°
660 g, 8.) 37,9°, 9.— 13.) 37,6° 625 g etc., am 13. Tage Reinjektion
Tetanustoxin. Bergell II, nach 6 tägigem Stehen '/2 ccm 1:100, nach
1 Std. 39,55°, 1. Tag 39,1°, 2. Tag 39,1° etc. bleibt frei.
Meerschweinchen 558 g, ccm 1:50 000, 1. Tag 36,9°, 2.) 36,75°
603 g, 3.) 37,1° 620 g, 4.)37,8° 612 g, 5.) 37,35,° 6.) 36,7“, 7.) 37,85° 630 g,
8.) 38,2°, 9.) 37,4° 650 g, 10.) 37,85 ',11.) 38,62°, 12.) 37,95° 670 g, 14.) Spul¬
tet., 15.) 38,6° 665 g, frei, Reinjektion 1 ccm 1:1000 nach 6täg. Stehen,
1 Std. 39,5°, 1. Tag 39,4° suspekt, 2. Tag 38,5° frei, 5). Tag 38,3° frei.
Meerschweinchen 550 g 1 ccm, 1 : 500,000 1. Tag 36,9° frei, 2.) 36,85°
570 g frei, 3.) 37,05° 565 g, 4.) 36,55° 545 g, 5.) 38,05°, 6.) 37,3°, 7.) 37,2
595 g, 8.) 37,8,° 9.) 37,85° 585 g, 10.) 38,7°, 11.) 38,4°, 12.) 38,0° 600 g,
14.) 38,8° 615 g 15.) Reinjektion 2 ccm Toxin Bergell II 1:1000 nach
6 Tage Stehen, nach 1 Std. 38,95°, 1. Tag 38,8,° 2. Tag 39,1, 5.) Tag
39,3° bleiben frei, am 3. III. 05 also nach 3 Monaten erhält das Meer¬
schweinchen 2 ccm Tetanustoxin Bergell 1:743 040, am 6. Tag ist es
eine Spur tetanisch, sonst bleibt es frei.
Kontrollen über das native Tetanustoxin.
8. XI. 04: Maus 16,5 g, 1 ccm Tetanustoxin 1:100 000, nach
Maus 18,0 g, l ccm I : 500 000, nach 1. Tag tet., 2. Tag -j- tet.
1. Tag schwer tet., 2. Tag -f- tet.
Maus 16,0 g, 1 ccm Tetanustoxin 1 : 1 000 000, nach 1. Tag tetan.,
2. Tag -j- tet.
Dritte Wiederholung der Versuchsserie mit Tetanustoxin Bergell.
3. III. 05: Meerschweinchen, Tetanustoxin Bergell 1 ccm
1 : 743 040, 1. — 3. Tag leicht tet., 4. — 5. tet., 6. — 7. Spur tet., 8. etc. frei.
Meerschweinchen 500 g, Tetanustoxin Bergell 1 ccm 1:743 040,
1. — 3. Tag leicht tet., 4.-5. Spur tet., 6. frei, 7. — 8. Spur tet. 9. etc. frei.
Meerschweinchen 330 g 37,5°, Tetanustoxin Bergell 1 ccm
1 : 74,340, 1. Tag paret., 4. — 6. — 7. tetanisch, 8. frei.
Meerschweinchen, Tetanustoxin Bergell 1 ccm 1:743, 1. Tag
leicht tetan., 4.-6. tetan., 7. Spur tetan., 8. frei.
25. X. 04: Maus 15'/2 g, Tetanustoxin Bergell 1 ccm 1 : 1 000000
!•— 2. Tag frei, 3.-4. 16,5 g, 7. — 12. dauernd frei.
Maus 17 g, Tetanustoxin Bergell 1 ccm 1 : 500 000, 1.— 2. Tag frei
18 g, 3. Parese leichter Tet., 4. Kontraktur 1. leichter Tet., 5. dto.,
6. dto. 26 g, 7.-8. fast frei, 9. — 12. frei.
Maus 18 g, Tetanustoxin Bergell, >/2 ccm 1:50 000, I. Tag frei,
2. Parese d. 1. H. -Beins 16 g, 3. schwer tetan., 4. -f- tetan.
25. X. 04: Meerschweinchen 615 g, Tetanustox. Bergell 1 ccm
1 : 1 000 000, vorher 3S°, nach 4 Std. 37,2°, 8 Std. 38,2°, 1. Tag 37,9°
585 g, 3.) 38,4°, 4.) 38,1° 585 g leichteste Spur Tet., 5.) 39,0° 594 g,
6.) 38,4° 559 g, 7.) mittelstarker Tetanus, 8.) 38,7° 552 g mittlerer Te¬
tanus, 9.) 38,3° 569 g mittlerer Tet., 10.) 38,0° 598 g mittlerer Tet.,
11.) 38,6° 613 g mittlerer Tet., 12.) 38,6° 610 g Spur Tet., 14.) 38,2°
610 g Spur Tet., 15.) 615 g fast frei, 16.) 37,6° fast frei, 17.) 38,4°
640 g fast frei, 18.) 38,6° 630 g frei, 19.) 38,75°, 20.) 38,35°, 21.) 39,45°,
22.) 38,4° 640 g.
26. X. 04. Meerschweinchen 660 g, Temp. 38,4 °, */2 ccm Tetanus¬
toxin 1 : 500 000, 1. Tag 4 Std. 38,75°, 8 Std. 37,85° 627 g, 2.) 38,45° 615 g,
3. ) 38,55° 38,0 Spur tetan., 4.) 38,3° 603 g Spur tetan., 5.) 37,65° 599 g
leichter Tet., 6.) 39,0° 547 g leichter Tet., 7.) 38,5° 587 g leichter Tetan.,
8.) 38,1° 582 g leichter Tet., 9.) 38,1° 579 g leichter Tet., 10.) 38,1°
559 g leichter Tet., 11.) 38,3° 553 g frei, 13.) 530 g frei.
3. III. 05: Reinjektion 3 ccm Tetanustoxin Bergell 1:743 000
1—3. Tag Spur tet., 5. Spur tet., 6.-8. frei.
25. X. 04: Meerschweinchen 698 g, Temp. 38,05°, Tetanustoxin
Bergell 1 ccm 1:500 000, nach 4 Std. 37,85°, 8 Std. 37,6°, 1. Tag
37.7° 665 g u. 38,4 670 g, 2.) 38,6° 680 g, 3.) 38,25° 681 g, 4.) 38,4° 635 g,
5.) 38,4° 645 g Spur Tet., 6.) 39,1° 642 g, 7.) 39,3° 653 g Spur tet.,
8.) 38,8° 639 g, 9.) 38,3° 667 g leicht tet., 10.) 38,3° 669 g, 11.) 38,3° 659 g
leicht. Tet., 12.) 38,7« 654 g leichter Tet., 14.) 38,6° 633 g fast frei,
15.) 580 g frei, 16.) 38,3° frei, 17.) 37,8 610 g frei, 18.) 38,65° 605 g
frei, 19.) 38,3° frei, 20. — 25.) 38,4° 640 g. Reinjektion 2 ccm Tetanus¬
toxin Bergell 1:500 000 nach 1/2 Std. 38,5, l1/* Std. 38,4,° 6 Std. 38,5 °
1. lag 38,7°, 2.) 38,25°, 3.) 38,0° 680 g, 5.) Spur tet., 6.) suspekt.
3. III. 05: Reinjektion 2 ccm Tetanustoxin Bergell 1:743 040
1- — 2. Tag frei, 3. tetanisch, 4. f.
25 X. 04: Meerschweinchen 615 g, Temperatur 38°, Tetanus¬
toxin Bergell 1 ccm 1 : 100 000, 4 Std. 37,2°, 8 Std. 38, 2o, 1. Tag 37,9°,
') Das mit HCl-Gas bei Temperaturen der flüssigen Luft be¬
handelte Tetanustoxin wird der Kürze halber meist mit Tet.-Toxin
Bergell bezeichnet.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
585 g, 2.) 38,19° 598, 3.) 38,-4°, -4.) 38,1 0 585 g leichte Spur Tetanus,
5.) 39,0° 594 g leichte Spur Tet., 6.) 38, 4“ 559 g leichte Spur Tet.,
7.) 38,7° 552 g mittlerer Tetan., 8.) 38,3° 569 g mittlerer Tet., 9.) 38,0 °
598 g Spur Tet., 10.) 38,6° 613 g mittlerer Tet., 1 1.) 38,6° 610 g Spur Tet.
25. X. 04: Meerschweinchen 730 g, Vs ccm 1:50 000, Temp. nach
2 Std. 38°, 6 Std. 38,2°, 12 Std. 37,7°, 24 Std. 38,0° 755 g, 30 Std. 38,4°,
46 Std. 38,2°, 60 Std. 38,6° 716 g leicht tet., 72 Std. leicht tet. 37,9°,
96 Std. leicht tet. 38,8° 728 g leicht tet., 120 Std. 38,7° 720 g leicht tet.,
144 Std. 38,8° 711g leicht tet., 8 Tagen 38,4° 710 g, 9.) 38,8° 695 g
schwer tet., 10.) 38,2° 702 g schwer tet., 11.) 38,5 703 g starker Tet.,
12.) 38,6° 695 g starker Tet., 13.) 37,8° 707 g starker Tet., 14.) 695 g
starker Tetan. 15.) 38,4° starker Tetan., 1 6.) 37,85° 715 g starker
Tetan., 17.) 38,5° 700 g starker Tet., 18.) 38,3° leichter Tet., 19.)
39,0° leichter Tet., 20.) 38,9° fast frei, 21.) 38,4° 750 g fast frei,
22.) 38,5°, 23.) 38,2° 735 g.
Nach 23 Tagen 2. Injektion von Tetanustoxin Bergeil (recenter
parati) J/a ccm 1:100000, Temp. nach */ 2 Std. 38,7°, 1 1, 2 Std. 38,4°,
b Std. 39,15°, 24 Std. 38,55° leicht tet., 72 Std. 38,5° 755 g, 120 Std.
leicht tet., 144 Std. frei 750 g.
Wir ersehen aus diesen Versuchen die wichtige Tatsache,
dass es beim Tetanustoxin möglich ist, die
todbringende Wirkung von der krampfer¬
regenden zu trennen. Es ist diese Tatsache auch dann
von grösster Wichtigkeit, wenn es bei der Anwendung der
erwähnten Methodik nicht immer gelingen sollte, die Tren¬
nung der krankmachenden und todbringenden Komponenten
des Tetanustoxins stets zu erreichen. Denn die Methode ist doch
eine ziemlich rohe, und es ist wohl denkbar, dass bei zu
langer Einwirkung des Salzsäuregases der Abbau des Eiweiss¬
moleküls so weit fortschreitet, dass auch die krankmachende
Wirkung verschwindet; speziell wird dies eintreten, wenn durch
einen technischen Versuchsfehler die Reaktion nicht ganz
wasserfrei verläuft. Umgekehrt ist es auch denkbar, dass der
Abbau nicht weit genug fortschreitet, so dass neben der krampf-
erregenden auch die totbringende Wirkung des Giftes erhalten
bleibt.
All dies verringert jedoch nicht die theoretische Bedeutung
der festgestellten Tatsachen. Es ist durch die mitgeteilten Ver¬
suche gezeigt, dass es jedenfalls möglich ist, eine solche Tren¬
nung der beiden Komponenten des Tetanustoxins herbeizu¬
führen und mit der erwiesenen Möglichkeit werden dann vor¬
aussichtlich die Methoden geschaffen werden, die es erlauben,
diese Trennung sicher und in jedem Falle vorzunehmen.
Ueber alle aus dieser neuen Fragestellung auftauchenden
Probleme konnten die bisher angestellten Untersuchungen noch
nicht Aufschluss geben. Sie stellten so viel fest, dass das
nach der erwähnten Methode behandelte feste Tetanustoxin,
zur wässrigen Lösung gebracht, weiter abgebaut wird, und
dass nach 6 — 14 tägigem Stehen im Eisschrank auch die krampf¬
erregende Komponente so zerstört ist, dass selbst grosse Dosen
wie K> ccm 1 : 5000 keinerlei Wirkung ausüben.
Aus den Versuchen scheint hervorzugehen, dass eine ge¬
wisse Immunisierung der behandelten Tiere eingetreten ist,
die um so bemerkenswerter wäre, als die verwendeten Tier¬
arten, Maus und Meerschweinchen, sich mit nativem Tetanus¬
toxin nur sehr schwer oder gar nicht immunisieren lassen. Ich
möchte aber die eingetretene Immunisierung der Tiere nur
mit grösstem Vorbehalt aus den mitgeteilten Protokollen
folgern, und zwar, weil wir bei der Neuheit der Methode ja
keine Gewissheit haben, dass das reinjizierte abgebaute
Tetanustoxin dasselbe wie das erstinjizierte ist. Die ange¬
stellten Kontrolluntersuchungen ergaben allerdings die gleichen
Eigenschaften. Die beim erstmalig injizierten Tier erreichte
Immunität ist aber eine ausserordentlich geringfügige, da die
reinjizierten Tiere in der grossen Mehrzahl der Fälle doch
noch tetanisch wurden, wenn auch meist leichter als bei der
ersten Injektion. Besonders hinweisen möchte ich auf den
Versuch, bei dem das Tier bei der 2. Reinjektion tetanisch
starb, und zwar an einer so geringen Dosis, dass an ihr das
erstmalig injizierte Kontrollier nicht gestorben ist. Es lässt
dieses Vorkommnis doch daran denken, dass auch bei diesem
abgebauten Toxin noch eine Ueberempfindlichkeit zu stände
kommen kann.
Aus diesen Gründen und aus meinen allgemeinen Anschau¬
ungen über Eiweissimmunität und Eiweissüberempfindlichkeit
heraus möchte ich die Angaben von B e r g e 1 1 und Meyer
über die Immunität, die nach wiederholter Injektion ihres hy¬
2147
drolysierten Typhusgiftpräparates eintrat, mit grosser Vorsicht
aufnehmen. Sie erschliessen die eingetretene Immunität ausser
durch den bakteriziden Titer und die agglutinierenden Eigen¬
schaften der mit den Typhusgiften behandelten Tiere vor allem
daraus, dass die Injektion des Giftes beim Versuchstiel bei der
ersten Injektion Temperatursteigerungen um 0,8 — 2,0° (!) her¬
vorrief, während die Reinjektion die Temperatur nur um 0,6
bis 0,7 0 emporsteigen liess. Wie sich aus meinen Arbeiten,
aus denen von Bail und anderen Forschern ergibt, besteht
zwischen bakterizidem Titer, Agglutinationsfähigkeit und
wahrer Immunität kein Zusammenhang. Noch weniger ge¬
eignet zur Beurteilung einer eingetretenen wahren Immunität
ist der Temperaturverlauf. Es scheint mir überaus ver¬
hängnisvoll, aus der Betrachtung der Temperatur auf eine ein¬
getretene Immunität schliessen zu wollen, und Jeder, der sich
mit der Temperatur nach Reinjektion von Bakterien, Eiweiss¬
stoffen, Toxinen etc. befasst hat, weiss, dass es überaus ver¬
hängnisvoll wäre, wenn man nach der Temperaturkurve die
eiugetretene Immunität beurteilen wollte.
lieber Versuche von Einwirkung der Röntgenstrahlen
auf Ovarien und den schwangeren Uterus von Meer¬
schweinchen.
Von Dr. med. Karl Lengfellner, Assistent der H o f f a -
sehen Klinik in Berlin.
Angeregt durch die interessanten Versuchserfolge bei Ein¬
wirkung von Röntgenstrahlen auf Hoden, übertrug ich dieselben
auf den weiblichen Genitaltraktus von Meerschweinchen. Nur
in Kürze sollen hier die Ergebnisse dargelegt werden. Die
genauen pathologischen Befunde sollen Gegenstand einer spä¬
teren Abhandlung werden.
I. Einwirkung der Röntgenstrahlen auf den
hochschwangeren Uterus beimMeerschwein-
c h e n.
Ich möchte voraussetzen, dass ich nur Tiere benützte, die
kurz vor dem Gebären standen, höchstens 2 — 3 Tage davor.
Bei jedem Versuchstier war das Leben der Jungen deutlich
fühlbar. Die Zeit der Schwangerschaft war genau festgestellt
und bestätigte sich jedesmal sehr scharf durch das Aussehen
der jungen Tiere. Die Tötung eines schwangeren Meer¬
schweinchens ging so von statten, dass ich in dem Moment,
wo jemand den Hals durchschnitt, den Uterus öffnete. Ein
schädigender Einfluss auf die Jungen war dadurch aus¬
geschlossen.
1. Versuch (Kontrollversuch). Tötung eines Meerschwein¬
chens ca. 3 Tage vor Schluss der Schwangerschaft. Es war keine
Beleuchtung vorausgegangen. 3 Junge, die sich lebhaft bewegten,
lebten noch stundenlang und gingen zugrunde, weil sie der Mutter
entbehrten.
2. Versuch. Meerschweinchen im gleichen Stadium der
Schwangerschaft, wie das Kontrolltier. Gleiche Art der Tötung;
20 Minuten lange Beleuchtung. 3 Junge; eines beinahe tot, 2 zeigten
Spur von Leben. Nach ca. 10 Minuten war das Leben der Tiere voll¬
kommen erloschen. Das Leben der Jungen vor der Beleuchtung war
in gleichem Masse fühlbar, wie bei dem Kontrolltier.
3. V e r s u c h. Meerschweinchen ca. 3 Tage vor Beendigung der
Schwangerschaft. Leben der Tiere fühlbar. Beleuchtung 50 Minuten.
Tötung wie oben. Befund ähnlich wie der vorhergehende, nur war
noch weniger Leben zu bemerken.
4. Versuch. Meerschweinchen ganz am Ende der Schwan¬
gerschaft. Leben der Jungen stark fühlbar. Beleuchtung ca. 60 Mi¬
nuten. Das Meerschweinchen wurde am Leben gelassen und brachte
nach ca. 5 Stunden 3 Junge, dje vordem starkes Leben zeigten,
t 0 t zur Welt. Das Meerschweinchen macht einen kranken Eindruck
und frisst wenig.
Der Einfluss der Röntgenstrahlen auf die lebende Frucht
steht also ohne Zweifel fest. Lange Bestrahlung ist im Stande
die Frücht zu töten. Kurze Bestrahlungen haben bereits einen
wesentlichen Einfluss auf die Lebensfähigkeit der Frucht. Von
Wichtigkeit ist es, genau zu untersuchen, welche Organe der
Frucht vor allem in Mitleidenschaft gezogen werden; denn
mir macht es den Eindruck, als ob nur eine geringe Beleuch¬
tung notwendig wäre, um irgend einem der wichtigeren Organe
den Todeskeim einzupflanzen, der dann mit Sicherheit, wenn
auch erst allmählich, den allgemeinen Tod der Frucht im Ge-
2*
2148
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
iolge hat. Dieser Umstand wäre auf den Menschen über¬
tragen von allergrösster Bedeutung. Denn oft wiederholte
Bestrahlungen und lange Bestrahlungen schliessen sich ja von
selbst aus, da ja sicherlich auch der Organismus der Mutter
leiden würde. Würden aber kurze Bestrahlungen öfter ge¬
macht, die den allmählichen, aber sicheren Tod der Frucht be¬
dingen, ohne der Mutter Schaden zu verursachen, was ich
absolut nicht für ausgeschlossen erachte, so wäre damit der
künstlichen Abtreibung ein Weg geschaffen, bei dem das Ge¬
setz nur sehr schwer auf seine Rechnung kommen dürfte.
II. Einwirkung der Röntgenbeleuchtung auf
di e Ovarien.
Was diesen Punkt betrifft, so will ich nur kurz erwähnen,
dass ich Veränderungen in denselben gefunden habe sowohl bei
sämtlichen Meerschweinchen, die ich wegen Fruchttötung be¬
leuchtete, als auch bei einem Meerschweinchen, das nicht
schwanger war und 30 Minuten beleuchtet wurde. Letzterer
Umstand auf den Menschen übertragen, schliesst keineswegs
aus, dass durch kürzere, öfters wiederholte Beleuchtungen zeit¬
weise oder ganze Sterilität eintreten könnte; ersterer berge
die Gefahr, dass, abgesehen von der Tötung der Frucht, noch
bleibende Sterilität die Folge sein könnte. Immerhin ist das
eben in bezug auf den Menschen vorderhand eine Hypothese
und wenn ich einen erlebten Fall anführe, so handelt es sich
auch hier nur um eine grosse Wahrscheinlichkeit. Ich war ge¬
nötigt, ein Mädchen wegen Beckenaufnahme, da die Aufnahme
aus manchen Gründen lange nicht gelungen, wiederholt den
Röntgenstrahlen auszusetzen. Während das 19 jährige Mädchen
sonst nie Anomalien in der Periode zeigte, traten solche nun
ein. Die Menses blieben zunächst aus und stellten sich erst all¬
mählich unregelmässig wieder ein. Wenn es auch nicht mit
Sicherheit zu beweisen ist, dass die Röntgenbestrahlung daran
Schuld trägt, so bin ich doch der sicheren Ueberzeugung, dass
bis dato mit der Röntgendurchleuchtung viel zu sorglos um¬
gegangen wurde.
Aus dem bakteriologischen Laboratorium der Stadt Köln.
(Direktor : Dr. C z a p 1 e w s k i).
Zur Frühdiagnose des Typhus.
(Ueber Typhusanreicherung: Zweite Mitteilung.)
Von Dr. Wilhelm Meyerstein, Assistenzarzt am La¬
boratorium.
Die Feststellung der Tatsache, dass die typhusanreichernde
Wirkung der Galle durch die gallensauren Salze bedingt wird
(cf. diese Zeitschrift 1906 No. 38) veranlasste mich weiterhin,
in Bezug auf diese Wirksamkeit das taurocholsaure Natron
mit dem glykocholsauren Natron zu vergleichen.
Bei der Darstellung der beiden Salze wird allgemein die ver¬
schiedene Löslichkeit der entsprechenden Bleisalze benutzt, während
das glykocholsaure Blei sich schon aus wässriger Lösung aus¬
scheidet, erfolgt die Fällung des taurocholsauren Bleies erst auf Zu¬
satz von Atnmqniak. Man verwandelt daher die aus der Galle er¬
haltenen Natronsalze zunächst in die Bleisalze, trennt diese auf dem
angegebenen Wege, und führt sie schliesslich durch Kochen mit
Soda wieder in ihre Natronsalze zurück. Zwar sind diese auch schon
im Handel zu haben. Doch überzeugte mich meine Analyse dieser
käuflichen Produkte nicht von ihrer Reinheit, so dass ich für meine
Untersuchung selbst die Reindarstellung vornahm. Dieser Teil der
Arbeit erfolgte auf der chemischen Abteilung des Laboratoriums;
dem Vorstand dieser Abteilung, Herrn Dr. Grosse-Bohle, bin
ich für seine freundliche Unterstützung zu vielem Dank verpflichtet.
Die weiteren Untersuchungen ergaben nun, dass das gly¬
kocholsaure Natron um vieles schneller das Blut auflöst und
lackfarben macht als das taurocholsaure Salz, dass aber in
Bezug auf die anreichernde Wirkung wesentliche Unterschiede
zwischen den beiden Salzen nicht bestehen. Für den prak¬
tischen Gebrauch genügt also vollkommen das Gemisch beider
Salze, wie es sich aus der Galle krystallisiert darstellen lässt,
bezw. dessen Lösung in Glyzerin. *)
*) Die Herstellung und den Vertrieb des von mir früher (1. c.)
angegebenen, gebrauchsfertigen Präparates im Tropffläschchen und
für den Einzelbedarf in kleinen Ampullen eingeschmolzen, hat die
chemische Fabrik C. A. F. Kahlbaum, Berlin übernommen. Um
die Haltbarkeit des Präparates zu prüfen, setzte ich ihm grosse Men-
In Bezug auf die Technik der Anwendung dieser Lösung
kann ich wohl auf meine ersten Angaben (1. c.) verweisen. Nur
bemerke ich noch, dass es sich empfiehlt, zuerst einige Tropfen
der Lösung ins Reagenzglas zu geben, darauf das durch Venen¬
punktion erhaltene Blut zuzufügen und etwas durchzuschütteln.
Sollte aber das Blut erst geronnen zur Untersuchung gelangen,
so genügt es auch, den Blutkuchen im Reagensglas mit einem
abgeglühten Glasstab nach Möglichkeit zu zerkleinern. We¬
nige Tropfen der üallensalzlösung bewirken dann, zumal bei
Brutschranktemperatur, schnell eine vollkommene Verflüssi¬
gung des Blutes. Man kann daher auch nach Fornets Vor¬
schlag von derselben Blutprobe mit dem Serum die Widalprobe
anstellen, und den Blutkuchen zur Züchtung von Bazillen ver¬
arbeiten.
Dabei zeigte sich oft, worauf schon wiederholt hingewiesen
wurde, dass die Agglutinationsprobe noch negativ ist, während
Typhusbazillen durch Anreicherung in grosser Menge aufge¬
funden werden können. Kayser hat bei einem grossen
Krankheitsmaterial, nämlich an 117 Fällen von Typhus und
7 Fällen von Paratyphus gezeigt, dass sich in der ersten
Krankheitswoche in allen (25) in diesem Stadium unter¬
suchten Fällen Typhusbazillen im Blute nachweisen
lassen. Ganz ähnliche Ergebnisse ergeben sich aus den
Zusammenstellungen, wie s;e schon vor längerer Zeit
Warren Coleman und B. H. Buxton machen konnten.
Auch meine Untersuchungen an einem allerdings kleinen Ma¬
terial stimmen mit diesen Ermittelungen vollkommen überein.
So darf man wohl mit Kayser und Pöppelmann dem
direkten Nachweis von Typhusbazillen im Blut gegenüber der
Agglutinationsprobe für die Frühdiagnose den Vorzug geben.
Pöppelmann begnügte sich dabei mit dem einfachen Blut¬
ausstrichpräparat und gibt an, dass es ihm in der Tat gelungen
sei, sich auf diese Weise regelmässig von der Anwesenheit von
Typhusbazillen zu überzeugen. Bei der Nachprüfung jedoch
konnte Fraenkel die Befunde Pöppelmanns nicht be¬
stätigen. Und sicherlich gelingt die Auffindung von Typhus¬
bazillen im einfachen Blutausstrichpräparat, wenn überhaupt,
nur bei sehr grosser Ausdauer. Bedient man sich dagegen der
Anreicherung durch Galle, bezw. Gallensalzlösung, so ist es
ein Leichtes, im Ausstrichpräparat, das man von der Ober¬
fläche des angereicherten Blutes anfertigt und am besten mit
Methylenblau färbt, die Typhusbazillen aufzufinden. Figur I
zeigt ein solches Präparat von einem Blute, in dem, einfach aus¬
gestrichen, keine Mikroorganismen gefunden wurden, und das
dann zwölf Stunden mit meiner Gallensalzlösung angereichert
worden war.
In dem durch Gallensalze verflüssigten Blute treten nach
etwa 24 Stunden kleine Kugeln auf, die gelb-rötlich gefärbt
sind und ständig an Grösse zunehmen, zumal wenn das Blut
nach der Anreicherung längere Zeit bei Zimmertemperatur ge¬
standen hat. Von einem derartigen Blute ist das Präparat
angefertigt (mit Giemsa gefärbt), das Fig. 2 wiedergibt. Ur¬
sprünglich glaubte ich, dass es sich um Tröpfchen handelte, die
vielleicht durch den Glyzerinzusatz bedingt wären. Aber ich
überzeugte mich, dass sie auch auftreten, wenn man Gallen¬
gen von Bakterienkulturen zu. Es ergab sich, dass Bac. typhi, Bac.
coli, Staphylokokken, Bact. proteus sich in der unverdünnten Lösung
nicht entwickeln konnten, sondern in kurzer Zeit zugrunde gingen.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2149
salze in Substanz zusetzt, und Herr Dr. Czaplewski machte
mich darauf aufmerksam, dass diese Kugeln wohl mit dem
Hämoglobin in Zusammenhang zu bringen sind, worauf übri¬
gens auch ihre gute Färbbarkeit mit Eosin und ihre leichte
Löslichkeit in Essigsäure hindeutet. Sie wirken bei der Fär¬
bung mit Methylenblau viel weniger störend, weshalb sich
eben dieses zur Färbung besonders empfiehlt. Auch kann man
durch vorheriges Abspülen des Präparates mit verdünnter
Essigsäure sie aus diesem vollkommen entfernen.
Auf den Einwand, dass vielleicht durch Verunreinigung
ein positiver Bazillenbefund vorgetäuscht werden könne, ist
zu bemerken, dass die Diagnose, abgesehen natürlich von der
Aussaat auf charakterisierende Nährböden durch das Gram¬
präparat gestützt werden kann. Die in Betracht kommenden
Verunreinigungen, Hautbakterien etc. sind meist Gram-positiv,
Bac. typhi sehr deutlich Gram-negativ. Dann aber macht
K a y s e r darauf aufmerksam, dass ihm bei der Anwendung der
reinen Galle fast niemals eine störende Verunreinigung vor¬
gekommen ist, indem die Typhus- oder Paratyphuskeime die
Saprophyten überwuchern. Auch ich habe bei der Verwen¬
dung meiner Gallensalzlösung, obwohl ich bisweilen absicht¬
lich auf eine strenge Aseptik verzichtete, niemals eine Sapro-
phytenverunreinigung des Blutpräparates gesehen.
Daher könnten wohl nicht nur Laboratorien und Kranken¬
häuser, sondern auch die Praktiker für die Frühdiagnose des
Typhus die Anreicherungsmethode benutzen. Erforderlich ist
dazu ausser einem Mikroskop die jedem leicht zugängliche
und haltbare Gallensalzlösung und eine Temperatur von ca. 37 ".
Diese aber lässt sich nach dem Vorschläge von v. E s m arch
z. B. leicht dadurch improvisieren, dass man das mit Blut be¬
schickte Reagenzglas in ein Gefäss einstellt, das mit ca. 37 0
warmem Wasser gefüllt, mit einer Watteschicht auf dem Deckel
versehen ist, und unter dem man eine sog. Nachtkerze anbringt.
Am Schluss der Untersuchung macht man den Inhalt des Re¬
agenzglases dadurch unschädlich, dass man die Nachtkerze
durch einen Spiritus oder Bunsenbrenner ersetzt und das Re¬
agenzglas in dem kochenden Wasser etwa 10 Minuten lang be¬
lässt.
Allerdings ist man nicht im stände, im Ausstrichpräparat
des angereicherten Blutes eine Unterscheidung zwischen
Typhus und Paratyphusbazillen vorzunehmen. Ich verkenne
durchaus nicht die Wichtigkeit dieser Unterscheidung, glaube
aber, dass der Praktiker zunächst davon absehen kann. Diese
Differenzierung wird den öffentlichen Instituten Vorbehalten
bleiben. Es genügt für diesen Zweck, wie überhaupt für den
Fall, dass man ihnen die gesamte Blutuntersuchung überlässt,
ca. 2 ccm Blut mit oder auch ohne Zusatz von Gallensalzlösung
einsendet. Die weitere Verarbeitung des (event. geronnen)
eintreffenden Blutes habe ich schon oben erwähnt.
Wenn jedoch, worauf ich später noch einmal zurück-
komme, der Nachweis von Typhusbazillen auch im angereicher¬
ten Blute nicht mehr gelingt, wo übrigens die Diagnose durch
die klinischen Symptome meist schon gesichert ist, wird man
auf die Agglutinationsprobe zuriickgreifen. Man kann diese
dann ohne weiteres anstatt mit Serum mit dem durch die
Gallensalze verflüssigten Blute anstellen. Denn die wenigen
Tropfen der zugefügten Lösung kann man wohl bei der für die
Agglutinationsprobe notwendigen Verdünnung vernachlässigen.
Die Gallensalze aber wirken nicht störend. Man musste aller¬
dings daran denken, ob ihre Anwesenheit nicht eine Aggluti¬
nation Vortäuschen könne, da ja bekanntlich bei Ikterus häufig
die Widalprobe positiv ausfällt. Jedoch agglutinierte Normal¬
blut, das durch die Gallensalzlösung verflüssigt worden war,
niemals Typhusbazillen. Umgekehrt kann man daraus
schliessen, dass das Agglutinationsphänomen bei Ikterus nicht
durch die Anwesenheit der Gallensalze im Blut bedingt wird.
Während sich in der ersten Krankheitswoche Typhus¬
bazillen im Blut mit Regelmässigkeit durch die Anreicherungs¬
methode nachweisen lassen (dass Verhalten in der Inkubations¬
zeit bleibt noch zu ermitteln) beginnen die Resultate, worin
wiederum alle neueren Beobachtungen übereinstimmen, von
der zweiten Woche an steigend negativ zu werden. Man muss
also wohl annehmen, dass die Typhusbazillen nunmehr aus dem
Blute verschwinden, und es dürfte für diesen Zeitpunkt durch
tägliche Blutuntersuchungen bei Typhuskranken sich eine Norm
festsetzen und das Abweichen von dieser Norm für die Pro¬
gnose verwenden lassen.
Auch scheint es mir sehr möglich, da der Typhus zu Be¬
ginn offenbar eine echte Bakteriämie darstellt und Typhus¬
bazillen sehr leicht durch Desinfizientien zu beeinflussen
sind, viel leichter als z. B. Staphylokokken und Strepto¬
kokken, dass durch sehr frühzeitige und en¬
ergische Einverleibung von Antiseptizis, von denen
wir einen Uebergang ins Blut erwarten dürfen (Jod,
Quecksilber, Chinin) sich eine therapeutische Wirkung er¬
reichen lässt. Hier muss ich auf die günstigen Resultate hin-
weisen, die schon vor Jahrzehnten v. Willebrand durch
mehrmals täglich wiederholte Gaben von Jodjodkali und
besonders v. Liebermeister bei der entsprechen¬
den Anwendung von Kalomel erzielt haben. Aus den
Tabellen, wie sie v. L i e b e r m e i s t e r zusammenstellen
konnte, geht mit grösster Deutlichkeit hervor, dass die von ihm
„spezifisch“ genannte Behandlungsart, in der ersten Krankheits¬
woche angewandt, sowohl hinsichtlich der Dauer, wie der
Intensität, wie auch der Mortalität einen günstigen Einfluss
ausiibt. Folgende Zahlen, die ich daraus hervorhebe, mögen
dies deutlich machen:
Nicht spezifisch wurden behandelt:
377; davon starben 69; Mortalität = 18,3%
Mit Kalomel: 223; „ „ 26; „ =11,7%
Ferner verliefen:
Schwer
Mittel¬
schwer
Leicht
Prozentverhältnis der
mittelschw. u. leichten
Fälle
Nicht spez. behandlt
377
230
43
104
39,0
Mit Kalomel
102
102
58
63
54,3
Diese Medikation wurde aus Erwägungen inauguriert, die
zum Teil vielleicht divinatorisch den Zusammenhang erkann¬
ten, zum grösseren Teil allerdings wohl andere Momente irr¬
tümlich in Betracht zogen. Man verlegte den Sitz der Krank¬
heit vorzugsweise in den Darm, an dem ja die klinischen und
anatomischen Erscheinungen in den Vordergrund treten und
hielt es für denkbar, „dass durch ein rechtzeitig verabreichtes
Abführmittel ein Teil des im Darm noch nicht zur festeren
Fixierung gelangten Giftes zur Ausleerung komme.“
Wir wissen jetzt, dass es dazu in der ersten Krankheits¬
woche längst zu spät ist, da ja die Bazillen schon im Blute krei¬
sen. Die sicheren Beobachtungen aber hinsichtlich der günsti¬
gen Heilresultate, die sich vielleicht durch eine intensivere
Applikationsart noch verbessern lassen, bleiben bestehen und
erklären sich wohl ungezwungen aus Ueberlegungen, wie ich
sie oben andeutete. Man darf sogar die Hoffnung haben, dass,
falls es gelingt, durch systematische Blutuntersuchungen bei
Personen, in deren Umgebung Typhuserkrankungen vorge¬
kommen sind, schon während der Inkubationszeit Typhus¬
bazillen im Blut aufzufinden, durch Darreichung der oben ge¬
nannten Mittel den ganzen Krankheitsverlauf zu coupieren.
Beachtenswert ist ferner, dass das Verschwinden, d. h.
wohl Zugrundegchen der Typhusbazillen zeitlich zusammen¬
fällt mit dem Einsetzen des hohen und kontinuierlichen Fiebers.
Hier liegt offenbar ein ursächlicher Zusammenhang vor inso¬
fern, als die Typhusbazillen nach einer Zeit starker Vermehrung
nunmehr bei ihrem Untergange im Blute Proteine frei werden
und zur Wirkung gelangen lassen. Wenn also als Ausdruck
dieses Vorganges bereits die Akme eingetreten ist, wird man
von der oben gesprochenen Medikation keine Wirkung mehr
erwarten dürfen.
Für die Anfertigung der Mikrophotogramme sage ich Herrn
Dr. Czaplewski auch an dieser Stelle meinen ergebensten
Dank.
Literatur.
Coleman und Buxton, zit. nach Wien. klin. Wochenschr.
1906, No. 22. — v. Esmarch: Hyg. Rundschau 1892, No. 15. -
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
2 1 50
I ornet: Münch. med. Wochenschr. 1906, No. 22. — Eraenkel:
Hyg. Rundschau 1906, No. 17. — Kays er: Zentralbl. f. Bact. etc.
1906, Bd. 38, No. 17/18. — v. Liebermeister: Artikel „Typhus“
in Ziemssens Handb. d. Spez. Path. u. 'l'her., Bd. 2, 2. Aufl., 1876. —
Meyerstein: Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 38. — Pop¬
pel mann: D. med. Wochenschr. 1906. No. 24. — v. Wille¬
brand: Virchows Arch., Bd. 33.
Ueber proteolytische Wirkungen intrazellulärer
Fermente.
Von Dr. Julius Baer in Strassburg.
In einer Reihe von Arbeiten, die in dieser Wochenschrift
erschienen sind1), beschäftigen sich Jochmann und Müller
mit dem Nachweis proteolytischer Fermentwirkungen durch
die Blutserumplatte. Leukozyten oder Gewebsbröckeln lassen
ihre verdauende Kraft durch Bildung eines Verflüssigungshofes
oder vielmehr einer kleinen Grube erkennen. Da sich diese
Publikationen an einen grossen Leserkreis wenden, dem zum
Teil wohl die zahlreichen in Fachzeitschriften publizierten
Arbeiten über diese Vorgänge nicht bekannt sein dürften, die
theoretischen Schlussfolgerungen der letzten Arbeit aber wohl
allgemeinere Beachtung und vielleicht auch Anwendung finden
dürften, halte ich es nicht für überflüssig, einige Bemerkungen
zu dem erwähnten Thema im Anschluss an diese Arbeiten zu
veröffentlichen.
Zunächst liefert die angewandte Methode wohl sehr
schön demonstrable Resultate 2), die wohl gestatten, bei deut¬
lichem Ausfall auf eine Verdauung des koagulierten Serums
mit Sicherheit zu schliessen; doch sind die Versuchsbeding¬
ungen so ungünstige, dass man auf die Anwesenheit dieser
Fähigkeit bei Fehlen der Grubenbildung sicherlich nicht schlies¬
sen darf; hierzu sind Verdauungsproben mit Bestimmung der
Zunahme des inkoagulablen Stickstoffs (d. h. der Stickstoff¬
menge, die bei Ausfällung des Eiweisses in Lösung bleibt) zu
verlangen.
Der Prozess, den die Verfasser nun beobachteten, ist die
Verdauung koagulierten, d. h. denaturierten Eiweisses. Er
ist prinzipiell verschieden und kann vollständig unabhängig
von dem in den letzten Jahren an fast allen Organen be¬
obachteten Vorgängen bei der Autolyse verlaufen; die letzteren,
bei denen es sich um eine Verdauung nur des Gewebes durch
seine eigenen Fermente handelt, machten sich natürlich nicht
durch Grubenbildung auf der Serumplatte bemerkbar. Der
Prozess der Verdauung fremden Eiweisses wurde im Gegen¬
satz zur Autolyse als Heterolyse bezeichnet. So zeigt, wie
häufig beobachtet wurde, auch die Milz von Rind und Pferd
sehr starke Selbstverdauung, während die Milz vom Rind we¬
nigstens, mir in einem Versuch keine Heterolyse bei Zusatz
denaturierten Eiweisses erkennen liess; wohl dagegen brachte
in einem I eil der Versuche bei gleicher Anordnung Hunde¬
milz eine Heterolyse hervor. Anders liegen die Versuchs¬
resultate für Eiter (von Hunden); eine nennenswerte Autolyse
findet erst nach Abzentrifugieren des Eiterserums statt, wohl
infolge von Fermenthemmung, dagegen hemmt das Eiterserum
nicht die Heterolyse von zugesetztem denaturierten Serum. In
dieser Hinsicht dürften wohl die interessanten Resultate von
J. und M. mit Leukozytenorganen verschiedener Tiere eine
mehrfach variierte Nachprüfung verdienen. Besonders sind
Einwirkungen der Temperatur, des Serumgehaltes und der
Alkaleszenz bei so weitgehenden Schlüssen auf Fehlen eines
Fermentes zu berücksichtigen.
Die autolytischen Vorgänge, die Milz und Knochenmark
bei sämtlichen untersuchten Tieren zeigen, dürften auch bei
den Eiterkörperchen vorhanden sein; so werden wohl auch
beim Kaninchen und anderen Nagetieren die Leukozyten bei der
Pneumonie ihre Autolyse haben und ihre Resorption wird sich
im wesentlichen ebenso vollziehen, wie das Friedrich Müller
bei der Pneumonie des Menschen nachgewiesen hat.
I iii Kolostrum gilt Aehnliches was wir oben für Eiter cr-
öitert haben. Es müsste der Nachweis erbracht werden, dass
U 1906, S. 2002.
-) Wie auch schon Adrian hervorhob. Arch. f. Dermatol u
Svphil. 49, 1899.
seine Fermente die nicht denaturierten Eiweisskörper dieses
Sekrets verdauen könnten; nach den Erfahrungen mit sterilem
Eiter erscheint mir eine nennenswerte Verdauung nicht sehr
wahrscheinlich. 3) Möglich erscheint immerhin eine Wir¬
kung dieser Fermente nach Veränderung des Eiweisses im
Magendarmkanal. Wie weit sie dann allerdings noch in Be¬
tracht kommt, lässt sich schwer beurteilen.
Beitrag zur Alkoholanwendung bei der Pneumonie.
Von Dr. med. Fock in Hamburg.
Die exakte Indikationsstellung für die Verordnung von Alkohol
leidet, wie überhaupt die ganze Lehre von der Alkoholwirkung, noch
an mancherlei Unklarheit; die Anschauungen der Aerztewelt in diesem
Punkte befinden sich in einer steten Umbildung, wie ein kurzer Blick
auf die Geschichte der Alkoholtherapie lehrt. Zeigten die Aerzte in
den ersten Jahrzehnten des verflossenen Jahrhunderts so wenig Nei¬
gung, Alkohol zu verordnen, dass am Rhein noch 1845 ein Arzt
unter Anklage gesetzt wurde, er habe durch Verordnung von Wein
bei einem Typhuskranken dessen Tod herbeigeführt, so kam später
eine andere Zeit, in der immer mehr, ja zuletzt in fast enthusiastischer
Weise Alkohol in grossen und sehr grossen Mengen bei akuten und
chronischen Krankheiten verordnet wurde, so dass, wie v. Jak sch
sich ausdrückt, „Hunderte von Menschen durch übermässige Dar¬
reichung von Weingeist getötet wurden“. Heute haben wohl die
Meisten diesen extremen Standpunkt wieder verlassen, da diese
Medikation nicht den gehegten Erwartungen bezüglich des Erfolges
entsprach, und in vorsichtiger und kritischer Weise sucht man tat¬
sächliche Unterlagen für das Verhalten am Krankenbette zu ge¬
winnen. Von einer einheitlichen Meinung kann aber noch keine Rede
sein.
In dem Wunsche, ein klein wenig zur Klärung beizutragen und
zwar speziell zunächst einmal festzustellen, welche Ansichten die her¬
vorragendsten Aerzte z. Z. hegen, wandte ich mich mit einem Frage¬
bogen betreffs Alkoholanwendung bei der Pneumonie an eine grosse
Zahl von Professoren, in erster Linie die inneren Kliniker, und andere
Aerzte in Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Dänemark, Schweden
und England, und es haben so viele der befragten Herren die Güte ge¬
habt, den Fragebogen ausgefüllt zurückzusenden, teilweise mit ganz
ausführlichen Berichten, dass der Zweck, ein wohl einigermassen
zutreffendes Bild der heute geltenden Ansichten zu erlangen, erreicht
werden konnte; ich gebe mich der bescheidenen Hoffnung hin, dass
die Vergleichung der recht verschiedenen Meinungen mancherlei An¬
regung zu weiteren Beobachtungen geben wird. Es wurde gerade die
Pneumonie gewählt, weil sie mit ihrem typischen, im Vergleiche zu
andern Krankheiten relativ einfachen Bilde am ehesten geeignet sein
dürfte, die Wirkung des Alkohols hervortreten zu lassen und zur
Herausarbeitung einer richtigen Indikationsstellung mitzuhelfen.
Die erste Frage lautete: Wird Alkohol verordnet in jedem Falle
von Pneumonie oder nur in besonderen Fällen? Nur einzelne wenige
Beobachter geben jedem Pneumoniker Alkohol; in einer Antwort
heisst es, dass in der betreffenden süddeutschen Klinik jeder Patient
täglich Vi Liter leichten Landwein erhalte und so eben auch der Pneu¬
moniker. Das Gegenteil davon bilden eine Anzahl Anworten, die in
keinem Falle Alkohol geben, teils weil sie ihn für entbehrlich, teils
weil sie ihn für direkt schädlich halten. Die weit überwiegende Mehr¬
heit geht den Mittelweg und will nur in besonderen Fällen Alkohol
gegeben wissen; einige Male heisst es: „Die Mehrzahl der Pneumoni¬
ker erhält Alkohol“, viel häufiger aber: ..Die meisten Patienten erhal¬
ten keinen Alkohol“. Gründe für Darreichung von Alkohol sind: All¬
gemeine Schwäche (am häufigsten erwähnt), Kollaps, hohes Fieber,
mangelnde Nahrungsaufnahme, Alterspneumonie, Gewöhnung an täg¬
lichen Alkoholgenuss, umgekehrt auch Nichtgewöhnung. Doch da¬
von nachher Genaueres.
Die zweite Frage: In welcher Form und in welcher Menge wird
Alkohol gegeben? wird wie folgt beantwortet: Champagner, Port¬
wein, Tokayer, Malaga, Sherry, Cognac, Rum, Rotwein, Weisswein,
Schnaps, I hee mit Rum und Cognac, und in vielen Fällen Mixturen
nach folgenden Rezepten: Rp. Cognac. 25—50,0, Vitell. ovi unius,
Sir. simpl. 20,0, Aqu. dest. ad 150,0 (Stokes’ Mixtur) oder Rp. Ex-
tract. cortic. aurant. 0,5, Sir. simpl. 30,0, Spirit. 20,0, Aqu. dest.
ad 200,0 oder Rp. Decoct. cort. chinae 15,0: 120,0, Cognac., Sir. aurant.
cortic. ana 30,0. Die Vorschriften über die Mengen pro dosi und pro
die schwanken natürlich auch in diesen selbstverständlich ganz all¬
gemein gehaltenen Angaben sehr. Wir finden: Art des alkoholischen
Getränkes nach Geschmack oder Gewohnheit des Patienten; Art und
Menge nach Geschmack und Gewohnheit des Patienten; mindestens
die gewohnte tägliche Menge; bei Deliranten Schnaps; „soviel als
möglich-; „ad libitum“; die beiden letzten Massbestimmungen nur je
1 mal; mehrfach wird ausdrücklich betont: nie ad libitum, und
meistens sind genauere Mengen angegeben: von den Mixturen
2 stündlich 1 Esslöffel voll, Champagner pro dosi 1 Glas, pro die
J) Von den wohl nicht genügend sichergestellten proteo¬
lytischen Fermenten der gewöhnlichen Milch sehe ich hierbei ab.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2151
Vs— 1 Flasche; Portwein und Tokayer 4— 6 mal 1 Esslöffel, !4 bis
Vs Flasche; einmal heisst es: Tokayer oder Malaga, denn Portwein
ist ja stets verfälscht; Sherry 2 — 3 kleine Gläser pro die, Cognac
und Rum mehrfach täglich 1 Theelöffel bis 1 Esslöffel voll, pro die
4L) — 50 g Cognac, 50,0 Cognac oder Rum mit Thee; 1 — 3 Glas Grog
von Cognac, 14 Liter Grog; l Ei mit Zucker und Cognac; Schnaps
pro dosi 10 — 15 ccm, 150 — 300,0 pro die; Rot- und Weisswein 2 stünd¬
lich 1 Esslöffel, 14 — 2 Flaschen in 24 Stunden. Manche Autoren be¬
tonen, dass sie nur bis an die unterste Grenze gehen, andere, dass
man gern über die obere Grenze hinausgehen könne.
Die nächste Frage: „Erfordert die Pneumonie bei Potatoren Alko¬
holdarreichung?“, förderte wieder Ansichten aller Schattierungen zu¬
tage. Die Majorität erklärt es für notwendig, jedem an Lungenent¬
zündung erkrankten Trinker Alkohol zu geben; eine starke Minorität
ist wieder der Ansicht, dass, wie ja überhaupt dem in ärztliche Be¬
handlung gelangenden Potator jetzt wohl überall der Alkohol sofort
gänzlich entzogen wird, dies auch dann zu geschehen habe, wenn
er an Pneumonie erkrankt sei. Die in der Mitte Stehenden führen an,
dass nur bei Herzschwäche und drohendem Kollaps Alkohol notwendig
sei (so Aufrecht, d’E p i n e, Ewald, G r a w i t z, Schulze,
Pässler) oder dass Inanition (Sticker) oder das Zusammen¬
treffen von Delirium und Pneumonie (Deneke) ihn nötig erscheinen
lasse.
Am interessantesten und wichtigsten sind die beiden folgenden
Fragen mit ihren Antworten: „Welche Wirkung wird vom Alkohol
erwartet?“ und: „Inwieweit erfüllt er diese Erwartung?“, denn die
prinzipielle Auffassung von der Art, wie der Alkohol in die Lebens¬
vorgänge des Organismus eingreift, findet hier ihren Ausdruck. Und
auch hier wieder ein weites Auseinandergehen der Ansichten. Wenn
wir zunächst die weniger häufig genannten Indikationen betrachten,
so sehen wir da: Er wird gegeben, weil er allgemein beruhigend
wirkt (Deneke, P e n z o 1 d t, Sticker), weil er als Narkotikum
bei Nichtgewöhnten den Husten lindert (G r a m - Kopenhagen), weil
er direkt antitoxisch wirkt (Litt mann), weil er ein Genuss- und
Anregungsmittel ist (F 1 e i n e r), weil er diaphoretisch und diuretisch
wirkt (G r i s s o n), weil er den Abstinenzerscheinungen und dem
Delirium vorbeugt, weil er subjektiv die Atembeschwerden lindert;
einige Male wird eine nährende Wirkung angegeben. Die allermeisten
jedoch verordnen ihn, weil sie eine Beeinflussung von Herz und Vaso¬
motoren erwarten; leider sind die Antworten in diesem Punkte in
der Regel nur ganz kurz, so dass nicht daraus hervorgeht, in welcher
Art die „Beeinflussung“ oder „Anregung“ oder „Kräftigung des Herz¬
muskels und der Vasomotoren gedacht ist. Gelegentlich heisst es:
Es wird eine Gefässerweiterung, besonders in den unteren Extremi¬
täten erzielt, oder: Eine allgemeine Gefässerweiterung, die eine
momentane Entlastung des Herzens bedeutet und zusammen mit Digi¬
taliswirkung vorteilhaft wirkt.
Wer den Alkohol als ein Exzitans betrachtet, der wird dann jeden¬
falls nur gelegentlich, in besonderen Fällen und für ganz kurze Zeit
ihn verordnen, denn Exzitation bedeutet nur temporär gesteigerte Ar¬
beitsleistung, aber keineswegs eine Stärkung, eine Steigerung der
Leistungsfähigkeit. Wer die Ansicht hegt, der Alkohol stärke den
Herzmuskel selbst oder die Herznerven oder die Vasomotoren, der
wird ihn ausgiebiger verwenden. Leider haben aber die bisherigen
Forschungen keinen sicheren Anhalt für die Richtigkeit der einen oder
der anderen Ansicht ergeben. Erb sagt einmal: „Ich habe mir die
Frage vorgelegt, ob nicht ein Teil dessen, was wir bei Schwerkranken
sehen, die wir mit Alkohol behandeln, eine Folge sehr grosser Alkohol¬
dosen sein könnte, ob nicht ein Teil des Kollapses auf diesen Alkohol¬
genuss zu schieben wäre“; und Rosenfeld sagt in seinem Buche:
„Der Einfluss des Alkohols auf den Organismus“ pag. 164: „Wenn
wir unter Analeptikum ein Mittel verstehen wollen, welches die Zirku¬
lation verbessert, so können wir vom Alkohol nur sagen, dass von
ihm eine derartige Wirkung im mindesten nicht erwiesen sei; denn
weder steigt die Pulszahl noch der Blutdruck durch selbst grössere
Dosen von Alkohol in nennenswerten Grössen. Auch ist nach den
Versuchen von Robert, wie nach Pässler, der Spiritus kein
Mittel, um die kleinen Gefässe zu verengern. Soweit wir also im¬
stande sind, objektiv die Lage der Blutbewegung im lebenden Men¬
schen zu beurteilen — es fehlt uns freilich noch das meiste, um es
wirklich zu können, zeigt sich der Alkohol nicht als Exzitans für die
Zirkulation.
Die Indikationen, denen der Alkohol zu genügen hätte, sind
zweifacher Art. Einerseits soll er die vis a tergo, die Tätigkeit des
Herzens verbessern, andererseits für den Tonus der kleinen Gefässe
sorgen. Die Störung der Zirkulation in den Infektionskrankheiten
kann auf beide Momente zurückgeführt werden: entweder ist die
Leistung des Herzens insuffizient, wie bei nachweisbaren und nicht
nachweisbaren Krankheiten des Endo-, Mvo- und Perikardiums, oder
die Innervation der kleinen Gefässe leidet unter der Beeinträchtigung
des Vasomotorenzentrums, wie bei den Allgemeininfektionen —
Sepsis, Pneumokokkensepsis (R o rri b e r g, Pässler). In beiden
Richtungen hat sich der Alkohol als leistungsunfähig erwiesen. Vor¬
läufig müssen wir es als nicht erwiesen betrachten, dass der Alkohol
ein Exzitans sei.“
v. .1 ii rgensen sagt in seinem Lehrbuche: „Für den Gebrauch
des Weines gilt im allgemeinen das gleiche wie bei dem Typhoid.
Man wird bei Alten und Schwachen gut tun, von Anfang an die stärk¬
sten Sorten in nicht zu kleinen Mengen zu reichen; so wird die Herz¬
schwäche sicherer verhütet . Dazu ist zu bemerken, dass der
Wein die Herzschwäche verhindert und dass die stärksten Spirituosen,
Cognac, Rum usw. mit heissem Thee- oder Kaffeeaufguss zusammen
selbst bei dem Schnapssäufer noch sehr wirksame Erreger für das
Herz sind . “ Und an der angezogenen Stelle beim Typhus will
v. Jürgensen den Alkohol gegeben wissen: „1. Vor und nach
jedem Bade, damit das Herz, die von ihm vorübergehend verlangte
grössere Kraftleistung liefern kann; 2. als Sparmittel; 3. um durch den
Wein teilweise den Wasserverlust des Körpers zu ersetzen.“
v. Strümpell: „Unzweifelhaft notwendig ist reichliche Zufuhr
von Alkohol bei Potatoren, zumal bei beginnendem oder bereits aus¬
gesprochenem Delirium tremens. Dass bei nicht an Alkoholika ge¬
wöhnten Patienten kleine Mengen Wein exzitierend und anregend
wirken können, mag richtig sein, ohgleich wir uns von dem oft ge¬
rühmten Einfluss auf die Herztätigkeit nie recht überzeugen konnten.
Grössere Mengen _ halten wir nicht für gerechtfertigt.“
Die nächste Frage lautete: „Würde sich die erwartete Wirkung
auch durch andere therapeutische Massnahmen erzielen lassen?1'
Aus den Antworten seien folgende hervorgehoben: Gewiss! — Un¬
bedingt! — Gewiss, aber da ich nie einen Schaden sah, so habe ich
keinen Grund gehabt, den Alkohol zu untersagen, trotzdem für die
Anstalt ein grosser pekuniärer Vorteil vorhanden wäre. — Andere
Mittel sind nicht so bequem in der Anwendung. — Oft sind andere
Mittel neben Alkohol nötig. — Es werden stets andere Mittel mit
herangezogen,' die dem Patienten nützen können. — Alkohol wird
erst herangezogen, wenn die anderen Mittel versagen. — Wenn Alko¬
hol nicht mehr genügt, werden andere Mittel angewendet. — In
späten Nachtstunden wird Kaffee und Thee gegeben, Alkohol erst
wieder von 11 Uhr vormittags ab. — Kein Mittel hebt die Herzkraft
so schnell, wie Alkohol. — Andere Herztonika, wie Kampher, Digitalis,
Koffein. Thee, Aderlass und Hydrotheraoie können den Alkohol ganz
oder teilweise ersetzen oder müssen neben ihm angewendet werden.
— Aderlässe, die in der Behandlung der Lungenentzündung in früheren
Zeiten eine so grosse Rolle spielten und in England scheinbar auch
heute noch viel mehr angewendet werden als bei uns, wurden nur
dies eine Mal genannt.
Eine besondere Erwähnung verdienen wohl die Berichte des seit
1873 bestehenden London Temoerance Hosoital, welches seit einer
Reihe von Jahren die besten Genesungsziffern von allen Londoner
Krankenhäusern hat. Das Hospital nimmt wahllos Alkoholabstinenten
und Nichtabstinenten auf: die Aerzte sind gehalten, jeden Fall von
Alkoholverordnung mit allen Einzelheiten. Art, Dosierung und Dauer
Her Alkoholanwendung in ein besonders für diesen Zweck angelegtes
Buch zu schreiben. Die Jahresberichte liefern nun folgende Zahlen:
1901: 1299 klinische. 12 846 poliklinische Patienten; bei 63 Pneu-
monikern 1 mal Anwendung von Alkohol.
1902: 1471 klinische, 15 349 poliklinische Patienten; im ganzen in
5 Fällen Alkohol: 98 Pneumonien, bei diesen 2 mal Alkohol.
1903: 1376 klinische, 14 524 ooliklinische Patienten; im ganzen
9 mal Alkohol: 60 Pneumonien mit 4 mal Alkohol.
1904: 1337 klinische, 15 621 poliklinische Patienten; im ganzen
6 mal Alkohol; 76 Pneumonien mit 4 mal Alkohol.
Nebenbei bemerkt: Die Kosten für Alkohol dürften in keinem
Jahre die Summe von 10 M. überschreiten; in den meisten deutschen
Krankenhäusern sind sie recht erheblich; im Allgemeinen Kranken¬
haus in Wien betrugen sie 1897: 50 000 Kronen (etwa 43 000 M.),
1902 nur noch die Hälfte; in den Hamburgischen Staatskranken¬
häusern 1905: 124 000 M.
Systematische Vergleiche sind von den Beantwortern der Frage¬
bogen nicht angestellt worden. Es berichtet Dr. Hay (Lancet 1904,
S. 1672) über solche Vergleiche, die eine um 15 Proz. geringere Sterb¬
lichkeit bei den alkoholfrei Behandelten ergab, und S m i t h, der von
54 Pneumonien immer eine mit, die nächste ohne Alkohol behandelte,
sah, dass im Verlauf kein Unterschied hervortrat; nur war die Re¬
konvaleszenz der alkoholfrei Behandelten leichter und schneller. Sehr
viele der Aerzte, welche stets alkoholfrei behandeln, behaupten eben¬
falls, dass die Rekonvaleszenz viel schneller verlaufe, wenn der
Kranke gar keinen Alkohol erhalten habe, doch beruht dies Urteil
meistens mehr auf allgemeinen subjektiven Eindrücken, als auf syste¬
matischen Vergleichen, die z. B. darauf Bezug nehmen könnten, wie
lange Zeit die Kassenpatienten im ganzen erwerbsunfähig sind. Heute
können wir nur sagen: Man sieht, dass sehr viele Patienten von einer
Pneumonie genesen, wenn sie während der Krankheit oder der Re¬
konvaleszenz oder während beider Alkohol erhalten haben und man
sieht ebenso sehr viele genesen, die keinerlei Alkohol erhalten haben.
Der Alkohol ist also sicher im allgemeinen überflüssig. Es bleiben
aber die beiden extremen Ansichten; die einen: der Alkohol ist nicht
bloss überflüssig, sondern direkt nachteilig; die anderen: wenn er
auch nicht unbedingt notwendig ist, so ist es doch besser ihn anzu¬
wenden. Den Streit dieser beiden Ansichten sicher entscheiden
können wir heute noch nicht; dazu bedarf es einer grossen ver¬
gleichenden statistischen Untersuchung und es läge da für grosse
Krankenhäuser ein dankbares Gebiet, die Lösung der Frage erheblich
zu fördern. Wenn in strenger Regelmässigkeit abwechselnd der eine
Fall mit Alkohol, der andere ohne Alkohol behandelt würde — natiir-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 4-4.
2152
...h \usnahmen zugelassen, sowie das Wohl des Patienten durch die
eine oder die andere Massregel irgendwie gefährdet erscheinen
könnte — , so müsste allmählich eine Statistik erwachsen, die durch
das Gesetz der grossen Zahlen Beweiskraft erhielte; Unterschiede, die
verursacht werden durch die verschiedene Virulenz der jeweiligen
Krankheitserreger — vergl. den Wechsel, der sich in dieser Weise
in Tübingen vollzogen hat; Dissertation von Werfer, Tübingen
1904 — , durch die Verschiedenheit der Konstitution, die verschiedene
Gewöhnung an Alkohol usw., würden bei einer Statistik, die über
'hausende von genau beobachteten Fällen verfügte, keinen Einfluss
mehr auf die Zuverlässigkeit des Ergebnisses ausüben. Bei einem
Mittel aber, welches vielseitige Verwendung findet, wie der Alkohol,
sollte unsere Wissenschaft eilen, die gänzlich auseinandergehenden
Meinungen zu klären.
Zum Schlüsse ist es mir eine angenehme Pflicht, allen des
Herren, die mich durch Ausfüllung der Fragebogen bei dieser Arbeit
unterstützt haben, auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank
auszusprechen!
Aus dem pathologischen Institut der Universität München.
Scheinbare Stenosierung des Pylorus durch ein
chronisches suprapapiliäres Duodenalgeschwür; post¬
operative Parotitis.
Von Dr. Otto Eckersdorff, gew. Volontärarzt.
Einen lehrreichen Beitrag zu den Schwierigkeiten der
Diagnose bei Stenoseerscheinungen am Pylorus liefert der Fall,
den ich am 26. III. 1904 im hiesigen Institut zu sezieren Ge¬
legenheit hatte1) und dessen Veröffentlichung mir Herr Ober-
rnedizinalrat v. B o 1 1 i n g e r freundlichst gewährte.
Ich gebe zunächst im Auszug die klinische Beobachtung
wieder, deren Daten ich dem Entgegenkommen der behandeln¬
den Herren Kollegen vom Krankenhaus 1. d. I. und vom chirur¬
gischen Spital verdanke.
Der Schlosser Franz B., 49 Jahre alt, liess sich am 1. Juli 1904
wegen starker Magenbeschwerden ins Krankenhaus 1. d. I. aufnehmen.
Aus der Anamnese sind hervorzuheben: ein nervöses Herzleiden in
den Jahren 1872 — 80; im Jahre 1895 eine geringe Hämoptoe nach
starker Anstrengung; im Jahre 1900 eine 4 monatliche psychiatrische
Behandlung aus nicht näher zu bestimmender Veranlassung; Infektion
wird negiert, Bierpotatorium zugestanden und zwar 12 — 18% Liter
pro die. Seit Juni 1903 verspürte Patient Schmerzen in der Magen¬
gegend derart, dass meistens 2 Stunden nach Aufnahme von Nahrung,
besonders von Fleisch, heftig brennende Schmerzen auftraten, von
denen er durch stark sauer schmeckendes Aufstossen befreit wurde.
Ein- bis zweimal wöchentlich Erbrechen, häufig auch des Nachts.
Die zuerst geringen, dann immer schlimmer werdenden Beschwerden
steigerten sich trotz Einschränkung des Alkoholgenusses so, dass
Patient im Januar 1904 arbeitsunfähig wurde; sein Gewicht soll bis
dahin um 15 kg abgenommen haben.
Vom 1. Juni bis 14. Juli 1904 war er zum 1. Mal im Kranken¬
haus 1. J. Die ärztliche Untersuchung fand damals nur eine leichte
Arteriosklerose, eine unbestimmte Resistenz rechts vom Nabel und
am Magen Plätschergeräusche; die Aufblähung des Magens ergab
eine erhebliche Dilatation: die grosse Kurvatur etwa 2 Finger breit
unterhalb des Nabels, die kleine Kurvatur am Prozessus ensiformis.
Mehrfache Probefrühstücke ergänzten den Befund dahin, dass im aus¬
geheberten Mageninhalt Blut, einmal Milch-, einmal Buttersäure ge¬
funden wurde, bei gleichzeitigem Fehlen von freier Salzsäure; dass
von der Nahrung des vorigen Tages ziemlich viel im Magen liegen
geblieben war. Auch der Stuhl zeigte mehrfach geringe Beimengungen
von Blut.
Da der Patient, der bei der Aufnahme 64 kg wog und auf¬
fallend blass war, an Gewicht 2% kg zunahm, und unter der Kranken¬
hausbehandlung seine Beschwerden sich zusehends besserten, wurde
er am 14. VII. zunächst entlassen. Diagnose: Gastrektasie,
hervorgerufen entweder durch ein Karzinom oder
durch muskuläre Insuffizienz des Magens.
Bereits am 22. VII. aber kam Patient mit denselben Beschwerden
wieder; die Besserung war nur vorübergehend. Am 28. VII. ist sein
(iewicht auf 63 kg heruntergegangen; wiederholte Untersuchungen
des Mageninhaltes bestätigen die Resultate der oben angeführten, so
dass man ärztlicherseits dem Patienten zur operativen Beseitigung
des Uebels rät, bei dessen Erklärung man mit der internen Be¬
obachtung nicht über die Stenosierung des Pylorus hinauskommt.
Am 6. August erfolgt seine Aufnahme in die chirurgische Klinik.
Das Krankenjournal macht im wesentlichen dieselben Angaben und
kommt nach dem Resultat der Magenuntersuchung • — auch hier alte
Speisereste, ziemliche Mengen Schleim, Fehlen von Milchsäure, Vor¬
handensein freier Salzsüuie, Gesamtazidität — 30 — gleichfalls nur
zu der Diagnose Pylorusstenose.
*) Sekt.-J. No. 798.
Am 12. 8. wird bei der Probelaparotomie eine Gastroentero-
stomia retrocolica mit gutem Gelingen angelegt; aber auch trotz
sorgfältigen Abtastens der Magenwand konnte man keine Ur¬
sache für die Stenosierung entdecken.
Während die Heilung der Wunde reaktionslos verlief, wie sich
bei den Verbandwechseln und der Entfernung der Nähte zeigte, ge¬
staltete das Dazwischentreten von Komplikationen den Endausgang
unglücklich: am 4. Tage nach der Operation, bei sonstigem Wohl¬
befinden, trat plötzlich eine akute Schwellung der linken Parotis auf,
am 6. Tage klagt Patient über hartnäckigen Husten und mangelnde
Expektoration; auf der echten Lunge bis zur Spina Scapulae Däm¬
pfung mit verstärktem Stimmfremitus, zahlreiche laute Rasselge¬
räusche; am 19. VIII. faulig-süsslich riechender Auswurf in grosser
Menge; die Atmung wird mühsam. In den nächsten Tagen Fort¬
schreiten der fötiden Bronchitis; Patient verfällt immer mehr und
stirbt am 25. August.
Die Beobachtung des Klinikers hat also eine Erweite¬
rung des Magens sicher festgestellt, nicht aber ihre Ursache und
die Entstehungen der vorhandenen Störung aufgeklärt. Die Her¬
absetzung der Gesamtazidität, das wechselnde Vorhandensein
von Milchsäure, die Art der Schmerzen, der Befund einer un¬
bestimmten Resistenz, das Vorhandensein von Blut im Er¬
brochenen und im Stuhl, das saure Aufstossen Hessen sich mit
Sicherheit weder in der einen noch in der anderen Richtung
verwerten; das eine spricht mehr für chronisches Magen-
ulcus, das andere mehr für Karzinom. Gegen einfache atonische
Dilatation mit muskulärer Insuffizienz, wie sie auf Grund von
chronischem Potatorium vorkommt, sprachen die Schmerzen
nach Nahrungsaufnahme und die, wenn auch unbestimmte, Re¬
sistenz. Der Chirurg konnte zwar bei der Laparotomie alte
entzündliche Verwachsungen in der Nachbarschaft des Magens
konstatieren, aber auch nach Eröffnung des Magens keine greif¬
baren Veränderungen nachweisen und beschränkte sich auf
die Annahme von Narbenstörungen und folgerichtig auf
die Herstellung einer gangbaren Abfuhr des Mageninhaltes nach
dem Dünndarm durch die Gastroenterostomie.
Die akzidentelle Parotitis und Pneumonie, deren Ent¬
stehung durch Erbrechen oder Hinaufwürgen von Mageninhalt
das Krankenjournal ausdrücklich ablehnt, freilich, wie es
scheint, nachträglich, brachte dann den Patienten bei seiner
verminderten Widerstandskraft zum Exitus und gab erst der
Sektion die Möglichkeit, den immerhin einfachen Sachverhalt
aufzuklären.
Bei der Sektion am 26. August zeigten sich ganz frische Ver¬
klebungen der Leber mit der vorderen Bauchwand, der etwas ge¬
trübt aussehenden Magenserosa mit benachbarten Diinndarmschlingen,
sowie mit der Vorderfläche des heraufgeschlagenen grossen Netzes;
alle diese Teile leicht sukkulent und gerötet.
Beide Lungen zeigen neben alten Pleuranarben und sehnigen
Verwachsungen ausgedehnte frische Verklebungen mit dem Rippen¬
fell und untereinander. Alle Lungenabschnitte sind hochgradig öde-
matös, von entsprechend herabgesetztem Luftgehalt und ver¬
mehrtem Gewicht; das der linken 1150, das der rechten 1510 g.
Das Gewebe beider Lungen zeigt, neben schiefrig indurierten Her¬
den unterhalb der Spitzen, an der Oberfläche sowohl wie in der
liefe alle Stadien eitrig-fauliger Zersetzung: missfarbene noch luft-
haltige Partien, flache, grüngelbe Eiterherde, kleinere und grössere,
zum 1 eil peribronchial angeordnete, zum Teil konfluierende Erwei¬
chungsgebiete; dazwischen fetzige Zerfallshöhlen, deren grösste im
rechten Oberlappen im Umfang eines Hühnereis mit schmierigem,
stinkenden Inhalt gefüllt ist. Die Bronchien enthalten wurstartige,
schmierige Pfropfe oder halb flüssige, halb bröcklige, stinkende
Massen. Vom rechten Unterlappen ist ein Herd 'durchgebrochen
und hat in die rechte Pleurahöhle etwa 1 Quart übelriechende
Flüssigkeit entleert.
Dei Magen ist mit den anliegenden Darmschlingen und der
oberen Hälfte des grossen Netzes leicht verklebt. Etwa handbreit
voi dem Pyloius ist mit gut schliessenden Knopfnähten in die grosse
Km vatur eine der oberen Dünndarmschlingen eingenäht, die hinter
dem Querkolon durch eine etwa 5 markstückgrosse Durchbohrung
des Mesokolons heraufgezogen ist. Von aussen ist die Nahtstelle
rein, innen zeigt die Schleimhaut im Magen sowohl wie in der
Darmschlinge flächenhafte blutige Suffusionen und punktförmige Blut¬
austritte. Der Magen selbst ist gross und mit reichlichem übel¬
riechenden, flüssigen Inhalt gefüllt. Seine Schleimhaut olivengrün
verfärbt, mit zähen Schleimmengen bedeckt, stark gefaltet, die Falten
kaum ausziehbar. Die Pylorusgegend stark maschenartig gefeldert,
im Grund leichliche punktförmige Blutaustritte. Einlagerungen in
die Wand, Substanzverluste oder narbige Veränderungen nirgends
erkennbar. Der Pylorus selbst erscheint schlaff, verstrichen, stark
ausgedehnt.
Der Anfangsteil des Duodenums ist sehr erweitert und
enthält denselben Inhalt wie der Magen. Die Falten sind ganz ausge-
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2153
zogen, die Mukosa hier vielfach von schwärzlichen 'Pigmentpunkten
durchsetzt. Etwa 10 cm hinter dem Pylorus zeigt sich der
Dar m ganz plötzlich eingeschnürt und sein Lumen kaum noch
für den Knopf der Darmschere durchgängig. In der Mitte dieser
engen Stelle, nahe am Mesenterialansatz findet sich eine
trichterförmige narbige Einziehung, deren oberer Um¬
fang ungefähr der Grösse einer Linse entspricht. Das derbe Narben¬
gewebe reicht etwa 1 cm tief in das darunter liegende und hier
fest an den Darm herangezogene Pankreas. Ueber
diese Einziehung lagert sich eine der inneren Dar m -
wand breit aufsitzende, kugelige, mit glasigem,
zähem Schleim gefüllte Zyste von der Grösse einer
kleinen Haselnuss. Unterhalb dieser Einengung ist der
Dünndarm mit massenhaftem, stinkenden, dünnflüssigen Kot
gefüllt; die Mukosa grünlich verfärbt und vielfach stärker injiziert.
Das unterste Ileum zeigt sehr dunkle Schleimhaut und reichlichen
Schleimbelag, ebenso der Anfangsteil des Dickdarms. Die follikulären
Apparate sind nirgends hervortretend; die mesenterialen Drü¬
sen bis zum Umfang einer Kirsche vergrössert und zum Teil ganz
verkalkt.
Die linke Ohrspeicheldrüse erscheint im ganzen ver¬
grössert; auf dem Durchschnitt quillt auf Druck aus dem Parenchym
gelblicher dicker Eiter in geringer Menge; das Drüsengewebe ist
schmolzenstark gerötet, etwas sukkulent, im hinteren Teil bereits
eingeschmolzen.
Die anderen Organe zeigten geringe und unwesentliche
Veränderungen und seien hier übergangen.
Anatomische Diagnose.
Operierte Gastroenterostomose nach Steno-
sierung des Anfangsteiles des Duodenums durch
ein altes vernarbtes Duodenalgeschwür. Reten¬
tionszyste des Ductus pancreaticus. Partielle
subakute Peritonitis. Putride Bronchitis und be¬
ginnende Gangrän beider Lungen. Akute eitrige
Parotitis linkerseits. Chronischer Katarrh des
Magens und Darms. Alte ausgeheilte Tuberkulose
beider Lungenspitzen; Narben liieren; embolische
Infarkte der Milz und Pleura.
Dass die schleimgefüllte Zyste an der stenosierten Stelle
vom Pankreas ausging, ergab die Präparation des Ductus Wir-
sungianus gleich nach der Sektion: ein im Lumen etwa 1/4 mm
weiter, ziemlich breiter Ast liess sich deutlich einerseits in den
Hauptductus, andererseits bis in das Narbengewebe verfolgen,
welches an der Aussenseite des Duodenums das Ulcus fest
mit dem Pankreaskopf verlötet hatte. Bei dieser klaren Sach¬
lage wurden mikroskopische Untersuchungen nicht angestellt.
Leider wurde aber auch eine bakteriologische Untersuchung
des Parotiseiters versäumt, da sie vielleicht wegen der — bei
der grossen Hitze — weitgehenden Fäulnis nicht einwandfrei
gewesen wäre.
Während also die klinische Beobachtung über die Kon¬
statierung der Tatsachen nicht hinauskam, und den Grund der
Störungen, ob Karzinom oder altes Magengeschwür oder mus¬
kuläre Insuffizienz, im Zweifel lassen musste, war die Sektion
wie nicht häufig in der Lage, den Gang des ganzen Krankheits¬
prozesses aufzuhellen. Das ursprüngliche war der Magen-
und Darmkatarrh, dessen Ursache wir wohl nicht weit zu
suchen brauchen, wenn wir das jahrelang fortgesetzte Pota-
torium von durchschnittlich 15 Liter Bier am Tage in Betracht
ziehen. Auf Grund des Katarrhs entstand das katarrhalische
Geschwür im Duodenum, auf dessen Vorhandensein schon
9 Jahre vor dem Tode die in der Anamnese erwähnte Hämoptoe
hinweist; dieses drang in seinem chronischen Verlauf dann wie
ein Krater in die Tiefe und führte in der anstossenden Umgebung
zur produktiven Entzündung der Dünndarmserosa und des be¬
nachbarten Pankreasbindegewebes und später zur festen
Verwachsung beider. Durch die weitgehende narbige
Schrumpfung des neugebildeten Bindegewebes wurde einmal
das Darmlumen an dieser Stelle eng zusammengezogen, und
vom Pankreas wurde einer der grösseren Aeste des Ausfüh¬
rungsganges abgeschnürt, der sich durch die nicht sistierte Se¬
kretion schliesslich zu der erwähnten Zyste erweiterte. Diese
stülpte, dem geringsten Widerstand folgend, bei ihrem Wachs¬
tum die Darmwand ein und verengte nun ihrerseits das Darm¬
lumen bis fast zur Unwegsamkeit. Die Folge war die enorme
Erweiterung des oberen Duodenums, die Erschlaffung des Py¬
lorus und die Ektasie des Magens, der mit dem oberen Duo¬
denum nach Ausschaltung des Pylorustonus einem einzigen
schlaffen Sack glich.
Alle diese Störungen lagen eigentlich für eine Operation
sehr günstig; man brauchte die gefährliche Resektion nicht zu
No. 44.
wählen, konnte bei dem ungewissen Befund eine Pyloroplastik
umgehen und sich auf die leichteste, gebräuchlichste und nach
den Statistiken ungefährlichste Methode der Gastroentero¬
stomie beschränken. Die neue Verbindung zwischen Magen
und Darm gelang und hätte den Patienten retten können, aber
das Dazwischentreten der Parotitis und Pneumonie verdarb das
Resultat.
Es ist eben nach dein Urteil von F. F r ä n k e 1 2) auch
heute trotz der vervollkommneten Technik die Gastroentero¬
stomie nicht als eine völlig lebenssichere Operation zu be¬
zeichnen, da sie immer noch einen gewissen Grad von Gefahr
für den Patienten bedingt. So hat z. B. jüngst, neben den
häufiger vorkommenden Störungen des Wundverlaufs, eine
Arbeit von Tiegel aus der Klinik v. M i k u 1 i c z’ in
Breslau 3) darauf hingewiesen, dass es nach Gastro¬
enterostomie zur Bildung von peptischen Geschwüren im
Jejunum — vielleicht durch Herabfliessen des sauren Magen¬
saftes? — kommen kann, und diese sogar nach der Bauch¬
höhle perforieren können. Und in Heft 52 der „Wiener
klin. Wochenschr.“ vom Jahre 1904 hat Wagner aus der
Klinik v. Eisei he rgs in Wien an der Hand von 5 Fällen
gezeigt, dass die im vorliegenden Fall aufgetretene Kompli¬
kation, Parotitis allein oder mit konsekutiver Aspirationspneu-
rnenie, im Gefolge einer Darmoperation stattfinden und selbst
zum Tode führen kann.
Ich will dahingestellt sein lassen, ob im vorliegenden
Fall ein Erbrechen vorgekommen ist, ob nicht vielleicht
die Pneumonie indirekt die Folge des durch die Pa¬
rotitis erschwerten Schluckaktes gewesen ist und ohne diese
nicht aufgetreten wäre. Die Bedingungen für das Entstehen
einer Parotitis waren jedenfalls in der Operation an sich ge¬
geben, und die Entstehung keinesfalls umgekehrt. Wagner
betont besonders früheren Autoren gegenüber, dass eine
postoperative Entzündung der Ohrspeichel¬
drüse unabhängig von einer hämatogenen Infektion
und auch bei anderen Eingriffen als an solchen der
Genitalorgane auftrete. Wenn man die in seiner Arbeit
erwähnten Versuche — nach Pawlow, Berth und
T r i o 1 o — in Betracht zieht, dass bei Eröffnung der
Bauchhöhle und Hervorziehen von Darmteilen eine Herab¬
setzung der Speichelsekretion erfolgt, dass die Chloroform¬
narkose auf die Speichelabsonderung lähmend wirkt, dass
frischer Speichel ältere Kulturen tötet, das Wachstum von
jungen hemmt, und dass das Wirksame im Speichel der Schleim,
die Parotis aber eine reine Eiweissdrüse ist, so erklärt sich
das Auftreten einer Parotitis am 4. Tage post operationem auch
ohne jede andere Aetiologie wohl hinreichend. Von allen in
der Literatur angeführten Fällen will Wagner nur 43 als
reine „postoperative Parotitiden“ gelten lassen. Ich glaube,
dass sich obiger Fall unbestritten diesen anreihen lässt.
Vergleicht man mit dem anatomischen Befund die
klinischen Erscheinungen, so begreift man, warum die Diagnose
am Lebenden schwankte, und weder die Art der Schmerzen
noch die chemische Untersuchung des Magensaftes, noch die
äussere Palpation, für die ja der gesamte im Bereich der Narbe
liegende Bezirk zu klein war und hinter dem linken Leber¬
lappen im horizontalen Teil des Duodenums zu versteckt lag,
Aufschluss geben konnte. Eher hätte das negative Resultat der
direkten Abtastung der inneren und äusseren Magenwand bei
der Operation den Gedanken an die Möglichkeit wenigstens
eines vernarbten Duodenalgeschwüres wachrufen können,
denn gar zu selten sind diese Ulcera nicht, wie neben älteren
Arbeiten eine neuere im Februarheft des „Lancet“ von B. J.
A. M o y n i h a n „On duodenal ulcer“ beweist, der 52 selbst
operierte Fälle aufzählt und aus anderen Statistiken 492 Fälle
zusammensteilt, von welch letzteren 442 im ersten Abschnitt
des Duodenums ihren Sitz hatten und nur 38 im zweiten und
12 im dritten und vierten4).
Immerhin wäre das auch intra vitam eine Wahr¬
scheinlichkeitsdiagnose geblieben. Denn, wie
2) Festschrift für G. Merkel (Deutsches Archiv für klin. Med.,
Bd. 84) „Beitrag zur Behandlung der nicht karzinomatösen Pylorus¬
stenose durch Gastroenterostomie“.
3) Grenzgebiete der Medizin und Chirurgie XIII, 5, 1904.
4) Zitiert nach Zentralblatt für innere Medizin No. 4L 1905.
3
2154
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
Mikulicz im Handbuch der praktischen Chirurgie (3. Bd.,
2. Teil) hervorhebt, ist das Bild der suprapapil¬
lären Stenose dem der Pylorusstenose fast
gleich, da es nicht allein zur Erweiterung des oberhalb
gelegenen Darmabschnittes, sondern auch zur Insuffizienz des
Pylorus und Ektasie des Magens kommt. Während nun bei
einer irgendwie bedingten Stenose unterhalb der Papille dem
erbrochenen oder ausgeheberten Mageninhalt stets Galle bei¬
gemengt ist, fehlt dieses wichtige diagnostische Hilfsmittel bei
allen suprapapillären Stenosen, weil das Duodenum bis zur
Papille dem Magenschleim keine charakteristischen Bestand¬
teile hinzufügt. v. Mikulicz ist daher der Ansicht, wenn
nicht etwa, was bei mageren Personen möglich sei, die Kon¬
turen des ausgedehnten Magens samt Duodenums durch
Blähungen sichtbar werden, dass die Diagnose der supra¬
papillären Stenose gegenüber der der Pylorusstenose nicht
zu stellen sei.
Vielleicht aber ist sie nach dem Gesagten, wenn ihr Vor¬
kommen bekannter ist, eben per exclusionem zu er-
schliessen.
Ich möchte nicht schliessen, ohne den Hinweis, dass
auch solche Fälle für strenge Alkoholstatistiken zu den Schädi¬
gungen durch den Alkohol gerechnet werden können.
Aus der Kgl. medizinischen Poliklinik in München (Vorstand:
Prof. Dr. R. M a y).
Aneurysma der hinteren Ventrikelwand des linken
Herzens.
Von Dr. M. Riehl.
Wandständige Herzaneurysmen können in jedem Alter
Vorkommen, treten aber vorzugsweise bei Männern mittleren
und höheren Alters auf. Meist sitzen sie an der H e r z s p i t z e
oder an dem benachbarten Teil der linken vor¬
deren Herzwand. Der Grund hierfür liegt neben anderen
Ursachen hauptsächlich in Zirkulationsstörungen (Embolie,
Thrombose etc.) im Ramus anterior der Arteria coronaria
sinistra, die diese Muskelpartien gewissermassen als End¬
arterie versorgt.
Herzaneurysmen der linken, hinteren Ventrikel-
w a n d gehören zu den grössten Seltenheiten, da die Hinter¬
wand des linken Herzens 2 Vasa nutrientia besitzt: die Rami
posteriores der rechten und linken Koronararterie. Es kann
sich also an dieser Stelle bei Obliteration des e i n e n Arterien¬
astes ein Kollateralk reislauf ungleich leichter ent¬
wickeln als im Gebiet des Ramus anterior der Arteria coronaria
sinistra.
In unserem Fall handelt es sich um einen fast 80 jährigen
Patienten (ehemaliger Gastwirt), der seit Jahrzehnten an Lungen¬
emphysem und Arteriosklerose litt. Die Autopsie ergab eine fast
a b
g 6, li
a = Sodennknopf am Thrombus, b = Aortenwand, c = L. Ventrikel und Septum,
d = Herzspitze, e = Herzspitze, f = Kleinere Aneur.-Hälfte. g = Grössere Aneur.-
Hälfte. h = Trabekelring.
vollständige Verlegung des Ramus posterior der Arteria coronaria
dextra durch Thrombose und ein fast hühnereigrosses wandständiges
Herzaneurysma, das nicht rupturiert war. Rupturen des Aneurysma¬
sackes sind ja im allgemeinen selten, weil der vom Aneurysmasack
ausgehende Reiz gewöhnlich frühzeitig eine Verklebung mit dem
Herzbeutel und dessen nächster Umgebung zur Folge hat — in ge¬
wissem Sinne also eine die drohende Gefahr der Verblutung auf¬
haltende Schutzwehr des Organismus.
Makroskopischer Herzbefund: Das Herz war an der
Aneurysmastelle mit seiner Umgebung, dem Herzbeutel und der
Pleura des Zwerchfells fest verwachsen, so dass die Lösung grosse
Schwierigkeiten bereitete und kleinere Eröffnungen des Aneurysma¬
sackes nicht zu vermeiden waren. Es ist in allen Durchmessern,
namentlich aber im Breitendurchmesser — bis nahezu Zweifaust¬
grösse — vergrössert. Im rechten Ventrikel wie im rechten Vorhof
findet sich eine mässige Menge blutigen Inhalts.
Die Herzmuskulatur ist von brüchiger Konsistenz. Die Pupillar-
muskeln sind beiderseits gut entwickelt, besonders im linken Ven¬
trikel; desgleichen die Trabekel. Die Wand des Septum ventriculorum
und des linken Ventrikels ist beträchtlich verdickt. Die Klappen der
Aorta enthalten knötchenartige Auflagerungen, die sich hart anfühlen.
Beim Durchschneiden dieser Knötchen erweisen sich dieselben als
kalkhaltige Einlagerungen. Die Aorta weist in ihrer Wandung zahl¬
reiche hirsekorn- bis fünfpfennigstückgrosse Kalkeinlagerungen auf,
die teils brüchig erweicht sind, teils in grösseren Massen konfluieren.
Die Wandung der Aorta selbst ist anämisch, verdickt. Ihr Lumen er¬
scheint vergrössert. Die Mitral- und Trikuspidalklappen sind zart
und normal.
Die rechte Ventrikelwand ist ebenfalls verdickt. Die Kranz¬
arterien sind stark sklerosiert. In der rechten Koronararterie (Ramus
posterior) findet sich 4Vg cm von der Einmündungsstelle in die Aorta
ein 1 cm langer, geschichteter Thrombus von rötlichbrauner Farbe
und harter Konsistenz, der das Lumen der Arterie fast völlig ver-
schliesst. Die linke Koronararterie ist in ihrem ganzen Verlauf frei
und durchgängig.
An der hinteren unteren Wand des linken Ven¬
trikels findet sich eine gut hühnereigrosse, läng¬
lich ovale, sackartige Ausbuchtung, die an manchen
Steilen derb, an anderen fast papierdünn erscheint. Die Geschwulst
erweist sich als ein Aneurysma, das mit seinem Längsdurchschnitt
fast parallel zur linken Ventrikelhöhle steht und durch einen ungefähr
dreimarkstückgrossen, ziemlich starren Trabekelring abgeschnürt ist.
Am hinteren Pol des Aneurysmas befindet sich eine kirschgrosse rund¬
liche Ausbuchtung. Seine Innenfläche selbst ist teils glatt, teils rauh,
mit deutlichen weisslichen Kalkeinlagerungen.
Mikroskopischer Befund: Die Aneurysmawand selbst
besteht aus dichten Maschen fibrillären Bindegewebes und lässt an
einigen Stellen zellreichere Bindesubstanz erkennen. Nach dem
Inneren des Aneurysmasackes zu erweitern sich die Maschen zu
klaffenden Lücken, an einer Stelle zeigen sich zahlreiche, in grossen
Zügen auftretende Fäulnisbakterien (Leichenerscheinung). Die Aussen-
seite der Aneurysmawand bildet ein weitmaschiges dünnes fibrilläres
Bindegewebe. An einigen Stellen sind deutlich die Reste von quer¬
gestreifter Muskulatur erhalten. Die Uebergangsstelle des Aneurysma¬
sackes zur Herzmuskulatur zeigt weniger fibrilläres Bindegewebe, das
die in grosser Menge erhaltenen Herzmuskelbündel umschliesst. Die
Flerzmuskulatur selbst ist teils im Zustand der trüben Schwellung
oder fragmentiert, teils gut erhalten. Die Kerne der Muskulatur
liegen häufig zentral, zumeist jedoch lateral.
Diagnose: Hypertrophia et dilatatio cordis idiopathica.
Sclerosis Aortae et art. coronar. cord. utr. Myodegeneratio. T h r o m -
bosis ram. post. art. coron. dextra e. Aneurysma
ventriculi cordis sinistri.
Vom klinischen Standpunkt aus erweckt die Frage
unser Interesse, ob es wohl möglich gewesen wäre, diese Art
von Herzerkrankung zu diagnostizieren. Die Diagnose Herz¬
aneurysma ist in vivo erst einmal, wie wenigstens aus der
Literatur ersichtlich, und zwar von V o e 1 c k e r (Aneurysm of
the heart; Transact of the pathol. Society of London, 1902) ge¬
stellt und durch die Obduktion späterhin auch bestätigt
worden.
Ana m n e s t i s c h konnten die beim Kranken auftreten¬
den Anfälle von Schwerat m i g k e i t und das
Druckgefühl auf der ßrust zur Diagnose eventuell
verwertet werden, wurden jedoch auf die Arteriosklerose zu¬
rückgeführt. Die bei fast allen Herzaneurysmen vorkommen¬
den Schmerzen in der Herzgegend, die meist bis in
die Arme ausstrahlen, fehlten bei unserem Patienten voll¬
kommen.
Objektiv konnte keine Vergrösserung der
H e r z f i g u r weder nach rechts noch nach links (Lungen¬
emphysem) konstatiert werden. Auch die Röntgenographie des
Herzens hätte für die Diagnose: Herzaneurysma vermutlich
keine Stütze geboten, da dasselbe an der hinteren, unteren Ven¬
trikelwand sass. Wohl konnten die Dyspnoe und Zya¬
nose des Patienten, ferner der kleine Puls und die Ge-
30. Oktober 1906.
rausche über den Herzventrikeln an das Vor¬
handensein eines Herzaneurysmas denken lassen, doch wurden
diese Erscheinungen als eine Folge der allgemeinen Sklerose
angesehen. Das von K a s e m - B e c k angegebene, ziemlich
zuverlässige Symptom bei Herzaneurysma, falls die anderen
charakteristischen Erscheinungen nicht fehlen : kräftige
Herzaktion mit starker Hebung des Inter¬
kostalraumes — kleiner Puls war in unserem Fall
belanglos, da bei Uebernahme der Behandlung des Patienten
Kompensationsstörungen Vorlagen.
Der sich eingehender für diesen seltenen Fall inter¬
essierende Leser sei auf die demnächst erscheinende Inaugural¬
dissertation von A. Caan: „Ueber wandständige Herzaneu¬
rysmen“ verwiesen.
Die Thätigkeit der Choleraüberwachungssteile Küstrin
in den Monaten September, Oktober, November 1905.
Von Stabsarzt Dr. Peters in Magdeburg.
Wenn ich mir im folgenden die Aufgabe stelle, die Einrich¬
tung und Tätigkeit der Stromüberwachungsstelle Küstrin,
welche ich vom 2. September bis 26. November 1905 geleitet
habe, zu schildern, so geschieht dieses nicht etwa in der Voraus¬
setzung, dass die Erfahrungen, welche an dieser Stelle gemacht
wurden, ganz besondere, von den anderen Ueberwachungs-
stellen abweichende seien, sondern lediglich in der Absicht, zu
zeigen, in welcher Weise es möglich ist, die in der Bundesrats¬
sitzung vom 28. Januar 1904 festgesetzte Anweisung zur Be¬
kämpfung der Cholera, soweit sie sich auf die Ueberwachung
des Binnenschiffahrts- und Flössereiverkehrs bezieht, praktisch
durchzuführen. Dass bei der Durchführung einer solchen, für
die Allgemeinheit bestimmten Anweisung im einzelnen Falle ge¬
legentlich kleine Schwierigkeiten entstehen können, ist nur
natürlich und beweist noch keinen Mangel der betreffenden
Anweisung.
Den Inhalt dieser letzteren hier anzuziehen, darf ich mir
wohl versagen; soweit er zum Verständnis des folgenden nötig
ist, dürfte er bekannt sein.
Die guten Erfahrungen, die man vor 12 Jahren bei der Be¬
kämpfung der Cholera mit dem System einer methodischen
ärztlichen Stromüberwachung gemacht hatte, berechtigten ohne
weiteres dazu, dieses bereits als gut erprobte System sofort in
ausgedehntem Masse auch wieder zur Anwendung zu bringen,
als im August 1905 sich die Cholera von neuem in unseren
östlichen Provinzen zeigte. Da als Einschleppungsquelle Russ¬
land angesehen werden musste, so wurden in erster Linie die
aus Russland bezw. von der russischen Grenze herkommenden
schiffbaren Ströme unter Ueberwachung gestellt. Jedoch schon
in kurzer Zeit dehnte sich, entsprechend dem weiteren Auf¬
treten von Neuerkrankungen, das Ueberwachungsgebiet weiter
nach Westen aus, erreichte, dem Lauf der Ströme und Kanäle
folgend, Berlin, um sich schliesslich sogar über dieses hinaus
bis an den unteren Lauf der Elbe zu erstrecken.
Der telegraphische Befehl, die Leitung der Ueberwachungs-
stelle Küstrin sofort zu übernehmen, erreichte mich am 31.
August 1905. Ich begab mich demgemäss am folgenden Tage
nach Frankfurt a. O., um hier durch Herrn Geheim. Regie¬
rungs- und Medizinalrat Dr. B a r n i k folgendermassen über
Situation und Aufgabe des mir zugewiesenen Ueberwachungs-
bezirks aufgeklärt zu werden:
Die Stadt Küstrin, die bekanntlich an der Einmündungsstelle der
Warte in die Oder gelegen ist, i^t ausserordentlich weitläufig ge¬
baut. Die Warte mündet in die Oder in einem sehr spitzen Winkel,
so dass sie die letzte Strecke fast parallel mit der Oder, und zwar
nördlich von ihr verläuft. Auf der Landzunge, die auf diese Weise
zwischen den beiden Strömen entsteht, liegt — und zwar unmittelbar
am rechten (nördlichen) Oderufer — die Stadt Küstrin-Altstadt, klein
und nur wenige Strassen nebst Marktplatz umfassend; sie ist mit
der weit geräumiger und weitläufiger gebauten, am rechten (nörd¬
lichen) Warteufer gelegenen Neustadt durch eine lange über die
Warte führende Brücke verbunden. Beide Stadtteile erfreuten sich
durchaus nicht einer einwandfreien hygienischen Beschaffenheit: In
der Altstadt ist es die Wasserversorgung, welche zu Bedenken Ver¬
anlassung gibt. Die hier bestehende Zentralwasserleitung entnimmt
ihr Wasser dicht oberhalb der Altstadt aus der Oder. Die Reinigung
geschieht durch 2 bombensicher eingedeckte, abwechselnd in Tätig¬
keit befindliche Sandfilter. Der Wasserbedarf ist zeitweise so stark.
2155
dass der Filterdruck erhöht, die Filtriergeschwindigkeit gesteigert
werden muss. Ist die Benutzung filtrierten Flusswassers zu Trink-
und Gebrauchszwecken schon an sich eine nicht mehr ganz auf der
Höhe der Zeit stehende Einrichtung, so muss die oben erwähnte ge¬
legentliche Erhöhung der Filtriergeschwindigkeit — auf über 100 mm
pro Stunde — als ein sehr bedenklicher Uebelstand bezeichnet wer¬
den, was Herr Geheimrat G a f f k y bei Gelegenheit seiner Anwesen¬
heit in Küstrin am 2. September 1905 auch ausdrücklich betont hat.
Wird doch ein absolut sicheres Ausscheiden von Infektionserregern
durch Sandfiltration überhaupt nicht gewährleistet, geschweige denn
durch ungenügend betriebene.
Es war demgemäss auch schon in der Altstadt vor dem Genuss
ungekochten Leitungswassers gewarnt worden. In der zur Altstadt
gehörigen Schlosskaserne war ein Apparat aufgestellt, der das Lei¬
tungswasser kochte und alsbald wieder soweit abkühlte, dass es
unmittelbar nach dem Verlassen des Apparates genussfähig war. Der
Apparat stand unter ständiger Aufsicht eines Feldwebels und wurde
von Mannschaften bedient.
Besser ist die Wasserversorgung der Neustadt. Diese besitzt
eine Grundwasserleitung, welche durch einwandfreie, in der Nähe des
Exerzierplatzes nördlich der Neustadt gelegene Tiefbrunnen gespeist
wird. Hier dagegen lässt die Beseitigung der Fäkalien viel zu wün¬
schen übrig. Es bestehen nämlich allgemein noch Senkgruben, ob¬
wohl eine grosse Anzahl der neueren Häuser mit Wasserklosetts ver¬
sehen ist, deren Inhalt in die Senkgruben geht. Die Folge hiervon
ist, dass der Inhalt der Senkgruben ein ausserordentlich dünner ist
und bei nicht absoluter Dichtigkeit der Umfassungswände sehr leicht
in die umgebenden Erdschichten einsickern kann. Ausserdem füllen
sich infolge der Wasserspülung die Gruben sehr schnell, die recht¬
zeitige Abfuhr kann leicht aus Nachlässigkeit oder Sparsamkeit ver¬
säumt werden, so dass dann die Gefahr gesteht, dass der Gruben¬
inhalt überläuft und sich in Höfe und Rinnsteine und somit in die
Warte ergiesst. Ist nun der Grubeninhalt irgendwie verseucht, so
ist der Weiterverbreitung der Seuche Tür und Tor geöffnet. Gegen
diesen Uebelstand eine endgültige Abhilfe zu schaffen, war in kurzer
Zeit nicht möglich, man konnte nichts tun, als bei den Hausbesitzern
auf regelmässige und rechtzeitige Entleerung der Gruben dringen.
Die Wartemündung liegt zum Glück weit unterhalb der Entnahme¬
stelle der altstädtischen Wasserleitung, so dass eine Infizierung dieses
Leitungswassers durch die Abwässer der Neustadt ausgeschlossen ist.
Da die Verbindung mit den cholerainfizierten Landesteilen in
erster Linie durch den Flusslauf der Warte hergestellt war, so wurde
dicht oberhalb der Neustadt, am rechten Ufer dieses Flusses, und zwar
dicht unterhalb der Einmündungsstelle eines schmalen, schiffbaren
Kanals, des sog. Jungfernkanals, die Ueberwachungsstelle errichtet.
Diese Stelle mussten passieren:
Zunächst alle Fahrzeuge, welche von dem oberen Lauf der
Warte und von der Netze, einem Nebenfluss der Warte, herkamen.
Die Netze war besonders wichtig, weil sie, im Verein mit dem Brom¬
berger Kanal und der Brahe die direkte Verbindung mit der Weichsel,
also mit dem in erster Linie infizierten Gebiet darstellte. Die Warte
aufwärts bis zur Einmündung der Netze waren die Ueberwachungs-
stellen Landsberg und, an der Netzemündung, Zantoch. Von da kamen
dann weiter die Netze stromauf die Stationen Vordämm (bei Driesen),
Filehne, Charnikau, Usch, Netzdamm usw. bis zum Bromberger Kanal
und über diesen hinaus, weiter, von Zantoch aus die Warte aufwärts,
die Stationen Birnbaum, Wronke, Posen usw. Diese grosse Zahl
der Ueberwachungsstellen, welche von den infizierten Gebieten her
eingerichtet waren, lässt es erklärlich erscheinen, dass bei der ver¬
hältnismässig geringen Verbreitung der Cholera die Möglichkeit,
Cholerakranke oder -verdächtige auf den von oberhalb kommenden
Flössen und Schiffen zu finden, für die schon weiter unterhalb ge¬
legenen Stationen, wie auch Küstrin, eine recht geringe war. Aus¬
geschlossen war sie jedoch keineswegs, wie der Fall des Schiffers
3*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
Lehmann beweist, welcher am 15. IX. 05 gesund Küstrin passiert
hatte, auch auf den nächstfolgenden Stationen noch nicht angehalten
war, erst in Berlin erkrankte und am 22. IX. starb. Er war von Brom¬
berg hergekommen durch den Bromberger Kanal, Netze, Warte. So¬
viel über die Stromkontrolle von oberhalb her.
Was den Verkehr von stromabwärts her, also von der Oder her
betraf, so gab es auch hier verschiedene Eahrtrichtungen: Zunächst
den Verkehr von der Oder selbst — sei es nun von ober- oder unter¬
halb — nach dem Osten, meist wohl nach der Weichsel. Weiterhin
aber den viel wichtigeren Verkehr von Westen her, d. h. durch den
nördlicher gelegenen Finow-Kanal und den südlicher gelegenen Fried-
rich-Wilhelms-Kanal. Die Küstrin nächst benachbarten Ueber-
wachungsstellen waren hier stromabwärts Hohenwutzen, an dem
Eintritt des Finow-Kanals in die Oder, und stromaufwärts zunächst
Frankfurt a/O., dann Brieskow an der Einmündung des Friedrich-
Wilhelms-Kanals. Auch hier setzten sich nach den beiden eben ge¬
nannten Richtungen die Ueberwachungsstellen fort, bis in den Ver¬
lauf der Havel resp. Spree usw.
Ausser diesen festliegenden Ueberwachungsstellen wurde noch
von diesen Stellen aus eine ärztliche Ueberwachung durch Dampfer
ausgeübt. So fuhr jeden Morgen von der etwas unterhalb der Ueber-
wachungsstelle Küstrin gelegenen Strassenbriicke ein Arzt mittels
Dampfers stromauf bis Fichtwerder (etwa die Hälfte der Entfernung
bis zur nächsten Ueberwachungsstelle Landsberg) und am selben
Tage wieder zurück. Von der 50 km stromabwärts an der Oder ge¬
legenen Ueberwachungsstelle Hohenwutzen fuhr jeden zweiten Mor¬
gen ein Arzt die Oder stromauf bis zur Wartemündung und dann noch
eine kurze Strecke in die Warte hinein bis zu der erwähnten Strassen-
brücke. Dieser Arzt konnte immer erst am nächsten Tage nach Hohen¬
wutzen zurückfahren, da die Strecke zu lang war. Aehnlich fand
auch anderwärts die Stromkontrolle durch Dampfer statt.
Die Ueberwachungsstelle Küstrin war nun folgendermassen aus¬
gerüstet: An der bereits erwähnten Stelle unterhalb der Einmündung
des Jungfernkanals, war ein Vermessungsschiff, eine sog. Arche, ver¬
ankert worden, welche von seiten der Strombauverwaltung für die
Zwecke der Ueberwachungsstelle zur Verfügung gestellt war. Dieses
Wohnschiff, welches mit dem Land durch zwei Laufstege verbunden
war, enthielt folgende Räume. Einen heizbaren zweifenstrigen Raum,
welcher für den Aufenthalt der zwei Aerzte und zur Erledigung des
Schreibwesens bestimmt war. Es befand sich in ihm unter anderem
ein langer glatter Zeichentisch, an welchem 2, zur Not auch 3 Per¬
sonen schreiben konnten, und ein zur Aufbewahrung der vorrätigen
Desinfektionsmittel dienender verschliessbarer Schrank. An diesen
Raum schloss sich 1 kleinerer für den Sanitätsunteroffizier, 2 kleinere
Räume, welche zu vorübergehendem Aufenthalt für Ansteckungs¬
verdächtige dienen sollten, d. h. für Gesunde, die aus irgend einem
Grunde als verdächtig angesehen werden mussten. In diesen beiden
Räumen konnten zur Not 8 Mann untergebracht werden und auch
schlafen. Bettstellen, Matratzen und auch wollene Decken waren vor¬
handen. Schliesslich befand sich am anderen Ende des Schiffes ein
kleiner Raum mit Kochherd, wo sich bei schlechtem Wetter das
sonstige Personal aufhielt, wo sich diese Leute auch Kaffee kochen
konnten. Dieser Raum, wie auch die zuerst erwähnte Schreibstube,
waren unmittelbar von aussen zugänglich. Diese Arche war mit
weisser Flagge und Laterne versehen, ausserdem gehörten zu ihr
2 Handkähne.
Das Personal der Ueberwachungsstelle setzte sich wie folgt zu¬
sammen:
L der leitende Arzt, welcher die regelmässigen Revisionen der
durchfahrenden Fahrzeuge ausführte;
2. der zweite Arzt, welcher den Dienst auf dem Dampfer versah;
3. 2 Gendarmen, der eine für den Dienst auf der Ueberwachungs¬
stelle, der andere für den Dampfer;
•L der Sanitätsunteroffizier zur Leitung der Desinfektionen, zur
Erledigung der Post, schriftlichen Arbeiten, Listenführung usw.;
5. 2 Arbeiter als Bootsleute für den einen Handkahn, in welchem
Arzt und Gendarm an die zu revidierenden Fahrzeuge herangerudert
wurden;
6. 2 Arbeiter, welche dazu bestimmt waren, etwaige Cholera¬
kranke und -verdächtige mittels des zweiten Kahnes und einer Trage
ins Seuchenlazarett zu überführen. Von letzterem später.
Die Gendarmen und Arbeiter, welche sämtlich in Küstrin selbst
oder dessen Nähe wohnten, schliefen und beköstigten sich in ihren
Wohnungen, der Sanitätsunteroffizier, welcher von auswärts kom¬
mandiert war, schlief in der Arche, die beiden Aerzte wohnten in
der Neustadt.
Oberhalb und unterhalb der Ueberwachungsstelle waren je eine
weithin sichtbare Tafel mit der Inschrift: „Halt! Ueberwachungsstelle!
Wasser für Schiffer!“ angebracht. Das Wasser wurde von den unter
Ziff. 6 genannten Arbeitern in einer fahrbaren Eisentonne aus einem
etwa lü Minuten entfernten Zapfhahn der neustädtischen Leitung
herangefahren. In unmittelbarer Nähe des Ufers befanden sich zwar
mehrere Brunnen, dieselben waren mir aber sofort als nicht einwand¬
frei, weil zu flach, bezeichnet worden.
Ein Raum zum Aufenthalt für Cholerakranke oder Cholera¬
verdächtige war in der Arche nicht vorgesehen, denn diese engen, mit
kleinen Fenstern versehenen, nicht heizbaren Räume hätten sich zur
Unterbringung von Kranken überhaupt nicht geeignet. Als Raum für
Kranke war vielmehr die städtische Seuchenbaracke in Aussicht ge¬
nommen. Diese Baracke liegt am rechten Oderufer, etwa % km
unterhalb der Altstadt in der Nähe der Ostbahnbrücke, war also von
der Ueberwachungsstelle ziemlich weit entfernt. Der Krankentrans¬
port war derart in Aussicht genommen, dass die Kranken auf einer
in der Arche vorrätig gehaltenen Trage mittels des einen Hand¬
kahns zunächst stromab bis zur Ostbahnbrücke gerudert und von da
zu Lande quer über die eingangs erwähnte Landzunge hinweg in die
Baracke getragen werden sollten. Der Wassertransport würde 2 km,
der Landtransport 900 in betragen haben! Einfacher würde sich in
vielen Fällen der Transport wohl in der Gestalt geregelt haben, dass
man das betreffende Fahrzeug selbst bis an die Ostbahnbrücke
stromab hätte schwimmen lassen, und dann erst den Kranken aus dem
Fahrzeug mittels der mitgenommenen Trage ans Land gebracht und
in die Baracke transportiert hätte, oder hierzu den vorhandenen
Krankenwagen des Seuchenlazaretts benutzt hätte. Dieses Verfahren
würde dem Kranken ein doppeltes Umladen erspart haben und hätte
ausserdem den Vorteil gehabt, dass man die anderen männlichen
Insassen des betreffenden Fahrzeuges zur Unterstützung beim Ans¬
landsetzen und Transportieren des Erkrankten mit hätte anstellen
können. Da diese Leute ja ohnehin, weil ansteckungsverdächtig,
hier zu einer mehrtägigen Beobachtung hätten zurückgehalten werden
müssen, so würde meines Erachtens gegen eine Verwendung der¬
selben beim Transport des Kranken, mit welchem sie ja nun doch
einmal in Berührung gekommen waren, nichts einzuwenden gewesen
sein. Den doch recht weiten und umständlichen Transport den
zwei hierfür angenommenen Arbeitern allein zu überlassen, würde
kaum möglich gewesen sein. Ich wüsste wenigstens nicht, wie zwei
Mann allein, die nicht einmal von Beruf Krankenträger sind, das
doch recht schwierige Umladen eines Kranken von einem Schiff in
den Handkahn und von diesem ans Land hätten bewerkstelligen sollen.
Die Desinfektion des betreffenden Fahrzeuges, an dessen Bord der
Sanitätsunteroffizier mit den nötigen Desinfektionsmitteln bereits von
der Ueberwachungsstelle aus mitfahren musste, hätte dann dort, an
der Ostbalmbriicke der Warte stattfinden können, das betreffende
Fahrzeug konnte am nächsten Morgen durch unseren Dampfer wieder
zur Ueberwachungsstelle stromauf geschleppt werden, damit es hier
unter besserer Aufsicht war. Die mehrtägige Ueberwachung der An¬
gehörigen wurde derartig in Aussicht genommen, dass, wenn es sich
um ein Schiff handelte, die Insassen nach der Desinfektion einfach
an Bord blieben, da wir Frauen und Kinder nicht gut in den Ueber-
wachungsräumen unserer Arche unterbringen konnten. Gemäss den
Bestimmungen der „Anweisung“ ist dieses ja auch zulässig. Flösser
dagegen hätten gut in unseren dafür bejeit gehaltenen Räumen unter¬
gebracht werden können, hätten dort zweifellos besser gelegen, als
auf ihren Flössen in den nichts weniger als wetterfesten Strohhütten
mit dem stets durchnässten Lagerstroh. Die Desinfektion der Fahr¬
zeuge musste, wie bereits erwähnt, dem Sanitätsunteroffizier über¬
lassen bleiben, welchem ich die Fähigkeit, solche Desinfektionen aus¬
zuführen oder zu leiten, Zutrauen konnte. Natürlich würde man auch
hierbei das betreffende Fahrzeugpersonal zur Hilfe angestellt haben,
loh selbst konnte die Desinfektion nicht leiten, wenn nicht bei dem
besonders in den ersten Wochen sehr starken Verkehr entweder eine
böse Stauung eintreten oder ein Teil der Fahrzeuge unkontrolliert
durchfahren sollte. Die Bestimmung der Anweisung, wonach der Arzt,
ehe er geschultes Personal zur Verfügung hat, die Desinfektion selbst
leiten soll, würde sich also in Küstrin bei dem starken Verkehr kaum
ohne grosse Unzuträglichkeiten haben durchführen lassen. Ich kann
daher jedem, der eine Ueberwachungsstelle bei starkem Verkehr zu
leiten hat, den Rat geben, sich möglichst früh mit einer im Desinfi¬
zieren geübten Persönlichkeit zu versehen oder wenigstens, wo dieses
angängig, eine solche kontraktlich zu verpflichten.
Nun noch einige Worte über das Seuchenlazarett: Es war dieses
eine geräumige Holzbaracke, welche schon vor mehreren Jahren von
der Stadt Küstrin zu Seuchenzwecken errichtet war und daher in
erster Linie für die Stadt zur Benutzung bestimmt war. Der Magistrat
hatte sich jedoch in dankenswerter Weise sofort bereit erklärt, die
Baracke zum Teil auch für die Ueberwachungsstelle zur Verfügung zu
stellen. Auch der Garnison Küstrin waren einige Betten zur Ver¬
fügung gestellt unter der ganz gerechtfertigten Bedingung, dass für
Militärpersonen kein gesonderter Raum beansprucht werden sollte.
Diese Baracke enthielt 2 grosse voneinander getrennte Räume für
je 20 Betten, ausserdem eine Anzahl kleinerer Räume für Personal,
Küche, Bädei usw. Auch gehörte zu der Baracke ein Krankenwagen,
eine Räderfahrbahre und ein Dampfdesinfektionsapparat. Man sieht,
die Baracke war gut ausgestattet und dieser Umstand rechtfertigte
es, dass man sie trotz der weiten Entfernung auch für die Zwecke
der Ueberwachungsstelle in Aussicht nahm. Denn eine auch nur an¬
nähernd so gute Versorgung der Kranken hätte sich in unmittelbarer
Nähe der Arche nicht bewerkstelligen lassen. Hier standen nur kleine,
wenig geräumige, eng bewohnte Häuser, die sich für solche Zwecke
kaum hätten herrichten lassen. Der Krankentransport war ja aller¬
dings lang, hatte aber immer noch den Vorzug, dass or nicht durch
bewohnte Gegenden ging. Eine Schwierigkeit bestand freilich auch
hier noch, nämlich die Frage, wie die Behandlung etw^aiger Kranker
hätte stattfinden sollen. Ein Krankenwärter wurde allerdings von
dei Stadt gestellt, auch die Garnison hatte sich, soviel ich weiss,
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2157
bereit erklärt, einen Sanitätsunteroffizier oder Militärkrankenwärter
zu stellen, im Notfälle hätte auch der Sanitätsunteroffizier der Ueber-
wachungsstelle, soweit er nicht durch den Dienst hierselbst in An¬
spruch genommen war, zur Aushilfe einspringen können. Wie aber
stand es mit der ärztlichen Behandlung? Die Stadt hatte zunächst
einen Arzt hierfür nicht gewinnen können, die Küstriner Aerzte lehn¬
ten aus begründeter Besorgnis, ihre Praxis zu schädigen, ab, auch
von auswärts fand sich niemand bereit. Fürs Erste hätte ja der 2. Arzt
der Ueberwachungsstelle die Behandlung insoweit übernehmen
können, dass er früh morgens, vor Beginn seiner Dampferfahrt und
in den späten Nachmittagsstunden, nach beendeter Fahrt, eine Kran¬
kenvisite gemacht hätte, ob ihm aber hierbei Zeit geblieben wäre,
die durch Polizeiverordnung vorgeschriebenen Listen, Journale und
Krankengeschichten zu führen, erscheint mir zweifelhaft. Und weiter,
wer versorgte in der Zwischenzeit, in der der Arzt auf der Dampfer¬
fahrt war, die Kranken, welche doch jeden Moment in die Lage
kommen konnten, dringend der sofortigen ärztlichen Hilfe zu be¬
dürfen? Schliesslich erledigte sich aber auch diese Schwierigkeit,
indem sich der Kommunalarzt, Herr Dr. Nieprasch, bereit erklärte,
die Behandlung etwaiger Cholerakranker und -verdächtiger zu über¬
nehmen. Es würde also dieser Zweig der Tätigkeit für die beiden
Ueberwachungsärzte ausgefallen sein, was ja zweifellos auch sein
Gutes hatte.
Wie regelte sich nun der laufende Dienst auf der Ueberwachungs¬
stelle, d. h. die regelmässige Kontrolle der vorüberfahrenden Fahr¬
zeuge? Da die „Anweisung“ des Bundesrats gestattet, zu Cholera¬
zeiten dem Schiffer- und Flösserverkehr des nachts gewisse Be¬
schränkungen aufzuerlegen, so hatte eine Polizeiverordnung aus
Frankfurt a/O. bestimmt, dass die Revisionen nur am Tage, und zwar
im August September von 6 Uhr früh bis 8 Uhr abends, in den
Sommermonaten von 5 Uhr früh bis 9 Uhr abends, von Oktober ab
von 7 Uhr früh bis 6 Uhr abends stattfinden sollten. Ausserhalb dieser
Zeiten durfte kein Fahrzeug eine Ueberwachungsstelle passieren. Ich
möchte hier gleich einschalten, dass sich in den Monaten September
und den folgenden dieser Dienst mit dem oben aufgeführten Personal
ohne Schwierigkeiten leisten liess. Für die Sommermonate hätte sich
aber zweifellos eine Vermehrung des Aerzte- und sonstigen Personals
notwendig gemacht. In anderen Bezirken ist übrigens, soviel ich
weiss, Nachtdienst eingerichtet gewesen. Eine Revision bei Dunkel¬
heit auf dem Wasser hat jedoch entschieden etwas Missliches, wovon
ich mich selbst in den dunklen Novembernachmittagen gegen Schluss
der Ueberwachungszeit wiederholt überzeugt habe.
Der Dienst auf den Ueberwachungsstellen schien sich nun zu¬
nächst ohne Schwierigkeiten zu gestalten. Sowie sich ein Fahrzeug
von oben oder unten her zeigte, begab der leitende Arzt sich mit
dem Gendarm in den Handkahn, in welchem mehrere Eimer Wasser
und ein mit gelöschtem Kalk gefülltes Gefäss mitgenommen wurde,
um die Schiffer nach Bedarf mit Trinkwasser und Kalk für die
Latrinen versehen zu können. Die Flösse, welche ja in der Regel
weder eine Latrine besitzen, noch Eimer für Wasser mit sich führen,
waren schon weit oberhalb im oberen Netzelauf durch die dortige
Regierung gratis mit mehreren Eimern versehen worden, die in
Hohenwutzen, der letzten Station vor dem Finowkanal, wieder abge¬
liefert wurden. Als Folge dieser an sich durchaus zweckmässigen
Einrichtung möchte ich noch erwähnen, dass sich in Hohenwutzen
nunmehr in kurzer Zeit hunderte von Eimern ansammelten, so dass
die dortigen Ueberwachungsärzte tatsächlich nicht wussten, wie sie
diese Fülle sicher unterbringen sollten. Es ist hier Abhilfe geschaffen
worden, indem die Eimer durch die Revisionsdampfer allmählich
wieder rückwärts transportiert wurden. Für die Verabfolgung von
Trinkwasser hatten die Flösser und Schiffer, die sonst über die Re¬
visionen oft sehr ungehalten waren, in der Regel Verständnis, die
Kalkeimer sahen jedoch häufig so unbenutzt aus, dass ich den Ein¬
druck hatte, als würden sie sorgfältig für die Revisionen aufgehoben,
während die Fäkalien nach wie vor ins Wasser entleert wurden.
Uebermässig gross schien das Verständnis für alle diese Massnahmen
im allgemeinen nicht zu sein. Zum Teil war dieses aber wohl durch
den Umstand bedingt, dass die Cholera sich doch immer nur ver¬
einzelt gezeigt hatte, so dass den Leuten diese hygienischen Mass¬
nahmen wohl als übertrieben erscheinen mochten. Die Unter¬
suchung der Personen konnte, besonders bei den Flössern, nur in¬
sofern stattfinden, dass man zunächst nach dem Kontrollzettel fest¬
stellte, ob die Personenzahl mit den Angaben der letzten Unter¬
suchungsstelle übereinstimmte, sich nun die einzelnen Personen, in
den Kähnen natürlich auch Frauen und Kinder, vorführen liess und
dieselben auf verdächtige Krankheitssymptome hin ansah und unter¬
suchte. Erst wenn sich nun irgend welche Verdachtsmomente er¬
gaben, untersuchte man genauer. Bei den Flössern war eine solche
genaue Untersuchung natürlich nur auf der Arche möglich, da auf den
Flössen sich kein abgeschlossener Raum befindet und früh morgens
meist schon eine empfindliche Kälte herrschte. Aber auch ganz ab¬
gesehen hiervon würde eine genaue Untersuchung jeder einzelnen
Person gar nicht durchzuführen gewesen sein, da das, wie wir sehen
werden, zu einer hochgradigen Verkehrsstörung geführt hätte. Der
Verkehr war nämlich nicht nur an sich ziemlich stark — wir hatten
an einem sehr verkehrsreichen Septembertage 52 Schiffe und 28 Flösse
mit insgesamt über 280 Personen zu untersuchen — , sondern auch
noch sehr unregelmässig. Diese Unregelmässigkeit war zum Teil
durch die Witterungsverhältnisse bedingt. Hatten wir scharfen West¬
wind, so kamen von stromaufwärts her Kähne nur in sehr geringer
Zahl, da sich diese stromab nur sehr selten schleppen Hessen und
infolgedessen gegen den Wind nur sehr mühsam vorwärts kamen.
Schlug nun der Wind um und kam von Osten, so kamen alle diese
Kähne, die sich etwa in Höhe von Landsberg angesammelt hatten,
in ganz kurzen Abständen und mit vollen Segeln an und wollten, um
den guten Wind ausnutzen zu können, möglichst schnell, womöglich
in voller Fahrt, abgefertigt sein. Letzteres war, da mir nur ein
Handkahn zur Verfügung stand, nicht möglich, da ich zu weit strom¬
abwärts getrieben worden wäre. Eine kleine Dampfbarkasse wäre
im Interesse einer möglichst schnellen Erledigung der Revisionen
zweckmässiger gewesen, hätte auch mehr Schutz gegen die oft schon
recht empfindlichen Unbilden der Witterung geboten. Es war je¬
doch der Strombauverwaltung nicht möglich, mir eine solche zu
stellen, da sie ohnehin schon durch das Stellen zahlreicher Fahrzeuge
aufs äusserste in Anspruch genommen war. Von mehreren anderen
Stationen, z. B. auch von Magdeburg, ist mir bekannt, dass dort
Dampfbarkassen benutzt wurden und infolgedessen ein erheblich
grösserer Verkehr mühelos bewältigt werden konnte. — Eine weitere
Ursache dieses unregelmässigen Verkehrs lag jedoch in der Art und
Weise, wie die Revisionen ausgeübt wurden und in der geographischen
Lage der Ueberwachungsstationen zu einander. Dies hatte folgenden
Zusammenhang: In Zantoch, dem Zusammenfluss der Netze und
Warte, war eine Ueberwachungsstation. Von den die Netze herab¬
kommenden kleinen Flössen zu je 2 Mann Besatzung wurden hier
je 2 Flösse zu einem grossen Wartefloss mit 3 Mann Besatzung zu¬
sammengestellt. Der übrig bleibende 4. Mann schied aus. Durch
dieses Neuzusammenstellen der Flösse entstand jedesmal eine er¬
hebliche Verzögerung, so dass diejenigen Flösse, die nicht im Laufe
des Vormittags Zantoch erreicht hatten, hier erst so spät abfuhren,
dass sie die nächste Ueberwachungsstelle — Landsberg — nicht
mehr vor Schluss der ärztlichen Kontrolle erreichen konnten, also die
Nacht hindurch in Landsberg liegen bleiben mussten. Ein^ bestim¬
mungswidriges Durchfahren der Flösse, wie es auf anderen Stationen
unter dem Schutz der Dunkelheit doch manchmal vorgekommen sein
mag, war wenigstens bis zum 25. September in Landsberg aus¬
geschlossen, weil dort über den Strom eine Pontonbrücke gelegt
war, welche nachts ausschliesslich dem Wagen- und Flussverkehr
diente und unter keinen Umständen zu dieser Zeit Fahrzeuge hin-
durchliess. Die Flösse, die also abends kurz nach 8 Uhr in Lands¬
berg ankamen, hatten zunächst eine ganze Nacht verloren, die später
ankommenden entsprechend weniger. Am nächsten Morgen konnten
die zuerst revidierten Flösse kurz nach 6 (vom Oktober ab nach 7)
Uhr, die zuletzt revidierten unter Umständen, wenn nämlich die Zahl
sehr gross war, erst gegen 8 bezw. 9 Uhr früh von Landsberg ab¬
fahren. Die nächste Ueberwachungsstelle - — Küstrin — war 55 km
abwärts gelegen und konnte bei günstiger Witterung kaum in
13 Stunden erreicht werden. Tatsächlich kamen die ersten Flösse
gegen 10, die meisten erst um Mitternacht in Cüstrin an, wo eine
unter den 4 Arbeitern abwechselnde Nachtwache gebildet war, welche
die Flösser anhielt. Hier mussten diese wieder bis zum nächsten
Morgen warten, verloren also die zweite Nacht. Wenn ich nun am
nächsten Morgen um 6 Uhr an der Warte erschien, fand ich folgende
Situation vor: Die Warte war in ihrer ganzen Breite bis auf eine
Strecke von einigen Hundert Metern stromaufwärts mit Flössen
bedeckt; am 6. September waren es 33, sonst etwa 20 an der Zahl.
Zwischen diesen Flössen standen einige Kähne, womöglich auch noch
ein Dampfer, der zuerst kontrolliert zu werden verlangte, weil seine
Zeit kostbarer sei, wie die der Flösser. Diesen Wunsch konnte man
ihm meist nicht erfüllen, da die Warte, wenigstens stromauf, mit
Flössen bedeckt war. Man hatte nun natürlich das Bestreben, die
Fahrzeuge möglichst in der Reihenfolge ihrer Ankunftszeit zu revi¬
dieren; das machten aber die Flösser selbst unmöglich, da sie, wie
gesagt, statt an den Ufern hintereinander zu halten, sich immer neben¬
einander legten und uns dadurch zwangen, die Kontrolle in der
Reihenfolge auszuüben, wie die Flösse uns gerade am nächsten
standen. Selbst wenn es in einzelnen Fällen möglich gewesen wäre,
jedes einzelne Floss sofort zu erreichen, so wäre das bei Benutzung
des ziemlich schwer beweglichen Handkahnes ein zu grosser Zeit¬
verlust gewesen. Auch hier machte sich das Fehlen einer Dampf¬
barkasse recht unangenehm bemerkbar. Aber noch ein weiterer
Uebelstand trat hinzu. Die Flösser hatten, wenn sie nach so langem
Aufenthalt endlich revidiert waren, natürlich das Bestreben, möglichst
rasch fortzukommen, hielten infolgedessen beim Abfahren nicht die
vorgeschriebenen Abstände von 50 m, gaben dadurch an den strom¬
abwärts befindlichen 3 Wartebrücken zu erneuten Stauungen und
Sperrungen des Fahrwassers Veranlassung und setzten sich durch
dieses vorschriftswidrige Verhalten noch der Möglichkeit einer Be¬
strafung aus. — Auch für die Kähne und besonders die leer gehenden
Dampfer war anfangs die Belästigung durch die Revisionen oft un¬
angemessen gross. Als nämlich einige Tage nach der Eröffnung der
Ueberwachungsstellen auch noch die regelmässige Kontrolle durch
die Ueberwachungsdampfer hinzukam, konnte es passieren, dass ein
Fahrzeug an einem Tage dreimal angehalten und untersucht wurde.
Diesem Uebelstand wurde allerdings sehr schnell abgeholfen durch
eine Verfügung des Regierungspräsidenten, welche befahl, dass alle
Fahrzeuge, welche den Nachweis — auf den Kontrollzetteln — einer
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. -4-1.
um gleichen Tage bereits stattgefundenen Untersuchung erbringen
konnten, an diesem Tage nicht mehr untersucht werden sollten. Auch
in Landsberg besserten sich mit dem 25. IX. die Verhältnisse für die
Schifffahrt, allerdings streng genommen im Widerspruch mit den be¬
stehenden Bestimmungen. An diesem Tage wurde nämlich dort die
Pontonbrücke, die nachts den Fluss völlig gesperrt hatte, abgebrochen
und nunmehr hatte, wie der dortige leitende Arzt berichtete, die
Ueberwachungsstelle keine Möglichkeit, die Fahrzeuge am nächt¬
lichen Durchfahren zu verhindern. Hier fuhr nun am nächsten Morgen
um 6 Uhr ein Arzt mit dem Dampfer den Flössen nach und revidierte
sie nachträglich während der Fahrt, was sogar für die Flösser das
Angenehme hatte, dass sie nicht zu halten brauchten. Diejenigen
Flösse, die der Dampfer aus Landsberg bis Fichtwerder, der Grenze
seines Bezirkes, noch nicht eingeholt hatte, wurden dann von dem
von Kiistrin stromaufwärts fahrenden Dampfer abgefangen. Die
beiden Dampfer trafen sich in der Regel in Fichtwerder. Diese Mass¬
nahmen hatten auch für Küstrin die erfreuliche Folge, dass die Zahl
der in den ersten Morgenstunden zu revidierenden Fahrzeuge sich
etwas verminderte. — Bevor jedoch diese Erleichterung der Nacht¬
schiffahrt in Landsberg eingetreten war, gelangte von Bromberg her
die ziemlich heftige Beschwerde eines Flössers über die Störungen
in Landsberg und Küstrin an den Regierungspräsidenten in Frank¬
furt, in welcher sogar ein Flösserstreik ins Bereich der Möglichkeit
gerückt wurde. Zum Bericht aufgefordert, äusserte ich mich — im
gleichen Sinne wie Landsberg — dahin, dass ein Freigeben der Nacht¬
schiffahrt in Küstrin wohl zulässig sei, da die Fahrzeuge ja tags zuvor
durch die Dampfer untersucht seien und im Laufe des nächsten Tages
unfehlbar in Hohenwutzen, der nächsten Ueberwachungsstelle, unter¬
sucht würden. Die Einführung einer Nachtkontrolle sei nur unter
Vermehrung des ärztlichen und sonstigen Personals möglich. Es
wurde dann auch in der Folge so verfahren, dass des Nachts bis
12 Uhr alle in Küstrin eintreffenden Fahrzeuge durchfahren konnten.
Erst diejenigen, die nach 12 Uhr eintrafen, mussten halten. Es
wurden somit wenigstens die schlimmsten Härten der Kontrolle be¬
seitigt, auch war jetzt morgens die Zahl der Flösse nicht mehr so
gross, so dass dieselben in richtiger Reihenfolge revidiert werden
konnten und zu Verkehrsstörungen nicht mehr Veranlassung gaben.
Durch die bisher beschriebenen Massnahmen war die tägliche
ärztliche Kontrolle sämtlicher in der Fahrt begriffenen Fahrzeuge
nach Möglichkeit gesichert. Aber auch die längere Zeit an Land
liegenden Fahrzeuge, z. B. die Kähne in den Baustellen, konnten durch
die Dampfer regelmässig kontrolliert werden; es hatte das nur den
einen Nachteil, dass man in den längere Zeit an Land liegenden Fahr¬
zeugen selten sämtliche Familienmitglieder zu Hause traf. Einer oder
der andere war sehr häufig zu irgend welchen Besorgungen ab¬
wesend. Gross war dieser Uebelstand übrigens nicht, denn wenn
diese Leute erst einmal mehrere Tage festlagen, also die Absperrungs¬
zeit von 5 Tagen seit ihrer Anwesenheit in etwa von Cholera be¬
troffenen Orten verstrichen war, so war die Möglichkeit einer
Choleraerkrankung immerhin gering, jedenfalls kaum grösser, als wie
bei den sonstigen Anwohnern der Ufer.
Störender war ein anderer Umstand: Die Ueberwachungsstelle
war so gelegen, dass man stromauf zwar eine weite Aussicht hatte
und die Fahrzeuge schon sehr früh ankommen sah, stromab dagegen
wurde die Aussicht auf den Strom durch eine wenige 100 m unter¬
halb der „Arche“ gelegene leichte Krümmung und durch das mit
Häusern bebaute, hochgelegene Ufer verdeckt. Ungefähr an dieser
Krümmung befand sich eine Kohlenentnahmestelle und etwas weiter
abwärts eine Baustelle. Ebenfalls in unmittelbarer Nähe lag ausser¬
dem eine von Schiffern viel besuchte Wirtschaft. Nun kamen aber
von unten, also von der Oder her, recht häufig grosse Schleppzüge,
welche unmittelbar vor dieser leichten Krümmung hielten, sei es,
um Kohlen einzunehmen, sei es, zwecks Reparatur in den Baustellen.
Das Anlegen dieser langen Züge konnte unter Umständen von der
Arche aus gar nicht bemerkt werden, so dass erst am nächsten Tage
der Dampfer mit dem 2. Arzt die Revision vornahm. Bis dahin waren
aber häufig der eine oder der andere der Schiffsinsassen an Land
gewesen, sei es, um in der Stadt Besorgungen zu machen, sei es,
um in der Gastwirtschaft einzukehren. Bei der Revision selbst fehlten
dann auch häufig einzelne und wir haben uns in diesen Fällen so
geholfen, dass wir uns die Fehlenden notierten und Weisung hinter-
liessen, dass diese sich uns nach ihrer Rückkehr in der Arche vor¬
stellten. Man konnte den Leuten nicht gut verbieten, vor der Re¬
vision an Land zu gehen, denn oft war der Aufenthalt hier nur ein
kurzer; dann konnten die Leute mit ihren notwendigen Besorgungen
nicht so lange warten, bis sie revidiert waren, denn ehe bei einem
langen Zuge die letzten an die Reihe kamen, hatte sich derselbe oft
genug schon wieder in Bewegung gesetzt. Tatsächlich war ja auch
hier die Gefahr einer Choleraeinschleppung nicht so gross, denn
erstens kamen diese Schiffer ja von Westen her, also nicht aus der
Choleragegend, und zweitens waren sie ja kurz zuvor, sei es nun von
Frankfurt oder von Hohenwutzen aus, oder sogar durch unseren
eigenen Dampfer untersucht. Aber immerhin ist ersichtlich, dass die
Möglichkeit einer Kontrollentziehung hier durchaus bestand und ähn¬
liches mag an anderen Untersuchungsstellen auch der Fall gewesen
sein. Schon dieser Umstand allein dürfte die grosse Zahl und das
verhältnismässig nahe Aneinanderliegen der einzelnen Untersuchungs¬
stellen durchaus rechtfertigen. Denn nur hierdurch war die Möglich¬
keit, dass sich jemand tagelang der Revision entzog, vorgebeugt. —
Von oberhalb, also von Landsberg her, bestand in dieser Beziehung
keine Schwierigkeit, grössere Schleppzüge kamen von oben über¬
haupt nicht und ausserdem war oberhalb der Ueberwachungsstelle
weder eine Veranlassung noch eine Gelegenheit, an Land zu gehen,
da die Ufer sumpfige Wiesen waren. Eine oberhalb an der Einmün¬
dung des anfangs erwähnten Jungfernkanals gelegene Baustelle be¬
fand sich in so unmittelbarer Nähe unserer Ueberwachungsstelle, dass
hier ein unbemerkbares Anslandgehen ausgeschlossen war.
Für denjenigen, der in die Lage kommt, eine solche Ueber¬
wachungsstelle zu übernehmen, wird es nicht uninteressant sein, zu
erfahren, welche Kosten durch dieselbe hervorgerufen werden und
wie sie verrechnet werden: Für die Dampferfahrten liquidierte die
Strombauverwaltung täglich 44 M., für die Ueberlassung der „Arche“
mit den 2 Handkähnen rund 3 M., Lohn für 4 Arbeiter ä 3 M. = 12 M,
eine Nachtwache L50 M., Tagegelder für den leitenden 2-4, für den
2. Arzt 20 M., für die 2 Gendarmen je 6 M. = 12 M., für den Sani¬
tätsunteroffizier 6 M., macht zusammen 122.50 M. täglich. Hierzu
kamen dann noch einige einmalige Neuanschaffungen (Krankentrage
usw.) und laufende Kosten für Desinfektionsmittel, Schreibmaterial,
Telegramme usw.. Die Arche wurde mir von der Strombauverwal¬
tung zwar so übergeben, dass sie sofort bezogen werden konnte,
jedoch war sie für den speziellen Gebrauch als Ueberwachungsstelle
natürlich noch nicht ausgerüstet. Es mussten z. B. noch neubeschafft
werden: 2 Krankentragen (eine davon für den Dampfer) Desinfek¬
tionsmittel in reichlichen Mengen, wie Kresolseifenlösung, Chlorkalk,
gelöschter Kalk, grüne Seife, Sublimat, alles immer gleich in -doppelten
Portionen, da der Dampfer auch ausgestattet werden musste; ferner
Material zum Verpacken und Versenden choleraverdächtiger Objekte,
also feste Holz- oder Blechkisten, Holzwolle, Packwatte, Pulvergläser
mit weitem Hals usw., Holz und Kohlen zum Heizen, Petroleum und
schliesslich Schreibmaterial. Mit den an die Schiffer und Flösser ab¬
zugebenden Formularen (s. „Anweisung“) wurden wir von der Re¬
gierung aus versehen; gross war hier der Bedarf nicht, da die meisten
Fahrzeuge ja von den früheren Stationen her schon Scheine hatten,
die einfach weitergeführt wurden. Mit den Druckvorschriften, sowie
mit bereits gestempelten und mit Aversionierungsvermerk versehenen
Briefumschlägen und Postkarten versorgte uns gleichfalls die Re¬
gierung. Telegramme wurden extra liquidiert. Die Verrechnung
und Begleichung der entstehenden Kosten geschah folgendermassen:
Was ich an neuen oder laufenden Sachen brauchte, schrieb ich ohne
Angabe des Lieferanten und Preises auf einen vorgedruckten Be¬
stellzettel (der Strombauverwaltung), den ich der Strombau¬
verwaltung zusandte; hier wurde er vervollständigt, unterschrieben
und ich bekam dann die Sachen von der betreffenden Firma direkt
auf Rechnung der Strombauverwaltung umgehend geliefert. Letztere
schickte mir dann zum Ende jeden Monats die gesammelten Rech¬
nungen, sowie ihre eigene Liquidation für Dampfer, Arbeiter usw.
zu, ich selbst fügte meine eigene Liquidation und die des noch in
Frage kommenden Personals bei und reichte eine aus allen diesen
Rechnungen und Liquidationen zusammengestellte Kostenrechnung mit
allen nötigen Erläuterungen oiach einem vorgeschriebenen Muster
nach Frankfurt ein und fügte die Rechnungen und Liquidationen als
Belege bei. Darauf erfolgte dann von Frankfurt aus durch den
Kiistriner Magistrat die Deckung der Kosten. Später, nachdem ich
erst einmal die Lieferanten kannte, wurde die Methode der Be¬
stellung noch insofern vereinfacht, als ich selbst die Bestellzettel
fertig ausfüllte und unterschrieb, also nicht mehr auf die Vermittelung
der Strombauverwaltung angewiesen war. Die Rechnungen wurden
nunmehr von den Lieferanten natürlich an mich direkt geschickt.
Mit der Bezahlung der Rechnungen hatte ich glücklicherweise nichts
zu tun, es hätte auch sein Missliches gehabt, wenn ich grössere
Geldbeträge auf der „Arche“ hätte aufheben müssen.
Ueber den weiteren Verlauf der Ueberwachungszeit ist, da die
Cholera sich ja zum Glück nicht weiter ausbreitete, wenig Bemerkens¬
wertes mehr zu berichten. Der gesammte Kahn- und Flossverkehr
liess allmählich nach, um allerdings im November noch einmal leb¬
hafter zu werden. Nachdem jedoch in den preussischen Provinzen die
Cholera erloschen war, hatte der grosse Schiffs verkehr nicht mehr
viel für uns zu bedeuten, da diese Kähne, Dampfer etc. nie aus
Russland kamen. Bedenklich war somit nur noch der Verkehr der
aus Russland durch den Bromberger Kanal kommenden Flösse,
da dort die Cholera noch weiter bestand. Dieser Verkehr wurde
zwar allmählich geringer, hatte aber selbst gegen Ende November
noch nicht gänzlich aufgehört. Dieses ist auch der Grund gewesen,
weshalb die Ueberwachungsstelle Küstrin erst so spät aufgehoben
wurde, als z. B. in Magdeburg, Berlin, dem oberen Oder- und dem
oberhalb der Netzemündung befindlichen Wartelauf eine Ueber-
wachung längst nicht mehr bestand. Der Schiffsverkehr hatte, wie
erwähnt, im November noch einmal recht erheblich zugenommen,
was allerdings z. T. durch lokale Kiistriner Verhältnisse bedingt
war. Es befand sich nämlich am rechten Warteufer unterhalb der
Neustadt eine Stärkefabrik, welche mit dem Beginn der Kartoffelernte
ihre Kartoffelvorräte auf dem Wasserwege ergänzte. Da das Abladen
der Kähne nur sehr langsam vor sich ging, mussten diese Kähne
meist 4 Wochen warten, was zur Folge hatte, dass dort, an der
sogen. Küstriner Ablage täglich etwa 40 Kähne durch unseren Dampfer
zu revidieren waren. Da auch im übrigen der Flussverkehr damals
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
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30. Oktober 1906.
ziemlich lebhaft war, so hatten wir beispielsweise am 11. November
96 Kähne mit 423 Personen zu revidieren. Eine ganz nennenswerte
Leistung, besonders bei dem fast stets nasskalten Wetter.
Ich komme zum Schluss. Es ist wohl allgemein anerkannt,
dass das System dieser Stromüberwachung seine Aufgabe, das
Land vor einer Choleraepidemie zu schützen, gut erfüllt und
sich somit bewährt hat. So fern es mir liegt, dieser Ansicht
entgegentreten zu wollen, so möchte ich doch nicht unter¬
lassen, darauf hinzuweisen, dass die im vergangenen Herbst
zu lösende Aufgabe insofern eine leichte war, als wir in dem
Augenblick, als die Cholera bei uns eingeschleppt wurde, die
für die epidemische Ausbreitung dieser Seuche gefährlichste
Jahreszeit, nämlich die heissen Sommermonate, bereits hinter
uns hatten. Sollte die Cholera einmal bei uns gegen Ende des
Frühjahrs eingeschleppt werden, wie es ja für dieses Jahr viel¬
fach befürchtet wurde, so würde die an die ärztliche Strom¬
überwachung herantretende Aufgabe eine erheblich ernstere
und schwierigere sein. Hoffen wir, dass die Ueberwachung
diese dann an sie herantretende schwere Aufgabe ebensogut
löst, wie sie dieses schon im Jahre 1893 getan hat.
Zur Beurteilung der nach 0. Schmidt in malignen
Tumoren auftretenden protozoenähnlichen Mikro¬
organismen.
Von Dr. A. Schub erg, a. o. Professor der Zoologie in
Heidelberg.
In der Sitzung des Zentralkomitees für Krebsforschung vom
15. Dezember 1905 berichtete Otto Schmidt- Köln „Ueber einen
protozoenähnlichen Organismus in malignen Tumoren und durch diese
erzeugte transplantierbare Qeschwulstformen beim Tiere“. Nach
seiner eigenen Mitteilung über diesen Vortrag1) verwies er dabei für
die zoologischen Detailfragen auf mich, indem er sagte: „Herr Prof.
Schuberg in Heidelberg hat die Güte, mit mir gemeinsam die
Sache zu prüfen, und kann dessen Autorität die Entscheidung wohl
ruhig anheimgestellt werden.“ Auf Einwände Waldemar Loewen-
thals, welche in der Diskussion vorgebracht wurden, bemerkte
0. Schmidt ferner2): „Ich habe Herrn Prof. Schuberg die
Präparate vorgelegt und ihn gebeten, die Bearbeitung zu übernehmen,
und muss es ihm überlassen, zu entscheiden, um was es sich handelt,
resp. wie die einzelnen Formen sich zu einander verhalten, und ferner,
ob im Mukor oder Tumor geschlechtliche Formen neben ungeschlecht¬
lichen bestehen können.“
Diese Bezugnahme auf mich ist mir erst nachträglich bekannt
geworden; insbesondere habe ich erst ganz kürzlich von der zweiten,
in der Diskussion gemachten Aeusserung erfahren. Gleichzeitig
musste ich mich auf Grund mündlicher Mitteilungen leider davon
überzeugen, dass die Erwähnung meines Namens geeignet ist, irrige
Vorstellungen zu erwecken über meine eigene Stellung in der Frage
der Schmidt sehen Untersuchungen und Meinungen. Ich sehe
mich daher genötigt, mein Verhältnis zu den Untersuchungen
O. Schmidts und mein Urteil' über die mir vorgelegten Präparate
kurz darzulegen.
Auf die Bitte des Herrn Dr. O. Sch m i d t, sowie hiesiger medi¬
zinischer Kollegen, habe ich zuerst einmal im Sommer 1905 und dann
wiederholt im Laufe des vergangenen Winters eine Reihe seiner Prä¬
parate durchgesehen, um die von ihm für Protozoen gehaltenen
Körper vom zoologischen Standpunkte aus zu beurteilen. Ich wäre
natürlich auch bereit gewesen, eine eingehendere Untersuchung vor¬
zunehmen, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben haben würden,
dass die von Schmidt mir gezeigten verschiedenen Gebilde, welche
er für Protozoen hielt, wirklich solche waren. Das war indessen,
wie ich gleich voraus bemerken will, nicht der Fall.
Die mir vorgelegten Präparate waren von zweierlei Art. Die
einen waren den von Schmidt angelegten Reinkulturen des aus
Tumoren gezüchteten Mukor entnommen, in welchem, nach seiner
Meinung, der die Geschwülste erregende Organismus parasitiert;
meistens waren die Präparate mit Neutralrot versetzt, wodurch die
Parasiten vital gefärbt sein sollten. Von Anfang an habe ich Herrn
Dr. Schmidt darauf aufmerksam gemacht, dass ich die mir ge¬
zeigten Gebilde für nichts anderes als für F e 1 1 1 r ö p f c h e n halten
könne. Das ganze optische Verhalten schien mir dies genügend zu
beweisen. Dass sie sich aber mit Neutralrot rot färben, spricht nicht
gegen, sondern f ii r diese Auffassung. Gelegentlich seiner im
Heidelberger Zoologischen Institut angestellten Untersuchungen über
die Zerfliessungserscheinungen der ziliaten Infusorien hatte Kölsch3)
einige Versuche gemacht über das Verhalten von Hammeltalg und
1) Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 4, S. 163.
2) Deutsche med. Wochenschr. 1906, No. 18, S. 743.
3) Zool. Jahrb. Abth. f. Anat., 16. Bd., 1902; auch Dissertat. nat.
math. Fakult. Heidelberg 1902, S. 34.
Olivenöl in dünnen wässerigen Lösungen von Neutralrot. Dabei
zeigte sich, dass das Fett und das Oel in kurzer Zeit sämtlichen Farb¬
stoff dem Wasser entzogen und in sich aufgespeichert hatten. Genau
in der gleichen Weise dürfte die Färbung der Mukor fetttröpfchen
mit Neutralrot zustande kommen und, ebenso wie die erwähnte
andere Erscheinung, wohl dadurch zu erklären sein, dass der Farb¬
stoff in Fett leichter löslich ist, als in Wasser. Jedenfalls ist die
Färbung mit Neutralrot kein Beweis für die Protozoennatur der
fraglichen Gebilde. Dass diese ein verschiedenartiges Aussehen an¬
genommen hatten, war nach meiner Auffassung teilweise auf eine
beginnende emulsionsartige wässerige Durchdringung der Fett¬
tröpfchen zurückzuführen.
Ich habe Herrn Schmidt auch schon mündlich darauf aufmerk¬
sam gemacht, dass nach alten Erfahrungen der Botaniker durch die
Art seiner M u k o r kulturen die Bedingungen zur Bildung von Fett
gegeben sind, dass also auch in dieser Hinsicht meine Auffassung
gestützt wird. Unter gewissen Bedingungen werden nämlich bei
Mukor formen sogen. Gemmen gebildet 4). „Ihre Bildung geht
— nach de Bary — im allgemeinen so vor sich, dass kurze proto¬
plasmatische Stücke eines Myceliumschlauches oder Gonidienträgers
durch Querwände abgegrenzt werden zu zylindrischen oder annähernd
kugelige, ei-, bimförmige usw. Gestalt annehmenden Zellen, welche
oft derbe Membranen erhalten . . .“ „Während des Ruhezustandes sind
diese Zellen von ziemlich homogenem Protoplasma dicht erfüllt; manch¬
mal, zumal an schlecht ernährten, absterbenden oder abgestorbenen
Exemplaren können sich in diesen grosse zahlreiche Fett¬
tropfen5 *) aussondern, eine Erscheinung, welche früherhin zu
Missverständnissen vorübergehend Anlass gegeben hat. Solche
Gemmen kommen erstlich an alten Mycelien und, bei Mukor arten,
auch an Fruchtträgern, deren Protoplasma grösstenteils zu ander¬
weitiger Gonidienbildung verbraucht ist, häufig vor als zylindrisch¬
ovale, in dem übrigens protoplasmaleeren Faden wie Pfropfe ord¬
nungslos interkalar gestellte Zellen. Sie sind bei vielen Formen,
zumal von Mukor, eine häufige Erscheinung.“ G)
Wie Schmidt selbst berichtet7), entwickelt sich auf dem
Grunde seiner Kulturschalen „ein Konvolut von Fäden, das gegen
Ende der ersten Woche durch sich entwickelnde Gasblasen an die
Oberfläche gehoben wird, wo sofort aus dem Mycel Hyphen heraus¬
wachsen, die Sporangien bilden. Die nach ihrer Reifung zahlreich
auf den Rasen und in die Flüssigkeit niederfallenden Sporen bilden
neues Mycel, der Rasen verdickt sich immer mehr und sinkt immer
tiefer in die Nährflüssigkeit ein. Erst jetzt, gegen Ende der dritten
Woche, scheinen alle Bedingungen zur unbeschränkten Entwicklung
des Parasiten gegeben zu sein . . . Gegen Ende der dritten Woche
scheint ferner ein reichlicher Zerfall der Mi^celschläuche statt¬
zufinden, wodurch zahlreiche Parasiten frei werden und nun in der Nähr¬
flüssigkeit selbst beobachtet werden können.“ Es dürfte leicht er¬
sichtlich sein, dass die in den Kulturen Schmidts gegebenen Be¬
dingungen die gleichen sind, unter welchen, nach dem obigen Zitat,
die Bildung von Gemmen und Fetttropfen zu erfolgen pflegt, und dass
damit das Auftreten von Fetttröpfchen in den Schmidt sehen Kul¬
turen mit den bisherigen Erfahrungen durchaus übereinstimmt.
Ferner hat Schmidt seine Kulturen so gezüchtet, dass sie auch
zur Bildung von Sprossgemmen schritten, sogen. „Kugelhefe“ bildeten,
wie er selbst richtig erkannt hat; ob auch solche Stadien von
Schmidt in den Entwicklungskreis seines Parasiten einbezogen
wurden, vermag ich nicht zu beurteilen. Betonen möchte ich aber
nochmals, dass die mir als Parasiten gezeigten Dinge meiner An¬
sicht nach stets Fetttröpfchen waren, von denen manche zum Teil
schon durch Wasserwirkung in Emulsionsbildung begriffen waren.
Ausser den aus Mukor kulturen stammenden Präparaten legte
mir Herr Dr. Schmidt noch mehrfach andere Präparate vor, welche
aus frischen Geschwülsten abgestrichen, mit physio¬
logischer Kochsalzlösung vermischt und meistens mit etwas Methyl-
grlin versetzt waren. Manche Präparate waren, so viel ich mich er¬
innere, schon einige Tage alt. Die Gebilde, welche in diesen Prä¬
paraten nach Meinung des Herrn Dr. Schmidt Parasiten sein
sollten, waren nun nach meiner Auffassung sehr verschieden¬
artige Dinge.
Ich will zunächst feststellen, dass mir Herr Dr. Schmidt ein¬
mal einen lebenden, beweglichen Organismus zeigte, der nach
meiner Meinung eine kleine Monadine war. In einem zweiten Falle
fand sich eine kleine Zyste mit unzweifelhaft protoplasmatischem
Inhalt, die, nach meinen Erfahrungen, als Zyste einer kleinen Amöben¬
art aufgefasst werden konnte. Diesebeiden Gebilde waren
jedoch die einzigen, welche ich als Protozoen an¬
zuerkennen imstande war. Inwieweit sie als Stadien eines
für die Aetiologie der Geschwülste in Frage kommenden Para¬
siten angesehen werden dürfen, soll später noch erörtert werden.
Alle anderen Gebilde, die mir als Parasiten vor-
4) de Bary: Vergl. Morphologie und Biologie der Pilze etc.
Leipzig 1884, S. 167.
5) Im Original nicht gesperrt.
8) Vergl. ferner z. B. : Flügge: Die Mikroorganismen. 2. Aufl.
1886. S. 102.
7) Mitteilg. aus Dr. Schmidts Laborat. f. Krebsforschung.
Bonn 1905. 1. Heft, S. 15 f.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
2 160
elegt wurden, konnte ich nicht als solche gelten
i a s s e n. Die allermeisten waren nach meinem Dafürhalten mit
grösster Wahrscheinlichkeit als bestimmte Elemente zu identifizieren;
bei einigen anderen vermochte ich zwar nicht anzugeben, um was
es sich handelte, aber wenigstens ihre Protozoennatur nach meinen
Erfahrungen mit Sicherheit auszuschliessen. Es ist selbstverständlich,
dass Herrn Dr. Schmidts und meine eigene Ansicht in diesen
Eällen vielfach auseinandergingen.
Die Präparate enthielten, wie das nach der Art und Weise ihrer
Anfertigung durchaus verständlich ist, zumeist isolierte und in Zerfall
begriffene üeschwulstelemente. Schmidt selbst beschreibt die
Herstellung seiner Präparate folgendermassen 8) : „Die Geschwulst
wird unter aseptischen Kautelen entfernt und in kleine, linsen- bis
erbsengrosse Stückchen zerschnitten, die durch Schütteln in einer
erwärmten physiologischen Kochsalzlösung möglichst von dem ihrer
Oberfläche anhaftenden Blut und Zelldetritus gereinigt werden. Dann
kommen die Stückchen sofort in Peagenzgläschen von etwa 10 cm
Höhe und 1 cm Durchmesser; sie sollen im untersten Drittel der
Röhrchen an der Wand kleben, um eine isolierte Ansammlung der
austretenden Gewebsflüssigkeit auf dem Grunde des Glases zu er¬
möglichen. Für jede Untersuchung wird der Inhalt eines Gläschens
benutzt, das Gewebsstückchen zerzupft und mit dem Messerrücken
oder Spatel abgestrichen, um die „Krebsmilch“ zu erhalten. Es ge¬
nügt aber auch — hauptsächlich, nachdem das Gewebe schon Stunden
im Röhrchen gelegen hat — leicht mit der Platinöse über seine Ober¬
fläche hinzustreichen und den Inhalt mit etwas Gewebesaft oder, im
Notfälle, physiologischer Kochsalzlösung zu vermischen“. „Bei einer
Temperatur von 18° C. liegt ein Optimum für die Beobachtung in den
ersten 2 — 3 Stunden nach der Entfernung des Tumors aus dem
Verbände des lebenden Körpers; ein zweites Optimum 12 — 15 Stun¬
den nach diesem Zeitpunkt und ein drittes 60 — 74 Stunde n.“
Dass unter diesen Bedingungen der Herstellung der Präparate
— zumal bei dem dritten „Optimum“ von 3 Tagen — die Möglichkeit
besteht, deformierte, mazerierte und zerfallende Gewebeteile vor
Augen zu bekommen, dürfte wohl begreiflich sein. So sah ich Ge¬
bilde, welche nach meinem Dafürhalten mit Sicherheit verquollene
oder deformierte rote Blutkörperchen oder abgeschnürte Teile von
solchen waren, ferner verletzte und mazerierte Epithel- oder Binde¬
gewebszellen und vor allem durch Gewebezertrümmerung und Ma¬
zeration freigewordene und weitgehend veränderte Zellkerne ver¬
schiedener Zellarten. Schliesslich möchte ich nicht unerwähnt lassen,
dass mir in seltenen Fällen auch kleine, deutlich doppeltkonturierte,
als „Zysten“ gedeutete Gebilde zu Gesicht kamen, die mir mit ziem¬
licher Sicherheit Myelinfiguren zu sein schienen und wohl von kleinen
Nerveinistchen aus der Grenze der Geschwulst stammen konnten.
.Jedenfalls habe ich, wie ich nochmals betonen möchte, ausser den
beiden oben angeführten Fällen, einer frei beweglichen Monadine
und einer kleinen, vermutlich von einer Amöbe stammenden Zyste,
in den’ Präparaten Schmidts nichts wahrgenommen, was ich als
in den Entwicklungszyklus irgend einer Protozoenform gehörig hätte
betrachten dürfen. Wohl aber habe ich in wiederholten Fällen Herrn
Dr. Schmidt darauf aufmerksam machen müssen, dass in den
Präparaten Bakterien vorhanden waren, was für die Beurteilung
der so vereinzelten Protozoenfunde von grosser Wichtigkeit ist. Es
ist wohl klar, dass derartigen seltenen Funden an sich keine grosse
Beweiskraft zukommt, zumal es sich um Formen handelt, welche
meistens freilebend, nicht parasitisch, sowie überall massenhaft ver¬
breitet sind und deshalb leicht als zufällige Verunreinigungen in die
Präparate gelangt sein können. Monadinen finden sich z. B. in phy¬
siologischer Kochsalzlösung, welche nicht ganz frisch ist, gar nicht
so selten, wie mir aus eigener Erfahrung seit lange bekannt ist. Ich
habe diesen Einwand bei dem fraglichen Präparate sofort erhoben
und, wenn ich mich recht erinnere, konnte nicht mit Sicherheit fest¬
gestellt werden, ob die zur Anfertigung des Präparates verwendete
Kochsalzlösung vorher nochmals sterilisiert worden war. Aber selbst
wenn dies der Fall gewesen wäre, macht das Vorkommen der Bak¬
terien wahrscheinlich, dass andere Gelegenheiten zur
Verunreinigung vorhanden gewesen sein müssen,
und dass daher auch das Vorkommen von vereinzelten Monadinen
und Amöbenzysten, die sich beide unter den gleichen Bedingungen
wie Bakterien finden können, noch lange nicht für deren pathogene
Bedeutung spricht. Schliesslich ist noch darauf hinzuweisen, dass
Schmidt aus frischen, nicht ulzerierten Tumoren Mukor gezüchtet
zu haben angibt; es muss also ein solcher Tumor entwicklungsfähige
Sporen enthalten haben. Dann ist aber gerade so gut möglich, dass
eine Geschwulst entwicklungsfähige Zysten von Monadinen und Amö¬
ben einschliessen kann, welche ebensowenig pathogen zu sein
brauchen, wie es nach Schmidts eigener Ansicht die Mukor-
Sporen an sich sind. Ich war übrigens der Meinung und bin es
auch jetzt noch, dass das ganz vereinzelte Vorkommen einer Mona¬
dine und einer Amöbenzyste am wahrscheinlichsten doch auf einer
zufälligen Verunreinigung beruhen möchte.
Sowohl deshalb, wie auch auf Grund meiner an¬
deren Wahrnehmungen, war ich in keinem Augen¬
blicke in der Lage, den verschiedenen Präparaten,
8) Mitteilg. aus Dr. Schmidts Laborat. f. Krebsforschung
I. Heft S. 13.
welche mir Herr Dr. Schmidt vorlegte, einen Wert
als Beweise für die Richtigkeit seiner Theorie der
Entstehung der Geschwülste durch Protozoen zu¬
zuerkennen. Wie Schmidt selbst richtig bemerkt 9), wird der
Zoologe, dessen Mitarbeit bei der Erforschung parasitärer Krank¬
heiten gewünscht wird, „sich dazu doch wohl nur dann entschliessen,
wenn ihm das Vorkommen des Parasiten zum mindesten wahrschein¬
lich gemacht und eine Grundlage geboten wird, auf welcher er weiter
arbeiten kann“. Diese Grundlage wurde mir durch die Betrachtung
der Präparate des Herrn Dr. Schmidt nicht geboten und ich habe
mich deshalb auch nicht veranlasst gesehen, in der durch seine
I heorie gegebenen Richtung weitere eigene Untersuchungen an¬
zustellen.
In den bisherigen Darlegungen habe ich mich absichtlich darauf
beschränkt, meine Ansicht nur über die mir in Präparaten
vorgezeigten, als Parasiten gedeuteten Gebilde zu
äussern, wozu ich mich durch die Bezugnahme des Herrn Dr. Schmidt
auf mich gezwungen sehe. Dagegen habe ich ganz davon abgesehen,
die Möglichkeit seiner Theorie an der Hand der von
anderen Protozoen bekannten Entwicklungszyklen zu beurteilen. Ob¬
wohl gar mancherlei zu Bedenken Anlass gibt, halte ich es für rich¬
tiger, dies zu unterlassen und zwar nicht nur nach meinen Erfahrungen
an Schmidts Präparaten, sondern auch aus Erwägungen grund¬
sätzlicher Natur. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Mannigfaltigkeit
in der Entwicklungsweise der Organismen eine ganz ausserordent¬
lich grosse ist und dass es daher nicht angeht, die Möglichkeit eines
erst noch zu erforschenden Entwicklungszyklus auf Grund der be¬
kannten Entwicklung ander-er Organismen zu beurteilen.
Eines möchte ich zum Schlüsse nicht unerwähnt lassen. Schon
der erste Eindruck, den die Betrachtung der ersten mir von Herrn
Dr. Schmidt vorgelegten Präparate in mir erweckte, war offen
gestanden der, dass es sich bei den als Parasiten gedeuteten
Dingen nicht um solche handelte, sondern dass, wie so cft, Ver¬
wechslungen verschiedener Art vorliegen möchten. Wenn ich mich,
trotz dieses wenig ermunternden, durch die spätere Erfahrung vollauf
gerechtfertigten Eindruckes, der Bitte des Herrn Dr. Schmidt,
seine Präparate zu studieren, dennoch nachzukommen entschloss, so
geschah es hauptsächlich deshalb, weil mir eine seiner Angaben
besonderes Interesse zu beanspruchen schien, nämlich die, dass es
ihm gelungen sei, durchin je ktion seiner Mukorkulturen
in gesunde Mäuse und Ratten echte Tumoren an der
Impfstelle zu erzeugen. Wenn genügend häufige Wieder¬
holung des Experimentes, unter Ausschluss jeder Zufälligkeit usw.,
diese Tatsache wirklich einwandfrei sicherzustellen vermag, so wäre
das meines Erachtens von grosser Wichtigkeit. Wenn ich auch den
Anschauungen Schmidts über die Protozoennatur der mir ge¬
zeigten, von ihm als solche gedeuteten Gebilde nicht beizupflichten
imstande bin, so halte ich es doch für notwendig und wünschens¬
wert, diese bestimmte Angabe über die Erzeugung von Tu¬
moren durch Einimpfung seiner Mukorkulturen, durch gleiche Ver¬
suche eingehend nachzuprüfen.
Sind die Steinkohlengruben die Verbreiter der Genick¬
starre ?
Von Sanitätsrat Dr. Lindemann, Oberarzt des Allgemeinen
Knappschaftsvereins zu Bochum.
In der Abhandlung „Die Rolle der Grubeninfektion bei der Ent¬
stehung der Genickstarreepidemien“ in No. 29 dieser Zeitschrift kommt
Dr. Je hie- Wien zu dem Schlussatze: „Die Genickstarre findet ihre
epidemische Ausbreitung n u r auf dem Wege der Grube. Diese ist
der Herd, wo sich die Bergleute infizieren, und woher sie die Krank¬
heitskeime in ihre Familie schleppen. Die Ansteckung der Bergleute
erfolgt fast ausschliesslich auf der Arbeitsstelle.“
Diese Auffassung möchte ich nicht unwidersprochen lassen, da
sie nach meiner Ueberzeugung, soweit die Gruben des westfälischen
Kohlenreviers in Betracht kommen, unzutreffend ist. Der Autor hat
den örtlichen Verhältnissen, denen m. E. eine ausschlaggebende Be¬
deutung zukommt, nur eine flüchtige Beachtung zu ' Teil werden
lassen. Ueber die Art der Ansteckung äussert sich Dr. .1. in seiner Ab¬
handlung in folgenden Worten: „Die Erwachsenen infizieren sich
gegenseitig direkt und indirekt bei der Arbeit durch Ausspucken
Benutzung gemeinsamer Arbeitsgeräte und Trinkgefässe. Auf die¬
selbe Weise infizieren sie in den Familien dann ihre Frau und Kinder
und besonders jene im zarten Alter, da gerade diese mit den Eltern
in innigsten Kontakt kommen und einer Schmierinfektion durch Krie¬
chen auf der Erde am leichtesten ausgesetzt sind. Kinder, auch
bereits erkrankte, kommen als Infektionsträger fast gar nicht in Be¬
tracht, da sie die im Nasenrachenraum nistenden Meningokokken
nicht herausbefördern.“
In diesen Ausführungen liegt m. E. ein unlösbarer Widerspruch.
Jeder Bergmann in den hiesigen Gruben hat seine eigenen Arbeits¬
geräte und sein eigenes Trinkgefäss (Kaffeepulle), auch sind die Berg-
I Heft aUS ^r‘ ^ c h m i d t s Laborat. f. Krebsforschung.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2161
leute hiesiger Gegend nicht so unsauber mit ihrem Auswurf, wie J.
voraussetzt, wenn er annimmt, dass die Infektion der kleinen Kinder
häufig erfolge durch Kriechen auf den mit dem Auswurf des Vaters
beschmutzten Kussboden. Dass die Kinder in der Regel nicht aus¬
spucken, ist ja richtig, eine gemeinsame Benutzung von Trinkge-
fässen und Esswaren ist dagegen bei Kindern viel häufiger als bei
Erwachsenen und es darf auch nicht übersehen werden, dass Kinder
ihre Hände mit dem Schleim der Nase und Mundhöhle sehr häufig und
reichlich in Berührung bringen und unter einander in Spiel und'Zank
wiederum in innige Berührung kommen. Es ist darum nicht recht
einzusehen, warum bei den Kindern ein direkter Infektionsweg ausge¬
schlossen sein soll.
Wenn wir den Meningokokkus als Krankheitserreger ansehen und
annehmen, dass er in dem Nasenrachenraum schmarotzend nistet,
so müssen wir auch zu der Schlussfolgerung kommen, dass alle Per¬
sonen, welche mit den Kranken in Berührung kommen, auch Kokken¬
träger werden können, und zwar um so leichter und um so wahr¬
scheinlicher, je näher und inniger die Berührung war, in die sie mit
den Kranken traten. Bei einem Kinde treten in dieser Hinsicht doch
wohl an die erste Stelle die Geschwister und Spiel- und Schul¬
kameraden, ferner die Eltern, und von diesen zunächst die Mutter,
die die Kinder auf dem Arme trägt, kleidet und wartet; ferner
schliesslich alle übrigen Familienmitglieder, Hausgenossen und Ver¬
kehrspersonen. Will man in dieser Weise den menschlichen Verkehr
als Vermittler der Infektion ansehen, dann ist es unzulässig, dem
menschlichen Verkehre nur nach einer Richtung hin (Arbeitsstätte)
seine Aufmerksamkeit zu schenken.
Bezüglich der örtlichen Verhältnsse dürfte hier eine kurze Klar¬
legung am Platze sein. Das Bürgermeisteramt Hamborn, in dem
auch die beiden hier in Betracht kommenden Zechen Neumühl und
Deutscher Kaiser liegen, hatte bis vor wenigen Jahren einen völlig
ländlichen Charakter. Mit dem grossen Aufschwünge der dortigen
Industrie hat die Einwohnerzahl daselbst sehr schnell zugenommen
und beträgt gegenwärtig etwa 80 000. „Neumühl“ ist keine Ortsbe¬
zeichnung, sondern nur der Name der Zeche und des anschliessenden
Bahnhofes. Die Ortschaft, der die Zeche Neumühl mit ihrer Kolonie¬
anlage gehört, trägt den Namen „Schmidthorst“. Die Zeche Neumühl
hat 2 Schächte, welche dicht bei einander liegen. Unmittelbar an diese
Schachtanlage anschliessend liegt eine grosse Kolonie, welche Eigen¬
tum der Zeche ist und in der daher nur solche Arbeiter wohnen, welche
in dem Betriebe der Zeche Neumühl beschäftigt sind. In dieser
Kolonie wohnen nach meiner Schätzung etwa 600 Familien. Die
Häuser sind in Villenstil gebaut und in Strassenzügen geordnet. Jedes
Haus bietet 4 Familien Wohnung. Mitten in der Kolonie liegen dicht
zusammen die evangelische und katholische Kirche (die Bevölkerung
der Gegend ist vorwiegend katholisch). An der Grenze der Kolonie
liegt ferner das von Dr. J. erwähnte katholische Krankenhaus Schmidt¬
horst und diesem gegenüber eine grosse Konsumanstalt, aus der die
Arbeiter der Zeche Neumühl ihre Lebensbedürfnisse beziehen. So
bildet Schmidthorst mit der Zeche Neumühl und deren Kolonie bezüg¬
lich des menschlichen Verkehrs eine in sich abgeschlossene Ortschaft.
Etwa eine Viertelstunde entfernt von der Kolonie Neumühl liegt in
der Ortschaft Obermarxloh die nächste Kolonie der Zeche Deutscher
Kaiser (grosse dreistöckige Häuser für je 12, 16 und 24 Familien).
Diese Kolonie hat wieder eine besondere Kirche, besondere Volks¬
schulen und besondere Konsumanstalten. Die Zeche Deutscher Kaiser
hat 4 Schächte, die räumlich von einander weit entfernt liegen. Der
der Zeche Neumühl zunächst gelegene Schacht IV ist von dieser für
einen Fussgänger etwa eine halbe Stunde entfernt und ohne Kolonie¬
anlagen.
Nimmt man bei diesen örtlichen Verhältnissen an, in die Kolonie
der Zeche Neumühl sei nicht die Genickstarre, sondern eine andere
Infektionskrankheit, etwa Scharlachfieber, eingeschleppt worden, so
würde sie bezüglich der Verbreitung dasselbe Bild zeigen, wie J. es
in seiner Abhandlung bezeichnet: in erster Zeit gehäufte Fälle in der
Kolonie Neumühl, erst später auftretende Fälle in der Kolonie der
Zeche Deutscher Kaiser (in Obermarxloh). Auch das gezeichnete
Grubenbild würde völlig gleich sein. Nicht jeder Familienvater würde
Krankheitsfälle in seiner Familie haben und dementsprechend wür¬
den in einzelnen Arbeitsrevieren Bergleute arbeiten, deren Familien¬
mitglieder erkrankt, in anderen solche, deren Familienmitglieder ge¬
sund sind. Erst mit dem Uebergreifen der Epidemie nach der
Kolonie in Obermarxloh würden die Familien der Arbeiter der Zeche
Deutscher Kaiser mit betroffen erscheinen.
Nach den amtlichen Meldungen erkrankten vom 3. bis 30. De¬
zember 1905 im Kreise Ruhrort an Genickstarre 3; es ist wohl nicht
unwahrscheinlich, dass schon damals eine grössere Anzahl Krank¬
heitsfälle vorhanden war, als gemeldet wurde. Vom 31. Dezember
1905 bis 3. Februar 1906 wurden im Kreise Ruhrort gemeldet 32 neue
Erkrankungen und im benachbarten Kreise Duisburg 13. Vom 4. Fe¬
bruar bis 3. Marz wurden im Kreise Ruhrort als neue Erkrankungen
22 gemeldet. Vom 4. März bis zum 31. März im Kreise Ruhrort 20
im Kreise Duisburg 6 etc.
J. greift aus diesen Zahlen des Monats Januar allein die Kranken
(23) heraus, welche im Krankenhause Schmidthorst Aufnahme fan¬
den, lässt aber die übrigen (10?) und die Erkrankungen des Kreises
Duisburg völlig unberücksichtigt. Wenn am 8. Januar zwangsweise
Krankenhauspflege angeordnet wurde (das Krankenhaus war zu dieser
Zeit kaum soweit fertiggestellt, dass Kranke Aufnahme finden konnten)
so ist es ganz erklärlich, dass die kranken Kinder aus der un¬
mittelbar anliegenden und bisher besonders befallenen Kolonie Neu¬
mühl-Schmidthorst zuerst eingeliefert wurden. Die Väter dieser Kin¬
der arbeiteten nach Lage der Verhältnisse, soweit sie Bergleute waren,
alle auf Neumühl.
Der Beweis, dass durch Belegschaftswechsel von Zeche Neu¬
mühl nach Zeche Deutscher Kaiser die Krankheit eine Verbreitung ge¬
funden hat, ist m. E. nicht erbracht. Wenn im Januar kein Beleg¬
schaftswechsel zwischen Neumühl und Deutscher Kaiser stattfand, so
ist damit nur bewiesen, dass die Beziehungen zwischen beiden Zechen
in dieser Zeit nicht lebhaft waren. Es ist aber kaum anzunehmen, dass
in dieser Zeit überhaupt kein Belegschaftswechsel auf Zeche Neumühl
stattgefunden hat. Ist dies aber der Fall gewesen, so hätte auch die
Folge eintreten müssen, dass durch Bergleute von Zeche Neumühl auf
einer anderen Zeche die Bergleute infiziert worden wären. Darüber
ist aber nichts festgestellt. Dass durch den Belegschaftswechsel
von Neumühl nach Deutscher Kaiser IV keine Uebertragung stattge¬
funden hat, wird durch .1. selbst hervorgehoben. Bei dem Beleg¬
schaftswechsel von Neumühl nach Deutscher Kaiser II und III fehlt
aber die m. E. unerlässiche Feststellung, ob diese Arbeiter ledige
Personen, oder ob sie verheiratet waren, und ob event. mit dem
Wechsel der Arbeitsstätte des Vaters die Familie gleichzeitig die
Wohnung wechselte und ob nicht hierdurch der Familie die Rolle des
Infektionsträgers zufiel.
Auch die geringe Anzahl der Erkrankungen bei den jugendlichen
Bergarbeitern, von denen man doch annehmen muss, dass bei ihnen
Empfänglichkeit bestand, spricht gegen die Annahme, dass die Arbeits¬
stätte als Verbreiter der Seuche angesehen werden kann. Aus dem
Regierungsbezirk Düsseldorf stehen mir in dieser Hinsicht keine Zahlen
zur Verfügung. Aus dem Verzeichnis der Kgl. Regierung zu Arns¬
berg über die in der Zeit vom 1. Januar bis 4. August 1906 als
Genickstarre gemeldeten Krankheits- und Verdachtsfälle möchte ich
aber hervorheben, dass insgesamt gemeldet wurden 176 Fälle. In
95 Fällen gehörten die Erkrankten Bergmannsfamilien an. In 58 Fällen
waren die Erkrankten 14 Jahre und darüber alt. Von diesen 58 Fällen
entfielen nur 11 auf jugendliche Bergleute.
Es soll nicht bestritten werden, dass der von J. angenommene
Weg unter besonderen Umständen gelegentlich eine Infektion herbei¬
führen kann. Aber sicher ist dieser Weg nicht der einzige und sicher
nicht der gewöhnliche.
Ob die Pyozyanase den Meningokokkus im Nasenrachenraum
vernichtet, kann ich aus Mangel an bakteriologischen Spezialkennt¬
nissen nicht beurteilen. Ich muss es daher auch dahingestellt sein
lassen, ob die von J. ausgeführte Pyozyanase das Erlöschen der
Epidemie im Kreise Ruhrort beeinflusst hat. Man darf aber nicht über¬
sehen, dass die Epidemie auch an anderen Stellen zum Erlöschen ge¬
kommen ist, ohne dass diese Massregeln daselbst zur Anwendung
gekommen wären. Vielleicht war das infektionsfähige Material er¬
schöpft (im Krankenhause Schmidthorst allein waren 180 Kinder zur
Aufnahme gelangt), vielleicht auch war das Erlöschen durch atmo¬
sphärische Verhältnisse bedingt. Bei der geringen Widerstands¬
fähigkeit und der hohen Empfindlichkeit bezüglich des Nährbodens,
die die Meningokokken nach dem Ergebnisse der bakteriologischen
Forschungen haben sollen, möchte ich es für möglich und durch¬
führbar halten, durch Anwendung leichter Chlordämpfe die Ange¬
hörigen eines Genickstarrekranken von ihrer Eigenschaft als Kokken¬
träger zu befreien.
Die vorgeschlagenen prophylaktischen Massregeln, beim Auf¬
treten der Genickstarre in der Familie eines Bergmanns ausschliess¬
lich den Vater als I räger der Infektion anzusehen und von der Arbeit
unter Tag auszuschliessen, kann ich weder als begründet, noch
als erfolgversprechend ansehen.
Bochum, den 7. September 1906.
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Die Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst in Bayern.
Erwiderung auf den v. Hössl in sehen Artikel in No. 41
dieser Wochenschrift.
Von Dr. med. Fritz Bruch in Seckenheim (Baden).
Es mag auf den ersten Blick etwas befremdlich erscheinen, dass
ein in Baden praktizierender Arzt sich zu der vorliegenden Frage
äussert. Es sei deshalb gleich mitgeteilt, dass ich im Jahre 1904/05
das bayerische Physikatsexamen gemacht habe und also wohl in der
Lage bin, zu dieser Frage Stellung zu nehmen.
V' schreibt das ungünstige Prüfungsresultat des
Jahres 1905 06, dass nämlich nur 66 Proz. — 2/s der Kandidaten die
Pi iifung bestanden haben, einzig und allein den Mängeln der Prü¬
fungsordnung zu. Nun muss ich fürs Erste gestehen, dass ich dieses
Resultat absolut nicht für ein ungünstiges halte. Fällt in den juristi¬
schen Prüfungen, auf die v. Hössl i n so gerne hinweist, nicht
mindestens ein ebenso hoher Prozentsatz der Kandidaten durch?
Das I hysikatsexamen darf doch nicht eine reine Formalität sein, wie
2162
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
etwa in vielen Fällen das mündliche Doktorexamen es ist! Denkt
sich v. H ö s s 1 i n die Sache so, dass wer ein Sommersemester die
einschlägigen Vorlesungen Und Kurse bei den Examinatoren in Mün¬
chen gehört hat, unter keinen Umständen im Examen durchfallen
dürfe?
v. H ö s s 1 i n gibt zu, dass die Ansprüche, welche an das Wissen
der Amtsärzte gestellt werden, in den letzten Jahrzehnten enorm ge¬
wachsen sind und dass sie sich in der Zukunft immer mehr steigern
werden. Also muss doch auch das Physikatsexamen dementsprechend
schwieriger werden, denn die Regierung hat ein wohlberechtigtes
Interesse daran, dass nur fähige Aerzte die Laufbahn des staats¬
ärztlichen Dienstes einschlagen. Die amtsärztliche Tätigkeit lässt
sich heutzutage nicht mehr als ein Nebenamt ansehen; sie ist ein
Spezialfach geworden, das einer gründlichen Vorbildung bedarf.
Dass in den anderen Bundesstaaten eine mündliche Prüfung aus
der Psychiatrie überhaupt nicht existiere — wie v. H ö s s 1 i n be¬
hauptet — ist unrichtig. Ich weise nur auf Baden hin. Hier hat die
mündliche Prüfung zunächst an die schriftlichen Arbeiten anzuknüpfen
und sich sodann auf andere Fragen aus der gerichtlichen Medizin usw.
zu erstrecken. Da nun aber die gerichtliche Psychiatrie zur gericht¬
lichen Medizin gehört, so prüft man in Baden auch Psychiatrie im
mündlichen Examen — und dies mit vollem Recht. Die Hauptsache
in der Psychiatrie soll ja der praktische Fall sein, aber der Exami¬
nator für Psychiatrie hat es doch mit dem besten Willen nicht in der
Hand, immer solche Fälle zu geben, an denen der Kandidat alles das
zeigen kann, was die Prüfungsordnung verlangt. Hierfür ist das
mündliche Examen da; und für manchen Kandidaten, der im prak¬
tischen Fall hereingefallen ist, bietet sich im mündlichen Examen
eine willkommene Gelegenheit, sich herauszureissen.
v. H ö s s 1 i n vergleicht das Physikatsexamen mit dem juristi¬
schen Staatskonkurs und vertritt die Ansicht, letzteres sei gerechter,
weil alle Kandidaten die gleichen Themata zu bearbeiten hätten.
Im juristischen Staatskonkurs soll der Kandidat in einer Reihe
von kürzeren schriftlichen Klausurarbeiten dartun, dass er in allen
Zweigen der juristischen Wissenschaft zu Hause ist; er soll be¬
weisen, dass er die Rechtsquellen kennt, aus denen er schöpft, und
dass er in die einzelnen Gesetze mit Verständnis eingedrungen ist.
Dazu hat er für jede Aufgabe immer nur einige Stunden Zeit und
seine Literatur bringt er selbst mit in das Examen. Diese Literatur
ist aber eine derart beschaffene, dass er sie teils selbst besitzt, weil
sie zu seinem beruflichen Rüstzeug gehört, teils dass er sie sich mit
Leichtigkeit von den einzelnen Aemtern, wo er praktiziert hat,
auf die Tage des Staatskonkurses leiht.
Ganz etwas anderes sollen die schriftlichen Arbeiten im Physi¬
katsexamen sein. Hier soll der Kandidat ein wissenschaftliches
Thema auf Grund eingehender Literaturstudien bearbeiten; hiezu
sind ihm 6 Monate Zeit gegeben, v. H ö s s 1 i n schlägt nun vor, man
solle die beiden gleichen Themata allen Kandidaten geben; natürlich
müsste dies innerhalb derselben Zeit geschehen.
Die Ausführbarkeit dieses Vorschlages scheitert schon an dem
Umstand, dass es einfach unmöglich wäre, jedem Kandidaten für diese
beiden Arbeiten innerhalb derselben Zeit die nötige Literatur zu be¬
schaffen.
Des weiteren sieht v. H ö s s 1 i n darin eine Ungerechtigkeit, dass
die äusseren Verhältnisse, unter denen die Kandidaten ihre schrift¬
lichen Arbeiten anfertigen, zu verschiedenartige sind. Er fordert
deshalb in der Zensur der schriftlichen Arbeiten Rücksichtnahme auf
die misslichen äusseren Verhältnisse manches Kandidaten. Wo soll
da die Rücksichtnahme anfangen und wo aufhören? Wäre dadurch
der Protektionswirtschaft nicht Tür und Tor geöffnet? Es ist darum
nur zu wünschen, dass die Examinatoren, genau wie sie es bisher
taten, auch fernerhin „ohne Ansehen der Person“ die schriftlichen
Arbeiten nur darnach beurteilen, was sie wert sind, ganz egal, ob
die Arbeit von dem Arzt X in München oder dem Arzt Y in einem
weltvergessenen Dörfchen der Rheinpfalz stammt.
Dass es einem Psychiater oder einem Hygieniker leichter fällt,
ein Thema aus seinem Spezialgebiet zu bearbeiten, als einem prak¬
tischen Arzt, in dieser Behauptung wird jeder v. Hösslin zu¬
stimmen. Aber wo steht denn, dass der Psychiater ein Thema aus der
Psychiatrie und der Hygieniker eines aus der Hygiene erhält? Das
Los, der gerechteste Verteilungsmodus, den es gibt, entscheidet und
da kann es doch z. B. gerade Vorkommen, dass der Psychiater eine
Arbeit aus der Hygiene, von der er nur noch einen schwachen
Schimmer hat, bekommt, und umgekehrt kann einem Hygieniker eine
Arbeit aus der Psychiatrie zufallen, in welches Gebiet er sich viel¬
leicht noch schwerer einarbeitet als der praktische Arzt. Schliesslich
darf aber nicht vergessen werden, dass die Arbeiten, so starkes Kopf¬
zerbrechen sie auch manchem Kandidaten schaffen mögen, keine
solchen sind, die ein experimentelles Arbeiten nötig machen; es sind
lauter sogen. Literaturarbeiten und die muss jeder, sofern er über¬
haupt für den ärztlichen Staatsdienst fähig sein will, ausarbeiten
können, der eine natürlich besser, der andere schlechter.
Dass die Beschaffung der Literatur für die schriftlichen Arbeiten
auf Schwierigkeiten stösst, muss ich auch für den von einer Fach¬
bibliothek entfernt wohnenden Arzt bestreiten. Man muss sich nur
ernstlich darum bemühen. Wer sich freilich auf das verlässt, was
ihm sein Buchhändler zusammenstellt und schickt, der wird nicht hin-'
reichend Literatur haben. Was der Buchhändler schickt, ist nur
der Grundstock, auf dem man aufbaut und durch die in diesen Werken
gegebenen Hinweise nach neuer Literatur selbst sucht. Die lässt
man sich von den Universitäts- oder Staatsbibliotheken kommen.
Die Münchener Universitätsbibliothek und die dortige Staatsbibliothek
haben mir — und jedenfalls auch vielen anderen — in zuvorkommen¬
der Weise alles zugeschickt, was ich benötigte.
v. Hösslin tadelt es, dass die schriftlichen Arbeiten in den
Wintermonaten, wo der praktische Arzt in seiner Praxis mit Arbeit
überhäuft ist, anzufertigen sind. Das hat seine Schattenseiten und
manches Mal schläft man, wenn man sich abends zum Studium hin¬
gesetzt hat, über der Wissenschaft ein. Doch da muss man sich zu
helfen wissen. Wer das Physikatsexamen machen will, weiss, dass
es ihn Geld kostet: Dreimonatlicher Aufenthalt in München, Kollegien¬
gelder, Examensgebühren usw. Wenn man auf dem Lande prakti¬
ziert, muss man während seiner Abwesenheit einen Vertreter haben.
Das kostet Geld und zwar eine ganz nette Summe. Also kann man
auch noch 300 Mark mehr ausgeben. Hierfür nimmt man sich den
Vertreter schon Mitte März als Assistenten — deshalb erhält er auch
ein geringeres Honorar als in den Sommermonaten, wo er die Praxis
allein zu versehen hat. Von Mitte März bis 1. Mai, allwann die
schriftlichen Arbeiten einzuliefern sind, kann man, da man sich mit
Hilfe des Assistenten den Nachmittag und den Abend frei hält, bei
redlichem Eifer seine schriftlichen Arbeiten fertig bringen. Natürlich
muss man sich in der Zeit vom November bis zum März in seine
Arbeiten eingeschafft und die einschlägige Literatur durchgearbeitet
haben. Man hat dann noch den weiteren Vorteil, dass man den Ver¬
treter für die Sommermonate in die Praxis hat gründlich einführen
können. Das Publikum hat sich an den Vertreter gewöhnt und Ver¬
trauen zu ihm gefasst, so dass ein grosser Teil desselben ihn auch in
den Sommermonaten nimmt, wenn man in München ist, und damit
ist der pekuniäre Ausfall nicht so gross.
Den schwächsten Teil der v. Hösslin sehen Ausführungen
bildet sein Angriff auf die praktische Prüfung aus der Hygiene, in der
Form, wie sie jetzt geübt wird. Dieser Teil scheint ihm am meisten der
Reform bedürftig oder einfach der Abschaffung würdig. Aber gerade
in diesem Teil der Prüfung zeigt es sich, dass die schlechten Re¬
sultate des bayerischen Physikatsexamens zum guten Teil an den
Kandidaten selbst liegen. Darüber hört man nie ein Wörtchen, ob
denn die Kandidaten voll und ganz das zum Examen mitbringen, was
sie -sollen. Und da muss ich sagen: „In vielen Fällen nicht.“
v. Hösslin ruft entrüstet aus: „Wäre es nicht einfacher, sich
davon zu überzeugen, ob der Kandidat ganz im allgemeinen einen
Ueberblick über die angewandte Hygiene besitzt, statt ihm in der
Vorbereitungszeit 40 — 60 Reaktionen, Technizismen usw. rasch ein-
zupauken.“ Schlimm genug, dass man den zukünftigen Amtsärzten
diesen Stoff „einpauken“ muss und dass ein grosser Teil der Kandi¬
daten auch nicht ein Jota mehr tut, als sich „einpauken“ zu lassen.
Bekanntlich tut man als Student in Hygiene gerade nur so viel, als
man eben muss. Es gibt auch kaum etwas Langweiligeres als ein
theoretisches Kolleg der Hygiene und dies um so mehr, wenn man,
wie die meisten Mediziner, mit den Hilfswissenschaften der Hygiene,
nämlich der Physik, der Chemie und der Mathematik auf gespanntem
Fusse steht. Die Hygiene wird erst dann geniessbar, wenn man sie
praktisch treibt. Gewiss kann der Amtsarzt später aus äusseren
Gründen die hygienischen Untersuchungsmethoden nicht ausführen,
aber wenn er niemals praktisch in Hygiene gearbeitet hat, wird er
auch kein Verständnis für hygienische Fragen haben. Natürlich fällt
es einem schwer, sich in die Hygiene einzuarbeiten, wenn man
mehrere Jahre in der allgemeinen Praxis gestanden hat; aber dies
ist überhaupt nur möglich durch ein Praktikum in der Hygiene, denn
die Untersuchungsmethoden, welche man einmal selbst ausgeführt hat,
vergisst man nie mehr in seinem Leben.
Die Hauptschuld an dem Examensmissgeschick eines manchen
Kandidaten liegt meines Erachtens darin, dass in vielen Fällen die
Vorbereitung auf das Examen viel zu studentenmässig betrieben
wird. Es werden wortgetreu die einzelnen Vorlesungen nachge¬
schrieben oder es wird vom Repetitor ein Skriptum geliehen und
dieses Skriptum — aber auch ja nicht mehr — auswendig gelernt.
Verliert nun so ein „Eingepaukter“ in der Examenaufregung den
Faden seines eingelernten Sprüchleins, dann ist es natürlich mit der
Wissenchaft aus. Dass aber die Examinatoren gar nicht an ihren
eigenen Worten kleben, sondern auch anderes Wissen und andere
Untersuchungsmethoden als die von ihnen bevorzugten gelten lassen,
wenn man sie richtig zu reproduzieren weiss, habe ich in allen
Teilen des Examens erfahren. Ich habe mich nicht in der üblichen
Weise in München auf das Examen vorbereitet, sondern während
des Sommersemesters 1905 in Heidelberg und habe — allerdings
mit Unterstützung eines Assistenten — meine Praxis nebenbei ver¬
sehen. Die Vorlesungen und Kurse, welche ich in Heidelberg mitge¬
nommen habe, waren gewiss keine „Paukkurse“, aber gerade deshalb,
glaube ich, haben sie für mich einen um so höheren Wert gehabt.
Daraus erhellt, dass das bayerische Physikatsexamen denn doch kein
so unmenschliches Examen ist, als man es in den letzten Jahren hin¬
zustellen beliebte.
Zum Schluss möchte ich den Vorschlag, die Prüfung für den
ärztlichen Staatsdienst an das Ende des praktischen Jahres zu setzen,
als durchaus verfehlt bezeichnen. Im praktischen Jahr soll der Prak¬
tikant sich mit der Vorbereitung für die allgemeine Praxis be-
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2163
schattigen, er hat also zu Studien auf das Physikatsexamen gar keine
Zeit und Gelegenheit. Ein Verständnis für die Fragen, wie sie an den
Amtsarzt herantreten, kann man bei einem Mediziner, der noch nicht
selbständig praktiziert hat, nicht voraussetzen und es ist deshalb
mit aller Entschiedenheit auf der Forderung zu bestehen, dass erst
zwei Jahre nach der erlangten Approbation das Physikatsexamen
abgelegt werden kann.
Referate und Bücheranzeigen.
E. Ziegler: Lehrbuch der allgemeinen Pathologie und
der pathologischen Anatomie. Für Aerzte und Studierende.
11. neu bearbeitete Auflage. II. Band: Spezielle pathologische
Anatomie. Mit 798 teils schwarzen, teils farbigen Abbildungen.
Herausgegeben von Dr. Edgar G i e r k e und Dr. Kurt Zieg¬
ler. Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1906.
Das Vorwort zu der vorliegenden Auflage des II. Bandes
des Z i e g 1 e r sehen Lehrbuches wird von den Herausgebern
mit folgenden Worten begonnen: „Mitten in der rastlosen Ar¬
beit für die neue Auflage seiner speziellen pathologischen Ana¬
tomie wurde E. Z i e g 1 e r aus dem Leben gerufen. Sein Werk
tritt als Waise an die Oeffentlichkeit, doch darf es noch ganz
als Zieglers letztes Werk bezeichnet werden.“ Das sind
traurige Worte, welche nicht nur von allen Freunden des
Ziegler sehen Lehrbuches, sondern von allen wissenschaft¬
lich arbeitenden Aerzten, namentlich aber von den Fachgenossen
des Verstorbenen mit tiefstem Leid empfunden werden.
Um so dankbarer ist es anzuerkennen, dass die neue Auf¬
lage des Werkes von den beiden Herausgebern durchaus im
Geiste Zieglers gehalten ist. Die Anordnung des Stoffes
ist im Wesentlichen die gleiche geblieben, nur Hypophyse,
Schilddrüse und Nebenschilddrüsen, Nebennieren, Karotis- und
Steissdriise wurden nicht nur neu bearbeitet, sondern auch als
Drüsen mit innerer Sekretion in einem besonderen Abschnitt
zusammengefasst. Ferner wurden neu bearbeitet mehrere Ka¬
pitel der Herz- und Gefässerkrankungen, die Kapitel über Leu¬
kämie und Lymphdrüsenerkrankungen und besonders über Er¬
krankungen der Knochen, welche unter Berücksichtigung der
Aetiologie und Genese auch eine veränderte Einteilung er¬
fahren haben.
Während die genannten und andere Kapitel noch von
Ziegler fertiggestellt worden sind, wurde fast der ganze Ab¬
schnitt über die Erkrankungen der Verdauungsorgane und des
Peritoneums, der Harnorgane, der Geschlechtsorgane, sowie
der Nebennieren von Gierke, die Abschnitte über die Er¬
krankungen des Nervensystems, der äusseren Haut, des Re¬
spirationsapparates und der Schilddrüse von K. Ziegler
einer gründlichen Durchsicht unterzogen und entsprechend den
Fortschritten der letzten Jahre teils umgearbeitet, teils mit er¬
gänzenden Zusätzen versehen.
Die Stellungnahme zur Frage der Entstehung der Lungen¬
tuberkulose ist auf einem nicht mehr zur Veröffentlichung ge¬
langten Vortrag Z i e g 1 er s begründet, in welchem dieser den
Schwerpunkt auf die aerogene Infektion legt.
Die Zahl der Abbildungen ist abermals um 75 vermehrt
worden.
Möge das hervorragende Werk auch für die Zukunft voll
und ganz auf der Höhe der Wissenschaft bleiben und stets
in dem Geiste seines Schöpfers gehalten werden, ein bleiben¬
des, ehrendes Denkmal sowohl für den Dahingeschiedenen als
auch für deutschen Forschergeist. G. Hauser.
Lehrbuch der Krankheiten des Herzens und der Blutgefässe
von Dr. Ernst R o m b e r g, o. Professor und Direktor der
medizinischen Klinik in Tübingen. Mit 53 Abbildungen. Stutt¬
gart, Verlag von F. Enke, 1906. Preis 13 M. (548 Seiten.)
Wie die Verhandlungen der medizinischen Kongresse und
die einschlägige Literatur erkennen lassen, steht für die innere
Medizin die Herzpathologie, durch die Arbeiten der Physio¬
logen im letzten Jahrzehnt nach vielen Richtungen hin be¬
fruchtet, im Vordergrund des Interesses. Es geht darin vor¬
wärts — aber nur auf dem Wege mühsamer Arbeit. Die
Wirkung der Entdeckung der Röntgenstrahlen auf dieses Ge¬
biet konnte vielleicht nur im ersten Enthusiasmus mit jener
in eine Parallele gestellt werden, welche der Erfindung des
Augen- oder des Kehlkopfspiegels für die betreffenden Dis¬
ziplinen entsprach. Trotz mancher Förderung durch den neuen
diagnostischen Behelf sind auch heute noch die wichtigsten
Mittel für den Fortschritt auf diesem schwierigen Gebiete die
physiologische und anatomische Kleinarbeit und die kritisch sich
betätigende klinische Beobachtung, in relativ kleinem Um¬
fange, trotz Herings u. A. einschlägiger bekannter Ergebnisse,
das Tierexperiment. Der unzweifelhafte Fortschritt in der
Herzpathologie wurde aber besonders dadurch gefördert und
wird auch für die Zukunft garantiert, dass physiologisch und
anatomisch in besonderem Masse geschulte Aerzte sich ihrer
intensiv annehmen. Durch diese, nicht Arbeitsteilung, sondern
-Vereinigung kamen die so fruchtbringenden Resultate der
„Leipziger Schule“ zum Vorschein und das vorliegende Werk
ist eine reife und sagen wir gleich, vortreffliche Frucht dieser
Arbeitsweise.
Will man die R. sehen „Herzkrankheiten“ gegenüber ähn¬
lichen gleichzeitigen oder früheren Werken kurz charakteri¬
sieren, so kann man sagen: Das Buch ist in seiner Ganzheit
der hervorragend geglückte Versuch, Alles, was an normaler
und pathologischer Physiologie des Kreislaufes in jüngster Zeit
klargestellt wurde, zur alles beherrschenden und durchdringen¬
den Grundlage der gesamten Darstellung zu machen. So ist
für Rom b erg das auf jedem Blatte erkennbare Ziel seiner
Darstellung das, die bei den Herzkranken vorkommenden kli¬
nischen Symptome aus dem pathologisch veränderten Ge¬
schehen heraus zu entwickeln, ihre Notwendigkeit zu be¬
gründen. Mit dieser Durchdringung des ganzen klinischen
Stoffes mittels physiologischer Anschauung verträgt sich jedes
Schematisieren immer weniger, die entworfenen Bilder ver¬
lieren die künstlich aufgerichteten starren Grenzen, ein Blick
auf ältere und auch neue, besonders manche ausländische
Werke über Herzkrankheiten zeigt, dass statt bequemer, aber
naturfremder Schablonen wie dort, unter der jetzigen Flagge
der Physiologie das dogmatische Schema, in welchem gerade
auch die Herzkrankheiten Dezennien lang erstarrt und ohne
wesentlichen Fortschritt blieben, nicht mehr bestehen kann.
Die Fassade wird jetzt nach Massgabe der Innenräume ge¬
macht, früher umgekehrt. In diesem Sinne verstanden, scheint
mir das R.sche Werk ein sehr erfreulich wirkender Markstein
auf dem Wege nach vorwärts.
Seinen ganzen, von Jahr zu Jahr anschwellenden Stoff hat
der Autor innerhalb eines einfachen und daher sehr gut zu
übersehenden Rahmens aufgebaut. In der Einleitung (S. 1 — 38)
werden nach kurzer geschichtlicher Einführung und auf das
Nötigste beschränkten anatomischen und physiologischen Vor¬
bemerkungen die Untersuchungsmethoden für Herz und Ge-
fässe besprochen. Die Friktionsmethode zur Bestimmung der
Herzgrösse wird von R. verworfen, die von Goldscheider
angegebene Orthoperkussion erscheint ihm sehr rationell und
beachtenswert. Ein Vergleich einer durch diese Methode er¬
haltenen Herzfigur mit einem Röntgenogramm des Herzens
illustriert dies günstige Urteil. Der Palpation des Herzens wird,
besonders für die Unterscheidung von Dilatation und Hyper¬
trophie, im Sinne Bambergers eine oft entscheidende Rolle
von R. zugeteilt. Die Methoden für die funktionelle Prüfung
des Herzens finde ich zu kurz behandelt.
Mit eingehender Behandlung der Symptomatologie folgen
dann die organischen Krankheiten des Herzens (S. 39 — 368),
darin das grosse, vortrefflich bearbeitete Hauptkapitel über
die chronische Insuffizienz des Herzmuskels, die nach Mass¬
gabe der Aetiologie in 12 verschiedene klinische Formen
differenziert wird. Die Angabe, dass luetische Herzerschei¬
nungen ausschliesslich in der tertiären Periode erworbener
Syphilis Vorkommen (S. 124), kann Referent nicht als zu¬
treffend ansehen, zumal auch anatomische Veränderungen des
Herzmuskels im Sekundärstadium publiziert sind. Eine etwas
breitere Behandlung dürfte das Kapitel des Kropfherzens er¬
fahren, das Verfasser auf die durch die Kropfstenose bedingten
Herzstörungen einengt, während andere Kliniker, z. B. K r a u s,
dann M i n n i c h u. a. diesen Begriff sehr viel weiter fassen.
Die Darstellung der Klappenfehler, früher solcher Werke
Hauptstück, nimmt jetzt charakteristischerweise, wie auch hier,
einen ziemlich bescheidenen Raum ein (S. 169 — 223) — sie ist
zum grossen Teil in der Beschreibung der chronischen Herz¬
muskelinsuffizienz aufgegangen.
2164
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
Mit grösster Sorgfalt lind Liebe und geleitet von reicher
persönlicher Erfahrung, hat R. die Therapie aller Erscheinungs¬
formen der chronischen Herzmuskelschwäche durchgearbeitet.
Ich glaube, dass wir z. 7 in dieser Hinsicht nichts Besseres
in Händen haben. Gerade hier tritt die Förderung der prak¬
tischen Ziele der Therapie durch die Verbindung zwischen
streng wissenschaftlicher Arbeit und der steten Schulung und
Kontrolle am Krankenbette sehr scharf hervor. Vorläufig wach¬
sen auch da freilich die Bäume nicht in den Himmel, aber viel
ist durch die immer striktere Umgrenzung und Auseinander¬
scheidung der therapeutischen Indikationen jedenfalls gewon¬
nen. Einer in grösserem Umfange aussichtsreichen Herz¬
therapie, als sie heute ist, steht der Umstand entgegen, dass
zahllose Herzkrankheiten nicht in den allerersten Stadien zur
Behandlung gelangen. Wäre die Diagnose so offensichtlich,
wie bei beginnender Skoliose, so wäre das Werk des Herz¬
therapeuten vielleicht so aussichtsvoll, wie jenes des Ortho¬
päden; würde die Meinung des Publikums der beginnenden
Herzschwäche gegenüber sich etwa so verhalten, wie sie an¬
fängt, es malignen Neubildungen gegenüber zu tun, so würde
der Pessimismus den Herzkrankheiten gegenüber bald stark
an Boden verlieren. Die medikamentösen, diätetischen und
balneologischen Behandlungsfaktoren werden von R. in muster¬
gültiger Weise vorgeführt, nur vermisse ich eine eingehende
kritische Würdigung der so stark im Schwünge stehenden Be¬
handlung mit elektrischen Bädern; nur bei Besprechung der
nervösen Herzkrankheiten werden sie kurz besprochen. Viele
Praktiker aber warten geradezu darauf, was eigentlich die
nüchternen Kliniker zum modernen Wechselstrombad-Enthu-
siasmus zu sagen haben.
Die Angabe R.s über die Dosierung der intravenösen Di-
galeninjektionen (p. 248) dürfte nicht zutreffen, widerspricht
wenigstens den ersten Angaben Kottmann s, der sie ein-
fiihrte. Für den Morphiumgebrauch bei kardialem Asthma
spricht sich R. mit Recht sehr bestimmt aus.
Zunächst folgen seltenere Herzaffektionen: Thromben,
Rupturen, Parasiten etc. des Herzens, dann die Schilderung
der akuten Herzkrankheiten, der Myokarditis und der mancher¬
lei Formen von Endokarditis. An die Krankheiten des Herz¬
beutels (S. 369 — 398) schliesst sich ein kurzes Kapitel über
die Entstehung und Verschlechterung organischer Herzkrank¬
heiten durch Unfälle, dem später ein analoges betr. Gefäss-
krankheiten zur Seite tritt.
Die Darstellung der organischen Krankheiten der Arterien
(hier Arteriosklerose, Aneurysma, Thrombose und Embolie)
und Venen ist wieder sehr eingehend bearbeitet, speziell auch
das Aneurysma-Kapitel. Betr. der Arteriosklerose ist R., wie
bekannt, ein Freund der chronischen Jodtherapie, gegen an¬
dere moderne Versuche der Beeinflussung dieser Abnutzungs¬
krankheit verhält er sich — mit Recht — sehr skeptisch. Das
Schlusskapitel (p. 509 — 535) befasst sich mit den Herz- und
Gefässneurosen und schliesst besonders eine gute Schilderung
des neurasthenischen Herzens in sich. Die toxisch bedingten
Herz- und Gefässstörungen durch Tabak, Kaffee, Thee, Mor¬
phium könnten eigentlich aus dem Kapitel der Neurosen heraus¬
genommen werden. Sie bilden wohl eine eigene Gruppe. Die
Unfallsherzneurosen werden kurz in ihrer Beziehung zu anderen
Neurosenformen erwähnt.
Wie für jeden vorübergehenden Benützer des R. sehen
Werkes das ausführlich gestaltete Inhaltsverzeichnis, so sind
für jeden literarischen Arbeiter in der Herzpathologie die sehr
schönen und sorgfältig aus älterer bis neuester Zeit ausge¬
wählten Literaturangaben vor grossem Werte. Jedem grös¬
seren Kapitel ist eine Uebersicht des literarischen Haupt¬
materials beigefügt.
So liegt uns ein als hervorragend zu bezeichnendes Werk
vor, von dem man in der Vorhersage kaum getäuscht wird:
Ls w ird unter den Aerzten nach Verdienst verbreitet werden.
Grassmann - München.
W. Ebstein: Die Natur und Behandlung der Gicht.
II. Auflage. Bergmann, Wiesbaden. Preis 10.60 M.
Ebstein hat in dem starken Bande seine Anschauungen
über die Gicht, ihre Pathogenese und Behandlung ausführlich und
mit eingehender Berücksichtigung alter und neuer Forschungen
niedergelegt: eine interessante Zusammenfassung der Vorstel¬
lungen, die sich im Laufe vieler Jahre der rührige Gicht¬
forscher von dem Wesen dieser Krankheit gebildet hat. Die
starke Betonung der eigenen Erfahrungen und Untersuchungen
macht die Lektüre des Buches zu einer sehr anregenden. Trotz
der subjektiven Färbung ist die Darstellung durchaus keine
einseitige; die Literatur ist ausgiebig benützt und wo gegen¬
teilige Ansichten sich geltend machen, geht der Autor tiefer
auf sie ein und wehrt sich mit sachlichen Gründen. So wirken
gerade jene Stellen, an welchen mancher vielleicht nicht den
Ebstein sehen Anschauungen folgen kann, besonders an¬
ziehend. Mit trefflicher nüchterner Beurteilung sind die Ab¬
schnitte über die Behandlung der Gicht geschrieben.
V o i t - Erlangen.
Graefe-Saemisch: Handbuch der gesamten Augen¬
heilkunde. 2. umgearbeitete Auflage. Leipzig 1906. W. En¬
ge I m a n n. Subskriptionspreis der Lieferung 2 Mk. Einzel¬
preis 3 Mk.
Die 105. bis 108. Lieferung (II. Teil, XI. Band, XXII. Ka¬
pitel, Teil II) bringt auf Seite 415 — 682 aus der bewährten
Feder Professor Uhthoffs die Augensymptome bei den
Erkrankungen der Medulla oblongata, des Pons, des 4. Ven¬
trikels, der Hirnschenkel, der Vierhügel und der Zirbeldrüse.
Umfassende Literaturangabe, kritische Sichtung des Materials
und klare ansprechende Darstellung, unterstützt durch gute
Abbildungen, zeichnen auch diese neuesten Lieferungen des
grossen Sammelwerkes aus. Hervorzuheben ist, dass auch der
Nichtophthalmologe, besonders der Nervenarzt das Buch mit
grossem Interesse lesen wird, da er wertvolle neue Anhalts¬
punkte für die differentielle Diagnose daraus gewinnt.
Im besonderen ist anzuführen, dass Verfasser den alten
Griesinger sehen Satz, dass bei völliger Intaktheit des
Gesichtssinnes der Sitz eines Tumors niemals in den Vier-
hiigeln selbst sein könne, durch positiven Gegenbeweis um-
stösst und als entschiedene Vierhügelsymptome nur Okulo-
motoriuslähmungen, besonders doppelseitige und vor allem
Blicklähmung nach oben und nach unten gelten lässt, während
seitliche Blicklähmung auf Ponserkrankung hinweist.
S e g g e 1.
E. M o r i t z: Ueber Lebensprognosen. 2. Aufl. St. Peters¬
burg 1905, Kommissionsverlag von K. Rick er.
Die Broschüre des in versicherungsmedizinischen Kreisen
wohlbekannten Autors, ursprünglich die Bearbeitung eines vor
russischen Aerzten gehaltenen Vortrages, hat sich nun zu einem
Leitfaden für Versicherungsärzte entwickelt, der sich von
anderen Schriften gleicher Tendenz nicht zum wenigsten durch
seine frische Schreibweise auszeichnet, welche die Lektüre an¬
genehm und anregend macht. Nicht auf die Besprechung der
Untersuchungsmethoden, deren Beherrschung von jedem Ver¬
trauensarzt vorausgesetzt werden muss, wird der Nachdruck
gelegt, sondern auf die Abschätzung des Befundes für die
Lebensprognose: die Bedeutung der Familiengeschichte, der
Konstitution, des Alkoholgenusses und der Abstinenz, der
Syphilis, der Arteriosklerose werden eingehend besprochen
und auf umstrittene Fragen in dem jungen Fach der Versiche¬
rungsmedizin hingewiesen, wie z. B. auf die Beurteilung der
zyklischen Albuminurie. Das Werkchen kann jedem Arzt, der
sich für die Lebensversicherung interessiert, warm empfohlen
werden. R. S.
D. v. Hansemann - Berlin : Der Aberglaube in der Me¬
dizin und seine Gefahr für Gesundheit und Leben. Verlag von
B. G. Teubner, Leipzig 1905. 133 S., geh. 1 Mk.
Als 83. Bändchen in der Sammlung wissenschaftlich¬
gemeinverständlicher Darstellung „Aus Natur und Geisteswelt“
sind diese sechs im Verein für volkstümliche Kurse von Ber¬
liner Hochschullehrern gehaltenen Vorträge erschienen. Es ist
dem Verfasser, dem man als Hochschullehrer das Eintreten
für die heute noch vielfach gering eingeschätzte Aufklärung
hoch anrechnen muss, trefflich gelungen, den grossen Stoff in
die enge Form zu giessen. Frei von Tendenz entwickelt er
frisch und überzeugend und freimütig seine Gedanken und bietet
aus der eigenen Beobachtung der Volksbräuche auch dem Arzt
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2165
und Kulturforscher manches Neue. Aberglauben im allgemeinen
und seine Entstehung, Aberglauben bei der Geburt, bei den
Geschlechtskrankheiten, bei den Geisteskrankheiten, Aberglau¬
ben in der Heilkunst, Aberglauben und Kurpfuscherei lauten die
einzelnen Kapitel. Insbesondere in den beiden letzteren ist die
Psychologie der Kurpfuscher und ihres Anhanges sehr wahr
geschildert lind wird auch unserer so aufgeklärten gebildeten
Mitwelt manches beherzigenswerte Wort ins Stammbuch ge¬
schrieben. Gewiss ist H. voll im Recht, wenn er dem viel¬
verbreiteten medizinischen Aberglauben auch der Gebildeten
ihren Hang zum Uebernatiirlichen und die Zugänglichkeit für
jedes neue verworrene und spekulativ philosophische System
an die Seite stellt und wenn er gerade sie auffordert, die Zeit
welche sie so gerne diesen Ideen widmen, lieber auf das
Studium wirklicher Wahrheiten und die Aneignung naturwissen¬
schaftlicher Kenntnisse zu verwenden. Möchte das Werkchen
als eine der grundlegenden Aufklärungsschriften seinen Weg in
die Hände recht vieler Gebildeten finden! B e r g e a t.
Neueste Journalliteratur.
Zeitschrift für Tuberkulose. Band IX, Heft 2. 1906. *)
H. Lü dke- Würzburg: Beobachtungen über 100 mit altem
Koch sehen Tuberkulin behandelte Fälle.
Eine längere Ausführung (S. 113 — 149), die Anhänger und Freunde
der Richtung durchstudieren müssen. Sie eignet sich nicht recht zu
kurzem Referate. Die Ergebnisse sind sehr vorsichtig ausgedrückt.
Heilung wird nicht erzielt, aber doch sind die Erfolge so, dass man
der (Alt-) Tuberkulintherapie den Vorrang vor jeder spezifischen Be¬
handlungsweise der Lungentuberkulose gibt.
Alfred v. S o k o 1 o w s k i - Warschau : Die therapeutische Be¬
deutung des Südklimas, mit besonderer Berücksichtigung Algeriens.
In der Opposition gegen die allzu grosse Betonung des Süd¬
klimas ging man darin zu weit, dass man jeden Nutzen davon in
Frage stellte. Dagegen wendet sich der Verfasser und betont die
noch vorhandenen Vorteile des Südens. Er bietet die Möglichkeit
längeren Verweilens in freier Luft, mehr Sonnenbestrahlung, be¬
sonders durch ultraviolette Strahlen und grössere Elektrizitäts¬
spannung. (Der zweite Punkt mag wohl richtig sein, den dritten kann
ich nicht beurteilen, der erste ist unbedingt abzulehnen, da wir in
Deutschland auch in der Lage sind, einen Kranken den ganzen Winter
über von morgens bis abends an der Luft zu halten. ' Ebenso kann
man das, was von schönen Landschaften und ähnlichen Faktoren ge¬
sagt wird, auf unsere Heilstätten anwenden, die man ja gewöhnlich
auch nicht mitten im Ackerland errichtet. L.) Die Riviera und Um¬
gegend ist aber für Kranke nicht geeignet, die Hotels sind überfüllt,
die Promenaden staubig und mit Automobilen bevölkert. Deshalb
muss man andere Plätze suchen, und einen solchen hat S. in Algerien
gefunden, dem er dann eine längere Beschreibung widmet. In
Mustapha fand er auch ein Lungensanatorium, eingerichtet von dem
holländischen Arzte Dr. Verhaeren, in dem er aber trotz der
Hochsaison weder einen Patienten, noch einen Arzt entdecken konnte.
A. H. H a e n t j e s - Putten : Näheres über Unterstützung des
Bindegewebes bei seinem Kampf gegen das Tuberkulosevirus.
Verf. setzt die früher begonnenen Erörterungen über dieses
Thema fort und bespricht namentlich an der Hand eines Literaturver¬
zeichnisses von etwa 80 Nummern das von anderen hierüber ver¬
öffentlichte. Liebe- Waldhof Elgershausen.
Zentralblatt für Gynäkologie. No. 41 und 42.
R. O 1 s h a u s e n - Berlin : Zur Lehre vom Geburtsmechanismus.
O. bespricht die neueste Publikation Seilheims über den
Geburtsmechanismus, wonach die Drehungen des kindlichen Schä¬
dels zum grossen Teil auf die ungleiche Biegsamkeit der kindlichen
Wirbelsäule zurückzuführen sind. O. stimmt S e 1 1 h e i m in den
meisten seiner Deduktionen bei; er lehrt jedoch, dass nicht alle Er¬
scheinungen des Mechanismus sich dadurch erklären lassen, sondern
dass auch andere Momente eine wichtige Rolle dabei spielen, vor
allem die Einwirkung des Rumpfes auf die Drehungen des Schädels.
Auch S e 1 1 h e i m s Erklärung für das Zustandekommen der Vorder¬
hauptslagen kann O. nicht annehmen. Wer sich über die Frage näher
unterrichten will, sei auf S e 1 1 h e i m s Publikationen in der Samml.
klin. Vortr., N. F., No. 421 und in Hegars Beitr. z. Geburtsh. u.
Gynäkol, Bd. XI, p. 1, 1906 hingewiesen.
J. M e n d e 1 s - Halle a. S.: Ueber Schwangerschaftsblutung in¬
folge von Veränderungen der Decidua reflexa.
M. hält das völlige Fehlen der Reflexa am Ende der Schwan¬
gerschaft für eine Ausnahme, entgegen den gewöhnlichen Angaben
der Lehrbücher. Fehlt die Reflexa in frühen Monaten, so bewirkt
dies Blutabgang. M. beschreibt 2 derartige Fälle. Eine 37 jährige
XII. Para mit unregelmässigen Blutungen während der Gravidität
abortierte im 6. Monat. M. fand an der Plazenta keine Spur einer Re-
*) Durch Versehen verspätet.
flexa, für die er einen primären Defekt annimmt. Im 2. Falle wurde
bei einer ebenfalls 37 jährigen X. Para wegen Blutungen der künst¬
liche Abort eingeleitet. Hier fanden sich nur Spuren einer Reflexa,
von der M. annimmt, dass sie zwar angelegt war, aber später an dem
Uebergang in die Vera zerriss, so dass hier der intervillöse Raum
eröffnet wurde.
S c h w a r z w ä 1 1 e r - Stettin: Zur Technik der Zystoskopie.
Sch. beschreibt einen Uebelstand bei Gebrauch des Irrigators
und empfiehlt mit Casper und N i t z e die Spritze bei der Zysto¬
skopie.
K. H u g e 1 - Landau : Beckenbindegewebsmyome.
H. berichtet über 3 operativ behandelte Fälle, von denen 2 reine
Beckenbindegewebsmyome, 1 ein Bauchdeckenmyom war. Aus
seinen Fällen deduziert H. u. a., dass diese Myome nicht so enorm
selten sind, dass zur Diagnose des retroperitonealen Sitzes die Darm¬
aufblähung vom Aftet aus nicht versäumt werden solle und dass
bei ihrem Sitz im kleinen Becken eine Verwechslung mit Ovarial-
fibromen leicht möglich sei. J a f f e - Hamburg.
Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd. V. No. 6. (Septem¬
ber 1906.)
19) Julius Peiser: Zur Pathologie der Oedeme im Säuglings¬
alter. (Aus der Kgl. Universitäts-Kinderklinik zu Breslau.)
P. fand bei einem wenige Wochen alten Säugling, der intra vitam
starke Oedeme, einmal auch eine Spur Albumen, ausserdem hyaline
und granulierte Zylinder gezeigt hatte (ferner schwere Darmerschei¬
nungen und multiple Abszesse!), eine parenchymatöse Degeneration
hauptsächlich der gewundenen Harnkanälchen zweiter Ordnung, der
Schaltstücke.
20) Ernst M o r o: Hydroa vacciniforme und Belichtungsversuche.
(Aus der k. k. Universitäts-Kinderklinik in Graz.)
M. beschreibt und bildet den seltenen Fall (7 jähr. Knabe) ab.
Das Erkrankungsbild erinnert sehr an die vesikulösen und bullösen
Formen des Erythema exsudativum multiforme, jedoch mit dem
wesentlichen Unterschied, dass die Abheilung der Affektion unter tief¬
greifender Narbenbildung vor sich ging. Im Anschluss daran schildert
er Belichtungsversuche mit verschiedenen Lichtarten, die für den vor¬
liegenden Fall eine erhöhte Lichtempfindlichkeit der Haut beweisen.
21) R. W. R a u d n i t z - Graz: Achtes Sammelreferat über die
Arbeiten aus dem Gebiete der Milchwissenschaft und Molkereipraxis.
Jedem, der heutzutage über Milch arbeitet, sind die vorzüglichen
Rau dnitzschen Referate ein schwer entbehrliches Hilfsmittel.
Interessenten seien auch auf das vorliegende, mehr als 50 Seiten
umfassende, ausdrücklich aufmerksam gemacht.
22) Gallus- Bonn : Sammelreferat über die deutsche ophthalmo-
logische Literatur von 1906. (I. Semester.)
Bericht über 52 einschlägige Arbeiten.
Referate. Albert Uffenheimer - München.
Archiv für Hygiene. 59. Bd. 3. Heft. 1906.
1) Chana S m e 1 i a n s k y - Zürich : Ueber den Einfluss ver¬
schiedener Zusätze auf die Labgerinnung der Kuhmilch.
Erwärmt man die Kuhmilch, dann erfolgt die Gerinnung um so
langsamer, je länger man erwärmt, auch werden um so weicher und
kleiner die Flocken des Gerinnsels. Verdünnt man die Milch mit
Wasser, so tritt eine Verlangsamung der Labgerinnung ein, die da¬
gegen nicht stattfindet, wenn an Stelle von Wasser Schleim zur Ver¬
dünnung benutzt wird. Beim Versetzen von steriler Milch mit
Schleim geht die Gerinnung sogar schneller vor sich. Auch das Lab¬
gerinnsel wird weicher, besonders bei Gerstenschleim. Sodazusatz
bewirkt ein sehr weiches Gerinnsel, jedoch nimmt die Gerinnung sehr
viel längere Zeit in Anspruch. Kalkwasser verzögert die Gerinnungs¬
zeit, bewirkt aber eine weichere Konsistenz. Wichtig ist bei der
Labgerinnung die Reaktion der Milch, indem eine alkalische Milch
feinflockiger gerinnt als eine schwach saure. Zuckerzusätze beein¬
flussen die Gerinnung nicht.
2) W. H o f f m a n n - Berlin : Werden bei der Herstellung der
Trockenmilch nach dem Just-Hatmaker sehen Verfahren Rinder¬
tuberkelbazillen abgetötet?
Die Versuche haben ergeben, dass bei dem Verfahren Tuberkel¬
bazillen abgetötet werden. Das Verfahren nach Just-Hatmaker
besteht darin, dass über zwei erhitzte rotierende Walzen Milch herab¬
läuft, wodurch das Wasser derselben in wenigen Sekunden verdampft.
Während dieser Zeit ist die Milch einer Temperatur von 110° C aus¬
gesetzt.
3) W. R u 1 1 m ,a n n und R. Trommsdorf - München : Milch-
hygienische Untersuchungen.
Bei ihren ausgedehnten Versuchen über die Gewinnung einer
möglichst keimfreien Milch liess sich feststellen, dass schon allein
die Reinlichkeit der Hände der Melker und des Euters der Kuh einen
ganz wesentlichen Faktor darstellt. Noch bessere Resultate werden
erzielt bei Benutzung von gut gereinigten Eimern. Weitere wichtige
Beobachtungen bezogen sich auf die ausserordentlich häufig gefun¬
denen Streptokokken, die wohl immer von einer Mastitis herrührten;
jedenfalls wurde klinisch in der Mehrzahl der Fälle -der pathologische
Befund erhoben. Aus diesem Grunde ist auch eine absolute Sauber¬
keit beim Melken wünschenswert, um nicht die Erkrankung von der
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
einen Kuh auf die andere zu übertragen. Auch muss bei solchen Be¬
funden wiederholt vor dem Genuss roher Milch gewarnt werden.
4) K. B. Lehmann - Wiirzburg: Ueber die Ursachen des ver¬
schiedenen kapillaren Wasseraufsaugungsvermögens dichter weisser
Leinen- und Baumwollstoffe.
Weder die intrafibrillären Räume des Fadens, noch die
interfilären Räume, sondern nur die Fadenstruktur spielt
beim Aufsaugen des Wassers eine Rolle. Ein gedrehter Faden saugte
viel besser als nicht gedrehter. Die Geschwindigkeit des Saugens
war also abhängig von der Weite der interfibrillären Räume
und die Steighöhe nimmt zu mit der Abnahme der Faserzahl oder
der Weite der interfibrillären Räume pro Quadratmillimeter.
R. O. Neumann - Heidelberg.
Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten. 54. Bd.
2. Heft. 1906.
1) Yngvar U s t v e d t - Christiania: Die Diphtherieprophylaxe
und die Bedeutung der gesunden Bazillenträger für die Verbreitung
der Krankheit.
Die Untersuchungen und kritischen Betrachtungen, die sich auf
Massenuntersuchungen in den Schulen, auf die Verbreitung der Diph¬
therie, auf Isolation und präventive Seruminjektion bezogen, führten
den Verfasser zu der Ansicht, dass das richtige Verfahren es sei, die
Diphtheriekranken, wie auch die Diphtheriebazillenträger zu isolieren,
und zwar so lange Diphtheriebazillen bei ihnen nachgewiesen werden
können. Nebenbei seien präventive Seruminjektionen ein wertvolles
Hilfsmittel. In geeigneten Fällen könne es den Bazillenträgern und
Rekonvaleszenten erlaubt werden, in ihrer Tätigkeit zu verbleiben.
2) F. M u r i 1 1 o - Madrid: Ueber Immunisierung gegen Milz¬
brand.
Viele Misserfolge, die sich bei der Impfung mit P a s t e u r scher
Milzbrandvakzine ergaben, Hessen den Verfasser nach einer anderen
Methode suchen. Es gelang ihm durch sehr langes Fortzüchten von
Milzbrand in Diphtherietoxin und abwechselnd inBouillon denselben so
abzuschwächen, dass er mit ihm ohne Gefahr immunisieren konnte.
Die Giftwirkung probierte er stets an Meerschweinchen, nicht an
Kaninchen. Es genügte meist eine einzige Einspritzung von 0,25 bis
0,5 ccm zur Erreichung der Immunität.
3) M. M i y a j i m a und G. Shibayama - Tokio : Ueber das
in Japan beobachtete Rinderpiroplasma.
Die Untersuchungen ergaben, dass in Japan ein sehr hoher Pro¬
zentsatz Rinder mit Piroplasma infiziert sind, von Krankheitssym¬
ptomen aber nichts zu merken ist. Die Parasiten der japanischen
Piroplasmose zeigen in Uebereinstimmung mit den Parasiten des
Küstenfiebers und der transkaukasischen Piroplasmose kleine Stäb¬
chen in den Blutkörperchen. Der wichtigste Unterschied von
den beiden anderen ist aber der, dass der japanische Parasit keine
merkbaren Krankheitserscheinungen beim Tier hervorruft.
4) Heinrich Gräf-Kiel: Zur bakteriologischen Typhusdiagnose.
Mitteilungen von Beobachtungen, die bei Typhusdiagnosen ge¬
macht wurden.
5) G. Gabritschewsky: Die Versuche einer rationellen
Malariabekämpfung in Russland.
Um in Russland die Malaria rationell zu bekämpfen, wurden zum
ersten Male 2 Expeditionen ausgesandt, die eine nach Woronesch,
die andere in den Kaukasus. Es gelang durch ausnahmslose Unter¬
suchung der gesamten Stationsbevölkerung und durch Behandlung
manifester und auch latenter Formen, sodann durch Behandlung der
schweren Formen in den Eisenbahnhospitälern und in der Gebirgs-
station Suram, ferner durch Vernichtung der Mücken und Larven
und endlich durch mechanische Schutzvorrichtungen in den Woh¬
nungen die Morbidität an Malaria so herabzudrücken, dass sie
2 — 3 mal gegenüber der üblichen Ausdehnung sank.
6) C. Fraenkel und E. B a u m a n n - Halle: Untersuchungen
über die Infektiosität verschiedener Kulturen des Tuberkelbazillus.
Um die Virulenz der Tuberkelbazillen festzustellen, haben sich
weder Kaninchen, noch Ratten, noch Mäuse, sondern nur Meer¬
schweinchen als geeignet erwiesen. In ihrer Wirksamkeit zeigten die
verschiedenen Stämme — es wurden 37 geprüft — keine erheb¬
lichen Unterschiede. Nur eine einzige Kultur hatte erheblich an
Virulenz abgenommen; alle übrigen hatten ihr pathogenes Vermögen
ausnahmslos bewahrt.
7) H. B i s c h o f f - Berlin: Das Typhus-Immunisierungsverfahren
nach B r i e g e r.
Verfasser hat mit dem B r i e g e r sehen Verfahren an 22 Per¬
sonen Immunisierungsversuche ausgeführt und damit im allgemeinen
günstige Erfahrungen gemacht, jedenfalls mindestens ebenso gute
und zum Teil bessere, als mit den älteren Verfahren. Die Injektionen
lösen zwar auch eine allgemeine und eine örtliche Reaktion aus, doch
unbedeutend und sie verläuft auch schneller. Durch die Injektionen
werden spezifische bakteriolytische Antikörper ausgelöst. Der Bak¬
teriolysingehalt nimmt nach etwa 3 Monaten wieder ab, ähnlich wie
bei anderen Immunisierungverfahren.
8) Francesco S a n f e 1 i c e - Messina: Ueber die pathogene Wir¬
kung der Blastomyzeten.
Ein Beitrag zur Aetiologie des sog. Farcinus cryptococcicus
(Kryptokokkenwurm bei Pferden).
R. O. Neumann - Heidelberg.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 43.
1) E. M a r a g 1 i a n o - Genua: Die spezifische Therapie der
Tuberkulose.
Schluss folgt.
2) E. R a u t e n b e r g - Königsberg i. Pr.: Methämoglobinvergif-
tung durch Sesamöl.
Verf. hat schon früher an 6 mit Sesamöl (Darmirrigationen) be¬
handelten Patienten eigenartige mit Zyanose einhergehende Vergif¬
tungserscheinungen gesehen, deren Entstehungsursache nicht hin¬
reichend aufgeklärt werden konnte. Er teilt nun eine weitere Be¬
obachtung mit, in welcher die Vergiftungserscheinungen sich bis zu
schwerer Bewusstlosigkeit und zeitweisem Atmungsstillstand steiger¬
ten und der Tod nur durch energisches Eingreifen abgewendet wer¬
den konnte. Das Blutspektrum zeigte die charakteristischen Streifen
für Methämoglobin, auch war eine geringe Methämoglobinurie nach¬
weisbar. Es ist wahrscheinlich, dass die hier zu beobachtende Gift¬
wirkung des Sesamöls auf eine Verfälschung desselben zurückzu¬
führen ist, doch ist dies nicht völlig aufgeklärt.
3) J. C. R o j a s - Berlin: Zur Atrophie der Darmschleimhaut.
R. teilt einen Fall mit, in welchem eine Anzahl den Dünndarm
verengende Narben vielleicht syphilitischen Ursprungs vorhanden
waren und zugleich eine hochgradige Atrophie der Schleimhaut be¬
stand, sodass letztere Erscheinung nicht mehr als für perniziöse Anä¬
mie charakteristisch angesehen werden kann.
4) H. J a n s en - Kopenhagen: Ueber Wärmewirkung bei Fin¬
senbehandlung.
Die Mitteilung bezieht sich hauptsächlich auf die von S c h o 1 1 z
angestellten Versuche, aus welchen dieser Autor geschlossen hatte,
dass bei der Lichtbehandlung nach F i n s e n hauptsächlich eine
Wärmewirkung mitspiele. J. kann diese Angaben auf Grund neuer
Versuche, welche mitgeteilt werden, nicht bestätigen. Jedenfalls
tritt keine schädliche Erwärmung der tiefer liegenden Gewebe ein,
wie es Sch. angegeben hat.
5) L. Posner - Berlin : Zur Zytologie des gonorrhoischen Eiters.
Aus den Untersuchungen, welchen 227 Präparate zugrunde lie¬
gen, ergaben sich folgende Schlussfolgerungen: Vakuolen finden sich
in ein- und mehrkernigen Leukozyten und zwar in allen Stadien. Sie
sind ein Zeichen stattgehabter Phagozytose, erlauben aber keine
diagnostischen Schlüsse, indem sie für Gonokokken nicht allein spe¬
zifisch sind. Einkernige basophile Zellen trifft man auch in jedem
Stadium der Gonorrhöe an, zahlreich in den ersten Tagen der Er¬
krankung und in den sehr chronischen Fällen. Zahlreiches Auftreten
eosinophiler Zellen spricht für ächte Gonorrrhöe. Der Befund von
Kugelkernzellen legt den Gedanken nahe, dass entweder nie eine
echt gonorrhoische Infektion bestanden hat, oder die Eiterung auch
durch andere Mikroorganismen oder Toxine im Gang gehalten wird.
6) M. H a 1 1 e - Berlin: Externe oder interne Operation der Neben¬
höhleneiterungen.
Vergl. Referat Seite 1434 der Münch, med. Wochenschr. 1906.
Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 42
1) E n d e r 1 e n - Basel: Behandlung des Furunkels, Karbunkels
und der Phlegmone. (Klinischer Vortrag.)
2) R i b b e r t - Bonn: Zur Kenntnis des Karzinoms.
Der Vergleich des Wachstums eines Karzinoms mit dem einer
Drüse wird dadurch deutlich, dass auch bei ersterem das Bindegewebe
mitwuchert, angeregt durch den Reiz der Stoffwechselprodukte des
vordringenden Epithels; bald erlahmt diese Reaktion, der Körper hat
sich an die Geschwulsttoxine gewöhnt und das Karzinom durchbricht
den Wall vorausgewucherten Bindegewebes. Dass Im Gegensatz zu
dieser langsamen Gewöhnung die experimentelle Immunisierung durch
Implantation lebenden Tumorgewebes gelingt, erklärt Verf. so, dass
der gesunde Organismus auf den plötzlichen Angriff durch Bil¬
dung von Gegengiften reagiert. R. hält eine Immunisierung durch
Produkte von Tumoren der gleichen Art am ehesten nach der Exstir¬
pation für möglich, vorausgesetzt, dass mit Beseitigung der die An¬
passung bedingenden Stoffwechselprodukte auch die Angewöhnung
des Körpers sich rasch verliert.
3) J. Ohm -Berlin: Einiges über die diagnostische Bedeutung
des Blutgehaltes und der Lymphozytose im Liquor cerebrospinalis
(zugleich ein Beitrag zur Kasuistik der basalen Hirnaneurysmen).
In einem Falle bestanden neben meningealen Erscheinungen An¬
zeichen für eine raumbeschränkende Erkrankung der hinteren Schädel¬
grube (Kopfschmerz, Neuritis optica, zerebellare Ataxie). Der Blut¬
gehalt des Liquor cerebrospinalis war entscheidend für die Annahme
eines Aneurysmas, welches dann bei der Obduktion auf dem Pons
gefunden wurde. In einem anderen Falle führte nun die Lympho¬
zytose des Liquor zur Diagnose einer zerebrospinalen Affektion (Lues);
die Lymphozytose war auch wertvoll zur Differentialdiagnose zwi¬
schen periodischem Erbrechen und gastrischen Krisen.
4) M. M o s s e - Berlin: Ueber unsere Kenntnisse von den Er¬
krankungen des Blutes.
Vortrag im Verein für innere Medizin am 16. VII. 06, ref. Münch,
med. Wochenschr. 1906, No. 30, S. 1500.
5) A h 1 f e 1 d - Marburg: Weitere Beweise für die dauernde
Tiefenwirkung der Heissvvasser-Alkohol-Händedesinfektion.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2167
Veiteidigung dei Alkoholmethode und der präliminaren Scheiden-
spiilungen (bei Gebärenden) gegen mehrere Angriffe.
6) Tintema n n - Göttingen : Zur Kasuistik der Blausäure¬
vergiftung.
Kurzes Einatmen von Blausäuredämpfen verursachte über 8 Tage
anhaltende V ergiftungserscheinungen, unter denen Nephritis und Tem¬
peraturerhöhungen auffielen.
7) Franz Ehrlich- Stettin : Biliöser Typhus.
Mitteilung eines Falles von Typhus, der nicht nur von den Gallen¬
wegen ausging, sondern auch in den Gallenwegen und der Leber
im wesentlichen sich abspielte.
8) B o r g n i s - Mannheim: Zur Entfernung des im Uterus zu¬
rückgehaltenen Kopfes nach Abreissen des Rumpfes.
Verf. empfiehlt Gewichtsextension am angehakten Kopf, nament¬
lich, wenn der Muttermund sich schon wieder verengert hat und
wenn kein bedeutendes räumliches Missverhältnis besteht.
9) W. Sternberg-Berlin: Ueber Dulcinol-Schokolade.
Empfehlung für Diabetiker und Fettleibige. Dulcinol ist eine
Mischung von Mannit mit Kochsalz.
10) H. Rosenhaupt - Frankfurt a. M. : Pflegekinderwesen und
natürliche Ernährung.
Eine Umfrage bei 38 deutschen Stadtverwaltungen ergab, dass
die wünschenswerte Unterbringung der Pflegekinder bei stillenden
Müttern, obwohl durchführbar, leider wenig geübt wird.
R. Grashey - München.
Oesterreichische Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 42. C. v. N o o r d e n - Wien : Ueber die Aufgaben des
Unterrichtes in der medizinischen Klinik.
Nach einleitenden Gedenkworten für Hermann Nothnagel
entwickelte v. N. in dieser seiner Wiener Antrittsrede seine An¬
schauungen über die Ausgestaltung des klinischen, besonders aber
des propädeutischen und des bekanntlich so vielfach vernachlässigten
therapeutischen Unterrichtes, nicht ohne eine offene Kritik des über¬
handnehmenden schädlichen Spezialistentums unter den Aerzten, des
Schematisierens in der Therapie und der kritiklosen Hast in der An¬
wendung aller auf den Markt gebrachten neuen Heilmittel. Die Kunst
des Arztes, eine glücklich individualisierende Therapie geht hervor
aus einer optimistischen Menschenfreundlichkeit und tiefer Menschen¬
kenntnis.
J. Bartel- Wien: Ueber die Beziehungen zwischen Organzelle
und Tuberkuloseinfektion.
Vortrag, gehalten auf der 78. Naturforscherversammlung.
Th. P f e i f f e r - Graz: Ueber Autolyse leukämischen und leuko-
zytotischen Blutes.
Nach den hier beschriebenen Untersuchungen ist die Autolyse
keine charakteristische Eigenschaft des leukämischen Blutes. Wenig¬
stens die neutrophilen, polymorphkernigen Leukozyten enthalten ein
eiweissspaltendes, nicht nur spezifisch autolytisches Ferment und je
grösser ihre Zahl, desto ausgiebiger ist die Bildung inkoagulablen
Stickstoffes. Deshalb ist sie am stärksten im leukämischen, geringer
im leukozytotischen, am geringsten im normalen Blute, aber auch in
letzterem bei genügend langer Versuchsdauer deutlich nachweisbar.
A. Z i r k e 1 b a c h - Ofen-Pest: Ein Fall von orthostatischer Al¬
buminurie.
Ueberblick über die derzeitige Pathologie der Erkrankung und
Beschreibung eines Falles.
E. Grossmann-Wien: Die Behandlung der Ischias mit peri¬
neuraler Kochsalzinfiltratäon.
Nach den Erfahrungen an 15 Kranken spricht sich G. dahin aus,
dass die perineurale Infiltration zwar kein absolutes Heilmittel der
Ischias ist, aber zusammen mit anderen physikalischen, besonders
thermotherapeutischen Massnahmen meist zum Ziele führt. Der ein¬
fache und bei streng aseptischer Ausführung gefahrlose Eingriff er¬
zielte vor allem in auffälliger Weise eine unmittelbare Schmerz¬
stillung.
G. M a n n - 1 riest: Das Serum Marmorek bei Lungentuberkulose.
Die bei der Behandlung von 23 mittelschweren Fällen erzielten
Resultate sind im hohen Grade entmutigend. Ein Fall kann klinisch
als geheilt, zwei als gebessert gelten, bei dreien wurde die Behand¬
lung wegen deutlicher Verschlechterung unterbrochen. Von 8 Ge¬
storbenen kamen 5 zur Autopsie; bei diesen war übereinstimmend
die Oberfläche der Lungen dicht besät mit Tuberkeln und fanden sich
zahlreiche kleine Kavernen und peribronchitische Abszesschen, so
dass man eine durch das Serum, analog der Tuberkulinwirkung, ver¬
ursachte Beschleunigung in der Ausbreitung des tuberkulösen' Pro¬
zesses annehmen möchte. Auch bei den Ueberlebenden ist der All¬
gemeinzustand nicht im günstigen Sinne beeinflusst worden.
A. S t e i n - Ofen-Pest: Eine Universalblende.
Die hier beschriebene Blende soll die im Gebrauch befindlichen,
zum Teil sehr schwerfälligen Apparate zum Schutz des Arztes und
zur Erzielung scharfer Bilder bei der Röntgenuntersuchung in einem
Instrument vereinigen.
Wiener medizinische Wochenschrift.
No. 37/39. L o t h e i s s e n - Wien : Ueber Skalpierung und ihre
plastische Behandlung.
L. stellt 35 Fälle von Skalpierung, mit einer Ausnahme nur weib¬
liche Personen betreffend, aus der Literatur seit 1837 zusammen.
Die Einführung der Transplantation hat die Mortalität von 50 Proz.
auf 0 herabgesetzt. Die Anheilung des Skalpes gelingt wenigstens
teilweise, wenn noch eine Hautbrücke geblieben ist. Stücke fremder
Haut sterben regelmässig wieder ab, dagegen lässt sich jetzt durch die
Thier s c h sehe Transplantation eigener Haut meist in kurzer Zeit
die Heilung erreichen. Wo das Periost erhalten ist, kann man ver¬
suchen, nicht zu sehr verletzte, streifenförmige Stücke des Skalpes
anzuheilen, auf der Scheitelhöhe kommen nur Thierschsche
Lappen in Betracht. Prophylaktisch ist ausser Belehrung auch die
sorgfältige Versorgung des langen Haares der an Maschinen beschäf¬
tigten Fabrikarbeiterinnen notwendig.
No. 37/38. F e i s t m a n t e 1 - Ofen-Pest : Bericht über die Ver¬
suche zur Einschränkung der Geschlechtskrankheiten innerhalb der
Garnison Ofen-Pest.
F. berichtet über die Fortsetzung seiner im vorigen Jahre be¬
gonnenen Versuche. Bei richtiger Durchführung lässt sich durch die
prophylaktische Desinfektion post coitum (3 p r o z. A 1 b a r g i n -
1 ö s u n g, 5 proz. Protargollösung oder Kamen sehe Doppelpastillen)
die übliche Zahl der Geschlechtskranken immerhin um ein Viertel oder
ein Drittel herabmindern, das kommt, da die ulzerösen Erkrankungen
viel seltener zu verhüten sind, einer Verminderung der Tripper¬
erkrankungen auf etwa die Hälfte gleich. Der Erfolg war bei den
einzelnen Truppenteilen sehr verschieden, es kommt dabei sehr auf
den Eifer des Kommandeurs, der Truppenärzte und Offiziere, sowie
auf die Intelligenz der Mannschaften an. Daher ist eine allgemeine
Durchführung zurzeit noch ziemlich aussichtslos.
No. 38.40. G. No bl- Wien: Ueber die postblennorrhoische
Wegsamkeit des Ductus epididymitis.
Die überaus ungünstige Prognose, welche in neuerer Zeit
Baermann der Epididymitis bezüglich der Zeugungsfähigkeit zu¬
gesprochen hat, veranlasste den Verfasser zu Untersuchungen der
Wegsamkeit der ausführenden Samenwege, und zwar durch rektale
isolierte Expression der Samenblasen, welche nach seinen Fest¬
stellungen auch als Samenbehälter fungieren. Bei 61 blennorhoischen
Nebenhoden fehlten 13 mal in dem Inhalt der wiederholt exprimierten
Samenblasen alle Spermatozoen; doch dürfte hierfür nicht immer die
Nebenhodenerkrankung schuld gewesen sein. Die häufigste, seröse
Form der Epididymitis führt nur ganz ausnahmsweise zur völligen
Atresie des Ausführungsganges, und selbst bei der phlegmonösen
Form bleibt derselbe recht oft noch wegsam; jedenfalls sind die
Verhältnisse viel günstiger als Baermann sie darstellt.
No. 40,41. E. R e a 1 e - Neapel: Beitrag zur Lehre von der Zu¬
sammensetzung der Globuline und der Serumalbumine organischer
Flüssigkeiten. Verfahren, die Serumalbumine zu trennen.
Wie es gelungen ist, das in salzfreiem Wasser unlösliche Euglo¬
bulin von dem löslichen Pseudoglobulin zu trennen, so hat Verfasser
durch Behandlung mit Chlornatrium und Magnesiumsulfat nach An¬
säuerung mit Essigsäure aus Blutseris, Transsudaten und Exsudaten
das „Euserumglobulin“ ausgefällt, während der andere, viel geringere
Bestandteil, „Pseudoserumglobulin“, in Lösung bleibt. Ersteres koagu¬
liert bei 71—72, letzteres bei 84° C.
No. 39. J. E h r m a n n - Wien: Ueber Spirochätenbefunde in den
syphilitischen Geweben.
E.s Befunde erstrecken sich auf die Anhäufung der Leukozyten
(Leukotaxis) bei syphilitischer Endo-Perilymphangitis und die Ver¬
änderungen der dort zahlreich vorkommenden Spirochäten, welche zur
Verwechslung mit V i n c e n t - R o n a sehen Mikroorganismen führen
können; ferner auf die Beziehung der Spirochäten zu den Blut¬
gefässen und dem Bindegewebe der Initialsklerose (Gefässneubildung,
Leukozytenauswanderung, Phagozytose an den Fibroplasten). An den
peripheren Nerven schliesslich des Primäraffektes fand E. nicht nur
das umgebende Infiltrat, sondern auch zwischen den Fasern und
Hüllen des Nerven selbst von Spirochäten eingenommen. In 2 Fällen
unter etwa 20 untersuchten sah man besonders deutlich lange Strecken
des Nerven so verändert und es liegt der Gedanke nahe, ob nicht
hier die ersten Anfänge der späteren parasyphilitischen Nerven¬
erkrankungen vorliegen und ob nicht eine energischere lokale Be¬
handlung der Primäraffekte beispielsweise durch präventive Queck¬
silberinjektionen erforderlich ist. B e r g e a t.
Französische Literatur.
le Marie: Die Legende von der Immunität der syphilitischen
Araber gegen die allgemeine Paralyse. (Revue de medecine,
Mai 1906.)
Im Gegensatz zu der allgemein herrschenden Ansicht beobachtet
man die allgemeine Paralyse bei den Arabern ziemlich häufig und
unter diesen wiederum findet man einen hohen Prozentsatz Syphi¬
litiker. Vei fassei nimmt als Beispiel für diese seine Ueberzeugung
die Statistik des Asyls Abbassieh zu Kairo, welches im Verlaufe von
10 Jahren (1894 1904) etwa 3600 Zugänge hatte, worunter die Ein¬
geborenen (Muhammedaner) die Hauptmenge (4/s) bildeten. 6 Proz
der jährlich neu Aufgenommenen bildet die allgemeine Paralyse, wäh-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 44.
icnd diese allerdings in den Pariser Irrenanstalten 12 Pro/,, ausinacht.
Die Araber partizipieren an jenen Fällen mit 75 Proz., d. h. im Mittel
beträgt der Prozentsatz der eintretenden Araber, welche an allge¬
meiner Paralyse leiden, 4,5 Proz. Unter diesen paralytischen Arabern
scheint die Proportion Syphilitischer weit (6 mal) höher zu sein als
unter den mit anderen Geisteskrankheiten behafteten Aegyptern. In
den Fällen, wo eine Anamnese möglich war, datiert die Zeit der
spezifischen Infektion 5—10 Jahre zurück. Die Form der allgemeinen
Paralyse schien eine ganz speziell konstante zu sein, nämlich die
einfache mit Dementia und ohne charakteristische Delirien. Die Mehr¬
zahl der als syphilitisch Festgestellten hatten nur eine ganz ober¬
flächliche, einige gar keine spezifische Behandlung durchgemacht.
Verf. möchte nur diese einfachen Tatsachen feststellen, ohne näher
auf den Zusammenhang zwischen Syphilis und der Meningo-ence-
phalitis einzugehen und plädiert sodann energisch für Einrichtung von
Irrenanstalten in Algier und Tunis, wo man dann sicher ebenso reich¬
lich Fälle von allgemeiner Paralyse finden würde, wie in Aegypten.
Chathoire: Das Vorhandensein des MitteImeer-(Malta-)Fiebers
in Tunis unter den Franzosen und Arabern. (Ibidem.)
Die 3 von C. beschriebenen Fälle betrafen einen aus Frankreich
gebürtigen und 2 eingeborene Soldaten und beweisen, dass die
Immunität dieser beiden Rassen gegen den Micrococcus melitensis,
von welchem 3 Proz. der Garnison von Malta im Durchschnitt be¬
fallen ist und in Tunis bis jetzt nur die Zivilbevölkerung (Malteser
und Israeliten) ergriffen hat, nur eine relative ist. Man muss also,
so schliesst Verf., bei abnorm lange währenden Fällen von Typhus,
dessen klinisches Bild das Maltafieber bietet, immer misstrauisch sein
und stets an die Blutuntersuchung denken, welche Malaria und Typhus
recurrens ausschliessen und durch die leukozytäre Formel (Mono¬
nukleose), sowie die Serumreaktion die Diagnose sichern kann.
H. de Brun-Beirut: Das Denguefieber im Jahre 1904 und 1902,
milde, schwere und prolongierte Formen. (Revue de medecine,
Juni 1906.)
Das Denguafieber hat in seinen Initialsymptomen grosse Aehn-
lichkeit mit Blattern, Malaria (subkontinua), gastrischem Fieber,
so dass bei den ersten Fällen einer Epidemie deren Natur oft schwer
zu erkennen ist, und weiterhin den Charakter einer polymorphen
Erkrankung in dem Sinne, dass jede Epidemie eine spezielle Art mit
besonderen klinischen Formen darstellt. Verf. erlebte Epidemien,
wo alle Fälle Hauteruptionen hatten, und dann wieder zahlreiche ohne
solche; manchmal sind Fieber und Reaktionserscheinungen von ausser¬
ordentlicher Heftigkeit, manchmal ganz unbedeutend und Hauterschei¬
nungen, Kopf- und andere Schmerzen bilden die Hauptsymptome. Die
Epidemie v. J. 1904 war z. B. ausgezeichnet durch das rasche Auftreten
und die kurze Dauer (2—3 Tage) des Fiebers, jene vom Jahre 1902
durch die lange Dauer der objektiven wie subjektiven Symptome
(8, 10 bis 13 Tage); Verf., der seit etwa 20 Jahren die Dengue studiert,
findet fast bei jeder neuen Epidemie Ueberraschungen, welche in
diagnostischer Hinsicht für den Arzt oft recht unangenehm sein
können.
L e n o b 1 e und Aubineau - Brest : Eine neue Varietät von
kongenitalem Myoklonus — hereditärem und konstantem Familien-
Nystagmus. (Ibidem.)
Verf. hatten seit dem Jahre 1898 ihre Aufmerksamkeit auf eine
Form von Nervenerkrankung gelenkt, die ihnen in der Bretagne, be¬
sonders in Finistere, häufig zu sein schien und deren konstantes Cha¬
rakteristikum Nystagmus ist. Diese Affektion ist gewöhnlich ange¬
boren oder tritt wenigstens in den ersten Lebensjahren auf, befällt
meist mehrere Glieder einer Familie und hält das ganze Leben
hindurch, unbeeinflusst von jeglicher Therapie, an. Die Zahl der von
den Verfassern beobachteten Fälle beträgt 58 und sie stellen 5 Unter¬
abteilungen des Leidens auf, je nachdem Nystagmus allein, mit anderen
trophischen und Nervenstörungen assoziiert usf. vorkommt. Ueber-
einstimmend mit anderen Formen von Myoklonie ist auch diese Art
Nystagmus beim männlichen Geschlecht häufiger wie beim weiblichen
(39 : 19). Der Einfluss der Rasse scheint unzweifelhaft zu sein: in
der Bretagne hat diese Myoklonie eine besonders hohe Frequenz,
deren Bevölkerung ist hochgradig degeneriert und bietet der Ent¬
wicklung von Degenerationskrankheiten des Nervensystems ein be¬
sonders günstiges Feld. Im Allgemeinen, erklären Verfasser, ist dieser
hereditäre Nystagmus eine gutartige Affektion, welche das Leben in
keiner Weise bedroht, auch selten sehr nachteilig für den Befallenen
ist, die aber der Ausdruck tiefgehender Veränderungen der grossen
Zerebrospinalzentren ist, ohne dass hiebei die höheren geistigen Fähig¬
keiten merklich beeinträchtigt sind; es verdiene also dieses Nerven¬
leiden ebensowohl die Aufmerksamkeit des Arztes wie Psychologen.
Jean Heitz-Royat: Hypertension und kohlensaure Bäder.
(Ibidem.)
Das kohlensaure Bad wird gegenwärtig als eines der wirksamsten
Mittel gegen die Hypertension und deren Folgezustände angesehen.
H. beschreibt nun genau die letzteren und den Mechanismus, durch
welchen die kohlensauren Bäder so günstig die übermässige Span¬
nung im Gefässystem beeinflussen. Notwendig ist aber immerhin
bei dieser Badekur, dass die Diät und sonstige Lebensweise genau
reguliert werden, und Vorbedingung, dass nicht allzu hochgradige
anatomische Veränderungen an Arterien und Nieren vorhanden sind.
Das Hauptgebiet für diese Art Therapie bilde also die funktionelle
Hypertension, jene bei Aorteninsuffizienz, bei Pubertätsbeschwerüen,
auch bei Neurasthenie. Gleichzeitig mit Abnahme der Spannung im
Gefässystem beobachtet man günstige Veränderungen am Herzen,
an den Nervenzentren, den Nieren und im Allgemeinbefinden.
Paul Berger; Hernien und Unfälle; Betrachtungen zur Aetio-
logie der Hernien. (Revue de Chirurgie, April und Mai 1906.)
B. legt in dieser umfangreichen Arbeit die Erfahrungen nieder,
welche er an 10 000 beobachteten Fällen aller Art von Hernien,
an 2000 Fällen von Radikaloperationen der Leistenhernien und schliess¬
lich an 130 Bruchfällen, die er als Sachverständiger begutachtete, ge¬
sammelt hatte. Im Allgemeinen stellt er folgende Leitsätze
auf: als vor dem Unfälle existierend müssen folgende Arten von
Hernien angesehen werden: 1. Umfangreiche Skrotalhernien, deren
Grösse die eines Eies übersteigt, wenn der Unfall nicht länger als
1 Jahr zurückdatiert. 2. Leistenhernien, deren Leistenring unter den¬
selben Bedingungen so erweitert ist, dass er die Einführung des Dau¬
mens oder zweier Finger ermöglicht. 3. Hernien, welche irreponibles
oder in seiner Konsistenz verändertes Epiploon enthalten. Man kann
sagen, dass eine Hernie je älter ist, je weiter die Oeffnung, und dass
sie dann meist vor dem Unfall schon vorhanden war. B. bespricht
die einzelnen Formen von Hernien und die Möglichkeit des Zu¬
sammenhangs mit einem Unfall und sodann in besonders eingehender
Weise die Form des Gutachtens, welches bei solchen Fällen abzu¬
geben ist. Die Verringerung der Arbeitsfähigkeit kann 10 — 40 Proz.,
je nach dem Beruf, betragen; kann die anatomische Prädisposition
festgestellt werden, so hat der Unfall nur eine relativ geringe Be¬
deutung und bedingt nur 10 — 15 Proz. Arbeitsbeschränkung selbst
für jene Fälle, wo sein Einfluss feststeht. Ist die Radikaloperation
der Hernie ausgeführt worden, so muss man sehr vorsichtig in seinem
Urteil sein und soll erst etwa 1 Jahr nach erfolgter Heilung voll¬
ständige Arbeitsfähigkeit begutachten. Auf die grosse Fülle weiterer
für die Unfallpraxis wichtiger Angaben B.s kann hier leider nicht ein¬
gegangen werden.
R e c 1 u s und M o g i t o t - Paris : Ueber 2 Fälle primären An-
gioms der quergestreiften Muskulatur. (Revue de Chirurgie, Mai 1906.)
In dem einen der beiden von den Verfassern operierten Fälle han¬
delte es sich um ein Angiom des Latissimus dorsi bei einem 17 jähri¬
gen Mädchen, in dem anderen um ein solches in der Mitte des Vor¬
derarms bei einer 28 jährigen Frau. In dem ersteren Falle war die
Geschwulst mehr diffus, ausgebreitet, ziemlich fest bei der Palpation
und indolent, in dem zweiten ganz umschrieben hart und schmerz¬
haft. In beiden Fällen war die Bildung der Angiome eine primär in
den Muskeln stattfindende und allmähliche. Die histologische
Untersuchung liess die sukzessive Entwicklung der Stadien,
durch welche ein einfaches Angiom kavernös wird, leicht
verfolgen und das klassische Bild Rindfleisch’ stets er¬
kennen, aber die Hauptschwierigkeit des Problems liegt in
der Aetiologie der Angiome: ob es sich dabei um eine kongenitale
Anomalie (des Mesenchyms) oder eine Erkrankung der Gefässe —
Reaktion auf eine äussere Ursache bei Prädisponierten — handelt.
Die Lösung dieses Problems dünkt auch Verfassern eine sehr schwie¬
rige zu sein. Angabe der neueren Literatur.
T e r r i e r, Professor an der med. Fakultät von Paris, und
A g 1 a v e, Vorstand der Chirurg. Klinik ä la Pitie : Die totale Resektion
der Venae saphenae bei der Behandlung der oberflächlichen Varizen
der Unterextremitäten und deren Komplikationen. (Revue de Chirur¬
gie, Juni und August 1906.)
Gestützt auf 21 eigene Operationen bringen Verfasser eine mit
zahlreichen instruktiven Abbildungen versehene Arbeit über diese
von Trendelenburg und S c h w a r t z inaugurierte und seitdem
vielfach modifizierte chirurgische Behandlung der Varizen. Durch die
möglichst vollkommene Resektion der varikösen Stamm- und ober¬
flächlichen Venen, die für alle Fälle, wo diese irgendwie hinderlich,
gefährlich oder schmerzhaft sind, anzuwenden ist, erzielt man gleich¬
zeitig, dass der Druck in der Tiefe und der oberflächliche Rückfluss
sich wieder regelt, und beseitigt man mit der Entfernung der Grund¬
ursachen das ganze Uebel und deren Folgen. 4 Arten der Operation
geben Verfasser an, hievon wurde am häufigsten die totale Resektion
der Saphena interna (11 Fälle), dann die totale Resektion beider
Saphenae und des grössten Teils ihrer varikösen Aeste (6 Fälle)
ausgeführt. In allen operierten Fällen trat rasche Heilung der Wun¬
den, in manchen sogar nach über raschend kurzer Zeit (12, 13 Tagen)
ein und verliessen die Patienten, befreit von ihren Schmerzen, das
Krankenhaus.
L. Be rar d und H. Patel: Die allgemeine Peritonitis infolge
von Perforation im Verlaufe der tuberkulösen Enteritis. (Ibidem.)
Diese Komplikation ist im ganzen eine ziemlich seltene und hat
überhaupt nach Verfasser Ansicht die Aufmerksamkeit der Aerzte
noch wenig angezogen. Verfasser sammelten 26 derartige Fälle aus
der Literatur, besprechen pathologische Anatomie, Aetiologie und
Pathogenese — die Seltenheit der Perforation bei tuberkulösen Darm¬
geschwüren wird mit der Bildung sehr reichlichen fibrösen Gewebes
in der Umgebung der letzteren, der Defensivreaktion des Peritoneums
und einer Bildung von Reaktionsgewebe in der Darmgegend (tuberku¬
löser Hypertrophie) begründet — Symptome und Therapie. Letztere
besteht in der Laparotomie, rationeller Entleerung der Bauchhöhle,
Resektion der perforierten Stelle und Naht, insofern einen derartigen
Eingriff der Zustand des Patienten erlaubt.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2169
A. A 1 b e r t i n und Rene L e r i c h e - Lyon : Ein Fall von
Lymphosarkom des Dünndarms. (Archives provinciales de Chirurgie,
Mai 1906.)
Es handelte sich um den seltenen Fall eines primären Dünndarm¬
sarkoms (bei einem 45 jährigen Mann); der Verlauf war ohne be¬
sondere subjektive Beschwerden, keine Abmagerung, keine Kachexie.
Operation, nach 3 Tagen Tod.
V. d e M e s t r a 1 - Lausanne : Beitrag zum Studium der Hände¬
desinfektion. (Archives provinciales de Chirurgie, Juni 1906.)
Nach einer Reihe von Versuchen, die am bakteriologischen Insti¬
tut zu Bern angestellt wurden, kam Verfasser zu folgenden Schlüssen:
1. Die absolut sichere Sterilisation der Hände kann mit den gegen¬
wärtig gebräuchlichen Desinfektionsmethoden nicht erzielt werden.
Das einzige Mittel, eine Wunde vor Infektion durch die Hände des
Chirurgen oder seiner Assistenten zu schützen, ist, jede Berührung
infektiöser Massen zu meiden oder Operationshandschuhe zu tragen.
2. Aether, Ammoniak, Spiritus saponatus sichern,
jedes für sich, keine genügende Bakterientötung, aber sie sind zur
Vorbereitung der Haut nützlich, indem sie derselben das Fett nehmen.
3. Der 70proz. Alkohol hat dieselbe Wirkung, aber in höherem
Grade, wie der absolute Alkohol. 4. Sublimat ist ein sehr gutes
Desinfiziens; es ist besonders dessen Nachwirkung, welche die Ent¬
wicklung der Keime hindert. Alle Keime werden aber nicht zer¬
stört, wie die Probe mit dem Seidenfaden, von dem die Bakterien
entnommen wurden und in Bouillon zahlreiche Kolonien ergaben,
bewies. 5. Bei allen Versuchen hat das Sublamin eine ge¬
ringere bakterizide Wirkung gezeigt, wie Sublimat. 6. Da die Kaut¬
schukhandschuhe während einer Operation leicht durchlöchert, zer¬
rissen und allen möglichen Schädigungen, die ihnen ihre schützende
Kraft rauben, ausgesetzt werden, so hält es Verfasser für besser,
über dem Gummi- noch einen Zwirnhandschuh zu tragen, deren Ge¬
brauch aber immerhin nur für infizierte oder eitrige (jauchige) Wun¬
den zu beschränken, da sie die taktile Sensibilität der Finger ver¬
mindern.
De V i c a r i i s: Untersuchungen über das Blut der vorzeitig zur
Welt gekommenen Kinder. (Revue des maladies de l’enfance, April
und Mai 1906.)
In der Mehrzahl der 35 untersuchten Fälle handelte es sich um
Kinder im Gewicht von 1500—2000 g. Das Blut des vorzeitig zur Welt
gekommenen Kindes differiert nicht viel von jenem des rechtzeitig
Geborenen, es sind jedoch gewisse Unterschiede vorhanden. Die
roten Blutkörperchen sind etwas zahlreicher und nehmen leicht an
Zahl unter dem Einflüsse von Infektionen, Ikterus und Oedem ab; ihre
Form verrät ihre Jugend, und Makro- und Mikrozyten sind sehr
zahlreich. Die kernhaltigen roten Blutkörperchen sind charakte¬
ristisch für das Blut der vorzeitig zur Welt Gekommenen, während
man sie normalerweise nur in den 2 ersten Lebenstagen findet, sie
sind um so zahlreicher, je früher, als der Norm entspricht, die Geburt
erfolgte, und können bis zum 10. Tage bestehen bleiben. Die Leuko¬
zyten sind weniger zahlreich als in der Norm, nehmen bei Krank¬
heiten immer ab, und bei schweren Fällen beobachtet man eine wahre
Leukopexie. Vorherrschend sind mittelgrosse einkernige Zellen und
abnorme Elemente — Myelozyten, Mastzellen, wenig wirksame Ele¬
mente, welche die geringe Widerstandsfähigkeit dieser Kinder gegen
Krankheitseinflüsse erklären. Bei Infektionen tritt eine sehr geringe
Reaktion von seiten der Vielkernigen auf. Die eosinophilen Viel¬
kernigen, in mittlerer Quantität im Blut des vorzeitig zur Welt Ge¬
kommenen vorhanden, verschwinden, sobald eine Infektion sich
manifestiert; bei Syphilis sind sie immer sehr zahlreich. Diese Re¬
sultate, glaubt Verfasser, seien von gewisser Wichtigkeit für die Kin¬
derpraxis, zumal über diesen Gegenstand noch relativ wenige Unter¬
suchungen ausgeführt worden sind.
Auche und Frl. R. C a m p a n a- Bordeaux: Die Serum-
therapie gegen die Dysenterie bei Kindern. (Revue des maladies de
l’enfance, Juni und Juli 1906.)
Verfasser hatten Gelegenheit im Laufe des Sommers 1905 bei
19 kranken Kindern, bei welchen zum Teile der Bacillus Shiga, zum
Teile der Flexner sehe Dysenteriebazillus in den Stühlen gefunden
wurde, 2 Arten von Dysenterieheilserum — jenes von D o p t e r und
ein anderes von Blum e n t h a 1 — anzuwenden. 7 Fälle wurden
mit ersterem, 12 mit letzterem behandelt und sind in Gruppen ein¬
geteilt, je nachdem einer der beiden genannten Mikroorganismen
oder kein spezifischer Dysenteriekeim in den Stühlen gefunden wurde.
Der einzige Todesfall, welchen sie erlebten, betraf eine Dysenterie mit
dem Flexner sehen Bazillus; der Tod trat hier sehr bald nach der
Injektion ein, und zwar wahrscheinlicher infolge von Bronchopneu¬
monie. Die Resultate waren mit beiden Arten von Serum sehr gün¬
stige, das Alter der kleinen Patienten schwankte von 3 Wochen bis
zu 12 Jahren, der Durchschnitt war 2 — 3 Jahre alt; rasche Besserung
des Allgemeinbefindens, Abkürzung der Krankheitsdauer (auf 2 — 3,
höchstens 6 Tage), baldiges Aufhören des Tenesmus und der Leib¬
schmerzen gleichzeitig mit Umwandlung der Fäzes. Im allgemeinen
schien es, als ob das Serum gegen die Dysenterie mit Bac. Flexner
weniger wirksam als gegen jene mit Bac. Shiga wäre. Die einzig be¬
obachteten Komplikationen waren einigemale sehr leichte Serum¬
eruptionen.
Vaillard und Dopt er: Das Dysenterie-Heilserum; Beitrag
zum Studium der bazillären oder epidemischen Dysenterie. (Annales
de l'institut Pasteur, Mai 1906.)
Die beiden bekannten Forscher haben bereits im Jahre 1903 an
mehreren Pferden am Institut Pasteur Immunisierungsversuche ge¬
macht und den Wert dieses Serums zur Verhütung und Behandlung
der experimentellen Dysenterie beim Kaninchen klar gelegt. Nach
den neuerdings wieder angestellten Untersuchungen besitzt das Serum
von Pferden, die gegen den Dysenteriebazillus immunisiert wurden,
bakterizide und antitoxische Wirkung, welche auch rationelle Anwen¬
dung in der praktischen Medizin finden dürfte. Dieses Serum, un¬
schädlich für den Menschen, selbst in grossen und wiederholt ge¬
gebenen Dosen, bildet das spezifische Agens bei der Behandlung der
bazillären Dysenterie und ist ohne Wirkung bei den anderen Formen
von Dysenterie. In Dosen, welche je nach der Schwere des Falles
variieren, tut es der Intoxikation und Infektion Einhalt, bringt fast
unmittelbar alle Darmstörungen zum Verschwinden und sichert
rasche Heilung. Die Wirkungen des Serums sind um so rascher und
entschiedener, je früher am Beginn der Krankheit es angewandt
wird, haben sich aber auch noch zur späteren Zeit (am 16. Tage der
Krankheit) gezeigt; ebenso sind die Formen mit prolongiertem oder
chronischem Verlauf der Serumtherapie zugänglich. Ohne Zweifel
können auch Misserfolge Vorkommen, wie bei jeder Serumtherapie,
aber Verfasser sind überzeugt, dass das Dysenterieheilserum, wel¬
ches sie in 96 der verschiedenartigsten Fälle — je nach der Schwere
in der Dosis von 20 — 80 ccm — angewandt haben, den Kranken viele
Leiden erspart hat. In unserer gemässigten Zone kommt nur diese
eine, die bazillär^ Dysenterie, und zwar nur im Hochsommer vor und
ist so leicht zu diagnostizieren, dass die Serumtherapie keinerlei
Schwierigkeiten bieten dürfte. Anders verhält es sich in den Tropen,
wo Amöben- und bazilläre Dysenterie zusammen in verschieden
häufiger Frequenz Vorkommen und man erst die genaue Natur des
Leidens kennen muss, da das Heilserum keinerlei Einfluss auf die
Amöbendysenterie hat. Die Feststellung der Amöben in den Fäzes,
die Serumdiagnose für die bazilläre Form und im Notfälle das Kultur¬
verfahren werden eine sichere Diagnose ermöglichen.
C a 1 m e 1 1 e und Querin: Der intestinale Ursprung der Lungen¬
tuberkulose und der Mechanismus der tuberkulösen Infektion. (Ibid.)
Die B e h r i n gsche Hypothese, dass die Tuberkulose des Er¬
wachsenen die Folge der Spätentwicklung einer Darminfektion, die
im jugendlichen Alter stattgefunden hat, ist, wird durch vorliegende,
aus dem Institut Pasteur zu Lille stammende Untersuchungen (an
4 Kühen) und Impfresultate an Meerschweinchen vollständig bestätigt.
Die Tiere (Rinder) ziehen sich sehr leicht auf dem Wege durch den
Darm die Tuberkulose nicht nur im ersten Alter, sondern auch später
zu, ohne dass der Durchgang der Bazillen durch die Darmwand sicht¬
bare Veränderungen hinterlässt. Bei jungen Tieren werden die Ba¬
zillen gewöhnlich durch die Mesenterialdrüsen zurückgehalten; die
Infektion bleibt hier entweder lokalisiert und kommt schliesslich
zur Heilung oder sie geht in Bildung von käsigen Tuberkeln über
und breitet sich auf dem Wege der Lymphgefässe in den grossen
Lymphstrom aus. Bei den erwachsenen Tieren ist die Defensiv¬
reaktion der Drüsen viel weniger wirksam und die Bazillen werden
mit den sie umhüllenden Leukozyten und durch die Arteria pulmo-
nalis in die Lunge gebracht. Die sogen, primäre Lungentuberkulose
der Erwachsenen ist daher meist intestinalen Ursprungs. Diese Art
der Infektion ist zugleich die wirksamste und diejenige, welche am
meisten mit den normalen Bedingungen der natürlichen Infektion über¬
einstimmt.
Edmond und Etienne Ser gen t: Epidemiologische und prophy¬
laktische Studien über die Malaria. Vierte Kampagne in Algier 1905.
(Ibidem.)
Als Folge dieser längs der Eisenbahnlinien, in Privathäusern und
in grösseren Orten vorgenommenen Untersuchungen ergab sich die
Notwendigkeit von ausgedehnten prophylaktischen Massnahmen; es
wurden den Bediensteten und Beamten der Eisenbahnen und ebenso
reichlich unter die Bevölkerung illustrierte Tafeln, wie man sich gegen
Malaria schützen kann, verteilt und ebensolche werden als Anschläge
in den Schulen und öffentlichen Stellen verbreitet.
Charles Nico Ile: Experimentelle Untersuchungen über die
Lepra. (Ibidem.)
Der Hauptschluss aus diesen, im Institut Pasteur zu Tunis vor¬
genommenen Untersuchungen ist, dass manche niedere Affen, speziell
der Macacus sinicus, gegen die Einimpfung von Lepraprodukten aus¬
gesprochene Empfindlichkeit zeigen. Der einzige Weg der Impfung,
der zu einem positiven Resultat führt, ist der subkutane. Die experi¬
mentelle Lepra der niederen Affen ist bemerkenswert durch ihre
lange Inkubation und durch die Erhöhung der Empfänglichkeit bei
Wiederholung von virulenten Inokulationen. Um positive Impf¬
resultate zu erzielen, muss man Lepraprodukte, die reich an Ba¬
zillen sind und von noch unbehandelten Kranken stammen, wählen.
Schliesslich hebt N. hervor, dass durch seine Impfergebnisse die
Theorie, es wäre der Lepra- nur eine Abart des Tuberkelbazillus,
definitiv zerstört sei; denn man kennt die Empfänglichkeit der Affen
gegen die Einimpfung mit tuberkulösen Massen und keines der be¬
handelten Tiere hat tuberkulöse Veränderungen gezeigt.
2170
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
V. Pit ha- Prag: Die Tumoren der Plazenta. (Annales de
gynecologie et d’obstetrique, April — Juni 1906.)
Der Gegenstand vorliegender Monographie ist das Chorioangiom,
dessen Entstehung (von den Zotten der Plazenta), pathologische Ana¬
tomie usf. Ausführliches Literaturverzeichnis vom Jahre 1798 an.
Le vi-Sirugue: Die Berufshautkranklieiten. (Gazette des
höpitaux, 11. Februar 1906.)
Verfasser gibt eine sehr hübsche Darstellung über die grosse
Zahl der durch spezielle Beschäftigungen hervorgerufenen Haut-
erkrankungen. Einige derselben haben einen wohl definierten Cha¬
rakter, während die Mehrzahl einem Ekzem oder vesiko-pustulösem
Ausschlag gleicht. Zu den ersteren gehört Chlorakne bei den
Arbeitern, welche Chlorkalk oder -salze verarbeiten, Papillom¬
bildung an den Fingern, Händen, Vorderarmen, Skrotum bei
Arbeitern in Kreosot fabriken oder Petroleum raffinerien — die
Neigung zu maligner Entartung lässt diese Form mit Kaminkehrer¬
krebs vergleichen — , Hyperidrosis bei Arbeitern in Anilin¬
fabriken, eine Art Impetigo bei den in Zuckerraffinerien Beschäftigten
usf. Die grosse Gruppe der zweiten Art der Dermatosen hat meist
als erstes Stadium die Bildung von Erythem und dann von Bläschen
und als zweites die Pusteln; weiterhin kann Verhornung (Hyper-
keratosis), können Fissuren usf. entstehen. Hierher gehören das
Erythmen der Erdarbeiter, der Steinklopfer, Töpfer, der Lichen der
Bronzearbeiter, Giesser, das Ekzem der Gips-, Glasbrenner, Maurer.
Die Arsenikdermatosen bei der Arbeitern in den Arsenik- und Schwein-
furtergrünfabriken haben insofern einen speziellen Charakter, als sie
sehr bald zu Pustel- und Geschwürsbildung neigen. Bei Leinen¬
webern, bei Photographen kommen ebenfalls ekzematöse Ausschläge
vor. Die Hautentzündungen welche durch Beschäftigung, mit vege¬
tabilischen Substanzen — bei Blumenbindern, Strohdreschern,
Getreidarbeitern — Vorkommen, zeichnen sich durch besonders hef¬
tiges Jucken aus und sind mehr urtikariaähnlich. Die Behandlung all’
dieser Dermatosen muss natürlich in erster Linie eine gegen die
Schädigung gerichtete, prophylaktische sein und in zweiter Linie,
je nach dem Grade, in Zinkpasten, antiseptischen Lösungen u. a. m.
bestehen.
Capitan: Der Ursprung der Thermalwässer. (La medecine
moderne 1906, No. 20.)
C. geht auf die bisher über dieses Thema veröffentlichten Ar¬
beiten näher ein und schliesst sich in seinen eigenen Leitsätzen enge
an die experimentellen Untersuchungen Armand Gautiers an.
Diese warmen Ouellen sind demnach nicht Imbibitions-, sondern sogen.
Konstitutionswässer und ursprünglich chemisch mit Felsschichten als
Feldsalz oder Feldspat gebunden. Durch die im Zentrum der Erde
vorhandene Hitze (Feuerherde) werden diese Wässer erwärmt und
kommen durch Spalten in der Erdrinde zur Oberfläche, ohne dass
dabei vulkanische Eruptionen eine Rolle spielten, wie so vielseitig
angenommen wird. Der Umstand, dass diese heissen Wässer meist
kontinuierlich aus der Erde hervorsprudeln, wird von G a u t i e r auf
die langsame und ständige Einwirkung des zentralen „Feuers“ auf die
in der Tiefe gelegenen Felsen zurückgeführt, von deren chemischen
Beschaffenheit zum Teile auch jene der Thermalwässer abhängt. Be¬
züglich weiterer Einzelheiten sei auf das lesenswerte Original ver¬
wiesen. Stern.
Spanische Literatur.
R. Turrö: Wirkung des Schilddrüsensaftes auf den Cholera-
und den Typhusbazillus. (Gac. Med. Catal., 31. Juli 1906.)
In früheren Arbeiten hatte T urrö den Nachweis geliefert, dass
nicht nur Blutserum und Leukozyten, sondern jeder Gewebssaft eine
bakterizide Wirkung ausübt. Schilddrüsen- oder Muskelsaft z. B. ver¬
dauen bei 37° innerhalb 1 — 2 Tagen enorme Mengen Milzbrand¬
bazillen. Den Versuchen ist der Einwurf gemacht worden, es handle
sich bei ihnen lediglich um Autolyse und nicht um eine Verdauung
durch Zymasen aus den Gewebezellen. Eine solche Erklärung ist
aber unrichtig. Durch die Presse gewonnener Schilddrüsensaft löst
sofort Agarkulturen des Bac. virgula; dieser Lösung geht bisweilen
das Auftreten von Kugelformen des Pfeifferschen Phänomens
voraus. Der Typhusbazillus nimmt auch diese Formen an, wenn
auch langsamer, und löst sich sehr rasch durch frischen oder in
2 proz. Fluornatrium konserviertem Schilddrüsensaft bei Luftabschluss.
All dies geht viel zu rasch vor sich, als dass man an Autolyse den¬
ken könnte. Dasselbe Phänomen beobachtet man, wenn auch lang¬
samer, beim Anthrax-, Kolibazillus und Streptokokkus bei Einwirkung
der Mazerationsflüssigkeit der Milz, Leber, Niere. Eine enorme Kap¬
sel umgibt diese Bakterien als Produkt der Verdauung des Protoplas¬
mas, und schliesslich verschwindet der Bazillus ganz unter Hinter¬
lassung einer amorphen, schleimigen Hülle.
Rodriguez Carracido: Ueber die vermeintliche Unverträg¬
lichkeit des Kalomels mit anderen Mitteln. (Real Acad. de Med. zu
Madrid, 16. VI. 06; Rev. de Med. y Cir. Präct., 14. August 1906.)
Ein altes Verbot ist es, Kalomel und Kochsalz zu kombinieren,
da man die Entstehung von Sublimat fürchtet. Abgesehen davon,
dass in dem Magen Salzsäure und sonst im Organismus an sich schon
genug Kochsalz vorhanden sind, die auf diese Weise jede Kalomel-
darreichung zu einem Wagnis machen könnten, ergeben die Unter¬
suchungen Carracido s, dass eine Sublimatbildung beim Zu¬
sammentreffen von Kalomel und Kochsalz wohl statthat, aber in so
minimalem Umfang, dass irgendwelche toxische Folgen nicht zu be¬
fürchten sind; ebenso wirkt Salzsäure auf Kalomel. Im Gegenteil
hält Carracido dafür, dass jene Sublimatbildung sogar etwas
erwünschtes ist, da ihr die gallentreibende Wirkung des Kalomels zu¬
zuschreiben sei. In der Sitzung vom 30. VI. 06 (Rev. v. 28. VIII. 06)
fügte P u e r t a in der Diskussion hinzu, dass die gebildeten Sublimat¬
mengen um so grösser sind, je mehr CINa mit dem Kalomel zu¬
sammenkommt, und je höher die Temperatur ist.
.1. A. Marcos: Kresotalbehandlung der Pneumonie. (El Siglo
Medico, 30. Juni 1906.)
Verfasser berichtet über 11 Fälle, von denen einer (70 jähriger
Mann) letal endigte. Meist handelte es sich um typische kruppöse
Pneumonien, in einigen Fällen auch um Bronchopneumonien; alle
Lebensalter waren vertreten. Das Urteil, das der Verf. über die
Kreosotalbehandlung fällt, dass sie die Temperatur herabsetzt und
den Ablauf der Krankheit verkürzt, kann man auch bei unbefangener
Lektüre der Krankengeschichten als zu Recht bestehend anerkennen.
So erfolgte z. B. die definitive Entfieberung in Fall 1 am 2. — 4. Tage,
in Fall 2 am 5., in Fall 4 am 5. usw. Irgend einen Nachteil von
der Behandlungsmethode sah Verf. nie; die günstigeren Resultate er¬
zielte er stets bei den typischen kruppösen Pneumonien, während
bei den Influenzapneumonien die Erfolge zu wünschen übrig Hessen;
gutes sah er in solchen Fällen öfter von einer Kombination des
Kreosotais mit Chinin.
Gonzalez del V alle: Behandlung der Pneumonie. (El Siglo
Medico, 8. Sept.)
Ebenfalls sehr günstige Beurteilung des Kreosotais in Tagesdosen
von 8 — 12 g; die als Probe mitgeteilten 3 Krankengeschichten zeigen
einen sehr raschen günstigen Verlauf.
Semprün: Heilung der Tuberkulose mit dem „Antipneumo-
cochina“. (El Siglo Medico, 25. August 1906.)
Semprün geht davon aus, dass das beste natürliche Verteidigungs¬
mittel gegen die tuberkulöse Infektion die primäre Kalkimprägnation
des Herdes ist, primär, d. h. vor der Verkäsung erfolgt, und er sucht
eine solche künstlich herbeizuführen. Er benutzt hiezu eine Kal-
ziumformiateiweissverbindung; um aber die Gewebe hierfür emp¬
fänglicher zu machen, bedarf es gleichzeitig der Einführung eines
„mordiente“, einer ätzend wirkenden Substanz; er verwendet hiefiir
einen Körper von der Formel C18H-’NS04 (Sulfuchondroitinsäure — 3
Wasser). Beide Körper sind vereinigt in dem „Antipneumocochina“,
einer Flüssigkeit, die in sterilisiertem Zustand subkutan injiziert wird.
Kleine Tiere ertragen 1 ccm, grössere 3 ccm ohne Anstand. Bringt
man Meerschweinchen unter aseptischen Kautelen Holzstückchen
unter die Haut, so zeigen Tiere, die man nachher 30 Tage mit dem
Mitte! behandelt hat, eine deutliche Kalkimprägnation des bei den
Kontrollieren den Fremdkörper umwuchernden Bindegewebes. In¬
jiziert man einem Meerschweinchen 30 Tage lang täglich das Mittel,
bringt ihm tuberkulöses Sputum unter die Haut und setzt dann die
Injektionen fort, so zeigt sich im Vergleich zu Kontrollieren eine
viel geringere Infiltration, keine Geschwürbildung, viel spätere und
geringere Drüsenschwellung, eine bessere Gewichtskurve, ein längeres
Ueberleben. Ob Heilung erzielt werden kann, ist noch nicht spruch¬
reif. Gegenwärtig sind Versuche an Ziege und Hund, als grösseren
und gegen das Tuberkulosevirus resistenteren Tieren im Gang. Der
gesunde Mensch erträgt 3 ccm des Mittels täglich ohne Schaden.
F. Gonzalez Deleito: Die Azoturia adolescentium. (Rev. de
Med. y Cir. Präct., 21. Sept. 1906.)
Deleito bespricht an der Hand zweier Fälle das schon von
französischen Autoren (Bouchard, R o b i n) aufgestellte Krank¬
heitsbild der Azoturie. Die Symptome der Krankheit sollen mit denen
bei der Phosphaturie grosse Aehnlichkeit haben; sie sind wesentlich
neurasthenischer Natur. Die Krankheit ist charakterisiert durch be¬
trächtliche Vermehrung der Harnstoffausscheidung; ebenso enthält der
Harn auffallend viel Chloride. Die Prognose ist gut, die Therapie
eine roborierende.
Co di na: Ueber die Aetiologie der Pellagra. (Real Acad. de
Med. de Madrid, 9. VI. 06. Rev. de Med. y Cir. Präct. 7. August 1906.)
Nach C o d i n a s Ansicht sind alle Faktoren, denen man die
Entstehung der Pellagra zuzuschreiben pflegt, z. B. verdorbener Mais,
nur auslösende, nie spezifische ätiologische Elemente. Das Indivi¬
duum muss bereits in einem, z. Z. noch nicht zu bestimmenden Organ,
eine besondere Empfänglichkeit besitzen, und zwar ist C o d i n a der
Ansicht, dass die letzte Ursache der Pellagra eine endogene Intoxi¬
kation ist.
E. Arjö; Opotherapie bei Pellagra. (EI Siglo Med., 4. August
1906.)
In einem schweren Fall von Pellagra, der schon seit 2 Jahren
die Arbeitsunfähigkeit des Pat. bedingte, und der nun in ein akutes
Stadium mit Fieber, Erbrechen, Delirium getreten war, ging Verf. so
vor, dass er den Pat. täglich 100 g Knochenmark vom Lamm ver¬
zehren liess, dabei die 1. Woche täglich 2 ccm, dann zweimal
wöchentlich 6 — 8 ccm Hodenextrakt vom Hammel subkutan injizierte;
letzteres bewirkte Schmerzen und leichte Reizerscheinungen. Da¬
neben wurde reichliche Kost und Arsen gegeben, eine Behandlungs-
weise, die für sich allein verwendet 3 Wochen lang den Zustand des
Kranken nicht zu bessern vermocht hatte. Nach 14 Tagen befand
sich der Kranke wohl, nach 8 Wochen war das Erythem verschwun-
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2171
den, und der Kranke nahm seine Beschäftigung wieder auf, ohne in den
seither verflossenen 4 Jahren wieder zu erkranken. In einem 2. leich¬
teren Falle erzielte die gleiche Behandlung den gleichen Erfolg. Verf.
glaubt übrigens nicht, dass das ätiologische Agens der Pellagra Be¬
ziehungen zum verdorbenen Mais hat, sondern dass schlechte Er¬
nährung im allgemeinen diePellagra in irgend einerWeise verschuldet.
Co di na: Beziehungen zwischen der Menge der Parasiten und
dem Blutbefunde bei der Anchylostomaanämie. (Real Acad. de Med.
de Madrid. 19. V. 06, Rev. de Med. y Cir. Präct. 14. VII. 06.)
Auf Qrund von 41 Beobachtungen weist Codina die leicht-
verständliche Tatsache nach, dass der Menge der vorhandenen,
d. h. abgegangenen Parasiten entsprechend, die Erythrozytenzahl
und der Hämoglobingehalt sinkt, die Leukozytenzahl steigt. Be¬
merkenswert ist, dass die stets vorhandene Eosinophilie nur bis
zu einer gewissen Grenze der Parasitenzahl entsprechend steigt, in
den schwersten Fällen jedoch deutlich geringer wird.
J. Roset: 2 Fälle von Lysolvergiftung. (Rev. de Cienc. med.
de Barcelona, August 1906.)
Im ersten Fall wurde nach Eröffnung eines vereiterten Ovarial¬
kystoms die Wundhöhle, im zweiten Fall bei Puerperalsepsis die
Uterushöhle mit 2 proz. Lysollösung gespült. In beiden Fällen trat
eine Nephritis, im ersten auch eine heftig juckendes Erythem auf,
Symptome, die nach Weglassen der Spülungen rasch verschwanden.
J. Goyanes: Eine seltene Form der Darmstenose. (Rev. de
Med. y Cir. Präct. 7. Juli 1906.)
Die kasuistische Mitteilung sei hier referiert, weil nach Angabe
des Verf. bis jetzt kein ähnlicher Fall beschrieben ist. Es handelt
sich um einen Fall von Ileus, verursacht durch Stenosierung des
Dünndarms infolge von ringförmiger Wucherung des mesenterialen
Fettes um die Darmschlingen herum, um eine „Stenosis lipomatosa
anularis“. Es fanden sich beim Absuchen des Darmes zwei derartige
Stellen. Der Exitus erfolgte in diesem Falle durch Perforation des
Rektums infolge eines Klysmas mit kohlensaurem Wasser, das un¬
berufene Hände am Tage vor der Operation verabreicht hatten.
Jose Goyanes: Neue Arbeiten über Gefässchirurgie. (El
Siglo Med., 1. und 8. September).
Verf., der bereits im vorigen Jahre eine interessante experimen¬
telle Arbeit über Gefässchirurgie publiziert hat (Ref. Münch, med.
Wochenschr. 1905), stellt hier (leider ohne genaue Literaturangaben)
die modernen Errungenschaften über Gefässchirurgie zusammen und
teilt gleichzeitig einen gelungenen Fall von Anastomosis arterio-venosa
beim Menschen mit. Es handelte sich um einen 41 jähr. Mann mit
grossem spindelförmigem Aneurysma der Arteria poplitea. Es wurden
am Oberschenkel nahe der Eintrittstelle in die Adduktoren Arterie
und Vene durchschnitten, das periphere Arterien- und das zentrale
Venenende zugenäht und das zentrale Arterienende mit dem peripheren
Venenende vereinigt, ebenso wurde unterhalb des Aneurysmas das
zentrale Venenende in das periphere Arterienende eingenäht. Sofort
nach Lösung der komprimierenden Pinzetten ging der Blutstrom
gut über die Anastomosenstellen hinweg. Trotz einer Wundeiterung
an der Kniekehlenwunde (wahrscheinlich einer Gelatineinjektion in
das Aneurysma zu danken!) war der weitere Verlauf ein günstiger,
und bei der Niederschreibung des Aufsatzes (514 Monate nach der
Operation) waren die Verhältnisse am Bein völlig normal, der Aneu¬
rysmasack wesentlich verkleinert. Verf. rühmt dieser Methode der
Aneurysmaausschaltung nach, dass sie, abgesehen von anderen Vor¬
teilen, den arteriellen Kreislauf aufrecht erhält, ohne dass man sich
auf den unsicheren Kollateralkreislauf verlassen müsse; das Opfer
der Vene wird in den meisten Fällen demgegenüber nur leicht wiegen.
E. A 1 a m i 1 1 a y Requeijo: Behandlung des Pemphigus acutus
mit Finsenlicht; seine Uebertragung durch Flohstiche. (Rev. de Med.
y Cir. de Habana, 10. Juni 1905.)
Verf. konnte die Wirksamkeit des Finsenlichtes bei der in Rede
stehenden Affektion an zweien seiner eigenen Kinder ausprobieren;
ebenso wie er direkt den Uebergang von Stichen des Mäuseflohs in
eine Pemphiguseffloreszenz nachweisen konnte.
A. M. Cerecedo: Erfolge der Dilatation, Spülung und Tam¬
ponade des Uterus bei Aborten, Subinvolutionsblutungen und Endo-
metritiden. (Rev. de Med. y Cir. Präct. 7. IX. 06.)
Verf. hat bei der anscheinend so harmlosen Uterusauskratzung
wiederholt recht unangenehme Zufälle erlebt, Blutungen und Schock¬
wirkung, die bei anämischen und nervösen Individuen lebensbedroh¬
lich wurden, ja in einem Falle den Exitus verschuldeten. Anderer¬
seits konnte er mehrfach beobachten, dass auch in Fällen, wo die
Auskratzung aus irgendwelchen Gründen eine unvollständige war,
die Symptome ebenso vollständig verschwanden, wie wenn ganz
ausgekratzt worden wäre. Er hält daher bei unvollständigen Aborten
die Auskratzung zum Zwecke der Prophylaxe (Blutung, Infektion)
für unnötig, und auch, wenn derartige Komplikationen eingetreten
sind, oft für vermeidbar und für ersetzbar durch Dilatation, Spülung
und Tamponade. Ebenso werden diese Manipulationen die Aus¬
kratzung oft unnötig machen bei den Blutungen der Subinvolution
und der Endometritis hyperplastica. Krankengeschichten sind als
Beleg beigegeben. M. K a u f m a n n - Mannheim.
Skandinavische Literatur.1)
E. H. Hansteen (N): Spirochaete pallida. (Norsk Magazin
for Lägevidenskaben 1906, No. 7.)
Bei 4 gleich nach der Geburt gestorbenen Kindern und 1 wenige
Tage vor der Entbindung gestorbenen mazerierten Fötus, allen mit
Syphilis, fand Verfasser durch Levaditis Methode Spirochaete
pallida jedesmal in der Leber, dreimal in der Milz, zweimal im
Pankreas bei interstitieller Pankreatitis, dreimal in den Nieren ohne
sichtbare histologische Veränderungen und zweimal in den Lungen
bei ausgebreiteter Pneumonia alba.
Francis Harbitz (N): Eigentümliche Hirnläsion. (Ibidem,
No. 9.)
Die Spitze eines Regenschirms war während eines Händels
durch die linke Nasenhöhle zwischen dem Septum und den Konchae
schräg aufwärts und weiter durch die Decke der Nasenhöhle und
durch den linken Frontallappen bis in das Innere des Gehirns hinein¬
gedrungen. Gleich danach Erbrechen, aber keine Bewusstlosigkeit.
Exitus nach 11 Tagen. Todesursache: Enzephalitis und Meningitis.
Derselbe: Lysolvergiftung. (Ibidem.)
Ein einjähriges Kind bekam anstatt Liq. ferri albuminati einen
Kaffeelöffel voll ungemischtes Lysol, wurde zyanotisch, fing an zu
röcheln und zu stöhnen, erbrach mehrmals. Sein Harn hatte Rosa¬
farbe. Es starb nach 12 Stunden. Sektionsbefund wie bei Karbol¬
vergiftung.
Theodor Frölich (N): Ueber Pylorusstenose bei Säuglingen.
(Ibidem.)
Der Verfasser hat zwei Patienten mit diesem Leiden beobachtet,
an dem zweiten Patienten (der erste starb im Spital) wurde Pyloro-
plastik mit gutem Erfolg vorgenommen. Er betrachtet das Leiden als
angeboren, und auf vergleichende anatomische Untersuchungen ge¬
stützt betrachtet er es als eine Entwicklungsanomalie, entweder als
eine fötale Hyperplasie der Muskeln in dem sogen. Canalis pylori
oder als eine Folge des Ausbleibens der regressiven Veränderungen,
die nach seiner Meinung zur Bildung des bleibenden Pylorus auf-
treten. Ausser der angeborenen Pylorusstenose existiert ein von ihm
ganz verschiedener funktioneller Pylorospasmus.
P. N. Hansen (D): Die Behandlung der akuten Darminvagina-
tion bei Kindern. (Aus der I. Abteilung des Kommunehospitals zu
Kopenhagen. Vorstand: Prof. E. A. Tscherning.) (Bibliotek for
Läger, Juli 1906.)
Der Verfasser gibt eine Uebersicht über 23 Fälle, von welchen
13 genasen. In 16 Fällen handelte es sich um ileozoekale Invagination,
in 3 um Dickdarm-, in 2 um Dünndarminvagination ; 1 hatte eine In-
vaginatio ileo-colica, 1 eine Invaginatio iliaca-ileo-coecalis. Bei einem
Knaben mit der ileozoekalen Form fand sich zugleich eine aszen-
dierende Dickdarminvagination. Der Verfasser zieht die primäre
Laparotomie vor, da man durch die unblutigen Methoden nicht sicher
entscheiden kann, ob die Reposition stattgefunden hat.
Thorkild Rovsing (D): Ueber die Bedeutung der Blasen¬
tuberkulose und ihre Heilbarkeit. (Hospitalstidende 1906, No. 27 u. 28.)
Auf 56 Fälle gestützt teilt der Verfasser seine Erfahrungen über
die Blasentuberkulose mit. Er hebt hervor, dass das Leiden ge¬
wöhnlich von einer primären Nierentuberkulose verpflanzt wird; es
gilt deshalb die betreffende kranke Niere zu entfernen, ehe man
die Blasentuberkulose zu behandeln anfängt. Er verwirft die An¬
wendung von Harnsegregatoren, allein die Ureterkatheterisation kann
über den Zustand der Nieren Aufklärung geben. Wenn dieselbe
unausführbar ist, oder wenn die Möglichkeit einer aszendierenden
Uretertuberkulose vorhanden ist, muss explorativer Lumbalschnitt —
eventuell mit Ureterostomie verbunden — ausgeführt werden. Nach
der Nephrektomie kann die Tuberkulose in der Blase spontan
ausheilen; wenn eine solche Spontanheilung nicht eintritt, kann die
vom Verfasser vor dem Chirurgenkongress zu Berlin beschriebene
Behandlung, Injektion von 6 p r o z. Karbol wasser, in den
meisten Fällen Heilung bringen, vorausgesetzt, dass die
Tuberkulose noch in der Schleimhaut begrenzt ist.
In 13 Fällen hat der Verfasser, nachdem er 1 — 2 Monate nach der
Nephrektomie durch Zystoskopie das Ausbreiten des tuberkulösen
Prozesses bestätigt hatte, durch diese Behandlung Heilung erreicht.
Paul Kuhn Fab er (D): Ein Fall von Trigeminusneuralgie mit
Röntgenstrahlen behandelt. (Ibidem No. 28.)
Erfolgreiche Röntgenbehandlung eines schweren Falles
von Trigeminusneuralgie.
Holger Mygind (D): Die Paralyse des Muse, crico-thyreoideus.
(Ibidem No. 29.)
4 Fälle dieses seltenen Leidens, in der Halsklinik des Kopen-
hagener Kommunehospitals beobachtet.
C. Wessel (D): Ueber die B i e r sehe Stauungshyperämie¬
behandlung und ihre Anwendung, speziell bei traumatischen Leiden.
(Ibidem No. 30, 31, 32, 33.)
Derselbe: Die Behandlung von Fractura radii mit Stauungs¬
hyperämie. (Nordisk Tidsskrift for Terapi, Bd. IV, Heft 12.)
Der Verfasser gibt eine Uebersicht der Frage und teilt seine
guten Erfahrungen mit der B i e r sehen Behandlung mit; er hat sie
*) Durch die beigefügten Buchstaben D, F, N oder S wird an¬
gegeben, ob der Verfasser Däne, Finnländer, Norweger oder
Schwede ist.
3172
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHR1ET.
No. 44.
ui ca. 50 Fällen von traumatischen und gonorrhoischen Affektionen
angewandt. Er rühmt sie bei Behandlung von Frakturen, speziell
bei Radiusfraktur, bei welcher er sie in 8 Fällen benutzt hat.
P. Tetens Haid (D): Weitere Erfahrungen über die Behandlung
von Nasendeformitäten mit Paraffininjektionen. (Hospitalstidende
No. 31.)
Der Verfasser hat ohne Unfall bei 49 Patienten mit Nasen¬
deformitäten Paraffin von einem Schmelzpunkt über 50° injiziert. Die
Ursache der Deformität war in 17 Fällen Trauma, in 22 Fällen Sy¬
philis, in 5 Fällen Ozaena, in 5 Fällen handelte es sich um angeborene
Missbildungen von unbekannter Aetiologie. (Vergl. dieses Blatt
1905, S. 820.)
A. Brönnum (D): Ueber die Aetiologie von Erythema no-
dosum. (Ibidem No. 34.)
Der Verf. teilt zwei Fälle von familiärem Auftreten von Erythema
nodosum mit. Im ersten Fall handelte es sich um zwei Brüder, die
gleichzeitig nach Diphtherie von der Krankheit angegriffen wurden,
im zweiten Fall um zwei Brüder, von denen der eine einen Tag nach
dem anderen erkrankte. In diesem Falle war Beziehung zu einer
anderen Krankheit nicht vorhanden. Die Krankheit muss als eine akute
Infektionskrankheit angesehen werden.
F. Vermehren (D): Beitrag zur Behandlung des blutenden
Magengeschwürs. (Ibidem No. 35 und 36.)
Der Verfasser hat mit gutem Erfolg die von Lenhartz emp¬
fohlene Methode in 26 Fällen von blutendem Magengeschwür an¬
gewandt. (Siehe diese Blatt 1904 No. 1 u. 2. Wagner: Zur Be¬
handlung des Magengeschwürs.)
Johan Frederik Fischer (D.): Ein Fall von inoperablem Sar¬
kom mit Röntgenstrahlen behandelt. (Ibidem No. 36.)
Es handelte sich um ein grosses polymorphes Sarkom in der
rechten Regio sacroiliaca. Radikaloperation unmöglich. Heilung
durch Röntgenbehandlung. Beobachtungszeit nach der Behandlung
2 Jahre.
Adolph H. Meyer (D.): Oedeme ohne Albuminurie bei Darm¬
katarrhen der Kinder. (Ibidem No. 39.)
Bei einem lVa Jahre alten Knaben, der in der Klinik des Ver¬
fassers aufgenommenen wurde, traten während einer subakuten En-
terokolitis Oedeme auf, ohne dass irgend ein Zeichen einer Nieren¬
entzündung in dem Harn sich nachweisen Hess. Keine vorhergehende
Skarlatina; keine vorhandene Anämie; keine stethoskopischen Zeichen
eines Herzleidens. Das Kind war sehr geschwächt. Die in den
peripheren Teilen ausgebreiteten Oedeme hatten den Charakter eines
zyanotischen Oedems. Zugleich waren Zeichen eines meningealen
Oedems vorhanden. Der Verfasser vergleicht den Fall mit dem
Oedem bei geschwächten Neugeborenen. Anfangs war trotz chlor¬
haltiger Nahrung Achlorurie bezw. Hypochlorurie nebst Oligurie und
niedrigem spez. Gewicht des Harns vorhanden. Durch Gaben
von 3 g CI Na täglich nahmen die Oedeme in zwei Tagen kolossal zu.
Der Chlorstoffwechsel wurde in ca. 5 Wochen annähernd bestimmt
(Berechnung der Chloride in der Nahrung, Bestimmung der Chloride
des Harns durch Titration nach Volhardts Methode; wegen Mangel
zuverlässiger Harnrezipienten Hessen sich ganz genaue Zahlen des
Chlorstoffwechsels doch nicht aufstellen; Chloride in den Fäzes sehr
sparsam). Der Verfasser erwähnt die bisher veröffentlichten Fälle
(Stoeltzner, L. F. Meyer, H u t i n e 1, Rocaz u. a.) und die
landläufigen Hypothesen hinsichtlich der Aetiologie und Pathogenese
dieser Oedeme; glaubt, dass in seinem Fall vielleicht Herzschwäche
Zirkulationsstörungen hervorgerufen haben könne, die u. a. durch
Stauung in den Nieren Wasser- und Chloridretention veranlasst haben.
Durch Behandlung des Darmkatarrhs trat Heilung ein; die Oedeme,
die mit starker Gewichtszunahme einhergingen, schwanden unter
Gewichtsabnahme und Polyurie, und später wurde der Chlorstoff¬
wechsel normal. Der Verfasser hebt den Unterschied des Chlorstoff¬
wechsels der Kinder, spez. der Säuglinge, dem der Erwachsenen ge¬
genüber hervor. (Autoreferat.)
Martin Ra m ström (S): Ueber die lainellösen Nervenend¬
körperchen im Peritoneum des Menschen und über die Bedeutung
dieser Körperchen. (Upsala Läkareförenings Förhandlingar N. F.
Bd. XI, Heft 5).
Der Verfasser liefert im 1. Teil dieser Arbeit eine Beschreibung
von den verschiedenen Nervenendkörperchen, die er im Peritoneum
an der vorderen Bauchwand hinter dem M. rectus und am Dia¬
phragma bei Neugeborenen gefunden hat. Die Beschreibung umfasst
teils einen topographisch-anatomischen, teils einen histologischen Teil.
Die Körperchen Hegen gewöhnlich gehäuft an den Verzweigungs¬
und Eintrittsstellen der grösseren Peritonealnerven und sind in eigen¬
tümlichen, wie die Inscriptiones tendineae über die Bauchwand quer¬
ziehenden bandförmigen Gruppen angeordnet. Nach ihrer Struktur
lassen sich die Körperchen in 2 Arten einteilen: 1. Nervenendkolben,
die am meisten den Golgi-Mazzonischen Körperchen ähneln
und 2. Vater-Pacini sehe Körperchen; die ersten trifft man tiefer
im Peritoneum oder seiner Submukosa an, die letzten oberflächlicher
dicht unter dem Epithel. In einem 2. Teil berichtet der Verfasser
über die von Le n na n der angestellten experimentellen Unter¬
suchungen über die Empfindlichkeit in der Peritonealbekleidung der
vorderen Bauchwand, welche zeigen, dass das Peritoneum dort für
Schmerz empfindlich ist, dagegen wahrscheinlich weder Druck-,
Wärme- oder Kältesinn hat. Anlässlich des Widerspruchs, der in
der Gegenwart von Vater-Pacini sehen Körperchen im Peri¬
toneum und der Abwesenheit des Drucksinnes liegt, stellt der Ver¬
fasser im 3. Teil eine Erörterung über die Gründe an, auf die unsere
Vorstellung von der Funktion der fraglichen Körperchen sich stützt,
und der Verfasser weist auf die Notwendigkeit hin, im Detail zu
prüfen, ob die bei den Körperchen supponierten Funktionen überhaupt
mit bekannten anatomischen Verhältnissen übereinstimmen und
eventuell hierüber kombinierte experimentelle und anatomische Unter¬
suchungen anzustellen. Zahlreiche Illustrationen begleiten die Arbeit.
Axel R. Limnell (F.): Beitrag zur Kenntnis der Tuben¬
schwangerschaft. (Aus der gynäkologischen Universitätsklinik zu
Helsingfors. Vorstand: Prof. Dr. G. H e i n r i c i u s.) Nordiskt medi-
cinskt Arkiv, Abt. I (Kirurgi), 1906, Heft 3 u. 4, No. 14.
Auf 86 Fälle gestützt gibt der Verfasser eine Uebersicht über
Symptome, Diagnose, Prognose und Behandlung.
H. Forsener (S.): Ueber die pathologische Anatomie und
Aetiologie der angeborenen Darm- und Oesophagusatresien nebst
einer Studie über die früheste Entwicklung des Verdauungskanals.
(Aus dem anatomischen Institut und dem allgemeinen Findelhaus zu
Stockholm.) (Ibidem No. 20.)
Durch histologische Untersuchungen von menschlichen Embry¬
onen fand der Verfasser, dass in frühen Stadien eine Epithelproli¬
feration vorgeht, die gewöhnlich zu einer bestimmten Zeit des Fötal¬
lebens eine Obliteration sowohl im Duodenum — wie schon Tand-
1 e r und Kreuter nachweisen — als auch ausnahmsweise in den
übrigen Teilen des Darmkanals verursacht. Aehnliche Verhältnisse
fand der Verfasser durch vergleichende Untersuchungen bei Embry¬
onen von Selachiern, Reptilien, Vögeln und Säugetieren. Der Ver¬
fasser untersuchte zunächst eine Reihe von angeborenen Darm- und
Oesophagusatresien, und glaubt, dass die Ursache derselben (hinsicht¬
lich die Oesophagusatresien gilt es allein für die unkomplizierten
Formen) in den embryonalen Epithelokklusionen zu suchen sind.
Wenn nämlich das Mesenchym durch den Darm einwächst, ehe die
Lösung der Epithelokklusion stattgefunden hat, wird in der Lichtung
des Darms eine Atresie gebildet, bestehend aus Bindegewebe, welches
in dem Epithel eingelagert wird. Wenn die Bindegewebebrücke
dünn ist, entsteht eine Membran, wenn sie dicker Ist, ein Strang,
ist sie unvollständig oder so schwach, dass sie springt, eine unvoll¬
ständige Membran. Der Verfasser zeigt ferner, dass der Darm unter¬
halb einer unvollständigen Stenose während des Fötallebens solche
Veränderungen erleiden kann, dass die Lichtung verschwindet und die
Teile des Darmes nur von einem festen Strang verbunden werden;
aus einer ursprünglichen Verengerung kann so eine vollständige Ob¬
literation entstehen. Hierdurch lässt sich auch der Umstand erklären,
dass das Mekonium unterhalb einer Atresie gefunden werden kann.
Die verdienstvolle, in gewissen Richtungen bahnbrechende Arbeit
wird von guten Bildern begleitet. Hoffentlich wird sie in einer Welt¬
sprache erscheinen.
Wilhelm Wernstedt (S): Studien über die Natur der sogen,
angeborenen Pylorusstenose. (Ibidem Abt. I [innere Medizin] 1906,
Heft I, No. 2 und Heft II, No. 5.)
Eingehende pathologisch-anatomische Untersuchungen von 17
pylorusstenotischen und mehrere hundert Magen normaler Kinder.
Der Verfasser zieht aus seinen detaillierten Untersuchungen den
Schluss, dass angeborene Pylorusstenose, die er als eine anatomische
Missbildung betrachtet, sehr selten ist, nur einer seiner Fälle (es
handelt sich um eine 50jährige Frau) gehört diesem Landerer-
May er sehen Typus an; alle 16 anderen waren Stenosen bei Säug¬
lingen und gehörten dem Hirschsprung sehen Typus an; der
Verfasser glaubt nicht, dass dieser Typus angeboren ist (das spasti¬
sche Moment scheint ihm das wichtigste und pathologisch-anatomisch
tritt eine Hypertrophie der ganzen Magenmuskulatur auf), und schlägt
für denselben den Namen Pylorospasmus oder spastische Pylorus-
kontraktur im Säuglingsalter vor, trotzdem dass Hirsch Sprung
selbst die Aehnlichkeit seiner Fälle mit den von Länderer und
Mayer publizierten Fällen bei Erwachsenen und älteren Kindern
behauptete. Der sog. Sphincter pylori und Canalis pylori sind nach
den Untersuchungen des Verfassers als Ausdruck für verschiedene
Kontraktionszustände aufzufassen. Die Weite des Pyloruslumcns
dürfte sich durch Ausdehnungsversuche mit Wasser und nachfolgende
Härtung mit Formalinlösung in exakterer Weise bestimmen lassen,
als durch die von P f a u n d 1 e r u. a. gebrauchten Methoden, deren An¬
gaben sich als nicht stichhaltig herausstellen. Gute Illustrationen sind
beigefügt. Die Abhandlung ist in deutscher Sprache geschrieben
und für jeden Kinderarzt von Interesse.
Adolph H. Meyer- Kopenhagen.
Inauguraldissertationen.
Universität Jena. Juli— September.
15. Bettmann Max: Ueber die Beziehungen der Appendizitis zu
den weiblichen Adnexorganen.
16. He mp el E.: Beitrag zur Kenntnis des Stoffwechsels bei un¬
zureichender Ernährung.
17. Müller Ernst: Beitrag zur Kenntnis der Corpora aliena adiposa
in der Bauchhöhle.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2173
Vereins- und Kongressberichte.
78. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte
in Stuttgart, 16. bis 22. September 1906.
VI.
Gemeinsame Sitzung der Abteilung für innere Medizin etc.,
-mit den Abteilungen 17, 18, 19, 21, 24, 25, 27, 29, 31.
Dienstag, den 18. September 1906.
Vorsitzender: Herr B 1 a s c h k o - Berlin.
Herr N e i s s e r - Breslau : Ueber die Errungenschaften der
modernen Syphilisforschung.
Die Syphilisforschung war seit längerer Zeit insofern an einem
toten Punkt angelangt, als man den Syphiliserreger nicht kannte und
deli Krankheitsverlauf nicht experimentell feststellen konnte.
Metschnikoff und Roux stellten die Verwendbarkeit des Affen
als Versuchstier fest. Die von Schaudinn gefundene Spirochäte
hält er mit Bestimmtheit für den Erreger der Syphilis. Wenn auch
bei anderen Tieren, z. B. Kaninchen, die schon früher zu Versuchen
verwandt wurden, Spirochäten gefunden wurden, so sind doch die
Affen das gegebene Versuchsobjekt. Man kann bei ihnen nicht nur
mit dem syphilitischen Produkt Affensyphilis erzeugen, sondern auch
hereditäre Syphilis. Ein Unterschied zwischen der Virulenz pri¬
märer und sekundärer Produkte besteht nicht. Die höheren Affen
sind empfänglicher für das Syphiliskontagium; sie können an jedem
Teil des Körpers geimpft werden, die niederen Affen nur an Lippen
und wenigen anderen Körperteilen. Subkutane Impfung ist nicht
möglich, auch intravenöse nicht, trotzdem die hereditäre Syphilis für
ihre Möglichkeit spricht. Das Ergebnis ist wertvoll für die wissen¬
schaftliche Diagnostik, weniger für die praktische. Wichtig ist es
aber, wenn es sich um die Differentialdiagnose zwischen frischer In¬
fektion und tertiärer Form handelt, auch das Vorhandensein des Giftes
im Körper nachzuweisen ist wichtig. Die Frage, wann Syphilis ge¬
heilt ist, wird erst nach Kenntnis der Schutzimpfung zu lösen sein.
Nur die höheren Affen bekommen sekundäre allgemeine Syphilis,
bei den niederen Affen, die anscheinend konstitutionell gesund sind,
findet man das Gift in Nieren, Rücken- und Knochenmark. Die
Frage, wie schnell die Verseuchung eintrat, wurde damit beantwortet,
dass innerhalb 6 Stunden nach der Impfung vorgenommene Entfernung
des Primäraffektes allgemeine Infektion verhindert, bei nach 8 Stun¬
den vorgenommener Exzision trat Syphilis auf. Auf chemischem
Wege, wie dies zuerst Metschnikoff versuchte, kann der Pri¬
märaffekt verhindert werden, aber nicht sicher. Bei scheinbar er¬
folgreicher Exzision des Primäraffekts schliesse man daher nicht auf
Heilung. Die lebenslängliche Immunität nach einmaliger Durch¬
seuchung besteht nicht; Personen, die nicht zum zweiten Mal infiziert
werden, können Giftherde im Körper haben, die letzteren konstitutio¬
nell beeinflussen. Die Versuche, ein Serum zu gewinnen, haben noch
kein Resultat gezeitigt. Das Quecksilber ist nicht entbehrlich, ebenso¬
wenig die Prophylaxe durch Aufklärung.
Herr Hoifmann - Berlin : Aetiologie der Syphilis.
Redner schildert die mit Schaudinn nach einem gemein¬
samen Plan angestellten Versuche, welche zur Entdeckung der Spiro-
chaete pallida durch Schaudinn führten, demonstriert dieselbe
an zahlreichen Lichtbildern. Sie ist in allen Stadien der Syphilis,
auch bei hereditärer Syphilis zu finden, ihre Entwicklungsgeschichte
ist aber noch unbekannt.
Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Sitzung vom 20. September 1906, vormittags 8 Uhr.
Vorsitzender : Herr Fehling.
1. Demonstrationen.
Herr S c h i c k e 1 e - Strassburg: 1. Ovarialgravidität. Das Ei
sass in der Peripherie des Ovariums, in nächster Nähe des letzten
Corpus luteum. Die Blutgerinnsel, denen das Ovarium aufliegt und
mit denen die Eimole in Verbindung stand, sind von einer derben
Hämatozelenmembran umgeben (s. unten).
2. Geplatzte 3Va monatliche Tubenschwangerschaft mit multiplen
Usuren der Eiwand. Der Fötus zeigte einen tiefen Riss in der Brust¬
höhle, der nicht artefiziell, sondern wahrscheinlich dadurch entstanden
ist, dass beim Platzen des Fruchtsacks der Fötus conduplicato cor¬
pore geboren und an seiner Konvexität überdehnt worden ist.
Herr S c h a 1 1 e r - Stuttgart demonstriert eine 7 monatliche
Missgeburt mit totalem Defekt der Nabelschnur, ausserdem multiplen
Missbildungen (Hydroencephalocele posterior, rechtsseitiger Anoph-
thalmus, Hasenscharte, Wolfsrachen usw., komplette Thorakogastro-
schisis).
Herr S c h ä f f er - Heidelberg demonstriert intraligamentär ent¬
wickeltes Kystomyxofibromyom.
2. Vorträge.
Herr S c h i c k e 1 e - Strassburg : Ueber die Implantation der
Eier im Ovarium.
Nach unseren heutigen Kenntnissen lassen sich 2 Arten von Ei¬
implantation im Ovarium unterscheiden, die intrafollikuläre, für die
C. van T ussenbrock ein typisches Beispiel beigebracht hat, und
die intraovariale, wie im Falle von Franz. Sch. kann hierzu einen
weiteren Beitrag liefern mit einem Fall, wo das Ei wie bei Franz
neben dem Corpus luteum peripher vor ihm lag. Das wachsende Ei
hat einen zirkumskripten Abschnitt des Corpus luteum stark aus¬
gedehnt, jedoch derart, dass der übrige Teil des Corpus luteum und
seine Höhle unverändert geblieben sind. Dies lässt sich nur dadurch
erklären, dass sich das befruchtete Ei in einer Falte der dünnen ge¬
borstenen Follikelwand niedergelassen hat. So entwickelte sich das
Ei zwar intraovarial, ist aber auf der einen Seite von den sich weiter
ausbildenden Luteinzellen umgeben. Man kann diese Art der Eiein¬
bettung als epovariale bezeichnen.
Herr S i p p e I - Frankfurt a. M.: Ueber einen neuen Vorschlag
zur Bekämpfung schwerster Eklampsieformen.
Die aktive, auf möglichst rasche Beseitigung der Schwangerschaft
gerichtete Therapie genügt nicht in allen Fällen. In vielen Fällen
ist die Ausscheidung des Giftes auch nach der Entbindung noch ge¬
hemmt, und hier kommt der zweite therapeutische Weg in Betracht:
die Entfernung der im Körper vorhandenen Toxine. Die hierzu an¬
gewandten Mittel reichen nicht aus, oft genug gehen die Kranken
im Koma zugrunde. Dies hat seine Ursache in einem Versagen der
Nierenfunktion, die ihrerseits wieder auf degenerativen Vorgängen
infolge von Stauung beruhen. Diese kommt in einer Volumver-
grösserung des Organs zum Ausdruck. Einen nicht unerheblichen
Einfluss auf die Stauung haben die Konvulsionen selbst. Die intra-
kapsuläre Drucksteigerung lässt sich durch Spaltung der Kapsel resp.
Nephrotomie beseitigen. S. schlägt vor, in Fällen, in denen nach
der Geburt trotz entsprechender Flilfen die Nierensekretion nicht in
Gang kommt, die beiderseitige Spaltung der Nierenkapsel vorzu¬
nehmen, ein Vorschlag, den er bereits im Jahre 1900 gemacht hat.
E d e b o h 1 s hat diese Operation zwar schon mit Erfolg gemacht,
jedoch ohne weitere Begründung, speziell jede pathologisch-ana¬
tomische Unterlage.
Herr P a n k o w - Freiburg i. B.: Ueber Reimplantation der
Ovarien beim Menschen.
Man unterscheidet autoplastische (Umpflanzung der eigenen!
und homoplastische (Einpflanzung der Ovarien anderer Frauen)
Transplantationen. P. berichtet über 9 eigene Fälle, und zwar 7 auto¬
plastische und 2 homoplastische. Die 7 ersteren wurden ausgeführt
1 mal wegen Osteomalazie, 4 mal wegen Blutungen, 1 mal wegen
Blutungen und Dysmenorrhöe, 1 mal wegen Dysmenorrhöe allein.
Die Ovarien wurden in einer Bauchfelltasche zwischen Blase und
Uterus eingenäht und Einheilung in 5 Fällen beobachtet. Die Re¬
sultate sind noch zweifelhaft: Dysmenorrhöe und Blutungen zeigten
keine oder nur geringe Besserung. Bei der Osteomalazie trat anfangs
rasch Besserung, nach Wiedereintreten der Periode aber erneute
Verschlechterung ein, erst auf Allgemeinbehandlung mit Solbädern
und Lebertran erfolgte völlige Heilung. Die beiden Fälle von homo¬
plastischen Transplantationen hatten keinen Erfolg, vielleicht lässt sich
dieser mit einer Modifikation des Verfahrens erreichen, etwa durch
Verwendung der Ovarien von Neugeborenen.
Herr S c h a 1 1 e r - Stuttgart : Zur Vaporisationsfrage.
Auf Grund von 26 Fällen kommt Sch. zu folgenden Resultaten:
1. Die Vaporisation kann die Abrasio in gewissen Fällen wirksam
ergänzen. 2. Eine exakte Dosierung ist nicht möglich, deshalb die
Misserfolge. 3. Bei jugendlichen Frauen im gebärfähigen Alter ist die
Vaporisation wegen der Gefahren der Menopause und Obliteration zu
verwerfen. 4. Bei Myomen ist die Vaporisation kontraindiziert.
5. Auch lange, bis zu 6 Minuten dauernde Vaporisation ist häufig nicht
imstande, radikale Massnahmen zu ersetzen. 6, Partielle Obliteration
und Hämatometrabildung kann nicht sicher vermieden werden. 7. Bei
hartnäckigen, nicht infektiösen, gegen andere Behandlungsmethoden
refraktären, häufig mit Pruritus vergesellschafteten Katarrhen kann das
Obliterationsverfahren gute Dienste leisten.
Herr Z i e g e n s p e c k - München: Ueber Pessarien.
Z. rekapituliert kurz die Geschichte der Pessare und beschreibt
dann die von ihm angewendefen Formen, gegen Retroflexion das
Gabelpessar und das verbesserte Thomaspessar, gegen Prolaps und
Deszensus das Zungen-Bügelpessar (bei Zystokolpozele mit Retro¬
flexion) und das Schleifenpessar (bei Proktokolpozele).
Sitzung vom 21. September, vormittags 8 Uhr.
Vorsitzender : Herr S i p p e 1.
Herr L e w i t h - Wien : Ueber Stauungsbehandlung bei gynä¬
kologischen Affektionen.
L. bedient sich eines mit Gummipfropf geschlossenen und mit
einem Manometer versehenen Glasröhrenspekulums. Angewandt
wuide das Verfahren bei Erosionen, Dekubitus, Zervixkatarrh, Endo¬
metritis und Metritis, chronischer Parametritis mit Endometritis,
Hypoplasia uteri mit dys- und amenorrhoischen Beschwerden. Ge¬
saugt wird 5—15 Minuten jeden 2.-3. Tag, im ganzen 3—6 Wochen
lang. Resultate: Bei Erosionen und Dekubitus kein Erfolg, bei
Zervixkatarrh, Endometritis und Metritis momentan rasche Besserung,
nach Aufhören der Behandlung Wiedereirrsetzen der Beschwerden.
In Fällen von chronischer Parametritis wirkt die Saugbehandlung
analog der Massage. In Fällen von Hypoplasie endlich, verbunden
mit Dys- und Amenorrhoe wurden keine günstigen Resultate erzielt.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
2174
Aus der Abteilung für Militärsanitätswesen.
Herr S c h 1 a y e r - Tübingen: Ueber die Fernhaltung der Tu¬
berkulose von der Armee.
Die Tuberkulose im Heere wird sich hauptsächlich gegen die
Aufnahme Tuberkulöser in die Armee richten. Trotz scharfer
Durchsiebung werden noch immer jährlich 1000 Menschen = 1,9
Proz. der Kopfstärke eingestellt, welche den Keim der Tuberkulose
in ihrer latenten form in sich tragen.
Von diesen lt)00 gehen etwa 80 Proz. als ganzinvalide ab und
zwar überwiegend im Laufe des ersten Dienstjahres. Die Zahl dieser
ganzinvaliden Tuberkulösen beträgt nicht weniger als l/io der Ge¬
samtzahl der jährlich Invalidisierten. Sowohl die von ihnen aus¬
gehende Infektionsgefahr, wie das wirtschaftliche Interesse der
Armee lassen es demnach dringend wünschenswert erscheinen, von
den mit latenter Tuberkulose in das Heer Eintretenden möglichst
viele so frühzeitig als tunlich auszuscheiden und zwar noch be¬
vor die Strapazen der militärischen Ausbildung zu dem Manifest¬
werden der Tuberkulose und damit zur Invalidisierung führen können.
Zu diesem Zweck sind alle diagnostischen Methoden heran¬
zuziehen, die eine sichere und frühe Erkennung der latenten Spitzen¬
erkrankung ermöglichen. Die physikalisch-diagnostischen Hilfsmittel
können nicht genügen. Die bakteriologische Sputumuntersuchung gibt
meist kein Resultat.
Die Tuberkulinprobe hat ihre Gefahren und ist, allgemein an¬
gewandt, zu fein für unsere praktischen Zwecke, wie die bekannten
Versuche von Frank lehren.
Das Röntgenverfahren zeigt die Tuberkulose nur, wenn
sie Infiltrationen verursacht hat und kann keine Aufklärung
über die Progressivität eines etwa nachgewiesenen Herdes geben.
Es ist somit keine dieser Methoden allein imstande, ein zu¬
verlässiges Urteil zu geben. Wohl aber kann dies eine Kombina¬
tion der verschiedenen diagnostischen Methoden,
wie sie seit einem Jahre in der medizinischen Klinik in Tübingen ge¬
übt wird, erreichen. Nach sorgfältiger physikalischer Untersuchung
wird eine Röntgenplatte der Lungenspitzen aufgenommen und meist
die Tuberkulinprobe angeschlossen.
Auf solche Art ergänzen sich die Vorzüge und Nachteile der
einzelnen Verfahren in glücklicher Weise. Röntgenplatte und physi¬
kalischer Befund zeigen Sitz und Ausdehnung der Erkrankung. Mit¬
unter genügen sie allein, besonders dann, wenn die Platte unerwartet
ausgedehnte Herdbildung nachweist, deren Progressivität der positive
Auskultationsbefund wahrscheinlich macht. Bei solchen Fällen hat
die Tuberkulinprobe ihre Gefahren; diese Kranken werden nicht mit
Tuberkulin weiter behandelt.
In der Mehrzahl wird jedoch die Tuberkulinprobe erst Aufklärung
über den Charakter der Affektion geben müssen. Sie bildet somit eine
wertvolle und meist nicht zu entbehrende Kon¬
trolle und Ergänzung der beiden anderen Untersuchungsarten,
durch die sie eines grossen Teiles der ihr anhaftenden Gefahr beraubt
wird. Diese kann durch Verwendung möglichst kleiner Dosen zu
Anfang noch weiter verringert werden P/io mg). Bei der Beurteilung
der Tuberkulinreaktion ist von grösster Wichtigkeit die
Beachtung der lokalen Reaktion, die gleichzeitig an dem
durch die doppelte Voruntersuchung nachgewiesenen Sitz der Affektion
auftritt und die den lokalen Herd in Beziehung zu der
Allgemeinreaktion setzt und auf ihn als die Ursache der
Temperatursteigerung hinweist.
S c h 1 a y e r schlägt vor, zur Zeit der Rekruteneinstellung in
den grösseren Lazaretten besondere Stationen einzurichten, an denen
tuberkuloseverdächtige Rekruten möglichst bald nach der Einstellung
solchen systematischen Untersuchungen mit kombinierter Methode
unterzogen werden. Er erwarte davon mit Zuversicht eine erhebliche
Abnahme der Tuberkulose in der Armee.
Die Armee wird aber durch diese frühzeitige und exakte Aus¬
scheidung der Tuberkulösen sich noch ein grosses Verdienst um die
Volks Wohlfahrt erwerben, indem sie diese den Landesver¬
sicherungsanstalten zur Uebernahme in die Heilstättenbehandlung
übergibt, für welche sie ja die besten Chancen bieten. Bestrebungen
im Sinne eines Zusammen arbeite ns der militärischen
und der Zivilbehörden im Kampfe gegen die Tu¬
berkulose sind ja ohnedies zurzeit im Gange und als ein grosser
Fortschritt zu begriissen.
Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M.
(Offizielles Protokoll.)
Ordentliche Sitzung vom 2h Mai 1906.
Vorsitzender; Herr E. Cohn.
Schriftführer : Herr J. Rosengart.
Herr W i s 1 i c e n u s demonstriert pathologisch-anatomische
Präparate.
Herr Rose n g a r t berichtet im Anschluss an die Demonstration
des Herrn W i s 1 i c e n u s über einiges Klinische zu dem Präparat
von Ulcus carcinoinatosum am Uebergang vom S roman. ins Rektum
und von Blasendivertikel. Das Ulcus ist fünfmarkstückgross oder
nur wenig darüber. Es umfasst etwa die Hälfte des Darmlumens
und hat die Muskularis nur wenig, die Serosa noch gar nicht er¬
griffen. Dennoch ist seine Existenz schon vor länger als 114 Jahren
richtig erkannt worden, und zwar ohne dass es palpabel war oder
Stenoseerscheinungen gemacht hat. Sein Bestehen kündigte sich nur
durch blutig-schleimige Abgänge im Stuhle an, die an sich ja schwer
zu deuten und für ein Karzinom nicht charakteristisch sind. Herr
A 1 b r e c h t machte mich aber schon so früh auf die Anwesenheit
grosser Körnchenzellen in diesen blutig-schleimigen Abgängen auf¬
merksam, die ihm aus mehrjährigen älteren Beobachtungen als charak¬
teristisch für stark zum Verfall neigende, speziell aber für karzinoma-
töse Geschwüre erscheinen. Diese grossen körnchenhaltigen Zellen
sind leukozytären Ursprungs. Sie treten in den Grund des Geschwürs
über und nehmen aus dem sich bildenden Detritus für den Körperhaus¬
halt noch verwertbare Stoffe auf, und die in ihnen sichtbaren Körnchen
sind Eetttröpfchen. Sie finden sich nur im Grunde zer¬
fallender Ulzerationen und werden von hier in Fällen von
Darmkarzinomen mit dem Stuhle zu tage gefördert. Durch ihren
Nachweis ist mir in einem weiteren Falle von hochsitzendem Rektum¬
karzinom und in einem Falle von Karzinom der Flexura lienalis die
frühzeitige Diagnose ermöglicht worden. Die Richtigkeit der Dia¬
gnose ist in einem dieser Fälle durch die Operation bestätigt worden.
Der andere betrifft eine alte Dame, der ich zur Operation nicht zurede.
Bei einem anderen Kranken mit ganz ähnlichen blutig-schleimigen
Abgängen dagegen habe ich auf Grund des Fehlens dieser körnchen¬
haltigen Zellen bei wiederholter Untersuchung das Karzinom ausge¬
schlossen, und dies offenbar mit Recht, denn der 54 jährige Patient hat
sich im Verlaufe der Beobachtung, die sich jetzt auch schon auf
lVz Jahre erstreckt, glänzend erholt, und auf eine lokale Behandlung
sind auch die Darmabgänge seit Vz Jahre verschwunden. Der Pa¬
tient nimmt fortdauernd an Gewicht und gutem Aussehen zu und
fühlt sich völlig gesund.
Seit einiger Zeit habe ich auch die Körnchenzellen im Inhalt des
karzinomverdächtigen Magens zu suchen begonnen und sie auch in
einem Falle, der sich noch in Beobachtung befindet, erkennen können.
Diese Untersuchungen müssen aber noch fortgeführt werden.
Herr Plaut demonstriert ein durch Operation gewonnenes Prä¬
parat von tuberkulöser Ileumstenose.
25 jähriges Mädchen, stets gesund gewesen, Vater an Hämoptoe
gestorben. Seit 1 Jahr in zunehmender Häufigkeit Schmerzanfälle im
Leibe, z. T. mit anschliessendem Erbrechen. Stuhl anfangs diarrhoisch,
später verstopft. Die Schmerzanfälle kommen periodenweise, der
einzelne Anfall endet mit lautem Gurren. Abmagerung, Blässe. Leib
aufgetrieben, namentlich in der Mitte. Im Anfall deutlich sichtbare
Darmsteifung in der Nabelgegend und rechts davon. Druckempfind-
lichkeit, kein Tumor fühlbar. Lautes Plätschergeräusch in grosser
Ausdehnung, das mit Sicherheit auf den Dünndarm zu beziehen ist.
Diagnose: Tuberkulöse Ileumstenose. Operation (S.-R. Dr. Pinne r).
Resektion der stenosierten Stelle im mittleren Ileum und von etwa
20 cm oberhalb derselben gelegenen, sehr erweiterten Darmes. Ver¬
schluss der Enden durch Naht, seitliche Anastomose. Serosa der Ste¬
nose entsprechend injiziert, keine Knötchen, übrige Serosa intakt,
Zoekum ohne Veränderung, sonst keine Stenose. Heilung. Schmerz¬
anfälle verschwanden, nach 3 Wochen volle Kost vertragen, Stuhl
regelmässig, Gewichtszunahme. Das Präparat zeigt die Schleimhaut
innerhalb der Stenose hypertrophisch, z. T. polypös gewuchert, nir¬
gends ulzeriert, oberhalb der Stenose atrophisch, Querfaltung ver¬
schwunden. Einzelne Knötchen sind sichtbar. Keine Schleimhaut¬
narbe. Die Stenose ist also nicht Folge eines vernarbten Ulcus, son¬
dern eines sklerosierenden, zu lokaler Beschränkung neigenden Pro¬
zesses in der Submukosa. Die Prognose ist daher gut.
Diskussion: Herr Pinne r, Herr Rehn und Herr Siegel.
Herr Seligmann: Ein neuer Gesichtspunkt in der
Therapie der Ohrfurunkulose und der Furunkulose überhaupt.
Die seit den Untersuchungen von Schimmelbusch
(1889) geltende Theorie von der Entstehung der Furunkulose
durch das Zusammentreffen zweier Momente: der Anwesen¬
heit von Staphylokokken auf der Haut und der Einreibung der¬
selben in die Haarbälge scheint nicht zu genügen zur Er¬
klärung der Entstehung. Yortr. fügt als vermittelndes Glied
die momentane Disposition in Gestalt eines Ekzems oder
Status eczematosus der Haut ein. Als Beweis dient ihm der
aus seinen Erfahrungen gewonnene Umstand, dass antiekzema¬
töse Mittel am Ohr die Furunkulose coupieren, ekzembegiinsti-
gende dagegen die Rezidive mehren. Ueber die Wirkung der
ekzemhemmenden Mittel klärt ein Versuch auf, der im
Senckenberg sehen pathologischen Institut von Dr. B o i t
auf Anregung des Vortr. ausgeführt wurde. Aufstreuen von
Dermatol auf Oeffnnngen in Nährböden verhindert das Hinein¬
wachsen der Staphylokokken; die Wirkung ist also eine physi¬
kalische. Vortr. empfiehlt daher eine Pnlverbehandlnng mit
Benutzung ekzemhemmender Substanzen gegen die Furunku¬
lose des äusseren Gehörgangs und regt an, dieselbe auch bei
allgemeiner Hautfurunkulose zu versuchen.
30. Oktober 1900.
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Diskussion: Herr Vohsen: Die Ohrfurunkulose beginnt
doch mit einem einzelnen Furunkel, den wir darum nicht aus der Dis¬
kussion ausschalten können. Herr S. selbst hat ja von dessen Thera¬
pie gesprochen und es wird sehr erfreulich sein, wenn wir in der
empfohlenen Pulvereinstreuung ein Mittel haben, die Ausbreitung zur
Furunkulose zu verhindern. Durchaus stimme ich dem Vortragen¬
den bei in der Warnung vor Inzisionen, wo wir nicht mit Sicherheit
den Eiter treffen können, wie dies meist im Stadium der Rötung und
Schwellung der Fall ist. Man macht dem Patienten nur unnütze
Schmerzen. Nicht einmal bei glücklich eröffnetem Eiterherd ist die
Inzision ohne Gefahr, indem bei der leichtesten Nebenverletzung
der Gehörgangsepidermis sehr leicht ein neuer Furunkel hervor¬
gerufen wird. Auch habe ich nicht den Eindruck, als ob durch die In¬
zision eine Abkürzung der Erkrankung erzielt würde. Dass ein
Ekzem immer die Grundlage für die Furunkel bildet, erscheint mir
nicht erwiesen. Die Furunkel entstehen, wie das eben erwähnte
Beispiel zeigt, auf traumatischem Weg, wozu ja bei den meisten
Menschen reichlich Gelegenheit geboten ist. In der Therapie möchte
ich im Gegensatz zu dem Vortragenden die warmen Umschläge ihrer,
schmerzlindernden Wirkung wegen nicht vermissen. Zu warnen ist
vor der Anwendung von Watte. Schon vor Jahrzehnten hat
Schwa rtze vor der Anwendung von Watte bei Mittelohreite¬
rungen gewarnt, leider mit so wenig Erfolg, dass wir heute noch
als das beliebteste Tamponademittel bei Aerzten und Laien Watte an¬
gewandt sehen. Die verfilzt sich sehr gern mit dem Sekret und
bietet eine häufige Ursache für diffuse Dermatitiden wie auch Furun¬
kel. Der Gehörgang ist nur mit sterilem Mull und locker zu tampo¬
nieren.
Herr V e i s betont die traumatische Entstehung der Furunkel.
Die Behandlung mit Gaze nach S e 1 i g m a n n möge für die schon
offenen Furunkel gut sein, für die noch geschlossenen hat sich ihm
-gegen die Schmerzen am besten die Inzision bewährt.
Herr Ludwig W o 1 f f: Die Ursache der Furunkulose des äusseren
Gehörgangs ist meistens ein Ekzem oder eine Dermatitis, die zum
Jucken und Kratzen Veranlassung gibt und dadurch oft die Infektion
hervorruft. Die warmen Umschläge empfiehlt er ebenso wie Herr
V o h s e n.
Herr R. Kaufma n n : Die Behauptung des Herrn S e 1 i g m a n n,
dass dem Furunkel gewöhnlich ein akutes Ekzem vorausgeht, trifft
für Furunkel der Haut gewiss nicht zu. Aber auch der Behauptung
des Herrn Hirschberg, dass es keine Furunkulosis gibt und dass
jeder Furunkel infolge von Einreibung mit Eitersekret entsteht, muss
ich entschieden widersprechen. Wir sehen trotz peinlichster Sauber¬
keit Furunkel bei Akne entstehen, wir sehen sie ferner bei gewissen
Krankheiten, wie Diabetes und Gicht auftreten, wir müssen für
diese Fälle eine Disposition annehmen. Was die Therapie anbetrifft,
so habe ich mit der Saugbehandlung nach Bier-Klapp ausge¬
zeichnete Resultate erzielt und kann diese Methode nur empfehlen.
Herr K. Herxheimer: Im Gefolge von Ekzemen treten auch
andere Infektionskrankheiten der Haut auf, z. B. Impetigo oder
Sykosis vulgaris. Furunkel bei Ekzem ist etwas recht häufiges. Er
könne aber nicht zugeben, dass zum Zustandekommen eines Furun¬
kels im Gehörgang ein Ekzem vorhanden sein müsse. Er wolle nur
an den Furunkel des Diabetikers erinnern. In solchen Fällen hat
es natürlich dann auch keinen Sinn, eine antiekzematöse Behandlung
einzuleiten. Die Komplikation Ekzem und Furunkel bedarf einer anti¬
septischen Behandlung, die zugleich möglichst antiekzematös wirkt.
Ob gerade das Dermatol das Mittel hierzu sei, möchte er bezweifeln,
da Dermatol selber Ekzeme hervorzubringen vermag.
Biologische Abteilung des ärztlichen Vereins Hamburg.
(Offizielles Protokoll.)
Sitzung vom 19. Juni 1906.
Vorsitzender: Herr Paschen.
Schriftführer: Herr Haars.
Demonstrationen;
Herr Meixner: Mikroskopischer Glykogennachweis. (Auto¬
referat.)
M. berichtet über eine von Best angegebene Färbemethode
zum Nachweis von Glykogen. Nach einigen Bemerkungen über die
physiologische Bedeutung dieses Körpers bespricht er die Verhält¬
nisse, unter denen man in der Leber des Menschen — auf dieses
Organ erstreckten sich seine Untersuchungen — Glykogen findet.
Eine charakteristische Bedeutung wie Lacassague es wollte, ist
diesen Befunden nicht beizulegen, da die Glykogenmengen selbst bei
den gleichen Todesarten entsprechend den verschiedenen dabei wal¬
tenden Umständen sehr wechselnd sind. Jedenfalls kann man be¬
haupten, dass der Glykogenbestand der Leber in ganz kurzer Zeit
verbraucht werden kann und dass ihn besondere Zustände, in denen
der Organismus bei Fortdauer der Zirkulation Not an Sauerstoff
leidet, stark angreifen. Vortragender beschreibt dann die Herstellung
der Farbe, die wie alle alkalischen Karminlösungen an dem Uebel-
stande leidet, dass sie schwer keimfrei zu halten ist. Gerade auf die
sterile Bereitung und Aufbewahrung legt er grossen Wert. In
Schnitten der in Alkohol gehärteten Organe ist das Glykogen keines¬
2175
wegs so wasscrcmpfindlich, wie man dachte. Vortragender demon¬
striert Schnitte, die vor der Färbung 24 Stunden in warmem Wasser
gehalten waren, ohne dass gegenüber den Kontrollpräparaten ein
Unterschied zu merken wäre. Für den ülykogencharakter der rot
gefärbten Massen spricht, dass nach der Ehr lieh sehen Jod¬
gummimethode behandelte Schnitte, wobei allerdings erst beträcht¬
liche Mengen Glykogens eine positive Färbung geben, parallele Re¬
sultate zeigen, und dass nach Vorbehandlung mit Speichel die Rot¬
färbung stets ausbleibt. Auch derartige Präparate zeigt der Vor¬
tragende. Er beschreibt ferner noch ein eigentümliches Verhalten der
Zellkerne in schwer geschädigten Lebern. Innerhalb der blasig ge¬
quollenen Kerne, von denen nur ein feiner Kontur sichtbar ist, sieht
man bei der Best sehen Färbung rote grobe Körner und Schollen,
die nach Speichelbehandlung ebenfalls verschwinden.
Diskussion: Herr Fraenkel: Ich möchte zunächst mit
einigen Worten zu gunsten der Ehr lieh sehen Jodgummianwendung
für den Nachweis von Glykogen in den Geweben eintreten, welche
dem Herrn Vortragenden nur dann etwas geleistet hat, wenn es sich
um grössere Glykogenmengen gehandelt hat. Ich kann diese Angaben
nicht bestätigen. Ich habe mich der Ehrlichschen Reaktion be¬
dient, solange sie bekannt ist. Meine Untersuchungen beziehen sich
allerdings auf andere Objekte, als sie der Herr Vortragende unter
Händen gehabt hat, nämlich einmal auf die Nieren von Diabetikern
und ferner auf verschiedene Geschwülste, vor allem maligne Hyper¬
nephrome. Da kann ich nur sagen, dass es mit der Ehrlich sehen
Jodgummimethode gelingt, allerfeinste Glykogentröpfchen nachzu¬
weisen. Wendet man dann die, ausserordentlich zierliche Bilder
liefernde, Best sehe Methode an, dann überzeugt man sich, dass sich
die Befunde decken. Ich bin übrigens der Ansicht, dass man, wenn die
Best sehe Methode auffallend grosse Mengen Glykogen in den Ge¬
weben nachzuweisen scheint, in der Beurteilung vorsichtig sein und
prüfen soll, ob die Jodmethode die gleichen Resultate liefert. Ist das
nicht der Fall, dann bin ich, wenigstens bisher, mit meinem Urteil
in der Auffassung der sich nach Best rot färbenden Substanzen sehr
zurückhaltend gewesen. Denn es ist daran zu erinnern, dass die
Methode nicht absolut elektiv ist. Ob der Wechsel in den Ergebnissen
des Herrn Vortragenden bei Fällen von CO-Vergiftung nicht von dem
Zeitpunkt abhängt, an welchem die Leichen zur Untersuchung gelangt
sind, möchte ich nicht ohne weiteres für ausgeschlossen halten. Denn
es ist bekannt, dass in der Leiche Flüssigkeitsströmungen stattfinden
und dass durch vermehrte Wasseraufnahme seitens der Leber in der
Leiche etwa vorhandenes Glykogen zur Auflösung kommen kann.
Das führt mich zu einem weiteren Punkt, bezüglich dessen ich
von den Anschauungen des Herrn Vortragenden abweiche. Er hat ge¬
sagt, dass man mit der Einwirkung des Wassers auf die fixierten
Organstücke nicht so ängstlich zu sein brauche. Ich möchte trotzdem
allen, welche sich mit Glykogenuntersuchungen beschäftigen, den
dringenden Rat geben, in Uebereinstimmung mit den Vorschriften aller
Autoren, welche sich über Glykogennachweis in den Geweben ge-
äussert haben, die zu untersuchenden Organstücke jeder Einwirkung
des Wassers zu entziehen; denn sonst wird man bei etwaigen Miss¬
erfolgen immer im Zweifel sein, ob tatsächlich kein Glykogen im
Gewebe vorhanden gewesen ist, oder ob der Fehler in der Methode
den negativen Befund veranlasst hat. Es erübrigt, auf einen gewissen
Widerspruch in den Ausführungen des Herrn Vortragenden aufmerk¬
sam zu machen. Ganz in Uebereinstimmung mit den Angaben von
G i e r k e hat der Herr Vortragende erklärt, dass Glykogen sich
immer nur in lebenden Zellen findet und dass Zelltod und Glykogen
einander ausschliessen. Andrerseits hat er auf eine eigentümliche
Nekrose von Leberzellen aufmerksam gemacht, welche trotzdem
grosse Mengen von Glykogen enthalten haben sollen. Hier besteht
also eine der Aufklärung harrende Angabe. Entweder nämlich handelt
es sich nicht um nekrotische Zellen, oder aber die in ihnen nach der
Best sehen Methode auftretenden Massen sind kein Glykogen. Es
wäre deshalb wichtig, von dem Herrn Vortragenden etwas darüber zu
hören, ob er auch in nach der Flemming sehen Methode fixierten
Stücken die von ihm beschriebenen Zellnekrosen gefunden und ob er
Kontrolluntersuchungen mit der Ehrlichschen Jodprobe vor¬
genommen hat. (Autoreferat.)
Herr Unna schliesst sich bezüglich der Kernveränderungen der
Meinung Fraenkels an und fragt den Vortragenden, ob er Kon-
trollfärbungen vorgenommen habe. Anschliessend an die Bemer¬
kungen, die der Vortragende über die Lubarschsche Glykogen¬
färbung, die eine Modifikation der Weigert sehen Fibrinfärbung ist,
geäussert hat, verweist er auf seine früheren Untersuchungen über
das Verhalten der Stärke zum Jod und vermutet, dass das Glykogen
sich vielleicht ähnlich verhalte.
Herr Simmonds stimmt dem Vortragenden darin bei, dass
der Glykogennachweis mit Hilfe der Best sehen Methode bessere
Resultate liefere, als die Jodmethode; dass man gerade in der Leber
weit reichlicher Glykogen durch die neue Färbung nachweisen kann.
Auch er habe anfangs Bedenken gehabt, ob tatsächlich alles Rot¬
gefärbte wirklich Glykogen sei. Der von Meixner angegebene
Speichelversuch genügt, um solche Bedenken zu beseitigen.
Meixner (Schlusswort): Mit seinem Urteil über die Ehr¬
lich sehe Jodgummimethode stehe er nicht allein. Er habe nur
behauptet, dass in den alkoholgehärteten Präparaten das Glykogen
nicht mehr wasserempfindlich sei. Die gleichen Kernformen habe er
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
2176
auch in mit Hämatoxylin-Eosin gefärbten Schnitten, ebenso bei in
Müllerformol gehärteten Präparaten beobachtet. Härtung in
F 1 e m m i n g scher Lösung habe er allerdings nicht versucht. Gly¬
kogen habe er auch in fetthaltigen Lebern gefunden; nur sei es hier
sehr schwierig, seine Menge zu schätzen, da es auf die schmalen
Septen zwischen den Fetttropfen zusammengedrängt sei. Magen¬
schleimhaut habe er allerdings bloss einmal untersucht, aber keine
Rotfärbung gefunden. (Autoreferat.)
Herr Merk: Ein Fall von Gasgangrän.
Ein infolge einer schweren kruppösen Pneumonie im Eppen-
dorfer Krankenhaus gestorbener Mann hatte bei im Verlauf der Er¬
krankung auftretenden Delirien und Herzschwächezuständen wieder¬
holt Kampher- und Digaleninjektionen erhalten.
Bei der Sektion fanden sich die typischen Lungenveränderungen;
es wurde in dem Lungenabstrich und dem Herzblut Diploc. lanceolat.
in Reinkultur nachgewiesen. Ausserdem befand sich an der Aussen-
und Vorderseite des rechten Oberschenkels ein 25 cm langer, 15 cm
breiter, bläulichgrün gefärbter Bezirk der Haut, der die Umgebung
wenig überragte. Die Oberfläche liess keine Kontinuitätstrennung er¬
kennen. Bei Druck auf die Schwellung und ihre nächste Umgebung
hatte man ganz deutlich die Empfindung prall elastischer Konsistenz
und die Perkussion ergab hoch tympanitischen Schall. Beim Ein¬
schneiden entleerte sich unter deutlich hörbarem Geräusch übel¬
riechendes Gas. Die Muskulatur zeigte sich im Bereich der verän¬
derten Haut schmutzig bräunlichrot gefärbt und von schmieriger
Konsistenz. Aus unter aseptischen Kautelen entommenen und in
Ameisenagar versenkten Stückchen wurde der Bazillus phlegmones
emphysematosae (E. Fraenkel) in Reinkultur gewonnen. Ein
Stück der Muskulatur wurde histologisch untersucht: Die Mus¬
kelfasern waren gequollen, die Querstreifung mehr oder weniger
vollständig verloren gegangen, die Kerne nicht färbbar, die Fasern
an zahlreichen Stellen durch quere Risse in ihrer Kontinuität getrennt;
in den zwischen den Fasern durch die Gasbildung entstandenen freien
Räumen lagen die plumpen, dem Gasbazillus entsprechenden, gram¬
positiven Stäbchen in grosser Menge. Aus der einwandfrei nachzu-
weisenden zelligen Infiltration des intermuskulären Binde¬
gewebes und einem in einem Arterienquerschnitt vorhandenen, aus
Leukozyten und Fibrin bestehenden Thrombus muss auf einen
vitalen Prozess geschlossen werden. Dass die Injektionen mit
der Affektion in ätiologischem Zusammenhang stehen, ist wahr¬
scheinlich. (Autoreferat.)
Herr Simmonds: Ueber Elephantiasis congenita mollis.
Vor einiger Zeit wurde mir ein totgeborener Knabe von 37 cm
Länge und 2600 g Gewicht zur Untersuchung überwiesen. Die Mutter,
eine gesunde, zwanzigjährige Erstgebärende hatte eine normale
Schwangerschaft durchgemacht und noch wenige Stunden vor der
Geburt Kindsbewegungen gefühlt. An dem Kinde fiel eine pralle
ödematöse Schwellung der gesamten Körperhaut auf. Besonders
an Hand und Fussrticken fanden sich dicke Polster, die bei Druck
tiefe Dellen zeigten. Beim Einschneiden quoll überall reichlich Flüssig¬
keit aus der Unterhaut, die im Uebrigen auffallend fettarm war. Die
Muskulatur war blass,
aber gut entwickelt. Das
Skelett bot keine Abnormi¬
tät. Am Nacken und Hals
fand sich nun eine eigen¬
tümliche Bildung, nämlich
eine chignonartig auf¬
sitzende, über faustgrosse,
prall gespannte fluk¬
tuierende Geschwulst, die
aus einem System kleiner
bis gänseeigrosser, glatt-
wandiger seröser Zysten
bestand. Die weitere Sek¬
tion ergab ausser einem
nüissigen Erguss in Brust
und Bauchhöhle (je 30 ccm
Hydrothorax, 200 ccm As¬
zites) keine Besonderheit.
Speziell das Gefässystem,
die Nieren, die Schild¬
drüse, die Thymus waren
normal. Die Lungen
waren luftleer, die Schleim¬
haut des Kehlkopfein¬
ganges stark ödematös, die
Zunge dagegen nicht ge¬
schwollen. Plazenta und Nabelschnur auch mikroskopisch ohne
Abnormität. Es lag also ein allgemeiner Hydrops
neben Zystenbildungen an Hals und Nacken vor.
Schon dieses Zusammentreffen des allgemeinen Hautödems mit
der mächtigen Zystenbildung musste darauf hinweisen, dass es sich
nicht um ein gewöhnliches, der letzten Fötalzeit angehörendes Oedem
handeln konnte und die mikroskopische Untersuchung bestätigte das.
Die gesamte Unterbaut und zum Teil auch angrenzende Partien
der Muskulatur sind durchsetzt von einem System von verschieden
gestalteten, mehr oder minder weiten, mit zartem flachen Endothel
ausgekleideter Hohlräume. Jene grossen Zysten am Nacken stellen
nur in vergrössertem Massstab dieselben endothelbekleideten Hohl¬
räume vor. Es handelt sich mithin um diffuse Lymphangiektasien
der gesamten Körperhaut mit mächtigen Lymphzysten am Halse,
die völlig den unter dem Namen des Lymphangioma colli congenitum
cysticum bekannten Bildungen gleichen. Das zwischen den Lym¬
phangiektasien liegende Gewebe ist reich an kollagener Substanz,
arm an Elastin, vielfach durchsetzt von verästelten Zellen, die dem
Stroma ein myxomartiges Aussehen geben. Die drüsigen Elemente
sind nur kümmerlich entwickelt, das Unterhautfett nur spurenweis
vorhanden. Alles das weist ebenfalls darauf hin, dass die Haut¬
anomalie aus einer früheren Eötalperiode datiert.
Was ist nun die Ursache dieser abnormen Entwicklung des
Lymphsystems? In einer sorgfältigen Zusammenstellung von Gärt¬
ner waren 14 mal Nierenerkrankungen und allgemeine Oedeme der
Mutter, 5 mal Missbildungen des Kindes, 1 mal Leukämie, 1 mal here¬
ditäre Lues und ausserdem noch eine Anzahl verschiedenartiger Ab¬
weichungen angegeben, welche freilich einer ernsten Kritik ätio¬
logisch nicht verwertbar erscheinen.
Alles das fehlte in unserem Falle. Die Mutter war absolut ge¬
sund, die Organe des Kindes erwiesen sich als völlig normal und das
Fehlen von Spirochaeta Schaudinn liess auch eine konge¬
nitale Lues mit Wahrscheinlichkeit ausschliessen. Wie in den häu¬
figer beobachteten zirkumskripten Lymphangiombildungen am Halse,
sind wir also auch bei dieser allgemeinen Lymphangiombildung nicht
im stände, eine ausreichende Erklärung zu geben. Um einen ein¬
fachen Hydrops handelt es sich keinesfalls und daher habe ich an
Stelle der jetzt meist gebräuchlichen Bezeichnung „Hydrops con-
genitus“ den alten von Virchow adoptierten Namen Elephan¬
tiasis mollis congenita vorgezogen, der weit besser die
pathologische Stellung charakterisiert.
Zu erwägen ist, ob nicht der ganze Prozess das Resultat ent¬
zündlicher Vorgänge in einer früheren Fötalzeit gewesen ist. Dafür
spricht der Befund zahlreicher zirkumskripter Infiltrate an der Grenze
zwischen Unterbaut und Muskulatur und in den Muskelinterstitien.
Wir wissen ja, dass schwere Erysipele, speziell rezidivierende Ery¬
sipele zu elephantiasisähnlichen Hautveränderungen führen können
und es wäre daher möglich, dass auch hier eine a-bgelaufene Strepto¬
kokkenerkrankung des Fötus, ein universelles Erysipel zu der diffusen
Unterhautanomalie des Kindes geführt hat. Die Elephantiasis
mollis congenita würde dann als Resultat eines
diffusen entzündlichen Prozesses aufzufassen
sein.
Es sei zum Schluss darauf hingewiesen, dass auch im Tierreich
die geschilderte Anomalie bekannt ist, dass speziell bei Kühen öfter
eine Reihe von Kälbern einer Mutter diese als Mondkalbbil¬
dung bezeichnete Veränderung aufweist. (Autoreferat.)
Diskussion: Herr Unna stimmt mit dem Vortragenden darin
überein, dass in derartigen Fällen nicht ein einfaches Oedem der
Haut, sondern Bildung von Lymphangiektasien angenommen wird.
Auch ihm erscheinen -die bisher publizierten Fälle nicht genügend
ätiologisch geklärt. Möglicherweise haben Gefässverletzungen in
früher Fötalperiode Vorgelegen und er fragt deshalb, ob im Venen¬
system ein Anhaltspunkt für eine derartige Annahme gefunden sei.
Herr Simmonds: hat gerade im Hinblick auf Unnas Unter¬
suchungen über die Ursache von Oedembildung dem Venensystem
besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Weder in grossen noch kleinen
Venen, speziell auch nicht in den Venen der angrenzenden Mus¬
kulatur war irgend etwas von Thrombenbildung oder von Residuen
einer solchen zu finden. Er bemerkt nebenbei, dass auch der Ductus
thoracicus frei durchgängig war.
Aerztlicher Verein in Hamburg.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 16. Oktober 1906.
Vorsitzender: Herr Kümmell.
Diskussion über den Vortrag des Herrn Nonne:
Ueber Riickenmarksbefunde beim chronischen Alcoholismus
gravis.
Herr L e s s i n g demonstriert einen jetzt wieder gesunden Mann,
bei dem die Art und die Ursache der Verletzung von Interesse ist.
Der Patient war wegen einer Hautverletzung am Knie in Behandlung
getreten. Einer kleinen blutenden Stelle auf dem behaarten Kopf
legte er kein Gewicht bei. Es entwickelte sich dann aber bei ihm
eine spastische Parese des einen Beins und des Armes. Dieser
Umstand führte zu einer Revision der Schädelwunde. Es fand sich
eine typische Lochfraktur über dem Scheitel und 4 cm in das Gehirn
am Lobus paracentralis eingedrungen ein Fremdkörper aus Holz.
Nach Beseitigung dieses kleinen Holzstückchens, das diese Fraktur
veranlasst hatte, und Entfernung von Knochensplittern ging die Läh¬
mung zurück. Jetzt sieht man an der Stelle die Hirnpulsation.
Herr Lau enstein legt das Präparat eines Volvulus coeci
vor. Eine 79 jährige Frau kam nach 8 Tage langem Bestehen eines
Ileus zur Laparotomie, die eine Drehung des Kökums um seine
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2177
Längsachse nach aussen aufdeckte. Die Kranke war bereits so elend,
dass sie den Eingriff nur 4 Stunden überlebte.
Herr Schmilinsky stellt: 1. einen durch Operation von ihm
geheilten Fall von Sanduhrmagen vor und bespricht an der Hand
desselben die Schwierigkeiten, die die Diagnose bieten kann. Wenn
wie im vorgestellten Falle der pylorische Teil von der Leber bedeckt
ist, sind Diaskopie und Röntgenverfahren, Aufblasung und Perkussion
unsicher. Bei der Spülung verdient das W ö 1 f 1 e r sehe Symptom
Beachtung, das darin besteht, dass von dem eingegossenen Wasser
nur ein 1 eil wieder zuriickläuft, während in dem hinteren Abschnitt
des Magens der Rest zurückbleibt. Ueber die Menge dieses Restes
hat Schm, dann exakte Versuche in einer grossen Zahl von Magen¬
affektionen angestellt, die zu dem Ergebnis führten, dass Mengen
bis 250 ccm in den Bereich des Normalen gehören. Das Zurückbleiben
grösserer Mengen ist als ein diagnostisches Zeichen für Sanduhrmagen
— natürlich in Verbindung mit anderen Symptomen — zu verwerten.
2. Fall von Syringomyelie. 17 jähriges Mädchen mit den klas¬
sischen Symptomen des Leidens. Aetiologie: Trauma im 6. Lebens¬
jahre. Vz Jahr später wurden die ersten Symptome konstatiert. Be¬
sonders ausgesprochen sind die trophischen Störungen an Händen
und Füssen. Demonstration der Röntgenbilder.
Herr H a e n i s c h demonstriert im Anschluss an die vorige
Krankenvorstellung das Röntgenogramm der Hand eines vorgeschrit¬
tenen Falles von Syringomyelie. Der betreffende Patient wurde
Juni 1903 von Siemerling in der Med. Gesellschaft in Kiel vor¬
gestellt. Im Verlauf der Krankheit allmählige Entstellung der Hände
unter Geschwürsbildung. Es fehlen die Endphalangen, an einzelnen
Fingern sogar 2 und 3 Phalangen. Interessant war der Fall noch
durch seine Aehnlichkeit mit Lepra. Für Syringomyelie entscheidend:
die einseitige Beteiligung des Fazialis, das gleichmässige Er¬
griffensein des Trigeminus, die Kyphoskoliose und vor allem die
Bulbärsymptome (N o n n e).
Herr Liebrecht hat am Materiale des Hafenkrankenhauses
den Schädigungen der Augen bei Schädelbrüchen seine Aufmerksam¬
keit zugewendet und referiert kurz darüber. Sehr häufig sind die
bekannten Augenmuskellähmungen, die meist vorübergehenden Cha¬
rakter haben. Bekannt ist die Erblindung durch ein Durchreissen des
N. opticus im Canalis opticus verursacht. Weniger gekannt ist das
Auftreten von partiellen Gesichtsfelddefekten, obwohl
es nicht ganz selten ist. Unter 150 Fällen fand L. es 6 mal. Einen
besonders interessanten derartigen Fall demonstriert Vortr., besonders
da er zufällig in der Lage ist, die in diesem Falle vorliegenden
anatomischen Verhältnisse an W e i g e r t - Präparaten eines bereits
sezierten Falles zu demonstrieren. Die partielle Zerreissung des
Sehnerven ist aus der Gestalt des Gesichtsfeldausfalls genau zu lokali¬
sieren.
Herr Mond demonstriert zwei Präparate von Extrauteringravi¬
ditäten im 4. bezw. im 8. Schwangerschaftsmonat. In beiden Fällen
war die Operation ziemlich schwierig und die Diagnose nicht leicht.
Glatter Verlauf. Besprechung der Krankengeschichten und der in¬
teressanten Präparate.
Herr Albers-Schönberg stellt einen 65jährigen Mann
vor, bei welchem sich ein umfangreiches Kankroid rechts oben am
Nasenrücken innerhalb 4 Jahren entwickelt hatte. Bisher war eine
rationelle Therapie nicht eingeleitet worden, infolgedessen die Ge¬
schwulst an Grösse sehr zugenommen hatte. Die Behandlung mit
Röntgenstrahlen führte innerhalb kurzer Zeit die vollständige Hei¬
lung unter Bildung einer zarten Narbe herbei. Pat. erhielt 46 Einzel-
sitzungen ä 6 Minuten. Im ganzen 276 Minuten Bestrahlung. Die
Fokushautdistanz war stets die gleiche und betrug 29 cm. Es wurde
eine mittelweiche (W. 5.) M ii 1 1 e r s c h e Wasserkühlröhre benutzt
und dieselbe so stark belastet, wie dieses für Hand- undFussaufnahmen
erforderlich ist. Zwischen die einzelnen Sitzungen wurden stets
längere Pausen von 6 — 14 Tagen eingeschaltet. Hierdurch gelang
es, eine kosmetisch vorzügliche Heilung herbeizuführen, ohne dass
es während der ganzen Zeit der Bestrahlung zu einer Reaktion ge¬
kommen wäre.
Herr Preiser demonstriert die Röntgenbilder eines Falles
von sogen, schnappender Hüfte. Der 45 jäh r. Patient konnte die
Stellung seines Oberschenkels zum Hüftgelenk willkürlich ändern.
Klinisch imponierte diese Dislokation, die sich im Röntgenbild durch
einen breiten Spalt dokumentierte, als Subluxation und war durch
das Bestehen einer Bursa subtrochanterica verursacht. Heilung durch
Massage.
Es beteiligen sich die Herren Liebrecht, Säen g er, Cim-
b a 1 und Nonne. Werner - Hamburg.
Allgemeiner ärztlicher Verein zu Köln.
(Bericht des Vereins.)
Sitzung vom 16. Juli 1906.
Vorsitzender: Herr Böse.
Schriftführer: Herr Warburg.
Herr Buff: Ueber lokale Anästhesie.
Hinweis auf die Bedeutung osmotischer Vorgänge im leben¬
den Körper bezw. in den lebenden Körperzellen beim Zu¬
sammentreffen injizierter Salzlösungen mit den Gewebsflüssig¬
keiten. Das Wesen der „physiologischen“ Lösung ist ihre Iso-
tonie mit der Gewebsflüssigkeit. Zu Gewebsinjektionen dürfen
nur Flüssigkeiten von gleichem osmotischen Druck genommen
werden, sie haben den gleichen Gefrierpunkt, wie die Körper¬
säfte (menschliches Blut: — 0,56°). Besprechung der Erschei¬
nungen und des Wesens der Hautquaddel bei endermatischer
Injektion und Erklärung, warum das Wasser kein brauch¬
bares Anästhetikum ist (L i e b r e i c h s Anästhesia dolorosa).
Da die örtlich anästhesierenden Mittel zu Gewebsinjek¬
tionen in weit geringerer Konzentration angewandt werden
müssen, als die jeweilige physiologische, so muss durch Zusatz
eines indifferenten Salzes, wie z. B. Kochsalz, die gewebs-
schädigende Wirkung zu dünner Lösungen beseitigt werden.
Anwendung dieser Erfahrungen auf das bisher wichtigste lokale
Anästhetikum, das Kokain, das, wie auch die anderen Mittel,
ein Protoplasmagift ist. Rückblick auf mancherlei ungünstige
Erfahrungen mit Kokain bis zur tödlichen Vergiftung, und Er¬
örterung, wie sich diese Gefahren vermeiden lassen. Starke
Kokainlösungen dürfen nicht benützt werden, besonders nicht
bei Organen mit grösseren resorbierenden Hohlflächen, wie
Blase, Skrotalhöhle, auch Urethra.
Es kommt beim Kokain weniger auf die Dosis an (Maximal¬
dosis schützt nicht vor Vergiftungsgefahr) als auf andere Um¬
stände, wie z. B. Schnelligkeit der Resorption und auf die Mög¬
lichkeit der Einwirkung aufs Zentralnervensystem selbst kleiner
Mengen in kürzester Frist.
Besprechung des Wesens und der Mechanik der Kokain¬
vergiftung.
Mittel, die Schnelligkeit der Resorption zu vermindern,
sind :
1. Anwendung ausserordentlich dünner Lösungen des Mit¬
tels, womöglich nie stärker als 1 Prom. (!), die durch Zusatz
von Kochsalz isotonisch gemacht sind, was bei 1 prom. Kokain¬
lösung eine 0,8 proz. Kochsalzlösung erfordert. Stärkere als
1 proz. Lösungen des Kokains sollten nicht angewendet werden.
2. Blutleere des Operationsgebiets, wo es sich ermöglichen
lässt, durch Abschnürung, weil ohne Blutzirkulation die Re¬
sorptionsvorgänge minimal sind.
Dasselbe wird erreicht durch die modernen Nebennieren¬
präparate zur Herstellung künstlicher Blutleere, Adrenalin,
Suprarenin etc. Besprechung der Herstellung und Vorberei¬
tung solcher Lösungen und technischer Details.
Auf andere Mittel, wie das Kokain, einzugehen, sowie die
spezielle Anwendung desselben auf die verschiedenen Organe
und operativen Eingriffe zu berühren, verbietet die Kürze der
Zeit bei dieser Gelegenheit.
Herr Tilmann: Ueber Lumbalanästhesie.
Der Vortragende gibt ein Referat über den heutigen Stand
der Lumbalanästhesie.
Die Lokalanästhesie, die Skopolamin-Morphium-Narkose
und auch die Lumbalanästhesie gehen aus von dem Bestreben,
die Zahl der Narkosen möglichst einzuschränken. Nach vielen
Vorversuchen schien das Stovain in der Dosis von 0,04 bis 0,06
mit oder ohne Adrenalinzusatz das beste Mittel zur Lumbal¬
anästhesie zu sein. Der Vortragende erläutert dann die Tech¬
nik, die nicht ganz leicht sei und auf die sehr viel ankomme.
Er wendet dabei die Beckenhochlagerung nicht an, da er die
Lumbalanästhesie auf die Operationen bis zum Nabel aufwärts
bisher beschränkt habe. Laparotomien macht er nur sehr un¬
gern unter Lumbalanästhesie.
In 3 Fällen von 130 war wegen Arthritis der Wirbelsäule
die Lumbalpunktion unmöglich, 2 mal hatte er Versager, die er
auf Mangel der Technik zurückführt. Ueble Nebenerschei¬
nungen hat er während der Operation nicht gesehen, nachher
traten in 50 Proz. der Fälle Kopfschmerzen ein. Diese waren
seltener, wenn gleich nach der Operation ein Glas Wein ge¬
geben wurde. Der Erfolg der Lumbalanästhesie war sonst
stets ein vollkommener. Die Anästhesie trat in 2—25 Minuten
stets ein, ebenso motorische Lähmung. In neuerer Zeit wendet
er statt Stovain, mit dem er sehr zufrieden war, Tropakokain
mit Adrenalinzusatz an, ein Mittel, das den Vorzug haben, soll,
nur sensibel zu lähmen. Damit wäre dann die Gefahr der
Atmungslähmung beseitigt.
2178
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 4L
Dann berichtet der Vortragende über die von anderen
Autoren beobachteten üblen Resultate. Dabei tritt hervor, dass
alle Autoren mit kleinen Zahlen schlechte Resultate haben, die
mit grossen Zahlen dagegen meist gute, besonders im Ausland,
vor allem in Frankreich. Bis jetzt sind 8 Todesfälle bekannt,
davon nur einer (Bier) direkt nach der Einspritzung infolge
zu grosser Dosis. In einem Falle schloss sich Rückenmarks¬
erweichung an (K ö n i g), in 7 Fällen Abduzenslähmung.
T. kommt zum Schluss, dass bei der noch schwierigen
Spritzenreinigung und Asepsis die Rückenmarksanästhesie als
Ersatz der Narkose in allen Fällen nicht gelten könne, dass sie
aber ein vortreffliches Ersatzmittel für die Narkose in allen
den Fällen sei, bei denen man aus irgend einem Grunde eine
Narkose gerne vermeiden wolle (alte Leute, Arteriosklerose,
Herzfehler, Bronchialkatarrhe und Lungenerkrankungen).
Alle Bestrebungen, auch oberhalb des Nabels mit Lumbal¬
anästhesie zu operieren, befinden sich noch im Stadium des
Veisuchs. Das Tropakokain scheint in dieser Richtung gute
Resultate zu geben.
74. Jahresversammlung der Brit. Medic. Association
abgehalten in T o r o n t o (Kanada) vom 21. bis 25. August 1906.
(Schluss.)
Abteilung für Augenheilkunde.
Lawford - London eröffnete eine Diskussion über seltene
rormen von Chorioiditis. Es gibt Fälle von disseminierter Cho-
noiditis, die den bei Syphilis beobachteten durchaus gleichen, bei
denen aber Lues so gut wie ausgeschlossen ist. Dann gibt es eine
lokalisierte exudative Chorioiditis und eine in Familien vorkommende
Chorioiditis. Die Aetiologie dieser 3 Gruppen ist ganz unklar.
Stedman Bull- NewYork hat bei jungen Leuten, bei denen Lues
auszuschliessen war, eine Form der Chorioiditis gesehen, bei der die
Veränderungen stets in der Nähe der Papille oder der Makula sassen.
R i s 1 e y - Philadelphia berichtet über Fälle von Chorioiditis,
die im Anschluss an Erkrankungen der Knochenhöhlen des Schädels
vorkomnjen.
V _er ho elf -Boston sprach über den Verschluss der Vena
centralis retinae. Auf Grund von 6 genau untersuchten Fällen glaubt
ei, dass es sich um Endophlebitis proliferans ohne Thrombose handelt.
Easey Wood- Chicago sprach über Blindheit infolge des Ge¬
nusses von Holzalkohol. Die Krankheit ist in England fast unbekannt.
Dann eröffnete B u r n h a m - Toronto eine Diskussion über die
sympathische Ophthalmie. Redner empfahl kombinierte Behandlung
m der Ruhezeit vor Ausbruch der entzündlichen Erscheinungen.
La ws on verlangt die Einsetzung eines Komitees zur Entschei¬
dung der Frage, wann das primär erkrankte Auge zu erhalten ist
und wann nicht.
S t i r 1 i n g - Montreal spricht über neuere Versuche, einen be¬
stimmten Krankheitserreger für die Entzündung verantwortlich zu
machen.
Theobald- Baltimore glaubt, dass Schwellung und Schlänge¬
lung der zentralen Netzhautgefässe (besonders unterhalb der Papille)
eine beginnende Entzündung des hinteren Augenpoles anzeigen.
V e i h o e f f glaubt, dass in Fällen, in denen das andere Auge
eist nach jahrelanger Ruhepause erkrankt, die Narbe in dem kranken
Auge neuerdings infiziert wurde.
C o n n o r - Detroit hat Besserungen durch grosse Dosen Sa-
lizyl gesehen.
J o n e s - Cambridge empfiehlt subkonjunktivale Einspritzungen
von Sublimat (1 : 3 000) und Kochsalz.
Freeland Fergus sprach über eine eigentümliche Erkrankung,
die er als sympathische Degeneration bezeichnet. Nach schwerer
/erletzung des einen Auges kommt es im anderen öfters zu per¬
manenter konzentrischer Einengung des Blickfeldes. Entzündliche
Erscheinungen fehlen ganz, auch kommt es nicht zu Erblindung.
. J ackson - Denver sprach über die Akkommodation nach dem
mittleren Lebensalter. Er hat gefunden, dass das Akkomodations-
vermogen älterer Leute sehr verschieden ist und durchaus keine
testen Beziehungen zum Lebensalter hat.
a E n a p p- NewYork sprach über die Abhängigkeit der Akkomo¬
dation und Beweglichkeit von der Refraktion des Auges. Er glaubt
dass ein engei Zusammenhang besteht zwischen dem Grade der Ame¬
tropie des Auges und der Heterophorie.
D u a n c - NewYork leugnet diesen Zusammenhang.
Es folgte eine Diskussion über die Behandlung derStrictura lacry-
malis.
R is 1 ey- Philadelphia betont die Wichtigkeit anatomischer
Anomalien bei der Entstehung der Strikturen, er empfiehlt möglichst
konservative Behandlung.
T h e o b a 1 d- Baltimore ist stets mit der Erweiterung durch
möglichst dicke Sonden ausgekommen, er verwirft die Exstirpation
des Thränensackes. Die Mehrzahl der Redner sprachen sich für
die Behandlung mit Sonden aus, nur die schlimmsten Fälle sollen mit
Exstirpation des Sackes behandelt werden.
Sterling Rverson - Toronto sprach über die chirurgische Be¬
handlung des Trachoms. Er exprimiert und kiirettiert die Granu¬
lationen, nur bei sehr hartnäckigen Fällen macht er grössere Opera¬
tionen. Stets muss längere medikamentöse Behandlung folgen.
D u a n e sprach über die Tenotornie des Obliquus inferior. Er
empfiehlt die Operation bei Paralyse des Rectus superior; bei sekun¬
därem Spasmus des Obliquus inferior nach Paralyse des Rectus
superior, der zu Fixation desselben und Deviation des anderen Auges
geführt hat. Bei Spasmus des Muskels durch Lähmung des Obliquus
superior. Bei primärem Spasmus des Obliquus inferior.
Dunbar Roy -Atlanta sprach über die Sehstörungen bei Er¬
krankungen der Nebenhöhlen der Nase.
Würde mann - Milwaukee 'zeigte Instrumente zur Durch¬
leuchtung des Auges und besprach die Indikationen und den Wert
dieses Verfahrens.
Die Sitzung schloss mit einer Diskussion über die Sehproben bei
Eisenbahnen, Marine und im Heeresdienst.
Abteilung für Laryngologie und Otologie.
St. Clair Thomas- London eröffnete eine Diskussion über die
operative Korrektur der Abweichungen des Septum nasale. Redner
empfiehlt ausschliesslich die Methode der submukösen Resektion,
die er genau beschreibt. Er operiert meist unter Adrenalin und Ko¬
kain, nur selten unter allgemeiner Anästhesie. Bei Kindern unter 16
bis 18 Jahren operiert er nicht, da die Nase später im Wachstum
Zurückbleiben kann und die Verkrümmungen sich gelegentlich neu
bilden.
John O. R o e - Rochester wendet bei den verschiedenen Arten
der Operation ganz verschiedene Operationen an, am häufigsten sind
Deviationen der osseo-kartilaginösen Portion des Septums und hier
ist es am besten, diesen Teil des Septums einzubrechen. Hiermit
lässt sich die submuköse Resektion gut verbinden. Bei noch unent¬
wickelten Nasen operiere man nicht.
George R. Mc. D o n a g h - Toronto sucht in jedem Falle zuerst
festzustellen, ob nicht durch Beseitigung anderer Hindernisse die
Nasenatmung genügend verbessert werden kann ehe man zu der
doch eingreifenden submukösen Resektion schreitet. Er glaubt, dass
man sowohl in der Indikationsstellung dieser Operation als auch in
der Resektion von Knochen und Knorpel vielfach viel zu weit ge¬
gangen ist und dass meist einfacherere Eingriffe genügen. Bei Kin¬
dern operiert er nicht.
O. T. F r e e r - Chicago hat die submuköse Resektion 178 mal
ausgeführt und nur das beste von ihr gesehen. Er reibt die zu
operierenden Teile mit Kokainkrystallen ein und pinselt mit Adrenalin.
Er hat 32 Kinder mit dem besten Erfolge operiert, nie sah er De¬
formitäten der Nase auftreten, allerdings bildet sich zuweilen die
Deviation zum Teil wieder aus.
T i 1 1 e y - London operiert stets unter allgemeiner Narkose.
Stuckey - Lexington glaubt, dass es bei Septumdeviationen
meist genügt, das vordere Drittel der mittleren Muschel zu ent¬
fernen. Die submuköse Resektion ist für die Mehrzahl der Fälle
ein viel zu schwerer Eingriff.
Wendell C. P h i 1 i p p s - NewYork macht die sehr richtige Be¬
merkung, dass die Symptome des Kranken und nicht das Vorhanden¬
sein der Deviation die Anzeige zur Operation abgeben müssen.
Dann sprach Sraurth waite über eine Kopfwehform, die
durch Veränderungen an der mittleren Muschel entsteht.
Herbert T i 1 1 e y - London sprach über Diagnose und Behandlung
der Nebenhöhleneiterungen. Bei Antrumeiterungen muss man fest-
steilen, ob die Infektion vom Munde oder der Nase ausging, letztere
Art gibt eine viel schlechtere Prognose. Er operiert nach Cald-
well-Luc, doch entfernt er die ganze innere Wand und kiirettiert
die Siebbeinzellen, von der Schleimhaut entfernt er nur soviel wie
erkrankt ist. Die bucco-antrale Wunde schliesst er ganz, er tampo¬
niert nicht, spült aber die Nasenhöhlen aus. An den Stirnhöhlen
operiert ei nach Kilian, doch lässt er den Boden des Sinus stehen.
In der Nachbehandlung spiilt er täglich den Sinus von der Nase aus
durch. Er legt grosses Gewicht auf gründliche Ausschabung der
Siebbeinzellen, hierdurch wird am besten sekundäre Osteomyelitis
vermieden. Bei Operationen an der Keilbeinhöhle kommt es auf
gute Drainage an. Kiirettieren der Höhle ist unnötig und gefährlich.
F r e e r empfiehlt bei Antrumeiterungen die innere Wand von der
Nase aus zu entfernen. Im allgemeinen waren die Ansichten über
den Wert rein intranasaler Operationen sehr geteilt und wurde eine
Einigung nicht erzielt.
Hanau W. Loeb-St. Louis zeigte seine Methode, durch Rekon¬
struktion von Schädeln die Anatomie der Nebenhöhlen zu studieren.
C o a k 1 e y sprach über die Skiagraphie bei Nebenhölilenerkran-
kungen von der er grossen Nutzen gesehen hat.
Die Abteilung für Dermatologie
begann mit einer Diskussion über den Unterricht in der Dermatologie.
Dann sprach J. Niven H y d e - Chicago über die Entstehung der
Psoriasis durch Lichthunger der Haut. Er hält es für erwiesen, dass
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2179
Psoriasis eine Folge der Bedeckung unserer Haut ist, besonders em¬
pfindliche Individuen reagieren auf diese Weise auf den Lichthunger.
Er behandelt die Erkrankung mit Licht.
D ü h r i n g hat von Röntgenstrahlen keinen Nutzen gesehen, er
bezweifelt die Lichttheorie und empfiehlt fortgesetzte innerliche Be¬
handlung; ebenso urteilt B u 1 k 1 e y - NewYork.
Ross- Halifax befürwortet die Lichttheorie, da die Krankheit
häufig bei Minenarbeitern vorkommt.
Fox sah nie Fälle bei Negern, was von C o r 1 e 1 1 bestätigt
wird, letzterer glaubt an die Lichttheorie und sah nie Nutzen von
innerer Behandlung.
G i 1 c h r i s t betont im Gegensatz zu D ii h ring die parasitäre
Natur der Krankheit.
Dann sprach Johnston über die Bedeutung der Autointoxi¬
kation für das Zustandekommen bullöser Eruptionen. Er glaubt nicht
an eine trophoneurotische Ursache dieser Eruptionen; alles spricht
für Autointoxikation. Im Urin findet man stets Indikan. Die Be¬
handlung besteht in salinischen Abführmitteln, reichlicher Wasser¬
zufuhr, heissen Bädern und Pilokarpininjektionen. Ausserdem be¬
schränke man die Eiweissnahrung.
B u 1 k 1 e y sah diese Eruptionen oft bei Eingewanderten, die wäh¬
rend der Seereise oft an 8 tägiger Verstopfung gelitten hatten, er
glaubt auch an Intoxikation. Dühring betont mehr einen nervösen
Ursprung, empfiehlt aber ähnliche Behandlung wie Johnston.
Nachdem Graham Chambers über die Röntgentherapie des
Ringwurms gesprochen hat, spricht Robinson über die Behandlung
des Hautkrebses. Kleine Krebse werden exzidiert, grössere werden
kürettiert und dann mit X-strahlen und Aetzmitteln behandelt. Manch¬
mal sah er Nutzen von Thyreoidin.
Walker empfiehlt die Chromsäure als Aetzmittel, S h e r w e 1 1
den inneren Gebrauch von Arsenik, B u 1 k 1 e y eine vegetarische
Lebensweise.
Abteilung für Kinderheilkunde.
W. L o v e 1 1 - Boston sprach über Osteogenesis imperfecta. Es
handelt sich um eine angeborene Erkrankung, bei der multiple Frak¬
turen (besonders der langen Röhrenknochen) im intrauterinen Leben
und -im Säuglingsalter Vorkommen. Ein Kind zeigte bei der Geburt
113 Frakturen. Redner beschreibt die von ihm bei einer Sektion
gefundenen Veränderungen des Knochensystems.
E w a r t - London sprach über Atonia abdominalis bei Rachitis.
Er empfiehlt Massage, Elektrizität und das Tragen eines elastischen
Gürtels.
Dann sprachen A s h b y und Stuart McDonald - Edinburgh
über die klinische und pathologische Seite der Pneumokokkeninfek¬
tion.
S t a r r - Toronto sprach über die Behandlung des tuberkulösen
Abszesses. Ganz zu verwerfen ist die Inzision mit nachfolgender
Drainage. Am besten ist bei kleinen Abszessen die Exstirpation des
geschlossenen Sackes. Grössere Abszesse werden breit gespalten,
mit Jodoformgaze ausgerieben und dann völlig durch die Naht ge¬
schlossen.
Blackader - Montreal eröffnete eine Diskussion über den
Rheumatismus der Kinder. Gelenkschwellungen fehlen häufig, man
findet Tonsillitis, Chorea, Pleuritis, Erythema exsudativum etc. Die
Tonsillen sind häufig die Eingangspforte für das Virus. In der Dis¬
kussion wurde betont, dass man in Amerika viel seltener als in Eng¬
land die subkutanen Knötchen beim Rheumatismus findet; die ameri¬
kanischen Aerzte scheinen viel weniger Salizylpräparate anzuwenden
als die englischen.
Logan Turner sprach über angeborenen Stridor laryngealis.
Er glaubt, dass es sich um eine Koordinationsstörung und Spas¬
mus der Atmungsmuskeln handelt, die zu einer Verstärkung des nor¬
malen infantilen T3^pus des Larynx führen, also zu einer erworbenen
Deformität. Der krähende Ton kommt zustande durch die abnorme
Näherung der aryepiglottischen Falten.
Ashby glaubt auch, dass es sich um eine Koordinationsstörung
handelt.
Cantley befürwortet eine angeborene Deformität des Larynx
und zeigt ein Präparat.
Jacobi glaubt, dass sehr verschiedene Ursachen zum Stridor
führen können.
K e s 1 e y - New-York eröffnete eine Diskussion über die Entero-
kolitis der Säuglinge. Er rät vor allem zur Prophylaxe. Die Stadt
muss eine eigene Milchwirtschaft einrichten und eine Anzahl von
Frauen anstellen, die Hausbesuche machen und die Mütter über Kin¬
derpflege und Ernährung belehren.
Morse sprach über die Behandlung der Enterokolätis. Er unter¬
drückt im Beginn der Behandlung alle Ernährung. Kinder vertragen
dies gut für 24 bis 72 Stunden, wenn man ihnen nur reichlich Wasser
per rectum oder subkutan zuführt. Später gibt er Molken und pasteuri¬
sierte Buttermilch.
La F e t r a - New-Vork gibt im Beginn bei Kindern über
9 Monate Glaubersalz, bei Säuglingen Kalomel und Rizinusöl; er
wäscht den Magen und Darm aus und gibt später Opium.
Nachdem Shaw- Montreal über die Fettresorption bei Säug¬
lingen gesprochen hatte, berichtete Ralph Vincent über die Walker
Gordon sehen Milchlaboratorien mit deren Hilfe ein Kind gerade so
gut mit Kuhmilch als an der Mutterbrust aufgebracht werden könne.
Edmund Cantley- London eröffnete eine Diskussion über die
angeborene Pylorusstenose. Er unterscheidet zwischen funktionellem
Spasmus des Pylorus, bei dem es zu heftigem Erbrechen ohne Magen¬
erweiterung und Pylorustumor kommt und zwischen der wahren
hypertrophischen Stenose, von der er 16 Fälle sah. Fast alle traten
während der ersten 3 Lebenmonate (meist im 1.) in die Erscheinung.
Das erste Zeichen ist meist Appetitmangel, dann tritt heftiges stoss-
weises Erbrechen auf (manchmal werden 2 Mahlzeiten auf einmal
erbrochen). Es besteht Uebelkeit und Erbrechten, starke Abmagerung
und subnormale Temperatur. Man sieht lebhafte Peristaltik des
Magens, kann Erweiterung desselben nachweisen und einen Pylorus¬
tumor fühlen. Mikroskopisch findet man eine Hyperplasie der Ring¬
muskulatur. Es handelt sich um eine angeborene Missbildung ata¬
vistischer Natur; der Pylorus ähnelt der Magenmühle der Krusta-
zeen und Edentaten sowie dem Kropf der Vögel. Der Spasmus mag
die Obstruktion vermehren, -ist aber nicht die Ursache der Hyper¬
trophie. Nur die rein spastischen Fälle werden durch interne Mass¬
nahmen (Kokain, Opium, Magenspülung) gebessert, die hyper¬
trophischen Fälle sind frühzeitig zu operieren. Am besten wirkt die
Pyloroplastik, gleich nach der Operation wird rektal ernährt.
Harold Stiles- Edinburgh hält es für unmöglich, zu entschei¬
den, ob der Pylorospasmus die Ursache oder die Folge der Hyper¬
trophie -ist. Er rät zur frühzeitigen Operation unter Aethernarkose.
Von 29 Devulsionen nach Loreta wurden 15, von 37 Gastroentero¬
stomien 16 geheilt. Ein Fall von Pylorektomie starb. Von 11 Fällen
von Pyloroplastik wurden 5 geheilt. Bei zweifelhafter Diagnose soll
man frühzeitig eine Probeinzision machen.
R. Hutchison - London hat 8 typische Fälle unter rein in¬
terner Behandlung heilen gesehen, er verwirft die Operation, ähnlich
urteilt Ashby.
Vincent bezweifelt, dass es sich bei den ohne Operation ge¬
heilten Fällen wirklich um kongenitale hypertrophische Pylorusstenose
gehandelt hat.
Abteilung für Psychologie.
Die Abteilung wurde mit einer Diskussion über die Dementia
paralytica eröffnet. Diefendorf - Connecticut hat eine ständige Zu¬
nahme der Krankheit bei Frauen bemerkt. Er glaubt, -dass, ebenso wie
die Lues, der Alkohol die Krankheit hervorrufen kann.
Aldren Turner- London und M e 1 1 1 e r - Chicago betrachten
Tabes und Dementia paralytica als verschiedene Symotomenbilder
derselben Krankheit, ausser der SyDhilis muss man eine Gelegenheits¬
ursache suchen, wie Ueberarbeitung. Potus und vielleicht auch Auto¬
intoxikation vom Darm aus.
O’B r i e n - Massilon hat die Untersuchungen von Ford Ro¬
bertson nachgeprüft und kommt zu denselben Schlüssen, wie dieser
Autor. Er fand bei 95 Proz. der Paralytiker einen dem Klebs-Löffler
ähnlichen Bazillus der nur bei 2 Proz. der übrigen Geisteskranken ge¬
funden wurde. Dieser Bazillus erzeugt bei Tieren klinisch und patho¬
logisch Erscheinungen, die denen bei Paralysis beobachteten ähnlich
sind.
Mills- Philadelphia sprach über die Hirnlokalisation im Stu¬
dium der Psychiatrie.
T u r n e r - Brentwood zeigte an Lichtbildern, dass das Nerven¬
system der Eoileotiker schlecht entwickelt ist. Ausserdem zeigt das
Blut der Eoileotiker eine grosse Neigung zu intravaskulärer Ge¬
rinnung. Die Ursache der Anfälle sieht er in nützlichen Stockungen
des Blutstroms durch Verstopfung der Kortikalgefässe durch der¬
artige Gerinnsel.
Turner sprach dann über die Epilepsie. Er behandelte vor
allem die epileptischen Aequivalente.
In der Diskussion wurde besonders die J a n e t sehe Ansicht
bestritten, dass Psychasthenie als epileptisches Aequivalent aufzu¬
fassen sei.
Nachdem C r o w t h e r s - Hartford über den Irrsinn der Trunk¬
sucht gesnrochen hatte, eröffnete C 1 a r k e - Toronto eine Diskussion
über die Dementia praecox. Er sowohl wie andere Redner betonen,
dass man das Feld der Dementia oraecox viel zu weit gesteckt hat
und sie mahnen zur genaueren Diagnosenstellung. Es handelt sich
bei diesen Fällen, wie Der cum ausführt, um ein defektes Nerven¬
system und eine mangelhafte Ernährung. Ruhe und Mastkuren sind
das beste Heilmittel.
R. R e n t o u 1 - Liverpool verlangt die Sterilisation mancher De¬
generierten. Die Tuben resp. Samenleiter sind bei Idioten. Irrsinnigen,
Vaganten, Prostituierten und deren Kindern zu unterbinden.
Zum Schlüsse eröffnete S h o ef i 1 d - London eine Diskussion
über Psyche und Therapie in der der grosse Einfluss der suggestiven
Therapie bei inneren und äusseren Mitteln betont wurde; allgemein
wurde darüber geklagt, dass der Student zu wenig von diesen Din¬
gen hört und dass deshalb der Quacksalber so viel grösseren Ein¬
fluss beim Publikum hat.
Abteilung für Therapeutik.
M c A 1 i s t e r sprach über die Einführung einer Reichspharma-
kopöe für das gesamte britische Weltreich.
Dann sprach B r o d i e - London über die Pharmakologie und
Therapie der Nieren. Er glaubt, dass die Urinabscheidung kein
2180
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 4-4.
i iosser Filtrationsakt ist, sondern auf einer Zelltätigkeit beruht. Er
sucht dies zu beweisen durch vergleichende Untersuchung der Oase
des ab- und zufhessenden Nierenblutes. Die Diuretika reizen die
Nierenzellen, an Froschnieren konnte nachgewiesen werden, dass der
Reiz mehr den Qlomerulus als die Tubuli trifft.
Kelly- Philadelphia sprach über die Behandlung der akuten
Nephritis. Sehr wichtig ist die Prophylaxe bei allen Infektionskrank¬
heiten. Bei ausgebrochener Krankheit ist Milchdiät am besten, sehr
gut wirkt auch 2 — 3 tägiges Fasten. Redner gibt nicht so viel Milch
wie die meisten Aerzte, er erhöht ihren Kalorienwert durch Zusatz
von Sahne und Mehl. In manchen Fällen ist eine salzfreie Nahrung
vorteilhaft.
L e f e v r e - New York sprach über die Urämie und den Ein¬
fluss von Nephrolysinen auf das Zustandekommen derselben.
Dann sprach Ross- London über Opsonine und bakterielle Vak¬
zine. Es wurde über ausgezeichnete Erfolge der Vakzinetherapie bei
Tuberkulose, Empyem und maligner Endokarditis berichtet.
C o I e y - Philadelphia berichtet über die Wirkung verschiedener
Drogen (Jod, Akonit, Salizylpräparate, Chinin, Merkur, Arsenik etc.)
auf die Geiässspannung.
D i x o n glaubt, dass die genannten Drogen keinen Einfluss auf
die Oefässe haben, er empfiehlt Spartein.
O s b o r n e - Yale hat besonders von Thyreoidin Erfolge bei der
liypertension älterer Leute gesehen.
Solis C o h e n - Philadelphia, der über die Behandlung der
Lungenphthise sprach, bedauert, dass die Sanatoriumsbehandlung so
rasch in eine Routinebehandlung ausgeartet ist, er empfiehlt strenges
Individualisieren, die Drogenbehandlung sollte nicht vernachlässigt
werden.
Abteilung für Hygiene.
Dixon - Philadelphia sprach über die Prophylaxe der Phthise.
Er berichtet über seine Versuche, ein Antitoxin zu finden, das den
Menschen gegen die Phthise immunisiert. Ferner spricht er über die
relative Immunität gichtisch disponierter Menschen gegen Tuberku¬
lose. Er rät zu Versuchen, durch Einverleiben von Taurin, Harnstoff,
I hiosinamin etc. einen gichtischen Habitus hervorzurufen und so den
Körper gegen den Tuberkelbazillus zu schützen.
R o b e r t s - Hamilton sprach über die Mittel des Staates, der
Stadt und des Individuums zur Verhütung der Tuberkulose. Er emp¬
fiehlt die Anzeigepflicht der Phthise und den Bau von Sanatorien.
G i 1 c h r i s t - Nizza spricht über die Analogie zwischen In¬
fluenza und Phthise.
Probst- Ohio spricht über die strittigen Punkte bei der Phthise.
Er bedauert, dass die Autoritäten, wie Behring und Koch über
grundlegende Fragen, wie die Infektion durch Milch etc., noch keine
Einigkeit erzielt haben. Er spricht über die Infektion durch tuber¬
kulöses Fleisch, über den Ausschluss tuberkulöser Kinder aus Schulen
etc. Da noch nicht alle Phthisiker in Sanatorien behandelt werden
können, muss man dahin streben, die Behandung im Hause des
Kranken zu verbessern.
H o in a n - St. Louis sprach über den Staub in öffentlichen und
privaten Gebäuden.
G 1 a i s t e r - Glasgow teilt mit, dass in Schottland die Tuberku¬
lose als Infektionskrankheit anerkannt und dass es in der Macht der
Lokalbehörden steht, die Anzeigepflicht, Isolierung, Desinfektion etc.
durchzuführen.
G r o v e s - Isle of Wight, der selbst an Phthise gelitten hat,
verwirft den Bau teurer Sanatorien; er findet, dass man denselben
Nutzen erzielen kann, wenn jeder Einzelne im Zelt lebt. Ein solches
Zeltlager ist billig und erfüllt die Bedingungen der Freiluftkur am
besten.
Es folgten Vorträge von H i 1 1 - Minneapolis, Robinson-
Ciuelph und H o 1 1 o n - Vernon über Wasserversorgung, Reinigung
des Wassers durch Sandfilter und künstliche Filter; letztere sind
billiger als Sandfilter. Man verlangt die Anstellung von Wasser¬
experten in den Städten und die Kontrolle der Wasserversorgung
durch den Staat.
S t a r k e y - Montreal berichtet über die zunehmende Verunreini¬
gung der grossen Kanadischen Flüsse und ihre Verhütung.
Qlaister empfiehlt die Expropriation aller Wassergesell¬
schaften und die Uebernahme durch die Städte.
Es folgt eine lebhafte Diskussion über Krankheiten und Milch¬
versorgung, die von H a r c o u r t - Guelph eingeleitet wurde. Er
glaubt, dass^ genaue Untersuchungen der Milchversorgung äusserst
skandalöse Enthüllungen bringen würden. Er verlangt die genaueste
Kontrolle durch die Munizipalität und die Unterdrückung aller che¬
mischen Zusätze zur Milch.
G 1 a i s t e r sprach über die Verbreitung des Typhus, der Tuber¬
kulose, des Scharlach und der Diphtherie durch Milch; er gibt
genaue Vorschriften zur gründlichen Ueberwachung der Milchver¬
sorgung. Die Versammlung formulierte eine diesbezügliche Auf-
torderung an die englische Regierung.
C a s s i d y - Ontario sprach über die Hygiene des Hauses.
... Einen. interessanten Vortrag hielt Miss MacMurchie-
Ioionto über die ärztliche Beaufsichtigung von Elementarschul-
kiudern. Am weitesten vorgeschritten auf diesem Gebiete sind die
Japaner. Die ärztliche Kontrolle kann nur Hand in Hand mit den
Eltern Nutzen bringen. Ausser den Schulärzten sind auch Pflege¬
rinnen anzustellen, die darüber wachen, dass die Anordnungen des
Arztes befolgt werden.
S c o 1 1 - Toronto und G r o v e r s - England sprachen in ähn¬
lichem Sinne und bedauerten, dass das englische Gesetz die Not¬
wendigkeit der Schulärzte noch nicht anerkannt hat.
B r y c e sprach über die Untersuchung der Einwanderer und
über die von Kanada und den Vereinigten Staaten gemeinsam er¬
griffenen Massregeln.
Es folgen noch kürzere Vorträge über Konservierungsmittel bei
Nährstoffen und über die Kost der Seeleute.
Abteilung fiir Pathologie.
Die Abteilung brachte eine grosse Anzahl von Vorträgen, von
denen nur die praktisch wichtigeren hier erwähnt seien.
M u ; r und Martin- Glasgow sprachen über die Opsonine des
normalen Serums. Die Redner untersuchten die drei Hauptarten der
Immunkörper (Ambozeptoren), die durch die Injektion von roten Blut¬
körperchen, Serum und Bakterien erzeugt werden können. Sie fan¬
den, dass in jedem Falle die Kombination von Rezeptor + Ambozep¬
tor das Opsonin des normalen Serums entfernte. Ein Bakterium,
das mit dem Immunkörper behandelt wurde, nahm mehr Opsonin auf,
als ein unbehandeltes Bakterium.
Ross- Toronto hat gefunden, dass die opsonische Kraft des
Blutes neugeborener Kinder gegen Tuberkelbazillen halb so gross ist
wie die des Blutes der Mutter; gegen den Staphylocoocus aureus ver¬
hielten sich beide Blutarten gleich. Redner betont die grosse Be¬
deutung der Ernährung mit Muttermilch.
Smith und M i 1 1 e r - London, in einem Vortrage über Magen¬
erosionen, haben gefunden, dass alle Fälle von akuter Gastritis und
Ulcus ventriculi mit Entzündungen der Haufen lymphoiden Gewebes
in der Submukosa beginnen.
C 1 o w e s - New York eröffnete eine Diskussion über die Aetio-
logie und Lebensgeschichte der malignen Neubildungen. Redner hat
Versuche mit Uebertragungen von 3 Tumorarten angestellt. Es ge¬
lang ihm, den „Jensen“-Tumor in 30 Proz. der Fälle zu überimpfen;
die Geschwülste entwickelten sich langsam und in 20 Proz. der Fälle
trat Spontanheilung ein. Der „Brooklyn“-Tumor gab 90 Proz. er¬
folgreiche Uebertragungen; die Tumoren wuchsen sehr rasch und nur
in 5 Proz. der Fälle trat Spontanheilung ein. Der „Springfield“-Tumor
liess sich nur übertragen, wenn die Stücke vor der Impfung inkubiert
worden waren, er gab 30 Proz. Spontanheilungen. Redner fand, dass
I umorzellen viel widerstandsfähiger sind als Bakterien. Tiere, bei
denen Spontanheilung aufgetreten ist, sind gegen weitere Impfungen
immun. Tiere, bei denen Tumoren vorhanden sind, kann man an
anderen Körperstellen nicht erfolgreich impfen. Durch abgetötete
I umorzellen oder durch Nukleoproteide aus dem Tumor liess sich
keine Immunität herstellen.
Bashford - London erzielte 25 Proz. erfolreiche Ueber¬
tragungen von Mäusetumoren. Nur das Parenchym wächst, nie das
Stroma. Es gibt keine scharfe Grenze zwischen expansivem und
infiltrativem Wachstum, d. h. zwischen gut- und bösartigen Ge¬
schwülsten. Genaue statistische Erhebungen haben gezeigt, dass es
keine Zunahme und kein endemisches Auftreten des Krebses gibt.
G a y 1 o r d - New York berichtet über infizierte Käfige, in denen
die darin gehaltenen Tiere an Krebs erkranken. Es gelang ihm, bei
einem Händler einen Käfig zu finden, aus dem in 3 Jahren 66 Mäuse
mit Tumoren hervorgegangen waren. Aehnliche Erfahrungen machte
er in seinem Laboratorium mit Rattentumoren.
B u s h n e 1 1 - Brighton beleuchtet besonders die biochemische
Seite der Frage.
Hamilton W r i g h t sprach über die Natur der Beri-Beri. Es
handlet sich um eine akute Infektionskrankheit, die in der 5. oder
6. Woche in Heilung übergeht oder bei der Lähmungen Zurückbleiben.
Die Ki ankheit beginnt mit der bazillären Invasion der Gastroduodenal-
gegend, hiei ist der primäre Herd, durch extrazelluläre Toxine, die
liiei gebildet werden, kommt es zu den entfernteren Symptomen.
Niemals besteht eine Bakteriämie.
Ni co Ile- Paris sprach über experimentellen Rotz. Das Peri¬
toneum des männlichen Meerschweinchens ist sehr, das des weib¬
lichen nur wenig empfindlich für den Rotzbazillus. Redner spricht
über Immunisierungsversuche an Tieren.
Kau ff mann sprach über die Jodausscheidung der Nieren und
letont, dass dieselbe als gutes Kriterium für die Ausscheidungsfähig¬
keit der Nieren gelten könne.
Novy und K n a p p - Ann Arbor sprachen über die Spirochäten,
es sind keine Protozoen und sicher keine Trypanosomen, sondern
wahrscheinlich Bakterien.
Mot t - London sprach über die Veränderungen des Nerven¬
systems bei chronischer Trypanosoiniasis. Er untersuchte die Organe
von 30 an Schlafkrankheit gestorbenen Personen (2 Europäer); ferner
mre, d|e mit verschiedenen Trypanosomen infiziert waren. Er be¬
schreibt auf das genaueste die Veränderungen in den Drüsen und dem
zentialen Nervensystem, es handelt sich um chronisch entzündliche
Wucherungen der Neurogliazellen und des interstitiellen Gewebes.
Nicolle und M e s n i 1 - Paris berichten über die Behandlung
der Trypanosoiniasis mit Benzidinfarben.
30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2181
Schliesslich berichtet noch B e a 1 1 i e über die Bakteriologie des
rheumatischen Fiebers. Es gelang, einen Mikrokokkus zu züchten,
dessen Impfungen bei 60 Proz. der Tiere Arthritis, bei 33 Proz. Endo¬
karditis hervorriefen. Es handelt sich nicht um abgeschwächte
Streptokokken.
Es sei nur noch erwähnt, dass auch die Abteilungen für Ana¬
tomie und Physiologie stark besucht waren. Die zahlreichen, zum
Teil sehr interessanten Vorträge eignen sich jedoch ihres spezialisti-
schen Charakters wegen nicht zu einem Referat an dieser Stelle.
J. P. z u m Busch- London.
Aus den englischen medizinischen Gesellschaften.
Edinburgh obstetrical Society.
Gemeinsame Sitzung vom 11. Juli 1906.
Irreguläre Erscheinungen bei puerperaler Sepsis.
W. Stephenson - Aberdeen eröffnete die Diskussion, indem
er ausführte, dass eine septische Infektion nachweislich auch bei
einer Reihe von weniger gefährlichen und kürzer dauernden Er¬
krankungen im Wochenbett vorliegt. Der infizierenden Mikroorganis¬
men sind viele von verschiedenen Arten, und es ist bisher noch
nicht die spezifische Wirkung eines jeden klargelegt worden. Eieber
an und für sich ist kein Beweis einer Infektion.
M. C a m e r o n - Glasgow unterscheidet 3 Gruppen: 1. Die sa-
prämischen mit stinkenden Lochien, bedingt durch Retention von Pla¬
zentaresten, nach deren Entfernung die Wöchnerin gewöhnlich prompt
gesundet. 2. Die durch eine vom Peritoneum ausgehende Sepsis
bedingten Fälle. Man kann gewöhnlich auf allmähliche Genesung
in etwa 3 Wochen rechnen. Wichtig ist es dabei, eine ausgiebige
Nierentätigkeit anzuregen. 3. Die Fälle mit negativem Lokalbefund
und den prognostisch bedenklichen Erscheinungen einer erdfahlen
Gesichtsfarbe, Vibrieren der Stimme, dick belegter Zunge, gelegent¬
lich Erbrechen und Anwandlungen von Diarrhöen bei Ausbleiben des
Lochialsekretes. Bei solchen Fällen kann man mit ziemlicher Be¬
stimmtheit auf den Tod etwa in der zweiten Woche rechnen.
A. H. F r e e 1 a n d Barbour - Edinburg wünscht eine schär¬
fere Unterscheidung zwischen Septikämie und Toxämie. Erytheme
im Puerperium deuten allerdings auf ersteren Zustand, doch hat Red¬
ner einen skarlatiniformen Ausschlag und einen morbilliformen be¬
obachtet, welche bestimmt toxämisch waren. Solche Ausschläge
können sehr wohl Folge der Muskelkontraktionen des Uterus wäh¬
rend der Geburt sein; sie treten manchmal erst einige Zeit nach
erfolgter Aufnahme des Toxins hervor.
S. Sloan betrachtet das Fortbestehen der Milchsekretion als
ein günstiges Zeichen selbst bei hoher Temperatur und frequentem
Puls.
C. C. Easterbrook bespricht die zwei Gruppen der puer¬
peralen Manie. Die erste, die septische, setzt schon in der ersten
Woche des Puerperiums ein mit starkem Delirieren bei hoher Tem¬
peratur und grosser Pulsfrequenz. Serumeinspritzungen haben bei
diesen Fällen seiner Erfahrung nach wenig Wert. Die zweite Gruppe,
die postpuerperale Manie, ist als ein Erschöpfungszustand zu er¬
klären. Die toxischen Exantheme, welche man dabei beobachtet,
dürften meist durch Obstipation bedingt sein.
C. B. K e r r glaubt, dass das Verabreichen von Klystieren in
vielen Fällen Hautausschläge bedingt, indem dabei die Fäkalmassen
aufgerührt und durch die Verflüssigung zur Resorption mehr ge¬
eignet gemacht werden. Zugleich wird auch die Kolonschleimhaut
ihrer schützenden Schleimschicht mehr oder weniger beraubt, was
hierbei nicht ohne Bedeutung sein dürfte.
D i c k i n s o n - NewYork erklärt sich enttäuscht in bezug auf
die Leistungen der Serumbehandlung. Die Sterblichkeit bei Serum¬
behandlung berechnet sich auf etwa 40 Proz., ohne Serum werden
bei anderer Behandlung ungefähr die gleichen Resultate erzielt.
Ebenso hat sich ihm die Leukozytenzählung nicht bewährt. Bei
septischen Fällen hat er früher in der Regel das Kavurn inzidiert und
in 30 — 40 Proz. der Fälle Eiter oder Serum gefunden. Jetzt besteht
der Gebrauch, die Ligg. lata zu inzidieren, wobei sehr häufig Ge¬
rinnsel, von Phlebitis herstammend, gefunden und entfernt werden.
E. H. L. O 1 i p h a n t - Glasgow hat gefunden, dass viele Fälle
von hoher Temperatursteigerung durch Toxämie und nicht durch
Sepsis bedingt sind. Auch psychische Einwirkungen bedingen oft
eine plötzliche Temperatursteigerung, die dann aber rasch wieder
abnimmt. Er berichtet über eine Puerpera, welche am 4. Tage p. p.
mit Schüttelfrost und Seitenschmerzen erkrankte; der Inhalt des
Uterus wies Pneumokokken auf, und 2 Tage später wurden Symptome
von Pneumonie konstatiert.
R. Jardine - Glasgow hat auch wiederholt Fälle gesehen, bei
denen das Fieber — unmittelbar vor der Entlassung aus der Klinik
einsetzend — auf eine psychische Erregung zurückgeführt werden
musste. Ebenso gibt die mangelhafte Darmtätigkeit Anlass zu Fieber.
Bei einer Reihe von genau kontrollierten Fällen hat er ferner ge¬
funden, dass eine sehr rapide Involution des Uterus (der gelegentlich
binnen 24 Stunden unter das Becken hinabstieg) zu Fieber Anlass gab,
wahrscheinlich durch toxämische Einwirkungen.
Philippi - Bad Salzschlief.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Neuer Standesverein Münchener Aerzte.
Sitzung vom 18. Oktober 1906.
Nachdem der Vorsitzende unter den Gegenständen des Ein¬
laufs über die weitere Entwicklung der Institution der Schulärzte
berichtet hatte, die ja demnächst ins Leben treten soll, wurde auch
die durch die kiirzliche Sperrung einer hiesigen Bahnarztstelle in eine
neue Phase getretene Bahnarztfrage gestreift und hiebei besonders
betont, dass in diesem Falle die Abteilung für freie Arztwahl ganz
allein für sich vorgegangen sei, ohne die Mitwirkung der Standes¬
vereine, der Aerztekarnmer oder des Leipziger Verbandes sich vorher
zu sichern. Dass man sich dazu verstehen musste, die Sperrung für
diesen Fall schon nach 14Tagen wieder aufzuheben, müsse als eine bei
diesem übereilten Vorgehen erlittene Schlappe auch von allen anderen
nicht der Abteilung für freie Arztwahl angehörigen Aerzten empfunden
werden. Das Ausschlüssen solcher Kollegen von der Kassenpraxis,
welche eine fixierte Kassenarztstelle annehmen — wie es von der
Abteilung für freie Arztwahl in diesem Falle inauguriert wurde —
muss als eine sehr bemerkenswerte und bedenkliche Erscheinung in
der Aerztebewegung angesehen werden, insofern als sie den Anfang
eines Kampfes zwischen fixierten und nichtfixierten Kassenärzten
signalisieren kann.
Die Stellungnahme zum Verpflichtungsschein des deutschen
Aerztevereinsbundes bildete den 2. Punkt der Tagesordnung, an de:,
sich eine ausgedehntere Diskussion anknüpfte. Der Vorsitzende be¬
richtete zunächst über die interessante Vorgeschichte der im letzten
Juli stattgefundenen „allgemeinen Aerzteversammlung“, welche eben
falls den Verpflichtungsschein zum Gegenstand hatte, aus welcher her¬
vorging, dass die Einberufung jener Versammlung von der Leitung
der hiesigen Sektion des Leipziger Verbandes auf das ausschliessliche
Betreiben des Aerztlichen Bezirksvereines erfolgte, während
die Vertretung des Neuen Standesvereines die ganze Angelegenheit
bis nach den Ferien vertagt wissen wollte. Seitens des N. St.-V-
war, wie der Vorsitzende feststellte, die Absicht massgebend, vo.
der Einberufung einer allgemeinen Aerzteversammlung mit dem Ver¬
trauensmann des Leipziger Verbandes zuerst Vorverhandlungen zu
pflegen, doch habe letzterer erklärt, dass ein Aufschieben nicht statt¬
finden könne. In der Diskussion wurde von Herrn H o f e r e r hervor¬
gehoben, dass der Aerztliche Bezirksverein München gegenüber aus¬
drücklichen Beschlüssen des Leipziger Verbandes wiederholt eine ab¬
lehnende Stellung eingenommen habe, bezw. noch einnehme, z. B.
in der Frage der Karenzzeit, dann in der Frage von Verträgen mit
Mittelstandskassen, in der Frage der Einführung der freien Arztwahl
bei den Staatsbahnen. Betreff der Unterzeichnung des Verpflichtungs¬
scheines, der demnächst an die Mitglieder hinausgegeben werden soll,
stimmte die Versammlung den 3 Punkten zu, welche die Vorstand¬
schaft den Unterzeichnern einzuhalten empfahl: 1. dass der im Ver¬
pflichtungsscheine vorgesehene Konfliktfall vom N. St.-V. anerkannt
sein muss, wenn es sich um einen solchen in München handelt; 2. dass
der Verpflichtungsschein an die Stelle der früheren Erklärungen und
Verträge zu treten habe, welch’ letztere den Unterzeichnern des Ver¬
pflichtungsscheines des Deutschen Aerztevereinsbundes zurück¬
zugeben sind und 3. dass die Unterzeichneten Verpflichtungsscheinc
beim N. St.-V. zu hinterlegen sind. Die beiden ersten Punkte fanden,
wie durch den ersten Vorsitzenden mitgeteilt wurde, in der Be¬
sprechung mit dem Vertrauensmanne des Leipziger Verbandes die
prinzipielle Billigung desselben. Bei der Besprechung des
weiteren Punktes der Tagesordnung: Aerztekarnmer, drückte
Herr V o c k e den Wunsch aus, es möchten die einzelnen
Beratungsgegenstände der Aerztekarnmer beträchtlich früher als
es jetzt Usus ist, bekannt gegeben werden, um es zu ermög¬
lichen, dass für die einzelnen Fragen, welche oft sehr umfängliche
Vorarbeiten erforderlich machen, noch rechtzeitig die Referenten ge¬
wählt werden können. Bei der jetzigen Uebung sei die Zeit viel zu
kurz, um eingehende Referate und Vorberatungen noch abwickeln
zu können. Herr C. Becker und Herr Bezirksarzt Gruber stellen
hiezu fest, dass früher in dieser Hinsicht ein anderer Modus einge¬
halten wurde. Herr V o c k e wünschte auch die von seiten der Re¬
gierung an die Aerztekarnmer gelangenden Vorlagen aus dem oben
erwähnten Grunde viel früher den Vereinen mitgeteilt. Eine Frist
von 2 Monaten sei für die Vorberatungen keineswegs zu reichlich
bemessen. Da die Aerztekarnmer, wie man hört, auch mit der Frage
etwaiger Modifikationen des Physikatsexamens sich beschäftigen soll
— die Tagesordnung ist freilich zur Stunde noch nicht vorliegend — ,
entspann sich auch über diesen Punkt eine sehr lebhafte Diskussion.
Herr C. Becker entwickelte in längerer Ausführung eine Reihe von
Vorschlägen betreff etwaiger Abänderungen des heutigen Modus des
Physikatsexamens, die in der Hauptsache darin gipfelten, dass die
zweijährige Wartezeit vor der Zulassung zu diesem Examen gan.,
gut fallen gelassen werden könne, dass die Kurse und Vorlesunge-
eine weitere Ausgestaltung nach der praktischen Seite hin erfahren
sollten, und dass dann die im jetzigen Examen verlangten praktischer
Prüfungen in Wegfall kommen könnten, dass hinsichtlich der schrift¬
lichen Arbeiten mindestens eine Verlegung der Aufgabenstellung auf
eine andere Jahreszeit, die auf die praktischen Aerzte draussen
grössere Rücksicht nehme, eingeführt werden könnte. Herr H ö f 1 -
2182
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. -4-4.
in a y r führte die Nachteile aus, welche sich aus dem bekannten Um¬
stande ergeben, dass zwischen dem Physikatsexamen und der An¬
stellung als Amtsarzt eine lange Reihe von Jahren liege und wünscht,
dass der späteren Fortbildung der für den ärztlichen Staatsdienst Ge¬
prüften eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet werde.
In dem letzten zur Beratung gelangenden Punkte der Tages¬
ordnung: Mittelstands(Meister-)kassen erinnerte der Vorsitzende
daran, dass heuer bereits einmal die Frage eines Vertragsabschlusses
mit einer Mittelstandskasse (jener der Mittelstandspartei) hier in
München ihre Kreise zog und dass damals der Bezirksverein seine
endgültige Stellungnahme vom Votum des heurigen Aerztetages ab¬
hängig machen wollte. Dieses Votum ist inzwischen bekanntlich in
dem Sinne durch den Aerztetag abgegeben worden, dass aus¬
nahmslos neue Verträge mit Mittelstandskassen nicht abge¬
schlossen werden sollen. 4 Wochen nach dem Aerztetag sei hier die
Sache wieder zur Sprache gekommen, als die Meisterkasse der Fri¬
seure sich an den Bezirksverein wegen eines zu schliessenden Ver¬
trages gewendet habe. Trotz des Aerztetagbeschlusses habe der
2. Vorsitzende des Bezirksvereines den Abschluss dieses neuen Ver¬
trages mit dieser Meisterkasse befürwortet. Vor 3 Jahren sei gerade
wegen dieser Kasse eine Warnung an die Aerzte durch den Bezirks¬
verein hinausgegeben worden, ja mit dieser Kasse in keinen Vertrag
einzutreten. In der Diskussion wurde auch darauf hingewiesen, dass
erst in den jüngsten Monaten mit einer anderen Kasse, welche bisher
die Minimaltaxe bezahlt habe, der Kranken und Begräbnis¬
kasse des Verbandes der Handlungsgehilfen in Leipzig, ein die
vorigen Verhältnisse verschlechternder Vertrag abgeschlossen worden
sei. Nach Erörterung dieser Angelegenheit wurde einstimmig die
Resolution gefasst: Der N. St.-V. spricht sich aus prinzipiellen Gründen
und im Hinblick auf den oben erwähnten Beschluss des Aerztetages
mit Entschiedenheit gegen einen Vertragsabschluss mit der Friseui-
krankenkasse aus und erwartet, dass jedes andere Ansuchen in dieser
Hinsicht abgewiesen wird.
Schluss der Sitzung V212 Uhr. G r a s s m a n n - München.
Pensionsverein für Witwen und Waisen bayerischer Aerzte.
Am Montag, den 22. d. M. fand im Reisingerianum die 9. ordent¬
liche Delegiertenversammlung statt. Zu derselben hatten sich ein¬
gefunden als Vertreter des Kgl. Staatsministeriums des Innern Herr
Geh. Rat Dr. H. v. G r a s h e y, als Vertreter der Kgl. Kreisregierung
Herr Kreismedizinalrat Dr. O. Messerer, ferner als Sachver¬
ständiger der Verfasser des Gutachtens über die Finanzlage des Ver¬
eines am 31. Dez. 1905 Herr W. Kuny, Prokuraträger der Baye¬
rischen Lebensversicherungsbank; ausserdem die Mitglieder des Ver¬
waltungsrates und des Schiedsgerichtes, die 8 Delegierten der ein¬
zelnen Kreise, sowie mehrere Münchener Mitglieder. Der I. Vor¬
sitzende des Verwaltungsrates, Obermedizinalrat Dr. v. B o 1 1 i n g e r,
eröffnete die Versammlung und begrüsste die Anwesenden. In seiner
Ansprache wies er auf die günstige Finanzlage des Vereins hin,
-dessen Vermögen sich im Verlauf der letzten 6 Jahre um den Be¬
trag von 132 000 M. vermehrt habe. Auch der Zugang an neuen Mit¬
gliedern, der in den 6 Jahren 1895 bis 1900 nur 50 (= 8,3 pro Jahr)
betrug, sei in den Jahren 1901 bis 1906 auf 94 (= 15,7 pro Jahr),
also fast auf das Doppelte gestiegen. Sodann wurde Herr Hofrat
Dr. E. Troeltsch, Delegierter für Schwaben, zum Vorsitzenden,
Herr Dr. J. Sandtner, Delegierter für Niederbayern, zum Schrift¬
führer -der Versammlung ernannt.
Der Antrag des ärztlichen Bezirksvereines Nürnberg, dass aus
den Zinsen des Stockfonds mindestens die Hälfte der einbezahlten
Jahresbeiträge zurückzuerstatten sei, wenn der Ehemann der Ueber-
lebende bleibt, führte zu einer sehr lebhaften und eingehenden Be¬
sprechung, fand aber in der gebrachten Form keine allgemeine An¬
erkennung, so dass er mit 4 gegen 4 Stimmen abgelehnt wurde. Die
Delegiertenversammlung entschied sich, den Verwaltungsrat zu er¬
suchen, die angeregte Frage noch weiters durch versicherungstech¬
nische Untersuchungen zu verfolgen und der nächsten Delegierten¬
versammlung diesbezügliche Vorlagen zu machen.
Infolge dieses Auftrages zog auch der Verwaltungsrat seinen
Antrag zurück, der dahinging, „eine Abkürzung der Beitragsleistung
in dem Sinne einzuführen, dass die neueintretenden Mitglieder vom
65. Lebensjahre an vom Beitrag befreit sein sollen“.
Der weitere Antrag des ärztlichen Bezirksvereins Nürn¬
berg, „es solle jeder reichsdeutsche Arzt, welcher in Bayern
ansässig ist und Praxis ausübt, sich die satzungsmässige
Mitgliedschaft des Pensionsvereins erwerben können“, wurde
von diesem selbst zurückgezogen, nachdem sich der ärztliche Bezirks¬
verein überzeugt hat, dass die Erwerbung des bayerischen Indigenats
sehr leicht und ohne Verlust der bisherigen Staatangehörigkeit er¬
folgen kann.
Sodann wurde der Antrag des Verwaltungsrates, vom Jahre 1907
an die Dividenden der Pensionen auf 15 Proz., nach 3 Jahren, wenn es
nach finanztechnischem Gutachten zulässig erscheint, auf 20 Proz. zu
erhöhen, einstimmig angenommen.
Die Kommission zur Prüfung des Rechnungs- und Kassenwesens
nahm mit Befriedigung von der Geschäftsführung Einsicht und erteilte
volle Decharge.
Ein von den Herausgebern der Münch, med. Wochenschr. für alle
Teilnehmer der Delegiertenversammlung veranstaltetes Mittagessen
im Künstlerhause verlief in heiterster kollegialer Stimmung.
Verschiedenes.
Hypnotische Schaustellungen.
Der den Lesern der Münch, med. Wochenschr. bereits bekannte
Hypnotiseur J. W. Ignot veranstaltete dieser Tage in Würzburg
wieder „wissenschaftlich - psychologische Experimentalvorträge“.
Nach dem Würzburger Generalanzeiger hat der Mann mit dem wal¬
lenden Barte und den unergründlichen (!) Augen noch nie Gesehenes
seinen Zuschauern geboten. Man hat vor dem Menschen ein heimlich
Grauen, wenn man sieht, wie er mit dem Willen einer einzelnen
Person arbeitet, sie beherrscht und lenkt. Den einen macht er zum
Musiker, den anderen zum Seiltänzer, bekannte dortige Persön¬
lichkeiten müssen Trauer, Fröhlichkeit, Zorn, Neid, Reue zum Aus¬
druck bringen. Ja, er lässt sogar unter den Tönen eines Grammo¬
phons im Tanze umherschwirren, und erschien es dem Publikum
ergötzlich, wie mit einem Mal beim Abbrechen der Musik die „Ver¬
zauberten“ dastanden und sich auf die Wirklichkeit besannen.
Dieser Herr Ignot, der den Behörden durch seine Zudringlichkeit
zu imponieren versteht, hat schon einmal der Münch, med. Wochen¬
schrift Gelegenheit gegeben, auf die Entschliessung des Ministeriums
des Innern vom 15. November 1893 hinzuweisen, welche die Ab¬
haltung hypnotischer und suggestionärer Vorstellungen verbietet. Ein
weiterer energisch gehaltener Erlass desselben Ministeriums und des
Aeusseren vom 26. April 1906 nimmt Veranlassung, auf ersteren hin¬
zuweisen und die starke Ueberhandnahme und die Gefährlichkeit
dieser Darbietungen zu betonen. Trotzdem findet, wie es scheint,
besagter etc. Ignot bei einzelnen Behörden ein williges Ohr. Sache
der Bezirksärzte wird es deshalb sein, bei letzteren energisch auf
Beachtung der betreffenden Vorschrift aus sanitären Rücksichten zu
dringen und zu betonen, dass derlei Erlasse nicht in dem Akten¬
schranke vergraben, sondern beachtet werden müssen, sonst lachen
sich derlei Leute in die Faust. Freilich ist zur genauen Durchführung
von solchen Entschliessungen auch nötig, dass man letztere in Ab¬
schrift auch den Amtsärzten übermittelt, was gerade im vorliegenden
Falle nicht von allen Kreisregierungen geschehen zu sein scheint.
Dr. B.
Gerichtliche Entscheidungen.
In einem Prozess, den Dr. Herrn. Kronheimer in Nürnberg
gegen die Bayerische Holzindustrie-Berufsgenossenschaft in München
durch mehrfache Instanzen geführt hat, wurden richterliche Entschei¬
dungen von prinzipieller Bedeutung gefällt. Diese dürften wegen
des allgemein-ärztlichen Interesses der Mitteilung wert sein.
Dr. K. hatte am 2. April 1904 im Aufträge der Bayer. Holz¬
industrie-Berufsgenossenschaft ein Gutachten über die von dem
Drechsler Adolf P. in Nürnberg bei einem Betriebsunfall erlittene
Verletzung des r. Mittelfingers schriftlich erstattet und dafür 10 M.
liquidiert. Die Berufsgenossenschaft billigte Dr. K. nur 5 M. zu und
als K. die betr. Postanweisung wieder zurückgehen Hess, verwies die
Berufsgenossenschaft auf den Beschwerdeweg beim K. Landesver¬
sicherungsamt. Dr. K. erhob daraufhin Klage beim K. Amtsgericht
München I auf Bezahlung der 10 M. Diese Klage wurde mit Urteil
vom 23. November 1 904 wegen Unzulässigkeit des Rechts¬
wegs kostenfällig abgewiesen und in der Begründung hauptsächlich
auf § 14 der Geb.-Ord. f. ärztl. Dienstleistungen vom 17. Nov. 1902
hingewiesen, wonach die Festsetzung der für eine Dienstleistung zu
gewährenden Beträge durch die mit der Angelegenheit befasste Be¬
hörde erfolgt. Der Kläger Dr. K. hat, wenn er mit der Festsetzung
d^r Gebühr von seiten der Berufsgenossenschaft nicht einverstanden
ist, Beschwerde zum K. Landesversicherungsamt als der zuständigen
Behörde einzulegen.
Dr. K. gab sich mit diesem Urteil nicht zufrieden, sondern legte
Berufung zum Landgericht München I ein. Dieses hob am
8. April 1905 das Urteil des Amtsgerichts auf, er¬
klärte die Unzulässigkeit des Rechtswegs für un¬
begründet und wies die Sache zur anderweitigen Entscheidung
an das Amtsgericht zurück. Unter den Gründen für dieses Urteil wird
hervorgehoben, dass weder die Berufsgenossenschaf¬
ten, noch deren Vorstände als Behörden erachtet
werden können. Die Berufsgenossenschaften seien Privat¬
genossenschaften, denen vom Gesetz juristische Persönlichkeit bei¬
gelegt ist. Die Vorstände derselben seien nur ihre gesetzlichen Ver¬
treter, aber sie haben keinerlei behördliche Befugnisse, haben nicht
das Recht, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen wie die
Schiedsgerichte und Versicherungsämter, können zwar auch Gutach¬
ten von Aerzten einfordern und Sachverständige zur Unfallunter¬
suchung beiziehen, aber sie können keinen Zwang ausüben, sondern
sind, wenn sich der betr. Sachverständige weigert, darauf ange¬
wiesen, die öffentlichen Behörden um Rechtshilfe zu ersuchen. Der
S 14 der Geb.-Ord. kann daher auf die Berufsgenossenschaften und
deren Vorstände nicht in Anwendung kommen. Ferner könne auch
nicht angenommen werden, dass das Landesversicherungsamt,
,30. Oktober 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2183
welches zwar als letzte Instanz über die einem Verletzten von der
Genossenschaft zu zahlende Rente entscheidet, auch in zivilrechtlichen
Streitigkeiten zwischen der Berufsgenossenschaft und dritten Per¬
sonen zur Entscheidung berufen ist. Der Rechtsweg ist da¬
her zulässig.
Diese Entschliessung des Berufungsgerichtes besagt also nichts
anderes, als dass die Berufsgenossenschaften von uns Aerzten bei
Liquidationsforderungen gleich unseren Privatpatienten erachtet und
behandelt werden können und deshalb soll die Kenntnis dieser Ent¬
scheidung bei den Kollegen möglichst allgemein werden. Denn es
wäre sehr misslich und unangenehm, wenn wir in solchen Streitfällen
mit den Berufsgenossenschaften immer den Beschwerdeweg bei der
diesen Vorgesetzten Behörde einschlagen und uns mit der Erkenntnis
einer Verwaltungsstelle zufrieden geben müssten.
Nachdem die prozesshindernde Einrede der Unzulässigkeit des
Rechtswegs vom Berufungsgericht für unbegründet befunden worden
war, wurde von Dr. K. die Forderung von 10 M. für das erstattete
Gutachten beim Amtsgericht München I gegen die Holzindustrie-
Berufsgenossenschaft eingeklagt. K. bezeichnete in der Klage sein
Gutachten als ein wissenschaftlich begründetes und dafür sei nach der
Geb.-Ord. vom 17. Nov. 1902 der niederste Ansatz 10 M. Die be¬
klagte Berufsgenossenschaft hielt das Gutachten für einen einfachen
Befundbericht, für welchen eine Gebühr von 5 M. entsprechend sei
und übergab zum Belege dafür 5 ärztliche Gutachten ähnlicher Art
je samt Liquidation. Der von beiden Seiten angebotene und zu¬
gelassene Sachverständigenbeweis, ob das besagte Gutachten als ein
wissenschaftlich begründetes Gutachten im Sinne der Ziff. 8 der
Geb.-Ord. vom 17. Nov. 1902 anzusehen ist, förderte nun eine An¬
sicht des einen Sachverständigen, Herrn K. Kreis¬
medizinalrats Prof. Dr. Messerer, zu Tage, welche
nicht nur im vorliegenden Falle für das Gericht massgebend war,
sondern auch für viele andere Streitfälle anwend¬
bar und darum für uns Aerzte von bedeutendem In¬
teresse ist. Das zu beurteilende Gutachten K.s, welches in
einer einfachen, unkomplizierten Unfallsache in der Schilderung des
Zustandes des Verletzten und in der Begründung seiner Ausführungen
kurz und bündig war, sollte nach Ansicht der beklagten Berufs¬
genossenschaft unter Ziffer 7 (einfacher Befundbericht 5 — 20 M.), nach
Ansicht des Klägers Dr. K. unter Ziffer 8 (wissenschaftlich begründetes
Gutachten 10—50 M.) und nach Ansicht des anderen Sachverständigen
unter Ziffer 9 (Ausstellung von Zeugnissen etc. 3 — 20 M.) der Ge¬
bührenordnung für ärztl. Dienstleistungen bei Behörden (K. A. Verord.
vom 17. Nov. 1902) fallen. Prof. Messerer bezeichnete das in
Rede stehende Gutachten zwar auch nicht als ein wissenschaftlich
begründetes, da es nicht eingehend genug und zu summarisch in seinen
Begründungen sei, ohne nähere Angabe des Prozentsatzes der Er¬
werbsbeschränktheit des Verletzten, aber er fand in der Ge¬
bührenordnung für ärztliche Dienstleistungen bei
Behörden keine Bestimmung, hie auf das in Frage stehende Gut¬
achten passt, weder die oben angeführte Ziffer 7, noch 8, noch 9.
Daher, sagt Messerer, sind gemäss § 3, Abs. 1 der erwähnten
K. Allerh. Verordnung die Bestimmungen der Geb.-Ord. f. ärztl.
Dienstleistungen in der Privatpraxis (vom 17. Okt. 1901) an¬
zuwenden. In dieser Gebührenordnung gibt es unter A Ziff. 6 c einen
Taxansatz „für begründetes Gutachten“ 9 — 30 M.
Es wird somit in den Gebührenordnungen ein Unterschied ge¬
macht zwischen einem begründeten Gutachten und einem wissen¬
schaftlich begründeten Gutachten.
Das in Frage stehende Gutachten stellt zweifellos ein begrün¬
detes Gutachten dar, wofür eine Gebühr von 9 — 30 Mk. bestimmt ist,
und darum ist der geforderte Betrag von 10 Mk. für nicht übersetzt zu
erachten.
Dies war der Hauptinhalt der Messerer sehen Ausführungen
und da aus den Gründen des richterlichen Urteils vom 29. Sept. 1905
hervorgeht, dass der Richter sich dessen Anschauung zu eigen ge¬
macht hat, so haben diese Darlegungen in ähnlichen Fällen für die
Rechtsprechung massgebende Bedeutung. Dr. K. möchte hierdurch
die Kollegen mit dem Sachverständigengutachten Prof. Messerers
bekannt gemacht haben, denn es lässt sich in sehr vielen strittigen
Fällen auf Ziffer 6 c Litera A der Geb.-Ord. f. ärztl. Dienstleistungen
in der Privatpraxis auch gegenüber Berufsgenossenschaften zurück¬
greifen. Wir Aerzte geben in einfachen glatten Unfallsachen, nament¬
lich auf den von den Berufsgenossenschaften zur Beantwortung ein¬
gesandten, oft ungeschickt und dürftig abgefassten, Fragebogen oft
nur „begründete Gutachten“ ab, die aber darum nicht unter Ziffer 7
oder 9 der Gebührenordnung für ärztliche Dienstleistungen bei Be¬
hörden zu fallen brauchen.
Zur Vervollständigung der Prozessgeschichte möchte Dr. K.
noch berichten, -dass -das Amtsgericht I die Berufsgenossenschaft
zur Zahlung der 10 Mk. verurteilte, einschliesslich aller Kosten, auch
der durch die Berufung des Dr. K. gegen das Urteil vom 23. No¬
vember 1904 (Unzulässigkeit des Rechtsweges) verursachten. Die
Holzindustrie-Berufsgenossenschaft hatte noch den Mut, gegen dieses
Urteil Berufung zum Landgerichte einzulegen und machte geltend,
dass das Gutachten von Dr. K. auch nicht als ein „begründetes Gut¬
achten“ anzusehen sei, dass es vielmehr nur als eine Erteilung einer
schriftlichen Auskunft unter Ziffer 10 -der Gebührenordnung (17. No¬
vember 1902, 1—3 Mk.) falle; ausserdem legte sie mehrere ärztliche
Gutachten nebst Liquidationen vor, mit deren Vergleich die Liqui¬
dation im vorliegenden Fall als zu hoch sich darstelle. Das Land¬
gericht München I wies unter fast ganz gleicher Begründung wie
der Erstrichter die Berufung ab.
Tagesgeschichtliche Notizen.
M ü n c h e n, 30. Oktober 1906.
— Bei .der Ableistung des praktischen Jahres der
Mediziner haben sich vielfach Missstände herausgestellt, auf die
an dieser Stelle wiederholt hingewiesen war. Vor allem wurde da¬
rüber geklagt, dass in den Praktikanten annehmenden Anstalten diesen
nicht immer Gelegenheit geboten war, die Zeit im Interesse ihrer ärzt¬
lichen Ausbildung vollständig auszunützen. Es ist daher erfreulich,
dass man sich jetzt bemüht, durch genaue Anweisungen diesen Miss¬
ständen vorzubeugen. Ein Entwurf solcher Anweisungen, -der ins¬
besondere die Verpflichtungen, welche die Anstalten mit der Annahme
von Praktikanten übernehmen, im einzelnen' feststellt, ist -der Med.
Reform zufolge den beteiligten Instanzen zur Begutachtung vorgelegt
worden. Dieser Entwurf, den wir demnächst ausführlich veröffent¬
lichen werden, bestimmt u. a., dass mindestens ein Drittel des ganzen
Jahres der Behandlung innerer Krankheiten zu widmen ist; dass sich
-das praktische Jahr unmittelbar an die bestandene Prüfung anzu-
schliessen hat; dass der Medizinalpraktikant durch den Dienst im
Krankenhause voll beschäftigt werden muss; als wünschenswert wird
bezeichnet, dass der Praktikant in der Anstalt wohnt und verpflegt
wird. Mindestens soll es dem Praktikanten durch Gewährung von
Kost ermöglicht werden, sich während des Tages dauernd in der An¬
stalt aufzuhalten, um sich ganz der Beobachtung und Behandlung der
Kranken widmen zu können. Als ungenügend für die Erreichung des
Zieles des praktischen Jahres wird es bezeichnet, dass die Prakti¬
kanten die Morgen- und Abendvisite mitmachen, im übrigen aber von
der Anstalt fern bleiben. Jedenfalls, bestimmt § 20 des Entwurfs,
soll der Medizinalpraktikant durch den Dienst im Krankenhause
voll beschäftigt werden. Diese Bestimmung trifft den Kern
der Sache. Anstalten, die das Material nicht haben, um einen Prakti¬
kanten voll zu beschäftigen, oder deren Leiter die mit der Ueber-
wachung der Praktikantentätigkeit verbundene Mühe nicht aufwenden
wollen, sollen lieber auf die Annahme von Praktikanten verzichten.
Richtig durchgeführt, wird die Anweisung jedenfalls zur Beseitigung
der gegen das praktische Jahr vorgebrachten Klagen wirksam bei¬
tragen.
— Ueber die bevorstehende reichsgesetzliche Rege¬
lung d e s Apothekenwesens wird offiziös gemeldet: Wie in
eingeweihten Kreisen verlautet, ist nunmehr im Reichsamt des Innern
ein Gesetzentwurf über die reichsgesetzliche Regelung des Apotheken¬
wesens fertiggestellt und wird voraussichtlich in nächster Zeit den
Bundesregierungen zur Prüfung übersandt werden. Der Entwurf
soll hinsichtlich der Apothekenkonzession auf dem Grundsatz der
Personalkonzession stehen, der in Preussen schon seit dem Jahre
1894 zur Durchführung gelangt ist. Die Ablösung der bestehenden
Realkonzessionen soll den Landesregierungen überlassen bleiben, wäh¬
rend neue Realkonzessionen nach dem Inkrafttreten des Gesetzes
nicht mehr verliehen werden dürfen. ... Im wesentlichen soll ver¬
sucht werden, durch das beabsichtigte Reichsgesetz die gewerbliche
Seite des Apothekenwesens zu regeln, also die Voraussetzungen der
Erteilung und des Erlöschens einer Konzession, die Vorbildung des
Personals, den Arznei- und Geheimmittelverkehr, die Arzneitaxe.
Vielfach sind die Materien, bei denen man die Notwendigkeit der ein¬
heitlichen Regelung längst eingesehen hat und bei denen man sich
bisher mit in allen Bundesstaaten gleichmässig erlassenen Bestim¬
mungen der Landesgesetzgebung zu helfen suchte. Die Bestrebungen
und Verhandlungen für die reichsgesetzliche Regelung des Apotheken-
\vesens reichen bis in die 70 er Jahre zurück. Bislang sind sie
immer an der Frage der Ablösung der Realkonzess-ionen gescheitert.
Obwohl diese in dem Gesetzentwurf anscheinend nicht näher berührt
worden ist, so ist doch wohl, wie dies in Preussen schon seit
langem beabsichtigt und in den erteilten Personalkonzessionen zum
Ausdruck gebracht wurde, den Bundesstaaten die Möglichkeit ge¬
geben, zur Ablösung der Realkonzessionen Betriebsabgaben einzu¬
führen. Man darf daher hoffen, dass nunmehr die von allen Seiten
gewünschte reichsgesetzliche Regelung des Apothekenwesens er¬
reicht werden wird.
— Man schreibt uns aus Hamburg, den 26. d. M.: Der Antrag des
Senats betr. Abänderung der Aerzteordnung vom
21. Dezember 1894 und Bildung eines ärztlichen
Ehrengerichts ist am 24. d. M. Von der Bürgerschaft in
2. Lesung angenommen worden. Danach wird ein Ehrengericht ge¬
schaffen, welches gegen Aerzte wegen standesunwürdigen Verhaltens
u. a. eine Geldstrafe bis zu 3000 M. verhängen kann. Politische,
wissenschaftliche und religiöse Ansichten oder Handlungen eines
Arztes als solche, wie auch seine gemeinnützige Tätigkeit sowie
Vertragsabschlüsse zwischen Aerzten und den sozialen Versicherungs¬
organen und -anstalten sollen niemals den Gegenstand eines ehren¬
gerichtlichen Verfahrens bilden können. — Das neue Gesetz lehnt sich
im ganzen an das preussische Ehrengerichtsgesetz vom 25. November
1899 eng an.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 44.
2184
Die diesjährige Plenarversammlung des Kgl.
sächsischen Landes-Medizinalkollegiums findet am
26. November 1. J. in Dresden statt.
Personal nach richten.
(Bayern.)
— Die ärztliche Leitung der Kuranstalt Ebenhausen bei München,
die bisher Herr Dr. Julian Marcuse inne hatte, übernimmt am
1. November «d. J. Herr Dr. Alexander Wiszwianski, der früher
das Sanatorium Bad Birkenwerder bei Berlin und zuletzt die Kur¬
anstalt Wildbad Rothenburg o. I'. geleitet hat.
— Pest. Aegypten. Vom 6. bis 12. Oktober sind 5 neue Er¬
krankungen (und 5 Todesfälle) an der Pest festgestellt, davon 4 (3)
in Alexandrien und 1 (2) in Suez. — Persien. In der Provinz Seistan
sind vom 2. bis 18. August 2 Pestfälle mit tödlichem Ausgange fest¬
gestellt worden. — Britisch-Ostindien. Während der am 29. Sep¬
tember abgelaufenen Woche sind in der Präsidentschaft Bombay
3855 neue Erkrankungen (und 2950 Todesfälle) an der Pest zur amt¬
lichen Kenntnis gelangt. In Kalkutta starben in der Woche vom
9. bis 15. September 8 Personen an der Pest. — Mauritius. In der
Zeit vom 10. August bis 6. September sind 22 Erkrankungen und
19. Todesfälle an der Pest gemeldet worden.
— In der -11. Jahreswoche, vom 7. bis 13. Oktober 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblichkeit
Gera mit 28,8, die geringste Dtsch. Wilmersdorf mit 5,4 Todesfällen
pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel aller Gestorbenen
starb an Scharlach in Beuthen, Linden, Posen, an Unterleibstyphus in
Erfurt- V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Erlangen. Die Punktion eines Oberarztes an der Abteilung
und dem Ambulatorium für Haut- und Geschlechtskrankheiten bei der
medizinischen Klinik wurde dem Assistenten, Privatdozenten Dr. Leon¬
hard Hauck und die Punktion eines Oberarztes bei der medi¬
zinischen Klinik dem Assistenten Dr. Hermann Königer in wider¬
ruflicher Weise übertragen.
Heidelberg. Zum Direktor der medizinischen Poliklinik ist
Geh. Hofrat E 1 e i n e r - Heidelberg ernannt worden.
Leipzig. Mit einer Probevorlesung über das Thema „Die
neueren Anschauungen über die Phagozytose“ führte sich Dr. med.
Max Lo eh lein, bakteriologischer Assistent bei Professor Mar¬
ch a n d, am pathologischen Institut in der medizinischen Fakultät
der hiesigen Universität als Privatdozent ein. (hc.)
Rostock. Amtlich wird die Ernennung des a. o. Professors
Dr. med. Otto S a r w e y in Tübingen zum ordentlichen Professor
für Geburtshilfe und Gynäkologie an der Universität Rostock als
Nachfolger von Professor Dr. Friedrich Schatz bestätigt, (hc.)
Strassburg. Der hiesige ordentliche Professor für innere
Medizin und Direktor der Medizinischen Klinik Dr. v. K r e h 1, hat
einen Ruf an die Universität Heidelberg als Nachfolger des in den
R_uhestand tretenden Geheimrats E r b erhalten. — Am Samstag, den
27. Oktober, fand die feierliche Einweihung ides neu erbauten pharma¬
zeutischen Instituts der Universität statt. — Der bisherige Privatdozent
für Augenheilkunde an der Universität Marburg Dr. Martin Bar¬
tels ist in gleicher Eigenschaft an die hiesige Universität über¬
gesiedelt.
Krakau. Dr. L. M a r c h 1 e w s k i wurde zum ordentlichen
Professor der medizinischen Chemie ernannt.
Warschau. Der ausserordentliche Professor der Chirurgie
Dr. M. J scherniakhowsky wurde zum ordentlichen Professor
ernannt.
Niederlassung: Dr. Hans Leh recke (bis 1. März 1906
Herzogi. Sächs. Amtsphysikus zu Königsberg i. Fr.) zu Schmachten¬
berg, Bez.-Amt Hassfurt. Dr. Franz Wiest in Lenggries.
Verzogen: Dr. Wolfgang Kaspar als Bahnarzt von Würz¬
burg nach München.
Erledigt: Die Landgerichtsarztstelle in Zweibrücken, mit
welcher bis auf weiteres die Funktion des Bezirksarztes beim Be¬
zirksamte Zweibrücken verbunden ist. Bewerber um dieselbe haben
ihre vorschriftsmässig belegten Gesuche bei der ihnen Vorgesetzten
Kgl. Regierung, Kammer des Innern, bis zum 10. November 1. Js.
einzureichen.
Gestorben: Kgl. Bezirksarzt Dr. Rott zu Marktheidenfeld.
Dr. Franz Xaver Haas, prakt. und Augenarzt in Augsburg, im
52. Lebensjahr.
Korrespondenz.
Die Ursachen des Krebses und der Geschwülste.
In No. 42 dieser Wochenschrift schreibt Herr Privatdozent
Dr. Fischer in Bonn über die experimentelle Erzeugung atypischer
Epithelwucherungen und die Entstehung bösartiger Geschwülste und
spricht davon, dass seine experimentellen Ergebnisse auf eine
ganz neue und eigenartige Auffassung des Entstehens und
des Wachstums bösartiger Geschwülste hinweisen. In derselben
Nummer der Wochenschrift ist unter „Tagesgeschichtliche Notizen“
noch besonders darauf hingewiesen, dass Herr Fischer seine Er¬
gebnisse in sehr geistreicher Weise zur Aufstellung einer neuen
Iheorie über Wesen und Wachstum maligner Geschwülste benutzt.
Ich bemerke hierzu, dass dieselbe Theorie bis in alle wesent¬
lichen Einzelheiten von mir auf Grund histologischer Untersuchungen
beginnender Hautkarzinome bereits im Jahre 1904 aufgestellt und in
meiner Monographie „Die Ursachen des Krebses und der Geschwülste
im allgemeinen" (erschienen bei Gose und Tetzlaff in Berlin)
niedergelegt worden ist. Mit der eingehenden Beweisführung dieser
Theorie, die, wie ich mich überzeugen musste, nur an der Hand einer
noch grösseren Zahl von Abbildungen möglich ist, bin ich seit über
einem Jahre beschäftigt, wie aus dem Referat dieser Wochenschrift
(No. 41) über meinen auf der internationalen Konferenz für Krebs¬
forschung in Frankfurt a. M. gehaltenen Vortrag mit Demonstration
einer Reihe fertiger Zeichnungen hervorgeht.
Er erscheint sonderbar, dass Herr Fischer nicht einmal meinen
Namen nennt; dass ihm meine Monographie nicht zu Gesicht ge¬
kommen ist, ist nicht anzunehmen, da sein Chef, Herr Prof. R i b b e r t,
in einer kleinen Abhandlung „Die Entstehung des Karzinoms“ (Bonn
1905), deren II. Auflage Herr Fischer sogar zitiert, scharf über
meine Theorie herfährt. Die Ergebnisse des Herrn Fischer kann
ich deshalb nur als einen interessanten Beitrag zur Stütze meiner
bereits vor 2 Jahren aufgestellten neuen Geschwulsttheorie ansehen.
Dieser Beitrag gereicht mir allerdings um so mehr zur Genugtuung,
als er aus einem Institut hervorgeht, von dem ich annehmen musste^
dass es die krasseste Ablehnung meiner Darlegungen und Behaup¬
tungen vertritt.
(Todesfälle.)
Prof. Dr. Friedrich Hesse, Direktor des zahnärztlichen Instituts
der Universität Leipzig, hat, wie wir mit Bedauern hören, am 22 ds
seinem Leben freiwillig ein Ziel gesetzt. Ursprünglich Anatom, wandte
Hesse sich später der Zahnheilkunde zu und habilitierte sich 1878
ihr dieses Fach an der Universität Leipzig. Er war wohl einer der
ersten Vertreter dieses Faches an deutschen Universitäten. 1884
wurde er zum ausserordentlichen Professor und zum Direktor des
zahnärztlichen Instituts ernannt. Als solcher hat er sich um die
Heranziehung gut ausgebildeter deutscher Zahnärzte und um die
Hebung des ganzen zahnärztlichen Standes unstreitig grosse Ver¬
dienste erworben. In Widerspruch zu den Aerzten setzte er sich
durch seine Stellungnahme zur Ausübung der Zahnheilkunde durch
zahnärztlich nicht approbierte Aerzte. Er bezeichnete solche Aerzte
als Kurpfuscher und wollte ihnen die Führung des Titels „Spezial-
arzt für Zahn- und Mundkrankheiten“ untersagt wissen. Die er-
i egte An, wie er diesen Kampf führte, gibt vielleicht eine Erklärung
im den unglückseligen Entschluss, dem er zum Opfer fiel. Hesse
stand im 56. Lebensjahr.
Am 2. Oktober starb Generaloberarzt Dr. Kr ocker in Berlin,
öl) Jahre alt. ein durch seine literarischen Leistungen hervorragender
preussischer Militärarzt. U. a. oblag ihm die Redaktion des Sanitäts-
n^O^l^Berlfn 1S84 Eeere ™ Kriege gegen Frankreich
Dr. G. Pugliatti, früher a. o. Professor der Experimental-
physiologie zu Messina.
Df- /• Y,- H o 1 s t, früher Professor der Geburtshilfe zu Dorpat.
r' K- 2a ]T ^ T Diofessor der Bakteriologie zu Rio de Janeiro.
I i. A. P. Fokker, I rofessor der Hygiene und Bakteriologie
an der med. Fakultät zu Groningen.
ui. o p u u e,
prakt. Arzt in Pr. Friedland, ehern. Assistent des
pathol. Instituts zu Halle a. S.
öebersicht der Sterberalle in München
während der 41. Jahreswoche vom 7. bis 13. Oktober 1906
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb -M ) 9 (11*)
Altersschw. (üb. 60 J.) 6 (9), Kindbettfieber 1 (— ), and Folgen der
Geburt Scharlach 1 (-), Masern u. Röteln - (-), Diphth u.
Krupp l 1 1 1, Keuchhusten 1 (2), Typhus — ( — ), übertragb. Tierkrankh.
(—)> Rose (Erysipel) ( ), and. Wundinfcktionskr. (einschl. Bluf¬
ft Eitervergift.) 2 (-) Tuberkul. d. Lungen 18 {26), Tuberkul. and.
Org. 8 (3) Miliartuberkul. — (1), Lungenentzünd. (Pneumon.) 10 (12),
Influenza — - ( ), and. übertragb. Krankh. 1 (3), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 4 *4), sonst. Krankh. derselb. 2 (1), organ. Herzleid. 16 (20),
sonst. Kr. d Kre.slaufsorg. (einschl. Herzschlag) I (3), Gehirnschlag
l (/)’, , Oeisteskrankh. 4 (— ), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 3(4), and.
SnlVhi' h hVenT?i6 MaSen u- Darm-Kat., Brechdurchfall
Rinr.hhfpi^bzehtr?ng) 2a i44)\ £ra,nkiV d- Leber 5 Krankheit, des
Bauchfells — (2), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 4 (1), Krankh. d.
H?™- U'h9Hescblecht^?r|- 3 (6)- Krebs (Karzinom, Kankroid) 13 (18),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 2 (2). Selbstmord 3 (-), Tod durch
fremde Hand — (— ), Unglücksfälle 2 (1), alle übrig. Krankh. 2 (2).
I.hr ,fnH fnno Fahl Sterbefdlle 133 (191), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 14,6 (18 4), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 10,3 (12,2).
) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verla* von j. F. Lehmann in München. - Druck von E. Mühlthalers Bucb~und Kunstdruckerci A.G.. München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
im Umfang von durchschnittlich 6—7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer 80 A- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
M 6.—. » Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren: Für die Redaktion Arnulf¬
strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 87a— 1 Uhr. • Für
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 15a. * Für
• Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16. *
Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
0. v. Anperer, Cli.Bänler, 0. v. Bollinger, H. Cursdimann, H. Bellerich, «l.v.Leube, G. Merkel, J. v. Michel, F.Penzolill, H. v. Ranke, B. Spatz, F. i Winckel,
München. Freiburg i. B.
München.
Leipzig.
Kiel.
Würzburg. Nürnberg.
Berlin.
Erlangen.
München. München.
München.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: .1. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 15a.
53. Jahrgang.
No 45. 6. November 1906.
Originalien.
lieber die M ö Iler- Barlo wsche Krankheit
(infantiler Skorbut).
Von E u g. Fraenkel.
M. H. ! Die Erkrankung, auf welche sich meine heutige Be¬
sprechung bezieht, ist uns erst verhältnismässig kurze Zeit be¬
kannt. Vor wenig mehr als 4 Dezennien beschrieb der Königs¬
berger Arzt Möller1) ein von ihm als akute Rachitis bezeich-
netes Krankheitsbild, das alle jene Symptome zeigte, welche
wir auch jetzt noch als für das gleich zu erörtende Leiden
pathognomonisch bezeichnen. Möller hat auch schon die, noch
jetzt eine grosse Rolle in vielen sich mit der Beleuchtung des
Wesens unserer Krankheit beschäftigenden Arbeiten spielende,
Erage nach den Beziehungen derselben zum Skorbut in den
Kreis seiner Betrachtungen gezogen, ist aber dabei zu dem
Ergebnis gekommen, dass eine Identifizierung beider abzu¬
lehnen sei. Man habe es vielmehr im Wesen mit einer Rachitis
zu tun, die die Erkrankung begleitenden Blutungen stellen eine
rein äusserliche Aehnlichkeit mit dem Skorbut dar. Zu der ent¬
gegengesetzten Ansicht gelangte mehr als 10 Jahre später der
Engländer J a 1 1 a n d, der annähernd zur selben Zeit wie der
Däne Ingerslev Beobachtungen mitteilte, welche sich kli¬
nisch mit den von Möller bekannt gegebenen deckten, aber
von ihm kurzweg als kindlicher Skorbut aufgefasst wurden.
Es liegt nicht in meiner Absicht, Ihnen hier einen vollen histo¬
rischen Ueberblick über die Entwickelung unserer Kenntnisse
hinsichtlich des uns beschäftigenden Leidens zu geben, ich ver¬
weise in dieser Beziehung vielmehr auf die auch sonst grund¬
legende Abhandlung von Schoedel und Nauwerck (Unter¬
suchungen über die Möller-Barlow sehe Krankheit 1900)
und wende mich, unter Uebergehung einer Reihe meist von
englischen Autoren über den Gegenstand herrührender Ar¬
beiten, welche sämtlich den J a 1 1 a n d sehen Standpunkt ver¬
treten, zu den Veröffentlichungen von B a r 1 o w, der in ver¬
schiedenen, bedeutungsvollen Publikationen einen dem ur¬
sprünglich Möller sehen entgegengesetzten Standpunkt ver¬
tritt, dass nämlich der Skorbut bei der in Rede stehenden Er¬
krankung die Hauptrolle spielt, während er der Rachitis nur
die Bedeutung eines prädisponierenden Moments zuerkannte.
Die Engländer und Amerikaner akzeptierten vollkommen die
Jalland-Barlow sehe Auffassung, während der bekannte
dänische Pädiater Hirsch sprung mehr die Möller sehe
Anschauung verfocht. Auch in Deutschland sind die Ansichten
bis in die Jetztzeit divergierend, insofern ein Teil der Autoren
die Erkrankung für eine eigene Form der Rachitis ansieht,
während andere sie für echten, nur durch das Auftreten im
frühesten Kindesalter ausgezeichneten, Skorbut erklären und
noch andere in ihr eine Kombination von Rachitis und Skorbut
erblicken.
Dieser Widerstreit der Meinungen erklärt sich aus dem
Umstand, dass bis zu den ersten bedeutungsvollen Publi¬
kationen B a r 1 o w s die Zahl der anatomisch untersuchten
Fälle eine sehr geringe war. Auch nach deren Erscheinen hat
0 Einer Angabe von Fr.ench zufolge soll Glisson schon
ini Jahre 1651 die Krankheit gut beschrieben und von der Rachitis
scharf getrennt haben.
No- 45.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
sich dieser Mangel an anatomischen Befunden sehr fühlbar ge¬
macht. Diese empfindliche Lücke ausgefüllt zu haben, ist das
Verdienst von Nägeli, von Schmorl, sowie namentlich
von Schoedel und Nauwerck. Die hier genannten Forscher
haben durch eingehende, grobanatomische, besonders aber, was
in den B a r 1 o w sehen Arbeiten vermisst wurde, durch er¬
schöpfende mikroskopische Untersuchungen zu einem wesent¬
lichen Fortschritt in der Erkenntnis der dem Leiden den
Stempel aufdrückenden, klinisch die Affektion in einer Mehr¬
zahl der Fälle charakterisierenden Knochenerkrankung geführt.
Ja, man darf dreist behaupten, dass hier das Mikroskop über¬
haupt erst Licht in ein bis dahin dunkles Gebiet gebracht und
die Entwicklung derjenigen Symptome, welche sich am
Knochensystem abspielen, und an diesem, wie Sie wissen, unter
Umständen zu sehr schweren, klinisch das Krankheitsbild bis
zu einem gewissen Grade beherrschenden Veränderungen An¬
lass geben, überhaupt erst verständlich gemacht hat. Sie
werden es unter diesen Umständen natürlich finden, wenn ich,
der Wichtigkeit des Gegenstandes entsprechend, Ihre Auf¬
merksamkeit für die Erörterung dieser Befunde nachher etwas
länger in Anspruch nehme. Ich bin dabei in der glücklichen
Lage, mich ausschliesslich an eigene Beobachtungen halten zu
können, indem ich Gelegenheit hatte, nahezu 20 Fälle von
Barlowscher Krankheit auf dem Leichentisch zu sehen und
mehr als ein Dutzend derselben eingehend anatomisch unter¬
suchen zu können. Das gesamte anatomische Material ent¬
stammt dem Eppendorfer Krankenhause; einen Teil der Kinder
konnte ich, dank dem Entgegenkommen meiner dortigen Kol¬
legen, bei Lebzeiten beobachten. Die grösste Zahl der Fälle,
nämlich 8, sah ich in dem Zeitraum zwischen Ende Mai und
Anfang November des Jahres 1903, 2 im Frühjahr 1904, 1 Fall
entstammt dem Jahre 1896, der Rest verteilt sich auf die zweite
Hälfte des Jahres 1904 (2 Fälle), auf das ganze Jahr 1905
(5 Fälle) und 1906 (1 Fall). In dem zwischen 1896 und 1903
liegenden Zeitraum von 7 Jahren habe ich nicht einen einzigen
letal verlaufenen Fall von Möller-Barlow scher Krankheit
zu Gesicht bekommen. Das Gros der Erkrankungen hat sich also
auf die knappe Dauer von 8 Monaten zusammengedrängt.
Diese Angaben beziehen sich auf den Zeitpunkt des Ablebens
der betr. Kinder und geben über den Termin des Ausbruchs
der Krankheit nicht ohne weiteres Aufschluss. In dieser Be¬
ziehung bin ich an der Hand meines Materials zu Ergebnissen
gelangt, welche sich mit denen des Kopenhagener Pädiaters
Hirschsprung decken, wonach der Ausbruch des Leidens
am häufigsten in der kälteren Jahreszeit stattfindet. Nach
Heubner, der in Deutschland wohl das grösste Material von
an Barlowscher Krankheit leidenden Kindern zu be¬
obachten Gelegenheit hatte, sollen dagegen die weitaus zahl¬
reichsten Fälle im späten Frühjahr Vorkommen. Möglicher¬
weise herrschen in dieser Hinsicht regionäre Verschiedenheiten.
Was das Geschlecht anlangt, so macht sich in meinem Material
eine wesentliche Präponderanz des einen über das andere nicht
bemerkbar. Heubner macht im Gegensatz hierzu auf ein
nicht unerhebliches Ueberwiegen des männlichen Geschlechtes
über das weibliche aufmerksam. Hinsichtlich des Alters der
Kinder ist es wichtig, von dem Zeitpunkte des Ausbruchs der
Krankheit, soweit dieser feststellbar ist, an zu rechnen; man
gelangt dann zu ganz anderen Ergebnissen, als wenn man erst
den Zeitpunkt, zu welchem die Kinder gewöhnlich in ärztliche
T
186 MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ No. 45.
Behandlung kommen, berücksichtigt. Unter meinem eigenen
Material befanden sich bei diesem Modus der Betrachtung
*/ 3 der Kinder vor und nur ^ nach dem Ende des 1. Lebens¬
jahres; von den letzteren waren 3 zwischen 16. und 19. Lebens¬
monat, eines jenseits des 5. Lebensjahres. Die Angaben von
Hirschsprung, dass sich die Krankheit auf das Alter von
6 bis 24 Monaten beschränkt, bedarf hinsichtlich beider Grenzen
der Korrektur, indem sich unter meinen Fällen mehrere Kinder
zwischen 3. und 4. Lebensmonat, ja 1 derselben (Sektion
No. 1525/06) am Ende des 2. Lebensmonats befanden, und
dass andererseits auch Kinder, welche das 2. Lebensjahr hinter
sich haben, befallen werden, ein Ereignis, das freilich zu den
extremen Ausnahmefällen zu gehören scheint. B a r 1 o w
selbst gibt als unterste Altersgrenze den zurückgelegten
4. Lebensmonat an 2).
Die grösste Mehrzahl der Autoren, welche zahlreiche Fälle
von Möller-Barlow scher Krankheit behandelt haben, an
der Spitze B a r 1 o w selbst, bekunden das Auftreten der Krank¬
heit „in den besser situierten Kreisen der Mittelklassen“
(H e u b n e r). Aehnlich äussert sich B a g i n s k y. Dem ge¬
genüber erklärt Hirschsprung, „dass die häuslichen Ver¬
hältnisse, aus denen die von der Krankheit ergriffenen Kinder
stammen, meist sehr bescheiden sind“, gibt aber andererseits
zu, dass es nicht an Beispielen scheinbar günstiger Verhältnisse
fehlt.“ Meine eigenen, hauptsächlich im Krankenhaus gesam¬
melten, Beobachtungen würden zunächst zu Gunsten der An¬
sicht sprechen, dass es durchweg aus ärmlichen Verhältnissen
stammende Kinder sind, welche von der Möller-Barlo w-
schen Krankheit befallen werden, denn die im Hospital zur Auf¬
nahme gelangenden Kinder gehören fast ausnahmslos den, sich
in ungünstigen materiellen Verhältnissen befindenden, Bevölke¬
rungsklassen an. Tatsächlich liegen aber die Dinge anders.
Bei einem Teil meiner Fälle ist nämlich die Krankheit während
des Hospitalaufenthaltes der Kinder zum Ausbruch gekommen,
d. h. zu einer Zeit, als die Kinder in Bezug auf Verpflegung
und Ernährung unter Bedingungen standen, wie sie bei Kindern
der besseren Stände angetroffen zu werden pflegen. Ein an¬
derer Teil der Kinder war freilich schon beim Eintritt ins
Krankenhaus mit dem Leiden behaftet und man darf demnach
Hirschsprung beipflichten, dass die Möller-Barlowsche
Krankheit auch bei Kindern der ärmeren Bevölkerungsklassen
nicht ganz selten vorkommt. Auf der anderen Seite kann eine
gewisse Bevorzugung von Kindern aus besser situierten Kreisen
hinsichtlich des Auftretens der Möller-Barlow sehen
Krankheit nicht in Abrede gestellt werden.
Ich wende mich nunmehr zur Erörterung der Diagnose
des Leidens. Nach den mir in unerwarteter Fülle zuge¬
strömten, durch die anatomische Kontrolle besonders wertvoll
gewordenen, Material kann ich die klinische Erkennung der
Möller-Barlow sehen Krankheit nicht für so leicht halten,
wie es vielfach hingestellt wird. Ich sehe dabei ab von sogen.
Schulfällen mit der als klassisch anzusehenden Symptomen-
trias, wie sie in dem Auftreten von Blutungen, spez. am
Zahnfleisch, in dem Bestehen mehr oder minder lebhafter
Schmerzen bei mit den Kindern vor genomme¬
nen Bewegungen und endlich in dem Vorhandsein von,
meist auf die unteren Extremitäten beschränk¬
ten, oder wenigstens diese zuerst befalle n-
d e n, Anschwellungen der Gelenkgegenden,
besonders an den Knien, bei Freibleiben der Ge¬
lenke, gegeben ist. Diese Fälle bilden sicher nicht die Regel,
und ich habe sogar bei einem Teil der zur Sektion gekommenen
Fälle nichts von Anschwellungen der Extremitäten durch die
Haut wahrnehmen können. Vielmehr fehlen solche entweder
überhaupt oder traten erst nach völliger Entfernung der be¬
deckenden Weichteile in die Erscheinung. Auch B a g i n s k y
scheint ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben, und zwar am
Krankenbett. Auch er ist der Ansicht, „dass man nicht not¬
wendig gerade auf die Knochen zu achten habe. Die Schmer¬
zen sind nicht das allein Charakteristische. . . . Das tiefbleiche
Aussehen der Kinder, das allgemeine Uebelbefinden bei zeit-
') Man vergleiche hinsichtlich der vorstehenden Angaben den
Aufsatz von H. Rehn „über kindlichen Skorbut“. Med. Klinik
No. 28, 1906.
weiligem Fieber ohne nachweisbare Ursache leitet sofort zur
Diagnose, zu einer Zeit, wo die subperiostalen Blutungen noch
gar nicht vorhanden sind“. Das Auftreten sicht- und fühlbarer,
mit Deformierung der betr. Extremitäten verbundener An¬
schwellungen, die auf subperiostale Blutungen zurückzuführen
sind, setzt ja eine gewisse Mächtigkeit dieser Ergüsse voraus,
und solche können, wie ich mich anatomisch oft genug über¬
zeugen konnte, bis zum Tode der Kinder fehlen. Ich habe
überhaupt nur 4 mal gewaltige, das Schienbein bezw. den Ober¬
schenkel mantelartig einhüllende, Extravasate beobachtet. In
allen anderen Fällen fehlten solche hämorrhagische Ergüsse,
oder man hatte es nur mit dünnen, flächenhaften, blutigen In¬
filtrationen des Periostes zu tun, welche sich, selbst an dem von
Haut befreiten Präparat, dem tastenden Finger in keiner Weise
bemerkbar machten. Nur bei 3 von meinen Fällen war es
klinisch möglich, Auftreibungen an den unteren Extremitäten
wahrzunehmen, am grossartigsten bei jenem erst in seinem
6. Lebensjahre erkrankten und nach fast einjähriger Krankheits-
dauer verstorbenem Knaben; bei 4 Kindern wurde Druckemp¬
findlichkeit eines oder beider Beine bei Bewegungen kon¬
statiert. Auch S c h o e d e 1 und Nauwerck haben bei einem
ihrer 5 Fälle Auftreibungen an den Röhrenknochen vermisst.
Man kann also keinesfalls Hirschsprung darin beipflichten,
dass „da, wo von Möller-Barlow scher Krankheit die
Rede sein soll — abortive Fälle ausgenommen — die In-
tumeszenz nicht vermisst werden darf“. Wer diese Ansicht
als massgebend anerkennt, wird unter allen Umständen in einer
Anzahl von Fällen die Möller-Barlow sehe Krankheit
ausschliessen, wo sie tatsächlich besteht.
Wie verhält es sich nun mit den anderen, am Krankenbett
wahrnehmbaren und für die Möller-Barlow sehe Krank¬
heit als charakteristisch bezeichneten Symptomen, vor allem
den Blutungen an der Haut und besonders am Zahnfleisch?
Bezüglich der letzteren ist bekannt, dass sie nur bei Kindern
angetroffen werden, die bereits Zähne haben. Ihr Fehlen bei
zahnlosen Kindern spricht also durchaus nicht gegen Möller-
Barlow sehe Krankheit. Aber auch bei Kindern mit Zähnen
brauchen sie, wenigstens nicht in allen Stadien der Krankheit,
vorhanden zu sein, ja sie können selbst bei schweren, mit dem
Tode endenden, Fällen dauernd fehlen. Es gehört also dieses
Symptom nicht zu den konstanten. Immerhin ist es, wie ich
neben eigenen klinischen Wahrnehmungen, auch gestützt auf
mein anatomisches Material, behaupten darf, häufiger als die,
wenn vorhanden, so bedeutungsvollen Anschwellungen, spez.
der unteren Extremitäten. Ich bin zu diesem Urteil durch die
Beobachtung gekommen, dass ich bei den Leichenuntersuchun¬
gen den in Rede stehenden Befund auch dann erheben konnte,
wenn die Krankengeschichten nichts von Zahnfleischblutungen
erwähnten. Für solche Fälle muss man annehmen, dass die
betr. Blutaustritte erst kurz vor dem Tode erfolgt sind. Jeden¬
falls ist es ausserordentlich wichtig, die Mundhöhle von in
dem Verdacht der M ö 1 1 e r - B a r 1 o w sehen Krankheit
stehenden Kindern täglich eingehend zu inspizieren. Bisweilen
kommt es übrigens zu mächtigeren Blutergüssen am Ober- oder
Unterkiefer, die dann event. zu diagnostischen Irrtümern An¬
lass geben können. Schwerere Stomatitiden pflegen sich aber
auch dann, und erst recht nicht bei den lediglich in das Zahn¬
fleisch gesetzten Blutungen, nicht einzustellen. Ich befinde mich
in dieser Angabe ganz in Uebereinstimmung mit Heubner
und weiche von B a r 1 o w ab, demzufolge, namentlich wenn
bereits mehrere Zähne vorhanden sind, bedeutende Erkran¬
kungen des Zahnfleisches auftreten können.
Sehr viel seltener als diese, in der Mundhöhle lokali¬
sierten, Blutungen trifft man solche an anderen
Schlei mhäutenund ander Hautdecke. Sie können
an allen Bezirken der Körperhaut auftreten, selbst im Bereich
des behaarten Kopfes. Bei der Mühelosigkeit der Betrachtung
(Jer Körperoberfläche dürften sie dem aufmerksamen Be¬
obachter kaum je entgehen. Sie können beiläufig, ebenso wie
die Zahnfleischblutungen, wieder verschwinden, um, wenn sich
der Zustand der betr. Kinder nicht bessert, erneut an den
gleichen oder anderen Stellen zu erscheinen. Bisweilen eta¬
blieren sie sich, ähnlich wie die Mundschleimhautblutungen, erst
sub finem. Unter den am Kopf wahrnehmbaren Blutungen ver-
ft, November 1906. _ _ MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
dienen eine besondere Erwähnung die sich am
Augeabspielenden. Sie können liier sowohl die Lider
als die K o n j u n k t i v a und die N e t z h a u t betreffen ilnd sie
können sich endlich hinter de m Augapfel entwickeln
und dann zu einem, meinen Erfahrungen nach seltenen Sym¬
ptom, nämlich einem mehr oder weniger hochgradigen Ex¬
ophthalmus Anlass geben. Ich habe einen solchen nur ein¬
mal beobachtet. Hier hatte sich innerhalb weniger Stunden eine
mächtige Protrusio bulbi mit Suffusion der oberen Augenlider
entwickelt, Veränderungen, die sich schliesslich so zurückbil¬
deten, dass, bei dem 9 Wochen danach erfolgten Ableben des
Kindes, an den Augen nichts auffälliges bei der äusseren Be¬
sichtigung zu entdecken war. Nichts desto weniger gelang es,
bei der Sektion sehr interessanten Aufschluss über die dem
Exophthalmus wahrscheinlich zu gründe liegenden anatomi¬
schen Verhältnisse zu gewinnen. Auch an den Augenlidern
kann es durch Extravasate zu sehr prallen Anschwellungen
kommen, während die Blutungen an der Bindehaut und erst
recht an der Netzhaut grösseren Umfang nicht anzunehmen
pflegen. Von Schleimhäuten, welche sonst noch den
Sitz von Blutungen im Verlauf der Möller-Barlow sehen
Krankheit abgeben können, erwähne ich die des Darmes.
Sie verraten sich am Krankenbett bisweilen durch das Auftreten
von blutigen Beimengungen zum Stuhl. Im ganzen sind sie
nicht häufig. Ich selbst habe nur einmal über grössere Strecken
ausgebreitete Sugillationen der Ileumschleimhaut gesehen.
Ueber einigen derselben war es zur Nekrose der obersten
Mukosaschichten gekommen.
Eine sehr viel grössere klinische Bedeutung kommt der
Ausscheidung blutigen Urins zu. Sie stellt, wie
schon B a r 1 o w betont hat, bisweilen dieeinzigeEr-
scheinung der Möller - Barlowschen Krank-
h e i t dar. Ihre richtige Bewertung seitens des Arztes ist von
grösster Wichtigkeit, da sie die Diagnose auf die richtige Fährte
zu leiten und den Ausgangspunkt für die Einleitung einer sach-
gemässen Therapie abzugeben berufen ist. Ich selbst habe
dieses Symptom bei 3 Kindern gesehen, einmal als alleiniges
bei einem damals 8 monatlichen, mit Gärtner scher Fettmilch
ernährten, den besten Ständen angehörigen, sehr blassen, voll¬
kommen genesenen Knaben, einmal bei einem, schliesslich einer
akuten Pneumonie erlegenen, gleichfalls 8 Monate alten Knaben,
das dritte Mal endlich bei dem mit Exophthalmus behaftet ge¬
wesenen, schliesslich zur Sektion gelangten Mädchen. Ich
teile die Auffassung der Autoren, dass es sich in solchen Fällen
um hämorrhagische Nierenentzündungen handelt, durchaus
nicht. Vielmehr ist in allen diesen Fällen die Hämaturie
lediglich als Ausdruck einer hämorrhagi¬
schen, auch die Niere mitbetreffenden Dia-
these anzusehen. Bei dieser Behauptung stütze ich mich
auf meine am Leichentisch angestellten Untersuchungen, welche
mich darüber belehrt haben, dass an den Nieren der betr.
Kinder nicht die geringsten, auf eine entzündliche Parenchym¬
erkrankung hinweisenden Befunde zu erheben sind. Man findet
nichts als eine geringe Trübung des Epithels und frische Blu¬
tungen in die gewundenen oder geraden Harnkanälchen. Ent¬
sprechend waren auch die Ergebnisse der Untersuchung des
Urins in meinen Fällen. Mit dieser Auffassung stimmt auch
das rasche Schwinden des Blutes aus dem Urin überein, wenn
unter entsprechender Diät sich das sonstige Allgemeinbefinden
bessert. Jedenfalls ist das Auftreten von Hämaturie im Ver¬
lauf der Möller-Barlow sehen Krankheit, mag es nun
das einzige oder begleitendes Symptom neben den anderen,
vorhin erörterten vorstellen, durchaus nicht dazu angetan, die
Prognose wesentlich zu trüben.
. Als eine sehr wichtige klinische Erscheinung heben die
meisten Autoren eine auffallende Blässe der an Möl¬
ler-Barlow scher Krankheit leidenden Kinder hervor, und
ich kann diese Angabe nur bestätigen. Senator ist geneigt,
diese Erscheinung mit einer primären, als apiastische Um¬
wandlung bezeichneten, Erkrankung des Knochenmarks in Ver¬
bindung zu bringen. Meine eigenen Erfahrungen sprechen
gegen diese Annahme Senators. In den spärlichen Fällen,
m denen ich Gelegenheit hatte, an Möller-Barlow scher
Krankheit leidenden Kindern entnommenes Blut zu untersuchen
2187
— Senator stützt sich auf die Untersuchung eines einzigen
FaHes — konnte ich immer nur den Befund einer einfachen
Anämie erheben, eine mehr oder weniger ausgesprochene
Poikilozytose und die Anwesenheit meist nicht sehr zahlreicher,
kernhaltiger roter Elemente von normo- und megaloblastischem
Typus. Die weissen Elemente erschienen qualitativ und quan¬
titativ durchaus unverändert. Einstweilen verfügen wir _ auch
F r e und in Stettin hat das jüngst bestätigt — über ein für die
Möller-Barlow sehe Krankheit charakteristisches Blutbild
nicht, und mit einer apiastischen Umwandlung des Knochen¬
marks, wie Senator angenommen hat, hat die Möller-
Barlow sehe Krankheit nichts zu tun. Ich komme bei der
Besprechung der pathologisch-anatomischen Knochenmarksbe¬
funde auf diesen Punkt noch zurück und verlasse nunmehr das
Kapitel der klinischen Diagnose, indem ich mich dahin re¬
sümiere, dass den durch die klassische Symptomen-
trias, Zahnfleischblutungen Schmerzhaftig¬
keit bei Bewegungen, Auftreibung und De¬
formierung der Röhrenknochen besonders
der unteren Extremitäten gekennzeichneten
Fällen eine nicht geringe Anzahl anderer ge¬
genübersteht, welche eins oder das andere
dieser, in ihrer Gesamtheit als pathognomo-
nisch anzusehenden Merkmale vermissen
lassen und bei denen es neben der, als klinisch
wichtigan zusehenden, BlässeStörunge n mehr
allgemeiner Art, Abnahme der Esslust, Abnei¬
gung gegen aktive und passive Bewegungen,
das Auftreten kurzdauernder Temperatur¬
steigerungen sind, welche bei dem Arzt die Vermutung
des Ausbruchs der M ö 1 1 e r - B a r 1 o w sehen Krankheit er¬
wecken und diese zur Gewissheit erheben, sobald sich eines
dei oben genannten Symptome hinzugesellt. Wer prinzipiell
bei kranken Kindern, sie mögen noch zahnlos oder schon im
Besitze von Zähnen sein, regelmässig die Mundhöhle, speziell
mit Rücksicht auf Beschaffenheit etwaiger Blutungen und das
Skelett auf Druckempfindlichkeit und die sonstige Beschaffen¬
heit der Röhrenknochen und der Rippen untersucht, der wird,
wenn er eingedenk der H e u b n e r sehen Mahnung, immer an
die Möglichkeit des Vorhandenseins derMöller-Barlow-
schen Krankheit denkt, meist schon den Beginn der M ö 1 1 e r -
B a r 1 o w sehen Krankheit und erst recht das entwickelte
Krankheitsbild erkennen und damit in der Lage sein, recht¬
zeitig die geeignete Behandlung dieses, den kindlichen Organis¬
mus sonst arg gefährdenden, Leidens einzuleiten.
Im Gegensatz zu den, wie ich dargelegt zu haben glaube,
bisweilen nicht geringen Schwierigkeiten der klinischen Er¬
kennung der Möller- Barlowschen Krankheit, ist ihre
anatomische Diagnose meist leicht. Die der ganzen
Krankheit ihren Stempel aufdrückende Skeletterkrankung,
wie sie namentlich an den Rippen und an den Extremitäten¬
knochen in die Erscheinung tritt, ist im wesentlichen auf eine
bestimmte, sich vor allem an der Knorpelknochengrenze ab¬
spielende Affektion des Knochenmarks zurückzuführen, welche
darin besteht, dass an den bezeichneten Stellen aus dem sonst
hier vorhandenen zellreichen lymphoiden Mark ein, an zelligen
Elementen armes, aus einer homogenen Grundsubstanz und
mehi oder weniger reichlichen, spindel- oder sternförmigen
Zellen bestehendes, meist nur spärliche Gefässe enthaltendes,
von S c h o e d e 1 und N a u w e r c k als Gerüstmark bezeichne-
tes, Gewebe tritt. Aus dieser eigentümlichen Umwandlung des
Knochenmarks und dem, damit im Zusammenhang stehenden
Fortfall der, die Anbildung jungen Knochens bedingenden, als
Osteoblasten bekannten Zellen, bei fortbestehender normaler,
ausnahmsweise über das Mass des Gewöhnlichen hinaus¬
reichender, Knochenresorption erklärt es sich, dass die an den
Wachstumsgrenzen entstehenden, die jüngsten Diaphysen-
abschnitte darstellenden Knochenbälkchen hinter der, diesen
Trabekeln normalerweise zukommenden, Dicke Zurückbleiben
und damit selbstverständlich eine erhebliche Einbusse an
Festigkeit ei fahren. In gleicher Weise wird eine Verdünnung
der Kortikalis im Bereich der den Epiphysen benachbarten Dia-
physenabschnitte herbeigeführt, wodurch die Widerstands¬
fähigkeit des Knochenschaftes in diesem Bezirk aufs äusserste
1*
-8
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
herabgesetzt wird. Dazu kommt, dass, sowohl in der Zone
der ersten Rnochenbälkchen als auch weiter in die Diaphyse
hinein, in ungewohnter Ausdehnung kalkhaltiges Material vor¬
handen ist, weil ^,die den Ueberschuss zerstörende Fähigkeit
des Knochenmarks der vorläufigen Verkalkungszone gegenüber
hinter der Norm zurückbleibt“. Daraus resultiert dann ein
mit dünner, vielfach unterbrochener Kortikalis und durch hoch¬
gradige Armut an, noch dazu stark verschmächtigten, Trabe-
keln ausgezeichnetes, Schaftende und gleichzeitig ein, wegen
der geschilderten Persistenz zahlreicher Kalkbälkchen, auch
abnorm brüchiger Knochen, der selbst den leichtesten Traumen,
ja der physiologischen Wirkung des Muskelzuges gegenüber
sich haltlos erweist und demzufolge eine Reihe schwerster
Veränderungen erleidet, die sich als Infraktionen, Frakturen
und, an den Rippen, als Einkeilung des Knorpels in die knö¬
cherne Rippe oder als Verschiebung der letzteren gegen die
ersteren, mit Einsinken des Sternums, präsentieren. Diese,
durch die histologische Untersuchung bei jedem Fall von
Moeller-Barlow scher Krankheit unschwer festzustellen¬
den, Veränderungen machen die, klinisch am Knochensystem
bei dieser Erkrankung zu beobachtenden, Erscheinungen ohne
weiteres verständlich. Der im Bereich der jüngsten Diaphysen-
bälkchen erfolgende Zusammenbruch des Knochens ist es, wel¬
cher die am Krankenbett festzustellende Druckempfindlichkeit
an dieser Stelle, die im weiteren Verlauf unter Umständen hier
auftretenden Auftreibungen und sonstigen Deformierungen un¬
gezwungen erklärt. Erfolgt ein solcher Zusammenbruch plötz¬
lich, so kann es zu grösseren, weit über die Epiphysengrenze
hinausgehenden, mitunter den ganzen Schaft einhüllende Blu¬
tungen kommen, die sich klinisch bei der Palpation als pralle,
das Gefühl einer tiefen Fluktuation vortäuschende, Anschwel¬
lung bemerkbar machen. Aber diese Blutungen brauchen
keineswegs immer besondere Mächtigkeit zu erlangen und oft
genug steht die Geringfügigkeit des Extravasats in einem auf¬
fallenden Missverhältniss zu der Schwere der Knochenverände¬
rung. Ich betone ausdrücklich, dass diese zwischen Periost
und Knochen gesetzten, zumTeil auch das Periost infiltrierenden,
Blutungen, so gross ihre klinische Bedeutung ist, nicht das
Wesentliche der die Möller-Barlow sehe Krankheit be¬
gleitenden Knochenerkrankung darstellen und nicht den Grad¬
messer für die Schwere der Knochenerkrankung, vor allem
nicht den Ausdruck einer an solchen Knochen entstandenen
Kontinuitätstrennung, abgeben. Am häufigsten begegnet man
diesen, sich makroskopisch als spindlige oder kuglige Auftrei¬
bung der Knorpelknochengegend markierenden, Verdickungen
an den Rippen, an denen dann, da meist eine grössere Zahl von
Rippen betroffen ist, das Bild des Rosenkranzes entsteht, wel¬
ches für den klinischen Beobachter, zumal wenn gleichzeitig
andere, diese Auffassung stützende, Erscheinungen vorhanden
sind, zur Diagnose Rachitis Veranlassung geben können. In
besonders schweren Fällen kann sich ein Befund an den Rippen
herausbilden, der darin besteht, dass die knorpeligen Rippen¬
enden mit dem Sternum nach rückwärts sinken, wodurch die
knöchernen über die knorpligen Rippen als die Haut etwas vor¬
wölbende Unebenheiten sicht-, und noch besser fühlbar werden.
Es handelt sich dabei, wie bereits erwähnt, um den Effekt einer
Verschiebung zwischen knorpliger und knöcherner Rippe, die
auf eine Lockerung des Zusammenhanges der, die jüngsten
Zonen der Rippendiaphyse zusammensetzenden, Bälkchen-
systeme zurückzuführen ist. Ich habe diesen Befund nur zwei¬
mal erhoben. Bei einem der Fälle hatte sich, Hand in Hand mit
dieser Deformität, eine Erscheinung eingestellt, deren Kennt¬
nis ich für ausserordentlich wichtig halte. Bei jeder Inspiration
sank das Brustbein ein und es entstand dadurch der Eindruck
inspiratorischer Einziehungen, welche den Verdacht eines, in
den oberen Atemwegen gelegenen, Hindernisses erweckten.
Eine ähnliche Beobachtung hat auch Schmorl gemacht. Sehr
treffend schildert schon Barlowj dessen scharfer Beobach¬
tung solche Befunde nicht entgangen waren, dieselben in fol¬
gender Weise: ,,Das Sternum nämlich, die angrenzenden Knor¬
pel und die dazu gehörigen Rippenenden erscheinen nach hin¬
ten eingesunken, gleichsam als ob sie von vorn her durch einen
Stoss zerbrochen und nach hinten getrieben waren.“ Die be¬
sprochenen, in der eben erörterten schweren Form freilich nur
ganz ausnahmsweise, in geringerem Grade dagegen, meinen
Erfahrungen nach, mit grosser Konstanz an den Rippen anzu¬
treffenden, Veränderungen machen es verständlich, dass solche
Kinder auch an ihrem Brustkorb recht empfindlich gegen Be¬
rührungen und mit ihnen vorgenommene Lageveränderungen
sein müssen. Das, gemeinhin zu gunsten einer etwaigen Rachi¬
tis gedeutete, Symptom der stärkeren Empfindlichkeit des Tho¬
rax ist demnach differentialdiagnostisch nicht zu verwerten.
Im Gegenteil, nach den Beobachtungen von B a r 1 o w, von
S c h o e d c 1 und Nauwerck, von Schmorl und nach
meinen eigenen, sich auf ein grosses anatomisches Material
stützenden Ergebnissen ist die Erkrankung speziell
der Rippen an der Knorpelknochengrenze als
zum Krankheitsbild der Möller-Barlowschen
Krankheit gehörig anzusehen. Bei der für Auge und
Finger gleich bequemen Zugänglichkeit dieser Skeletteile ist
ihrer Untersuchung besondere Sorgfalt zuzuwenden.
Nächst den Rippen sind es die unteren Extremi¬
täten, an deren Diaphysenenden sich entsprechende Verände¬
rungen finden. Unter 14, auf ihr Knochensystem genauer unter¬
suchten, Fällen meines Materials haben sich nur 4 frei von
schwereren Veränderungen der Röhrenknochen erwiesen, in¬
sofern es hier nicht zu stärkeren, auf eine Lockerung des Zu¬
sammenhangs der jüngsten Diaphysenabschnitte zurückzu¬
führenden, Deformationen gekommen ist. Wohl aber boten sie
die charakteristischen Markveränderungen, und zwar entweder
in der ganzen Dicke des Schafts oder nur herdweise im Bereich
der Erkrankung. In 6 von diesen Fällen waren, ausser den
Knochen der unteren, auch die der oberen Extremitäten, einmal
die Vorderarmknochen sogar ausserordentlich schwer, er¬
krankt. Es brauchen dabei die oberen und unteren
Diaphysenenden solcher Knochen nicht
immer gleich stark ergriffen zu sein, sondern es
ist in dieser Beziehung ein durchaus wechselndes, nichts weni¬
ger als gesetzmässiges Verhalten zu konstatieren, wenngleich
ei n ege wissePrädilektionder distalen gegen¬
über den proximalen Diaphysenenden zu be¬
stehen scheint. In manchen Fällen fehlten dabei, trotz hoch¬
gradiger Verdünnung der Rinde und trotz extremer Redu¬
zierung der Trabekelsysteme, Infraktionen oder Frakturen an
den so widerstandunfähigen Diaphysenabschnitten, eine Er¬
scheinung, die vielleicht darin ihre Erklärung findet, dass bis¬
weilen vom Periost aus zierliche Balkenwerke von, senkrecht
zur Knochenachse gerichteten, Osteophyten entstehen. Auch
stärkere subperiostale Blutungen können dabei vollkommen
fehlen. Andrerseits beobachtet man zuweilen, an weit ab von
der Knorpelknochengrenze gelegenen Stellen, im Markzylinder
der eigentlichen Diaphyse umschriebene Extravasate, und es
kann demnach keinem Zweifel unterliegen, dass in diesen, am
Knochensystem anzutreffenden Blutungen ein von der charakte¬
ristischen Knochenerkrankung unabhängiges, aber zum Krank¬
heitsbild der Möller-Barlow sehen Krankheit gehöriges,
als Ausdruck der dieses Leiden begleitenden, hämorrhagischen
Diathese aufzufassendes, Symptom erblickt werden muss, das,
soweit die Knochen in Betracht kommen, in bezug auf seine
Intensität bis zu einem gewissen Grade von der sich am
Knochensystem abspielenden, bald langsam und allmählich,
bald stürmisch und plötzlich auftretenden, Kontinuitätsströ¬
mungen beeinflusst wird. Auch S c h o e d e 1 und Nau¬
werck geben zu, dass an den Diaphysenenden zustande
kommende Kontinuitätstrennungen intra- und subperiostale
Blutungen herbeizuführen und zu verstärken vermögen, aber
sie stellen, wie ich meine mit Recht, in Abrede, dass hierin die
einzige Ursache der Blutung zu erblicken ist. Ebenso nimmt
H e u b n e r davon Abstand, lediglich traumatische Momente
für die Blutungen verantwortlich zu machen und weist auf das
Fehlen solcher hämorrhagischer Prozesse am Knochen oder
Periost bei der syphilitischen Epiphysenlösung und bei rachi¬
tischen Infraktionen hin. Wir dürfen also i n j e n e n, a n ver¬
schiedenen Skeletteilen sichtbaren, Hänior-
rhagien nichts anderes als ein Zeichen der
fürdieMöller-BarlowscheKrankheitcharak-
teristischen hämorrhagischen Diathese er¬
blicken, die, wie an der Haut, am Zahnfleisch, an den Netz¬
häuten, auf der Schleimhaut des Darmes und im Gewebe der
Nieren, eben auch an den Knochen in die Erscheinung tritt.
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2189
Bezüglich der, an den Röhrenknochen im Be¬
reich der Epiphysen auftretenden, Verschie¬
bungen ist zu bemerken, dass man es, wie nach den ana¬
tomischen Auseinandersetzungen verständlich ist, de facto
nicht mit Epiphysenlösungen zu tun hat, sondern
mit Zusammenhangstrennungen in den, den Epiphysen benach¬
barten, Diaphysenschichten, also mit echten Knochen¬
fissuren, mit Infraktionen oder, falls der ganze Quer¬
schnitt des Schaftes beteiligt ist, mit Frakturen, die, nur
weil das kaum jemals einreissende Periost doch immer noch
eine gewisse Kontinuität des Knochens bedingt, nicht zu stär¬
keren Deformationen führen. Die am Periost auftretenden,
wesentlich dessen Kambiumschicht betreffenden, Verände¬
rungen meist proliferativer Art sind, wie ich in Uebereinstim-
mung mit Nauwerck und S c h o e d e 1 sowie mit
Schmorl anführe, inkonstant und gehören nicht zum eigent¬
lichen Bilde der M ö 1 1 e r - B a r 1 o w sehen Krankheit. Bar¬
lo w hatte in den Blutungen unter das Periost das Wesentliche
der Knochenerkrankung erblickt. Sie sollten zu Ernährungs¬
störungen des Knochens und zur Atrophie führen. Schmorl
hat demgegenüber betont, dass es an Stellen solcher Periost¬
blutungen sogar zur Knochenneubildung kommt und dass dem¬
nach in diesen Extravasaten unmöglich ein die Knochenneubil¬
dung hemmendes Moment gesucht werden kann. Uebrigens
treten, wie ich bei meinen Untersuchungen feststellen konnte,
solcheossifizierendePeriostitiden auch unabhängig von stärkeren
periostalen Hämorrhagien auf, sie stellen möglicherweise einen
kompensatorischen, auf eine Erhöhung der Widerstandsfähig¬
keit des, mit einer extrem trabekelarmen Spongiosa ausge¬
statteten, Diaphysenendes gerichteten, ,,in die Reihe der Hei¬
lungsprozesse im weiteren Sinne“ zu rechnenden Vorgang dar.
An dem eigentlichen Diaphysenschaft, d. h. an, weitab von
dessen epiphysären Teilen gelegenen, Abschnitten habe ich bei
keinem meiner Fälle eine Trennung des Zusammenhanges be¬
obachtet. Man muss also, darin stimmen alle Autoren überein,
ein derartiges Vorkommnis bei der M ö 1 1 e r - B a r 1 o w sehen
Krankheit mindestens als recht selten bezeichnen. Auch die, zu
dem erkrankten Knochen gehörigen, Gelenke erweisen sich,
wie von allen Beobachtern, in erster Linie von B a r I o w selbst,
festgestellt wurde, immer frei von organischen Veränderungen
und sind, man kann sagen ausnahmslos, frei von Ergüssen. Ich
selbst habe nur in dem, jenen grösseren (6 jährigen) Knaben
betreffenden Fall, bei dem die allerschwersten Zusammenhangs¬
trennungen an den unteren Extremitäten entstanden waren, im
rechten Knie- und Hüftgelenk geringe Mengen geronnenen
Blutes angetroffen. Sonst waren in allen meinen anatomisch
eingehend untersuchten Fällen die Gelenke regelmässig voll¬
kommen intakt.
(Schluss folgt.)
Aus der medizinischen Klinik zu Würzburg (Vorstand: Ge¬
heimrat v. Leub e).
lieber zeitweises gehäuftes Vorkommen von Endokarditis
bei Müskelrheumatismus.
Von Dr. A. B e c h t o 1 d, Oberarzt im Kgl- bayer. 18. Inf.-Reg.,
vormals kommandiert zur Klinik.
Der Muskelrheumatismus ist eine Krankheit, bei der die
Kenntnisse, die wir über ihr Wesen und ihre Aetiologie be¬
sitzen, in einem seltsamen Gegensatz stehen zu der Häufigkeit
der Fälle, in denen diese Diagnose gestellt wird. Sehr oft sind
wahrscheinlich nicht die Muskelfasern, sondern Nervenschei¬
den, interstitielles Bindegewebe, Gefässwände der Sitz der Er¬
krankung. Für die letztere Annahme, dass es sich gelegentlich
um endarteriitische Prozesse handelt, dürften die Schmerzen
bei der Claudication intermittente sprechen.
So ist, um mit Senator zu reden, der Name Muskel¬
rheumatismus immer noch die Ueberschrift für ,,die ganz un¬
definierbare Rubrik, welche alle in den Muskeln und deren
Nachbarschaft sitzenden schmerzhaften Leiden, die sich ander¬
weitig nicht unterbringen lassen, aufzunehmen hat.“
Um wenigstens einigermassen Ordnung in das Chaos zu
bringen, hat man die durch die typischen Symptome Rubor,
Kalor, Tumor, Dolor, eventuell durch Eiterbildung als ent¬
zündlich charakterisierten Formen, ferner die auf ein Trauma,
auf Gicht oder eine Intoxikation zurückzuführenden Myalgien
ausgeschieden.
1 rotzdem blieb noch eine überwältigende Masse von sol¬
chen Fällen zurück, bei denen ausser den subjektiven Sym¬
ptomen, Schmerz und Druckempfindlichkeit, keinerlei objek¬
tiver Befund nachzuweisen war.
Diese letztere Gruppe ist es, welche wir im Auge haben,
wenn wir von akutem Muskelrheumatismus sprechen.
Die Annahme, dass diese Erkrankung eine reine Erkäl¬
tungskrankheit sei, dürfte wohl jetzt verlassen sein, dagegen
scheint sich mehr und mehr die von L e u b e zuerst in der
„Deutschen medizinischen Wochenschrift (1894, No. 1)“ ausge¬
sprochene Theorie eingebürgert zu haben, welche ihn als In¬
fektion anspricht. Dass ein Locus minoris resistentiae im
Muskelgewebe, wie er durch plötzliche Kältewirkung auf den
ermüdeten oder transpirierenden Körper, oder durch trau¬
matische Einflüsse, Dehnung usw. zu stände kommen kann, die
Möglichkeit der Infektion durch im Blute kreisende Bakterien
steigern kann, ist selbstverständlich.
Als Gründe für seine Ansicht führte L e u b e die Häu¬
fung der Erkrankungen zu gewissen Zeiten an, ferner den Be¬
ginn mit allgemeinen Prodromalerscheinungen, die Flüchtigkeit
und Verbreitung der Schmerzen auf mehrere Muskeln, das in
einem Drittel der Fälle bestehende Fieber, endlich die Beteili¬
gung der inneren Organe, speziell des Endokards. Auch wies
er auf den nicht ungewöhnlichen Uebergang des Muskelrheu¬
matismus in Gelenkrheumatismus hin.
1894 veröffentlichte Leube 3 Fälle von Muskelrheuma¬
tismus mit akuter Endokarditis; das Vorkommen von Pleuritis
und Albuminurie hat er ebenfalls in je einem Fall gesehen.
Im Jahre 1899 beschrieb dann Rostoski1) aus der Leube-
schen Klinik 2 Fälle von akuter Endokarditis, sowie je einen
Fall von Pleuritis und Perikarditis im Anschlüsse an Muskel¬
rheumatismus.
Mit Recht hat Leube seiner Verwunderung darüber Aus¬
druck gegeben, dass Endokarditiden infolge eines Muskelrheu¬
matismus nicht häufiger beobachtet wurden. Unter den 200
bis zum Jahre 1894 in der medizinischen Klinik zu Wiirzburg
zur Behandlung gekommenen Fällen fanden sich in nicht we¬
niger als einem Sechstel bei der Aufnahme Herzgeräusche.
Das Auftreten während eines sonst unkomplizierten Muskel¬
rheumatismus wurde allerdings nur in den 3 veröffentlichten
Fällen beobachtet.
Diese erscheinen demnach einwandfrei, während bei den
übrigen die auffallend grosse Zahl der zur Zeit des Spitalein¬
tritts bestehenden Herzstörungen die Vermutung im höchsten
Grade wahrscheinlich macht, dass ein Kausalkonnex zwischen
der Muskel- und der Herzerkrankung wenigstens bei einigen
vorlag.
Eine epidemieartige Häufung der rheumatischen
Erkrankungen zeigte sich besonders während der regnerischen
Monate des letzten Sommers; während dieser Zeit waren zwei
Säle des Spitals fast ausschliesslich mit Muskelrheumatismus¬
kranken bevölkert. Es fiel mir auf, dass bei nicht weniger
als sechs von diesen Fällen während der Spitalbehandlung sich
endokarditische Symptome zeigten. Die Annahme eines anä¬
mischen Geräusches war bei der kräftigen Konstitution und ge¬
sunden Gesichtsfarbe der Patienten auszuschliessen.
Diese höchst auffallendeTatsache veranlasste mich zur Prü¬
fung der in 902 Krankengeschichten niedergelegten Fälle von
Muskelrheumatismus, die im Juliusspital seit dem Jahre 1893
zur Behandlung kamen. Von diesen war in einer ganzen Reihe
von Fällen die Krankheit mit unreinen Herztönen und Ge¬
räuschen, Verbreiterung der Herzdämpfung mit und ohne Ver¬
stärkung des 2. Pulmonaltones, mit Angina oder mit Gelenk¬
rheumatismus kompliziert.
Davon kam zur Beurteilung nicht in Betracht die grosse
Anzahl von Fällen, bei denen eine andere Deutung möglich
war, vor allem sämtliche weibliche Kranke, da bei ihnen die
Annahme eines anämischen Herzgeräusches gewöhnlich nicht
sicher auszuschliessen ist; ferner alle diejenigen Fälle, bei
') Rostoski: Zur Pathologie des Muskelrheumatismus (Fest¬
schrift der phys.-med. Gesellschaft Wiirzburg 1899).
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
2190
jien die zugleich bestehende Beteiligung der Gelenke die
Endokarditis auf diese zurückf uhren liess, sowie diejenigen,
in denen das Herzgeräusch bereits bei Eintritt in das Spital
bestand und die Anamnese das frühere Ueberstehen eines
akuten Gelenkrheumatismus oder einer anderen Infektions¬
krankheit ergab.
So blieb nur die sehr geringe Zahl der völlig einwand¬
freien Fälle übrig, in denen die Endokarditis sich erst nach dem
Spitaleintritt unter unseren Augen entwickelte, oder wenigstens
die bereits vorhandene Herzaffektion wesentlich an Intensität
zu oder abnahm, so dass sie kautm anders wie als Ausdruck
der gleichen Infektion anzusehen war. Ich lasse die Kranken¬
geschichten in Kürze folgen.
F a 1 1 I. K. M., 19 Jahre alt, Molkereigehilfe. Aufgenommen
28. I. 02. War früher immer gesund. Am 23. I. erkrankte er mit
Schwindel, Erbrechen, Schmerzen in der rechten Seite und der rechten
Glutäal- und Lendenmuskulatur, die besonders bei Bewegungen sich
bemerkbar machten. Seit 3 — 4 Tagen Appetitlosigkeit.
Befund: Druck auf die befallenen Muskelgrupen nicht schmerz¬
haft, dagegen werden die Schmerzen in der Brustmuskulatur beim
Atmen, in der Glutäal- und Lendenmuskulatur bei Bewegungen ver¬
mehrt.
Lungen völlig frei, kein pleuritisches Reiben. Herzspitzenstoss
im V. Interkostalraum, einwärts der Mammillarlinie. Herzdämpfung
nicht vergrössert, Töne rein. Herztätigkeit stark beschleunigt, aber
regelmässig. Pulsfrequenz 168. Urin frei von Alb. Temp. 38,0.
31. I. Patient klagt über Herzklopfen. Muskelschmerzen nicht
mehr vorhanden. Pulsfrequenz 164. Sonstiger Befund unverändert.
Temperatur 38,0.
1. II. Beschleunigung der Herztätigkeit hält an. Pulsfrequenz 172.
Herz nicht vergrössert, Töne rein. Morgentemperatur 36,5, abends
Anstieg auf 39,1. Ordination Pulv. Digital.
3. II, Pulsfrequenz sehr zurückgegangen, 104. Ausgesprochene
Arhythmie. Der vorher nur wenig fühlbare Puls jetzt deutlich fühlbar.
Auch jetzt weder Hypertrophie noch Dilatation des Herzens nachweis¬
bar. Abends Pulsfrequenz 88. Töne rein, 2. Pulmonalton nicht ver¬
stärkt.
5. II. Herzfrequenz vollständig rhythmisch; Frequenz 84. 2. Pul¬
monalton leicht verstärkt, dagegen weder ein Geräusch zu hören,
noch eine Verbreiterung der Herzdämpfung zu konstatieren; vielmehr
Spitzenstoss deutlich innerhalb der ML. im V. IKR. sicht- und fühlbar.
7. II. Spitzenstoss heute in der Mammillarlinie
selbst im V. IKR., keine Verbreiterung nach rechts. Herztöne
besonders an der Spitze sehr stark akzentuiert, besonders der erste.
An der Basis 1. Ton von einem hauchenden Geräusch
begleitet. Sowohl 2. Aortenton wie 2. Pulmonalton über die Norm
verstärkt.
Subjektives Gefühl des Herzklopfens, sonst keine Beschwerden.
10. II. Spitzenstoss und linke Dämpfungsgrenze genau in der
ML. Heute zwar kein ausgesprochenes Geräusch zu hören, da¬
gegen 1. Mitralton entschieden verschleiert. 2. Pulmonalton ver¬
stärkt. Verstärkung des 2. Pulmonaltons nicht mehr vorhanden.
23. II. Seit einiger Zeit nur noch vorübergehendes Herzklopfen.
Spitzenstoss wieder innerhalb der ML., auch nach rechts keine
Verbreiterung. Herztöne rein.
27. II. Patient gebessert entlassen.
Was die Temperatur betrifft, so bestand während der ersten
3 Tage des Spitalaufenthaltes abends Fieber von 38 — 38,1, am Morgen
des 5. Tages erfolgt Temperaturabfall auf 36,5, abends wieder An¬
stieg auf 39,1, von da an remittierendes Fieber bis 39,2 abends,
lytischer Temperaturabfall, am 28. Tag normale Temperatur.
F a 1 1 II. G. S., 31 Jahre alt. Taglöhner. Spitaleintritt 1. I. 05. Mit
10 und 29 Jahren hatte Pat. Gelenkrheumatismus, wobei sämtliche
Gelenke befallen waren. Seit 14 Tagen klagte er über Husten, Kurz¬
atmigkeit und Herzklopfen. Befund: Lungengrenzen normal, nirgends
Schallverkürzung, überall Vesikuläratmen.
Herz nicht vergrössert,.!. Ton an der Spitze unrein, Temperatur
normal.
2. I. Patient klagt über Schmerzen in der linken Seite. Druck
auf die Interkostalmuskeln schmerzhaft.
8. I. Schmerzen in der linken Seite noch vorhanden. Tem¬
peratur 37,5.
15. II. stellte sich ein systolisches Geräusch an der
Herzspitze ein. II. Pulmonalton nicht verstärkt. Keine Ver¬
breiterung der Herzdämpfung.
20. II. Geräusch an der Spitze verschwunden. Keine Schmerzen
mehr.
7. III. Patient geheilt entlassen.
Fall III. I. B., 16 Jahre alt, Maurerlehrling. Spitaleintritt
14. III. 05. Mit 4 Jahren hatte Patient Masern, sonst will er immer
gesund gewesen sein. Seit 3 Tagen klagt er über Stechen in der
linken Seite, namentlich beim Atemholen und bei Bewegungen. Es
besteht kein Herzklopfen.
Befund: Lungen ohne Schallverkürzung. Ueberall Vesikulär¬
atmen, kein Reiben. Bei Bewegungen Schmerzen in der rechten
Lumbalgegend. Herz nicht vergrössert, Töne rein.
15. VII. Leichtes blasendes systolisches Ge¬
räusch an der Spitze. II. PT. nicht verstärkt.
19. VIII. Herzdämpfung reicht vom rechten Sternalrand bis zur
Mammillarlinie. Lautes systolisches Geräusch, am deutlichsten über
der Spitze. 2 Pulmonalton leicht verstärkt.
26. VIII. Pat. fühlt sich subjektiv wohl. Herzbefund unver¬
ändert.
28. VIII. Pat. auf Wunsch entlassen.
Fall IV. L. S., 26 Jahre alt, Kutscher. Spitaleintritt 20. I. 06.
Pat. war früher nie krank. Seit 14 Tagen klagt er über Schmerzen
im Kreuz.
Befund: Gelenke frei. Beim Aufrichten und sonstigen Bewe¬
gungen des Rumpfes Schmerzen im Kreuz. Die Lendenmuskulatur
beiderseits druckempfindlich. Spitzenstoss etwas verstärkt. Herz¬
dämpfung nicht vergrössert. Schwaches systolisches Ge¬
räusch an der Spitze. 2. Pulmonalton = 2. Aortenton. Tem¬
peratur normal.
27. II. Kein Geräusch mehr am Herzen. Pat. geheilt entlassen.
Fall V. V. A., 18 Jahre alt, Lehrerseminarist. Spitaleintritt
am 26. III. 06. Früher immer gesund, hat nie an rheumatischen
Beschwerden gelitten. Am 24. III. empfand P. beim Turnen plötzlich
einen reissenden Schmerz in der rechten Hüfte. Die Schmerzen
wurden stärker, besonders bei Bewegungen und beim Gehen. Pat.
konnte sich kaum aufrichten. Zugleich klagte Pat. über Herzklopfen
und Atemnot.
Befund: 26. III. Gelenke nirgends geschwollen oder schmerzhaft.
Beim Aufsitzen Schmerzen im Kreuz, Druck auf die Lumbalmuskulatur
zu beiden Seiten schmerzhaft. Spitzenstoss im V. IKR. innerhalb der
ML. An der Spitze leichtes systolisches Geräusch, we¬
niger deutlich an den übrigen Ostien. Temperatur normal.
27. III. Spitzenstoss bedeutend verstärkt. Geräusch sehr laut.
2. Pulmonalton verstärkt. Trqtz Abratens besteht Pat. auf dem
Wunsch, entlassen zu werden, weshalb es nicht möglich war, den
weiteren Verlauf der Erkrankung zu verfolgen.
F a 1 1 VI. G. K-, Gärtnerlehrling, 17 Jahre alt. Spitaleintritt
8. V. 06. Pat. hatte als Kind Masern, mit 10 Jahren Rippenfell¬
entzündung. Vom 27. II. — 13. IV. 06 lag Pat. auf der med. Ab¬
teilung des Juliusspitals wegen Bronchitis. Am Herzen war damals
kein abnormer Befund zu konstatieren. Vor 11 Tagen will er von
Regen durchnässt worden sein, seit 8 Tagen klagt er über Schmerzen
im Kreuz und den Schultern und über Herzklopfen.
Befund: Kräftig gebauter Pat. von gesunder Hautfarbe. Gelenke
frei, linke Lumbalgegend druckempfindlich. Ueber den Lungen¬
spitzen kein Schallunterschied, Atemgeräusche vesikulär. Temperatur
37,5 Herzspitzenstoss innerhalb der Mammillarlinie; verstärkt und
verbreitert, Herzdämpfung nicht vergrössert. Leises systoli¬
sches Geräusch, am deutlichsten an der Pulmonalis; we¬
niger deutlich an der Spitze hörbar. 2. Pulmonalton leicht verstärkt.
Temperatur 37,6.
15. VI. Geräusch sehr laut, Herztätigkeit sehr erregt. Keine
Verbreiterung der Herzdämpfung.
I. VII. Geräusch fast verschwunden, noch leicht unreiner 1. Ton
an der Pulmonalis.
12. VII. Nachdem das Geräusch mehrere Tage nicht mehr zu
hören war und Pat. das Bett schon verlassen hatte, ist es nunmehr
wieder sehr laut vorhanden. 2. Pulmonalton verstärkt. Spitzen¬
stoss fast in der Mammillarlinie, bedeutend verstärkt.
10. VIII. Befund unverändert.
II. VIII. Da eine Besserung nicht mehr zu erwarten ist, wird
Pat. auf dringenden Wunsch entlassen.
Fall VII. A. W., 22 Jahre alt, Büttner. Spitaleintritt 28. VI. 06.
Pat. hatte als Kind Masern gehabt, vor 1 Jahr litt er an Leisten¬
drüsenschwellung. 22. VI. kam Pat. beim Flaschenfahren in ein
Gewitter und wurde bis auf die Haut durchnässt. Am 27. VI. spürte
er Kopfschmerzen, Mattigkeit und Schmerzen in der linken Seite, sowie
Herzklopfen.
Befund: Lungengrenzen normal. Atemgeräusche vesikulär, kein
Reiben. Linke Interkostalmuskulatur auf Druck und bei Bewegungen
nach der Seite schmerzhaft. Herz nicht vergrössert, Töne rein.
Temperatur 37,5.
29. VI. Herztätigkeit erregt, an der Pulmonalis leichtes
systolisches Geräusch, weniger deutlich an der Spitze zu
hören. Temperatur normal.
30. VI. Geräusch sehr laut, 2. Pulmonalton verstärkt.
1. VII. Pat. klagt über Schluckbeschwerden. Mandeln kaum
nennenswert geschwollen. Auf der linken Tonsille ein stecknadel-
grosser gelblicher Belag.
3. VII. Geräusch besteht noch; an den Tonsillen keine Verände¬
rungen mehr.
15- VII. Geräusch immer lauter geworden, Herztätigkeit ziem¬
lich erregt, Spitzenstoss und linke Herzdämpfungs¬
grenze um der ML. 2. Pulmonalton verstärkt.
30. VII. Befund unverändert wie am 15. VII.
16. VIII. Pat. auf Wunsch entlassen.
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2191
Fall VIII. M. K-, 23 Jahre alt, Hausbursche. Aufgenommen
30. VI. 06. Pat. war früher nie krank. Vor 8 Tagen erkrankte
er mit Schmerzen auf der Brust, namentlich bei Bewegungen und beim
Atmen. Sonstige Beschwerden beim Beginn der Krankheit, Mattigkeit,
Kopfschmerzen etc. waren nicht vorhanden. Herzklopfen besteht
nicht.
Befund: Kräftig gebauter Pat. von guter Ernährung und Musku¬
latur. Lungen ohne Schallverkürzung, überall Vesikuläratmen, kein
Reiben. Druck auf die Interkostalmuskulatur links schmerzhaft, Herz
nicht verbreitert ,Töne rein.
I. VII. Pat. klagt über Stechen in der Herzgegend und Herz¬
klopfen. Leichtes systolisches Geräusch an der Pul¬
monal is, weniger deutlich an der Herzspitze. Herztätigkeit er¬
regt, Spitzenstoss verstärkt, letzterer innerhalb der ML. im V. IKR.
2. Pulmonalton nicht verstärkt.
3. VII. Geräusch hat bedeutend an Intensität zugenommen.
2. Pulmonalton verstärkt.
10. VII. Geräusch seit 5. VII. schwächer geworden, heute nahe¬
zu verschwunden.
20. VII. 1. Ton an der Pulmonalis noch leicht unrein. Keine
Verbreiterung des Herzens nachzuweisen.
30. VII. Geräusch heute wieder hörbar, wenn auch sehr leicht.
Herz nicht verbreitert.
10. VIII. Seit 3 Tagen Geräusch verschwunden.
Die Temperatur war stets normal.
F a 1 1 IX. H. M., 39 Jahre alt, Maurer. Eingetreten 19. VII. 06.
Pat. hat vor 5 Jahren Rheumatismus gehabt, der vor 3 Jahren wieder¬
kehrte und seitdem nicht mehr völlig verschwand. Jetzt hat Pat.
heftig reissende Schmerzen im rechten Unterschenkel, sowie Herz¬
klopfen. Pat. führt sein Leiden auf das Schlafen bei offenem Fenster
zurück.
Befund: Kräftig gebauter Pat. von guter Ernährung und Mus¬
kulatur. Wadenmuskulatur des rechten Unterschenkels auf Druck
und bei Bewegungen schmerzhaft. Herzspitzenstoss innerhalb der
Mammillarlinie, Herzdämpfung nicht verbreitert, Töne rein, Tem¬
peratur 37,5.
21. VII. Schwaches systolisches Geräusch, am
lautesten an der Spitze.
30. VII. Geräusch noch vorhanden, laut an der Spitze, nach
oben und seitlich an Intensität abnehmend. 2. Pulmonalton verstärkt.
Schmerzen im rechten Bein abgenommen.
II. VIII. Spitzenstoss verstärkt, Geräusch sehr laut. 2. Pul¬
monalton verstärkt. Eine Verbreiterung der Herzdämpfung nicht
nachzuweisen. Pat. wird auf seinen dringenden Wunsch entlassen.
F a 1 1 X. F. J., 27 Jahre alt, Schweizer. Spitaleintritt 23. VII.' 06.
Pat. hat als Kind ein Halsleiden gehabt, mit 12 Jahren litt er lange
Zeit an einem Augenleiden. Im vorigen Jahre wurde er von einer
Kuh niedergeworfen und auf Brust und Magen getreten. Seit dieser
Zeit will er Brustschmerzen und Husten mit Answurf haben. Seit
einigen Tagen klagt er über Kopfschmerzen, schlechten Appetit,
Schmerzen in den Schultern und grosse Mattigkeit.
Befund: Kräftig gebauter Pat. von gesundem Aussehen. In der
linken Fossa supraclavicularis alte Drüsennarbe. Beide Mm. cu-
cullares druckempfindlich. Schall über den Lungenspitzen beiderseits
gleich, auskultatorisch nichts Pathologisches nachzuweisen. Herz nicht
vergrössert, Töne rein, Temperatur 37,6.
Diagnose: Rheumatismus musc.
23. VII. Im Sputum vereinzelte hellrote Blutspuren, die sich
bei genauerer Untersuchung als von den Zähnen stammend erweisen.
24. VII. Pat. klagt über Stechen in der linken Brustseite. 1. T o n
an der Pulmonalis und Spitze unrein. Spitzenstoss innerhalb der
ML., Herzdämpfung nicht verbreitert.
25. VII. An der Pulmonalis schwaches systoli¬
sches Geräusch, weniger deutlich an der Spitze. 2. Pulmonalton
nicht verstärkt.
31. VII. Heute kein Geräusch zu hören.
2. VIII. Geräusch wieder laut. 2. Pulmonalton verstärkt. Keine
Herzvergrösserung.
11. VIII. Geräusch laut. Keine Vergrösserung der Herz¬
dämpfung aufgetreten. Schmerzen in den Mm. cucullaris bestehen an¬
geblich noch.
16. VIII. Da Pat. Suizidgedanken äussert und seit einigen Tagen
ein auffallendes Benehmen an den Tag legt, vor sich hinbrütet etc.,
wird er in die psychiatrische Klinik verlegt. Eine Verbreiterung des
Herzens nicht aufgetreten; das systolische Geräusch ist sehr leise.
Mm. cucullaris nicht mehr schmerzhaft.
Fall XI. W. W., 54 Jahre alt, Gerber. Eingetreten 16. VII. 06.
Pat. hatte vor 15 Jahren Rheumatismus in der Nackenmuskulatur
gehabt, später war er immer gesund. Vorige Woche erkrankte er
unter Brechreiz und reissenden Schmerzen in der rechten Lenden¬
gegend und im Kreuz, besonders beim Bücken. Appetit schlecht;
kein Herzklopfen.
Befund: Kräftig gebauter Pat. von guter Ernährung und Musku¬
latur. Hinten rechts (Quadratus lumborum) Druckempfindlichkeit.
Auch bei Bewegungen nach der Seite empfindet Pat. Schmerzen.
Spitzenstoss innerhalb der Mammillarlinie, Herzdämpfung nicht ver¬
breitert, Herztöne rein, Temperatur normal.
3. VIII. Schmerzen und Druckempfindlickeit noch vorhanden.
An der Herzspitze leichtes systolisches Geräusch
aufgetreten. 2. Pulmonalton nicht verstärkt. Herzdämpfung nicht
verbreitert. Spitzenstoss leicht verstärkt.
8. VIII. Geräusch nicht mehr zu hören. Schmerzen bedeutend
nachgelassen.
16. Vlil. Pat. geheilt.
Ausdrücklich möchte ich bemerken, dass die von mir fest¬
gestellten Befunde von Herrn Geheimrat v. L e u b e nach¬
geprüft und bestätigt wurden.
In sämtlichen Fähen, vielleicht mit Ausnahme von Fall 5,
dürfte kaum ein Zweifel bestehen, dass die Endokarditis auf den
bestehenden Muskelrheumatismus zurückzuführen war.
Was Fall 5 betrifft, so wäre es, wenn auch sehr unwahr¬
scheinlich, so doch denkbar, dass es sich hier nicht um einen
Muskelrheumatismus, sondern um eine beim Turnen entstan¬
dene Muskelzerrung handle. Rätselhaft wäre dann allerdings
der Ursprung der Endokarditis. Wahrscheinlich ist, wie es oft
geschieht, der Muskelrheumatismus erst im Moment der schnel¬
len Bewegung beim Turnen manifest geworden und im weiteren
Verlauf ist die Endokarditis aufgetreten. Dass diese eine
frische war, beweist die schnell fortgeschrittene Intensität des
Geräusches und die rasch zunehmende Verstärkung des
Spitzenstosses.
Hervorzuheben ist auch Krankengeschichte 1. Mehr als
bei den übrigen tritt hier der Charakter der Infektionskrankheit
hervor; akuter Beginn mit Schwindel, Erbrechen und hohem
Fieber. Auch der Verlauf des letzteren spricht für eine sep¬
tische Erkrankung.
Auch sonst beginnt die Krankheit in der Mehrzahl unserer
Fälle mit Allgemeinerscheinungen und Temperaturerhöhung;
wenigstens am 1. Tag bestand noch leichte Temperatursteige¬
rung auf 37,5 (in der Achselhöhle gemessen); es ist wahr¬
scheinlich, dass vor dem Spitaleintritt das Fieber höher war.
Die Prognose der den Muskelrheumatismus komplizieren¬
den Endokarditis scheint nicht absolut günstig quoad func-
tionem zu sein, denn in drei Fällen blieb eine ausgebildete
Mitralinsuffizienz, in zweien ein systolisches Geräusch zurück;
da dieses mit Verstärkung des 2. Pulmonaltones einherging,
ist wohl das Geräusch auch in diesen Fällen das Symptom einer
bestehenden Mitralinsufizienz gewesen, wenn auch eine Ver¬
grösserung des Herzens nicht nachzuweisen war.
Fassen wir nochmals die Gründe zusammen, welche für die
infektiöse Natur des Muskelrheumatismus sprechen; zeitweise
gehäuftes Auftreten; gelegentliche Temperatursteigerungen
und sonstige Störungen des Allgemeinbefindens sowie Kom¬
plikationen mit Endokarditis, so finden wir, dass auch für dieses
Jahr dem Muskelrheumatismus dieser infektiöse Charakter auf¬
geprägt war. Aber noch ein anderer Umstand scheint mir
wichtig zu sein. Macht schon das oben Angeführte in hohem
Grade wahrscheinlich, dass der Muskelrheumatismus eine In¬
fektionskrankheit ist, so werden wir ganz besonders in dieser
Ansicht bestärkt, wenn wir sehen, dass er die Eigentümlich¬
keit der anderen Infektionskrankheiten teilt, z. B. in einer Epi¬
demie leichteren, in der anderen schwereren Verlauf zeigt, in
einer dritten eine Neigung zu Komplikationen oder eine beson¬
dere Vorliebe für eine bestimmte Lokalisation derselben. So
findet man, dass die Pocken manchmal häufiger in der hämor¬
rhagischen Form auftreten; im Juliusspital hatten wir im Win¬
ter 1904/05 eine auffallende Häufung eintägiger und kurzver¬
laufender Pneumonien etc.
Wenn nun, wie in unserem Fall, eine Komplikation, die
sonst hin und wieder sporadisch beobachtet wird, in kurzer
Zeit nacheinander sechsmal auftrat, so scheint mir darin ein
weiterer Beweis für die infektiöse Aetiologie des Muskel¬
rheumatismus zu liegen.
Auf Grund seiner Beobachtungen gelangte L e u b e zu der
Annahme, dass vielleicht die infektiöse Noxe des Muskelrheu¬
matismus, wenn auch nicht einfach das abgeschwächte Virus
des Gelenkrheumatismus darstelle, so doch dem letzteren nahe
verwandt sei.
Dass die Erreger des Muskel- und des Gelenkrheumatis¬
mus nicht schlechthin identisch sind, ergab sich schon aus dem
verschiedenen Verhalten der beiden Erkrankungen gegenüber
den Salizylpräparaten; hier in der grossen Mehrzahl der Fälle
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
prompte Wirkung, Zurückgehen der Gelenkschwellung und der
Schmerzen, beim Muskelrheumatismus meist keine auffallende
Besserung, wenn auch in vielen Fällen eine günstige Beeinflus¬
sung nicht in Abrede zu stellen war. Leider ist es noch nicht
gelungen, den Erreger der Myositis rheumatica nachzuweisen,
so w enig sicher dies für den Gelenkrheumatismus bisher ge¬
lungen ist.
Ist nun auch infolge des Mangels an Obduktions- und bak¬
teriologischen Befunden die Pathologie des Muskelrheumatis-
mus etwas stiefmütterlich in der Literatur der letzten Jahre be¬
handelt worden, so liegt eine desto grössere Anzahl von Unter¬
suchungen vor über die infektiöse Myositis, eine
Krankheit, die mir nahe verwandt mit dem Muskelrheumatis¬
mus erscheint, wenigstens was die Aetiologie betrifft. Ich
möchte die Myositis nur für einen stärkeren Grad des Muskel-
rheumatismus ansehen und beide ebenso wie den Gelenkrheu¬
matismus unter die Reihe von septischen Erkrankungen rech¬
nen, welche nicht durch einen spezifischen Erreger, sondern
durch Staphylokokken, Streptokokken, Typhusbazillen, In-
fluenzabazillen, kurz alle Bakterien, welche gelegentlich Eite¬
rung erregen können, verursacht wird. Der Grund, weshalb
so selten das Bild einer entzündlichen Myositis mit Eiterbildung
zustande kommt, ist vielleicht in der besonders geringen Viru¬
lenz der in Betracht kommenden Bakterien zu suchen. In
Japan ist die infektiöse Myositis ungleich häufiger als bei uns;
Miyake* 2 *) hat innerhalb der kurzen Zeit von 1 % Jahren
33 Fälle beobachtet. Die bakteriologische Untersuchung des
Eiters ergab 27 mal Staphylococcus aureus in Reinkultur, 2 mal
mit einer kleinen Menge von albus vermischt und nur 1 mal
Streptokokken in Reinkultur. Bei 2 Fällen fiel die Unter¬
suchung negativ aus. In 1 Fall trat ohne Eiterung Resolution
ein, der geschwollene Musculus rectus abdominis wurde bak¬
teriologisch nicht untersucht. Durch Tierversuche konnte
Miyake eine hohe Virulenz aller kultivierten Bakterien kon¬
statieren. Andere Forscher fanden in der Mehrzahl der Fälle
ebenfalls Staphylococcus aureus, dann Streptokokken, Pneumo¬
kokken, bei posttyphösen Myositiden, auch Typhusbazillen.
S a t o :i) sah ausserdem 2 mal eine Vermischung von Staphylo¬
kokken, Streptokokken und gekapselte, den Pneumokokken
ähnliche Diplokokken. Miyake vermutet, dass die Bakterien
durch Aknepusteln, Furunkeln, Panaritien, Ekzeme und durch
die Schleimhäute eindringen und durch die Blutbahn in die Mus¬
keln verschleppt werden. Den Grund für das häufigere Vor¬
kommen der Myositis in Japan glaubt er im Klima und der
Bodenbeschaffenheit, der Nahrung oder einer besonderen Ras¬
sendisposition zu finden, wie ja auch der Typhus abdominalis
in Japan ohne Durchfälle, die Syphilis im Sekundärstadium
mit kaum merkbaren, unbedeutenden Hautausschlägen oder
ganz ohne solche verläuft usw.
Canon4) zieht daraus den Schluss, dass vielleicht häma¬
togene Muskelinfektionen bei der weissen Rasse gewöhnlich
nur rheumatische Beschwerden auslösen, während sie bei der
gelben Rasse häufig Eiterung hervorrufen. Die wahrschein¬
lichen Eintrittspforten sind ausser kleinsten Hautverletzungen,
die Tonsillen und der Darm, wie dies neuerdings auch für
andere Infektionskrankheiten angenommen wird.
Dass eine vom Darm ausgehende Infektion die Muskeln
ergreifen kann, beweist das Vorkommen von Muskel¬
schmerzen bei verschiedenen Infektionskrankheiten, z. B. bei
einer Reihe von infektiösen Darmkatarrhen, oder bei der
W e i 1 scheu Krankheit, die nicht selten unter dem Bilde eines
akuten Muskelrheumatismus beginnt. Es ist noch unsicher,
ob diese Schmerzen durch die direkte Ansiedelung von Bak¬
terien oder nur durch die Resorption von Toxinen ausgelöst
werden. Einen weiteren Beweis für die Möglichkeit der In¬
fektion vom Darm aus bilden auch die bei Typhus beobachteten
Muskelabszesse.
■) Miyake: Beiträge zur Kenntnis der sogen. Myositis in-
fectiosa (Mitt. a. d. Grenzgebieten der Med. u. Chir., 13. Bd., 1904.).
;t) Sato: Ueber eiterige Myositis. Mitt. a. d. zentral, med.
Gesellsch., No. 43, 1091, zit. nach Miyake.
') Canon: Die Bakteriologie des Blutes bei Infektionskrank¬
heiten. Jena 1905.
In einem Falle, der in der hiesigen Klinik behandelt w urde,
war der Muskelrheumatismus von häufigen Durchfällen be¬
gleitet, ausserdem bestand ein systolisches Geräusch und Ver¬
stärkung des 2. Pulmonaltones.
Die Tonsillen als Eingangspforte des Rheumatismus .
erregers kommen in Betracht in erster Linie bei unserem
Falle 6; auch bei mehreren, von mir nicht veröffentlichten
Fällen bestand eine starke Angina.
Anführen möchte ich auch noch die von Pen ie res5)
aufgestellte Theorie, dass der „Rheumatismus“ einer erhöhten
Durchlässigkeit der Ureterenschleimhaut für Fermente seine
Entstehung verdanke; eine Behauptung, die mir zum minde¬
sten sehr hypothetisch erscheint und für die ich klinisch keine
Anhaltspunkte gefunden habe.
Ich möchte die von v. L e u b e aufgestellte Theorie der
infektiösen Natur des Muskelrheumatismus, die er nur für einen
Teil der Fälle gelten lassen wollte, auf alle Fälle von wirklichem
Muskelrheumatismus ausdehnen, soweit sie nicht traumatischer
oder toxischer Natur sind, auch möchte ich den Unterschied
zwischen entzündlichen und nicht entzündlichen Formen fallen
lassen und den Muskelrheumatismus als eine leichte, durch
sehr wenig virulente Bakterien verursachte seröse Entzündung
auffassen, was ja auch die günstige Wirkung der Massage, die
im wesentlichen als eine mechanische Wegdrückung des Ex¬
sudates zu betrachten ist, leicht erklären lässt. Uebrigens
wurden von Miyake Uebergänge von serös-eitriger zu eitri¬
ger Myositis gefunden.
Auch die Erscheinung des Wanderns der Schmerzen auf
verschiedene, oft räumlich entfernte Muskelgruppen findet
leicht ihre Erklärung durch die Annahme von Metastasen. Sehr
viel trägt zum Mangel genauerer Kenntnisse über die Patho¬
logie des Muskelrheumatismus die Tatsache bei, dass so ausser¬
ordentlich leicht diese Diagnose gestellt wird, auch in Fällen,
wo die Muskelschmerzen durch akzidentelle Schädigungen
allein, wie Zerrungen, kleinste Muskelfaserzerreissungen, Er¬
müdung etc. hervorgerufen werden und mit einer Infektion
nichts zu tun haben. Zweifellos können die genannten Schädi¬
gungen auch zum echten infektiösen Muskelrheumatismus
führen, meiner Ansicht nach dürfte es aber richtig sein, diese
Diagnose nur da zu stellen, wo neben den Muskelschmerzen
auch noch andere Symptome einer Infektion, Abgeschlagenheit,
Temperatursteigerung, Kopfschmerz, leichte Schleimhaut¬
erkrankungen, Endokarditis oder andere Komplikationen vor¬
handen sind.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Geheimrat v. L e u b e,
gestatte ich mir für die Ueberlassung des Materials, sowde das
der Arbeit entgegengebrachte Interesse geziemenden Dank zu
sagen.
Aus der medizinischen Universitätspoliklinik und der I. medi¬
zinischen Abteilung des Allerheiligen-Hospitals in Breslau
(Prof. Stern).
Ueber das proteolytische Ferment der Leukozyten, ins¬
besondere bei der Leukämie, und die fermenthemmende
Wirkung des Blutserums.
Von
Dr. Eppen stein, Sekundärarzt am Allerheiligen-Hospital.
Wie Herr ProL- Stern und ich 0 kürzlich gezeigt haben,
lässt sich ein biologischer Unterschied zwischen den bei mye-
loider Leukämie einerseits, bei Lymphämie andererseits ver¬
mehrten Leukozyten, der bisher nur durch komplizierte che¬
mische Untersuchungen 2) nachweisbar war, durch einen ein¬
fachen Reagenzglasversuch demonstrieren:
Isoliert man näjrilich die Leukozyten aus leukämischem
Blut und prüft die proteolytische Wirkung, indem man ab-
’) L. Penieres: Pathogenie et traitement du rhumatisme.
(Cornptes rendus de l’Academie des Sciences tome 137, No. 16).
') Vortrag in der Schles. Gesellsch. f. vaterländ. Kultur, 29. Juni
1906, ref. in Allgem. Med. Zentralztg. 1906, No. 29.
2) Erben: Zeitschr. f. Heilkunde, Bd. 24, S. 70; Zeitschr. f.
klin. Med., Bd. 40, S. 282; Hofmeisters Beitr., Bd. 5, S. 461.
Vergl. ferner Schümm: Hofmeisters Beiträge, Bd. 4, S. 442;
Bd. 5, S. 583; Bd. 7, S. 175.
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2193
gemessene Mengen zu schwach alkalischer Gelatine zusetzt
und diese dann im Brütofen bei Körpertemperatur stehen lässt,
so beobachtet man, dass die Leukozyten bei myeloi-
der Leukämie (polynukleäre Leukozyten und
Myelo.zy ten) die Gelatine verdauen, die
Lymphozyten dagegen nicht :i).
Für ein oxydatives Ferment der weissen Blutzellen ist
der gleiche Gegensatz zwischen diesen beiden Leukozyten¬
gruppen bereits bekannt: die polynukleären Leukozyten ent¬
halten ein Ferment, das Guajaktinktur bläut, während in den
Lymphozyten ein solches nicht nachweisbar ist (Branden¬
burg, E. Meyer). Die von P. Ehrlich seit langer Zeit
auf Grund histologischer Befunde vertretene, von anderen
Autoren neuerdings mehrfach bestrittene Anschauung, dass die
genannten Arten von Leukozyten prinzipiell voneinander zu
scheiden seien, erhält durch derartige biologische Befunde
offenbar eine neue Stütze.
Die Gelatine als Reagens für proteolytische Fermente ist
von Claudio F e r m i eingehend und erst kürzlich nochmals
zusammenfassend im Vergleich mit anderen Versuchsobjekten
(Fibrin, Serum, Eiweiss) studiert und als sehr brauchbar er¬
probt worden 4). Um unter möglichst physiologischen Be¬
dingungen, nämlich etwa bei Bluttemperatur zu arbeiten,
wandten wir Fermis Methode der „flüssigen Gelatineröhr¬
chen“ an: Die auf Fermentgehalt zu prüfende Flüssigkeit wird
mit Gelatine vermengt und die Mischung im Brütofen ver¬
schieden lange Zeit aufbewahrt. Darauf wird die Gelatine
erheblich unter ihren Erstarrungspunkt abgekühlt: bleibt die
Wiedererstarrung aus, so ist Verdauung der Gelatine ein¬
getreten. Bei unseren Versuchen brachten wir die in physio¬
logischer Kochsalzlösung aufgeschwemmten Leukozyten in
einer Menge von 0,2 — 0,5 ccm zu 1—2 ccm einer 6 — 8 proz.
Gelatine, die mit 1 proz. Soda versetzt war. In den Kontrollen
war die fermenthaltige Flüssigkeit durch die gleiche Menge
0,85 proz. Kochsalzlösung ersetzt. Die Gelatineröhrchen kamen
dann in den Brutofen (37 — 40°), wurden nach 12 Stunden
herausgenommen und dann für 3 Stunden auf Eis gestellt.
Nach dieser Zeit wurde das Resultat festgestellt.
Das Blut der Leukämiker wurde durch Venenpunktion ent¬
nommen und gewöhnlich in 1 proz. Natrium-Oxalat-Lösung
aufgefangen. Hatten die Leukozyten sich abgesetzt, so wurde
diese Schicht abpipettiert und durch fünfmaliges Zentrifugieren
und Waschen mit 0,85 proz. Kochsalzlösung von Plasmaresten
befreit. Die so isolierten Leukozyten wurden dann unter
0,85 proz. Kochsalzlösung im Eisschrank aufbewahrt. Es
wurde stets mit sterilen Gläsern sowie unter Beobachtung der
in der Bakteriologie üblichen Kautelen gearbeitet.
Die Leukozytenaufschwemmung von myeloider Leukämie
zeigte auch noch bei stärkerer (etwa 32 facher) Verdünnung in
der oben beschriebenen Versuchsanordnung verdauende Wir¬
kung auf Gelatine, während die ganz analog hergestellte Auf¬
schwemmung von Lymphozyten5) auch bei tagelangem Stehen¬
lassen im Brutschrank ohne Wirkung blieb. Wie zu erwarten
war, zeigte die Aufschwemmung von Leukozyten der myeloi-
den Leukämie keinen konstanten Wirkungswert, vielmehr
nahm die Stärke der Fermentwirkung bei längerem Auf¬
bewahren derselben ganz erheblich zu, offenbar durch den
Zerfall der Zellen und Freiwerden des verdauenden Fermentes.
Das proteolytische Ferment der Leukozyten wirkt am
besten bei schwach alkalischer Reaktion; seine Wirkung ist
bei 55° erheblich stärker als bei 37°; bei 70° wird sie ab¬
geschwächt, bei 75° aufgehoben. Es stimmen also diese Eigen-
3) In der Diskussion über unseren Vortrag teilte Herr Privat¬
dozent Dr. Müller mit, dass man zu ähnlichen Resultaten bezgl. der
verdauenden Wirkung der Leukozyten kommt, wenn man einen
einzigen Tropfen des betr. Blutes auf eine Platte mit Löfflerserum
bringt und diese bei 50° beobachtet. Diese Mitteilungen sind in¬
zwischen ausführlich veröffentlicht worden: Müller und Joch-
mann: Münch, med. Wochenschr. 1906, No. 29 u. 31. Uebrigens hat
bereits Claudio Fermi dieselbe Art des Fermentnachweises bei 30°
benutzt (cf. Arch. f. Hyg., Bd. 55, S. 192).
4) Claudio Fermi: 1. c.
°) Es kam sowohl ein Fall von chronischer wie von akuter lym¬
phatischer Leukämie zur Untersuchung.
No. 45
schäften etwa mit denen des tryptischen Verdauungsferments
überein.
Wie bereits in unserer ersten Mitteilung hervorgehoben
wurde, wirken Blutplasma und Blutserum hem-
mendaufdasverdauendeLeukozyten ferme nt.
(Cf. den später folgenden Versuch.)
Eine analoge Wirkung von Blutserum und Gewebsextrak-
ten ist gegenüber dem Trypsin, Pepsin und anderen Fermenten
nachgewiesen (Claudio Fermi, Hahn, Pugliese und
C o c c i, R ö d e n, M a 1 1 h e s, W e i n 1 a n d), z. B. auch gegen¬
über den Fermenten, die bei der Autolyse der Organe wirksam
sind (B a e r und L o e b).
Mit Untersuchungen darüber, ob bei Krankheiten, bei denen
ein stärkerer Leukozytenzerfall stattfindet, Veränderungen der
fermenthemmenden Wirkung nachweisbar sind, bin ich zur¬
zeit beschäftigt. Bei myeloider Leukämie, bei der doch ein
reichlicher Zerfall von (fermenthaltigen) Leukozyten in der
Blutbahn stattfindet, habe ich eine wesentliche Veränderung
des Antifermentgehalts gegenüber normalen Kontrollpersonen
nicht feststellen können. Müller und J o c h m a n n, die sich,
angeregt durch unsere erste Mitteilung, ebenfalls mit der fer¬
menthemmenden Wirkung des Blutserums und Blutplasmas be¬
schäftigten (II. Mitteilung, 1. c. No. 31), glauben im normalen
menschlichen Plasma und Serum etwas geringere fermenthem¬
mende Wirkung gefunden zu haben als im leukämischen. Die
bereits oben erwähnte Tatsache, dass die Wirkung einer Auf¬
schwemmung von Leukozyten in steriler Kochsalzlösung keine
konstante ist, erschwert übrigens vergleichende Versuche auf
diesem Gebiete erheblich. Wir haben deshalb in letzter Zeit
vielfach das dem verdauenden Leukozytenferment nahe¬
stehende Pankreasferment (Pankreatin der Fabrik Rhenania)
zu unseren Versuchen über die hemmende Wirkung des Serums
benützt. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich aus den von
mir festgestellten Unterschieden im antitryptischen Wirkungs¬
gehalt normaler Sera, wie dies schon Landsteiner0)
für Tiere derselben Spezies hervorgehoben hat. Erhebliche
Unterschiede fand ferner Glässner* 7) für verschiedene Sta¬
dien der Verdauung beim Menschen; von letzteren konnte ich
mich übrigens bei einer Nachprüfung mit Gelatine und Pankrea¬
tin nicht überzeugen.
Es ist mir bisher nicht gelungen, bei einigen Fällen mit
erheblichen Eiteransammlungen (Empyem, perityphlitischer
Abszess) sowie bei Pneumonie im Stadium der Lösung Werte
des Antitrypsingehaltes im Blutserum zu finden, die über die
obere Grenze des Normalen wesentlich hinausgingen.
Ascoli8) gibt an, im Verlauf der kruppösen Pneumonie eine
Steigerung des Antitrypsingehaltes im Blutserum beobachtet
zu haben.
Ob im Blute bei myeloider Leukämie Verdauungsprozesse
i n t r a v i t a m vor sich gehen, lässt sich durch Reagenzglas¬
versuche nicht entscheiden. Es wird dies davon abhängen,
ob innerhalb der Blutbahn aus den Leukozyten (besonders
durch ihren Zerfall) so viel Ferment frei werden kann, dass die
hemmende Wirkung des Blutplasmas überwunden wird 9). In
einem unserer Fälle von myeloider Leukämie (fast 500 000
Leukozyten im Kubikmillimeter) zeigte das 10 Stunden post
mortem aus dem Herzen steril entnommene Blut, in Natrium-
Oxalat-Lösung aufgefangen, bei 37 0 Gelatine verflüssigende
Wirkung, so dass also hier (im Reagensglase) die Wirkung des
Ferments die antifermentative Kraft des Blutplasmas über¬
wunden hat. Dagegen konnten Müller und Joch mann
in ihren Fällen bei 37° keine verdauende Wirkung des leu¬
kämischen Blutes auf erstarrtem Blutserum konstatieren,
während sie bei 50 0 eine deutliche Fermentwirkung beobachte-
ft) Zentralbl. f. Bakteriol. etc., Bd. 27, S. 357.
7) Hofmeisters Beiträge, Bd. 4, S. 79.
8) Berl. klin. Wochenschr. 1903, S. 391.
9) Auch für die Frage, wie weit eitrige bezw. serös-eitrige Ex¬
sudate intra vitam verdauen, wird das Verhältnis zwischen Ferment
und fermenthemmender Wirkung der Exsudatflüssigkeit von Wichtig¬
keit sein. So fand ich bei einem serös-eitrigen Pleuraexsudat, dass
die abzentrifugierten Leukozyten bei 55° Serum nicht verdauten,
während dieselben Leukozyten, nachdem sie durch mehrmaliges
Waschen von Plasmaresten befreit waren, prompt verdauten.
2
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
'194
ren. In diesem Zusammenhang erscheint M a 1 1 h e s'10) Befund
einer Deutero-Albumose in leukämischem Blute bemerkens¬
wert und ebenso Schümms11 * 1) Nachweis von Albumosurie
in einem von 3 Fällen von myeloider Leukämie.
Schon in unserer ersten Mitteilung wurde erwähnt, dass
sich die hemmende Wirkung des Blutplasmas
gegenüber dem Leukozyten ferm ent durch
X> ständiges Erwärmen auf ca. 58° abschwächen
lässt.
In vergleichenden Versuchen wurden unerwärmtes und
erwärmtes Blutserum bezw. Blutplasma zu einer gleichen
Menge Leukozytenaufschwemmung zugesetzt. Z. B. :
Leukozyten von myelogener Leukämie. Menschliches Blutserum
(Arteriosklerose) im Verhältnis 1:2, 1:4 usw. mit 0,85 proz. Koch¬
salzlösung verdünnt. + = flüssig, — = fest.
0,3 cm verdünnter Leukozytenaufschwemmung + 2 ccm Gelatine
(8 Proz.) mit 1,3 Proz. Soda.
12 Stunden 37°
(unerwärmt)
(l/2 Stunde 56°)
-f- 0,3 ccm Serum 1:2 — —
1:4— —
1:8- +
1 : 16 — +
1 : 32 -p j -f-
1 : 64 -j- | +
Setzt man zu Leukozytenbrei Blutplasma hinzu und lässt
dieses Gemisch bei 50—55° auf Serumplatten wirken, so wird
allerdings, wie Müller und Jochmann fanden, die fer¬
menthemmende Wirkung des Plasmas nicht wesentlich ab¬
geschwächt. Diese Beobachtung ist an sich durchaus richtig,
wie wir uns durch Nachprüfung — auch mittels unserer Ver¬
suchsanordnung (Gelatine) — überzeugten. Will man aber
prüfen, ob die Ferment-hemmende Wirkung des Plasmas durch
Erwärmung auf 55 0 eine Abschwächung erfährt, so muss man
das Plasma isoliert erwärmen und dann die Wirkung des
erwärmten Plasmas mit derjenigen des nicht erwärmten ver¬
gleichen. Man findet dann, wie wir uns durch zahlreiche, mit
dem oben mitgeteilten übereinstimmende Versuche überzeug¬
ten, stets eine Abschwächung der antifermentativen Wirkung
des erwärmten Plasmas oder Serums. Dass man diese Ab¬
schwächung bei Erwärmung einer Mischung von Plasma und
Leukozytenaufschwemmung nicht konstatieren kann, ist viel¬
leicht so zu deuten, dass die Erwärmung des mit dem Ferment
bereits zusammengebrachten Antiferments das letztere erheb¬
lich weniger schädigt als das freie Antiferment.
Der Umstand, dass die Erwärmung auf 55 — 60 0 die Wir¬
kung des Hemmungskörpers abschwächt — gänzlich unwirk¬
sam wurde er nach 12 ständigem Erwärmen auf 55 0 — , liess
an die Möglichkeit denken, dass hier nahe Beziehungen zu der
bakteriziden Wirkung des Serums, die bekanntlich durch Er¬
wärmung auf die gleiche Temperatur zerstört wird, bestehen
könnten. Indes fiel ein Versuch, den Hemmungskörper etwa
wie einen Immunkörper durch Typhusbakterien abzusättigen^
völlig negativ aus; dieser Versuch wurde sowohl mit tryp-
tischem wie mit Leukozytenferment ausgeführt.
Ausser mit der Verdauungs-hemmenden haben wir uns
auch mit der Gelatine verdauenden Wirkung des
menschlichen Blutserums beschäftigt, die von D e -
1 e z e n n e und P o z e r s k i 12) beschrieben worden ist. Diese
Autoren geben an, dass Blutserum verschiedener Tiere und
auch des Menschen die Gelatine verflüssigen könne, wenn man
Chloroform zusetze. Wahrscheinlich werde durch letzteres
das antiproteolytische Ferment zerstört und dadurch einem
sonst verborgenen verdauenden Fermente die Wirkung er¬
möglicht. Wir legten uns die Frage vor, ob bei starkem Leuko¬
zytenzerfall sich ein erhöhter Gehalt des (chloroformierten)
Serums an proteolytischem Ferment nachweisen liesse. Doch
haben wir bisher keine Anhaltspunkte hierfür gewonnen. Viel¬
fach haben wir mit menschlichem Blutserum ganz negative Re¬
sultate erhalten, trotz vieltägiger Einwirkung auf Gelatine im
Brutschrank. Zwei Pneumoniesera lösten die Gelatine über¬
10) Berl. klin. Wochenschr. 1894, No. 23, 24.
11 ) Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 46.
12) C. r. de la sociötö de biologie. Paris 1903. Sitzungen vom
7. März und 30. Mai.
haupt nicht. Auffällig war, dass das Serum eines Falles von
myelogener Leukämie und das eines Patienten mit Schrumpf¬
niere in relativ kurzer Zeit (3 bezw. 6 Tage) die Gelatine ver¬
flüssigte. Es sei in diesem Zusammenhang nur darauf hin¬
gewiesen, dass Schümm 13) einmal im Aderlassblut einer
chronischen Schrumpfniere eine albumosenartige Substanz ge¬
funden hat; auf proteolytisches Fermeut hat Schn m m dieses
Blut allerdings nicht untersucht.
Aus der med. Klinik zu Strassburg (Direktor: Prof. v. K r e h 1).
lieber einen Fall von geheilter Arteriitis typhosa.
Von Dr. L. Blum, Assistenten der Klinik.
Die Arteritis gehört zu den seltenen Komplikationen des
Typhus abdominalis. T rousseau, der sie wohl kannte und
in seiner Clinique medicale de FHötel-Dieu (Bd. I) beschrieb,
hatte keine Gelegenheit, sie selbst zu beobachten, und auch
Curschmann1) mit seiner über Tausende von Fällen sich
erstreckenden Erfahrung berichtet nur über 2 eigene Fälle,
deren einer zu Gangrän der unteren Extremität, deren anderer
zu Gangrän von 4 Fingern und der Haut des Handrückens
führte. Immerhin hat sich im Laufe der Zeit die Zahl der Be¬
obachtungen doch so vermehrt, dass ein amerikanischer Chi¬
rurg 134 Fälle aus der Literatur zusammenstellen konnte2), bei
denen die Erkrankung zu Gangrän führte.
Der von mir beobachtete Fall bietet nun in seinem Verlauf
und seinem Ausgang einige Eigentümlichkeiten vor den bisher
bekannten, so dass seine Mitteilung immerhin gerechtfertigt er¬
scheint.
Es handelte sich um einen 22 jährigen Ingenieur, der noch nie
ernsthaft krank gewesen sein will, nur will er in den letzten beiden
Jahren einige Mal etwas Herzklopfen gehabt haben. Bei der Muste¬
rung war er als militärtauglich angesehen worden und wollte im
Herbst d. J. auch seiner Dienstpflicht genügen.
Derselbe erkrankte etwa Mitte Mai 1906, fühlte sich 14 Tage lang
unwohl und kam am 2. VI. in die Klinik. Bei der Untersuchung
Hessen sich Roseolen, Milztumor feststellen. Temperatur: 39°. Im
Blute Typhusbazillen. Agglutination schwach positiv. Leukozyten¬
zahl 3600.
Dem Verlaufe nach war der Typhus ein ziemlich leichter, nur
war von Anfang an der Herzbefund auffallend. Schon bei der Auf¬
nahme fand sich eine Spaltung des 1. Tons, zuweilen auch ein dumpfer
1. Ton. Während des Verlaufs wurden die Herztöne noch dumpfer,
der 1. Ton war zuweilen nicht hörbar und auch der 2. Aortenton auf¬
fallend leise. Der Puls war dabei ziemlich frequent und etwas weich.
Eine Dilatation war nicht festzustellen. Pat. erhielt daher mehrmals
kleine Mengen von Digalen. Nach 18 Tagen, am 32. Krankheitstage
war das Fieber ganz verschwunden und blieb auch am nächsten Tage
unter 37°. An diesem Tage setzten nun die Erscheinungen ein, die
auf die Arteritis zu beziehen sind. Der bis dahin schmerzfreie
Kranke klagte abends über Schmerzen in der rechten Inguinalgegend;
dieselbe zeigte sich auf Druck empfindlich, etwas mehr oberhalb des
P o u p a r t sehen Bandes als unterhalb. Das Abdomen war ganz
weich und ohne Zeichen einer peritonitischen Reizung, die inguinalen
Drüsen nicht geschwollen, nur schien der Nerv, cruralis am Pou-
p a r t sehen Bande etwas druckschmerzhaft.
22. VI. Die Schmerzen haben etwas zugenommen, objektiv nur
geringe Schwellung der Inguinaldrüsen nachzuweisen. Ord.: feuchte
Umschläge.
23. VI. Pat. klagt über heftigere Schmerzen in der rechten
Leistengegend, die von da ab nach dem Oberschenkel ziehen. Im
S c a r p a sehen Dreieck ist letzterer auf Druck ziemlich empfindlich,
Pat. schont sein Bein sehr und vermeidet jede Bewegung. Gegen
3 Uhr nachmittags werden die Schmerzen ausserordentlich stark.
Der Kranke sieht wie kollabiert aus, ist sehr blass, ,die Augen sind
eingesunken und schwarz umrändert. Das Bestehen der Facies Hippo-
cratika lässt zuerst an eine peritoneale Komplikation denken, die
aber das Verhalten des Bauches bei der Untersuchung und der Zu¬
stand des Pulses auszuschliessen gestatteten. Der Puls ist eher kräf¬
tiger wie sonst, die Pulsationen am Herzen ebenfalls stärker; ausser
einer erregten Herzaktion und dumpfen Tönen ist nichts am Herzen
zu finden. Das rechte Bein wird in Flexionsstellung unbeweglich
gehalten. Berührung der Vorderseite des Oberschenkels und der
Wade ist schmerzhaft; der rechte Unterschenkel und Fuss ist deutlich
kälter als der linke; der Unterschenkel und der Fuss sind auch blasser
wie auf der linken Seite. Das rechte Bein ist nicht geschwollen,
13) Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 46.
1) Curschmann, in Nothnagels Handbuch S. 155 u. 156.
2) E. M. Ricketts: Typhoid gangrene of the lower extremities.
One hundred and thirty four cases. Spontaneous and surgical ampu-
tations. The Cincinnati Lancet clinic, Nov. u. Dez. 1903.
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2195
Sensibilitätsstörungen sind nicht festzustellen. Die Inguinaldrüsen
sind geschwollen und druckempfindlich. Der Nervus cruralis ist in
seinem Verlauf auf Druck nicht schmerzhaft. Man fühlt dagegen in
der Richtung des Verlaufs der Schenkelgefässe einen etwa bleistift¬
dicken Strang, der etwas pulsiert; auf Druck sind hier die Schmerzen
am ausgesprochensten. Bei der Palpation sind hier die Schmerzen
entlang dem Verlaufe der Oefässe am stärksten; die Pulsationen in
der Arteria tibialis postica und pediaea sind gut fühlbar. Ord.: 0,01 g
Morph, mur.
24 VI. Die Schmerzen, die anfallsweise auftreten, haben den
Kranken nur wenig schlafen lassen. Das rechte Bein erscheint etwas
dicker wie das linke, ist nicht ödematös, fühlt sich nicht kälter an. Der
Strang, der den Gefässen entspricht, ist jetzt bis in den Hunter sehen
Kanal zu verfolgen und ist noch deutlicher; die Schmerzen sind
ziemlich auf ihn beschränkt; die Pulsation der Art. cruralis und der
übrigen Arterien rechts weniger deutlich als links.
25. VI. Strang noch etwas dicker. Inguinaldrüse geschwollen,
die oberflächlichen Venen erweitert; kein Oedem; der Puls rechts
deutlich schwächer als links. Schmerzen etwas geringer.
26. VI. Abnahme des Pulses, der in der Art. tibialis postica kaum
fühlbar ist. Strang unverändert. Keine Sensibilitätsstörungen, keine
Zyanose.
27. VI. Status wie gestern; die Pulsationen in der Arteria cruralis
sind kaum fühlbar. Keine Temperaturdifferenz, keine lokale Zyanose.
28. VI. Abnahme der Schmerzen.
29. VI. Puls wird besser fühlbar; der Gefässstrang nicht mehr so
schmerzhaft.
30. V. Die Schmerzen lassen nach, erste aktive Bewegungs¬
versuche. Von dieser Zeit an allmähliche Abnahme der Schmerzen;
der Strang, 'den die Arterie bildet, wird auf Druck schmerzlos und
verschwindet zuletzt. Am 58. Krankheitstage, 26 Tage nach Beginn
der Arteritis, steht Pat. auf; das rechte Bein ist etwas schwächer
und ermüdet leichter; auch nach der Entlassung klagt Pat. etwas
über leichtere Ermüdbarkeit des Beines; andere Störungen sind nicht
zurückgeblieben.
Der geschilderte Fall bietet die typischen Symptome der
Arteriitis typhosa in ganz charakteristischer Weise.
Wie in der Mehrzahl der Beobachtungen fällt der Beginn
der Erkrankung nicht in das Höhestadium, sondern in die De-
ferveszenzperiode oder gar in die Rekonvaleszenz des Typhus.
Die Schwere der Erkrankung scheint keinen Einfluss auszu¬
üben, in sehr vielen Fällen handelte es sich, wie auch in
unserem, geradezu um leichte Formen des Abdominaltyphus.
Auffallend ist die Prädisposition des jugendlichen Alters für die
Komplikation. In den meisten veröffentlichten Kranken¬
geschichten handelt es sich um junge Leute unter 25 Jahren,
das höchste Alter wies ein Patient von Curschmann (1. c.
S. 155) mit 41 Jahren auf; während umgekehrt Kinder im
I. und 2. Dezennium sehr häufig befallen sind 3). Unter den ver¬
schiedenen Qefässbezirken sind hauptsächlich die Arterien der
unteren Extremitäten beteiligt, und zwar die rechtsseitigen
wieder mehr als die der linken Körperhälfte. Nur selten sind
beide Extremitäten gleichzeitig befallen, auch die Beobach¬
tungen über Arterienerkrankungen an den oberen Extremitäten
und im Gesicht sind ganz vereinzelt.
Unter den Symptomen der Erkrankungen ist mit das
wichtigste der Schmerz. Zeitlich tritt er als erstes Zeichen
der Erkrankung auf und kann allen übrigen mehrere Tage
vorangehen. Die Schmerzen, die sowohl anfallsweise auf¬
treten, als auch ständig bestehen können, scheinen immer sehr
heftig zu sein, so dass die Kranken jede Bewegung, jeden
Druck, die sie steigern könnten, vermeiden. Charakteristisch
ist vor allem die Lokalisation der Schmerzen, die diagnostisch
von grösster Bedeutung ist. Sie sind sozusagen auf den Ver¬
lauf der Arterien lokalisiert, so dass man aus der Druck¬
schmerzhaftigkeit geradezu den Verlauf der Arterien, die er¬
griffen sind, verfolgen kann.
Ein zweites wichtiges Zeichen der Erkrankung ist die Ab¬
nahme der Pulsation in den Arterien, die bis zum völligen
Schwunde des Pulses gehen können.
Die betroffenen Glieder zeigen oft eine geringe Anschwel¬
lung, nie aber Zeichen von Oedemen. Sehr oft, namentlich in
den Fällen, die mit Gangrän ihren Ausgang nehmen, findet man
lokale Zyanose, Herabsetzung der Temperatur, Anästhesien
als erste Zeichen der verminderten Blutversorgung, die dann
bei völligem Gefässverschluss bald zu trockener Gangrän
führen.
3) Vezeaux de Lavergne: These Paris 1903.
Von grösster Wichtigkeit ist das Auftreten eines Stranges,
der dem Verlauf der Arterie entspricht und offenbar nichts
anderes als die thrombosierte Arterie darstellt; vielleicht ist
seine Dicke auch einer gleichzeitig bestehenden Periarteritis
zuzuschreiben. Durch seine Feststellung ist die Diagnose end¬
gültig gesichert, doch scheint derselbe nicht in allen Fällen
vorzukommen. Barie4), der die Arteritis typhosa eingehend
geschildert und zuerst ein grössere Zahl von geheilten Arteri-
tiden zusammengestellt hat, findet gerade in der Anwesenheit
dieses fühlbaren Stranges ein Zeichen von totaler Thrombose
der Arterie, deren notwendige Folge die Gangrän ist. In der
Tat fanden sich in den von P o t a i n 5 6), V u 1 p i a n “) und auch
B a r i e 7) beschriebenen Fällen — es sind deren 10 im ganzen
- von geheilter Arteritis dieses Symptom trotz genauer Unter¬
suchung und Beachtung desselben nicht. B a r i e glaubte sich
daher zum Schlüsse berechtigt, dass es sich in diesen Fällen
um eine Arteritis parietalis handelte, indem zwar das Gefäss-
lumen von der Wandung aus eingeengt sei, aber immer noch
genügend Raum im Zentrum für die Blutzirkulation gegeben
sei. Abgesehen von diesem fühlbaren Gefässstrang waren die
übrigen Symptome, Schmerz, seine Lokalisation, Verminderung
der Pulsationen, Schwellung ohne Oedem usw. genau die
gleichen wie in den übrigen Fällen.
Nach dem Befund in unserem Falle, wo die Arterie tage¬
lang deutlich zu fühlen war, dürfte diese Verallgemeinerung zu
weit gehen. Ob freilich die bei unserem Kranken eingetretene
Heilung nicht auf einen günstigerweise zustande gekommenen
Kollateralkreislauf zu beziehen ist, lässt sich nicht entscheiden.
Gegen eine solche Deutung scheint mir der Rückgang der
Schwellung der Arterie zu sprechen. Jedenfalls wird man die
Prognose auf dieses Symptom hin nicht absolut ungünstig be¬
treffs der Erhaltung der Extremität stellen, wenngleich sein
Auftreten sehr ernst genommen werden muss.
Differentialdiagnostisch könnten namentlich im Beginne,
wenn das Leiden noch wenig ausgesprochen ist, folgende Affek¬
tionen in Frage kommen; Die Myositis typhosa, an die man
mit Rücksicht auf die Druckschmerzhaftigkeit der Muskulatur
denken könnte. Die Myositis ist jedoch meist auf andere
Muskelgruppen lokalisiert, wenngleich auch Fälle mitgeteilt
sind, in denen andere Muskelgruppen befallen sein sollen 8).
Durch die Lokalisation des Schmerzes auf den Verlauf der
Arterien dürften sich aber die beiden Affektionen genügend
trennen lassen. Nur ganz im Beginne wird die Frage einer
Neuritis infolge der neuralgieartigen Schmerzen in Erwägung
gezogen werden; durch den Sitz des Schmerzes und die Ab¬
wesenheit von Druckpunkten wird aber die Entscheidung leicht
zu treffen sein. Eine Verwechslung der Arteritis mit der viel
häufiger vorkommenden Venenthrombose, der Phlegmasia alba
dolens ist kaum möglich. Die Abwesenheit des meist blassen
Oedems, einer stärkeren Venenstauung, die schmerzhafte In¬
filtration der Umgebung der Vene und des ganzen Beines, die
eine Palpation ganz unmöglich machen, bieten genügende An¬
haltspunkte, um die Venenerkrankung auszuschliessen. Als
weiteres Hilfsmittel könnte man das Auftreten der beiden Er¬
krankungen in verschiedenem Alter heranziehen, indem die
Venenthrombose hauptsächlich Individuen befällt, deren Venen
Sitz von Veränderungen waren, wie alte Leute oder Frauen
mit Varizen, die Arteritis dagegen mit Vorliebe jugendliche
Individuen betrifft. Allerdings sind eine Anzahl von Fällen
bekannt, in denen Venenthrombose neben Arteritis bestand.
Was die Ursache der Arteritis anlangt, so ist durch die
Bezeichnung Arteritis schon angedeutet, dass sie auf eine Er¬
krankung der Gefässe selbst zurückgeführt wird. Zu dieser
Auffassung neigen die meisten Autoren, obwohl für einzelne
sicher eine andere Entstehungsursache zugelassen werden
muss. So konnten in Beobachtungen von Hayem9) und
4) Barie: Revue de medecine 1884, S. 1 u. 124; s. auch Fer-
rand: These Paris 1890 und de Quervain: Zentralbl. f. innere
Mediz. 1895, S. 792.
6) Potain: Soc. medicale des höpitaux 1878.
°) Vulpian: Revue de medecine 1883.
7) Barie, 1. c.
8) Vergl. Michalke: Myositis bei Abdominaltyphus. Mediz.
Klinik, August 1906.
9) Hayem; Progres medical 1875, S. 402.
2*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
2 i 96
Mercier10) die Verstopfungen auf Embolie zurückgeführt
werden, die von endokarditischen Prozessen oder von
Thrombenmassen des Herzens in die Arterien fortgerissen
waren. Es bilden jedoch diese Fälle die grosse Ausnahme,
da bei den übrigen Untersuchungen nichts von Veränderungen
am Herzen gefunden wurde, wohl aber Zeichen von Läsionen
der Qefässwand an der Stelle der Thrombosierung. Die An¬
nahme einer sogen, marantischen I hrombose, wie sie bei
kachektischen Individuen beobachtet worden ist, ist in neuerer
Zeit ganz verlassen worden; klinisch würde dieselbe auch
keineswegs den Tatsachen entsprechen.
Ueber die eigentliche Ursache der Arteritis selbst liegt
nur wenig Material vor. Veränderung der Qefässwände durch
Sklerose spielt offenbar gar keine Rolle, da gerade das jugend¬
liche Alter von der Krankheit mit Vorliebe befallen wird.
Andererseits ist es sicher, dass der Typhus zu den Infektions¬
krankheiten gehört, die die Qefässe am meisten in Mitleiden¬
schaft zieht, wenn auch die Veränderungen nicht die Bedeutung
haben, die ihnen von Landouzy und S i r e d e y zuge¬
sprochen worden ist* 11). Bei der Entstehung der Arteritis
scheint der Typhusbazillus als solcher die Hauptrolle zu spielen
und es sich nicht um eine Sekundärinfektion zu handeln. De
Quervain konnte zwar in den von ihm untersuchten Fällen
keinen Typhusbazillus züchten, dagegen konnte R a 1 1 o n e 1L')
in den Schnitten der Qefässwand Typhusbazillen finden; vor
allem aber ist die Beobachtung von Rist und Ribadeau-
Dumas13) aus vorigem Jahre zu erwähnen, die eine Gangrän
bei einem 7 jährigen Mädchen infolge Arteriitis typhosa sahen
und aus den Thromben der Arterie Typhusbazillen in Rein¬
kultur züchten konnten. Andere Bakterien, auch anaerobe,
wurden nicht nachgewiesen. Warum aber gerade der Typhus¬
bazillus diese Qefässveränderung zu einer Zeit bewirkt, wo
Bazillen nur noch in geringer Menge im Blute kreisen und der
Organismus schon Antikörper gebildet hat, ist unbekannt. In
Hinblick auf die in sehr vielen Fällen beobachteten Erschei¬
nungen von seiten des Kreislaufs, die auch bei unserem Kranken
deutlich waren, scheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass als
weiteres ursächliches Moment Störung des Zirkulationsappa¬
rates, vielleicht vasomotorischer Art, eine Rolle spielen. Eine
ähnliche Ansicht hat auch Fernet14) ausgesprochen, der vaso¬
motorische Störungen nach Ablauf eines Typhus beobachtete,
und 2 Fälle von Richard15) erwähnt, bei denen im Anschluss
an einen Typhus Zeichen von Myelitis und symmetrische Gan¬
grän der Zehen auftraten. ;
Seltene Verlaufsweisen von Klappenfehlern.
Von Dr. Karl G r a s s m a n n in München.
Der erste der nachstehend kurz mitzuteilenden Fälle ist
in die Reihe jener recht spärlichen Beobachtungen zu setzen,
wo das völlige Verschwinden der ausgesprochenen Symptome
eines auf Endokarditis beruhenden Klappenfehlers konstatiert
werden kann. Aber nicht nur das. Die im Auszug mitzu¬
teilende Krankengeschichte lässt keinen Zweifel, dass es sich
in diesem Falle zugleich um ein echtes Rezidiv einer
früher zur Heilung gelangten Klappenendo¬
karditis handelt, das dann zum tödlichen Ausgang führte.
Das 4 jährige, wohlgenährte, früher gesunde Mädchen A. K.
erkrankte im Dezember 1904 an Angina. Unter Fortdauer eines massi¬
gen Fiebers (bis 39,0°) remittierenden Charakters zeigen sich in der
zweiten Dezemberhälfte schmerzhafte Anschwellungen mehrerei
grosser Gelenke, die nach ca. 1 Woche zurückgehen. In dieser Zeit
Herzbefund völlig normal.
Am 23. März 1905 Beginn einer Parotitis (wie gleichzeitig auch
bei 2 Geschwistern), in den nächsten Tagen akute Entzündung mit
Schwellung in beiden Fuss- und Kniegelenken. Unter Fortdauer des
Fiebers, Atmungsbeschwerden, beträchtlicher Blässe, frequentem Puls
am 28. März Auftreten eines systolischen Geräusches, an der Herz¬
spitze am deutlichsten hörbar. Dann wurde Arrhythmie des Pulses
10) Mercier: Arch. gener. de medecine 1878, S. 402 u. 676.
11 ) Vergl. Wiesel: Zeitschr. f. Heilk. 1905 u. 1906.
12) Rattone: II Morgagni 1887, S. 579 u. 641.
13) Rist et Ribadeau-Dumas: Bull, de la Soc. medi-
cale des höpit. 1905, S. 922.
14) Fernet: France medicale 1883.
15) Richard: Bull, de la Soc. medicale des höpitaux 1880.
bemerkbar, die Herzdämpfung zeigte keine Veränderung der normalen
Verhältnisse. In den nächsten 3 Wochen blieb das Geräusch gleich,
ebenso die Herzdämpfung, der 2. Pulmonalton war nicht verstärkt.
Das Kind war blass und zeigte schon bei geringen Bewegungen Dys¬
pnoe. Bis zum 15. Mai waren folgende Veränderungen eingetreten:
Das systolische Geräusch bestand fort, die Herzdämpfung zeigte eine
Verbreiterung bis über den rechten Sternalrand, der 2. Pulmonalton
erwies sich als deutlich akzentuiert, der Spitzenstoss verstärkt
hebend.
Sehr langsame Erholung des Kindes, das blass aussieht und, ganz
im Gegensatz zu seinem früheren Verhalten, an Spielen und Be¬
wegungen sich sehr wenig beteiligt. Im Laufe des Juli und August
1905 wird, wie von noch 4 Geschwistern des Kindes, ein nicht ge¬
rade schwerer Keuchhusten durchgemacht.
Gelegentlich neuerlicher Angina Ende März 1906 Kontrolle des
Herzens. Der Befund an demselben ist perkutorisch
und auskultatorisch in jeder Hinsicht vollkommen
normal geworden! In den letzten Monaten hatte das Kind
seine Lebhaftigkeit völlig wieder gewonnen und sah sehr gut aus.
In der ersten Aprilwoche 1906 scheinbar glatte Abheilung der
Angina. Das Kind macht als genesen einen Ausflug mit.
Am 11. April Eintritt akuter Gelenkschwellungen (beide Kniee,
Halswirbelsäule etc.). Von jetzt ab kontinuierliches Fieber (zwischen
38,5 und 40° remittierend) bis 2 Tage vor dem am 9. Mai eintretenden
Tode.
Unter starker Unruhe und Angst des Kindes tritt am 14. April
systolisches Blasen an der Spitze des nicht verbreiterten Herzens auf,
Dyspnoe, grosse Blässe. In den letzten Apriltagen perikarditisches
Reiben, dann Ausbildung eines grossen Herzbeutelergusses. Am
6. Mai Versuch mit Kollargolklysmen. Abfall des Fiebers, keine
Besserung. Am 9. Mai Exitus unter den Zeichen plötzlichen Herz¬
stillstandes. Sektion konnte nicht vorgenommen werden.
Bekanntlich muss man bei der Annahme der Heilung bezw.
des Verschwindens aller Symptome eines Klappenfehlers (auf
endokarditischer Basis) sehr vorsichtig sein und muss nament¬
lich die Verwechslung mit einer auf akuter Myokarditis be¬
ruhenden oder funktionell bedingten muskulären Insuffizienz
berücksichtigt werden.
Die Betrachtung aller Einzelheiten unseres Falles stellt
denselben als einen differentialdiagnostisch sehr prägnant ge¬
lagerten dar.
Für die Deutung des Herzbefundes bei vorstehender Be¬
obachtung ist zunächst heranzuziehen, dass das Kind vor der
Erkrankung ganz gesund gewesen war und vor dem im De¬
zember 1904 einsetzenden akuten Gelenkrheumatismus speziell
auch nie eine leichte Attacke dieser Infektionskrankheit gehabt
hatte. Der Herzbefund war um diese Zeit völlig normal.
Wenn nun im März 1905 während des 2. Anfalles, der zu¬
dem durch eine Parotitis kompliziert war und innerhalb einer
familiären Endemie von Gelenkrheumatismus einsetzte, unter
den Erscheinungen von Herzschwäche über der Herzspitze,
resp. den Mitralklappen ein systolisches Geräusch auftrat, so
muss dasselbe wohl mit grosser Sicherheit auf eine akute ent¬
zündliche Erkrankung des Herzens bezgoen werden. Während
der ersten Zeit konnte es zweifelhaft bleiben, ob eine akute
Myokarditis mit sekundärer, muskulärer Mitralinsuffizienz vor¬
liege, oder eine die Mitralis betreffende Endokarditis. Der
fernere Verlauf stellt es ausser Zweifel, dass letzteres der
Fall war, dass eine rheumatische Endokarditis der Mitral¬
klappen sich abspielte, denn es entwickelte sich im Laufe von
2 Monaten neben dem bestehenden systolischen Geräusch als
Ausdruck der Drucksteigerung im kleinen Kreislauf eine deut¬
liche Verstärkung des 2. Pulmonaltons, eine mässige Hyper¬
trophie des linken Herzens, wie der Charakter des Spitzen-
stosses bewies, eine Stauungsdilatation der rechten Herzhälfte.
Damit ist das Vorhandensein einer nur muskulären Insuffizienz
nach unseren heutigen Anschauungen ausgeschlossen.
Die spätere Leistungsfähigkeit des Kindes entsprach dem
Eintritt einer völligen Kompensation seines Klappenschadens.
Es muss also nach der Aetiologie, dem physikalischen und
sonstigen klinischen Befunde und nach dem Verlaufe bei dem
Kinde eine endokarditische, zur Kompensaiton gelangte Mitral¬
insuffizienz diagnostiziert werden.
Aus der Schilderung des Verlaufes geht des Weiteren her¬
vor, dass nach Monaten die klinischen Erscheinungen des
Klappenfehlers einem durchaus normalen Befunde Platz ge¬
macht hatten. Wir haben also das Recht, von einer Heilung
desselben zu sprechen. Ebenso unzweifelhaft ist das zum
Tode führende Rezidiv dieser Endokarditis.
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2197
Diese beiden Ereignisse stempeln die Beobachtung zu einer
Seltenheit.
Unerhört ist das Verschwinden der Symptome eines Klap¬
penfehlers bekanntlich nicht, "feaginskyz. B. gibt in seinem
Lehrbuche (6. Aufl. pag. 728) Steffen recht, der zuerst auf
diese Tatsache hinwies und bestätigt, dass man sicher er¬
wiesene Klappenfehler bei Kindern sich völlig zurückbilden
sieht, v. Leyden (Deutsche Klinik 1905, 148. Lief.) kon¬
statiert in einem Aufsatz über die Prognose der Herzkrankheiten
unter Hinweis auf die Fälle von v. Jaksch, Gerhardt,
B e n e k e und G. Meyer, dass systolische Geräusche, die
von Mitralinsuffizienz herrühren, unter gleichzeitigem Ver¬
schwinden aller übrigen Herzsymptome nach Jahr und Tag
verschwunden sein können. Henoch (Vorlesungen über
Kinderkrankheiten pag. 449) erwähnt, dass dies bei Kindern
häufiger vorkommt. Das würde eine allerdings kleine Ver¬
besserung der u. A. von Satterthwaite, Lindsay,
Broadbent als besonders trist bezeichneten kindlichen En¬
dokarditis bedeuten.
Das tragische Moment, dass bei dem wieder blühend ge¬
wordenen Kinde einer „Heilung“ des Prozesses an den Mitral¬
klappen, der jedenfalls durchaus keine klinischen Symptome
mehr machte, nach ca. Ys Jahre ein Rezidiv der valvulären
Endokarditis, diesmal mit der tödlichen Begleitung einer exsu¬
dativen Perikarditis, folgte, ist in theoretisch-wissenschaftlicher
Hinsicht gewiss bemerkenswert, doch kann dieses Zusammen¬
treffen hier nicht weiter erörtert werden.
Der 2. Fall betrifft das Vorkommen einer töd¬
lichen Darmblutung bei einem Kranken mit
hochgradig er Mitralstenose und Aorten in-
suffizienz und zwar im Stadium der Dekompensation des
Klappenfehlers.
Gelegentlich eines Vortrages über die Wechselbeziehungen
zwischen Herz- und Magendarmleiden (cfr. Berl. klin. Wochen¬
schrift 1906, No. 14) führte Ad. Schmidt an, dass er einen
Patienten an abundanter Darmblutung zu gründe gehen sah,
bei dem die Sektion nichts anderes aufdeckte, als einen ein¬
fachen Stauungskatarrh des Darmes. Schmidt nimmt hiebei
Bezug auf eine Bemerkung Rombergs, dass ihm andere
als Hämorrhoidalblutungen bei Herzkranken infolge der venösen
Stauung ohne gleichzeitige Leberzirrhose weder im Magen,
noch im Darm vorgekommen seien.
Jedenfalls sind derartige Ereignisse sehr selten. In der in-
und ausländischen Literatur der letzten 10 Jahre ist, wie ich
mich überzeugte, kein solcher Fall verzeichnet.
Die von mir gemachte Beobachtung kann zu diesen sel¬
tenen Vorkommnissen zählen, wenn sie mir auch nicht nach
jeder Richtung hin ganz aufgeklärt erscheint.
Der Verlauf war kurz der:
Der Kranke, 60 Jahre alt, stand nur 4 Tage (11. I. bis 15. I. 06)
in meiner Beobachtung.
Vor vielen Jahren syphilitisch infiziert. Vor 14 Jahren Beginn
eines schon damals als Mitralstenose erklärten Herzleidens. Vor
3 Monaten Herpes zoster am Bauche, im Verlaufe desselben soll eine
„Lungenentzündung“ eingetreten sein.
Dann Entstehen von Hautödem an beiden Beinen, in den letzten
Tagen Zunahme derselben, Anasarka hochgradig, bis zur Nabel¬
gegend ausgedehnt. Seit 1 — 2 Wochen Diarrhöen, die während der
vorher verordneten Milchdiät eingesetzt hatten. Hie und da mässige
Leibschmerzen. Der blass aussehende Patient war orthopnöisch,
zeigte mächtige Leberschwellung. Puls sehr frequent, klein, un¬
regelmässig. Epigastrische Pulsation. Bedeutende Ueberfiillung und
Pulsieren der rechtsseitigen äussern Halsvenen. Linker Ventrikel
dilatiert, Herz von oben und rechts her durch Lunge überlagert.
Ueber dem Herzen endokardiale, schwierig zu differenzierende Ge¬
räusche, bei der Systole und Diastole hörbar, Art des Klappenfehlers
zurzeit unklar.
Im Auswurf dunkles Blut. Links hinten unten Dämpfung,
schwaches Bronchialatmen.
Ordination: Morphiuminjektion (0,01), Digalen. Darauf 1. Nacht
zufriedenstellend.
In der Nacht vom 12. zum 13. Januar Entleerung eines reichlichen
(ca. 1 Liter) schwarz-roten Blutstuhles. P. 144. Venen am Halse
kollabiert. Ergotininjektion, innerlich Adrenalin, Eisblase, Kompres¬
sion des Bauches durch breite Binde.
Am 13. I. neue Darmblutung, mindestens 300 ccm. Bedeutende
Erleichterung der Respiration! Abends neuerdings kopiöser Blut¬
stuhl (in 3 Abteilungen werden mindestens 1,5 Liter Blut entleert).
In der rechten Seite des Abdomens Schmerzen. In der zweiten
Hälfte der Nacht Entleerung äusserst stinkender Darmgase, kein
Blut.
Am 14. I. erneute Blutung (ca. V» Liter). Um 1 Uhr mittags
Injektion von 50 ccm 2 proz. Gelatinelösung in den einen Ober¬
schenkel, um Vs 3 Uhr nochmals kleine Blutung. Um Vs 7 Uhr zweite
Gelatineinjektion. Es erfolgt keine weitere Blutung mehr, doch sind
die Erscheinungen der Verblutung sehr ausgeprägt. Am Vormittag
des 15. I. Exitus.
Aus dem Sektionsprotokoll führe ich auszugsweise an: Rechts¬
seitiger Hydrothorax. Im linken Unterlappen ein kleiner, im rechten
Unterlappen ein ausgedehnter Infarkt. Herz beträchtlich vergrössert,
linker und rechter Ventrikel hypertrophisch. Aortaklappen nicht völ¬
lig schlussfähig. Dilatation des rechten Vorhofs. Beträchtliche Er¬
weiterung des linken Vorhofs. Das Ostium der Mitralis in
eine querverlaufende, knopflochartige Spalte verwandelt, die Klap¬
penränder sehr stark verdickt, durch reichlich eingelagerte Kalk¬
salze fast steinhart. Klappenschluss nicht mehr möglich. Linker
Ventrikel dilatiert und in seiner Wandung sehr stark verdickt. An
den Rändern der Semilunarklappen der Aorta sitzen einige kalkige
Einlagerungen, die Intima der Aorta zeigt lediglich einige gelbliche
fleckenartige Verdickungen. Leber ohne zirrhotische Erscheinungen.
Milz um mehr als die Hälfte verkleinert, durch tiefe narbige Kapsel¬
einziehungen gelappt. Magen leer. Vom Duodenum abwärts bis zum
Kolon desc. ist der Darm völlig von einem massenhaften Brei halb
flüssigen, halb koagulierten Blutes erfüllt. Die Darmschleimhaut ist
besonders im Dünndarm hyperämisch, sonst ohne jede makro¬
skopische Veränderung. Die Suche nach der Quelle der Blutung ist
völlig ergebnislos, speziell ist nicht das kleinste Geschwür zu ent¬
decken. Die Mesenterien ohne sichtbare Veränderung.
Die LJrsache dieser so abundanten Blutung, welche zur
unmittelbaren Todesursache geworden ist, kann, falls man nicht
auf die oben wiedefgegebene Beobachtung Ad. Schmidts
zurückgreifen will, nicht befriedigend erklärt werden. Ein Zu¬
stand venöser Stauung des Darmes lag bei der vorhandenen
schweren Kreislaufstörung allerdings vor und es ist sehr be¬
merkenswert, dass sozusagen auf der Höhe der letzteren die
Blutung einsetzte. Aber in unzähligen Fällen von Dekompen¬
sation bestehen die nämlichen Zustände der Stauung im Ab¬
domen, ohne dass es je zu profusen Darmblutungen kommt.
Eine besondere, grössere Durchlässigkeit bewirkende, Schädi¬
gung der Darmgefässe anzunehmen, hat wenig Wahrscheinlich¬
keit für sich. Warum sollte eine solche gerade die Darmgefässe
ausschliesslich betreffen? Auch die Massenhaftigkeit des Blut¬
austrittes spricht dagegen. Die Syphilis ätiologisch heranzu¬
ziehen, bringt die Erklärungsversuche nicht vorwärts. Da
auch keine Leberzirrhose, sondern eine einfache Stauungsleber
vorliegt, entfällt auch dieser Faktor, der sonst in der Aetiologie
der Magen- resp. Oesophagus- und Darmblutungen eine Rolle
spielt. Meine in vivo gemachte Annahme, dass es sich um
einen geplatzten Varix des Verdauungsschlauches handeln
werde, fand bei der Autopsie keine Bestätigung. Eine embo-
lische Veränderung konnte nicht aufgefunden werden. Hämo¬
philie, Skorbut lag ebenso wenig vor.
Die Genese der tödlichen Dünndarmblutung (das Duodenum
bildete die obere Grenze des blutigen Darminhaltes, der Magen
enthielt kein Blut) ist demnach nicht aufgeklärt. In den ersten
Anfängen, freilich nur in diesen, wurde das Allgemeinbefinden
des Kranken, speziell seine Atemnot, durch die Blutung un¬
zweifelhaft günstig beeinflusst und die Stauung im kleinen und
grossen Kreislauf vermindert. Die Gelatineinfusionen zeigten
sich machtlos, denn es muss, wie der Leichenbefund erwies,
auch nach den 2 Infusionen die schwere Blutung noch ange¬
dauert haben.
Aus dem pathologischen Institut München.
Ueber Sarkomatose des Epikards.
Eine Studie über primäre Geschwülste des Herzens und des
Herzbeutels.
Von Dr. Hermann S c h ö p p 1 e r, kgl. bayer. Oberarzt,
Militärassistent am pathologischen Institut München.
Wenn wir uns an der Hand von Zahlen und Tabellen über
das Vorkommen von Geschwülsten oder deren Häufigkeit an
einzelnen Organen und Regionen unseres Körpers unterrichten,
so ist auffallend, wie selten gerade ein Organ unseres Körpers
an Geschwülsten — „es gilt dies sowohl für die sekundären
als auch besonders für die primären Formen“ (Czapek [6])
— erkrankt, nämlich das Herz und dessen seröse Hülle, der
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
2198
Herzbeutel. Sind in den letzten 10 Jahren die Angaben über
Herzturnoren, über primäre Neubildungen des Herzens etwas
zahlreicher geworden, so bleibt doch ihre Zahl relativ immer
noch eine sehr kleine. Bei der Durchsicht der Literatur konnte
ich fast alle primären Neubildungen, die überhaupt von den
verschiedenen Gewebselementen, welche das Herz zusammen¬
setzen, ausgehen können, beschrieben finden, so Karzinome,
Sarkome, Myxome, Lipome, Fibrome, Myome und Teratome
(1 Fall von Joel [17]). In manchen Fällen wurden die eben
angeführten Geschwulstarten nur als zufälliger Sektionsbefund
angetroffen, in anderen erklärten sie ein intra vitam unbestimm¬
tes Krankheitsbild, oder sie hatten, je nach ihrem Sitz, eine Klap¬
peninsuffizienz oder Stenose vorgetäuscht. Sowohl für den
Kliniker als auch für den Pathologen sind diese Geschwülste
demnach von grossem Interesse. Es sei mir deshalb gestattet,
einen weiteren Fall einer primären Geschwulsterkrankung des
Herzens nachstehend zu beschreiben.
Am 26. Januar 1906 wurde in das Krankenhaus München 1. d. Isar
eine 73 Jahre alte Frau aufgenommen, die einen Schlaganfall erlitten
hatte. Nach der mir zur Verfügung gestellten Krankenge¬
schichte konnte anamnestisch von der benommenen Frau, auch
als sie später wieder bei Bewusstsein war, nichts Bestimmtes erfahren
werden. Der aufgenommene Status präsens vermerkt eine rechts¬
seitige Lähmung einer Körperhälfte. Ueber das Herz heisst es:
Spitzenstoss nicht auffindbar, Herzdämpfung nicht verbreitert, erster
Ton an der Spitze etwas unrein, die übrigen Töne sind leise, aber
rein. Puls: 132. Atmung: 36. Eine weitere Untersuchung ergab fol¬
genden Befund: Herz: Der Spitzenstoss ist nicht auffindbar. Die
Herzdämpfung ist von der Lunge überlagert. An der Spitze ist ein
systolisches Geräusch zu hören, die übrigen Töne sind rein, doch
sehr leise. Der zweite Ptflmonalton ist etwas akzentuiert. Im übri¬
gen Befinden der Pat. ist keine Aenderung eingetreten. Ein weiterer
Eintrag gibt betreff des Herzens denselben Befund. Hier wird noch
erwähnt: dass Patientin viel tolles Zeug spricht, manchmal ohne
Grund weint (Demen. senil.). Im Verlauf der Beobachtungen gehen
die Lähmungserscheinungen zurück, die vorher bestandenen Blasen-
und Mastdarmstörungen schwinden. Patientin fühlt sich sehr wohl,
hat keine Klagen. Am 15. III. 06 völliges Wohlbefinden. Am 5. V. 06
ist Patientin unruhig, doch ohne Klagen. Am 17. V. 06 nehmen die
Unruhen zu. Die Herztätigkeit ist nicht wesentlich beschleunigt.
Am Herzen ist ein ganz leises, schabendes Geräusch hörbar. Rasch
zunehmender Verfall am 18. V. 06. Das Reiben am Herzen ist nicht
stärker geworden. Am 19. V. 06 trat der Exitus letalis ein.
Die klinische Diagnose war auf Hemiplegie ge¬
stellt worden. Die am folgenden Tage im hiesigen pathologischen
Institute vorgenommene Obduktion1) ergab nachstehenden Be¬
fund, den ich im Auszuge, mich auf das Wesentliche beschränkend,
anführen will: Die abgemagerte, 162 cm grosse, 47 kg schwere, senile,
weibliche Leiche zeigte bei sonst nur wenig veränderten Organen
ungewöhnlich abnorme Veränderungen am Herzen. Der Wortlaut
des Protokolls führt an : Das Herz ist stark nach links verlagert.
Der Herzbeutel ist zum grossen Teil unbedeckt. In ihm wenige
Kubikzentimeter einer blutig-serösen, etwas getrübten Flüssigkeit,
das parietale Blatt nicht verdickt, an der Innenfläche mit wenig Fi¬
brin bedeckt. Das Herz selbst ist sehr gross. Das subepikardiale
Fett nicht unterscheidbar, da das Herz eine von unregelmässigen,
höckerigen Knollen besetzte Oberfläche darbietet. Auf dem Durch¬
schnitt zeigen die Knollen lappige Zeichnung. Feine, leicht abzieh¬
bare Fäden und Zotten bedecken zum Teil die Oberfläche. Die Kon¬
sistenz der Knollen ist eine ziemlich weiche. Die Grösse der Knollen
schwankt zwischen Welschnussgrösse und Grossstecknadelkopf¬
grösse. Die arteriellen Klappen schliessen auf Wassereinguss. Die
venösen Ostien sind für einen Finger durchgängig. In den engen
Herzhöhlen wenig geronnenes Blut. Die Mitral- und Trikuspidal-
segel sind zart. Die Aorten- und 'Pulmonalklappen sind zart, frei
beweglich. Das Endokard zart, durchscheinend, das Herzfleisch ist
von einem Mantel aus Geschwulstmasse umgeben, braunrot, gut
konsistent. Gewicht des Herzens: 680 g. In der abgehenden
Aorta atheromatöse Platten. In der Aorta abdominal, nahe der Tei¬
lungsstelle Kalkeinlagerungen zu fühlen. In der Art. femor. und in
deren Abgangsästen liegen geschichtete thrombotische Massen.
Im Sektionsprotokoll weiter von Interesse erscheint mir noch
folgende Stelle des Berichtes zu sein, den ich gleichfalls im Wort¬
laut wie im Original hier anfügen will:
Die linke Nebenniere fühlt sich sehr derb an und ist in eine
derbe grauweisse Umgebung eingelagert. Auf dem Durchschnitt ist
die Zeichnung des Organes verwachsen und nur noch im zentralen
Peil etwas erkennbar. Die Randzone ist von einer gelbgrauen Farbe
und ziehen von hier aus gelbliche Streifen gegen den zentralen Teil.
Die rechte Nebenniere ist ohne Besonderheiten.
Die auf Grund des Sektionsbefundes gestellte
Diagnose lautete: Sarkom atose des Epikards mit
trockener Perikarditis. Starke Vergrösserung
B Sektions-Journal No. 421, 1906.
derlinkenNebennieremitTumorbildungundregio-
nären Metastasen. Marant. Thromben in der Art.
b a s i 1. der absteigenden A o r ta, der linken Art. femor.
Alte fibröse Adhäsivpleuritis beider Lungen.
Lungenemphysem. Altersatrophie der Nieren,
Leber und Milz. Sklerose der Basisarterien. All¬
gemeine Arteriosklerose. Die sofort vorgenommene
mikroskopische Untersuchung ergab im Zupfpräparat
viele dicht aneinander gelagerte kleine Rundzellen, zwischen weichen
nur ein spärliches fetthaltiges Bindegewebe sich befand. Die mikro¬
skopische Untersuchung sicherte somit die makroskopisch gestellte
Diagnose.
Das zunächst am meisten Interesse beanspruchende Organ ist
hier das Herz. Schon sein Gewicht ist auffallend, weit über das
Doppelte gehend von dem, was sonst das Herz normal wiegen sollte.
Auch die Grösse des Organs ist beträchtlich. Vom Abgang der
grossen Gefässe bis zur Spitze misst das Herz nahezu 14 cm, sein
grösster Querdurchmesser ist etwa HVz cm, sein an der grössten
Weite genommener Umfang hat 33 cm. Das ganze Herz ist von den
im Sektionsprotokoll erwähnten Tumormassen umhüllt, die dem Organ
ein grobhöckeriges, gelapptes Aussehen verleihen, wie dies die bei¬
gegebene Abbildung deutlich zur Ansicht bringt. Die Geschwulst¬
masse hat das ganze Herz derart eingehüllt, dass nur an der hinteren
Herzfläche, der Facies diaphragmatica, nahe an der Spitze ein etwa
im Gesamtflächenmesser die Fläche eines Fünfmarkstückes ein¬
nehmendes Stück übrig geblieben ist, das sich anscheinend frei von
einer Geschwulstbildung erhalten hat. Auf dem Durchschnitt sieht
man von dem Geschwulstmantel aus nicht sehr häufig sehr feine
weisse Fäden in den Herzmuskel hineinziehen. Die Koronargefässe
sind durch die Tumormassen abgerückt und in die Geschwulstmassen
förmlich eingebettet; sie haben sich aber noch ziemlich gut erhalten.
Die das Herz mantelförmig umschliessende Sarkommasse setzt sich
auch noch zum Teil auf die abgehenden grossen Gefässe fort. Pul-
rnonalis und Aorta sind zum Teil durch Sarkommassen miteinander
fest verbacken. Es ist eigentümlich, dass bei der Aorta, an ihrer
vorderen Fläche, mit der sie an die Art. pulmonalis durch Geschwulst¬
massen fest verkittet erscheint, sich eine 3,3 cm breite, mit Kalk¬
einlagerungen versehene, atheromatöse Platte gebildet hat, an einer
Stelle, an welcher sonst diese Art von Gefässerkrankung nicht ge¬
wöhnlich ist. Die Dicke des Sarkommantels ist nicht an allen Stellen
gleich. Die von mir gemessene kleinste Dicke der Wandung beträgt
0,1 cm, die grösste Dicke — 3,0 cm. Im allgemeinen findet sich die
relativ am wenigsten starke Sarkomgeschwulst an der Vorderfläche
des linken Ventrikels, am stärksten entwickelt zeigt sich die Tumor¬
masse über dem rechten Vorhof. Es wurden von einzelnen Stellen
des Tumors etwa 60 frische Präparate im Kurs untersucht. Dabei
hat sich gezeigt, dass das Bild der Geschwulst nicht immer ein
und dasselbe ist. Ausser rein sarkomatösen Stellen, die das bereits
bekannte Bild des kleinzelligen Rundzellensarkoms ergeben, fanden
sich auch manche Stellen, die ausser diesen kleinen Rundzellen
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2199
auch ziemlich viel Fettgewebe aufweisen, in das jene kleinen Rund¬
zellen eindringen.
Zur mikroskopischen Untersuchung wurden aus
verschiedenen Stellen des Herzens Stücke der Geschwulst ent¬
nommen, teils in Formalin, Alkohol und Sublimat gehärtet und in
Paraffin und Zelloidin eingebettet. Die 10 — 15 ll dicken Schnitte
wurden mit Hämatoxylinalaun-Eosin, Saffranin, Alauncochenille2),
van Gieson, Orcein und mit der Weigert sehen Fibrin- und Elastin-
färbemethode, zum Teil mit der von Unna3) angegebenen Färbung
des kollagenen Gewebes mit Wasserblau behandelt. Wenn ich nun
zur Beschreibung der mikroskopischen Präparate übergehe, so will
ich zunächst mit der innersten der drei die Herzwand bildenden
Schichten, dem Endokard, beginnen. Bei allen Präparaten zeigte die¬
selbe keinerlei pathologische Veränderungen. Die Muskulatur der
Muskelhaut bot das Bild der braunen Atrophie mit den bekannten
zuckerhutförmigen Pigmentanhäufungen an den Polen der Kerne. Ge¬
langt man nun von hier aus zum Epikard, so kommt man sofort in
eine breite Schicht von dicht aneinander gelagerten runden, kleinen
protoplasmaarmen Zellen, die einen sich mit allen Färbemitteln in¬
tensiv färbenden Kern besitzen. Diese kleinen Rundzellen durch¬
setzen und durchziehen das subepikardiale Fettgewebe, das überall
die Form reichlicher Fettbildung zeigt, jedoch die Muskulatur voll¬
kommen intakt lässt, in ausgedehnter Weise. Von einer Lage kleiner
Rundzellen dicht über der Muskelwand ziehen zwischen den sub¬
epikardialen Fettzellen die kleinen Rundzellen teils in feinen Zügen
hindurch, wodurch sie dem Bilde ein feines, gitterartiges, punktiertes
Aussehen geben, teils verdrängen sie, zu breiten Bändern angeordnet,
das Fettgewebe fast vollständig, um dann zu einer breiten bandartigen
Masse sich anzuhäufen, die fast in gleichmässiger Dicke überall die
Aussenfläche des Präparates umgibt. Sehr wenig Gefässe durch¬
ziehen sowohl die Sarkommassen selbst, als auch das subepikardiale
Fettgewebe. Anscheinend vollzieht sich hier die Wanderung der
Sarkomzellen von der Muskelhautoberfläche auf dem Wege der Saft-
liicken. Die von We i g e r t angegebene Fibrinfärbung liess nur
sehr wenig Fibrin zur Darstellung bringen. Die Oberfläche zeigte da¬
gegen ziemlich viele kleine Kokken, die auch noch in den oberen
Schichten des Sarkommantels zur Darstellung gebracht werden konn¬
ten und sich nach Gram intensiv färbten. Kleinere, der Herzbasis
entnommene Knötchen, geben das Bild dicht aneinander stehender
kleiner Rundzellen, zwischen welchen irgend welche Gewebsart sonst
nicht aufgefunden werden kann. Stücke, welche aus den Ursprungs¬
stellen der Gefässe entnommen wurden, zeigen, wie die Sarkomzellen
zur äussersten Schicht der perithelen Gefässwand (nach der Gefäss-
wandeinteilung Bonnets [5]) heranziehen, auch diese noch durch¬
setzen, bereits also in die Muskelschicht nicht mehr eindringen. An
der Aorta zeigen sich die bekannten Vorgänge der Atheromatose.
Eine fast zusammenhängende breite Kalkplatte, eingelagert in derbes
kernloses Bindegewebe, durchsetzt die stark verdickte Innenhaut und
bildet so gleichsam einen Schutz gegen die Geschwulstzellen. Auf¬
fallend wenig verändert zeigt sich das gelbe Bindegewebe, welchen
Namen ich nach den Untersuchungen T r i e p e 1 s [26] für das
elastische Gewebe gebrauchen möchte, der grossen Gefässe selbst.
Abgesehen von einem geringen Grad leichter Auffaserung der gelben
Bindegewebselemente zeigt sich das sog. elastische Gewebe in keiner
Weise pathologisch verändert.
Die Untersuchung des Nebennierentumors liess
denselben als ein kleinzelliges Rundzellensarkom erkennen, der die
ganze Nebenniere durchsetzte. Das regionäre Gewebe war von
kleinen Rundzellen stark infiltriert. Ein Schnitt durch das Ganglion
solare zeigte, wie die kleinen Rundzellen infiltrierend in das Gewebe
Vordringen, die lichtbraun pigmentierten Ganglienzellen oft dicht um¬
geben, dieselben zum Schwund bringen.
Ich halte nun die Sarkomatose des Herzens resp. des Epikards,
für die primäre Tumorbildung, den kleinen welschnussgrossen Tumor
der Nebenniere mit der regionären Infiltration für die sekundäre Meta¬
stase, die ich mir auf dem Wege der Lymphbahnen verschleppt er¬
kläre. Die Anzeichen einer fortgeschrittenen regressiven Meta¬
morphose, kenntlich an Stellen beginnender fettiger Degeneration, die
diffuse Infiltration der Umgebung, die reichlichen entzündlichen Ver¬
änderungen in der Nachbarschaft, besonders an den Gefässen, sind
für mich bestimmend, in meinem Falle den grossen Tumor, der ja nicht
immer auch der primäre Tumor zu sein braucht, als die primäre Ge¬
schwulst zu erklären.
Was schon in der Einleitung in dem angeführten Zitat
Fuhrmannsfll] ausgesprochen wird, dass Herzgeschwülste
häufig als zufälliger Sektionsbefund angetroffen werden, sehen
wir auch hier zutreffen. Der klinische Befund führt ausser un¬
ruhiger Herztätigkeit, systolisches Geräusch an der Spitze und
ein schabendes Geräusch (Reiben) weiter nichts an, eine Er¬
scheinung, die man so häufig in der Literatur wiederfindet. Es
fehlt eben den Herzgeschwülsten ein reines „eigenes Krank¬
heitsbild“, wie Bodenheimer [4] sich ausdrückt, eine Be¬
obachtung, die in ähnlicher Weise von Hotten roth [14],
2) Rabl: Zeitschr. f. wissenschaftl. Mikroskopie, Bd. XI, 2, 1904.
3) Unna: Monatsh. f. prakt. Dermatologie, Bd. XVIII, 1894.
von J a e g e r s [16] und von Friedreich [10] in ihren Ab¬
handlungen über dieKrankheiten des Herzens Bestätigung findet.
Von manchen Autoren ist dennoch versucht worden, gewisse
Erscheinungen für diese Herzerkrankung aufzustellen. Boden-
heimer [4] führt als Symptom an: Schmerzen in der Prä-
kordialgegend, Herzklopfen, Druck, schwachen Herzstoss.
Hotten rot h [14] scheint Wert auf den uncharakteristischen,
öfter unregelmässigen und schwachen Puls zu legen, Sym¬
ptome, die übrigens auch bereits bei Bodenheimer [4]
Erwähnung finden. Fuhrmann [ll] und Berthenson [2]
rechnen zu den beachtenswertesten Symptomen die Embolien,
bei deren Eintreten und dem Fehlen von Symptomen am Herzen,
die sonst der Embolie vorauszugehen pflegen, man per ex-
clusionem zur Diagnose: Neubildung im Herzen geführt werden
könne. Fränkel [9] legt besonderen Wert auf die blutige
Beschaffenheit des Exsudates und besonders auf die rasche
Wiederkehr desselben nach dem Ablassen. Alle diese Sym¬
ptome haben sicherlich ihre Berechtigung, aber als ausschliess¬
lich für Herzgeschwülste charakteristisch möchte ich sie nicht
ansprechen, sie können eben auch bei anderen Erkrankungen
des Herzens Vorkommen. Der Satz Fuhrmanns [ll]: „Der
Kliniker wird in den allerseltensten Fällen in der Lage sein, mit
einiger Wahrscheinlichkeit die Diagnose auf primären Herz¬
tumor stellen zu können, sondern wird sie fast immer dem
Pathologen überlassen müssen“, der nicht nur von den „intra¬
muskulären und endokardialen“, sondern auch von den „peri¬
kardialen Herzgeschwülsten“ (Jürgens [18]) Geltung hat,
wird wohl unangefochten noch in langer Zeit bestehen bleiben.
Zusammenstellungen über die Fälle von
Her zgesch Wülsten sind von verschiedenen Autoren
veröffentlicht worden, . so z. B. von Bodenheimer [4],
Martinotti [20], Fränkel [9] (Tabelle über die seit dem
Jahre 1870 publizierten Fälle von primären Herztumoren),
Fuhrmann [ll], Seijiro Jesaka [25]. Von primärem
Sarkom des Herzens konnte ich 12 Fälle in der Literatur finden;
es sind dies die Veröffentlichungen von Bodenheimer [4],
Hotten roth [14], Ely [7], Birch-Hirschfeld [3],
Fränkel [9], H e n n i g [13], Jürgens [18], W e i s s [27],
Prudhomme [23], 2 Fälle von Fuhrmann [ll] und der
etwas zweifelhafte Fall von Impaccianti [15]. Von diesen
Sarkomfällen (auf den Fall von Impaccianti [15] will ich
nicht näher eingehen) lassen sich unterscheiden: ein Rund-
zellensarkorn, 5 Spindelzellensarkome (teils Spindel- und Rund¬
zellen im mikroskopischen Bild), ein Melanosarkom, 2 Riesen¬
zellensarkome, 2 Fibrosarkome.
Von primären Neubildungen am Herzbeutel, an deren
Vorhandensein z. B. E u 1 e n b u r g [8] überhaupt nicht glaubt,
die zu den grössten „Raritäten“, um mit Kaak 1 19] und Cza¬
pek [6] zu sprechen, gehören, deren Seltenheit Nothnagel
[21] hervorhebt, konnte ich in der Literatur nur nachstehende
Fälle finden. Förster und Guarnieri [12] beschreiben
je einen Fall von Karzinom des Herzbeutels, Redtenbacher
[24] berichtet ausführlich über einen Fall von Angiosarcoma
pericardii, das sich mikroskopisch als ein Konvolut von Ka¬
pillaren und Spindelzellen erwies. Orth [22] erwähnt in
seinem Lehrbuch, dass am Herzbeutel primäre kleine multiple,
warzige Bindegewebegeschwülstchen nicht häufig beobachtet
werden können, die Mischformen von Fibrom und Lipom
(A Ibers [l]) darstellen. Sehe ich von letzteren Fällen ab.
so bleiben nur 4 Fälle von primären Herzbeutelgeschwülsten
übrig, davon sind 2 Fälle als Karzinome bezeichnet, ein Fall
als Sarkom (Angiosarkom), ein Fall als Myxosarkom (Kaak
[19]), beschrieben worden. Am häufigsten befallen, was den
Sitz der primären Herzge.schwiilste anlangt, ist nach den be¬
kannt gewordenen Fällen der linke Vorhof, nämlich 10 mal
unter 55 Fällen, dann der rechte Vorhof, 6mal an primären Herz¬
geschwülsten erkrankt gefunden wurde. Andere Teile des Her¬
zens, dann besonders der Herzbeutel, sind nur sehr selten —
wie die Statistik ergibt — der Sitz primärer Geschwülste,
Eine so enorme allgemeine Sarkomatose des Herzens ausgehend
vom Epikard, wie in dem von mir zur Veröffentlichung ge¬
kommenen Fall, konnte ich in der Literatur, die mir zur Ver¬
fügung stand, nicht finden. In fast allen Fällen handelte es sich
nur um das Befallensein von einzelnen Teilen des Herzens,
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
22 00
ht um eine so auffallend grosse Verteilung des Tumors. Auch
unter den in der Literatur veröffentlichten Tumoren des Her¬
zens sekundärer Natur konnte ich eine ähnliche Erscheinung
nicht auffinden.
Nach den mir bekannt gewordenen Fällen scheinen
Männer häufiger an Herzgeschwülsten (inkl. der Herz¬
beutelgeschwülste) zu erkranken als Frauen. Ich konnte unter
Hinzurechnung meines Falles dem Geschlechte nach folgende
Aufstellung machen:
Männer: 29,
Frauen: 15,
Unbekannt: 17.
Wenn diese Aufstellung gegen die Aufstellung F r ä n k e 1 s
[9] spricht, der unter 10 Fällen 7 weibliche und nur 3 männliche
Individuen erkrankt fand, so mag dies schliesslich an der Ver¬
schiedenheit der Zahl der Fälle seine Ursache haben, wie es
ja bekannt ist, dass statistische Aufstellungen je nach der Zahl
der Fälle häufig zu anderen Resultaten führen. Berthen so n
[2] fand z. B. unter 30 von ihm veröffentlichten Fällen von
primären Herztumoren 11 Männer und 9 Frauen erkrankt, in
10 Fällen war das Geschlecht nicht angegeben. Hier würde
also der Befund etwa mit meinen Zahlenangaben überein¬
stimmen. Dem Alter nach wurden am meisten erkrankt ge¬
funden Individuen über 50 Jahre, doch lassen sich Erkrankungen
fast in allen Altersstufen vom frühesten Kindesalter an bis ins
G reisenalter hinein feststellen. Vom 20. Lebensjahre bis zum
50. Lebensjahre scheinen die einzelnen Dezennien fast durch¬
weg in gleicher Weise beteiligt zu sein. Sehe ich von den 17
mir an Alter unbekannt gebliebenen Individuen meiner Zu¬
sammenstellung von Erkrankungen an primären Tumoren des
Herzens ab, so erhalte ich ungefähr für je 10 Jahre vom 20.
bis 50. Lebensjahre eine Zahl von 4 primären Herztumoren. Als
jüngster der erkrankten Patienten muss, wenn man von den
Myomfällen Neugeborener Abstand nimmt, ein 3 Tage altes Kind
betrachtet werden, als ältestes Individuum fand ich eine 82 jäh¬
rige Frau in der Literatur angegeben.
Ueber die bisher beobachteten, mir bekannt gewordenen
TumorendesHerzensunddesHerzbeutels, lässt
sich etwa folgende Statistik aufstellen. Von F i b r o -
m e n und Myxomen wurden 30 Fälle (die in der Literautr
oft zweifelhaften Fälle von Fibromen und Myxomen [zu letz¬
teren möchte ich auch nach seinem histologischen Befund, den
von Leonhardt [29] 1905 veröffentlichten Fall von Myxom
der Valv. mitralis rechnen], die bei genauerer Untersuchung
sich meistens als organisierte Blutgerinnsel erwiesen, wie
solche Fälle Czapek [6] und Jaegers [16] in ihren Ar¬
beiten deutlich kennzeichnen, auf welche in neuester Zeit auch
in der Arbeit von D j e w i t z k y [28] wieder hingewiesen wird,
sind hier nicht eingerechnet), von Sarkomen 13 Fälle, mit
dem von mir veröffentlichten Falle also 14, von Karzinomen
7 Fälle, von Lipomen 5 Fälle, von Myomen 4 Fälle und
von Teratomen 1 Fall bekannt. Unter den Geschwülsten
im allgemeinen würde somit das Sarkom an zweite Stelle
treten, unter den bösartigen Geschwülsten nimmt es die erste
Stelle ein.
Als Schluss meiner Arbeit möchte ich hier noch zusammen¬
fassend die Resultate aufstellen, die sich mir aus dieser
kleinen Abhandlung ergeben haben:
1. Zu den seltensten Lokalisationen primärer Geschwülste
gehören die des Perikards.
2. Primäre Tumoren des Herzens sind relativ seltene Ge¬
schwülste, unter denen das Fibrom und Myxom als primärer
Herztumor die Hauptrolle spielen, das Sarkom erst an zweite
Stelle zu setzen ist.
3. Die I umoren des Herzens, sowie des Herzbeutels, ge¬
hören meistens zu den Bindegewebsgeschwiilsten.
4. Der häufigste Sitz der Tumoren ist der linke Vorhof.
5. In Bezug auf das Geschlecht werden Männer häufiger
befallen als Frauen.
6. Das Alter gibt für die Aetiologie keine zu verwertenden
Anhaltspunkte.
7. Ein eigenes Krankheitsbild wird durch Herzgeschwülste
nicht hervorgerufen.
An dieser Stelle sei mir auch gestattet, Herrn Obermedi¬
zinalrat Prof. Dr. v. Bollinger für die Ueberlassung des
Falles, sowie für das Interesse, das er dieser Arbeit widmete,
meinen ganz ergebensten Dank auszusprechen.
Autor
Tumor
Alter u. Ge¬
schlecht
Sitz der Geschwulst
Andrale u. Bavle
(1824)
Karz. (?)
37 jähr. Mann
Aeussere Wand d. r.
Ventrikels
Segalas d’ Etche-
Karz. (?)
1 1 jähr. Indiv.
Rechter Vendrike!
pare (1825)
Vorderer Rand des
Herzens
Billard (1828)
Karz. (?)
3 Tage altes
Indiv.
Ollivier (1837)
V P
46 jähr. Frau
Rechte Kammer
Andral (1844)
Mann f
Rechter Ventrikel
Luschka (1855)
Fibr.
- CK
Linker Ventrikel
Albers (1856)
Lip.
77 jähr. Mann
Linke Seite des Herz¬
beutels
Fibr.
—
—
Kottmever (1862)
P
—
Linker Ventrikel
Recklinghausen
Myom
—
Ventrikelwandung
(1862)
Virchow (1864)
P
Männl. Kind
Spitze d. 1. Ventrikels
u. obere Spitze d. r.
Ventrikels
Bodenheimer (1865)
Sark.
44 jähr. Mann
Vord. Fläche b. Vorhöfe
Paikert (1865)
Karz.
Sept. ventrikul.
Kantzow u. Vir¬
chow (1866)
Myom
, -
Vordere Herzfläche
Prudhomme (1867)
Sark.
24jähr. Mann
Valv. semils. s.
Hottenroth (1870)
-
79 „ Frau
Rechtes Herzohr
Wagstaffe (1871)
Fibr.
3 Mon. altes
weibl. Kind
Sept. ventriculor.
Curtis (1872)
Mvx.
81 jähr. Frau
Mitralklappe
v. Bamberger
Myx. (?)
Mann
Linker Vorhof
(1872)
Elv (1877)
Sark.
28 jähr. Mann
Aeussere Wand des
linken Ventrikel
Wiegandt (1876)
Myx. (?)
26 „
Sept. atr. v.
Birsch - Hirschfeld
(1877)
Sark.
—
Rechter Vorhof
Salvioli (1878)
Fibr. cav.
60 jähr. Frau
Atrium sin.
Zander (1880)
Fibr.
36 „
Sept. ventr. dextr.
Boström (1880)
Fibr.
80jähr. Frau
Atrium sin.
Weiss (1880)
Sark.
—
—
Virchow (1881)
Myxom
27 jähr. Mann
Auricula sin.
Waldvogel (1885)
Fibr. telang.
49
p p
Atrium sin.
Martinotti (1886)
Myxofibr.
—
Linkes Herzohr
Lome (1886)
Myx.
26 jähr. Indiv.
—
üuarnieri (1886)
Karzinom
40 „ Mann
Perikard.
Banti (1886)
Lip.
52 „ Frau
Rechter Vorhof
Kolisko (1887)
Myom
—
—
Hennig (1888)
Spindelzellen¬
sarkom
—
Rechte Herzkammer
Impaccianti (1888)
Sark. (prim.?)
—
Linke Herzkammer
|rränkel (1889)
Fibrosark.
18 jähr. Frau
Atrium dextr.
Redtenbacher
Angiosark.
22 „ Mann
Herzbeutel
(1889)
Joel (1890)
Teratom
14 „ Mann
Ater. pulm. innerhalb
des Perikards.
Juergens (1891)
Fibr.
10 mon. Kind
Rechter Vorhof
p v
Sark.
Mann
P P
Fibr. Myx.
50jähr. Mann
Vordere Wand d. 1.
Vorhof
Czapek (1891)
Myx.
49 „
Herzspitze
P P
V
33 „ „
Papillarmuskel d. Valv.
trikusp.
Berthenson (1893)
P
85 „ „
Linker Vorhof
Jaegers (1893)
P
79 „ Frau
p t»
Tedeschi (1893)
Lipom
63 „ Mann
Herzspitze
Ribbert (1894)
Mvx.
Frau
Valv. tricusp.
Robin (1896)
p
Mann
Linker Vorhof
Petrocchi (1897)
Lip.
77 jähr. Mann
Rechter Vorhof
Quth (1898)
Mvx.
54 „ Frau
Valv. tricusp.
Fuhrmann (1899)
Sark.
—
Aortenklappe
” P
p
34 jähr. Mann
Linker Vorhof
P P
Mvx.
37 „
Sept. atri. d.
Spältv (1901)
Lipom
40 „ Frau
Rechtes Herzohr
Kaak (1904)
Myx.
27 „ Mann
Herzbeutel
Reitmann (1905)
Fibr.
74 „
R. Semilunarklappe
Jesaka (1905)
*
70 „
Septumwd. d. 1. Vorh.
Lubitsch (1905)
Fibr. Mvx.
40 „ Frau)
Linker Vorhof
Bacmeister (1906) |
Mvx.
46 „ Mann
Septum d. Vorhöfe
Djewitzky (1906)
Fibrom, papill. 83 „ „ •
Mittlere Aortaklappe
Schöppler (1906)
Sark. 73 „ Frau
Herzbeutel (Epikard).
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Wochenschr. 1896, No. 1. — 6. Fr. Czapek: Zur pathologischen
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Anatomie, Berlin 1887, Bd. I. — 23. Prudhomme: Observation
d’insuffisance aortique causee par une Vegetation cancereuse melanee
emergeant du muscle, du ventricule gauche, adherant et perforant
deux valvules sigmoides aortiques. Gaz. des hop., No. 8, p. 30. Paris
1867. — 24. B. Redtenbacher: Ein Fall von Angiosarcoma peri¬
cardii. Wien. klin. Wochenschr. 1889. — 25. Jesaka Seijiro: Ein
Fall von primärem, papillärem, hyalinem Fibrom des Herzens. Inaug.-
Diss., München 1905. — 26. H. T r i e p e 1: Ueber gelbes Bindegewebe.
Anat. Anz., Bd. XV, p. 300. — 27. W e i s s: Un caso di sarcoma del
cuore. Gazz. med. ital. prov. Venet. Padua 1880. — 28. W. S.
Djewitzky: Ueber die Geschwülste der Herzklappen. Virchows
Archiv, Bd. 185, H. 2, 1906. — 29. Leonhard: Ueber Myxödem
des Herzens, insbesondere der Herzklappen. Virchows Archiv,
Bd. 181, 1905.
Aus der Heilanstalt Falkenstein im Taunus.
Die bildliche Darstellung von Lungenbefunden.
Von Dr. Gustav Besold, leitendem Arzt.
Wer seine Lungenbefunde möglichst genau aufzeichnet,
so dass er sich ein getreues Bild der aus dem aufgezeichneten
Befunde zu entnehmenden anatomischen Veränderungen auch
späterhin rekonstruieren kann, hat eine ausserordentliche
Menge von Details niederzuschreiben. Durch eine solche
langatmige Beschreibung wird nicht nur Zeit und Geduld stark
in Anspruch genommen, sondern es leidet in nicht geringem
Masse die Uebersichtlichkeit, und die Möglichkeit schnelle und
sichere Vergleiche zwischen verschiedenen Befunden anzu¬
stellen. Das Bedürfnis nach bildlicher Wiedergabe der Lun¬
genbefunde ist deshalb schon allenthalben gefühlt worden, und
es hat nicht an mancherlei Versuchen in dieser Hinsicht ge¬
fehlt.
Wenn ein schematisches Verfahren sich allmählich ein¬
bürgern soll, so muss es m. E. folgende Eigenschaften an sich
haben :
1. Es muss einfach zu handhaben sein und die Zeichen
müssen sich innerhalb der erforderlichen Gruppen auseinander
entwickeln, so dass möglichst wenig dabei auswendig zu
lernen ist.
2. Es muss alles dargestellt werden können, was irgendwie
von Wichtigkeit ist und
3. muss trotzdem die völlige Klarheit und Uebersichtlich¬
keit des Bildes gewahrt bleiben, so dass eine lange Reihe ver¬
schiedener Befunde mit einem Blicke übersehen werden kann.
Ad 1. Die einfache Handhabung der Aufzeichnungen er¬
fordert wieder folgendes: Man verwendet fertige Thorax¬
schemata, die man in Mehrzahl sich kauft oder die man in
Mehrzahl sich in ein Heftchen oder ein Journal vordruckt, da¬
mit die Aufzeichnung auch überall ausserhalb der Wohnung
des Arztes gemacht werden kann. Die zahlreich im Handel
befindlichen Gummistempel sind hierzu praktisch und auf Jahre
hinaus haltbar, selbst bei täglicher sehr häufiger Benützung,
No. 45.
überdies billig im Preis. Aus dem gleichen Grunde der Ein¬
fachheit dürfen farbige Stifte oder gar verschiedene Tinten
und Federn nicht verwendet werden. Denn abgesehen von
versehentlichem Missgriff in der einen oder anderen Farbe,
macht das beständige Mitsichfiihren und Wechseln der Stifte
und Federn Umstände und Zeitverlust beim Fixieren des Be¬
fundes. Es muss also die gesamte Darstellung aller Einzel¬
heiten mit ein und derselben Feder oder einem einzigen Stifte
gemacht werden können.
Daraus wieder folgt aber von selbst, dass sämtliche Zei¬
chen eindeutig sein müssen und so gewählt, dass sie in ihrer
verschiedenen Bedeutung eine in die Augen springende Ver¬
schiedenheit anfweisen. Innerhalb aber derselben Gruppe von
Zeichen (Dämpfung, Atmung, Nebengeräusche) sollen wieder
solche Aehnlichkeiten vorhanden sein, dass die einzelnen Zei¬
chen ineinander übergeführt werden können, da ja auch in
Wirklichkeit die Uebergänge vorhanden sind. Endlich sollen
die Zeichen einer weiteren Entwicklung fähig sein.
Ad 2 wäre nur noch zu sagen, dass wohl alles Nötige muss
ausgedrückt werden können, dass aber für die Deutung des
Bildes überflüssige Spielereien zu vermeiden sind. Vor allen
Dingen ist die Grenze des Erkrankten, die Stärke und Schwäche
der abnormen Erscheinungen wiederzugeben, insonderheit
muss die Dichte der wahrgenommenen Nebengeräusche ganz
dem Gehörseindruck entsprechend abgestuft werden und die
sämtlichen Zeichen müssen über beliebig grossen Raum aus¬
gedehnt werden können und müssen andererseits in beliebig
kleinen Raum passen, ohne dass sie an Charakteristik ein-
büssen.
Ad 3. Eine Darstellungsweise ist m. E. von vornherein
auszuschliessen, nämlich diejenige der Schraffierung erkrank¬
ter Partien. Durch Schraffieren leidet unter allen Umständen
die Klarheit des Bildes, auch wenn verschiedene Farben für
verschiedene Bedeutung gewählt werden. Das innerhalb des
Schemas zur Verfügung stehende weisse Papier sollte so wenig
wie möglich verschmiert werden. Im Interesse der Klarheit
drücke man das Thoraxschema nur schwach aufs Papier.
Von mehreren zu meiner Kenntnis gekommenen Darstei¬
gungsmethoden möchte ich diejenigen übergehen, welche sich
lediglich der Schraffierung erkrankter Teile mit kurzen
schriftlichen Erläuterungen ausserhalb des Schemas bedienen.
Sie haben aus dem eben gesagten Grunde nur sehr geringen
Wert.
Von anderen Methoden erwähne ich vor allem diejenige von
Sahli (1899, Franz Deuticke). Ich muss hier ganz besonders
hervorheben, dass mir bei Konstruktion der unten wieder-
zngebenden Zeichen die Darstellungsweise Sahlis völlig un¬
bekannt war. Gewisse Aehnlichkeiten, ja Gleichheiten sind
durchaus nicht unwahrscheinlich, wenn von zwei voneinander
unabhängigen Seiten der Versuch gemacht wird, ein zere¬
brales Gehörsbild, welches von der Vorstellung anatomischer
und physiologischer Vorgänge und deren pathologischen Ver¬
änderungen getragen ist, in ein Gesichtbild zu übersetzen. Dies
trifft namentlich zu bei Rasselgeräuschen, welche musikalischen
Charakter an sich haben.
Ich würde ohne weiteres die Sahli sehe Darstellungsart
für die allerbeste bisher veröffentlichte halten, wenn sie sich
nicht zur Darstellung der Dämpfung verschieden tiefer Fär¬
bung des erkrankten Gebietes bediente. Das erscheint mir,
wie oben bemerkt, das Praktische der Methode zu be¬
einträchtigen.
Ferner hat P e n s u t i eine bildliche Darstellung von Lun¬
genbefunden veröffentlicht, welche mir nicht eben praktisch
erscheint, weil die Zeichen alle untereinander sich viel zu viel
ähneln, und weil die Darstellung der Dämpfungsverhältnisse
Schwierigkeiten macht, wenn die Grenzen angegeben werden
sollen, und weil die Zeichen eine nicht genügende einfache Ab¬
stufung zulassen.
Israel H o 1 m g r e n, „von der medizinischen Abteilung des
Krankenhauses Sabbatsberg“, hat 1904 „ein praktisches
System, um Atmungslaute auf Schablonen aufzuzeichnen“ ver¬
öffentlicht. Er sagt auf Seite 2 seiner Broschüre selbst: „Dieses
System, zu dem ich gelangte, zeigte später gewisse Aehnlich¬
keiten mit dem B e s o 1 d s, welches ich damals noch nicht
3
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
tun te. Da cs indessen in verschiedenen wesentlichen Ge¬
sichtspunkten, welche ich für vorteilhaft ansehe, sich von
diesem unterscheidet . .
Ich kann trotz eingehender Prüfung des Holmgren-
schen Schemas keinen wesentlichen Vorteil vor meiner Me¬
thode erkennen.
Die von M o e 1 1 e r aber in der Deutschen Klinik am Ein¬
gang des 20. Jahrhunderts 1901 veröffentlichte Darstellungs¬
methode muss ich im allgemeinen als die meinige betrachten.
Die Uebereinstimmung der Zeichen beider Methoden ist
eine nahezu vollkommene, selbst in kleinen unbedeutenden
Einzelheiten, wie z. B. a für amphorischen Beiklang, A für auf¬
gehobenes Atmen, ++ für pleuritisches Reiben etc.
Ich möchte wohl vermuten, dass Herr Dr. Röpke, welcher
die in Falkenstein seit 1899 in den Journalen geübte bildliche Dar¬
stellung als unser Assistent kennen lernte, dieselbe nach Belzig trans¬
plantierte, wo er in der Folgezeit Assistent war. Denn veröffent¬
licht habe ich jene Methode erst nach mehr als dreijähriger An¬
wendung im Jahre 1902 in meinem Buche: „Die Anstaltsbehandlung
der Tuberkulose der Atmungswege.“
Eine besondere Zutat hat M o e 1 1 e r meiner Methode an¬
gefügt, das ist die unnötige und unpraktische (s. o.) Anwendung
dreier Farben, und die störende unnütze Schraffierung.
Aus diesen letzten Gründen muss ich, trotz der oben betonten
Uebereinstimmung, die M o e 1 1 e r sehe Art als unzweckmässig
bezeichnen.
Die seit 1899 in der Falkensteiner Anstalt ausschliesslich
geübte Aufzeichnung der Lungenbefunde wurde von mir unter
Beihilfe zweier Konsulenten (Dr. P i c k e r t und Dr. G i d i o n -
s e n) seinerzeit nach den eingangs dargelegten Gesichtspunkten
konstruiert und besteht in folgendem:
Erst wird Dämpfung, dann Atmung, und dann erst werden
die Nebengeräusche eingetragen.
Die Dämpfungen werden durch über das Thorax¬
schema hinausragende horizontale Striche bezeichnet und ab¬
gegrenzt. Je nach der Stärke oder Schwäche der Dämpfung
werden die Striche verschieden dick bis ganz fein, und end¬
lich unterbrochen und fein gemacht. Rückt man die Teile der
feinen gestrichelten Linie noch auseinander, so hat man eine
noch weitergehende Abstufung. Tympanismus wird mit grie¬
chischem r zwischen den Dämpfungsstrichen ausserhalb
des Schemas bezeichnet, das r wird ein- oder mehrfach unter¬
strichen, um die Stärke des Tympanismus auszudrücken. Ein
Wi neben dem r bedeutet Wintrichschen Schallwechsel etc.
Atmunq:
EES/CIILAp 11 einfach j abSeschmcht. / rauh yes/c.^
scharf- w'c. f uuicMr f~mNCHIAL ' /
absesdm bronchial, j laut bronchial. J vesico-bronchial^J
u (Mpha) amphorisch. A‘Atmun$ auf Schoben.
Neben-qeräusche:
RASSELN:
feines. •' frochnes.
, linsend
ffa/fh)(/iemen. <p(fti) Pfeifen .
flßhonchus. ?= Iterdachtauf Neben -
/Nur 1. Husten z.hören ,-Serausch
+ A-PleurilC/er. 'We Murmeln Murren/
'* „pollen-
feuchtes:
"uvi A/einb/asig .
^RtfSross »
°oocf Min send
°<pglonsonirenc/ //$(/.
o ofä/eic/} Srassekmsj
Um das Atemgeräusch als sakkadiert darzustellen, werden ein paar
kurze feine Querstriche durch das Atmungszeichen gezogen.
Es bleibt sonach das Innere des Thoraxschemas frei für
Darstellung der Atmung und der Nebengeräusche. Für Atmung
und Nebengeräusche fungieren folgende Zeichen:
Verschiebung der Schallgrenzen bei der Atmung: aus¬
giebig, normal: V neben der Dämpfungslinie aussen; geringe
Verschiebung: an derselben Stelle v. Bei verlängertem Ex-
spirium stellt die Atmung einen gegen den Beschauer offenen
spitzen Winkel dar, dessen von links nach rechts aufsteigender
Schenkel das Inspirium, dessen absteigender das Exspirium
bedeutet. Dieser letztere Schenkel mag noch eigens länger als
der aufsteigende gezeichnet werden.
Wem die genannten Zeichen nicht ausreichen, der kann
gewiss noch anfügen; besonders sei dies bemerkt für manche
in den Bronchien entstehende Geräusche, für welche wir grie¬
chische Buchstaben gewählt haben.
Ein fingierter Lungenbefund würde sich nach obiger Me¬
thode folgendermassen ausnehmen :
Bei genauer Durchsicht dieser bildlichen Darstellung er¬
geben sich in der Deutung wohl keine besonderen Schwierig¬
keiten, so dass ich eine detaillierte Beschreibung unterlassen
kann. Auf die Grenzen und das Zu- und Abnehmen der Dämp¬
fungen möchte ich besonders hinweisen.
Prüfe ich die von mir angegebene Methode nach den ein¬
gangs aufgestellten Forderungen, so glaube ich folgendes sagen
zu können:
Der Forderung 1 ist vollauf Genüge getan, denn e i n Blei¬
stift oder eine Feder dient zur Eintragung sämtlicher Zeichen.
Innerhalb der einzelnen Gruppen besteht eine genügende Aehn-
lichkeit und die Figuren entwickeln sich leicht auseinander,
während zwischen den einzelnen Gruppen eine auffällige Ver¬
schiedenheit vorhanden ist. Die in den Bronchien entstehen¬
den Geräusche und das Pleurareibegeräusch sind mit beson¬
deren Zeichen bedacht. Sämtliche Zeichen sind in kürzester
Zeit vollkommen zu beherrschen, wie ich mich seit Jahren an
allen jungen Assistenten überzeugte, von denen jeder bald
fähig war, genaue bildliche Lungenbefunde in Kursivschrift für
einen Bericht umzuwandeln. Nach einiger Zeit der Uebung
geht auch die Eintragung sehr schnell von statten.
Der 2. Forderung genügt die Methode wohl ebenfalls in
jeder Beziehung, insbesondere sind alle Zeichen so gewählt,
dass sie verschieden abgestuft und dass mehrere derselben
von jeder Art in einem Interkostalraum untergebracht wer¬
den können, ohne an charakteristischem Aussehen einzubüssen
oder sich gegenseitig zu stören.
Und endlich 3. ist das Bild mit Klarheit sofort zu übersehen,
ja es können bei einiger Uebung die Befunde eines ganzen
Jahres während des Durchblätterns des Journals richtig und
zuverlässig erkannt und beurteilt werden.
Endlich bleibt ein gewisser vorteilhafter Zwang bei der
angegebenen Methode, die Eintragungen völlig genau zu
machen, so dass der Untersucher sich über das Gehörte ganz
klar sein und den erhobenen Befund genau lokalisieren muss.
Da sich uns in Falkenstein die bildliche Darstellung seit nahezu
7 Jahren nicht nur bewährt, sondern fast unentbehrlich gemacht
hat, so finden sich vielleicht Kollegen veranlasst, die ange¬
gebene Methode zu versuchen. Ich glaube sicher, dass sich
viele, welche genaue Entragungen machen wollen, mit der
bildlichen Darstellung befreunden werden, und dass sie auch
noch da und dort anzufügende passende Zusätze machen
werden.
Vielleicht einigen sich die Lungenheilstätten auf eine
gleiche bildliche Darstellungsweise. Es wäre dies meines Er¬
achtens eine grosse Erleichterung des gegenseitigen ärztlichen
Verkehrs zwischen den Heilstättenärzten und würde die Auf¬
stellung bezüglicher vergleichender Statistiken entschieden ver¬
einfachen und beschleunigen.
Lieber gleichzeitige Darstellung von Fettkörnern, eisen¬
haltigem Pigment und Zellkernen in Gefrierschnitten.
Von Dr. J. W a 1 1 a r t in St. Ludwig i. E.
Zur Färbung des Fettes in mikroskopischen Schnitten be¬
dient man sich heute allgemein zweier Methoden, der Os-
mierung und der Färbung mit Sudan III und Fettponceau, auch
Scharlach R genannt. Besonderer Beliebtheit erfreut sich die
letztere Methode, mit Hilfe der organischen Fettfarbstoffe. Man
wendet Lösungen dieser Farbstoffe — Sudan III oder Ponceau
— in 70 proz. Alkohol an, wäscht nachher die Schnitte kurz in
50 proz. Alkohol und dann in Wasser aus und kann die Kerne
durch Behandlung mit Hämatoxylin, Karmin oder einem
anderen Kernfarbstoffe darstellen.
Will man neben dem Fett in den Zellen noch das eisen¬
haltige Pigment nachweisen, so bedient man sich hierzu des
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2203
Schwefelammoniums oder des Ferrozyankaliums mit Salz¬
säure. Man verfährt im allgemeinen dann so, dass man erst
die Eisenreaktion ausführt, dann das Fett und schliesslich noch
die Kerne darstellt. Alle diese Manipulationen erfordern aber
sehr viel Zeit, und ich habe in den bekannten technischen Lehr¬
büchern nach einer Methode gesucht, welche das ganze Ver¬
fahren vereinfachen könnte; leider konnte ich in den mir zu¬
gänglichen Schriften nichts Passendes finden.
Folgende Methode habe ich bei meinen Untersuchungen
an Ovarien angewandt und damit zufriedenstellende Resultate
erhalten; ich wage es daher sie zur Nachprüfung bekannt zu
geben. Es ist keine neue Methode im eigentlichen Sinne des
Wortes, sondern bloss eine Kombination zweier bekannter
Verfahren.
Ich bediene mich folgender Lösungen:
I. 2 g Karmin werden in 10 ccm Wasser und 8 Tropfen reiner
Salzsäure unter Kochen gelöst, 40 ccm absoluter Alkohol zugesetzt
und tüchtig umgeriihrt; das Ganze wird noch warm filtriert und das
Filtrat mit absolutem Alkohol bis auf 50 ccm aufgefüllt.
II. Gesättigte Lösung von Sudan III oder Fettponceau in 80 bis
90 proz. Alkohol.
III. 1 g Ferrozyankalium wird in 20 ccm destilliertem Wasser
unter Erwärmen gelöst, also eine 5 proz. Lösung.
Nun mischt man in einem kleinen Messzylinder 2 ccm von der
Lösung I, 2 ccm von der Lösung II und 2 — 3 Tropfen reine Salzsäure;
zuletzt fügt man noch 2 ccm der Lösung III hinzu. Sollte hierbei
eine leichte Trübung entstehen die sich beim Schütteln nicht hebt,
was sehr selten vorkommt, so filtriert man die Mischung. Meistens
ist die Mischung ganz klar. Man kann I und II zu gleichen Teilen
gemischt auch vorrätig halten mit einem Ueberschuss des Fettfarb¬
stoffes.
Bei meinen ersten Versuchen hatte ich Lösung II mit absolutem
Alkohol hergestellt und dann bei der Mischung fast immer eine Aus¬
fällung vop krystallisiertem Sudan oder Ponceau erhalten; seither ver¬
wende ich\nur 80— 90 proz. Alkohol.
Die Gefrierschnitte werden in Wasser aufgefangen — ich habe
nur in Formol fixiertes Material verwandt — dann kurz in 50—70 proz.
Alkohol mit — oder ohne Zusatz von 1 proz. Salzsäure — getan und
nachher in die Mischung. Hierin verbleiben dieselben 3—15 Minuten,
je nachdem man eine stärkere oder schwächere Kernfärbung zu er¬
zielen wünscht. Schon nach 3 Minuten erhält man deutliche Bilder;
aber längeres Verweilen schadet nicht. Hat man die Schnitte aus der
Lösung herausgezogen, so spült man sie kurz — etwa Vz Minute — in
50— 70 proz. Alkohol mit Zusatz von 1 proz. reiner Salzsäure ab und
bringt sie in Wasser. Man kann dieselben in Glyzerin konservieren.
Bei dieser Behandlung erscheinen die Kerne prächtig kar¬
minrot, die Fettgranula intensiv gelb, das eisenhaltige Pigment
blauschwarz mit einem Stich ins Grüne. Das übrige braune
Pigment erscheint unverändert und ist als solches bei starker
Vergrösserung und guter Beleuchtung noch leicht zu unter¬
scheiden. Oft kommt es vor, z. B. wenn eisenhaltiges Pigment
dicht oder gar in Haufen gelagert ist, dass die Schollen
schmutzig-grün aussehen; aber auch so ist das Fe-Pigment
nicht zu verwechseln, weil anderes, soviel ich durch Kontroll-
versuche übersehen konnte, diese Farbennuance nicht an¬
nimmt.
Ich erwähne, dass bei getrennter Behandlung der Schnitte,
also bei Anwendung erst der Fettfärbung und nachher der
Eisenreaktion und der Kernfärbung, das eisenhaltige Pigment
allerdings bedeutend schöner blau erscheint als nach der soeben
beschriebenen Methode; wenn man aber bedenkt, dass diese
Methode ebenso genau ist wie jene und dabei die Einfachheit
und grosse Zeitersparniss in Betracht zieht, so kann man sich
mit diesem kleinen Nachteil schon abfinden.
Schnitte, die ich vor nunmehr aA Jahren nach dieser
Methode behandelt habe, lassen heute noch keine Veränderung
der Farbentöne und der Schärfe überhaupt erkennen. Ich kann
also dieses Verfahren nur empfehlen; vielleicht dass es noch
gelingt, durch andere Zusammensetzung der Lösung die schöne
blaue Farbe des Eisens auch hervorzubringen.
Literatur:
Enzyklopädie der mikroskopischen Technik, herausgegeben von
Ehrlich, Krause, Mosse, Rosin und Weigert, 1903. —
Schmorl: Pathologisch-histologische Untersuchungsmethoden. III.
Aufl. 1905. — Kahl den: Technik d. histolog. Untersuchungsmetho¬
den etc. 1892. — Stöhr: Lehrbuch d. Histologie etc., 9. Aufl. 1901.
Zur Saugtherapie bei Nasenerkrankungen.
Von Dr. R. Sonderman n in Dieringhausen.
Ueber die Anwendung des Saugens bei Nasenerkrankungen
sind in der letzten Zeit, zumeist in dieser Wochenschrift, einige
Veröffentlichungen erschienen, die erkennen lassen, dass auch
in der Rhinologie die neuerdings so vielseitig und mit so
grossem Erfolge geübte Saugtherapie die ihr gebührende
Beachtung zu finden beginnt. Um so eher dürfte sie
sich auf diesem Gebiete einbürgern, als sie die Diagnostik der
Nebenhöhlenaffektionen 'wesentlich zu erleichtern vermag 1).
Ueber letzteren Punkt bringt eine Arbeit aus der Poliklinik
von E schweiler - Bonn 2) einen wertvollen Beitrag. Aus
den mitgeteilten 16 zum Teil für die Diagnostik recht schwierig
liegenden Fällen geht mit aller Deutlichkeit hervor, welch zu¬
verlässiges und bequemes, dabei schnell und schmerzlos wir¬
kendes Hilfsmittel uns in dem Nasensauger zur Verfügung
steht. Wenn auch noch weitere Erfahrungen abgewartet
werden müssen, um die Frage zu entscheiden, ob stets, wenn
der Sauger kein Sekret fördert, ein Nebenhöhlenleiden aus-
zuschliessen ist, so erhöhen doch jedenfalls die Erfahrungen
Honneths diese Wahrscheinlichkeit sehr. Interessant ist
der Versuch, den Honneth an der Leiche ausgeführt hat,
um zu eruieren, ob die Highmorshöhle durch den Sauger ganz
entleert werden könne. Wenn auch nicht näher erwähnt, so
ist doch anzunehmen, dass hierbei nur die gerade Kopfhaltung
berücksichtigt worden ist, wobei das Ostium also eine relativ
ungünstige Lage für den Abfluss des Sekretes hat. Der Ver¬
such, der positiv ausfiel, wird hoffentlich noch häufiger wieder¬
holt werden — mir selbst fehlt leider die Gelegenheit hierzu.
An sich ist nicht anzunehmen, dass es bei hochliegendem
Ostium auf diese Weise gelingt, eine Höhle gänzlich zu ent¬
leeren. Um so weniger dürfte dies möglich sein, wenn, wie in
praxi doch meist, der Inhalt der Höhle eine weniger dünnflüssige
Beschaffenheit hat, als die zu dem Versuch benutzte Kal.
permang. -Lösung.
Nachteile für die Methode selbst ergeben sich aus dieser
Einschränkung in der Saugwirkung nicht, können wir doch
jederzeit durch seitliche Haltung oder Senkung des Kopfes
nach vorn den Ostien eine solche Lage geben, dass sie mög¬
lichst den tiefsten Punkt der betreffenden Höhle bilden. Schon
seit längererZeitverfahre ichdemgemäss bei jederUntersuchung,
wo Verdacht eines Nebenhöhlenleidens besteht, so, dass ich zu¬
nächst bei gerader Kopfhaltung, dann nacheinander bei Senkung
des Kopfes nach vorn, rechts vorn und links vorn, den Sauger
, anlege. Bei diesem Vorgehen ergeben sich auch häufig wert¬
volle Anhaltspunkte für die differentielle Diagnose. Sieht man
z. B. im Beginne des Saugens bei gerader Kopfhaltung Eiter
zwischen Septum und mittlerer Muschel auftreten, so kann
dieser ebensowohl aus den hinteren Siebbeinzellen, wie aus
der Keilbeinhöhle stammen. Nimmt das Sekret an Menge bald
ab, bei Senkung des Kopfes vornüber aber wieder zu, so
ist mit gewisser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Keil¬
beinhöhle erkrankt ist. Aehnliche Schlüsse ergeben sich bei den
anderen Höhlen. Natürlich wird man auch dem Patienten
aufgeben, bei weiterem Saugen stets die der Diagnose ent¬
sprechende günstigste Kopfhaltung anzunehmen.
Folgender Fall möge als Beispiel dienen:
Frau B., 52 J., 27. IX, 05. Leidet seit vielen Jahren fast täglich
an Kopfschmerzen (besonders auch im Hinterkopf) und Schwindel;
in letzter Zeit Verschlimmerung. Muss häufig die Nase reinigen,
früher hat anscheinend auch zeitweise eitrige Sekretion bestanden.
Nase rechts weit, untere Muschel etwas atrophisch, links normal,
beiderseits kein Sekret. Durch Saugen bei gerader Kopfhaltung beider-
*) In No. 4 1906 dieser Wochenschrift berichtet R e t h i - Wien,
dass er ebenso wie S e i f f e r t - Würzburg schon früher („Die nega¬
tive Luftdusche als diagnostisches Hilfsmittel bei Erkrankungen der
Nebenhöhlen der Nase.“ Wiener klin. Rundschau No. 43 1899 und
„Zur Diagnose und Therapie der Erkrankungen der Nebenhöhlen
der Nase“, Sitzungber. der physik.-mediz. Gesellschaft zu Würzburg
vom 29. IV. 1899) auf die Vorteile des Saugens bei Nebenhöhlen¬
leiden hingewiesen hat, die er durch Umkehrung des Politzer-
schen Verfahrens erzielte. Weitere Verbreitung scheint jedoch die
Methode nicht gefunden zu haben.
2) Honneth: Ueber den Wert des „Sondermann sehen
Saugapparates“ zur Diagnose und Therapie der Nasenerkrankungen.
Diese Wochenschrift No. 49, 1905.
3*
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
scits wenig serös-schleimiges Sekret, bei Beugung nach vorn zwischen
Septum und mittlerer Muschel reichliches schleimig-eitriges Sekret,
mit kompakten schmutziggrauen Bröckeln durchsetzt; Erkrankung
der Keilbeinhöhle war also wahrscheinlich. Soll 3 mal täglich saugen.
22. X. Hat Anfangs 3 mal täglich, dann 2 mal täglich, die letzte
Woche nur noch 1 mal täglich gesaugt und bemerkt, dass sich bei
gerader Kopfhaltung nichts, bei Beugung nach vorn stets Sekret
entleerte. Starke Kopfschmerzen bestanden nur noch am 1. Tage,
seitdem keine nennenswerten mehr. Allgemeinbefinden und Appetit
wesentlich gebessert. Die reichlichste Entleerung von Sekret fand
in der 2. Woche statt, jetzt nur noch wenig seröses.
Bezüglich der therapeutischen Wirkung des Saugers be¬
merkt H o n n e t h, dass, wenn es auch unter günstigen Um¬
ständen gelinge, eine Höhle völlig leer zu pumpen, die Reinigung
doch insofern unvollkommen sei, als die käsigen Massen, Po¬
lypen, Schleimhautwülste Zurückbleiben. Solche Einschrän¬
kung besteht, wie ich dies schon in meiner ersten Veröffent¬
lichung angedeutet habe, selbstverständlich, wenn auch damit
noch nicht ausgeschlossen ist, dass z. B. die Schleimhautwülste
durch die regelmässige Reinigung und Hyperämisierung all¬
mählich zurückgehen. Im übrigen folgt daraus aber nur, dass
wir nicht blindlings jeden mit Saugen behandeln, sondern uns
stets die Frage vorlegen sollen, ob sich der betreffende Patient
auch für die Saugbehandlung eignet.
Bei der Beantwortung dieser Frage müssen ohne weiteres
diejenigen Fälle ausscheiden, über deren operative Behandlung
auch nach Entfernung etwa vorhandener Polypen ein Zweifel
nicht obwalten kann, mag es sich nun um ausgedehntere Karies
oder Nekrosen, Neubildungen, abnorme Erweiterung der
Höhlen, gefahrdrohende Erscheinungen durch Uebergang auf
Nachbarorgane oder dgl. handeln. Bei den nicht in diese Ka¬
tegorie gehörigen Fällen ergibt sich ein wichtiger Unterschied
daraus, ob eine akute oder chronische Erkrankung vorliegt.
Erstere dürfte sich wohl stets — mit obiger Einschränkung —
für die Saugbehandlung eignen, zweifelhaft bleibt dieses jedoch
zunächst bei der letzteren.
Als Anhaltspunkte für eine Entscheidung können hier
dienen die Zeit, die seit dem Bestehen des Leidens verflossen
ist, die subjektiven und objektiven Symptome und die Wirkung
des Saugers. Im allgemeinen ist es jedenfalls richtig, wenn
wir annehmen, dass je länger ein Nebenhöhlenleiden bestanden
hat, um so geringer die Aussicht ist, es durch Saugen allein zu
bessern oder gar zu heilen. Aber nicht nur, dass der Patient
sehr häufig über die Dauer seines Leidens keine bestimmten
Angaben machen kann, auch die krankhaften Veränderungen
können bei gleicher Zeitdauer sehr verschieden sein. Dieselbe
Unsicherheit ergibt sich für die Beurteilung der subjektiven
wie der objektiven Symptome. Weit vorgeschrittene Leiden
verursachen häufig nur mässige Beschwerden, während
umgekehrt ein einfacher Katarrh der Höhlen die hef¬
tigsten Kopfschmerzen hervorrufen kann. Das gleiche gilt
für die stärkere oder schwächere Sekretion. Einen
besseren Anhaltspunkt bietet die Wirkung des Saugers;
wenn durch ihn reichliches Sekret aus der erkrankten
Höhle entleert wird, es an Menge allmählich abnimmt, seinen
eitrigen Charakter verliert und mehr serösschleimig wird,
wenn die Beschwerden sofort nachlassen und bald ganz ver¬
schwinden, so liegen diese — keineswegs seltenen — - Fälle für
die Saugtherapie offenbar günstig und wird der Patient mit dem
Erfolg zufrieden sein, auch wenn man ihn darauf aufmerksam
machen muss, dass das Saugen lange Zeit fortgesetzt werden
muss. Anders ist es, wenn nur die Beschwerden verringert
werden, das Sekret aber trotz häufigen, bis zu stündlich wie¬
derholten, Saugens auch noch nach 1 — 2 Wochen unverändert
reichlich eitrig bleibt. Durch Saugen allein ist dann höchstens
nur vorübergehende Besserung zu erwarten; man muss deshalb
in solchen Fällen andereMassnahmen zu Hilfe1 nehmen, und, wenn
auch dann ein dauernder Erfolg ausbleibt, zur Operation raten.
Lassen auch die Beschwerden nicht nach, was sich stets schon
nach 2 — 3 I agen entscheidet, so ist weiteres Saugen zwecklos.
Verfahren wir nach diesen Gesichtspunkten, so dürften wir
wohl stets der Gefahr entgehen, dass durch Anwendung des
Saugers der rechte Moment für andere Massnahmen versäumt
wird.
Um zu einem bestimmten Urteil in jedem Einzelfalle zu
gelangen, ist freilich, wie ich dies schon mehrfach bemerkt
habe, wichtig, dass das Saugen häufig genug geschieht. Stets
habe ich betont, dass es bei Nebenhöhlenleiden wenigstens im
Anfänge der Behandlung häufiger als 2 mal täglich vorge¬
nommen werden muss, unter Umständen sogar eine Zeit lang
stündlich. Ich kann deshalb auch kein Urteil über den thera¬
peutischen Wert des Verfahrens anerkennen, bei dem diese
Forderung nicht erfüllt ist. Dies trifft auch zu auf die bezüg¬
lichen Ausführungen Honneths. Es geht aus seiner Arbeit
hervor, dass er nur einmal täglich das Saugen angewandt hat.
Wenn er trotzdem in allen Fällen Besserung der subjektiven
Beschwerden konstatieren konnte, so ist das nur ein neuer Be¬
weis für die gute Wirkung des Saugens.
Durch obige Auseinandersetzungen erledigt sich auch die
Bemerkung H.’s, dass die von mir angegebene Zeit, bei der es
sich doch nur um Minuten handle, nicht genüge, um eine mög¬
liche Wirkung der Hyperämie zu erzielen. Da für jede Appli¬
kation des Saugers durchschnittlich etwa 5 Minuten einzusetzen
sind, so ergibt dies für den ganzen Tag entsprechend den oben
erwähnten Bestimmungen eine Zeit von 20 — 30 Minuten, die
sich in schwereren Fällen bei stündlicher Anwendung auf etwa
1 Stunde erhöht. Hiermit erreichen wir dieselbe Zeit, die
B i e r für die Hyperämisierung bei chronischen Erkrankungen,
z. B. der Tuberkulose der Gelenke als die günstigste angibt.
Auch der Grad der Hyperämisierung dürfte schweriich, zum
mindesten gilt dies für die eigentliche Nasenhöhle, hinter dem
für chronische Erkrankungen durch Stauung als zulässig er¬
achteten Zurückbleiben. Genaue Vergleiche lassen sich hier
nach Lage der Sache nicht anstellen; auch ist noch nicht ent¬
schieden und wird sich auch so bald nicht entscheiden lassen,
ob die durch Stauung oder die z. B. durch Saugen in der Nase
entstehende Hyperämie von grösserer Heilwirkung ist; des
weiteren sind unsere Kenntnisse über die Wirkung der Hy¬
perämie noch zu wenig fortgeschritten, als dass schon jetzt
die Untersuchungen über die günstigste Zeitdauer ihrer An¬
wendung als abgeschlossen gelten könnten. Es ergibt sich
hiernach von selbst, dass es sehr gewagt ist, jetzt schon be¬
urteilen zu wollen, ob diese oder jene Form der Hyperämie
eine Wirkung haben kann oder nicht, ohne dass dies durch
genügend zahlreiche Versuche begründet werden kann. So
lange solche nicht vorliegen, fühle ich mich auf Grund der
bisherigen Publikationen und meiner eigenen Erfahrungen be¬
rechtigt, auch beim Aussaugen der Nase die hierbei entstehende
Hyperämie als Heilfaktor einzusetzen.
Im Anschluss hieran bemerke ich noch, dass es besonders
oft bei Ozaena notwendig ist, das Saugen 1 — 2 Wochen lang
1 — 2 stündlich vornehmen zu lassen. Lockern sich die Borken
durch Saugen allein nicht genügend, so muss man auf andere
Weise nachhelfen, da die Entfernung der Borken wie bei jeder
Ozaenabehandlung, so auch hier wichtigste Bedingung ist.
Zum Schlüsse möchte ich noch einen Punkt besprechen,
auf den ich auch in einer früheren Arbeit3) schon näher ein¬
gegangen bin, dass nämlich die Masken nicht vollkommen des¬
infiziert werden können. Als Ersatz für sie gab ich eine Hart¬
gummiolive an, die aus zwei miteinander verschraubbaren
Teilen besteht und in ihrem Innern einen kleinen Wattebausch
aufnehmen kann, durch den das Eindringen von Sekret in den
Gummischlauch verhindert wird. Einige Nachteile, die
auch dieser Olive noch anhaften, ist mir gelungen, durch
Konstruktion der nebenstehend abgebildeten ganz zu be¬
seitigen.
Diese Olive 4) ist aus Hartglas hergestellt und besteht
aus der eigentlichen Olive und dem Stiel, die sich anstatt durch
Verschraubung durch sorgfältiges Abschleifen der Berührungs¬
flächen luftdicht ineinanderfiigen. Der Stiel ragt bis etwa zur
Mitte in die eigentliche Olive hinein und trägt nahe dem Ende
eine kleine Oeffnung. An Stelle einer grossen Oeffnung an der
Spitze der Olive sind mehrere kleine angebracht, infolgedessen
das Sekret nicht plötzlich in grösserer Menge in die Olive
hineinströmen kann. Hierdurch und durch die Lage der Stiel¬
öffnung in der Mitte der Olive wird — auch ohne Watte-
3) Weitere Erfahrungen mit meinem Nasensauger. Arch. f. La-
ryngologie Bd. 17, H. 3.
'0 Wird angefertigt in 2 Grössen von der Firma Kühne, Sievers
und Neumann, Köln-Nippes.
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2205
einlage — vermieden, dass Sekret in den Stiel eindringt. Die
Entleerung des Sekrets und Reinigung der Olive kann jederzeit
durch Herausnahme des Stiels leicht erfolgen.
Bei der Benutzung des Saugers durch den Patienten selbst
machen sich die Nachteile der Maske weniger geltend, sie
bietet hier vielmehr manche Vorteile, die sie für den Patienten
geeigneter erscheinen lassen. Die Handhabung der Maske
ist nämlich einfacher und im Gebrauch reinlicher, da die Olive
in die Nase eingeführt werden muss und ihr deshalb stets mehr
oder weniger Sekret anhaftet, das gleiche aber bei der Maske
weit seltener eintritt. Andererseits wird der Vorteil, dass die
Olive auskochbar ist, im Privatgebrauch wohl nur selten ausge¬
nützt werden, wie ihm ja auch bei der ausschliesslichen Be¬
nutzung durch dieselbe Person nicht das gleiche Gewicht bei¬
zumessen ist.
Nach Abschluss der Arbeit sind noch drei weitere ein¬
schlägige Veröffentlichungen 5) erschienen, die mich noch zu
einigen Bemerkungen veranlassen.
Die Arbeit von Guyot dürfte den meisten Lesern dieser
Wochenschrift nicht zugänglich sein, die Schlussätze seien des¬
halb wiedergegeben.
„Der Sauger wird uns grosse Dienste leisten:
I. Bei Erkrankungen des Ohres,
1) nach der Parazentese zur Entleerung des Mittelohres;
man vermeidet hierdurch die Politzer sehe Luftdusche, die
nachteilig einwirken kann;
2) zur Entfernung des eitrigen Sekrets bei akuten Mittelohr¬
eiterungen, täglich mehrmals wiederholt. Hier besonders wird er
von grösstem Nutzen sein.
II. Bei Erkrankungen der Nase und ihrer Nebenhöhlen,
1) Zur Diagnostik der Nebenhöhlenerkrankungen;
2) bei der Behandlung der akuten Nebenhöhlenerkrankungen;
3) bei der Erkrankung der eitrigen Rhinitis der Kinder,
4) Zur Umstimmung der nasalen Schleimhaut bei der Ozaena.
Soweit mir bekannt, beschäftigt sich diese Arbeit als erste
mit einer Nachprüfung der von mir vorgeschlagenen methodi¬
schen Anwendung des Saugens bei Mittelohrerkrankungen.
Anscheinend erfährt die Saugtherapie bei letzteren bisher
nur geringe Verwendung, trotzdem es doch bekanntlich sehr
schwierig ist, auf andere Weise reichlich und häufig Eiter aus
dem Mittelohr und Antrum zu entleeren. Andererseits ist doch
nicht zu bezweifeln, sowohl nach Erfahrungen an anderen Or¬
ganen, wie auch nach den von mir mitgeteilten Krankenge¬
schichten, die durch die Beobachtungen G u y o t s in gleich
günstigem Sinne ergänzt werden, dass die täglich mehrmals
wiederholte Entfernung von Eiter durch Saugen therapeutisch
von grösstem Nutzen sein muss. Gleichzeitig erzeugen wir in
dem Krankheitsgebiete, soweit der negative Druck sich fort¬
pflanzt, eine Hyperämie, der wir gleichfalls analog ihrer Wir¬
kung bei anderen Organen einen Heileffekt nicht absprechen
können. So war z. B. auch bei Patienten, bei denen Ohr¬
schmerzen und gerötetes Trommelfell eine beginnende Mittel¬
ohrentzündung vermuten Hessen, in mehreren Fällen eine gün¬
stige Einwirkung durch Saugen unverkennbar.
Eine Schädigung des Ohres durch Saugen wurde bisher
nicht beobachtet; es war dies auch um so weniger zu be¬
5) Guyot: Des indications de la methode de Bier (Aspiration)
en oto-rhinologie. Revue medicale de la Suisse Romande, 25. Jahrg.
No. 5. Heermann: Zur konservativen Behandlung der Neben¬
höhleneiterungen. Diese Wochenschr. No. 24. Uffenorde: Kri¬
tische Bemerkungen über die Sondermann sehe Saugmethode bei
Erkrankungen der Nebenhöhlen. (Aus d. kgl. Poliklinik f. Ohren-
und Nasenkrankheiten in Göttingen). Diese Wochenschr. No. 24.
fürchten, als die starke plötzliche Anspannung der Gehör¬
knöchelchenkette beim P o 1 i t z e r sehen Verfahren ebenfalls
ohne Schaden vertragen wird. Natürlich soll die Saugkraft
nicht so weit gesteigert werden, dass Schmerzen im Ohre auf-
treten; dementsprechend ist die Entfaltung des Saugballs durch
den Druck der ihn umschliessenden Hand zu regulieren. Wie
ich schon früher bemerkte, genügt schon für unseren Zweck
ein relativ geringer negativer Druck, und ruft dieser im Ohre
eher eine angenehme Empfindung hervor.
Während Guyot der Ansicht ist, dass bei den chronischen
Nebenhöhlenerkrankungen die Saugmethode der chirurgischen
Behandlung das Feld überlassen muss, bemerkt He ermann in
seiner Arbeit in Uebereinstimmung mit meinen Beobachtungen,
dass auch bei jahrelang bestehenden Eiterungen das Saugen
mit grossem Nutzen verwandt werden kann. Besonders in
Verbindung mit intranasaler Freilegung der Nebenhöhlen hält
er die Saugbehandlung in erster Linie berufen, chronische Em¬
pyeme ohne grössere Eingriffe zur Heilung zu bringen.
Im Gegensätze hierzu stehen die Resultate, die Uffen¬
orde bei Nachprüfung der Methode erzielt hat. Die Erklärung
hierfür liegt im wesentlichen in einer falschen Anwendung der¬
selben. Immer wieder habe ich darauf aufmerksam gemacht,
dass die täglich mehrmalige Wiederholung des Saugens ein
notwendiges Postulat für einen Erfolg sei; anstattdessen hat U.,
wie aus seinen beiden Krankengeschichten hervorgeht, nur
höchstens einmal täglich das Saugen vorgenommen; und dieses
eine Mal, wie dies dann leicht zu geschehen pflegt, durchaus
übertrieben. Die Patientin im Falle I klagte schon bei der
ersten Anwendung des Saugers über abnorm lebhafte Be¬
schwerden; anstatt nun höchstens noch einen zweiten Versuch,
event. mit einem schwächeren Ball zu machen, bei gleichem
Effekt das Saugen aber zunächst zu unterlassen und erst nach
mehreren Stunden oder am folgenden Tage erneut einen Ver¬
such zu machen, legt er den Sauger zehnmal in derselben
Sitzung an. Wie ist es da zu verwundern, dass die Patientin
noch in der folgenden Nacht und am folgenden Tage über
starke Druckschmerzen über den Augen klagte; wundern kann
man sich höchstens über die grosse Geduld der Patientin, aber
jedenfalls geht es doch nicht an, die Folgen solchen Uebermasses
der Methode an sich zur Last zu legen. Wenn ich angegeben
habe, man solle so lange saugen, wie noch Sekret zum Vorschein
käme, so setzt dies selbstverständlich voraus, wie auch aus
meinen anderen bezüglichen Bemerkungen hervorgeht, dass
der Patient bei dem längeren Saugen keine besonderen Be¬
schwerden empfindet. Andererseits dürfte auch keineswegs zur
Erzielung eines Erfolges die völlige Entleerung der Höhle un¬
bedingt notig sein, wenn auch zuzugeben ist, dass der Erfolg
um so grösser sein wird, je vollständiger dies gelingt.
Die Bedenken Uffenorde s, dass durch Ansphoppung
der Schleimhaut im Augenblicke des Saugens der Durchtritt
von Sekret durch das Ostium verhindert werden könnte, sind
rein theoretisch konstruiert. Die Wahrscheinlichkeit spricht
nicht dafür und die praktische Erfahrung ebensowenig. Auch
Polypen, deren Entfernung im übrigen stets anzustreben ist,
werden nur dann ein ernstliches Hindernis bilden, wenn sie
sich vom Innern der Höhle her dem Ostium vorlegen.
Mit der Erklärung der physikalischen Vorgänge beim Sau¬
gen, wie sie Uffenorde gibt, stimme ich überein; bestätigt
wird sie auch durch den Versuch U.s an der Leiche, nur dass
die Versuchsanordnung in wesentlichen Punkten von den Vor¬
gängen beim Saugverfahren abweicht und es deshalb nicht
angeht, das Resultat des Versuchs auf letzteres übertragen zu
wollen. U. hat nämlich an der Leiche mit aller Sorgfalt darauf
geachtet, dass bei der Kompression des Saugballs keine Luft
in das abgeschlossene Nasenlumen zurückströmte; infolge¬
dessen standen Nase und Nebenhöhlen stets unter demselben
negativen Drucke, und Uebergang von Flüssigkeit aus der einen
Höhle in die andere war ausgeschlossen. In Wirklichkeit tritt
aber bei jeder Kompression des Balles ein Teil der Luft wieder
in die Nase über, in den meisten Fällen wird sogar der Ab¬
schluss der Nase nach dem Rachen hin ganz aufgehoben.
Indem so der normale atmosphärische Druck in dem um¬
schlossenen Gebiet immer wieder hergestellt wird, kann, auch
immer wieder von neuem Luft abgesaugt und dadurch die Be-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
dingung geschaffen werden, dass sich ein Teil des Inhaltes der
Nebenhöhlen in die Nasenhöhle ergiesst.
Heermann erklärt den physikalischen Vorgang beim
Aussaugen der Nebenhöhlen so, dass die in letzteren vor¬
handene Luft sich ausdehne und das Sekret heraustreibe; je
geringer also das sich ausdehnende Luftquantum sei, um so
geringer sei seine austreibende Kraft. Hienach würde also,
wenn die Höhle mit Sekret ganz ausgefüllt, also keine Luft in
ihr wäre, das Saugen resultatlos bleiben. Aus meinen obigen
Darlegungen geht hervor, dass dieser Schluss irrig ist. Ein
Ausgleich zwischen der unter negativem Drucke stehenden
Nasenhöhle und der unter normalem atmosphärischem Drucke
stehenden Nebenhöhle findet stets statt, und so lange das Sekret
im Innern der Nebenhöhle so reichlich ist, dass es das Ostium
bedeckt, so lange wird auch diese Druckdifferenz dadurch aus¬
geglichen, dass Sekret aus der einen Höhle in die andere Über¬
tritt, — stets vorausgesetzt, dass dies durch zu grosse Zähig¬
keit des Sekrets oder andere Hindernisse an sich nicht ausge¬
schlossen ist; — sobald aber das Sekret obige Bedingung nicht
oder nicht mehr erfüllt, hört jede Sekretentleerung durch Saugen
auf; der Druckausgleich in Nase und Nebenhöhle vollzieht sich
dann dadurch, dass ein entsprechendes Luftquantum aus letz¬
terer in erstere gesaugt wird, während das Sekret in der Höhle
zurückbleibt.
Wenn auch anzunehmen ist, dass die bei Nebenhöhlen¬
entzündungen gelockerte und gewulstete Schleimhaut durch den
negativen Druck an Volumen noch zunimmt und durch die
damit verbundene Verringerung des freien Lumens der Höhle
entsprechend mehr Flüssigkeit aus ihr durch Saugen zu ent¬
leeren ist, so halte ich doch für unbedingt erforderlich, worauf
ich schon im Anfang der Arbeit hingewiesen habe und wie dies
auch von Uffenorde geschieht, dass das Saugen in der für
jede Nebenhöhle günstigsten Kopfhaltung vorgenommen wird,
bei der also das Ostium eine möglichst tiefe Lage einnimmt.
Beugung des Kopfes nach vorn (für die Keilbeinhöhle) und vorn
seitlich (für die beiden Kieferhöhlen) annähernd bis zur Hori¬
zontalen dürfte für die ärztliche Untersuchung, bei der es zu¬
nächst auf die Stellung der Diagnose ankommt, genügen. Bei
Selbstbehandlung wird der Patient meist in der Lage sein, dem
Ostium durch Beugung des Kopfes über die Horizontale hinaus,
wie dies besonders leicht in liegender Stellung möglich ist, die
fürs Saugen günstigste Lage zu geben.
Dem mehrfach beklagten Nachteil, dass die Maske für den
Gebrauch des Arztes nicht genügend desinfizierbar sei, ist
durch die oben beschriebene Olive in vollkommener Weise
abgeholfen. Sie hat vor dem von Heermann modifizierten
Muck sehen Sauggläschen den Vorzug, dass sie leichter ge¬
reinigt werden kann und bei jeder Kopfhaltung die Sicherheit
bietet, dass kein Sekret in den Schlauch eindringt. Bei Beugung
des Kopfes ist dies bei dem Sauggläschen infolge der senk¬
rechten Stellung, die es dann einnehmen muss, leicht möglich.
Der Ansicht Heermanns, die Ventile seien überflüssig,
kann ich nur insofern beistimmen, als das Saugen auch ohne
sie möglich ist. Praktischer und angenehmer für den Patienten
ist jedoch der mit Ventilen versehene Sauger, denn der Rück¬
strom der Luft bei Kompression des Balles ist, wenn letzteres
nicht besonders langsam oder ohne Abheben der Maske bezw,
Olive geschieht, von einem recht unangenehmen Gefühl be¬
gleitet, und ausserdem besteht dabei die Gefahr, dass Sekret
durch die Tube ins Mittelohr geschleudert wird. Eher schon
können die Ventile beim Ohrsauger fehlen, doch sind auch hier
solche mit Ventilen vorzuziehen.
Nur zur Ergänzung unseres Rüstzeuges auf dem so schwie¬
rigen Gebiete der Diagnostik und Therapie der Nasenerkran¬
kungen soll und kann das Saugverfahren dienen, und als be¬
sonderen Vorzug glaube ich ihm anrechnen zu dürfen, dass es
diejenigen Fälle wird vermehren helfen, die ohne schwere chi¬
rurgische Eingriffe der Besserung und Heilung zugeführt wer¬
den. Freilich ist die sorgfältige Beobachtung der gegebenen
Vorschriften bei Anwendung der Methode erstes Erfordernis,
aber dann dürfte sie auch nicht nur dem Spezialisten, sondern
zugleich dem praktischen Arzte die Möglichkeit bieten, mehr als
bisher auch auf diesem Gebiete einer grossep Zahl von Pa¬
tienten direkte Hilfe angedeihen lassen zu können.
Schutzmittel gegen Geschlechtskrankheiten.
Nachtrag zu der in No. 21 vorigen Jahrganges dieser Wochen¬
schrift erschienenen Arbeit.
Von Dr. O 1 1 o Grosse, Spezialarzt für Chirurgie der Harn¬
wege, in München.
Nachdem die bakteriologische Prüfung des antigonorrhoischen
Agens meines Prophylaktikums „Selbstschutz“, die, wie seinerzeit
berichtet, auf gütiges Anraten des Herrn Geheimrat Neisser in
die Wege geleitet wurde, nunmehr zum Abschluss gelangt ist, er¬
laube ich mir nachstehend das Resultat derselben mitzuteilen. Die
Versuche, deren Ausführung ’ich aus Zeitmangel dem Laboratorium
Fresenius in Wiesbaden übertrug, zogen sich infolge %der ja hinreichend
bekannten grossen Schwierigkeiten bei Züchtung von Gonokokken¬
reinkulturen erheblich in die Länge, so dass mir erst am 20. d. M.
von dem genannten Laboratorium das abschliessende Gutachten zu¬
gestellt wurde, welches folgenden Wortlaut hat:
„Sie erteilten uns den Auftrag, ein von Ihnen angegebenes Pro-
phylaktikum gegen Gonorrhöe, welches Hydrargyrum oxycyanatum
in Mischung mit Gelatine und Glyzerin enthält, auf seine abtötende
Wirkung gegenüber Gonokokken zu prüfen.
Durch die gütige Vermittlung des Spezialarztes Herrn Dr. B a e r,
hier, erhielten wir Kulturen, auf welchen sich Gonokokken neben
anderen Bakterien entwickelten. Wir züchteten die Gonokokken
rein und prüften dann die Wirkung des uns übersandten Prophylakti¬
kums, indem wir den Inhalt einer Tube direkt auf die Oberfläche einer
üppig entwicktelten Reinkultur ausstrichen. In Kulturen, die sofort,
dann nach 30 Sekunden, nach 1, 3 und 5 Minuten nach Aufbringen des
Mittels angelegt wurden, entwickelten sich keine Gonokokken.
Des weiteren prüften wir das Mittel in der von Schäffer an¬
gegebenen Versuchsanordnung (Zeitschr. f. Hygiene, Bd. 16, p. 219),
indem wir die Gonokokkenkultur mit 1 ccm einer sterilen Mischung
von Serum und physiologischer Kochsalzlösung aufschwemmten und
zu dieser Aufschwemung 1 ccm des Mittels zusetzten. Auch aus dieser
Mischung, welche das Mittel in halber Konzentration enthielt, ent¬
wickelten sich bei der Anlage von Kulturen (sofort, nach 1 und nach
3 Minuten nach dem Aufbringen des Mittels) keine Gonokokken.
Ausdrücklich sei bemerkt, dass die zugehörigen Kontrollversuche
sowohl in ganzer wie in halber Konzentration durchgeführt wurden.
Die Versuche wurden zur Kontrolle stets zweimal bei übereinstim¬
mendem Resultat ausgeführt.
Die angelegten Kulturen wurden während mehrerer Tage be¬
obachtet unter Belassen im Briitschrank und, wenn sich dann kein
Wachstum zeigte, wurden zur Kontrolle Uebertragungen von einer
lebenskräftigen Reinkultur vorgenommen. Diese gingen hierauf au
und lieferten so den Beweis, dass bei den ersten Uebertragungen auf
den Nährboden dieser selbst durch das Prophylaktikum nicht gelitten
hatte.
Aus den Versuchen ergibt sich, dass das Prophylaktikum Gono¬
kokken in Kulturen innerhalb kurzer Zeit — sofort nach dem Auf¬
bringen - — sowohl bei der Anwendung in der gegebenen Zusammen¬
setzung, also ganzer Konzentration, wie auch mit dem
gleichen Volumen Flüssigkeit verdünnt, also halber Konzen¬
tration, sicher vernichte t.“
Entsprechend der schon nach den Untersuchungen von Schäf-
f e r und Steinschneider a priori vorausgesetzten und nunmehr
einwandfrei nachgewiesenen unbedingten Sicherheit der Wirkung des
Hydrargyrum oxycyanatum kann ich feststellen, dass mir unter
Hunderten von Anwendungsfällen des Prophylaktikums kein einziger
Fall von Infektion bekannt geworden ist. Direkte Versuche in vivo
halte ich aus mehrfachen, naheliegenden Gründen in der Praxis für
untunlich, doch sei mir gestattet, eine interessante zufällige Be¬
obachtung anzuführen: Von zwei hiesigen Studierenden der Medizin,
welche beide zur gleichen Stunde den Koitus mit einer gonorrhoischen
Puella publica vollzogen, erkrankte der Eine, der keinerlei Vorsichts-
massregeln traf, an akuter Gonorrhöe, während der Andere, der das
Prophylaktikum anwandte, gesund blieb — eine Beobachtung, welcher
fast die Beweiskraft eines Experimentes zukommen dürfte.
Aerztliche Standesangelegenheiten.
Zur SchifFsarztfrage.
Von einem Schiffsarzt ist uns ein Schreiben zugegangen,
das wir seiner hochinteressanten — durchaus sachlichen — Aus¬
führungen wegen der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten wollen. Sie
werfen ein bezeichnendes Streiflicht auf die Verhältnisse, in die sich
der junge Schiffsarzt in Ostasien plötzlich versetzt sieht, und auf die
Enttäuschunge n, die seiner auf den Schiffen des indisch-
chinesischen Küstendienstes des „Norddeutschen Lloyd"
warten. Sie dürften wohl auch geeignet sein, seine hochgespannten
Erwartungen etwas herabzustimmen und auf das richtige Mass zu¬
rückzuführen.
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2207
Der Brief lautet:
Sehr geehrter Herr Doktor!
Wie ich kürzlich in der No. 25 der „Münch, med. Wochenschr.“
las, sollte auf der Versammlung des ärztlichen Verbandes in Halle
auch über die Stellung der Schiffsärzte verhandelt werden. Dies ver¬
anlasst mich, Ihnen einiges von der Lage der Aerzte bei der indo¬
chinesischen Küstenfahrt des „Norddeutschen Lloyd“ zu berichten,
wenn schon ich weiss, dass Sie wohl schon verschiedenes darüber
mitgeteilt bekommen haben, und ich fürchte, zu spät zu kommen.
Aber vielleicht ist es Ihnen wertvoll, recht viele verschiedene Stimmen
in dieser Sache zu hören.
Unsere Stellung bietet uns verschiedene Annehmlichkeiten, die
wir durchaus nicht leugnen wollen, Schön ist die Aus- und Heim¬
reise, die man als Passagier auf einem Reichspostdampfer macht,
interessant ist eine Fahrt, die man auf den Austral-Japandampfern
fährt, und es ist einem für das ganze Leben wertvoll, die Haupthäfen
des Ostens kennen zu lernen. Wer Sinn für Natur und landschaftliche
Schönheit hat, erlebt manche herrliche Stunde, die alle Unbilden ver¬
gessen lässt.
Warum sind wir trotzdem unzufrieden?
Zunächst erlebt fast jeder von uns eine Enttäuschung. In
Bremen wird uns, leider meist nur mündlich, gelegentlich aber sogar
schriftlich zugesichert, dass wir hier draussen die verschiedensten
Fahrten machten, nach Sumatra, Java, Borneo, Rangun etc. etc.
Aber schon in Singapore, wo man gewöhnlich Kollegen von der
„Küstenfahrt“ trifft, erfährt man, dass man einzig 2 Fahrten macht
— entweder Hongkong-Swatow-Singapore-Bangkok-Hongkong oder
Hongkong-Amoy-Hoihou-Singapore-Bangkok-Hongkong (natürlich ge¬
legentlich kleine Variationen in der Reihenfolge, aber die Häfen bleiben
dieselben). Die einzige Abwechslung während der 12 Monate ist die
eine Fahrt auf der Japan-Australlinie, die 2Vz Monat dauert. Höch¬
stens bekommt man noch als grosse Vergünstigung eine Fahrt mit
dem Borneodampfer nach Sandakan auf Nordborneo, der eigentlich
keinen Arzt braucht. Sonst fährt man immer dieselbe Linie und zwar
auf kleinen, langsamen Dampfern, vollgepfropft mit Kulis
(auf der jetzigen Fahrt haben wir über 1100 C h i n e s e n an Bord!!)
Wenn man diesen Sachbestand in Bremen genau erführe, würde wohl
kau m einer ein Jahr seines Lebens für diese Tätigkeit
opfern, viele andere und ich hätten es keinesfalls getan. So aber er¬
fährt man erst hier draussen die Wahrheit, doch man ist nun
teils kontraktlich gebunden, teils hat man sich einmal für ein Jahr
freigemacht und mag nicht so ohne weiteres abziehen.
Dazu kommt, dass unsere ärztliche Tätigkeit ein blosser Schein
ist. Ein Medizinkasten mit einigen abführenden und stopfenden
Mitteln, mit einigen Schlafpulvern und Desinfektionsmitteln, ein
Schränkchen mit den allernötigsten Verbandstoffen und einigen ver¬
rosteten Instrumenten ist unser Inventar. Ich will gar nicht sagen,
dass diese Schiffe mehr brauchten, da sie kaum mehr als 10 Tage
von einem Hafen zum anderen unterwegs sind. Aber dafür brauchten
sie auch keinen Arzt an Bord, diese Handgriffe kann jeder Kapitän
und Offizier verrichten. Medizinische Studien kann man an den
Passagieren auch nicht machen, da eine genaue Beobachtung und
Untersuchung bei dem Schmutz, der Engigkeit und der Unruhe aus¬
geschlossen ist, erst recht natürlich eine rationelle Therapie. Es ist
dem „Lloyd“ einmal von der englischen Regierung vorgeschrieben,
an Bord der Kulidampfer Aerzte zu führen, und so sind wir denn da
— als Puppen für die Behörde. Die Lloydbeamten, denen Geldver¬
dienen ohne viel Arbeit als Ideal erscheint, beneiden uns und wundern
sich, dass wir klagen, uns aber wird dies Puppendasein nach 8 Tagen
zur Qual. Dabei riskiert man seine Gesundheit erstens
wegen des Klimas (Malaria, häufiger Temperaturwechsel usf.), dann
wegen der Verpflegung, die ganz von Chinesen besorgt wird, und
endlich wegen des engen Zusammenlebens mit den Passagieren, die
häufig direkt vor unseren Türen liegen und leicht Pest, Cholera u. a.
Krankheiten einschleppen können. Zwar werden sie bei Beginn der
Reise vom Hafenarzt besichtigt, aber das geht sehr geschwind (auf
meiner letzten Reise z. B. 600 Mann in einer halben Stunde).
Nun zu den Gehaltsverhältnissen. Der LlojM glaubt
uns glänzend bezahlt, wenn er uns 100 Dollar im I. Halb¬
jahr, 125 Dollar im II. Halbjahr und 150 Dollar im 2. Jahre gibt
— ein solches Gehalt wagt hier draussen keine
Handelsgesellschaft ihrem einfachsten Kommis
zu bieten. Denn es ist bekannt, dass man für die Tropen sich
von Kopf bis zu Fuss anders ausrüsten muss, dass die Lebensverhält¬
nisse teurer sind und dass eben niemand sich in den Tropen anstellen
lässt, wenn er nicht angemessen dafür entschädigt wird. Ausserdem
gilt der Dollar nicht mehr als eine Mark, wenn er auch im Kurs gleich
2 Mark steht. Aber der „Lloyd“ betrachtet die Aerzte mehr als
To u r i s t e n, die ihm dankbar sein müssen, dass er ihnen die
Welt zeigt, — dass wir dabei ein Jahr unseres Lebens opfern und
Gesundheit und Leben aufs Spiel setzen, rechnet er
nicht. Ausserdem vergleicht man uns, soviel ich gemerkt habe,
gern mit den Krankenhausassistenten, ohne dabei zu bedenken, dass
bei diesen wissenschaftliche Förderung ein gewisses Aequivalent für
das geringe Gehalt ist.
Alle unsere Wünsche wären vielleicht dahin zusammenzufassen:
Es muss in jedem Falle ein schriftlicher Kontrakt vorgelegt werden,
der folgende Punkte enthält:
1. Genaue Angabe der Tätigkeit des Küstenarztes, insbesondere
Angabe der Dampferlinien, die für ihn in Frage kommen.
2. Zusicherung einer Reise auf den Australjapandampfern und
einer Fahrt nach Borneo.
3. Verpflichtung auf ein Jahr einschliesslich der Aus-
und Heimreise. (Ein ganzes Jahr für die Küstenfahrt zu opfern,
ist entschieden zu viel. Man ist schon nach einigen Monaten des
ewigen Umherziehens von Schiff zu Schiff bezw. Hotel müde und
kommt aus aller Ordnung.)
4. Die Ablösung kann auf Wunsch des Arztes von Yokohama
oder Sidney erfolgen. Bei der Aus- und Heimreise hat der Arzt An¬
spruch auf eine Kabine I. Klasse für sich allein; falls
kein Platz I. Kajüte frei ist, erhält er eine gute Kabine in der II. Klasse
und eine entsprechende Geldentschädigung, wie sie sonst auch die
Schiffsärzte, Offiziere und Maschinisten bekommen, wenn sie ihre
Kammer vermieten lassen. — Bisher haben wir Küstenärzte
fast durchweg in der II. Klasse wohnen müssen auf den
Postdampfern ohne Entschädigung. Eine Beschwerde in
Bremen ist meist erfolglos; nicht einmal eine Ent¬
schuldigung hat man mir gegenüber deswegen ausgesprochen.
Gerade auf den grossen Passagierdampfern aber haben wir von den
Passagieren auf Respektierung unseres Standes zu
halten. Es fällt allgemein auf (eigene Erfahrung), wenn ein
„deutscher Doktor“ II. Klasse wohnt.
5. Gehalt von der Ankunft in Hongkong an: Monatlich 125 Dollar
im I. Halbjahr, 150 Dollar im II. Halbjahr, 175 Dollar im 2. Jahre.
Für die Aus- und Heimreise gelten die sonst üblichen Gehaltssätze.
In der Zeit zwischen einer Fahrt und der nächsten wohnt der Schiffs¬
arzt auf Kosten des „Lloyd“ in einem guten Hotel.
6. Im Falle einer Erkrankung Anspruch auf sofortige Heimreise.
(Entschädigung für Erkrankung oder Unfall im Dienste?)
Diese durchaus nicht unbilligen Forderungen wären von uns an
den „Lloyd“ zu stellen, und es würde einer so grossen Gesellschaft,
wie er ist, auch nicht schwer fallen, sie uns zu erfüllen. Sollte es
aber bei dem alten Zustande bleiben, so können wir nur ein warnendes
„cavete collegae Küstenfahrt“ ausrufen, denn man opfert
im Verhältnis zu dem, was man gewinnt, viel zu viel Zeit, setzt sich
allerlei Gefahren aus und kommt zurück in seinem Beruf. Wir sind
meistens jung an Jahren, darum auch glaubt man beliebig mit uns
umspringen zu dürfen. Doch spielt hier das Alter gar keine Rolle
und ein älterer Mann würde diese unruhige Lebensführung nicht aus-
lialten. Ob der „Lloyd“ unsere Forderungen bewilligt, ist sehr frag¬
lich, doch leidet er sichtlich an Mangel von Aerzte n. Man
munkelt hier, dass er indische Aerzte einstellen will, doch
sollen diese noch mehr Kosten verursachen (sie haben z. B. für eine
Fahrt angeblich ca. 300 Dollar gefordert).
Darum geben wir die Hoffnung auf eine Besserung unserer Lage
nicht auf, zumal wenn sich der „Leipziger Verband“ der
Sache tatkräftig annimmt. Diese Bitte möchte ich zum Schluss
ganz ergebenst aussprechen.
In grösster Hochachtung
ergebenst
Dr. med .
Referate und Bücheranzeigen.
Das Gesundheitswesen des Preussischen Staates im Jahre
1904. Bearbeitet von der Medizinalabteihing des Ministeriums.
Berlin 1906. Richard Schötz. 429 Seiten und 62 Seiten Ta¬
bellen. Preis 12 Mark.
Der vorliegende Band der trefflichen Jahresberichte bringt
wieder einen solchen Reichtum an Wissenswertem, dass Jeder,
welcher sich näher mit öffentlicher Gesundheitspflege befasst,
auf ihn selbst verwiesen werden muss und hier nur Weniges
daraus als TJrobe angeführt werden kann. Rühmend ist gleich
noch zu erwähnen, dass die Verteilung der Altersklassen für
die einzelnen Provinzen angeführt wird, während derartige
notwendige Angaben, welche sogar noch ausführlicher sein
sollten, in Sanitätsberichten meist fehlen.
In der Einleitung wird bemerkt: Der Gesundheitszu¬
stand war im allgemeinen befriedigend. Die Sterblichkeit blieb
mit 19,5 auf 1000 Lebende gegen die 19,9 betragende Ziffer
des Vorjahres etwas zurück; diese Verminderung machte sich
übrigens durchweg in den jüngeren Altersstufen, bis zum 25.
Jahre geltend. Dabei stieg die Zahl der Geburten nicht un¬
wesentlich. Die bakteriologischen Untersuchungsstellen bei
den Regierungen wurden vermehrt und erweitert, das Des¬
infektionswesen gefördert, die Bekämpfung der Tuberkulose
ging in erfreulicher Weise vorwärts. Die Wohnungsverhält-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
nisse bessern sich stetig, die Beaufsichtigung der gesundheit¬
lichen Beschaffenheit der Wohnungen führt sich in immer zahl¬
reicheren Gemeinden als dauernde Einrichtung ein. Auch die
Anstellung der Schulärzte bürgert sich immer mehr ein. In
Fragen der Gewerbehygiene werden die Medizinalbeamten all¬
mählich häufiger um ihren Rat angegangen, hervorgehoben
wird noch die staatliche Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs,
die nicht ohne Erfolge bleibt.
Es folgen die einzelnen Abschnitte:
I. Gesundheitsverhältnisse. Der natürliche Zuwachs
der Bevölkerung betrug 562 387 Menschen, die Säuglingssterb¬
lichkeit war nächst dem Jahre 1902 die geringste. Sie ist von
1881 — 90 und dem folgenden Jahrzehnt mit 24,5, 1901 mit 27 herunter¬
gegangen 1902 auf 20,9, 1903 23, 1904 22,2 auf hundert Kinder im
ersten Lebensjahr. Auf 100 Lebendgeborene kamen 18,5 im ersten
Lebensjahr Gestorbene, in den Städten 19,3, auf dem Lande 17,9.
Bei den tödlichen Verunglückungen zeigt sich eine stete Ab¬
nahme der Verhältniszahlen in den letzten 5 Jahren. Krebs. Die
Todesfälle an bösartigen Neubildungen nahmen in den Angaben auf
1 Million Lebender zu vom Jahre 1898 bis 1904 von 573 auf 694, dar¬
unter an Krebs im engeren Sinn 626. „Ob eine wirkliche Zunahme
stattgefunden hat, muss aber dahingestellt bleiben.“ Was die Be¬
ziehungen zwischen dem Auftreten des Krebses und besonderen ört¬
lichen Verhältnissen anbelangt, so wird auch für das Berichtsjahr
wieder mehrfach erwähnt, dass in feuchten, sumpfigen Niederungen
und längs der Flussläufe Krebs häufiger beobachtet wurde, als auf
Höhenzügen und auf sumpffreien Wald- und Ackerflächen. Aber,
fügt der skeptischer gewordene Bearbeiter bei, derartige Beobach¬
tungen sind weit davon entfernt, die Regel darzustellen. Wenn dann
weiter einschränkend erwähnt wird, dass die auf Grund mehrjähriger
früherer Beobachtungen aufgestellten Behauptungen über das Be¬
fallensein sowohl wie über die Immunität bestimmter Gegenden sich
nicht fortgesetzt als gleichmässig zutreffend erweisen konnten, so
hat Ref. schon im Jahre 1902 zuerst auf die zeitlichen Schwankungen
der Häufigkeit des Krebses hingewiesen, welche ja gerade im Gegen¬
satz zu reinen Konstitutionskrankheiten für die Natur des Krebses
als einer parasitären Krankheit sprechen.
Infektionskrankheiten. Ziemlich allgemein werden
den Aerzten für ihre Anzeigen Karten oder Briefumschläge mit dem
Portofreiheitsstempel zur Verfügung gestellt, um ihnen die Meldung
zu erleichtern. Die Aerzte haben auch im allgemeinen ihre Pflicht
erfüllt; aber trotzdem wird noch über die Unvollständigkeit und Un¬
zuverlässigkeit der sanitätspolizeilichen Meldungen ansteckender
Krankheiten geklagt. In den meisten Regierungsbezirken wurden
bakteriologische Untersuchungsanstalten zu unentgeltlichen Unter¬
suchungen schon jetzt oder für die Zukunft verpflichtet. Kranken¬
absonderung fand zwangsweise nur ganz selten statt; doch ge¬
schah die Krankenhausbehandlung manchmal sehr ausgedehnt, wie
in der Stadt Danzig bei 50 von 57 Typhusfällen. Muss der Kranke in
der Wohnung verbleiben, so kann viel zur Verhütung weiterer An¬
steckungen durch Beschaffung sachverständiger Pflege gewirkt wer¬
den. Bis Ende 1903 waren in den bis dahin begründeten 14 an
hygienische Institute usw. angeschlossenen Desinfektoren¬
schulen 601 Leute ausgebildet worden. Im Berichtsjahre wurden
in nun 17 Schulen 402 Personen ausgebildet, darunter 15 Gemeinde¬
schwestern. Es wurde als erstrebenswert bezeichnet, dass in jedem
grösseren Orte mindestens 1, in jedem Kreise aber mehrere staatlich
geprüfte Desinfektoren angestellt würden.
Die Influenza Sterblichkeit war gering, 105 auf 1 Million
Lebender; an Brechdurchfall starben entsprechend 846, Typhus 79,
Ruhr 8, Diphtherie 392, Scharlach 283, Masern 204, Keuchhusten 334,
Tuberkulose 1921 auf die Million. Der Brechdurchfall hat in
den letzten 5 Jahren keine nennenswerte Abnahme zu verzeichnen.
Dagegen hatte die Sterblichkeit an Typhus noch Ende der
1880 er Jahre gegen 250 betragen. Von den Regierungsbezirken
waren am meisten Bromberg, Marienwerder, Königsberg, Trier und
Danzig befallen, am wenigsten, wie im Vorjahre, Berlin und Aurich.
Im allgemeinen kann man eine Abnahme der Erkrankungen für das
Berichtsjahr annehmen. Es wurden schon über 100 000 Typhusschutz¬
impfungen mit abgetöteten Typhusbazillen, und zwar bisher ohne
bleibende Gesundheitsschädigung, gemacht. Bezüglich der Stärke und
der Dauer des Schutzes sind noch weitere Erfahrungen wünschens¬
wert. Eine ganz erhebliche Anzahl von Fällen hat sich als Kontakt¬
übertragungen herausgestellt, vielfach von seiten nicht angemeldeter
oder überhaupt nicht ärztlich behandelter Kranken. Oefter scheinen
Bazillenträger neue Ansteckung in vorher befallenen Häusern ver¬
anlasst zu haben. Häufig wurde Wasserinfektion angenommen, öfter
durch schlecht filtriertes Musswasser (Brieg) und namentlich im Ge¬
biete der Ruhr, durch nicht keimdichte Wasserwerke. Der Kreisarzt
nimmt an, dass die Einleitung der Kanalwasser von Tilsit die Mün¬
dungsarme der Memel verseucht habe. Ueber Infektion durch Baden
s. im II. Abschnitt. Interessant ist, dass nach Beobachtungen im
R.-B. Arnsberg das verseuchte Flusswasser ungefährlich wird, wenn
die Fabriken, wie Drahtziehereien, ihre Säuren in den Fluss abführen,
denn der Typhus hört, wie im Versetal, in allen derartig angesäuerten
Strömen auf, wo die Säure beginnt. Ein niedriger Grundwasserstand
bei Durchseuchung des Bodens wird in den R.-B. Gumbinnen und
Magdeburg für die Erklärung einiger Typhusfälle als wesentlich ver¬
merkt. Auch im R.-B. Potsdam sind gewisse Orte, wo jahraus, jahrein
Erkrankungen Vorkommen, als Typhusherde zu betrachten, die meist
schlechte Grundwasser- und Trinkwasserverhältnisse haben. In
Wustermark, Kreis Osthavelland, kam es wieder zu mehrfachem
Auftreten. Die Verseuchung des Bodens auf einem Gehöft und die
von hier vermutlich mit dem Schuhwerk erfolgte Verschleppung der
Keime werden als Ursache gedeutet. Ebenso ist R a t h e n o w, wo
28 Erkrankungen zur Anzeige kamen, ein alter Typhusherd infolge
schlechter Grundwasser- und Brunnenverhältnisse. Mehrfach wird
infizierte Milch aus Sammelmolkereien als Ursache von Epidemien
angegeben, dann Butter, Obst, feuchtes Brot und Austern. Be¬
ziehungen zum Rieselbetriebe wurden im R.-B. Potsdam und Münster,
ferner im Landkreis Breslau festgestellt. Auch im Berichtsjahre sind
Ansteckungen unter dem Krankenpflegepersonal in erheblicher Anzahl
vorgekommen. Nennenswerte Erfolge hat die möglichst umfassend
durchgeführte Isolierung der Erkrankten in den Krankenhäusern auf¬
zuweisen. Gegen die Weiterverbreitung durch Typhusträger hat die
Regierung von Koblenz eine Rundverfügung erlassen, welche den Be¬
treffenden die Kosten möglichst abnimmt.
Paratyphus. Ueber 2h der Fälle waren klinisch als Typhus
nicht zu erkennen. In Sobernheim wurden die Keime möglicherweise
durch die Strassengossen über die ganze Stadt verbreitet und dann
durch die Stiefeln in die Wohnungen verschleppt, denn fast alle Er¬
krankten hatten sich selbst oder anderen das Schuhwerk geputzt.
Ruhr. Die bakteriologische Untersuchung lässt häufig noch im
Stich.
Die Granulöse ist hauptsächlich in den Provinzen Ost-
preussen, Westpreussen und Posen, ferner in Teilen von Pommern,
Schlesien und Sachsen verbreitet. Die staatlichen Mittel zu ihrer Be¬
kämpfung haben im allgemeinen bis jetzt langsam die Ausbreitung der
Krankheit vermindert und ihre Schwere verringert. Das Hauptaugen¬
merk wurde auf die erkrankten Schulkinder gerichtet. In den
übrigen Provinzen tritt die Granulöse nur vereinzelt auf, besonders
durch Sachsengänger eingeschleppt.
An epidemischer Genickstarre starben 64, an
Pocken 18 Personen bei 122 Erkrankungen. Die meisten Fälle von
Pocken waren auf Einschleppung von Russland, in Arnsberg auf solche
aus Belgien zurückzuführen.
An Rose sind 1326, an anderen Wundkrankheiten 2388
Personen gestorben, an Wundstarrkrampf 59. Von 10 nach
den Angaben mit Heilserum behandelten sind 7 gestorben. Im
Krankenhause zu Erfurt wird das Serum anscheinend mit gutem
Erfolg prophylaktisch angewendet.
Die Zahl der an Syphilis in den allgemeinen Krankenhäusern
Behandelten ist im Verhältnis zur Bevölkerung gestiegen, wohl
grösstenteils wegen erleichterter Aufnahme.
An Kindbettfieber starben auf 10 000 Entbundene 34,1,
etwas mehr, als im Vorjahre, doch immerhin weniger, als im Anfang
der 1890 er Jahre, in denen die Zahlen zwischen 40 und 49 schwankten.
Auffallende Unterschiede zeigen sich, wie schon in früheren Jahren,
zwischen Stadt und Land in einigen Regierungsbezirken. Im allge¬
meinen beträgt die Sterblichkeit der Städte 31,4, die des Landes 36;
sie steigt aber in den R.-B. Gumbinnen auf 36,7 bezw. 55,5 Proz., für
Danzig auf 48,8 bezw. 60,9, Köslin 42,3 bezw. 62,4. In anderen ist das
Verhältnis allerdings zwischen Stadt und Land umgekehrt. Immerhin
zeigen diese Zahlen, besonders wenn man eine mangelhaftere Zählung
auf dem Lande annimmt, wie sehr die Gesundheitspflege, zumal der
Landgemeinden noch gehoben werden muss (Ref.). Zahlreiche In¬
fektionsquellen werden angeführt, die sich leicht vermeiden Hessen,
zahlreiche andere sind den Hebammenpfuscherinnen zur Last zu legen,
welche z. B. im Kreise Wittkowo bei 42 Proz. aller Geburten tätig
waren! Hier versagt die Rechtsprechung. Nur ein Beispiel für viele:
Im Kreise Stuhm starb eine Frau, die von einer als unsauber be¬
kannten Pfuscherin entbunden war, im Wochenbett. Es erfolgte Frei¬
sprechung der Angeklagten, obwohl festgestellt wurde, dass der Tod
durch die geburtshilfliche Tätigkeit der Pfuscherin veranlasst war.
Es wurde eine Fahrlässigkeit nicht angenommen, weil die Pfuscherin
nach bestem Wissen gehandelt und es nicht besser verstanden habe,
- — eine sonderbare Logik, die nicht deshalb besser wird, weil man
sie schon jahrzehntelang übt, zu schweigen von dem Schaden der
öffentlichen Moral. Das Gesetz nimmt bei den Kurpfuschern Wissen
an, sonst wären sie ja Betrüger, und lässt sie auf das Volk los;
schädigen sie es dann Tag für Tag, so nimmt die Rechtsprechung
Nichtwissen an und spricht die Betrüger frei! — Vorschrifts¬
widriges Verhalten der Hebammen kam seltener vor.
Diphtherie. Während, wie oben schon angeführt wurde,
392 auf die Million Lebender daran gestorben sind, waren es im
Durchschnitt der 10 Jahre 1888 — 97 noch 1217 gewesen, wobei noch
zu bemerken ist, dass im allgemeinen eine Zunahme der Erkran-
k u n g e n stattgefunden hat. Fast durchweg vertreten die Berichte
den Standpunkt, dass der Behandlung mit Heilserum die Abnahme der
Sterblichkeit zuzuschreiben sei. Während in den meisten anderen
Bezirken der Gebrauch des Heilserums immer mehr zunimmt, hat er
in Berlin sehr abgenommen und die Diphtheriesterblichkeit hat dort
im Vergleich zur Zahl der Erkrankten wieder zugenommen. Die
östlichen Regierungbezirke haben wieder die grösste Diphtheriesterb-
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2209
lichkeit. Die Anzeigepflicht wird überall noch recht mangelhaft gehand-
habt. In den Heilanstalten ist die Sterblichkeit seit 1895 die gleiche
geblieben. Es werden sehr lehrreiche Mitteilungen über Verbreitung
durch Menschenansammlungen und durch Nahrungsmittel gemacht;
die meisten Infektionen erfolgten durch direkte Berührung mit kranken
Menschen. Die Tatsache, dass auch anscheinend gesunde Menschen
die Krankheit verbreiten können, wurde wiederholt bestätigt, wie
später bezüglich Scharlach und Masern. Den Bazillenträgern wurde
iu mehreren Bezirken besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die
Abgabe von Serum auf Kosten der Kreise oder Gemeinden an Un¬
bemittelte nimmt in erfreulichem Masse weiter zu. Schutzimpfungen
haben sich für kürzere Zeit mehrfach gut bewährt.
Scharlach. Nach dem 15. Lebensjahr starben nur 0,97, also
nicht ganz 1 Proz., nach dem 20. nur 0,57 Proz. aller an der Krankheit
Gestorbenen.
Tuberkulose. Seit 1901 ist nach der bedeutenden Abnahme
in den vorhergegangenen 12 Jahren keine weitere erfolgt. Das wäre
übrigens gegenüber der Ausbreitung der Industrie und Vermehrung
der städtischen Bevölkerung schon ein relativer Fortschritt; bei dem
lebhafter, mittels Heilstätten, Erholungsstätten, Wohlfahrtsstellen,
Desinfektionen, Antialkoholbewegung, geführten Kampfe gegen die
Tuberkulose möchte man jedoch annehmen, dass die Zahl der 1 u-
berkulosetodesfälle durch die wenigstens manchenorts etwas gebes¬
serte. früher fast ganz mangelhafte Leichenschau scheinbar jetzt eine
verhältnismässig grössere ist, die Fortschritte in der Tat also grössere
sind. In Bayern mit seiner obligatorischen Leichenschau ist auch
1902 allgemein und 1903 in den Städten ein weiterer Rückgang erfolgt.
Dass die R.-B. Schleswig, Bromberg, Merseburg, Gumbinnen, Königs¬
berg, Danzig, Köslin und Marienwerder wie früher die günstigsten
Verhältnisse zeigen, wird durch deren meist grössere Kindersterb¬
lichkeit mit Hinwegraffung der schwächer Veranlagten zu erklären
versucht. Nach den entgegenstehenden Untersuchungen von G r u -
ber und Vogl ist aber diese Erklärung kaum mehr zulässig; sehr
nahe aber hegt die Erklärung im Fehlen entwickelter Industrie in
jenen Landesteilen. Die Fürsorge für die unheilbaren Kranken, die
wegen der gefährlichen Verbreitung des Ansteckungsstoffes mit dem
Auswurf die öffentliche Gesundheit besonders gefährden und daher
die grösste Beachtung verdienen, gewinnt mehr an Ausdehnung.
Im Lepraheim bei Memel waren am Schlüsse des Jahres
14 Lepröse und 1 Verdächtiger, ausserdem gab es noch 2 Lepröse
und 2 Verdächtige in Preussen.
Von Milzbrand wurden 14 Todesfälle und 104 Erkrankungen
angemeldet.
Tollwut. Von tollen oder wutverdächtigen Tieren, auch von
1 wutkranken Menschen wurden 365 Personen verletzt gegen 307
und 250 in den Vorjahren. Davon unterzogen sich 330 d. h. 91,7 Proz.
der Verletzten der Schutzimpfung. Bei 8 Verletzten brach die Toll¬
wut aus, wovon 5 geimpft waren. Die Sterblichkeit war bei den
Geimpften 1,5 Proz., bei den sonst ärztlich Behandelten 7,7, bei den
Nichtbehandelten 11,7 Proz. Die Schutzimpfung kann daher nicht
dringend genug empfohlen werden.
II. Abschnitt: Wohnungen. Die Arbeit der Gesundheits¬
kommissionen war durchaus erspriesslich. Die Bestellung von be¬
sonderen Wohnungsinspektoren hat sich ebenfalls durchaus bewährt.
Es ist sehr anerkennenswert, was durch Wohnungsaufsicht, Bau¬
tätigkeit von Behörden, Gemeinden, Baugenossenschaften, dann für
Arbeiterwohnungen durch Fabrikanten, Zechen, grosse Gutsverwal¬
tungen, ferner durch Herbergen für Obdachlose, endlich durch Selbst¬
hilfe geschieht. Eine durchgreifende Besserung des Wohnens kann
aber nach Ansicht des Referenten nur durch Erbauung nicht nur
hygienisch einwandfreier, sondern vor allem auch billiger Wohnungen
erfolgen. Diese wird aber nur möglich sein durch Beschaffung bil¬
ligen Baugrundes, diese selbst durch Ankauf des baufälligen
Landes durch die Gemeinden, bezw. den Staat (Erb¬
baurecht) und andererseits durch Erschwerung der künstlichen
Verteuerung des Bodens von seiten der Spekulation mittelst zw e ck-
mässigerBesteuerungimSinnederBodenreformer.
Auch aus dem vorliegenden Jahresberichte geht hervor, welche
groben, absolut nicht zu duldenden Missstände noch fast überall in
Bäckereien und Fleischereien bestehen.
III. Beschaffenheit, Reinlichkeit, Beleuchtung
der Strassen und Verkehr in denselben. In den Städten
ist dieBeschaffenheit der Strassen meist befriedigend, vielfach aber un¬
genügend auf dem Lande. Nur zwei Beispiele; in einzelnen Dör¬
fern des Kreises Lübben bleibt der Strassenschmutz so lange liegen,
bis sich seine Abfuhr als Dünger lohnt und in den ländlichen Ort¬
schaften des Kreises Jerichow I so lange bis die Unratmassen Stich¬
festigkeit erlangen. Anerkennenswert ist die Polizeiverordnung der
Stadt Gumbinnen, welche das Nachschleppen der Frauenkleider ver¬
bietet.
IV. Wasserversorgung. In dieser Beziehung ist noch
sehr viel zu bessern. So erfährt man selbst aus dem gebirgigen
Westen, dass in 2 Gemeinden des Kreises Witzenhausen nur 1, bezw.
2 öffentliche Brunnen zu Gebote standen, so dass die Bewohner das
verschmutzte Wasser eines beide Ortschaften durchfliessenden Baches
benützten. Viel schlimmer ist es natürlich noch im Norden und Osten.
Selbst in der Stadt Breslau war eine Verpackung der Pumpe, die
oft auf durchlässiger Bedeckung stand, mit Dünger in Gebrauch. Bei
neuen zentralen Wasserleitungen wird» dagegen Oberflächenwasser
so gut wie gar nicht mehr benutzt und an vielen Orten wurde die
Verunreinigung des Leitungswassers durch Zuleitung infiltrierten
Wassers beseitigt. Wiederholt kommen Bleivergiftungen durch Lei¬
tungsröhren vor. Die Filtrieranlagen von Oberflächenwasser ver¬
sagten bisweilen zeitweise selbst in den Städten Breslau, Magde¬
burg und Altona, bisweilen waren sie überhaupt „wertlos“. Ent¬
eisenungsanlagen für Grundwasserwerke wurden vielfach gebaut und
fast überall mit erwünschter Wirkung betrieben.
V. Beseitigung der Abfallstoffe. Alle die zahlreichen
Kläranlagen der verschiedenen Systeme erzeugten Missstände; nur
von Langensalza und den Versuchen in Aachen wird Befriedigendes
berichtet. Die Verhältnisse der Aborte, Dungstätten und Jauche¬
gruben sucht man möglichst zu bessern und doch fehlen noch z. B.
im R.-B. Hannover auf dem Lande Aborte überhaupt oder sie liegen
auf undichten Gruben. Wie früher erzeugen die Abwässer von Fa¬
briken usw. grosse Belästigungen und Schädlichkeiten trotz aller
Bemühungen.
VI. Nahrungsmittel. Durchgreifende Aenderungen in der
Art und Weise der Nahrungsmittelaufsicht sind nicht zu vermerken.
Nur in einer kleinen Zahl von Regierungsbezirken ist die Nahrungs¬
mittelkontrolle allgemein geregelt und im ganzen Bezirk genügend
umfangreich. Bei den vorgekommenen Fällen von Fleischver¬
giftung wird leider nicht erwähnt, wie weit sie von Hausschlach¬
tungen, welche von der Beschau befreit sind, oder von Fleisch her¬
rühren, welches in Schlachtshausgemeinden ohne die verbotene Nach¬
untersuchung eingeführt wurde. Beide Gesetzesbestimmungen lassen
sich ja von sanitärem Standpunkte nur durchaus missbilligen. Sehr
zweckmässig ist es, dass in der Provinz Hannöver Vorschriften für
Gewinnung der Vorzugsmilch erlassen wurden, denn wiederholt
wurden mit sogen. Vorzugsmilch schlechte Erfahrungen gemacht.
In den Sammehnolkereien fanden die Kreisärzte oft recht schwere
Missstände. Die Behandlung der Milch an der Erzeugungsstätte
und im Verkehr liegt überhaupt noch vielfach im Argen. Im Kreise
Regenwalde lassen sich gerade Kranke mit Vorliebe auf dem Milch¬
wagen in die Stadt zum Arzte mitnehmen.
Ueber die Verbreitung des Alkoholmissbrauchs werden
verschiedene Beispiele angeführt: so kamen im Krankenhause zu Til¬
sit 43 Fälle von Delirium vor und im Kreiskrankenhause zu Quer-
furt waren von 97 aufgenommenen Personen 48 Alkoholisten. Die
Bestrebungen zur Bekämpfung haben sich weiter ausgedehnt; sehr
viel geschieht durch Vereine und industrielle Werke mittelst Er¬
richtung von Kaffeestuben usw. Leider sind die sogen, alkoholfreien
Getränke tatsächlich nicht alle alkoholfrei.
VII. Schulen. Die kreisärztliche Beaufsichtigung hat sich
wieder von günstigem Einfluss auf die Förderung der Gesundheits¬
pflege erwiesen und die Pläne von Schulbauten werden den Kreis¬
ärzten häufiger vorgelegt. (Es besteht also dazu noch nicht einmal
eine allgemeine Vorschrift!) Uebereinstimmend wird berichtet, dass
die Einrichtung des Dienstes der Schulärzte sich weiter bewährt
habe; aber sie sind noch immer sehr wenig zahlreich und erfahren
da und dort die grössten Hindernisse. Eine Belehrung der Volks¬
schüler auch nur im notwendigsten h3'gienischen Wissen scheint noch
zu fehlen; es ist wenigstens darüber nichts erwähnt.
VIII. Gewerbliche Anlagen. Aus Oppeln wird angeführt,
dass ärztliche Sachverständige, welche unter Entlastung der Kreis¬
ärzte für einen grösseren Wirkungskreis als ärztliche Aufsichtsbeamte
bestellt wurden, der Sache in höherem Masse dienen könnten, als es
der grossen Mehrzahl der Kreisärzte zur Zeit möglich sei. Die Zahl
der jugendlichen Arbeiter unter 16 Jahren und der Kinder unter
14 Jahren hat sich bedauerlichweise wieder in den Fabriken, die der
ersteren auch in den Bergwerken, vermehrt.
IX. F ü r s o r g e für Kranke. In verschiedenen Bezirksbe¬
richten wird hervorgehoben, dass den Anstaltsärzten in den ordens¬
genossenschaftlichen Krankenhäusern nicht der nötige Einfluss ge¬
währleistet sei, dass für eine wirksame Absonderung von Infektions¬
kranken keine genügenden Räume vorhanden, dass die Desinfektions¬
einrichtungen noch sehr rückständig seien. — Haltekinder. Die
Beaufsichtigung soll durch die Kreisärzte gelegentlich der Ortsbe¬
sichtigungen und anderen Dienstreisen stattfinden. Es ist daher kein
Wunder, dass sie „zu Beanstandungen im allgemeinen wenig Anlass
bot.“ Dem entgegen sagt der Bericht von Potsdam: in den grösseren
Städten und Vororten erscheint eine sorgfältigere Ueberwachung
derart notwendig, dass besondere amtlich oder ehrenamtlich bestellte
Aufsichtsdamen die regelmässige Kontrolle der Haltestellen ausführen.
So sind auch dem tatsächlichen Bedürfnisse entsprechend wenigstens
in vielen Städten teils besoldete Helferinnen, Aufsichtsdamen, Waisen¬
pflegerinnen, besondere Aerzte, Armenärzte, teils ehrenamtliche Ge¬
meindepflegerinnen, waisenrätliche Helferinnen oder Frauen der
Frauenvereine angestellt. Jedem Kenner erscheint dies auch unbe¬
dingt auf dem Lande nötig, wie denn auch unter den Mitteilungen
gröbster Vernachlässigung und Misshandlung (sie sind jedenfalls nur
als wenige Beispiele aufzufassen) auch solche vom Lande angeführt
werden.
X. Gefängnisse. In den Strafanstalten starben an Tuberku¬
lose 0,7 Proz. der Männer, 0,4 Proz. der Frauen, also immerhin noch
doppelt so viel, als in der freien Bevölkerung über 20 Jahren. Der
Gesundheitszustand war im allgemeinen nicht ungünstig. Es ist in
2210
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
sanitärer Hinsicht nach Ansicht des Ref. zu bedauern, dass die Ober¬
leitung der preussischen Gefängnisse noch immer auf zwei Ministerien
verteilt ist.
XI. Bäder. Das Badewesen ist in langsamer, aber stetiger
Entwicklung, namentlich in Schulbädern, begriffen. Schade, dass
nicht nur die stehenden Gewässer, sondern auch die Flüsse durch
zunehmende Verschmutzung zum Baden immer weniger geeignet
werden. Es werden Beobachtungen mitgeteilt über wahrscheinliche
Ansteckung an Typhus beim Baden, so aus Berlin über die Spree,
aus Breslau über die Oder, aus den R.-B. Wiesbaden und Köln über
den Rhein.
XII. Leichenwesen. Die obligatorische ärztliche Leichen¬
schau führt sich mit der Zeit in immer mehr Orten ein; im Berichts¬
jahre wurde sie neu zur Pflicht gemacht in 70 Städten und Ort¬
schaften. Es ist in hohem Masse zu bedauern und schwer zu ver¬
stehen, dass der preussische Staat hierin, wie in so manchen gesund¬
heitlichen Forderungen nicht endlich durchgreifende Massregeln vor¬
nimmt, vielmehr sich mit dem ungenügenden Ersatz begnügt, den auch
bei bestem Willen die einzelnen Regierungen oder gar einzelne Orts¬
polizeien nur liefern können.
XIII. Medizinalpersonal. Für 50 einberufene Medizinal¬
beamten wurden in Berlin 2 je 18 tägige Fortbildungskurse abgehalten.
Die Zahl der Teilnehmer an Fortbildungskursen für praktische Aerzte
betrug mehr als 4000.
XIV. Kurpfuscherei. Es werden 5529 Kurpfuscher in den
Listen geführt; sie sind zahlreicher im Osten als im Westen. Davon
wurden nach den unvollständigen Angaben 432 = 7,8 Proz. bestraft,
wobei aber auch Vergehen und Verbrechen inbegriffen sind, die mit
dem Pfuschen nichts zu tun haben. Dass unsere Gesetzgebung in
dieser Beziehung sehr mangelhaft ist, wurde oben beim Kindbett¬
fieber berührt. Karl Kolb- München.
Carl v. Noorden: Handbuch der Pathologie des Stoff¬
wechsels. II. Auflage. Band I. 1906. A. Hirschwald.
26 Mark.
Das in I. Auflage im Jahre 1893 erschienene ,, Lehrbuch
der Pathologie des Stoffwechsels“ ist in seiner II. Auflage zu
einem grossen Handbuch geworden, das in 2 Bänden erscheinen
soll und dessen I. Band bisher vorliegt. Der gewaltige Stoff ist
jetzt unter eine Anzahl von Autoren verteilt. Es ist dies sicher
der richtige Weg gewesen, um in einem solchen Werke die
riesig angewachsene Literatur über den Stoffwechsel ganz zu
umfassen. Nach dem ersten Bande zu urteilen hat die Ver¬
teilung auf verschiedene Kräfte auch der Einheitlichkeit des
Werkes keinen merklichen Abbruch getan. Einen sehr grossen
Teil des ersten Bandes nimmt die von Magnus-Levy be¬
arbeitete „Physiologie des Stoffwechsels“ ein. Von ernsthafter
Kritik getragen und durch völlige Beherrschung des grossen
literarischen Materials ausgezeichnet, erscheint dieser Ab¬
schnitt als ein bedeutendes Werk, das dem Schüler und dem
Lehrer, dem angehenden und dem selbständigen Forscher
treffliche Dienste leisten wird. Die übrigen in diesem Bande
vereinigten Kapitel haben als Verfasser; v. Noorden (der
Hunger und die chronische Unterernährung; die Ueber-
ernährung; die Krankheiten der Nieren), Kraus (Fieber und
Infektion), Ad. Schmidt (Magen- und Darmkrankheiten),
Weintrau d (Krankheiten der Leber), Matth es (die
Krankheiten der Atmungs- und Kreislaufsorgane) und
H. S t r a u s s (Blutkrankheiten). F. V o i t.
W. Zangemeister: Atlas der Zystoskopie des Weibes.
1906. Ferdinand Enke, Stuttgart. 3. und 4. Lieferung. (Preis
jeder Lieferung 6 M.)
Die beiden ersten Lieferungen wurden in No. 19 dieser
Wochenschrift besprochen. Die 3. und 4. Lieferung behandeln
Veränderungen der Blase bei Cystocele, Kolluinkarzinom,
Myom, Ovarialtumor, Exsudat und Trauma. Die Darstellung
geschieht auch hier wieder unter Vermeidung unwichtiger Ein¬
zelheiten; besonders effektvoll wirken die Bilder von per¬
foriertem Exsudat. Anton H e n g g e - München.
Franz D a f f n e r, Oberstabsarzt a. D. in München: Er¬
innerungen an den deutsch-französischen Feldzug 1870—71.
Mit Berücksichtigung geschichtlicher, geographischer und
hygienischer Verhältnisse. Stuttgart 1906. 186 Seiten. 8°.
Verfasser hat den Krieg als Bataillonsarzt beim 14. bayer.
Infanterieregiment mitgemacht und gibt uns eine anziehend ge¬
schriebene Chronik seiner Erlebnisse vom Juli 1870 bis Juli
1871. Von den in den Text eingestreuten Exkursen sind zu er¬
wähnen: pag. 46: Bemerkungen über Variola, Typhus, Cholera;
pag. 63— 82: über Verpflegung, besonders Nahrungsmittel,
Brot; pag. 85: Behandlung der Krätze; pag. 105: über den
„herrlichen“ Heinrich Heine, den „deutschen Byron“ (?);
pag. 132: über Area Celsi (mir scheint entgegen Hebra und
Daffner die Beschreibung des Celsus in gewissen Punkten
gut zum Bilde der Alopecia areata zu passen); pag. 145: Be¬
merkung über die P e 1 1 e n k o f e r sehe Theorie; pag. 167:
die Ansichten D a f f n e r s über Fussbekleidung und Kopf¬
bedeckung dürften Beachtung verdienen. Das belehrende und
anregende Buch kann bestens empfohlen werden.
Huber- Memmingen.
Neueste Journalliteratur.
Zeitschrift für klinische Medizin. 60. Bd. 1. u. 2. Heft.
l) Goldscheider: Ueber neurotische Knochenatrophie und
die Frage der trophischen Funktionen des Nervensystems.
Der Verfasser teilt einen Fall mit, bei welchem im Anschluss an
eine ausgedehnte Weichteilverletzung am Oberarm eine Neuritis ent¬
standen war; dadurch wurde neben trophischen Störungen der
Haut und Nägel eine starke Atrophie der End- und Mittelphalangen
bedingt; die Röntgenuntersuchung ergab, dass auch die Grund¬
phalangen und die distalen Enden der Metakarpalknochen Struktur¬
veränderungen zeigten, nämlich ein weitmaschiges Geflecht von spon¬
giöser Substanz an Stelle der Markhöhle und Verschmälerung der
Kortikalis. Das Zustandekommen dieser trophischen Störungen er¬
klärt der Verfasser durch die Annahme, dass eine Kombi¬
nation eines krankhaft gesteigerten nervösen
Reizzustandes, welcher die G e f ä s s e in Mitleiden¬
schaft zieht, mit einer zentripetalen Leitungs¬
störung bestand; die Atrophie ist als einfache Folge von In¬
aktivität nicht anzusehen. Die Annahme spezieller trophischer Nerven
ist nicht nötig. Die trophoneurotischen Symptome lassen sich viel¬
mehr überhaupt aus der Störung der Nervenfunktion als solcher ab¬
leiten. Der Lebensprozess ist ganz allgemein an die Vorgänge der
Dissimilation und Assimilation, an den Wechsel derselben geknüpft.
Die funktionelle Erregung äussert sich in Dissimilation, diese kann von
der Peripherie her auch bei Unterbrechung des Zusammenhangs der
Zelle mit den nervösen Zentren erfolgen, dagegen ist die Assimilation,
welche der Dissimilation folgen muss, damit der Ernährungsprozess
unterhalten bleibt, an den Zusammenhang mit dem Zentrum gebunden.
Nur durch das Zusammenwirken beider, welches eine fortwährende
Verjüngung bewirkt, wird die Ernährung aufrecht erhalten. Der Weg¬
fall der funktionellen Erregungen nach Durchschneidung der mo¬
torischen Nerven erklärt auch das Zustandekommen der retrograden
Degeneration.
2) G. Joach im: Die Röntgentherapie bei Leukämien und
Pseudoleukämien. (Aus der med. Klinik in Königsberg.)
An 20 Myelämien, 6 Lymphämien, 2 atypischen Leukämien und
10 Pseudoleukämien, deren Krankengeschichten mitgeteilt werden,
wurden folgende Erfahrungen gewonnen. Die Wirkung der Röntgen¬
bestrahlung auf das normale Blut, wie es bei den Pseudoleukämien
sich meistens fand, besteht in einer Verminderung der Leukozytenzahl
und zwar hauptsächlich der Lymphozyten. Bei dem leukämischen
Blut erfolgte ebenfalls immer ein Rückgang der Leukozytenzahl durch
die Bestrahlung, häufig allerdings erst nach einer Latenzzeit, manch¬
mal ganz rapid. Die Rezidive, die bei allen länger in Beobachtung
stehenden Leukämien auftraten, waren viel hartnäckiger gegenüber
der Röntgentherapie. Wiederholt war auch eine Nachwirkung nach
dem Aussetzen der Bestrahlung zu konstatieren. Der Rückgang der
Leukozyten erfolgte bei den Myelämien in erster Linie auf Kosten
der Myelozyten, jedoch in sehr verschiedenem Grade bei den ein¬
zelnen Fällen. In den günstig verlaufenden Fällen war die Ver¬
minderung der Myelozyten viel stärker als in den ungünstig sich ge¬
staltenden; das Verhalten der Myelozyten speziell ist also progno¬
stisch sehr wichtig. Von den übrigen Leukozyten zeigten die Mast¬
zellen eine gewisse Resistenz gegenüber der Bestrahlung. Bei den
Lymphämien war eine Verminderung der Lymphozyten zu konsta¬
tieren, aber lange nicht so sehr wie jene der Myelozyten bei der
Myelämie; die lymphämische Blutbeschaffenheit blieb bis zu einem
gewissen Grade bestehen. Die Erythrozyten verhielten sich ver¬
schieden. Bei dem einen Teil der Leukämien wurde eine Zunahme
der roten Blutkörperchen erzielt, bei dem anderen nahm die Zahl
derselben während der Behandlung immer mehr ab. Bei einem Fall
war mit Einsetzen des Rezidivs auch eine Ueberschwemmung mit
Erythroblasten und nachfolgende Vermehrung der Erythrozyten zu
konstatieren. Die Bestrahlung der Knochen hatte nicht so raschen
und intensiven Erfolg wie jene der vergrösserten Milz und der Drüsen.
Die Einwirkung auf diese machte sich namentlich durch Verminderung
der Konsistenz und dann durch Verkleinerung bemerkbar. Bei den
Pseudoleukämien war die Beeinflussung des Milztumors eine sehr
geringe; bei den Lymphämien war eine deutliche rasche Verkleine¬
rung der Drüsen zu beobachten, die allerdings bei den länger beob¬
achteten Fällen nur vorübergehend war. Das Allgemeinbefinden wurde
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2211
in sehr verschiedener Weise beeinflusst. Bei dem einen Teile der
Myelämien wurde es wesentlich gebessert, nicht selten nach ein- bis
mehrtägigem Fieber, bei 3 Myelämien und bei den 2 atypischen
Leukämien wurde es dagegen durch die Bestrahlung ungünstig beein¬
flusst. Bei den Lymphämien war die Besserung des Allgemeinbefin¬
dens nur gering, etwas mehr war sie bei den Pseudoleukämien zu
konstatieren. Die Harnsäureausscheidung ging der Leukozytenzahl
parallel, sie blieb nach dem Absinken derselben geringer, auch bei
einem ungünstig verlaufenden Fall. Die Röntgentherapie ist nicht für
alle Fälle günstig. Sobald die Anämie zunimmt, oder schwere
Alterationen des Allgemeinbefindens eintreten, ist sie aufzugeben oder
einzuschränken.
Fritz L e vy: Ueber Kraftmessung des Herzens. (Aus der I. med.
Klinik und dem städt. Krankenhause an der Gitschinerstrasse in Berlin.)
Der Verf. berichtet über seine Erfahrungen der Funktionsprüfung
des Herzens nach der Katzenstein sehen Methode. Nachdem
Blutdruck und Pulsfrequenz am liegenden Menschen festgestellt sind,
werden beide Femorales am Lig. Poupart. mit dem Mittelfinger kom¬
primiert, unter Kontrolle durch den peripher gelegenen Finger, ob der
Abschluss vollkommen ist, und dann Blutdruck und Pulsfrequenz
wieder bestimmt. Bei normalen Herzen war meist eine Erhöhung des
Blutdruckes während der Kompression zu beobachten, die einige Zeit
nach der Kompression wieder verschwand. Bei psychisch leicht erreg¬
baren Individuen blieb die Blutdrucksteigerung öfters aus. Bei Leuten
mit Hypertrophie des linken Ventrikels, auch bei gut kompensierter
chronischer Nephritis, war die Blutdruckerhöhung wesentlich stärker.
Sinken des Blutdruckes bei der Kompression als Zeichen ungenügender
Herzkraft, wurde bei schweren konsumierenden Krankheiten, nament¬
lich bei akuten Infektionskrankheiten und bei Herzkrankheiten be¬
obachtet. Bei akuten Infektionskrankheiten Hess sich aus der Aende-
rung der Untersuchungsresultate häufig ein Schluss auf die Beschaffen¬
heit des Herzens ziehen. Die fortschreitende Besserung in der Re¬
konvaleszenz gibt sich durch Zunahme der Blutdruckerhöhung bei der
Kompression zu erkennen.
4) W. Rothmann: Das Krankheitsbild der L i c h t h e i m sehen
motorischen Aphasie (transkortikale motorische Aphasie). (Aus der
II. inneren Abteilung des städt. Krankhauses am Urban in Berlin.)
Ein 82 jähriger, seit 6 Jahren rechtsseitig gelähmter und apha-
sischer Mann wurde wegen Pneumonie ins Krankenhaus aufgenommen
und starb nach 7 Tagen. Die gleich in den ersten Tagen bei völlig
intaktem Bewusstsein vorgenommene Untersuchung der Sprache er¬
gab: Fehlen der willkürlichen Sprache bis auf geringe Spuren (sein
Name und die Zahlenreihe 1 — 10); auch der Text der Melodien war
verloren gegangen, während die Melodien selbst erhalten waren;
die willkürliche Schrift fehlte ebenfalls völlig. Das Verständnis der
Sprache und das musikalische Auffassungsvermögen war völlig er¬
halten, ebenso das Verständnis der Schrift. Die Fähigkeit, zu kopieren,
war ebenfalls erhalten. Ferner war das Nachsprechen auf Geheiss
und das Lautlesen völlig intakt; das Schreiben nach Diktat war nicht
völlig intakt, aber leidlich erhalten. Endlich konnte der Patient nicht
die Silbenzahl vorgesprochener und von ihm nachgesprochener Worte
oder von Benennungen ihm gezeigter Gegenstände durch Händedruck
angeben. Die Sektion ergab einen kleinen Erweichungsherd in der
Markmasse dem hinteren Teil der linken 3. Stirnwindung so vor¬
gelagert, dass er die Hauptmasse der von der Rinde ausgehenden
und ihr zuströmenden Assoziations- und Projektionsfasern unter¬
brochen, die Rinde selbst dabei aber völlig unversehrt gelassen hatte.
Die oben und unten unmittelbar unter der Hirnrinde verlaufenden
Assoziationsbahnen waren frei. Die Extremitätenlähmung war ver¬
ursacht durch einen schmalen, röhrenförmigen Erweichungskanal,
welcher vom hinteren Parietalhirn durch die Corona radiata bis zum
mittleren Stirnhirn zog. Es erklärt sich der Verlust der spontanen
Sprache bei völlig intaktem Nachsprechen etc. nur durch die Annahme
einer eigenen, von der für das Nachsprechen total verschiedenen Bahn
für die Spontansprache, d. h. einer direkten Verbindung von den Be¬
griffszentren zum B r o k a sehen Sprachzentrum, ohne den Umweg
über die Verbindung zwischen sensorischem und motorischem Zen¬
trum; ferner zeigt sich, dass die Zerstörung der langen, vom Fuss
der 3. Stirnwindung kommenden Assoziations- und Projektionsbahnen
nicht subkortikale Aphasie, bei welcher das Nachsprechen gestört sein
müsste, bewirkt. Letzteres war völlig intakt, da die kurzen Asso¬
ziationsbahnen vom Fuss der 3. Stirnwindung zum Operkulum und
zu den untersten Abschnitten der vorderen Zentralwindung erhalten
geblieben waren.
5) Wirsing: Ueber Myiasis intestinalis.
Zu einem kurzen Referate nicht geeignet.
6) Lubenau: Ueber Herzerkrankungen bei der Berliner
Arbeiterbevölkerung. (Aus dem Sanatorium der Landesversicherungs-
anstalt Berlin in Beelitz.)
Zu einem kurzen Referate nicht geeignet.
7) J. Kentzler: Ueber experimentelle Rückenmarksverände¬
rungen nach Blutinjektionen. (Aus dem Laboratorium der I. med.
Klinik in Ofen-Pest.)
Der Verfasser sah Kaninchen nach 3—5 Injektionen von 10 ccm
defibriniertem menschlichen Plazentarblut nach mehreren Wochen
unter Eintritt von aszendierenden Lähmungen und Abmagerung zu
Grunde gehen. Die Untersuchung ergab völlige Intaktheit der Nerven¬
fasern, dagegen alle Uebergänge der Degeneration von der leichtesten
Form bis zum völligen Untergang in den motorischen Vorderhorn¬
zellen des Rückenmarkes, hauptsächlich im sakrolumbalen 1 eil,
Weitere Untersuchungen ergaben, dass auch Injektion von Rinder-,
Schweine- und Kaninchenblut dieselben Wirkungen hatten. Wurde da¬
gegen nur Blutserum injiziert, so trat keine Lähmung ein. Die An¬
nahme, dass demnach ein durch die Auflösung der roten Blut¬
körperchen freiwerdender Giftstoff, ein Endotoxin die Ursache der
Rückenmarksaffektion sei, wurde durch den positiven Ausfall der Ver¬
suche mit dem Filtrat von Blut, das durch hämolytisches Serum auf¬
gelöst war, wahrscheinlich gemacht, während Injektionen von Eiweiss
oder Milch wirkungslos waren. Dass Endotoxine eine derartige
Wirkung auf das Rückenmark haben können, bewiesen die Ergeb¬
nisse der Versuche an Meerschweinchen mit Endotoxin, das aus An-
thraxbazillen und solchem, das aus Typhusbazillen gewonnen worden
war. Vielleicht spielt auch bei der menschlichen Pathologie bei auf¬
steigenden Rückenmarkskrankheiten ohne bakterielle Infektionsur¬
sache Autointoxikation mit solchen Endotoxinen eine Rolle.
8) O. H e s s - Marburg : Zu der Arbeit von H. Flesch und
A. Schossberger „Diagnose und Pathogenese der im Kindes¬
alter häufigsten Form der Concretio pericardii cum corde“. Diese
Zeitschrift 1906. Band 59, H. 1, S. 1 — 28.
Der Verfasser weist auf seine Arbeit „Ueber Stauung und
chronische Entzündung in der Leber u-nd den serösen Höhlen, eine
klinisch-experimentelle Studie, Marburg 1902, hin, welche den ge¬
nannten Autoren entgangen ist und welche alles Wesentliche, was die
Autoren bringen, inklusive Tierversuche, enthält.
Lindemann - München.
Beiträge zur Klinik der Tuberkulose. Herausgeg. von
Prof. L. Brauer. Band VI. Heft III.
L. Brauer: In eigener Sache. Zurückweisung eines Angriffs
von M e n z e r - Halle, der in einer Besprechung der therapeutischen
Pneumothoraxarbeiten Brauers die Grenzen der objektiven Kritik
entschieden überschritten habe. (Fortschr. d. Med. 1906, No. 21,
pag. 628.)
A. Schlossmann: Die Tuberkulose im frühen Kindesalter.
In diesem für die V. internationale Tuberkulosekonferenz im
Haag erstatteten Bericht korrigiert Sch. zunächst auf Grund reichlicher
eigener Erfahrungen die herrschende Anschauung über die geringe
Häufigkeit der Tuberkulosemortalität im frühen Kindesalter und kommt
— für das erste Lebensjahr — zu einer Durchschnittmortalitätszahl
von 6,8 Proz., einer Zahl, die diejenige der offiziellen Statistik um
das Vierfache übersteigt. Sch. bestätigt in wesentlichen Punkten die
phthiseogenetischen Anschauungen v. Behrings. Die hereditäre,
resp. kongenitale Tuberkulose spielt eine geringe Rolle gegenüber der
ganz überwiegenden Häufigkeit der extrauterin erworbenen Infektion,
die seltener durch Bazillen des Typus bovinus, weit häufiger durch die
Bazillen des tuberkulosekranken Menschen herbeigeführt wird. Die
spezielle Quelle der Infektion festzustellen, gelingt bei der notorischen
Latenz mancher Tuberkuloseerkrankungen Erwachsener oft erst
nach genauester Prüfung der Umgebung des Säuglings. Der „Schmier-
, infektion“ der im vorschulpflichtigen Alter stehenden Kinder misst
Sch. die grösste Bedeutung für die Erwerbung der Tuberkulose bei,
während er die Inhalation — mit Behring — für den weit
selteneren Infektionsmodus hält. Hierfür sprechen auch die von
Sch. und Engel angestellten Ticrexperimente: Direkte Einführung
von Tuberkelbazillen in Milch in den Magen; schon nach 9 Jagen lässt
sich durch Ueberimpfung von Lunge und Halsdrüsen dieser l’iere auf
andere Versuchstiere bei letzteren Tuberkulose hervorrufen. Verf. kommt
zu dem Schluss, dass bei der notorischen Empfänglichkeit des Säug¬
lings für Tuberkulose die Infektion in frühester Jugend für die spätere
Lungenphthise von grösster kausaler Bedeutung ist und dass die Auf¬
zucht tuberkulosefreier Menschen ein leichteres und lohnenderes Pro¬
blem ist, als die Bekämpfung bereits vorhandener Tuberkulose.
Uhl: Ueber die „neutrophilen Leukozyten“ bei der spezifischen
Therapie der chronischen Lungentuberkulose.
Verf. sieht in der Veränderung des neutrophilen Blutbildes
(A r n e t h) ein Reagens auf die Wirksamkeit einiger Tuberkulose¬
heilmittel (Alt-Tuberkulin, Neu-Tuberkulin, J’uberkulinum Denys und
Hetol). Die sehr exakte Arbeit eignet sich nicht zum kurzen Referat.
Erwähnt sei nur, dass der Verfasser durch Tuberkulin Koch fast stets
eine günstige Beeinflussung des Blutprozesses im Sinne A r n e t h s
beobachtete, es dem weniger kontrollierten und kontrollierbaren Prä¬
parat Denys vorzieht und dass Hetol in keinem Fall günstig auf das
neutrophile Blutbild einwirkte.
A. Scherer: Ein Fall von regelmässig wiederkehrenden prä¬
menstruellen Lungenblutungen.
35 jähr. Frau mit rasch letal verlaufender Lungentuberkulose,
bei der ganz regelmässig 1 bis 2 Tage vor der Menstruation Hämop¬
tysen auftraten, die sich nur einmal bei prophylaktischem Abbinden
der Extremitäten verspäteten.
H. v. Schrott er: Zur Kenntnis der Tuberkulose des
Oesophagus.
Verf. teilt 2 Fälle mit, bei denen es zum ersten Mal durch die
Oesophagoskopie gelang, die Tuberkulose der Speiseröhre klinisch
zu diagnostizieren; im ersteren Fall wurde die Diagnose auch durch
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
c Obduktion bestätigt. Epikritisch bespricht v. S. die Pathogenese
und Histologie der Erkrankung; er sieht die Hauptbedingung für das
Ergriffenwerden der Speiseröhre in der Ausbildung von Verwach¬
sungen tuberkulöser Herde (pulmonaler oder periadenitischer) mit
dem Oesophagus. Seltener scheint es zur direkten Infektion durch
verschlucktes Sputum zu kommen, noch am ersten, wenn der Ino¬
kulation durch andersartige Affektionen (Verätzungen, Neubildungen,
Stenosen) der Boden bereitet ist.
J. Port: Ueber die Beziehung zwischen Hämoptoe und Fibrin¬
gerinnsel im Auswurf.
Auf Grund eigener Beobachtungen und Untersuchungen und Be¬
obachtungen anderer Autoren kommt P. zu dem Schluss, dass sich die
bei Hämoptysen der Phthisiker häufigen, oft recht grossen Fibrin¬
gerinnsel von denen der genuinen (fibrinösen) Bronchitis prinzipiell
unterscheiden; bei ersteren handelt es sich stets um Produkte der Blut¬
gerinnung, bei letzterer um echte Entziindungsprodukte.
H. Curschmann - Tübingen.
Zeitschrift für Tuberkulose. Bd. IX, Heft 4 u. 5.
Rabinowitsch: Zur Identitätsfrage der Tuberkelbakterien
verschiedenster Herkunft.
Eine ziemlich lange und zu kurzem Referate, nicht geeignete
Arbeit (in beiden Heften zusammen 102 Seiten und noch „folgt
Schluss“). Wer sich für diese Frage interessiert, wird und muss
ja doch das Original nachlesen und kann sich nicht mit dem wäs¬
serigen Auszuge eines kurzen Referates begnügen.
Bernheim: La defense internationale contre la tuberculose.
Aufzeichnung der Massregeln, die durch den internationalen
Kongress festzusetzen wären; sehr vernünftig nicht nur auf die reine
Tuberkulose beschränkt, sondern auch Prophylaxe des gelben Fie¬
bers, der Pest, der Cholera umfassend; Tuberkulose auf der Eisen¬
bahn, in der Handels- und Kriegsmarine, geographische Verteilung
werden besprochen.
Mitulescu: Die Ergebnisse der spezifischen Behandlung in
der chronischen Lungentuberkulose. (Schluss aus voriger Nummer.)
Durch die bisherigen Veröffentlichungen ist bewiesen (?), dass
die kombinierte Behandlungsweise, Tuberkulineinspritzung und Heil¬
stätte, allein in der Lage ist, die Krankheit wirklich zur Heilung zu
biingen. Die Heilstätte allein wirkt wohl ähnlich, aber sie schafft
nui so viel Antistoffe, als der Körper gerade braucht, während bald
nachher, wenn der Körper wieder geschwächt ist, die Krankheit wie-
der ausblicht. Der praktische Arzt, dem natürlich die hygieno-diäte-
tischen Heilfaktoren lange nicht so zur Verfügung stehen, ist noch viel
mehr auf das Tuberkulin angewiesen und wird gute Erfolge damit
haben. Fehlt nämlich „dem Patienten die Möglichkeit, ein Sanatorium
zu besuchen, so müsste ihn der Arzt vor allem ins Ernährungsgleich¬
gewicht bringen, um alsdann mit der spezifischen Behandlung ver¬
mittelst Tuberkulineinspritzungen zu beginnen. Sein Benehmen soll
dem Patienten Vertrauen einflössen und denselben veranlassen, die
Behandlung fortzusetzen, bis die günstigen oben angedeuteten Re¬
sultate erzielt worden sind“.
„Weickler in seinem Sanatorium Slawentzitz“ anstatt „Weicker
in Görbersdorf“ sollte auch ein rumänischer Arzt in einer deutschen
Zeitschrift für 1 uberkulose nicht mehr schreiben.
E. Löwen stein: Die innerliche Darreichung des Alttuber-
kulins.
Verf. hat durch Versuche widerlegt, dass Tuberkulin in den
Magen gebracht eine spezifische Reaktion (also Wirkung) habe.
Krause: Bemerkungen zu Dr. med. G. Schröders Referat
in Bd. VIII, No. 6, pag. 510.
G. Schröder: Erwiderung auf vorstehende Bemerkungen.
Krause: Schlussbemerkungen. Eine Polemik.
E. Huhs: Enthält die Ausatmungsluft tuberkulöser Lungen- und
Kehlkopfkranker virulente Tuberkelbazillen?
Verf. hat Versuche gemacht, über die er selbst sagt: „In das
m dei Heilstätte in Gebrauch befindliche Spirometer von Phoebus
musste jeder Patient möglichst vollkommen dreimal exspirieren, nach¬
dem er ein oder mehrere Male tief inspiriert hatte. Am Ende des
einen halben Meter langen Gummischlauches, also vor der Eintritts-
öft nung in das Spirometer war ein Stück steriler Gaze in sechsfacher
pChicht befestigt. Sämtliche Exspirationsluft musste also vor dem
Eintritt in das Spirometer dieses Gazefilter passieren. Nach be¬
endetem Versuche wurde die Gaze mit steriler Schere in zwei Teile
geschnitten und intraperitoneal auf Meerschweinchen verimpft.“
Keines dei neun Meerschweinchen zeigte Tuberkulose. Also die Aus¬
atmungsluft 1 uberkulöser ist _frei von Bazillen. Daraus folgert der
v d r., dass che Benutzung des Spirometers (natürlich mit Auswechseln
des Mundstückes) unbedenklich ist, und zweitens, was als praktisch
wichtig wörtlich wiedergegeben werden soll: „Das Zustandekommen
der ruberkuloseiniektion von Person zu Person erfolgt nicht durch
die Ausatmungsluft, wie überängstliche Gemüter immer noch glauben
sondein durch Verspritzung kleiner flüssiger Sputumteilchen beim
Husten und Niessen (h 1 ii g g e scher Modus). Verbieten wir also das
Zusammensclilafen von Tuberkulösen mit Gesunden in einem Bett,
stellen wir ferner die Betten im Abstande von mindestens 1 m auf
so dass verspi itzte I röpfchen von dem kranken Bettinsassen zu dem
gesunden nicht hinübergelangen können, und schärfen wir den Kran¬
ken ferner für ihren sonstigen Verkehr immer wieder ein, dass sie
mit geschlossenem Munde und vorgehaltenem Taschentuche zu husten
und beim Niessen ebenfalls das Taschentuch vorzuhalten haben, so
wird das Zustandekommen der Tuberkuloseinfektion von Person zu
Person ausserordentlich erschwert, wenn nicht überhaupt verhindert.“
Die Beilage für Heilstätten und Wohlfahrts¬
einrichtungen enthält einen sehr scharfen, aber sehr berech¬
tigten Artikel von Wolff: „Zur Ausschussitzung des Zentral¬
komitees am 31. März 1906“. Es ist recht, dass endlich einmal je¬
mand die (von mir schon einmal in einer Versammlung der Tuberku¬
loseärzte vorgebrachte) Tatsache öffentlich festlegt, wie Deutsch¬
land seine Heilstättenärzte behandelt. Während im Auslande überall
diese Aerzte entsprechend ihrer Erfahrung zu den offiziellen Komitees
zugezogen werden, müssen sie in Deutschland vor allerhand Stabs¬
ärzten usw. zurücktreten. Wolf fs Ausführungen darüber sind recht
interessant. Wenn die Redaktion in einer Anmerkung gewissermassen
zur Entschuldigung feststellt, dass 37 Aerzte, darunter 4 Heilstätten¬
ärzte dem aus 158 Mitgliedern bestehenden Ausschuss des Zentral¬
komitees angehören, so bestätigt sie ja damit ausdrücklich das von
Wolff Gerügte.
Heft 5.
Walter H. Schultze: Gibt es einen intestinalen LTsprung der
Lungenanthrakose?
Auf Grund der vorhandenen Literatur hat Sch. experimentelle
Nachprüfungen veranstaltet über die Frage, ob die Kohlenteilchen
durch Einatmung oder auf abdominalem Wege in die Lunge kommen.
Diese Frage war deshalb wichtig, weil, wenn diese grossen Kohlen¬
teile durch die Darmwand gehen, auch zweifellos Bazillen diesen Weg
nehmen können und werden. Sch. fand, dass sich bei Verfiitterung
(ausser im Darme) nur in der Lunge Kohlenteilchen fanden. Diese
waren sicher inhaliert worden. Wurde die Inhalationsmöglichkeit
vollkommen ausgeschaltet, so war auch die Lunge frei.
Th. Rosatzin: Die Verteilung der Tuberkulosesterbefälle in
einem alten Stadtviertel Hamburgs von 1894 — 1903. (Mit einer Karte.)
R. kommt zu dem Ergebnisse, dass die Eigenschaft der Tuber¬
kulose als Wohnungskrankheit sehr überschätzt wird. Nicht die
Wohnung ist als Infektionsherd gefährlich, sondern der Mensch zum
Menschen „in der Hütte wie im Palaste“.
D. O. K u t h y : Erfahrung über die hygienisch-erzieherische Wir¬
kung der Lungenheilstätten.
Eine interessante Zusammenstellung der Antworten, die frühere
Kranke gegeben haben über Selbstbeobachtung ihres Zustandes nach
der Kur, Fortsetzung der Kur nach dem Verlassen der Anstalt, Fort¬
setzung der allgemeinhygienischen Lebensführung, Schutz vor Staub,
Schutz der Umgebung.
Rabinowitsch: Zur Identitätsfrage der Tuberkelbazillen
verschiedenster Herkunft. (S. o.)
Liebe- Waldhof Elgershausen.
Beiträge zur klinischen Chirurgie, red. von P. v. B r u n s.
50. Band, 3. Heft. Tübingen, Lau pp, 1906.
Aus der Strassburger Klinik bespricht E. Olise das retro-
peritoneale Ganglienzellenneurom (Neuroma gangliocellulare amye-
linicum) und teilt den Fall eines 5jähr. Knaben mit grosser retro-
peritonealer Bauchgeschwulst mit, die wahrscheinlich von, irgend
einem Teil des Lumbalgrenzstranges oder vom Plexus sympath. der
Aorta ausging, er bespricht kurz die klinischen Eigentümlichkeiten
des retroperitonealen Ganglienzellenneuroms mit Berücksichtigung der
bisher beschriebenen 9 Fälle. Ausser in dem von O. mitgeteilten
Fall wurde operative Behandlung nur 2 mal ausgeführt.
Otfried F o e r s t e r berichtet aus dem Allerheiligenhospital zu
Breslau einen Fall von isolierter Durchtrennung der Sehne des langen
Fingerstreckers (Beitrag zur Physiologie der Fingerbewegungen)
und beschreibt die komplizierte Störung in der Ruhelage und Beweg¬
lichkeit des betreffenden Fingers (mangelhafte Streckung der Mittel¬
phalanx und infolge dessen Ueberstreckung der Nagelphalanx durch
korrigierende Wirkung der Interossei, mangelhafter Widerstand gegen
die Beugung des Mittelgliedes und infolge dessen abnorm grosse
Flexion dieser und abnorm geringe Flexion der letzten Phalanx.
M.Flammer gibt aus dem Karl Olga Krankenhaus zu Stutt¬
gart Beiträge zur Milzchirurgie und teilt 5 Fälle von Splenektomie aus
Prof. Hofmeisters Abteilung mit (3 Fälle von Milzruptur, 1 wegen
chron. infektiösem Milztumor, 1 wegen B a n t i scher Krankheit). Ein
endgültiges Urteil über den therapeutischen Wert der Splenektomie
bei B a n t i scher Krankheit kann noch nicht abgegeben werden, die
Röntgenbehandlung kann bei derselben als ein wertvolles Unter¬
stützungsmittel gelten.
Aus .der Grazer chir. Klinik berichtet Max Hofmann über
52 operativ behandelte Fälle von Ulcus ventriculi und bespricht zu¬
nächst die Pylorusstenosen durch Narben oder offene Ulcera (30 Fälle
-— 25 Gastroenterostomien, dann 3 Fälle von Sanduhrmagen, die kal-
lösen Ulcera der kleinen Kurvatur (4 Fälle — 2 Gastroenterostomie),
die kallösen penetrierenden Ulcustumoren (15 Fälle), sämtliche Magen-
bauchwandgeschwiire wurden mit Exzision (Resektion) des Ulcus be¬
handelt, bei den Magenlebergeschwüren (4) und Magenpankreas-
geschwiiren (7), bildete auch die v. Hackersche hintere Gastroenter-
6. November 1906. MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ 2213
ostomie das Normalverfahren. H. schildert speziell v. Hackers
Standpunkt in der Ulcustherapie.
Arth. H o f m a n berichtet aus dem städt. Krankenhaus zu Karls¬
ruhe über den Blutdruck bei der Bier sehen Stauung und kommt
nach sphygmograph. Untersuchungen zu dem Resultat, dass hiebei Blut¬
druckverhältnisse auftreten, wie sie bei den akuten Entzündungen
ähnlich statthaben.
Prof. H. Schloffer gibt aus der Innsbrucker Klinik einen Bei¬
trag zur Frage der Operationen an der Hypophyse und unterzieht
physiologische Bedeutung der Hypophyse, pathologische Prozesse an
derselben, besonders Akromegalie eingehender Besprechung. Er er¬
wähnt die prinzipielle Berechtigung der Operation, die Auswahl der
Fälle und die Operationsmethoden, er bespricht die Freilegung der
Hypophyse von der Keilbeinhöhle aus, ferner die interkranielle Vor¬
operation zur Freilegung der Hypophyse und hat bei Leichenver¬
suchen die temporäre Aufklappung der ganzen Nase mit der tempo¬
rären Oberkieferesektion nach Weber kombiniert und glaubt, dass
sich diese Kombination bei Patienten, bei denen der Kräftezustand ein
erträglicher ist, zur Verwendung empfiehlt. Wo es sich um ein ganz
oder fast erblindetes Auge handelt, kommt die Exenteratio orbitae
mit nur seitlicher Aufklappung der Nase und Resektion der medialen,
sowie eines Teiles der unteren Orbitalwand in Betracht. — Schl,
hält bei geeigneter Technik und unter Zuhilfenahme des Röntgen¬
bildes die Freilegung der Hypophyse voraussichtlich ohne tötliche
Nebenverletzungen möglich, zum mindesten, wenn man — was viel¬
leicht notwendig wird — zweizeitig operiert. Maligne Geschwülste der
Hypophyse kommen für die Exstirpation im allgemeinen gar nicht in
Betracht, bei ihnen stünde Schwere und Gefahr der Operation in
keinem Verhältnis zu dem im besten Falle vorübergehenden palliativen
Effekt, von den Fällen von Akromegalie eventuell nur Fälle mit
stürmischen quälenden Symptomen. —
Ein Namen- und Sachverzeichnis zu Band 1 — 50 ist dem Hefte
beigegeben. Sehr.
Zentralblatt für Chirurgie. 1906. No. 38 bis 40.
No. 38. M. Borchardt - Berlin: Zur Technik der Trepanation.
Verf. benützte vorzugsweise die v. Bergmann sehe Kreis¬
säge, die wegen ihrer Breite gestattet, die Tiefe der Sägefurche zu
übersehen, aber den Nachteil hat, dass der Operateur die Säge gegen
sich hinzieht und bei Blutungen sich bespritzt und im Sehen be¬
hindert wird. Mit S u d e c k scher und Gay lordscher Fräse hat
B, bei sehr dicken und harten Schädeln Fiasko erlebt; er empfiehlt
eine mit wenig Schneiden versehene zylindrische Fräse mit scharfer
Spitze, die in einem Metallhandgriff sitzt, dessen Auflagefläche durch
einen Metallring bewerkstelligt wird, der als Schutz für die Tiefen¬
wirkung dient und beliebig 3 — 10 mm verlängert resp. verkürzt
werden kann. Am Handgriff ist für Daumen und Zeigefinger zur
Führung noch besondere Stütze angebracht. Zuerst werden bei
Kraniektomie mit Kugelfräse entsprechende Löcher gebohrt und dann
das leicht führbare Instrument von Loch zu Loch vorwärts geschoben,
wobei es nach Art eines Pfluges eine Furche in den Knochen gräbt.
Die Interna wird mit scharfem oder stumpfem Meissei mit 2 bis
3 Schlägen durchgeschlagen oder der Sudeckfräse durchschnitten.
Mit diesem Instrumentarium (Fa. Hirschmann - Berlin) gelingt es,
die grössten Oeffnungen in noch so dicken Schädeln in wenigen
Minuten herzustellen.
No. 39. Arth. H o f m a n n - Karlsruhe: Zwei Modifikationen der
Matratzennaht.
a) Die gekreuzte Matratzennaht, für die H. geringere
Spannung der Wundränder und bessere Ernährung des jungen Narben¬
gewebes, sowie Vermeidung evertierter Wundränder als Vorzüge an¬
führt, wird wie die gewöhnliche Matratzennaht mit viermaligem Ein-
und Ausstechen angelegt, nur wird das eine Fadenende um die
Schlinge der anderen Seite, die parallel dem Wundrande verläuft,
herumgeführt und hiernach die Fadenenden geknotet, der Knoten soll
über dem ersten Einstich geknüpft werden.
b) Die einstülpende Matratzen naht — ebenfalls
eine Entspannungsnaht, die bei Fisteln und Löchern des Darmes Ver¬
wendung findet und die im Gegensatz zur gewöhnlichen Matratzennaht
die Wundränder einstülpt und dadurch der Neigung der Darmschleim¬
haut zur Eversion begegnet, wird in der Weise angelegt, dass, nach¬
dem an beiden Ecken einer Darmfistel die Nähte angelegt, nicht ge¬
knüpft sind, an der Stelle grösster Spannung je ein Faden zu beiden
Seiten der Fistel parallel mit dem Wundrande ca. 1 cm von demselben
durch Serosa muscularis ein- und ausgeführt wird und hierauf die
gegenüberliegenden Fadenenden zuerst auf der ersten, dann auf der
anderen Seite geknotet werden (die beiden Knoten sollen ein Durch¬
schneiden des Fadens leichter vermeiden).
V. M a n n i n g e r - Ofen-Pest: Ueber retrograde Darminkarze¬
ration
Mitteilung eines bei 56 jährigem Taglöhner beobachteten Falles
mit 2 eingeklemmten Schlingen, der ausgedehnte Resektion nötig
machte und der beweist, dass neben retrograder Inkarzeration starke
Einklemmung einer oder beider Schlingen im Brucksack zustande
kommen kann und dass hierbei den ernährenden Gefässen eminent
grosse Bedeutung zukommt. Diagnostisch wichtig hält M. das her¬
vorstechende Verhalten der entsprechenden Bauchhälfte, die starke
Spannung, intensivsten Schmerz auf Druck und Dämpfung zeigte, so
dass bei rechtsseitigem Leiden die Differentialdiagnose von Appen-
dicitis destructiva nicht leicht ist.
No. 40. C. Lauenstein - Hamburg: Zur Bedeutung der spitz¬
winkligen Stellung des Kniegelenkes in Fällen von Beugekontraktur
des Hüftgelenkes durch schwere Koxitis.
L. macht auf die Komplikation der spitzwinkligen Hiiftkontrak-
tion aufmerksam, die bei Beseitigung derselben durch Resektion leicht
zu einer unteren Epiphysenfraktur bei Korrektion der Stellung Anlass
geben kann (wie L. bei 5 jährigem Knaben sah), um so mehr, da der
Knochen durch den langen Nichtgebrauch atrophisch ist. Man wird da¬
durch Vorbeugen müssen, dass man zunächst nach der Resektion
lediglich die abnorme Stellung des Oberschenkels korrigiert, das Knie¬
gelenk zunächst in seiner alten Stellung lässt, d. h. den Verband zu¬
nächst bei gebeugtem Knie anlegt.
Wo die Einknickung des Femurs an der unteren Epiphysenlinie
eingetreten ist, wird man sich am besten zur Nachbehandlung des ge¬
fensterten Gipsverbandes bedienen.
Lengfellner: Kurze Mitteilung über Versuche mit Zelluloid¬
einlagen in Verbindung mit Filz und Gummi.
L. empfiehlt zur Plattfussbehandlung Anlegung eines Modelles
in sitzender Stellung, indem man den Fuss in rnässig redressierter
Stellung in den Gipsbrei setzt und bis zur Erhärtung festhält, darnach
einen Filzgummiklotz herstellt. Auf das Modell kommt zuerst eine
Lage Nessel, dann Trikot, dann wird erst die Filzplatte oder Gummi¬
platte angelegt, darauf 2 Stahlbänder in Längsrichtung, 3 Schichten
Zelluloid und ein Gummiklotz daruntergelegt. Die Gummiplatte soll
nicht dicker als 2 mm sein. Für ganz schwere Leute, bei denen jede
Stahl- und Zelluloideinlage heruntergedrückt wird, liess L. von
Fr. F o n r o b e r t - Berlin Gummipositive hersteilen, an denen
kleine Korrekturen durch Wegschneiden oder Hinzukleben vor¬
genommen werden können. Sehr.
Archiv für Gynäkologie. Bd. 79, Heft 3. Berlin 1906.
1) Desiderius v. Velits: Ueber die Dauerfolge der
Ovariotomie. (Nebst eingehender histologischer und klinischer Deu¬
tung einiger bösartiger sowie zweifelhafter Geschwulstformen.)
In 15 Jahren wurden 122 Ovariotomien ausgeführt, davon ver-
liessen 109 Frauen die Anstalt geheilt, 8 Frauen sind gestorben.
Teratome, Karzinome und Sarkome werden besonders eingehend be¬
handelt; zu frühzeitiger und radikaler Operation wird geraten.
2) Max Stickel: Ueber doppelseitige metastatische Ovarial-
karzinome. (Aus dem pathologischen Institut der Universität Greifs¬
wald.)
Bericht über 13 durch Obduktion und mikroskopische Unter¬
suchung gesicherte Fälle, in denen 9 mal der Magen der Sitz des
Primärkrebses war, 4 mal die Mamma; einmal handelte es sich um
multiplen Primärkrebs. Man muss sehr zurückhaltend sein, doppel¬
seitige Ovarialkrebse als primäre Geschwülste anzusprechen,
wenn nicht das ganze Sektionsergebnis vorliegt.
3) F. A. K e h r e r - Heidelberg: Die sogenannten Ursachen der
Geburt.
Der Aufsatz sucht die Fragen nach den Causae partus und die
zu ihrer Lösung erforderlichen Versuche scharf zu formulieren, um die
Aufmerksamkeit der experimentierenden Geburtshelfer darauf zu
lenken. Wichtig erscheinen Berücksichtigung der Phylogenie und das
Experiment.
4) Otto Burkard: Ueber die Behandlung des Wochenbett¬
fiebers mit Palt auf schem Streptokokkenserum. (Aus der Grazer
geburtshilflichen Klinik. Vorstand Prof. Dr. E. Knauer.)
Im Anschluss an die frühere Mitteilung Pehams aus der Klinik
Chrobak berichtet B. über 50 Fälle, davon 48 puerperalen Ursprungs,
welche seit März 1904 zur Beobachtung kamen. Unter den 29 Fällen
reiner Streptokokkeninfektion befindet sich kein Todesfall, das Serum
zeigte in diesen Fällen eine Art typischer Wirkung; Infektionen mit
Staphylokokken und Bacterium coli zeigten hingegen gar keine Re¬
aktion. Details der Anwendung und Krankengeschichten.
5) Hugo Neuhäuser: Ueber die teratoiden Geschwülste des
Eierstockes. (Aus der Frauenklinik von Prof. Dr. L. Landau und
Dr. Th. Landau- Berlin.)
Mitteilung von 2 Fällen. Bei einem 23 jährigen und bei einem
12 jährigen Mädchen wurde ein Teratoid des Ovariums entfernt; beide
Patientinnen sind nach 8V2 Jahren bezw. nach 8 Monaten gesund, ob¬
wohl im zweiten Fall zahllose miliare Metastasen auf Netz und Peri¬
toneum bestanden. Klinisch sind Teratoide des Ovariums als maligne
Tumoren anzusehen, sie sind möglichst bald radikal zu entfernen.
H e n g g e - München.
Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. 1906. 31. Bd.
1. u. 2. Heft.
Hans Curschmann - Tübingen : Beiträge zur Physiologie und
Pathologie der kontralateralen Mitbewegungen.
Die eingehenden Studien über das Zustandekommen von Mit¬
bewegungen unter normalen und krankhaften Verhältnissen eignen sich
nicht zu kurzer Besprechung.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
-14
J. S t r a s b u r g e r - Bonn: Zur Klinik der Bauchnniskelläh-
mungen, auf Grund eines Falles von isolierter partieller Lähmung
nach Poliomyelitis anterior acuta.
Isolierte Bauchmuskellähmung als Folge einer entzündlichen
Vorderhornerkrankung ist gewiss ein seltenes Vorkommnis. St. be¬
nützt eine solche Beobachtung zum Studium der Wirkungsweise der
einzelnen Bauchmuskelgruppen und fasst seine Auffassung dahin zu¬
sammen, dass die Regulierung der Stellung von Becken und Brust¬
korb zu einander den senkrecht verlaufenden Muskelfasern,
die Bauchpresse dagegen allen Bauchmuskeln, überwiegend
aber den transversalen zufällt. In dem vorliegenden Falle
handelt es sich lediglich um eine Lähmung der senkrechten Muskeln.
Die Folge davon war Senkung des Beckens nach vorn, Unfähigkeit,
sich aus der Rückenlage ohne Hilfe der Hände aufzurichten. Da die
horizontalen Muskeln (obliqui et transversus) erhalten blieben, so
konnte die Bauchpresse noch angewandt werden.
Bregmann- Warschau : Beitrag zur Klinik und zur opera¬
tiven Behandlung der Rückenmarksgeschwülste.
Den Lähmungserscheinungen lang vorhergehende sensible Reiz¬
symptome liessen vermuten, dass eine Geschwulst vorliegt und dass
diese nicht im Rückenmark selbst, sondern in den Häuten liegt. Tat¬
sächlich wurde auch an der vermuteten Stelle ein 2% cm grosses
Fibromyxom gefunden, das leicht aus dem Arachnoidalgewebe heraus¬
zuschälen war. Leider aber wurde der therapeutische Erfolg durch
eine hinzutretende Meningitis, die zum Tode führte, vereitelt.
Auch der zweite hier mitgeteilte Fall ging letal aus. Hier han¬
delte es sich um ein Rundzellensarkom, welches das Rückenmark mit
einem zylinderförmigen Geschwulstmantel umgab. Im oberen Brust¬
marke, dort, wo die Geschwulst vermutet worden war und wo die
Wirbelsäule geöffnet wurde, war die diffuse Sarkomatose der Häute
zu grösseren Knoten gewuchert.
B r e g m a n n - Warschau: Ueber einen metastatischen Abszess
in der Brücke.
Kälteparästhesien in der rechten Körperhälfte, gekreuzte
Lähmung (linker Fazialis, rechtsseitige Extremitäten), assoziierte
Blicklähmung und totale Taubheit liessen eine Brückenerkrankung
vermuten. Tatsächlich fand sich auch bei der Nekropsie ein grosser
Eiterherd in der V a r o 1 sehen Brücke. Da gleichzeitig eine eitrige
Einschmelzung einer Niere vorlag, so muss angenommen werden, dass
der Pons von dort aus metastatisch infiziert wurde.
Fr. Herzog: Ueber das Vibrationsgefühl. (Aus der medizin.
Klinik in Breslau.)
Es ist kein Anhaltspunkt dafür zu erbringen, dass das Vibrations¬
gefühl eine besondere Sensibilitätsart sei. Im Gegenteil, alles
spricht dafür, dass diese Empfindung, welche sowohl der Haut als den
Weichteilen und den Knochen eigen ist, nicht von besonderen Nerven,
sondern von den Nerven der Berührungsempfindung und den sensiblen
Nerven der tieferen Teile geleitet wird.
V. Salle: Zur Frage über die Wege der aufsteigenden Myelitis.
(Aus der med. Klinik in Basel.)
Durch intramedulläre Injektionen suchte der Autor künstlich
Entzündungen im Rückenmark zu erzeugen, um die Art und Weise der
Weiterverbreitung des schädlichen Agens zu studieren. Und da
konnte er nun feststellen, dass die durch die Läsionen bewirkten Pro¬
zesse sich in erster Linie an dem Gefässystem und den zu ihm ge¬
hörigen Lymphbahnen abspielen. Aber auch in den die Ganglien¬
zellen umgebenden Lymphräumen sammeln sich die Rundzellen an.
Die Ganglienzellen selbst sind im Vergleich mit dem übrigen Gewebe
besonders stark verändert, so dass es scheint, als ob die einverleibten
Stoffe und Bakterien in den Ganglienzellen besondere Prädilektions¬
stellen für ihre giftige Wirkung finden. Es liegt nahe, aus den Ergeb¬
nissen dieser Tierexperimente Schlüsse auf die Genese der Polio¬
myelitis anterior acuta zu ziehen, bei der zwar auch Entzündungsherde
im ganzen Marke getroffen werden, die Vorderhornganglienzellen aber
besonders stark geschädigt werden.
L. Rosenberg: Ueber Myatonia congenita (Oppenheim).
Ein weiterer Beitrag zu der von Oppenheim zuerst be¬
schriebenen seltenen Kindererkrankung. Diese besteht in einer auf¬
fälligen Hypotonie oder selbst Atonie der Muskulatur, die mit Fehlen
der Sehnenreflexe einhergeht. . Die Schlaffheit ist so gross, dass die
ergriffenen Extremitäten sich in übermässiger Weise in allen Gelenken
bewegen lassen. Die aktiven Bewegungen sind ganz kraftlos, ja in
ausgesprochenen Fällen liegen die Glieder bewegungslos da. Immer
scheint es sich um ein kongenitales Leiden zu handeln, das aber einer
Rückbildung, d. h. einer langsamen Besserung wohl fähig ist. Der
\u lasser schliesst sich der Auffassung Oppenheims an, dass der
Myatonia congenita eine verzögerte Entwicklung der Muskeln zu¬
grunde liege. Zum Schluss bespricht er ausführlich die Differential-
diagnose zwischen der in Rede stehenden Erkrankung und anderen
Aftektionen, die ähnlichen Symptomenkomplex bieten (Poliomyelitis,
0\ stiophia musculor ., akute Rachitis, syphilitische Epiphysenlösung).
. r^' ^ 1 CD er> ^e^er Skelettveränderungen und Frühkontrakturen
bei Dystrophia musculorum progressiva. (Aus der med. Poliklinik in
Marburg.) Kasuistische Mitteilungen.
v B e c h t e r e w - St. Petersburg: Ueber myopathische Muskel-
hypertrophie.
Der Autor unterscheidet neben den gewöhnlichen Formen der
Muskelhypertrophien (funktionelle Hypertrophie, Athletenhypertrophie)
und der myotonischen Hypertrophie noch eine besondere Art der
Muskelhypertrophie, die sich auf phlebitischer Grundlage entwickeln
soll (?). L. R. M ü 1 1 e r - Augsburg.
Soziale Medizin und Hygiene (vormals: Monatsschrift
für soziale Medizin). Verlag von Leopold Voss in Hamburg.
I. Bd. 8. Heft.
ü e m ii n d - Aachen: Die Stellungnahme des Arztes zur Bau-
und Bodenpolitik.
Ob die Wohnungsreform durch irgendwelche Massnahmen die
Preise der Kleinwohnungen in den Städten erheblich herabsetzen
kann, ist sehr fraglich, dieselbe kann höchstens die Wohnungen ver¬
bessern, hygienisch gestalten und vor allem für ein entsprechendes
Wohnungsangebot sorgen. Es fragt sich überhaupt, ob das beob¬
achtete Wohnungselend tatsächlich die Folge ungenügender Ein¬
kommensverhältnisse und nicht vielmehr trotz ausreichender Höhe
derselben ein freigewollter Zustand ist, indem man für Wohnungs¬
zwecke aus Indolenz und zum Zwecke möglichst ausgiebiger ander¬
weitiger Verwendung möglichst wenig auszugeben gewillt ist.
„Nur wenn es gelänge, des Lebens Not von allen Individuen fern¬
zuhalten, Hesse sich auch die Wohnungsnot völlig beseitigen.“
Hans R o s t - Bamberg: Wohnungshygiene und Luftraum auf
Grund der Augsburger Wohnungsuntersuchung.
Auf die Schlafräume ist bei den Wohnungsenqueten am meisten
zu achten, es gibt Bezirke in Augsburg, in welchen nahezu ein
Fünftel aller Schlafräume den Minimalluftkubus nicht oder gerade noch
erreichten. Einen noch niedrigeren Mindestsatz als 10 cbm Luft für
den Erwachsenen und 5 cbm für ein Kind unter zehn Jahren kann die
Wohnungshygiene unmöglich zubilligen. Man muss in diesen Fragen
auch an die Einsicht der Bewohner sich wenden, muss ihnen mit Rat
bei der Bestimmung und Wahl der Zimmer beistehen, die Prinzipien
der Lüftung erläutern, das alles sind Aufgaben, die sich mit dem
Wesen der Wohnungsinspektion vertragen.
A. Rahn -Berlin: Die Wohnungsnot und die kleinen Leute in
der Grossstadt.
Es ist nicht zu leugnen, dass in der Grossstadt die Mietpreise
gerade der kleinen Wohnungen verhältnismässig sehr hoch ge¬
schraubt sind. Vor Ausgaben für Miete scheuen sich aber die meisten
Arbeiter, sie tragen ihr Geld viel lieber hinaus und machen sich draussen
das Leben schön, innerhalb der vier Pfähle sind die wenigsten
wählerisch, da begnügt sich so mancher mit den primitivsten Unter¬
kunftsstätten, selbst wenn ers gar nicht so nötig hat. Oder die neue
Mode und der Hang für modernen Plunder hat eine ganz besondere
Vorliebe für die- „gute Stube“ und eine entsprechend ausgesuchte
Neigung für die „Plüschgarnitur“ in mancher Hausfrau wachgerufen.
Dass dann natürlich der Wohnraum und Schlafraum zu kurz kommen
müssen, ist selbstverständlich. Deshalb müsste gleich von vornherein
an das L a n g e r h a n s sehe Vorbild einer praktischen Arbeiter¬
wohnung gedacht und in der ganzen Bauanlage Rücksicht genommen
werden. Langerhans schlägt eine grosse Küche mit Balkon zu¬
gleich als komfortablen und geräumigen Wohnraum vor, und lässt
einfach hier nur noch ein bis zwei Schlafräume angliedern. Tapeten
und sonstige wenig der Reinigung zugängige Aufmachung muss weg¬
gelassen und es muss versucht werden, durch Auslassen der Ecken,
netten glatten Wandanstrich, durch gutes Oelen der Dielen und son¬
stige leicht der Reinigung zugängige Anordnung für Ausrottung
bezw. Ausbleiben der Wanzen zu sorgen, die so oft der Grund zum
Wegblciben von der Wohnung in der Grossstadt sein können.
A. S t e h r - Wiesbaden : Denkschrift betreffend die Skoliosen¬
schulkinder in Wiesbaden.
S. überreichte im Juni d. Js. den Schulärzten Wiesbadens eine
Denkschrift zur Anregung zu systematischen Turnübungen in der
Schule, er geht dabei von folgendem Standpunkte aus: Die Ent¬
wicklung der Skoliosentherapie ist von grosser sozialpolitischer Be¬
deutung. Während es bis dahin als Axiom galt, dass ohne Apparate
in der Skoliosentherapie nichts zu erreichen sei und somit nur den
wohlhabenden Kindern die als wirksam geltende Methode an den
kostspieligen Apparaten, und in den spärlichen, nur in grösseren
Städten zu findenden orthopädischen Instituten zugänglich war, macht
die neuere Richtung auch den Kindern der breiteren Volksschichten
eine durch die Autorität der Bier sehen Klinik sanktionierte Be¬
handlung zugänglich.
Die Klapp sehe Methode bedarf zur Durchführung nur folgende
äussere Voraussetzungen:
1. einer heizbaren, staubfreien (mit Linoleum belegten) Halle;
2. der Bier sehen Heissluftkästen für die vorausgehende Hy-
perämisierung des Rückens;
3. Bänke, Stäbe und Hanteln;
•4. einer Turnlehrerin zu den täglich vorzunehmenden Uebungen
(an der Bonner Klinik ist eine Turnlehrerin ausschliesslich für diese
Uebungen angestellt).
Dazu kommt die zweckmässige Bekleidung: Turnanzug, Knie-
und Fussspitzenschutz. Dr. A. Rah n.
2215
6. November 1906. MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Berliner klinische Wochenschrift. 1906. No. 44.
1) A. H o f f a - Berlin: lieber das Martnorekserum in der
Therapie der chirurgischen Tuberkulosen.
Das Serum hat vor allem nie einen irgend erheblichen Schaden
auf das Befinden der damit Behandelten ausgeübt und es fielen auch
alle unerwünschten Nebenwirkungen weg, seit die Anwendung auf
rektalem Wege erfolgte. H. bringt mehrere Krankengeschichten zur
Kenntnis, aus welchen hervorgeht, dass zum Teil entschieden günstige
Erfolge zu verzeichnen waren. Von 22 genügend lange beobachteten
Fällen erfolgte in 18 Proz. Heilung, in 18 Proz. auffällige Besserung,
nur wenige wurden durch das Serum gar nicht beeinflusst.
2) Q. K r ö n i g - Berlin : Ein einfacher Kunstgriff zur Erzeugung
des Kniephänomens.
Derselbe besteht darin, dass man zur Ablenkung der Aufmerk¬
samkeit kurz vor der Prüfung tief inspirieren lässt.
3) E. Hof f man n- Berlin: Ueber die diagnostische Bedeutung
der Spirochaete pallida.
Verf. wendet sich hauptsächlich gegen einen von F. D a n z i g e r
kürzlich an dieser Stelle (Berl. klinische Wochenschr. No. 42) ver¬
öffentlichten Artikel, der eine Reihe sowohl von H. als von anderen
Autoren veröffentlichten Arbeiten nicht genügend berücksichtigt hatte.
E. H. und andere haben längst auf die diagnostische Bedeutung der
Spirochaete pallida in den allerersten Stadien der Syphilis hinlänglich
aufmerksam gemacht. Ebenso wird der von anderer Seite gemachte
Einwand, die Spirochäten wären Produkte der Silberfärbung, zurück¬
gewiesen.
4) J. Morgenrot h und U. C a r p i - Berlin : Ueber ein Toxo-
lezithid des Bienengiftes.
Die mitgeteilten Versuche, welche im Original verglichen werden
müssen, ergeben, dass das Bienengift analog den Schlangengiften und
dem Skorpiongift eine Substanz von toxin- resp. ambozeptorartigem
Charakter enthält, die sich mit Lezithin zu einem eigenartigen, hämo¬
lytisch wirkenden Lezithid vereinigt.
5) M. Cohn-Berlin: Die Lungenanthrakose und ihre Entstehung
vom Darm aus. (Schluss folgt.)
6) E. Maragliano - Genua : Die spezifische Therapie der
Tuberkulose. (Schluss folgt.)
7) F. Simon: Eine neue Reaktion auf Salzsäure im Mageninhalt.
Die Probe, deren Einzelheiten im Original verglichen werden
müssen, beruht auf der Fähigkeit der salpetrigen Säure, alkoholische
Guajakharzlösungen zu bläuen.
8) A. L a q u e u r - Berlin : Zur hydrotherapeutischen Behandlung
der Tabes dorsalis.
Die bei den behandelten 162 Tabeskranken angewendete Therapie
bestand besonders in Halbbädern von mässiger Temperatur, ver¬
bunden mit gelinden Friktionen und Begiessungen. Im Allgemeinen
wurde dadurch eine Reihe von Symptomen gebessert oder auch zum
Verschwinden gebracht und besonders auch eine Besserung der Geh¬
fähigkeit in einer gewissen Zahl von Fällen erzielt. Schroffere Kälte¬
reize sind zu vermeiden. Für anämische Kranke empfehlen sich
kohlensaure Bäder. Bei fast 70 Proz. der Fälle konnte eine Besserung
erzielt werden. Das war in gewissem Umfange auch bei der multiplen
Sklerose der Fall. Grassmann - München.
Deutsche medizinische Wochenschrift. 1906. No. 43.
1) A. B ö h m e - Marburg: Ernährungsversuche mit Perhydrase-
milch.
Diese schon im Melkgefäss mit Wasserstoffsuperoxyd und später,
nach Erwärmung auf 52°, mit Katalase behandelte Rohmilch zeigte
sich für Kinder und Säuglinge (auch kränkliche) über 14 Jahr einer
vorzüglichen gekochten Milch mindestens ebenbürtig, bezüglich Ge¬
wichtszunahme und Beeinflussung der Rachitis sogar anscheinend
überlegen.
2) R o 1 1 y - Leipzig: Experimentelle Untersuchungen über das
biologische Verhalten der Bakterien im Dickdarm.
Versuche, welche R. zum Teil zusammen mit Lieber meister
anstellte, zeigten, dass der normale Dickdarm die ihm fremden Ba¬
zillen zu eliminieren bezw. vielleicht abzutöten vermag. Die Menge
der im Dickdarminhalt befindlichen Keime hängt in erster Linie von
Grösse und Art der verfügbaren förderlichen Nahrungsbestandteile
ab, daneben sind Reaktion und Peristaltik von Einfluss. Bei abnormer
Zusammensetzung des Dickdarminhaltes, z. B. infolge mangelhafter
Resorption im Dünndarm, wird die Dickdarmflora verstärkt und ver¬
ändert. Der Einfluss der Kostform scheint weniger bedeutsam zu
sein. Eine Hemmung des Wachstums dieser Bakterien durch ihre
eigenen Stoffwechselprodukte, sogen. Autotoxine, hält Verf. für nicht
erwiesen.
3) Huismans - Köln : Ein Fall von Tay-Sachs scher fami¬
liärer amaurotischer Idiotie.
Dreijähriges Kind gesunder Eltern, rachitisch.
4) Gustav B r a d t - Berlin: Zum Kapitel der Halsverletzungen.
42 jähriger Mann erlitt durch Fall mit dem Hals gegen eine
Kistenkante eine isolierte Zerreissung des Pharynx, welche indirekt
durch Druck der Schildknorpelplatte erfolgt sein musste. Es bestand
Hautemphysem; unter exspektativer Behandlung Entwicklung eines
Geschwürs an der Rissstelle, Heilung.
5) Alex. Scheib -Prag: Ueber die Heilung der Wunden nach
G i g 1 i schem Schanibeinschnitt. (Schluss folgt.)
6) Boesser-Chemnitz: Das H e I m h o 1 1 z sehe Verfahren
gegen Heuiieber, modifiziert.
B. verwendet mit Erfolg eine 1 proz. Lösung von Corticm (salz¬
saurem Chinin-Koffein), die er in den Bindehautsack einträufelt.
7) Stefan Schoengut - Krakau : Zur Therapie der Otitis
externa circumscripta und verwandter Affektionen.
Verf. bewirkt die Eröffnung und Heilung der Gehörgangsfurunkel
durch Drucktamponade, oder durch die am Hals angelegte Stauungs¬
binde, deren schmerzlindernde Wirkung sehr auffällig war.
8) Le win -Berlin: Die Hilfe für Giftarbeiter. Ein allgemeines
Belehrungsblatt für Giftarbeiter.
9) Selter-Bonn: Die wesentlichsten Fortschritte auf dem
Gebiete der Schulhygiene während der letzten Jahre.
R. Grashey - München.
Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte. XXXVI. Jahrg.
No. 20. 1906.
M. Walthard - Bern : Zur Therapie der Eihautretention.
Polemik gegen Schneider-Geiger (ibid., cf. Referat in
Münch, med. Wochenschr. No. 18, p. 1882) und f ü r die Entfernung der
Eihäute, deren Harmlosigkeit sich aus einer Tabelle über I emperatur-
und Pulsverhältnisse ergibt. Wichtigkeit bakteriologischer Unter¬
suchung der Uteruslochien.
A. Dutoit: 42 Fälle von Augendiphtherie. (Aus der Uni¬
versitäts-Augenklinik Zürich.) (Schluss.)
Zusammenstellung der Krankengeschichten und Epikrisen. 7 To¬
desfälle. 37 mal Diphtheriebazillen bakteriologisch nachgewiesen.
Therapeutisch ist Serum am wichtigsten.
Jean Honegger - Thayngen : Ueber eine Drillingsgeburt.
Kurzer Bericht. Pischinger.
Oesterreichiscke Literatur.
Wiener klinische Wochenschrift.
No. 43. W. v. J a u r e g g: Ueber marinen Kretinismus.
Bei einer Studienreise auf den quarnerischen Inseln Veglia,
Cherso und Lussin fand Verf. 15 Fälle von Kretinismus, was mit der
von Hirsch angegebenen weitgehenden Immunität der Küstenländer
gegen Kropf in Widerspruch zu stehen scheint. Nähere Nachfor¬
schungen haben aber ergeben, dass diese Inseln so gut wie ganz
kropffrei sind und auch die genannten Kretins waren ohne Kropf. Man
darf annehmen, dass es sich hier um eine eigene Form des Kretinis¬
mus handelt, bei der die Inzucht im Spiele sein kann, wie auf jenen
Inseln auch in mehreren Familien Albinismus vorkommt. Dass aber
ausser der Inzucht noch andere eigentliche Krankheitsursachen er¬
forderlich sind, beweist das Fehlen des Kretinismus auf einer der
benachbarten Inseln, wo fast jede Ehe eine Verwandtenehe ist.
O. Bail -Prag: Morphologische Veränderungen der Bakterien
im Tierkörper.
Ohne auf die vorliegenden Versuche einzugehen, sei hervor¬
gehoben, dass die für Milzbrand und Pest bereits bekannten morpho¬
logischen Veränderungen der Bakterien noch viel weiter verbreitet
sind, so lässt sich nach Injektion in den Tierkörper auch bei Pneumo¬
kokken bei Typhus und Cholera ein Grösserwerden der Bazillen be¬
obachten, damit sind auch physiologische Veränderungen (Wider¬
standskraft gegen Agglutination und Bakteriolyse bei Typhusbazillen
studiert) verbunden, die mit der Frage der Aggressivität eng Zu¬
sammenhängen.
R. P i c k e r - Ofen-Pest: Bakteriologische Studien über den
Gonokokkus. Wachstum des Gonokokkus auf seinen freien Nähr¬
böden. Wert des Gram sehen Verfahrens in der differentiellen
Diagnose des Gonokokkus.
Unter den bei zahlreichen Kulturversuchen gewonnenen Re¬
sultaten ist das gute Gelingen der Ueberimpfungen auf den Thal-
mann sehen Agar zu betonen. Von 33 erfolgreich überimpften
Stämmen zeigten 21 ein gutes bis sehr gutes Wachstum, von denen
13 auch auf dem gewöhnlichen Glyzerinagar gediehen. In späteren
Versuchsreihen war das Resultat prozentuell weniger günstig. Das
Wachstum ist überhaupt selbst bei ganz gleichartigen Versuchen mit
demselben Material ein sehr verschiedenartiges. Die Kulturen ge¬
deihen gewöhnlich am üppigsten an der Grenze des Kondenswassers,
bedeutend weniger an den trockeneren Stellen. Die Gr am sehe Fär¬
bung ist nach P. eine ganz zuverlässige Methode, wenn die Reagentien,
besonders der Alkohol immer ganz frisch und verlässlich sind und ihre
Einwirkungsdauer pünktlich eingehalten wird; sie beträgt für die
Anilinwassergentianaviolettlösung eine halbe Minute, für die G ram¬
sche Lösung eine Minute und für den in zwei Schalen zu verwendenden
Alkoh. absol. zwei Minuten.
F. Alt: Ein Beitrag zur operativen Behandlung der otogenen
Fazialislähmung.
Der Beschreibung eines Falles, wo er mit befriedigendem Erfolg
die Hypoglossus-Fazialis-Anastomose anlegte, fügt Verf. den kurzen
Abriss von 28 publizierten Implantationen des Fazialis in den Hypo-
glossus oder Akzessorius an. Der Erfolg war bei letzterer 10 mal, bei
ersterer 5 mal, bei der Endvereinigung zwischen Fazialis und Ak*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
> >
16
zc ssorius 2 mal ein guter. Die Nervenplastik soll bei fruchtlosem
konservativen Vorgehen nicht früher als 6 Monate nach der Radikal¬
operation der Mitteohreiterung gemacht werden.
E. v. Braun-Fernwald: Ueber einen günstig verlaufenen
Fall von Hydramniori und Lungenembolie am 24. Tage post partum.
Den in der Ueberschrift enthaltenen Angaben ist hinzuzufügen,
dass nach spontaner Geburt und fieberlosem Wochenbett und 6 Tage
nach dem ersten Aufstehen bei der 35 jährigen X. Para die Embolie
erfolgte, ausgehend, wie man annehmen muss, von einer Venenthrom¬
bose in dem durch das Hydramnion stark erweiterten Uterus.
B e r g e a t.
Italienische Literatur.
GIi elf i: Blutdruck und Jodpräparate. (La clinica med. ital.
1905, No. 10.)
ln Anbetracht der Unsicherheit der Anschauungen, welche noch
herrscht über Blutdruckveränderung nach Jodkalieinfuhr veröffentlicht
G. das Resultat seiner methodischen Blutdruckuntersuchungen ge¬
wonnen an Patienten, welche aus irgend einem Grunde Jodkali in
steigender Dosis einführten. Im Beginn der Kur wird ab und zu ein
vermehrter Blutdruck, oft bis zu 30 — 40 mm beobachtet. Dies Fak¬
tum ist nicht konstant, meist sinkt der Blutdruck auch schon in den
ersten Tagen. Die Erklärung dieses verschiedenen Verhaltens des
Organismus gegen Jodkali ist in der verschiedenen Art der Resorp¬
tion und der Fixation des Jodkalis durch den Organismus zu suchen;
noch mehr in der Ausscheidung des Jodkali, welche z. B. sich ver¬
mehrt, wenn man eine kochsalzarme Diät anwendet, und sich ver¬
mindert, wenn die Nieren affiziert sind. Allmählich sinkt bei Jod¬
gebrauch der Blutdruck bis zu einem Wert, über welchen hinaus man
wegen wahrer Asystolie nicht fortfahren kann. Zu den Verände¬
rungen des Blutdrucks treten hinzu Veränderungen des Pulses, sowohl
hinsichtlich seiner Frequenz als seiner Beschaffenheit. Schliesslich
kommt es zu einer peripherischen Vasodilatation, welche die gün¬
stige, blutdruckherabsetzende Wirkung der Jodbehandlung erklärt.
So ist es aufzufassen, wenn die französische Schule das Jodkali als
die Digitalis der Arterien bezeichnet. Bemerkenswert ist noch, dass
sich die Blutdruckerniedrigung noch einige Tage nach Aufhören der
Kur erhält und dass oft die Jodreaktion aus dem Urin eher ver¬
schwindet als aus dem Speichel. Eine längere Kur mit kleinen
Dosen ist ohne merklichen Einfluss auf den Blutdruck.
Canaveri: Ueber einen Fall von arteriosklerotischer inter¬
mittierender Intestinalneuralgie, (il progresso med., anno V, No. 5.)
Als ätiologisches Moment für die 2 mal am Tage mit heftiger
Stenokardie auftretenden und 2 — 5 Stunden dauernden krisenartigen
Schmerzperioden im Unterleib glaubt C. Tabaksmissbrauch anschul¬
digen zu müssen. Er glaubt, dass wie in 2 von O r t n e r und War-
burg angegebenen Fälle es sich um Ischämie durch Arteriosklerose
der Mesaraica superior und um die Wirkung derselben auf die Ner¬
venendigungen gehandelt habe. Die Abstinenz von Tabak brachte un¬
mittelbare Heilung; der Tabaksgenuss liess die Schmerzanfälle er¬
neut auftreten.
Märend uzzo: Die Suggestion des Rhythmus des Herz¬
schlags. (Gazz. internaz. di medic. 1906, No. 33, 34.)
M. hat die Angabe Bern heims geprüft, ob es durch Zählen der
Pulsschläge mit lauter Stimme und dadurch, dass man langsamer oder
schneller zählt, als der Puls in Wirklichkeit geht, möglich ist, eine
Verlangsamung oder Beschleunigung herbeizuführen. Die Prüfungen
bestätigten die Angaben B.s, und zwar auch bei nicht nervösen Per¬
sonen und auch solchen, die gar nicht wussten, um was es sich
handelte. Indessen ist es schwerer eine Beschleunigung als eine
Verlangsamung hervorzubringen.
M. führt weiter aus, dass ein Einfluss des tVillens bei diesem
Phänomen ausgeschlossen sei, und dass die Beteiligung der oberen
Gruppe der psychischen Neurone ausgeschlossen sei. Durch Assozia¬
tion zwischen den akustischen Zentren und den kardiovaskulären
Zentren soll sich bei längerer Wiederholung des Rhythmus eine Art
von Bestreben der regulatorischen Herzzentren ausbilden, sich mit
jenem suggerierten Rhythmus in Einklang zu setzen.
Negro: Ueber ein noch nicht beschriebenes Phänomen, welches
während der willkürlichen Maximalrotation des Bulbus oculi nach
oben in Fällen von peripherischer Fazialisparalyse eintritt. (Gazzetta
degli osped. 1906, No. 82.)
Das von N. beobachtete Phänomen betrifft den Musculus fron-
talis. Zwischen dem Musculus rectus superior und dem Musculus
obliquus, deren gleichzeitige Kontraktion, wie bekannt, den Effekt
hat, die direkte Rotation des Bulbus nach oben zu bewirken, und
dem Musculus levator palpebrae superioris sowie dem Musculus fron-
talis bestehen bestimmte funktionelle Assoziationsbeziehungen, wel¬
che unter bestimmten Bedingungen erkennbar sind. Bei einer will¬
kürlichen Rotation des Bulbus nach oben erfordert eine ganz kleine
Exkursion nur eine Kontraktion, und zwar eine gleichzeitige, des
Musculus rectus superior und des Musculus obliquus. Geht diese
rotative Bewegung des Bulbus in einem höheren Grade vor sich, d. h.
in einem höheren Winkel zur Horizontalen, alsdann erfolgt ausser der
Kontraktion der beiden vorgenannten Muskeln noch eine solche des
Levator palpebrae super. Wenn endlich diese Rotation ihr Maxi¬
mum erreicht, so gesellt sich zur Aktion des Levator palpebrae auch
noch die des Frontalis hinzu. Es handelt sich also, wie N. das nennt,
um eine Art Trippelallianz dreier neuromuskulärer Systeme, welche
in diesem Falle den Eindruck machen, als ob sie durch ein Koordina¬
tionszentrum in Tätigkeit gesetzt würden.
Wenn nun einer dieser 3 Apparate lädiert ist, so beobachtet man
bei den anderen eine Ersatzbewegung, und zwar eine solche, die z. B.,
wenn es sich um eine Läsion des Musculus frontalis handelt, über
das Ziel hinausschiesst: der Bulbus macht auf der Seite, wo die
Läsion liegt, einen um einen und einen halben Grad grösseren Winkel,
wie man mit dem Perimeter feststellen kann. Bei der einfachen
Parese des Muse, frontalis ist diese Exkursion des Bulbus geringer,
aber immer noch gut merkbar. So kann das genannte Phänomen,
wie N. behauptet, ein kostbares Hilfsmittel zur Feststellung des Gra¬
des der paralytischen Affektion des Musculus frontalis bieten.
G u 3' o t prüfte in der Klinik von Genua die Zuverlässigkeit der
Weber-Rossel sehen Methode zum Nachweis kleiner Mengen
Blutes in den Fäzes in Beziehung zur katalytischen Wirkung schwerer
Metalle.
Die Ausführung dieser Probe ist kurz folgende:
Eine bestimmte Quantität Fäzes (20 ccm) wird, nachdem das
Fett durch neutralen Aether ausgezogen, mit Afid. acetic. behandelt,
um das eventuell vorhandene Hämoglobin zu lösen, und dann mit
Aether ausgezogen. Das essigsaure Aetherextrakt dient zur Oxy¬
dationsprobe und man lässt es tropfenweise in Tuben, welche eine
Mischung frischer Guajaktinktur und alten Terpentinöls oder Sauer¬
stoffwassers enthalten.
Beim Schütteln zeigt eine blaue Farbe die Gegenwart von Häma¬
tinpigment an.
Die Reaktion ist eine katalytische und durch die Gegenwart des
Eisens im Hämatin bedingt.
Diese katalytische Eigenschaft kommt nicht nur dem Eisen, son¬
dern auch dem Merkur und den schweren Metallen zu, und hierin liegt
eine mögliche Fehlerquelle der Methode. G. fand, dass die Aus¬
scheidung von Merkurverbindungen mit den Fäzes in denselben nicht
die W e b e r - R o s s e 1 sehe Reaktion vorzutäuschen imstande ist;
die Darreichung von Kalomel in hohen Dosen kann zu einer posi¬
tiven Reaktion Veranlassung geben, aber nicht durch die Gegen¬
wart von Merkur in den Fäzes, sondern durch den Einfluss ab¬
gesonderter Galle oder mit mehr Wahrscheinlichkeit durch die An¬
wesenheit von Blutbeimengungen, welche diese Medikation herbei¬
geführt hat. (Gazzetta degli osped. 1906, No. 75.)
M i g 1 i a c c i bringt aus der Klinik Sienas unter Leitung
P a t e 1 1 a s einen Beitrag: Zum Verhalten der Amylase im Blutserum
und im Urin. (Gazzetta degli osped. 1906, No. 75.)
Das Blut hat ausser seiner oxydierenden Eigenschaft noch
andere Wirkungen, welche nicht anders als Fermentwirkungen ge¬
deutet werden können. Die in ihm enthaltenen Fermente gehören zur
Kategorie der löslichen Fermente. Sie sind nicht dialysierbar, nicht
fällbar durch Alkohol, nicht zerstörbar durch Kochen; sie leisten
den Antiseptizis Widerstand, sie wirken in kleinster Dosis auf eine
grosse Menge Substanz.
Die hauptsächlichen Fermente im Blutserum sind: 1. Plasmase,
das Hauptferment; 2. ein glykolytisches Enzym; 3. ein linksdrehendes
Ferment, Glykose oder Maltose, d. h. ein Ferment, fähig die Maltose
in 2 Molekül Glykose umzuwandeln; 4. ein lypolytisches Enzym oder
Lypase; 5. ein Enzym, welches Fette in eine in Wasser lösliche Sub¬
stanz verwandelt.
Von allen Fermenten hat M. das amylolytische untersucht oder
die Amylase, um zu sehen, wie sie sich im Verlauf von Krankheiten
verhält und ob sich aus ihrem Vorkommen prognostische Schlüsse
ziehen lassen. Amylase ist das Ferment oder das Enzym, welches
fähig ist, Amylum umzuwandeln zu Glykose als Endprodukt.
M. kommt zu dem Schlüsse, dass die Amylase als ein Hauptaus¬
scheidungsprodukt des Darmes zu betrachten ist, sich bildend aus
der Nahrung unter dem Einfluss der reichen bakteriellen Darmflora.
Vom Darm wird sie durch den Kreislauf in den ganzen Körper ge¬
tragen und findet sich in allen Organen. Die Menge dieses Ferments
steht in einem bestimmten Verhältnis zu der Menge der im Darm und
in den Nahrungsmitteln vorhandenen Bakterien. Am .reichlichsten ist
es im Urin vorhanden, entsprechend den grossen Mengen von Mikro¬
ben im Urin. Prognostische Schlüsse sind aus der grösseren oder
kleineren Anwesenheit von Amylase im Urin nicht zu ziehen.
Pecori: Eine tödliche Infektion durch Pyozyaneus bei einem
Pemphiguskranken. (Soc. Lands, di Roma, März 1906.)
Ein 41 jähriger Maurer hatte ein ausgebreitetes Pemphigus¬
ekzem über dem grössten Teil des Körpers ohne erhebiche objektive
und subjektive Symptome. Trotz aller antiseptischen Kautelen be¬
gann die Hautabsonderung eine schmutzig-grüne Farbe anzunehmen,
herrührend von Bacillus pyocyaneus, welcher in der Hautsekretion
nachweisbar war; auch der Urin wurde schmutzig-grün. Plötzlich bot
dann der Kranke das Bild einer schweren Septikämie, an welcher
er schnell zu gründe ging. P. folgert daraus, dass das Erscheinen
von Bacillus pyocyaneus in einer Wunde nicht ohne Gefahr ist, und
dass es entgegen der bisherigen Anschauung eine Pyozyaneussepti-
kämie gibt.
M a s s a g 1 i a: Experimentelle Trypanosomiasis und Schwanger¬
schaft. (Gazzetta degli osped. 1906, No. 78.)
M. führt gelegentlich seiner Beobachtungen über Trypanosoma
eine interessante Parallele aus zwischen Trypanosoma und der zu
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2217
der Gattung Treponema gehörenden Spirochaete pallida. Diese Aehn-
lichkeiten sind morphologische wie biologische und gründen sich fer¬
ner auf die ähnlichen Krankheitserscheinungen, welche beide an
Mensch und Tier hervorbringen.
Das Trypanosoma der Vierhufer, Durina genannt, steht in bezug
auf Krankheitssymptome, die es am Pferde macht, der Spirochäte
und den durch sie verursachten Syphilissymptomen am nächsten. Mit
weiteren morphologischen und biologischen Kenntnissen der Spiro¬
chäte, namentlich auch ihrer Vermehrung und Geschlechtsdifferen¬
zierung wird die grosse Aehnlichkeit zwischen Treponema und
Trypanosoma, wie M. annimmt, immer mehr hervortreten.
Castorin a: Ueber das Maltafieber, (il Morgagni, Juni 1906.)
C. betont auf Grund seiner Erfahrungen, welche er über Malta¬
fieber auf der Insel Sizilien gesammelt hat, die Richtigkeit der
B r u c e sehen Entdeckung des Micrococcus melitensis als des spe¬
zifischen Infektionsträgers dieser langwierigen, aber meist nicht
lebensgefährlichen Krankheit.
Es handelt sich um einen gut charakterisierten Morbus sui
generis, welcher nichts mit anomalen Typhusformen, wie dies fran¬
zösische Autoren wollen, zu tun hat. Auch die Serumagglutination
spricht dafür.
Auch in der freien Natur ist der Infektionsträger durch Hor-
rock im Jahre 1905 nachgewiesen. Die Aufnahme geschieht wahr¬
scheinlich durch die Atmungsorgane. Eine Uebertragung durch Miik-
ken, Stegomya fasciata und Culex pipiens, ist bis jetzt nicht als er¬
wiesen zu betrachten.
Chinin, Salizyl und Darmantiseptika haben sich bis jetzt bei der
Behandlung der Krankheit unwirksam erwiesen. De Re n zi will
jüngst mit Ichthyol, 6 — 8 Kapseln pro die, gute Resulate erzielt haben.
Das beste Mittel scheint immer noch ein Klimawechsel zu sein.
Sclavo: Ueber den ersten öffentlichen Versuch einer Schutz¬
impfung gegen Typhus in Italien. (Revist. Crit. di Clin. med. 1905,
No. 4.)
S. hat an seinem eigenen Blutserum und an dem von Prof.
Simon etta die Wirkung eines Antityphusvakzins geprüft. Vor
der Injektion war das Agglutinationsvermögen negativ, im Verhält¬
nis von 1: 10 und 1:5. Nach der Injektion von 0,1 und 'dann von 0,5
des Serumvakzins zeigte sich das Blutserum positiv agglutinierend
bei Sclavo im Verhältnis von 1 : 250, bei Simonetta 1:40, spä¬
ter 1:400 und 1:75 und 1:100. Das bakterizide Vermögen wurde
nicht geprüft. Die Störungen nach der Injektion waren unbedeutende.
Die Resultate ermutigten die Autoren zu Experimenten in den Kom¬
munen Certaldo und Poggibonsi, über welche sie zu berichten ver¬
sprechen.
Calabrese: Ueber die Behandlung der Rabies durch Radium.
(Gazzetta degli osped. 1906, No. 78.)
C. berichtet im Gegensatz zu T i z z o n i und Buongiovanni
über ein negatives Ergebnis der Behandlung der Lyssa mit Radium¬
strahlen in der Klinik Neapels. Ueberdies habe die Anwendung der
Radiumstrahlen durch das Auge schon deshalb keine Aussicht in
der Praxis verwendet zu werden, weil sie zu nicht unerheblichen
Läsionen am Auge, zum Ausfallen der Cilien und zu Ulzerationen
der Lider und eitriger Konjunktivitis, führen. In bezug auf diese
Läsionen sei bemerkenswert, dass sie über 8 — 10 Tage gebrauchten,
ehe sie an den Versuchstieren zur Beobachtung kamen.
Hager- Magdeburg.
Holländische Literatur.
W. Koster: Ueber die Behandlung des Heuschnupfens. (Nederl.
Tijdschr. v. Geneeskunde, I, No. 20.)
K- empfiehlt das Kali chloricum: dreimal täglich Gurge¬
lungen mit 3 proz. Lösung und ebensolche Nasenspülungen. Noch
kräftiger wirken Einblasungen von 100 — 200 mg in Pulverform.
S. P. Rietema: Karzinom und Erblichkeit. (Ibidem, No. 21.)
Aus einer Statistik, die Verfasser in seinem Wirkungsplatze
Uithuizermeden zusammengestellt, zieht er den Schluss, dass zur Kar-
zinombildung ausser einer noch unbekannten Ursache eine gewisse
Prädisposition gehört. Diese letztere ist, ebenso wie das Karzinom
selbst, eine Entartungserscheinung.
J. De Hartogh jr. : Morbus Basedowii bei einem 1 1 jährigen
Mädchen. (Ibidem, No. 22.)
Kasuistische Mitteilung.
S. T a 1 m a - Utrecht: Pyurie durch Leukozytose; Leukozytose-
Pyämie. (Ibidem, No. 23.)
Dass es eine Pyämie infolge übermässiger Anhäufung von Leuko¬
zyten im Blute gibt, scheinen die hier mitgeteilten 2 seltenen Fälle
zu beweisen.
Der erste verlief unter dem Bilde der „kryptogenen“ Pyämie.
Im Blute waren von den sehr vermehrten Leukozjden 94 Proz. poly¬
nukleär und neutrophil. Viel Eiter im Urin. Bei der Sektion fand sich
kein besonderes Nierenleiden, wohl aber Eiteransammlung in Lunge,
Pleura, Perikard sowie Aortitis ulcerosa. Im zweiten Falle handelte
es sich um einen 59 jährigen Phthisiker mit Polyurie und Polydipsie,
bei dem unter Schüttelfrösten plötzlich Eiter im Urin auftrat. Die
Blutuntersuchung ergab 79 Proz. polynukleäre Leukozyten. Bei der
Sektion fand sich: Schrumpfniere ohne eitrige Entzündung der Urin¬
wege, ferner Endokarditis, Mitralinsuffizienz und Tuberkulose der
rechten Lunge.
B. J. K o u w e r - Utrecht: Intrauterine Verwundung der Frucht.
(Ibidem, No. 24.)
Ist es möglich, dass ein Kind ohne vorhergegangene äussere
Gcwalteinwirkung mit Verwundungen zur Welt kommt?
Nach der einen von den hier mitgeteilten Beobachtungen scheint
man diese forensisch hochwichtige Frage bejahen zu müssen. Bei
einem normal geborenen Kinde fand K. am Schädel zwei kleine
granulierende Wunden, für deren Entstehung eine Ursache nicht auf¬
zufinden war. Bei der zweiten war die Ursache klar: die Frau war
3 Monate vorher gefallen. Das Kind zeigte bei der Geburt am
Kopfe eine ausgedehnte, beinahe geheilte Hautwunde.
K. vermeldet noch eine dritte seltene Beobachtung von Dr. G. P.
Wesselink, nach der sich ein Kind mit seinen Fingernägeln intra¬
uterin eine kleine Verwundung an der linken Wange beigebracht
hatte.
C. W. Broers und A. Ten Sande: Tuberkel- und Typhus-
bazillen im Kefir. (Ibidem, No. 25.)
Aus den mitgeteilten Versuchen ergibt sich, dass Typhusbazillen
beim Prozess der Kefirbereitung abgetötet werden, Tuberkelbazillen
dagegen mit unveränderter Virulenz aus der Milch in den Kefir über¬
gehen.
L. J. Muskens: Drei Fälle von Myasthenia gravis, davon einer
mit letalem Ausgang und Obduktion. (Ibidem, No. 26.)
A. E. Sitsen: Myasthenia gravis pseudoparaiytica. (Aus dem
pathologischen Institut der Universität Amsterdam.) (Ibidem.)
An der Hand dreier Krankengeschichten bespricht M. ausführ¬
lich die seltene Affektion, deren anatomische Basis bisher unbekannt
ist. Es sei darum der Sektionsbefund des einen Falles mitgeteilt
(Sitsen): Kleine frische Blutungen in der Hirnrinde, Lunge und
Leber; Eiweissgerinnsel in den Lymphräumen des Pons Varoli;
Leukozytenanhäufung in der Leber, Milzschwellung, Nierenvergrösse-
rung, kolloide Struma, Leukozytose des Blutes mit Ueberwiegen der
polynukleären Leukozyten und polynukleäres Exsudat in der Trom¬
melhöhle.
J. Casparie: Klinische Mitteilungen über Erysipelas faciei und
Rheumatismus articulorum acutus und über die Wirkung des Anti¬
streptokokkenserum von Prof. Spronk. (Ibidem, No. 5.)
Der Streptokokkus von F e h 1 e i s e n, der sich im Beginn von
Gesichtserysipel als eine Mikrobe von sehr geringer Virulenz und
Resistenz erweist, kann, besonders wenn er während des Verlaufes
noch weniger virulent geworden ist, ein Krankheitsbild vollständig
analog dem akuten Gelenkrheumatismus erzeugen, wie aus einigen
hier mitgeteilten Krankengeschichten ersichtlich ist. Versuche mit
dem Spronk sehen Serum ergaben bezüglich der Heilwirkung ein
negatives Resultat.
J. H. Zaayer: Primäres Karzinom der Appendix vermiformis.
(Aus der chirurgischen Klinik von Prof. L a n z, Amsterdam. Ibidem,
No. 6.)
Die Fälle, in denen bei Blinddarm- oder anderen Operationen
oder als zufällige Sektionsergebnisse Appendixkarzinome gefunden
wurden, haben in letzterer Zeit eine bedeutende Zunahme erfahren,
wie eine bezügliche, vom Verfasser gesammelte Tabelle von 44 Num¬
mern beweist.
In den beiden hier mitgeteilten 2 neuen Fällen handelt es sich
wiederum um Blinddarmoperationen, bei denen als zufälliges Ergeb¬
nis primäres Appendixkarzinom im frühesten Stadium entdeckt wurde.
Der erste betraf eine 37 jährige Frau. Das erst erbsengrosse alveo¬
läre Karzinom war bereits über die Umgebung hingewuchert und
hatte an einer Stelle die Subserosa erreicht. Im zweiten (25 jähriger
Mann) handelte es sich um ein bohnengrosses kolloides Karzinom.
Z. fasst die bisherigen Erfahrungen über das Appendixkarzinom in
folgenden Sätzen zusammen: Die ersten Stadien desselben sowie
auch andere Darmkarzinome kann man schon bei jugendlichen Per¬
sonen antreffen. R i b b e r t s Auffassung über die Genesis der Kar¬
zinome gewinnt durch die bisherigen Erfahrungen beim Appendix¬
karzinom eine bedeutende Stütze. Auch bei noch so geringer Tumor¬
formung in der Appendix soll der Chirurg bei der Operation soviel
als möglich vom Mesenteriolum mitexstirpieren.
.1. Van der Hoevc: Chorioretinitis durch Naphthalin beim
Menschen. (Ibidem.)
Einem Soldaten war Naphthalin ins Auge gekommen, wodurch
obige Affektion entstand. In der Retina war Kristallbildung nachzu¬
weisen.
S. Elias: Ein Fall von intrauteriner Schädelverwundung.
(Ibidem, No. 7.)
Eine 40 jährige schwangere Frau war 2 Stockwerk hoch herunter¬
gefallen. Danach geringe Leibschmerzen. 24 Stunden später Wehen,
Geburt eines toten Kindes, dessen Schädel 3 Fissuren und 1 Fraktur
aufwies. Das Wochenbett verlief ohne Störung.
B. Brongers: Nitrobenzolintoxikation. (Ibidem.)
Dass das an Stelle von Bittermandelöl bei der Seifenfabrikation
zuweilen gebrauchte Nitrobenzol (huile de Mirbane) schwere Vergif¬
tungserscheinungen machen kann, beweist die folgende Mitteilung:
Einem 12 jährigen Jungen war beim Hantieren damit eine Quantität
in seine Kleider gekommen, in denen er sich zum Schlafen niederlegte.
Es trat Zyanose, kleiner Puls, Gesichtsschwellung und Bewusstlosig¬
keit auf. Im Urin längere Zeit Zucker und Azeton.
2218
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
P. Th. L. Kan: Ein Kieselsteinchen im linken Oberlappenbron-
clius, extrahiert durch Bronchoskopia inferior. (Ibidem, No. 8.)
Bei dem 3 jährigen Kinde war es wegen abnorm enger Trachea
nicht möglich, nach der Tracheotomie das Bronchoskop von Kilian
einzuführen; dagegen gelang es, nach Einbringen eines Hart¬
man n sehen Nasenspekulums, das Steinchen mittels eines Häkchens
zutage zu fördern.
L. Heyermanns: Ein seltener Fremdkörper im Rektum.
(Ibidem.)
Es handelte sich um einen 3 cm langen Angelhaken mit daran¬
hängender 6 cm langer Schnur, der von einer Frau beim Fischessen
mit verschluckt worden war. Derselbe hatte ohne jegliche Be¬
schwerde innerhalb 10 Tagen die Reise durch Magen und Darmkanal
zurückgelegt. Dr. S c h 1 o t h - Bad Brückenau.
Vereins- und Kongressberichte.
78. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte
in Stuttgart, 16. bis 22. September 1906.
VII.
Abteilung für Geschichte der Medizin und der Naturwissers-
schäften.
I. Sitzung vom 17. September, nachmittags.
Vorsitzender: Herr S u d h o f f - Leipzig.
Der Einführende, Herr Elben- Stuttgart, heisst in längerer
Ansprache die Erschienenen willkommen und schlägt nach geschäft¬
lichen Mitteilungen Herrn S u d h o f f - Leipzig als Präsidenten der
ersten Sitzung vor, der auf die Bedeutung Württembergs für die Ent¬
wicklung der Naturwissenschaft und der Medizin hinweist und es als
gutes Omen für die gemeinsame Arbeit der Historiker beider Wissen¬
schaftsgruppen begriisst, dass vor der Front des Gebäudes der tech¬
nischen Hochschule, in deren Senatszimmer die Sektion tagt, das
Standbild des grossen Arztes aus Heilbronn steht, der mit der Ent¬
deckung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft der gesamten
Naturwissenschaft noch grössere Dienste erwiesen hat als seiner
Sonderwissenschaft, der Medizin. Er bittet zugleich den Herrn Ein¬
führenden den Vorsitz bis nach dem Schlüsse seines an erste Stelle
gesetzten Vortrages zu behalten.
1. Herr S u d h o f f - Leipzig: Medizinisches aus griechischen Pa¬
pyrus-Urkunden.
Die Tausende und Abertausende griechischer Urkunden, die auf
Papyrus oder Gefässscherben (Ostraka) zu uns gelangt sind, werfen
auch auf das medizinische Denken und Tun des ptolemäischen und
römischen Aegypten manch helles Licht, vielfach freilich durch die
trüben Gläser des Steuerzwangs und der Abgabenlasten verändert
und verzerrt. So erfahren wir vieles über die Hygiene der Nahrungs¬
mittel, der Getränke, verschiedener Nahrungsgewerbe, über Bade- und
Barbierwesen, über Oelproduktion, Handel mit Oelen und Parfüms,
über Einfuhr und Vertrieb von Drogen zu Arzneizwecken, zum Tem¬
peldienst und zu Einbalsamierungszwecken usw. Vielseitiges ärzt¬
liches Interesse erweckt das Geschlechtsleben der Aegypter in seinen
verschiedenen Aeusserungen und Erscheinungsformen bis zur He¬
tärensteuer herab. Das Eheleben in seiner präventiven Regelung in den
Schablonen der Ehekontrakte, welche die Lösung der Ehe immer herz¬
haft ins Auge fassen und selbst die Beitragspflicht des Gatten regeln
für die Kosten eines etwaigen Wochenbettes, das die ehemalige Gattin
etwa noch nach dem Scheidungstermin sollte durchmachen müssen,
aber auch die Konkurrenz der gesetzlich zulässigen Mehrehe und
anderer Extravaganzen energisch ausschliessen — allenthalben doku¬
mentiert sich die blasse Aegypterin als eine durchaus zielbewusste
„moderne“ Frau. Auch über die Kinderpflege, das Ammenwesen, die
Beschneidung beider Geschlechter an der Grenze des heiratsfähigen
Alters, über das Sklaventum in all seinen Kauf-, Erhaltungs- und Ver¬
mehrungserscheinungen erhalten wir wertvolle Auskunft, ebenso über
Testamente und Anmeldungen von Sterbefällen. Die Herstellung der
Mumien und ihre Kosten, ihr Transport und ihre Betreuung und Ver¬
ehrung in Jahresgedächtnissen etc. durch die Hinterbliebenen werden
uns vorgeführt; Krankheitsschilderungen und Krankheitsbescheini¬
gungen wechseln mit anderen ärztlichen Attesten, z. B. über die Fol¬
gen von Schlägereien der bis zu den Ratsherren hinauf rauflustigen
Aegypter. Krankenpflege und Krankenheilung in Asklepieien und
Serapeien und später, in den christlichen Nosokomien und Klöstern
werden wieder vor uns lebendig. Auch über Aerztehonorare und per¬
sönliche Betätigungen der einzelnen Aerzte innerhalb und ausserhalb
ihres Berufes, über ihre amtlichen Stellungen, über mancherlei ärzt¬
liche und tierärztliche Massnahmen erhalten wir unerwartete Auf¬
schlüsse, selbst medizinische Texte und vielerlei magisch-suggestives
Kleinmaterial überliefern uns diese überaus wertvollen Dokumente
in beachtenswerter Zahl — das Ganze eine kaleidoskopartige Serie
von Momentaufnahmen aus dem Leben des Hellenismus in fast be¬
rückender Fülle.
2. Herr G. N ä g e I i - A k e r b 1 o in - Genf : Aledikohistorischer
Beitrag zur Frage der erblichen Belastung.
Unter exakter Prüfung der historischen Quellen weist Vortragen¬
der an der Hand der Lebensgeschichte einiger Fürsten und Fürstinnen
namentlich des Hauses Habsburg in Spanien nach, auf welch trügeri¬
schem Boden das Lehrgebäude von der erblichen Belastung, von der
Entartung der alten herrschenden Familien, vom Cäsarenwahnsinn
beruht, da die P r e s c o 1 1, die R i b o t, die G a 1 1 o n, die 'De-
j e r i n e, die G a 1 i p p e, die J a c o b y, die G o e h 1 e r t sich als
höchst oberflächliche Quellenforscher und -beurteiler erweisen, wobei
selbst so grobe Missgriffe als geringgewichtig bezeichnet werden
können, wie der eines der italienischen Sprache unkundigen Ameri¬
kaners, der Karl V. als gefrässig bezeichnet, weil er jeden Morgen
einen ganzen Kapaunen verzehrt habe, während de facto nur von
einer nüchtern genossenen Tasse Kapaunenbriihe die Rede ist. Un¬
endlich grösser ist der frevelhafte historische Leichtsinn, mit welchem
man aus Karl dem Kühnen einen blutdürstigen Wüterich, aus seiner
Tochter Maria von Burgund eine prüde melancholische Bigotte ge¬
macht hat. Und wie man gar mit der Wahnsinnigerklärung der
unglücklichen Gattin Johanna Königs Philipp des Schönen umgesprun¬
gen ist, muss jedem ernsten ärztlichen Historiker Grauen erwecken,
nicht minder die ganze Beurteilung des Prinzen Don Carlos und
seiner Lebens- und Leidensgeschichte, dem man angeblich noch mit
21 Jahren das Frenulum linguae durchschnitt, damit er das R aus¬
sprechen lernte, während es sich um ein ganz anderes Frenulum
handelte — auf der gleichen Höhe der Kritik stehen noch zahllose
andere „historische Festsetzungen“ in der Erblichkeitslehre, die einer
gewissenhaften Nachprüfung von Grund auf bedarf.
3. Herr Josef R u f f - Karlsbad: Ueber die Karlsbader Kur vor
400 Jahren.
Wenzeslaus Payer, der im Jahre 1521 eine Schrift über Karls¬
bad herausgab, war nicht nur der älteste medizinische Schriftsteller
über Karlsbad, sondern auch der erste, der das Karlsbader Wasser
nicht nur zu Badezwecken verwenden, sondern auch trinken liess,
somit als Vater der Karlsbader Kur angesehen werden kann.- Die
Kur, wie sie W. Payer von seinen Patienten am Beginn des 16.
Jahrhunderts gebrauchen liess, sticht von den Karlsbader Schauder¬
kuren der folgenden Jahrhunderte nicht weniger zu ihrem Vorteil ab,
als die heutige, ja noch mehr. Payers Trink- und Diätvorschriften
sind nicht einmal wesentlich verschieden von unseren heutigen. Er
ordiniert nicht allzu viel Wasser zu Trinkzwecken und empfiehlt dabei,
das Wasser an der Quelle selbst, und nur, wo es nicht anders
möglich ist, in Glasgefässen in die Wohnung zu bringen und in ent¬
sprechenden Absätzen zu trinken. Die Kost, die er dem Kranken vor¬
schreibt, ist dieselbe, die „wir Alten“ noch heute in Karlsbad ordi¬
nieren; das gleiche gilt von dem Verbot reichlichen Genusses gei¬
stiger Getränke, nur dass Payer noch viel energischer gegen den
Alkoholmissbrauch eifert und ihn drastisch „ebrietas maledicta“ nennt.
Was Payer seinen Patienten über die Vorbereitung zum Gebrauch
der Karlsbader Kur empfiehlt, entspricht vollständig modernen An¬
schauungen. Die Einzelheiten, die der Vortragende über die Wenzel
Payer sehen Kurvorschriften bringt, berechtigen vollständig,
Payer als einen der hervorragendsten Aerzte zu bezeichnen und
ihn in eine Linie zu stellen mit dem um 300 Jahre jüngeren Dr. David
Becher, der die erste genaue chemische Analyse der Karlsbader
Wässer schuf und dem, wie jetzt dem Wenzel Payer, Dr. Ruff
bei der letzten Naturforscherversammlung in Karlsbad durch einen
Vortrag „über sein Wirken und seine Bedeutung für Karlsbad“ eine
Ehrenschuld abzutragen glaubte.
In der Diskussion weist S u d h o f f darauf hin, dass Wenzes¬
laus Bayer (Payer) in Leipzig kein unbekannter Mann sei, der
auch durch allerlei dort angeregte Disputationen über die englische
Schweissucht (1529) und über die Natura flatuum in den Akten der
Fakultät ein Andenken hinterlassen habe. Das Büchlein über Karls¬
bad sei 1522 bei Valentin Schumann in Leipzig erschienen und noch
1614 ebendort von einem Heimatgenossen Bayers, Michael Reu¬
den i us, neu ediert worden.
4. Herr Paul R i c h t e r - Berlin : Ueber die Entwicklung des Ari¬
stotelischen Begriffes der Tumores praeter naturam.
In der Mitte des 16. Jahrhunderts bürgerte sich in der Pathologie
der Haut ein scheinbar neuer Terminus ein „Tumores praeter na¬
turam“; in Virchows „Vorlesungen über die krankhaften Ge¬
schwülste“ findet dieser ausgedehnte Krankheitsbegriff seine krönende
Gesamtdarstellung. Seinen Ursprung nimmt dieser Krankheitstermi¬
nus aber weit zurück im Altertum bei Aristoteles (384—322 vor Chr.),
in den ihm zugeschriebenen „Problemata“; in der Sectio XIV dieser
Fragstücke der Naturkunde, betitelt „quae ad rem veneream per¬
tinent“, heisst es im 13. Absatz:
„non enim quaecunque in vorpore exstiterunt ad corpus per-
tinere statuendum est; nam et tubercula fiunt, quae tollimus atque
ejicimus, atque in Universum quae praeter naturam sunt: praeter
naturam autem sunt vel multae res quae simul gignuntur“.
Zwar sind diese Ausdrücke, wie Wellmann, Diels und Fred-
rieh nachgewiesen haben, noch voraristotelischen Ursprungs; tyxos,
tumor z. B. geht bis auf Empedokles (495 — 435) zurück; für die medi¬
zinische Literatur aber bilden doch die Aristotelischen Schriften den
Ausgangspunkt und erst bei Galenos, mehr als 500 Jahre später, be¬
gegnen uns wichtige weitere Aeusserungen namentlich im 13. und
14. Buche „De methodo medendi“ und vor allem im ersten Lehrbuch
der Hautkrankheiten, dem üalenischen „Liber de tumoribus praeter
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2219
naturam“, das aber auch Hernien, Knochenkrankheiten usw. abhandelt,
da diese öyxoi (für welche'Hippokrates den Ausdruck o d^y« gebraucht
haben soll) als Abweichungen in der Länge, Breite und Tiefe defi¬
niert werden.
Doch kam der Terminus wieder ausser Gebrauch; er begegnet
uns nur noch bei Aetios, Garioponto, Theopli. Nonnos
und Aktuarios. Wohl aber finden wir bei den Arabern, bei
Rhazes und I b n S i n a einen entsprechenden Ausdruck, der etwas
Hartes bedeutet und von Theodor Gaza mjt Apostema übersetzt
wird. Diese arabische Weisheit ist griechisches Lehngut, denn sowohl
die Schrift des Aristoteles (Problemata) als der Traktat des Galenos
über die Hautkrankheiten ist ins Arabische übersetzt gewesen, wie
Moriz Steins chneider nachgewiesen hat.
Als apostema = abscessus kam der Terminus ins Abendland, nicht
identisch mit unserer heutigen Vorstellung von Eiteransammlung,
sondern von etwas „Abstehendem“, einem Tumor z. B. bei B r u n o,
Theodorich und Wilhelm v. S a 1 i c e t o. Die Renaissance,
das Zurückgreifen auf die Alten, brachte auch den alten Terminus
wieder, zuerst bei Jean Tagault in seinen 5 Büchern „De
chirurgica institutione“ (1543) voll Licht und Klarheit, ganz im Gegen¬
satz zu Phil. Ingrassia (1553), der, was der weitschweifige Ga¬
lenos auf 5 Folioseiten abtat, auf 300 Folioseiten kommentierte und
226 Arten solcher Tumores praeter naturam unterschied, die aber
nicht alle beschrieben werden, da nur einer von sieben Bänden wirk¬
lich erschien, so dass auch z. B. Varizellen und Scharlach unge-
schildert blieben.
Nach Ingrassia findet das Thema bis ins 17. Jahrhundert hinein
viel fleissige Bearbeiter, von denen Richter nur noch den tüch¬
tigen Züricher Wundarzt Jakob Rueff hervorhebt (1556, 4°),
der auch die deutschen Bezeichnungen der Hautleiden vielfach bei¬
fügt und deshalb noch besondere Erwähnung hier in Württemberg ver¬
dient, weil er auch, wie der Stuttgarter Wundarzt und Dichter Fried¬
rich S c h i 1 1 e r, ein Tellschauspiel schrieb, das 1545 zuerst aufgeführt
und 1548 in Zürich gedruckt wurde: „Ein hiipsch vnd lustig Spyl vor-
zyte gehalten zu Ury von Wilhelm Thellen“, neugedruckt 1843.
Diskussion: v. Györy - Budapest fragt an, ob Ingrassia
als erster Scharlachbeschreiber feststehe. Anderwärts wurde bei¬
spielsweise Daniel S e n n e r t als solcher genannt und wieder von
anderen verschiedene Autoren; es sei doch wünschenswert, dass
diese Frage einmal im Zusammenhang entschieden werde.
Stadler- München betont, dass die Zugehörigkeit der „Pro¬
blemata“ zu den echten Schriften des Aristoteles doch recht zweifel¬
haft sei.
5. Ritter v. Töply-Wien bespricht: 1. die anatomischen
Klappbilder und demonstriert drei bisher nicht veröffentlichte Blätter
(eines aus Antwerpen, gedruckt von Silvester v. Paris in der 1. Hälfte
des 15. Jahrhunderts, dann 2 Gegenstücke von Tobias Knobloch,
gedruckt zu Wittenberg 1606); 2. Darstellungen des Heiligen Kosmas
und Damian, macht dabei aufmerksam auf eine noch wenig be¬
kannte Koblenzer Miniatur aus dem Jahre 1516 und eine rohe
italienische Plakette aus dem Jahre 1577, dann auf den Kultus zu
Isernia, wo mit der Verehrung der Heiligen gleichzeitig phallische
Kultelemente Hand in Hand gehen; 3. erörtert er die Geschichte des
Riechapfels zur Herzstärkung (auch Pomum ambrae, Bisamapfel und
Bisamknopf genannt). Er verweist auf die Anfertigungsrezepte aus
dem 14., 15. und 16. Jahrhundert, sowie auf die Darstellung des
Gegenstandes in deutschen Holzschnitten des 16. und Porträts des
16. sowie des 17. Jahrhunderts aus Deutschland, Italien, Spanien und
den Niederlanden.
II. Sitzung vom 18. September, vormittags.
Vorsitzender: B. R e b e r - Genf.
6. Herr Hermann Stadler- München : Albertus Magnus, Tho¬
mas v. Cantimpre und Vinzenz v. B e a u v a i s.
Albertus Magnus ist ein hervorragender Beobachter der Flora
und insbesondere der Fauna Deutschlands. Infolgedessen stecken in
seinen zoologischen Schriften eine Menge von sehr frischen und natur¬
wahren Tierbeschreibungen und Schilderungen; denn vor allem das
Leben der Tiere zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Nun sind aber
die Ausgaben dieses Schriftstellers gänzlich ungenügend, lückenhaft,
willkürlich verändert und voll grober Fehler, insbesondere in den
deutschen Tiernamen. Infolge eines Vortrages Stadlers im natur¬
kundlichen Verein zu München (gedruckt in Döberls Forschungen
zur Geschichte Bayerns XIV. Bd., Heft I und II) in dem er auf diese
Zustände hinwies, legte ihm Prof. Richard Hertwig die Herstellung
einer neuen Ausgabe nahe, wofür auch P. E. Wasmann S. I. sich
lebhaft interessierte, und sicherte ihm die Unterstützung der Kgl. baye¬
rischen Akademie der Wissenschaften zu.
Diese Arbeit gedenkt Vortragender im nächsten Jahre zu be¬
ginnen, sie würde neben vollständigen Indizes auch Quellennachweise
und die Bestimmung der Tiernamen zu bringen haben, anschliessen
könnte sich eine Uebersetzung. Der Apparat selbst wird, da aller
Wahrscheinlichkeit nach zu Köln das Autogramm des Albertus liegt,
wohl sehr einfach ausfallen. Für den Quellennachweis sind besonders
Thomas v. Cantimpre, der in doppelter Form vorhanden ist, einer
einfachen älteren und einer späteren interpolierten, und Vinzenz
v. Beauvais wichtig, deren Verhältnis zu einander und zu Albertus
von E. Meyer, Jessen, V. C a r u s, Pfeiffer u. a. ganz falsch
dargestellt wurde. Denn es benützt weder Albertus den J homas,
noch Thomas den Albertus, es benützt weder Vinzenz den Thomas
noch den Albertus (abgesehen von dem Abschnitte de falconibus) noch
ist der erweiterte Thomas aus Albertus oder Vinzenz interpoliert,
sondern alle Deckungen und Uebereinstimmungen dieser Werke be¬
ruhen auf der Benützung der gleichen Quellen, meist anonymer Ex-
zerptensamlungen unter dem Titel: über rerum, über de naturis rerum,
experimentator etc.
Ganz verkehrt ist es daher den Konrad v. Megenberg als
Zeugen für bayerische Faunenverhältnisse der Mitte des 14. Jahr¬
hunderts anzuführen, da dieser nur der meist wortgetreue Ueber-
setzer der aus oben genannten Quellen geschöpften und ein Jahr¬
hundert älteren Kompilation des Thomas ist.
Diskussion: Sudhoff weist darauf hin, wie Albert
Graf zu Bollstädt auf seinen dienstlichen Wanderungen im
oberen und niederen Deutschland die Tier- und Pflanzenwelt kennen
lernte, wie er mit den Augen des Naturforschers ausgerüstet, seine
geistlichen Inspektionsgänge zu biologischen Exkursionen gestaltete,
wohl der erste, der auf deutschem Boden die eigene Beobachtung an
die Stelle der Tradition setzte. Weiter betont S., wie wichtig das
Zusammenwirken des historischen Fachmannes, des Philologen, mit
dem naturwissenschaftlichen Fachmanne sei — nur sehr selten seien
ja beide in einer Person vereinigt wie bei dem Vortragenden —
namentlich auch darum, weil neben der Kenntnis der Realien den
einseitig philologisch ausgebildeten Gelehrten die ganze naturwissen¬
schaftliche Denkweise und S e h weise fremd sei. Dasselbe gelte aber
mutatis mutandis auch für die Naturwissenschaftler und Mediziner,
welche wähnen, „historische“ Arbeiten von Wert bieten zu können,
ohne fachliche Schulung nach der historisch-philologischen Seite hin
oder entsprechende Mitarbeit, während ohne dies sicher nicht mehr
zu leisten ist, als etwa chemische Analysen ausgeführt von einer
Köchin.
7. Herr Tiberius v. Györy- Ofen-Pest: Ueber Entstellungen und
Verzerrungen der Semmelweis sehen Lehre in der neuesten
Literatur.
Vortragender beklagt, dass die grosse Tat von S e m m e 1 w e i s,
seine ewig wahre Lehre, die ja nicht nur die Richtschnur, sondern
die Basis nicht nur der modernen Geburtshilfe sondern auch, wie
L i s t e r anerkannt, der modernen Chirurgie bildet, in zahlreichen
Werken des 20. Jahrhunderts noch total missverstanden wieder¬
gegeben sei, namentlich in 2 Richtungen: 1. als Lehre von der
„kadaverösen Infektion“. Freilich habe S. die Leiche als ein e,
aber niemals als einzige Quelle der Infektion erkannt, sondern jeg¬
lichen zersetzten Stoff, gleichgültig, ob er von einem toten oder
von einem lebenden Körper herrühre oder anderswoher stamme. Kind¬
bettfieber ist ihm identisch mit Pyämie. II. werde von englischen
und amerikanischen Aerzten, zuletzt noch von Cullingworth,
Semmelweis die Priorität entrissen und dem Kontagionisten Holmes
zuerkannt, in gänzlicher Verkennung der Semmelweis sehen Lehre, die
nicht wie die Kontagionisten ein spezifisches Kontagium annimmt, das
nur von der Kindbettfieberkranken oder puerperalen Leichen (aus¬
nahmsweise vielleicht von Rotlaufkranken) auf Wöchnerinnen über¬
tragen werden könne, sondern von jeder Leiche und durch jede
Krankheit, die mit der Entstehung sich zersetzender Stoffe einher¬
gehe usw. _
Anhangsweise widerlegt v. Györy die Legende, die in Oester¬
reich umgeht, als seien Semmelweis’ Eltern oder Grosseltern nach
Ungarn eingewandert, an der Hand einer direkten ungarländischen
Genealogie, die bis ins 17. Jahrhundert zurückgeht zum ursprünglichen
Sitze der Familie in der Gemeinde Szikra im Soporner Komitat.
I. Kongress für Kinderforschung und Jugendfürsorge
zu Berlin, vom 1. bis 4. Oktober 1906.
Referat, erstattet von
Privatdozent Dr. Albert U f f e n h e i m e r - München.
Nach mehr als zweijährigen Vorbereitungen und nach einer
mehrfachen Aenderung des für die Tagung festgesetzten Ortes und
Zeitpunktes kam der in der Aufschrift genannte Kongress endlich unter
dem Vorsitz des Herrn Geheimen Regierungsrates Professor Dr. W.
M ii n c h in Berlin zustande. Ueber die Vorgeschichte desselben habe
ich im Januar dieses Jahres bereits in der Münchener Gesellschaft für
Kinderheilkunde einen ausführlichen Bericht erstattet. (Vergl. Monats¬
schrift für Kinderheilkunde Bd. V. No. 1.)
Wie gross das Interesse aller beteiligten Kreise an dem Zustande¬
kommen des Kongresses war, zeigten eine Reihe begeisterter Zu¬
schriften an das vorbereitende Komitee, die seinerzeit veröffentlicht
worden sind, das zeigte auch die rege Teilnahme der Vertreter der
Kinderheilkunde, der Pädagogen und Psychologen, der in der Schwach¬
sinnigen- und Epileptischenfiirsorge Tätigen, der Taubstummen- und
Blindenlehrer, der Heilpädagogen, der Geistlichen und Juristen und
nicht zuletzt des breiten Publikums, das nicht durch seinen Beruf mit
der Kinderfiirsorge verknüpft ist. Die Zahl der Teilnehmer an der
Berliner Versammlung hat tausend wohl überschritten, und man darf
dies als ein gutes Omen für die Zukunft betrachten; der Verlauf des
122 0
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. -45.
Kongresses selbst aber hat doch nicht die Hoffnungen erfüllt, die wir
auf ihn gesetzt haben. Hs kam dies daher, dass man allerlei Kon¬
zessionen hatte machen müssen, um denselben zustande zu bringen.
So hatte man beispielsweise, um eine Reihe von Vorträgen unter-
bringen zu können, eine Einteilung in drei Sektionen vorgesehen, näm¬
lich in eine anthropologisch-psychologische, eine psychologisch-päda¬
gogische und eine philanthropisch-soziale. Auf diese Weise erwies
sich die Teilnahme an einem grösseren Teil der Verhandlungen als
unmöglich. Auch hatte man nicht von vornherein einzelne Redner
als die berufensten Vertreter ihres Spezialfaches ausgewählt und ihnen
bestimmte Themen zur Besprechung aufgegeben, die immer
wieder auf den Zusammenhang der vielen im Kongress vereinigten
Bestrebungen hätten hinweisen können, sondern man hatte das meiste
der freiwilligen Anmeldung überlassen. Die Rücksichtnahme auf den
Einzelnen führte zu einer auf wissenschaftlichen Kongressen sonst
nicht üblichen Milde der Geschäftsführung, die eine .viel zu weite
Ausdehnung der Vorträge und teilweise endlose Diskussionen ge¬
stattete. Und in den Diskussionen hielt man sich sogar oft genug
nicht an das eben besprochene Thema; ohne jeglichen Zusammen¬
hang mit demselben wurde vielfach Propaganda für irgend welche
anderen Bestrebungen gemacht. Beispielsweise sprach nach einem
Referat über die Fürsorge für die schulentlassene Jugend
eine Dame über die vorschulpflichtigen Kinder, nach einem Vortrag
über Wohnungs- und Kinderelend brachte eine andere Dame in einer
plastischen Schilderung die unzüchtigen Bilder zur Sprache. Die
Pädagogen und experimentellen Psychologen nahmen die Gelegenheit
wahr, die grossen Gegensätze, die ihre beiden Wissenschaften auf¬
weisen, in ein recht grelles Licht zu setzen und leider gab es auch
heftige Differenzen zwischen den Psychiatern und Heilpädagogen über
die führende Stellung in den Anstalten für Schwachsinnige. Nur diese
wenigen Punkte wollte ich hervorheben, um zu zeigen, wie wenig
innig der Kontakt der verschiedenen auf dem Kongress vereinigten
Berufsarten war. Es liegt dies aber nicht in der Natur der Sache.
Wer wie ich teilgenommen hat an dem Giessener Kurs, der im April
ds. Jrs. unter der Leitung von Prof. Sommer abgehalten wurde
und der einen innigen Konnex der gleichen Kreise, die auch an dem
Berliner Kongress beteiligt waren, und einen regen, wenn auch vor¬
wiegend privaten Meinungsaustausch vermittelte, der weiss, dass
auch der Berliner Kongress uns sicher hätte viel mehr geben können.
Es darf deshalb nicht verwundern, wenn gerade aus der Reihe derer,
die sich praktisch in der Kinderfürsorge betätigen, viele Stimmen
der Enttäuschung laut wurden und es darf schon heute die Prophe¬
zeiung ausgesprochen werden, dass der Kongress, wenn er in drei
Jahren wiederum zusammentreten sollte, eine andere Zusammen¬
setzung zeigen wird wie dieses Mal, und dass er dann seinen Arbeits¬
plan in bedeutend engeren Grenzen halten wird. Ein „Weniger“ be¬
deutet auch für einen Kongress oft ein „Mehr.“
In dem Folgenden sei in Kürze über die Vorträge berichtet, die
ich mir selbst anhören konnte. Ich sehe dabei von der Wiedergabe
von Autoreferaten bis auf 3 besonders bezeichnete Vorträge, denen
ich aus äusseren Gründen nicht beiwohnen konnte, völlig ab und bin
hiedurch genötigt, eine Reihe von Referaten nur dem Titel nach an-
zuführen.
Geheimrat H e u b n e r - Berlin besprach: Das Vorkommen der
Idiotie in der Praxis des Kinderarztes.
Unter 9200 zur Begutachtung gebrachten Kindern fanden sich
307 Idioten, ausserdem noch 92 Epileptische. 45 der Kinder waren an
Myxödem und Mongolismus erkrankt, 3 Kinder zeigten Erkrankungen
des Gehirnanhanges, verbunden mit einem teilweisen Riesenwachstum
— für diese Fälle will H e u b n e r den Ausdruck Calibanismus ein¬
führen. Der Rest von 259 Idioten ist einzuteilen in 138 schwere und
121 leichtere Fälle. Die Idiotie stellt, ganz allgemein gesprochen, eine
Entwicklungsstörung dar, die bei den schweren Fällen ganz früh¬
zeitig einzusetzen pflegt. Man muss zwischen den torpiden und ver-
satilen Formen unterscheiden; die letzteren sind in der Regel solche,
bei denen körperliche Erkrankung zur Entwicklung der Idiotie bei¬
getragen hat. Sehr häufig zeigen sich auch bei den schweren Formen
starke körperliche Störungen, wie Lähmungen und Krämpfe. Je mehr
Erfahrung man auf dem Gebiete der Idiotenbehandlung gewinnt, desto
vorsichtiger wird man mit der Prognose, die doch nicht so aussichts¬
los ist, wie es häufig anfangs scheint. Selbst bei den seelentauben
Kindern ist die Voraussage nicht absolut schlecht. Bei den leichteren
Formen der Idiotie unterscheidet Heubner zwischen Schwach¬
sinnigen und Schwachmütigen. Bei der ersten Gruppe, die oft kör¬
perliche Anomalien zeigt, kann es sich um zwei verschiedene Formen
des Schwachsinns handeln, nämlich um eine Verlangsamung der ganzen
Entwicklung, wobei schliesslich doch noch leistungsfähige Individuen
resultieren. Oder aber es geht zunächst die Entwicklung ganz gut
vorwärts; dann erfolgt plötzlich ein Stillstand. Diese Fälle, bei denen
man immer nach einer ausser des Gehirnes liegenden Ursache fahnden
muss (Scharlach, hereditäre Lues), sind prognostisch viel schwieriger
zu beurteilen. Bei den Schwachmütigen steht ein Darniederliegen der
Willensimpulse mehr im Vordergrund als die Intelligenzdefekte; zu
dieser Gruppe rechnet Heubner auch die Fälle von Moral in-
sanity.
Den Schluss des Vortrages bildet ein Appell an die Praxis: Die
gute Prognose in so vielen Fällen von Idiotie ist geknüpft an eine
spezialistische Erziehung, die entweder von einem pädagogisch ge¬
schulten Arzt oder von einem Heilpädagogen geleitet werden müsste.
Es existieren aber noch viel zu wenig Anstalten, die für
solche Kinder sorgen können. Auch kann sich der in der allgemeinen
Praxis stehende Arzt viel zu wenig ein Urteil bilden über die Quali¬
fikation eines solchen Instituts. Es müssten deshalb aus allen in Be¬
tracht kommenden Anstalten möglichst an eine zentrale Stelle ein¬
gehende Berichte gebracht werden, aus denen man sich gut orientieren
kann, und ausserdem müssten viele neue Anstalten begründet werden.
Professor B a g i n s k y - Berlin sprach über: Die Impres-
sionabilität der Kinder unter dem Einfluss des Milieus.
Er ging aus von der Tatsache, dass die Seele des Kindes ausser¬
ordentlich empfindlich ist für die Eindrücke, die es in jüngster Jugend
aufgenommen hat. Während bei schweren Krankheiten das reine Bild
der Erkrankung unverwischt hervortritt, wirken bei leichteren oft
auch ausserhalb der Krankheit liegende Dinge ein. Baginsky gab
eine grössere Anzahl von Beispielen kindlicher (monosymptomatischer)
Hysterie und schildert deren Heilung durch Verbringung der Kinder
in das neue Milieu des Krankenhauses. Das Seelenleben des Kindes
ist besonders ausgezeichnet durch seine Verquickung mit physischen
Vorgängen. In der kindlichen Seele sind die Vorstellungen und Asso¬
ziationen noch nicht so gefestigt wie beim Erwachsenen, daher sind
sie durch äussere Einflüsse auch leicht zu lösen. Besonders mächtig
entwickelt ist beim Kinde der Trieb (Nachahmung) und die Phantasie.
Eine besonders grosse Bedeutung hat das Milieu für die K i n d er¬
lüg e n. Kinderaussagen vor Gericht sind geradezu wertlos: Es sind
inkrustierte fehlerhafte Ideenassoziationen, entstanden unter dem Ein¬
fluss eines von aussen einwirkenden, in seinen Einzelheiten schwer zu
eruierenden Milieus. In Schweden dürfen Kinder unter 15 Jahren
nicht als Zeugen vernommen werden. B. nennt dies ein Muster-
gesetz; er glaubt sich verpflichten zu können, in ein Kind bis zu
9 Jahren alles, was er will, hinein- und aus demselben wieder heraus¬
zuexaminieren. Die kindliche Erziehung muss mit dem Wechsel des
Milieus arbeiten.
Privatdozent Dr. G u t z m a n n - Berlin sprach über: Die soziale
Fürsorge für sprachgestörte Kinder.
Der Vortragende berechnet die Gesamtzahl der stotternden Schul¬
kinder im Deutschen Reiche auf nahezu 100 000, d. h. auf 1 Proz. aller
Schulkinder, ein Resultat, das auch in anderen Ländern durch stati¬
stische Erhebungen sich ergeben hat, so in Dänemark, in Ungarn, in
Nordamerika, in Belgien. Unter den Erwachsenen nimmt der Verf.
bei den Frauen 0,025 Proz. und bei den Männern 0,225 Proz. Stot¬
ternde an, so dass auf 1000 erwachsene Männer mindestens 2,25
Stotterer kommen; das ergibt, da wegen schweren Stotterns eine Ein¬
stellung in das Heer nicht erfolgen kann, für Deutschland jährlich
wenigstens 1000 Mann, die nur wegen Stotterns dienstuntauglich sind.
Aber nicht allein die Diensttauglichkeit, sondern fast alle Berufe er¬
fordern eine normale Sprache, das ist der Grund, weswegen seit un¬
gefähr 20 Jahren in Deutschland von den Gemeinden und Behörden
Einrichtungen getroffen sind, um bereits in der Schule das Stottern zu
bekämpfen. Vortragender gibt einen Ueberblick über die Einrichtung
dieser in Deutschland zuerst eingeführten Schulkurse und ihre Re¬
sultate, weist aber darauf hin, dass in anderen Staaten eine einheit¬
lichere Organisierung der Fürsorge für sprachgestörte Kinder ge¬
troffen ist, so besonders in Dänemark und Ungarn. Der Vortragende
hält die einheitliche Leitung der gesamten Fürsorgeeinrichtungen
für die sprachgestörten Kinder auch für Deutschland oder wenigstens
für die einezlnen Bundesstaaten für erstrebenswert, ferner schlägt er
vor, dass ein systematische Bekämpfung besonders des Stotterns, aber
auch der Aussprachefehler bereits in den Kindergärten eintreten solle,
also in der vorschulpflichtigen Zeit, damit das Kind mit einer nor¬
malen Sprache in die unterste Schulklasse eintrete. Anfänge, diese
Vorschläge zu verwirklichen, sind bereits in Frankfurt a. M. gemacht
wroden. Auch die Schuleinrichtungen selbst könnten grössere und
dauerndere Erfolge erzielen, wenn nicht nur einzelne Lehrer
mit dem Wesen der Behandlung der Sprachstörungen vertraut ge¬
macht würden, sondern, wenn bereits auf dem Seminar alle zu¬
künftigen Volksschullehrer diese Unterweisung erhielten. Vortragen¬
der wünscht daher, dass bereits auf den Seminaren Vorträge über
Sprachstörungen, ihre Entstehung, Verhütung und schulgemässe Be¬
kämpfung gehalten würden, dass die Lehrer dort über die Grund¬
sätze der Sprachphysiologie ausführlicher instruiert würden. Auf diese
Weise würden sie ein besseres Verständnis für die so häufig in der
Schule auftretenden Sprachhemmungen bekommen. Dazu würde es
genügen, wenn für diesen Zweck geeignete Seminarlehrer an ein
Zentrum, z. B. an die Universität Berlin, für gewisse Zeit abkomman¬
diert würden, wo sie für ihre Seminarvorträge in einem längeren
Kursus vorbereitet würden. Ebenso sollten auch die Lehrer der
höheren Schulen auf der Universität diesen Teil der pädagogischen
Pathologie kennen lernen; endlich sollten die sprachgestörten Kinder
in Rücksicht auf die meist neuropathische Basis ihres Uebels besonders
bei der Auswahl der Ferienkolonien berücksichtigt werden. In Berlin
besteht ein besonderer Verein dafür, stotternde Kinder in die Ferien¬
kolonien zu schicken. Aeusserst wichtig wäre schliesslich die Durch¬
führung einer allgemeinen Statistik der Sprachstörungen, wenigstens
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2221
für die Schulkinder. Erst eine sorgsame, allgemeine, einheitlich durch¬
geführte Statisik wird auch die Fürsorge für die sprachgestörten
Kinder allgemein machen. Vortragender schliesst seine Ausführungen
mit folgenden Schlussätzen: Da die Sprachstörungen eine hervor¬
ragende soziale Schädigung ausmachen, so müssen die öffentlichen
und privaten Massnahmen gegen die Verbreitung derselben weit mehr
ausgedehnt werden. Nur in gemeinschaftlicher Tätigkeit von Lehrer
und Arzt kann das erwünschte Ziel erreicht werden. Dazu hat sich
einerseits die Ausbildung des Lehrers auf dem Seminar auch auf die
Sprachphysiologie, Sprachhygiene und Sprachstörungen der Schul¬
kinder zu erstrecken, andererseits muss dem Arzte während und nach
seiner Studienzeit Gelegenheit geboten werden, sich hierin möglichst
ausführlich zu instruieren; ganz besonders der Schularzt muss auf
diesem Gebiete umfassende Kenntnis besitzen; dazu ist es notwendig,
dass eine zentrale Einrichtung in Form eines staatlichen Ambulatoriums .
für Sprachstörungen geschaffen wird. Endlich ist eine allgemeine und
gleichartige Statistik über das Vorkommen der einzelnen Sprach¬
störungen im Deutschen Reiche anzustreben; die dazu nötigen vor¬
bereitenden Schritte müssen von einer aus Aerzten und Schulmännern
gleichmässig zu bildenden Kommission beraten werden. (Autoreferat.)
Hierher gehört auch noch der Vortrag des Heilpädagogen
Dr. Theodor Heller- Wien-Grinzing : Ueber psychasthenische
Kinder. Tr , ,, . ,
Der Vortragende beschreibt eine Kategorie psychopathischei
Kinder, bei denen jede längere oder komplizierte Arbeitsleistung auf
körperlichem oder geistigem Gebiet schwere Unlustgefühle (Dys- .
phorie) auslöst, die nicht überwunden werden können und sich unter
Umständen als psychische Hemmung geltend machen. Hierher ge¬
hören jene Kinder, die mit keiner Arbeit fertig werden, und bei denen
sich eine eigentümliche Erwartungsneurose (Prüfungsangst) einstellt.
Das pathologische Unlustgefühl wächst oft dermassen an, dass es bis
zu „psychasthenischen Krisen“ kommt, in denen die Kinder planlos
herumirren, Eigentumsdelikte begehen, sogar Selbstmord verüben.
Die falsche Beurteilung der Psychasthenie als moral insanity führt zu
schweren pädagogischen Missgriffen. Ebenso ist die Psychasthenie
von der Debilität, Hysterie und Hebephrenie wohl zu unterscheiden.
Psychastheniker, die nicht rechtzeitig einer heilpädagogischen Be¬
handlung unterworfen worden sind, stellen das Hauptkontingent zu
den problematischen Naturen und schiffbrüchigen Existenzen. Der
Vortragende spricht sich für eine planmässige Beschäftigungstherapie
in vollständiger Aenderung des Milieus aus, die in leichten Fällen
bei einem Landerziehungsheim, in schweren Fällen in einer Heil¬
erziehungsanstalt stattzufinden hätte. (Autoreferat.)
Professor Ne u m a n n - Königsberg sprach über: Die wissen¬
schaftliche Untersuchung der Begabungsunterschiede der Kinder und
ihre praktische Bedeutung.
Er erläutert in erster Linie den Begriff der Begabung, der im
weiteren Sinne als intellektuelle Befähigung des Menschen überhaupt,
im engeren Sinne gleichbedeutend mit „einem hohen Grade von Be¬
gabung“ gebraucht wird. Weiterhin kann man zwischen angeborener
Begabung und zwischen der Summe von angeborener und erworbener
Fähigkeit zu intellektuellen Leistungen unterscheiden. Man kann eine
Normalbegabung für die einzelnen Jahre des kindlichen Alters fest¬
legen und ihr das „schwache“ Kind und das „besonders begabte“
Kind gegenüberstellen. Die pädagogische Praxis kennt nur den kon¬
ventionellen Begriff der Schulbegabung; dieser ist einseitig, es
ist der Schule nicht möglich, eine Analyse der Begabung durch¬
zuführen. Das praktische Hauptproblem der Begabungsfrage ist
die Frage der B i 1 d u n g s f äh i g k e i t der Begabung des Kindes.
Begabungsmängel können beseitigt, individuelle Unterschiede der
Begabung durch geeignete Uebung ausgeglichen werden. Als Bei¬
spiel für die Verschiedenheit der Anlagen führt Neumann die Be¬
obachtungen im Rechenunterricht an, indem man zwischen visuellen
Kindern, die Zahlenbilder vor sich sehen, und zwischen Akustikern,
welche nach der Zählmethode besser arbeiten können, unterscheiden
muss. Weiterhin bespricht der Vortragende die Anlagen zum
Zeichnen, indem er die 5 Formen des Mangels an zeichnerischer Be¬
gabung angibt. Schliesslich schildert er die verschiedenen Methoden
der Begabungsuntersuchung, bei der speziell das Verhältnis der
Uebung und Leistung als Anhaltspunkt gelten kann.
Mittelschulrekcor Ufer- Elberfeld war in seinem Vortrag: Ueber
das Verhältnis von Kinderforschung und Pädagogik, der Ansicht, dass
der Gewinn aus der experimentellen Psychologie in Bezug auf die Ent¬
wicklung des Kindes im grossen Ganzen vor dem schulpflichtigen
Alter liege; er warne vor allzu ausschweifenden Hoffnungen auf die
experimentelle Psychologie und wünscht, dass man das Indi¬
viduelle in der kindlichen Erziehung nicht allzu sehr in den
Vordergrund stellen möge. (Die erste Hälfte des Vortrages ist be¬
reits in der Zeitschrift „Die Kinderfehler“ erschienen.)
Privatdozent E 1 s e n h a n s - Heidelberg sprach: Ueber die An¬
lagen des Kindes.
Das Wort „Anlage“ bedeutet eine Lücke in der Erkenntnis der
Dinge, es stellt ein X dar, welches die Grenzen der künftigen Weiter¬
entwicklung festsetzt. In erster Linie interessieren die Modifikationen
von den allgemeinen Anlagen. Hierher gehören Unterschiede des
Gedächtnisses; verschiedene Anschauungstypen; Aufmerksamkeit, Zer¬
streuung; Phantasie; Anlage des Wollens (des Charakters). Wichtig
ist auch das Verhältnis der einzelnen Eigenschaften zu einander (Ver¬
standesmenschen, Willensmenschen, Gefühlsmenschen). Die I em-
peramente bilden eine Verbindung der verschiedenen Anlagen in be¬
stimmter Weise. Gewisse Anlagen sind mit einander unvereinbar, bei¬
spielsweise Mathematik und Poesie, vielleicht auch Realismus und
Humanismus. Anlagen müssen gesteigert werden durch fortgesetzte
Funktion (Uebung); man kann gradweise unterscheiden 1. hertigkeit,
2. Gewohnheit, 3. Mechanisierung, 4. Kultivierung. Kompliziertere
Funktionen sind sekundäre Anlagen, die aus elementaren Anlagen
hervorgehen (beispielsweise Schreien, Sprechen, Kunstgesang). Die
sekundären Anlagen müssen nicht notwendig zu den Elementaranlagen
dazu kommen. Auch die Raumerkennung und die Charakterausbildung
bezeichnet E. als sekundäre Anlagen. Als Grundlagen der Anlagen
führt E. die Chromosomen an.
Professor M a r t i n e k - Graz sprach über; Wesen und Aufgabe
einer Schülerkunde.
Die Schülerkunde hat die Aufgabe, das gesamte körperliche und
geistige Leben des Schülers zu erforschen, mit besonderer Betonung
aller derjenigen Erscheinungen, die mit dem Schulleben im kausalen
Zusammenhang stehen. Der Erzieher muss die Psyche seines Schülers
sehr genau kennen; das bedeutet aber nicht, dass er ihr immer
nachgeben muss, im Gegenteil, er muss vielmehr hemmend,
drängend, also gegen die psychische Anlage arbeitend, tätig sein.
Die Schule sollte nicht nur Zeugnisse (Diagnosen), sondern ausserdem
auch Prognosen geben; es sollte ein bleibender Zusammenhang der
Schüler mit den ehemaligen Unterrichtsanstalten bestehen, ähnlich dem
Altherrenverband der Akademiker; Personalbogen müssten ein¬
geführt, die eigentlichen Jugenderinnerungen sollten gepflegt werden.
Schliesslich ging M. über zu einer ausführlichen Schilderung des
Systems einer Schülerkunde, berücksichtigte hierbei auch angemessen
die Rolle des Arztes, wie des experimentellen Psychologen und wies
dann auf zahlreiche Gebiete hin, welche einer streng wissenschaft¬
lichen Prüfung noch nicht zugängig sind, deren Studium indessen doch
nicht vernachlässigt werden darf.
Im Anschluss an den Vortrag von F. W e i g 1 - München: Bil¬
dungsanstalten des Staates, der Provinzen, bezw. Kreise und der
Kommunen für Schwachsinnige im Deutschen Reiche, entspann sich
eine sehr heftige Diskussion zwischen den Heilpädagogen, an ihrer
Spitze Piper- Dalldorf und T r ü p e r - Sophienhöhe bei Jena, und
den Psychiatern (T u c z e k - Marburg) über die Oberleitung an heil¬
pädagogischen Anstalten.
Dr. Engelsperger - München sprach über seine gemeinsam
mit Dr. Z i e g 1 e r ausgeführten Untersuchungen: Beiträge zur Kenntnis
der physischen und psychischen Natur der sechsjährigen, in die Schule
eintretenden Münchener Kinder.
Die an ca. 500 Münchener Schulkindern unternommenen Unter¬
suchungen gliedern sich in einen anthropologischen und psycho¬
logischen Teil. Die durchgeführte Scheidung nach den sozialen
Lebensverhältnissen ergab für die Kinder schlechter situierter Stände
hinsichtlich der Körperlänge sowie des Gewichtes kleinere Masse.
Ferner zeigte sich auch, dass die noch nicht sechs Jahre alten Kinder
beträchtlich geringere Werte als ihre älteren Kameraden aufwiesen.
Der Wunsch, zu erfahren, ob der eine so grosse Aenderung in der
bisherigen Lebensweise des Kindes verursachende erste Schulunter¬
richt einen merklichen Ausdruck im Gewicht fand, veranlasste weitere
Untersuchungen der Gewichtsverhältnisse nach achtwöchentlichem
Schulbesuch. Ca. 85 Proz. sowohl der Knaben als der Mädchen
wiesen Gewichtszunahmen von 0,05 — 1,5 kg auf. Ein nicht geringer
Rest zeigte jedoch Gewichtsabnahmen bis zu 1 kg. Auf den psycho¬
logischen Teil (psychische Anlagen und Fähigkeiten der Schul¬
anfänger; Feststellung ihrer Vorstellungskreise aus dem Gebiete der
Zoologie, Botanik, Religion etc.; Mängel dieser Betrachtungsweise in
stofflicher und methodologischer Hinsicht) kann hier nicht näher ein-
gegangen werden. Ein Teil dieser Untersuchungen ist übrigens in
der Zeitschrift „Experimentelle Pädagogik“ bereits erschienen. (Mit
Benutzung eines Autoreferates.)
Dr. Sonnenberger - Worms besprach : Die geschichtliche
Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Ferienkolonien und
verwandter Bestrebungen, Pastor Dr. Hennigh - Raues Haus,
Hamburg sprach über: Freiwilliger Liebesdienst und staatliche
Ordnung in der Arbeit der gefährdeten Jugend; ein Rückblick und
Ausblick, Vorträge, über die sich nicht gut detailliert berichten lässt.
Geheimer Admiralitätsrat Dr. F e 1 i s c h - Berlin behandelte :
Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend.
Bei der Fürsorgetätigkeit für die Schulentlassenen kommen junge
Menschen in Betracht, welche der Erwerbstätigkeit nachgehen müssen
und zwar während eines vierjährigen Zeitraums. Während der Staat
durch den Zwang, die Kirche durch den Glauben helfen können, muss
eine Hilfstätigkeit — und zwar eine interkonfessionelle
— die Jugend in menschlicher Weise zu fördern suchen, es muss
ebensowohl, für das sittliche und geistige, wie für das leibliche und
wirtschaftliche Wohl der Kinder gesorgt werden. Das Patronage¬
system ist bei dieser Art der Fürsorgetätigkeit zu verwerfen.
Nicht Hilfe durch Almosen ist von Nöten, sondern durch Rat und
persönliche Unterstützung. Eine finanzielle Beihilfe darf nur als
Zweckspende gegeben werden, am besten aber nicht in Bargeld,
sondern in Natura. Bei solchen Grundsätzen kann nur das Pfleger-
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
777
bi b t e m Hilfe bringen. Der Ausbau desselben ist am vorbildlichsten
gelungen in dem freiwilligen Erziehungsbeirat für die schulentlassene
Jugend. Die Mittel der Fürsorge sind erstens Ermittelung der
Hilfsbedürftigen durch frühzeitige Anfrage bei der Schul¬
verwaltung, zweitens Beistand bei der Berufswahl, drittens
Beratung und Hilfeleistung in den 4 der Schulentlassung
folgenden Jahren. Hierher gehört die Veranlassung zum Be¬
such von Eortbildungs- und Fachschulen und ähnlichen Institutionen,
die Sorge für geeignete Wohnungen (Lehrlings- und Arbeite¬
rinnenheime), Beschaffung von Lektüre (Volksbibliotheken), Her¬
beiführung eines geeigneten Verkehrs usw.
Von dem ausgezeichneten Vortrage des Landgerichtsrates Dr.
K ulemann - Bremen : Die forensische Behandlung der Jugend¬
lichen können hier nur die Leitsätze wiedergegeben werden.
Die Abgrenzung der Klasse der Jugendlichen in der heutigen
Strafgesetzgebung ist zunächst insofern verfehlt, als ihr das rein intel-
lektualistische Moment der Einsichtsfähigkeit in die Straf¬
barkeit der begangenen Handlung zu Grunde liegt und der Willens¬
faktor unberücksichtigt geblieben ist. Eine Verbesserung würde
deshalb darin bestehen, dass an Stelle dieser Einsichtsfähigkeit die
allgemeine geistige Entwicklung gesetzt würde. Aber es
erscheint richtiger, diesen Ausgangspunkt ganz aufzugeben und die
bisherige anthropologische durch die pädagogische Grundlage
zu ersetzen, d. h. das Unterscheidungsmoment zu entnehmen nicht aus
der PersondesTäters, sondern aus der Art der staatlichen
Reaktion gegen das begangene Unrecht. Diese hat freilich auf
die Persönlichkeit des Täters Rücksicht zu nehmen, sich aber nicht
nach ihr allein, sondern daneben nach der Art und den näheren Um¬
ständen der Tat zu bestimmen. Als staatliche Reaktionen kommen in
Betracht: Erziehung, Bestrafung und Unschädlich¬
machung. Die letztere ist lediglich bestimmt für geistig normale,
d. h. solche Personen, auf welche weder Erziehung, noch Bestrafung
mit Aussicht auf Erfolg anwendbar ist. Sie entfallen aus der vor¬
liegenden Erörterung. Kinder unterliegen ausschliesslich der Er¬
ziehung, Erwachsene ausschliesslich der Bestrafung. Jugend¬
liche Personen bilden eine Mittelklasse, bei der nicht durch den
Gesetzgeber allgemein im voraus, sondern nur durch den Richter im
Einzelfalle nach Massgabe der Individualität sowie der Art und den
näheren Umständen der Tat entschieden werden kann, ob und in
welchem Umfange Erziehung oder Bestrafung am Platze ist. Die
Grenze zwischen Kindern und Jugendlichen ist auf das 14., diejenige
zwischen Jugendlichen und Erwachsenen auf das 21. Lebensjahr fest¬
zusetzen. Gegen Jugendliche sind im Falle einer Verletzung der
Strafgesetze folgende Massregeln zulässig: A. Erzieherische: 1. Ueber-
wachung und Beeinflussung der Erziehung bei den bisherigen Er¬
ziehern; 2. Unterbringung bei fremden Erziehern; 3. Aufnahme in eine
Erziehungsanstalt. B. Strafrechtliche: 1. Verweis; 2. Geldstrafe;
3. Haft; 4. Gefängnis. Haft und Gefängnisstrafe sind nicht allein in
besonderen Anstalten oder mindestens in besonderen, ausschliesslich
für Jugendliche bestimmten Räumen, sondern auch möglichst weit¬
gehend in der Form der Einzelhaft zu vollziehen. Erzieherische und
strafrechtliche Massregeln können miteinander verbunden werden.
Die Verhängung der eben bezeichneten Massregeln ist besonderen
Behörden (Jugendgerichten) zu übertragen. Sie werden ge¬
bildet aus dem Vormundschaftsrichter als Vorsitzenden und einer
Anzahl von Beisitzern. Unter diesen soll sich stets ein Arzt und ein
Lehrer befinden. Das Verfahren ist nach dem Vorbilde des
schöffengerichtlichen zu gestalten. Der Erlass eines Strafbefehls
findet nicht statt. Die Oeffentlichkeit kann auch dann aus¬
geschlossen werden, wenn das Gericht von ihr eine ungünstige
Wirkung auf den Angeklagten befürchtet. Die Einleitung des Ver¬
fahrens ist durch den Antrag der Staatsanwaltschaft nicht bedingt,
vielmehr ist der Vorsitzende auf Grund einer an ihn gelangenden
Anzeige oder von Amts wegen zum Eingreifen befugt, doch hat er
hiervon der Staatsanwaltschaft Mitteilung zu machen. Diese ist zur
Beteiligung an dem Verfahren berechtigt, aber nicht verpflichtet. Die
Abgabe eines Eröffnungsbeschlusses findet nicht statt. Hält der Vor¬
sitzende nach dem Ergebnisse der angestellten Ermittelungen die
Verhängung einer der oben bezeichneten Massregeln für geboten, so
hat er Termin zur Hauptverhandlung anzusetzen und hiervon der
Staatsanwaltschaft Kenntnis zu geben, sowie den Angeklagten, dessen
gesetzlichen Vertreter und die erforderlichen Auskunftspersonen zu
laden. Im Termin hat der Vorsitzende den Inhalt der Beschuldigung
vorzutragen, den Angeklagten zu vernehmen und die Beweise zu
erheben. Die Zulassung eines V erteidigers unterliegt dem
Ermessen des Gerichtes. Ein auf Strafe lautendes Urteil kann be¬
stimmen, dass die erkannte Strafe nicht vollzogen werden soll, wenn
der Verurteilte innerhalb einer gewissen Frist sich eines weiteren
Verstosses gegen die Strafgesetze nicht schuldig macht. Gegen die
Entscheidungen des Gerichtes und des Vorsitzenden finden dieselben
Re chtsmittel statt, wie im schöffengerichtlichen Verfahren.
Ueber die Berufung ist von der Strafkammer des Landgerichts in der
Besetzung von 2 Richtern und 3 Schöffen zu entscheiden. Zu den
letzteren soll stets ein Arzt und ein Lehrer gehören. Dem An¬
geklagten ist, falls er nicht selbst einen Verteidiger gewählt hat, von
Amts wegen ein solcher zu bestellen.
Von grossem Interesse war der mit Vorführungen verknüpfte
Vortrag des Taubstummenlehrers G. R i e m a n n - Berlin: Ueber
taubstumme Blinde.
Auf diese Dreisinnigen ist der Blick des Publikums in neuerer
Zeit durch das Buch der Helen Keller hingelenkt worden. Man
darf nun freilich nicht glauben, dass die in dem Buch aufgezählten
Leistungen auf den Unterricht allein zurückzuführen sind. Sie sind
vielmehr das Resultat des innigen Zusammenlebens zwischen einer
hochbegabten Schülerin und einer genialen und sehr energischen
Lehrerin. Eine französische Statistik zählt allein 54 unterrichtete
Dreisinnige auf. Riemann selbst hat drei solche Unglückliche aus¬
gebildet. Taubblinde werden in Preussen gegenwärtig 215 gezählt.
Die von Geburt an Taubblinden sind im Anfang schwieriger zu unter¬
richten als die erst später Ertaubten oder Erblindeten, später aber
machen sie schnellere Fortschritte, weil sie weniger Wissensballast
mit sich schleppen müssen als die letzteren. Riemann demon¬
strierte nun an zwei der von ihm unterrichteten dreisinnigen Zöglinge
die Art und Weise, wie ihnen zunächst mit dem Eingeralphabet Worte
beigebracht werden und wie sie dann allmählich zu einem notdürftigen
Sprechen geleitet werden. Die ältere Patientin hatte neben der
Gebärdensprache und dem Eingeralphabet auch Tastlesen, ja sogar
unsere Schreibschrift gelernt. Wie das mit ihr angestellte Examen
ergab, hatte sie auch ganz gute geographische und sonstige allgemeine
Kenntnisse. Die Taubheit ist dasjenige Leiden, welches die grösseren
Nachteile schafft, die Blindheit verursacht mehr eine Unbeholfenheit
der Kranken. Solche Dreisinnige gehören deshalb in die Hand des
Taubstummenlehrers. Es ist eine Spezialanstalt für derartige Kinder
notwendig, in der auch Schwachsichtige aufgenommen werden
können, denen durch Gebärden- und Eingeralphabet noch geholfen
werden kann, sodass ihnen die Sprache erhalten bleibt. Seit Juli
ds. Jrs. ist in Nowawes eine derartige Anstalt gegründet.
Ueber 2 Vorträge wäre hier noch zu berichten, welche über 2
mit dem Kongress in Verbindung stehende Ausstellungen orientierten.
Dr. Ament - Wiirzburg sprach über: Eine erste Blütezeit der Kinder¬
seelenkunde um die Wende des XVIII. zum XIX. Jahrhundert und
hatte im Anschluss daran eine kleine Ausstellung der gesamten
Literatur der Kinderseelenkunde von Locke (1632) bis Preyer
(1882) in Erstlingsausgaben veranstaltet. Museumsleiter E. F i s c h e r
machte eine orientierende Mitteilung über die Ausstellung. Dieselbe
gliederte sich in 5 Abteilungen: Bau, Leben und Hygiene des ge¬
sunden und kranken Schulkindes; Kind und Kunst [a) das Kind als
Künstler, b) die Kunst für das Kind, c) Jugendbücherei]; wissenschaft¬
liche Bibliothek — Lesesaal; Lehr- und Lernmittel; Schulbau und
Schuleinrichtungen. Das vielseitigste Interesse erweckte hier die von
Dr. W. Stern- Breslau ausgestellte Kollektion von 1500 Schüler¬
zeichnungen aus Breslauer Schulen über das Sachs sehe Gedicht
„Schlaraffenland“.
Der Rest der Sektionsvorträge, die mit anzuhören nach dem
oben Gesagten mir unmöglich war, kann nur dem Titel nach an¬
geführt werden:
Privatdozent Dr. W. S t e r n - Breslau: Grundfragen der Psycho-
genesis.
Dr. W. Fürstenheim - Berlin : Ueber Reaktionszeit im
Kindesalter.
Privatdozent Dr. S c h ä f e r - Berlin : Farbenbeobachtungen bei
Kindern.
Fräulein H. M e c k e - Kassel : F r o e b e I sehe Pädagogik und
Kinderforschung.
Hilfsschuldirektor J. Delitsch - Plauen : Ueber die individuellen
Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter.
Dr. F. S c h m i d t - Würzburg: Haus- und Prüfungsaufsatz, ex¬
perimentelle Studien.
Direktor A r c h e n h o 1 d - Treptow: Die Bedeutung des Unter¬
richts im Freien in Mathematik und Naturwissenschaft.
Lehrer F. L o r e n z - Weissensee: Die Beziehungen der Sozial¬
hygiene zu den Problemen sozialer Erziehung.
Schularzt Dr. Bernhard - Berlin : Ueber den Schlaf der Berliner
Gemeindeschüler.
Institutslehrer Landmann - Jena: Ueber die Möglichkeit der
Beeinflussung abnormer Ideenassoziationen durch Erziehung und
Unterricht.
Seminardirektor Dr. P a b s t - Leipzig: Die psychologische und
pädagogische Bedeutung des praktischen Unterrichts.
Erziehungsdirektor Pastor P 1 a s s - Zehlendorf : Ueber Arbeits¬
erziehung.
Schriftsteller A. D a m a s c h k e - Berlin: Wohnungsnot und
Kinderelend.
Direktor Dr. K e m s i e s - Weissensee: Zur Frage der Kinder¬
lüge.
Dr. H. Schmidkunz - Halensee : Die oberen Stufen des Kindes¬
alters.
Lehrer W. D ix- Meissen: Ueber hysterische Epidemien in
deutschen Schulen.
Gefängnisgeistlicher Dr. v. R h o d e n - Düsseldorf-Derendorf:
Jugendliche Verbrecher.
Am Mittag des 3. Oktober wurde der Kongress geschlossen, am
Nachmittag und am folgenden Tage Enden noch eine grosse Anzahl
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2223
von Führungen und Besichtigungen statt, von denen besonders der
Besuch der psychiatrischen Klinik der Charite erwähnt sei, wobei
Geheimrat Professor Ziehen „lieber die normale und pathologische
Ideenassoziation“ sprach, ferner die Demonstration des psychologischen
Laboratoriums von Professor Stumpf. Auch zum Besuch einer
Reihe von Schulen, Krankenhäusern und Erziehungsanstalten waren
Einladungen ergangen.
Versammlung der Süddeutschen Heilstättenärzte
am 20. und 21. Oktober zu Heidelberg.
Der Senior der deutschen Lungenheilstättenärzte Dr. Nahm-
Ruppertshain hatte die süddeutschen Spezialkollegen zu einer
Versammlung in Heidelberg eingeladen und 15 derselben waren dem
hochwillkommenen Rufe gefolgt.
In der wissenschaftlichen Sitzung am 21. Oktober erstattete zu¬
erst Pischinger - Luitpoldheim Bericht über Bera-
n e c k s Tuberkulin.
Bei der berechtigten Suche nach Hilfsmitteln, um die Heilwirkung
der physikalisch-diätetischen Anstaltsbehandlung zu unterstützen,
verdienen die neuen Tuberkulinpräpara'te, welche die Unannehmlich¬
keiten und Gefahren der Koch sehen Tuberkuline zu vermeiden
suchen, volle Beachtung. Das Tuberkulin von Professor Beraneck
in Neuenburg i. d. Schweiz (Tuberkulosekongress in Paris und
Sahli, Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte, 36. Jahrgang,
No. 13, cfr. Münch, med. Wochenschr. 1906 No. 29 pag. 1428) ist be¬
sonders bemerkenswert durch seinen unvermischten und unver¬
änderten Gehalt an Bakterienprodukten und durch die leichte Dosier¬
barkeit. Die bisherigen Erfahrungen des Referenten an 38 Kranken
(Anwendung genau nach Sahlis Vorschrift) beweisen die völlige
Unschädlichkeit (niemals Reaktion über 37,3 0 oder sonstige Schädi¬
gungen) und die örtliche Einwirkung auf die Krankheitsherde. Eine
Heilwirkung ist bei lang fortgesetzter Kur bei nicht fieberenden oder
nicht allzugeschwächten Personen zu erwarten und die vielseitige
Prüfung des Präparates dringend zu empfehlen.
In der Diskussion erwähnt Nahm, dass in Slawentzitz, dem
Ursprungsort der G ö t s c h sehen Tuberkulinbehandlung, die frühere
Begeisterung abzuflauen scheine. Curschmann - Friedrichsheim
sah bei D e n y s’ und Beranecks Tuberkulin geringere Neben¬
erscheinungen als bei Koch schem Alttuberkulin und besonders bei
Bazillenemulsion; bei letzterer einerseits auffallende Besserung,
andererseits aber auch Schädigungen, im übrigen aber keine wesent¬
liche Wirkung von Tuberkulinen. K o c h - Schömberg erzielte durch
Bazillenemulsion mehrmals deutliche Entfieberung. Schröder-
Schömberg hält die Heilwirkung der Koch sehen Tuberkuline für
theoretisch nicht genügend begründet. Versuche an Tieren ergaben
auch ihm eher Schädigungen und zwar ganz entsprechend wie mit
reiner Deuteroalbumose, die im Koch sehen Tuberkulin enthalten ist.
Bei Beranecks Tuberkulin fällt die Länge der notwendigen Be¬
handlungszeit ungünstig in die Wagschale. Bei L i p p - Ernst-Ludwig-
Heilstätte verloren mit Alttuberkulin behandelte Kranke doppelt so
häufig die Bazillen im Auswurf als andere. Schütz- Stammberg
sah mit Bazillenemulsion vielfach gute Erfolge, Entfieberung, Ver¬
ödung von Fisteln, aber auch unangenehme Reaktionen. Nach
Curschmann bleiben Herdreaktionen nach diagnostischer Ein¬
spritzung mit Alttuberkulin oft lange bestehen; die besten Heilerfolge
haben Kranke mit starken Reaktionen. Nahm empfiehlt im Schluss¬
wort weitere Versuche mit Beranecks Tuberkulin.
Das zweite Referat erstattete Curschmann über die
Einweisung von Lungenkranken in die V o 1 k s h eil¬
st ä 1 1 e n. (Autoreferat.)
Nach genauer Prüfung aller einschlägigen Verhältnisse des bei
Tuberkulose besonders im Frühstadium häufig zu beobachtenden
Krankheitsverlaufes, der sich aus Verschlimmerungen und Remissionen
zusammensetzt, und besonders unter Berücksichtigung der Tatsache,
dass wir die besten und dauerhaftesten Heilerfolge nur bei ersten
Stadien erreichen und dass andererseits gerade die Frühstadien, die
schon an und für sich eine Tendenz zur Heilung zeigen, besonders
geeignet sind, eine vollständige Ausheilung zu erzielen, während sie
andernfalls doch in weit mehr als der Hälfte der Fälle im vor¬
geschrittenen Stadium in die Heilstätten aufgenommen werden
müssen oder überhaupt nicht mehr aufnahmefähig sind — unter Be¬
rücksichtigung aller dieser Verhältnisse hält es Vortragender nicht
für angängig, dass, wie Picker t (dritte Versammlung der Tuber¬
kuloseärzte 1906, cfr. Münch, med. Wochenschr. No. 24, pag. 1179)
will, Frühstadien, sobald sie eine Remission zeigen, von der Heil¬
stättenbehandlung ausgeschlossen und ihrem Schicksal überlassen
werden sollen. Andernfalls wäre dies im Einzelfalle, wo alle paar
Wochen untersucht werden kann, zuzulassen. Andererseits ver¬
spricht sich Vortragender auch keinen Vorteil von der Zulassung
schwerer Stadien in Heilstätten, soweit die Kosten von öffentlichen
Kassen getragen werden, speziell für Landesversicherungsanstalten
seien die Kosten nur vermehrt, sobald durch die Kur nicht die Renten¬
zahlung vermieden oder wenigstens eine Arbeitsfähigkeit für mehrere
Jahre erzielt werden kann.
In der Diskussion bemerkt Dr. Pischinger, dass ganz leicht
Kranke nicht unmittelbar in die Heilstätten geschickt werden sollten,
vorausgesetzt, dass sie ständig und genau beobachtet werden können.
R u m p f - Ebersteinburg betont die Besserungsfähigkeit auch im 2.
und 3. Stadium. Die Frage, ob jemand einer Heilstättenbehandlung
bedarf, ist besonders schwierig bei Anträgen auf wiederholtes Heil¬
verfahren. Hier ist Rumpf die Gegenwart bezw. Abwesenheit von
Rasselgeräuschen massgebend. D ü n g e s - Schömberg hält eben¬
falls die Aufnahme von 2. und 3. Stadien für möglich, wenn das Ver¬
halten nach dem Austritt voraussichtlich der Gesundheit günstig sein
wird. Nach Curschmann kann eine fortgesetzte Beobachtung
im Sinne Pischinger s bei grossem Material nicht in Betracht
kommen (? Referent); in zweifelhaften Fällen sind diagnostische
Tuberkulineinspritzungen heranzuziehen; von dem Beruf des Kranken
sollte seine Einweisung oder Ablehnung nicht abhängig gemacht
werden.
Als drittem sprach Nahm über Heilstätten - St reit-
fragen. (Autoreferat.)
Zunächst bedauert er, dass fast jede Anstalt ein anders ab¬
gefasstes ärztliches Aufnahmeformular hat und wünscht ein einheit¬
liches Formular. Dann verlangt er, dass die Voruntersuchung der
Kranken, wo immer möglich, von dem Heilstättenarzt geschehe; das
sei den praktischen Aerzten nach seiner Erfahrung auch lieber als
die Untersuchung von Seite eines jungen Assistenzarztes an einem
Krankenhause. Ferner fordert er Honorierung der ärztlichen Ent¬
lassungsatteste, ausgenommen in den Fällen, wo die Heilstätte Eigen¬
tum einer Versicherungsanstalt ist oder eng mit einer Versicherungs¬
anstalt liiert ist. Für alle Nachuntersuchungsen früherer Patienten ist
Bezahlung zu heischen. Bezüglich des Heilstättenregimes wünscht
Nahm mehr Einigkeit in der Art der Temperaturmessung und in der
Handhabung von Abreibungen und Douche. Bei der Frage von der
Ernährung erwähnt er den ewigen Aerger, den die Chefärzte mit der
Speisekarte haben, und spricht es offen aus, es sei an der Zeit, gegen
die immer mehr sich steigernden ungerechten Ansprüche der Patienten
Front zu machen. Er tritt für mässige Gaben Alkohol ein; strenge
Abstinenz lässt sich seiner Ansicht nach nicht durchführen.
Die Besuchszeit für die Angehörigen ist einheitlich festzusetzen;,
dabei werden die Unannehmlichkeiten geschildert, welche der viele
Besuch für die Heilstätten mit sich bringt. Erwähnt wird der grosse
Missbrauch, der von Kranken mit dem Nachsuchen von Urlaub ge¬
trieben wird. Sodann bittet der Referent die anwesenden Herren um
Auskunft, wie sie es mit populären Vorträgen und gemeinschaftlichen
Spaziergängen halten, wie sie sich zur Frage des Rauchens und
Schnupfens der Patienten, des Automobil- und Radfahrens, Ruderns,
Schwimmens und Badens im Freien, des Schlittschuhlaufens, Tanzens,
Turnens, Singens stellen. Zum Schlüsse stellt er die Frage zur Dis¬
kussion: sind Röntgenkabinet, Inhalatorium, Apparate zur Vibrations¬
massage, elektrische Lichtbäder, Spirometer für eine Heilstätte unbe¬
dingt nötig oder nicht? Für die ersten zwei Gegenstände wird die
Frage bejaht, für die andern verneint.
Leider konnte auf den anregenden und mit vielem Humor ge¬
würzten Vortrag nicht mehr in längerer Diskussion eingegangen
werden. Pischinger empfahl noch dringend die Einrichtung von
Luftbädern.
Die übrige Zeit des Zusammenseins diente der Pflege der Kolle¬
gialität und vielseitiger erspriesslicher und so notwendiger Aussprache
über Einzelheiten des Berufslebens, und so hinterliess diese erste Ver¬
sammlung der süddeutschen Heilstättenärzte, noch gehoben dadurch,
dass manche „Heilstätten-Chefarztgattin“ (wie Nahm sagt) mit¬
gekommen war, und durch die Schönheiten Heidelbergs und eines köst¬
lichen Herbstwetters, bei allen Teilnehmern das Gefühl voller Be¬
friedigung und den Wunsch, diese Zusammenkunft alljährlich zu
wiederholen. Dr. O. Pischinger.
Berliner medizinische Gesellschaft.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 24. Oktober 1906.
Demonstrationen :
Herr Max Schlesinger: Fall von Sarcoma idiopathicum
multiplex haemorrhagicum (Kaposi).
Aelterer Herr mit stahlblauen Knoten an den Füssen und ele-
phantiastischer Schwellung der Umgebung. Die eigentliche Natur
dieser seltenen Affektion ist noch nicht aufgeklärt; Neigung zu
Spontanheilung und Narbenbildung. Lymphdrüsenschwellung nicht
vorhanden. Therapie wenig aussichtsreich. Arsen empfohlen
Diskussion: Herr Ledermann beobachtete vor 3 Jahren
einen seit 7 Jahren an dieser Krankheit leidenden 63 jährigen Mann,
bei welchem doch Arsen (1000 Pillen ä 1 mg) dies erzielte, dass Pat.
jetzt wieder herumgehen kann, was früher infolge der Elephantiasis
unmöglich war.
Herr Lehr: Pat., der einen Gänseknochen aspiriert hatte, der
aber anfangs nur geringe Beschwerden, später fötide Bronchitis ver¬
ursachte und auf keine Weise sicher nachweisbar war. Erst durch
Bronchoskopie gelang dies dem Vortr. — Extraktionsversuche
erzeugten starke Hustenstösse, wobei der Knochen herausgeschleudert
wurde. Mahnung, in allen suspekten Fällen die Bronchoskopie an¬
zuwenden.
Herr Ed. Meyer: Mann mit Rhinosklerom, das unter Röntgen¬
behandlung sehr wesentlich gebessert wurde.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
?224
Tagesordnung:
Herr Senator: Ueber Erythrozytosis (Polyzythämia)
megalosplenica.
Diese unter Zunahme der roten Blutkörperchen (bis 10
Millionen im Kubikmillimeter), Milzschwellung, dunkelroter
Farbe der Haut und Schleimhäute, Schwäche verlautende
Krankheit wurde zuerst von Vag et beschrieben und ist seit
Oslers genaueren Untersuchungen nicht so selten beobachtet
worden. Freilich sind nicht alle Fälle typisch.
Vortr. hat 2 Fälle genauer untersucht.
Ein sonst gesunder 58 jähriger Mann litt vor einigen Jahren an
Schwindel und Nasenbluten, dann rechtsseitigem Schlaganfall, der bis
auf geringe Sprachstörungen zurüekging. Neigung zu Schwindel
blieb bestehen. Herzhypertrophie. Albuminurie.
40 jähriger Mann, Arbeiter, früher sehr kräftig, allmählich zu¬
nehmende Schwäche, Bluthusten, Abmagerung, Stiche.
Das Blut wechselt bei beiden Patienten in der Zahl der roten
Blutkörperchen (6 — 10 Millionen). Form der Blutkörperchen normal,
Geldrollenbildung, Blutplättchen desgleichen; der Hämoglobingehalt
so erhöht, dass die Oowers sehe Skala zu seiner Bestimmung nicht
ausreicht. Die Leukozyten in ihrer Gesamtheit vielleicht etwas ver¬
mindert, ihr relatives Verhältnis jedoch so verändert, dass die Lympho¬
zyten erheblich vermindert sind; eosinophile und Mastzellen gleich
den polynukleären Leukozyten etwas vermehrt; in einem Falle fanden
sich auch Myelozyten. Spezifisches Gewicht des Blutes ziemlich hoch.
Molekuläre Konzentration normal (A = — 0,54 — 0,56), Viskosität
konnte nicht genau bestimmt werden, nach anderen Autoren ist sie
erhöht. Das Blut gerinnt sehr schnell. Blutdruck erhöht, Trocken¬
rückstand nicht verändert, Eiweissgehalt des Serums vermindert.
Stoffwechsel; Stickstoffwechsel noch nicht genügend unter¬
sucht, weil Pat. nicht dauernd in der Klinik, sondern nur auf einen
Tag hingeschickt; das vorher hergestellte Stickstoffgleichgewicht
blieb während dieses Tages bestehen.
Ueberraschend war das Ergebnis der Untersuchung des Gas¬
stoffwechsels, die im Aufträge des Vortr. Herr Loewy vor¬
genommen : es fand sich bei beiden Patienten in
10 Untersuchungen ausnahmslos eine Erhöhung
des Atmungsvolums (von 5 — 7000 ccm auf 7900 — 9000 ccm),
dementsprechend eine Erhöhung des Sauerstoffverbrauchs
(von 3,4 — 4,0 ccm pro Minute und Kilo Körpergewicht, in der Norm
auf 4,69) und Erhöhung der Kohlensäureabgabe (von
2,8 — 3,1 auf 3,68—3,93 in seinen Fällen).
Dieses überraschende Verhalten wurde in allen Unter¬
suchungen gefunden und es schien das alte Gesetz zu bestätigen;
,,je mehr Blutkörperchen, desto mehr Sauerstoff und Kohlen¬
säure“, während wir doch jetzt nach Pflüger-Voit an¬
nehmen, dass der Gaswechsel nicht von der Zahl der Blut¬
körperchen, sondern von dem Bedürfnis der Gewebe
abhängt.
Vortr. meint, dass die Erklärung vielleicht darin zu suchen
sei, dass die Zunahme der roten Blutkörperchen und somit
des aufgenommenen Sauerstoffes einen Reiz für die Gewebe
zu erhöhtem Stoffwechsel abgebe, ohne dass eine gemein¬
same Ursache für die starke Atmung sowohl als auch die
erhöhte Blutbildung vorhanden sei. Zur Aufklärung dieser
Frage von A. Loewy angestellte Experimente haben noch
nicht zu einem abschliessenden Urteil geführt.
Ob die erhöhte Blutkörperchenzahl von einer vermehrten
Anbildung derselben oder einem verringertem Zerfall her¬
rührt, ist noch unentschieden; die von S. gefundenen ausser¬
ordentlich geringen Urobilin mengen im Urin und Stuhl
sprechen vielleicht für letztere Auffassung, doch könnte für !
die entgegengesetzte Auffassung der Befund in den 3 publi¬
zierten Sektionen verwendet werden, nämlich eine Hyper¬
plasie des Knochenmarks. Der Reiz für die vermehrte Bildung
könnte vielleicht von der Milz ausgehen, die immer ver-
grössert ist, wie bei der Anämia splenica.
Die Behandlung ist eine rein symptomatische; Sauer¬
stoffinhalationen wurden von Benz empfohlen, in der An¬
nahme, dass das Sauerstoffbindungsvermögen verändert sei,
was aber Loewy widerlegt hat. Auch vegetabilische
Diät könne versucht werden, da diese die Viskosität des Blutes
(Ledermann) herabsetze. Die Einreihung der Krankheit
bringe den alten Begriff der Plethora vera wieder zu
Ehren; freilich in dem veränderten Sinne, dass nicht das Ge¬
samtblut, sondern bloss die Zahl der Erythrozyten vermehrt ist.
Die früher so sehr oft angenommene Plethora war unter dem
Einflüsse des C o h n h e i m sehen Experimentes gänzlich ge- 1
leugnet worden, etwa wie die Berechtigung des Aderlasses;
beide werden jetzt wieder zu Ehren kommen. Und solche
historische Betrachtungen seien eine Warnung, durch die ex¬
perimentellen Resultate nicht die praktische ärztliche Erfahrung
in den Hintergrund drängen zu lassen.
Diskussion: Herr F. Kraus: Er beglückwünscht Vortr. zu
seiner schönen Entdeckung, dass der O-Verbrauch bei Polyzythämie
gesteigert sei. Diese Entdeckung werde, gleichviel welche Erklärung
man späterhin für die Krankheit finde, ihren Wert behalten.
Die Vermehrung der Sauerstoffträger könne nicht gut als Ursache
der Stoffwechselerhöhung angenommen werden, ebensowenig die
Herzhypertrophie. Vielleicht wirke das Knochenmark als Blutdrüse
auf den Stoffwechsel ein, wie etwa die Schilddrüse dies tut (z. B.
Myxödem). Der Hinweis S.s auf das Urobilin verdiene bei allen Er¬
krankungen des hämatopoetischen Apparates Beachtung
Herr Grawitz: Es handele sich um die Kardinalfrage, ob
vermehrte Blutbildung oder Stauung im Blutgefässystem, wie bei
Herzkranken, Morbus coeruleus. Es sei möglich, dass die Natur dem
erhöhten Sauerstoffbedürfnis durch erhöhte Produktion von Erythro¬
zyten nachkomme und dabei des Guten zu viel tue; gegen die dann
entstehende Eindickung des Blutes könne man den Aderlass versuchen.
Dass es sich wirklich um eine vermehrte Bildung von Erythrozyten
handele, könne deshalb fraglich erscheinen, weil immer nur fertige
Erythrozyten, keine kernhaltigen, oder wenigstens nicht in nennens¬
werter Zahl gefunden werden. Die Milzschwellung sei vielleicht doch
anders, nämlich als Folge einer Blutbildung in diesem Organe zu
deuten, denn wie Askanazy gezeigt, können doch unter Umständen
postembryonal in Leber und Milz Blutkörperchen gebildet werden.
Herr Hirschfeld: Er habe schon vor mehreren Jahren auf
Grund von Stoffwechseluntersuchungen die Existenz einer Plethora
vera angenommen und beschrieben.
Herr Ri t sc hei: Er erinnere an die Vermehrung der Erythro¬
zyten im Höhenklima und die Veränderung des Stoffwechsels daselbst
(Zuntz-Loewy). Er habe auch beim Morbus coeruleus eine er¬
höhte Oxydation gefunden.
Herr Hans Hirse hfeld: In einem von ihm untersuchten Falle
fanden sich keine Anhaltspunkte fiir eine ursächliche Bedeutung der
Milz; doch fand sich eine myeloide Umwandlung derselben und eine
Zunahme der Normoblasten im Knochenmark.
Herr Senator: Grawitz habe die Stauung und die reinen
Fälle von Polyzythämie nicht genügend auseinandergehalten. Diese
hätten nichts miteinander zu tun; auch bestehe bei der Polyzythämie
nicht Zyanose, sondern dunkelrote Farbe; ebensowenig gehöre der
Morbus coeruleus hierher, bei welchem gemischtes Blut zirkuliere.
Hans K o h n.
Verein für innere Medizin zu Berlin.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 15. Oktober 1906.
Herr v. Leyden eröffnet die erste Sitzung nach den
Ferien mit einigen kurzen, herzlichen Begrüssungsworten, ge¬
denkt des kürzlich verstorbenen Ehrenmitgliedes Brouardel
und beglückwünscht das eifrige Mitglied des Vereins, Herrn
Geh. San. -Rat Hirsch zu seinem 70. Geburtstag.
Hierauf wird sofort in die wissenschaftliche Verhandlung
eingetreten.
Herr F, Kraus: Ueber Kropfherz.
Kraus gibt zunächst eine auf eigene Erfahrung gestützte
Gruppierung der einschlägigen Fälle, wobei er vom sekreto¬
rischen (Rose sehen) scharf das „thyreotoxische“ Kropfherz
trennt. Dieses letztere bildet mit den kardiovaskulären Stö¬
rungen der Struma basedowica, der Struma basedowifica
und dem experimentellen (Fütterungs)thyreoidismus eine in die¬
selbe pathologische Richtung (Hyperthyreosis) fallende Gruppe.
Das thyreotoxische Kropfherz hat eine gewisse klinische Selb¬
ständigkeit, insofern es ein „Aequivalent“ des typischen Ba-
sedowsyndroms darstellt. Vortr. berichtet über die Sym¬
ptomatologie des Kropfherzens in ausführlicher Weise. Schwie¬
rig ist es oft mit der Diagnose und der differentialdiagnostischen
Abgrenzung der verwandten Formen bestellt, auf letztere
kommt auch nicht soviel an. Für die Pathogenese des Morbus
Basedowii ist von besonderem Interesse, warum der Thyreoi-
dismus bei Struma basedowifica, dem Kropfherzen und der
Fütterung mit Schilddrüsenstoffen weitaus in derUeberzahl der
Fälle ein mitigierter bleibt. Die Ursachen können einerseits in
dem Vorausgehen der Struma gesucht werden. Andererseits
liegen sie nach dem Vortragenden in individuellen Verhältnissen
ausserhalb der Schilddrüse. Vortragender stützt sich
zum Teil auf experimentelle Untersuchungen, welche die seiner¬
zeit in München mitgeteilten ergänzen.
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2225
Gesellschaft für Natur- und Heilkunde zu Dresden.
(Offizielles Protokoll.)
XXIII. Sitzung vom 7. April 1906.
Vorsitzender: Herr Friedrich H a e n e 1.
Herr Osterloh: Ueber Osteomalazie mit Vorstellung
von Kranken.
Nach einem Hinweis auf die verhältnismässige Seltenheit
des Vorkommens der Osteomalazie in Dresden wird an der
Hand der Untersuchungen von Ziegler und v. Reckling¬
hausen das pathologisch-anatomische Bild der Knochener¬
krankung gegeben. Hieran schliessen sich die Schilderungen
über die Kalk- und Phosphorsäureausscheidung nach Neu-
mann u. a., über die hämatologischen Untersuchungen von
Neusser, Tschistowitch, Seeligmann, über die
verminderte Blutalkaleszenz nach Jaksch, Renzi, v. Win-
c k e 1 usw. an. Bei Besprechung der verschiedenen Theorien
der Krankheit wird darauf hingewiesen, dass bisher keine all¬
seitig genügende aufgestellt worden ist, dass aber die F e h -
1 i n g sehe, die die Ursache in einer Trophoneurose der Knochen
infolge einer pathologischen Hyperaktivität der Ovarien und
(iebärmutteranhänge sucht, immer noch im Vordergrund des
Interesses steht.
Die Untersuchung der bei der Kastration entfernten Ova¬
rien hat nach B u 1 i u s, H e g a r, Schottländer und
Scharfe zwar die schon von V e 1 i t z gefundenen Gefäss-
verbindungen usw. bestätigt. Man hat aber darin nichts tat¬
sächlich Charakteristisches für die Osteomalazie erblicken
können.
Die medizinische Behandlung hat bei Beseitigung der prä¬
disponierenden Ursachen (v. W i n c k e 1) in lang fortgesetztem
innerlichen Gebrauch von Phosphorlebertran in steigender
Menge (Latzko, Sternberg) verbunden mit Darreichung
von Chloral (G 1 a s n e r) oder Chloroformnarkosen (P e -
trone) und in Bädern (Solbäder, Sandbäder, Moorbäder,
Heissluftbäder) die besten Erfolge gezeitigt.
Bleibt diese Behandlung erfolglos, so verspricht die von
Fehling auf Grund seiner Erfahrungen bei der Porro-Opera-
tion in die Therapie eingeführte Kastration in 80 Proz. der
Operationen Herstellung.
Im Anschluss hieran stellt Vortragender 2 Frauen vor,
die von ihm vor X> und % Jahr kastriert worden waren.
Der Erfolg war in beiden Fällen, dass die Frauen, von
denen vorher die eine 2 Jahre bettlägerig und gehunfähig war,
die andere nur sehr schwer an 2 Krücken sich fortbewegen
konnte, wieder gelernt haben, ohne Unterstützung zu gehen.
Die ausführliche Veröffentlichung der Krankengeschichten soll
erst erfolgen, wenn noch längere Zeit nach der Kastration ver¬
strichen sein wird.
Diskussion: Herr Hans Haenel berichtet über einen Fall
von Osteomalazie bei einem 40 jährigen Mädchen, der ebenfalls mit
Schmerzen im Kreuz und Steissbein begann; seit ca. 12 — 15 Jahren
bestanden regelmässige, durch keine Behandlung zu beseitigende,
Durchfälle. Der Gang war schwankend, watschelnd, breitbeinig,
Patientin, die lange Zeit als hysterische Ataxie behandelt wurde,
wurde schliesslich immer kleiner, es entwickelte sich eine Lordose.
Sie erhielt dann längere Zeit Phosphorleberthran mit ausgezeichnetem
Erfolg, der Gang wurde besser, die Schmerzen verschwanden und
Patientin konnte wieder gehen. Herrr Haenel hält es für möglich,
dass in diesem Falle bei dem Fehlen aller sonst beobachteten ur¬
sächlichen Momente den chronischen Durchfällen eine Bedeutung bei¬
zumessen ist; dieselben haben sich übrigens unter der P-Behand-
lung ebenfalls gebessert. (Krankenvorstellung.)
Herr Hecker macht auf eine Arbeit v. W i n c k e 1 s aus dem
Jahre 1882 aufmerksam, in welcher 4 Fälle von Osteomalazie aus
Dresden beschrieben werden. Schon v. W i n c k e 1 erwähnt eine
eigentümliche Gangstörung, bei welcher die Patienten die Körperlast
nicht auf ein Bein, sondern auf beide Beine gleichzeitig legen. In
einem von Herrn Hecker im Siechenhausc beobachteten Fall von
Osteomalazie, welche mit Tetanie kompliziert ist, kam die Osteo¬
malazie durch Phosphorleberthran zur Ausheilung. Er bespricht noch
kurz die neuesten Anschauungen Schmor ls über das Wesen der
Osteomalazie, sowie den, namentlich von Hönnicke behaupteten
Zusammenhang dieser Störungen mit der Tätigkeit der Schilddrüse.
Herr Osterloh macht nochmals auf die diagnostischen Schwie¬
rigkeiten im Beginne des Leidens aufmerksam. Die beiden vorge¬
stellten Fälle sind, soviel er weiss, die ersten in Dresden, bei denen
die Kastration zum Zwecke der Heilung der Osteomalazie ausgeführt
worden ist.
■ ■■
Im Uebrigen hat er nur über die Osteomalazie bei Frauen im
Fortpflanzungsalter gesprochen.
Herr Panse weist darauf hin, dass trächtige Kaninchenweib¬
chen, denen die Schilddrüse entfernt worden war, osteomalazisch
wurden. Er meint, dass es zu versuchen wäre, bei Osteomalazie
Thyreoidin za geben.
Herr Männel berichtet über einen operierten Fall von hoch¬
gradiger Osteomalazie, der vor längerer Zeit in Dresden von ihm
beobachtet wurde und an Nachblutung nach Kaiserschnitt starb,
ebenso von einem Fall von ausgesprochener männlicher Osteo¬
malazie mit spontanem Bruch des Femur auf der Klinik zu Wiirzburg.
Herr Grunert: Ein Fall von Netztorsion.
Herr Grunert berichtet im Anschluss an einen von ihm in
seiner Privatklinik operierten Fall von Netztorsion über den der¬
zeitigen Stand der Literatur dieses Leidens. Er bespricht die ver¬
schiedenen Erklärungen, welche der Entstehung der Torsion von den
verschiedenen Operateuren gegeben worden sind, und geht ferner
auf die Diagnose, Therapie und Prognose des Leidens ein.
Die Geschichte des von Herrn G. operierten Falles ist folgende;
24. IV. 05. Anamnese: Pat., ein 43 jähriger Mann, gibt an, schon
seit Jahren in Zwischenräumen auftretende, aber immer nur kurze
Zeit anhaltende Schmerzen in der rechten unteren Bauchseite em¬
pfunden zu haben, die er in ursächlichen Zusammenhang brachte
mit einer rechtsseitigen Leistenhernie. Vor 4 Tagen ist Pat. plötz¬
lich unter Schmerzen in der Ileozoekalgegend erkrankt, welche ihn
vor 2 Tagen zwangen, sich zu Bett zu legen und seinen Hausarzt zu
rufen. Nach dessen Angaben bewegte sich die Temperatur abends
um 38° herum, der Puls schwankte zwischen 80 und 110 Schlägen
in der Minute; Stuhlgang erfolgte nur auf Einlauf, Flatus gingen
regelmässig ab. Die bisherige Behandlung bestand in Priessnitz-
schen Umschlägen auf den Leib. Taxisversuche an der Hernie sind
nicht vorgenommen worden, ein Trauma wird negiert. Am 4. Krank¬
heitstage wird Pat. in die Klinik aufgenommen und bietet folgen¬
den Befund:
Status: Mittelgrosser, kräftiger Mann mit gesunden Organen
der Brusthöhle.
Abdomen: Die Bauchdecken sind straff gespannt; bei vor¬
sichtiger Palpation ist das Abdomen in der Ilezoekalgegend stark, in
den übrigen Gegenden leicht druckempfindlich. Perkutorisch ist eine
Dämpfung nachweisbar, welche, reichlich zwei Handteller gross, die
Ileozoekalgegend einnimmt. Die Dämpfung setzt sich nach der rechten
Skrotalhälfte fort. Temperatur 38,4, Puls 112. Die vom Hausarzt auf
perityphlitischen Abszess gestellte Diagnose wird auf Grund dieses
Befundes bestätigt, mit der Erwägung, dass es sich vielleicht um
eine Perforation des Abszesses längs des Bruchsackes ins Skrotum
handle. Die sofortige Operation wird beschlossen.
In Chloroformäthermischnarkose Inzision auf der Höhe der
Dämpfung. Nach Eröffnung des Peritoneums stellt sich im Gesichts¬
felde ein dunkelblaurot verfärbtes Gebilde von tumorartiger Resi¬
stenz ein. Die Inzision wird nach oben und unten verlängert, und
das tumorartige Gebilde erweist sich jetzt als das grosse Netz, wel¬
ches dicht unter seiner Ansatzstelle am Kolon transversum um
6 X360° im entgegengesetzten Sinne des Uhrzeigers (von unten ge¬
sehen) um seine Achse gedreht ist. Der untere Pol des Netzes ist
im Bruchsack im Skrotum mässig fest fixiert. In der Bauchhöhle
findet sich eine geringe Menge dunkel verfärbter seröser Flüssig¬
keit. Das aufgerollte Netz ist in toto verdickt, von ektasierten Venen
durchzogen und von schmierig dunkelblaurotem Aussehen. Es wird
an seiner Ansatzstelle abgetragen. Spätere Radikaloperation der
Hernie nach B a s s i n i. Heilung.
Herr Just: Syphilis der Speiseröhre und Oesophagoskopie.
Vortr. berichtet über einen Fall von luetischer Oesophagus-
stenose, deren exakte Diagnose durch das Oesophagoskop gestellt
wurde. Vor 7 — 8 Jahren Infektion, seit 6 Wochen zunehmende Be¬
hinderung der Nahrungsaufnahme bei einem 38 jährigen Manne. Die
Sonde stösst in 36 cm Entfernung von der Zahnreihe, also wenige
cm über dem Magen auf ein Hindernis. Durch Oesophagoskopie
lässt sich an der bezeichneten Stelle eine spaltförmige Verengerung
des Lumens der Speiseröhre feststellen, verursacht durch zwei sichel¬
förmig vorspringende klappenartige Narben. Durch allmähliche Di¬
latation der Stenose mit immer stärkeren Sonden, Schmierkur und
Jodkaligebrauch Heilung in 4 Wochen. Vollkommene Durchgängig¬
keit der Speiseröhre 10 Wochen und U/a Jahre später kontrolliert.
Anknüpfend an diesen Fall spricht Vortr. über die Symptome der
Syphilis im Oesophagus, über ihre relative Seltenheit und ihre ver¬
schiedenen Erscheinungsformen. Besonders bevorzugt sind von lue¬
tischen Infiltrationen und Ulzerationen die physiologischen Engen der
Speiseröhre. Die Differentialdiagnose ist oft nicht leicht, wird aber
durch die Oesophagoskopie in den meisten Fällen geklärt. Die Prog¬
nose ist im Anfang günstig, jedenfalls günstiger als bei andersartigen
Stenosen. Die Therapie ist, abgesehen von den gegen die konsti¬
tutionelle Erkrankung gerichteten Massnahmen, dieselbe, wie bei
andersartigen Verengerungen.
Herr L i n d n e r hat bei einer weiblichen Kranken in mittleren
Jahren, bei welcher ein bekannter Spezialarzt die Diagnose auf Lues
gestellt und eine Operation gewünscht hatte, die Oesophagotomie
ausgeführt. Die Sektion ergab später, dass es sich bei dem in der
2226
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
,'öhe des Ringknorpels sitzenden Ulcus um ein eigentümlich ilaches
Karzinom handelte.
Herr Gemeiner fragt nach der Wirkung des Thiosinamins
bei der Behandlung von Narben.
Herr G a 1 e w s k y teilt mit, das ihm das Thtosinamin seit Jahren
in der Behandlung von Narben und Keloiden manchmal ausgezeichnete
Dienste geleistet habe, dass es aber auch ebensooft versage. Auch
er hat zwei Fälle von Lues des Oesophagus und des Magens ge¬
sehen, bei welchen die Diagnose Lues nicht gestellt wurde und .die
erst zur Abheilung kamen, als zufällig wegen eines luetischen Haut¬
leidens Quecksilber und Jodkali gegeben wurden.
Herr Hans H a e n e 1 ist mit dem Fibrolysin an Stelle des Thio¬
sinamins zufrieden gewesen.
XXIV. Sitzung vom 21. April 1906.
Vorsitzender: Herr Friedrich H a e n e 1.
Vor der Tagesordnung:
Herr Förster stellt vor der Tagesordnung 2 Fälle von Bar-
I o w scher Krankheit vor, bemerkenswerterweise 2 Geschwister, im
Alter von 1 Jahr 11 Monaten und 11 Monaten, welche fast gleich¬
zeitig erkrankten. Beide Kinder sind von Geburt an künstlich, aus¬
schliesslich mit aus gleicher Quelle stammender Kuhmilch, die
20 Minuten im offenen Topf gekocht wurde, ernährt worden. Nur
das jüngere erhielt kurze Zeit noch etwas Roggenmehl, beide sind
rachitisch. Das ältere, etwas früher und schwerer erkrankte,
lOVs Pfd. schwere Mädchen, zeigt hochgradige, typische Zahnfleisch¬
veränderungen, nicht nur um die rachitischen, kariös zerfallenen
Schneidezähne, sondern auch an den Durchbruchsstellen der späteren
Backenzähne, weniger ausgedehnt am Unterkiefer. Die unteren Ex¬
tremitäten liegen wie gelähmt, in den Hüften angezogen und nach
aussen rotiert und sind bei Berührung äusserst empfindlich. Am Ober¬
schenkel lassen sich an mehreren Stellen subperiostale Blutungen
fühlen, ebenso an beiden Unterschenkeln, an denen dicht unterhalb
der oberen Epiphyse beide Tibiadiaphysen Infraktionen zeigen.
Hämaturie, Blutbeimengung zum Stuhl und Fieber vervollständigen
das schwere Krankheitsbild.
Der jüngere Bruder, von etwa gleichem Körpergewicht, ist etwas
später erkrankt und zeigt dementsprechend auch etwas leichtere Ver¬
änderungen: Zahnfleisch- und subperiostale Femurblutungen, an dem
linken, ödematös geschwollenen Unterschenkel ist die obere Tibia¬
epiphyse vollkommen gelöst.
Bei beiden Kindern trat der M. Barlow unmittelbar nach Be¬
ginn eines noch bestehenden Keuchhustens auf, für die Entstehung
der Doppelerkrankung gewiss von Bedeutung.
Dass 2 Geschwister (nicht Zwillinge) gleichzeitig an M. Barlow
erkranken, ist in der Literatur bisher nicht beschrieben worden.
Herr P. A. Müller stellt eine Patientin vor, der er vor
10 Wochen etwa % des Magens wegen Karzinom reseziert hat. Das
Karzinom sass, wie das gleichfalls demonstrierte Präparat zeigt,
in der Regio praepylorica an der kleinen Kurvatur und war in die
Leber hineingewuchert. Da sich die Leber im übrigen frei von Meta¬
stasen zeigte, die Lymphdrtisen an den Porta hepatis der kleinen
und grossen Kurvatur wenig geschwollen und leicht entfernbar waren,
wurde die Resektion des Magens unter Mitnahme eines etwa apfel¬
grossen Stückes Leber ausgeführt. Die Resektion des Leberstücks
gestaltete sich nach dem Vorgehen von Kotnisow-Penski
fast blutlos. Der Magen wurde nach Billroth II entfernt unter Tam¬
ponade des Duodenalstumpfes. Glatter Verlauf. Eine von Herrn
Hartung angefertigte, gleichfalls demonstrierte Röntgenplatte zeigt
deutlich den Wismutschatten des kleinen Magenrestes und die Ana-
stomosenstelle.
Herr Friedrich Haenel demonstriert eine ungewöhnlich grosse
Hydronephrose, die er vor 5 Wochen einem 34 jährigen Mann ex-
stirpiert hat. Die Geschwulst wog 13 kg, war 42 cm lang, 25 cm
breit, 23 cm tief. Von Nierensubstanz war nur ein minimaler Rest
vorhanden. Eine Ursache für die Krankheit liess sich weder aus der
Anamnese noch aus dem Befund am Präparat erkennen.
Der Patient war kurze Zeit vor der Operation noch seiner Be¬
schäftigung nachgegangen und hatte schliesslich nur tnässige Druck¬
beschwerden gehabt, obwohl die ganze linke Bauchhälfte von dem
Tumor ausgefüllt war. Die Diagnose war durch Ureterenkatheteris-
mus gesichert.
Bei der Operation gelang es von dem verlängerten Lumbalschnitt
aus den Sack in toto, ohne dass eine Verkleinerung durch Punktion
nötig gewesen wäre, zu exstirpieren. Der Patient stellt sich in bestem
Wohlbefinden vor.
Tagesordnung:
Herr H a i e r I a n d: Neue Theorien über die Abstammung
des Menschen und der Menschenrassen. (Mit Lichtbildern.)
An Stelle der 25. Sitzung fand am 28. April ein Ausflug
der Gesellschaft auf Einladung des Herrn Hempel nach
Ohorn zur Besichtigung der dortigen hygienischen Einrich¬
tungen zur Gewinnung einwandfreier Säuglingsmilch statt.
Gynäkologische Gesellschaft in München.
(Eigener Bericht.)
Sitzung vom 25. Oktober 1906.
Herr Hörrmann: Zur Klinik der ektopischen Schwangerschaft.
(Erscheint ausführlich in den Annalen des städt. Krankenhauses.)
Vortragender berichtet über 125 Fälle von ektopischer
Schwangerschaft, welche in einem Zeitraum von 4% Jahren
(1. I. 02 — 21. X. 06) an der gynäkol. Abteilung im Krankenhaus 1. I.
und in der Privatpraxis des Vorstandes, Prof. Dr. Aman n, zur Beob¬
achtung kamen. 101 Fälle wurden operativ behandelt.
Darunter war 50 mal die linke, 51 mal die rechte Tube in Mit¬
leidenschaft gezogen, das Verhältnis der Mehr- und Vielgebärenden
zu den Nulliparen betrug 4:1. 82 mal handelte es sich um Ruptur
oder Abortus (äusserer bezw. innerer Fruchtkapselaufbruch), 35 mal
war freie intraperitoneale Blutung, 43 mal Hämatozelenbildung fest¬
zustellen, 19 mal Absterben des Eies bei intaktem Fruchtsack. 4 Fälle
gehörten der 2. Schwangerschaftshälfte an.
26 mal liess sich eine ätiologisch bedeutsame Erkrankung der
Beckenorgane (Wochenbett, entzündliche Adnexerkrankung) nach-
weisen. Als Nebenbefund wurde mehrmals Myom des Uterus, Tuben¬
winkelmyome, Zysten des Ovariums, Hydro- und Hämatosalpinx, und
Beteiligung des Processus vermiformis (lmal ein Pfefferkorn in der
Appendix) konstatiert. — Abgang der Dezidua wurde unter 55 Fällen
23 mal registriert; lmal wurde bei Blutung in die freie Bauchhöhle
wegen Leberriss, 1 mal wegen einer geplatzten Narbe im Ligamentum
latum operiert.
In diagnostischer Hinsicht konnte das Verhalten des Hämoglobin¬
gehaltes bei Nachblutungen in Hämatozelen (Abnahme in 5 Fällen
deutlich) herangezogen werden. Die Hydrobilirubinreaktion des
Harnes (mit E h r 1 i c h s Aldehydreagens) ist nur in einer beschränkten
Zahl positiv ausgefallen, negativ war sie bei alten abgekapselten
Hämatozelen und ganz frischen Blutungen. Da Hydrobilirubin
ausserdem bei allen Erkrankungen, die mit Steigerung der Gallen¬
farbstoffbildung infolge gesteigerten Blutzerfalls einhergehen, und bei
vielen Leberaffektionen, bei akuten Infektionskrankheiten, aus-
geSchieden wird, so ist die Bedeutung dieses diagnostischen Hilfs¬
mittels nur eine geringe. Ebenso verhält es sich mit der Hyper¬
leukozytose, deren Feststellung zur Entscheidung, ob Hämatozele
oder entzündlicher Adnextumor, ob akute Peritonitis oder intraperi¬
toneale Blutung, keineswegs immer klärend wirkt. Vollständig zu
verwerfen ist das Probecurettement und die Sondierung des Uterus
wegen der damit verbundenen Gefahren, während die unter streng
aseptischen Kautelen ausgeführte Probepunktion zweifelhafter
Beckentumoren wohl ins Auge gefasst werden kann.
Die Menstruationskurve ergab am häufigsten Unterbrechung
der Schwangerschaft nach ein-, seltener nach mehrmaligem Aus¬
bleiben der Menstruation.
Der Vortragende steht bezüglich der Therapie der noch fort¬
schreitenden ektopischen Schwangerschaft ganz auf dem Standpunkt
Werths, der dieselbe unter dem Gesichtspunkte einer bösartigen
Neubildung betrachtet. Bei Blutungen in die freie Bauchhöhle herrscht
iiber das wann? und wie? der Operation heftiger Widerstreit der
Meinungen. Die vorliegenden klinischen Erfahrungen und die kri¬
tische Durchsicht der einschlägigen Literatur lehren, dass es besser
ist, nicht im schweren Schock zu operieren, besonders wenn derselbe
die Folge eines längeren Transportes ist, sondern nach Anregung der
Herztätigkeit (geringe Kampherdosen, Kochsalzinfusion) einen gün¬
stigen Moment zur Operation abzuwarten, die sich darauf beschränkt,
die Bauchhöhle mittels kleinen suprasymphysären Querschnitts zu
eröffnen, den Fruchthalter zu entfernen, um das leicht erreichbare
Blut und die Koagula mit Servietten auszutupfen, ohne sich mit einer
Toilette der Bauchhöhle aufzuhalten. Auf diese Weise wurden
35 Fälle operiert mit nur 1 Todesfall = 2,85 Proz. gegen 6,4 — 15 Proz.
anderer Operateure. Die bakteriologische Sektion des einen Todes¬
falles ergab nirgends Bakterien, dagegen hochgradige Anämie, floride
Lungentuberkulose, peptische Gangrän eines Lungenlappens.
Das exspektative Verfahren kam bei abgegrenzter Blutung in
26 Fällen zur Anwendung, meist mit gutem Erfolg. Doch birgt die
konservative Therapie gewisse Gefahren (Verjauchung, Nachblutung
je 3 mal), auch ist die Behandlungsdauer eine bedeutend längere
(durchschnittlich 58 Verpflegstage bei der konservativen, gegen 27,6
bei der operativen Therapie), was auch in sozialer Hinsicht nicht be¬
deutungslos ist. Auf die 43 operierten Hämatozelen mit Ausgang in
vollständige Heilung trifft 1 Todesfall bei einer Patientin, die schon
vorher hohes Fieber hatte (Tod am 3. Tage an Peritonitis). Be¬
schreibung des an der II. gynäkologischen Klinik geübten Verfahrens
bei der Operation von Hämatozelen (Laparotomie, Indikation der
Drainage etc.).
5 mal wurde die wiederholte Schwangerschaft der anderen Tube
operiert.
Zusammenfassend kommt der Vortragende auf Grund der Be¬
obachtungen und Erfahrungen des vorliegenden Materials zu folgenden
Schlüssen:
1. Eine ektopische Ansiedelung des Eies ist keineswegs selten,
sie betrifft ca. 3 Proz. der gynäkologisch erkrankten Frauen.
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2227
2. Zur Sicherstellung der Diagnose dient in erster Linie der
palpatorische Befund und die ananmestischen Angaben. Die Probe¬
punktion ist unter entsprechenden Kautelen wohl heranzuziehen; dem
Befund von Hydrobilirubin und der Leukozytenzahl kommt nur ein
bedingter Wert zu. Das Probecurettement und die Sondierung des
Uterus ist zu verwerfen.
3. Die Behandlung ist im allgemeinen operativ, die Laparotomie
ist zu bevorzugen.
4. Nach schweren intraperitonealen Blutungen soll nicht im
Schock operiert werden. Es ist unnötig, ja gefährlich, alles Blut zu
entfernen. (Autoreferat.)
Herr Wiener demonstriert im Anschluss an den obigen Vor¬
trag 6 operativ geheilte Extrauteringraviditäten und zwar a) tubarer
Abort in früher Zeit bei Retroflexio uteri inobilis, Pessar; b) bei
gleichzeitig bestehenden doppelseitigen Parovarialzysten; c) bei ein¬
seitiger Parovarialzyste und gleichzeitig bestehendem hohen Heber,
das ein Exsudat vortäuschte; d) tubarer Abort bei einer Frau im
45. Lebensjahre; e) Tubenruptur mit schwerster innerer Blutung,
ohne dass die Periode ausgeblieben oder etwas Pathologisches zu
tasten war; die Diagnose wurde nur aus der bestehenden hochgradigen
Anämie gestellt; f) sekundäre Bauchschwangerschaft im 4. Monat
mit starken Missbildungen der Extremitäten. Der Fall wurde zuerst
für eine Retroflexio uteri gravidi gehalten, da eine Abgrenzung gegen
den Uterus auch in Narkose nicht gelang. Erst der Abgang der
Dezidua sicherte die Diagnose. J .
Diskussion über beide Vorträge: die Herren Ludwig S e i t z,
Hörrmann, Amann, Mirabeau.
Herr Amann demonstriert: _ _
1. einen zystischen, bis über den Nabel hinaufreichenden Tumor,
der zuerst für einen Ovarialtumor gehalten wurde; bei der Operation
stellte es sich heraus, dass es sich um ein zystisches Myom handelte,
von dem nur noch eine dünne Aussenschicht übrig geblieben war;
2. doppelseitige sekundäre Ovarialkarzinoine von einer 64 jährigen
Patientin; Primärtumor ein Carcinoma corporis uteri;
3. einen sekundären Ovarialtumor einer 61jährigen Frau; pri¬
märer' Tumor wahrscheinlich ein Leberkarzinom (Leber mit Knoten
durchsetzt).
Herr Egge!: ein etwa faustgrosses Melanosarkom der Vagina
von einer 41 jährigen Frau.
Diskussion: Herr Wiener.
Die Neuwahlen für die Jahre- 1907/08 ergaben: I. Vorsitzender:
Herr Privatdozent Dr. Ludwig S e i t z, Schriftführer: Herr Mira¬
beau, Kassier : Herr Otto S e i t z. Q. W i e n e r - München.
Aus ärztlichen Standesvereinen.
Berlin-Brandenburger Aerztekammer.
Sitzung vom 27. Oktober 1906 nachmittags 2 Uhr im
Ständehaus.
In Anwesenheit des Vertreters des Oberpräsidenten eröffnet der
Vorsitzende, Herr Becher die Sitzung mit einem Nachruf auf die
seit der letzten Sitzung verstorbenen Mitglieder der Kammer, Herrn
Wolf Becher und den Rat J a r i s 1 o w s k i. Eine Anzahl Ein¬
gänge gelangen zur Verlesung. Herr K o e h 1 e r verliest das Proto¬
koll, das in dem Vermittlungstermin zwischen Herrn R. Kutner und
Herrn M u g d a n aufgenommen wurde.
2. Da Herr T h i e m - Cottbus sein Amt als Ehrenrichter nieder¬
gelegt hat, muss zu einer Neuwahl geschritten werden, welche auf
Herrn Schulze- Fürstenwalde fällt.
3. Antrag des Herrn P i s t o r (vertragender Rat im Kultus¬
ministerium a. D.): Die Aerztekammer für die Provinz Brandenburg
und den Stadtkreis Berlin wolle beschliessen, den Aerztekammeraus-
schuss zu ersuchen, dass er nach Anhörung der übrigen Aerzte-
kammern den Herrn Minister der Medizinalangelegenheiten bitte, bei
Seiner Majestät dem Könige
1) die Leitung der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬
wesen durch ein ärztliches Mitglied als. Direktor und
2) die Leitung der Medizinalabteilung des Ministeriums durch einen
ärztlichen Vortragenden Rat als Ministerialdirektor
zu erwirken, sobald eine dieser Stellen durch das Ausscheiden ihres
jetzigen Inhabern erledigt wird.
Nachdem Exz. v. Bergmann den Antrag auf das Wärmste
unterstützt hat, wird derselbe einstimmig angenommen.
4. Beschlussfassung über den Antrag der rheinischen Aerzte¬
kammer betr. die Abänderung des Absatz 7 des § 8 der Kgl. Ver¬
ordnung vom 25. Mai 1887, dahin gehend, dass die dort bezeichneten
Wahlen auch durch Zuruf erfolgen dürfen, wenn von keiner Seite
Widerspruch erhoben wird. Nachdem Herr M. Cohn- Charlotten-
burg darauf hingewiesen hatte, dass der erste Vorsitzende und
die Ehrenrichter unbedingt durch Zettelwahl gewählt werden
müssen, weil dies besondere Vertrauensämter seien, und weil gerade
hier ein Widerspruch gegen die beantragte Akklamation für alle Teile
peinlich sei, wird unter dieser Einschränkung der Antrag
der rheinischen Kammer einstimmig angenommen.
5. Herr Kossmann erstattet Bericht über den Pariser Kon¬
gress zur Unterdrückung der ungesetzlichen Ausübung
des Heilgewerbes; in diesem Bericht erwähnt er, dass trotz
des strengen Kurpfuschereiverbotes in Frankreich diese Länderplage
dort ebenso, fast noch schlimmer herrscht als bei uns, und führt die
Gründe dieser zuerst auffallend erscheinenden 1 atsache auf die Eigen¬
tümlichkeit und Unzulänglichkeit der französischen Gesetze zurück.
Er gibt sodan eine Uebersicht über die Tätigkeit der Kom¬
mission zur Bekämpfung der Kurpfuscherei und stellt folgende
Anträge:
Die Aerztekammer für die Provinz Brandenburg und den Stadt¬
kreis Berlin erklärt in anbetracht, dass
1) durch das Urteil des Kgl. Preussischen Oberverwaltungsgerichts
vom 22. April 1895 im Widerspruch mit den Motiven zu dem
§ 6 der Reichsgewerbeordnung entschieden worden ist, dass die
zum Schutze der Volksgesundheit erlassenen LandesmedizinaJ-
ordnungen,' insonderheit die §§ 17 und 72 des preussischen Sani¬
tätsregulativs vom 8. August 1835, durch die Reichsgewerbe¬
ordnung aufgehoben seien, wogegen die bei Annahme der Reichs¬
gewerbeordnung von den Volksvertretern widerspruchslos für
erforderlich erklärte Reichsmedizinalordnung bis heute nicht
geschaffen worden ist;
2) dass auch die Absicht der Gesetzgeber, durch den § 29 der
R. G. O. das Recht zur Führung des Arzttitels von dem Besitze
einer Approbation abhängig zu machen, durch die Auslegung,
die das Reichsgericht dem § 147 Abs. 3 R. G. O. in seinem Er¬
kenntnis vom 21. September 1905 gegeben hat, vereitelt
worden ist;
3) dass hierdurch auf dem Gebiete des Medizinalwesens Miss¬
bräuche eingerissen sind, die die Volksgesundheit und die Moral
in hohem Grade schädigen; und dass sich die einzelnen Ver¬
ordnungen und Gesetze, die zur Abhilfe dienen sollten, gegen
diese fortdauernd steigenden Missbräuche als völlig unzu¬
reichend erwiesen haben,
eine zusammenhängende Regelung des gesamten
Medizinalwesens durch eine alle seine 'Teile um¬
fassende Reichs medizi n alordnung für dringend
erforderlich.
Sie bittet den Herrn Reichskanzler, anzuordnen, dass das Reichs¬
amt des Innern die Ausarbeitung einer solchen Reichsmedizinal¬
ordnung unter Zuziehung von Hilfsarbeitern aus dem Aerztestande
unverzüglich in die Hand nehme, und dass der aus dieser Arbeit her¬
vorgegangene Entwurf, bevor er dem Reichstage und dem Bundes¬
rate vorgelegt wird, den von den einzelnen Bundesstaaten einge¬
setzten Vertretungen des Aerztestandes zur Begutachtung mitgeteilt
wird.
Sie beschliesst, von vorstehendem dem Ausschüsse der preus¬
sischen Aerztekammer Kenntnis zu geben, um eine zustimmende Er¬
klärung der übrigen preussischen Aerztekammern herbeizuführen.
Zur Diskussion sprachen Herr Munter und Herr S t ö r m e r.
Der Antrag wird einstimmig angenommen.
6. Beschlussfassung über die von dem Ausschuss der preussischen
Aerztekammern beantragte „einheitliche Organisation
der Vertragskommissione n“. Referent Herr Munter.
Der Referent führt aus, dass die Notwendigkeit einer einheitlichen
Organisation auch von uns durchaus anerkannt wird und dass auch
wir gegenüber den Aussetzungen verschiedener Oberpräsidenten es
für notwendig halten, dass der Vorstand der Aerztekammer einen Teil
seiner Befugnisse auch auf solche Kommissionen übertragen kann,
denen Nichtmitglieder der Kammer angehören.
Im einzelnen sind aber eine Reihe von Einwendungen zu erheben
und Zweifel über die Zweckmässigkeit der gefassten Beschlüsse zu¬
lässig, so sind z. B. die Reverse für uns in Berlin direkt unmöglich.
Die Kammervertragskommission stellt daher folgenden Antrag:
Die Aerztekammer Berlin-Brandenburg tritt den Vorschlägen
des Aerztekammerausschusses insoweit bei, als eine Einheitlichkeit
in der Organisation der Vertragskommission in ganz Preussen ge¬
fordert wird, dagegen sieht sie von einer Annahme des Gesamtent¬
wurfes ab und zwar wegen abweichender Anschauungen in einer
Reihe wichtiger Bestimmungen, insbesondere bei der Verpflichtung
zur Unterzeichnung eines Reverses.
Der Antrag wird nach kurzer Diskussion einstimmig ange¬
nommen.
7. Die Geschäftsführung des Ausschusses der
preussischen Aerztekammern.
Hierzu liegen folgende Anträge des Aerztekammervorstandes vor,
die Herr Kossmann ausführlich begründet.
Die Aerztekammer für die Provinz Brandenburg und den Stadt¬
kreis Berlin wolle beschliessen, das Verlangen auszusprechen:
1) dass der Ausschuss der preussischen Aerztekammern sich fort¬
an streng auf dem Boden des § 2 der Kgl. Verordnung vom
6. Januar 1896 halten und auf die vermittelnde Tätigkeit zwischen
den einzelnen Aerztekammern oder zwischen diesen und dem
Herrn Minister der Medizinalangelegenheiten beschränken möge;
2) dass der Ausschuss der preussischen Aerztekammern, abge¬
sehen von ausserordentlichen Sitzungen, die im Falle dringenden
Bedürfnisses angesetzt werden können, zweimal im Jahre zu
einer ein für allemal festgesetzten Zeit zusammentreten möge,
damit es den preussischen Aerztekammern möglich sei, die auf
2228
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
der vorher zu veröffentlichenden Tagesordnung des Ausschusses
stehenden Gegenstände rechtzeitig zu beraten;
3) dass ein ausführliches Protokoll der Verhandlungen der Kammer¬
ausschüsse aufgenommen und publiziert werde, aus dem der
Gang der Verhandlungen und die Abstimmung jedes einzelnen
Mitgliedes ersichtlich ist.
In der Diskussion sprechen sich die Herren Becher, Ale¬
xander, Schönheime r, S c h e 1 1 i t z e r, H o t h, Hessel-
b a r t h sämtlich im Sinne des Referenten aus, indem sie nur in der
Art des weiteren Vorgehens von einander abweichen. Die Sätze
werden einstimmig angenommen und gleichzeitig beschlossen, diese
Beschwerde an den Herrn Medizinalminister zu richten, dem Aerzte-
kammerausschuss aber von diesem Schritte Mitteilung zu machen.
R. Schaeffer.
Verschiedenes.
Die Armenpflege im Königreich Bayern in den Jahren 1901 und 1902,
Nach den vom Kgl. Statistischen Bureau bearbeiteten Ergeb¬
nissen der in Bayern angestellten armenstatistischen Erhebungen ist
die Zahl der Unterstützten in fortwährender Zunahme be¬
griffen und betrug in den Berichtsjahren 200 265 bezw. 202 555 (gegen
189 484 in 1900), darunter 87 863 bezw. 87 912 nur vorübergehend
Unterstützte, worunter 34 638 bezw. 31 847 Arbeitsfähige. Der von
der gemeindlichen Armenpflege gemachte Unterstützungsauf¬
wand belief sich im Jahre 1902 auf 9 892 444 M. und stieg bei der
Gruppe der „Verarmten“ von 6 059 546 M. in 1900 auf 6 484 426 M.
in 1902.
Von 100 M. Aufwand für vorübergehende Unterstützung arbeits¬
fähiger Personen trafen auf die Städte 37 M. in 1900 und 45,5 M. in
19H1. Die Zahl der eigentlich Verarmten, d. h. der erwachsenen
dauernd Unterstützten, sowie der Aufwand für diese nahmen in den
Städten fortgesetzt zu, in den ländlichen Gemeinden dagegen ab.
Die grösste Zahl der „Verarmten“ und den grössten Aufwand
hierfür hat Oberbayern (18 158 und 1 773 630 M. in 1902), die ge¬
ringste Zahl und den geringsten Aufwand Oberfranken (4053 und
409 039 M.).
Als Gesamtbetrag der gemeindlichen Zuschüsse zu
den Armenkassen ergibt sich für das Königreich 7 333 869 M. = 16,4
(in 1901: 17,5) Proz. der zur Erhebung gelangten Gemeindeumlagen.
Die Zahl der gemeindlichen und unter gemeindlicher Verwaltung
stehenden Wohltätigkeitsanstalten betrug im Jahre 1902:
917 und ihr rentierendes Vermögen 98 370 637 M„ die Zahl der unter
gemeindlicher Verwaltung stehenden Wohltätigkeitsstif¬
tungen 3873 mit 81 453 479 M.
Die Gesamtleistung der Distrikts armenkassen stieg in 1902
auf 1 393 989 M.; die Gesamtleistung der Kreise auf Wohltätigkeit
Erziehung und Bildung betrug im Jahre 1902 2 157 843 M.; hiervon
entfallen auf die Irrenanstalten 875 003 M.
Privat-Wohltätigkeitsanstalten gab es 1902: 420;
erheblich vermehrt haben sich besonders die Kleinkinderbewahr-’
Krippen- und Säuglingsanstalten. In den privaten Wohltätigkeits¬
anstalten wurden in den Berichtsjahren im ganzen 92 193 bezw.
87 774 Personen mit 4 074 001 bezw. 4 023 510 M. oder im Durch¬
schnitt mit 44,19 bezw. 45,84 M. unterstützt.
Private Wohltätigkeitsvereine bestanden im Jahre
1902 570 mit 8 167 151 M. Vermögen. (S.-A. a. d. Zeitschrift des
Kgl. Statist. Bureaus 1906, Heft 2 u. 3.)
Therapeutische Notizen.
In seiner Arbeit über Veronalvergiftung kommt Georg
H am pk e zu folgendem Ergebnis: In massigen Gaben (0,5—0,75 bei
Erwachsenen) und^ in zweckmässiger Weise angewendet, ist das
Yeronal ein gutes Schlafmittel. Für Fieberkranke wäre es besonders
zu empfehlen, da es, wie Trautmann bewiesen hat, eiweiss-
sparende Wirkungen besitzt. Da es indessen eine stark kumulierende
W irkung hat und vorwiegend durch den Darm ausgeschieden wird,
ist es nötig, stets für guten Stuhl zu sorgen. In grösseren Gaben ver¬
abfolgt, ist es keineswegs so unschuldig, wie man meistens annimmt.
Es kann, abgesehen von den verhältnismässig harmlosen Exanthemen,
gefährliche Vergiftungserscheinungen: Schwindelgefühle, Schwere in
den Gliedern, Eieber, Erbrechen, ja den Tod herbeiführen. Aus diesem
Grunde hält es der Verfasser für empfehlenswert, es nur auf ärztliche
Verordnung abgeben zu lassen, d. h. in der Apotheke in die Tabula C
einzureihen. Als Maximaldose für Erwachsene bezeichnet er pro dosi
1,0, pro die 3 g. (Diss., Leipzig 1906.) F. L.
Kurt Pietsch behandelt in einer umfangreichen Dissertation
d i e m oder ne Narkose und formuliert auf Grund seiner Studien
folgende Forderungen: 1. Das Chloroform als Inhalationsanä-
sthetikum ist nicht mehr existenzberechtigt, da es die oxydierende
Kraft des Blutes herabsetzt und dadurch lebenswichtige Organe wie
Herz, Leber, Nieren schädigt und zur Fettnekrose dieser Organe
führen kann, da es weiter blitzschnell durch Herzsynkope töten kann
und da es endlich den muskulo-motorischen Apparat des Herzens
schädigt und den Blutdruck hcrabsetzt. 2. Findet Chloroform noch
Anwendung, so hat diese nur in Verbindung mit Sauerstoff stattzu¬
finden, weil dadurch die Oxydationskraft des Blutes vollwertig zu
bleiben scheint. 3. Als Inhalationsanästhetikum hat nur der A e t h e r
Anwendung zu finden, da er die Herzkraft hebt, Leber und Herz intakt
lässt und kranke Nieren nur vorübergehend reizt. 4. In der Aether-
tropfnarkose ist eine offenbar nur wenig gefahrvolle, wenn nicht ge¬
fahrlose Narkosemethode gefunden. 5. Tropfenweise verabfolgt reizt
der Aether die Lungen nicht. 6. Die allgemeine Narkose ist zu be¬
schränken. 7. An ihre Stelle hat, da gefahrloser, in geeigneten, wohl
ausgesuchten Fällen eine geeignete Methode der Lokalanä¬
sthesie zu treten. 8. Nur unter Lokalanästhesie dürfen Patienten
mit Stoffwechselerkrankungen und Erkrankungen des lymphatischen
Rachenringes operiert werden. (Dissertation, Königsberg i. Pr.)
F. L.
Bernhard Keese hat am physiologischen Institut zu Marburg
Versuche über die Kampher Wirkung auf die G e -
fässe der Säugetiere angestellt und ist dabei zu dem Re¬
sultat gelangt, dass das Tierexperiment die von den Klinikern an¬
genommene blutdrucksteigernde Wirkung des Kamphers nach sub¬
kutanen Injektionen nicht bestätigen kann. (Dissertation, Marburg
1906.) F. L.
Ueber die innerhalb einer Hausepidemie an
zwei „toxischen“ Scharlach fällen beobachtete
Wirkung des Aronsohnschen Antistreptokokken -
serums berichtet Waldemar K 1 a s s k e in einer gründlichen, kri¬
tischen Arbeit. Der Erfolg war ein sehr guter und ermutigt zu
weiterer Anwendung des Aronsohn sehen Serums, besonders in
schwereren Fällen. (Dissertation, Leipzig 1906.) F. L.
Bernhard Knapp hat über den Nährwert des Gly¬
zerins Untersuchungen angestellt und berichtet darüber in seiner
Dissertation (Tübingen (1906). Er fand, dass das Glyzerin eine
Sparwirkung auf den Eiweissumsatz des gesunden Organismus
ausiibt, mithin einen Nährwert hat. F. L.
Theodor Hoppe hat an der experimentell-biologischen Ab¬
teilung des pathologischen Institutes in Berlin experimentelle
Untersuchungen über die Wirkung einiger Sto¬
ma c h i c a auf die Magensaftsekretion angestellt. Die
Untersuchungen über die Wirkung des Orexins und anderer
S t o m a c h i c a wurden an Hunden vorgenommen, denen ein Magen-
blindsack nach P a w 1 o w sehen Methode angelegt war. Ein nennens¬
werter Einfluss des Orexins auf die normale Magenschleimhaut
gesunder Hunde Hess sich weder bei Darreichung des Mittels mit
der Nahrung per os, noch bei direkter Einführung in den Magenblind¬
sack feststellen. Dagegen zeigte ein an chronischer Gastritis leiden¬
der Hund auf innerliche Darreichung von Orexin stets eine Erhöhung
der Menge wie des Säuregrades des abgesonderten Magensaftes.
Was die Bittermittel betrifft, so untersuchte Hoppe an Paw-
lowschen Hunden die Wirkung der Tinctura amara, Tinc-
t u r a Ch i n a e und der Cortex Condurango. Die Bitter¬
mittel wurden mit der Nahrung per os gegeben. Es ergab sich, dass
die Darreichung dieser Mittel nicht nur während der ersten Periode
der Verdauung, sondern während des ganzen Verlaufes derselben
eine erhöhte Saftsekretion bewirkt. Verfasser hält deshalb die An¬
nahme für berechtigt, dass ausser der Reizung des Appetits auch
ein Einfluss von der Magenschleimhaut selbst aus durch Einwirkung
des Medikamentes auf diese letztere mitwirkt. Für diese Anschauung
sprechen auch die Orexinversuche mit dem gerbsaurem Orexin, einem
völlig geschmack- und geruchlosen Pulver. Es ist deshalb wohl eine
chemische Einwirkung des Orexins und vielleich auch der Amara
auf die Magenschleimhaut anzunehmen. (Diss. Berlin.) F. L.
J. Abramoff berichtet in seiner Dissertation aus der geburts¬
hilflichen Klinik und dem Universitätslaboratorium für physiologische
Chemie in Lausanne über den Einfluss des Laktagols auf
dieMilchsekretion. Sämtliche Beobachtungen in der Literatur
sprechen für die milchsekretionsanregende Eigenschaft des Mittels.
Die persönlichen Erfahrungen des Verfassers bestätigen teilweise
diese Erfahrungstatsachen. Die Milchmenge scheint im Allgemeinen
durch die Laktagol Verabreichung zuzunehmen. Die Zusammen¬
setzung der Milch dagegen scheint nicht beeinflusst zu werden. Man
verordnet täglich 10 — 12 g Laktagol. F. L.
Tagesgeschichtliche Notizen.
München, 6. November 1906.
— In Hamburg erregt ein Prozess, den die Verwaltung der
Eppendorfer Krankenanstalten gegen einen ehemaligen
Patienten wegen Beleidigung angestrengt und, leider, verloren hat,
die öffentliche Meinung nachhaltig. Der Tatbestand ist folgender:
Der Beklagte hatte öffentlich den Vorwurf erhoben, dass die Ver¬
waltung des Krankenhauses einen schwungvollen Handel mit Leichen¬
teilen nach auswärtigen Universitäten treibe und dass das Publikum
getäuscht werde, indem Särge beerdigt worden seien, in denen die
Leichen durch Steine und Asche ersetzt gewesen seien. Im Bewusst-
6. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2229
sein ihres guten Gewissens und nachdem die Anatomiediener scharf
verhört waren, ob nichts ordnungswidriges voi gekommen sei und sie
dies wiederholt bestritten hatten, beantragte die Verwaltung die Ver¬
folgung des Denunzianten wegen Beleidigung. In der Verhandlung
stellte sich nun heraus, dass in der Tat der Oberwärter der Anatomie
in mehreren Fällen Leichenteile nach auswärts verkauft hat und dass
in zwei Fällen Leichen in zerstückeltem Zustande zur Beerdigung
gekommen sind. Damit hielt das Gericht den Wahrheitsbeweis für
erbracht und sprach den Beklagten frei. — Es ist kein Zweifel, dass
ein grobes Verschulden des Anatomiedieners vorliegt, das auch dessen
sofortige Entlassung zur Folge hatte. Dagegen hat sich gezeigt, dass
die Verwaltung, bezw. die Krankenhausärzte durchaus im Rahmen
ihrer Befugnisse geblieben sind. Man hätte daher annehmen sollen,
dass mit der Bestrafung des schuldigen Anatomiedieners die Sache
erledigt gewesen wäre. Das ist leider nicht der Fall. Vielmehr zeigt
sich auch hier die bei ähnlichen Gelegenheiten schon öfter beob¬
achtete Erscheinung, dass gewisse Bevölkerungskreise die Benützung
von Leichen zu wissenschaftlichen Zwecken überhaupt als eine Art
Leichenschändung betrachten und sich darüber entrüsten. So erhebt
sich auch jetzt in einem Teil der Hamburger Presse gegen das Eppen-
dorfer Krankenhaus, auf das die Hamburger allen Grund hätten stolz
zu sein, ein Sturm von Angriffen, weil es, obwohl es dazu auch formell
die Berechtigung hatte, Leichen, um die sich keine Angehörigen be¬
kümmert hatten, an auswärtige Anatomien abgegeben und Leichen¬
teile zu Untersuchungs- und Sammlungszwecken zurückbehalten
hatte. Es soll auf das Krankenhauskollegium ein Druck ausgeübt
werden, um schärfere Bestimmungen bezüglich der Vornahme von
Sektionen zu erreichen. Wir halten es für eine Pflicht, nicht nur der
medizinischen, sondern auch der Tagespresse, soweit sie für die Be¬
dürfnisse der Wissenschaft Verständnis hat, solchen Angriffen und
Bestrebungen entgegenzutreten, denn sie können sich jederzeit an
einem anderen Orte wiederholen. Ohne die intensive Benützung von
Leichen ist die Ausbildung von Aerzten und ein Fortschreiten der
Wissenschaft unmöglich. Der beste Beweis dafür das absolute Stag¬
nieren der Medizin in den Zeiten des Mittelalters, da das Zergliedern
menschlicher Leichen bei Strafe verboten war. Wir müssen uns da¬
gegen wehren, solchen Zeiten wieder entgegenzutreiben. Das zu
Unterrichtszwecken zur Verfügung stehende Leichenmaterial ist durch
die modernen Krankenversicherungseinrichtungen ohnedies schon so
sehr verkürzt worden, dass an den meisten Universitäten schon jetzt von
einer Leichen not gesprochen werden kann. Umsoweniger darf das
Recht auf Leichen, das die Wissenschaft besitzen muss, noch
weiter eingeschränkt werden. Die Vornahme der Sektion sollte an
allen im Krankenhause verstorbenen Personen gestattet sein, ebenso
die Entnahme von für die Untersuchung wichtigen Teilen. Es ist
keine Täuschung des Publikums, sondern eine berechtigte Rücksicht
auf dessen Empfinden, wenn Entstellungen der Leiche, die mit der
Sektion verbunden sind, nachher so gut wie möglich unkenntlich ge¬
macht werden. Wir hoffen, dass die Direktion des Eppendorfer Kran¬
kenhauses aus den bevorstehenden Kämpfen als Sieger hervorgehen
und dass es ihr gelingen wird, jede Beschneidung ihres wissenschaft¬
lichen Materials zu verhindern. Das Eppendorfer Krankenhaus ist
nicht nur wegen seiner grossartigen Anlagen, sondern auch wegen
der ausgezeichneten wissenschaftlichen Arbeit, die dort geleistet wird
und um die es von mancher Universität beneidet werden kann, weit¬
hin berühmt. Es wäre ein Verlust für die Wissenschaft, wenn es in
dieser Arbeit in Zukunft beschränkt würde. Darum, nicht minder
aber wegen der allgemeinen, prinzipiellen Bedeutung der Streitfrage,
ist es Pflicht der Aerzte, dem Direktor des Eppendorfer Kranken¬
hauses in seinem Kampfe um ein Recht der Wissenschaft kräftig zur
Seite zu stehen.
— Die freie Arztwahl bei den Bahnkranken¬
kassen hat in jüngster Zeit einige bemerkenswerte Fortschritte
aufzuweisen. Ueber die bevorstehende versuchsweise Einführung
der freien Arztwahl bei der Eisenbahnbetriebs-Krankenkasse in Frank¬
furt a. M. berichteten wir bereits in No. 43. Hierzu schreibt uns nun
der Aerzteverband für freie Arztwahl zu Frankfurt a. M. unterm
2. ds.: „Der Minister für öffentliche Arbeiten hat der Einführung der
freien Arztwahl bei der Eisenbahnbetriebs-Krankenkasse zu Frank¬
furt a. M. für die Arbeiter und die Familien der Hilfsbediensteten zu¬
nächst probeweise auf 2 Jahre zugestimmt. Die Einführung dieser
Institution, die einen guten Schritt vorwärts auf dem Gebiete der
freien Arztwahl bedeutet, dürfte am 1. April nächsten Jahres er¬
folgen. Es ist dies das erste Mal, dass im Gebiet der preussisch-
hessischen Eisenbahngemeinschaft die freie Arztwahl in grösserem
Umfange zur Einführung kommt, und das Ministerium der öffent¬
lichen Arbeiten hat damit seinen bisher der freien Arztwahl gegen¬
über ablehnenden Standpunkt erfreulicherweise aufgegeben.“
Ferner wird uns geschrieben: „Die Betriebskrankenkasse der
Badischen Staatseisenbahnen führt am 1. Januar 1907
für das Gebiet der Stadt Mannheim einschliesslich der Vororte
die freie Arztwahl ein. Der Vertrag zwischen der Kassen¬
verwaltung und der Krankenkassenkommission der Gesellschaft der
Aerzte in Mannheim ist auf 5 Jahre vereinbart und umfasst sämtliche
Mitglieder der Kasse nebst ihren Familienangehörigen.“
Und endlich hat am 25. v. Mts. in Ludwigshafen zwischen
Vorstand der Bahnkasse der Pfälzer Bahnen, der Vertrauens¬
kommission des Vereins Pfälzer Aerzte und der Ki ankenkassenkom-
mission des Vereins der Aerzte zu Ludwigshafen eine Verhandlung
stattgefunden, in der beschlossen wurde, in Beratung über einen einheit¬
lichen Kollektivvertrag für die ganze Pfalz auf dem Boden dei bedingt
freien Arztwahl einzutreten. An dem Zustandekommen dieses Vei-
träges ist wohl nicht zu zweifeln. Damit hätte dann die fieie Arzt¬
wahl bei einer Bahnkrankenkasse auch in Bayern Eingang gefunden,
was mit Rücksicht auf die bevorstehende Verstaatlichung dei 1 falzet
Bahnen von besonderer Bedeutung ist.
Angesichts dieses langsamen aber sicheren rortschreitens dei
freien Arztwahl bei den Bahnkrankenkassen erscheint es doppelt fiag-
lich, ob es zweckmässig war, im gegenwärtigen Augenblick in Mün¬
chen mit Kampfmitteln vorzugehen. Es wäre zu verstehen, wenn
eine Behörde im Interesse ihrer Autorität Zugeständnisse, die sie
sonst als zeitgemäss vielleicht gemacht hätte, verweigern würde, um
nicht den Eindruck zu erwecken, als habe sie dem Zwang einer
Organisation nachgeben müssen.
_ Die bayerischen Aerztekammern haben am
29. v. Mts. ihre Jahresversammlung für 1906 abgehalten. Eine Vor¬
lage seitens der K. Staatsregierung stand nicht zur Beratung; dagegen
lagen aus den Vereinen eine Reihe wichtiger Anträge vor. Indem
wir auf die in dieser Wochenschrift erscheinenden Protokolle ver¬
weisen, teilen wir heute nur das sehr interessante Eigebnis der
Wahl des ständigen Ausschusses der oberbayerischen
Aerztekammer mit. Die Wahl fiel auf Bezirksarzt Di . Hen¬
ke 1 - München als Vorsitzender, Hofrat Dr. O b e r p r i e 1 e r -Frei¬
sing als 2. Vorsitzender und Dr. B e r g e a t - München als Schrift¬
führer. Dieses Ergebnis spricht Bände. Der bisherige ständige Aus¬
schuss, der den Sturm ge£en die Münch, med. Wochenschr. und die
berühmte ausserordentliche Kammersitzung von 1905 inszeniert hatte,
ist somit bis auf den letzten Mann von der Bildfläche verschwunden.
Bezirksarzt Dr. A n g e r e r, der damalige Vorsitzende, hat eine Wahl
zur Aerztekammer überhaupt nicht mehr angenommen, Dr. K a s 1 1
lehnte eine Wiederwahl ab und Dr. S t e r n f e 1 d unterlag^ in der
Wahl gegen Dr. B e r g e a t, den Vorsitzenden des Neuen Standes¬
vereins Münchener Aerzte. Man wird es uns nachfühlen, dass wir
über diesen Wechsel der Dinge einige Genugtuung empfinden.
— Zum Besten der Erbauung eines Pettenkoferhauses
findet zurzeit in München ein Zyklus von wissenschaftlichen Vor¬
trägen statt, der auch für Mediziner dadurch von besonderem Inter¬
esse ist, dass er Gelegenheit bietet, die Bekanntschaft einiger her¬
vorragender auswärtiger Gelehrter zu machen. So sprach als erster
am 26. v. Mts. Prof. Eduard Büchner- Berlin über das Gärungs¬
problem. Man erinnert sich des grossen Aufsehens, das vor
9 Jahren die Entdeckung der Zymase durch E. Büchner machte.
Seitdem hat B., unterstützt durch zahlreiche Mitarbeiter, wie Martin
Hahn, Rud. Rapp, R. A 1 b r e c h t, .1. M e i s e n h e i m e r, in der
Gärungsfrage unablässig weiter gearbeitet und seine Behauptung,
dass die Gärung nicht das Produkt der Lebenstätigkeit der Hefezelle,
sondern eines in der Hefezelle enthaltenen Enzyms, der Zymase, ist,
einwandfrei zu beweisen vermocht. Die Ueberlegungen, die zur Ent¬
deckung der Zymase führten, und die Versuche, die als Beweismittel
der Büchner sehen Gärungstheorie dienen, bildeten den Inhalt des
Vortrags. Unter den weiteren Vorträgen zum Besten des Pettenkofer¬
hauses, die Aerzte besonders anziehen dürften, nennen wir Prof,
v. Frey- Wiirzburg: Ueber das Sinnesleben der Haut (16. Novem¬
ber), Geheimrat R u b n e r - Berlin: Ueber gesunde und ungesunde
Luft (24. November) und Prof. R. H e r t w i g - München : Ueber die
Ursache des Todes (7. Dezember).
— Die Hamburger Auskunftsstelle des Deutschen
Aerztevereinsbundes für die Besetzung ärzt¬
licher Stellen im Auslande und auf deutschen
Schiffen hat beschlossen, ihre Tätigkeit einzustellen und hat der
Aerztekammer und dem Geschäftsausschuss des Deutschen Aerzte¬
vereinsbundes das ihr übertragene Mandat zurückgegeben. Die Ver¬
mittlung von Schiffsarztstellen ruht in Zukunft somit ausschliesslich
beim Leipziger Verband (Leipzig-Connewitz, Herderstr. 1).
— Aus Paris wird gemeldet, dass der Chirurg Prof. P i r i e r
in der Akademie der Medizin die Bildung einer französischen Liga
zur Bekämpfung der Krebskrankheit und die Errichtung
eines Institutes für Krebsforschung anregte. Dr. Hein¬
rich v. Rothschild hat zu diesem Zweck die Summe von
100 000 Fr. gestiftet.
— Zeitungsnachrichten zufolge sind Prof. G o 1 g i - Pavia und
Ramon y Cajal - Madrid für den diesjährigen Nobelpreis für
Medizin in Aussicht genommen.
— Der am 16. Juni ds. Js. in Augsburg verstorbene Dr. med.
Ferdinand v. Wächter hat dem Pensionsverein für Witwen und
Waisen bayerischer Aerzte ein Legat von 3000 Mark vermacht.
Dank dem edlen Geber!
— Dem Vorsitzenden des Deutschen Aerztevereinsbundes Prof.
Dr. Löbker wurde der Titel „Geheimer Medizinalrat“ verliehen.
— Sanitätsrat Dr. Adolf Gottstein wurde zum unbesoldeten
Stadtrat in Charlottenburg gewählt.
— Dr. Determann, Leiter des Kurhauses St. Blasien, wurde
zum Grossherzogi. Badischen Hofrat ernannt.
— Von C. L. Schleichs für die Lokalanästhesie grund¬
legendem Werk „Schmerzlose Operationen. O'ertliche
22.30
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 45.
ttäubung mit indifferenten Flüssigkeiten. Psychophysik des natür¬
lichen und künstlichen Schlafes“ ist jetzt die 5. vermehrte und ver¬
besserte Auflage erschienen (Berlin, J. Springer, Preis 6 M.).
— Von der neuen von Dr. Br. S a 1 g e, dirigierendem Arzte des
Säuglingsheims in Dresden redigierten „Zeitschrift für Säug-
lingsfürsorge“ (Verlag von Joh. Ambr. Barth in Leipzig) ist
jetzt das 1. Heft erschienen. Dasselbe wird durch einen Artikel von
Heubner eingeführt und enthält im übrigen Originalbeiträge von
Finkeistein (Die Bedeutung städtischer Säuglingsasyle für die
Herabsetzung der Sterblichkeit in der Waisenkostpflege), P ü 1 1 e r
(Die Verheimlichung und Verschleppung von Säuglingen) und Taube
(Die Säuglingsfürsorge durch Staat, Gemeinde und freie Liebes¬
tätigkeit).
— Von dem „Jahresbericht über die Leistungen
und Fortschritte auf dem* Gebiete der Neurologie
und P s y c h i a t r i e“, herausgegeben von Ed. F 1 a t a u - Warschau
und S. B e n d i x - Berlin, redigiert von E. Mendel und L. Jacob¬
sohn, ist jetzt der IX. Jahrgang erschienen, der den Bericht über das
Jahr 1905 enthält. Ein Blick in das 1291 Seiten starke Werk zeigt,
welch umfassende Arbeit hier in kurzer Zeit geleistet wurde. Das
bei S. K a r g e r - Berlin verlegte Werk kostet 35 M.
— Cholera. Japan. In Moji wurden zufolge einer telegraphi¬
schen Mitteilung vom 24. Oktober 2 Cholerakranke auf einem Dampfer
festgestellt.
— Pest. Aegypten. Vom 13. bis 19. Oktober sind 6 neue Er¬
krankungen (und 2 Todesfälle) an der Pest festgestellt. — Britisch-
Ostindien. Während der am 6. Oktober abgelaufenen Woche sind in
der Präsidentschaft Bombay 4007 neue Erkrankungen (und 3113 Todes¬
fälle) an der Pest zur amtlichen Kenntnis gelangt. In der Stadt Madras
wurden in der Zeit vom 16. bis 22. September 2 Erkrankungen und
1 Todesfall gemeldet; die Fälle wurden ausdrücklich als eingeschleppte
bezeichnet. — Brasilien. In Rio de Janeiro sind vom 27. August bis
23. September an der Pest 34 Personen erkrankt und 7 gestorben. In
Bahia wurden während der Monate Juli, August, September 11 Pest¬
fälle, darunter 6 mit tödlichem Ausgang, gemeldet. — Queensland.
Aus Cairns wurden in der ersten Septemberwoche 4 Pestfälle ge¬
meldet.
— In der 42. Jahreswoche, vom 14. bis 20. Oktober 1906, hatten
von deutschen Städten über 40 000 Einwohner die grösste Sterblich¬
keit Heidelberg mit 27,2, die geringste Dtsch. Wilmersdorf mit
6,9 Todesfällen pro Jahr und 1000 Einwohner. Mehr als ein Zehntel
aller Gestorbenen starb an Scharlach in Königshütte, an Diphtherie und
Krupp in Linden. V. d. K. G.-A.
(Hochschulnachrichten.)
Berlin. Eine Summe von mehr als 17000 M. ist gegenwärtig
von der Berliner Universität aus der Gräfin Luise Bose-
Stiftung zu vergeben. 3000 M. sind bestimmt für 5 Stipendien
für Studierende der Medizin; 14 309 M. sollen Aerzte oder Dozenten
der medizinischen Wissenschaften erhalten zu Studienreisen im In-
und Auslände (je 1500 M. für das Halbjahr) und zur Förderung
wissenschaftlicher Arbeiten überhaupt. Die Bewerbungsfrist läuft
bis 5. November d. J. — Prof. Dr. E. M e n d e 1 wurde zum Geheimen
Medizinalrat ernannt.
Göttingen. Professor Dam sch, der bekannte und beliebte
Göttinger Konsiliarius, ist auf 3 Monate zur Behandlung des Schah
von Persien nach Teheran berufen. Am 1. Oktober ist die neue unter
Leitung von Professor C r ä m e r stehende kgl. Universitätsklinik und
Poliklinik für psychische und Nervenkrankheiten bezogen worden.
Die Klinik war bisher in Mietsräumen untergebracht gewesen. Prof.
Borst hat jetzt den definitiven Ruf nach Wiirzburg erhalten und an¬
genommen. Wann die Uebersiedelung stattfinden wird, ist noch unbe-
kannt. Prof. H i s hat die Leitung der med. Klinik übernommen.
Heidelberg. Neben dem als Nachfolger Vierordts zum
Direktor der med. Poliklinik ernannten Geh. Hofrat F 1 e i n e r war
aequo loco vorgeschlagen Prof. Dr. J. H o f f m a n n - Heidel-
iTrT IT Prof> v- K r e h 1 - Strassburg hat den Ruf als Nachfolger von
Prof Erb angenommen. — Geh. Rat Czerny Exz. erhielt den
Kgl. Serbischen St. Savaorden I. Klasse.
p. rjv ‘ e '• , Pe.m Ordinarius für Hygiene und Bakteriologie Prof.
Dr. Bernhard Fischer ist der Charakter als Geheimer Medizinalrat
verliehen worden. — Prof. Dr.Paulsen, Privatdozent für Laryngo-
logie t eierte seinen 60. Geburtstag.
Königs b e r g. Als Nachfolger des als Direktor der Akademie
tur praktische Medizin nach Düsseldorf übersiedelten Professors Dr.
öfVIäiirPi-c v, 1Stper, Pnvatd°zent für Chirurgie und Oberarzt an
der chirurgischen Klinik an der Universität Königsberg i. Pr. Pro-
fessoi Dr. med. Richard Bunge zum dirigierenden Arzt der chirur-
worden. (hc T "" Friedrich-WiIhelm-Stift in Bonn berufen
München. Prof. Richard Hertwig, der Zoologe unserer
ochschule, leierte sein 25 jähriges Professorenjubiläum. Seine
pchuler bereiteten ihm dabei eine Ovation, die von der grossen Be-
mbtlieiL derensich der akademischeLehrer erfreut, Zeugnis ablegte.
mpH pa F rL?n u Assistent der Universitätsaugenklinik, Dr.
med. Paul Erdmann habilitierte sich für das Fach der Oohthal-
mologie mit einer Antrittsvorlesung über „Die Hygiene des Auges“.
Wiirzburg. Prof. Dr. Borst wird schon am 15. November
seine Tätigkeit in Wiirzburg beginnen.
Basel. Der ordentliche Professor der pathologischen Anatomie
und Vorsteher der pathologisch-anatomischen Anstalt der dortigen
Universität Dr. med. Eduard Kaufmann hat einen Ruf in gleicher
Eigenschaft nach Göttingen erhalten und wird demselben zum
1. April 1907 folgen. Er wird hier Nachfolger von Prof. Dr. M. Borst,
der R i n df 1 e isch s’ Lehrstuhl in Würzburg übernimmt, (hc.)
Columbia. Der Professor der Rhinologie und Laryngologie
Dr. A. C. Wolfe wurde zum Professor der Therapeutik an der
Ohio Medical University ernannt.
Flore n z. Der a. o. Professor an der med. Fakultät zu Parma
Dr. G. R e s i n e 11 i wurde zum ausserordentlichen Professor der
Geburtshilfe und Gynäkologie an der höheren medizinischen Schule
ernannt.
Graz. Es habilitierten sich als Privatdozenten: Dr. Max
Hof mann, Assistent der chirurg. Klinik für Chirurgie, Dr. Eugen
Petr y, Assistent der med. Klinik für innere Medizin.
Neapel. Dr. G. Pascale wurde zum ausserordentlichen
Professor der Chirurgie ernannt.
New York. Dr. F. W. Jackson wurde zum Professor der
Medizin am College of Physicians and Surgeons ernannt.
O f e n - P e s t. Zum ordentlichen Professor der Bakteriologie
ist der ordentliche Professor an der Tierärztlichen Hochschule daselbst
und Leiter des bakteriologischen Pasteur-Instituts Dr. Hugo P r e i s s
ernannt worden, (hc.)
Pa via. Der Privatdozent an der med. Fakultät zu Parma
Pr- L. C o u 1 1 i a u x habilitierte sich als Privatdozent für Zahnheil¬
kunde.
P r a g. Dr. Karl S p ringer habilitierte sich an der deutschen
medizinischen kakultät als Privatdozent für Chirurgie. — Dr. E.
Sträussler für Psychiatrie.
R o m. Der Professor an der höheren med. Schule zu Florenz,
Di. E. P e s t a 1 o z z a wurde zum ordentlichen Professor der Ge¬
burtshilfe und Gynäkologie an Stelle des verstorbenen Prof. Pas-
q u a 1 i ernannt.
Turin. Der a. o. Professor der gerichtlichen Medizin Dr. M.
Carrara wurde zum ordentlichen Professor ernannt.
Warschau. Der a. o. Professor der Physiologie Dr. A.
Hendie wurde zum ordentlichen Professor ernannt.
\\ i e n. Am 28. Oktober, am Jahrestage des Stifters, gelangte
der Dr. Goldberger- Preis, der von der k. k. Gesellschaft der
Aerzte alle 3 Jahre im Betrage von 2000 Kronen vergeben wird
zur Auszahlung Für die aufgestellte Preisfrage (Tuberkulose und
Schwangerschaft) war nur eine einzige Arbeit eingelangt, welche sich
als nicht pramnerbar erwies. Die Preisrichter machten daher von der
Bestimmung Gebrauch, welche dahin geht, dass der Preis dem Verfasser
dci besten, im Laufe der letzten 3 Jahre erschienenen Untersuchungen
auf dem Gebiete der medizinischen Wissenschaften mit Einschluss der
theoretischen Fächer zuzuerkennen wäre. Als solche wurde die
Ai beit „Ueber die chemischen Grundlagen der Arteigenschaften der
Ei weisskörper“, deren Verfasser Prof. Fr. Obermayer und Privat¬
dozent Dr. E. P. Pick sind, erkannt und der Preis unter denselben
zu gleichen Teilen geteilt.
ouesiane.j
Am 27. Oktober starb in München Geheimrat August v. R o t h -
m u n d, ord. Professor der Ophthalmologie und früher Direktor der
Universitäts-Augenklinik in München, 77 Jahre alt. Obwohl R schon
seit / Jahren vom Lehramt und der praktischen Tätigkeit zurück-
getieten war, erregt das Hinscheiden des ungemein beliebten Lehrers
und Arztes das lebhafteste Bedauern weitester Kreise. Davon legte
auch die ausserordentliche Beteiligung am Leichenbegängnis Zeug¬
nis ab. Auch unsere Wochenschrift betrauert in ihm den Verlust
eines alten und bewährten Freundes. Seine Verdienste um die
Augenheilkunde waren in dieser Wochenschrift No. 31, 1900 von be¬
rufenster Seite, von seinem Schüler und späteren Nachfolger,
1 i of. cversbusch, gewürdigt. Damals erschien auch sein Bild
in unserer Galerie hervorragender Aerzte; dieses Blatt wird allen
Abonnenten, die es noch nicht besitzen, gerne zur Verfügung ge¬
stellt.
p i Porenzo I e n c h i n i, Professor der Anatomie an der med.
Fakultät zu Parma.
Dr K. Winogradow, Professor einer, der pathologischen
Anatomie an der militär-medizinischen Akademie zu St. Petersburg.
• PrV. i ^G’onehtchewsky, Professor emer. der allge¬
meinen Pathologie an der med. Fakultät zu Kiew.
3m! '3‘. Ste wart» Professor der medizinischen Klinik an der
Mc Gill University zu Montreal.
Personalnachrichten.
(Bayern.)
in
in
N iederlassungen: Dr. Eugen Binswangcr
München als Kinderarzt. — Dr. Karl Ernst Ranke,
München als prakt. Arzt, Spez. Lungenkrankheiten.
appr. 1902,
appr. 1894,
MÜENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
223 i
6. November 1906.
Erledigt: Die Bezirksarztstelle I. Klasse in Marktheidenfeld.
Bewerber um dieselbe haben ihre vorschriftsmässig belegten Gesuche
bei der ihnen Vorgesetzten K. Regierung, Kammer des Innern, bis zum
17. November einzureichen.
Entlassung aus dem Staatsdienste bewilligt:
dem Bezirksarzt I. Klasse Dr. Georg G a i 1 1 in Mallersdorf, seiner
Bitte entsprechend.
Militärsanitätswesen.
Befördert (überzählig) : zum Oberstabsarzt der Stabsarzt
Dr. G u t b i e r, Bataillonsarzt im 1. Pion. -Bat.; zu Oberärzten die
Assistenzärzte Dr. Waldmann des 4. Inf.-Reg., Dr. P a u 1 i n des
17. Inf.-Reg., Dr. Mahr des 2. Eeld-Art.-Reg. und Dr. Heilmaier
des 1. Train-Bat.
Verliehen: der Charakter als Generalarzt dem Generalober¬
arzt Dr. Graser ä la suite des Sanitätskorps.
Wieder angestellt: der Stabsarzt Dr. Lion mit dem
Ausscheiden aus der Kaiserlichen Schutztruppe für Südwest-Afrika im
5. Inf.-Reg. mit einem Patent vom 14. August 1906 nach dem Stabsarzt
Dr. Landgraf; am 27 ds. der Kgl. preuss. Oberstabsarzt a. D.
(Ldw.) Professor Dr. Franz Penzoldt als Generaloberarzt in der
Landwehr 1. Aufgebots angestellt.
Korrespondenz.
Die Ursachen des Krebses und der Geschwülste.
Auf die Erklärung des Herrn Dr. Spude in No. 44 d. W. er¬
widert Herr Dr. B. Fi sch er -Bonn folgendes:
Es geht wohl aus meiner Arbeit hervor und ich muss es auch
hier bekennen, dass ich weder bei meinen experimentellen Unter¬
suchungen noch bei Abfassung meiner Arbeit an die Monographie
des Herrn Spu.de gedacht habe.
Bekannt war mir dieselbe allerdings. Herr Spude hatte
die Behauptung aufgestellt, dass sich die histologischen Bil¬
der beginnender Hautkrebse nicht anders deuten Hessen (!),
als dass „Toxine“ (!) von den Blutgefässen aus die Zellen zum
Wachstum in die Tiefe, zur malignen Wucherung brächten, und dass
er damit die Ursache des Krebses entdeckt habe (!!!), Was führt
er nun als Beweise seiner „Entdeckung“ an? Nichts! Nicht eine
einzige neue Tatsache! Die angeblich neuen histologischen Befunde
bei beginnenden Hautkrebsen — Veränderungen des subepithelialen
Bindegewebes — sind einerseits seit langem bekannt; andererseits
bleibt es aber lediglich Herrn Spude überlassen, zu glauben, sie
Hessen sich nicht anders deuten, als dass Toxine die Zellen von hier
aus zur Wucherung brächten. Dass ich auf solche „Theorien“ in
meiner Arbeit nicht weiter einging, wird mir wohl niemand ver¬
denken. Wir besitzen weit umfassendere und eingehendere Unter¬
suchungen über das beginnende Hautkarzinom, als es die des Herrn
Spude sind (insbesondere von Borrmann), aber niemand kann
behaupten, dass diese histologischen Befunde „nicht anders zu deuten“
waren, als Herr Spude dies tut. Seine Theorie ist ebenso gut be¬
gründet als die Theorie der Krebsentstehung durch Kochsalzmangel,
die allerdings in der Theorie, dass der Krebs durch zu reichliche
Kochsalzzufuhr entstehe, ein erfreuliches Gegengewicht gefunden hat.
Unsere Aufgabe ist es nicht, uns in phantastischen, jeder reellen
Grundlage, jeder Kritik entbehrenden Vorstellungen zu ergehen, son¬
dern neue Tatsachen zu finden.
Ich bin allerdings nicht so glücklich gewesen, die Ursache des
Krebses zu entdecken, wie Herr Spude. Als schwachen Ersatz
dafür haben meine Untersuchungen, wie ich glaube, einige neue T at-
sachen gebracht, die mir für eine Reihe fundamentaler Fragen der
Pathologie von Bedeutung zu sein scheinen. Wenn ich auf dem
Boden dieser neuen Tatsachen neue Anschauungen über
die Entstehung der Geschwülste entwickelt habe, so glaube ich doch
genügend betont zu haben, dass mir das Theoretische darin voll
bewusst geblieben ist. Auf Grund meiner neuen experimentellen Be¬
funde bin ich Schritt für Schritt zu diesen neuen Auffassungen ge¬
kommen, nicht auf Grund irgend welcher Spekulation. Da Herr
Spude annimmt, dass Toxine von den Gefässen her die Zellen zur
Wucherung in die Tiefe brächten, so schliesst er, es seien meine
Untersuchungen eine Bestätigung seiner Theorie!
Ich überlasse es ruhig dem Urteil des Lesers, inwieweit die
„Untersuchungen“ des Herrn Spude Anspruch darauf machen
können, mit den meinigen zusammengebracht zu werden. Ich muss
jegliche Gemeinschaft ablehnen und für meine experimentellen Un¬
tersuchungen sowohl wie für alle daraus gezogenen Schlussfolge¬
rungen die volle Priorität beanspruchen. Dr. B e r n h. Fischer.
Das praktische Jahr der Mediziner.
Die Med. Reform veröffentlicht nachstehenden Entwurf von An¬
weisungen für das Praktische Jahr der Mediziner, der den beteilig¬
ten Instanzen zur Begutachtung vorgelegt wurde.
I. Anstalten, in denen das Praktische Jahr ab¬
geleistet wird.
§ 1. Die Beschäftigung des- Medizinalpraktikanten während des
Praktischen Jahres kann an folgenden Anstalten innerhalb des
Deutschen Reiches erfolgen:1) a) an einer Universitäts-Khmk,
b) an einer Universitäts-Poliklinik, c) an einem dazu besonders ei-
mächtigten Krankenhause, d) an einem medizinischen nichtklinischen
Universitätsinstitut, e) an einem dazu besonders ermächtigten selbst¬
ständigen medizinisch-wissenschaftlichen Institut.
§ 2. Die Dauer der Beschäftigung kann sich in den Fällen des
§ 1 zu a, b und c auf das ganze Praktische Jahr erstrecken. (Vgl.
jedoch § 8.)
§ 3. In den Fällen des § 1 zu d und e ist zu beachten, dass die
Beschäftigung an derartigen Instituten nur bis zur Gesamtdauer von
höchstens 6 Monaten auf das Praktische Jahr angerechnet werden
kann, und zwar hat in diesen Fällen der Medizinalpraktikant die An¬
rechnung nach Ablauf der in Rede stehenden Beschäftigungszeit bei
der Zentralbehörde besonders zu beantragen.
§ 4. Die Beschäftigung an einem medizinisch-wissenschaftlichen
Institut, das zu einem ermächtigten Krankenhaus gehört, wird auf
das Praktische Jahr nicht angerechnet, es sei denn, dass das Institut
in der Ermächtigung des betreffenden Krankenhauses besonders auf¬
geführt ist. Für solche Fälle finden auf die Beschäftigung an dem
Institut die Vorschriften des vorstehenden Paragraphen Anwendung.
§ 5. Für die Erteilung der Ermächtigung können auch Privat¬
krankenanstalten, nicht jedoch Privatpolikliniken in Frage kommen.
§ 6. Das Verzeichnis der im Reichsgebiet zur Beschäftigung
von Medizinalpraktikanten ermächtigten Krankenhäuser und selbst¬
ständigen medizinisch-wissenschaftlichen Institue (vgl, § 1 litt, c
und e) wird alljährlich im Zentralblatt für das Deutsche Reich ver¬
öffentlicht (Verzeichnis I.) Daneben gelangt fortan ein vornehmlich
für den praktischen Gebrauch der Praktikanten berechnetes Ver¬
zeichnis der ermächtigten Anstalten zur Ausgabe, welches nähere
Angaben über die Anstalten selbst, so über das hauptsächliche Ar¬
beitsgebiet der Anstalt, die Namen ihrer ärztlichen Leiter, die für
die Zulassung der Praktikanten zuständige Stelle, die Bettenzahl, die
Zahl der Assistenten und Pflegepersonen, die den Praktikanten ge¬
währten Vergünstigungen und sonstiges für die Praktikanten Wissens¬
werte enthält. (Verzeichnis II.)
§ 7. Die Beschäftigung von Medizinalpraktikanten an auslän¬
dischen Anstalten der in § 1 gedachten Art wird grundsätzlich auf das
Praktische Jahr nicht angerechnet. Ausnahmen sind auf besonders
begründeten Antrag bisher nur gemacht hinsichtlich des deutschen
Hospitals in London, des Alexander-Hospitals für Männer in
St. Petersburg, des deutschen Hospitals in Konstantinopel und der
deutschen Heilstätte in Davos, jedoch auch hier nur mit der Be¬
schränkung, dass höchstens 6 Monate der Beschäftigungszeit zur An¬
rechnung auf das praktische Jahr gelangen.
II. Die Behandlung innerer Krankheiten.
§ 8. Von dem Praktischen Jahr hat der Medizinalpraktikant
mindestens ein Drittel vorzugsweise der Behandlung von inneren
Krankheiten zu widmen. Dieser Vorschrift kann nur genügt wer¬
den durch Beschäftigung an allgemeinen Heilstätten, denen ein
reiches Material an inneren Kranken zur Verfügung steht, nicht
jedoch durch Beschäftigung an Irrenanstalten, Lungenheilstätten und
sonstigen Spezialkrankenanstalten, deren Aufgabe ausschliesslich in
der Behandlung einer einzigen inneren Krankheit oder Krankheits¬
gruppe besteht. Der Praktikant wird dies bei der Auswahl der An¬
stalten, in der er beschäftigt zu werden wünscht, zu berücksichtigen
haben.
III. Die Annahme als Medizinalpraktikant in der
Anstalt.
§ 9. Das Praktische Jahr hat sich unmittelbar an die bestandene
Prüfung anzuschliessen. Zu einem späteren Beginn des Praktischen
Jahres bedarf es der Erlaubnis der Zentralbehörde.
§ 10. Das Gesuch um Beschäftigung als Medizinalpraktikant
an einer im § 1 bezeichneten Anstalt ist, soweit es sich um Univer¬
sitätskliniken und Polikliniken und um nichtklinische medizinische
Universitätsinstitute (§ I litt, a, b und d) handelt, an deren Direktor,
soweit ermächtigte Anstalten (§ I litt, c und e) in Frage stehen, an
die in dem Verzeichnis II als für die Annahme zuständig bezeichnete
Stelle ,zu richten.
§ 11. Damit die Praktikanten das Praktische Jahr in un¬
mittelbarem Anschluss an die ärztliche Prüfung beginnen können, ist
es zweckmässig, dass sie bereits vor Beendigung der Prüfung wegen
künftiger Annahme in einer Anstalt mit dieser in Verbindung treten.
Sofort nach dem Bestehen der Prüfung wird ihnen seitens des Vor¬
sitzenden der Prüfungskommission eine Bescheinigung hierüber aus¬
gestellt, auf Grund deren sie sogleich die endgültige Annahme als
Medizinalpraktikant nachzusuchen haben.
§ 12. Die Anstaltslei'tung, an welche sich der Medizinalprak¬
tikant mit Anfragen oder mit seinem Gesuch wendet, hat alles zu
vermeiden, was den Gang der Verhandlungen und den Eintritt des
Praktikanten verzögern könnte. Stehen der Annahme Bedenken
x) Angesichts der ausreichenden Zahl von ermächtigten Anstalten
ist einstweilen nicht in Aussicht genommen, die Ableistung des Prak¬
tischen Jahres bei einem Arzte zu gestatten.
.MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2232
No. 45.
liegen, so ist der Praktikant umgehend hiervon zu unterrichten,
damit er sich sogleich an eine andere Anstalt wenden kann.
IV. Beschäftigung und Ausbildung des Medizinal-
Praktikanten in der Anstalt.
§ 13. Voraussetzung für eine ordnungsmässige Beschäftigung
und Ausbildung des Medizinalpraktikanten ist, dass die Kranken¬
behandlung, der Krankenhausbetrieb und die Unterweisung des
Pflegepersonals den Anforderungen der medizinischen YVissen-
schaft und Gesundheitspolizei in vollem Umfange entsprechen und
die Einheitlichkeit der ärztlichen Leitung und Versorgung streng
gewahrt ist.
$ 14. Eür die ordnungsmässige Ausbildung des Prakti¬
kanten ist der Direktor der Universitätsklinik oder Poliklinik oder
des Institutes, bei Krankenhäusern der ärztliche Leiter der Anstalt ver¬
antwortlich, welcher sich der praktischen Ausbildung des Prak¬
tikanten mit Sorgfalt zu widmen hat. Als ärztlicher Leiter gilt in
denjenigen Anstalten, in denen mehrere Abteilungen unter selbst¬
ständiger Leitung besonderer dirigierender Aerzte vorhanden sind,
der Leiter derjenigen Krankenhausabteilung, in welcher der Prak¬
tikant beschäftigt wird.
§ 15. Es ist wünschenswert, dass der Kandidat während seiner
praktischen Tätigkeit in der Anstalt wohnt und verpflegt wird, da¬
mit er alle Zufälle, welche in dem Anstaltsbetriebe bei Tag und
Nacht sich ereignen, kennen lernt.
§ 16. Gestatten die Verhältnisse die Unterbringung der Medi¬
zinalpraktikanten in der Anstalt nicht, so sollte es ihnen durch Ge¬
währung von Kost wenigstens ermöglicht werden, sich während des
Tages dauernd in der Anstalt aufzuhalten, um sich ganz der Be¬
obachtung und Behandlung der Kranken widmen zu können. Jeden¬
falls genügt es zur Erreichung des Zieles des Praktischen Jahres
nicht, dass die Praktikanten nur die Morgen- und Abendvisite mit¬
machen, im übrigen aber von der Anstalt fern bleiben.
§ 17. Der Ausbildung des Praktikanten wird am besten ge¬
nügt dadurch, dass er einer bestimmten Krankenabteilung zugewiesen
wird und auf derselben eine bestimmte Anzahl von Krankenbetten,
nicht unter 12, zugeteilt erhält, die er unter der Beihilfe und ver¬
antwortlichen ärztlichen Leitung des Assistenzarztes der betreffenden
Station (Pavillon, Baracke) zu versorgen hat. Hierbei ist zu be¬
achten, dass der Praktikant stets unter der unmittelbaren Aufsicht
und Leitung des Direktors oder ärztlichen Leiters verbleiben muss.
§ 18. Dem Praktikanten ist die Möglichkeit zu bieten, sich in
der Untersuchung und Behandlung der Kranken, in der Abfassung
von Krankengeschichten und Gutachten, in der Führung der Kranken¬
blätter und in der Abhaltung des ärztlichen Wachdienstes soviel wie
möglich zu betätigen. Die Handhabung der Untersuchurigsmethoden,
der praktischen Ausübung der Krankenpflege, insbesondere das Ein¬
gehen auf die Wünsche und Bedürfnisse der einzelnen Kranken und
das taktvolle Verhalten gegenüber dem Pflegepersonal, die wissen¬
schaftliche Verwertung bemerkenswerter Krankheitsfälle, die An¬
wendung der verschiedensten Heilmethoden und der Arzneiverord¬
nung, die Handhabung der Aseptik und die Einhaltung der Asepsis,
die* Mithilfe bei Operationen (Narkose, Assistenz, Nachbehandlung),
die Vornahme derselben, überhaupt die Uebung in möglichst allen
Zweigen der praktischen Medizin sollen Gegenstände der Unter¬
weisung sein, welche die ärztlichen Leiter den Praktikanten zuteil
werden lassen sollen. Nicht fehlen darf eine entsprechende Unter¬
weisung in der Leitung und Verwaltung der Anstalt, in der Durch¬
führung hygienischer Massnahmen in der Anstalt, sowie in dem
kollegialen Verhalten anderen Aerzten gegenüber, besonders in der
Privatpraxis.
§ 19. Alle einer Anstalt oder Anstaltsabteilung überwiesenen
Praktikanten haben sich an den täglichen Visiten der dirigierenden
Aerzte und der einzelne Praktikant ausserdem an den Vormittags¬
und Nachmittagsbesuchen des Assistenten seiner Station zu be¬
teiligen, wobei am Krankenbett genauere Besprechungen der ein¬
zelnen Fälle stattzufinden haben. Sehr wirksam werden auch be¬
sondere Referatsstunden sein, welche von den dirigierenden Aerzten
in Gegenwart sämtlicher Assistenten und Praktikanten abgehalten
werden und in denen die gemachten Beobachtungen ausgetauscht und
durch die Erläuterungen der erfahrenen Chefärzte besonders nutz¬
bringend gemacht werden können.
§ 20. Jedenfalls soll der Medizinalpraktikant durch den Dienst
im Krankenhause voll beschäftigt werden. Denn der Praktikant hat
seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit darauf zu richten, seine prakt¬
ischen Kenntnisse und Fähigkeit zu vertiefen und das erforder¬
liche Verständnis für die Aufgaben und Pflichten des ärztlichen Be¬
rufes zu gewinnen.
§ 21. Die Direktoren der Universitäts-Kliniken und Polikliniken
und der Institute, sowie die ärztlichen Leiter der Krankenhäuser sind
befugt, den Medizinalpraktikanten einen kürzen Urlaub zur Erholung
oder zu besonderen Gelegenheiten zu erteilen. Eine Anrechnung
der Urlaubszeit auf das Praktische Jahr ist nur bis zu höchstens
14 Tagen und nur unter der Voraussetzung angängig, dass die
Tätigkeit des Praktikanten zu Anständen keine Veranlassung ge¬
geben und sich ordnungsmässig vollzogen hat. Unter der gleichen
Vorraussetzung kann auch die Zeit der amtlich zu bescheinigenden
Krankheit bis zur Höchstdauer von 4 Wochen auf das Praktische
Jahr angerechnet werden. Eine weitere Anrechnung von Krank¬
heitszeit ist nur in besonders gearteten Fällen mit Genehmigung der
Zentralbehörde angängig. In jedem Falle der Beurlaubung oder der
Erkrankung muss die Dauer der Unterbrechung unter Bezeichnung
des Anfangs- und Enddatums in dem Abgangszeugnis vermerkt wer¬
den. Eine Abkürzung der auf die Behandlung von inneren Krank¬
heiten zu verwendenden Zeit (mindestens ein Drittel des Praktischen
Jahres) darf durch Urlaub oder Krankheit in keinem Falle erfolgen.
§ 22. Es steht dem Kandidaten frei, die Anstalt während des
Praktischen Jahres zu verlassen, um dasselbe an einer anderen fort¬
zusetzen. Ebenso kann er auch eine dritte Anstalt aufsuchen. Will
er noch eine weitere Anstalt um Annahme als Praktikant angehen,
so hat er zuvor die Genehmigung der Zentralbehörde einzuholen.
S 23. Während der Ableistung des Praktischen Jahres hat der
Praktikant mindestens zwei öffentlichen Impfungen und ebenso vielen
Wiederimpflingsterminen beizuwohnen. Die Bescheinigung darüber
stellt der öffentliche Impfarzt aus, welcher den öffentlichen Impf¬
termin abgehalten hat. Die erforderlichen Mitteilungen über die
öffentlichen Impftermine sind von dem zuständigen Kreisarzt einzu¬
holen.
V. Erteilung des Abgangszeugnisses.
§ 24. Die Abgangszeugnisse über die Ableistung des Praktischen
Jahres sind nach dem der Prüfungsordnung beigegebenem Muster 5
durch den Direktor der Universitätsklinik oder Poliklinik oder des
wissenschaftlichen Institus oder den ärztlichen Leiter der Anstalt,
bezw. der selbständigen Anstaltsabteilung, bei welcher der Prakti¬
kant tätig gewesen ist, auszustellen. War der Praktikant an mehreren
Abteilungen tätig, so ist für die betreffende Zeit von jedem Ab¬
teilungsleiter ein besonderes Zeugnis auszustellen. Alle Zeugnisse
müssen eine nähere Würdigung ider Art der Beschäftigung, sowie
eine Angabe darüber enthalten, welchen Teil der bezeichneten Zeit
der Kandidat vorzugsweise der Behandlung von allgemeinen inneren
Krankheiten gewidmet hat, inwieweit er seine praktischen Kennt¬
nisse und Fähigkeiten vertieft und fortgebildet und ob er ausreichen¬
des Verständnis für die Aufgaben und Pflichten des ärztlichen Be¬
rufes gezeigt hat.
§ 25. Wird dem Kandidaten die Erteilung des Abgangszeug¬
nisses von dem ärztlichen Leiter der Anstalt versagt, so ist Be¬
schwerde an die der Universitätsanstalt Vorgesetzte Behörde, bei er¬
mächtigten Anstalten an die Zentralbehörde desjenigen Bundes¬
staates, in dessen Gebiete das Krankenhaus gelegen ist, zulässig.
VI. Erteilung der Approbation.
§ 26. Nach Ablauf des Praktischen Jahres hat der Kandidat
unter Vorlage der Zeugnisse über die Ableistung desselben und über
die Beiwohnung an zwei öffentlichen Impfungs- und ebenso vielen
Wiederimpfungsterminen, eines selbstgeschriebenen Berichts über
seine Beschäftigung während des Praktischen Jahres und eines auf
die Zeit seit Ablegung der ärztlichen Prüfung bezüglichen polizei¬
lichen Führungsattestes bei der zuständigen Zentralbehörde die Er¬
teilung der Approbation als Arzt zu beantragen. Zuständig ist die
Zentralbehörde desjenigen Bundesstaates, in welchem der Kandidat
die ärztliche Prüfung bestanden hat. Die Approbation wird, sobald
sämtliche Nachweise erbracht sind und zu Bedenken keinen Anlass
geben, umgehend ausgestellt.
§ 27. Haben es die Kandidaten an dem erforderlichen Eifer
während der Ableistung des Praktischen Jahres fehlen lassen, so dass
die Zentralbehörde nicht die Ueberzeugung gewinnt, dass der Prak¬
tikant den zu stellenden Anforderungen entsprochen hat, so hat die
Zentralbehörde das Recht, die Dauer des Praktischen Jahres noch
darüber hinaus für einen von ihr zu bestimmenden Zeitraum auszu¬
dehnen.
Uebersicht der Sterbefälle in München
während der 4L Jahreswoche vom 14. bis 20. Oktober 1906.
Bevölkerungszahl 540000.
Todesursachen: Angeborene Lebensschw. (1. Leb.-M.) 11 (9*)
Altersschw. (üb. 60 J.) 6 (6), Kindbettfieber 1 (1), and, Folgen der
Geburt —(—), Scharlach — (1), Masern u. Röteln — (— ), Diphth. u.
Krupp 1 (1), Keuchhusten — (1), Typhus — (— ), übertragb. Tierkrankh.
— (— ), Rose (Erysipel) 1 (— ), and. Wundinfektionskr. (einschl. Blut-
u. Eitervergift.) 1 (2), Tuberkul. d. Lungen 23 (18), Tuberkul. and.
Org. 8 (8) Miliartuberkul. 1 (— ), Lungenentzünd. (Pneumon.) 10 (10),
Influenza — (— ), and. übertragb. Krankh. I (I), Entzünd, d. Atmungs¬
organe 3(4), sonst. Krankh. derselb. 3 (2), organ. Herzleid. 18 (16),
sonst. Kr. d. Kreislaufsorg, (einschl. Herzschlag) 5 G), Gehirnschlag
9 (1), Geisteskranke 2 (4), Fraisen, Eklamps. d. Kinder 3(3), and.
Krankh. d. Nervensystems 3 (6), Magen u. Darm-Kat., Brechdurchfall
(einschl. Abzehrung) 25 (23), Krankh. d. Leber 2 (5), Krankheit, des
Bauchfells 1 (— ), and. Krankh. d. Verdauungsorg. 4 (4), Krankh. d.
Harn- u. Geschlechtsorg. 6 (3), Krebs (Karzinom, Kankroid) 14 (13),
and. Neubildg. (einschl. Sarkom) 4 (2), Selbstmord 2 (3), Tod durch
fremde Hand — (— ), Unglücksfälle 3 (2). alle übrig. Krankh. 6 (2).
Die Gesamtzahl der Sterbefälle 177 (152), Verhältniszahl auf das
Jahr und 1000 Einwohner im allgemeinen 17,0 (14,6), für die über
dem 1. Lebensjahre stehende Bevölkerung 12,8 (10,3).
*) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fälle der Vorwoche.
Verlag von J. F. Lehmann ln München. — Druck von E. Miihlthalers Buch- und Kunstdruckerei A.Q.. München.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift erscheint wöchentlich
nn Umfang von durchschnittlich 6 — 7 Bogen. * Preis der einzelnen
Nummer SO 4- * Bezugspreis in Deutschland vierteljährlich
jl . Übrige Bezugsbedingungen siehe auf dem Umschlag.
MÜNCHENER
Zusendungen sind zu adressieren: Für die Redaktion Arnulf-
strasse 26. Bureauzeit der Redaktion von 87,-1 Uhr. * rür
Abonnement an J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 15a. • Für
* Inserate und Beilagen an Rudolf Mosse, Promenadeplatz 16. •
Medizinische Wochenschrift.
ORGAN FÜR AMTLICHE UND PRAKTISCHE ÄRZTE.
Herausgegeben von
No. 46. 13. November 1906.
Redaktion: Dr. B. Spatz, Arnulfstrasse 26.
Verlag: J. F. Lehmann, Paul Heysestrasse 15a.
53. Jahrgang.
(Nachdruck der Originalartikel ist nicht gestattet.)
Originalien.
Der Einfluss der deutschen Unfallgesetzgebung auf den
Verlauf der Nerven- und Geisteskrankheiten.*)
Von Prof. Dr. R. Q a u p p in Tübingen.
M. H.! Die Unfallgesetze haben den Zweck, den bei der
Arbeit Verletzten für den Unfall zu entschädigen, solange er
krank und nicht völlig arbeitsfähig ist; sie wollen seine Heilung
erleichtern, indem sie dafür Sorge tragen, dass er bei länger¬
dauernder Krankheit nicht in Not gerate, sondern unter den
günstigsten Bedingungen die völlige Genesung abwarten könne;
die Unfallversicherungsgesetzgebung trägt also wirtschaftlichen
Charakter, hat an sich natürlich keine Beziehung zum Verlauf
der Krankheiten. So war wenigstens die Meinung. Hätte
man vor 22 Jahren dem Gesetzgeber gesagt, dass die Unfall¬
gesetze nicht blos ökonomische, sondern hervorragende me¬
dizinische Bedeutung gewinnen werden, so würde er diesen
Ausspruch wohl kaum völlig verstanden haben.
Es ist bekannt, dass nach Unfällen leichter und
schwerer Art Nerven- und Geisteskrankheiten aus-
brechen können. Die Mehrzahl dieser Erkrankungen
geht ihren notwendigen Gang, gleichgültig ob der Ver¬
letzte ein Recht auf eine gesetzmässige Entschädigung
hat oder nicht. Wir können nicht behaupten, dass die Unfall¬
gesetzgebung den Verlauf der traumatischen Demenz, der trau¬
matischen Katatonie, der lokalen Hirnverletzungen irgendwie
zu beeinflussen vermöge. Bei der traumatischen Epilepsie
kann die von der Berufsgenossenschaft übernommene Behand¬
lung und die hinreichende Entschädigung des Epileptikers durch
eine Rente insofern bessernd wirken, als der Kranke nicht mehr
genötigt ist, sich den Gefahren seines Berufes auszusetzen.
Die nach Unfällen auftretende Frühform der Arteriosklerose
wird vielleicht auch verzögert, wenn der Verletzte sich für den
Rest seines Lebens schonen kann, wenn ihm die Sorge für seine
Zukunft durch die Rente abgenommen wird. Aehnliches gilt
für alle organischen Krankheiten des Nervensystems und für
die eigentlichen Geisteskrankheiten. Alle diese Fälle hat man
aber nicht im Auge, wenn man von dem Einfluss der Unfall¬
gesetzgebung auf den Verlauf von Nervenleiden spricht. Viel¬
mehr ist es eine ganz bestimmte Gruppe von nervösen Er¬
krankungen, die sogenannten Unfallneurosen, von denen
uns die Erfahrung der letzten Jahrzehnte gelehrt hat, dass sie
gerade durch die Gesetzgebung nach Entstehung und Verlauf
in schwerwiegender Weise beeinflusst werden. Mit ihnen
haben wir uns also nach dem Wortlaut des uns gestellten
Themas zu beschäftigen. ])
*) Referat, erstattet auf der 78. Versammlung Deutscher Natur¬
forscher und Aerzte in Stuttgart, 18. IX. 1906.
U In der Diskussion ist von einem Redner gesagt worden, ich
habe in meinen Ausführungen die Bedeutung des Traumas und der
damit verbundenen seelischen Erschütterung zu gering angeschlagen.
Allein diesem Vorwurf liegt ein Irrtum zu Grunde; ich habe über die
Entstehung von Krankheiten nach Unfall überhaupt nicht zu
sprechen gehabt; denn das mir gestellte Thema lautete: „Ueber den
Einfluss der neueren deutschen Unfallgesetzgebung auf
Heilbarkeit und Unheilbarkeit der Krankheiten.“ Es
handelte sich also nur um den Verlauf der Unfallnervenkrankheiten
und nur um den Einfluss der Gesetzgebung, nicht um den des
Traumas. Dies zu meiner Rechtfertigung!
JNo, 46.
Die wissenschaftlichen Kümpfe um das Wesen und die
klinische Stellung der traumatischen Neurosen sind noch so
jungen Datums, dass sie wohl noch in Ihrer aller Erinnerung
sind. Auch finden Sie ihren Entwicklungsgang in den Mono¬
graphien von Bruns und Mittelhäuser anschaulich ge¬
schildert. Ich will nur als besonders wichtig hervorheben,
dass sich aus diesen Kämpfen allmählich 2 Tatsachen als
unbestreitbar herauskristallisiert haben :
1 . Die traumatischen Nervenkrankheiten
sind keine besonderen Krankheiten von klini¬
scher Selbständigkeit, sondern sie gehören den be¬
kannten Neurosen an; eigentümlich ist ihnen nur die be¬
sondere Entstehung nach einem Unfall. Wohl
hat Oppenheim, dem wir ja auf diesem Gebiete so Vieles
verdanken, insofern Recht behalten, als die klinischen Sym¬
ptombilder bei Unfallnervenkranken häufig eine ganz eigen¬
artige Mischung hysterischer und anderer nervöser Züge dar¬
stellen, die in dieser Form fast nur bei Unfallkranken Vor¬
kommen; allein in der Gesamtauffassung der traumatischen
Neurosen hat doch die Meinung Recht behalten, die keine
Krankheit „traumatische Neurose“, sondern nur traumatische
Hysterie, traumatische Neurasthenie etc. kennt.
2. Die traumatischen Neurosen kommen
nach Unfällen der verschiedensten Art vor.
Ort der Gewalteinwirkung, Stärke der Schädigung, Umfang
der objektiv eingetretenen Verletzung sind fast völlig belanglos.
Dasselbe Bild kann nach einem schweren Sturz auf den Kopf,
nach einer ausgedehnten Wunde, nach einem leichten Stoss
an Rücken oder Schulter, ja nach einem einfachen Schreck,
bei dem der Körper des Arbeiters gar nicht berührt wurde,
auftreten.
Alle diese nervösen Erkrankungen kommen gelegentlich
auch bei Personen vor, die nach der Verletzung keinerlei An¬
spruch auf eine Entschädigung nach dem Haftpflichtgesetz oder
den Unfallgesetzen machen können. Allein dies ist doch selten.
Bruns hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, wie
selten die Offiziere der Hannoverschen Reitschule selbst nach
schwerem Sturz an nervösen Störungen erkranken. Tausende
von Studenten erhalten auf der Mensur mehr weniger ernste
Kopfverletzungen und man hört nichts von traumatischen Neu¬
rosen. Und wenn einmal Beschwerden geklagt wurden, so
waren sie vorübergehender Art. Ich suche immer noch ver¬
gebens den Studenten, der nach einer Mensur eine traumatische
Neurose erlitt, die ihn Jahre oder Jahrzehnte lang arbeitsunfähig
gemacht hätte. Seit ich in München bin, sind mir schon einige
Unfallskranke vor Augen gekommen, deren narbiger Schädel
von schweren Raufereien mit Bierkrügen und anderen Waffen
zeugte; all diese Erlebnisse waren ohne dauernden Schaden
vorübergegangen; aber eines Tages genügte ein leichter Stoss
oder Fall, um eine traumatische Hysterie auszulösen, die den
Arbeiter in einen siechen Mann verwandelte, der zu nichts
mehr zu brauchen war.
Es kann also gar keinem Zweifel mehr unterliegen, dass
erst seit dem Inkrafttreten der Unfallver¬
sicherungsgesetze die traumatischen Neu¬
rosenhäufige ntstehenundlangedauern. Diese
Tatsache muste von selbst zu der Frage führen: was ist
der Grund, dass die U nfallversicherungs ge¬
setzgeb ung so verhängnisvoll wirkte? Ist hier
1
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
No. 46.
das Gesetz mit seiner edlen Absicht, dem wirtschaftlich
Schwachen in den Tagen der Not zu helfen, auf einen falschen
Weg geraten? Warum erzeugt es so viele traumatische Neu¬
rosen und warum bleiben diese Kranken ungeheilt und arbeits¬
unfähig? Woher dieses unverständliche Missverhältnis zwi¬
schen Ursache und Wirkung, dass ein leichter Stoss oder gar
nur ein Schreck dasselbe geistige Siechtum nach sich ziehen
kann wie ein schwerer Sturz auf den Schädel? Es musste
am Gesetze selbst liegen. Allein wieso am Gesetze? Hat es
denn nicht den einzigen Zweck, dem Verletzten zu helfen, ihm
die Krankheit und ihre unmittelbaren Folgen zu erleichtern, die
Sorge um die nächste Zukunft zu ersparen, ihm die Beruhigung
zu geben, dass er, falls er nicht gesund werden sollte, vom Staate
nicht aus Gnade ein Almosen, sondern von Rechts wegen eine
Rente erhalten werde, die ihn vor Not und Elend bewahrt.
Allein der Gang der Dinge lehrte deutlich, dass man die Rech¬
nung ohne den Wirt gemacht hatte. Die Seele des Ar¬
beiters war eine psychologische Grösse, auf die man sich
wenig verstanden hatte. Und doch fiel die Unfallgesetzgebung
in eine Zeit, in der man dank C h a r c o t und Möbius be¬
reits gelernt hatte, dass im Reiche der Nervosität und Hysterie
seelische Vorgänge, vor allem gefühlsstarke
Vorstellungen den Kern des Leidens aus-
mache n. Allein man stand eben anfänglich auch in ärztlichen
Kreisen zu sehr unter dem Glauben, dass man es mit ganz
neuen Krankheiten zu tun habe, mit Folgeerscheinungen nach
Erschütterungen des Nervensystems.
Wir sahen schon: mit dem Inkrafttreten der Unfallgesetze
nahm die Zahl der traumatischen Neurosen rasch sehr zu und
im weiteren Verlauf erwiesen sich diese Zustände als über¬
raschend hartnäckig. Die Aerzte erkannten allmählich, dass
auch die Symptome der Unfallneurosen auf
ihre Entstehung aus krankhaften Stimmungen und Vorstellungen
hindeuten. Mit den sogenannten „objektiven Sym¬
ptome n“, um die man sich mit Leidenschaft stritt, war es
nichts, je genauer man in die Sache eindrang; vor allem aber
lehrten die Arbeiten von Sänger, Jeremias und anderen,
dass bei gleichen „objektiven Symptome n“ der
nicht rentensuchende Verletzte sehrwohl a r -
beitsfähi gwar. Anästhesien, konzentrische Gesichtsfeld¬
einschränkungen, Steigerung- der Sehnenreflexe, ein erregbares
Herz findet man ebensooft bei berufstüchtigen Menschen wie
bei angeblich völlig arbeitsunfähigen Unfallkranken. Das We¬
sen der Krankheit lag also auf anderem Gebiete. Die Psyche
des Unfallkranken war eine andere geworden; Vorstellungen
und Gefühle beherrschten ihn und brachten ihn zu dem Glau¬
ben, dass er nicht mehr arbeiten könne; und versuchte er es
dann eines Tages wieder mit der Arbeit, so stellten sich alsbald
Missempfindungen ein, die ihn zu ihrer Einstellung treiben;
so kommt der Verletzte zu der Ueberzeugung, dass er eben
nicht mehr könne, dass es mit ihm seit dem Unfall nicht mehr
in Ordnung sei und dass er auch nie mehr werde arbeiten
können. Darum habe er auch ein Recht auf die Rente. Dies
alles ist heute bekannt und schon oft klar dargelegt worden;
ich erinnere an die Arbeiten von Strümpell, Bruns,
Sachs und Freund, Albin Hoff mann, Schultze,
Jolly, Seiffer, Mittelhäuser.
Waru m hatte denn nun aber die Unfallgesetzgebung
diesen unerwünschten Einfluss ausüben können und welcher
Art ist der Zusammenhang zwischen ihren Para¬
graphen und den hartnäckigen Krankheitszuständen, die seit
dem Bestehen des Gesetzes in stets wachsender Zahl dem
Arzte vor Augen kommen? Auch hierüber ist schon viel
gesagt und geschrieben worden und es ist schwer, Neues aufzu¬
decken. Unsere deutsche Unfallgesetzgebung kam in einer
Zeit zu Stande, in der unser soziales Leben raschen und be¬
deutungsvollen Wandlungen unterworfen war. Ich greife nur
einige hier heraus. Wir sahen in jenen Tagen, wie der von
dem Amerikaner B e a r d geschaffene Begriff der „Neu¬
rasthenie“ mit ungewöhnlicher Schnelligkeit bei Arzt und
Publikum lebhaften Wiederhall fand, offenbar doch nur, weil
in der Tat B e a r d s Darlegungen mit den Erfahrungen zahl¬
reicher Aerzte und Kranken übereinstimmten. Das Wort wird
förmlich zum Schlagwort, man spricht von einem neurastheni-
schen Zeitalter, bemüht sich, auf allen Gebieten des öffentlichen
Lebens die Zeichen der Nervosität nachzuweisen. Der nervöse
Seelenzustand unserer modernen Zeit, mit dessen allgemeinen
Entstehungsbedingungen sich der Historiker Lamp recht
und sein medizinischer Schüler H e 1 1 p a c h eingehend befasst
haben, dringt in alle Schichten unseres öffentlichen Lebens. In
Paris konstatierte Charcot die Häufigkeit der männlichen
Hysterie in Arbeiterkreisen und betonte ihre schlechte Prog¬
nose. Kurz: es war um die Zeit des Beginnes unserer sozialen
Gesetzgebung eine Zunahme der nervösen Störungen in weiten
Bevölkerungskreisen vorhanden; der Boden war gewisser-
massen für die Wirkung neuer psychischer Schädlichkeiten
vorbereitet. Auch nahm um jene Zeit die chronische T runk-
sucht an Extensität zu, es entstanden die durch ihre Pracht
verlockenden Bierpaläste; und dieser Alkoholismus schädigte
nicht nur die physische Gesundheit vieler, sondern verdarb
auch die Willensenergie, erschütterte die sittliche Tüchtigkeit
weiter Volkskreise in einer vielleicht nicht augenfälligen, darum
aber doch tatsächlich nicht unbedenklichen Weise. Dazu kam
nun aber noch Vieles andere. Als die Unfallgesetze in Wirkung
traten, trafen sie die deutsche Arbeiterschaft in einem eigen¬
artigen Seelenzustande. Die fortschreitende Spezialisierung der
Arbeit in der Industrie hatte dem Einzelnen eine immer ein¬
tönigere Tätigkeit zugewiesen, die Arbeit hatte in der modernen
Produktionsweise viel von ihrem Segen verloren. Die 70 er
Jahre hatten die Seele des Arbeiters gewaltig verändert. Seine
Stellung zum Arbeitgeber, seine politischen Anschauungen waren
andere geworden. Er nahm gegen den Staat eine misstrauische
Stellung ein; die Unfallversicherung schien ihm unter dem Ein¬
fluss politischer Suggestionen nicht als ein grossartiges Werk zu
! seinem Besten, sondern als eine kümmerliche Abschlagszah¬
lung, die ihm der Staat aus Angst bot. Immer lebhafter traten
die Kämpfe um Kürzung der Arbeitszeit, die Organisationen
gegen die Arbeitgeber an der Oeffentlichkeit hervor. Wäre es
nicht wunderbar, wenn in solchen Zeiten nicht eine gereizte
Stimmung nach allen Mitteln greift, um dem Arbeitgeber, in
unserer Frage den Berufsgenossenschaften gegenüber das ver¬
meintliche Recht auf ökonomischen Vorteil geltend zu machen.
Kann man erwarten, dass der einfache Arbeiter sich klar da¬
rüber werde, dass er nur dann ein Recht auf Rente habe, wenn
! er von einem noch so schweren Unfall objektive erhebliche
Störungen zu-rückbehalten hatte? In derartige soziale und
politische Entwicklungskämpfe fiel die Zeit des Beginnes un¬
serer sozialen Gesetzgebung, fiel für den einzelnen Arbeiter das
Erlebnis des Unfalls. Nicht der Verletzung als solcher, sondern
des entschädigungspflichtigen Unfalls. Manche der hartnäckig¬
sten Unfallhysteriker hatten andere schwere Verletzungen
hinter sich, die nichts als Narben und affektlose Erinnerungen
hinterlassen hatten. Aber dann kam der Unfall. Ein allge¬
meines Recht auf Rente nach Unfall schwebte dem Bewusst¬
sein des betroffenen Arbeiters vor; die tatsächlichen Voraus¬
setzungen des Rentenbezuges verstand er nicht oder wenig¬
stens nicht völlig. Erst kürzlich hörte ich von einem gross¬
städtischen, durch einen Winkelkonsulenten aufgehetzten Ar¬
beiter die erstaunte Frage: „warum soll ich nichts kriegen,
ich hab’ doch meinen Unfall gehabt“. Das jvar es: man hat
seinen Unfall gehabt; man weiss, dass solch ein Unfall oft für
lange schlimme Folgen hinterlässt; der X. bezieht ja heute
noch, nach 6 Jahren, eine schöne Rente und man sieht ihm
nichts an; der Doktor hat gemeint, es könne auch hier ein
schweres Leiden draus werden, vielleicht liege eine Rücken¬
markszerrung vor. Wo wäre ein Ohr williger, solchen Worten
zu lauschen und sie fest ins Bewusstsein einzupflanzen, als in
derartigen Momenten das Ohr des verletzten und vielleicht
noch geschwächten Arbeiters? Das alles sind keine Ueber-
treibungen, sondern zweifellose Vorkommnisse, für die ich Be¬
lege aus meiner Gutachtertätigkeit bringen könnte. Auch be¬
darf es keineswegs der Annahme, dass es sich hiebei um
sittlich verkommene Arbeiter handle; das ist durchaus nicht
der Fall und ich habe gelegentlich in Zivilprozessen bei ge¬
bildeten Menschen, die nach einer Verletzung finanzielle An¬
sprüche stellten, genau die gleichen Bilder der Unfallhysterie
gesehen.
Welche Bestimmungen unserer Unfallge¬
setze sind es nun im Einzelnen, die der Entwicklung und
Progression der traumatischen Neurosen besonders Vorschub
13. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
leisten? Es wird wohl allgemein als ein Uebelstand ange¬
sehen, dass die Sorge für den Unfallverletzten zunächst für
viele Wochen den Krankenkassen obliegt, die an der
Frage, was später aus dem Kranken wird, nicht so unmittelbar
interessiert sind, wie die Berufsgenossenschaften. Diese be¬
fassen sich mit dem Unfallkranken sehr oft zu spät. Eine genaue
schriftliche Fixierung des ärztlichen Befundes unmittelbar nach
dem Unfall ist gesetzlich nicht verlangt, ein grosser Uebelstand!
Das Rentenfestsetzungsverfahren dauert zu
lange; meist vergehen viele Monate, bis der gemütlich be¬
unruhigte Kranke weiss, wie seine Angelegenheit entschieden
wird. Diese Zeit liefert zahlreiche Schädlichkeiten, verstärkt
hypochondrische Gedanken und den Wunsch nach Rente. Die
Unsicherheit und das Warten auf die Entscheidung der Berufs¬
genossenschaft wirkt auf prädisponierte Kranke ungünstiger,
als früher vor den Unfallgesetzen die bittere Gewissheit, dass
schwere Zeiten kommen werden und dass man Mühe haben
wird, wieder Arbeit und Brot zu erhalten. Graf Posa-
d o w s k y hatte durchaus recht, als er im Reichstage erklärte,
die Rente werde eine fixe Idee, das höchste Glück, das man
mit rechten und Unrechten Mitteln zu erreichen suche. Ich
habe kürzlich einen geistig beschränkten Arbeiter in der Mün¬
chener Klinik gefragt, warum er nicht arbeiten könne; er ant¬
wortete: „ich kann nicht, wegen der Rente da, weil ich einen
Unfall hatte“. Er konnte von sich aus überhaupt keine Be¬
schwerden angeben; das einzige, was er auf Drängen zu kla¬
gen vermochte, war, er werde, wenn er viel Bier trinke,
„damisch“. Der Mann war von seiner Umgebung, die mit ihm
Geld verdienen wollte, zur Stellung ganz törichter Rentenan¬
sprüche verleitet worden. Derartige Fälle sind nun freilich
Ausnahmen, aber in weniger grasser Form sind sie häufig.
Die Unfallgesetze sind in ihrer heutigen Fassung für den
Arbeiter zu schwer verständlich; dadurch entstehen
leicht die bekannten falschen Vorstellungen vom vermeintlichen
Recht auf eine Rente als auf ein Schmerzensgeld
Früher, in den 90 er Jahren bin ich dieser irrtümlichen Meinung j
öfter begegnet als in den letzten Jahren.
Das Gesetz bringt es mit sich, dass derUnfallkranke
nad’h erstmaliger Festsetzung seiner Rente
nichtzurRuhegelangt; er weiss, dass bald eine Nach¬
untersuchung kommen wird, durch die er Gefahr läuft, seiner
Rente ganz oder teilweise verlustig zu gehen. Eine endgültige
Abfindung kennt das Gesetz nur bei niedrigen Renten (bis zu
15—20 Proz.) und nur auf Antrag des Verletzten. In allen
anderen Fällen bedarf es immer wieder neuer Untersuchungen,
die vielen Schaden stiften. Die prozentuale Abschätzung der
Erwerbsfähigkeit ist bei verschiedenen ärztlichen Gutachtern
sehr oft eine ganz verschiedene; immer wieder muss der
Kranke seine Leidensgeschichte erzählen; man frägt ihn nach
diesem und jenem; mit ängstlicher Spannung achtet er auf '
Mienen und Worte der untersuchenden Aerzte, mit Groll und
Verbitterung wehrt er sich gegen den gelegentlich geäusserten
Verdacht der Simulation. Immer mehr vertieft er
sich in seine krankhaften Stinim ungen und
Vorstellungen. Nach dem Wunsche des Gesetzgebers
erfährt er den wesentlichen Inhalt der über
ihn erstatteten Gutachten; er lernt daraus, woran
er leidet, was man bei ihm festgestellt hat, warum ihm Dr. X.
nicht glaubt, warum Dr. Y ihn für einen schwer Kranken
hält; er bekommt einen Einblick in die bedauerliche Uneinigkeit
der Aerzte, merkt sich die für ihn günstigen und wappnet
sich gegen die „Rentenquetscher“. Wahrlich man müsste ja
derartige Menschen für Helden halten, wollte man glauben,
dass alle diese Einflüsse sie nicht berühren, ihr Krankheits¬
bewusstsein nicht alterieren!
Es ist eben betont worden, dass die Uneinigkeit der Aerzte
auf den im Rentenkampfe stehenden Verletzten schädlich wirkt.
In der 7’at ist diese Uneinigkeit gross. Die Kenntnis der Ar¬
beiterversicherungsgesetze ist die selbstverständliche Voraus¬
setzung für ein richtiges ärztliches Handeln. Allein diese Kennt¬
nis ist für den Arzt heute noch schwierig zu erwerben. Wir
Mediziner haben im Allgemeinen weder Zeit noch Lust, trockene
Gesetzbücher mit ihren zahllosen Paragraphen zu studieren.
Auf den Universitäten wird dem eminent wichtigen Gebiete der
sozialen Gesetzgebung, mit dem der Arzt heutzutage immer und
2235
überall zu tun hat, nicht die genügende Berücksichtigung zu teil,
wenn auch allmählich hierin eine gewisse Besserung eingetreten
ist. Die meisten Aerzte kommen über eine gewisse Unsicher¬
heit nicht hinaus. Unsicherheit erzeugt aber bei gewissen¬
haften Naturen Unbehagen; das Gefühl der grossen Verant¬
wortung führt in der Begutachtung Unfallnervenkranker zu
möglichst milder Beurteilung, weil man keinem Menschen Un¬
recht tun will, am allerwenigsten einem erkrankten und mittel¬
losen Arbeiter. Fragen Sie unsere erfahrensten und geschul¬
testen Neurologen, Männer wie Oppenheim und Bruns,
Strümpell und Hoffman n, wie sie vor 15 Jahren ur¬
teilten und wie sie es heute tun, so werden Sie sicher die
Antwort bekommen, sie seien allmählich strenger geworden,
weil eine zu hohe Bemessung der Unfallrente bei den trau¬
matischen Neurosen meist ein Unglück für den Arbeiter sei,
weil der ärztliche Ausspruch, der Verletzte sei völlig erwerbs¬
unfähig, diesen leicht zum untätigen Hypochonder und damit
trotz aller finanziellen Hilfe zum unglücklichen Menschen
mache. Es ist nur zu wahr, was schon Albin Hoffmann
vor langen Jahren gesagt hat: diese Unfallhysteriker werden
ihres Geldes und ihres Lebens nicht froh, auch wenn sie ihre
Vollrente behalten. Alle unsere Erfahrungen kommen dahin
zusammen, dass in der Gewöhnung an die Arbeit die eigent¬
liche Aufgabe unseres ärztlichen Handelns liege. Man hat
darum auch vermisst, dass das Gesetz nicht dafür sorge, dass
partiell Arbeitsfähige zusagende Arbeit erhalten; man verlangte
einen Arbeitsnachweis für sie, bedauerte, dass das Ge¬
setz den Unternehmern nicht die Verpflichtung auferlege, ver¬
unglückte Arbeiter bei teilweiser Arbeitsfähigkeit wieder in
ihren Betrieben zu beschäftigen. So sehr derartige Bestim¬
mungen vom rein ärztlichen Standpunkt aus erwünscht sind,
so möchte ich doch glauben, dass hier wirtschaftliche Fragen,
vor allem die Konkurrenzfähigkeit industrieller Betriebe aus¬
schlaggebend sein müssen, wenn es sich um die Kodifizierung
derartiger Vorschläge handeln würde. Wir dürfen eben doch
nicht vergessen, dass nur ein kleiner Bruchteil aller Verletzten
von derartigen Bestimmungen wirklichen Gewinn in gesund¬
heitlicher Beziehung hätte. Immerhin können wir es doch als
eine Lücke im Gesetze empfinden, dass es die Frage der Be¬
schaffung geeigneter Arbeit für partiell Arbeitsfähige gar nicht
erörtert; eine Lücke, die um so fühlbarer ist, als nach den
Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes beim gewerb¬
lichen Arbeiter bei Abschätzung seiner Erwerbsfähigkeit nicht
bloss sein bisheriges Arbeitsfeld, sondern der gesamte Arbeits¬
markt, die gesamten Kenntnisse und Fähigkeiten des Verletzten
in Betracht gezogen werden sollen.
Erhält der Unfallkranke infolge ärztlichen Gutachtens eine
hohe Rente, so ist eine nachträgliche Kürzung dieser
Rente bei traumatischen Neurosen bekanntlich sehr schwer.
Denn das Gesetz verlangt den Nachweis einer wesent¬
lichen Besserung, der bei dem geringen objektiven Be¬
fund selten zu führen ist; nur ganz ausnahmsweise gibt der
Unfallkranke eine Besserung selbst zu.
Manche Autoren, wie Sachs und Freund, auch Bruns
sind auf Grund ihrer Erfahrungen zu der Ansicht gekommen,
dass nicht alle Unfallneurosen die gleich schlechte Prognose
haben. Reine Hyste'rie mit nur lokalen Symptomen und reine
Neurasthenie können nach Bruns eher gebessert werden,
als die schweren Mischformen und die Hypochondrie bei niedri¬
ger Bildungsstufe. Besonders ungünstig sind natürlich die
querulatorischen Formen, die in echte Para¬
noia übergehen können. Sachs und Freund andererseits
betonen die ungünstige Prognose der traumatischen Hysterien
mit Lokalisation der Symptome auf die Stelle der Gewaltein¬
wirkung, halten die Herzneurosen, die Neurasthenie und die
leichten hypochondrischen Zustände für weniger hartnäckig.
Nach allem, was ich bisher gesehen habe, ist es mir zweifelhaft,
ob wir aus dem Symptomenbild irgendwelche Schlüsse auf
die Prognose ziehen dürfen. Paranoide Charaktere mit star¬
ker affektiver Erregbarkeit werden durch den Kampf um die
Rente für immer unheilbar. Chronischer Alkoholismus, in¬
tellektuelle und ethische Minderwertigkeit verschlechtern die
Prognose erheblich. Sie ist im ganzen überhaupt
schlecht. Ich kenne Fälle, die nach 15 — 18 Jahren noch
völlig unverändert sind. Diese Menschen führen ein untätiges
1*
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ _ _ No. 46.
Dasein, sind oft nur mit ihren Klagen und Missempfindungen
beschäftigt; einzelne verfallen auch dem Alkoholismus. So
oft eine erneute Untersuchung mit ihnen vorgenommen wird,
verstärken sich die Beschwerden. In etwas günstigeren Fällen
übernimmt der Mann die häusliche Arbeit, besorgt die Kinder,
während die Frau Lohnarbeit verrichtet, deren Ertrag zu¬
sammen mit der Rente des Mannes bisweilen ein ganz behag¬
liches Leben ermöglicht. Frühzeitiges Altern ist mir bei man¬
chen aufgefallen; auch sieht man oft schon bei jungen Unfall¬
hysterikern Arteriosklerose sich entwickeln, die dann ihrer¬
seits manchen bisher rein psychogenen Symptomen, wie dem
Schwindel und den Kopfschmerzen, eine organische Grundlage
verleiht.
Bei dieser im ganzen trostlosen Situation, in der sich die
Mehrzahl der Unfallnervenkranken befindet, trägt es sich nun,
was geschehen kann, um der Zunahme solcher
unglücklicher Traumatiker und dem schlech¬
ten Verlauf der Neurosen entgegenzuwirken.
Können wir auch, so lange die heutigen Gesetze gelten, helfen
und bessern oder bedürfen wir dazu erst einer Aenderung der
Unfallversicherungsgesetzgebung?
Manche der geschilderten Uebelstände sind auch ohne
Aenderung der Gesetze selbst zu beseitigen oder zu mildern.
Ein gut Teil der Prophylaxe liegt bei den Ae rz teil. Die
Aufnahme eines genauen Status sofort nach dem Unfall ist, wie
schon J o 1 1 y immer hervorhob, unbedingt erforderlich. Der
Arzt muss dem Verletzten von Anfang an richtig gegenübertreten,
alle schädlichen Suggestionen vermeiden, auf psychische Be¬
ruhigung und Hebung des Selbstvertrauens beim Kranken hin¬
wirken. Wer einem Verletzten sagt: „mit Ihnen wird es nie
mehr besser'1, oder „nach einem solchen Unfall können die
schwersten Krankheiten entstehen“ begeht als Arzt einen
Kunstfehler und schadet dem Kranken in ganz unberechenbarer
Weise. Wer ohne sicheren Beweis einem Unfallkranken gegen¬
über von Simulation spricht, handelt nicht bloss ärztlich falsch
und inhuman, sondern er zwingt den Verletzten geradezu zum
Uebertreiben und Querulieren. Gewissenhafte, aber nicht
ängstliche Untersuchung, hinreichende Vertrautheit mit den
neurologischen Untersuchungsmethoden, Kenntnis der Unfall¬
gesetzgebung und ärztliche Erfahrung berechtigen den Gut¬
achter, bei seinem Urteil über die Erwerbsfähigkeit eines Un¬
fallnervenkranken bestimmt aufzutreten; er hat es dann nicht
nötig, im Gefühl der Unsicherheit und um alle Verantwortung
los zu sein, nach dem Grundsätze „in dubio pro reo“ Vollrente
zu empfehlen. Er erweist damit dem Kranken gelbst keine
Wohltat, wenn dieser es auch vielleicht so auffasst. Auch sollte
der Arzt nie vergessen, dass es nicht seiner Würde entspricht,
auf Kosten anderer dem Kranken Wohltaten zu er¬
weisen.
Die Behandlung der Verletzten wegen ihrer traumatischen
Neurose ist, sobald einmal längere Zeit vergangen ist, eine
undankbare Sache. Die Empfehlung von Heilversuchen in
Kliniken, Wasserheilanstalten, Genesungsheimen, Nervenheil-
stätten ist in der Regel zu widerraten; es kommt meist nichts
dabei heraus und ein fehlgeschlagener Heilversuch bestärkt den
Kranken in seiner pessimistischen Auffassung seines Zustandes.
Ausnahmen gibt es natürlich auch hier und ich will nicht be¬
streiten, dass in wirklich guten Nervenheilstätten, wie im Haus
Schönow, bisweilen bei sorgfältiger Psychotherapie und gut
dosierter Arbeit erfreuliche Besserungen erzielt werden. Aber
im ganzen sind die Aussichten auch hier nicht gross. Ein
Mann, der auf diesem Gebiete über eine sehr grosse Erfahrung
verfügt, Franz Windscheid, hat, wie ich seinem Buche
entnehme, im Leipziger Unfallkrankenhaus in Stötteritz thera¬
peutisch keine reiche Ernte eingeheimst.
Weiterhin möchte ich den ärztlichen Gutachtern raten,
ihrerseits nicht auf häufige Kontrolluntersuchungen der Unfall¬
nervenkranken zu drängen. Diese Kontrollen sind oft zweck¬
los und schaden fast immer. Ich lese bisweilen in den Akten
Verletzter, deren Unfall schon viele Jahre zurückliegt, dass
ein Arzt eine Nachuntersuchung nach 4—6 Monaten empfiehlt.
Eine solche Empfehlung, die vielleicht ärztlicher Gewissen¬
haftigkeit entspringt, hat keinen Nutzen; wird ihr Folge ge¬
leistet, so kommt der Kranke nicht zur Ruhe, erhält bei neuen
Untersuchungen neue schädliche Suggestionen, wird zum
Uebertreiben seiner Klagen gedrängt, da er vermutet, dass man
eine Kürzung seiner Rente mit Nachdruck betreibe.
Kehren wir zu den Unfallgesetzen zurück. Ich halte vom
medizinischen Standpunkt eine Verbesserung nach mancher Rich¬
tung für möglich. Das Gesetz soll eine sofortige schriftliche
Fixierung des Befundes unmittelbar nach dem Unfall verlangen.
Es sollte die Behandlung und die Fürsorge von Anfang an aus¬
schliesslich in die Hände der Berufsgenossenschaften
geben, das Rentenverfahren so gestalten, dass der Verletzte
bald zur Ruhe kommt, häufige Nachuntersuchungen für un¬
gesetzlich erklären, sobald die unmittelbaren Unfallfolgen ab¬
geheilt sind und es sich nur noch um nervöse Symptome han¬
delt. Vor allem aber sollte es in weit grösserem Umfange als
bisher die einmalige Kapitalabfindung eines Un¬
fallverletzten nicht bloss zulassen, sondern für gewisse Fälle
geradezu bestimmen. In Amerika und in Dänemark, wo die
Unfallverletzten auf diese Weise abgefunden werden, gibt es,
wie mir erfahrene Nervenärzte von dort mitgeteilt haben, viel
weniger Unfallneurosen. Ich weiss sehr wohl, dass dieser Vor¬
schlag, den J o 1 1 y auf Grund seiner reichen Erfahrung ge¬
macht hat, auf viele Bedenken stösst und auch bei den Behör¬
den nicht beliebt ist. Gewiss wäre seine Ausführung sehr
schwierig, aber ich kann nach vielfachem Ueberlegen doch
nicht finden, dass er undurchführbar ist. Wohl verlaufen
manche Unfallerkrankungen in einzelnen Fällen unberechenbar
progressiv. Man würde am Termine der Kapitalabfindung
nicht immer mit Bestimmtheit sagen können, was werden wird.
Und doch glaube ich, dass diese Gefahr bei richtiger Wahl
nicht sehr gross sein würde. Andererseits ist der heutige Zu¬
stand unerträglich. Ich möchte darum folgenden Vorschlag
zur Diskussion stellen. Nach Ablauf von 3 Jahren nach dem
Tage des Unfalles steht der Berufsgenossenschaft das Recht zu,
nach Anhörung eines ärztlichen Kollegiums von mindestens
3 Aerzten, von denen 2 den Verletzten schon früher untersucht
hatten, diesen mit einmaliger Auszahlung eines bestimmten
Kapitals abzufinden, wenn nach dem einstimmigen Ausspruch
der Aerzte die Verletzungen selbst völlig geheilt sind und die
übriggebliebenen Störungen im Verlaufe der letzten 12 Monate
objektiv keine Verschlimmerung erfahren hatten.
Nehmen wir einmal ein praktisches Beispiel! Ein Maurer
fällt von einem Gerüste aus 2 m Höhe auf die Erde und trägt
eine leichte Wunde am Rücken davon. Die Wunde heilt nach
8 Tagen, hinterlässt eine belanglose Narbe. Im Laufe der
nächsten Wochen stellen sich zahlreiche nervöse Beschwerden
ein. Objektiv kann ausser Steigerung der Sehnenreflexe,
mässiger konzentrischer Gesichtsfeldeinengung, Dermographie
nichts Abnormes festgestellt werden. Im langwierigen Ren¬
tenverfahren werden ihm schliesslich 50 Proz. Rente zuge¬
billigt. Berufung und J^ekurs bleiben ohne Erfolg. Der Mann
entwickelt sich zu einem richtigen Rentenquerulanten, reagiert
auf jeden Versuch der Rentenverkürzung mit vermehrten Kla¬
gen. Objektiv bleibt der Befund stets der gleiche. Nach
2 Jahren wird ein genauer Status von dem Aerztekollegium auf¬
genommen und schriftlich niedergelegt. 12 Monate später er¬
folgt die Nachuntersuchung durch die gleichen Aerzte, falls sie
erreichbar sind. Blieb der Befund wiederum der gleiche, so
erklärt das Aerztekollegium, dass einer einmaligen Abfindung
ärztlicherseits keine Bedenken entgegenstehen, ja dass sie rat¬
sam sei. Darauf entscheidet die Berufsgenossenschaft dem¬
gemäss. Berufung ans Schiedsgericht ist möglich; dieses ent¬
scheidet in mündlicher Verhandlung endgültig.
Vielleicht Hesse sich auch noch vorsichtigerweise eine Zu¬
satzbestimmung einfügen, dahingehend, dass die einmalige Ab¬
findung nur dann stattfinden solle, wenn nach dem Ausspruch
der Aerzte die endgültige Erledigung der Rentenfrage im
gesundheitlichen Interesse des Unfallkranken selbst liege.
M. H. ! Ich erwarte nicht, dass Sie diesem Vorschlag als¬
bald grossen Beifall spenden, vielleicht stehen Sie ihm ab¬
lehnend oder wenigstens misstrauisch gegenüber. Aber viel¬
leicht regt er zu besseren Vorschlägen an. Ich verkenne auch
nicht, dass, wenn ein ähnlicher Vorschlag im Gesetz Aufnahme
fände, dem Arzte auf diesem Gebiete ein Einfluss eingeräumt
würde, von dem der Gesetzgeber bisher offenbar nichts wissen
wollte. Allein wäre dies wirklich ein unberechtigtes Ver¬
langen? Ich habe mehrere Jahre lang als Vertrauensarzt einer
13. November 1906.
MUENCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT.
2237
grossen Landesversichcrungsanstalt täglich einige Stunden mit
Begutachtung von Nervenkranken zu tun gehabt und dabei
allerlei Erfahrungen gesammelt. Die bitterste war vielleicht
die, dass ich immer wieder erleben musste, welch unwürdige
Rolle d e m Stande beschieden ist, ohne dessen mühevolle
Arbeit das Gesetz nicht erfüllt werden kann, unserem ärztlichen
Stande. Sie können in unseren Arbeiterversicherungsgesetzen
lange suchen, bis Sie auf einen Paragraphen stossen, in dem
vom Arzte die Rede ist. Das könnte und sollte anders werden.
Ich verlange nicht, dass der Arzt allgemein über Erwerbsfähig¬
keit und -Unfähigkeit rechtlich entscheide; denn dabei spielen
wirtschaftliche Fragen mit, denen er fremd oder halbfremd
gegenübersteht. Wohl aber sollte er von Rechts wegen
da mitentscheiden, wo es Fragen zu entscheiden gilt, die, wie
die Frage der Unfallneurosen, nur da eine richtige Lösung fin¬
den können, wo die Kenntnis des kranken Menschen und seiner
veränderten Psyche von Rechtswegen zu Hause ist und
zu Hause sein soll.
Aus der Kgl. chirurgischen Klinik (Prof. P. L. Friedrich)
in Greifswald
Zur Frage der aeroben Züchtung sogenannter obligat*
anaerober Bakterien.
Von Dr. P. H a r r a s s, Assistenzarzt.
Bei der bekannten Schwierigkeit und Umständlichkeit der
Kultivierung sog. obligater Anaeroben nach den bisher ge¬
bräuchlichen Methoden war zu hoffen, dass eine Vereinfachung
der Züchtungsverfahren nicht ohne günstigen Einfluss auf
unsere Kenntnisse von dieser Gruppe von Bakterien bleiben
werde, deren Bedeutung für die Medizin wir vielleicht in
ihrem vollen Umfang noch nicht übersehen. Von verschiedenen
Autoren (Ali Krogius, Friedrich etc. 0 ist zwar auf den
Anteil der Anaeroben an der die Peritonitis begleitenden
Toxinämie hingewiesen worden, aber auch hier sind die tech¬
nischen Untersuchungsschwierigkeiten ein grosses Hindernis
für Vergleichsuntersuchungen und für ein tieferes Eindringen
in die biologische Bewertung der Anaeroben.
Ein unverkennbarer Fortschritt auf diesem schwierigen
Pfade wurde neuerdings durch die Arbeiten T a r o z z i s 2) und
Wrzoseks3) angebahnt, deren Beobachtungen auch theo¬
retisch unser Interesse beanspruchen müssen.
Ich folgte daher gern einer Anregung meines Chefs (Herrn
Prof. F r i e d r i c h), die Untersuchungen dieser beiden Autoren
hinsichtlich verschiedener anaerober Bakterien einer Nach¬
prüfung zu unterziehen.
Tarozzi und unabhängig von ihm W r z o s e k war es
gelungen, eine ganze Reihe von sog. strengen Anaeroben in
völlig aerober Weise in Bouillpn zu züchten, wenn sie in diese
gleichzeitig mit dem Impfmaterial ein steril entnommenes
Organstück (Leber, Niere, Milz, Lymphdriise etc.) brachten.
Ebenfalls erhielt Tarozzi aerobes Wachstum seiner „an¬
aeroben“ Keime in Bouillon, in der ein solches Organstück vor
der Impfung mehrere Stunden gelegen hatte.
Tarozzi war damit trotzdem nicht der erste, der eine aerobe
Züchtung sog. strenger Anaerobien in Reinkulturen zu erzielen ver¬
mochte. Denn bereits 1892 war es Tizzoni und Cattani4) ge¬
glückt, Tetanusbazillen in völliger aerober Weise auf Kaninchenblut
in Reinkultur zu züchten.
v. H i b 1 e r 5) bestätigte diese Beobachtung und wies das gleiche
Verhalten für einige andere „Anaeroben“ nach. Nach seinen Angaben
ist aber das Wachstum auf Kaninchenblut nicht bei allen „Anaeroben“
ein gleich gutes; am besten gedieh ihm Tetanus, während z. B. der
Bazillus des malignen Oedems weniger üppig wuchs.
Weiter war es v. Hibler gelungen, reichliches Wachstum
„strenger Anaerobien“ in aerober Weise auf einem aus Qehirnbrei
gebildeten Nährboden zu erzielen.
Doch auch v. H i b 1 e r s sehr eingehenden Untersuchungen ist
anscheinend eine allgemeine Bekanntheit und praktische Verwertung
0 Siehe u. a. Friedrich: Zur bakteriellen Aetiologie und zur
Behandlung der diffusen Peritonitis. Verhandl. d. D. Gesellsch. f.
Chir., Berlin 1902, S. 608.
2) Tarozzi: Zentralbl. f. Bakt., Bd. 38, H. 5, p. 619.
3) Wrzosek: Wiener klin. Wochenschr. 1905, No. 48.
4) Tizzoni und Cattani: Zentralbl. f. Bakt., Bd. 11, p. 150.
r>) v. Hibler: Zentralbl. f. Bakt., Bd. 25, p. 603.
nicht zu Teil geworden. In Tarozzis und Wrzoseks Arbeiten
finden sich Tizzoni und Cattani sowie v. Hibler nicht er¬
wähnt.
In den Kreis meiner Untersuchungen zog ich den B a c.
butyricus, B a c. b o t u 1 i n u s, den Bazillus des
Rauschbrands und des malignen Oedems. Für
sie alle trafen die Beobachtungen T a r o z z i s und Wrzo¬
seks, die sie zum Teil an anderen Anaeroben gemacht hatten,
zu; in jedem Falle erhielt ich ein üppiges Wachstum.
Diese Ergebnisse sind theoretisch von prinzipieller
Wichtigkeit; muss doch — ihre Richtigkeit vorausgesetzt
der Begriff der strengen Anaerobiose
fallen, zum mindesten aber eine grosse Zahl der bisher als
obligate Anaerobier geltenden Keime <ms diesem Kreise aus-
scheiden.
In praktischer Beziehung freilich, was die Erleichterung
und Vereinfachung der Züchtungsmethode betrifft, war durch
das neue Verfahren nicht allzu viel gewonnen. Denn die sterile
Entnahme der Organe aus dem Tierleichnam, die Notwendig¬
keit, die mit den Organen beschickten Bouillonröhrchen einer
probatorischen Bebrütung zum Zwecke der Feststellung ihrer
Sterilität auszusetzen, die dabei sich herausstellende Ge¬
brauchsunfähigkeit manches Röhrchens wegen Verunreinigung,
das alles waren lästige Beigaben. Unangenehmer noch er¬
schien die Unmöglichkeit, sich einen jederzeit gebrauchsfertigen
Nährboden vorrätig zu halten; denn nach T a r o z z i s Angabe
werden in der vorgeschriebenen Weise beschickte Röhrchen
oft schon nach 10 — 14 tägigem Stehen zur Züchtung der „An¬
aeroben“ ungeeignet.
Mein Bestreben ging daher dahin, einen Nährboden
ausfindig zu machen, der einfach herzustel¬
len ist, dessen Bereitung ohne Voraussetzung
grosser Uebung und Sachkenntnis möglich
ist, und der vor allem jederzeit gebrauchs¬
fertig vorrätig zu halten ist.
Hierbei kam mir zu gute, dass ich zu Beginn meiner
Untersuchungen Tarozzis Arbeit nur aus einem Referate
kannte, daher nicht wusste, dass ihm die Züchtung von „An¬
aeroben“ in „Organbouillon“ gewöhnlich nicht gelang, wenn
er diese vor der Impfung im Autoklaven bis 110°, oder bei
104—106° 5 Minuten oder länger sterilisierte.
Ich verfuhr daher so, dass ich ein dem Tierleichnam ohne
aseptische Kautelen entnommenes parenchymatöses Organ¬
stück in ein steriles Bouillonröhrchen brachte und dieses in
strömendem Dampfe bei 100° VA — 2 Stunden erhitzte. Dann
impfte ich und erhielt stets reichliches Wachstum. Brachte
ich das Organstück statt in Bouillon in ein Röhrchen mit ge¬
wöhnlichem Leitungswasser und sterilisierte dann in der be¬
schriebenen Weise, so erhielt ich nach entsprechender Impfung
gleich gutes Wachstum, wie in Bouillon. Zu diesen Versuchen
verwandte ich meist Leber von weissen Mäusen, weissen
Ratten oder Meerschweinchen. Ein Versuch, Gehirn anstelle
der Leber zu verwenden, brachte mir gleichen Erfolg.
Die Beobachtung, dass die Sterilisierung im strömenden
Dampf bei 100° die Tauglichkeit des Nährbodens zur An-
aerobenziiehtung durchaus nicht beeinträchtigt, steht in einem
gewissen Gegensatz zu der oben erwähnten Angabe Taroz¬
zis; ich weiss nicht, worauf diese Differenz der Ergebnisse
beruht. Möglich, dass das Erhitzen über 100 ° die Schuld
daran trägt, möglich auch, dass die Pseudotetanusbazillen aus
dem Hundedarm, mit denen hauptsächlich Tarozzi arbe