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Full text of "Nachgelassene Briefe und Schriften"

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^nefe  und 

3chvifteth 

Stfter  Band 


BRIEFE 

VON  UND  AN  LASSALLE 

BIS  1848 


L^4-Co4-M 


FERDINAND  LASSALLE 

NACHGELASSENE  BRIEFE  UND  SCHRIFTEN 


HERAUSGEGEBEN  VON 

GUSTAV  MAYER 


ERSTER  BAND 


1.9-2.1 

DEUTSCHE  VERLAGS  -ANSTALT,  STUTTGART-  BERLIN 
VERLAGSBUCHHANDLUNG  JULIUS  SPRINGER,  BERLIN 


BRIEFE 

VON  UND  AN  LASSALLE  BIS  184Ö 


HERAUSGEGEBEN  VON 

GUSTAV  MAYER 


1.9-2.1  \' 

DEUTSCHE  VERLAGS-ANSTALT,  STUTTGART- BERLIN 
VERLAGSBUCHHANDLUNG  JULIUS  SPRINGER,  BERLIN 


♦ 

Aüe  Redjte  vorbchahen 

♦ 

Copyright  »92t 

by  Deutsdie  Verlags  ^Anstalf,  StuOgart 

♦ 


Printeo 


-■•-vio''"V 


Vorwort 


Als  in  mir  vor  nahezu  drei  Jahrzehnten  der  Entschluß  keimte, 
^  diesen  Nachlaß  aufzuspüren,  da  gab  es  noch  keine  ordent- 
liche Biographie  Lassalles,  mein  Wunsch  aber  war,  sie  zu  schreiben. 
Heute  besitzen  wir  Hermann  Oncken's  schönes  Werk,  und  ob- 
gleich das  Material  erst  jetzt  vollständig  sich  erschließt,  schiene 
es  mir  ein  überflüssiges  Beginnen,  die  ganze  Arbeit  aufs  neue 
in  Angriff  zu  nehmen.  Mich  wenigstens  würde  diese  Aufgabe 
jetzt  nicht  mehr  locken,  auch  wenn  ich  frei  wäre,  an  sie  heran- 
zutreten, wenn  nicht  andere  angefangene  Arbeiten  die  Pflicht 
mir  auferlegten,  erst  sie  zum  Abschluß  iai  bringen.  Doch  nicht 
bloß  vom  Biographen,  ebenso  vom  Herausgeber  ist  zu  fordern, 
daß  er  mit  dem  Geist  gründlich  vertraut  sei,  dessen  lebendige 
Spuren  er  auszugraben  unternimmt.  Mit  Lassalle  beschäftige  ich 
mich  seit  meiner  Studentenzeit,  und  als  ich  später  die  Geschichte 
des  in  seinem  Zeichen  stehenden  Abschnitts  der  deutschen  Arbeiter- 
bewegung schrieb,  mußte  ich  alle  auf  seine  Person  bezügüchen 
Quellen,  soweit  sie  damals  erreichbar  waren,  durchforschen. 

Darf  ich  mich  so  für  einigermaßen  vorbereitet  halten,  die 
Herausgabe  dieses  Nachlasses  zu  übernehmen,  so  traten  mir  doch 
auch  Schwierigkeiten  entgegen,  mit  denen  es  fertig  zu  werden 
galt.  Lassalles  schriftlicher  Nachlaß  ist  zu  umfangreich,  als  daß 
daran  gedacht  werden  konnte,  ihn  vollständig  zu  veröffentlichen. 
Vie^e  ganze  Stücke ,  aber  auch  einzelne  Abschnitte  und  Absätze 
mußten  ausscheiden,  und  dennoch  in  der  Publikation  alles  Platz 
finden,  was  irgend  geeignet  schien,  das  stürmische  Leben  des 
Volks tribunen,  die  Zeit,  in  die  es  fiel,  die  Bewegung,  der  es  angehörte, 
in  volleres  Licht  zu  rücken.  Besonders  durfte  nichts  fortbleiben, 
was  zu  einem  reicheren  und  tieferen  Verständnis  der  geschlossenen 
und  dabei  doch  so  komplizierten  Persönlichkeit  Lassalles  bei- 
tragen konnte.  Auch  auf  Menschen,  die  in  seinem  Leben  eine 
bedeutendere  Rolle  spielten,  war  das  Augenmerk  zu  richten,  und 


=■=  VI  =- 

auf  Mitteilungen,  die  in  charakteristischer  Weise  in  die  Zeit- 
verhältnisse hineinleuchteten,  acht  zu  geben.  Im  Nachlaß  Lassalles 
fanden  sich  nicht  bloß  Briefe,  die  an  ihn  gerichtet  waren,  sondern 
auch  überaus  zahlreiche  Briefe  von  ihm  selbst.  Viele  davon  lagen 
freilich  nur  in  Konzepten  vor,  und  diese  boten  der  Entzifferung 
nicht  unerhebliche  Schwierigkeiten,  weil  sie  zumeist  von  einer 
stark  abkürzenden,  flüchtigen  und  an  Siegeln  reichen  Handschrift 
zu  Papier  gebracht  waren.  Der  Leser  erhält  überall  Kenntnis,  wo 
Worte,  denen  Sinn  und  Wert  zukam,  nicht  mit  eindeutiger  Sicher- 
heit gelesen  werden  konnten.  Für  Orthographie  und  Interpunktion 
wurden  die  Gesichtspunkte  befolgt,  die  bei  der  Pubhkation  mo- 
derner historischer  Dokumente  neuerdings  allgemein  Anerkennung 
gefunden  haben,  Auslassungen  wurden  überall  kenntlich  ge- 
macht. Lassalle  hat  seinen  Namen  erst  nach  seiner  ersten  Pariser 
Reise  französiert.  Dennoch  trug  ich  kein  Bedenken,  in  den  Über- 
schriften und  Anmerkungen  ihm  von  vornherein  den  Namen  zu 
geben,  unter  dem  er  in  der  Geschichte  fortlebt. 

Einem  Herausgeber  geziemt  Zurückhaltung.  Nicht  jeder  hat 
es  gern,  daß  ihm  menschliche  Dokumente,  die  er  zum  erstenmal 
kennen  lernt,  sofort  erklärt  und  ausgedeutet  werden.  Gerade  der 
feiner  Besaitete  empfindet  Beflissenheit  leicht  als  Aufdringlich- 
keit. Lieber  verweilt  er  erst  einmal  stumm  vor  dem  Bilde  und 
läßt  es  allein  für  sich  sprechen.  Es  empfahl  sich  also,  die  wissen- 
schaftliche Ausmünzung  des  reichen  Materials,  das  diese  Bände 
erschließen,  nicht  gleich  hier  vorzunehmen. 

Wofür  aber  jeder  Leser  dankbar  sein  wird,  das  sind  tatsäch- 
liche Mitteilungen,  die  er  nicht  immer  selbst  bereit  haben  kann 
und  die  ihm  dennoch  den  Sinn  des  Gebotenen  erst  voll  verständlich 
machen  werden.  Ebenso  erwünscht  dürfte  es  manchem  sein, 
wenigstens  in  Kürze  auf  jene  Punkte  der  Biographie  hingewiesen 
zu  werden,  über  die  die  Briefe  und  Schriftstücke,  die  er  hier  hest, 
neue  Aufklärung  verbreiten. 

Freude  macht  es  mir.  Dank  auszusprechen.  An  erster  Stelle 
gebülirt  er  dem  Herrn  Fürsten  Hermann  von  Hatzfeldt-Wilden- 
burg.  Mit  feinfühligem  Verständnis  hat  er  die  Pflichten  begriffen, 
die  ihm  der  Besitz  eines  so  eminent  politischen  Nachlasses  auf- 
erlegte, persönliche  Bedenken  beiseitegestellt,  um  diese  wissen- 
schaftliche Publikation  zu  ermöglichen.    Warmen  Dank  schulde 


=    VII    ============: 

ich  Herrn  Archivdirektor  Professor  Dr.  H.  Wendt  in  Breslau, 
der  für  die  Zwecke  dieser  Veröffentlichung  voll  Eifer  allen  Spuren 
nachging,  die  sich  von  Lassalles  Leben  in  seiner  Heimatstadt 
Breslau  noch  auffinden  ließen,  und  wertvollen  Ertrag  zutage 
förderte.  Herr  Archivdirektor  Dr.  Joseph  Hansen  in  Köln  half 
mit  einer  Bereitwilligkeit,  die  ich  hier  nicht  zum  erstenmal  er- 
probte, einige  rheinische  Persönlichkeiten,  die  in  den  Briefen  er- 
wähnt werden,  zu  identifizieren.  Endlich  möchte  ich  auch  die 
emsige  und  geduldige  Mitarbeit  nicht  verschweigen,  die  mir  bei 
der  Entzifferung  der  Briefkonzepte  Lassalles  und  bei  dem  Ver- 
gleich der  Texte  meine  Frau  und  Fräulein  Hedwig  Engelhorn 
aus  Straßburg  im  Elsaß  leisteten. 

Die  ganze  Pubhkation  ist  auf  fünf  Bände  berechnet.  Daß  es 
sich  keineswegs  bloß  um  eine  dürftige  Nachlese  handelt,  beweist 
gleich  dieser  erste  Band.  Hier  zuerst  erhalten  wir  abgesehen 
von  allem  andern  ausreichende  Aufklärung  über  das  biographisch 
wichtigste  Problem  in  Lassalles  Leben,  auf  die  Frage  nämlich, 
wie  er  zum  Soziahsmus  gelangte. 

Berlin -Lankwitz,  im  November  1920. 

Gustav  Mayer. 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

Zur  Geschichte  des  Nachlasses ^ 

Zur  Einführung  in  den  ersten  Band i7 

1.  Lassalle  an  den  Vater.     21.  Juni  1840 45 

2.  Isidor  Gerstenberg  an  Lassalle.     20.  September  1840 46 

3.  Lassalle  an  die  Eltern.     8.  Januar  1841 47 

4.  Lassalle  an  den  Vater.     3.  April  1841 4» 

5.  Lassalle  an  den  Vater 5^ 

6.  Lassalle  an  den  Vater.     20.  Mai  1841 5^ 

7.  Aus  dem  Tagebuch  des  Handelsschülers.     Um  Pfingsten  1 841  ...    .  54 

8.  Aus  dem  Tagebuch  des  Handelsschülers.     Sommer  1841 57 

Q.  Lassalle  an  den  Kultusminister  J.  A.  F.  Eichhorn.     31.  März  1842  .    .  63 

IG.  Lassalle  an  den  Kultusminister  J.  A.  F.  Eichhorn.     31.  März  1842  .    .  67 

11.  Kultusminister  Eichhorn  an  Lassalle.     24.  August  1842 70 

12.  Eingabe  Lassalles  und  anderer  Studenten  an  den  akademischen  Senat 

der  Universität  Breslau  1843 7^ 

13.  Lassalle  an  Theodor  Creizenach.     1843    . 72 

14 — 16.  Liebesbriefe  an  Unbekannte 76 

17.  Lassalle  an  den  Vater.     Frühling  1844 ^3 

18.  Lassalle  an  den  Vater.     13.  Mai  1844      85 

19.  LassaUe  an  den  Vater.     17.  Mai  1844 9i 

20.  Lassalle  an  den  Vater.     21.  Mai  1844 93 

21.  Lassalle  an  den  Vater.     12.  Juni   1844 99 

22.  Lassalle  an  die  Mutter.     30.  Juli  1844 106 

23.  Lassalle  an  den  Vater.     6.  September  1844 114 

24 — 27.  Lassalle  an  Lonni  Grodzka.     Winter  1844 — 1845 ^3^ 

28.  Dr.  Arnold  Mendelssohn  an  den  Bankier  Joseph  Mendelssohn.    Anfang 

Januar  1845 i53 

29.  Arnold  Mendelssohn  au  Lassalle.     6.  April  1845 158 

30.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     14.  Mai  1845 160 

31.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     16.  Mai  1845 161 

32.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     28.  Mai  1845 162 

33.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     5.  Juni  1845 ^"^3 

34.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.      13.  Juni  1845 ^^4 

35.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     21.  Juni  1845 164 

36.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.      i.  JiUi  1845 '^5 

37.  Alexander  Oppenheim  an  Lassalle.     Anfang  Juli  184S ^^^ 

38.  Arnold  Mendelssohn  au  Lassalle.      10.  Juli  1845 ^^ 

39.  Alexander  Oppenheim  an  Lassalle.     10.  Juli  1845 '^7 


^—  IX  = 

Seite 

40.  Lassalle  an  Baron  Hubert  von  Stücker.     Juli   1845 .  r68 

41.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.      13.  Juli   1845 .  189 

42.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     August   1845 190 

43.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     26.  August  1845 .  igi 

44.  Lassalle  an  den  Bankier  Joseph  Mendelssohn.     August  1845     •    .    .    ;  192 

45.  Lassalle  an  den  Bankier  Joseph  Mendelssohn.    Anfang  September  184S  '94 

46.  Lassalle    an   das    Bankhaus   Mendelssohn  &  Co.      1 1 .  September  1845  196 

47.  Lassalle  an  den  Bankier  Joseph  Mendelssohn.     Sommer   1845   ....  2öi 

48.  Lassalle  an  das  Bankhaus  Mendelssohn  &  Co.      19.  September  1845     .  202 

49.  Lassalle  an  den  Bankier  Joseph  Mendelssohn.     2.  Oktober  1845  •    •    .  204 

50.  Lassalle  an  den  Bankier  Joseph  Mendelssohn.     5.  Oktober  1845  •    •    •  205 
■51.  Lassalle  an  den  Bankier  Joseph  Mendelssohn.     Oktober  1845  ....  206 

52.  Freiherr  Hubert  von  Stücker  an  Lassalle.     6.  September  1845      •    •    •  209 

53.  Lassalle  an  Freiherr  Hubert  von  Stück  er.     6.  September  1845      ...  210 

54.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.      11.  September  1845 213 

55.  Lassalle   an   Arnold   Mendelssohn,    Alexander  Oppenheim   und   Albert 

Lehfeldt.     September  1845 213 

56.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.      18.  September  1845     .......  231 

57.  Alexander  Oppenheim  an  Lassalle.      19.  September  1845 233 

58.  Albert  Lehfeldt  an  Lassalle.      19.  September   1845 234 

59.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     22.  September  1845 236 

60.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     26.  September  1845 238 

61.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     8.  Oktober  1845 238 

62.  Lassalle  an  einen  Unbekannten.     Oktober   1845 239 

63.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.      17.  Oktober  1845 240 

64.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     29.  Oktober   1845 240 

6$.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     4.  November   1845 242 

66.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     12.  November  1845 244 

67.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.      18.  November  1845 245 

68.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     24.  November  1845 245 

69.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     30.  November   1845 246 

70.  Lassalle  an  Wilhelm  Lehfeldt.     Ende  November  1845 248 

71.  Fürst  Pückler-Muskau  an  Lassalle.     29.  Januar  1846 253 

72.  Lassalle  an  Fürst  Pückler-Muskau.     Ende  Januar  1846      254 

73.  Lassalle  an  Fürst  Pückler-Muskau.     Ende  Januar  1846 256 

74.  Lassalle  an  Alexander  von  Humboldt.     Ende  Januar  1846 258 

75.  Alexander   von    Humboldt   an   Lassalle.      Ende  Januar   oder   Anfang 

Februar  1846 259 

76.  Lassalle   an  Alexander   von    Humboldt.     Ende  Januar   oder  Anfang 

Februar  1846 259 

??.  Alexander  von  Humboldt  an  Lassalle.     Februar  1846 260 

78.  Lassalle  an  Generalleutnant  Graf  A.  L.  F. von  Nostitz.  1 5.  September  1846  261 

79.  GeneralleutnantGrafA.L.  F.  von  Nostitz  an  Lassalle.  20.  Septembar  1846  261 

80.  Lassalle  an  Generalleutnant  Graf  A.  L.  F.  von  Nostitz.      Ende   Sep- 

tember 1846 262 

81.  Generalleutnant  Graf  A.L-  F.  von  Nostitz  an  Lassalle.     13.  Oktober  1846  264 


—  X      =:.. — ^==:r-— 

Seite 

82.  Lassalle  an  Generalleutnant   Graf  A.L.  F.   von  Nostitz.      Ende  Sep- 

tember  1846 265 

83.  LassaJle  an  Arnold  Mendelssohn.     28.  September   1Ö46 267 

84.  Lassalle  an  Heinrich  Heine.     Anfang  Oktober  1846 26(> 

85.  Lassalle  an  Arnold  Mendelssohn.     Oktober  1846 275 

86.  Heyman  Lassa!  an  den  Sohn.      13.  Oktober  1846 277 

87.  Lassalle  an  Alexander  von  Humboldt.     25.  Oktober  1846 27& 

88.  Alexander  von  Humboldt  au  Lassalle.     31.  Oktober  1846 281 

89.  La.ssalle  an  Heinrich  Heine.     November  1846 281 

90.  Lassalle  an  Arnold  Mendelssohn.     November  1846 285 

91.  Lassalle  an  Arnold  Mendelssohn  und  an  Karl  Grün.  Mitte  Novemben846  287 

92.  Lassalle  an  den  Vater.     Ende   1846 2ga 

93.  Lassalle  an  den  Vater.     Dezember  1846 291 

94.  Heyman  Lassal  an  den  vSohn.     21.  Dezember  1846 296 

95.  Lassalle  an  den  Vater.     31.  Dezember  1846 300 

96.  Lassalle  an  den  Vater.     6.  Januar  1847 3*^5 

97.  Lassalle  an  Arnold  Mendelssohn.     Februar   1847 3°9 

98.  Lassalle  an  Arnold  Mendelssohn.     März  1847 3'° 

99.  Lassalle  au  den  Vater  und  die  Gräfin  Hatzfeldt.      11.  April  1847   •    •  3^3 

100.  Lassalle  an  Arnold  Mendelssohn.     Mai  1847 317 

loi.  Carl  Grün  an  Lassalle.      11.  Mai  1S47 318- 

102.  Arnold  Mendelssohn  an  Lassalle.     21.  Mai  1847 321 

103.  Carl  Grün  an  Lassalle.     25.  Mai  1847 324 

104.  Lassalle  au  Arnold  Mendelssohn.     Anfang  Juni   1847 326 

105.  Lassalle  an  Arnold  Mendelssohu.     Juni  1847 328 

106.  Arnold  Mendelssohn  an  die     Gräfin  Hatzfeldt.     8.  Juli   1847    ....  329^ 

107.  Lassalle  an  Arnold  Mendelssohn.     8.  oder  9.  Juli  1847 336 

108.  Arnold  MendeLssohu  an  Lassalle.     Oktober  1847 337 

109.  Lassalle  an  Graf  Gemens  von  Westphalen.      16.  Dezember  1847     .    .  338 
iio.  Lassalle  an  Graf  Clemens  von  Westphalen.      i.  Januar  1848    ....  345 

111.  Graf  Clemens  von  Westphalen  an  Lassalle.     Sommer  1848 353 

112.  Lassalle  an  den  Vater.     Sommer  1848 355 

113.  Lassalle  an  Alexander  Weill.     20.  Juü  1846 357^ 


Zur  Geschichte  des  Nachlasses 


Wir  können  diesen  literarischen  Nachlaß  der  ÖffentHchkeit  nicht 
übergeben,  ohne  der  wechselvollen  Schicksale  zu  gedenken, 
denen  er  unterworfen  war.  Wie  konnte  es  geschehen,  daß  diese  zuerst 
hitzig  umstrittenen  Papiere  am  Ende  fast  in  Vergessenheit  gerieten  oder 
wenigstens  so  verschollen,  daß  nicht  einer  der  zahlreichen  Autoren, 
die  Lassalles  Leben  imd  Entwicklung  darstellten,  den  Weg  zu  dieser 
reichen  Quelle  fand?  Und  wie  erklärt  es  sich,  ungeachtet  der  nicht 
mehr  erwarteten  Fülle  wertvollsten  historischen  Materials,  welches  sich 
hier  erschheßt,  daß  sich  dennoch  das  eine  oder  andere  Stück,  auf  das 
wir  gespannt  sein  durften,  nicht  mehr  an  seinem  Platze  fand? 

Bevor  ihn  bei  jenem  Pistolenduell  im  Gehölz  von  Carouge,  das  er 
selbst  provoziert  hatte,  die  Kugel  traf,  die  ihn  auf  den  Tod  verwundet 
niederstreckte,  hatte  Lassalle  auf  dem  Gericht  in  Genf  ein  selbstge- 
schriebenes Testament  hinterlegt;  der  Historiker  des  römischen  Erb- 
rechts war  sich  natürhch  bewußt,  daß  dies  nach  dem  in  dem  Kanton 
geltenden  Code  Napoleon  durchaus  gestattet  war.  Das  Testament  ist 
seither  oft  gedruckt  worden  imd  sein  Inhalt  ist  allgemein  bekannt.  Uns 
kümmert  hier  nicht,  was  der  Testator  darin  über  seinen  Besitz  an 
materiellen  Werten  verfügte,  welche  Legate  er  austeilte,  selbst  nicht, 
was  er  über  seine  kostbare  Bibliothek  bestimmte.  Wichtig  darf  uns 
nur  jener  Passus  sein,  der  die  Verfügung  über  seine  hinterlassenen 
Papiere  enthält.  Seine  ,, sämtlichen  Briefschaften  und  Papiere"  ver- 
machte Lassalle  der  Gräfin  Sophie  Hatzfeldt.  ,,Die  gelehrten  vmd  schrift- 
stellerischen Aufsätze  vmd  Notizen  imter  diesen"  sollte  sie  an  Lothar 
Bucher  ,,ausliefern",  dem  auch  das  Eigentum  an  sämtHchen  schrift- 
stellerischen imd  gelehrten  Werken  des  Erblassers  zugesprochen  wurde. 

Eigenthch  konnte  der  Sinn  dieser  Bestimmungen  nicht  zweifelhaft 
sein.  Mit  klaren,  er  durfte  wähnen,  nicht  mißzudeutenden  Worten 
spricht  Lassalle  aus,  daß  er  die  Gräfin  Sophie  Hatzfeldt,  seine  Lebens- 
freimdin  imd  nächste  Vertraute,  mit  der  Ordnung  seines  schriftlichen 
Nachlasses  beauftragte,  daß  er  ihr  den  Besitz  und  damit  die  erste 
Verfügung  über  diese  Papiere  zusprach.  Nur  dasjenige  sollte  sie  Lothar 
Bucher  aushändigen,  was  dieser  mit  größerer  Fachkenntnis  und  Sach- 
kunde beurteilen  konnte:  das  gelehrte  und  schriftstellerische  Material, 

Maver    Lassalle-Nachlass.     I  I 


ausgearbeitetes  sowohl  wie  Fragmente  und  Zettel.  Doch  hat  einmal 
der  Mensch  die  Augen  geschlossen,  und  war  er  selbst,  wie  in  unserem 
Fall,  einer  der  stärksten  Willensakkumulatoren,  die  die  moderne  Ge- 
schichte kennt,  so  mag  sein  geschriebenes  Wort  noch  so  klar  auf  dem 
Papiere  stehen,  unter  eigenwilligen  Umständen  wird  es  doch  zum  Spiel- 
ball des  vielgestaltigen,  proteusartigen  Lebens  mit  seinen  willkürlichen 
Wechselfällen  und  nie  vorauszusehenden  Überraschungen.  Solchem 
Schicksal  fiel  jetzt  auch  der  Nachlaß  des  Mannes  anheim,  dem  sich 
in  tiefschürfenden  Untersuchungen  das  Testament  als  ,,die  Fortpflan- 
zung und  Unsterblichkeit  des  subjektiven  Willens"  enthüllt  hatte. 

In  wiederholten  Telegrammen  *)  mußte  erst  die  Gräfin,  die  nicht 
von  dem  Lager  des  vSterbenden  wich,  auf  die  Schwere  der  Verwundung 
hinweisen,  bevor  die  Mutter  imd  die  Schwester  Lassalles  sich  ent- 
schlossen, nach  Genf  abzureisen.  Als  sie  hier  am  Nachmittag  des 
I.  September  eintrafen,  hatte  der  große  Agitator  bereits  seinen  letzten 
Atemzug  getan.  Die  Gräfin  behauptet  imd  eidesstattliche  Versiche- 
rungen Georg  und  Emma  Herweghs  mid  Wilhelm  Rüstows,  des  Sekun- 
danten Lassalles,  die  im  Original  vorliegen,  bestätigen,  auch  spricht 
alle  Wahrscheinhchkeit  dafür,  daß  die  beiden  Frauen  hier  in  Genf  von 
Lassalles  Testament  erfuhren  und  daß  sie  ausdrücklich  und  wiederholt 
aufgefordert  wurden,  von  Inhalt  und  Gestalt  Kenntnis  zu  nehmen, 
von  der  Echtheit  sich  zu  überzeugen.  Weshalb  sie  solches  unterließen, 
bleibe  dahingestellt.  Nach  Breslau  zurückgekehrt,  gab  die  unselbständige 
alte  Frau  Rosalie  Lassal,  vermutlich  unter  dem  Einfluß  ihres  Schwieger- 
sohnes Ferdinand  Friedland,  eine  eidesstattliche  Erklärung  ab,  daß  ihr 
nähere  oder  gleich  nahe  Verwandte  ihres  ,,am  31.  August  zu  Genf  ohne 
Hinterlassung  eines  Testamentes  verstorbenen,  in  Berlin  ansässig 
gewesenen  Sohnes  Ferdinand  Lassalle  nicht  bekannt  seien".  Diese  Ver- 
sicherung aber  verschaffte  ihr  ohne  weiteres  die  Autorisation,  sich  in 
den  Besitz  der  Erbschaft  zu  setzen.  Sie  bezog  mm  also  die  Berliner 
Wohnung  des  Verstorbenen,  ließ  sämtliche  dort  befindliche  Schreib- 
tische durch  den  Schlosser  öffnen  und  bemächtigte  sich  der  darin  be- 
findlichen Papiere,  von  denen  viele  nach  außerhalb  fortgeschafift  wurden. 
Die  Gräfin  Hatzfeldt  behauptet  wohl  zu  Recht,  dies  sei  geschehen,  obwohl 
Frau  Lassal  genau  gewußt  habe,  daß  ihr  Sohn  seine  Papiere  ihr  ver- 
macht und  daß  von  ihm  als  Testamentsvollstrecker  der  Assessor  a.  D. 
Lothar  Bucher  und  der  Rechtsanwalt  Aurel  Holthoff  bestellt  waren. 


^)  Für  die  Gründe  der  Verzögerung  vgl.  ,, Nordstern",  29.  Oktober  1864: 
Nachrichten  über  die  Mutter  Ferdinand  Lassalles.  Danach  hätte  die  Schuld  bei 
F.  Friedland  gelegen.  Der  Wortlaut  der  Telegramme  und  der  Antworten  ist  ab- 
gedruckt im  ,, Nordstern"  vom  19.  November:  Erwiderung  auf  die  sogenannten 
„Nachrichten  über  die  Mutter  Ferdinand  Lassalles". 


Eben  noch  hatte  der  häßliche  Streit  um  Lassalles  Leiche,  von  dem  wir 
hier  schweigen  dürfen,  das  leidenschaftHche  Temperament  der  viel- 
geprüften Frau  aufs  stärkste  entflammt.  Nim  wurde  dem  Pietätsgefühl 
der  treuesten  Freundin  I^assalles  von  neuem  eine  tiefe  Wunde  geschlagen. 
Denn  mit  der  Vollmacht  der  Mutter  versehen,  betrat  diese  Räume, 
die  ihr  ein  Heiligtum  waren,  als  der  erste,  gebärde te  sich  hier  als 
Herr  und  durchwühlte  die  verborgensten  Briefschaften,  ein  Mann, 
gegen  den  der  Verstorbene  bis  zuletzt  tödlichen  Haß  empfimden 
hatte. 

Zu  weit  führte  es,  sollte  hier  ausführlich  erzählt  werden,  warum  sich 
bei  Lassalle  gegen  den  Ritter  von  Friedland,  der  in  Wahrheit  ein  In- 
dustrieritter war,  so  imfreundliche  Empfindungen  festgesetzt  hatten. 
Heinrich  Heine,  der,  ein  König  im  Exil,  diesen  Menschen  als  seinen 
, .Leibspion",  Hofjuden  und  Hofnarren  verwandte,  schildert  in  einem 
Brief  an  seinen  Bruder  Gustav  vom  21.  Januar  1851  ,,Calmonius"  —  so 
nannte  er  ihn  nach  dem  Hof  Juden  Friedrichs  des  Großen  fast  immer  — 
als  ein  ,, ausgezeichnetes  Spitzbubengenie".  Ein  , .Mensch  ganz  ohne 
Kenntnisse"  tmd  „ohne  Vernimft"  begriffe  dieser  doch  die  heterogensten 
Verhältnisse  instinktartig  und  besäße  eine  Kombinationsgabe,  die  ihn 
zu  einem  bedeutenden  Menschen  machen  würde,  wenn  er  nicht  dabei 
das  Unglück  hätte,  auch  der  größte  Lügner  zu  sein  tmd  sich  selbst  noch 
mehr  als  andere  zu  belügen."  ^)  Dem  Dichter  galt  Friedland  als  ein 
Original,  das  ihm  immer  wieder  ein  „amüsantes  Rätsel"  war  tmd  dessen 
Besuche  er  sich  schon  deswegen  gefallen  ließ,  weil  er  für  seine  Frau, 
Lassalles  schöne  Schwester,  eine  besondere  Zuneigung  hegte.  Solche 
künstlerische  Duldsamkeit  und  Neugierde,  die  den  Dichter  zu  dem 
Abenteurer  hinzog,  war  einem  Menschen  wie  Lassalle  fremd.  Er  fand 
sich  in  mannigfachen  geschäftlichen  Angelegenheiten,  die  ihn  mit  dem 
Schwager  verbanden,  immer  wieder  von  diesem  betrogen.  Wie  er  am 
Ende  seines  Lebens  über  Friedland  dachte,  bezeugt  ein  temperament- 
voller Brief  an  diesen  vom  16.  November  1862,  in  dem  er  ihn  einen 
Parasiten  tmd  eine  Hyäne,  die  Leichen  tmd  Gräber  bestiehlt,  nennt. 
In  einem  anderen  Brief  vom  3.  Mai  1864  bittet  er  den  Breslauer  Rechts- 
anwalt Szarbinowski,  so  viele  Prozesse  wie  möglich  gegen  den  „Schurken" 
anzustrengen  und  die  ,, Kanaille  an  den  Galgen"  zu  schlagen.  , .Er- 
würgen Sie  ihn  in  einem  Prozeßnetz  von  eisernen  Maschen,  ich  werde 
zeitlebens  Ihr  dankbarster  Schuldner  sein  und  Ihnen  niemals  genug 
vergelten  können  .  .  .  Ich  werde  kein  Opfer  scheuen,  meine  Ansprüche 

^)  Heine-Reliquien.  Neue  Briefe  und  Aufsätze  Heinrich  Heines.  Heraus- 
gegeben von  Maximilian  Preiherrn  von  Heine-Geldern  und  Gustav  Karpeles. 
Berlin  191 1,  S.  64  ff.  Vgl.  dort  auch  S.  154  ff.  Heines  Brief  an  Friedland  vom 
14.  August  1846  und  S.  316  flf.,  die  Briefe  Mathilde  Heines  an  Friedland. 


an  Friedland  durchzufechten  imd  Rache  an  diesem  Schurken  zu  nehmen, 
als  das  meiner  Zeit ..." 

Der  pietätlosen  Willkür  der  Familie  rasch  ein  Ziel  zu  setzen,  wurde 
die  Pflicht  der  Testamentsvollstrecker.  Wirklich  ergriffen  sie  schleunige 
Maßregeln.  Es  lag  nicht  bloß  im  Interesse  der  Gräfin  Hatzfeldt,  sondern 
in  dem  aller  Legatare,  zu  denen  auch  Bucher  und  Holthoff  gehörten, 
daß  die  preußischen  Gerichte  Lassalles  in  der  Schweiz  ausgestelltes 
und  niedergelegtes  Testament  für  gültig  anerkannten.  So  beantragte 
und  erwirkte  nunmehr  Rechtsanwalt  Holthoff,  gestützt  auf  eine  in 
Genf  legalisierte  Abschrift  desselben,  bei  dem  Berliner  Stadtgericht  die 
Arrestienmg  des  Nachlasses.  Man  wird  niemals  mit  Sicherheit  fest- 
stellen können,  wieviel  und  was  von  Lassalles  Papieren  Ferdinand  Fried- 
land oder  sein  Schwiegersohn,  der  Kammerherr  von  Türk  aus  Meiningen, 
als  dieser  Arrest  erging,  bereits  fortgeschafft  hatten.  Zu  der  Anlegimg 
der  Siegel  hatte  sich  in  der  Wohntmg  die  Gräfin  Hatzfeldt  eingefvmden, 
während  die  Testamentsvollstrecker  nicht  zugegen  waren.  Hierbei  be- 
hauptet sie  in  einer  späteren  Eingabe  an  den  Oberstaatsanwalt  am 
Kammergericht  (vom  31.  Juli  1866),  von  Herrn  von  Türk  gehört  zu  haben, 
daß  „ein  großer  Teil  der  Effekten  und  Papiere  Ferdinand  Lassalles  schon 
ins  Ausland  versendet  waren".  Auch  die  Kisten,  die  bei  der  Siegelung 
sich  noch  zur  Stelle  befanden,  hätten  bereits  Adressen  nach  Wien, 
Breslau  und  Meiningen  getragen.  Der  größte  Teil  des  schriftlichen  Nach- 
lasses ist,  wie  wir  sehen  werden,  später  in  die  Hände  der  Exekutoren 
zurückgekehrt  und  das  meiste  davon,  Lassalles  Verfügung  gemäß,  der 
Gräfin  übergeben  worden.  Da  bündige  Angaben  fehlen,  so  bleiben  nur 
Vermutungen  gestattet  über  das,  was  Lassalles  Verwandte  entfernt 
haben  könnten.  In  erster  Reihe  Heße  sich  an  solche  Papiere  denken, 
die  von  der  sehr  unglücklichen  Ehe  der  Friedland,  in  der  Lassalle  ver- 
schiedene Male  vermittelt  hatte  und  die  später  ganz  gelöst  wurde, 
Zeugnis  ablegten.  Mit  dem  Verlust  dieser  Dokumente  könnte  sich  die 
Forschimg  zur  Not  abfinden.  Schmerzlicher  ist,  daß  die  Originalkonzepte 
von  Lassalles  Briefen  an  Heinrich  Heine  und  Heines  Briefe  an  ihn  sich 
nicht  mehr  vorgefunden  haben.  Gewiß  wird  hier  nicht  immer  auf  liebe- 
voller Weise  von  Calmonius  die  Rede  gewesen  sein.  Dennoch  läßt  sich 
nicht  mit  voller  Gewißheit  behaupten,  daß  er  oder  sein  Schwiegersohn 
diese  Briefe  beiseite  geschafft  haben.  Lassalle  hatte  nämlich  im  März 
1863  Adolf  Strodtmann,  dem  Biographen  Heines,  Briefe  des  Dichters 
überlassen.  Ob  die  Rückgabe  noch  bei  seinen  Lebzeiten  erfolgt  ist, 
entzieht  sich  unserem  Wissen.  Strodtmann  erwähnt  in  seinem  Dank- 
schreiben vom  30.  März  1863  den  Brief  Heines  vom  11.  Februar  1846, 
den  Karpeles  später  veröffentlicht  hat.  Zugleich  spricht  er  von  ,, Strei- 
chungen", die  Lassalle  vorgenommen  habe,  und  von  dem,  ,,was  fort- 


geschnitten  ist"  und  bittet  wenigstens  um  eine  Restitution.  Sollte 
Lassalle  selbst  Originalbriefe  Heines  zerschnitten  haben  ?  Was  I.assalies 
Briefe  an  Heine  betrifft,  so  besagt  eine  Erklärung  Lassalles  in  der 
„Neuen  Rheinischen  Zeitung"  vom  31.  August  1848,  daß  er,  als  das 
Zerwürfnis  zwischen  ihm  und  dem  Dichter  eintrat,  durch  seinen 
Freimd  Dr.  Arnold  Mendelssohn  diese  Briefe  habe  zurückfordern 
lassen.  ,,Sie  verblieben  bei  den  Papieren  Mendelssohns  vmd  gerieten 
von  da  in  die  Hände  des  Prokurators."  Wir  bezweifeln,  daß  Lassalle 
sie  zurückerhalten  hat. 

Es  kam  also  zum  Prozeß  zwischen  den  Testamentsvollstreckern  imd 
den  Legataren  und  der  Familie  des  Erblassers.  Diese  erklärte  jetzt  das 
Testament  für  unecht  und  bestritt,  daß  der  Verstorbene  überhaupt 
in  der  Lage  gewesen  sei,  im  Auslande  rechtsgültig  zu  testieren.  Auf 
alle  Fälle  verlangte  sie  die  Vorlegung  des  Originaltestaments,  wohl  weil 
sie  wußte,  daß  das  in  Genf  geltende  Recht  die  Auslieferung  einer  solchen 
Urkunde  an  ein  fremdes  Gericht  untersagte.  Nun  erklärte  aber  Notar 
Dufresne,  in  dessen  Gewahrsam  Lassalles  letzter  Wille  ruhte,  seine 
Bereitschaft,  das  Testament  persönlich  nach  Berlin  zu  bringen,  damit 
das  dortige  Gericht  sich  von  seiner  Echtheit  imd  Gültigkeit  überzeugte. 
Obgleich  diese  Kvmde  die  prozessualen  Aussichten  der  Testaments- 
exekutoren  sehr  verbesserte,  verstanden  diese  sich  dennoch  zu  einem 
Vergleich,  den  die  Gegenseite  jetzt  anbot  imd  der  am  31.  Mai  1865  mit 
dem  Assessor  Julius  Friedländer,  als  dem  Generalbevollmächtigten  der 
Mutter  Lassalles,  zustande  kam. 

Besonders  Lothar  Bucher  scheint  viel  daran  gelegen  zu  haben,  daß 
man  sich  verständigte.  Gerade  vollzog  sich  die  große  Wendung  in 
seinem  Leben,  auf  die  sein  letzter  Brief  an  Lassalle  den  Freund  vor- 
zubereiten begonnen  hatte.  Der  Demokrat  und  politische  Flüchtling, 
der  bis  vor  kurzem  im  vertrauten  Umgang  mit  dem  sozialen  Revolu- 
tionär gelebt  hatte,  wurde  Hilfsarbeiter  im  Auswärtigen  Amt  mid  in 
Kürze  vertrauter  Mitarbeiter  des  preußischen  Ministerpräsidenten.  So 
herzhch  zu  Anfang,  so  respektvoll  noch  in  der  Folge  seine  Briefe  an  die 
Gräfin  klangen,  man  meint  ihnen  doch  anzumerken,  wie  der  ganze  Streit 
um  den  Nachlaß  Lassalles  ihm  lästig  zu  werden  beginnt.  In  den  ersten 
Monaten  nach  dessen  Tode  hatte  er  sich  noch  in  einer  bescheidenen 
Stelltmg  beim  WolfFschen  Telegraphenbureau  befunden,  die  seinen  be- 
deutenden Gaben  in  keiner  Weise  Genüge  tat.  Da  hatte  er  mit  der  ihres 
großen  Beschützers  beraubten  Gräfin  in  nahem  freimdschaftlichen Verkehr 
gestanden,  und  sein  kluger  Rat,  auf  den  Lassalle  so  großen  Wert  gelegt 
hatte,  war  ihr  zuteil  geworden,  wo  sie  dessen  bedurfte.  Sophie  vonHatz- 
feldt  bereitete  damals  eine  VeröffenÜichung  vor  über  die  Umstände,  die 
Lassalles  Tod  herbeigeführt  hatten;  Bucher  stand  ihr  dabei  zur  Seite, 


und  als  gleichzeitig  Moses  Heß  auf  ihren  Wunsch  eine  französische  Aus- 
gabe des  Bastiat-Schultze  vorbereitete,  schrieb  er  für  die  Einleitung 
biographische  Aufzeichnungen  über  den  Verfasser.  Nun  aber  beschäf- 
tigten ihn  bald  andere  Dinge:  er  findet  sich  imter  Bergen  von  Akten 
vergraben,  Vorträge  bei  dem  neuen  Chef  gilt  es  sorgfältig  vorzubereiten, 
auch  die  Ausführung  des  Testaments  seines  eigenen  Vaters  erfordert 
kostbare  Stunden.  Dabei  lasteten  die  Pflichten,  die  ihm  als  Testaments- 
vollstrecker Lassalles  oblagen,  nicht  allein  auf  seiner  Zeit.  Bucher 
hielt  auf  die  neue  Stellung;  er  hoffte,  in  ihr  etwas  leisten  zu  können. 
Bismarck  selbst  hatte  ihn  herangezogen,  aber  den  Bureaukraten ,  in 
deren  Mitte  er  verpflanzt  war,  bUeb  seine  Vergangenheit  noch  lange 
verdächtig.  Durch  Robert  von  Keudell,  der  ihm  freundlich  gesinnt 
war,  erfuhr  er,  wie  sehr  man  ihm  nachtrug,  daß  er  mit  Lassalle  so  nahen 
Umgang  gepflogen  hatte.  War  die  Furcht  des  an  sich  schon  höchst 
Vorsichtigen  so  unbegründet,  daß  er  als  Testamentsvollstrecker  des 
Agitators  noch  in  einen  Sensationsprozeß  verwickelt  werden  könnte? 
Man  begreift,  daß  ihm  an  einer  gütlichen  Abwicklimg  gelegen  sein  mußte ! 
In  dem  Abkommen  gaben  die  Testamentsexekutoren  jene  Legate  preis, 
die  Lassalle  Rüstow,  Herwegh,  Eduard  Willms,  dem  Sekretär  des  All- 
gemeinen Deutschen  Arbeitervereins,  imd  Johann  Baptist  von  Hoff- 
stetten  zugedacht  hatte,  der  seit  Ende  1864  gemeinsam  mit  Schweitzer 
den  ,,Socialdemokrat"  erscheinen  ließ.  Die  Ansprüche  der  Gräfin 
Hatzfeldt  zu  schmälern,  war  niemandem  beigefallen.  Lediglich  ideelle 
Gründe  bestimmten  sie,  sobald  sie  von  jener  Abmachung  Kenntnis  er- 
hielt, den  entschiedensten  Protest  einzulegen.  Sie  hatte,  schrieb  sie 
Bucher,  ,, einen  feierlichen  Eid  geschworen,  jeden,  der  sich  an  dem 
Andenken  Ferdinand  Lassalles  versündigt,  zu  bestrafen".  Das  aber  taten 
in  ihren  Augen  die  Testamentsvollstrecker,  indem  sie  jetzt  ,,ein  rechts- 
gültiges Testament"  durch  Vergleich  mit  den  , .habgierigen  Erben" 
umstießen.  Auf  juristische  Spitzfindigkeiten  wollte  sich  diese  Frau,  die 
nur  der  Stimme  des  Gefühls  zu  folgen  gewohnt  war,  nicht  einlassen. 
Ihr  war  nicht  mit  Interpretationen  von  Lassalles  letztem  Willen  gedient, 
sein  Testament  verkündete  klar  und  bündig,  wie  er  es  gehalten  zu  sehen 
wünschte;  wer  auch  nur  irgendeiner  seiner  Bestimmungen  die  Erfüllimg 
versagte,  verriet  den  Toten,  dem  sie  ewige  Treue  geschworen  hatte. 
Als  er  sich  zu  jenem  Vergleich  bereit  fand,  der  einen  Teil  der  Legatare 
auf  den  Weg  des  Prozesses  drängte,  ihm  selbst,  dem  Vermögenslosen, 
und  seinen  näheren  Bekannten  aber  den  sofortigen  Genuß  des  ihnen 
zugedachten  Anteils  sicherte,  da  wußte  ein  so  feiner  Menschenkenner 
wie  Bucher,  daß  er  es  mit  der  Gräfin  endgültig  verdarb.  Denn  für  sie 
gab  es  —  er  schrieb  es  ihr  —  zwischen  Freimd  und  Feind  keine  Mitte. 
Aber  hatte  Lassalle  ihm  nicht  mehr  bedeutet  als  Sophie  von  Halzfeldt? 


Und  auch  auf  den  intimen  Verkehr  mit  Lassalle  hatte  Bucher,  als  sein 
persönhcher  Vorteil  es  gebot,  Verzicht  leisten  wollen.  Der  ,, Boden  des 
Sentiments",  von  dem  die  leidenschaftiiche  Frau  sich  durch  nichts  ent- 
fernen heß,  war  nicht  der  Boden,  aus  dem  dieser  viel  Umhergetriebene, 
der  sich  nach  fester  Verwurzlung  sehnte,  seine  eigentiimhchen  Kräfte 
sog.  Den  Bruch  schon  voraussehend,  schrieb  er  der  Gräfin  am  2.  Jimi: 
,,Ich  weiß,  daß  nichts,  was  ich  sage  oder  sagen  könnte,  Sie  umstimmen 
wird,  \md  begnüge  mich  daher,  Sie  zu  erinnern,  daß  es  sich  jetzt  nicht 
mehr  um  die  Willensfortsetzung  des  Erblassers  —  sein  Wort,  wie  Sie 
wissen  — ,  sondern  um  Ihren  Willen  handelte.  Gewiß  haben  Sie  die 
Überzeugtmg,  daß  die  beiden  Willen  identisch  sind ;  mir  aber  bleibt  in 
diesem  nach  dem  Tode  entstandenen,  von  dem  Testator  nicht  vorher- 
gesehenen Konflikte  kein  anderer  Maßstab  als  der,  wie  ich  meinen  eigenen 
Willen,  wie  ich  meine  eigene  Mutter  behandelt  zu  sehen  wünsche."^) 

Aber  reichte  dieser  ,, Maßstab"  wirklich  aus,  um  alles  zu  recht- 
fertigen, was  die  Gräfin  ihm  zum  Vorwurf  machte?  Was  immer  sonst 
noch  sie  gegen  ihn  einzuwenden  hatte,  es  wiegt  doch  leicht  neben  der  Be- 
handlung, die  er  dem  schriftlichen  Nachlaß  Lassalles  zuteil  werden  heß, 
als  dieser  jetzt,  in  Erf  üllimg  des  Vergleichs,  von  der  Familie  den  Testa- 
mentsvollstreckern zugestellt  wurde.  Bis  zu  ihrem  Tode  hat  Sophie 
von  Hatzfeldt  Bucher  nicht  verziehen,  was  er  da  gegen  sie  vollführte! 
Im  November  1865  hat  dieser  Bismarck  eine  ausführhche  Darstellung 
seiner  Bekanntschaft  mit  Lassalle  vorgelegt,  die  sich  —  worauf  es  ihm 
damals  besonders  ankommen  mochte  —  bis  ,,auf  gewisse,  nach  seinem 
Tode  eingetretene  Verhältnisse"  erstreckte.  Von  der  Gräfin  spricht 
das  kluge  Schriftstück  ^)  als  von  einer  außerordenthchen  Frau,  die  an 
allen  Arbeiten  ihres  Freundes  mit  eindringendem  Verständnis  den 
lebendigsten  Anteil  genommen  hätte.  Da  sie  aber.  Lassalles  Auslegung 
des  römischen  Erbrechts  folgend,  nicht  bloß  „den  Willen,  auch  den 
Eigensinn  des  Erblassers  zu  perpetuieren"  trachte,  so  hätte  sie  sich  all- 
mähhch  in  die  Vorstellimg  eingelebt,  die  Verkünderin  des  Willens  zu 
sein,  den  der  Verstorbene  unter  den  gegenwärtigen  Umständen  haben 
würde.  Und  hier  berührt  Bucher  den  Punkt,  der  ihn,  wie  er  selbst 
gesteht,  in  ein  Dilemma  der  peinlichsten  Art  gebracht  und  ihm  die 
bittere  Feindschaft  der  Gräfin  zugezogen  habe:  ,,Er  betrifft  die  Brief- 
schaften des  Verstorbenen,  die  er  ihr  vermacht  hatte". 


1)  Bacher  stelle  sich  damit  erst  recht  ,, gänzlich  auf  deu  Boden  des  Ser- 
timents,  nur  eines  schlechten  und  ungesetzlichen,"  schrieb  die  Gräfin  am  9.  Juni 
an  Gustav  Schönberg.  Ihr  leidenschaftlicher  Brief  ist  abgedruckt  bei  Schul- 
mann, Zum  Streit  am  das  Erbe  Lassalles,  Archiv  für  Geschichte  des  Socialis- 
mus  usw.,  Bd.  V,  S.  464  f. 

-)  Moritz  Busch,  Tagebuchblätter.     Leipzig  1899;   Bd.  III,  S.  106  ff. 


Über  das,  was  damals  geschah,  liegen  von  Bucher  selbst  zwei  Dar- 
stellungen vor,  die  spätere  in  der  el)en  erwähnten  Denkschrift  für  Bis- 
marck,  die  frühere  in  einem  Brief  vom  9.  Juni  1865  an  die  Hauptbe- 
teihgte.  Beide  Berichte  stimmen  in  den  wesentlichen  Punkten  überein, 
in  anderen  ergänzen  sie  sich.  Gestützt  auf  den  formal  gewiß  unanfecht- 
baren Standpunkt,  die  Testamentsvollstrecker  müßten  wissen,  was 
ihnen  übergeben  wurde  und  was  sie  weiter  übergeben,  nahm  Bucher 
es  als  ein  Recht,  ja  sogar  als  eine  Pflicht  in  Anspruch,  die  Korrespondenz 
Lassalles  einer  Durchsicht  zu  unterziehen,  bevor  sie  endgültig  der  Be- 
sitzerin übergeben  würde.  ,,Die  Ausführung  der  letztwilligen  Ver- 
ordnimg, wie  Lassalle  sich  dieselbe  gedacht,"  schrieb  er  der  Gräfin  in 
jenem  Brief  vom  9.  Juni,  , .nämlich,  daß  die  Papiere  ohne  Vermittlung 
eines  Dritten  sofort  in  Ihren  Besitz  übergingen,  ist  einmal  durch  den 
Gang  der  Ereignisse  vereitelt".  Weil  aber  die  Gräfin  sich  gegen  die 
Vorstellvmg  sträube,  daß  Lassalles  Papiere  der  Zensur  des  Assessors 
Friedländer  und  Holthoffs,  mit  dem  sie  sich  überwerfen  hatte,  unter- 
liegen sollten,  so  werde  er  allein  die  Bücher  vmd  die  Papiere  durchsehen 
und  die  Verantwortung  übernehmen,  die  sich  hieran  knüpfe.  In  dem 
Bericht  an  Bismarck  heißt  es,  daß  der  Nachlaß  den  Testamentsvoll- 
streckern von  den  Erben  in  zwei  Kisten  übergeben  wurde.  Als  Bucher 
am  9.  Juni  der  Gräfin  Bericht  erstattete,  war  offenbar  erst  die  eine 
Kiste  bei  ihm  eingetroffen;  wenigstens  erwähnt  er  die  andere  nicht. 
Hier  spricht  er  zuerst  von  einem  Paket,  das  Briefe  der  Schwester  Lassalles 
an  die  Eltern  enthalten,  und  das  er  herausgenommen  habe,  ,,um  es  der 
Friedland  zuzustellen".  Bereits  darin  sah  die  Gräfin  eine  eigenmächtige 
Handlung,  denn  Lassalle  sei  durch  Erbschaft  in  den  rechtlichen  Besitz 
aller  Papiere  seines  Vaters  gelangt.  Ungleich  mehr  bedeutete,  was 
Bucher  weiter  mitteilte:  ,, Endlich  habe  ich,"  schrieb  er  ihr,  ,, einige 
Briefe  von  Frauen  und  Mädchen  an  Ferdinand  zerstört,  verbrannt, 
welche  kompromittierend  für  die  Schreiberinnen,  gefährlich  für  den 
Frieden  von  F'amilien  und  zum  Teil  so  obszönen  Inhalts  waren,  daß  man 
sie  einer  Dame  nicht  übergeben  konnte.  Ich  war  nach  langer  heimhcher 
Überlegung  zu  dem  Resultat  gekommen,  daß  ich  als  Gentleman  tmd 
Freund  Lassalles  so  handeln  mußte,  dem  Buchstaben  des  Testaments 
entgegen,  glaubte  übrigens  auch  auf  Grund  §  7  Teil  I  Lit.  4  A.  L.  R. 
mich  vor  dem  formellen  Rechte  verteidigen  zu  können."  Noch  deutlicher 
hat  sich  Bucher  dann  zu  Bismarck  über  die  Beweggründe  ausgelassen, 
die  ihn  zu  seiner  auf  jeden  Fall  ungewöhnlichen  Handlimgsweise  be- 
stimmten: Er  hätte  gefürchtet,  die  Gräfin  könnte  diese  Briefe  ver- 
öffentlichen, er  machte  sich  anheischig,  Zeugen  dafür  beizubringen, 
daß  sie  sich  mit  solchen  Gedanken  getragen,  und  deshalb  redete  er  sich 
ein,  ,, sittlich  verpflichtet"  gewesen  zu  sein,  die  Papiere  zu  verbrennen. 


Anders    als   er   urteilte    begreiflicherweise    Sophie    von    Hatzfeldt. 
Obgleich  „todkrank",  antwortete  sie  auf  seine  Mitteilimg  postwendend 
in  einem  von  Leidenschaft  zitternden  Brief.   Lassen  wir  an  dieser  Stelle 
die   Beschuldigiingen   beiseite,   die  sie   gegen   Buchers   private   Moral 
erhob,  übergehen  wir  auch,  wie  sie  dessen  Verhältnis  zu  Lassalle  be- 
urteilte !   Lauschen  wir  hier  nur  dieser  einen  flammenden  Klage :  Bucher 
habe  sich  unterfangen,  ,,in  das  ihm  versagte  Vertrauen"  Lassalles  ,, ein- 
zubrechen", er  war  nicht  befugt,  darüber  zu  richten,  ,,ob  der  Testator 
sein  Vertrauen  gut  placiert  hat".   Durfte  er  dort,  ,,wo  er  findet,  daß 
ihm   dies   aus   irgendeinem    Grunde    zweckmäßig   seinen    Plänen   er- 
scheint", dem  Legatar  Papiere  ,, stehlen"  oder  gar  zu  dem  ,, wahrhaft 
unglaublichen  Mittel"  greifen,  ,, fremdes  Eigentum  heimlich  und  eigen- 
mächtig zu  vernichten?"    ,,Mir  allein,"  ruft  die  Gräfin  aus,  ,, gehörte 
das  Recht,  nach  meinem  Gewissen  mit  den  Papieren  zu  verfahren  .  .  . 
Mich  nicht  einmal  in  Kenntnis  zu  setzen,  damit  ich  mein  Recht  ge- 
setzHch  geltend  machen  kann,  sondern  sofort  die  Papiere  beliebig  zu 
verteilen   und   zu   vernichten,    steht  ohne   Beispiel  da."     Sophie 
von  Hatzfeldt  war  damals  fast  sechzig  Jahre  alt:  ,,Ich  hätte  fast  ge- 
lacht," schreibt  diese  Frau,  die  das  Leben  in  allen  seinen  Tiefen  kennen 
gelernt  hatte,  ,,als  ich  las,  daß  Sie  aus  Prüderie  die  Korrespondenzen,  die 
ich,  wie  Sie  ja  wußten,  sämtlich  gelesen  hatte,  verbrannt  haben  wollen. 
Mit  welchem  Recht?    Sind  Sie  mein  Vormimd?  .  .  .  Der  Standpunkt 
des  Gentleman,  den  Sie  .  .  .  herauskehren  wollen,  ist  mir  ekelerregend. 
Glauben  Sie  wirklich,  mit  diesem  plumpen  Gaukelspiel  dem  gesunden 
Menschenverstand  ins  Gesicht  schlagen  zu  können?   Vor  allen  Dingen, 
mein   Herr,   ist  man  ehrlicher     Mann.     Der   Gentleman   tut  noch 
mehr,   als  seine  Pflicht  als  ehrlicher  Mann  ist.    Aber  das  wäre  denn 
doch  zu  bequem,  die  Pflichten  ganz  zu  verleugnen,  imd  sich  gerade 
daraufhin  als  „Gentleman"  hinstellen  zu  wollen."     In  einem  Wort, 
das  die  Gräfin  einige  Tage  zuvor  hatte  fallen  lassen  und  das  sein  Brief 
vom  2.  Juni  wiederholte,  fand  Bucher  die  Formulierung  ihrer  entgegen- 
gesetzten Auffassung,  die  auch  er  gelten  zu  lassen  bereit  schien.    ,,Ich 
stehe  auf  einem  andern  Boden  als  Sie,"    hatte   sie  gesagt,    ,,auf  dem 
Boden  des  Sentimejits,  nennen  Sie  es,  des  Wahnsinns."   Wenn  Bucher 
in  diesem  Falle  überhaupt  auf  dem  Standpimkt  eines  Sentiments  stand, 
so  war  es  jedenfalls  nicht  der  eines  Sentiments,  für  das  die  Freundin 
Lassalles  Verständnis  aufgebracht  hätte.   Die  Gräfin  hat  es  sich  damals 
nicht  nehmen  lassen,  gegen  Bucher  bei  der  Staatsanwaltschaft  eine 
Denunziation  wegen  Veruntreuung  und  Unterschlagung  einzureichen. 
Sie  warf  ihm  sowohl  die  Vernichtung  der  Liebesbriefe  vor  wie  ,, teilweise 
Vernichtimg  des  hterarischen  Nachlasses",  eine  Beschuldigimg,  auf  die 
noch  zurückzukommen  sein  wird.   Auf  ihre  Anzeige  vom  12.  April  1866 


=:     10      ■ 

erhielt  sie  am  23.  Juni  den  Bescheid,  daß  hinsichÜich  des  literarischen 
Nachlasses  von  Untreue  nicht  die  Rede  sein  könne,  da  das  Eigentums- 
recht daran  Bucher  zustand.  Aber  auch  bei  der  Vernichtimg  der  Liebes- 
briefe könne  eine  Beschädigung  des  Vermögens  der  Gräfin  „kaum  be- 
hauptet werden",  da  die  literarische  oder  sonstige  Verwertimg  der- 
artiger Briefe  kaum  rechtlich  in  Betracht  kommen  könne.  Überdies 
fehle  der  ,,böse  Vorsatz",  denn  darin  müsse  Buchers  Angabe  Glauben 
beigemessen  werden,  daß  er  mit  seiner  Handlungsweise  ledighch  von  den 
Gefühlen,  die  Schreiberinnen  der  Briefe  zu  schonen,  geleitet  worden  sei. 
Aus  den  Beschuldigungen,  die  Sophie  von  Hatzfeldt  in  ihrer  leiden- 
schaftlichen Autwort  an  Bucher  erhebt,  muß  wenigstens  die  eine  heraus- 
gehoben werden,  die  mit  der  Möglichkeit  rechnet,  daß  er  noch  andere 
Briefe  als  die  jener  Frauen  aus  dem  Nachlaß  beseitigt  haben  könnte. 
Die  Gräfin  fragte:  ,,Ist  vielleicht  eine  gewisse  Korrespondenz  mit 
Ihnen,  als  Sie  F.  Lassalle  so  völlig,  auch  aus  Nützlichkeitsgründen 
nach  dem  Antwortschreiben^)  verleugneten,  auch  als  kompromittierend 
beseitigt?"  Die  Schreiberin  meinte  also  Briefe  Buchers  an  Lassalle, 
allenfalls  auch  die  Konzepte  von  LassaUes  Antworten.  Daß  Lassalle 
Briefe  an  einen  so  nahen  Freund  wie  Bucher  zuvor  im  Konzept  nieder- 
geschrieben hätte,  ist  kaum  anzunehmen.  Was  aber  Buchers  Briefe  an 
ihn  betrifft,  so  hat  ja  Sophie  von  Hatzfeldt  selbst  nach  Jahren  einen  Teil 
davon  veröffentlichen  lassen,  ein  anderer  Teil  fand  sich  jetzt  im  Nach- 
laß. Nim  weist  zwar  trotzdem  dieser  Briefwechsel  immer  noch  Lücken 
auf,  die  Briefe  aber  liegen  vor,  in  denen  Bucher  1863  Lassalle  erklärte, 
weshalb  er  vor  ihm  die  ,, Flucht"  ergriffe.  Um  die  gleiche  Zeit  be- 
schäftigte Bucher  eine  Herzensangelegenheit,  in  der  Lassalle  sein 
Vertrauter  war;  die  Gräfin  behauptet,  es  habe  sich  um  eine  reiche 
Partie  gehandelt.  Nicht  unmöglich  erscheint  uns,  daß  Bucher  sich 
für  berechtigt  gehalten  haben  könnte,  Mitteilungen,  die  hierauf  Bezug 
hatten,  beiseite  zu  schaffen.  Ein  Zufall  will,  daß  in  der  Brieftasche, 
die  LassaUe  bei  seinem  Duell  trug,  noch  die  letzten  Zeilen  steckten,  die 
Bucher  ihm  geschrieben  hatte  und  die  dem  Freunde  von  dem  Scheitern 
jenes  liebeshandels  Kenntnis  gaben,  nicht  ohne  durchblicken  zu  lassen, 
daß  der  Umgang  mit  ihm  das  Vertrauen  der  Dame  ungünstig  beein- 
flußt hätte.  Der  Brief  schheßt  mit  der  Bitte,  ,,das  Kapitel  Weiber" 
möge  hinfort  tabu  zwischen  ihnen  bleiben.  Kein  zureichender  An- 
haltspimkt  liegt  für  die  Annahme  vor,  daß  Bucher  aus  politischen 
Rücksichten  dem  Nachlasse  Briefe  entnommen  hätte.  Wenn  sich  von 
Lassalles  Verkehr  mit  Bismarck  oder  mit  Männern  seines  Gefolges  hier 

^)  Gemeint  ist  natürlich  das  „Offene  Antwortschreiben  an  das  Zentralkomitee 
zur  Beniiiuig  eines  Allgemeinen  Deutschen  Arbeiterkongresses  vom  i.  März  1863". 


-  II      ======:z=::=:rnr 

keine  Spur  erhalten  hat,  so  gab  es,  sofern  überhaupt  Schrifthches  von 
Belang  vorgelegen  hat,  was  wir  bezweifeln  möchten,  eher  andere,  denen 
daran  gelegen  sein  konnte,  es  nicht  an  die  Öffentlichkeit  dringen  zu 
lassen. 

Ivassalle  hatte,  wie  wir  schon  wissen,  seine  Briefschaften  der  Gräfin, 
dagegen  Bucher  seine  gelehrten  und  schriftstellerischen  Aufsätze  ver- 
macht. Für  die  Forschung  ist  es  ein  Glück,  daß  Bucher  nicht  allzu 
hohen  Wert  darauf  legte,  diese  Manuskripte  vollständig  in  seine  Hände 
zu  bringen.  Auch  macht  man  ihm  noch  keinen  Vorwurf,  wenn  man  fest- 
stellt, daß  der  nunmehrige  Adlatus  Bismarcks  für  die  Hinterlassen- 
schaft Lassalles  nicht  die  gleiche  Pietät  aufbrachte  wie  die  Gräfin,  die 
ihr  ganzes  ferneres  Leben  dem  Kultus  des  toten  Freundes  weihte.  Eine 
Reihe  bisher  unbekannter  wissenschafthcher  Arbeiten  Lassalles,  die 
für  seine  Biographie  wertvoll  sind,  bheb  so  mit  dem  übrigen  Nachlaß 
vereinigt  imd  vor  dem  ungewissen  Geschick  bewahrt,  dem  Buchers 
Papiere  anheimfielen.  Daß  dieser  mit  Manuskripten  Lassalles  recht 
willkürlich  umgehen  konnte,  beweist  das  Schicksal  der  Disposition  zu 
jenem  nationalökonomischen  Werk,  das  den  Agitator  in  den  letzten 
Jahren  seines  Lebens  beschäftigte  und  das  er,  als  er  die  Kisten  im 
Sommer  1865  öffnete,  an  sich  genommen  hat.  Im  Dezember  des  gleichen 
Jahres  ließ  ihn  nämlich  die  Gräfin,  obgleich  es  zwischen  ihnen  zum 
Bruch  gekommen  war,  durch  Vermittlung  Hans  von  Bülows  um  die 
Auslieferung  dieser  Blätter  ersuchen.  Er  aber  schlug  die  Bitte  ab.  Die 
Gründe,  die  er  anführte,  waren  eigentümlicher  Art.  Einmal  knüpfe 
sich  für  ihn,  schrieb  er  der  Gräfin,  an  diese  Blätter  seine  nähere  Be- 
kanntschaft mit  Lassalle:  ,,Sie  hatten  einem  langen  Streit  zugrimde 
gelegen,  er  hatte  sie  mir  mit  nach  Hause  gegeben  zum  Kopieren.  Ich 
habe  sie,  im  Spätherbst  des  Jahres  1861,  in  mein  Tagebuch  kopiert  tmd 
die  Flecke,  die  sie  tragen,  sind  die  Spuren  eines  Schneegestöbers,  in 
dem  ich  sie  ihm  zurückgebracht."  Als  zweiten  Grund  führte  er  an,  er 
wolle  „um  Lassalles  willen"  verhindern,  daß  der  Inhalt  voreilig  ver- 
öffentlicht würde.  Jahre  wären  vergangen,  seit  Lassalle  diese  Blätter 
geschrieben,  er  selbst  habe  inzwischen  viel  auf  dem  Felde  gearbeitet, 
die  Wissenschaft  habe  nicht  stillgestanden.  Namen thch  ein  Pimkt, 
auf  dem  die  Disposition  wesentlich  tmd  der  angehängte  Plan  praktischer 
Operation  ganz  beruhe  —  die  Ricardosche  Grundrententheorie  —  gelte 
nicht  mehr  für  richtig.  Er  wisse,  daß  auch  Lassalle  in  den  letzten 
Jahren  seines  Lebens  über  Ricardo,  ,,um  das  mindeste  zu  sagen,  zweifel- 
haft war."  Kurzum,  er  könne  in  die  Veröffentlichvmg  der  Disposition 
oder,  ,,was  damit  gleichbedeutend  wäre",  in  die  Aushändigung  des 
Manuskripts  nicht  willigen.  Zu  seiner  ,, eigenen  Beruhigung"  aber  werde 
er  die  Frage,  ,.ob  die  Veröffentlichung  dem  schriftstellerischen  Namen 


Ivassalles  zuträglich  sei'",  Rodbertus  vorlegen.  Der  Denker  von  Jagetzow, 
von  dem  bekanntlich  die  Auflehnung  gegen  die  Ricardosche  Grund- 
rententheorie ausgegangen  war,  erteilte  unverweilt  die  Auskunft,  die 
Bucher  zu  erhalten  wünschte.  Aus  dem  Inhalt  der  paar  Blätter  schloß 
Rodbertus,  daß  der  Plan  aus  verhältnismäßig  früher  Zeit  stamme,  und 
wies  darauf  hin,  daß  der  Verfasser  wichtige  Teile  gestrichen  habe,  ohne 
dazu  gekommen  zu  sein,  sie  durch  etwas  anderes  zu  ersetzen.  Auf  dieses 
Gutachten,  das  an  geeigneter  Stelle  vollständig  mitgeteilt  werden  wird, 
berief  sich  Bucher  und  schrieb  am  15.  Januar  1866  der  Gräfin,  er  glaube, 
den  Willen  Lassalles  zu  exekutieren,  indem  er  diese  Scripta  vernichte. 
Lange  nach  ihrem  Tode  hat  er  in  einem  Gespräche  mit  Poschinger  ^) 
ausdrücklich  versichert,  daß  er  die  Papiere  nicht  vernichtet  und  es  der 
Gräfin  nur  geschrieben  habe,  um  ferneren  Forderungen  von  ihrer  vSeite 
zu  entgehen.  Verhielt  sich  dies  aber  so  —  und  wir  haben  keinen  Anlaß, 
die  Angabe  anzuzweifeln  — ,  dann  hätte  Bucher  Vorsorge  treffen  müssen, 
daß  Lassalles  Entwurf  nicht  verloren  ging.  Denn  die  ökonomische 
Wissenschaft  ist  auch  bei  Rodbertus  nicht  stehengeblieben  und  sie 
konnte  das  Recht  beanspruchen,  in  der  Folge  auch  sein  Urteil  zu  über- 
prüfen. In  Buchers  Nachlaß  ist  das  Manuskript  nicht  aufgefunden 
worden.  So  wird  auch  die  wohlwollendste  Kritik  ihn  von  dem  Vor- 
wurf der  Fahrlässigkeit  nicht  freisprechen  können. 

^  . 

Mochte  man  auch  die  einen  oder  anderen  Stücke  ihr  vorenthalten 
haben,  die  Gräfin  Hatzfeldt  befand  sich  jetzt  tatsächlich  im  Besitz 
der  schriftHchen  Hinterlassenschaft  ihres  großen  Freimdes  und  hätte 
ihr  die  Verwendung  geben  können,  die  ihrem  unbegrenzten  Pietäts- 
gefühl angemessen  erschien.  Gewiß  hat  sie  sich,  so  lange  sie  lebte,  mit 
dem  Plan  getragen,  auf  Grund  dieses  reichen  Materials,  das  sie  hütete, 
dem  Freunde  ein  würdiges  biographisches  Denkmal  zu  setzen.  Doch 
wie  imgünstig  waren  die  Zeitverhältnisse  einem  solchen  Vorhaben ! 
In  den  ersten  Jahren  nach  Lassalles  Tode  beschäftigte  die  Gräfin,  wie 
wir  schon  hörten,  vornehmlich  der  Gedanke,  den  aberteuerlicheu  Unter- 
gang ihres  Helden  vor  der  Mit-  und  Nachwelt  durch  Veröffentlichung 
aller  auf  den  Vorgang  bezüglichen  Dokumente  in  ein  versöhnendes 
Licht  zu  rücken.  Darauf  erst  sollte  anscheinend  die  eigentliche  Lebens- 
beschreibung Lasfalles  an  die  Reihe  kommen.  Lothar  Bucher,  Bern- 
hard Becker,  Wilhelm  Liebknecht  waren  nacheinander  die  Mitarbeiter 
der  seltsamen  Frau  —  aber  mit  allen  hat  sie  sich  überworfen.  Dann 
stürzte  sich  die  Gräfin  trotz  Buchers  kluger  Warnung  in  die  Wirren,  die 


H.  von  Poschinger.     Ein  Achtiind\-ierziger,   Bd.  III,  S.  332, 


— =^  13  —  = 

den  Allgemeinen  Deutschen  Arbeiterverein  heimsuchten;  dieser  bog, 
wenigstens  faßte  »Sophie  von  Hatzfeldt  es  so  auf,  von  dem  Wege  Lassalles 
ab,  und  ihn  zu  bekämpfen,  gründete  sie  ihren  eigenen  lyassalleanischen 
Allgemeinen  Deutschen  Arbeiterverein.^)  Wieviel  Zeit  und  Kraft  ver- 
schwendete, von  Unwürdigen  nicht  selten  ausgebeutet,  auf  jene  Sekten- 
kämpfe diese  Frau,  die  im  Grmide  der  Arbeite rbewegimg  fernstand,  sie 
niemals  recht  begriff,  zu  ihr  hingezogen  allein  durch  das  trotzige  Ver- 
langen, das  deutsche  Proletariat  bei  dem  orthodoxen  Buchstaben  des 
LassaUeschen  Programms  festzuhalten!  Aber  die  deutsche  Arbeiter- 
bewegung ließ  sich  nicht  durch  die  fromme  Willkür  einer  Einzelnen  auf- 
halten, sie  wuchs  hinaus  über  die  Organisationsform  imd  die  Grundsätze, 
die  dem  großen  Agitator,  als  sie  ganz  klein  war,  zweckmäßig  erschienen 
waren !  Schweitzer  hatte  sich  wenigstens  noch  als  Nachfolger  imd  Fort- 
setzer Lassalles  bekannt.  Aber  Bebeis  und  Liebknechts  Stern  stieg  auf, 
und  sie  erklärten  es  als  eine  ihrer  vornehmsten  Aufgaben,  den  Lassalle- 
kultus aus  den  Herzen  der  deutschen  Arbeiter  auszurotten.  Deshalb 
wurden  sie  von  der  Gräfin  glühend  gehaßt,  und  sie  erwiderten  die  Ge- 
fühle, die  jene  ihnen  entgegenbrachte.  Als  aber  1875  die  Reste  der 
Lassalleaner  mit  der  Partei  der  neuen  Führer  verschmolzen,  versank 
für  Sophie  Hatzfeldt  vollends  die  Hoffnimg,  die  Arbeiterbewegung 
bei  der  Richtung  festzuhalten,  die  Lassalle  ihr  gegeben  hatte.  Wahr- 
scheinhch  damals  begann  sie  sich  von  neuem  mit  dem  schriftHchen 
Nachlaß  Lassalles  zu  beschäftigen.  Gemeinsam  mit  Fritz  Mende,  der 
■die  Hatzfeldtsche  Richtung  des  LassaUeanismus  vorübergehend  im 
Reichstag  vertrat  und  den  die  Siebzigjährige  in  ihrem  stillen  Hause  in 
Heddemheim  mit  mütterlicher  Liebe  betreute,  brachte  sie  in  die  Fülle 
der  Papiere  eine  gewisse  Ordnimg  hinein.  Ihn  hatte  sie  offenbar  be- 
stimmt, wenn  sie  stürbe.  Lassalles  Nachlaß  an  sich  zu  nehmen  und  in 
ihrem  Geiste  zu  verwalten. 2)    Aber  das  Schicksal  wollte  es  anders;  die 


1)  Die  Beteiligung  der  Gräfin  Hatzfeldt  an  der  sozialdemokratischen  Bewegung 
wird  bisher  am  ausführlichsten  behandelt  bei  Gustav  Mayer,  Johann  Baptist 
von  Schweitzer  und  die  deutsche  Sozialdemokratie.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
der  deutschen  Arbeiterbewegung.     Jena  1909. 

^)  Wahrscheinhch  hatte  die  Gräfin  vor  Mende  auch  andere  PersönHchkeiten 
ins  Auge  gefaßt,  um  die  Papiere,  an  denen  ihr  Herz  hing,  für  die  Öffentlichkeit 
zu  bearbeiten.  Von  einem  solchen  Versuch,  der  scheiterte,  berichtet  die  ,,\Vage" 
vom  9.  März  1877  in  einer  Anzeige  von  Georg  Brandes  Lassalles,  die  wahrschein- 
lich der  Herausgeber,  Dr.  Guido  Weiß,  geschrieben  hat.  Weiß  war  zwar  zuletzt 
ein  Gegner  Lassalles  gewesen,  nahm  aber  als  MitgUed  der  gleichen  Burschen- 
schaft, als  Landsmann,  als  ehrlicher  Demokrat  und  feingeistiger  Schriftsteller 
doch  starkes  Interesse  an  dessen  PersönUchkeit.  Hier  spricht  er,  offenbar  auf 
Grund  genauer  Information,  von  dem  an  Briefen,  Entwürfen  und  Bruchstücken 
sehr  reich  gewesenen  schriftlichen  Nachlaß,  der  ,, nicht  ungeteilt  gebUeben"  sei. 
Ein  umfänghcher  Teil  desselben  wäre  später  einem  Berhner  Schriftsteller  über- 


alte  Dame  überlebte  den  soviel  jüngeren  Mann.  Mendes  schriftlicher 
Nachlaß  blieb  in  dem  Hause  stehen,  wo  er  Unterkunft  gefunden  hatte, 
und  so  erklärt  es  sich,  daß  bis  heute  seine  Papiere  und  die  der  Gräfin, 
zu  denen  die  Lassalles  ja  ebenfalls  gehörten,  eine  Einheit  bilden.  Gerade 
einige  der  wertvollsten  Briefschaften  Lassalles  fanden  sich  unter  Mendes 
Skripturen,  andere,  die  sorgfältig  verschnürt  waren,  hatte  die  Gräfin 
noch  bei  Mendes  Lebzeiten  mit  der  Aufschrift  versehen,  daß  sie  nach 
ihrem  Tode  sofort  an  diesen  auszuliefern  wären! 

Noch  einmal,  bevor  sie  starb,  hat  die  vereinsamte  Frau,  die  seit 
Mendes  Tod  die  letzte  Fühlimg  mit  sozialdemokratischen  Kreisen  verloren 
hatte,  es  versucht,  den  ihr  so  teuren  Nachlaß  in  Hände  zu  bringen,  die 
seine  Bedeutung  für  die  deutsche  Arbeiterwelt  würdigen  und  ihn  mit 
Pietät  einer  späteren  Generation  aufbewahren  würden.  In  dem  politisch 
so  bewegten  Sommer  des  Jahres  1878  war  sie  nach  Berlin  gekommen; 
sie  wollte  damals  Lothar  Bucher,  dem  sie  niemals  verziehen  hatte, 
durch  die  Veröffentlichung  seines  Briefwechsels  mit  Lassalle  Schaden 
zufügen.  Die  Greisin  mag  es  einige  Überwindimg  gekostet  haben,  als 
sie  sich  entschloß,  im  Reichstag  Bebel  aufzusuchen  imd  diesem  politi- 
schen Gegner  den  Nachlaß  ihres  geliebten  Fretmdes  anzubieten.  Doch 
Bebel,  der  nicht  leicht  vergaß,  mißtraute  der  Frau,  gegen  die  er  Jahre 
hindurch  die  bittersten  Kämpfe  geführt  hatte.  In  jenen  Wochen  stand 
das  Sozialistengesetz  zur  Diskussion;  er  fürchtete,  daß  hinter  dem  hoch- 
herzigen Anerbieten  sich  geheime  Machenschaften  der  Reaktion  ver- 
bargen. Später  ist  ihm  zum  Bewußtsein  gekommen,  wie  verkehrt  er 
in  jener  Stimde  gehandelt  hatte,  er  hat  es  lebhaft  bereut  und  öfters 
den  Wimsch  geäußert,  es  möchte  doch  noch  möglich  werden,  den  Nach- 
laß Lassalles  für  das  Archiv  der  sozialdemokratischen  Partei  zu  er- 
werben.-^) 

Sophie  von  Hatzfeldt  entschlief  am  25.  Januar  i88r  in  Wies- 
baden. In  ihrem  Testament  fanden  sich  besondere  Bestimmungen 
weder  über  den  schrifthchen  Nachlaß  Lassalles,  noch  über  seine 
BibHothek,  aus  der  sie  in  den  ersten  Jahren  nach  seinem  Tode 
eine  öffentliche  Stiftimg  zu  machen  entschlossen  gewesen  war.  So 
wurde  nun  ihr  Sohn,  Graf  Paul  Hatzfeldt,  der  kurz  nach  ihrem 
Tode  das  Staatssekretariat  des  Auswärtigen  und  1885  Deutschlands 
Vertretmig  in  London  übernahm,  der  rechtmäßige  Erbe  auch  der 
Lassalleschen   Hinterlassenschaft.     Die    Jahre   des    Sozialistengesetzes 


geben  worden,  der  sich  aber  einer  Arbeit,  die  seinem  SchaflFenskreise  ganz  ferrt 
lag,  nicht  unterziehen  wollte  und  deshalb  das  Anerbieten  ablehnte.  ,, Seitdem 
ist  es  von  diesen  Papieren  still  geworden." 

^)  Diese  Darstellung  schöpft  aus  persönlichen  Gesprächen  des  Herausgebers 
mit  August  Bebel. 


—  ^=--  15  ^  -^^= 

und  die  sich  anschließenden  Jahrzehnte,  während  derer  das  deutsche 
Volk  immer  schärfer  in  jene  zwei  Nationen  zerfiel,  die  der  junge  Disraeli 
schon  ein  halbes  Jahrhvmdert  früher  in  England  wahrgenommen  hatte, 
konnten  dem  kaiserlichen  Diplomaten,  der  in  ganz  anderen  Welten 
lebte,  keinen  Anreiz  geben,  der  Veröffentlichimg  der  Lassalleschen 
Papiere  näherzutreten.  Davon  kormte  um  so  weniger  die  Rede  sein, 
als  bis  zum  Herbst  191 9  die  Hatzfeldtsche  Familie  selbst  nicht  einmal 
wußte,  ob  diese  sich  wirklich  in  ihrem  Besitz  befanden.  Aus  Gründen, 
die  uns  hier  nichts  angehen,  hatten  nämlich  sowohl  Graf  Paul  wie  Fürst 
Hermann  Hatzfeldt,  sein  einziger  Sohn  und  Erbe,  bis  dahin  niemals 
die  Kisten  geöffnet,  in  denen  sich  Sophie  von  Hatzfeldts  schrifthche 
Hinterlassenschaft  befand.  Und  so  kam  es,  daß  die  Kunde  von  den 
Papieren  Lassalles  im  Laufe  der  Jahrzehnte  eine  fast  sagenhafte  Ge- 
stalt erhielt  und  daß  die  Hoffnung  immer  seltener  und  immer  zaghafter 
hervortrat,  die  ,, verlorene  Handschrift"  möchte  noch  einmal  ans  Tages- 
hcht  treten. 


Der  Wunsch,  sie  wieder  aufzufinden  und  der  Wissenschaft  zu  er- 
schließen, hatte  den  nimmehrigen  Herausgeber  niemals  wieder  ver- 
lassen, seit  er  1892  begann,  seine  Doktorarbeit  über  Lassalle  als  National- 
ökonomen, die   heute  mit  Recht  verschollen  ist,   auszuarbeiten.    Er 
entsinnt  sich  noch  jenes  Winterabends  des  Jahres  1893,  wo  er,  veran- 
laßt durch  seinen  damaligen  Lehrer,  den  verstorbenen  Professor  Georg 
Adler,  auf  der  Redaktion  des  ,, Vorwärts"  den  alten  Liebknecht  auf- 
suchte, um  von  ihm  Auskunft  zu  erhalten.    Dieser  verwies  ihn  an  die 
Familie  Hatzfeldt,  er  legte  ihm  aber  auch  nahe,  sich  an  Friedrich  Engels 
in  London  zu  wenden,  der  Lassalles  Briefe  an  Marx  in  Verwahrung 
habe.    Der  junge  Student,  der  noch  keine  wissenschafthche  Leistimg 
aufzuweisen  hatte,  fühlte  sich  nicht  berufen,  so  anspruchsvolle  Schritte 
zu  unternehmen.    Im  Lauf  von  zwanzig  Jahren  wandte  er  sich  darauf 
zu  wiederholten  Malen  an  die  Erben  der  Gräfin  Sophie;  jedesmal  ward 
ihm  in  liebenswürdiger  Form  die  Antwort,  daß  Gründe  vorlägen,  die  es- 
verhinderten,  seinen  Wünschen  für  absehbare  Zeit  eine  Erfüllung  in 
Aussicht  zu  stellen.     EndHch  fand  er  im  Herbst  1915  in  Brüssel  die 
Gelegenheit,  in  mündlicher  Unterredung  dem  Fürsten  Hermann  Hatz- 
feldt von  der  Bedeutung  des  Lassalleschen  Nachlasses  für  die  deutsche 
Geschichtswissenschaft  ein  Bild  zu  entwerfen  und  sein  Interesse  auf 
Lassalles  Testament  hinzulenken.    Drei   Jahre  später  trat  der  Fürst 
selbst  an  ihn  heran,  und  nun  endlich  wurde  die  Erlaubnis  erteilt,  auf 
dem  Schlosse  Sommerberg,  wo  der  Nachlaß  der  Gräfin  ruht,  nach 
Lassalles  Papieren  zu  forschen. 


:- :^==      l6      =  = 

Aber  es  waren  schlimme  2^iten,  als  dem  Herausgeber  endlich  die  Er- 
füllimg  des  Wunsches  in  Aussicht  gestellt  wurde,  dem  er  so  lange  nach- 
gegangen war!  Nieraals  vergißt  er  den  Oktobertag,  an  dem  er  in  Berlin 
die  EinwiUigung  des  Fürsten  eben  erhalten  hatte  und  mm  Unter  den 
Linden  auf  die  erste  große  revolutionäre  Kmidgebung  stieß,  die  vor 
der  russischen  Botschaft  stattfand.  Es  folgten  die  Wochen  des  Zu- 
sammensturzes :  unsere  Truppen  fluteten  zurück,  mit  dem  ganzen  linken 
Ufer  des  Rheins  wurde  auch  der  Rheingau  von  einem  über  den  hart- 
näckigen, heldenmütigen  Widerstand  erbitterten  siegreichen  Feind 
besetzt.  Weiße  und  schwarze  Franzosen  bewohnten  von  nun  ab  viele 
Monate  hindurch  den  Sommerberg.  Bis  der  Friedensvertrag  in  Weimar 
angenommen  wurde,  erhielt  selbst  der  Fürst  nur  ganz  selten  Nach- 
richt von  seinem  schönen  Besitz.  Aber  diese  Nachrichten  lauteten 
zeitweise  recht  beunruhigend;  die  Gefahr  blieb  erkennbar,  daß  der  so 
hartnäckig  gesuchte  Schatz  im  letzten  Augenblick  noch  der  Wissenschaft 
für  immer  verloren  gehen  könnte.  Daß  solche  Befürchtimg  sich  nicht 
erfüllte,  war  nicht  zuletzt  der  tapferen  Frau  zu  danken,  die  auf  dem 
Landsitz  als  Platzhalterin  des  Besitzers  waltete.  Frau  Prudentia  Kraf  ts 
Namen  verdient,  mit  der  Geschichte  des  Lassalle-Nachlasses  verknüpft 
zu  bleiben.  Eine  Pause,  die  mit  den  Einquartierungen  eintrat,  nutzte 
der  Fürst,  seines  Versprechens  eingedenk,  sogleich,  um  selbst  nach  dem 
Sommerberg  zu  eilen.  Gemeinsam  mit  dem  Historiker,  dem  er  den 
ehrenvollen  Auftrag  erteilt  hatte,  wollte  er,  bevor  wiederum  neue  Fran- 
zosen erschienen,  imtersuchen,  ob  Lassalles  Nachlaß  wirklich  auf  dem 
Speicher  seines  Schlosses  sich  befände.  Was  waren  das  schöne,  milde 
Septembertage,  an  denen  aus  eingestaubten  Kisten  unter  zahllosen 
Akten  und  Dokumenten  versteckt  zum  erstenmal  die  Handschrift 
LassaUes  auftauchte !  An  den  folgenden  Tagen  wurde  die  Nachforschung 
mit  Eifer  fortgesetzt,  vmd  jeden  Abend  konnte  der  Herausgeber  seinem 
fretmdlich  anteilnehmenden  Wirt  von  neuen  wichtigen  Fimden  be- 
richten. Am  längsten  hielten  sich  die  Briefe  von  Karl  Marx  und  Rod- 
bertus  an  Ferdinand  Lassalle  versteckt.  Gerade  an  dem  Morgen,  als 
sie  zum  erstenmal  durchgeprüft  wurden,  erschien  ein  französischer 
Offizier,  der  für  den  folgenden  Tag  neue  Einquartierung  ankündigte. 
So  galt  es,  die  aufgefundenen  Schätze  vor  verständnisloser  Willkür 
schleunigst  in  Sicherheit  zu  bringen.  Doch  die  Dokumente  wogen,  ihr 
Umfang  war  groß,  vieles  war  fortzuschaffen.  Dabei  durchsuchten  die 
Franzosen  damals  noch  alles  Gepäck,  das  aufgegeben  wurde.  Am 
Ende  gelang  es,  auch  diese  Fährnis  zu  überwinden,  weibliche  Klugheit 
und  Hilfsbereitschaft  triumphierten,  und  Lassalles  Nachlaß  gelangte 
von  niemandem  behelligt  in  das  imbesetzte  Gebiet  hinüber. 


Zur  Einführung  in  den  ersten  Band 


Für  die  Zeit  von  1840  bis  1848,  die  dieser  erste  Band  des  Nachlasses 
umspannt,  also  für  Lassalles  fünfzehntes  bis  dreiundzwanzigstes 
l^bensjahr,  flössen  die  Quellen,  die  seine  geistige  mid  seelische  Ent- 
wicklung verstehen  lehrten,  bisher  ziemlich  spärlich.  Tiefe  Einblicke 
in  sein  Wesen  gewährt  seit  bald  dreißig  Jahren  das  einzigartige  Tage- 
buch des  Untersekvmdaners  des  Breslauer  Magdalenen-Gymnasiums 
und  des  I^eipziger  Handelsschülers,  das  mit  imbeirrbarer  EhrHchkeit 
geführt  wurde.  Aber  diese  Aufzeichnimgen  brechen  schon  mit  dem 
Jahre  1841  ab,  und  dahinter  klaffte  eine  Lücke,  die  nur  unzureichend 
ausgefüllt  werden  konnte.  Die  Intimen  Briefe  an  Eltern  imd  Schwester, 
die  Eduard  Bernstein  1905  herausgab,  bereichern  unser  Wissen  um 
Lassalles  Studentenzeit,  in  der  Geist  und  Charakter  bei  ihm  ihre  end- 
gültige Form  annahmen,  bloß  um  einen  Brief  an  den  Vater  aus  dem 
Jahre  1844  imd  um  einen  Brief  an  die  Schwester  aus  dem  Jahre  1845. 
Ergiebiger  war  diese  Publikation  für  die  beiden  letzten  Jahre  des  Zeit- 
raums, auf  den  sich  hier  unser  Augenmerk  richtet.  Wenn  man  aber 
Jetzt  seinen  Nachlaß  erblickt,  gewinnt  man  den  Eindruck,  daß  Lassalle 
diejenigen  seiner  Briefe  an  die  Eltern,  die  er  selbst  des  Aufbewahrens 
für  wert  hielt,  nach  dem  Tode  des  Vaters  oder  auch  schon  früher  an 
sich  genommen  hat.  In  der  Tat  erschheßt  auch  für  die  Jahre  1846  bis 
1848  dieser  Nachlaßband  ganz  neue  Quellen  für  seine  Biographie. 
Wie  das  Tagebuch  werden  die  Intimen  Briefe  in  den  Anmerkungen 
-überall  herangezogen,  wo  sie  das  Material,  das  hier  mitgeteilt  wird, 
in  wesentlichen  Punkten  vervollständigen  helfen. 

Als  1891  Paul  lyindau  das  Jugendtagebuch  herausgab,  glaubte  er 
noch,  zu  momentane  oder  zu  impulsive  Ausdrücke  des  Schreibers 
abschwächen  zu  sollen.  Er  hielt  sich  dabei  nicht  frei  von  einer  Prüderie, 
die  tms  heute  ebenso  sonderbar  anmutet,  wenn  wir  an  Paul  Lindau, 
wie  wenn  wir  an  La-ssalle  selbst  denken.  Der  Herausgeber  dieser  PubU- 
"kation  fühlte  sich  nicht  berufen,  überschäumende  Äußerungen  einer 
kraftvollen  Persönlichkeit  abzuschwächen.  Am  wenigsten  paßte  Zag- 
haftigkeit zu  einem  Menschen  von  der  Furchtlosigkeit  vmd  charakter- 

Mayer,  Lassalle-Nachlass.     I  2 


vollen  Geschlossenheit  Lassalles.  Ein  ganzer  Mann,  trug  er  seine 
Fehler  und  Schwächen  unbedenklich  zur  Schau  und  machte  es  nie- 
mandem schwer,  sie  aufzufinden ;  er  war  sich  bewußt,  daß  seine  wert- 
vollen imd  bedeutenden  Eigenschaften  die  anderen  überschatteten. 
Bei  einigen  Briefen  gebot  es  die  Rücksichtnahme  auf  das  Pietäts- 
gefühl noch  lebender  Personen,  einzelne  Sätze  fortzulassen.  Doch  es 
sei  gleich  hier  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  diese  Auslassungen 
nirgends  das  Verständnis  des  Zusammenhanges  trüben.  Einem  glück- 
lichen Zufall  war  es  zu  danken,  daß  das  Original  jenes  Jugendtage- 
buchs einer  wissenschaftlichen  Durchsicht  unterzogen  werden  konnte.^) 
Die  Beschreibung  einer  Reise  des  Handelsschülers  nach  Halle  und 
Dresden,  die  Lindau  fortgelassen  hatte,  wurde  unserer  Veröffentlichung 
eingefügt  und  bildet  hier  jetzt  das  einzige  Stück,  das  nicht  aus  dem 
eigenthchen  Nachlasse  Lassalles,  der  dem  Fürsten  Hatzfeldt  gehört, 
stammt. 

IL 

Ferdinand  Lassalle  wurde  am  ii.  April  1825  in  Breslau  als  der 
einzige  Sohn  einer  wohlhabenden  jüdischen  Familie  geboren.  Von  der 
Umgebimg,  in  der  er  aufwuchs,  von  seinen  Kindheits-  und  Schul- 
jahren in  ihrem  äußeren  Verlauf,  von  den  Eindrücken,  die  sie  ver- 
mittelten, und  den  Einflüssen,  denen  sie  ihn  aussetzten,  entwirft  Her- 
mann Oncken  in  seiner  schönen  Lassalle-Biographie  ^)  ein  anschau- 
hches  Bild,  auf  das  wir  hier  verweisen  dürfen.  Dort  mag  man  nach- 
lesen, wie  der  frühreife  Knabe  sich  den  Aufenthalt  auf  dem  Gymnasium 
verleidete  imd  wie  er  nun  von  dem  Vater,  der  ihn  lieber  hätte  studieren 
lassen,  sich  ausbat,  daß  er  eine  Handelsschule  besuchen  dürfe.  Wie  er 
aber  nach  Leipzig  auf  eine  solche  kam,  wurde  ihm  bald  offenbar,  daß 
das  Schicksal  anderes  mit  ihm  vorhatte,  als  ihn  Kaufmann  werden 
zu  lassen;  am  besten  liest  man  im  Jugendtagebuch  selbst  nach,  wie 
hier  der  erwachende  Genius  sich  seines  künftigen  Wegs  bewußt  zu 
werden  begann.  Daß  der  spätere  Demagoge  bereits  auf  der  Handels- 
schule von  seiner  agitatorischen  Begabung  Gebrauch  gemacht  habe, 
hatten  einige  seiner  dortigen  Mitschüler,  imter  anderen  der  Agrarhisto- 
riker  August  Meitzen,  gelegentlich  erzählt.  Doch  erst  jetzt  erhalten  wir 
aus  einem  Brieffragment   an   den  Vater  (Nr.  5)  einen    unmittelbaren 


^)  Das  Tagebuch  gehörte  damals  dem  Berliner  Antiquar  Paul  Graupe,  dem 
hier  für  die  Herleihung  Dank  abgestattet  sei.  Seither  soll  es  in  den  Besitz  des 
Germanischen  Museums  übergegangen  sein. 

*)  Hermann  Oncken:  L«assalle.  Eine  pohtische  Biographie.  3.  Aufl.  Stutt- 
gart und  Berlin  1920,  Deutsche  Verlags- Anstalt. 


=-^-=  19  —  ^-=. 

Eindruck  von  dem  revolutionären  Treiben  des  Siebzelin jährigen.  Der 
Wirkung  dieser  Schilderung  wird  es  nicht  Abbruch  tun,  daß  sie  auf 
einem  zerfetzten  Blatt  nur  lückenhaft  auf  uns  gekommen  ist.  Bereits 
hier  zeigt  sich  Lassalle  ganz  von  dem  Gedanken  erfüllt,  um  den  auch 
später  all  sein  Sinnen  kreiste,  von  dem  der  Revolution:  schon  wurde 
sein  Vorbild  Robespierre,  dem  er  im  Grunde  wenig  ähnelte,  schon  be- 
ansprucht er,  in  der  ,, gewaltigen  Krise"  die  erste  Rolle  zu  spielen.  Er 
rühmt  sich,  daß  er  mit  der  , .glühendsten  Beredsamkeit"  die  ,, herr- 
lichsten Reden"  halte,  und  daß  er  überdies  noch  jeden  einzelnen  der 
Schüler  für  sich  bearbeite.  So  erblicken  wir  bereits  in  nuce  den  Agi- 
tator der  kommenden  Tage. 

III. 

Ungewißheit  herrschte  bisher  über  die  näheren  Umstände,  unter 
denen  sich  bei  Lassalle  der  Übergang  von  dem  Handelsschüler  zum 
Studenten  vollzog.  Wo  und  wie  konnte  er  sich  zum  Abiturium  v^or- 
bereiten,  zu  welchem  Termin  hat  er  es  bestanden?  Dokumente,  Notizen, 
Hinweise,  die  sich  im  Nachlaß  fanden  und  zu  erfolgreicher  Akten- 
nachforschvmg  den  Anstoß  gaben,  halfen  das  Dimkel  zu  lichten,  das  bisher 
über  diesem  Abschnitt  seines  Lebens  lagerte.  Nachdem  Heyman  Lassal 
dem  Wimsch  des  Sohnes  stattgeben  und  ihn  auf  die  Handelsschule 
gebracht  hatte,  bestand  er  nun  auch  darauf,  daß  Ferdinand  sie  bis 
zum  Abschlußexamen  besuchte.  ,,Mein  Vater,"  so  hatte  dieser  am 
13.  September  1840  in  sein  Tagebuch  geschrieben,  ,,will,  daß  ich  aus- 
harre imd  ein  Jahr  in  der  ersten  Klasse  bleibe,  um  dann  mit  dem 
Zeugnis  der  Reife  abgehen  zu  können.  »Sonst  hätten  ihm  seine  Opfer, 
die  er  mir  gebracht,  nichts  genützt.  Das  viele  Geld,  das  ich  ihm 
koste,  und  das  ihm  so  schwer  ankommt,  das  wäre  ja  herausgeworfen. 
Nein,  und  wenn  ich  noch  so  viel  zu  dulden  hätte,  ich  will  diese 
anderthalb  Jahre  standhaft  ertragen."  Doch  alle  guten  Vorsätze 
hinderten  ihn  trotzdem  nicht,  im  August  1841  die  Handelsschule 
Knall  und  Fall  zu  verlassen  und  zwar,  wie  von  nxm  ab  als  sicher 
anzunehmen  ist,  dem  ausdrücklichen  Wunsche  des  Alten  entgegen. 
Als  Ferdinand  bereits  nach  einigen  Monaten  am  Breslauer  Matthias- 
Gymnasium  das  Abiturientenexamen  bestehen  wollte,  hat  er  eine 
Vita  verfaßt,  die  sich  trotz  eifrigen  Suchens  nicht  wieder  auffinden 
ließ.  Aber  wir  erfahren  aus  einem  Bericht  der  Prüflingskommission 
an  den  Unterrichtsminister  Eichhorn,  und  eine  Eingabe,  die  Lassalle 
an  diesen  machte  und  die  wir  hier  abdrucken  (Nr.  9),  bestätigt  es, 
daß  er  selbst  darin  auf  seinen  ,, Kampf  mit  dem  Vater  um  die  Standes- 
wahl"  zu  sprechen  kam.    Der  Schulrat,  der  ihn,  wie  wir  gleich  sehen 


—  —-     20  ■ 

werden,  unter  allen  Umständen  zu  Fall  bringen  wollte,  konstruierte 
aus  diesem  Konflikt  mit  dem  Vater  eine  besondere  ,,Impietät",  aus 
der  er  einen  ,, Mangel  an  Charakterreife"  ableitete.  Genaueres  er- 
fahren wir  dann  noch  aus  einer  Notiz,  die  Gräfin  Sophie  Hatzfeldt 
bald  nach  Lassalles  Tode  machte,  als  sie,  mit  einer  Veröffentlichung 
über  seinen  Untergang  beschäftigt,  mehrere  Federn  in  Bewegimg  ge- 
setzt hatte,  um  dafür  eine  kurze  biograj^hische  Einleitimg  zu  schreiben. 
Was  sie  hier  aufzeichnete,  mag  etwas  romanhaft  ausgeschmückt 
sein,  aber  es  geht  wohl  doch  sicherlich  auf  Lassalles  eigene  Erzählung 
zurück.  Vom  Angesicht  des  Vaters  verbannt,  berichtet  sie,  habe  er  sich 
in  eine  Dachstube  des  elterlichen  Hauses  zurückgezogen,  wo  ihn  nur 
Mutter  und  Schwester  besuchten.  Hier  nun  habe  er  auf  eigene  Faust, 
so  wird  —  übrigens  mit  veränderter  Handschrift  —  weiter  erzählt, 
bloß  mit  Hilfe  von  Büchern  mid  einiger  Stunden  in  der  Woche,  die 
ein  mit  der  Familie  bekannter  Professor  dem  Knaben  gab,  sich  zum 
Examen  vorbereitet.  Aus  den  Akten  des  Matthias-Gymnasiums  er- 
sehen wir,  daß  dessen  erster  Mathematiker,  Professor  Brettner,  ihn 
damals  in  seinem  Fach  unterrichtete.  Daß  er  aber  auch  im  Deutscheu 
Privatunterricht  genoß,  beweist  eine  Reihe  von  Aufsätzen,  die,  von 
Lehrerhand  sorgfältig  korrigiert,  im  Nachlaß  sich  fanden  und  nur  in 
jener  Vorbereitungszeit  entstanden  sein  können. 

Um  diese  Zeit  lernte  ihn  der  aus  Kempen  im  Posenschen  gebürtige, 
spätere  angesehene  Publizist  und  Breslauer  Stadtverordnete  David  Honig- 
mann (1821 — 1885)  kennen,  dessen  I/ebenserinnerungen  für  Lassalles 
Biographie  bisher  noch  nicht  herangezogen  wurden.  ,,Er  entwickelte 
einen  eisernen  Fleiß,"  so  berichtet  dieser  ,,um  seine  lückenhaften 
Schulkenntnisse  zu  erweitem.  Er  ging  oft  tagelang  nicht  aus  und 
empfing  uns  in  einem  eleganten  Samtschlafrock  miter  einem  wüsten 
Haufen  von  Büchern  und  Papieren.  Schon  damals  beschränkte  er 
sich  nicht  auf  das  Nächstliegende,  sondern  trieb  gleichzeitig  mit 
uns  literarisch-philosophische  Allotria."  Davon  wird  weiterhin  noch 
zu  sprechen  sein.^) 

Lassalle  meldete  sich  also  zum  Ostertermin  1842  bei  dem  König- 
lichen katholischen  Matthias-Gymnasium,  wo  mit  ihm  noch  zwölf 
andere  ,, Wilde"  das  Examen  bestehen  wollten.  Nun  machte  jedoch 
ein  Paragraph  des  Prüfungsreglements  die  Zulassung  davon  abhängig, 
daß  man  in  der  Sekunda  mindestens  eineinhalb  Jahre  zugebracht, 
diese  selbst  aber  vor  wenigstens  zwei  Jahren  verlassen  haben  müsse. 
Daß   Lassalle   die   erste    Bestimmung   nicht   erfüllte,    teilte     Direktor 


^)   David   Honigmanas   Aufzeichnungen   aus  seinen  Studienjahren   (1841/45) 
im  Jahrbuch  für  jüdische  Gescliichte  und  I/iteratur,  Bd.  7  (1904)  S    133  f. 


21 

Wissowa,  wie  es  seine  Pflicht  war,  am  20.  Jaiiuar  1842  dem  Proviiizial- 
schulkollegium  mit,  imd  dieses  verfügte  daraiif  seine  Zurückweisung, 
„bis  auch  bei  ihm  vier  Jahre  vom  Eintritt  in  die  Sekunda  an  verflossen 
sein  würden".  Wann  jedoch  hätte  lyassalle  bei  dem  abschlägigen 
Bescheid  einer  Behörde  sich  ohne  weiteres  beruhigt?  Das  fiel  dem 
Siebzehnjährigen  so  wenig  ein  wie  später  dem  Agitator.  Und  wirklich, 
er  setzte  seinen  Willen  durch.  Auf  ein  Gesuch,  das  er  am  19.  Februar 
an  den  Minister  richtete,  erfolgte  drei  Tage  vor  dem  mündlichen  Examen 
der  Bescheid,  die  Teilnahme  sei  ihm  gestattet.  Aber  schon  hatten  die 
schriftlichen  Arbeiten  begonnen ;  der  lateinische  Aufsatz  und  die  mathe- 
matische Arbeit  waren  vorüber,  sie  mußte  er  im  Direktoratszimmer 
allein  nachholen.  Mit  der  Leitimg  des  Examens  als  Regierungskommissar 
war  nicht,  wie  man  erwartet  hatte,  der  Schulrat  Dr.  Vogel,  sondern 
der  Konsistorialrat  und  Professor  der  Theologie  an  der  Breslauer  Uni- 
versität Dr.  David  Schulz  betraut  worden.  Nicht  ganz  durchsichtig 
sind  die  Gründe,  welche  diese  ,, Säule  des  vulgären  Rationahsmus  in 
Schlesien",  wie  sein  Biograph  ihn  nennt,  mit  solchem  Ingrimm  gegen 
Lassalle  erfüllten.  Zwar  durfte  der  formale  Gesichtspmikt,  daß  der  kecke 
junge  Mensch  in  kürzerer  Zeit  zur  Matura  kommen  würde  als  andere, 
welche  der  gewöhnlichen  Schullaufbahu  gefolgt  waren,  offiziell  nicht 
mehr  ins  Treffen  geführt  werden,  nachdem  das  Ministerium  sich 
darüber  hinweggesetzt  hatte.  Dennoch  hatte  L,assalle  unzweifelhaft 
recht,  wenn  er  in  seiner  späteren  Beschwerde  Eichhorn  zu  verstehen 
gibt,  wie  stark  das  ProvinzialschuUcoUegium  ihm  seinen  Appell  an  den 
Minister  verdacht  habe.  Aber  ob  Schulz  es  allein  aus  diesem  Gnmde 
auf  einen  schweren  Konflikt  mit  dem  Direktor  und  allen  Lehrern,  die 
Lassalle  prüften,  hätte  ankommen  lassen?  Ungern  legt  man  per- 
sönliche Motive  imter,  wo  eigentlich  sachliche  ausreichen  sollten. 
Aber  muß  man  nicht  bedenldich  werden,  wenn  man  aus  Wissowas 
Rechtfertigungsschreiben  an  den  Minister  erfährt,  wie  Schulz  un- 
mittelbar vor  der  Fortsetzung  des  Examens  nach  der  Mittagspause 
sich  zu  einigen  der  prüfenden  Lehrer  darüber  aufhielt,  daß  Lassalle 
schon  jetzt  das  Abiturium  bestehen  wolle,  während  sein  eigener  Sohn, 
der  auf  dem  Magdalenen-Gymnasium  mit  jenem  in  derselben  Klasse 
gesessen  habe,  erst  in  die  Prima  käme  ?  Nicht  nur  tmter  biographischem, 
sondern  auch  unter  allgemein  schulgeschichtlichem  Gesichtspunkt 
kommt  den  Akten  des  Matthias-Gymnasiums  über  den  Verlauf  von 
Lassalles  Examen  Bedeutung  zu.  In  allen  wesenthchen  Punkten 
bestätigen  sie  vollauf,  was  Lassalle  in  seinen  beiden  hier  mitgeteilten 
Briefen  an  Eichhorn  berichtet:  Die  Lehrer,  die  dafür  hielten,  daß  er 
schriftlich  und  mündlich  eines  der  besten  Examina  gemacht  hätte,  er- 
klärten ihn  einmütig  für  reif,  der  Schulrat  aber  übte  auf  sie  eine  unerhörte 


Pression  aus.  Er  schreckte  selbst  davor  nicht  zurück,  auf  eigene  Faust 
die  günstigeren  Zensuren  der  Lehrer  umzustoßen  und  durch  schlechte 
zu  ersetzen,  am  Ende  brach  er,  indem  er  erklärte,  die  volle  Verant- 
wortung zu  übernehmen,  den  Widerstand  des  Direktors  und  der  Ivchrer. 
Daß  diese  sich  in  der  entscheidenden  Konferenz  nicht  eben  helden- 
mäßig benommen  hatten,  gestanden  sie  hernach  selbst  ein;  in  ihrer 
aller  Namen  schrieb  der  Direktor  in  einem  Rechenschaftsbericht  au 
die  vorgesetzten  Behörden,  die  Kommission  habe  eine  klägliche  Rolle 
gespielt,  weil  sie  ,, durch  Heftigkeit  und  Drohungen  sich  einschüchtern 
und  zur  Anerkennung  fremder  Absicht,  mithin  zur  Selbstherabwürdigung 
zwingen"  ließ.  Wie  völlig  es  der  königliche  Kommissarius  an  Ob- 
jektivität fehlen  ließ,  beweist  das  Schicksal  von  Lassalles  deutschem 
Aufsatz.  David  vSchulz'  wissenschaftliches  Hauptbestreben  war,  die 
wesentlichsten  Ideen  des  Urchristentums  auszumitteln  und  auf  rationa- 
listische Weise  mit  der  Humanität  zu  versöhnen.  Wir  wissen  nicht 
authentisch,  ob  das  Thema  des  Abiturientenaufsatzes,  das  eine  ,, Ent- 
wicklung des  Begriffs  Humanität"  verlangte,  von  ihm  persönhch  ge- 
stellt war.  Das  Lehrerkollegium  meinte,  jeder  unbefangene  Beurteiler 
werde  finden,  daß  es  eigentlich  über  den  Gesichtskreis  so  junger  Leute 
hinausginge.  Nun  hatte  Julius  Zastra,  ein  besonders  bewährter  Lehrer 
im  Deutschen,  in  Lassalles  Aufsatz  zwar  ,, viele  aus  Lektüre  geschöpfte 
Reminiszenzen"  festgestellt,  ,,die  dem  Gegenstand  mehr  oder  weniger 
fernliegen,  auch  nicht  immer  ganz  gründlich  aufgefaßt  sind",  aber  er 
hatte  das  ,,glückHche  Talent  der  Darstellung"  und  die  ,, große  Ge- 
wandtheit im  Ausdruck"  für  sein  Urteil  entscheidend  sein  lassen.  Weil 
aber  Schulz  außer  auf  Lassalles  I/cbensbeschreibung  seinen  ,, Haupt- 
angriff" auf  diesen  deutschen  Aufsatz  richtete,  erachtete  die  Prüfungs- 
kommission es  für  geraten,  sich  noch  einmal  ausführlicher  mit  ihm  zu 
beschäftigen.  Das  Urteil,  das  sie  fällte,  ist  beachtenswert  genug, 
um  wörtlich  mitgeteilt  zu  werden:  ,,Dem  von  den  Schriften  mancher 
der  neuesten,  zumal  jüdischer  Schriftsteller  angeregten  Lassal  war 
Humanität  mit  Toleranz  und  Liberalismus  in  leicht  möglicher  Begriffs- 
unsicherheit als  eines  erschienen  und  manche  moderne  Zeitidee  und 
Lesefrüchte  hatten  sich  ihm  dabei  dargeboten,  aber  Geist  und  Sprach- 
gewandtheit waren  uns  darin  in  einem  Grade  wie  bei  keinem  anderen 
der  Geprüften  erschienen,  und  insofern  hatten  wir  die  Arbeit  für  die 
beste  gehalten."  Wie  verständnisvoll  erscheint  dies  Urteil  der  Lehrer, 
die  übrigens,  wie  sie  bezeugen,  Lassalle  eben  erst  kennen  lernten,  neben 
dem,  welches  der  königliche  Kommissarius  ihnen  oktroyierte!  Er  gab 
schlankweg  die  folgende  Note:  ,,Sein  deutscher  Aufsatz  über  den  Begriff 
der  Humanität  ist  ein  Gemisch  von  unverdauten  und  mißverstandenen 
Phrasen  ohne  rechtes  Verständnis  für  die  Sache,    ohne  Plan  und  mit 


=^=  23      - 

zahlreichen  sprachlichen  und  orthographischen  Fehlern,  besonders  ohne 
richtige  Interpunktion,  die  auch  sonst  bei  den  übrigen  Arbeiten  fehlt." 

So  vollständig  Lassalle  im  Recht  war,  so  wenig  gelang  es  ihm  doch 
bei  diesem  ersten  Kampf  mit  den  Behörden,  sich  sein  Recht  zu  erstreiten. 
Obgleich  er,  wie  die  Gräfin  berichtet,  Eichhorn,  der  sich  im  Gefolge 
des  Königs  gerade  in  Erdmannsdorf  in  Schlesien  aufhielt,  seine  ,, Bitt- 
schrift" persönlich  überreichte,  blieb  Schulz  Sieger;  Lassalle  mußte 
sich  fügen  imd  ein  Jahr  warten.  Erst  Ostern  1843  hat  er  dann,  wieder- 
um am  Matthias-Gymnasium,  diesmal  unter  dem  Schulrat  Dr.  Vogel, 
das  Abiturium  bestanden.  Im  deutschen  Aufsatz  mußte  er  die  Frage 
beantworten,  welche  Verdienste  Kaiser  Karl  den  Namen  des  Großen 
erworben  hätten.    Sein   Reifezeugnis  ist  vom  21.  April  1843  datiert. 

Ein  bezeichnendes  Licht  auf  Lassalles  Charakter  wirft  es,  wie  er 
sich  zu  dem  Mann,  der  ihm  zweifellos  bitteres  Unrecht  zugefügt  hatte, 
stellte,  als  diesem  selbst  drei  Jahre  später  die  Regierung  übel  mit- 
spielte. Weil  Schulz  als  ausgesprochener  Gegner  des  Pietismus  sich 
an  der  Redigierung  einer  Erklärung  beteiligt  hatte,  die  eine  freiere 
Organisation  der  protestantischen  Kirche  forderte ,  enthob  eine 
Kabinettsorder  Friedrich  Wilhelms  IV.  vom  26.  September  1845  ihn 
seines  Platzes  im  Konsistorium.^)  Nun  griffen  bekanntlich  im  Vor- 
märz die  freiheitlich  gesinnten  Elemente  jede  Maßregelung,  die  von 
reaktionärem  Geist  eingegeben  war,  auf,  um  in  der  Form  von  Sym- 
pathiekundgebimgen  für  das  Opfer  Gesinnungen  kundzutun,  die  sie 
in  direkter  Form  nicht  aussprechen  durften.  Noch  überlegten  die 
Breslauer  Stadtverordneten,  zu  denen  auch  Lassalles  Vater  von  1841 
bis  1849  gehörte,  ob  sie  dem  Magistrat  vorschlagen  sollten,  Schulz 
zum  Ehrenbürger  zu  ernennen  oder  ob  sie  gar  wagen  wollten,  in  einer 
Adresse  an  den  König  dem  Bedauern  über  die  Amtsentsetzimg  des 
Konsistorialrats  Ausdruck  zu  geben.  Am  Ende  begnügten  sie  sich 
mit  einem  Geschenk  und  einer  Glückwunschadresse  zu  Schulz'  Geburts- 
tag. Den  jungen  Lassalle  aber  hatte  dieser  an  sich  unbedeutende 
Konflikt  inzwischen  bereits  so  stark  erregt,  daß  er,  sicherlich  wohl 
für  den  Vater,  der  sich  ihrer  bedienen  sollte,  eine  Eingabe  der  Stadt- 
verordneten und  des  Magistrats  an  den  König  entwarf,  in  der  über  die 
Amtsentsetzung  des  ,,in  den  weitesten  Kreisen  unserer  Stadt  hoch- 
geachteten geistlichen  Beamten"  Klage  geführt  wurde.  Wo  öffent- 
liche Fragen  zur  Entscheidung  standen,  traten  stets  bei  Lassalle  persön- 
liche Gegensätze  in  den  Hintergrtmd.  Der  Entwurf  dieser  Eingabe 
wird  gemeinsam  mit  ähnlichen  Schriftstücken  an  einer  anderen  Stelle 
dieser  Pubhkation  seinen  Platz  finden. 

'}  JuUus  Stein,  Geschichte  Breslaus  im  19.  Jahrhundert.  Breslau  1884. 
S.  1671,   193  f. 


IV. 

Lassalle  bezog  also  nicht,  wie  alle  seine  Biographen  bisher  an- 
genommen haben,  schon  1842,  sondern  erst  Ostern  1843  die  Univer- 
sität. Die  beiden  ersten  Seraester  studierte  er  in  seiner  Heimatstadt, 
den  Sommer  1844  und  Winter  1844/45  war  er  in  Berlin,  den  Sommer 
1845  in  Breslau,  den  Winter  1845/46  wieder  in  Berlin  immatrikuliert. 
Danach  wurde  er,  weil  er  keine  Kollegien  mehr  belegt  hatte,  im 
Sommer  1846  aus  dem  Album  der  Universität  gelöscht.  Die  Briefe, 
die  er  aus  Berlin  an  den  Vater  schreibt,  lassen  erkennen,  daß  seine 
selbständige  Natur  sich  von  der  Teihiahme  an  den  Vorlesungen  keine 
wesenthche  Förderung  versprach,  daß  er  aber  noch  höher  als  die 
allgemeinen  die  Fachkollegien  schätzte.  So  hat  er,  wie  der  Ivehrer 
ihm  wiederholt  bezeugt  und  wie  seine  Hefte  erkennen  lassen,  während 
seiner  drei  Breslauer  Semester  ,,mit  rühmlichstem  Fleiß"  bei  dem 
Philologen  Friedrich  Haase  gehört,  an  dem  ihm  sympathisch  sein 
mochte,  daß  er  wegen  Teilnahme  an  der  Burschenschaft  früher 
Drangsale  erlebt  hatte.  Bei  Haase  belegte  er  der  Reihe  nach  Er- 
klänmgen  von  Sophokles  Oedipus  Tyrannos,  Griechische  Altertümer, 
Bedeutimgslehre  und  Syntax  der  lateinischen  Sprache  und  Methodik 
des  philologischen  Studiums  und  Unterrichts.  Auch  Richard  Roepell, 
der  Schüler  L,eos  und  Rankes,  bestätigt  ihm,  daß  er  seine  Vor- 
lesungen über  Geschichte  der  neuesten  Zeit  ,, recht  fleißig"  besucht 
habe,  während  der  reaktionäre  Philosophieprofessor  Braniss,  der  ihm 
nichts  geben  konnte,  bloß  Lassalles  ,, Meldung  bescheinigt". 

Den  beiden  frühen  Semestern  in  Breslau  gehören  in  diesem  Bande  die 
Stücke  Nr.  12  und  13  an,  die  von  den  zwei  verschiedenen  Richtungen 
Kunde  geben,  in  die  sein  Interesse  sich  damals  erstreckte.  Bekannt  ist, 
daß  er  in  die  Burschenschaft  der  Raczeks  eingetreten  war,  die  einem  radi- 
kalen Geist  huldigte  und  aus  der  nicht  bloß  zufällig  auch  noch  andere 
demokratische  PoHtiker  von  Ruf  hervorgegangen  sind.  Die  Vorgänge, 
die  zu  der  hier  zuerst  abgedruckten  Adresse  an  den  Akademischen 
Senat  die  Veranlassung  gaben,  sind  schon  anderswo  erzählt  worden.^) 
Zu  Anfang  des  Winters  1843/44  war  nämlich  der  in  Königsberg  kon- 
silnerte  politische  Lyriker  Rudolf  Gottschall  nach  seiner  Heimatstadt 
Breslau  gekommen,  um  hier  seine  Studien  fortzusetzen.  Aber  noch 
bevor  seine  Immatrikulation  erfolgt  war,  wurde  er  in  einen  akade- 
mischen Skandal  verwickelt.    Die  Studenten  hatten  in  einer  Vorlesung 

^)  Vgl.  Gründung  und  Butwickluag  der  Breslauer  Burschenschaft.  Pestgabe 
zu  ihrer  fünfzigjährigen  Jubelfeier  am  26.  und  27.  Oktober  1867  den  alten  Herren 
dargebracht  von  der  (alten)  Breslauer  Burschenschaft,  Breslau  1867;  ferner  Die 
alten  Raczeks,  Breslau  19 17,  und  Rudolf  von  Gottschall,  Aus  meiner  Jugend, 
Berlin  1898,  S.  iigff. 


ihrem  Mißfallen  darüber  Ausdruck  gegeben,  daß  Professor  Braniss  gegeu 
Ludwig  Feuerbacb,  die  jungbegelsche  Philosophie  wie  überhaupt  gegen 
radikale  Ideen  zu  Felde  zog.  Als  sie  von  dem  Studenten  Hermann 
Grieben,  einem  späteren  Redakteur  der  , .Kölnischen  Zeitung",  in  der 
,, Breslauer  Zeitung"  deswegen  zur  Rede  gestellt  wurden,  schrieb  Max 
von  Wittenburg,  der  an  der  Spitze  der  Burschenschaft  stand,  eine 
Studentenversammlung  aus,  in  der  Grieben  sich  wegen  seiner  Zeitungs- 
polemik rechtfertigen  sollte.  Diese  Versammlung  wurde  vom  Senat 
untersagt,  aber  dennoch  abgehalten  und  stark  besucht.  Wittenburg, 
Gottschall  imd  —  das  erstemal,  daß  man  ihn  öffenthch  hörte  — 
Lassalle  waren  die  Redner.  Die  Übertrettmg  des  Verbots  führte 
dahin,  daß  Wittenburg  konsihiert  und  Gottschall,  dessen  Lieder  die 
Burschen  sangen,  aus  der  Stadt  verwiesen  wurde.  Als  er  nun  ein 
glänzendes  Komitat  erhielt,  wurden  die  Studenten,  die  sich  daran 
beteihgt  hatten,  wiederum  zur  Untersuchimg  gezogen,  Anders  (Casca) 
konsiliiert,  mehrere,  unter  ihnen  Lassalle,  mit  Karzer  bestraft.  Gott- 
schall hatte  gerade  eben  in  Breslau  sein  Trauerspiel  ,, Robespierre" 
geschrieben,  dessen  Entstehung  Lassalle  schon  aus  Anteilnahme  für 
den  Helden  mit  Interesse  verfolgen  mußte.  Aus  dem  April  1845  hegt 
uns  die  Nachricht  vor,  daß  der  Verfasser  ihm  in  Berlin,  wohin  l^eide 
inzwischen  übergesiedelt  waren,  das  Manuskript  geliehen  hatte.  Der 
Einfluß,  der  von  Max  von  Wittenburg  damals  ausging,  legt  die  Ver- 
mutung nahe,  daß  er  einen  in  Lassalles  Nachlaß  befindhchen 
größeren  Aufsatz  verfaßt  haben  könnte,  der,  überschrieben:  Der  Ver- 
rat an  der  deutschen  Burschenschaft,  allgemeinen  pohtischen  Inhalts 
ist,  aber  in  seiner  Fortsetzvmg,  die  fehlt,  eine  Polemik  gegen  den  Bimdes- 
bruder  und  späteren  Breslauer  Redakteur  August  Semrau  enthalten 
haben  muß. 

Die  andere  Umgebung,  in  der  Lassalle  als  Breslauer  »Student  sich 
bewegte,  hat  bisher  überhaupt  noch  keine  gründlichere  Untersuchung 
erfahren.  Bei  seiner  starken  jüdischen  Bevölkerimg,  die  aus  dem 
polnischen  Hinterland  fortwährend  Zustrom  gerade  auch  von  geistig 
regsamen  Elementen  erhielt,  war  Breslau,  besonders  seitdem  Abra- 
ham Geiger  seinen  Wirkungskreis  hierher  verlegt  hatte,  einer  der 
Hauptschauplätze  geworden,  auf  denen  damals  die  von  der  Ortho- 
doxie sich  frei  kämpfenden  geistigen  Kräfte  innerhalb  des  Judentums 
Anschluß  an  die  ihnen  verwandten  oder  ihnen  parallel  gehenden  gei- 
stigen Strömungen  der  deutschen  protestantischen  Welt  suchten.  Ging 
Abraham  Geiger  selbst  keineswegs  so  weit  wie  seine  Freunde  vom 
Reformverein,  die  M.  A.  Stern,  Gabriel  Riesser  und  Theodor  Creizenach, 
sträubte  er  persönlich  sich  auch  gegen  ,,das  Junghegeltum  mit  seinem 
Subjektivitätsdünkel"  und   seinem   ,, gemeinen  Ankämpfen  gegen   alle 


-^^^        — =^  26  .^— 

Demut  in  der  Menschenbrust",^)  so  konnte  er  doch  nicht  verhindern, 
daß  bei  einigen  der  Jünger,  die  ihn  umgaben,  die  Halhschen  und 
Deutschen  Jahrbücher  enthusiastischen  Anklang  fanden.  Gerade  mit 
diesen  jüngeren  Elementen  aber  trat  P'erdinand  Lassalle  in  der  Zeit, 
als  er  sich  noch  zum  Abiturium  vorbereitete,  in  engere  Beziehung.  In 
seinen  schon  obenerwähnten  Jugenderinnerungen  berichtet  David  Honig- 
mann, wie  er  gemeinsam  mit  seinem  Landsmann  Bernhard  Fried- 
mann, der  in  der  Beherrschung  der  Dialektik  von  ihnen  weitaus  der 
geschulteste  gewesen  sei,  und  dem  viel  jüngeren  Ferdinand  Lassalle 
sich  damals  in  die  Doktrinen  der  Hallischen  und  Deutschen  Jahrbücher 
vertieft  habe.  Gemeinsam  mit  ihnen  und  mehreren  anderen  Studenten 
imterrichtete  um  diese  Zeit  Lassalle  zeitweise  an  einer  Art  freiem 
Vorgymnasium,  das  die  aus  Polen  einwandernden  mit  regem  Bildungs- 
trieb ausgestatteten,  aber  in  ihren  Schulkenntnissen  vernachlässigten 
Talmudjünger  für  die  höheren  Gymnasi alklassen  vorbereitete.  Ob 
der  junge  Eduard  Lasker  aus  Jarotschin,  der  spätere  Führer  der 
deutschen  Nationalliberalen,  der  diesen  Kurs  besuchte,  auch  an  dem 
griechischen  Unterricht,  den  Lassalle  gab,  teilgenommen  hat,  ist  uns 
nicht  bekannt.  Jenes  Vorgymnasium  stand  in  enger  Verbindung  mit 
dem  1842  von  Geiger  gegründeten  Lehr-  und  Lese  verein.  Diesem  ist  ein 
von  dem  jungen  Ferdinand  Lassalle  verfaßtes  längeres  Gedicht  gewidmet, 
das  er  auf  die  Rückseite  einer  Faktura  aus  dem  väterlichen  Geschäft 
gekritzelt  hat.  Die  vielen  Anspielungen  auf  Vorgänge  in  diesen  Kreisen, 
die  es  enthielt,  konnten  wir  nicht  entziffern,  auch  der  Sinn  ist  nicht 
durchweg  verständlich,  aber  soviel  liest  man  heraus,  daß  in  dem  Lehr- 
ivnd  Lese  verein  eine  junghegelianisch  gesinnte  Opposition,  mit  der 
Lassalle  sympathisiert,  sich  störend  bemerkbar  machte  und  daß  diese 
Opposition  sich  alsbald  über  alle  konfessionellen  Schranken  fortsetzte 
und  der  Sinnenlust  das  Wort  redete: 

,,Zwar  glaubt  er  mid  sein  Mephisto  an  Gott  noch  und  Inkarnation 

Und  an  Dreieinigkeiten  und  an  die  Passion. 

Sie  haben  zur  Gottheit  gesetzt  sich  den  dialektischen  Fluß. 

Wenn  der  sich  in  Frau'n  inkarnieret,  erhält  er  manch  glühenden  Kuß, 

Und  Leier  und  Wein  und  Küssen,  das  ist  die  Dreieinigkeit 

Und  die  Passion  für  diese,  ,,das  sitthche  Pathos"  der  Zeit. 

Und  weil  das  Diesseits  geblieben,  das  Jenseits  aber  nicht  mehr, 

So  zieh'n  sie  aus  Mahomeds  Himmel  die  Houris  zur  Erde  her." 

Von  der  Religion  seiner  Väter   hat  Lassalle  sich  zwar  äußerlich 
niemals  formell  getrennt.     Im  Innern  entfremdete  er  sich  ihr  schon 

')  Abraham    Geiger,    Nachgelassene    Schriften,    herausgegeben    von    t,udwig 
Geiger,  Bd.  V,   Berlin   1878,  S.  167. 


als  Stmlent,  je  tiefer  er  sich  in  Hegel  versenkte,  während  gleichzeitig 
manche  Gedanken  Ludwig  Feuerbachs  bei  ihm  Eingang  fanden.  Daß 
er  aber  zu  Anfang  seines  Studiums  noch  starkes  Interesse  für  eine  Re- 
formation des  Judentums  besaß,  zeigt  der  Brief  Nr.  13,  der  von  seinem 
Bemühen  Kunde  gibt,  mit  den  leitenden  Männern  der  jüdischen  Reform- 
bewegung in  direkte  Verbindung  zu  treten.  Für  alles,  was  auf  diesen 
speziellen  Gegenstand  Bezug  hat,  verweise  ich  auf  meinen  Aufsatz: 
, .Ferdinand  Lassalle  und  die  jüdische  Reformbewegung"  in  der  Monats- 
schrift „Der  Jude",  herausgegeben  von  Martin  Buber,  5.  Jahrgang  1920, 
vS.  26  ff. 


V. 

In  emem  besonderen  Umschlag  befanden  sich  im  Nachlaß  die  Kon- 
zepte zu  einer  Anzahl  an  unbekannte  weibliche  Wesen  gerichteter 
Liebesbriefe  von  Lassalles  Hand,  die  sämtlich  weder  eine  Orts-  noch 
eine  Zeitangabe  verraten.  Auf  diesen  Umschlag  hatte  die  Gräfin  Hatz- 
feldt  die  folgende  Bemerkung  gesetzt:  ,, Liebesbriefe,  geschrieben  von 
Ferdinand  Lassalle,  als  er  18  Jahre  alt  war.  Nur  berücksichtigungs- 
wert als  Zeichen  der  grenzenlosen  Leidenschaftlichkeit,  mit  welcher  er 
alles  erfaßte.  Die  Gedanken  noch  völlig  imklar,  ungeläutert,  lassen 
schon  im  Keim  den  künftigen  Lassalle  erkennen,  der  sich  wenige 
Jahre  später  so  herrlich  und  selbstbewußt  klar  entwickeln  sollte." 
Wie  weit  die  Altersangabe,  die  die  Gräfin  hier  macht,  wörtlich  zu 
nehmen  sei,  darüber  ließe  sich  streiten.  Trotz  der  bewimdernswerten 
Pietät,  die  sie  auf  die  Erhaltung  und  Ordnung  der  Papiere  Lassalles 
verwandte,  war  ihre  stärkste  Seite  nicht  historische  Genauigkeit.  Wir 
sind  wenig  unterrichtet  über  I^assalles  intime  Verhältnisse  zu  den 
Frauen  in  dieser  frühen  Zeit.  Rudolf  Gottschall,  der  ihn  in  Berlin 
öfter  in  seiner  Studentenwohnung  aufsuchte,  erzählt  von  einer  Epoche 
vornehmer  Liebesabenteuer,  die  er  dort  anfangs  durchlebt  tmd  von 
Liebesbriefen  im  LTmfang  von  einigen  Bogen  Konzeptpapier,  die  er 
in  echtem  Romanstil  an  vornehme  Damen  gerichtet  habe.  Später  habe 
er  mehr  Naturkinder  geliebt,  er  sei  zu  den  Gretchen  und  Klärchen 
herabgestiegen.  Neue  Aufschlüsse  gewähren  uns  die  sehr  ausführ- 
lichen Berichte,  die  sein  nächster  Freund,  mit  dem  er  in  Berhn  auch 
zusammenwohnte,  Dr.  Arnold  Mendelssohn  ihm  erstattete,  nachdem 
er  im  Frühling  1845  nach  Breslau  zurückgekehrt  war.  Sie  erlaubten 
wenigstens  von  einem  Teil  der  Briefe  festzustellen,  wem  sie  zugedacht 
waren  und  wann  sie  geschrieben  wurden.  Sein  Herz  besaß  damals 
die  Gesanglehrerin  Lonni  Grodzka,  von  der  wir  hier  erfahren,  daß 
er  sie  1844  kennen  lernte.    Die  übrigen  Briefe  könnte  man  eher  mit 


der  Gräfin  Hatzfeldt  dem  Achtzehnjährigen  zutrauen.  Von  ihnen 
ist  einer  an  eine  Dame  namens  Emma  gerichtet,  Ü1x;r  die  wir  weiter 
nichts  wissen,  ebensowenig  läßt  sich  über  die  verheiratete  Frau  sagen, 
an  die  er  die  anderen  beiden  Briefe  schrieb.  Daß  es  sich  bei  ilmen  um 
bloße  Stilübungen  gehandelt  haben  sollte,  ist  nicht  wahrscheinlich. 
Höchst  bezeichnend  für  den  Autor  ist,  daß  er  leidenschaftliche  Ergüsse 
wie  diese  erst  ins  Konzept  geschrieben  hat. 

Feiner  mid  ernster  waren  aber  die  Fäden,  die  lyassalle  an  Lonni 
Grodzka  knüpften,  mit  der  Arnold  Mendelssohn,  in  dessen  Eltern- 
hause sie  verkehrte,  ihn  bekannt  machte.  Soweit  sich  sehen  läßt,  war 
es  dieser  gewesen,  der  gewünscht  hatte,  daß  Lassalle  mit  der  jungen 
Künstlerin  am  Himmelfahrtstage  1844  jenen  Ausflug  machte,  auf  dem 
ihr  Verhältnis  sich  schürzte.  Zwar  liebte  Mendelssohn  selbst  seit  fünf 
Jahren  das  Mädchen,  das  er  ,,vor  lauter  Liebe  nicht  ansehen  konnte". 
Dennoch  spricht  alle  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  Lassalle  es  ihm 
nicht  gegen  seinen  Willen  abspenstig  machte,  sondern  daß  er  ihm 
damit  viel  eher  einen  Wunsch  erfüllte.  Zum  Verzicht  bestimmte 
Mendelssohn  seine  Vermögenslosigkeit,  die  ihn  sehr  drückte,  andere, 
nicht  so  leicht  erklärhche  Gründe  mochten  ihn  in  dem  Entschluß  be- 
stärkt haben.  Selbst  traute  er  sich  nicht  die  Kraft  zu,  das  Mädchen, 
dem  auch  er  nicht  gleichgültig  war,  von  sich  zu  stoßen.  Die  Ivonni 
war  eine  weiche  und  empfindliche  Seele.  Ihrer  Kunst  inbrünstig 
hingegeben,  verlangt  es  diesen  ,, allzu  unselbständigen  Efeu",  wie 
Mendelssohn  sie  nennt,  doch  beständig  nach  dem  Stamm,  ,,an  dem  sie 
sich  emporranken  könnte".  Sie  habe,  schreibt  von  ihr  der  Arzt,  der  sie 
aus  liebendem  Herzen  studiert  hatte,  an  ihre  nächste  Fretmdin,  keine 
jener  glänzenden  und  eitlen  Eigenschaften,  welche  die  Augen  blenden 
imd  das  Herz  kalt  lassen.  Im  Gegenteil,  sie  fessele  durch  unschein- 
bare und  nur  ein  feineres  Gefühl  bei  längerer  Bekanntschaft  gewinnende 
Tugenden.  Zwar  sehe  sie  sehr  viele  Menschen,  aber  sie  bleibe  in  einem 
ganz  äußeren  Verhältnis  zu  ihnen.  Sie  lebe  in  der  Tat  ganz  äußerlich, 
und  gerade  deshalb  bleibe  ihr  Inneres  imberührt.  Sie  lebe  jahrelang 
in  einer  Einbildung,  ohne  einen  wirklichen  Beweis  von  dem  zu  haben, 
was  sie  sich  einbilde.  Auf  dieses  fein  empfindUche  und  doch  schon 
nach  dem  starken  Lebensgefährten  ausschauende  Mädchen  konnte  ein 
JüngHng  wie  Lassalle,  bei  dem  sich  zu  einem  stürmischen  Temperament 
mid  einer  imponierenden  Geistigkeit  bereits  eine  imgewöhnliche 
Bestimmtheit  des  Charakters  gesellte,  wohl  Eindruck  machen.  Er 
mußte  sie  freilich  von  dem  Augenbhck  an  erkälten,  wo  er,  der  entfernt 
nicht  daran  dachte,  sich  aufs  lieben  zu  verpflichten,  sie  mit  Fordenmgen 
bedrängte,  denen  ihre  noch  bürgerlich  gebundene  Vorstellung  wider- 
strebte.   Nachdem   es   aus  solchem   Grunde   zwischen   ihnen   zu  dem 


Bruch  gekommen  war,  den  die  hier  abgedruckten  Briefe  veranschau- 
hchen,  hat  Lonni,  und  wir  glauben  es  ihr,  Mendelssohn  gestanden. 
daß  sie  das  Verhältnis  zu  Lassalle  gern  aufgelöst  habe. 

Nicht  genug  zu  bedauern  ist  für  die  Kenntnis  dieser  ganzen  in 
Lassalles  lieben  grundlegenden  Epoche,  daß  sich  seine  Antworten  auf 
Mendelssohns  so  ausführhche  Briefe  nicht  erhalten  haben. ^)  Mit  der 
Lösung  der  persönhchen  Beziehmigen  hatte  Lassalle  keineswegs  das 
menschhche  Interesse  für  die  jimge  Musikerin  verlassen,  so  merk- 
würdig die  Art  auch  sein  mochte,  auf  die  er  dieses  in  den  nächsten 
Monaten  betätigte.  Aus  seinen  Briefen  an  Lonni  erfahren  wir  von 
einem  Fluch,  den  er  ihr  beim  Abschied  mitgab,  der  sie  stark  erregte 
und  um  dessen  Zurücknahme  sie  ihn  bat.  Wollte  Lassalle  etwa 
diesen  Fluch  zur  Wahrheit  machen,  als  er  fortan  im  Bimde  mit 
Mendelssohn,  der  nur  seine  Aufträge  ausführte,  darauf  hinarbeitete, 
daß  das  Mädchen  einen  reichen  Mann  heiratete?  Mendelssohns  Liebe 
zu  dem  ,,Wurm"  —  so  heißt  sie  hinfort  in  seinen  Briefen  —  war  keines- 
wegs erloschen,  und  als  Lonni  ihm  jetzt  gestand,  wie  gut  sie  ihm  früher 
gewesen  sei,  imd  daß  sie  ihn  noch  immer  zu  lieben  glaube,  wurde  er 
auf  eine  harte  Probe  gestellt.  Aber  sie  ließ  er  das  nicht  merken;  viel- 
mehr bemühte  er  sich,  alle  Bedenken  zu  zerstreuen,  die  sie  gegen  ihren 
reichen  Freier,  den  Gutsbesitzer  I^evonius  aus  Russisch-Polen,  vor- 
brachte, dessen  HäßHchkeit  sie  abstieß,  wenn  auch  die  zarte  Zuneigimg, 
die  sie  bei  ihm  wahrnahm,  einigen  Eindruck  auf  sie  machte.  Obgleich 
Mendelssohn  diesen  Mann  noch  keinmal  gesehen  hatte,  so  bestimmte 
er,  der  alle  seine  Weisungen  von  Lassalle  bezog,  das  Mädchen  am  Ende, 
Levonius  ihr  Jawort  zu  geben.  Im  Sommer  1845  finden  wir  es  ver- 
lobt imd  den  Bräutigam  bereit,  aus  Liebe  zu  Lonni  seinen  Wohnsitz 
nach  Berlin  zu  verlegen. 


VI. 

Aus  Mendelssohns  Briefen  an  I^assalle,  die  sich  im  Nachlaß  in 
großer  Fülle  finden,  wurden  für  diese  Pubhkation  nur  solche  Abschnitte 
ausgewählt,  denen  für  die  Biographie  Lassalles  oder  für  die  politische 
tmd  Geistesgeschichte  der  Zeit  Bedeutung  zukommt.  Arnold  Mendels- 
sohn wurde  etwa  1818  als  Sohn  Nathans,  des  jüngsten  Sohnes  des 
Philosophen  Moses  Mendelssohn,  der  in  späteren  Jahren  nach  Berhn 
zog  und  hier  als  Stcmpelrevisor  lebte,  in  Neisse  geboren.  Er  war  also 
ein  Nefie  des  Kommerzienrats  Joseph  Mendelssohn  mid  ein  Vetter  des 
Komponisten    FeUx    Mendelssohn-Bartholdy.      Mit    geistigen    Gütern 

1)  Nachforschungen  bei  den  Kindern  von  Arnold  Mendelssohns  Bruder 
erwiesen  sich  leider  als  erfolglos. 


^■' ^=^  30  —     --3^^ 

war  auch  der  Zweig  der  begabten  P'amilie,  dem  dieser  Freund  lyassalles 
angehörte,  reich  ausgestattet.  Daß  ihm  aber  die  welthchen  Glücks- 
güter versagt  waren,  lastete,  wie  wir  schon  sahen,  auf  Arnold  Mendels- 
sohn, der  in  seiner  Lebensführung  anspruchs\-oll  war  und  auf  die  Unter- 
stützvmg  der  reichen  \'er\vandten  sich  ungern  angewiesen  sah.  In 
seinen  Briefen  holt  er  sich  immer  wieder  bei  Lassalle  Rat,  welche  Wege 
irinzuschlagen  wären,  um  von  dem  einen  oder  anderen  Mitglied  der 
Bankierfamiüe  ein  Darlehen  herauszuziehen. 

Wie  es  geschehen  konnte,  daß  er,  der  so  ^•iel  Ältere,  in  den  Bann 
des  Jüngeren,  er,  der  fertige  Arzt,  zur  fast  willenlosen  Hingal^e  an  den 
jungen  Studenten  kam,  darüber  erhalten  wir  völligen  Aufschluß  erst 
aus  seinem  Brief  vom  Januar  1845  (Nr.  28)  an  seinen  Onkel  Joseph 
Mendelssohn,  den  Begründer  und  damaligen  Seniorchef  des  großen 
Bankhauses.  Deuthcher  noch  erschließt  sich  ihr  ganzes  Verhältnis  und 
sein  Ablauf  aus  den  nachfolgenden  Briefen.  Arnold  Mendelssohn 
wird  durch  Lassalle  zu  Hegel  geführt,  gemeinsam  lesen  sie  die  Phä- 
nomenologie, Lassalle  kommentiert  sie  ihm,  natürlich  legt  er  sie  ihm  so 
aus,  wie  er  sie  sich  deutet,  sie  ziehen  zusammen  in  eine  Wohnung, 
ihm  als  dem  ersten  entwickelt  auch  Lassalle  sein  eigenes  System,  zu- 
mal die  Gedanken  über  die  Kluft  zwischen  der  geistigen  imd  der  realen 
Wirklichkeit,  die  nur  die  Revolution  überbrücken  könne.  Stets  hat 
Lassalle  den  größten  Wert  darauf  gelegt,  die  Einzelnen  für  seine  Ge- 
danken zu  gewinnen.  Mendelssohn  ist  der  erste,  den  er  erobert,  und 
niemals  wieder  hat  er  einen  anderen  so  völlig  von  seinen  alten  Wegen 
abgeführt,  so  ganz  sich  zu  eigen  gemacht.  Darüber  hinaus  wird,  ob- 
gleich diese  Hegelianer  das  Gefühl  als  eine  minderw^ertige  Kategorie 
auszuschalten  trachten,  Mendelssohn  der  treueste  ,, männliche  Freund", 
den  das  Leben  Lassalle  beschert  hat. 

Gleich  die  ersten  Briefe,  die  dieser  ihm  schreibt,  nachdem  er  selbst 
im  Frühhng  1845  nach  Breslau  zurückgekehrt  war,  lassen  ims  erkennen, 
wie  völlig  der  bald  Dreißigjährige  in  seinem  Bann  sich  befand,  in  wie 
weitem  Maße  er  sein  Wesen  in  all  seinen  Verfaserungen  dem  willens- 
stärkeren Freunde  ausgeliefert  hatte.  Wie  bezeichnend  sind  dafür 
schon  die  wechselnden  Anreden,  mit  denen  er  sich  an  Lassalle  wendet. 
Bald  heißt  dieser  ,,Mein  Fremid  und  Gebieter",  bald  ,,Mein  Einziger", 
,,Mein  Fernando",  ,,Mein  Freund  Cortez  der  Neuzeit",  ,, Meister  über 
die  Geister",  ,,Kerl  aller  Kerle",  bald  ,,Der  eingeborene  Sohn  Vater 
Hegels",  die  ,, Durchdringung  des  absoluten  Wissens  und  des  Seins". 
Und  wenn  Albert  Ivchfeldt,  den  Lassalle  im  vSommer  von  Breslau  nach 
Berhn  schickt,  damit  Mendelssohn  und  ihr  anderer  Freund,  der  Re- 
ferendar Felix  Alexander  Oppenheim,  diesen  leichten  Vogel  imter  ihre 
Fittiche  nähmen,  ihn  als  ,, Kenner  der  Höhen  und  Tiefen",  als  , .Gauner- 


=^      31     --  ^ =r:^-. 

ineister"  und  ,, Alter  greiser  Jüngling"  anredet,  so  sind  auch  das  Bezeich- 
nungen, die  er  mehr  oder  weniger  v'on  dem  älteren  Gefährten  gehört 
haben  wird.  Mendelssohn  enthüllt  die  ganze  Wesensverschiedenheit, 
die  ihn  von  Lassalle  trennt,  wenn  er  am  13.  Juli  1845  dem  stürmi- 
scheren Freunde  bekennt:  ,,Mir  fehlt  der  Geist  und  I/ebensmut  Ca- 
sanovas, vielleicht  aber  auch  ist  es  vielmehr  der  schroffe  Gegensatz 
meines  inneren  Werts  und  meiner  Realität,  der  mich  quält  ..."  Unter 
diesem  Gegensatz  litt  Lassalle  nicht  und  wenn  er  ihn  empfand,  so 
fühlte  er  in  sich  die  Kraft,  ihn  durch  die  Stärke  des  eigenen  Willens 
zu  überbrücken.  Lassalle  erfüllte  damals  etwas  wie  Wahlverwandt- 
schaft mit  dem  großen  italienischen  Abenteurer,  der  ihn  von  Kind 
an  angezogen  hatte,  aber  sein  Kriegsmanifest  an  die  Welt  vom  Sep- 
tember 1845  (Nr.  55)  zeigt  mis  bereits  klar,  wie  deutlich  er  sich  be- 
wußt machte,  daß  er  über  jenes ,, schöne  liederhche  Subjekt"  weit  hinaus- 
schritt, weil  er,  im  Gegensatz  zu  jenem,  der  nur  auf  sein  kleines 
besonderes  Dasein  bedacht  war,  sich  bereits  damals  stets  und  im  höchsten 
Ernst  als  ,, Träger  und  Apostel  einer  Gottesidee"  auffaßte.  Doch  von 
Lassalles  geistiger  Entwicklung  in  den  Jahren  seines  Werdens  sollte 
bei  diesen  bloß  einleitenden  Bemerkungen  noch  nicht  die  Rede  sein. 

Von  dem  heiteren,  aber  zugleich  von  zahlreichen  gesellschaftlichen, 
geschäftlichen  und  privatpolitischen  Interessen  erfüllten  Leben,  das 
der  junge  Studiosus  in  Berlin  in  den  Sttmden,  wo  er  nicht  studierte, 
geführt  hatte,  findet  sich  in  den  Briefen,  die  Arnold  Mendelssohn  von 
Frühling  bis  Herbst  1845  ihm  nach  Breslau  schreibt,  noch  mancher 
Nachklang.  Den  Studenten  Lassalle,  wie  er  leibt  und  lebt,  glauben 
wir  vor  uns  zu  sehen,  wo  derFremid  ihn  in  einem  Brief  als  den  Menschen 
schildert,  ,,der  eine  Stimde  vor  dem  Spiegel  steht,  um  sich  das  Hals- 
tuch in  beabsichtigter  Nachlässigkeit  in  die  nötigen  Falten  zu  werfen". 
Wenn  er  übrigens  hernach,  zur  Zeit  des  Kassettenprozesses,  dem  Richter 
den  Beweis  erbringen  wollte,  daß  er  als  Studiosus  das  Leben  eines 
sehr  wohlhabenden  jungen  Mannes  geführt  habe,  so  kann  ihm  das 
nicht  schwer  gefallen  sein.  Im  Nachlaß  finden  sich  heute  noch  Bündel 
von  Rechnimgen,  aus  denen  sich  nachzählen  ließe,  wie  zahlreiche 
Flaschen  von  Medoc,  Larose,  Sherry,  Ungarwein  imd  Champagner  er 
damals  mit  seinen  Freimden  in  den  vornehmsten  Berliner  Hotels  aus- 
gestochen, wieviel  Geld  er  für  Korsofahrten  ausgegeben  \md  welche 
Svunmen  er  zum  Schneider  getragen  hat. 

Man  weiß,  daß  Lassalles  Freundschaft  Arnold  Mendelssohn  zum 
Verhängnis  geworden  ist.  Als  dieser  im  Jahre  1846  alle  seine  hoch- 
fliegenden wissenschaftlichen  und  politischen  Pläne  hinwarf,  um  der 
Gräfin  Sophie  von  Hatzfeldt  in  den  Kämpfen  mit  ihrem  Gatten  zu 
Hilfe  zu  eilen,  da  folgte  ihm  auch  der  Frevmd  von  Berhn  in  die  Rhein- 


provinz.  Am  20.  August  entwandten  er  und  Alexander  Oppsnheim, 
der  zuletzt  Assessor  am  Karamergericht  in  Berlin  gewesen  war,  der 
Baronin  Meyendorf,  der  Mätresse  des  Grafen,  jene  Kassette,  in  der 
die  Freunde  fälschlich  ein  für  diese  bestimmtes  Schenkungsdokument 
vermuteten,  dessen  Realisierung  die  Gräfin  Sophie  und  ihren  jüngsten 
immündigen  Solin  schwer  geschädigt  hätte.  Zwar  gelang  es  M^ndels- 
solm  anfangs  ins  Ausland  zu  entfliehen,  er  weilte  zuerst  in  England, 
dann  in  Frankreich  und  Belgien ;  aber  durch  Oppenheims  Freisprechung 
sicher  gemacht,  kehrte  er  im  Juni  1847  nach  Deutschland  zurück, 
wurde  in  Köln  alsbald  verhaftet  und  am  11.  Februar  1848  zu  fünf 
Jahren  Zuchthaus  verurteilt.  Gelang  es  auch  den  Bemühungen  seiner 
Famihe,  eine  Milderung  des  Urteils  durchzusetzen  und  im  Mai  1849 
sogar  seine  Haftentlassung  zu  erwirken,  so  ließ  sich  dies  doch  nicht 
erreichen,  ohne  daß  er  sich  verpflichten  mußte,  Deutschland  auf  immer 
zu  verlassen.  Wir  finden  ihn  danach  zuerst  als  Militärarzt  im  Dienst 
der  imgarischen  Revolutionsarmee,  später  mit  Bem,  dem  er  bei  seinem 
Tode  zur  Seite  stand,  und  mit  anderen  ungarischen  Flüchtlingen  in 
der  Türkei.  Im  Frühjahr  1854  fiel  er,  kurz  bevor  I.assalles  orientalische 
Reise  diesem  die  Gelegenheit  geboten  hätte,  ihn,  den  ,, liebsten,  einzigen 
Freimd",  wie  er  ihn  auch  später  noch  nannte,  wiederzusehen,  in  Bajazid 
an  der  persischen  Grenze  dem  Typhus  zum  Opfer.  In  einem  Bericht 
des  Ungarn  Kmetz  über  Mendelssohns  Tod,  der  sich  tmter  Lassalles 
Papieren  fand,  heißt  es:  ,,Der  arme  Teufel,  vom  Schicksal  gepeitscht 
und  gehetzt,  voll  Empfindung  imd  Phantasie,  im  ganzen  ein  ganz 
gewiß  guter  Kerl .  .  .  mußte  sich  bis  an  den  Fuß  des  Berges  Ararat 
packen,  um  dort,  jung,  von  der  ganzen  Welt  verlassen,  in  einem  lyoch 
wie  ein  Hund  auszuhauchen." 

Einige  der  Briefe,  die  Mendelssohn  noch  in  späteren  Jahren  an 
Ivassalle  schrieb,  werden  in  dem  folgenden  Band  dieser  Pubhkation 
zum  Abdruck  kommen. 

Wenig  zu  sagen  ist  über  Felix  Alexander  Oppenheim  (geb.  1819) 
und  über  Albert  I^ehfeldt,  die  neben  Mendelssohn  die  jungen  Leute 
waren,  die  Ivassalle  in  seiner  Studentenzeit  am  stärksten  zu  sich  heran- 
gezogen hat.  Oppenheim  gehörte  einer  sehr  reichen  Königsberger 
Bankierfamilie  an  und  war  sechs  Jahre  älter  als  Ivassalle.  Soweit  seine 
Briefe  an  diesen  sich  erhalten  haben,  sind  sie  nicht  sonderlich  be- 
merkenswert; immerhin  lassen  sie  einen  gründlichen,  klugen  und  auch 
feinen  Menschen  erkennen.  Nachdem  er  bei  dem  Kassetten abenteuer 
mit  blauem  Auge  davongekommen  war,  scheint  er  unter  dem  Ein- 
fluß seiner  Familie  sich  alsbald  von  seinem  dämonischen  Freunde  vmd 
Verführer  getrennt  zu  haben.  Zum  mindesten  fand  sich  im  Nachlaß 
nichts,  was  auf  spätere  Beziehimgen  zwischen  ihnen   hindeutete   oder 


=^=r^      33      ^  -= 

was  auch  nur  erkennen  ließe,  was  in  der  Folge  aus  ihm  geworden  ist. 
In  einem  seiner  Briefe  zitierte  Oppenheim  im  Jahre  1845  wörtlich  eine 
Äußerimg  I^assalles  zu  ihm,  die  ims  denkwürdig  erscheint,  weil  wir 
hier  zum  erstenmal  einem  Verlangen  begegnen,  dem  der  Politiker 
später  so  oft  in  denkwürdiger  P'orm  Ausdruck  gegeben  hat:  ,,Bei  mir 
tmd  den  Meinigen,"  schreibt  bereits  der  Zwanzigjährige,  , .dulde  ich 
nie  Illusionen.  Was  in  der  Tat  ist,  muß  man  sich  auch  auszusprechen 
tmd  einander  zu  gestehen  gewölinen  ..." 

Noch  geringere  Bedeutung  hatten  lyassalles  Beziehungen  zu  Albert 
lychfeldt,  der  in  den  Brieten  nach  dem  Kneipnamen,  den  er  bei  den 
Raczeks  geführt  hatte,  stets  Isolani  heißt.  Lassalles  langer  Brief  an 
Lehfeldts  Verwandte  (Nr.  70)  zeigt,  daß  er  mehr  durch  Zufall  dazu 
gekommen  war,  sich  um  diesen  oberflächlich  begabten,  aber  haltlosen 
und  ihm  ganz  wesensverschiedenen  jungen  Menschen  zu  bekümmern. 
Er  befördert  ihn  im  Sommer  1845  von  Breslau  nach  Berlin,  damit 
Mendelssohn  und  Oppenheim,  denen  er  genaue  Instruktionen  gibt, 
ihm  hier  seine  Laster  abgewöhnen  und  ihn  zur  Arbeit  erziehen.  Da 
er  ein  gewandter  und  anregender  Gesellschafter  ist,  führen  diese  auf 
Lassalles  Veranlassung  ihn  bei  verschiedenen  angesehenen  und  reichen 
Familien,  besonders  bei  den  Mendelssohns  ein,  und  der  Plan  taucht 
auf,  ihn  mit  einer  Mendelssohn  oder  einer  —  Bethmann-HoUweg  zu 
verheiraten.  Aber  Lehfeldt  ließ  vom  Bummeln  und  Schuldenmachen 
auch  jetzt  nicht  ab ;  nachdem  viel  Geduld  geübt  worden  war,  beschließt 
der  Freimdeskreis  am  Ende  seine  Ausstoßung.  Am  meisten  erschüttert 
ihn,  daß  auch  Lassalle  sich  von  ihm  abkehrt.  Bettelbriefe,  die  er  in 
den  folgenden  Jahren  an  diesen  richtet,  lassen  erkennen,  daß  er  immer 
noch  weiter  gesunken  war.    Sein  späterer  Lebensweg  weist  ins  Dunkle. 

VII. 

Eine  eigenartige  Persönlichkeit,  die  des  Stichs  ins  Abenteuerliche 
aicht  entbehrte,  war  der  Baron  Hubert  von  Stücker,  mit  dem 
wir  um  diese  Zeit  Lassalle  in  freundschafthchem  Umgang  finden. 
Als  Sohn  des  bergischen  Advokaten  Ferdinand  Stücker  zu  Bensberg, 
war  er  bürgerlichen  Ursprungs.  Jener  hatte  zur  Franzosenzeit  sich 
an  die  Spitze  bewaffneter  Bauern  gestellt,  um  die  heimatliche  Land- 
schaft von  dem  Eindringling  zu  befreien;  als  ihm  dies  mißglückte, 
focht  er  hernach  in  österreichischen  Diensten  und  beschloß  seine  Tage 
als  Oberst  und  Reichsfreiherr  auf  einem  der  Güter,  die  er  sich  in  Böhmen 
erworben  hatte.  Über  die  Jugend  und  den  Bildungsgang  des  Sohnes, 
der  1808  geboren,  17  Jahre  älter  als  Lassalle  war,  wissen  wir  kaum 
etwas.    Aus  den  Akten  v/ird  bekannt,  daß  Hubert  1832  die  Herrschaft 

Mayer,   I.  assal'.e-N'acliIasj.     I  ^ 


Ilultschin  im  Kreise  Ratibor  in  seinen  Besitz  brachte.  Er  verkaufte  sie 
indes  bereits  wieder  1836  und  erwarb  dafür  das  in  demselben  Kreise 
gelegene  Schillersdorf,  wo  I^assalle  einmal  oder  öfter  sein  Gast  gewesen 
ist.  Dazu  kaufte  er  1843  Marquartowitz  und  1844  noch  einmal  Hul- 
tschin,  aber  diese  und  noch  ein  paar  andere  Güter  in  der  gleichen  Gegend 
veräußerte  er  schon  wieder  1845  an  den  Freiherm  von  Rotlischild, 
dessen  Familie  noch  heute  Schillersdorf  gehört.  Aus  dem  großen 
Manuskriptbrief  Lassalles  an  Stücker  (Nr.  40)  erfahren  wir,  daß  er  den 
imsteten  Baron,  nachdem  dieser  sich  seines  Grundbesitzes  entledigt 
hatte,  bestimmen  wollte,  in  den  preußischen  Staatsdienst  zu  treten, 
um  hier  den  fortgeschrittenen  Ansichten,  zu  denen  er  sich  bekannte, 
so  w'eit  es  ginge,  Geltung  zu  erkämpfen.  vStücker  war  aber  allem  An- 
schein nach  ein  zu  unruhiger  Geist,  als  daß  er  sich  zu  einer  solchen 
reibungsvollen  Arbeit  im  Dienst  der  Allgemeinheit  entschließen  konnte. 
Stärkeren  Reiz  übte  es  auf  ihn,  die  großen  flüssigen  Gelder,  die  sich 
in  seiner  Hand  angesammelt  hatten,  bei  industriellen  Unternehmungen 
werbend  anzulegen.  Indes  auch  für  solche  Wünsche  wußte  LassaUe  Rat. 
Ein  Jahr  zuvor  hatten  sein  Vater  und  sein  Schwager  Friedland  die 
Breslauer  Gaskompagnie  ins  Leben  gerufen,  die  sich  mit  der  Gasver- 
sorgung ganzer  Städte  beschäftigen  wollte.  Sie  übernahmen  zuerst  die 
Beleuchtung  der  schlesischen  Hauptstadt  und  fanden  dafür  die  finan- 
zielle Mitarbeit  der  ersten  Breslauer  Bankhäuser.  Schwieriger  ge- 
staltete sich  der  Versuch,  die  notwendigen  Kapitalien  aufzutreiben, 
als  sie  bald  danach  einen  entsprechenden  Vertrag  mit  der  Stadt  Prag 
abschlössen  und  sich  nun  bemühten,  dies  Geschäft  ebenfalls  in  Gang 
zu  bringen.  Für  die  abenteuerlichen  Pläne,  die  ihn  damals  erfüllten, 
beanspruchte  der  junge  Ferdinand  Lassalle  viel  Geld,  und  er  ging  des- 
halb keiner  Unannehmlichkeit  aus  dem  Wege,  wofern  sie  nur  eine  An- 
knüpfung bot,  um  diese  Sache  perfekt  zu  machen.  Zum  Sommersemester 
1845  scheint  er  Berlin  nur  deshalb  verlassen  zu  haben  und  nach  Breslau 
zurückgekehrt  zu  sein,  um  bei  derartigen  Bemühungen  aktiver  mitwirken 
zu  können.  In  seinem  Nachlaß  fanden  sich  aus  dieser  Zeit,  ganz  von 
seiner  Hand  geschrieben,  zwei  ein  wenig  voneinander  abweichende 
Entwürfe  zu  einem  Kontrakt,  laut  dessen  Baron  Stücker  je  nach  seinem 
Belieben  entweder  nur  für  die  Beleuchtmig  Prags  oder  auch  für  weitere 
Unternehmungen  mit  einem  Kapital  von  150  000  fl.  in  die  Breslauer 
Gaskompagnie  eintreten  sollte.  Aber  dieser  Vertrag  kam  nicht  zustande, 
sonst  hätte  LassaUe  sicherlich  nicht  einige  Wochen  später  seine  persön- 
lichen Beziehimgen  zu  den  Inhabern  des  Berliner  Bankhauses  Mendels- 
sohn &  Co.  für  den  gleichen  Zweck  auszunutzen  gesucht. 

Noch   Ende   November    1845    spukt   in   seinem    Briefwechsel   mit 
Dr.   Arnold   Mendelssohn   ,,das   verfluchte   Gasgeschäft",    und   dieser 


--= —   35  -=- = 

meinte,  es  wäre  doch  des  Teufels,  wenn  ,,Phosphoros"  nicht  einmal 
eine  Gasanstalt  fertig  kriegen  sollte.  Aber  von  Stücker,  auf  dessen 
,, Rekruten"  die  Berhner  Freunde  Lassalles  im  Sommer  vielleicht  noch 
überschwenglichere  Hoffnungen  als  er  selbst  gesetzt  hatten,  ist  es  in 
diesem  Zusammenhang  nunmehr  still,  imd  eine  Begegnung  Lassalles 
mit  ihm  in  Berlin  zu  Anfang  September  endete  mit  einem  Mißklang. 
(Briefe  Nr.52und53.)  Doch  zu  einem  regelrechten  Bruch  kam  es  zwischen 
ihnen  damals  nicht.  Denn  nach  Mitte  Oktober  schrieb  Lassalle,  wie 
w^ir  aus  des  anderen  Antwort  ersehen,  an  Mendelssohn  noch  einmal  von 
des  Barons  ,, Bekehrimg".  Das  ist  freilich  auch  alles,  was  wir  erfahren. 
Und  es  ist  trotzdem  anzunehmen,  daß  eine  Entzweiung  oder  eine 
mit  der  Zeit  zunehmende  Erkältung  sie  bald  darauf  ganz  auseinander- 
führte. 

Übrigens  läßt  sich  Stückers  vSpur  nur  noch  einige  Jahre  weiter 
verfolgen.  Im  Februar  1847  erwarb  er  in  Breslau  ein  Grundstück  und 
einige  Monate  später  das  Bürgerrecht.  Bei  Beginn  der  Revolution 
stand  er  hier  neben  Graf  Eduard  von  Reichenbach  im  Vordergrund 
der  demokratischen  Bewegung  und  redete,  während  er  den  Klassen- 
kampf ablehnte,  einer  entschiedenen  sozialen  Reform  das  Wort,  die 
durchgreifen,  das  materielle  Sein  und  nicht  die  leere  Form  umfassen, 
zur  Tat  werden  und  sich  nicht  auf  Räsonnements  beschränken  dürfe. 
Ein  ,,Beitrag  zur  Lösung  der  Frage  politisch-sozialer  Reform  in  Preußen", 
den  er  noch  1848  in  Dresden  drucken  ließ,  zeigt  einige  Berührungen 
mit  der  Gesellschaftsauffassung  des  jungen  Lassalle.  Er  verlangt  das 
aktive  Aufgehen  des  Individumns  in  die  ,, allseitige  Verbrüdenmg", 
und  er  begreift  die  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit  als  die 
„Geschichte  des  wechselseitigen  Kampfes  um  Wohlstand".  Im  März 
1848  gehörte  der  Baron  zu  der  Deputation,  die  dem  König  die  Wünsche 
der  Breslauer  Bürgerschaft  übermittelte;  aber  er  spielte  nicht  lange 
die  Rolle  eines  Wortführers  der  Breslauer  Demokratie.  Nachdem  er 
sich  anfänglich  durch  Geldspenden  für  die  Hebung  des  Notstandes 
imd  durch  die  Stiftung  von  Waffen  für  die  Bürgerwehr  sehr  populär 
gemacht  hatte,  geriet  er  bald  in  den  Verdacht,  ein  russischer  vSpion 
zu  sein  und  im  geheimen  für  reaktionäre  Zwecke  Waffen  aufzusammeln. 
Eine  Untersuchung  wurde  eingeleitet  imd  ergab  seine  Unschuld.  Jedoch 
ihr  Ergebnis  hatte  Stücker  in  Breslau  nicht  abgewartet,  sondern  der 
Stadt  den  Rücken  gekehrt,  in  der  er  wie  eine  zeitgenössische,  ihm  nicht 
holde  Broschüre^)  behauptet,  ,,den  meisten  wie  ein  Stückchen  Komö- 


^)  Katzeumusikalische  Notenblätter  aus  Breslau,  als  Beitrag  zur  Würdigung 
demokratischer  Personen  und  Zustände,  allen  politischen  Gaunern  und  Jesuiten 
zu  Ehren  und  dem  deutschen  Volke  zum  Studium  vorgehalten  von  Abraham 
Spießbürger.     Sondershatisen  1848. 


k 


—    36  — 

fliaut  oder  noch  etwas  mehr"  erschicueu  war.  Über  sein  späteres 
Schicksal  ließ  sich  nur  noch  wenig  Greifbares  in  Erfahrung  bringen. 
Sein  Todesjahr  ist  uns  unbekannt. 

Keines  Kommentars  bedürfen  die  Briefe  Lassalles  an  das  Bank- 
haus Mendelssohn  &  Co,  und  au  dessen  Seniorchef  Joseph  Mendels- 
sohn. Immerhin  ist  bedauerlich,  daß  sich  weder  in  seinem  Nachlaß 
noch  in  dem  Archiv  der  alten  Firma  die  Kopien  der  Antworten,  die 
ihm  zugingen,  erhalten  haben.  Arnold  Mendelssohn  hat  es  hernach 
bereut.  Lassalle  veranlaßt  zu  haben,  den  Weg  über  den  alten  Joseph 
Mendelssohn  zu  nehmen,  statt  einen  der  jüngeren  Chefs,  Paul  oder 
Alexander  Mendelssohn,  mit  der  iVngelegenheit  zu  befassen.  Wahr- 
scheinlich hat  die  Firma  damals  ernsthafte  Erkundigungen  eingezogen, 
am  Ende  sich  aber  gesagt,  daß  ein  solches  Geschäft,  wie  Lassalle  ja 
selbst  angedeutet  hatte,  ihrem  eigenthchen  Arbeitsbereich  fern  läge. 
Vermuthch  wollte  Arnold  Mendelssohn  den  Freund  ü.])et  den  voraus- 
zusehenden Mißerfolg  seines  Schrittes  trösten,  als  er  ihm  am  3.  No- 
vember 1845  trotzdem  ermutigend  schrieb: 

„In  Felseuklüften,  Mauergründen 
Ist  Gold  gemünzt  und    imgemünzt  zu  finden. 
Und  fragt  ihr  mich,  wer  es  zutage  schafft: 
Lassais  Natur  allein  und  Geisteskraft." 


VIII. 

Merkwürdige  Abwandlungen  erlebte  Lassalles  Verhältnis  zu  Hein- 
rich Heine.  Der  Leipziger  Handelsschüler  war,  wie  sein  Tagebuch 
beweist,  hingerissen  von  dem  Buch  der  Lieder  und  begeistert  für  die- 
,, alles  zerschmetternde  Kraft  der  Sprache"  und  die  ,, tötende  Ironie" 
des  stammverwandten  großen  deutschen  Dichters.  Bekannthch  machte 
sich,  seitdem  Heine  den  toten  Börne,  den  Abgott  aller  deutscheu 
Republikaner,  angegriffen  hatte,  damals  bei  der  revolutionär  gesiimten 
Jugend  eine  starke  und  entschiedene  Abneigmig  gegen  den  zum  poli- 
tischen Parteimann  so  gänzlich  ungeeigneten  Dichter  bemerkbar. 
Und  selbstverständlich  kam  auch  dem  jungen  Lassalle  die  Kunde  zu 
Ohren,  daß  Heine  von  der  Sache  der  Freiheit  abgefallen  sein  sollte. 
Doch  er  will  nicht  ohne  weiteres  glauben,  daß  dieser  Mann,  den  er  so 
innig  verehrt,  sich  die  Jakobinermütze  vom  Kopf  gerissen  und  einen 
Tressenhut  auf  die  Locken  gedrückt  habe.  Eher  neigt  er  dazu,  es  für 
eine  Ironie  zu  halten,  daß  Heine  sich  als  Royalisten  bekannte.  Zwar 
ist  er  nicht  blind  gegen  Heines  Schwächen ;  sollte  er,  der  Willensstärke . 
nicht  unhebsam  verspüren,  wie  zart  und  gebreclilich  der  Wille,  zumal 


—  =   37   —  = 

der  politische  Wille  des  Dichters  war?  Noch  aber  überwog  um  vieles 
seine  }3ewimdermig  für  den  »Sänger  der  berauschenden  Liebeslieder 
tmd  für  den  genialen,  respektlosen,  rebellischen  »Spötter,  zu  dem  imiigc 
Wahlverwandtschaft  ilm  hinzog. 

Wie  vollkommen  änderte  sich  dies  alles,  als  Lassalle,  von  I^eipzig 
nach  Breslau  zurückgekehrt,  von  der  Philosophie  Hegels  ergriffen 
Avurdel  Nim  sank  die  geniale  Individualität  in  seiner  Wertung,  und 
auf  dem  Altar  der  Verehrimg  des  werdenden  Sozialisten  erschien  als 
die  Gottheit,  der  er  fürder  nicht  mehr  untreu  wurde,  das  Allgemeine.  Es 
war  völUg  unbekannt,  daß  Lassalles  früheste  philosophische  »Schrift,  *) 
deren  gewaltige  Bedeutimg  für  seine  Biographie  Hermann  Oncken  richtig 
gesehen  hat,")  obgleich  auch  er  bloß  ihren  Titel  wußte,  sich  zu 
einer  gnmdsätzlichen  Auseinandersetzung  mit  Heines  Wesen  aufgipfelt. 
Der  einflußreichste  zeitgenössische  deutsche  Dichter  wird  dem  jungen 
Pathetiker  der  Idee  sclilechthin  zum  Prototyp  jenes  ,, leeren  Ich",  das 
sich  der  , .sittlichen  Substanz"  gegenüberstellt,  das  sich  frei  von  ihr 
weiß  imd  sie  Lüge  schilt,  statt  sich  ihr  hinzugeben.  Und  streng  urteilt 
er  jetzt  ab  über  Heine,  dieses  ,,im  gemeinsten  Realismus  befangene 
Subjekt",  den  Dichter  der  Frivolität  imd  des  Frevels,  über  sein  ganzes 
Schaffen,  über  seine  ,, Poesie  der  Hurerei".  Bloß  einen  mildernden 
Umstand  will  er  ihm  zugestehen:  auch  dieses  inhaltlose,  nüchterne, 
seiner  selbst  gewisse  Subjekt  empfinde  hie  imd  da  die  I^eerheit  des 
Iclis  und  sehne  sich  dann  nach  seiner  Erfüllung. 

Kaum  zwei  Jahre  vergehen,  und  im  Dezember  1844  betritt  Lassalle, 
^■on  seinem  Schwager  Friedland,  der  den  Dichter  seit  Jahren  kennt, 
eingeführt,  Heines  Wohnung  in  Paris.  Alsbald  sehen  wir  ihn  mit 
all  dem  »Sturm,  der  ihm  innewohnte,  um  die  Freundschaft  des  Dichters 
werben:  er  erringt  nicht  allein  sie,  sondern  dazu  Bewimderung  für 
seine  jenem  unfaßbare  Willensstärke.  Um  I/assalles  Wendung  zu  ver- 
stehen, erinnern  wir  uns,  daß  inzwischen  mit  Heine  eine  Veränderung 
vorgegangen  war,  die  auf  diesen  Jüngling  ihren  starken  Eindruck 
nicht  verfehlen  konnte.  Das  Revolutionsgerede  der  Liberalen  mit 
seinen  vielleicht  unvermeidhchen  philisterhaften  Zügen  hatte  dem 
mokanten  Genius,  wenn  es  ihn  nicht  geradewegs  abstieß,  nur  ein 
Lächeln  abgenötigt;  neuerdings  aber  war  es  Karl  Marx  iiersönlichem 
Einfluß  gelungen,  aus  dem  Dichter,  der  zugleich  ein  großer,  wenn  auch 
ganz  weltlicher  Prophet  war,  gewaltige  Töne  der  Anklage  gegen  eine 

^)  Die  ,,Grimdzüge  zu  einer  Charakteristik  der  Gegenwart  niit  besonderer  Be- 
rücksichtigung der  Hegeischen  Philosophie"  werden  gemeinsam  mit  philosophischen, 
soziologischen  und  ökonomischen  Fragmenten  I<a5»salles  zu  einem  späteren  Bande 
(lieser  Publikation  vereinigt  werden. 

")  Hermann  Oncken,  I/assalle,  3.  Aufl.,  S.  32. 


—   38  — 

übermütige  Bourgeoisie,  des  Mitgefühls  für  eiu  verelendendes  Proletariat 
hervorzulocken.  Wie  mußte  aber  das  gerade  auf  diesen  jungen  Menschen 
wirken,  der  nicht  nur  die  ganze  weltgeschichtliche  Bedeutung  der 
proletarischen  Bewegung  sich  l^ereits  klar  machte  (vgl.  Brief  Nr,  2i), 
sondern  schon  selbst  bei  sich  den  dumpfen  Drang  verspürte,  in  Zu- 
kmift  an  ihre  Spitze  zu  treten! 

Nun  lagen  Heine  in  der  Zeit,  als  Lassalle  in  Paris  eintraf,  zwei 
private  Wünsche  sehr  am  Herzen.  Eben  kündigte  sich  das  herauf- 
ziehende Siechtum  zum  erstenmal  in  seiner  ganzen  Schrecldichkeit  bei 
ihm  an ;  vielleicht  Rettvmg  oder  doch  Linderung  versprach  er  sich  noch, 
wenn  er  seinen  Jugendfreund,  den  großen  Chirurgen  Diefifenbach  in 
Berhn  konsultieren  könnte.  Kaum  weniger  aber  beschäftigte  ihn  eine 
materielle  Sorge:  Im  Dezember  1844  war  sein  Onkel,  der  Hamburger 
Millionär  Salomon  Heine,  gestorben,  xmd  dessen  Erbe,  sein  Vetter 
Carl  Heine,  erwies  sich  nicht  geneigt,  ihm  auf  Lebenszeit  die  Rente 
zuzusichern,  die  er  bis  dahin  erhalten  hatte.  Ohnehin  entschlossen, 
Himmel  und  Hölle  aufzubieten,  um  seine  Ansprüche  durchziisetzen, 
fand  Heine  in  dem  jungen  Lassalle  jetzt  den  Berater,  dem  er  auf  das 
aufmerksamste  zuhörte,  den  Freund,  auf  dessen  rührige  Energie  er  die 
größte  Hoffnung  setzte.  In  der  Tat  bot  Lassalle,  nach  Berlin  zurück- 
gekehrt, sofort  alles  auf  mid  setzte  sich  vorbehaltlos  ein,  um  zu  er- 
reichen, daß  dem  Dichter  die  Reise  nach  dort  gestattet  würde.  Es 
war  das  nicht  einfach,  denn  der  verwegene  Spötter,  dem  vieles  auf  dem 
Kerbholz  stand,  hatte  noch  vor  ganz  kurzem  in  dem  revolutionären 
Pariser  ,, Vorwärts"  den  ätzendsten  Hohn  auf  Preußen  und  die  Person 
Friedrich  Wilhelms  IV.  ausgegossen.  Nicht  weniger  eifrig  erwies  sich 
Lassalle  bei  dem  Bemühen,  dem  neuen  Freunde  in  dem  ,, Hamburger 
Erbfolgekrieg"  den  Sieg  zu  erstreiten.  Für  die  erste  Aktion  versprach 
er  sich  am  meisten  von  der  Hilfsbereitschaft  Alexander  von  Hum- 
boldts, der  bei  dem  König  als  der  akkreditierte  Gesandte  für  die  humanen 
tmd  kulturellen  Wünsche  jener  oppositionellen  Kreise  gelten  konnte, 
denen  das  Ohr  des  Monarchen  sich  sonst  nicht  öffnete.  Aber  obgleich 
Friedrich  Wilhelm  IV.  persönlich  überzeugt  war,  daß  das  Berliner 
Publikum  sich  um  ,,den  alten  Mann  mit  den  Gesichtsschmerzen"  nicht 
sonderlich  kümmern  würde,  so  mußte  er  sich  doch  von  seinem 
Minister  erinnern  lassen,  daß  Heine  wegen  Majestätsbeleidigimg  xmd 
Aufreizmig  zur  Unzufriedenheit  imter  Anklage  stünde  und  seine  Ver- 
haftimg zu  gewärtigen  hätte,  sobald  er  preußischen  Boden  beträte. 
So  geschah  es,  daß  der  Dichter  nicht  noch  einmal  nach  Deutschland  kam. 

Da  Humboldt  für  eine  Intervention  bei  Heines  Hamburger  Ver- 
wandten nicht  zu  haben  war,  so  wandte  Lassalle  sich  deswegen,  von 
Vamhagen   von   Ense   an   ihn   empfohlen,    an    den   Fürsten   Pückler- 


^ "="   39  =^  == 

Muskau.  Und  der  „Lebendigste  aller  Verstorbeneu",  wie  der  Dichter 
später  unter  ^\nspielung  auf  dessen  bekanntestes  Werk  den  ,, wahl- 
verwandten Zeitgenossen"  anredete,  willfahrte  diesem  Wunsch.  (Vgl. 
Brief  71  ff.)  Auch  den  Komponisten  Meyerbeer,  der  seinerzeit  Salomon 
Heine  bestimmt  hatte,  die  Rente,  die  er  dem  Neffen  zahlte,  zu  einer 
lebenslänglichen  zu  machen,  den  Komponisten  Jacques  Offenbach  imd 
den  Bankier  Joseph  Mendelssohn  versuchte  lyassalle  zu  ähnlichen 
vSchritten  zu  l>ewegen.  Als  er  aber  Heine  davon  berichtete,  gestand 
dieser  gerührt,  daß  er  soviel  ,, Liebeseif  er"  bis  dahin  noch  von  nie- 
mandem erfahren,  ,, soviel  Passion  und  Verstandesklarheit  vereinigt 
im  Handeln"  noch  bei  niemandem  angetroffen  habe.  Man  lese  seinen 
<lankerfüllten  Brief  an  Lassalle  vom  10,  Februar  1846. 

Und  trotzdem  sollte  diese  Freundschaft,  die  so  vielverheißeud  be- 
gonnen, keine  lange  Dauer  haben.  Heine  war  von  Natur  bloß  zum 
Schauen  bestellt.  Lassalle  aber  forderte  Handehi  nicht  allein  von  sich, 
sondern  auch  von  denen,  die  er  als  seine  Fretmde  betrachtete.  So  kam 
es,  daß  er,  kurz  darauf  selbst  in  Händel  verstrickt,  den  Charakter  des 
Dichters  verkennend,  dessen  Mitwirkung  bei  einer  Presseaktion  für 
die  Gräfin  Hatzfeldt  beanspruchte,  deren  Sache  er  nun  ganz  zu  der 
seinen  gemacht  hatte.  Wie  stark  seine  Enttäuschung  war,  als  jener 
sich  zu  der  Gegenleistimg,  die  er  von  ihm  forderte,  nicht  bereit  zeigte, 
fühlen  wir  aus  der  überscharfen  Art  heraus,  mit  der  er  auf  Heines  Ab- 
sage reagierte.  Schon  einmal,  im  März  1846,  hatte  der  Dichter  sich 
geweigert,  mit  dieser  Angelegenheit  sich  zu  befassen,  er  tat  es  damals 
mit  der  eigentlich  ganz  richtigen  Begründung,  es  spräche  für  Lassalles 
Unerfahrenheit,  daß  er  ihm  mit  einem  Auftrag  käme,  der  mehr  in  das 
Gebiet  der  Sueschen  Romane  gehöre.^)  Damals  fühlte  sich  dieser 
nicht  verletzt,  wenigstens  zeigte  er  es  nicht;  er  nahm  wohl  an,  Heine 
könne  nicht  wissen,  in  wie  hohem  Maße  er  sich  mit  der  Sache  der 
Gräfin  identifizierte.    Nachdem  er  aber  an  den  Rhein   übergesiedelt 


*)  Heines  Briefe  an  Lassalle  vom  10.,  11.  Februar  und  7.  März  1846  findet 
man  heute  am  bequemsten  in  Heine-Briefe,  herausgegeben  von  H.  Davis,  Berlin 
1907,  Band  II,  einen  weiteren  Brief  vom  27,  Februar  uud  einen  anderen  un- 
datierten, ebenfalls  aus  dem  Jahre  1846  in  Karpeles'  kritischer  Au.sgabe  von 
Heines  Werken,  Band  IX  unter  Nr.  506  und  507.  Lassalles  Briefe  an  Heine, 
von  denen  dieser  Band  zwei  mitteilt,  waren  bisher  unbekannt.  Kr  hat  sie  von 
ihm,  wie  an  anderer  Stelle  erzählt  wird,  nach  ihrem  Bruch  durch  Mendelssohn 
zurückfordern  lassen,  und  bei  dessen  Verhaftung  gelangten  sie  in  die  Hände  der 
Behörden.  Wir  wissen  nicht,  ob  sie  dort  verbheben  sind.  In  Heines  Nachlaß 
mag  sich  somit  nur  der  einzige  spätere  Brief  Lassalles  an  ihn,  von  dem  wir 
wissen,  gefunden  haben.  Über  Friedlands  Bemühungen,  Heines  Nachlaß  an  die 
preußische  oder  österreichische  Regierung  zu  verkaufen,  vgl.  Heine-Reliquien  usw. 
S,  316  £f. 


—  -=   40  "'- 

war,  hatte  Lassalle  im  Spätsommer  1846  sich  vorgenommen,  selbst 
nach  Paris  zu  reisen,  um  dem  Freunde  in  mündlichem  Gespräch 
die  Revolution,  die  in  seinen  Lebensverhältnissen  eingetreten  war, 
anschaulich  zu  machen.  Doch  der  Kassettendiebstahl  und  was  mit 
ihm  zusammenhing,  mochten  ihn  zurückhalten,  und  so  entschloß  er 
sich,  in  einem  Brief  (Nr.  84)  Heine  den  ,, herzempörenden  Roman" 
zu  schildern,  in  dem  er  jetzt  eine  ,, Rolle  zu  übernehmen  für  gut  ge- 
funden" habe.  Er  zweifelte  nicht,  daß  es  ihm  gelingen  müßte,  den 
Widerstrebenden  zu  überreden,  doch  noch  an  dem  journaHstischen 
Kesseltreiben  teilzunehmen,  das  er  gegen  den  Grafen  Edmund  von  Hatz- 
feldt  eröffnen  wollte.  Wider  alles  Erwarten  erzielte  sein  Brief  diese 
Wirkung  nicht:  Heine  versagte  sich,  er  antwortete  zunächst  überhaupt 
nicht;  in  der  Folge  mußte  es  Arnold  Mendelssohn,  der  in  Paris  mit 
ihm  verkehrte,  übernehmen.  Lassalle  wissen  zu  lassen,  daß  ihm  die 
in  manchem  Kampf  bewährte  Feder  des  großen  Polemikers  nicht  zur 
Verfügimg  stünde.  Wenn  aber  Lassalle  deswegen  Heine  geradezu  als 
einen  Verräter  behandelte,  so  stimmte  ihm  selbst  der  getreue  Mendels- 
sohn, wie  uns  sein  Brief  vom  21.  Mai  1847  beweist,  nicht  oline  weiteres 
zu.  In  seiner  ungeheuren  Enttäuschtmg  schrieb  er  jetzt  dem  mn 
soviel  älteren  Dichter  einen  Brief,  von  dem  er  selbst  sagte:  ,,Er 
war  das  Ärgste  an  kalter  Malice,  was  ich  je  geschrieben."  Zu 
Mendelssohn  äußerte  er,  Heine  werde  sich  diesen  Brief  wohl  nicht  unter 
den  Spiegel  stecken.  War  es  auch  nicht  das  erstemal,  daß  der  Dichter 
sich  den  Vorwurf  der  Charakterlosigkeit  gefallen  lassen  mußte,  hatte 
er  gerade  von  Seiten  der  jungen  Generation  dies  besonders  während  der 
letzten  Jahre  öfter  zu  hören  bekommen,  so  empfand  er  es  doch  un- 
gemein schwer,  daß  ihm  Worte  von  so  schonungsloser  Härte  der  junge 
Mensch  ins  Gesicht  schleuderte,  der  auf  ihn,  den  großen  Skeptiker,^ 
den  imgewöhnhchsten  Eindruck  gemacht,  in  dessen  opferbereiter  Hin- 
gabe er  sich  gesonnt  hatte.  Noch  1850  spricht  Heine  zu  dem  Vater 
des  jungen  ,, Gladiators"  von  den  ,, schrecklichen  Härten",  die  dieser 
sich  ihm  gegenüber  deshalb  habe  zuschulden  kommen  lassen,  weil  er 
sich  ,,in  sein  dunkles  Treiben"  nicht  hineinziehen  ließ  imd  seiner  Leiden- 
schaft mit  kalten  Vemimftgründen  begegnete.  Während  der  Dichter 
aber  von  seiner  Matratzengruft  aus  zu  dem  Vater  hier  die  Hoffnung 
äußert,  den  Sohn  vor  seinem  Tode  noch  wiederzusehen,  schildert  er 
ihn  dem  eigenen  Bruder  gegenüber  ein  Jahr  später  in  ganz  schwarzen 
Farben.  Die  Darstellung,  die  er  in  einem  langen  Brief  an  Gustav  Heine 
am  31.  Januar  1851  von  dem  Ablauf  seiner  Beziehungen  zu  Lassalle 
gibt,  entbehrt  nicht  der  subjektiven  Wahrhaftigkeit.  Objektiv  an- 
gesehen, schießt  auch  er  freiüch  übers  Ziel  hinaus,  wo  er  sich  zu  der 
Behauptung  versteigt.  Lassalle  habe  ihn  ausgebeutet,  indem  er.  imter 


41   ~ 

dem  Vorgeben  sein  Freund  zu  sein,  sich  Ijei  den  angesehensten  Per- 
sönhchkeiteu  Zutritt  und  Sympathie  verschaffte.  Was  er  einst  tmter 
dem  Eindruck  der  ersten  Bekanntschaft  an  Varahagen  von  Ense  über 
ihn  geschrieben  hatte,  ungefähr  das  wiederholt  er  noch  hier,  nachdem 
ihre  Wege  sich  getrennt  hatten:  nie  habe  ein  junger  Mensch  durch 
sein  Wesen  wie  durch  seine  Persönhchkeit,  besonders  durch  seine 
Geistesschärfe  ,,imd  die  meinem  träumenden  Charakter  fehlende 
Energie"  ihm  mehr  zugesagt  wie  dieser  junge  Lassalle.  Freilich,  solange 
die  geniale  Energie  des  künftigen  Volkstribunen  zu  seinen  Diensten 
war,  hatte  Heine  vor  seiner  ,,an  Irrsinn  grenzenden  Willenszähigkeit" 
nicht  solches  Grauen  empfunden.  Jetzt  aber  schildert  er  ihn  als  einen 
,, furchtbaren  Bösewicht",  dem  er  Fälschimg,  Diebstahl  und  Mord 
zutraue,  und  der,  seit  er  ihn  damals  besuchte,  eine  rasche  Entwicklung 
zum  Schlechten  durchgemacht  habe.  Als  jener  damals  in  Paris  zu  ihm 
kam,  habe  er  sich  seiner  Angelegenheiten  angenommen.  At>er  es  war 
nicht  immer  ihm  zum  Segen:  ,,Er  goß  Öl  ins  Feuer,  verhetzte  mich 
zu  den  größten  Fehlgriffen,  die  vielleicht  keine  gewesen  wären,  wenn 
ich  seinem  Rate  energisch  Folge  geleistet  hätte."  Lassalles  , .schändliche 
Ränke  gegen  den  Grafen  Hatzfeldt"  und  seine  ,,Anmutimgen",  ihn 
in  solche  zu  verflechten,  hätten  ihn  damals  bestimmt,  ,,tatsächhch 
mit  ihm  zu  brechen",  und  seither  bestünde  zwischen  ihnen  bloß  ,,das 
Verhältnis  einer  wechselseitigen  Schonung". 

Während  der  Dichter  mit  Lassalles  Vater  und  Schwester  auch 
weiterhin  in  freundschaftlichen  Beziehimgen  blieb,  haben  er  selbst  und 
Heine  sich,  soweit  bekannt  ist,  nicht  wiedergesehen.  Unerquickhch 
war  der  -tVnlaß,  der  1850  noch  einmal  einen  Brief austausch  verursachte. 
Was  Heine  damals  schrieb,  verrät  sein  gleichzeitiger  Brief  an  den 
alten  Lassal  und  auch  Ferdinands  Antwort,  von  der  sich  im  Nach- 
laß das  Konzept  vorfand.  Es  handelte  sich  dabei  um  die  Gasaktien,  die 
Heine  sich  von  Friedland  hatte  aufschwatzen  lassen.  Für  den  Verlast, 
den  er  bei  dem  Zusammenbruch  der  Gesellschaft  „Iris"  erlitt,  wollte 
er  zu  Unrecht  den  jungen  Lassalle  verantwortlich  machen.  Doch  dieser 
hatte  ein  unwiderstehliches  Argument,  mit  dem  er  sich  rechtfertigte: 
,,Als  wenn  ich,  wenn  ich  irgendeine  Ahnung  von  dem  traurigen  Aus- 
gang des  Geschäfts  gehabt  hätte,  geduldet  haben  würde,  daß  mein 
Vater  sein  Vermögen  hineinsteckte.  Als  wenn  wir  nicht  selbst 
unser  Vermögen  durch  den  Industriegeist  meines  Herrn  Schwagers 
und  freilich  auch  durch  nicht  vorherzusehende  Krisen  verloren 
hätten."^) 


^)  Vgl.  hierzu  auch  die  Heine-Reliquien  a.  a.  O.  S.  30  f.  die  Darstellung,  die 
Karpeles  über  Heines  Beteiligung  an  dem  Gasgeschäft  gibt. 


42 


IX. 

Als  Heine  sich  ihm  versagte,  mußte  I^assalle  zufrieden  sein,  daß 
Karl  Grün  für  den  Pressefeldzug  gegen  den  Grafen  Hatzfeldt  sich 
ihm  zur  Verfügung  stellte.  Dieser  PubHzist,  der,  1817  in  Lüdenscheid 
geboren,  schon  als  Student  mit  seinem  Antipoden  Karl  Marx  in  Be- 
rührung gekommen  war,  hatte  sich  bei  dem  Aufschwung  der  oppo- 
sitionellen Presse  im  Jahre  1842  mit  der  Gründung  der  ,, Mannheimer 
Abendzeitung",  die  von  Süddeutschland  aus  der  ,, Rheinischen  Zei- 
timg" so  schneidig  sekundierte,  im  radikalen  Lager  einen  geachteten 
Namen  geschaffen.  Das  nähere  Interesse  Lassalles  dürfte  sich  aber 
wohl  erst  auf  ihn  gerichtet  haben,  als  er  Grüns  Buch  über  die  soziale 
Bewegimg  in  Frankreich  und  Belgien  kennen  lernte.  Arnold  Mendels- 
sohn spricht  davon  mit  Wärme  in  seinem  Brief  vom  29.  Oktober  1845 ; 
die  Darstellung  der  Systeme  der  Sozialisten  und  Kommunisten  inter- 
essierte ihn  daran  im  gleichen  Maße  wie  Grüns  Kritik.  Zugleich  gestand 
er  freilich,  daß  er  das  Gefühl  habe,  über  beiden  zu  stehen,  weil  ja 
ihn  ein  Adler  —  er  meint  Lassalle  —  zur  Sonne  trage.  Lassalles  per- 
sönliche Bekanntschaft  mit  dem  beredten  Wortführer  eines  humani- 
tären Sozialismus  datierte  von  seiner  ersten  Pariser  Reise.  Allem 
Anschein  nach  war  es  auch  Grün,  der  ihn  mit  dem  damals  berühmtesten 
Kämpfer  gegen  das  Privateigentum,  mit  Proudhon,  zusammenführte. 
Daß  Lassalle  diesen  kannte  und  in  Paris  anscheinend  öfter  mit  ihm 
zusammengekommen  war,  erfahren  wir  zum  erstenmal  aus  dem  Brief, 
den  er  am  11,  April  1847  vom  Gefängnis  aus  an  seinen  Vater  richtete. 
Grün,  der  Ende  1844  in  der  französischen  Hauptstadt  eintraf,  stand 
mit  Proudhon  in  einem  intimen  fortlaufenden  Verkehr;  wie  man 
weiß,  machte  es  ihm  Marx  zum  Vorwurf,  daß  er  den  großen  Auto- 
didakten zu  seinem  Schaden  mit  Hegel  infiziert  habe.  Als  Agitator 
betätigte  sich  Grün  damals  eifrig  in  der  so  überaus  zahlreichen  Kolonie 
von  deutschen  Handwerksgesellen,  die  in  Paris  bestand.  Hier  aber 
stieß  er  auf  einen  Gegner,  der  am  Ende  das  Terrain  behauptete.  Das 
war  Friedrich  Engels,  dem  damals  schon  die  ,, Duselei"  und  die  , .fried- 
lichen Beglückungspläne"  des  ,, wahren  Sozialismus"  ein  Greuel  waren, 
und  der  sie  vom  Boden  des  Klassenkampfes  aus,  auf  dem  er  und  Marx 
bereits  standen,  als  ,, antiproletarisch"  und  ,,kleinbürgerUch"  aufs 
äußerste  bekämpfte. 

Nun  waren  freilich  Lassalles  freundschaftliche  Beziehimgen  zu 
Grün  ebensowenig  von  langer  Dauer  wie  die  zu  Heine.  Noch  ver- 
mochte der  junge  Heißsporn  sich  anderen  nicht  anzupassen  und  über- 
warf sich  leicht  mit  jedem,  der  sich  seinen  Anordnungen  nicht  ohne 
weiteres  fügen  wollte.    Schon  Grüns  Briefe  an  ihn,  die  dieser  Band 


— ^    43 

mitteilt  (Nr.  loi  und  103),  zeigen,  daß  der  Ältere  mit  der  Behandlimg 
nicht  zufrieden  war,  die  er  durch  den  Herrn  Generalbevollmächtigten 
(kr  Gräfin  Hatzfeldt  erfuhr.  Die  Broschüre  gegen  den  Grafen  Hatzfeldt, 
deren  Abfassung  er  damals  übernommen  hatte,  scheint  niemals  zu- 
stande gekommen  zu  sein.  Ein  sehr  gereizter  und  geradezu  peinlicher 
Austausch  von  Unliebenswürdigkeiteu  zwischen  den  beiden  erfolgte 
immittelbar,  nachdem  Lassalle  von  der  Anklage  der  Verleitung  zum 
Kassettendiebstahl  vom  Kölner  Assisenhofe  freigesprochen  war.  Da- 
mals tauchten  nämlich  plötzüch  Lassalles  Briefe  au  Grün  aus  den 
Jahren  1846  und  1847,  die  uns  deshalb  fehlen,  in  den  Händen  des 
Staatsprokurators  auf.  Ohne  sich  erst  die  Zeit  zu  nehmen,  hinreichend 
Erkundigungen  einzviziehen,  beschuldigte  I^assalle,  der  in  diesen  Tagen 
stark  erregt  gewesen  sein  muß,  in  der  , .Neuen  Rheinischen  Zeitung" 
vom  14.  August  1848  seinen  ehemaligen  Vertrauten,  er  habe  ,,als  Dank 
für  erwiesene  Dienste"  diese  Briefe  dem  Kaufmann  von  Stockum,  dem 
Agenten  des  Grafen  von  Hatzfeldt,  ausgeliefert.  In  Wahrheit  lag  es 
aber  anders:  ebenso  wie  Lassalles  Briefe  an  Heine  hatte  die  Behörde 
auch  Lassalles  Briefe  an  Grün  unter  den  Papieren  vorgefunden,  die 
sie  bei  Mendelssohn  beschlagnahmte.  Auch  im  weiteren  Verlauf  der 
Polemik  benahm  Lassalle  sich  wenig  delikat:  er  sprach  von  Grüns 
,, Demaskierung"  und  rühmte  sich,  wiederum  vor  der  Öffentlichkeit, 
damit,  daß  er  ihm  bei  seiner  Ausweisung  aus  Paris  im  April  1847  ^^~ 
aufgefordert  eine  Summe  überschickt  habe.  Grüns  ,, Letztes  Wort"  in 
der  „Neuen  Rheinischen  Zeitung"  vom  9.  September  lautete  dahin, 
daß  er  Lassalle  erlaube,  ,,alle  Details  eines  früheren  freimdschaftlichen 
Verhältnisses",  das  er  oft  genug  bedauert  habe,  ,,mit  oder  ohne  Belege 
vor  dem  Publikum  auszuwaschen".  Für  seine  Person  lehne  eres  ab,  die 
Preßpolemik  fortzusetzen,  stehe  jedoch  persönlich  Lassalle  zu  jeder 
gewünschten  Antwort  zur  Verfügung. 

Nicht  Aufgabe  dieser  einleitenden  Bemerkungen  darf  es  sein, 
zu  untersuchen,  wie  Lassalles  ,, Kommunismus"  beschaffen  war,  als 
er  mit  Grün  und  Proudhon  in  Paris  zuerst  in  Berührung  kam  oder 
inwieweit  er  Einflüsse  von  ihrer  Seite  erfuhr.  Die  Frage  ließe  sich 
nicht  absondern  von  der  umfassenderen  nach  Lassalles  Weg  zum 
Sozialismus,  die  auf  Grund  der  neu  erschlossenen  Quellen  einer  tiefer 
schürfenden  Darstellung  bedarf.  — 

Die  knorrige,  sicher  in  der  eigenen  Weltanschauung  ruhende,  dabei 
doch  so  humane,  menschliche  Wirrnis  tief  begreifende  und  nur  mit 
zarter  Hand  anfassende  Persönlichkeit  des  Grafen  Clemens  von 
Westphalen  verdiente  wohl,  daß  man  ihrem  Leben  einmal  ein- 
gehender nachspürte.  An  die  breite  Öffentlichkeit  trat  der  weithin 
angesehene  und  reich  begüterte  westfälische  Magnat  am  sichtbarsten 


-^^^^^ — z^  44 

während  des  Kölner  Bischofs  Streits,  wo  er,  ein  entschiedener  Ver- 
teidiger der  Ansprüche  der  kathohschen  Kirche,  die  unter  Friedrich 
Wilhelm  III.  von  der  preußischen  Regierung  befolgte  Pohtik  scharf 
bekämpfte,  tmd  dann  ein  anderes  Mal  1866,  als  er  Bismarcks  Revo- 
lution von  oben  nicht  anerkennen  wollte  und  auf  seinen  Sitz  im 
Herrenhaus  verzichtete.  Er  habe,  schrieb  er  in  dem  Brief,  durch 
den  er  das  tat,  seinen  Homagialeid  dem  preußischen  König  ge 
schworen  als  einem  fürstlichen  Mitgliede  des  zur  dauernden  Einigung 
Deutschlands  unkündbar  geschlossenen  Staatenbundes.  Mit  dem 
,, Bundesbruche"  und  dem  Hinfall  jener  unerläßlichen  Bedingung 
seines  Eides  müsse  er  ,,nach  den  unbeugsamen  Gesetzen  einer  un- 
wandelbaren Rechtslogik"  auch  diesen  selbst  als  hinfällig  geworden 
erachten.  Derartige  aus  historischem  Recht  geschöpfte  Argumente 
hätten  bei  dem  überwiegend  aus  Feudalen  zusammengesetzten  Herren- 
hause zum  mindesten  ein  achtrmgsvolles  Verständnis  beanspnichen 
können.  Aber  der  dem  Preußen  eigentümliche  Mangel  eines  differen- 
zierten Persönlichkeitsgefühls  siegte  selbst  in  dieser  Runde.  Das 
über  jenen  Brief  ,,tief  entrüstete"  Haus  entschied  sich,  den  Grafen 
Westphalen  aus  seiner  Mitte  auszustoßen  mid  Wilhelm  I.,  von 
Bismarck  beraten,  billigte  diesen  Beschluß,  der  dem  am  Boden 
hegenden  historischen  Recht  einen  neuen  Tritt  versetzte. 

Für  Ivassalles  raffinierte  Fähigkeit,  Menschen  zu  behandeln,  er- 
bringen seine  Briefe  an  den  Grafen  Westphaleu  ein  neues  Beispiel. 
Die  unüberbrückbare  Kluft,  die  trotz  aller  seiner  Aunäherungs- 
\ersuche  zwischen  dem  frommen  Katholiken  und  dem  revolutionären 
Hegelingen  offen  bleibt,  erfährt  eine  blitzartige  Beleuchtung  dort, 
wo  der  Graf  die  Hochwertung  des  Allgemeinen,  mit  der  Ivassalle 
steht  und  fällt,  ablehnt  und  bekennt,  daß  für  ihn  nur  der  einzelne 
Mensch  Bedeutung  habe. 

Dieser  erste  Band  der  Nachlaßpublikatiou  bricht  ab  immittelbar 
bevor  Ivassalle,  aus  dem  Gefängnis  befreit,  in  die  I^age  kommt,  an  der 
deutschen  Revolution  von  1848  teilzimehmen. 


U^SS.UI.E  .\N  DEN  VATER.    (Original.) 

[Poststempel  T<eipzig,  2i.  Jxmi  40.]!) 
Geliebter  Vater! 

.  .  .  betrachtet  hatte,  dieser  springt  in  die  Fluten,  holt  mit  Leichtig- 
keit jene  Austern  und  fristet  dadurch  sein  und  Ardents  Leben.  Was 
soll  ich  das  Bild  fortsetzen?  Vom  grimmigsten  Durste  gepeinigt, 
starrt  Ardent  die  Kokospalme  an,  die  sich  vor  ihm  erhebt.  Er  weiß, 
die  Milch  ihrer  Nüsse  würde  seinen  Durst  stillen,  aber  die  Palme  ist 
zu  hoch,  er  kaim  nicht  hinauf.  Wieder  ist  es  der  Neger,  der  ihn  rettet. 
Und  Ardent,  der  in  den  Zirkeln  Londons  gefeierte  geistreiche  Ardent, 
gesteht  es  mit  Scham  ein,  daß  er  hilflos  sei  wie  ein  Kind!  Doch  genug, 
ich  habe  mich  von  meinem  Ideengange  zu  weit  führen  lassen.  Ich 
wollte  Dich  bloß  recht  sehr  um  die  Erlaubnis  bitten,  schwimmen  zu 
lernen,  tmd  ich  glaube  auch,  meine  zärtliche  Mutter  wird  nichts  da- 
gegen haben,  wenn  sie  bedenkt,  daß  sie  mich  wohl  mehr  Gefahren 
aussetzt,  wenn  ich  nicht  schwimmen  lerne,  als  wenn  dies  geschieht. 
Meine  Arbeiten  sollen  gar  nicht  dadurch  gestört  werden ;  ich  will  recht 
gern  eine  Stunde  früher,  um  4  aufstehen  und  von  4  bis  5  meine 
Schwimmstunden  nehmen. 

Nun,  gehebter  Vater,  Adieu.    Es  küßt  Dich  tausend  Mal 

Dein  dich  liebender  Sohn 

Ferdinand. 

Meine  vielgeliebte  Mutter! 

Ungemein  hat  es  mich  gefreut,  aus  Deinem  Brief  zu  entnehmen, 
daß  es  Gott  sei  Dank  mit  Deiner  Gesundheit  geht.     Daß  Du  in  ein 


^)  Der  Anfang  des  Briefes  fehlt.  Er  ^v^lrde  am  19.  Juni  geschrieben.  S.  Tage- 
buch, S.  165.  Die  Erlaubnis  zum  Schwimmen  wurde  erteilt.  Aber  ungehalten 
darüber,  daß  er  in  den  großen  Ferien  nicht  nach  Hause  kommen  sollte,  schrieb 
Lassalle  am  18.  Juli  in  sein  Tagebuch:  ,,Will  ich  mich  über  vier  ganze  ^^'ochen 
mit  Schwimmen  amüsieren,  werde  ich  ziüetzt  eine  Ente  werden." 


--^-         =-  46 =        — 

Bad  reisen  willst,  ist  mir  lieb  zu  vernehmen,  nur  laß  Dich,  ich  bitte 
Dich  um  Gottes  willen,  dadurch  nicht  abhalten,  Michaeli  nach  Leipzig 
zu  kommen  zu  Deinem  Dich  liebenden  Sohn 

Ferdinand. 

Schwester   und  Cousine  Rikchen    zu    grüßen.      Warum  schreiben 
beide  nicht?   Onkel  Friedländer,*)  Lachs,  Orgler-)  zu  grüßen. 


ISIDOR  GERvSTENBERG^)  AN  IJVSSALLE.    (Original.) 

Hamburg,  20.  Sept.   1840. 

.  .  .  Aber  Du  bliebst  zurück  in  Verhältnissen,  die  Dir  nicht  völlig 
behagten.  .  .  .  Nun,  lieber  Junge,  ich  bitte  Dich  recht  dringend^  alles 
anzuwenden,  um  Dir  das  zwar  erzwungene,  aber  dennoch  freundschaft- 
liche Verhältnis  zu  Deinen  Pflegeeltern  ^)  zu  erhalten.  Du  bist  so  klug 
als  ich.  Du  weißt  ebensogut,  noch  besser,  wie  Du  handeln  sollst,  allein 
Du  bist  sehr  auffahrend,  und  der  Hitzkopf  läuft  oft  mit  der  Vernunft 
davon;  nur  in  Fällen  Deines  Ärgers,  die  meinem  Wvmsche  nach  gar 
nicht  statthaben  mögen,  bei  Dir  aber  dennoch  unvermeidlich  sind, 
nur  dann  gedenke  der  Worte,  der  Bitte  Deines 

Isidor. 

Ich  glaube  Deine  Eltern  tmd  Fräulein  Schwester  schon  bei  Dir 
und  Dich  deshalb  auf  der  Freude  höchstem  Gipfel,  in  der  Wonne  des 
Wiedersehens  so  geliebter  Personen  .  .  .  Na,  ich  kann  mir  Deine  Mutter 
(lenken!  In  die  Schule  gehen  darfst  Du  sicher  nicht,  Du  kämst  ja  um 
wieviel  tausend  Küsse  zu  kurz. 


1)  Der  Vater  von  I,assalles  Schwager  Friedland.  Schwester  und  Cousine 
Rikchen  ist  Lassalles  Schwester  Friederike. 

2)  Angestellter  im  Geschäft  des  Vaters. 

3)  Isidor  Gerstenberg  war  Lassalles  nächster  Freund  in  seiner  Breslaucr 
Schülerzeit.  Im  Jiigendtagebuch  ist  überall  von  ihm  die  Rede.  Später  ging 
er  nach  England  und  wurde  hier  ein  hervorragender  Finanzmann.  Er  war  es 
anscheinend,  der  später  Lassalles  Bekanntschaft  mit  Lothar  Bucher  vermittelte. 
Gerstenberg  starb  1876.  Näheres  über  seinen  Lebenslauf  in  P.  Lindaus  Ein- 
leitung zu  Lassalles  Jugendtagebuch  S.  35  f. 

*)  Karl  Gottlob  Hander,  Lassalles  Pensionsvater  in  Leipzig,  leitete  eine 
Privatschule.     Vgl.  über  ihn  P.  Lindau  im  Tagebuch  S.  139. 


--=  47   =^  = 

3- 
LASSAIXP:  an  die  Eltern.     (Original.) 

[Pcststeinpel  Leipzip,  den  8.  Jamiar  1841.] 

Geliebte  Eltern! 

Mir  ist's,  als  wenn 's  ein  Traum  gewesen  wäre,  als  ob  ich  noch  träume 
und  ich  möchte  mir  die  Augen  reiben,  um  mich  vom  Gegenteil  zu  über- 
zeugen. Soviel  ist  gewiß,  war's  ein  Traum,  so  war's  ein  schöner,  und 
ich  will  Morpheus  um  solche  Träume  bitten.  Sie  sind  mir  lieber  als 
die  triste  Wirklichkeit  hier!  Aber  beim  wimderbaren  Gott!  der  Über- 
gang ist  plötzlich!  Vor  wenig  Tagen  noch  in  Breslau  ^)  in  dem  Hause 
meiner  angebeteten  Eltern,  wo  ich  aus  den  Armen  meines  geliebten 
Vaters  in  die  meiner  zärtlichen  Mutter,  tmd  von  dieser  an  den  Hals 
meiner  liebenswürdigen  Schwester  flog,  wo  ich  nur  Liebe  atmete  und 
nur  Liebe  mich  umfing  —  und  jetzt  wieder  hier,  in  den  ,, Regionen  des 
Hasses",  wo  man  das  Wort  auf  die  Wagschale  legt,  ehe  man  es  aus- 
spricht, wo  man  die  Blicke  bewacht!  —  Wenn  ich  zurückdenke  imd 
alles,  was  ich  bisher  erlebt,  die  Revue  passieren  lasse,  so  finde  ich,  daß 
ich  noch  nie  acht  so  glückliche  Tage  verlebt  habe. 

Wahr  ist  der  Ausspruch  des  Weltweisen :  Der  Mensch  selbst  ist  die 
Ursache  der  meisten  imd  größten  Widerwärtigkeiten,  die  ihm  be- 
gegnen. Daß  ich  den  Satz  auf  meine  Kosten  bestätigt  sehen  nmß! 
Ich  selbst  war  es  ja,  der  sich  herausriß  aus  dem  väterhchen  Haus.  Wie 
oft  bat  mich  nicht  meine  gute  Mutter :  Bleibe  bei  uns,  und  noch  klingen 
mir  die  Worte  meines  Vaters  im  Ohr,  die  er  sagte  in  der  Stunde  des 
Scheidens:  Du  wirst  Dich  oft  zurüclcwünschen  in  das  Haus  Deiner 
Eltern,  trotzdem,  daß  Du  jetzt  hinauszukommen  verlangst.  Ja,  Vater, 
Deine  Prophezeiung  ist  längst  eingetroffen. 

Doch  genug  damit.  Die  Sache  ist  vorbei  (obwohl  noch  zu  ändern), 
und  es  ist  nicht  billig,  daß  ich  andern  das  Herz  schwer  mache,  weil 
ich  voreilig  gewesen. 

Meine  Reise  ist,  wie  ich  Euch  schon  in  meinem  vorigen  Briefe  ge- 
sagt habe,  ohne  große  Abenteuer  und  ohne  das  geringste  Malheur  von- 
statten  gegangen  mid  hatte  ich  das  Glück,  auf  der  ganzen  Tour  hin- 
länglich Gesellschaft  zu  haben. 

Bis  Görlitz  unterhielt  mich  mein  beschnurrbärteter  Reisegefährte, 
der  den  Krieg  von  1813  (nichts  ist  mir  verhaßter,  als  diesen  Krieg 
,, Freiheitskrieg"  nennen  zu  hören)  und  die  polnische  Revolution  mit- 
gemacht.   Stoff  zum  Erzählen  hatte  er  also  genug.    In  Görlitz  kam  ich 

^)  Lassalle  war  in  der  Weilinachtswoche  zur  Silberhochzeit  der  Eltern  in 
Breslau  gewesen. 


--= — =   48   --— — — 

früh  morgens  um  5  an,  und  ließ,  Deinen  Befehlen  gemäß,  mich  in  den 
Gasthof  zum  ,, Braunen  Hirsch"  bringen,  wo  ich  mich  ins  Bett  legte 
mid  bis  8^2  Uhr  schlief.  Ich  hatte  eben  den  Zettel  an  Euch,  geliebte 
Eltern,  geschrieben  und  wollte  ausgehen,  ihn  auf  die  Post  zu  bringen, 
als  die  gegenüberliegende  Tür  aufging  und  Herr  A.  Reißner  heraus- 
tritt. Wir  freuten  uns  beide  sehr,  uns  hier  zu  treffen;  er  erbot  sich, 
mir  einen  Brief  mitzunehmen,  und  ich  übergab  ihm  den,  den  Ihr  hoffent- 
lich erhalten  haben  werdet.  Da  ich  bis  Nachmittag  um  4  Uhr  in  Görhtz 
bleiben  mußte  und  die  Aussicht  hatte,  mich  höchlich  zu  ennuyieren, 
so  war  mir  dieses  Renkon tre  doppelt  gelegen.  Auch  tadelte  Herr  Reißner 
meinen  Reiseplan  sehr.  Er  meinte,  wenn  ich  früh  morgens  um  5  weiter- 
gefahren wäre,  so  wäre  ich  Nachmittag  um  4  in  Dresden  gewesen,  hätte 
da  die  Oper  besuchen  und  dann  noch  bis  andern  Morgen  um  6  schlafen 
können.  Aber  das  war  vorbei,  und  ich  wäre  um  alles  in  der  Welt  Deinem 
Plan  nicht  untreu  geworden.  Herr  Reißner  vmd  ich,  wir  vertrieben 
uns  die  Zeit,  so  gut  es  gehen  konnte,  wir  plauderten,  aßen  etc.  Unter 
anderm  schlug  ich  ihm  vor,  einen  Tausch  zu  machen,  er  solle  statt 
meiner  nach  I^eipzig  als  Handelsschüler,  ich  als  Herr  Reißner  nach 
Breslau  gehen.  Er  wollte  aber  nicht  und  schützte  vor,  seine  Frau 
würde  ihm  das  sehr  übel  nehmen.  Als  ich  ihm  darauf  versicherte,  ich 
würde  alles  Mögliche  tmi,  um  sie  über  den  Verlust  zu  trösten,  wollte 
er  sich  halb  zu  Tod  lachen,  ging  aber  meinen  Vorschlag  doch  nicht  ein. 

Geliebte  Eltern;  nächstens  folgt  die  Fortsetzung.  Heut  muß  ich 
schließen,  denn  es  ist  10^2  Uhr  und  mein  Licht  seinem  Erlöschen  nah! 
Ich  schicke  Dir,  geliebter  Vater,  nur  noch  hier  inliegend  eine  Rechnung. 
Den  Betrag  möchte  ich  sehr  gern  bis  Dienstag  haben;  da  habe  ich 
wieder  Stunde,  und  da  die  Rechnung  quittiert  ist,  so  schickt  es  sich 
doch,  sie  bald  zu  bezahlen.  Du  wunderst  Dich  gewiß,  daß  ich  noch 
immer  Stimde  habe;  ja,  ich  wundere  mich  auch;  aber  ich  nehme  die 
Lektionen  mit  noch  einem,  der  sehr  langsam  begreift,  und  da  muß  ich 
mich  schon  bequemen. 

Adieu,  geliebte  Eltern,  und  Du,  geliebte  Schwester. 

Euer  Ferdinand. 


4- 
LASSALLE  AN  DEN  VATER.     (Original.) 

[Poststempel  ]>ipzig,  3.  April  1841.] 
Geliebter  Vater. 

Es  ist  dies  wahrscheinlich  der  letzte  Brief,    den  ich  Dir  vor  der 
Messe  schreibe,  und  eben  darum  wird  er  vielleicht  auch  kürzer  ausfallen 


-  --=  49   =-  =■-  ==^ 

als  die  übrigen;  aber  es  ist  natürlich!  Wozu  sich  eines  so  schlechten 
Auskimftmittels,  wie  das  Schreiben  ist,  bedienen,  wenn  man  sich  bald 
Aug'  gegen  Aug'  alles  sagen  kann.  — 

Zuvörderst  vielen  Dank  dafür,  daß  Du  mir  versprochen,  bei  Deiner 
Anwesenheit  hier  füir  Reitunterricht  zu  sorgen  Es  ist  dies  aber  auch 
ein  Glück  für  mich  und  Dich  und  ein  Unglück  für  die  Papierhandlungen 
I^eipzigs  imd  die  Post!  Ich  lese  nämlich  gerade  Jean  Jaques  Rousseau 's 
Emile  ou  De  l'education  und  hätte,  wenn  Du  nicht  eingewilligt.  Dich 
so  lange  mit  Zitaten  von  Rousseau,  die  auf  meinen  Gegenstand  passen, 
als  wären  sie  dazu  gemacht,  überschüttet,  bis  Du  nachgegeben.  — 

Aber  ist  es  nicht  schon  eine  Verderbtheit  an  und  für  sich,  Rousseau 
zu  lesen?!!  Gewiß,  gewiß,  und  wenn  Ihr  mir's  diesmal  noch  verzeiht, 
will  ich 's  gewiß  nicht  wiederum!  —  Also,  was  wollt'  ich  sagen?  Ja  so, 
tausend  Dank  für  die  Gewährung  meiner  Bitte,  obgleich  es  mir  lieber 
gewesen,  wenn  ich  schon  jetzt  meine  Reitstvmden  hätte  beginnen 
können,  vun  die  Ferien  minder  ennuyant  zu  machen.  Aber  vielleicht 
werde  ich  eine  kleine  Reise  von  zwei,  drei  Tagen  machen,  auf  jeden 
Fall  will  ich  fleißig  spazieren  gehen.  Bitte,  schicke  mir  so  schnell  wie 
möglich  etwas  Geld;  ich  habe  keins,  und  in  den  Ferien  bedarf  ich  dessen 
gerade  am  meisten,  sowohl  weim  ich  verreise  als  wenn  ich  hier  bleibe. 
Die  Ausflüge  in  die  Umgegend  sind  trotz  ihrer  Ländhchkeit  ohne  Geld 
nicht  zu  bewerkstelligen. 

Unser  Examen  ist  glücklich  und  ohne  einen  besonders  bemerkens- 
werten Umstand  vorübergegangen;  bereits  bin  ich  auch  ein  Schüler 
der  ersten  Klasse.  Über  Deine  Besorgnis,  ich  möchte  nicht  versetzt 
werden,  mußte  ich  lächeln!  Das  hätt'  ich  kaum  so  ruhig  hingenommen, 
wie  Du  es  mir  anempföhlest.  Das  war  auch  das  Einzige,  wozu  ich  Schieben 
hätte  zwingen  können. 

Übrigens  habe  ich  mich  mit  Schieben  sozusagen  ausgesöhnt!  ')  Als 
ich  nämlich,  wie  bei  ims  Sitte,  vor  den  Ferien  mich  bei  ihm  empfehlen 
wollte,  so  traf  ich  ihn  mit  unserm  Inspektor  Herrn  Schierholz  allein  im 
Zimmer.  Jetzt  oder  nie,  dacht'  ich,  ist  der  Augenblick  da,  wo  Du  Dich 
vielleicht  mit  Schieben  besser  setzen  kannst.  Zwar  ist  es  eine  Art 
Heuchelei,  von  Reue  zu  sprechen,  wenn  man  den  Haß  im  Herzen  trägt; 
aber  der  Gedanke  an  Dich  überwog.  ,,Du  bist  es  Deinem  Vater  schuldig," 
dacht'  ich,  und  ,,Schurken  wollen  betrogen  sein".  „Herr  Direktor,  begann 
ich,  ich  hoffe,  daß  es  mir  gelingen  wird,  mir  in  künft'gem  Jahr  Ihre  Zu- 
friedenheit besser  zu  erwerben,  als  im  verflossenen."  Er  horchte  auf  — 
das  schien  er  von  mir  nicht  erwartet  zu  haben.    Nun  ich  einmal  im  Zuge 

^)  Tagebuch,  S.  250,  i.  April.  August  Schiebe  war  der  Direktor  der  Handels- 
scdiule,  die  I,assalle  in  Leipzig  besuchte.  Er  starb  187 1.  Vgl.  über  ihn  Lindau 
a.  a.  O.  S.  141  f. 

Mayer,  Lassalle-Nachlass.  ^ 


-=  50   —  = 

war,  ging's  leicht  weiter,  „Nehmen  Sie  mein  Versprechen,  daß  ich 
mein  Betragen  ändern  werde."  Nun  fing  Schiebe  an.  Was  Er  sagte, 
kannst  Du  Dir  denken;  er  machte  mir  ein  paar  Komplimente  über 
meinen  Verstand,  hunzte  mich  herunter  über  mein  verbranntes  Ge- 
hirn, warf  mir  vor,  daß  ich  ihm  keinen  Glauben  schenke  etc.  Als  ich 
ihm  drauf  versicherte,  ich  sei  erstens  im  allgemeinen  überzeugt  von 
allem,  was  er  sage,  im  besondem  aber  sei  ich  davon  überzeugt,  daß 
ich  ein  durch  und  durch  verbranntes  Hirn  haben  müsse,  war  er  schon 
bedeutend  beruhigt!  Kurz,  als  wir  schieden,  waren  wir  die  besten 
Freunde.  Ich  glaube  indes  kaum,  daß  diese  Fretmdschaft  lange  Bestand 
haben  wird. 

Ich  habe  wirklich  schon  so  viel  verschiedene  Perioden  mit  dem  Alten 
durchgemacht,  daß  ich  sie  Dir  schwerlich  ganz  klar  machen  kann. 

Für  heut  leb  wohl,  geliebter  Vater !  Deinen  Wimsch,  Pessach  in  der 
Garküche  zu  essen,  werde  ich  erfüllen.  Ich  wünsche  Dir,  der  geliebten 
Mutter,  Rikchen,  Ferdinand  und  allen  Verwandten  vergnügte  Feier- 
tage, Es  ist  das  erstemal,  daß  ich  den  Zeider^)  nicht  in  meinem  väter- 
lichen Hause  hören  kann.  Ob  Dein,  ob  meiner  guten  Mutter  Blick 
nicht  manchmal  auf  der  »Stelle  weilen  wird,  wo  früher  Euer  gehebtes 
Jungel  saß?^)    Adieu! 

Dein  Ferdinand. 

Lachs,  Orgler  zu  grüßen!    Gute  Feiertage! 


5. 

LASSALLE  AN  DEN  VATER.    (Original.) 
Fortsetzimg.  ^)  ^) 

l,eip2dg  [ohne  Datum]. 

die  Folgen  dieser  beiden  Begebenheiten  denken 

alles  revolutionär,  sogar  die  Luft  die Jeden  Tag  kann 

der  Aufruhr  losbrechen gewaltige  Krise.    Was  mich  be- 
trifft, ich  liebe wo  das  Volk  sich  plötzlich  seiner  Kraft 

wird  und  nur  noch  nicht  weiß,  was  es  wollen oder  große 

Märmer  nehmen  sich gewöhnlich  an,  und  führen  es  weiter 

Was  ich  für  eine   Rolle   bei  diesem    

darüber  kaimst  Du  schwerlich  im  Zweifel  sein Zufall  der 


*)  Der  bei  den  orthodoxen  Juden  feierlich  begangene  Vorabend  des  Passahfestes. 

2)  Vgl.  Tagebuch  S.  251,   5.  April. 

3)  Das  Wort  „Fortsetzung"  von  Lassalles  Hand.    Das  Vorhergehende  fehlt. 
*)  Die  Punkte  bezeichnen  die  Stellen,  wo  Stücke  des  Briefes  abgerissen  sind. 


Mühe   überheben   die   Revolution Reife  zu  bringen,    und 

selbst  dieses  Fach Jeden  Tag  halte  ich  in  der  Klasse  trotz 

der zu  werden  die  herrlichsten  Reden  von 

Robespierre  tmd  entzünde  mit  allen  Feuerworten  ....  glühendster 
Beredsamkeit,  die  mir  zu  Gebote  steht,  die  naßkalten  deutschen  Jüng- 
lingsherzen. Ich  bin  hinten  imd  vom  imd  auch  wenn 's  nottut  in  der 
Glitte,  doch  leider,  leider  ist  unsre  Handelsschule  keine  Ecole  Poly- 
technique,  imd  meine  herrlichste  Rede  wird  vergessen  über  das  Mittag- 
essen, und  der  größte  Mut,  den  ich  entzündet,  verdampft  vor  dem 
finster  grollenden  BHck  Schiebens.  Doch  verdanke  ich  meiner  Be- 
mühimg,  daß  die  revolutionäre  Stimmung  ohne  neue  Nahnmg  schon 
14  Tage  anhält,  was  immer  schon  viel  ist,  um  so  mehr,  da  mich  eine 
Art  Grippe  für  einige  Tage  auf  mein  Zimmer  fesselte.  Doch  hatte  dies 
wiederum  einiges  Gutes,  denn  indem  mich  sehr  viele  Schüler  einzeln 
besuchten,  entging  mir  der  Stand  der  Begebenheiten  nicht,  und  meine 
Reden  für  einen  einzelnen  gehalten,  hatten  noch  größere  Wirkung,  indem 
ich  das  vorliegende  Individuum  bei  seinen  Ivieblingsideen  imd  Schwach- 
heit   Doch  zweifle  ich  an  dem  Gelingen  meines  Werkes, 

klug  um  ims  jetzt  auch  nur  die  mindeste  Gelegenheit die  Ge- 
legenheit bei   den  Haaren   herbeizuziehen Juste-milieuaner 

nicht  bewegen.    Ich  werde  mich wahrscheinlich  nach  und 

nach  zurückziehen vielleicht  noch  das  Vergnügen  haben  an  der 

zu  bleiben,  wofür  ich  zwar  keine  Furcht  habe, fühle 

mit  Schiller  ,,der  Starke  ist  am  [mächtigsten allein]",  aber  ich  habe  keine 
Lust  das  zu  sein,  was  de[r  Franzose]  unübersetzbar  ,,le  dupe"  nennt, 

xmd  zwar  noch die  unter  mir  stehen.   Doch  genug  davon.  — 

Da  ich  Deinen  so  wie  der  geliebten  Mutter Sinn  im 

allgemeinen  kenne,  und  auch  weiß Interesse  ist,  daß  Ihr  im 

besondem  für  Eure [Glaubensge]nossen  fühlt,  wie  reg  der  Eifer  ist, 

mit zu  helfen  sucht,  so  glaube  ich  Euch  mir 

indem  ich  Euch  Gelegenheit  gebe,  einen  Ve[rein] ,  der  zwar  erst 

kurze  Zeit  besteht,  aber  dennoch  schon  höchst  segensreich  gewirkt  hat. 
Unter  dem  Namen  ,Jeschuat- Achim"  (Bruderhilfe)  hat  sich  nämlich 
voriges  Jahr  hier  ein  Verein  zur  Unterstützung  hilfsbedürftiger  jüdi- 
scher Studierenden  gebildet,  dessen  Nützhchkeit  umso  größer  ist,  da 
die  Anzahl  der  hiesigen  jüdischen  Studenten  nicht  gering  ist  und  es 
doch  gänzhch  an  jüdischen  Familien  hier  fehlt,  von  denen  sie  Unter- 
stützung erhalten  könnten.  Die  Art  der  Beiträge  etc.  ersiehst  Du  aus 
den  Statuten,  die  ich  beilege.  Ich  für  meinen  Teil  habe  von  meinem 
Taschengeld  12  Gr.  monatlich  unterzeichnet.  Beiläufig,  jener  Mann, 
von  dem  ich  Dir  hier  sagte,  er  wäre  nicht  ohne  Einfluß  auf  meinen  Ent- 
schluß und  billigte  ihn,  ist  der  erste  Direktor  dieses  Vereins;  ich  habe 


52     ^^^ ^ 

bei  seinem  Namen,  den  Du  tmter  denen  der  Direktoren  finden  wirst,  zwei 
Kreuze  gemacht.  Herr  Dr.  Freimd,  der  jetzt  in  Breslau  wahrscheinlich 
ist,  kennt  ihn  gut;  erkimdige  Dich  bei  ihm  über  V.  Meyer.  Herr  Bieber, 
bei  dem  ich  neulich  war,  läßt  Dich  grüßen,  und  nun  leb  wohl. 

Dein  Dich  liebender  Sohn 

Ferdinand. 

Mutter,  Schwester,    Ferdinand  ^)    zu  grüßen.     Wo   bleiben    meine 
Hemden  ? 


LASSALLE  AN  DEN  VATER.     (Original.) 

I/cipzig,  d.  20.  Mai  1841. 
Geliebter  Vater! 

Wenn  mein  letzter  Brief  nicht  so  zusammenhängend  und  ausführ- 
lich war,  wie  er  es  hätte  sein  sollen,  so  mußt  Du  deshalb  nicht  auf  mich 
zürnen.  Du  warst  kaum  abgereist,  hättest  mir  noch  nicht  geschrieben  ; 
mein  Brief  hatte  also  nur  zum  Zweck,  zu  verhüten,  daß  Du  imd  meine 
geliebte  Mutter  meinetwegen  in  Unruhe  wären;  auch  hatte  ich  gar 
keinen  Stoff  mehr  zu  schreiben.  ,,Wie,  wirst  Du  mir  entgegnen,  Du 
hast  Deinem  Vater  nichts  zu  sagen?"  Ach  ja,  zu  sagen  tausenderlei, 
aber  nicht  zu  schreiben ! 

Daß  Du  mein  Taschengeld  von  i  Rt.  8  Gr.  auf  3  Rt,  erhöht  hast, 
hat,  wie  ich  Dir  wohl  erst  nicht  zu  versichern  brauche,  mein  Herz  mit 
Freude  erfüllt.  Tausend  Dank  dafür  Dir  vmd  demjenigen,  der  diese 
große  und  heilbringende  Idee  in  Dir  geweckt  hat.  Um  so  mehr  über- 
raschte und  erfreute  mich  dieser  Akt  der  Liebe  tmd  der  Billigkeit,  da 
Du  doch  kurz  vorher  bei  mir  gewesen,  ohne  daß  ich  zu  Dir  davon  ge- 
sprochen hatte.  Freilich  hatte  ich  mir  vorgenommen,  mit  Dir  davon 
zu  reden.  Aber  was  hatte  ich  mir  nicht  alles  vorgenommen !  Ich  woUte 
Dich  bitten  um  Erhöhiing  des  Taschengeldes,  um  Reitstunde  und  tausend 
andere  Dinge  von  Wichtigkeit  für  mich,  deren  Besprechung  ich  bis 
auf  Deine  Ankunft  verschoben  hatte;  —  doch  als  Du  da  warst,  da 
vergaß  ich  daran  oder  berührte  sie  nur  ganz  oberflächlich.  Als  Du 
fort  warst,  fielen  alle  diese  Lieblingswünsche  mit  erneuter  Gewalt  auf 
mein  Herz;  doch  mm  war's  zu  spät  —  ich  mußte  resignieren.  Desto 
erfreulicher  war  also  der  Inhalt  Deines  Briefes  für  mich.  Glaube  aber 
nicht,  geliebter  Vater,  daß  mich  die  Erhöhung  meines  Taschengeldes 


*)  Ferdinand  Friedland,  Lassalles  Schwager. 


^^  53  --= 

liederlich  machen  wird ;  im  Gegenteil,  sie  wird  mich  sparsamer  machen. 
Ich  war  nie  geneigter  Geld  auszugeben,  als  wenn  ich  bloß  8 — 12  Gr. 
hatte,  besaß  ich  aber  einige  Taler,  so  wurde  ich  ordentlich  knickerig; 
zwischen  dem  Nichts  und  dem  Wenig  existiert  bei  mir  kein  Unter- 
schied, eine  desto  größere  Kluft  aber  zwischen  Viel  vmd  Wenig.  Es 
geht  vielen  Leuten  so,  und  daher  mag  es  auch  kommen,  daß  die  Reichen 
im  Verhältnis  genommen  gewöhnlich  geiziger  sind  als  die  Armen. 

Die  IG  Taler  von  Bielefeld  habe  ich  mir  nicht  für  mich  geben 
lassen;  hätte  ich  ihrer  bedurft,  so  würde  ich  sicherlich  sie  mir  von  Dir 
haben  geben  lassen,  der  Du  zwei  Tage  früher  erst  abgereist  warst;  und 
abgerechnet  davon,  wären  Oppenheim  und  Bielefeld  die  letzten,  bei  denen 
ich  einen  Pump  anlegen  möchte.  Aber  ich  brauchte  sie  für  einen  Freimd, 
den  ich  aus  einer  schrecklichen  Verlegenheit  riß.  Spätestens  in  vier  Wochen 
werde  ich  sie  zurückerhalten  und  sie  Dir  dann  ganz  oder  zum  Teil 
übersenden,  wie  Du  das  haben  willst.  Ich  sage  ganz  oder  zum  Teil, 
denn  die  2  Taler,  die  Du  mir  zurückließest,  sind  für  Bedürfnisse  aus- 
gegeben, und  obwohl  ich  jetzt  hinreichend  Taschengeld  habe,  so  bin  ich 
doch  darin  ein  völliger  Pedant,  daß  ich  an  ein  strenges  Absonderungs- 
system halte,  mein  Taschengeld,  das  sozusagen  mein  ist,  imd  das 
ich  nicht  zu  verrechnen  brauche,  genau,  fast  äng(st)Hch  von  dem 
trenne,  das  für  meine  Schulbedürfnisse  ist,  das  ich  nur  verwalte  und 
von  dem  ich  genaue  Rechenschaft  ablegen  muß.  Diese  letzte  Kassa 
also  ermangelt  der  Fonds  und  bedarf  einer  neuen  Füllimg. 

Im  übrigen  ist  mein  Leben  vergnügt,  einfach  imd  ruhig.  Ich  tue 
meine  Pflicht  in  der  Klasse,  was  mir  nicht  schwer  wird;  bin  ich  aus 
der  Klasse  heraus,  dann  wende  ich  mich  von  den  Zwangsarbeiten  an 
die  Studien  meiner  Neigung  imd  übe  mich  im  Denken.  Deinen  Freund 
Biber  werde  ich  nächstens  besuchen,  da  ich  weiß,  daß  es  Dir  Vergnügen 
macht;  Deinem  Rate  gemäß  ,, arbeite  ich  an  mir",  doch  habe  ich  den 
Schmerz  zu  sehen,  daß  ich  immer  noch  nicht  besser  werde. 

Schreibe  mir  bei  Gelegenheit  ein  Urteil  über  meine  Hefte;  ich  bin 
eitel  und  habe  es  gern,  gelobt  zu  werden.  —  Eigen thch  wollte  ich  in  den 
Pfingstf eiertagen  eine  Reise  nach  Dresden  imd  in  die  Sächsische  Schweiz 
machen,  doch  würde,  da  Mittwoch  schon  die  Ferien  beginnen.  Deine 
Erlaubnis  zu  spät  eintreffen,  und  ich  lasse  demgemäß  die  Reise  für 
diesmal.   Lebe  wohl!   Ich  bin  Dein 

Dich  ewig  liebender  Sohn 

Ferdinand. 

Dich,  geliebte  Mutter,  und  Dich,  goldenes  Rikchen,  küsse  ich 
tausendmal.  Nächstens  schreibe  ich  Dir,  meine  Mutter,  einen  langen, 
langen  Brief.    Es  ist  ein  sehr  großer  Übelstand!    Ich  weiß  Dir  nichts 


-  54 = 

zu  schreiben;  mit  dem  Vater  kami  ich  doch  noch  von  Geschäften 
sprechen ;  mit  dergleichen  aber  möchte  ich  Dich  nicht  ermüden,  zu  Dir 
möchte  ich  lediglich  von  meiner  I^iebe  reden,  und  das  läßt  sich  nicht 
zu  Papier  bringen.  Wenn  man's  noch  so  feurig  niederschrieb,  es  klingt 
nachher  so  matt! 

Lachs  imd  C.  Orgler  zu  grüßen. 


7- 
AUS  DEM  TAGEBUCH  DEvS  HANDELSSCHÜLERS.    (Original.) 

[Um  Pfingsten  1841.] 

Die  Stimmung,  in  der  ich  hier  in  Leipzig  lebe,  ist,  geUnd  zu  sagen, 
die  unbehaglichste  von  der  Welt.  So  schön  auch  der  Lenz  blüht  in 
meinem  Herzen  und  um  mich  herum,  so  nimmt  doch  alles  eine  düstere 
Farbe  an,  weim  ich  mein  Auge  auf  die  Szenen  wende,  die  mich  um- 
geben. Vom  Schtdjammer  will  ich  nicht  reden,  den  bin  ich  gewöhnt; 
was  mich  aber  mehr  ergriff  als  Dinge,  die  mich  näher  angingen,  war 
die  Krise,  die  jetzt  zwischen  Hander  und  seiner  Frau  eingetreten  war. 
Es  widerte  mich  an,  zu  sehen,  wie  ein  Gatte  alle  Mittel  gemeiner,  plumper 
List  gegen  seine  Frau  anzuwenden  [sie!],  die  schwach  genug  ist,  in  die 
Falle  zu  gehen,  und  wie  er  nachher  mit  der  raffiniertesten  Schlechtheit 
ihr  eben  daraus  ein  Verbrechen  macht,  wie  ein  Mann,  nachdem  er  das 
ganze  Vermögen  seiner  Gattin  durchgebracht,  die  verächtlichsten 
Mittel  anwendet,  Himmel  und  Hölle  in  Bewegung  setzt,  um  noch  die 
letzten  2000  Taler  herauszupressen,  die  letzten  2000  Taler,  die  ihr  von 
ihrer  Mitgift  gebheben  waren,  die  letzten  2000  Taler,  die  einmal  seine 
Kinder  vor  dem  Bettelstab  schützen  könnten.  Ärgerte  mich  auf  der 
einen  Seite  die  Schlechtigkeit  und  die  ausgesuchte  Heuchelei,  mit 
welcher  der  Kerl  sie  verstecken  sollte,  so  ärgerte  mich  andrerseits  ihre 
Schwäche  und  übermäßig  große  Leichtgläubigkeit.  L^nd  sah  ich  auch 
wie  bei  Fritz  ^)  ein  richtig  schlagendes,  warm  fühlendes  Herz,  das  sich 
nicht  scheute,  dem  Heuchler  zu  begegnen  und  für  seine  Schwester  zu 
sprechen,  so  sah  ich  auch  die  Folgen,  die  ihm  aus  einer  gutgemeinten 
Tat  entsprossen,  wie  die  Bosheit  Handers  weit  genug  ging,  daß  er 
sich  nicht  schämte,  ein  gemeiner  Angeber  zu  werden,  wie  Fritz  dann 
im  Gefängnis  sogar  von  seiner  Schwester,  derentwillen  er  hingekommen 
war,  auf  die  imdankbarste  Weise  kalt  im  Stiche  gelassen  wurde  und 
gänzlich  verlassen  war,   wenn  nicht  noch   ich  und  Enke   uns  seiner 


^)  Ein  Bruder  der  Prau  Hander,  der  mit  Lassalle  befreundet  war. 


—  — -      55      —  -=r 

annahmen.  Kein  Wunder,  daß  das  alles  einen  Eindruck  auf  mich  machte, 
einen  Eindruck,  der,  glaube  ich,  wesentlich  dazu  beitrug,  daß  ich 
drei  Wochen  krank  wurde.  Ich  war  von  solchem  Ekel  erfüllt,  daß  ich 
nicht  wußte,  wie  mir  helfen.  Hander  mußte  ich  verachten,  in  letzter 
Zeit  hatte  er  sich  gegen  mich  auf  die  kriechendste  Weise  benommen, 
doch  als  er  sah,  daß  ich  mich  nicht  täuschen  imd  übertölpeln  ließ,  fuhr 
er  mit  doppelter  Wut  gegen  mich  los  und  nahm  die  Zuflucht  zu  seinem 
gewöhnlichen  Mittel,  der  Verleumdung.  Ich  begnügte  mich  damit, 
von  meiner  Höhe  herab  ihn  mitleidig  zu  belächeln. 

Jetzt  kam  der  Tag,  an  dem  Fritz  loskommen  sollte,  aber  auch 
Leipzig  verlassen  mußte.  Das  lag  in  Handers  Plan,  denn  ,, fürchten 
mußt'  er  die  gerechte  Rache  des  freien  Marmes,  den  er  schwer  gereizt". 

Enke  und  ich,  wir  begleiteten  ihn.  Sonntag  morgens  um  6  Uhr 
zogen  wir  ab  und  hatten  unter  fortwährendem  Geplauder  Halle  sehr 
bald  erreicht. 

Wir  kehrten  im  Gasthaus  ,,Zum  goldenen  Ring"  ein  und  nachdem  wir 
uns  umgekleidet,  gingen  wir  aus,  die  Stadt  und  ihre  Merkwürdigkeiten 
zu  besichtigen.  Halle  mit  seinen  engen  und  winkligen  Gassen,  seiner 
veralteten  aber  dabei  nicht  gotischen  Bauart  macht  gewiß  auf  jeden 
Besucher  keinen  erfreulichen  Eindruck.  Obwohl  es  zum  mindesten 
26  000  Einwohner  hat,  so  ist  es  doch  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts 
so  verbaut,  daß  man  es  für  ein  ganz  unbedeutendes  Städtchen  halten 
würde.  Auf  dem  Markte  fielen  mir  sogleich  zwei  große  eherne  Löwen 
in  die  Augen: 

,,Zu  Halle  auf  dem  Markte, 
Da  stehen  zwei  eherne  Löwen. 
Ei,  du  hallischer  Löwentrotz, 
Wie  hat  man  dich  gezähmt! 

Zu  Halle  auf  dem  Markte, 

Da  steht  eine  große  Kirche, 

Die  Burschenschaft  und  die  Landsmannschaft, 

Die  haben  da  Platz  zum  Beten."  ^) 

^)  Lassalle  zitiert  hier,  wie  fast  immer,  ungenau.     Bei  Heine  heißt  es: 

,,Zu  Halle  auf  dem  Markt, 

Da  stehn  zwei  große  I,öwen. 

Ei,  du  hallischer  lyöwentrotz. 

Wie  hat  man  dich  gezähmet!" 
Den  zweiten  Vers  des  Gedichts  läßt  Lassalle  fort,    den  dritten  führt  er  richtig 
an,  nur  daß  es  in  der  ersten  Reihe  wiederum  Markt,   in  der  letzten  ,,dort"  statt 
,,da"  heißen  muß. 


=  56  :^  =^ 

Und  Heine  hat  recht,  wie  hat  man  den  hallischen  Löwentrotz  ge- 
zähmt! Die  Burschenschaft  mid  die  Landsmannschaft,  die  müssen  in 
der  Tat  in  dem  Kolleg  stecken  oder  beten,  den  ganzen  Tag  traf  man 
keinen  auf  der  Straße,  auch  hört  man  nicht  das  geringste  von  ihnen, 
desto  häufiger  aber  trifft  man  Blaujacken  mit  roten  Aufschlägen,  die 
übermütig  die  Melodie  brummen:  ,, Unser,  unser  sind  die  Stimden  und 
der  Lebende  hat  Recht."  FreiHch  ist  das  auch  der  praktischste  Beweis 
für  Recht  oder  Unrecht!  Auch  der  alte  Roland  steht  traurig  imd  einsam 
da  und  wartet  noch  immer  ungeduldig  auf  den  Augenbhck,  wo  der 
auf  dem  Kyffhäuser  losgeht,  der  Rotbart,  aber  der  fragt  seinen  auf- 
wartenden Zwerg:  ,, Fliegen  die  Raben  noch  um  den  Berg?"  —  ,,Ja." 
—  „So  geh  mal  auf  den  Gipfel  und  sieh,  ob  der  Roland  zu  Halle  schon 
losgebrochen  ist."  Und  wird  die  Frage  verneint,  so  versinkt  er  wieder 
in  sein  dumpfes  Brüten;  so  wartet  einer  auf  den  andern  rnid  wir  ver- 
geblich auf  alle  beide. 

Wir  gingen,  nachdem  wir  die  Kirche  andächtig  durchschritten,  in 
die  Sahne.  Durch  ein  höchst  einfaches  Pumpwerk,  das  von  Dampf  in 
Bewegung  gesetzt  wird,  wird  die  Sole  aus  dem  Bergwerk  herausgebracht 
und  imter  der  Erde  hinaus  in  die  Sahne  geleitet.  Wir  begaben  uns 
dahin.  Von  dem  Oberaufseher,  der,  wie  alle  Beamten  bei  der  vSaline, 
eine  eigentümhche,  ziemhch  altdeutsche  Tracht  trug,  nämlich  eine 
große  Weste,  die,  weit  ausgeschnitten,  ihm  bis  über  den  nicht  unbe- 
trächtlichen Bauch  ging  tmd  mit  großen  bleiernen  Kuppeln  besetzt 
war,  vmd  die  als  Knöpfe  fungierten  und  an  welche  sich  eng  anliegende 
sogenannte  ,, Kniekurze"  anschlössen,  erhielt  ich  sogleich  eine  Erlaubnis- 
karte vmd  begab  mich  mm  mit  meinen  beiden  Begleitern  an  die  Arbeits- 
stätten, wohin  ims  ein  Führer,  der,  wie  alle  Arbeiter  in  dem  Bergwerk, 
bis  auf  ein  Paar  kurze  lederne  Hosen  der  tmerträglichen  Hitze  wegen 
ganz  nackt  war,  mitgegeben  wurde.  Wir  gelangten  zuerst  in  die  so- 
genaimte  ,, Pf  arme",  ein  Zimmer  von  etwa  25  Fuß  Breite,  das  fast 
gänzlich  durch  einen  tief  hölzernen  Kessel  ausgefüllt  ward.  In  diesen 
Kessel  mm,  der  beständig  mit  heißem  Wasser  gefüllt  ist,  wird  die  Sole 
geleitet  und  solange  darin  gelassen,  bis  sich  das  Wasser  gesättigt  hat, 
dann  wird  das  Salz,  denn  solches  ist  es  bereits,  auf  den  Trockenboden 
gebracht,  wo  es,  in  enge  Fächer  gedrückt,  gewöhnlich  acht  bis  zehn  Tage 
Zeit  braucht,  um  zu  trocknen.  In  diesem  Zimmer  ist  die  Hitze  ge- 
wöhnhch  45  bis  50  Grad.  Ist  das  Salz  völlig  trocken,  so  ist  es  bereits 
in  dem  Zustand,  in  welchem  man  es  zu  Speisen  gebraucht,  imd  wird 
auf  Karren  nach  der  Niederlage  gebracht.  Das  Salzbergwerk  hier  ist 
so  bedeutend,  daß  es  in  jeder  Stunde  50  Scheffel  liefert. 

Aus  dem  Trockenboden  kamen  wir  in  den  Rauchfang,  der  sich 
unter  der  Pfanne  befindet  tmd  das  Wasser  in  ihr  stets  in  einer  Temperatur 


-— —  --^  57   —  — 

von  100  Grad  Celsius  erhält.  Der  Rauchfang  wurde  geöffnet  und  der 
Rauch,  der  herausdrang,  drohte  uns  für  einige  AugenbUcke  zu  ersticken; 
nichtsdestoweniger  muß  jeden  Tag  die  Asche  herausgeschafft  werden; 
da  wegen  der  schrecklichen  Hitze  die  Leute  nicht  nahe  heran  können, 
so  bedienen  sie  sich  Schaufeln  von  wohl  lo  Fuß  Länge.  Unser  Führer 
ergriff  jetzt  ein  ungeheures  Schüreisen,  sprang  in  den  Rauchfang  und 
warf  die  Asche  von  oben  hinunter.  Es  gewährt  einen  pittoresken  An- 
blick, immerwährende  Ströme  glühender  Asche,  der  Lava  vergleich- 
bar, henmterstürzen  vmd  durch  ihre  Menge  das  Feuer  fast  ersticken  zu 
sehen.  Dabei  den  nackten  muskulösen  Mann  mit  der  ungeheuren  Stange, 
einem  Zyklopen  nicht  unähnlich,  wie  sie  Virgil  in  seiner  Äneide  beschreibt. 

Nachdem  ich  meinem  Führer  ein  gutes  Trinkgeld  für  seine  guten 
Dienste  gegeben,  gingen  wir  wieder  in  die  Stadt.  Auf  dem  Wege  imter- 
hielten  wir  uns  mit  einigen  der  berühmten  Halloren  dieser  Stadt,  die  bei 
der  Saline  angestellt  sind,  das  Salz  zu  kochen.  Einer  von  ihnen  produzierte 
sich  auch,  indem  er  von  einer  ziemhch  hohen  Brücke  ins  Wasser  sprang, 
hinaus  zum  Ufer  schwamm,  ausstieg,  um  sich  von  neuem  hineinzustürzen. 

In  der  Stadt  sahen  wir  uns  das  von  dem  berühmten  Francke  ^)  ge- 
stiftete Waisenhaus  an,  aßen  ziemlich  schlecht  zu  Mittag  in  imserm 
Hotel  und  gingen  dann  hinaus  nach  dem  Giebichenstein,  wo  den  nach- 
mittag gerade  Fischerstechen  war.  Schon  auf  dem  Wege  trafen  wir 
auf  Vorbereitimgen  der  Festlichkeiten,  die  heute  vor  sich  gehen  sollten. 
Mit  khngendem  Spiel  zogen  die  Bauern  der  Umgegend  und  die  Fischer, 
teils  als  Bergknappen,  teils  als  Militär  zu  Pferde,  teils  als  wilde  Mohren 
angekleidet,  hinaus  nach  dem  Giebichenstein.  Dort  angekommen, 
fanden  wir  auch  schon  die  Saale  völlig  besetzt  mit  lustig  sich  durch- 
einander bewegenden  Gondeln  und  kleineren  Kähnen,  die,  von  den 
verschiedenartigsten  Masken  angefüllt,  einen  überaus  angenehmen  Einr 
druck  machten.  Wir  hielten  ims  jedoch  vorderhand  nicht  lang  dabei 
auf,  sondern  bestiegen  sogleich  die  Ruine. 


8. 
AUS  DEM  TAGEBUCH  DES  HANDELSSCHÜLERS.    (Original.)  ^ 

[Sommer  1841.] 
Mundts  ,,Trarara  blase,   deutsches  Posthorn"   siunmend,  schwang 
ich  mich,  freudig  und  getrost  den  kommenden  Dingen  entgegensehend, 

*)  August  Hermann  Francke  (1663 — 1723),  der  bekannte  Pietist,  Schüler 
Speners,  Lehrer  Zinzendorfs. 

2)  Das  Folgende  ist  von  dem  Vorherstehenden  nur  durch  zwei  leere  Seiten 
getrennt,  auf  die  Lass.ille  gewiß  die  Erlebnisse  seiner  letzten  Leipziger  Tage 
hatte  aufzeichnen  wollen. 


—  58  

auf  den  Dampfwagen.  Leipziger  Handelsschüler  die  Hülle  und  Fülle 
verleideten  mir  zwar  immer  noch  die  Behaglichkeit,  aber  nach  und 
nach  fing  ich  an  humaner  zu  werden.  Noch  einmal  sah  ich  die  Lebewohl 
winkenden  Tücher  Fl.  und  Zanders,  noch  einmal  schauten  Herrn  Dr.  M.^) 
so  wohlwollende  und  liebev'olle  Blicke  mich  an,  und  dann  ging's  fort 
im  brausenden  Galopp,  fort  über  Berg  und  Stein  und  Stock,  ,, Die  Toten 
reiten  schnelle". 

Ich  war  wirklich  zu  rein  seelenvergnügt,  dem  Zwange  entronnen 
xmd  wieder  einmal  unabhängig  und  frei  zu  sein,  als  daß  ich  schon  hätte 
auf  Beobachtungen  ausgehen  wollen;  ich  war  dazu  noch  zu  harmlos, 
vmd  das  ist  natürhch.  Wenn  man  sich  in  eine  Ecke  drückt  und  die 
Worte  imd  Handlungen  von  luibefangenen  Mitreisenden  auf  die  Wag- 
schale legt,  sie  innerhch  belacht  oder  sich  darüber  mokiert,  so  heißt 
das  eigentlich  auf  Kosten  seiner  Mitmenschen  leben.  Der  wahrhaft 
gut  kindliche  Mensch  beobachtet  nicht,  er  gibt  sich  mehr,  Beob- 
achtungsgabe gehört  tmter  die  großen  Eigenschaften,  nicht  aber  unter 
die  Tugenden,  gehört  unter  die  notwendigen  Eigenschaften  eines  Welt- 
mannes, aber  nicht  unter  die  eines  Menschen.  Und  ich  bin  manchmal 
Seelen  vergnügt  genug,  nur  gut  zusein.  Solch  ein  Augenblick  war's  damals. ^j 
Ich  begann  also,  ohne  daran  zu  denken,  schon  Charaktere  studieren  zu 
wollen,  indem  ich  das  auf  den  weiteren  Teil  meiner  Reise  verschob, 
ein  ziemlich  lebhaftes  Gespräch  mit  meinen  Nachbarn.  So  erreichten 
wir  Station  um  Station  und  gaben  tms  (von  den  andren  weiß  ich  das 
nicht,  ich  rede  jetzt  von  mir  im  Plural),  als  wir  uns  Dresden  näherten, 
mit  Entzücken  der  schönen  Aussicht  hin,  die  sich  unsern  Blicken  er- 
öffnete. Wie  durch  ein  infernales  Tor  brauste  jetzt  der  Wagen  in  den 
Tunnel,  zwei  Minuten  vergingen  in  der  Finsternis,  die  nur  zuweilen 
durch  das  Flimmern  einer  glühenden  Kohle  unterbrochen  wurde,  und 
dann  gelangten  wir  wieder  ans  rosige  Licht  (ein  lautes  Ach !  entfuhr  allen) . 

Wir  waren  in  Dresden.  Ich  besorgte  mein  Gepäck,  ließ  es  in  einen 
Fiaker  bringen,  setzte  mich  hin  und  rief  meinem  Kutscher  zu:  Hotel 
de  Saxe.  Wir  durchfuhren  einige  Straßen  und  .  .  .^)  den  Neumarkt 
imd  hielten  dann  vor  einem  nicht  eben  im  modernen  Stil  gebauten 
Hause.    Es  war  das  Hotel  de  Saxe,  das  erste  Hotel  Dresdens. 

Ich  stieg  aus.  Der  Kellner  kam.  Eine  Stube,  rief  ich  ihm  zu,  imd 
bringen  Sie  mein  Gepäck  hinauf.  Als  ich  indes  den  Kutscher  bezahlt 
hatte  .  .  .*)   bemerkte  mir  der  Hotelier  mit  sehr  höflicher  Miene,  der 


*)  Wer  Fl.  und  Dr.  M.  waren,  ließ  sich  nicht  mehr  feststellen.  Für  Friedrich 
Robert  Zander  vgl.  die  Anmerkung  auf  S.  113. 

2)  Das  Wort  war  nicht  genau  zu  lesen.  Es  könnte  auch  eine  Abkürzung 
für  Donnerstag  sein. 

^)  und  *)  Hier  steht  ein  unleserhches  Wort. 


—  =-=  59  ^= 

Oberkellner  habe  sich  geirrt,  Nr.  93,  die  er  noch  frei  glaubte,  sei  vor 
einigen  Minuten  vergeben.  Ich  glaubte,  er  zweifle  an  meiner  Zahlungs- 
fähigkeit und  sagte  daher  mit  einem  sehr  vornehmen  Air,  es  wäre 
mir  sehr  lieb,  hier  Platz  zu  finden,  weil  ich  mehrere  Briefe  hier  zu  emp- 
fangen gedenke.  Er  erwiderte,  es  tue  ihm  sehr  leid,  allein  es  sei  jetzt 
gerade  die  Jahreszeit,  wo  sich  so  viele  Fremde  in  Dresden  befänden; 
ich  würde  in  wenigen  Hotels  Unterkommen  finden,  außer  vielleicht 
in  Stadt  Frankfurt,  wo,  wie  er  wisse,  noch  einige  Stuben  zu  haben 
wären;  es  wäre  dies  ein  sehr  gutes  Hotel,  imd  alle  Briefe,  die  an  mich 
ankämen,  wolle  er  dahin  besorgen.  Nach  kurzem  Besinnen  sagte  ich, 
ich  will  nach  Hotel  de  l'Europe,  wo,  wie  ich  wußte,  Fritzsch  und  die 
zwei  Nordländer  wohnten.  Er  rief  seinen  Hausknecht,  befahl  ihm, 
mein  Gepäck  zu  nehmen  tmd  mich  hinzuführen,  bemerkte  mir  noch, 
in  einem  oder  zwei  Tagen  würden  gewiß  Logis  in  seinem  Hause  ge- 
räumt werden,  ich  könnte  dann  seinem  Hotel  die  Ehre  widerfahren 
lassen,  so  daß  mein  ganzer  Verdacht,  den  ich  erst  gefaßt  hatte,  ver- 
schwand, um  so  mehr,  da  er  das  ganze  Gespräch,  die  Mütze  in  der  Hand 
geführt  hatte. 

Ich  ging  also  ins  Hotel  de  l'Europe,  wo  ich  wegen  Mangel  an  Platz 
nur  eine  Stube  hinten  'raus  bekommen  konnte.  Ich  schrieb  sogleich 
nach  Leipzig,  man  solle  mir  meine  Nadeln  und  Ring,  die  ich  daselbst 
vergessen,  nachschicken  und  erkundigte  mich,  ob  ich  noch  ein  Billett 
zur  heutigen  italienischen  Oper  bekommen  könnte.  Der  Kellner  schickte 
mir  den  Lohnbedienten  des  Hotels  hinauf,  es  war  dies  ein  ältlicher, 
stark  nach  Spirituosen  riechender  Mann,  der  mich  immer  ,, gnädiger 
Herr"  tituHerte,  da  er  ja  nicht  wissen  konnte,  daß  ich  ein  Demokrat 
bin.  Ich  wollte  ihm  schon  verbieten,  mich  so  zu  heißen,  allein  da  fiel 
mir  ein,  ich  könnte  einen  Herrn  in  Wien  am  Ende  zu  hören  bekommen, 
hier  nenne  man  jeden  Lumpen  so,  tmd  ließ  es  daher  beim  gnädigen 
Herrn  sein  Bewenden  haben.  Da  er  [den]  Stand  eines  Lohnbedienten  ein- 
nahm, so  brauche  ich  nicht  zu  erwähnen,  daß  er  sehr  geschwätzig  war, 
was  ja  einen  notwendigen  Teil  seines  Handwerkes  ausmacht.  Er  brachte 
mir  nach  vieler  Mühe  ein  Parterrelogenbillett;  denn  es  wurde  heute 
Lucia  di  Lammermoor  gegeben,  die  meisten  Billetts  waren  schon 
drei,  vier  Tage  vorher  vergeben.  Ich  ging  mit  meinem  Cicerone  in 
die  Bildergalerie;  da  es  schon  elf  war  imd  ich  also  nur  noch 
eine  Stunde  bleiben  konnte,  kaufte  ich  mir  keinen  Katalog,  konnte 
mir  keines  der  Gemälde  näher,  d.  h.  wie  es  diese  Kvmstwerke  er- 
forderten, sümdenlang  beschauen,  sondern  miißte  flüchtig  diese  Säle 
durcheilen,  angefüllt  mit  den  herrlichsten  Schätzen  der  herrlichen  Kirnst. 

Obgleich  ich  bisher  noch  nicht  Gelegenheit  gehabt  hatte,  viele  und 
ausgezeichnete  alte  Gemälde  zu  sehen  und  noch  weniger  die  verschiedenen 


^-  ^^      60      ^^- : — 

Schulen  miteinander  zu  vergleichen,  so  hatte  ich  immer  die  höchste 
Verehnmg  und  Liebe  für  die  italienischen  Schule.  Nicht  wegen  der 
religiösen  Sujets  der  ewigen  Kreuzesabnahmen  etc.,  die  sie  sich  zum 
Gegenstand  macht,  aber  des  Ideellen  wegen,  das  sie  in  jede  Sache 
bringt,  des  geistigen,  tiefgefühlten  Ausdrucks  wegen,  mit  dem  sie  jedes 
Gesicht  erlebt.  Und  am  Ende  wurde  sie  trotz  der  rehgiösen  und  katho- 
lischen Gegenstände  dennoch  protestantisch.  Eben  weil  sich  die  Katho- 
hken  ihre  Heiligen,  ihre  Madonnen  so  sehr  mit  menschlichen  Eigen- 
schaften dachten,  so  entstand  eine  Rehgion  des  Fleisches,  die  eigent- 
hch  zum  Teil  in  dem  Kathohzismus  als  SinnenreHgion  zu  liegen  scheint 
und  liegt,  ihm  aber  zuletzt  über  den  Kopf  wuchs  vmd  ihn  bekämpfte. 
Ja,  es  liegt  ein  tiefer  Sinn  darin,  den  freilich  die  Philister  nicht  ver- 
stehen, wenn  Heine  sagt,  Tizian  reformierte  mit  den  Lenden  seiner 
Venus  ebenso  gewaltig  wie  der  Wittenberger  Mönch  mit  seinen 
95  ^)  Thesen  an  der  Schloßkirche. 

Ich  durchflog  die  Säle.  Mit  der  idealen  Schönheit  der  Florentiner 
Maler  wetteiferten  die  wirklich  hübschen,  manchmal  erhaben  schönen 
Gesichter  der  Dresdner  Damen,  welche  die  Salons  anfüllten.  Und 
welcher  Ärger,  wenn  sie  an  eine  Madonna  kamen,  von  der  sie  sich 
besiegt  bekennen  mußten,  luid  welcher  Triumph,  wenn  sie  sich  sagen 
koimten,  daß  ihre  Reize  die  größeren  wären.  Ich  kam  vor  eine  Venus, 
die,  auf  dem  Rasen  ausgestreckt  hegend,  ihre  nackte  Gestalt  im  Bache 
beschaute.  Diese  nackten  schwellenden  Formen,  dieses  weiße  blendende 
Fleisch,  das  elastisch  hin  und  her  zu  wogen  schien,  diese  kühn  hervor- 
tretenden Lenden,  das  gänzliche  Fehlen  einer  Bedeckung  oder  eines 
Feigenblattes,  alles  verriet  den  großen  Meister,  der  es  wagen  durfte, 
der  Natur  völhg  getreu  zu  bleiben. 2)  Ich  wollte  es  bisher  nicht  glauben, 
aber  jetzt  fühlte  ich's:  es  gibt  eine  Art  heihger  Wollust,  sie  ergriff 
mich,  und  ich  bebte  fast  am  ganzen  Körper;  wäre  ich  allein  gewesen, 
ich  hätte  anbetend  niedersinken  können.  Neben  diesem  hing  ein  großes 
Gemälde,  vor  dem  sich  eine  Masse  Damen  versammelt  hatten,  die  aber 
alle  verstohlene  Blicke  nach  meiner  Venus  warfen.  Dicht  neben  mir 
stand  eine  Dame,  die  mit  mehr  Aufmerksamkeit  und  weniger  Gene 
die  Göttin  betrachtete.  Ein  hoher  geistiger  Ausdruck  lag  in  dem  wahr- 
haft schönen  Gesicht.  Auf  ihm  lagerte  ein  Trutz,  dessen  Ursache  ich 
erforschen  wollte.  Ich  heftete  meine  Blicke  attf  sie  und  las  in  ihren 
schwarzen  Feueraugen,  die  unverwandt  auf  das  Gemälde  gerichtet 
waren,  und  las  in  ihrem  stolzen  Bhck  und  las  in  dem  höhnischen  Zucken 
der   Oberlippe   das    Bewußtsein   ihrer    Überlegenheit.     Köimte   mich, 

^)  Lassalle  schreibt:  96. 

*)  Lassalles  Beschreibung  stimmt  besser  auf  die  ruhende  Venus  des  Palma 
Vecchio  als  auf  die  des  Giorgione,  die  sich  beide  in  der  Dresdner  Galerie  befinden. 


--^^  6i  ^= 

so  sprach  Aug'  und  Lippe,  und  wollüstig  hob  sich  der  Busen,  könnte 
mich  diese  Masse  sehen,  die  jetzt  bewundernd  vor  der  Leinwand  steht, 
wie  würde  des  Meisters  Bild  verdunkelt,  wenn  sie  meine  Reize  sähe, 
diesen  Busen  und  diesen  —  in  dem  Augenblick  fiel  ihr  Aug'  auf  den 
hinter  ihr  stehenden  ältUchen  Mann  mit  abgelebten  eingefallenen 
Zügen,  es  war  ihr  Gatte,  tmd  das  alles,  sprach  ihr  Aug'  weiter,  indem 
ein  tief  zuckender  Schmerz  über  ihr  Gesicht  flog,  tmd  alle  diese  Reize 
für  einen  — . 

Beiläufig  muß  ich  bemerken,  daß  vielleicht  in  keiner  Stadt  Deutsch- 
lands die  Damen  so  wenig  prüde  sind  wie  hier  in  Dresden.  Es  mag 
dies  vielleicht  zum  Teil  mit  an  den  Verhältnissen  liegen.  In  Dresden 
ist  ein  Hofstaat,  täglich  Assembleen,  zu  welchen  audi  die  mittleren 
Beamten,  besonders  aber  die  Leute  von  Geist  gezogen  werden,  und 
zudem  gibt  es  in  Dresden  noch  viel  armen  Adel,  der  indes  seinem  Rang 
gemäß  noch  leben  soll  wie  seine  Voreltern  vor  200  Jahren.  Am  meisten 
drückt  dies  die  Frauen,  besonders  wenn  sie  schön  und  geistreich  sind 
und  in  Mise,  Putz  etc.  nicht  zurückstehen  wollen.  Es  hat  sich  daher 
ein  ganz  eigener  Gebrauch  in  Dresden  eingeschlichen,  der  die  Fremden 
sehr  begünstigt.  Kommt  nämlich  ein  Fremder  nach  Dresden,  der  Lust 
hat,  einen  Louisdor  oder  auch  nur  2,  3  Reichstaler  auszugeben,  so 
braucht  er  nur  zu  Madame  Probst  zu  gehen  tind  ihr  seinen  Wunsch 
vortragen.  Diese  läßt  dann  durch  einen  ihrer  Spione  eine  verheiratete 
Frau  rufen,  gewöhnlich  Assessorfrauen  oder  Grafen  etc.,  kurz  Hof- 
damen, die  sich  dann  dem  Fremden,  von  dem  Grundsatz  ausgehend, 
er  kenne  sie  nicht,  reise  nur  durch,  und  eine  Sünde,  die  nicht  entdeckt 
wird,  sei  gar  keine,  völlig  hingibt.  Aber  auch  außerdem  hat  jede  Dame 
von  Ton  in  Dresden  ihren  erklärten  Cicisbeo,^)  der  freilich  nicht  so  sehr 
schnell  zum  Ziel  kommt  wie  so  ein  beglückter  Fremder. 

Von  der  Bildergalerie  ging  ich  in  mein  Hotel,  wo  ich  sehr  gut 
Table  d'hote  aß,  ich  lernte  da  den  jimgen  Kurt  kennen,  den  Sohn 
des  Gastwirts,  der  früher  ebenfalls  Handelsschüler  war.  Um  2V2 
holte  mich  mein  Lohnbedienter  ab,  er  wischte  sich  den  Schweiß  von 
4er  Stime  und  sagte:  ,, Gnädiger  Herr,  ich  habe  Ihnen  eine  Gesell- 
schaft verschafft,  mit  der  sie  Rüstkammer  vmd  Grünes  Gewölbe  be- 
suchen können."  Ich  warf  mich  in  grande  toilette  und  folgte  meinem 
Cicerone. 

Wir  kamen  in  den  Zwinger,  wo  ich  bereits  eine  Gesellschaft  fand, 
die  meiner  harrte.  Eine  Tür  wurde  geöffnet,  und  wir  traten  ein  an 
die  Stätte,  wo  die  Überreste  eines  längst  vergangenen  Alters  sich  be- 
fanden.   Alte  Bilder  und  Gesichte,  alte  Märchen,  die  mir  die  Amme 


^)  Italienisch:  Hausfreund. 


:-=:^ ■- ^^     62 ^^ 

einst  erzählt,  tauchten  in  mir  auf,  als  ich  durch  lange,  lange  Säle  schaute, 
angefüllt  mit  den  seltsamsten  Waffen,  mit  den  alten  ritterlichen  Figuren 
zu  Fuß  und  zu  Roß,  die  trotzig  dastanden  in  ihren  erzenen  Rüstimgen 
mid,  ihr  gutes  Schwert  in  der  Hand,  auch  noch  Schrecken  einflößen 
zu  wollen  schienen.  Nachdeukhch  blieb  ich  vor  dem  Feldherrnstab 
Pappenheims  stehen.  Wie  oft  schwang  er  ihn,  wenn  sein  Auge  blitzte 
und  seine  Wange  in  der  wetternden  Feldschlacht!  Wie  oft  führte  er 
mit  ihm  zum  Sieg,  wie  oft  flohen  die  Feinde  vor  seinem  Anblick!  Und 
wie  oft  legte  er  ihn  aus  der  starken  Hand,  um  liebend  ein  Mädchen  zu 
umfangen,  das  sich  ihm,  dem  großen  Helden,  anbetend  hingab.  ,, Stock, 
Stock,"  sagte  ich  leise  vor  mich  hin  imd  wog  ihn  nachdenklich  in  der 
Hand  tmd  glitt  grausend  mit  den  Fingern  über  die  Einschnitte  hin, 
..könntest  Du  sprechen,  was  würdest  Du  mir  erzählen,  welche  alte,  alte 
Geschichten  würdest  Du  aufdecken ;  Du  warst  bei  Leipzig  und  bei  Lützen, 
was  für  seltsame  Sachen  würdest  Du  aufdecken  können."  Und  der  Stab, 
vielleicht  von  meiner  Hand  berührt,  schwankte  unruhig  hin  imd  her 
und  stieß  an  einen  anderen  ganz  mit  Perlenmutter  bedeckten  Stock.  Es 
war  Tillys  Konunandostab.  Da  hingen  sie,  diese  beiden  Stäbe,  für  eine 
Sache  geführt,  aber  von  so  verschiedenen  Händen.  Die  Sonne  sandte 
einige  Strahlen  durch  das  Fenster,  welche  sich  spiegelten  an  dem  Perlen- 
mutter des  Tillystabes.  Ich  glaubte  den  Brand  von  Magdeburg  drin 
leuchten  zu  sehen.  Unseliger  Stab,  wie  oft  gabst  Du  ein  Zeichen  zur 
Hinmordung  von  Greisen,  zur  Schändung  von  Jungfrauen,  zur  Plünde- 
rung von  glücklichen  Fluren,  Wie  schwer  liegt  der  Tag  von  Magde- 
burg auf  Dir! 

Aber  unser  Führer  rief,  tmd  mit  einem  Spnmg  von  50  Jahren  traten 
wir  in  das  Zelt  Kara  Mustafas.  Drin  hing  spöttisch  Sobieskis  Anthtz. 
Oh,  wüßte  er,  wie  1792  und  1830  Österreich  den  Dienst  vergolten,  den 
er  ihm  brachte !  ^) 

Aus  der  Rüstkammer  gingen  wir  fast  betäubt  von  dem,  was  wir 
gesehen,  in  das  Grüne  Gewölbe.  Weniger  als  die  Schätze  des  Altertmns 
imd  die  großen  historischen  Erinnerungen,  von  denen  man  in  der 
Rüstkammer  ergriffen  wird,  interessierten  mich  die  imermeßliche  Menge 
Diamanten,  die  im  Grünen  Gewölbe  durch  ihren  Glanz  blenden.  Merk- 
würdig waren  einige  alte  römische  Mosaikporträts  und  mehrere  von 
Dingelhof  er,  der  im  16.  Jahrhimdert  in  der  wohllöblichen  Reichsstadt 
Nürnberg  lebte.   Auch  sah  ich  einige  Porträts  von  Ritter  Mengs,^)  dem 


^)  Kara  Mustafa  war  der  türkische  Großvezier,  der  1683  die  vergebliche 
Belagerung  Wiens  leitete  und  von  König  Johann  Sobieski  am  Kahlenberg  ge- 
schlagen wurde. 

2)  Rafael  Mengs  (1728 — 1779),  der  bekannte  Porträtmaler. 


63   ^^ 

spanischen  Hofmaler,  dessen  Bekanntschaft  ich  in  Cas.  M.^)  gemacht 
habe. 

Von  dem  Grünen  Gewölbe  begab  ich  mich  auf  die  Brühische  Terrasse, 
promenierte  ein  wenig  imd  wurde  von  meinem  Bedienten  abgeholt,  um 
ins  Theater  zu  gehen.  Es  war  mir  geglückt,  noch  ein  Billett  fürs  Amphi- 
theater zu  erhalten.  Ich  trat  hinein;  der  Anblick,  der  sich  mir  darbot, 
war  wirklich  reizend;  das  Gold,  welches  überall  verschwendet  ist  und 
in  einem  Meer  von  Licht  sich  spiegelt,  blendet  fast.  Überall,  wo  man 
hintritt,  sich  anlehnt,  sich  hinsetzt,  sitzt  und  geht  man  auf  rotem 
Samt.  Die  Malerei  des  Plafonds  ist  kostbar,  an  jeder  Seite  die  Porträts 
der  Fürsten  der  Dichtkunst.  Ich  lehnte  mich  an  einen  Pfeiler  und  fing 
an,  die  Gesellschaft  zu  beobachten.  Das  waren  alles  Ivcute,  denen 
man  es  auf  den  ersten  Bhck  ansehen  kormte,  daß  sie  zum  Hofe  ge- 
hörten. Das  sprach  sich  deuthch  aus  in  dem  falschen  Blick  und  in  dem 
erzwungenen  Lächeln  um  den  Mundwinkeln.  Wer  es  nicht  aus  der 
Physiognomie  ersah,  konnte  es  desto  leichter  aus  der  Unterhaltung 
entnehmen.  Zu  meiner  Linken  saß  eine  elegante  Dame  in  einem  Alter 
von  30  bis  36  (denn  genauer  wird  es  ims  nie  geUngen,  das  Alter  einer 
Dame,  die  Routine  hat,  zu  bestimmen).  Sie  war  leidlich  hübsch  imd 
hatte  besonders  hübsche  Zähne  und  niedhche  Hände;  auch  trug  sie 
Sorge,  auf  die  einen  durch  ein  fortwährendes  Lächeln,  auf  die  anderen 
durch  häufiges  Gebrauchen  ihres  Fächers  aufmerksam  zu  machen. 


9- 

LASSALLE  AN  DEN  KULTUSMINISTER  J.  A.  F.  EICHHORN. 
(Konzept  von  Lassalles  Hand.) 

Breslau,  31.  März  1842.2) 
Hochgebietender  Herr! 

Ew.  Exzellenz  wollen  gnädigst  verzeihen,^)  werm  ich  es  wage,  mich 
nochmals  an  Hochdieselben  in  einer  Angelegenheit  zu  wenden,  in 
welcher  Ew.  Exzellenz  schon  einmal  für  mich  zu  entscheiden  die  Gnade 


^)  Wahrscheinlich  meint  L,assalle  Casanovas  Memoiren.  Der  berühmte  ita- 
lienische Abenteurer,  mit  dem  er  sich  später  (s.  S.  228  f.)  so  entschieden  kontrastierte. 
hatte  auf  ihn  schon  damals  einen  nachhaltigen  Eindruck  gemacht.  Er  spricht 
bereits  von  ihm  am  10.  März  1841  in  seinem  Tagebuch. 

^)  Bei  den  Akten  des  Kgl.  Matthias-Gymnasiums  befinden  sich  die  Abschriften 
der  Originalien  dieser  beiden  Eingaben,  die  das  Ministerium  dem  Direktor 
Wissowa  eingeschickt  hatte.  Daraus  wird  als  das  Datum,  an  dem  Lassalle  sie 
abgehen  ließ,  der  5.  April  ersichtüch. 

^)  Im  Original  steht:  entschuldigen. 


—  -   64  — 

hatten.  Aus  meinem  ersten  Gesuch  vom  19.  Februar  wird  Ew.  Excellenz 
belcannt  sein,  daß  ich  mich  bei  dem  hiesigen  St.-Matthias-Gymnasium 
zum  Abiturientenexamen  gemeldet,   daß  mir  aber  die  Zulassung  von 
dem    Kgl.  Provinzialschulkollegium    verweigert    worden.      Ich    wagte 
es  darauf,  mich  an  Ew.  Exzellenz  selbst  zu  wenden,   tmd  Hochdie- 
selben  hatten  die  hohe  Gnade,   mir  meine  Bitte  zu  gewähren.    Die 
schriftlichen  Arbeiten  hatte  ich  bereits  früher  mit  den  andern  Abitu- 
rienten   zusammen   abgefaßt,    zufolge   der   huldreichen  Erlaubnis   von 
Seiten  Ew.  Exzellenz   wurde   ich  mm  auch  zum  mündhchen  Examen 
zugelassen,  nach  stattgehabter  Prüfung  aber  für  unreif  erklärt.    Trotz- 
dem  nun,    daß   meinem   immaßgeblichen   Urteile    nach   weder  meine 
schriftlichen  Arbeiten   noch   meine   mündliche  Prüfimg  einen   so   un- 
glücklichen Ausgang  verdient  hätten,   würde   ich  mich  dennoch  bei 
einem  Schicksale  beruhigt  haben,  das  ja  so  vielen  zuteil  wird,    wenn 
hier  nicht  noch  einige  Umstände  obgewaltet  hätten,  welche  mich  ver- 
anlaßten,  ja  welche  es  mir  zur  Pflicht  machten,  den  Entschluß  zu  er- 
greifen, den  ich  jetzt  auszuführen  im  Begriff  bin.    Man  hat  mir  zwar 
von  vielen  Seiten  diesen  Schritt  als  einen  mißhchen  bezeichnet,  allein 
ich  vertraue  auf  die  Gerechtigkeit  und  Gerechtigkeitsliebe  des  höchsten 
Entscheiders,  an  den  ich  mich  jetzt  wende,  und  auf  meine  gute  Sache. 
Als  ich  nämlich   als  erste  Antwort  auf  meine  Bitte  die  Zuschrift 
von  der  Geheimen  Kanzlei  des  königlichen  Ministeriums  der  Medizinal- 
angelegenheiten erhalten  hatte,  welche  besagt,  daß  das  hiesige  Kgl.  Pro- 
vinzialschulkollegium vermittelst  eines  Dekrets  vom  26.  Februar  ver- 
anlaßt worden  sei,   Bericht  zu  erstatten,   begab  ich  mich  mit  dieser 
Zuschrift    zu    Herrn    Professor  Wissowa,    Direktor    des    St.-Matthias- 
G5Tnnasiums,  um  zu  erfahren,  was  ich  etwa  noch  dabei  zu  tun  hätte. 
Herr  Direktor  Wissowa,  welcher  memte,  daß  die  Entscheidung  Ew.  Ex- 
zellenz, selbst  wenn  sie  günstig  ausfiele,  schwerlich  vor  der  mündhchen 
Prüfung,  welche  schon  in  vierzehn  Tagen  stattfinden  sollte,  eintreffen 
werde,  riet  mir,  zu  Herrn  Regierungsrat  Vogel,  Kurator  des  St.-Matthias- 
Gymnasiums  zu  gehen  und  um  Erlaubnis  nachzusuchen,  unterdes  die 
mündhche  Prüfung    mitmachen    zu  dürfen.     Herr  Direktor  Wisscwa 
trug  mir  auf,  Herrn  Regierungsrat  Vogel  in  seinem  Namen  zu  sagen, 
daß  meine  schrifthchen  Arbeiten  mich  völlig  berechtigten,  den  glück- 
lichsten Ausgang  zu  hoffen;  ja  er  selbst  wolle,  bewogen  durch  meine 
schrifthchen  Arbeiten,  im  Namen  des  Gymnasiums  bei  dem  Provinzial- 
schulkollegium für  mich  ein  kommen,  ob  mir  vielleicht,  wenn  die  Ent- 
scheidimg Ew.  Ezxellenz  bis  zur  mündhchen  Prüfimg  noch  nicht  ein- 
getroffen wäre,   unterdes  erlaubt  würde,  das  mündliche  Examen  mit- 
zumachen.   Als  ich  nun  Herrn  Direktor  Wissowa  darum  ersuchte,  gab 
er  mir  einen  Bericht  an  den  Herrn  Regierungsrat  Vogel  mit,  welcher 


-  65  — 

später  von  einem  Freunde  des  Herrn  Regierungsrat  meinem  Vater  selbst 
gezeigt  wurde,  und  dessen  wesentlicher  Inhalt  also  lautete:  ,,Ich  komme 
im  Namen  des  Gymnasiums  bei  einem  hochwohllöblichen  Schul- 
kollegium ein,  daß  dem  F.  Lassal  gestattet  werde,  einstweilen  das 
mündliche  Examen  mitzumachen,  und  sehe  mich  hierzu  durch  die 
Arbeiten  des  genannten  Schülers  veranlaßt.  Seine  lateinische  Arbeit, 
<iie  von  großer  Bekanntschaft  mit  der  Latinität  zeugt  imd  seine  mathe- 
matische sind  völlig  reif,  seine  griechische  hat  er  in  Versen  abgefaßt,  mid 
seine  deutsche  ist  die  beste  von  allen  Abiturienten."  — 

Nach  solchen  schriftlichen  Arbeiten  könnte  die  Unreife  nur  durch 
ein  auffallend  schlechtes  mündliches  Examen  motiviert  werden;  aber 
mein  mündliches  Examen  war  —  ich  muß  mich  hier  eines  Ausdrucks 
bedienen,  der  vielleicht  den  Schein  der  Anmaßung  auf  mich  wirft,  aber 
es  wäre  töricht,  aus  übel  angebrachter  Bescheidenheit  Umstände,  die 
mir  nützlich  und  förderlich  sein  müssen,  zu  verschweigen  —  mein 
mündliches  Examen,  besonders  in  den  Hauptgegenständen,  war  eines 
der  besten,  und  ich  berufe  mich  dabei  auf  das  Protokoll  ^)  imd  auf  die 
eidhche  Aussage  sämtlicher  Herren  I,ehrer.  —  Noch  mehr.  In  dem 
oben  angeführten  Bericht  des  Herrn  Direktor  Wissowa  ist  meine  deutsche 
Arbeit  für  die  beste  von  allen  Abiturienten  erklärt,  tmd  doch  sagt  mein 
Zeugnis,  welches  ich  deswegen  hier  beilege,  daß  man  gerade  in  meiner 
deutschen  Arbeit  den  Grund  zur  Unreife  gefunden.  — 

Wenn  es  ferner  in  meinem  Zeugnisse  heißt,  daß  sich  aus  meiner 
Lebensbeschreibung  deutüche  Zeichen  von  Charakterunreife  ergäben, 
so  weiß  ich  in  der  Tat  nicht,  was  damit  gemeint  ist.  Oder  bezieht  sich 
diese  Stelle  vielleicht  darauf,  daß  ich  in  meiner  I^ebensbeschreibimg 
erzählt,  wie  ich  zwar  zum  Handelsstand  bestimmt  gewesen,  mich  aber 
aus  innerm  Drang  zu  den  Wissenschaften  hingewendet  habe?  Ist  es 
etwa  so  neu,  so  unerhört,  daß  Jünghnge,  den  ihnen  vorgezeichneten 
Weg  verlassend,  sich  dorthin  wenden,  wohin  sie  Geschmack  imd  Neigung, 
Beruf  imd  Gefühl  hinziehn?  Und  warum  will  man  das,  was  man  bei 
andern  nicht  mißbilligt,  vielleicht  gar  lobt,  bei  mir  so  tadelnswert 
finden  ?  Alle  Welt  sah  eine  lobenswerte  Festigkeit  und  ein  Gereiftsein 
<ies  Charakters  darin,  daß  Luther  sein  Lieblingsstudium,  die  Theologie, 
nicht  dem  Studium  der  Rechte  aufopfern  wollte,  warum  ist  es  bei  mir 
ein  Zeichen  von  Charaktenmreife,  daß  ich  den  Handelsstand  mit  den 
Wissenschaften  vertauschen  will? 

Und  dennoch,  Ew.  Exzellenz,  dennoch  würde  ich  trotz  des  lebhaften 
Bewußtseins,  daß  mir  nicht  Recht  geschehen,  trotz  der  offenbaren 
Widersprüche  jenes  Berichts  und  dieses  Zeugnisses  in  Betracht  meiner 


^)   Das  Protokoll  bestätigt  Lassalles  Darstellung  vollkommen. 

Mayer,  Lassalle-Nachlass. 


=^  66  —  = 

Jugend,  mich  damit  tröstend,  daß  es  mir  ein  andermal  besser  glücken 
werde,  die  Sache  dabei  ihr  Bewenden  haben  lassen,  wenn  mich  nicht 
Besorgnis  für  die  Zukunft  quälte  und  mir  Schweigen  unmöglich  machte. 
Man  hat  mich  nur  allzu  deutlich  den  Hauptgrund  meines  Durchfallens 
darin  ahnen  lassen,  daß  das  ganze  hiesige  Kgl.  ProvinzialschulkoUegium 
und  also  auch  der  die  Prüfung  leitende  Konsistorialrat  auf  mich  er- 
zürnt wäre,  weil  ich  es  gewagt,  nachdem  mir  die  Zulassung  zu  dem 
Examen  verweigert  worden  war,  an  Ew,  Exzellenz  zu  appellieren.  Frei- 
lich gestehe  ich  ein,  daß  dies  kühn,  daß  dies  gewagt  gewesen,  aber  soll 
ich  dieser  kleinlichen  Rücksicht  aufgeopfert  werden?  Weil  ich  von  dem 
Rechte,  das  der  Staat  einem  jeden  seiner  Untertanen  einräumt,  von 
dem  Rechte,  an  eine  höhere  Instanz  zu  appellieren,  Gebrauch  machte, 
soll  ich  gekränkt  und  unterdrückt  werden  ?  Und  wenn  ich  so  unglück- 
hch  gewesen  bin,  den  Unwillen  des  ganzen  hiesigen  Kgl.  Schulkolle- 
giums auf  mich  zu  ziehen,  wie  kann  ich  wissen,  ob  dieser  Unwille  damit 
befriedigt  ist,  mich  einmal  durchfallen  zu  lassen,  ob  er  mir  nicht  noch 
das  zweite,  das  dritte  Mal  in  den  Weg  tritt  imd  mich  am  Studium 
hindert?  — 

Ich  submittiere  daher  ganz  imtertänigst,  daß  Ew.  Exzellenz  ge- 
ruhen möchten,  die  Akten,  bei  welchen  sich  wahrscheinlich  jener  Bericht 
des  Herrn  Dr.  Wissowa  befinden  wird  (widrigenfalls  ich  Ew.  Exzellenz 
ganz  untertänigst  ersuche,  sich  besagten  Bericht  von  dem  Herrn  Re- 
gierungsrat Vogel  edieren  zu  lassen),  zu  requirieren,  um  meine  Arbeiten 
einer  Berliner  Kommission  zur  Beurteilung  vorzulegen. 

Wenn  Ew.  Exzellenz  befehlen  sollten,  daß  ich  das  mündhche  Examen 
noch  einmal  mache,  so  bin  ich  gern  erbötig,  sofort  nach  Berlin  zu 
kommen,  um  mich  von  einer  dortigen  Kommission  prüfen  zu  lassen. 

Auf  jeden  Fall  bin  ich  überzeugt,  daß  Ew.  Exzellenz  meine  Bitte 
nicht  imbeachtet  lassen  und  meiner  gekränkten  Ehre  Genugtuung 
verschaffen  werden. 

In  der  tiefsten  Ehrfurcht  und  Hochachtung 

Euer  Exzellenz 

ganz  imtertänigster  Diener 

Ferdinand  Lassal. 


67 


10. 


I.ASSAI.LE  AN  DEN  KULTUSMINISTER  J.  A.  F.  EICHHORN. 
(Konzept  von  Ivassalles  Hand.) 


Breslau,  31.  März  1842.  i) 


Hochgebietender  Herr! 


Dies  ist  ein  Privatbrief.  — ^) 

In  meinem  ausführlichen  Bericht  habe  ich  meine  Beschwerde  Ew. 
Exzellenz  vorgelegt,  in  diesem  Privatbrief  wiU  ich  Dinge  erwähnen, 
die  ich  in  meinem  Interesse,  die  ich  in  dem  Interesse  der  weisen  Ver- 
waltimg Ew.  Exzellenz  nicht  unerwähnt  lassen  darf.  — 

Ich  war  mit  der  besten  Hoffnung  an  mein  Abiturientenexamen 
gegangen,  völlig  beruhigt  durch  die  Aussage  des  Herrn  Direktor 
Wissowa,  der  mir  einen  Tag  vor  der  mündlichen  Prüfung  sagte: 
,,Ihre  schriftlichen  Arbeiten  sind  der  Art,  daß  Sie,  wenn  Sie  nicht 
ein  durchaus  schlechtes  mündliches  Examen  machen,  sicher  durch- 
kommen." 

Mein  mündliches  Examen  war  nun  auch  vielleicht  das  beste  ge- 
wesen, ich  konnte  daher  ohne  Beunruhigung  die  Entscheidung  erwarten, 
obgleich  schon  folgender  außerordentlicher  Umstand,  den  ich  einen 
Tag  vor  der  Bekanntmachung  des  Urteils  in  Erfahrimg  brachte,  daß 
nämlich  der  königliche  Bevollmächtigte  Herr  Konsistorialrat  Schulz, 
noch  denselben  Abend  nach  der  mündhchen  Prüfung  sich  meine 
Arbeiten  einzig  und  allein,  nachdem  er  sie  schon  einmal  durchgesehen 
imd  zurückgeschickt,  nochmals  holen  ließ,  mir  ein  böses  Omen  war 
und  mich  einen  schlimmen  Aasgang  befürchten  ließ.  Aber  das  ein- 
stimmige Urteil  aller  meiner  Kameraden,  daß,  wenn  ich  durchfiele, 
keiner  von  ihnen  für  reif  befunden  werden  könnte,  gab  mir  meinen  Mut 
wieder.  An  dem  zur  Entlassimg  der  Abiturienten  bestimmten  Tage 
wurden  von  dem  Kgl.  Kommissarius,  Herrn  Konsistorialrat  Schulz, 
die  für  reif  Befundenen  vorgelesen.  Ich  befand  mich  nicht  unter  ihnen 
—  ich  war  ohne  jede  Angabe  irgendeines  Grundes  durchgefallen.  Ich 
begab  mich  zu  Herrn  Direktor  Wissowa.  ,,Ich  weiß,  was  Sie  mir  sagen 
wollen,"  rief  er  mir  zu.  ,, Kommen  Sie  morgen  um  neun  Uhr  wieder; 
daß  es  uns  nicht  leicht  gewoiden  ist,  Sie  fallen  zu  lassen,  können  Sie 
daraus  ersehen,  daß  die  Konferenz,  die  sonst  in  einer  halben  Stunde 


1)  Vgl.  Anmerkung  2  auf  S.  63. 

2)  Alle  hier  und  auf  anderen  Seiten  gesperrten  Worte  wurden  im  Original 
von  I,assalle  ein-  oder  mehrfach  unterstrichen. 


—  =   68  = 

beendigt  ist,  heute  nur  Ihretwegen  drei  Stunden  gedauert  hat."  Am 
folgenden  Tag  begab  ich  mich  zur  bestimmten  Stunde  zu  Herrn  Wis- 
sowa.  „Es  ist  mir  Heb,  daß  Sie  kommen,"  sagte  er,  ,,denn  ich  fühle  das 
Bedürfnis,  mich  mit  Ihnen  auszusprechen.  Es  hat  sich  gestern  ein 
unerhörter  Fall  ereignet,  ich  und  alle  Ivchrer  haben  für  Sie  gestimmt 
und  doch,  doch  mußten  wir  dem  Kommissarius  weichen,  aber  lassen 
Sie  sich  das  zum  Trost  gesagt  sein,  ich  imd  meine  Ivchrer,  wir  haben 
uns  geschämt  vor  sämtlichen  Abiturienten;  es  hat  sich  ein  tiefes, 
unauslöschliches  Gefühl  der  Beschämung  unsrer  bemächtigt.^)  Alle 
Lehrer  haben  Sie  für  reif  erklärt,  aber  der  Kommissarius  sagte,  er  ließe 
Sie  nicht  durch."  Ich  fragte  nach  den  Gründen.  ,, Erstlich  hat  es  Ihnen 
bedeutend  geschadet,"  entgegnete  darauf  Herr  Wissowa,  ,, daß  Sie  gegen 
den  Spruch  des  Schulkollegiums  beim  Minister  eingekommen  sind, 
dann  hat  sich  Herr  Schulz  nicht  gescheut,  in  der  Konferenz  als  Grund 
anzugeben,  daß  sein  Sohn,  welcher  mit  Ihnen  zusammen  auf  dem 
Magdalena-Gymnasium  in  Tertia  gewesen,  und  der  damals  fleißiger 
war  als  Sie,  doch  jetzt  erst  nach  Prima  kömmt,  während  Sie  schon 
Ihre  Maturitätsprüfimg  machen  wollten. 2)  Ich  sagte  darauf,  fuhr  Herr 
Wissowa  fort,  als  ich  sah,  daß  alle  Lehrer  Sie  für  reif  erklärten :  ,, Wohlan, 
Herr  Rat,  so  will  ich  vorlesen,  daß  auf  Ihren  ganz  besonderen  Antrag 
die  Entscheidung  über  Lassal  suspendiert  ist." 

,, Wagen  Sie  es,  erwiderte  ihm  Herr  Schulz,  wagen  Sie  es,  ans  Schul- 
kollegium zu  appellieren!  Ich  nehme  alles  auf  meine  Kappe,  ich  weiß, 
der  geht  bis  zum  Minister,  allein  ich  setze  es  auch  beim  Ministerium 
durch.  Ich  nehme  alles  auf  meine  Kappe,"  wiederholte  er  stark  be- 
tonend. Ich  fragte  darauf  Herrn  Direktor  Wissowa,  warum  er  die 
Sache  nicht  habe  bis  an  das  ProvinzialschulkoUegium  gehen  lassen. 
,,Weil,"  erwidert  er,  ,,da  Herr  Schulz  dort  Vortragender  Rat  ist,  es  Ihnen 
nichts  genützt,  uns  nur  UnannehmHchkeiten  zugezogen  hätte.  Wir 
haben  uns  harte  Dinge  von  Herrn  Schulz  müssen  sagen  lassen,"  fuhr 
Herr  Wissowa  fort,  und  seine  Stimme  zitterte  ob  der  unverdienten 
Kränkung,  die  er  erlitten.  ,,Es  ging  so  weit,  daß  Herr  Schulz  mich 
und  meine  Lehrer,  Männer  im  Amt,  beschuldigte,  von  Ihnen  bestochen 
zu  sein,  worauf  ich  aufstehen  und  feierlichst  gegen  solche  Worte  pro- 


^)  In  Wissowas  Antwort  auf  die  Rüge,  die  ihm  wegen  seiner  offenen  Äuße- 
rungen zu  Lassal  die  Provinzialbeliörde  zukommen  ließ,  heißt  es:  ,,Von  unserer 
Beschämung  habe  ich,  soviel  ich  weiß,  nicht  gegen  Lassal  gesprochen,  obwohl 
wir  sie  empfunden,  obwohl  ich  sie  am  meisten  Lassal  gegenüber  empfunden 
habe." 

2)  Diese  Äußerung  hatte  Schulz  nicht  in  der  Konferenz,  sondern  am  Tage 
des  mündlichen  Examens  zu  einigen  der  Lelrrer  getan,  die  er  zu  beeinflussen 
suchte,  damit  sie  Lassal  durchfallen  ließen. 


-  —   69  -  -  — 

testieren  mußte."  Dies  sind  die  eigenen  Worte  Herrn  Direktor  Wisso- 
was,  die  ich  Ew.  Exzellenz  mitteile,  damit  Wahrheit  und  Recht  aus- 
gemittelt  werden  können.  Wollen  Ew.  Exzellenz  sich  von  der  Wahr- 
heit des  Gesagten  überzeugen ,  so  ersuche  ich  ergebenst,  Herrn  Direktor 
Wissowa  und  sämtliche  Herren  Lehrer  eidlich  darüber  zu  vernehmen. 
Ich  fragte  nun  nach  meinem  Zeugnis.  „Ihr  Zeugnis  ist,"  antwortete 
er  mir,  ,, trotz  der  Einräumungen,  die  wir  dem  Herrn  Schulz  machen 
mußten,  um  doch  eine  Unreife  zu  motivieren,  ist  Ihr  Zeugnis  [sie!] 
mehr  als  gut.  Der  Kommissar ius  hat  es  noch  nicht  unterschrieben, 
doch  können  Sie  es  heute  nachmittag  empfangen.  Ich  begab  mich  nach- 
mittags zu  ihm.  ,,Es  tut  mir  leid,"  sagte  Herr  Wissowa,  „Ihnen  Ihr 
Zeugnis  noch  nicht  geben  zu  kckinen,  allein  es  muß  ein  neues  abgefaßt 
werden.  Herr  Schulz  war  heute  hier  imd  weigerte  sich,  Ihr  erstes 
Zeugnis  zu  imterschreiben,  weil  es  zu  gut  war  und  er  fürchtete,  vSie 
würden  weitere  Schritte  tun." 

Also,  Ew.  Exzellenz,  ich  mußte  durchfallen,  weil  der  Sohn  des 
Konsistorialrat  Schulz  noch  nicht  so  weit  ist,  sein  Abiturientenexamen 
machen  zu  können,  mein  Zeugnis  mußte  verschlechtert,  mußte  ver- 
fälscht werden,  weil  das  erste  zu  gut  schien,  weil  man  ahnte,  ich  würde 
mich  im  Gefühl  meiner  gerechten  Sache  an  eine  höhere  Instanz  wenden, 
weil  man  fürchtete,  daß  bei  einem  so  guten  Zeugnisse,  wie  das  erste 
war,  alles  zu  klar  am  Tage  liegen  würde.  Und  noch  werden  Hochdieselben 
aus  diesem  erkünstelten  Zeugnis  ersehen  können,  daß  mein  mündliches 
Examen  ein  gutes  gewesen  sein  muß;  was  das  schriftliche  betrifft,  so 
existieren  noch  die  Arbeiten,  deren  Beurteilung  ich  dem  weisen  Er- 
messen Ew.  Exzellenz  überlasse.  — 

Ich  konnte  nicht  umhin,  dieses  willkürhche  und  pflichtvergessene 
Betragen  des  Herrn  Konsistorialrat  Schulz  Ew.  Exzellenz  mitzuteilen, 
und  ich  bin  überzeugt,  daß  Ew.  Exzellenz  mir  die  befriedigendste  Genug- 
tuung verschaffen  werden.  Ich  bin  überzeugt,  daß  Hochdieselben 
nicht  dulden  werden,  daß  unter  der  weisen  Verwaltung  Ew.  Exzellenz 
ein  schuldloser  junger  Mann  zum  Opfer  falle  der  Willkür  imd  Eitel- 
keit eines  einzelnen  Beamten.  Es  handelt  sich  hier  nicht  um  eine 
imbedeutende  Sache,  es  handelt  sich  um  die  Unterdrückung  eines 
Individuums,  das  seinem  Staat  einst  nützlich  sein  und  ihm  seine  Kräfte 
widmen  will.  Sprechen  Ew.  Exzellenz  nicht  selbst  mir  Recht,  so  habe 
ich  die  traurige  Gewißheit,  selbst  mit  den  besten  Kenntnissen  in  jedem 
Examen,  das  ich  hier  mache,  durchzufallen.  Aber  eben  diese  Gewiß- 
heit war  es,  welche  mir  den  Mut  gab,  an  Ew.  Exzellenz  zu  schreiben. 
Was  soll  man  sagen,  was  denken,  wenn  in  dem  liberalsten  imd  erleuch- 
tetsten Staate  Deutschlands,  wenn  in  Preußen,  das  besonders  in  diesem 
Fache,    im   Schulwesen,    allen    übrigen   lyändem   Europas   ein   Muster 


—         '  --=  70  — 

geworden  ist.  unter  der  hohen  Verwaltung  Ew.  Exzellenz  Dinge,  wie 
die  erwähnten,  nur  möglich  sind? 

In  tiefster  Ehrfurcht  und  Hochachtung 

Euer  Exzellenz 
ganz  gehorsamster  Diener 

Ferdinand  I^assal. 


II. 

KUIvTUSMINIvSTER  EICHHORN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  24.  August  1842. 

Nachdem  der  über  Ihre  Vorstellungen  vom  5.  April  erforderte 
Bericht  des  Königlichen  ProvinzialschulkoUegiums  zu  Breslau  erstattet 
ist  und  ich  von  den  vollständigen,  Ihre  Prüfimg  betreffenden  Verhand- 
lungen, denen  auch  Ihre  schriftlichen  Arbeiten  beigefügt  waren,  Ein- 
sicht genommen  habe,  kann  ich  die  gegen  das  Ihnen  zu  erteilende 
Maturitätszeugnis  hervorgehobenen  Bedenken  nicht  unbegründet  finden 
und  muß  Ihnen  daher  überlassen,  bei  einer  Maturitätsprüfvmgs- 
kommission,  deren  Wahl  Ihnen  freigestellt  wird,  sich  einer  abermaligen 
Prüfimg  zu  unterwerfen. 

Der  Minister  der  geistlichen, 

Unterrichts-  und  Medizinal-Angelegenheiten 

Eichhorn. 


12. 

EINGABE  LASSALLES  UND  ANDERER  STUDENTEN  AN  DEN 
AKADEMISCHEN  SENAT  DER  UNI\rERSlTÄT   BRESLAU. 
(Konzept  von  Lassalles  Hand.) 

Einem  hochwohlweisen  akademischen  Senat! 

Der  akademische  Senat  hat  am  5,  d.  M.  dem  Stud.  iur.  Max 
von  Wittenburg  das  Consilium  abeundi  erteilt.  Als  Gründe  dafür 
wurden  dem  in  Rede  Stehenden  angegeben  i.  der  von  ihm  verfaßte 
Artikel  in  Nr.  265  der  Breslauer  Zeitung,  2.  wurde  ihm  Bruch  des 
Versprechens  vorgeworfen,  weil  er  die  von  ihm  einmal  berufene 
Versammlung  im  Auditorium  N.  I  zur  Besprechung  des  Griebensschen 


—  =^  71  ^= 

Zeitmigsartikels,  nicht,  wie  er  Seiner  Magnifizenz  versprochen,  ver- 
hindert habe. 

Es  sei  fem  von  tms,  uns  über  die  Triftigkeit  dieser  Gründe  oder 
über  die  nach  richterlichem  Erkennen  gefällte  Strafe  irgendein  Urteil 
zu  erlauben. 

Zwei  Dinge  aber  sind  wir  durch  unser  inneres  sittliches  Gefühl 
gezwungen,  vor  dem  hohen  akademischen  Senat  auszusprechen: 

1.  Witten  bürg  hat  in  dem  erwähnten  Artikel  der  Breslauer  Zeitimg 
nur  die  Gesinnung  tmserer  aller  ausgesprochen.  Sind  wir  imschuldig, 
so  ist  es  Wittenburg  im  gleichen  Grade.  Ist  er  straffällig  —  wohlan, 
wir  sind 's  im  selben  Maß  wie  er. 

2.  Bezeugen  wir  ihm  femer,  daß  er  im  Anfang  der  Versamm- 
limg  im  Auditorium  vms  den  Willen  Seiner  Magnifizenz  mitteüte 
und  ims  aufforderte,  auseinanderzugehen,  weil  uns  keine  Jurisdiktion 
zustände. 

Wir  antworteten  ihm,  wir  haben  ims  nicht  versammelt,  um 
irgendeine  Jurisdiktion  uns  anzumaßen,  sondern  aus  dem  einzigen 
Grunde,  um  dem  Stud.  Grieben  Gelegenheit  zu  geben,  einige 
dvmkle,  leicht  falsch  zu  deutende  Stellen  seines  Artikels  näher  zu 
interpretieren. 

Ein  hochweiser  Senat  sieht  ein,  daß  Wittenburg  alles,  was  in  seinen 
Kräften  stand,  um  die  Versammlung  aufzulösen,  in  seiner  Aufforderung 
an  ims,  auseinanderzugehen,  treulich  vollbracht  imd  erfüllt  hat.  Er 
hat  sein  Ehrenwort  gelöst.  Uns  aber  an  der  Vollf  iihnmg  tmseres  Willens 
zu  hindern,  stand  nicht  in  seiner  Macht.  Wenn  er  später  das  Wort 
ergriff,  so  geschah  das  nur,  um  sich  gegen  den  ihm  gemachten  Vor- 
wurf der  Gesinnungslosigkeit  zu  verteidigen.  Darum  noch  einmal, 
gleiche  Straflosigkeit,  gleiche  Müde  für  Wittenburg  oder  gleiche  Strafe 
für  uns  alle!  — 

Ein  hoher  akademischer  Senat  wird  die  Motive,  die  ims  zu  diesem 
Schritt  treiben,  nicht  verkennen. 

Das  ist  keine  kecke  Herausforderung  der  Strafe,  das  ist  keine  über- 
mütige und  leichtsinnige  Verachtung,  die  wir  den  Gesetzen  beweisen. 
Ein  ganz,  ganz  anderes  treibt  uns  an  zu  diesem  »Schritt. 

An  den  Vergehen,  deren  man  Wittenburg  beschuldigt,  haben  wir 
uns  alle  gleich  beteiligt.  Jetzt,  da  ihn  die  Folgen  dieser  Vergehen 
treffen,  ziemte  es  uns  schlecht,  wäre  es  moralisch  feig  von  uns,  nur  auf 
unsere  Sicherheit  bedacht,  uns  zurückzuziehen  und  die  unheilsvollen 
Folgen  der  Tat,  die  von  uns  allen  kam,  mit  verdoppelter  Wucht  auf 
sein  einzig  Haupt  fallen  zu  lassen.  Wir  haben  unbesonnen  gehandelt 
—  es  sei,  der  unbesonnenen  Handlung  wollen  wir  nicht  noch  die  niedrige 
liinzufügen. 


—  =--  72  -=- 

Wir  haben  gegen  das  geschriebene  Gesetz  verstoßen,  wir  wollen 
wenigstens  nicht  das  ewig  ungeschriebene  Gesetz  verletzen,  von 
dem  die  Antigone  des  Sophokles  schön  sagt: 

ov  yri(>  ri  rvv  ye  xd)(d'is,  dX).'  neC  TTore 
ij»;   ravTa,  yoiSelg  olSev   t's   otov  rpävi]}) 

Darum  noch  einmal :  gleiche  Straflosigkeit  für  Wittenburg  oder  gleiche 
Strafe  für  uns  alle. 

In  tiefster  Ehrfurcht 

F.  Lassal.  W.  Anders.  F.  Zipffel.  F.  Geisheim.  C.  Kock, 
C.  Lorenz.  M.  Guttentag.  H.  Deutsch,  stud.  phil,  H. 
Preuß,  stud.  med.  B.  Klein,  stud.  med.  E.  Simon, 
stud.  phil.  J.  Hasak,  stud,  juris.  J.  Stelzer,  stud.  phil. 
G.  Schirrmann,  stud.  phil.     E.  Benner,  stud.  med. 


13. 
LASSALLE  AN  THEODOR  CREIZENACH.2)  (Konzept  von  I,assalles 
Hand.)" 

C1843.] 
Verehrter  Herr  Doktor! 

Mit  nicht  geringer  Freude  habe  ich  aus  den  Zeitungen  vernommen, 
daß  [in]  Frankfurt  a.  M.  von  Ihnen  ein  Verein  ins  Leben  gerufen  worden 
sei,  welcher  es  zum  Zweck  hat,  die  Fesseln  einer  verrosteten  Orthodoxie 
zu  sprengen  und  die  Autonomie  des  menschlichen  Geistes  in  seine 
innerhalb  des  Judentums  mm  länger  als  anderthalb  Jahrtausende  unter- 
drückten, aber  unveräußerlichen  ewigen  Rechte  wieder  einzusetzen. 
Einem  solchen  Vereine,  dessen  unbestreitbares  und  unmittelbarstes 
Resultat  es  sein  muß,  das  Judentum  mit  der  Zeitbildung  zu  vermitteln, 
sich  nicht  anzuschließen,  hieße  ein  Indifferentismus  für  die  menschheit- 
lichen Interessen,  der  an  Irreligiosität  grenzt,  Sünde.  Ich  trete  hiermit 
Ihrem  Verein  bei  und  ersuche  Sie  demnächst  um  Mitteilung  der  Bedin- 
gungen des  Beitritts  sowie  um  die  Übersendung  der  von  Ihnen  und 

^)  Antigene  Vers  456 — 457: 

„Denn  heut  und  gestern  leben  nicht,  nein,  ewig  sie 
In  Kraft  und  niemand  hat  gesehn,  von  wann  sie  sind." 
*)   Theodor    Creizenach    (1818 — 1877),    der    Dichter    und    Iriterarhistoriker, 
erster  Herausgeber  des  Briefwechsels  Goethes  mit  Marianne  von  Willemer.    1843 
einer  der  Hauptbegründer  der  jüdischen  Reformbewegung,  trat  er  später,  1854, 
selbst  zum  Christentum  über. 


den  Herren  Dr.  Steni  *)  und  Rießer^)  erschienenen  Schriften,  um  mich 
aus  diesen  ausführhcher  über  die  zugnmde  Hegenden  Prinzipien  zu 
imterrichten.  — 

Nicht  unerfreulich,  glaube  ich,  wird  es  Ihnen  sein,  zu  hören,  daß 
Sie  sich  aus  Breslau  mit  Gewißheit  die  größte  Teihiahme  versprechen 
können.  Daß  unter  den  Juden  Breslaus  hinsichtlich  religiöser  An- 
gelegenheiten eine  gewisse  Regsamkeit  herrscht,  werden  Sie  aus  den 
hiesigen  Rabbinatswirren ')  hinlänglich  ersehen  haben.  Ich  selbst  habe 
es  mir  hier  angelegen  sein  lassen,  Interesse  für  die  jetzt  unter  so  gün- 
stigen Auspizien  ins  lieben  tretende  Idee  zu  erwecken,  und  es  freut 
mich,  Ihnen  mitteilen  zu  können,  daß  Männer  aus  den  angesehensten 
jüdischen  Familien,  ja  Männer  sogar,  die  durch  eine  Reihe  von  Jahren 
Ober  Vorsteher  der  hiesigen  Gemeinde  gewesen  sind,  sofort  bereit  sind, 
diesem  Verein  beizutreten,  sobald  sie  nur  etwas  Näheres  über  dessen 
Organisation  werden  vernommen  haben. 

Auch  in  betreff  unseres  Rabbiners  Herrn  Dr.  Geiger*)  können  wir 
Erwartungen  hegen,  und  nicht  geringe. 

Ehe  ich  aber  meinen  Brief  schließe,  erlauben  Sie  mir  noch  eine  Frage : 

Sie  fassen  den  Mosaismus  als  die  höchste  Abstraktion  der  Urzeit, 
also  als  eine  historische  Substanz,  die,  wie  jede  geschichtliche  Idee, 
vermöge  ihrer  Natur  genötigt  ist,  [sich]  einer  absoluten  Entwicklung 
und  Fortbildung  zu  imterwerfen.  AI?  das  letzte  Stadium  der  Ent- 
wicklimg,  welches  der  Mosaismus  als  solcher  erreicht  hat,  dürfte  das 
rabbinisch-talmudische  Judentum  zu  nennen  sein.  Der  Talmud  aber, 
obgleich  wir  ihn  theoretisch  als  eine  organische  Weiterbild img  des 
Mosaismus  fassen  müssen,  ist  bereits  mit  den  Anschauungen  und 
Theoremen  der  Gegenwart  in  Widerspruch  geraten;  er  bleibt  bestehen. 
Als  geschichtliche  Substanz,  für  die  Praxis  aber  muß  er  negiert  werden. 
Bei  dieser  Negation  des  Talmud  tritt  nun  meines  Erachtens  ein 
Dilemma  von  nicht  geringer  Erheblichkeit  ein.  Sie  nennen  sich  die 
jüdischen  Protestanten.  Es  ist  nun  die  Frage,  inwieweit  diese  Analogie 
mit  dem  Protestantismus  durchgeführt  werden  soll.    Wollen  Sie  mit 


*)  Moritz  Abraham  Stern  (1807 — 1894),  seit  1829  Privatdozent,  seit  1848 
außerordentlicher,  seit  1859  ordentlicher  Professor  der  Mathematik  an  der  Uni- 
versität Göttingen.     Vater  des  Historikers  Alfred  Stern. 

*)  Gabriel  Rießer  (1806 — 1863),  der  bekannte  Hberale  Politiker  und  Vorkämpfer 
für  die  Gleichstellung  seiner  Glaubensgenossen. 

')  Zwischen  der  orthodoxen  Richtung  der  Breslauer  Judenschaft,  die  sich  um 
den  Rabbiner  Tiktin  scharte,  und  einer  liberalen,  die  Geiger  führte,  war  es  zu 
mehrjährigen  heftigen  Kämpfen  gekommen,  die  in  jüdischen  Kreisen  viel  Staub 
aufgewirbelt  hatten. 

*)  Abraham  Geiger  (1810 — 1874),  seit  1838  zweiter  Rabbiner  in  Breslau,  war  einer 
der  Führer  der  liberalen  Bewegung  innerhalb  des  Judentums,  vgl.  ;Einleitung  S.  25. 


—  — -  74  = 

konsequenter  Analogie  das  Judentum  auf  den  altbiblischen  Mosaismus 
zurückführen?  Auch  der  Protestantismus  hatte  das  Bestreben,  auf  das 
Urchristentum  zurückzugehen,  aber  auch  er  konnte  dies  Ziel,  das  er 
sich  gesteckt  (die  vmgeschichtliche  Idee),  so  wenig  realisieren  wie  es 
heute  der  Religion  gelingen  würde,  den  altbiblischen  Mosaismus  ins 
Leben  zurückzurealisieren,  die  überfliegende  Transzendenz  einer  über- 
wimdenen  Phase  des  Geistes  nicht  mehr  in  seine  Gegenwart  hinein- 
bilden. Vielmehr  entfernt  er  sich  unbewußt  trotz  alles  Strebens  nach 
jenem  Ziel,  trotz  seiner  Glaubens-  und  Gemütsinnerlichkeit  auf  der 
einen  Seite  ebenso  weit  von  ihm,  als  es  auf  der  andern  Seite  der  Katholi- 
zismus mit  seiner  Werkheiligkeit,  seiner  starren  Äußerlichkeit  \md 
seiner  Kanonisierung  der  weltlichen  Künste  getan !  Daher  kommt  es, 
daß  der  Begriff  des  Protestantismus  mit  dem  der  apostolischen  Zeit 
vms  nicht  identisch  ist,  sondern  daß  der  Protestantismus  mit  seinem 
Ideale  des  Urchristentums  und  seinen  Zugeständnissen  an  die  schlechte 
Wirklichkeit,  seinem  Notstaat  tmd  seiner  Ehe  etc.  imbewußt  zu  einer 
ganz  neuen  Stufe  des  Geistes  geworden  ist,  sich  einen  ganz  neuen  In- 
halt herausgestaltet  hat.^) 

Wir  nun,  denen  die  Entwicklimgen  in  der  christlichen  Welt  zur 
Belehnmg  gedient  haben,  wir  müssen  bewußt  zu  Werke  gehen,  wir 
müssen  uns  hüten  vor  dem  Unternehmen,  Rückgang  zu  gebieten  dem 
dialektischen  Fluß  der  Geschichte  imd  aus  seinem  Bette  eine  längst 
verschlungene  imd  zum  Petrefakt  gewordene  Masse  herauszuholen,  um 
sie  zum  Fimdament  imserer  lebensvollen  Gegenwart  zu  machen.  Es 
kann  in  der  Geschichte  auch  nicht  davon  die  Rede  sein  acta  agere. 
Die  Geschichte  gleicht  darin  dem  menschlichen  Organismus.  Sie  kann 
nie  eine  bereits  verdaute  Substanz  zum  zweiten  Mal  in  ihren  zersetzen- 
den Prozeß  aufnehmen,  weil  sie  schon  in  dem  ersten  alle  Säfte  und  Nah- 
rungsstoffe aus  ihr  gezogen.  Und  ganz  abgesehen  von  der  Unmöglich- 
keit vmd  Unrealisierbarkeit  eines  solchen  ungeschichtlichen  Schrittes, 
die  ims  das  Beispiel  des  Protestantismus  selbst  bekimdet,  befinden  wir 
ims  heute  in  einer  wesentlich  andern  Lage.  Der  Protestantismus  mußte, 
vim  die  Welt  aus  den  allm [ächtigen]  Banden  des  Katholizismus  zu  be- 
freien, sein  Ideal  rückwärts  suchen.  (Und  indem  er  dies  zu  tun  glaubte, 
wurde  er  zum  selbständigen  Träger  einer  epochemachenden  Idee.  Wir 
dürfen  weder  rückwärts  blicken,  noch  bezeichnen  wir  einen  wesentlich 
neuen,  erst  durch  uns  gewordenen  Standpunkt  des  Geistes.)  Wir  haben 
das  nicht  mehr  nötig,  ja  wir  dürfen  das  nicht  mehr.   Wir  finden  ^)  viel- 


^)  Von  ,, vielmehr"  au  ist  der  Absatz  in  dem  Konzept,  das  viele  Ein- 
fügungen enthält,  aber  auch  viele  dadurch  notwendig  werdende  Streichungeo 
vorzunehmen  unterläßt,  durchgestrichen. 

2)  Von  ,,mehr"  bis  ,, finden"  ist  im  Konzept  durchgestrichen. 


mehr  unser  Ideal  vor  uns.  Uns  ist  von  ganz  andern  Händen  bereits 
die  Meta  gesteckt  worden,  nach  deren  Erreichung  wir  mit  so  langsamen 
und  so  schnellen  Schritten,  als  es  tunlich  ist,  streben  müssen.  1517 
war  der  Protestantismus  ein  weltbewegender  Fortschritt,  1843  würde 
ein  jüdischer  Protestantismus  im  strikten  Sinn  ein  vollendeter  Rück- 
schritt sein.  Er  würde  den  Schein  auf  tms  werfen,  als  wären  wir  ohne 
Sinn  imd  Verstand  an  den  großen  geschichtlichen  Phänomenen  und  Ent- 
wickltmgen  der  christlichen  Welt  vorübergegangen,  als  wollte  man  uns 
absperren  von  den  Einflüssen  imd  den  Lehren,  die  uns  die  Historie  seit 
dem  sechzehnten  Jahrhundert  gegeben  hat.  Der  Protestantismus  hat 
sich  zum  Rationalismus  und  dieser  zur  modernen  Philosophie  umgebildet. 
Das  Judentum  mit  dieser  letztern  zu  vermitteln,  dürfte  wohl,  wenn 
ich  nicht  irre,  als  der  Kern  Ihrer  Bestrebungen  anzunehmen  sein. 
Allerdings  aber  dürfte  vorderhand  noch  freie  imgehinderte  Parrhesie 
innerhalb  des  Judentums  nicht  anzuraten  sein.  Unsere  heutigen  Juden 
und  sogar  die  gebildeten  sind  noch  zu  wenig  geläutert  durch  das  kritische 
Feuer,  um  das  sogleich  gutwillig  aufzugeben,  was  sie  bisher  für  ihr 
Teuerstes  und  Eigenstes  zu  halten  gewohnt  waren.  Nichtsdestoweniger, 
glaube  ich,  müssen  wir  uns  hüten,  einen  positiven  Glaubensinhalt  auf- 
zustellen, der  deswegen,  weil  er  jene  Theorie  noch  nicht  erreiche,  in 
kurzer  Zeit  mit  der  Zähigkeit  des  Bestehenden  sich  ihr  ebenso  starr 
gegenüber  stellte  als  das  talmudische  Judentum  den  neuen  reformato- 
rischen Bestrebungen.  Das  Dilemma,  das  ich  bezeichnet,  ist  also  ein 
doppeltes  und  kurzweg  das:  Der  Talmud  ist  zu  negieren,  an  die  Re- 
staurienmg  des  Mosaismus  kann  nicht  gedacht  werden,  was  werden 
Sie  also  als  positiven  Glaubensinhalt  aufstellen?  Ein  solch  positiver 
Glaubensinhalt  dürfte  aber  wohl  unumgänglich  nötig  werden.  Ferner: 
mit  dem  wahren  Vollgehalt  unseres  Wissens  und  Denkens  frei 
herauszutreten,  ist  noch  nicht  möglich.  Zugleich  muß  aber  darauf 
gesehen  werden,  nicht  zu  weit  zurückzubleiben  hinter  den  Errimgen- 
schaften  der  deutschen  Wissenschaft  imd  besonders  darauf,  daß  nicht 
der  Glaubensinhalt,  der  jetzt  zu  konstituieren,  wenn  er  herausgetreten 
aus  der  Form  seiner  Flüssigkeit  tmd  sich  zur  historischen  Gestalt  ver- 
festigt hat,  seinerseits  sich  in  den  Gegensatz  werfe  zu  der  über  ihn 
hinausgegangenen  Theorie  und  seinerseits  eine  starre  Schranke  bilde, 
die  erst  imter  den  wiederholten  Streichen  der  Theorie  gestürzt  werden 
müsse,  um  Fortgang  möglich  zu  machen.  — 

Was  die  zuerst  erwähnte  Schwierigkeit  in  bezug  auf  die  Konsti- 
tuienmg  eines  dogmatischen  Systems  betrifiFt,  so  glaube  ich,  es  dürfte 
am  geratensten  sein,  die  Entwicklung  des  Mosaismus  beizubehalten, 
soweit  sie  vor  dem  kritischen  Forum  der  Vernunft  bestehen  kann. 
Es  dürfte  vielleicht  hier  das  Beste  sein,  die  Interpretation  des  Talmuds 


—  76  -- 

beizubehalten,  soweit  sie  vor  dem  Forum  der  gesunden  Vernunft  be- 
stehen kann.  Wenigstens  würde  dies  einen  unendlich  freien  Spielraum 
gewähren.  Auch  dem  Protestantismus  konnte  es  nur  durch  seine  freie, 
innerliche,  oft  höchst  willkürliche  Exegese  des  Evangeliums  gelingen, 
sich  eine  Zeit  lang  in  dem  Ansehen  zu  erhalten,  als  sei  er  wirklich  der 
Wieder hersteller  jenes  frühesten  Christentums  und  der  wahren  Begriffe 
der  apostolischen  Zeit ... 


14 — 16. 

IJEBESBRIEFE  AN    UNBEKANNTE.      (Konzepte    von   Lassalles 
Hand.) 

AN  EMMA. 

[Ohne  Datum.] 
Mein  Fräulein ! 

Noch  einmal  wage  ich  es,  noch  einmal  will  ich  versuchen,  mir  Ge- 
hör zu  verschaffen,  Gehör  um  jeden  Preis  der  Welt!!  Zweimal  haben 
Sie  es  verschmäht,  verschmäht,  mich  auch  nur  anzuhören,  als  ob  die 
Sprache  meines  Mundes  etwas  Entweihendes  hätte,  als  ob  sie  ver- 
unreinigte, was  sie  mit  ihrem  Atem  berührt .  .  .  Sie  haben  mich  ver- 
urteilt, ohne  mich  zu  hören  .  .  .  mich  verdammt,  ohne  mich  zu  Wort 

kommen  zu  lassen  .  .  .  Das  ist  hart .  .  .  Emma  .  .  .,  das  ist  grausam 

.  .  .  Aber,  und  wenn  Sie  zehnmal  härter  wären  als  Diamant  und 
wenn  Sie  das  Mitleid  nicht  dem  Namen  nach  kennten,  beim  lebendigen 
Gotte,  Sie  sollten  mich  dennoch  hören,  anhören  bis  zum  letzten 
ersterbenden  Ton  das  Lied,  .  .  .  das  ich  Ihnen  zu  singen  habe,  ein  Lied, 
so  voll  von  tiefer  Trauer  und  Klage  und  Zorn  .  .  .  und  Verachtung!!  .  .  . 
doch  der  Grundton  ...  ist  Klage  .  .  . ! ! 

Ach, .  .  .  wenn  Sie  wüßten,  was  ich  gelitten  seit  jenem  ersten  Abend  .  .  . 
Eine  Beute  der  qualvollsten  Widersprüche  mühe  ich  mich  umsonst, 
mir  das  unerklärliche  Rätsel  Ihres  Benehmens  zu  lösen,  zu  deuten  .  .  . 
Oh  .  .  .  man  glaubt  ja  so  gern,  was  man  hofft,  ich  möchte  so  geni 
mit  dem  Himmelslichte  der  Hoffnung  alles  bekleiden,  .  .  .  was  ich  sah, 
was  mir  widerfuhr.  Aber  einen  Augenblick  dann  und  .  .  .  nein,  dann 
verschwindet  diese  selbstgemachte  Illusion,  diese  Fata  Morgana  eitler, 
sich  selbst  betrügender  Hoffnung.  Dann  sehe  ich  meinen  Zustand 
nüchtern,  wie  er  ist .  ,  .  in  seiner  nackten  Wahrheit,  .  .  .  kalt .  .  .  grau- 
sam .  .  .  hoffmmgslos  ...  Es  ist  ausgemacht .  .  .  Emma  .  .  .  Sie  lieben 
mich  nicht. 

Ach,  Emma,  es  ist  etwas  Unbegreifliches  in  Ihrem  Benehmen,  das 
übersteigt  meine  Fassungskraft .  .  .  wirrt  meinen  Verstand. 


Warum  haben  Sie  meinen  Brief  verschmäht ,  Emma !  Warum, 
warum  beharrten  Sie  in  Ihrer  unbegreifHchen  Weigervmg,  als  ich  .  .  . 
ich  selbst .  .  .  ihn  mit  zitternder  Hand  Ihnen  reichte?  Dies  ängstliche 
Beben  meiner  Hand  mußte  Ihnen  die  stumme  und  doch  beredtste 
Sprache  meiner  lyiebe  sein  .  .  .  Und  .  .  .  doch  so  hart ...  so  grausam  .  .  . 
so  unerbittlich  .  .  .  Als  ich  in  dieser  namenlosen  Qual  vor  Ihnen  saß, 
mein  ganzes  Wesen  sich  in  die  eine  stumme  Bitte:  Nimm,  nimm,  auf- 
gelöst hatte,  aus  jeder  Miene  die  ungeheure  Qual  sprach,  die  mich 
verzehrte  .  .  .  sieh,  Mädchen,  ein  Weib,  das  Milch  an  eines  Weibes 
Brust  gesogen,  hätte  das  gerührt .  .  .  Du  nur  bliebst  marmorn  kalt, 
Dein  ganzes  Wesen  ein  frostiges  Nein  .  .  .  Ich  habe  keine  Bezeichnung, 
keinen  Namen  für  diese  Grausamkeit!  .  .  .  Warum  nahmst  Du  nicht 
meinen  Brief,  Emma  .  .  . 

Doch  .  .  .  vielleicht .  .  .  vielleicht  steht  mir  diese  Frage  nicht  zu  .  .  . 
Dann  aber  zu  einer  andern,  zu  der  ich  sicherlich  berechtigt  bin. 
Warum,  wenn  Du  wirklich  gleichgültig  gegen  mich  bist .  .  .  wie  ich 
wohl  nur  zu  bald  die  traurige  Gewißheit  haben  werde,  daß  Du  es  bist  — 
warum  dann,  jenen  ersten  Abend,  als  mich  die  Glut  meiner  Leidenschaft 
es  wagen  ließ.  Dir  durch  den  Blick  meines  Auges,  durch  Druck  der 
Hand  zu  sagen,  wie  ich  Dich  liebe  .  .  .  anbete  .  .  .  warum  setztest  Du 
damals  nicht  mir  Kälte  .  .  .  oder  empörten  Zorn  ,  .  .  und  der  Sitte 
Gesetz  entgegen?  Oh,  hättest  Du  es  damals  getan,  vielleicht,  vielleicht 
wäre  es  mir  gelungen,  diese  Liebe  im  Keim  .  .  .  noch  ungeboren  zu  er- 
sticken. Seitdem  ist  sie  angewachsen  .  .  .  mächtig  groß  .  .  .  zum  Riesen 
geworden,  dessen  Herr  ich  nicht  bin,  der  mich  hierhin  [wirft  ^)]  und 
dorthin  imd  meiner  Ohnmacht  lacht  .  .  .  jetzt  kann  ich  nur  noch  sein 
Opfer  werden  .  .  .  Warum  erwidertest  Du  den  Blick  meines  Auges,  .  .  . 
den  Druck  meiner  Hand  ?  Wolltest  Du  mich  nur  spielend  zum  Gott  er- 
heben .  .  .  um  mich  dann  um  so  schrecklicher,  vernichtender  aus  dem 
Himmel  meines  eingebildeten  Glücks  zu  reißen?  Das,  das  wäre  teuf- 
lisch ! !  Sollte  gemeine  Eitelkeit .  .  .  armseliger  Stolz  Dich  verlockt 
haben,  mir  Vernvmft,  Selbständigkeit,  mein  ganzes  Ich  zu  rauben,  nur 

um  einen  Triumph  zu  feiern ! !   Solltest  Du  .  .  .  barmherziger  Gott 

Kokette  sein?!!  Sieh...  dann  fluchte  ich  Dir,  Mädchen...  und 
hätte  ein  Recht  dazu.  Nein,  .  .  .  nein  .  .  .  verzeih  mir,  es  nur  zu  denken 
ist  Sünde  .  .  .  Aber  schon  an  dem  Wahnwitz  dieses  Gedankens  magst 
Du  erkennen,  wie  ich  gemartert  bin  .  .  .  was  ich  leide.  Liebst  Du 
mich  .  .  .  Liebst  Du  mich  nicht .  .  .  Das  ist  die  Frage,  die  mich  ärger 
schüttelt,  mächtiger  mich  empor  und  hinunter  schnellt  auf  der  Leiter 
der  Gefühle,  als  der  tolle  Nordwind  den  Kahn  auf  offener  See.     Der 

*)  Unleserlich. 


=^==  78 

Druck  Deiner  Hand  hat  es  mir  zugeschworen,  daß  Du  mich  liebst, 
und  der  Bhck  Deiner  Augen  hat  es  mir  zugetnmken,  und  in 
diese  Himmelsmelodie  schreit  Deine  Weigerung  ein  entsetzliches 
gelles  Nein. 

Weigert  man  sich  anzunehmen  den  Brief,  den  Boten  der  Liebe, 
vom  Mann,  den  man  liebt? 

Siehst  Du,  was  ich  von  Dir  verlange,  warum  ich  Dich  bittend  be- 
schwöre, und  wozu  ich  das  Recht  habe  es  zu  fordern  ...  ist  nur,  daß 
Du  lösest  diesen  zum  Wahnsinn  treibenden  Zweifel.  Liebst  Du  mich 
oder  —  und  warum  triebst  Du  dann  Dein  Spiel  mit  mir??!  War  jener 
weiche  Druck  Deiner  Hand,  war  jener  selige  Blick  Deines  Auges-  er- 
logen, oder  war  es  Deine  Weigerung??  Das,  das  sollst  Du  mir  sagen. 
Weiter  verlang'  ich  ja  nichts  .  .  .  Entweder  macht  mich  das,  was  Du 
sagst,  zum  Gott .  .  .  oder  .  .  .  wenn  meine  Hoffntmg  zu  vermessen 
wäre,  nun,  so  reiße  ich  mich  los  aus  dem  Netz,  das  einer  Kokette  Ge- 
fallsucht um  mich  geschlimgen,  und  reiße  das  Herz  mit .  .  .  Alles .  .  , 
alles  kann  ich  ertragen  nur  nicht  das  Rätsel .  .  .  Gnade  .  .  .  Gnade, 
o  löse  das  Rätsel. 

Sieh  .  .  .  jenen  Abend,  als  ich  fortgesetzt  eine  Stimde  lang  trotz 
aller  argwöhnischen  Blicke  imserer  Umgebimg,  trotz  der  unwürdigen 
Beaufsichtigung  Deines  Onkels  Dir  den  Brief  immer  tmd  immer  zu- 
steckte, ihn  auf  Deinem  Schoß  verbarg  —  ach,  Göttin,  was  empfand 
ich,  als  mein  irrender  Finger  über  Deine  Glieder  glitt  —  in  Dein  Tuch 
ihn  hüllte,  da,  als  es  Dir  mit  einer  Handbewegimg  mich  zum  frohsten, 
seligsten  Menschen  umzuschaffen  vergönnt  war,  tmd  Du,  mitleidlos 
meiner  Qual  mich  überlassend,  ihn  immer  und  immer  verschmähtest, 
da,  als  ich  in  des  Herzens  Angst  und  Verzweiflung,  fürchtend,  es  gehe 
vorüber  der  Moment,  den  die  Götter  gewährt,  in  der  Stadt  ilin  zwischen 
Arm  und  Busen  Dir  barg  und  Du  dies  Blatt,  auf  das  ich  ausgeströmt 
hatte  den  ganzen  warmen  Quell  meines  Lebens  .  .  .  großer  Gott ...  in 
den  Straßenkot  gleiten  ließest,  da  bemächtigte  sich  meiner  gerechter 
Zorn  und  Haß  und  Verachtvmg,  es  empörte  sich  der  letzte  Rest  der 
Männlichkeit  in  mir,  ich  fühlte,  daß  ich  das  nicht  verdient,  von  keiner 
Frau,  wer  sie  auch  sei,  ich  stürzte  fort .  .  .  ich  war  namenlos  elend  .  .  . 
aber  ich  wollte  Dich  vergessen,  verachten. 

Nie  will  ich  Dir  sprechen  von  den  Leiden  dieser  Nacht.  Ich  wollte 
Dir  trotzen,  mich  abhärten, .  .  .  Dich  sehend  gleichgültig  bleiben  und  er- 
starken in  meiner  Verachtung.  Darum  kam  ich  nach  K  .  .  .^)  Ach  .  .  . 
hätte  ich  es  nicht  getan !  Da  zum  ersten  Male  erfuhr  ich  die  Ohnmacht 
meines  stolzen  Willens;  wie  ich  Dich  sah,  sah  diesen  Blick,  der  mich 


^)   Das  Wort  ist  unlesbar. 


—   79  -  — 

verfolgt  wie  der  Fluch  eines  Vaters,  zerbrach  wie  Glas  mein  eiserner 
Vorsatz  .  ,  .  ich  liege  wieder  zu  Deinen  Füßen  und  fleh  um  Gnade  .  .  . 
Gnade  .  .  .  Bewillige  sie  dem  also  Gequälten.  Du  hast  mich  grausam 
bis  zur  Neige  leeren  lassen  den  Kelch  des  Leidens,  habe  nun  Mitleid, 
laß  mich  mm  kosten,  wie  süß  Deine  Milde.  Eine  einzige  Stunde, 
eine  halbe  auch  nur  muß  ich  Dich  allein  und  ungestört 
sprechen.  Das  ist  alles,  worum  ich  Dich  bitte.  Bestimme  Wo  und 
Wann!  Schreibe  es  mir  oder  laß  es  mir  sagen  durch  Dein  Mädchen,  die 
mir  treu  ist!    Eben  kommt  mein  Freund  und  meldet  mir  Du,  daß  Du 

bei  Weiß  bist .  .  .  Soll  ich  hin,  Dich  sehen  .  .  .  nicht ■ ■ 

Zwei  Stunden  habe  ich  gekämpft  und  bin  wieder  unterlegen.   Ich 

werde  jetzt  nicht  mehr  dagegen  ankämpfen,  sondern  mich  rückhalt- 
los auf  Gnade  und  Ungnade  Dir  ergeben.  Es  gilt  keine  Wehr  gegen 
den   Starken  .  .  .  Ich  will  hin  .  .  .  ich  werde  Dich  sehen. 

Dienstag  abend. 

Ach,  Emma,  was  bin  ich  glücklich!  Ich  hab'  Dich  gesehen  .  .  .  hab' 
Dich  gesprochen  .  .  .  vmd  wenn  auch  nicht  alles,  so  hast  Du  doch  viel 
genommen  von  meiner  Qual .  .  .  hast  mir  die  Himmelsspeise  der  Hoff- 
nung gereicht  .  .  .  Du  hast  es  mir  versprochen,  ich  soll  Dich  sehen  .  .  . 
Dich  sprechen  .  .  .  allein  und  ungestört.  Nur  zwei  Dinge  versteh'  ich 
nicht.  Zuerst  als  ich  Dich  um  die  Zusammenkunft  bat,  antwortest 
Du :  wozu  ?  Fragt  man  auch  wozu  den  Mann,  den  man  liebt .  .  .  ?  Wozu 
Dich  sehen,  wozu  Dich  sprechen?  Nun,  ich  glaube,  um  Dich  zu  sehen, 
um  dich  zu  sprechen.  Um  eine  Viertelstunde  lang  wieder  ein  Gott  zu 
sein,  nachdem  ich  drei  Tage  mit  jedem  Paria,  jedem  bewußtlosen  Tier 
getauscht  hätte.  Denn  das  ist  ja  das  Vorrecht  der  Menschennatur,  zu 
erklimmen  auf  rasend  die  Leiter  der  Lust  und  dann  wieder  in  des  Wehs 
tiefuntersten  Abgrund  sich  zu  verlieren. 

Und  dann,  was  ist  das  für  eine  Verleumdung,  von  der  Du  sprachst? 
Was  um  alles  in  der  Welt  soll  ich  gesagt  haben?  Nicht  ein  Wort  über 
Dich  ist  diesen  Lippen  entflohen,  nur  inbrünstige  Seufzer  der  Liebe. 
Oder  mit  welchem  Geifer  haben  sie  den  hellen  Glanz  meines  Rufes 
bespritzt?  Oh,  antworte,  damit  ich  die  Verleumdung  zuschanden  mache, 
daß  sie  vor  sich  selbst  erröten  soll.  Oh,  glaube  ihnen  nichts,  diesen 
Menschen,  denn  Lüge  ist  das  Wort  ihrer  Zvmge  tmd  Berechnung  der 
Blick  ihres  Auges;  ich  erwarte  heut,  spätestens  morgen,  daß  Du  mir 
sagst,  schreibst,  wenn  ich  Dich  sprechen  soll.  Bei  dem  Gedanken,  daß 
dieser  Augenblick  nah  ist,  zirkuliert  mein  Blut  rascher,  meine  ganze 
Seele  flammt  diesem  Augenblick  entgegen.  Bis  dahin  ist  jede  Freude 
schal,  jeder  Genuß  tot  für  mich,  und  ich  habe  das  schreckliche  Schick- 
sal,  ein  wandelnder  abgeschiedener  Geist  in  Hoffnimg  auf    künftige 


8o  = 

Erlösung  zu  leben.  Oh,  diesmal  kehre  das  Märchen  sich  um  .  .  .  und 
Du,  reizende  Prinzessin  und  Fee,  erlös,  erlös  den  von  Dir  bezauberten 
Ritter. 

Dein  L. 
Noch  einmal,  bestimme  Ort  und  Stunde. 


AN  EINE  JUNGE  FRAU.     (Konzept.) 

I. 

[Ohne  Datum.] 

In  Fieberhitze  liege  ich,  und  meinen  ganzen  Körper  überläuft  ein 
leiser  Schauer,  der  sich  umsetzt  in  die  verzehrendste  Glut,  meine 
Blutgefäße  dehnen  sich  bis  zum  Zerspringen,  losgebunden  martert 
mich  meine  Phantasie  mit  Gebilden  der  Lust,  so  voll  zugleich  von  im- 
erträglicher  Folterqual,  daß  mir  der  rote  Zorn  aus  dem  Auge  springt, 
mein  ganzes  Leben  ist  aufgegangen  in  Wollust,  in  im  aussp rechliche 
Wollust  nach  Dir  .  .  . 

Alles  Feste  ist  aus  mir  gewichen,  ich  habe  mich  aufgelöst  in  un- 
endliches Begehren  xmd  Sehnsucht;  in  Sehnsucht?  Nein,  fort  mit  dem 
kalten  blauäugigen  Ausdruck,  nein,  in  gierigen  Durst  und  zähne- 
knirschenden Hunger,  in  Durst  nach  Blut  und  Hunger  nach  Fleisch  — 
und  es  ist  Dein  Leib,  nach  dem  ich  hungere  und  Dein  Blut,  das  ich 
dürste,  Dir  zu  saugen  aus  Busen  und   Lippe .  .  . 

Nein,  neiti,  ich  mag  sie  nicht  länger  tragen  die  Qual  der  Selbst- 
verzehrung,  herauswälzen  muß  ich  den  I^avastrom  aus  dem  Vesuv 
meines  Innern.  Ergebung,  Verzichten  ist  meine  Sache  nicht,  ich  muß 
es  Dir  sagen,  Du  mußt  mich  hören  ...  so  höre  mich,  Weib  .  .  . 

Weib,  höre  mich  .  .  .  ich  will  ruhig  zu  Dir  sprechen  und  kalt.  Sieh, 
ich  habe  nie  ein  Bedürfnis  gekannt,  ich  bin  es  gewohnt,  daß  die  tausend- 
armige  Erfüllung  meilenweit  vorhereilt  einem  jeden  meiner  Bedürf- 
nisse, sie  befriedigt,  eh  sie  entstehen  .  .  .  Seitdem  ich  Dich  gesehen,  ist 
der  Teufel  meines  Blutes  freigeworden  und  schüttelt  mich  wie  der 
Sturm  das  Schiff,  und  ich  kann  ihn  nicht  bekämpfen  und  mag  ihn  nicht 
bekämpfen ;  ihn  bekämpfen  wäre  Todessünde  gegen  den  obersten  Gott, 
den  Gott  der  Wollust  und  des  Fleisches. 

Weib,  weißt  Du,  was  Schönheit  ist?  Sie  ist  die  körperliche  Offen- 
barung Gottes,  und  die  Wollust  ist  die  große  heilige  Passion  für  den 
fleischgewordenen  Gott. 

Seitdem  ich  Dich  sah,  schwindet  mein  Blut  unter  der  austrocknenden 
Glut,  die  Du  erregt  hast,  dorrt  mein  Fleisch:  Mir  ist,  als  sähe  ich  fahl 


^:=^     8l  

werden  den  Glanz  meines  Auges  und  welk  die  Haut  meiner  Glieder. 
Mir  ist,  als  legt'  ich  in  jeder  Minute  Menschenalter  zurück.  Du  mußt 
löschen  diese  trockne  Glut,  Ich  sage  Dir,  Du  sollst,  Du  mußt  sie 
löschen. 

Ich  will  nur  eine  Nacht  von  Dir  imd  will  meine  Seligkeit  hingeben 
für  diese  Nacht.  Ich  will  mich  auflösen  in  Deinem  Arm  in  dieser  Nacht. 
Tropfenweis  sollst  Du  meine  ganze  Mannheit  trinken  in  dieser  einen 
Nacht.  Ich  verspreche  Dir  Himmelsseligkeit  für  diese  Nacht,  aber  ,  .  . 
ich  muß  sie  haben  .  .  .  hörst  Du?  Ich  muß  sie  haben,  diese  Nacht.  Ich 
will  aus  Deinem  I^eib  ein  Kind  zeugen  in  dieser  Nacht,  das  der  Gott 
werden  soll  künftiger  Geschlechter. 

Du  wirst  sie  mir  nicht  verweigern  diese  eine  Nacht,  weh  mir  und 
Dir,  wenn  Du  es  tätest. 

Schütze  nicht  Prüderie  vor,  nicht  Sittsamkeit,  nicht  Pflicht  der 
Ehe,  ich  weiß,  Du  verlachst  sie,  diese  Borniertheit  des  Bürgers,  die 
er  Tugend  nennt,  diese  Ammenmärchen  der  Großmutter. 

Entweder  ich  verstehe  es  nicht  mehr,  aus  dem  Blick  die  Seele  des 
Menschen  zu  lesen,  oder  mir  [sagt]  die  feuchte  Wollust  Deines  Auges, 
Dir  genügt  nicht  die  hektische  Umarmung  Deines  Graukopfs  .  .  .  oh  .  .  . 
komm  zu  mir .  .  .  und  wenn  unsere  Lüste  um  die  Wette  rennen,  will 
ich  die  Deinigen  zu  Tode  hetzen. 

Bist  Du  fromm,  so  will  ich  einen  Priester  zwingen,  daß  er  Dir  Abso- 
lution erteile,  aber  Du  bist  es  nicht,  auf  Deiner  Stirne  thront  lyuzifer, 
der  gefallene  imd  darum  dreimal  schönere  Engel  der  Schuld  und  der 
Wollust. 

Bist  Du  gewöhnt  an  die  fade  Weise  unserer  Galants  in  Courtoisie 
und  Ritterdiensten, ,  .  .  nun  laß  ihn  Dir  vergehen,  diesen  Geschmack, 
ich  muß  ohne  alle  Umschweife  glücklich  werden  .  .  .  ich  habe  nicht 
Zeit  zur  Geduld  eines  Laffen,  oder  willst  Du  Ritterdienste?  Gut,  auch 
das,  aber  erst  diese  Nacht,  erst  eine  Nacht,  dann  will  ich  Berge 
ebnen. 

Oder  wirst  Du  die  alte  abgebrauchte  Farce  .spielen  und  entrüstet 
sein  wollen  und  von  Verzeihung  sprechen  ?  ? ! ! !  Oh,  Du  hast  nichts  zu 
verzeihen,  ich  mag  sie  nicht,  Deine  Verzeihung,  ich  will  Deine  Iviebe; 
nein,  ich  will  auch  Deine  Liebe  nicht.  Du  bist  zu  stolz,  zu  lieben  oder 
geliebt  zu  werden.    Ich  will  Deinen    Besitz. 

Aber,  wärest  Du  grausam,  verweigertest  Du,  was  ich  fordere,  Un- 
glückselige, nun,  höre,  so  antworte  mit  Hohn  .  .  .  mit  Kälte,  Ver- 
achtung .  .  .  daß  sich  das  Feuer  meiner  Liebe  verwandeln  möge  in  die 
Flammen  eines  Hasses,  dessen  Gluten  ein  Gebirge  von  Eis  schmelzen 
würden.  Auch  dann  hab'  ich  mich  wieder  ...  So  oder  so.  Ich  muß 
mich  wiederfinden.    Leb  wohl! 

Mayer,   Lassalle-Nachlass.     I  6 


=    82  = 

II. 

[Ohne  Datum.] 

Ich  habe  Ihnen  diesen  Brief  imadressiert  geschickt ...  es  war  eine 
törichte,  unbesonnene  Folge  meiner  Fieberlaune,  die  alle  Ruhe  und 
Nüchternheit  aus  mir  verscheucht  hatte  .  .  .  Ihnen  .  .  .  Ihnen  .  .  .  zu- 
zumuten, von  einer  Dienstmagd  einen  unadressierten  Brief  anzunehmen! 
mit  einer  Dienstmagd  Geheimnisse  zu  haben!!  —  Verzeihen  vSie  diese 
Unbesonnenheit,  die  Sie  verschuldet.   — 

Sah  ich  Ihren  Namen  doch  überall .  .  .  allüberall .  .  .  Da  war  Dein 
Name  .  .  .  imd  hier  .  . .  und  dort .  .  .  und  da  auch! ! !  Wie  hätt'  ich  ihn 
nicht  sehen  sollen  auf  dem  weißen  Raum  meines  Briefes,  jenes  Blattes, 
das  ich,  kaum  geschrieben,  zitternd  von  mir  warf. 

Hab'  ich  doch  alles  vergessen  .  .  ,  alles,  seitdem  ich  Dich  sah!  .  .  . 
Was  ich  sonst  wollte  .  .  .  und  dachte  —  es  gleicht  den  verwischten 
Schriftzügen  eines  verblichenen  Pergaments  .  .  .  Dein  Bild  .  .  .  Dein 
Name  hat  sich  darüber  gelegt  wie  ein  ewig  verhüllender  vSchleier. 

Alles  hab'  ich  vergessen  .  .  .  tmd  bin  tot  geworden  für  alles  .  .  . 
fortgerissen  haben  es  die  Wellen  des  Stroms,  des  elektrischen  »Stroms, 

den  Ihr  Anblick  entzündet .  .  .  Eins,  eins  nur  weiß  ich ich  muß 

Dich   haben. 

Schreiben  Sie  mir  .  .  .  Schreiben  Sie  mir,  ...  ob  und  was  ich  zu  er- 
warten   und  ich  eile  .  .  .  ich  komme  .  .  .  ich  komme  hin  zu  Dir 

Meine  Adresse  ist  Ferd.  ly poste  restante  .  .     Ach,  schreibe 

mir! !  Sie  werden  mir  antworten  .  .  .  Sie  werden  es  .  .  .  Oder,  beim  .  .  . 
Nein  —  nein,  es  kann,  es  wird  nicht  sein  —  Sie  werden  mich  nicht 
lassen  .  .  .   nicht  so  lassen,   ein  Spiel  aller  Möglichkeiten,   die  meine 

Phantasie  mir  eitel  hoffend  vorspiegeln  würde  .  .  .  nein,  nein lieber 

—  wenn  es  sein  muß  .  .  .  wenn nein,  so  nimm  sie  zusammen 

die  Kraft  und  schreibe  mir  ein  Nein,  ein  kaltes  frostiges  Nein ■  mid 

ob  dies  Nein   auch  wäre  ein  Leichentuch,  geworfen  über  das  Paradies 

meines  Lebens ich  will  Dich  nicht  anklagen  ...  Dich  nicht  — 

hörst  Du??  ...  Du  sollst  frei  ausgehen,  aber  antworte  mir  .  .  .  ant- 
worte mir  .  .  .  beim  heiligen  Gott!!!  —  schreib'  dieses  Nein,  wenn  Du 
Mut  hast. 

Weib  —  mich  durchfährt  ein  entsetzlicher  Gedanke.  —  Wenn  es 
denkbar  wäre  .  .  .  wenn  Dich  der  elende  Kitzel  armseliger  Eitelkeit 
lockte.  Dein  Spiel  zu  treiben.  Dein  kleines  Spiel  mit  meiner  Riesen- 
leidenschaft, wenn  Du  mit  mir  spielen  wolltest  —  Ha !  —  Glück  auf  zum 
Spiel  —  wag  es.^) 


1)  Ein  wesentlich  längeres,  aber  nachher  durchgestrichenes  Konzept  dieses 
Briefes  steht  auf  dem  gleichen  Fohobogen,  auf  dem  sich  das  Konzept  des  vor- 
stehenden Briefes  befindet.    Schon  dies  deutet  darauf  hin,  daß  die  beiden  Briefe 


83   ======== 

17- 

LAvSSAIXE  AN  DEN  VATER.     (Original.) 

[Frühling  1844.] 
Geliebter  Vater! 

Wenn  Du  in  Deinem  letzten  Schreiben  mir  Befürchtungen  aus- 
drücktest ob  meiner  „subversiven  Tendenzen"  wegen,  so  kann  imd  muß 
ich  Dir  die  tröstliche  Beruhigtmg  geben,  daß  Du  in  betreff  dessen  ganz 
unbesorgt  sein  magst.  Es  ist  eine  ganz  unnötige  Furcht,  daß  ich  etwa 
mit  meinem  Revolutionspathos  auf  die  Gasse  stürzen  werde;  grade 
ich,  der  ich  in  Hegelscher  Schule  geschult  worden  bin,  weiß  am  besten, 
wie  man  hierzu  vor  allem  die  Zeit  abwarten  muß  und  ein  Individuum 
auf  keine  andre  Weise  als  der  zur  Beschleimigtmg  eines  solchen  Er- 
eignisses beitragen  kann,  die  Bildung  und  Philosophie  zu  verbreiten. 
Auch  kannst  Du  in  betreff  meiner  Studien  ganz  unbesorgt  sein.  Meine 
Tätigkeit  ist  jetzt  eine  begrenzte  imd  auf  die  Produktion  meines  S^'-stoms 
gerichtete,mitderen  Anfangich  wohl  erst  in  zwei  Jahren  anfangen  kann. 
Denn  2  bis  3  Jahre  werde  ich  mindestens  zu  Vorarbeiten  imd  Vorstudien 
brauchen,  ehe  ich  dazu  komme,  die  Feder  einzutauchen.  Und  es  soll 
mir  noch  lieb  sein,  wenn  ich  mit  2,  3  Jahren  lange.  Das  Material  ist 
zu  riesenhaft.  Unter  solchen  Umständen,  wo  noch  dazu  mein  Doktor- 
examen vor  der  Tür  liegt,  ^)  habe  ich  eben  nicht  Zeit,  müßig  zu  gehen. 
Es  drängt  mich,  wie  natürlich,  mein  Werk  zu  schreiben.  Denn  einmal 
ist  es  wirklich  Zeit,  der  immer  mehr  einreißenden  Unwissenschaftlich- 
keit imd  Flachheit  ein  Ende  zu  machen,  und  dann,  wie  ich  mein  Werk 
geschrieben  habe,  bin  ich  ein  gemachter,  weltberühmter  Mann,  jetzt 
doch  immer  ein  obscurus  homo.  Warum  sollte  ich  damit  zögern,  in 
das  Ivicht  meines  Ruhmes  herauszutreten?  Gnmd  also  über  imd  über 
zum  Fleiß.  Und  daß  dieser  ein  meiner  Natur  nicht  grade  Fremdes  ist, 
weißt  Du  ja  wohl.  Ich  werde  also,  falls  ich  in  Berlin  bleibe,  immer 
eine  ganz  passable  Zeit  arbeiten,  komme  ich  aber  nach  Breslau  mit 
ungeteiltem  Eifer  mich  erheben  und  über  meinen  Stofi  hermachen. 
Sei  also  ganz  unbesorgt.  —  Wie  mir  hervorzugehen  scheint,  so  warst 
Du  diesmal  nicht  zur  Leipziger  Messe  ?  Wie  steht  es  zu  Prag  ?  Ferdinand  ^) 

an  die  gleiche  Person  gerichtet  sind.  In  dem  durchstrichenen  Konzept  droht 
lyassalle  noch  mit  überschwenglichen  Worten  der  Empfängerin,  daß  er,  wenn 
sie  nicht  antworte,  hinter  ihr  stehen  werde  ,,ein  zürnender  Dämon  der  Rache, 
des  Zornes",  daß  er  sie  schonungslos  verfolgen  werde:  ,, Verdorren  und  welken 
soll  unter  dem  Brodem  meines  Hasses  alles,  was  dich  anlacht.  Es  soU  die  Auf- 
gabe, die  einzige  Bestimmung  meines  Daseins  werden.  Dich  langsam  lächelnd 
zu  vernichten." 

^)  Bekanntlich  hat  I/assalle  niemals  das  Doktorexamen  gemacht. 

^)  Ferdinand  Friedland,  Lassalles  Schwager. 


=======  84 

war  so  gütig,  meinen  Wunsch  sofort  zu  erfüllen,  und  zwar  auch  so 
energisch  wie  nur  irgend  möglich,  wofür  ich  ihm  sehr  dankbar  bin. 
Doch  kann  ich  über  den  Erfolg  nichts  berichten,  da  ich  leider  Malheur 
gehabt.  Sonnabend  erhielt  ich  Ferdinands  Brief.  Montag  begab  ich 
mich  zu  Meyerbeer,  traf  ihn  jedoch  nicht;  der  Bediente  sagte  mir, 
daß  er  überhaupt  sehr  unsicher  zu  treffen  sei,  seiner  Dienstangelegen- 
heiten wegen.*)  Am  ehesten  treffe  man  ihn  noch  von  2  bis  3.  Ich  ging 
in  dieser  Zeit  den  andern  Tag  hin;  er  war  jedoch  wieder  nicht  zu  Haus; 
mir  kam  es  ganz  so  vor,  als  wenn  Meyerbeer  für  Unbekannte  überhaupt 
nicht  zu  treffen  sei,  was  ich  ihm  gar  nicht  verdenken  kann,  besonders 
da  er  in  der  Tat  hier  sehr  geplagt  ist.  Mir  blieb  also  nichts  übrig,  wollt 
ich  nicht  noch  x-mal  vergeblich  kommen,  als  Friedlands  Brief  tmd  eine 
Karte  von  mir  mit  Adresse  dort  zu  lassen.  Das  war  Dienstag.  Nim 
warte  ich,  daß  Meyerbeer  die  Initiative  ergreift.  Sollte  ich  bis  Mittwoch 
nichts  gehört  haben,  so  gehe  ich  wieder  einmal  hin,  und  dann  werde  ich 
ihn  wohl  treffen.  —  Das  war  Pech,  wie  gesagt,  und  fast  geht  mir  da- 
durch der  Hauptzweck,  den  ich  hatte,  verloren.  Wenn  ich  ihn  erst 
gesprochen,  werde  ich  F.  schreiben. 

Inliegend  sende  ich  Dir  einen  Brief  an  Stücker, 2)  den  ich  Dich  nach 
Schillersdorf  zu  besorgen  bitte. 

Himdert  und  zehn  Mal  habe  ich  ntm  schon  angefragt,  ob  Rikchen 
einen  Brief  von  mir  durch  Stranz  erhalten  hat,  noch  keine  Antwort 
bekommen.  Als  ich  Dir  einmal  auf  einen  Punkt  nicht  antwortete,  so 
folgertest  Du  daraus,  daß  ich  Deine  Briefe  nachlässig  lese.  — 

Ich  erwarte  hier  schmerzlich  Humboldts^)  sich  immer  mehr  ver- 
zögernde Ankunft. 

Auch  möchte  ich  gern  wissen,  wie  es  mit  meiner  Militärangelegen- 
heit steht,  imd  Du  würdest  mich  verbinden,  wenn  Du  mir  den  Stand 
dieser  Sache  ausführlich  expliziertest.  Ich  weiß  natürlich  nicht,  wie 
Du  es  gemacht  hast.  Wenn  Strantz*)  vielleicht  dabei  nützlich  sein 
kann,  so  wird  er  sehr  bereit  sein,  wenn  ich  ihm  deswegen  schreibe. 

Das  schöne  Wetter,  das  wir  jetzt  haben,  stimmt  mich  sehr  fröhlich. 
vSonst  bin  ich  keine  jener  gepanzerten  Grasmücken,  die  da  piepsen, 
wenn  die  vSonne  scheint,  diesmal  aber  lacht  mir  der  lycnz  in  der  Tat 
allen  Unmut  weg  und  es  umsummen  mich  die  Verse  Ariosts: 

^)  Meyerbeer  war  seit  Spontinis  Tod  (1842)  Generalmusikdirektor  an  der 
Berliner  Oper.     Friedland  war  seit  lange  gut  mit  ihm  bekannt. 

2)  Baron  H.  von  Stücker,  damals  ein  Freund  Lassalles,  vgl.  Einleitung  S.  33. 

3)  Mit  Humboldt  ist  Lassalle  im  Hause  Joseph  Mendelssohns  bekannt  geworden. 
*)  Unbeträchtliche   Briefe   eines   Generalleutnants  von   Strantz  I    aus    dem 

Jahre  1846  fanden  sich  im  Nachlaß.  Wegen  ,, Brustschwäche  bei  Anlage  zu 
Brustkrankheiten"  erhielt  Lassalle  am  3.  August  1847  in  Breslau  den  Halb- 
invalidenschein. 


85  =========== 

Doch  als  die  Sonne  nun  am  Himmelsbogen 
Das  milde  Tier  des  Phrixus  neu  verklärt 
Und  Zephir  fröhlich  kommt  herangezogen 
Und  süßer  Frühling  mit  ihm  wiederkehrt, 
Da  brechen  atich  Graf  Rolands  Wundertaten 
Mit  holden  Blumen  aus  und  neuen  Saaten. 
Adieu!  ich  werde  mir  ein  Pferd  nehmen  imd  etwas  ausreiten! 

Was  sagst  Du  zu  den  Überschwemmungen  überall?  Ach,  das  nützt 
ims  nichts.  Das  Wasser  ist  ein  wäßriges  Element,  Wenn  es  aber  eines 
Tages  Feuer  wird  regnen  vom  Himmel  und  Schwefelströme  brechen 
aus  der  Erde,  dann  Hosiaima!  dann  ist  gekommen  die  Zeit 

so  das  heilige  Ilion  sinket, 

Priamus  auch  imd  das  Volk  des  lanzenkundigen  Königs. 
Seitdem  einst  der  Herrgott  so  cavaherement  sein  Ehrenwort  darauf 
gegeben,  unsere  Sünden  niemehr  durch  eine  Sündflut  fortzuschwemmen, 
ist  nur  noch  möglich,  sie  durch  Fegefeuer  fortzufegen.    Das  tut  aller- 
dings noch  weher! 

Leb  vielmal  wohl  Deinem  Ferdinand. 

Dich,  vielgeliebte  Mutter,  grüße  tmd  küsse  ich  vielmal.  Du  tust 
mir  wirklich  Unrecht,  wenn  Du  zürnst,  daß  ich  Dir  nicht  schreibe, 
Gefühle  aufzuzeichnen  hat  etwas  Unmögliches  und  dazu  überaus  Lang- 
weiliges, Sentimentales.  Und  man  langweilt  sich  hier  grade  nach  genug. 
Jetzt  ist  die  Zeit  gekommen,  wo  die  Leute  ihrer  Langeweile  entfliehen 
zu  können  glauben,  wenn  sie  Berlin  verlassen,  aber 

Um  das  Roß  des  Reiters  schweben, 

LTm  das  Schiff  die  Sorgen  her. 

Muß  hier  die  Langeweile  heißen,   die  geht  mit  ihnen  nach  Paris  und 

Italien,   Sie  werden  sie  nicht  los,  und  wenn  sie  die  Hemden  wechselten. 

Denn  sie  hat  sich  wie  Flöhe  in  den  Körper  eingebissen.    Leb  wohl  imd 

langweile  dich  nicht.  -r>,  •     t^    j-        j 

°  Dem  Ferdmand. 

Schwester  küsse  ich. 


i8. 

LASSALLE  AN  DEN  VATER.  (Original.) 

Geliebter  Vater! 

Soeben  habe  ich  Deinen  schon  lang  mit  Ungeduld  erwarteten  Brief 
erhalten  imd  beeile  mich  sofort,  ihn  zu  beantworten.  —  Wenn  ich 


Berlin,  d.   13.  Mai   1844. 
[Poststempel.] 


=  86  .= 

Dir  bisher  über  mein  Studium  etc.  nichts  geschrieben,  so  hat  das  seinen 
natürlichen  Grund  darin,  daß  ich  immer  vollauf  von  anderem  zu  sprechen 
hatte  und  meine  Briefe  auch  so  schon  die  Grenzen  eines  bescheidenen 
Schreibens,  d.  h,  den  für  einfaches  Porto  gewährten  Raum  wohl  über- 
stiegen haben. 

Ich  wollte  hier  recht  viel  Collegia  hören;  ich  besorgte  mir  also  ein 
Verzeichnis  derselben  und  zog  mir  alle  mir  etwa  interessanten  Collegia 
heraus;  da  hatte  ich  denn  jeden  Tag  8  Stimden  besetzt.  Dabei  wäre 
mir  also  keine  Zeit  zum  Arbeiten  übriggeblieben,  ich  strich  also  mit 
blutendem  Herzen  mehre[re],  behielt  jedoch  5 — 6  Collegia  täglich  übrig. 
Aber  es  sollte  ganz  anders  kommen.  Es  ist  zum  Verzweifeln!  Vierzehn 
Tage  habe  ich  bei  Gabler  ^)  und  bei  Trendelenburg  2)  I^ogik  gehört  imd 
will  ein  Schurke  sein,  wenn  sie  etwas  andres  als  das  bekannteste 
fadeste  Zeug  gesalbadert  haben.  Und  was  das  Schlimmste  ist,  man 
kann  die  Professoren  nicht  einmal  anklagen,  nicht  ihr  ist  die  Schuld; 
nein,  es  steht  in  der  Tat  so  schlimm  mit  der  philosophischen  Bildung 
der  akademischen  Jugend  imd  ihrer  Fassungsgabe,  daß  man  so  vor- 
aussetzungslos an  sie  treten  muß,  daß  man  ein  so  vollkommenes  Nichts 
bei  ihnen  vorfindet,  wie  der  liebe  Gott,  als  er  die  Welt  zu  schaffen  sich 
entschloß.  Aber  was  sollte  ich  in  diesen  Vorlesungen?  Es  wäre  die 
unverzeihlichste  Sünde  gegen  meine  Zeit,  die  mir  so  teuer  ist,  gewesen. 
Ich  war  kurz  entschlossen,  ich  machte  Tabula  rasa,  ich  gab  sämtliche 
philosophische  Collegia  wieder  ab  imd  behielt  nur  die  Logik  von 
Gabler,  d,  h,  ich  nehme  sie  an  und  bezahle  sie,  weil  ich  ein  Collegium 
logicum  postiert  haben  muß,  aber  ich  besuche  sie  nicht,  wenigstens 
vorläufig  nicht,  in  6  Wochen  will  ich  wieder  einmal  hingehen  und  sehen, 
ob  der  Mann,  wenn  er  an  die  I/)gik  selbst  gekommen,  denn  bis  jetzt 
treibt  er  sich  seit  14  Tagen  noch  immer  in  der  Einleitung  herum.  Ver- 
stand angenommen  hat.  Nie  hatte  ich  eine  Ahnung  davon,  daß  man 
Hegel,  sage  Hegel,  so  langweilig  vortragen  kann,  ich  summte  unwill- 
kürlich immer  im  Kolleg  die  Verse  der  Johanna 

,,Hätt'  er  mein  Auge,  wie  stund'  ich  oben",^) 

oben!  d.  h.  nämlich  auf  dem  Katheder.  Was  Trendelenburg  betrifft, 
diesen  Stolz  der  Berliner  Studierenden,  dieser  soi  disant  Stürzer  des 
Hegeischen  Systems,  die  Hoffnung  imd  der  Hort  aller  guten  Christen, 
so  wunderte  [ich]  mich  über  das  Nichtssagende  seiner  Vorträge  weniger. 

1)  G.  A.  Gabler  (1786 — 1853)  war  seit  1835  Hegels  Nachfolger  in  der  Pro- 
fessur der  Philosophie  an  der  Berhner  Universität. 

2)  F.  A.  Trendelenburg  (1802 — 1872)  war  seit  1837  ebenfalls  Ordinarius  für 
Philosophie  an  der  Berliner  Universität. 

3)  I^assalle  zitiert  hier,  wie  so  oft,  ungenau.    Bei  Schiller  heißt  der  Vers: 

,,Hätt'  er  mein  Auge,  oder  stund'  ich  oben". 


=^===_  87  -^ 

„Wer  bist  Du,  Ärmster,  und  was  kannst  Du  geben?" 

Seine  subjektive,  willkürliche,  ganz  äußerliche  Reflexionsmethode 
kann  einen  an  die  objektive  dialektische  Methode  gewöhnten  Hegelianer 
bis  zum  Erbrechen  langweilen. 

Schelling  ^)  hat  noch  nicht  angefangen ;  wenn  er  lesen  wird,  will  ich 
der  Kuriosität  wegen  ein  paarmal  hingehen,  natürlich  kann  ich  nichts 
von  seinen  Vorlesimgen  erwarten  als  Intuition  und  Mystik.  Bei  Trende- 
lenburg Reflexion,  bei  Schelling  Intuition,  bei  den  Hegelianern  Lange- 
weile tmd  Fadaisen,  Trivialitäten  in  der  höchsten  Potenz,  aber  nirgends 
Philosophie,  es  ist  zum  Totschießen !  Aber  nein,  es  ist  bloß  zum  Weg- 
bleiben eingerichtet. 

Ich  besuche  bloß  zwei  Collegia.  i.  bei  Benary^)  Einleitung  in  die 
Bücher  des  Alten  Testaments;  jeden  Tag  außer  Sonnabend  und  Sonntag 
von  9  bis  10;  dies  Kolleg  ist  interessant;  man  lernt  viel  Kritik,  der  Mann 
gibt  eine  Masse  Material  etc. ;  überhaupt  sind  die  Realdisziplinen  weit 
besser  dran ;  hier  sind  fast  alle  Collegia  gut  und  interessant,  man  erhält 
wenigstens  in  jedem  eine  Masse  stofflichen  Wissens,  das  man  sich  ja 
selbst  nach  Belieben  verarbeiten  kann;  nur  die  Philosophie  liegt  im 
argen. 

Das  andre  Kolleg,  das  ich  besuche,  ist  bei  Panofka,^)  über  die  Denk- 
mäler der  griechischen  Kirnst,  wöchentHch  einmal  Sonnabend  von  2  bis 
3,  sehr  interessant. 

So  hab'  ich  täglich  nur  eine  Stunde  Kolleg,  während  ich  früher  mir 
sechs  entziehen  woUte,  ich  habe  also,  dank  sei's  der  Ivangweiligkeit 
unserer  Professoren,  fast  die  ganze  Zeit  für  Selbststudium,  das  einzig 
fruchtbare,  frei. 

Meine  Zeiteinteilung  imd  sonstige  Ivcbensweise  kurz  zu  schüdern, 
verhält  es  sich  so  mit  ihr.  Ich  stehe  früh  etwas  vor  4  Uhr  auf,  arbeite 
bis  9  Uhr  Hegel,  um  9  gehe  ich  ins  Kolleg,  um  10  komm  ich  zurück, 
ziehe  mich  aus,  Schlafrock,  Pantoffeln  imd  Nachthemde  an  und  arbeite 
bis  abends  10  Uhr  tmunterbrochen ;  um  10  Uhr  lege  ich  mich  schlafen. 
Ich  ziehe  mich  immer,  wenn  ich  um  10  Uhr  früh  aus  dem  Kolleg  komme, 
aus,  sagte  ich,  weil  ich  den  Tag  nie  wieder  ausgehe,  ich  esse  nämlich 
gewöhnlich  zu  Hause  Mittag;  nur  zweimal  die  Woche  höchstens  gehe 
ich  zu  Mittag  essen.  Wenn  ich  zu  Hause  esse,  so  esse  ich  Butterbrot, 
überhaupt  habe  ich  mir  das  Essen  in  hohem  Grade  abgewöhnt.    Früh 


^)   Schelling,   von   Friedrich  Wilhelm   IV.   hinberufen,   um   den   Einfluß  der 
Hegeischen  Schule  zu  bekämpfen,  lehrte  seit   1841   an  der  BerHner  Universität. 

2)  Karl  Albert  Agathon  Benary  (1807 — 1861)  war  Privatdozent  der  klassischen 
Philologie  an  der  BerUner  Universität. 

3)  Theodor  Ponafka   (1800 — 1858),  der  bekannte  Archäologe,  war  seit   1843 
außerordenthcher  Professor  an  der  Universität. 


=:      88  —  = 

morgens  trinke  ich,  der  ich  zu  Hause  gleich  drei  Buttersemmehi  fraß,  um 
4  Uhr  eine  leere  Tasse  Kaffee,  ohne  das  mindeste  zu  essen,  bis  xMittag 
12  Uhr;  da  esse  ich  etwas  Butterbrot,  nachmittags  trinke  ich  wieder  eine 
leere  Tasse  Kaffee,  und  um  7  Uhr  esse  ich  wieder  einige  Butterschnitten 
als  Abendbrot.  Dabei  empfinde  ich  aber  nicht  den  geringsten  Hunger 
des  Tages  über  und  befinde  mich  überhaupt  ausnehmend  wohl  dabei. 
Ich  gehe  nicht  zu  Mittag  essen,  einmal  der  Ersparnis  wegen,  dann  aber 
hauptsächlich,  weil  ich,  wenn  ich  Mittag  nicht  ausgehe,  eine  Masse 
Zeit  erspare  und  den  ganzen  Tag  ununterbrochen  arbeiten  kann.  Von 
4  früh  bis  abends  10  sind  18  Stunden,  da  geht  eine  für  Kolleg  und  zwei 
[für]  An-  und  Ausziehen,  Essen  etc.  ab,  bleiben  noch  15  Stunden,  da 
kann  man  schon  etwas  tim ;  und  bin  ich  mit  meinen  Arbeiten  sehr  zu- 
frieden, was  viel  sagen  will,  denn  ich  bin  die  strengste  Behörde  gegen 
mich  selbst,  strenger  als  irgendein  andrer  sein  könnte  oder  selbst  dürfte. 

Für  den  Sommer  will  ich  mir  das  Kaffeetrinken,  da  es  doch  kost- 
spielig ist,  abgewöhnen;  das  wird  mir  weiter  nicht  schwer  fallen;  aber 
als  ich  auch  dem  Zigarrenrauchen  entsagen  wollte,  ging  es  nicht.  Merk- 
würdig, mit  der  größten  Leichtigkeit  trage  ich  andere  Entbehrungen, 
aber  diese  fällt  mir  zu  schwer.  Jetzt  trage  ich  mich  mit  dem  Projekte, 
die  Butter  zu  kassieren. 

Übrigens  will  ich  das  alles  nicht  gesagt  haben,  um  etwa  die  ,,Rach- 
mones"^)  zu  erregen ;  ich  könnte  ja  mit  meinem  Gelde  auch  besser  leben, 
aber  ich  will  nun  einmal  meine  Bedürfnisse  auf  das  Minimum  reduzieren. 
—  Mit  dem  Vorladen  hat  es  nichts  auf  sich  gehabt.  Es  ist  eine  bloße 
Formahtät,  daß  jeder,  der  auf  einer  Universität  in  politische  Demonstra- 
tionen verwickelt  und  deshalb  bestraft  worden  ist,  wenn  er  auf  eine 
andere  Universität  kommt,  wie  ein  Kind  die  Hände  falten  und  sagen 
muß:  ,, Nicht  wieder  tun",  oder  vielmehr,  daß  ihm  eine  Ermahnung, 
dies  nicht  wieder  zu  tun,  vorgelesen  wird,  imd  er  sie  unterschreiben 
muß.    Zu  diesem  Zweck  war  auch  ich  vorgeladen. 

Daß  Du  Iv.  .2)  .  .  die  15  Rt.  nicht  gegeben  hast,  daran  hast  Du 
äußerst  und  durchaus  Recht  getan,  und  hat  es  mich  mit 
einiger  Indignation  erfüllt,  daß  er  sie  nur  fordern  konnte.  Das  heißt 
Deine  imd  meine  Güte  mißbrauchen. 

Deine  Befürchtimgen,  es  möchte  hier,  da  Klocke^)  da  ist  und  ly. 
kommen  will,  der  Breslauer  Tanz  wieder  losgehen,   wie   auch  Deine 


*)  Hebräisch:  Mitleid. 

2)  Mit  I/.  ist  wahrscheinlich  Albert  Lehfeld  gemeint,  vgl.  S.  32. 

2)  Klocke,  ein  Verbindungsbruder  I,assalles,  studierte  Philosophie ;  er  wanderte 
später  nach  Amerika  aus.  Vielleicht  war  er  ein  Sohn  des  Kaufmanns  Klocke, 
der  damals  Stadtverordneten  Vorsteher  und  ein  Hauptführer  der  Liberalen  in 
Breslau  war. 


89  ===== 

Ermahnungen  bei  dem  „Abschnitt  des  Lebens",  an  dem  ich  stehe, 
sind  ziemlich  übrig.  Ich  dächte,  Du  wüßtest  doch  meinen  Willen  in 
Punkto  dessen,  und  an  meiner  Festigkeit  zu  zweifeln,  ist  erst  gar  grund- 
los. Wenn  ich  Festigkeit  xmd  Stärke  genug  besaß,  um  (im  Winter) 
Deinen  Bitten,  ja  Deinen  Tränen  widerstehen  zu  können,  sollte 
ich  nicht  Festigkeit  genug  besitzen,  um  Anlockungen  von  meinen 
Freunden  widerstehen  zu  können?  Aber  damals  war  das  nötig  und 
recht,  von  dem  jetzt  das  Gegenteil  nötig  und  recht  ist.  Ich  frage, 
sehe  ich  darnach  aus,  wie  einer,  der  verführt  werden  kann  und  sich 
verführen  läßt?  Habe  ich  meinen  Schwerpunkt  in  andern  oder  wurzle 
ich  nicht  vielmehr  mit  aller  Kraft  und  Klarheit  des  selbstbewußten 
Geistes  in  mir  selber?  Ich  bestimme  mich  und  mein  Handeln  nur  von 
innen  heraus.  Oder  bin  ich  etwa  ein  heißblütiger  Jüngling?  Un- 
besonnen? Ich  habe  Dir  das  schon  oft  erklärt,  ich  bin  ein  Mann, 
in  der  vollsten  Bedeutung  des  Wortes  ein  Mann,  nur  daß  ich  mit  der 
männHchen  Gereif theit  die  Tatkraft  tmd  Energie  des  Jünglings  ver- 
binde. Was  macht  denn  den  Menschen  zum  Mann?  Die  Erfahrung. 
Aber  wie  lumpig,  wie  winzig  sind  die  Erfahnmgen,  die  der  einzelne 
aus  den  Begebnissen  tmd  Vorkommenheiten  seines  einzelnen  Lebens 
zieht,  wie  gering  an  Zahl,  wie  unbedeutend  an  Inhalt! !  Wie  beschränkt 
seine  Sphäre  und  folglich  das,  was  er  kennen  lernen,  erleben  und  er- 
fahren kann!  Anders  mit  dem  Philosophen;  er  macht  die  Erfah- 
rungen der  ganzen  Welt-  und  Völkergeschichte  von  Anno  i 
bis  auf  den  heutigen  Tag  zu  den  seinigen,  sie,  diese  großen 
Erfahrungen  diese  Inbegriffe  der  göttlichen  Weisheit 
werden  zu  seinen  Errungenschaften.  Er  hat  so  viel  Er- 
fahnmg,  als  wenn  er  von  looo  vor  Christus  bis  1844  nach  Christus  gelebt 
hätte;  er  reift  mit  einem  Worte  in  dem  Prozeß  des  geschicht- 
lichen Lebens,  er  wird  von  dem  geschichtlichen  Leben,  d.  h. 
von  Gott  selber,  geschult.  So  bin  ich  gereift,  so  bin  ich  geschult, 
und  damit  basta!  — 

Auch  sehe  ich  gar  keinen  ,, Abschnitt",  an  dem  ich  stände.  Ich 
finde  durchaus  keinen  „Abschnitt"  darin,  ob  ich  in  Breslau  oder  Berlin 
studiere.  Das  ist  ja  eine  ganz  gleichgültige  Lokal  Veränderung.  Ein  Ab- 
schnitt aber  ist  nur  das,  was  tief  \md  eingreifend  in  das  innere  Leben 
des  Geistes  eindringt  und  da  unauslöschliche  Spuren  zurückläßt,  ein 
Abschnitt  ist  eine  qualitative  Umgestaltung  des  Geistes  selber,  eine 
Phase,  ein  Stadium  in  dem  Entwicklimgsprozeß  des  Geistes  selber. 
Also  bitte,  bitte,  zeige  mir  den  Abschnitt,  an  dem  ich  stehe.  Ich  zähle 
nur  drei  Abschnitte  in  meinem  Leben,  d.  h.  drei  Phasen,  und  es  gibt 
keine  Phase  mehr  für  mich,  denn  ich  habe  die  höchste  Phase  des  gegen- 
wärtigen Geistes  erreicht  und  kann  mich  nur  innerhalb  dieser,  d.  h. 


—  90  = 

nur  quantitativ  ausbilden.  Die  drei  Phasen  aber,  die  ich  durchgemacht, 
sind  die:  von  meiner  Geburt  an  bis  ich  nach  Leipzig  ging,  oder  kurz 
vorher,  in  welchem  Abschnitt  ich  ein  dummer  Junge  war,  von  meinem 
Aufenthalt  in  Leipzig  an,  wo  ich  meiner  inneren  Leere  bewußt  wurde 
imd  von  einem  unbestimmten,  imklaren  Sehnen,  sie  zu  erfüllen,  er- 
griffen wurde.  Ein  dunkler  Drang,  der  mich  damals  aus  meiner  Sphäre 
herausriß,  ohne  mir  doch  bestimmten  positiv  erfüllten  Inhalt  geben  zu 
können.  Das  dauerte  bis  vor  2V2  Jahren.  Und  vor  2V2  Jahren  häutete 
ich  mich  zum  dritten  Mal.  Die  Philosophie  trat  an  mich  heran,  imd  sie 
gebar  mich  wieder  und  von  neuem  im  Geiste.  Diese  geistige  Wieder- 
geburt gab  mir  alles,  gab  mir  Klarheit,  Selbstbewußtsein,  gab  mir  zum 
Inhalt  die  absoluten  Mächte  des  menschlichen  Geistes,  die  objektiven 
Substanzen  der  Sittlichkeit,  der  Vemtmft  etc.,  kurz,  sie  machte  mich  zu 
der  sich  selbst  erfassenden  Vernunft,  d.  h.  zum  selbstbewußten 
Gott  (d.  h.  zu  dem  sich  als  Erscheimmgsform  tmd  Verwirklichung 
des  Göttlichen  begreifenden  Geist).  Wer  aber  einmal  ein  Gott  war, 
wird  nie  wieder  ein  dummer  Junge!!! 

Übrigens  tust  Du  Klocken  sehr  unrecht,  er  sehnt  sich  ebenso 
wie  ich  nach  Arbeit  und  ist  ein  sehr  tüchtiger  Charakter  imd  willens- 
fester Kerl. 

Apropos,  Du  kannst  alles,  was  Du  willst,  mit  dem  Kondukteur 
schicken,  denn  sie  kommen  selbst  mit  der  Eisenbahn  nach  Berlin. 
May^)  wenigstens  erhält  und  schickt  seine  Briefe  regelmäßig  mit  dem 
Kondukteur. 

Du  schriebst  mir  in  Deinem  vorigen  Briefe  eine  ganze  Masse  Deiner 
Freimde,  die  ich  besuchen  soll.  Ich  werde  damit  sehr  sparsam  sein. 
An  alten  Leuten  habe  ich  nichts,  zu  Soireen  will  ich  nicht  ein- 
geladen sein,  imd  junge  Leute  wie  Söhne,  Doktoren  und  ähnliches 
Gesindel  bei  ihnen  kennen  zu  lernen,  will  ich  meiner  Zeit  wegen  erst 
gar  nicht.  Ich  habe  viel  zu  tun,  mir  brennen  die  Nägel  auf  den 
Fingern ! 

Warum  schreibst  Du  mir  nichts  über  Ferdinand  Cohns  Ankunft? 
Und  besonders  warum  schreibst  Du  mir  nichts  über  den  Stand  der 
Gasangelegenheiten??     Warum  schreibt  mir  Mutter,    Ferdinand, 


1)  Ein  entfernter  unbegüterter  Verwandter,  den  Lassalle  damals  aufgefordert 
hatte,  seine  Wohnung,  Unter  den  Linden,  bei  dem  Schneider  Tomaschek,  mit 
ihm  zu  teilen.  Vgl.  hierzu  seinen  Brief  an  den  Vater  vom  24.  April  (Intime 
Briefe  etc.  S.  19  ff.)-  Dort  heißt  es  u.  a. :  ,,Auch  ist  es  immer  angenehm,  einen 
treuen  Menschen  bei  sich  zu  haben,  und  außerdem  habe  ich  an  May  noch  einen 
halben  Kammerdiener  .  .  .  Natürlicherweise  sagte  ich  May,  sowie  er  faul,  un- 
gezogen würde,  würde  ich  ihn  ohne  weitere  Umstände  sofort  zu  meiner  Woh- 
nung hinaus  expedieren." 


—  91   = 

Rikchen  nicht?  Ich  lasse  sie  indessen  alle  vielmal  grüßen.  Mit  den 
10%  C.  Aderholz  hat  es  seine  Richtigkeit.  Wieviel  Du  einem  jeden 
meiner  Buchhändler  zu  bezahlen  hast,  habe  ich  Dir  ja  in  meinem  letzten 
Briefe  angegeben,  die  darin  angegebenen  Summen  sind  alles  netto 
Summen,  von  denen  der  Rabatt  bereits  abgezogen.  Bezahle  nicht  mehr, 
als  ich  Dir  angab.  Apropos,  schicke  mir  einen  Erlaubnisschein,  daß 
ich  hier  studieren  darf,  denn  ein  solcher  war  bereits  bei  der  Immatri- 
kulation nötig.  Man  sagte  mir,  ich  solle  ihn  bald  nachbringen.  Schließ- 
lich bitte  ich  Dich,  Deine  Briefe  meiner  pekimiären  Verhältnisse  wegen 
künftig  zu  frankieren.  Obgleich  ich  gern  6  Sgr.  für  einen  Brief  von  Dir 
bezahle,  so  ist  ja  noch  der  andre  Fall  da,  daß  ich  den  Brief  bekomme 
imd  Du  ihn  bezahlst.  Ungleich  vorteilhafter  für  mich,  denn  ehe  ich  mir 
6  Sgr.  am  Mittagessen  [ab] spare,  so  kommt  des  vielen  Brotgenusses 
wegen  eine  vierwöchentliche  Verstopfimg  regelmäßig  dabei  heraus. 
Schreibe  recht  bald  Deinem  Dich  über  alle  Maßen  liebenden  Sohne 

Ferdinand. 


19. 

LASSALLE  AN  DEN  VATER.  (Original.) 

[Berlin,  17.  Mai  1844.] 
[Poststempel.] 

Geliebter  Vater! 

Eine  Bitte,  die  ich  an  Dich  zu  richten,  ist  die  Veranlassimg  dieses 
Briefes.  Ich  fange  kurz  und  ohne  Einleitimg  an.  Meine  Bedürfnisse 
hier  belaufen  sich  auf  folgendes: 

Für  Wohnung  (ich  bin,  als  May  hereinzog,  etwas  ge- 
steigert worden  im  Preis  von  meiner 
Wirtin,  weil  nach  ihrer  Logik  derselbe 

Raum  für  2  Personen  teurer  als  für  eine  Rt.  6.15 

Für  Kleiderreinemachen,  Stiefelputzen ,,     i. — 

Für  Mittag  imd  Abendbrot  zusammen ,,     4. — 

Wie  das  zugeht,  daß  ich  mit  4  Rt.  für  Mittag  und  Abendbrot  reiche, 
will  ich  Dir  erklären.  Zweimal  in  der  Woche  gehe  ich  Mittag  in  die 
Restauration,  das  macht  12  Sgr.  und  per  Monat  Rt.  1.18,  bleiben  noch 
5  Mittage  imd  7  Abendbrote  in  der  Woche.  Ein  Mittag-  oder  Abend- 
brot zu  Haus  kosten  mich  i  Sgr.  3  Pf.  Denn  an  einem  Brot  für  2V2  Sgr. 
habe  ich  über  viermal,  macht  für  einmal  etwa  7  Pf.  und  mit  einem 
halben  Pfunde  Butter  a  5  Sgr.  lange  ich  auf  7—8  Mahlzeiten,  brauche 


-^="  92  = 

also  für  eine  Mahlzeit  an  Butter  nicht  ganz  8  Pf.,  an  Brot  wie  oben 
ausgerechnet  7  Pf.,  zusammen  also  für  eine  Mahlzeit  15  Pf.  od.  i  Sgr. 
3  Pf.  Solcher  Mahlzeiten  sind  nun  in  der  Woche  12  (siebenmal  zu  Abend 
und  fünfmal  zu  Mittag),  im  Monat  48;  ich  brauche  also  48  gute  Groschen 
oder  Rt.  2. —  Dazu  kommen  die  zwei  Mittagsmahlzeiten,  die  ich  beim 
Restaurateur  esse  ä  6  Sgr.  und  die  mich  also  i  Rt.  18  Sgr.  kosten ;  es 
beträgt  also  die  Summe  der  Mittags-  und  Abendmahlzeiten  per  Monat 
3  Rt.  18  Sgr.,  ich  habe  in  der  Rechnimg  dafür  4  Rt.  angesetzt. 

Für  Frühstück  (Ich  habe  den  Kaffee  sowohl  vor-  als  nach- 
mittag aufgegeben;  früh  esse  ich  an  seiner  Statt 
für  6  Pf.   Semmel;  der  Kaffee  ist  mir  ohnehin 

schädHch) — .15 

Für  Zigarren 3. — 

Für  Wäsche i.io 

Für  Licht i.io 

Für  Holz  (ich  verteile  die  Kosten  für  Holz  auf  alle  Monate)  i.io 

Für  Collegia i.io 

Für  etwaige  unvorhergesehene  Fälle  als  Taschengeld .     ,  — .15 

Summa  Rt.  20.25 

Für  Kleidung  brauche  ich  dies  Jahr  noch  gar  nichts. 

Du  siehst  also,  daß  ich  sehr  brillant  leben  und  dennoch,  da  ich 
für  den  Monat  337»  Rt.  erhalte,  monatlich  Rt.  12.15  ersparen  kann, 
das  macht  jährlich  netto  Rt.  150. —  (Ich  habe  oben  aber  in  der  Spe- 
zifikation alles  noch  zu  den  höchsten  Preisen  gerechnet.) 

Für  das  künftige  Jahr  und  von  dem  ab,  falls  das  Gasgeschäft  nicht 
ins  Leben  tritt,  bin  ich  entschlossen,  diesen  Rt.  150.- —  zu  entsagen  und 
meinen  Wechsel  auf  Rt.  250. —  zu  beschränken.  Ich  könnte  ja  noch 
billiger  leben,  wenn  ich  eine  Wohnung  für  2 — 3  Rt.  nehme  und  würde 
in  ihr  mir  so  gut  gefallen  wie  in  der  bisherigen;  was  aber  das  jetzige 
Jahr  betrifft,  so  bin  ich  entschlossen,  diese  Rt.  150. —  auf  Bücher  aus- 
zugeben, um  den  Kreis  der  mir  nötigen  Bücher  zu  vervollständigen 
und  womöglich  abzuschließen.  Nun  kann  ich  gegenwärtig  eine  ganze 
Partie  mir  unentbehrlicher  philologischer  Bücher  kaufen;  ihr  Laden- 
preis (es  sind  aber  die  besten  Werke,  die  ich  mir  doch  anschaffen  müßte) 
beträgt  über  350  Rt. ;  der  antiquarische  beträgt  Rt.  100. — ,  wenn  ich  sie 
auf  Zeit  nehme,  wenn  ich  aber  bar  bezahle,  so  kann  ich  noch  17  Prozent, 
vielleicht  auch  20  Prozent  erhalten,  so  daß  sie  mich  dann  nur  80  Rt. 
kosten  würden.  Ich  richte  daher  die  Bitte  an  Dich,  mir  diese  Rt.  80. — 
auf  mein  Konto  auszuzahlen  und  mir  jeden  Monat  den  oben  angegebenen 
Überschuß  von  Rt.  12.15  abzuziehen.  Daß  ich  diese  Ausgabe  machen 
kann,  ohne  meine  Kräfte  zu  übersteigen,  habe  ich  Dir  durch  die  obige 


=  93  = 

Rechnung  gezeigt.  Ich  bitte  Dich  aber,  schicke  mir  umgehend 
spätestens  Montag  diese  Rt.  80. — ,  denn  ich  unterhandle  bereits 
8  Tage  um  diese  Bücher,  imd  es  gelang  mir  nur,  bis  Mittwoch  Zeit  zur 
Besinnung  für  mich  auszuwirken;  bis  dahin  sollen  sie  nicht  verkauft 
werden;  denn,  wie  Du  Dir  denken  kannst,  handeln  sehr  viele  um  diesen 
Posten,  es  fehlt  ihnen  nur  wie  mir  die  große  Summe  baren  Geldes. 
Hat  aber  erst  eine  echte  philologische  Spürnase  diesen  Schatz  entdeckt, 
dann  ist  er  fort  für  mich. 

Also  bitte,  erfülle  diesen  Wunsch  aufs  schleimigste  Deinem  Dich 
innig  liebenden  Sohn 

Ferdinand. 

NB.  Alle  etwaigen  Beiträge  und  Beisteuern  muß  ich  höflichst  und 
dankbarst  ablehnen.  Teils  sollst  Du  durch  meine  Büchersucht  (obgleich 
es  diesmal  nicht  bloße  Liebhaberei,  sondern  wirklich  Bedürfnis  ist) 
nicht  leiden,  teils  will  ich  mm  einmal  Bücher  haben,  die  ich  für  mein 
eignes  Geld  gekauft. 


20. 

LASSALLE  AN  DEN  VATER.     (Original.) 

Berlin,  d.  21.  Mai^)   1844. 
[Poststempel  Berlin,  3.  Juni.] 

Geliebter  Vater! 

Ich  kann  Dir  nicht  verhehlen,  daß  ich  mit  Deinen  Briefen,  auf  die 
ich  mich  doch  immer  so  sehr  freue,  äußerst  unzufrieden  bin.  Selbst 
Du  schreibst  mir  nur  so  spärlich,  so  kärglich,  als  sich  nur  tim  läßt, 
zwei  kleine  Seiten  et  voilä  tout!  Was  soll  ich  erst  über  die  andern  sagen! 
Die  liebe  Mutter  schreibt  mir  grade  so  viel  Zeilen,  als  ich  Seiten  er- 
warte, Rikchen  schreibt  gar  nicht,  sondern  verspricht  nur  zu  schreiben, 
tmd  Ferdinand  endlich  verspricht  nicht  und  schreibt  auch  nicht,  läßt 
mit  einem  Wort  gar  nichts  von  sich  hören.  So  geht  es  in  unausgesetzter 
Stufenfolge,  im  fortlaufenden  Progreß  bis  zum  totalen  Nichts  herunter. 
Und  beklagt  Euch  nun  nicht  etwa,  Ihr  hättet  nichts,  wovon  Ihr  mir 
schreiben  könntet.  Hab'  ich  etwa  mehr  Stoff,  große  Ereignisse  etc. 
zu  berichten?  Ganz  im  Gegenteil.  Aber  wie  kommt  es,  daß  meine  Briefe 
stets  so  viel  Bogen  als  die  Eurigen  Seiten  füUen?   Das  macht,  weil  ich 


1)  Im  Original  ist  das  Wort  ,,May"  durchgestrichen  und  von  offenbar  fremder 
Hand  durch  ,Juni"  ersetzt.  Da  aber  der  Poststempel  3.  VI.  lautet,  so  muß  die 
ursprünghche  Angabe  die  richtige  sein. 


—=^   94  = 

Euch  sogar  von  den  kleinsten,  minutiösesten  Einzelheiten  Bericht  ab- 
lege, die  an  und  für  sich  ganz  uninteressant  sind,  von  denen  ich  aber 
doch  glaube,  daß  sie  für  Euch  ein  gewisses  Interesse  haben  werden, 
und  zwar  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  selbst  das  Kleinlichste  und 
Unwichtigste  Wert  und  Bedeutung  erhält,  wenn  es  sich  auf  eine  Person 
bezieht,  an  der  man  einen  gediegenen  und  inhaltsvollen  Anteil  nimmt. 
Ihr  aber,  statt  Euch  in  dieser  Hinsicht  meine  Briefe  zum  Muster  zu 
nehmen,  berichtet  mir  gar  nichts  von  alledem,  was  innerhalb  Eurer 
vorgeht,  laßt  mich  in  völliger  Unwissenheit  darüber,  wie  Ihr  lebt,  was 
Euch  grad  amüsiert,  ennuyiert,  kurz  beschäftigt.  Ihr  werdet  mir  ant- 
worten: Kleinlichkeiten!  Das  weiß  ich,  aber  ich  wiederhole  es  Euch, 
so  kleinlich  diese  Kleinlichkeiten  sind,  so  werden  sie  getragen 
von  den  konkreten  Verhältnissen,  auf  die  sie  in  Beziehung  stehen. 
Das  Faktum  ist  an  und  für  sich  nichts ;  —  aber  es  bezieht  sich  auf  Persön- 
lichkeiten; diese  sind  seine  Träger,  diese  verleihen  ihm  Farbe,  Ton, 
lyicht,  Bedeuttmg,  Wanne,  Dasein,  Leben. 

Also  bessert  Euch,  und  das  Gesagte  gilt  auch  für  Dich,  lieber  Vater, 
Deine  Briefe  sind  allzu  karg,  sie  stehen  im  umgekehrten  Verhältnis 
zu  Deiner  Güte.  Was  Ferdinand  betrifft,  so  bin  ich  in  allem  Ernste 
so  böse  auf  ihn,  wie  ich's  kaum  zu  sagen  weiß!  Sechs  Wochen 
bin  ich  von  Hause  fort,  und  er  hat  noch  nicht  einmal  einen  Gruß,  ge- 
schweige einen  Brief  mir  beigefügt.  Das  ist  eine  Indolenz,  eine  Faulheit 
und  Lieblosigkeit,  die  gar  nicht  zu  entschuldigen  ist.  Ich  glaube,  wenn 
er  jetzt  zu  meiner  Tür  hereinträte  —  ich  spräche  nicht  mit  ihm ! 

Du  erkundigst  Dich,  lieber  Papa,  so  angelegentlich  nach  den  Exami- 
natorien,  die  man  mit  uns  anstellen  will,  tmd  irre  ich  nicht,  so  empfindest 
Du  eine  kleine  geheime  Schadenfreude  darüber,  daß  ich  nun  auf  der 
Schuljimgenbank  säße  imd  mich  examinieren  und  dressieren  lassen 
müßte.  Aber  glücklicherweise,  so  weit  ist  es  noch  nicht.  Einige  der  be- 
deutendsten Professoren  hier  haben  zu  beharrlichen  Widerstand  geleistet. 
So  erzählt  man  folgende  zwei  Antworten,  die  eine  mehr  als  anekdoto- 
rische  Glaubwürdigkeit  haben.  Eichhorn  soll  nämlich  zuerst  mehreren 
der  ausgezeichnetsten  Professoren  privatim  jedem  seinen  Vorschlag 
gemacht  haben.  Marheineke  ^)  soll  ganz  überrascht  gewesen  imd  in  der 
ersten  Bestürzung  ihm  die  Worte  entfahren  sein:   ,,Aber  Exzellenz, 

sind  Sie  verr ,"  worauf  er  sich  schnell  sehr  tölpisch  verbesserte, 

indem  er  sagte:  „Aber  Exzellenz,  sind  Sie  nicht  gescheut?"  Neander^) 

1)  Philipp  Marheineke  (1780 — 1846),  seit  181 1  Professor  der  Theologie  an  der 
Berliner  Universität,  war  in  seiner  Fakultät  die  angesehenste  Persönhchkeit,  die 
auf  dem  Boden  der  Hegeischen  Philosophie  stand. 

2)  Der  Kirchenhistoriker  J.  G.  W.  Neander  (1789 — 1850),  eigentlich  David 
Mendel  geheißen,  gehörte  der  Berhner  Universität  seit  18 13  an. 


— =  95  = 

soll,  als  ihm  der  Minister  seinen  Plan  mitteilte,  ruhig  geantwortet  haben: 
,, Exzellenz,  wenn  das  durchgeht,  so  gehe  ich  nach  Tübingen  und  werde 
dort  Privatdozent." 

Dieser  Widerstand  machte  den  Minister  stutzig.  Er  wollte  seinen 
Plan  nicht  ganz  aufgeben,  ihn  ä  tout  prix  durchzusetzen  schien  be- 
denklich. So  wählte  man  denn  mit  der  erbärmlichen  Halbheit,  die  für 
unser  ganzes  jetziges  Regiertmgssystem  bezeichnend  ist,  einen  sehr 
fein  ersonnenen  Mittelweg.  Eichhorn  erließ  an  die  einzelnen  Fakultäten 
und  die  betreffenden  Professoren  ein  Ministerialreskript,  in  welchem 
er  ihnen  anzeigt,  es  wäre  ihm  lieb,  wenn  die  Herren  Professoren  mit 
ihren  Kollegien  ein  Examinatorium  verbänden,  auf  daß  ,,ein  innigeres 
Verhältnis  von  lychrenden  imd  Lernenden  hergestellt  würde"  (die  ge- 
wöhnliche abgedroschene  Phraseologie).  Doch  solle  keiner  der  Herren 
Professoren  dazu  genötigt  sein,  wenn  er  es  nicht  aus  freien  Stücken 
für  gut  befinde;  auch  ,, sollten  die  Herren  Studierenden  nicht  genötigt 
sein,  wenn  sie  ein  Kolleg  annähmen,  mit  dem  ein  solches  Examinatorium 
verbunden  sei,  auch  dies  letztere  zu  besuchen.  Man  wolle  alles  dem 
freien  Willen  der  Herren  Studierenden  und  Professoren  anheimstellen, 
man  werde  ja  am  besten  dabei  sehen,  ob  der  Vorschlag  Anklang  findet" 
und  was  der  Salbaderei  mehr  ist. 

Demnach  haben  nun  die  einen  der  Professoren  solche  Examinatoria 
eingerichtet,  die  andern  nicht.  Besonders  in  der  philosophischen 
Fakultät  haben  sie  Eingang  gefunden.  Man  ist  jedoch  nicht  verbunden, 
sie  zu  besuchen,  und  ich  tue  es  daher  nicht,  und  wie  ich  glaube,  halten 
es  die  meisten  ebenso.  —  Der  Ausweg  aber,  den  der  Minister  ersonnen, 
ist  äußerst  fein.  Er  wußte  wohl,  daß  er  niederträchtige  Augendiener 
genug  finden  wird,  denen  der  leiseste  seiner  Winke  Befehl  ist.  Und 
besonders  in  der  philosophischen  Fakultät  hat  er  sie  gefunden.  O  diese 
Philosophie,  diese  feile  Kokette!  Aber  dafür  mag  sie  auch  dereinst 
zusehen,  wo  sie  ihre  Schande,  wo  sie  ihre  Scham  verbergen  soll,  wenn 
man  ihr  die  Maske  der  Ehrbarkeit  von  dem  verbuhlten  Gesicht  gerissen, 
wenn  sie  in  ihrer  häßlichen  Nacktheit  dasteht  und  ihr  die  Gassenbuben 
auf  der  Straße  nachzischen. 

So  steht  z.  B.  in  einer  Ermahnimg,  die  die  hiesigen  Studierenden 
bei  der  Immatrikulation  empfangen,  folgender  klassischer  Satz:  ,,Wir 
sind  weit  entfernt,  der  größeren  Zahl  vmserer  Zuhörer  zuzutrauen,  sie 
seien  in  der  höchst  untergeordneten  Ansicht  befangen,  welche  die 
Wissenschaft  nur  als  ein  Mittel  des  Lebensunterhaltes  anerkennt; 
wiewohl  diese  wahrhaft  unsittliche  Betrachtungsweise  manche 
Gemüter  beherrscht."  Ist  das  nicht  die  Unverschämtheit  bis  zum 
Exzeß  getrieben  ?  Hier  wird  von  Staats  wegen  der  Idealismus  gepredigt, 
aber  freihch,  der  Wisch  ist  1818  gedruckt,  damals  durfte  man  noch  so 


—  96   ====== 

reden.  Seit  der  Zeit  haben  sich  die  Jahrbücher^)  die  Mühe  genommen, 
und  mit  ihnen  die  ganze  neuere  Entwicklung,  der  Welt  zu  zeigen,  was 
Idealismus  ist,  wenn  er  die  Wissenschaft  durchdringt.  Da  hat  man  denn 
dies  Kokettieren  mit  der  Sittlichkeit  gar  bald  fahren  lassen  müssen. 
Die  Schminke  wurde  heruntergerissen  und  es  blieb  —  die  Metze.  Das 
ist  der  große  Schritt,  der  in  der  neueren  Entwicklung  getan  wurde. 
Die  Leute  wurden  auf  ihre  Konsequenzen  hingedrängt;  die 
Gegensätze  erhielten  ihre  richtige  Stellung.  Der  Schleier 
fiel,  und  nackt  mußte  alles  hervortreten.  Der  Staat  aber,  dieser  alte 
Sünder,  besitzt  nicht  einmal  jene  ungeheure  innere  Kraft,  die  wir  an 
manchem  großem  Verbrecher,  wie  z.  B.  Richard  11.,^)  bewundern  müssen 
trotz  allen  Abscheus,  jene  Kraft,  die  Hülle  fallen  zu  lassen  und  hervor- 
zutreten und  zu  sagen:  Ja,  ich  bin 's!  Solches  Selbstvertrauen  hat  er 
nicht,  weil  er  wohl  weiß,  wie  ihm  die  Kraft  fehlt,  va  banque  zu  sagen 
der  Welt,  und  darum  kokettiert  er  noch  immer  und  möchte  allzugern 
seine  Blöße  mit  den  Lappen  und  Lumpen  bedecken,  die  man  ihm 
doch  nun  einmal  abgerissen  hat.  Daher  dies  Kokettieren,  dies  Buhlen 
mit  der  Zeitbildung,  dem  Fortschritt,  der  Wissenschaft  etc.  Ein  solch 
großer  Sünder  wie  Richard,  der  mit  der  Überwucht  seiner  geistigen 
Kraft  auf  sich  selber  fußt,  ist  ein  tragischer  Anblick;  ein  solch  gemeiner 
Sünder  aber,  der  an  sich  selbst  verzweifelnd  in  der  Heuchelei  seinen 
Schutz  sucht,  ein  erbärmlicher,  ein  ekelerregender  Anblick.  So  unser 
Staat! 

Unerbittlich  aber  treibt  die  Zeitbildung  das  sich  schminkende  Alte 
dazu,  seine  wahre,  seine  ungeschminkte  Stellung  und  Physiognomie 
einzunehmen.  Zuerst  macht  der  Staat  der  Zeitbildimg  Konzessionen, 
d.  h.  er  kokettiert  und  buhlt  noch  mehr.  Aber  bald  geht  das  nicht 
mehr,  die  Anforderungen  werden  immer  größer,  immer  mehr  verlangen- 
der, immer  gründlicher;  will  er  nicht,  indem  er  immer  mehr  zugibt, 
endlich  sich  selbst  aufgeben,  so  muß  er  —  es  hilft  ihm  aus  diesem 
Dilemma  kein  Gott  und  kein  Teufel  —  zurück,  er  muß  seine  wahre 
Stellung  einnehmen,  er  wird  auf  seine  Konsequenz  gestoßen.  Zitternd 
macht  er  diese  Rückschritte,  aber  er  macht  sie.  Wenn  er  vorhin  in 
Gefahr  war,  sich  in  den  Strudel  und  Abgrund  des  Neuen  (der  Huldigung 
des  Zeitgeistes  durch  Konzessionen)  fortreißen  zu  lassen,  so  hat  ihn, 
kaum  der  Szylla  entronnen,  jetzt  die  Charybdis  gepackt,  der  entgegen- 
gesetzte Strudel,  der  ihn  unentrinnbar  in  seinen  Trichter  hinunter- 
zieht.   Durch  die  Reaktion  der  Zeit  getrieben  und  gestoßen,  muß  er 


^)  Die  Halleschen  und  ihre  Fortsetzung  die  Deutschen  Jahrbücher,  das  Organ 
der  junghegelschen  Schule. 

^)   I,assalle  meint  offenbar  Richard  III, 


—  —  97  — 

eine  Verkleidung  nach  der  andern  fahren  lassen  und  sich  endlich  in 
seiner  ganzen  Nacktheit  und  Häßlichkeit  dem  allgemeinen  Tageslicht 
darstellen;  das  ist  das  Aufflackern  der  Lampe,  die  letzte  Kraftanstren- 
gung, ehe  sie  verHscht.  Es  ist  indes  ein  Doppeltes  erreicht  worden:  die 
Zeitbildung  hat  sich  mehr  verallgemeinert  und  ist  in  ihren  Anforde- 
rungen immer  ungenügsamer,  immer  unbändiger,  immer  gründlicher 
geworden;  der  Staat,  um  sich  hiegegen  zu  schützen,  hat  den  entgegen- 
gesetzten Weg  machen  müssen,  je  mehr  sie  fordert,  desto  mehr  muß 
er  verweigern,  immer  gewaltsamer  hält  er  sie  sich  vom  I^eibe,  immer 
gründlicher,  immer  blutiger  wird  der  Konflikt;  endlich  hat  der  Staat 
seine  ganze  Wahrheit,  seine  Spitze  erreicht;  durch  den  doppelten  zurück- 
gelegten Weg  ist  er  doppelt  weit  von  der  Zeit  und  ihrem  Wollen  ent- 
fernt; das  ist  dann  die  Periode,  wo  der  Staat  von  keinem,  keinem 
{selbst  einem  so  friedlichen  Bürger  wie  Du)  länger  mehr  ertragen  wird, 
er  hat  seine  Spitze  erreicht  und  —  schlägt  um.  Und  nun  ist  die  Zeit, 
wo  die  Fleischwerdung  Gottes  wieder  vor  sich  geht,  wo  die  Wirklich- 
keit beschattet  und  befruchtet  wird  vom  Geist  Gottes.  Es  kommt 
•die  lyust  der  Inkarnation  des  Gedankens.  Der  Geist  drückt  seinen 
Stempel  wieder  auf  der  spröden  Wirklichkeit;  und  die  so  lange,  so 
qualvoll  Getrennten  leben  wieder  in  fröhlicher  Einheit  und  Durch- 
dringung, Und  diese  Arbeit  der  Gottverwirklichung,  die  Lust  und 
Anstrengung  der  Negation  und  die  Inkarnation  des  Heiligen  Geistes 
nennt  man  im  gewöhnlichen  lyebeu  eine  Revolution.  — 

Darum,  lieber  Vater,  freue  ich  mich  jedesmal,  wenn  ein  Rück- 
schritt geschieht,  ich  freute  mich,  als  die  Lehrfreiheit  aufgehoben 
wurde,  und  freue  mich,  wenn  die  Lemfreiheit  aufgehoben  wird,  und 
wenn  alle  und  jede  Freiheit  bis  zu  der  des  Essens  und  Trinkens  auf- 
gehoben wird,  mir  schon  ganz  recht;  und  wenn  halb  Preußen  nach 
Spandau  und  Sibirien  geschickt  und  geköpft  und  stranguliert  wird, 
ist  niemand  vergnügter  darüber  als  ich.  Nichts  bringt  mich  aus  meinem 
philosophischen  Gleichmut,  und  ich  zweifle  auch  nicht  und  schwanke 
nicht  und  werde  nicht  beängstet  und  bekümmert,  sogar  selten  zornig, 
sondern  ich  lächle  ruhig,  weil  wir  die  Enden  der  Dinge  voraus  sehen 
und  sage  mir  Homers  Vers: 

Kommen  wird  einst  der  Tag,  wo  die  heilige  Ilios  sinket, 
Priamos  und  das  Volk  des  lanzenkundigen  Königs. 

Und  je  größer  der  Rückschritt,  desto  näher  die  Auferstehung  oder 
wie  das  Volk  sagt:  ,,Wenn  die  Not  am  höchsten"  etc.  Und  darum 
würde  ich  auch  im  Notfall  ein  Examinatorium  ertragen  und  selbst 
noch  mehr.  Die  Frage  ist  nur  die,  wie  man  etwas  trägt  mit  der 
Indolenz    und    der    dumpfen   Vertiertheit    und   Gleichgültigkeit    des 

Mayer,  L.issdlle-Nachlass.     I  m 


=========  98 ^ 

polnischen  Bauers  oder  mit  dem  ganzen  Ingrimm  des  denkenden 
Mannes. 

Neulich  habe  ich  eine  Art  Landpartie  gemacht.  Dorchen  ^)  wohnt 
nämlich  in  einem  Sommerlogis,  im  Tiergarten,  wirklich  ausgezeichnet 
schön.  Da  sie  mich  sehr  bat,  sie  einmal  früh  morgens  da  zu  besuchen, 
und  ich  mir  neulich  ohnedies  eine  Erholung  machen  wollte,  ging  ich 
früh  um  5  Uhr  hinaus  und  wurde  erst,  denke  Dir,  abends  um  7  von  ihr 
fortgelassen.  —  Auch  bei  der  Eschwe  machte  ich  neulich  einen  Besuch; 
sie  war  sehr  freundlich.  —  In  meiner  Lebensweise  ist  keine  Änderung 
eingetreten,  die  ausgenommen,  daß  ich  die  Butter  kassiert  habe  und 
mir  statt  ihrer  Wurst  kaufe,  da  habe  ich  ein  ebenso  billiges  und  weit 
nahrhafteres  Essen.  Die  Mutter  bitte  ich  vielmal,  mir  einige  Hemden, 
Oberhemden  wie  Nachthemden  zu  schicken;  ich  lange  mit  den  meinigen 
nicht  gut,  da  ich  im  Sommer  die  Woche  drei  Hemden  brauche.  Doch 
müssen  sie  feiner  sein,  als  die  mir  Papa  gekauft  hat,  denn  diese  sind 
sehr  ordinär,  und  für  einen  anständigen  Mann  ist  ein  feines  Hemde 
das  erste  Bedürfnis.  Du  wunderst  Dich  vielleicht,  daß  ich  plötzlich 
auf  eine  Toilettensache  Rücksicht  nehme;  aber  ich  glaube,  man  sei 
entweder  ein  Sansculotte,  wie  ich  in  Breslau  war,  und  was  eigentlich 
das  Allervernünftigste  ist,  oder,  wenn  man  schon  eine  Rücksicht  auf 
seine  äußere  Erscheinung  verwendet,  kleide  man  sich  fein,  worunter 
ich  nicht  ,,nach  der  Mode"  verstehe,  sondern  in  reiche  Stoffe.  Den 
Mittelweg  der  ,, ordentlichen  und  ärmhchen  Kleidung"  mag  ich  nicht  gut 
leiden.  —  Ich  rechne  mit  Sicherheit  darauf,  daß  Du  nicht  einen,  sondern 
wenigstens  zwei  bis  drei  Tage  bei  mir  zubringen  wirst,  bei  Gelegenheit 
der  Messe.  Ich  habe  einigen  Grund,  dies  zu  fordern,  denn  Du  hast  mich 
von  I^eipzig  aus  nicht  besucht.  —  Wenn  Du  mir  das  je  ne  sais  quoi 
schickst,  das  Onkel  Moritz  mir  mitgebracht  hat,  so  sieh  doch,  ob  Du 
nicht  O'Connells^)   Porträt  beifügen  kannst. 

Wenn  ich  nicht  einen  ebenso  ausführlichen  Brief  von  Dir  er- 
halte, so  soll  mein  nächstes  Schreiben  in  einer  Nußschale  Platz, 
haben. 

Dein  Dich  von  ganzem  Herzen  und  ganzer  Seele  liebender  Sohn 

Ferdinand. 


^)  Wahrscheinlich  die  Schwester  des  Schwagers  Friedland,  also  eine  Cousine 
Lassalles. 

2)  Die  Begeisterung  für  den  großen  irischen  Agitator  war  in  den  deutschen 
freiheitUchen  Kreisen  damals  eine  allgemeine.  Nur  Friedrich  Engels  hatte  bereits 
1843  vom  kommunistischen  Standpunkt  aus  gegen  O'Connell  Partei  ergriffen^ 
Vgl.  Gustav  Mayer,  ,, Friedrich  Engels",  Bd.  I,  Berhn   1919,  S.  133. 


—  99   ====^ 

21. 

IvASSAIvIvE  AN  DEN  VATER.     (Originalfragment.) 

Mittwoch,  (1.  12.  Juni  1844. 
Geliebter  Vater! 

So  leid  es  mir  tut,  auch  diesen  Brief  muß  ich  mit  einem  Vorwurf 
beginnen.  Mein  Schreiben  hast  Du  Mittwoch  erhalten  und  erst  Montag 
Dich  zur  Beantwortung  entschlossen.  Diesmal  war  es  umso  grau- 
samer, als  die  mannigfachen  Breslauer  Neuigkeiten  mich  in  bezug  auf 
Euch,  meine  Geliebten,  etwas  in  Unruhe  versetzten. 

Deinen  vorletzten  Brief  nebst  Schinken  habe  ich  ebenfalls  erhalten, 
Du  schriebst  mir  darin,  ich  solle  dem  Kondukteur  5  Sgr.  geben,  ich 
wurde  aber  zur  Salzsäule  vor  Schreck,  als  er  12V2  Sgr.  forderte.  Ich 
bot  ihm  endlich  7V2  Sgr. ;  auch  damit  begnügte  er  sich  nicht.  Nichts 
in  der  Welt  aber  konnte  mich  dazu  bringen,  ihm  die  beträchtliche 
Summe  von  12^/2  Sgr.  auszuzahlen,  um  so  mehr  da  Du  mir  ausdrück- 
lich von  5  Sgr.  geschrieben,  und  so  ging  ich  denn  gern  den  Vorschlag  ein, 
den  er  mir  machte;  er  nahm  nämlich  von  mir  gar  nichts  und  sagte, 
er  wolle  das  lieber  mit  Dir  abmachen. 

Dem  Onkel  Friedländer  mache  meine  beste  Empfehlung,  viel  Dank 
für  den  schönen  Schinken,  ich  habe  ihn  mit  dem  besten  Appetit  ver- 
zehrt, obwohl  nicht  bis  zu  Ende,  da  ich  sehr  vorsichtig  bemerkte,  daß 
er  bereits  überzugehen  anfing.  Von  Schmeißen  habe  ich  nicht  gelitten. 
Sowohl  bei  Schinken  als  auch  in  andern  Beziehungen  weiß  ich  mir  das 
Geschmeiß  gar  trefflich  vom  Leibe  zu  halten! 

Von  Max  habe  ich  bis  heute  vergeblich  einen  Besuch  erwartet.  Da 
er  nicht  zu  mir  kommt,  so  werde  ich  dieser  Tage  mich  einmal  zu  ihm 
begeben.  An  Tante  und  Rikchen  Baum  bitte  ich  Grüße  bestellen 
zu  lassen. 

Gestern  hat  mich  Meierstein  besucht;  es  hat  ihm  viel  Mühe  ge- 
kostet, mich  aufzufinden.  Ich  freute  mich  sehr  mit  ihm,  ich  liebe  solch 
joviale  Leute,  besonders  unter  Kaufleuten;  diese  fröhliche  und  heitere 
Lebenslaune  ist  das  beste  Einbalsamierungsmittel,  um  die  zerfressenden 
Würmer  und  Maden  des  stinkenden  egoistischen  Geschäftsgeistes  der 
Krämerzimft  vom  Körper  abzuhalten. 

Den  I.  Juli  oder  vielleicht  schon  den  25.  oder  26.  Jimi  werde  ich 
meine  Wohnung  ändern.  Ich  war  zwar  mit  meiner  bisherigen  Wohnung 
sehr  zufrieden,  und  übersah  ihr  gern  die  kleinen  Schattenseiten,  die  sie 
hatte,  z.  B.  daß  sie  drei  Treppen  hoch  ist  imd  daß  man  beständig  die 
Fenster  geschlossen  haben  muß,  weil  man  sonst  vom  Gerassel  der  Wagen 
am  Studium  verhindert  wird.    Aber  eine  Schattenseite  hatte  sie,  die 


—  =  100  = 

alle  sonstigen  Annehmlichkeiten  weit  überwog.  Die  Wirtin  ist  nämlich 
eine  reine  Canaille  von  einer  Frau.  Als  Mai  zu  mir  zog,  erhöhte  sie 
den  Preis  um  1^/2  Rt.  Ich  mußte  es  mir  leider  gefallen  lassen.  Für  die 
Commodite  (es  befindet  sich  nämlich  kein  Abtritt,  sondern  nur  ein 
Nachtstuhl  da)  5  Sgr.,  endlich  noch  für  das  Reinmachen  der  Kaffee- 
maschine (denke  Dir!)  i  Sgr.  täglich,  obgleich  ich  sie  doch  außerdem 
für  Bedienung  bezahlte.  Das  letzte  nun  interessierte  mich  weniger, 
denn  ich  gab  bald  das  Kaffeetrinken  ganz  und  gar  auf  und  hatte  daher 
auch  für  das  Reinmachen  der  Maschine  nichts  zu  bezahlen.  Nichts- 
destoweniger ärgerte  mich  ihre  Unverschämtheit.  Neulich  aber  machte 
sie  mir  vollends  einen  Skandal.  Im  heißen  Sommer  nämlich  ist  es  doch 
unumgänglich  nötig,  daß  man  mehreremal  des  Tages  frisches  Wasser 
braucht.  Als  ich  nun  neulich  danach  klingelte,  erhielt  ich  keins  und  als 
ich  wieder  klingelte,  ließ  sie  mir  sagen:  Wenn  ich  so  oft  frisches  Wasser 
wolle,  müsse  ich  sie  dafür  besonders  bezahlen,  sie  müsse  ebenfalls  für 
die  Fahrten  Wasser  bezahlen,  die  sie  sich  heraufholen  lasse.  Ich  ließ 
ihr  antworten,  man  müsse  bei  ihr  am  Ende  die  Luft  bezahlen ;  sie  müßte 
mir  zwar  eigenthch  Wasser  bringen,  da  ich  mich  jedoch  mit  ihr  nicht 
zanken  wolle,  so  möge  sie  es  nur  sein  lassen.  —  Es  dauert  nicht  lange, 
so  wird  meine  Tür  aufgerissen ;  mit  untergestemmten  Armen,  mit  furien- 
gleichem Blick  stürzt  meine  Wirtin  herein  und  macht  mir  ein  Geschrei, 
das  man  unten  hören  konnte.  Ich  blieb  jedoch  ganz  ruhig  und  ermahnte 
sie  nur  sänftiglich,  baldigst  meine  Stube  zu  verlassen,  in  widrigem  Falle 
würde  ich  sie  so  hinauswerfen,  daß  ihr  Hören  und  Sehen  vergehen  solle. 
Darauf  fand  sie  es  denn  für  gut,  sich  zu  verziehen.  Ich  habe  mir  bereits 
eine  Wohnung  gemietet,  die  alle  Wünsche  noch  mehr  befriedigt  als  die 
jetzige  und  nicht  teurer  ist.  Kleine  Kirchgasse  Nr.  2,  eine  Sackgasse, 
Quergasse  von  den  lyinden,  parterre.  Da  werde  ich  von  nun  an  wohnen 
und  möchte  gern,  da  mir  dies  von  meiner  neuen  Wirtin  freigestellt  ist, 
schon  den  26.  oder  27.  hinziehen.  Lieb  wäre  es  mir,  wenn  Du  mir  bis  zu 
dieser  Zeit  das  Geld  für  das  künftige  halbe  Vierteljahr  schicktest,  denn 
ich  bin  diesen  Monat  etwas  knapp  an  Geld. 

Aber  sage  mir  nur,  warum  lassen  denn  die  Breslauer  Behörden  die 
Soldaten  nicht  aufmarschieren,  mit  Ruten  bewaffnet,  um  die  mutwilligen 
Breslauer  Gamins  nach  Hause  zu  jagen?  Warum  duldet  man,  daß  die 
öffentliche  Ruhe  und  Sicherheit  von  Straßenbuben  drei  Tage  hindurch 
gestört  wird?  Ich  kann  das  in  der  Tat  nicht  begreifen!  Ich  bin  wahr- 
haft entrüstet  über  diese  Langmut  bei  den  Breslauer  Vorfällen.^)    Die 


^)  Die  Unruhen  in  Breslau  hatten  an  den  Abenden  des  6.  und  besonders  des 
7.  Juni  stattgefunden.  Vgl.  darüber  Juhus  Stein,  ,, Geschichte  der  Stadt  Breslau 
im  19.  Jahrhundert",  Breslau  1884,  S.  166  f.    Die  Gärung  in  Breslau  war  doch 


=  lOI 

Ruhe  uud  Sicherheit  des  gesellschaftlichen  Zustandes  ist  doch  bei  Gott 
etwas  zu  heiliges,  um  ein  Tummelplatz  zu  sein  für  den  Mutwillen 
fenstereinwerfender  Gassenbuben.  Etwas  anderes  ist  es,  im  Namen 
der  Idee  eine  ideeverlassene  Wirklichkeit  aufzuheben  und  eine  neue 
Manifestation  imd  Entäußenmg  des  ewigen  Wesens  aus  sich  heraus 
in  die  Äußerlichkeit  des  Seins  zu  vollbringen,  —  das  hat  aber  nichts  zu 
schaffen  mit  jener  Keckheit  losen,  kindischen  Gesindels.  Der  gesellschaft- 
liche Zustand,  so  unberechtigt  er  auch  ist,  so  gewiß  er  auch  bald  zurück- 
genommen vmd  versenkt  werden  wird  in  den  Abgrund  jenes  Wesens,  das 
ihn  aus  seiner  Unendlichkeit  gesetzt  hat,  ist  ein  Unantastbares,  Heiliges 
gegenüber  dem  frevelhaften  Spiel  willkürlicher,  losgebundener  Kräfte. 

Etwas  ganz  anderes  ist  es  mit  den  Peterswaldauer  und  Langen- 
bielauer  Vorfällen.^)  Hier  ist  es  Ernst,  blutiger  Ernst!  Merkt  Ihr  etwas? 
Hört  Ihr 's  gewittern  am  Horizont?  Fürchtet  Euch  nicht,  es  wird  dies» 
mal  vorübergehen,  und  noch  einmal  vorübergehen  —  aber  dann  wird's 
einschlagen!  Du  schreibst,  wir  leben  in  einer  bewegten  Zeit.  Jawohl, 
sehr  bewegt,  aber  der  heiligen  Jungfrau  sei's  Dank,  daß  die  Zeit  endlich 
zur  Bewegung  gekommen,  daß  sie  sich  aufzuraffen  anfängt  aus  der 
alten  sündhaften  Indolenz,  in  die  sie  verfallen! 

,, Gerissen  ist  die  Zeit  aus  den  Gelenken,"  aber  die  neue  Hamlet- 
natur fährt  im  Gegensatz  zu  der  alten  so  fort:  ,,Wohl  mir,  daß  ich  ge- 
boren bin,  sie  wieder  einzurenken." 

Oder  seid  Ihr  denn  wirklich  so  stockblind,  taub,  dumm,  an  allen 
vSinnen  gelähmt  und  geschlagen,  daß  Ihr  nicht  merkt,  was  das  alles  zu 
bedeuten  hat?  Die  Not,  das  Unglück,  die  Entzweiimg  mit  dem  gesell- 
schaftlichen Zustand,  die  sich  jetzt  in  so  vielen  Phänomenen  kundtut, 
durch  so  unzählige  Prismen  bricht,  Weberarmut  imd  Aktienschwindel, 
das  ist  auf  das  engste  innerlich  verknüpft  und  ein  Eines,  die  Prismen 
imd  Strahlenbrechungen  nur  verschieden,  das  Ivicht,  der  Strahl  der 
eine.  Alle  diese  verschiedenartigen  Phänomene  sind  Möwen,  Möwen 
sag'  ich  Euch,  Sturmvögel,  die  da  verkünden,  daß  der  Sturm  des  neuen 
Geistes  im  Anzug  sei. 

-^vohl  durch  die  Nachricht  hervorgerufen  worden,  daß  Truppen  aus  Brieg, 
die  durch  Breslau  kamen,  zur  Herstellung  der  Ruhe  in  den  Weberdistrikten  be- 
stimmt waren. 

^)  Über  die  bekannten  Vorgänge,  die  sich  Anfang  Juni  im  Eulengebirge 
abgespielt  hatten,  unterrichtet  noch  immer  am  besten  Wilhelm  Wolff,  ,,Das 
Elend  imd  der  Aufruhr  in  Schlesien"  (geschrieben  Ende  1844).  Der  Aufsatz,  der 
zuerst  1845  in  dem  von  Püttmann  herausgegebenen  ,, Deutschen  Bürgerbuch" 
erschien,  ist  heute  am  bequemsten  zugänghch  in  Wilhelm  Wolff,  ,, Gesammelte 
Schriften",  herausgegeben  von  Franz  Mehring,  Berhn  1909.  Es  wäre  zu  wünschen 
gewesen,  daß  diese  Sammlung  noch  einige  der  Artikel  aufgenommen  hätte,  die 
Wolff  um  diese  Zeit  in  der  ,, Breslauer  Zeitung"  veröffenthchte. 


—  ^= =    102  =r=T =r 

Wird  man  mir  nun  endlich  glauben,  daß  an  den  modernen  Prophe- 
zeiungen doch  etwas  dran  ist?  He,  was  sagt  der  Direktor?  Oder  sind 
auch  diese  Bewegungen  alle  nur  bedeutungslose,  zufällige,  spurlos 
vorübergehende  und  ohne  sein  tiefes  [?]  und  treibendes  Prinzip  als 
ihren  Hintergrund  zu  haben? 

Nein,  nein,  man  täusche  sich  nicht.  Das  ist  der  Anfang  jenes  Krieges 
der  Armen  gegen  die  Reichen,  der  fürchterlich  nah  ist.  Das  sind  die 
ersten  Regungen  imd  Zuckungen  des  Kommunismus,  der  theoretisch 
und  praktisch  unsere  Adern  erfüllt  und  durchdrungen  hat.  Das  sind 
die  ersten  krampfhaften  Anstrengungen,  die  der  Embryo  im  Mutter- 
leib macht,  wenn  er  sich  losringen  will  zum  Fürsichsein  und  zur  Tages- 
helle, Das  sind  die  ersten  Wehen.  Und  nun  frage  ich  Euch,  was  sind 
das  für  Ärzte,  die,  wenn  die  Mutter  in  den  Wehen  liegt,  ihr  die  Gebär- 
mutter ängstlich  und  fest  zuhalten?  Glaubt  man  so  eine  Geburt  verhindern 
zu  können?  Aber  das  Kind  wird  sich  seinen  Ausweg  bahnen,  —  nur  die 
Mutter  wird  dabei  zertrümmert  werden,  die  Schale  nur  wird  zerspringen 
tmd  mit  Recht,  denn  das  neue  Wesen  ist  die  Wahrheit  des  alten  und 
ein  höheres  Dasein.  Die  Mutter  hat  ihren  Zenit  erreicht  und  ihre 
Bestimmung  erfüllt,  indem  sie  zur  Quelle  eines  neuen  Wesens  wurde. 
In  dieses  ist  ihre  Lebenskraft  hinübergeströmt,  sie  selbst,  die  Quelle, 
ist  versiegt,  was  will  sie  noch?  Nur  im  Einzelleben  erhält  sich  die 
Mutter  neben  dem  Kinde,  aber  auch  hier  ist  es  ja  klar  und  deutlich, 
wie  ihr  Fürsichsein  hinübergegangen  ist  in  das  aus  ihr  Geborne,  tmd  wie 
sie  abnimmt  mit  dem  Zunehmen  des   Kindes. 

Die  Weber  sind  also  endlich  auf  die  Idee  gekommen,  selbst  ein 
Komitee  zubüden  zur  , .Abhilfe  der  Not  der  armen  Weber  imd  Spinner 
im  Gebirge",  und  ich  glaube  gewiß,  daß  ihr  Plan  auf  die  lyänge  der  Zeit 
nachhaltiger  und  gründlicher  wirken  wird,  als  sogar  der,  den  Ferdinand 
dem  Komitee  vorgelegt  hat. 

Und  wie  bewußt  das  alles  zugegangen.  Hast  Du  gelesen?  Als  mau 
dem  Volk  den  Vorschlag  machte,  die  Fabrikhäuser  niederzubrennen, 
verwarfen  sie  dies  einstimmig.  ,,Denn",  sagten  sie,  ,,damit  würde  imser 
Zweck  nicht  erreicht.  Die  Fabrikanten  sind  verassekuriert;  sie  würden 
den  Schaden  ersetzt  bekommen;  und  unser  Zweck  wäre  verfehlt,  sie 
so  arm  zu  machen,  wie  wir  selbst  sind!"  Das  ist  schon  nicht  mehr  rohe 
Vernichtungswut,  das  ist  schon  klare,  selbstbewußte  Zwecktätigkeit. 

Man  stopfe  sich  die  Ohren  zu,  das  wird  nichts  helfen.  Die  Gesell- 
schaft ist  nicht  bloß  leicht  an  ihrer  Oberfläche  bewegt,  sie  ist  in  ihren 
Untiefen —  im  innersten  Eingeweide  erschüttert  und  durchwühlt. 

Es  wäre  sehr  leicht,  den  Zusammenhang  der  großen  Krise  in  unserer 
finanziellen  Welt  damit  aufzuzeigen.  Die  jetzige  Verlegenheit  und 
Krise  ist  nur  der  unabweisbar  notwendige  Ausfluß  unseres  ganzen 


======  I03  ■ 

konimerziellen  Systems,  ja  sie  ist  sogar  nur  die  Blüte  desselben.  Es 
geht  damit  wie  immer.  Eine  soziale  Idee  taucht  auf  und  verwirklicht 
sich.  So  nun  gesetzt,  zeigt  sie  zuerst  ihre  Berechtigung  auf ;  sie  begründet 
das  Glück  der  Völker,  wie  sie  deren  Schöpfung  und  substantieller  Inhalt 
ist.  Aber  als  bestimmte  historische  Idee  hat  sie  in  der  Bestimmtheit 
selbst  die  Negation  an  sich,  in  dem,  was  ihre  Fülle  und  inhaltsvolle 
Bedeutung  war,  erweist  sie  sich  auch  die  Mangelhaftigkeit  an  sich  zu 
haben,  das  ihr  fehlende  Moment.  Eine  theoretische  Idee,  wenn  sie  den 
Niederschlag  in  die  Praxis  erlebt,  zeigt  in  diesem  Niederschlag  als 
Praxis  erst  alles  das  auf,  was  theoretisch  im  Keim  in  ihr  lag.  Hier  erst 
in  der  Praxis  wird  sie  sich  selbst  durchsichtig  und  klar,  denn  sie  ent- 
faltet hier  in  allem  Reichtum  der  entwickelten  Form,  in  der  äußerlich 
herausgebildeten  Fülle  der  Konkretion,  was  sie  theoretisch  nur  an  sich 
war,  was  da  in  ihrem  Innern  noch  verborgen  und  zusammengefaltet 
schlummerte.  Indem  sie  sich  aber  vollständig  zur  Praxis  gemacht, 
d.  h.  indem  sie  alle  ihre  Momente  als  seiende  (nicht  mehr  bloß  ideelle) 
aus  sich  heraus  gesetzt  hat,  geschieht  ein  anderes.  Als  bestimmte 
Idee  trägt  sie  in  der  Bestimmtheit  die  Negation,  Begrenzung,  den 
Mangel,  das  fehlende  Moment  an  sich.  Dies  fehlende  Moment  ist  das, 
■wodurch  sie  in  eine  höhere  Substanz  aufgelöst  wird,  auf  welche  es  selbst 
das  Hindeuten  und  über  sich  Hinausweisen  ist.  Dies  fehlende  Moment 
setzt  sich  nun  aber  ebenfalls,  wie  die  andere,  als  Seiendes.  Das  fehlende 
Moment  aber,  die  Mangelhaftigkeit,  als  Seiendes  gesetzt,  ist  nicht 
mehr  bloß,  wie  in  der  theoretischen  Betrachtung  die  Grenze,  Bestimmt- 
heit, das  Unberechtigte,  sondern  als  Seiendes  gesetzt  imd  am  Sein  ist 
es  das  Unglück,  das  Zerreißen  der  frühern  Harmonie,  die  Zerrüttung, 
die  Auflösung  der  ganzen  bisherigen  Gestalt  in  eine  neue.  Diese  aus- 
brechende Zerrüttung  kann  mithin  nicht  als  eine  Unwahrheit  oder  Zu- 
fälligkeit betrachtet  werden,  sie  ist  die  notwendige  Folge  des  früheren 
ungetrübten  Glückes,  derselbe  historische  Gedanke  nur  von  der  Seite 
seiner  Grenze  aufgefaßt  und  sich  darstellend.  Grenze  aber  imd  Be- 
stimmtheit oder  bestimmter  Inhalt  imd  Nichtsein  eines  andern  Inhalts 
sind  identisch.  So  sind  also  jenes  Glück  und  dieses  Unglück  nur  die 
beiden  Seiten  ein  und  desselben  Gedanken.  Ja  noch  mehr.  Das  fehlende 
Moment  und  sein  Gesetztsein,  die  Zerrüttung,  ist  die  Wahrheit,  die 
letzte  Konsequenz,  somit  die  Blüte  einer  bestimmten  historischen  Idee 
und  das  Auflösen  und  Übergehen  der  vorhandenen  Gestalt  in  eine  neue. 
So  ist  der  Tod  die  Wahrheit  des  lycbens,  der  Mensch  selbst  ist  nicht 
■ein  Sich-als-Mensch-,  als  Individuum-Erhalten,  sondern  ein  sich  Zum- 
Menschen-Machen,  ein  Übergehen  in  einen  neuen  Menschen.  So  ver- 
halten sich  auch  die  historischen  Ideen  zueinander.  So  hat  also  eine 
jede  soziale  Theorie,    indem  sie  Praxis  geworden,  indem  sie  sich  in 


-^  104  = 

die  Äußerlichkeit  entlassen,  alles  aus  sich  herausgerungen,  was  in  ihr 
war,  und  ihren  ganzen  Inhalt  ausgestellt  und  aufgezeigt.  Ist  das 
Positive  ihres  Mutterschoßes  erschöpft,  so  stellt  sich  das  fehlende 
negative  Moment  in  der  Praxis  dar  als  Ruin,  Einsturz  und  Zer- 
rüttung, das  aber  wiederum  vielmehr  zu  einem  schönem  und  hohem 
Dasein  wird. 

Was  die  soziale  Idee  des  Handels,  oder  bestimmter  vmser  kom- 
merzielles Handelssystem  betrifft,  so  ist  es  klar  genug,  daß  sich  beide 
bald  erschöpft  haben  werden.  Unser  jetziges  kommerzielles  Handels- 
system ist  das  der  unbeschränkten  Handelsfreiheit.  Voran  ging  ihm 
das  ganze  Mittelalter  hindurch  das  System  der  Monopolisienmg ;  das 
Unzureichende,  Mangelhafte  dieser  Theorie  kam  endlich  zum  allge- 
meinen Bewußtsein.  Bereicherung  einzelner  auf  Kosten  der  All- 
gemeinheit, und  die  Folge  davon  der  Ruin  des  Handels  und  der  Industrie. 
Das  Fehlende  hiezu  imd  seine  Ergänzung  war  die  Freiheit  der  Konkurrenz, 
die  formale  Gleichsetzung  aller.  Das  sah  man  seit  Colbert  ein;  man 
gab  den  Handel  frei.  Die  Folge  davon  war:  Aufblühen  des  Handels 
und  der  Industrie,  ungehinderte  Kraftentfaltung,  Wohlstand  der  Länder, 
schöpferischer  Wetteifer.  Aber  die  andere  Seite  des  Negativen  konnte 
nicht  ausbleiben.  Die  Gleichstellung  der  unbeschränkten  Konkurrenz 
war  nur  eine  formale.  Der  Reichere,  mit  mehr  Mitteln  und  Kräften 
versehen,  verschlang  und  absorbierte  die  Unbemittelten.  Mit  ge- 
doppelter Schnelligkeit  wuchs  dies  Verhältnis  nach  beiden  Seiten  zu. 
Das  Geld  spielte  sich  somit  endlich  von  der  einen  Seite  ganz  hinüber 
und  konzentrierte  sich  auf  der  andern;  also  allgemeine  Armut  tmd 
enormer  Reichtum  einzelner.  Länder  wie  England,  wo  der  Handel 
vorherrschend,  zeigen  diese  Erscheinung  auf  das  schärfste  ausgeprägt. 
Auch  Deutschland  folgt  nach.  So  ist  man  an  dasselbe  Dilemma  ge- 
kommen, gegen  das  die  Handelsfreiheit  das  Rettungsmittel  sein  sollte. 
Denn  auch  dies  System,  das  System  der  unbeschränkten  Konkurrenz, 
zeigte  das  ihm  Fehlende,  seine  Negative  auf.  Die  freie  Konkurrenz  hatte 
den  gesellschaftlichen  Zustand  in  einen  offenen  Kriegs-  tmd  Fehde- 
zustand verwandelt,  wo  der  Reiche  den  Armen,  der  Unredliche  den 
Redlichen  bekriegte  imd  erdrückte.  Der  Vorteil  des  einen  nur  er- 
rungen auf  Kosten  des  andern.  Dieser  Zustand  der  allgemeinen  gesetz- 
lichen Befehdung  gewährt  das  erschütterndste  Schauspiel  der  extrem- 
sten Unsittlichkeit,  Depravation.  Bereits  hat  die  Konkurrenz  den 
Wohlstand  und  Handel  selbst  wieder  ruiniert.  Bald  wird  die  Ver- 
teilung des  Geldes  noch  imgleicher  geworden  sein,  bald  wird  der 
tiers  etat,  der  mittlere  Bürgerstand,  so  verarmt  sein  wie  der  vierte 
Stand  der  Proletarier  und  mit  ihm  gemeinschaftliches  Interesse 
haben. 


Auf  das  innigste  hiemit  hängt  der  Aktienhandel  zusammen.  Ich 
glaube  aber,  es  ist  besser,  sein  Verhältnis  zur  Idee  des  Handels  über- 
haupt und  seiner  Gestaltrmg,  als  sein  Verhältnis  zum  jetzigen  Handels- 
s5-stem  allein  zu  betrachten. 

Der  Handel  entsprang  aus  dem  realen  Bedürfnis  nach  den  unent- 
behrlichsten Gegenständen.  Darum  war  er  in  der  ältesten  Zeit  Tausch- 
handel. Es  wurde  Ware  gegeben  und  Ware  dafür  eingetauscht; 
das  Treibende  hierzu  war  eben  das  reelle  Bedürfnis  selbst.  Darauf 
trat  der  Handel  auf  seine  zweite  Stufe.  Es  wurde  ein  allgemeines 
Tauschmittel  erfunden,  das  Geld.  Das  Verhältnis  war  nun  dieses,  daß 
Ware  eingetauscht  wurde  gegen  Geld.  Auch  hier  handelt  es  sich 
noch  um  die  Ware,  die  Sache,  das  natürliche  Bedürfnis  selbst.  »Sie 
war  Bedürfnis,  sie  wurde  gefordert  imd  dafür  ein  Äquivalent  gegeben. 
Das  Verhältnis  ist  noch  dasselbe  von  Seiten  des  Käufers;  von  Seiten 
des  Verkäufers  geht  es  bereits  in  die  dritte  Stufe  über.  Der  Handel  er- 
reicht endlich  seine  dritte  Stufe;  durch  die  Übergangsbrücke  des  Bankier- 
handels, wo  Geld  für  Geld  verkauft  wird,  gelangt  er  zu  dem  Agiotage- 
oder Differenzenhandel,  von  dem  der  Aktienhandel  nur  eine  Abart  ist. 
Hier  ist  es  denn  dahin  gekommen,  daß  die  Ware  und  das  natürliche 
Bedürfnis  nach  ihr,  das  zum  Handel  geführt,  gänzlich  verschwindet. 
Es  kommt  beim  Agiotagehandel  gar  nicht  mehr  auf  die  Sache  selbst 
an,  diese  ist  gleichgültige  Unterlage,  es  handelt  sich  hier  nur  um  die 
Differenz,  den  Unterschied  im  Kurs.  Man  sieht  leicht,  daß  der  Handel 
so,  dem  natürlichsten  Bedürfnis  entsprungen,  sich  endlich  zur  größten 
Unnatürlichkeit  und  dem  gesteigertsten  Raffinement  entwickelt  hat.  — 
Der  Handel  hat  seine  Stadien  durchloffen,^)  er  hat  Welten  miteinander 
vermittelt,  Schätze  von  Bildimg,  Geist,  Wohlfahrt,  Glück  in  Fluß  ge- 
bracht; ich  brauche  aber  das  negative  Moment  nicht  erst  hervorzu- 
heben; er  hat  entsittlicht,  korrumpiert,  und  jetzt  endlich  überschlägt 
er  sich  selbst,  wie  das  notwendig;  er,  der  Bereichernde,  macht  arm, 
saugt  aus.  Der  Handel  hat  alle  seine  Stufen  erklommen,  er  hört  auf; 
das  heißt,  er  geht  aus  seiner  höchsten  Unsittlichkeit  und  Widernatür- 
lichkeit  über  in  den  Zustand  der  Sittlichkeit.  Der  Handel  hört  auf, 
die  Fabrikation  bleibt.    Doch  davon  ein  andermal. 

Jetzt  leb  mir  wohl.  Tausend,  tausend  Dank  der  geliebten  Mutter 
für  ihren  schönen  Brief.  Ich  küsse  sie  im  Geiste  imendlich  oft  und 
schreibe  ihr  nächstens  einen  besonders  adressierten  Brief.  Daß  bei 
Rikchen  und  Ferdinand  meine  Ermahnungen  auf  tauben  und  un- 
fruchtbaren Boden  fallen  würden,  konnte  ich  mir  denken!   Immerhin I 

Euer  Euch  liebender  Sohn 

Ferdinand. 

»)  Siel 


—  -—  io6  —  = 

22. 

IvASSAI^LE  AN  DIE  MUTTER.     (Original.) 

Berlin,  d.  30.  Juli   1844. 
Geliebte  Mutter! 

Es  ist  so,  wie  ich  Dir  bei  Deiner  Anwesenheit  in  Frankfurt  gesagt. 
Das  Verhältnis  hat  sich  völlig  umgekehrt.  Der  Sohn  ist  ein  fleißiger, 
regelmäßiger  Briefschreiber  geworden,  der  Vater  schreibt  seltener, 
sparsam,  läßt  viele  Posttage  unbenutzt  vorübergehen.  Ja,  der  Sohn 
hat  dich  so  sehr  an  seine  außerordentliche  Ordentlichkeit  gewöhnt, 
daß,  als  er  einmal  zwei  Tage  später  als  gewöhnlich  schreibt,  man  ihm 
indirekte  Vorwürfe  macht,  spricht,  ,,man  wolle  nicht  richten"  etc., 
während  man  doch  vergißt,  daß  man  denselben  Brief,  über  dessen  zu 
langes  Ausbleiben  man  schmollt,  weit  länger  imbeantwortet  hat  im 
Pult  liegen  lassen.  Ist  nicht  dieser  Vorwurf  selbst  indirekt  das  größte 
I/)b  meiner  sonstigen  außerordentlichen  Pünktlichkeit,  an  die  man 
sich  so  gewöhnt  hat,  daß  ein  Rückfall  in  eine  nur  gewöhnliche  Pünkt- 
lichkeit bereits  auffallend  erscheint?  Siehst  Du,  auf  diese  Weise  ver- 
steht meine  Eigenliebe  sich  selbst  aus  dem  Wermut  des  Tadels  das 
[sie!]  Honig  des  I/obes  zu  bereiten!  — 

Ja,  man  hat  auf  den  König  geschossen !  ^)  Ein  Zufall  ließ  mich  fast 
Augenzeuge  bei  dem  Vorfall  sein.  Es  war  ^j^  auf  9  Uhr,  und  ich  befand 
mich  eben  auf  dem  Wege  in  die  Universität,  als  herbeistürzende  Personen 
und  am  Schloß  die  dichte  Volksmasse  verkündete,  es  müßte  etwas 
Ungewöhnliches  vorgefallen  sein.  Ich  eilte  hinzu  und  sah  noch  den 
Missetäter  von  der  Wache  abführen  und  den  königlichen  Wagen  in  der 
Ferne  verschwinden.  Bei  Gott!  Die  Gefahr  war  groß;  die  eine  Kugel 
durchdrang  den  königlichen  Mantel  imd  streifte  die  Brust  so  nahe, 
daß  sie  eine  harte  rötliche  Geschwulst  auf  derselben  verursachte.  Sie 
hat  also  selbst  das  naokte  Fleisch  berührt.  Doch,  wie  Pindar  singt, 
über  dem  Haupt  der  Herrscher,  da  wacht  der  Vorsehung  Hand.  Die 
andere  Kugel  schlug  der  Königin  durch  den  Hut.  Ich  sprach  den 
Gendarm,  der  während  des  Vorfalls  dicht  neben  dem  Frevler  ge- 
standen und  sich  dann  seiner  Person  bemächtigt  hatte.  Er  mußte  mir 
aUes  bis  ins  Detail  erzählen.  Doch  geben  die  Zeitungen  jetzt  zusammen 
den  Vorfall  richtig  und  erschöpfend,  und  ich  will  Dich  daher  nicht  mit 
einer  Schilderung  langweilen.  Die  offizielle  Mitteilung  des  Ministeriums 
aber  ist  imgenau  und  unvollständig;  auch  ist  da  der  Verwundung 
nicht  erwähnt,  wenn  man  sie  so  nennen  kann.    Auf  der  Frankfurter 


1)  Am  27.  Juli  hatte  das  Attentat  des  Storkower  Bürgermeisters  H.  L.  Tschech 
auf  Friedrich  Wilhelm  IV.  stattgefunden. 


—  —  :^    107    ■ —^=13=: 

Eisenbahn  mußte  der  König  eingerieben  werden.  —  Es  läßt  sich  in 
der  Tat  nicht  leugnen,  daß  das  königliche  Paar  bei  dieser  so  dringenden 
Gefahr  große  Fassung  an  den  Tag  gelegt  hat.  —  Wenn  Dir  aber  Zeitungs- 
berichte zu  Gesicht  kommen,  daß  das  Volk  etwa  wie  das  empörte 
Meer  getobt  und  den  Verbrecher  habe  in  Stücke  reißen  wollen,  so 
glaube  ihnen  nicht.  Ich  war  dabei.  Es  gab  sich  allerdings  ein  gewisser 
Unwillen  kund,  der  aber  doch  im  ganzen  lau  genannt  werden  kann. 
Man  vernahm  nur  das  halb  mutwillige  Geschrei:  ,,Haut  ihn,  haut  ihn," 
von  Totschlagen,  Zerreißen  oder  irgend  solchen  Akten  der  Volks- 
justiz, wenn  das  sittliche  Gefühl,  der  moralische  Zorn  in  der  Tat  wie 
ein  empörtes  Meer  seine  Dämme  gebrochen  hat,  war,  merkwürdig 
genug,  nicht  die  Rede.  Ich  war  vielleicht  die  Person,  welche  den  tiefsten 
Unwillen  empfand  von  allen  Gegenwärtigen.  Denn  wenn  das  Individuum 
»uf  allgemeine  Weise  und  für  alle  den  bestehenden  Zustand  der  Dinge 
aufhebt,  so  ist  sein  Tun  Gesetz,  wenn  aber  auf  einzelne  Weise  ist  es 
Verbrechen;  hat  es  sich  nun  gar  in  seinem  Tun  losgelöst  von  dem  All- 
gemeinen und  erfaßt  sich  und  sein  Tun  nur  als  einzelnes  und  für  ein- 
zelnes, so  ist  es  Schandtat,  die  umso  verabscheuenswerter,  wenn  sie 
gegen  das  geht,  was  der  beseelte  Ausdruck  des  Allgemeinen  ist.  — 
Drum  muß  auch  Deine  Ermahnung,  nicht  unbesonnene  Reden  etwa 
verlauten  zu  lassen,  mir  ein  I^ächeln  abnötigen.  Wie  sehr  ist  darin 
meine  ganze  Anschauung  verkannt!  Hätte  ich  darüber  zu  bestimmen, 
ich  würde  den  Kerl  von  unten  nach  oben  rädern  lassen. 

Heut  hab'  ich  auch  noch  eine  Bitte.  Ich  habe  nämlich  etwas  in 
Ausfühnmg  gebracht,  wozu  ich  schon,  wie  Du  vielleicht  in  Frankfurt 
von  mir  gehört  hast,  während  der  Messe  mich  halb  und  halb  entschloß. 
Ich  habe  nämlich  wieder  Reitstunden  genommen.  Ich  hätte  dies 
schon  früher  getan,  aber  die  Kostbarkeit  dieses  Vergnügens  hielt  mich 
davon  ab.  Jetzt  vereinigte  sich  vieles,  um  mich  dennoch  dazu  zu  be- 
stimmen. Erstlich  ließ  mich  der  Abschluß  unseres  Gasgeschäftes  die 
Ausgabe  mit  etwas  gleichgültigeren  Augen  betrachten.  Dann  trug  dazu 
bei,  daß  Du  mir  gar  so  sehr  die  Sorge  für  Bewegung  ans  Herz  gelegt 
hast  und  mir  schon  in  Breslau  Ärzte  das  Reiten  als  die  für  meinen 
Unterleib  zweckmäßigste  empfohlen  haben ;  ferner  wünschte  ich  auch 
wohl,  es  jetzt  zu  lernen,  weil  ich,  wenn  ich  dies  nicht  noch  während 
meiner  Studenten  jähre  tue,  später  doch  vSchwerlich  dazu  kommen  und 
Muße  wie  Lust  haben  dürfte;  und  endlich  mag  ich  mir  nicht  verhehlen, 
daß  nach  angestrengter  Arbeit  mir  einmal  eine  Erholung  so  lieb  wie 
am  Ende  auch  vielleicht  nötig  ist.  Wenn  der  Gedanke  fort  und  fort 
gearbeitet  hat  — imd  die  Arbeit  des  Gedankens  ist  die  ergreifendste  — , 
hat  auch  der  ausdauerndste  Geist  eine  Zerstreuung  nötig,  im  wört- 
lichsten Sinne  eine  Zerstreuung  im  Gegensatz  gegen  die  Sammlung, 


io8 =, 

in  der  er  sich  sonst  befindet.  Solche  Erholung  gewährte  mir  nun  iu 
Breslau  mancherlei,  von  dem  Vergnügen  zu  geschweigen,  das  Ihr  mir 
gewährtet  und  das  ich  gar  nicht  unter  die  Kategorie  „Erholung"  rechnen 
mag,  weil  es  viel  zu  positiv  genußgebend  ist  gegen  dies  bloß  negative 
Moment  des  sich  Ausniheus.  Hier  bin  ich  lediglich  auf  mich  re- 
duziert. Das  aber,  was  man  mir  vielleicht  als  solches  Erholungsmittel 
empfehlen  könnte,  das  Besuchen  von  Gesellschaften,  wird  mir  bald 
ganz  und  gar  unmöglich  werden.  Es  wird  damit  immer  ärger.  Jedes- 
mal, wenn  ich  aus  solcher  ,, Gesellschaft"  zurückkehre,  bin  ich  unend- 
lich angestrengter,  als  wenn  ich  Tag  und  Nacht  en  suite  gearbeitet  habe. 
Es  erschöpft  mich  mehr  als  das  andauerndste  geistige  Tim,  mich  iu 
diesen  hohlen  Formen  zu  bewegen,  wo  alles  gar  so  saft-  und  marklos, 
so  hohl,  so  unwahr,  mit  einem  Wort  so  blasiert.  Es  ist  mir  fast  un- 
möglich, auch  nur  zu  vegetieren  in  der  Nähe  dieser  Geistesarmut  und 
Leerheit,  zu  der  sich  als  Zugabe  so  oft  noch  Leerheit  des  Herzens  ge- 
sellt. Mir  ist  dann  immer,  wenn  ich  zurückkehre,  so  leer  imd  hohl  zu- 
mute, als  wäre  ich  ihrer  einer  und  bin  zu  ermattet,  selbst  um  etwas 
zu  tun.  Es  legt  das  deutlichste  Zeugnis  ab  von  der  Unwahrheit  unseres 
gesellschaftlichen  Lebens,  daß  man,  um  Erholung  zu  suchen,  sich  aus 
ihm,  dem  Gebiete  der  Geistigkeit,  sich  zurückziehen  muß  iu  den  Schoß 
des  Naturlebens.  Und  ich  bin  doch  sonst  kein  Verehrer  des  ,, idyllischen 
Naturtreibens",  nicht  so  begeistert  für  Naturbetrachtung,  Naturlebeu, 
schöne  Gegenden  etc.  etc.  wie  eine  Klasse  der  modernen  Affen,  die  in 
ihrer  Geistesarmut  nichts  mehr  zu  verehren  und  lieben  affektieren  als 
eben  die  Geistestotheit,  die  Bewußtlosigkeit  der  Natur.  Man  könnte 
sagen,  der  Mensch  verkenne  eben  das  absolut  Höhere,  den  Stempel 
des  freien  Geistes  iu  ihm,  wenn  er  sich  so  wegwirft  an  die  Natur.  Aber 
freilich,  diese  Leute  haben  keinen  Geist,  den  sie  verkennen  oder  weg- 
werfen könnten!  Und  ich  sogar  muß  das  Naturleben  und  den  Genuß 
der  Waldeinsamkeit  vorziehn  dem,  was  die  heutige  gesellschaftliche 
Welt  bieten  kann.  Und  ich  verehre  doch  sonst  so  sehr  den  mensch- 
lichen Geist,  in  jedem  Ausdruck,  jeder  Gestaltung,  die  er  sich  gegeben, 
in  jeder  Form,  iu  die  er  sich  gegossen,  denn  sie  sind  eben  Formen  des 
göttlichen  Geistes  und  enthalten  in  sich  seinen  ganz  weltbildenden 
Inhalt  imd  in  ihren  Stufen  sein  geschichtliches  Sein  vmd  Werden! 
Und  darum  sind  alle  die  geschichtlichen  Stufen,  mid  selbst  die  sich 
widersprechendsten  tmd  die  in  der  Erscheinimg  unnatürlichsten,  so 
groß,  so  gewaltig  und  (sogar  die,  die  der  Welt,  die  sie  geschaffen,  das 
Bild  der  vollendetsten  Unnatur  und  Häßlichkeit  aufgeprägt  haben) 
für  den  Denker  so  schön,  weil  sie  eben  nichts  bedeuten  als  den  Geist, 
der  seine  Tiefe  und  seinen  Reichtum  in  ihnen  auslegt  und  darstellt. 
Um  mich  bestimmter  zu  erklären,  es  ist  nicht  alles  schön,  wie  z.  B.  das 


—  =:  log -  

Griechentum,  aber  es  ist  alles  tief,  und  für  den  Denker  ist  das  Tiefe 
das  Schöne.  Man  kann  z.  B.  das  indische  Leben  dumpf  und  aller  Selbst- 
heit  entbehrend  finden,  aber  das  tiefe  Prinzip  läßt  sich  dabei  nicht 
verkennen,  das  Hinausgehen  des  Individuums  über  seine  körperliche 
Besonderheit  und  Vereinzelung  in  der  Hingabe  und  dem  Aufgehen  in 
die  eine  allgemeine,  zusammenhängende,  aber  noch  starre  Natur- 
substanz. Und  jener  Mangel  an  Freiheit  in  der  indischen  Welt  und  au 
Individualität  beruht  eben  auf  dem  Versenken  in  diese  eine  unend- 
liche Substanz.  Man  kann  —  und  mit  allem  Recht  - —  sagen,  daß  die 
Welt  des  hebräischen  Volkes  das  Bild,  wenn  man  so  will,  der  vollendet- 
sten Häßlichkeit  darbiete,  der  äußersten  Gedrücktheit  des  Menschen 
vor  Gott,  der  innersten  Zerrissenheit  und  Haltlosigkeit,  kurz  der  voll- 
kommensten Selbstentfremdung  des  Geistes.  Die  jüdische  Welt  ist, 
wie  sich  Hegel  darüber  treffend  ausdrückt,  ,,die  Welt  der  erbärmlichen 
Persönlichkeit".  Hier  hat  der  Geist  allen  Halt  verloren  und  windet 
imd  krümmt  sich  wie  ein  Wurm  im  Staube  vor  der  abstrakten  Gottheit. 
Und  wie  in  der  jüdischen  Anschauung  diese  Wesenlosigkeit  und  Zer- 
rissenheit sich  durch  alles  Menschliche  und  Natürliche  durchzieht,  so 
in  der  jüdischen  Geschichte  das  Unglück.  Denn  das  Unglück  ist  das, 
was  jenem  innern  Gebrochensein  seinem  Begriffe  nach  entspricht. 
Und  wie  der  Hebräer  in  seiner  Anschauung  und  seinem  Bewußtsein 
das  Unglück  schon  in  sich  trägt  eben  als  jene  Zerknicktheit  und  als 
das  Bewußtsein  seiner  absoluten  Wertlosigkeit,  so  muß  sich  auch  das 
Unglück  äußerlich  in  der  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  als  sein 
Schicksal  realisieren.  Und  es  realisierte  sich  auch  in  den  Exilen  und 
seinem  spätem  Geschick  und  Knechtschaft.  Die  jüdische  Religion  ist 
die  Religion  der  harten  Knechtschaft  vor  dem  abstrakten  Geiste,  Gott; 
und  so  ist  auch  sein  Schicksal  das  der  harten  Klnechtschaft.  Die  Ge- 
schichte hat  kein  Volk  aufzuweisen,  das  mit  so  namenlosem  Leiden 
verfolgt  worden  wäre,  als  das  jüdische,  aus  dem  einzigen  Grunde  aber, 
v/eü  die  geistige  Stufe,  die  die  Welt  in  dem  jüdischen  Volke  überwinden 
mußte,  die  Stufe  der  Zerrissenheit,  der  Knechtschaft,  des  Unglücks 
ist.  Die  ganze  jüdische  Welt,  religiöse,  politische  etc.  wird  ihrem 
Geist  und  Bewußtsein  wie  ihrer  äußerlichen  Geschichte  nach  am 
besten  zusammengefaßt  als  die  Welt  des  Unglücks.  Das  Unglück  aber, 
nämlich,  wie  es  hier  auftritt,  als  die  Zerknicktheit  und  Haltlosigkeit 
in  sich  selbst  des  menschlichen  Geistes  ist:  das  ästhetisch  Häßliche. 
Und  doch  welch  spekulativer  Kern  liegt  für  den  Denker  in  dieser  Häß- 
lichkeit der  Gestaltung!  In  dem  jüdischen  Volke  hat  der  Geist  dies 
tiefe  Bewußtsein  seiner  selbst  erreicht,  daß  er  gebrochen  hat  mit  seiner 
äußerlichen  kreatürlichen  Erscheinimg,  mit  der  ganzen  Natur  selbst. 
Er  hat  sich  als  das  Höhere  erfaßt  gegen  alle  Natur  und  Kreatürlichkeit, 


=:    HO =r 

der  er  iu  allen  vorangehenden  Religionen  hingegeben  war.  Die  Natür- 
lichkeit und  Endlichkeit  ist  ihm  das  Wesenlose,  die  absolute  Wesenheit 
fällt  ihm  in  den  abstrakten  Geist.  Er  ist  aber  festgehalten  in  der  Sphäre 
dieses  Wesenlosen,  er  ist  selbst  dies  Wesenlose  als  Kreatürliches  und 
Körperliches  gegen  den  abstrakten  Geist,  der  der  Herr  ist  des  an  imd 
für  sich  wertlosen  Weltalls.  vSo  ist  er  festgebannt  in  die  Natur  und 
hat  sie  selbst  an  sich,  sie,  die  er  als  das  absolut  Nichtige  erkannt  gegen 
die  Abstraktion.  Und  darum  der  Bruch  mit  der  Welt.  Er  ist  sich 
selbst  das  absolut  Nichtige  und  das  ist  der  Quell  seiner  Zerrissenheit 
und  seines  Unglücks.  Der  innere  Bruch  des  Menschen  mit  sich  selbst 
ist  der  Grund  dieser  Entzweiung  ohne  Versöhnimg.  Und  so  sehr  daher 
auch  die  Gebilde  der  jüdischen  Welt  aller  objektiven,  plastischen  Schön- 
heit entsagen  müssen  - —  denn  Schönheit  beruht  auf  Harmonie,  auf 
Einheit  des  Menschen  mit  sich  selbst,  hier  aber  ist  diese 
innere  Einheit  absolut  gestört,  der  Mensch  in  sich  selbst  gebrochen,  — 
so  sehr  also,  wie  gesagt,  ihre  Gestalten  der  Schönheit  entbehren,  so 
sehr  man  sogar  diesen  heillosen  Riß  und  Zwiespalt  eine  Entfremdimg 
des  Geistes,  ja  die  härteste  Selbstentäußerung,  die  er  überhaupt  in 
der  Geschichte  vollbrachte,  nennen  mag,  so  darf  doch  nicht  die  Tiefe 
dieser  Härte  übersehen  werden,  das,  was  das  punctum  saliens  dieser 
»Selbstentäußerung  ausmacht,  nämlich:  daß  der  Geist  sich  erfaßt 
hat  als  seine  absolute  Realität  und  Wahrheit  nicht  in  der 
Natürlichkeit  als  solcher  habend,  daß  er  sein  Wesen  als 
die  Freiheit  der  Abstraktion  gegen  diese  Natürlichkeit, 
die  früher  seine  Substanz  ausmachte,  begreift.  Indem  so  sich 
der  Geist  seines  Höhern,  der  Abstraktion  bewußt  wird,  stellt  sich  dies 
vollendetere  Bewußtsein  zuerst  als  Riß  dar  des  Menschen  und  Geistes. 
—  So  [stellt  sich]  ^)  für  den  Denker  grade  das,  was  die  Häßlichkeit  des 
Judentums  bildet,  als  seine  Schönheit,  wenn  man  so  will,  dar.  Der 
Mensch  verlor  hier  alle  innere  Einheit  mit  sich,  aber  er  mußte  sie  ver- 
lieren einmal,  um  des  Wesens  seines  Geistes  bewußt  zu  werden.  Die 
Periode  dieses  Schmerzes  ist  das  Judentum;  die  schöne  Einheit  des 
Menschen  ist  zugrunde  gegangen,  vmd  ohne  Ersatz  dafür,  denn  der 
Gott,  an  den  es  sich  weggeworfen,  d,  h.  der  Geist,  wie  es  sein  Wesen 
erfaßt  hat,  ist  noch  nicht  die  totale  Fülle  des  Geistes,  sondern  nur  erst 
die  kalte  Einseitigkeit  der  Abstraktion.  Und  darum  ist  dieser  Riß  ohne 
Versöhnung,  die  ihm  erst  im  Christentum  wird,  wo  der  Geist  als  der 
totale  erfaßt  wird  in  dem  Prinzip  der  Liebe.  — 

Oder  man  könnte  der  römischen  Welt  vorwerfen,  wie  sie  doch  so 
prosaisch,  so  kalt  wäre  gegen  die  poetische  Schönheit  des  Griechen- 


')  Im  Original  steht:  ist. 


=  III  = 

tums!  Und  wer  wollte  die  Wahrheit  dieses  Vorwurfs  leugnen!  Aber 
das  bei  weitem  tiefere  Prinzip  des  Römertums  darf  nicht  übersehen 
werden  vmd  ist  grade  der  Grund  dieser  Prosa.  Im  Römertum  hat  der 
Geist  die  äußerhche  F'orm,  die  objektive  Plastik,  als  die  er  sich  in  der 
griechischen  Welt  erfaßt,  zerbrochen;  er  ist  dafür  mehr  in  seine  Tiefe 
heruntergestiegen,  er  weiß  sein  Wesen  gegen  die  griechische  Harmonie 
des  Geistigen  und  Sinnlichen  gegen  die  Formschönheit  als  das 
Innerliche,  freilich  wiederum  zuerst  abstrakt,  also  als  die  abstrakte 
Verständigkeit.  Der  kalte  bloße  Verstand  ist,  was  die  Römerwelt 
so  groß  gemacht  hat,  sein  Wesen  ist  das  Utilitätsprinzip,  seine  Welt- 
anschauung die,  daß  alles  dient  seinem  für  sich  seienden,  verständigen 
Ich,  Durch  diese  Innerlichkeit  erweist  sich  das  Römertum  als  das 
Höhere  gegen  die  griechische  Welt,  in  der  der  Geist  sich  noch  nicht  in 
sich  gesammelt  und  in  sich  eingekehrt,  sondern  in  Äußerlichkeit  des 
Schönen  ausgegossen  war. 

Oder  man  kann  von  der  vollendeten  Widematürlichkeit  der  christ- 
lichen Welt  sprechen.  Und  diese  Widematürlichkeit  und  Verzerrung 
läßt  sich  durchaus  nicht  leugnen.  Aber  die  christliche  Religion  hat 
grade  die  allerspekulativste  Bedeutimg.  Diese  imendliche  Tiefe  liegt 
darin,  daß  in  dem  Christentum  die  Entfremdimg  des  Geistes  von  sich 
selbst  bis  ins  äußerste  Bxtrem  zugespitzt  ist  und  noch  weit  hinaus- 
gegangen über  den  Riß  des  Judentums,  daß  aber  zugleich  andrerseits 
und  eben  darum,  weil  dieser  Zwiespalt  seinen  Gipfel  erreicht,  bereits 
die  Versöhnung  des  Geistes  mit  sich  vorhanden  ist.  Dieser  Widerspruch, 
die  absolute  Entzweiung  und  die  absolute  Versöhnung,  ist  der  tiefe 
Inhalt  des  Christentums  (das  Wie  davon  auszuführen  oder  auch  nur 
andeuten  zu  wollen,  würde  diesen  Brief  sechs  Bogen  lang  machen). 

Nun  also  kannst  Du  fragen,  wenn  wir  jederzeit  auf  diese  Weise 
ihre  Schönheit  abzugewinnen  wissen,  und  böte  sie  auch  äußerlich  das 
Bild  der  äußersten  Verzerrung  dar,  warum  nicht  auch  unserer  Zeit, 
der  Zeit,  in  der  wir  leben !  Oh  freilich  kann  ich  das,  ja  ich  muß  das  sogar. 
Will  ich  denn  leugnen,  daß  Vernunft  in  unsrer  Zeit  und  in  allen  ihren 
Institutionen  und  Sphären,  wie  in  dem  staatlichen  so  auch  in  dem 
geselligen  Leben  ?  Oh,  im  Gegenteil !  Ewig  wahr  bleibt,  was  Hegel  sagt: 
Das,  daß  eine  Zeit  etc.  als  rein  und  vernünftig  etc.  gescholten  wird, 
beruht  nicht  sowohl  auf  dem  Mangel  an  Vernunft  in  der  Objektivität 
(jener  Zeit  etc.),  als  vielmehr  auf  der  Ohnmacht  der  (subjektiven)  Ver- 
nunft, sich  in  ihr  zu  erkennen.  Und  war  je  eine  Zeit  groß  und  inter- 
essant für  den  Denker,  so  ist  es  die  unsere,  ja,  die  unsere  ist  unendlich 
größer  als  alle  andern.  In  unserer  Zeit  haben  die  Widersprüche  in  allen 
Sphären,  religiösen,  staatlichen,  sozialen  die  höchstmögliche  Höhe  er- 
stiegen, zur  feinsten  Spitze  zugespitzt;  und  zugleich  ist  die  Lösung 


—  ^  112  

aller  dieser  Widersprüche  schon  vorhanden,  wie  natürlich,  wenn  sie 
einmal  ihr  extensivstes  und  intensivstes  Dasein  erreicht  haben;  die 
große  Hand  ist  schon  beschäftigt  an  der  Lösung  dieses  gordischen 
Knotens.  Aller  Widerspruch,  den  die  christliche  Idee  in  sich  barg, 
hat  sich  endlich  auch  ausgeschüttet,  und  die  ganze  Wirklichkeit  und 
jeder  Winkel  in  ihr,  sogar  der  bloß  gesellige  Verkehr  der  Menschen,  ist 
von  diesem  Widerspruch  durchdrungen.  Und  wie  interessant  ist,  wie 
sehr  das  höchste' Vergnügen  gewährend,  sogar  alle  die  kleinen  Ver- 
hältnisse des  geselligen  Umgehens  etc.  nicht  so  geistlos  als  bloße  Fakta 
zu  betrachten,  sondern  als  Resultate  zu  begreifen,  als  Resultate  der 
einen  großen  Verzerrung,  oder  was  dasselbe,  der  einen  großen 
Idee,  die  imser  gesamtes  staatliches  wie  religiöses  und  (im  höhern  Sinne) 
soziales  Leben  durchzieht.  Also,  wirst  Du  sagen,  halte  Dich  an  dieses 
luteresse,  hier  hast  Du  ja  das  Anziehende  und  Reizgewährende  der 
Gegenwart,  warum  diese  herbe  Unbefriedigung  in  ihr?  Hier  aber 
kommen  wir  zu  der  differentia  specifica,  zu  einem  ganz  kleinen  Um- 
stand, der  einen  himmelweiten  Unterschied  begründet.  So  lang  ich 
die  Gegenwart  und  ihre  Institutionen  nur  als  Folie  und  Objekt 
des  Gedankens  betrachte,  beut  sie  mir  in  der  Tat  das  innigste  und 
gediegenste  Interesse  und  Vergnügen,  so  gut  wie  die  indische  Dumpf- 
heit, die  jüdische  Verzerrung  und  die  römische  Prosa,  ja  bei  weitem 
mehr,  ihres  tieferen  Gehaltes  wegen.  Dieses  Interesse  aber  gewährt  sie 
nur,  solange  sie  Objekt  des  Denkens.  Der  Gedanke  ist  kalt,  ist  ichlos. 
Die  Institutionen  der  Gegenwart  sind  aber  nicht  nur  Objekte  des  Ge- 
dankens, denn  sie  sind  noch  gegenwärtig.  Ich  soll  auch  sein  in 
ihnen,  sein  mit  Fleisch  und  Blut,  in  ihnen  leben.  Da  wird  aber  nicht 
nur  der  Gedanke,  da  wird  Kopf,  Herz,  Gefühl,  Fleisch,  Blut,  der  ganze 
Mensch  tangiert.  Tief  sind  sie,  diese  Verhältnisse,  tmd  gedankenvoll ; 
aber  liebenswürdig,  nein,  bei  Gott,  liebenswürdig,  das  sind  sie  nicht. 
Beglücken,  befriedigen  können  sie  nicht  den,  der  in  ihnen  lebt.  Wie 
hoch  ich  auch  das  Prinzip  der  jüdischen  Welt  stelle,  hätte  ich  in 
ihr  leben  mögen?  Gewiß  nicht,  denn  grade  das  eigentümliche  Prinzip 
des  jüdischen  Volkes  war  es,  das  jeden  Hebräer  zum  Unglück  ver- 
dammte. Diese  Rosenfarbe  haben  diese  Epochen  nur  als  Objekt  des 
Gedankens,  dem  es  nur  darauf  ankommt,  die  Vernunft  zu  erfassen 
in  der  Objektivität.  Lebt  man  in  ihnen,  so  gestaltet  sich  das  Verhält- 
nis ganz  anders,  da  tritt  die  Verzerrung,  die  Karikatur,  die  Herz-  und 
Geistlosigkeit  schroff  entgegen,  das  Unglück.  Und  so  sehr  ich  auch 
all  diese  Verschrobenheit  nicht  als  sinnloses,  unerklärliches  Faktum 
fasse,  so  sehr  ich  sie  auch  fassen  mag  als  Resultat  einer  Stufe  des 
Begriffs,  einer  histo  ischen,  vernünftigen  Idee,  so  ist  sie  doch  als 
Resultat    und  Faktum  und  —  gleichviel,   ob  ich   mir  dies  Faktum 


113  =r^. 

erklären  kann  oder  nicht  —  es  beleidigt,  es  verletzt  durch  sein 
Dasein. 

Darum  also  ka/in  ich  Vergnügen  nicht  finden  in  der  Verschrobenheit 
und  Unnatur  unseres  geselligen  Treibens,  darum  kann  ich  darin  nicht 
einmal  ausharren,  darum  isoliere  ich  mich  und  muß  mein  Vergnügen, 
meine  Erholung  wo  anders  suchen.  —  Doch  ich  bin  ziemlich  abge- 
kommen \'on  dem  Punkt,  zu  dem  ich  hinauswollte.  Ich  woUte  zeigen, 
daß  mir  unser  geselliges  L^ben  keine  Erholung  gewähren  kann  und  daß 
ich  diese  also  in  Dingen  suchen  muß,  die,  wenn  sie  auch  den  Geist 
nicht  geradezu  erregen,  ihn  doch  nicht  abstoßen  und  verletzen.  Dies 
also,  wie  die  oben  angeführten  Motive  der  Bewegung  und  des  Wunsches, 
diese  Fertigkeit  mir  anzueignen,  ließen  mich  über  die  nicht  geringe 
Ausgabe  von  zwölf  Talern  hinwegsehen,  und  ich  nahm  einen  Kursus 
Reitstunde.  Leider  sah  ich,  daß  ich  von  früher  her  nichts  mehr  behalten, 
wohl  deswegen,  weil  ich  nie  eigentlich  was  drinnen  gelernt  hatte.  Denn 
ich  nahm  nur  einen  einzigen  Kursus  in  Breslau,  und  das  ist  zwei  Jahre 
her.  Jetzt  bin  ich  auch  hier  mit  meinen  24  Stunden  zu  Ende.  Auch 
habe  ich  in  der  Tat  mich  dabei  ganz  ausgezeichnet  amüsiert  und  auch 
etwas  Rechts  gelernt.  Mein  Sitz  ist  fast  vollkommen.  Nur  mit  der 
Führung  des  Pferdes  haperts  noch  sehr.  Es  wäre  also,  um  dieser  Fertig- 
keit mich  vollkommen  zu  bemächtigen,  und  so  daß  ich  sie  nicht  wieder 
sobald  vergesse,  nötig,  einen  zweiten  Kursus  von  24  Stunden  zu  nehmen. 
Wenn  ich  mich  aber  auch  zu  einer  solchen  Höhe  der  Liederlichkeit 
hinaufschwingen  konnte,  einmal  zwölf  Taler  auszugeben,  so  kann  doch 
für  das  zweite  Mal  davon  auch  gar  nicht  die  Rede  sein.  Meine  Kasse 
tritt  mit  einem  diktatorischen  Veto  auf.  Darum  richte  ich  an  Dich 
die  Bitte,  mir  zu  diesem  Endzweck  zwölf  Taler  zu  schenken.  Wenn  Du 
mir  diese  Bitte  erfüllst,  so  wirst  Du  mir  ein  nicht  unbedeutendes  Ver- 
gnügen machen.  Jedoch  wie  Du  willst.  Ich  bin  auch  nicht  böse,  wenn 's 
nicht  ist. 

Mein  Freund  Zander  ^)  kehrte  neulich  mit  seiner  Mutter  und  Schwester 
von  Rügen  durch  Berlin  nach  I<eipzig  zurück.  Er  war  überfahren 
worden,  der  arme  Junge,  auf  der  Reise;  zudem  war  ihm  das  Geld  aus- 
gegangen und  befand  sich  also  seiner  Damen  wegen  in  arger  Verlegen- 
heit. Hier  Häuser  anzugehen,  genierte  ihn,  weil  er  von  seinem  Vater 
keine  Kreditbriefe  mitgenommen  und  er  darin  allerdings  blöder  ist 
als  Dein  Sohn,  z.  B.  in  Teplitz,  Marienbad,  Hirschberg  etc.  war.  Er 
eröffnete  mir  seine  Verlegenheit.    Ich  half  ihm  auf,  indem  ich  mir  von 


^)  Robert  Zander  war  in  Leipzig  einer  von  Lassalles  liebsten  Freunden 
gewesen.  Vgl.  von  ihm  R.  Z(ander),  ,, Meine  Jugenderinneningen  an  Ferdinand 
Lassalle",  Gartenlaube  1S77,  Nr.  41.  Zu  seiner  Schwester  Rosalie  fühlte  L.  sich 
damals  stark  hingezogen. 

Mayer,  Lassalle-Naclilass.     I  3 


—  —  =  114 

Eschwe  30  Rt.  geben  ließ  und  sie  ihm  lieh.  Nach  Verlauf  von  vier  Tagen 
hatte  ich  sie  bereits  wieder  erhalten. 

Max  ^)  kommt  fast  täglich  zu  mir.  Gutmütig  scheint  der  Jtmge  in 
der  Tat  zu  sein,  und  werde  ich  es  also  wenigstens  dadurch  bei  weitem 
leichter  haben.    Hast  Du  den  Brief  an  Hassak  gefälligst  besorgt? 

Ich  freue  mich  sehr,  daß  Ihr  Euch  neulich  so  gut  in  Fürstenstein 
amüsiert  habt.  Macht  doch  manchmal  solche  Ausflüge,  Jedes  Ver- 
gnügen, das  Ihr  Euch  vergönnt,  ist  mir,  wenn  Ihr  mir  es  erzählt,  als 
hätt'  ich  es  mitgenossen  und  noch  lieber  bei  weitem.  Die  Kinderchen 
Alfons,  Elisabeth  haben  sich  doch  erholt?  Was  macht  meine  viel- 
gehebte  Schwester  Rikchen?  Weim  sie  aus  dem  Bade  gekommen, 
schreibe  ich  ihr. 

Jetzt,  vielgeliebte  Mutter,  lebe  wohl !  Indem  ich  Dich  noch  tausend- 
mal umarme  imd  küsse,  bleibe  ich  Dein  Dich  ewig  liebender  Sohn 

Ferdinand. 

Den  lieben  Vater  bitt'  ich  herzlich  zu  grüßen;  er  soll  mir  die  Mutter 
ja  nach  Altwasser  und  später  hierher  schicken  mit  Rikchen  und  mir 
auch  schreiben,  wie  es  mit  der  Anschaffung  des  Kapitals  für  das  Gas- 
geschäft steht. 


23. 
IvASSALIvE  AN  DEN  VATER.     (Original.) 

Berlin,  6.  September  1844, 
Vielgeliebter  Vater! 

Sehr  schön  ist  es  von  Dir  imd  weiß  ich  Dir  herzhchen  Dank  dafür, 
daß  Du  die  Geschichte  mit  jenem  Briefe  vergessen  willst  und  Dich  sogar 
für  entschädigt  erklärst.  Gestehe  ich  doch  sehr  gern  ein,  daß  es  ein 
faux  pas  war.  Nur  war  mein  Unrecht  deshalb  nicht  so  groß,  weil  ich 
das  Wort  ,, Ironie"  nicht  in  dem  bittern  imd  scharfen  Sinne  nahm, 
den  es  sonst  eigentlich  hat.  Ich  würde  von  der  dummen  Geschichte 
am  liebsten  völlig  schweigen,  doch  will  ich  nur  kurz  sagen,  was  ich 
eigentlich  unter  Ironie  meinte.  Die  ersten  Sätze  Deines  damaligen 
Briefes  enthielten  offnen  Tadel,  die  folgenden  erklärten  diesen  Tadel 
für  Scherz,  und  darauf  gabst  Du  zuletzt  selbst  die  Gründe  an,  die  meinen 


*)  Vielleicht  meint  Lassalle  seinen  Vetter  Max  Friedländer,  den  späteren 
Redakteur  der  „Neuen  Freien  Presse"  in  Wien.  Vgl.  über  ihn  N.  Rjasanoff, 
,,Karl  Marx  und  die  Wiener  Presse"  in  ,,Der  Kampf",  Wien  VI,  6,  i.  März  1913. 


=  115  

Schritt  rechtfertigten.  Ich  nun  faßte  jenen  ersten  scherzhaften,  schein- 
baren Tadel  für  wirklichen.  Deine  Beistimmung  darauf  erklärte  ich 
mir  so,  Du  hättest  Dir  überlegt,  es  sei  doch  einmal  ein  fait  accompli  und 
nicht  zu  ändern,  Du  wolltest  mich  also  nim,  da  es  doch  vorbei  sei,  nicht 
erst  beimruhigen,  und  zuletzt  die  Gründe,  die  Du  für  mich  selbst  an- 
führtest, daß  ich  mich  nicht  in  Landmessers  etc.  Kategorie^)  fallen 
lassen  kann,  diese  Gründe  faßte  ich  für  nur  scheinbar  ernste  Äußerungen 
imd  vielmehr  für  Hänseleien.  Ich  glaubte,  Du  wolltest  mich  damit 
necken  und  indirekt  andeuten,  als  hätte  ich  etwa  aus  bloßer  Eitelkeit  und 
um  mich  von  der  Kategorie:  Landmesser  etc.  zu  unterscheiden,  dieses 
Faktum^)  veranlaßt.  Du  siehst  also,  daß  ich  mit  dem  Wort  Ironie  eine 
sehr  gutmütige  Bedeutung  verband.  Eine  andere  schwebte  mir  in  der 
Tat  nicht  vor,  und  wäre  es  auch  halb  wahnsinnig  gewesen,  eine  andere 
Ironie  von  Dir  für  möglich  anzunehmen  als  eben  höchstens  eine  solche 
harmlose  Neckerei,  die  aber  mich  auch  dann  als  unangenehm  berührte, 
weil  sie  doch  nur  ein  gutmütiges  Hinwegsehn  über  jenes  Faktum  aus- 
zudrücken schien,  nicht  aber  das,  was  es  doch  in  der  Tat  war  und  was 
ich  forderte,  ein  vollkommenes  Damiteinverstandensein.  — 

Und  nun  wäre  denn  diese  Geschichte  erledigt;  wieviel  Bogen  aber 
hat  das  erfordert,  was  mündhch  mit  zehn  Worten  abgetan  gewesen  wäre. 
Die  Industrieausstellvmg  ist  hier  nun  schon  seit  längerer  Zeit  eröffnet 
imd  ist  es  in  der  Tat  eine  wahrhaft  großartige  Konzentration  imseres 
Gewerbfleißes  vmd  seiner  Produkte.  Hat  doch  sogar  die  französische 
Kommission,  die  aus  Paris  zur  Besichtigung  imserer  Ausstellung  her- 
geschickt wurde,  eingestanden,  daß  sie  bisher  noch  gar  keinen  Begriff 
von  deutscher  Industrie  gehabt  hätten  und  daß  er  sich  hier  erst  ihnen 
eröffne.  In  Paris  sei  die  Ausstellxmg  großartiger  gewesen,  aber  nicht  so 
geschmackvoll. 

Für  mich  selbst  hat  diese  Industrieausstellimg  größeres  Interesse, 
als  Du  vielleicht  geglaubt  haben  magst,  doch  ist  es  allerdings  ein  anderes 
Interesse  als  das  begrifflose  Anstaunen  der  gedankenlosen  Menge,  die 
sich  Maul  aufreißend  jetzt  in  den  Sälen  des  Zeughauses  drängt,  oder 
als  das  nicht  weniger  begrifflose  sogenannte  ,, Verstehen"  derMaschinen- 
und  Industriekundigen.  Nicht  einer  von  diesen  Industriellen  selbst 
weiß  den  Begriff  der  Industrie  zu  erfassen,  ihre  wahre  Bedeutung, 
imd  wenn  sie  über  die  Macht  der  Industrie  sprechen,  imd  daß  sie  die 
Seele  unsrer  Zeit  sei,  so  bleibt  dies  ein  hohles  unfruchtbares  Geschwätz. 
Allerdings  ist  die  Industrie  die  Seele  unserer  Zeit,  aber  das  Wie  davon, 
das  begreifen  alle  deutschen  Fabrikanten  mit  der  Pariser  Kommission 


^)  Hier  sind  die  ursprünglichen  Worte  mit  anderen  Worten  durchschrieben, 
so  daß  der  Text  nicht  genau  zu  lesen  ist. 


^  —  ii6  = 

zusammen  nicht,  trotz  ihrer  in  die  Einzelheit  gehenden  Kenntnisse! 
Sie  sind  in  dieser  Beziehung  ebenso  bewußtlos  wie  die  Räder  ihrer 
Maschinen  selbst,  ganz  ohne  Bewußtsein  dessen,  was  sie  sind  und  tun. 
Dieses  Bewußtsein  findet  sich  grade  bei  denen,  denen  man  die  Industrie 
so  gern  entgegensetzt,  den  Philosophen.  Und  diese  selbe  Industrie,  die 
man  uns  fortwährend  entgegenhält,  ist  gerade  Wasser  auf  unsre 
Mühle;  vmd  das  ist  der  Humor  davon,  daß  wir  grade  mit  den  WafiFen 
siegen,  mit  denen  man  uns  anzugreifen  gedenkt.  In  der  Tat  aber  ist 
der  Begriff  der  Industrie  nicht  so  leicht  zu  haben  und  wesentlich  im 
Zusammenhang  mit  der  Geschichte  der  neuesten  Zeit  und  nur  aus 
diesem  Zusammenhange  zu  begreifen.  —  Was  ich  tun  will,  ist  nur  das, 
ihn  anzudeuten;  den  Begriff  der  Industrie  selbst,  seinen  Zusammen- 
hang mit  unserer  Zeit  und  seine  Bedeutung  für  dieselbe.  — 

Das,  was  das  Christentum  spezifisch  von  den  früheren  Perioden  der 
Welt  abscheidet,  ist  das  Prinzip  der  absoluten  Berechtigung 
aller  Persönlichkeit.  Dieses  Prinzip  predigt  das  Christentum  offen 
in  der  Bibel,  den  Dogmen,  den  Kirchenvätern,  es  drückt  es  indirekt  aus 
einmal  in  der  Mensch-  vmd  Person  werdung  Christi,  des  Sohnes  Gottes, 
und  zweitens  in  dem  mit  gutem  Recht  von  der  Kirche  allen  ketzerischen 
Sekten  gegenüber  so  hartnäckig  festgehaltenen  Dogma  von  der  Persön- 
lichkeit Gottes  (des  Vaters)  selbst.  Das  Christentum  verwirklicht  zu- 
nächst dies  Prinzip  der  absoluten  Berechtigung  aller  Person  konsequent 
in  der  Sphäre  der  Religion:  in  der  Seligkeit  aUer  Subjekte  im  Himmel, 
ohne  Unterschied.  Zu  zeigen,  wie  das  Christentum  dies  Prinzip  auch 
in  der  Wirklichkeit,  in  staatlichen,  kirchüchen  Institutionen  etc.  ver- 
wirklicht, erforderte  eine  Philosophie  des  ganzen  Mittelalters.  Der 
Inhalt  des  ganzen  Mittelalters  ist  i.  das  Setzen  dieses  Prinzips,  2.  seine 
Negation,  und  3.  seine  Verwirklichung  in  seiner  Negation.  Doch  tut 
dies  auch  näher  nichts  zur  Sache.  —  Die  französische  Revolution  nun 
ist  es,  die  die  Aufgabe  über  sich  nimmt,  dies  Prinzip  der  absoluten  Be- 
rechtigimg aller  Persönlichkeit  in  der  Sphäre  der  diesseitigen,  wirk- 
lichen Welt,  des  Staates  etc.,  zu  realisieren. 

Im  Mittelalter  war  die  Berechtigung  des  Subjekts  nicht  die  abstrakt 
allgemeine  gewesen;  nicht  dies  Formale,  Subjekt,  Person  zu  sein,  hatte 
genügt,  sondern  die  Berechtigimg  und  Anerkennung  des  Subjekts  war 
daran  geknüpft,  daß  es  erfüllt  sei  mit  dem  substantiellen,  bestimmten 
Geiste.  Das  ist  die  Idee  des  Standes,  die  im  Mittelalter  auftritt,  das 
Subjekt  ist  anerkannt,  insofern  es  die  Bestimmtheit,  den  Inhalt  des 
substantiellen  Geistes  des  Standes  in  sich  aufgenommen  und  in  sich 
hat,  insofern  es  zu  dieser  Substantialität  gehört,  Mitglied  eines  Standes 
ist.  Die  zwei  absolut  berechtigten  Stände  waren  Adel  und  Geistlichkeit. 
Dies  muß  jedoch  nicht  so  angesehen  [werden] ,  als  wenn  damit  das  Prinzip, 


=  117 ^ 

das  ja  schon  das  Christentum  aufstellte,  das  Prinzip  der  absoluten 
Berechtigung  aller  Person,  Subjektivität  vollkommen  negiert  gewesen 
wäre.  Das  Christentum  hat  nicht  das  Prinzip  der  abstrakten  Be- 
rechtigung der  Person,  wonach  das  Subjekt,  schon  weil  es  Subjekt, 
Mensch  ist,  auch  an  und  für  sich  anerkannt  und  berechtigt  ist  (dies 
Prinzip  in  seiner  abstrakten  Form  und  Allgemeinheit  spricht  vielmehr 
erst  der  neue  Humanismus  und  tatsächlich  dann  die  Revolution  aus), 
das  Christentum  bindet  die  absolute  Anerkennung  des  Subjekts,  die 
ewige  Seligkeit,  daran,  daß  es  sich  mit  dem  spezifischen,  substantiellen 
Geiste  der  christlichen  Religion  erfülle,  daß  es  Christ  sei.  Die  Erfüllung 
dieser  Bedingung  jedoch  ruht  einzig  imd  allein  in  den  Händen  der 
freien  Subjektivität.  Anders  bei  den  Juden  oder  Griechen,  bei  welchen 
als  absolutes  Prinzip  der  Geltung  die  Nationalität  hingestellt  war,  die 
Bedingung:  diesen  bestimmten  substantiellen  Volksgeist  in  sich  zu 
haben.  Denn  hier  konnte  die  Subjektivität  nicht  durch  ihr  freies  Wollen 
und  Vollbringen  diese  Bedingung  lösen,  sich  mit  diesem  Inhalt  erfüllen, 
sondern  sie  war  hier  an  die  Naturschranke  gebunden:  in  diesem  Volke 
geboren  zu  sein.  Aber  diese  Naturseite  und  -schranke  der  Nationalität 
hatte  das  Christentum  aufgehoben  imd  die  Möglichkeit,  sich  zu  dieser 
absoluten  Geltung  zu  erheben,  zu  diesem  Anundfürsichsein,  in  die 
innere  Freiheit  der  Subjektivität  selbst  gelegt.  Die  Subjektivität  er- 
hebt sich  hier  durch  sich  zu  dieser  Vollendung ;  der  objektive  Inhalt, 
an  den  sie  gebunden  ist,  von  dem  sie  erfüllt  sein  muß,  wenn  sie  an  und 
für  sich  sein,  allgemein  anerkannt  sein  soll,  den  kann  sie  sich  durch 
das  freie  Fürsichsein  ihrer  eignen  Subjektivität  verschaffen.  Daher 
muß  alle  Bedingung,  alles  Objektive,  von  welchem  die  christliche 
Welt  das  Subjekt  abhängig  macht,  wenn  es  gelten  will,  so  sehr  es  objektiv 
ist,  dennoch  eben  so  sehr  seiner  Natur  nach  schlechthin  erreichbar 
sein  für  das  Subjekt;  das  Subjekt  muß  in  dieser  seiner  freien  Innerlich- 
keit und  Subjektivität  das  absolute  Mittel  haben,  sich  jenes  Inhalts 
bemeistern,  die  objektive  Aufgabe  lösen  zu  können.  So  ist  es  mit  der 
Exklusivität  der  christlichen  Religion  selbst  (die  eben  als  solch  ob- 
jektiver Inhalt  für  jedes  Subjekt  hingestellt  wurde),  so  auch  im  Mittel- 
alter mit  dem  Priesterstand.  Die  Möglichkeit,  zu  demselben  zu  gehören, 
ist  eben  nur  von  der  freien  Selbstbestimmung  und  Innerlichkeit  des 
Subjekts  abhängig.  Es  ist  für  jedes  Subjekt  schlechthin  möglich,  durch 
Vertiefung  in  den  religiösen  Geist  allem  Irdischen  und  Zeitlichen  zu 
entsagen  imd  dadurch  in  den  Priesterstand,  seine  ehrende  Anerkennung 
xmd  religiöse  Geweihtheit  einzutreten.  So  ist  in  letzter  Instanz  das 
Subjekt  von  nichts  anderem  als  solchem  abhängig,  da  dies  andere 
wiederum  nur  von  der  freien  Innerlichkeit  des  Subjekts  abhängig  ge- 
macht, das  Subjekt  also  sozusagen  in  einer  Kreislinie  durch  dies  andere 


ii8  —  

hindurch  in  sich  zurückgebogen  ist.  —  Ebenso  verhält  es  sich  ur- 
sprünglich mit  dem  Adel,  der  schon  bei  den  Germanen  diesen  Charakter 
der  Freiheit,  der  Subjektivität  trug,  wie  denn  überhaupt  der  durch- 
greifendste Charakterzug  der  germanischen  Nationen  der  der  absoluten 
Innerlichkeit,  der  sogar  trotzigen  Persönlichkeit  und  Subjektivität  ist, 
ein  Charakterzug,  der  diese  Nationen  eben  dazu  befähigte,  die  haupt- 
sächlichen Träger  des  christlichen  Geistes  zu  werden.  Der  germanische 
Adel  basiert  seinem  Ursprünge  nach  auf  nichts  anderm  als  auf  der 
Vollendung  des  Subjekts:  Die  hohe  innere  Vortrefflichkeit,  die  Voll- 
kommenheit seiner  Subjektivität,  die  das  Subjekt  in  seinen  Taten, 
Tapferkeit  etc.  an  den  Tag  legt,  ist  es,  die  ihm  diese  Achtung  und  Rechte 
verschafft.  Adlig  wurden  die  ausgezeichneten  Krieger,  die  sich  auf 
den  Erobertmgszügen  hervorgetan  etc.,  der  Adel  selbst  der  lyohn  und 
Preis  solcher  Großtaten.  Wir  wollen  hier  nun  nicht  weiter  den  Begriff 
des  Adels  verfolgen  als  Stand  der  Tapferkeit,  dessen  Subjektivität  so 
sehr  zur  Allgemeinheit  erweitert  und  von  dem  allgemeinen  Geiste  er- 
füllt ist,  daß  er  für  die  Erhaltung  des  Staates,  des  allgemeinen  Geistes, 
sittlich  genug  ist,  in  den  Tod  zu  gehen,  seine  Persönlichkeit  aufs  Spiel 
zu  setzen  etc.  Es  genügt,  daß  der  Adel  eben  auf  nichts  beruht,  als  auf 
der  Manifestation  der  Innern  Vortrefflichkeit  des  Subjekts,  auf  der 
Vollendung  des  Subjekts  in  sich.  Weit  entfernt  also,  dem  Prinzipe  der 
Subjektivität  entgegen  zu  sein,  erhebt  er  grade  das  Prinzip  der  ab- 
soluten Subjektivität  auf  den  Schild  und  spricht  es  aus,  wie  das  Subjekt 
alles  erringe  und  erlange  durch  seine  eigene  freie,  alles  vermögende 
Persönlichkeit  und  deren  Kraft.  —  Um  den  Adel  zu  erringen,  bedarf 
es  nur  einer  gleichen  Vollendimg  der  eignen  Subjektivität.  — 

Nun  aber  kommt  das  weitere.  —  An  den  Adel  und  die  Geistlichkeit  ist 
die  Berechtigung  im  Staatsleben  im  Mittelalter  geknüpft  und,  wie  oben 
gesagt,  um  an  und  für  sich  berechtigt  zu  sein,  muß  das  Subjekt  mit 
dem  substantiellen  Geist  eines  dieser  beiden  Stände  erfüllt  sein,  zu  einem 
dieser  Stände  gehören;  zugleich  haben  wir  gesehen,  daß  die  Idee  dieser 
Stände  selbst  nichts  als  die  unendliche  Subjektivität,  also  nichts  weniger 
als  dem  Prinzip  der  absoluten  Persönlichkeit  und  ihrer  Berechtigung 
entgegengesetzt  ist.  Nim  aber  wird  der  Adel  erblich.  Das  höchste 
Insichsein  des  Geistes,  das  innerlichste  Prinzip  der  subjektiven  Voll- 
endung schlägt  zur  Natürlichkeit,  zur  Geschlechtsfolge  um,  die  Inner- 
lichkeit in  die  Äußerlichkeit,  die  geistige  Subjektivität  in  die  Natür- 
lichkeit der  Geburt.  Die  Deduktion  der  Notwendigkeit  dieses  Um- 
schlagens  der  Innerlichkeit  in  das  Sein  hat  die  Rechtsphilosophie  zu 
führen.  Uns  interessiert  hier  mehr  das  Faktura  und  seine  evidenten 
Folgen.  —  Das  Subjekt  ist  hier  wiederum  dazu  gekommen,  abhängig 
zu  sein,  von  einer  Natürlichkeit.    Diese  Zufälligkeit,  in  einem  Stande 


=  119 = 

geboren  zu  sein,  kann  sich  das  Subjekt  nicht  nehmen  und  nicht  geben, 
es  ist  eine  Bedingung,  zu  deren  Erfüllung  es  nicht  das  Mittel  an  seiner 
eigenen  Subjektivität  hat.  An  dies  Natürliche,  der  Idee  der  freien 
Subjektivität  und  Innerhchkeit  Entgegengesetzte  wird  der  Vollgenuß 
im  Leben  und  die  staatliche  Berechtigimg  vmd  Freiheit  geknüpft;  der 
Oeist  ist  damit  zu  dem  Harten  gekommen,  sich  abhängig  zu  setzen 
von  dem  absolut  Geistlosen,  der  Zufälligkeit  der  Natur,  Das  Prinzip 
<ler  unendlichen  Subjektivität  imd  ihrer  alleinigen  Berechtigung, 
das  in  den  verschiedensten  Stufen  die  ganze  christliche  Welt  regierte, 
-dies  Prinzip  der  absoluten  Innerlichkeit,  hat  sich  weggeworfen  und 
verloren  an  die  Äußerlichkeit  des  Seins,  seine  lebendige  Innerlichkeit 
ist  unterworfen  der  Totheit  der  natürlichen  Beziehung.  —  Dagegen 
nun  erhebt  sich  der  Geist  in  der  Kraft  seiner  innern  Unendlichkeit. 
Die  Idee  der  absoluten  Berechtigimg  aller  Subjektivität  verneint  es, 
daß  sie,  diese  Subjektivität,  diese  imendliche  freie  Innerlichkeit,  ge- 
bunden sei  an  die  starre  Dingheit  und  Äußerlichkeit  der  Kasten  und 
Standesunterschiede.  —  Diese  faktische  Negation  trägt  in  der  Ge- 
schichte den  Namen  ,, französische  Revolution".  Wie  zunächst  dies 
Prinzip  auftritt,  ist  es  noch  abstrakt.  Die  Revolution  richtet  sich 
"dagegen,  daß  der  mittelaltrige  Staat  die  Berechtigung  des  Subjekts 
an  das  Erfülltsein  mit  dem  substantiellen  Geist  des  Standes  bindet. 
Der  Staat  war,  wie  gesagt,  durch  diese  an  sich  richtige  Idee,  daß  das 
Subjekt  um  an  und  für  sich  zu  sein,  substantiell  erfüllt  sein  müsse, 
dazu  gekommen,  das  Freie,  Subjektive  der  toten  Äußerlichkeit  des 
Seins  vmterzuordnen,  die  Revolution  im  extremen  Gegensatz  hiezu, 
«rgreift  das  strikte  Gegenteil  dieser  Idee  der  realen  Erfülltheit  des 
Subjekts  durch  den  substantiellen  Geist.  Die  Revolution  stellt  das 
Prinzip  der  absoluten  Berechtigung  der  abstrakten  Persönlichkeit  auf. 
Das  Subjekt  braucht  nicht  mehr,  um  an  tmd  für  sich  zu  sein,  von 
irgendeiner  realen  Substanz,  von  irgendeinem  geistigen  Inhalt 
beseelt  und  erfüllt  zu  sein  (was  doch  selbst  das  erste  Christentum 
forderte,  indem  es  das  unbedingte  Postulat  der  Christlichkeit 
avif stellte),  sondern  es  genügt  jetzt  das  ganz  allgemeine,  das  ganz 
abstrakte,  das  bloß  Formale:  Subjekt,  Person  zu  sein.  Dies  schlecht- 
hin Allgemeine,  das  bloße  ,, Mensch  tum"  sollte  hinreichen,  um  dem 
Subjekt  die  höchste  Realität,  Würde  und  Geltung,  das  Recht  eines 
Citoyen  actif,  eines  den  Staat  produzierenden  Bürgers  zu  verschaffen. 
Noch  nie  war  das  Prinzip  der  absoluten  Subjektivität  in  dieser  Höhe 
der  nacktesten  Abstraktion  aufgetreten.  Es  war  dies  auch  erst  jetzt 
möglich,  nachdem  sich  die  entgegengesetzte  Idee  des  substantiellen 
Erfülltseins  der  Subjektivität  bis  zu  der  Gebundenheit  und  Verknöche- 
nmg  in  den  Naturschranken  getrieben  hatte.    Der  Held  dieses  ab- 


120 

strakten  Pathos  ist  Robespierre  und  der  getreueste  Ausdruck  desselben 
einmal  die  Erklärung  der  Menschenrechte  und  dann  auf  praktischem 
Boden  die  Konstitution,  die  Robespierre  1793  dem  französischen  Volke 
gab.  In  dieser  Konstitution  ist  der  Begriff  des  Citoyen  (die  Unterschei- 
dung zwischen  dem  Citoyen  und  dem  Citoyen  actif,  die  in  der  frühern 
Constitution  war,  findet  sich  in  dieser  nicht  mehr)  von  nichts,  gar 
nichts  abhängig  gemacht,  als  eben  dem,  Mensch  zu  sein;  wenn  man 
nicht  etwa  das  für  etwas  rechnen  will,  daß  bestimmt  ist,  um  Citoyen  zu 
sein,  müsse  man  sechs  Monate  in  einem  Kanton  wohnen.  Das  Subjekt 
ist  also  so,  wie  es  ist  an  und  für  sich  berechtigt.  Hiemit  hatte  sich 
denn  das  Prinzip  der  absoluten  Berechtigung  aller  Persönlichkeit  zu 
seiner  feinsten  Spitze  zugespitzt,  zu  der  inhaltleeren  Abstraktion 
der  Subjektivität  zusammengefaßt.  Dies  abstrakte  Pathos  ist  aber 
seiner  Abstraktion  imd  Leerheit  wegen  ein  unwahres.  Das  formale: 
Subjekt,  Mensch  zu  sein,  reicht  in  der  Tat  nicht  hin,  um  ihn  sofort  der 
höchsten  Würde  und  Realität,  des  Staatsbürgertums,  teilhaftig  werden 
zu  lassen.  Der  Mensch,  so  wie  er  schlechtweg  Subjekt,  also  Natur- 
produkt ist,  ist  noch  nicht  absolut,  an  imd  für  sich.  Zu  diesem  An- 
undfürsichsein  gelangt  er  erst,  wenn  er  seine  Subjektivität,  diese 
Form,  erfüllt  mit  einem  realen,  substantiellen  Inhalt.  Aber  welcher 
Inhalt  sollte  dies  Erfüllende  sein,  und  damit  Bedingung  sein,  von  der 
die  Würde  des  Staatsbürgers,  des  Freien,  abhängen  sollte?  Das  war 
die  Frage,  die  damals  entstand.  —  Die  Idee  der  abstrakten  Subjektivität, 
die  Robespierre  vertrat,  konnte  eben  dieser  ihrer  Abstraktion  wegen 
sich  nicht  länger  halten,  sie  mußte  untergehen ;  aber  wer  sollte  sich  an 
seine  Stelle  setzen?  Die  Macht  der  Standesmiterschiede,  die  eben  von 
dieser  Idee  der  abstrakten  Subjektivität  so  siegreich  und  blutig  be- 
kämpft worden  war,  dieser  alte  Gegensatz?  Gewiß  nicht!  Das  wäre 
ein  bloßer  Rückschritt  gewesen,  und  die  Geschichte  hat  keinen  Rück- 
schritt, der  nicht  zugleich  ein  Fortschritt  wäre.  Nicht  einmal  die  Gironde 
konnte  sich  an  Robespierres  Stelle  setzen;  es  geschah  auch  wirklich 
nicht,  trotzdem  daß  man  es  gewöhnlich  annimmt.  Wer  aber  denn? 
Eine  wesentlich  neue  Idee  imd  Macht.  — 

Ehe  wir  zu  dieser  neuen  Idee  übergehen,  vorerst  noch  einen  Blick 
auf  den  Inhalt  und  Begriff  der  Freiheit  der  französischen  Revolution. 
Wir  haben  schon  gesehen,  daß  die  französische  Revolution  die  Idee 
der  absoluten  Subjektivität  nur  abstrakt  erfaßte,  inhaltsleer.  Dieselbe 
Inhaltslosigkeit  zeigt  sich  uns,  wenn  wir  den  Begriff  der  Freiheit,  den 
die  französische  Revolution  aufgestellt,  ins  Auge  fassen.  Die  Freiheit 
der  französischen  Revolution  ist  die  nur  abstrakte,  inhaltsleere;  nicht 
unsere  Freiheit,  die  im  Gegensatz  hierzu  als  die  substantielle  zu  be- 
zeichnen wäre.  Unsere  Freiheit  (die  Freiheit  der  modernen  Philosophie) 


=   121  

besteht  darin,  daß  wir  den  objektiven  Begriff  als  die  Macht  und  vSub- 
stanz  wissen,  der  wir  uns  schlechterdings  hingeben,  von  der  wir  uns 
schlechterdings  erfüllen  und  bestimmen  lassen  müssen.  Es  wird 
uns  nicht  so  gut,  tun  zu  können,  was  wir  wollen,  oder  lassen  zu  können, 
was  wir  wollen.  Überall  tritt  ims  der  Begriff  entgegen  und  sagt: 
,,Ich  bin  der  Herr  Dein  Gott."  Dieser  Begriff  aber  ist  der  sittliche  all- 
gemeine Geist,  die  unendliche  Bejahimg  unseres  Wesens,  der  bis  jetzt 
charakterisierte  ,, schwere  Dienst"  ist  zugleich  verbunden  mit  der 
Freudigkeit  der  Religiosität.  —  Wir  sind  auf  diese  Weise  gänzlich  ent- 
nommen imserer  subjektiven  Willkür;  wir  sind  zwar  durchaus  autonom 
und  frei,  es  gibt  keine  äui3ere  Macht,  von  der  wir  uns  bestimmen  lassen, 
wir  bestimmen  uns  schlechthin  selbst,  aber  dies  bestimmende  Selbst 
ist  nicht  unser  empirisch  vereinzeltes,  unsere  individuelle  Lust,  sondern 
dies  Selbst  ist  das  allgemeine  Selbst  wiederum :  der  Begriff.  Indem  wir 
so  schlechthin  von  ihm  bestimmt  sind,  sind  wir  dabei  doch  nur  von 
unserm  affirmativen  eignen  Wesen,  von  unserm  eignem  Begriff, 
aber  durchaus  nicht  von  einem  ,, Andern"  etc.  bestimmt.  Von  Willkür 
[ist]  also  bei  uns  nicht  die  Rede.  Eher  ist  unsere  Freiheit  eine  ver- 
klärte Notwendigkeit,  verklärt  nämlich  deshalb,  weil  an  die  Stelle 
der  kalten  fremden  Macht  des  Fatum  unser  eignes  Wesen  gesetzt 
worden  ist. 

Anders  mit  der  Freiheit  der  französischen  Revolution.  Die  Freiheit 
der  französischen  Revolution  ist  die  der  absoluten  Bestimmungslosig- 
keit.  Das  Ich  steift  sich  hier  darauf,  von  nichts,  nichts  anderm  bestimmt 
werden  zu  können,  als  eben  von  seinem  rein  einzelnen  Ich.  Der 
wahre  Name  einer  solchen  abstrakten  Freiheit  ist  vielmehr:  Willkür. 
Das  Ich  erfaßt  sich  hier  als  die  spröde  Punktualität,  die  nur  auf  sich 
bezogen  und  für  sich  selbst  Totalität  sei.  Diese  atomistische  Welt- 
anschauung, wo  eben  das  Ich  sich  als  ein  solches  zusammenhang- 
loses Atom  begreift  und  sich  demgemäß  isoliert,  in  dieser  punktuellen 
Abgeschlossenheit  nur  für  sich  geht,  würde  vielmehr  einen  wahrhaft 
sittlichen  Staat  unmöglich  machen,  denn  sie  würde  seine  einfache 
sittliche  Totalität  in  die  Vielheit  dieser  Punkte  zersprengen.  Dies 
Prinzip  der  subjektiven  Willkür,  wo  das  Ich,  von  nichts  anderem  als 
seinem  Ich  tmd  Belieben  bestimmt,  tun  und  lassen  kann,  was  es  nur 
irgend  will  und  beliebt,  ist  nicht  sowohl  eine  Freiheit  des  Staates,  als 
vielmehr  eine  Freiheit  vom  Staate  selbst  und  seinen  objektiven 
Mächten.  Glaube  nicht,  daß  ich  der  französischen  Revolution  etwas 
in  den  Schuh  gieße,  wenn  ich  ihr  diesen  abstrakten  Freiheitsbegriff 
vindiziere.  Dieselbe  vorhin  angeführte  Konstitution  Robespierres 
spricht  es  mit  klaren  dürren  Worten  aus,  die  Freiheit  des  französischen 
Bürgers  bestehe  eben  darin,  daß  es  ihm  erlaubt  sei,  ä  faire  tout  ce  que  ne 


122 

nuit  pas  ä  autrui.  Für  das  Ich-  ist  nur  wieder  das  andere  Ich  und  dessen 
individuelle,  ichliche  Interessen  eine  Schranke.  Von  einem  Objektiven, 
Allgemeinen  ist  hier  nicht  die  Rede.  Jeder,  isoliert  für  sich,  geht  seinen 
einzelnen  Zwecken  nach,  und  daß  er  dies  ungehindert  kann,  insofern 
er  nicht  so  ein  anderes  Ich  verletzt,  daß  er  dies  kann,  ohne  wie  früher 
von  einem  Allgemeinen,  wie  Staat  etc.  beschränkt  und  in  den  Dienst 
der  Allgemeinheit  gebannt  zu  werden,  —  das  ist  eben  seine  Freiheit. 
Diese  Freiheit  ist  somit  die  Idee  der  absoluten  Bestimmungslosigkeit 
oder  die  Idee  der  vollkommensten  persönlichen  Unabhängigkeit. 
(Beiläufig.  Glaube  deswegen  nicht,  daß  ich  die  französische  Revo- 
lution heruntersetzen  oder  niedrig  achten  und  geachtet  wissen  will. 
Ganz  im  Gegenteil.  Nachdem  das  einzelne  Ich  so  lange  im  Mittelalter, 
in  der  Kirche,  im  feudalen  vmd  absolutistischen  Staate,  in  dem  Dienst 
•eines  Allgemeinen  gehalten  war,  welches  (Allgemeine)  nicht  die  Seele 
und  Bejahimg,  sondern  vielmehr  die  Negation  des  Ich  war,  nachdem 
alle  Autonomie  und  Selbständigkeit  so  lange  und  so  schmählich  da- 
niedergelegen hatte  unter  der  Macht  von  Schranken  des  Standes  etc., 
war  nur  der  vollendete  Gegensatz  (aber  darum  der  noch  abstrakte) 
möglich,  daß  nämlich  alle  diese  Macht  des  toten  Allgemeinen,  das  bisher 
das  Ich  knechtete,  es  auf  alle  Weise  hemmte,  in  den  Schoß  des  einzelnen 
Ich  selbst  hinein-  und  zusammensank.  Das  Ich  hatte  sich  empört  gegen 
eine  Substanz,  die  es  nur  fesselte;  es  wandte  sich  damit  gegen  jede 
solche  Substanz  und  stellte  ihr  als  das  Wesenhafte  gegenüber  die  Idee 
der  imbeschränkten  freien  Ichheit,  Einzelnheit.  Das  Weitere,  was  in 
tmsrer  Philosophie  geschah,  das  eigne  Ich  selbst  als  Substanz  zu 
fassen,  das  war  ein  Schritt,  der  damals  schlechthin  unmöglich  war, 
der  erst  möglich  und  notwendig  wurde,  als  die  Idee  der  französischen 
Revolution,  die  Idee  der  unbeschränkten  Ichheit,  dieser  Gegensatz 
gegen  seinen  mittelalterlichen  Gegensatz,  sich  sattsam  ausgetobt 
hatte.  —  Bemerke  übrigens,  wie  in  der  französischen  Revolution  die 
Idee  der  abstrakten  Freiheit  Hand  in  Hand  geht  mit  der  oben  auf- 
gezeigten und  erörterten  Idee  der  abstrakten  Subjektivität.  Das  sind 
nur  zwei  Seiten  eines  und  desselben  Gedankens.  Oder  vielmehr,  die  Idee 
der  abstrakten  Freiheit  zeigt  nur  dasselbe  dem  Inhalte  nach,  was  die 
Idee  der  abstrakten  Subjektivität  der  Form  nach  zeigt.  Weil  die  fran- 
zösische Revolution  die  Idee  des  Subjekts  noch  abstrakt  faßt,  das 
Subjekt  noch  nicht  faßt  wie  es  substantiell  erfüllt  ist,  bringt  sie  es 
auch  noch  nicht  zur  Idee  der  substantiellen  Freiheit.  Oder  von 
einer  anderen  Seite:  Weil  die  französische  Revolution  die  Idee  des 
Subjekts  nur  noch  formal  faßt  (siehe  oben),  bringt  sie  es  auch  nur 
zur  formalen  Freiheit  (des  unbeschränkten  Könnens  und  Lassen- 
Xönnen  etc.). 


Aber  weiter.  —  Wir  haben  gesehen,  daß  die  Freiheit  der 
französischen  Revolution  nichts  andres  war,  als  die  Idee  der  absoluten 
Bestimmungslosigkeit,  der  vollendeten  persönlichen  Unabhängigkeit. 
Diese  Idee  der  vollendeten  persönlichen  Unabhängigkeit  muß  sich  noch 
weiter  ausbilden.  Der  Staat  kann  dem  Subjekt  nur  die  persönliche 
Unabhängigkeit  nach  ihrer  formalen  Seite  hin  (als  Anerkennimg 
dieser  Unabhängigkeit,  Staatsfreiheit  etc.)  garantieren,  er  kann  nur 
dies  Formale  aussprechen:  daß  das  Subjekt  schlechthin  unabhängig 
sei  und  nicht  nötig  habe,  sich  von  einem  andern  bestimmen  zu  lassen, 
abzuhängen.  Die  wahrhafte  reale  Unabhängigkeit  konnte  auch  der 
Staat  Robespierres  dem  Subjekt  nicht  geben.  Wahrhaft,  realiter  un- 
abhängig ist  das  Ich  nur  dann,  wenn  es  um  sich  einen  Kreis  geschlossen 
hat,  dessen  alleiniger  Mittelpimkt  es  selbst  ist,  wenn  innerhalb  dieses 
Kreises  alle  Bedingungen  fallen,  die  es  für  sich,  seine  Existenz,  Leben 
braucht,  so  daß  das  Ich  nicht  nötig  hat,  aus  diesem  seinem  Kreise  her- 
auszutreten imd  sich  auf  die  Kreise  anderer  Ichs  einzulassen.  Mit  einem 
Wort,  realiter  imabhängig  ist  das  Ich  nur  dann,  wenn  es  selbst,  für 
sich,  ohne  andere  zu  brauchen,  die  Bedingungen  hat,  die  für  seine 
Existenz  nötig  sind :  Besitz,  Eigentum,  Geld.  Im  Gegensatz  gegen 
diese  reale  Unabhängigkeit  des  Ichs,  die  der  Staat  als  solcher,  selbst 
die  Republik,  nicht  gewähren  kann,  ist  die  Freiheit,  die  der  Staat 
ausspricht,  nur  die  formale  Anerkennimg  der  Unabhängigkeit  des 
Individuums;  was  nützt  diese,  wenn  das  Ich  in  der  WirkUchkeit,  um 
seine  Lebensbedürfnisse  zu  befriedigen,  an  andere  verwiesen  und  also 
realiter  von  ihnen  abhängig  ist?!  Der  Staat  spricht  die  Freiheit  und 
Gleichheit  der  Individuen  nur  als  Recht  aus,  aber  als  nur  Recht, 
bloßes  formales  Recht,  noch  nicht  als  absolut  ausgeführtes  Recht. 
Das  Individuum  ist  trotz  aller  Anerkennung  seiner  Rechtsansprüche 
auf  Freiheit,  Gleichheit,  persönliche  Unabhängigkeit  doch  nichtsdesto- 
weniger vollkommen  abhängig,  unfrei,  wenn  es  diese  Bedingungen 
seiner  Existenz,  Eigentum,  Besitz  etc.,  nicht  in  sich  selbst  hat.  Erst  wenn  es 
diese  Bedingimgen  innerhalb  seines  eignen  Kreises  hat,  dann  ruht  es 
vollkommen  frei ,  unabhängig  innerhalb  der  Pfähle  seines  Eigentums, 
wie  Gott  in  seiner  Stemenschanz.  Und  darum  entsteht  nun  und  von 
dieser  Zeit  an  das  Haschen  und  Ringen  des  Subjekts  nach  Be- 
sitz, Eigentum,  Geld — das  ist  der  Materialismus.  Der  Materia- 
lismus ist  nichts  anderes  als  das  Streben  imd  die  Arbeit  des  Ich,  seinen 
selbsteigenen  Kreis  um  sich  zu  ziehen,  seine  persönliche  Unabhängigkeit, 
die  nur  noch  als  formales  Recht  ist,  auch  wirklich  auszuführen,  sie 
zu  vollenden,  sich  an  der  Dingheit  des  Eigentums  das  Gefühl  seiner 
vollkommenen  Ichheit  und  deren  vollendeter  Selbständigkeit  zu 
geben.    Und  darum  entsteht  in  jenem  Augenblicke  der  Materialismus 


und  wird  eine  Weltmacht.  Sieh,  das  war  etwas  Hartes,  sehr  Hartes 
für  den  Geist,  aber  seine  eigne  notwendige  Fortentwicklung.  Der 
Idealismus  der  französischen  Revolution,  die  Idee  der  absoluten 
Freiheit,  d.  h.  der  absoluten  persönhchen  Unabhängigkeit  und  Be- 
stimmungslosigkeit,  muß,  um  diese  seine  Unabhängigkeit  imd  Bestim- 
mungslosigkeit,  seine  vollkommene  Freiheit  auszuführen,  also  grade 
um  seinen  Idealismus  zu  verwirklichen,  sich  selbst  zu  der 
Geist-  und  Ideallosigkeit  des  Materialismus  entwickeln!  Es  ist  also 
sehr  ungründlich  und  seicht,  zu  glauben,  wenn  man  die  Masse  unserer 
Materialisten  sieht,  diese  Leute  erhielten  sich  gegen  alle  Idee  und 
Geist,  weil  sie  sich  in  der  Tat  um  alle  ideellen  Interessen  nicht  kümmern 
und  wäre  ihr  bloßes  Bestehen  schon  ein  Beweis,  daß  man  sich  gegen 
die  Idee,  den  Geist  absperren  könne.  Im  Gegenteil  haben  sie  sich  uns 
erwiesen,  selbst  nur  eine  Stufe  des  Geistes,  und  zwar  grade  des  revolu- 
tionären, freiheitskämpfenden  Geistes  zu  sein,  so  wenig  sie  auch  davon 
eine  Ahnung  haben.  Darum  ist  der  Materialismus  auch  erst  ein  Produkt 
dieser  neuesten  Zeit.  Er  ist  noch  nie  vorher  in  der  Geschichte  auf- 
getreten. Er  ist  ein  Produkt  dieser  neuesten  Zeit,  denn  er  ist  ein  Produkt 
und  Stufe  des  neuen  Idealismus  und  Geistes.  Der  Materiahsmus,  der 
Materialismus  zu  sein  glaubt,  ist  vielmehr  nur  das  Resultat  und  die 
Vollendung  des  abstrakten  Idealismus,  der  Idee  der  abstrakten 
Freiheit  (und  doch  zugleich  der  strikte  Gegensatz  gegen  allen  Idealis 
mus  und  Freiheitsinteressen.  Das  ist  die  sogenannte  Dialektik  der 
Geschichte).  — 

Und  nun  schnell  noch  eine  andere  Konsequenz.  —  Wir  haben  oben 
gesehen,  wie  die  Freiheit  der  französischen  Rev^olution  zu  ihrem  Inhalt 
hatte  die  abstrakte  Ichheit,  dasich,  das  sich  als  spröde  Punktualität, 
als  Atom,  das  schlechthin  für  sich  ist,  erfaßt  und  sich  in  dieser  Einzelheit 
isoliert  hinstellt,  das  Ich,  das  nicht  schlechthin  regiert  und  bestimmt 
ist  von  dem  objektiven  Begriff,  dem  sittlichen  Wesen  des  allgemeinen 
Geistes,  sondern  an  seiner  abstrakten  Einzelheit  festhält.  Ich  habe 
schon  oben  dies  Prinzip  der  abstrakten  Freiheit  als  das  Prinzip  der 
Willkür  charakterisiert,  ich  habe  schon  oben  gesagt,  wie  es  die  sitt- 
liche Totalität  des  Staates  in  atome  für  sich  seiende  und  für  sich  gehende 
Punkte  zersprengen  müsse,  wie  es  nicht  eine  Freiheit  des  Staates 
l>egründe,  sondern  ein  Freisein  vom  Staate  und  seinem  objektiven 
Geiste.  Dies,  daß  wenn  das  Ich  sich  als  nicht  regiert  vom  objektiven 
Geiste  als  für  sich  seiendes  Atom  erfaßt,  der  vStaat  sich  in  die  Vielheit 
dieser  Einzelnen  auflösen  müsse,  dies,  daß  das  Ich,  welches  nur  für 
sich  und  nicht  schlechthin  dem  allgemeinen  Geiste  ergeben  ist,  in  diesem 
seinem  abstrakten  Fürsichsein,  als  dieser  atome  Punkt  gegen  alle  die 
anderen  ebenso  isolierten  Punkte  gehen  müsse  (es  kann  nur  gegen  diese 


125  — 

ebenso  atome  Punkte  gehen,  nicht  gegen  eine  Allgemeinheit,  denn  diese 
besteht  ja  gar  nicht,  die  Totahtät  der  Allgemeinheit  ist  ja  eben  in  die 
Vielheit  der  Punktualität  der  Einsse  aufgelöst)  — ■  dieser  Kampf 
aller  gegen  alle  ist  eine  logische  Folgerung  des  Begriffs,  die  sich 
demgemäß  auch  verwirklichen  muß.  Zwar  zuerst  ist  noch  in  der  Kon- 
stitution Robespierres  gesagt,  es  stände  einem  jeden  nur  frei  ä  faire 
tout  ce  que  ne  nuit  pas  ä  autrui  —  aber  das  ist  nur  noch  der  Schein  im 
Anfange,  als  könne  das  Ich,  wenn  es  nun  einmal  nicht  dem  Allgemeinen 
schlechthin  ergeben,  sondern  für  sich  ist,  so  friedlich  hinbestehen 
neben  den  anderen  Ichs.  Dieser  Schein  muß  sich  aufheben.  Auch  der 
Begriff,  wie  er  als  bloß  logischer  auftritt,  ist  noch  nicht  entwickelt, 
seine  Konsequenzen  ruhen  noch  in  ihm  und  treten  erst  dann  heraus; 
ebenso  ist  es  mit  der  Wirklichkeit  des  Begriffs  —  der  Geschichte. 
Wenn  ich  einmal  alles  tun  und  lassen  kann,  was  ich  will  und  was  nur 
einem  andern  nicht  schadet,  wenn  ich  nicht  vielmehr  alle  meine  Energie 
tmd  Kraft  darauf  verwenden  muß ,  um  den  sittlichen  allgemeinen 
Geist  zu  bereichern  und  zu  gestalten,  wenn  ich  nicht  mit  aller  Intensität 
meiner  Fasern  und  Nerven  für  diese  objektive  Substanz,  das  allge- 
meine Wesen,  streben  muß,  schlechthin  muß,  wenn  ich  es  nicht 
immerwährend  aus  mir  zu  produzieren  habe,  mit  meinem  ganzen 
Können  für  dies  Objektive,  Allgemeine  zu  wirken  habe  —  dann  bin  ich 
angewiesen,  dann  habe  ich  mich  zurückgezogen  in  meine  einzelne, 
abstrakte,  empirische  Ichheit,  und  dies  abstrakte  Ich  ist  das,  welches, 
indem  es  bloß  für  sich  geht,  eben  um  für  sich  zu  gehen  gegen  alle 
anderen  geht,  die  ebenso  ihrerseits  als  gleiche  isolierte  Punktuali täten, 
Atome  für  sich  und  gegen  die  anderen  gehen.  Dies  ist  der  Kampf 
aller  gegen  alle,  der  seine  Verwirklichung  und  Organisation  in  der 
Geschichte  findet  in  dem  —  System  der  freien  Konkurrenz.  Wir 
leben  noch  in  diesem  Kampfe,  er  ist  die  gegenwärtige  Weltlage;  man 
ruiniert  den  andern,  man  stößt  ihm  auf  erlaubte  Weise  den  Dolch 
in  die  Brust,  eben  um  sich  das  zu  verschaffen,  was,  wie  wir  gesehen 
haben,  das  abstrakte  Ich  bedarf  zu  seiner  Unabhängigkeit,  den  Besitz, 
und  um  sich  an  diesem  das  Gefühl  und  die  Versicherung  seiner  voll- 
kommenen Freiheit  und  Unabhängigkeit  zu  geben.  — 

Nun  aber  zurück  zu  der  Idee  der  absoluten  Berechtigung  der  ab- 
strakten Subjektivität,  die  wir  oben  S.  5  ^)  besprochen  imd  dann  liegen 
gelassen  haben,  indem  wir  zu  ihrem  Inhalt,  der  französischen  Freiheit, 
übergingen.  Wir  haben  von  diesem  Inhalte,  der  Freiheit,  den  Übergang 
zu  dem  Materialismus  gemacht,  wir  müssen  ihn  nun  auch  von  der  Seite 
der  Form  machen,  sehen,  wie  die  Idee  der  Berechtigung  der  abstrakten 

1)  S.  117  f. 


=^  126 — 

Subjektivität  ihrerseits  ebenso  in  die  Idee  des  Eigentums  übergeht  — 
und  dann  werden  wir  bald  am  Ziele  sein.  Wir  haben  oben  dort  also  ge- 
sehen, wie  die  Revolution  das  Prinzip  der  absoluten  Berechtigung  der 
abstrakten  Subjektivität  aufstellt,  wie  sie  sich  gegen  das  Mittelalter 
wendet,  welches  die  Geltung  imd  Berechtigimg  des  Subjekts,  sein  An- 
undfürsichsein,  daran  knüpft,  daß  es  erfüllt  sei  von  dem  realen 
substantiellen  Standesgeist.  Diese  an  sich  richtige  Idee,  daß  das  Subjekt, 
um  an  imd  für  sich  zu  sein,  substantiell  erfüllt  sein  müsse,  war  in  den 
Standesunterschieden  zur  Naturschranke  umgeschlagen.  Die  Revolution 
zerschlägt  mm  die  Standesunterschiede,  sie  zerschlägt  rmd  leugnet  es, 
daß  das  Subjekt,  um  an  und  für  sich  zu  sein,  um  zu  gelten,  irgend- 
einer substantiellen  ErfüUtheit,  irgendeines  Objektiven  bedürfe,  sie 
spricht  es  aus,  daß  vielmehr  dies,  Subjekt  zu  sein,  die  bloße  Innerlich- 
keit der  Subjektivität,  das  Höchste  und  Berechtigende  sei.  Die  Re- 
volution hatte  unleugbar  recht,  wenn  sie  leugnete,  daß  die  freie 
Innerhchkeit  imd  Subjektivität  von  der  Naturbestimmtheit,  von  dieser 
toten  Objektivität,  abhängig  gemacht  werden  dürfe.  Aber  als  dia- 
metraler Gegensatz  zu  der  entgegengesetzten  Verkehrtheit  des  Mittel- 
alters sprach  sie  dies  an  sich  Wahre:  daß  das  Subjekt,  dies  vollkonmien 
freie  Innerhche,  doch  nur  von  seiner  eigenen  freien  Innerlichkeit  ab- 
hängen könne,  daß  es  von  nichts  derartigem  Objektiven  abhängen 
könne,  zu  dessen  Erreichung  es  nicht  in  seiner  freien  Subjektivität  und 
Innerlichkeit  das  absolute  Mittel  habe,  so  aus :  Das  Subjekt  sei  schlecht- 
hin an  imd  für  sich  und  bedürfe  dazu  wie  zu  seinem  Anerkanntsein  und 
Gelten  durchaus  keiner  ErfüUtheit  von  einem  spezifischen  substantiellen 
Geiste;  die  Subjektivität,  weit  entfernt  an  irgend  etwas  Objektives  ge- 
bunden zu  sein,  sei  für  sich  selbst  das  Höchste.  Dies  Prinzip  der  im- 
beschränkten imd  unbedingten  Subjektivität  stellt  die  Revolution 
auf,  und  wir  haben  es  oben  als  das  Prinzip  der  abstrakten  Subjektivität 
bezeichnet.  Dieses  Prinzip  aber  ist,  wie  gesagt,  eben  seiner  Abstraktion 
wegen  unwahr.  Der  Mensch  in  dieser  ganz  formalen  Bedeutung,  bloß 
Mensch  zu  sein,  wie  er  also  auch  schon  als  Wilder  Naturprodukt  ist, 
ist  überhaupt  erst  an  sich  Mensch,  erst  die  reale  Möghchkeit  eines 
wahrhaften  Menschen,  noch  nicht  seine  Wirklichkeit;  wie  könnte  er 
also  auf  die  höchste  Wirklichkeit  des  Menschen,  auf  die  eines  Staats- 
bürgers Anspruch  machen.  Dazu  genügt  allerdings  die  bloße  Subjekti- 
vität nicht  und  bedarf  es  dazu  vielmehr  in  der  Tat  des  Erfülltseins  mit 
einem  objektiven,  substantiellen  Inhalt.  —  Von  dieser  Seite  angesehen 
also  ist  diese  Idee  der  Revolution  unwahr;  die  Welt  empfindet  das  Un- 
wahre und  die  Leerheit,  Abstraktheit  dieses  Prinzips;  die  Unwahrheit 
dieses  Pathos  führt  seinen  Helden,  Robespierren,  auf  die  Guillotine. 
Aber  was  nun?   Die  Revolution  hatte  es  negiert,  daß  das  Subjekt  für 


—   127 — 

seine  höchste  staatliche  Freiheit  irgendeines  objektiven  substantiellen 
Inhalts  bedürfe.  Jetzt  wird  diese  Negation  negiert.  Die  Welt  sehnt  sich, 
wieder  ein  Objektives,  Substantielles  zu  finden,  von  dessen  Erfülltsein 
sie  die  sonst  leere  und  abstrakte  Subjektivität  abhängig  machen  könne 
(in  bezug  auf  die  vollendete  Realität  des  Staatsbürgers).  Aber  welcher 
Inhalt  sollte  dies  sein?  Welcher  konnte  es  sein?  Offenbar  mußte  ein 
solcher  Gedanke,  Begriff  gefunden  werden,  welcher  einmal  die  beiden 
extremen  Gegensätze,  die  Standesunterschiede  des  Mittelalters  und  die 
abstrakte  Subjektivität  der  Revolution  in  eine  höhere  Einheit 
zusammenfaßte  imd  vereinigte,  sie  beide  als  Momente  in  sich  hatte; 
zugleich  aber,  wie  die  Revolution  der  diametrale  Gegensatz  gegen  die 
Standesimterschiede  des  absolutistischen  Staates  war,  mußte  dieser 
neue  höhere  Begriff  seinerseits  der  diametrale  Gegensatz  gegen  dies 
Prinzip  der  französischen  Revolution  selbst  sein.  Diese  beiden  Seiten 
mußte  der  Begriff  vereinen,  der  jetzt  auftreten  imd  sich  Geltung  ver- 
schaffen sollte.  Diese  beiden  Seiten,  daß  er  die  Gedanken  der  Standes- 
unterschiede und  der  Revolution  in  eine  höhere  Einheit  zusammen- 
fassen und  doch  zugleich  wiederum  nur  der  abstrakte  und  extreme 
Gegensatz  der  Revolution  selbst  sein  sollte  —  diese  beiden  Seiten 
scheinen  vielleicht  unvereinbar,  und  doch  ist  dies  grade  das  Gesetz 
aller  geschichtlichen  Bewegimg.  Dieser  Gedanke,  der  diese  beiden 
Seiten  in  der  Tat  in  sich  vereinte,  ist  nichts  anderes  als  der  Begriff 
des  —  Eigentums,  nichts  anderes  als  der  Gedanke,  die  höchste  Realität 
des  Subjekts  als  regierender  tmd  gesetzgebender  Staatsbürger  im 
Zensus  vom  Eigentimi  abhängig  zu  machen.  Es  ist  tmschwer  zu  sehen, 
wie  dieser  Gedanke  jene  beiden  Momente  in  sich  hat.  Er  vereint  den 
Gedanken  der  Standesimterschiede  mit  dem  der  Revolution,  denn: 
von  jenem  Gedanken  hat  er  dies  Moment  in  sich,  daß  das  Subjekt, 
um  an  imd  für  sich  zu  sein,  um  seiner  vollendeten  Würde  als  gesetz- 
gebender Staatsbürger  zu  genießen,  nicht  genug  habe  an  dieser  seiner 
bloßen,  abstrakten  Subjektivität,  sondern  erfüllt  sein  und  repräsen- 
tieren müsse  ein  Objektives,  Substantielles  (dies  Objektive  ist  eben  nun 
das  Eigentum,  der  Besitz)  —  das  Prinzip  der  Revolution  hat  er  ebenfalls 
als  Moment  in  sich,  denn:  er  gibt  der  Subjektivität  ihre  freie  selbst- 
eigne Unendhchkeit  und  Innerhchkeit  zurück,  er  macht  sie  nicht,  wie 
der  Standesunterschied,  von  der  toten,  der  Subjektivität  unzugäng- 
lichen Objektivität  abhängig,  von  der  Natürlichkeit  der  Geburt,, 
also  von  einem  Inhalte,  der  der  Subjektivität  bei  all  ihrem  freien  sub- 
jektiven Tun  schlechthin  unerreichbar  und  entnommen  ist,  sondern  er 
macht  sie,  im  Eigentume,  von  einem  Inhalt  abhängig,  zu  dessen  Er- 
langung sie  eben  das  absolute  Mittel  an  ihrer  Subjektivi- 
tät selbst  hat.    Der  Besitz  kann  erworben  werden  durch  das   freie 


^—  128  — 

Handeln  der  Persönlichkeit,  durch  das  Ich  und  sein  Können 
und  Tun  —  im  Stande  muß  man  geboren  sein.  (Die  vollendete 
Möglichkeit  des  Erwerbs  ist  dem  Ich  noch  dazu  im  System  der  freien 
Konkurrenz  gegeben.)  — 

So  ist  denn  der  Gedanke  des  Eigentums  in  der  Tat  die  höhere 
Einheit,  welche  die  entgegengesetzten  Momente  der  Standesunter- 
schiede und  der  abstrakten  Persönlichkeit  (des  Revolutionsprinzips) 
in  sich  aufgenommen  hat.  Ich  sagte  aber  auch  noch,  dieser  Ge- 
danke müsse  zugleich  wiederum  der  strikte  und  abstrakte  (extreme) 
Gegensatz  des  Revolutionsprinzipes  sein.  Und  das  ist  er  denn 
auch  in  der  Tat.  Denn  wenn  die  Revolution  das  Prinzip  der  ab- 
strakten Persönlichkeit  auf  seiner  äußersten  Spitze  aufstellt  und  diese 
Persönlichkeit  von  nichts  abhängen  lassen  will,  von  nichts,  nicht 
einmal  von  dem  substantiellen  Geist  des  Standes,  so  macht  das  Eigen- 
tumsprinzip, der  Zensus,  die  Persönlichkeit  und  ihre  höchste  Geltung 
abhängig  —  von  dem  durchaus  Unpersönlichen,  von  der  bloßen 
Ding  hei  t  des  Geldes,  Besitzes,  der  Materie.  Die  Persönlichkeit  hat, 
nachdem  sie  sich  auf  das  äußerste  getrieben  und  alles  ihr  äußerliche 
negiert  hat,  sich  an  ihren  totalen  Gegensatz,  an  das  schlechthin  Un- 
persönliche, an  das  rein  Stoffliche  weggeworfen.  Gegen  diesen  Gegen- 
satz kann  selbst  der  zwischen  dem  Adel  imd  der  Revolution  als  gelinde 
erscheinen.  Denn  wenn  die  Persönlichkeit  vom  Standesunterschied 
abhängig  gemacht  ist,  so  ist  doch  selbst  der  Adel  noch  ein  Innerliches 
gegen  diese  völlige  Selbstentäußerung  des  Geistes  seiner  ^)  an  die  totale 
Äußerlichkeit,  an  die  Dingheit.  —  Das  sind  die  beiden  Momente,  die 
das  Prinzip  des  Eigentums  enthält;  wir  werden  sehen,  wie  sie  sich 
weiter  entwickeln.  Vorerst  einen  Blick  auf  die  Geschichte,  um  zu  sehen, 
daß  sie  mit  der  Entwicklung  des  Begriffs  gleichen  Schritt  hält.  —  Mit 
dem  Sturze  Robespierres  wurde  auch  seine  Konstitution  gestürzt  und 
1795  eine  neue  Konstitution  gegeben,  welche  den  Unterschied  zwischen 
dem  bloßen  Citoyen  und  dem  Citoyen  actif  wieder  einführt;  Citoyen 
actif  ist  nur  der,  der  eine  Contribution  directe  zahlt ;  um  Wähler  endlich 
zu  sein,  muß  man  ein  Einkommen  von  150  bis  200  Tagarbeiten  besitzen. 
Seit  der  Zeit  wuchsen  diese  Bestimmimgen  noch  in  quantitativer  Hinsicht. 
Prinzipiell  aber  wurde  damals  das  Eigentum  als  bedingendes  Prinzip 
festgesetzt  —  und  dies  nie  wieder  aufgehoben.  Seit  dieser  Zeit  ist 
das  Eigentum  und  ihr  Repräsentant,  die  Bourgeoisie,  das  allein  Mächtige 
in  Frankreich,  und  wenn  auch  in  geringerem  Grade  in  den  andern  Ländern. 
Ferdinand,  der  die  französischen  Zustände  aus  eigener  Anschauung 
kennt,  wird  Dir  sagen  können,  daß  dort  weder  der  König  noch   der 

M   Sic! 


—  =^^=-  129  —  = 

Adel  noch  die  Geistlichkeit  die  Macht  hat,  die  der  Besitz,  das  Geld 
hat.  — 

Was  sich  also  bis  jetzt  ergeben  hat,  ist:  i.  das  Eigentum,  der  Besitz, 
als  der  objektive  Inhalt,  mit  dem  es  seine  sonst  leere  Subjektivität 
erfüllen,  den  es  in  sich  aufgenommen  haben  und  repräsentieren  müsse, 
um  an  und  für  sich  zu  sein  und  sich  zur  vollendeten,  jetzt  formalen  wie 
realen  Unabhängigkeit  und  Freiheit  zu  erheben,  2.  das  Haschen  und 
Ringen  der  Subjekte  nach  diesem  Besitz  vmd  damit  der  vollendeten 
Unabhängigkeit,  der  Materialismus,  dieser  bereits  oben  charakterisierte 
Kampf  aller  gegen  alle,  der  sich  seine  Organisation  gibt  in  dem  System 
der  freien  Konkurrenz  und  sein  absolutes,  geeignetes  Mittel  hat  in 
der  Industrie.  Die  Industrie,  sage  ich,  ist  das  geeignete,  absolute 
Mittel  hiezu.  Der  Handel  wäre  es  nicht;  denn  im  Handel  handelt  es 
sich  um  das  objektive  Substrat  des  Handels,  die  Sache  selbst,  die 
Ware.  Die  Industrie  hingegen  ist  es,  in  der  das  Prinzip  der  freien 
Subjektivität,  der  Persönlichkeit,  seine  entsprechende  Verwirklichung 
und  Geltung  findet.  In  der  Industrie  handelt  es  sich  nicht  sowohl  um 
das  objektive  Substrat,  den  Stoff  selbst,  sondern  vielmehr  um  die  den 
Stoff  formierende  bearbeitende  Persönlichkeit.  Wenn  im  Handel  der 
Wert  durch  die  Sache  selbst  bestimmt  ist,  so  kommt  es  hier  vielmehr 
auf  die  Bearbeitung  an.  In  der  Industrie  kann  sich  die  Subjektivität 
und  ihre  freie  Innerlichkeit,  das  Talent,  zeigen  und  Geltvmg  verschaffen, 
in  der  Industrie  erringt  das  Subjekt  sich  das  Objektive  —  den  Besitz  — 
gerade  durch  die  Tätigkeit  und  Ausbeutung  seiner  Persönlichkeit, 
InnerUchkeit,  Subjektivität,  durch  sich,  vmd  zwar  durch  das  AUer- 
subjektivste  in  ihm,  durch  seine  Fertigkeit,  Geschmack,  Talent.  Darum 
ist  die  Industrie,  in  welcher  das  Subjekt  immittelbar  durch  das  Mittel 
seiner  Subjektivität  sich  jenen  objektiven  Inhalt  verschafft,  der  adäquate 
Weg  zur  Erringung  des  Besitzes,  der  Besitz  selbst  der  substantielle 
Inhalt,  an  den  die  Geltung  der  Subjektivität  geknüpft  werden  kann 
eben  deswegen,  weil  es,  das  Subjekt,  in  sich  selbst  das  Mittel  für  die 
Erlangung  jenes  Objektiven  hat.  Und  darum  tritt  nun  die  Industrie 
auf  und  wird  ebenfalls  eine  Weltmacht  und  erlangt  eine  Höhe,  von  der 
man  früher  keine  Ahnung  hatte.  — 

Bis  jetzt  haben  wir  das  ,, Woher"  der  Industrie  untersucht;  wir 
wollen  nun,  wenn  auch  kürzer,  ihr  ,, Wohin"  untersuchen.  Wir  haben 
oben  (S.  10  zu  Ende  und  S.  11  zu  Anfang)^)  gesehen,  daß  die  Idee,  das 
Eigentum  (imd  also  formal  genommen  die  Industrie,  —  insofern  diese 
eben  das  formale  Mittel  für  die  Erreichung  des  Eigentums  ist)  als  die 
-objektive  Bedingimg  aufzustellen,   von  der  die  Vollendung  und  das 


')  S.  127. 

Mayer,  Lassalle-Nachlass.     I 


—  130 -...= 

Anerkanntsein  der  Subjektivität  abhängig  gemacht  wird,  zwei  Momente 
oder  Seiten  in  sich  schließt.  Die  eine  dieser  Seiten  war  die,  nach  welcher 
dies  Eigentumsprinzip  die  schroffen  Gegensätze  der  Standesunterschiede 
und  der  abstrakten  Subjektivität  der  Revolution  zu  einer  höhern  Einheit 
in  sich  faßt,  indem  es  das  Subjekt  abhängig  macht  von  einem  Objektiven, 
das  doch  nur  wiederum  innerhalb  des  Kreises  und  der  Macht  der  Sub- 
jektivität selbst  liegt;  die  andere  Seite  aber  war  die,  daß  das  Eigen- 
tumsprinzip selbst  zugleich  der  diametrale  und  abstrakte  Gegensatz 
des  Revolutionsprinzips  ist,  indem  in  ihm  die  Persönlichkeit  sich 
abhängig  gemacht  hat  von  dem  schlechthin  Unpersönlichen,  der 
äußerlichen  starren  Dingheit  der  Materie,  von  dem  Gelde.  Diese 
beiden  Seiten  und  Momente  konstituieren  das  Wesen  und  Schicksal 
des  Eigentum-  imd  Industrieprinzips.  Jene  erste  Seite  ist  es,  die  es  zur 
positiv  berechtigten  Zeitidee  erhebt,  und  der  es  seine  Macht 
und  Verwirklichung  verdankt;  die  zweite  Seite  aber  ist  das  Negative 
in  ihm,  der  Keim  seines  Todes  in  ihm  selbst.  (Beiläufig:  jede 
geschichtliche  Erscheinung  muß  diese  zwei  Seiten  in  sich  haben; 
ohne  die  erste  könnte  sie  gar  nicht  entstehen,  und  ohne  die  zweite, 
wenn  sie  nicht  den  Keim  des  Todes  in  sich  selbst  trüge,  nicht 
vergehen.) 

Der  Mensch  hat  in  dem  Staat  der  Industrie  sich  zuerst  abhängig  ge- 
macht von  seiner  formierenden,  bearbeitenden  Tätigkeit,  von  seiner 
eigenen  Subjektivität  —  das  ist  das  erste  Begriffsmoment,  welches  es 
möglich  (sogar  notwendig)  macht,  daß  diese  Industrie  ein  Reich  gründet, 
eine  Zeit  und  Staaten  beherrscht;  —  der  Mensch  hat  aber  vielmehr 
ebensosehr  in  der  Industrie  tmd  ihrem  Staate  sich,  diese  freie  Lebendig- 
keit und  Innerlichkeit,  von  dem  durchaus  Toten  und  rein  Sachlichen, 
von  der  starren  Dingheit  abhängig  gemacht  —  das  ist  das  entgegen- 
gesetzte ebenso  wahre  Moment  des  Begriffs,  das  nun  auch  in  der  Ge- 
schichte sich  handgreiflich  darstellen  und  zeigen  muß.  Es  zeigt  nun 
die  Industrie  in  ihrem  realen,  praktischen  Verlauf  dies  entgegengesetzte 
negative  Moment  des  Begriffs.  Wie?  So.  Solange  die  Möglichkeit  be- 
steht, daß  der  Mensch  sich  in  und  durch  die  Industrie  Eigentum  er- 
wirbt und  damit  die  objektive  Bedingung,  die  ihm  der  Staat  stellt, 
erfüllt,  solange  er  sich  wirklich  durch  seine  subjektive,  bearbeitende 
Kraft  dies  Eigentum  erringt  und  erringen  kann,  —  solange  herrscht 
das  erste  Moment  des  Begriffs,  daß  das  Subjekt  nur  von  seiner  eigenen 
Subjektivität  abhänge  und  auf  dieselbe  angewiesen  sei.  Das  entgegen- 
gesetzte Moment,  daß  der  Mensch  vielmehr  von  dem  ihm  schlechthin 
Äußerhchen,  dem  total  Unpersönlichen,  dem  Geld,  der  Dingheit  ab- 
hängig gemacht  sei,  —  dies  zeigt  und  setzt  die  Industrie  in  ihrem  eigenen 
Prozesse  so:  daß  sie  sich  in  zwei  Teile,  wenn  man  so  will,  zerlegt,  welche 


=====  131  ==^ == 

eben  jene  beiden  Momente,  das  Subjekt  und  die  Materie,  repräsentieren. 
Das  erste  sind  die  Subjekte,  die  an  ihrer  negativen,  formierenden  sub- 
jektiven Kraft  imd  Tätigkeit  das  absolute  Mittel  und  Material  der 
Industrie  selbst  —  die  Subjektivität  —  an  sich  tragen  und  geltend 
machen,  das  sind  die  Arbeiter.  Das  zweite  ist  die  Macht  der  toten 
objektiven  Materie,  der  Dingheit;  sie  wird  repräsentiert  durch  die  — 
Kapitalisten.  Diese  haben  an  ihrem  Kapital,  Gelde  jene  objektive 
Materie,  jene  Stofflichkeit,  die  ihre  Macht  an  ihnen  zur  Schau  stellt 
und  auslegt.  Dies  nun,  daß  die  Subjektivität  sich  vielmehr  weggeworfen 
an  das  schlechthin  Unpersönliche,  an  die  bloße  materielle  Stofflich- 
keit des  Geldes  und  von  ihr  abhängig  gemacht  habe,  zeigt  sich  in 
der  organischen  Lebensform,  in  der  die  Industrie  sich  verleiblicht 
hat,  in-  dem  System  der  freien  Konkurrenz,  so,  daß  der  Nicht- 
kapitalist  von  dem  Kapitalisten  besiegt  wird.  Dieser  Sieg  des 
Kapitalisten  über  den  Nichtkapitalisten  ist  nichts  anderes  als  der 
Sieg  der  objektiven  Materialität  des  Stoffes,  des  Geldes,  der 
Sieg  der  Dingheit  über  die  subjektive,  bearbeitende  Tätig- 
keit, über  die  Persönlichkeit,  Subjektivität  und  ihre  Kraft. 
Daher  die  Not  der  Arbeiter  und  das  ihre  Bedeutuns:  für  die  Industrie, 
daher  die  Not,  die  noch  immer  größer  werden  wird  imd  muß.  —  Damit 
ist  mm  ein  Doppeltes  geschehen;  indem  es  herausgekommen  ist,  daß 
das  Subjekt  sich  doch  nicht  durch  all  sein  innerhches  Tun  den  Besitz, 
das  Geld  verschaffen  kann,  ist,  in  dem  Zensus,  dem  Individuum  die 
Freiheit  im  Staate  und  ihre  formale  Anerkennung  versagt.  Zugleich 
wird  in  dem  ntm  entzündeten  allgemeinen  Kampf  imd  Streben  nach 
Geld  und  dadurch,  daß  dies  eben  der  Kapitalist  siegreich  an  sich  zieht, 
seine  wirkliche  persönliche  Unabhängigkeit  auf  das  Entschiedenste 
negiert.  Es  ist  somit  durch  den  eignen  Prozeß  der  Industrie  klar  und 
deutlich  gesetzt,  dargelegt,  daß  in  dem  auf  das  Eigentumsprinzip 
basierten  Staat  die  Persönlichkeit,  das  Subjekt  sich  abhängig  gemacht 
und  hingegeben  habe  an  die  Dingheit,  an  das  Extrem  aller  Innerlich- 
keit imd  Subjektivität,  an  die  reine  Äußerlichkeit  des  Stoffes,  Zu 
diesem  quasi  Abfall  von  sich  selbst  hatte  es  das  Prinzip  der  Persönlich- 
keit durch  seine  eigene  Entwickltmg  gebracht.  Aber  die  Idee  der  Sub- 
jektivität, absoluten  Persönlichkeit  ist  einmal  das  treibende  Rad  in 
der  ganzen  neuen  Geschichte.  Diese  Idee  mußte  wohl  dazu  kommen 
(wie  jeder  sich  entwickelnde  Begriff),  sich  in  den  absoluten  Gegensatz 
ihrer  selbst  zu  verkehren,  aber  aus  dieser  Spannung  und  diesem  Gegen- 
satz nimmt  sie  sich  ewig  wieder  in  sich  zurück.  Sie  hatte  sich  gesetzt 
unter  die  Macht  des  Stoffes,  sich,  die  Persönlichkeit,  selbst  abhängig 
gemacht  von  einem  Objektiven,  das  der  Subjektivität  als  solcher 
schlechthin  unerreichbar  ist;  aus  diesem  Verluste  ihrer  kehrt  sie  zu 


132    .=:==== 

sich  selbst  zurück  und  setzt  nun  vielmehr  jene  Objektivität  (des  Stoffes, 
die  Dingheit  des  Geldes  etc.)  als  schlechthin  subsumiert  unter  die  Subjek- 
tivität, als  schlechthinund  von  vorneherein  zugehörig  der  Persönlichkeit  — 
der  Kommunismus.  Im  Kommunismus  wird  die  freie  unendliche  Sub- 
jektivität wieder  in  ihre  ewigen,  unveräußerlichen  Rechte  eingesetzt. 
Im  Kommunismus  wird  alle  Subjektivität,  Persönlichkeit  als  das  Un- 
endliche, als  das  Übergreifende  ausgesprochen,  dem  jenes  äußer- 
liche Objektive,  der  Besitz,  weit  entfernt  gegen  sie,  die  Persönlichkeit, 
eine  Instanz  sein  zu  können,  vielmehr  absolut  unterworfen  und  an- 
gehörig sei.  Die  Idee  der  Subjektivität  kommt  im  Kommunismus 
zu  der  Höhe  und  Ausbildung,  sich,  der  Subjektivität,  eben 
weil  sie  Subjekt,  Person  ist  und  der  absoluten,  unendlichen  Be- 
rechtigung wegen,  die  dies,  Person  zu  sein,  mit  sich  bringt, 
die  Objektivität,  den  Besitz  schlechthin  zu  vindizieren  ■ — ■ 
das  wird  ausgesprochen  in  dem  Satze  von  der  gleichen  Berechtigung 
aller  Person  auf  gleichen  Besitz,  Gütergemeinschaft  etc.  Die  Zeit  er- 
laubt mir  nicht,  die  Gliederungen  des  Kommunismus  näher  durch- 
zunehmen imd  zu  verfolgen.  Kr  tritt  in  seiner  rohesten  Gestalt  gleich 
auf,  nachdem  in  der  Konstitution  von  1795  das  Eigentum  als  Prinzip 
für  die  Staatsfreiheit  hingestellt  worden,  im  Jahre  1796  in  der  Ver- 
schwörung Babeufs  und  seiner  Genossen,  entwickelt  sich  dann  immer 
mehr,  bildet  sich  zu  den  sozialistischen  Theorien  St.  Simons  und  Fouriers 
aus,  die  ihren  Grundgedanken  nach  ebenfalls  zum  Kommunismus  ge- 
rechnet werden  müssen,  wird  dann  zum  eigentlichen  Kommunismus, 
spaltet  sich  wiederum  in  verschiedene  Sekten,  als  die  Travailleurs 
egalitaires,  die  Refonnistes  und  kommt  endlich  zu  seiner  vorläufig 
höchsten  Gestalt,  dem  ikarischen  Kommunismus,  den  Cabet  gestiftet 
und  vertritt  (aber  auch  in  dieser  Gestalt,  so  tief  und  wahr  seine  auf- 
gezeigte Bedeutung,  ist  er  noch  abstrakt  und  einseitig). 

So  hat  sich  denn  die  Idee  der  absoluten  Berechtigung  aller  Sub- 
jektivität, die  das  Prinzip  der  Revolution  ist,  nachdem  sie  sich  zu  ihrem 
Gegensatz,  dem  Gefesseltsein  an  die  tote  Objektivität  der  Sache  um- 
gebildet, jetzt  wieder  aufgenommen,  und  zwar,  wie  Du  siehst,  in  einer 
unendlich  potenzierten,  weit  intensiveren  Gestalt.  Der  radikalste 
Republikaner  hatte  nicht  daran  gedacht,  diese  ganze  Sphäre  der  ob- 
jektiven Welt,  sogar  das  Eigentum,  der  Subjektivität  und  ihrer  im- 
endlichen  Berechtigimg  zu  vindizieren.  Weit  entfernt  also,  daß  der 
Staat  der  Bourgeoisie  ein  Rückfall  sei  gegen  die  Republik,  ist  er  nur 
dieser  gezeigte  Fortschritt  der  Idee  zum  Kommunismus.  Die  abstrakte 
Egalite  der  Revolution  ist  hier  zur  wirklichen  Gleichheit,  die  ,, Freiheit 
und  Gleichheit",  die  in  der  Revolution  als  bloß  formales  Recht 
existierte,  wobei  denn  der  einzelne,  wenn  er  arm,  bedürftig  etc,  war, 


der  Unfreiheit,  Abhängigkeit,  Ungleichheit  reahter  durchaus  nicht  ent- 
nommen war,  zum  absolut  ausgeführten  Recht  geworden.  Dabei 
will  ich  Dich  auf  ein  oben  berührtes  geschichtliches  Gesetz  aufmerk- 
sam machen.  Ich  sagte  beim  Übergang  von  der  Revolution  in  den 
Eigentumsstaat:  Es  müßte  die  neue  Idee,  die  jetzt  kommen  sollte, 
einmal  die  beiden  vorhergegangenen  Gegensätze  der  Standesunter- 
schiede und  der  Revolution  als  Momente  in  sich  fassen,  zur  höheren 
Einheit  vereinen  und  dann  der  strikte  Gegensatz  der  Revolution  selbst 
sein.  Ich  zeigte  auch  von  der  Idee  des  Eigentums,  daß  sie  diese  beiden 
Anforderungen  erfülle.  Ebenso  nmi  muß  es  jetzt  mit  dem  Kommunis- 
mus sich  verhalten.  Er  muß  einmal  die  Einheit  der  unmittelbar  vorher- 
gegangenen Gegensätze,  des  Revolutionsprinzips  und  des  Eigentums- 
staates und  doch  wiederum  die  strikte  Negation  und  Gegensatz  des 
Eigentumsstaates,  des  Industrialismus  selbst  sein.  Er  ist  die  sin  der 
Tat  auch,  und  wir  hätten  den  Übergang  daher  wiederum  so  machen 
können.  In  dem  Eigentumsstaat  war  das  Subjektive  an  die  tote  Ob- 
jektivität gebunden  imd  in  sie  verkommen.  Dies  setzte  sich,  wie  breit 
besprochen,  in  dem  Prozeß  der  Industrie  und  seinen  Folgen.  Es  mußte 
sich,  nachdem  man  so  im  Gegensatz  zu  dem  unbedingten  Subjektivis- 
mus der  Revolution  die  Wahrheit  des  objektiven  Momentes  in  das 
Extreme  verfolgt  hatte,  die  an  und  für  sich  seiende  Wahrheit 
und  Berechtigung  des  Subjekts  wieder  hervortun,  das  subjektive 
Moment,  zugleich  aber  konnte  eben  die  Errungenschaft  des  Eigen- 
tumsstaates, nämlich  die  Wahrheit  und  Berechtigung  auch  dieses 
Objektiven,  nicht  verloren  gehen.  Der  Kommunismus  erfüllt  beides. 
Er  erlöst  das  freie  Subjekt  aus  den  Banden  der  toten  Objektivität, 
in  denen  es  gehalten  war,  er  erkennt  seine  absolute  Berechtigung,  seine 
an  mid  für  sich  seiende  Wahrheit  an,  denn  er  vindiziert  das  Eigen ttun 
dem  Subjekte,  eben  weil  es  Subjekt  ist,  aber  er  anerkennt  auch  die 
Wahrheit  mid  Berechtigung  jener  objektiven  vSphäre.  In  der  Revo- 
lution war  das  Eigentum  als  etwas  durchaus  Gleichgültiges  betrachtet 
worden  für  das  Subjekt,  seine  Freiheit,  staatliche  Vollendung  und 
Gelttmg ;  im  Kommunismus  wird  dagegen  die  Wahrheit  und  Bedeutung 
dieses  Objektiven,  des  Eigentums  so  sehr  anerkannt,  daß  es  sogar  zur 
Devise  und  Parole  erhoben  wird.  Das  ist  das  Moment,  das  der  Kommimis- 
mus  vom  Industriestaate  hat,  und  so  ist  er  denn  die  Einheit  beider. 
Er  ist  aber  auch  die  vollkommene  Negation  des  Eigentumsprinzips ; 
nun  das  brauch'  ich  erst  nicht  zu  beweisen,  das  wird  mir  jeder  Mann 
von  Vermögen  zugeben. 

Du  hast  nun  gesehen,  daß  der  Kommunismus  seine  ideelle  Be- 
rechtigung einmal  hat,  und  es  hilft  daher  kein  Zittern  vor  dem  Fieber; 
er  wird  sich,  wie  jede  Stufe  des  Begriffs,  schon  durchsetzen;  es  ist  auch 


—  134 = 

gar  nicht  so  etwas  Hartes,   es  sind  schon  weit  härtere  Übergänge  da- 
gewesen. 

Nun  aber  noch  eins.  Der  Kommunismus  ist,  wie  aus  allem  bis- 
herigen klar,  die  unmittelbare  Weiterbildung  des  Industrialismus  etc. 
vmd,  als  unmittelbare  Fortentwickltmg,  daher  auch  unmittelbare  Ne- 
gation des  Eigentumsprinzips  etc.  Es  muß  aber  aus  allem  bisherigen 
noch  etwas  klar  sein,  das  nämlich,  daß  die  Industrie  selbst  nichts 
ist  als  die  erste  noch  verhüllte  Gestalt  des  Kommunismus.  Daß 
dem  so  ist,  muß,  wie  gesagt,  nach  dem  frühern  deutlich  sein  und 
brauchte  kaum  angedeutet  zu  werden.  Der  Kommunist  polemisiert 
am  heftigsten  gegen  die  radikalen  Demokraten,  die  Republikaner, 
tmd  zwar  deswegen,  weil  diese  nur  die  formale,  staatliche  Freiheit 
und  Unabhängigkeit  des  Subjekts  erzielen,  die  reale  Vollendung  des 
Subjekts  aber,  die  Richtung  und  Teilnahme  auf  das  Objektive,  den 
Besitz  unberücksichtigt  lassen.  Ganz  ebenso  unterscheidet  sich  dem 
Begriff  nach  der  Eigentumsstaat  der  Bourgeoisie  von  der  Republik,  die 
er  stürzt,  indem  er  eben  diese  Richtung  des  Subjekts  auf  das  Objektive, 
seine  Erfüllung  dadurch  und  seine  Vollendimg  daran  als  das  Höchste 
setzt.  Beiden,  dem  Eigentumsstaat  und  dem  Kommunismvis,  gilt  als 
höchstes  Ziel  und  als  der  das  Subjekt  zur  Vollendung  bringende  Inhalt, 
dieser  objektive  Inhalt  eben,  die  Materie.  Die  Industrie  nun  ist,  wie 
wir  gesehen  haben,  nichts  als  die  Form  des  Eigentumsstaates.  Die 
Form,  in  der  die  Individualität  darauf  ausgeht,  dies  Ziel  ihrer  Vollendung 
zu  erreichen.  Das  ist  auch  die  Tendenz  des  Kommunismus.  Das  Unter- 
scheidende dabei  ist  aber  das:  Die  Individualität  ist  im  Eigentums- 
staate, wie  wir  oben  gesehen  haben  (als  Folge  des  Freiheitsbegriffes 
der  Revolution),  die  empirisch  vereinzelte  Ichheit,  nicht  die  Individua- 
lität, in  der  sich  die  Totalität  des  Staates  abspiegelt;  die  einheitliche 
feste  Form  des  Staates  ist  vielmehr  in  diese  atome  Stücke  zersprungen, 
die,  wie  oben  geschildert,  rein  für  sich  seiende  Ichs  im  Kampf  mit- 
einander jeder  für  sich  dies  Ziel  erreichen  wollen.  Seit  der  Revolution 
ist  der  französische  Staat  aufgelöst  in  diese  nebeneinander  seienden 
Atome.  Der  Kommunismus  erfaßt  zuerst  wieder,  aber  noch  dunkel 
und  unklar,  den  Gedanken  des  Staates  oder  der  Gesellschaft  als  eines 
organischen  Ganzen.  Er  will  daher  die  vereinzelten  Ichs  diesem 
Kampfe,  der  in  der  heutigen  Form  der  Industrie  geführt  wird,  ent- 
nehmen und  sie  das  Ziel  als  organische  Totalität  erreichen  lassen  —  imd 
daher  kommt  es,  daß  die  verschiedensten  kommunistischen  Fraktionen 
als  Hauptforderung  aufstellen  —  eine  Organisation  der  Industrie. 
—  Dadurch  mm,  daß  der  Kommunismus  diese  Idee  der  Organisation, 
der  einheitlichen  Totalität  aufstellt,  hat  er  an  sich  (aber  auch  nur  an 
sich)   den  Begriff  des  Staates  der    objektiven    Sittlichkeit,    der 


—  135  =^ 

eine  Konsequenz  unserer  Philosophie  ist.  Zu  zeigen,  wie  der  Kom- 
munismus vermöge  seiner  eigenen  Natur  übergehen  muß  in  diese 
absolute  Idee  und  wie  er  sich  für  jetzt  noch  von  ihr  prinzipiell  unter- 
scheidet, würde  wiederum  vier  Bogen  fortnehmen,  darum  nichts  davon 
für  heute. 

Aber  der  Kommunismus  ist  ebenso  an  sich  die  Idee  dieses  Staates 
und  sein  Postulat,  wie  die  Industrie  an  sich  Kommunismus  ist  und 
sein  Postulat.   — 

Jetzt  hat  sich  uns  der  vollständige  Begriff  der  Industrie  ergeben 
und  seine  Bedeutung  für  die  Gegenwart  wie  seine  Wurzel  und  Genesis. 
Wir  haben  gesehen,  daß  es  der  eine  Grundgedanke  ist,  der  da  lebt  im 
Materiahsmus,  im  Staat  der  Bourgeoisie  (der  auf  dem  Eigentum  basiert) , 
in  der  Industrie  und  sogar  im  Kommunismus.  Es  ist  der  eine,  oben 
entwickelte  Begriff,  der  im  Materialismus  sich  darstellt  als  innere 
Gesinnung  des  Subjekts,  im  Eigentumsstaat  als  objektiv 
realisierter  Begriff;  dieselbe  innere  Gesinnung  des  Subjekts 
stellt  sich  dar  als  sich  äußernde,  verwirklichende  Tätigkeit  in 
der  Industrie,  als  Kampf  aller  gegen  alle,  der  seine  leibliche 
Realisation  hat  in  dem  System  der  freien  Konkurrenz;  dieselbe 
sich  äußernde  Tätigkeit,  die  Industrie,  aber  als  entnommen  dem  Kampf 
der  für  sich  seienden  Ichs,  als  organisierte  sittliche  Totalität  im 
Kommunismus.  —  Über  den  Kommunismus  besonders  müßte  eigent- 
lich noch  unendlich  vieles  gesagt  und  unterschieden  werden,  vielleicht 
ein  andermal.    — 

Da  hast  Du  nun  den  Begriff  der  Industrie;  den  haben  aber  vor- 
läufig noch  sehr,  sehr  wenige;  und  es  gehört  in  der  Tat  die  ganze 
Energie  des  begrifflichen  Erkennens  dazu,  diese  proteusartigen  Ge- 
stalten festzuhalten,  von  diesen  verschleierten  Saisbildern  den  Iris- 
schleier zu  ziehen  und  das  anscheinend  bloß  Materielle  sich  durchsichtig 
zu  machen.  Und  Du  wirst  mir  nun  recht  geben,  wenn  ich  sage,  daß 
■die  große  Blüte  der  Industrie,  die  sich  jetzt  in  Deutschland  zeigt,  der 
unwiderlegliche  Vorbote  und  Beweis  ist,  daß  Deutschland  nicht  mehr 
weit  von  der  Krise  entfernt  ist.  Die  Arbeiterunruhen  zeigten  bereits, 
daß  die  Industrie  in  ihrem  eigenen  Prozesse  das  in  ihr  negative  Moment, 
wie  ich  oben  sagte,  zu  setzen  anfängt.  Nim,  möge  sie  es  setzen!  Die 
Industrie  hat  hier  die  Waffen  aus  dem  Zeughause  vertrieben;  man 
nimmt  das  für  ein  Zeichen  des  Friedens  und  weiß  nicht,  daß  die  Blüte 
der  Industrie  vielmehr  das  Zeichen  des  bereits  nahen,  blutigsten  Krieges 
ist.  —  Ich  hätte  gern  früher  Dir  den  Brief  geschickt,  aber  es  war  nicht 
möglich.  Ich  habe  über  drei  Tage  daran  geschrieben,  sieben  Stahlfedern 
dabei  abgenutzt  und  39  Zigarren  dabei  verbraucht.  Ich  würde  Dir  gern 
manches  andere  noch  schreiben,    aber  wenn  ich  nicht  schnell  mache. 


^====  136  ^^--:  ---= 

versäume  ich  auch  die  heutige  Post,  und  dann  ängstet  Ihr  Kuch  am 
Ende.  Wann  reist  Du  nach  Leipzig?  Warum  willst  Du  mich  nur  auf 
einen  Tag  besuchen?  Ich  möchte  sehr  gern  auf  2,  3  Tage  nach  Leipzig 
kommen.  —  Wenn  ich  auch  durch  den  vorigen  Brief  Dich  nicht  ent- 
schädigt habe  für  den  Dir  gemachten  Ärger,  so  hoff'  ich  doch,  durch 
diesen  es  getan  zu  haben.  Du  könntest  mir  diesen  Brief  nach  Leipzig 
mitbringen.  Denn  ich  habe  vieles  da  niedergeschrieben,  was  ich  bloß 
bisher  gedacht  habe,  und  es  ist  bequem,  das  niedergeschrieben  zu  be- 
sitzen. Denn  es  kostet  immer  dieselbe  Arbeit  wieder,  es  zu  Papier  zu 
bringen,  wenn  man  es  wieder  einmal  braucht.  So  aber  hat  man  feste 
Anhaltspunkte.  Blochmann  ^)  war  in  der  Tat  da,  gesprochen  habe  ich 
ihn  nicht,  denn  ich  traf  ihn  nicht  tmd  konnte  nur  meine  Karte  ab- 
geben. Die  Tante  Pine  hat  mir  geschrieben,  ich  hätte  ihr  gern  jetzt 
Antwort  geschrieben,  doch  kann  ich  es  wirklich  nicht,  ich  bin  durch 
dies  dreitägige  Schreiben  ganz  matt  und  müde.  Den  geliebten  einzigen 
goldenen  Professor  der  Geschichte  küsse  ich  viel  tausendmal,  ebenso 
meine  einzige  vielgeliebte  Schwester.  Sie  wollten  ja  jetzt  nach  Berlin 
kommen?  Daß  sie  das  ja  nicht  unterlassen!  Wenn  Ferdinand  durchaus 
nicht  schreiben  will,  so  mag  er  es  immer  lassen.  Es  kräht  kein  Hahn 
darnach.  Aber  warum  schreibt  mir  auch  Rikchen  nicht?!?!  Auf 
Bibers  Zigarren  freue  ich  mich  sehr.  Ich  brenne.  Dich  baldigst  wieder- 
zusehen. 

Dein  Dich  innig  liebender  Sohn 

Ferdinand. 


24—27. 
LASSALLE  AN  LONNI  GRODZKA.   (Konzepte  von  Lassalles  Hand.) 
[Undatiert.     Wahrscheinlich  Berlin,  ^^'inte^   1S44 — 1845.] 

I. 

Mein  letztes  Wort. 

Der  gestrige  Tag  hat  meinen  Entschluß  zur  Reife  gebracht,  wir 
müssen  wissen,  wie  wir  miteinander  stehen,  was  wir  voneinander  zu 
erwarten  haben.  Und  wenn  Du  es  auch  für  geratener  zu  halten  scheinst, 
mich  dies  nicht  wissen,  mich  zu  keiner  Gewißheit  kommen  zu  lassen, 
so  sollst  Du  Dich  doch  nicht  über  Mangel  an  Ehrlichkeit  meinerseits 
zu  beklagen  haben.    Ich  will  offen  und  deutsch  zu  Dir  sprechen,  selbst 


^)  Der  Sachverständige  der  Breslaner  Gas-Kompagnie,  an  der  Heymann  Lassal 
beteiligt  war. 


auf  die  Gefahr  hin,  Dir  zu  offen  zu  erscheinen.  Es  sind  nun  wieder  drei 
Tage  vergangen,  seit  jenem  Überfall,  den  ich  bei  Dir  wagte  —  und  die 
vSache  steht  noch  trotz  Deines  festen  Versprechens,  mir  eine  Zusaunnen- 
kunft  zu  geben,  wo  ich  Dir  sagen  möge,  was  ich  Dir  zu  sagen  habe, 
ganz  wie  zuvor.  Noch  immer  angebunden  am  Narrenseile  meiner  Liebe 
und  Geduld,  flattere  ich  auf,  flattere  ab,  bald  glücklich,  wenn  es  Dir 
gefällt  auf  einen  Moment,  bald  wieder,  je  nach  Deiner  L,ust,  mir  selber 
zum  Ekel.  Ich  kann  es  mir  nicht  länger  verbergen,  ich  spiele  eine  lache  r- 
liche  Figur,  eine  erbärmliche  Rolle.  Siehst  Du,  das  ist  etwas  sehr 
Demütigendes  für  mich,  das  sagen  zu  müssen,  für  das  Selbstgefühl 
eines  Mannes,  wie  ich  bin.  Liebe  ist  mehr  als  Stolz,  doch  darf  man  sich 
drum  nicht  ,, wegwerfen".  Ich  glaube,  ich  habe  Dir  genug  Beweise 
meiner  Liebe  gegeben,  willst  Du  andre  —  ich  will  Dir  jeden  geben, 
nur  den  nicht,  daß  ich,  Deiner  Laune  zur  Lust,  andern  zum  Gelächter, 
mir  selber  zum  Ekel  ein  Narr  sei,  vergessend  alles,  was  ich  mir  schuldig 
bin.  Verlangst  Du  das,  so  sieh  Dich  nach  jemand  um,  der  verächtlich 
genug  ist,  ein  solches  Verlangen  zu  erfüllen.  Ich  tue  es  nicht,  und 
wenn  diese  unselige  Leidenschaft  mich  aufzehrte,  GHed  für  Glied,  Bluts- 
tropfen für  Tropfen,  nein  —  ich  tat  es  doch  nicht.  Ich  weiß  nicht,  ob 
Du  von  der  Stärke  meiner  Liebe  zu  Dir  einen  Begriff  hast,  aber  von  der 
Stärke  meines  Willens  hast  Du  sicher  keinen.  Ich  will  mich  nicht  länger 
so  demütigen,  und  wenn  Du  von  dem  Mann,  den  Du  lieben  sollst,  diese 
Verächtlichkeit  verlangst,  daß  er  sich  also  in  den  Staub  treten  lasse 
und  zu  Deiner  Laune  Spielzeug  sich  herabwürdige  —  so  bedauere  ich 
Dich,  mich  selber  aber  beklag'  ich.  Trotzdem,  daß  diese  unselige  Leiden- 
schaft mir  meine  Besonnenheit  geraubt,  meinen  Verstand  geblendet 
hat,  hat  sie  mir  genug  noch  übrig  gelassen,  um  wenigstens  meine  Lage 
\ollkommen  beurteilen  zu  können. 

Es  sind  nur  zwei  Fälle  möglich.  Entweder  Du  liebst  mich  —  dann 
wirst  Du  mir  jene  Zusammenkunft  gewähren,  denn  sie  ist  nötig,  denn 
ich  muß  endlich  Dir  sagen,  was  ich  Dir  zu  sagen  habe.  Oder  Du  ge- 
währst sie  mir  auch  nicht  —  dann  liebst  Du  mich  nicht;  dann  sind  wir 
fertig,  und  dann  entsteht  nur  noch  die  Frage,  warum  Du  mir  jene  Gunst- 
bezeigungen gewährt  hast,  die  ein  Weib  nur  geben  darf  einem  Mann, 
den  sie  liebt?  Merk  es  Dir,  Mädchen.  Ein  Weib,  das  wie  Du  getan, 
einen  Mann  drückt,  an  sich  preßt,  der  Blicke  heißeste  ihm  zuwirft, 
ohne  ihn  zu  lieben,  ist  —  eine  Dirne.  Es  gibt  keinen  Ausweg  für  Dich; 
entweder  Du  liebst  mich  —  oder  Du  gehörst  jener  verv^^orfenen  Klasse 
von  Geschöpfen  an,  deren  Namen  die  Welt  nur  mit  Erröten  nennt. 
Denn  was  das  Wesen  der  Jungfrau  ausmacht,  ist  nicht  das  Jungfern- 
häutchen, ein  gleichgültiger  Lappe  Fleisch,  sondern  die  innere  Keusch- 
heit und  Scham.    Wende  Dich  an  wen  Du  willst,  und  man  wird  Dir 


--=— =  138 ^^^   -^ = 

sagen,  das  Weib,  das  einem  Manne,  den  sie  nicht  wahrhaft  liebt,  derlei 
Beweise  der  Gunst  schenkt,  ist  niedrig,  gemein  und  verworfen.  Ent- 
weder Du  bist  das  alles  oder  Du  liebst  mich.  Bist  Du  das,  so  wird 
der  Gedanke,  was  Du  bist,  mir  den  Kampf  erleichtem,  mich  von 
Dir  loszusagen.  Jemehr  meine  Verachtung  zunimmt,  desto  mehr  wird 
meine  Liebe  abnehmen,  und  ich  fürchte,  es  wird  noch  ein  schrecklicher 
Überschuß  bleiben  von  jener  ersten. 

Nun  entstünde  selbst  dann  noch  die  Frage,  warum  ermutigtest  Du 
mich?  Entweder,  weil  Du  Dein  loses  Spiel  mit  mir  treiben  wolltest 
imd  ich  Dir  eine  amüsante  Eroberung  bin?  Nun,  den  Fall  haben  wir 
eben  abgehandelt.  Nur  muß  ich  Dir  sagen,  daß  Du  sehr  wenig  Umsicht 
gezeigt  hast,  zu  glauben,  ich  wäre  so  wie  jene  Laffen,  mit  denen  Du 
in  Oppeln  verliebte  Abenteuer  hattest.  Fast,  wenn  Du  so  rein  zu  Kurz- 
weil nur  Dein  Spiel  mit  mir  getrieben,  wäre  es  mir  Pflicht,  Dich  zu  strafen 
und  ernst  und  schwer  zu  bestrafen.  Es  wäre  um  so  mehr  Pflicht,  als 
Du  noch  viele  finden  dürftest,  die  Du  ungescheut  opfern  kannst  Deiner 
niedem  Eitelkeit,  und  die  nicht  zu  strafen  vermögen,  wie  ich  kann. 
Und  wollte  ich  Dir  eine  Lehre  geben,  bei  Gott,  sie  sollte  eine  vernichtende 
sein;  und  schwerlich  wieder  so  bald  reizte  Dich  der  Kitzel  buhlerischer 
Eitelkeit.  Doch  bin  ich  nicht  in  der  Laune  dazu  und  —  wünsche  Dir 
Glück,  daß  ich's  nicht  bin.  Verdient  hast  Du  alles,  ohne  Schontmg, 
ohne  Gnade.  Doch  mag  ich  nicht  zum  Schergen,  zum  Vollstrecker 
selbst  der  gerechtesten  Strafe  an  Dir  mich  hergeben,  und  sei's  auch 
nur,  weil  Du  das  unverdiente  Glück  hattest,  von  mir  geliebt  zu  werden. 

Oder  war  es  mehr  als  bloße  Kurzweil? 

Oder  hast  Du  mich  vielleicht  unter  dem  Gesichtspunkt  betrachtet, 
daß  ich  eine  ,,gute  Partie"  sei?  Dann  hast  Du  zu  der  andern  Gemein- 
heit noch  die  niedrige  Berechntmg  gefügt.  Wenn  Du  so  arm,  so  be- 
klagenswert bist,  da  zu  berechnen,  wo  ich  liebe  —  dann  leb  mir  gleich- 
falls wohl.  Und  glaubtest  durch  teilweises  Gewähren,  teilweises  Ver- 
sagen mich  umso  sichrer  und  fester  zu  ködern?  Schade  nur,  kluge 
Rechnerin,  daß  Du  Dich  dann  wieder  in  mir  verrechnet  hast.  Mich 
fesselt  nichts  als  Liebe.  Das  Weib,  dessen  Liebe  stärker  ist  als  sie,  an 
der  halte  ich,  von  der  lasse  ich  nicht,  die  gebietet  über  mich  und  läßt 
mich  alles  andere  vergessen.  Das  Weib,  das  stärker  ist  als  ihre  Liebe, 
ihre  Liebe  meistern  und  berechnen  kann,  das  ist  Fastenspeise,  die  mag 
ich  nicht.  Ein  Weib,  das  sich  schrankenlos  hingibt  ihrer  Liebe,  das  ist 
der  leibhaftige  Gott  auf  Erden ;  Schmach  über  den  Wicht,  der  von  einem 
solchen  Weib  läßt,  wenn  er  es  gefunden,  der  sie  nicht  festhält  und  sei's 
mit  der  letzten  schwindenden  Kraft  seines  Lebens,  und  sei's  mit  dem 
letzten  krampfhaften  Zucken  seiner  Glieder.  Ein  Weib,  das  ihre  Liebe 
selbst  berechnet,  verdient  nur  noch,  daß  man  den  großem  Rechen- 


=^ —     — =  139  ^- — === 

meister  ihr  zeige,  daß  man  sie  verführe.  Ich  mag  weder  unter  dem 
Gesichtspunkt  einer  ,, amüsanten  Eroberung"  noch  unter  dem  einer 
,, guten  Partie"  betrachtet  werden.  Ich  will,  daß  Du  mich  liebst,  wie 
ich  Dich,  oder  mir  sagst,  daß  Du  mich  nicht  liebst,  offen  und  ehrlich 
mir  meinen  Laufpaß  gibst.  Mich  aber  so  schweben  zu  lassen  zwischen 
Himmel  und  Erde,  das  ist  gewissenlos,  das  ist  verbrecherisch.  Seit- 
dem ich  Dich  kenne,  hast  Du  es  dahin  gebracht,  daß  ich  mich  meiner 
selbst  schäme,  daß  ich  meiner  selbst  überdrüssig  geworden  bin. 
Das  ist  zu  viel. 

Noch  einmal,  diese  erbärmliche  Figur,  diese  Rolle,  die  lächerlich 
und  verächtlich  zugleich,  spiele  ich  nicht  länger  mehr;  und  wenn  Du 
das  verlangst  und  das  Liebe  nennst,  so  habe  ich  das  satt  und  Dich 
satt.  Und  wenn  Dein  Bild  mir  in  das  Herz  gewachsen  wäre,  und  müßte 
ich  es  mit  eisernen  Klammem  herausreißen  und  verblutete  auch  das 
Herz  sich  selbst  —  heraus  muß  es.  Le  coeur  se  brise  ou  se  bronce. 
Aber  das  merke  Dir:  ,, Unwürdiges  erträgt  kein  edler  Geist,"  ich  auch 
nicht  länger. 

Heut  besuch'  ich  Dich,  um  Dir  diesen  Brief  zu  geben.  Von  Stund' 
an  siehst  Du  mich  nicht  und  nirgends  mehr.  Liebst  Du  mich  wirklich, 
—  so  wirst  Du  mir  jene  eine  Zusammenkunft  gewähren  imd  mir  Ort, 
Zeit  und  Stunde  schriftlich  bestimmen,  den  Zettel  mir  durch  Karoline 
schicken.  Nachdem  ich  so  vieles  erduldet,  kannst  Du  über  die  kleine 
Inkonvenienz  fortsehen.  Auch  will  ich  nach  einigen  Tagen  hinschicken, 
um  zu  erfahren,  ob  Du  etwas  an  mich  abgegeben.  Gewährst  Du  mir 
diese  Bitte  nicht  —  dann  liebst  Du  mich  nicht,  daim  will  ich  mühen. 
Dich  zu  vergessen.  Ob  mir  das  gehngen  wird,  weiß  ich  nicht,  aber 
keineswegs,  und  liebte  ich  Dich  mehr  als  mein  eignes  Leben,  wie  ich  es 
zu  meinem  Unglück  tue,  keineswegs  würde  ich  dieser  Leidenschaft, 
die  darm  eine  unwürdige  wäre,  nachgeben,  keinesfalls  würdest  Du  mich 
wiedersehn. 


II. 

Sie  empfangen  Ihren  Broche  und  Ihren  Gürtel  zurück.^) 
Ich  gedachte,  sie  beide  zurückzubehalten,  zurückzubehalten  als  ein 
Angedenken  —  eines  Traumes,  den  ich  einst  gehabt .  .  .  Sie  fordern 
sie  .  .  .  so  nehmen  Sie  sie  denn  hin  ,  .  .  Sie  haben  Recht ...  sie  gebühren 
mir  nicht,  diese  Zeichen.  Der  Broche  ist  der  Hüter  des  Busens  .  .  .  der 
Gürtel  der  Hüter  des  jimgfräulichen  Schoßes  .  .  .  wie  gebührten  mir 


^)   Hier  folgen  im  Konzept  durchgestrichen  die  Worte:    ,,die  ich  Ihnen  jenen 
Abend  löste". 


solche  Symbole  ? !  Diese  Pfänder,  sie  wären  die  Pfänder  und  Abzeichen  . . . 
Ihres  Besitzes  ...  sie  wären  .  .  .  eine  Ivüge  ...  in  meinen  Händen!! 

Nehmen  Sie  ihn  hin  .  .  .  diesen  Gürtel,  den  ich  nicht  lösen  durfte  .  .  . 
Ich  zürne  nicht,  Lonny  .  .  .  aber  höre  mich  .  .  .  der  Fluch,  den  ich  Dir 
mitgebe  auf  Deinen  Weg,  soll  der  sein : .  .  .  Das,  was  Du  der  Liebe  frevent- 
lich verweigertest,  sollst  Du  einst  hingeben  ohne  Liebe  einem  Mann, 
den  Du  nicht  liebst .  .  .  der  Dich  nicht  liebt .  .  .  Du  sollst  es  hingeben 
gleichgültig  der  Gleichgültigkeit .  .  .  der  Berechnung  .  .  .  Deinem  Gotte, 
der  Konvenienz  .  .  .  Du  sollst  es  hingeben,  weil .  .  .  weil  es  in  einem 
Kontrakte  ausbedimgen  worden  ...  in  einem  Heiratskontrakt  I 

Das  ist  nicht  mein  Fluch,  das  ist  der  Fluch,  den  Du  selbst  über 
Dich  ausgesprochen  .  .  .  Du  hast  die  größte  Sünde  begangen  .  .  .  Du  hast 
Dein  eignes  Leben  zerrissen.  Du  hast  die  Seele  vom  Leibe  ge- 
trennt. .  .  Der  Liebe,  dieser  Seele,  hast  Du  Deinen  Leib  vorenthalten, 
so  werde  Dein  Leib  genossen  imd  besessen  seelenlos  .  .  .  ohne  Liebe. 

Du  hast  Dich  entzwei  gespalten,  wohl,  so  sei's  denn,  es  werde  Dir, 
wie  Du  gewollt .  .  .  Deine  Liebe  bleibe  ohne  die  Erfüllung  der  lyeiblich- 
keit .  .  .  Deine  Körperlichkeit  und  ihr  Genuß  ohne  Weihe  und  Beseligung 
des  Geistes  .  .  .  der  Liebe  .  .  .  Deine  Liebe  sei  ein  bloßer  Geist,  ein 
irres  luftiges  Gespenst,  das  sich  einen  Körper  sucht  und  Dein  Körper 
ein  Klumpen  Fleisch,  in  dem  keine  Seele  wohnt.  Du  hast  einen  doppelten 
Fluch  über  Dich  herabgerufen.  Du  hast  die  zwiefache  Gemeinheit  be- 
gangen, die  Seele  vom  Körper,  den  Körper  von  der  Seele  zu  reißen. 
Du  hast  den  imsittlichsten  Ehebruch  begangen  .  .  .  Du  hast  die  heiligste 
Ehe  gebrochen  .  .  .  die  Ehe  zwischen  Körper  und  Geist.  Du  gabst 
Deine  Seele  mir  und  hast  mir  Deinen  Körper  vorenthalten. 

Liebe  denn  mich  mit  Deinem  Geist,  ohne  mir  zu  gewähren  die  Ehe 
mit  Deinem  Körper  .  .  .  und  dort  gib  hin  Dein  Fleisch,  ohne  dabei  zu 
sein  mit  Deiner  Seele  .  .  . 

Wehe,  Mädchen,  Dein  Unglück  ist  zugleich  Deine  Sünde.  Erfülle 
das  schreckliche  Geschick  lebend  in  zwei  gerissen  .  .  .  doppelt  tot .  .  . 
ein  körperloser  Geist,  ein  seelenloser  Leib  .  .  .  Deine  Seele  wird  nach 
Körper  hungern.  Dein  Körper  nach  einer  Seele  schreien  .  .  . 

Sei  hier  mit  dem  Gedanken,  mit  der  Regung  Deines  Herzens,  dort 
mit  dem  Zucken  Deines  Fleisches,  lebend  zerrissen. 

Du  hast  verschmäht  die  Heiligung  der  Liebe  ...  so  werde  ent- 
heiligt .  .  .  Du  hast  verschmäht  die  Weihe  des  Geistes  .  .  .,  so  werde 
entweiht. 

Doch  eins  noch  .  .  .  eins  haben  Sie  zurückgelassen  jenen  Abend  .  .  . 
es  ist  eine  goldige  spitze  Nadel .  .  .  Die  Nadel  gebührt  mir,  die  lasse  ich 
nicht.  Merk  es  Dir,  Mädchen,  es  ist  das  Motto  Deines  Lebens.  Deine 
Liebe  ohne  Leib;  Dein  Leib  ohne  Liebe.    Das  Heilige,  die  Liebe,  bleibe 


141 


unwirklich,  körperlos  Deine  Wirklichkeit,  Dein  Körper  unheilig.  Es 
ist  alles,  was  mir  zukommt,  von  Ihrer  Liebe  die  Nadel,  die  spitze  Nadel. 
Die  Nadel,  sie  ist  das  Treffende,  das  stechend  Treffende,  ist  das  Symbol 
Ihrer  Liebe  .  .  . 


III. 

Warum  willst  Du  noch  einen  Brief,  Mädchen?  Warum  willst  Du 
mir  noch  einmal  die  Qual  des  Schreibens,  Dir  die  Folter,  die  unsägliche 
Folter  des  Lesens  bereiten? ?  Armes  Kind,  Du  möchtest,  daß  ich  meinen 
Fluch  zurücknehme,  den  ich  Dir  nachgeschleudert.  Törin!  Als  ob 
ein  Fluch  in  Erfüllung  ginge,  weil  man  ihn  ausspricht!  Als  ob  der  Fluch 
nicht  die  sich  selbstvollziehende,  imterirdische  Macht  wäre,  als  ob  eine 
Erfüllimg  davon  abhinge,  ob  ihn  ein  Mund  verhängt  oder  zurück- 
nimmt!! Törin,  der  Fluch  knüpft  sich  an  die  Sünde  selbst —  nicht 
an  die  Verwünschung.  Lonni,  ich  fluche  Dir  nicht,  denn  —  ich  — 
tmd  wenn  ich  Dir  fluchte,  es  wäre  eine  ohnmächtige,  eitle  Verwünschimg. 
x\ber  Du  hast  die  sündige  Tat  begangen,  so  hast  Du  selbst  den  Fluch 
ausgesprochen  über  Dich,  der  unnachsichtig  seine  Vollführung  nach 
sich  zieht.  Du  hast  die  sittlichen  Wesenheiten  beleidigt,  verletzt,  das 
sind  nicht  bloße  Traumgebilde,  Abstraktionen,  das  sind  die  geistigen 
Mächte  der  Menschheit,  die  erwecken  Dir  die  rächende  Erinnys.  Wer 
in  Einklang  lebt  mit  diesen  geistigen  sittlichen  Mächten  und  Wesen- 
heiten, wer  ihr  Gebot  ehrt  und  vollführt,  der  vollbringt  seine  Pflicht 
—  und  dem  lohnen  sie  mit  dem  freudigen  Bewußtsein  der  erfüllten 
Pflicht  —  mit  der  Einheit  zwischen  Sollen  imd  Wollen,  mit  dem  Glück. 
Wer  ihnen  widerstrebt,  sich  ihnen  freventlich  widersetzt,  der  verletzt 
seine  Pflicht,  verscherzt  das  Glück  seines  Lebens;  an  dessen  Fersen 
heften  sie  sich,  sühneheischend,  geben  ihm  die  innere  Qual  des  blutigsten 
aller  Schmerzen,  die  innere  Gebrochenheit,  das  marternde  Bewußtsein 
verfehlter  Pflicht;  er  hat  das  Sollen  nicht  vollführt,  so  ist  er  zerrissen 
in  Sollen  imd  Sein.  Der  Einklang  zwischen  Sollen  tmd  Sein  ist  das  einzige 
Glück,  der  Zwiespalt  zwischen  ihnen  der  alleinige  Quell  des  Unglücks. 
Den  Riß  beging,  wer  verletzt  das  Sollen,  die  sittliche  Wesenheit  und  ihr 
Gebot,  —  der  ruft  den  Zwiespalt  hervor,  der  stiehlt  ihm  den  inneren 
Frieden,  raubt  ihm  den  Schlaf,  vergiftet  die  Freude;  es  ist  beides  über 
ihn  gekommen,  Sünde  und  Unglück.  Die  Tat,  die  sündige  Tat  allein 
verhängt  den  Fluch,  die  Tat  allein  kann  ihn  zurücknehmen,  besänftigen 
die  rachefordernde  finstere  Macht. 

Siehe,  schon  geht  der  Fluch  in  Erfüllung,  schon  vollbringt  die 
Erinnys,  die  gekränkte  sittliche  Macht,  ihr  düsteres  Werk.    Dein  Brief, 


142 =: = 

er  atmet  die  gräßlichste  innere  Pein,  den  qualvollsten  Zweifel.  Und 
wäre  es  noch  ein  Kampf  zwischen  Leidenschaft  und  Pflicht,  der  Dich 
zerreißt!  Ein  Unglück  trägt  sich  leicht,  man  kann  leicht  entsagen 
der  Freude,  dem  Genuß  und  dem  Glück,  wenn  die  Pflicht  es  gebietet. 
Aber  die  Pflicht  steht  auf  der  Seite  Deiner  I^eidenschaft.  Was  Dein 
Unglück  macht,  ist  zugleich  Deine  Sünde,  es  ist  nur  ein  Wahn,  ein 
finsterer  unglücksvoller  Wahn,  der  Dir  zugleich  das  Glück  und  den 
Genuß  Deines  Lebens  stiehlt  und  Dich  zur  Sünderin,  zur  Verbrecherin 
macht,  da  macht,  wo  Du  Tugend  zu  üben  glaubst. 

Armes  Kind,  wie  nehme  ich  Dir  diesen  Wahn?  Wie  gieße  ich  Dir 
ins  Herz  mein  Wissen,  meine  Erkenntnis?!  Was  bei  mir  selbst  Werk 
von  Jahren,  von  jahrelanger,  ernster  Arbeit  war,  wie  soll  ich  Dir  es 
geben  in  einer  Stunde,  mit  einem  Male,  wie  soll  ich  den  Kranz  eines 
Hauses  aufsetzen,  zu  dem  ich  den  Grimd  noch  nicht  gelegt?!! 

Sieh,  ich  versprach  Dir,  zu  beruhigen  Deine  Zweifel,  und  ich  hatte 
mein  Wort  gehalten.  Du  solltest  sie  ja  erfahren,  die  neue  Weisheit,  die 
in  die  Welt  gekommen,  Du  solltest  klar  werden,  sonnenklar,  doch  ge- 
hörte Zeit  dazu.  Vom  Munde  solltest  Du  meine  Worte  mir  küssen,  und 
so  sollten  sie  Eingang  finden  durch  das  offene  Tor  des  Herzens  in  den 
widerspenstigen  Kopf.  Fest  haftet  am  Weibe  das  Wort  des  geliebten 
Mannes.  Das  Herz  hilft  ihm  in  der  schweren  Arbeit  der  Vernunft. 
Das  Wissen,  die  Einsicht,  sie  sollte  ja  kommen,  sie  wäre  gekommen, 
nur  sollte  Deine  Liebe  stark  genug  sein,  Dich  mir  zu  geben,  sie  sollte 
das  Fundament  sein,  auf  das  ich  den  Dom  des  Wissens  gegründet 
hätte;  aber  Deine  Liebe  allein,  auch  ohne  Wissen,  auch  gegen  Dein 
Wissen,  die  Stärke  Deiner  Liebe,  Deines  Gefühls,  mußte  Dir  den  Mut, 
die  Kraft  geben,  völlig  mir  zu  gehören.  Diesen  Mut  —  diese  Kraft  — 
haben  liebende  Weiber. 

Du  hattest  sie  nicht  —  was  soll  ich  tun,  nun  tun?  Zu  Deiner  Ver- 
ntmf t  sprechen  ?  Wenn  schon  Dein  Herz  zu  schwach  war,  wie  kann  ich 
auf  die  Stärke  Deines  Kopfes  hoffen !  Mei ne  Worte  —  und  eine  Weiber- 
vernunft!! Wenn  Dein  Starkes,  Dein  Herz  imterlag,  wie  soll  das,  was 
so  unendhch  schwächer  am  Weibe,  wie  soll  Dein  Kopf  siegen  ?  Du 
gläubige  Lonni,  wenn  Dein  starker  Glaube,  Dein  Glaube  an  mich, 
nicht  stark  genug  war,  wie  sollte  es  Deine  Einsicht?!! 

Wenn  Du  mir  nicht  glaubtest,  wie  willst  Du  mich  verstehen  — 

Und  doch gleichviel  —  ich  kann  —  ich  mag  Dich  nicht  lassen  — 

ein  beklagenswertes  Opfer  der  Dummheit  und  Unvernunft,  des  Wahn- 
sinns und  seines  Götzendienstes.  Du  sollst.  Du  darfst  nicht  imglück- 
lich  sein.  Du,  nein  Du  sollst  nicht  fallen  als  eines  jener  tausend  un- 
glücklichen Opfer,  die  jährlich,  die  täglich  geschlachtet  werden  dem 
Unsinn  und  seinem  blutigen  Dienst.   Also,  mein  Mädchen,  neige  Deinen 


^ ^^  143  =. .=^ 

Kopf  zu  mir  vind  lausche  meinen  Worten.  Was  ich  Dir  geben  will,  ist 
der  Beweis,  daß  Deine  Pflicht  identisch  ist  mit  Deiner  Leidenschaft, 
daß  beide  mit  gleich  gebieterischer  Stimme  dasselbe  fordern.  Und  möge 
die  Kraft  der  Wahrheit  imd  l,iebe.  meiner  Zunge  die  Allmacht  ver- 
leihen, daß  sie  das  Wunder  vollbringt,  in  einer  Stunde,  in  einem 
Briefe,  mit  einem  Schlage  Dir  den  Wust  langjähriger  Vorstellungen, 
eines  eingenisteten  Wahnes  aus  Herz  vmd  Busen  zu  reißen. 

Das  Tier  begreift  sich  als  rein  einzelnes  Dasein.  Die  Kontinuation 
und  Erhaltung  seines  vereinzelten  natürlichen  Lebens  ist  es,  was 
die  Sorge  und  Aufgabe  seines  Daseins  bildet.  Einer  Allgemeinheit,  einer 
Gattung  angehörig,  begreift  es  sich  nicht  als  solches,  als  Individuum 
einer  Gattimg,  als  das  Subjekt  und  die  Verwirklichung  seiner  all- 
gemeinen Gattimgsidee;  es  vollbringt  nur  die  natürlichen  Prozesse  der 
Ernährung  etc.,  die  zur  Fortsetzung  seines  auf  sich  beschränkten 
einzelnen,  physischen  Daseins  erforderlich  sind.  Der  Lichtpunkt  des 
tierischen  Lebens,  der  Akt,  in  welchem  es  unmittelbar  heraustritt  aus 
seiner  körperlichen  Abgeschiedenheit,  die  ihm  als  sein  Wesen  gilt,  in 
welchem  es  seine  Isoliertheit,  seine  Verfangenheit  unmittelbar  auf- 
gibt und  sich  zur  Gattung  erhebt  —  ist  die  Begattung,  der  Zeugungs- 
prozeß. In  der  Begattung  sprengt  es  die  fixe  Grenze  seines  Körpers, 
das  feste  abgeschlossene  Eins,  als  welches  es  die  Natur  hingestellt  hat, 
es  tritt  heraus  aus  der  körperlichen  Einzelnheit,  die  es  sonst  als  sein 
Wesen  mit  allen  seinen  Kräften  verteidigt  —  es  wächst  mit  andern  zu- 
sammen, es  macht  sich  zur  Gattung,  es  erzeugt  die  Gattung.  Die 
Bedeutung  dieses  Aktes  ist  nicht  mehr  die  anderer  natürlicher  Prozesse 
wie  Ernährungsprozeß  etc.,  die  Kontinuation,  Erhaltung  des  einzelnen 
physischen  Lebens,  sie  ist  unmittelbar  das  Wirken  für  die  Allgemein- 
heit, die  Gattung.  Aber  die  Bedeutung  des  tierischen  Zeugungsprozesses 
ist  nur  an  sich  selbst  diese  allgemeine,  ist  nur  an  sich  das  Wirken 
für  die  Gattung.  Für  das  Tier,  für  es  hat  dieser  Akt  nicht  diese 
tiefe  Bedeutung,  es  hat  nicht  das  Bewußtsein,  sich  in  diesem  Akt  aus 
seiner  Individualität,  Vereinzelung  zur  Allgemeinheit,  Gattung  zu  er- 
heben —  denn  das  Tier  kann  nicht  zur  Vorstellung  der  Gattung  kommen. 
Die  Vorstellung  der  Gattung  erfassen,  hieße  denken  —  das  Tier  wird 
zu  der  Zeugung  getrieben  wiederum  durch  das  Gefühl  seiner  rein  ein- 
zelnen, sinnlichen  Lust.  So  ist  es  in  dem  Akt,  in  dem  es  unmittel- 
bar sich  über  seine  Einzelnheit  zur  Gattung  erhebt,  wiederum  gebunden 
an  sein  sinnliches  einzelnes  Eins.  Es  ist  das  das  Wesen  des  Tiers^ 
in  das  es  gebannt  ist,  das  es  nicht  verlassen  kann. 

Das,  wodurch  der  Mensch  sich  abscheidet  vom  Tier,  ist,  daß  für 
ihn  die  Gattung  existiert.  Für  das  Tier  existiert  die  Gattung 
gar  nicht;  es  weiß  nicht  von  ihr,  es  bezieht  sich  nur  auf  einzelnes,  die 


einzelne  Speise,  die  es  grade  frißt,  diese  Mauer  da,  an  der  es  sich  stößt. 
So  bezieht  es  sich  immer  nur  auf  den  Gegenstand  als  auf  einzelnen. 
Aber  es  bezieht  sich  auch  seinerseits  als  einzelnes  auf  ihn,  d.  h.  der 
Gegenstand  ist  nur  für  ihn  da,  insofern  er  das  Gefühl  seiner  I,ust  und 
Unlust  erregt,  seine  Einzelnheit  berührt.  Das  Tier  begreift  selbst  sich 
nur  als  einzelnes.  Dies  sich  als  einzelnes  auf  einzelnes  zu  beziehen, 
dies,  daß  es  den  Gegenstand  und  sich  selbst  immer  nur  als  sinnliches, 
einzelnes  erfaßt  —  heißt  fühlen.  (Ich  fühle  etwas,  insofern  dieser 
einzelne  Gegenstand  meine  einzelne  Ichheit  berührt.)  Für  den  Menschen 
existiert  der  Gegenstand  als  allgemeiner,  d.  h.  er  kann  ihn  erfassen, 
auch  ohne  daß  er  seine  Sinnlichkeit,  Einzeluheit  berührt  —  er  kann  ihn 
denken.  Für  den  Menschen  existiert  auch  die  Gattung;  er  erfaßt  die 
Vorstellung  der  Allgemeinheit,  Gattung,  und  er  begreift  die  Gattung 
als  ein  Wesen,  sich  selbst  als  ein  gattungs loses  allge- 
meines Wesen,  dies  heißt  Denken.  Darum  sagt  man,  daß  sich  der 
Mensch  durch  das  Denken  vom  Tier  imterscheidet.  Der  Mensch  erfaßt 
die  Gattung  als  sein  Wesen.  Als  das  Substantielle,  d.  h.  Wesentliche 
gilt  ihm  nicht  seine  Individualität,  sondern  der  allgemeine  menschliche 
Geist,  der  Geist  der  Gattung,  der  seine  Wirklichkeit  nur  hat,  seine 
Lebensform  nur  findet  in  dem  geistigen  Subjekte,  dem  Menschen, 
zugleich  aber  hinausgeht  über  jedes  Individuum,  sich  in  keinem  Indivi- 
duum erschöpft,  sondern  sich  durch  alle  hindurchzieht.  Die  Gattung, 
der  Geist,  existiert  nur  als  diese  Vielheit  einzelner  Menschen  vmd  Ge- 
schlechter, sie  ist  wirklich,  existiert  nur  i  n  diesen  Individuen ;  zugleich 
aber  greift  sie  über  jeden  einzelnen.  Das  Wesentliche  in  ihm  ist  der 
Geist,  der  an  der  Individualität  hat  seine  Wirklichkeit  und  seine  un- 
wesentliche Besonderung.  Durch  die  Individualität,  geistige  wie  körper- 
liche, ist  das  Ich  vom  Ich  getrennt;  aber  die  Individualität  ist  ja  viel- 
mehr nur  die  unwesentliche  Besonderimg  meines  allgemeinen  Wesens. 
Das  Wesen  des  Menschen  ist  die  Gattung.  Dies  sein  allgemeines  Wesen 
ist  eben  allein  gemein,  es  ist  der  Punkt,  wodurch  das  Ich  identisch  ist, 
eins  ist  mit  dem  andern  Ich,  das  zu  seinem  Inhalt  dasselbe  Wesen 
(die  Gattung)  hat,  dessen  Form  nur  die  Individualität  ist.  Das  ist  die 
Einheit  des  Individuums  mit  dem  Allgemeinen,  mit  der  Gattung. 

Der  Mensch  also  erfaßt  die  Gattung  als  sein  Wesen,  er  hat  das  Be- 
wußtstein seiner  Identität,  Einheit  mit  dem  Allgemeinen,  der  Gattung. 
Er  betätigt  dies  Bewußtsein.  Er  tritt  heraus  aus  der  Isoliertheit,  Ver- 
einzelung des  Naturzustandes.  Darum  sagt  man:  Der  Mensch  ist  ein 
geselliges  Tier.  Das  Ich  genügt  sich  nicht  in  seiner  Alleinigkeit,  es  fühlt 
seine  Einheit  mit  dem  anderen  Ich;  dieser  Trieb  ist  es,  der  die  Gesell- 
schaft entstehen  läßt,  der  den  Menschen  herausreißt  aus  seinem  bloß 
einzelnen  kreatürlichen  Dasein  und  der  Sorge  dafür,  der  ihn  Staaten 


=-  145 = 

gründen,  Gesetze  geben  lehrt.    Dies,  daß  er  Staaten  gründet,  sich  Ge- 
setzen tmterwirft,  ist  die  Manifestation  dessen,  daß  er  sein  Wesen  in 
dem  Allgemeinen  findet,  sich  als  eins  mit  ihm  weiß.   Das  Tier,  das  sich 
als  einzelnes    erfaßt,    lebt  gesetzlos,   gehorchend  dem  Triebe  seiner 
einzelnen  Lust  und  Unlust.    In  seinen  körperlichen  Verrichtungen  ge- 
hört der  Mensch  sich  imd  seiner  Einzelnheit  an.   Der  Staat,  das  Gesetz 
sind  die  Wohnstätten,  die  sich  das  allgemeine  Wesen  des  Menschen  der 
Gattimg  aufbaut.   Das  Gesetz  ist  der  ausgesprochene  allgemeine  Wille, 
der  Staat  der  realisierte,   verwirklichte,   allgemeine  Geist.    Darin,  daß 
der  Mensch  sich  unter  die  Herrschaft  der  Gesetze  begibt,  ist  es  aus- 
gesprochen, daß  der  einzelne  Wille  identisch  sein  solle  und  sei  mit  dem 
allgemeinen,    darin,    daß  er  Staatsbürger  wird,  ist  es  ausgesprochen, 
daß  nicht  die  Individuahtät,  die  Einzelnheit  des  Menschen  ihm  das 
Höchste  sei,  daß  vielmehr  der  Zweck  des  einzelnen  Subjekts  die  Arbeit 
und  der  Dienst  für  das  allgemeine  Wesen  der  Menschheit,  der  Gattxmg 
sei;   er  ist  die  Manifestation,   die  tatsächliche*)  Bekundung  dessen, 
daß  der  Einzelne  nur  in  der  Identität  und  Einheit  mit  der  Allgemein- 
heit sein  Wohl  finde.   Dem  Menschen  ist  das  Allgemeine,  die  Gattung, 
sein  Wesen.   Darum  besteht  sein  Glück  und  Pflicht  darin,  für  das  All- 
gemeine, die  Gattimg  zu  wirken.   Denn  alle  Pflicht  besteht  nur  darin, 
dem  Wesen  zu  gehorchen,  das  Wesen  zu  vollbringen  und  ihm  im  Konflikt 
die  Unwesentlichkeit,  die  Einzelnheit  zu  opfern.   Die  Hintenansetzung 
des  Wesens  gegen  die  Einzelnheit,  die  unwesentliche  Endlichkeit,  ist  — 
die  Sünde.    Wie  nennt  Ihr  doch,  Mädchen,  den  Menschen,  der  sich  auf 
sich  beschränkt,  sich  isoliert,  dem  seine  Einzelnheit  der  Zweck  und  der 
Gott  seines  Lebens  ist,  der  sein  einzelnes  Ich,  sein  empirisches  Dasein 
und  Wohl,  seine  eigenen  kleinen  endlichen  Interessen  höher  anschlägt 
als  das  Wohl  des  Allgemeinen,  der  Gattung?  Nun,  Ihr  nennt  ihn  einen 
Egoisten.    Ein  solcher  Mann,  der  sein  Wesen  als  das  Einzelne  erfaßt, 
hat  sich  des  Menschentums  begeben,  er  hat  sich  auf  die  Stufe  des  Tieres 
gestellt  in  das  einzelne  Ich,  er  ist  das  häßlichste  Laster  —  ist  die  Un- 
sittlichkeit.    Die  Sitte  (eines  Volkes,  Landes)  ist  das  verwirklichte, 
geltende  allgemeine  Wesen  der  Individuen;  die  Sittlichkeit  besteht 
in   der  Vollführung  der  Sitte,    also    darin,    sich    seinem    Allge- 
meinen hinzugeben,  seine  Einzelnheit  zu  erfüllen  mit  dem 
Allgemeinen.    Die  UnsittHchkeit  ist  das  Verletzen  der  Sitte,  sie  ist 
der  Frevel,  sich  nicht  in  Einklang  zu  setzen,  zu  erfüllen  mit  dem  All- 
gemeinen, sie  ist  die  Sünde,  sich,  seine  Einzelnheit,  zu  widersetzen  dem 
Allgemeinen,   die  Störrigkeit  des  Ich,   das  die   allgemeine  Wesenheit 
seinem  Ich  aufopfert. 


^)  Das  Wort  ist  nicht  deutlich  zu  entziffern. 

Mayer,  Lassalle-Nachlass.     I 


-  r=  146  = 

Die  Sittlichkeit  ist  die  Einheit  des  Individuums  und  des  Allge- 
meinen. Die  Unsittlichkeit  ist  der  Zwiespalt  zwischen  ihnen.  Die 
Sittlichkeit  ist  das  Heraustreten  des  Individuums  aus 
seiner  Individualität,  das  Sichhingeben  an  das  Allgemeine. 
Die  Unsittlichkeit  ist  das  Laster,  sich  zu  verschanzen  in 
seine  Ichheit,  Individualität,  sich  zu  sperren  gegen  das 
Allgemeine  —  sich  behaupten  zu  wollen  als  dieses  feste,  dem  All- 
gemeinen verschlossene,  auf  sich  beschränkte  Ich.  Ich  hab'  es  schon 
vorhin  gesagt,  der  Akt,  in  dem  der  Mensch  es  erfaßt,  daß  sein  Wesen 
nicht  seine  Einzelnheit,  Individuahtät,  sondern  das  Allgemeine,  die 
Gattung  sei,  ist  das  Denken.  Er  betätigt  ihn  in  seinem  Wirken  für  die 
Allgemeinheit  als  Denker,  Staatsmann.  Darum  ist  das  Tun  des  Philo- 
sophen, Staatsmarmes,  so  sittlich,  weil  es  die  Allgemeinheit  als  solche 
zimi  Zweck  hat. 

Dieser  Inhalt  aber,  daß  das  Individuum  identisch,  eins  sei  mit  der 
Allgemeinheit,  der  Gattung,  daß  das  Allgemeine  sein  eigenes  Wesen 
ausmache,  ist  für  den  Menschen  nicht  nur  in  der  Form  des  Gedankens 
vorhanden  —  so  als  Gedanke  vorhanden,  treibt  er  ihn  zum  Wirken  für 
die  Gattung  — ,  dieser  selbe  Inhalt  ist  für  ihn  auch  in  der  Form  des 
Gefühls,  der  Empfindung,  Dieser  Inhalt  in  der  Form  des  Gefühls 
ist  —  die  Iviebe. 

Weißt  Du,  was  Liebe  ist,  Mädchen?  In  der  Liebe  empfindet  das 
Ich  seine  Ichheit  als  ungenügend,  es  sehnt  sich,  herauszutreten  aus 
seiner  Alleinigkeit  und  Abgeschlossenheit,  es  fühlt  das  Bedürfnis  nach 
anderem  Ich,  es  will  heraus  aus  seiner  Getrermtheit,  sich  zusammen- 
schließen mit  dem  anderen  Ich,  es  empfindet  es,  daß  nicht  seine  Indivi- 
dualität, Besonderheit,  sondern  seine  Einheit  mit  andern  sein  Wesen 
sei.  In  der  Liebe  wird  es  als  Gefühl  für  den  Menschen,  daß  nicht  seine 
Einzelnheit,  daß  vielmehr  die  Einheit  mit  dem  Allgemeinen  sein  Wesen 
ausmache.  Die  Liebe  ist  die  gefühlte  Einheit  der  Individuen. 
Ich  sage,  die  Liebe  die  gefühlte  Einheit  des  Ichs  und  des  Allgemeinen, 
der  Gattung,  diese  Identität  aber  nicht  in  der  Form  des  Gedankens, 
sondern  des  Gefühls,  der  Vorstellung.  Du  erinnerst  Dich,  daß 
ich  Dir  schon  oben  sagte:  wenn  ich  mich  in  der  Weise  des  Gefühls  zu 
einem  Gegenstand  verhalte,  so  beziehe  ich  mich  als  einzelnes  auf  ihn. 
als  einzelnen.  Insofern  ich  einen  Gegenstand,  Inhalt  denke,  habe 
ich  ihn  in  seiner  Allgemeinheit,  insofern  ich  ihn  fühle  oder  vorstelle, 
habe  ich  ihn,  denselben  Inhalt,  aber  als  einzelnen.  Denke  den  Begriff 
des  Menschen,  so  hast  Du  die  allgemeinen  Wesenheiten  des  Menschen 
überhaupt,  stelle  Dir  einen  Menschen  vor,  so  verwandelt  sich  derselbe 
allgemeine  Inhalt,  den  Du  eben  als  gedachte  Allgemeinheit,  als  Be- 
griff hattest,  in  einen  einzelnen  Menschen.   Der  Inhalt  bleibt  derselbe. 


—  147  = 

aber  er  nimmt  die  Gestaltung  der  Einzelnheit  des  Eins  an,  dieser  all- 
gemeine Inhalt  tritt  als  einzelnes  Bild  vor  Deine  Seele.  Es  liegt  schon 
im  Wort,  Lonni,  denke  Dir  einen  Baum,  mm  so  hast  Du  die  allge- 
meinen Begriffseigenschaften  eines  Baumes  imd  weiter  nichts,  stelle 
Dir  aber  einen  Baum  vor,  nun  so  stellst  Du  eben  einen  Baum  vor 
Dich  hin.  Du  siehst  einen  einzelnen  Baum,  der  jene  Eigenschaften  hat, 
jene  allgemeinen  Eigenschaften  haben  nur  die  Form  einzelner  Ge- 
staltung, die  Form  der  Einzelnheit  angenommen.  Denke  das  allgemeine 
menschliche  Wesen,  so  hast  Du  seine  allgemeinen  Wesenheiten,  Eigen- 
schaften, stelle  es  Dir  vor,  so  tritt  es  in  der  Form  eines  einzelnen 
Menschen  personifiziert  gestaltet  vor  Dich.  Der  Inhalt  bleibt,  nur 
daß  die  Vorstellung  ihm  die  Gestalt  des  seienden  Eins  gibt. 

Ich  sagte,  die  lyiebe  ist  die  gefühlte  vorgestellte  Einheit  des 
Ichs  mit  dem  allgemeinen  menschlichen  Wesen.  Das  allgemeine  mensch- 
liche Wesen  wird  also  gefaßt  nicht  in  der  Weise  des  Gedankens,  des 
Begriffs,  also  nicht  das  allgemein  menschhche  Wesen  als  [das]  allge- 
meine, sondern  dieser  Inhalt,  das  allgemeine  menschhche  Wesen,  nimmt 
Personifikation,  Gestaltung,  die  Form  des  Ivcbens,  der  Einzelheit,  Indi- 
vidualität an ;  dieser  allgemeine  Inhalt  wird  wiederum  zu  einem  einzelnen 
Ich,  zu  einem  Individuum,  das  nur  die  Gestaltung,  die  Personifikation, 
gleichsam  der  Repräsentant  des  allgemeinen  menschlichen  Wesens,  der 
Gatttmg  ist. 

Der  Denker  wird  sich  im  Denken  bewußt  seiner  Identität  mit  der 
Gatttmg  als  der  gedachten  Allgemeinheit,  als  dieser  imendlichen  Viel- 
heit von  Individuen  imd  Geschlechtern,  der  Liebende  seiner  Identität 
mit  der  Gattung  als  vorgestellter  Allgemeinheit,  also  nicht  mit  der 
Allgemeinheit  als  gedachte,  als  die  unendliche  Vielheit  der  Einzelnen 
und  Geschlechter,  sondern  als  die  Allgemeinheit,  die  die  Form  der 
Einzelnheit  angenommen.  Darum  zieht  die  lyiebe  das  Individuum  zum 
Individuum,  das  Ich  fühlt  seine  Einheit  mit  dem  von  ihm  getrennten, 
ihm  entgegengesetzten,  dem  andern  Ich.  In  der  Liebe  fühlt  das  Ich 
seine  Bedürftigkeit,  die  Sehnsucht,  herauszutreten  aus  seiner  Egoität, 
aus  seiner  Alleinigkeit.  Die  Liebe  ist  darum  eine  sittliche  Macht,  die 
Sittlichkeit  selbst,  weil  sie  das  Ich  aus  seiner  trotzigen  Isoliertheit  und 
Vereinzelung,  was,  wie  wir  oben  sahen,  die  Unsittlichkeit,  der  Egois- 
mus ist,  herausreißt.  Darum  sagt  man  es  weit  imd  breit,  darum  priesen 
schon  die  alten  Griechen  die  Liebe  als  eine  sittigende  Macht,  als  eine 
Macht,  die  Löwen  und  Tiger  bändige,  weil  sie  den  Menschen  zwingt, 
aufzugeben  die  Wildheit  imd  Trotzigkeit  seiner  natürlichen  Vereinze- 
Ixmg,  sich  hinzugeben  der  Allgemeinheit,  der  Gattung,  der  Menschheit. 
Darum  sagten  die  Alten  in  ihren  Schöpfungsmythen,  daß  die  Liebe 
das  erste  der  weltbildenden  Prinzipien  sei,  daß  die  Liebe  das  dunkle. 


148  — 

gärende,  kämpfende  Chaos  zu  dem  Kosmos  der  lichtvollen  geordneten 
Welt  umgeschaffen,  weil  die  Liebe  Einheit  und  Einklang  bringt  in  das 
wilde  Toben  und  Streiten  der  einzelnen  nur  auf  sich  bezogenen  Kraft, 
darum  sangen  die  Dichter  der  Griechen,  daß  die  Liebe  die  Staaten 
und  Gesetze  gegründet  habe,  weil  Liebe  zuerst  die  Menschen  aus  dem 
Naturzustand,  aus  der  wilden  Einzelnheit  des  Ich  heraushob,  weil  die 
Liebe  den  Mensch  zum  Menschen  zieht.  Die  Liebe  hat  die  Gesellschaft 
gebildet;  darum  sagt  der  Christ:  ,,Gott  ist  die  Liebe  imd  so  ihr  in  der 
Liebe  seid,  seid  ihr  in  Gott";  denn  die  Liebe  ist  das  Einssein  mit  der 
Gattung,  mit  Gott.  Darum  sagt  der  Christ:  die  Liebe  ist  das  Himmel- 
reich, denn  die  Liebe  ist  das  Leben  nicht  in  der  Ichheit,  dieser  Körper- 
lichkeit und  Irdischkeit,  sie  ist  das  Leben  in  der  Gattimg,  dem  Reiche 
und  Dasein  Gottes.  Darum  ist  Christus  das  Wesen  der  Liebe,  weil  er 
für  die  Allgemeinheit,  die  Gattung  seine  Ichheit  aufgegeben,  hingeopfert 
imd  den  Tod  des  Kreuzes  auf  sich  genommen  hat.  Und  wer  ein  Christ 
sein  will,  der  tue  wie  Christus  tmd  gebe  hin  seine  Einzelnheit,  sein 
Ich,  Leib  und  Seele  an  die  Allgemeinheit,  an  die  Gatttmg.  Darum  ist 
der  jüdische  Gott  der  Gott  des  Egoismus,  darum  ist  er  so  tief  unsitt- 
lich, weil  er  kalt  verharrt,  einsam  auf  seiner  einsamen  Höhe,  in  ab- 
geschlossener Alleinigkeit  das  herzlose  in  sich  beruhende  Ich,  darum 
ist  der  christliche  Gott  ein  so  tief  sittliches  Wesen,  weil  ihn  in  der 
Überfülle  seiner  Vollkommenheit  das  Bedürfnis  der  Sehnsucht  er- 
greift nach  einem  Wesen,  das  ihm  gleich  sei,  ihn  das  Ich  der  Himger 
nach  einem  Du,  und  er  steigt  herunter  von  dem  kalten  einsamen  Thron, 
auf  dem  er  gesessen  als  Gott  der  Juden,  und  zeugt  sich  seinen  einge- 
borenen Sohn. 

Jetzt  weißt  Du,  was  Liebe  ist,  sie  ist,  um  es  noch  einmal  zu  wieder- 
holen, das  Gefühl  imd  die  Sehnsucht  nach  der  Einheit  des  Ichs  und 
des  Allgemeinen,  der  Gattung,  die  sich  in  der  Form  des  andern  Ichs 
darstellt.  Aber  die  Liebe  ist  erst  nur  noch  die  Sehnsucht  nach  dieser 
Einheit,  nach  diesem  Aufgehen  in  der  Allgemeinheit,  in  Gott.  Wie 
den  Denker  die  Erkenntnis,  daß  er  eins  sei  mit  dem  Allgemeinen,  treibt, 
diese  Einheit  mit  dem  Allgemeinen  zu  verwirklichen  durch  die  Tat, 
durch  das  Wirken  für  die  Gattung,  wie  es  ihn  treibt,  das  Gesetz  zu  geben, 
das  die  ausgesprochene  Übereinstimmung  des  einzelnen  und  allge- 
meinen Willens  ist,  wie  es  ihn  treibt  zur  Arbeit  für  den  Staat  und  dessen 
Bildung,  der  die  konstituierte,  verwirklichte  Einheit  des  einzelnen  und 
allgemeinen  Wesens  ist,  so  treibt  es  in  der  Liebe  den  Menschen,  die  Sehn- 
sucht, das  Streben  nach  der  Einheit  seines  Ichs  mit  dem  anderen  Ich 
zu  verwirklichen,  wirklich  wahrhaft  eins  mit  ihm  zu  werden.  Die  bloße 
Liebe  ist  nur  das  Gefühl,  daß  diese  Einheit  mit  dem  anderen 
Ich  das  Wesen  sei;  die  Wirklichkeit  aber  ist  noch  die  dem  Wesen 


-=  149  = 

entgegengesetzte,  sie  ist  der  Hohn  gegen  das  Wesen;  in  der 
Wirklichkeit  sind  ja  die  beiden  Ichs,  die  als  das  Wesen  ihre  Einheit 
fühlen,  nicht  eins,  körperlich  abgetrennte  Individuen.  Das  Wesen, 
die  Einheit  ist  nur  noch  ein  bloßes  Sollen,  das  noch  nicht  ist,  ihr  Sein, 
ihre  Existenz  ist  noch  entgegengesetzt  dem  Sollen.  Denn  das  Sollen 
ist  die  Einheit,  imd  das  Sein  ist  noch  die  Getrenntheit.  Ihr  Wesen  ist 
die  Einheit,  aber  ihr  Sein,  ihre  Körperlichkeit  und  Existenz  ist  die 
getrennte,  das  Sein  ist  noch  nicht  unterworfen  tmd  durchdrungen  von 
dem  Wesen.  Die  Körperlichkeit,  dieser  letzte  Trotz  des  Ich  und 
diese  letzte  Schanze  der  bei  sich  verharrenden  Ichheit,  die  das  Un- 
wesenthche  ist,  sträubt  sich  gegen  das  Wesen  und  will  sich,  ihre 
körperliche  getrennte  Existenz,  fixieren  und  bewahren  gegen  das  Wesen, 
das  die  Einheit  ist.  Das  Sein  die  Getrenntheit,  sträubt  sich  gegen  das 
Sollen,  gegen  das  Machtgebot  des  Wesens,  die  Einheit. 

Siehst  Du,  Mädchen,  das  ist  ein  schrecklicher  Zustand.  Die  beiden 
großen  Mächte,  die  das  AU  bilden.  Sollen  imd  Sein,  Wesen  und  Existenz, 
Seele  und  Ivcib,  Idee  und  Wirklichkeit  sind  auseinandergerissen.  Das 
Sollen  ist  ohne  Sein  und  das  Sein  ohne  Sollen,  dem  Sollen  entgegen- 
gesetzt; das,  was  sein  soll,  ist  nicht,  imd  was  ist,  soll  nicht  sein; 
das  Wesen  hat  keine  Existenz  tmd  die  Existenz  ist  wesenlos.  Das  Wesen, 
die  Einheit  ist  ohne  die  Erfüllung  des  Seins,  und  das  Sein,  die  Getrennt- 
heit, Körperlichkeit,  ist  ohne  die  Weihe  des  Wesens,  ist  dem  Wesen 
und  seinem  Machtgebot  entgegengesetzt,  ist  die  Sünde  gegen  es.  Mäd- 
chen, das  ist  ein  schrecklicher  Zustand,  das  ist  Dein  Zustand,  Mädchen, 
das  ist  die  Trennimg  vom  Sollen  und  Sein,  Seele  und  Leib, 
von  der  ich  Dir  neuhch  sprach.  Das  ist  zugleich  die  Sünde,  die  häß- 
lichste, die  einzige  wahrhafte  aller  Sünden:  die  Unsittlichkeit.  Denn 
es  ist  das  letzte  Zucken  des  Ich,  wenn  es  seine  Ichheit,  seine  störrische, 
trotzige  Einzelnheit  hingeben  soll  dem  Allgemeinen,  der  Einheit.  Der 
Körper  ist  die  letzte  Existenz  des  Ichs  als  bloß  einzelnen  Ichs,  der 
Körper  sein  einzelnstes  Eigenümi;  er  ist  der  letzte  Schutzwall, 
hinter  den  sich  das  unsittliche  Ich  zurückzieht,  das  seine  Einzelnheit 
nicht  hingeben  will  der  Einheit,  dem  Allgemeinen. 

Da,  Lormi,  erhebt  sich  das  Wesen,  das  Sollen,  die  Einheit  in  seiner 
ganzen  Kraft.  Weißt  Du,  was  Rehgion  ist?  Religion  ist  die  Begeiste- 
rung für  das  Wesen  gegen  die  Existenz,  für  das  Sollen  gegen  das 
wesenlose  Sein.  (Ich  erinnere  Dich  an  das,  wovon  ich  neulich  mit 
Dir  sprach,  an  die  christlichen  Märtyrer.)  Religion  ist  die  Treue  gegen 
das  Wesen  imd  sein  Machtgebot.  Religion  ist  die  Verwirklichung  und 
Vollführung  des  Wesens,  des  Sollens,  zum  Trotz  der  störrischen  gegen 
das  Wesen  sich  sperrenden  Existenz.  Die  Liebe  wird  zur  Religion, 
Das  Wesen,  das  Sollen  unterwirft  sich  die  sich  gegen  es  sträubende 


=  150  = 

Wirklichkeit,  die  Getrenntheit  des  körperlichen  Seins.  Die  Einzelnheit 
wird  auch  aus  dieser  ihrer  letzten  Verschanzung  herausgetrieben  und 
muß  sich  hingeben  dem  Wesen,  das  die  Einheit  mit  dem  andern  Ich  ist. 
Der  Körper,  diese  absolute  Einzelnheit  und  Getrenntheit,  gibt  seine 
Einzelnheit  auf ;  wie  der  Geist  der  beiden  Liebenden  eins  und  identisch 
ist,  so  werden  die  Körper  jetzt  eins,  die  Schranke  wird  durchbrochen, 
die  Getrenntheit  verschwindet,  die  Seelen  fließen  zusammen,  aus  zwei 
Leibern  wird  einer,  ein  wunderbarer  Organismus.  Mann  und  Weib 
in  der  Umarmung,  das  Bild  der  Gattung.  Jetzt  ist  die  Liebe  erst  wirk- 
lich, das  Sollen  ist  ausgeführt,  die  Einheit  beider  Ichs  verwirklicht, 
das  Wesen  und  sein  Gebot  vollzogen.  Der  Zeugungsprozeß  ist  der 
Zenitpunkt  der  Liebe.  Jetzt  erst  ist  vollkommen  gebrochen  die  Un- 
sittlichkeit  der  Einzelnheit,  denn  jetzt  erst  ist  vollständig  mit  Fleisch 
imd  Blut  das  Ich  aus  seiner  Einzelnheit  herausgetreten.  Jetzt  erst  ist 
die  Einheit  vollbracht.  Darum  nenne  ich  den  Zeugungsakt  einen 
gottesdienstlichen  Akt,  denn  in  ihm  wird  das  Wesen  vollzogen,  die 
Einheit  des  Ichs  mit  dem  Allgemeinen,  der  Gattung.  Diese  Einheit 
gelangt  in  ihm  zur  Existenz,  wird  Wirklichkeit,  Sein.  Der  Zeugimgs- 
akt  ist  die  Inkarnation,  die  Fleischwerdung  Gottes,  was  nichts  anderes 
heißt,  als  er  ist  die  Wirklichwerdung  und  Vollziehung  des  bis  dahin 
nurinnern  Wesens,  der  Einheit  mit  der  Gattimg.  —  Es  ist  ein  bemerkens- 
werter Tiefsinn  der  deutschen  Sprache,  daß  sie  die  Worte  Gattung 
und  Begattvmg  aus  einem  Stamme  gebildet  hat.  —  Sich  begatten 
heißt  sich  der  Gattimg  hingeben  —  und  die  in  diesem  Akte  erreichte, 
verwirklichte  Einheit  ist  keine  flüchtige,  vorübergehende.  Das  Produkt 
dieses  Aktes  ist  ein  permanentes  —  es  erscheint  das  Kind.  Indem 
das  Ich  seine  Ichheit  hingegeben  hat  an  die  Gattung,  hat  es  sich  zur 
Gattung  erweitert,  zur  Gattung  gemacht,  hat  es  die  Gattung  hervor- 
gebracht, erzeugt,  und  die  Gattung  erzeugt  sich  nur,  entsteht  nur, 
indem  das  Ich  sich  ihr  hingibt;  das  sich  der  Gattung  hingebende  Ich 
ist  der  Lebensquell  der  Gattung.  Das  Kind  ist  das  äußerliche,  ehrende 
Zeichen,  daß  das  Ich  seine  Einzelnheit  aufgeschlossen  hat  der  Gattung. 
Darum  galt  es  bei  den  alten  Griechen  als  eine  Würde  und  Ehre,  Kinder 
zu  haben,  und  die  Kinderlosigkeit  wird  noch  als  eine  Schande  be- 
trachtet im  ganzen  Morgenland.  — 

Nun,  Lonni  —  ich  muß  abbrechen;  ich  wollte  Dir  einen  Brief 
schreiben  und  bin  auf  dem  Wege,  Bücher  anzufüllen.  Genug  für  heute, 
vielleicht,  daß  ich  es  fortsetze  ein  andermal.  Soviel  glaube  ich  Dir 
klar,  sonnenklar  gemacht  zu  haben,  daß  das  Recht,  die  Pflicht,  das 
Wesen,  die  Sittlichkeit,  die  Religion  auf  selten  Deiner  Liebe,  auf  meiner 
Seite  stehen ;  —  auf  der  Seite  DeinerWeigerung  steht  die  Unsittlichkeit  des 
in  seiner  Einzelnheit  verharren  wollenden  Ichs,  die  Irreligiosität.  Wähle ! ! 


—  151  —  =^ 

Das  wirst  Du  eingesehen  haben,  daß  es  das  Höchste  ist,  sich  mit 
Bewußtsein  hinzugeben  der  Gattung.  Unbewußt,  ohne  es  zu  wollen 
und  wissen,  tut  es  auch  das  Tier  in  der  Fortpflanzung.  Unbewußt 
wirkt  auch  der  eigensüchtigste  Krämer  in  seinem  kleinlichsten,  nur  auf 
sich  berechneten  egoistischsten  Tun  für  die  Gattung.  Denn  das  ist 
die  große  Ironie,  daß  der  Einzelne  auch  in  seinem  einzelnsten  Tun 
und  Treiben,  auch  da,  wo  er  nur  sein  eigenes  einzelnstes  Geschäft  zu 
treiben  gedenkt,  dennoch  gezwungen  ist,  ohne  und  wider  seinen  Willen 
Allgemeines  zu  veranlassen,  für  die  Gattung  zu  arbeiten. 

Mit  Bewußtsein  und  Willen  aber  sich  der  Gattung,  der  Allgemein- 
heit hingeben,  das  ist  das  Höchste,  das  Göttlichste,  was  der  Mensch 
erreicht.  Darum  sollst  Du  mit  Bewußtsein  und  Willen  aussprechen, 
daß  Du  Deine  isolierte  trotzige  Einzelnheit  ausziehen,  daß  Du  ein- 
ziehen willst  in  das  Reich  der  Sitthchkeit,  in  das  Himmelreich,  in  die 
Einheit  mit  der  Allgemeinheit,  der  Gattung,  dem  anderen  Ich.  lyonni, 
wähle! 

IV. 

Mein  Mädchen! 

Es  ist  das  letzte  Mal,  daß  ich  mir  diese  trauliche  Anrede  erlaube 

—  das  letzte  Mal  sei  sie  Dir  noch  von  Herzen  gegeben. 

Es  ist  eine  schmerzliche,  unangenehme  Pflicht,  die  ich  zu  erfüllen 
im  Begriff  bin,  aber  ich  habe  immer  dafürgehalten,  daß  wenn  zwei 
Personen,  die  sich  wert  waren,  durch  irgendwelche  Umstände  veran- 
laßt, dazu  kommen,  ihre  Liaison  aufzulösen,  am  besten  tun,  sich  darüber 
klar  zu  machen,  es  sich  gegenseitig  einzugestehen.  Es  liegt  allerdings 
etwas  überaus  Unangenehmes  darin,  sich,  besonders  wenn  das  Verhält- 
nis zarter  Art  war,  dies  geradezu  heraus  zu  sagen;  und  die  Folge  davon 
ist,  daß,  da  die  belebende  Innerlichkeit  erloschen  ist,  das  Verhältnis 
sich  noch  eine  Zeitlang  als  äußerliches  hinschleppt,  man  den  offenen 
Bruch  scheut,  sich  gegenseitig  geniert  und  unbequem  ist. 

Ein  Beweis  mehr,  wie  die  Menschen  sich  von  allen  ihren  selbst- 
gemachten Verhältnissen  zwingen,  knechten,  peinigen  lassen. 

Das  soll  nicht  sein.  Ein  Wort  bricht  diese  Kette,  ein  Wort  befreit 
von  dem  Albdrucke,  den  der  tote  Leichnam  gewesener  Liebe  ausübt, 
ein  Wort  läßt  wieder  frei  atmen.  —  So  will  ich  es  denn  aussprechen, 
dieses  Wort. 

Du  hattest  mir  keine  Leidenschaft  zu  erwidern;  versagt  ist  Dir 
der  frisch  springende  Quell  warmen  Blutes ;  vielleicht  daß  weißer  Fisch- 
saft in  Deinen  Adern  langsam  fließt  —  ich  verzieh  Dir  das,  ich  ging  in 
meiner  Nachsichtigkeit  vmd  Resignation  so  weit,  daß  ich  von  Dir  nicht 


=  152  =^= 

verlangte,  was  Du  doch  nicht  leisten,  erfüllen  konntest  —  nämlich 
Leidenschaft  — ,  ich  begnügte  mich  mit  dieser  stumm,  fleischlosen  Liebe, 
mit  diesem  Gespenst  und  seinem  mitternächtigen  Umgang,  Schon 
einmal  hatte  ich  Dich  verlassen,  weil  sich  die  ganze  GöttHchkeit  meiner 
Natur,  die  ungeteilt  eins,  Geist  imd  Fleisch  in  vmgetrennter  Durch- 
dringimg, gegen  dies  sieche,  abgeschiedne  Geisttum,  gegen  diese  roman- 
tische Seelenschwabbelei  empörte.  Ich  hatte  Dich  verlassen  —  ich  sah, 
daß  Dir  dies  Schmerz  machte,  und  ich  kehrte  zurück  und  ergab  mich 
in  diese  Kreuzigung.  Da  endlich  fügtest  Du  zu  der  Liebeskälte,  die 
Deine  Natur  ist,  auch  noch  die  entschiedenste  Gleichgültigkeit,  die 
frostigste  Rücksichtslosigkeit  hinzu;  während  sechs  Wochen,  während 
eines  Zeitraums,  innerhalb  welches  Du  dreimal  um  ein  Theaterbillett 
schreiben  konntest,  gewannst  Du  nicht  die  Zeit,  mir  ein  Wort,  ein 
einziges  Wort,  eine  Silbe  zukommen  zu  lassen.  —  Du  scheinst 
mit  großem  Gleichmut  abzuwarten,  mit  einem  Gleichmut,  der,  wie 
er  auch  sonst  bezeichnet  werden  mag,  jedenfalls  doch  eher  alles  andre 
als  eben  Liebe  ist,  ob  ich  je  wieder  zurückkehren  würde  oder  nicht. 

Da  sah  ich  deutlich,  daß  ein  eisiger  Wintersturm  zerstört  hatte, 
was  in  Deinem  Herzen  für  mich  blühte. 

Ob  es  mich  traurig  macht  —  ich  muß  mich  darein  finden.  Deine 
Liebe  zu  mir  hat  faktisch  aufgehört;  so  bleibt  mir  nur  eins,  mir  keine 
Illusionen  zu  machen  imd  wären  sie  die  tröstlichsten,  als  liebtest  Du 
mich  noch  wie  ehedem,  mir  diese  kalte  nackte  Wahrheit:  ,,Du  liebst 
mich  nicht,"  ohne  schonende  Selbsttäuschtmg  einzugestehen,  das 
Paradies,  vor  dem  sich  abwehrend  der  Engel  mit  dem  feurigen  Schwert 
(der  Teufel  Deiner  Gleichgültigkeit,  statt  des  feurigen  Schwertes 
einen  Eiszapfen  in  der  Hand)  gelagert  hat,  auch  freiwiUig  aufzugeben 
—  und  sich  zu  schicken  in  die  Zeit.  ,, Schicket  Euch  in  die  Zeit,  denn  es 
ist  böse  Zeit."  — 

Ich  versuchte  damals  noch  eins.  Ich  ging  zu  Dir  imd  stellte  Dir 
Dein  Unrecht  vor,  und  außer  mehreren  Abgeschmacktheiten  erfuhr  ich 
nichts,  als  daß  Du  Deine  Leidenschaft  zu  mir  bekämpfen,  unterdrücken 
wolltest.  Eine  Leidenschaft,  die  nie  dazu  kommt,  sich  selbst  billigen 
zu  können,  sich  hinzugeben  dem  Glück  und  der  göttlichen  Freude  ihrer 
Existenz,  eine  Leidenschaft,  die  fortwährend  selbstmörderisch  die 
Hand  an  sich  selbst  zu  legen  droht  —  ist  sehr  langweilig  oder  sie  muß 
tragisch  enden. 

Um  Dich  tragisch  enden  zu  lassen,  bin  ich  Dir  zu  gut,  mein  Kind, 
imd  die  Langweile  langweilt  mich. 

So  leb  denn  wohl. 

Deine  Gefühle  für  mich  vermag  ich  nicht  zu  berechnen,  ich  aber 
werde  stets  Dein  ergebenster  treuster  Freund,  Dein  Diener  sein. 


-^=  153  = 

Nicht  ohne  Absicht  wählte  ich  die  Vignette  dieses  Briefes,  ein 
Christusbild. 

So  möge  er  denn  wieder  einziehen  in  das  Herz,  aus  dem  ich  ihn 
vertrieben,  in  diesen  Tempel,  der  eine  Zeitlang  einem  andern  Gotte 
geweiht  war,  in  diesen  Tempel,  der  mein  Altar,  mein  Heiligtum  war 
eine  schöne  kurze  Zeit. 

Aber  nein,  warum  sollte  ein  Tempel,  den  Apollo  verläßt,  der  glänzende 
Gott  des  ewigen  Lichtes,  sogleich  in  die  düstere  Öde  des  Klosters  sich 
wandehi?  Viel  sind  ja  der  heitern  griechischen  Götter,  und  der  Sohn 
Asklepios^)  folgt  auf  seinen  strahlenden  Vater. 

So  sei  es  denn,  imd  zu  des  Griechen  Gebet  Sprech'  ich  ein  christ- 
liches Amen. 


28. 

DR.   ARNOLD    MENDELSSOHN    AN  DEN  BANKIER  JOSEPH 
MENDELSSOHN.  2)     (Abschrift.) 

[Berlin,  Auf.  Jan.  1845.] 

...  Es  war  im  November,  als  mir  Lassal,  wie  es  seine  Weise  ist, 
meinen  Wünschen  zuvorkommend,  das  Anerbieten  machte,  zu  ihm  zu 
ziehen.  Es  ist  unschwer  zu  sehen,  mit  welcher  Freude  ich  dies  An- 
erbieten ergreifen  mußte.  Schon  längst  hatte  ich  mich  gesehnt,  meine 
Stube  in  der  Oranienburger  Straße  bei  meinen  Eltern  zu  verlassen,  ich 
hatte  längst  eingesehen,  was  ich  einem  Manne  von  Deiner  Lebens- 
erfahrung wohl  erst  nicht  auseinanderzusetzen  brauche,  daß  ich  dort 
in  einem  so  entlegenen  Teile  der  Stadt,  zumal  bei  der  Ärmhchkeit  und 
Beschränktheit  meiner  ganzen  äußern  Existenz,  in  der  Welt,  wo  so  un- 
geheuer viel  auf  ÄußerUchkeiten  ankommt,  niemals  Praxis  erhalten,  nie 
sozusagen  Karriere  machen  könnte  .  .  .  Wenn  also  schon  diese  äußere 
Rücksicht  auf  meine  Existenz  hinreichte,  um  mir  das  so  freimdliche 
Anerbieten  Lassais  äiißerst  willkommen  zu  machen,  so  hatte  ich  noch 
dazu  einen  vielleicht  noch  gewichtigern  innern  Grtmd  dafür.  Es  wird 
Deinem  Blick  wohl  nicht  entgangen  sein,  daß  seit  meiner  Bekannt- 
schaft mit  Lassal  eine  radikale  Umändenmg  mit  mir  vorgegangen 
ist,  ich  eine  ganz  andere  Richttmg  erhalten.    Durch  ihn  wurde  ich 


^)  Mit  dem  Sohn  des  Asklepios  ist  Dr.  Arnold  Mendelssohn  gemeint. 

2)  Joseph  Mendelssohn,  der  älteste  Sohn  Moses  Mendelssohns,  der  Begründer 
des  noch  heute  bestehenden  großen  Berliner  Bankhauses  Mendelssohn  &  Co. 
Lassalle  war  durch  seinen  Freund  Arnold  Mendelssohn  bei  den  verschiedenen 
Mendelssohnschen  Familien  eingeführt  worden. 


-—  154  = 

zur  Philosophie  hingeführt,  aber  er  begnügte  sich  nicht  damit,  mich 
zu  ihr  bloß  hinzuführen,  auch  etwa  zu  ihrem  Studium  anzuregen,  er 
übernahm  auch  die  Arbeit,  mich  in  sie  einzuführen,  er  war  mein 
Mystagog  in  den  Mysterien  dieser  Wissenschaft,  und  einen  bessern 
hätte  ich  mir  schwerlich  wünschen  können.  Es  ist  aber  die  jetzige 
Philosophie  nicht  etwa  wie  viele  frühere  ein  abstraktes  metaphysisches 
Gerede  und  Verstandesraisonnement,  sondern  eine  Wissenschaft,  die 
sämtliche  positive  Realdisziplinen  zu  ihrem  Inhalt  und  ihrer  Basis 
hat,  zugleich  aber  ihnen  erst  ihren  Wert  verleiht.  Daher  kam  es,  daß 
meine  Stellung  zu  meiner  eigenen  Fachwissenschaft,  der  Medizin,  jetzt 
eine  ganz  andere  wurde.  Früher  hatte  ich  sie  ohne  lyust  und  Liebe  wie 
ein  Metier  betrieben.  Jetzt  lernte  ich  den  Gedanken  in  ihr  erkennen, 
die  Vernünftigkeit  dessen  begreifen,  was  mir  früher  nur  zusammen- 
hangloses, äußerliches,  unvernünftiges  Material  gewesen  zu  sein  schien. 
Das  Handwerk  wurde  mir  zur  Wissenschaft.  Daß  aus  dieser  meiner 
Erkenntnis  für  mich  [die]  wichtigsten  Folgen  in  bezug  auf  meine  medi- 
zinische Produktivität  und  Kenntnis  erwachsen,  ergibt  sich  mit  Not- 
wendigkeit. Ich  hoffe  und  glaube,  daß  Du  den  innern  Zusammen- 
hang dessen,  was  ich  hier  nur  so  von  weitem  angedeutet  habe,  auch  in 
der  Tat  begreifst  und  mich  nicht  für  ,, schwärmerisch  begeistert"  hältst, 
dem  ja  auch  meine  ganze  ruhige  Natur  und  mein  Alter,  das  die  Jüng- 
lingsjahre wohl  überschritten,  widerspräche.  Daß  man  diesen  Zu- 
sammenhang meist  nicht  einsieht,  liegt  nur  in  der  gänzlichen  Unbe- 
kanntschaft imserer  gebildeten  Welt  mit  dem,  was  wahrhaft  Philosophie 
ist.  Die  Philosophie  ist  in  der  Tat  wie  jene  Geheimsprache  der  gibel- 
lineschen  Dichter,  über  die  Du  so  Interessantes  mitteilst,  das  esoterische 
Besitztum  einiger  weniger.  ^) 

Aber  noch  andres  vmd  gerade  das  Entgegengesetzte  habe  ich  von 
der  Philosophie  erhalten.  Denn  wenn  ich  bisher  gesagt,  daß  ich  durch 
sie  zu  dem  ,, Gedanken"  kam,  so  kam  ich  nicht  weniger  durch  sie  zu 
dem  Glücke  des  Seins,  nämhch  zu  der  innern  Beruhigung.  War  ich 
früher  ein  griesgrämlicher  Kerl  gewesen,  dem  es  nirgendwo  recht 
war  und  am  allerwenigsten  in  seiner  eigenen  Jacke  und  Haut,  war 
ich  von  allem  Existierenden  unbefriedigt  gelassen,  so  konnte  und 
mußte  ich  jetzt  vielmehr  dies  tadelsüchtige,  mißmutige  Wesen  fahren 
?assen,  als  ich  dazu  kam,  die  Vernunft,  die  Wahrheit,  den  Gedanken  in 
dem  Existierenden  zu  begreifen.  Oh,  es  ist  ein  ganz  eignes  Glück,  er- 
löst zu  sein  aus  der  leeren  Unzufriedenheit  des  Liberalismus,  aus  diesem 
tadlerischen  Besserwissen,  das  sich  nirgends  wohl  imd  zuhause  fühlt, 
dem  die  ganze  Welt  und  Wirklichkeit  sinn-  und  gedankenlos,  ein  Regi- 

*)  Joseph  MendeJssohn,  Bericht  über  Rossettis  Ideen  zu  einer  neuen  Er- 
läuterung des  Danfe  und  der  Dichter  seiner  Zeit.     Berlin  1840. 


—  —  155  = 

ment  des  Unsinns  ist.  Es  ist  ein  ganz  eignes  Glück,  eine  heitre  Freude, 
die  Vernunft  zu  schauen  im  Vorhandenen,  sich  nicht  mehr  bloß  ge- 
drückt, verneint  zu  fühlen,  sondern  die  Existenz  als  die  des  Gedankens 
zu  wissen  und  sie  somit  bejahen  zu  können  und  den  beruhigten  Aus- 
spruch des  jüdischen  Gottes  tun  zu  können,  der  von  seinem  Himmel 
herimtersehend  sagt:  ,, Alles  ist  gut."  Den  Wert  dessen  fühlt  man  be- 
sonders, wenn  man  früher  dazu  gekommen  war,  zu  sagen:  Alles  ist 
schlecht.  Der  Ernst  der  Philosophie  ist  ein  heiterer  Ernst,  denn  er 
führt  von  jenem  gallsüchtigen  liberalen  [Weg  fort]  ^)  zur  Heiterkeit  der 
Weltanschauimg.  Ich  kann  von  lyassal  oder  von  der  Philosophie,  was  mir 
eigentlich  identisch  ist  und  zusammenfällt,  jenes  von  Hegel  [geltende]  ^) 
Wort  sagen:  ,,Und  mit  der  wirklichen  Welt  hat  er  mich  wieder  ver- 
söhnt." 

Um  aber  der  Gedankenfülle  und  des  Glücks  der  Philosophie  wahr 
teilhaftig  zu  werden,  bedurfte  es  natürlich  der  gründlichsten,  tief  ein- 
dringendsten Kenntnis  und  Studiums;  ein  Studium,  welches  durchaus 
nicht  so  leicht  und  in  so  kurzer  Zeit  absolviert  werden  kann,  ein  Studium, 
welches,  wenn  man  es  von  sich  aus  allein  betreibt,  Jahre,  Jahre  des 
eifrigsten  Bemühens  erfordert.  Unbegreiflich  in  dieser  Beziehung 
muß  Lassal  erscheinen,  der  in  einem  doch  noch  so  jimgen  Alter  etwas 
vollendet  vmd  vollbracht  hat,  was  sonst  eine  Arbeit  von  Dezennien 
verlangt  und  einer  Arbeit  von  Dezennien  so  selten  gelingt;  erklärlich 
ist  es  mir  erst,  seitdem  ich  weiß,  wie  er  von  seiner  ersten  Jugend  an 
durch  seine  ganze  frühreife  Bildung  seinem  Alter  stets  um  zehn  Jahre 
vorausgeeilt  war,  wie  er  in  einem  Alter  von  13  bis  16  Jahren,  wo  wir 
andern  sonst  Kinder  zu  sein,  Jünglinge  zu  werden  pflegen,  seine  ganze 
Jünghngsperiode  durchlebte,  wie  er  da  in  einem  äußerst  tollen  bunt- 
bewegten Leben  sich  die  Hörner  ablief  und,  worauf  man  gewöhnlich  nicht 
mit  Unrecht  soviel  Gewicht  legt,  sich  ,,Ivebenserfahnmgen"  sammelte; 
das  zurückgelegte  sechzehnte  Jahr  fand,  so  paradox  es  klingen  mag, 
diesen  aller  Gewöhnlichkeit  enthobenen  Menschen  als  einen  erfahrenen 
Mann;  wie  er  ferner  durch  seine  wahrhaft  eminente  Geisteskraft  im 
zehnten  Teil  der  Zeit  das  vollbringt,  wozu  wir  andern  die  zehnfache 
brauchen,  und  wie  er  endlich  durch  seine  riesenhafte  Energie,  durch  den 
ausdauerndsten  Fleiß  von  seinem  sechzehnten  Jahr  ab  jedes  Jahr  zu 
dreien  sich  umschuf.  Bloß  durch  diesen  letzten  Umstand  gelang  es  ihm, 
sich  eine  so  enorme  Masse  empirischer  Kenntnisse  zu  verschaffen, 
die  ihm  den  Namen  eines  Gelehrten  vindiziert. 

Mir  nun  wäre  es  bei  der  so  großen  Schwierigkeit  des  Gegenstandes 
durch  mein  vorgerücktes  Alter,  besonders  aber  durch  meine  so  sehr  viel 


Die  eingeklammerten  Worte  sind  nicht  genau  zu  entziffern. 


—  156 

Zeit  raubenden  praktischen  Verhältnisse  fast  unmöglich  gewesen,  mit 
Erfolg  Philosophie  zu  studieren,  wenn  ich  es  auf  dem  gewöhnlichen 
naturwüchsigen  Wege,  bloß  auf  meine  eignen  Mittel  angewiesen, 
hätte  tun  sollen.  —  Dadurch,  daß  I^assal  mir  gesagt,  er  unternähme, 
mich  in  die  Philosophie  einzuführen,  gemeinschaftlich  mit  mir  zu 
studieren,  wurden  mir  Berge  von  Schwierigkeiten  aus  dem  Weg  ge- 
räumt und  an  Zeit  imglaublich  viel  erspart.  Auch  so  —  ich  arbeite 
seit  August  mit  Lassal  —  habe  ich  kaum  noch  den  allerkleinsten  Teil 
dessen  hinter  mir,  was  ich  durchmachen  muß,  tun  im  wirklichen  Besitz 
der  Philosophie  zu  sein,  aber  das  glückliche  Gehngen  des  Anfangs,  der 
Fortschritt,  den  ich  täglich  an  mir  sehe  und  wahrnehme,  die  täghch 
wachsende  Kraft,  bürgt  mir  für  den  Ausgang. 

Wenn  mir  so  nur  dadurch,  daß  ich  mit  L,assal  arbeiten  konnte,  das 
Gelingen  eines  Unternehmens  möglich  wurde,  zu  dessen  Beginn  ich 
sonst  bei  meinem  Alter,  SteUimg  etc.  kaum  den  Mut  gehabt  hätte, 
so  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  [bei]  meiner  durch  äußere  Verhältnisse 
in  Anspruch  genommenen  und  sozusagen  zerstückelten  Zeit  und  bei 
Lassais  geregelter,  durch  die  vielfachsten  Studien  besetzten  Zeit- 
einteiltmg  mein  Zusammenarbeiten  mit  ihm  dadurch  mißhch  frag- 
mentarisch und  gelähmt  war,  so  daß  ich  auf  diese  Weise  nicht  auf  die 
gewünschte  Art  vorwärts  kommen  konnte.  Deshalb  machte  mir  Lassal, 
meinem  eignen  Wunsche  zuvorkommend,  das  Anerbieten,  zu  ihm  zu 
ziehen,  und  aus  diesem  angeführten  innem  Gnmde  war  mir  dies  Aner- 
bieten so  überaus  willkommen.^) 

Wie  imendlich  rascher  ich  dadurch  in  meinem  Studium  vorschreite, 
habe  ich,  seitdem  ich  bei  ihm  wohne,  gesehen;  ja  ich  habe,  was  früher 
nur  auf  negative  Weise,  jetzt  auf  positive  Weise  gesehen,  nämlich,  daß 
nur  durch  ein  Zusammenwohnen  bei  ihm  ich  die  mir  nötige  Arbeit 
überwinden  kann.  Dies  Zusammenwohnen  mit  ihm,  wodurch  ich  jede 
Stunde  meiner  zerstückelten  Zeit,  ohne  ihn  allzusehr  zu  stören,  benutzen 
kann,  gleicht  die  eigen tümhchen  Schwierigkeiten  vmd  Hindemisse  aus, 
die  mir  aus  meinem  vorgerückten  Alter,  meiner  Praxis  etc.  entspringen. 
Ich  wohnte  jetzt  also  mit  lyassal.  Vor  kurzer  Zeit  nun  eröffnete  mir 
dieser,  daß  er  der  imleugbaren  viel  UnannehmHchkeiten  wegen,  die 
das  Wohnen  in  Chambres  gamies  mit  sich  bringt,  sich  eine  eigne  Woh- 
nimg miete  imd  daselbst  einrichten  wolle.  Er  begleitete  diese  Er- 
öffnimg  mit  dem  Anerbieten,  mit  ihm  zu  ziehen.  Ich  nahm  dies,  wie 
natürlich,  wiederum  unbedenkhch  und  sehr  gern  an.  Ich  dachte  im 
Augenblick  nicht  daran,  daß  dazu  irgend  etwas  anderes  erforderlich 
wäre.  Erst  als  ich  sah,  daß  Lassal  anfing,  sich  sehr  elegant  zu  möblieren. 


*)  Seit  Mitte  November  1844  wohnten  sie  zusammen. 


=  157 =-^  ^ 

fiel  mir  ein,  daß  wir  ja  jetzt  eine  unmöblierte  Wohnung  nähmen  und 
daher  eine  Selbstanschaffung  von  Meubles  etc.  und  eigne  Wirtschafts- 
einrichtimg nötig  sei.  Ich  sah  sofort,  daß  sich  der  Ausführung  dessen, 
soweit  es  mich  betraf,  in  meiner  gänzlichen  Mittellosigkeit  ein  un- 
bezwingliches  Hindernis  entgegensetzte.  Zwar  machte  mir  Lassal 
mit  seiner  gewohnten  Liberalität  sofort  das  Anerbieten,  mir  auch  mein 
Zimmer,  den  für  mich  bestimmten  Teil  der  Wohnung  zu  möbheren, 
und  drang  mit  seiner  ganzen  Freundlichkeit  in  mich,  dies  von  ihm  an- 
zunehmen. Aber  so  wunderbar  dies  auch  klingen  mag,  ich  schlug  dies 
unerbittlich  aus.  Es  scheint  ein  Widerspruch  darin  zu  liegen,  es  scheint 
vielleicht  eine  krankhafte  geistige  Schwäche,  eine  Art  SentimentaUtät 
von  mir  zu  sein,  daß  ich  mich  so  hartnäckig  dagegen  sträube,  von  einem 
Menschen,  dem  ich  so  imendlich  viel,  meine  ganze  innere  Entwicklung 
verdanke,  nun  auch  etwas  anzunehmen  imd  zu  empfangen,  was,  wenn 
auch  an  und  für  sich  nicht  unbedeutend,  doch  gegen  den  innern  Reich- 
tum, den  er  mir  verlieh,  gehalten,  eine  wahre  Kleinigkeit  ist.  Die 
meisten  Menschen  würden,  wie  gesagt,  dies  nur  für  diesen  Widerspruch 
nehmen;  es  kommt  darauf  an,  das  bewegende  Motiv  dieses  scheinbaren 
Widerspruchs  aufzufassen.  Dies  Verständnis  wird  darum  selten  sein, 
weil  zu  ihm  psychologische  Kunde  imd,  wenn  ich  so  sagen  [darf],  ein 
feineres  Gefühl  gehört.  Du  wirst  mich  verstehen,  wenn  ich  Dir  sage, 
daß  ich  darum  so  fest  widerstrebe,  dies  von  Lassal  anzunehmen,  grade 
weil  ich  ihm  schon  so  viel,  so  unendlich  viel  verdanke,  daß  sich  meiner 
das  drückende  Gefühl  bemächtigt,  bei  einer  Vermehrung  dessen,  was 
ich  ihm  schulde,  meine  ganze  Ichheit,  meine  ganze  Selbständigkeit  an 
ihn  hin  zu  verUeren.  Ich  will  gar  nicht  davon  sprechen,  daß  vielleicht 
sogar  die  Möglichkeit  vorhanden  wäre,  daß  ich  ihn  durch  die  Annahme 
seines  Anerbietens  irgendwie,  wenn  auch  immer  nur  wenig  oder  augen- 
bhcklich,  inkommodiere.  Jedenfalls  bleibt  dieses  fest  stehen:  Wenn 
ich  ihm  schon  imendlich  viel  [Inneres]^)  verdanke  imd  derartiges,  daß 
es  nach  Geld-  oder  dergleichen  Taxen,  wie  Du  zugeben  wirst,  gar  nicht 
abzuschätzen  ist,  so  hat  für  dies  aus  freier  Liebe  Gegebene  die  freie 
Liebe,  ja  das  Geben  selbst  bezahlt.  Um  keinen  Preis  aber  möchte  ich 
zu  ihm,  grade  weil  ich  ihm  so  viel  verdanke,  in  das  Verhältnis  äußerer 
Abhängigkeit  treten.  Daß  ich  Lassal  die  innern  Wohltaten,  mit 
denen  er  mich  so  verschwenderisch  überschüttete,  meinerseits  nicht 
vergelten  kann,  stört  mich  schon  seiner  Unmöglichkeit  wegen  nicht. 
Wenige  Menschen  wären  imstande,  sich  ihm  gegenüber,  wenn  er  zu 
ihnen  in  ein  Verhältnis  träte,  anders  als  annehmend  zu  verhalten.  Es 
würde  aber  nach  alledem  etwas  unendlich  Niederdrückendes,  ja  Er- 


^)  Das  eingeklammerte  Wort  war  nicht  genau  zu  entziffern. 


-158 

drückendes  für  mich,  durch  das  Band  materieller  Abhängigkeit  ge- 
fesselt zu  werden.  Es  würde  den  ganzen  freien  und  kräftigen  Flug 
meines  Selbstbewußtseins,  den  ich  in  letzter  Zeit  genommen  habe, 
niederziehen  und  lähmen  das  Bewußtsein,  ganz  das  Geschöpf  eines 
andern  Menschen  zu  sein.  Es  würde,  wenn  auch  wahrhaftig  nur  von 
meiner,  nicht  von  seiner  Seite,  sogar  mein  Verhältnis  zu  ihm  gestört 
werden  durch  dies  Bewußtsein  meiner  totalen  Unselbständigkeit 
ihm  gegenüber.  —  Ich  mag  mit  einem  Wort  von  meinem  Freund  nicht 
ausgehalten  werden.  Daß  ich  also  Lassals  Anerbieten  annehme,  das 
geht,  wie  genügend  erörtert,  durchaus  nicht  und  in  keiner  Weise,  So 
bliebe  mir  nur  noch  der  Fall  übrig,  überhaupt  nicht  mit  Lassal  zu- 
sammen zu  ziehen.  Das  aber  geht,  wie  Du  aus  dem  oben  Auseinander- 
gesetzten ersehen  wirst,  ebenfalls  nicht.  Es  würde  mich  unendlich 
zurückbringen  in  meinen  Studien,  würde  mich  um  Jahre,  Jahre,  wenn 
nicht  für  immer,  von  der  Erreichung  meines  mir  gesteckten  Ziels  ent- 
fernen. Ich  befinde  mich  also  in  der  imangenehmen  Lage,  zwischen 
zwei  Fällen  zu  stehen,  welche  beide,  gleich  schlimm,  für  mich  iimere 
Unmöglichkeit  sind. 

Diese  beiden  Klippen  zu  umschiffen,  dieser  Szylla  tmd  Charybdis 
gleich  auszuweichen,  wird  mir  nur  durch  Deine  Hilfe  möglich  sein  .  .  .^) 


29. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  6.  4.  45, 
Mein  lieber  Freund! 

Nach  dem  leidigen  Ausspruche  der  Kassandra:  ,,Das  Verhängte 
muß  geschehen,"  hast  du  nun  unsere  gute  Stadt  Berlin  verlassen,  und 
Deine  Witwen  imd  Waisen  wenden  ihre  Blicke  andächtig  und  sehn- 
süchtig nach  Breslau,  wie  der  Muselmann,  wenn  er  mit  seinem  An- 
gesicht sich  nach  Mekka  wendet  tmd  sein  Gebet  verrichtet.  Hoffentlich 
wird  auch  Deine  Hedschra  nur  das  Vorspiel  einer  Rückkehr  sein,  die 
der  des  Propheten  an  Furchtbarkeit  für  seine  Feinde  nichts  nachgeben 

^)  In  seiner  Antwort  vom  12.  Januar  lehnt  Joseph  Mendelssohn  ab,  dem  Neffen 
den  von  ihm  erbetenen  Vorschuß  von  250  Rt.  zu  gewähren.  Arnold  sei  auf  dem 
Wege  gewesen,  sich  als  Arzt  eine  Praxis  zu  schaffen.  Die  Bekanntschaft  mit 
Lassalle  führe  ihn,  so  besorge  er,  davon  ab:  ,, Lassalle  ist  ein  vermögender  junger 
Mann,  er  kann  tun  und  sich  beschäftigen  auf  jede  ihm  beliebende  Weise,  und 
ihm  behagt  das  Grübeln  in  übersinnhche  Kenntnisse,  in  Philosophie.  Du  weißt 
wie  ich  —  ganz  unphilosophischer  Geist  diese  abstrakte  Philosophie  ansehe.  Ich 
halte  sie  für  nichts  anderes  als  ein  geistiges  Spiel,  etwas  besser  als  Karten-  oder 
Schachspiel,  womit  man  aber  keinen  Hund  aus  dem  Ofen  lockt." 


wird  Selbige  Hedschra  ist  aber  so  eilig  erfolgt,  daß  Dein  Omar  nur 
einen  Teil  der  ihm  gewordenen  Aufträge  hat  ausführen  können:  Deine 
Sachen  nämlich  sind  Sonnabend  vormittags  noch  von  den  Leuten 
Moreau  Valettes  (der  Name  klingt  wie  aus  einem  Roman  von  Spießt) 
oder  Cramer:^)  Stoßt  die  Humpen  an,  Banko  den  Fetzen)  abgeholt 
worden  xmd  werden  daher  wohl  nach  Deinem  Wunsch  eintreffen.  Als 
ich  aber  gegen  12  Uhr  auf  das  Universitätsgericht  kam  und  mit  dem 
Tone  der  größten  Assurance  Deine  Exmatrikel  forderte,  sammelte  sich 
ein  Rudel  Pedelle  um  mich,  die  mich  auf  verschiedene  Art  oder  Unart 
angrinsten  und  mir  die  tröstliche  Versicherung  gaben,  ich  würde  eine 
bestimmte  Antwort  über  dieselbe  bekommen,  wenn  ich  in  ungefähr 
acht  Tagen  wiederkommen  wollte.  Ich  machte  daher  sogleich  einen  der- 
selben zu  meinem  speziellen  Vertrauten,  indem  ich  ihm  nach  Deinem 
Gnmdsatz  seine  Hoffnimgen  zum  voraus  erfüllte,  und  erlangte  zum 
mindesten  das  Versprechen,  daß  er  die  Sache  so  schnell  als  möglich 
besorgen  wolle;  die  Matrikel  mache  schon  die  Runde  und  er  werde 
darauf  sehen,  daß  die  Herren  sie  nicht  liegen  ließen.  Ich  selbst  werde 
täglich  einmal  auf  dem  Gericht  erscheinen  und  meine  Anwesenheit 
möglichst  unangenehm  machen,  auf  daß  man  die  Sache  beschleunige, 
um  mich  loszuwerden. 

,  .  .  Was  mich  betrifft,  so  erhielt  ich  Freitag  abends  einen  Besuch 
von  Gottschall,  der  Dich  noch  zu  treffen  hoffte,  das  Nest  aber  zu  seinem 
großen  Bedauern  leer  fand.  Als  ich  ihm  seinen  Robespierre  zurückgab, 
so  fletschte  er  in  seiner  gewohnten  Weise  grimmig  lachend  die  Zähne 
tmd  erzählte,  daß  er  sich  vorgenommen  habe,  seine  Stücke  vorläufig 
drucken  zu  lassen,  weil  er  die  Nichtigkeit  der  Hoffnung  einsähe,  daß 
sie  jetzt  aufgeführt  werden  würden  .  .  .  Sonnabend  war  ich  abends  bei 
Dirichlet.^)  .  . .  Unser  Gespräch  wurde  .  .  .  durch  die  Ankunft  Pauls*) 
unterbrochen.  Mit  diesem  ging  ich  nach  Hause  imd  erzählte  ihm  unter- 
wegs, daß  Du  mich  verlassen  habest.  Als  er  mich  fragte,  warum  Du  nach 
Breslau  gegangen  seist,  schob  ich  erst  Deine  Schwester  vor,  übrigens 
aber  auch,  wie  ich  sagte,  wegen  einer  Arbeit,  die  er  ungestörter  dort 


^)  Chr.  H.  Spieß  (1755 — 1799).  Verfasser  von  Rittergeschichten  in  der  Art 
des  Rinaldo  Rinaldini. 

2)  K.  G.  Cramer  (1758 — 1817),  Verfasser  von  Ritter-  und  Spektakekonianen, 
ein  Liebling  des  Leihbibliothekenpublikums. 

3)  Peter  Gustav  Lejeune  Dirichlet  (1805 — 1859),  seit  183 1  außerordenthcher, 
seit  1839  ordentlicher  Professor  der  Mathematik  an  der  Universität  Berhn,  war 
seit  1832  mit  Rebekka,  der  jüngeren  Schwester  Felix  Mendelssohn- Bartholdys, 
verheiratet.  Vgl.  über  die  Mendelssohns  das  bekannte  Buch  von  G.  Hensel,  „Die 
Famihe  Mendelssohn",  Berlin   1882. 

*)  Paul  Mendelssohn  (18 13 — 1874),  der  jüngere  Bruder  Fehx  Mendelssohn- 
Bartholdys,  war  bis  zu  seinem  Tode  einer  der  Inhaber  des  Bankhauses. 


—  i6o  —     ^  = 

vollenden  kann.  Er  fragte  mich  darauf,  ob  Du  uns  vielleicht  mit  einer 
neuen  Religion  beschenken  wollest  (wie  kommt  der  Mann  auf  diese 
Frage?),  worauf  ich  ihn  etwas  vornehm  ansah  und  ihn  fragte,  ob  er 
ein  derartiges  Geschenk  etwa  für  überflüssig  halte?  Und  er  gestand 
dann  ein,  daß  es  mindestens  mit  der  Religion,  wie  sie  bisher  bestanden 
hat,  schlecht  bestellt  sei.  Übrigens  fragte  er  mich,  ob  ich  nicht  auch 
nach  Breslau  gehen  würde,  da  ich  mit  Dir  so  befreundet  wäre,  worauf 
ich  ihm  sagte,  sehr  gern,  wenn  ich  nicht  an  die  Scholle  bisher  gebunden 
wäre,  vorläufig  werdet  Ihr  mich  hier  noch  nicht  los.  (Ich  dachte  dabei : 
Herr,  gedenke  der  Athener.) 

Im  Sonntagsverein  war  es  gestern  industriell.  Herr  Guyau  [?],  der 
amerikanische  Logiker,  Herr  Kimze,  ein  anderer  Freund  Wilhelms, 
dieser  und  ich  Ärmster,  der  jeden  Augenblick  empfand,  wie  freund- 
lich es  von  Dir  war,  fast  jeden  Sonntag  Deines  Hierseins  mit  mir  in 
meiner  Familie  zuzubringen  und  die  Himmelfahrt  mit  Lonni  zu 
unternehmen,  um  doch  als  irgendwo  seiend  auch  etwas  zu  tun.  Soviel 
ist  mir  klar,  daß  ich  mir,  bevor  ich  dazu  komme,  auch  etwas  imter  den 
Leuten  zu  tun  (Du  weißt,  was  ich  meine),  die  Herzspitze  abnagen  werde, 
daß  ich  Dich  nicht  mehr  hier  habe  und  erst  drei  solcher  verdammter 
Dinger  schreiben  soll,  welche  die  übertägigen  Menschen  Briefe  nennen, 
ehe  ich  wieder  ein  Wort  von  Dir  höre.  Vorliegender  hat  übrigens,  wie 
ich  bemerke,  bald  das  befohlene  Maß  erreicht,  und  ich  beeile  mich, 
Dich  nur  noch  zu  benachrichtigen,  daß  ich  von  vergessenen  Sachen 
nur  eine  Unterhose  und  einen  Teil  vom  Ariost  gefunden  habe.  Letzteren 
will  ich  Dir  mit  einer  Gelegenheit,  z.  B.  mit  meinem  Bruder  nach 
Breslau  nachsenden.  —  Auf  eine  Antwort  habe  ich  vorläufig  keine 
Ansprüche,  und  indem  ich  mich  mit  dem  Angesicht  wieder  nach  Mekka 
wende  und  Gott  tmd  den  Propheten  um  siegreiche  Waffen  anflehe, 
zeichne  ich  mich  als  Deinen  Freund  tmd  Diener 

Omar  Mendelssohn. 


30. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  14.  5.  45. 
Lieber  Bruder  in  Christo! 

.  .  .  Sehr  begierig  bin  ich  zu  hören,  wie  Dir  mein  Schwager^)  und  meine 
Schwester  geschienen  haben.  Der  andere,  von  dem  ich  Dir  einmal 
sprach  und  Dich  fragte,  ob  Du  ihn  vielleicht  sehen  möchtest,  heißt 

^)  Eduard  Kummer  (18 10 — 1893),  ^^^  berühmte  Mathematiker.  Er  war  seit 
1842  ordentlicher  Professor  in  Breslau. 


i6i  —  

Jacobi  und  ist  Professor  der  Geschichte.  Wenn  es  Dir  einmal  recht 
sein  wird,  und  Du  hast  ihn  noch  nicht  bei  meinem  Schwager  gesehen, 
so  werde  ich  Dir  eine  Karte  an  ihn  schicken,  doch  nehme  ich  nach 
Deinem  Brief  fast  Anstand,  Dich  noch  mit  jemand  bekannt  zu  machen, 
dem  Du  doch  wahrscheinlich  auch  ein  fürsorglicher  Vater  sein  würdest 
(Du  hebes  greises  Haupt  von  20  Jahren),  Du  hast  vorläufig  für  jemanden, 
der  ein  solches  Werk  ^)  vorhat  wie  Du,  genug  Menschlein  um  Dich  herum, 
für  welche  Du  auf  die  verschiedenste  Weise  sorgst.  Sehr  neugierig  bin 
ich  unter  anderm,  was  denn  Dein  ältester  Sohn,  der  Baron  ^j,  verbrochen 
haben  mag,  daß  er  in  solche  Ungnade  gefallen  ist;  furchtbar  ist  der 
Herr  in  seinem  Zorn,  doch  er  wendet  es  alles  zum  Guten. 

.  .  .  Humboldt  kommt  diesen  oder  künftigen  Monat  zurück,  weil 
der  König  nicht,  wie  erst  beschlossen  war,  an  den  Rhein,  sondern  nach 
Preui3en  imd  Schlesien  geht.  Wirst  Du  ihn  besuchen,  wenn  er  etwa 
sich  in  Breslau  aufhielte?    Mit  angenagter  Herzspitze 

Dein  Omar-Mendelssohn. 


31. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  16.  $.  45. 
Mein  Freimd  und  Gebieter! 

Ich  will  heute  schon  den  folgenden  Brief  begiimen,  weil  einiges 

über  den  kleinen  Hoffnimgsvollen  ^)  mitzuteilen  ist Im  Bett 

fragte  er  mich,  ob  ich  mir  denn  nach  meinem  Vorsatz  den  Entwurf 
Deines  Systems*)  abgeschrieben  hätte,  er  wünsche  gar  sehr,  ihn  sich 
wieder  ins  Gedächtnis  zurückrufen  zu  köimen.  Wenn  Du  ihn  aber  in 
einer  müßigen  Sttmde  einmal  für  mich  kopierst,  so  tust  Du  mir  nicht 
allein  wieder  einmal  einen  bedeutenden  Liebesdienst,  sondern  Du  tust 
außerdem  etwas  Zweckgemäßes. 

Gestern  habe  ich  im  Hotel  Abendbrot  gegessen,  Dames  und  Schrader 
stürzten  alsbald  auf  mich  ein  mit  der  Frage,  ob  ich  Nachricht  von  Dir 

^)  Lassalle  hatte  schon  begonnen,  an  Heraklit  zu  arbeiten. 

2)  Lassalle  hatte  an  Baron  Stücker  einen  äußerst  ,, beleidigenden  Brief  ge- 
schrieben". 

^  Alexander  Oppenheim,  mit  dem  Mendelssohn  nach  Lassalles  Fortgang  von 
Berhn  zusammenwohnte. 

^)  LassaUes  Entwurf  zu  einer  ,, Philosophie  des  Geistes"  befindet  sich  im 
Nachlaß  und  wird  in  dem  Band  dieser  Publikation,  der  seine  unveröffentUchteu 
Fragmente  und  Aufsätze  bringt,  veröffentlicht  werden. 

Mayer,  Lassalle-NachUiss.     I  H 


=::"-    l62  - 

hätte.  Ich  setzte  mich  an  emen  besondeni  Tisch,  heß  Dames  neben 
mir  sitzen,  mir  das  Epos  Deiner  Taten  noch  einmal  von  diesem  Rhapsoden 
vortragen;  er  konnte  Dein  Benehmen  nur  billigen;  obgleich,  wie  er 
sagte,  ihn  die  endliche  Ohrfeige  doch  überrascht  hätte;  er  vermißt 
seineu  guten  Kunden  sehr  und  staunte,  als  er  von  mir  hörte,  daß  Du 
außer  Ecarte  spielen  auch  noch  arbeiten  könntest,  daß  Du  sogar  letzteres 
noch  lieber  tätest.  Übrigens  hat  er  von  jemandem,  den  er  mir  jedoch 
nicht  zu  nennen  wußte,  von  Deiner  Gelehrtheit  gehört  und  war  über- 
rascht durch  den  Ruf  derselben  in  Verbindung  mit  Deiner  Jugend  .  .  . 
Bei  Mendelssohns,  wo  ich  zu  Tisch  war,  ist  bisher  noch  nichts  Be- 
sonderes vorgefallen  .  .  .  Man  bemerkt,  daß  ich  jetzt  angenehmer  in 
der  Gesellschaft  sei,  als  während  Deines  Hierseins,  wo  ich,  von  stiller 
Bewimderung  Deiner  hingerissen,  immer  dagesessen  hätte,  ohne  ein 
Wort  zu  sprechen.  Du  aber  habest  auch  nichts  für  die  Gesellschaft 
getan,  sondern  Dich  eigentlich  nur  mit  dem  Alten  ^)   eingelassen  .  .  . 


32. 
ARNOIvD  MENDEIvSSOHN  AN  EASSAIXE.     (Original.) 

[Poststempel  28.  Mai  45.] 

Du, 

denn  so  kann  ich  Dich  ja  nur  nennen,  da  Du  ja  das  einzige  Ich  bist, 
dem  ich  ganz  Ich  bin,  die  höhere  Einheit,  in  der  ich  als  Moment  auf- 
gehoben bin,  in  der  ich  mich  mit  meinem  Andern  vermittle.  —  Dein 
Brief  hat  mir  eine  höchst  freudige  Überraschung  bereitet,  da  ich  ihn 
nicht  erwartet  hatte.  Dein  Leben,  wie  Du  es  mir  beschreibst,  ist  des 
Werkes  würdig,  welches  Du  vollbringst;  was  Du  eigentlich  leistest, 
ist  mir  dieser  Tage  erst  wieder  an  einem  Diesen  klar  geworden;  ich 
las  nämlich  die  englische  Revolution  von  Dahlmann.^)  Das  Buch  ist 
gewiß  eines  der  bessern  historischen  imd  doch,  wie  äußerlich  sind  die 
Sachen,  wie  äußerlich  die  Charaktere  betrachtet;  ich  mußte  während 
des  lycsens  fortwährend  an  die  Phänomenologie  denken,  und  indem  ich 
mir  das  Kapitel  von  dem  seiner  selbst  gewissen  Geiste,  dem  Gewissen 
oder  dem  Bösen  zurückrief,  wurden  mir  die  Gestalten  dieser  Zeit  so 
durchsichtig,  daß  ich  die  größte  Lust  bekam,  Dahlmann  immerfort  zu 
rüffeln.  Cromwell  z.  B.  nennt  der  Mann  einen  phantastischen  Heuchler 
imd  erzählt  selbst,  daß  er,  als  er  in  dem  letzten  Jahr  seines  Lebens 


1)  Joseph  Mendelssohn. 

^)  Friedrich  Christoph  Dahlmann,  der  bekannte  Geschichtsclireiber  und  Poli- 
tiker.    Seine  Geschichte  der  enghschen  Revolution  war  1844  erschienen. 


i63 

viel  durch  äußeres  Unglück  und  durch  Krankheit  gelitten  hatte  und  in 
sich  gebrochen  war,  auf  dem  Sterbebette  seinen  Kaplan  iragte:  Ist  es 
möglich,  vSterry,  daß  einer  aus  der  Gnade  fallen  kann?  Nein,  es  ist 
nicht  möglich!  Nun,  so  bin  ich  sicher,  denn  daß  ich  einmal  in  der 
Gnade  war,  das  weiß  ich  gewiß.  —  Auf  Deinen  Heraklit  bin  ich  höchst 
begierig.  Ich  finde,  daß  Hippokrates  Heraklitischer  Philosoph  ge- 
wesen ist  imd  kann  mich  daher,  da  Heraklit,  wenn  auch  abstrakt,  die 
Idee  des  Prozesses  fand,  als  den  echten  Nachfolger  des  Hippokrates 
betrachten. 

Was  Du  \'on  dem  Gasgeschäft  nebst  Stücke r-Lichnowskyschen  Sub- 
sidien  schreibst,^)  ist  Manna  in  der  Wüste ;  denn  das  unendhche  Subjekt, 
das  kein  Geld  hat  (nämlich  ich),  hat  zwar  im  Geiste  seine  Grenze  zu 
einer  Schranke  herabgesetzt,  aber  als  sinnliches  Dieses  ist  es  ihm  immer 
noch  eine  Grenze,  an  dessen  scharfen  Kanten  es  sich  alle  Augenblicke 
den  Kopf  stößt .  .  . 


33. 
ARNOIvD  MENDELSSOHN  AN  I.ASSAIvIvE.  (Original.) 

Berlin,  5.  G.  45. 

.  .  .  Die  Geschichte  mit  Hecker  und  Itzstein"^)  wird  hier  vielfach  be- 
sprochen, man  ist  sehr  empört,  besonders  die  faden  Liberalen,  wie  Paul, 
Behr  usf.  erheben  ein  großes  Geschrei;  Arnim,^)  der  die  Sache  auf 
seine  Verantwortung  hin  ausgeführt  haben  soll,  soll  seine  Entlassung 
erhalten.  Auch  über  die  Kabinettsorder  gegen  den  Homöopathen 
Arthur  Lutze  und  über  die  katholischen  Dissidenten  wird  hin-  imd  her- 
geredet, die  obigen  Kerle  nennen  den  König  einen  Heuchler  und  Schuft, 


*)  Für  Baron  Stücker  und  das  Gasgescliäft  vgl.  die  Einleitung  S.  331". 

'^)  Friedrich  Hecker  und  Adam  von  Itzstein,  die  bekannten  süddeutschen 
liberalen  Politiker,  waren  am  25.  Mai  1845,  als  sie  sich  auf  der  Durchreise  in 
Berlin  auflüelten,  aus  Preußen  ausgewiesen  worden.  Dieser  Willkürakt  hatte  in 
allen  freiheithch  gesinnten  Kreisen  die  größte  Empörung  hervorgerufen.  Im 
Breslauer  Stadtverordnetenkollegium,  dem  Lassalles  Vater  seit  1841  angehörte,  war 
der  Beschluß,  in  der  Angelegenheit  eine  Immediateingabe  an  den  König  zu  richten, 
zuerst  angenommen,  dann  ziurückgenommen  worden.  In  die  Polemik,  die  sich 
hieran  knüpfte,  wollte  sich  auch  LassaUe  mit  einer  den  Professor  Regenbrecht 
befehdenden  Zuschrift  an  die  ,, Breslauer  Zeitung"  mischen,  die  sich  noch  im  Nach- 
laß befindet. 

3)  Adolf  Heimich  Graf  von  Arnim- Boitzenburg,  der  :Minister  des  Innern, 
trat  damals  tatsäcMich  zurück.  Er  wurde  bekanntlich  am  Tage  nach  der  März- 
revolution von  Friedrich  Wilhelm  IV.  an  die  Spitze  der  Regierung  berufen. 


=  164 — 

die  Klugem  lächeln  und  nennen  ihn  einen  Narren  und  sehen  besonders 
die  erstere  als  ein  deutliches  Signum  pathognomonicum  dieser  Krank- 
heit an.  —  Heut  oder  morgen  werde  ich  nach  Charlottenburg  gehen, 
um  die  Atrophia  weiter  zu  betreiben;  es  wäre  höchst  vorteilhaft,  mein 
teuerster  Freund  (jetzt  will  ich  vielmehr  Dein  teuerster  Freund 
sein),  wenn  Du  mir  noch  vorher,  ehe  ich  diese  Geschichte  wirkhch 
zum  Klappen  gebracht  habe,  ein  kleines  Detachement  senden  könntest, 
ich  bin  noch  immer  in  allen  meinen  Evolutionen  durch  Truppenmangel 
auf  das  empfindhchste  gehemmt;  Oppenheim,  der  höchst  ruhig  bezahlt 
und  gegen  den  ich  noch  kein  Sterbenswörtchen  von  der  aus  Amerika 
gekommenen  Geldnot  habe  fallen  lassen,  kann  ich  unmöglich  anpumpen; 
kannst  Du  nicht  auf  Deinen  Stückerschen  Besitzungen  eine  kleine 
Brandschatzung  erheben? 


34- 
ARNOLD  MENDEI^SOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  den  13.  6.  45. 

Mein  Einziger! 

.  .  .  Übrigens:  wie  der  Hirsch  nach  dem  Wasser,  so  dürstet  meine 
Seele  nach  Dir;  die  Menschen  ennuyieren  mich  im  allgemeinen  gründ- 
lich ;  gehörig  aushalten  werde  ich  es  erst  können,  wenn  ich  dazu  kommen 
werde,  sie  nicht  bloß  behandeln  zu  wollen,  sondern  sie  wirklich  zu  be- 
handeln, d.  h.  als  Werkzeuge  zu  unserm  Zweck  gebrauchen.  Ich  bin 
noch  immer  zu  kleinlich  und  furchtsam,  was  Du  sehr  wahr  eine 
Schwäche  des  Bewußtseins  nennst;  aber  Du  hast  ja  bis  jetzt  Geduld 
—  und  welche  Geduld  gehabt,  es  kommt  bei  mir  alles,  aber  by  and  by, 
wie  der  Engländer  sagt. 


35- 
ARNOI.D  MENDEI^SOHN  AN  I^ASSAI^LE.     (Original.) 

Berlin,  21.  6.  45. 

lyieber  Getreuer! 

.  .  .  Über  die  Hecker-Itzsteinsche  Geschichte  gebärdet  man  sich 
hier  wie  toll  und  stellt  sich,  als  ob  man  eine  ganz  neue  Entdeckung  ge- 
macht hätte  daran,  daß  unsre  Regierimg  willkürlich  verfährt  und 
die  Pohzeihimde  eben  Hunde  sind.    Ich  möchte  dem  liberalen  Pack, 


—  i65 

Paul  und  Konsorten,  zuweilen  in  die  Zähne  schlagen,  wenn  sie  mir 
ihre  Gesinnvmg  auftischen  und  meinen  Beifall  fordernd  losräsonieren. 
.  .  .  Morgen  kommt  Humboldt  aus  Kopenhagen  zurück,  leider  ist 
mein  Buch^)  noch  immer  nicht  fertig.  Habt  Ihr  in  Breslau  etwas  von 
den  beiden  Reden  gehört,  welche  der  König  an  die  Stadtverordneten 
in  Königsberg  imd  dann  an  das  Offizierkorps  gehalten  hat?  Er  hat 
beide  Teile  'nmtergemacht  wie  dumme  Jimgens  imd  sie  seiner  Un- 
gnade versichert.  Zu  den  erstem  hat  er  gesagt:  Alle  Unruhen  gingen  nur 
von  einigen  Schreiern  aus  und  wenn  sich  nur  zwanzig  I^eute  von  tüch- 
tiger Gesinnvmg  in  der  Provinz  zusammentäten,  könnten  sie  dieselben 
leicht  imterdrücken.  Der  süße  Dusel,  in  welchem  dieser  Mann  lebt, 
ist  in  der  Tat  bewundernswert.  Das  Ministerium  soll  über  die  Hecker- 
Itzsteinsche  Geschichte  zerfallen  und  der  König  willens  sein,  Arnim 
den  Abschied  zu  geben. 


36. 
ARNOIvD  MENDELSSOHN  AN  LASSAI^LE.     (Original.) 

Berlin,  i.  7.  45. 
Lieber  Freund! 

...  In  politicis  ist  es  hier  jetzt  sehr  lebendig;  die  schnatternden 
Gänse  räsonieren,  was  Zeug  hält.  Wenn  Du  ein  oder  das  andere  dieser 
Gerüchte  mitgeteilt  haben  willst,  z.  B.  daß  die  Königsberger  anständige 
I^eute  bei  der  Ankunft  des  Königs  alle  nach  Pillau  gefahren  sind,  dort 
ein  Dejeuner  gehalten  haben,  von  welchem  aus  die  Stadtverordneten 
zurückgefahren  sind  und  ihm  ihre  Aufwartung  gemacht  haben,  wobei 
jene  famose  Rede  von  der  Ungnade  erfolgte,  daß  dieselben  ihm  hierauf 
eine  Adresse  übersandt  haben  sollen,  welche  hier  in  Abschrift  zirkulieren 
soll,  worin  sie  sagen,  sie  seien  Bürger  des  preußischen  Staates;  als 
solche  hätten  sie  Pflichten  imd  Rechte;  die  ersten  erfüllten  sie  tmd 
würden  auf  die  letzteren  halten,  wobei  es  Ihnen  auf  die  Gnade  oder 
Ungnade  des  Einzelnen  nicht  ankommen  könne  usf.,  wenn  Du  der- 
gleichen wissen  willst,  so  will  ich  es  künftig  ausführlicher  mitteilen.  2) 

^)  Der  Mechanismus  der  Respiration  und  Zirkulation  oder  das  explizierte 
Wesen  der  Lungenhyperaemia,  Berlin   1845. 

2)  Auch  in  voraufgehenden  Briefen  findet  sich  schon  allerhand  innerpolitischer 
Klatsch.  Bei  der  bekannten  Ausweisung  von  Hecker  und  Itzenstein  macht  sich 
.Arnold  Mendelssohn  über  andere  Mitgheder  seiner  Familie  lustig,  die  aus  Liberalis- 
mus über  diesen  Gewaltakt  außer  sich  geraten  waren.  Überall  zieht  er,  der 
gelehrige  ..Omar"  seines  , .Mohammed"  l^assalle,  eine  scharfe  Trennungslinie 
zwischen  sich  und  den  LÄberalen.  Nur  Johann  Jacobi  scheint  in  seinen  Augen 
noch  Gnade  zu  finden.    Auf  diesen  bringt  er  bei  einem  Königsberger  Fest,  das 


=:=:^    l66  ,,,,^^ 

37- 
ALEXANDER  OPPENHEIM  AN  I.ASSALIvE.     (Original.) 

Undatiert  [Anfang  Juli  1845.J 

Lieber  Lassal! 

Von  der  nochmaligen  Durchsicht  meiner  soeben  vollendeten  zweiten 
Proberelation  wende  ich  mich  einen  Augenblick  ab,  um  Ihnen  noch 
herzliche  Grüße  hierdurch  zu  übersenden,  denen  ich  jedoch  als  Anlage 
sogleich  eine  Bitte  beifüge,  darin  bestehend,  daß  Sie  mir  eine  Abschrift 
Ihres  System-Stockes  zukommen  lassen,  den  Sie  mir  jenes  Abends  in 
strada  del  moro  ^)  mit  Erläuterungen  mitteilten,  damit  ich  in  lichten 
Zwischenräumen  (das  sind  die  Augenblicke,  in  denen  ich  mich  mit 
Pandekten,  die  dies  dilucida  intervalla  rücksichts  eines  furiosus  nennen, 
nicht  beschäftige)  mich  daran  erbauen  mag.  Träufeln  Sie  dem 
Examinanden  Balsam  in  seine  Wunden  .  .  .  Mit  Wünschen  für  das  beste 
Wohlergehen  für  Sie  und  Ihr  Werk. 


38. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,   10.  7.  45. 

Lieber  Freund! 

Alexander  brachte  mir  Deinen  Brief  augenblicklich  zum  Lesen;  er 
war  mit  dem  Grunde,  warum  Du  ihm  Deinen  Abriß  nicht  senden  wolltest, 
nicht  einverstanden.  Ich  sagte  ihm,  wie  es  durchaus  nicht  tauge,  die 
Resultate  der  Philosophie  ohne  den  Weg  der  Vermittlung  sich  an- 
eignen zu  wollen,  indem  die  wahre  Erkenntnis  nur  durch  den  Weg  der 
Vermittlung  zu  erlangen  sei,  welcher  die  Resultate  von  selbst  mit  sich 


damals  in  Berlin  veranstaltet  wurde,  einen  Toast  aus.  In  der  FamiHe  Mendels- 
sohn gut  I,assaUes  Freund  um  diese  Zeit  bereits  als  ,,ein  Fourier,  ein  Kommunist". 
Der  eigene  Vater,  mit  dem  er  schlecht  steht,  nennt  ihn  so.  Dies  berichtet  Arnold 
Mendelssohn  am  22.  Juli  an  Lassalle.  Da  er  damals  seinen  Vetter  Paul  Mendels- 
sohn um  ein  Darlehen  augegangen  war,  so  fügt  er  dort  hinzu:  ,,Zum  Glück  habe 
ich  bei  Paul  nie  etwas  Bestimmtes  gesagt  in  dieser  Beziehung,  er  hat  nur  so  ein 
allgemeines  je  ne  sais  quoi  gegen  mich,  mein  Mäskchen  weissagt  ihm  verborgenen 
Sinn.  Der  kann  vorläufig  das  Senkblei  so  tief  aussenken,  wie  er  will,  er  soll  keinen 
(Jrund  in  mir  finden,  selbst  für  den  Lokalverein  habe  ich  mich  nicht  einmal  näher 
interessiert."  Der  ,, Lokalverein"  ist  natürhch  der  Verein  für  das  Wohl  der 
arbeitenden  Klassen,  in  dem  damals  die  sozial  empfindenden  Elemente  des  Bürger- 
tums sich  zum  erstenmal  sammelten. 
^)  Mohrenstraße. 


:        '  mr    167    r—^==  _  -^ 

führe;  er  würde  nichts  von  dem  Abriß  verstehen.  Er  meinte,  wie  er 
jetzt  von  sich  noch  gar  nicht  verlange,  alles  zu  verstehen,  wie  er  aber 
den  Weg  der  Vermittlung  einschlagen  wolle. 

.  .  .  Sage  mir  ein  Mittel,  wie  ich  mich  in  der  Dialektik  zu  üben  habe; 
das  Beste  wird  wohl  das  sein,  was  Du  mir  schon  geraten  hast,  daß  ich 
nämlich  wieder  holen  thch  versuche,  die  Entwicklung,  welche  ich  eben 
gelesen  habe,  auf  dem  Papier  wiederzugeben.  Ich  finde  mich  grade  in 
dieser  Hauptsache  ganz  besonders  schwach ;  ich  weiß  weder  den  Begriff 
gehörig  festzuhalten,  noch  auch  ihn  nachher  übergehen  zu  lassen, 
natürlich  nur,  wenn  ich  dies  selbst  tim  will;  beim  Lesen  habe  ich  den 
Fehler,  welchen  Du  oft  bemerktest,  als  ich  noch  das  Glück  hatte,  mit 
Dir  zu  lesen,  daß  ich  den  Übergang  nicht  scharf  genug  merke;  wenn 
Du  ihn  machtest,  ging  mir  immer  erst  ein  Licht  auf. 

Die  Berliner  haben  über  die  Itzstein-Heckersche  Geschichte  schon 
zwei  Witze  gemacht:  Weil  Frankenberg,  der  badische  Gesandte,  um 
8  Uhr  noch  schlief,  sagen  sie,  er  sei  der  erste  Achtschläfer,  bisher  habe 
mau  nur  von  Siebenschläfern  gehört.  Von  Itzstein  und  Hecker  sagen 
sie:  Sie  sind  wegen  Unpäßlichkeit  wieder  fortgeschickt  worden. 

Deinen  herrlichen  Brief  über  Robert  habe  ich  auch  noch  nicht  be- 
antwortet (vorstehende  Geschichten  sind  von  ihm) ;  ich  suche  in  meinem 
Benehmen,  soviel  ich  vennag,  Deine  Vorschriften  auszuführen;  ihm 
wirklichen  Ekel  an  sich  beizubringen,  wird  etwas  Zeit  kosten  .  .  .^) 


39- 
ALEXANDER  OPPENHEIM  AN  LASSALLE.    (Original.) 

Dresden,  10.  Juli  1845. 

.  .  .  Ihre  Ratschläge  über  den  ersten  Angriff  werde  ich  befolgen. 
Ich  erlange  dadurch  mutmaßlich  einen  Plan,  wie  ich  am  besten  zu 
Werke  gehe,  den  ich  sonst  vielleicht  erst  nach  vielem  Mühen  würde  ge- 
funden haben.  Ich  habe  mir  den  Feuerbach  hierher  mitgenommen; 
ich  werde  mit  Arnold  Jahrbücher-)  lesen;  die  Rechtsphilosophie  habe 
ich  Lust,  bevor  mit  einem  andern  zusammen,  zunächst  mir  allein 
durchzunehmen  .  .  .  Auch  will  ich  nicht  darauf  bestehn,  daß  Sie  mir 
eine  Abschrift  Ihres  Grundrisses  senden;  ohne  jedoch  für  jetzt  meinen 

')  Wesen  und  Charakter  des  Assessors  Robert,  eines  Neffen  der  Rahel,  Latte 
Mendelssohn  in  einem  Brief  an  Lassalle  vom  2^.  Juni  ausführlich  geschildert. 
Er  nannte  ihn  dort  einen  ,,ziemhch  reichen  Menschen,  Siiitier,  frivoles  Subjekt". 

-)  Die  von  Arnold  Rüge  herausgegebenen  Halleschen,  später  Deutschen  Jahr- 
bücher, das  Hauptorgan  der  junghegelschen  Schule,  das  aber  bereits  im  Januar 
1843  unterdrückt  worden  war. 


i68  =-  = 

desfallsigen  Wunsch  aufzugeben,  Ihnen  meine  von  der  Ihrigen  ab- 
weichende Meinung  darüber  mitteilen.  Die  dahin  gehenden  Tatsachen, 
die  Sie  anführen,  erkenne  ich  als  richtig:  das  unverteidigt  Bleiben  eines 
Geschriebenen,  das  Mißliche  im  Verständnis  eines  aphoristisch  Aus- 
gedrückten, zumal  des  in  Rede  stehenden.  Nicht  aber  kann  ich  dem, 
was  Sie  daraus  gefolgert  haben,  und  dem  darauf  beruhenden  Resultate 
beitreten  .  .  . 


40. 

IvASSAIvLE  AN  BARON  HUBERT  VON  STÜCKER.    (Konzept  von 
lyassalles  Hand.) 

[Wohl  Juli   1845.]^) 
I/ieber,  teurer  Baron! 

Als  ich  mich  in  Salzbrunn  weigerte,  Ihnen  die  letzte  und  positive 
Antwort  zu  geben  auf  Ihre  Frage,  tat  ich  dies  nicht,  wie  Sie  etwa 
glaubten,  um  Zeit  zu  gewinnen,  mir  den  Inhalt  meiner  Rede  in  langer 
tmd  künstlicher  Überlegung  zurechtzulegen  —  was  ich  Ihnen  zu  sagen 
habe,  steht  lange  und  lebendig  vor  meiner  Seele  — ,  es  geschah  mit 
gutem  Gnmd  und  Vorbedacht.  Das  gesprochene  Wort  tönt  mächtig 
hinein  in  das  Innere,  aber  getragen  vom  Hauche  des  Mimdes  verfliegt 
es  mit  ihm.  Es  begeistert  imd  packt  und  erregt  zur  Tat  des  Augenbhcks 
—  aber  seine  Wirkung  ist  auch  beschränkt  auf  den  Augenblick  und 
sein  flüchtiges  I/cben.  Und  später  lächelt  man  wohl  seines  damaligen 
Enthusiasmus,  mid  die  Schuld  daran,  daß  man  so  tief  ergriffen  gewesen, 
scheint  nicht  die  Wahrheit  des  Wortes,  des  Gesagten,  sondern  viel- 
mehr die  augenblickliche  Stimmung  und  Laune  des  Hörenden  oder 
des  Redners  Gewalt  zu  tragen.  Man  meint  dann,  wäre  man  nur  gerade 
bei  kaltem  und  nüchternem  Verstand  gewesen,  hätte  der  Redende 
nicht  so  gut  vorgetragen  —  man  hätte  gleich  damals  die  Unwahrheit 
der  Sache  durchschaut.  Das  Wort,  weil  es  ein  lebendiges  ist,  stirbt, 
wenn  sein  tönendes  Leben  ausgeklungen.  Zwar  man  hat  es  gehört, 
es  existiert  fort  in  unserm  Innern,  Empfindung,  Gedächtnis,  aber  das 
ist  nur  die  tote  Weise  seiner  Existenz,  das  ist  nur  der  verblaßte  Schatten 
seiner  Wirklichkeit,  den  Schatten  lächelt  man  fort,  vergißt,  verwischt  ihn. 

Sehen  Sie,  zwischen  uns,  vmd  diesmal  besonders,  soll  das  nicht 
sein!    Das  zur  Schrift  gewordene  Wort  ist,  kann  man  zwar  sagen, 

*)  Lassalle  war  im  Juli  in  Salzbrunn.  Am  13.  Juli  fragt  Arnold  Mendelssohn 
ihn:  „Was  hast  Du  in  Deiner  Provinz  in  Salzbrunn  gemacht?  War  es  nicht 
möglich,  eine  kleine  Brandschatzung  für  den  Chevalier  Isolani  und  mich  aus- 
zuschreiben?" 


=    169  —  rrr 

gleich  tot  geboren,  aber  eben  darum  ist  es  eine  feste  und  unveränder- 
liche Existenz,  ewig  frisch,  dauernd  sich  selbst  gleich.  Die  Schrift  ist 
Gegenstand  und  Sache  der  Vernunft  tmd  der  kalten  Überlegung,  wie 
das  gesprochene  Wort  Sache  des  Gefühls.  Einen  Brief  kann  man  sich 
stets  in  jeder  Stimmung,  jedem  Geisteszustand  immer  wieder  vor- 
nehmen und  so  die  Probe  machen,  ob  sich  bewähre  kalt  und  objektiv 
die  Wahrheit  des  Gesagten.  Über  die  Wahrheit  eines  Geschriebenen 
kann  man  sich  selbst,  wenn  man  will,  keine  Illusionen  machen.  Die 
Wahrheit  eines  Geschriebenen  kann  man  selbst,  wenn  man  will,  sich 
nicht  fortlächeln  imd  fortwischen.  Das  Gesprochene  hat  keine  andere 
Weise  fort  zu  existieren  als  die  der  Eriimerung.  Die  Erinnerimg  aber 
legt  sich  wie  ein  v^erlöschender  Schwamm  auf  das  gesprochene  Wort 
und  sein  helles  Kolorit.  Die  Farbe  des  Geschriebenen  bleibt  ewig  in 
ihrer  ersten  Frische,  sie  ist  gefirnißt,  verdunkelt  nicht  das  geschriebene 
Wort,  steht  da,  ehern,  fest,  eine  Mauer.  Darum  spreche  man  zu 
einem  Weibe,  wenn  man  es  fangen  will.  Darum  schreibe  man  einem 
Mann,  wenn  es  sich  um  Sachen  handelt  nicht  des  Augenbhcks,  sondern 
des  ganzen  überlegten  Ernstes.  Darum  schreibe  ich  Ihnen.  Und  dann 
läßt  sich  vieles  schreiben,  was  sich  nicht  sagen  läßt. 

Und  kaum  einen  Tag  angekommen,  eile  ich  an  die  Erfüllung  meines 
Versprechens,  eines  Versprechens,  das  ich  erfüllen  würde,  auch  wenn 
ich  es  nicht  gegeben,  weil  es  mir  mehr  als  Versprechen,  weil  es  mir 
Pflicht  ist. 

Ausführlich  werde  ich  sein  müssen,  imd  ich  fürchte,  es  wird  mir 
nicht  gelingen,  mich  kurz  zu  fassen.  Aber,  imd  wenn  der  Brief  zum 
Bogen,  der  Bogen  zum  Buch  sich  weiten  sollte,  dennoch  will  ich  mit 
imerbittlicher  Geduld  Ihnen  alles  sagen,  was  ich  Ihnen  zu  sagen  habe. 
Und  scharf  mitimter  und  verletzend  werde  ich  reden  müssen.  Auch 
scheue  ich  das  nicht  imd  werde  es  nicht  zu  vermeiden  suchen.  Maria 
Stuart  zwar  fleht,  wie  sie  sich  zur  Elisabeth  wendet: 

Wie  soU  ich!) 

Die  Worte  klüghch  stellen,  daß  sie  Euch 
Das  Herz  ergreifen,  aber  nicht  verletzen! 
O  Gott,  gib  meiner  Rede  Kraft  und  nimm 
Ihr  jeden  Stachel,  der  verwunden  könnte! 

Maria  aber  spricht  zu  einem  Weib,  ich  habe  es  mit  einem  Mann  zii 
tun.  Ich  achte  Sie  genug,  um  zu  wissen,  daß  Sie  mich  geduldig  bis  zu 
Ende  lesen  werden.    Und  ich  habe  ein  Recht  dazu,  zu  schreiben,  wie 


^)   Bei  Schiller  heißt  es: 

Womit  soll  ich  den  Anfang  machen,  wie 
Die  Worte  usw. 


lyo  -  =: 

ich  mag  und  jedem  Worte  Dasein  zu  geben,  das  mir  in  die  Feder  quillt. 
Das  Recht  dazu  gibt  mir  der  tiefinnige  Ernst  (Anteil  wäre  ein  viel  zu 
schlappes  und  wässeriges  Wort  dafür),  das  sittliche  Pathos,  mit  dem 
ich  spreche.  Denn  wenn  je  irgend  etwas,  so  schreibe  ich  diesen  Briet 
mit  meinem  innersten  Herzblut,  Wenn  es  früher  ein  Vorrecht 
der  Jesuiten  war,  die  Beichtiger  zu  sein  der  Könige,  so  ist  es  billig  und 
zeitgemäß,  daß  das  Recht  jetzt  an  die  Philosophen  übergegangen  ist. 
Der  Beichtiger  aber  kann  und  muß  vergessen  Stand,  Rang,  Vornehm- 
heit, Stolz  und  alle  übrigen  Eigenschaften  dessen,  zu  dem  er  spricht. 
Sollte  sich  an  irgendeiner  Stelle  der  Baron  oder  sonst  irgendeine 
menschliche  Schwäche  in  Ihnen  regen,  so  denken  Sie,  daß  es  Liebe 
war,  die  mich  diesen  vielen  Bogen  langen  Brief  in  meinen  mir  gestohlenen 
Nächten  schreiben  ließ  —  und  ich  denke,  Sie  werden  ruhig  bis  zu  Ende 
lesen.  Denn  er  spricht  im  Namen  Gottes,  d.  i.  die  Idee  zu  den  sünd- 
haften  Menschen . 

Und  um  gleich  mit  der  Hauptsache  anzufangen,  wissen  Sie,  Baron, 
was  das  Schrecklichste,  der  härteste  Vorwurf  ist,  den  wir  dem  be- 
stehenden Zustand  der  Dinge  zu  machen  haben?  Es  ist  der  Vorwurf, 
daß  nach  dem  jetzigen  Zustand  des  Eigentums  nur  wenige  Bevorzugte 
in  den  Stand  gesetzt  sind,  auf  eine  des  Menschen  würdige  Weise  leben, 
d.  h.  sich  mit  geistigen  Dingen  beschäftigen,  den  Geist  zum  Gegenstand 
ihrer  Tätigkeit  machen  zu  können.  Es  ist  der  wesentliche  und  einzige 
Unterschied  des  Menschen  von  der  Tierheit,  daß  er  nicht  nur  physisches, 
sondern  ein  höheres,  daß  er  geistiges  Dasein  hat.  Die  w^ahre  und  höchste 
Bestimmung  des  Menschen  ist  es  somit,  den  Geist  zum  Gegenstand 
seiner  Arbeit  zu  machen.  Daß  dies  durch  unsere  jetzt  Geltung  habende 
Theorie  des  Eigentums  so  vielen  Millionen  Menschen  verwehrt  ist,  daß 
durch  unsere  bestehenden  Eigentumsverhältnisse  so  viele  Millionen 
gezwmigen  sind,  ihr  ganzes  Leben  auf  ihres  Lebens  Fristuug  zu  ver- 
wenden, daß  es  ihnen  schlechthin  unmöglich  gemacht  ist,  geistiges 
Dasein  zu  haben,  zu  existieren.  Geistiges  zum  Inhalt  ihres  Tuns  zu 
machen,  weil  sie  genötigt  sind,  alle  ihre  Kräfte  und  Zeit  hinzugeben, 
um  den  Hungertod  von  sich  abzuwehren,  um  ihre  materielle  Existenz 
nur  sich  zu  sichern,  daß  somit  so  viele  Millionen  Menschen  zu  Parias 
verdammt,  auf  die  Stufe  der  Tierheit  hinabgezwängt  sind,  —  das  ist 
der  schwere  Fluch,  der  auf  unserer  Zeit  und  ihren  Institutionen,  Staat 
imd  Eigentum,  lastet,  und  der  unnachsichtlich  seine  Vollstreckung 
nach  sich  zieht.  Die  Eumeniden  aber,  die  düsteren  Nachtgestalten, 
die  diesen  Fluch  vollstrecken  w-erden,  das  sind  —  die  Proletarier.  Das 
eben  Angegebene,  und  nichts  anderes,  nicht  die  bloße  Besitzlosigkeit, 
ist  der  Begriff  des  Proletariats.  Ich  z.  B.  wäre  kein  Proletarier  imd 
wenn  ich  kein  Hemd  auf  dem  Leibe  hätte,  imd  ebensowenig  könnte 


raaii  einen  Bettelniönch  oder  Eremit,  der,  von  Wurzeln  lebend,  sich  in  den 
Gedanken  vertieft,  einen  Proletarier  nennen.  Der  Begriff  des  Prole- 
tariats ist  eben  nur  der,  wegen  der  Sorge  für  seine  leibliche  Existenz, 
wegen  des  Mangels  an  der  unmittelbaren  Realität,  Eigentum  genannt, 
keine  geistige  Weise  seines  Daseins  zu  haben.  Baron!  Dieser  Fluch, 
unter  dessen  Gewicht  unverschuldet  das  Proletariat  seufzt  —  Sie 
haben  ihn  mit  freiem,  nein,  mit  willkürlichem,  frevelhaftem  Willen 
über  sich  ausgesprochen,  diese  Kette,  an  die  den  Proletarier  die  eherne 
Notwendigkeit  geschmiedet,  Sie  haben  sich  freiwillig  an  sie  gefesselt, 
Sie,  einer  jener  Bevorzugten,  zu  deren  Gunst  jene  ganze  große  Mensch- 
heit ^)  leidet.  Ohne  Not  und  mit  willkürhch  frevelhaftem  Willen  haben 
Sie  sich  begeben  der  geistigen  Weise  zu  existieren,  abgelegt  und  von  sich 
geschmissen  den  eigentlichen  Adel  und  Wert  des  menschlichen  Da- 
seins, das  Leben  als  Geist  und  in  der  Arbeit  des  Geistes,  ohne  Not 
und  mit  willkürlichem,  frevelhaftem  Willen  haben  Sie  sich  zu  dem 
gemacht,  was  der  Proletarier  durch  sein  unbesiegbar  Geschick  ist, 
zum  Paria,  imd  auf  sich  genommen  sein  trauriges,  bejammernswürdiges 
Los!!  Gleichmäßig,  wie  .selten  einer,  bevorzugt  durch  Geburt,  Ver- 
mögen und,  was  unendlich  mehr  ist,  durch  eine  seltene  Befähigung 
des  Geistes,  ja  schon  ausgerüstet  mit  einem  großen  Maße  mannig- 
fachen Wissens  haben  sie  zum  Inhalt  ihres  Lebens  gemacht  den  Mist 
und  das  Vieh.  Zur  ausschließenden  Weise  und  Qualität  Ihres  Wirkens 
haben  Sie  gemacht  die  niederst  roheste,  das  Düngen  der  Erde,  das 
Bewässern  der  Wiese,  das  Mästen  des  Viehs;  zur  Ausdehnung  ihres 
Wirkens  den  Punkt,  ethche  Morgen  I^andes.  Alle  ihre  großen  formellen 
Eigenschaften  verlieren,  wie  notwendig,  bei  einem  so  gewählten  Inhalt 
ihren  Wert,  ja  sie  werden  zur  Karikatur.  Ihre  uuermüdhche  Tätigkeit 
ist  die  eines  Holzhackers,  denn  sie  bringt  nichts  vor  sich,  sie  bietet  das 
komische  Schauspiel  eines  immerwährenden  Tuns,  ohne  doch  je 
etwas  getan  zu  haben,  es  müßte  denn  auch,  Holz  gespalten  zu  haben, 
für  etwas  gerechnet  werden.  Ja,  diese  Tätigkeit,  die  verehrenswürdig 
war  bei  einem  Staatsmann  oder  Denker,  anerkennenswert  bei  einem 
für  seine  Existenz  kämpfenden  Tagelöhner,  verzerrt  sich  bei  Ihnen 
um  so  mehr  zur  Karikatur,  weil  sie,  wie  sie  nichtig  und  kleinlich,  so 
auch  unnütz  und  grundlos  ist,  alles  notlos  überflüssige  Selbstabracke- 
nmg.  Und  sagen  Sie  mir  nicht,  daß  Sie  durch  Ihren  Geist  sowie  durch 
dessen  bereits  errungene,  erarbeitete  Bildung  und  Wissen  sich  himmel- 
weit von  dem  Proletarier  unterscheiden.  Grade  die  Wahrheit  dieses 
Einwurfs  macht  Sie  doppelt  schuldig,  doppelt  sündig.    Sie  gleichen 

^)   Hier  siud  zwei  AVoite,   die  nicht  zu   entziffern  waren,   ausgelassen.     Das 
ganz«  Konzept  dieses  Briefes  besteht  ans  Abkürzungen  und  Siegehi. 


-   172 

den  jüdischen  Mädchen,  die  auch  etwas  Musik  lernen  und  Literatur 
sich  beibringen  lassen,  um  dann,  wenn  sie  erst  einen  Mann  bekommen, 
es  gründlich  und  für  immer  über  die  Sorge  für  die  schmutzige  Wäsche 
und  die  neueste  Hutfasson  zu  vergessen.  So  haben  auch  Sie  in  Ihrer 
Jugend  Tüchtiges  getan  und  gelernt,  um  das  Meiste  und  Beste  daran 
dann  als  Mann  —  zur  Vollkommenheit  zu  bringen,  auszuüben,  zu 
betätigen??  Nein,  um  es  dann  wie  unnütz  aufgespeicherten  Quark  in 
irgendeinem  Winkel  Ihres  Gedächtnisses  hegen  zu  lassen!!  War  so- 
viel Schärfe  des  Verstandes,  ja,  was  höher  ist,  philosophische  Vemunft- 
anlage,  soviel  Aufwand  von  Kenntnissen,  ein  vieljähriges  Studium 
nötig,  um  dann,  Baron!!  ein  Landbauer  zu  werden??!!  —  Wie  man 
ein  Holzhacker  sein  kann,  das  begreife  ich;  aber  wie  man  bei  der  Energie 
und  dem  Reichtum  Ihres  Geistes,  bei  der  Weite  Ihrer  Gesichtspunkte 
ein  Holzhacker  sein  kann,  —  das  begreife  ich,  der  alles  Begreifende, 
nicht.  —  Und  doch,  um  Ihnen  und  mir  nicht  imrecht  zu  tun,  auch  Sie, 
trotzdem  das  alles  durch  und  durch  bis  auf  den  i-Punkt  wahr,  ja  das 
Gesagte  noch  die  Wahrheit  nicht  erreicht,  trotz  dem  allem  sind  Sie 
keine  Anomalie,  sind  Sie  nur  eine  Erscheinung  imd  ein  Zeichen  Ihrer 
Zeit  und  aus  dem  Zusammenhang  mit  dieser  Zeit  vernünftig  zu  be- 
greifen und  zu  erklären.  Diese  Ihre  Bedeutung  will  ich  Ihnen  jetzt 
aufzeigen.  Es  ist  hier  der  Ort  nicht  für  lange  philosophische  Entwict:- 
lungen.  Drum  will  ich  nur  an  einige  Fakta  erinnern  und  nicht,  wie  ich 
eigentlich  versucht  wäre,  [mich]  darauf  einlassen,  deren  Bedeuttmgen  in 
ihrer  ausgeführten  und  erschöpften  Tiefe  darzulegen.  Doch  soll  das, 
was  ich  sagen  werde,  für  imsem  Zweck  hinreichen. 

Die  Alten  kannten  nur  ehrenvolle  Gattungsarten  ^)  menschlicher 
Tätigkeit,  die  auf  die  allgemeinen  Objekte  gerichtete  Tätigkeit,  eine 
Gattvmg,  die  drei  Arten  in  sich  schließt :  Die  staatproduzierende  Tätig- 
keit des  Staatsbürgers,  diese  höchste  vollendete  Praxis,  die  die  reinste 
Idealitas  selbst  ist,  weil  sie  ja  eben  nichts  ist  als  die  Verwirklichimg 
der  Idee  in  Staat,  Gesetz  etc.  Und  dann  die  Beschäftigimg  mit  dem 
rein  Allgemeinen  in  seinem  eigensten  Äther,  mit  der  Philosophie,  die 
wiederum  die  reine  Praxis  selbst  ist,  weil  sie  ja  die  Mutter,  der  Quell, 
der  Begriff  alles  dessen  ist,  dessen  Realität  nur  Gesetz,  Recht, 
Staat  sind. 

Auch  die  Kunst  galt  als  solche  ehrenvolle  Tätigkeit,  doch  braucht 
sie  nicht  besonders  genannt  zu  werden,  weil  sich  die  Künstler  nie  vom 
aktiven  Staatsleben  zurückzogen,  wie  die  Philosophen  oft  taten!  Übri- 
gens gilt  für  sie  ganz  derselbe  Gesichtspunkt,  sie  ist  ebenfalls  nur  die 
Verwirklichung  der  Idee  des  Allgemeinen  in  der  vSphäre  des  Sinnlichen, 


^)  Ursprünglich  stand  das  Wort  „Gegenstände". 


—  173  

des  Stoffes.  Alle  anderen  Beschäftigungen:  Landbau,  Handwerk  etc., 
wurden  von  den  Griechen  den  Sklaven  überlassen,  wurden  für  Un- 
ehren voll  und  freier  Männer  imwürdig  gehalten.  Es  liegt  eben  dann 
der  oben  besprochene  tiefe  Begrifif,  daß  nur  die  Richtung  auf  die  Idee 
und  deren  Ver\^'irklichung  eine  des  Menschen  würdige  Tätigkeit  sei, 
daß  der  Mensch  als  Geist  nur  den  Geist  zu  seinem  Gegenstande 
machen  müsse,  daß  jede  andere  Existenz  als  die  geistige,  jede  Be- 
schäftigimg mit  bloß  materiellem  Ungeistigen  eine  des  wahrhaften 
Menschen,  des  Freien,  xmwerte  sei.  Dieser  Begriff  war  bei  den  Alten 
eine  Folge  aus  der  streng  objektiven  Anschauung,  die  sie  durch  ihr 
ganzes  Leben  gehabt.  Kimst,  Staat,  Philosophie  sind  rein  objektive 
Gegenstände,  bei  deren  Schöpfung  sich  das  Individuum  wesentlich 
der  objektiven,  allgemeinen  Substanz,  der  Idee  als  Zweck  [?]  hingibt. 
Anders  beim  Handel  imd  Gewerken.  Hier,  obgleich  zuletzt  auch  eine 
Art  relativ  Allgemeines  herauskommt,  Nationalreichtum  etc.,  hat  das 
Individuum  erstens  zu  seinem  unmittelbaren  und  bewußten  Zweck 
nicht  die  Idee,  den  Geist,  das  Allgemeine,  sondern  sich  als  Subjekt,  sein 
empirisches  abgeschlossenes  Ich.  Zweitens  ist  der  Akt  des  Vollbringens 
selbst,  das  Handeln,  Fabrizieren,  Landbauen,  ein  imgeistiger,  der 
höchstens  eine  Tätigkeit  und  Berechnung  des  Verstandes,  nicht  aber 
des  Begriffs,  des  Geistes  erlaubt.  Bei  der  Produktion  von  Kunst- 
werken, von  Staat  vmd  Philosophie  schöpft  das  Individuum  aus  der 
Substanz,  dem  Volksgeist,  denn  es  verwirklicht  die  allgemeine,  objektive 
Zeitidee  vmd  arbeitet  ebenso  für  die  Substanz,  den  Volksgeist.  Darum 
ist  dies  Tun  so  würdig,  so  reich,  so  ehrenvoll.  In  Gewerken,  Handel, 
Landwirtschaft,  die  in  umfassendem  Maße,  wie  von  Ihnen  betrieben, 
in  bezug  auf  die  Verstandestätigkeit,  die  sie  zuläßt,  etwa  der  Industrie 
gleichgestellt  werden  kann,  ist  dies  Kleinliche,  Ärmliche  vorhanden, 
daß  das  Individuum  aus  seiner  Einzelheit  vmd  für  seine  Einzelheit 
arbeitet.  Von  einem  Substantiellen  wie  Volksgeist,  Idee  [ist]  hier  nicht 
die  Rede.  Und  das  ist,  wie  schon  gesagt,  der  Grvmd  davon,  daß  bei  den 
Alten,  denen  das  Objektive  das  allein  Geltende  war,  derlei  Gewerbe  so 
verachtet  wurde.  Das  mußte  sich  natürlich  ändern  mit  dem  Christen- 
timi  vmd  dessen  Entwicklung  besonders.  Das  Christentum  nämlich 
führt,  im  Gegensatz  zu  den  Alten,  das  Prinzip  von  der  Unendlichkeit 
und  dem  absoluten  Gelten  des  Subjekts  in  die  Welt  ein.  Man  sieht  so- 
gleich ein,  wie  in  einer  von  diesem  Prinzip  beherrschten  Welt,  in  einer 
Welt,  in  der  das  Subjektive  als  das  Unendliche,  Berechtigte,  Absolute 
gesetzt  ist,  die  Gewerktätigkeit,  die  ja  eben  das  Bemühen  mid  Beziehen 
der  Subjektivität  auf  sich  und  die  Bedürfnisse  ihrer  Besonderheit, 
diese  Arbeit  für  die  Realisierung  seines  subjektiven  Ichs,  dessen  Selb- 
ständigkeit vmd  Alleinigkeit  ist,   Platz  greifen  kann.     Es  muß  jetzt 


=  174  ^-=^-^ =^ 

diese  sich  auf  sich  beziehende  Tätigkeit,  diese  Geschäftigkeit  für  die 
Verwirklichung,  Ausbreitung  und  Befriedigung  seiner  als  Subjekt 
seines  besonderen  Ichs,  den  Schimpf  verlieren,  womit  sie  der  objektive 
Sinn  der  Alten  gebrandmarkt.  Denn  es  wird  ja  jetzt  das  Interesse 
des  Subjekts  als  das  Unendliche,  das  Moment,  »Subjekt  zu  sein,  als 
das  Höchste,  Absolute  gewußt.  Darum  schafft  das  Christentum  in  seiner 
Fortbildung,  und  schon  das  Mittelalter,  einen  Stand,  oder  vielmehr 
ein  Kollektiv  von  Ständen,  eine  ganz  neue  Welt  — :  Die  bürger- 
liche Gesellschaft:  dies  ist  eine  spezifisch  durch  das  Christentum 
begründete,  auf  die  Welt  gekommene  Existenz.  Die  Alten  hatten  das 
gar  nicht.  Sie  hatten  weder  ihre  Existenz,  noch  kannten  sie  ihrem  Be- 
griff nach  eine.  Die  bürgerliche  Gesellschaft  ist  etwas  ganz  anderes 
als  der  Staat  ist  und  muß  genau  von  ihm  unterschieden  werden.  Der 
Staat  ist  die  leibhaftige  Existenz,  Realität  des  objektiv  Allgemeinen, 
des  Begriffs  der  Idee,  die  bürgerliche  Gesellschaft  mit  ihren  Korpora- 
tionen, Zünften  etc.  ist  das  System,  in  welchem  das  Ich  seiner  Besonder- 
heit, Einzelheit  und  deren  Bedürfnis  Befriedigung  verschafft.  Der 
Zweck  des  Ichs  ist  hier  nur  das  Ich,  es  ist  der  nur  auf  sich  bezogene 
Punkt,  aber  indem  es  für  seine  Besonderheit  nur  dadurch  sorgt,  daß 
es  die  Besonderheit  und  Bedürfnisse  anderer  Ichs  befriedigt  und  für 
sie  arbeitet,  wie  sie  ihrerseits  für  es,  tritt  die  Kategorie  der  Wechsel- 
wirkung hier  ein,  und  es  kommt  als  Resultat  des  Prozesses  die  bürger- 
liche Gesellschaft,  ein  obwohl  nur  relativ  Allgemeines  zustande. 

Ich  sagte,  daß  diese  Schöpfung  durch  das  christliche  Prinzip  not- 
wendig bedingt  gewesen.  Doch  ist  sie  nicht  sofort  tmd  mit  dem  ersten 
Beginn  des  Christentums  aufgetreten.  Und  das  hat  seinen  guten  Grund, 
der  in  der  Bestimmtheit  gelegen,  in  der  das  christliche  Prinzip  zuerst 
auftrat.  Denn  zuerst,  und  so  bis  an  das  Ende  des  Mittelalters  fort, 
weiß  das  »Subjekt  seine  Absolutheit  nicht  als  reale,  diesseitige,  sondern 
zuvörderst  erst  als  rehgiöse  Subjektivität,  als  absolut.  Die  »Sphäre,  in 
der  es  sich  zu  verwirklichen  strebt,  istdieder  Rehgion,  der  transzendente 
Äther  des  Himmels.  Die  Gegenwart  und  die  reale  Arbeit  für  sie  wird 
überhaupt  noch  perhorresziert,  dem  Subjekt  gilt  als  das  Höchste  seine 
subjektive  Unendlichkeit,  aber  als  jenseitige,  als  im  Himmel.  Sein 
ganzes  Interesse  ist  gerichtet  auf  sich,  auf  seine  Vollendung  und 
Herrlichkeit,  auf  die  Realisierung  seiner  Subjektivität,  aber  als  rehgiöse, 
das  ist  auf  seine  Sehgkeit.  Das  Gemeinschaftliche,  was  diese  ganze 
große  Zeit  regiert,  ist  der  Zug  imd  die  Arbeit  des  Subjekts  für  seine 
Subjektivität,  aber  als  ideelle,  für  die  Privatsehgkeit,  die  Heilslehre, 
die  Rettung  der  Seele.  Weil  man  sich  also  gegen  die  Gegenwärtigkeit, 
Realität,  Diesseitigkeit  überhaupt  noch  negativ  verhält,  sie  gering 
achtet,  so  ist  eben  der  auf  sie  gerichtete  Stand,  der  Stand  des  gewerk- 


-  =  175  =^^- 

tätigen  Lebens  noch  hinteuangesetzt  und  verachtet.  Die  beiden  ehren- 
vollen Stände,  deren  Bildung  (im  Gegensatz  zum  Gevverbstand)  hier 
nicht  zu  entwickeln  ist,  teilweise  aber  schon  in  dem  bereits  Gesagten 
Hegt,  ist  Geisthchkeit  und  Adel. 

So  entsteht  zwar,  vom  christlichen  Prinzip,  das  eben  das  besondere  ^) 
der  Subjektivität  ist,  begünstigt,  der  dritte  Stand  mit  seinen  Schöp- 
fungen: Städten,  Korporationen,  Zünften  und  bildet  sie  schon  am 
Ende  des  ii.  Jahrhunderts  immer  mehr  aus,  ist  aber,  weil  das  christ- 
hche  Prinzip  noch  in  der  Phase  ist,  daß  es  die  Besonderheit, 
Subjektivität  als  bloß  ideelle,  als  jenseitige,  transzendente 
sieht  und  faßt,  unterdrückt  und  herabgesetzt  den  beiden  andern 
Ständen  gegenüber.  Je  mehr  besonders  von  der  Mitte  des  15.  Jahr- 
hunderts ab  der  Reahsmus,  der  Empirismus  sich  auftut,  desto  mehr 
entwickelt  sich  und  wächst  ganz  konsequenterweise  der  Wohlstand 
des  tiers  etat  der  Gewerke  und  Städte.  Man  fängt  an,  den  BUck  aus 
dem  Himmel  auf  die  Erde  zu  kehren,  sich  hier  einzuleben  und  es  sich 
heimisch  zu  machen.  Die  Tatsachen,  in  denen  sich  diese  neue  Geistes- 
richtung verwirklicht,  sind  die  merkwürdigen,^)  wohl  alle  in  dieser  Zeit 
wie  auf  einen  Schlag  auf  den  Ruf  des  Geistes  nacheinander  gemachten 
mannigfaltigen  Entdeckungen,  Erfindungen:  Magnetnadel,  Schieß- 
pulver, Buchdruckerkunst,  Amerikas  Entdeckimg  etc.,  und  Hand  in 
Hand  die  Blüte  von  Handel,  Industrie,  Schiffahrt,  der  Reichtum  der 
Städte,  besonders  der  italienischen  Handelsstaaten  etc.  Aber  prinzipiell 
tritt  immer  noch  der  dritte  Stand  w'eit  zurück  hinter  Adel  und  Geist- 
lichkeit. 

Da  endlich,  mit  welcher  Notwendigkeit,  infolge  welcher  Bewe- 
gimgen  etc.  ist  hier  zu  untersuchen  nicht  Zeit,  halten  wir  uns  nur  an 
die  Fakten,  schreibt  die  Welt,  zumeist  infolge  der  Vernichtung  des 
christlichen  Gottes  imd  des  Glaubens  daran  durch  \"oltaire  und  die 
Aufklärung,  den  Absagebrief  dem  transzendenten  Ideahsmus  des 
Christentums.  Das  tiefe  Prinzip  des  Christentums  war,  wie  wir  oft 
gehabt,^)  das  Subjekt  und  seine  Unendlichkeit.  Das  eigentliche  Christen- 
tum suchte  diese  Unendlichkeit  des  Subjekts  als  rehgiös  transzendente 
im  Himmel  als  Sehgkeit.  Diese  Transzendenz  schwindet  nun,  und  es 
geht  somit,  wenn  man  will,  das  christliche  Prinzip  imter.  Was  aber 
noch  zeugungsfähig  war  im  Christentum  und  demgemäß  bleibt,  ja 
jetzt  erst  weltbeherrschend  hervortritt,  ist  auch  die  Unendlichkeit 
und  Geltimg  des  Subjekts,  aber  diese  als  die  reale,  gegenwärtige,  dies- 
seitige gefaßt.   Das  Subjekt  sucht  sich,  seine  \"ollendung  und  Geltung 


^)  Dies  Wort  ist  nicht  ganz  eindeutig  zu  entziffern. 
2)  Sic! 


=^=====:^==    176  - 

nicht  mehr  als  überirdische,  ätherische,  sondern  als  reale,  hiesige,  es 
sucht  seine  Seligkeit  und  Geltung  auf  Erden.  Zuerst  ward  diese  Un- 
endhchkeit  und  Geltung  des  Subjekts  als  formale  begriffen,  als  Frei- 
heit —  die  französische  Revolution.  Die  Freiheit  aber  wird  selbst 
zuerst  nur  als  formale,  nur  ideelle,  als  nur  Recht,  als  Staatsfreiheit 
begriffen  Sie  erinnern  sich  gewiß  noch  aus  dem  Briefe,  den  ich  Ihnen 
vorlas  und  ich  kann  deshalb  hier  kürzer  sein,  wie  der  Übergang  geschieht 
von  hier,  von  defnur  formalen  ideellen  Freiheit,  zur  realen  wirklichen, 
zum  ausgeführten  Recht. 

Das,  woran  das  Subjekt  wirklich  das  Gefühl  und  Gewißheit  seiner 
realen  Unabhängigkeit  und  Geltung  hat,  ist  das  Gold,  Eigentum,  Be- 
sitz. Der  Zug  des  Subjekts  nach  seiner  realisierten  Selbständigkeit, 
Freiheit,  das  Streben  des  Subjekts  als  das  einzelne  Subjekt  aber  reaUter 
da  zu  sein  rmd  zu  gelten,  ist  das  Streben  nach  Geld,  Eigentum,  Besitz. 
Dieses  reale  Dasein,  das  Geld,  ist  aber  das  Geltende,  das,  wodurch  das 
Subjekt  gilt.  Erst  wenn  ich  halte,  was  ich  brauche,  ist  meine  Freiheit, 
Unabhängigkeit,  Selbständigkeit,  kurz  meine  ganze  innere  Unendlich- 
keit wahrhaft  ausgeführt  und  reahsiert.  Das  Streben  nach  realisierter 
Freiheit  ist  der  Materialismus,  und  davon  ^)  beginnt  nun  die  große  Treib- 
jagd nach  dem,  wodurch  das  Subjekt  ist  und  gilt.  Das  Subjekt  gibt 
sich  an  der  Dingheit  des  Geldes  ein  Selbstgefühl  und  Gewißheit  seiner 
selbst  und  dessen  ausgeführter  Freiheit,  Unendlichkeit. 

Und  daran  entzündet  sich  das  rastlose  Haschen  und  Ringen  nach 
Besitz,  der  die  wirklich  gewordene  Freiheit  und  Vollendung  des  Sub- 
jekts ist. 

Indem  dies  Prinzip  nun  an  die  Tagesordnung  gekommen  ist,  hat, 
da  es  zugleich  das  Prinzip  und  der  Begriff  des  gewerktätigen  Standes 
ist,  dieser,  der  tiers  etat,  den  Adel  besiegt  und  seine  Gleichstellung  er- 
fochten. Der  unehrenvolle  Stempel,  mit  dem  diese  bloß  auf  sich  und 
seine  besondere  beschränkte  Arbeit  des  Subjekts,  diese  Tätigkeit  für 
sein  Ich  imd  dessen  rein  ichliches  Interesse  in  allen  Zeiten,  wie  wir 
gesehen  bei  den  Alten,  wie  selbst  noch  im  Mittelalter,  ja  bis  an  die 
Schwelle  des  18.  Jahrhimderts  heran,  aufgedrückt  gewesen  war,  wird 
jetzt  ausgelöscht.  Dieser  Stand  und  seine  Tätigkeit  wird  zu  Ehren 
gebracht,  eben  weil  sein  Gedanke,  die  Richtung  des  Subjekts  auf  seine 
subjektive  Einzelheit  und  deren  Interessen  Realisienmg  imd  Geltung 
jetzt  zur  Zeitidee  überhaupt  geworden  ist.  Sie  erinnern  sich  gewiß 
noch  aus  meinem  vorhin  schon  erwähnten  Brief,  wie  die  höchste  Form, 
welche  dies  dem  Handel,  Gewerke,  der  bürgerlichen  Gesellschaft  in 
gemeinschaftlicher  Aufgabe  zugrunde  liegende  Prinzip,  wie  die  höchste 


^)  Dies  Wort  könnte  man  auch  entziffern  für:  daran. 


—  ^=  -^77  = 

Verwirklichungsform,  sag'  ich,  die  dies  Prinzip  findet  —  die  Industrie 
ist  —  und  ebenso  der  Papier-  und  Differenzenhandel,  dessen  spezifischen 
Zusammenhang  mit  diesem  Prinzip  ich  hier  nicht  erst  skizzieren 
will.  vSeitdem  ist  es  die  Industrie  vmd  der  tiers  etat,  der  die  Welt 
beherrscht. 

Aber  zu  dem  vollständigen  Triumph  des  tiers  etat  gehörte  nicht 
nur,  daß  er  die  Gleichstellung  neben  anderen  erzwang,  der  tiers  etat 
hat  mehr  getan,  er  ist  der  alleinige  Stand  geworden,  er  hat  die  anderen 
Stände  gezwungen,  von  ihrem  Prinzip  ab  und  in  ihn  überzugehen. 
Er  hat  sie  verschlungen.  Der  Kampf  um  die  Dingheit,  in  welcher  das 
Subjekt  das  Gefühl  seiner  realisierten  Unabhängigkeit,  Freiheit,  seine 
imendliche  Selbstgewißheit  hat,  der  Kampf  um  das  Geld,  der  sich  als 
losgebundener  Krieg  aller  mit  allen  im  System  der  freien  Konkurrenz 
organisiert,  ergreift  die  ganze  Welt.  Das  Haschen  nach  Erwerb  unter- 
wirft sich  schommgslos  unerbittlich  jeden  Stand,  selbst  den  Adel. 
Das  Prinzip  des  Adels  ist  nicht  das  des  Erwerbs,  sondern  das  Erhalten. 
Er  hat,  was  er  braucht,  und  verzehrt,  was  da  ist,  denn  die  Natur,  der 
lyandbesitz  bringt  es  wieder.  Das  ist  die  sogenannte  altadhge  Gesinnung. 
Das  Prinzip  des  Erwerbs  ist  ausschließlich,  wie  wir  gesehen,  Prinzip 
des  tiers  eatat,  imd  indem  der  Adel  sich  auf  den  Erwerb  eingelassen, 
ist  er  imbewußt  aus  sich  heraus  vmd  in  den  tiers  etat  übergetreten. 
Darum  machte  es  mit  Recht  soviel  Aufsehen,  als  die  ersten  Adligen 
in  Frankreich  Fabrikbesitzer  wurden.  Aber  weil,  wie  gezeigt,  das  Prinzip 
des  Erwerbs  Zeitidee  ist,  hat  es  alles  verschlungen,  alles  sich  unter- 
worfen ausnahmslos:  Beamte,  Adel,  Fürsten.  Der  Adel  treibt  Handel 
wie  der  Bürger,  nur  verdeckter. .  Der  höchste  Adel  sogar,  der  königliche, 
ist  nicht  freigeblieben,  und  die  Prinzen  von  Preußen  treiben  Aktien- 
handel, Alles  geht  jetzt  bunt  durcheinander,  industrielle  Adlige,  ge- 
adelte Industrielle,  krämernde  Barone,  baronisierte  Krämer. 

Und  darum  sagte  ich  oben,  Baron,  daß  Sie  ein  Zeichen  der  Zeit  sind 
und  eine  Erscheinung,  die  nur  im  Zusammenhang  mit  ihrer  Zeit  be- 
griffen werden  kann.  Sie  sind  nur  verschltmgen  von  dem  allgemeinen 
Wirbel,  der  alle  fortgerissen.  Sie  teilen  nur  die  allgemeine  Verrückt- 
heit der  Zeit,  diesen  rastlosen  Himger,  der  durch  die  Speise,  die  er  zu 
sich  nimmt,  nicht  gestillt  wird,  sie  tanzen  nur  mit  diese  Tarantella, 
von  der  alle  ergriffen.  Was  Sie  Rothschild  vorwerfen,  es  findet  ebenso 
bei  Ihnen  selbst  statt,  nur  dort  ist  es  groß,  hier  ist  es  klein.  Aber  es 
ist  derselbe  Taumel.^) 


^)  Merkwürdig  ist  bei  alledem  mir,  daß  Lassalle  selbst  den  Baron  veranlaßt 
hat  oder  zum  mindesten  veranlassen  wollte  —  ob  es  zum  Abschluß  kam,  ent- 
zieht sich  unserer  Kenntnis  — ,  in  die  Breslauer  Gaskompagnie  seines  Vaters  und 
seines  Schwagers  Friedland  als  stiUer  Teilhaber  einzutreten.    In  Lassalles  Nach- 
Mayer, Lassalle-Nachlass.     I  j2 


-  178  =====^= 

Somit  wären  Sie  erklärt,  d.  h.  die  Möglichkeit,  ja  sogar  die  Not- 
wendigkeit einer  Erscheinung  wie  Sie,  die  sonst  ganz  unbegreiflich 
wäre,  ist  somit  eingesehen.  Sind  Sie  aber  damit  gerechtfertigt  ?  ? 
Durchaus  nicht. 

Und  sagen  Sie  mir  nicht,  es  läge  wenigstens  eine  Entschuldigung 
oder  vielleicht  gar  eine  Rechtfertigung  für  Sie  darin,  daß  Sie  der  Zeit- 
strömung folgten.  So  tief  und  wahr  dies  Prinzip  ist,  so  sehr  es  die  Seele 
unsrer  Zeit  genannt  werden  muß,  so  sehr  liegt  es  schon  in  seinen 
letzten  Zügen;  es  hat  herausgestellt  bereits  die  schrecklichen  Konse- 
quenzen, zu  denen  es  sich  und  die  Welt  bringen  mußte.  Und  um  alles, 
selbst  das  Wichtigste  unerwähnt  zu  lassen,  halten  wir  uns  nur  an  die 
eine  mizertrennliche  Rücksicht  dieses  Prinzips.  Wie  früher,  im  Mittel- 
alter, weil  sich  das  Subjekt  als  nur  ideelles,  transzendentes  faßte,  alles 
in  die  geträumte  Idealität,  in  ein  geträumtes  Himmelreich  aufging, 
so  geht  jetzt,  wo  sich  das  Subjekt  im  Gegensatz  hierzu  als  nur  reali- 
stisches, als  nur  empirisches  [faßt],  alles  in  dem  gemeinen  Realismus 
und  die  schlechte  Wirklichkeit,  in  den  gemeinen  (nicht  den  wahren) 
Materialismus  imter.  Alles  wahrhaft  geistige  Dasein  und  Tätigkeit  — 
imd  hier  langen  wir  an  dem  Punkt  an,  von  wo  wir  am  Anfang  dieses 
Briefes  ausgingen  —  wird  durch  dieses  endlose  Ringen  nach  der  Materie 
sich  und  anderen  unmöglich  gemacht.  Das  Kennzeichen  des  Menschen, 
der  Geist  und  dessen  auf  sich  gerichtetes  Tun,  dieser  wahre  Adel,  wird 
fortgeschmissen,  mit  Füßen  getreten  über  diesem  emsigen  geistlosen 
Mühen  —  nach  der  Dingheit  und  deren  Besitz.  Das  Haben  ist  es,  dem 
der  Geist  und  die  Existenz  als  Geist  am  Kreuze  geopfert  wird.  Wenn 
Tausende  in  diesen  Krieg  müssen ,  weil  sie  nur  in  seinem  Gewühle 
und  Brand  sich  die  Möglichkeit  ihrer  bloß  physischen  Existenz  er- 
kaufen können,  wenn  andere  Tausende  immerhin  hinein  mögen ,  weil 
sie  doch  zu  nichts  Besserm  als  zu  diesem  kleinlichen  Tun  und  Treiben 
zu  verwenden  wären,  was  rechtfertigt  Sie,  was  entschuldigt 
Sie??!!  Sie  haben  genug,  um  bequem,  anständig,  ja  glänzend  exi- 
stieren zu  können.    Sie  haben  genug,  um  im  Falle  Ihres  Todes  Ihrer 

Familie  ein  gleiches  Los  zu  hinterlassen Sie  werden  mich  und 

sich  nicht  so  betrügen  wollen,  daß  Sie  mir  sagen,  daß  Sie  an  diesem 
Kampf  nur  aus  Notdurft  teilnehmen ! !  ■ —  —  Oder  vielleicht  war  etwas 
davon  der  Fall,  als  Sie  sich  zuerst  in  das  Geschäftsleben  stürzten.    Nun, 


laß  findet  sich,  in  zwei  voneinander  leicht  abweichenden  Exemplaren,  der  völlig 
von  seiner  Hand  geschriebene  Entwurf  eines  Kontrakts,  demzufolge  Stücker  zur 
Ausfülurung  der  Beleuchtving  Prags  150000  Fl.  zur  Verfügung  stellen  soll.  Es 
handelt  sich  dabei  also  um  genau  dasselbe  Geschäft,  um  dessentwilJen  wir  Lassalle 
im  August  1845  i^it  Joseph  Mendelssohn  und  seinem  Hause  in  Verbindung  treten 
sehen.     Vgl.  die  Einleitung  S.  34  f. 


^ 179  — 

jetzt  ist  es  jedenfalls  nicht  mehr.    Kehren  Sie  also  als  Sieger  daraus 
zurück.    Was  wollen  Sie  noch  darin? 

Sie  werden  mir  jedenfalls  zugeben,  daß  ich  einen  Mann  und  seine 
Fähigkeiten,  das,  was  er  zu  leisten  vermag,  zu  beurteilen  verstehe; 
Sie  werden  mir  ebenso  zugeben,  daß  ich  kein  Schmeichler  bin.  Nmi, 
Sie  mit  Ihrem  Geiste,  Ihrem  Können,  Sie  hätten,  wären  Sie  nur  konse- 
quent zu  einer  Partei  gestanden,  gleichviel  zu  welcher,  zur  konser- 
vativen oder  zu  der  imserigen,  Sie  hätten  bei  der  seltnen  Veranlagung, 
bei  Ihrem  Geist,  Stellimg,  Vermögen,  Kenntnis,  Energie  ein  Führer, 
eine  Koryphäe  der  einen  oder  der  andern  Partei  werden  müssen.  Was 
sind  Sie  jetzt  geworden?!  Ein  unbedeutender  schlesischer  Edelmann, 
den  niemand  kennt,  den  niemand  nennt!  War  das  des  Pudels  Kern, 
Baron?!  Heißt  das  mit  seinem  Pfunde  wuchern?  Wenn  das  nicht 
Selbstmord  ist  an  seinem  besten  Teile,  so  weiß  ich  keinen. 

Ja,  wären  Sie  konsequent  gewesen!  Und  hierbei  komme  ich  auf 
einen  Pimkt,  den  ich  schon  mündlich  mit  Ihnen  besprochen.  Ich  habe 
es  Ihnen  bereits  gesagt,  es  gibt  nichts,  was  Ihre  Überzeugungen  mehr 
Lüge  strafte  als  Ihr  Leben,  nichts,  was  Ihrem  Leben  mehr  Hohn  spräche 
als  das,  was  Sie  für  Ihre  Überzeugung  ausgeben!  Ich  habe  es  Ihnen 
schon  gesagt,  wie  Sie  den  Widerspruch  mit  sich  selbst,  den  Abfall  vom 
Heiligsten,  von  der  eignen  Überzeugung  in  ein  System  gebracht  haben. 
Erlassen  Sie  mir  die  leichte,  aber  vmerquickliche  Mühe,  diese  traurige 
Wahrheit  durch  die  Details  Ihres  Lebens  darzutim.  Im  Detail  zumal 
könnte  manche  Inkonsequenz  mehr  oder  minder  verzeihlich  wenigstens 
zu  sein  scheinen.  Bleiben  wir  also  beim  Großen  und  Ganzen  stehn. 
Und  welches  Faktum  aus  Ihrem  ganzen  Leben  können  Sie  mir  an- 
führen, worin  Sie  das,  was,  wie  Sie  mir  gegenüber  sagen,  Ihre  Idee  imd 
Überzeugung  ausmacht,  verwirklicht,  ausgeführt  hätten  ?  Welches  ? 
Welches?  Nur  zehn,  in  Ihrem  ganzen  reichen  Leben  nur  zehn,  nur  drei, 
nur  Eins!!  Nicht  Eins,  bei  Gott!!  Und  das  ist  kein  Wunder,  wenn 
man  gleich  den  Zuschnitt  seines  Lebens  im  Ganzen  und  Großen 
so  macht,  daß  er  seiner  Idee  und  Überzeugung  widerspricht,  so  kann 
man  ihr  dann  wie  natürlich  auch  im  einzelnen  nicht  nachleben  imd  hat 
kaum  noch  die  Gelegenheit  und  Möglichkeit  dazu.  Und  lassen  Sie  sich 
hier  nicht  durch  Begriffsverwechslungen  irreführen,  und  sagen  Sie 
mir  nicht,  Sie  hätten  Ihrer  Unabhängigkeit  schon  manches  Opfer 
gebracht.  Ihrer  Unabhängigkeit ! !  Ja,  das  glaub' ich.  Aber  Ihre  einzelne 
trotzige  egoistische  Unabhängigkeit  und  das,  was  den  Inhalt  unsrer 
Idee  tmd  Überzeugung  ausmacht,  die  Sache  des  Allgemeinen,  sind 
zweierlei.  Ihrer  Unabhängigkeit  haben  Sie  geopfert,  d.  h.  zu  deutsch, 
der  traurigen  und  atomistischen  Isolierung  Ihres  Ichs,  in  das  Sie  sich 
hineingewickelt  haben,   wie  die  Schnecke  in  ihr  Häuschen.    Diesem 


=  i8o 

ärgsten  und  kältesten  Egoismus  haben  Sie  gefrönt!!  Ich  habe  vorhin 
die  Existenz,  die  Sie  sich  gewählt  haben,  nur  von  der  Seite  ihrer  Geist- 
losigkeit  angegrififen.  Ich  könnte  es  noch  bei  weitem  schärfer  von  der 
Seite  ihrer  Sündhaftigkeit.  Es  ist  die  größte  geistige  und  sittliche 
Verwahrlosung,  die  größte  geistige  und  sittliche  Depravation,  wenn 
sich  das  Ich  in  sich  tmd  seine  Haut  zurückzieht  und,  sich  so  auf  sich 
beschränkend,  den  allgemeinen  Geist  stehn  imd  gehn  läßt,  wie  er  mag 
und  wie  er  kann.  Dieses  sündhaftesten  Egoismus  haben  Sie  sich  schuldig 
gemacht,  diese  traurige  und  gottverlassene  atomistische  Isolierung 
haben  Sie  mit  sich  vorgenommen,  und  das  ist  die  andere  Seite  des 
Standes,  den  Sie  ergriffen,  und  hängt  damit  genau  zusammen.  Der 
Stand  der  Industriellen  ist  der  Stand  dieser  nur  auf  sich  bezognen 
isolierten  Atome,  und  das  ist  der  andere  Grund,  weshalb  früher  dieser 
Stand  so  verachtet  wurde,  bis  dann  diese  Atomistik,  dieser  sich  nur 
auf  sich  beschränkende  Egoismus  der  Individuen,  wie  wir  oben  ge- 
sehen, Zeitprinzip  wurde.  Mitglieder  dieses  Standes  können  sich  sonst 
noch,  insofern  ein  Individuum  mehr  ist  als  sein  Stand,  an  dem  All- 
gemeinen beteihgen;  insofern  sie  diesem  Stand  angehören,  in  der 
eigentümlichen  Tätigkeit  ihres  Standes  können  sie  es  nicht.  (Grade 
umgekehrt  mit  Adel,  Beamtenstand,  Geistlichkeit.)  Diesen  Ständen 
angehörende  Individuen  können  wohl  als  Individuen  egoistisch  sein; 
insofern  sie  aber  diesen  Ständen  angehören,  ist  ihre  Tätigkeit  auf  ein 
objektiv  Allgemeines  bezogen.  Und  Sie  haben  auch  sonst  nicht  durch 
ein  Hinausgehen  über  diesen  Stand  die  ihm  fehlende  Richtung  auf 
das  Allgemeine  ergänzt.  Sie  sind  einzig  geblieben  ein  nur  auf  sich 
bezogenes  Atom;  ein  kalter  und  trockner  egoistischer  Punkt.  Wie 
reimt  sich  das,  Baron,  mit  Ihren  Reden  von  Idee  rnid  Überzeugimg 
und  der  allgemeinen  Sache?  Und  sage  ich  zuviel,  wenn  ich  sage,  alles, 
was  Sie  tun,  schlägt  allem,  was  Sie  sagen,  ins  Gesicht  imd  straft  es 
Lügen?  Und  wissen  Sie,  wie  man  das  nennt,  wenn  man  in  der 
Praxis  seine  eignen  Überzeugungen  so  verläßt?  Man  nennt  das 
Gesinnungslosigkeit,  Baron!  Und  einen  noch  weit  scharfem 
Namen  hat  man  dafür,  wenn  man  so  in  abstracto  der  Idee  huldigt, 
um  in  der  ganzen  Reihe  seines  Handelns  so  schmählich  von  ihr  ab- 
zufallen. Man  nennt  es  frivoles  Kokettieren  mit  der  Idee. 
Mit  einem  Weibe  mag  man  ohne  innern  Ernst  liebäugeln  und 
kokettieren,  nicht  aber  mit  der  Idee,  mit  seiner  und  anderer  Über- 
zeugung. 

Wenn  man  diesem  Gott  huldigt,  so  muß  man  ihm  auch  opfern. 
Merken  Sie  sich  das,  Baron,  sonst  ist's  der  niedrigste  Fleck,  mit  dem 
man  sich  beschmutzen  kann;  ist  Verrat,  ist  Entweihung,  ist  frivoles 
Spiel  mit  Heiligem.     Ich  habe  nichts  dagegen,  wenn  man  ein  Baals- 


— -=  i8i  — 

diener  ist  und  dem  goldnen  Kalbe  opfert,  aber  dann  habe  man  auch 
den  Mut  tmd  bekenne  sich  zu  Baal!! 

Und  bei  Gott,  glaubte  ich,  daß  es  das  bei  Ihnen  wäre,  —  ich  gäbe 
mir  nicht  die  Mühe  um  Sie  und  schriebe  Ihnen  diesen  Brief.  Aber 
nein,  ich  weiß  es  besser,  es  ist  nicht  dies  bewußte  falsche  Spiel  bei 
Ihnen,  es  ist  nur  ein,  obwohl'bei  Gott  auch  nicht  sehr  rühmliches  un- 
bewußtes laisser-aller,  ein  Verträumen  der  Pflicht,  ein  Schlaf  des 
Geistes!    Wohl,  ich  wecke  Sie!  — 

Fragen  Sie  mich  nun:  aber  um  Gottes  willen,  was  soll  ich  tun?,  so 
liegt  die  positive  Antwort  bereits  vollständig  in  allem  bereits  Gesagten 
und  ist  nur  noch  herauszugreifen.  Zwei  Wege  liegen  Ihnen  offen,  imd 
Sie  haben  die  Wahl  zwischen  ihnen.  Einen  von  beiden  müssen  Sie  er- 
greifen.   Zuerst  zum  ersten. 

Werden  Sie  Staatsdiener.  Die  Tätigkeit  des  Staatsdieners  ist 
die  höchste  praktische  und  ebenso  ist  sie  reine  Tätigkeit  im  Dienste 
der  Idee,  die  höchste  Verwirkhchung  dieser.  Dieser  Stand  ist  das 
gerade  Gegenteil  von  dem,  was  Sie  jetzt  sind,  er  ist  das  Ivcben  imd 
Wirken  für  das  Allgemeine  imd  seinen  Dienst.  Und  meinen  Sie  um 
Gottes  willen  nicht,  und  versuchen  Sie  nicht,  sich  das  einzureden,  als 
wäre  Ihnen  in  der  Stellung  des  Staatsbeamten  nicht  eben  mehr  als  jetzt 
die  Möglichkeit  gegeben,  für  unsre  Idee  und  Überzeugung  zu  wirken. 
Weim  ein  Mann  von  Intelligenz  heute  schon  viel  kann,  so  kann  ein 
solcher  in  der  Stellimg  eines  Staatsbeamten,  zumal  einer  solchen,  wie 
Sie  sie  bald  einnehmen  würden,  grade  das  Vierfache.  Ich  weiß  sehr 
wohl,  daß  Sie  in  einer  solchen  Stellung  nicht  gegen  Vorschrift,  Gesetz 
und  Instruktion  handeln  können,  und  bin  gar  nicht  tmsinnig  genug,  das 
zu  verlangen.  Was  Sie  tun  müssen,  nun,  das  müssen  Sie  tun.  Aber 
die  imendlich  vielen  Fälle,  wo  alles  oder  so  vieles  dem  Ermessen  und 
der  Willkür  des  Beamten  anheimgestellt  ist!  Unendliches  läßt  sich 
da  ausrichten.  Und  kein  Staat  eignet  sich  so  dazu  als  unsrer,  als 
Preußen.  Weil  in  keinem  der  einzelne  Beamte  eine  so  relativ  freie  Stel- 
lung hat,  weil  in  keinem  der  Willkür  des  einzelnen  Beamten  so  viel 
überlassen  ist  als  bei  ims.  Man  hat  das  tmd  mit  Recht  imter  dem  Namen 
Bureaukratie  verschrien.  Es  ist  wahr,  die  Tyrannei  unsrer  Gesetze 
wird  noch  vermehrt  durch  die  Willkür  imsrer  Beamten,  die  in  allen 
Fällen,  wo  ihnen  das  Gesetz  nicht  hindernd  in  den  Weg  tritt,  wo  etwas 
ihrer  subjektiven  Entscheidung  anheimgestellt  ist,  die  Tyrannei  unsrer 
Gesetze  noch  schärfen  imd  vergrößern,  es  ist  wahr,  es  ist  schlimm, 
daß  es  so  ist,  aber  —  da  es  einmal  so  ist,  gut,  so  ist  es  eine  Form,  deren 
wir  ims  auch  zu  unserm  Nutzen  bedienen,  die  wir  auch  zu  unserm 
Vorteil  handhaben  können.  Da  so  vieles  in  die  freie  Willkür  des  Be- 
amten fällt,  so  kommt  es  nur  darauf  an,    daß  viele  freie,  intelligente 


l82 -^= 

Männer  unsrer  Partei  in  den  Beamtenstand  treten,  um  in  allen  den 
Fällen,  wo  etwas  in  die  eigne  Willkür  des  Beamten  gestellt  ist,  um  in 
allen  den  Fällen,  wo  andre  Beamte  zu  dem  Nachteil  der  guten  Sache 
entschieden  hätten,  gerade  für  sie  zu  entscheiden,  wo  andere  noch 
mehr,  als  das  Gesetz  befiehlt,  sie  tmterdrückt  hätten,  soviel  das  Gesetz 
erlaubt,  ihr  Luft  zu  machen.  Für  die  nächste  Gegenwart  kommt  alles 
darauf  an,  daß  Männer  imsrer  Partei  die  Beamtenstellen  in  ihre  Hand 
bekommen,  und  wir  niüssen  dies  zu  erreichen  suchen  selbst  unter  der 
Larve  des  Konservativismus,  wenn  es  nicht  anders  geht.  Ich  weiß, 
Sie  werden,  wenn  Sie  und  noch  tausend  Gleichgesinnte  Beamte  sind, 
das  System  nicht  umstoßen,  unsern  Staat  nicht  zu  einem  freien  machen 
können.  Aber  das  soll  auch  gar  nicht  sein.  Worauf  alles  ankommt, 
und  was  Männer  unsrer  Partei  in  solcher  Stelltmg  tun  können, 
zu  tun  Gelegenheit  finden,  das  ist,  uns  manchmal  Luft  zu  machen, 
manchmal  soviel  als  möglich  vSpielraum  zu  verschaffen,  während 
konservativ  gesinnte  Beamte  ihn  über  die  Grenze  des  Nötigen  hinaus 
ims  verengen.  Alles  kommt  auf  solchen  Spielraum  an.  Wir  benutzen 
den  unerbittlich  und  meisterhaft,  wir  können  uns  freier  regen,  und  da- 
durch wächst  unsre  Kraft,  und  macht  man  uns  gar  heut  die  Klappen 
wieder  zu,  die  man  uns  gestern  aufgemacht  hat,  so  haben  wir  doch  ge- 
wonnen, wir  haben  die  freiere  Kraftbewegung  von  gestern  bis  heute 
gewonnen  und  sind  dadurch  stärker  geworden,  haben  an  Kraft  zu- 
genommen und  sind  nun  stark  genug,  eine  andre  Klappe  uns  selbst 
zu  öffnen.  Man  muß  hier  Zins  auf  Zins  schlagen,  dann  wächst  unser 
Kraftkapital  selbst  durch  Geringes  so  schnell  und  bedeutend.  Wir 
wären  z.  B.,  dies  ist  eine  anerkannte  Tatsache,  lange  noch  nicht  so 
weit,  wenn  nicht  unser  höchster  Beamter,  unser  König,  eine  kurze 
Zeit  liberale  Anfälle  gehabt  hätte.  Er  hat  uns  für  eine  kurze  Zeit  viele 
unsrer  Fesseln  gelockert.  Dann  auch  allerdings  hat  er  sie  um  so  fester 
angezogen.  Hat  er  es  dadurch  ausgeglichen?  Gott  behüte.  Während 
der  Zeit,  daß  die  Fesseln  locker  waren,  haben  wir  uns  Bewegung  machen, 
unsre  Armmuskeln  ertüchtigen  können.  Wir  sind  stärker  geworden. 
Nim  reißen  wir  mit  ganz  andrer  Gewalt  an  unsrer  Kette  imd  haben 
manche  schon  gesprengt. 

Aber  Sie  werden  sagen,  das  sei  eben  auch  nur  [in]  der  Stellung  des 
Königs  möglich.  Gott  behüte.  Ich  erinnere  nur  an  Bomemann,^)  den 
Vorsteher  des  Oberzensurkollegiums.   Der  hat  durch  seine  freisinnigen 


^)  Friedrich  Willi.  I,udw.  Bornemann  (1798 — 1864)  präsidierte  seit  1843  dem 
von  Friedrich  Wilhelm  IV.  ins  Leben  gerufenen  Oberzensurgericht.  Die  hberale 
Gesinnung,  die  seine  Urteile  bekundeten,  bewirkte,  daß  er  im  März  1848  im  Mini- 
sterium Camphausen  Justizminister  wurde.  (Allgemeine  Deutsche  Biographie, 
Bd.  3,  S.  I73-) 


-i83 

Entscheidungen  uns  mehr  genützt  als  ein  Heer  von  Skriblem  unsrer 
Partei.  Welchen  Spielraum  für  eigenes  Gutdünken  wird  z.  B.  wieder 
uusem  Beamten  bei  den  christlich-katholischen  Angelegenheiten  ge- 
lassen!! Und  besonders  bei  dem  System  des  Widerspruchs,  der  System- 
losigkeit,  mit  der  jetzt  bei  uns  regiert  wird,  sodaß  der  eine  Tag  reak- 
tionäre, der  andere  liberale  Maßregeln  gebärt,  daß  man  heut  den 
Pietisten  Bunsen,^)  morgen  den  lyiberalen  Böckh^)  zum  Unterrichts- 
minister machen  will,  heut,  wo  oft  so  vieles  von  den  eingeholten  Gut- 
achten der  Beamten  abhängt,  was  kann  da  nicht  ein  Beamter  in  höherer 
oder  niedrigerer  Stellung  nach  oben  und  unten  hin  tun  und  nützen. 
Alles,  was  ein  Individuum  nur  irgend  tun  kann,  kann  es  da  und  auf 
diesem  Platze  tim.  Und  ferner  grade  darum,  weil  unser  Volk  noch  so 
philiströs  ist,  ist  die  Wirksamkeit  eines  Beamten  zehnmal  größer  als 
die  andrer  Leute.  Mit  welch  gewichtiger  Autorität  klingt  es  an  die 
Ohren  unsres  Volkes,  wenn  ein  Beamter  sich  im  liberalen,  im  pro- 
gressistischen  »Sinn  einmal  ausspricht.  Wir  andern  werden  gleich  kurz- 
weg Schreier  genannt.  Warum  hat  Schöns^)  ganz  gewöhnliche 
Broschüre  ,, Woher  und  Wohin"  so  tmgeheures  Aufsehen  gemacht, 
so  viel  gewirkt?  Weil  es  aus  dem  Munde  eines  Beamten  kam.  Es  ist 
schlimm,  daß  unser  Volk  noch  so  philiströs  ist  imd  so  an  der  Beamten- 
autorität hängt,  aber  da  es  einmal  so  ist,  gut,  so  benütze  man  auch  das. 
Und  für  die  Ereignisse  erst,  denen  wir  entgegengehen,  ist  es  von 
dem  imberechenbarsten  Nutzen,  von  Notwendigkeit,  daß  Männer 
imserer  Partei  Beamte  sind  imd  ihre  Hände  mithaben  an  dem  großen 
Staatsruder.  Sehen  Sie,  Baron,  das  ist  wahrhafter  Ernst  und  Tun  und 
Wirken  für  die  Allgemeinheit,  für  die  Freiheit.  Wenn  eine  Revolution 
kommt,  sich  an  ihr  beteihgen  —  das  ist  leicht  und  mehr  Wollust  als 
Mühe,  aber  diese  Kleinkrämerei,  diese  Detailhandlungen  für  die  Freiheit 
auf  sich  zu  nehmen,  das  ist  mühsamer,  aber  verdienstlich,  aber  not- 
wendig. Wenn  wir  nicht  diese  Detailhandlung  auf  ims  nehmen,  wir 
rücken  noch  ein  halbes  Jahrhundert  nicht  von  der  Stelle. 

^)  Christian  Karl  Josias  Freiherr  von  Bunsen  (1791 — 1860),  der  bekannte 
Diplomat  und  Gelehrte,  der  Freund  und  Gesinnungsgenosse  Friedrich  Wilhelms  IV. 
{Allgemeine  Deutsche  Biographie,  Bd.  3,  S.  541.) 

2)  August  Böckh  (1785 — 1867).  Der  große  Philologe  gehörte  der  Berliner  Uni- 
versität seit  ihrer  Gründung  an.  Vgl.  über  ihn  Steck  in  Allgemeine  Deutsche 
Biographie  Bd.  2,  S.  770,  Max  Lenz,  Geschichte  der  Universität  Berlin,  Bd.  II  passim. 
Lassalle  hegte  eine  große  Verehrung  für  seinen  I,ehrer  Böckh. 

^)  Theodor  von  Schön  (1773 — 1856),  der  bekannte  Mitarbeiter  des  Freiherm 
vom  Stein,  von  18 16  bis  1842  Oberpräsident  seiner  Heimatprovinz  Ostpreußen 
und  Oberhaupt  der  dortigen  Liberalen.  ,, Woher  und  Wohin?"  war,  im  Oktober  1840 
geschrieben,  ursprünghch  nicht  für  die  Öffentlichkeit  bestimmt  gewesen,  aber  ihr 
doch  bekannt  geworden. 


=r^^:^   184   

Unendliches  ist  schon  auf  diese  Weise  getan  worden  und  noch  mehr 
wird  so  getan  werden. 

Das  aber,  Baron,  will  ich,  zu  Ihrer  Ehre  gesagt,  nicht  glauben, 
daß  Sie  mir  entgegnen  könnten,  daß  Sie  Ihre  ,, Unabhängigkeit"  nicht 
opfern  können.  Ich  habe  Ihnen  schon  vorhin  gesagt,  was  der  wahre 
Kern  dieser  Unabhängigkeit  ist.  Es  ist  der  trockenste  und  kälteste 
Egoismus,  das  trotzige  Beruhen  des  Ichs  auf  sich.  Nein,  bei  Gott, 
ich  denke  nicht  so  gering  von  Ihnen,  daß  ich  glauben  sollte,  Sie  könnten 
nicht  aufgeben  diesen  kleinen  erbärmlichen  Trotz  des  Ichs,  wo  es  sich 
um  große  reale  Zwecke  handelt,  um  die  substantielle  Idee  selbst  und 
deren  Verwirklichvmg,  um  den  neuen  Geist  und  dessen  Fleischwerdung. 
Diesem  Rieseninhalt  gegenüber  kann  nur  ein  Zwerg  sich  groß  und  schwer 
genug  dünken,  daß  er  sich  dagegen  in  die  Wagschale  legen  dürfe.  Sie 
wissen  es,  Baron,  ich  bin  wie  bald  keiner  ein  begeisterter  Anhänger 
der  Freiheit,  und  Sie  können  von  mir  von  vornherein  nicht  erwarten, 
daß  ich  der  Servilität,  dem  duckenden  Kriechen  das  Wort  spreche. 
Aber  diesem  substantiellen  Zweck  imd  der  Tätigkeit  dafür,  diesem 
neuen  Geiste  und  der  religiösen,  der  sittlichen  Arbeit  für  seine  Ver- 
wirklichung zu  entsagen,  weil  —  um  nicht  einmal  bei  einem  Minister 
antichambrieren  zu  müssen,  bei  Gott,  das  wäre  der  dümmste  und 
niedrigste,  der  gemeinste  Egoismus,  den  ich  denken  kann. 

Wenn  ich  mir  überlege,  wie  Sie  alles  das  ebensogut  wissen  wie  ich, 
wenn  ich  bedenke,  wie  es  Ihnen  leicht  war,  mit  Ihrem  Geist,  Energie, 
Kenntnissen,  Vermögen,  Klugheit  die  höchste  Stellung  selbst  sich 
zu  erringen,  halte  ich  mir  die  Hände  vor  die  Stirn  und  hasche  vergeblich 
nach  einer  Antwort  auf  die  Frage,  warum  Sie  das  nicht  schon  alles 
getan  haben. 

Noch  einmal,  Baron,  treten  Sie  heraus  aus  diesem  häßlichen  Egois- 
mus, der  Sie  entstellt,  der  Ihrer  unwürdig  ist,  ja  der  Sie  Ihrer  selbst 
unwürdig  macht,  sprengen  Sie  die  harte  schlechte  Schale  spröder  Hart- 
näckigkeit, die  sich  verdumpfend  um  Sie  zieht.  Lassen  Sie  nicht  so 
seltenes  Talent,  so  seltenes  Vermögen  und  Vorzüge  ungenutzt  zugrunde 
gehen.  Es  ist  der  Sünden  größte,  geistige  Besitztümer  zu  verwahr- 
losen.  Sie  werden  uns  nicht  für  uns  allein  gegeben. 

Seien  Sie  nicht  zu  gleicher  Zeit  so  gottlos  und  so  unklug,  so  frivol 
gegen  den  Geist  tmd  sein  sittliches  Machtgebot  imd  so  miß  verkennend 
Ihren  eignen  Vorteil.  Denn  selbst  wenn  Sie  nur  Ihren  eignen  Vor- 
teil suchten,  Sie  fänden  ihn  in  dieser  Sphäre  glänzender  als  dort  als 
Viehhirt!  — 

Wollen  und  mögen  Sie  es  aber  durchaus  nicht,  obwohl  Sie  es  sollten 
imd  müßten  —  gut  denn,  zum  zweiten.  Und  hier  muß  ich  dann  zuvor 
den  größten  imd  unverzeihlichsten  Widerspruch  besprechen,  dessen 


i85 

Sie  sich  schuldig  gemacht.  Es  ist  Ihnen  gelungen,  sich  in  den  verschieden- 
sten Fächern  eine  Masse  und  zum  Teil  bedeutender,  achtungswerter 
Kenntnisse  zu  erwerben.  Es  ist  Ihrem  Ehrgeiz  gelungen,  sich  einige 
Bekanntschaft  mit  der  Philosophie  zu  erwerben,  —  wieso  kommt  es, 
Baron,  daß  es  Ihnen  bei  der  penetranten  Sagazität  und  bei  der  so 
großen  imermüdlichen  Strebsamkeit  Ihres  Geistes  nicht  unüberwind- 
liches Bedürfnis,  nicht  Notwendigkeit  war,  sich  das  vollkommene  Ver- 
ständnis, den  wahrhaften  Besitz  der  Philosophie  zu  verschaffen?  Sie 
haben  gerade  genug  von  ihr  kennen  gelernt  und  sich  mit  ihr  beschäftigt, 
um  einsehen  zu  können,  daß  sie  der  Schlüssel  ist  zu  allem  Existierenden 
und  seinen  Rätseln,  der  Ariadneknäuel,  mit  dem  allein  in  der  Hand 
man  durch  das  ganze  Labyrinth  geschichthchen  und  natürlichen  Da- 
seins hindurch  zur  Vernunft  dringen  kann,  daß  sie  die  Antwort  gibt 
auf  die  Frage  nach  dem, 

Was  die  Welt 

Im  Innersten  zusammenhält. 

Sie  haben  genug  von  ihr  kenneu  gelernt  und  etwa  gesehen,  daß  sie 
die  allein  seligmachende  Wissenschaft  ist,  weil  sie  allein  in  allem,  was 
da  ist,  dieser  Masse  sonst  sinnlos  scheinender  Existenz,  den  Begriff 
der  Vernunft  uns  finden  lehrt,  daß  die  Philosophie  es  ist,  die,  wie  sie 
erst  aus  den  andern  Wissenschaften  resultiert,  so  diesen  erst  Würde 
tmd  Wert  verleiht;  mit  einem  Wort,  Sie  haben  gerade  soviel  von  der 
Philosophie  kennen  gelernt,  als  hinreicht,  rechten  Hunger  nach  ihr 
zu  bekommen,  —  wieso  kommt  es,  daß  Sie  mit  dem  Hunger  sich  be- 
gnügt, bei  dem  Hunger  stehengeblieben  sind??  Wer  begnügt  sich 
mit  Hunger??!!  Oder  haben  Sie  den  Hunger  schon  für  die  Speisung 
selbst  gehalten  ?  Glaubten  Sie  damals  etwa  schon  im  Besitz  der  Philo- 
sophie zu  sein,  weil  Sie  von  ihrer  Existenz  Ahnimgen  hatten  ?  —  Selt- 
samer Mann !  Die  meisten  Menschen,  die  gebildetsten  sogar,  leben  und 
sterben,  ohne  von  dem,  was  Philosophie  wahrhaft  ist,  auch  etwas  nur 
zu  ahnen.  Das  läßt  sich  begreifen.  Diesen  geht  nichts  ab,  weil  sie 
den  Wert  nicht  kermen  dessen,  was  ihnen  abgeht.  Sie  hingegen  hauen 
sich  mühsam  Bahn  durch  das  dichte  Gestrüpp,  das  den  andern  auch 
das  bloße  Dasein  dieses  Tempels  verbirgt  tmd  —  begnügen  sich  nim, 
draußen  stehen  bleibend,  ihn  von  außen  anzugaffen,  und  statt  ihr  Werk 
zu  vollenden  und  hineinzudringen  in  das  Allerheiligste,  genügt  es 
Ihnen,  in  äußerHcher  Betrachtimg  den  Bau,  dessen  Kern  Sie  nicht 
gesehen,  verwundert  lobzupreisen,  oder  wenn  einmal  ein  Erzpriester 
hinein-  imd  hinausgeht,  einen  sehnsüchtig  verstohlenen  Blick  durch  die 
Vorhänge  zu  schicken.  Noch  einmal,  wie  konnten  Sie  in  der  Philosophie 
auf  halbem  Wege  stehen  bleiben  ?    Klingt  es  Ihnen  nicht  wie  Vorwurf 


— ^=  i86  

ins  Herz  hinein,  so  oft  Sie  den  Namen  Philosophie  vernehmen?  Und 
wenn  Sie  so  oft  bewundernd  und  lobpreisend  davon  sprechen,  fühlen  Sie 
da  nicht  eine  gewisse  Leere ?  Haben  Sie  nicht  ein  ungeklärtes  Gefühl 
von  Unbefriedigtheit  innerlich,  ein  gewisses  Gefühl  von  Leere  und  Hohl- 
heit, das  selbstverschuldeter  Mangel  immer  gezeigt  ?  Fehlt  es  Ihnen,  um 
sie  ganz  zu  begreifen,  sich  ganz  in  ihren  Besitz  zu  setzen,  an  Befähigung? 
Aber  wenn  einer  dazu  Befähigung  mitbringt,  so  sind  Sie  es.  Und  Sie 
werden  mein  Wort  als  vollwichtig  annehmen  müssen.  Oder  fehlt  es 
Ihnen  an  Zeit?  Dazu  an  Zeit?  Fühlen  Sie  die  Ironie,  Baron?  Oder 
an  Geld  imd  Mittel  zum  Studium?  Oder  an  was  sonst?  Oder  drängte 
Sie  die  Überzeugung  zum  praktischen  Leben?  Nun,  dann  gestehen 
Sie  wenigstens,  Baron,  daß  Sie  nicht  einmal  den  schönen  und  großartigen 
Egoismus  besitzen.  Es  gibt  auch  einen  solchen,  wie  es  z.  B.  der  Goethesche 
war.  Dieser  prächtige  Egoismus  besteht  darin,  mit  nur  auf  sich  ge- 
richtetem Blick  als  das  Höchste  zu  wissen  seine  eigene  theoretische 
Vollendimg  in  sich,  sich  nie  nach  außen  und  für  andere  zu  kehren, 
nur  sich  zu  vollenden,  an  sich  nur  zu  arbeiten  imd  zu  glätten  und  sich 
zu  freuen  der  eignen  abgeschlossenen  Schönheit.  Das  Subjekt  hat 
dann  nur  sich  zum  einzigen  Zweck,  aber  es  bringt  sich  zur  höchsten 
verklärten  Vollendung.  So  war  Goethe.  Ist  man  dann  auch  keine  Eiche, 
unter  deren  weitreichendem  Schatten  dankbar  Geschlechter  ruhen,  ist 
man  auch  eine  unfruchtbare  Palme,  so  ist  man  doch  eine  Palme  ge- 
worden, unfruchtbar,  einsam,  zwecklos,  doch  schön,  eine  schlanke, 
himmelanragende  Gestalt,  die  den  Kranz  wohl  verdient,  den  sie  trägt. 
Hat  man  dann  auch  keine  Dimension  in  des  Lebens  Tiefen  gewonnen, 
so  doch  in  seine  Höhe,  und  man  überragt  den  Niveau  des  Gemeinen. 
Ist  man  kalter  Stein  auch  geblieben,  hat  man  dann  sich  auch  nicht 
zum  Menschen  gemacht,  der  den  lebendigen  Gott  in  der  Brust  trägt, 
so  doch  zur  schönen,  plastisch  abgerundeten  Gestalt,  zum  Kunstwerk. 
Wie  man  aber  ein  toter  Steinblock  bleiben  mag,  wenn  man  ein  Marmor 
ist,  geschaffen,  eine  Götterstatue  aus  sich  zu  formen,  wer  erklärt 
das,  wer  begreift  das??!  Fehlte  Ihnen  der  schöne  und  große 
Egoismus,  Baron,  alles  hintenan  zu  setzen  für  seine  eigne  höchste 
Vollendimg  und  Verklärung,  alles  gering  zu  achten,  dagegen  sich 
vollkommen  zu  machen  und  selig  und  mangellos  und  vollendet? 
Kannten  Sie  nur  den  plumpen  spießbürgerlichen  Egoismus  des 
Krämers  ?  ? 

Seltsamer,  seltsamer  Mann!  Auch  hier,  wo  es  Ihre  eigne  Bildung 
betraf,  dieselbe  Laxheit,  dieselbe  Halbheit,  dieselbe  Schwäche!  Hatte 
ich  ein  Recht,  zu  sagen,  daß  Sie  ein  System  sind  des  Widerspruchs  mit 
sich?  Wer  reimt  es  zusammen  diese  Energie  und  diese  Schlaffheit, 
diese  Kraft  und  diese  Schwäche ! 


i87 ■ 

Wohl  also,  Baron,  wenn  Sie  Staatsmann  nicht  werden  wollen,  so 
ziehen  Sie  sich  zurück  und  machen  Sie  gut  diese  Sünde  an  sich  und 
leben  Sie  der  Wissenschaft,  leben  Sie  der  Philosophie.  Auch  hierin  ist 
es  Ihnen  vergönnt,  die  Hände  nach  dem  Höchsten  zu  strecken.  Sie 
haben  dann  ebenso  der  Allgemeinheit  gelebt.  Und  es  ist  nicht  zu  spät. 
Einen  dieser  beiden  Wege  wählen  Sie,  welchen  Sie  wollen,  aber  einen 
müssen  Sie  wählen.    Noch  ist's  nicht  zu  spät! 

Aber  bald  ist's  zu  spät,  Baron.  Glauben  Sie  mir,  wie  es  im  Ivcben 
der  Völker  eine  Notwendigkeit  gibt,  so  gibt  es  im  lieben  der  Individuen 
ein  merkwürdiges  Zusammentreffen  von  Umständen,  das  man  Vor- 
sehung nennen  könnte.  Einmal  hat  jeder  sein  Glück  in  der  Hand 
und  ist  auch  seines  Glückes  Schmied.  Schlimm  ihm,  wenn  er  den  Augen- 
blick nicht  zu  nützen  versteht!  Manchmal  kehrt,  wie  ein  gnädiges  Ge- 
schenk der  Götter,  der  Augenblick  zurück,  wenden  zu  können  das 
ganze  fast  schon  vertane  lieben,  auszulöschen  die  Folge  des  Irrtums, 
ungeschehen  zu  machen  jeden  Fehlgriff.  Weh  dem,  dem  dieser  zweite 
Geburtstag,  der  da  tilgt  sein  früheres  lieben,  unerkannt  vorübergeht. 
Er  hascht  ihn  nicht  zum  dritten  Male  wieder.  Solch  ein  Augenblick 
ist's  hier  bei  Ihnen.  Ihre  Güter  haben  Sie  verkauft;^)  durch  kein  Ver- 
hältnis, keine  Verwickltmg  sind  Sie  an  Ihre  bisherige  I^ebensweise  ge- 
knüpft. Sie  stehen  wieder  so  frei  und  freier  da  als  damals,  wo  Sie  zuerst 
über  Ihre  Lebensrichtung  entschieden.  Solche  Augenblicke  sind  über- 
haupt äußerst  selten  in  dem  Leben  eines  Geschäftsmannes.  Betrachten 
Sie  es  als  eine  Vorsehung,  daß  ich  gerade  in  diesem  Augenblick,  wo 
Sie,  in  der  Blüte  jugendlicher  Manneskraft,  wieder  ungebunden,  durch 
nichts  Äußeres  in  Ihrem  Entschluß  auch  nur  gehemmt,  dastehen,  als 
Mahner  vor  Sie  trete.  Entrönne  Ihnen  dieser  Augenblick,  —  Sie  kauften 
ihn  nie  wieder.  Heute  haben  Sie  nur  mit  sich  und  Ihrem  inneren  Ent- 
schluß zu  kämpfen.  Lassen  vSie  die  günstige  Zeit  vergehen,  und  wenn 
Sie  dann  gar  wollen,  halten  Sie  äußere  Verwickltmgen  für  immer  zurück. 

Die  Geschichte  jedes  Landes  und  jedes  Weltteils  lege  ich  als  Be- 
weisstelle auf  den  Tisch,  die  Millionen  gewesener  Menschengeschlechter 
rufe  ich  als  Zeugen  auf,  —  noch  nie  hat  ein  Mann  von  Geist  ungestraft 
seine  Bestimmung  verfehlt!  Und  die  Strafe  dafür  ist  die  schrecklichste ! 
Sie  ist  der  innere  unendliche  Jammer,  die  quälende  Reue  über  ein  ver- 
lorenes Dasein.  Sie  ist  der  Ekel  und  die  Blasiertheit  und  der  Über- 
druß an  sich  selbst  und  der  eignen  Existenz,  Baron.  So  gewiß  Sie 
Ihre  Bestimmung  verfehlt  haben,  wenn  Sie  bleiben,  was  Sie  sind,  so 
gewiß  entgehen  Sie  dieser  nagenden  Natter  und  ihrem  langsam  ver- 

^)  An  die  Rothschilds.  Noch  am  i8.  Oktober  1845  rät  Arnold  Mendelssohn, 
wenn  Stücker  sich  in  BerL'n  ankaufen  wolle,  zu  dem  Hause  seines  Vetters  Paul 
Mendelssohn  in  der  I,eipziger  Straße. 


giftenden  Biß  nicht.  Schon  zuckt  es  manchmal  bei  Ihnen  und  stellt 
sich  ein,  lassen  Sie  es  nur  erst  zu  spät  sein —  lassen  Sie  es  nur  andauern, 
ein  wenig,  und  es  wird  deutlicher  kommen.  • —  Der  Mensch  ist  be- 
stimmt, das  Größte,  das  Höchste  zu  tun,  zu  dem  er  fähig.  Sie  werden 
mir  nicht  sagen,  daß  Sie  zu  nichts  Besserm  fähig  sind  als  zu  dem, 
was  Sie  geworden. 

Was  ich  Ihnen  schrieb,  ich  habe  es  klar  und  deutlich,  Silbe  für 
Silbe  bewiesen.  Sagen  Sie  Nein,  wenn  Sie  können.  Und  ein  andrer 
mächtiger  Sekundant  steht  mir  zur  Seite  imd  zeugt  unwidersprechlich 
für  die  Wahrheit  dessen,  was  ich  sagte:  Die  eigne  Ermattung,  die  Sie 
fühlen,  die  Blasiertheit,  die  sich  Ihrer  —  leugnen  Sie,  wenn  Sie  können  — 
schon  nach  und  nach,  schon  langsam  und  langsam  bemächtigt.  Diese 
Blasiertheit  ist  die  unzertrennliche  Folge  davon,  wenn  ein  großer 
Mensch  die  Kraft,  die  er  erhalten  zur  Arbeit  für  reale  substantielle 
Zwecke,  imgenutzt  in  die  Luft  verpuffen  läßt.  Wer  keinen  Zweck  hat, 
der  ihn  regiert  und  ausfüllt  und  ihn  auszufüllen  fähig  ^)  ist,  hat  keinen 
Inhalt ;  wer  keinen  Inhalt  und  keine  Kraft  hat,  der  lebt  still  und  glück- 
lich, wenn  das  gelebt  haben  heißt.  Wer  Kraft  aber  hat  tmd  keinen 
Inhalt,  der  ist  verloren,  der  nagt  sich  selbst  an,  der  frißt  sich  selbst  auf, 
der  ist  verloren.  Ich  erinnere  Sie  an  das,  was  ich  Ihnen  von  Gentz^) 
sagte.    Hüten  Sie  sich,  Baron! 

Nun,  ich  habe  gesprochen.  Ich  erwarte  und  fordere  von  Ihnen 
baldige  und  ausführliche  Antwort  auf  das,  was  ich  Ihnen  sagte.  Baldige 
imd  ausführliche  Antwort,  verstehen  Sie  mich?  Sie  haben  mir  in  Salz- 
brunn Ihr  Ehrenwort  darauf  gegeben;  und  außerdem,  die  Achtung, 
die  Sie  mir  schuldig  sind,  gebietet  Ihnen,  diesem  meinem  Wunsche 
nachzukommen.  Und  auch  ernste  Antwort  verlange  ich.  Drei  Nächte 
ununterbrochen  von  lo  Uhr  bis  6  Uhr  morgens,  drei  Nächte  hinter- 
einander habe  ich  an  diesem  Brief  gesessen  und  geschrieben.  Meine 
Glieder  brechen  mir,  und  meine  Augen  fallen  mir  zu.  Drei  Nächte 
habe  ich  kein  Bett  gesehn  —  das  habe  ich  nicht  getan,  um  ein  Kompli- 
ment von  Ihnen  zu  erhalten  über  meinen  geistreichen  und  philosophi- 
schen Brief ! !  Ich  verlange  ernsthafte  Antwort!  Nur  eins  noch.  Glauben 
Sie  mir,  wenige,  sehr  wenige  Menschen  nur  schätze  ich  so  hoch,  liebe 
ich  so  innig,  daß  ich  sie  der  Mühe  für  wert  hielte,  ihnen  einen  solchen 
Brief  zu  schreiben.  Warum  ich  Sie  so  liebe?  Nun,  ich  weiß  es  wohl, 
derm  ich  mache  mir  alles,  auch  jedes  Gefühl,  klar  und  durchsichtig. 


*)  In  I^assalles  Konzept  steht:  wenig. 

2)  Friedrich  von  Gentz  (1764 — 1832),  der  berühmte  Pubhzist.  Der  anfäng- 
hche  Bewunderer  der  französischen  Revolution  wurde  bekannthch  später  eine 
Hauptstütze  des  reaktionären  System  Metternichs.  Vor  einem  ähnhchen  Weg 
dürfte  I,assalle  in  jenem  Gespräch,  auf  das  er  anspielte,  den  Baron  gewarnt  haben. 


■ -- =_  i89  —— 

Unklarheit  ist  mir  ziemlich  identisch  mit  Unglück.  Aber  dies  Warum 
geht  Sie  nichts  an !  Aber  es  sollte  mir  leid  tun,  wenn  ich  Sie  mit  Un- 
recht liebe,  Baron. 

Herwegh  schließt  seinen  Brief  an  den  König: 

Ich  weiß,  man  hört  den  Sänger  nicht, 

Man  stellt  den  Toren  vor  Gericht 

Und  wirft  ihn  in  die  Schar  der  Tollen.^) 

Nun,  ich  habe  nicht  wie  ein  Poet,  sondern,  wie  ich  glaube,  wie  ein 
Philosoph,  nicht  wie  ein  dichterischer,  sondern  wie  ein  denkender 
Kopf  geschrieben.  Und  dennoch,  Baron,  —  ich  fürchte,  ich  fürchte!! 
Nun  werden  Sie  mich  nicht  vor  Gericht  stellen  und  in  die  Schar  der 
Tollen  werfen  —  aber  ich  fürchte,  ich  fürchte,  Sie  werden  ,, lächeln 
imd  beharren".  Nun,  wie  Sie  wollen,  Baron.  Ich  hab'  getan,  was  ich 
gesollt.    Dixi  et  salvavi  animam  meam. 

Aber  bei  Gott,  es  sollte  mir  leid  sein,  Baron!  — 


41- 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,   13.  7.  45. 
Mein  Einziger! 

.  .  .  Mir  fehlt  der  Geist  und  Lebensmut  Casanovas,  vielleicht  aber  auch 
ist  es  vielmehr  der  schroffe  Gegensatz  meines  inneren  Wertes  und 
meiner  Realität,  der  mich  quält,  während  Casanova  nur  eben  das 
schöne  lüderliche  Subjekt  war.  Besonders  seine  Lust  auf  Weiber  muß 
ich  ihm  beneiden;  von  der  Liebe,  ja  von  den  Weibern  überhaupt,  hast 
Du  mich  so  radikal  kuriert,  wie  ich  nur  wünschen  kann,  meine  Patienten, 
die  ich  je  haben  sollte,  zu  kurieren  .  .  . 

.  .  .  Der  König  geht  jetzt  an  den  Rhein,  um  Viktorchen  dort  drei 
Tage  bei  sich  zu  haben,  und  diese  Partie  soll  800  000  Taler  kosten. 
Dieser  Tage  habe  ich  Weitlings  Garantien  der  Harmonie  und  Freiheit 
gelesen.  Es  ist  merkwürdig,  was  dieser  Kerl  in  seinem  rüden  Denken 
für  richtige  Sachen  ausgedacht  hat.  Du  und  ich  stehen  ihm  sehr  hoch. 
Der  alten  Welt  droht  er  besonders  damit:  Wenn  Ihr  uns  auf  diese 
letzte  Feder  drückt,  dann  sollen  unsre  Philosophen  den  fürchterlichen 
Brander  loslassen;  es  soll  eine  Moral  gepredigt  werden,  wie  noch  nie 


^)  Lassalle  zitiert  auch  hier  ungenau.     Bei  Herwegh  heißt  es: 
Ich  weiß,  man  hört  die  Sänger  nicht. 
Man  stellt  die  Freien  vor  Gericht 
Uni  wirft  sie  in  die  Schar  der  Tollen. 


—  -  .       -  igo  —  •  - 

eine  gepredigt  worden  ist,  eine  Moral  usf.,  und  zwar  in  den  großen 
Städten,  wo  es  von  armen  Leuten,  Faulenzern  und  Umsonstfressern 
wimmelt.^)  Ich  bekomme  für  meine  Entdeckung  2)  soviel  Kommerz- 
stunden, wie  irgendein  andrer  in  einem  Jahr  sich  erwerben  kann;  dies 
sind  nämlich  die  außergewöhnlichen  Arbeitsstunden,  für  welche  man 
die  Genüsse  bekommt;  z.  B.  eine  Flasche  Champagner  für  12  bis 
18  Stunden;  in  Weithngs  Staat  kann  ich  also  eine  ganz  hübsche 
Champagnerfete  geben;  ich  lade  Dich  unterdessen  dazu  ein. 

Dein  Arnold. 


42. 
ARNOIvD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

[Ohne  Datum,  etwa  August  1845.] 

.  .  .  Ich  will  Dir  noch  meines  geehrten  (soll  heißen  hochgeöhrten) 
Herrn  Schwagers  Meinung  über  Dich  resp.  mich,  die  ich  heut  erfahren 
habe,  mitteilen,  bitte  Dich  aber  um  meinetwillen,  laß  ihn  ungestraft 
seiner  Wege  gehen.  Ich  fragte  ihn,  hast  Du  denn  L.  schon  einmal 
besucht?  Nein,  ich  habe  offenherzig  gestanden  gar  keinen  Anknüp- 
fungspunkt mit  ihm.  Weißt  Du  das  so  gewiß?  Ja;  denn  Lassal  ist 
ein  Mensch  ohne  sittliche  Grundlage.  So?  Was  heißt  das?  Ihm  ist 
nichts  heilig,  und  er  wird  Dich  ebenso  mit  Füßen  treten,  wenn  es  ihm 
zum  Vorteil  gereicht.  Ich:  Meinst  Du  seinen  Vorteil  als  den  eines 
Einzelnen?  Ja.  Nun,  so  sage  ich  Dir,  daß  ich  weiß,  daß,  wenn  L-  mich 
mit  Füßen  tritt,  ich  es  als  von  meiner  Seite  verdient  annehmen  werde. 
Du  wirst  daraus  wenigstens  ersehen,  daß  wir  in  einem  hohem  Sinne 
Freunde  sind,  als  dies  alltäglich  der  Fall  ist.  Von  einem  solchen  Verhält- 
nis hatte  er  natürlich  gar  keinen  Begriff,  und  ich  fühlte  mich  nicht  be- 
rufen, ihm  denselben  beizubringen.  Darauf,  daß  ich  ihm  sagte,  daß 
ich  es  für  den  glücklichsten  Zufall  in  meinem  Leben  hielte,  daß  ich 
Dir  grade  schon  zu  der  Zeit  begegnet  sei,  zu  welcher  es  geschah,  und 
daß  ich  Dich  auch  bald  interessiert  hätte,  konnte  er  natürlich  nur  die 
Afterweisheit  bringen,  daß  ich  vielleicht  später  einmal  das  nicht  mehr 
als  ein  Glück  schätzen  würde,  was  ich  heut  dafür  hielte.  Ich  sagte  ihm, 
ich  würde  dies  ruhig  erwarten,  bis  dahin  müßten  wir  wenigstens  beide 
unser  Urteil  suspendieren. 

^)  Vgl.  W.  Weitling,  , .Garantien  der  Harmonie  und  Freiheit",  Jubiläums- 
ausgabe, herausgegeben  von  Mehring,  Berhn  1908,  S.  236.  Die  erste  Auflage 
war  bekannthch  Ende   1842  erschienen. 

2)  Mendelssohn  hatte  eine  Entdeckung  auf  dem  Gebiet  der  pathologischen 
Anatomie  gemacht. 


191  -= 

43. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.    (Original.) 

Berlin,  26.  8.  45. 
Dein  heutiger  Brief,  den  ich  der  häufigen  Erwähnung  des  (salva 
venia)  Drecks  zu  danken  habe,  hat  mir  mehr  P'reude  gemacht,  als 
der  Dreck,  wenn  Du  ihn  auch  in  einigen  tausend  Exemplaren  des 
Bildes  unsres  geliebten  Königs  gesandt  hättest;  alter  Brahmin,  in  diesem 
Briefe  spricht  ja  die  Empfindung  und  daß  Du  auch  die  bei  aller  Deiner 
Weisheit  behalten  hast,  ist  zwar  eine  Wahrheit,  welche  ich  schon  öfter 
zu  erfahren  die  Gelegenheit  hatte,  welche  mich  aber  immer,  wo  sie 
sich  wieder  bei  Dir  äußert,  axd  das  tiefste  imd  wohltätigste  berührt; 
es  ist  die  durch  das  Feuer  des  Gedankens  geläuterte  Empfindung,  das 
reine  lautere  Gold  der  Menschennatur,  das  nur  nach  dieser  Läuterung 
in  seinem  vollen  Glänze  strahlt.  Daß  Du  mich  eben  zu  würdigen  ver- 
standst, war  es,  wie  Du  wohl  weißt,  was  mich  Dir  unbedingt  hingab  und 
was  es  Dir  zur  wenn  auch  zuweilen  imangenehmen  Pflicht  machte,  mich 
aus  meinem  kleinen  Kreise,  aus  dem  Kreise  meiner  Kleinlichkeit  heraus- 
zureißen, Du  fandst  an  mir  ein  bildsames  Element,  mein  bisheriges 
Leben  hat  jedoch  und  mein  künftiges  wird  es  noch  mehr  zeigen,  daß 
es  Dir  auch  gelungen  ist,  den  Teig  zu  formen.  Ich  selbst,  wie  ich  ge- 
wesen bin,  ehe  ich  Dich  kannte,  bin  nur  zu  einem  unscheinbaren  Momente 
meines  jetzigen  Ich  herabgestmken,  und  zugleich  ist  es  in  meinem  Ge- 
dächtnis vorhanden,  wie  Du  das  gemacht  hast,  mich  aus  mir  heraus- 
zuziehen. Aber  auch  dies  ist  nicht  bloß  eine  tote  Erinnerung  eines  Ge- 
schehens, sondern  es  hat  sich  mir  alles  in  Wesenheit  umgesetzt,  und 
ich  kann  Dich  nachträglich  auch  in  den  alltäglichsten  Dingen,  die  wir 
zusammen  hatten,  nur  bewundern;  ich  bin  vielleicht  der  erste,  der  es 
vollkommen  anzuerkennen  imstande  ist,  wie  sehr  Dein  Wissen  Tun  und 
Dein  Tvm  und  Können  Wissen  ist.  Daß  Du  darum  kein  Sterngucker 
zu  sein  brauchst,  um  auch  zu  wissen,  daß  ich  durch  Dick  und  Dünn 
bei  Dir  ausharren  werde,  si  iractus  illabatur  orbis,^)  weiß  ich  nachträg- 
lich auch.  Denn  ich  bin  eben  dabei,  mir  jene  Wissenschaft,  welche  das 
Wesen  des  Menschen  erkennt,  zu  eigen  zu  machen  und  glaube  nicht 
mehr  zu  den  letzten  Kennern  derselben  zu  gehören,  wenn  auch  mein 
Wissen  noch  nicht  ein  solches  Kunstwerk  ist,  wie  es  sich  in  Deiner 
Persönlichkeit  darstellt,  sondern  ich  im  Gegenteil  in  meiner  Innerlich- 
keit ein  so  sehr  andrer  bin  als  in  der  Äußerlichkeit,  daß  ich  dadurch 
in  die  größten  Widersprüche  und  Ungeschicklichkeiten  (quoad  Paul) 
verfalle  .  .  .  Eine  philosophische  Abhandlung  werde  ich  nicht  für  Dich 


^)   ,,Wenn  die  Welt  in  Scherben  fiele."     Horaz  Oden  III,  3. 


192  : 

ausarbeiten,  indem  ich  jetzt  noch  nichts  zu  schreiben  wüßte,  was 
wert  wäre,  von  Dir  gelesen  zu  werden ;  laß  mich  noch  ruhig  eine  Weile 
in  meiner  InnerHchkeit  fortarbeiten,  ich  glaube  jetzt  mit  Gewißheit 
versprechen  zu  können,  daß  Du  nach  und  nach  mit  mir  nicht  unzufrieden 
sein  wirst .  .  . 


44- 
LASSALLE  AN  DEN  BANKIER  JOSEPH  MENDELSSOHN.    (Kon- 
zept von  Lassalles  Hand.) 

Breslau,  August  1845. 

Entschuldigen  Sie,  wenn  ich,  Sie  in  der  ländlichen  Zurückgezogen- 
heit, ^)  die  Sie  gewählt  haben,  störend,  in  Ihrer  sommerlichen  Muße 
unterbrechend,  Ihr  Augenmerk  für  einen  Augenblick  durch  einen  Ge- 
schäftsantrag, den  ich  Ihnen  zu  machen  im  Begriff  bin,  auf  die  Sorgen 
und  Beschäftigungen  des  Winters  zurücklenke. 

Es  dürfte  Ihnen  vielleicht  durch  mich  selbst  bekannt  sein,  daß  mein 
Schwager,  Herr  F.  Friedland,  die  Gasbeleuchtung  der  beiden  Städte 
Breslau  und  Prag  durch  Kontrakte  mit  den  betreffenden  Magistraten 
übernommen   hat. 

Das  erste  dieser  beiden  Geschäfte  ist  bereits  mit  den  ersten  Bankier- 
häusern Breslaus,  v.  Löbbeckke,  Ruffer,  Eichborn,  Schiller,  ^)  in  der 
Weise  eines  Aktiengeschäftes  realisiert. 

Das  zweite  Unternehmen,  Prag  betreffend,  welches  sowohl  wegen 
des  bei  weitem  günstigeren  Kontrakts,  den  wir  von  dem  Prager  Magi- 
strat erlangt,  als  auch  wegen  des  größeren  Flammenkonsums  Prags 
ein  noch  weit  vorteilhafteres  Resultat  als  Breslau  verspricht,  sind  wir 
gesonnen,  in  Gesellschaft  nur  eines  Bankierhauses  auf  eigne  Mittel 
auszuführen.  Obwohl  uns  nun  hierzu  von  verschiedenen  Seiten  bereits 
Anträge  gemacht  worden  sind,  würde  es  für  uns  —  und  speziell  für 
den  Schreiber  —  ein  ganz  besonderes  Vergnügen  in  sich  schließen, 
durch  dieses  so  vorteilhafte  Geschäft  mit  Ihrem  hochachtbaren  Hause 
in  Verbindung  treten  zu  können.  —  Erlauben  Sie  daher,  daß  ich  Ihnen 
in  der  Kürze  den  unentbehrlichsten  Sachbestand  mitteile.  Das  Ge- 
schäft erfordert  zu  seiner  Reasilierung,  die  Kosten  natürlich  nach  dem 
Maximum   angesetzt,    ein  Kapital  von  100  000  Rt.  —  Hiervon  sind 


^)  Kommerzienrat  Joseph  Mendelssohn  befand  sich  auf  seinem  I,andsitz  in 
Horchheim  am  Rhein,  der  heute  ein  Diakonissenhaus  ist. 

2)  Lassalle  nennt  hier  die  ersten  Bankhäuser  des  damahgen  Breslau:  C.  T. 
Iröbbeckke  &  Comp.,  Rxxfier  &  Comp.,  Eichborn  &  Comp.,  Schiller  und  Müller. 


— —-  193  ^=^  = 

bereits  30  000  Rt.  auf  Kaution,  Anschaffung  von  Grundstücken,  Her- 
stellung von  Gebäuden,  Verfertigung  von  Röhren,  Gasometer  etc.  ver- 
wandt worden.  Mein  Vater,  der  Kaufmann  Heyman  Lassal  in  Breslau, 
der  mit  den  oben  Genannten  ebenfalls  bei  dem  Breslauer  Unternehmen 
bedeutend  beteiligt  ist,  ist  bereit,  zur  Ausführung  des  Prager  Geschäfts 
ein  Kapital  von  40  bis  60  000  Rt.  herzugeben. 

Was  wir  suchen,  ist  demnach  ein  Partizipant  mit  einem  Kapital 
von  120  oder  iio  000  Rt. 

Was  wir  bieten,  ist 

a)  vollkommene  Sicherheit  des  gesuchten  Kapitals; 

b)  einen  überaus  günstigen,  mit  dem  Prager  Magistrat  geschlossenen 
Kontrakt,  der  uns  in  den  Preisen,  die  wir  von  den  Privaten  zu 
nehmen  für  gut  befinden,  durchaus  nicht  limitiert; 

c)  die  Garantie,  die  darin  liegt,  daß  der  rühmlichst  bekannte 
königliche  Kommissionsrat  Blochmann  zu  Dresden,  der  I^iter 
und  Anleger  der  Gasanstalten  zu  Leipzig  und  Dresden,  unser 
kontraktlich  verpflichteter  Techniker  ist; 

d)  die  sowohl  aus  der  sorgfältigsten,  hier  wie  natürlich  nach  dem 
Minimum  angesetzten,  Aufnahme  des  Prager  Flammenbedarfs, 
sowie  auch  der  Vergleichung  mit  den  Büchern  und  Resultaten 
von  lycipzig  und  Dresden  hervorgehende,  zur  Gewißheit  ge- 
steigerte Wahrscheinlichkeit  eines  nach  Abzug  sämtlicher  Be- 
triebskosten, zu  denen  auch  die  4 — 5%  Verzinsung  des  ge- 
samten Kapitals  gerechnet  wird,  verbleibenden  reinen  Gewinns 
von  minimum  86  400  Rt.  per  annum ; 

e)  bieten  wir  dem  resp.  Partizipanten  außer  der  Verzinsung  seines 
Kapitals  einen  dem  Verhältnis  seiner  Kapitalseinlage  gemäßen 
Anteil  an  jenem  netto  Gewinn  von  86  400  Rt.,  wie  er  Ihren 
billigen  Forderungen  betreff  dieses  Punkts  entsprechen  dürfte ; 

f)  genießt  unser  resp.  Partizipant  in  bezug  auf  die  Administration 
völlig  gleiches  Anrecht  mit  uns,  um  diesen  Einfluß  für  die  von 
seinem  Interesse  erforderten  Maßregeln  zu  verwenden;  es  steht 
ihm  ebenso  frei,  sich  in  bezug  auf  die  Administration  durch 
einen  Kommissarius  in  loco  vertreten  zu  lassen. 

Wetm  Sie  nun,  geehrter  Herr,  natürlich  in  dem  Fall,  daß  wir  Ihnen 
durch  Selbsteinsicht  in  die  Bücher  und  Tabellen  die  sub  d)  angegebene 
Rentabilität  des  Geschäftes  nachweisen  und  ferner  Ihren  Anforderungen 
betreffs  der  Partizipation  an  dem  Gewinn  nachzukommen  imstande 
sind  —  geneigt  sein  sollten,  sich  auf  ein  derartiges  Unternehmen  in  der 
gedachten  Weise  einzulassen,  so  würde  ich  Ihnen,  geehrter  Herr,  die 
betreffenden  Papiere  und  nähere  Bedingungen  entweder  einsenden,  oder 

Mayer,  Lassalle-Nachlass.     1  X "? 


=  194  -= 

vielleicht  auch,  was  mir  vorteilhafter  scheint,  mein,  wie  Sie  wissen, 
altes  Projekt  betreffs  einer  Rheinreise  ausführen  und  Ihnen  dabei  in 
Horchheim  das  Nähere  mitteilen.  Allerdings  liegt  Ihnen  sowohl  die 
Art  des  Unternehmens  selbst  als  auch  sein  Ort  und  Schauplatz  ziemlich 
weit  ab,  doch  dürfte  ein  zu  gleicher  Zeit  so  sicheres  imd  lukratives  Ge- 
schäft in  unserer  industriellen  Zeit  einem  so  umfassenden  Hause  wie 
dem  Ihrigen  schon  zuzutrauen  sein. 

Es  sollte  mir  lieb  sein,  wenn  ich  auf  diese  Weise  die  Veranlassung 
gewesen  wäre,  eine  Geschäftsverbindung  zwischen  Ihrem  hochacht- 
baren Hause  und  dem  meinigen  herzustellen.  Das  Interesse  war  groß 
genug  für  mich,  um  mich  zu  veranlassen,  meinen  Studien  auf  eine  Stunde 
den  Rücken  kehrend  und  mich  auf  ein  mir  ziemlich  fernes  Feld  be- 
gebend, Ihnen  diese  Mitteilung  zu  machen. 

Da  Ihnen  die  Persönlichkeiten  meines  Vaters  und  Schwagers  un- 
bekannt sein  dürften,  so  gebe  ich  Ihnen  zur  Einziehung  näherer  Aus- 
kimf  t  über  meinen  Vater  die  Herren  Breest  &  Helpke,  Naim,  Löwe  &  Co., 
Pac.  Abr.  Meyer  an,  Geschäftsfreunde  meines  Vaters  in  Berlin. 

Sie  dürften  eine  Sie  in  jeder  Beziehung  befriedigende  Auskunft 
erhalten.   — 

Der  anderweitigen  uns  gemachten  Anträge  wegen  wäre  es  mir 
wünschenswert,  wenn  Ihre  Antwort,  ob  Sie  Sich  bei  gedachtem  Ge- 
schäft zu  beteiligen  gedenken,  sobald  es  Ihnen  tunlich,  erfolgte.  Wollen 
Sie  selbige  an  Heynian  Lassa  1  in  Breslau  adressieren. 

Ich  empfehle  mich  Ihnen  wie  Ihrer  verehrten  Frau  Gemahlin  An- 
gedenken. 

Indem  ich  ein  inniges  Lächeln  nicht  unterdrücken  kann  über  die 
kleine  Verwunderung,  die  Sie  empfinden  werden,  mich  von  Geschäften 
reden  zu  hören,  bin  ich 

mit  der  ausgezeichnetsten  Hochachtimg 

F.  Lassal. 


45. 
LASSALLE  AN  DEN  BANKIER  JOSEPH  MENDELSSOHN.  (Konzept 
von  der  Hand  Lassalles.) 

[Breslau,  Anfang  September  1845.3 

Ihren  so  freundlichen  Brief  vom . .  nebst  einer  Zuschrift  Ihres  Berliner 
Hauses,  das  mich  um  Mitteilvmg  der  nötigsten  auf  das  in  Rede  stehende 
Geschäft  bezüglichen  Papiere  anging,  erhielt  ich  am  31.  vorigen  Monats. 


—  195 = 

Obgleich  nun  seit  der  Absendung  meines  ersten  Briefes  an  Sie,  ge- 
ehrter Herr,  sich  der  Stand  der  Sachen  geändert  hatte,  insofern  näm- 
lich von  Seiten  eines  andern  Hauses  die  Unterhandlungen  mit  uns  so 
lebhaft  geführt  worden  waren,  daß  weniges  nur  noch  zu  ihrem  defini- 
tiven Abschluß  fehlte,  hielt  ich  es  dennoch  für  meine  Pflicht,  Ihnen 
meiner  Offerte  gemäß  dies  Geschäft  offen  zu  halten.  Indem  ich  also  eine 
einstweilige  Suspension  jener  anderweitigen  Beziehmigen  bewirkte,  reiste 
ich  den  i.  September  nach  Berlin,  um  daselbst  Ihren  Herren  Associes 
die  Einsicht  in  die  betreffenden  Papiere  zu  eröffnen,  Ihr  Herr  Sohn 
^vird  Ihnen  wohl  berichtet  haben,  wie  er  aus  dem  Kontrakt,  den  Büchern 
für  Leipzig  und  Dresden,  wie  aus  den  Berechnungen  für  Prag  jetzt 
auch  die  Gewißheit  von  der  so  großen  Rentabilität  dieses  Unternehmens 
geschöpft  hat. 

Es  war  natürlich  durch  die  Natur  der  Sache  unmöglich,  diese  An- 
gelegenheit in  den  4  Tagen  meines  Berliner  Aufenthalts,  zumal  bei 
Ihrer  Abwesenheit,  zu  irgendeiner  Bestimmtheit  zu  bringen,  besonders 
da  es  unsre  eigne  Absicht  zwar  war,  aus  Gründen,  die  ich  Ihrem 
Herrn  Sohn^)  auseinandersetzte,  das  Geschäft  zu  beeilen,  nicht  aber 
zu  übereilen. 

Da  es  zur  Beschleunigung  dieser  Angelegenheit  nun  hauptsächlich 
darauf  ankommt,  daß  Sie  selbst,  hochgeehrter  Herr,  nähere  Einsicht 
davon  nehmen,  habe  ich  es  Ihrem  Herrn  vSohn  freigestellt,  sich  die  be- 
treffenden Papiere  zur  Übersendung  an  Sie  kopieren  zu  lassen.  Der- 
selbe zog  es  vor,  nur  von  dem  Kontrakt  Abschrift  zu  nehmen,  mich 
aber  um  die  abschriftliche  Einsendung  einiger  Hauptstücke  zu  er- 
suchen.   Ich  werde  diese  binnen  einigen  Tagen  besorgen. 

Ich  wiederhole  Ihnen,  geehrter  Herr,  die  Zusicherung,  die  ich  bereits 
Ihrem  Herrn  Sohne  gab,  daß  wir  nämlich  bei  sonst  gleichen  Bedingungen 
ein  Vergnügen  darin  setzen  werden,  dieses  Geschäft  nur  mit  Ihnen 
abzuschließen,  vorausgesetzt,  daß  Sie  nicht  durch  allzulanges  Zögern 
den  Fall,  das  Unternehmen  mit  Ihnen  zu  Ende  zu  bringen,  zu  einem 
unwahrscheinlichen  machen. 

Meine  Rheinreise  werde  ich  wohl  auch  für  diesen  Sommer,  aus 
mehreren  Gründen  bewogen,  aufgeben.  Denn  zuerst  fängt  bereits  an,  sehr 
schlechtes  Wetter  einzutreten.  Dann  aber  hat  mir  auch  Ihr  Herr  Sohn 
gesagt,  daß  Sie  wahrscheinlich  schon  Ende  dieses  Monats  Horchheim 
verlassen  werden.  So  werde  ich  denn  dies  Jahr  das  Vergnügen  nicht 
haben,  Sie  auf  Horchheim  zu  besuchen,  und  zugleich  hebt  sich  der 
praktische  Zweck  auf,  den  ich  mit  meiner  Reise  verbinden  wollte.  Eine 


^)  Alexander  Mendelssohn  (1798 — 1871).  Er  führt  in  dem  Briefwechsel  I<assalles 
mit  Arnold  Mendelssohn  stets  den  Spitznamen  Wappenschild. 


_  ni:^    196 =z 

Reise  aber  zu  keinem  andern  Zweck  als  dem  des  Vergnügens  unter- 
nehmen würde  ihrer  Müßigkeit  und  Zwecklosigkeit  willen  den  ent- 
gegengesetzten Eindruck  auf  mich  hervorbringen,  mir  Langweile  ver- 
ursachen. Ich  liebe  es  sehr,  mich  nebenbei  zu  amüsieren,  aber  meine 
Natur  erfordert,  daß  ich  dabei  als  Hauptsache  einen  bestimmten  in- 
haltsvollen Zweck,  sei's  in  der  praktischen  Welt,  sei's  in  der  Welt  des 
Wissens  vor  mir  habe.  Die  Sorge  für  das  bloße  Vergnügen  und  Zer- 
streuungen füllt  nicht  aus,  ermüdet.  Ohne  Zwecktätigkeit  ist  kein 
Genuß  im  Dasein.  Wenigstens  gilt  das  von  mir  so.  Ich  bin  nicht  kontem- 
plativ genug,  um  im  bloßen  Beschauen  fremder  Gegenden  und  fremder 
Herren  I^änder  ausfüllendes  Interesse  zu  finden.  Und  so  vertage  ich 
denn  diese  Reise  bis  aufs  nächste  Jahr,  wo  mich  dies  und  jenes  Motiv 
an  den  Rhein  und  vielleicht  noch  weiter  ruft. 


46. 

LASSALLE    AN   DAS   BANKHAUS  MENDELSSOHN   &  CO.    IN 
BERLIN,    (Konzept  von  der  Hand  Lassalles.) 

Breslau,  d.  11.  Sept.  1845. 

Ich  überschicke  Ihnen  Ihrem  Wimsche  gemäß  in  der  möghchst 
kürzesten  Zeit  die  Papiere,  die  Ihnen  am  nötigsten  sein  dürften,  um 
Ihnen  eine  bleibende  Übersicht  über  die  Natur  des  fraglichen  Unter- 
nehmens zu  gewähren,  und  die  für  sich  allein  hinreichend  sind,  um 
eine  solche  Übersicht  auch  dem  geübten  Blick  Ihres  Herrn  Joseph 
zu  verschaffen,  obgleich  selbiger  das  reichlichere  Material,  das  mir 
in  Berlin  zu  Gebote  stand,  nicht  einsehen  konnte.  — 

Ich  gehe  daran,  die  beifolgenden  Tabellen  mit  einigen  näheren  Be- 
merkungen zu  begleiten.  Das  wichtigste  der  Papiere  ist  das  Heft  Nr.  I. 
betitelt:  Zusammenstellung  der  Ausgaben  und  Einnahmen  in  Dresden. 
Ich  nenne  dieses  Heft  das  Wichtigste,  weil  es  nirgends  auf  einer  Be- 
rechnung, Schätzung  oder  Annahme,  sondern  durchaus  auf  den  fest- 
stehenden Tatsachen  von  Dresden  beruht,  somit  die  Fol.  12  dieses 
Heftes  angestellte  Untersuchung,  ,, welches  Resultat  würde  Dresden 
geben,  wenn  wir  es  beleuchteten",  in  nichts  auch  nur  die  imaginäre 
MögHchkeit  einer  getäuschten  Erwartvmg  zuläßt,  vielmehr  faktisch 
die  Gewißheit  herausstellt,  daß  Prag  wegen  seiner  in  jeder  Beziehung 
imgleich  vorteilhafteren  Verhältnisse  auch  ein  migleich  größres  Resultat 
erzielen  wird  als  das  Fol.  12  a  angegebne.  Ich  werde  unten  diesen 
Ptmkt  einer  genaueren  Erörterung  unterwerfen. 


-^  197  = ^-^ 

Zur  größeren  Bequemlichkeit  sind  die  Seiten  der  Tabellen  mit  Zahlen 
und  Buchstaben  bezeichnet,  auf  die  ich  mich  hier  beziehe.  —  Auf  P^ol.  i 
vmd  Fol.  I  a  finden  Sie  in  roter  Tinte  die  Zahl  (=  1034)  der  unbe- 
stimmten Abonnenten,  d.  h.  derer,  die  olme  Kontrolle  am  Ende  des 
Jahres  nur  das  zu  bezahlen  haben,  was  sie  nach  eigner  Schätzung 
an  Gas  konsumiert.  Vergleichen  Sie  damit  desselben  Heftes  Fol,  8 
imten.  • —  Fol.  ib  bis  Fol.  2  läuft  die  Zahl  der  Ijestimmten  Abonnenten, 
welche  mit  jenen  unbestimmten  die  Summe  von  3705  gibt,  wozu  die 
Fol.  8  vermerkten  Theaterflammen,  deren  Zahl  für  das  Jahr  1842  =  673 
ist,  addiert  werden  müssen.  Fol.  3  bis  5  folgt  die  vSumme  der  Ab- 
nehmer (nicht  der  Flammen).  Fol.  5  ist  noch  die  Zahl  der  Straßen- 
flammeu  angegeben.  —  Fol.  6  bis  Fol.  7  die  Darlegung  des  Dresdner 
Geschäftsjahres  1S42,  woraus  sich  ergibt,  daß  Dresden  ohne  Nutzen 
gewirtschaftet.  —  Fol.  8  bis  Fol.  11  folgt  die  Berechnung  der  Brennzeit, 
des  Gaskonsums,  des  Kosten preises  per  Flamme  etc.,  eine  Tabelle, 
aus  welcher  Sie  bei  gehöriger  Benutztmg  in  zweifelhaften  Fällen  stets 
Auskunft  erhalten  werden.  ■ — 

Fol.  12  endlich  beginnt  die  Berechnung,  welches  Residtat  Dresden, 
dessen  Bilanz  keinen  der  Rede  werten  Gewinn  nachweist  —  was  durch 
den  Zweck  geboten  ist,  den  die  Stadt  bei  Errichtung  dieses  Instituts 
vor  Augen  hatte  — ,  in  vmsern  Händen  abwerfen  würde.  Der  Tabelle 
zugrunde  gelegt  mid  mit  ihr  zu  vergleichen  ist  die  Dresdner  Bilanz 
von  1843  (Fol.  16  bis  17).  Diese  Berechumig,  welche  durchwegs  auf 
die  faktischen  Dresdner  Zahlenverhältnisse  basiert  ist,  weist  einen 
Revenueu-Ertrag  von  Rt.  39  182. —  nach.  Dieses  Resultat  wurde  er- 
langt, indem  nur  zwei  Umstände  berücksichtigt  wurden:  i.  der  Unter- 
schied des  Preises,  zu  dem  Dresden  Gas  verabreicht  (vgl.  Fol.  45  die 
Parallele  der  Preise  der  verschiedenen  Gasinstitute)  und  unsrer  Preise 
(=  dem  Minimum  der  englischen  Preise).  2.  Der  Mehrbetrag  Gas, 
den  wir  an  dieselbe  Zahl  Abonnenten  absetzen,  weil  wir  dem  Grund- 
satz andrer  Privatgesellschaften  gemäß,  außer  auf  Gaszählern,  die 
teurer  sind,  nur  bis  wenigstens  um  10  Uhr  Gas  verabreichen  (Dresden 
dagegen  auch  bis  7  und  8  Uhr).  Die  größeren  sich  für  diese  größere 
Quantität  ergebenden  Produktionskosten  sind  Fol.  14  und  15  berechnet 
und  Fol,  12,  wie  billig,  veranschlagt.  Es  hat  sich  die  Tabelle  seilest 
an  die  geringe  in  Dresden  stattfindende  Anzahl  von  Abonnenten 
(—  4378)  gehalten  mid  hiervon  die  673  Theaterflammen  zu  2  Rt. 
15  Sgr.  p.  Mille  Kbf.,  die  restierenden  3705  eigentlichen  Abonnenten 
zum  niedrigsten  Satz  der  englischen  Compagnie  berechnet.  Vgl. 
Fol.  12  a  (zu  20  Rt.  per  Flamme).  Durch  die  Berücksichtigung 
dieser  beiden  Pmikte  bloß  hat  die  Tabelle  eine  Revenue  von 
39182    Rt.    nachgewiesen.     Sie   hat  somit   mehrere   sehr  wesent- 


— —  198  

liehe    Verhältnisse   nicht    in    Anschlag    gebracht,  an  die  ich 
hier  kurz  erinnern  will. 

1.  Unter  den  4378  Dresdner  Abonnenten  brennen  (siehe  Fol.  i  a, 
Fol.  8)  1034  ohne  Kontrolle  und  bestimmte  Angabe,  lediglich  bezahlend, 
was  sie  nach  eigner  Schätzung  konsumiert.  Es  steht  fest,  daß  diese 
Abonnenten,  wenn  sie  nicht  noch  Schaden  machen,  jedenfalls  nicht 
den  geringsten  Nutzen  gewähren.  Wir  wie  jede  andre  Privatgesell- 
schaft verabreichen  nicht  Gas  ohne  Kontrolle  und  auf  unbestimmte 
Zeit  (außer  auf  Gaszählern,  die  ja  dann  wieder  selbst  Kontrolle  sind). 
Wenn  Dresden  somit  diesen  1034  ohne  Nutzen  Gas  gibt,  würden  wir 
solchen  beziehen;  diese  1034  konsumieren  nach  Fol.  11  vmten  3713  Mille 
Kubikfuß,  die  also,  die  Produktionskosten  p.  Mille  nach  Dresdner  Ver- 
hältnis zu  I  Rt.  8  Sgr.  gerechnet,  den  Verkaufspreis  zu  Rt.  3.10. — 
wiederum  einen  nicht  veranschlagten  jährhchen  Nutzen  von  über 
Rt.  8000. —  abwürfen. 

2.  Wir  haben,  wie  Ihnen  Fol.  15  sagt,  auch  für  die  Privaten  das 
Gaskonsimi  per  Stunde  auf  5  Kubikfuß  angesetzt,  wie  für  die  Straßen- 
üammen;  das  ist  aber,  wie  Sie  aus  Vergleichimg  mit  Fol.  8  bis  11 
ersehen  können,  um  ^/g  Kubikfuß  per  Stunde,  somit  um  10  %  zu  reich- 
hch.  Der  Grund,  daß  die  Zimmerflammen  10  %  weniger  konsumieren, 
ist  der  fehlende  Wind  und  I,uftzug,  der  bei  den  Straßenflammen  eine 
schnellere  Absorption  hervorbringt.  Bei  dem  Gasquantum  von  26.564 
Mille  Kubikfuß  (Fol.  15),  das  Mille  zu  i  Rt.  8  Sgr.,  würde  das  wiederum 
eine  nicht  veranschlagte  Ersparnis  von  Rt.  3300. —  zirka  jährlich 
bewirken. 

3.  Die  Billigkeit,  Nähe  und  der  größre  Gasgehalt  der  Prager 
Kohle.  Blochmann  versichert  uns,  daß  uns  die  Erzeugung  von  i  Mille 
Kubikfuß  in  Prag  auf  18  g.  G.  zu  stehen  kommen  würde. 

4.  Der  bedeutend  billigere  Preis  des  Eisens  in  Böhmen  gegen  Sachsen ; 
die  billigeren  Arbeiterlöhne  etc.  etc. 

5.  Endlich  haben  wir  nur  nach  der  Zahl  von  Privatabonnenteu 
=  3705  gerechnet,  dürften  aber  bei  einer  Stadt  von  130  000  Ein- 
wohnern, die  in  bezug  auf  Ivcbhaftigkeit  und  Verkehr  ihresgleichen 
sucht,  auf  5000  Abonnenten  rechnen.  Wenn  Sie  diese  fünf  Umstände  in 
Zahlen  verwerten,  würden  Sie  finden,  daß  das  Resultat  der  auf  Dresden 
basierten  Berechnung  das  Tabelle  IV  Fol.  ib  erzielte  Resviltat  von 
86  000  Rt.  wohl  noch  übertrifft. 

Zu  dieser  Tab.  IV  Fol.  ib  bemerke  ich,  daß,  wenn  wir  hier  Zinsen 
von  einem  Anlagekapital  von  nur  160  000  Rt.  gerechnet  haben,  dies 
nach  der  nach  Prager  lyokalpreisen  angestellten  Berechnung  geschehen 
ist,  die,  wie  ich  Ihnen  in  Berlin  gezeigt,  ein  Anlagekapital  von  157  000  Rt. 
nachweist.    Wir  haben  dagegen  in  unserer  auf  Dresden  basierten  Be- 


=  199  ========= 

rechmmg  Fol.  12  Zinsen  von  einem  Kapital  von  200  000  Rt.  ange- 
nommen. Anderes  wird  Ihnen  bei  geringer  Müh'  deutlich  sein,  besonders 
wenn  Sie  sich  unserer  Berliner  Mitteilimg  entsinnen,  und  bedarf  der 
.Krörterimg  nicht.  — • 

In  bezug  auf  tmser  Anlagekapital  rufe  ich  Ihnen  ins  Gedächtnis 
ziurück,  daß,  wie  Sie  aus  den  Leipziger  Papieren  ersehen  haben,  Leipzig 
181 000  Rt.  gekostet  hat.  Da  nun  I/Cipzig  alle  Vorstädte,  Promena- 
den etc.,  wir  nur  das  Zentrum  Prags  beleuchten,  so  wird  Ihnen,  weim 
Sie  sich  einen  Leipziger  Plan  nehmen  imd  damit  unsern  Prager  Plan 
vergleichen,  dessen  Sie  sich  wohl  noch  entsinnen,  schon  der  bloße 
Augenschein  zeigen,  daß  wir  kein  größres  Kapital  als  Leipzig  brauchen 
können.  Wenn  Prag  bedeutend  größer  ist  als  Leipzig,  so  wird  das 
vollkommen  dadurch  aufgewogen,  daß  Leipzig  seine  Röhren  und 
Anlagen  über  die  ganze  weitläufige  Peripherie  der  Stadt  ausdehnt, 
wir  nur  über  den  innem  festen  Teil. 

Wenn  Sie  ferner  Anstoß  dran  nahmen,  daß  Berlin  nur  7200  Flammen 
an  Private  absetzt,  so  will  ich  außer  dem  richtigen  Erklärungsgrund, 
den  Sie  damals  selbst  mir  angaben,  nur  noch  nachträglich  darauf  hin- 
deuten, daß  dies  die  eigne  tmkontrollierte  Angabe  der  Engländer  ist, 
und  daß  diese  wohl  schwerlich  es  in  ihrem  Interesse  fanden,  den  ganzen 
Umfang  ihres  Gewinnes  wissen  zu  lassen.  — 

Soll  ich  noch  einmal  die  Natur  des  Geschäfts  und  alle  dabei  ent- 
stehenden Fragen  kurz  erörtern,  so  reduzieren  sich  diese  auf  drei: 

1.  Ist  das  Geschäft,  Städte  mit  Gas  zu  beleuchten,  an  und  für  sich 
und  im  allgemeinen  ein  vorteilhaftes? 

2.  Wenn  das  Geschäft  im  allgemeinen  auch  vorteilhaft  ist,  wie 
ist  der  besondre  Fall  bei  der  besondern  Stadt  beschaffen? 
D.  h.  wie  sind  die  kontraktlichen  Bestimmungen  in  Hinsicht  der  Preise 
der  Flammen,  wie  ist  das  öffentliche  Leben  der  Stadt,  wie  sind  die 
Eisen-  xmd  Kohlenpreise? 

3.  Werden  wir  imstande  sein,  die  Anstalt  technisch  vollkommen 
gut  herzustellen? 

Die  erste  Frage  werden  Sie  Sich  selbst  beantworten,  für  die  dritte 
genügt  der  Ruf  Blochmanns,  imd  über  die  zweite  wird  Ihnen  jeder  Aus- 
kunft erteüen  können,  der  irgend  mit  den  Prager  Verhältnissen  be- 
kannt ist.  Es  gibt  keine  Stadt  Deutschlands  ohne  Ausnahme,  die 
durch  ihre  spezielle  Natur  sich  so  für  ein  derartiges  Unternehmen 
eignete. 

Nach  diesen  drei  Fragen  ließe  sich  nur  noch  etwa  eine  vierte  auf- 
werfen: ,,Kann  man  den  resp,  Leuten  die  geforderte  Kapitalsquote 
anvertrauen  imd  die  gewisse  Überzeugung  haben,  daß  die  jedesmaligen 
Raten  zu  dem  bestimmten  Zweck   verwendet  werden?" 


—  200  —  =- 

Diese  Frage  —  sollte  sie  auftauchen  —  dürfte  wohl  von  dem  notori- 
schen und  in  dieser  Beziehung  selten  zu  nennenden  Renommee  meines 
Vaters  genügend  beantwortet  werden.  Sollte  diese  Frage  wirklich  in 
Betracht  kommen,  so  gäbe  es  zwar  auch  hiefür  hinreichende  Aushilfs- 
maßregeln, doch  würde  ich  es  für  augemessen  erachten,  bei  derartigen 
Präsumtionen  unsere  Unterhandlungen  für  geendigt  anzusehen.  Ich 
mache  diese  Bemerkung  nur  in  bezug  auf  eine  Äußerimg  Ihres  Herrn 
Alexander,*)  die,  wiewohl  in  unbestimmter,  aber  zweideutiger  Weise 
etwas  von  dieser  vierten  Frage  in  sich  zu  haben  schien.  — 

Noch  muß  ich  eines  bedeutenden  Irrtums  gedenken,  der  in  einer 
Ihrer  Einwendungen  enthalten  war.  Wie  Sie  Sich  erimiem  werden, 
sind  unsere  Gasometer  zu  folgenden  Preisen  notiert: 

I  Gasometer  nebst  Tank  zu  30  000  Kubikfuß  zu  Rt.  12  000, — 
I  Gasometer  nebst  Tank  zu  90  000  Kubikfuß  zu  Rt.  16  000. — 
I  Gasometer  nebst  Tank  zu  20  000  Kubikfuß  zu  Rt.  10  900. — 

Sie  meinten,  daß  wir  uns  irrten,  indem  die  Gasometer  der  englischen  Ge- 
sellschaft zu  Berlin  das  Doppelte  kosteten.  Vielmehr  ersuche  ich  Sie, 
sich  von  den  englischen  Agenten  Elliot  &  Ullmann  auf  Ihrem  Platz, 
die  Preiskurante  einhändigen  zu  lassen,  woraus  Sie  ersehen  werden, 
daß  unsere  Gasometer  sämtlich  zu  höheren  Preisen  notiert  sind,  als 
uns  die  englischen  kosten  würden.  Es  geschah  das,  weil  wir  sie  in 
Deutschland  werden  arbeiten  lassen.  — 

Für  den  Fall,  daß  Sie  Sich  entschließen,  das  Geschäft  nicht  zu 
machen,  rechne  ich  auf  Retoursendung  dieser  Papiere.  Daß  Sie  für 
jeden  Fall  diskreten  Gebrauch  davon  zu  machen  haben,  wäre  über- 
flüssig Ihnen  zu  bemerken.  Sie  wissen  vielmehr  selbst,  daß  wir  Ihnen 
durch  Übersendung  dieser  Papiere  ein  Vertrauen  beweisen,  welches 
man  eben  nur  einem  Hause  wie  dem  Ihrigen  erzeigen  kann.  — 

Haben  Sie  die  Güte,  diesen  Brief  als  Beilage  zu  den  angefügten 
Papieren  Ihrem  verehrten  Herrn  Joseph  zu  übermachen.  — 

Ich  fordere  Sie  wiederholt  auf,  sich,  wenn  Sie  das  Geschäft  interessiert, 
möglichst  wenig  Zeit  zu  lassen  vmd  zeichne  Ihrer  Antwort  ent- 
gegensehend, 

mit  Hochachtimg 

F.   I.,assaL 


1)  Alexander  Mendelssohn. 


201 


47- 


LASSALLE  AN   DEN   BANKIER   JOSEPH  MENDEI^SOHN, 
COBLENZ.    (Konzept  von  der  Hand  Lassalles.) 

Breslau,  d [1845]. 

Endlich  erhalte  ich  die  gewünschten  Papiere,  die  ich  mich  beeile, 
Ihnen  sofort  zuzufertigen.  Sie  werden  sich  aus  selbigen  die  Gewißheit 
holen,  daß  unsere  Kostenanschläge  durchaus  nicht  unter  der  Wirklich- 
keit geblieben  sind.  Da  unsere  nach  den  teuern  Leipziger  Preisen  an- 
gestellte Berechnung  200  000  Rt.,  die  nach  Lokalpreisen  157  000  Rt. 
nachweist,  so  ergibt  sich  daraus  die  Durchschnittszahl  von  180  000  Rt. 
Nichtsdestoweniger  haben  wir  die  Zinsen  von  200  000  Rt.  gerechnet, 
sowohl  in  der  beigefügten  Ertragsberechnung  als  auch  in  imserm  auf 
Dresden  basierten  Anschlag,  den  Sie  besitzen  imd  hierüber  nachsehen 
wollen,  und  sind  trotz  des  mutmaßlichen  Wenigerbedarfs  gern  bereit, 
für  alle  Eventuahtäten  diesen  unsrer  Zinsenberechnung  zugrtmde 
gelegten  auch  unsrer  Geschäftsregulierung  zugrtmde  zu  legen.  Daß 
aber  das  gebrauchte  Kapital  das  Maximum  von  200  000  unmöglich 
übersteigen  —  wenn  erreichen  —  kann,  das  mögen  Sie  sich,  wenn 
ihnen  die  beigefügten  Papiere  nicht  hinreichen,  von  Herrn  Kommissions- 
rat Blochmann  bestätigen  lassen.  Schon  das  Faktum  kann  genügen, 
daß  Leipzig,  welches,  weil  dort  die  ganze  Stadt  samt  all  den  Vor- 
städten, Promenaden  beleuchtet,  20000  Fss.  Röhren  mehr  ge- 
braucht hat,  als  für  Prag  erforderlich,  doch  nur  182000  Rt.  gekostet 
hat,  was  Sie  alles  bei  Herrn  Blochmann  in  Erfahrung  bringen  können. 

Um  Ihnen  jedoch  zu  zeigen,  wie  sehr  unsere  Berechnungen  selbst 
Tatsachen  sind,  füge  ich  Ihnen  einen  vom  Prager  Bauamt  revisierten 
Kostenüberschlag  tmseres  Prager  Maurermeisters  für  Anlage  sämtlicher 
Gebäude  bei.  Seine  Forderung  für  die  Herstellung  der  Gebäude  be- 
läuft sich,  wie  Sie  sehen,  auf  17  692  Fl.  oder  12  385  Rt.  Doch  sind 
hier  ein  Feuerungshaus  und  ein  Gasometerhaus  nicht  mit  inbegriffen, 
die  nämlich  erst  später  nötig  werden.  Dies  Feuerungshaus  nur  seinem 
Preise  nach  zu  1950,  das  Gasometerhaus  zu  2850  gerechnet,  ergibt 
das  für  sämtliche  Gebäude  eine  Summe  von  17  185  Rt.  Vergleichen 
Sie  mm  damit  in  unsrer  Kostenzusammenstellung  Tab.  II  Ruhr.  Ge- 
bäude, so  finden  Sie,  daß  daselbst  für  Gebäude  17  930  Rt.  gerechnet 
sind,  noch  mehr  also,  als  der  Maurermeister,  der  doch  auch  wieder 
seine  Forderung  leicht  noch  verkleinern  dürfte.  Wir  bitten  Sie,  auf 
dies  Papier  acht  zu  haben,  weil  wir  es  zurückgeben  müssen. 

Ebenso  werde  ich  Ihnen,  wenn  Sie  wünschen,  binnen  wenigen 
Tagen  eine  jetzt  noch  in  Dresden  befindliche,  von  Herrn  Blochmann 


—  -  202  - 

verfertigte,  bis  [zu  einem]  ^)  Taler  spezifizierte  Berechnung  der  Kosten 
des  Röhrensystems  übersenden,  die  Ihnen  ebenso  die  Faktizität  der 
übersandten  Kostenanschläge  beweisen  wird. 

In  dem  die  Ertragsberechnung  enthaltenden  Hefte  finden  Sie  Fol.  8 
bis  Fol.  10  noch  nähere  Bemerkungen  über  das  Verhältnis  von  Prag 
imd  Breslau  und  Fol.  7  eine  Tabelle,  welche  das  Resultat  enthält, 
welches  das  unlängst  mit  der  Kohle  von  Burchtihrah  (2  Meilen  von 
Prag)  angestellte  Experiment  geliefert  hat.  Wir  schickten  430  Schiffe 
dieser  Kohle  nach  Leipzig,  wo  Herr  Blochmann  sie  durch  Herrn  Below, 
der  imter  ihm  der  Ivcipziger  Anstalt  vorsteht,  probieren  ließ.  Das  Re- 
sultat war  ein  unverhofft  günstiges.  Diese  Kohle  liefert  p.  ^  4V2Cf.  Gas, 
während  wir  (f.  3.)  nur  auf  3V2  Cf.  gerechnet  haben;  hierdurch  wird 
nicht  nur  der  Kohlenbedarf  zur  immittelbaren  Gaserzeugung  ver- 
mindert, sondern  ebenso  bedeutend  weniger  Kohle  als  Heizimgsmaterial 
gebraucht,  ebenso  Kalk  zum  Reinigen  etc.  etc.,  und  endlich  zeigt 
Ihnen  die  Tabelle,  daß  diese  Kohle  per  Scheffel  1^2  Scheffel  Koks 
liefert,  während  wir  (f.  IV.)  nur  auf  nicht  ganz  ^/^  gerechnet.  Ebenso 
mit  Teer  etc.  Wenn  Sie  nach  genügender  Durchsicht  dieser  Papiere 
zum  Geschäftsabschluß  entschlossen  sein  sollten,  so  sind  wir  bereit, 
ims  nach  Berlin  oder  Dresden,  wenn  Sie,  wie  mir  aus  Ihrem  Schreiben 
vom  29.  hervorzugehen  scheint,  dies  wegen  der  Anwesenheit  B.  vor- 
ziehen sollten,  zu  begeben,  und  ersuche  ich  Sie,  mir  dann  für  diesen 
Zweck  die  Zeit  Ihrer  Anwesenheit  in  Dresden  mitzuteilen. 

Ihrer  Antwort  entgegensehend,  zeichne  ich 


48. 

IvASSALIvE  AN  DAS  BANKHAUS  MENDElySSOHN  &  CO.,  BERLIN. 
(Konzept  von  der  Hand  Lassalles.) 

Breslau,  d.  ig.  Sept.  45. 

Sie  äußern  in  Ihrem  letzten  Schreiben  den  Wunsch,  die  Berechnimg 
der  Kosten  für  die  Anlage  zu  erhalten,  wenn,  fügen  Sie  hinzu,  mir 
nicht  aus  irgendeinem  Grunde  daran  läge,  ,, selbige  für  mich  zurück- 
zubehalten". 

Wie  wenig  ich  Grund  habe,  dieses  oder  irgendeins  der  auf  das  Ge- 
schäft bezüglichen  Papiere  Ihrer  vollkommenen  Einsicht  vorzuenthalten, 
haben  Sie  vielleicht  zur  Genüge  daraus  entnommen,  daß  ich  Sie  in  BerHn  ^) 


^)  Die  eingeklammerten  Worte  sind  unleserlich. 
3)  Vgl.  die  Anmerktmg  auf  S.  209. 


•-^= 203  =_ 

aufforderte,  Sich  Selbst  von  sämtlichen  Papieren,  unter  denen  ja  auch 
die  Kosten,  Abschrift  fertigen  zu  lassen,  ein  Vorschlag,  den  Sie  jedoch 
nicht  akzeptierten.  — ■  Gegenwärtig  aber  bin  ich  nicht  mehr  imstande, 
Ihren  Wimsch  zu  erfüllen,  da  sämtliche  Berechnungen  und  Tabellen 
sofort  nach  der  Abschrift  des  Ihnen  zugesandten  Auszugs  an  unsere 
anderweitigen  Verbindungen  hin  abgegangen.  Ich  kann  somit,  so  leid 
es  mir  tut,  Ihrem  Begehr  nicht  nachkommen. 

Ein  anderes  höchst  interessantes  Aktenstück  aber,  das  uns  soeben 
von  einem  imserer  Agenten  eingeschickt  wird,  verabsäume  ich  nicht, 
Ihnen  beizulegen.  Es  enthält  die  Bedingungen,  unter  welchen  die 
englische  Imp.  Comp,  in  Wien  Gas  verabfolgt.  Sie  werden  daraus  er- 
sehen, wie  enorm  diese  Bedingungen  sind,  imd  wie  weit  wir  in  unseren 
Annahmen  unter  der  Wirklichkeit  geblieben  sind.  Der  niedrigste  Satz 
der  Engländer  ist,  wie  Sie  ersehen,  für  100  Kubikfuß  40  d.,  also  für  das 
Mille  =  400  d.  oder  4  Taler  20  Sgr.,  der  höchste  vSatz  =  52  pro  Himdert, 
also  pro  Mille  =  6  Taler  2  Sgr. ,  während  wir  durchweg  nur  pro  Flamme 
20  Taler,  also  nicht  einmal  3^/e  per  Kubikmille  gerechnet  haben. 

Wie  xmgeheuer  das  Geschäft  ist,  welches  wir  Ihnen  antragen,  können 
Sie  Sich  aas  der  Vergleichimg  der  Wiener  Verhältnisse  mit  dem  Ham- 
burger Kontrakt  augenfällig  zusammenstellen.  Die  Hamburger  wie 
Sie  erhalten  6  Mcb.  =  2  Taler  12  Sgr.  pro  Mille  imd  geben  dabei 
nach  40  Jahren  die  Anstalt  imentgeltlich  ab.  Es  muß  also  selbst  bei 
dem  niedrigen  Preise  von  2.12  ein  solches  Resultat  sich  ergeben,  daß 
es  imstande  ist,  für  den  Verlust  des  ganzen  Anlagekapitals,  das  ja  den 
Hamburgern  fonds  perdu  ist,  zu  entschädigen  und  außerdem  noch 
einen  ein  solches  Unternehmen  lohnenden  Gewinn  abzuwerfen.  Ur- 
teilen Sie,  was  die  Engländer  in  Wien  bei  ihren  Preisen  von  4.20  bis  6.2 
verdienen  mögen! 

Fragen  wir  aber,  wie  kommt  es,  daß  Deutschland  wiederum  den 
Engländern  einen  solchen  Schatz  in  die  Arme  wirft,  ihnen  eine  solche 
Gewinn  quelle  in  seinem  Herzen  öffnet;  warum  kommt  der  Nutzen 
solcher  Institutionen  [?]  nicht  dem  Inland  zugute,  warum  bilden  sich 
nicht  inländische  Gasgesellschaften,  besonders  da  in  technisch-wissen- 
schaftUcher  Beziehung  Deutschland,  wie  sich  an  Dresden  tmd  Leipzig 
gezeigt  hat,  noch  Besseres  zu  leisten  vermag,  so  dürfte  der  Grund  nicht 
mit  Unrecht  in  der  Schwierigkeit  der  deutschen  Kapitalisten  ^)  gefunden 
werden. 

Übrigens  fällt  es  in  die  Augen,  wie  vorteilhaft  diese  hohen  Preise 
in  Wien  auf  tms  wirken.    Da  den  Pragern  durch  die  Natur  der  Ver- 


^)  Im  Text  steht  Cot.    Vielleicht,  daß  ein  Leser  dies  Wort  noch  anders  ent- 
ziffert! 


204  ~       -  —  —^^ 

hältnisse  l)ei  jeder  Parallele,  die  sie  ziehen,  Wien  immer  zunächst  vor 
Augen  liegt  und  am  meisten  Einfluß  auf  das  Prager  Urteil  ausübt,  so 
können  unsrc  Preise  die  in  unsern  Tabellen  angesetzten,  wenn  wir 
sonst  wollen,  weit  üljerschreiten  und  doch  noch  äußerst  billig  im  Ver- 
gleich gegen  die  Wiener  Preise  erscheinen. 

Wenn  es  erlaubt  ist,  in  einem  Geschäftsbrief  persönlicher  Be- 
ziehungen zu  gedenken,  so  wollen  Sie,  Herr  Alexander,  Ihrer  sehr  ge- 
achteten Frau  Gemahlin  die  A^ersicherung  meiner  innigen  Ergel^enheit 
überbringen. 

Haben  Sie  die  Güte,  Gegenwärtiges  nebst  Einlage,  nachdem  Sie 
Gebrauch  gemacht,  Herrn  Joseph,  dem  ich  mich  vielmal  empfehle,  zu 
übersenden,  und  genehmigen  Sie  die  Versicherimg  meiner  Hochachttmg. 
mit  der  ich  mich  zeichne 


49- 
IvASSALLE  AN  DEN  BANKIER  JOSEPH  IMENDEI.SSOHN. 
(Konzept  von  der  Hand  Lassalles.) 

d.  2.   (?)   Okt.  45. 

Mit  Bezugnahme  auf  mein  letztes  Schreiben  und  der  damit  ver- 
bundeneu Übersendmig  unseres  Kostenanschlags,  deren  Empfang  Sie 
mir  noch  nicht  angezeigt,  übermache  ich  Ihnen  hiermit  die  detaillierte 
Berechnung  für  die  Kosten  des  Röhrensystems  zu  Breslau.  In  diesem 
Hefte  befindet  sich  ein  Bogen,  welcher  die  nötige  Erläuterung  enthält. 
Derselbe  wird  Ihnen  auch  sagen,  w'e  nach  den  bereits  geschlossenen 
Kontrakten  mit  den  Hütteuwerken  wir  bei  Breslau  Rt.  7206.20,  1:>ei 
Prag  12  460  gegen  unsern  Anschlag  ersparen. 

Über  die  Kosten  der  Gebäude  haben  Sie  bereits  ähnliche  Beweise 
in  Händen. 

Was  die  Gasometer  betrifft,  so  können  Sie  deren  Preise  leicht  selbst 
in  Erfahrmig  bringen.  Wir  beabsichtigten  früher  3  Gasometer  auf- 
zustellen; jetzt  wollen  wir  andrer  Vorteile  wegen  dafür  2  Gasometer, 
einen  zu  90  000  F.,  einen  zu  50  000  F.  herrichten,  wobei  wir  noch  die 
Kosten  eines  Gasometerhauses  Rt.  .  .  .^)  ersparen. 

Ich  würde  Ihnen  noch  über  mehrere  mehr  [oder]  weniger  wesentliche 
Pimkte  Auseinandersetzungen  machen  und  Ersparnisse  nachweisen, 
wenn  ich  nicht  einesteils  glaubte,  daß  Sie  sich  bereits  bei  Herrn  Kom- 
missionsrat Blochmann  von  der  reichlichen  Hinlänglichkeit  unserer 
Kostenanschläge   versichert   haben   oder  eben   versichern,   und   v/enn 


^)  Die  Zahl  ist  nicht  ausgefüllt. 


^  205  =.-^ 

Sie  nicht  bereits  erfahren  hätten,  daß  die  Engländer  in  Berlin  jetzt 
eine  Flamme  für  den  jährlichen  Preis  von  2^2  Taler,  ja,  wenn  sich  der 
Abnehmer  auf  mehre  Jahre  verpflichtet,  für  1V2  Taler  per  annmn 
hefern.  Der  frühere  Preis  war  20—24  Rt.  Wo  so  kolossale  Tatsachen 
eine  so  deutliche  Sprache  sprechen,  ist  jede  Auseinandersetzung  in 
Worten  und  Zahlen  füglich  überflüssig.  Eine  Vergleichung  der  Ihnen 
überschickten  Wiener  Preise  und  der  jetzigen  Berliner  Preise  über- 
trifft an  Bündigkeit  und  schlagender  Eindringlichkeit  alles,  was  über 
unseru  Gegenstand  gesagt  werden  kann. 

Wollen  Sie  mir  die  Empfangnahme  meiner  letzten  Sendung  sowie 
der  jetzigen  gefälligst  anzeigen. 


50. 

Ij^SSALIvE  AN  DEN  BANKIER  JOSEPH  MENDEI^SSOHN. 
(Konzept  von  der  Hand  Lassalles.) 

Breslau,  d.  5.  Okt.  [1845]. 

Mit  Vergnügen  habe  ich  aus  Ihrem  geehrten  Schreiben  vom  29.  Sept. 
ersehen,  daß  Sie  in  bezug  auf  unser  vielbesprochenes  Geschäft  nun  zu 
einer  gewissen  Entschließung  gekommen  zu  sein  scheinen.  In  Ihrer 
Absicht,  [daß]  einer  der  Herren  Ihres  Hauses  nach  Prag  reise,  können 
wir  Sie  nur  bestärken  imd  wird  es  uns  eine  angenehme  Pflicht  sein, 
die  Resultate  unserer  Tätigkeit  alldort  Ihrer  Musterimg  vorzuführen.  — 
Es  scheint  mir  aus  Ihrem  Briefe  hervorzugehen,  daß  Sie,  wie  mir  Ihr 
Herr  Sohn  schon  in  Berlin  diesen  Wunsch  äußerte,  sich  zu  Herrn 
Kommissionsrat  Blochmann  zu  begeben  gedenken,  um  sich  durch 
die  Auskunft  dieses  ausgezeichneten  Technikers  über  alle  Ihrem  eigenen 
Verständnis  ferner  liegenden  Punkte  zu  vergewissern;  ein  Vorhaben, 
das  wir  ganz  in  der  Ordnung  finden,  und  zu  dem  ich  bereits  Ihrem 
Herrn  Sohn  meine  Einwilligimg  erteilte. 

Wenn  Sie  jedoch  schreiben,  Sie  wünschten  vmsere  Kostenanlagen 
einem  Ihnen  vertrauten  Sachverständigen  vorzulegen,  so  können  wir, 
wie  natürlich,  nicht  damit  einverstanden  sein,  einen  Fremden,  zumal 
einen  Sachv^erständigen,  einen  Blick  in  eine  der  Herzkammern  imseres 
Geschäftsorganismus  werfen  zu  lassen. 

Diese  sich  fast  von  selbst  verstehende  Weigerung  kann  um  so  weniger 
unbiUig  scheinen,  als  die  beiden  Eigenschaften,  um  die  es  sich  allein 
Ihnen  hier  handeln  kann,  Sachkenntnis  imd  Redlichkeit,  Herr ^) 


^)  Der  Name  ist  'inausgefüllt. 


=   206  — 

beide  in  einem  so  gleich  ausgezeichneten  Grade  besitzt,  daß  jede  andere 
Autorität  neben  der  seinigen  als  überflüssig,  ja  als  vmtergeordnet  er- 
scheinen muß.  Was  die  geforderte  Übersendung  der  Kostenberechnung 
betrifft,  so  sehen  Sie  mich  damit  in  einiger  Verlegenheit.  Wie  ich 
Ihnen  schon  in  meinem  Schreiben  vom  19.  mitteilte,  so  haben  wir 
sofort  nach  dem  für  Sie  gemachten  Auszug  unsere  Papiere  an  imsere 
anderweitigen  Verbindungen  abgesandt,  weshalb  ich  in  jenem  Briefe 
den  von  Ihnen  geäußerten  Wmisch,  Ihnen  nachträglich  noch  die  Kosten- 
berechnungen zu  senden,  nicht  erfüllen  konnte.  Um  Ihrem  billigen 
Verlangen  nachträglich  doch  noch  nachkommen  zu  können,  schrieb 
ich  an  jenen  Ort,  um  eine  Kopie  der  von  Ihnen  gewünschten  Papiere 
zu  bewerkstelligen.  Seit  einigen  Tagen  sehe  ich  nun  bereits  täglich  der 
Ankunft  dieser  Papiere  mit  Ungeduld  entgegen.  Ich  rechne  mit  Ge- 
wißheit darauf,  daß  sie  in  der  kürzesten  Zeit  hier  eintreffen  müssen,  wo 
ich  sie  Ihnen  dann  umgehend  übermachen  werde. 


51- 
LASSALIvE  AN  DEN  BANKIER  JOSEPH  MENDELSSOHN 
(HORCHHEIM).    (Konzept  von  der  Hand  Lassalles.) 

Breslau  [wohl  Okt.  1845]. 
Geehrter  Herr! 

In  Ihrer  geehrten  Zuschrift  vom  15.  äußern  Sie  die  Besorgnis,  wir 
könnten  ims  durch  die  Unterhandlung  mit  Ihnen  abhalten  lassen, 
anderweitig  abzuschließen,  so  daß,  falls  die  Vereinigimg  mit  Ihnen 
nicht  zustande  kommt,  mis  dadurch  ein  realer  Schade  entspringen 
könnte.  Dieselbe  Befürchtung  hat  mir  Ihr  Berhner  Haus  bereits  einige 
Male  schriftlich  zu  erkennen  gegeben,  ja  mich  sogar  ,, inständigst" 
ersucht,  nicht  aus  Rücksicht  für  Sie  imser  Interesse  zu  beeinträch- 
tigen. 

Es  liegt  in  diesen  Äußerungen  eine  solche  Teilnahme  an  meinem 
Interesse  und  dem  der  mit  mir  liierten  Personen,  daß  ich  nicht  umhin 
kann,  Ihnen  meinen  aufrichtigen  Dank  dafür  auszuprechen.  —  Ich 
kann  Ihnen  indes  die  Versichenmg  geben,  daß  Sie  in  dieser  Beziehung 
ganz  imbesorgt  sein  mögen.  Es  versteht  sich  wohl  von  selbst,  daß  wir 
als  Geschäftsleute  unsre  Vorliebe  und  persönlichen  Motive  nicht  so 
weit  ausdehnen  werden,  um  dem  wahrhaften  Interesse  unserer  Sache, 
des  Geschäftes  irgend  etwas  zu  vergeben.  Und  wenn  es  natürlich  war, 
daß  ein  persönliches  Interesse  —  das  meinige  —  bei  meinem  Vater 


—  207  -— 

und  Schwager  billige  Berücksichtigung  [fand],  so  ist  es  ebenso  natür- 
hch,  daß  alle  persönlichen  Rücksichten  sich  unterordnen  müssen,  wenn 
sie  etwa  mit  unserm  gemeinsamen  eigenen  Interesse  in  Konflikt  ge 
raten.  Wir  wären  wenig  imstande,  die  großartigen  Unternehmungen 
zu  leiten,  denen  wir  vorstehen,  wenn  dies  nicht  unser  oberster  Grund- 
satz sein  sollte. 

Ich  sehe,  daß  einige  meiner  Äußerungen  mißverstanden  und  von 
Ihnen,  besonders  aber  von  Ihrem  Berhner  Hause  so  aufgefaßt  worden 
sind,  als  kaprizierten  wir  ims  darauf,  mit  Ihnen  dies  Geschäft  zu  ordnen 
und  hätten  jede  andre  Liaison  deswegen  abgebrochen.  Es  läßt  ims  dies 
in  einem  zwar  bessern  Lichte  erscheinen,  als  wir  es  verdienen,  aber 
auch  zugleich  in  einem  sehr  unkaufmännischen.  Ich  muß  daher  gegen 
diesen  jedenfalls  falschen  Schein  protestieren  und  will  Ihnen  kurz  den 
Verlauf  der  Sache,  die  nun  schon  verschiedene  Perioden  in  sich  zählt, 
explizieren. 

Meine  wahrhafte  Hochachtung,  und  wenn  ich  es  so  nennen  soll, 
Anhänglichkeit  für  Sie,  Herr  Mendelssohn,  bewog  mich,  Ihnen  den 
Antrag  zu  machen.  —  Als  ich  Ihr  erstes  Schreiben  aus  Horchheim  er- 
hielt, worin  Sie  auf  meine  Offerte  eingehen,  war  nun  nicht  mehr  mein 
bloßes  Interesse  im  Spiel,  es  war  jetzt  feste  Verbindlichkeit  für 
mich  geworden,  Sie  das  Unternehmen,  wenn  Sie  wollten,  realisieren 
zu  lassen.  Wir  mußten  Ihnen  mm  erst  die  notwendigen  Papiere  vor- 
legen imd  Ihre  Antwort  entgegennehmen,  ehe  wir,  wenigstens  nach 
luisem  Begriffen,  anderweitig  irgendwie  agieren  konnten.  Bis  diese 
unsre  Verpflichtimg  erfüllt  war,  hätten  wir,  seien  Sie  überzeugt,  imter 
keinen  Umständen  abgeschlossen.  Aber  eben  um  dieser  Verpflichtimg 
nachzukommen  und  zugleich  unsrerseits  wieder  freie  Hand  zu  erhalten, 
reiste  ich  nach  Berhn,  legte  Ihren  Herren  Associes  die  Papiere  [vor] 
und  äußerte  mich  im  angegebenen  Sinne  gegen  sie.  Da  die  Antwort, 
wie  vorauszusehen,  unbestimmt,  so  waren  wir  imsrer  Verpflichtung 
frei  und  ledig  und  konnten  wieder  uns  frei  bewegen.  Der  Zweck  meiner 
Reise  war  der,  unsre  Pflicht  gegen  Sie  zu  erfüllen.  Diese  Pflicht  er- 
losch mit  meiner  Abreise,  und  die  Sache  kehrte  wieder  auf  den  früheren 
Standpunkt  des  bloßen  einzelnen  persönlichen  Interesses  zurück,  das  so- 
wohl ich  als  auch  mein  Vater,  der  größte  Hochachtung  für  Sie  hegt,  darein 
setzten,  möglicherweise  diese  Angelegenheit  mit  Ihnen  zu  ordnen.  Aber 
sollte  ich  nötig  haben,  einem  so  großen  Geschäftsmann  bemerklich  zu 
machen,  daß  alle  diese  persönliche  noch  so  große  Rücksicht  immer  in 
den  Grenzen  verbleiben  wird,  die  ihr  unser  eignes  Interesse  notwendig 
setzt?  Nach  meiner  Rückkehr  setzten  wir  unsre  anderweitigen  Unter- 
handlungen demgemäß  wieder  fort,  wenn  wir  sie  auch  nicht  so  be- 
schleunigten, als  dies  vielleicht  sonst  geschehen  wäre,  um  Ihnen  Zeit 


^^ —  208  — 

zur  Besinnung  zu  lassen.  Aber  seien  Sie  versichert,  daß  wir  durchaus 
nicht  mehr  Zeit  auf  das  Spiel  setzen  werden,  als  wir  eben  bequem  zu 
verlieren  [haben].  Und  so  wenig  ich  befürchte,  daß  Sie  aus  Rücksicht 
für  uns  sich  übereilen  werden,  so  wenig  brauchen  Sie  die  Besorgnis 
zu  hegen,  daß  wir  aus  Rücksicht  auf  Sie  mehr  Zeit  oder  irgend  andres 
verlieren  werden,  als  wir  eben  entbehren  können.  Seien  Sie  überzeugt, 
daß  wir  nie  so  weit  gehen  werden,  unser  eigenes  Interesse  außer 
Augen  zu  lassen,  und  daß  die  Rücksicht,  die  wir  Ihnen  allerdings  in 
einem  höhern  Grade  als  irgendeinem  andern  angedeihen  zu  lassen 
geneigt  sind,  dennoch  nur  so  weit  geht,  als  es  unser  eignes  Interesse 
erlaubt. 

Ihre  anderweitige  Befürchtung,  auf  die  Sie  großes  Gewicht  zu  legen 
scheinen,  daß  in  B.  nach  Erbauung  ^)  es  nicht  leicht  sein  würde,  jemand 
zu  finden,  der  fähig  wäre,  mit  der  Leitung  beauftragt  zu  werden,  kann 
ich  sehr  kurz  widerlegen.  Denn  zuerst  sind  nicht  so  außerordentliche 
Eigenschaften,  wie  Sie  zu  glauben  scheinen,  erforderlich,  um  das  Institut, 
wenn  es  einmal  erst  eingerichtet  ist,  zu  leiten.  Vielmehr  genügt  dafür 
der  gewöhnliche  Schlag  der  Techniker,  jeder  Eisenbahningenieur  würde 
diese  Stellung  vollkommen  atisfüllen  und  können  Sie  über  die  Wahrheit 
dieser  Bemerkung  bei  Blochmann  oder  seinem  Sohn  in  Berlin  Erkundi- 
gtmgen  einziehen.  Endlich  aber  ist  der  ganze  Kollisionsfall  nicht  vor- 
handen und  was  Sie  suchen  zu  müssen  meinen,  ist  vielmehr  schon 
geftmden.  Denn  zuerst  hat  Herr  Blochmann  diese  Anstalt  zu  leiten 
während  der  ganzen  Dauer  seines  Lebens,  zweitens  wird  uns  dieser 
ausgezeichnete  Mann  unter  ihm  gediente  und  bewährte  Leute  für  die 
Verwaltung  zu  Prag  übergeben,  und  endlich  besitzen  wir  an  dem  Herrn 
Dr.  Hahn,  Dozent  der  Chemie  und  Physik  und  Oberlehrer  an  dem 
technischen  Institut  Blochmanns,  dessen  Schwiegersohn  er  ist,  einen 
im  vollendetsten  Maße  tüchtigen  ^)  dem  wir  die  gleichen  Inspektionen 
über  Breslau  und  Prag  übergeben  wollen.  Überdies  garantiert  Bloch- 
mann sowohl  für  diesen  seinen  Schwiegersohn  als  für  die  Leute,  die 
er  uns  nach  Prag  liefert,  Sie  sehen  somit,  daß  wir  dreimal  gedeckt 
sind. 

Meine  frühereu  Schreiben,  imsre  Tabellen  und  zuletzt  die  Wiener 
Preise  werden  Sie  wohl  empfangen  und  sich  bereits  eine  feste  Meintmg 
herausgebildet  haben,  die  ich  begierig  bin,  zu  vernehmen.^) 

^)  Diese  Stelle  ließ  sich  nicht  mit  voller  Bestimmtheit  entziffern. 
2)  Hier  fehlt  ein  Wort. 

2)  Der  Abschluß  mit  dem  Hause  Mendelssohn  &  Co.  ist  nicht  zustande  ge- 
kommen. 


=  209  -  — 

52. 
FREIHERR  HUBERT  VON  STÜCKER  AN  LASSAIXE.    (Original.) 

Berlin,  am  6.  Sept.  abends  g  Uhr  [1845]. i) 
Euer  Wohlgeboren. 

Soeben  nach  Hause  gekommen,  finde  ich  ein  Billett  von  Ihnen, 
vielmehr  wird  mir  ein  solches  von  dem  lyohndiener  lächelnd  über- 
reicht —  des  Inhalts:  ,,I,assal  grüßt  Sie  imd  findet,  daß  es  vielleicht 
zu  verlangen  gewesen  sein  dürfte,  daß  Sie  seine  Rückkimft  abwarteten, 
xxva.  sich  ihm  zu  empfehlen." 

Abgesehen  davon,  daß  Sie  mit  Ihren  Freunden  zu  Tische  kamen 
und  diese  auf  Ihre  Rückkunft  zu  warten  aufforderten,  ich  daher  im 
allgemeinen  keinen  Grtmd  hatte,  mich  unter  die  Ihrigen  zu  zählen; 
abgesehen  ferner  davon,  daß  mein  Aufenthalt  hier  viel  zu  kurz  ist, 
um  die  Zeit  einer  gehaltlosen  Förmlichkeit  zuzuwenden,  für  das  Sie 
mein  Abwarten  ansehen  mußten,  angesichts  der  freundschaftlichen  Er- 
gebenheit, mit  der  ich  Ihnen  von  jeher  zugetan  war  —  abgesehen 
nun  von  allem  dem  und  vielen  anderen  Entschuldigimgsgründen,  die 
mir  zu  Gebote  stünden,  um  meine  scheinbare  Unaufmerksamkeit  zu 
rechtfertigen,  kann  ich  nicht  begreifen,  wie  Sie  dazu  berechtigt  sich 
erachten  können,  von  mir  das  zu  verlangen,  was  ich  nur  aus  reiner 
Cberzeugtmg  zuzugestehen  oder  aus  demselben  Motive  zu  verweigern 
gewohnt  bin.  - —  Ich  verachte  alle  Fesseln  und  würden  mir  selbe  selbst 
von  meinem  geachtetsten  Freunde  als  Preis  gegenteiliger  f  revmdschaft- 
licher  Gesinnung  geboten.  Ich  bin  gewohnt,  mich  frei  im  Ivcben  zu 
bewegen  und  muß  selbst  auf  das  Wohlwollen  derjenigen  verzichten, 
die  der  gehaltlosen  Form  eine  größere  Geltimg  zuzugestehen  gemeint 
sind,  als  ich  es  eben  wünschen  und  erwarten  kann. 

Genehmigen  Sie  übrigens  die  wiederholte  Äußerung  meiner  Hoch- 
achtimg, in  der  ich  mich  zeichne 

Euer  Wohlgeboren 

ganz  ergebener  Diener 

Fh.  Hubert  v.  Stücker. 


*)  Lassalle  war,  wie  schon  die  vorstehenden  Briefe  erkennen  ließen,  am 
I.  September,  xua  das  Bankhaus  Mendelssohn  für  das  Gasgeschäft,  das  ihm  so 
am  Herzen  lag,  zu  gewinnen,  auf  einige  Tage  nach  Berhn  gekommen  und  im 
Hotel  de  Brandenbourg  abgestiegen. 


Mayer,  Lassalle-Nachlass.     F 


»4 


210 


53- 

IvASSAIvLE  AN  FREIHERR  HUBERT  VON  STÜCKER.    (Konzept 
von  der  Hand  Lassalles.) 

[Berlin,  6.  Sept.   1845,  Abend.] 

Ich  lasse  mich  nicht  in  Höfhchkeiten  überbieten  und  beginne  da- 
her mit 

Ew.  Hoch  wohlgeboren. 

Nach  dem  Billett,  das  ich  soeben  von  Ihnen  zu  erhalten  die  Ehre 
habe,  scheinen  wir  beinah'  die  Rollen  vertauscht  zu  haben.  Ich  bin 
es  diesmal,  der  an  leeren,  nichtssagenden  Formalitäten  festhält  und 
Wert  drauf  legt,  während  Sie  in  Ihrem  Brief  wahrhaft  sansculottisch 
herumspringen,  ,,alle  Fesseln  verachten",  stets  , .gewohnt  sind,  sich 
frei  im  Leben  zu  bewegen",  mit  Achselzucken  auf  , .gehaltlose  Formen" 
herabsehen,  ja  in  Ihrem  bodenlosen  Terrorismus  so  weit  gehen,  , .selbst 
auf  das  Wohlwollen  derer  zu  verzichten,  die  der  gehaltlosen  Form  eine 
größere  Geltung  zugestehen",  als  Sie  es  wünschen.  Zuerst  erschrecke 
ich,  indem  ich  sehe,  welches  Monstrum  von  veralteten  gehaltlosen 
Vorurteilen,  welche  Rumpelkammer  von  leeren  nichtssagenden  For- 
malitäten ich  doch  eigentlich  bin,  imd  brauche  einige  Minuten  Zeit, 
um  mich  von  dieser  plötzlichen  Selbsterkenntnis  und  der  Zerknirschung., 
in  die  sie  mich  versetzt,  zu  erholen.  Nachdem  ich  mich  verpustet, 
gehe  ich  daran,  Ihren  Brief  im  einzelnen  zu  beantworten.  Rätselhaft, 
lieber  Baron,  bleibt  mir  zuerst  der  Satz.  ,, Abgesehen  davon,  daß  Sie 
mit  Ihren  Freunden  zu  Tische  kamen  und  diese  auf  Ihre  Rückkunft 
zu  warten  aufforderten,  ich  daher  im  allgemeinen  keinen  Grimd  hatte, 
mich  unter  die  Ihrigen  zu  zählen." 

Also  weil  ich  nicht  mit  Ihnen,  der  Sie  ja  ohnedies  da  aßen,  sondern 
mit  andern  drei  Freunden,  die  bloß  durch  meine  Gegenwart  veranlaßt, 
dort  dinierten,  zur  Tafel  kam,  hatten  Sie  keinen  Grund,  ,,sich  unter 
die  Meinigen  zu  zählen??"  Daß  ich  Sie  nicht  zu  warten  aufforderte,^ 
ei,  das  hat  seinen  Grund  in  der  rücksichtsvollen  Beobachtung  des 
äußern  Unterschiedes  zwischen  uns,  den  ich  trotz  der  freundlichen 
Gleichstellung  Ihrerseits  nie  ungeschickt  genug  war,  außer  Augen  zu 
lassen.  An  mein  Gefolge  konnte  ich  diese  Forderung  richten;  sie  an 
Sie  laut  und  öffentlich  zu  richten,  hätte  ich  mir  nie  erlaubt,  ich  hätte 
Sie  ja  damit  schlechtweg  in  eine  Klasse  mit  meinem  andern  Gefolge 
geworfen,  hätte  Sie  mir  nichts  dir  nichts  so  als  meinesgleichen  be- 
handelt! Ich  weiß  zugut,  was  mir  ziemt,  als  daß  ich  das  je  getan. 
Aber  innerlich  machte  ich  durchaus  auf  diese  Rücksicht  als  auf  eine 
-mir  schuldige  Anspruch.  Als  Weltmann,  Baron,  kennen  Sie  die  Nuance 


=^  211  -  — 

sehr  wohl,  den  Unterschied,  daß  man  seinerseits  eine  Artigkeit  äußer- 
lich nicht  beansprucht  und  sich  doch  grade  darum  verletzt  fühlt,  wenn 
sie  uns  nicht  von  der  andern  Seite  entgegengebracht  wird.  Sie  sind 
in  einem  heillosen  Irrtum  befangen,  wenn  Sie  schreiben,  ,,Sie  begriffen 
nicht,  wie  das  zu  verlangen"  [ich]  mich  berechtigt  erachten  kann,  was 
Sie  nur  aus  freier  Überzeugung  zu  erweisen  oder  zu  verweigern  gewohnt 
sind.  Es  kommt  hier,  wie  überall  im  Leben,  nicht  nur  darauf  an,  was 
ich  Lust  habe,  einem  andern  zu  gewähren,  sondern  auch  was  dieser 
andre  mit  Recht  fordern  kann.  Daß  ich  diese  kleine  Artigkeit  fordern 
konnte,  werden  Sie  nicht  leugnen  können,  wenn  Sie  bedenken,  wie  ich 
in  bezug  auf  Sie  nichts  fast  als  e  i  n  e  fortgesetzte  Reihe  von  Artigkeiten 
bin.  Doch  darüber  noch  später.  Zudem  haben  Sie  —  und  das  ändert 
den  Sachbestand  ein  wenig  — ,  als  ich  mich  von  der  Tafel  erhob,  mir 
gesagt:  ,,Ich  sehe  Sie  doch  noch  bei  Ihrer  Rückkunft?"  Ich  antwortete, 
daß  ich  in  15  Minuten  zurück  sein  werde.  Nichtsdestoweniger  imd 
trotz  dieser  Äußerung  war  ich,  als  ich  mich  15  Minuten  drauf  in  Ihr 
Zimmer  begab,  düpiert.  Sie  waren  ausgefahren  und  nicht  in  Geschäften, 
lieber  Baron,  sondern  spazieren  gefahren.  Wenn  Sie  nicht  auf  mich 
warten  wollten,  warum  beurlaubten  Sie  sich  nicht  von  mir,  als  ich  die 
Tafel  verließ?  Heißt  das  nicht,  Ew.  Hochwohlgeboren,  einen  aller- 
dings sehr  ohne  alle  und  jede  Formalitäten  behandeln??!  Und  war 
es  eine  bloße  Formalität,  wenn  Sie  meine  Rückkunft  erwarteten,  um 
mir  Adieu  zu  sagen?  Wäre  es  nicht  vielmehr  ein  Akt  der  Herzlich- 
keit gewesen?  Der  vornehme  Mann  und  die  gemeine  pauvre  bürger- 
liche Gesinnung  verleugnen  sich  doch  nie.  Ich  hätte  es  für  einen  Aus- 
druck und  Betätigung  Ihrer  ,, herzlichen  Freundschaft"  für  mich  ge- 
faßt. Sie  wissen  das  besser.  Sie  sahen  eine  bloße  Formalität  darin. 
Sie  werden  sich  freilich  vom  Standpunkt  der  Abstraktion  aus  ver- 
teidigen und  sagen:  Ihre  herzliche  Gesinnung  bleibe  bestehen  auch 
ohne  solche  betätigende  Akte.  Allerdings,  allerdings,  es  gibt  eine  Ge- 
sinnung auch  ohne  alle  und  jede  betätigende  Akte.  Doch  lassen  wir 
die  Ironie  und  kommen  zur  Sache.  Sie  haben  in  Ihrem  Briefe  die  Frage 
nicht  richtig  gestellt.  Richtig  gestellt  lautet  die  Frage  also : ,  ,Wie  kommen 
Sie,  Lassal,  dazu,  diesmal  soviel  Gewicht  auf  eine  Formalität  zu  legen, 
da  ich  doch  wohl  weiß,  daß  Sie  im  Grimde  nichts  davon  halten."  Und 
das  will  ich  Ihnen  denn  beantworten.  Sie  wissen,  daß  nach  dem  MaJ3- 
stabe,  mit  dem  ich  die  Menschen  messe,  wir  ims  vollkommen  gleich 
stünden,  daß  vor  diesem  stolzen  Maßstab  des  Unendlichen  alle  endlichen 
Unterschiede  zusammensinken.  Nichtsdestoweniger  habe  ich  Sie,  Sie 
werden  mir  das  Zeugnis  geben  müssen,  vor  andern  nie  aus  diesem 
Gefühl  der  Gleichheit  heraus  behandelt,  vielmehr  immer  mit  der 
exquisiten  Höflichkeit,  die  sonst  immer  nur  eine  Folge  und  Begleiterin 


-  =:^    212    -  := 

der  Unterordnung  ist.  Ich  tat  das,  weil  es  Sie  irgendeinmal  hätte  un- 
angenehm und  peinlich  berühren  können,  in  Gegenwart  von  Zeugen  so 
als  meinesgleichen  von  mir  behandelt  zu  werden,  und  ich  lieber  wollte, 
daß  Sie  sich,  wie  manchmal  geschah,  über  zu  große  Höflichkeit,  als 
über  taktloses  Fraternisieren  von  meiner  Seite  beklagten.  Aber  eben 
grade  darum  halte  ich  um  so  mehr  darauf,  daß  Sie  die  Form,  die  ich 
Ihnen  gegenüber  so  streng  beobachtete,  auch  Ihrerseits  gegen  mich 
nicht  außer  Auge  setzten.  Es  wäre  ja  sonst  ein  leoninischer  Kontrakt. 
Es  würde  sich  unmerklich  der  Ton  zwischen  ims  einschleichen,  als  ge- 
bührte Ihnen  als  ein  Recht  diese  Submission  von  meiner  Seite,  ohne 
daß  Sie  derartiges  zu  erwidern  hätten.  Behält  man  die  Form  bei,  so 
müssen  eben  beide  sie  beibehalten.  Schmeißt  man  sie  weg,  müssen 's 
eben  wieder  beide  tun.  Da  es  nun  oft  Unpassendes  in  sich  hätte,  wenn 
ich  die  äußere  Form  gegen  Sie  nicht  beobachten  wollte,  so  muß  ich  sie 
beibehalten.  Aber  eben  darum  ist  diese  Notwendigkeit  auch  für  Sie 
vorhanden.  Außerdem,  formelle  Verstöße  von  meinesgleichen  ertrage 
ich,  ohne  sie  auch  nur  zu  bemerken.  Leuten,  die  dem  Stande  — 
also  dem  Scheine  nach  —  über  mir  stehen,  —  erlaube  ich  sie  nicht. 
Eine  große  Eigenschaft  habe  ich  mit  Ihnen  gemein,  Baron,  ich  bin 
verteufelt  mißtrauisch.  Ihr  Aristokraten  seid  doch  nun  einmal  alle 
verflucht  von  Geburt  aus,  und  es  ist  eine  besondere  Gnade  des  Herrn, 
wenn  er  einen  von  Euch  erleuchtet.  Da  muß  man  Euch  aber  nie  trauen 
und  immer  zusehen,  ob  Euch  nicht  der  alte  Adam  in  den  Nacken  stößt. 
Aus  allen  diesen  Gründen  werden  Sie  mir  zugeben,  daß  Ihre  Handlung 
eine  Rücksichtslosigkeit  —  imd  ich  verdiene  Rücksicht  —  ja  selbst, 
Teurer,  ein  kleiner  Beweis  von  Nicht  beachtimg  war  (um  nicht  Nicht- 
achtung zu  sagen).  Was  sollten  z.  B.  die  Besitzer  des  Hotels  davon 
denken,  die  Monate  hindurch  Zeugen  meines  aufmerksamen  Benehmens 
gegen  Sie  gewesen?  Offenbar  mußten  sie  glauben,  daß  Sie  im  Rechte 
seien  und  daß  diese  Ergebenheit  meinerseits,  diese  Rücksichtslosigkeit 
Ihrerseits  der  zwischen  uns  bestehende  Ton  wäre.  Ich  war  demnach 
gezwungen,  die  Unangemessenheit  Ihrer  Handlungsweise 
auf  Sie  zurückfallen  zu  lassen.  Darum  schrieb  ich  eine  offne 
Karte.  Sie  wissen,  daß  ich  zu  stolz  bin,  um  eitel  zu  sein,  aber  Sie  werden 
mir  recht  geben,  wenn  ich  nicht  erlaube,  mich  en  bagatelle  zu  behandeln. 
War  das  nicht  Ihre  Absicht,  so  war's  doch  Ihre  Tat,  Ich  habe  nichts 
getan  als  Ihre  Handlimgsweise  desavouiert.  Das  mußt'  ich.  Somit 
wäre  denn  gerechtfertigt,  was  ich  getan. 


-  213  

54- 
ARNOLD  jNIENDELSSOHN  AN  LASSALIvE.     (Original.) 

Berlin,   ii.  9.  45. 
Mein  Junge! 

So  hast  Du  uns  denn  wieder  verlassen,  aber  Deine  kurze  Gegenwart 
war  von  höchst  wohltätigem  Einfluß  auf  mich ;  es  wurde  für  mich  zwar 
aus  unsem  Briefen  [klar],  daß  wir  in  unserm  Verhältnis  dieselben  ge- 
blieben sind,  oder  daß  das,  was  wir  geworden,  uns  nicht  entfremdet, 
sondern  mich  nur  um  so  inniger  an  Dich  geknüpft  hat.  Durch  Deine 
Gegenwart  kam  das  Moment  der  sinnlichen  Gewißheit,  das  einzige, 
welches  fehlte,  hinzu.  Ich  habe  dieser  Tage  ruhig  für  mich  und  mit 
Alexander^)  fortgearbeitet,  und  ich  muß  hierbei  erwähnen,  wie  ich  mit 
seinen  Fortschritten,  vorzüglich  mit  seinem  ersten  Verständnis  über 
Erwarten  zufrieden  bin.  Wir  haben  dieser  Tage  die  Beobachtung  der 
imorganischen  und  organischen  Natur  begonnen,  und  er  versteht  mit 
einer  Leichtigkeit,  von  der  ich,  als  ich  es  mir  Dir  las,  keine  Ahnung 
hatte.  Ich  habe  mir  überlegt,  worin  dies  liegen  möchte,  und  glaube 
den  Grund  darin  gefunden  zu  haben,  daß  ich,  als  ich  Dich  kennen 
lernte,  eben  ganz  in  die  Natur  versenkt  war;  ich  war  ein  wirklicher 
Empiriker,  dem  nur  das  Sein  Wahrheit  hat.  Das  Sein  war  nur  als 
Gedanke  gegenwärtig,  aber  meine  Gedanken  waren  mir  eben  nur  als 
Sein  gegenwärtig;  es  war  das  Härteste  und  Schwerste  für  mich,  den 
Gedanken  als  Gedanken  festzuhalten,  gegenwärtig  zu  machen,  daher 
die  Freude,  wenn  es  mir  gelaug,  den  Gedanken  durch  Deine  meister- 
hafte Darstellung  als  Gedanken  zu  sehen,  daher  die  nicht  zu  über- 
windende Schwierigkeit,  den  Gedanken  für  mich  selbst  zu  erzeugen 
und  darzustellen 


55- 

LASSALLE  AN  ARNOLD  MENDELSSOHN,  ALEXANDER  OPPEN- 
HEIM UND  ALBERT  LEHFELDT.  (Abschrift  von  Arnold 
Mendelssohn.) 

[Mitte  September  1845.2)] 

Triumviri !  Ich  bin  glücklich  abgereist,  wie  Ihr  wißt,  und  glücklich 
angekommen,  wie  Ihr  Euch  denken  könnt.  Hier  in  meinem  Closet 
wächst  mir,  um  mich  eines  Sprichwortes  zu  bedienen,  der  Heraklit 

^)  Alexander  Oppenheim. 

2)  Der  Brief  trifft  in  Berlin  am  17.  September  ein.  Oppenheim  und  Lehfeldt 
bestätigen  den  Empfimg  am   19.  September. 


=z==^:^=:=:=^    214    - 

zum  Hals  und  die  Geschäftsaligelegenheit  zum  Hintern  hinaus,  und 
ich  sehne  mich  recht,  mir  Erholung  zu  verschaffen  durch  ein  Geplauder 
mit  Euch,  ob  es  gleich  auch  eine  verflucht  lederne  Erholung  ist,  Papier 
v^oUzukritzeln.  Ich  bin  diese  Zeit  über  teilweise  deswegen  in  iibelra 
Humor,  weil  ich  auch  nicht  dazu  komme,  etwas  Philosophisches  in  die 
Hand  zu  nehmen  oder  auch  nur  darüber  nachzudenken,  so  nimmt 
mich  der  philologische  Wust  in  Anspruch.  Und  es  sind  nun  schon 
drei  Monate  her,  daß  ich  den  Philosophen  in  mir  gewaltsam  schweigen 
lasse.  Die  einzige  Genugtuung,  die  ich  dafür  habe,  ist,  daß  mir  der 
philologische  Mist  unter  den  Händen  zum  Berge  anschwillt  und  ich 
denen,  die  auf  solche  Dinge  stolz  sind,  werde  sagen  können:  ,, Macht's 
mir  einmal  nach."  Immer  eine  beschränkte  trübselige  F'reude!  Genug 
davon.  Ich  bin  zum  Räsonieren  aufgelegt,  imd  wenn  meine  Stimmung 
aushält,  sollt  Ihr  einen  langen  Brief  bekommen,  der  besonders  für 
Dich.  Klex,  und  für  Dich,  Arnold,  einiges  Interesse  haben  dürfte.  Aber 
wie  gesagt,  wenn  meine  Laune  nicht  aushält,  so  ist's  nicht  meine  Schuld. 
Ich  kann  oft  nicht  schreiben  über  gewisse  Dinge,  weil  ich  zu  gründlich 
bin  und  immer  das,  was  ich  bespreche,  erschöpfen  möchte.  Das  kostet 
verflucht  viel  Zeit  und  ist  langweilig  und  beschwerlich,  schriftlich  zu  tun. 

Wir  haben  in  Berlin,  als  wir  uns  trennten,  gerufen:  Vainquons! 
Wenn  uns  jemand  gehört,  hätte  er  uns  vielleicht  mit  Fug  für  verrückt 
halten  können.  Vainquons!  In  welchem  Kampf,  Kampf  gegen  wen, 
um  welchen  Preis  ?  Mit  welcher  Waffe  ?  Mit  welchem  Fug  ?  Aus  welchem 
Grund??  Wenn  ich  diesen  Brief  schreibe,  so  geschieht  dies  wie  wohl 
auch  für  Arnold,  besonders  für  Dich,  Klex,  da  wir  noch  nie  dazu  ge- 
kommen sind,  diese  Materie  zu  behandeln  imd  ich  Dir  einige  Aus- 
einandersetzungen schuldig  bin,  die,  obwohl  nur  leise  Andeutimgen, 
genügen  werden.  Dir  manches  zu  erklären  von  unserm  persönlichen 
Tim  imd  Treiben,  was  Dir  sonst  vielleicht  befremdender  geblieben 
wäre.  Es  handelt  sich  nicht  nur  um  einen  Krieg,  sondern  um  einen 
vollkommen  bewußten  Krieg,  um  einen  Krieg,  zu  dem  wir  von  unserm 
Gotte,  der  Idee,  ermächtigt  und  berechtigt  sind;  kurz  um  einen  Re- 
ligionskrieg.   Welches  ist  er? 

Um  doch  einen  Voraussetzungs-  und  Anknüpfungspunkt  zu  haben, 
lege  ich  als  Basis  meinen  Brief  über  die  Industrie  ^)  zugrunde,  dem  Du, 
Arnold,  so  oft  die  unverdiente  Ehre  angetan,  ihn  ausgezeichnet  zu 
finden  und  dessen  Inhalt  sich  Klex,  obgleich  er  ihn  nur  einmal  gehört, 
so  gut  als  möglich  vergegenwärtigen  mag.  Er  ist  hier  als  Voraussetzung 
und  Basis  um  so  passender  und  bequemer,  weil  er  uns  sogleich  in  die 
Mitte  der  Sache  versetzt,  um  die  es  sich  eigentlich  handelt. 


^)  Vgl.  Nr.  23  den  Brief  an  den  Vater  vom  6.  September  1844. 


=  215  — 

Wir  hatten  in  diesem  Brief  gesehen,  wie  der  Zug  des  Subjekts,  seine 
innere  Unendhchkeit  auszuführen  und  zu  realisieren,  mit  der  Herr- 
schaft der  Bourgeoisie,  dem  Industriestaat  dieser  Begriff  dazu  gelangt, 
sich  zu  verwirklichen  und  in  seiner  gegen  die  bisherige  frühere 
Form  konsequentesten  Form,  die  aber  zugleich  auch  seine  härteste 
Entäußerung  genannt  werden  muß.  Denn  er  verliert  hier  seine  innere 
geistige  Unendlichkeit  an  seinen  allgemeinsten  und  zugleich  härtesten 
Gegensatz  hin,  an  die  tote  Materie,  die  Dingheit,  das  Geld.  Ihr  werdet 
Euch  dessen  genugsam  entsinnen.  Der  Geist  hat  sich  in  die  Knecht- 
schaft der  toten  Materie  des  Geldes  begeben,  das  er  als  das  Ausgeführt- 
sein seiner  inneren  persönlichen  Unabhängigkeit  weiß,  das  er  als  das 
reale  Dasein  seiner  unendlichen  Subjektivität,  als  die  Realität 
seines  Idealismus  anschaut.  Es  entzündet  sich  somit  der  Zug  nach 
der  Realisierung  seiner  innern  unendlichen  Freiheit,  d.  h.  der  Materialis- 
mus, der  sich  in  der  Industrie  als  System  der  freien  Konkurrenz  organi- 
siert, als  mörderischer  Kampf  aller  gegen  alle.  Der  Kampf  ist  darum 
so  imerbittlich  schonungslos  und  feindselig  gegen  die  andern,  weil 
der  Begriff  des  Ichs,  Subjekts  nicht  in  seiner  Wahrheit  gefaßt  wird, 
wo  er  jedem  Ich  immanent  ist,  weil  er  nicht  durch  die  innere  Bildung 
sich  angeeignet  wird,  die  eine  geistige  Masse  ist,  von  der  ich  einem 
anderen  nichts  entziehe,  wenn  ich  mich  ihrer  auch  bemächtige,  die  ich 
vielmehr  dadurch  nur  vermehre,  sondern  weil  er  in  seiner  entäußerten 
Form  gefaßt  wird  als  diese  dem  Ich  fremde,  jenseitige  äußerliche 
verteilte  Dingheit.  Es  ist  das  Schreckliche  vorhanden,  daß  ich  die 
Reahtät  meines  Fürsichseins,  dies  innerste  eigenste  Eigentum, 
in  der  Gewalt  der  andern  sehe  (das  Geld).  Das  Fürsichsein  ist  somit 
außer  sich  (aus  sich  heraus)  gekommen,  es  sieht  sich  abhängig  imd 
in  der  Gewalt  der  andern.  Zu  allen  Zeiten  war  das  Geld  das  Befriedi- 
gungsmittel der  Persönlichkeit,  des  Genusses,  der  Besonderheit  in  mir. 
Der  Bruch  aber  war  sonst  nicht  so  blutig,  weil  diese  Besonderheit  als 
im  wesentlich,  ja  oft  als  schlechte  gewußt  wurde.  Das  Ich  konnte 
sich  immer  in  der  jedesmaligen  Substanz,  Zeitidee  befriedigen,  wenn 
€S  auch  der  Realität  des  einzelnen  genußvollen  Fürsichseins  entbehrte. 
Jetzt  aber  ist  die  Substanz  keine  andere  mehr  gegen  das  Fürsichsein; 
das  einzelne  Fürsichsein  wird  vielmehr  als  einzige  Substanz  ge- 
wußt, die  geldlose  Person  hat  somit  die  Möglichkeit  ihres  Genusses 
als  Einzelwesen  wie  zugleich  ihr  substantielles  Dasein  und  Be- 
stehen verloren.  Indem  die  Substanz,  wie  Ihr  Euch  erinnert,  in  das 
Fürsichsein  selbst  hineinsank,  ist  das  Eigentum  jetzt  der  ganze  Um- 
fang des  Daseins  des  Subjekts;  denn  es  ist  eben  das  realisierte  einzelne 
atome  Fürsichsein;  dieselbe  ist  aber  zugleich  jetzt  Substanz,  so  daß 
das  Eigentum  das  ganze  Wesen  der  Person  erfüllt  und  bildet,  seine  Sub- 


:    2l6    — 

stanz,  wie  (was  jetzt  damit  identisch)  die  Befriedigung  seiner  Einzelheit 
ist.  In  frühem  Zeiten  konnte  sich  der  Eigentumslose  für  den  ab- 
gehenden Genuß  der  Einzelnheit  durch  sein  Ivcben  in  Gott,  dem  All- 
gemeinen, Staat  trösten.  Alle  diese  Substanz,  Gott  ist  jetzt  gleichfalls 
das  Geld.  Der  Proletarier,  der  Eigentumslose,  sieht  somit  die  Sub- 
stanz, wie  sein  eigenstes  unv^erlierbares  Besitztum,  das  Fürsichsein 
außer  sich,  er  ist  nichts,  er  ist  eine  leere  Hülse,  wertlos.  —  Das  ist 
der  Zustand.  Und  dies  sein  Fürsichsein  wird  ihm  von  den  andern, 
die  daran  die  Realität  ihres  eignen  Selbst  haben,  vorenthalten; 
das  ist  die  Wut,  die  Erbitterung.  Indem  der  höchste  Wert  ins  Eigen- 
tum hineingesunken  ist,  wird  es  jetzt  begierig  an  sich  gerissen,  es  ist 
somit,  sozusagen,  als  ob  jetzt  gleichsam  weniger  Eigentum  auf  der 
Welt  wäre;  früher  war  es  ein  weit  wertloseres  Dasein,  von  dem  und 
jenem  gewünscht,  von  andern  gleichmütig  hingegeben,  gut  für  den. 
der  es  hatte;  jetzt,  wo  jeder  sich  sein  Teil  daran  nehmen  will,  wo  es  allein 
zum  Kampfe  entzündet,  konzentriert  es  sich  in  den  Händen  der  Sieger, 
die  Eigentumslosen  verlieren  selbst  das  Wenige,  was  sie  hatten ;  der 
Mangel  daran  größer,  die  Not  durch  das  Streben  danach  blutiger,  geht 
bis  zum  Hungertode.  Wie  gesagt,  früher  weniger  ein  Ziel  des  Strebens, 
war  es  billiger;  jetzt  ist  es,  als  ob  weniger  davon  vorhanden  wäre. 
Daher  die  Erscheinung,  daß  grade  jetzt  mit  der  Blüte  der  Industrie 
diese  fürchterliche  Armut,  von  der  früher  keine  Spur  vorhanden.  — 
Die  heutige  Welt  ist  dieser  organisierte  Räuberzustand. 

Aber  was  hat  das  für  einen  Bezug  auf  tmsere  Persönlichkeit? 
Wir  sind  keine  Proletarier,  wir  haben,  was  wir  brauchen.  Überdies, 
wir  sind  Philosophen;  wie  könnte  es  uns  um  das  Geld  zu  tun  sein!  — 
Voyons!  Es  gibt  für  die  neue  Philosophie,  für  meine  Philosophie  nur 
eine  Religion,  nur  eine  berechtigte  Gottesidee.  Nach  der  Seite  der 
Form  sie  ausgesprochen,  ist  sie  die  Selbstrealisation  und  Voll- 
ziehung des  Willens.  Das  Vollziehen  des  Denkens  und  WoUens, 
das  Realisieren  und  Ausführen  des  innern  Begrififs  ist  der  einzige 
gottesdienstliche  Akt,  die  Inkarnation  des  Geistes.  Es  ist  zugleich 
die  einzige  wahre  Wollust,  der  wahre  Genuß,  sich  selbst 
zu  genießen,  das  heißt  dem  Denken,  Wollen  Sein  zu  verleihen.  In  der 
Realität  den  Schein  des  Andersseins  aufzuheben  und  mich  den 
Begriff  darin  zu  setzen,  das  ist  der  Selbstgenuß  und  der  Genuß  des 
andern.  Das  absolute  Gebot  dieser  Religion  ist,  mich  auszuführen, 
das  sich  in  miunterbrochnem  Flusse  realisierende  Denken.  Die  Sünde 
ist,  wie  ja  auch  die  Christen  zugeben,  das  dem  Begriff,  Geist  Negative. 
Sündlich  ist  somit  die  Realität,  die  eine  Sprödigkeit,  Negativität  be- 
wahren will  gegen  den  Geist,  Begriff,  das  Freie,  Schöpferische.  Das- 
selbe, was  uns  Pflicht  ist,  ist  uns  auch  Genuß.    Unsere  Pflicht,  wie 


=-~  217  -^ 

mir  Genuß,  ist  die  Hochzeit  zwischen  Denken  und  Sein,  Geist  und 
Wirklichkeit,  die  VoUbringung  dieser  heiligen  Ehe.  Ungehemmt  soll 
der  Gedanke  sich  selbst  gewähren  lassen  und  wenn  bisher  in  jedem 
Zeitalter  nur  ein  bestimmter  Gedanke  verwirklicht  wurde  und  die 
Wirklichkeit  somit  eine  Schranke  gegen  jeden  andern  höhern  Be- 
griff war,  so  handelt  es  sich  jetzt  nicht  mehr  um  die  Realisation  einer 
bestimmten  Form,  sondern  es  soll  dem  Gedanken  das  Recht  seiner 
Unendlichkeit  wiedergegeben  werden.  Bisher  verhielt  es  sich  so,  daß 
jede  Produktion  des  Geistes,  indem  er  sie  setzte  (also  sein  eignes  Kind 
und  Werk),  immer  zur  Schranke  für  ihn  selbst  und  sein  weiteres  Produ- 
zieren wurde  und  sich  immer  gegen  ihn  absperren  und  festhalten  wollte, 
„als  von  Gott  eingesetzte  Wirklichkeit  imd  Obrigkeit".  Aber  er  ist 
der  Gott,  der  sie  einsetzt  und  wieder  in  seinen  innem  Abgrund  zurück- 
nimmt, er  läßt  sich  nicht  binden  an  seine  einzelne  schöpferische  Tat. 
Jetzt,  wo  er  sich  als  dieses  freie  Tun  und  Schaffen  erkannt  hat,  muß 
er  sich  auch  als  solches  das  Recht  der  Praxis  vindizieren  und  be 
wahren.  Es  handelt  sich  nicht  mehr  um  das  Realisieren  dieses  oder 
jenes  bestimmten  Gedankens,  sondern  um  das  Freigeben  des  Denkens 
überhaupt.  Eigentlich  hat  seit  Anfang  der  Geschichte  der  Geist  diese 
Allmacht  geübt,  aber  der  Prozeß  seines  Sichvollbringens  wurde  ge- 
hindert, weil  der  bestimmte  Gedanke,  den  er  vollbracht,  sich  mit  der 
Zähigkeit  der  Existenz  festhielt  gegen  die  neue  Geburt  seines  Mutter- 
schoßes. Das  waren  die  immer  so  langen  Perioden  des  Übergangs,  des 
Wehs,  der  Zerrissenheit,  des  Unglücks.  Die  Schöpfung  des  Geistes 
nahm  immer  eine  Fremdheit  und  Selbständigkeit  gegen  ihren  Er- 
zeuger an.  Eigentlich,  sage  ich,  hat  der  Geist  seit  je  diese  Allmacht 
und  Souveränität  geübt,  aber  jetzt  erst  ist  ihm  diese  Allmacht  zum 
Bewußtsein  gekommen,  für  ihn  geworden.  Er  muß  somit  jetzt 
als  bewußte,  für  sich  seiende  Allmacht,  als  für  sich  seien- 
der Geist,  das  ist  als  subjektiver  Geist  dies  Souveräni- 
täts — recht  ausüben.  So  mich  wissend  als  der  Herr  der  Erde, 
vor  dessen  Feuerhauche  nichts  Endliches  besteht,  schaue  ich  mich 
um,  imd  die  Erde  ist  der  Schemel  meiner  Füße,  und  der  Himmel  ist  der 
Thronhimmel  meiner  Herrlichkeit.  Ich  bin  nicht  das  losgebundne 
Tier  der  Willkür,  das  sein  tolles  Gelüste  verwirklicht.  Denn  das  ist 
der  Unterschied:  die  Willkür  ist  das  den  objektiven  Wesenheiten 
der  Menschenbrust,  den  absoluten  geistigen  Mächten,  dem  ob- 
jektiven Begriff  Negative,  der  Wille  ist  deren  Position,  ihre 
Bejahung.  Diese  absoluten  Wesenheiten  des  Geistes  sind  Vernunft, 
Freiheit,  lyiebe  usf.  Unvernunft,  Unfreiheit,  Nichtliebe  —  das  ist 
die  Willkür,  das  ist  das  dem  Begriff  des  Menschen  nicht  Entsprechende. 
Was  somit  meine  Pflicht  ist,    ist  mein  Genuß,   denn  es  ist  die  Be- 


2l8 

jahung  meines  eignen  Selbsts,  es  ist  Pflicht,  denn  es  ist  die  Be- 
jahung des  objektiven  Wesens,  des  objektiven  Geistes,  Begriffs.  Mein 
Wille  ist  somit  nicht  der  bloß  formelle  (die  Willkür) ,  denn  er  hat  seinen 
erfüllenden  bestimmten  Inhalt  an  sich  selbst.  Die  Willkür  ist  die 
Abstraktion  von  dem,  was  sein  soll  und  muß,  also  das  sich  selbst 
(dem  Begriff)  Negative,  das  Sichbejahen,  weil  hier  das  Ich  als  Substanz 
gefaßt  wird,  ist  das  Entgegengesetzte,  die  Position  des  Begriffs.  Ich 
muß  wissen,  denn  der  Geist  ist  objektiv  wesentlich  dies;  für  sich  zu 
sein,  also  sich  zu  erkennen,  sich  zu  wissen;  Unwissenheit  ist  Abstraktion 
von  diesem  konkreten  Inhalt,  ist  Willkür,  Ich  muß  lieben,  denn  der 
Geist  ist  wesentlich  dies :  aus  seiner  Alleinigkeit,  Besonderheit  heraus- 
zutreten und  sich  zusammenzuschließen  mit  den  andern,  ich  muß 
den  Leib  des  geliebten  Weibes  umarmen,  mich  vermählen  ihrem  Schoß, 
denn  der  Zeugungsakt  ist  die  körperliche,  darum  reale  wirkliche  Voll- 
ziehung der  Einheit  des  Ich  und  Du,  die  früher  als  nur  Sehnsucht 
vorhanden  war.  Sie  nicht  genießen,  hieße  den  Willen,  die  Innerlich- 
keit nicht  realisieren;  die  objektive  Macht  nicht  erfüllen,  wäre  Ab- 
straktion und  Negation  des  Begriffs.  Mein  Genuß  ist  somit  nicht  das 
ausgelassene  Tun  der  Willkür,  er  ist  das  sich  gliedernde  System  der 
objektiven  Bestimmungen  des  Geistes,  die  gebieterisch  ihre 
Bejahung,  ihr  Sein  fordern.  Wenn  die  Askese  Qual  ist,  so  ist  sie  nicht 
weniger  gottlos.  Noch  einmal,  es  herrscht  hier  nicht  das  blinde  Walten 
des  Tiers,  denn  die  erste  und  substantiellste  Bestimmimg  in  diesem 
Reich  ist  das  Wissen,  das  Fürsichwerden  des  Geistes  als  alle  Realität. 
Es  kann  die  Willkür  nicht  stattfinden,  weil  in  diesem  Reich  des  freien 
Geistes  das  Negative  überhaupt  (hier  nicht  in  seiner  formalen  Be- 
deutung, sondern  als  Negation  des  Begriffs  genommen)  verbannt  ist; 
unmöglich  ist  Diebstahl  und  Mord,  denn  freigegeben  ist  die  Realität, 
die  Erde  und  ihr  Genuß,  imd  sie  ist  anerkannt  als  unverlierbares  Eigen- 
tum des  Ich  und  ist  ihm  imterworfen  wie  eine  Eigenschaft  ihrem  Wesen, 
dasich,  weil  es  existiert,  hat  das  Recht  zur  Existenz  und  ihrem  Genuß . 
unnütz  ist  Meineid  und  Betrug  und  geheiligt  ist  der  Ehebruch.  Weil 
der  Geist  wesentlich  ist  für  sich  zu  sein,  hat  er  sich  zu  bejahen  als  für 
sich  seiender,  er  hat  sich  zu  verschaffen  den  Genuß  seines  Für- 
sichseins. Er  hat  alle  seine  Momente  in  sich  zu  bejahen,  seinen  Ge- 
danken, seine  Vorstellung,  seine  sinnliche  Leiblichkeit.  So  verwirk- 
liche ich  mich  nach  dem  ganzen  ungeheuren  Reichtum  meines  Inhalts. 
Ich  forsche  tmd  handle  und  genieße  den  Frauenleib. 

Und  wenn  das  Wesen  des  Geistes  das  Allgemeine  ist  (Wissen, 
Idee  usf.),  so  ist  das  Moment  des  Fürsichseins,  womit  das  der  sinn- 
lichen besondern  subjektiven  Existenz  zugleich  gegeben  ist  (denn 
für  sich  seiend   ist   der  Geist  nur  als  dieser   wirklich  existierender. 


einzelner),  nicht  weniger  allgemein  mid  wesentlich  und  ebensogut 
Substanz  im  Geiste,  und  ich  bejahe  mich  nach  der  Seite  meiner  Existen  z 
und  Besonderheit  und  \'erschaffe  mir  die  Lust  an  ihr. 

So  mich  wissend  als  alle  Realität,  als  die  Macht  alles  Seins,  das 
nur  ist,  insofern  das  Ich  es  gesetzt,  in  diesem  tmgeheuren  Bewußtsein 
schaue  ich  mich  noch  einmal  um  —  imd  finde  mich  geknebelt  und 
gefesselt  an  Hand  und  Fuß.  Gebannt,  gewaltsam  zurückgehalten  in 
der  innern  Unendlichkeit  des  Gedankens,  der  die  Lust  ist,  sich  zu 
vermählen  mit  der  Erde,  ist  mir  gewährt  die  Bejahung  des  Gottes,  tmd 
alle  Erde,  alles  Dasein  ist  nur  das  realisierte,  personifizierte  Nein  des 
freien  Denkens,  Begriffs;  die  daseiende  Negation;  und  ich  bin  ver- 
flucht zu  sein  und  zu  wandeln  ein  abgeschiedner  Geist,  ein  blutloser 
Schatten  der  Unterwelt.  Aber  der  Schatten  der  Unterwelt  ist  dies 
Mark-  und  Machtlose,  weil  er  getrunken  hat  den  Becher  der  Ver- 
gessenheit. Damit  tritt  er  ein  in  die  stygische  Nacht.  Ich  aber 
habe  in  mir  den  hellen  Tag  des  Wissens.  Das  Wissen  ist  die  furcht- 
barste W^affe,  denn  sie  greift  über  über  sich  und  erfaßt  auch  das  andere, 
ihr  Gegenteil.  Und  ich  greife  in  den  Schacht  meines  Wissens  und  frage: 
Wessen  Fluch  ist  so  mächtig  und  lastet  so  schwer  auf  mir?  Ich  sehe 
einen  Thron,  vmd  als  Karyatide  trägt  ihn  ein  Gott.  Aber  der  Thron 
ist  nur  noch  ein  Stück  Holz  mit  Sammet  überschlagen,  und  der  Name  Gott 
ist  ein  Schall,  der  kein  Echo  mehr  findet.  Lange  gestürzt  hat  sie  beide 
die  Zeit,  den  König  Dantons  Henkerbeil  und  den  Gott  die  Hure  der 
Vernunft.  Ihre  Leichen  nur  modern  noch  unbegraben,  ein  Drache  be- 
wacht sie,  dem  man  opfert  die  Welt.  Dieser  neue  imd  stärkere  Gott 
ist,  wir  haben  es  gesehen,  der  Besitz,  das  Eigentum,  das  Geld. 
Ihr  erinnert  Euch  noch  aus  meinem  Brief,^)  wie  sich  das  Geld  als  Sub- 
stanz, Zeitidee  entwickelte.  Der  rohe  inhaltslose,  nur  formale,  ab- 
strakte Subjektivismus  der  Revolution  will  sich  aus  dieser  seiner  In- 
haltslosigkeit heraus  mit  der  Objektivität,  Realität  zusammenschließen. 
Es  gilt  nun  nicht  mehr  das  bloß  innerliche  subjektive  formale  Ich, 
sondern  das  objektivierte  realisierte  Ich.  Nicht  mehr  diese  abstrakte 
Spitze  des  Ich,  das  Ich,  wie  es  von  Natur  ausist  als  bloße  Form,  sondern 
das  entäußerte  Ich,  das  die  Arbeit  durchgemacht  hat  (im  Gegensatz 
zur  natürlichen  Berechtigung).  Dieser  Gedanke  ist  ganz  richtig.  Aber 
weil  der  Übergang  von  dem  Moment  des  rein  atomen  besonderen 
Ichs  (dies  war  —  die  Unabhängigkeit  —  der  Inhalt  der  französischen 
Revolution)  ausging  nicht  vom  allgemeinen  Ich,  das  der  Begriff 
ist,  so  war  mit  der  Konsequenz  des  Begriff's  die  folgende  Stufe:  das 
realisierte    besondere   Fürsichsein,    d.  h.    das    Geld,    Eigentum.      Das 

^)  Siehe  S.  12S  f. 


—   220  —  = 

Wissen  ist  eine  Objektivität,  die  aber  zugleich  innerhalb  der  ideellen 
Innerlichkeit  eingeschlossen  bleibt,  während  die  Geschichte  nach  dem 
Gesetz  des  strikten  Gegensatzes  dann  als  auf  die  nur  Objektivität 
(also  schlechte,  äußerliche  Objektivität)  fiel.  Das  Wissen,  Bildung  ist 
ebenso  eine  Entäußerung  des  beschränkten  ungezognen  Ichs,  aber 
eine  solche,  die  nicht  zur  Jenseitigkeit  gegen  das  Ich,  Ichlosigkeit  fort- 
geht, wie  das  Geld.  Das  Wissen  ist  diese  spekulative  Einheit  des  Aller- 
objektivsten  und  zugleich  Allerinnerlichsten.  Erst  hierbei  kann  sich  der 
Weltgeist  beruhigen.  Kurz  will  ich  noch  andeuten,  daß  es  in  philo- 
sophischer Beziehung  sehr  interessant  ist  zu  bemerken,  wie  bei  dem 
Weltabschluß,  der  nach  meinem  System  jetzt  bevorsteht,  der  Geist 
sich  noch  einmal  in  das  ihm  entgegengesetzteste  formalste  Extrem  aus- 
einanderlegt: in  Geld  (das  keine  andre  Bedeutung  hat  als  die  abstrakte 
allgemeine  des  Sein,  Realität  überhaupt),  also  in  Sein  und  Denken 
(Wissen).  Er  muß  zur  voUkommnen  ewigen  Versöhnung,  nachdem 
er  den  ganzen  reichen  Weg  der  Geschichte  durchgemacht,  sich  noch 
einmal  auf  seinen  abstraktesten  Gegensatz  reduzieren  (denn  wenn  immer 
ein  Gegensatz  zwischen  Denken  und  Sein  stattfand,  so  hatte  der  sonst 
immer  einen  besonderen  eigentümlichen  Inhalt).  Ebenso  ist  es  inter- 
essant zu  sehen,  wie  jetzt,  wo  das  System  des  Rechts  sich  aufheben 
soll,  wird  und  muß,  es  zu  seiner  ersten  ärmsten  Bestimmung 
zurückkehrt  (des  Eigentums)  und  diese  zum  Inhalt  seiner  reichsten 
Form  (des  Staates)  macht;  aber  diese  erste  Bestimmung  und  Form 
ist  die  Grundlage  alles  übrigen,  denn  sie  ist  das  feste  Realisiertsein, 
Dasein  des  Willens  als  äußerlichen.  Das  Recht,  ehe  es  sich  aufhebt, 
macht  noch  einmal  sein  formales  Grundgesetz,  aus  dem  allein 
die  andern  festen  Institutionen,  Staat  usf.  folgen,  zum  ganzen 
Zeitinhalt.  Ist  dieses  formale  Grundgesetz  (Eigentum)  aufgehoben, 
stürzen  alle  andern  bestimmten  Realisationen,  die  als  diese  bestimmte 
fest  sein  sollen,  von  selbst,  die  etc.  Staatsform  überhaupt.  Wie  ich  ja 
schon  oben  sagte,  daß  es  eben  sich  darum  jetzt  handle,  nicht  dies  oder 
jenes,  sondern  das  feste  Realisiertsein  des  Willens  überhaupt,  die 
bestimmte  Form  überhaupt  zu  stürzen  und  sein  Realisieren  ungehemmt 
freizugeben.  (Was  ich  da  über  das  Recht  sagte,  ist  ein  ziemlich  schwieriger 
Punkt,  worüber  ein  andermal  mehr;  es  ist  nämlich  interessant  zu 
sehen,  daß  jede  besondre  Disziplin  zuletzt,  ehe  sie  für  immer  fällt, 
ihren  ganz  allgemeinen  bloß  formalen  Begriff  zum  eignen  Inhalt 
macht,  so  der  Staat  im  Absolutismus  die  Form  des  Staats  über- 
haupt (die  Einheit  des  allgemeinen  Willens),  in  der  Religion  im 
Deismus  den  Formbegriff  der  Religion  überhaupt  (den  Zug 
des  Subjekts  vom  Endlichen  zum  Caput  mortuum  des  inhaltlosen 
höchsten    Wesens) ,     so    im    Recht    im    Eigentum    das    harte    feste 


=   221  

Dasein  des  Willens  als  einzelnen,  exklusiven  und   besondern  Daseins 
überhaupt).  — 

Das  Geld  also,  habe  ich  gesagt  und  haben  wir  gesehen,  ist  dieser 
Fluch,  der  da  lastet  auf  dem  freien  Subjekt,  der  ihm  wehrt,  einzutreten 
in  das  Paradies,  in  den  Fluß  des  Selbstverwirklichens.  Seit  ich  das 
gesehen,  habe  ich  Haß  geschworen  - —  und  mit  Recht  jedem,  der  da  be- 
sitzt. Das  Geld  ist  die  einzige  Institution,  gegen  die  ich  meine  Waffe 
kehre,  alles  andre  lohnt  sich  der  Mühe  nicht,  die  Hand  sich  naß  zu 
machen  oder  doch  nur,  insofern  es  hierauf  Bezug  hat.  Das  Geld  ist 
der  Schlüssel  zu  der  versperrten  Realität  (in  der  jetzigen  Welt), 
ist  das  Tor,  durch  das  allein  der  Weg  in  die  Wirklichkeit  und  den  Selbst- 
genuß in  ihr  führt.  Einst  zwar  wird  kommen  der  Tag,  wo  wir  stürzen 
diesen  glühenden  Moloch  imd  ihm  nachwerfen  seine  Priester  in  die  ver- 
zehrenden Flammen.  Das  Ich,  das  sich  als  alle  Realität  erkannt  hat, 
das  für  sich  seiende  Allmacht  ist,  braucht  nicht  zu  warten  auf  die  Herde, 
kann  es  wagen,  auf  seine  eigne  Faust  glücklich  sein  zu  wollen. 
Soll  das  in  seiner  Majestät  für  sich  seiende  Ich  warten  auf  seine  Er- 
lösung, statt  sich  selbst  zu  erlösen?  Warten  auf  den  allgemeinen 
Landsturm  und  bis  die  österreichische  Landwehr  nachrückt?  Soll 
ich  bis  dahin  knien  vor  diesem  Gott  und  ihn  anerkennen  und  das 
Kreuz  atif  mich  nehmen  seinetwegen  ?  Aber  um  nicht  vor  ihm  zu  knien, 
um  seine  Herrschaft  nicht  gezwungen  zu  sein  anzuerkennen,  gibt  es 
bei  diesem,  wie  bei  jedem  andern  Gott  nur  das  eine  Mittel,  daß  man 
ihn  in  seine  Gewalt  bekomme,  aus  seiner  Jenseitigkeit  und  Tran- 
szendenz herausreiße  und  ihn  unter  die  Macht  seines  Fürsichseins 
bringe.  So  wurde  ich  Herr  über  den  christlichen  Gott,  indem  ich 
ihm  entriß  den  Schein  der  Jenseitigkeit  für  mich  imd  Selbständigkeit 
gegen  mich,  indem  ich  ihn  enthüllte  als  das  eigne  tote  Wesen  meines 
eignen  lebenden  Geistes.  Um  also  frei  zu  sein  von  dem  neuen  Gott, 
handelt  es  sich  mir  darum,  denselben  Prozeß  zu  wiederholen,  dies 
übermächtige  Wesen  herauszureißen  aus  seiner  Jenseitigkeit  und 
unter  mein  Fürsichsein  zu  bringen.  Wie  es  aber  beim  christ- 
lichen Gott,  weil  er  eine  nur  geistige  Entäußerung  war,  mit  dem  nur 
theoretischen  Kampf  genügte,  wie  der  Hahnenschrei  genügte,  um  das 
Gespenst  zerfließen  zu  lassen,  so  ist  jetzt  das  Harte  vorhanden,  daß  es, 
weil  der  neue  Gott  auch  eine  materielle  reale  Existenz  hat,  weil  er  die 
ärgste  reale  Selbstentäußerung  des  Ich  ist  (das  Ich  als  Gegen- 
stand gesetzt,  das  ist  das  Geld,  denn  das  Geld  ist  diese  Gegen- 
ständlichkeit, die  sofort  die  Bedeutung  hat,  nicht  bloß  Gegenständlich- 
keit, sondern  allgemeines  Gelten,  Ich  zu  sein),  so  bedarf  es  hier 
des  realen  Kampfs.  Oder  ist  mir  vielleicht  durch  den  Zufall  des 
Reichtums  der  Kampf  schon  erspart,  hab'  ich  genug  von  Natur  aus? 


•  222  = 

Zuerst,  wenn  ich  diesen  Gott  wahrhaft  besiegt  haben  und  frei  von  ihm 
sein  soll,  muß  ich,  wie  schon  gesagt,  unbedingt  ihn  durch  den  Prozeß 
imd  die  Macht  meines  Fürsichseins  errungen  haben  (id  est  Ver- 
dienen, Erwerben),  wenn  er  auch  durch  Naturzufall  mein  ist,  bleibt  er 
immer  drum  fremd  und  jenseits,  denn  er  floß  dann  nicht  aus  meinem 
Fürsichsein,  meine  Einzelnheit  hat  sich  nicht  bewährt  an  ihm.  Und 
dann:  Wer,  der  nicht  der  hektischen  Moral  der  Entsagung  folgt,  wer, 
der  der  Theorie  lebt  von  der  Selbstvollziehung  des  Willens,  kann 
sagen,  er  hat  genug??!!  Kann  ich  siegen  in  diesem  Kampf?  Ich 
muß  es.  Denn  die  Macht,  gegen  die  ich  mich  in  Bewegung  setze,  das 
Geld,  ist  nur  das  tote,  entäußerte  Wesen  meines  eignen  Ich.  Das 
Ich  bin  ich  selbst,  aber  nicht  als  totes  und  darum  bloß  passives  Wesen, 
in  mir  ist  das  Ich  als  bei  sich  seiende  Lebendigkeit,  ausgerüstet 
mit  der  Macht  des  Negativen.  Das  Lebendige  aber  ist  durch  seine 
Rührigkeit  und  Negativität  die  Macht  über  das  Tote,  bloß  Seiende. 
Und  darum  bin  ich  an  sich  Sieger,  noch  ehe  den  Kampf  ich  beginne. 
Ich,  der  Herr  der  Erde,  entschließe  mich  zum  Kampf  gegen  eine  Macht, 
die  keinen  Inhalt  hat,  als  den,  die  ReaHtät,  das  Sein  überhaupt  zu 
sein.  Ich  gehe  somit  gegen  meinen  abstraktesten  und  darum  härtesten 
Gegensatz,  gegen  das  reine  Sein,  darum  ist  der  Sieg  der  schwerste 
aller,  weil  ich  den  unnahbaren  allgemeinsten  Gegensatz  bezwingen 
soll,  weil  das  reine  Ich  versteinert  in  der  Form  der  reinen  Gegen- 
ständlichkeit ruht,  vmd  ich  es  aus  diesem  härtesten  Zauber  erlösen 
soll.  Aber  auch  dieser  Gegensatz  hält  nicht  aus  gegen  das  Denken,  das 
Denken  ist  dennoch  Einheit  seiner  tmd  des  Gegensatzes,  drum  ist  der 
Sieg  mir  sicher.  Der  Sieg  ist  mir  sicher,  weil  ich  den  Gegensatz  durch- 
schaut und  als  den  meinigen  und  mich  als  die  Einheit  seiner  und  des 
Ich  erkannt  habe.  Somit  habe  ich  theoretisch  und  an  sich  den  Sieg 
schon  errungen,  das  andre  zu  mir  aufgehoben.  Der  Sieg  gegen  das 
reine  Sein  ist  mir  sicher,  weil  ich  das  reine  Wissen  bin.  Dies  aber  beides 
ist  Sein  und  Wissen.  Was  aber  das  Denken  vermag,  das  vermag  ich; 
das  Denken  als  diese  reine  Positivität  ist  das  Ohnmächtige ;  Macht  hat 
es  nur  in  mir,  der  ich  seine  lebendige  Spitze  bin.  In  mir  erhält  es  die 
negative  Gewalt.  Wohlan,  zum  Kampf!  Indem  ich  mich  zum  Kampf 
entschließe,  erzittert  die  Erde  in  ihrer  Grundfeste  und  es  erdröhnt  der 
Bau  der  geistigen  Welt  in  seinen  Tiefen.  Was  wird  das  für  ein  Kampf 
sein,  welches  Völkerrecht  gilt  in  ihm?  Voyons!  Ich  wiederhole  es, 
es  ist  das  Schrecklichste  von  allem  vorhanden,  das  eigne  Fürsich- 
sein ist  außer  sich  gekommen.  Wir  leben  in  diesem  fürchterlichen 
Zustande  vmd  lachen,  und  viele  merken  es  nicht.  Will  man  ihn  ge- 
schildert, lies  Rameaus  Neffe.  Klex.  Unsinnig  abgeschmackt  ist  Goethes*) 
*)  Vgl.Werke,  Ausgabe  letzter  Hand,  Stuttgart  undTübingen  1830.  Bd.  36,8. 199- 


223  ^=^"- 

Urteil  darüber.  Die  wahre  Bedeutung  dieses  gräßlichen  Werks  ist 
die,  eine  Schilderung  des  Zustandes  zu  sein,  von  dem  ich  spreche.  Denn 
damals  zu  Diderots  Zeit,  kurz  vor  der  Revolution,  war  dieser  Zustand 
eben  der  herrschende  geworden.  Staatlich  anerkannt  wurde  er  zwar 
im  Staate  der  Bourgeoisie,  mit  dem  Zensus,  dem  Sturz  Robespierres, 
aber  Ihr  werdet  es  begreifen,  daß  etwas  immer  erst  unmerklich  all- 
gemeine Weltlage,  allgemeine  Sitte  schon  geworden  sein  muß, 
ehe  es  dazu  kommen  kann,  als  solche  ausgesprochen  zu  werden,  aus- 
gesprochene Sitte  und  Wille,  d.  i.  Gesetz  zu  sein.  Lies  Rameau; 
es  ist  eine  Schilderung  von  der  gänzlichen  Zerrissenheit  und  Unsittlich- 
keit,  die  in  die  Welt  gekommen;  nichts  Festes  gilt,  alles  Gesetz  und 
Substanz  der  Sitte  hat  sich  aufgelöst,  der  Handelnde  weiß  sein  Tun 
selbst  als  die  ärgste  Niederträchtigkeit  und  gesteht  es  ohne  Scham, 
ja,  er  weiß  sich  etwas  damit,  diese  Niederträchtigkeit  Wort  zu  haben 
und  zeigt  sie  noch  im  Tun  der  andern.  Von  der  Schamlosigkeit  geht 
er  über  zum  größten  Stolz  und  schämt  sich,  Scham  empfunden  zu 
haben,  er  weiß  sich  selbst  als  den  apportierenden  Hund  und  setzt 
einen  Triumph  darein,  diese  Verleugnung  alles  Würdigen  und  Sitt- 
lichen zu  sein.  Der  Grund  und  die  Bedeutung  aller  dort  bis  ins  Detail 
geschilderten  Verwirrung  ist  dieser  härteste  Widerspruch  des  Be- 
griffs, das  Urteil,  in  das  damals  die  Welt  ausbrach:  Das  Fürsich- 
sein ist  die  Dingheit.  Das  Fürsichsein  ist  somit  außer  sich  ge- 
kommen und  schaut  sich  als  ein  Ding  an;  es  hat  seine  menschliche 
Würde  verloren  und  weiß,  daß  ihn,  diesen  Geist,  ein  andrer  in  der 
Tasche  hat.  Um  sich  zurückzugewinnen,  tut  es  das  Verkehrte, 
das  zugleich  die  größte  Konsequenz  ist:  es  schmeißt  sich  an  die  Ding- 
heit hin.  Das  Fürsichsein  wird  erkauft  mit  einer  Mahlzeit  des  reichen 
Gönners,  der  eben  dadurch  das  Gedoppelte  tut,  indem  er  ihm  gewährt 
den  Genuß  seines  Fürsichseins,  ihm  dieses  zurückgibt  und  zugleich 
wieder  raubt,  indem  er  ihm  zeigt,  daß  sein  Fürsichsein  außer  sich  ge- 
kommen und  als  dieses  Ding  in  seiner,  des  Gönners  Tasche  sei.  Rameau. 
seinerseits  weiß  auch,  daß  das  Fürsichsein  ein  Ding  sei,  und  gesteht 
es  ein,  und  dies  Geständnis,  in  das  er  ausbricht,  ist  der  Schmeichelton, 
mit  dem  er  benebelt  den  Gönner;  er  schmeißt  sich  fort,  um  sich  zurück- 
[zu]erhalteu.  Schändlichkeit,  Betrug,  Niedertracht  sind  ihm  bedeutungs- 
lose Silben,  ja  allgemeines  Recht  geworden.  Denn  was  ist  Betrug  etc.? 
Nichts  als  die  Verkehrung  der  allgemeinen  Wesenheit  in  das  einzelne 
Dasein  und  dessen  Vorteil.  Das  Gute  ist  diese  Tautologie:  das  All- 
gemeine als  das  rein  Allgemeine  zu  wissen.  Das  Schlechte  ist  die  Ver- 
kehrung dieses  Verhältnisses,  die  Aufwendung  und  Verzehrung  des 
schlechthin  Allgemeinen  für  das  empirisch  Besondre.  Aber  dieselbe 
Verkehnmg  ist  ja  jetzt  Weltlage    und    allgemeines    Gesetz    ge- 


:-     .  =■-     224  

worden,  denn  die  Weltlage  ist  das  Urteil:  Das  Fürsichsein  ist  ein  Ding 
und  ist  somit  die  Verkehrung  des  rein  Allgemeinsten  in  die  Kategorie 
des  sinnlichen,  besondern  Daseins  selbst,  die  Dingheit,  Materie.  Er 
weiß  also  den  Betrug  als  das  Innere  der  Welt,  als  das  sie  beherrschende 
geheiligte  Gesetz,  weiß  ihn  als  sein  Recht.  Weil  es  nicht  Rameaus 
Urteil  ist:  Das  Fürsichsein  ist  ein  Ding,  empfindet  er  die  Zerknir- 
schung (die  Ichlosigkeit)  vor  seinem  Gönner  und  weiß  ihn  als  Herrn 
und  Gott.  Aber  in  diesem  Urteil  ist  zugleich  der  Gegensatz  gegeben, 
das  Übergreifen  des  Ichs  in  die  Dingheit,  der  Satz,  daß  es  es  selbst  und 
auch  sein  Gegenteil  sei.  Das  Urteil  hat  auch  die  Seite  in  sich,  daß  die 
Dingheit  vielmehr  nur  ein  Prädikat  sei,  das  da  haftet  an  dem  Fürsich- 
sein, seinem  Subjekt.  Nach  dieser  Seite  ist  die  totale  Empörung  vor- 
handen. Das  Fürsichsein  nimmt  sich  in  sich  zurück  und  weiß,  daß  es 
nicht  so  etwas  Totes  und  Verächtliches  wie  ein  Ding  sei.  Indem  das 
Fürsichsein  kein  Ding  ist,  kann  der  Geber,  indem  er  ihm  jene  Dingheit 
abläßt,  seine  freie  Innerlichkeit  nicht  fesseln  und  hat  sich  keinen  An- 
spruch auf  sein  Fürsichsein,  keinen  Dank  verdient  um  ihn.  Er  emp- 
findet vielmehr  vor  dem  Geber,  der  bei  jenem  Urteil  stehen  bleibt,  die 
tiefste  imgeheuerste  Verachtimg,  und  weil  er  ihn  doch  zwingt,  sein 
Fürsichsein  als  Ding  hinzunehmen,  den  empörtesten  Haß.  Er 
richtet  gegen  ihn  den  Betrug  und  weiß,  damit  ihm  kein  Unrecht  zu  tun, 
denn  er  vollführt  nur  des  Gönners  selbstgebilligtes  Urteil,  selbstdiktiertes 
Gesetz  (wie  vorher  gezeigt).  Darum  in  Rameau  diese  Mischung  von  der 
tiefsten  Verworfenheit  und  dem  edelsten  Stolz,  dieser  Mischmasch  von 
Niedrigkeit  und  Würde,  von  Gemeinheit  und  Gesinnung.  Es  ist  das 
herüber-  und  hinübergehende  Urteil:  Das  Fürsichsein  ist  ein  Ding 
und  die  Empörung,  das  freie  Fürsichsein  als  Ding  ansehen  zu  sollen. 
So  ist  Rameau.  Er  ist  so  verworfen,  weil  er  so  substanzlos  ist.  Die 
Mächte,  Vernunft,  Freiheit,  Liebe  verkehrt  er  in  die  Dingheit  für  den 
Genuß  seines  einzelnen  Daseins.  Es  gibt  nichts,  das  diese  Frivolität 
nicht  für  Geld  verwertet.  Aber  wie  keiner  in  einem  ganz  substanz- 
losen Treiben  aushalten,  wie  jeder,  auch  der  Verworfenste  ein 
Objektives  braucht,  an  das  er  sich  anranke  und  über  dem  er  vergesse 
die  Eitelkeit  des  leeren  Ich,  so  auch  Rameau.  Ein  Objektives  gibt 
es,  das  er  liebt,  über  dem  er  sich  selbst  vergißt,  eine  Substanz,  die 
grade  darum  eine  so  begeisternde  und  Besinnung  beraubende  Macht 
auf  ihn  ausübt,  weil  er  sonst  ewig  im  leeren  Kreise  seines  besondern 
gemeinen  Daseins  bleibt,  und  glücklich  hat  Diderot  als  diese  objektive 
Substanz,  die  ihn  zum  Taumel  hinreißt,  die  ihn  sein  Ich  vergessen  läßt, 
die  Musik  gewählt.  Ich  habe  hier  keine  Zeit,  mich  noch  in  ästhetische 
Abhandlimgen  einzulassen,  aber  wenn  die  Musik,  wie  jede  Kunst  ein 
Objektives,   Substantielles  ist,  so  ist  ihr  Inhalt  der  ganz  Einzelne, 


^---^- —  225  

Unmittelbare,  der  Laut  der  Empfindung.  Dies  subjektive  besondere 
Gefühlsleben  bildet  den  Inhalt  der  Musik.  Ihr  Inhalt  hat  sich  noch 
nicht  zu  dem  Allgemeinen  (dem  Gedanken)  befreit,  er  ist  der  unmittel- 
bare Einigungspunkt  des  rein  Allgemeinen  und  Besondern:  die  Emp- 
findung. Es  ist  somit  die  Musik  die  Form  der  Substanz,  die  Rameau, 
diesem  in  sein  rein  besondres  Dasein  versenkten  Geist,  am  nächsten 
liegt.  Hätte  sich  Rameau  zum  Objektiven  in  seiner  reinen  adäquaten 
Form,  dem  Gedanken,  erheben  können,  so  wäre  er  Wissen  und  hätte 
auch  nicht  die  Stellung  zur  Welt,  die  er  hat.  Es  würde  sich  dann  das 
widersprechende  Urteil  aufgehoben  haben  tmd  er  wäre  Meister  über 
den  Gegensatz.  Das  Wissen  ist  diese  Meisterschaft,  weil  es  sein  reines 
Gegenteil,  den  Begriff  des  Seins  erfaßt: 

Wer  sie  nicht  kennte 
Die  Elemente, 
Wäre  kein  Meister 
Über  die  Geister. 

Rameau  weiß  die  beiden  Seiten  des  Urteils  nicht  zusammenzubringen, 
er  hat  noch  nicht  durchschaut  die  ihn  neckenden  Abstraktionen,  die 
ihn  sich  gegenseitig  in  die  Arme  werfen,  darum  kann  er  das  elemen- 
tarische Wesen  nicht  besiegen.  Sein  Kampf  ist  dagegen  sein  unge- 
heuerster Selbstverlust.  Er  ist  Knecht,  und  wenn  er  sich  empört, 
ist  er  abstrakt  frei,  verliert  die  Realität  und  den  Teil  daran,  die  Mahl- 
zeit an  des  Herrn  Tisch,  er  beschränkt  sich  dann  auf  seine  abstrakte 
Innerlichkeit,  sein  realitätsloses  Ich,  wie  er  dann  wieder  der  ich- 
losen Dingheit  Knecht  ist. 

Das  wäre  Rameaus  Stellung.  Wie  wird  die  des  Philosophen,  des 
erscheinenden,  selbstbewußten  Gottes  sein?  Rameau  selbst,  noch  in 
dem  Urteil,  daß  das  Fürsichsein  ein  Ding  sei,  befangen,  erkennt  somit 
seine  Ohnmacht  und  die  Macht  der  Dingheit  über  ihn  an.  Was  ihm 
wird,  sein  Schicksal,  ist  nur  die  Bejahung  dieses  seines  Selbstgeständ- 
nisses. Wie  sich  der  als  alle  Realität  für  sich  gewordne  Geist  gegen 
diese  Weltlage  verhält,  ist  aus  allem  bisherigen  klar.  In  sich  ist  er 
Meister  geworden  über  die  Verwirrung  und  beherrscht  sie  sicher  und 
unwandelbar.  Denn  das  Urteil,  daß  das  Fürsichsein  ein  Ding  sei,  hat 
er  in  seinen  Begriff  aufgelöst,  daß  das  Fürsichsein  dies  sei,  sich  in  seinen 
Gegensatz  umzuschaffen  und  sich  in  ihm  als  freie  Idee  zu  erhalten; 
er  hat  es  aufgelöst  in  das  Urteil,  daß  die  Vernunft  alle  Realität  und 
Schöpfermacht  sei.  Er  hat  den  Weltzustand  durchschaut,  erkannt  das 
wahre  Wesen  dieses  Irrtums.  Indem  er  das  Fürsichsein,  Selbstbewußt- 
sein ist  jener  Vernunft,  die  alle  Realität  ist,  kommt  ihm  das  Recht  der 
Vernunft  zu,  Sein  zu  sein.    Er  fordert  das  Sein  als  das  Seine,  der 

Mayer,  Lassalle-Nachlass.     I  je 


=:    226  = 

Zorn,  mit  dem  er  sich  gegen  die  Außenwelt  wendet,  ist  darum  ein 
zwar  durch  das  Wissen  ruhiger,  aber  zehnmal  verderblicherer.  Er 
weiß  das  Sein  als  sein  Recht,  als  den  Boden»  in  dem  er  seine  Schöp- 
fungen auszulegen  hat  und  findet  es  als  sein  Anderssein,  Alle  Existenz 
hat  die  Bestimmung  des  Negativen  für  ihn,  ist  der  Hohn  gegen  sein 
»Sichvollführen.  Der  Gegensatz  ist  jetzt  darum  noch  ärger,  weil  das 
Wissen  sich  schon  als  Einheit  seiner  und  des  Gegensatzes  erkannt  hat, 
eigentlich  weiß,  daß  es  selbst  alles  Sein  ist — -und  es  doch  nicht 
hat.  Der  Geist  hat  den  Schein  des  Anderssseins  aufzuheben  und  es 
als  das  Seine  zu  zeigen.  Er  hat  das  Recht  des  Würgengels,  denn 
die  Existenz  ist  die  von  Gott  abgefallne,  die  daseiende  Sünde.  Es 
kann  somit  von  keiner  Schonung  die  Rede  sein  in  diesem  Kampf,  das 
einzige  Recht,  das  gilt,  ist  das  Recht  der  Vernichtung.  Nichts  be- 
sondres wird  anerkannt,  denn  der  Krieg  ist  unternommen  nicht  zu 
diesem  und  jenem  Zweck,  sondern  zur  Unterjochung  der  Existenz, 
Sein  selbst.  Das  Ich  hat  das  göttliche  Recht  auf  seiner  Seite  aus  zwei 
Gründen  (die  immer  zusammen  treffen  müssen,  doch  das  ist  zu  weit- 
läufig), denn  zuerst  findet  es  bereits  bestehend  den  Kampf  aller  mit 
allen,  den  tödlichen  Streit  der  atomen  Individuen  zu  ihrem  gegenseitigen 
Ruin  und  dem  Genuß  ihrer  Besonderheit.  Nach  der  Hegeischen  Straf- 
theorie ist  die  Vernünftigkeit  der  Strafe  die:  daß  keinem  Ich  etwas 
angetan  wird,  sondern  vielmehr  seine  eigne  Sentenz  an  ihm  vollzogen; 
man  behandelt  es  somit  nicht  vom  Standpunkt  andrer  herab,  sondern 
nach  dem  Recht,  das  es  selbst  gelehrt.  Indem  ich  mich  beteihge  an 
dem  Kampf  gegen  alles,  was  Mensch  heißt,  lasse  ich  diesen  Geschöpfen 
nur  widerfahren  den  Begriff,  den  sie  selbst  aufstellen,  folge  und  handle 
nach  ihrem  eignen  Recht.  Wir  haben  in  jenem  Brief  gesehen,  heute 
genugsam  berührt,  wie  das  gegenseitige  Vernichten,  um  daraus  sein 
eignes  Fürsichsein  zu  gewinnen,  Weltlage  und  Zeitbegriff  ist.  Er  ist 
das  gemeinsame,  aber  unbewußte  Tun  aller.  Bei  mir  ist  es  bewußtes 
geworden.  Das  ist  der  Hauptpunkt,  weswegen  mir  der  Sieg  gewiß  ist. 
Es  schlingt  sich  um  diesen  verwirrten  Räuberzustand  der  Welt  ein 
Schein  sittlicher  Bestimmungen,  sittlichen  Zusammenlebens, 
An  sich  aber  und  in  Wahrheit  ist  das  Tun  der  Individuen  der  gegen- 
seitige Ruin,  doch  das  ist  er  nicht  für  sie;  für  sie  ist  der  Schein  der 
sittlich  geordneten  Welt.  Wo  sie  also  in  ihrem  Kampf  auf  eine  der  Be- 
stimmungen dieses  sittlichen  Systems  stoßen,  da  —  weil  die  Substanz 
nur  an  sich  ihnen  nichts  mehr  gilt,  wohl  aber  noch  für  sie  den  Schein 
hat  zu  gelten  —  scheuen  sie  sich  und  haben  Respekt  und  wagen  es  nicht, 
sie  bewußt  und  systematisch  zu  verletzen.  So  kämpfen  sie  —  mit 
gebundnen  Händen.  Denn  wenn  ich  für  das  Fürsichsein  kämpfe,  so 
ist  das  ein  Kampf  auf  Leben  und  Tod  und  muß  aus  allen  Kräften  ge- 


=:     227    =^^^^^= ^= 

führt  werden.  Ja,  der  Widerspruch  ist  sogar  der  totale.  Denn  ihr  be- 
sonderes atomistisches  unsittUches  Fürsichsein,  für  das  sie  kämpfen, 
ist  der  Gegensatz  der  Substanz  und  kann  nur  siegreich  bestehen, 
wenn  ihm  diese  geopfert  wird.  Sie  aber  kämpfen  für  diese  Besonder- 
heit, die  das  Nicht  der  Substanz  ist,  und  scheuen  sich  doch,  die  Substanz 
zu  verletzen.  Darum  bin  ich  übermächtig.  Denn  indem  ich,  was  jene 
an  sich  unbewußt  tun,  bewußt  systematisch  vollbringe,  weiß  ich 
die  Nichtigkeit  dieser  Substanz  und  bin  ungebunden.  Gleich  vor  mir 
sind  alle  Mittel,  nichts  ist  so  heilig,  daß  ich  es  schonte,  und  ich  habe 
errungen  das  Recht  des  Tigers,  das  Recht  zu  zerreißen.  Für  mich  ist 
femer  außer  dem  Recht,  das  mir  die  Menschen  geben  durch  ihr  eignes 
Tun,  mein  Recht,  das  Recht  des  Begriffs  (das  siehe  oben) 
Sichselbstrealisieren  des  Willens,  dem  man  gottlos  vorenthält  die 
Realität.    Das  Geld  ist  dieser  Schlüssel  der  Wirklichkeit: 

Wenn  Du  sechs  Hengste  zahlen  kannst 
Sind  ihre  Kräfte  nicht  die  Deinen? 

Jawohl  und  es  gilt,  diesen  Schlüssel  zu  erringen.  Welches  ist  die  Waffe 
zum  Kampf?  Sie  wird  sich  konsequent  ergeben.  Man  erweise  den 
Ichs  immer  ihr  eignes  Recht.  Die  Welt  sagt:  ,,Das  Fürsichsein  ist  ein 
Ding";  gut,  man  nehme  diese  fürsichseienden  Subjekte  nicht  nach  der 
Würde  ihrer  menschlichen  Existenz,  deren  sie  sich  durch  jenes  Urteil 
selbst  begeben,  man  nehme  nach  dem  Urteil  diese  Ichs  als  Dinger  und 
mache  von  ihnen  den  Gebrauch  der  Dingheit,  man  zehre  sie  auf  achtungs- 
und  schonungslos  für  sein  Fürsichsein,  man  benutze  sie.  Man  betrachte 
ihre  Innerlichkeit,  ihr  Fühlen  und  Seelenleben  als  ein  Ding  und  wirt- 
schafte damit.  Soweit  ich  die  Macht  habe  über  das  Innere  eines  Men- 
schen, werde  ich  sie  schonungslos  mißbrauchen.  Die  Kategorie  der 
Innerlichkeit  selbst,  Lieben,  Fühlen,  Wissen  ist  diesen  Menschen  gegen- 
über, mit  denen  mich  kein  Band  zusammenhält,  —  ich  diene  einem 
andern  Gott  und  spreche  eine  andre  Sprache,  wir  verstehen  uns  nicht 
und  haben  nichts  Gemeinsames  in  uns  —  zu  einem  Objekt,  toten  Dasein 
geworden,  mit  dem  ich  Handel  treibe,  das  ich  verwerte,  denn  das 
Fürsichsein  ist  ja  ein  Ding  geworden.  Meine  Macht  ist  die,  daß  ich 
durch  die  Innerlichkeit,  über  die  ich  als  das  Wissen  Macht  habe, 
mich  mit  der  Dingheit  zusammenschließe. 

Wir  haben  in  unserm  damaligen  Brief  *)  gesehen,  daß  der  konsequente 
Weg  zur  Erreichung  des  Eigentums  die  Industrie  ist,  denn  sie  ist  die  Aus- 
beutung der  subjektiven  formierenden  Tätigkeit ;  und  wir  sahen  damals, 
daß  ja  im  Eigentum  ein  Objektives  gefunden  werden  sollte,  das  dennoch 
dem  Subjekt  durch  seine  eigene  Subjektivität  schlechthin  erreichbar 

^  S.  129  f. 


228    ^r-  

sein  sollte.  Darum  sagten  wir,  daß  die  Industrie  der  adäquate  Weg  zur  Er- 
ringung des  Eigentums  wäre,  weil  sie  ja  eben  das  Geltendmachen  des 
subjektiven  Talents  etc.  ist.  Sie  ist  geeigneter  als  der  Handel,  denn  im 
Handel  handelt  es  sich  nur  um  das  objektive  Substrat,  die  Ware,  weil 
sie  die  Selbstausbeutung  des  Subjektiven  ist.  Aber  es  gibt  einen  konse- 
quentem Weg.  Die  Industrie  läßt  sich  trotz  des  in  ihr  vorhandnen 
subjektiven  Moments  immer  noch  auf  das  Materielle  als  Substrat  ein, 
an  dem  sie  ihre  Arbeit  setzt.  Sie  gerät  damit  wieder  in  das  Äußerliche, 
dem  Subjektiven  entgegengesetzte  Stoffliche  hinein,  und  damit  hängt 
das  Resultat  zusammen,  das  sich  in  der  Industrie  herausstellt,  daß  das 
Subjekt  doch  nicht  durch  seine  freie  subjektive  Tätigkeit  an  sein 
Gegenteil,  das  Geld,  heran  kann,  sich  vielmehr  an  die  Herrschaft  des 
Objektiven,  Stofflichen  fortgeschmissen  hat.  Dies  bekundete  der  Sieg 
des  Kapitalisten  über  den  Nichtkapitalisten,  den  Arbeiter,  der  bloß 
von  seiner  Subjektivität  Gebrauch  macht.  Dieser  kann  aber  deshalb 
nicht  an  das  Geld  heran,  weil  er  sich  mit  seiner  innern  subjektiven 
Tätigkeit  auf  den  vStoff  gewandt  hat,  sich  wieder  somit  an  sein  reines 
Gegenteil  verloren,  über  das  er  keine  Macht  hat.  Die  Arbeit  des  Sub- 
jekts, wenn  sie  Erfolg  haben  soll,  darf  sich  nicht  an  ihr  Gegenteil,  den 
Stoff,  hin  verlieren  imd  sich  somit  des  subjektiven  Moments  wieder 
entäußern,  sie  muß  einen  Stoff  wählen,  der  selbst  wieder  in  die  Inner- 
lichkeit eingeschlossen  bleibt,  über  den  sie  somit  Macht  hat. 
Dieser  Stoff  ist  die  Kategorie  der  Innerlichkeit  selbst,  die  Menschen- 
brust. Mit  dieser  treibe  ich  Industrie,  das  ist  das  Material  meiner 
Arbeit,  das  mir  somit  kein  sprödes  ist.  Die  Innerlichkeit  arbeitet  hier 
in  der  Innerlichkeit,  Grau  in  Grau.  Die  Innerlichkeit  wendet  sich  also 
nicht  mehr  zu  dem  ihr  Äußerlichen  hin  und  entäußert  sich  somit 
nicht  mehr,  sondern  arbeitet  in  ihrem  eignen  durchsichtigen  Stoff,  der 
ja  sie  selbst  ist.  Das  Subjekt  verwertet  seine  eigne  innerste  Subjektivität 
und  wuchert  mit  ihr,  ohne  sich  auf  das  ihr  Spröde  einzulassen,  den 
realen  Stoff.  Und  seht,  ich  kann  kein  Wort  sprechen,  ohne  daß  die  Ge- 
schichte mir  sofort  Ja  zuschreit.  Denn  ungefähr  in  Rameaus  Zeit, 
etwas  später  bis  zur  Revolution,  sehen  wir  auf  einmal  solche  Erschei- 
nungen entstehen,  solche  sich  durch  sich  selbst  verwertende  Subjekte, 
die  Industrie  treiben,  erwerben  wollen,  ohne  ihre  Subjektivität  in 
das  ihr  Entgegengesetzte,  den  realen  Stoff  und  die  an  ihn  geknüpfte 
äußerliche  Arbeit,  hineinfallen  zu  lassen,  Erscheinungen,  einzig  in  der 
Welt,  noch  nicht  dagewesen  in  der  Geschichte,  die  die  jetzige  Zeit  erst 
ins  Leben  rufen  konnte,  Cagliostro,  St.  Germain,  Casanova^)  etc.    Ihre 

*)  Alexander  Graf  von  Cagliostro  (eigentlich  Joseph  Balsamo,  1743 — 1795) ;  der 
Graf  von  Saint -Germain  (1784),  dessen  eigentlicher  Name  nicht  bekannt  ist,  galt  als 
sein  Lehrer;  Giovanni  Jacobo  de  Seingalt  oder  Casanova  (1725 — 1798). 


—   229  ===^==^= 

Bedeutung  ist  die  aufgezeigte.  Und  mit  bewunderungswürdigem  Takt 
nennt  die  Welt  diese  Intriganten:  Industrieritter.  Die  Welt  nannte 
gewöhnlich  Abenteurer,  Gauner  etc.  solche  ihre  Subjektivität  verwertende 
Männer.  Selbst  Schriftsteller,  I^eute  von  der  Feder  galten  ihr  lange 
Zeit  nicht  viel  besser.  Sie  wußte  selbst  nicht  warum.  Es  ist  aber  des- 
wegen, weil  sie  bei  diesen  Leuten  das  objektive,  materielle  Substrat 
vermißte,  wie  ja  auch  der  Schriftsteller  seine  Subjektivität  verwertet, 
ohne  ein  äußeres  Dasein  als  ihr  Material  zu  nehmen,  von  der  Ver- 
wertung seiner  Innerlichkeit  lebt,  ohne  sich  auf  die  reale  Arbeit 
mit  der  Materie  einzulassen,  wie  der  Fabrikant.  Aber  die  Fabrikanten 
sind  entweder  Gauner  im  Stoff  (denn  Gauner  ist  überhaupt  dies: 
sich  seine  Innerlichkeit  bezahlen  zu  lassen)  oder  die  Abenteurer 
sind  revera  Industrielle.  Der  Geist  der  Subjekte  selbst  also  wird  von 
ihnen  genommen  als  Material,  und  sie  zeigen  daran  ihre  subjektive 
bearbeitende  Kraft.  Sie  packen  die  Leute  bei  ihrer  Substanz,  Glauben, 
Lust,  Ehrgeiz,  Begeisterung  und  wirtschaften  nach  Herzenslust  mit 
diesen  Faktoren  der  Menschheit.  (Man  lese  Casanovas  Memoiren, 
Großkophta  etc.)  Das  Tun  dieser  Subjekte  ist  aber  darum  so  erbärm- 
lich imd  eitel,  weil  es  substanzlos  ist.  Ich  bin  kein  St.  Germain,  kein 
Casanova,  bin  kein  Cagliostro.  Ich  bin  Diener  und  Herr  des  Begriflfs, 
Priester  des  Gotts,  der  ich  selber  bin  und  bin  Mann  des  Wissens  und 
seines  Ernstes.  Jene  waren  frivole  Subjekte,  und  wie  ihr  Kampf 
ihr  höchstes  Recht  war,  so  war  er  ihr  höchstes  Unrecht  zugleich,  sie 
kämpften  für  ihr  frivoles  Gelüst,  für  die  inhaltlose  unwahre  Lust 
ihres  kleinen  besondern  Daseins.  Dem  opferten  sie  auf,  was 
für  sie  selbst  die  substantielle  Macht  war.  Ich  bin  Träger  und 
Apostel  einer  Gottesidee  und  habe  die  Pflicht,  mich  der  Erfüllung 
imd  Realisation  dieses  substantiellen  Inhalts  zu  weihen.  Was  ich  tue, 
weiß  ich  als  sittliche  Forderung  des  Begriffs.  Jene  Männer 
hatten  zu  ihrer  Waffe  nichts  als  den  kleinen  Betrug;  ich  schwinge  die 
Waffe  des  Zeus,  den  Blitz  des  Wissens.  Der  Erfolg  jener  Männer  war 
darum  so  klein,  weil  sie  in  demselben  Standpunkt  befangen,  von 
diesem  Standpunkt  aus  gegen  ihn  kämpften.  Siegreich  bezwungen 
kann  er  nur  werden  von  dem  höhern  Standpunkt  der  Substanz  aus,  von  dem 
ich  herunter  kämpfe.  Weil  ich  —  durch  das  Wissen  —  diesen  Standpunkt 
verlassen  habe,  bin  ich  Herr  über  ihn,  denn  ich  kenne  seinen  sich  selbst 
verborgnen  Geist,  seine  ihm  selbst  verborgne  Wahrheit.  Ein  jeder  Stand- 
punkt kann  mit  Erfolg  nur  von  einem  neuen  höhern  bekämpft  werden. 
Durch  ihre  Substanzlosigkeit,  durch  das  Fehlen  eines  substantiellen 
realen  Zweckes,  geben  jene  Männer  ein  bei  allem  Interesse  doch 
hohles  Schauspiel,  aus  demselben  Grunde  geht  ihr  Erfolg  nicht  ins 
Große  und  Dauernde,  wie  ihr  Kampf  nicht  der  systematische  ist.  — 


—  230  -- 

Und  noch  eine  Waffe  lege  ich  an  und  muß  ich  anlegen,  die  ich  oben 
schon  hätte  anführen  sollen.  —  Als  ich  oben  mich  rüstete  zum  Kampfe 
mit  dem  Weltlauf  und  die  Siegesgewißheit  hatte  an  dem  stolzen  Urteil : 
Das  Fürsichsein,  das  Denken  ist  alle  Realität  und  Sein;  als  ich  dem 
Sein  mit  diesem  Urteil  alle  eigne  Selbständigkeit  gegen  mich  nahm 
und  nun  in  den  Kampf  schritt,  um  diese  Bedeutung  des  Seins  (nämlich 
die,  daß  es  nur  das  Meine  und  keine  Instanz  gegen  mich  sei)  aufzu- 
zeigen, —  da  mußte  ich  erst  untersuchen,  ob  ich  das,  was  ich  an  der 
äußern  Realität,  Welt,  dar  tun  wollte,  auch  an  meiner  eigensten  Reali- 
tät, meiner  Leiblichkeit,  bewahrheitet  habe.  Wenn  ich  das  Urteil 
bewähren  wollte  gegen  alle  äußere  Realität,  mußte  ich  es  zuerst  an 
meiner  eignen  eigensten  subjektiven  Realität,  an  meinem  Körper  be- 
währt haben,  bewährt  haben  an  ihm  das  Urteil,  daß  alles  Dasein  nichts 
für  sich  eignes  und  nur  das  Sein  des  Gedankens  sei.  Und  ich  brach 
den  Trotz  meines  Körpers.  Ich  hob  auf  den  Unterschied  zwischen  ihm 
imd  meinem  Willen,  raubte  ihm  jede  Eigenheit  und  selbständige  Physio- 
gnomie, alles  Feste  in  ihm  mußte  flüssig  werden  und  widerstandslos 
sich  gewöhnen,  zu  empfangen  den  Stempel  des  Gedankens. 
Aus  einem  selbsteignen  Dasein,  das  er  sein  wollte,  setzte  ich  ihn  herab 
zumDaseinmeines  Willens,  zwang  ihn,  der  Widerschein  nur  zu  sein 
meines  gewollten  Innern.  Ich  —  wurde  Schauspieler,  plasti- 
scher Künstler,  meine  ganze  I^iblichkeit  ist  das  Dasein  meines 
Willens,  der  Ausdruck  der  Bedeutung,  die  ich  in  sie  lege.  Der  zitternde 
Ton  meiner  Stimme  und  der  leuchtende  Glanz  meines  Auges,  jedes 
Zucken  der  Miene  hat  knechtisch  und  in  unimterbrochner  Flüssigkeit 
wiederzugeben  das  Gepräge,  das  ich  ihm  aufdrücke,  die  Leidenschaft, 
von  der  ich  will,  daß  sie  grade  jetzt  mich  belebe,  durchleuchte,  die  Seele, 
von  der  ich  will,  daß  sie  jetzt  aus  mir  spreche.  Ich  hab'  es  an  mir  wahr 
gemacht,  daß  das  Sein  nur  das  Sein  des  Gedankens  sei,  und  so  schnell 
wie  der  Gedanke  wechselt,  so  schnell  muß  mir  wechseln  mein  Körper, 
der  Schein,  der  aus  ihm  spricht.  Von  Kopf  bis  zur  Zeh'  bin  ich  nichts 
als  Wille,  und  Schlafen  und  Wachen  gilt  mir  gleich.  Arnold  mag  es 
Dir  sagen,  Klex;  er  fürchtete  sich  einst,  als  er  sah,  wie  kein  Haar  Sein, 
kein  lyOt  Fleisch  an  mir  wäre  und  alle  diese  feste  Weiblichkeit  nur  der 
selbstlose  Widerschein  des  gesetzten  durchleuchtenden  Innern;  halb  im 
Scherz,  halb  im  ernsthaften  Grauen  nannte  er  mich  den  ,, wandelnden 
Tod".  So  habe  ich  getilgt  in  mir  selbst  alles  feste  selbsteigne  Sein,  es 
bewährt  an  mir,  daß  das  Sein,  die  Realität  nur  die  tmselbständige 
Existenz  des  Fürsicliseins  ist,  sein  Abdruck,  und  so  diese  Waffe  zu  den 
andern  fügend,  so 

Arm  in  Arm  mit  mir. 

So  fordr'  ich  mein  Jahrhundert  in  die  Schranken. 


=^  -  231  — 

Ich  habe  den  Willen  zur  Vernichtung  und  die  Mittel  dazu,  Weh  zu 
verbreiten  und  Unheil  über  die  Menschen,   die  mein  Atem  berührt. 
Mein  Füllhorn  ist  von  unheilsschwangerem  Bauch,  als  die  Büchse  der 
Pandora,  und  das  Unglück  haftet  sich  an  meine  Ferse,    Herakht  sagt: 
,,Der  Weise,  ob  Gott,  ob  Tier  —  der  von  allen  Getrennteste."    Dieser 
Tiergott  stehe  ich  da  und  schaue  nicht  meinesgleichen.    Was  wollen 
die  übertätigen  Menschenkinder?    Aber  dies  mein  Vemichtungsrecht 
gilt  nur  gegen  das  Sodom  und  Gomorra  der  gott-  und  substanzlosen 
Welt.  —  Nur  ein  Band  gibt  es,  aber  ein  Band  gibt  es  auch,  das  mich 
fesselt  ■ —  gleiche  Beteiligung  an  der  Substanz,  Priester  zu  sein  des- 
selben Begri£fs,  der  Ernst  für  das  Wissen,  der  Eifer  für  die  Negation. 
Gegenwärtig  hänge  ich.  außer  daß  ich  meinen  Vater  liebe,  mit  keinem 
als  mit  Euch  zusammen.    Aber  wer  mich  an  der  Seite  der  Substanz 
packt,  der  hat  mich  dauernd  gepackt.    So  war's  mit  Arnold.    Als  ich 
Dich,  Klex,  kennen  lernte,  schätzte  ich  Dich  ab  wie  ein  Ding,  wie 
jeden  Menschen,   nach  meinem   Grundsatz.    Aber  ich  empfand  eine 
wahrhaft  sitthche  Freude,  als  ich  sah,  daß  das  Ding  wahrhaft  ein 
Ich  sei.    Wer  das  Pathos  der  Substanz  hat,  hat  auch  die  Mission  der 
Propaganda.    Bei  Dir  aber,  Klex,  war  es  nicht,  wie  bei  Arnold  mein 
aktives  Auftreten,  was  Dich  heranzog,  es  war  Deine  rein  eigne  Selbst- 
tätigkeit, die  den  Eifer  in  Dir  weckte  nach  der  Substanz  des  Wissens, 
diesem  wahrhaften  Dasein  des  Menschen  und  Dich  erlöste  aus  dem 
zeitlichen  Fegefeuer  eines  zwecklosen  blasierten  Daseins.  — 

Da  habt  Ihr  nun  mein  Kriegsmanifest  gegen  die  Welt,  und  wenn 
Ihr  mit  mir  einverstanden  seid,  so  unterschreibt  es.  Wer  aber  jetzt 
mit  mir  Vainquons!  ruft,  —  der  weiß  wenigstens  den  ganzen  Inhalt 
dieses  kleinen  Worts.  — 


56. 
ARNOLD  MENDEIvSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

[Berlin,   18.  9.  45.] 

Dein  Brief  ^)  ist  von  Dir,  das  ist  genug.  Isolani  *)  wird  Dir  in  Versen 
sagen,  was  es  für  einer  ist,  Klex  will  Dir  nicht  sogleich  antworten, 
sondern  ihn  noch  lesen  und  wieder  lesen.  Wir  sprachen  nach  der  Lesung 
über  Dich,   Deine   Familie,   endlich   über  den  kommenden   Zustand; 


^)  Der  vorige  Brief  Nr.  55,  das  „Kriegsmanifest  gegen  die  Welt". 
2)  Isolani  ist  der  Name,  den  Albert  I^ehfeldt  bei  den  Raczeks  geführt  hatte 
lind  der  ihm  nun  auch  bei  den  Berliner  Freunden  verblieb. 


z=.==^=  232  =—   

Du  weißt,  daß  ich  dabei  ins  Feuer  gerate,  und  so  wurde  eine  solche 
Stimmung  unter  uns,  daß  Klex,  der  phlegmatische  Klex,  mit  einem 
Seufzer  sagte,  ich  wünschte,  es  ginge  morgen  los  statt  übermorgen,  und 
sich  eifrigst  danach  erkundigte,  wo  Weitlings  Garantien,  von  denen 
ich  ihnen  erzählt  hatte,  zu  haben  wären.  Sein  Brief  an  Dich  wird 
Dich  über  sein  Werden  näher  belehren,  Du  magst  daraus  abnehmen, 
daß  er  schon  reif  ist  zu  pflücken  und  gepflückt  zu  werden,  ob  er  willens 
sein  wird,  eine  Armee  ins  Feld  zu  stellen,^)  denn,  so  wie  ich  glaube,  ist  er 
es  imstande,  da  seine  Familie  außerordentlich  viel  auf  ihn  hält.  Er 
ist  nur  bekannt  als  ein  höchst  verständiger,  höchst  solider  Mensch, 
nicht  wie  ich,  als  ein  zwar  geistreicher  aber  etwas  hirnverbrannter 
Schwärmer.  Doch  Du  wirst  ja  sehen,  wie  es  ist  und  wirst  das  Rechte 
tun.  Könntest  Du  dadurch  zu  Michaehs  schon  herkommen  (Klex 
sagte  vor  dem  Zubettegehen,  ich  bin  sehr  begierig,  ob  er  kommen  wird 
oder  nicht,  es  scheint  mir,  daß  er  nicht  kommen  wird,  obgleich  er  bei 
seinem  Hiersein  es  sicher  zu  wollen  schien)  oder  kämst  Du  auf  eigne 
Kosten  her.  Du  würdest  nicht  noch  einmal  dieser  Stadt  den  Rücken 
wenden  müssen,  schon  Klex  würde  das  nicht  zugeben,  und  ich  bin  auch 
nicht  mehr  so  dumm  wie  ich  war,  daß  ich  Dein  Tun  auf  den  zähen 
alten  Joseph  anstatt  auf  Paul  oder  einen  andern  meiner  reichen  Ver- 
wandten oder  Bekannten  hinleitete.  Doch  was  soll  ich  da  lange  hin 
und  her  schreiben.    Du  wirst  tun,  wie  Du  Macht  hast. 

Dieser  Tage  griff  ich  mir  in  der  I/Ogik  vor  und  las  das  Leben,  [um] 
dem  Klex  das  Kapitel  Beobachtung  des  Organischen,  worin  Hegel 
die  göttliche  Gabe  derUndeutlichkeit  in  hohem  Grade  ausübt,  genügend 
zu  erklären.  Ich  verstand  natürlich  das  Kapitel  in  der  Logik  voll- 
kommen, aber  was  das  beste  dabei  war,  ich  sah  die  folgenden  Kapitel 
voraus,  und  mir  fiel  dabei  besonders  Fouriers^)  Lehre  von  der  Berechti- 
gimg der  Triebe  ein.  Denn  der  Mensch  ist  Trieb  als  das  Lebendige,  als 
der  seiende  Begriff,  die  seiende  Negativität;  so  ist  er  das  Tier,  das 
Fürsichsein,  welchem  das  Sein  die  Bedeutung  des  Negativen  hat,  er 
ist  die  Begierde,  die  das  Sein,  das  ihr  andre,  nur  zerreißt,  nur  vernichtet, 
weil  sie  nur  so  für  sich  wird,  was  sie  an  sich  ist,  weil  sie  nur  das  ist, 
sich  zu  setzen.  Aber  der  Mensch  hat  sich  im  Prozeß  der  Geschichte 
als  das  gesetzt,  was  er  an  sich  ist,  er  hat  den  Trieb  verwirklicht,  hat 
ihn  gegenständlich  erzeugt,  d.  h.  er  weiß  sich  als  die  seiende  Negativität. 
Somit  ist  er  nicht  mehr  bloß  Trieb,  nur  die  seiende  Negativität,  sondern 
er  ist  die  Negativität  als  Negativität,  das  sich  seiner  bewußte,  das  freie 

^)  In  der  Sprache  der  Freunde  hieß  dies:  Geld  zur  Verfügung  zu  stellen. 
Auch  von  Truppenmangel,  Entsendung  von  Detachements,  Brandschatzungen, 
Schlachtfeld,  Feldzug  usw.  sprechen  sie  in  der  gleichen  Bedeutung. 

^)  F.  M.  Ch.  Fourier  (177-? — ii''37).  der  berühmte   französische  Soziahst. 


■^:-: _  233  = 

Erkennen,  der  Trieb;  diese  einzelne  seiende  Negativität  ist  das  All- 
gemeine, ist  sich  seiner  bewußt,  ist  Bewußtsein  geworden.  Dies  im- 
gefähr,  dachte  ich  mir,  mag  der  Gedanke  sein,  der  Fourier  zu  der  lychre 
von  der  Berechtigung  der  Triebe  brachte,  imd  ich  beschloß,  ihn  zu 
lesen.  Der  ganze  Kerl  ist  mir  so  durchsichtig  (ich  habe  angefangen, 
ihn  durchzublättern)  und  bei  aller  Rudität  seines  Denkens  so  interessant, 
daß  ich  die  größte  Lust  habe,  über  ihn  etwas  zu  schreiben  .  .  .  Warum 
ich  Dir  eigentlich  dies  alles  schreibe,  möge  der  und  jener  wissen,  ich 
weiß  es  nicht,  aber  ich  habe  es  eben  schreiben  müssen,  weil  ich  es  ge- 
schrieben habe,  weil  ich  augenblicklich  nichts  anderes  denken  kann 
als  Deinen  Brief.  So  ersehe  ich  in  dem,  was  ich  eben  wahrscheinlich 
nicht  gut  und  systematisch  geschrieben  habe,  auch  den  Grund  davon, 
daß  der  Gegenstand  immer  erst  zu  seiner  extremsten  Form  gediehen 
sein  muß,  ehe  er  in  sich  zurückgehen  kann  oder  daß  die  reine  Form 
erst  Inhalt,  Substanz,  Zeitidee  geworden  sein  muß,  ehe  sie  als  solche 
erkannt  werden  kann.  Es  ist  eben  das,  daß  das  Ich  erst  als  Substanz, 
als  Sein  sich  gegenständlich  geworden  sein  muß,  ehe  die  Substanz, 
das  Sein  als  Ich  erkannt  werden  kann.  Es  ist  die  Natur  des  Begriffs, 
der  reinen  Negativität,  sich  in  sein  absolutes  Gegenteil  abzustoßen, 
d.  h.  sich,  der  die  reine  Form  ist,  als  Sein  zu  setzen,  nur  so  ist  das  Sein 
das  seinige  .  .  .  Nun,  ich  bete  zur  absoluten  Idee,  zu  Dir,  Klex  und  mir, 
sie  möge  Dir  einige  lumpige  tausend  Taler  verschaffen,  daß  Du  her- 
kommst und  uns  in  der  Geschichte,  in  ihren  Einzelnheiten  die  göttliche 
Natur  des  Begriffs  imd  sein  Tun,  was  wieder  ein  und  dasselbe  ist,  nach- 
zuweisen; wir  werden  zu  Deinen  Füßen  den  Worten  Deines  Mundes 
lauschen,  wie  die  Tiere  des  Waldes  den  Tönen  von  Orpheus  I^eier,  Du 
weißt,  auch  die  Bäume  des  Waldes,  ja  die  Steine,  glaube  ich,  horchten 
ihm  zu,  aber  die  Tiere  allein  konnten  ihm  folgen  auf  seinen  Wegen, 
denn  es  ist  ein  Geschenk  der  Gottheit,  daß  sie  sich  losgerissen  haben 
von  der  Erde  und  frei  ihrem  Triebe  folgend  sich  bewegen. 

Dein  Arnold. 


57. 
ALEXANDER  OPPENHEIM  AN  LASS  ALLE.    (Original.) 

Berlin,   19.  Sept.  1845. 

.  .  .  Du  hast  uns  Dein  Wissensbekenntnis  ^)  übersandt.  —  Gleich  im 
Anfang  imsrer  Bekanntschaft  —  das  Bekannt-sein  darf  nicht  als  das 


^)  Siehe  oben  Nr.  55. 


—  =  234 

Sehen  der  Physiognomie  und  Kennen  des  Namens  verstanden  werden  — 
war  mir  wohl  klar,  daß  Dein  Handehi  nicht  I^aune  war,  daß  Deine 
Handlungen  nicht  eine  zufällige  Willkür  verwirklichten.  Wir  haben 
aber  nie  über  Deine  Persönlichkeit  miteinander  gesprochen,  vielmehr 
war  ich  darauf  beschränkt,  sie  mir  selbst  zu  konstruieren.  In  Deinem 
Briefe  hast  Du  sie  nun  mir  klar  und  vollständig  dargelegt,  funditus; 
hast  mich  in  den  Stand  gesetzt,  jede  Deiner  Handlimgen  zu  begreifen, 
da  ihre  Seele  der  Begriff  ist;  und  ich  stimme  mit  meiner  ganzen  Leib- 
Seele  in  den  Ruf  ein:  vainquons.  Ich  bin  schuldig,  Dir  zu  zeigen,  wie 
d.  i.  daß  ich  Dich  begriffen  habe.  Dies  vermag  ich  für  jetzt  nicht. 
Ich  sträube  mich  dagegen,  erst  zu  urteilen,  dann  zu  fassen;  der  Inhalt 
Deines  Briefes  ist  mir  aber  noch  nicht  sattsam  geläufig,  ich  bin  noch 
zu  wenig  einheimisch  in  dem  gewölbten  Hause  der  Philosophie,  als 
daß  ich  darlegen  wollte,  was  davon  auch  mir  gehört.  Die  Bemerkung 
mag  schon  jetzt  hier  einzeln  ihren  Platz  finden,  daß  ich  den  Punkt, 
der  die  Mittel  betrifft,  mittelst  deren  der  Kampf  zu  führen  und  zu 
glorreichem  Ende  zu  führen,  in  manchem  Betracht  noch  am  wenigsten 
überwunden  habe.  Dies  ist  aber,  wie  gesagt,  nur  der  Ausdruck  eines 
unmittelbaren  sentiments;  der  Inhalt  dieser  Bemerkung  ist  noch  roh 
und  muß  erst  durchs  Denken  verarbeitet  werden,  womit  er  alsdann 
eine  bestimmte  Form  erhalten  oder  schwinden  wird  .  .  . 


58. 
AIvBBRT  LEHFELDT  AN  I,ASSAIJ,E.     (Original,) 

Berlin,  19.  September  1845, 
d.  h.  am  zweiten  Tage  nach 
Empfang  Deines  Briefes;  - — 
des  Briefes,  von  dem  der  Dichter 
sagen  würde:  O  Du  Brief! 

Ich  suche  vergebens,  welchen  von  Deinen  Titeln  ich  wohl  als  An- 
rede in  meinem  Heutigen  gebrauchen  könnte,  und  finde  keinen!  Ich 
erlaube  mir  deshalb,  ihn  folgendermaßen  zu  beginnen: 

Großer  General, 
Feldherr  des  Geistes! 

Wenn  ich  mir  nicht,  was  einem  vollkommenen  Gentleman  tmerläß- 
lich  ist,  abgewöhnt  hätte,  über  irgend  etwas  zu  erstaunen  —  ich  wäre 
erstaimt  über  Deinen  Brief  ^)  —  Brief?  O  wie  pauvre  klingt  dies  Wort  — 
Schreiben  —  nein!    Epistel!   —  nein!   ich  will  sagen  über  Dein    ge- 


^)  Siehe  oben  Nr.  55. 


==^ =  335  =^ 

schriebenes  Ereignis,  oder  über  Dein  briefliches  Glaubensbekennt- 
nis, oder  über  Dein  in  Form  eines  Briefes  erlassenes  Manifest  —  wenig- 
stens: über  Deinen  Brief brief,  gewissermaßen  (Brief)  4!  — 

Ich  bin  es  gewohnt,  die  gewöhnlichen  Maßstäbe  an  Dir  vergebens 
zu  versuchen ;  so  wird  es  auch  bald  mit  der  Sprache  werden.  Wir  werden 
müssen  verschiedene  neue  Worte  für  Dich  erfinden ;  —  heute  wenigstens 
klingt  mir  meine  Prosa  etwas  mager  für  Dich:  ich  werde  deshalb  wenig- 
stens in  gebundener  Rede  fortfahren: 

Beim  Glühwein  gestern  Abend  las  uns  Arnold  den  gewaltigen, 

Den  briefigsten  der  Briefe,  den  enormen  ungestaltigen. 

Wir  saßen  wie  Apostel  da  und  hingen  ihm  am  Munde, 

Es  war  das  Evangelium  vom  allcrneusten  Bunde; 

Es  war  von  dem,  was  kommen  wird,  die  wunderbare  Kunde, 

Es  war  vom  nächsten  Kriegeszug  der  Wacheruf  der  Runde, 

Es  war  die  Analysation  der  großen  Zeitenwunde, 

Es  war  ein  großes  lychrgedicht :  vom  Wuchern  mit  dem  Pfunde! 

Jetzt  bin  ich  alle  Reime  los,  bloß  Hrnide  nicht  und  Stunde;  — 

Nun!  —  Als  der  Brief  zu  Ende  war,  da  schliefen  schon  die  Hunde, 

Vergangen  war  die  Mitternacht,  es  klang  die  erste  Stunde! 

Die  erste  Stunde,  ja,  bei  Gott,  wenn  klingt  die  erste  Stund', 

Der  Freiheit  erste  Stunde,  wann!?  wann  schlafen  alle  Hunde?! 

Daß  ich  nur  jetzt  es  sage  gleich,  es  war  mir  schier  verdrießlich, 

Was  Du  zu  meinen  scheinst,  der  Brief  war'  mir  wohl  ungenießlich. 

Ich  habe  ihn  von  Anfang  an  bis  an  das  End'  verstanden, 

Trotzdem  mein  gutes  Ich  noch  klebt  an  subjektiven  Banden. 

Wohl  weiß  ich,  was  es  heißen  soll:  daß  just  es  Ding  geworden 

Das  Fürsichsein;  und  daß  deshalb  man  rauben  darf  und  morden.  — 

Ich  habe,  wie  der  Dichter  stets,   etwas  von  Gottes  Gnaden, 

Und  Resultate  ohne  erst  mühvollen  Weg  zu  waden. 

Und  meinst  Du,  daß  mir  fehlt  deshalb  Diplom  und  auch  Berechtigung. 

Weil  ich  nicht  weiß,  warum  zum  Krieg  wir  haben  die  Ermächtigung? 

So  mein'  ich,  daß  der  Kampf  mir  ziemt,  schon  bloß  als  Proletarier  — 

Unmöglich  ist  der  Reim  hierauf  —  es  reimt  bloß  Proletarier!  — 

Auch  glaub'  ich,  keine  Zeit  wird  je  sein  wollen  ohne  Dichter, 

Drum  achte  meine  Existenz,  Erhabenster  der  Richter: 

Denn  wer  soll  einst,  wenn  Ihr  gesiegt,  Ihr  philosoph 'sehen  Ringer, 

Von  Eurer  neuen  Herrlichkeit  sonst  werden  der  Besinger? 

Drum  will  ich  so  wie  ich  es  kann  bei  Euren  Fahnen  streiten. 

Und  dann  Euch  den  Triumphgesang  des  neuen  Siegs  bereiten. 

Auch  kann  ein  jeder  wohl  mit  Müh'  aus  Stahl  ein  Schwert  sich  schleifen 

Und  mancher  wohl  mit  größrer  Müh',  Philosophie  begreifen. 


.__  236 

Doch  mit  der  allergrößten    Müh',  sich  nie  zum  Dichter  ringen, 
Wer  nicht  dazu  geboren  ward,  geboren  ward  zum  Singen!  — 

Den  Tag  nach  Deiner  Abreise  war  ich  bei  Stücker,  nachdem  er  mich 
nämlich  an  jenem  letzten  Mittag  im  Hotel  de  Brandenbourg  speziell 
dazu  aufgefordert.  Ich  traf  ihn  zu  der  festgesetzten  Zeit  nicht,  hinter- 
ließ meine  Karte  und  das  Gedicht.^)  Er  hat  sich  aber  weder  sehn  noch 
hören  lassen,  und  ich  kam  zu  der  Überzeugung,  daß  er  wohl  ein 
Flegel  sein  möchte  ... 


59- 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.    (Original.) 

Berlin,  22.  9.  45. 

.  .  .  Was  Klex  anbelangt,  so  bin  ich  begierig,  was  zwischen  Euch 
Schreibweise  vorgehen  wird;  ich  wünschte  sehr,  Du  könntest  hier  sein, 
weil  Du  alles  aus  ihm  machen  kannst,  ich  weniger.  Er  hält  zwar  viel 
auf  mich,  aber  ich  bin  ihm  doch  schon  gewöhnlich,  auch  hat  er  mich 
noch  nichts  im  sozialen  Krieg  vollbringen  sehn,  und  es  mag  ihm  die 
Sache  erscheinen,  daß  Du  wohl  fähig  sein  möchtest,  auch  etwas  zu  voll- 
führen, was  Du  Dir  vornimmst,  daß  ich  mir  aber  nur  Hirngespinste 
mache,  als  wäre  ich  Moor.  Natürlich  sagt  er  mir  nichts  dergleichen, 
aber  ich  merke  es.  Auch  ist  er  noch  nicht  genug  philosophisch  gebildet, 
um  Deinen  Brief  ^)  in  seinem  ganzen  Umfang  und  seiner  Tiefe  zu  verstehen 
und  ist  auch  daher  noch  nicht  mit  seinem  Willen  dabei.  Er  versteht 
sich  höchstens  dazu,  geschehen  zu  lassen  und  mit  seinem  Wissen  dabei 
zu  sein;  Du  würdest  nach  meiner  Meinung  auch  seinen  Willen  sehr 
bald  erobern.  Nach  Empfang  Deines  heutigen  Briefs,  den  ich  erst  las 
und  ihm  dann  gab,  kam  er  herein  zu  mir  und  sagte:  Wir  müssen 
doch  dem  Lassal  schreiben,  daß,  wenn  das  Geschäft  Mitte  November 
abgeschlossen  ist,  dies  keineswegs  zu  spät  ist  für  das  folgende  Semester. 
Ich  antwortete,  daß  Du  das  vielleicht  auch  schon  wüßtest,  daß  das 
Eintreten  eines  größern  Wechsels  daher  auch  wohl  von  einem  andern 
Umstände  abhängen  müsse;  jedenfalls  wollen  wir  es  ihm  schreiben, 
erwiderte  er.  Du  siehst,  daß  er  größern  Teils  uns  gehört,  daß  aber  bei 
ihm  das  fehlt,  wovon  ich  nicht  sagen  kann,  ob  es  bei  ihm  bleibende 

^)  Unbekannt  mit  Lassalles  Brief  an  Stücker  (s.  o.  Nr.  40)  feiert  Lehfeldt  hier 
den  Baron,  weil  er  ,,der  Mutter  Erde  sich  verbündet": 

,,Man  weiß  von  Herkules,  wer  sie  berühret, 
Dem  hat  sie  neue  Macht  stets  zugeführet!  — " 

2)  Siehe  oben  Nr.  55. 


—  237 

Naturbestimmtheit  sein  wird,  oder  ob  es  bisher  nur  durch  sein  Nicht- 
wissen und  dadurch,  daß  er  von  Anfang  an  Vermögen  hat,  hervor- 
gebracht ist,  nämlich  die  Negativität,  der  Trieb,  der  Zug  nach  dem 
andern.  Er  ist  nicht  lebendig,  ich  weiß  nicht,  ob  er  es  werden  wird; 
kann  ihm  einer  den  Odem  einblasen,  so  bist  nur  Du  es  ,  .  . 

d.  23. 

Gestern  fuhr  ich  mit  Klex  spazieren;  wir  kamen  aufs  Reisen  zu 
sprechen,  und  er  sagte,  ein  paar  Jahre  wolle  er  reisen,  und  zwar  ge- 
denke er  künftiges  Jahr  zu  beginnen;  es  ging  aus  dem  Gespräch  hervor, 
daß  er  nur  geblieben  sei  und  noch  bleiben  werde,  um  mich  nicht  zu 
verlassen,  daß  er  aber  abziehen  will,  sobald  er  mich  anderweitig  ver- 
sorgt sieht,  natürlich  wurde  dies  nicht  ausgesprochen.  Ich  zeigte  ihm, 
daß  er  jetzt  und  noch  längere  Zeit  ganz  ohne  Nutzen  und  somit  auch 
ohne  Vergnügen  reisen  werde,  daß  die  andern  Städte  und  Menschen 
mit  diesem  oder  jenem  Modifikatiönchen  eben  dieselben  seien,  daß  er 
aber  im  Begriff  sei,  vom  Baum  der  Erkenntnis  zu  essen,  daß  er  daher 
bald  dazu  kommen  werde,  ein  Leben  ohne  Tätigkeit,  d.  h.  Tätigkeit, 
die  etwas  tut,  die  Selbstbetätigung,  unerträglich  zu  finden;  ein  solches 
sei  aber  das  zwecklose,  sogenannte  Vergnügungsreisen,^)  wo  man  die 
äußern  Dinge  auf  sich  wirken  lasse,  ohne  sich  selbst  dagegen  tätig  zu 
verhalten.  Er  gab  mir  zu,  daß  er  vielleicht  auch  nur  kurze  Zeit  reisen 
werde.  Also,  Meister  über  die  Geister,  Du  siehst,  ich  arbeite  Dir  zweck- 
gemäß vor,  aber  ich  kann  Dir  auch  nur  vorarbeiten,  das  Vollbringen 
wird  Deine  Sache  bleiben.  Was  mir  besonders  noch  nicht  gefällt,  ist, 
daß  er  sich  bei  seinen  Juristicis  noch  nicht  so  ennuyiert,  wie  ich  mich 
bei  den  Medicinis  ennuyierte,  auch  daß  er  sich  selbst  und  auch  den 
andern  gegenüber  sich  noch  immer  für  denselben  hält,  der  er  war,  d.  h. 
die  Veränderung,  die  offenbar  vorgegangen  ist,  noch  nicht  merkt  oder, 
•wenn  er  sie  merkt,  nicht  merken  läßt.  Doch  vielleicht  ist  das  auch  sehr 
gut,  denn  er  ist  dann  um  so  gefährlicher  für  die  andern,  wenn  er  wirk- 
lich zum  Wissen  und  Willen  kommt,  wie  mir  das  nicht  mehr  zweifelhaft 
scheint.  Deinen  Brief  lasse  ich  noch  immer  in  seinem  Sekretär  liegen; 
ich  habe  gesehen,  daß  er  ihn  einmal  für  sich  gelesen  hat,  auch  werde 
ich  ihn  noch  einmal  mit  ihm  lesen,  denn  er  hat  die  ganze  Bedeutung 
desselben  noch  nicht  verstanden.  Nächstens  ein  mehreres  über  andre 
Dinger  (denn  so  lange  Klex  nur  aus  Gefühl,  aus  Gutmütigkeit  so  handelt, 
Avie  er  es  tut,  ist  er  eben  auch  noch  Ding,  welches  erst  Fürsichsein  zu 
■werden  hat). 

Dein  Arnold. 

^)  Vgl.  lyassalles  identische  Ansicht  darüber  in  dem  Brief  an  Joseph  Mendels- 
sohn Nr.  45. 


^^=:    238  — 

60. 

ARNOLD  MENDEivSSOHN  AN  I,ASSAI,IvE.     (Original.) 

[Berlin]  26.  ).  45. 

.  .  .  Im  Bett  fragte  er  ^)  mich,  wie  steht  es  mit  Deinem  Plan  zur 
Reise;  ich  sagte,  wie  Du  weißt,  nicht  gut,  Lassal  scheint  mit  Stücker 
etwas  gehabt  zu  haben  und  wird  daher  wohl  nicht  für  mich  von  ihm 
fordern.  Mit  Müller  geht  es  mir  auch  noch  nicht  gut  genug,  daß  ich 
mich  an  ihn  wenden  könnte.  ,,Mit  Deinen  Verwandten  wird  es  auch 
nichts  sein?"  Das  kann  man  noch  nicht  wissen,  wenn  I^assal  mit  ihnen 
zu  tun  bekommt,  so  erhält  er  auch  Geld  von  ihnen  für  mich. 2)  ...  Er 
fing  darauf  an,  aus  Dahlmanns  Geschichte  der  französischen  Revolution 
zu  lesen,  wo  Voltaire  angeführt  wird,  der  die  Revolution  voraussieht 
und  sagt:  Unsre  glücklichen  Kinder,  das  Spektakel  wird  ungeheuer 
werden,  wenn  ich  doch  noch  etwas  davon  erleben  könnte.  ,,So  wird 
es  uns  auch  gehen,"  sagte  Alexander,  ,,wir  können  auch  nur  wünschen." 
,,Oho,  der  Unterschied  zwischen  jenen  Ivcuten  und  uns  ist  sehr  klar. 
Du  vergißt,  daß  wir  Lassals  Stufe  D^j  sind;  jene  sahen  die  Revolution 
nur  als  notwendig  voraus,  wir  wissen  und  wollen  ihren  Inhalt,  wir 
werden  sie  machen;  wenn  wir  nur  erst  hier  fest  sitzen  und  Geld  haben, 
dann  wollen  wir  Berlin  wenigstens  bald  auf  den  Kopf  stellen."  Dies 
unser  Gespräch  .  .  . 


61. 
ARNOLD  MENDELSvSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  8.  10.  45. 

.  .  .  Du  schreibst,  Du  hättest  sollen  eine  Reise  nach  Paris  *)  machen ; 
Klex  sagte,  als  er  den  Brief  gelesen  hatte,  ich  solle  Dich  doch  darauf 
aufmerksam  machen,  daß  Du  zu  der  Reise  auch  600  Rt.  wenigstens 
brauchst  und  daß  Du  diese  lieber  dazu  verwenden  möchtest,  um  eben 
schon  künftigen  Monat  herzukommen.  Ich  machte  ihm  begreiflich, 
daß  Du  diese  Reflexion,  wenn  sie  in  der  Sache  läge,  wohl  selbst  machen 
würdest,   daß  es  daher  mit  der  Reise  nach  Paris  noch  eine  andre  Be- 


*)  Alexander  Oppenheim. 

2)  Vgl.  Lassalles  Briefe  an  Joseph  Mendelssohn.    S.  oben  Nr.  44  bis  51. 

^)  In  lyassalles  Philosophie  des  Geistes  ist  Stufe  D  ,,der  Geist,  der  sich  be- 
wußt ist  seiner  als  des  sich  zur  WirkUchkeit  entlassenen  und  diese  zu  sich  auf- 
hebenden Tuns". 

*)  I<assalle  trat  erst  im  Dezember  seine  erste  Pariser  Reise  an. 


==  239  — 

wandtnis  haben  müsse.  Vielleicht  seien  Geschäfte  damit  verbunden, 
sie  müsse  doch  ausgeführt  werden,  wenn  Du  sie  auch  nicht  machen 
wolltest.  Die  Ungeduld,  die  Du  hinsichtlich  der  Entscheidung  Deines 
Herkommens  hast  und  die  Du  als  fieberhaft  bezeichnest,  teile  ich  so 
sehr,  daß  ich  dadurch  mit  allem  andern,  was  mir  im  Kopf  herumgeht, 
außerstand  gesetzt  bin  zu  arbeiten,  intensiv  genug  Hegel  zu  lesen; 
dabei  nun  noch  Deinen  Umgang  entbehren  und  mich  nicht  für  tage- 
lange Gespräche  mit  andern  Menschlein  durch  ein  paar  Worte  mit 
Dir  zu  entschädigen,  hol'  mich  der  Teufel,  das  ist  hart.  Ich  habe  keine 
Freude  am  Manne  und  —  am  Weibe  erst  gar  nicht,  obgleich  usf. 
siehe  Hamlet.  Als  Du  gehen  wolltest  von  Berlin,  fragte  ich,  mit  wem 
soll  ich  denn  umgehen,  wenn  Du  fort  bist?  Häng'  Dich,  sagtest  Du, 
das  wird  das  Beste  sein.  Blasser  Schurk',  ich  sage  Dir,  wenn  Du  nicht 
bald  kommst  und  ich  ernstlich  unter  Deinen  Fahnen  fechten  kann, 
so  mache  ich  das  Wort  wahr,  obgleich  ich  mich  nicht  halb  so  gern 
hängen  möchte,  als  manche  andern  in  dieser  gottlosen  zähen  Welt. 
Gestern  war  Klex'  Geburtstag;  ich  habe  ihm  Sallets  ^)  Atheisten  und 
darüber  eine  Jakobinermütze  geschenkt,  und  einen  Brief  dazu  ge- 
schrieben .  .  . 


62. 

I.ASSAI.LE  AN  EINEN  UNBEKANNTEN.  Fragment.   (Konzept  von 
der  Hand  Ivassalles.) 

[Oktober  1845.2)] 

Was  wollen  Sie  eigen thch?  Kümmern  Sie  sich  nicht  um  Sachen, 
die  Sie  nichts  angehen.  Sie  haben  für  das  Wohl  der  Stadt  zu  sorgen, 
nicht  für  das  Wohl  des  Staates.  Das  ist  meine  Sache.  vSie  beschuldigen 
mich  der  Parteinahme  und  sind  doch  selbst  Partei!  Denn  Sie  sehen 
nur  auf  Reden  der  ChristHchkatholischen  ^)  imd  Lichtfreunde.  Wir 
stehen  als  Menschen  gleich,  Sie  aber  sind  Untertan,  imd  ich  bin  Herrt 
Ich  brauche  und  will  mich  von  gewöhnlichen  Menschen  nicht  bestimmen 
lassen.  Wissen  Sie,  was  Sie  zu  tun  haben?  Der  Obrigkeit  gehorchen, 
die  Gewalt  über  Sie  hat.     Ich  habe  diese  Gewalt  und  werde  sie  ge- 


1)  Des  schlesischen  Dichters  Friedrich  von  Sallet  (18 12 — 1845)  Schrift:  ,,Die 
Athaistea  aai  GDttlosen  unserer  Zeit"  war  erst  nach  seinem  Tode  1844  erschienen. 

2)  Dies  Konzept  steht  avif  demselben  Bogen  wie  das  zu  Lassalles  Brief  an 
Joseph  Mendelssohn  vom  Oktober:  „Mit  Bezugnahme  etc."    S.  oben  Nr.  49. 

^)  Das  Wort  ist,  wie  alle  Worte  dieses  Konzepts,  stark  abgekürzt.    Es  lautet 
im  Text:  Chrstkthlschn . 


-     240  : 

brauchen.  Das  versichere  ich  Sie.  Was  eine  allgemeine  Synode  be- 
trifft, so  werde  ich  sie  seiner  Zeit  berufen,  doch  auch  nur  dann,  wenn 
es  mir  gefallen  wird.    Ich  lasse  mir  nichts  abzwingen.^) 


63. 
ARNOIvD  MENDELSSOHN  AN  LASSAIvLE.     (Original.) 

Berlin,   17.  10.  45. 

Obgleich  ich  von  Tag  zu  Tag  glaube,  Dich  hier  ankommen  zu  sehn, 
weil  ich  gar  keine  Nachricht  von  Dir  erhalte,  so  will  ich  Dir  dennoch 
so  oft  schreiben,  als  etwas  Mitteilenswertes  vorhanden  ist.  Bethmann- 
Hollweg  ^)  wird  erster  vortragender  Rat  im  Ministerium  des  Kultus  und 
ist  dem  Gerücht  nach  als  der  Nachfolger  Eichhorns  designiert,  wenn 
derselbe  mit  der  Zeit  abgehen  oder  abgegangen  werden  sollte.  Er 
wird  also  eine  nicht  unwichtige  Persönlichkeit  für  Dich,  ganz  abge- 
sehen von  seinem  vielen  Gelde.  Zu  einem  jungen  Manne,  der  bei  ihm 
aß,  hat  er  gesprächsweise  einmal  gesagt:  Man  müsse  Gott  danken, 
wenn  man  täglich  trocken  Brot  zu  essen  habe.  Vielleicht  läßt  er  sich 
bestimmen,  uns  auch  Butter  auf  dasselbe  zu  liefern  .  .  . 


64. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  29.  10.  45. 

.  .  .  Doch  jetzt  einige  Worte  aus  dem  Reiche  Gottes;  Karl  Grün 
hat  ein  Buch  herausgegeben:  Die  soziale  Bewegung  in  Frankreich  und 
Belgien,^)  welches  ich  dieser  Tage  mit  großem  Vergnügen  gelesen  habe. 
Es  sind  Briefe  an  seine  Frau  und  Studien,  wie  er  es  nennt,  an  vielen 
Stellen  vorzüglich  geschrieben.    Du  weißt,  daß  ich  sehr  unbewandert 


^)  Über  Adressaten  und  Inhalt  dieses  Briefes  läßt  sich  nichts  irgendwie 
Sicheres  aussagen. 

2)  Moritz  August  von  Bethmann-Hollweg  {1795 — 1877),  der  namhafte  Jurist 
und  Politiker  war  1845  zum  Mitghed  des  Staatsrats  ernannt  worden.  Kultus- 
minister wurde  er  bekanntlich  erst  unter  der  neuen  Ära.  Von  ihm,  seinen  un- 
verheirateten Töchtern,  seinem  Reichtum,  zu  denen  die  Freunde  sich  irgendwie 
Zugang  verschaffen  wollten,  ist  in  diesen  Briefen  öfters  die  Rede. 

3)  Karl  Grün,  ,,Die  soziale  Bewegimg  in  Frankreich  und  Belgien".  Briefe 
und  Studien.     Darmstadt  1845. 


=  241  = 

bin  in  den  französischen  Zuständen,  und  das  Buch  war  mir  daher  durch 
die  Tatsachen,  die  es  enthält,  schon  sehr  interessant;  sowohl  diese, 
nämlich  die  Systeme  der  vSozialisten  und  Kommunisten,  als  besonders 
Grüns  Kritiken  wurden  mir  doppelt  interessant,  weil  ich  über  allen 
stand,  von  einem  Dir  nicht  unbekannten  Adler  zur  Sonne  getragen; 
ich  sah,  wie  diese  verschiedenen  Gestalten  des  Bewußtseins  die  Ge- 
burtsstätte des  Herrn,  des  Begriffs  umdrängten,  würde  Papa  Hegel 
sagen,  imd  wie  die  gewappnete  Pallas  dem  Haupte  des  Zeus  nächstens 
entsteigend  ihr  unwiderstehliches:  ,,es  werde  Licht"  in  das  Chaos  hin- 
einrufen wird.    Man  wird  die  Augen  ziemlich  aufreißen. 

Folgende  Stelle  muß  ich  Dir  joci  causa  abschreiben,  sie  ist  eine  von 
den  besseren,  hat  mich  aber  aus  guten  Gründen  besonders  angesprochen; 
Grün  kritisiert  Pierre  I^eroiix^)  und  dessen  Meinung  von  ScheUing  und 
Hegel  und  sagt: 

„Ihr  Franzosen,  laßt  den  Hegel  in  Ruhe,  bis  ihr  ihn  versteht.  Trinkt 
einmal  ein  Jahr  lang  keinen  Kaffee,  keinen  Wein;  erhitzt  Euer  Gemüt 
durch  keine  aufregende  Leidenschaft;  laßt  den  Guizot  regieren  und 
Algier  unter  die  Herrschaft  Marokkos  kommen ;  sitzt  auf  einer  Mansarde 
imd  studiert  die  Logik  nebst  der  Phänomenologie.  Wenn  Ihr  dann 
endhch  nach  Jahresfrist  mager  und  mit  rot  angelaufenen  Augen  in  die 
Straßen  herabsteigt  und  meinetwegen  über  den  ersten  Dandy  oder 
öffentlichen  Ausrufer  stolpert,  laßt  Euch  das  nicht  irren.  Denn  Ihr 
seid  mittlerweile  große  und  mächtige  Menschen  geworden.  Euer  Geist 
gleicht  einem  Eichbaum,  den  wimdertätige  Säfte  ernährten;  was  Ihr 
anseht,  das  enthüllt  Euch  seine  geheimsten  Schwächen;  Ihr  dringt 
als  erschaffene  Geister  dennoch  ins  Innere  der  Natur,  Euer  BHck  ist 
tötend.  Euer  Wort  versetzt  Berge,  Eure  Dialektik  ist  schärfer  als  das 
schärfste  Guillotinenbeil.  Ihr  stellt  Euch  ans  Hotel  de  Ville  —  und  die 
Bourgeoisie  ist  gewesen,  Ihr  tretet  ans  Palais  Bourbon  —  und  es  zer- 
fällt, seine  ganze  Deputiertenkammer  löst  sich  in  das  Nihilum  album 
auf,  Guizot  verschwindet,  Ludwig  Phihpp  erblaßt  zum  geschichtlichen 
Schemen,  und  aus  all  diesen  zugrunde  gegangenen  , .Momenten"  erhebt 
sich  siegesstolz  ,,die  absolute  Idee"  der  freien  Gesellschaft.  Ohne  Scherz, 
den  Hegel  könnt  Ihr  nur  bezwingen,  wenn  Ihr  selbst  vorher  Hegel 
werdet.  Wie  ich  schon  oben  sagte:  Moors  Gehebte  kann  nur  durch 
Moor  sterben." 

Leb  wohl,  Moor,  ich  küsse  Dich  zu  wiederholten  Malen  und  danke 
Dir,  daß  Du  Dich  und  mich  gemacht  hast. 

Dein  Arnold, 


^)  Pierre  I,eroux  (1797 — 1871),  der  französische  Sozialist. 

Mayer,  Lassalle-Ndchlass     I  l6 


:    242  : 

65. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  4.  ii.  45. 

.  .  .  Du  hast  mich  während  Deiner  hiesigen  Anwesenheit  gefragt, 
wohin  die  Logik  in  Deinem  System  zu  stehen  komme;  leider  habe  ich 
den  Bau  desselben  nicht  so  im  Gedächtnis,  wie  ich  sollte,  um  es  genau 
zu  wissen;  ich  denke  aber,  auch  sie  steht,  wie  alles  bei  Dir,  begrifflich 
tmd  historisch  auf  derselben  Stelle,  also  am  Ende  von  Stufe  C  oder 
Anfang  von  Stufe  D.^)  Es  ist  die  begriffene  Auflösung,  der  Schlüssel  der 
vorhergehenden  Welten  tmd  das  ewige  Naturgesetz  der  dann  folgenden 
ungehemmten  Verwirklichung  des  Subjekts,  das  Wissen  des  ersten 
absolut  wissenden  Subjekts,  die  zum  Wissen  von  sich  herausgearbeitete 
Stufe  B  und  C.  Doch  ich  quäle  mich  vergebens,  ich  werde  es  doch 
nicht  sagen,  wo  sie  hinkommt,  ich  will  es  lieber  verschweigen ;  Du  bist 
daher  auch  ganz  sicher,  daß  ich  es  keinem  andern  sage  und  ein  Plagia- 
rius  an  Dir  werde.  Meinem  Schwager  habe  ich,  als  er  mich  fragte,  ob 
ich  deim  ein  philosophisches  System  hätte,  geantwortet:  Ja,  Dir,  aber 
auch  nur  Dir  werde  ich  vorläufig  antworten:  Nein. 

Dieser  Tage  las  ich  ein  Buch  von  Friedrich  Engels,  dem  einen  Vater 
„Der  heihgen  Famihe",^)  ,,Die  Lage  der  arbeitenden  Klassen  in  England," 
ein  recht  verdienstliches,  mühsames  Werk;  er  hat  es  mit  einer  engHsch 
geschriebenen  Dedikation  den  englischen  Arbeitern  gewidmet;  es  hat 
mich  zum  Überiluß  in  meiner  Wut  bestärkt,  in  meinem  Grimm  ge- 
stählt, ich  habe  das  Herz  pochen  für  das  Wohl  der  Menschheit  gefühlt, 
welches  nicht  in  den  Wahnsinn  des  Eigendünkels  übergeht,  sondern 
als  der  ruhige  Zorn  des  Wissens  die  Zeit  des  Hervorbrechens,  des  Seins 
erwartet.  Übrigens  ist  es  unmöglich,  daß  es  in  England  noch  lange  Zeit 
bei  dem  verdeckten  sozialen  Kriege  bleibt,  der  sich  nur  von  Zeit  zu 
Zeit  durch  dieTurn-outs  der  Arbeiter  oder  durch  einzelne  Demolierungen 
von  Fabriken  usf.  in  einen  offnen  verwandelt,  die  Chartisten  sind, 
wie  das  Buch  zeigt,  in  gewaltiger  Anzahl  vorhanden,  gewinnen  täglich 


^)  Lassalles  Skizze  seines  philosophischen  Systems  ist  ein  überaus  schwer  ent- 
zifferbares, von  schwierigen  Abkürzungen  wimmelndes  Manuskript.  Das  System 
besteht  aus  vier  Hauptstufen,  die  sich  zum  Teil  noch  in  Unterstufen  und  diese 
wiederum  in  Unter-unterstufen  gliedern. 

2)  ,,Die  heihge  Famihe",  die  bekannte  Streitschrift  von  Marx  und  Engels  gegen 
den  bei  der  Ideologie  verharrenden  Flügel  der  Junghegelianer,  namentlich  gegen 
Bruno  und  Edgar  Bauer,  war  Anfang  1845,  Engels  ,,Ivage  der  arbeitenden  Klassen 
in  England"  einige  Monate  später  erschienen.  Leider  besitzen  wir  keinerlei  Äuße- 
rungen Lassalles,  die  uns  belehrten,  inwieweit  er  diese  und  die  anderen  Schriften  und 
Aufsätze,  die  Marx  und  Engels  bis  dahin  veröffentUcht  hatten,  damals  schon 
kannte. 


^=^  243  -—  == 

an  derselben  und  wissen  vollkommen,  was  sie  wollen  und  was  sie  zu 
tun  haben,  um  es  zu  erreichen.  Im  März  44  legten  40  000  Kohlen- 
gräber den  Kohlenkönigen  einen  Vertrag  durch  eine  Deputation  vor, 
den  sie  sich  von  ihrem  Agenten  (dem  sie  jährlich  1200  Pf.  St.  bezahlen) 
hatten  aufsetzen  lassen,  und  da  die  Könige  sagten,  sie  hätten  es  nur 
mit  einzelnen  Arbeitern  zu  tun  und  erkennten  die  Verbindung  nicht 
an,  so  legten  die  40  000  ihre  Hacken  nieder;  jeder  bekam  aus  den  Fonds 
der  Gesellschaft  2V2  Sh.  wöchentlich  für  einige  Monate.  Mit  welcher 
Grausamkeit  die  Könige  ihre  Gegenmaßregeln,  welche  sie  durch  das 
Truck-  und  das  Cottagesystem  in  der  Gewalt  haben,  in  Ausführung 
brachten,  ist  interessant,  noch  viel  interessanter  die  Siege,  welche 
Roberts,^)  ihr  Agent,  erfocht.  Es  kam  so  weit,  daß  man  Kohlen  aus 
.Schottland  nach  Newcastle  bringen  mußte  (to  carry  coals  to  New- 
castle  heißt  Hunde  nach  Bautzen  führen).  Sie  wurden  endlich  doch 
besiegt,  dies  hat  aber  gar  nichts  zu  sagen,  denn  sie  sind  hierdurch  aus 
ihrer  lyCthargie  aufgerüttelt  worden,  sind  erklärte  Chartisten  geworden, 
woran  sie  früher  nicht  dachten  (40  000  so  auf  einmal  ist  eine  gesunde 
Anzahl),  und  Roberts  wurde  von  einer  andern  Assoziation  engagiert. 
Denn  das  Schönste  bei  der  Sache  ist,  daß,  als  die  liberale  Bourgeoisie 
die  Reformbill  ^)  durchsetzen  wollte,  sie  ihre  Arbeiter  zum  Stimmgeben 
brauchte  und  in  ihrer  gottverlassnen  Dummheit  eine  Bill  durchsetzte, 
welche  die  Arbeiterassoziationen  gesetzlich  machte,  so  daß  der  sich 
immer  mehr  verallgemeinernde  Krieg  der  Arbeiter  gegen  die  Mill -Lords 
vollkommen  organisiert  tmd  gesetzlich  garantiert  ist.  Da  ich  nicht 
weiß,  wie  viel  Du  von  den  dortigen  Verhältnissen  kennst  imd  ob  Du 
das  Buch  von  Engels  gesehen  hast,  so  will  ich  Dir  noch  ein  Gedicht 
abschreiben,  welches  die  Ansicht  der  Fabrikarbeiter  ausspricht;  die 
Form  ist  interessant,  es  klingt  zuweilen  ein  Reim  in  einen  einzelnen 
Vers  hinein,  Mitte  und  Ende  reimt,  es  ist  dies  die  alte  englische  Balladen- 
form; z.  B.  im  Byron: 

Beware,  beware,  of  the  black  friar 

Who  sitteth  by  Norman  stone 

For  the  mutters  his  prayer  in  the  midnight  air 

And  his  mass  of  the  days,  that  are  gone  usf. 

Wahrscheinlich  geht  das  ganze  Gedicht  im  Englischen  so,  Engels 
hat  es  in  seiner  Übertragung  nur  zuweilen:     [Hier  folgt  die  Abschrift 

1)  Der  Advokat  W.  T.  Roberts  aus  Bristol.  Vgl.  hierzu  bei  PYiedrich  Engels 
a.  a.  O.    2.  Auflage.     Stuttgart  1892.     S.  256  ff. 

^)  Die  Reformbill,  die  das  Wahlrecht  zum  Unterhaus  auf  eine  bedeutend 
breitere  Basis  stellte,  war  nach  langen  Kämpfen  in-  und  außerhalb  des  Parlaments 
im  Juni  1832  Gesetz  geworden. 


des  Gedichts  „König  Dampf",  vgl.  Friedrich  Engels,  Die  Lage  der 
arbeitenden  Klasse   in  England,    2.  Aufl.,  Stuttgart  1892,  S.  188 f. ^j]. 

Was  meinst  Du  zu  dieser  Arbeitermarseillaise  ?  Ist  sie  nicht  schöner 
und  wahrer  wie  Gottschalls  Bauernlied  im  Thomas  Münzer,  was  Dir. 
so  gefiel?  Und  doch  ist  das  I/ied  von  einem  Arbeiter  Edward  P.  Moad 
in  Birmingham.  Wunderbar,  wunderbar,  sagt  ein  Schulmeister  in 
einem  Scottschen  Roman  .  .  . 

Schreibe  Du  mir  nur  auch  bald  einmal  wieder,  wenn  Du  auch  noch 
keine  besseren  Nachrichten  mitteilen  kannst;  ich  empfehle  Dir  das  Buch 
von  Karl  Grün,  Dich  etwas  zu  unterhalten,  ist  es  gut  genug.  Du  weißt, 
ich  muß  viel  von  einem  Buche  halten,  wenn  ich  es  für  so  viel  halte. 
Leb  wohl! 

Dein  Arnold. 


66. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,   12.  11.  45. 

.  .  .  Zuletzt  sagte  ich  ihm: 2)  Du  hast  noch  etwas,  was  Dir  unser 
Kleiner  (damit  meine  ich  Dich)  hoffentlich  bald  abgewöhnen  wird; 
Du  weißt  nicht,  daß  Du  über  die  Börsen  einer  Masse  von  Leuten  zu 
gebieten  hast.  Dies  wollte  er  nicht  glauben,  ich  sagte  ihm,  er  solle  nur 
warten  bis  Du  kommst.  Du  würdest  ihm  diese  unsre  kleinste  Kirnst 
nicht  vorenthalten.  Da  er  noch  zwei  Doppelfritze  bei  sich  führte,  so 
teilten  wir  diese  redlich,  es  war  das  erste  Mal,  daß  er  vollständig  von 
seinem  Fürsichsein  abließ  und  der  erscheinende  Gott  mitten  vmter  uns 
war.  Er  fragte  nach  Isolan.  Ich  erzählte  ihm,  daß  ich  ihm  einen  Brief 
von  Dir  vorenthalten  hätte  und  warum.  Wir  beschlossen  einstimmig, 
mit  der  Ausführung  des  Urteils  auf  Dich  zu  warten,  ich  werde  morgen 
hingehen  und  ihm  Eßmarken  kaufen;  macht  er  dann  noch  dumme 
Streiche,  so  hol  ihn  der  Teufel,  der  Großinquisitor-Kardinal,  ich  habe 
das  meinige  getan,  d.  h.  was  ich  konnte.  Also,  Herzensfreund,  Kerl  aller 
Kerle,  komm,  wir  werden  alles  hier  vermögen.  Wenn  ich  bisher  nichts 
für  Dich  gewonnen  habe,  so  habe  ich  Dir  den  kleinen  Klex,  den  Du 
gewonnen  hattest,  erhalten,  und  sein  Werden  beschlemiigt ;  ihn  ganz 
zu  etwas,  zu  einem  wissenden  Subjekt  zu  machen,  dazu  bist  Du,   der 


*)  Eine  etwas  anders  lautende  Übersetzung  des  ,, König  Dampf"  veröffentlichte 
Engels  damals  in  dem  von  Moses  Hjß  in  ßlberfeld  herausgegebenen  ,, Gesellschafts- 
spiegel, Organ  zur  Vertretung  der  besitzlosen  Volksklassen",    1845,  S.  162. 

2)  Alexander  Oppenheim. 


— =^^  245  = 

Meister  nötig.  Ich  bin  nur  ein  armer  stümperhafter  Jünger;  jedenfalls 
haben  wir  beide  den  Willen,  aus  uns  was  zu  machen,  was  wir  unsrer 
Natur  nach  werden  können. 

67. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.    (Original.) 

Berlin,   18.  11.  45. 

.  .  .  Diesmal,  mein  Freund,  scheinst  Du  und  der  Gott  dieser  Welt 
Euch  nachdrücklich  gepackt  zu  haben  und  die  Götter  sind  gerettet, 
sobald  Du  diesmal  gesiegt  hast.  Möge  es  recht  bald  gehngen,  die  Zeit, 
wo  die  Philosophie  darin  bestand,  daß  der  einzelne  nicht  über  den  lang- 
samen Gang  des  Weltgeistes  ungeduldig  wurde,  ist  vergangen,  das 
absolute  Wissen  ist  umgeschlagen  in  die  absolute  Praxis.  Gestern 
abend  habe  ich  mit  Klex  Deinen  Brief  noch  einmal  gelesen,  den  langen; 
er  hat  ihn  jetzt,  soweit  es  ihm  möglich,  verstanden;  die  Vorgänge, 
welche  ims  äußerlich  in  letzter  Zeit  betroffen,  haben  dazu  gedient, 
das  Allgemeine,  den  Begriff,  für  ihn  zu  besondern  und  das  Besondere 
ihn  als  ein  Allgemeines  anschauen  zu  lassen.  Du  wirst  in  kurzer  Zeit 
Wunder  bei  ihm  wirken.  Ich  hatte  den  Brief  bisher  bei  mir;  er  sagte, 
laß  mir  ihn  wieder  hier,  überhaupt  werde  ich,  ehe  der  letzte  Inhalt 
des  Rechts,  die  bloß  formale  Bestimmung  desselben,  aufgehoben  wird, 
das  Eigentum  an  diesen  Brief  mir  vindizieren,  denn  hauptsächlich  ist 
er  für  mich  geschrieben  .  .  .  Kennst  Du  ,,Die  letzten  Philosophen"  von 
Heß?^)    Eine  nicht  unwichtige  Broschüre, 

68. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  24.  11.  45. 

.  .  .  Stoff  will  ich  für  Dich  schon  sammebi,  komm  nur  her  und  be- 
arbeite diese  Dinger,  wie  Du  Macht  hast,  ich  verstehe  jetzt  Deinen  ganzen 

1)  Moses  Heß  (1812 — 1875),  der  bekannte  deutsche  Sozialist  und  später  Vor- 
läufer des  Zionismus,  hatte  1845  unter  dem  Titel  „Die  letzten  Philosophen"  eine 
Streitschrift  gegen  Bruno  Bauer  und  Stirner  veröffeuthcht.  Da  Mendelssohn  auf 
diese  Polemik  gegen  „Der  Einzelne  und  sein  Eigentum"  hinweist,  so  muß  man 
annehmen,  daß  er  und  vermuÜich  auch  Lassalle  von  Stimers  Werk,  das  Ende 
1844  erschienen  war,  Kenntnis  hatten.  Daß  wir  hierüber  nichts  Authentisches 
wissen,  bleibt  um  so  bedauerhcher,  als  in  Lassalles  ,, Kriegsmanifest  gegen  die  Weif 
(vgl.  Nr.  55)  an  einigen  Stellen  eine  Beeinflussung  durch  Stirners  paradoxes  Buch 
sich  als  recht  wahrscheinhch  aufdrängt.  —  Über  Moses  Heß  wird  demnächst  eine 
eingehende  und  materialreiche  Biographie  von  Theodor  Zlocisti  erscheinen. 


-  246  —  = 

Plan  so  vollkommen  wie  Du,  bin  aber  mir  bewußt,  daß  ich  selbst  nur 
als  ein  geringer  Handlanger  bei  Ausführung  desselben  tätig  sein  kann ; 
vielleicht  gelingt  es  Dir  noch,  etwas  mehr  aus  mir  zu  machen.^) 

In  der  Logik  habe  ich  nämlich  dieser  Tage  den  subjektiven  Zweck 
imd  seine  Objektivierung  studiert;  ich  habe  darin  nicht  bloß  gefunden, 
wie  systematisch  und  logisch  wahr  Du  auch  in  den  kleinsten  Dingen 
verfährst,  sondern  bin  auch  der  Erkenntnis,  was  ich  physiologisch 
und  philosophisch  durch  meine  Entdeckung  geleistet  habe,  wiederum 
näher  gerückt;  wir  werden  darüber  sprechen.  Wie  freue  ich  mich, 
mit  Dir  einst  die  Logik  lesen  zu  können;  nach  meiner  Verheiratung, 
nicht  wahr?  Ist  es  nicht  die  vom  Begriff  (F.  Lassal)  in  die  absolute 
Notwendigkeit  verkehrte  Zufälligkeit,  daß  der  Erstgeborne  des  neuen 
Phöbus  Apollo  der  neue  Asklepios  ist?  Und  wenn  Du  mich  künftig 
mit  einem  Stock  wegjagtest,  durch  die  Logik  mußt  Du  mir  noch  helfen, 
ich  werde  mich  nicht  so  abweisen  lassen,  wie  Gans  von  Hegel.  Ich 
setze  übrigens  einige  Hoffnungen  auf  mich;  ist  unser  besonderes 
Fürsichsein  erst  begründet,  so  will  ich  schon  graben  im  Schachte  der 
Erkenntnis,  daß  es  eine  Lust  sein  soll  auch  für  Dich  .  .  . 


69. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.     (Original.) 

Berlin,  30.  Nov.  1845. 

.  .  .  Ich  sitze  bei  mir,  lese  De  la  Prusse  d'tm  inconnu^)  und  denke, 
daß  Du  Dienstag  mir  geschrieben  hast,  Du  wirst  kommen.  Donner- 
wetter, es  war  der  Teufel,  wenn  der  Phosphoros  nicht  einmal  eine 
Gasanstalt  fertig  kriegen  sollte  .  .  . 

Daß  Dein  Schwager  in  Paris  ist  und  geschrieben  hat,  das  Ge- 
schäft sei   so   gut   wie    abgemacht,    behagt  mir  übrigens  noch  nicht 

^)  Mendelssohn  spricht  vorher  von  seinem  Verkehr  mit  dem  Assessor  Robert: 
,,Sein  Vater  ist  ein  Mann  von  großem  Vermögen."  Darm  heißt  es:  ,,Ich  werde 
durch  ihn  die  Bekanntschaft  eines  Assessors  Schütte  machen,  der  kürzUch  200  ge- 
erbt hat."  Darauf  folgt  sogleich  ,, Stoff  usw."  s.  o.  Immer  wieder  sind  die  Freunde 
darauf  aus,  die  Bekanntschaft  reicher  Leute  zu  machen  und  entweder  diese  selbst 
oder  auch  bloß  ihre  Börsen  für  ihre  Sache  zu  gewinnen.  Wie  diese  ,, Sache"  von 
ihnen  aufgefaßt  wurde,  würden  wir  unendlich  klarer  sehen,  wenn  wir  die  Briefe 
I,assalles,  von  dem  alle  Initiative  ausging,  besitzen  würden. 

2)  Das  Buch:  De  la  Prusse  et  de  sa  domination  sous  les  rapports  pohtiques  et 
rehgieux  sp^cialement  dans  les  nouvelles  provinces.  Par  un  inconnu  Paris  1842 
ist  das  Werk  eines  kenntnisreichen  und  fein  beobachtenden  französischen  katho- 
hschen  Demokraten,  das  heute  unter  Verhältnissen,  deren  Wiederkehr  bei  uns 
niemand  für  möghch  gehalten  hätte,  ein  erneutes  Studium  sehr  verlohnt. 


ganz,  weiß  der  Teufel,  was  ich  gegen  Deinen  Schwager  habe,  er  scheint 
mir  aber  immer  ein  windiger  Bursch;  doch  Du  würdest  uns  so  viel 
nicht  schreiben,  wenn  Du  nicht  selbst  sicher  wärst,  daß  die  Sache  so 
ist;  also  vainquons  .  .  . 

Der  Inconnu  sagt:  ».l'Allemand  est  l'homme  du  devoir,  patient, 
lent,  mais  infatigable,  d'un  esprit  qui  s'etend  moins  et  creuse  plus 
(der  Mann  weiß  nicht,  daß  nur  die  Tiefe  die  Breite  ist)  aussi  difificile 
ä  remuer  que  terrible  une  fois  mis  en  mouvement  et  peu  accessible 
au  decouragement;  homme  d'habitude,  il  se  laisse  trop  facilement 
dominer  par  eile.  Poussant  la  probite  jusqu'au  rigorisme,  son  indecision 
tient  le  plus  souvent  moins  ä  la  faiblesse  qu'au  scrupule;  d'une  ima- 
gination  plus  reveuse  qu'ardente,  il  est  plutöt  homme  de  theorie 
qu'homme  d'action  et  de  pratique," 

Wenn  der  Inconnu  wirklich  ein  Franzose  ist,  hat  er  sich  nicht 
schlecht  in  den  Deutschen  eingelebt.  Sehr  interessant  ist,  wie  die 
neuem  Männer  des  Wissens  in  Frankreich,  vor  allen  Proudhon,  wie 
ich  in  Grün  lese,  ganze  Deutsche  sind;  Proudhon  der  Proletarier  ist 
in  seiner  jetzigen  Debeusweise  ein  deutscher  Gelehrter  im  bessern 
Sinne  des  Worts;  er  sitzt  in  seiner  Mansarde  in  seiner  Bluse,  weiß 
die  Welt  als  die  seinige  und  studiert  deutsch.  Als  ihm  Grün  Feuer- 
bachs lychren  mitteilte  (Grün  ist  ein  abstrakter  Menschheitler),  wurde 
er  ganz  warm  und  sagte:  Mais,  c'est  l'accomplissement  de  Monsieur 
Strauß.^)  Wir  wollen  sehen,  was  der  Inconnu  in  zehn  Jahren  von  den 
Deutschen  sagen  wird.  Dabei  fällt  mir  ein,  kennst  Du  eine  Stelle  aus 
Heines  Salon,  in  welcher  er  die  deutsche  Revolution  prophezeit  und 
auch  von  den  Helden  derselben,  den  modernen  Berserkern,  Kantianern, 
Fichtianern  tmd  Hegelianern  spricht  ?  Solltest  Du  sie  (mirabile  dictu) 
nicht  kennen,  so  lies  sie  nach  Tische,  wenn  Du  etwa  von  vielem 
Essen  schläfrig  sein  solltest;  der  kleine  blonde  Liebesdichter  spricht 
da  wie  die  Posaime  des  Jüngsten  Gerichts,  es  ist  das  in  seiner  Furcht- 
barkeit Schönste,  was  ich  von  ihm  gelesen  habe;  und  dabei  hat  er  doch 
I/assal  und  die  Lassalianer  noch  nicht  gekannt.  So  ein  Dichter  ist  ein 
merkwürdiges  Tier.  Der  arme  Kerl  soll  übrigens  krank  sein,  unter 
anderm  bfind  werden,  wie  mir  Robert  erzählt.  Doch  nun  habe  ich 
genug  geplauscht,  ich  komme  mir  vor  wie  eine  alte  Base,  die  ihr 
Ivieblingskind  in  den  Schlaf  singt  oder  erzählt;  die  Götter  mögen  es 
verleihen,  daß  ich  bald  diese  Funktion  wirklich  wieder  übernehme. 
Wir  haben  ja  den  Ariost  noch  nicht  ausgelesen. 

Dein  Arnold. 


1)  David  Friedrich  Strauß  (1808 — 1874),  der  mit  seinem  „Leben  Jesu"  (1835) 
den  Anstoß  zu  der  Radikalisierimg  der  Hegelschen  Schule  gegeben  hatte. 


:  248  ■ 

70. 

LASSAI.LE  AN  WIIvHElyM  LEHFELDT.      (Konzept  von  Lassalles 
Hand.)  ^) 

[Breslau,  Ende  November  1845.] 
Sehr  geehrter  Herr! 

Zu  meinem  wahrhaften  Bedauern  sehe  ich  mich  genötigt,  Ihneu 
einige  Mitteilungen  zu  machen,  zu  denen  ich  mich  verpflichtet  halte 
trotzdem,  daß  der  Inhalt  meiner  Nachricht  Sie  nicht  weniger  unan- 
genehm und  schmerzlich  berühren  wird,  als  es  mir  peinlich  ist,  Sie 
davon  in  Kenntnis  setzen  zu  müssen. 

Ich  bin  unterrichtet  von  der  edeln  und  großmütigen  Weise,  mit 
welcher  Sie  sich  diesen  Sommer  Ihres  Vetters  Albert  Lehfeldt  ange- 
nommen haben,  um  diesem  die  Möglichkeit  zu  geben,  in  Berlin  sein 
Examen  zu  beenden  tmd  seine  nicht  zu  rechtfertigende  L,ebensweise 
mit  einer  arbeitsamen  und  tätigen  Existenz  zu  vertauschen.  Dieser 
großmütige  Akt,  mit  dem  Sie  Ihrem  Vetter  die  Mittel  zu  seinem  Aufent- 
halt in  Berhn  bewilligten,  ist  es,  der  es  mir  zur  Pflicht  macht,  Ihnen 
mitzuteilen,  welchen  Erfolg  bis  jetzt  Ihre  und  meine  Güte  gehabt 
hat.  —  In  bezug  auf  letztere  ist  es  nötig,  daß  ich  Sie  mit  einigen  Worten 
über  mein  Verhältnis  zu  Ihrem  Vetter  tmterrichte.  — 

Als  ich  Anfang  dieses  Sommers  von  Berlin  nach  Breslau  zurück- 
gekehrt war,  benützte  Ihr  Vetter,  den  ich  aus  meiner  früheren  Uni- 
versitätszeit etwas  kannte,  den  Zufall,  der  mich  manchmal  in  öffent- 
lichen Gärten  mit  ihm  zusammenführte,  um  sich  gewissermaßen  um 
meinen  Umgang  zu  bewerben.  Obwohl  er  mir  durch  sein  einnehmendes 
Wesen  gefiel,  war  meine  Zeit  doch  zu  sehr  in  Anspruch  genommen, 
als  daß  ich  mich  auf  eine  nähere  Bekanntschaft  mit  ihm  hätte  ein- 
lassen mögen.  Ein  Zufall  war  ihm  auch  dazu  behilflich.  Ich  befand 
mich  eines  Nachmittags  mit  ihm  im  Konzert  bei  Liebich,  als  er  von 
meiner  Seite  fortgerufen  wurde.  Einige  Minuten  drauf  forderte  mich 
ein  Herr  im  Namen  Ihres  Vetters  auf,  ihm  einige  Schritte  zu  folgen. 
Ich  verheß  mit  ihm  den  Garten  imd  in  ein  benachbartes  Haus  geführt, 
fand  ich   daselbst  Ihren  Vetter  Albert  in  den  Händen  von  drei  Exe- 


1)  Die  Antwort  Wilhelm  Lehfeldts  ist  datiert  Glogau,  24.  November.  Noch 
am  30.  November  beschwört  Lehfeldt-Isolani  in  einem  Brief  Lassalle,  ihn  nicht 
zu  verstoßen:  „Alle  Welt  mag  mich  verlassen:  ich  mache  mir  keinen  Pfifferling 
daraus,  —  Du  bist  der  Einzige,  den  ich  nicht  missen  kann !  —  Hörst  Du,  es  ist 
mir  unmöglich,  Dich  zu  verüeren."  Noch  wiederholt  hat  sich  Lehfeldt,  mit  dem 
es  weiter  bergab  ging,  Lassalle  angeboten.  Dieser  hat  ihn  auch  als  untergeord- 
neten Agenten  1847  in  seinen  Kämpfen  für  die  Gräfin  Hatzfeldt  verwandt.  Aber 
selbst  hierbei  bewährte  er  sich  nicht. 


— -=^  249         — 

kutoren,  die  ihn  eben  in  das  Inquisitoriat  abführen  wollten.  Dabei 
befand  sich  ein  Herr  Speyer,  der  Inhaber  eines  hiesigen  Kleidermagazins, 
der  den  Verhaftbefehl  vermöge  einer  Schuldforderung  von  32  Rt. 
an  Albert  erwirkt  hatte.  Die  unglückliche  Miene  Ihres  Vetters  flößte 
mir  Mitleid  ein:  Er  beschwor  mich,  ihn  zu  retten.  Dazu  kam,  daß  ein 
gewisses  natürliches  Gefühl  in  mir  sich  sträubte,  einen  Menschen  gleich- 
sam von  meiner  Seite  wegen  einer  Geldforderung  arretieren  und  in 
das  Gefängnis  werfen  zu  lassen.  Genug,  ich  leistete  Herrn  Speyer 
selbst  Bürgschaft  für  den  Belauf  seiner  Forderung,  und  dieser  stand 
dafür  sofort  von  der  Ausführung  des  Verhaftbefehls  ab.  — 

Sie  werden  wissen,  wie  es  zu  gehen  pflegt.  Für  einen  Menschen, 
dem  man  einmal  eine  Wohltat  erwiesen,  interessiert  man  sich.  Ich 
ließ  mir  seine  Verhältnisse  mitteilen,  die  allerdings  sehr  traurig  waren. 
Ich  unterstützte  ihn  auf  jegliche  Weise,  ermunterte  ihn,  sein  Examen 
zu  machen  und  versprach  ihm,  wenn  er  sich  nur  anderweitig  noch 
eine  partielle  Unterstützimg  verschaffen  könnte,  das  Nötige  für  seine 
anständige  Existenz  in  Berlin  zu  ergänzen.  Kurze  Zeit  darauf  teilte 
er  mir  mit,  daß  er  sich  an  Sie  gewandt  und  daß  Sie  ihm  200  Rt.  für 
sechs  Monate  bewilligt  hätten.  Als  Ihr  Vetter  nach  Berlin  reiste,  gab 
ich  ihm  die  nachdrücklichsten  Empfehlungen  an  zwei  meiner  intimsten 
Freunde  mit,  denen  ich  es  zur  Pflicht  machte,  ihm  auf  jede  Weise 
auszuhelfen,  ihm  nötiges  Geld  zu  bewilligen,  ihn  in  gute  und  große 
Häuser  einzuführen,  damit  er  den  Geschmack  verhere  an  schlechter 
Gesellschaft  imd  endhch  darauf  zu  halten,  daß  er  sohde  lebe  und  fleißig 
arbeite.  Diese  Freunde  waren  der  Dr.  med.  Arnold  Mendelssohn, 
ein  Neffe  des  Bankiers,  ein  junger  Mann,  der  hinlänglich  besitzend, 
was  er  für  seine  eigene  anständige  Existenz  braucht,  doch  weniger 
imstande  ist,  viel  für  andere  zu  verwenden,  und  der  OLG.-Assessor 
Alexander  Oppenheim,  ein  Bruder  des  Königsberger  Bankiers,  der,  insehr 
reichen  Verhältnissen  lebend,  Mittel  imd  Wille  genug  hatte,  um  Albert 
eine  durchaus  unabhängige  und  angenehme  Lage  zu  verschaffen,  wenn 
dieser  irgend  von  seinen  ausschweifenden  Bedürfnissen  nachgelassen 
hätte.  Ich  hoffte,  daß  diese  beiden  Herren  durch  das  Beispiel  ihrer 
Solidität  und  Tätigkeit  Ihren  Vetter  würden  bewegen  können,  einen 
gleichen  Ivcbenswandel  anzunehmen. 

Meine  Freimde  nahmen  sich  Ihres  Vetters  mit  dem  von  mir  er- 
warteten, vielleicht  übergroßen  Eifer  an.  Um  sein  Betragen  besser 
beaufsichtigen  zu  können,  mieteten  sie  ihm  zwei  Stuben  in  demselben 
Haus  imd  auf  derselben  Etage,  auf  welcher  sie  wohnten,  bezahlten 
seine  Rechnung  etc.  etc.  Man  behandelte  ihn  mit  der  größten  Liebe. 
Als  sein  Bruder,  ich  glaube  in  Leipzig,  krank  wurde,  gab  man  ihm 
Geld,  hinzureisen. 


=================    250    : 

Aber  schon  gegen  Ende  September  bekam  ich  von  ihnen  einen 
Brief,  in  dem  sie  mir  mitteilten,  daß  Alberts  lycbensweise  sehr  be- 
denklich wäre,  daß  er  fast  gar  nicht  mehr  arbeitete,  viele  Nächte  außer 
dem  Hause  zubrächte  und  alle  ihre  Gegenvorstellungen  umsonst  seien. 
Ich  schrieb  darauf  Ihrem  Vetter  einen  sehr  ernsten  Brief,  in  dem  ich 
ihm  sein  Bild  vorhielt  uu,d  ihm  ankündigte,  daß,  wenn  er  seine  lyebensi 
weise  nicht  ändere,  ich  und  meine  Freunde  ihn  verlassen  würden.  Am 
dieses  mein  Schreiben,  aus  welchem  er  in  seinen  hier  beigelegten 
Briefen  manchmal  Sätze  anführt,  schrieb  er  mir  eine  sehr  reuige 
Antwort. 

Aber  Ende  Oktober  meldete  mir  der  Dr.  Mendelssohn,  daß  er  in  Er- 
fahrung gebracht,  Albert  habe  auf  die  niedrigste  Weise  bei  Kellnern 
etc.  Schulden  gemacht,  in  verrufenen  Gesellschaften  gespielt  etc. ;  es 
kompromittiere  ihn,  länger  mit  einem  derartigen  Menschen  umzugehen. 
Vielleicht  hatte  der  Umstand  ungünstig  gewirkt,  daß  eine  eingetretene 
Wohnungsänderung  ihn  der  unmittelbaren  Beaufsichtigmig  meiner 
Freunde  entzog.  Zugleich  schickte  mir  der  Dr.  Mendelssohn  einen 
wiederum  sehr  zerknirschten  Brief  von  Albert  an  ihn,  in  dem  er  ihn 
bittet,  seine  schlechten  Streiche  mir  und  Oppenheim  geheim  zu  halten. 
Ich  lege  diesen  Brief  Ihres  Vetters  an  Herrn  Dr.  Mendelssohn  Ihnen 
bei.  Wollen  Sie  selbigen  jetzt  lesen.  (Es  ist  der  mit  Brief  Nr.  i  be- 
zeichnete blaue  Zettel.) 

Ich  schrieb  dem  Doktor,  man  solle  noch  einmal  Albert  vergeben, 
seine  Schulden  bezahlen  und  sein  Besserungsversprechen  annehmen. 
Es  geschah.  Aber  vor  einigen  Tagen  erhalte  ich  wiederum  ein  Schreiben 
von  Dr.  Mendelssohn,  in  dem  er  mir  zeigt,  daß  sich  die  schlechten 
Streiche  Ihres  Vetters  täglich  häuften  und  daß  er  und  Oppenheim  sich 
demgemäß  gänzlich  von  ihm  zurückziehen  müßten.  Zugleich  legt  er 
mir  einen  Brief  von  Albert  an  ihn,  (Mendelssohn)  und  Oppenheim, 
welchen  ich  ebenfalls  Ihnen  hier  übersende,  [bei].  (Es  sind  die  mit 
Brief  II  a  und  b  bezeichneten  beiden  Zettel.)  In  diesem  versichert 
[er]  ^)  z.  B.,  daß  er  seit  drei  Tagen  nichts  gegessen  habe,  Dr.  Mendels- 
sohn fügt  dabei  unten  die  Bemerkimg  hinzu,  daß  er  am  ersten  dieser 
drei  Tage  3  Rt.  für  ein  Theaterbillett  ausgegeben.  — 

Wenn  Sie  diesen  Brief  Ihres  Vetters  werden  gelesen  haben,  werden 
Sie  sehen,  daß  man  um  alles  in  der  Welt  Albert  nicht  länger  in  Berlin 
lassen  kann.  Ich  glaube  immer  noch  nicht,  daß  er  ganz  verloren  ist. 
Aber  in  einer  so  großen  und  so  verführerischen  Stadt  wie  Berlin,  wo  er 
solchen  Anlaß  und  Gelegenheit  findet  für  seinen  liederlichen,  empören- 
den L,ebenswandel,  ist  er  es  sicher.    Er  muß  durchaus  in  eine  kleine 


^)   Das  Wort:  versichert  ist  nicht  deutlich  zu  entziflFeru. 


=  251  = — =  = 

Stadt  gebracht  werden,  wo  ihm  auch  nur  die  Möglichkeit  seiner  bis- 
herigen Aufführung  abgeschnitten  ist,  — 

Was  aber  seine  Entfernung  aus  Berlin  noch  notwendiger  macht,  und 
was  mich  am  meisten  dazu  bewogen  hat,  Ihnen  diese  unangenehmen 
Eröffnungen  zu  machen,  ist  die  Rücksicht  nicht  so  auf  Albert  als  auf 
Ihre  Familie.  Nach  seinem  beigelegten  Brief  und  Sätzen  darin  wie 
diesem  z.  B.  „Früher  oder  später  wird  mich  die  Not  bei  meinem  er- 
finderischen Geist  auf  Dinge  führen,  die  es  gut  ist  allein  getan  zu  haben" 
etc.  werden  Sie  sehen,  daß  Sie  mit  jedem  Tag,  den  Ihr  Vetter  in  Berlin 
länger  zubringt,  Ihren  Namen  unberechenbarem  Affront  aussetzen. 
Er  scheint  jetzt  in  einer  Stimmung  zu  sein,  die  in  einer  Stadt  wie  Berlin, 
wo  alle  Gelegenheit  zur  Ausführung  gegeben  ist,  das  Schlimmste  be- 
fürchten läßt. 

Sie  werden  gestehen,  daß  ich  vielleicht  am  meisten  Grund  habe, 
mich  über  empörenden  Undank  zu  beklagen.  Ich  will  nicht  von  dem 
sehr  beträchtlichen  Geldaufwand  reden,  den  ich  und  meine  Freunde 
an  ihn  verschwendet  haben,  nicht  davon,  wie  ich  selbst  vor  meinen 
Freunden  durch  das  Benehmen  Ihres  Vetters  kompromittiert  bin  — 
was  mich  in  der  Tat  am  meisten  empören  mußte,  ist  der  Inhalt  des 
letzten,  Ihnen  übersandten  Briefes  Ihres  Vetters,  wo  er  statt  irgendein 
Dankesgefühl  für  so  viel  erwiesene  Wohltaten  zu  bezeigen  —  was  ich  nicht 
verlange  — ,  in  einer  unglaublich  überspannten  Begriffsverwirrung 
von  Rache  spricht  dafür,  daß  man  ,, seinen  Gewohnheiten  entgegen- 
getreten sei",  d.  h.  dafür,  daß  man  sich  die  leider  vergebliche  Mühe 
gab,  ihn  aus  einem  mauvais  sujet  in  einen  ordentlichen  mid  anständigen 
Menschen  umbilden  zu  wollen.  Die  feindliche  Stimmung,  die  in  diesem 
Briefe  herrscht,  werden  Sie  so  wenig  wie  ich  begreifen  können.  Sie 
ist  nur  zu  erklären  durch  die  Verwirrung  seines  exaltierten  Geistes, 
der  durch  seine  maßlosen  Begierden  nahe  dran  ist,  sich  bis  zur  Ver- 
worfenheit zu  verlieren.  In  meinem  ersten  Unwillen  habe  ich  Herrn 
Speyer  hier  sagen  lassen,  er  möge  sich  zur  Deckung  seiner  Schuld- 
fordervmg  nur  wieder  an  Ihren  Vetter  wenden.  Indessen  bin  ich,  wenn 
Sie  sich  irgendeinen  Erfolg  davon  versprechen,  wenn  Sie  selbst  noch 
irgendeine  Hoffnung  auf  Ihren  Vetter  setzen,  gern  bereit,  ihn  von  dieser 
Verbindlichkeit  zu  befreien  und  auch  sonst  noch  alles  in  meinen  Kräften 
Stehende  zu  tun,  um  ihm  zu  seinem  Fortkommen  und  Besserung  be- 
hilflich zu  sein.  —  Ihr  Vetter  hat  schönes  und  nicht  zu  verkennendes 
Talent,  aber  nicht  zum  Studium;  hiezu  mangelt  ihm  jeder  Fleiß;  er 
wird  es  nie  dazu  bringen,  ein  Examen  zurückzulegen;  Herr  Assessor 
Oppenheim,  der  seine  juristischen  Kenntnisse  untersucht  hat,  hat 
mir  mitgeteilt,  daß  sie  gleich  niül  sind.  Zudem  bleibt  Ihrem  Vetter 
beim  Studium  zuviel  freie  Zeit,  als  daß  er  nicht  von  den  bösen  lausten, 


~~-=-==^^  252  —  

die  ihn  beherrschen,  fortgerissen  werden  sollte.  Wenn  Sie  ihm  aber, 
geehrter  Herr,  eine  untergeordnete  Stellung,  die  seine  ganze  Tätigkeit 
und  Zeit  gebieterisch  in  Anspruch  nimmt  und  ihm  nicht  Raum  läßt, 
seinen  verderblichen  Neigungen  nachzugehen,  verschaffen  wollten,  so 
dürfte  das  den  besten  Erfolg  erwarten  lassen.  Wenn  er  z.  B.  in  irgend- 
einer untergeordneten  kleinen  Provinzialstadt  eine  Anstellung  in  einem 
Eisenbahnbureau  oder  selbst  in  einem  Comptoir  (nur  dürfte  er  nicht  mit 
der  Kasse  zu  tun  haben)  erhalten  könnte,  so  wäre  es  noch  nicht  ganz 
immöglich,  aus  ihm,  der  neben  seinem  strafbaren  Leichtsinn  auch 
bereits  eine  Verderbnis  des  Herzens  zu  verraten  anfängt,  einen  brauch- 
baren und  in  seiner  Sphäre  nützlichen  Menschen  umzuschaffen,  während 
er  jetzt  eine  Last  seiner  Familie  ist,  die  alle  Minute  befürchten  muß, 
ihren  so  ehrenwerten  Namen  durch  eine  nichtswürdige  Handlung  be- 
fleckt zu  sehen. 

Verzeihen  Sie  mir,  wenn  ich  mir  erlaubte,  Ihnen  Vorschläge  zu 
machen;  es  geschah  unter  der  Voraussetzung,  daß  Sie  wie  ich  gesonnen 
sind,  noch  einen  Versuch  zu  machen,  ehe  wir  Ihren  Vetter  seinem 
unfehlbaren  schimpflichen  Geschick  überlassen.  Dann  dürfte  viel- 
leicht der  von  mir  gegebene  und  aus  einer  vollständigen  Kenntnis 
seines  Charakters  geschöpfte  Rat  zu  beachten  sein.  Es  würde  nur 
gerecht  sein,  wenn  ich  nach  dem  empörenden  Undank,  den  ich  erfahren 
habe,  mich  "gänzlich  von  Ihrem  Vetter  lossagte.  Nichtsdestoweniger, 
ich  wiederhole  es,  bin  ich  gern  bereit,  wenn  Sie  sich  seiner  noch  annehmen 
wollen,  auch  meinerseits  ihn  nicht  zu  verlassen.  Dann  ist  es  das  Not- 
wendigste, ihn  auf  das  schleunigste  aus  Berlin  zu  entfernen,  wo  jede 
Minute  seines  Aufenthalts  eine  verbrecherische  Handlimg  befürchten 
läßt.  Schon  mache  ich  mir  Vorwürfe,  daß  ich  einige  Tage  habe  ver- 
streichen lassen,  ehe  ich  es  über  mich  gewinnen  konnte,  Ihnen  diese 
Mitteilimg  zu  machen.  Vielleicht  dürfte  ein  Aufenthalt  in  Görlitz, 
bei  seiner  Mutter,  die  er  zu  lieben  scheint,  segensreich  auf  ihn  wirken. 

Ich  muß  Sie  bitten,  daß  Sie  Ihrem  Vetter  nichts  davon  mitteilen, 
daß  Sie  durch  mich  in  die  Kenntnis  dieser  Dinge  gesetzt  sind.  Wenn 
er  in  seinem  Briefe  an  meine  Freund  [e]  sagt,  er  müsse  sie  hassen,  weil 
sie  seinen  Gewohnheiten  tmd  Prätensionen  entgegengetreten,^)  imd 
werde  sich  zu  rächen  suchen,  so  sehen  Sie  wohl,  daß  er  bei  dieser  exal- 
tierten Weise  meinen  gut  gemeinten,  in  Ihrem  und  seinem  Interesse 
geschriebenen  Brief  an  Sie  einen  ,, Verrat"  etc.  nennen  und  sich  gleich- 
falls zu  , .rächen"  suchen  würde.  Er  hat  einst  einem  Gläubiger  hier 
gedroht,  ihn  nächtlich  zu  überfallen  imd  krank  zu  prügeln.  Vielleicht 
dürfte  er  diesen  ,, Verrat"  auf  ähnliche  plumpe  oder  weniger  plumpe 


^)  Hier  sind  einige  Worte  unleserlich. 


— -..^^  253  —  :=^ 

Weise  wie  durch  Schmähungen,  Verleumdung  rächen  wollen.  Ich 
bin  kein  Raufbold;  mir  ist  mein  körperliches  Wohlsein  und  mein  ge- 
selliger Ruf  viel  zu  lieb,  als  daß  ich  diese  Güter  der  Wut  eines  so  rach- 
süchtigen, verderbten  und  undankbaren  Menschen,  der  nichts  mehr  zu 
verlieren  hat,  aussetzen  sollte.  Jedenfalls  werden  Sie  gestehen,  daß 
ich  in  dieser  Angelegenheit  traurige,  empörende  Erfahrungen  genug 
gemacht  habe  —  und  Sie  werden  nicht  Ursache  sein  wollen,  daß  selbige 
noch  vermehrt  werden!  Wollen  Sie  daher  Ihrem  Vetter  nie  weder 
von  diesem  Brief  noch  von  seinem  Inhalt  irgend  etwas  mitteilen. 
Beschränken  Sie  sich  darauf,  ihm  zu  sagen,  daß  Sie  durch  Ihre  Ver- 
wandten in  Berlin  von  seinem  schlechten  Lebenswandel  in  Kenntnis 
gesetzt  sind.  Sehen  Sie  zu,  wie  Sie  unter  irgendeinem  Vorwand  ihn 
aus  Berlin  entfernen  können.  Denn  sollte  er  merken,  daß  Sie  von  seinem 
Leben  rmterrichtet  sind,  würde  er  schwerlich  um  irgendeinen  Preis 
Berlin  verlassen.  Vielleicht  schreiben  Sie  ihm,  daß  seine  Mutter  krank 
sei  imd  ihn  zu  sehen  wünsche  oder  daß  er  nach  Glogau  kommen  solle 
etc.  Dann  sprechen  Sie  ein  ernstes  Wort  mit  ihm;  vielleicht,  daß  Ihr 
Ansehen  Wirkung  auf  ihn  hat.  Noch  einmal,  wenn  Sie  ihm  eine  be- 
schränkte, untergeordnete  und  seine  ganze  Tätigkeit  in  Anspruch 
nehmende  Tätigkeit  in  einer  kleinen  Stadt  verschaffen,  so  wird  viel- 
leicht sein  Lebenswandel,  der  mit  eine  F'olge  seine  Überspannung 
ist,  die  auch  aus  seinem  Briefstil  spricht,  nüchterner  werden  und  sich 
ändern.  Jedenfalls  werden  Sie  und  seine  Mutter  davor  gesicherter  sein, 
Schande  an  ihm  zu  überleben.^)  Mit  der  Bitte,  mich  jedenfalls  von 
dem  Entschluß,  den  Sie  gefaßt,  zu  benachrichtigen  und  diesen  langen 
Brief,  den  ich  wie  eine  Gewissenspflicht  betrachtete,  zu  entschuldigen, 
bin  ich  .  .  . 


71- 
FÜRST  PÜCKLER-MUSKAU2)  AN  LASSALLE.    (Original.) 

Berlin,  Donnerstag.    [29.  Januar  1846.] 
Mein  Herr! 

Ich  überschicke  Ihnen  hierbei  meinen  Brief  2)  an  Herrn  Heine  in 
Hamburg,  um  dessen  genaue  Adresse  ich  bitte,  sowie  um  die  baldige 

1)  Sic! 

^)  Fürst  Hermann  von  Piickler-Muskau  (1785 — 1871),  der  bekannte  Reise- 
schriftsteller  und  bedeutende  Gartenkünstler. 

3)  An  dem  gleichen  Tag  schickte  Pückler  seinen  Brief  an  Carl  Heine  ,,zur 
Durchsicht"  an  Varnhagen  „als  Beweis,  daß  ich  Ihrem  Wunsche,  mich  für  Heine 
zu  verwenden  imd  Herrn  Lassalle,  so  weit  meine  Kräfte  reichen,  ernstlich  zu 
unterstützen,  treu  nachgekommen". 


=^  254  = 

Rücksendung  des  Briefes.  Ich  habe  nichts  dagegen,  daß  Sie  eine  Kopie 
davon  nehmen,  doch  werden  Sie  einsehen,  daß  es  in  Herrn  Heines 
eignem  Interesse  hegt,  daß  bevor  das  Resultat  des  Briefes  bekannt 
ist,  die  größte  Verschwiegenheit  darüber  beobachtet  werde;  hat  er 
aber  keine  Wirkimg,  so  überlasse  ich  es  Herrn  Heines  eignem  Er- 
messen, ob  er  ihn  benutzen  lassen  will  oder  nicht,  jedoch  versteht 
sich  nur  wörtlich,  ohne  Auslassung  noch  Veränderung,  denn  ich  habe 
geschrieben,  wie  ich  denke,  und  dessen  scheue  ich  mich  vor  keinem 
Publikum. 

Empfehlen  Sie  mich  Herrn  Heine,  wenn  Sie  an  ihn  schreiben, 
und  genehmigen  Sie  die  Versicherung  meiner  aufrichtigsten  Hoch- 
achtung. 

P.  S.  Ich  habe  auch  Gelegenheit  gefunden,  mit  Herrn  und  Madame 
Godefroi  ^)  über  H.  Heines  Angelegenheit  zu  sprechen  und  von  beiden 
die  bereitwiUige  Versicherung  erhalten,  sich  teils  selbst,  teils  durch 
den  ihnen  befreundeten  Schwager  2)  des  Hamburger  Herrn  Heine  bei 
demselben  für  seinen  Vetter  zu  verwenden.  Ich  rate  Ihnen  nun,  Herrn 
Mendelssohn  imd  Herrn  Meyerbeer  zu  gleichzeitigen  Anregungen 
in  dieser  Sache  zu  vermögen,  imd  zwar  nicht  in  banaler,  sondern  kräf- 
tiger Weise,  worin  ich  gern  mit  gutem  Beispiel  vorangegangen  bin. 


72. 

LASSALLE    AN    FÜRST     PÜCKLER-MUSKAU.      (Konzept     von 
I^assalles  Hand.) 

[Berlin,  Ende  Jaijuar  1846.] 

Mein  Fürst 

Ew.  Durchlaucht! 

Wie  sollte  ich  Worte  finden,  um  die  bis  zur  Begeisterung  gesteigerte 
Bewimderimg  auszudrücken,  die  Ihr  beifolgender  Brief  in  mir  ent- 
zündet hat? 

Nicht  nur,  daß  ich  mir  den  besten  und  glücklichsten  Erfolg  von 
ihm  verspreche,  —  auch  wenn  ich  ganz  absah  von  Ihrem  und  meinem 
Zwecke,  auch  wenn  ich  ihn  ganz  an  mid  für  sich  und  unabhängig  von 
jeder  äußern  Zweckbeziehung  betrachtete,  mußte  das  hohe  sittliche 
substantielle  Pathos,  das  Ihr  Schreiben  durchweht,  erhebend  auf 
mich  wirken.    Ich  mußte  diesen  Brief  abermals  und  abermals  lesen!  — 


1)  Gemeint  ist  wohl  Johann  Cesar  Godeffroy,  vielleicht  aber  auch  ein  anderes 
Mitghed  der  bekannten  Hamburger  Großkauf mannsfamihe. 

2)  Dr.  Adolf  Halle,  Präses  des  Hamburger  Handelsgerichts. 


-^  255  

Zwar  weiß  ich  sehr  wohl,  daß  meine  eigne  Meinung  über  einen 
Brief,  den  Ew,  Durchlaucht  aus  Liebe  zu  Heine  und  aus  Treue  gegen 
Ihre  eigne  Überzeugung  niedergeschrieben  haben,  ja  daß  sogar  schon 
diese  wenigen  Worte  überfließender  Bewunderung  Ew.  Durchlaucht 
vis-cL-vis  streng  genommen  eine  Unschicklichkeit  sind.  Nichtsdesto- 
weniger —  ich  müßte  weniger  warm  fühlen,  als  ich  fühle  oder  Ew. 
Durchlaucht  müßten  in  Ihrem  Schreiben  minder  mächtig  die  tief- 
innersten Saiten  des  menschlichen  Geistes  angeschlagen  haben,  als  es 
geschehen  ist.  wenn  es  mir  gehngen  sollte,  so  ganz  zurückzudämmen 
den  ausbrechenden  Strom  meiner  Bewunderung. 

Und  ich  habe  mich  dieser  um  so  weniger  zu  schämen,  als  Ew.  Durch- 
laucht soeben  mitten  in  einer  Welt,  in  der  nichts  so  perhorresziert 
und  dem  Ridikül  gleichgesetzt  wird  als  sittliche  Wärme,  den  Beweis 
gehefert  haben,  wie  wenig  exzeptionelle  und  wahrhafte  Menschen  sich 
binden  an  die  Gesetze  dieser  seichten  Klugheit. 

Ich  habe  der  gnädigen  Erlaubnis  Ew.  Durchlaucht  gemäß  von  dem 
Briefe  Kopie  genommen,  einmal  um,  wenn  dies  nicht  gegen  die  Wünsche 
Ew.  Durchlaucht  geht,  eine  Abschrift  Heinrich  Heine^)  zuzusenden, 
und  femer  um  einige  Stellen  dieses  Schreibens  in  die  Gedenktafeln 
meines  Innern  einzugraben. 

Daß  ich  im  übrigen  das  ehrende  Vertrauen  Ew.  Durchlaucht  zu 
würdigen  wissen  und  keinen  Gebrauch  von  dem  Briefe  machen  werde, 
brauche  ich  kaum  hinzuzufügen. 

Mit  Herrn  J.  Mendelssohn  habe  ich  bereits  Rücksprache  genommen 
tmd  wenn  auch  mit  einiger  Schwierigkeit  ihn  bewogen,  die  Teilnahme 
in  dieser  Angelegenheit  nicht  abzulehnen.  Er  hat  sich  einige  Tage 
Bedenkzeit  über  die  nähere  Art  imd  Weise  seiner  Einwirkimg  aus- 
gebeten. Sobald  ich  Gewißheit  habe,  werde  ich  nicht  ermangeln,  Ew. 
Durchlaucht  von  dem  Resultat  meiner  Unterhandlung  mit  ihm  per- 
sönhch  Nachricht  zu  geben. ^)  Ich  warte  dieses  Resultat  nur  ab,  um 
sofort  Herrn  Meyerbeer  für  diese  Angelegenheit  zu  interessieren. 


^)  Heine  schreibt  darüber  am  10.  P'ebruar  an  Lassalle.  U.  a.  heißt  es  dort: 
,,daß  hier  einer  der  letzten  Ritter  der  alten  Geburtsaristokratie  den  Empor- 
kömmlingen der  neuen  Geldaristokratie  noch  zuletzt  eine  Lektion  gibt  über  das 
Thema  der  Elire,  und  zwar  zum  besten  des  beleidigten  Genius  .  .  .  Das  plumpe 
selbstische  Krämertum,  ich  hätte  fast  gesagt:  das  Bürgertum,  findet  hier  seine 
kläghche  Niederlage;  und  an  Verhöhnung  wird  es  nicht  fehlen,  zumal  von  seiten 
der  allermod ernsten  Gegner  der  jetzigen  Geldherrschaft.  Sie  wissen,  welche  Leute 
ich  meine  .  .  ." 

2)  Vgl.  Heine  an  Lassalle,  10.  Februar  1846:  ,, Wenn  Mendelssohn  nicht  schreiben 
will,  so  ist  mir  das  ganz  recht,  denn  sein  Schreiben  würde  doch  in  diesem  Augen- 
blick nichts  fruchten,  wogegen  später  ein  bloßer  Antrag  der  Vermittlung  von 
seiner  Seite  von  entscheidendem  Nutzen  sein  kann."    Joseph  Mendelssohn  war 


— —  256  ^^  = 

Daß  Ew.  Durchlaucht  mit  Herrn  und  Madame  Godefroi  Rück- 
sprache genommen,  vermehrt  nicht  wenig  die  günstigen  Aussichten 
auf  Erfolg,  die  ich  hege.  Noch  will  ich  bemerken,  daß,  wenigstens  nach 
Heinrichs  Meinung,  der  Schwager  des  Bankiers  (Herr  Dr.  Halle),  an 
den  Herr  tmd  Madame  Godefroi  sich  wenden  wollen,  grade  der  ist, 
der  am  hauptsächlichsten  das  feindselige  Verhalten  Herrn  Carl  Heines 
hervorgebracht  hat. 

Die  Adresse  des  Bankiers  ist:  Herr  Carl  Heine,  Hamburg. 

Erlauben  Sie,  mein  Fürst,  daß  ich  Ihnen  noch  einmal  wiederhole 
den  Ausdruck  meiner  tmbegrenzten  Hochachtung  und  tief  innigen  Ver- 
ehrung, mit  der  ich  mich  zeichne  .  .  . 


73- 
IvASSALIvE  AN  FÜRST  PÜCKI.ER-MUSKAU.     (Konzept  von  der 
Hand  I^assalles.) 

[Ende  Januar  1846.]!) 
Mein  Fürst! 

In  bezug  auf  die  Angelegenheit  Heinrich  Heines,  nach  Berlin  kommen 
zu  dürfen  —  eine  Angelegenheit,  die  Sie  mit  so  warmem  Eifer  zu  der 
Ihrigen  erhoben  haben  — ,  kann  ich  Ihnen  gegenwärtig  eine  Mitteilung 
machen,  die  Sie  vielleicht  für  nicht  ganz  unwichtig  finden  werden. 

vSie  selbst  wie  auch  Vamhagen  haben  mir  den  Einwurf  gemacht, 
man  könne  den  von  Heine  angegebnen  Grund,  krankheitshalber  hierher- 
zukommen, damit  zurückweisen  wollen,  daß  Berhn  nicht  in  solchem 
Grade  ausgezeichnete  Ärzte  besitze,  um  dies  als  Gnmd  einer  Reise 
von  Paris  hierher  hinlänglich  zu  motivieren. 

Dieser  Emwurf  ist  jetzt  als  beseitigt  zu  betrachten.  —  In  einer 
Unterredung,  die  ich  gestern  abend  mit  Dieffenbach  ^)  gehabt,  habe 
ich  diesen  dahin  vermocht,  zu  erklären,  ,,er  wolle  es  mit  Sicherheit 


ein  Freund  Salomon  Heines  gewesen;  er  widmete  diesem  nach  seinem  Tode  eine 
kleine  Gedenkschrift,  in  der  auch  auf  dessen  Verhältnis  zu  Heinrich  Heine  mit 
einigen  für  beide  Teüe  Sympathie  ausdrückenden  Bemerkungen  eingegangen  wurde. 

^)  In  dem  Briefwechsel  zwischen  Fürst  Hermann  von  Pückler-Muskau  imd 
Vamhagen  von  Ense,  herausgegeben  von  Ludmilla  Assing-GrimelH,  Berlin  1874, 
S.  402,  ist  Carl  Heines  abschlägige  Antwort  an  Pückler  abgedruckt.  Sie  ist  vom 
2.  Februar  datiert.  Pückler  hatte  ihm  am  28.  Januar  geschrieben.  LassaUe  war 
bei  Vamhagen  durch  Heine,  bei   Pückler  durch   Varnhagen  eingeführt  worden. 

2)  Johann  Friedrich  DiefFenbach  (1794 — 1847),  der  berühmte  Chirurg,  war 
ein  Jugend  bekannter  Heines  und  nahm  an  seinem  Ergehen  lebendigen  Anteil. 


—  -^357  = 

unternehmen,  die  Gesundheit  Heines  vollkommen  herzustellen,  falls 
«ich  dieser  einer  Kur  und  Diät  in  Berlin  unterwerfe". 

Dieffenbach  hat  mir  erlaubt,  mich  überall,  wo  ich  es  für  geeignet 
halte,  auf  diese  seine  Worte  zu  beziehen,  die  er  im  erforderlichen  Fall 
allerorts  und  mit  dem  größten  Nachdruck  wiederholen  will. 

Ich  übergebe  dies  Faktum  Ew.  Durchlaucht,  um  davon  den  geeig- 
neten Gebrauch  zu  machen.  Bei  den  glücklichen  und  erfolgreichen 
Operationen,  die  Dieffenbach  gerade  an  imserm  Hof  vorgenommen 
hat,  läßt  sich  nicht  zweifeln,  daß  diese  Erklärung  ins  Gewicht  fallen 
und  wenigstens  den  obigen  Einwurf  beseitigen  wird. 

Was  mich  mit  Hoffnung  erfüllt  für  die  Sache  Heines,  ist  die  Wärme, 
mit  der  die  zwar  sehr  kleine,  aber  gesuchte  Anzahl  seiner  Freunde 
ihm  zu  dienen  bereit  ist. 

Ew.  Durchlaucht  in  Ihrer  gedoppelten  Stellung  als  Fürst  unter 
den  Reihen  unserer  Schriftsteller  und  unseres  Adels  haben  sehr  wohl 
begriffen,  wieviel  Heine  sich  versprechen  darf  von  Ihrem  Schutz  und 
welchen  Rechtsanspruch  er  auf  ihn  hat. 

Dieser  Mann,  von  der  geistlosen  Menge  gehaßt  und  mit  Kot  be- 
worfen, ausgestoßen  und  betrogen  durch  die  Bassesse  seiner  eigenen 
Krämerfamilie,  dieser  Mann,  der  angegriffen  hat  imd  sich  vergangen 
an  allem,  was  da  existiert,  hat  ein  Einziges  immer  hochgehalten  sein 
I/eben  lang. 

Dies  Einzige,  für  das  er  alles  andre  hingeopfert,  dessen  Kultus 
unwandelbar  er  treu  geblieben,  und  auf  dessen  Schutz  er  nun  gerechten 
Anspruch  hat  —  das  ist  der  Geist,  der  Schutz  des  Geistes  und  seiner 
Fahnenträger. 

Ein  Bild  des  Genius,  der  unter  den  stumpfen  Keulenschlägen  der 
Mittelmäßigkeit  zu  erliegen  droht,  ruft  er  zu  seiner  Hilfe  den  Geist  auf. 

Das  der  Rechtsanspruch,  den  Heine  auf  Ihren  Schutz  hat,  das 
der  Grund,  warum  Ew.  Durchlaucht  selbigen  ihm  so  warm  ge- 
währen. 

Verzeihen  Sie,  mein  Fürst,  wenn  ich  es  wage,  Ihnen  ins  Gedächt- 
nis rufen  zu  wollen,  wie  sehr  mein  Freund  Ihrer  Protektion  be- 
nötigt ist. 

Ich  danke  Ihnen  vorläufig  im  Namen  meines  Freundes,  bis  er  es 
bald  und  besser  sicherlich  selbst  tut,  für  den  Widerhall,  den  sein 
Hilferuf  in  Ihrem  Brief  gefunden,  und  zeichne  günstigen  Mitteilimgen 
entgegensehend  .  .  . 


^ayer,  I.assallc-Nacblass.     I  jj 


^258  -^=:  = 

74- 

IvASSALI/E  AN  ALEXANDER  VON  HUMBOLDT.    (Konzept  von 
der  Hand  Lassalles.) 

[Ende  Januar  184/5.] 
Ew.  Exzellenz 

verzeihe»,  wenn  ich  es  wage,  in  der  Angelegenheit  Heinrich  Heines/) 
in  der  Sie  mir  letzthin  so  warm  Ihren  mächtigen  vSchutz  versprachen, 
Ihnen  eine  vielleicht  nicht  ganz  unerhebliche  Mitteilung  zu  machen. 

In  einer  Unterredung,  die  ich  gestern  mit  dem  Geheimrat  Dieffen- 
bach  hatte,  hat  mir  dieser  die  Erklärung  abgegeben,  ,,er  wolle  es  mit 
Sicherheit  unternehmen,  Heines  Gesundheitszustand  herzustellen,  falls 
sich  dieser  einer  Kur  und  Diät  in  Berlin  unterwerfe".  Herr  Geheimrat 
Dieffenbach  hat  mir  erlaubt,  überall,  wo  es  von  Nutzen  sein  könne, 
mich  auf  diese  seine  Erklärung  zu  beziehen,  die  er  allerorts  mit  allem 
Nachdruck  zu  wiederholen  bereit  sein  würde. 

Er  sagte  mir  auch,  daß  er  sich  bereits  in  ähnlicher,  wenn  auch  nicht 
so  strikter  Weise  gegen  Ew.  Exzellenz  selbst  geäuiSert  habe.  Ich  teile 
dies  Ew.  Exzellenz  zu  beliebigem  Gebrauch  mit  für  den  Fall,  daß  man 
vielleicht  Heines  Krankheit  und  Hoffnung  auf  Herstellung  hier  nicht 
als  stichhaltigen  Grund  seiner  Reise  gelten  lassen  wollte.  Für  diesen 
Einwand  wenigstens  dürfte  dann  bei  den  glückhchen  Operationen,  die 
Dieffenbach  grade  am  hiesigen  Hofe  vorgenommen  hat,  .obige  Er- 
klärung wohl  genügend  sein.  Noch  kann  ich  Ew.  Exzellenz  anzeigen,, 
daß  ich  gestern^)  mit  Sr.  Durchlaucht,  dem  Fürsten  Pückler-Muskau, 
in  derselben  Angelegenheit  Rücksprache  genommen.  Seine  Durchlaucht, 
ein  begeisterter  Freund  Heines,  glaubt  zwar,  nicht  allein,  wohl  aber 
in  einer  Allianz  mit  Ew,  Exzellenz,  sich  die  Möglichkeit  eines  glück- 
hchen Erfolgs  versprechen  zu  dürfen. 

Ew.  Exzellenz  würden  viel  Gnade  für  mich  haben,  wenn  Sie  mir 
erlauben  wollen,  Nachricht  über  das  Resultat  Ihrer  hohen  Verwendung 
bei  Ew.  Exzellenz  einzuziehen. 

Schließlich  wage  ich  es,  die  Bitte  an  Ew.  Exzellenz  zu  richten, 
mir  gnädigst  eine  Zeit  zu  bestimmen,  in  welcher  ich  Ew.  Exzellenz, 
um  Ihren  Rat  einzuholen,  auf  einige  Minuten  von  einer  anderen  An- 
gelegenheit desselben  Mannes,  für  den  Sie  Achtung  und  ich  Liebe 
hege,  im ter halten  darf. 


^)  Lassalle  war  der  Überbringer  des  Briefes  gewesen,  den  Heine  selbst  in  be- 
treff seiner  Reisewünsche  am  II.  Januar  an  Humboldt  gerichtet  hatte,  vgl.  S.  38. 

2)  Lassalle  hatte  Pückler  am  26.  Januar  zuerst  aufgesucht,  aber  verfehlt. 
Dieser  wollte,  wie  er  Varnhagen  schrieb,  den  Besuch  am  folgenden  Tag  erwidern. 


=  259 

Da  ich  wolil  weiß,  wie  kostbar  die  Zeit  Ew.  Exzellenz  ist,  würde 
ich  diese  Bitte  nicht  wagen,  wenn  mich  nicht  der  schöne  Ruhm,  den 
Ew.  Exzellenz  in  so  hohem  Grade  genießen,  sich  für  den  Geist  und  den 
Genius  in  allen  Sphären  imd  Feldern  zu  interessieren,  dazu  ermutigte. 

Wärmer  als  ich  es  auszudrücken  vermag,  danke  ich  Ew.  Exzellenz 
für  den  hohen  Schutz  imd  Anwalt,  den  mein  hilfsbedürftiger  Freund 
in  Ihrer  großartigen  Denkmigsweise  gefmiden  tmd  bin  .  .  , 


7d- 
ALEXANDER  VON  HUMBOLDT  AN  LASSALLE.    (Original.) 

Dienstag.     [Ende  Januar  oder  Anfang  Februar  1846.] 

Wie  sollte  ich  Ihre  Ungeduld  tadeln;  aber  bei  dem  Vertrauen, 
mit  dem  mich  Herr  H[einej  persönlich  beehrt,  darf  ich  wohl  hoffen, 
daß  man  von  meinem  besten  Willen,  meiner  unerschrockensten  Tätig- 
keit und  meiner  Kenntnis  der  hiesigen  Verhältnisse  genugsam  über- 
zeugt ist.  um  nicht  die  Mittel  zu  vervielfältigen  und  gerade  dadurch 
zu  stören,  was  ich  zu  erlangen  strebe.^)  Ich  werde,  sobald  ich  Ge- 
wißheit erlangt  habe,  Herrn  H[eine,l,  seinem  Wunsche  gemäß,  un- 
mittelbar schreiben  vmd  Ihnen  zugleich  davon  auch  Nachricht  geben. 

Mit  der  ausgezeichnetsten  Hochachtung 

Ew.  Wohlgeboren 
gehorsamster 

A.  Humboldt. 

76. 

LASSALLE  AN  ALEXANDER  VON  HUMBOLDT.     (Konzept  von 
der  Hand  Lassalles.) 

[Berlin,  Ende  Januar  oder  Anfang  Februar  1846.] 

Ew.  Exzellenz! 

Mit  Bedauern  ersehe  ich  aus  den  gnädigen  Zeilen  Ew.  Exzellenz, 
daß  Ew.  Exzellenz  aus  meinem  Schreiben  zu  schließen  scheinen,  als 
hätte  ich  aus  dem  einen  oder  dem  andern  Grunde  es  für  nötig 
gehalten,  in  der  in  Rede  stehenden  Angelegenheit  noch  andere  Hilfe 
und  Vermittlung  als  die  Ew.  Exzellenz  anzurufen. 


^)  Heine  schrieb  an  I,assalle  am  10.  Februar:  ,,An  Humboldts  Sympathie 
habe  ich  nie  gezweifelt,  sein  Brief  ist  offenherzig  und  es  schlägt  darin  ein 
warmes  Herz." 


-  200   - 

Dem  ist  durchaus  nicht  so. 

Bei  Gelegenheit  eines  Gesprächs  mit  Seiner  Durchlaucht  dem  Fürsten 
Pückler-Muskau,  in  welchem  ich  ihm  einen  Auftrag  Heines  in  bezug  auf 
seine  sehr  derangierten  und  traurigen  Familienverhältnisse  ausrichtete 
—  eine  Angelegenheit,  in  der  ich  nach  dem  dringenden  Wunsche  Heines 
sehr  gern  den  Rat  Ew.  Exzellenz  einholen  möchte,  falls  Ew.  Exzellenz 
die  Gnade  haben  wollte,  mir  dies  zu  gestatten  — ,  glaubte  ich  Seiner 
Durchlaucht  als  einem  erklärten  Freund  Heines,  auch  jene  andere  Ab- 
sicht Heines  durch  die  Vermittlung  Ew.  Exzellenz  hierherkommen  zu 
dürfen,  ausnahmsweise  nicht  verschweigen  zu  müssen. 

Seine  Durchlaucht  erklärte  mir,  daß  er  ebenfalls  in  dieser  Sache 
sich  bei  Ew.  Exzellenz  verwenden  wolle.  Einerseits  konnte  ich  diese 
freiwillig  angebotene  Vermittlimg  nicht  zurückweisen,  andererseits  hielt 
ich  es  für  meine  Pflicht,  Ew.  Exzellenz  sofort  davon  Kenntnis  zu  geben. 

Ew.  Exzellenz  sehen  somit,  daß  durchaus  nicht  von  meiner  Seite 
die  Absicht,  die  Hilfe  zu  ,, vervielfältigen"  vorhanden  war.  Im  Gegen- 
teil weiß  ich,  von  aller  Ungeduld  entfernt,  die  Angelegenheit  meines 
Freundes  wenn  irgendwo,  so  in  den  Händen  Ew,  Exzellenz  nach  allen 
Seiten  hin  auf  das  beste  aufgehoben. 


ALEXANDER  VON  HUMBOLDT  AN  LASSALLE.   (Original.) 

Sonntags.     [Berlin,  wohl  Februar  1846.] 

Da  ich  Heines  Brief  durch  Ihre  Güte  empfangen  habe,  so  glaube 
ich  doch,  daß  es  besser  ist,  wegen  der  Antwort  Ihre  Güte  von  neuem 
in  Anspruch  zu  nehmen.  Es  ist  leider  nicht,  gar  nicht  geglückt!  *)  Darf 
ich  Sie  gehorsamst  bitten,  mich  morgen  Montags  mit  Ihrem  Besuche 
zu  beehren,  um  i  Uhr.  Ich  werde  Ihnen  dann  den  Brief  an  Heine, 
den  es  mir  schmerzhaft  gewesen  ist  zu  schreiben,  einhändigen. 
Mit  der  ausgezeichnetsten  Hochachtung 

Ew.  Wohlgeboren 
gehorsamster 
A.  v.  Humboldt. 

^)  Die  ablehnende  Autwort  des  Ministers  von  Bodelschwingh  Jan  Humboldt 
ist  vom  28.  Januar  datiert.  Humboldts  Antwort  an  Heine  findet  sich  bei  Ad. 
Strodtmann,  Heines  Leben  und  Werke.  |  2.  Aufl.  Berlin  1874,  S.  336.  P'riedrich 
Wilhelm  IV.  hätte  es  trotz  Heines  , .schändlichem  Spottgedichte  auf  Preußen" 
menschlicher  gefunden,  ihn  den  Berliner  Arzt  konsultieren  zu  lassen.  Aber  die 
Pohzei  wußte,  wie  Humboldt  für  sich  aufzeichnete,  „dem  ihr  fremden  Zartgefühl" 
des  Königs  erfolgreich  zu  widerstehen. 


—  201 z=z 

78. 

LASSAIXE    AN    GENERALLEUTNANT    GRAF    A.  L.   F.    VOX 
NOSTITZ.^)     (Konzept  von  Lassalles  Hand.) 

[15.  Sept.  1846.3 
Ew.  Exzellenz 

werden  sich  entsinnen,  daß  im  vorigen  Winter  einige  Erörterungen 
zwischen  Ew.  Exzellenz  und  mir  stattfanden,  weil  Sie  den  Verdacht 
hatten,  als  hätte  ich  Ihren  Diener  bestechen  wollen,  Korrespondenzen 
zwischen  Ihnen  und  dem  Direktor  des  Grafen  Hatzfeldt  mir  zur  Lesvmg 
einzuhändigen.  Sie  werden  sich  entsinnen,  daß  ich  Ihnen  erklärte, 
ich  würde,  falls  Sie  Ihren  mir  geäußerten  Verdacht  nicht  zurücknähmen, 
auf  eine  strenge  Untersuchvmg  des  Vorfalls  antragen,  worauf  Sie  sofort 
die  Sache  niederzuschlagen  imd  mich  um  deren  Geheimhaltung  zu  er- 
suchen für  gut  fanden. 

Heute  äußerte  Herr  Graf  Alfred  Hatzfeldt  ^)  einem  Offizier,  der  ihm 
einen  Auftrag  von  mir  für  seinen  Vater  überbrachte,  ,,ich  hätte  Sie 
damals  fußfälHg  gebeten,  die  Sache  nicht  untersuchen  zu  wollen". 
Demgemäß  bin  ich  in  die  Notwendigkeit  versetzt,  von  Ew.  Exzellenz 
die  bestimmte  imd  umgehende  Erklärung  zu  fordern,  ,,ob  dies  wahr 
oder  gelogen"  imd  ,,ob  meine  obige  Darstellimg  des  Vorfalls  richtig 
sei  oder  nicht".  Wenn  Ew.  Exzellenz  mir  diese  Erklärung  nicht  um- 
gehend übersenden,  so  haben  Sie  dadurch  meine  Ehre  angetastet  und 
gefährdet,  zu  deren  Reinigimg  ich  die  nötigen  Mittel  zu  ergreifen  wissen 
würde. 


79- 
GENERALLEUTNANT    GRAF    A.  L.  F.    VON   NOSTiTZ     AN 
I^ASSAIvLE.     (Original.     Nach  Aachen  adressiert.) 

Hannover,  den  20.  Sept.  1846. 

Ew.  Wohlgeboren 

Schreiben  vom  15.  habe  ich  erhalten.  —  Was  im  allgemeinen  den 
Versuch  der  Bestechung  für  Ausheferung  meiner  Briefe  anbetrifft,  so 
ist  Ew.  Wohlgeboren  bekannt,  daß  ich  die  in  meiner  Stellung  so  unver- 

*)  Graf  A.  I,.  F.  von  Nostitz  (1777 — 1866),  Blüchers  Adjutant  in  den  Jahren 
18 13 — 18 15,  dann  Generaladjutant  des  Königs,  war  mit  einer  jüngeren  Schwester 
der  Gräfin  Sophie  Hatzfeldt  verheiratet. 

-)  Graf  Alfred  von  Hatzfeldt  (1825 — 191 1)  war  der  ältsete'Sohn  ^Sophie  von 
Hatzfeldts,  der  aber  .-um  Vater  hielt.    - 


'       ■  262   ==================^ 

meidliche  Untersuchung  der  Polizei  übertragen,  ohne  eigens  von  meiner 
Seite  einen  Verdacht  äußern,  noch  eine  Person  namhaft  machen  zu 
können.  —  Die  Polizei  hat  allein  gehandelt.  Ew.  Wohlgeboren  kennen 
den  Verlauf  der  Sache  und  wissen,  daß  ich  nach  näherer  Kenntnis- 
nahme derselben  keinen  Wert  mehr  auf  die  fernere  Ermittelung  legen 
wollte.  Ich  tat  daher  Ihren  Wünschen  gemäß  freiwillig  darauf  Ver- 
zicht, ohne  von  dem  mir  von  Ew.  Wohlgeboren  dafür  gemachten  An- 
erbieten Gebrauch  zu  machen.  —  Das  von  dem  Universitätsgericht 
aufgenommene,  von  Ihnen  unterzeichnete  Protokoll  weist  das  Sach- 
verhältnis nach. 

Seit  jener  Zeit  habe  ich  das  allerdings  sehr  eigentümliche  Ereignis 
als  völlig  beendigt  betrachtet,  soviel  ich  weiß,  nie  mehr  darüber  ge- 
sprochen, es  zu  vergessen  gesucht.  —  Ob  von  seiten  der  in  Kenntnis 
gesetzten  Behörden  oder  den  im  Antrag  konkurrierenden  Personen 
überhaupt  und  was  darüber  gesprochen  worden,  weiß  ich  nicht. 

Ich  hoffe,  Ew.  Wohlgeboren  werden  meinem  ganzen  Benehmen 
in  dieser  Angelegenheit  wohl  die  ihm  gebührende  Anerkennung  nicht 
versagen  können. 


80. 

LASSALLE     AN    GENERALLEUTNANT    GRAI^    A.  L.  F.   VON 
NOSTITZ.     (Konzept  von  der  Hand  Lassalles.) 

[Coblenz,  Ende  September  1846.] 
Ew.  Exzellenz 

sehr  geehrte  Zuschrift  vom  20.  September  habe  ich  einer  Abwesenheit 
von  Aachen  wegen  erst  heute  erhalten  und  beeile  mich,  Ew.  Exzellenz 
im  allgemeinen  meinen  Dank  auszusprechen,  zugleich  aber  auch  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  daß  Ew.  Exzellenz  geehrtes  Schreiben  keine 
offen  und  strikte  Antwort  auf  meine  höchst  einfach  gestellte  Frage  enthält. 
Meine  Frage  lautete  dahin:  i.  ,,0b  es  wahr  sei,  daß  ich  Sie  (wie 
Herr  von  Landsberg*)  und  Graf  Alfred  Hatzfeldt  durch  Sie  selbst  gehört 
zu  haben  behaupten)  in  Berlinfußf  all  ig  darum  gebeten  habe,  die  Sache 
niederzuschlagen.  2.  Ob  ich  Sie  überhaupt  auf  irgendeine  andre  Weise 
darum  gebeten  habe,  oder  ob  Sie  nicht  vielmehr  die  Niederschlagung 
vornahmen,  ohne  von  mir  auch  nur  darum  ersucht  worden  zu  sein. 
Ew.  Exzellenz  erinnern  sich,  daß  ich  mir  Ihnen  damals  die  Alternative 
zu  stellen  erlaubte,  entweder  von  dieser  Geschichte,  in  die  ntm  einmal 

^)  Engelbert  Freiherr  von  Landsberg-Steinfurt  war  mit  einer  ^Schwester  der 
Gräfin  Sophie  von  Hatzfeldt  verheiratet. 


263  ===z=== 

mein  Name,  gleichviel  ob  mit  Recht  oder  Unrecht,  hineinverwickelt 
war,  gänzlich,  besonders  in  Privatkreisen,  zu  schweigen  oder  im  Gegen- 
falle gewiß  zu  sein,  daß  ich  selbst  durch  eine  von  mir  anhängig  gemachte 
Untersuchung  darüber  und  durch  Übergabe  des  Vorfalls  an  die  Öffent- 
lichkeit die  Möglichkeit  unangenehmer  Gerüchte  im  Keim  ersticken 
wolle.  Von  dieser  Ew.  Exzellenz  von  mir  mit  aller  Ew.  Exzellenz 
schuldigen  Achtung,  durchaus  aber  nicht  bittweise  gestellten  Alter- 
native entschieden  sich  Ew.  Exzellenz,  den  ersten  Fall  zu  ergreifen. 
Mir  selbst  war  totale  Geheimhaltung  und  totale  Veröffentlichung  der 
Sache  gleich  recht,  nur  daß  ich  die  so  beliebten  gewissen  Mitteilungen 
nicht  dulden  wollte.  Da  Ew.  Exzellenz  nun  das  erstere  bei  weitem 
vorzogen,  die  anhängige  Untersuchung  sofort  ohne  mein  Wissen  sogar, 
als  ich  sie  noch  im  Gange  glaubte,  niederschlugen  und  mir  mit  Hand 
und  Mvmd  versprachen,  nie  im  Privatgespräch  meinen  Namen  hinein- 
mengeu  zu  wollen,  mir  auch  sagten,  Rücksichten,  die  mir  völlig  unbe- 
kannt, machten  Ihnen  eine  totale  Unterdrückung  des  Vorfalls  wün- 
schenswert, so  hatte  ich  meinerseits  keinen  Grund,  Ihren  Wünschen 
tmd  Absichten  entgegen  zu  sein.  So  sehr  mm  auch  die  Bestätigimg 
dieser  Sacherzählung  schon  aus  dem  Briefe  Ew.  Exzellenz  erhellt,  den 
ich  eben  zu  beantworten  die  Ehre  habe,  so  ist  doch,  worauf  es  mir 
allein  ankömmt,  jene  oben  sub  i  und  2  gestellte  Frage,  wenn  auch 
an  sich  doch  nicht  mit  klaren  Worten  und  entschieden  beantwortet. 
Und  Ew.  Exzellenz  werden  einsehen,  daß  man,  wo  es  sich  um  Ehre 
handelt,  nicht  zu  pedantisch  skrupulös  sein  kann.  Ich  muß  also  schon 
Ew.  Exzellenz  soweit  inkommodieren,  daß  ich  meine  Bitte  wiederhole, 
dies  doch  ja  umgehend  und  so  kurz  und  undiplomatisch  wie  möglich 
zu  tim;  da  Ew.  Exzellenz,  woran  ich  nach  dem  ehrenvollen  und  weit- 
verbreiteten Klang  Ihres  Namens  keinen  Augenblick  zweifelte,  ent- 
schlossen sind,  wie  Ihr  Brief  zeigt,  der  Wahrheit  die  Ehre  zu  geben, 
so  muß  ich  Sie  auch  sehr  dringend  ersuchen,  es  doch  in  der  unweit- 
läuftigen  xmd  einfachen  Form  zu  tun,  in  der  die  Wahrheit  am  liebsten 
auftritt,  mit  einer  ganz  kategorischen  Beantwortung  meiner  Fragen, 
die  allen  Ausflüchten  und  allen  unwürdigen  Windungen,  die  die  Ver- 
leumdung, ehe  sie  sich  ergibt,  als  letztes  Mittel  zu  ergreifen  pflegt, 
von  vornherein  den  Weg  versperrt.  Zur  Entschuldigung  und  Recht- 
fertigimg meiner  so  dringlich  gestellten  Forderung  brauche  ich  Ew. 
Exzellenz  bloß  zu  sagen,  daß  es  sich  hier  um  meine  Ehre  handelt. 
Ein  Mann  von  der  militärischen  Stellung  und  dem  Privatcharakter 
Ew.  Exzellenz  wird  wissen,  daß  dieser  Rücksicht  gegenüber  jede  andre 
schwinden  muß,  daß  ein  Angriff  auf  die  Ehre  mit  mehr  Entschiedenheit, 
Konsequenz  und  Erbitterung  zurückgewiesen  werden  muß,  als  einer 
selbst  auf  Besitz  tmd  Leben. 


-  264  - 

8i. 

GENERALLEUTNANT     GRAF    A.   L.    F.    VON    NOSTITZ     AN 
LASvSALLE.    (Original.     Nach  Aachen  adressiert.) 

Zobten,  d.  13.  Okt.  1846. 

Auf  Ew.  Wohlgeboreu  Schreiben  erwidere  ich,  daß,  als  mir  der 
Bestechungsversuch  für  Aasliefening  meiner  Briefe  offiziell  angezeigt 
wurde,  die  Stellung  zur  Person  des  Königs  und  zum  Staat  es  mir  zur 
Pflicht  machte,  der  Polizei  die  nötige  Anzeige  zu  machen.  Die  Polizei 
hat  hierauf  selbständig  gehandelt,  mir  waren  die  näheren  Umstände 
und  die  beteiligten  Personen  völlig  unbekannt.  Ew.  Wohlgeboren 
sprachen  den  Wunsch  der  Niederschlagung  fernerer  Untersuchimg  aus 
und  wollten  mir  dafür  etwas  entdecken,  was  tausendmal  wichtiger  sei 
als  das  Auffinden  des  Urhebers  der  versuchten  Bestechung.  Daß  dies 
Verlangen  von  Ew.  Wohlgeboren  fußfällig  ausgesprochen  ist,  ist  völhg 
imrichtiger  Zusatz;  —  ich  hatte  meinerseits  durchaus  kein  persönliches 
Interesse,  die  Niederschlagung  der  L^ntersuchung  zu  veranlassen,  ich 
konnte  aber  auch  ebensowenig  einen  Wert  darauf  legen,  den  Fortgang 
derselben  zu  veranlassen,  nachdem  ich  die  nähere  Veranlassung  des 
Geschehenen  deutlich  erkannt. 

Ich  willigte  daher  in  die  Niederschlagung  der  ferneren  Untersuchung 
und  sprach  den  diesseitigen  Antrag,  welcher  von  mir  allein  nur  aus- 
gehen konnte,  gegen  den  Universitätsrichter  aus.  Nachdem  der  Herr 
Prorektor  ihn  genehmigt,  erhielt  ich  folgendes  Protokoll: 

Berlin,  d.  1.  Aprü  1846. 

Der  Herr  Generaladjutant  Sr.  Majestät  des  Königs,  Generalleutnant 
Graf  von  Nostitz,  hatte  dem  unterzeichneten  Universitätsrichter  den 
Wunsch  zu  erkennen  gegeben,  die  Angelegenheit,  bei  welcher  der  Stu- 
diosus Lassal  beteiligt  sei,  seitens  der  akademischen  Behörde  nicht 
weiter  verfolgt  zu  sehen.  Da  der  Herr  Rektor,  welchem  der  Universitäts- 
richter von  dem  Verlangen  des  Herrn  Grafen  von  Nostitz  und  den 
bei  der  Sache  in  Betracht  zu  ziehenden  Momenten  mündlich  Mitteilung 
gemacht  hatte,  sich  ebenfalls  bereit  erklärte,  diesem  Wunsch  zu  ent- 
sprechen, so  ward  dem  Studiosus  Lassal  —  welcher  zu  heut  bestellt 
worden  war  —  eröffnet,  daß  durch  Anzeige  des  Polizeirat  Hoferichter 
sein,  des  Komparenten  Benehmen  gegen  den  Schreiber  des  Grafen  von 
Nostitz,  Wachtmeister  Oelze  sowie  gegen  den  Diener  Pohl  in  betrel? 
der  Privatkorrespondenz  des  Herrn  Graten  zur  Kenntnis  der  akade- 
mischen Behörde  gelangt  und  durch  die  Aussagen  der  vollkommen 
glaubwürdigen  Zeugen  Oelze  und  Kommissionär  Krüger  als  ein  solches 
dargestellt  sei,   dessen  ein   gebildeter  und  ehrenhafter  junger  Mani^ 


--=  265  =^^ 

sich  nicht  sollte  zuschulden  kommen  lassen.  Es  würde  daher  eine  weitere 
Untersuchimg  und  strenge  Rüge  an  sich  gerechtfertigt  sein.  —  Die 
akademische  Behörde  wolle  jedoch  auf  den  Wunsch  des  Herrn  Grafen 
von  Nostitz  Abstand  nehmen  in  der  Erwartung,  daß  der  Herr  Lassa! 
sich  fortan  jeglicher  Einmischung  in  die  Angelegenheiten  des  Herrn 
Grafen  von  Nostitz  enthalten  werde. 

Vorgelesen  und  unterschrieben 

F.  Ivassal. 
Trendelenburg,  Lehnert, 

z.  Z.  Rektor.  Universitätsrichter. 

Ich  war  mit  diesem  Protokoll  zufrieden,  lehnte  jedoch  die  mir  von 
Ew.  Wühlgeboren  zugesagte  wichtige  Mitteilung  ab;  einer  Wieder- 
aufnahme der  sistierten  Untersuchung  werde  ich  kein  Hindernis  in 
den  Weg  legen,  falls  diese  von  Ew.  Wohlgeboren  gewünscht  werden 
sollte. 

Da  sowohl  bei  der  Einleitung  der  Untersuchung  mehrere  Behörden 
als  mehrere  Personen  Kenntnis  des  Protokolls  erhalten  hatten,  so  ist 
es  sehr  natürlich,  daß  über  so  etwas  Ungewöhnliches  manches  gesprochen, 
auch  irrtümlich  beigefügt  wird.  Ich  meinesteils  konnte  kein  entferntes 
Interesse  haben,  darüber  Mitteilungen  zu  macheu, 

Ew.  Wohlgeboren  werden  sich  bei  genauer  Prüfung  gewiß  über- 
zeugen, daß  dies  hier  Gesagte  alles  enthält,  was  ich  auf  das  erhaltene 
Schreiben  zu  erwidern  vermag. 


82. 

IvASSALLE    AN    GENERALLEUTNANT    GRAF    A.|;  L.  F.  VON 

NOSTITZ.    (Original- Konzept.) 

[Ende  Sept.  1846.] 

Erst  heute  erhalte  ich  das  Schreiben  Ew.  Exzellenz  und  beeile 
mich,  Ew.  Exzellenz  für  die  Erfüllung  meines  Wunsches  und  die  ver- 
ursachte Mühe  meinen  Dank  abzustatten.  Nur  will  ich  noch  bemerken, 
daß  mir  in  der  Zuschrift  Ew.  Exzellenz  aufgefallen,  daß  ich  Ihnen 
in  Berlin  die  Mitteilung  eines  Geheimnisses  angeboten  haben  soll. 
Diese  Meinung  Ew.  Exzellenz  kann  sich  nur  auf  ein  Mißverständnis 
oder  auf  ungenaue  Erinnerung  gründen.  Ich  entsinne  mich,  daß  ich 
dxirch  das  so  große  Wohlwollen,  das  mir  Ew.  Exzellenz  in  Ihren  Ge- 
sprächen versicherte,  zur  Gegenseitigkeit  geneigt  und  genötigt  Ew. 
Exzellenz,  indes  ganz  im  abhängig  von  der  Bestechungsaffäre  und  ihrem 


-- ^-  266  —  = 

Arrangement  [?],  eine  jedoch  höchst  erlaubte  und  höchst  loyale  Mit- 
teilung zu  machen  gedachte,  die  nicht  im  mindesten  den  Namen  eines 
„Geheimnisses"  verdiente  und  die  ich  dann  zu  machen  unterließ,  weil 
ich  mich  überzeugte,  daß  sie  nicht,  wie  ich  anfänglich  irrtümlich  ge- 
glaubt, Ew.  Exzellenz  von  Interesse  sein  könnte.  Das,  was  Ew.  Exzellenz 
mir  von  einem  Geheimnisse  schreiben,  muß  sich  nun  wohl  hierauf 
beziehen,  da  mir  sonst  nicht  bekannt  ist,  ein  Geheimnis  zum  Berufungs- 
zweck [  ?]  mit  Ew.  Exzellenz  gehabt  zu  haben  und  überhaupt  Geheim- 
nisse gegen  irgend  andres  auszutauschen  in  meiner  Art  nicht  gelegen 
ist.  Sonst  erinnere  ich  mich  von  dem  Inhalt  der  wenigen  Gespräche, 
die  ich  mit  Ew.  Exzellenz  zu  führen  die  Ehre  gehabt,  nur,  daß  Ew. 
Exzellenz  mich  auf  das  Freundlichste  Ihres  Wohlwollens  versicherten 
und  mich  von  dem  Verkauf  Ihres  Besitztums  Muskau ^)  unterhielten; 
Ew.  Exzellenz  teilten  mir  mit,  daß  Ihre  Vermögensverhältnisse  es  Ihnen 
unmöglich  machten,  Ihren  Anteil  an  Muskau  länger  zu  behalten,  daß 
Verlängerung  dieses  Besitzes  ruinierend  auf  Sie  wirken  müßte,  daß 
Sie  es  nur  in  der  Absicht  mitgekauft,  dem  Grafen  Hatzfeldt,  dessen 
finanzielle  Umstände  den  Alleinerwerb  der  Standesherrschaft  nicht 
ermöglichten,  zu  Hilfe  zu  kommen.  Als  ich  so  freimütig  war,  Ew. 
Exzellenz  zu  erwidern,  dies  nehme  mich  um  so  mehr  wunder,  da  ich 
vielmehr  gehört,  der  Graf  Hatzfeldt  habe  Ew.  Exzellenz  auch  für  Ihre 
partielle  Akquirierung  die  Gelder  vorgeschossen,  fühlten  sich  Ew. 
Exzellenz  veranlaßt,  mir  zu  beteuern,  ,,Sie  hätten,  so  wahr  Sie  vor 
mir  säßen,  nicht  einen  Groschen  vom  Graf  Hatzfeldt  erhalten."  Das 
Wohlwollen,  das  mir  Ew.  Exzellenz  durch  diese  unerwartet  vertrau- 
lichen Mitteilungen  erwies,  bewirkte,  daß  mir  diese  Worte  Ew.  Exzellenz 
verbauter  im  Gedächtnis  verblieben  sind.  Außerdem  entsinne  ich 
mich  noch,  daß  Ew.  Exzellenz  mit  Bezug  auf  Ihre  Stellung  zuerst  dem 
Vorfall  eine  politische  Bedeutung  beizumessen  schienen,  dann  aber 
meiner  Bemerkung,  daß  ein  Angriff  auf  die  Papiere  Ew.  Exzellenz 
schwerlich  politischer  Natur  sein  dürfte,  beipflichteten.  Ew.  Exzellenz 
schieden  von  mir  mit  der  gnädigen  Versicherung,  stets  mir  zu  Dienst- 
leistungen bereit  sein  zu  wollen.  Dies  ist  alles,  worauf  sich  der  kurze 
Verkehr,  den  ich  mit  Ew.  Exzellenz  zu  führen  die  Ehre  hatte,  be- 
schränkte. 

Ich  bin  indes  Ew.  Exzellenz  für  Ihre  letzte  Zuschrift  dankbar  und 
bin  mm  in  den  Stand  gesetzt,  nötigenfalls  öffentlichen  Gebrauch  von 
ihr  zu  machen,  obwohl  in  der  Weise,  daß  ich  mit  Ihrem  geehrten  Briefe 


^)  Die  Standesherrschaft  Muskau  im  Regierungsbezirk  Liegnitz  war  1S45  vom 
Fürsten  Pückler  an  den  Grafen  Edmund  von  Hatzfeldt  und  von  diesem  1846 
an  den  Prinzen  Friedrich  der  Niederlande  verkauft  worden. 


267- 

zur  Berichtigtmg  der  in  ihm  enthaltenen  oben  auseinandergesetzten 
Ungenauigkeit  meine  jetzige  Antwort  verbinden  muß.  falls  Ew.  Ex- 
zellenz nicht  vorziehen,  durch  ein  nochmaliges,  von  jener  Unrichtigkeit 
befreites  Schreiben  mich  dieser  Weitläufigkeit  zu  überheben. 


83. 
LASSALI.E  AN  ARNOLD  MENDELSSOHN.    (Original.) 

[28.  September  1846.] 

Beifolgendes  Paket  enthält  20  Napoleons. 

Du  bist  ein  kompletter  Narr.  Und  es  geht  bei  Gott  fast  zu  weit, 
daß  ich  in  einer  Zeit,  wo  ich  so  schon  so  vielgequält  bin,  noch  für  Deine 
Narrheiten  Geld,  Zeit,  Mühe  und  Ärger  verwenden  muß.  Wodurch 
habe  ich  Dir  schon  Anlaß  gegeben,  zu  glauben,  daß  ich  Dich  je  im 
Stiche  lassen  könnte?  Wodurch?  frag'  ich.  Glaubst  Du,  daß  mein 
Herz  so  klein  ist  wie  Dein  Gehirn?  Und  wie  soll  ich  jetzt  auf  die  Idee 
kommen,  Dich  im  Stich  zu  lassen?  Jetzt,  wo  ich  nicht  den  geringsten 
Grund  zur  Unzufriedenheit  mit  Dir  habe??  Deine  fortgesetzten  Soup- 
90ns,  daß  ich  Dich  im  Stich  lassen  könnte,  dürften  höchstens  zeigen, 
daß  ich  solches  von  Dir  zu  befürchten  habe.  Denn  kein  Mensch  kömmt 
auf  einen  Gedanken,  der  seinem  eignen  Wesen  widerspricht.  Ich  habe 
noch  nie  geglaubt,  daß  Du  mich  im  Stich  lassen  würdest  oder  könntest. 
La  force  est  bonne.  Ich  will  Dir  selbst  überlassen.  Dein  Mißtrauen 
imd  Deinen  Unglauben  zu  charakterisieren  und  Dich  dafür  zu  ohr- 
feigen. Dein  Argwohn  ist  aber  auch  eine  Infamie  gegen  mich.  Dein 
Verdacht  eine  Ehrlosigkeit  und  die  tiefste  Beleidigung  meiner  — ■-  nein, 
das  ist  nicht  wahr.  Du  hast  Dich  noch  weit  tiefer  dadurch  beleidigt 
als  mich.   — 

Also  um  Dir  die  Rätsel  aufzuklären.  Ich  war  die  ganze  Zeit  in 
Koblenz,  und  Deine  Briefe  wurden  mir  trotz  Deines  bestimmten  Wunsches 
doch  nicht  nachgeschickt,*)  weil  ich  zufällig  den  noch  weit  bestimmteren 
Befehl  zurückgelassen,  jeden  Brief,  der  für  mich  käme,  dazubehalten. 


^)  Mendelssohn  hatte  sich  nach  dem  Kassettendiebstahl  im  „Mainzer  Hof" 
in  Köln  zuerst  nach  England  geflüchtet.  Mit  einem  Paß  auf  den  Namen  Gold- 
smith versehen,  den  er  sich  dort  verschaffte,  war  er  dann  in  die  Nähe  der 
preußischen  Grenze  gegangen  und  hatte  von  hier  aus  mehrere  Briefe  an  I/assalle 
geschrieben,  die  diesen  nicht  erreichten.  Danach  erst  hatte  er  mit  seinem  letzten 
Geld  sich  nach  Paris  gewandt.  Man  lese  den  Brief,  den  er  am  25.  September 
nach  seiner  Ankunft  in  Paris  an  Heinrich  Heine  schrieb,  in  Heine-Reliquien,  Neue 
Briefe  und  Aufsätze  Heinrich  Heines.  Berlin  191 1,  S.  201  f.  Vgl.  avich  den  hier 
folgenden  Brief  Lassalies  an  Heine  (Nr.  84). 


— :    268 —  =. 

So  komme  ich  denn  gestern,  den  27.,  hier  an  und  finde  Deine  drei  Briefe 
auf  einmal.  Sofort  schickte  ich  Dir  den  Paul  ^)  nach.  Ich  gab  ihm  4  lyouis- 
dor  für  sich  und  50  Rt.  für  Dich  und  den  Befehl,  Dir  bis  Brüssel  nach- 
zureisen und  wenn  er  Dich  nicht  finden  könnte,  bis  dahin  in  Brüssel 
Frau  V.  M.-)  aufzusuchen  oder  zu  diesem  Zweck  nach  dem  Haag  zu  gehen. 
— ■  Abends  erzählt  mir  Herr  Rener,^)  Herr  Seligmann  wäre  bei  mir  ge- 
wesen, ich  eile  hin,  um  zu  erfahren,  was  er  will  und  ersehe  mm  Deinen 
pitoyablen  Brief  und  Deine  Adresse  in  Paris.  Ich  schicke  Dir  meine 
letzten  100  Rt.  mit  dem  Befehl,  Dich  nach  Brüssel  imd  dem  Haag  zu 
begeben  und  die  M.  genau  zu  beobachten,  Paul'n.  wenn  Du  ihn  triffst, 
die  50  Rt.,  die  er  für  Dich  hat,  abzunehmen,  sie  mir  nach  Köln  zu 
schicken,  wenn  es  irgend  geht,  oder  sie  an  Dich  zu  nehmen,  wenn  Du 
sie  dringend  brauchst. 

Antworte  mir  sofort  an  Herrn  Rener  in  B.,  ob  Du  den  Brief  erhalten, 
mache  Dich  sofort  nach  Brüssel  auf,  und  teile  mir  Deine  dortige  Adresse 
mit.  Ich  kann  Dir  übrigens  ziemlich  gute  Nachricht  geben.  Mein  Vater 
ist  hier  angekommen,  schon  wieder  abgereist,  binnen  10  bis  14  Tagen 
werde  ich  ein  Hilfskorps  von  2000  Rt.  von  ihm  erhalten.  Gegen  den 
Grafen  haben  wir  einen  Prozeß  erhoben,  der  ihn  vernichten  wird  — 
den  Prodigalitätsprozeß,  d.  h.  Antrag  gestellt,  ihn  für  einen  Verschwender 
zu  erklären  und  unter  Kuratel  zu  stellen.  Er  wird  dieser  Tage  durch- 
gehen, d.  h.  der  Antrag.  Sieh  zu,  ob  Du  den  Grafen  vielleicht  in  Brüssel 
triffst.  Ich  bin  von  seinem  Aufenthalt  nicht  unterrichtet.  Verschone 
mich  mit  ähnlichen  Dummheiten  für  die  Zukunft.  Du  solltest  un- 
gefähr wissen,  daß  ich  ungefähr  ebenso  gern  meine  beiden  Augen  im 
Stich  lassen  würde  wie  Dich. 

[Oktober  1846.]'^ 

Voranstehendes  ist  der  Brief,  den  ich  Dir  durch  die  Adresse  Neißer 
gesandt  habe.  Ich  habe  ihn  jetzt  zurückerhalten  imd  schicke  ihn  Dir 
wieder,  da  er  doch  für  Dich  bestimmt  war.  Dagegen  sind  die  20  Napoleons 
nach  hierher  retoumiert.  Dies  hat  man  nun,  alle  diese  dummen  Un- 
gelegenheiten  und  Kosten  von  der  Seligmann  angegebenen  Adresse 
Neißer,     Denn  sonst  hätte  ich  es  schon  damals  an  Heine  geschickt. 


1)  Graf  Paul  von  Hatzfeldt,  der  jüngste  Sohn  der  Gräfin  Hatzfeldt.    S.  S.  14- 

2)  Frau  von  Meyendorf. 

^)  Der  Besitzer  des  Hotel  ..Bellevue"  in  Deutz,  wo  die  Gräfin  Hatzfeldt  und 
Lassalle  damals  ihren  Wohnsitz  hatten. 

*)  Der  vorstehende  Brief  war,  ohne  den  Adressaten  zu  erreichen,  an  I<assalle 
zurückgekehrt.  Dieser  schickte  ihn  noch  einmal  ab  und  setzte  das  Nachstehende 
hinzu.  Inzwischen  hatte  er  bereits  die  beiden  folgenden  Briefe  an  Heine  und 
Mendelssohn  abgeschickt. 


~  269  — 

Ich  schicke  Dir  also  heut  inliegend  einen  loo-Rt. -Schein.  Zeige  mir 
richtigen  Empfang  an. 

Was  Deine  letzten  Briefe  betrifft,  so  muß  ich  Dir  sagen,  daß  Deine 
Superklugheit  mir  nicht  gefällt  und  nicht  richtig  ist.  Ich  habe  mir 
nie  über  irgend  etwas  Illusionen  gemacht,  höchstens  manchmal  andern. 
Dennoch  verhalten  sich  die  Dinge  zum  Glück  nicht  gerade  so,  wie  Du 
sagst.  Ich  ersehe  aus  allem  nur,  daß  Du  in  Paris  unseren  Freunden 
gegenüber  die  Dinge  nicht  aus  dem  richtigen  Gesichtspunkt  verteidigt 
hast.  Erlasse  mir,  den  Beweis  schriftlich  zu  führen.  Wer  sich  von 
ims  Illusionen  macht,  bist  Du,  wenn  Du  auf  Max  irgendeine  Hoffnung 
setzst.  Wenn  ich  Dinge  schreibe,  wie  z.  B.  die  Geldentziehimg,  so 
meine  ich  nicht,  daß  Heine  und  Grün  viel  wirklichen  Unwillen  darüber 
empfinden  werden,  wohl  aber,  daß  man  unwillig  darüber  perorieren  kann 
in  den  Zeitimgen.  Wie  niedrig  übrigens  Geldentziehungen  sind,  ist 
nicht  schwer  zu  beweisen  und  braucht  bloß  darüber  Heine  au  seine 
Interjektionen  in  seiner  Verwandtschaftsangelegenheit  zu  denken. 

Schreibt  doch,  bei  der  Schönheit  und  dem  bekannten  Geist  der 
Gräfin  Hatzfeldt  begriffe  man  nicht,  wie  der  Graf  sich  zu  solchen 
Dingen  verleiten  lassen  konnte  für  eine  so  ungraziöse  Frau  wie 
Madame  Meyendorf.  Seht  das  nicht  als  eine  Kleinigkeit  an,  sondern 
wiederholt  es  oft. 

Sowie  ich  in  bezug  auf  die  Zeit  kann,  komme  ich  gleich  nach 
Paris.  Die  Meinung  hier  gestaltet  sich  immer  mehr  für  uns.  Der 
Kleine*)  wird  freigesprochen.    Leb  wohl. 


84. 

LASSALLE   AN  HEINRICH  HEINE. 2)     (Abschrift  von  der  Hand 
eines  Schreibers  des  Assisenhofs.) 

[Anfang  Oktober  1846.] 
Lieber  Heine, 

Vielgeliebter  Freund!  Ich  wollte  dieser  Tage  zu  Ihnen  herüber- 
kommen, um  mit  Ihnen  eine  höchst  dringende  Angelegenheit,  in  der 
Ihre  Hilfe  mir  von  der  höchsten  Wichtigkeit  ist,  zu  besprechen.   Allein 

^)  Alexander  Oppenheim. 

2)  Am  7.  Oktober  hatte  Arnold  Mendelssohn  von  Paris  an  Lassalles  Vater 
geschrieben:  ,,Wenn  Sie  die  Adresse  Ihres  Sohnes  wissen,  so  schreiben  Sie  ihm 
doch  gefälligst,  daß  Heine  und  besonders  ich  schmerzlichst  auf  Nachricht  von 
ihm  warten.  Schreiben  Sie  uns  zugleich,  wo  er  ist;  es  ist  für  ihn  sehr  wichtig, 
wenn  wir  korrespondieren  können;  Sie  wissen  die  Adresse  Heines,  wie  er  mir 
sagt ..." 


— =r  270 — -  

Geschäftsverwicklungen  nageln  mich  für  den  Augenblick  an,  ich  kann 
nicht  absehen,  wenn  mir  eine  Reise  nach  Paris  möglich  ist.  vSo  muß 
ich  denn  brieflich  Ihnen  diese  Angelegenheit  entwickeln,  obwohl  das 
viele  Mißlichkeiten  and  Unvollkommenheiten  mit  sich  bringt  und  ich 
dabei  die  Sehnsucht  meines  Herzens,  Sie,  mein  lieber,  lieber  Freund, 
wieder  einmal  mit  leiblichen  Augen  zu  schauen,  das  gedankenvolle 
Haupt  mit  dem  feingeschnittenen  spöttisch  zuckenden  Mimd  vor  mir 
zu  sehen,  nicht  befriedigen  kann.  Es  wird  Ihnen  gewiß  durch  Zei- 
timgen  und  lügenhaftes  Privatgeträtsch  manches  über  den  Kassetten- 
diebstahl, dessen  Motive  etc.  zu  Ohren  gekommen  sein.  Alles,  was 
Sie  darüber  gehört  habeii  mögen,  so  wahr  es  auch  sei,  ist  falsch.  Denn 
so  wahr  es  auch  ist,  ist  es  doch  jedenfalls  halb  und  unvollständig.  Und 
jede  Halbheit  und  Unvollständigkeit  ist  Falschheit.  I^eider  kann  ich 
Ihnen  brieflich  schon  der  Länge  wegen  nicht  alle  Details  des  herz- 
empörenden Romans  mitteilen,  in  welchem  ich  jetzt  eine  Rolle  zu 
übernehmen  für  gut  gefunden  habe.  Also  nur  Umrisse.  Die  größte 
Bewunderung  der  seltensten  geistigen  Eigenschaften  und  des  reinsten 
IdeaUsmus  hat  mich  mit  dem  dauerndsten  tiefsten  Interesse  und  der 
unverbrüchlichsten  Treue  für  die  Gräfin  von  Hatzfeldt  erfüllt.  Wenn 
dies  Interesse  noch  durch  irgend  etwas  gesteigert  werden  konnte,  so 
war  es  durch  die  maßloseste  Empörung  über  die  imbeschreibliche 
Reihe  der  grausamsten  Mißhandlungen,  der  ehrlosesten  Infamie,  mit 
welchen  seit  dem  Jahre  1822  dieses  unschuldige  und  bewundernswürdige 
Weib  aus  dem  einzigen  Grunde,  weil  sie  reiner,  besser  imd  durch- 
geisteter  war  als  die  seelenlosen  Fleischklumpen,  mit  denen  eine  un- 
gerechte ironische  Geburt  sie  in  Verwandtschaft  gebracht,  unaus- 
gesetzt überhäuft  wurde.  Sie  haben  mir  oft  die  alte,  seit  Menschen- 
gedenken stets  wiederkehrende  Elegie  geklagt,  wie  Sie  um  des  I/cbens 
Blüte  gekommen  sind,  scheiternd  an  der  einen  großen  gemeinschaft- 
lichen Klippe,  die  uns  allen  droht,  an  der  faulen  Gesinnungslosigkeit, 
der  Gemeinheit  und  Perfidie  jener  Filzläuse,  die  annoch  als  die  furcht- 
bare Majorität  in  der  Welt  herumwimmeln.  Andere  haben  auch  ge- 
litten wie  Sie  und  viele  mehr  als  Sie.  Wenn  aber  anders  dem  größeren 
Unglück  und  der  größeren  Reinheit  die  größere  Ehrfurcht  gebührt,  so 
müssen  wir  alle  mit  abgezogenem  Hut  dastehen  vor  dem  Unglück 
dieses  Weibes.  Nicht  der  Zufall  ist  so  empörend,  daß  sie  gerade  einen 
Mann  gefunden,  der  ...  sie  22  Jahre  auf  eine  gar  nicht  zu  beschrei- 
bende Weise  mißhandelt  hat,  sondern  daß  unter  ihren  zwei  Brüdern,  stark 
durch  ihre  gesellschaftliche  Stellimg,  tmter  ihren  Schwägern  und  Vettern, 
unter  allen  diesen  Fürsten,  Herren  und  Grafen,  die  —  die  Beweise 
liegen  mir  vor  —  alle  ganz  so  wie  ich  überzeugt  sind  von  der  Schlechtig- 
keit des  Grafen  imd  dem  ungerechten  Schicksal  seiner  Frau,  sich  nicht 


=  271 = 

einer  fand,  der  ihre  Rechte  gewahrt  und  sich  ihrer  angenommen  hätte 
auf  kräftige  Weise,  nicht  einer,  der  sie  nicht  seines  eigenen  Vorteils 
wegen,  seiner  eigenen  Bequemlichkeit  zulieb  verraten  und  verkauft 
hätte.  Nun,  Sie  haben  ja  auch  erfahren,  was  eine  Familie  ist,  und 
werden  das  begreifen.  Ja  noch  mehr,  diese  Brüder  haben  sie  bis  jetzt 
geflissentlich  in  Unkenntnis  über  ihr  gesetzliches  Recht  erhalten,  um 
sie  durch  dieses,  wie  durch  jedes  andere  Mittel  (Gewalt,  Entziehung 
des  Lebensunterhaltes)  zu  verhindern,  den  Rechtsweg  gegen  ihren 
Gatten  zu  ergreifen  .  .  .  Das  letzte  war  nun  das,  daß  er,  da  er 
mit  ihr  in  Gütergemeinschaft  lebt,  die  sie  nach  seinem  Tode  in 
sehr  glänzende  Lage  setzen  würde,  sein  und  ihr  Vermögen  auf  eine 
systematische  Weise  verschenkt  und  ruiniert.  Die  letzte  dieser  Schen- 
kungen war  an  eine  .  .  .  Frau  von  Meyendorf,  die  lange  in  Paris  als 
russischer  Spion  gedient  hat  im  Interesse  ihres  Mannes,  der  nicht  zu 
verwechseln  ist  mit  dem  russischen  Gesandten  zu  Berlin.  Solchem 
Beginnen  zu  begegnen,  wollte  ich  nun  eine  Prodigalitätsklage  gegen 
den  Herrn  Grafen  anstellen  (die  jetzt  in  der  Tat  auch  anhängig  gemacht 
worden  ist).  Zu  diesem  Zwecke  war  der  Besitz  des  noch  dazu  imter 
einer  Simulation  vorgenommenen  Schenkungsakts  an  die  Meyendorf 
wichtig,  und  zu  diesem  Zwecke  wollte  sich  der  Assessor  Oppenheim 
und  Dr.  Mendelssohn  seiner  bemächtigen. 

Bereits  hat  sich  die  deutsche  Presse  mit  Unwillen  über  den  Grafen 
ausgesprochen,  so  die  Aachener  Zeitung  vom  6.  September,  die  Augs- 
burger Allgemeine  vom  21.  und  der  Rheinische  Beobachter  vom  28. 
und  besonders  vom  zq.  September,^)  welch  letzteren  ich  hier  beilege. 
Teils  aber  ist  das  noch  lange  nicht  genug,  teils  ist  vor  allem  nötig,  daß 
das  Journal  des  Debats  vorzüglich,  wie  die  französische  Presse 
überhaupt,  und  ebenso  die  Times  darüber  mehrere  fulminante  Artikel 
bringen.  Der  Zweck  dieser  Artikel  ist  i.  den  Grafen  total  und  schonungs- 
los zu  ruinieren,  ihm  zu  zeigen,  daß  er  verloren  sein  würde,  wenn  die 
Gräfin  ausführlich  ihre  Leidensgeschichte  drucke,  2.  den  Brüdern  der 
Gräfin,  die  sie  bisher  preisgegeben  haben,  um  nicht  durch  Unter- 
stützimg  Skandal  zu  provozieren  und  sich  hierin  zu  verwickeln,  zu 
zeigen,  daß  sie  durch  längere  Preisgebung  ihrer  Schwester  sich  in  den 
Augen  Europas  der  Infamie  schuldig  machen  würden,  und  um  sie  somit 
zu  bewegen,  ihrer  Schwester  jetzt  zur  AbschHeßung  eines  vorteilhaften 


1)  „Rheinischer  Beobachter",  28.  September,  der  Artikel  vom  Rhein,  22.  Sep- 
tember und  ,, Rheinischer  Beobachter",  29.  September,  der  Artikel  Düsseldorf, 
26.  September.  Die  erste  Korrespondenz  betont  besonders  die  delikaten  und 
unangenehmen  Verhältnisse,  die  weit  besser  nicht  vor  das  Forum  der  Öffentlich- 
keit gebracht  würden,  die  zweite,  daß  ein  Prozeß  einen  „merkwürdigen  Beitrag 
zur  Charakteristik  unserer  höchsten  Stände  liefern"  müßte. 


272  =: 

Arrangements  kräftige  Hilfe  zu  leisten.  Deswegen  müssen  die  Artikel 
so  gehalten  sein,  daß  sie  den  Grafen  rückhalt-  und  schonungslos  an- 
greifen, ebensosehr  deutlich  auf  die  ebenso  große  moralische  Schuld 
und  Verächtlichkeit  hindeuten,  die  die  Brüder  aus  gemeinem  Egoismus 
und  feiger  Herzlosigkeit  durch  ihr  .  .  .  » ^)  alles  auf  sich  genommen 
haben.  Zugleich  aber  müssen  diese  Angriffe  auf  die  Brüder  durchaus 
nicht  so  direkt  sein,  daß  ihnen  der  Rücktritt  immöglich  gemacht  oder 
daß  sie  gar  zu  sehr  (ein  wenig  schadet  nichts)  erbittert  werden.  Zu- 
gleich aber  muß  doch  wiederum  der  Tadel  ihres  Benehmens  sehr  deut- 
lich fühlbar  sein.  Die  Grenzen  sind  hier  sehr  schwer  anzugeben.  Ihr 
feiner  Takt  und  große  Geübtheit,  Ihr  divinatorisches  Urteil  wird  sie 
erraten.  Der  Standpunkt,  von  dem  diese  Geschichte  aufgefaßt  wird, 
muß  ein  allgemeiner  [sein],  ihr  gedankenvolles  Auge  wird  in  der  Tat  sehr 
leicht  die  soziale  Bedeutung  von  dieser  Affäre  durchsehen.  Man  muß 
sprechen  von  der  feudalite  allemande,  von  der  brutalite  allemande  etc. 
Der  Standpunkt,  von  dem  das  Journal  des  Debats  die  Sache  zu  er- 
zählen hat,  wird  am  besten  der  sein:  Wir  Deutschen  hätten  immer 
mit  so  ungeheurer  Zopfsittlichkeit  [?]  gesprochen,  mit  enormer  Gering- 
schätzigkeit dabei  auf  die  französische 2)  herabgeschaut  und  bei  ihren 
berühmten  Prozessen  lyafarge^)  etc.  einstimmig  die  weiten  Mäuler  ge- 
öffnet und  geschrien,  das  sei  bei  \ms  unmöglich.  Nun  muß  das  Journal 
des  Debats  die  Geschichte  erzählen  und  die  Mißhandlungen  skizzieren 
(wie  ich  dies  ungefähr  in  einem  Aufsatz  getan,  den  ich  zur  Entgegnung 
eines  infamen  Artikels  in  den  Grenzboten  *)  geschrieben  und  den  ich 
Ihnen  zur  ungefähren  Norm  überschicke)  imd  muß  dann  so  schließen: 
,, Ereignisse,  wie  sie  hier  vorliegen,  wären  trotz  der  vielberühmten 
Sittlichkeit  der  Deutschen  und  Unsittlichkeit  der  Franzosen  in  Frank- 
reich nicht  möglich  gewesen,  denn  wenn  sich  wohl  auch  in  Frankreich 
ein  Barbar  solcher  Sorte  wie  der  Graf  H.  finden  könnte,  so  hätte  doch 
eine  so  mißhandelte  Frau,  wenn  sie  keinen  Verwandten  hätte  und  ein- 
sam und  schutzlos  in  der  Welt  dastände,  bei  dem  lebhaften  Ehrgefühl 
der  frivolen  Franzosen,  in  jedem  Fremden  einen  Schützer  gefunden. 


1)  Das  hier  fehlende  Wort  bezeichnet  der  Abschreiber  als  unleserlich. 

2)  Diesen  Satz  dürfte  der  Abschreiber  nicht  ganz  richtig  gelesen  haben. 

')  Der  Fall  der  Frau  Pouch-Lafarge  (1840)  war  einer  der  sensationellsten 
Kriminalprozesse,  die  Frankreich  erlebt  hat.  Die  geistvolle  und  literarisch  be- 
gabte Frau  v.ujde  beschuldigt,  ihren  Gatten  ermordet  zu  haben. 

*)  Mit  dem  ,, infamen  Artikel"  meint  Lassalle  vermuthch  die  Notiz  in  den ,, Grenz- 
boten" 1846,  III,  S.  462.  Nach  Lassalles  ,, Entgegnung"  habe  ich  aber  vergebens 
gesucht.  Der  Wortlaut  des  Briefes  läßt  wohl  erkennen,  daß  sie  geschrieben, 
aber  nicht,  daß  sie  auch  gedruckt  wurde.  Noch  im  Februar  1847  (vgl.  unten 
Nr.  97)  fragt  Lassalle  bei  Mendelssohn  an:  ,,Ist  der  Aufsatz  in  den  , .Grenzboten" 
erschienen?" 


Nur  bei  dem  stumpfen  Egoismus  vmd  der  seelenlosen  Lauigkeit  der 
Deutschen,  zumal  bei  der  Zerfahrenheit  imd  sittlichen  Verkommenheit 
unseres  privilegierten  Adels,  sei  eine  derartige  zwanzigjährige,  allen 
Gesetzen  tmd  jeder  Menschlichkeit  hohnsprechende  Niedertretung  einer 
Frau,  die  noch  dazu  einen  Kreis  von  mächtigen  nahen  Verwandten 
und  somit  angeborene  Beschützer  hat,  denkbar". 

Wie  gesagt,  zur  Norm  dessen,  wie  weit  Sie  in  Ihren  Angaben  zu 
gehen  haben,  diene  das  in  diesem  Brief  Gesagte,  Ihr  Takt,  der  Aufsatz 
von  mir,  den  ich  hier  beilege  und  der  Aufsatz  im  Rheinischen  Beob- 
achter vom  2g.  September.  Außerdem  lege  ich  Ihnen  bei  ein  gedrucktes 
Exemplar  der  Prodigalitätsklage  mit  den  Bescheinigimgen,  Zeugen- 
aussagen etc.  Obgleich  darin  nur  das  allerwenigste  gesagt  ist,  so  werden 
Sie  schon  hieraus  Dinge  ersehen,  die  Sie  mit  staunendem  Unwillen 
erfüllen  werden  und  das  affreuse  Bild  des  Grafen  in  seinen  Umrissen 
vor  Ihre  Seele  treten  lassen  wird.  Ich  habe  es  drucken  lassen,  weil 
nötigenfalls  volle  Öffentlichkeit  eintreten  soll,  dann  würde  die  Emittie- 
rung dieser  gedruckten  Prozeßakten  den  Anfang  bilden  imd  in  kurzer 
Zeit  die  Memoiren  der  Gräfin  von  1822  ab  darauf  folgen.  Bisher 
aber  ist  mit  diesen  gedruckten  Exemplaren  die  strengste  Diskretion 
noch  beobachtet  worden,  und  ich  nehme  Ihnen  ebenso  das  feste  Ver- 
sprechen ab,  keinem  außer  meinem  Doktor^)  und  Grün  dieses  Exemplar 
zu  zeigen  oder  auch  nur  davon  zu  reden,  daß  ein  solcher  Druck  vor- 
handen sei.  Faktische  Details  daraus,  insoweit  sie  nicht 
schon  in  dem  Aufsatz  des  Rheinischen  Beobachters  vom 
29.  September  und  meinem  beigelegten  Aufsatz  enthalten 
sind,  sollen  Sie  auch  nicht  daraus  in  den  Zeitimgen  mitteilen,  weil 
sonst  Hatzfeldt  zu  bestimmt  wissen  würde,  daß  die  Artikel  von  uns 
ausgegangen.  Solche  Aufsätze  müssen  mm  alle  Pariser  Blätter,  vor 
allem  aber  das  Journal  des  Debats  enthalten,  welches  den  meisten 
Eindruck  auf  die  Familie  machen  würde.  Ebenso  muß  umgehend  ein 
solcher  Artikel  in  der  Times  erscheinen,  weil  Hatzfeldt,  wie  ich  höre, 
nach  England  reisen,  ich  ihm  seinen  dortigen  Aufenthalt  aber  gleich 
versalzen  will.  Ebenso  müssen  Sie  ähnliche  Aufsätze  an  alle  deutsche 
Blätter,  mit  denen  Sie  in  Verbindung  stehen ,  vorzüglich  an  die  Augsburger 
Allgemeine  [schicken]  und  diese  dahin  bewegen,  Aufsätzen  im  entgegen- 
gesetzten vSinne  die  Aufnahme  zu  verweigern.  Kurz,  Sie  müssen  alles, 
Ihren  ganzen  Einfluß  für  mich  in  die  schnellste  und  eiligste  Anwendung 
bringen.  Sie  müssen  sogar  alles  das  für  mich  tim,  was  Sie  für  sich 
selbst  nicht  ttm  würden.  Mein  ganzer  innerer  Mensch  steht  bei  dieser 
Angelegenheit  auf  dem  Spiel,  imd  ihre  glückhche  Zuendefühnmg  oder 


^)  Arnold  Mendelssohn. 

May  er,  Lassalle-Kacblass.    I  jg 


-^  274  — 

wenigstens  der  öffentliche  Triumph  dieser  armen  Frau  gilt  mir  mehr 
als  alles,  was  mein  Leben  persönlich  berührt.  Ich  würde  Sie  nicht  mehr 
von  Angesicht  zu  Angesicht  sehen,  wenn  Sie  nicht  sofort  in  der  an- 
gegebenen Weise  imd  auf  das  allerschnellste  Himmel  und  Erde  in  Be- 
wegung setzen  würden. 

Ebenso  lassen  Sie  Grün  rufen.  Legen  Sie  ihm  diesen  Brief  nebst 
seinen  Beilagen  vor,  und  wenn  persönliche  Freundschaft  und  eine  gute 
Sache  Hebel  sind,  die  seine  Feder  schärfen  und  ihn  in  Tätigkeit  setzen 
können,  so  soll  er  augenblicklich  seinerseits  alle  deutschen  und  fran- 
zösischen Blätter,  mit  denen  er  in  Verbindimg,  mit  Aufsätzen  anfüllen, 
ebenso  seine  Berliner  Frexmde  wie  C.  Meyer^)  darum  ersuchen  etc.  Bereits 
zwei  Tage  spätestens  nach  Empfang  dieses  muß  das  Journal  des  Debats 
einen  fulminanten  Aufsatz  enthalten.  Donnern  und  spotten  Sie  um 
die  Wette,  alle  Zeitimgen,  die  solche  Aufsätze  enthalten,  haben  Sie 
die  Güte,  mir  sofort  nach  Köln  zu  senden  poste  restante  an  Herrn 
D.  Lassalle  adressiert.  Auch  wenn  Sie  krank  sein  sollten,  lassen  Sie 
sich  nicht  abhalten,  meine  stürmische  und  flehentliche  Bitte  sofort 
in  der  nachhaltigsten  Weise  zu  erfüllen.  Bedenken  Sie,  wie  für  mich 
hierbei  ganz  andere  Dinge  als  leibliches  Wohlsein  auf  dem  Spiele  stehen. 
Wenn  Sie  je  nur  mäßig  mein  Freund  gewesen,  so  werden  Sie  es  mir 
jetzt  beweisen,  ebenso  Grün.  Ich  wiederhole  Ihnen,  soll  das  Manöver 
nützen,  so  muß  es  mit  der  größten  Eile  ausgeführt  werden.  Sie  können 
auch  den  Artikel  des  Rheinischen  Beobachters  vom  29.  September  als 
ersten  Trompetenstoß  in  dem  Journal  des  Debats  abgedruckt  erscheinen 
lassen.  Den  Doktor  grüßen  Sie  mir,  ich  bin  heut  zu  beschäftigt,  sonst 
würde  ich  ihm  schreiben.  Drücken  Sie  einen  Kuß  auf  seine  treuen  Lippen, 
sagen  Sie  ihm,  daß  ich  ebenso  gern  meine  beiden  Augen  im  vStich  lassen 
möchte  wie  ihn,  er  soll  sich  die  20  Louisdor  holen,  die  unter  der  Adresse 
Dr.  Neißer'^)  poste  restante  für  ihn  in  Paris  liegen,  ich  habe  sie  den 
29,  September  von  hier  abgeschickt,  und  gewiß  sein,  daß  ich  fortfahren 
werde,  ihn  zu  unterstützen,  obwohl  spärlich,  weil  ich  gerade  selbst 
nicht  viel  habe.  Er  soll  in  Paris  bleiben.  Ich  komme  im  Lauf  von 
14  Tagen  hin. 

Ihr  Freund. 


1)  Möglicherweise  wäre  C.  Meyer  ein  Schreibfehler,  und  es  wäre  Eduard  Meyen, 
der  bekannte  Berliner  radikale  Journalist,  gemeint. 

2)  Vgl.  S.  268. 


=  275  -=- 

85. 
LASSALIvE  AN  ARNOLD  MENDELSSOHN.  (Abschrift  von  der  Hand 
eines  Schreibers  des  Assisenhofs . ) 

[Oktober  1846.] 

Geliebter  Doktor! 

Ich  habe  Deinen  Brief  erhalten,  es  ist  mir  heb,  daß  durch  die  Gräfin 
d'Agoult^)  bereits  einige  Artikel  im  Constitutione  1  und  der  Presse  wie 
dem  Corsaire  Satan  eingerückt  waren  und  ich  somit  von  einer  Seite  her 
imterstützt  wurde,  wo  ich's  nicht  ahnte.  Auch  daß  diese  Artikel  der 
Gallinani  Messenger  2)  besorgt  sind.  Schicke  mir  umgehend  die  in  Rede 
stehenden  Nummern  des  Constitutione!,  Presse,  Corsaire  Satan  und 
Gallinani  Messenger  2)  Das  genügt  aber  nicht  im  geringsten  und  muß 
durchaus  tmd  vorzüglich  das  Journal  des  Debats  foudr[oyante  drei 
Artikel  enthalten,  zwei  mindestens,  und  zwar  solche,  die  nicht  bei  der 
Erzählung  dieses  einzelnen  Faktums  in  Köln  3)  stehenbleiben  imd  etwa 
daran  bloß  starke  Bemerkungen  über  den  Grafen  knüpfen,  —  wie  in 
dieser  Weise  der  Artikel  des  Rheinischen  Beobachters  vom  29.  September 
sehr  gut  getan,  der  ursprünghch  eins  mit  dem  der  Augsburger  Allge- 
meinen vom  21.  September  vieles  enthält,  was  die  Augsburger  als  zu 
stark  nicht  aufgenommen,  sondern  das  Journal  des  Debats  muß  sich 
noch  mehr  ins  allgemeine  verbreiten,  wie  ich  z.  B.  in  dem  beigelegten 
Probeaufsatz  getan  und  mit  tödlicher  Indignation  von  dem  Grafen 
imd  den  Verwandten  reden,  von  der  zweiundzwanzigj ährigen  Infamie 
des  Grafen  gegen  seine  Frau  und  Mißhandlungen,  so  schrecklich,  daß 

—  der  Vergleich  fehlt  mir  — ,  weil  nichts  sich  damit  vergleichen  läßt, 
aber  ich  will  für  Heine  die  letzte  anführen,  daß  nämlich:  der  Graf 
wieder  jetzt  der  Gräfin  die  Gelder  gekündigt  hat,  um  sie  auf  diese  Weise 
an  der  Betreibimg  ihrer  Prozesse  zu  hindern  und  ihre  Verwandten  dies 
dulden,  daß  also  hier  der  Fall  vorliegt,  daß  man  durch  brutale  Gewalt 
eine  Frau  von  der  Erlangung  ihres  Rechts  auf  dem  Rechtswege  hindert. 

—  Das  muß  Franzosen  empören.  Victor  Hugo  sagt:  faire  pleurer  une 
femme,  quelle  lächete!    Hier  liegen  aber  noch  ganz  andere  Dinge  als 

^)  Marie  de  Flavigny,  Gräfin  d'Agoult  (1805 — 1876),  die  unter  dem  Pseudo- 
nym Daniel  Stern  schrieb,  die  Freundin  Franz  Iviszts,  die  Mutter  Cosima 
Wagners. 

2)  Das  von  1822  bis  1S52  erschienene  Theater-  und  Literatur blatt  ,,Le 
Corsaire"  führte  den  Doppeltitel  von  September  1844  bis  März  1847.  ^i^  ^^8' 
lische  Zeitung  Gallignani  Messenger  erschien  in  Paris  seit   18 14. 

^)  Unter  dem  ,, einzelnen  Faktum  in  Köln"  versteht  L,assalle  die  Entwendung 
der  Kassette  der  Baronin  von  Meyendorf,  der  Mätresse  des  Grafen  Edmund 
von  Hatzfeldt  durch  Mendelssohn  und  Oppenheim  am  21.  August  1846. 


:     276    - 

ein  faire  pleurer  vor,  vor  allem  muß  also  das  Journal  des  Debats 
sich  hierüber  vernehmen  lassen,  das  ist  vielleicht  schwierig,  aber  bei 
Heines  Verbindungen  und  Freundschaft  mit  Jules  Janin  ^)  muß  es  mög- 
lich sein,  und  er  muß  mit  der  größten  Energie  hier  für  mich  handeln, 
sonst  hat  er  keinen  Funken  Freundschaft  für  mich  und  keinen  Funken 
Ehrgefühl  überhaupt.  Aber  ich  ereifere  mich  imnötig,  denn  er  wird 
für  mich  handeln  und  mit  aller  Energie,  Er  liebt  mich,  glaube  ich, 
so  sehr  wie  Du  selbst  sogar.  Ebenso  muß  die  Times  sich  aussprechen 
Es  wird  Keinen  leicht  sein,  auf  irgendeine  Weise  dies  zu  bewirken. 
Daß  etwaige  Verbindungen  Heines  mit  der  Meyendorf  hier  auch  nicht 
im  geringsten  in  Betracht  kommen  können,  nun,  das  ist  wohl  nicht 
erst  der  Erwähnung  wert.  Ebenso  muß  Heine  an  die  Augsburger 
schreiben.  Aber  ich  zweifle  auch  keinen  Augenblick,  daß  er  und  Grün 
mich  auf  das  allerkräftigste  imterstützen  werden.  Die  Partei  der  Unter- 
drückten verläßt  sich  hoffentlich  nicht.  Zudem  hat  ja  diese  ganze 
Angelegenheit  eine  tief  Hegeische  philosophische  Bedeutung  und 
Hintergrund. 

Warum  Du  Grün  Deinen  wahren  Namen  verschwiegen,  kann  ich 
nicht  absehen.  Glaubst  Du,  daß  ein  Freund  von  mir  Dich  verraten 
würde,  so  wäre  schon  die  philosophische  Partei,  der  er  angehört,  ab- 
gesehen von  der  persönlichen  Ehrenhaftigkeit,  Bürge  genug. 

Ich  schicke  Dir  die  rekommandierten  Absendungsscheine  über 
einen  Brief,  den  ich  für  Dich  an  Neißer^)  geschrieben.  Laß  Heine  diesen 
Brief  lesen,  küsse  mir  meinen  geliebten  teuren  Fretmd  vielmal,  viel- 
tausendmal.  Weiß  Gott,  es  tut  not,  daß  mich  die  wenigen  Freimde, 
die  ich  habe,  sehr  lieben.  Was  ich  in  dieser  Zeit  alles  leide,  davon  hat 
kein  erschaffener  Mensch  eine  Ahnung  und  werde  ich  es  Dir  vielleicht 
einmal  mündlich  erklären  können.  Wieso  kommt  es,  daß  Du  mir  nichts 
über  ein  Einwirken  von  Dir  auf  Heines  Gesundheit  schreibst?  Es  war 
ja  ein  lyieblingsplan  von  uns,  daß  Du  ihn  heilen  solltest?  Schicke  mir 
den  Paß  von  Hoppe  ^)  zurück.    Grüße  Grün.    Ich  hoffe  es  dahin  zu 


^)  Jules  Janin  (1804 — 1874),  französischer  Kritiker  und  Romanschriftsteller, 
übte  als  langjähriger  Chronikschreiber  des  Journal  des  Debats  einen  starken  Einfluß 
auf  die  Pariser  öffenthche  Meinung  aus.  Er  stand  mit  Heine,  mit  Alexander 
von  Humboldt  und  anderen  namhaften  Deutschen  in  guten  Beziehungen.' 

2)  Neißer  ist  ein  Deckname]  für^  den^  aus  Neiße  gebürtigen  Mendelssohn. 
Vgl.  auch  S.  268  imd  274. 

^)  Wilhelm  Hoppe  war  I,assalles  Bedienter  gewesen,  trat  aber,  nachdem  er 
von  dem  Agenten  des  Grafen,  dem  Kaufmann  von  Stockum  in  Düsseldorf,  be- 
stochen worden  war,  im  Kassettenprozeß  als  ein  Hauptbelastungszeuge  gegen 
ihn  auf.  Vgl.  Lassalle,  Der  Kriminalprozeß  wider  mich  wegen  Verleitung  zum 
Kassettendiebstahl  oder  Die  Anklage  der  moralischen  Mitschuld.  Ein  Tendenz- 
prozeß (Köln)   1848  passim.    Als  Lassalle  sich  im  Frühling    1847  in   Berlin  auf- 


—   277  ^  ^ 

bringen,  daß  jemand  sich  in  Paris  etabliert.    Leb  wohl.    Sage  Heine, 
daß  ich  es  ihm  nie  vergessen  [werde],  ^)  was  er  für  Dich  tut. 

Warum  schreibt  Heine  mir  nicht??    Ich  erwarte  umgehend  von 
ihm  Brief. 


86. 
HEYMANLASSALAN  DEN  SOHN.  (Original.  Nach  Köln  adressiert.) 

Breslau,  d.  13.  Oktober  46. 
Mein  vielgeliebter  Sohn! 

Dein  hebes  Schreiben  vom  4.  habe  ich  seiner  Zeit  richtig  empfangen 
und  wenn  ich  solches  anstatt  Freitag  erst  heute  beantworte,  so  magst 
Du  hierin  nichts  anderes  suchen,  als  die  einfache  Ursache,  daß  ich  Dir 
nicht  nur  schreiben,  sondern  auch  die  Absicht  hatte,  meinem  Schreiben 
auch  einen  materiellen  Inhalt  beifügen  wollte  [sie!],  und  daß  ich  trotz 
aller  Mühe  dies  erst  heute  bewerkstelligen  kann.  Fast  verletzend  sind 
Deine  ewigen  Bemerkungen  über  das  Mißtrauen  und  die  Äußertmg, 
daß  Kaufleute  nur  Hy^Dotheken  als  Sicherheit  betrachten.  Nach  meinem 
Ermessen  verdiene  ich  dergleichen  Bemerkungen  nicht.  Du  weißt  nur 
zu  gut,  mein  vielgeliebter  Sohn,  daß  ich  Dich  sehr  lieb  habe,  daß  ich 
zu  allen  Zeiten  viel  mehr  für  Dich  verwendet,  als  es  je  meinen  Ver- 
hältnissen angemessen  war  und  es  mit  Bereitwilligkeit  und  gerne  ge- 
geben, allein  das  Unmögliche  kann  man  nicht  möglich  machen.  Ich 
übersende  Dir  anliegend  abermals  500  Rt.,  sage  fünfhundert  Taler, 
es  ist  alles,  was  ich  zusammenbringen  konnte,  und  daß  es  mir  schwer 
geworden,  magst  Du  schon  aus  der  Verzögerung  ersehen,  daß  ich  trotz 
Deines  Verlangens  umgehender  Antwort  Dich  vier  Tage  lang  warten 
ließ,  ohne  antworten  zu  können.  Sei  überzeugt,  geliebter  Sohn,  daß, 
wenn  ich  es  imstande  wäre,  so  würde  ich  Deinem  Wunsche  entgegen- 
gekommen sein.  Allein  ich  sage  mit  Luther:  Gott  helfe  uns  beiden, 
ich  kann  nicht  weiter!  — 

Ich  wünsche  Dir  von  ganzem  Herzen,  daß  sich  Deine  Angelegen- 
heiten bald  auf  eine  solche  Weise  gestalten,  daß  Du  nicht  solchem 
drückenden  Kummer  ausgesetzt  sein  mögest,  obschon  ich,  ehrUch  ge- 
standen, für  das  Gelingen  der  Prozeßangelegenheit  keine  sonderliche 


hielt,  denunzierte  er  den  ihm  sehr  imbequemeu  Menschen  wegen  Hausdiebstahl. 
Vgl.  Akten  betreffend  die  Zensur  und  den  Debit  der  über  die  Gräflich  von  Hatz- 
feldtsche  Angelegenheit  erschienenen  Druckschriften  und  Abhandlungen  1846/49, 
Geh.  St.-Axchiv. 

')  Hier  ist  im  Tert  ein  Wort  ausgelassen. 


— 278  =r: 

Hoffnung  hege,  keineswegs  [in]  solcher  kurzen  Zeit,  als  Du  den  Aus- 
gang zu  hoffen  gezwungen  bist.  Ein  solcher  Prozeß  kann  sich  noch 
viele  Jahre  verzögern,  und  wenn  die  Gräfin  in  der  Zwischenzeit  nicht 
ihre  gewöhnliche  Apanage  bekommt,  wo  willst  Du  die  laufenden  Aus- 
gaben decken?  Ich  möchte  mit  dem  frommen  Psalmisten  ausrufen: 
,,Wenn  ich  meine  Augen  der  Zukunft  zuwende  und  frage,  woher  soll 
Hilfe  mir  kommen?  Die  Hilfe  ist  von  dem  Herrn,  der  Himmel  und 
Erde  geschaffen."  —  Nach  einem  Gerüchte,  welches  hier  zirkuhert, 
soll  der  Prodigalitätsprozeß  abgewiesen  sein  ^)  —  schreibe  mir  wenig- 
stens ausführlich  über  alles,  besonders  wegen  Oppenheim  2).  Welche  Aas- 
sichten sind  für  ihm  [sie!]?  —  Heute  empfange  ich  einschreiben  von 
unserem  Fretuide,^)  ich  lege  Dir  solches  bei  und  überlasse  es  Dir,  es 
zu  beantworten  —  wie  es  scheint,  bist  Du  wohl  von  der  Ansicht 
zurückgekommen,  daß  er  zu  Anfang  des  künftigen  Monats  bei  Dir 
sein  soll  — .  Ach,  herzensgeliebter  Sohn,  wenn  die  Zeit  doch  schon 
käme,  wo  Du  wieder  bei  uns  wärest  —  Gott  weiß,  wie  fem  dieser 
heißersehnte  Moment  sein  mag? 

Ich  habe  Dir  sonst  nichts  mitzuteilen,  als  daß  die  liebe  Mutter  Dich 
herzlich  imd  tausendmal  grüßt,  sie  hat  natürlich  nur  Dein  kurzes 
Schreiben  gelesen.  Rikchen  aus  Prag  hat  uns  gestern  wieder  geschrieben 
und  Dich  herzlich  grüßen  lassen,  und  ich  bekümmerter  Vater  schicke 
Dir  meine  Tränen  und  meine  lyiebe. 

Lassal. 
Schreibe  mir  bald  Antwort. 


87- 
IvASSAIvLE  AN  ALEXANDER   VON  HUMBOLDT.    (Konzept  von 
Lassalles  Hand.) 

[Köln,  25.  Oktober  1846. j 

Ew.  Exzellenz 

wollen  gnädigst  verzeihen,  wenn  ich,  der  schon  so  oft  als  Bittender 
Ew.  Exzellenz  zu  nahen  gewagt  habe,  mir  noch  einmal  erlaube,  in  dieser 
Eigenschaft  mich  an  Ew.  Exzellenz  zu  wenden.  Wenn  aber  je,  so 
dürfte  diesmal  die  Freiheit,  die  ich  mir  nehme,  durch  individuelle  wie 
durch  allgemeine  Rücksichten  imd  Gründe  zu  entschuldigen  sein. 


^)  Die  Prodigalitätsklage  der  Gräfin  gegen  ihren  Gatten  war  am  28.  September 
al«  „nicht  gehörig  substantiiert"   zurückgewiesen  worden. 

2)  Oppenheim  wurde  am  24.  November  von  den  Assisen  frdgesprochen. 
^)  Arnold  Mendelssohn. 


279  —  = 

Zwei  meiner  intimsten  Fretmde,  der  Assessor  A.  Oppenheim  mid 
der  Ew.  Exzellenz  bekannte  talentvolle  Dr.  Mendelssohn,  der  Neffe 
des  Ew.  Exzellenz  so  befreundeten  Bankiers  Herrn  Joseph  Mendels- 
sohn, sind,  wie  Ew.  Exzellenz  unstreitig  schon  durch  die  öffentlichen 
Blätter  in  Erfahrung  gebracht  haben  werden,  wegen  der  zu  Köln  ver- 
suchten Saisierung  gewisser  Papiere  der  Baronin  von  Meyendorf,  der 
erste  in  Köln  in  gefänglicher  Haft,  der  zweite  flüchtig  und  steckbrief- 
lich verfolgt.  Die  Ursache,  welche  meine  Freunde  zu  einem  derartigen 
Schritt  veranlaß te,  war  die  tiefe  Empörung  über  namenlose  Mißhand- 
lungen, mit  denen  seit  zwei  Dezennien  der  Graf  von  Hatzfeldt-Kins- 
weiler  seine  imglückliche,  von  ihm  selbst  verleumdete  Gemahlin  und 
ihren  jüngsten  Sohn  Paul^)  überhäuft.  Das  letzte  Faktum  in  dieser  Reihe 
von  Ereignissen  war,  daß  Graf  H.  der  Baronin  von  M.,  mit  der  er  in 
einem  Verhältnis  steht,  imter  der  Simulation  einer  Schuld,  die  enorme 
von  ihm  imd  seinen  Erben  zu  zahlende  jährliche  Rente  von  25  000  Fs. 
verschrieb  und  für  die  zweimonatliche  Verzögervmg  der  Zahlung  eine 
Konventionalstrafe  von  Fs.  200  000. —  bestimmte.  Durch  diese  Sehen 
kung  war  das  Vermögen  der  nicht  durch  das  Majorat  gesicherten  gräf- 
lichen Kinder  und  ihre  dereinstige  Existenz  vollkommen  gefährdet, 
ja  ruiniert.  Um  nun  das  Vermögen  dieser  unschuldigen  Kinder  zu  retten 
imd  über  die  systematische  Absichtlichkeit,  die  in  der  Handlimgs- 
weise  des  Grafen  von  Hatzfeldt  nicht  zu  verkennen  ist,  empört,  fühlte 
sich  der  Assessor  O.,  der  seit  lange  der  juristische  Geschäftsführer 
der  Gräfin  von  Hatzfeldt  ist,  veranlaßt,  mit  Hilfe  seines  Freundes, 
des  Dr.  Mendelssohn  sich  jenes  Schenkungsaktes  bemächtigen  zu  wollen, 
um  ihn  bei  Gericht  vorzulegen  und  annullieren  zu  lassen.  Die  An- 
gelegenheit der  beiden  Herren  kommt  nun  bereits  gleich  im  Anfang 
der  Assisen,  die  den  2.  November  beginnen,  zum  Spruch. 

So  interesselos  und  rein  einem  gewissen  chevaleresken  Rittersinn 
entflossen  nun  auch  die  Handlungsweise  der  beiden  Angeklagten  da- 
steht, so  können  doch  ihre  Freunde  sich  der  bangen  Bef  ürchttmg  nicht 
erwehren,  die  nicht  abzuleugnende  Violence  des  Versuchs  mit  einer 
alle  künftige  Existenz  ruinierende  Gefängnisstrafe  geahndet  zu  sehen. 
Der  einzig  sichere  Weg,  die  Angeklagten  einer  vielleicht  übereilten, 
jedoch  immer  höchst  ehrenwerten  Motiven  entflossenen  Handlung 
zu  entziehen,  wäre  der,  die  huldreiche  Gnade  Seiner  Majestät  zu  im- 
plorieren,  in  Betracht  jener  ehrenden  Motive  eine  Niederschlagvmg  der 
Untersuchvmg  allergnädigst  erfolgen  lassen  zu  wollen.  Es  liegen  aber 
vielleicht  noch  triftigere  Gründe  vor,   Seine  Majestät  zu  bewegen,  in 


*)  Graf  Paul  von  Hatzfeldt  (1S31 — 1901),  der  spätere  hervorragende  deutsche 
Diplomat. 


—  =^-  280  

dieser  Angelegenheit  Ihre  könighche  Gnade  und  Machtfülle  walten 
zu  lassen.  Es  sind  bei  dem  Herrn  Assessor  Oppenheim  Papiere  ge- 
funden worden,  die  jedenfalls  vor  den  Assisen  zu  voller  Publikation 
kommen  würden  tmd  die,  das  gesammelte  Material  über  den  über  alle 
Begriffe  unsittlichen  Lebenswandel  des  Grafen  Hatzfeldt  enthaltend, 
sehr  viele  der  vornehmsten  rheinischen  Geschlechter  auf  das  Tödlichste 
kompromittieren  müßten.  Zu  gleicher  Zeit  müßte,  wenn  eine  Unter- 
drückung dieser  Sache  nicht  gelingt,  das  einzige  Verteidigungssystem 
der  Angeklagten  darin  bestehen,  zur  moralischen  Purifikation  ihrer 
selbst  wie  der  Gräfin  von  Hatzfeldt  die  Motive  ihrer  Tat  und  den  em- 
pörenden Lebenswandel  des  Grafen  von  Hatzfeldt  und  das  Übermaß 
seiner  Gewalttätigkeit  offen  und  rückhaltlos  darzustellen.  Die  Akten 
des  von  der  Gräfin  von  Hatzfeldt  angestellten  Prodigalitätsprozesses 
nebst  den  Beweisstücken,  die  ein  staunenerregendes  Gemälde  von  der  in 
den  höchsten  Klassen  des  Landes  herrschenden  UnsittlJchkeit  aufrollen, 
müßten  dann,  zu  diesem  Zweck  bereits  gedruckt,  sofort  emittiert 
werden,  um  als  ebenso  viele  tausend  Zimgen  die  Sache  der  An- 
geklagten vor  der  Jury  und  dem  öffentlichen  Gewissen  siegreich  beredt 
zu  führen. 

Ich  erlaube  mir,  Ew.  Exzellenz  ein  Exemplar  dieser  Prozeßakten 
beizulegen,  damit  Ew.  Exzellenz  darin  die  Wahrheit  meiner  Angaben 
ersehen  mögen.  Noch  ist  von  diesem  Druck  nicht  der  geringste  Ge- 
brauch gemacht  und  wage  ich  es  daher,  Ew.  Exzellenz  um  gnädige 
Diskretion  zu  ersuchen.  Wenn  Seine  Majestät  nur  einen  einzigen  Bhck 
in  diese  Akten  und  Beweisstücke  zu  werfen  geruhte,  so  würde  Sie  daraus 
sehen,  wie  nicht  nur  die  Familie  H.,  sondern  ebenso  oder  noch  mehr 
die  Familien  Nesselrode,  Hompesch  und  viele  andre  sehr  hochgestellte 
Personen  auf  das  Schontmgsloseste  hierdurch  vernichtet  würden.^) 


')  Der  Schluß  dieses  Konzepts  liegt  nicht  vor.  Dagegen  befindet  sich  im 
Nachlaß  der  Schluß  des  Reinkonzepts  zu  dem  Brief  an  Humboldt  vom  1 9.  Ok- 
tober, der  den  gleichen  Gegenstand  behandelte.  Dort  hieß  es  u.  a. :  ,,so  würden 
denn  Ew.  Exzellenz  sich  den  feurigsten  und  heißesten  Dank  aller  Freunde  und 
Verwandten  des  Angeschuldigten,  vor  allem  aber  des  Unterzeichneten  verdienen, 
wenn  Sie,  Exzellenz,  durch  Ihren  hohen  Einfluß  und  mächtige  Verwendung,  wie 
durch  genaue  Bekanntmachung  Seiner  Majestät  mit  allem  hier  Angegebenen  auf 
eine  Niederschlagung  hinwirken  zu  wollen  die  Gnade  hätten.  —  Noch  wage  ich 
es,  Ew.  Exzellenz  darauf  aufmerksam  zu  machen,  wie  sehr  diese  Angelegenheit, 
die  bereits  in  den  ersten  Tagen  November  zum  Spruch  kommt,  der  höchsten 
Eile  bedarf.  Eine  huldreiche  Antwort  Ew.  Exzellenz,  inwiefern  Ew.  Exzellenz 
meine  heiße  Bitte  einer  gnädigen  Gewährung  würdigen  wollen,  und  inwiefern  ich 
mich  Hoffnungen  hingeben  kann,  würde  mich  zu  Köln  poste  restante  antreffen. 

Indem  ich  nochmals  meine  Kühnheit  mit  der  Stärke  und  I^oyaUtät  meiner 
Beweggründe,   sowie  mit  der  mir  wie  ganz  Europa  bekannten  Gesinnung   Ew. 


-  28l  — 

88. 
ALEXANDER  VON  HUMBOLDT  AN  LASSALLE.    (Original.) 

Potsdam,  den  31.  Oktober   1846. 

Nach  dem  Wvmsche,  den  Euer  Wohlgeboren  in  Ihrem  Briefe  vom 
25.  Oktober  äußern,  schicke  ich  Ihnen  die  Druckschrift  und  auch  die 
Specimina  facti,  welche  Ihr  Brief  vom  19.  Oktober  enthält,  zurück. 
Ich  bin  weit  davon  entfernt,  Ihnen  für  das  Vertrauen,  womit  Sie  mich 
haben  beehren  wollen,  zu  danken.  Wie  würde  ich  mich  in  eine  so  un- 
erfreuliche, unheimliche  Sache  gemischt  haben!  Die  Dokumente  sind 
bei  mir  in  einem  verschlossenen  Kasten  liegen  geblieben.  Seine  Majestät 
der  König  würde  auf  keine  Weise  ,,aus  souveräner  Macht",  wie  Sie 
sagen,  eingegriffen  haben,  und  die  Mitteilung  an  den  König,  der  mit 
dem  Geheimen  Kabinett  solche  juridische  Dinge  behandelt,  würde 
dem  Geheimnis,  worin  Sie  das  Ganze  verhüllt  wissen  wollten,  gar  nicht 
entsprochen  haben.  Da  ich  fast  alle  Personen  kenne,  die  sich  gegen- 
seitig anklagen,  so  bitte  ich  Euer  Wohlgeboren,  mir  nicht  mehr  über 
diese  gehässige  Angelegenheit  zu  schreiben. 

Mit  der  vollkommensten  Hochachtung 

Euer  Wohlgeboren 
ganz  ergebenster 

A.  V.  Humboldt. 


89. 

LASSALLE  AN  HEINRICH  HEINE.    (Abschrift  von  der  Hand  eines 
Schreibers  des  Assisenhofs.) 

[November  1846.] 

Lieber  Heine! 

Als  ich  gestern  Doktors  ^)  Brief  erhielt,  in  welchem  er  mir  in  einem 
Wust  von  undeutlichen  beschönigenden  und  ziemhch  sinnlosen  Phrasen 
meldet,  daß  Sie  den  geringen  Freundschaftsdienst,  um  den  ich  Sie  er- 


Exzellenz entschuldige,  die  nie  eine  Gelegenheit  vorübergehen  läßt,  Ihren  weisen 
Einfluß  segensreich  zu  verwenden,  zeichne  ich  mit  der  unbegrenztesten  Ver- 
ehrung und  Dankbarkeit. 

Ew.    Exzellenz 
ganz  ergebenter 
F.  Lassalle." 
')  Arnold  Mendelssohn. 


■  282  - 

sucht,  oder  vielmehr  den  ich  von  Ihnen  gefordert,  nicht  erfüllen 
können  und  wollen,  wollen  und  können  —  da  war  ich  allerdings  eine 
Minute  lang  betäubt,  so  betäubt  wie  etwa  ein  Ungläubiger,  der  eben 
ein  Wunder  sich  ereignen  sieht,  das  seine  fünf  Sinne  nicht  wegleugnen 
und  doch  auch  nicht  erklären  können.  Aber  ich  versichere  Sie,  ich 
war  auch  nur  eine   Minute  lang  erstaunt. 

Es  ist  unter  allen  Umständen  ein  nützliches  Wort:  nihil  admirari!  ^) 
Warum  sollten  Sie  nicht  eben  auch  sein  wie  so  viele  andere  ?  Sie  haben 
ganz  recht.  — 

Soll  ich  Sie  erinnern  an  das,  was  ich  für  Sie  tat,  soll  ich  Ihnen 
den  Brief  schicken,  in  dem  Sie  mir  schreiben:  ,,Noch  nie  hat  ein  Mensch 
das  für  mich  getan,  was  Sie,"  ^)  soll  ich  mich  soweit  erniedrigen,  Ihnen 
vorzuerzählen,  was  ich  für  Sie  getan,  getragen  und  geopfert  habe? 
Sicher  nicht!  Nur  soviel:  Nie  hätte  ich  für  mich  getan  [was  ich  ge- 
tan habe]  für  Sie,  nie  für  mich  [ —  bei^)]  Pückler,  Vamhagen, 
Meyer[beer,Offen]  *)  bach,  Mendelssohn  etc.  etc.  antichambriert  und 
gebettelt,  mich  verhaßt  gemacht  durch  Bitten,  die  man  ebenso  un- 
gern erfüllte  wie  abschlug,  imd  meinen  keimenden  Kredit  durch 
unverschämte  Forderungen  erschöpft. 

Glauben  Sie,  daß  ich  das  damals  nicht  alles  wußte,  wie  ich  durch 
Betreibimg  und  so  grenzenlos  eifrige  Betreibung  Ihrer  Angelegenheiten 
mir  schadete,  sogar  bei  Ihren  Freunden  schadete,  die  ich  mit  [zwei 
Worte  imleserlichj  ^)  auf  ihnen  lästige  imd  fatale  Schritte  hinzwang, 
ein  Verfahren,  durch  das,  wie  Sie  wissen  werden,  man  sich  am  meisten 
verhaßt  macht.  Man  kann  einen  Menschen  mit  der  Perseveranz  auf 
diese  Weise  wohl  zu  der  vorliegenden  Handlung  hin  zwingen  (und 
das  tat  ich)  —  aber  der  Baum  ist  einem  dann  für  immer  abgestorben 
und  wird  dem  tmgestümen  Forderer  nie  mehr  eine  Frucht  oder  Blüte 
tragen.  Alle  diese  Menschen  hätten  mir  sehr  gerne  dies  und  das  ge- 
währt, wenn  ich  mit  meinen  Fordenmgen  für  Sie  nachgelassen  imd  sie 
nicht  mit  so  eiserner  Konsequenz  an  diesen  imd  jenen  Stichwörtern 
festgehalten  hätte.  Ich  habe  mir  alle  diese  Menschen  verschlossen  und 
abgeneigt  gemacht  —  Ihretwegen.  Sie  wissen,  was  es  heißt,  seinen 
Kredit  erschöpfen.  Das  war  sogar  mit  Ihren  Freunden  der  Fall. 
Denken  Sie,  was  Ihre  Feinde,  von  denen  Berlin  wimmelt,  erst 
dachten. 


^)  „Nichts  bewundern",  der  Anfang  der  Horazischen  sechsten  Epistel. 
-)  Heine  schrieb  am  lo.  Februar  an  I^assalle:  ,,Noch  nie  hat  jemand  so  viel 
für  mich  getan." 

3)  Vom  Herausgeber  ergänzt.     In  der  Abschrift  ist  liier  ein  Stück  abgerissen. 
*)  Auch  hier  ist  ein  Stück  abgerissen. 
^)  Von  der  Hand  des  Abschreibers. 


283  — 

Ich  fing  damals  an,  in  Berlin  eine  gesellschaftliche  Karriere  zu 
machen  mid  eine  Art  Reputation  zu  bekommen,  die  ich  zu  mir  sehr 
wichtigen  Dingen  anzuwenden  gewußt  hätte.  Aber  nun  verbreitete 
sich  durch  Pücklers  und  Hmnboldts  Plaudereien  das  Gerücht,  ich  wäre 
der  erklärte  Freund  —  Heines.  Bei  einem  geschickten  Rückzug  und 
Preisgabe  Ihrer,  Ihnen  gegenüber  motiviert  durch  einen  mindestens 
ebenso  guten  Brief,  wie  mir  der  Doktor  schreibt,  wäre  viel  zu  verdienen 
gewesen.  Ich  tat  es  nicht  vmd  erlebte,  daß  sich  manche  Person  von 
Bedeutvmg  tmd  Wichtigkeit  von  mir  zurückzog.  Ich  stand  gut  mit 
Eichhorn,^)  er  hatte  mit  mir,  ich  mit  ihm  Pläne.  Da  fragte  er  mich, 
ob  es  wahr  sei,  daß  ich  diese  und  diese  Demarchen  für  Sie  gemacht. 
Aber  ich  war  unerfahren  genug,  die  Treue  gegen  einen  Freund  im 
Konflikt  höher  zu  halten  als  die  Karriere.  Ich  sagte  ja,  sprach  auch 
bei  ihm  für  Sie,  vmd  die  listigen  grauen  Äuglein  Seiner  Exzellenz  haben 
mir  nie  wieder  zugelächelt.  Doch  —  ich  bin  auch  ein  ,, junger  un- 
erfahrener Mensch". 

Eriimern  Sie  sich  jener  frohen  Stunde  an  Ihrem  Kamin,  wo  Sie 
mir  sagten:  ,,Ach,  wenn  Sie  erst  so  viel  Erfahrungen  gemacht  haben 
werden  wie  ich!"  ^)  Es  mag  was  Wahres  daran  sein,  nimmer  aber  hätte 
ich  mir  träumen  lassen,  daß  ich  an  Ihnen  diese  Erfahnmgen  machen 
sollte!  Genug  davon. 

Glauben  Sie  nicht,  daß  ich  sehr  genau  die  Beweggründe,  die  Sie 
abhalten,  kenne? 

Mein  Freund,  mir  können  Sie  nicht  einreden  und  weismachen, 
was  Sie  dem  Doktor  einreden  können.  Dazu  kenne  ich  Pariser  Um- 
und  Zvistände  zu  genau. 

Sie  sind  faul,  Sie  sind  vornehm,  Sie  wollen  sich  wohl  bemühen 
für  mich,  aber  nicht  unter  Ihrem  Namen.  Sie  treiben  die  Güte  in  der 
Tat  so  weit,  mit  Weill,^)  der  Ihnen  doch  so  zuwider,  darüber  zu  reden, 
und  Artikel  in  den  Corsaire  Satan  einzuschwärzen,  aber  der  vornehme 
Heine  würde  nicht  mit  seinem  Konfrater  Jules  Janin  sprechen  oder 
offiziell  sich  bei  den  Pariser  Redaktionen  bemühen.  Und  warum? 
Unter  andern  könnte  es  ja  die  Gräfin  Merlin'*)  erfahren,  die  eine 
Fretmdin  der  Meyendorf,  und  diese  imd  jene  etc.,  und  sehr  viele 
persönhche  Verbindungen  könnten  schief  dazu  sehen. 

Es  soll  unmöglich  sein?  Und  ist  doch  der  Gräfin  d'Agoult  möglich 
gewesen.  Was  die  kann,  können  Sie  sicher  auch,  und  Sie  könnten  doch 


^)  Anspielung  auf  Lassalles  Habilitationsabsichten  vgl.  S.  315  Anm.  i. 
-)  Ähnlich  Heine  an  Lassalle,  7.  März  1846. 

3)  Vgl.  s.  357. 

*)  Die  Gräfin  Mercedes  Merlin  {1788 — 1852),  eine  Spanierin  von  Kuba,  unter- 
hielt in  Paris  einen    glänzenden  Salon,  sie  schrieb  Memoiren  und  Reisebriefe. 


den  Artikel  aus  dem  Rheinischen  Beobachter  übersetzen  etc.  Un- 
möghch,  hören  Sie,  Heine,  ohne  Ihnen  zu  nahe  zu  treten,  aber  — wären 
Sie  in  Geldverlegenheit  mid  wären  dabei  5000  Fr.  zu  gewinnen  —  hol' 
mich  und  Sie  der  Tevifel  —  es  würde  Ihnen  bald  möglich  sein. 

Sie  wissen,  Heine,  was  die  Philister  in  ganz  Deutschland  über  Ihren 
Charakter  schreiben.  Sie  wissen,  was  ich  dazu  dachte.  Aber  wahrlich, 
ich  sage  Euch,  es  gibt  Dinge  zwischen  Himmel  und  Erde  etc.  etc. 

Lieber  Heine,  glauben  Sie  nicht,  daß  ich  leidenschaftlich  schreibe. 
Heut  bin  ich  äußerst  ruhig  tmd  sehr  abgekühlt.  Und  wenn  ich  leiden- 
schaftlich wäre,  wer  hat  denn  immer  früher  so  sehr  ,,die  seltene  Eini- 
gimg von  Passion  imd  Verstandesklarheit  bewundert?"^)  Nur  die  Er- 
fahrung geht  mir  ab  —  Gott  behüte  mich  vor  den  Folgen  Ihrer  Er- 
fahrung, Fretmd. 

Vielleicht  darf  man  Ihrem  kranken  Zustande  Ihre  Antwort  zugut- 
halten.  Vielleicht  ja  aber  schwer,  man  könnte  wohl  Ihrem  Zustande 
eine  Unklarheit  des  Kopfes  zuguthalten,  das  aber  liegt  nicht  vor.  Was 
vorliegt,  ist  sehr  klarer,  abgequirlter  Alltagsegoismus  imd  Erbärm- 
lichkeit, ist  Seichtigkeit  des  Herzens. 

Aber  dennoch  will  ich's  Ihnen  auf  einen  Tag  lang  zugute  halten. 
Aber  auch  nicht  länger.  Ich  wiederhole  Ihnen,  daß  Sie  Artikel,  ganz 
ebenso  fulminant  wie  die  von  mir  geschickten,  im  Journal  des  Debats, 
Times  tmd  Allgemeiner  Augsburger  umgehend  erscheinen  lassen  sollen. 
Ich  beharre  avif  meinem  Verlangen. 

Tun  Sie  es  nicht,  so  ist  es  mir  auch   recht. 

Ich  bin  tmaussprechlich  gleichgültig  geworden.  Tmi  Sie  es  nicht, 
so  kann  sich  die  Meyendorf  imd  Merhn  rühmen,  wessen  sich  selbst 
Dionys  nicht  rühmen  konnte,  nämlich  daß  ihretwegen 

„der  Freimd  dem  Freunde  gebrochen  die  Pflicht'". 

Denn  gerade  herausgesagt,  imd  das  ist  meine  sehr  ruhige  Meinung: 
Sie  haben  mir  Pflicht,  Liebe  imd  Treue  gebrochen.  Wenn  Sie  es 
bei  diesem  dreifachen  Treubruch  sein  Bewenden  haben  lassen  wollen, 
so  werden  Sie  einen  sichern  Profit  machen.  Sie  werden  der  Unbe- 
quemlichkeit meiner  Forderungen  für  immer  ausgewichen  sein  und  nie 
mehr  erleben,  daß  ich  mich  je  wieder  in  freundlichem  noch  feind- 
lichem noch  gleichgültigem  Sinne  an  Sie  wende.  Einen  Ehren- 
platz werden  Sie  immer  bei  mir  einnehmen,  ich  würde  Sie  nämlich 
obenan  stellen  auf  die  Liste  meiner   ,,Erf  ahrungen". 


^)  So  schrieb  Heine  in  seinem  berühmten  Brief  vom  3.  Januar  1846,  der 
Lassalle  bei  Vamhagen  von  Ense  einführte  und  den  der  Überbringer  1848  in 
der  ,, Neuen  Rheinischen  Zeitung"  drucken  heß. 


^ ^.^  285  .^= 

Wollen  Sie  also  nicht,  so  schreiben  Sie  mir  ein  kurzes  ,,Nein",  ich 
komme  dann  selbst  nach  Paris,  um,  was  mir  an  Ihrem  Soutien  abgeht, 
durch  persönliche  Gegenwart  zu  ersetzen.  Übrigens  brauchen  Sie  sich 
dann  in  diesem  Falle  durchaus  nicht  vor  meinem  Besuche  zu  fürchten. 
Ich  erspare  andern  und  mir  gerne  meine  Gegenwart,  wenn  sie  doch  nur 
beschämend  und  demütigend  wirken  kann. 

Übrigens  wiederhole  ich,  daß  ich  es  durchaus  begreiflich  finden 
werde,  wenn  Sie  Ihre  Faulheit,  Vornehmheit  und  einige  Verbindimgen 
mit  der  Merlin  etc.  in  der  einen  Wagschale  mir  tmd  dem  unsichern 
Nutzen  von  mir  in  der  andern  vorziehen.  Es  hat  ein  jeder  das  im- 
bestrittene  Recht  der  Gesinnimgslosigkeit,  ein  teures  Beiwerk  der 
Freiheit,  das  ich  Ihnen  nicht  verkümmern  will. 

Mein  Freund  schreibt  mir,  daß  Sie  imgehalten  wären  über  das 
große  Briefporto,  ja  ,, wütend"  darüber,  Bitte  tausendmal  um  Ent- 
schuldigimg, ich  hatte  nicht  gedacht,  daß  eine  solche  Ausgabe  für 
einen  Freund  Sie  derangieren  könnte.  Ich  lege  hier  das  Rembourse- 
ment  bei,  diesen  Brief  erlaube  ich  mir  noch  imter  der  alten  Adresse 
und  imf rankiert  zu  schicken,  und  nun  —  Gott  befohlen,  ich  grüße  Sie 

Lassalle. 


90. 
LASSALLE  AN  ARNOLD  MENDELSSOHN.     (Original.) 

[November  1846.] 

Mein  guter  Doktor,  meine  liebe  gute  Fundgrube  von  Sozialität. 
Begib  Dich  angesichts  dieses  zu  Heine  und  sieh  mal  zu,  ob  sich  sein 
Animus  geändert  hat  oder  nicht.  Ich  habe  ihm  einen  Brief  geschrieben, 
den  er  sich  bei  Gott  nicht  tmter  den  Spiegel  stecken  wird,  er  war  das 
Ärgste  an  kalter  Malice,  was  ich  je  geschrieben.^)  Wenn  er  nicht  sofort 
meinen  Wünschen  nachkömmt,  so  breche  ich  entschieden  und  für  immer 
mit  ihm  rmd  will  nichts  von  ihm  hören.  Du  tust  jedoch  besser,  Dich 
dessenungeachtet  im  freundschafthchen  Verhältnis  mit  ihm  zu  erhalten. 
Was  Du  mir  in  seinem  Auftrage  als  Unmöglichkeit  darstelltest,  ver- 
dient diesen  Namen  durchaus  nicht,  ja  es  ist  sogar  für  Heine  nicht 
einmal  schwierig,  sondern  bloß  xmangenehm,  mühevoll  und  penible. 
Ich  habe  ihm  das  wahre  Iimere  dieser  Unmöglichkeit  auseinandergesetzt 
und  will  mich  nicht  ennuyieren,  es  noch  einmal  Dir  zu  schreiben.  Ich 
beziehe  mich  daher  in  dieser  Hinsicht  auf  meinen  Brief  an  ihn.    Ich 

')  Siebe  Nr.  89. 


—  286 

kenne  die  Pariser  Verhältnisse  zu  genau,  um  mir  etwas  weismachen 
zu  lassen.  Dir  hat  er  etwas  weisgemacht.  Daß  Grün  bereitwilliger  ist, 
mich  zu  imterstützen,  ist  tüchtig  und  schön  von  ihm  und  läßt  sein 
Charakter  nicht  anders  erwarten.  Ich  werde  ihm  in  8  bis  14  Tagen 
durch  Dich  so  etwas  wie  500  Fr.  übersenden  können,  und  könnt  Ihr  nvm 
sofort  das  Manöver  beginnen.  Dabei  bitte  ich  Dich,  vor  Augen  zu  haben 
folgendes :  Die  Artikel  des  Corsaire  Satan  sind,  der  eine  besonders,  etwas 
gar  zu  lügenhaft,  für  den  Corsaire  Satan^)  ist  das  nun  recht  gut,  aber 
für  die  ernsten  Journale  muß  das  etwas  anders,  strenger  sich  an  die 
Wahrheit  haltend  sein.  Verbreitung  über  die  allgemeinen  Mißhandlungen 
gegen  die  Gräfin,  aber  nicht  detailliert.  Muß  über  die  Bassesse  der  Ver- 
wandten gesprochen  werden,  aber  nicht  in  implacabler  Weise.  Demi 
eben  sind  wieder  neue  Unterhandlungen  im  Gange  und  etwaiger  Frieden 
zu  gewärtigen.  Ist  nun  aber  schon  soviel  über  den  Grafen  gesagt,  daß 
er  gar  nichts  mehr  zu  fürchten  hat,  so  wird  er  sich  zu  nichts  verstehen. 
In  dieser  Beziehimg  diene  mein  neulicher  Brief  an  Heine,  den  Du  ja 
gelesen  haben  wirst,  zum  Muster,  ebenso  der  Rheinische  Beobachter 
vom  19.  September  und  mein  in  jenem  Brief  beigelegter  Probeaufsatz 
an  die  Grenzboten.  Dieser  letztere  geht  schon  sehr  weit  in  Erzählung 
der  Details,  imd  müßt  Ihr  vielmehr  weit  eher  unter  dem  Niveau  dieses 
Artikels  (nämlich  in  bezug  auf  die  Detailangabe  der  früheren  Miß- 
handlungen) bleiben,  als  ihn  überschreiten.  Versteh'  mich  wohl.  Das 
Urteil,  daß  Ihr  in  den  Aufsätzen  über  den  Graf  zu  fällen  habt,  muß 
so  vernichtend  als  möglich  sein;  aber  die  Erzählung  seiner  Infamien 
muß  sich  vorläufig  mehr  auf  die  letzte  Aachener  Geschichte  beschränken 
und  das  frühere  nur  im  allgemeinen  und  phrasenartig  berühren.  Aus 
den  gedruckten  Prozeßakten  sollt  Ihr  keinerlei  Data  mitteilen,  die  nicht 
schon  in  dem  Rheinischen  Beobachter  und  meinem  oft  bezogenen 
Probeaufsatz,  der  in  dieser  Beziehimg  schon  an  die  äußerste  Grenze 
des  möglichen  geht,  mitteilen.  Und  habe  ich  die  strengste  Order,  Dich 
zu  bitten,  mir  diese  gedruckten  Prozeßakten  umgehend  zurück- 
zuschicken. Auch  ist  es  eine  falsche  Politik  von  Dir,  den  Kölner  Coup-) 
immer  als  eine  action  blamable  hinzustellen,  er  muß  vielmehr  durch- 
aus in  Schutz  genommen  und  als  chevaleresken  Rittersiim  bekundend 
dargestellt  werden,  ganz  wie  es  der  Rheinische  Beobachter  vom  29.  Sep- 
tember getan  hat. 

Überschickt  mir  immer  sofort  jede  Zeile,  die  von  Euch  in  irgendeiner 
Zeitung  in  dieser  Angelegenheit  geschrieben  wird.  Wenn  ich  will,  daß 
Ihr  den  AngriS  durch  genauere  Mitteilung  älterer  Details  verstärken 

^)  Der  Corsaire  Satan   war   ein   ziemliches  Skandalblatt.     Geleitet   wurde  es 
von  Le  Poitevin-Saint  Alme. 
2)   Den  Kassettendiebstahl. 


^=^==r==     287    ===:=:^=^ 

sollt,  werde  ich  diese  immer  Euch  angeben  imd  es  schreiben.  Vergeßt 
die  deutschen  Zeitungen  nicht.  Ein  oder  zwei  fulminante  Artikel 
in  den  Debats  imd  Times  ist  Hauptsache.  In  den  englischen  Blättern 
muß  positiv  dargetan  sein,  wie  der  Graf  den  Charakter  eines  Gentleman 
mit  Füßen  getreten.  Der  Ausdruck  von  ihm  in  dem  Corsaire  „homme 
debauche  et  brutal"  ist  gut  und  muß  in  den  Debats  wiederkehren. 
Sprecht  viel  davon,  daß  man  die  Gräfin  wiedermn  der  größten  Not 
(la  plus  grande  detresse)  preisgegeben,  um  sie  an  der  Verfolgimg  des 
Rechtswegs  zu  hindern,  wie  dies  immer  die  brutale  Taktik  seit  20  Jahren 
waa-.  Mein  lieber  guter  Doktor,  Du  weißt  nicht,  wie  ich  mich  sehne.  Dich 
wiederzusehen  imd  eine  Flasche  Champagner  mit  Dir  zu  trinken.  — 
Hoffentlich  wirst  Du  den  Schein  über  die  10  an  Neißer  adressierten 
Louisdor  in  meinem  letzten  Brief  erhalten  und  Dir  ihre  Erhebung  keine 
.Schwierigkeit  gemacht  haben. 

Übrigens  steht  es  fest,  daß  der  Asse.ssor  freigesprochen  wird;  ich 
werde  Dir  übrigens  in  bezug  auf  ihn  einige  Mitteilungen  machen,  die 
Dich  so  erstaunen  werden,  daß  Du  —  Leb  wohl  und  grüße  Grün  herzlich 

Dein   Freund. M 


91. 

l^SSALLE  AN  ARNOLD  MENDE13S0HN  UND  AN  KARL  GRÜN. 
( Abschrift  von  der  Hand  eines  Schreibers  des  Assisenhofs.) 

[Nach  Mitte  November   1S46.] 
Teuren  Fretmde! 

Ihr  habt  eine  kleine  Dummheit  begangen,  indem  Ihr  an  Bercht^) 
habt  Artikel  abgehen  lassen.  Ich  habe  Euch  allerdings  gesagt,  er  würde 
für  was  sein.  Aber  deshalb  diu:! tet  Ihr  ihm  doch  keinen  Artikel  schicken. 
Denn  geschah  es  anonym,  so  war  dies  verdächtig,  geschah  es  mit  Euren 
Namen,  so  war  dies  hinreichend  für  ihn,  uiLsere  »Sache  zu  erkälten. 
Werm  dies  aber  auch  nicht  gewesen  wäre,  hätte  es  doch  keinesfalls  einen 
Nutzen  haben  können,  denn  wenn  er  einmal  für  \\x\s,  gewonnen  war,  so 

1)  In  einer  Anschrift  der  Gräfin  Hatzfeldt  heißt  es  u.  a.:  „Der  Artikel  für 
die  Grenzboten  ist  in  den  Partikularitäten  zu  stark  und  ausführlich.  Wir  leben 
jetzt  hier  in  Erwartung  der  Assisen.  Sie  wissen,  in  welche  Verlegenheit,  in  welche 
Gefahr  uns  die  Handlungsweise  des  O.  gestürzt  hat.  Weitere  Details  kann  ich 
darüber  nicht  schreiben." 

^)  Friedrich  August  Bercht  (1790 — 1861)  wurde  1844  an  die  Spitze  des  neu 
begründeten  „Rheiiüschen  Beobachters"  berufen,  der  gegründet  wurde,  um  den 
Interessen  der  Regierung  in  der  Rheinprovinz  als  Organ  zu  dienen.  Vgl.  Rhei- 
nische Briefe  und  Akten  etc.,  herausgegeben  von  Joseph  Hansen  a.  a.  O.  S.  6510. 


—  -^  288  =^ 

konnte  ich  ihm  doch  am  besten  selbst  Artikel  geben.  Nun  hat  er  zwei 
Tage  darauf,  nachdem  ich  Euch  die  Mitteilung,  daß  er  für  uns  sein 
wollte,  machte,  total  die  Farbe  geändert.  Und  vor  zwei  Tagen  hat  er 
einen  Artikel  gebracht,  wo  es  heißt,  Dr.  Mendelssohn  wäre  jetzt  in  Paris 
tmd  daraus  könne  man  schließen,  aas  welcher  Quelle  die  Artikel  in  den 
französischen  Blättern  herrühren.  Was  habt  Ihr  ihm  geschrieben? 
Unter  Eurem  Namen? 

Indessen  ist  dies  bloß  eine  kleine  Unannehmlichkeit;  nützen  hätte 
er  uns  gekonnt,  schaden  kann  er  uns  aber  nicht,  dazu  ist  sein  Blatt 
viel  zu  sehr  gehaßt  und  diskreditiert.  —  Es  ist  jetzt  kein  Zweifel  mehr, 
ich  habe  mit  der  Canaille  den  liguierten  Adel  gründlich  geworfen. 
Es  war  eine  furchtbare  I/igue,  die  gegen  uns  manövrierte:  Hatzfeldt, 
Fürstenberg,  Mettemich,  Nesselrode,  kurz  alles,  was  vom  großen 
Adel  hier  vorhanden  ist.  Und  es  schien  einige  Tage,  als  könnten  wir 
nicht  aufkommen.  Aber  dann  habe  ich  mich  aufgerafft,  und  der  Erfolg 
hat  meine  vSchritte  wunderbar  begünstigt.  Weißt  Du,  was  ,,ambire" 
heißt?  Seit  zehn  Tagen  habe  ich  es  gründlich  kennen  lernen  in  der 
Praxis,  die  ich  davon  machte.  Die  Kommunisten  und  Radikalen,  etwas 
liberales  Volk  sogar,  das,  gesinnungstüchtiger  als  einsichtig,  von  mir 
begeistert  wurde,  hat  Wunder  getan.  Die  Jury  sind  gegen  Hatzfeldt 
eingenommen,  einige  haben  sogar  beschlosseu,  den  24.^)  darauf  zu 
dringen,  daß  Oppenheim  alles  enthülle  über  Hatzfeldts  Leben,  was  ihn 
mit  solcher  Indignation  erfüllt  habe. 

Die  Presse  hat  Wunder  getan.  Daß  Ihr  Verbündeten  hier  den  ent- 
scheidenden Streich  getan,  wie  in  der  Mannheimer^)  vom  3.,  so  jetzt  in 
der  Trierer  vom  12.,  wie  sollte  ich  meinen  Dank  dafür  stark  genug 
aasdrücken  können?  Indes  waren  wir  darin  auch  nicht  faul.  Die  Mann- 
heimer Zeitung  vom  14.  hat  einen  Aufsatz  von  mir,  aus  dem  Ihr  sehen 
mögt,  was  Grobheit  ist,  obgleich  ein  guter  Teil  durch  die  Zensur  noch 
gestrichen  wurde;  ich  habe  ihn  imter  Gladbachs^)  Namen  hingesandt. 
Indes  war  nötig,  daß  hier  ein  Provinzblatt  sich  damit  zu  schaffen  mache, 
und  das  schien  kaum  zu  erlangen  zu  sein.  Sie  hatten  sich  den  Rücken 
gedeckt  und  mit  allen  Provinzialblättern  herrliche  Vorkehrungen  ge- 


^)  Am  24.  November  1846  hatte  sich  Alexander  Oppenheim  vor  den  Köhier 
Assisen  wegen  des  Diebstahls  der  Schatulle  der  Baronin  Meyendorf  und  der  Ver- 
nichtung von  gerichthchen  Überführungsstücken  zu  verantworten.  Er  wurde 
freigesprochen.  Die  Verhandlungen  gegen  ihn  erschienen  als  Broschüre  bei  der 
Stahlschen  Buchhandlung  in  Düsseldorf  unter  dem  Titel:  Der  Schatullenprozeß 
in  Köln. 

2)  Mit  der  ,, Mannheimer  Abendzeitung"  verbheb  Carl  Grün  auch  nach  seiner 
Ausweisimg  aus  Baden  (1842)  in  guten  Beziehungen. 

^)  Anton  Gladbach,  Lehrer  in  Mühlheim  an  der  Ruhr,  Vertrauter  der  Gräfin 
Hatzfeldt  und  I^assalles,  1848  Mitghed  der  preußischen  Nationalversammlung. 


—  289  

troffen.  Aber  ihre  Machinationen  sind  doch  zuschanden  geworden, 
und  grade,  wo  sie 's  am  wenigsten  erwartet.  Sie  hatten  die  meisten 
Blätter  zum  Stillschweigen  gebracht,  in  der  Rhein-  und  Mosel-  und 
Elberfelder  Zeitung  führten  sie  aber  ihre  Angriffe.  Berichtigungen 
dahin  waren  umsonst  von  ims  abgegangen,  da  nahm  ich  meinen  Ligue,^) 
den  Hauptkorrespondenten  der  Elberfelder,  so  ein,  daß  er  dem  Redak- 
teur den  Krieg  erklärte,  wenn  er  nicht  einige  Artikel  aufnähme,  die  er 
besorgen  wolle.  Und  durch  ihn  brachte  ich  nun  Wächters^)  Betrügereien 
und  noch  einen  andern  Artikel  hinein,  ich  lege  sie  beide  bei.  Besonders 
der  Artikel,  der  über  die  neue  Betrügerei  handelt,  ist  äußerst  wichtig 
und  hat  allgemein  für  uns  gestimmt.  Er  erscheint  morgen  zusammen 
mit  der  Trierer  vom  12.  in  der  Kölnischen  Zeitung  abgedruckt.  Ein 
neuer  Artikel  —  unendlich  gründlich  —  ist  in  der  Elberfelder  \mter- 
wegs.  Die  Trierer  Zeitung  vom  16.  hat  einen  an  einigen  Stellen  etwas 
ungeschickt  geschriebenen  Artikel  von  Decher  [P]  gebracht.  Ebenso 
ist  an  die  Aachener  und  an  die  Berliner  Zeitung  geschrieben.  Seht  be- 
sonders, ob  Ihr  den  Artikel  der  Elberfelder  vom  15.  November  nicht 
abdrucken  oder  gründlich  besprechen  könnt  in  den  französischen 
Blättern  und  der  Trierer  Zeitung  und  Mannheimer.  Jedenfalls  wollen 
wir  darüber  Berichte  machen  imd  diese  Fourberie  jetzt  zum  Thema 
für  einige  Artikel  nehmen.  Ihr  könnt  nicht  glauben,  welche  Wirkung 
dies  wohlerhaltene  Kreuzfeuer  der  Journale  hervorgebracht  hat.  Unsre 
Gegner  sind  ganz  bestürzt.  Die  EnthüUimg  des  neusten  Betrugs  hat 
sie  getroffen  wie  Donner,  besonders  da  sie  jetzt  sehen,  sie  können  sich 
auch  nicht  auf  die  gemieteten  Journale  verlassen.  Ein  Adliger,  der 
mit  der  Hatzfeldt-Clique  Berühnmg  hat,  derselbe,  der  mir  bei  der 
Elberfelder  geholfen  —  verrät  mir  die  meisten  ihrer  Schritte  und  Be- 
mühungen. Die  Redakteure  der  Kölnischen  Zeitung  sind  zwar  nicht 
zu  bewegen,  vor  geendigtem  Prozeß  für  uns  zu  sprechen,  sind  aber 
überzeugt  worden  von  unserem  Recht  und  für  uns  gestimmt.  Schickt 
mir  einen  französischen  Artikel  für  Armand  Bertin,  ^)  schreibt  besonders 
kräftig  an  die  Mannheimer,  die  hier  noch  gelesener  ist  als  die  Trierer. 
Auch  für  die  Schlesische  Zeitung  habe  ich  Sorge  getragen.  Die  100  Taler 
nebst  Druckheft  wirst  Du  erhalten  haben  bereits.  Also,  wackere 
Trommler,  werdet  nicht  müde,  schlagt  Reveille.  Geht  mir  trommelnd 
voran. 


^)  Sic!  Der  Schreiber  hat  hier  wie  an  anderen  Stellen  ganz  mechanisch  und 
gedankenlos  abgeschrieben.  OffensichtUche  Schreibfehler  wurden  gleich  im  Text 
richtiggestellt. 

2)   Direktor  Wächter  stand  seit  langen  Jahren  im  Dienste  des  Grafen  Hatzfeldt. 

^)  LouisMaria  Armand  Bertin  (iS  10 — 1854),  Redakteur  am  Journal  des  D^bats. 

.Mayer,  Lissalle-N'achlass.  jg 


-  290  — = 

Die  Mannheimer  und  Trierer  haben  nun  die  Sache  Grüns  wegen 
zur  Parte.isache  gemacht,  unterstützt  wurde  dies  durch  die  Zuschriften 
der  hiesigen  Sozialisten  und  Kommunisten. 


92. 
IvASSAl^LE  AN  DEN  VATER.     (Original.     Fragment.) 

[Ohne  Datum,  ■vvohl  Ende   1846] 
Geliebter  Vater! 

Nie  ist  wohl  jemand  mehr  Unrecht  getan  worden  als  mir  heute 
von  Dir  mit  der  Äußenmg,  ich  liebte  Dich  nicht  mehr.  Und  wenn  Du 
dies  dahin  ermäßigen  wolltest,  ich  Hebte  Dich  nicht  mehr  wie  früher, 
so  hättest  Du  erst  gar  unrecht,  ich  hebe  Dich  vielmehr  bei  weitem 
mehr;  und  wie  wäre  das  auch  anders  möglich?  Mit  jeder  Sorge,  die  ich 
Dir  mache,  steigert  sich  das  ungeheure  Kapital  von  Verpflichtungen, 
das  ich  gegen  Dich  habe,  wächst  meine  Schuld  gegen  Dich,  vermehrt 
sich  unbegrenzt  meine  Neigung,  Dir  meine  Liebe  zu  beweisen,  tmd  grade 
weil  ich  dies  Gefühl  für  jetzt  nicht  befriedigen  kann,  steigert  sich 
dies  Gefühl,  wie  ganz  psychologisch,  ins  Überschwengliche.  Ich  glaube^ 
das  ist  klar,  ebenso  klar  ist  zugleich,  daß  ich  der  gefühlloseste,  nieder- 
trächtigste Schuft  sein  müßte,  wenn  dies  nicht  so  wäre.  Noch  nie 
hat  ein  Sohn  einen  Vater  gehabt,  wie  ich  an  Dir,  noch  nie  hat  ein  Sohn 
durch  besondre  Umstände  eine  so  heilige  Verpflichtung  avif  sich  ge- 
fühlt, diesem  Vater  alles  zu  ersetzen,  was  die  Welt  ihm  sonst  an  Leid 
zugefügt  hat.  Muß  Dir  vielmehr  nicht  meine  Treue  gegen  die  Gräfin 
und  ihre  Sache,  statt  Dir  das  Gefühl  zu  erregen,  ich  hätte  Deiner  ver- 
gessen, den  Beweis  liefern,  wie  unerschütterhch,  wie  unbegrenzt  meine 
Hingebung  und  Liebe  für  alle  Wesen  ist,  die  sich  Anspruch  darauf 
erwerben,  die  meinem  Herzen  nahe  getreten  sind?  Und  wenn  ich  für 
eine  andre  Person  so  denke  und  handle,  wie  unbegrenzt  muß  dann 
meine  Treue  zu  Dir  sein?  Der  Beweis  ist  klar.  Ein  Mensch  schlägt 
in  seinen  Handlungen,  wenn  sie  überlegt  sind,  nie  aus  der  Art,  er 
verleugnet  nie  seinen  Charakter  darin;  in  dem,  was  ich  für  die  Gräfin 
tun  würde,  siehst  Du  einen  Teil  von  der  Hingebung,  die  ich  in  abso- 
lutem Maße  für  Dich  betätigen  würde. 

Daß  ich  Dir  Sorge  mache,  leugne  ich  nicht,  und  grade  das,  wie  ich 
gesagt,  vermehrt  noch  meine  unaussprechliche  Liebe  zu  Dir,  Weh  zu 
tun  einem  Wesen,  das  man  liebt!  Das  ist  hart.  Sehr  hart.  Aber  sieh, 
alles,  was  ich  verlange,  ist,  daß  Du  auch  mich  gerecht  beurteilen  sollst. 
Und  dann  wirst  Du  zugestehen,  daß  sich  in  meinen  Handlungen  keine 


291  - 

Lieblosigkeit  gegen  Dich,  sondern  Pflichtgefühl  ausspricht.  Ich  habe 
nicht  in  übermütigem  Ivcichtsinn  gehandelt.  Sonst  würde  ich  mich 
selbst  anklagen  des  Verbrechens  gegen  Dein  liebes  Haupt;  aber  ich 
habe  mir  keinen  Vorwurf  zu  machen,  keinen  einzigen,  ich  habe 
gehandelt,  wie  ich  mußte,  ich  durfte  nicht  anders!  Du  wirst  doch 
auch  einen  Mann  zum  Sohn  haben  wollen  imd  nicht  einen  feigen, 
egoistischen  und  haltlosen  Burschen?!  Wenn  ich  mich  ehrlos,  pflicht- 
vergessen benehmen  würde  gegen  .  .  .^) 


93- 
LASSAIvIvE  AN  DEN  VATER.    (Original.    Fragment.) 

Paris  [Dezember  1846]. 

Hotel  Mirabeau. 
6  rue  de  la  Paix. 

. .  .er  hat — Hunger  ertragen,  sage  Hunger  und  Elend,  derSou  hat 
ihm  gefehlt^)  — und  er  hat  kein  einzigesmal  gemurrt  —  aus  Freundschaf t 
zu  mir  und  aus  Treue  für  seine  Überzeugvmg;  er  hat  mich  selbst  seine 
ganze  Not  erst  kennen  gelehrt,  als  mir  Hilfe  möglich  und  sie  vorüber 
war;  er  hat  mir  treuer  angehangen  als  die  Juden  ihrem  Moses,  denn  er 
ist  mir  auch  durch  eine  Wüste  gefolgt,  ohne  Quell  und  Manna  wie  ein 
gehetztes  Reh  von  den  Häschern  verfolgt,  imd  er  hat  nicht  ein  einziges- 
mal gemurrt  wie  sie.  — 

Durch  die  vielen  Siege,  die  wir  erfochten,  ist  nun  der  Graf  sehr 
gedemütigt  tmd  zum  Frieden  geneigt  geworden.  Der  Justizrat  Holthoff ,  ^) 
der  die  letzten  Friedensverhandlimgen  vermittelte,  sagte  mir:  ,.Der 
Graf  selbst  ist  mürbe  imd  völlig  gebrochen,  es  sind  nur  noch  seine 
Ratgeber,  die  seinen  verzweifelnden  Mut  aufrechthalten,  er  selbst 
würde  bereits  alles  aufgeben."  Durch  andre  Personen  habe  ich  nun 
erfahren,  welches  der  einzige  Umstand  ist,  auf  den  die  Ratgeber  des 
Grafen  ihre  Hoffnung  gründen.  Dieser  Umstand  ist  —  unsere  Mittel- 
losigkeit; sie  hoffen,  und  diese  Hoffnung  hält  den  Grafen  allein  noch 
aufrecht,  daß,  wenn  er  die  Sache  nur  noch  etwas  hinzöge,  die  materielle 
Not  uns  beugen  wird.  —  Die  Gräfin  hat  gemäß  den  rheinischen 
Gerichtsformalitäten  den  Grafen  durch  einen  Gerichtsvollzieher  auf- 
fordern lassen,  sie  bei  sich  aufzunehmen  und  ihr  die  seit  Oktober  rück- 


^)  Hier  bricht  der  Bogen  ab. 

2)  Gemeint  ist  Arnold  Mendelssohn. 

3)  Justizrat  Dr.  Franz  Ferdinand  Holthoff,  Stadtrat  und  Advokatanwalt  in 
Köln,  starb  schon  Ende   1847. 


-  292  =^ —  

ständigen  Gelder  auszuzahlen,  er  hat  auf  das  erste  eine  ausweichende, 
auf  das  zweite  eine  abschlägige  Antwort  gegeben;  besser  verlangten 
wir  es  nicht;  das  war  alles,  was  wir  nötig  hatten,  um  den  Prozeß  ab- 
zukürzen; es  ist  sofort  die  Klage  auf  Sustentationsgelder  eingereicht, 
und  da  er  leider  verweigerte,  seine  Frau  bei  sich  aufzunehmen  und  sie 
auswärts  zu  vmterstützen,  so  ist  ohne  alle  Widerrede  dieser  Prozeß 
auf  summarischem  Wege  unbedingt  in  zwei  bis  drei  Monaten,  alle 
Instanzen  eingerechnet,  gewonnen.  Es  handelt  sich,  ob  wir  diese  zwei 
bis  drei  Monate  werden  aushalten  können,  ohne  vom  Hunger  gezwungen 
zu  werden. 

Die  Sache  kommt  jetzt  zur  Entscheidung,  und  beide  Parteien  raffen 
ihre  Kräfte  zu  entscheidenden  Streichen  zusammen.  Wer  diesmal 
Sieger  bleibt,  der  hat  die  Sache  ausgefochten.  Demgemäß  versucht 
der  Graf,  sich  noch  einmal  aufzuraffen  und  uns  das  einzige  va  banque 
zu  bieten,  das  ihm  noch  möglich  ist.  Er  hat  der  Mannheimer  und 
Trierer  Zeitung  Calomnieprozesse  an  den  Hals  geworfen,  für  die  gegen 
ihn  darin  ausgesprochnen  Verfolgung  etc.  Diese  Zeitimgen  müssen 
natürUch  den  Verfasser  der  Artikel  nennen,  imd  wenn  sie  mich  nun 
nennen  müssen,  so  trifft  der  Prozeß  mich.  Nach  rheinischen  Gesetzen 
gilt  die  exceptio  veritatis  (d.  h.  die  Rechtfertigung  der  Beleidigimg 
durch  den  Nachweis  der  Wahrheit)  nicht  (in  Paris  gilt  es)  und  so  würde 
ich  denn  in  einem  Zeitraum  von  14  Tagen  zu  —  12  bis  18  Monaten 
Gefängnis  verurteilt  sein.  Dann  allerdings,  wenn  ich  eingesperrt 
wäre,  hätte  der  Graf  gewonnen,  dann  müßte  die  Gräfin  schütz-  und 
ratlos  nachgeben,  drum  ist  auf  diesen  Coup  seine  letzte  Hoffntmg  ge- 
richtet. Von  diesem  Sturm  zum  voraus  imterrichtet,  habe  ich  mich 
nach  Paris  begeben,  um  hier  ein  Individuum  aufzutreiben,  welches  die 
Verfasserschaft  und  Verantwortlichkeit  für  alle  vorausgegangenen  imd 
beliebig  folgenden  Artikel  übernimmt.  Das  ist  hier  sehr  leicht,  weil 
hier  die  exceptio  veritatis  gilt,  der  Graf  also  schon  vor  Pariser  Forum 
den  Prozeß  nicht  wagen  kann,  weil  er  riskierte,  daß  ihm  hier  alle  seine 
Schändlichkeiten  bewiesen  werden  und  die  Öffentlichkeit  eines  Pariser 
Prozesses  noch  ein  ganz  anderes  Ding  ist  als  die  eines  Kölner.  Zweitens 
aber  gibt  es  hier  eine  ganze  Klasse  Individuen  (besonders  Schriftsteller), 
die  es  sich  zum  Erwerb  machen,  die  Verantwortlichkeit  für  fremde 
Preßvergehen  auf  sich  zu  nehmen  und  —  für  Geld  —  nötigenfalls  die 
Strafe  abzusitzen.  Ich  habe  auch  eine  Menge  gefunden,  die  bereit 
dazu  sind  und  für  5000  Fr.  etwa  sich  als  Verfasser  nennen  würden  für 
die  vergangenen  imd  zukünftigen  Injurien.  Dann  wäre  also  auch  der  letzte 
Streich  des  Grafen  in  die  Luft  geführt  vmd  seine  Ergebung  vor  der  Tür! 

Zu  diesem  Zweck,  zu  dem  Zweck,  meine  Anhänger  zu  bezahlen,  die 
stürmisch  Sold  fordern  imd  bei  längerer  Verzögerung  nichts  mehr  für 


=  293  ======.-= 

mich  tun  würden,  während  ich  ihre  Hilfe  mehr  als  je  noch  brauche, 
zu  dem  Zweck,  die  Prozeßkosten  zu  bestreiten,  die  in  zwei  Monaten 
goldene  tausendfache  Früchte  bringen  werden,  zu  dem  Zweck,  einige 
drückende  Schulden  bezahlen  zu  können,  zu  dem  Zweck,  mit  der 
Gräfin  etc.  ein  bis  zwei  Monate  imsere  täghchen  Bedürfnisse  gesichert 
zu  haben,  —  brauche  ich  eine  letzte  Sendung  Geld.  Vor  allem  sei 
ruhig  und  erschrick  nicht,  wenn  ich  eine  große  Zahl  ausspreche!  Ich 
brauche  —  fünftausend  preußische  Taler  auf  einen  Schlag,  und  zwar 
müssen  sie  in  einem  an  mich  indossierten  Wechsel  auf  Schaaffhausen 
in  Köln  mir  übersandt  werden.  Dieser  ist  nämlich  der  Bankier  des 
Grafen,  und  wenn  ich  vormittags  mich  mit  einem  solchen  Wechsel 
bei  Schaaffhausen  präsentierte,  würde  nachmittags  der  Graf  davon 
unterrichtet  sein.  Dies  wäre  von  dem  höchsten,  entscheidenden  Nutzen. 
Mich  im  Besitze  einer  solchen  Summe  zu  wissen,  zu  wissen,  daß  seine 
letzte,  auf  unsere  materielle  Not  gerichtete  Hoffnung  falsch  und  nichtig 
sei  —  das  würde  ihm  den  Rest  geben.  Wahrscheinlich  würde  dies  allein 
genügen,  um  ihn  zur  Anknüpfung  von  Friedensverhandlungen  und  zum 
Nachgeben  zu  bringen.  Werde  nicht  verdrießlich,  weil  ich  eine  solche 
Summe  fordre  imd  höre  eine  kurze  Auseinandersetzung  mit  Deiner 
alten  Güte  an.  Zuvörderst  glaube  mir,  was  es  Dich  auch  kosten 
mag,  es  mir  zu  schicken  —  glaube  mir,  es  kostet  mich  bei  weitem 
mehr,  sie  zu  fordern.  Seit  vier  Tagen  wälze  ich  mich  mit  diesem 
Briefe  herum,  dessen  Notwendigkeit  mir  lichtvoll  vor  der  Seele  steht 
imd  den  ich  mich  nicht  entschließen  kann,  Dir  zu  schicken.  Aber  es 
muß  sein.  So  muß  ich  auch  den  Mut  und  das  Herz  dazu  haben.  Ich 
will  es  vernünftig  betrachten.  Bei  meiner  Anforderung  kommen  zwei 
Fragen  in  Betracht,  i.  Ob  es  Dir  überhaupt  auf  irgendeine  Weise 
möglich  ist,  mir  das  Verlangte  zu  schicken  für  den  Augenblick,  2.  Ob 
ich  es  verantworten  kann,  eine  Smnme  von  Dir  zu  leihen,  deren 
Restitution  immer  nicht  sicher  ist  (nach  gewöhnhchen  Begriffen)  und 
deren  Verlust  Dich  vielleicht  ruinieren  würde.  — 

Die  erste  Frage  ist  bald  erledigt.  Wenn  Du  die  Summe  aufnehmen 
und  Dich  dem  Verlust  derselben  aussetzen  willst,  so  kannst  Du  mir 
sie  leicht  schicken,  wenn  Du  auch  nachher  den  Verlust  nicht  ertragen 
könntest.  Die  zweite  Frage :  ist  es  aber  unter  solchen  Umständen  und 
da  ich  voraussetze,  daß  Du  ihren  Verlust  nicht  würdest  ertragen  können, 
,, menschlich",  daß  ich  eine  solche  Summe  fordere;  diese  Frage  er- 
ledigt sich  auf  folgende  Weise.  Was  trifft  ein,  wenn  ich  die  Surmne 
nicht  erhalte?  Daß  ich  dann  keinen  Stellvertreter  erkaufen  könnte 
imd  also  auf  viele  Monate  für  Preßvergehen  ins  Gefängnis  spazieren 
müßte.  Diese  vorübergehende  Unannehmhchkeit  ist  das  wenigste. 
Wenn  ich  aber  die  Sache,  deren  ich  mich  angenommen,  nicht  durch- 


—  —  294 

setzen  könnte,  was  würde  die  Folge  für  mich  sein?  Du  kennst  mich  ein 
wenig.  Ich  habe  es  mir  zur  Herzenssache  gemacht,  die  Sache  dieses 
unglückseligen  gemißhandelten  Weibes,  dieses  so  guten  Weibes  durch- 
zuführen. Ich  habe  mich  angesaugt  an  diesen  Vorsatz  mit  allen  Saug- 
fasern meines  Organismus;  ich  habe  mich  angekrampft  daran  mit 
aller  Stärke  meines  Willens.  Mein  Wille  ist  mein  ganzer  Mensch! 
Es  ist  mir,  daß  ich  es  grade  heraussage,  I^ebensfrage  geworden. 
Ich  sinne  nur  das,  ich  denke  nur  das,  ich  fühle  nur  das!  Mein  ganzes 
Dasein,  mein  ganzer  Geist  hat  sich  daran  angeklammert,  und  er  springt 
in  Stücke,  wenn  er  davon  lassen  muß.  Wenn  ich  durch  die  materielle 
Not  gehindert  werde,  der  Frau  ihr  Recht  zu  verschaffen,  woran  ich 
meine  Freunde,  meine  Jugend,  meine  Blüte,  unsre  Ehre,  unsre  Frei- 
heit und  Deinen  Schmerz  gesetzt  habe  —  dann  —  was  würde  eintreten.^ 
Ich  würde  mich  einhüllen  in  meinen  Gram  und  drin  ver- 
gehen. Du  wirst  es  begreifen  (andre  mögen  es  übertrieben  finden)  — 
eine  so  starke  Natur  ich  auch  bin,  oder  vielmehr  grade  weil  ich  eine 
so  starke  Natur  bin  —  ich  würde  von  Stund'  an  an  gebrochnem 
Herzen  sterben;  wie  ein  schwindsüchtiges  Mädchen,  an  dem  der 
Wurm  nagt.  Ich  würde  mich  in  eine  Einsamkeit,  in  einen  Winkel  der 
Erde  zurückziehen  imd  würde  mich  auffressen  und  auf  nagen  vor  Gram! 
Ich  würde  eine  I/Ciche  sein,  auch  schon  während  meines  Lebens,  das 
ich  schwerlich  lang  ertrüge.  Ich  bin  anders  wie  andre  Menschen, 
wenn  ich  mir  was  zu  Herzen  nehme,  frißt's  mir  die  Eingeweide  ent- 
zwei! Die  vSchmach,  die  das  Weib  erlitten,  die  schmähhche  gottver- 
gessne  BrutaUtät,  mit  der  man  sie  zertreten  will,  der  Widerstand,  den 
ich  gefunden,  die  Güter,  die  ich  dran  gesetzt,  die  Siege,  die  ich  erfochten, 
glorreich  und  unglaublich  erfochten  habe,  alles  das  hat  mich  mit  einer 
absorbierenden  Leidenschaft  durchfacht,  und  wenn  ich  nach  all  diesen 
ungeheuren  Anstrengungen  und  Siegen,  nach  der  Beseitigung  der  un- 
behaglichsten Schwierigkeit  so  nahe  meinem  Siege,  ja  seiner  gewiß, 
an  ein  paar  tausend  Talern  scheitre,  siehst  Du,  dann  gehe  ich  dran 
zugrunde.  Dann  bin  ich  quitt  mit  allem,  was  die  Welt  trägt,  dann 
kann  ich  vielleicht  —  auch  nur  vielleicht  —  noch  ein  Scheinleben 
führen,  aber  die  Blüte,  aber  die  Elastizität,  die  Spannkraft  meines 
Geistes  ist  geknickt,  und  ich  werde  sein  dumpf  und  fühllos  wie  der 
Blödsinn.  Mit  welchem  Rechte  aber  kann  ich  deswegen  fordern,  daß 
Du,  um  meinen  Ruin  zu  verhüten.  Dich  selbst  dem  Ruin  aussetzest? 
Das  will  ich  Dir  erklären.  Wärest  Du  wie  ein  andrer  Vater,  würde  ich 
es  nicht  tun.  Aber  weil  ich  weiß.  Du -Guter,  daß  ich  Dein  Alles  bin, 
Deine  einzige  Freude,  alles  in  einer  Person,  was  Dich  am  Leben  fesselt 
und  den  Glanz  der  Hoffnung  in  Deinen  Augen  leuchten  läßt  —  sieh, 
so  ist  es  meine  Pflicht,  so  muß  ich  Dich  fragen:  ,, Willst  Du  nicht  Dein 


-         —  =^-  295  — 

Alles,  Dich  selbst,  einsetzen,  um  Dein  Alles,  mich,  zu  retten?"  Ich  mußte 
Dir  nur  sagen,  was  auf  dem  Spiele  steht,  daß  mein  ganzes  Ich  —  es  ist 
mein  fürchterlichster  Ernst  —  auf  dem  Spiele  steht,  und  daß  diese 
Deine  Hälfte  noch  zu  retten  ist,  wenn  Du  nur  Mut  genug  hast,  die 
andre   einzusetzen,   dazuzusetzen  —  daß   sie  aber  ganz   gewiß  und 
für  immer  verloren  ist,  wenn  Du  diesen  Mut  nicht  hast!  Ich  fordere 
es  nicht,  ich  laß  Dir  nur  die  Wahl.    Ich  würde  es  Dir  nicht  einmal  er- 
zählen, um  Dir  die  Qual  der  Wahl  zu  ersparen,  werm  ich  nicht  fürchtete. 
Du  könntest  mir  dann  einst  sagen,  warum  hast  Du  mir  das  nicht  ge- 
sagt?  Warum  hast  Du  es  nicht  in  mein  Wissen  und  Wollen  gestellt? 
Warum  hast  Du  es  mir  nicht  möglich  gemacht.  Dich  zu  erhalten,  und 
sollte  ich  alles  dafür  aufs  Spiel  setzen,  und  sollte  ich  mich  noch  dazu 
wagen,  da  Du  doch  weißt,  wieviel  Du  mir  giltst?   Um  diesem  Vorwurf 
zu  entgehen  und  weil  Wahrscheinlichkeit,  ja  Gewißheit  da  ist,  daß 
Du  mich  und  Dich  zurückgewinnst,  wenn  Du  das  Spiel  nur  wagst,  — 
darum  sage  ich  es  Dir.    Ich  sag'  es  Dir,  weil,  wenn  Du  das  va  banque 
nicht  bietest,  nicht  zu  mir,  der  einen  Hälfte,  noch  Dich  selbst,  die 
andre  Hälfte  setzst,  ich  ganz  verloren  bin  und  mit  mir  Dein  bester 
Teil,  alles  Schöne  Deines  Lebens,  alles,  wofür  Du  lebst!    Ich  sag'  es 
Dir,  weil  Du  mir  sagen  könntest:  ,, Warum  hast  Du  mir  vorenthalten, 
daß  die  Frage  so  fürchterüch  entscheidend  ist,  daß  sie  lautet:  ,,Sein 
oder  Nichtsein",  ich  habe  oft  in  meinem  Leben  mein  ganzes  Vermögen 
an  Geschäfte  gewagt,  warum  zweifeltest  Du,  daß  ich  es  freudig  für 
Dich  wagen  würde,  wenn  ich  nur  wußte,  daß  ein  Ausweg  unmöghch 
ist?"  —  Damit  ich  vor  dieser  Frage  dann  nicht  zu  verstummen  brauche 
und  dann  nicht  erröten  muß,  das  Lebensglück  von  vier  Menschen  und 
Deines  mit  vernichtet  zu  haben,  weil  ich  den  Mut  zu  einer  Forderung, 
den  Mut  zu  einer  Auseinandersetzung  nicht  hatte,  darum  spreche  ich 
und  stelle  es  in  Deine  Wahl!  — 

Willst  Du  mir  also  schicken,  so  muß  es  umgehend  sein  (gegenwärtig 
habe  ich  hier  keine  4  Fr.,  doch  das  macht  nichts,  ich  werde  morgen 
vSchmuck  verkaufen,  die  Gräfin  hat  noch  100  Rt. ! !)  und  muß  auf  einmal 
die  ganze  Summe  sein,  und  beobachte  die  oben  angegebene  Formahtät, 
lege  den  an  mich  indossierten  Wechsel  in  einen  Brief  an  mich,  den  Du 
rekommandierst,  drum  mache  ein  Kuvert,  das  Du  auch  rekommandierst 
und  an  H.  Rener  ^)  adressierst.  Zugleich  schreibst  Du  noch  einen  andern 
Brief  an  mich,  worin  Du  mir  meldest,  daß  Du  mir  das  Geld  an  Rener 
geschickt  und  adressierst  ihn  inwendig  an  mich,  auswendig  an  Herrn 
Justizrat  Holthoff,  Köln,  Kunibertskloster,  zugleich  schreibst  Du  noch 
einen  Brief,  in  dem  Du  mir  dasselbe  meldest  und  adressierst  ihn    gar 


M   Siehe  oben   S.  268  Anm.  3. 


-  -  296  -  I 

nicht  an  mich,  sondern  inwendig  an  Herrn  F.  Goldschmidt,  auswendig 
an  Herrn  Forrer,  Rue  Quincampoix  No.  8,  Paris. 

Nun  leb  mir  wohl,  Du  Guter,  Vielgequälter,  aber  Du  merkst  wohl, 
wer  einen  so  fürchterlichen  Brief  so  fürchterlich  kalt  und  besonnen 
schreiben  kann,  dem  muß  recht  durch  und  durch  und  fürchterlich  ernst 
und  gar  nicht  schreiberlich  zumute  sein.  Ich  denk',  ich  zahl'  Dir's 
einst  wohl  noch  wieder,  was  Du  getan  und  gelitten.  Ich  halte  Wort 
und  zahle.    Leb  wohl,  leb  mir  wohl,  mein   guter  .  .  . 


94- 
HEYMAN  LASSAIv  AN  DEN  SOHN.    (Original.) 

Breslau,  den  21.  Dez.  46. 

Ohne  viele  Weitläufigkeiten  kurz  zur  Sache.    Du  verlangst  von  mir 
5000  Rt.,  erklärst  mir,  daß  Du  diese  Summe  durchaus  haben  mußt,  und 
daß  im  entgegengesetzten  Falle  die  Welt  und  die  Freude  für  Dich  ab- 
gestorben und  daß  das  Leben  fast  eine  Last  für  Dich  wäre !    Werm  ich 
Dich  nicht  so  lieb  hätte,  so  würde  ich  Dir  einen  ganz  derben  Brief  ge- 
schrieben haben  und  Dir  eine  solche  Redensart  strenge  gerügt  haben. 
Allein  ich  bin  Dir  viel  zu  gut,  ich  habe  Dir  gegenüber  niemals  den 
Standpunkt  als  Vater  angenommen,  ich  abstrahiere  auch  heute  davon 
imd  sprechen  wir  über  Deine  Angelegenheit  offen  und  leidenschaftlos 
wie  ehrliche  I^eute.  Ich  will  Dir  keine  Vorwürfe  machen,  daß  Du  die 
friedliche  Heimat  verlassen  und  in  das  feindhche  Leben  hinausgegangen 
tmd  eine  fremde  Angelegenheit  zu  einer  Lebensfrage  für  Dich  gemacht, 
einen  Kampf  begonnen  auf  Leben  und  Tod,  welchen  durchzuführen  Du 
wohl  die  geistigen  Mittel  haben  magst,  aber  nicht  die  materiellen;  ich 
sage,  ich  will  Dir  keine  Vorwürfe  machen,  sondern  die  Sachen  nehmen 
so  wie  sie  eben  sind. — Also  damit  die  Gräfin  Hatzfeldt  eine  gesetzhche 
Rente  von  soundsoviel  Taler  tmd  diese  und  jene  Nebenbedingungen  alle 
so  geordnet  werden,^)   wie  Du  oder  die  Gräfin  es  wünscht,  also  darum 
die  Lust  zum  Leben  aufgeben,  das  nicht  Dir,  sondern  von  Gott  und 
Rechts    wegen  kraft    des  heihgen  Rechtes  der  Liebe  und  innigen 
Freundschaf  t  noch  mir,  nur  mir  allein  gehört,  dies  ist  weder  rechüich 
vernünftig.  Denn  die  Gräfin  Hatzfeldt  kann  ebensogut  mit  1 5  Mille  ^)  leben 
vmd  kann  ebensogut  auf  diese  oder  jene  günstige  Bedingimg  verzichten, 
wenn  es  sein  muß  und  es  nicht  anders  zu  machen  ist.    Meine  Antwort 
auf  Deine  Forderung  ist  also  folgende.    vSei  überzeugt,  daß  wenn  ich 

1)  Sic! 

-)  Diese  Geldangabe  war  nicht  genau  zu  entziffern, 


—  297  —  -= 

5  Mille  hätte  oder  sie  durch  Kredit  aufzubringen  wüßte  (es  ist  nämlich 
seit  dem  Fallissement  des  Kommerzienrat  Ferdinand  vSchiller  ein  solches 
Mißtrauen  hier,  daß  ein  Bruder  dem  andern  nicht  ohne  hinlängUches 
Unterpfand  borgt),  also  wenn  ich  sie  mir  darlehensweise  zu  verschaffen 
wüßte,  ich  würde  sie  Dir  bei  Gott  dem  Allmächtigen  geben,  und  zwar 
nicht,  weil  ich  die  Überzeugung  habe,  daß,  wenn  ich  dieses  Kapital 
gebe,  Du  am  Ziele  Deiner  Wünsche  wärest,  denn  diese  Ansicht  ist  mir 
nicht  so  maßgebend,  da  ich  nun  schon  zum  dritten  Male  sehe,  daß  Du 
Dich  über  die  materiellen  Kräfte,  welche  zu  diesem  Feldzuge  nötig 
sind,  getäuscht.  Einmal,  als  Du  von  Berhn  fortgingst,  sagtest  Du,  ich 
bin  mit  Geld  hinreichend  versehn  —  nicht  drei  Monat  später,  als  ich  von 
Wien  nach  Hause  kam,  fand  ich  einen  Brief  vor,  worin  du  200  Louisdor 
als  Darlehn  fordertest;  ich  kam  zu  Dir  und  machte  Dir  die  Aussicht, 
nach  Kräften  Geld  zu  senden;  allein  bald  fordertest  Du  anstatt  1000  Rt. 
mindestens  2000  Rt.,  imd  jetzt  sind  noch  nicht  drei  Monat  vorüber 
und  Du  forderst  wieder  5  Mille.  Dennoch  aber  würde  ich  Dir  die  5  Mille 
geben,  weil  das  Geld  nur  dann  einen  Wert  für  mich  [Wert]  hat,  wenn  ich 
es  für  solche  Zwecke  verwende,  die  mir  heb  und  teuer  sind,  und  wer  ist 
mir  wohl  teuerer  als  Du?  —  Aber  bei  Gott  dem  Allmächtigen,  der  in 
meinem  innersten  Herzen  wohnt,  ich  habe  es  nicht  und  kann  es  nicht 
beschaffen,  dennoch  aber  will  ich  mein  möglichstes  tun, .  .  .')  auch  Fried- 
land, der  mittlerweile  wohl  in  Paris  angekommen  ist.  .  .-)  mir  fällt 
eben  ein  gewisser  .  .  .^)  eines  [Barons]  *)  ein,  welcher  sehr  oft  zu  uns  kam, 
Friedland  und  H.  Heine  kennen  ihn  genau,  auch  Panofka^)  kennt  ihn 
gut .  .  .*)  Allein  es  ist  eine  bekannte  Fabel,  daß  die  Regierung  über 
das  Tierreich  wechselt  und  daß  in  dem  Jahr,  wo  der  Fuchs  den  Thron 
besitzt,  der  Löwe  sich  vor  ihm  bückt.  —  Also  selbst  in  dem  Falle, 
wenn  Du  ein  kleines  oder  großes  Zerwürfnis  mit  ihm  hattest,  so  gehe 
zu  ihm,  ich  schreibe  ihm  auch  heute  in  Deiner  Angelegenheit,  und  ich 
zweifle  nicht,  daß  er  meinem  Wunsche  nachkommen  wird.  —  Dann  will 
ich  Dir  im  Vertrauen  noch  etwas  mitteilen.  Wir  haben  die  Gasbeleuch- 
tung für  Pest  in  Ungarn  angenommen.    Der  Kontrakt  ist  bereits  länger 


^)  Hier  sind  sechs  Zeilen  durch  Tinteastricha  vallkoiiitnea  ualeserlich  gemacht. 

2)  und  3)  Hier  sind  wiederum  einige  Worte  unkennthch  gemacht. 

*)  Dies  Wort  ist  auch  teilweise  radiert,  so  daß  es  nicht  mit  voller  Sicherheit 
zu  entziffern  war. 

^)  Gemeint  i.st  wahrscheinUch  Theodor  Panofka  (1800 — 1858),  der  beliannte 
Archäologe,  ein  geborener  Breslauer,  bei  dem  I,a.ssalle  in  Berlin  Vorlesungen 
gehört  hatte. 

*)  Hier  sind  wiederum  sechs  Zeilen  unkenntlich  gemacht.  Einzelne  Worte, 
die  dazwischen  stehen  geblieben  sind,  lassen  den  Sinn  in  keiner  Weise  erkennen. 
Nicht  unwahrscheinlich  ist,  daß  der  alte  I<assal  sich  hier  in  abfälliger  Weise 
über  seinen  Schwiegersohn  Friedland  geäußert  hatte. 


- —  ^-      —^  298 

als  zwei  Monat  abgeschlossen  und  wird  stündlich  von  der  Königlichen 
Regierung  ratifiziert  erwartet,  wie  gesagt,  wir  erwarten  ihn  stündlich. 
Sobald  er  morgen  kommt,  so  reise  ich  gleich  den  darauffolgenden  Tag 
nach  Paris,  zum  Schein,  um  unseren  Unterhandlungen  mit  der  Iris  in 
der  Nähe  beizuwohnen,  im  Grunde  aber  bloß  deshalb,  um  zu  sehen, 
was  für  Dich  zu  tun.  —  Nehme  dieses  nicht  bloß  als  eine  sogenannte 
entfernte  Aussicht,  denn  ich  wiederhole  Dir,  der  Kontrakt  ist  bereits 
zwei  Monat  abgeschlossen,  wir  haben  sogar  schon  die  Kaution  gelegt. 
Es  fehlt  bloß  noch  die  Ratifikation,  eine  bloße  Förmlichkeit;  sobald 
diese  eintrifft,  so  gehe  ich  nach  Paris.  —  Hiervon  aber  sage  aus  doppelten 
Gründen  nichts  an  Ferdinand,  einmal,  würde  es  ihm  unlieb  sein,  daß 
ich  hinkomme,  und  er  nicht  allein  die  Unterhandlungen  leiten  kann  — 
zweitens  ist  er  zwar  ein  guter  Junge,  allein  es  ist  keine  edle  Natur  in 
ihm,  und  wahrscheinlich  werden  ihm  ^)  soviel  Aufopferung  seitens  meiner 
für  Dich  unangenehm  berühren,  glaube  mir,  ich  kenne  ihm^)  genau  und 
werde  Dir  einmal  seinerzeit  Beweise  davon  geben.  — 

Dann  habe  ich  mit  Strantz^)  gesprochen.  Dieser  hat  an  die  Gräfin 
geschrieben  und  angefragt,  ob  sie  ein  Arrangement  treffen  will.  Dann 
will  er  sofort  hinreisen,  ich  habe  ihm  aber  gesagt,  daß  er  dem  Fürsten 
die  Überzeugung  verschaffen  muß,  daß  wenn  ein  Arrangement  zustande 
kommen  soll,  er  ihr  vor  allen  Dingen  Geld  senden  muß,  da  die  Mittel- 
losigkeit der  Gräfin  der  einzige  Umstand  ist,  welche  den  Grafen  be- 
stimmen,3)  das  Arrangement  von  sich  zu  weisen.  Es  ist  also  leicht  mög- 
lich, daß  von  da  aus  auch  in  wenige  Tage  3)  Geld  kommt.  Vielleicht 
ist  es  Dir  auch  möglich,  die  Gräfin  zu  bestimmen,  daß  sie  an  dem  ^)  Bruder 
in  kurzen  Worten  schreibt,  daß  sie  bereit  sei,  ein  Arrangement  ein- 
zugehen, nur  muß  er  ihr  sofort  eine  Geldsendung  machen  —  Du 
bist  klug  genug,  um  über  diese  Angelegenheit  den  rechten  Ausweg  zu 
finden  —  die  .  .  .*)  hat  mich  nicht  überrascht,  da  Du  in  Deinem  Brief 
seiner  gar  nicht  erwähntest,  so  wußte  ich  gleich,  daß  hier  etwas  vor- 
geht. Auch  habe  ich  .  .  F)  Prozeßverhandlung  vor  den  Assisen  ^)  eine 
Frage  nämlich,  die  er  in  bezug  auf  Dich  getan,  mir  nicht  erklären 
können.  —  Arnold  grüße  ich  vielmal,  überlege  Dir  alles  wohl  reifh'ch 
mit  ihm  und  damit  gut.  — • 


1)  Sic! 

2)  Mit  einem  Generalleutnant  a.  D.  von  Strantz  I,  einem  Freund  des  Grafen 
KeyserUngk,  der  ihn  mit  der  Gräfin  Hatzfeldt  bekannt  gemacht  hatte,  stand 
I,assalle  Anfang  1846  in  Verbindung.  Es  liegt  ein  Brief  vom  31.  Januar  vor, 
worin  dieser  als  ,,treu  ergebener  Freund"  ihm  ,,viel  Glück  zu  der  bewußten 
Aventure"  wünscht. 

3)  Sic! 

■*;  und  ^)  Hier  sind  einige  Worte  ausradiert. 

**)    Lassal  meint  den  Prozeß  gegen  Alexander  Oppenheim. 


-=  -^  299  = 

Und  nun  noch  eins.  Du  sagtest  immer  zu  mir,  wenn  ich  belehrend 
über  eines  oder  das  andere  zu  Dir  sprach,  da  sagtest  Du  immer,  Deine 
Erfahrungen  wären  so  alt  wie  die  Weltgesichte, ^)  Du  wärst  ein  Mann 
von  40  Jahren  mit  Jünglingsfrische.  Nun  rechtfertige  doch  diese 
Ansicht.  Wenn  also  jemand,  der  noch  nie  etwas  Unangenehmes  im 
I^ben  erfahren  hat,  aus  Übermut,  wenn  ich  mich  so  ausdrücken  muß, 
aus  seinem  Lebensverhältnis  hinaustritt,  sich  in  ein  ihm  ganz  fremdes 
hineindrängt,  hier  aus  reinem  Übermut  einen  Kampf  beginnt,  imd  das 
Resultat  nicht  gleich  so  ist,  wie  er  es  wünscht  oder  er  sich  das  in  seiner 
erhitzten  Phantasie  ausgemalt  hat,  hat  dieser  deshalb  ein  Recht  zu  er- 
klären, ich  bin  mit  der  Welt  und  ihren  Freuden  quitt?  —  Junger  Gelb- 
schnabel !  Ich  habe  Dir  in  meiner  lyeidensgeschichte,^)  die  ich  Dir  neu- 
lich nicht  ohne  Absicht  in  kleinen  Umrissen  geschildert,  gezeigt,  welche 
schweren  Prüfungen  ich  unverschuldet  erfahren,  wie  das  Schicksal 
mich  getreten.  Kühn  imd  mutig  bin  ich  ihm  entgegengetreten,  und 
auch  heut  in  meinem  vorgerückten  Alter  wäre  ich  stark  genug,  manche 
Prüfung  zu  ertragen,  ohne  die  Lust  zum  Leben  zu  verlieren,  solange 
nämlich,  als  ich  mit  frohem  Blick  auf  Dich  hinsehen  kann.  Ich  könnte 
noch  heut  Prüfungen  tragen,  und  Du  bist  beim  ersten  Treffen  schon 
feige  wie  ein  junger  Offizier,  der  mit  Sporn  und  Waffe  ein  gewaltiges 
Getöse  macht  und  den  Pulverdampf  nicht  ertragen  kann;  gehe  hin 
und  schäme  Dich  einer  solchen  Äußerung.  Wenn  ich  gutmütig  genug 
bin,  Dich  für  alles,  was  Du  mir  angetan,  zu  entschuldigen,  von  dieser 
Schuld  spreche  ich  Dich  nicht  frei  —  bis  Du  sie  offiziell  zurücknimmst 
und  sagst:  pater  peccav^i;  in  dem  ersten  Gefecht,  welches  noch  nicht 
einmal  ganz  verloren  ist,  muß  man  nicht  alle  Kriegeslust  aufgeben. 
Sonst  habe  Dir  heute  nichts  zu  melden,  als  Dich  zu  bitten,  mir  bald 
zu  schreiben  und  ausführlich  zu  schreiben,  grüße  mir  Deinen  Freund 
Mendelssohn. 

Ich  küsse  Dich  tausendmal 

Dein   Vater. 

Die  liebe  Mutter  grüßt  Dich. 

Wie  mir  Strantz  soeben  mitteilt,  ist  der  Ehekontrakt  in  bezug  auf 
die  Gütergemeinschaft  nicht  klar  ausgesprochen  und  läßt  sich  hier- 
gegen begründeter  Einwand  machen,  weshalb  der  Kvmofcky  den  Prozeß 
nicht  übernehmen  wollte,  wenn  dem  so  ist,  und  man  bedenkt,  daß  die 
Gräfin  schon  einige  zwanzig  Jahre  lang  in  Ärger  vmd  Kummer  verlebt 


^)  LavSsal  meinte:  Weltgeschichte. 
2)  Lassa]  schreibt  Ivcidens  Gesichte. 


300  - 

und  nun  noch  vielleicht  eine  Zeitlang  prozessieren  kann  und  dann 
noch  ein  zweifelhaftes  Ende,  so  wäre  es  doch  wohl  vernünftiger,  sich 
aus  dem  Dilemma  zu  ziehen  und  einen  Vergleich  von  1 5  000  Rt.  Rente 
anzunehmen.  — 


95- 
LASSALLE  AN  DEN  VATER.     (Original.) 

Paris,  31.  Dez.  [46]. 
Hotel  Mirabeau,  6  rue  de  la  Paix 

Geliebter  Vater! 

Deinen  Brief  habe  ich  erhalten  vmd  muß  Dir  zuvörderst,  ehe  ich 
in  das  einzelne  eingehe,  sagen,  daß  er  mich  mit  wahrhafter  Freude, 
mit  wirklicher  Bewunderung  erfüllt  hat.  Er  hat  mir  zwar  nicht  ge- 
holfen, aber  er  hat  mir  eine  imendliche  Freude  über  Dich  verursacht, 
einen  wahrhaften  Stolz  auf  Dich,  ich  habe  ihn  dem  Dr.  Arnold  M.  vor- 
gelesen, der  grade  da  war,  imd  wir  haben  einstimmig  erklärt,  daß  Du 
mit  mir  der  einzige  Mensch  auf  der  Welt  bist,  im  hohen  Sinne  des  Wortes. 
Was  mich  daran  so  entzückt  hat,  ist  nämlich  der  wirklich  ungeheure 
Idealismus,  der  männliche  Akzent,  der  sich  darin  ausspricht.  Du 
hast  zwar  Unrecht  zu  glauben,  daß  mir  der  Mut  ausgegangen,  mich 
hat  es  vielmehr  gefreut,  ihn  bei  Dir  in  einem  so  ungeschwächten  Grade 
wahrzunehmen.  Ein  weichlicher  wehmütiger  Brief  hätte  lange  nicht 
einen  so  gestmden  Eindruck  auf  mich  gemacht,  als  dieser  trotz  seiner 
unrichtigen  Voraussetzungen.  Es  weht  in  ihm  der  Atem  eines  Mannes. 
Du  kennst  mich  sehr  gut.  Du  wußtest,  daß  man  mir  so  schreiben  muß. 

Praktisch  also  hat  mir  der  Brief  nicht  geholfen,  er  hat  die  Unge- 
heuern Verlegenheiten,  in  denen  ich  mich  befinde,  nicht  im  geringsten 
vermindert,  da  mir  eben  nur  Geld  helfen  kann.  Hat  er  mir  aber  nicht 
geholfen,  so  hat  er  mich  doch  erquickt.  Die  einzelnen  Unrichtigkeiten 
des  Briefes  erschöpfend  schriftlich  zu  widerlegen,  habe  ich  nicht  nötig, 
da  ich  darauf  rechne,  daß  Du  umgehend  zu  mir  reisest  imd  sogar 
hoffe,  daß  selbst  dieses  Schreiben  Dich  nicht  mehr  in  Breslau  antrifft. 
Nur  auf  einiges  Wenige  will  ich  oberflächlich  eingehen.  Zuerst  also  hast 
Du  unrecht  zu  glauben,  daß  mir  der  Mut  ausgegangen  sei.  Noch  hält  er 
felsenfest,  meine  Freunde  nennen  mich  den,,kriegerischen",d.h.  ich  habe 
noch  immer  und  selbst  mehr  als  je  das  unbesiegliche,  imerschütterte  Ver- 
trauen, daß  ich  alsSieger  aus  dieser  Sache  herausgehen  werde.  Sollte  dies 
dennoch  nicht  der  Fall  sein,  ja,  dann  gestehe  ich  ein,  daß  es  mit  meiner 


301  ==^======== 

geistigen  Existenz  aus  wäre;  dies  mußt  Du  nicht  so  benennen,  ,,es  sei 
mir  in  dem  ersten  Trefifen  mit  der  Welt  der  Mut  und  die  Kraft  ge- 
brochen", sondern  weil  ich  diese  Sache  so  ganz  und  gar  zu  der  meinigen 
gemacht,  mein  ganzes  Ich,  mein  Denken  und  Sein  total  an  sie  hin- 
gegeben habe,  muß  ich  mit  dieser  Sache  stehen  oder  fallen,  je  nachdem 
sie  am  Ende  aller  Enden  definitiv  gewonnen  oder  verloren  wird.  Aber 
ich  werde  sie  nicht  verloren  geben,  und  sollte  ich  noch  Jahre  ohne  Hilfe 
von  außen  dran  arbeiten  müssen,  und  sollte  ich  mit  den  Nägeln  mich 
wehren!  Nicht  nur  mein  Lebensmut  wird  mir  gebrochen  sein,  wenn 
ich  sie  verloren  gegeben  habe,  sondern  eigentlich  so:  ich  werde  sie  nicht 
eher  verloren  geben,  bis  mir  mein  Lebensmut  gebrochen  ist;  solange 
nur  noch  ein  Funke  in  mir  glüht,  wird  er  zur  Flamme  werden  für  diesen 
Zweck,  dem  ich  meinen  ganzen  Geist  und  Willen  hingegeben,  bis  ich 
ihn  durchgesetzt  habe.  Daß  Dir  vom  persönlichen  Standpunkt  aus 
ein  Unrecht  damit  geschieht  dadurch,  daß  ich,  wie  Du  Dich  ganz  richtig 
ausdrückst,  eine  fremde  Angelegenheit  so  sehr  zu  der  meinigen  machte, 
—  das  will  ich  nicht  leugnen,  dies  zeigt  sich  ja  jetzt  schon  darin,  daß 
Du  gezwimgen  bist,  entweder  mich  im  Stiche  zu  lassen  und  somit  den 
Verlust  meiner  so  sehr  zu  riskieren,  oder  von  der  andern  Seite  so  große, 
so  empfindliche  Opfer,  wenn  auch  nicht  bringen,  doch  wagen  mußt, 
um  nur  Deinen  Sohn  zu  soutenieren.  Dir  ist  damit  ein  Unrecht  angetan, 
das  ist  richtig,  eine  Gewalt  angetan,  denn  die  Sache  ist  Dir  fremd  und 
geht  Dich  nichts  an,  und  Du  hattest  ältere  und  sehr,  sehr  heilige  Rechte 
auf  mich.  Aber  dies  Unrecht  ist  nicht  das  meinige,  es  ist  die  Schuld 
der  Verhältnisse,  des  Kontrastes  zwischen  Idee  und  Wirklichkeit, 
Nicht  meine  »Schuld  ist  es,  denn  ich  habe  mich  für  eine  gute  imd  ge- 
rechte Sache  begeistert,  imd  die  Begeisterimg  hierfür  ist  schön,  und 
der  Mensch  soll  nicht  sein  ein  so  persönliches  Tier,  daß  er  sich  nur 
interessiert  für  etwas,  das  an  seinem  immittelbaren  Dasein  hängt. 
Nicht  meine  Schuld,  sondern  höchstens  mein  Verdienst,  wenn  auch 
zugleich  meine  Dornenkrone  ist  es,  daß  ich  empfänglich  bin  für  die 
Idee  und  für  das  in  sich  Gerechte  und  den  Mut  und  die  Treue  habe, 
diese  Gesinnung  zur  Tat  zu  treiben.  Wenn  ich  nicht  war,  was  die 
andern  Menschen:  ein  pulsierender  Leichnam,  so  mußte  diese  Sache, 
so  wie  ich  sie  kenne,  meine  Liebe  imd  meinen  Zorn,  die  beiden  Pole 
meines  Willens,  erwecken,  und  nun  sie  mich  an  den  beiden  Fäden  meines 
Geistes  gepackt  hat,  nun  sie  in  Anspruch  genommen  meine  Liebe 
und  meinen  Zorn  in  ihrer  ganzen  Weite,  gehöre  ich  ihr  natürlich  auch 
ganz  an,  da  mein  Körper  bloß  der  stumme  Diener  und  das  Gefäß  meines 
Willens  ist:  wenn  sie  mir  nun  doch  verloren  geht,  so  geht  mit  verloren, 
was  sich  so  untrennbar,  so  konvulsivisch  fest  daran  geklammert  hat, 
meine  Liebe  und  mein  Zorn,  d.  h.  der  ganze  Umfang  meines  Geistes, 


=^=^=::=:===^=    302 

und  es  geht  mir  wie  einem  Vogel,  der  ausgeweidet  wird.  Freilich  ist 
dies  ein  Märtyrertum  für  Dich,  aber  es  ist  ebenso  mein  eignes  Märtyrer- 
timi  imd  darum  nicht  meine  Schuld.  Ein  Zimmer  kann  man  schließen, 
daß  nicht  die  Luft  hineindringt,  aber  den  Geist  kann  man  nicht  ab- 
schließen und  absperren  von  den  Gedanken,  die  ihn  erregen,  anfüllen 
und  absorbieren.  Du  hättest  ebenso  gelitten  und  noch  mehr,  wenn 
ich  für  irgendeinen  andern  großen  Zweck,  der  in  der  Welt  noch  nicht 
die  Stätte  seines  Daseins,  sondern  seine  verfolgende  Macht  hat,  zum 
Propagandisten  geworden  wäre. 

Was  die  einzelnen  Ratschläge  betrifft,  die  Du  mir  gibst,  so  ver- 
hält es  sich  damit  folgendermaßen.  Mit  dem  Paragraphen  aus  dem 
Code  Civil,  der  den  Mann  verpflichtet,  die  Kostenvorschüsse  und  Ali- 
mente gleich  zu  geben,  hat  es  seine  Richtigkeit,  aber  da  dieser  Prozeß 
erst  vor  acht  Tagen  eingereicht  wurde,  nachdem  der  Graf  die  durch 
Gerichtsvollzieher  ihm  zugegangene  Aufforderung  zu  zahlen  und  die 
Gräfin  zu  sich  zu  nehmen,  abgeschlagen,  so  kann  es  mit  diesem  Prozeß 
bei  der  Langsamkeit  des  Koblenzer  Gerichts  noch  vier  bis  sechs  Wochen, 
und  im  Fall  daß  ihm  Appellation  verstattet  wird,  noch  einige  Wochen 
länger  dauern.  In  zwei  Monaten,  höchstens  drei  ist  dieser  Prozeß 
allerdings  gewonnen,  aber  eben  weil  ich  diese  große  Gewißheit  habe. 
Dir  dann  das  Geld  wiedergeben  zu  können,  forderte  und  fordere  ich 
es  unterdes.  Wenn  ich  daran  zweifelte,  würde  ich  alles  andre  eher 
erdulden,  als  Dich  so  traurigem  Opfer  aussetzen.  Du  hast  unrecht  zu 
sagen,  ich  hätte  mich  bisher  in  den  materiellen  Hilfsmitteln  verrechnet ; 
die  erste  Summe  ging  drauf  durch  großes  Unglück,  Leichtsinn  imd 
bedeutende  Ausgaben;  damals  war  ich  im  Glück  und  sorgte  nicht;  die 
zweite  Summe,  die  1500  Rt.,  die  ich  von  Dir  erhielt,  hielt  ich  nicht 
für  zureichend,  das  ganze  Drama  damit  zu  beendigen,  aber  ich  habe 
damit  den  ersten  Akt,  die  Freisprechung  Oppenheims,  erlangt,  der 
Graf  hat  umsonst  40  000  Rt.  dafür  verpufft,  urteile,  ob  dies  Geld  nicht 
seinen  tausendfachen  Nutzen  gehabt  und  Wunder  getan  hat;  ohne 
diese  lumpigen  und  bekackten  15000  Rt.  war  die  Gräfin,  ich,  Oppen- 
heim, Arnold  total  ruiniert  und  verloren;  es  krähte  kein  Hahn  mehr 
nach  uns.  Urteile,  was  Hilfe  zur  rechten  Zeit  ist!  Sie  haben  uns 
gerettet;  fehlten  sie  damals  im  Augenblick,  nicht  100 000  Rt. 
hätten  es  später  wieder  gutmachen  können.  Und  so  fordre  ich  zum 
zweitenmal  eine  Nothilfe;  diesmal  soll  sie  entscheidend  sein,  und  des- 
halb habe  ich  gleich  so  viel  gefordert  und  nach  genauer  Berechnung, 
wo  ich  immer  die  schlimmsten  Fälle  annahm,  den  Bogen  so  scharf 
gespannt.  Diesmal  gebe  ich  Dir  mein  Ehrenwort,  daß  die  Summe 
für  die  Beendigung  der  ganzen  Sache  ausreichen  soll.  —  Was  die 
Verantwortlichkeit  für  die  Artikel  betrifft,  so  kann  die  Gräfin  sie  nicht 


'-  303  ==--^ 

übernehmen,  da  sie  nach  rheinischem  Gesetz  ganz  derselben  Strafe 
wie  eben  ein  andrer  auch  verfiele  (und  außerdem  noch  aus  andern 
weitläufigen,  aber  ebenso  wichtigen  Gründen),  der  junge  Graf  noch 
weniger,  denn  dies  würde  ja  den  größten  moralischen  Abscheu  erregen, 
wenn  ein  fünfzehnjähriger  Sohn  Artikel  geschrieben  haben  sollte,  in 
denen  sein  Vater  zum  ,, Gebrandmarkten"  gestempelt  ist.  Wenn  er 
erwachsen  wäre,  ginge  das;  aber  so  würde  man  ja  sagen  und  mit  Recht, 
daß  die  Gräfin  den  abscheulichsten  Abus  von  ihm  mache.  A.  Weill 
kenne  ich  genau,  aber  ich  habe  noch  andre  lycute,  die  es  noch  eher, 
besser  und  zu  billigerem  Preise  auf  sich  nehmen,  als  es  der  furcht- 
same Weill  täte.  Aber  keiner  tut  es  ohne  Geld.  Du  schreibst,  für 
meine  Freiheit  müßte  jedes  noch  so  schwere  Opfer  gebracht  werden, 
daraus  glaubte  ich,  daß  Du  mir  zu  diesem  Zwecke  Geld  übersendest; 
aber  ich  fand  keins  im  Briefe;  hast  Du  Friedland  etwa  ein  Akkreditiv 
übersandt  für  mich?  Er  hat  mir  nichts  davon  gesagt;  zu  weniger  als 
ich  damals  schrieb,  übernimmt  keiner  die  Verantwortlichkeit;  kaum 
noch  zu  diesem  Preise;  die  Zeit  eilt,  alle  Tage  können  die  Redakteure 
des  Wartens  müde  werden  und  mich  nennen,  dann  ist  es  nicht  mehr 
zu  redressieren,  also  ,, braver  Mann,  braver  Mann,  eile  Dich,  es  nahet 
die  Not  sich  fürchterlich". 

Wenn  Du  nicht  umgehend,  persönlich  kommen  kannst,  so  schicke 
jedenfalls  umgehend  Geld,  ich  kann  Dir  die  Summe  nicht  vorschreiben, 
aber  so  viel  Du  irgend  kannst;  es  ist  für  den  moralischen  Eindruck 
auf  den  Grafen  sehr  gut,  wenn  die  Summen  auf  Schaaffhausen  in  Köln 
und  nicht  in  kleinen  Rationen,  sondern  in  imponierenden  Massen 
kommen.  Du  wirst  einsehen,  daß  dies  sehr  wichtig  ist;  eine  Meinung 
von  meiner  Stärke,  die  ich  ihm  beibringe,  hat  ebensoviel  und  noch 
mehr  Wert  als  eine  Stärke,  die  ich  wirklich  besitze.  Ich  erlebe  hier  alle 
möglichen  Erfolge  und  Sukzesse,  nur  Geld,  Geld  mangelt;  ich  war  schon 
in  der  fürchterlichsten  Not,  da  kam  Friedland;  der  republikanische 
Stolz  in  der  Brust  schwand  mir  nicht  vor  der  Not,  sondern  er  ver- 
schwand vor  der  Macht  und  der  unbedingten  Aufopferung,  mit  der 
ich  meinen  Zweck  verfolge.  Urteile,  ob  diese  Sache  Gewalt  über  mich 
besitzt,  wenn  ich  Dir  sage,  daß  ich  mich  zu  wiederholten  Malen  vor 
ihm  demütigte.  Er  hat  mich  auch  nicht  im  Stich  gelassen;  ich  gab 
ihm  Schmuck  zum  Verkauf  und  er  machte  mir  unterdessen  Vorschüsse; 
der  kleine  Preis,  den  ich  für  den  Schmuck  erzielen  werde,  wird  mir 
wohl  durch  den  Betrag  dieser  Vorschüsse  schon  aufgezehrt  sein.  Du 
kennst  Friedland.  Ein  Opfer  werde  ich  von  ihm  nicht  erlangen  können^ 
vielleicht  einige  wenige  hundert  Francs ,  so  hat  er  zwar  genutzt,  um  die 
Not  bis  zum  erträglichen  Verkauf  des  Schmuckes  zu  heben ;  aber  wirk- 
liche Hilfe  ist  von  ihm  nicht  zu  erwarten,  ob  wir  uns  zwar  gut  ver- 


=-  304 — — -== 

tragen,  also  eile  Dich,  eile  Dich  sehr.  Alle  meiue  Operationspläne 
scheitern,  weil  ich  kein  Geld  habe.  Ich  wäre  schon  von  hier  nach  Deutsch- 
land zurückgeeilt,  aber  der  Geldmangel  bindet  mich;  Du  hast  unrecht, 
zu  glauben,  daß  sich  alles  darum  handelte,  ob  die  Gräfin  15  000  oder 
30  000Rt.  erhält;  so  wichtig  dieser  Punkt  auch  ist,  so  wäre  es  noch  das 
geringste.  An  zwei  Bedingungen  hat  sich  die  Sache  zerschlagen.  Der  Graf 
will,  daß  sich  die  Gräfin  bei  der  Scheidung  als  Mitschuldige  erklären 
lasse.  Das  kann  eine  Frau,  das  kann  besonders  die  Gräfin  dem  Grafen 
gegenüber  nicht;  das  würde  ihm  für  später  eine  furchtbare  Waffe  hefem. 
Dann  zweitens  will  der  Graf,  daß  Melanie  zu  einer  Verwandten  kömmt 
und  die  Gräfin  auf  sie  renonciere.  Also  die  Mutter  soll  auf  die  Tochter, 
auf  das  heiligste  Recht,  verzichten!  soll  sich  selbst  entehren,  indem 
sie  sich  für  unfähig  erklärt,  ihre  Tochter  bei  sich  zu  haben.  Könnte 
man  sich  selbst  so  erniedrigen,  eine  dieser  Bedingimgen  zu  tmter- 
schreiben,  so  können  doch  jedenfalls  beide  zusammen  nicht  ein- 
gegangen werden.  Dies  würde  ein  erdrückendes  Ensemble  abgeben. 
Darum  habe  ich  nicht  meine  Jugend  und  Karriere  aufs  Spiel  gesetzt, 
meine  Freiheit  gewagt  und  dem  besten  Vater  solchen  Kummer  ver- 
ursacht, darum  nicht  die  Existenz  meiner  Freunde  mit  auf  die  Karte 
geworfen,  darum  nicht  Zuchthaus  riskiert,  um  zuletzt  mit  solcher 
Schande  abzutreten.     Das  Geld  ist  es  nicht  allein. 

So  vieler  Schweden  adeliges  Blut, 

Es  ist  für!)  Gold  imd  Silber  nicht  geflossen. 

Mit  solcher  Schande  verlasse  ich  diesen  Kampfplatz  nicht! 
Ebenso  will  Hatzfeldt  seiner  Frau  kein  Domizil  gewähren;  sie  soll  sich 
also  expatriieren  lassen!  Unter  solchen  Bedingungen  würde  sie  selbst 
sein  halbes  Vermögen  ausschlagen.  Geld  ist  viel  —  aber  nicht  alles.  So 
steht  der  Fall,  mein  Vater  und  Freund.  —  Schreibe  Deinen  nächsten 
Brief  in  zwei  Exemplaren,  einen  nach  Köln,  einen  nach  Paris  unter  den 
bekannten  Adressen;  das  Geld  lege  in  dem  nach  Köln  geschickten 
Schreiben  bei.  Noch  besser  ist  es,  wenn  Du  Dich  umgehend  zu  mir 
begeben  kannst.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  wirst  Du  mich 
aber  schon  in  Köln  und  nicht  mehr  in  Paris  treffen.  Logiere  in  Köln 
im  Hotel  Bellevue,  wo  Du  jedenfalls  mich  oder  die  Gräfin  oder  Nach- 
richt von  mir  triffst.  Aber  ,, braver  Mann,  braver  Mann,  eile  Dich, 
es  nahet  die  Not  sich  fürchterlich".  Jetzt  ist  keine  Zeit  mehr,  wieder 
hin  und  her  zu  schreiben,  sondern  es  brennt  entsetzlich  auf  die  Nägel. 
Es  wäre  schon  viel  verloren,  wenn  nicht  der  Schmuck  und  Friedland 
ausgeholfen,  aber  jetzt  sind  beide  Hilfsmittel  (die  eigentlich  nur  eins 
bilden)  erschöpft,  und  es  ist  kein  Tag  zu  verlieren. 

*)  Graf  Wrangel  in  Wallensteins  Tod  sagt:  ,,um  Gold  und  Silber". 


-—      — -=^  305  —  — 

Wenn  Du  irgend,  irgend  kannst,  so  komme  selbst,  ich  habe  Sehn- 
sucht, Dein  Hebes  Antlitz  zu  schauen  und  mich  dran  zu  wärmen. 
Jedenfalls  schicke  Geld  umgehend  und  in  imponierenden  Zahlen. 
Du  mußt,  wenn  Du  irgend  kannst,  diesmal  schon  nach  Tausenden 
zählen. 

Küsse  die  Mutter,  grüße  die  Schwester  und  den  Landrat  und  leb 
wohl.    Wie  ist  es  mit  den  bewußten  Akten? 

Dein  Dich  liebender 

Ferdinand. 

Trotzdem,  daß  der  Bankrott  Schillers  mir  meine  eigne  Angelegen- 
heit so  sehr  erschwert,  kann  ich  doch  nicht  umhin,  mich  zu  freuen, 
daß  die  „ersten  Männer  der  Stadt'*  so  schnell  und  so  fürchterlich  von 
der  Nemesis  ereilt  sind.  Denkst  Du  noch  an  jene  Worte?  So  trium- 
phiert man  über  den  Sturz  seiner  Feinde,  während  man  selbst  im  Drecke 
ist.  So  gedenke  ich  auch  noch  über  den  Sturz  andrer  Feinde  zu  trium- 
phieren. 


96. 

LASSALLE  AN  DEN  VATER.     (Original.) 

Paris,  6.  Jan.  [1847]. 

Hotel  Mirabeau.  6  tue  de  la  Paix. 

Gehebter  Vater! 

So  ein  trauriges  Geschäft  es  auch  für  mich  ist,  Dir  einen  Mahn- 
und  Klagebrief  nach  dem  andern  zu  schicken,  zwingen  mich  doch  die 
Umstände  dazu.  Du  rechnest  gewiß  darauf,  daß  mir  durch  Friedlands 
Gegenwart  und  Deinen  Brief  aus  der  gröbsten  Not  wenigstens  geholfen 
sei.  Ich  muß  Dir  daher  ausführlich  erzählen,  wie  dieser  verächtlichste 
imd  gemeinste  aller  Menschen  mit  mir  mngegangen  ist.  Als  er  ange- 
kommen war  (denselben  Tag),  war  ich  gerade  im  Begriff,  Dir  den  ersten 
Brief  zu  schicken,  den  ich  Dir  von  hier  aus  geschrieben  habe ;  ich  kormte 
ihn  aber  nicht  abschicken,  weil  ich  kein  Geld  hatte,  ihn  zu  frankieren. 
Ich  ging  also  zu  Friedland,  bewillkommnete  und  küßte  ihn,  sagte  ihm, 
es  sei  mir  in  der  Zwischenzeit  recht  traurig  gegangen,  tmd  beim  Weg- 
gehen bat  ich  ihn  um  40  Frcs.,  indem  ich  ihm  sagte,  daß  ich  den 
Brief  an  Dich  sonst  nicht  abschicken  könnte.  Er  verweigerte  sie  mir, 
indem  er  sagte,  er  bekäme  sie  von  Dir  nicht  wieder.  Als  ich  ihn  des- 
halb auslachte,  ergoß  er  sich  in  eine  Flut  der  bittersten  Vorwürfe  gegen 

Mayer,  Lassalle-Nachlaös.     I  20 


306    =:r=r.-==  — 3^^,,,,,,^ 

Dich,  indem  er  mir  eine  Menge  unbedingt  lügenhafter  Dinge  von  Deinem 
schmutzigen  Benehmen  gegen  ihn  und  von  einer  Berechnung  erzählte, 
die  Du  ihm  gegen  alles  Fug  und  Recht  gemacht  haben  solltest,  und 
Dich  dabei  mit  feindseligem  Invektiven  angriff  und  besudelte,  als 
ich  wiedersagen  kann  und  will.  Ich  antwortete  ihm  nur,  wenn  er  glaubte, 
von  Dir  und  mir  diese  40  Frcs.  nicht  wiederzuerhalten,  so  könne  er  sie 
mir  ja  doch  wohl  schenken!,  worauf  er  erwiderte,  daß  ich  ihm  so  viel 
nicht  wert  sei.  Ich  nahm  ganz  ruhig  meinen  Hut  und  ging,  worauf 
er  mir  sie  gab.  Am  andern  Tag  ging  ich  zu  ihm,  stellte  ihm  meine 
I^age  nach  allen  Seiten  hin  auf  das  herzlichste  vor  und  schilderte  ihm 
vieles,  was  ich  gelitten,  und  bat  ihn,  mir  mit  5000  Frcs.  zu  Hilfe  zu 
kommen.  Er  schlug  mir  das  nicht  nur  ab,  sondern  er  schlug  es  mir 
auch  auf  die  unwürdigste,  beleidigendste,  herzloseste  Weise  ab,  indem 
er  mir  immer  wiederholte,  es  wäre  das  ein  leichtes  für  ihn,  aber  ich 
sei  ihm  nicht  so  viel  wert,  imd  sich  regelmäßig,  wenn  ich  dagegen  ruhige 
Einwürfe  machte,  [sich]  auf  Dein  Benehmen  gegen  ihn  berief,  daß  Du 
ihn  in  Breslau  hättest  Hunger  sterben  lassen  etc.  und  daß  er  sich  hier- 
für jetzt  an  mir  revanchieren  wollte.  Als  ich  also  sah,  daß  nichts  mit 
ihm  zu  machen  sei,  brachte  ich  ihm  Diamanten,  die  mir  Juweliere  in  Paris 
eben  auf  den  Wert  von  4500  Frcs.  abgeschätzt  hatten,  und  bat  ihn, 
sie  für  mich  zu  verkaufen,  weil  es  ihm  leichter  sei.  Als  dieser  verfluchte 
Jude  sah,  daß  ich  noch  Diamanten  besäße,  wurde  er  höflicher.  Er  nahm 
sie  und  gab  sie  einem  Courtier  zum  Verkaufe.  Doch  dauert  das  hier 
sehr  lange,  wenn  man  einen  guten  Preis  herausbringen  will,  so  daß 
sie  der  Courtier  noch  bis  heute  nicht  verkauft  hat.  Unterdessen  aber 
ließ  ich  mir  von  Friedland  auf  dieses  Unterpfand  und  den  daraus  zu 
machenden  Erlös  Vorschüsse  machen,  so  daß  ich  in  Rationen  von  20, 
40,  80,  und  einmal  auch  600  Frcs.  immer  nach  stundenlangen  Bitten 
endlich  an  1200  Frcs.  von  ihm  empfangen  hatte,  mit  denen  ich  dann 
die  notwendigsten  der  zu  machenden  Ausgaben  bestritt.  Einige  Tage 
drauf  saß  er  bei  mir  mit  dem  Dr.  Arnold  am  Kamin,  ich  stellte  ihm 
vor,  wie  die  Gräfin  in  Köln  keinen  Sous  besäße,^)  kurz  es  gelang  uns, 
sein  Herz  zu  rühren,  und  er  gab  mir  11 25  Frcs.  auf  Köln,  die  er  an  die 
Gräfin  indossierte,  und  die  ich  ihr  schickte.  An  demselben  Tag  abends, 
nachdem  er  diese  ,, großmütige"  Handlung  verübt,  erhielt  er  Deinen 


*)  Die  Gräfin  hatte  am  3 1 .  Dezember  an  Mendelssohn  nach  Paris  geschrieben : 
,,Es  steht  hier  so  schlimm,  daß  es  uns  nicht  mögUch  ist,  länger  allein  auszu- 
halten .  .  .  Ich  schreibe  ihm  (lyassalle)  heute  sehr  dringend  darüber,  er  kann 
ja  auch  sehr  leicht  bald  wieder  nach  Paris,  jetzt  aber  ist  er  dringend  nötig  hier, 
unterstützen  Sie  mich  darin,  daß  er  augenblicklich  kommt,  denn  ich  kann  Ihnen 
versichern,  ich  wäre  imstande,  sonst  zu  den  extremsten  Mitteln  zu  schreiten." 
(Dieser  Brief  liegt  in  einer  Abschrift  des  Schreibers  beim  Assisenhof  vor.) 


— =-  307 

Brief,  er  kam  zu  mir  und  sagte  mir,  Du  hättest  mich  auf  600  Frcs. 
bei  ihm  akkreditiert.  Den  Brief  wollte  er  mir  nicht  zeigen.  Zugleich 
aber  sagte  er  mir,  daß  es  ihm  nicht  einfiele,  mir  auf  Dein  Wort  und 
Akkreditiv  einen  Pfennig  zu  geben,  daß  er  nach  den  frühern  Vor- 
gängen von  Dir  überzeugt  wäre.  Du  gäbest  ihm  nichts  wieder,  daß  er 
mit  Dir  gar  nichts  zu  schaffen  habe  noch  zu  schaffen  haben  wolle  und 
mir  persönlich  noch  weit  eher  borgen  werde  als  auf  Dein  Akkreditiv. 
Zugleich  aber  war  er  Jude  genug,  die  2325  Frcs.,  die  er  mir  bereits  vor 
Eintreffen  Deines  Akkreditiv,  also  auf  seine  eigne  Rechnung  und  Ge- 
fahr oder  auf  die  Diamanten  gegeben  hatte,  nachträglich  auf  Rech- 
nung Deines  Akkreditivs  setzen  zu  wollen,  sie  mir  als  seine  Großmut 
in  Anrechnung  zu  bringen  und  sie  sich  von  Dir  bezahlen  zu  lassen. 
Kr  forderte  von  mir  eine  Quittung,  daß  er  sie  mir  auf  Deine  Rechnung 
gegeben  habe.  Ich  verweigerte  sie  ihm  natürlich,  da  er  sie  mir  vor 
Eintreffen  Deines  Akkreditivs  gegeben  und  mir  überdies  zu  wieder- 
holten Malen  feierlich  erklärt  hatte,  er  würde  mir  auf  Dein  Wort  gar 
nichts  geben.  Nichtsdestoweniger  will  er  sie  Dir  in  Anrechnung  bringen, 
ich  protestiere  aber  durchaus  dagegen,  daß  Du  ihm  einen  Pfennig 
davon  gibst,  weil  er  sie  mir  auf  eigne  Rechnung  und  die  Diamanten 
gegeben.  — 

Jetzt  erhalte  ich  seit  sieben  Tagen  täglich  Briefe  aus  Köln,  die 
mich  auf  das  eiligste  dahin  rufen,  weil,  wenn  ich  nicht  umgehend 
komme,  sämtliche  Prozesse  in  die  größte  Verwirrung  geraten  und  ver- 
loren gehen  und  liegen  bleiben  und  noch  viele  Gefahren  drohen, 
die  ich  schriftlich  nicht  auseinandersetzen  kann.  Meine  Geschäfte 
hier  sind  erledigt,  und  es  ist  mir  so  wichtig  als  mein  rechtes  Auge, 
daß  ich  fort  kann.  Dort  gehen  mir  Prozesse  von  40  000  Rt.  verloren, 
alles  andre  stockt  wegen  meiner  Abwesenheit  schon  seit  Wochen, 
hier  verzehre  ich  ganz  umsonst  teures  Geld.  Um  aber  abreisen  und 
nur  die  notwendigsten  augenblicklichen  Geschäftsausgaben  be- 
streiten zu  können,  brauche  ich  mindestens  3000  Frcs.  Ich  ging  also 
zu  Friedland  und  bat  ihn  um  diese.  Bei  dieser  Gelegenheit  erhaschte 
ich  Deinen  Brief  und  sah,  daß  Du  mich  auf  3000  Frcs.  (und  nicht  auf 
600,  wie  er  mir  vorgelogen)  bei  ihm  akkreditiert  hättest.  Nichtsdesto- 
weniger gibt  er  sie  mir  nicht.  Obgleich  er  keinen  Heller  dabei  aus 
eignem  wagt,  denn  was  er  mir  schon  gegeben,  ist  mehr  als  überflüssig 
durch  die  Diamanten  gedeckt,  deren  Verkauf  ich  nur  nicht  abwarten 
kann,  und  die  neuen  3000  Frcs.,  die  ich  will,  sind  durch  Dein  Akkreditiv 
gedeckt.  Nichtsdestoweniger  verweigert  er  mir.  Dein  Akkreditiv  mir  aus- 
zuzahlen, obgleich  [ich]  ihm  vorstellte,  ich  müßte  nach  Köln  und  würde 
im  Notfall  meine  Sachen  zurücklassen  und  aus  meinem  Hotel  fortlaufen. 
Obgleich  ich  ihn  mit  Tränen  stundenlang  gebeten,  verweigert  er  mir. 


=^^ •  __  308  —  = 

Dein  Begehren  zu  erfüllen.  So  bin  ich  in  der  fürchterlichsten  Verlegen- 
heit tmd  weiß  nicht,  was  ich  anfange.  Nur  so  viel  weiß  ich,  daß  ich 
binnen  höchstens  2 — 3  Tagen  3000  Frcs.  haben  muß.  Du  siehst,  welches 
Unrecht  Du  mir  getan  hast,  mir  Geld  auf  Friedlaud  anzuweisen,  und 
ich  verbitte  mir  ein  für  allemal  ernstlich  Anweisungen  auf  ihn.  Du 
hast  mir  in  Deinem  letzten  Brief  verschiedenen  guten  Rat  erteilt,  aber 
es  ist  nicht  Rat,  den  ich  brauche,  mit  Rat  bin  ich  versehen,  ich  brauche 
Geld,  Geld,  Geld!!  Das  ist  das  einzige,  was  mir  helfen  kann  und  hilft, 
imd  ich  bitte  Dich,  mir  reinen  Wein  einzuschenken  und  entweder 
meinen  exorbitanten  Forderungen  nachzukommen,  indem  Du  mir 
augenblicklich  mehrere  tausend  Taler  schickst  oder  mir  rund  heraus 
zu  erklären,  daß  die  leidigen  Verhältnisse  Dich  zwingen,  passiver  Zu- 
schauer zu  bleiben  und  ich  von  Hause  keine  Hilfe  mehr  zu  erwarten 
habe.  Schreibe  mir  nach  Köln.  Noch  eins.  Ich  verbitte  mir  sehr, 
daß  Du,  wie  Du  wieder  getan,  mit  Rikchen  über  mich  und  meine 
Angelegenheiten  korrespondierst.  Sie  hat  mir  bei  ihrer  Anwesenheit 
hier  mit  ihrer  dummen  kindischen  Schwatzhaftigkeit  sehr  empfind- 
lichen Schaden  getan,  so  daß  ich  ihre  Plauderei  zum  Teufel  wünsche. 
Jetzt  hat  sie  aber  in  einem  Briefe  an  ihren  Mann  einige  so  törichte 
und  so  lieblose  Äußerungen  in  ihrer  schlechten  Dummheit  und  dummen 
Schlechtigkeit  über  mich  getan,  daß  sie  von  Stund'  an  bis  in  alle  Ewig- 
keit tot  für  mich  ist,  und  ich  nie  mehr  erinnert  sein  will,  daß  noch  ein 
Grasafif'  lebt,  der  sich  meine  Schwester  nennt.  Wenn  Dein  beklemmtes 
Herz  sich  in  Brieten  Luft  machen  muß,  so  schreibe  an  mich.  An  meine 
Schwester  verbitte  ich  mir's.  Oder  ich  schreibe  Dir  wahrhaftig  nur 
noch  über  Wetter  und  Regen. 

Sende,  o  sende  mir  umgehend  nach  Köln  die  erlösende,  goldne 
Manna.  Ich  verschmachte  durstig  wie  der  Tiger  in  der  Wüste,  ich 
werde  wahnsinnig  vor  Durst.  Wenn  Du  einzige  10  000  Taler  in  Deinem 
Vermögen  hast,  so  sende  mir  die  Hälfte,  Leb  wohl,  komme  bald, 
noch  bälder  schicke  Geld,  aber  viel  muß  es  sein,  mit  5000  Rt.  bin  ich 
für  immer  aus  der  Affäre. 

Dein  Sohn  Ferdinand. 
Grüße  die  gute  Mutter. 


309 


97- 
LASSAI.IvE  AN  ARNOLD  MENDELSSOHN.    (Konzept.) 

Arnsberg,  d.  i)  Febr.  47. 
Lieber  Doktor! 

Sehr  beschäftigt,  kann  ich  heut  bloß  drei  Worte  melden.  Ich  schicke 
Dir  inliegend  einen  Brief  an  Friedland  und  die  Anweisung  zurück. 
Du  kannst  jetzt,  wenn's  nicht  anders  ist,  die  Anweisung  gegen  die 
Diamanten  eintauschen.  Will  er  sie  durchaus  mir  selber  bringen,  so 
gibst  Du  ihm  die  Anweisung  nicht,  sonst  schickst  sie  mir  zurück.  Lieber 
ist  mir,  wenn  er  Dir  die  Diamanten  gibt.  —  Diese  Woche  erhalten 
wir  Geld,  zwar  soviel  wie  ein  Tropfen  Wasser  auf  einen  heißen  Stein, 
indes  schicke  ich  Dir  100  Rt.  davon.  Manches  andre,  besonders  über 
die  Presse,  meist  Vergnügliches  wäre  zu  berichten.  Ist  der  Aufsatz 
in  den  Grenzboten  erschienen?  Ich  konnte  sie  noch  nicht  zu  Gesicht 
bekommen.  Lies  doch  auch  die  Voß  und  Spenersche  von  einem  ganzen 
Monat  rückwärts  nach  und  schreibe  mir  dann,  was  und  in  welchen 
Nummern  was  gestanden,  ich  kann  sie  hier  nicht  zu  Gesicht  bekommen. 
Gruß  an  Grün.  Schicke  die  Briefe  nur  nach  Köln,  sie  werden  besorgt; 
dieser  Tage  mehr.  Die  Presse  verhält  sich  so :  Der  Rheinische  Beobachter 
schweigt  ganz,  die  Augsburger  hat  am  4.  Februar  eine  rein  faktische  der 
Weserzeitung  entlehnte  Meldung  der  Annahme  des  Prodigalitätsprozesses 
gebracht,  die  Rhein-  und  Mosel-Zeitung  schwieg  eine  ganz  geraume  Zeit, 
bis  sie  den  11.  (P)^)  Februar  wieder  mit  einem  ziemlich  dummgemeinen 
Artikel  auftritt,  von  der  Elberfelder  schont  man  die  Gräfin  und  macht 
nur  heftige  Angriffe  auf  mich  den  30.  J  anuar,  3.  ( P)^)  Februar.  Diese  Artikel 
sind  wichtig  zu  lesen,  weil  sich  aus  ihnen  mancher  Schluß  auf  die  jetzige 
Gemütsstimmung  des  Grafen  ziehen  läßt.  Ich  natürlich  halte  es  unter 
meiner  Würde,  mich  zu  verteidigen  gegen  die  vorgebrachten  Dumm- 
heiten, ich  halte  es  auch  für  völlig  unnötig.  Wenn  Grün  es  für  nötig 
hält,  so  mag  er  es  tun.  Die  Bremer-  und  Weserzeitung  kommt  nicht 
nach  Köln,  daher  weiß  ich  nicht,  ob  unsre  Artikel  drin  standen!  Sieh  sie 
nach  und  schreib  mir  darüber.  Die  Kölnische  nimmt  nichts.  Wir  machen 
eben  einen  Versuch  mit  der  Aachner.  Die  Vossische  ist  uns  günstig.  Die 


^)  Den  Tag  läßt  I/assalle  unausgef üUt.  Die  Gräfin  Hatzfeldt  verließ,  wie  aus 
einem  Brief  des  Grafen  Clemens  von  Westphalen  an  sie  sich  ergibt,  vermutlich 
mit  Lassalle  Arnsberg  am  17.  Februar.  Sie  hatten  sich  dort  aufgehalten,  um  für 
die  Gräfin  den  morahschen  und  finanziellen  Beistand  des  Grafen  Westphalen  zu 
erlangen,  der  ihnen  auch  zugesagt  und  gewährt  wurde. 

2)  Von  I,assalles  Hand. 


310  =^ —  = "- 

Spenersche  soll  es  auch  geworden  sein,  wie  ich  höre.  Rave  ^)  unterhandelt 
durch  Zuccalmaglio  ^)  mit  mir,  ich  habe  ihm  einen  Lesebrief  zukommen 
lassen  und  will  den  Erfolg  abwarten.  Was  Deine  Assisenangelegenheit 
betrifft,  so  habe  ich  in  Köln  viele  Demarchen  deswegen  gemacht,  wobei 
mir  hinderlich  war,  daß  Grundschöttel  (Oberprokurator),  den  ich  etwas 
kannte,  aus  Köln  versetzt  ist,  noch  hinderlicher,  daß  Holthoff  krank 
war  die  ganze  Zeit.  Jetzt  geht  er  indes  wieder  aus,  und  ich  werde 
nun  nächstens  Nachricht  haben.  Er  gab  mir  den  sehr  vernünftigen 
Rat,  jedenfalls  zu  warten  mit  Deiner  Ankunft,  bis  er  die  Papiere  Oppen- 
heims (die  zerrissenen  Briefe)  herausgekriegt  haben  würde,  damit  es 
nicht  mehr  möglich  sei,  bei  Gelegenheit  Deiner  einen  Tanz  mit  mit 
wegen  der  Zerreißung  etwa  aufzuführen.  Unmöglich  sei  dies,  sobald 
das  corpus  delicti  fort  sei,  sonst  nicht.  Er  wollte  sie  bmnen  2 — 3  Wochen 
haben.  Hast  Du  noch  keine  Antwort  von  Berlin  von  wegen  der  Wen- 
dung Deiner  family  an  den  Justizminister.'  Übrigens  sagen  mir  auch 
alle  einfältigen  Bürger,  Geschworene  etc.,  die  ich  spreche,  daß  Deinet- 
halben  nicht  die  geringste  Gefahr  vorhanden  sei. 3) 

98. 
IvAvSSALIvE  AN  ARNOLD   MENDELSSOHN.     (Abschrift   von   der 
Hand  eines  Schreibers  des  Assisenhofs.    Nach  Paris  gerichtet.) 

[März  1847.] 
Lieber  Doktor! 

Die  scheinbare  Inkonsequenz  mit  Westphalen,  über  die  Du  mir 
sprichst,  will  ich  Dir  zunächst  erklären.  W.  hatte  in  seinem  Schreiben 
um  die  höchste  Diskretion  gebeten,  und  es  war  natürhch  Pflicht,  sie 
zu  bewilligen.  Einige  Zeit  später  schreibt  er  in  seinem  Briefe  über 
das  Akkreditiv:  „Auch  wird  sich  das  bald  herumtragen  und  den  Cha- 
rakter einer  Demonstration  annehmen."^)  Ich  schloß  daraus  natürlich. 


^)  Dr.  Bernhard  Rave  (geb.  1801)  war  ursprünglich  Arzt,  später  der  Reihe 
nach  Redakteur  verschiedener  rheinischer  Blätter,  besonders  der  Rheinischen 
Allgemeinen  Zeitung,  dann  1844— 1854  der  Elberfelder  Zeitung. 

2)  Vinzenz  von  Zuccalmagho  (1806 — 1876)  Notar  und  Schriftsteller,  schrieb  be- 
sonders über  niederrheinische  Landeskunde. 

3)  Der  Brief  ist  ohne  Untersclmft. 

*)  Graf  Westphalen  hatte  am  17.  Februar  aus  Laer  an  die  Gräfin  geschrieben: 
„Und  drittens  die  Wiederholung  meiner  Bitte:  sagen  Sie  nichts  von  dem,  was 
in  diesem  Briefe  steht,  vorderhand  wenigstens  an  niemanden.  Wenn  ich  sage 
aus  Schonungsgefühl  für  mich  —  so  werden  Sie  das  zwar  nicht  verstehen,  aber  es 
dennoch  vielleicht  berücksichtigen."  Danach  hieß  es  in  einem  Briefe  vom 
23.  Februar:  ,, Durch  mein  Wechslerhaus  in  Paderborn  werden  Sie  dieser  Tage 
einen  Kreditbrief  auf  ein  Kölner  Haus  erhalten;  auch  das  wird  sich  bald  herum- 
sprechen und  damit  zugleich  eine  Demonstration  sein  .  .  ." 


^ ,  ^ —  311 =^ 

daß  er  nun  nichts  mehr  gegen  das  Bekanntwerden  einzuwenden  hätte, 
und  wollte  also  das  Faktum  sofort  in  den  Zeitungen,  und  zwar  in  der 
Kölner  Zeitimg  melden,  die  in  der  ersten  Überraschimg  dem  einfachen 
Bericht  des  Faktums  wohl  die  Spalten  geöffnet  hätte.  Aber  die  Gräfin 
konnte  sich  dazu  nicht  entschließen,  sie  fürchtete  trotz  aller  meiner 
Schlüsse,  die  ich  aus  jenem  Satze  W.'s  zog,  er  würde  es  ihr  übelnehmen; 
ich  konnte  sie  nicht  dazu  bringen,  ihre  Einwilligung  zu  geben;  ich  erbot 
mich,  an  Westphalen  direkt  zu  schreiben  und  Erlaubnis  zu  bitten; 
aber  auch  das  gestattete  sie  nicht,  weil  es  unzart  wäre,  und  bat  mich, 
einige  Zeit  zu  warten.  Umsonst  stellte  ich  vor,  daß  wir  den  allein 
günstigen  [Moment]  der  ersten  Überraschung  dadurch  verlören.  End- 
lich zehn  Tage  später  erhielt  ich  die  Erlaubnis  von  ihr  dazu.  Aber  das 
Faktum  war  nun  bereits  lange  in  der  ganzen  Stadt  bekannt,  die  ersten 
Tage  hatte  es  große  Verwunderung  erregt,  nachher,  wie  alles,  was 
man  bereits  zwei  Tage  weiß,  schien  es  gewöhnlich  und  in  der  Ordnung 
zu  sein.  Als  nun  in  Cötgens^)  Auftrag  ein  Herr  von  Kessel^)  die  Notiz 
an  Brüggemann  ^)  gab,  war  dieser  bereits  unterrichtet  davon  und  ver- 
weigerte die  Aufnahme,  die  er  in  der  ersten  Überraschung  bewilligt 
hätte.  Nun  gab  Kessel  ohne  unser  Wissen  die  Sache  in  den  Rheinischen 
Beobachter,  der  sie  auch  nahm.  Ich  begriff,  als  ich  es  dort  las,  sofort 
den  Vorteil,  schrieb  an  Westphalen,  dies  sei  ohne  mein  Wissen  geschehen, 
nun  aber,  da  es  einmal  öffentlich  sei,  wolle  ich's  in  der  Presse  benutzen, 
und  schrieb  gleichzeitig  in  die  Triersche  und  Mannheimer  Zeitung. 
Vorher  erschien  noch  die  dumme  Notiz  in  der  Trierschen,  die  Kessel 
ohne  mein  Wissen  saft-  und  kraftlos  hingeschickt.  Gestern  aber  er- 
schienen meine  Artikel  darüber  in  der  Trierer,  Mannheimer  und  einer 
von  Zuccalmaglio  in  der  Vossischen.  Indes  das  Faktum  hat  noch  viel 
Stoff  in  sich,  behandelt  es  nach  Leibeskräften.  NB.  Von  dem  Brief, 
den  Westphalen*)  Kettler  schrieb  und  aus  dem  ich  Dir  eine  Phrase  mit- 
teilte, darf  gar  nichts  gesagt  werden! 

Was  Deine  Angelegenheit  betrifft,  so  fragte  ich  neulich  Holthoff, 
ob  ich  Dich  nun  kommen  lassen  solle.  Er  meinte,  es  sei  keine  Gefahr 
bei,  doch  wäre  es  noch  klüger,  6 — 8  Wochen  zu  warten;  er  läßt   Dir 


^)  Über  Adam  Cötgen  ließ  sich  trotz  aller  Nachforschung  nichts  in  Erfahrung 
bringen. 

2)  Nach  einer  freund Uchen  Mitteilung  von  Herrn  Professor  Dr.  Joseph  Hansen 
in  Köln  dürfte  es  sich  um.  den  damals  in  Köln  ansässigen  Steueraufseher  Karl 
von  Kessel  gehandelt  haben. 

^)  K.  H.  Brüggemann  (18 10 — 1887),  der  bekannte  Burschenschaftler  und 
Nationalökonom  war   1845 — 1855   leitender  Redakteur  der  Kölnischen  Zeitung. 

*)  Hier  fehlt  ein  Wort,  das  der  Abschreiber  nicht  lesen  konnte  und  deshalb 
unverständhch  hingezeichnet  hat. 


312 ^ 

sagen,  daß  er  sehr  gerne  mit  Dir  tauschen  möchte.  —  Kr  hat  die  zer- 
rissenen Papiere  requiriert,  noch  keinen  offiziellen  Bescheid  vom  Ober- 
prokurator erhalten,  unter  der  Hand  aber  gehört  vom  Parkettvorsteher, 
daß  man  noch  immer  an  einer  Untersuchung  gegen  mich  arbeite.  Wird 
die  Herausgabe  der  Papiere  offiziell  verweigert  (ich  möchte  sie  gerne 
vor  Deinem  Eintreffen  haben),  so  würde  ich  Dich  doch  bald  kommen 
lassen,  was  auch  Oster  i)  fürs  beste  hält,  und  der  Chance  Trotz  bieten, 
daß  man  bei  Gelegenheit  Deines  Prozesses  den  gegen  mich  wieder 
aufnimmt  oder  vielmehr  mit  dem  Verfahren  beginnt. 

Sonst  hat  mich  Dein  Brief  vielfach  erfreut  und  mir  sehr  wohl  getan. 
Von  allen  Bändern,  die  ich  je  geknüpft  und  knüpfen  werde,  soll  unseres 
das  festeste  bleiben.  Meine  Prophezeiung  aus  Wallenstein  ist  ja  schon 
teilweise  in  Erfüllung  gegangen,  von  allen,  die  wie  auf  'ne  große  Nummer 
ihr  Alles  setzten  auf  mein  einzig  Haupt,  haben  mich  schon  manche 
im  Stich  gelassen,  andere  werden  es  mit  der  Zeit,  wir  aber  wollen  bei 
einander  ausharren,  ob  Gutes  komme,  ob  Böses.  — 

Die  Geschäfte  gehen  gut,  die  Prozesse  schreiten  vorwärts,  obwohl 
langsam,  mehrere  Donnerkeile  werden  nächstens  niederfallen  auf  das 
Haupt  des  Sünders,  auch  für  den  Landtag  ist  gesorgt.  Grüns  Artikel 
in  der  Mannheimer  war  wtmderschön.  Grüße  ihn  und  halte,  da  er  so 
gut  schreibt,  ihn  an  zum  Vielschreiben.  Grüße  Proudhon^)  den  Papa, 
viehnal  von  mir.  Die  Adresse  der  Bauern, 3)  die  abgegangen,  habe  ich 
an  die  Trierer  und  Mannheimer  geschickt.  Aber  Walthr*)  schrieb  mir 
zurück,  eine  Kabinettsorder  verbiete  den  Druck  der  Adresse  als  solcher, 
ich  solle  den  Inhalt  derselben  in  Korrespondenz  einkleiden.  Das  tat 
ich  gestern,  indem  ich  gestern  Walthr  einen  in  einer  blödsinnigen  Stim- 
mung sehr  geistlos  geschriebenen  Artikel  schickte.  Ich  schicke  Dir 
die  Adresse,  damit  Grün  sie  zu  Artikeln  benutze,  was  aber  sehr  schnell 
geschehen  [muß].    Nim  leb  wohl. 

Dein  Ferdinand. 


^)  Oster  war  Instruktionsrichter  im  Prozeß  Oppenheim  gewesen. 

2)  Proudhomme,  wie  in  der  Abschrift  steht,  dürfte  ein  Schreibfehler  sein. 

3)  Die  Bauern  von  Schönstein  im  Siegerland  richteten  Beschwerden  über  Be- 
drückung durch  den  Grafen  Hatzfeldt  an  den  König  und  an  den  Vereinigten 
Landtag.  Man  lese  auch  den  Brief  an  den  Vater  aus  dem  Gefängnis,  in  dem  Lassalle 
diesen  in  imperativster  Form  auffordert,  der  Gräfin  sofort  Geld  zu  leihen,  damit 
sie  der  Bauemdeputation,  die  nach  Berlin  an  den  Landtag  wolle,  das  Reisegeld 
geben  könne.     Vgl.  Intime  Briefe  etc.  a.  a.  O.  S.  31  ff. 

*)  Friedrich  Walthr  (geb.  1810)  war  der  Redakteur  der  Trierer  Zeitung,  unter 
dessen  Leitung  das  bis  dahin  ziemlich  regierungsfreundhche  Blatt  ins  oppositionelle, 
ja  ins  sozialistische  Fahrwasser  geriet.  Vgl.  Rheinische  Briefe  und  Akten  zur 
Geschichte  der  pohtischen  Bewegung  1830 — 1850.  Gesammelt  und  herausgegeben 
von  Joseph  Hansen,  Essen  19 19,  S.  392.  Über  Walthr  vgl.  auch  Friedrich  Engels 
an  Karl  Marx,   18.  Sept.   1846  in  Band  I  S.  38,  ihres  Briefwechsels. 


-^=^  313  -  — 

Die  Gräfin  ist  mit  Recht  böse  auf  Dich,  daß  Du  ihr  nicht  schreibst. 
Mein  rücksichtsloses  Geschäftswesen  bietet  ihr  wenig  Erheiterung,  und 
es  ist  an  meinem  ganzen  Ich  keine  erheiternde  und  komische  Seite,  wie 
ich  sie  oft  mit  Vergnügen  in  Deinen  Briefen  bemerkt.  Ich  will  also 
absolument,  daß  Du  der  Gräfin  alle  acht  Tage  mindestens  einmal  einen 
zwei  Bogen  langen  Brief  schreibst,  worin  Du  Beobachtungen  und  Ge- 
danken ablagern  kannst;  er  wird  angenehmer  sein  als  gedruckte  Lektüre 
und  ansprechender.  Da  Du  jetzt  für  uns  nichts  zu  tun  hast,  so  sei 
Dir  die  [Erfüllung]  ^)  meiner  Bitte  so  ernst,  als  beträfe  sie  ein  wichtiges 
Geschäft.  Sie  betrifft  auch  eins  der  wichtigsten,  die  Launen  der  Gräfin, 
für  die  ich  keine  remedia  mehr  besitze  .  .  . 


99- 
LASSALLE  -\N  DEN  VATER  UND  DIE  GRÄFIN  HATZFELDT. 
(Original.) 

[11.  April  1S47.] 

Ja,  heut  ist  der  11.  April,  mein  Geburtstag!  Ich  will  mir  daher 
auch  einen  Feiertag  draus  machen,  ich  lege  Arbeiten  und  Bücher  fort 
und  schicke  mich  an,  einen  Brief  zu  schreiben,  nicht  über  trockene 
Geschäfte,  sondern  einen  heiteren  Brief  voll  zweckloser  Plaudereien. 
Gewiß  denkt  man  heute  sehr  sorgenden  Herzens  an  mich  und  stellt 
sich  wunder  wie  groß  mein  Unglück  und  meine  Trauer  vor,  daß  ich 
meinen  Geburtstag  im  Kerker!  2)  zubringen  müsse.  Wie  kann  ich  alle 
die  traurigen  Gedanken,  die  man  sich  grade  jetzt  in  dieser  selben 
Stvmde,  in  der  ich  schreibe,  um  mich  macht,  besser  widerlegen,  als 
indem  ich  den  Beweis  führe,  daß  ich  zur  selben  Stunde  in  höchst  ange- 
nehmer Laune,  humoristisch  gestimmt  beschäftigt  war,  einen  heitern 
Brief  zu  schreiben.  Zwar  weiß  ich  noch  nicht  genau,  an  wen  ich  eigent- 
lich diesen  Brief  adressieren  werde,  an  die  verehrte  Frau  Gräfin  oder 
an  meinen  lieben,  heben  Vater.  Indes  es  bleibt  sich  ziemlich  gleich. 
Denn  obgleich  es  kein  Geschäftsbrief  ist,  könnte  mir  doch  noch  irgend 
etwas  darauf  Bezügliches  einfallen  und  somit  eine  Lesimg  von  seiten 
der  Frau  Gräfin  erheischen.  Auch  haben  Sie  mir,  gnädige  verehrte  Frau, 
erst  letzten  Dienstag  den  Erweis  gegeben,  daß  Sie  auch  an  meiner 
bloßen  Person  bei  weitem  mehr  Anteil  nehmen,  als  ich  Recht  und 
Verdienst  habe  zu  beanspruchen.    Ihnen  hierfür  meinen  Dank  sagend. 


*)  Der  Schreiber  setzt  in  Klammem:  unleserlich. 

■2)  I,assaile  saß  vom  26.  März  bis  4.  Mai  1847  ^^  Untersnchungshaft.  Er  %var 
angeklagt,  private  Papiere  des  wegen  Kassettendiebstahls  verhafteten  Alexander 
Oppenheim  widerrechtlich  vernichtet  zu  haben.    Doch  er  wurde  freigesprochen. 


— =^  314  ^:=^^=^ — — -.=^ 

bitte  ich  Sie,  dieses  bunte  Durcheinander  von  Geschwätz,  wenn  Sie 
es  gelesen,  meinem  Vater  zustellen  zu  wollen. 

Wogegen  ich  zunächst  meine  Bemühungen  richten  möchte,  wäre, 
die  übertriebenen  Vorstellungen  von  dem  großen  und  exzeptionellen 
Unglück,  das  mich  betroffen  haben  soll,  von  der  Traurigkeit  meiner 
Lage  etc.  zu  bekämpfen.  Jeder,  der  mich  näher  kennt,  weiß,  daß  ich 
die  Eigenheit  habe,  passenden  Ortes  einen  ziemlich  trivialen  Vers  eines 
sehr  mittelmäßigen  Dichters  gern  zu  zitieren,  nämlich  Matthissons 
Worte : 

,,Auch  Leiden,  sind  sie  vergangen, 
Laben  die  Seele  wie  Regen  die  Au!" 

Aber  dieser  sehr  triviale  Vers  eines  sehr  mittelmäßigen  Dichters  hat 
mir  einst  sehr  gute  Dienste  geleistet  und  sich  mir  seitdem  unauslösch- 
lich eingeprägt.  Es  war  in  meiner  Schulzeit,  ich  mochte  ungefähr  zwölf 
Jahre  alt  sein,  als  ich  mich  eines  Sonnabends  mit  einer  sehr  schlech- 
ten Zensur  nach  Hause  begeben  sollte,  um  sie  meinem  damals  äußerst 
strengen  Vater  zu  präsentieren,  vor  dem  ich  eine  infernalische  Angst 
hatte.  Ich  schwankte  daher  nur,  ob  ich  bloß  davon  und  in  die  weite 
Welt  laufen  oder  mich  gleich  lieber  in  den  Stadtgraben  werfen  sollte. 
Indem  ich  mich  ernstlich  einer  Diskussion  über  dies  Dilemma  mit  mir 
selbst  hingab,  und  ich  hätte  sicherlich  eins  oder  das  andre  getan,  denn 
es  war  mir  verzweifelt  zumute  und  an  Resolution  fehlte  es  mir  nicht, 
fielen  mir  plötzlich  die  oben  zitierten  Verse  Matthissons  ein  imd  gössen 
einen  wimdersamen  Balsam  in  mein  wundes  Herz.  Ich  fühlte  mich 
neu  gestärkt,  meine  Tränen  trockneten,  und  ich  setzte  mir  selbst  mit 
ungeheurer  Altklugheit  ausemander,  wie  ich  in  einigen  Jahren,  wenn 
ich  erwachsen  wäre,  das  Leid,  dem  ich  jetzt  eben  entgegenging,  be- 
lächeln würde  und  wie  es  Vater  selbst  mit  mir  belächeln  würde.  Diese 
Vorstellung  legte  sich  wie  eine  Rüstung  von  Stahl  um  meinen  Gedanken- 
gang, ich  dachte  während  der  größten  Unannehmlichkeiten,  die  ich 
zu  Hause  hatte,  immer  nur  an  die  Zeit,  wo  Vater  und  ich  über  diese 
Futilitäten  lächeln  würden.  Seit  der  Zeit  aber  habe  ich  nie  wieder 
Matthissons  Verse  vergessen,  sie  sind  ein  Vademekum  für  mich  geworden, 
wie  denn  starke  Jugendeindrücke  nie  verlöschen.  Ich  sage,  Sie,  gnädige 
Frau,  Du,  lieber  Vater,  haben  Unrecht  zu  glauben,  daß  die  Lage,  in  die 
ich  gekommen,  meiner  sonstigen  Verhältnisse.  Stellung  und  Aussichten 
wegen  eine  so  exzeptionelle  und  unerhörte  wäre.  Leute  aus  den  besten 
Verhältnissen  des  Lebens,  die  früher  imd  nachher  auch  wieder  die 
besten  Stellimgen  einnahmen,  saßen  schon  gefangen,  ich  erinnere  nur 
an  Richard  Plantagenet  Löwenherz  von  England,  der  zehn  Jahre  in 
einem  österreichischen  Turm  saß;   oder  da  Damen  ihre  Geschichts- 


-—  --=  315  ^==^ =-= --= 

kenntnis  gewöhnlich  aus  historischen  Romanen  schöpfen,  an  den  Duc 
de  Beaufort,  Enkel  Henri  IV,  der  neun  Jahre  in  der  Bastille  saß.  Die 
Namen  der  Dichter,  Gelehrten,  Staatsmänner,  die  in  neuerer  Zeit  saßen, 
würden  Bücher  füllen.  Von  allen  aber,  die  je  saßen,  hat  keiner  mit 
so  günstigen  Aussichten  gesessen,  so  schnell  wieder  freizukommen 
wie  ich. 

Vor  allem  aber  muß  ich  eine  Äußerung  meines  lieben  Vaters  hier 
inkriminieren,  die  derselbe  neulich  tat,  weil  sie  eine  total  unkritische  Auf - 
fasstmg  verrät.  Er  sagte  mir  das  letztemal,  als  er  mich  besuchte:  ,,Ach, 
muß  ich  Dich  hier  in  einer  Kriminal  Untersuchung  wiederfinden, 
während  ich  glaubte,  Dich  auf  dem  Katheder^)  wiederzufinden?!" 
Er  macht  also  offenbar  aus  einer  Kriminalhaft  und  dem  Katheder 
Gegensätze,  was  aber  total  falsch  ist;  vielmehr  ist  heutzutage  das 
Katheder  als  der  direkte,  grade  Weg,  die  eigenthche  Vorhalle  zum 
Kriminalgefängnis  zu  betrachten.  Soll  ich  das  erweisen?  Nun,  das  ergibt 
sich  von  selbst  aus  den  Namen  aller  der  Gelehrten  und  Schriftsteller, 
die  bereits  Festungsarrest,  selbst  Festungsstrafe  auf  ihrer  Katheder- 
karriere gefimden,  andere  befinden  sich  eben  in  Kriminaluntersuchung 
gleichfalls  wegen  Schriften  unerlaubten  Inhalts.  Andere  sind  eben  der 
Majestätsbeleidigung  angeklagt.  Gestern  las  ich  in  der  Zeitung,  daß 
eben  Steckbrief  gegen  Stadtgerichtsrat  Simon  2)  in  Breslau  seiner 
Kritik  des  Patents  vom  3.  Februar  wegen  erlassen  sei,  ein  sonst  höchst 
respektabler  Mann.  Wie  kann  mein  Vater  Katheder  und  Kriminal- 
gefängnis in  Gegensatz  bringen?  Das  streitet  wider  alle  Erfahrung. 
Und  wenn  mich  nicht  die  besondere  Verwicklung  der  Umstände  auf 
vorübergehende  Zeit  (denn  seiner  Zeit  dürfte  ich  dahin  zurückkehren) 
von  meiner  Kathederkarriere  abgezogen  hätte,  so  wäre  es  sehr  mög- 
lich immerhin,  daß  mich  heute  mein  Papa  ebenfalls  in  einem  Kriminal- 
gefäugnisse  fände,  aber  in  einer  Kathedersache,  was  jedenfalls  weit 
bedenklicher  und  unangenehmer  wäre.  Und  kommt  Zeit,  kommt 
Rat.  Proudhon  wurde  wegen  seines  Buches  ,,Qu'est-ce  que  la  pro- 
priete?"  vor  die  Assisen  zu  Besan9on  gestellt.  Ehe  die  Sitzimg 
begaim,  kam  ein  Courier  aus  Paris,  das  öffentliche  Ministerium  solle, 
wenn  Proudhon  von  der  Jury  für  schuldig  befunden  würde,  den  schwer- 
sten   Straf antrag    stellen.      Hätte    die    Jurj'    Proudhon    für   schuldig 

^)  Lassalles  ursprüngliche  Absicht  war,  sich  in  Berhn  an  der  Universität  zu 
habilitieren.  Noch  auf  eine  Anfrage  des  Ministers  des  Innern  vom  2.  Juni  1847 
berichtet  der  Berhner  Polizeipräsident  von  Puttkammer:  ,,Lassal,  welcher  übrigens 
nicht  doctor  promotus  ist,  sondern  seiner  Angabe  nach  nur  die  Lizenz  zu  Vor- 
lesungen bei  der  hiesigen  Universität  jedoch  vergebUch  nachgesucht  hat." 

2)  Heinrich  Simon  (1805 — 1866).  der  hberale  Politiker,  hatte  eben  seine  be- 
kannte Broschüre  ,, Annehmen  oder  Ablehnen"  erscheinen  lassen. 


= —      —  3i6 

beftmden,  so  hätte  er  zwölf  Jahre  Galeere  bekommen!!  Zwölf  Jahre 
Galeere  dafür,  daß  er  sich  des  Schlafes  beraubt,  um  ein  großes  und 
gedankenvolles  Buch  zu  schreiben,  welches  durchaus  nicht  einmal 
aufregend  geschrieben  ist,  welches  bloß  streng  kritisch  und  wissen- 
schaftlich das  Eigentum  behandelt!  Zwölf  Jahre  Galeere!  Dagegen 
sind  ja  unsre  Strafen  in  Preußen  noch  ein  Kinderspiel.  Zwölf  Jahre 
Galeere  für  ein  Werk,  das  ihn  zum  Mitglied  der  Akademie  hätte  machen 
sollen !  Ich  werde  nie  den  Eindruck  vergessen,  den  es  auf  mich  machte, 
als  mir  einst  Proudhon  dies  im  Cafe  Hollandais  erzählte.  Es  war  kein 
Eindruck  des  Schreckens,  es  war  vielmehr  eine  ungeheure  und  unver- 
wüstliche Gleichgültigkeit,  die  sich  meiner  bemächtigte  gegen  alle 
positiven  Strafkategorien,  wenn  sie  mit  dem  Wesen  des  Menschen, 
dem  innern  Gotte,  in  Widerspruch  stehen.  Sie  erinnern  sich  gewiß 
gnädige  Frau,  der  schönen  Verse,  mit  welchen  Prutz  die  Parabase  in 
seiner  Komödie  ^)  schließt: 

„Das  hab'  ich  versucht,  imbekümmerten  Sinns 
In  die  eignen  Rhythmen  verloren 
Aufhorchend  allein  auf  der  Grazie  Wink: 
Und  ich  hab',  ja  ich  hab'  es  vergessen, 
Daß  über  mich  her  langnasig  gebückt 
Ein  Gensd 'armes  auf  das  Blatt  mir  geschielt  hat!" 

Dies  wäre  allen  denen  zu  antworten,  die  sich  etwa  darüber  entsetzen 
wollten,  daß  ich  in  eine  Kriminaluntersuchung  geraten.  Aus  allen 
diesen  ziemlich  unzusammenhängenden  Erörterungen  wird  jedenfalls 
das  mit  großer  Gewißheit  hervorgehen,  daß  ich  mich  auch  heute  an 
meinem  Geburtstag  durchaus  nicht  in  niedergedrückter  mid  beklemm- 
ter, vielmehr  selbstvergnügter  und  heitrer  Stimmung  befinde,  daß 
Sie  also  das  große  Mitleid  mit  mir  immerhin  etwas  mäßigen  können. 
Ich  habe  die  Behauptung  oft  aufgestellt  (aber  nie  ihre  Wahrheit  leb- 
hafter gefühlt  als  jetzt,  wo  ich  in  den  Fall  gekommen  bin,  sie  praktisch 
zu  erproben),  die  Behauptung,  daß  kein  äußerer  Umstand  Macht  hat 
über  den  Geist,  wenn  er  ,, übereinstimmt  mit  sich  selbst",  sich  billigen 
kann,  mit  sich  identisch  ist,  wenn  er  sein  Tun  bejahen  kann.  Nur  der 
mit  sich  selbst  in  den  Gegensatz  getretene,  innerlich  zwiespältig 
gewordne  Geist  ist  unglücklich.  Ich  erinnere  mich,  in  vielen  Stunden 
meines  Lebens  trauriger  gewesen  zu  sein,  als  jetzt  während  der  ganzen 
Zeit  meiner  Haft.    Und  wenn  z.  B.  meine  Haft  zur  Folge  hätte,  innern 


^)  Die  „Politische  Wochenstube",  Zürich  und  Winterthur,  1845,  S.  63. 
I,.  zitiert,  wie  fast  immer,  ungenau.  Statt  ,,  auf  horchend"  heißt  es  bei  Prutz  ,,atif- 
machend".   Femer  steht  dort:  ,Ja,  ich  hab',  ich  hab'  es  vergessen." 


317  == 

Ärger  und  Hader  aufzuheben  für  die  kommende  Zeit  meiner  Freiheit, 
so  wollte  ich  mit  Enthusiasmus  diese  Haft  selbst  mit  noch  weit  grö- 
ßeren Entbehrungen  noch  sechs  Monate  tragen,  ohne  den  Mund  zu 
verziehen. 


100. 

LASSAIvLE  AN  ARNOLD  MENDELSSOHN.    (Original.) 

Berlin  [Mai   1847],^) 
Lieber  Doktor! 

Dein  letzter  Brief  hat  mir  Deinen  vorletzten  erst  verständhch  ge- 
macht. In  Deinem  vorletzten  schien  mir  zu  liegen,  daß  Du  Dich  von 
mir  lossagst.  Dein  letzter  interpretierte  ihn  vielmehr  dahin,  daß  Du 
glaubtest,  ich  wolle  mich  von  Dir  lossagen!  Ich  weiß  nicht,  wie  Du 
zu  diesem  Glauben  gekommen  bist  oder  was  Dich  dazu  berechtigt. 
Daß  ich  Grün  die  Vorwürfe  gemacht,  die  er  hinreichend  verdient,  tmd 
von  denen  er  keinen  widerlegt  hat?  Daß  ich  durch  Dein  Nichtschreiben 
empfindhch  berührt  war  imd  diese  Empfindlichkeit  äußerte?  Du  mußt 
wohl  nicht  ganz  bei  Dir  selbst  gewesen  sein,  als  Du  den  vorletzten  Brief 
schriebst,  denn  er  würde  sogar,  was  ich  nie  bei  Dir  gefunden,  eine  ge- 
meine Gesinnung  von  Dir  verraten.  Du  sagtest,  ich  glaubte,  weil  ich 
Euch  Geld  schickte,  ein  Recht  [zu]  habe[n].  Euch  so  zu  behandeln !!  2) 
Ich  pflege  meine  Rechte  und  Prätensionen  auf  meinen  Geist  zu  grün- 
den; hast  Du  mich  je  sie  so  pöbelhaft  begründen  sehen? 

Sieh  also,  wohin  Du  geraten  bist  in  Deinem  Ärger.  Indes,  genug 
davon;  damit  Du  mich  nicht  wieder  einmal  mißverstehst,  gebe  ich 
Dir  für  jetzt  und  alle  künftige  Zeit  das  Versprechen,  daß  ich  gar  nie 
daran  denke,  mich  ,,von  Dir  loszusagen".  In  meinem  Busen  wenigstens 
sind  keine  neuen  Götter  aufgegangen.  Ich  denke  wie  sonst.  Und  das 
,, Lossagen"  von  Freunden  (wenn  sie  sich  nicht  ä  la  Heine  zuerst  durch 
Verrat  losgesagt)  war  nie  eine  vorstechende  Eigenschaft  von  mir. 

Na,  lassen  wir's  imd  schreibe  mir  wieder  einmal  einen  Brief,  frei 
von  diesen  törichten  Mißverständnissen.     Ich   hatte   Deiner  im   Ge- 


1)  Lassalle  wohnte  vom  12.  bis  31.  Mai  in  Berlin  in  Luz'  Hotel  und  kehrte 
an  diesem  Tage  nach  Köln  zurück.  Er  hatte  dort  auch  eine  Begegnung  mit 
dem  Vater,  welchen  er,  wie  er  zur  Polizei  bemerkte,  mehrere  Jahre  nicht  ge- 
sehen und  mm  hier  habe  treffen  woUen.  In  diesen  Aufenthalt  fällt  die  Episode, 
bei  der  er  sich  in  eine  Beratung  der  141  oppositionellen  Abgeordneten  des  Ver- 
einigten Landtags  einschleicht  und  hinausgesetzt  wird.  Vgl.  die  BerUner  Korre- 
spondenz vom  14.  Mai  in  der  Augsburger  Allgemeinen  Zeitung  vom  18.  Mai. 

2)  Sic! 


= ^-  318  ^ 

fängnis  luid  in  schlimmer  Stunde  viel  mit  Liebe  gedacht;  äußere 
Beweise  von  Teilnahme  habe  ich  während  dieser  Zeit  keinen  von 
Dir  erhalten;  an  Deiner  innern  Teilnahme  zweifelte  ich  nicht;  Dein 
Brief,  den  ich  erhielt,  als  ich  frei  wurde,  konnte  mich  auch  nicht  grade 
angenehm  berühren.  Indes,  es  sei  abgetan.  Vielleicht  komme  ich 
nächstens  mal  zu  Dir,  Deine  Reise  nach  Köln  zu  besprechen. 

Hatzfeldt  steht  auf  einer  Federspitze.  Wie  den  frommen  Glauben 
der  Völker  bewa£fnen  jetzt  wir  sogar  den  Arm  der  Könige  gegen  ihn. 
Es  könnten  verwunderliche  Dinge  eintreten,  über  die  ich  mich  nicht 
verwundem  würde.  ^) 


lOI. 

CARL  GRÜN  AN  LASSALLE.     (Original. 

Brüssel,   11.  Mai  [1847]. 
Lieber  Freimd! 

Obgleich  es  seit  einiger  Zeit  sehr  mißlich  geworden  ist,  mit  Dir 
imd  der  Gräfin  zu  konfer  eren,  wie  mir  das  aus  allem  Benehmen  während 
meines  Aufenthaltes  in  Belgien  tmd  im  besondern  aus  Deinen  beiden, 
letzten  Briefen  an  mich  und  den  Doktor  nur  zu  klar  geworden  ist,  so 
muß  ich  doch  in  den  sauren  Apfel  beißen,  namentlich  auch,  um  nicht 
abermals  einer  ,, positiven  Pflichtverletzung"  angeklagt  zu  werden. 
Daß  ich  nicht  schon  gestern  schrieb  —  vorgestern  langte  Deine  Sen- 
dung hier  an  — ,  rührt  von  persönlichem  Unwohlsein  her,  das  zur  Stunde 
noch  nicht  durchaus  beseitigt  ist. 

Es  ist  beinahe  lächerlich,  wenn  Du  auf  Deinen  übereilten,  nur 
durchs  Gefängnis  zu  entschuldigenden  und  vielleicht  nur  von  mir, 
der  auf  das  innere  Wesen  des  Menschen,  nicht  auf  Äußeres  fußt,  ent- 
schuldigten Briefe  von  vier  Bogen  noch  immer  behauptest,  Du  seiest 
in  Deinem  ,, guten  Rechte"  gewesen,  mir  einen  Sermon  zu  lesen,  und 
um  kategorisch,  ohne  weitere  Rück-  und  Umsicht,  auf  eine  Anfertigung 
der  Broschüre  ä  bride  abattue  zu  dringen . . .  Als  ich  den  bewußten  Artikel 
in  die  Mannheimer  Abendzeitimg  schrieb,  auch  die  Andeutung  in  der 
Trierer  machte,  sollten  das  zwei  vSchreckschüsse  sein,  die  mich  der 
Broschüre  selbst  überheben  würden ...  Da  Du  nun  aber  so  sehr  darauf 
drängst,  ich  Dich  auch  bis  dahin  für  viel  abgesperrter  von  aller  Kom- 
munikation nach  außen  hielt,  wie  einen  Menschen  ansah,  der  nur  vun 
so  dringlicher  wird,  je  weniger  er  draußen  au  courant  bleibt,  so  ließ  ich 


^)  Graf  Westphalen  bemühte  sich  damals,  den  König  für  die  Sache  der  Gräfin 
zu  gewinnen.     Aber  der  Versuch  bheb  ohne  Erfolg.     Vgl.  S.  338. 


--===■■  319  

fordern  und  forderte  selbst  die  Papiere  .  .  .  Denn  Du  weißt,  ich  tue  etwas 
für  Dich,  und  hast  mir  dies  Zeugnis  selbst  unaufgefordert  erteilt.  Mittler- 
weile —  zwischen  dem  Aufenthalt  in  Ostende  und  Brüssel  —  drehen 
sich  die  Dinge  in  Berlin  so,  daß  möglicherweise  die  Broschüre  nicht 
auf  den  Landtag  berechnet  sein  konnte,  weil  eine  konstituierende 
Versammltmg  daraus  zu  werden  drohte  und  ich  mich  sehr  gehütet 
haben  würde,  den  Grafen  H.  anzugreifen,  während  mein  Volk  die 
höchsten  staatlichen  imd  Rechtsfragen  diskutierte  —  soviel  ich  für 
Freunde  tue,  so  bin  ich  mir  selbst  doch  immer  etwas  schuldig,  und 
grade  darauf,  was  ich  mir  selbst  schuldig  bin,  beruht  das,  was  ich 
für  andere  tun  kann,  und  was  Du  mir  vielleicht  in  zu  hohem  Maße 
zutraust.  Erst  als  ich  in  Brüssel  bin,  erscheint  der  Bescholtenheits- 
gesetzentwurf,  in  den  ich  meine  ,,Nase"  mindestens  so  früh  ,, gesteckt" 
habe,  als  der  Herr  Generalbevollmächtigte  ^)  selbst.  Nim  hatte  ich 
keine  Papiere,  keinen  zuverlässigen  Menschen  in  Berlin,  dachte  mir 
die  Gräfin  schwankend  hinsichtlich  der  Offerte  meines  Bruders,  wußte 
durchaus  nicht  —  ich  wiederhole  es  — ,  daß  Du  als  Kreuzspinne  fort- 
während in  der  Mitte  des  Gewebes  saßest.  Da  schrieb  ich  selbst  an 
die  Gräfin.  Hierauf  kommt  Deine  unbegreifliche  und  für  jeden  andern 
verletzende  Antwort;  hier  sah  ich  zuerst,  daß  Du  sogar  als  Diktator 
angesehen  sein  willst,  wenn  Deine  Untergebenen  gar  nicht  wissen,  ob 
Du  das  Szepter  noch  in  der  Hand  hast.  Hätte  ich  Dich  als  Gesetz- 
geber im  Gefängnis  gewußt,  so  würde  ich  mit  Dir  parlamentiert  haben; 
da  ich  Dich  zur  Hälfte  ohnmächtig  glaubte,  unterstand  ich  mich, 
eine  höchsteigene  Meinung  zu  haben,  und  schrieb,  ,,wenn  es  Zeit  ist". 
Daß  das  so  sehr  vmter  der  hauteur  Deiner  Einsicht  ist,  bedauere  ich 
von  Herzen.  Aber  die  Lage  der  Dinge  zwingt  jeden  vernünftigen 
Menschen  dazu,  den  rechten  Moment  abzuwarten,  ich  gebe  Dir  mein 
heiliges  Wort,  daß  ich  nicht  zweimal  gegen  den  Grafen  schreibe.  Die 
Diskussion  über  einen  Gesetzentwurf  hatte  also  begonnen;  damit 
dieser  Entwurf  Gesetz  imd  folghch  anwendbar  würde,  bedurfte  es 
der  Debatte.  Es  war  von  vorneherein  gewiß,  daß  in  der  Zweiten  Kammer 
eine  Opposition  im  Sinne  der  Beschränkung,  d.  h.  laxerer  Grundsätze 
hinsichthch  der  Bescholtenheit,  auftreten  würde.  Du  wirst  mir  ein- 
räumen, daß  ich  nicht  im  Sinne  der  Strenge,  der  moralischen  Inqui- 
sition auf  den  Landtag  einwirken  will  und  wollen  kann.  Er  muß  sich 
aussprechen,  er  muß  sein  Votum  abgeben,  das  Gesetz  muß  fertig 
sein,  ehe  ich  sage,  es  paßt  auf  den  und  den.  Anders  ist  es  mit  dem 
Grafen  von  Westphalen,  anders  mit  einzelnen  Deputierten,  die  sofort 
einen  Antrag  stellen  mögen;  denn  sie  sind  Einzelne,  gebrauchen  ihre 

*)  I/assalle. 


—  ■  ' 320  —  

ständischen  Rechte,  ich  aber  bin  ein  Stück  Allgemeinheit  und  darf 
nur  im  Namen  der  Allgemeinheit  reden,  muß  mich  sogar  sehr  in  acht 
nehmen,  der  bevormmidenden  Regierung  auch  nur  scheinbar  in  die 
Hände  zu  arbeiten.  Auf  der  andern  Seite  ist  es  ebenso  absolut  not- 
wendig, daß  ich  den  Grafen  beim  Zipfel  der  Allgemeinheit  fasse;  d.  h. 
daß  ich  ihn  mit  dem  Bescholtenheitsgesetz  in  Verbindung  bringe. 
Denn  im  übrigen  ist  er  so  bodenlos  ruiniert,  daß  alle  Blätter,  die  keinen 
Parteieinfluß  erfahren  haben,  ihn  rücksichtslos  verdammen.  Das  haben 
wir  erreicht,  und  das  will  und  brauche  ich  nicht  zu  wiederholen.  Das 
ist  double  emploi  und  verdorbene  Zeit  und  Mühe.  Der  Gesetzentwurf 
wird  also  Gesetz  mid  vermutlich  gleichzeitig  der  Landtag  bis  zum 
Herbst  vertagt.  In  diesem  Zwischenravmie  —  wenn  er  eintritt  — 
dürfen  wir  kein  Pulver  verschießen,  sondern  mit  dem  Herbst  haben 
wir  einfach  auf  dem  Markte  zu  sein.  Wird  der  Landtag  nicht  vertagt, 
was  wir  in  einigen  Tagen  schon  vollständig  und  bestimmt  wissen,  so 
ändert  sich  die  Sache,  imd  der  Graf  kann  auf  der  Stelle  angegriffen 
werden.  Wenn  Du  jetzt  eigensinnig  bist  imd  meinst,  es  sei  jeder  Augen- 
blick recht,  man  solle  den  Missetäter  ä  tout  temps  verdonnern,  so 
sage  ich  Dir,  daß  ich  die  bereits  durch  die  Zeitungen  vollbrachte  Ver- 
donnerung als  solche  nicht  wiederhole,  daß  wir  zu  deren  Ausbeutung 
vor  wie  nach  die  Zeitungen  haben,  daß  ich,  wenn  ich  die  Broschüre 
schreibe,  die  rechte  Zeit  haben  muß,  damit  sie  etwa  so  laute:  ,,Das 
preußische  Bescholtenheitsgesetz  und  der  Graf  H."  Der  erste  Titel 
war  natürlich  rein  willkürlich  und  konnte  in  dem  Falle  bleiben,  als 
kein  Gesetzentwurf  vorgelegt  wurde.  Dieser  Entwurf  bindet  uns, 
wenigstens  mich.  Und  diese  meine  Ansicht  ist  so  sehr  begründet,  daß 
selbst  die  extravagante  Äußerung:  Wenn  der  Graf  H.  vom  Landtage 
davonkommt,  so  sind  wir  rettimgslos  blamiert!  noch  immer  wahr 
bleibt.  Er  kommt  nämlich  nicht  davon,  sei  es,  daß  der  Landtag  jetzt 
gleich  beisammen  bleibt  oder  seine  zweite  Hälfte  in  den  Herbst  fällt. 
Du  siehst,  lieber  Freund,  wie  alles  in  der  Ordnung  ist,  dafern  ich 
das  Einverständnis  zwischen  rms  als  fortwährend  ungestört  betrachte. 
Dazu  wird  aber  von  Deiner  Seite  zweierlei  erforderlich  sein:  i.  daß 
Du  nicht  solche  Briefe  schreibst  wie  den  langen  an  mich;  der  Brief 
an  den  Doktor  ist  zunächst  dessen  Sache  und  geht  mich  nur  zur  Hälfte 
persönlich  etwas  an,  insofern  ich  mir  von  Deiner  Seite  2.  etwas  bessere 
Rechnimg  ausbitte.  Ich  weiß  nicht,  ob  Du  mich  genug  kennst,  um 
zu  wissen,  mit  welchem  Widerstreben  ich  darauf  eingehe.  Aber  ich 
versichere  Dir,  daß,  wenn  Du  mit  mir  rechnen  willst.  Du  die  vier  Spezies 
bei  mir  in  aller  Ordnung  finden  sollst.  Ich  habe  lange  keine  größere 
Konfusion  gesehen  als  in  Deiner  Etablierung  eines  sogenannten 
Ausgabenbudgets  für  uns.    Was  sind  das  für  200  Rt,  die  der  ,, junge 


321  ^ ^3= 

Grün"  bekommen  hat,  imd  von  denen  ich  kein  Sterbenswort  weiß? 
200  Rt.  sind  750  Franken,  die  mir,  ich  weiß  gar  nicht  wieso,  inwiefern, 
weshalb,  warum  angerechnet  werden.  Grade  soviel  als  ich  im  ganzen 
1847.  Jahre  nach  Christi  Geburt  überhaupt  von  Dir  entlieh  oder  ange- 
wiesen erhielt,  oder  wenn  Du  willst,  für  äußere  Mühewaltimg  bekam  .  .  . 
So  ist  die  Wahrheit  der  Sache,  mein  Bester,  was  meine  Person  betrifft, 
nicht  mehr  und  nicht  weniger,  und  ich  wiederhole  Dir,  daß  über  die 
Hälfte  von  mir  gar  nicht  gefordert,  sondern  aus  freier  Einsicht  in  das 
Mißliche  meiner  augenblickhchen  Lage  mir  zugesandt  worden  ist  und 
sich  schon  aus  diesem  Grunde  wenig  eignet,  in  eine  Rechnung  gebracht 
zu  werden.  Nicht  ich  rechne  auch  hier,  denn  ich  habe  Dir  zu  wieder- 
holten Malen  gesagt,  es  gibt  und  wird  immer  Dinge  geben,  die  der  Frei- 
heit vmd  nicht  der  Ökonomie  angehören.  Bringst  Du  aber  die  Ökonomie 
in  die  Sachen  der  Freiheit  hinein.  Du  Mensch  des  Pathos,  so  werde  ich 
meinerseits  Ökonom  ohne  Pathos.  Und  d'e  pathoslose  Ökonomie  muß 
immer  recht  behalten  gegen  die  pathologische  Ökonomie. 

Auf  vieles  andere  in  Deinem  gegenwärtigen  Gebaren  gehe  ich  nicht 
ein,  das  läßt  sich  nicht  gut  schreiben,  wohl  aber  besprechen,  und  ich 
hielte  es  für  äußerst  gut  und  notwendig,  wenn  wir  uns  zwei  bis  drei 
Tage  lang  einmal  sähen.  Die  Reise  hierher  ist  nicht  so  arg,  daß  Du 
sie  nicht  unternehmen  könntest.  Und  meinst  Du,  ich  könne  auch  etwas 
tun,  so  bin  ich  bereit,  nach  lyüttich  zu  kommen,  wo  Du  mir  Tag,  Stunde 
tmd  Gasthof  bestimmen  kannst,  ökonomischer  ist  es  aber,  wenn  wir 
tms  in  Brüssel  sehen,  weil  ich  hier  Quartier  habe  imd  Deine  Reise  von 
Lüttich  nach  Brüssel  durch  die  meinige  von  Brüssel  nach  Lüttich 
aufgehoben  wird. 

Diesen  Brief  überliefere  ich  wahrscheinlich  wieder  einer  erkleck- 
lichen Zahl  von  Mißverständnissen.  Aber  das  kann  nichts  helfen. 
Salvavi  animam  meam. 

Dein  Freimd. 

Faubourg  de  Naraur 
174.  Chaussee  d'Etterbeek. 
(Briefe  ins  Caveau  royal.) 

102. 
ARNOLD  MENDELSSOHN  AN  LASSALLE.    (Original.) 

Brüssel,  21.  5.  47. 
Mein  Freund! 

Obgleich  Dein  Brief  an  mich  immer  noch  manches  enthält,  womit 
ich  nicht  ganz  einverstanden  bin,  so  hat  er  mir  insofern  wohlgetan, 
als  ich  gesehen  habe,  daß  wir  uns  schon  verständigen  werden,  wenn 

Mayer,  Lassalle-NachUss.     I  -• 


-=    322  - 

wir  uns  einmal  wiedersehen;  ein  großer  Teil  meines  Ärgers  kam  daher, 
daß  ich,  mein  ganzes  Dasein,  alles,  was  ich  mit  Dir  getan  und  von  Dir 
gelitten  habe,  in  Dir  zu  einem  höchst  imtergeordneten  Momente  ge- 
worden zu  sein  schien,  daß  Du  mir  nach  meiner  Meinung  wie  Deinem 
Vasallen,  Deinem  Leibeignen  begegnetest,  der  ich  nie  war  und  nie- 
mals werden  werde.  Eine  gemeine  Gesinnung  werde  ich  Dir  nie  ver- 
raten können,  weil  ich  keine  habe,  vmd  es  ist  mir  heb,  daß  Du  Dich 
wenigstens  erinnerst,  nie  eine  bei  mir  gefunden  zu  haben. ^)  Vielleicht 
ruft  dies  bei  Dir  einen  kleinen  Zweifel  hervor,  ob  ich  denn  wirkhch 
aus  einem  bloß  aus  meiner  Leber  kommenden  Ärger  mich  bis  zu  einer 
gemeinen  Gesinmmg  verirren  könne,  oder  ob  nicht  vielleicht  in  meinem 
Hirn  irgend  etwas  vorgegangen  sei,  was  mich  grade  so  an  Dich  schreiben 
ließ,  wie  ich  geschrieben  habe.  Behalte  meinen  Brief  nur,  wie  Du  mir 
geschrieben  hast,  daß  Du  es  tust,  ich  will  ihn  Dir  Wort  für  Wort  ver- 
teidigen, ohne  Dir  im  mindesten  eine  gemeine  Gesinmmg  meinerseits 
zugeben  zu  können. 

Was  das  Lossagen  anbetrifft,  so  mißverstehst  Du  es;  verraten  habe 
ich  nie  irgend  jemand  und  bin,  wie  es  mich  dünkt,  eine  von  den  Naturen, 
denen  ein  sogenannter  Verrat  schwer  ankommen  würde;  obgleich  ich 
nun  gar  nicht  zugeben  kann,  daß  Heine  Dich  verraten  hat,  so  habe 
ich,  wie  ich  glaube.  Dir  bisher  einige  kleine  Beweise  davon  geliefert, 
daß  ich  in  dem,  was  Du  Treue  nennen  würdest,  etwas  stärker  bin  als 
Heine.  Götter,  mein  Freund,  habe  ich  überhaupt  nicht,  ich  bin  ein 
Atheist  wie  Du,  am  allerwenigsten  aber  habe  ich  neue  Götter,  sondern, 
wenn  ich  in  Deutschland  zum  Teil  durch  mein  eignes  Studium,  zum 
Teil  durch  unser  gemeinschaftliches  Studium  der  Philosophie  (mein 
Frevmd,  wir  haben  zusammen  die  Phänomenologie  gelesen;  ich  habe 
nicht  die  Spur  von  dem  vergessen,  was  ich  dabei  gelernt  habe,  sondern 
nur  noch  einiges  dazu  gelernt)  ein  nur  theoretischer  Atheist  war,  so 
bin  ich  es  durch  das  Leben  imd  meinen  Aufenthalt  in  Paris  praktisch 
geworden.  Wie  ich  das  Lossagen  betrachte  und  wie  ich  es  gemeint 
hatte,  so  hattest  Du  Dich  faktisch  von  mir  losgesagt,  mit  andern  Worten, 
Du  schienst  vergessen  zu  haben,  daß  ich  ein  freier  Mann  bin,  der  durch 
die  Substanz  des  Wissens  an  Dich  gebimden  ist  imd  nicht  durch  eine 
bewußtlose  Empfindimg,  der  es  Dir  vorhergesagt  hat,  er  werde  seine 
äußeren  und  inneren  Kräfte  Dir  zu  Gebote  stellen,  weil  Dein  Wissen, 
Deine  Einsicht  ihm  weiter  zu  sein  schien  als  die  seinige,  obgleich  er 
sich  für  sich  keinen  weiteren  Vorteil  davon  verspreche,  weil  es  in  der 
menschhchen  Natur  liege,  das  Werkzeug  nicht  als  das  sich  Gleiche 
zu   betrachten,   sondern  eben  nur  als  brauchbaren  Stoff.    Jetzt,  wo 


^)  Siehe  oben  Brief  Nr.  loo. 


=  323  = 

Du  in  Deinem  Briefe  wenigstens  nicht  mehr  ewige  Dankbarkeit  von  mir 
der  Gräfin  gegenüber  verlangst  (weil,  wie  Du  selbst  sagst,  sie  mit  einer 
bis  zum  Wahnsinn  gehenden  Verschwendung  zehntausend  Mittel  in 
Bewegung  gesetzt  hat,  die  nichts  helfen  konnten,  ein  Verfahren,  worin 
ich  eben  weiter  nichts  sehen  kann,  als  große  Neigung  für  Dich  imd 
Nichtachtung  des  Geldes,  vielleicht  noch  einige  Ungeschicklichkeit,  die 
richtigen  Mittel  zu  wählen),  jetzt  bist  Du  mir  wieder  verständig  genug, 
um  mir  selbst  das  Zeugnis  ausstellen  zu  können,  daß  ich  mein  Wort 
gehalten  habe.  Wer  hat  Dich  aber  berechtigt,  mir  nach  allem,  was 
ich  getan  habe,  zu  sagen,  zur  Liebe  könntest  Du  mich  freilich  nicht 
zwingen,  ich  möchte  Dir  doch  Ausweis  über  die  Diamanten  geben,  in 
einem  Augenblicke  das  zu  sagen,  wo  ich  den  jungen  Grün  gewonnen 
hatte,  der  Gräfin  zur  Seite  zu  stehen  und  ihr  etwas  rechnen  zu  helfen 
(für  große  Rechenmeister  werdet  Ihr  Euch  doch  beide  nicht  halten 
wollen,  Du  wenigstens  hast  mir  in  Paris  einige  eklatante  Beweise  davon 
geliefert),  wer  hat  Dich  berechtigt,  mich  ohne  meine  Zustimmung  auf 
Ration  zu  setzen  und  mir  zu  schreiben:  Hier  hast  Du  25  Rt.,  den  6.  Juni 
erhältst  Du  wieder  25  Rt.  usf.  (wörtlich  aus  Deinem  letzten,  verzeih' 
mir  den  Ausdruck,  liederhchen  Brief),  während  ich  gar  nicht  mehr  weiß, 
warum  ich  nicht  so  schnell  als  möglich  nach  Köln  gehen  soll,  was  ich 
bisher  nur  immer  aufgeschoben  habe,  weil  Du  glaubtest,  es  würde 
hierdurch  eine  Gefahr  für  Dich  entstehen,  die  doch  nun  aber  gänzlich 
vorüber  ist?  Nein,  mein  Lieber,  Du  hast  mir  gar  nichts  zu  verzeihen, 
wie  Du  in  Deinem  letzten  Brief  Miene  machst,  es  zu  tun,  wohl  aber 
habe  ich  Dir  manche  Nachlässigkeit  in  bezug  auf  mich  und  meine 
Angelegenheiten  zu  vergeben,  was  ich  gern  tun  werde,  wenn  ich  nur 
wenigstens  Geld  genug  hätte,  hier  fortzukommen,  wenn  ich  nur  über- 
haupt wieder  zu  meinen  Personalpapieren,  die  mir  höchst  wichtig  sind 
und  um  deren  Besorgung  ich  Dich  jetzt  neun  Monate  vergeblich  bitte, 
kommen  kann.  A  propos  de  ces  moutons.  Du  mußt  doch  wissen,  wo 
Du  den  Koffer  damals  aufgegeben  hast,  als  Du  ihn  mir  nach  Brüssel 
nachschicktest;  hier  ist  er  nicht,  und  ich  f ordre  Dich  daher  noch  ein- 
mal auf.  Dich  dort,  wo  er  aufgegeben  worden  ist,  danach  zu  erkimdigen, 
vmd  wenn  er  nicht  da  ist,  ihm  einen  Laufzettel  nach  Brüssel  nachzu- 
senden, damit  ich  ihn  wiedererhalte.  Hörst  Du,  ich  verlange  diesen 
kleinen  ,, äußern  Beweis  Deiner  innern  Teilnahme";  um  den  ich  so 
lange  imd  so  oft  vergebhch  gebeten  habe.  Daß  Du  mir  schreibst,  , .viel- 
leicht" komme  ich  nächstens  mal  zu  Dir,  hat  mich  auch  geärgert,  daß 
Du  noch  nicht  gekommen  bist  und  dies  , .vielleicht"  ^)  schmeckt,  wenn 
Du  es  nicht  übel  nimmst,   etwas  stark  nach  dem  Generalbevollmäch- 


^)  Siehe  oben   Brief  Nr.  100. 


—  ^=^  324  — 

tigten,  den  der  Teufel  holen  soll,  wenn  er  nicht  „gewiß"  und  „alsbald" 
mir  entweder  Geld  schickt,  daß  ich  nach  Köln  gehen  kann,  oder,  was 
mir  noch  lieber  wäre,  mir  das  besagte  Geld  bald  brächte,  denn  die 
beiden  Unterbevollmächtigten  ^)  imd  verschiedne  andre  Bevollmäch- 
tigte sind  hinsichtlich  ihres  Geldbeutels  höchst  ohnmächtig  geworden. 
Wie  Teufel  kommst  Du  nur  plötzlich  darauf,  den  Grafen  Clemens 2)  zu 
schonen  und  mir  in  obbesagtem,  wie  ich  ihn  nenne,  liederlichem  Brief 
zu  schreiben,  alles  müsse  seine  Grenzen  (Du  und  Grenzen)  haben, 
wenn  er  der  Gräfin  10  000  Rt.  geborgt  habe,  so  folge  noch  nicht,  daß 
er  wieder  10  000  Rt.  borgen  werde  usf.  i.  a  oder  aleph,  wie  Du 
sagst,  wenn  Du  höchst  gründlich  widerlegst,  habe  ich  durchaus  nicht 
behauptet,  daß  die  Gräfin  immer  bloß  10  000  Rt.  vom  Grafen  Clemens 
borgen  kann,  denn  10  000  Rt.  sind  nach  Adam  Riese  10  mal  looo  Rt. 
2.  ß  oder  beth  steht  die  Sache  grade  so,  daß,  wenn  er  10  000  Rt. 
geborgt  hat,  er  grade  deshalb  gern  mehr  borgt.  Geh'  mir,  ich  will 
zu  Bett  gehn,  sonst  wollt'  ich  Dir  beweisen,  daß  der  Generalbevoll- 
mächtigte entweder  außer  den  Grenzen,  die  er  kennen  gelernt  hat, 
selber  etwas  begrenzt,  um  nicht  zu  sagen  beschränkt  geworden  ist  oder 
daJ3  er  andre  Leute  für  zu  beschränkt  hält,  wenn  er  meint,  sie  ver- 
ständen die  Sache  nicht  wenigstens  ebenso  wie  er.^) 


103. 
KARI.  GRÜN  AN  I.ASSAI.I.E.     (Original.) 

Brüssel,  25.  Mai  47. 

Lieber  Lassalle! 

Deinen  Brief  habe  ich  vorgestern  abend  erhalten  und  will  es  vor- 
läufig machen  wie  Du,  das  heißt,  ich  will  unpraktische  Erörterungen 
beiseite  lassen.  Wenn  Du  aber  in  Deinem  Briefe  an  den  Doktor,*) 
den  ich  doch  hoffenthch  lesen  darf,  wieder  von  , .Vorwürfen  sprichst, 
die  ich  reichhch  verdient",^)  so  muß  ich  das  allen  Ernstes  zurückweisen, 
denn  ich  habe  auch  nicht  noch  den  leisesten  verdient.  Ich  weiß  immer 
zu  genau,  warum  ich  etwas  tue.  Und  Du  mußt  Dir  schlechterdings  das 
Befehlen  etwas  abgewöhnen  und  nicht  immer  Lob  und  Tadel  austeilen 
wollen.    Ich  kann  Dir  die  ruhige  Versicherung  geben,  es  ist  gut  für 

^)  Mendelssohn  und  Karl  Grün. 

2)  Graf  Clemens  von  Westphalen. 

^)  Auch  dieser  Brief  ist  nicht  unterzeichnet. 

')  Arnold  Mendelssohn. 

^)  Siehe  oben  Brief  Nr.  100. 


—  ==  325  -==^ 

Dich,  daß  Du  Freunde  hast,  die  in  der  Welt  auch  noch  etwas  anderes 
sehn  als  den  Grafen  H.  Dieser  letztere  wird  dadurch  nur  um  so  sicherer 
niiniert. 

Was  nun  die  Sache  betrifft,  d.  h.  die  „endliche"  Broschüre,  die 
höchst  wahrscheinlich  ziemlich  miendlich  ausfallen  dürfte,  so  wird 
sie  bereits  in  diesem  Augenblicke  disponiert  und  im  Kopfe  zurecht- 
gelegt. Das  Schreiben  muß  das  wenigste  werden.  Hier  in  Brüssel 
bin  ich  aber  nicht  in  der  Stimmimg,  sie  zu  schreiben,  sondern  ich  bin 
verstimmt  und  körperhch  leidend.  Mein  kleiner  Junge  ist  bei  mir, 
tmd  so  viele  Freude  er  mir  macht,  so  hindert  er  mich,  bei  meiner  hiesigen 
Gar^oneinrichtung  an  jeder  größeren  Arbeit.  Ich  kann  nur  die  Jour- 
nahstik  besorgen.  In  diesen  Tagen  ziehe  ich  nach  lyüttich,  miete 
mich  dort  sommerlich  ein,  schaffe  dem  Jungen  eine  Wärterin  an  und 
tue  dann  nichts  anderes  als  die  Broschüre  schreiben.  Du  wirst  so  ge- 
fällig sein  und  so  einsichtig,  zu  bedenken,  in  welchem  Derangement  ich 
mich  befinde,  imd  welche  gar  nicht  mit  Geld  zu  erkaufende  Bequem- 
lichkeiten mir  abgehen.  Hierfür,  aber  auch  nur  hierfür,  d.  h.  von  dem 
Augenblick  an,  wo  ich  schreiben  will,  muß  ich  um  Deine  Nachsicht 
bitten,  denn  sonst  hast  Du  allerdings  recht,  bei  gutem  Winde  und 
flotter  Fahrt  legt  man  diesen  Weg  in  drei  Nächten  zurück.  Von  Lüttich 
werde  ich  Dir  sofort  meine  Adresse  schicken  imd  hoffe,  daß  Du  mich 
dort  besuchst.  Über  den  Druckort  müssen  wir  uns  verständigen,  denn 
Belgien  ist  mein  letztes  Ivuftlocb,  das  ich  mir  in  keiner  Weise  ver- 
stopfen will.  Ich  halte,  wie  Du  früher,  Mannheim  für  den  besten  Ort, 
und  T.  P.  Grohe  [?]  übernimmt  den  Druck  gewiß,  da  er  Absatz  zu 
hoffen  hat  und  ich  wenigstens  direkt  kein  Honorar  verlange.  Über 
alles  das  haben  wir  tms  zu  bereden. 

Da  ich  nun  vermute,  dieser  Brief  trifft  Dich  noch  in  Berlin,  so 
habe  ich  eine  Bitte  an  Dich,  die  Dir  nicht  mit  dem  frivolen  Undank 
Heines  vergolten  wird.  Ich  muß  nämlich  absolut  wissen,  wie  ich  mit 
den  Preußen  stehe,  ob  und  was  sie  gegen  mich  haben,  ob  ich  irgend 
beunruhigt  werde,  falls  ich  nach  der  Heimat  zurückkehre.  Oder,  um 
mich  in  Deinem  kategorischen  Stile  auszudrücken  tmd  im  Stile  des 
,, Vertrauens",  welches  meine  Frau  zu  Dir  hat:  Mach'  mir  die  Rückkehr 
nach  Preußen  möglich,  ohne  Gefahr.  Du  kannst  ja  alles,  was  Du  ordent- 
lich willst,  also  wolle  ordenthch !  Du  darfst  mir  aber  nicht  vorschützen. 
Du  habest  jetzt  zu  viel  anderes  zu  tim,  denn  dann  willst  Du  nicht 
ordentlich,  und  Du  darfst  kein  halbes  Werk  tun,  das  mich  zwischen 
Tür  und  Angel  läßt,  denn  das  heißt  nicht  wollen.  Wie  mich  dünkt, 
treten  in  diesem  Augenbhcke  gewiß  mildere  Observanzen  ein,  tmd  wenn 
etwas  gegen  mich  im  Schilde  geführt  werden  sollte,  würde  man  es 
sicherlich  auf  einige  Fürsprache  herausnehmen.    Siehst  Du,  Freund, 


—  —  326  =============^=^ 

das  ist  der  erste  Fall,  wo  ich  keine  abschlägige  Antwort  mehr  haben 
soll.     Wir  wollen  sehen. 

Femer:  So  sehr  mich  Deine  desolaten  Kostenzustände  dauern, 
imd  so  sehr  ich  weiß,  was  es  heißt,  kein  Geld  haben,  so  bin  ich  doch 
in  großer  Verlegenheit,  wo  ich  anders  Mittel  herbekommen  soll  als 
von  Dir.  Mein  Pariser  Budget  läuft  noch  einige  Wochen  fort,  nun  muß 
ich  in  Lüttich  mieten,  das  Notdürftigste  kaufen  und  leben.  Dieses 
Extraordinaire,  wie  in  der  französischen  Finanz  die  außerordentlichen 
Kredite  heißen,  weiß  ich  nicht  zu  beschaffen,  da  ich  meine  Quartal- 
gelder erst  Ende  Juni  beziehe  und  die  ordentlichen  Steuern  auch  nur 
die  ordentlichen  Ausgaben  decken.  Kannst  Du  mir  helfen,  so  schicke 
mir  poste  restante  nach  Lüttich,  so  weit  denke  ich  noch  zu  kommen. 
Bemerken  muß  ich  Dir  dabei,  daß  ich  in  diesem  Augenblick  den  Posten 
von  100  Rt.  empfindlich  spüre,  denn  der  könnte  mir  grade  helfen. 
Aber  wie  Du  mit  außerordentlicher  ökonomischer  Schärfe  sagst:  Die 
Summen,  die  ich  ausgegeben,  habe  ich  nicht  mehr.  Und  doch  beruht 
auf  diesem  Satze  das  sittliche  Weltgebäude. 

In  Doktors  Briefe  sprichst  Du  vom  „frommen  Glauben  der  Völker", 
darüber  werde  ich  Dich  einmal  später  examinieren.  Der  fromme  Glaube 
der  Völker  ist  nicht  die  Gerechtigkeit,  die  wir  wollen,  und  wenn  Du 
Dich  nur  auf  den  frommen  Glauben  der  Völker  stützst,  so  bist  Du 
verloren.  Jeder  Sieg  im  Reiche  des  Geistes  besteht  darin,  daß  man 
den  linken  Fuß  auf  den  frommen  Glauben  der  Völker  setzt  und  den 
rechten  auf  das  unfromme  Eiland  der  Zukunft.  Bleibt  man  zu  weit 
auf  dem  frommen  Glauben  der  Väter  stehen,  so  springt  man  ins  Wasser. 
Will  man  gar  nicht  darauf  stehen,  so  fällt  man  wieder  hinein.  Aber 
den  Arm  der  Könige  bewaffne  Du  nur,  denn  der  liegt  sonst  müßig; 
weißt  Du  die  Zivilhsten  zu  exploitieren,  so  verminderst  Du  die  Un- 
produktiven, und  das  ist  die  Aufgabe  der  Weltgeschichte. 

Lebe  mir  wohl,  wie  Du  zu  sagen  pflegst,  und  mach'  Deine  Sachen 
ordenüich.  Da  ich  nicht  beten  kann,  so  will  ich  so  lange  fluchen,  bis 
Du  reüssierst. 

Dein  Freund. 

104. 

LASSALLE  AN  ARNOLD  MENDELSSOHN.    (Original.) 

[Anfang  Juni  1847.] 
Lieber  Doktor! 

Ich  schicke  Dir  hier  inhegend  25  Rt.,  einige  Tage  nach  der  An- 
kunft Deines  Briefes  (acht  bis  zehn  Tage)  bin  ich  hier  angekommen;  die 
Sendimg  ist  noch  verspätet  worden,  weil  Cötgen  sie  übernehmen  wollte. 


=  327  — 

Ich  bin  mit  deu  schriftlichen  Arbeiten,  Materialzusammenstellungen 
und  Exposes  für  die  Ehescheidungssache  (fin  de  non  recevoir,  Gegen- 
klage, Denkschriften  etc.)  so  fürchterlich  überhäuft,  daß  ich  Tag 
und  Nacht  zu  Hilfe  nehmen  muß,  sonst  hätte  ich  Dir  mehres  ge- 
schrieben ;  es  ist  jetzt  hohe  Zeit,  daß  Du  endlich  wieder  nach  Deutsch- 
land zurückkehrst,  ich  warte  nur  ab,  die  Ausarbeitungen  für  die  Klage 
fertigzumachen,  um  nach  lyüttich  zu  kommen  und  mit  Dir  nach  vor- 
her erfolgter  Anzeige  an  den  Generalprokurator  zurückzukehren;  ich 
muß  abwarten,  die  Ausarbeitungen  beendigt  zu  haben,  damit  ich 
alsdann  während  Deiner  Haft  meine  Tätigkeit  voll  und  ungeteilt  Dir 
widmen  kann,  —  Wenn  Du  fragst:  ,,Wer  gibt  Dir  das  Recht,  mich  auf 
ein  Fixum  (25  Rt.  per  Monat)  zu  setzen?"^)  so  ist  Deine  Frage  schon 
ein  Irrtum.  Ich  habe  Dich  nicht  darauf  gesetzt,  sondern  niemand 
anders  als  die  drayurj.^)  Nur  den  Zahlenausdruck  der  Notwendigkeit  zu 
finden  war  meine  Sache,  und  natürlich  meine  allein,  da  das  Material 
dazu,  Budget,  Einnahme,  Ausgabe  mir  allein,  nicht  Dir  bekannt  ist, 
ich  also  nur  die  Zahl  ermitteln  konnte.  Daß  sie  vorläufig  unsre  Ver- 
hältnisse noch  übersteigt,  werde  ich  Dir  mündhch  ausrechnen  können.  — 
Wir  haben  neulich  (d.h.  die  Gräfin)  einen  groi^n  Ärger  gehabt. 
Der  junge  Grün,^)  dem  die  Gräfin  rein  aus  Erkenntlichkeit  gegen  seineu 
Bruder  einen  ihr  sehr  schwer  ankommenden  Dienst  erwiesen,  hat  ihr 
neulich  in  meiner  Abwesenheit  aus  heiler  Haut  einen  sehr  groben  Brief 
geschrieben,  worin  er  ihr  ankündigt,  ,,daß  er  kein  Interesse  für  ihre 
Sache  mehr  haben  könne".  Als  hätte  mau  ihn  drum  gebeten!  Damit 
aber  nicht  genug,  hat  er  die  Sache  bis  zu  der  Infamie  getrieben,  mehre 
sehr  unangenehme  Dinge  herumzuplaudem.  Ich  weiß  nicht,  was  ich 
davon  denken  soll.  Es  hatte  kein  Mensch  ihm  etwas  getan.  Cötgen 
ist  wütend  auf  ihn,  er  behauptet,  er  habe  es  aus  Ärger  getan,  daß  wir 
ihm  nicht  die  Rolle  gegeben.  Das  wäre  doch  zu  kleinlich.  Ich  würde 
mehres  über  die  Sache  geschrieben  haben,  wenn  nicht  Cötgen  Euch 
spräche,  der  Euch  seinen  Unwillen  mündlich  äußern  wird  über  dies 
fabelhafte  Betragen.  Grüße  C.  Grün  und  leb  wohl.  Der  Stockum  *) 
hat  Wind,  daß  die  Diamanten  versetzt  sind.  Ich  werde  in  kürzester 
Zeit  sie  einlösen  müssen  schon  deswegen,  und  dann  um  sie  zu  verkaufen. 
Schreibe  mir,  ob  Du  gegen  Sendung  von  250  Rt.  sie  sofort  erhalten 

^)  Siehe  oben  Brief  Nr.  102. 

2)  Notwendigkeit. 

3)  Albert  Grün  (geb.  1822),  ein  Bruder  Carl  Grüns,  später  als  Dichter  und 
ästhetischer  Schriftsteller  bekannt. 

*)  Der  Kaufmann  von  Stockum  in  Düsseldorf,  der  Geschäftsführer  des  Grafen 
Hatzfeldt.  In  seiner  Verteidigungsrede  im  Kassettenprozeß  nennt  lyassalle  ihn 
„diesen  Hauptmann  einer  organisierten  Zeugenbestecherbande".  Auch  Graf  von 
Westphalen  beurteilte  ihn  imgünstig. 


=  328  = 

und  zurückschicken  kannst.  Die  Nachforschungen  nach  dem  Koffer 
sind  bisher  vergeblich  gewesen.  Ich  begreife  die  Sache  nicht,  werde 
nächstens  selbst  nach  Bonn  gehen.    Teile  mir  Deine  Adresse  mit 

Dein  F. 

105. 

IvASSAIvLE  AN  ARNOLD  MENDELSSOHN.    (Original.) 

[Juni  1847.3 
Lieber  Doktor! 

Es  tut  mir  sehr  leid,  daß  Dich  Cötgen  neulich  nicht  getroffen  hat; 
ich  hatte  ihm  einen  kurzen  Brief  für  Dich  imd  25  Rt.  übergeben;  die 
25  Rt.  ließ  er  bei  Grün  zurück,  den  Brief  brachte  er  mir  wieder.  —  Ich 
empfinde  oft  großes  Bedürfnis,  Dich  zu  sehen,  imd  sehne  mich  recht 
danach,  Dich  mal  wieder  zu  haben,  sollte  Dir  dies  allerdings  nicht 
schreiben,  da  Du  mir  wieder  wie  neulich  entgegnen  könntest,  daß  dies 
Sentimentalität  sei.  —  Eben  machte  ich  wieder  eine  neue  Demarche 
wegen  Deines  Koffers.  —  Ich  wünschte.  Du  könntest  hier  sein  imd 
sehen,  wie  sich  der  Graf  im  großen  und  kleinen  täglich  blamiert  imd 
alles  zu  seinem  Nachteil  ausschlägt.  Unsre  Angelegenheiten  sind  in 
bisher  imerhörter  Blüte.  leider  ist  es  unmöglich,  zugleich  zu  handeln 
und  auch  der  Historiker  seiner  eignen  Taten  zu  sein,  sonst  würde  ich 
Dir  ausführlich  schreiben.  Es  ist  jetzt  gewiß,  daß  auch  das  letzte 
Schwert,  die  Ehescheidungsklage,  dem  Grafen  aus  der  Hand  geschlagen 
wird,  es  ist  gewiß,  daß  wir  herausstellen  können,  daß  er  als  Standes- 
herr nie  irgendwo  anders  domiziliert  gewesen  sei,  noch  sich  domizilieren 
darf  als  zu  Schönstein.  Dann  kann  er  die  Ehescheidimgsklage  nicht 
anstellen,  weil  sie  nach  gemeinem  Recht  nicht  recevabel  ist,  dann 
gelten  auch  die  kurkölnischen  Bestimmungen  über  Gütergemein- 
schaft, imd  es  ist  damit  auch  fürs  Vermögen  eine  Million  gewonnen. 
Wir  haben  jetzt  Wind  und  Wellen  für  uns.  Quälten  ihn  früher  die 
Zeitungen,  so  lassen  wir  dieses  geringere  Oualmittel  jetzt  aus  Über- 
häufung mit  Geschäften  weniger  angebaut  und  quälen  ihn  mit  realen 
Quälereien.  In  vier  Wochen  wird  er  fürchterlich  bezahlen  müssen, 
Geld,  wirkliches  Geld.    Dann  kommen   auch  für  Dich  bessere  Zeiten. 

Cötgen  erzählt  mir  die  fürchterlichsten  und  gemeinsten  Dinge  über 
Albert  Grün ;  er  sagt,  er  mache  sich  ein  Geschäft  daraus,  die  empörend- 
sten Lügen  über  uns  in  die  Welt  zu  setzen,  weil  wir  ihn  nicht  engagiert 
haben.  Er  sei  schon  vor  Monaten  zu  ihm  (Adam)  gekommen  und  hätte 
von  der  Gräfin  600  Rt.  haben  wollen!  Ist  der  Kerl  verrückt?  —  Aber 
solche  Niedrigkeiten  wie  Cötgen,  dem  man  doch  glauben  kann,  sie 
mir  erzählt,  verstimmen  mich,  wenn  sie  von  einer  Seite  herkommen. 


=^-=^  329  --  == 

von  der  man  sie  nicht  erwartet.  Auch  über  Carl  Grün  bin  ich  etwas 
empfindlich;  schrieb  er  doch  Cötgen  gleich,  er  solle  zu  ihm  kommen, 
um  sich  zu  beraten,  wie  sie  ihre  Ehre  reinhalten;  hat  also  den  Ver- 
leumdungen seines  Bruders  bereitwillig  Glauben  geschenkt;  auch  von 
Dir  wimdert  mich,  daß  Du  nach  alledem  mit  einem  Menschen  dieser 
Art,  der  solche  Gemeinheiten  über  uns  verbreitet,  so  vertraut  Freund 
sein  kannst. 

Adieu,  leb  wohl,  ich  hol'  Dich  nächstens. 

Dein  Ferdinand. 

106. 

ARNOLD  jVIENDELSSOHN  AN  DIE  GRÄFIN  HATZFELDT. 
(Original.) 

Arresthaus,  d.  8.  Juli  [1847].^) 

Madame !  (Seit  ich  in  Paris  war,  nenne  ich  Sie  noch  lieber  nur  so, 
als  mit  einem  andern  Ihrer  hundert  Titel.)  Erlauben  Sie  mir,  Ihnen 
einen  guten  Abend  zu  wünschen  und  etwas  mit  Ihnen  zu  plaudern; 
ich  küsse  Ihre  schöne  Hand,  die  etwas  abgemagert  ist  seit  der  Zeit, 
wo  ich  sie  nicht  berührt  habe  und  beginne  eine  Rede  über  den  Zaun 
der  Zähne  zu  schicken,  welche  lautet  wie  folgt: 

Ich  weiß  nicht,  ob  Ihr  Generalbevollmächtigter,  mein  ehemaliger 
Freund  I,.,  Ihnen  den  Brief,  den  er  aus  Brüssel  von  mir  erhalten,  ge- 
zeigt hat,  ebensowenig  weiß  ich,  ob  Sie  seine  Antwort,  welche  ich  durch 
Grün  in  Lüttich  erhielt,  gesehen  haben  —  wenn  dies  aber  beides  der 
Fall  war,  so  nehme  ich  mir  die  Freiheit,  Ihnen  zu  sagen,  daß  es  grau- 
sam von  Ihnen  gewesen  ist,  diesen  Brief  abgehen  zu  lassen,  weil  weder 
Sie  noch  L.  den  geistigen  Prozeß  kennen,  der  in  mir  vorgegangen  ist, 
seit  ich  nicht  das  Glück  hatte,  Sie  zu  sprechen,  und  weil  Sie  daher 
nicht  wissen,  wie  unempfindlich  ich  gegen  die  Grobheiten  unseres 
Freundes  L.  geworden  bin;  wenn  ich  nicht,  wie  ich  es  durch  meine 
Erfahrimgen  jetzt  wirklich  bin,  der  reine  Verstand,  der  wandelnde 
Tod  wäre,  so  hätte  mich  dieser  Brief  tief  geschmerzt,  und  ich  habe  es 
nicht  verdient,  daß  Sie  mir  Schmerz  bereiten,  wenn  Sie  es  irgendwie 
vermeiden  können. 

Daß  ich  mit  L.s  Handlimgsweise  nicht  mehr  übereinstimme,  habe 
ich  schon  lange  gewußt,  habe  es  ihm  auch  in  meinen  Briefen  gesagt. 

1)  Mendelssohn  hatte  sich  in  der  Hoffnung,  die  dann  so  bitter  enttäuscht 
wurde,  daß  er  nur  kurze  Zeit  im  Gefängnis  bleiben  und  bald  freigesprochen  sein 
werde,  dem  Gericht  gestellt.  Vgl.  darüber  u.  a.  I,assalles  „Manuskriptbrief"  an 
Sophie  Sontzeff  in  ,,Eine  l4ebes-Episode  aus  dem  Leben  Ferdinand  Lassallci", 
Leipzig  1878,  S.  57. 


=  330  ^  = 

Er  hat  aber  keine  Zeit  gehabt,  dieselben  zu  lesen  oder  zu  verstehen, 
und  so  ist  er  denn  sehr  erstaunt,  den  Fuchs,  den  er  früher  so  gehänselt 
hat,  ganz  resolut  und  wacker  wiederkommen  zu  sehen.  Ich  weiß  aber 
auch,  so  sehr  verständig  bin  ich  geworden,  daß  dies  weiter  nichts  be- 
deutet, als  daß  wir  uns  eben  lange  nicht  gesehen  und  gesprochen  haben, 
daß  der  eingetretene  Zwiespalt  sich  heben  muß  und  wird.  Wenn  Sie 
aber  jenen  Brief  gelesen  haben,  so  müssen  Sie  einen  Mann,  der  der- 
gleichen von  einem  anderen  erträgt,  verachten,  imd  wenn  Sie  mich 
früher  für  einen  Schwächling  gehalten  haben,  der  zu  allem,  was  jener 
will,  ja  sagt,  so  muß  ich  Ihnen  jetzt,  wo  ich  nicht  ja  sage  und  dennoch 
eine  solche  Behandlung  ertrage,  in  einem  noch  schlimmeren  lyichte  er- 
scheinen; dies  leide  ich  aber  nicht,  und  da  Sie  mir  nicht  haben  das 
Glück  zuteil  werden  lassen,  Ihnen  mein  Buch  vorzulesen,^)  so  werde 
ich  Ihnen  diesen  Brief  schreiben.  ly.  muß  ihn  vorlesen,  Sie,  Adam*) 
und  Paul  müssen  bei  einer  Flasche  Champagner  sitzen  imd  zuhören, 
dies  ist  mein  , .letzter  Wille". 

Also,  wie  der  alte  Hegel  zu  beginnen  pflegte,  • — jener  selbige  ly.  sagte 
mir  den  letzten  Abend  vor  meiner  Gefangenschaft,  ,,er  könne  nicht 
mehr  mit  mir  umgehen,  weil  ich  roh  und  vmgebildet  geworden  wäre", 
ich  erwiderte  ihm,  ,,daß  er  mit  mir  nicht  umzugehen  gezwungen  sei, 
wenn  er  nicht  wolle",  da  ich  wußte,  daß  die  Sache  nicht  so  ernstlich 
war,  als  sie  aussah.  Meine  Roheit  bestand  nämlich  darin,  daß,  als  er 
mit  seinem  gewohnten  Ungestüm,  mit  welchen  er  die  Menschen  wie  die 
Pferde  reitet,  von  mir  forderte,  ich  soUe  mit  ihm  zu  Ihnen  gehen,  ich 
erwiderte:  Nein,  ich  will  nicht;  was  soll  ich  auch  jetzt  bei  der  Frau; 
wenn  ich  frei  sein  werde,  komme  ich.  Da  diese  Roheit  der  letzte  Vor- 
wurf ist,  den  ich  erhalten  habe,  so  will  ich  mit  ihr  anfangen,  und  in 
diesem  Briefe  zeigen,  daß  ich  der  geistreiche  Rameau  bin,  obgleich 
ich  nicht  mehr  der  Zerrissene  bin,  wie  jener  es  war,  daß  ich  so  geist- 
reich bin,  daß  ich  von  Ihnen  und  von  L.  weiß,  daß  Sie  nicht  bloß 
die  Gräfin  Sophie  von  Hatzfeldt-Kinsweiler  tmd  er  Ihr  Generalbevoll- 
mächtigter ist,  sondern  daß  Sie  beide  auch  Menschen  und  daher,  wenn 
der  geistreiche  Rameau  will,  gezwungen  sind,  die  lyeiterder  Gefühle, 
die  er  hat,  mit  ihm  emporzuklettem,  weil,  wie  der  Esel  von  Tasso  sagt: 

Ein  Gott  mir  gab,  zu  sagen,  wie  ich  leide, 

freilich  ist  dazu  auch  notwendig,  daß  Sie  hören,  was  ich  sage,  deshalb 
mein  obiger  ,, letzter  Wille";  auch  dieser  Brauer  Adam  schmeichelt 
sich,  ein  Mensch  zu  sein,  und  was  der  Graf  Paul  noch  nicht  ist,  das  soll 
er  im  Umgang  mit  mir  schon  noch  werden,  denn  nur  der  lycbende  hat 

^)  Das  Manviskript  Mendelssohns  befindet  sich   nicht   im  Nachlaß  Lassalles. 
")  Adam  Cötgen. 


=====  o^J-   — 

Recht.  Gelingt  es  mir,  in  Ihnen  allen  Mitgefühl  zu  erregen,  so  wird  der 
grobe  ly.  nachher  zugeben  müssen,  daß  ich  nicht  roh  und  ungebildet, 
sondern  ein  geistreicher  und  freier  Mensch  bin,  wenn  ich  auch  vor- 
läufig im  Pütz  am  Klüngel  ^)  sitze. 

Ich  habe  hier  Augenblicke,  von  denen  ich  glaubte,  daß  sie  bei  mir 
nicht  mehr  möglich  wären,  Augenblicke,  wo  ich  Euch  alle,  die  Ihr  das 
Menschenantlitz  tragt,  hasse,  dies  Geschlecht,  welches  die  Ägypter 
in  dem  Symbol  der  Sphynx  so  tief  aufgefaßt  imd  dargestellt  haben, 
daß  es  heute  noch  wahr  ist.  Ja,  Ihr  tragt  alle  das  menschhche  Antlitz, 
Ihr  habt  aber  Ivöwenklauen,  mit  denen  Ihr  Euch  gegenseitig  die  Ein- 
geweide aus  dem  Leibe  reißt;  Ihr  nennt  Euch  Menschen,  tmd  weil  Ihr 
nicht  wißt,  was  das  ist,  weil  Ihr  nicht  verständig  seid,  sondern 
den  Gott  oder  die  Bestie,  die  in  Euch  sitzt,  frei  schalten  und  walten  laßt, 
weil  Ihr  Eurer  Empfindung  folgt,  ohne  zu  bedenken,  was  Ihr  tut, 
tretet  Ihr  Euch  gegenseitig  zu  Boden,  traut  Ihr  Euch  kaum  so  weit, 
als  Ihr  Euch  sehen  tmd  beobachten  könnt.  Ja,  Ihr  seid  gezwungen, 
einen  Menschen  wie  mich  in  den  Pütz  am  Klüngel  zu  bringen  und  ihn 
wie  einen  Mönch  des  Mittelalters  in  einsamer  Zelle  mit  tausendfacher 
Todespein  zu  quälen;  pfui  über  Euch!  Hier  sitze  ich  mm,  xmter  mir 
■wird  geklopft,  ich  weiß  nicht  was,  aber  jeder  Schlag  scheint  mir  von 
der  Decke  herunter  auf  meinen  Kopf  geführt  zu  werden;  draußen 
sägen  sie  Bretter,  vmd  jeder  Strich  der  Säge  scheint  mir  durch  meinen 
armen  Schädel  zu  gehen,  auf  dem  Gange  wird  gescheuert  und  der 
Kerkermeister  klappert  mit  seinen  Schlüsseln  umher.  Wenn  ich  nicht 
ein  verständiger  Mann  wäre,  so  würde  ich  hier  eine  wilde  reißende 
Bestie,  ja  es  gibt  Momente,  wo  ich  es  wirklich  bin  tmd  den  Inspektor, 
den  dümmsten  Menschen,  den  ich  seit  langer  Zeit  gesehen  habe, 
sehr  übel  behandeln  würde,  wenn  das  Tier  in  mir  nicht  so  sehr  ge- 
bändigt wäre,  als  es  der  Fall  ist;  Adam  kam  neulich  in  einem  solchen 
Moment  zu  mir,  wenn  ich  nur  an  ihn  gekonnt  hätte,  ich  hätte  ihn  jämmer- 
lich durchgeholzt,  denn  auch  dieser  alte  Adam  hat  ein  Menschen- 
gesicht, er  versteht  es  aber,  was  das  sagen  will,  wenn  ich  ihn  durch- 
holze, und  diesen  seinen  Verstand  würde  ich  stark  gemißbraucht  haben. 

Erlauben  Sie  mir,  um  von  diesem  tragischen  Gegenstand,  dem  Pütz 
am  Klüngel,  seinen  Schlössern  tmd  Riegeln  und  sonstigen  Annehmlich- 
keiten wegzukommen,  auf  einen  komischen  Gegenstand  überzugehen, 
der  sich  seit  einiger  Zeit  Ihren  Generalbevollmächtigten  nennt  imd  un- 
geheuer wild  und  großartig  gegen  mich  tut.  Dieser  Gegenstand  ist 
aber  mein  alter  Freund  L.,  vor  dem  ich  mich  nicht  im  mindesten  fürchte. 

^)  Das  Kölner  Gefängnis  befindet  sich  in  der  Straße  Klingelpütz.  Hier  stand 
früher  ein  Brunnen,  der  einem  gewissen  KUngehnann  gehörte.  (Nach  einer 
freundlichen  Mitteilung  Joseph  Hansens.) 


^ ==  332  — ■- 

wenn  er  selbst  bevollmächtigt  wäre,  eine  Generalsuniform  anzuziehen, 
was  doch  nicht  einmal  der  Fall  ist.  Damit  aber  dieser  Gegenstand 
nicht  zu  sehr  lache  und  vor  lauter  Lacheu  nicht  weiterlesen  könne, 
will  ich  ihn  sehr  ernst  anreden  imd  folgendermaßen  zu  ihm  sprechen: 
Herr  Generalbevollmächtigter  der  Frau  Gräfin,  fanatischer  Proprietär, 
langbeinige  Zikade,  gefräßige  Canaille!  Ich  will  Dir  einmal  einen 
kleinen  Spiegel  vorhalten,  damit  Du  Dir  nie  wieder  einfallen  läßt, 
mich  roh  oder  ungebildet  zu  nennen,  und  um  Dich  die  ganze  Wahrheit 
dessen,  was  ich  sagen  werde,  fühlen  zu  lassen,  werde  ich  ernst  beginnen 
und  nur  wieder  nach  und  nach  komisch  werden. 

Mein  Freund,  Du  vereinigst  in  Dir  drei  Persönlichkeiten  des  National- 
konvents ;  Du  bist  elegant  und  intrigant  wie  Tallien,^)  der  Bräutigam 
der  Gräfin  Sophie  Cabarrus,  Du  bist  nicht  ganz  so  liederhch,  aber  ebenso 
gefräßig  und  genußsüchtig  wie  Barere,  Du  bist  nicht  so  tugendhaft, 
aber  ebenso  grausam  imd  blutdürstig  wie  Robespierre,  imd  unwissend 
bist  Du,  wie  alle  drei  zusammengenommen.  Du  erhältst  von  mir  einen 
Brief,  in  welchem  ich  Dir  anzeige,  daß  ich  ein  Werk  geschrieben  habe, 
in  welchem  ich  die  tiefsten  philosophischen  Wahrheiten  gefunden  und 
in  einer  schönen  Form  dargestellt  habe,  daß  ich  in  der  geistigen  Vereini- 
gung mit  Goethe  und  Napoleon,  deren  Gespräch  in  der  Fensternische 
zu  Erfurt  ich  mitangehört  habe,  eine  Wollust  empfand,  die  mich  über- 
wältigte, so  daß  ich  ohnmächtig  vom  Stuhle  fiel,  eine  Wollust,  wie 
ich  sie  nie  in  den  Armen  eines  Weibes  gekannt  habe,  so  daß  ich  jenen 
Tag  zu  sterben  meinte  und  mich  erst  den  folgenden  Tag  durch  ein 
Brechmittel  so  weit  herstellte,  daß  ich  wieder  Lebensmut  bekam, 
Appetit  auf  verschiedne  Dinge,  die  ich  lange  entbehrt  habe ;  —  in  diesem 
ganzen  Brief,  den  ich  noch  in  der  vollen  Freude  der  vollbrachten  Zeugung 
an  Dich  schrieb,  der  sich  schmeicheln  darf,  mich  mit  Hegels  Philo- 
sophie bekanntgemacht  zu  haben,  Hesest  Du  nichts,  als  daß  ich  die 
Diamanten  der  Gräfin  verkauft  habe,  übersiehst  dabei,  daß  ich  sie  für 
ein  geringes  Zugeid  wiederkaufen,  wenigstens  ähnliche  bekommen  kann 
xmd  schreibst  mir,  ich  sei  ein  wahrer  Dieb,  ein  Narr,  ein  Esel  und  ein 
dummer  Junge ;  ich  weiß  nicht,  was  noch  weiter  vorgekommen  ist,  ich 
zerriß  den  Brief,  ehe  ich  ihn  ganz  gelesen  hatte,  weil  Grün  bei  mir 
war  und  ihn  nach  mir  lesen  wollte ;  denk'  einmal  darüber  nach  und  sage 
mir  dann,  was  aus  Dir  geworden  ist,  wohin  Du  absoluter  Philosoph  in 
der  Not  der  schweren  Zeit  oder  in  der  schweren  Not  der  Zeit  geraten 

^)  Jean  Lambert  Tallien  (1769 — 1820)  heiratete  die  Gräfin  Jeanne  Marie 
Therese  [nicht  Sophie]  Caban-us  (1775 — 1835)  nach  dem  Sturze  Robespierres, 
zu  dem  er  mitgewirkt  hatte.  Bardre  de  Vieuzac  (1755 — 1841),  Vorsitzender  des 
Konvents  beim  Prozeß  I<udwigs  XVI.,  nach  dem  Sturz  Robespierres  zur  Depor- 
tation verurteilt,  nach  dem  18.  Brumaire  amnestiert. 


=  333  ==^ 

bist!  Ist  das  vielleicht  die  Bildung,  die  mir  noch  abgeht,  daß  ich  nie  zu 
irgendeinem  Menschen,  am  wenigsten  zu  meinem  besten  Freunde,  so 
reden  konnte  oder  kann,  —  so  muß  ich  Dir  sagen,  daß  ich  mich  dafür 
bedanke,  so  gebildet  zu  werden,  ich  bleibe  lieber  so  roh,  wie  ich  es  bin. 
Weißt  Du,  daß  Da  nicht  einmal  so  f  rei  bist  wie  mein  Nachbar,  der  Rameau 
Kleine,^)  der  mich  so  liebgewonnen  hat,  daß  er  mir  am  zweiten  Tage 
meines  Hierseins  erklärte,  er  müsse  mich  bewachen,  er  sei  mein  Spion, 
der  am  ersten  Tage  mich  als  seinesgleichen,  als  einen  denkenden 
freien  Mann  erkannte,  der,  wie  er  sich  in  seiner  philosophischen  Un- 
schuld ausdrückt,  hundert  Stufen  über  ihm  stünde,  während  Du,  der 
Philosoph,  mich  für  wahnsinnig  erklärtest.  Rameau  Kleine  werde 
ich  befreien,  er  will  mein  Reitknecht  werden;  ich  habe  ihm  erklärt, 
daß  er  durchaus  nicht  mein  Einecht  sei,  wenn  ich  ihn  auch  bezahle, 
damit  er  mein  Pferd  besorge,  weil  er  dies  besser  versteht  als  ich,  welche 
Lehre  ihm  äußerst  gut  mundete,  so  sehr,  daß  er  in  der  Stube  herum- 
springend versicherte,  man  könne  gar  nicht  wissen,  was  er  noch  für 
Rosen  pflücken  werde. 

Hast  Du  denn  ganz  und  gar  vergessen,  daß  es  noch  etwas  anderes 
gibt  als  Geld  oder  Dinge,  die  man  für  Geld  haben  kann,  weißt  Du 
nicht  mehr,  daß  etwas  existiert,  was  man  den  menschhchen  Willen 
oder  meinetwegen  den  Geist  nennt,  etwas,  was  sich  nie  erkaufen  läßt, 
wenn  man  es  auch  bezahlen  kann  und  muß?  Weshalb  bin  ich  denn  so 
lange  mit  Dir  gegangen,  warum  habe  ich  denn  alles  ertragen,  was  Du 
mir  angetan  hast?  Hast  Du  mich  vielleicht  dafür  bezahlt?  Nimm 
Dich  in  acht,  ja  zu  sagen,  denn  dann  kommen  wir  auf  den  Standpunkt 
Proudhons:  Combien  me  devez-vous?  Combien  vous  dois-je?  und 
diese  Rechnung  dürfte  nicht  zu  Deinen  Gimsten  ausfallen,  während 
Du  in  Paris  gegen  Grün  und  mich  behauptetest,  diese  Formel  enthalte 
nicht  die  Werke  der  Liebe.  Wenn  Du  vergessen  hast,  was  Liebe  zwischen 
Männern  oder  Freundschaft  ist,  so  will  ich  Dich  daran  eriimem;  es  ist 
nur  gleiches  Wissen.  Als  wir  vor  einem  Jahr  bei  Tietz  in  Berlin 
dinierten,  sagte  ich  Dir:  Ich  werde  mit  Dir  gehen,  wohin  es  auch  sei, 
ich  werde  tun,  was  Du  von  mir  verlangst,  weil  Deine  Einsicht  mir  eine 
weitere  zu  sein  scheint  als  die  meine;  ich  weiß  zwar,  daß  Du  mich 
zum  Teufel  jagen  wirst,  wenn  Du  erreicht  hast,  was  Du  willst,  weil 
dies  nach  meiner  Meinung  so  in  der  menschlichen  Natur  liegt,  ich 
verspreche  mir  keinen  Vorteil  von  meinem  Gehorsam,  ich  werde  aber 
doch  so  handeln.    Nun,  mein  Teurer,  habe  ich  mein  Wort  gehalten? 


^)  Kleine  war  wegen  Straßenraub  verurteilt  worden.  Ein  undatierter  Brief 
Mendelssohns  an  die  Gräfin  bittet  diese,  sich  beim  Prinzen  Friedrich  —  der  in 
Düsseldorf  lebte  —  und  beim  Minister  von  Mühler  für  ihn  zu  verwenden. 


=  —  334  ^= 

Bin  ich  nicht  noch  gehorsam  gewesen,  als  ich  meine  Einsicht  weiter 
wußte  als  die  Deine,  weil  ich  jeden  Vorwurf  von  Deiner  Seite  unmög- 
lich machen  wollte,  und  hast  Du  nicht  ferner  mein  Wort  gelöst,  welches 
Du  bei  Tietz  für  eine  kindische  alberne  Furcht  ausgabst,  indem  Du 
neuhch  abends  erklärtest,  ,,Du  könntest  nicht  mehr  mit  mir  umgehen?" 
Ich  will  Dich  jetzt  nicht  an  alles  erinnern,  was  Du  mir  angetan  hast, 
bei  einer  Flasche  Champagner,  die  ich  mit  Dir  trinken  werde,  wird 
sich  das  besser  machen,  ich  wollte  Dich  nur  ein  klein  bißchen  sehen 
lassen,  wie  äußerst  wenig  ich  wahnsinnig  bin,  so  wenig,  daß  ich 
sogar  weiß,  daß  Du  es  auch  nicht  bist,  wenn  Du  Dich  auch  ein  bißchen 
in  eine  Ecke  verrannt  hast.   Jetzt  zur  Gräfin  zurück. 

Sehn  Sie,  Frau  Gräfin,  ein  Mann  muß  einen  andern  verstehen, 
um  ihn  zu  kennen,  er  muß  die  Wahrheit  im  Verstände  haben,  sonst 
hat  er  sie  gar  nicht;  eine  Frau  aber  fühlt,  was  ein  Mann  ist,  mehr 
als  sie  ihn  versteht;  eine  Frau  ist  durch  das  Gefühl  fast  immer  in  der 
Wahrheit,  wenn  sie  dieselbe  auch  nicht  im  Verstände  hat.  Sie  achte 
ich  nun  vorzugsweise  vor  vielen  andern  Frauen,  weil  Sie  eine  so  intelli- 
gente, erfahrene  oder  gebildete  Frau  sind,  daß  Ihr  Verstand  sogar  bei 
Ihnen  sehr  häufig  im  Niveau  mit  Ihrem  Gefühl  ist,  eine  bei  Frauen 
sehr  seltne  und  daher  um  so  achtenswertere  Eigenschaft;  ich  habe 
dieselbe  bisher  nur  bei  meiner  verstorbnen  Mutter  in  einem  ähnlichen 
Grade  gefunden  als  bei  Ihnen,  ich  habe  Sie  daher  sans  comparaison  de 
l'äge  et  de  la  beaute  schon  öfter  mit  ihr  verglichen.  Wenn  ich  erst 
wieder  frei  bin,  so  fordre  ich  von  Ihnen,  daß  Sie  Ihrem  Bevollmäch- 
tigten verbieten,  mich  so  zu  reiten,  wie  dies  bisher  geschehen  ist,  so 
daß  meine  Seiten  noch  immer  von  seinen  Sporenstreichen  bluten,  ich 
verlange  nicht,  wie  der  kleine  Oppenheim,  ihn  gar  nicht  mehr  zu  sehen, 
im  Gegenteil,  aber  ich  kann  den  Kleinen  wegen  seiner  Gefühle  und 
seiner  Handlimgen  nicht  so  hassen,  wie  Sie  beide  dies  zu  tun  behaupten, 
imd  zwar  aus  dem  Grunde,  daß  Ihr  alle  nach  und  nach  Gefühls-  oder 
Gemütsmenschen  geworden  seid,  Sie  wie  der  Kleine,  während  ich  der 
einzige  Verstandesmensch  unter  Euch  bin  und  von  meiner  olympischen 
Höhe  herab  ruhig  mit  einem  aus  Freude  und  Schmerz  gemischten  Ge- 
fühl auf  Euch  Menschlein  herabsehe,  die  Ihr  die  andern  und  Euch  selbst 
mit  Euren  Gefühlen  quält. 

Frau  Gräfin,  wenn  Sie  wirklich  so  böse  auf  mich  sind,  wie  L.  mich 
das  in  seinem  Briefe  glauben  machen  wollte,  so  tun  Sie  sich  durchaus 
keinen  Zwang  an,  es  ist  mir  nie  eingefallen,  von  jemandem  Dankbarkeit 
zu  verlangen,  wenn  ich  etwas  für  ihn  getan  habe;  am  wenigsten  ist 
mir  dies  in  dem  Verhältnis  von  mir  zu  Ihnen  in  den  Sinn  gekommen. 
Wenn  Sie  mich  nicht  mehr  gern  bei  sich  sehen,  so  wird  mich  das  nicht 
verhindern,  glücklich  zu  werden,  weil  ich  jetzt  ein  so  freier  Mensch, 


335  -^" 

die  deutschen  Philosophen  sagen,  ein  so  fest  in  sich  begründetes  und 
auf  sich  beruhendes  Ich  oder  Selbstbewußtsein  bin,  daß  nichts  in  der 
Welt  imstande  ist,  mich  zu  erschüttern,  meine  Ruhe  oder  mein  Glück 
zu  stören.  Wohl  aber  sind  Sie  imstande,  mein  Glück  zu  befördern, 
ja,  Sie  haben  es  sogar  augenblicklich  in  der  Hand,  es  zu  begründen; 
so  wie  ich  frei  bin,  werde  ich  Ihnen  sagen,  wie.  Ich  ersuche  Sie  (ich 
wünsche  wieder  aus  dem  ernsten  Tone  herauszukommen),  kaufen  Sie 
sich  das  Dings,  was  Arnold  Mendelssohn  heißt,  es  ist  augenblicklich 
äußerst  billig  zu  haben,  da  es  seit  einem  Jahr  oder  seit  drei  Jahren 
sehr  im  Preise  gesimken  ist,  noch  ein  Jahr  oder  so  etwas,  und  das  Dings 
wird  so  teuer  geworden  sein,  daß  Sie  es  mit  all  Ihrem  Gelde  nicht  werden 
kaufen  können,  und  wenn  Sie  auch  sehr,  sehr  reich  werden.  Lachen 
Sie  über  diese  kaufmännischen  Formeln,  glauben  Sie  aber  vorläufig, 
daß  eine  tiefe,  tiefe  Wahrheit  dahinter  steckt,  eine  Wahrheit,  welche, 
wenn  die  Menschen  sie  erst  wissen  werden,  sie  viel  glücklicher  machen 
wird,  als  sie  es  jemals  bisher  in  diesem  irdischen  Jammertal  gewesen 
sind;  es  ist  die  Formel,  welche  ich  von  dem  Commis  Proudhon  ge- 
lernt habe,  Sie  selbst  haben  ja  in  Ihrem  Leben  genugsam  erfahren, 
was  hinter  der  Minne  und  Ehre  der  Adligen  steckt.  Wenn  Sie  mein 
Buch  sich  hätten  von  mir  vorlesen  lassen,  würden  Sie  wissen,  welche 
ungeheure  Tiefe  darin  liegt,  vorläufig  erinnere  ich  Sie  daran,  daß  als 
ich  in  Verviers  drei  Tage  von  Brot  und  Birnen  gelebt  hatte  und  darauf, 
mich  von  Ihnen  verlassen  glaubend,  nach  Paris  ging,  mir  Freund  L. 
schrieb,  daß  ich  ein  Narr  sei,  während  Sie  darunter  setzten,  daß  ich 
die  treues te  Seele  sei,  die  Sie  kennten.  Frau  Gräfin,  ich  bin  noch 
weit  mehr  als  eine  treue  Seele,  denn  die  ist  ein  Hund  auch,  ich  bin  aber 
gar  ein  verständiger  Mann,  und  das  ist  noch  etwas  ganz  anderes  als 
eine  treue  Himdeseele.  Wenn  ich  damals  nicht  so  verständig  gewesen 
wäre,  zu  wissen,  daß  Sie  mir  deshalb  kein  Geld  schickten,  weil  Sie  ent- 
weder selber  keins  hatten,  oder,  da  ich  auch  nicht  einmal  Antwort  er- 
hielt, weil  Sie  meine  Briefe,  in  welchen  ich  meine  Lage  schilderte,  nicht 
erhalten  hätten,  wenn  ich  nicht  damals  ein  verständiger  Mann  gewesen 
wäre,  so  hätten  Sie  bei  einer  treuen  Hundeseele,  wie  z.  B.  bei  Ihrem 
Johann  oder  L.s  Franz  nicht  das  gefunden,  was  L.  damals  Narrheit 
und  Sie  Treue  nannten.  Wie  gesagt,  wenn  Sie  erst  öfter  mit  mir  ge- 
sprochen haben  werden,  oder  wenn  ich  Ihnen  erst  werde  was  vorlesen 
können  (Adam  hat  jetzt  das  Manuskript  an  den  Buchhändler  zur  An- 
sicht geschickt),  dann  werden  Sie  all  das  verwirrte  Zeug,  was  ich  Ihnen 
hier  geschrieben  habe,  ganz  verstehen,  weil  ich  dort  systematisch  den 
Berhnern  bewiesen  habe  (erst  hier  in  Köln  habe  ich  erfahren,  daß  ich 
es  meinem  Freunde  L.  auch  erst  beweisen  muß),  daß  in  meinem 
Wahnsinn  mehr  Methode  war  und  ist  als  in  Hamlets.   Jetzt  bin  ich 


—  '        =^-  336  ^  =r 

aber  außerordentlich  müde  und  werde  daher  etwas  schlafen;  ich  bin 
so  sehr  ein  soziales  Tier,  ein  Mensch,  daß  mir  hier  in  meiner  Zelle 
nur  wohl  ist,  wenn  ich  schlafe. 

Ihr 

Freund  A.  M. 

107. 
I,ASSAI.I,E  AX   ARNOIyD   MENDEIvSSOHN.  (Original.) 

[Köln,  8.  oder  9.  Juli  1S47.] 

Ich  bitte  Dich,  mir  so  wortgetreu  als  möglich  Abschrift  Deiner 
Aussage  zu  schicken.  Wenn  Du  glaubst,  weil  Dein  zweites  Verhör  so 
lange  ausbleibe,  daß  man  Nachforschungen  in  Brüssel  und  Paris  über 
Dein  dortiges  Leben  macht,  bist  Du  wohl  im  Irrtum.  Das  geht  die 
Leute  hier  wenig  an;  man  setzt  ja  auch  nicht  voraus,  daß  Du  dort 
weitere  Kassetten  gestohlen.  Die  Sache  verhält  sich  vielmehr  so :  Dein 
zweites  Verhör  soll  wahrscheinlich  Dein  Schlußverhör  sein  (war  auch 
bei  mir  so  der  Fall),  und  vor  dem  Schluß  verhör  des  Angeschuldigten 
müssen  sämtliche  Zeugenverhöre  stattgefunden  haben,  weil  mit  Deinem 
Schlußverhör  eben  die  Akten  geschlossen  werden.  Daher  kannst  Du 
wohl  noch  acht  Tage  und  länger  auf  ein  Verhör  warten. 

Hast  Du  Zigarren?  Auf  welcher  Nummer  sitzst  Du?  Wie  heißt 
Dein  Schließer?  Ist  Dir  das  Essen  erträglich?  Darüber  antworte 
mir  ausführhch,  damit  die  geeigneten  Anstalten  getroffen  werden 
können.  Deinen  Brief  an  die  Gräfin  habe  ich  eben  erhalten  und  gelesen; 
natürlich  kann  ich  ihn  jetzt  nicht  beantworten,  werde  dies  aber  viel- 
leicht nächstens  ausführlich  tun.  Aus  dem  Schlüsse  ging  nur  hervor, 
als  hättest  Du  ein  Verlangen.  Du  hast  aber  vergessen,  es  auszusprechen. 
Sprich  doch  aus,  was  Du  willst,  man  kann  es  aus  dem  Briefe  selbst 
nicht  ersehen. 

Im  übrigen  hoffe  ich.  Dir  wohl  noch  beweisen  zu  können,  daß 
Du  mit  allen  Deinen  Behauptungen  sehr  im  Unrecht  bist.  Daß  ich 
ein  Gefühls-  und  kein  Verstandesmensch  sei,^)  wimdert  mich  zu  hören; 
bisher  habe  ich  weder  von  Dir  noch  von  andern  diese  Behauptung  ge- 
hört. Komisch  ist  vielmehr  folgender  Gegensatz,  Du  schimpfst  auf 
das  Gefühl  und  lobst  Dich  als  Verstandesmenschen.  Ich  aber,  lieber 
Doktor,  muß  Dir  sagen,  daß  ich  finde  nach  reiflicher  Erwägung,  daß 
Dein  Gefühl  ganz  das  alte,  gute,  unverdorbene  geblieben.  Dein  Ver- 
stand aber  sich  sehr  verworren  hat.  So  dumm  es  vielleicht  ist  von 
mir,  es  zu  sagen,  weil  eine  solche  Behauptung  den  andern  immer  nur 


^)  Siehe  den  voraiifgehenden  Brief  Nr,  106. 


=  337 

eigensinniger  macht,  ich  finde,  daß  Deine  Denkkraft  sich  erstaunlich 
verwirrt  hat.  Du  hast  ein  Bestreben,  Paradoxes,  Neues  zu  wissen 
und  vorzutragen.  Bei  Lichte  besehen  sind  die  Dinge  alt  und  gewöhn- 
lich, nur  als  Momente  wahr,  und  um  sie  zu  neuen  Dingen  zu  machen, 
wirst  Du  paradox  und  unverständlich.  Ich  weiß  nicht,  welche  neue 
Weisheit  Dir  während  Deiner  Abwesenheit  aufgegangen.  Ich  selbst 
bin  im  ganzen  auf  dem  alten  Niveau  meines  Denkens  und  Wissens  ge- 
blieben; jedenfalls  habe  ich,  wie  Du  wohl  gestehen  wirst,  eine  große 
Fähigkeit  im  Verstehen.  Aber  trotz  aller  Mühe  kann  ich  mir  bei 
Deinem  ganzen  Brief,  auch  das,  was  Du  mir  sonst  geschrieben  imd 
gesagt,  hinzunehmend,  nichts,  sage  gar  nichts  denken,  insofern 
es  Neues  sein  soll;  denn  die  Berechtigung  der  Realität  hatten  wir, 
dünkt  mich,  schon  in  Berlin  intensiv  anerkatmt.  Ich  bin  deshalb  neu- 
gierig auf  Dein  Werk;  vielleicht  fehlt  Dir  nur  die  Gabe,  Dich  im  Vor- 
trag und  kurzen  Briefen  klar  zu  machen;  ich  fürchte  aber.  Deine  Denk- 
kraft ist  verworren  worden  und  die  Gedanken  sind  in  eine  erschreck- 
liche Konfusion  gekommen.  Was  ich  neulich  von  Deinem  Werk  hörte, 
war  nicht  geeignet,  ein  günstiges  Vorurteil  über  es  zu  wecken.  Es 
schien  auch  imklar  werden  zu  wollen.  Ich  bitte  Dich  wirkhch,  sieh  zu, 
den  springenden,  irrhchtelierenden  Gedankengang  etwas  an  die  lang- 
weilige logische  Stange  zu  gewöhnen.  —  Ich  fange  an,  mit  den  Resultaten 
meiner  Arbeit  mit  Dir  durch  Phänomenologie  und  Logik  sehr  tmzu- 
frieden  zu  sein,  unzufriedener  deshalb  mit  mir  als  Dir. 
Im   übrigen  grüße  ich  Dich  tausendmal  und  herzhch 

Dein  Lassalle. 


io8. 

ARNOLD    MENDELSSOHN   AN   LASSALLE.     (Abschrift   von   der 
Hand  eines  Gerichtsschreibers.  —  Aus  dem  Gefängnis.) 

(Wohl  Oktober  1847.] 

Dein  Spott  hinsichtlich  meiner  ärzthchen  Tätigkeit  trifiFt  mich 
insofern,  als  ich  ein  guter  Arzt  nur  war,  jetzt  aber  ein  wohlverwahrter 
Gauner  und  Dieb  bin,  der  vielleicht  nie  wieder  dazu  kommt,  zu  sein, 
was  er  war.  Du  verlangst,  ich  solle  Dich  lassen  wie  Du  seist;  wie  wohl 
wäre  mir,  wenn  ich  auch  noch  wäre,  was  ich  war,  na!  —  vielleicht  ge- 
lingt es  mir  noch  einmal,  in  die  Gesellschaft  zurückzukehren,  in  welche 
ich  eigentlich  gehöre,  die  im  Pütz  hausende  ist  es  doch  nicht  ganz,  eher 
würde  ich  mich  in  Siegburg  zu  Deinem  Freund  Loe  ^)  sperren  lassen. 

')  Freiherr  Maximilian  von  Loe-Allner,  Landrat  des  Kreises  Siegburg,  Führer 
der  katholischen  Partei  auf  dem  rheinischen  Landtag,  war  seit  1846  geisteskrank. 

Mayer,  Lassalle-Nachlass.     I  22 


338  =-  

Ich  habe  an  den  Oberprokurator  geschrieben,  ob  meine  Sache  nicht 
beschleunigt  werden  kann,  damit  ich  nicht  noch  drei  Monate  Vor- 
arrest aushalten  muß.  Der  Koramissionsrat  hat  mir  Deinen  Gruß 
bestellt,  auch  er  begreift  nicht,  warum  und  wieso  man  mich  so  lange 
sitzen  läßt,  ohne  mir  irgendeine  Antwort,  genannt  Anklage,  zu  geben. 
Dein  Hexeneinmaleins  verstehe  ich  auch  nur  halb  und  halb;  soll  ich 
es  ganz  verstehen,  so  fühle  ich  auch  so  etwas  von  der  ewigen  Dankbar- 
keit, zu  welcher  Du  mich  einmal  aufgeforderst  hast,  und  wünschte 
nur,  ich  könnte  dieselbe  anderswie  bewähren,  als  durch  solche  Ge- 
schichten wie  jene  im  Mainzer  Hofe. 

Leb  wohl.  Dein  Brief  hat  mir  eine  frohe  Stunde  gemacht,  etwas, 
was  ich  seit  ungefähr  drei  Monaten  nicht  gehabt  habe  .  .  . 


109. 

LASSALLE  AN  GRAF  CLEMENS  VON  WESTPHALEN.i)  (Original- 
konzept.) 

Düsseldorf,   16.  Dez.  1847. 
Sehr  geehrter  Herr  Graf! 

Wie  Sie  nicht  anders  werden  erwartet  haben,  verfolge  ich  Sie  auch 
nach  Berlin  hin  mit  Berichten  .  .  . 

Von  Friedensverhandlungen  haben  wir  seit  Ihrer  Abreise  nichts 
mehr  gehört;  vielmehr  scheinen  diese  Absichten  wieder  gänzlich  ver- 

1)  Graf  Clemens  August  Graf  von  Westphalen  zu  Fürstenberg  (1805 — i88sy 
seit  1843  verwitwet,  war  in  Westfalen  der  Führer  der  katholisch-ständischen. 
Opposition  gegen  die  preußische  Kirchenpolitik  und  besonders  jener  radikalen 
Richtung  gewesen,  die  die  sofortige  Wiedereinsetzung  des  Erzbischofs  von  Droste 
gefordert  hatte.  Wegen  seines  energischen  Auftretens  beim  König  zeitweise  in 
Ungnade  gefallen,  hatte  er  seinen  Wohnsitz  vorübergehend  nach  Bayern  verlegte 
Von  dort  heimgekehrt,  nahm  er  sich  jetzt  der  Sache  der  Gräfin  mit  Wärme  an. 
Anfang  Juli  1847  machte  er  in  einer  persönlichen  Unterredung  den  erfolglosen 
Versuch,  Friedrich  Wilhelm  IV.,  der  der  Gegenseite  geneigter  war,  umzustimmen. 
Er  berichtet  der  Gräfin  ausführlich  darüber  am  7.  Juli.  Der  König  verwies  ihn 
noch  an  Thile,  den  er  aber  auch  ,,ganz  entschieden"  gegen  die  Gräfin  einge- 
nommen fand.  I<assalle  war  zu  Verhandlungen  mit  dem  Grafen,  der  übrigens 
auch  im  Vereinigten  Landtag  saß,  anscheinend  Anfang,  sicher  wieder  Ende  Juni 
in  Berlin.  Der  Graf  redet  ihn  in  seinen  Briefen  ,, Verehrter  Freund"  an.  Schon 
am  23.  Februar  1847  hatte  er  der  Gräfin  geschrieben,  Lassalle  wolle  ihm  seinen 
,,Ultramontanismu.s"  nicht  verzeihen  und  ihn  zu  Hegel  bekehren.  Er  werde  sehen, 
was  er  sich  davon  assimilieren  könne.  ,,Vor  allem  aber  grüßen  Sie  ihn  herzlich 
von  mir,  auch  er  ist  mir  eine  erfreuliche  Begegnung  im  Leben  und  eine  Bekannt- 
schaft, die  ich  gern  festhalte."  Auch  Graf  Edmund  von  Hatzfeldt,  der  Gatte 
der  Gräfin  Sophie,  weilte  zum  Vereinigten  Landtag  in  Berlin  und  wurde  damals- 
einige  Male  vom  König  zur  Tafel  geladen. 


-'—-  339  

schwundeu  zu  sein.  Wie  ich  aus  zuverlässiger  Quelle  weiß  (die  Tochter 
des  Justizrats  Müller  sagte  es  einem  Bekannten,  von  dem  ich  es  habe), 
hat  sich  der  Graf  eine  französische  Schandbroschüre  ^)  gegen  die  Gräfin 
schreiben  lassen  und  Müller  gefragt,  ob  er  diese  heimhch  drucken  und 
verbreiten  oder  anonym  in  den  Buchhandel  geben  solle.  Was  Müller 
antwortete,  weiß  ich  nicht;  aber  dies  Faktum  beweist  hinreichend  die 
Gesinnungen  des  Grafen  und  die  Illusionen,  die  er  sich  macht.  Es  be- 
weist auch,  daß  es  hohe,  hohe  Zeit,  daß  ich  anfange,  ernstlich  daran 
zu  denken,  unsere  Klage  herauszugeben,  was  ich,  wie  ich  mir  Muße 
gewinne,  vorbereiten  will.  Sonst  könnte  einem  wahrhaftig  noch  be- 
gegnen, daß  man  den  rechten  Augenblick  damit  versäumt. 

Gegen  die  Verbindung  der  Klagen  hat  der  Graf  appelliert,  was  ihm 
aber  nichts  nützen  kann. 

Ihre  Anwesenheit  in  Berlin  kann  uns,  recht  angewendet,  sehr  nütz- 
lich sein.  Vor  allem  würde  ich  Sie  bitten,  die  Geh.  Räte  Esser, 
v.  Oppen,  Liel  und  Breuer  beim  Revisions-  und  Kassationshofe  sowie 
den  Präsidenten  vSethe  kennen  zu  lernen,  ganz  oder  teilweise,  und  mög- 
hchst  auf  die  Gesinnung  dieser  Herren  en  f  aveur  de  notre  cause  wirken 
zu  wollen.  Denn  diese  Herren  sind  es  eigentlich,  die  das  ganze  Schicksal 
in  Händen  haben,  da  sie  sowohl  über  den  Prodigalitätsprozeß  als  über 
den  Alimentationsprozeß  im  Zeitraum  weniger  Monate  das  entscheidende 
Urteil  zu  sprechen  haben. 

Diese  Herren  können  eigentlich  mehr  tun  in  der  Sache  als  Seine 
Majestät  selbst!  Dabei  ist  zu  bedenken,  wieviel  Einfluß  und  derlei 
Hilfsquellen  Hatzfeldt  aufbieten  kann,  so  daß  Konterminen  sehr  nötig. 
Nun  sind  Sie  aber  der  einzige,  wie  Sie  wissen,  der  influence  zugunsten 
unserer  Sache  ausüben  kann.  Im  allgemeinen  bin  ich  sehr  gegen  das 
nur  zu  oft  schädliche  forcierte  Streben,  ,,influenzieren",  ,,klüngeln"  zu 
wollen.  Weil  man  damit  bloß  dann  etwas  ausrichtet,  wenn  man  es 
von  Personen  durch  Rang,  Einfluß  und  Stellung  betreiben  kann.  Dann 
aber  hilft  es  auch  ungeheuer.  Es  ist  daher  keinem  Zweifel  unterworfen, 
daß  Sie,  wenn  Sie  sich  nur  ein  wenig  en  quatre  setzen  wollen,  die  größten 
Resultate  hervorbringen  können. 

Machen  Sie  die  Bekanntschaft  der  genannten  Herren  sämtlich,  was 
Ihnen  nicht  schwer  werden  kann.  Vergessen  Sie  nicht,  daß  ja  Ihr 
bloßer  Name  bei  der  Gesinnung  dieser  I^eute  die  beste  Empfehlung 
und  Introduktion  ist.  Auch  ein  Seigneur  zu  sein,  ist  ein  Geschenk 
Gottes,  wenn  man  zur  rechten  Zeit  davon  Gebrauch  zu  machen  weiß. 


1)  ,, Memoire  inedit  relatif  ä  Madame  la  Comtesse  Sophie  de  Hatzfeldt,  Paris 
1847."  Lassalle  heißt  in  diesem  Pamphlet  immer  Jacques  Lassalle.  Ihm  sei  der 
ganze  Konflikt  nixr  ,,un  moyen  immanquable  de  speculation  financiere". 


=  340  =^  -  = 

Im  Februar  wird  in  Berlin  zugleich  der  Alimentationsprozeß  und 
über  die  Annahme  des  Prodigalitätsprozesses  entschieden.  Daß  Sie  mit 
Liel  sprechen,  würde  vielleicht  um  so  nötiger  sein,  als  er  von  der  Gegen- 
partei sehr  bearbeitet  werden  soll.  Sie  haben  ja  auch  viele  Freimde 
in  Berlin,  vielleicht  können  Sie  den  einen  oder  andern  dahinterspannen. 
Kurz,  machen  Sie  diesmal  ungewöhnliche  Anstrengungen. 

Ferner  bitte  ich  Sie,  Thile^)  zu  besuchen  und  ihm  dabei  eine  Schei- 
dimgsklage  beizubringen.  (Vielleicht  sprechen  Sie  ihm  gelegentlich 
über  die  Affäre  mit  Ivilljeström^)  und  nehmen  ihn  gleich  dagegen  ein, 
was  sehr  günstig  wäre.  Wer  das  erste  Wort  hat,  behält  gewöhnhch 
recht.) 

Im  allgemeinen  wäre  es  mir  sehr  lieb,  wenn  Sie  die  Scheidungs- 
klage an  einflußreiche  Leute  (Canitz^)  z.  B.  etc.)  gäben.  Die  drei  Exem- 
plare haben  Sie  doch  mitgenommen;  wenn  nicht,  schreiben  Sie  mir 
gleich,  daß  und  wieviel  ich  Ihnen  schicken  soll. 

Endlich  glaube  ich,  daß  es  vielleicht  jetzt,  grade  jetzt  und  viel- 
leicht sonst  nie  wieder,  am  Orte  wäre,  wenn  Sie  Seine  Majestät  mit 
einer  nochmaligen  Privataudienz  und —  aber  energischen  —  Beschwerde 
belästigten.  Sie  haben  jetzt  einen  ganz  kostbaren  Vorwand  dazu. 
Sie  können  nämlich  Seiner  Majestät  sagen,  daß  Sie  in  Befolgung  seines 
könighchen  Willens,  der  eine  friedliche  Ausgleichung  wünschte,  alles 
getan  hätten,  diesen  Zweck  zu  erreichen,  daß  Sie  bei  der  Gräfin  die 
offenste  Bereitwilhgkeit  gefunden  hätten,  daß  Sie  auf  Hatzfeldts  Er- 
suchen zweimal  nach  Düsseldorf  gekommen  wären,  wie  erbärmhch 
schon  das  erstemal  Hatzfeldt  der  Verhandlung  sich  entzogen,  imd 
wie  schnöde  und  beleidigend  er  sie  das  zweitemal  abgebrochen,  wie 
er  gar  keinen  Frieden  wolle,  wie  er  nur  gezwungen  werden  könne,  wie 
er  seinen  ganzen  Stand  auf  das  skandalöseste  kompromittiere  und  sich 
der  ganze  Stand  durch  ihn  beleidigt  fühlen  müsse.  Zuletzt  müssen 
Sie  ihm  geradewegs  sagen,  wie  unsre  Sache  ganz  anders  wäre,  als 
Seine  Majestät  und  die  Welt  dächten,  wie  Sie  dreiviertel  Jahre  jetzt 
darauf  verwendet,  sie  auf  das  genaueste  und  gewissenhafteste  zu 
durchforschen ;  daß  Sie  die  gegenseitigen  Reprochen  kennten,  imd  die 


^)  General  Gustav  von  Thile,  der  Kabinettsminister  und  Vertraute  Friedrich 
Wilhelms  IV. 

2)  Gegen  Leutnant  von  Lilljeström  in  Ehrenbreitstein,  einen  Freund  des 
Grafen  Paul,  war  von  seinem  Regiment  ein  Ehrengerichtsverfahren  eingeleitet 
worden,  weil  er  sich  weigerte,  den  Verkehr  mit  der  Gräfin  und  ihrem  Sohn  ab- 
zubrechen. Lassalle  verfaßte  für  ihn  eine  Verteidigungsschrift,  die  sich  im  Nach- 
laß vorfand. 

3)  K.  F.  W.  Freiherr  von  Canitz  und  Daliwitz  (1787 — 1850),  war  1845 — 1848 
preußischer  Minister  des  Auswärtigen.  Westphalens  Bruder  war  mit  einer  Tochter 
des  Ministers  verheiratet. 


—  341  ^ 

sonnenklare  Überzeugung  erlangt  hätten,  es  sei  hier  ein  Weib  miß- 
handelt und  mit  Füßen  getreten  worden  wie  nie  wieder,  daß  unsre 
Sache  die  allergerechteste  der  Welt  sei,  daß  Seine  Majestät  unfehlbar 
ganz  ebenso  urteilen  würde,  wenn  er  die  Sache  ebenso  kennen  würde 
wie  Sie ;  imd  dabei  geben  Sie  ihm  zur  Instruktion  gleichfalls  eine  Schei- 
dungsklage. Sagen  Sie  ihm,  die  Sache  sei  der  Art  geworden,  daß,  wenn 
er,  der  König,  Hatzfeldt  nicht  zur  Raison  bringe,  Sie  ein  Ehrengericht 
über  Hatzfeldt  beantragen  würden,  weil  Sie  für  besser  hielten,  daß  ein 
einzelner,  der  es  verdiene,  zugrundegehe,  als  daß  ein  Stand  geschändet 
wird. 

Nennen  Sie  das  nicht  Ideen  eines  ,,tmgestümen  Drängers".  Er- 
lauben Sie  mir  vielmehr  eine  kurze  Kritik  des  Systems,  das  Sie  bisher 
eingeschlagen.  Bei  der  Großartigkeit  Ihres  Geistes  werden  Sie  das 
nicht  unbescheiden  finden;  denn  nichts,  was  zur  Sache  nötig  ist,  ist 
tmbescheiden.  Ich  glaube  Ihnen  aber  bündigst  beweisen  zu  können, 
daß  Ihr  bisheriges  System  falsch,  nicht  zweckgemäß  war.  Erlauben 
Sie  zimächst,  daß  ich  einmal  auf  den  Brief  zurückkomme,  den  Sie  an 
Thile  von  Laer  aus  schrieben  und  uns  vorlasen  (in  Düsseldorf).  Ich 
sagte  damals  nichts,  weil  es  vorbei  war.  Jetzt  erlauben  Sie  mir  eine 
Bemerkung.  Sie  sagen  in  dem  Brief,  daß  ,,die  Sache  der  Gräfin  doch 
nicht  so  schlecht  sei,  als  man  glaube"  etc.  Aber  ich  bitte  Sie,  was 
soUte  das  für  einen  Eindruck  machen?  Wer  in  aller  Welt  soll  sich 
interessieren,  wer  seine  Ivanze  einlegen  für  eine  Sache,  die  bloß  ,, nicht 
so  schlecht  ist!"  nach  den  Worten  ihres  Vertreters  selbst  bloß 
,, nicht  so  schlecht!"  Für  eine  solche  Sache  wird  niemand  die  Hand 
in  kaltes  Wasser  stecken,  und  mit  Recht!  Sie  müssen  sagen,  daß  die 
Sache  ,,so  gut,  so  durchaus  gut  und  gerecht  und  sonnenrein"  sei,  dai3 
man  als  Mensch  gezwimgen  sei,  daran  Anteil  zu  nehmen.  Was  soll 
der  annehmen,  zu  dem  Sie  sprechen,  wenn  alles,  was  Sie  für  die  Gräfin 
vorbringen,  wenn  die  ganze  Behauptimg,  zu  der  sich  der  erste  Vertreter 
der  Gräfin  erhebt,  darin  besteht,  ihre  Sache  sei  bloß  ,, nicht  so  schlecht?" 
Welchen  Eindruck,  frage  ich,  soll  das  machen?  Ist  das  nicht  fast  ein 
halbes  Eingeständnis  von  der  Zweideutigkeit  der  Sache?  Sprechen 
Sie  von  der  ,, Gerechtigkeit,  von  der  himmelschreienden  Gerechtigkeit" 
dieser  Sache;  dann  wird  Sie  jeder  wenigstens  verwundert  anhören 
und  sich  die  Sache  noch  einmal  überlegen  und  betrachten.  Sprechen 
Sie  aber  nicht  von  Ihrem  Mitleiden;  das  zu  teilen  wird  keiner  sich 
berufen  finden.  Und  zu  einer  Sache,  die  bloß  ,, nicht  so  schlecht"  ist, 
kann  man  sich  nur  mitleidig  verhalten,  nicht  anerkennend.  Wenn  Sie 
bloß  behaupten,  daß  unsre  Sache  nicht  so  schlecht  sei,  so  werden  Ihre 
Standesgenossen,  Thile  imd  der  König,  Ihnen  noch  verdenken,  auf  unsre 
Seite  getreten  zu  s^^^ein,  nicht  von  Ihnen  gleichfalls  herübergezogen  werden. 


—  342 

Glaubten  Sie  zu  einem  solchen  halben  Verfahren  dadurch  genötigt 
zu  sein,  weil  einmal  unsre  Sache  in  jenen  Kreisen  so  ganz  und  gar 
verloren  sei?  Dann  hatten  Sie  gewiß  um  so  mehr  unrecht.  Denn  will 
man  einmal  eine  in  der  öffenthchen  Meinung  entschieden  verlorene 
Sache  dennoch  wieder  zum  Siege  bringen,  so  kann  dies  —  eine  Er- 
fahrvmg,  die  Sie  im  Leben  und  in  der  Geschichte  tausendmal  bestätigt 
finden  können  —  gar  nicht  oder  nur  dadurch  geschehen,  daß  man 
die  ganz  entgegengesetzte,  ganz  extreme  Ansicht  aufstellt,  und  was 
bisher  als  Schande  hingestellt  war,  als  Pflicht  etc.  proklamiert,  was 
als  ausgemacht  schmutzig  galt,  als  sonnenrein  behauptet.  Bloß  dadurch 
geschieht,  was  vor  allen  in  solchen  vSachen  geschehen  muß.  Vor  allen 
nämlich  muß  man  dadurch,  daß  man  den  Leuten  durch  die  extremen 
Ansichten  imponiert,  sie  verwundert,  sie  dadurch  veranlassen,  sich 
mit  der  Sache,  über  die  sie  bisher  schon  ein  fertiges  Urteil  zu  haben 
glaubten,  noch  einmal  zu  beschäftigen,  sie  noch  einmal  etwas  genauer 
zu  betrachten.  Halbe  Behauptungen  faßt  die  Welt  nur  als  eine  milder 
ausgedrückte  Bestätigung  ihres  eigenen  Urteils.  Um  ein  Vorurteil 
zu  erschüttern,  braucht  man  die  Paradoxe!  Hat  man  das  Glück, 
in  einem  Ansehen  zu  stehen,  wie  Sie  es  genießen,  so  wirkt  man  mit 
einer  solchen  Behauptung  immer  allermindestens  so  viel,  daß  die  Leute 
erschüttert  werden  und  die  Sache  noch  einmal  gründlich  betrachten, 
was  bei  einer  guten  Sache  der  Sieg  selbst  ist. 

Daß,  sehr  verehrter  Herr  Graf,  das  System,  welches  Sie  befolgt, 
trotz  aller  Erfolge,  die  Sie  veranlaßt  haben,  dennoch  die  Sache  nicht 
zu  Ende  bringen  kann,  zeigt  sich  auch  praktisch  deutlich  und  schlagend. 
Von  dem  Augenblick  an,  wo  sich  ein  Mann  wie  Sie,  von  solchem  Rang 
und  Einfluß,  verbunden  mit  solcher  Persönlichkeit,  an  die  Spitze  imsrer 
Sache  setzte,  hätte  Hatzfeldt  zittern,  einen  Frieden  um  alles  in  der 
Welt  suchen  müssen.  Statt  dessen  ist  er  vor  wie  nach  übermütig, 
und  statt  einen  Frieden  zu  suchen,  repoussiert  er  ihn.  Trotz  aller 
objektiven  Erfolge,  die  Ihr  Auftreten  erwirkt  hat,  ist  es  auf  Hatzfeldt 
selbst,  auf  ihn  subjektiv,  sans  consequences  gebheben.  Hier  aber 
handelt  es  sich  grade  um  den  subjektiven  Erfolg,  d.  h.  um  die  Wir- 
kung auf  Hatzfeldts  Person  und  Vorstellung.  Wenn  der  rechte  und 
entscheidende  Erfolg  noch  nicht  eingetreten,  so  liegt  es  also  nur  daran, 
daß  Ihre  Langmut  Sie  abgehalten  hat,  die  Macht,  die  in  Ihrer  Autorität, 
Ruf,  Stellvmg  etc.  Ihnen  zur  Disposition  steht,  rückhaltlos  anzuwenden. 

Gebrauchen  Sie  Ihre  Macht  und  Sie  werden  sehen,  welche  Resultate , 
welche  ganz  andre  Resultate  wir  erleben.  Wir  sehen  jetzt,  daß  mit 
dem  Diplomatisieren  nichts  gewonnen  wird  (auch  ich  hatte  manch- 
mal schwache  Stunden,  wo  ich  daran  glaubte);  ziehen  wir  Nutzen 
aus  der  Lehre,  ergreifen  wir  nun  einmal  den  Weg  des  Brüskierens. 


-—  =  343  = 

Vielleicht  hat  Sie  von  der  Anwendung  der  letzten  rigueur  bisher  der 
Gedanke  abgehalten,  daß  das  letzte  Mittel,  mit  aller  Energie  aufzu- 
treten, Ihnen  noch  inamer  unbenommen  bliebe.  Das  ist  aber  einer 
von  jenen  Gedanken,  von  denen  ich  glaube,  daß  sie  die  meiste  Schuld 
am  Mißlingen  der  meisten  Unternehmungen  tragen.  Es  gibt  für  jede 
Sache  und  für  jedes  Wirken  der  Person  darin  eine  Zeit,  die  nie  mehr 
einzuholen.  So  wenig  die  Familie  jetzt,  wenn  sie  auch  wollte,  energisch 
auftreten  kann,  so  wenig  —  wenn  auch  in  geringerem  Maße  —  werden 
Sie  es  können,  wenn  Sie  erst  ein  Jahr  in  diesen  Angelegenheiten  älter 
geworden  sind.  Bis  dahin  nicht  mit  rigueur,  mit  letzter  Energie  ge- 
handelt zu  haben,  macht  unmöglich,  von  da  ab  energisch  zu  handeln. 
Später  haben  Sie  keinen  Grund  mehr,  etwas  zu  tun,  was  Sie  nicht 
heute  schon  tun,  weil  alle  Gründe,  zu  handeln,  heute  schon  vorliegen. 
Neue  moralische  Untaten  kann  nach  dem  schon  Vorgefallenen  Hatz- 
feldt  nicht  mehr  begehen,  und  —  vergessen  Sie  nicht  —  um  das  Recht 
der  Entrüstung  zu  haben,  braucht  man  ein  flagrant  delit.  Man 
kann  sich  nicht  plötzlich  über  etwas  empören,  was  man  schon  jahre- 
lang duldet. 

Mit  unserer  Scheidungsklage  ist  die  Sache  in  die  letzte  Phase  ge- 
treten, das  letzte  ,, Recht  der  Entrüstung"  gegeben.  Ist  diese  auch 
erst  alt,  so  ist  die  Gelegenheit  zum  kräftigen  Handeln  für  immer  vorbei. 

Wie  oft,  ist  auch  hier  wieder  der  erste  Impuls  der  richtige  gewesen. 
Wären  Sie  Ihrem  ersten  Impulse,  in  welchem  Sie  jenen  Brief  an  Kettler 
schrieben,  gefolgt,  so  stände  die  Sache  bereits  ganz  anders.  Dann 
aber  gaben  Sie  sich  der  Idee  einer  schonenden,  vermittelnden  Aus- 
gleichung hin.  Ich  war  schon  damals  dagegen.  Ich  kann  das  wohl 
berühren,  da  Sie  zu  den  seltenen,  sehr  seltenen  Menschen  gehören, 
denen  gegenüber  man  recht  gehabt  haben  darf!  Wäre  aber  jener 
Schonungsversuch  damals  auch  am  Orte  gewesen,  so  ist  er  es  heute 
gewiß  nicht  mehr,  nachdem  wir  xms  von  den  übermütigen  Resultaten 
überzeugt,  die  das  auf  Hatzfeldt  ausübt. 

Ich  wiederhole  Ihnen,  gebrauchen  Sie  die  Macht,  die  Sie  haben; 
er  will  es  nicht  anders. 

Es  fällt  mir  nicht  im  mindesten  ein,  daß  Sie  mir  vielleicht  irgend- 
ein Wort  dieser  freimütigen  Erörterung,  die  sich  sogar  eine  ,, Kritik" 
erlaubt,  übelnehmen  könnten.  Nach  allem  ist  das  Interesse,  das  Sie 
für  die  Gräfin  haben,  ebenso  groß  wie  das  meinige;  es  ist  in  ganz  dem- 
selben Grade  Ihre  Sache,  in  welchem  es  meine  ist.  Es  ist  daher  nur 
meine  Pflicht,  Ihnen  die  Mittel  zu  bezeichnen,  die,  meiner  Meinung 
nach,  einer  Sache  nottun,  für  die  Sie  sich  so  sehr  interessieren.  Es  ist 
nach  meiner  Denkimgsweise  mir  Pflicht,  mir  selbst  eine  Kritik  zu  er- 
lauben, wo  sie  in  Ihrem  Interesse  vielleicht  nützlich  sein  kann.    Es 


=  344  = 

ist  nicht  eine  Gefälligkeit,  die  ich  von  Ihnen  in  meiner  Sache  bean- 
spruche; es  ist  ebensosehr  ein  Rat,  den  ich  Ihnen  in  Ihrer  Sache,  in 
einer  Sache,  welche  die  Ihrige  ist,  erteile. 

Wie  jeder  Künstler^  wie  jeder  Schöpfer,  wie  jeder  Mensch  mit  Or- 
ganisationstrieb, wollen  Sie  Ihr  Werk  gewiß  auch  vollendet  sehen. 
Der  Weg  dazu  aber  ist  einzig  der  gezeigte. 

Ich  habe  meine  Meinung  feierlich  zu  Protokoll  gegeben,  eine  Meinung, 
die  nicht  aus  leidenschaftlichem  Temperament  entspringt,  die  viel- 
mehr eine  Frucht  der  kältesten  Überlegung  ist.  Es  hilft  nur  das  Mittel 
der  äußersten  rigueur,  und  jetzt  ist  wie  nie  wieder  der  Moment,  beim 
König,  Thile  etc.  es  zu  versuchen. 

Dixi  et  salvavi  animam  meam. 

lyieb  wäre  es  mir  auch,  wenn  Sie  sich  imseren  Advokaten  am  Kassa- 
tionshofe, Dr.  Dom,  Große  Friedrichstraße  Nr.  70,  mal  holen  ließen, 
ihn  um  den  Stand  unsrer  dortigen  Angelegenheiten  befragten  etc.  etc. 
Nicht  alles,  was  geschieht,  ist  zur  schriftlichen  Mitteilimg  geeignet 
und  dermoch  bei  mündlicher  interessant.  So  daß  Sie  vielleicht  Neuig- 
keiten hören,  die  er  uns  nicht  geschrieben  hat.  Es  würde  aber  besonders 
auch  einen  anfeuernden  tmd  belohnenden  Eindruck  auf  die  Ambition 
des  Herrn  Dorn  machen,  wenn  Sie  ihn  mal  rufen  ließen.  Und  grade 
wir  müssen  vorzüghch  auch  auf  die  Ambition  unserer  Advokaten  zu 
wirken  suchen. 

Übrigens  werden  Sie  in  ihm  einen,  wie  ich  glaube,  der  Gräfin  sehr 
ergebenen  eifrigen  Mann  finden,  einen  sehr  tüchtigen  Juristen,  aber 
sonst  von  nicht  erschöpfendem  oder  umfassendem  Verstände.  Die 
Gräfin  ist  gegenwärtig  in  Köln  mit  der  Einrichtimg  des  Hauses  beschäf- 
tigt; die  Gegner  haben  wirklich  eine  eigentümlich  lumpige  Weise  von 
Guerillakrieg.  Sie  laufen  umher  tmd  suchen  der  Gräfin  die  nötigen 
Einrichtungen  zu  erschweren  imd  unmöglich  zu  machen,  indem  sie 
den  Lieferanten  etc.  durch  allerlei  Vorspiegelungen,  sie  würden  nicht 
bezahlt  werden  etc.,  Angst  einjagen. 

Die  Gräfin,  wie  natürlich,  als  Frau  ärgert  sich  über  solche  Steck- 
nadelstiche ungeheuer. 

Brauchen  Sie  vielleicht  gleich  Hefte  der  Klage,  so  können  Sie  selbige 
sich  von  Herrn  Dom,  dem  ich  morgen  zwölf  Exemplare  schicke,  geben 
lassen. 

I/Cben  Sie  tausendmal  wohl  und  bedenken  Sie,  daß  die  Gräfin  von 
Ihnen  sagen  muß  imd  sagt,  wie  es  in  jener  alten  Tragödie^)  heißt: 

,,Du  bist  mir  Vater,  Du  Sohn,  Du  Bruder  und  liebende  Mutter." 


^)  Ob  sich  Ivassalle  hier  nicht  irrte  und  ihm  die  Worte    der  Andromäche,. 
Hias  VI  429    vorschwebten :   ^  Exzo^,  dra^  av  ftöi  iaai  Ttarriq  xai  tzotvm  fi^^o  T 


=  345 = 

Mit   der    Versicherung   meiner   unwandelbarsten    Verehmng    und 
Hochachtung  zeichne  ich 

Ew.  Hochwohlgeboren 

herzUchst  ergebener 

F.  Lassalle.  ^) 


HO. 

LASSALLE  AN  GRAF  CLEMENS  VON  WESTPHALEN.    (Original- 
konzept. 2) 

Köln,   I.  Januar  1848. 

Sehr  verehrter  Herr  Graf! 

Mit  einem  pax  vobiscum  schließt  Ihr  gestern  erhaltener  Brief, 
einem  Zuruf,  dessen  herzlich  warmer  Ton  sich  versöhnend  über  den 
Inhalt  Ihres  Schreibens  legt  und  auch  mir  Versöhnvmg  über  die  neulich 
vielleicht  etwas  schrofif  von  mir  hingestellten  Differenzen  sichert.  Von 
Herzen  stimme  ich  in  dies  pax  vobiscum  ein,  d.  h.  ich  denke  nicht  daran, 
die  in  meinem  letzten  Schreiben  ausgesprochenen  Meintmgen  wieder- 
holen imd  weiter  verteidigen  zu  wollen,  hätte  dies  auch  ohnehin  nicht 
weiter  getan  noch  tun  können;  denn  meine  Stellung  zu  Ihnen  ist  nur 
die  eines  Vortragenden  Rats  einem  Souverän  gegenüber,  der  freie  imd 
xmgeschminkte  Sprache  liebt.  Habe  ich  also  meine  Deduktion  vorr 
getragen,  so  habe  ich  meine  Pflicht  erfüllt;  daß  Sie  meine  Ansicht 
ganz  oder  teilweise  biUigen,  sie  bald,  allmählich  oder  gar  nicht  akzep- 
tieren, darauf  kann  ich  durch  Wiederholung  und  weitere  Entwicklung 
meiner  Meinung  ohne  töricht  zu  sein,  nicht  hinwirken  wollen.  Denn  bei 
Ihrer  umfassenden  Intelhgenz  können  Sie  sich  alle  Gründe,  die  ich 
etwa  noch  für  meine  Ansicht  beibringen  könnte,  ebensogut  oder  besser 
selbst  sagen;  auch  sind  Sie  so  gerecht,  daß  Sie  für  eine  differierende 
Meinung,  die  ich  Ihnen  briefUch  vortrage,  auch  gewiß  selbst  den  Ad- 
vokaten machen  und  sie  in  meinem  Interesse  auch  gegen  sich  selbst 
verteidigen.  Siegt  in  diesem  Plädoyer,  das  Sie  innerhalb  Ihrer  selbst 
halten,  meine  Theorie  nicht,  so  wäre  es  arrogant,  zu  glauben,  als  könnte 


^)  Der  Graf  antwortete  am  25.  Dezember  von  Berlin  aus,  daß  Lassalles 
Schreiben  „nicht  die  geringste  überzeugende  Wirkung  auf  ihn  ausgeübt  habe". 
Als  ,, sonnenrein  —  durch  und  durch  gut  und  gerecht,  sei  ihm  die  Sache  der 
Gräfin  noch  nie  erschienen.  Diese  seine  Ansicht  habe  jedoch  auf  seine  ..Ge- 
sinnungen" nicht  den  minaesten  nachteiligen  Einfluß:  ..Denn  wer  ist  sonnen- 
rein? und  somit  pax  vobiscum." 

2)  Dieser  Brief  ist.  mit  unwesentUchen  Variationen,  als  Brouillon  und  aL? 
Reinkonzept  im  Nachlaß  vorhanden.  ' 


■ —  346  —  = 

ich  ihr  durch  verlängerte  Rede  diesen  Sieg  verschaffen.  Sie  haben 
sich  gewiß  zugunsten  meiner  Ansicht  gesagt,  was  sich  zugunsten  der- 
selben nur  sagen  ließ.  Haben  vSie  dieselbe  dennoch  unrichtig  gefunden, 
so  muß  ich  schweigend  warten,  was  die  Zeit  bringt;  kann  höchstens 
wieder  einmal  bei  Gelegenheit  einer  Krise,  eines  ungewöhnlich  geeig- 
neten Zeitpunktes  etc.  mit  meinem  ,,Ceterum  censeo  Carthaginem  esse 
delendam"  auftreten.  Beiläufig  will  ich  nur  bemerken,  daß  Sie  meinen 
Brief  schroffer  aufgefaßt  haben,  als  er  war.  Denn  nirgends  glaube  ich 
gesagt  zu  haben,  daß  Sie  mit  den  ,, nicht  so  schlecht"  der  Sache  der 
Gräfin  mehr  geschadet  (!)  als  genützt  hätten.  Ich  sagte  nur,  daß 
durch  eine  direktere  Behauptung  ein  größerer  Nutzen  hätte  entstehen 
müssen.  —  Also  was  die  Differenz  vmserer  praktischen  Ansichten  betrifft, 
stimme  ich  vorläufig  von  Herzen  in  Ihren  freundlichen  Friedensruf  ein. 

Aber  aus  der  innersten  Tiefe  meines  Wesens  muß  ich  den  feier- 
lichsten, den  energischsten  Protest  einlegen  gegen  die  theoretische 
Anschauung,  die  Sie  über  die  Gräfin  und  deren  Angelegenheit  aus- 
sprechen. Hier  ist  es  Pflicht  gegen  mich  selbst  und  die  von  mir  ergriffene 
Sache,  nicht  durch  Schweigen  Mißverständnisse  aufkeimen  zu  lassen, 
und  selbst  mit  pedantischer  Ausführlichkeit  den  Standpunkt  zu  wahren, 
von  dem  ich  und,  wie  ich  bisher  glaubte,  auch  Sie  diese  Angelegenheit 
betrachtete.  Es  ist  mir  Pflicht,  um  der  Achtung  sogar  um  der  ,, Inte- 
grität" willen,  die  ich  in  Ihren  Augen  ambitioniere. 

Sie  sagen  nämlich,  es  sei  Ihnen  auch  nicht  in  den  Sinn  gekommen, 
die  Sache  der  Gräfin  für  ,,ganz  und  gar  sonnenrein"  für  ,, durch  und 
durch  gut  und  gerecht"  zu  halten.  Wollte  die  Gräfin  sich  derart  dar- 
stellen, so  sei  dies  ein  verfehltes  Streben,  welches  nötig  mache,  Ge- 
heimnis auf  Geheimnis  zu  wälzen,  eine  Last,  welche  sie  zu  Boden  drücken 
müsse.  Sie  seien  der  Ansicht,  die  Gräfin  habe  sich  sehr  vieles  in  ihrem 
Leben  zuschulden  kommen  lassen  .  .  . 

Wo  soll  ich  anfangen,  um  die  himmelweite,  weltumfassende  Kluft 
zu  schildern,  die  sich  plötzlich  —  doch  hoffentlich  schnell  verschwin- 
dend —  zwischen  Ihren  und  meinen  bisher  von  mir  für  so  identisch 
gehaltenen  Standpunkten  auf  tut?  Sie  glauben  nicht,  wie  sehr  ich  Sie 
in  diesem  Augenblicke  herwünsche,  um  mich  erschöpfend  aus  vollem 
Herzen  mit  Ihnen  aussprechen  zu  können.  Immer  und  immer  wieder 
besehe  ich  Ihre  liebe,  mir  so  bekannte  Schrift  und  kann  mich  kaum 
überzeugen,  daß  wirklich  diese  Worte  von  Ihnen  herrühren,  möchte 
mich  selbst  gern  eines  Mißverständnisses  beschuldigen,  und  in  der 
Tat  ein  Mißverständnis  irgendeiner  Art  muß  dabei  sein  —  oder  ich 
verstehe  mich  auf  keinen  Menschen  mehr. 

Verzeihen  Sie,  wenn  sich  mein  frappiertes,  betroffenes  Gefühl  zu- 
nächst in  Interjektionen  Luft  macht,  aber  das  Ereignis  dieses  Briefes 


=  347  = 

hat  meine  Gedanken  wirklich  in  solchen  Aufruhr  und  Konfusion  ge- 
bracht, daß  ich  mich  erst  ein  wenig  sammeln  muß,  um  logisch  verständig 
sprechen  zu  können! 

Sie  versagen  der  Gräfin  und  ihrer  Sache  das  Prädikat  ,, sonnen- 
rein" etc.  .  ,  . 

Herr  Graf !  Verehrer  Goethes,  des  Westöstlichen  Diwans  Bewundrer, 
muß  ich  Ihnen  gegenüber  erst  noch  ausdrücklich  bemerken,  meine 
Überzeugung  wenigstens  sei  die,  daß  grade  in  der  freien  und  unbe- 
dingten Hingabe  an  die  Macht  der  Liebe  der  Beruf  die  Sittlichkeit, 
das  Wesen,  die  Reinheit  des  Weibes  bestehe! 

Und  ist  diese  Sittlichkeit  nicht  um  so  begeisterter,  wo  sie  in  Wider- 
spruch mit  äußerlichen  Rücksichten  und  Vorteilen,  mit  Weltmeinungen 
und  wesenlosen  Geboten,  mit  sogenannten  Ehepflichten  tritt?  Wo  sie, 
dem  Gotte  gehorchend,  die  endlichen,  kleinlichen  Verhältnisse  und 
Interessen  der  Welt  mit  Füßen  tritt?  Ist  nicht  der  Ehebruch,  wo  er 
aus  wahrer  und  freier  innerer  Neigung  resultiert,  die  größte,  ja  die  ein- 
zige Tat  des  Weibes?  Ist  nicht  das  Weib,  das  den  Pachtkontrakt  der 
Ehe  auf  ihre  unsterbliche  Seele,  auf  ihren  damit  zum  seelenlosen  Ding 
entweihten  Leib  anerkennt,  eine  kläglich  , .verkümmert"  christliche 
Erscheinimg,  ein  Haufen  Fleisch  ohne  menschlichen  Wert  ?  Pocht  nicht 
an  alle  Rippen  der  Zeit  der  ungestüme  Drang,  die  Liebe  tmd  ihre  un- 
endhche  Genußberechtigung  zu  befreien  von  den  Martyrpflöcken,  an 
die  sie  der  hektische  Geist  christlicher  Moral  bisher  genagelt,  die  Iden- 
tität der  Menschenleiber  nur  auf  die  innere  Identität  der  Menschen- 
herzen zurückzuführen? 

Wenn  sich  nun  dies  alles  so  verhält,  worüber  wie  ich  bisher  Grund 
zu  haben  glaubte,  anzunehmen,  zwischen  Ihnen  und  mir  kein  Ja  und 
Nein  obwalten  könne,  so  kann  also  ein  Weib  nur  auf  dreierlei  Weise 
ihre  schön  menschliche  Bestimmtmg  entweihen.  Einmal  wenn  sie  ver- 
trocknend an  Seel'  und  Leib 

,, durchs  Leben  gehet  ohne  Wunsch". 

Das  ist  also,  wie  Ihr  Vorwurf  zugibt,  in  casu  nicht  der  Fall.  Zweitens, 
wenn  sie  mit  dem  Körper  irgendeinen  noch  so  verfeinerten  Handel 
treibt,  ihn  berechnend  hingibt.  Und  dies  ist  wahrhaft  sündig  und  un- 
rein, während  die  Hingabe  in  Liebe  die  größte  Keuschheit  des  Weibes 
ist.  Sie  kennen  die  Gräfin  hinlänglich,  am  gewiß  mit  mir  überzeugt 
zu  sein,  daß  solche  Herzensverderbtheit  niemandem  fremder  ist  als 
grade  ihr.  Ist  sie  doch  grade,  wie  Sie  gewiß  tausendmal  bemerkt 
haben  werden,  ausnahmsweise  fast  z  u  sehr  von  jener  candeur  des  Geistes 
geheiligt,  welche  nicht  erlaubt,  Seel'  und  Gefühl  zu  entstellen,  ver- 
stellen und  zum  dienenden  Moment  herabzuwürdigen.     Grade  dieser 


-  348  = 

intensive  Idealismus  ist  Hauptschuld  mit  an  dem  Unglück,  in  das  sie 
in  der  Wirklichkeit   geraten. 

Eine  ekle,  jedenfalls  eine  befleckte  Erscheinung  ist  ferner  ein  Weib, 
mit  welchem  das  Fieber  abstrakter  Sinnlichkeit  fortrast  gleich  dem 
wildgewordnen  ungezügelten  Roß,  ein  Weib,  das  statt  Liebe  einen 
nur  scel-  und  geistlosen  Körperkontakt  sucht,  statt  in  der  körperlichen 
Einigung  den  sitthchsten  Kultusakt,  den  Gottesdienst  der  Leiber,  zu 
feiern,  sich  der  Mensch  an  Menschen  bindenden  Macht  der  Seele  hin- 
zugeben, nur  einen  ruhelosen,  imschönen  Kitzel  befriedigt,  imd  daher, 
um  den  Unterschied  praktisch  anzudeuten,  Verhältnisse  schließt,  die 
nicht  auf  geistiger  Sehnsucht  beruhen,  z.  B.  mit  geistig  ganz  untergeord- 
neten Subjekten,  etwa  Bedienten  etc.  Nun  hat  man  die  Gräfin  oft  als 
solch  eine  Art  von  Messaline  schildern  wollen,  ich  glaube  die  Lächer- 
lichkeit dessen  ergibt  sich,  wenn  man  sie  acht  Tage  gesprochen  hat. 
Ich  habe  ihr  Leben  aufs  genaueste  durchstudiert  und  untersucht;  sie 
ist  aber  sicherlich  von  keinem  Vorwurf  reiner  als  von  diesem;  immer 
und  ewig,  was  wohl  aus  ihrem  ganzen  Wesen  mit  absoluter  Gewißheit 
sich  ergibt,  war  das  Herz  und  dessen  wenn  auch  romantisches  Vibrieren 
das  bestimmende  Moment  ihres  Lebens  tmd  Leidens.  Auch  fällt  mir 
nicht  ein,  daß  Sie  dies  etwa  gemeint  haben  sollten.  Das  ist  un- 
möghch. 

Nach  diesen  drei  ,, Todsünden"  aber,  die  ein  Weib  begehen  kann, 
gibt  es  auch  noch  eine  vierte  Sünde,  die  man,  um  weiter  in  der  Kate- 
chismen-Sprache zu  reden,  eine  Sünde  „gegen  den  Heiligen  Geist 
nennen  könnte". 

Ein  Weib  kann  sich  nämlich  von  den  drei  Sünden  rein  erhalten 
und  wahrhaft  lieben,  auch  der  Liebe  sich  hingeben,  in  scheuer  Be- 
drücktheit aber  xmd  mutloser  Unterordnung  tmter  vorhandnes  Vor- 
urteil und  Meinung  eine  Heuchlerin  sein,  eine  Prüde  spielen,  ja  selbst 
theoretisch  die  Grtmdsätze  der  sogenannten  christlichen  Tugend  tmd 
bürgerlichen  Moral  verteidigen,  proklamieren,  über  die  Grundsätze 
richtiger  Menschhchkeit,  nach  welchen  sie  im  stillen  selber  handelt, 
in  der  Welt  mit  großem  Geräusch  imd  moralischem  Augenverdrehen 
den  Stab  brechen.  —  Nun,  in  der  heutigen  Welt  läßt  sich  das  keiner 
gar  so  sehr  übelnehmen;  nicht  jeder  ist  ein  Heros,  nicht  jeder  hat  den 
sittlichen  Mut,  seine  Meinung  zu  bekennen,  nicht  jeder  ist  groß  genug, 
für  die  Substanz  seines  Denkens  und  Fühlens  den  Bruch  mit  bequem 
gepolsterter  Wirklichkeit  zu  vertragen. 

Aber  wie  unendlich  höher  steht  nicht  ein  Weib,  welches  sittlich 
und  rein  genug  ist,  ihre  Überzeugung,  das  Dogma  von  der  freien  Liebe 
zu  proklamieren  und  selbst  das  Kreuz  des  Leidens  auf  sich  zu  nehmen 
für  die  frei  bekannte     Gottesidee! 


—  349  ^^  =^ 

Sie  kennen  gewiß  das  Leben  der  Gräfin  genau  genug,  um  zu  wissen, 
daß  grade  das  freie  Bekenntnis  ihrer  Idee,  diese  höchste  Sonnen- 
reinheit, zu  der  sich  der  Mensch  erheben  kann,  ihr  sowohl  Hatzfeldt 
als  dann  auch  der  Welt  gegenüber  am  meisten  geschadet  hat.  Hätte 
sie  heucheln  wollen,  sie  hätte  sich  vollkommen  wohl  durchs  Leben 
schlagen  können;  hätte  sie  nur  scheinbar  abgeschworen,  nur  scheinbar 

—  denn  die  Welt  will  den  Schein  —  verleugnet  ihr  inneres  befreites 
Bewußtsein,  nur  scheinbar  den  Af  terheihgenschein  ums  Haupt  gewoben 

—  nie  hätte  sie  dann  in  die  heillose  Lage  geraten  können,  in  die  man 
sie  lange  genug  hinabgedrückt  hat;  sie  hätte  umbuhlt  vom  Glück  durchs 
Leben  gehen  können,  jedenfalls  in  der  Vernünftigkeit  herkömmhcher 
Wirtschaft  hausbackene  Bequemlichkeit  gefimden,  statt,  ein  weib- 
licher Faust,  die  Leiden  einer  Menschheit  in  sich  aufzunehmen  und  zu 
erschöpfen. 

Grade  darum  inkarniert  sich  mir  in  der  Sache  der  Gräfin  —  mehr 
als  in  den  hohlen  und  abstrakten  Theorien  der  Liberalen  und  Landtags- 
stürmer —  die  Sache  der  Menschheit,  die  Passionsgeschichte  der  mensch- 
lichen Freiheit  und  edler  Genußberechtigung. 

Es  wird  von  Ihnen  nicht  bestritten  werden,  daß  die  Befreiung,  die 
Freigebung  der  Liebe  eine  der  sozialen  Arbeiten  ist,  für  welche  sich 
die  Kräfte  unsrer  Zeit  mit  am  meisten  begeistern  müssen. 

Ehe  der  Menschengeist  mit  Erfolg  die  ganze  gegenständhche  Wirk- 
lichkeit sich  erobern  und  zum  ungetrübten  Element  seiner  Freiheit 
umschaffen  kann,  muß  er  erst  sein  unmittelbarstes  Dasein,  seinen  eigen- 
sten Tempel,  seinen  Leib  zur  freien  Stätte  seines  Waltens  errungen 
haben.  Aber  die  soziale  Befreiung  der  Geschlechter  kann  nur  vom 
Weibe  und  seiner  mutigen  Hingebung  an  die  Macht  an  den  Genuß 
der  Liebe  ausgehen.  Und  wo  ein  Weib  hierfür  leidet  als  mutige  Be- 
kennerin,  leidet  sie  als  Vorkämpferin  für  die  große  Sache  der  Mensch- 
heit, tmd  es  ist  Pflicht  der  ganzen  befreiungssüchtigen  Menschheit,  ihr 
beizuspringen  imd  Gut  imd  Blut  aufzuopfern  zu  ihrem  Schutze.  Wäre 
nicht  grade  aus  diesem  Punkt  das  Geschick  der  Gräfin  entflossen, 
wäre  es  nicht  grade  das,  was  Hatzfeldt  und  die  Welt  der  Gräfin  vor- 
wirft, hätte  sie  Hatzfeldt  ganz  ohne  diesen  sogenannten  Grund  aus 
bloßer  Gemütsroheit  mißhandelt  —  ich  erhebe  meine  Hand  zum  Him- 
mel und  schwöre  Ihnen,  nie  wäre  mir  beigefallen,  also  zu  handeln, 
wie  ich  gehandelt  und,  des  eignen  Ichs  uneingedenk,  mich  in  einen 
Kampf  zu  stürzen,  der  mich  aufreibt  und  meine  beste  Tatkraft  hin- 
zehrt, der  meine  Aussichten  auf  unmittelbare  Zukunft  für  noch  lange, 
lange  Jahre  vernichtet   hat. 

Denn  es  wäre  ihr  Geschick,  obgleich  bejammernswert,  dann  nur 
ein    individuelles   gewesen;    man    konnte    dann   nur   Mitleid   für  sie 


—  =  350  —  = 

empfinden,  wie  etwa  für  ein  armes  Kind,  das  von  barbarischem  Vater 
mißhandelt  wird.  Dafür  die  Lanze  einzulegen  und  als  irrender  Ritter 
durch  die  Welt  zu  toben,  wäre  lächerlich;  ein  individuelles  Los  nur 
kann  in  solchem  Falle  gebessert  werden;  für  etwas  bloß  Individuelles 
braucht  sich  ein  andres  Individuum  nicht  mit  Haut  und  Haar  in  die 
Schanze  zu  schlagen;  in  einem  solchen  Falle  kann  für  die  Sache  der 
Menschheit  nichts  gewonnen  werden.  Denn  daß  man  eben  z.  B.  Kinder 
nicht  mißhandeln  solle,  ist  längst  ein  Gemeingut  der  Menschheit,  und 
eine  einzelne  sonderbare  Abweichung  lohnt  sich  nicht  den  Schweiß 
und  die  Kosten  eines  Kreuzzugs.  Hier  aber  handelt  es  sich  um  mehr; 
ein  großer,  denn  ein  wahrer  Mensch  wird  hier  gekreuzigt  für  eine  Idee, 
die  sich  in  ihm  inkarniert  hat,  für  eine  Idee,  die  eine  der  beiden  Herz- 
kammern unseres  Zeitorganismus  bildet. 

Es  ist  die  neue  Frühlingsidee,  die  von  den  verbündeten  Geistern 
christhcher  Dogmatik  und  der  Bourgeoisie-Moral  mit  Füßen  getreten, 
mißhandelt,  zu  Tode  gepeinigt  wird !  Es  ist  ein  Weib,  das  unsere  Idee 
sogar  theoretisch  bekennt,  sie  trotz  allem  Pardonanbieten  nie  ver- 
leugnen wollte,  und  dafür  leidet. 

Unsere  Sache,  Ihre  Sache,  meine  Sache,  die  Sache  unsrer  aller, 
die  wir  denken  und  frei  fühlen,  wird  hier  verhandelt!  Darum  ist  es 
unsre  Pflicht,  zu  Hilfe  zu  eilen,  darum  fühle  ich  es  als  eine  Pflicht, 
eine  Parteipflicht,  für  das  bedrängte  Banner  zu  streiten,  solange  ich 
ein  Glied  noch  regen  kann.  Hätte  das  nicht  stattgefunden,  was  Ihrem 
Brief  zufolge  die  Sonnenreinheit  trübt,  wäre  also  der  Fall  nicht  sozial, 
sondern  bloß  individuell  —  noch  heute  zöge  ich  mich  zurück,  der  Wissen- 
schaft folgend,  die  mein  Beruf;  Leben  imd  Kraft  wahrlich  nicht  für 
ein  Sandkorn  versplitternd. 

Und  ebensowenig  würde  ich  mir  erlaubt  haben,  dann  Bitten  und 
Anforderungen  an  Sie  zu  stellen,  wie  ich  sie  so  oft  und  wiederum  letzt- 
hin gestellt  habe,  wenn  es  sich  nämhch  meiner  Anschauung  nach  hier 
nur  um  individuelles  Mißgeschick  und  dessen  Linderung,  wenn  es 
sich  nicht  zugleich  um  das  Ringen  eines  Gottesbewußtseins  handelte, 
von  dem  auch  Sie  mächtig  durchglüht  sind,  um  die  Passion  eines  In- 
dividuums für  eine  Idee,  für  welche  deren  Träger  alles  und  sich  selbst 
ins  Feuer  schicken.  Sie  sehen  also,  daß  von  diesem  jedenfalls  in  [sichj 
selbst  konsequenten  Standpunkt,  dessen  Grundanschauung  Sie  teilen, 
ich  allerdings  von  intensivster  Sonnenreinheit  sprechen  kann. 

Diese  Sonnenreinheit  wäre  vielmehr  nicht  da,  wenn  die  Gräfin 
im  bürgerlichen  Sinne  unschuldig  wäre,  oder  wie  Sie  schreiben 
, »Geheimnis  auf  Geheimnis  wälzt".  Grade  weil  sie  echt  menschlich 
gehandelt,  grade  weil  sie  den  sittlichen  Mut  hat,  dies  zu  bekennen, 
weder  Leben  noch  Bewußtsein  feig  heuchelnd  entstellt,  darum  grade 


=  351  =-  —- 

ist  sie   sonnenrein,    darum    grade    ist   ihr   I^eid    heilig,    heihg,    drei- 
mal heilig. 

Und  sollte  das  alles  nicht  auch  Ihre  Überzeugung  sein  ?  Oder  wena 
Sie  lieben  und  Ihre  Liebe  auf  eine  Ehefrau  fällt,  ziehen  Sie  dann  vor. 
mit  einem  innern  Sündenbewußtsein  zu  lieben,  sich  die  Feier  der- 
selben zu  versagen  oder,  wenn  die  Konsequenz  nicht  soweit  geht,  sich 
derselben  mit  Zerknirschung  über  die  eigne  Unvollkommenheit  statt 
mit  Gottfreudigkeit  hinzugeben?  All  das  ist  schon  deshalb  nicht  mög- 
lich, weil  Sie,  auch  abgerechnet  von  Ihrem  Denken  und  ihrer  Bildung, 
wie  Goethe  sagt,  eine  ,, Natur"  sind.  Und  wie  paßte  das  zu  den  licht- 
vollen Theorien,  die  Sie  so  oft  gesprächsweise  aufgestellt  (ich  erinnere 
z.  B.  an  das,  was  Sie  über  die  Alvenslebensche  Geschichte  sagten), 
wie  paßte  das  zu  der  Begeisterung,  mit  der  Sie  jenes  Gedicht  ,, Sehn- 
sucht" aus  dem  Diwan  zitierten,  jene  Worte  des  weltlichen  Heilands 
,,auf  zu  höherer  Begattung?" 

Sollte  aber  wirklich  Ihr  Brief  Ihre  wesentliche  Überzeugimg  aus- 
drücken, und  nicht  vielmehr,  wie  ich  durchaus  glaube,  das  Resultat 
einer  flüchtigen  Stimmung  sein  —  dann,  ich  gestehe  es,  ist  Ihr  Auf- 
treten für  die  Gräfin,  Ihre  großartige  Handlungsweise  vielleicht  um 
so  edler  —  aber  mir  schlechthin  unbegreiflich,  Sie  selbst  mir  schlecht- 
hin ein  Rätsel. 

Ich  muß  gestehen,  Ihr  Brief  hat  mich  tief  traurig  berührt,  trauriger, 
als  Sie  gewollt  und  beabsichtigt.  Denn  sollten  selbst  Sie  wirklich  so 
denken,  wie  aus  Ihrem  Briefe  folgt,  ja  —  dann  könnte  man  fast  ver- 
zweifeln an  dem  endlichen  Sieg  des  Humanismus  über  den  finstern 
Geist  der  Selbsttötung  und  Askese.  Ja,  diese  meine  Ausführung  ist 
mir  zum  Schutz  meiner  Integrität  sogar  abgenötigt.  Denn  wäre  die 
Sache  nicht  wirklich  sonnenrein  und  durch  und  durch  gut  und  gerecht 
—  nimmermehr  hätte  ich,  auch  ganz  abgesehen  von  der  Pflicht  gegen 
mich  selbst,  so  weit  gehen  dürfen,  wie  ich  gegangen  bin  für  eine  nicht 
ganz  reine  Sache.  Ich  habe  in  diesem  Kampfe  vielfach  andre  und 
kollidierende  Pflichten  unterordnen  müssen,  sogar  Gesetze  verletzt  — 
das  darf  man  nicht  aus  Mitleid  und  Teilnahme,  das  darf  man  in  dem 
revolutionären  Akt,  wo  man  Praxis  macht  für  die  innere  imendliche 
Idee  der  endhchen  ideelosen  Welt  gegenüber,  wo  dann  diese  äußere 
Welt  alle  Berechtigung  und  Heiligkeit  verliert,  wo  jede  andere  Pflicht 
schweigen  muß  und  der  Aufruf  der  Bergpredigt  wiederum  ergeht  ,,Ihr 
sollt  Vater  und  Mutter,  Weib  und  Kind  verlassen  und  mir  folgen"! 

Nur  für  eine  sonnenreine  Sache  durfte  ich  handeln  wie  ich  ge- 
handelt. 

Aber,  wie  gesagt,  wenn  ich  Ihre  ganze  Erscheinung  und  Wesen, 
soweit  ich  sie  kenne,    durchdenke,    geht  mir  mit  freudiger  Klarheit 


—  ^^=-352  = 

daraus  hervor,  Ihr  Brief  drücke  nicht  Ihre  wirkliche  Überzeugung 
und  Wissen  aus;  er  verdankt  seine  Entstehung  der  flüchtigen  Verstim- 
mung einer  Stunde,  hervorgerufen  etwa  durch  dieses  oder  jenes  Wort 
meines  letzten  Briefes.  Solches  begegnet  auch  großen  vmd  objektiven 
Männern  gar  oft;  solches  ist  diesmal  auch  Ihnen  begegnet  und  hat  Sie 
Worte  flüchtig  auf  das  Papier  werfen  lassen,  die  im  Widerspruche 
mit  Ihrem  Wesen  und  Denken. 

Sie  schreiben  mir  zwar,  daß  Ihre  Ansicht  auf  Ihre  Gesinnung,  d.  h. 
Ihr  praktisches  Wohlwollen  für  die  Gräfin  keinerlei  Einfluß  habe, 
imd  insofern  erschiene  diese  ganze  Diskussion  überflüssig.  Aber  ich 
bin  nun  einmal  ein  Idealist,  imd  bei  Männern,  die  ich  achte,  kommt 
es  mir  noch  mehr  auf  ihre  theoretische  Anschauimg  und  Würdigung 
einer  Sache  an,  die  ich  vertrete,  als  auf  die  praktische  Hilfe.  Nur  Leute, 
deren  Geist  mir  interesselos  ist,  kann  ich  mich  entschließen,  nach  der 
Theorie  des  Nutzens  zu  behandeln,  ihre  Früchte  hinnehmen,  ohne  mich 
um  ihr  Wesen  und  dessen  Beistimmung  zu  kümmern. 

Die  Frau  Gräfin  habe  ich  übrigens  Ihren  Brief  nicht  lesen  lassen, 
um  ihr  eine  traurige  Empfindimg  zu  ersparen,  die  bei  ihrer  Weise  zu 
fühlen  und  ihrem  jetzigen  Nervenzustand  intensiver  gewesen  wäre, 
als  eigentlich  Grund  dazu  da,  da  sie  sich  jetzt  mit  Vorliebe  Schmerz- 
gefühlen hinzugeben  pflegt.  Ich  erwähne  dies  nur,  damit  Sie  nicht 
etwa  zufällig  in  Ihrem  nächsten  Briefe  an  die  Gräfin  von  unsrer  Dis- 
kussion oder  dem  Inhalte  dieses  Schreibens  sprechen. 

Ich  wollte  Ihnen  noch  viel  über  das  Hauptthema  dieses  Briefes 
zusätzlich  sagen,  aber  die  Finger  erlahmen  mir,  und  die  Geschäfte 
rufen.  Das  übrige  also  mündlich.  Nochmals  lege  ich  Ihnen  ans  Herz, 
wenn  irgend  möglich  auf  die  Revisions-  und  Kassationsräte  einzu- 
wirken. Haben  Sie  Dorn  gesprochen?  Wissen  Sie  dann  Näheres  über 
Meyer?  Schreiben  Sie  mir  doch  auch,  wie  lange  Sie  noch  in  Berhn 
bleiben.     Es  ist  mir  nötig,  dies  zu  wissen. 

Mit  unveränderlicher  herzlicher  Verehnmg  Euer  Hochgeboren 

ergebener 

F.  Ivassalle. 
Viel  Glück  zum  neuen  Jahre  und  möge  es  ims  allen  siegreich  sein! 


=  353  = 

III. 
GRAF  CLEMENS  VON  WESTPHALEN  AN  LASSALLE.  (Original.) 

[Sommer  1848.] 
Werter  Freund! 

Getrost  kann  ich  Ihnen  die  entschiedne  Versicherung  geben,  daß 
ich  nicht  richtend  habe  verfahren  wollen,  als  ich  mich  zu  den  letzten 
Äußerungen  über  das  Leben  und  die  jetzige  Lage  unsrer  Freundin 
veranlaßt  sah.  —  Zu  durchdrungen  bin  gerade  ich  von  der  Wahrheit, 
daß  die  Quelle  unendhchen  Übels  in  der  Welt  nur  darin  zu  suchen, 
daß  die  Menschen,  statt  in  sich  selbst  zu  gehn  —  statt  ihre  eignen 
Handlungen  denkend  an  den  Folgen  zu  prüfen  —  statt  an  die  große 
unfehlbare  Lehrmeisterin  in  der  Schule  wahrer  Weisheit  —  die  eignen 
Erlebnisse  sich  zu  halten,  die  dann  ja  einem  jedem  zu  sagen  stets 
bereit:  , .Manches  hast  du  vorgenommen  —  Vieles  ist  dir  schlecht  be- 
kommen und  ich  muß  dich  schelten,"  denn  ,,Reue  sollst  du  doch  einmal 
in  der  Welt  empfinden,  so  bekenn  getreu  und  fromm  deine  schwersten 
Sünden,  aus  des  Lebens  irren  Weiten  sammle  dich  und  such  beizeiten 
dich  zurechtzufinden"^)  —  statt  des  Fegens  und  Aufräumens  vor  der 
eignen  Türe  meine  ich,  man  sich  viel  zu  viel  einer  um  den  andern 
bekümmert,  und  damit  denn  nichts  gewinnt,  als  daß  die  charakter- 
losen Menschen  noch  schwankender  und  charakterloser  werden,  die 
charakterfesten  aber  im  Widerstehn  gegen  den  fremden  Einfluß,  im 
Behaupten-  und  Rechtfertigen-woUen,  sich  in  falschen  Konsequenzen 
oft  nur  länger  und  fester  noch  verbeißen,  und  darüber  zur  eignen 
Besinnung  gar  nicht,  oder  doch  erst  viel  zu  spät  gelangen.  — 

Äußerte  ich  also:  auch  unsre  Freundin  mag  manches  im 
Leben  zu  bereuen  haben  —  und  meinte  ich  etwa  unter  manchem 
andern  auch  damit  speziell  ihre  früheren  Beziehungen  zu  Männern 
als  solchen,  so  überließ  ich  es,  selbst  in  meinen  eigensten  Gedanken, 
sicher  doch  nur  ihr,  ob  sie  sich  eines  oder  mehrerer  Fälle  bewußt  werden 
möchte,  in  denen  sie  sich  einer  der  drei  von  Ihnen  sehr  richtig  artiku- 
lierten Todsünden  gegen  die  Liebe  mehr  oder  weniger  schuldig  ge- 
macht. —  Nur  das  eine  meine  ich  mit  Bestimmtheit:  daß  wenn  ,  .  . 
aus  all  diesen  Verhältnissen  auch  nicht  ein  Freund  ihr  geblieben, 
sie  dann  diese  Verhältnisse  —  insoweit  sie  sich  wenigstens  auf  noch 
lebende  beziehen  —  auch  sämthch  bereuen,  sich  ihrer  sämtlich 
schämen  müsse;  statt  aus  diesem  —  ich  will  nur  sagen  durch  un- 
bedachte,   leichtsinnige,    frivole    Wahl   selbst   verschuldetem   Ergeb- 


*)  Goethes  Generalbtichte. 

Mayer,  Lassalle-Nachlass.     I  2^ 


-—  =  354  "—  

nisse,  für  den  Rest  des  Lebens  weiter  nichts  hinüberzunehmen  als 
Anfeindung,  Kampf  und  Verfolgimg  anderer;  und  das  eitle  und  in  der 
Anwendung  der  durch  den  Zweck  geheiligt  werden  sollenden  Mittel 
von  Lug  und  Trug  und  Vertuschung  so  höchst  gefährliche  Streben, 
sich  selbst  den  Schein  stets  ungetrübt  gebliebener  Sonnenreinheit  zu 
geben.  — 

Glauben  Sie  mir,  werter  Freund!  es  ist  ein  großer  Moment  im 
Leben,  in  welchem  man  über  sich  selbst  zur  Besinnung  kommt,  — 
nicht  jeder  ist  dessen  fähig,  auch  hängt  er  nicht  allein  von  einem  selbst 
ab,  —  er  ergibt  sich  meist  erst  durch  das  Zusammentreffen  von  Um- 
ständen, und  die  Gelegenheit  kommt  nicht  immer  wieder.  Aber  auch 
schon  darum  müßte  er  gewahrt  und  festgehalten  werden,  weil  —  je 
früher  —  er  dann  ein  um  soviel  höherer  Gewinn  fürs  Leben,  das  dann 
in  diesem  zweiten  Abschnitte  uns  und  andern  erst  alles  wieder 
zugutekommen  läßt,  was  wir  überhaupt  erlebt,  selbst  —  imd  ich  möchte 
wohl  sagen,  vorzugsweise,  auch  imsre  begangenen  Fehler  —  unser 
gesamtes  Sündenregister;  ob  groß  —  ob  klein,  ist  dann  gleich  viel.  — 
Mir  nun  —  grade  im  entschiednen  Gegensatz  der  von  Ihnen  auf- 
gestellten Theorie  —  ist  das  Individuum  alles,  und  —  um  mich  in 
einem  philosophischen  Barbarismus  zu  ergehn  —  die  Verallgemein- 
heitung  der  Idee  gar  nichts,  eben  weil  ich  an  sie  nicht  glauben 
kann,  sie  mir  mindestens  viel  zu  fern  liegt,  um  nicht  lieber  meine  nächste 
Tätigkeit  dem  nächsten  Individuum  zuzuwenden,  als  sie  in  unberechen- 
bare Zukunft  —  ins  Blaue  zu  vergeuden. 

Und  so  liegt  mir  denn  in  unserm  Fall  auch  wesentlich  nur  daran, 
daß  tmsre  Freundin  —  nicht  etwa  in  Kalendern  künftiger  Zeitrech- 
nungen für  imverschuldetes  Martyrtum  mit  rotgedruckten  Lettern 
prangen  möge,  einer  emanzipierten  Frauenwelt  zum  erbaulichen  Vor- 
bild ungebundenen  Venusdienstes,  sondern  nur  daran,  daß  sie  je  eher 
je  lieber  zum  Nachdenken  über  sich  selbst  gelange,  —  es  sich  gestehn 
und  es  begreifen  lerne,  daß  auch  sie  —  ich  will  nur  sagen  manches 
dumm  —  manches  schlecht  gemacht,  daraus  aber  den  doppelten  Ge- 
winn ziehe:  einmal  sich  der  undankbaren  Mühe  entschlagen  zu  können, 
jeden  ihrer  Schritte,  selbst  jeden  Fehltritt  als  sonnenrein  quand  meme 
vertreten  zu  müssen;  —  dann  auch,  mit  der  Eröffnung  des  Begriffs 
über  die  eigne  Fehlbarkeit  zugleich  begreifen  lerne,  wie  nicht  sie 
allein,  sondern  auch  andere  dazu  kommen  können,  und  ohne  darum 
schon  unsrer  Verachtung  verfallen  zu  müssen,  schlechter  zu  handeln, 
als  sie  wirklich  sind.    Und  somit  wie  immer 

Ihr  aufrichtiger  Freund 

V.  Westphalen. 


—  355  — 

112. 

IvASSALLE  AN  DEN  VATER.    (Original.)^) 

[Sommer  1848.] 
Lieber  Vater! 

Wundre  Dich  nicht  darüber,  daß  der  Ton  dieses  Briefes  sehr  ge- 
reizt und  heftig  sein  könnte.  Ich  bin  hier  im  Gefängnis  sehr  reizbar 
geworden,  was  ganz  natürlich  ist,  so  daß  ich  über  Deine  Zeilen,  die  ich 
sonst  bloß  ignorieren  würde,  mich  jetzt  recht  tüchtig  ärgere.  Ich  sehe, 
Du  beabsichtigst  es  mit  mir  zu  machen,  wie  die  Verwandten  Mendels- 
sohns es  mit  ihm  gemacht  haben,  d.  h.  mich  durch  den  unglaublichen 
Wahnsinn  Eurer  weisen  Ratschläge  hinzurichten.  Aber  es  liegt  mir 
viel  zu  viel  an  meiner  Freiheit  imd  an  dem  glücklichen  Ausgang  dieser 
Prozedur,  als  daß  ich  mich  Euren  Ratschlägen  zu  Gefallen  verurteilen 
lassen  sollte.  Frage  Mendelssohn,  ob  dieser  sogenannte  gute  Rat,  den 
er  akzeptiert  zu  haben  jetzt  bitter  bereut,  nicht  einzig  und  allein  die 
Quelle  seiner  Verurteilung  war. -)  Man  hat  es  mit  mir  —  nicht  Du  allein  — 
auch  schon  so  versucht.  Ich  werde  daher  stets  wütend,  wenn  man  mir 
mit  diesem  ,, guten  Rat"  kömmt.  O  Eure  Weisheit!  —  Es  ist  ja  auch 
ganz  natürlich,  daß  all  dieser  Rat  ein  Unsinn  ist.  Denn  ein  Rat,  wenn 
er  ein  guter  sein  soll,  muß  aus  der  Individualität  des  einzelnen 
vorliegenden  Falls  hergenommen  sein,  nicht  aber  ein  allgemeiner  Er- 
fahrungssatz. Das  sind  nur  Gemeinplätze,  die  man  umkehren  kann 
wie  einen  Handschuh.  Den  individuellen  Fall  kennt  aber  außer  mir 
und  Schneider^)  niemand  genau  genug,  um  einen  wirklich  guten  Rat 
geben  zu  können. 

Soviel  über  Euren  Rat  im  allgemeinen.  Nun  aber  zu  dem  wirklich 
empörenden  Satze  Deines  Briefes: 

,,In  keinem  Falle  sollst  Du  es  Dir  in  den  Sinn  kommen  lassen,  den 
Belastungszeugen  Bestechung  vorzuwerfen  etc.,  sondern  dies  den 
Advokaten  überlassen." 

Ich  mußte  mir  die  Augen  reiben,  als  ich  diesen  unerhörten  Wahn- 
sinn gelesen. 


*)  Von  der  Hand  der  Gräfin  Hatzfeldt  steht  auf  dem  Brief  die  Bemerkung: 
,,F.  Lassalle  an  seinen  Vater  aus  dem  Gefängnis  in  Köln  während  der  Unter- 
suchung bzw.  Kassetten-Diebstahl."  Lassalle  war  Mitte  Februar  in  Potsdam 
verhaftet  und  nach  Köln  in  Untersuchungshaft  überführt  worden.  Vor  den 
Assisen  stand  er  vom  5.  bis  11.  August.  Bekannthch  wurde  er  freigesprochen. 
Einige  andere  Briefe  an  den  Vater  aus  dem  Gefängnis  in  Intime  Briefe  etc.  a. 
a.  O.  S.  38  S. 

2)  Vgl.  Lassalles  Äußerungen  hierüber  in  seinem  ,, Manuskriptbrief"  an  Sophie 
Sontzeff  a.  a.  O.  S.  58  f. 

•'')  Lassalles  Advokat  in  Köln. 

Mayer,  Lassalle-Xachlass.     I  gl* 


—  =  356—  =.=. 

Wer  war  der  Tollhäusler,  der  diesen  illuminierten  Rat  gegeben?  Wie 
denn  ?  Ich  soll  nicht  vorwerfen  ?  Drei  bis  vier  Stunden  werde  ich  bloß 
über  diesen  Punkt  sprechen  und  einen  Meineid  nach  dem  andern  mit 
der  Evidenz  eines  Mathematikers  nachweisen. 

Ich  wollte  Dir  manches  andere  noch  schreiben,  aber  für  heute  ist 
es  mir  nicht  möglich.  Meine  Aufregung  ist  zu  groß.  Habe  ich  denn 
nicht  genug  mit  meinen  Gegnern  zu  tun,  wollen  auch  noch  meine  Freunde 
mich  durch  den  Ballast  ihrer  Dummheiten  niederdrücken?  Macht 
einen  denn  das  Gefängnis  nicht  mürbe  genug,  wollt  Ihr  mich  durchaus 
auch  noch  mit  Eurem  trostlosen  Unverstand  mürbe  machen?  Wollt 
Ihr  mir  das  letzte  bißchen  Kraft,  das  ich  wie  durch  ein  Wunder  noch 
in  den  Glieder  behalten  habe,  mir  noch  herausmartern  mit  Eurer  Weis- 
heit, Euren  Gemeinplätzen  und  Eurem  Rate,  mit  Eurem  Kleinmut  und 
dem  aufreibenden  Ärger  über  Eure  Dummheiten?  Es  ist  sehr  schwer, 
hier  den  Verstand  zu  behalten,  aber  wahrhaftig,  wenn  die  Sache  noch 
Monate  dauerte,  ich  würde  ihn  über  Eure  Ratschläge  verloren  haben. 

Du  erinnerst  mich  an  die  Opfer,  die  Du  mir  gebracht  und  verlangst 
dafür  nur,  daß  ich  mich  auf  drei  Tage  Eurer  Meinung  akkommodiere. 
Aber  in  drei  Teufels  Namen,  soll  ich  mich  denn  Dir  zulieb  verurteilen 
lassen?  Ist  es  Dir  nicht  heber,  wenn  ich  freikomme?  Weißt  Du,  wer 
Mendelssohns  Schicksal  auf  der  Seele  hat?  Sein  Bruder  mit  seinem 
Rate. 

Geht,  geht,  handelt  und  wandelt,  verkauft  Pfefferkuchen  und  dreht 
Düten,  werdet  Stadträte  und  was  Ihr  wollt,  das  versteht  Ihr  vortreff- 
lich, aber  wollt  nicht  mir  armen  Menschen,  der  ohnehin  fast  unterliegt 
unter  der  Zahl  seiner  Feinde  und  nur  mühsam  sich  durchschlägt,  wollt 
nicht  mir  den  Sieg  unmöghch  machen,  indem  Ihr  mit  Eurer  Liebe  und 
Eurem  Unverstand  mir  die  Hände  haltet,  die  ich  doch  frei  brauche, 
um  das  Schwert  zu  schwingen  und  meinen  Feinden  zu  entgehen!  Gott 
schütze  mich  vor  meinen  Freunden. 

Ich  soll  nicht  so  frech  sein!  »So  frech!  Herr  und  Heiland!  Wie 
frech?  Wie  ich  sonst  bin.  Ich  bin  nie  frech.  Ich  verabscheue  die 
Frechheit,  denn  sie  ist  gemein.  Aber  den  edeln  Stolz  Hebe  ich.  Diesen 
soll  ich  ablegen?  Soll  kleinmütig  auf  der  Bank  stehen,  soll  nicht  mit 
dem  Blitze  des  Selbstbewußtseins  auftreten?  Mein  Untergang  wäre 
dann  gewiß. 

Ich  bitte  Dich,  wenn  Du  mir  eine  einzige  Liebe  erweisen  willst, 
gib  mir  keinen  Rat  mehr.  Es  macht  mich  müde,  wütend,  kraftlos. 
Du  willst  ja  doch  meine  Freisprechung.  Warum  rätst  Du  mir  also  zu 
Dingen,  die  das  Gegenteil  notwendig  herbeiführen  müssen?  Handle 
draußen,  wirke  auf  die  Jury,  das  ist  Deine  Aufgabe;  nicht 
mir  raten. 


=  357  ^ 

113. 

LASSAIvLE  AN  ALEXANDER  WEILIv.^)     (Originalkonzept.    Nach 
Paris  adressiert.) 

Köln,  d.  20.  Juli  48. 

Erzgauner,  Schuft,  aus  dem  Bagno  entsprungner  Spitzbube,  in- 
famer Taschendieb! 

Erst  neulich  las  ich  in  einem  französischen  Blatte  die  Veröffentlichung 
einer  Erklärung,  zu  deren  Ablegung  Sie  einst  in  Frankfurt  durch  die 
Fui3tritte  eines  ehrlichen  Mannes  gezwimgen  wurden  und  in  welcher  Sie 
selbst  erklärten,  der  niederträchtigste  und  infamste  Verleumder  zu  sein. 

Hat  diese  Lektion  Sie,  verworfner  Gatmer,  nicht  bessern  können? 
Sie  greifen  wieder  zu  dem  Gewerbzweig  der  Verleumdung  und  schreiben 
meinem  Vater,  Heine  hätte  Briefe  von  mir,  die  mich  kompromittieren, 
und  wollen  auf  diesen  Titel  von  ehrlichen  Leuten  Geld  erpressen.  Selbst 
die  frechste  Lüge  ist  Ihnen  nicht  zu  schlecht,  wenn  sie  Ihrem  Spitz- 
bubenmetier Vorteil  verspricht.  Briefe,  die  mich  kompromittieren! 
Elender,  wie  konnten  Sie  so  ungeschickt  lügen!  Wissen  Sie  nicht 
einmal  die  Leute  zu  beurteilen,  an  denen  Sie  Ihr  Gaunerhandwerk  aus- 
üben wollen?  Wissen  Sie  nicht,  daß  man  Leute,  deren  Gewissen  rein, 
deren  Handlungsweise  stets  nobel  war,  durch  keine  mystische  Lüge 
beunruhigen  kann?  Feierlich  gebe  ich  Ihnen  die  Erlaubnis,  alle  meine 
Briefe  an  Heine  zu  pubUzieren.  Sie  würden  der  Welt  nur  zeigen,  wie 
große  Verdienste  ich  mir  um  einen  ihrer  größten  Dichter  erworben. 

Sie  aber,  elender  Taschendieb,  werde  ich  für  diese  Lüge,  die  Sie 
meinem  Vater  zu  schreiben  wagten,  seinerzeit  zu  strafen  wissen.  Weim 
ich  nach  Paris  komme  —  doch,  was  wollte  ich  Ihnen  tun  ?  Sie  sind  zu 
sehr  gewöhnt,  daß  man  Ihnen  öffentlich  ins  Gesicht  speit,  Sie  öffent- 
lich ohrfeigt,  als  daß  Sie  dies  noch  unangenehm  berühren  könnte.  Doch 
Geduld,  es  harrt  Ihrer  noch  das  Bagno.    Seien  Sie  sicher. 

Infamer  und  dummer  Spitzbube,  der  Sie  von  dem  Schmutze  andrer 
Leute  sich  nähren.  Suchen  Sie  sich  künftig  wenigstens,  um,  Blatt- 
laus, Ihre  Nahrung  zu  ziehen,  Leute  aus,  deren  Handlungen  wenigstens 
wirklich  schmutzig  und  faul  sind,  nicht  aber  Charaktere  sans  täche. 
Auf  solchen  findet  sich  kein  Stoff  für  Maden. 

Dies  zur  vorläufigen  Notiz,  Made,  Ihrer  Bestraf  img  werde  ich  denken. 

F.  Lassalle. 


1)  Alexander  (eigentlich  Abraham)  Weill  war  ein  aus  dem  Elsaß  gebürtiger 
Journalist,  der  von  Paris  aus  in  zahlreiche  deutsche  oppositionelle  Zeitungen 
korrespondierte  und  viel  mit  deutschen  Flüchtlingen  verkehrte.  Auch  auf  fran- 
zösisch schrieb  er  Broschüren  und  in  die  Zeitungen,  u.  a.  auch  in  das  Skandal- 
blatt Corsaire  Satan. 


Druck  der  Deutschen  Verlags«» Anstalt 
in  Stuttgart 


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